Nach Danneker in Stahl gestochen v. Carl Mayer
Druck v. Dammel in Stuttgt.
Liegt ohne Zweifel die einzig mögliche Rechtfertigung der Veröffentlichung einer ſchriftſtelleriſchen Arbeit in der Nachweiſung eines weſentlichen Zeitbedürfniſſes, welches durch jene befriediget wird: ſo hat dieſe neue Ausgabe der ſämmtlichen Werke Stilling’s eine ſolche Rechtfertigung in hohem Grade für ſich.
Zwei große, das ganze Leben des Menſchen durch - dringende Gegenſätze ſind heut zu Tage hervorgetreten. Sie beziehen ſich ſowohl auf das Wiſſen als das Thun, ſo - wohl auf das innere Gebiet des Geiſtes als auf ſeine äußere Verwirklichung im Staatsorganismus. In beiden Sphären iſt einer Seits eine rein negative, ſich von den Banden göttlicher wie menſchlicher, religiöſer wie politi - ſcher Auctorität als ſolcher losſagende Tendenz, anderer Seits eine rein poſitive, in der Auctorität der chriſtlichen Religion als auf etwas Unwandelbarem, für die Vernunft des Menſchen Unzugänglichem ruhende, und in ihr zugleich die beſtehenden Staatsformen als geheiligt anſchauende Weltanſicht zum Bewußtſeyn gekommen.
Durch die neuerdings erfolgte Reaction iſt nun der Zeitgeiſt aus ſeinem in die Außenwelt gehenden, auf die Durchführung der Vernunft im Staate und die Voll - bringung der politiſchen Freiheit gerichteten Streben her - aus in ſeine innere Welt getrieben worden, und er ſcheint — wie dieß die große Zahl der neuerdings erſcheinenden reli - giöſen Schriften beweist — er ſcheint jetzt daran zu arbeiten, in ſeiner über dem politiſchen Treiben faſt vergeſſenen innern Welt, dem Reiche Gottes, ſich wieder anbauen, und die Freiheit, die er in Durchführung gewiſſer Staats - formen vergebens zu verwirklichen ſuchte, auf höhere Weiſe6 im Geiſte durch die Kindſchaft Gottes wieder gewinnen zu wollen. Aber derſelbe Kampf entgegengeſetzter Principien, welcher durch jene Reaction im Gebiete des Staates zur Ruhe gekommen iſt, beginnt nur um ſo heftiger im innern Gebiete des Geiſtes. Und hier tritt als Vorkämpfer der einen, nämlich der an der göttlichen Auctorität des Chriſten - thums ſtreng feſthaltenden Parthei, als ein ſolch leitender Genius tritt noch einmal der Geiſt Stilling’s auf.
Es iſt nämlich — wenn wir zuerſt auf die poſitive Seite der religiöſen Weltanſicht Stilling’s ſehen — Eine große Idee, welche dieſen Mann beſeelte, und von welcher alle ſeine Schriften erfüllt ſind, die nämlich: daß Gott kindlich auf ihn Vertrauenden auf eine unmittelbare und außerordentliche Weiſe durch eine alle menſchliche Be - rechnung übertreffende und von dem gewöhnlichen geſetz - und naturgemäßen Gange der Dinge ganz abweichende Schickung aus jeder Noth des Lebens helfe. Dieſe Idee tritt in ihrer Eigenthümlichkeit und beſtimmten Aus - prägung beſonders in dem Glauben hervor, daß ein in der Noth zu Gott geſchicktes Gebet nicht etwa bloß eine innere Erhörung durch höhere Stärkung des Geiſtes finde, ſondern, wofern es mit den Rathſchlüſſen Gottes übereinſtimmt, eine äußere göttliche Hilfeleiſtung durch wunderbare Errettung aus leiblicher Noth, Krankheit, Armuth ꝛc. zur Folge habe.
Was aber Stilling zu dem großen Volksſchriftſteller machte, der er war, was allen ſeinen Darſtellungen Leben - digkeit und eine unwiderſtehliche Kraft der Ueberzeugung verleiht, das iſt die Einheit ſeiner ganzen Perſönlichkeit mit ſeinem ſchriftſtelleriſchen Werke. Es bewährte ſich an ihm das alte Sprüchwort: Was vom Herzen kommt, das dringt zum Herzen. Stilling war im eigentlichen Sinne des Wortes eine religiöſe Individualität. Die lebendige Verwirklichung jenes Grundgedankens, von wel - chem alle ſeine Schriften beſeelt ſind, iſt ſein eigenes Leben. Nicht nur im Allgemeinen, ſondern auch in den einzelnen Scenen iſt ſeine Autobiographie eine wahre Ver - körperung jenes religiöſen Grundgedankens zu nennen, ſo daß man geneigt wäre, in ihr einen religiöſen Roman zu7 erblicken, hätte nicht Stilling ſelbſt uns hochbetheuernd verſichert, daß, mit Ausnahme der Namen und einiger Verzierungen, Alles wahr ſey.
Sein Leben nämlich ſtellt, nach ſeinen Hauptwende - punkten betrachtet, eine Erhebung von der niedrigſten, dunkelſten Lage zur glänzendſten Stellung dar, die Stilling als Profeſſor, Hofrath und als weltberühmter Volks - ſchriftſteller einnahm, und wie es alſo ſchon im Allge - meinen das Daſeyn einer für ihre Verehrer gütig ſorgenden Vorſehung bekundet, ſo iſt es auch im Einzelnen voll von Spuren göttlicher Hilfe, welche, in ſo viele Bedrängniſſe auch Stilling kam, doch nie ausblieb.
Johann Heinrich Jung, genannt Stilling, wurde 1740 zu Grund im Naſſau’ſchen geboren. Sein Vater, Schul - meiſter und Schneider, verlor frühe ſeine Frau, eines armen Pfarrers Tochter. Die religiöſe Richtung dieſes Mannes wurde durch dieſen Verluſt noch ſtrenger und ernſter. In der dürftigſten Lage, zurückgezogen von aller Welt, lebte der Vater. Beten, Leſen und Schreiben war die einzige Beſchäftigung des Kindes, äußerſt ſtreng über - haupt ſeine Erziehung. Aber eben dieſe Erziehung war in mehrfacher Beziehung geeignet, Stilling zu dem großen religiöſen Volksſchriftſteller zu bilden, als der er ſpäter auftritt. Vor Allem fand hier ſein religiös fühlender und denkender Geiſt noch das ungeſchminkte, friſche und lautere Chriſtenthum. In einem höheren Stande geboren und in der großen Welt erzogen, wäre er vielleicht dem Geiſte des religiöſen Indifferentismus frühe erlegen. Nur ein auf einem ſo friſchen und kräftigen religiöſen Boden, wie der unbefangene, aber eben darum ſtarke Glauben mancher den niederen Volksklaſſen angehörenden Individuen iſt, nur ein alſo aufgewachſener Sproß konnte ſo, wie Stilling, ſicher dem Sturme des in Unglauben verſunkenen Zeit - geiſtes Trotz bieten. Zudem war es gerade die Abge - ſchloſſenheit, welche zur Entwickelung des Geiſtes Stilling’s indirect am meiſten beitrug; denn er hatte hier Gelegen - heit, ſich in ſeiner Originalität frei und beinahe rein aus ſich zu entfalten. Eine lebhafte Phantaſie war ihm ange -8 boren, in welcher er alles von außen Gegebene ſchnell ſich aneignete und ſeiner eigenthümlichen Individualität gemäß durchbildete, aber auch Alles von ſich ſtieß, was ſich nicht bezwingen laſſen, was nicht in ſeine eigenthümliche innere Welt paſſen wollte. Alles dieß wieß hin auf ein ihm ur - ſprünglich eingeborenes inneres Leben, auf einen eigen - thümlich geſtalteten ſchöpferiſchen Geiſt, welcher, ſtatt von außen beſtimmt zu werden, vielmehr allem von außen Gegebenen ſeine eigene Form, ſeinen eigenen Charakter aufdrückte. Nur die wenigen myſtiſchen, unter dem reli - giöſen Theil des Volkes vielfach curſirenden Schriften eines Paracelſus und Jakob Böhme waren die wiſſen - ſchaftlichen Werke, die in Stilling’s Hände kamen. Aber er fühlte ſich auch von dem tiefſinnigen Geiſte des letztern tief, wie ein verwandter Geiſt, angeſprochen. Durch die wunderbare phantaſtiſche Form, in welcher Böhme redete, und an welcher ſo Viele, als an der Hauptſache, hängen bleiben, drang er zum wahren und philoſophiſchen Inhalte, dem verborgenen Kerne dieſer Werke, und ſo ſchuf er ſich frühe ſchon und beinahe ſelbſtſtändig eine eigenthümliche Welt religiöſer Gedanken und Gefühle, die er ſpäter bereichert und durchgebildet der Welt enthüllte.
Man denke ſich nun dieſen Geiſt und die äußere Lage, in welcher er ſich befand, welch ein Widerſpruch des Selbſt - gefühls und ſeines Standes! Nirgends wollte es ihm daher auch glücken: von einer Stelle begab er ſich zur andern, nie in dem ſeinem Geiſte angemeſſenen Elemente ſich be - findend, bis er ſich endlich kühn und Gott vertrauend ſeine Bahn brach. Er verſah zuerſt die Stelle eines Schulmeiſters in ſeinem Geburtsort, und erlernte daneben das Schnei - derhandwerk bei ſeinem Vater. Aber letzteres Geſchäft ward ihm ganz zuwider: er fühlte ſich zu etwas Edlerem berufen. Daher nahm er nach einander zwei Schulmeiſters - ſtellen an, ohngeachtet auch dieſe ihm nicht zuſagten. Beide mußte er bald wieder verlaſſen. Und ſo ging es auch in ſeinen ſpätern Jahren. Bald wird er wieder Schneider - geſelle, bald Informator. Endlich ſchien ihm ein Stern bei einem Kaufmann aufzugehen, der ihn als Hauslehrer9 zu ſich berief, und bei welchem er ſieben Jahre lang ver - weilte. Hier las er Milton’s verlorenes Paradies, Young’s Nachtgedanken, Klopſtock’s Meſſiade, Wolf und Leibnitz. In beider Philoſophie ſah er wohl eine fortlaufende Kette von Wahrheiten, aber das Princip, von welchem dieſe Folgerungen ausgingen, ſchien ihm falſch: das wahre, glaubte er, müſſe erſt gefunden werden, und dann ſey die wahre Philoſophie gegeben.
Hier indeß, als er in ſeinem 28ſten Jahre ſtund, ging die große Wendung ſeines Lebens vor ſich, durch die er aus der Dunkelheit geriſſen wurde, um als einer der erſten Sterne am wiſſenſchaftlichen Horizonte zu glänzen. Merk - würdig iſt auch hier die Art und Weiſe dieſer Wendung ſeines Lebens. In Reizens Hiſtorie der Wiedergeborenen las er einſt zum Zeitvertreib, und als er hier das Wort Eilikrinnia fand, ſo ſtund dieſes vor ihm, „ als wenn es im Glanze gelegen hätte; dabei fühlte er einen unwider - ſtehlichen Trieb, die griechiſche Sprache zu lernen, und einen verborgenen ſtarken Zug zu Etwas, das er noch gar nicht kannte, aber auch nicht zu ſagen wußte, was es war. Er beſann ſich und dachte: Was will ich doch mit der griechiſchen Sprache machen? Wozu wird ſie mir nützen? Allein alle Einwendungen der Vernunft waren fruchtlos, ſein Trieb war ſo groß und die Luſt ſo heftig, daß er nicht genug eilen konnte, um zum Anfange zu kommen. “ Wirklich erlernte er ſie im 28ſten Jahre ſeines Lebens, und zwar mit erſtaunlicher Fertigkeit. Als ihm bald dar - auf ſein Principal rieth, Medicin zu ſtudiren, da rief er ganz bewegt aus: Was ſoll ich ſagen? Ja ich fühle in meiner Seele, das iſt das große Ding, das immer vor mir verborgen geweſen, das ich ſo lange geſucht und nicht habe finden können.
Sofort ging er, nachdem er ſich einige Zeit auf ſein Stu - dium vorbereitet hatte, auf die Univerſität nach Straßburg, ohne irgend eine entfernte Ausſicht, wie er dieſes koſtſpielige Studium werde beſtreiten können. Aber er vertraute ſeinem Gotte, wie er ſagte, ſeinem reichen Vater im Himmel. Und wirklich, ſo oft er auch in dringende Geldverlegenheiten kam, jedes Mal erſchien ihm in der Stunde der höchſten10 Noth auf ſein Gebet hin eine Freunbeshand, die ihn unter - ſtützte. Nach Vollendung ſeiner Studienzeit wurde er practiſcher Arzt, und durch die vielen glücklichen Augen - kuren, die er machte, genügte er ſeinem innern Drange, zum Heile der Menſchen etwas beizutragen. Sonſt aber hatte er nicht viel Praxis, und er übernahm daher die Stelle eines Profeſſors der Kameralwiſſenſchaften zu Mar - burg. Auch hier indeß war es mehr ſeine ſchriftſtelleriſche als ſeine academiſche Thätigkeit, welche mit ruhmvollem Erfolge verknüpft war. Der unter den dortigen Studenten herrſchende Freiheitsgeiſt und religiöſe Scepticismus war natürlich nicht die Denkweiſe, welche ſie zu Stilling hätte hinziehen können. Er hatte oft bloß drei Zuhörer, ja er war einmal der Gegenſtand roher Ausgelaſſenheit der Studenten. Da war Stilling im größten Zwieſpalt mit ſich: er ſah, daß er als academiſcher Lehrer keinen Segen ſtiften könne, und doch fühlte er noch eine hohe Geiſtes - kraft in ſich, Großes zu wirken und zu ſchaffen. Da endlich in ſeinem 63ſten Jahre wurde Stilling der ihm durch die vorherrſchend religiöſe Richtung ſeiner Natur angewieſenen, von ſeiner Jugend an ihm immer dunkel vorſchwebenden Beſtimmung, im Großen für die Sache des Chriſtenthums zu wirken, durch die Gnade des Kurfürſten von Baden geſchenkt, welcher ihn zum Hofrath mit einem Gehalte von 1200 Gulden ernannte, ohne dagegen irgend eine Dienſt - leiſtung zu verlangen, ſo daß Stilling ſich in voller Muße ſeiner ſchriftſtelleriſchen Thätigkeit widmen konnte. In Heidelberg lebte er bis aus Ende ſeines Lebens, das am 2. April 1817 erfolgte.
Schwache und bedeutungsloſe Individuen laſſen ſich in Charakter und in ihrem Handeln durch die Umſtände beſtimmen; denn ſie haben keine Perſönlichkeit, welche ſich in der Außenwelt verwirklichte: aber geniale und ſchöpferiſche Naturen, denen eine Rolle in der Geſchichte der Menſchheit beſtimmt iſt, haben dieſes ihr zukünftiges Werk ſchon frühe als dunkle Ahnung in ſich, und je klarer ſie es in ihr Selbſtbewußtſeyn erheben, deſto unwider - ſtehlicher bahnen ſie ſich durch alle Hinderniſſe, die ihnen11 die äußere Lage, natürliche Geburt, Vorurtheile der Menſchen u. ſ. w. entgegenſetzen, den Weg zur Voll - bringung der Aufgabe ihres Lebens; ſie ſetzen Alles an die Erreichung dieſes göttlichen Endzwecks, weil dieſer ſelbſt eins iſt mit ihrer Perſönlichkeit, das Verzichten alſo auf jene Wirkſamkeit Verzichten auf ihr eigenes Ich wäre. Alles dieß finden wir auch bei Stilling. Von Natur hatte er einen Grundtrieb, dem er unbewußt folgte, die Ahnung einer univerſelleren Beſtimmung im Reiche Gottes: dieſe Ahnung war auch die ſeiner Großeltern und Eltern, über - haupt ſeiner Umgebung; darum ließ man ihn auch frei gewähren, ſo viele Wechſel auch ſein Jugendleben hatte. Dazu kam noch bei Stilling, daß vermöge ſeiner lebhaften Phantaſie jeder Entſchluß, welcher ihn auf ſeiner erha - benen Bahn weiter bringen ſollte, ſobald er aufkeimte, alsbald in aller Lebendigkeit und in der anziehendſten Form vor ſeiner Seele ſtund. Dürfen wir uns wundern, wenn ein ſo plötzlich und überraſchend aufſteigender Gedanke eine unwiderſtehliche Macht auf ſein Gemüth ausübte, wenn Stilling das Gefühl von etwas Unwillkührlichem und daher Göttlichem dabei hatte, und um ſo unbedenklicher ſeine bis - herige Laufbahn verließ, um dem höheren Winke, dem übernatürlichen Zuge zu folgen?
Wie dem auch ſey, die eigenen Lebensſchickſale, die eigenen Erfahrungen, die für ihn feſt ſtehende Thatſache von einer unmittelbar in das Leben eingreifenden Vor - ſehung, — dieß war für ihn der unwandelbare Grund, auf welchen ſich ſofort ſein ganzer religiöſer Glaube ſtützte. Nicht nur finden wir jene Idee beinahe auf jeder Seite ſeiner Schriften entwickelt: nicht nur ſind nament - lich ſein Chriſtlicher Menſchenfreund und ſeine Erzählungen voll von jener Anſicht, obgleich er hier außer der wunder - baren Lebensverkettung duldender Pilgrime die chriſtliche Liebe auch in ihrer das gewöhnliche Leben, namentlich das einfache ſtille Familienleben, und ſeinen natürlichen Gang veredelnden und verklärenden Macht ſchildert: nicht nur iſt alſo Stilling’s Geiſt durchdrungen von jenem Ver - trauen auf Gottes übernatürliche Vorſehung, ſondern12 hierin fand er auch eine für ihn vollkommen hinreichende Schutzwehr gegen allen Religionszweifel, hierauf gründete er ſeine ganze religiöſe Ueberzeugung. Derjenige, ſagte er einmal zu ſich, als er auf der Academie in Gefahr war, in Zweifel über die Religion zu gerathen, derjenige, der augenſcheinlich das Gebet der Menſchen erhört, und ihre Schickſale wunderbarer Weiſe und ſichtbar lenkt, muß unſtreitig wahrer Gott, und ſeine Lehre Gottes Wort ſeyn. Nun habe ich von jeher Jeſum Chriſtum als meinen Gott und Heiland verehrt und ihn angebetet. Er hat mich in meinen Nöthen erhört, und mir wunderbar beigeſtanden und geholfen: Folglich iſt Jeſus Chriſtus unſtreitig wahrer Gott, ſeine Lehre iſt Gottes Wort, und ſeine Religion, ſo wie Er ſie geſtiftet hat, die wahre.
Soviel über den Geiſt Stilling’s nach der poſitiven Seite ſeiner religiöſen Ueberzeugung. Aber dieſe ſeine eigenthümliche Anſicht bildete er nur aus im Gegenſatze gegen den Unglauben ſeiner Zeit. Seine Richtung iſt haupt - ſächlich eine polemiſche, und zwar vor Allem gegen die damals herrſchende Philoſophie Kant’s, inſoweit dieſe Ein - fluß auf die Geſtaltung des chriſtlichen Glaubens hatte. Das Eigenthümliche dieſer Polemik nun iſt, daß Stilling ſeinen Gegner aus deſſen eigenem Grundſatze zu wider - legen ſuchte, nach welchem unſere Begriffe bloße, uns ein - geborene Formen ſind, welchen das wahre Weſen der Dinge um uns her nicht entſpricht. Damit ſtimmt nun auch Stilling überein. Auf eine gemeinfaßlichere Weiſe, als Kant, ſucht er jenen Satz durch folgende Schlüſſe be - greiflich zu machen: Wenn unſere ſinnlichen Werkzeuge anders organiſirt wären, ſo empfänden wir die ganze ſinn - liche Welt ganz anders, als wir ſie jetzt empfinden. Licht, Farben, Figuren u. ſ. w. empfänden wir ganz anders, wäre unſer Auge anders organiſirt. Die Menſchen empfinden nur die Oberfläche der Dinge in Raum und Zeit, d. h. in der Ausdehnung und Aufeinanderfolge — in ihr inneres Weſen dringt kein erſchaffener Geiſt. Weil wir uns keine zwei Dinge zugleich vorſtellen können, darum mußten wir ſo organiſirt ſeyn, daß uns die Dinge im Raume und in13 der Zeit erſcheinen; daher iſt Raum und Zeit nur in unſerer Seele: außer uns iſt keines von beiden. Gemäß ſeiner religiöſen Tendenz drückt er dieſes auch ſo aus: Alle Vorſtellungen, die ſich auf Raum und Zeit beziehen, ſind eingeſchränkt: da nun Gott, der Ewige, Unendliche und Unbegreifliche, keine Schranken kennt, ſo ſtellt er ſich die Welt auch nicht in Raum und Zeit vor; da nun ſeine Vorſtellungen allein Wahrheit haben, ſo iſt auch die Welt nicht in Raum und Zeit. Endlich beweist Stilling die End - lichkeit unſerer Begriffe über die Welt, ihren Anfang und Umfang u. ſ. w. durch den bekannten Kant’ſchen Antinomie - Schluß, daß wir einer Seits den Raum als unendlich denken müſſen, weil, wenn er eine Grenze hätte, jenſeits ein leerer Raum gedacht werden müßte: anderer Seits ſich auch nicht eine endliche Unendlichkeit, d. h. ein unend - licher, mit lauter endlichen Dingen angefüllter Raum denken laſſe: alſo müſſe die ganze Vorſtellung des Raums überhaupt eine bloß ſubjective Vorſtellung endlicher Menſchen ſeyn.
Dieſe Lehre, in welcher er mit der Philoſophie Kant’s übereinſtimmte, wurde, ſowie die Idee einer unmittelbar wirkenden Vorſehung der aus der Erfahrung abſtrahirte Fundamentalſatz ſeines ganzen Glaubens ward, ſo das wiſſenſchaftliche Princip ſeiner philoſophiſch - religiöſen Ueberzeugung, aber auf eine entgegengeſetzte Weiſe, als dieß bei Kant der Fall war. War Stilling wohl im Grundſatze eines mit der damaligen Philo - ſophie, ſo ging er durch die Folgerungen, welche er aus dieſem Grundſatze machte, über die Philoſophie hin - aus in das chriſtliche Gebiet über: die Waffen, welche die Philoſophie gegen das Chriſtenthum führte, wandte er gegen jene zurück, und ſuchte ſie durch ihre eigenen Vorder - ſätze zu widerlegen. Daß die Begriffe von Raum und Zeit, daher auch von Bewegung u. ſ. w., bloß in uns, nicht aber auch in den Dingen außer uns exiſtiren, hatte er gezeigt. Er ſchloß aber ſofort, daß Gott uns für dieſe Welt dieſe Vorſtellungen angeſchaffen habe, daß wir uns in denſelben nothwendig und nach Gottes Willen, ſo lange wir hier leben, bewegen, daß wir aber zugleich nach Gottes Rath -14 ſchluß, ohne in Widerſprüche zu kommen, es nicht wagen dürfen, das wahre überſinnliche Weſen der Dinge beſtimmen zu wollen. Was alſo bleibe anderes übrig, als daß wir durch göttliche Offenbarung über das Ewige belehrt werden, wie es denn auch in der Natur der Sache liege, daß, wenn der Menſch über das Ueberſinnliche Aufſchluß erhalten ſolle, die Grundſätze zum Denken und Schließen aus der Natur des Ueberſinnlichen genommen, d. h. daß alsdann die Vernunft von Oben erleuchtet werde.
Kant hätte dieß zugeben müſſen, aber nur dann, wenn es bloß eine theoretiſche, nicht auch eine practiſche Ver - nunft gäbe. Allein nachdem Kant der theoretiſchen Ver - nunft alle Wahrheit abgeſprochen, ſo gründete er auf die Selbſtgeſetzgebung der Vernunft den poſitiven Theil ſeiner Wiſſenſchaft. Das Gute um des Guten willen zu üben, bloß zu wollen, was allgemeiner Grundſatz aller Menſchen ſeyn könnte, es zu wollen ohne Rückſicht darauf, ob die Erfüllung unſerer Pflicht uns angenehm oder unangenehm ſey, ja ohne von den Triebfedern der Liebe Gottes, welche immer doch nur ein ſubjectives Gefühl ſey, ſich beſtimmen zu laſſen: dieß fand er als unbedingte Forderung der ſo - genannten practiſchen Vernunft. Dieſe Lehre ſetzte die unbedingte Freiheit des Menſchen voraus, denn nur ein völlig freies Weſen kann jene Forderung „ du ſollſt “an ſich ſelbſt unbedingt ſtellen: von dieſer Lehre ſchloß aber auch Kant auf das Daſeyn Gottes, als des heiligen Welt - regenten, und auf die Unſterblichkeit, weil jene Forderung des Sittengeſetzes nie ganz erfüllt werden könne, der Menſch alſo in beſtändigem Fortſchritte begriffen ſeyn müſſe. So gründete er alſo eine von der poſitiven Religion ganz un - abhängige Vernunftreligion, deren ganzer magerer Inhalt jene drei Begriffe: Gott, Freiheit und Unſterblichkeit, waren, indem bei der Vorausſetzung der vollen Freiheit des menſchlichen Willens die Nothwendigkeit der Erlöſung hinwegfiel, und Chriſtus zu einem bloßen Sittenlehrer wurde, der in ſeinem Tode ein hohes Beiſpiel von Auf - opferung für das Gute aufſtellte. Dieß ſind die Haupt - lehren, welche der Leſer überall wird bekämpft ſehen. Hier15 nur kurz die Grundzüge der Stilling’ſchen Polemik gegen jene Lehren. Wie — fragt er öfter — kann auf das Moral - princip die Religion gegründet werden? Iſt nicht das ſitt - liche Gefühl verſchieden bei den verſchiedenen Völkern, bei dem gebildeten Europäer und bei dem Wilden, der blutige Rache gegen ſeinen Feind für eine ſittliche Pflicht hält? Aber — ſagt man — nicht das unter den Menſchen gel - tende, entſtellte, ſondern das reine Sittengeſetz iſt der Grund der Religion. Allein, erwiedert hierauf öfters Stilling, dieſes reine Sittengeſetz iſt eine leere Formel ohne Inhalt: von allem Möglichen, Guten und Böſen, läßt ſich denken, es könne allgemeiner Grundſatz aller Menſchen werden; überhaupt aber der Menſch iſt nicht bloß ein geiſtiges, er iſt auch ein ſinnliches Weſen. Läſſeſt du alſo die künftige Belohnung oder Beſtrafung nicht mehr als Triebfeder zum ſittlichen Handeln gelten, wie wirſt du alsdann auf die Menſchen, beſonders auf den Ungebildeten, veredelnd einwirken können? Wodurch aber die Kant’ſche Philoſophie mit dem Chriſtenthum in den größten Widerſpruch kam, das war die Lehre, daß der Menſch von Natur gut und vollkommen frei ſey. Dieſen Satz nun, der zur Leugnung der Nothwendigkeit der Erlöſung führte, greift Stilling hauptſächlich an, indem er die Sündhaftigkeit der menſch - lichen Natur in ſtarken Zügen darſtellt, und hieraus den Schluß zieht, daß nur die Gnade Gottes die Menſchheit aus ihrem Verderben erlöſen konnte, daß immer noch eine Kraft von Oben nothwendig ſey, wenn der Menſch gebeſſert und geheiligt werden ſolle. Nicht nur in wiſſenſchaftlicher Form durch Schlüſſe vertheidigt er dieſe Lehre, ſondern auch dadurch, daß er die chriſtliche Lehre von der Gnade in ihrer die Menſchen beſeligenden Wahrheit an einzelnen Beiſpielen zeigt, indem er namentlich einen neugläubigen Prediger vorführt, welcher vergebens einen im tiefen Ge - fühl ſeiner Verſchuldung vor Gott zagenden Sterbenden[d]urch leere Hoffnungen, durch Vorſtellungen, als wäre ſeine Sündhaftigkeit nicht ſo groß, als er meine, zu tröſten ſucht, während derſelbe im Innerſten durch einen andern Geiſtlichen beruhigt wird, welcher ihm einerſeits die Tiefe16 der menſchlichen Schuld, andererſeits die überſchwengliche Größe der göttlichen Gnade vorſtellt.
Doch nicht bloß die ernſte Weltweisheit, ſondern auch der frivole Witz eines Voltaire und ſeiner Geiſtesver - wandten bekämpfte das Chriſtenthum, und dieſer Witz hat bei einem ſo leichtſinnigen Volke, wie das franzöſiſche iſt, die Grundpfeiler des Chriſtenthums noch tiefer erſchüttert, als die Philoſophie, welche ſich ja herabließ, dem Chriſten - thum ihr Gewand zu leihen, und es in dieſer modernen Form dem Volke vorzulegen. Nimmt man noch dazu den Luxus und die Sittenloſigkeit der damaligen Zeit, ſo be - greift man, wie einem chriſtlich denkenden Manne bange ſeyn mußte um ſein Zeitalter. Das Heimweh drückt ſchon dem Titel nach die Sehnſucht Stilling’s aus, aus dieſer unchriſtlichen Zeit, wo er beinahe allein ſtund mit ſeinem Glauben, hinweg zu ſeyn. Aber dieſe Sehnſucht ging auch über in einen ernſten Unwillen über das Treiben ſeiner Zeitgenoſſen. Der graue Mann tritt als der letzte ernſtlich warnende Geſandte Gottes an die Chriſtenheit auf, mitten in einer dunkeln, in der Finſterniß wandelnden Menſchheit, und Grauen erregend für Alle, welche dem Unglauben und Luxus ſich ergeben. Ja Stilling ſah in dem allgemeinen Abfall von Chriſto ein Zeichen der Nähe des Antichriſts, und ſomit auch der Nähe des Herrn, um in ſichtbarer Geſtalt zu richten und ſein Reich zu vollenden. Von dieſem Gedanken iſt er ſo erfüllt, daß er im Hinblick auf das nahe Reich Chriſti zur Poeſie, ſeinem Chryſäon, ſich begeiſtert fühlte: der Glaube daran war ſo ſtark, daß er ſogar Verhaltungsregeln für die Zeit des wirklichen Einbruchs des tauſendjährigen Reichs vorſchreibt, die Frage näher unterſucht, ob Chriſtus ſich Allen oder bloß den Wiedergeborenen zeigen werde, ebenſo über Zeit und Ort der Ankunft Unterſuchungen anſtellt. So befremdend dieſe Hoffnung auch Manchem erſcheinen muß, der die Sache geiſtiger aufzufaſſen gewohnt iſt, ſo eigenthumlich iſt ſie doch dem Chriſten: in jeder Zeit einer Kriſis des göttlichen Reiches, am Anfang deſſelben, oder bei großen Entwick - lungspunkten, z. B. zur Zeit der Reformation, war die17 Hoffnung auf die Wiederkunft Chriſti unter Vielen rege; und eine ähnliche Kriſis ſteht — was nur Blinde leugnen können — auch jetzt demſelben bevor, und gewiß hat Stil - ling die Grundidee, um deren Vollführung es ſich handelt, richtig angegeben, wenn er ſagt: „ einſt mit der Ausgießung des Geiſtes auf Alle werde erkannt werden, daß nun der Unterſchied der verſchiedenen chriſtlichen Partheien aufhö - ren, uns ſich Alles in wahrer Einigkeit des Geiſtes verſam - meln werde; “dieſe Grundidee wird wohl jeden freier Den - kenden anſprechen, ſey es nun, daß er hievon nur einen gei - ſtigen Umſchwung der Menſchen, oder mehr in der Weiſe der Phantaſie eine zugleich äußerliche übernatürliche Ver - änderung der Dinge hofft. Jedenfalls zeigt die neue Heraus - gabe der Bengel’ſchen Erklärung der Apokalypſe, daß jene apokalyptiſchen Hoffnungen in einem großen Theile der Chri - ſtenheit wieder rege werden. An dieſe Schrift aber ſchließt ſich paſſend als berichtigender und erläuternder Leitfaden Stil - ling’s Siegesgeſchichte an, indem hier im Allgemei - nen dieſelben Vorſtellungen, nur nicht mit einer ſolchen, man möchte ſagen, der Weltregierung Gottes vorgreifenden und dem Glauben an die Apokalypſe mehr ſchädlichen als förder - lichen Beſtimmtheit die Angabe der Zukunft enthält, na - mentlich aber, indem ſie die complicirte, dem gemeinen Mann durchaus unverſtändliche Rechnung Bengels vereinfacht, ohne im Reſultate von ihm weſentlich abzuweichen.
Wir haben bisher den einen Gegenſatz betrachtet, gegen welchen die Schriften Stilling’s gerichtet ſind. Aber ſeine Polemik iſt eine gedoppelte, und eben durch dieſe Doppel - ſeitigkeit ſeiner Polemik gewinnt er den wahren Stand - punkt, welcher ſich in der Mitte befindet zwiſchen zwei Extremen, dem Unglauben und — dem Aberglauben. Wie Stilling dieſen in ſeinem Theobald ſchildert, haben wir kurz zur Einleitung anzugeben. Die Darſtellung des Geiſtes der Schwärmerei wird ſchon deren Widerlegung in ſich ſchließen. Der Aberglaube und die Schwärmerei iſt im Allgemeinen das Bewußtſeyn über die Religion, wie es ſich in der überreizten Phantaſie des ungebildeten Volkes darſtellt, welches religiöſe Begriffe von Gott, Unſterblich -Stilling’s Schriften. I. Bd 218keit u. ſ. w. nie rein und allgemein, ſondern immer in einer ſinnlichen Form anſchauet. Zunächſt ſollte man zwar eine entgegengeſetzte Vorſtellung vom Aberglauben und von der Schwärmerei ſich bilden. Die Richtung jener Frau v. Guyon, welche im Theobald auftritt, iſt gerade gegen die ſinnliche Seite des Menſchen gekehrt. Und in der That iſt es ein Zug der Schwärmerei, nicht nur die ſinnlichen Triebe, ſondern beinahe alles Menſchliche, den freien Willen, natürliche Gefühle und das Selbſtdenken ganz zu unterdrücken. Aber eben in der völligen Unterdrückung des Selbſtes geht der Genuß des Ewigen auf, deſſen Ge - fühlen ſich der Schwärmer ganz hingibt, ſo daß er leicht wieder aus ſeiner übernatürlichen Höhe in die gemeinſte Sinnlichkeit herabfällt. Andererſeits bedenke man den von einem Schwärmer im Theobald behaupteten Grundſatz: „ Wenn man den Willen Gottes nicht wiſſe, und weder Vernunft noch Offenbarung ſichern Rath gäben, ſo ſolle man gar nichts thun, ſondern ſchweigen und ruhen, bis ſich der Willen Gottes von ſelbſt entwickle. “ Ich frage: wozu führt dieſer Grundſatz? Geſetzt, Vernunft und Offen - barung reichten (was indeß nie der Fall ſeyn kann) einmal nicht zu, über Gottes Willen uns zu belehren; muß nicht irgend ein Organ in uns ſeyn, wodurch ſich alsdann Gott uns offenbarte? Da aber die Vernunft ausdrücklich aus - geſchloſſen iſt, was bleibt für eine andere Quelle höherer Erkenntniß übrig, als die Phantaſie oder das Gefühl? Wahrlich aber, daß dieſe Phantaſie, daß dieſes Gefühl ebenſo falſch, unſittlich und höchſtverkehrt, als dem Willen Gottes angemeſſen ſeyn könne, davon liefert eben die Er - zählung „ Theobald “traurige Beiſpiele: wenn z. B. der arme Bauernpurſche Theobald und ein Fräulein Amalie die aller menſchlichen Ordnung zuwiderlaufenden Einge - bungen ihrer fleiſchlichen Liebe für Gottes Willen halten, oder wenn in der ſogenannten Berlenburger Gemeinde Abſcheulichkeiten vorfallen, welche leicht an die falſchen Beſchuldigungen gegen die erſten Chriſten erinnerten, hätte nicht der Erzähler gerade das Intereſſe, den Pietismus in einem ſchöneren Lichte darzuſtellen; oder endlich, wenn19 der neunjährige Sohn jenes Theobalds, deſſen Phantaſie ſchon frühe durch myſtiſche Schriften im höchſten Grade entzündet wurde, ſchon in dieſem Alter Sünden der Ge - ſchlechtsliebe begehen und den abenteuerlichen Entſchluß faſſen und ausführen kann, dieſe ſündhafte Welt zu ver - laſſen und Einſiedler zu werden. Reichen Stoff und Nah - rung findet dieſe geſteigerte Phantaſie in der Lehre vom tauſendjährigen Reiche, deſſen Nähe alle ſchwärmeriſchen Secten wähnen, und in deſſen Ausmahlung in glänzenden ſinnlichen Bildern ſich ſtets ihre durch die Vernunft nicht geregelte Einbildungskraft ergeht, während die wahrhafte Frömmigkeit ſich mit der Wirklichkeit befreundet und die verſchiedenen Verhältniſſe, in denen wir als Familien -, Standes - und Staatsgenoſſen leben, durchdringt, beſeelt und verklärt. Endlich iſt ein Durchweg in dieſen Köpfen ſprudelnde Hoffnung die Wiederbringung aller Dinge, d. h. die Lehre, daß Alles, daß namentlich ſowohl böſe als gute Menſchen in Gott einſt wieder zurückkehren werden. An ſich iſt es wahr, daß Gott das Alleine ſey, das in allen Din - gen iſt. Aber zugleich lehrt die Vernunft und das Chriſten - thum, daß eine ewige Verſchiedenheit die Menſchen, ja ein ewiger Gegenſatz von Guten und Böſen Statt fin - den werde. Wir ſagen, die Vernunft iſt es, die dieß lehrt. Denn, weil der Menſch ein freies Weſen iſt, und bei jedem ein eigenthümlicher Gebrauch dieſes Willensvermögens Statt findet, ſo wird nie jene völlige Einheit aller in Gott zu Stande kommen. Ueber dieſe wirklichen Unterſchiede der Menſchen fliegt aber die Phantaſie des Schwärmers hinweg; er verſenkt ſich mit ſeinem trüben Gefühle in jene dunkle und myſtiſche Einheit aller Dinge, und je tiefer er ſich in dieſen Abgrund der endlichen vielgeſtalteten Welt im Geiſte be - gibt, deſto weniger fühlt er ſich in der Gegenwart der ent - wickelten und mannigfaltigen Welt, die in Unterſchiede von Charakteren, Ständen u. ſ. w. getheilt iſt — einheimiſch, und ſo bildet und verſtärkt ſich in ihm immer mehr der Wi - derwille gegen die wirkliche Ordnung der Dinge, ein Wider - wille, welcher oft in halsſtarrigen Ungehorſam gegen alle geiſtliche und weltliche Obrigkeit überſchlagen kann. Daher2 *20iſt es in der That ein ſchöner Gang in der Geſchichte Theo - balds, daß er denſelben, nachdem er alle mögliche Verirrun - gen durchlaufen, ſeine Verſöhnung im Staate finden läßt, in dem Theobald zulezt als hoher Staatsbeamter befreundet mit der wirklichen Welt und in ihr hohen Segen ſtiftend, auftritt.
Wir haben bisher im Allgemeinen die Richtung und den Geiſt darzuſtellen geſucht, welcher in den Schriften Stillings waltet. Ich glaube, wir dürfen nun kaum mehr fragen: Iſt Stillings Wiedererſcheinen weſentliches Bedürfniß der Zeit? gehört er nicht mit ſeiner Polemik einer verſchollenen Bil - dungsſtufe an, hat er nicht etwa Bedeutung blos für die da - malige Zeit, die damalige Denkweiſe, mit deren Bekämpfung er ſich immer beſchäftigt? Dieſe Frage, ſagen wir — dür - fen wir kaum mehr aufwerfen. Nicht nur bleibt der poſi - tive Theil der in ſeinen ſchriftſtelleriſchen Werken geäuſ - ſerten Weltanſicht, ſo lange das Chriſtenthum beſteht; und dieſe ſeine Weltanſicht nun — könnte ſie in einer lebendi - gern, anziehendern Form dargeſtellt ſeyn, als der phantaſie - volle Stilling es that? — ich ſage nicht nur nach ihrer poſiti - ven, auch nach ihrer polemiſchen Seite hin wird Stil - lings Tendenz noch für unſere Zeit von Bedeutung ſeyn. Die - jenige Auffaſſung des Chriſtenthums, welche durch die Kant’ - ſche Philoſophie ſich geſtaltete, iſt nicht etwa eine erſt damals gewordene, ſondern eine im Weſentlichen uralte, ſie iſt die des gewöhnlichen Menſchenverſtandes, welcher Gott in ein Jenſeits ſetzt, die Menſchheit ihrer Göttlichkeit entleert, alſo auch die Gottmenſchheit Chriſti und die ſich in uns einſen - kende Gnade leugnet, und dagegen ſtatt der in Gott zur Fülle gelangenden Freiheit, ein Vermögen leerer Willkühr im Menſchen ſetzt, welche nie das Gute an ſich erreicht, weßwe - gen zugleich eine Unſterblichkeit angenommen werden muß, in welcher der Menſch immer dem Unendlichen ſich nähern ſoll, ohne je mit demſelben eins zu werden. Die Syſteme der Arianer, Neſtorianer und Socianer ſind ganz verwandte Richtungen, und man kann ſagen — die Glieder der höhe - ren, ſogenannten aufgeklärten Stände ſind beinahe durch - gängig dieſer geiſtesarmen Weltanſicht zugethan. Der Feind alſo, den Stilling bekämpft, iſt noch nicht geſtorben,21 er lebt immer noch. Wo nun fändeſt du gegen dieſen Feind einen ſolchen Streiter des Herrn, wie dieſer Stilling war?
Allerdings als Philoſophie, als herrſchendes Syſtem iſt Kant’s Theorie durch neuere Formen der Weltweisheit verdrängt werden. Aber dieſe ſelbſt nun, ha - ben ſie ſich dem Chriſtenthum genähert? Wenn die neueſte Philoſophie Gott als Geiſt der Welt definirt, leugnet ſie da - mit nicht die Perſönlichkeit Gottes, welche eine Hauptlehre der chriſtlichen Religion iſt? Zwar nähert ſie ſich der Reli - gion dadurch, daß ſie die Lehre von der gottmenſchlichen Würde Chriſti vertheidigt; aber iſt dieß von ihr in dem ei - genthümlich chriſtlichen Sinne gemeinet, nach welchem Chri - ſtus ſpezifiſch von allen übrigen Menſchen verſchieden iſt; wird nicht vielmehr jene Einheit mit Gott, welche ſie Chriſto beilegt, zugleich als weſentliche Beſtimmung aller Men - ſchen behauptet?
Leuchtet hieraus ſchon der Widerſpruch der herrſchenden Philoſophie mit der Religion ein, ſo zeigt ſich dieſe In - haltsverſchiedenheit beider noch viel mehr in der philoſo - phiſchen Leugnung der perſönlichen Unſterblichkeit, welche letztere Lehre ſogar eine ebenſo wichtige Stellung in der chriſt - lichen Weltanſicht einnimmt, als der Lehre von Chriſti Per - ſon. Leugnet unſer Mitalter das Jenſeits, ſo kann es ſein wahres und göttliches Weſen nur im Staate finden. Der St. Simonismus ſprach in dieſer Beziehung ganz den Geiſt der Zeit aus, und er hätte gewiß größern Anhang gefunden, würde er nicht eine dem verhaßten hierarchiſchen Papismus verwandte Staatsform in ſein Syſtem aufgenommen haben. Aber im Lerminier tritt die neueſte philoſophiſch-religiöſe Richtung in ihrer ganzen Eigenthümlichkeit beſtimmt her - vor: Die Religion iſt hier ganz eins mit dem Staatsleben, und zwar iſt die Volksſouveränetät die angebetete Gottheit, auf deren Altar Religion, Wiſſenſchaft, Kunſt, ſowie alle menſchlichen Beſtrebungen ihre Erſtlinge als Weiheopfer niederlegen ſollen.
Ohne über die Wahrheit dieſer Lehren etwas hier zu ſa - gen, ſo bemerken wir nur: daß die allgemeine Leugnung des Jenſeits nothwendig von der religiöſen Seite eine Gegenwir -22 kung erwecken mußte. Es konnte nicht anders ſeyn: die ſelbſt in einer anomalen Form, im Zuſtande geiſtiger und leiblicher Zerrüttung ſich kundthuenden Hinweiſungen auf ein Jenſeits und auf das Hereinragen der Geiſterwelt in das Dieſſeits — dieſe Aeußerungen von Somnambülen muß - ten überall Aufſehen, überall Theilnahme erregen. Und an dieſe Erſcheinungen ſchließt ſich das unſerem Stilling eigenthümliche, ihm einerſeits hohe Bewunderung, anderer - ſeits Haß und Verachtung zuziehende Werk, die Theorie der Geiſterkunde. „ Da die heut zu Tage herrſchende Denkart, die aus der falſchen Aufklärung entſtanden iſt, die Bibellehre von Engeln, von der Fortdauer der menſchlichen Seele nicht annimmt, ſo frage ich jeden auf ſein Gewiſſen, ob es nicht Pflicht ſey, die Erfahrungszeugniſſe verſtorbener Menſchen öffentlich bekannt zu machen, und dadurch die Bi - bellehre zu bewahrheiten? “ Dieß iſt der von Stilling ſelbſt angegebene Endzweck ſeiner Schrift. Stilling war kein aber - gläubiſcher Bewunderer des Somnambulismus. Er erblickt in ihm eine außerordentliche Entwicklung einzelner, dem Menſchen angeborenen Kräfte, des Ahnungsvermögens und der Einbildungskraft (S. ſ. grauen Mann St. 29). Er war einer der Erſten, welche den Somnambulismus theo - retiſch zu begründen ſuchten: er ſtellte die Principien, auf welche man noch immer zurückgeht, die Lehre vom Aether, Nervengeiſt, Ahnungsvermögen zuerſt in wiſſenſchaftlicher Form auf. In dieſer Wiſſenſchaftlichkeit ſeines Ganges liegt einerſeits ſchon ein Bürge, daß er ſich frei erhielt vom un - bedingten Glauben an die ſomnambulen Erſcheinungen, wie an höhere Offenbarungen: andererſeits hat er ſich eben da - durch einen ſicheren Platz im Gebiete der auf den Somnam - bulismus ſich beziehenden, immer weiter ſchreitenden Wiſ - ſenſchaft, hiemit auch in dieſer Beziehung eine hohe Bedeu - tung für die von der regen Theilnahme an dieſen außeror - dentlichen Erſcheinungen und von der wiſſenſchaftlichen Er - klärung derſelben beinahe ganz verſchlungene Gegenwart erworben.
Dr. J. N. Grollmann.
In Weſtphalen liegt ein Kirchſprengel in einem ſehr bergich - ten Landſtriche, auf deſſen Hoͤhen man viele kleine Grafſchaf - ten und Fuͤrſtenthuͤmer uͤberſehen kann. Das Kirchdorf heißt Florenburg; die Einwohner aber haben von Alters her einen großen Eckel vor dem Namen eines Dorfs gehabt, und daher, ob ſie gleich auch von Ackerbau und Viehzucht leben muͤſſen, vor den Nachbarn, die bloße Bauern ſind, immer einen Vorzug zu behaupten geſucht, die ihnen aber auch da - gegen nachſagten, daß ſie vor und nach den Namen Floren - dorf verdraͤngt, und an deſſen Statt Florenburg eingefuͤhrt haͤtten; dem ſey aber wie ihm wolle, es iſt wirklich ein Ma - giſtrat daſelbſt, deſſen Haupt zu meiner Zeit Johannes Henrikus Scultetus war. Ungeſchlachte, unwiſſende Leute nannten ihn außer dem Rathhauſe Meiſter Hans, huͤbſche Buͤrger pflegten doch auch wohl Meiſter Schulde zu ſagen.
Eine Stunde von dieſem Orte ſuͤdoſtwaͤrts liegt ein kleines Doͤrfchen, Tiefenbach, von ſeiner Lage zwiſchen Bergen ſo genannt, an deren Fuͤße die Haͤuſer zu beiden Seiten des Waſ - ſers haͤngen, das ſich aus den Thaͤlern von Suͤd und Nord her juſt in die Enge und Tiefe zum Fluß hinſammelt. Der oͤſt - liche Berg heißt der Giller, geht ſteil auf, und ſeine Flaͤche nach Weſten gekehrt, iſt mit Maibuchen dicht bewachſen. Von ihm iſt eine Ausſicht uͤber Felder und Wieſen, die auf beiden Seiten durch hohe verwandte Berge geſperrt wird. Sie ſind ganz mit Buchen und Eichen bepflanzt, und man ſieht keine Luͤcke, außer wo manchmal ein Knabe einen Ochſen hinauf treibt und Brennholz auf halb gebahntem Wege zuſammen - ſchleppt.
26Unten am noͤrdlichen Berge, der Geiſenberg genannt, der wie ein Zuckerhut gegen die Wolken ſteigt, und auf deſſen Spitze Ruinen eines alten Schloſſes liegen, ſteht ein Haus, worin Stillings Eltern und Voreltern gewohnt haben.
Vor ungefaͤhr dreißig Jahren lebte noch darin ein ehrwuͤr - diger Greis, Eberhard Stilling, ein Bauer und Koh - lenbrenner. Er hielt ſich den ganzen Sommer durch im Walde auf und brannte Kohlen; kam aber woͤchentlich einmal nach Hauſe, um nach ſeinen Leuten zu ſehen, und ſich wieder auf eine Woche mit Speiſen zu verſehen. Er kam gemeiniglich Sonnabends Abends, um den Sonntag nach Florenburg in die Kirche gehen zu koͤnnen, allwo er ein Mitglied des Kirchen - raths war. Hierin beſtanden auch die mehreſten Geſchaͤfte ſeines Lebens. Sechs großgezogene Kinder hatte er, wovon die zween aͤlteſten Soͤhne, die vier juͤngſten aber Toͤchter waren.
Einsmals, als Eberhard den Berg herunter kam, und mit dem ruhigſten Gemuͤthe die untergehende Sonne betrach - tete, die Melodie des Liedes: Der lieben Sonnen Lauf und Pracht hat nun den Tag vollfuͤhret, auf einem Blatt pfiff, und dabei das Lied durchdachte, kam ſein Nach - bar Staͤhler hinter ihm her, der ein wenig geſchwinder gegangen war, und ſich eben nicht viel um die untergehende Sonne bekuͤmmert haben mochte. Nachdem er eine Weile ſchon nahe hinter ihm geweſen, auch ein paarmal fruchtlos gehuſtet hatte, fing er ein Geſpraͤch an, das ich hier woͤrtlich beifuͤ - gen muß.
„ Guten Abend, Ebert! “
Dank hab, Staͤhler! (indem er fortfuhr, auf dem Blatt zu pfeifen.)
„ Wenn das Wetter ſo bleibt, ſo werden wir unſer Gehoͤlze bald zugerichtet haben. Ich denke, dann ſind wir in drei Wochen fertig. “
Es kann ſeyn. (Nun pfiff er wieder fort.)
„ Es will ſo nicht recht mehr mit mir fort, Junge! Ich27 bin ſchon acht und ſechzig Jahr alt, und du wirſt halt ſieben - zig haben. “
Das ſoll wohl ſeyn. Da geht die Sonne hinter den Berg unter, ich kann mich nicht genug erfreuen uͤber die Guͤte und Liebe Gottes. Ich war ſo eben in Gedanken daruͤber; es iſt auch mit uns Abend, Nachbar Staͤhler! der Schatten des Todes ſteigt uns taͤglich naͤher, er wird uns erwiſchen, ehe wir’s uns verſehen. Ich muß der ewigen Guͤte danken, die mich nicht nur heute, ſondern den ganzen Lebenstag durch mit vielem Beiſtand getragen, erhalten und verſorgt hat.
„ Das kann wohl ſeyn. “
Ich erwarte auch wirklich ohne Furcht den wichtigen Augen - blick, wo ich von dieſem ſchweren, alten und ſtarren Leib be - freit werden ſoll, um mit den Seelen meiner Voreltern, und anderer heiligen Maͤnner, in einer ewigen Ruhe umgehen zu koͤnnen. Da werd’ ich finden: Doctor Luther, Calvi - nus, Oecolompadius, Bucerus, und Andere mehr, die mir unſer ſel. Paſtor, Herr Winterberg, ſo oft geruͤhmt, und geſagt hatte, daß ſie naͤchſt den Apoſteln, die froͤmmſten Maͤnner geweſen.
„ Das kann moͤglich ſeyn! Aber ſag’ mir Ebert, haft du die Leute, die du da herzaͤhlſt, noch gekannt? “
Wie ſchwatzeſt du? die ſind uͤber zweihundert Jahr todt.
„ So; — das waͤre! “
Dabei ſind alle meine Kinder groß, ſie haben ſchreiben und leſen gelernt, ſie koͤnnen ihr Brod verdienen, und haben mich und meine Margareth bald nicht mehr noͤthig.
„ Noͤthig? — hat ſich wohl! — Wie leicht kann ſich ein Maͤdchen oder Junge verlaufen, ſich irgend mit armen Leuten abgeben, und ſeiner Familie einen Klatſch anhaͤngen, wenn die Eltern nicht mehr Acht geben koͤnnen! “
Vor dem allem iſt mir nicht bange. Gott Lob! daß mein Achtgeben nicht noͤthig iſt. Ich hab’ meinen Kindern durch meine Unterweiſung und Leben einen ſo großen Abſcheu gegen das Boͤſe eingepflanzt, daß ich mich nicht mehr zu fuͤrchten brauche.
28Staͤhler lachte herzlich, eben wie ein Fuchs lachen wuͤrde, wenn er koͤnnte, der dem wachſamen Hahn ein Huͤhnchen ent - fuͤhrt hat, und fuhr fort:
„ Ebert, du haſt viel Vertrauen auf deine Kinder. Ich denke aber, du wirſt wohl die Pfeife in den Sack ſtecken, wenn ich dir alles ſagen werde, was ich weiß. “
Stilling drehte ſich um, ſtand und ſtuͤtzte ſich auf ſeine Holzaxt, laͤchelte mit dem zufriedenſten und zuverſichtlichſten Geſichte, und ſagte: Was weißeſt du denn, Staͤhler, das mir ſo weh in der Seele thun ſoll?
„ Haſt du gehoͤrt, Nachbar Stilling, daß dein Wilhelm, der Schulmeiſter, heirathet? “
Nein, davon weiß ich noch nichts.
„ So will ich dir ſagen, daß er des vertriebenen Predigers Moritzens Tochter zu Lichthauſen haben will, und daß er ſich mit ihr verſprochen hat. “
Daß er ſich mit ihr verſprochen hat, iſt nicht wahr; daß er ſie aber haben will, das kann ſeyn.
Nun gingen ſie wieder.
„ Kann das ſeyn? Ebert! — Kannſt du das leiden? Ein Bettelmenſch, das nichts hat, kannſt du das deinem Sohn geben? “
Gebettelt haben des ehrlichen Mannes Kinder nie; und wann ſie’s haͤtten? — Aber welche Tochter mag es ſeyn? Moritz hat zwo Toͤchter.
„ Dortchen. “
Mit Dortchen will ich mein Leben beſchließen. Nie will ich es vergeſſen! Sie kam einmal zu mir auf einen Sonntag Nachmittag, gruͤßte mich und Margareth von ihrem Vater, ſetzte ſich und ſchwieg. Ich ſah ihr an den Augen an, daß ſie was wollte, auf den Backen aber las ich, daß ſie’s nicht ſa - gen konnte. Ich fragte ſie, braucht ihr was? Sie ſchwieg und ſeufzte. Ich ging und holte ihr vier Reichsthaler; da! ſagte ich, die will ich euch leihen, bis ihr mir ſie wieder ge - ben koͤnnt.
29„ Du haͤtteſt ſie ihr wohl ſchenken koͤnnen; die bekommſt du dein Lebetag nicht wieder! “
Das war auch meine Meinung, daß ich ihr das Geld ſchenken wollte. Haͤtt’ ich es ihr aber geſagt, das Maͤdchen haͤtte ſich noch mehr geſchaͤmt. Ach, ſagte ſie, beſter liebſter Vater Stilling! (das gute Kind weinte blutige Thraͤnen) wenn ich ſeh’, wie mein alter Papa ſein trocken Brod im Mund herumſchlaͤgt, und kann es nicht kauen, ſo blutet mir das Herz.
Meine Margareth lief, holte einen großen Topf ſuͤße Milch, und ſeitdem hat ſie alle Woche ein paarmal ſuͤße Milch da - hin geſchickt.
„ Und du kannſt leiden, daß Wilhelm das Maͤdchen nimmt? “
Wenn er’s haben will, von Herzen gern. Geſunde Leute koͤnnen was verdienen, reiche Leute koͤnnen das Ihrige verlieren.
„ Du haſt vorhin geſagt, du wuͤßteſt noch nichts davon. Du weißt doch, wie du ſagſt, daß er ſich noch nicht mit ihr ver - ſprochen hat. “
Das weiß ich! — Er fragt mich gewiß vorher.
„ Hoͤr’! Er dich fragen? Ja, da kannſt du lange warten! “
Staͤhler! ich kenne meinen Wilhelm. Ich hab’ meinen Kindern immer geſagt, ſie koͤnnten ſo arm und ſo reich hei - rathen als ſie wollten und koͤnnten, ſie ſollten nur auf Fleiß und Froͤmmigkeit ſehen. Meine Margareth hatte nichts, und ich ein Gut mit vielen Schulden. Gott hat mich geſegnet, ich kann jedem hundert Gulden baar mitgeben.
„ Ich bin kein Gleichviels-Mann, wie du! Ich muß wiſ - ſen was ich thue, und meine Kinder ſollen heirathen, wie ich’s vor’s beſte erkenne. “
Ein jeder macht die Schuh nach ſeinem Leiſten, ſagte Stilling. Nun war er nah vor ſeiner Hausthuͤr.
Margareth Stilling hatte ſchon ihre Toͤchter zu Bette ge - hen laſſen. Ein Stuͤck Pfannenkuchen ſtand vor ihrem Ebert auf einem irdenen Teller in der heißen Aſche; ſie hatte auch noch ein wenig Butter dazu gethan. Ein Kuͤmpfchen mit ge - brockter Milch ſtand auf der Bank, und ſie begann zu ſorgen,30 wo ihr Mann wohl ſo lange bleiben moͤchte. Indem raſſelte die Klinge an der Thuͤre, und er trat herein. Sie nahm ihm ſeinen leinenen Querſack von der Schulter, deckte den Tiſch und brachte ihm ſein Eſſen. Jemini! ſagte Margareth, der Wilhelm iſt noch nicht hier. Es wird ihm doch nicht etwa Ungluͤck begegnet ſeyn. Sind auch wohl Woͤlfe hier herum? Hat ſich wohl, ſagte der Vater, und lachte: denn das war ſo ſeine Gewohnheit, er lachte oft ſtark, wenn er ganz allein war.
Der Schulmeiſter, Wilhelm Stilling, trat hierauf in die Stube. Nachdem er ſeine Eltern mit einem guten Abend gegruͤßt, ſetzte er ſich auf die Bank, legte die Hand an den Backen und war tiefſinnig. — Er ſagte lange kein Wort. Der alte Stilling ſtocherte ſeine Zaͤhne mit einem Meſſer, denn das war ſo ſeine Gewohnheit nach Tiſche zu thun, wenn er auch ſchon kein Fleiſch gegeſſen hatte. Endlich fing die Mut - ter an: Wilhelm, mir war als bang, dir ſollte was wi - derfahren ſeyn, weil du ſo lange ausbleibſt. Wilhelm ant - wortete: O, Mutter! das hat keine Noth. Mein Vater ſagt ja oft, wer auf ſeinen Berufswegen geht, darf nichts fuͤrch - ten. Hier wurd’ er bald bleich, bald roth, endlich brach er ſtammelnd los, und ſagte: Zu Lichthauſen (ſo hieß der Ort, wo er Schule hielt, und dabei den Bauern ihre Kleider machte) wohnt ein armer vertriebener Prediger, ich waͤre wohl willens, ſeine juͤngſte Tochter zu heirathen; wenn ihr beide Eltern es zufrieden ſeyd, ſo wird ſich kein Hinderniß mehr finden. Wil - helm, antwortete der Vater, du biſt drei und zwanzig Jahr alt; ich habe dich lehren laſſen, du haſt Erkenntniß genug, kannſt dir aber in der Welt nicht ſelber helfen, denn du haſt gebrechliche Fuͤße; das Maͤdchen iſt arm, und zur ſchweren Arbeit nicht angefuͤhrt; was haſt du fuͤr Gedanken, dich Ins - kuͤnftige zu ernaͤhren? Der Schulmeiſter antwortete: Ich will mit meiner Handthierung mich wohl durchbringen, und mich im uͤbrigen ganz an die goͤttliche Vorſorge uͤbergeben; die wird mich und meine Dorthe eben ſowohl naͤhren, als alle Voͤgel des Himmels. Was ſagſt du, Margareth? ſprach der Alte. — Hm! was ſollt ich ſagen, verſetzte ſie: weißt31 du noch, was ich dir zur Antwort gab, in unſern Brautta - gen? Laß uns Wilhelmen mit ſeiner Frau zu uns nehmen, er kann ſein Handwerk treiben. Dorthe ſoll mir und meinen Toͤchtern helfen, ſo viel ſie kann. Sie lernt noch immer et - was, denn ſie iſt noch jung. Sie koͤnnen mit uns an den Tiſch gehen; was er verdient, das gibt er uns, und wir verſorgen dann Beide mit dem Noͤthigen: ſo gehts, mein’ ich, am beſten. Wenn du meinſt, erwiederte der Vater, ſo mag er das Maͤdchen holen. Wilhelm! Wilhelm! denke was du thuſt, es iſt nichts Geringes. Der Gott deiner Vaͤter ſegne dich mit allem, was dir und deinem Maͤdchen noͤthig iſt. Wilhelmen ſtanden die Thraͤnen in den Augen. Er ſchuͤttelte Vater und Mutter die Hand, verſprach ihnen alle Treue, und ging zu Bette. Und nachdem der alte Stilling ſein Abendlied geſungen, die Thuͤr mit dem hoͤlzernen Wirbel zugeklemmt, Margareth aber nach den Kuͤhen geſehen hatte, ob ſie alle laͤgen und wiederkaͤueten, ſo gingen ſie auch ſchlafen.
Wilhelm kam auf ſeine Kammer, an welcher nur ein Laden war, der aber eben ſo genau nicht ſchloß, daß nicht ſo viel Tag haͤtte durchſchimmern koͤnnen, um zu wiſſen, ob man aufſtehen muͤſſe. Dieſes Fenſter war noch offen, daher trat er an daſſelbe, es ſah gerade gegen den Wald hin; alles war in tiefer Stille, nur zwo Nachtigallen ſangen wechſels - weiſe auf das allerlieblichſte. Dieſes war Wilhelmen oͤfters ein Wink geweſen. Er ſank an der Wand nieder. „ O Gott! ſeufzte er, dir dank ich, daß du mir ſolche Eltern gegeben haſt! O, laß ſie Freude an mir ſehen! Laß mich ihnen nicht zur Laſt ſeyn! Dir dank ich, daß du mir eine tugend - hafte Frau gibſt! O ſegne mich! “— Thraͤnen und Empfin - dungen hemmten ihm die Sprache, und da redete ſein Herz unausſprechliche Worte, welche nur die Seelen empfinden und kennen, die ſich in gleicher Lage befunden haben.
Nie hat Jemand ſanfter geſchlafen, als der Schulmeiſter. Sein inniges Vergnuͤgen weckte ihn des Morgens fruͤher als ſonſt. Er ſtand auf, ging heraus in den Wald und erneuerte32 alle ſeine heiligen Vorſaͤtze, die er je in ſeinem Leben ſich vor - genommen hatte. Um ſieben Uhr ging er wieder nach Haus, und aß mit ſeinen Eltern und Schweſtern die ſuͤße Milchſuppe und ein Butterbrod. Nachdem ſich nun der Vater zuerſt, hernach auch der Sohn den Bart abgemacht, die Mutter aber mit den Toͤchtern ſich berathſchlaget, wer unter ihnen zu Hauſe bleiben, und wer in die Kirche gehen ſollte, ſo zog man ſich an. Dieſes alles war in einer halben Stunde geſchehen; ſo - dann gingen die Toͤchter vor, darnach Wilhelm, und zu hin - derſt der Vater mit ſeinem dicken Dornenſtocke. Wenn der alte Stilling mit ſeinen Kindern ausging, ſo mußten ſie allemal vor ihm gehen, damit er, wie er zu ſagen pflegte, den Gang und die Sitten ſeiner Kinder ſehen, und ſie zur Ehr - barkeit anfuͤhren koͤnnte.
Nach der Predigt ging Wilhelm wieder nach Licht - hauſen, wo er Schulmeiſter war, und wo auch ſein aͤlte - rer verheiratheter Bruder, Johann Stilling, wohnte. In einem andern Nachbarhauſe hatte der alte Paſtor Moritz mit ſeinen zwo Toͤchtern ein paar Kammern gemiethet, in welchen er ſich aufhielt. Nachdem nun den Nachmittag Wil - helm ſeinen Bauern eine Predigt in der Kapelle vorgeleſen, und mit ihnen nach altem Brauch ein Lied geſungen, ſo eilte er, ſo geſchwind als es nur ſeine gebrechlichen Fuͤße zulaſſen wollten, nach Herrn Moritzen. Der alte Mann ſaß eben vor ſeinem Clavier, und ſpielte ein geiſtlich Lied. Sein Schlaf - rock war ſehr reinlich und ſchoͤn gewaſchen, nirgend ſah man einen Riß, aber wohl hundert Lappen. Neben ihm auf einer Kiſte ſaß Dorothe, ein Maͤdchen von zwei und zwanzig Jah - ren, ebenfalls ſehr reinlich, aber aͤrmlich, angezogen, die gar anmuthig das Lied zu ihres Vaters Melodie ſang. Sie winkte ihrem Wilhelm heiterlaͤchelnd. Er ſetzte ſich zu ihr und ſang mit aus ihrem Buch. Sobald das Lied zu Ende war, gruͤßte der Paſtor Wilhelmen und ſagte: Schulmeiſter, ich bin nie vergnuͤgter, als wenn ich ſpiele und ſinge. Wie ich noch Pre - diger war, da ließ ich manchmal lange ſingen, weil unter ſo viel vereinigten Stimmen das Herz weit uͤber alles Irdiſche33 ſich wegzwingt. Doch ich muß etwas anders mit euch reden. Mein Dortchen hat mir geſtern Abend herausgeſtammelt, daß es euch lieb habe; ich bin aber arm; was ſagen eure Eltern? Sie ſind mit allem herzlich wohl zufrieden, antwortete Wil - helm. Dortchen drangen Thraͤnen aus ihren hellen Augen, und der alte ehrwuͤrdige Mann ſtand auf, nahm ſeiner Toch - ter rechte Hand, gab ſie Wilhelmen und ſagte: Ich habe nichts in der Welt, als zwo Toͤchter; dieſe iſt mein Aug - apfel; nimm ſie, Sohn! nimm ſie! — Er weinte — „ der Se - gen Jehova triefe auf euch herunter, und mache euch geſegnet vor ihm und ſeinen Heiligen und geſegnet vor der Welt! Eure Kinder muͤſſen wahre Chriſten werden, eure Nachkommen ſeyen groß! Sie muͤſſen angeſchrieben ſtehen im Buche des Lebens! Mein ganzes Leben war Gott geheiliget; unter vielen Schwach - heiten, aber ohne Anſtoß hab’ ich gewandelt und alle Men - ſchen geliebt; dieß ſey auch eure Richtſchnur, ſo werden meine Gebeine in Frieden ruhen! “ Er wiſchte ſich hier die Augen. Beide Verlobten kuͤßten ihm Haͤnde, Backen und Mund, und hernach auch ſich ſelbſt zum Erſtenmale, und ſo ſaßen ſie wie - der nieder. Der alte Herr fing hierauf an: Aber Dortchen, dein Braͤutigam hat gebrechliche Fuͤße, haſt du das noch nicht geſehen? Ja, Papa, ſagte ſie, ich hab’s geſehen; aber er re - det immer ſo gut und ſo fromm mit mir, daß ich ſelten Acht auf ſeine Fuͤße gebe.
„ Gut, Dortchen, die Maͤdchen pflegen doch auch wohl auf die Leibesgeſtalt zu ſehen. “
Ich auch, Papa, gab ſie zur Antwort; aber Wilhelm gefaͤllt mir ſo, wie er iſt; haͤtte er nun gerade Fuͤße, ſo waͤre er Wilhelm Stilling nicht, und wie wuͤrde ich ihn denn lieb haben koͤnnen?
Der Paſtor laͤchelte zufrieden und fuhr fort: Du wirſt nun dieſen Abend auch die Kuͤche beſtellen muͤſſen, denn der Braͤu - tigam muß mit dir eſſen. Ich hab’ nichts, ſagte die unſchul - dige Braut, als ein wenig Milch, Kaͤſe und Brod: wer weiß aber, ob mein Wilhelm damit zufrieden iſt? Ja, verſetzte Wilhelm, ein Stuͤck trocken Brod mit auch zu eſſen, iſt an -Stilling’s Schriften. I. Bd. 334genehmer, als fette Milch mit Wetßbrod und Eierpfannen - kuchen. Herr Moritz zog indeſſen ſeinen abgetragenen brau - nen Rock mit ſchwarzen Knoͤpfen und Knoͤpfloͤchern an, nahm ſein lakirt geweſenes Rohr, ging und ſagte: Da will ich zum Amtsverwalter gehen, er wird mir ſeine Flinte leihen, und dann will ich ſehen, ob ich etwas ſchießen kann. Das that er oft, denn er war in ſeiner Jugend ein Freund von der Jagd geweſen.
Nun waren unſere Verlobten allein, und das hatten ſie Beide gewuͤnſcht. Wie er fort war ſchlugen ſie die Haͤnde in ein - ander, ſaßen neben einander, und erzaͤhlten ſich, was ein Je - des empfunden, geredet und gethan, ſeitdem ſie ſich einander gefallen hatten. Sobald ſie fertig waren, fingen ſie wieder von vorne an, und gaben der Geſchichte vielerlei Wendungen; ſo war ſie immer neu: fuͤr alle Menſchen langweilig, nur fuͤr ſie nicht.
Friedrike, Moritzens andere Tochter, unterbrach dieſes Vergnuͤgen. Sie ſtuͤrmte herein, indem ſie ein altes Hiſtorien-Lied daherſang. Sie ſtutzte. Stoͤr’ ich euch? fragte ſie. — Du ſtoͤrſt mich nie, ſagte Dortchen; denn ich gebe nie - mals Acht auf das, was du ſagſt oder thuſt. Ja, du biſt fromm, verſetzte jene; aber du darfſt doch ſo nah bei dem Schulmeiſter ſitzen? doch der iſt auch fromm. — Und noch dazu dein Schwager, fiel ihr Dorthe in die Rede, heute haben wir uns verſprochen. — Das gibt alſo eine Hochzeit fuͤr mich, ſagte Friedrike, und huͤpfte wieder zur Thuͤre hinaus.
Indem ſie ſo vergnuͤgt beiſammen ſaßen, ſtuͤrmte Friedrike wuͤthend wieder in die Kammer. Ach! rief ſie ſtammelnd, da bringen ſie meinen Vater blutig ins Dorf. Joſt, der Jaͤger, ſchlaͤgt ihn noch immer, und drei von Junkers Knech - ten ſchleppen ihn fort. Ach! ſie ſchlagen ihn todt! Dort - chen that einen hellen Schrei und floh zur Thuͤre hinaus. Wilhelm eilte ihr nach, aber der gute Menſch konnte nicht ſo geſchwind fort, wie die Maͤdchen. Sein Bruder Johann wohnte nah bei Moritzen, dem rief er. Dieſe beide gingen dann auf den Laͤrm zu. Sie fanden Moritzen in dem Wirths -35 hauſe auf einem Stuhl ſitzen; ſeine grauen Haare waren von Blut zuſammengebacken; die Knechte und der Jaͤger ſtanden um ihn, fluchten, ſpotteten, knuͤpften ihm Faͤuſte vor die Naſe, und eine geſchoſſene Schnepfe lag vor Moritzen auf dem Tiſch. Der unpartheiiſche Wirth trug ruhig Branntwein zu. Frie - drike bat flehentlich um Gnade, und Dortchen um ein wenig Branntwein, dem Vater den Kopf zu waſchen: allein ſie hatte kein Geld, zu bezahlen, und der Schade war auch zu groß fuͤr den Wirth, ihr ein halbes Glas zu ſchenken. Doch, wie die Weiber von Natur barmherzig ſind, ſo brachte die Wirthin einen Scherben, der unter dem Zapfen des Brannt - weins geſtanden, und daraus wuſch Dortchen dem Vater den Kopf. Moritz hatte ſchon vielmal geſagt, daß ihm der Junker Erlaubniß gegeben, ſo viel zu ſchießen, als ihm be - liebte; allein der war nun jetzt zum Ungluͤcke verreiſet; der Paſtor ſchwieg dabei ſtill und entſchuldigte ſich nicht mehr. So ſtanden die Sachen, als die Gebruͤder Stilling ins Wirths - haus kamen. Die erſte Rache, die ſie nahmen, war an ei - nem Branntweinglaſe, womit der Wirth aus dem Keller kam, und es ſehr behutſam trug, um nichts zu verſchuͤtten; wie - wohl dieſe Vorſicht eben ſo gar noͤthig nicht war, denn das Glas war uͤber ein Viertel leer. Johann Stilling wiſchte dem Wirth uͤber die Hand, daß das Glas gegen die Wand fuhr und in tauſend Stuͤcken ſprang. Wilhelm aber war ſchon in der Stube, griff ſeinen Schwiegervater an der Hand, und fuͤhrte ihn mit ſolchem Ernſt aus der Stube, gleich als wenn er der Junker ſelbſt geweſen waͤre, ſagte aber Niemand etwas, ſondern ſchwieg ganz ſtill. Der Jaͤger und die Knechte drohten, hielten bald hie, bald da; allein Wilhelm, der deſto ſtaͤrker in den Armen war, je ſchwaͤcher ſeine Fuͤße wa - ren, ſah und hoͤrte nicht, ſchwieg immer ſtill und arbeitete nur Moritzen los. Wo er an ſeinem Rock eine zugeklemmte Hand fand, die brach er auf, und ſo brachte er ihn vor die Thuͤr. Johann Stilling aber redete mit den Jaͤgern und den Knechten, und ſeine Worte waren lauter Meſſer fuͤr ſie; denn ein Jeder wußte, wie hoch er bei dem Junker angeſchrieben3 *36ſtand, und wie oft er mit ihm zu Abend ſpeiſen mußte. Die Sache lief am Ende dahin aus, daß der Jaͤger bei der Wie - derkunft des Junkers abgeſetzt, Moritzen aber zwanzig Tha - ler fuͤr ſeine Schmerzen ausgezahlt wurden. Was ihnen noch ſchneller durchhalf, war, daß der ganze Platz vor dem Hauſe voller Bauern ſtand, welche Tabak rauchten, und ſich mit dem Zuſehen beluſtigten; und es nur darauf ankam, daß ei - ner unter ihnen die Frage aufwarf, ob nicht durch dieſen Vor - fall Eingriff in ihre Freiheit geſchehen ſey? Ploͤtzlich wuͤrden hundert Faͤuſte bereit geweſen ſeyn, ihre chriſtliche Liebe ge - gen Moritzen auf den Nacken Joſtens und ſeiner Gefaͤhrten zu beweiſen. Auch war der Wirth eine feige Memme, der oft Ohrfeigen von ſeiner Frau verſchlucken mußte; und end - lich muß ich noch hinzufuͤgen, der alte Stilling und ſeine Soͤhne hatten ſich durch ihre ernſte und abgeſonderte Auffuͤh - rung eine ſolche Hochachtung erworben, daß faſt Niemand das Herz hatte, in ihrer Gegenwart nur zu ſcherzen; wozu noch kommt, was ich oben ſchon beruͤhrt, daß Johann Stil - ling bei dem Junker in großer Gnade ſtand. Nun wieder zur Geſchichte.
Der alte Moritz wurde in wenig Tagen wieder beſſer, und man vergaß dieſe verdrießliche Sache um ſo eher, weil man ſich mit viel vergnuͤgteren Dingen beſchaͤftigte, naͤmlich mit den Zuruͤſtungen zur Hochzeit, welche der alte Stilling und ſeine Margarethe ein fuͤr allemal in ihrem Hauſe haben wollten. Sie maͤſteten ein paar Huͤhner zu Suppen, und ein fettes Milchkalb wurde dazu beſtimmt, auf großen irde - nen Schuͤſſeln gebraten zu werden; gebackene Pflaumen die Menge, und Reis zu Breien, nebſt Roſinen und Korinthen in die Huͤhnerſuppen, wurden im Ueberfluß angeſchafft. Der alte Stilling hat ſich wohl verlauten laſſen, daß ihn dieſe Hochzeit, nur allen an Speiſen und Viktualien bei zehen Reichs - thaler gekoſtet habe. Dem ſey aber wie ihm wolle, alles war doch aufgeraͤumt. Wilhelm hatte fuͤr die Zeit die Schule ausgeſetzt; denn in ſolchen Zeiten iſt man zu keinem Berufs - geſchaͤfte aufgelegt. Auch brauchte er die Tage nothwendig,37 ſeiner Braut und Schweſtern neue Kleider auf die Hochzeit zu machen, und ſonſt mancherlei zu handthieren. Stillings Toͤchter verlangten ſolche ebenfalls. Sie probirten oͤfters ihre neuen Waͤmmſer und Roͤcke von feinem ſchwarzen Tuch; die Zeit wurd’ ihnen Jahre lang, bis ſie ſie einmal einen ganzen Tag anhaben konnten.
Endlich brach dann der laͤngſt gewuͤnſchte Donnerſtag an. Alles war den Morgen vor der Sonne in Stillings Hauſe wach; nur der Alte, der den Abend vorher ſpaͤt aus dem Wald gekommen war, ſchlief ruhig, bis es Zeit war, mit den Braut - leuten zur Kirche zu gehen. Nun ging man in geziemter Ord - nung nach Florenburg, allwo die Braut mit ihrem Gefolge ſchon angekommen war. Die Copulation ging ohne Wider - ſpruch vor ſich, und alle zuſammen verfuͤgten ſich nun nach Tiefenbach zum Hochzeitmahle. Zwei lange Bretter wa - ren in der Stube neben einander auf hoͤlzerne Boͤcke gelegt, anſtatt des Tiſches; Margareth hatte ihre feinſten Tiſch - tuͤcher daruͤber geſpreitet, und nun wurden die Speiſen aufge - tragen. Die Loͤffel waren von Ahornholz, ſchoͤn glatt, mit ausgeſtochenen Roſen, Blumen und Laubwerk gearbeitet. Die Zulegmeſſer hatten ſchoͤne gelbe hoͤlzerne Stiele; ſo waren auch die Teller ſchoͤn rund und glatt vom haͤrteſten weißen Buchen - holz gedrechſelt. Das Bier ſchaͤumte in weißen ſteinernen Kruͤ - gen mit blauen Blumen. Doch ſtellte Margareth auch einem Jeden frei, anſtatt des Biers, von ihrem angenehmen Birnmoſt zu trinken, wenn Jemand dazu Belieben tragen moͤchte.
Nachdem alle zur Genuͤge gegeſſen und getrunken hatten, ſo wurden vernuͤnftige Geſpraͤche angeſtellt. Wilhelm aber und ſeine Braut wollten lieber allein ſeyn und reden; ſie gin - gen daher tief in den Wald hinein. Mit der Entfernung von den Menſchen wuchs ihre Liebe. Ach, waͤren keine Beduͤrf - niſſe des Lebens! keine Kaͤlte, Froſt und Naͤſſe, was wuͤrde dieſem Paar an einer irdiſchen Seligkeit gemangelt haben? Die beiden alten Vaͤter, die ſich indeſſen mit dem Krug Bier allein geſetzt hatten, verfielen in ein ernſtes Geſpraͤch. Stil - ling redete alſo:
38„ Herr Mitvater, mir hat immer gedaͤucht, Ihr haͤttet beſ - ſer gethan, wenn Ihr Euch an das Laboriren gar nicht ge - kehrt haͤttet. “
Warum, Mitvater?
„ Wenn Ihr Eure Uhrmacherei beſtaͤndig getrieben haͤttet, ſo haͤttet Ihr reichlich Euer Brod erwerben koͤnnen; nun aber hat Euch Eure Arbeit nichts geholfen, und dasjenige, was Ihr hattet, iſt noch dazu darauf gegangen. “
Ihr habt Recht und auch Unrecht. Wenn ich gewußt haͤtte, daß dreißig bis vierzig Jahr hingehen wuͤrden, eh’ ich den Stein der Weiſen wuͤrde gefunden haben, ſo haͤtte ich mich freilich bedacht, ehe ich’s angefangen haͤtte. Nun aber, da ich durch die lange Erfahrung Etwas gelernt habe, und tief in die Erkenntniſſe der Natur eingedrungen bin, nun wuͤrd’ es mir leid thun, wenn ich mich umſonſt ſollte lange geplagt haben.
„ Ihr habt Euch gewiß ſo lange umſonſt geplagt, denn Ihr habt Euch einmal bisher kuͤmmerlich beholfen. Ihr moͤgt nun ſo reich werden als Ihr wollt, Ihr koͤnnt doch das Elend ſo vieler Jahre nicht in Gluͤckſeligkeit verwandeln; und zudem glaub’ ich nicht, daß Ihr ihn jemals bekommt. Wenn ich die Wahrheit ſagen ſoll, ich glaube nicht, daß es einen Stein der Weiſen gibt! “
Ich kann Euch beweiſen, daß es einen Stein der Weiſen gibt. Ein gewiſſer Doktor Helvetius im Haag hat ein klein Buͤchlein geſchrieben, das guͤldene Kalb genannt: darin iſt es deutlich bewieſen, ſo daß Niemand, auch der groͤßte[Ungläubige], wenn er’s lieſet, nicht mehr zweifeln kann. Ob ich denſelben aber bekommen werde, das iſt eine andere Frage. Warum nicht eben ſowohl als ein Anderer? da er ein freies Geſchenk Gottes iſt.
„ Wenn Euch Gott den Stein der Weiſen ſchenken wollte, Ihr haͤttet ihn ſchon lange! Warum ſollte er ihn Euch ſo lange vorenthalten? Zudem iſt’s ja nicht noͤthig, daß Ihr ihn habt; wie viel Menſchen leben ohne den Stein der Weiſen! “
Das iſt wahr; aber wir ſollen uns ſo gluͤcklich machen als wir koͤnnen.
39„ Ein dreißigjaͤhrig Elend iſt gewiß kein Gluͤck; aber nehmt mir nicht uͤbel (er ſchuͤttelte ihm die Hand) ich habe, ſo lang ich lebe, keinen Mangel gehabt, bin geſund geweſen und alt worden, meine Kinder hab’ ich erzogen, lernen laſſen, und or - dentlich gekleidet. Ich bin recht vergnuͤgt, und alſo gluͤcklich! Man konnte mir den Stein der Weiſen nicht ſchenken. “
„ Aber hoͤrt, Mitvater! Ihr ſingt recht gut, und ſchreibt ſchoͤn; werdet Schulmeiſter hier im Dorfe! Friedriken koͤnnt Ihr vermiethen. Da hab’ ich noch eine Kleiderkammer, dar - ein will ich ein Bett ſtellen, ſo koͤnnt Ihr bei mir wohnen, und alſo immer bei Euern Kindern ſeyn. “
Euer Anerbieten, Mitvater, iſt ſehr gut; ich werd’ es auch annehmen, wenn ich nur noch einen Verſuch werde gemacht haben.
„ Macht keine Probe mehr, Mitvater! ſie wird Euch gewiß fehlen. Aber laßt uns von etwas Anderm reden. Ich bin ein großer Liebhaber von der Sternwiſſenſchaft; kennt Ihr auch wohl den Sirius im großen Hund? “
Ich bin eben kein Sternkundiger, doch aber kenn’ ich ihn.
„ Er ſteht gemeiniglich des Abends gegen Mittag. Er flammt ſo gruͤnroͤthlich. Wie weit mag er wohl von der Erde ſeyn? Sie ſagen, er ſoll wohl noch viel hoͤher ſeyn als die Sonne. “
O! wohl tauſendmal hoͤher!
„ Wie iſt das moͤglich? Ich bin ſo ein Liebhaber von den Sternen. Ich mein’ immer, ich waͤr’ ſchon dabei, wenn ich ſie beſehe. Aber kennt ihr auch den Wagen und den Pflug? “
Ja, man hat ſie mir wohl gewieſen.
„ O welch ein wunderbarer Gott! “
Margarethe Stilling hoͤrte dieſes Geſpraͤch; ſie kam und ſetzte ſich zu ihrem Mann. Ach Ebert! ſagte ſie, ich kann wohl an einer Blume ſehen, daß Gott wunderbar iſt. Laßt uns die begreifen lernen! Wir wohnen bei dem Gras und den Blumen; die laßt uns hier bewundern; wenn wir im Him - mel ſind, dann wollen wir die Sterne betrachten!
Das iſt recht, ſagte Moritz, es ſind ſo viele Wunder in der Natur; wenn wir die recht betrachten, ſo koͤnnen wir die40 Weisheit Gottes wohl kennen lernen! Doch ein Jeder hat ſo Etwas, wozu er beſonders Luſt hat.
So vertrieben die Hochzeitgaͤſte den Tag. Wilhelm Stil - ling und ſeine Braut verfuͤgten ſich auch nach Hauſe, und fin - gen ihren Eheſtand an; wovon ich im folgenden Kapitel meh - reres ſagen werde.
Stillings Toͤchter aber ſaßen in der Daͤmmerung unter dem Kirſchenbaum und ſangen folgendes ſchoͤne weltliche Liedlein:
Eberhard Stilling und Margareth ſeine eheliche Hausfrau, erlebten nun eine neue Periode in ihrer Haushal - tung. Da war nun ein neuer Hausvater und eine neue Haus - mutter in ihrer Familie entſtanden. Die Frage war alſo: Wo ſollen dieſe Beide ſitzen, wenn wir ſpeiſen? — Um die Dun - kelheit im Vortrag zu vermeiden, muß ich erzaͤhlen, wie eigent - lich Vater Stilling ſeine Ordnung und Rang am Tiſche be - obachtete. Oben in der Stube war eine Bank von einem ei - chenen Brett laͤngs der Wand genagelt, die bis hinter den Ofen reichte. Vor dieſer Bank, dem Ofen gegenuͤber, ſtand der Tiſch, als Klappe an die Wand befeſtigt, damit man ihn an dieſelbe aufſchlagen konnte. Er war aus einer eichenen Diele von Vater Stilling ſelbſten ganz feſt und treuherzig ausgearbeitet. An dieſem Tiſch ſaß Eberhard Stilling oben an der Wand, wo er durch das Brett befeſtigt war, und zwar vor demſelben. Vielleicht hatte er ſich dieſen vortheil - haften Platz darum gewaͤhlt, damit er ſeinen linken Ellenbo - gen auf das Brett ſtuͤtzen, und zugleich ungehindert mit der rechten Hand eſſen koͤnnte. Doch davon iſt keine Gewißheit, denn er hat ſich nie in ſeinem Leben deutlich daruͤber erklaͤret. An ſeiner rechten Seite vor dem Tiſch ſaßen ſeine vier Toͤch - ter, damit ſie ungehindert ab - und zugehen koͤnnten. Zwi - ſchen dem Tiſch und dem Ofen hatte Margareth ihren Platz; eines Theils, weil ſie leicht fror, und andern Theils, damit ſie fuͤglich uͤber den Tiſch ſehen konnte, ob etwa hier oder dort Etwas fehlte. Hinter dem Tiſch hatten Johann und Wilhelm geſeſſen, weil aber der eine verheirathet war, und der andere Schule hielt, ſo waren dieſe Plaͤtze leer, bis jetzt, da ſie dem jungen Ehepaar, nach reiflicher Ueberlegung, an - gewieſen wurden.
Zuweilen kam Johann Stilling ſeine Eltern zu beſuchen. Das ganze Haus freute ſich, wenn er kam; denn er war ein beſonderer Mann. Ein jeder Bauer im Dorfe hatte auch Ehrfurcht vor ihm. Schon in ſeiner fruͤhen Jugend hatte er einen hoͤlzernen Teller zum Aſtrolabium, und eine feine, ſchoͤne Butterdoſe von ſchoͤnem Buchenholz zum Compas umgeſchaf -43 fen, und von einem Huͤgel geometriſche Obſervationen ange - ſtellt. Denn zu der Zeit ließ der Landesfuͤrſt eine Landcharte verfertigen. Johann hatte zugeſehen, wann der Ingenieur operirte. Zu dieſer Zeit aber war er wirklich ein geſchickter Land - meſſer, wurde auch von Edeln und Unedeln bei Theilung der Guͤter gebraucht. Große Kuͤnſtler haben gemeiniglich die Tu - gend an ſich, daß ihr erfinderiſcher Geiſt immer etwas Neues ſucht; daher iſt ihnen dasjenige, was ſie ſchon erfunden ha - ben, und was ſie wiſſen, viel zu langweilig, es ferner zu ver - feinern. Johann Stilling war alſo arm: denn was er konnte, verſaͤumte er,[u]m dasjenige zu wiſſen, was er noch nicht konnte. Seine gute einfaͤltige Frau wuͤnſchte oft, daß ihr Mann ſeine Kuͤnſteleien auf Feld und Wieſen zu verbeſſern wenden moͤchte, damit ſie mehr Brod haͤtten. Allein, laßt uns der guten Frau ihre Einfalt verzeihen; ſie verſtand es nicht beſſer; wenigſtens Johann war klug genug hiezu. Er ſchwieg oder laͤchelte.
Die Quadratur des Zirkels und die immerwaͤhrende Bewe - gung beſchaͤftigten ihn zu dieſe[r]Zeit. War er nun in ein Geheimniß tiefer eingedrungen, ſo lief er geſchwind nach Tie - fenbach, um ſeinen Eltern und Geſchwiſtern ſeine Entdeckung zu erzaͤhlen. Kam er denn unten durchs Dorf herauf, und es erblickte ihn Jemand aus Stillings Hauſe, ſo lief man gleich nach Hauſe und rief Alle zuſammen, um ihn an der Thuͤre zu empfangen. Ein Jedes arbeitete dann mit doppel - tem Fleiß, um nach dem Abendeſſen nichts mehr zu thun zu haben. Dann ſetzte man ſich um den Tiſch, ſtuͤtzte die El - lenbogen darauf, und die Haͤnde an die Backen — Aller Au - gen war auf Johanns Mund gerichtet.
Alle halfen denn an der Quadratur des Zirkels erfin - den; ſelbſt der alte Stilling verwendete vielen Fleiß auf die Sache. Ich wuͤrde dem erfinderiſchen, oder beſſer, dem gu - ten und natuͤrlichen Verſtande dieſes Mannes Gewalt anthun, wenn ich ſagen ſollte: er haͤtte nichts in dieſer Sache gelei - ſtet. Bei ſeinem Kohlenbrennen beſchaͤftigte er ſich damit. Er zog eine Schnur um ſein Birnmoſtfaß, ſchnitt ſie mit ſeinem44 Brodmeſſer ab; ſaͤgte dann ein Brett genau vierkantig, und ſchabte es ſo lange, bis die Schnur juſt darum paßte. Nun mußte ja das viereckigte Brett genau ſo groß ſeyn, als der Zirkel des Moſtfaſſes. Eberhard ſprang auf einem Fuß her - um, verlachte die großen gelehrten Koͤpfe, daß ſie aus dem einfaͤltigen Dinge ſo viel Werks machten, und erzaͤhlte bei naͤchſter Gelegenheit ſeinem Johann die Erfindung. Wir wollen die Wahrheit geſtehen. Vater Stilling hatte wohl nichts Hoͤhniſches in ſeinem Charakter: doch lief hier eine kleine Satyre mit unter; aber der Landmeſſer machte bald der Freude ein Ende, indem er ſagte: Es iſt die Frage nicht, Vater! ob ein Schreiner einen viereckigten Kaſten machen koͤnne, der juſt ſo viel Haber enthalte, als eine runde cylindriſche Tonne; ſondern es muß ausgemacht ſeyn, wie ſich der Diameter des Zirkels gegen ſeine Peripherie verhalte, und dann, wie groß eine Seite des Quadrats ſeyn muͤſſe, wenn es ſo groß als der Zirkel ſeyn ſoll. Aber in beiden Faͤllen darf an einem Facit nicht der tauſendſte Theil eines Haars fehlen. Es muß in der Theorie durch die Algebra bewirkt werden koͤnnen, daß es wahr iſt!
Der alte Stilling wuͤrde ſich geſchaͤmt haben, wenn nicht die Gelehrſamkeit ſeines Sohns, und ſeine unmaͤßige Freude daruͤber, alles Schaͤmen bei ihm verdraͤngt haͤtte. Er ſagte deßwegen nichts weiter, als: Mit Gelehrten iſt nicht gut diſputiren; lachte, ſchuͤttelte den Kopf, und fuhr fort, von ei - nem birkenen Klotz Spaͤne zu ſchneiden, womit man Feuer und Lichter, auch allenfalls eine Pfeife Tabak anzuͤnden konnte. Dieſes war ſo ſeine Beſchaͤftigung bei muͤßigen Stunden.
Stillings Toͤchter waren ſtark und arbeitſam. Sie pfleg - ten die Erde, und ſie gab ihnen reiche Nahrung im Garten und Felde. Dortchen aber hatte zarte Glieder und Haͤnde, ſie wurde geſchwind muͤde, und dann ſeufzte ſie und weinte. Unbarmherzig waren nun die Maͤdchen eben nicht; aber ſie konnten doch nicht begreifen, warum ein Weibsbild, das eben ſo groß als ihrer Eine war, nicht auch eben ſo gut ſollte ar - beiten koͤnnen. Doch mußte ihre Schwaͤgerin oft ausruhen,45 auch ſagten ſie ihren Eltern niemals, daß ſie kaum ihr Brod verdiente. Wilhelm ſah es bald ein; er erhielt daher von der ganzen Familie, daß ſeine Frau ihm an Naͤhen und Klei - dermachen helfen ſollte. Dieſer Vertrag wurde geſchloſſen, und alle befanden ſich wohl dabei.
Der alte Paſtor Moritz beſuchte nun auch zum Erſtenmal ſeine Tochter. Dortchen weinte vor Freuden, wie ſie ihn ſah, und wuͤnſchte Hausmutter zu ſeyn, um ihm recht guͤtlich thun zu koͤnnen. Er ſaß den ganzen Nachmittag bei ſeinen Kindern, und redete mit ihnen von geiſtlichen Sachen. Er ſchien ganz veraͤndert, kleinmuͤthig und betruͤbt zu ſeyn. Ge - gen Abend ſagte er: Kinder! fuͤhrt mich einmal auf das Gei - ſenberger Schloß. Wilhelm legte ſeinen eiſernen ſchweren Fingerhut ab, und ſpukte in die Haͤnde; Dortchen aber ſteckte ihren Fingerhut an den kleinen Finger, und nun ſtiegen ſie zum Wald auf. Kinder! ſagte Moritz, mir iſt hier ſo wohl unter dem Schatten der Maibuchen. Je hoͤher wir kommen, je freier werd’ ich. Es iſt mir eine Zeit her geweſen, als Einem, der nicht zu Hauſe iſt. Dieſer Herbſt muß wohl der letzte meines Lebens ſeyn. Wilhelm und Dortchen hat - ten Thraͤnen in den Augen. Oben auf dem Berge, wo ſie bis an den Rhein, und die ganze Gegend uͤberſehen konnten, ſetzten ſie ſich an eine zerfallene Mauer des Schloſſes. Die Sonne ſtand in der Ferne nicht mehr hoch uͤber dem blauen Gebirge. Moritz ſah ſtarr dorthin, und ſchwieg lange; auch ſagten ſeine Begleiter nicht ein Wort. Kinder! ſprach er end - lich, ich hinterlaß euch nichts, wenn ich ſterbe. Ihr koͤnnt mich wohl miſſen. Niemand wird um mich weinen. Ich habe mein Leben muͤhſam und unnuͤtz zugebracht, und Nie - mand gluͤcklich gemacht. Mein lieber Vater! antwortete Wil - helm, Ihr habt doch mich gluͤcklich gemacht. Ich und Dort - chen werden herzlich um euch weinen. „ Kinder! verſetzte Moritz, unſere Neigungen fuͤhren uns leicht zum Verderben. Wie viel wuͤrde ich der Welt haben nutzen koͤnnen, wenn ich kein Alchymiſt geworden waͤre! Ich wuͤrde euch und mich gluͤcklich gemacht haben! (Er weinte laut.) Doch denke ich46 immer daran, daß ich meinen Fehler erkannt habe, und nun noch will ich mich aͤndern. Gott iſt ein Vater, auch uͤber die irrenden Kinder. Nun hoͤret noch eine Ermahnung von mir, und folgt derſelben: Alles was ihr thut, das uͤberlegt vorher wohl, ob es auch Andern nuͤtzlich ſeyn koͤnne. Findet ihr, daß es nur euch dienlich iſt, ſo denkt: das iſt ein Werk ohne Belohnung. Nur wo wir dem Naͤchſten dienen, da belohnt uns Gott! Ich habe arm und unbemerkt in der Welt dahin - gewandelt, und wann ich todt bin, dann wird man meiner bald vergeſſen: ich aber werde Barmherzigkeit finden vor dem Thron Chriſti, und ſelig ſeyn. “— Nun gingen ſie wieder nach Haus, und Moritz blieb immer traurig. Er ging um - her, troͤſtete die Arme und betete mit ihnen. Auch arbeitete er und machte Uhren, womit er ſein Brod erwarb, und noch Etwas uͤbrig behielt. Doch dieſes waͤhrte nicht lange, denn den folgenden Winter verlor man ihn; man fand ihn nach dreien Tagen unter dem Schnee und war todt gefroren.
Nach dieſem traurigen Zufall entdeckte man in Stillings Hauſe eine wichtige Neuigkeit. Dortchen war geſegneten Leibes, und Jedermann freuete ſich auf ein Kind, deren in vielen Jahren kein’s im Hauſe geweſen war. Mit was fuͤr Muͤhe und Fleiß man ſich auf Dortchens Entbindung ge - ruͤſtet, iſt nicht zu ſagen. Der alte Stilling ſelbſt freute ſich auf einen Enkel, und hoffte noch einmal vor ſeinem Ende ſeine alten Wiegenlieder zu ſingen und ſeine Erziehungskunſt zu beweiſen.
Nun nahete der Tag der Niederkunft heran, und 1740 den 12ten September, Abends um 8 Uhr, wurde Heinrich Stil - ling geboren. Der Knabe war friſch, geſund und wohl, und ſeine Mutter wurde gleichfalls, gegen die Weiſſagungen der Tiefenbacher Sybillen, geſchwind wieder beſſer.
Das Kind wurde in der Florenburger Kirche getauft. Vater Stilling aber, um dieſen Tag feierlicher zu machen, richtete ein Mahl an, bei welchem er den Herrn Paſtor Stoll - bein zu ſehen wuͤnſchte. Er ſchickte daher ſeinen Sohn Jo -47 hann ins Pfarrhaus, und ließ den Herrn erſuchen, mit nach Tiefenbach zu gehen, um ſeinem Mahle beizuwohnen. Johann ging, er that ſchon den Hut ab, als er in den Hof kam, um nichts zu verſehen; aber leider, wie oft iſt alle menſch - liche Vorſicht unnuͤtz! Es ſprang ein großer Hund hervor; Johann Stilling griff einen Stein, warf, und traf den Hund in eine Seite, daß er abſcheulich zu heulen anfing. Der Paſtor ſah durchs Fenſter was paſſirte; voll von Eifer ſprang er heraus, knuͤpfte dem armen Johann eine Fauſt vor die Naſe: Du lumpigter Flegel! kriſch er, ich will dich lernen meinem Hund begegnen! Stilling antwortete: Ich wußte nicht, daß es Ew. Ehrwuͤrden Hund war. Mein Bru - der und meine Eltern laſſen den Herrn Paſtor erſuchen, mit nach Tiefenbach zu gehen, um der Taufmahlzeit beizuwohnen. Der Paſtor ging und ſchwieg ſtill. Doch murrte er aus der Hausthuͤr zuruͤck: Wartet, ich will mitgehen. Er wartete faſt eine Stunde im Hof, liebkoſete den Hund, und das arme Thier war auch wirklich verſoͤhnlicher, als der große Gelehrte, der nun aus der Hausthuͤre herausging. Der Mann wan - delte mit Zuverſicht an ſeinem Rohrſtab. Johann trabte furchtſam hinter ihm mit dem Hut unterem Arm; den Hut aufzuſetzen war eine gefaͤhrliche Sache; denn er hatte in ſei - ner Jugend manche Ohrfeige von dem Paſtor bekommen, wenn er ihn nicht fruͤh genug, das iſt, ſo bald er ihn in der Ferne erblickte, abgezogen hatte. Doch aber eine ganze Stunde lang mit bloßem Haupt, im September, unter freiem Himmel zu gehen, war doch auch entſetzlich! Daher ſann er auf einen Fund, wie er fuͤglich ſeinen Kopf bedecken moͤchte. Ploͤtzlich fiel der Herr Stollbein zur Erde, daß es platſchte. Johann er - ſchrack. Ach! rief er, Herr Paſtor, habt Ihr Euch Scha - den gethan? Was gehts euch an, Schlingel! war die helden - muͤthige Antwort dieſes Mannes, indem er ſich aufraffte. Nun gerieth Johanns Feuer in etwas in Flammen, daß er herausfuhr: So freue ich mich denn herzlich, daß Ihr gefallen ſeyd, und laͤchelte noch dazu. Was! Was! rief der Paſtor. Aber Johann ſetzte den Hut auf, ließ den Loͤwen bruͤllen,48 ohne ſich zu fuͤrchten, und ging. Der Paſtor ging auch, und ſo kamen ſie denn endlich nach Tiefenbach.
Der alte Stilling ſtand vor der Thuͤre, mit bloßem Haupt; ſeine ſchoͤne grauen Haare ſpielten am Mond: er laͤchelte den Herrn Paſtor an, und ſagte, indem er ihm die Hand gab: Ich freue mich, daß ich in meinem Alter den Herrn Paſtor an meinem Tiſch ſehen ſoll; aber ich wuͤrde ſo kuͤhn nicht geweſen ſeyn, wenn meine Freude uͤber einen Enkel nicht ſo groß waͤre. Der Paſtor wuͤnſchte ihm Gluͤck, doch mit angehaͤngter wohlmeinender Drohung, daß, wenn ihn nicht der Fluch des Eli treffen ſollte, er mehr Fleiß auf die Erziehung ſeiner Kinder anwenden muͤßte. Der Alte ſtand da in ſeinem Vermoͤgen und laͤchelte, doch ſchwieg er ſtille und fuͤhrte Seine Ehrwuͤrden in die Stube. Ich will doch nicht hoffen, ſagte der Herr Paſtor, daß ich hier unter dem Schwarm von Bauern ſpeiſen ſoll. Vater Stilling antwortete: Hier ſpeist Niemand, als ich und meine Frau und Kinder, iſt Euch das ein Bauernſchwarm? Ei, was anders! antwortete jener. So muß ich Euch erinnern, Herr! — verſetzte Stilling, daß Ihr nichts weniger als ein Diener Chriſti, ſondern ein Phariſaͤer ſeyd. Er ſaß bei den Zoͤllnern und Suͤndern, und aß mit ihnen. Er war uͤberall klein und niedrig und demuͤthig. Herr Paſtor! … meine grauen Haare richten ſich in die Hoͤhe; ſetzt Euch, oder geht wieder! Hier pocht Etwas, ich moͤchte mich ſonſt an eurem Kleide vergreifen, wofuͤr ich doch ſonſten Reſpekt habe. Hier! Herr! hier vor meinem Hauſe ritt der Fuͤrſt vorbei; ich ſtand vor meiner Thuͤre; er kannte mich. Da ſagte er: Guten Morgen, Stilling! Ich ant - wortete: Guten Morgen, Ihr Durchlaucht! Er ſtieg vom Pferd, er war muͤde von der Jagd. Holt mir einen Stuhl, ſprach er, hier will ich ein wenig ruhen. Ich habe eine luf - tige Stube, antwortete ich, gefaͤllt es Ihro Durchlaucht in die Stube zu gehen, und da bequem zu ſitzen? Ja! ſagte er. Der Oberjaͤgermeiſter ging mit hinein. Da ſaß er, wo ich euch meinen beſten Stuhl hineingeſtellt habe. Meine Marga - reth mußte ihm fette Milch einbrocken und ein Butterbrod49 machen. Wir beide mußten mit ihm eſſen, und er verſicherte, daß ihm niemalen eine Mahlzeit ſo gut geſchmeckt habe. Wo Reinlichkeit iſt, da kann ein Jeder eſſen. Nun entſchließt euch, Herr Paſtor! — Wir Alle ſind hungrig. Der Paſtor ſetzte ſich und ſchwieg ſtill. Da rief Stilling allen ſeinen Kin - dern, aber Keines wollte hinein kommen, auch ſelbſt Mar - gareth nicht. Sie fuͤllte dem Prediger ein irdenes Kuͤmpf - chen mit Huͤhnerbruͤh, gab ihm einen Teller Cappes mit ei - nem huͤbſchen Stuͤck Fleiſch und einen Krug Bier. Stil - ling trug es ſelber auf; der Paſtor aß und trank geſchwind, redete nichts, und ging wieder nach Florenburg. Nun ſetzte ſich alles zu Tiſche. Margareth betete, und man ſpeiſete mit groͤßtem Appetit. Auch ſelbſt die Kindbetterin ſaß an Margarethens Stelle mit ihrem Knaben an der Bruſt. Denn Margareth wollte ihren Kindern ſelbſt dienen. Sie hatte ein ſehr feines weißes Hemd, welches noch ihr Braut - hemd war, angezogen. Die Ermel davon hatte ſie bis hin - ter die Ellenbogen aufgewickelt. Von feinem ſchwarzen Tuch hatte ſie ein Leibchen und Rock, und unter der Haube ſtan - den graue Locken hervor, ſchoͤn gepudert von Ehre und Alter. Es iſt wirklich unbegreiflich, daß waͤhrend der ganzen Mahlzeit nicht ein Wort vom Paſtor geredet wurde; doch halte ich dafuͤr, die Urſache war, daß Vater Stilling nicht davon anfing.
Indem man ſo da ſaß und mit Vergnuͤgen ſpeiste, klopfte eine arme Frau an die Thuͤre. Sie hatte ein klein Kind auf dem Ruͤcken in einem Tuche haͤngen, und bat um ein Stuͤck - lein Brod. Mariechen war hurtig. Die Frau kam in zerlumpten, beſudelten Kleidern, die aber doch die Form hat - ten, als wenn ſie ehemals einem vornehmen Frauenzimmer gehoͤrt haͤtten. Vater Stilling befahl, man ſollte ſie an die Stubenthuͤre ſitzen laſſen, und ihr von allem Etwas zu eſſen geben. Dem Kinde kannſt du etwas Reisbrei zu eſſen darrei - chen, Mariechen! ſagte er ferner. Sie aß, und es ſchmeckte ihr herzlich gut. Nachdem nun ſie und ihr Kind ſatt waren, dankte ſie mit Thraͤnen und wollte gehen. Nein, ſagte der alte Stilling, ſitzet und erzaͤhlet uns, wo ihr her ſeyd,Stillings Schriften. I. Band. 450und warum ihr ſo gehen muͤßt. Ich will euch auch Bier zu trinken geben. Sie ſetzte ſich und erzaͤhlte.
Ach lieber Gott! ſprach ſie. Leider ja! muß ich ſo gehen (Stillings Mariechen hatte ſich neben ſie, doch etwas von ihr abgeſetzt, ſie horchte mit groͤßter Aufmerkſamkeit, auch waren ihre Augen ſchon feucht), ich bin ja leider eine arme Frau. Vor zehen Jahren moͤchtet ihr Leute euch wohl eine Ehre daraus gemacht haben, wenn ich mit euch geſpeist haͤtte.
Wilhelm Stilling. Das waͤre!
Johann Stilling. Es ſey denn, daß ihr eine Stoll - beiniſche Natur gehabt haͤttet.
Vater Stilling. Seyd ſtill, Kinder! Laſſet die Frau reden!
„ Mein Vater iſt Paſtor zu — “
Mariechen. Jemini! Euer Vater ein Paſtor? ſie ruͤckt naͤher.
„ Ach ja! Freilich iſt er Paſtor. Ein ſehr gelehrter und reicher Mann. “
Vater Stilling. Wo iſt er Paſtor?
„ Zu Goldingen im Barchinger Land. Ja freilich! Leider ja! “
Johann Stilling. Das muß ich doch auf der Land - charte ſuchen. Das muß nicht weit vom Muͤhlerſee ſeyn, oben an der Spitze, gegen Septentrio zu.
„ Ach, mein junger Herr! ich weiß keinen Ort nahe dabei, der Schlendrian heißt. “
Mariechen. Unſer Johann ſagte nicht Schlendrian. Wie ſagteſt du?
Vater Stilling. Redet ihr fort! St! Kinder!
„ Nun war ich dazumal eine huͤbſche Jungfer, hatte auch ſchoͤne Gelegenheiten zu heirathen (Mariechen beſah ſie vom Haupt bis zum Fuß), allein keiner war meinem Vater recht. Der war ihm nicht reich genug, der Andere nicht vornehm genug, der Dritte ging nicht viel in die Kirche. “
Mariechen. Sage, Johann, wie heißen die Leute, die nicht in die Kirche gehen?
Johann Stilling. St! Maͤdchen! Separatiſten.
„ Gut! was ſoll mir geſchehen, ich ſahe wohl, ich wuͤrde51 keinen bekommen, wann ich mir nicht ſelber huͤlfe. Da war ein junger Barbiergeſell — “
Mariechen. Was iſt das, ein Barbiergeſell?
Wilhelm Stilling. Schweſterchen, frag hernach um alles. — Laß jetzt nur die Frau reden. Es ſind Burſche, die den Leuten den Bart abmachen.
„ Das bitte ich mir aus, hat ſich wohl! Mein Mann konnte, trotz dem beſten Doktor, kuriren. Ach ja! viel, viel Kuren that er. Kurz, ich ging mir ihm fort. Wir ſetzten uns zu Spelterburg. Das liegt am Spafluß. “
Johann Stilling. Ja, da liegt es. Ein paar Mei - len herauf, wo die Milder hineinfließt.
„ Ja, da liegt’s. Ich ungluͤckliches Weib! — Da wurde ich gewahr, daß mein Mann mit gewiſſen Leuten Umgang hatte. “
Mariechen. Waret ihr ſchon kopulirt?
„ Wer wollte uns kopulieren? lieber Gott! O ja nicht! — (Mariechen ruͤckte mit ihrem Stuhl ein wenig weiter von der Frau ab.) Ich wollte es abſolut nicht haben, daß mein Mann mit Spitzbuben umging; denn obgleich mein Vater nur ein Schuhflicker war — “Die Frau packte ihr Kind auf den Nacken, und lief, was ſie laufen konnte.
Vater Stilling, ſeine Frau und Kinder, konnten nicht begreifen, warum die Frau mitten in der Erzaͤhlung abbrach und davon lief. Es gehoͤrte auch wirklich eine wahre Logik dazu, die Urſache einzuſehen. Ein Jeder gab ſeine Stimme, doch waren alle Urſachen zweifelhaft; das vernuͤnftigſte Ur - theil, und zugleich auch das wahrſcheinlichſte, war wohl, daß der Frau von dem vielen und ungewohnten Eſſen etwas uͤbel geworden, und man beruhigte ſich auch dabei. Vater Stil - ling zog aber, ſeiner Gewohnheit nach, die Lehre aus dieſer Erzaͤhlung, daß es am beſten ſey, ſeinen Kindern Religion und Liebe zur Tugend einzupraͤgen, und dann im gehoͤri - gen Alter ihnen die freie Wahl im Heirathen zu vergoͤnnen, wenn ſie nur ſo waͤhlten, daß die Familie nicht wirklich da - durch beſchimpft wuͤrde. Ermahnen, ſagte er, muͤſſen frei - lich die Eltern ihre Kinder; allein Zwang hilft nichts mehr,4 *52wenn der Menſch ſein maͤnnliches Alter erreicht hat; er glaubt alsdann alles ſo gut zu verſtehen als ſeine Eltern.
Waͤhrend dieſer weiſen Rede, wobei alle Anweſenden hoͤchſt aufmerkſam waren, ſaß Wilhelm in tiefen Betrachtungen. Er hatte eine Hand an den Backen gelegt, und ſahe ſtarr ge - rade vor ſich hin. Hum! ſagte er, alles, was die Frau er - zaͤhlt hat, ſcheint mir verdaͤchtig. Im Anfang ſagte ſie, ihr Vater waͤre Paſtor zu … zu …
Mariechen. Zu Goldingen im Barchinger Land.
Ja, da war es. Und am Ende ſagte ſie, ihr Vater ſey ein Schuhflicker geweſen. Alle Anweſenden ſchlugen die Haͤnde zuſammen, und entſetzten ſich ſehr. Nun erkannte man, wa - rum die Frau weggelaufen war; man entſchloß ſich alſo, an jeder Thuͤre und Oeffnung im Hauſe vorſichtige Klingen und Klammern zu machen, und das wird auch Niemand der Stil - ling’ſchen Familie verdenken, wer einigermaßen den Zuſam - menhang der Dinge einzuſehen gelernt hat.
Dortchen redete die ganze Zeit durch nichts. Warum? kann ich eben nicht ſagen. Sie ſaͤugte ihren Heinrich alle Augenblicke, denn das war nun einmal ihr Alles. Der Junge war auch huͤbſch dick und fett. Die erfahrenſten Nachbarin - nen konnten ſchon gleich nach der Geburt in dem Geſichte des Kindes eine voͤllige Aehnlichkeit mit ſeinem Vater entdecken. Beſonders aber wollte man auch ſchon auf dem linken obern Augenlied die Grundlage einer kuͤnftigen Warze ſpuͤren, als welche der Vater daſelbſt hatte. Dennoch aber mußte eine verborgene Parteilichkeit alle Nachbarinnen zu dieſem falſchen Zeugniß bewogen haben; denn der Knabe hatte und bekam der Mutter Geſichtszuͤge und ihr ſanftes, gefuͤhliges Herz gaͤnzlich.
Vor und nach verfiel Dortchen in eine ſanfte Schwer - muth. Sie hatte an nichts in der Welt Vergnuͤgen mehr, aber auch an keinem Theile Verdruß. Sie genoß beſtaͤndig die Wonne der Wehmuth, und ihr zartes Herz ſchien ſich ganz in Thraͤnen zu verwandeln, in Thraͤnen ohne Harm und Kum - mer. Ging die Sonne ſchoͤn auf, ſo weinte ſie, und betrach - tete ſie tiefſinnig; ſprach auch wohl zuweilen: Wie ſchoͤn muß der ſeyn, der ſie gemacht hat! Ging ſie unter, ſo weinte ſie. 53Da geht der troͤſtliche Freund wieder von uns, ſagte ſie dann oft, und ſehnte ſich weit weg in den Wald, zur Zeit der Daͤm - merung. Nichts aber war ihr ruͤhrender, als der Mond; ſie fuͤhlte dann was Unausſprechliches, und ging ganze Abende unten an dem Geiſenberg. Wilhelm begleitete ſie faſt im - mer und redete ſehr freundlich mit ihr. Sie hatten beide etwas aͤhnliches in ihrem Charakter. Sie haͤtten die ganze Welt von Menſchen miſſen koͤnnen, nur Eins das Andere nicht: dennoch empfanden ſie jedes Elend und jeden Druck des Nebenmenſchen.
Beinahe anderthalb Jahre war Heinrich Stilling alt, als Dortchen an einem Sonntag Nachmittag ihren Mann erſuchte, mit ihr nach dem Geiſenberger Schloſſe zu ſpatzieren. Noch niemalen hatte ihr Wilhelm etwas abgeſchlagen. Er ging mit ihr. Sobald ſie in den Wald kamen, ſchlungen ſie ſich in ihre Arme und gingen Schritt vor Schritt unter dem Schatten der Baͤume und dem vielfaͤltigen Zwitſchern der Voͤgel den Berg hinauf. Dortchen fing an:
„ Was meynſt du, Wilhelm, ſollte man ſich wohl im Himmel kennen? “
O ja! liebes Dortchen! Chriſtus ſagt ja von dem reichen Mann, daß er Lazarum in dem Schooße Abrahams gekannt habe, und noch dazu war der reiche Mann in der Hoͤlle; da - her glaub’ ich gewiß, wir werden uns in jener Ewigkeit kennen.
„ O Wilhelm! wie ſehr freue ich mich, wenn ich daran denke, daß wir dann die ganze Ewigkeit durch ganz ohne Kum - mer, in lauter himmliſcher Luſt und Vergnuͤgen werden bei einander ſeyn! Mich duͤnkt auch immer, ich koͤnnte im Him - mel ohne dich nicht ſelig ſeyn. Ja, lieber Wilhelm! ge - wiß! gewiß wir werden uns da kennen! Hoͤr’ einmal, ich wuͤnſche das nun ſo herzlich! Gott hat ja meine Seele und mein Herz gemacht, das ſo wuͤnſchet; er wuͤrde es nicht ſo gemacht haben, wenn ich unrecht wuͤnſchte, und wenn es nicht ſo waͤre! Ja, ich werde dich kennen, und dich unter allen Menſchen ſuchen, und dann werd ich ſelig ſeyn! “
Wir wollen uns bei einander begraben laſſen, ſo brauchen wir nicht lange zu ſuchen.
54„ O moͤchten wir doch in einem Augenblick ſterben. Aber wo bliebe dann mein lieber Junge? “
Der wuͤrde hier bleiben, und wohl erzogen werden, und end - lich zu uns kommen.
„ Ich wuͤrde aber doch viele Sorge um ihn haben, ob er auch fromm werden wuͤrde. “
Hoͤre, Dortchen! du biſt ſchon lange her beſonders ſchwer - muͤthig geweſen. Wenn ich die Wahrheit ſagen ſoll, du machſt mich mit dir betruͤbt. Warum biſt du ſo gern mit mir allein! Meine Schweſtern glauben, du habeſt ſie nicht lieb.
„ Doch liebe ich ſie recht von Herzen. “
Du weinſt oft, als wenn du mißmuthig waͤreſt; das thut mir dann leid. Ich werde auch traurig. Haſt du Etwas auf dem Herzen, liebes Kind — das dich quaͤlt? Sag’ es mir. Ich werde dir Ruhe ſchaffen; es koſte auch was es wolle.
„ O nein! ich bin nicht mißmuthig, liebes Kind! ich bin nicht unzufrieden. Ich habe dich lieb, ich habe unſere El - tern und Schweſtern lieb, ja, ich habe alle Menſchen lieb. Aber ich will dir ſagen, wie es mir iſt. Wenn ich im Fruͤh - ling ſehe, wie Alles aufgeht, die Blaͤtter an den Baͤumen, die Blumen und die Kraͤuter, ſo iſt mir, als wenn es mich gar nicht anginge; es iſt mir dann, als wenn ich in einer Welt waͤre, worein ich nicht gehoͤrte. Sobald ich aber ein gelbes Blatt, eine verwelkte Blume, oder duͤrres Kraut finde, dann werden mir die Thraͤnen los, und mir wird ſo wohl, ſo wohl, daß ich es dir nicht ſagen kann; und doch bin ich nie freudig dabei. Sonſten machte mich das alles betruͤbt, und ich war nie froͤhlicher, als im Fruͤhling. “
Ich kenne das nicht. So viel aber iſt doch wahr, daß es mich recht empfindlich macht.
Indem ſie ſo redeten, kamen ſie zu den Ruinen des Schloſ - ſes auf die Seite des Berges, und empfanden die kuͤhle Luft vom Rhein her, und ſahen, wie ſie mit den langen, duͤrren Grashalmen und Epheublaͤttern an den zerfallenen Mauren ſpielte und darum pfiff. Hier iſt recht mein Ort, ſagte Dort - chen, hier wuͤnſcht’ ich zu wohnen. Erzaͤhle mir doch noch einmal die Geſchichte vom Johann Huͤbner, der hier auf55 dem Schloſſe gewohnt hat. Laß uns aber hier auf den Wall gegen die Mauern uͤber ſitzen. Ich duͤrfte um die Welt nicht zwiſchen den Mauern ſeyn, wenn du das erzaͤhleſt, denn ich graue immer, wenn ich’s hoͤre. Wilhelm erzaͤhlte:
Auf dieſem Schloſſe haben vor Alters Raͤuber gewohnt, die gingen des Nachts in’s Land umher, ſtahlen den Leuten das Vieh und trieben es dort in den Hof; da war ein großer Stall; und hernach verkauften ſie’s weit weg an fremde Leute. Der letzte Raͤuber, der hier gewohnt hat, hieß Johann Huͤbner. Er hatte eiſerne Kleider an, und war ſtaͤrker, als alle andere Burſche im ganzen Lande. Er hatte nur Ein Auge, und ei - nen großen krauſen Bart und Haare. Am Tage ſaß er mit ſeinen Knechten, die alle ſehr ſtark waren, dort an der Ecke, wo du noch das zerbrochene Fenſterloch ſiehſt; da hatten ſie eine Stube, da ſaßen ſie und ſoffen Bier. Johann Huͤbner ſah mit dem Einen Auge ſehr weit durchs ganze Land umher. Wenn er dann einen Reiter ſahe, da rief er: Hehloh! — da reitet ein Reiter! ein ſchoͤnes Roß, Hehloh! Und dann gaben ſie Acht auf den Reiter, nahmen ihm ſein Roß und ſchlugen ihn todt. Da war aber ein Fuͤrſt von Dillen - burg, der ſchwarze Chriſtian genannt, ein ſehr ſtarker Mann, der hoͤrte immer von Johann Huͤbners Raͤubereien, denn die Bauern kamen und klagten uͤber ihn. Dieſer ſchwarze Chriſtian hatte einen klugen Knecht, der hieß Hans Flick; den ſchickte er uͤber Land, dem Johann Huͤbner aufzupaſ - ſen. Der Fuͤrſt aber lag hinten im Giller, den du da ſieheſt, und hielt ſich da mit ſeinen Reitern verborgen; dahin brachten ihm auch die Bauern Brod und Butter und Kaͤſe. Hans Flick kannte den Johann Huͤbner nicht, er ſtreifte im Lande herum, und forſchte ihn aus. Endlich kam er an eine Schmiede, wo Pferde beſchlagen wurden. Da ſtanden viele Wagenraͤder an der Wand, die auch beſchlagen werden ſollten. Auf dieſelbe hatte ſich ein Mann mit dem Ruͤcken gelehnt, der hatte nur Ein Auge und ein eiſernes Wamms an. Hans Flick ging zu ihm und ſagte: Gott gruͤß dich, eiſerner Wamms - Mann mit Einem Auge! heißeſt du nicht Johann Huͤbner von Geiſenberg? Der Mann antwortete: Johann Huͤbner56 vom Geiſenberg liegt auf dem Rad. Hans Flick verſtand das Rad auf dem Gerichtsplatz, und ſagte: War das kuͤrz - lich? Ja, ſprach der Mann, erſt heut; Hans Flick glaubte doch nicht recht, und blieb bei der Schmiede, und gab auf den Mann Acht, der auf dem Rade lag. Der Mann ſagte dem Schmied ins Ohr: Er ſollte ihm ſein Pferd verkehrt be - ſchlagen, ſo daß das vorderſte Ende des Hufeiſens hinten kaͤme. Der Schmied that es, und Johann Huͤbner ritt weg. Wie er aufſaß, ſagte er dem Hans Flick: Gott gruͤß dich, braver Kerl! ſage deinem Herrn: Er ſolle mir Faͤuſte ſchicken, aber keine Leute, die hinter den Ohren lauſen. Hans Flick blieb ſtehen, und ſah, wo er uͤber’s Feld in den Wald ritt, lief ihm nach, um zu ſehen, wo er bliebe. Er wollte ſeiner Spur nachgehen, Johann Huͤbner aber ritt hin und her, die Kreuz und Quere, und Hans Flick wurde bald in den Fußſtapfen des Pferdes irre; denn wo er hingeritten war, da gingen die Fußſtapfen zuruͤck; darum verlor er ihn bald, und wußte nicht, wo er geblieben war. Endlich ertappte ihn doch Hans Flick, wie er mit ſeinen Knechten dort auf der Heide im Walde lag und geraubt Vieh huͤtete. Es war in der Nacht am Mondſchein. Er lief und ſagte es dem Fuͤrſten Chriſtian, der ritt in der Stille mit ſeinen Kerlen unten durch den Wald. Sie hatten den Pferden Moos unter die Fuͤße gebunden, kamen auch nahe zu ihm, ſprangen auf ihn zu, und ſie kaͤmpften zuſammen; Fuͤrſt Chriſtian und Johann Huͤbner hieben ſich auf die eiſernen Huͤte und Waͤmmſer, daß es klang; endlich aber blieb Johann Huͤbner todt, und der Fuͤrſt zog hier ins Schloß. Den Johann Huͤbner be - gruben ſie da unten in die Ecke, und der Fuͤrſt legte viel Holz um den großen Thurm, auch untergruben ſie ihn. Er fiel am Abend um, wie die Tiefenbacher die Kuͤhe molken; das ganze Land zitterte umher von dem Fall. Da ſiehſt du noch den lan - gen Steinhaufen, den Berg hinab; das iſt der Thurm, wie er gefallen iſt. Noch jetzt ſpuckt hier des Nachts zwiſchen eilf und zwoͤlf Uhr Johann Huͤbner mit dem einzigen Auge. Er ſitzt auf einem ſchwarzen Pferde und reitet um den Wall herum. Der alte Neuſ[e]r, unſer Nachbar, hat ihn oft ge -57 ſehen. Dortchen zitterte, und fuhr zuſammen, wenn ein Vogel aus einem Strauch in die Hoͤhe flog. Ich hoͤrte die Erzaͤhlung noch immer gern, ſagte ſie; wenn ich hier ſo ſitze, und wenn ich es noch zehnmal hoͤre, ſo werde ich es doch nicht muͤde. Laßt uns ein wenig um den Wall ſpatzieren. Sie gingen zuſammen um den Wall und Dortchen ſang:
Nun begann die Sonne unterzugehen, und Dortchen mit ihrem Wilhelm hatten recht die Wonne der Wehmuth gefuͤhlt. Wie ſie den Wald hinab gingen, durchdrang ein toͤdtlicher Schauer Dortchens ganzen Leib. Sie zitterte von einer kalten Empfindung, und es war ihr ſauer, Stillings Haus zu erreichen. Sie verfiel in ein hitziges Fieber. Wilhelm war Tag und Nacht bei ihr. Nach vierzehn Tagen ſagte ſie des Nachts um zwoͤlf Uhr zu Wilhelmen: Komm, leg dich zu Bette. Er zog ſich aus, und legte ſich zu ihr. Sie faßte ihn in ihren rechten Arm, er lag mit ſeinem Kopf an ihre Bruſt. Auf Einmal wurde er gewahr, daß das Pochen ihres Pulſes nachließ, und dann wieder ein paarmal klopfte. Er erſtarrte und rief ſeelzagend: Mariechen! Mariechen! Alles wurde wacker und lief herzu. Da lag Wilhelm und empfing Dort - chens letzten Athemzug in ſeinen Mund. Sie war nun todt!! Wilhelm war betaͤubt, und ſeine Seele wuͤnſchte nicht wie - der zu ſich ſelbſt zu kommen; doch endlich ſtieg er aus dem59 Bette, weinte und klagte laut. Selbſt Vater Stilling und ſeine Margarethe gingen zu ihr, und hielten ihr die Augen feſt zu, und ſchluchzeten. Es ſah betruͤbt aus, wie die bei - den alten Graukoͤpfe naß von Thraͤnen, zaͤrtlich auf den ver - bleichenden Engel blickten. Auch die Maͤdchen weinten laut, und erzaͤhlten ſich untereinander alle die letzten Worte und Lieb - koſungen, die ihnen ihre ſelige Schwaͤgerin geſagt hatte.
Wilhelm Stilling hatte mit ſeinem Dortchen in der ſtark bevoͤlkerten Landſchaft allein gelebt; nun war ſie todt und begraben, und er fand daher, daß er jetzt ganz allein in der Welt lebte. Eltern und Geſchwiſter waren um ihn, ohne daß er ſie bemerkte. In dem Geſichte ſeines verwaiſeten Kin - des ſahe er nur Dortchens Lineamente; und wenn er des Abends ſchlafen ging, ſo fand er ſein Zimmer ſtill und oͤde. Oft glaubte er den rauſchenden Fuß Dortchens zu hoͤren, wie ſie ins Bette ſtieg. Er fuhr dann in einander, Dort - chen zu ſehen, und ſah ſie nicht. Er durchdachte alle Tage, die ſie mit einander gelebt hatten, fand in jedem ein Paradies, und verwunderte ſich, daß er nicht damalen vor lauter Wonne gejauchzet hatte. Dann nahm er ſeinen Heinrichen in die Arme, weinte ihn naß, druͤckte ihn an ſeine Bruſt, und ſchlief mit ihm. Dann traͤumte er oft, wie er mit Dortchen im Geiſenberger Wald ſpatziere, wie er ſo froh ſey, daß er ſie wie - der habe. Im Traum fuͤrchtete er wacker zu werden, und dennoch erwachte er: ſeine Thraͤnen wurden dann neu und ſein Zuſtand war troſtlos. Vater Stilling ſah das alles, und den - noch troͤſtete er ſeinen Wilhelmen niemals. Margarethe und die Maͤdchen verſuchten es oft, aber ſie machten nur uͤbel aͤrger; denn alles beleidigte Wilhelmen, was nur dahin zielte, ihn aus ſeiner Trauer zu ziehen. Sie konnten aber gar nicht begreifen, wie es doch moͤglich ſeyn koͤnnte, daß ihr Vater gar keine Muͤhe anwendete, Wilhelmen aufzumuntern. Sie vereinigten ſich daher, ihren Vater dazu zu ermahnen, ſo - bald Wilhelm einmal im Geiſenberger Wald herumirren, und ſeines Dortchens Gaͤnge und Fußtritte aufſuchen und beweinen wuͤrde. Das that er oft, und daher waͤhrete es nicht60 lange, bis ſie Gelegenheit fanden, ihr Vorhaben auszufuͤhren. Margarethe nahm es auf ſich, ſobald der Tiſch abgetragen und Wilhelm fort war, Vater Stilling aber an ſeinen Zaͤh - nen ſtocherte, und gerade vor ſich hin auf einen Fleck ſah. Ebert, ſagte ſie, warum laͤſſeſt du den Jungen ſo herumge - hen? Du nimmſt dich ſeiner gar nicht an, redeſt ihm auch nicht ein wenig zu, ſondern thuſt, als wenn er dich gar nichts anginge. Der arme Menſch ſollte vor lauter Traurigkeit die Auszehrung bekommen. Margareth, antwortete der Alte laͤchelnd, was meinſt du wohl, daß ich ihm ſagen koͤnnte, ihn zu troͤſten? Sag’ ich ihm, er ſollte ſich zufrieden geben, ſein Dortchen ſey im Himmel, ſie ſey ſelig: ſo kommt das eben heraus, als wenn dir Jemand alles, was du auf der Welt am liebſten haſt, abnaͤhme und ich kaͤme dann her und ſagte: Gib dich zufrieden; deine Sachen ſind ja wohl ver - wahrt, uͤber ſechzig Jahr bekommſt du ſie ja wieder, es iſt ein braver Mann, der ſie hat u. ſ. w. Wuͤrdeſt du nicht recht boͤs auf mich werden und ſagen: Wovon leb’ ich aber die ſech - zig Jahre? Soll ich Dortchens Fehler alle aufzaͤhlen, und ſuchen, ihn zu uͤberreden, er habe nichts ſo gar Koſtbares ver - loren; ſo wuͤrde ich ihre Seele beleidigen, ein Luͤgner oder Laͤſterer ſeyn, weiter aber nichts ausrichten, als Wilhelmen mir auf immer zum Feinde machen; er wuͤrde alle ihre Tu - genden dagegen aufzaͤhlen, und ich wuͤrde in der Rechnung zu kurz kommen. Soll ich ihm ein anderes Dortchen auf - ſuchen? Das muͤßte juſt ein Dortchen ſeyn, und doch wuͤrd’ es ihm vor ihr eckeln. Ach! es gibt kein Dortchen mehr! — Ihm zitterten die Lippen und ſeine Augen waren naß. Nun wein - ten ſie wieder Alle, vornehmlich darum, weil ihr Vater weinte.
Bei dieſen Umſtaͤnden war Wilhelm nicht im Stande, ſein Kind zu verſorgen, oder ſonſt etwas Nuͤtzliches zu ver - richten. Margarethe nahm alſo ihren Enkel in voͤllige Ver - pflegung, fuͤtterte und kleidete ihn auf ihre altfraͤnkiſche Ma - nier aufs Reinlichſte. Die Maͤdchen gaͤngelten ihn, lehrten ihn beten und andaͤchtig Reimchen herſagen, und wenn Vater Stil - ling Samſtag Abends aus dem Walde kam und ſich bei dem Ofen geſetzt batte, ſo kam der Kleine geſtolpert, ſuchte auf61 ſeine Knieen zu klettern, und nahm jauchzend das auf ihn ge - ſparte Butterbrod; mauste auch wohl ſelbſten im Querſack, um es zu finden; es ſchmeckte ihm beſſer, als ſonſt der aller - beſte Reisbrei Kindern zu thun pfleget, wiewohl es allezeit von der Luft hart und vertrocknet war. Dieſes vertrocknete Butterbrod verzehrte Heinrich auf ſeines Großvaters Schooß, wobei ihm derſelbe entweder das Lied: Gerberli hieß mein Huͤneli; oder auch: Reiter zu Pferd da kommen wir her, vorſang, wobei er immer die Bewegung eines tra - benden Pferds mit dem Knie machte. Mit einem Wort: Stilling hatte den Kunſtgriff in ſeiner Kindererziehung, er wußte alle Augenblick eine neue Beluſtigung fuͤr Hein - richen, die immer ſo beſchaffen waren, daß ſie ſeinem Alter angemeſſen, das iſt, ihm begreiflich waren; doch ſo, daß im - mer dasjenige, was den Menſchen ehrwuͤrdig ſeyn muß, nicht allein nicht verkleinert, ſondern gleichſam im Vorbeigang groß und ſchoͤn vorgeſtellt wurde. Dadurch gewann der Knabe eine Liebe zu ſeinem Großvater, die uͤber alles ging: und da - her hatten denn die Begriffe, die er ihm beibringen wollte, Eingang bei ihm. Was ihm ſein Großvater ſagte, das glaubte er ohne weiteres Nachdenken.
Die ſtille Wehmuth Wilhelms verwandelte ſich nun vor und nach in eine geſpraͤchige und vertrauliche Traurigkeit. Nun ſprach er wieder mit ſeinen Leuten; ganze Tage redeten ſie von Dortchen, ſangen ihre Lieder, beſahen ihre Kleider, und dergleichen Dinge mehr. Wilhelm fing an, ein Wonne - gefuͤhl in ihrem Andenken zu empfinden, und einen Frieden zu ſchmecken, der uͤber alles ging, wenn er ſich vorſtellte, daß uͤber kurze Jahre auch ihn der Tod wuͤrde abfordern, wo er denn, ohne einiges Ende zu befuͤrchten, ewig in Geſellſchaft ſeines Dortchens die hoͤchſte Gluͤckſeligkeit, deren der Menſch nur faͤhig iſt, wuͤrde zu genießen haben. Dieſer große Ge - danke zog eine ganze Lebensaͤnderung nach ſich, wozu folgen - der Vorfall noch ein Großes mit beitrug. Etliche Stunden von Tiefenbach ab, war ein großes adeliches Haus, welches durch eine Erbſchaft an einen gewiſſen Grafen gefallen war. Auf dieſem Schloß hatte ſich eine Geſellſchaft frommer Leute62 eingepachtet. Sie hatten eine Fabrike von halbſeidenen Stoffen unter ſich angelegt, wovon ſie ſich naͤhreten. Was nun kluge Koͤpfe waren, die die Moden und den Wohlſtand in der Welt kannten, oder mit Einem Wort, wohllebende Leute, die hat - ten gar keinen Geſchmack an dieſer Einrichtung. Sie wußten, wie ſchimpflich es in der großen Welt waͤre, ſich oͤffentlich zu Jeſu Chriſto zu bekennen, oder Unterredungen zu halten, wo - rinnen man ſich ermahnte, Deſſen Lehre und Leben nachzufol - gen. Daher waren denn auch dieſe Leute in der Welt ver - achtet, und hatten keinen Werth; ſogar fanden ſich Menſchen, die wollten geſehen haben, daß ſie auf ihrem Schloſſe allerhand Graͤuel veruͤbten, wodurch dann die Verachtung noch groͤßer wurde. Mehr konnte man ſich aber nicht aͤrgern, als wenn man hoͤrte, daß dieſe Leute uͤber ſolche Schmach noch froh wa - ren, und ſagten, daß es ihrem Meiſter eben ſo ergangen. Un - ter dieſer Geſellſchaft war Einer, Namens Niclas, ein Menſch von ungemeinem Genie und Naturgaben. Er hatte Theologie ſtudirt, dabei aber die Maͤngel aller Syſteme ent - deckt, auch oͤffentlich dagegen geredet und geſchrieben; wes - wegen er ins Gefaͤngniß gelegt, hernach aber daraus wieder befreit worden, und mit einem gewiſſen Herrn lange auf Rei - ſen geweſen war. Er hatte ſich, um ruhig und frei zu leben, unter dieſe Leute begeben, und da er von ihrem Handwerk nichts verſtand, ſo trug er ihre verfertigten Zeuge weit umher feil, oder, wie man zu ſagen pflegt, er ging damit hauſieren. Dieſer Niclas war oft in Stillings Hauſe geweſen; weil er aber wußte, wie feſt man daſelbſt an den Grundſaͤtzen der reformirten Religion und Kirche hinge, ſo hatte er ſich nie herausgelaſſen; zu dieſer Zeit aber, da Wilhelm Stilling anfing, aus dem ſchwaͤrzeſten Kummer ſich loszuwenden, fand er Gelegenheit, mit ihm zu reden. Dieſes Geſpraͤch iſt wich - tig, darum will ich es hier beifuͤgen, ſo wie mir’s Niclas ſelbſten erzaͤhlt hat.
Nachdem ſich Niclas geſetzt, fing er an: Wie gehts Euch nun, Meiſter Stilling, koͤnnt Ihr Euch auch in das Ster - ben Eurer Frau ſchicken?
63„ Nicht zu wohl! das Herz iſt noch ſo wund, daß es blutet, doch fange ich an, mehreren Troſt zu finden. “
So geht’s, Meiſter Stilling, wenn man mit ſeinen Be - gierden ſich zu ſehr an etwas Vergaͤngliches anfeſſelt. Und wir ſind gewiß gluͤcklicher, wenn wir Weiber haben, als haͤtten wir keine, 1 Cor. 7, 29. Wir koͤnnten ſie von Herzen lieben; allein wie nuͤtzlich iſt es doch auch, wenn man ſich uͤbet, auch dieſem Vergnuͤgen abzuſterben und es zu ver - laͤugnen; gewiß wird uns dann der Verluſt nicht ſo ſchwer fallen.
„ Das laͤßt ſich recht gut predigen, aber thun, thun, leiſten, halten, das iſt eine andere Sache! “
Niclas laͤchelte und ſagte: Freilich iſt es ſchwer, beſon - ders wenn man ein ſolches Dortchen gehabt hat; doch aber, wenn’s nur Jemand ein Ernſt iſt, ja, wenn nur Jemand glaubt, daß die Lehre Jeſu Chriſti zur hoͤchſten Gluͤckſeligkeit fuͤhret, ſo wird’s einem Ernſt. Alsdann iſt es wirklich ſo ſchwer nicht, als man ſich’s vorſtellt. Laßt mich Euch die ganze Sache kuͤrzlich erklaͤren. Jeſus Chriſtus hat uns eine Lehre hinter - laſſen, die der Natur der menſchlichen Seele ſo angemeſſen iſt, daß ſie, wann ſie nur befolgt wird, nothwendig vollkommen gluͤcklich machen muß. Wenn wir alle Lehren aller Welt - weiſen durchgehen, ſo finden wir eine Menge Regeln, die ſo zuſammenhangen, wie ſie ſich ihr Lehrgebaͤude geformt hatten. Bald hinken ſie, bald laufen ſie, und dann ſtehen ſie ſtill; nur die Lehre Chriſti, aus den tiefſten Geheimniſſen der menſch - lichen Natur herausgezogen, fehlet nie, und beweiſet dem, der es recht einſieht, vollkommen, daß ihr Verfaſſer den Men - ſchen ſelber muͤſſe gemacht haben, indem er ihn bis auf den erſten Grundtrieb kannte. Der Menſch hat einen unendlichen Hunger nach Vergnuͤgen, — nach Vergnuͤgen, die im Stande ſind, ihn zu ſaͤttigen, die immer was Neues ausliefern, die eine unaufhoͤrliche Quelle neuer Vergnuͤgen ſind. In der gan - zen Schoͤpfung aber finden wir keine von ſolcher Art. So - bald wir ihrer durch den Wechſel der Dinge verluſtig werden, ſo laſſen ſie eine Qual zuruͤck, wie Ihr zum Exempel bei eurem Dortchen gewahr worden. Dieſer goͤttliche Geſetzgeber wußte, daß der Grund aller menſchlichen Handlungen die64 wahre Selbſtliebe ſey. Weit davon entfernt, dieſen Trieb, der viel Boͤſes anrichten kann, zu verdraͤngen, ſo gibt er lau - ter Mittel an die Hand, denſelben zu veredeln und zu verfei - nern. Er befiehlt, wir ſollen das beweiſen, was wir wuͤn - ſchen, daß ſie uns beweiſen ſollen; thun wir nun das, ſo ſind wir ihrer Liebe gewiß, ſie werden uns wohl thun und viel Vergnuͤgen machen, wenn ſie anders keine boͤſe Menſchen ſind. Er befiehlt, wir ſollen die Feinde lieben; ſobald wir nun ei - nem Feinde Liebes und Gutes erzeigen, ſo wird er gewiß auf das aͤußerſte gefoltert, bis er ſich mit uns ausgeſoͤhnt hat; wir ſelbſten aber genießen bei der Ausuͤbung dieſer Pflichten, die uns nur im Anfang ein wenig Muͤhe koſten, einen innern Frieden, der alle ſinnlichen Vergnuͤgen weit uͤbertrifft. Ueber - das iſt der Stolz eigentlich die Quelle aller unſerer geſellſchaft - lichen Laſter, alles Unfriedens, Haſſes und Stoͤrens der Ruhe. Wider die Wurzel alles Uebels iſt nun kein beſſer Mittel, als obiges Geſetz Jeſu Chriſti. Ich mag mich fuͤr jetzt nicht wei - ter daruͤber erklaͤren; ich wollte Euch nur ſo viel ſagen: daß es wohl der Muͤhe werth ſey, Ernſt anzuwenden, der Lehre Chriſti zu folgen, weil ſie uns dauerhafte und weſentliche Vergnuͤgen verſchafft, die uns im Verluſt anderer die Wage halten koͤnnen.
„ Sagt mir doch dieſes alles vor, Freund Niclas! ich muß es aufſchreiben, ich glaube, daß es wahr iſt, was Ihr ſagt. “
Niclas wiederholte es von Herzen, und immer mit einem Bißchen mehr oder weniger, und Wilhelm ſchrieb es auf, ſo wie er’s ihm vorſagte.
„ Aber, fuhr er fort, wenn wir durch die Nachfolge der Lehre Chriſti ſelig werden, wofuͤr iſt dann ſein Leben und Sterben? Die Prediger ſagen ja, wir koͤnnten die Gebote nicht halten, ſondern wir wuͤrden nur durch den Glauben an Chriſtum und durch ſein Verdienſt gerecht und ſelig. “
Niclas laͤchelte und ſagte: Davon laͤßt ſich einſt einmal weiter reden. Nehmt’s nur eine Weile ſo, daß wie Er uns durch ſein heiliges, reines Leben, da er in der Gnade vor Gott und den Menſchen hinwandelte, eine freie Ausſicht uͤber unſer Leben, uͤber die verworrenen Erdhaͤndel verſchafft hat,65 daß wir durch Einen Blick auf Ihn muthig werden, und hof - fen der Gnade, die uͤber uns waltet, zur groͤßeren Einfalt des Herzens, mit der man uͤberall durchkommt: ſo hat er auch, ſag’ ich, ſein Kreuz hin in die Nacht des Todes geflanzt, wo die Sonne untergeht und der Mond ſein Licht verliert, daß wir da hinaufblicken, und ein „ Gedenke mein! “in demuͤthi - ger Hoffnung rufen. So werden wir durch ſein Verdienſt ſelig, wenn Ihr wollt; denn er hat ſich die Freiheit der Seinen vom ewigen Tod ſcharf und ſauer genug verdient, und ſo werden wir durch den Glauben ſelig, denn der Glaube iſt Seligkeit. Laßt Euch indeſſen das alles nicht anfechten, und ſeyd im Kleinen treu, ſonſt werdet Ihr im Großen nichts ausrichten. Ich will Euch ein paar Blaͤtter hier laſſen, die aus dem franzoͤ - ſiſchen des Erzbiſchofs Fenelon uͤberſetzt ſind; ſie handeln von der Treue in kleinen Dingen; auch will ich Euch die Nachfolge Chriſti des Thomas von Kempis mit - bringen, ihr koͤnnt da weiter Nachricht bekommen.
Ich kann nicht eigentlich ſagen, ob Wilhelm aus wah - rer Ueberfuͤhrung dieſe Lehre angenommen, oder ob der Zuſtand ſeines Herzens ſo beſchaffen geweſen, daß er ihre Schoͤnheit empfunden, ohne ihre Wahrheit zu unterſuchen. Gewiß, wenn ich mit kaltem Blut den Vortrag dieſes Niclaſens durch - denke, ſo find’ ich, daß ich nicht alles reimen kann, aber im Ganzen iſts doch herrlich und gut.
Wilhelm kaufte von Niclaſen einige Ellen Stoff, ohne ſie noͤthig zu haben, und da nahm der gute Prediger ſein Buͤndel auf den Nacken und ging, doch mit dem Verſprechen, bald wieder zu kommen; und gewiß wird Niclas den ganzen Giller durch Gott recht herzlich fuͤr die Bekehrung Wilhelms gedankt haben. Dieſer nun fand eine tiefe, unwiderſtehliche Neigung in ſeiner Seele, die ganze Welt daran zu geben und mit ſeinem Kinde oben im Hauſe auf einer Kammer allein zu wohnen. Seine Schweſter Eliſabeth wurde an einen Lein - weber Simon an ſeine Stelle ins Haus verheirathet, er aber bezog ſeine Kammer, ſchaffte ſich einige Buͤcher an, die ihm von Niclas vorgeſchlagen wurden, und ſo verlebte er daſelbſt mit ſeinem Knaben viele Jahre.
Stilling’s Schriften. I. Bd. 566Die ganze Beſchaͤftigung dieſes Mannes ging waͤhrend die - ſer Zeit dahin, mit ſeinem Schneiderhandwerke ſeine Beduͤrf - niſſe zu erwerben (denn er gab fuͤr ſich und ſein Kind woͤchent - lich ein ertraͤgliches Koſtgeld ab an ſeine Eltern) und dann alle Neigungen ſeines Herzens, die nicht auf die Ewigkeit ab - zielten, zu daͤmpfen: endlich aber auch ſeinen Sohn in eben den Grundſaͤtzen zu erziehen, die er ſich als wahr und feſtge - gruͤndet eingebildet hatte. Des Morgens um vier Uhr ſtand er auf und fing an zu arbeiten: um ſieben weckte er ſeinen Heinrichen, und beim erſten Erwachen erinnerte er ihn freundlich an die Guͤtigkeit des Herrn, der ihn die Nacht durch von ſeinen Engeln bewachen laſſen. Danke ihm dafuͤr, mein Kind! ſagte Wilhelm, indem er den Knaben ankleidete. War dieſes geſchehen, ſo mußte er ſich in kaltem Waſſer waſchen, und dann nahm ihn Wilhelm bei ſich, ſchloß die Kammer zu, und fiel mit ihm vor dem Bette auf die Kniee und betete mit der groͤßten Innbrunſt des Geiſtes zu Gott, wobei ihm die Thraͤnen oft haͤufig zur Erde floßen. Dann bekam der Junge ſein Fruͤhſtuͤck, welches er mit einem Anſtand und Ord - nung verzehren mußte, als wenn er in Gegenwart eines Prin - zen geſpeiſet haͤtte. Nun mußte er ein kleines Stuͤck im Ca - techismus leſen, und vor und nach auswendig lernen; auch war ihm erlaubt, alte, anmuthige und einem Kind begreifliche Geſchichten, Theils geiſtliche, Theils weltliche, zu leſen, als da war: der Kaiſer Oktavianus mit ſeinem Weib und Soͤhnen; die Hiſtorie von den vier Haymons-Kindern; die ſchoͤne Me - luſine und dergleichen. Wilhelm erlaubte niemalen dem Kna - ben mit andern Kindern zu ſpielen, ſondern er hielt ihn ſo ein - gezogen, daß er im ſiebenten Jahre ſeines Alters noch keine Nachbars-Kinder, wohl aber eine ganze Reihe ſchoͤner Buͤcher kannte. Daher kam es denn, daß ſeine ganze Seele anfing, ſich mit Idealen zu beluſtigen; ſeine Einbildungskraft ward erhoͤht, weil ſie keine andere Gegenſtaͤnde bekam, als idealiſche Perſonen und Handlungen. Die Helden alter Romanzen, de - ren Tugenden uͤbertrieben geſchildert wurden, ſetzten ſich un - vermerkt, als ſo viel nachahmungswuͤrdige Gegenſtaͤnde, in ſein Gemuͤth feſte, und die Laſter wurden ihm zum groͤßeſten67 Abſcheu; doch aber, weil er beſtaͤndig von Gott und frommen Menſchen reden hoͤrte, ſo wurde er unvermerkt in einen Geſichts - punkt geſtellt, aus dem er Alles beobachtete. Das Erſte, wornach er fragte, wenn er von Jemand etwas las oder reden hoͤrte, bezog ſich auf ſeine Geſinnung gegen Gott und Chri - ſtum. Daher, als er einmal Gottfried Arnolds Leben der Altvaͤter bekam, konnte er gar nicht mehr aufhoͤren zu le - ſen, und dieſes Buch, nebſt Reizens Hiſtorie der Wiederge - bornen, blieb ſein beſtes Vergnuͤgen in der Welt, bis ins zehnte Jahr ſeines Alters; aber alle dieſe Perſonen, deren Lebens - beſchreibungen er las, blieben ſo feſt in ſeiner Einbildungskraft idealiſirt, daß er ſie nie in ſeinem Leben vergeſſen hat.
Am Nachmittag, von zwei bis drei Uhr, oder auch etwas laͤnger, ließ ihn Wilhelm in den Baumhof und Geiſenber - ger Wald ſpatzieren; er hatte ihm daſelbſt einen Diſtrikt an - gewieſen, den er ſich zu ſeinen Beluſtigungen zueignen, aber uͤber welchen er nicht weiter ohne Geſellſchaft ſeines Vaters hinausgehen duͤrfte. Dieſe Gegend war nicht groͤßer, als Wil - helm aus ſeinem Fenſter uͤberſehen konnte, damit er ihn nie aus den Augen verlieren moͤchte. War denn die geſetzte Zeit um, oder wenn ſich auch ein Nachbars-Kind Heinrichen von weitem naͤherte, ſo pfiff Wilhelm, und auf dieſes Zeichen war er den Augenblick wieder bei ſeinem Vater.
Dieſe Gegend, Stillings Baumhof und ein Strich Wal - des, der an den Hof graͤnzte, wurde von unſerem jungen Kna - ben alſo taͤglich bei gutem Wetter beſucht, und zu lauter idea - liſchen Landſchaften gemacht. Da war eine egyptiſche Wuͤſte, in welcher er einen Strauch zur Hoͤhle umbildete, in welche er ſich verbarg und den heiligen Antonius vorſtellte, betete auch wohl in dieſem Enthuſiasmus recht herzlich. In einer andern Gegend war der Brunu der Meluſine; dort war die Tuͤrkei, wo der Sultan und ſeine Tochter, die ſchoͤne Marcebilla, wohn - ten; da war auf einem Felſen das Schloß Montalban, in welchem Reinold wohnte u. ſ. w. Nach dieſen Oertern wall - fahrtete er taͤglich, kein Menſch kann ſich die Wonne einbil - den, die der Knabe daſelbſt genoß; ſein Geiſt floß uͤber, er ſtammelte Reimen und hatte dichteriſche Einfaͤlle. So war die5 *68Erziehung dieſes Kindes beſchaffen bis in’s zehnte Jahr. Eines gehoͤrt noch hierzu. Wilhelm war ſehr ſcharf; die mindeſte Uebertretung ſeiner Befehle beſtrafte er aufs ſchaͤrfſte mit der Ruthe. Daher kam zu obigen Grundlagen eine gewiſſe Schuͤch - ternheit in des jungen Stillings Seele, und aus Furcht vor den Zuͤchtigungen ſuchte er ſeine Fehler zu verhehlen und zu verdecken, ſo daß er ſich nach und nach zum Luͤgen verleiten ließ; eine Neigung, die ihm zum Ueberwinden bis in ſein zwanzigſtes Jahr viele Muͤhe gemacht hat. Wilhelms Ab - ſicht war, ſeinen Sohn beugſam und gehorſam zu erziehen, um ihn zu Haltung goͤttlicher und menſchlicher Geſetze faͤhig zu machen: und eine gewiſſenhafte Strenge fuͤhre, daͤuchte ihn, den naͤchſten Weg zum Zwecke: und da konnte er gar nicht begreifen, woher es doch kaͤme, daß ſeine Seligkeit, die er an den ſchoͤnen Eigenſchaften ſeines Jungen genoß, durch das Laſter der Luͤgen, auf welchem er ihn oft ertappte, ſo haͤßlich verſalzet wuͤrde. Er verdoppelte ſeine Strenge, beſonders wo er eine Luͤge gewahr wurde; allein er richtete dadurch weiter nichts aus, als daß Heinrich alle erdenkliche Kunſtgriffe anwendete, ſeine Luͤgen wahrſcheinlicher zu machen; und ſo wurde denn doch der gute Wilhelm betrogen. Sobald merkte der Knabe nicht, daß es ihm gelungen, ſo freute er ſich und dankte noch wohl Gott, daß er ein Mittel gefunden, einem Strafgericht zu entgehen. Doch muß ich auch dieſes zu ſeiner Ehrenrettung ſagen: er log nicht, als nur dann, wann er Schlaͤge damit abwenden konnte.
Der alte Stilling ſah alles dieſes ganz ruhig an. Die ſtrenge Lebensart ſeines Sohnes beurtheilte er nie; laͤchelte aber wohl zuweilen und ſchuͤttelte die grauen Locken, wenn er ſah, wie Wilhelm nach der Ruthe griff, weil der Knabe Etwas gegeſſen oder gethan hatte, das gegen ſeinen Befehl war. Dann ſagte er auch wohl in Abweſenheit des Kindes: Wilhelm! wer nicht will, daß ſeine Gebote haͤu - fig uͤbertreten werden, der muß nicht viel befeh - len. Alle Menſchen lieben die Freiheit. — Ja, ſagte Wilhelm dann, ſo wird mir aber der Junge eigenwil - lig. Verbeut du ihm, erwiederte der Alte, ſeine Feh -69 ler, wann er ſie eben begehen will, und unter - richte ihn warum; haſt du es aber vorhin verbo - ten, ſo vergißt der Knabe die vielen Gebote und Verbote, fehlt immer, du aber mußt dein Wort handhaben, und ſo gibts immer Schlaͤge. Wil - helm erkannte dieſes, und ließ vor und nach die mehreſten Regeln in Vergeſſenheit kommen; er regierte nun nicht mehr ſo ſehr nach Geſetzen, ſondern ganz monarchiſch; er gab ſeinen Befehl immer, wenn’s noͤthig war, richtete ihn nach den Um - ſtaͤnden ein, und nun wurde der Knabe nicht mehr ſo viel ge - zuͤchtigt, ſeine ganze Lebensart wurde in etwas aufgeweckter, freier und edler.
Heinrich Stilling wurde alſo ungewoͤhnlich erzogen, ganz ohne Umgang mit andern Menſchen; er wußte daher nichts von der Welt, nichts von Laſtern, er kannte gar keine Falſchheit und Ausgelaſſenheit; beten, leſen und ſchreiben war ſeine Beſchaͤftigung; ſein Gemuͤth war alſo mit wenigen Din - gen angefuͤllt: aber alles, was darin war, war ſo lebhaft, ſo deutlich, ſo verfeinert und veredelt, daß ſeine Ausdruͤcke, Reden und Handlungen ſich nicht beſchreiben laſſen. Die ganze Familie erſtaunte uͤber den Knaben, und der alte Stil - ling ſagte oft: der Junge entfleugtuns, die Fe - dern wachſen ihm groͤßer, als je Einer in unſerer Freundſchaft geweſen; wir muͤſſen beten, daß ihn Gott mit ſeinem guten Geiſt regieren wolle. Alle Nachbarn, die wohl in Stillings Hauſe kamen, und den Knaben ſahen, verwunderten ſich; denn ſie verſtanden nichts von allem, was er ſagte, ob er gleich gut deutſch redete. Unter andern kam einmal Nachbar Staͤhler hin, weilen er von Wilhelm ein Camiſol gemacht haben wollte; doch war wohl ſeine Hauptabſicht dabei, unter der Hand ſein Marie - chen zu verſorgen; denn Stilling war im Dorf angeſehen, und Wilhelm war fromm und fleißig. Der junge Hein - rich mochte acht Jahr alt ſeyn; er ſaß in einem Stuhl und las in einem Buch, ſah ſeiner Gewohnheit nach ganz ernſt - haft, und ich glaube nicht, daß er zu der Zeit noch in ſeinem70 Leben ſtark gelacht hatte. Staͤhler ſah ihn an und ſagte: Heinrich, was machſt du da?
„ Ich leſe. “
Kannſt du denn ſchon leſen?
Heinrich ſah ihn an, verwunderte ſich und ſprach: das iſt ja eine dumme Frage, ich bin ja ein Menſch! — Nun las er ſtark, mit Leichtigkeit, gehoͤrigem Nachdruck und Unter - ſcheidung. Staͤhler entſetzte ſich und ſagte: Hol’ mich der T.. ! ſo was hab’ ich mein Lebtag nicht geſehen. Bei dieſem Fluch ſprang Heinrich auf, zitterte und ſah ſchuͤchtern um ſich; wie er endlich ſah, daß der Teufel ausblieb, rief er: Gott, wie gnaͤdig biſt du! — trat darauf vor Staͤhlern und ſagte: Mann! habt ihr den Satan geſehen? Nein, ant - wortete Staͤhler. So ruft ihn nicht mehr, verſetzte Hein - rich, und ging in eine andere Kammer.
Das Geruͤcht von dieſem Knaben erſcholl weit umher; alle Menſchen redeten von ihm und verwunderten ſich. Selbſt der Paſtor Stollbein wurde neugierig, ihn zu ſehen. Nun war Heinrich noch nie in der Kirche geweſen, hatte daher auch noch nie einen Mann mit einer großen, weißen Peruͤcke und feinem ſchwarzen Kleide geſehen. Der Paſtor kam nach Tiefenbach hin, und weil er vielleicht ehe in ein anderes Haus gegangen war, ſo wurde ſeine Ankunft in Stillings Hauſe vorher ruchbar, wie auch, warum er gekommen war. Wil - helm unterrichtete ſeinen Heinrichen alſo, wie er ſich be - tragen muͤßte, wenn der Paſtor kaͤme. Er kam dann endlich, und mit ihm der alte Stilling. Heinrich ſtand an der Wand gerade auf, wie ein Soldat, der das Gewehr praͤſentirt; in ſeinen gefaltenen Haͤnden hielt er ſeine aus blauen und grauen tuchenen Lappen zuſammengeſetzte Muͤtze, und ſah dem Paſtor immer ſtarr in die Augen. Nachdem ſich Herr Stollbein geſetzt, und ein und ander Wort mit Wilhelmen geredet hatte, drehte er ſich gegen die Wand, und ſagte: Guten Mor - gen, Heinrich! —
„ Man ſagt guten Morgen, ſobald man in die Stube kommt. “
Stollbein merkte, mit wem er’s zu thun hatte, daher71 drehte er ſich mit ſeinem Stuhl neben ihn und fuhr fort: Kannſt du auch den Catechismus?
„ Noch nicht all. “
Wie, noch nicht all? das iſt ja das erſte, was die Kinder lernen muͤſſen.
„ Nein, Paſtor, das iſt nicht das erſte; Kinder muͤſſen erſt beten lernen, daß ihnen Gott Verſtand geben moͤge, den Ca - techismus zu begreifen. “
Herr Stollbein war ſchon im Ernſt aͤrgerlich, und eine ſcharfe Strafpredigt an Wilhelmen war ſchon ausſtudirt; doch dieſe Antwort machte ihn ſtutzig. Wie beteſt du denn? fragte er ferner.
„ Ich bete: Lieber Gott! gib mir doch Verſtand, daß ich begreifen kann, was ich leſe. “
Das iſt recht, mein Sohn, ſo bete fort!
„ Ihr ſeyd nicht mein Vater. “
Ich bin dein geiſtlicher Vater.
„ Nein, Gott iſt mein geiſtlicher Vater; ihr ſeyd ein Menſch, ein Menſch kann kein Geiſt ſeyn. “
Wie, haſt du denn keinen Geiſt, keine Seele?
„ Ja freilich! wie koͤnnt Ihr ſo einfaͤltig fragen? Aber ich kenne meinen Vater. “
Kennſt du denn auch Gott, deinen geiſtlichen Vater?
Heinrich laͤchelte. „ Sollte ein Menſch Gott nicht kennen? “
Du kannſt ihn ja doch nicht ſehen.
Heinrich ſchwieg, und holte ſeine wohlgebrauchte Bibel, und wies dem Paſtor den Spruch Roͤm. 1, V. 19 und 20.
Nun hatte Stollbein genug. Er hieß den Knaben hinaus gehen, und ſagte zu dem Vater: Euer Kind wird alle ſeine Voreltern uͤbertreffen; fahret fort, ihn wohl unter der Ruthe zu halten; der Junge wird ein großer Mann in der Welt.
Wilhelm hatte noch immer ſeine Wunde uͤber Dortchens Tod; er ſeufzte noch beſtaͤndig um ſie. Nunmehr nahm er auch zuweilen ſeinen Knaben mit nach dem alten Schloß, zeigte ihm ſeiner verklaͤrten Mutter Tritte und Schritte, alles, was ſie hier und da geredet und gethan hatte. Heinrich verliebte ſich ſo in ſeine Mutter, daß er alles, was er von ihr72 hoͤrte, in ſein Eigenes verwandelte, welches Wilhelmen ſo wohl gefiel, daß er ſeine Freude nicht bergen konnte.
Einſtmals an einem ſchoͤnen Herbſtabend gingen unſere bei - den Liebhaber des ſeligen Dortchens in den Ruinen des Schloſſes herum, und ſuchten Schneckenhaͤuschen, die daſelbſt ſehr haͤufig waren. Dortchen hatte daran ihre groͤßte Be - luſtigung gehabt. Heinrich fand neben einer Mauer unter einem Stein ein Zulegmeſſerchen mit gelben Buckeln und gruͤ - nen Stiel. Es war noch gar nicht roſtig, theils, weil es am Trocknen lag, theils, weil es ſo bedeckt gelegen, daß es nicht darauf regnen konnte. Heinrich war froh uͤber dieſen Fund, lief zu ſeinem Vater und zeigte es ihm. Wilhelm beſah es, wurde blaß, fing an zu ſchluchzen und zu heulen. Hein - rich erſchrack, ihm ſtanden auch ſchon die Thraͤnen in den Augen, ohne zu wiſſen warum; auch durfte er nicht fragen. Er drehte das Meſſer herum, und ſah, daß auf der Klinge mit Etzwaſſer geſchrieben ſtand: Johanna Dorothea Ca - tharina Stilling. Er ſchrie laut, und lag da, wie ein Todter. Wilhelm hoͤrte ſowohl das Leſen des Namens, als auch den lauten Schrei; er ſetzte ſich neben den Knaben, ſchuͤttelte an ihm, und ſuchte ihn wieder zurechte zu bringen. Indem er damit beſchaͤftiget war, ward ihm wohl in ſeiner Seele; er fand ſich getroͤſtet, er nahm den Knaben in ſeine Arme, druͤckte ihn an ſeine Bruſt, und empfand ein Vergnuͤ - gen, das uͤber Alles ging. Er nahete ſich zu Gott, wie zu ſeinem Freund, und meinte bis in die Herrlichkeit des Him - mels aufgezogen zu ſeyn und Dortchen unter den Engeln zu ſehen. Indeß kam Heinrich wieder zu ſich, und fand ſich in ſeines Vaters Armen. Er wußte ſich nicht zu beſinnen, daß ihn ſein Vater jemals in den Armen gehabt. Seine ganze Seele wurde durchdrungen, Thraͤnen der ſtaͤrkſten Empfindung floßen uͤber ſeine ſchneeweißen vollen Wangen herab. Vater, habt ihr mich lieb? — fragte er. Niemals hatte Wilhelm mit ſeinem Kinde weder geſcherzt noch getaͤndelt; daher wußte der Knabe von keinem andern Vater, als einem ernſthaften und ſtrengen Mann, den er fuͤrchten und verehren mußte. Wilhelms Kopf ſank Heinrichen auf die Bruſt; er73 ſagte: Ja! und weinte laut. Heinrich war außer ſich, und eben im Begriff, wieder ohnmaͤchtig zu werden; doch, der Vater ſtand ploͤtzlich auf und ſtellte ihn auf die Fuͤße. Kaum konnt’ er ſtehen. Komm, ſagte Wilhelm, wir wollen ein wenig herumgehen. Sie ſuchten das Meſſer, konnten es aber gar nicht wieder finden; es war ganz gewiß zwiſchen den Steinen tief hinab gefallen. Sie ſuchten lange, aber ſie fan - den’s nicht. Niemand war trauriger als Heinrich; doch der Vater fuͤhrte ihn weg und redete Folgendes mit ihm:
Mein Sohn! du biſt nun bald neun Jahr alt. Ich hab’ dich gelehrt und unterrichtet ſo gut ich gekonnt habe; du haſt nun bald ſo viel Verſtand, daß ich vernuͤnftig mit dir reden kann. Du haſt noch Vieles in der Welt vor dir, und ich ſel - ber bin noch jung. Wir werden unſer Leben auf unſerer Kam - mer nicht beſchließen koͤnnen; wir muͤſſen wieder mit Men - ſchen umgehen; ich will wiederum Schule halten, und du ſollſt mit mir gehen und ferner lernen. Befleißige dich auf alles, wozu du Luſt haſt, es ſoll dir an Buͤchern nicht fehlen; doch aber, damit du etwas Gewiſſes habeſt, womit du dein Brod erwerben koͤnneſt, ſo mußt du mein Handwerk lernen. Wird dich denn der liebe Gott in einen beſſern Beruf ſetzen, ſo haſt du Urſach, ihm zu danken; Niemand wird dich verachten, daß du mein Sohn biſt, und wenn du auch ein Fuͤrſt wuͤrdeſt. Hein - rich empfand Wonne uͤber ſeines Vaters Vertraulichkeit; ſeine Seele wurde unendlich erweitert; er fuͤhlte eine ſo ſanfte, un - bezwingbare Freiheit, dergleichen ſich nicht vorſtellen laͤßt; mit Einem Wort, er empfand jetzt zum Erſtenmal, daß er ein Menſch war! Er ſah ſeinen Vater an, und ſagte: Ich will alles thun, was Ihr haben wollt! Wilhelm laͤchelte ihn an, und fuhr fort: Du wirſt gluͤcklich ſeyn; nur mußt du nie vergeſ - ſen, mit Gott vertraulich umzugehen, der wird dich alsdann in deinen Schutz nehmen und dich vor allem Boͤſen bewahren. Unter dieſen Geſpraͤchen kamen ſie wieder nach Haus und auf ihre Kammer. Von dieſer Zeit an ſchien Wilhelm ganz veraͤndert; ſein Herz war wieder geoͤffnet worden, und ſeine frommen Geſinnungen hinderten ihn nicht, unter die Leute zu gehen. Alle Menſchen, auch die wildeſten, empfanden Ehr -74 furcht in ſeiner Gegenwart; denn ſein ganzer Menſch hatte in der Einſamkeit einen unwiderſtehlichen ſanften Ernſt an - genommen, aus dem eine reine, einfaͤltige Seele hervorblickte. Oefters nahm er auch ſeinen Sohn mit, zu dem er eine ganze neue, warme Liebe ſpuͤrte. Beim Finden des Meſſers war er Dortchens ganzen Charakter an dem Knaben gewahr wor - den; es war ſein und Dortchens Sohn; und uͤber dieſen Aufſchluß ſtuͤrzte alle ſeine Neigung auf Heinrichen, und er fand Dortchen in ihm wieder.
Nun fuͤhrte Wilhelm ſeinen Heinrichen zum Erſten - mal in die Kirche. Er erſtaunte uͤber alles, was er ſah; ſo - bald aber die Orgel anfing zu gehen, da wurde ſeine Empfin - dung zu maͤchtig, er bekam gelinde Zuckungen; eine jede ſanfte Harmonie zerſchmolz ihn, die Molltoͤne machten ihn in Thraͤ - nen fließen, und das raſche Allegro machte ihn aufſpringen. Wie erbaͤrmlich auch ſonſt der gute Organiſt ſein Handwerk verſtand, ſo war es doch Wilhelmen unmoͤglich, ſeinen Sohn davon abzubringen, nicht nach geendigter Predigt den Orga - niſten und ſeine Orgel zu ſehen. Er ſah ſie, und der Virtuoſe ſpielte ihm zu Gefallen ein Andante, welches vielleicht das erſtemal in der Florenburger Kirche war, daß dieſes einem Bauernjungen zu Gefallen geſchah.
Nun ſah auch Heinrich zum Erſtenmal ſeiner Mutter Grab. Er wuͤnſchte nur, ihre noch uͤbrigen Gebeine zu ſehen; da das aber nicht geſchehen konnte, ſo ſetzte er ſich auf den Grabeshuͤgel, pfluͤckte einige Herbſtblumen und Kraͤuter auf demſelben, ſteckte ſie vor ſich in ſeine Knopfloͤcher und ging weg. Er empfand hier nicht ſo viel, als bei Findung des Meſ - ſers: doch hatte er ſich, nebſt ſeinem Vater, die Augen roth geweint. Jener Zufall war ploͤtzlich und unerwartet, dieſer aber vorbedaͤchtlich uͤberlegt; auch war die Empfindung der Kirchenmuſik noch allzu ſtark in ſeinem Herzen.
Der alte Stilling bemerkte nun auch die Beruhigung ſeines Wilhelms. Mit innigem Vergnuͤgen ſahe er alle das Gute und Liebe an ihm und ſeinem Kinde; er wurde da - durch noch mehr aufgeheitert und faſt verjuͤngt.
Als er einmal im Fruͤhling auf einen Montag Morgen nach75 dem Walde zu ſeiner Handthierung ging, erſuchte er Wilhel - men, ihm ſeinen Enkel mitzugeben. Dieſer gab es zu, und Heinrich freute ſich zum hoͤchſten. Wie ſie den Giller hin - auf gingen, ſagte der Alte: Heinrich, erzaͤhl’ uns einmal die Hiſtorie von der ſchoͤnen Meluſine; ich hoͤre ſo gern alte Hiſtorien: ſo wird uns die Zeit nicht lang. Heinrich er - zaͤhlte ſie ganz umſtaͤndlich mit der groͤßten Freude. Vater Stilling ſtellte ſich, als wenn er uͤber die Geſchichte ganz erſtaunt waͤre, und als wenn er ſie in allen Umſtaͤnden wahr zu ſeyn glaubte. Dieß mußte aber auch geſchehen, wenn man Heinrichen nicht aͤrgern wollte; denn er glaubte alle dieſe Hiſtorien ſo feſt, als die Bibel. Der Ort, wo Stilling Kohlen brannte, war drei Stunden von Tiefenbach; man ging beſtaͤndig bis dahin im Wald. Heinrich, der alles ideali - ſirte, fand auf dieſem ganzen Wege lauter Paradies; alles war ihm ſchoͤn und ohne Fehler. Eine recht duͤſtere Maibuche, die er in einiger Entfernung vor ſich ſah, mit ihrem ſchoͤnen gruͤnen Licht und Schatten, machte einen Eindruck auf ihn; alſofort war die ganze Gegend ein Ideal und himmliſch ſchoͤn in ſeinen Augen. Sie gelangten dann endlich auf einen ſehr hohen Berg zum Arbeitsplatz. Die mit Raſen bedeckte Koͤh - lershuͤtte fiel dem jungen Stilling ſogleich in die Augen; er kroch hinein, ſah das Lager von Moos und die Feuerſtaͤtte zwiſchen zween rauhen Steinen, freute ſich und jauchzte. Waͤh - rend der Zeit, daß der Großvater arbeitete, ging er im Wald herum, und betrachtete alle Schoͤnheiten der Gegend und der Natur; alles war ihm neu und unausſprechlich reizend. An einem Abend, wie ſie des andern Tages wieder nach Hauſe wollten, ſaßen ſie vor der Huͤtte, da eben die Sonne unterge - gangen war. Großvater! ſagte Heinrich, wann ich in den Buͤchern leſe, daß die Helden ſo weit zuruͤck haben rechnen koͤnnen, wer ihre Voreltern geweſen, ſo wuͤnſch’ ich, daß ich auch wuͤßte, wer meine Voreltern geweſen ſind. Wer weiß, ob wir nicht auch von einem Fuͤrſten oder großen Herrn her - kommen? Meiner Mutter Vorfahren ſind alle Prediger gewe - ſen, aber die Eurigen weiß ich noch nicht; ich will ſie mir Alle aufſchreiben, wenn ihr ſie mir ſagt. Vater Stilling76 laͤchelte, und antwortete: wir kommen wohl ſchwerlich von ei - nem Fuͤrſten her; das iſt mir aber auch ganz einerlei: du mußt das auch nicht wuͤnſchen. Deine Vorfahren ſind alle ehr - bare, fromme Leute geweſen; es gibt wenig Fuͤrſten, die das ſagen koͤnnen. Laß’ dir das die groͤßte Ehre in der Welt ſeyn, daß dein Großvater, Urgroßvater und ihre Vaͤter alle Maͤnner waren, die zwar außer ihrem Hauſe nichts zu befehlen hatten, doch aber von allen Menſchen geliebt und geehrt wurden. Kei - ner von ihnen hat ſich auf unehrliche Art verheirathet, oder ſich mit einer Frauensperſon vergangen; keiner hat jemals be - gehrt, das nicht ſein war; und Alle ſind großmuͤthig geſtorben in ihrem hoͤchſten Alter. Heinrich freute ſich und ſagte: ich werde alſo alle meine Voreltern im Himmel finden? Ja, erwiederte der Großvater, das wirſt du; unſer Geſchlecht wird daſelbſt gruͤnen und bluͤhen. Heinrich! erinnere dich an die - ſen Abend, ſo lang du lebſt. In jener Welt ſind wir von gro - ßem Adel; verlier’ dieſen Vorzug nicht! Unſer Segen wird auf dir ruhen, ſo lange du fromm biſt; wirſt du gottlos wer - den und deine Eltern verachten, ſo werden wir dich in der Ewigkeit nicht kennen. Heinrich fing an zu weinen, und ſagte: ſeyd dafuͤr nicht bange, Großvater! ich werde fromm und froh ſeyn, daß ich Stilling heiße. Erzaͤhlet mir aber was ihr von unſern Voreltern wiſſet. Vater Stilling er - zaͤhlte: Meines Urgroßvaters Vater hieß Ulli Stilling. Er war ohngefaͤhr Anno 1500 geboren. Ich weiß aus alten Briefen, daß er nach Tiefenbach gekommen, wo er im Jahr 1530 Hans Staͤhlers Tochter geheirathet. Er iſt aus der Schweiz hergekommen, und mit Zwinglius bekannt geweſen. Er war ein ſehr frommer Mann, auch ſo ſtark, daß er einsmalen fuͤnf Raͤubern ſeine vier Kuͤhe wieder abgenom - men, die ſie ihm geſtohlen hatten. Anno 1536 bekam er ei - nen Sohn, der hieß Reinhard Stilling; dieſer war mein Urgroßvater. Er war ein ſtiller, eingezogener Mann, der Je - dermann Gutes that; er heirathete im 50ſten Jahr eine ganz junge Frau, mit der er viele Kinder hatte; in ſeinem 60ſten Jahr gebar ihm ſeine Frau einen Sohn, den Heinrich Stil - ling, der mein Großvater geweſen. Er war 1596 geboren,77 er wurde 101 Jahr alt, daher hab’ ich ihn noch eben gekannt. Dieſer Heinrich war ein ſehr lebhafter Mann, kaufte ſich in ſeiner Jugend ein Pferd, wurde ein Fuhrmann und fuhr nach Braunſchweig, Brabant und Sachſen. Er war ein Schirr - meiſter, hatte gemeiniglich 20 bis 30 Fuhrleute bei ſich. Zu der Zeit waren die Raͤubereien noch ſo ſehr im Gange, und noch wenig Wirthshaͤuſer an den Straßen, daher nahmen die Fuhrleute Proviant mit ſich. Des Abends ſtellten ſie die Kar - ren in einen Kreis herum, ſo daß einer an den andern ſtieß; die Pferde ſtellten ſie mitten ein, und mein Großvater mit den Fuhrleuten war bei ihnen. Wann ſie dann gefuͤttert hat - ten, ſo rief er: Zum Gebet, ihr Nachbarn! dann kamen ſie alle, und Heinrich Stilling betete ſehr ernſtlich zu Gott. Einer von ihnen hielt die Wache, und die andern krochen un - ter ihre Karren an’s Trockne, und ſchliefen. Sie fuͤhrten aber immer ſcharf geladen Gewehr und gute Saͤbel bei ſich. Nun trug es ſich einmal zu, daß mein Großvater ſelbſt die Wache hatte; ſie lagen im Heſſenland auf einer Wieſe, ihrer wa - ren ſechs und zwanzig ſtarke Maͤnner. Gegen eilf Uhr des Abends hoͤrte er einige Pferde auf der Wieſe reiten; er weckte in der Stille alle Fuhrleute und ſtand hinter ſeinem Karren. Heinrich Stilling aber lag auf ſeinen Knieen, und betete bei ſich ſelbſt ernſtlich, Endlich ſtieg er auf ſeinen Karren, und ſah umher. Es war genug Licht, ſo, daß der Mond eben untergehen wollte. Da ſah er ungefaͤhr zwanzig Maͤnner zu Pferd, wie ſie abſtiegen und leiſe auf die Karren losgingen. Er kroch wieder herab, ging unter den Karren, damit ſie ihn nicht ſaͤhen, gab aber wohl Acht, was ſie anfingen. Die Raͤuber gingen rund um die Wagenburg herum, und als ſie keinen Eingang fanden, fingen ſie an, an einem Karren zu ziehen. Stilling, ſobald er das ſah, rief: im Namen Gottes ſchießt! Ein jeder von den Fuhrleuten hatte den Hah - nen aufgezogen und ſchoßen unter den Karren heraus, ſo daß der Raͤuber ſofort Sechſe niederſanken; die andern Raͤuber erſchracken, zogen ſich ein wenig zuruͤck und redeten zuſammen. Die Fuhrleute luden wieder ihre Flinten: nun ſagte Stil - ling: gebt Acht, wenn ſie wieder naͤher kommen, dann ſchießt!78 ſie kamen aber nicht, ſondern ritten fort. Die Fuhrleute ſpannten mit Tagesanbruch wieder an, und fuhren weiter; ein Jeder trug ſeine geladene Flinte und ſeinen Degen, denn ſie waren nicht ſicher. Des Vormittags ſahen ſie aus einem Wald einige Reiter wieder auf ſie zureiten. Stilling fuhr zufoͤrderſt, und die Andern alle hinter ihm her. Dann rief er: Ein Je - der hinter ſeinen Karren, und den Hahnen geſpannt! Die Reiter hielten ſtille; der vornehmſte unter ihnen ritt allein auf ſie zu, ohne Gewehr, und rief: Schirrmeiſter, hervor! Mein Großvater trat hervor, die Flinte in der Hand und den De - gen unterem Arm. Wir kommen als Freunde! rief der Rei - ter. Heinrich traute nicht und ſtand da. Der Reiter ſtieg ab, bot ihm die Hand und fragte: Seyd ihr verwichene Nacht von Raͤubern angegriffen worden? Ja, antwortete mein Groß - vater, nicht weit von Hirſchfeld auf einer Wieſe. Recht ſo, antwortete der Reiter, wir haben ſie verfolgt, und kamen eben bei der Wieſe an, wie ſie fortjagten und ihr Einigen das Licht ausgeblaſen hattet; ihr ſeyd wackere Leute. Stilling fragte, wer er waͤre? der Reiter antwortete: Ich bin der Graf von Wittgenſtein, ich will euch zehn Reiter zum Geleit mit - geben, denn ich habe noch Mannſchaft genug dort hinten im Wald bei mir. Stilling nahm’s an, und accordirte mit dem Grafen, wie viel er ihm jaͤhrlich geben ſollte, wenn er ihn immer durchs Heſſiſche geleitete. Der Graf gelobt’s ihm, und die Fuhrleute fuhren nach Hauſe. Dieſer mein Großvater hatte im zwei und zwanzigſten Jahr geheirathet, und im 24ſten, nehmlich 1620, bekam er einen Sohn, Hans Stilling, dieſer war mein Vater. Er lebte ruhig, wartete ſeines Acker - baues und diente Gott. Er hatte den ganzen dreißigjaͤhrigen Krieg erlebt, und war oͤfters in die aͤußerſte Armuth gerathen. Er hat zehn Kinder erzeugt, unter welchen ich der juͤngſte bin. Ich wurde 1680 geboren, eben da mein Vater 60 Jahr alt war. Ich habe, Gott ſey Dank! Ruhe genoſſen und mein Gut wiederum von allen Schulden befreiet. Mein Vater ſtarb 1724, im 104ten Jahr ſeines Alters: ich hab’ ihn wie ein Kind verpflegen muͤſſen, und liegt zu Florenburg bei ſeinen Vor - eltern begraben.
79Heinrich Stilling hatte mit groͤßter Aufmerkſamkeit zu - gehoͤret. Nun ſprach er: Gott ſey Dank, daß ich ſolche El - tern gehabt habe! Ich will ſie Alle nett aufſchreiben, damit ich’s nicht vergeſſe. Die Ritter nennen ihre Voreltern Ahnen, ich will ſie auch meine Ahnen heißen. Der Großvater laͤchelte und ſchwieg.
Des andern Tages gingen ſie wieder nach Hauſe, und Hein - rich ſchrieb alle die Erzaͤhlungen in ein altes Schreibbuch, das er umkehrte, und die hinten weiß gebliebenen Blaͤtter mit ſeinen Ahnen vollpfropfte.
Mir werden die Thraͤnen los, da ich dieſes ſchreibe. Wo ſeyd ihr doch hingeflohen, ihr ſel’ge Stunden! Warum bleibt nur euer Andenken dem Menſchen uͤbrig! Welche Freude uͤber - irdiſcher Fuͤlle ſchmeckte der gefuͤhlige Geiſt der Jugend! Es gibt keine Niedrigkeit des Standes, wenn die Seele geadelt iſt. Ihr, meine Thraͤnen, die mein durchbrechender Geiſt her - auspreßt, ſagt’s jedem guten Herzen, ſagt’s ohne Worte, was ein Menſch ſey, der mit Gott ſeinem Vater bekannt iſt, und all’ ſeine Gaben in ihrer Groͤße ſchmeckt!
Heinrich Stilling war die Freude und Hoffnung ſei - nes Hauſes; denn ob gleich Johann Stilling einen aͤl - tern Sohn hatte, ſo war doch niemand auf denſelben ſonder - lich aufmerkſam. Er kam oft, beſuchte ſeine Großeltern, aber wie er kam, ſo ging er auch wieder. Eine ſeltſame Sache! — Eberhard Stilling war doch wahrlich nicht partheiiſch. Doch was halt’ ich mich hierbei auf? Wer kann dafuͤr, wenn man einen Menſchen vor dem andern mehr oder weniger lieben muß? Paſtor Stollbein ſah wohl, daß unſer Knabe Etwas werden wuͤrde, wenn man nur was aus ihm machte, daher kam es bei einer Gelegenheit, da er in Stillings Hauſe war, daß er mit dem Vater und Großvater von dem Jungen redete, und ihnen vorſchlug, Wilhelm ſollte ihn Latein ler - nen laſſen. Wir haben ja zu Florenburg einen guten lateini - ſchen Schulmeiſter; ſchickt ihn hin, es wird wenig koſten. Der alte Stilling ſaß am Tiſch, kaute an einem Spaͤnchen; ſo80 pflegte er wohl zu thun, wenn er Sachen von Wichtigkeit uͤberlegte. Wilhelm legte den eiſernen Fingerhut auf den Tiſch, ſchlug die Arme vor der Bruſt uͤber einander und uͤber - legte auch. Margareth hatte die Haͤnde auf dem Schooß gefalten, knickelte mit den Daumen gegen einander, blinzte gegenuͤber auf die Stubenthuͤre und uͤberlegte auch. Hein - rich aber ſaß, mit ſeiner wollenen Lappmuͤtze in der Hand, auf einem kleinen Stuhl, und uͤberlegte nicht, ſondern wuͤnſchte nur. Stollbein ſaß auf ſeinem Lehnſtuhl, eine Hand auf dem Knopf des Rohrſtabes und die andere in der Seite und wartete der Sachen Ausſchlag. Lange ſchwiegen ſie, endlich ſagte der Alte: Nun, Wilhelm, es iſt dein Kind; was meinſt du?
„ Vater, ich weiß nicht, woher ich die Koſten beſtreiten ſoll. “
Iſt das deine ſchwerſte Sorge, Wilhelm? wird dir dein lateiniſcher Junge auch noch Freude machen? da ſorg’ nur!
„ Was, Freude! ſagte der Paſtor; mit Eurer Freude! Hier iſt die Frage, ob Ihr was rechts aus dem Knaben machen wollt, oder nicht. Soll was rechts aus ihm werden, ſo muß er Latein lernen, wo nicht, ſo bleib’ er ein Luͤmmel wie — “
Wie ſeine Eltern, ſagte der alte Stilling.
„ Ich glaube, Ihr wollt mich foppen, verſetzte der Prediger. “
Nein, Gott bewahr’ uns! erwiederte Eberhard, nehmt mir nicht uͤbel; denn Euer Vater war ja ein Wollenweber, und konnte auch kein Latein; doch ſagten die Leute, er waͤre ein braver Mann geweſen, wiewohl ich nie Tuch bei ihm ge - kauft habe. Hoͤrt, lieber Herr Paſtor, ein ehrlicher Mann liebt Gott und den Naͤchſten, er thut recht und ſcheut Nie - mand, er iſt fleißig, ſorgt fuͤr ſich und die Seinigen, damit ſie Brod haben moͤgen. Warum thut er doch das alles? —
„ Ich glaube wahrhaftig, Ihr wollt mich catechiſiren, Stil - ling! Braucht Reſpekt und wißt, mit wem Ihr redet. Das thut er, weil es recht und billig iſt, daß er’s thut! “
Zuͤrnet nicht, daß ich Euch widerſpreche; er thut’s darum, damit er hier und dort Freude haben moͤge.
„ Ei was! damit kann er doch noch zur Hoͤlle fahren. “
Mit der Liebe Gottes und des Naͤchſten?
81„ Ja! ja! wenn er den wahren Glauben an Chriſtum nicht hat. “
Das verſteht ſich nun endlich von ſelber, daß man Gott und den Naͤchſten nicht lieben kann, wenn man an Gott und ſein Wort nicht glaubt. Aber antworte du, Wilhelm! Was duͤnkt dich?
Mich duͤnkt, wenn ich wuͤßte, woher ich die Koſten nehmen ſollte, ſo wuͤrde ich den Jungen wohl huͤten, daß er nicht zu lateiniſch wuͤrde. Er ſoll immer die muͤßigen Tage Cameel - haarkuoͤpfe machen und mir naͤhen helfen, bis man ſieht, was Gott aus ihm machen will.
Das gefaͤllt mir nicht uͤbel, Wilhelm, ſagte Vater Stil - ling; ſo rath ich auch. Der Junge hat einen unerhoͤrten Kopf, Etwas zu lernen; Gott hat dieſen Kopf nicht umſonſt gemacht; laß ihn lernen, was er kann und was er will; gib ihm zuweilen Zeit dazu, aber nicht zu viel, ſonſt kommt er dir an’s Muͤßiggehen, und liest auch nicht ſo fleißig; wenn er aber brav auf dem Handwerk geſchafft hat, und er wird auf die Buͤcher recht hungrig, dann laß ihn eine Stunde le - ſen; das iſt genug. Nur mach, daß er ein Handwerk recht - ſchaffen lernt, ſo hat er Brod, bis er ſein Latein brauchen kann und ein Herr wird.
„ Hm! Hm! ein Herr wird, brummte Stollbein, er ſoll kein Herr werden, er ſoll mir ein Dorfſchulmeiſter wer - den und dann iſts gut, wenn er ein wenig Latein kann. Ihr Bauersleute meint, das ging ſo leicht, ein Herr zu werden. Ihr pflanzt den Kindern den Ehrgeiz ins Herz, der doch vom Vater, dem Teufel, herkommt. “
Dem alten Stilling heiterten ſich ſeine großen hellen Au - gen auf; er ſtand da wie ein kleiner Rieſe (denn er war ein langer anſehnlicher Mann), ſchuͤttelte ſein weißgraues Haupt, laͤchelte und ſprach: Was iſt Ehrgeiz? Herr Paſtor!
Stollbein ſprang auf und rief: Schon wieder eine Frage! ich bin Euch nicht ſchuldig, zu antworten, ſondern Ihr mir. Gebt Acht in der Predigt, da werdet Ihr hoͤren, was Ehr - geiz iſt. Ich weiß nicht, Ihr werdet ſo ſtolz, Kirchenaͤlteſter! Ihr waret ſonſt ein ſittſamer Mann.
Stillings Schriften. I. Band. 682Wie Ihrs aufnehmt, ſtolz oder nicht ſtolz. Ich bin ein Mann; ich hab Gott geliebt und ihm gedient, Jedermann das Seinige gegeben, meine Kinder erzogen, ich war treu; meine Suͤnden vergibt mir Gott, das weiß ich; nun bin ich alt, mein Ende iſt nah; ob ich wohl recht geſund bin, ſo muß ich doch ſterben; da freu ich mich nun darauf, wie ich bald werde von hinnen reiſen. Laßt mich ſtolz darauf ſeyn, wie ein ehr - licher Mann mitten unter meinen großgezogenen frommen Kin - dern zu ſterben. Wenn ichs ſo recht bedenk’, bin ich munte - rer, als wie ich mit Margareth Hochzeit machte.
„ Man geht ſo mit Struͤmpf und Schuh nicht in Himmel! “ſagte der Paſtor.
Die wird mein Großvater auch ausziehen, ehe er ſtirbt, ſagte der kleine Heinrich.
Ein Jeder lachte, ſelbſt Stollbein mußte lachen.
Margareth machte der Ueberlegung ein Ende. Sie ſchlug vor, ſie wollte Morgens den Jungen ſatt fuͤttern, ihm als - dann ein Butterbrod fuͤr den Mittag in die Taſche geben, des Abends koͤnnte er ſich wieder daheim ſatt eſſen; und ſo kann der Junge Morgens fruͤh nach Florenburg in die Schule ge - hen, ſagte ſie, und des Abends wieder kommen. Der Som - mer iſt ja vor der Thuͤr; den Winter ſieht man wie man’s macht.
Nun war’s fertig. Stollbein ging nach Hauſe.
Zu dieſer Zeit ging eine große Veraͤnderung in Stillings Hauſe vor, die aͤlteſten Toͤchter heiratheten auswaͤrts, und alſo machte Eberhard und ſeine Margareth, Wilhelm, Mariechen und Heinrich die ganze Familie aus. Eber - hard beſchloß auch nunmehr, ſein Kohlbrennen aufzugeben, und blos ſeiner Feldarbeit zu warten.
Die Tiefenbacher Dorfſchule wurde vacant, und ein jeder Bauer hatte Wilhelm Stilling im Auge, ihn zum Schul - meiſter zu waͤhlen. Man trug ihm die Stelle auf; er nahm ſie ohne Widerwillen an, ob er ſich gleich innerlich aͤngſtigte, daß er mit ſolchem Leichtſinn ſein einſames, heiliges Leben verlaſſen und ſich unter die Menſchen begeben wollte. Der gute Mann hatte nicht bemerkt, daß ihn nur der Schmerz uͤber Dortchens Tod, der kein ander Gefuͤhl neben ſich litt,83 zum Einſiedler gemacht hatte, und daß er, da dieſer ertraͤgli - cher wurde, wieder Menſchen ſehen, wieder an einem Geſchaͤfte Vergnuͤgen finden konnte. Er legte ſichs ganz anders aus. Er glaubte, jener heilige Trieb fange an bei ihm zu erkalten, und nahm daher mit Furcht und Zittern die Stelle an. Er bekleidete ſie mit Treue und Eifer, und fing zuletzt an zu muth - maßen, daß es Gott nicht ungefaͤllig ſeyn koͤnnte, wenn er mit ſeinem Pfund wucherte, und ſeinem Naͤchſten zu dienen ſuchte.
Nun fing auch unſer Heinrich an, in die lateiniſche Schule zu gehen. Man kann ſich leicht vorſtellen, was er fuͤr ein Aufſehen unter den andern Schulknaben machte. Er war bloß in Stillings Haus und Hof bekannt, und war noch nie unter Menſchen gekommen; ſeine Reden waren immer un - gewoͤhnlich, und wenig Menſchen verſtanden, was er wollte; keine jugendlichen Spiele, wornach die Knaben ſo bruͤnſtig ſind, ruͤhrten ihn, er ging vorbei und ſah ſie nicht. Der Schul - meiſter Weiland merkte ſeinen faͤhigen Kopf und großen Fleiß; daher ließ er ihn ungeplagt; und da er merkte, daß ihm das langweilige Auswendiglernen unmoͤglich war, ſo be - freite er ihn davon, und wirklich Heinrichs Methode, Latein zu lernen, war fuͤr ihn ſehr vortheilhaft. Er nahm einen lateiniſchen Text vor ſich, ſchlug die Worte im Lexicon auf, da fand er dann, was jedes fuͤr ein Theil der Rede ſey; ſuchte ferner die Muſter der Abweichungen in der Grammatik u. ſ. f. Durch dieſe Methode hatte ſein Geiſt Nahrung in den beſten lateiniſchen Schriftſtellern, und die Sprache lernte er hinlaͤng - lich ſchreiben, leſen und verſtehen. Was aber ſein groͤßtes Vergnuͤgen ausmachte, war eine kleine Bibliothek des Schul - meiſters, die er Freiheit zu gebrauchen hatte. Sie beſtand aus allerhand nuͤtzlichen Coͤllniſchen Schriften; vornehmlich: der Reinicke Fuchs mit vortrefflichen Holzſchnitten, Kaiſer Octavianus nebſt ſeinem Weib und Soͤhnen; eine ſchoͤne Hi - ſtorie von den vier Haymons-Kindern, Peter und Magelone; die ſchoͤne Meluſine, und endlich der vortreffliche Hans Clauert. Sobald nun Nachmittags die Schule aus war, ſo machte er ſich auf den Weg nach Tiefenbach und las eine ſolche Hiſtorie unter dem Gehen. Der Weg ging durch gruͤne6 *84Wieſen, Waͤlder und Gebuͤſche, Berg auf und ab, und die reine wahre Natur um ihn machte die tiefſten feierlichen Ein - druͤcke in ſein offenes, freies Herz. Abends kamen dann un - ſere fuͤnf lieben Leute zuſammen; ſie ſpeisten, ſchuͤtteten eins dem andern ſeine Seele aus, und ſonderlich erzaͤhlte Heinrich ſeine Hiſtorien, woran ſich alle, Margareth nicht ausge - nommen, ungemein ergoͤtzten. Sogar der ernſte pietiſtiſche Wilhelm hatte Freude daran, und las ſie wohl ſelbſten Sonn - tags Nachmittags, wenn er nach dem alten Schloß wallfahrtete. Heinrich ſah ihm dann immer in’s Buch, wo er las, und wenn bald eine ruͤhrende Stelle kam, ſo jauchzte er in ſich ſel - ber, und wenn er ſah, daß ſein Vater dabei empfand, ſo war ſeine Freude vollkommen.
Indeſſen ging doch des jungen Stillings Lateinlernen vortrefflich von ſtatten, wenigſtens lateiniſche Hiſtorien zu le - ſen, zu verſtehen, lateiniſch zu reden und zu ſchreiben. Ob das nun genug ſey, oder ob mehr erfordert werde, weiß ich nicht, Herr Paſtor Stollbein wenigſtens forderte mehr. Nachdem Heinrich ohngefaͤhr ein Jahr in die lateiniſche Schule gegangen, ſo fiel es gemeldetem Herrn einmal ein, un - ſern Studenten zu examiniren. Er ſah ihn aus ſeinem Stu - benfenſter vor der Schule ſtehen, er pfiff, und Heinrich flog zu ihm. Lernſt du auch brav?
„ Ja, Herr Paſtor. “
Wie viel Verba anomala ſind?
„ Ich weiß es nicht. “
Wie, Flegel, du weißt’s nicht? Es moͤchte leicht, ich gaͤb dir eins auf’s Ohr. Sum, possum, nu! wie weiter?
„ Das hab ich nicht gelernt. “
He, Madlene! ruf den Schulmeiſter.
Der Schulmeiſter kam.
Was laßt ihr den Jungen lernen?
Der Schulmeiſter ſtand an der Thuͤre, den Hut unterem Arm, und ſagte demuͤthig:
„ Latein. “
Da! ihr Nichtsnutziger, er weiß nicht einmal wie viel Verba anomala ſind.
85„ Weißt du das nicht, Heinrich? “
Nein, ſagte dieſer, ich weiß es nicht.
Der Schulmeiſter fuhr fort: Nolo und Malo was ſind das fuͤr Woͤrter?
„ Das ſind Verba anomala. “
Fero und Volo was ſind das?
„ Verba anomala. “
Nun, Herr Paſtor, fuhr der Schulmeiſter fort, ſo kennt der Knabe alle Woͤrter.
Stollbein verſetzte: Er ſoll aber die Regeln alle auswen - dig lernen; geht nach Haus, ich wills haben!
(Beide:) Ja, Herr Paſtor!
Von der Zeit an lernte Heinrich mit leichter Muͤhe auch alle Regeln auswendig, doch vergaß er ſie bald wieder. Das ſchien ſeinem Charakter eigen werden zu wollen; was ſich nicht leicht bezwingen ließ, da flog ſein Genie uͤber weg. Nun genug von Stillings Lateinlernen! wir gehen weiter.
Der alte Stilling fing nunmehr an, ſeinen Vaterernſt abzulegen und gegen ſeine wenigen Hausgenoſſen zaͤrtlicher zu werden; beſonders hielt er Heinrichen, der nunmehr eilf Jahr alt war, viel von der Schule zuruͤck, und nahm ihn mit ſich, wo er ſeiner Feldarbeit nachging; redete viel mit ihm von der Rechtſchaffenheit eines Menſchen in der Welt, beſonders von ſeinem Verhalten gegen Gott; empfahl ihm gute Buͤcher, ſonderlich die Bibel zu leſen, hernach auch, was Doktor Lu - ther, Calvinus, Oecolampadius und Bucerus geſchrieben ha - ben. Einsmalen gingen Vater Stilling, Mariechen und Heinrich des Morgens fruͤh in den Wald, um Brennholz zuzubereiten. Margareth hatte ihnen einen guten Milch - brei mit Brod und Butter in einem Korb zuſammen gethan, welchen Mariechen auf dem Kopf trug, ſie ging den Wald hinauf voran, Heinrich folgte und erzaͤhlte mit aller Freude die Hiſtorie von den vier Haymons-Kindern, und Vater Stil - ling ſchritt, auf ſeine Holzaxt ſich ſtuͤtzend, ſeiner Gewohn - heit nach, muͤhſam hinten darein und hoͤrte fleißig zu. Sie kamen endlich zu einem weit entlegenen Ort des Waldes, wo ſich eine gruͤne Ebene befand, die am einen Ende einen ſchoͤnen86 Brunnen hatte. Hier laßt uns bleiben, ſagte Vater Stil - ling, und ſetzte ſich nieder; Mariechen nahm ihren Korb ab, ſtellte ihn hin und ſetzte ſich auch. Heinrich aber ſah in ſeiner Seele wieder die egyptiſche Wuͤſte vor ſich, worin - nen er gern Antonius geworden waͤre; bald darauf ſah er den Brunnen der Meluſine vor ſich, und wuͤnſchte, daß er Ray - mund waͤre; dann vereinigten ſich beide Ideen, und es wurde eine fromme romantiſche Empfindung daraus, die ihm alles Schoͤne und Gute dieſer einſamen Gegend mit hoͤchſter Wol - luſt ſchmecken ließ. Vater Stilling ſtand endlich auf und ſagte: Kinder bleibt ihr hier, ich will ein wenig herumgehen und abſtaͤndig Holz ſuchen, ich will zuweilen rufen, ihr ant - wortet mir dann, damit ich euch nicht verliere. Er ging.
Indeſſen ſaßen Mariechen und Heinrich beiſammen und waren vertraulich. Erzaͤhle mir doch, Baaſe! ſagte Hein - rich, die Hiſtorie von Joringel und Jorinde noch einmal. Mariechen erzaͤhlte:
„ Es war einmal ein altes Schloß mitten in einem großen dicken Wald, darinnen wohnte eine alte Frau ganz allein, das war eine Erzzauberinn. Am Tage machte ſie ſich bald zur Katze, oder zum Haaſen, oder zur Nachteule; des Abends aber wurde ſie ordentlich wieder wie ein Menſch geſtaltet. Sie konnte das Wild und die Voͤgel herbeilocken, und dann ſchlach - tete ſie’s, kochte und bratete es. Wenn Jemand auf hundert Schritte dem Schloß nahe kam, ſo mußte er ſtille ſtehen und konnte ſich nicht von der Stelle bewegen, bis ſie ihn los ſprach: wenn aber eine reine, keuſche Jungfer in den Kreis kam, ſo verwandelte ſie dieſelbe in einen Vogel und ſperrte ſie dann in einen Korb ein, in die Kammern des Schloſſes. Sie hatte wohl ſiebentauſend ſolcher Koͤrbe mit ſo raren Voͤgeln im Schloſſe.
Nun war einmal eine Jungfer, die hieß Jorinde; ſie war ſchoͤner als alle andern Maͤdchen, die, und dann ein garſchoͤner Juͤngling, Namens Joringel, hatten ſich zuſammen verſprochen. Sie waren in den Brauttagen, und hatten ihr groͤßtes Ver - gnuͤgen eins am andern. Damit ſie nun einsmalen vertraut zuſammen reden koͤnnten, gingen ſie in den Wald ſpatzieren. Huͤte dich, ſagte Joringel, daß du nicht zu nah’ an das Schloß87 kommſt! Es war ein ſchoͤner Abend, die Sonne ſchien zwiſchen den Staͤmmen der Baͤume hell ins dunkle Gruͤn des Waldes, und die Turteltaube ſang klaͤglich auf den alten Maibuchen. Jorinde weinte zuweilen, ſetzte ſich hin in Sonnenſchein und klagte. Joringel klagte auch; ſie waren ſo beſtuͤrzt, als wenn ſie haͤtten ſterben ſollen; ſie ſahen ſich um, waren irre, und wußten nicht, wohin ſie nach Hauſe gehen ſollten. Noch halb ſtand die Sonne uͤber dem Berg und halb war ſie unter. Jo - ringel ſah durchs Gebuͤſch und ſah die alte Mauer des Schloſ - ſes nah bei ſich, er erſchrack und wurde todtbang, Jorinde ſang:
Joringel ſah nach Jorinde. Jorinde war in eine Nach - tigal verwandelt, die ſang Zickuͤth Zickuͤth. Eine Nachteule mit gluͤhenden Augen flog dreimal um ſie herum und ſchrie dreimal Schu — hu — hu — hu! Joringel konnte ſich nicht regen; er ſtand da, wie ein Stein, konnte nicht weinen, nicht reden, nicht Hand noch Fuß regen. Nun war die Sonne un - ter; die Eule flog in einen Strauch, und gleich darauf kam eine krumme Frau aus dieſem Strauch hervor, gelb und ma - ger, große rothe Augen, krumme Naſe, die mit der Spitze an’s Kinn reichte. Sie murmelte, fing die Nachtigal und trug ſie auf der Hand fort. Joringel konnte nichts ſagen, nicht von der Stelle kommen; die Nachtigal war fort; end - lich kam das Weib wieder und ſagte mit dumpfer Stimme: Gruͤß dich, Zachiel! Wenn’s Moͤndel in’s Koͤrbel ſcheint, bind’ los, Zachiel, zu guter Stund! Da wurd Joringel los; er fiel vor dem Weib auf die Knie, und bat, ſie moͤchte ihm ſeine Jorinde wieder geben; aber ſie ſagte, er ſollte ſie nie wieder haben und ging fort. Er rief, er weinte, er jammerte, aber alles umſonſt. Nu! was ſoll mir geſchehen? Joringel ging fort und kam endlich in ein fremdes Dorf; da huͤtet er die Schaafe lange Zeit. Oft ging er rund um das Schloß herum, aber nicht zu nahe dabei; endlich traͤumte er einmal des88 Nachts, er faͤnde eine bluthrothe Blume, in deren Mitte eine ſchoͤne große Perle war; die Blume braͤch er ab, ging damit zum Schloſſe; alles, was er mit der Blume beruͤhrte, ward von der Zauberei frei; auch traͤumte er, er haͤtte ſeine Jorinde dadurch wieder bekommen. Des Morgens, als er erwachte, fing er an, durch Berg und Thal zu ſuchen, ob er eine ſolche Blume faͤnde; er ſuchte bis an den neunten Tag, da fand er die blutrothe Blume am Morgen fruͤh. In der Mitte war ein großer Thautropfe, ſo groß wie die ſchoͤnſte Perle. Dieſe Blume trug er Tag und Nacht bis zum Schloß. Nu! es war mir gut! Wie er auf hundert Schritte nahe dem Schloß kam, da wurd’ er nicht feſt, ſondern ging fort bis ans Thor. Joringel freute ſich hoch, beruͤhrte die Pforte mit der Blume und ſie ſprang auf; er ging hinein, durch den Hof, horchte, wo er die viert[n]Voͤgel vernaͤhm’. Endlich hoͤrt er’s; er ging und fand den Saal; darauf war die Zauberin, fuͤtterte die Voͤgel in den ſieben tauſend Koͤrben. Wie ſie den Joringel ſah, ward ſie boͤs, ſehr boͤs, ſchalt, ſpie Gift und Galle gegen ihn aus, aber ſie konnt’ auf zwei Schritte nicht an ihn kommen. Er kehrt’ ſich nicht an ſie, und ging, beſah die Koͤrbe mit den Voͤgeln; da waren aber viel hundert Nachtigallen; wie ſollte er nun ſeine Jorinde wieder finden! Indem er ſo zuſah, merkte er, daß die Alte heimlich ein Koͤrbchen mit einem Vogel nimmt und damit nach der Thuͤre geht. Flugs ſprang er hinzu, be - ruͤhrte das Koͤrbchen mit der Blume, und auch das alte Weib; nun konnte ſie nichts mehr zaubern; und Jorinde ſtand da, hatte ihn um den Hals gefaßt, ſo ſchoͤn als ſie ehemals war. Da macht’ er auch all die andern Voͤgel wieder zu Jungfern, und da ging er mit ſeiner Jorinde nach Hauſe, und lebten lange vergnuͤgt zuſammen. “
Heinrich ſaß wie verſteinert, ſeine Augen ſtarrten g’rad aus, und der Mund war halb offen. Baaſe! ſagte er endlich, das koͤnnt einem des Nachts bange machen. Ja, ſagte ſie, ich erzaͤhl’s auch des Nachts nicht, ſonſt werd’ ich ſelber bang. Indem ſie ſo ſaßen, pfiff Vater Stilling. Mariechen und Heinrich antworteten mit einem He! He! Nicht lange hernach kam er, ſah munter und froͤhlich aus, als wenn er89 etwas gefunden haͤtte; laͤchelte wohl zuweilen, ſtand, ſchuͤttelte den Kopf, ſah auf eine Stelle, faltete die Haͤnde, laͤchelte wieder. Mariechen und Heinrich ſahen ihn mit Verwun - derung an; doch durften ſie ihm nicht fragen; denn er thaͤt’s wohl oft ſo, daß er vor ſich allein lachte. Doch Stillingen war das Herz zu voll; er ſetzte ſich zu ihnen nieder und er - zaͤhlte; wie er anfing, ſo ſtanden ihm die Augen voll Waſſer. Mariechen und Heinrich ſahen es, und ſchon liefen ihnen auch die Augen uͤber.
Wie ich von euch in Wald hinein ging, ſah ich weit von mir ein Licht, eben ſo, als wenn Morgens fruͤh die Sonne aufgeht. Ich verwunderte mich ſehr. Ei! dachte ich, dort ſteht ja die Sonne am Himmel; iſt das denn eine neue Sonne? Das muß ja was Wunderliches ſeyn, das muß ich ſehen. Ich ging darauf zu; wie ich vorn hin kam, ſiehe, da war vor mir eine Ebne, die ich mit meinen Augen nicht uͤberſehen konnte. Ich hab’ mein Lebtag ſo etwas Herrliches nicht geſehen, ſo ein ſchoͤner Geruch, ſo eine kuͤhle Luft kam daruͤber her, ich kann’s euch nicht ſagen. Es war ſo weiß Licht durch die ganze Gegend, der Tag mit der Sonne iſt Nacht dagegen. Da ſtan - den viel tauſend praͤchtige Schloͤſſer, eins nah beim andern. Schloͤſſer! — ich kann’s euch nicht beſchreiben! als wenn ſie von lauter Silber waͤren. Da waren Gaͤrten, Buͤſche, Baͤche. O Gott, wie ſchoͤn! — Nicht weit von mir ſtand ein großes herrliches Schloß. (Hier liefen dem guten Stilling die Thraͤ - nen haͤufig die Wangen herunter, Mariechen und Hein - richen auch.) Aus der Thuͤr dieſes Schloſſes kam Jemand heraus auf mich zu, wie eine Jungfrau. Ach! ein herrlicher Engel! — Wie ſie nah bei mir war, ach Gott! da war es unſer ſeliges Dortchen! (Nun ſchluchzten ſie alle drei, keins konnte etwas reden, nur Heinrich rief und heulte: O meine Mutter! meine liebe Mutter!) — Sie ſagte gegen mich ſo freundlich, eben mit der Miene, die mir ehemals ſo oft das Herz ſtahl: Vater, dortiſt unſere ewige Wohnung, ihr kommt bald zu uns — Ich ſah, und ſiehe alles war Wald vor mir; das herrliche Geſicht war weg. Kinder, ich ſterbe bald; wie freu’ ich mich darauf! Heinrich konnte90 nicht aufhoͤren zu fragen, wie ſeine Mutter ausgeſehen, was ſie angehabt, und ſo weiter. Alle Drei verrichteten den Tag durch ihre Arbeit, und ſprachen beſtaͤndig von dieſer Geſchichte. Der alte Stilling aber war von der Zeit an, wie einer, der in der Fremde und nicht zu Hauſe iſt.
Ein altes Herkommen, deſſen ich (wie vieler andern) noch nicht erwaͤhnt, war, daß Vater Stilling alle Jahr ſelbſten ein Stuͤck ſeines Hausdaches, das Stroh war, eigenhaͤndig decken mußte. Das hatte er nun ſchon acht und vierzig Jahr gethan, und dieſen Sommer ſollt es wieder geſchehen. Er rich - tete es ſo ein, daß er alle Jahre ſo viel davon neu deckte, ſo weit das Roggenſtroh reichte, das er fuͤr dieß Jahr gezogen hatte.
Die Zeit des Dachdeckens fiel gegen Michaelstag, und ruͤckte nun mit Macht heran; ſo daß Vater Stilling anfing, da - rauf zu Werk zu legen. Heinrich war dazu beſtimmt, ihm zur Hand zu langen, und alſo wurde die lateiniſche Schule auf acht Tage ausgeſetzt Margarethe und Mariechen hielten taͤglich in der Ruͤche geheimen Rath uͤber die bequem - ſten Mittel, wodurch er vom Dachdecken zuruͤckgehalten werden moͤchte. Sie beſchloßen endlich Beide, ihm ernſtliche Vorſtel - lungen zu thun, und ihn vor Gefahr zu warnen; ſie hatten die Zeit waͤhrend des Mittageſſens dazu beſtimmt.
Margarethe brachte alſo eine Schuͤſſel Mus, und auf derſelben vier Stuͤcke Fleiſches, die ſo gelegt waren, daß ein jedes juſt vor den zu ſtehen kam, fuͤr den es beſtimmt war. Hinter ihr her kam Mariechen mit einem Kumpen voll ge - brockter Milch. Beide ſetzten ihre Schuͤſſeln auf den Tiſch, an welchem Vater Stilling und Heinrich ſchon an ihrem Ort ſaßen, und mit wichtiger Miene von ihrer nun morgen anzufangenden Dachdeckerei redeten. Denn im Vertrauen ge - ſagt, wie ſehr auch Heinrich auf Studieren, Wiſſenſchaf - ten und Buͤcher verpicht ſeyn mochte, ſo war’s ihm doch eine weit groͤßere Freude, in Geſellſchaft ſeines Großvaters, zu - weilen entweder im Wald, auf dem Feld oder gar auf dem Hausdach zu klettern; denn dieſes war nun ſchon das dritte Jahr, daß er ſeinem Großvater als Diakonus bei dieſer jaͤhr - lichen Solennitaͤt beigeſtanden. Es iſt alſo leicht zu denken,91 daß der Junge herzlich verdruͤßlich werden mußte, als er Mar - garethens und Mariechens Abſichten zu begreifen anfing.
Ich weiß nicht, Ebert, ſagte Margarethe, indem ſie ihre linke Hand auf ſeine Schultern legte, du faͤngſt mir ſo an, zu verfallen. Spuͤrſt du nichts in deiner Natur.
„ Man wird als alle Tage aͤlter, Margarethe. “
O Herr ja! Ja freilich, alt und ſteif.
Ja wohl, verſetzte Mariechen und ſeufzte.
Mein Großvater iſt noch recht ſtark fuͤr ſein Alter, ſagte Heinrich.
„ Ja wohl, Junge, antwortete der Alte. Ich wollte noch wohl in die Wette mit dir die Leiter ’nauf laufen. “
Heinrich lachte laut. Margarethe ſah wohl, daß ſie auf dieſer Seite die Veſtung nicht uͤberrumpeln wuͤrde; da - her ſuchte ſie einen andern Weg.
Ach ja, ſagte ſie, es iſt eine beſondere Gnade, ſo geſund in ſeinem Alter zu ſeyn; du biſt, glaub’ ich, nie in deinem Le - ben krank geweſen, Ebert?
„ In meinem Leben nicht, ich weiß nicht, was Krankheit iſt; denn an den Pocken und Roͤtheln bin ich herumgegangen. “
Ich glaub doch, Vater! verſetzte Mariechen, ihr ſeyd wohl verſchiedene Male vom Fallen krank geweſen: denn ihr habt uns wohl erzaͤhlet, daß ihr oft gefaͤhrlich gefallen ſeyd.
„ Ja, ich bin dreimal toͤdtlich gefallen. “
Und das viertemal, fuhr Margarethe fort, wirſt du dich todt fallen, mir ahnt es. Du haſt letzthin im Wald das Ge - ſicht geſehen; und eine Nachbarin hat mich kuͤrzlich gewarnt und gebeten, dich nicht auf’s Dach zu laſſen; denn ſie ſagte, ſie haͤtte des Abends, wie ſie die Kuͤh gemolken, ein Poltern und klaͤgliches Jammern neben unſerem Hauſe im Weg ge - hoͤrt. Ich bitte dich, Ebert! thu’ mir den Gefallen, und laß Jemand anders das Haus decken, du haſt’s ja nicht noͤthig.
„ Margarethe! — kann ich, oder Jemand anders denn nicht in der Straße ein ander Ungluͤck bekommen? Ich hab’ das Geſicht geſehen, ja, das iſt wahr! — unſere Nachbarin kann auch dieſe Vorgeſchichte gehoͤrt haben. Iſt dieſes gewiß, wird dann derjenige dem entlaufen, was Gott uͤber ihn be -92 ſchloſſen hat? Hat er beſchloſſen, daß ich meinen Lauf hier in der Straße endigen ſoll, werd’ ich armer Dummkopf von Menſchen! das wohl vermeiden koͤnnen? und gar wenn ich mich todtfallen ſoll, wie werd’ ich mich huͤten koͤnnen? Ge - ſetzt, ich bleib vom Dach, kann ich nicht heut oder Morgen da in der Straße einen Karren Holz losbinden wollen, drauf ſteigen, ſtraucheln und den Hals abſtuͤrzen? Margarethe! laß mich in Ruh; ich werde ſo ganz grade fortgehen, wie ich bis dahin gegangen bin; wo mich dann mein Stuͤndchen uͤberraſcht, da werd ichs willkommen heißen! “
Margarethe und Mariechen ſagten noch ein und das andere, aber er achtete nicht darauf, ſondern redete mit Hein - richen von allerhand, die Dachdeckerei betreffenden Sachen; daher ſie ſich zufrieden gaben, und ſich das Ding aus dem Sinne ſchlugen.
Des andern Morgens ſtanden ſie fruͤhe auf und der alte Stilling fing an, waͤhrend daß er ein Morgenlied ſang, das alte Stroh loszubinden und abzuwerfen, womit er denn dieſen Tag auch huͤbſch fertig wurde; ſo daß ſie des folgen - den Tages ſchon anfingen, das Dach mit neuem Stroh zu be - legen; mit Einem Wort, das Dach ward fertig, ohne die mindeſte Gefahr oder Schreck dabei gehabt zu haben; auſſer daß es noch einmal beſtiegen werden mußte, um ſtarke und friſche Raſen oben uͤber den Firſt zu legen. Doch damit eilte der alte Stilling ſo ſehr nicht; es gingen wohl noch acht Tage uͤber, eh’ es ihm einfiel, dieß letzte Stuͤck Arbeit zu verrichten.
Des folgenden Mittwochs ſtand Eberhard ungewoͤhn - lich fruͤh auf, ging im Hauſe umher, von einer Kammer zur andern, als wenn er was ſuchte. Seine Leute verwunderten ſich, fragten ihn, was er ſuche? Nichts, ſagte er. Ich weiß nicht, ich bin ſo wohl, doch hab ich keine Ruhe, ich kann nirgend ſtill ſeyn, als wenn Etwas in mir waͤre, das mich triebe, auch ſpuͤr ich ſo eine Bangigkeit, die ich nicht kenne. Margarethe rieth ihm, er ſollte ſich anziehen und mit Heinrichen nacher Lichthauſen gehen, ſeinen Sohn Jo - hann zu beſuchen. Er war damit zufrieden; doch wollte er zuerſt die Raſen oben auf den Hausfirſt legen, und dann des93 andern Tages ſeinen Sohn beſuchen. Dieſer Gedanke war ſeiner Frau und Tochter ſehr zuwider. Des Mittags uͤber Tiſch ermahnten ſie ihn wieder ernſtlich, vom Dach zu bleiben; ſelbſt Heinrich bat ihn, Jemand fuͤr Lohn zu kriegen, der vollends mit der Deckerei ein Ende mache. Allein, der vortreffliche Greis laͤchelte mit einer unumſchraͤnkten Gewalt um ſich her; ein Laͤcheln, das ſo manchem Menſchen das Herz geraubt und Ehrfurcht eingepraͤgt hatte! Dabei ſagte er aber kein Wort. Ein Mann, der mit einem beſtaͤndig guten Gewiſſen alt ge - worden, ſich vieler guten Handlungen bewußt iſt, und von Ju - gend auf ſich an einen freien Umgang mit Gott und ſeinem Erloͤſer gewoͤhnt hat, gelangt zu einer Groͤße und Freiheit, die nie der groͤßte Eroberer erreicht hat. Die ganze Antwort Stillings auf dieſe treugemeinten Ermahnungen der Sei - nigen beſtand darin: Er wollte da auf den Kirſchenbaum ſtei - gen, und ſich noch einmal recht ſatt Kirſchen eſſen. Es war naͤmlich ein Baum, der hinten im Hof ſtand, und ſehr ſpaͤt, aber deſto vortrefflicher Fruͤchte trug. Seine Frau und Tochter ver - wunderten ſich uͤber dieſen Einfall, denn er war wohl in zehn Jah - ren auf keinem Baum geweſen. Nun dann! ſagte Marga - rethe, du mußt nun vor dieſe Zeit in die Hoͤh, es mag koſten was es wolle. Eberhard lachte und antwortete: Je hoͤher, je naͤher zum Himmel! Damit ging er zur Thuͤr hinaus, und Heinrich hinter ihm her auf den Kirſchenbaum zu. Er faßte den Baum in ſeine Arme und die Knie, und kletterte hinauf bis oben hin, ſetzte ſich in eine Furke des Baums, fing an, aß Kir - ſchen, und warf Heinrichen zuweilen ein Aeſtchen herab. Margarethe und Mariechen kamen ebenfalls. Halt! ſagte die ehrliche Frau, heb mich ein wenig, Mariechen, daß ich nur die unterſten Aeſte faſſen kann, ich muß da probieren, ob ich auch noch hinauf kann. Es gerieth; ſie kam hinauf, Stilling ſah herab und lachte herzlich, und ſagte: das heißt recht verjuͤngt werden, wie die Adler. Da ſaßen beide ehrliche alte Graukoͤpfe in den Aeſten des Kirſchbaumes, und genoſſen noch einmal zu - ſammen die ſuͤßen Fruͤchte ihrer Jugend; beſonders war Stil - ling aufgeraͤumt. Margarethe ſtieg wieder herab, und ging mit Mariechen in den Garten, der eine ziemliche Strecke94 unterhalb dem Dorf war. Eine Stunde hernach ſtieg auch Eber - hard herab, ging und hatte einen Hacken, um Raſen damit ab - zuſchaͤlen. Er ging des Endes oben ans Ende des Hofs an den Wald; Heinrich blieb gegen dem Hauſe uͤber unter dem Kir - ſchenbaum ſitzen; endlich kam Eberhard wieder, hatte einen großen Raſen um den Kopf hangen, buͤckte ſich zu Heinrichen, ſah ganz ernſthaft aus und ſagte: Sieh, welch eine Schlafkappe! Heinrich fuhr in einander, und ein Schauer ging ihm durch die Seele. Er hat mir hernach wohl geſtanden, daß dieſes einen unvergeßlichen Eindruck auf ihn gemacht habe.
Indeſſen ſtieg Vater Stilling mit dem Raſen das Dach hinauf. Heinrich ſchnitzelte an einem Hoͤlzchen; indem er drauf ſah, hoͤrte er ein Gepolter; er ſah hin, vor ſeinen Au - gen wars ſchwarz, wie die Nacht — lang hingeſtreckt lag da der theure, liebe Mann unter der Laſt von Leitern, ſeine Haͤnde vor der Bruſt gefalten; die Augen ſtarrten; die Zaͤhne klapperten und alle Glieder bebten, wie ein Menſch im ſtar - ken Froſt. Heinrich warf eiligſt die Leitern von ihm, ſtreckte die Arme aus, und lief wie ein Raſender das Dorf hinab, und erfuͤllte das ganze Thal mit Zeter und Jammer. Mar - garethe und Mariechen hoͤrten im Garten kaum halb die ſeelzagende kenntliche Stimme ihres geliebten Knaben; Mariechen that einen hellen Schrei, rang die Haͤnde uͤber dem Kopf und flog das Dorf hinauf. Margarethe ſtrebte hinter ihr her, die Haͤnde vorwaͤrts ausgeſtreckt, die Augen ſtarrten umher; dann und wann machte ein heiſerer Schrei der beklemmenden Bruſt ein wenig Luft. Mariechen und Hein - rich waren zuerſt bei dem lieben Manne. Er lag da lang ausgeſtreckt, die Augen und der Mund waren geſchloſſen, die Haͤnde noch vor der Bruſt gefalten, und ſein Odem ging lang - ſam und ſtark, wie bei einem geſunden Menſchen, der ordent - lich ſchlaͤft; auch bemerkte man nirgend, daß er blutruͤnſtig war. Mariechen weinte haͤufige Thraͤnen auf ſein Angeſicht und jammerte beſtaͤndig: Ach! mein Vater! mein Vater! Heinrich ſaß zu ſeinen Fuͤßen im Staub, ſchluchzte und weinte. Indeſ - ſen kam Margarethe auch hinzu; ſie fiel neben ihm nieder auf die Knie, faßte ihren[Mann] um den Hals, rief ihm mit95 ihrer gewohnten Stimme ins Ohr, aber er gab kein Zeichen von ſich. Die heldenmuͤthige Frau ſtand auf, faßte Muth; auch war keine Thraͤne aus ihren Augen gekommen. Einige Nachbarn waren indeſſen hinzugekommen; vergoſſen Alle Thraͤ - nen, denn er war allgemein geliebt geweſen. Margarethe machte geſchwind in der Stube ein niedriges Bette zurecht; ſie hatte ihre beſten Betttuͤcher, die ſie vor etlich und vierzig Jahren als Braut gebraucht hatte, uͤbergeſpreitet. Nun kam ſie ganz gelaſſen heraus, und rief: Bringt nur meinen Eber - hard herein aufs Bett! Die Maͤnner faßten ihn an, Marie - chen trug am Kopf, und Heinrich hatte beide Fuͤße in ſei - nen Armen: ſie legten ihn aufs Bett, und Margarethe zog ihn aus und deckte ihn zu. Er lag da, ordentlich wie ein geſunder Menſch, der ſchlaͤft. Nun wurde Heinrich be - ordert, nach Florenburg zu laufen, um einen Wundarzt zu holen. Der kam auch denſelben Abend, unterſuchte ihn, ließ ihm zur Ader und erklaͤrte ſich, daß zwar nichts zerbrochen ſey, aber doch ſein Tod binnen dreien Tagen gewiß ſeyn wuͤrde, indem ſein Gehirn ganz zerruͤttet waͤre.
Nun wurden Stillings Kinder alle Sechs zuſammen berufen, die ſich auch des andern Morgens Donnerſtags zeitig einfanden. Sie ſetzten ſich alle rings ums Bette, waren ſtille, klagten und weinten. Die Fenſter wurden mit Tuͤchern zuge - hangen, und Margarethe wartete ganz gelaſſen ihrer Hausgeſchaͤfte. Freitags Nachmittags fing der Kopf des Kran - ken an zu beben, die oberſte Lippe erhob ſich ein wenig und wurde blaͤulicht, und ein kalter Schweiß duftete uͤberall hervor. Seine Kinder ruͤckten naͤher ums Bette zuſammen. Mar - garethe ſah es auch: ſie nahm einen Stuhl und ſetzte ſich zuruͤck an die Wand ins Dunkele; alle ſahen vor ſich nieder und ſchwiegen. Heinrich ſaß zu den Fuͤßen ſeines Groß - vaters, ſah ihn zuweilen mit naſſen Augen an und war auch ſtille. So ſaßen ſie Alle bis Abends neun Uhr. Da bemerkte Cathrine zuerſt, daß ihres Vaters Odem ſtill ſtand. Sie rief aͤngſtlich: Mein Vater ſtirbt! — Alle fielen mit ihrem Angeſicht auf das Bette, ſchluchzten und weinten. Heinrich ſtand da, ergriff ſeinem Großvater beide Fuͤße, und weinte96 bitterlich. Vater Stilling holte alle Minuten tief Odem, wie Einer, der tief ſeufzet, und von einem Seufzer zum an - dern war der Odem ganz ſtill; an ſeinem ganzen Leibe regte und bewegte ſich nichts als ſein Unterkiefer, der ſich bei jedem Seufzer ein wenig vorwaͤrts ſchob.
Margarethe Stilling hatte bis dahin bei all ihrer Traurigkeit noch nicht geweint; ſobald ſie aber Cathrinen rufen hoͤrte, ſtand ſie auf, ging aus Bett, und ſah ihrem ſter - benden Manne ins Geſicht; nun fielen einige Thraͤnen die Wan - gen herunter; ſie dehnte ſich aus, denn ſie war vom Alter ein wenig gebuͤckt, richtete ihre Augen auf und reckte die Haͤnde gen Himmel, und betete mit dem feurigſten Herzen; ſie holte jedesmal aus tiefſter Bruſt Odem, und den verzehrte ſie in einem bruͤnſtigen Seufzer. Sie ſprach die Worte plattdeutſch nach ihrer Gewohnheit aus, aber ſie waren alle voll Geiſt und Leben. Der Inhalt ihrer Worte war, daß ihr Gott und Er - loͤſer ihres lieben Mannes Seele gnaͤdig aufnehmen, und zu ſich in die ewige Freude nehmen moͤge. Wie ſie anfing zu beten, ſahen alle ihre Kinder auf, erſtaunten, ſanken am Bett auf die Kniee und beteten in der Stille mit. Nun kam der letzte Herzensſtoß; der ganze Koͤrper zog ſich; er ſtieß einen Schrei aus; nun war er verſchieden. Margarethe hoͤrte auf zu beten, faßte dem entſeelten Manne ſeine rechte Hand an, ſchuͤttelte ſie und ſagte: „ Leb wohl, Eberhard! in dem ſchoͤ - nen Himmel ſehen wir uns bald wieder! “ So wie ſie das ſagte, ſank ſie nieder auf ihre Knie; alle ihre Kinder fielen um ſie herum. Nun weinte auch Margarethe die bitterſten Thraͤ - nen, und klagte ſehr.
Die Nachbarn kamen indeſſen, um den Entſeelten anzuklei - den. Die Kinder ſtanden auf, und die Mutter holte das Todtenkleid. Bis den folgenden Montag lag er auf der Bahre; da fuͤhrte man ihn nach Florenburg, um ihn zu begraben.
Herr Paſtor Stollbein iſt aus dieſer Geſchichte als ein ſtoͤrriſcher, wunderlicher Mann bekannt, allein auſſer dieſer Laune war er gut und weichherzig. Wie Stilling ins Grab geſenkt wurde, weinte er helle Thraͤnen; und auf der Kanzel waren unter beſtaͤndigem Weinen ſeine Worte: „ Es iſt97 mir leid um dich, mein Bruder Jonathan! Wollte Gott, ich waͤre fuͤr dich geſtorben! “ Und der Text zur Leichenrede war: „ Ei du frommer und getreuer Knecht! du biſt uͤber Weniges getreu geweſen, ich will dich uͤber Viel ſetzen; gehe ein zu deines Herrn Freude! “
Sollte einer meiner Leſer nach Florenburg kommen, gegen die Kirchthuͤr uͤber, da, wo der Kirchhof am hoͤchſten iſt, da ſchlaͤft Vater Stilling auf dem Huͤgel. Sein Grab bedeckt kein praͤchtiger Leichſtein; aber oft fliegen im Fruͤhling ein Paar Taͤubchen einſam hin, girren und liebkoſen ſich zwiſchen dem Gras und Blumen, die aus Vater Stillings Moder her - vorgruͤnen.
Vater Stilling war zu den ruhigen Wohnungen ſeiner Voreltern hingegangen, und in ſeinem Hauſe ruhte alles in trauriger Todesſtille. Seit mehr als hundert Jahren hatte eine jede Holzart, ein jedes Milchfaß, und jedes andere Haus - geraͤthe ſeinen beſtimmten Ort, der vom langen Gebrauch glatt und polirt war. Ein jeder Nachbar und Freund, aus der Naͤhe und Ferne, fand immer alles in gewohnter Ordnung: und das macht vertraulich. — Man trat in die Hausthuͤr, und war daheim. — Aber nun hing alles oͤd und ſtill; Ge - ſang und Freude ſchwiegen, und am Tiſch blieb ſeine Stelle leer; Niemand getraute ſich, ſich hinzuſetzen, bis ſie Hein - rich endlich einnahm, aber er fuͤllte ſie nur halb aus.
Margarethe trauerte indeſſen ſtill und ohne Klagen; Heinrich aber redete viel mit ihr von ſeinem Großvater. Er dachte ſich den Himmel wie eine herrliche Gegend von Waͤldern, Wieſen und Feldern, wie ſie im ſchoͤnſten Mai gruͤnen und bluͤ - hen, wenn der Suͤdwind daruͤber her faͤchelt, und die Sonne jedem Geſchoͤpfe Leben und Gedeihen einfloͤßt. Dann ſah er Vater Stilling mit hellem Glanz ums Haupt einhertreten, und ein ſilberweiß Gewand um ihn herabfließen.
Auf dieſe Vorſtellung bezogen ſich alle ſeine Reden. Eins - mals fragte ihn Margarethe: Was meinſt du, Heinrich! was dein Großvater jetzt machen wird? Er antwortete: er wird nach dem Orion, nach dem Sirius, dem Wagen und dem Siebengeſtirn reiſen und alles wohl beſehen, und dann wird er ſich erſt recht verwundern, und ſagen, wie er ſo oft geſagt hat: O welch ein wunderbarer Gott! — Dazu hab’ ich aber keine Luſt, erwiederte Margarethe; was werd’ ich denn da ma - chen? Heinrich verſetzte: ſo wie es Marie machte, die zu den Fuͤßen Jeſus ſaß. Mit dergleichen Unterredungen102 wurde das Andenken an den ſeligen Mann oft ernenert.
Die Haushaltung konnte auf dem Fuß, ſo wie ſie jetzt ſtand, nicht lange beſtehen, deßwegen forderte die alte Mut - ter ihren Eidam Simon mit ſeiner Frau Eliſabeth wie - der nach Haus. Denn ſie hatten an einem andern Ort Haus und Hof gepachtet, ſo lange der Vater lebte. Sie kamen mit ihren Kindern und Geraͤthe, und uͤbernahmen das vaͤterliche Erbe; alsbald wurde alles fremd, man brach eine Wand der Stube ein, und baute ſie vier Schuh weiter in den Hof. Si - mon hatte nicht Raum genug; er war kein Stilling — und der eichene Tiſch voll Segen und Gaſtfreiheit, der alte biedere Tiſch wurde mit einem gelben ahornenen, voller ver - ſchloſſener Schubladen verwechſelt; er bekam ſeine Stelle auf dem Balken hinter dem Schornſtein. — Heinrich wallfahr - tete zuweilen hin, legte ſich neben ihn auf den Boden, und weinte. Simon fand ihn einmal in dieſer Stellung, er fragte: Heinrich, was machſt du da? Dieſer antwortete: ich weine um den Tiſch. Der Oheim lachte, und ſagte: Du magſt wohl um ein altes eichenes Brett weinen! Heinrich wurde aͤrger - lich und verſetzte: dieſes Gewerbe dahinten, und dieſen Fuß da, und dieſe Ausſchnitte am Gewerbe hat mein Großvater gemacht, — wer ihn lieb hat, kann das nicht zerbrechen. Simon wurde zornig und erwiederte: er war mir nicht groß genug, und wo ſollt’ ich denn den meinigen laſſen? Oheim! ſagte Heinrich, den ſolltet ihr hieher geſtellt haben, bis meine Großmutter todt iſt, und wir andern fort ſind.
Indeſſen veraͤnderte ſich alles; das ſanfte Wehen des Stil - ling’ſchen Geiſtes verwandelte ſich ins Gebrauſe einer aͤngſt - lichen Begierde nach Geld und Gut. Margarethe empfand dieſes, und mit ihr ihre Kinder; ſie zog ſich zuruͤck in einen Winkel hinter den Ofen, und da verlebte ſie ihre uͤbrigen Jahre; ſie wurde ſtarrblind, doch hinderte ſie dieſes nicht an ihrem Flachsſpinnen, womit ſie ihre Zeit zubrachte.
Vater Stilling iſt hin, nun will ich ſeinem Enkel, dem jungen Heinrich, auf dem Fuß folgen, wo er hingeht, alles Andere ſoll mich nicht aufhalten.
103Johann Stilling war nun Schoͤffe und Landmeſſer; Wilhelm Schulmeiſter zu Tiefenbach; Mariechen Magd bei ihrer Schweſter Eliſabeth; die andern Toͤch - ter waren aus dem Hauſe verbeirathet, und Heinrich ging nach Florenburg in die lateiniſche Schule.
Wilhelm hatte eine Kammer in Stilling’s Haus, auf derſelben ſtand ein Bett, worin er mit ſeinem Sohn ſchlief, und am Fenſter war ein Tiſch mit dem Schneidergeraͤthe; denn ſobald als er von der Schule kam, arbeitete er an ſeinem Hand - werk. Des Morgens fruͤh nahm Heinrich ſeinen Schulſack, worin nebſt den noͤthigen Schulbuͤchern und einem Butterbrod fuͤr den Mittag, auch die Hiſtoria von den vier Haymonskin - dern oder ſonſt ein aͤhnliches Buch nebſt einer Hirtenfloͤte ſich befanden; ſobald er dann gefruͤhſtuͤckt hatte, machte er ſich auf den Weg, und wenn er hinaus vor’s Dorf kam, ſo nahm er ſein Buch heraus und las waͤhrend dem Gehen; oder er trillerte alte Romanzen und andere Melodien auf ſeiner Floͤte. Das Lateinlernen wurde ihm gar nicht ſchwer, und er behielt dabei Zeit genug, alte Geſchichten zu leſen. Des Sommers ging er alle Abend nach Haus, des Winters aber kam er nur Samſtags Abend, und ging des Montags Morgen wieder fort; dieſes waͤhrte vier Jahre, doch blieb er aufs letzte des Sommers uͤber viel zu Haus und half ſeinem Vater am Schnei - derhandwerk oder er machte Knoͤpfe.
Der Weg nach Florenburg und die Schule ſelber mach - ten ihm manche vergnuͤgte Stunden. Der Schulmeiſter war ein ſanfter, vernuͤnftiger Mann und wußte zu geben und zu nehmen. Des Nachmittags nach dem Eſſen ſammelte Stil - ling einen Haufen Kinder um ſich her, ging mit ihnen hin - aus aufs Feld oder an einen Bach, und dann erzaͤhlte er ihnen allerhand ſchoͤne, empfindſame Hiſtorien, und wenn er ſich ausgeleert hatte, ſo mußten Andere erzaͤhlen. Einsmals wa - ren ihrer auch Etliche zuſammen auf einer Wieſe, es fand ſich ein Knabe herzu, dieſer fing an: Hoͤrt, Kinder! ich will euch was erzaͤhlen: „ Neben uns wohnt der alte Fruͤhling, ihr „ wißt, wie er daher geht und ſo an ſeinem Stock zittert: er „ hat keine Zaͤhne mehr, auch hoͤrt und ſieht er nicht viel. Wenn104 „ er denn ſo da am Tiſch ſaß und zitterte, ſo verſchuͤttete er „ immer Vieles, auch floß ihm zuweilen Etwas wieder aus „ dem Mund. Das eckelte dann ſeinem Sohn und ſeiner Schnur, „ und deßwegen mußte der alte Großvater endlich hinter dem „ Ofen im Eck eſſen; ſie gaben ihm etwas in einem irdenen „ Schuͤſſelchen und noch dazu nicht einmal ſatt. Ich hab’ „ ihn wohl ſehen eſſen, er ſah ſo betruͤbt nach dem Tiſch, und „ die Augen waren ihm dann naß. Nun hat er ehegeſtern ſein „ irdenes Schuͤſſelchen zerbrochen. Die junge Frau keiffte ſehr „ mit ihm, er ſagte aber nichts, ſondern ſeufzte nur. Da kauf - „ ten ſie ihm ein hoͤlzernes Schuͤſſelchen fuͤr ein paar Heller, „ da mußte er geſtern Mittag zum Erſtenmal daraus eſſen; „ wie ſie ſo da ſitzen, ſo ſchleppt der kleine Knabe von vier - „ thalb Jahr auf der Erde kleine Brettchen zuſammen. Der „ junge Fruͤhling fragte: was machſt du da, Peter? Ho! „ ſagte das Kind, ich mach’ ein Troͤglein, daraus ſol - „ len Vater und Mutter eſſen, wenn ich groß bin. „ Der junge Fruͤhling und ſeine Frau ſahen ſich eine Weile „ an, fingen endlich an zu weinen und holten alſofort den alten „ Großvater an den Tiſch und ließen ihn mit eſſen. “
Die Kinder ſprangen in die Hoͤhe, klaſchten in die Haͤnde, lachten und riefen: das iſt recht artig; ſagte das der kleine Peter? Ja, verſetzte der Knabe, ich bin dabei geſtanden, wie’s geſchah. Heinrich Stilling aber lachte nicht, er ſtand da und ſah vor ſich nieder; die Geſchichte drang ihm durch Mark und Bein bis ins Innerſte ſeiner Seele; end - lich fing er an: das ſollte meinem Großvater widerfahren ſeyn! Ich glaube, er waͤre von ſeinem hoͤlzernen Schuͤſſelchen auf - geſtanden, in die Ecke der Stube gegangen und dann haͤtte er ſich hingeſtellt und gerufen: Herr, ſtaͤrke mich in dieſer Stube, daß ich mich einſt raͤche an dieſen Philiſtern! Dann haͤtte er ſich gegen den Eckpfoſten geſtraͤubt und das Haus eingeworfen. Sachte! ſachte! Stilling! redete ihm der groͤßten Knaben einer ein, das waͤre doch von deinem Groß - vater ein wenig zu arg geweſen. Du haſt recht! ſagte hein - rich; aber denk! es iſt doch recht ſataniſch: wie oft hat wohl der alte Fruͤhling ſeinen Jungen auf dem Schoos ge -105 habt, und ihm die beſten Brocken in den Mund geſteckt? Es waͤre doch kein Wunder, wenn einmal ein feuriger Drache um Mitternacht, wenn das Viertel des Mondes eben untergegan - gen iſt, ſich durch den Schornſtein eines ſolchen Hauſes hin - unterſchlengerte und alles Eſſen vergiftete. Wie er eben auf den Drachen kam, iſt kein Wunder, denn er hatte ſelbſten vor einigen Tagen des Abends, als er nach Haus ging, einen großen durch die Luft fliegen ſehen, und er glaubte bis jetzt noch feſt, daß es einer von den oberſten Teufeln ſelbſt geweſen.
So verfloß die Zeit unter der Hand, und es war nun bald an dem, daß er die lateiniſche Schule nach und nach verlaſ - ſen und ſeinem Vater am Handwerk helfen mußte; doch die - ſes war ſchweres Leiden fuͤr ihn; er lebte nur in den Buͤ - chern, und es daͤuchte ihm immer, man ließe ihm nicht Zeit genug zum Leſen; deßwegen ſehnte er ſich unbeſchreiblich, ein - mal Schulmeiſter zu werden. Dieſes war in ſeinen Augen die hoͤchſte Ehrenſtelle, die er jemals zu erreichen glaubte. Der Gedanke, ein Paſtor zu werden, war zu weit jenſeits ſei - ner Sphaͤre. Wenn er ſich aber zuweilen hinaufſchwung, ſich auf die Kanzel dachte und ſich dazu vorſtellte, wie ſelig es ſey, ein ganzes Leben unter Buͤchern hinzubringen, ſo erweiterte ſich ſein Herz, er wurde von Wonne durchdrungen, und dann fiel ihm wohl zuweilen ein: Gott hat mir dieſen Trieb nicht umſonſt eingeſchaffen, ich will ruhig ſeyn, Er wird mich leiten, und ich will Ihm folgen.
Dieſer Enthuſiasmus verleitete ihn zuweilen, wenn ſeine Leute nicht zu Haus waren, eine luſtige Comoͤdie zu ſpielen; er verſammelte ſo viel Kinder um ſich her, als er zuſammen - treiben konnte, hing einen ſchwarzen Weiberſchurz auf den Ruͤcken, machte ſich einen Kragen von weißem Papier, trat alsdann auf einen Lehnſtuhl, ſoͤ, daß er die Lehne vor ſich hatte, und dann fing er mit einem Anſtand an zu Predigen, der alle Zuhoͤrer in Erſtaunen ſetzte. Dieſes that er oft, denn es war auch ſein einziges Kinderſpiel, das er jemalen mag getrieben haben.
Nun trug es ſich einsmalen zu, als er recht heftig deklamirte, und ſeinen Zuhoͤrern die Hoͤlle heiß machte, daß Herr Paſtor106 Stollbein auf einmal in die Stube trat; er laͤchelte nicht oft, doch konnte er’s jetzt nicht verbeißen; Heinrich lachte aber nicht, ſondern er ſtand wie eine Bildſaͤule da, blaß wie die Wand, und das Weinen war ihm naͤher als das Lachen; ſeine Zuhoͤrer ſtellten ſich alle an die Wand und falteten die Haͤnde. Heinrich ſah den Paſtor furchtſam an, ob er viel - leicht den Rohrſtab aufheben moͤchte, um ihn zu ſchlagen; denn das war ſo ſeine Gewohnheit, wenn er die Kinder ſpie - len ſah; doch er that’s jetzt nicht, er ſagte nur: geh herunter und ſtell dich da hin, wirf den naͤrriſchen Anzug von dir! Hein - rich gehorchte gern; Stollbein fuhr fort:
„ Ich glaub’ du haſt wohl den Paſtor im Kopf? “
Ich hab’ kein Geld zu ſtudiren.
„ Du ſollſt nicht Paſtor, ſondern Schulmeiſter werden! “
Das will ich gern, Herr Paſtor! aber wenn unſer Herr Gott nun haben wollte, daß ich Paſtor oder ein anderer ge - lehrter Mann werden ſollte, muß ich dann ſagen: Nein, lie - ber Gott! ich will Schulmeiſter bleiben, der Herr Paſtor wills nicht haben?
„ Halt’s Maul, du Eſel! weißt du nicht, wen du vor dir haſt? “
Nun catechiſirte der Paſtor die Kinder alle, darin hatte er eine vortreffliche Gabe.
Bei naͤchſter Gelegenheit ſuchte Herr Stollbein den Wil - helm zu bereden, er moͤchte doch ſeinen Sohn ſtudiren laſſen, er verſprach ſogar, Vorſchub zu verſchaffen: allein dieſer Berg war zu hoch, er ließ ſich nicht erſteigen.
Heinrich kaͤmpfte indeſſen in ſeinem beſchwerlichen Zu - ſtand rechtſchaffen; ſeine Neigung zum Schulhalten war un - ausſprechlich; aber nur blos aus dem Grund, um des Hand - werks los zu werden und ſich mit Buͤchern beſchaͤftigen zu koͤnnen; denn er fuͤhlte ſelbſt gar wohl, daß ihm die Unter - richtung anderer Kinder ewige Langeweile machen wuͤrde. Doch machte er ſich das Leben ſo ertraͤglich, als es ihm moͤglich war. Die Mathematik nebſt alten Hiſtorien und Ritterge - ſchichten war ſein Fach; denn er hatte wirklich den Tobias Beutel und Bions mathematiſche Werkſchule ziemlich im107 Kopf; beſonders ergoͤtzte ihn die Sonnenuhrkunſt uͤber die Maße. Es ſah komiſch a〈…〉〈…〉 wie er ſich den Winkel, in wel - chem er ſaß und naͤhte, ſo nach ſeiner Phantaſie ausſtaffirt hatte: die Fenſterſcheiben waren voll Sonnenuhren, inwendig vor dem Fenſter ſtand ein viereckigter Klotz, in Geſtalt eines Wuͤr - fel, mit Papier uͤberzogen und auf allen fuͤnf Seiten mit Son - nenuhren bezeichnet, deren Zeiger abgebrochene Naͤhnadeln waren: oben unter der Stubendecke war gleichfalls eine Son - nenuhr, die von einem Stuͤcklein Spiegel im Fenſter erleuch - tet wurde; und ein aſtronomiſcher Ring von Fiſchbein hing an einem Faden vor dem Fenſter; dieſer mußte auch die Stelle der Taſchenuhr vertreten, wenn er ausging. Alle dieſe Uhren waren nicht allein gruͤndlich und richtig gezeichnet, ſondern er verſtand auch ſchon dazumal die gemeine Geometrie nebſt dem Rechnen und Schreiben aus dem Grund, ob er gleich nur ein Knabe von zwoͤlf Jahren und ein Lehrjunge im Schneiderhand - werk war.
Der junge Stilling fing auch nunmehr an, zu Herrn Stollbein in die Catechiſation zu gehen; das war ihm nun zwar eine Kleinigkeit, allein es hatte doch auch ſeine Beſchwer - den; denn da der Paſtor immer ein Aug auf ihn hatte, ſo ent - deckte er auch immer Etwas an ihm, das ihm nicht gefiel; zum Beiſpiel: wenn er in die Kirche oder in die Catechiſa - tionsſtube kam, ſo war er immer der Vorderſte, und hatte alſo auch immer den oberſten Stand; dieſes konnte nun der Pa - ſtor gar nicht leiden, denn er liebte an andern Leuten die De - muth ungemein. Einsmals fuhr er ihn an und ſagte:
„ Warum biſt du immer der Vorderſte? “
Er antwortete: wenns Lernen gilt, ſo bin ich nicht gern der Hinterſte.
„ Ei, weißt du Schlingel kein Mittel zwiſchen Hinten und Vornen? “
Stilling haͤtte gern noch ein Woͤrtchen dazu geſetzt, al - lein er fuͤrchtete ſich, den Paſtor zu erzuͤrnen. Herr Stollbein ſpazirte die Stube ab, und indem er wieder heraufkam, ſagte108 er laͤchelnd: „ Stilling! was heißt das auf deutſch: medium tenuere beati? “
Das heißt: die Seligen haben den Mittelweg gehalten; doch daͤucht mir, man koͤnnte auch ſagen: plerique medium tenentes sunt damnati. (Die nehr eſten Leute ſind verdammt, die das Mittel gehalten haben, d. i. die weder kalt noch warm ſind.) Herr Stollbein ſtutzte, ſah ihn an und ſagte: Junge! ich ſage dir, du ſollſt das Recht haben, voran zu ſtehen, du haſt vortrefflich geantwortet. Doch nun ſtand er nie wieder vornen, damit ihm die andern Kindern nicht boͤs werden moͤch - ten. Ich weiß nicht, ob es Feigherzigkeit oder ob es Demuth war. Nun fragte ihn Herr Stollbein wieder: Warum gehſt du nicht an deinen Ort? Er antwortete: Wer ſich ſelbſt er - niedriget, der ſoll erhoͤhet werden. Schweig! erwiederte der Paſtor, du biſt ein vorwitziger Burſche.
Dieſes ging nun ſo ſeinen Gang fort bis ins Jahr 1755 auf Oſtern, da Heinrich Stilling vierzehn und ein halb Jahr alt war; vierzehn Tage vor dieſer Zeit ließ ihn Herr Paſtor Stollbein allein vor ſich kommen und ſagte zu ihm: Hoͤr’, Stilling, ich wollte gern einen braven Kerl aus dir machen, du mußt aber huͤbſch fromm und mir, deinem Vor - geſetzten, gehorſam ſeyn; auf Oſtern will ich dich mit noch andern, die aͤlter ſind, als du, zum heiligen Abendmahl ein - ſegnen, und dann will ich ſehen, ob ich dich nicht zum Schul - meiſter machen kann. Stilling huͤpfte das Herz vor Freu - den, er dankte dem Paſtor und verſprach, alles zu thun, was er haben wollte. Das gefiel dem alten Manne von Herzen, er ließ ihn im Frieden gehen, und hielt ſein Wort treulich; denn auf Oſtern ging er zum Nachtmahl, und alſofort wurde er zum Schulmeiſter nach Zellberg beſtimmt, welches Amt er den erſten Mai antreten mußte. Die Zellberger ver - langten auch mit Schmerzen nach ihm; denn ſein Ruf war weit und breit erſchollen. Die Wonne laͤßt ſich nicht ausſpre - chen, welche der junge Stilling hieruͤber empfand, er konnte kaum den Tag erwarten, der zum Antritt ſeines Amts be - ſtimmt war.
Zellberg liegt eben hinter der Spitze des Gillers, man109 geht von Tiefenbach gerade den Wald hinauf; ſobald man auf die Hoͤhe kommt, hat man vor ſich ein großes ebenes Feld, nahe zur rechten Seite den Wald, deſſen hundertjaͤhrige Ei - chen und Maibuchen in gerader Linie gegen Oſten zu, wie eine preußiſche Wachtparade, hingepflanzt ſtehen und den Himmel zu tragen ſcheinen; faſt oſtwaͤrts am Ende des Waldes erhebt ſich ein buſchigter Huͤgel, auf dem Hoͤchſten oder auch der Haͤngesberg genannt; dieſes iſt der hoͤchſte Gipfel von ganz Weſtphalen. Von Tiefenbach bis dahin hat man drei Viertelſtund beſtaͤndig gerad und ſteil aufzuſteigen. Lin - ker Hand liegt eine herrliche Flur, die ſich gegen Norden in einen Huͤgel von Saatland erhebt, dieſer heißt: auf der Antonius-Kirche. Vermuthlich hat in alten Zeiten eine Kapelle da geſtanden, die dieſem Heiligen gewidmet geweſen. Vor dieſem Huͤgel, ſuͤdwaͤrts, liegt ein ſchoͤner herrſchaftli - cher Meierhof, der von Paͤchtern bewohnt wird. Nordoſtwaͤrts ſenkt ſich die Flaͤche in eine vortreffliche Wieſe, die ſich zwi - ſchen buſchigten Huͤgeln herumdraͤngt; zwiſchen dieſer Wieſe und dem Hoͤchſten geht durchs Gebuͤſch ein gruͤner Raſen - weg vom Feld aus laͤngs die Seite des Huͤgels fort, bis er ſich endlich im feierlichen Dunkel dem Auge entzieht; es iſt ein bloßer Holzweg, und von der Natur und dem Zufall ſo entſtanden. Sobald man uͤber den hoͤchſten Huͤgel hin iſt, ſo kommt man an das Dorf Zellberg; dieſes liegt alſo an der Oſtſeite des Gillers, da, wo in einer Wieſe ein Bach entſpringt, der endlich zum Fluß wird und nicht weit von Caſſel in die Weſer faͤllt. Die Lage dieſes Orts iſt be - zaubernd ſchoͤn, beſonders im ſpaͤtern Fruͤhling, im Sommer und im Anfange des Herbſts; der Winter aber iſt daſelbſt fuͤrch - terlich. Das Geheul des Sturms und der Schwall von Schnee, welcher vom Wind getrieben hinſtuͤrzt, verwandelt dieſes Pa - radies in eine Norwegiſche Landſchaft. Dieſer Ort war alſo der erſte, wo Heinrich Stilling die Probe ſeiner Faͤhig - keiten ablegen ſollte.
Auf den kleinen Doͤrfern in dieſen Gegenden wird vom er - ſten Mai bis auf Martini und alſo den Sommer durch woͤ - chentlich nur zwei Tage, naͤmlich Freitags und Samſtags,110 Schul gehalten; und ſo war’s auch zu Zellberg. Stil - ling ging Freitags Morgens mit Sonnenaufgang hin und kam des Sonntags Abends wieder. Dieſer Gang hatte fuͤr ihn etwas Unbeſchreibliches; — beſonders wenn er des Mor - gens vor Sonnenaufgang auf der Hoͤhe aufs Feld kam, und die Sonne dort aus der Ferne zwiſchen den buſchigten Huͤgeln aufſtieg; vor ihr her ſaͤuſelte ein Windchen, und ſpielte mit ſeinen Locken; dann ſchmolz ſein Herz, er weinte oft, und wuͤnſchte Engel zu ſehen, wie Jakob zu Mahanaim. Wenn er nun da ſtand und in Wonnegefuͤhl zerſchmolz, ſo drehte er ſich um und ſah Tiefenbach unten im naͤchtlichen Nebel liegen. Zur Linken ſenkte ſich ein großer Berg, der hitzige Stein genannt, vom Giller herunter, zur Rechten vorwaͤrts lagen ganz nahe die Ruinen des Geiſenberger Schloſſes. Da traten dann alle Scenen, die da zwiſchen ſeinem Vater und ſeiner ſeligen Mutter, zwiſchen ſeinem Vater und ihm vorgegangen waren, als ſo viele vom herrlichſten Licht erleuch - tete Bilder vor ſeine Seele; er ſtand da wie ein Trunkener und uͤberließ ſich ganz der Empfindung. Dann ſchaute er in die Ferne; zwoͤlf Meilen ſuͤdwaͤrts lag der Taunus oder Feld - berg nahe bei Frankfurt, acht bis neun Meilen weſtwaͤrts lagen vor ihm die ſieben Berge am Rhein, und ſo fort eine unzaͤhlbare Menge weniger beruͤhmter Gebirge; aber nord - weſtlich lag ein hoher Berg, der mit ſeiner Spitze dem Giller faſt gleich kam; dieſer verdeckte Stillingen die Ausſicht uͤber die Schaubuͤhne ſeiner kuͤnftigen großen Schickſale.
Hier war der Ort, wo Heinrich eine Stunde lang ver - weilen konnte, ohne ſich ſelbſt recht bewußt zu ſeyn; ſein gan - zer Geiſt war Gebet, inniger Friede und Liebe gegen den All - maͤchtigen, der das Alles gemacht hatte.
Zuweilen wuͤnſchte er auch wohl ein Fuͤrſt zu ſeyn, um eine Stadt auf dieſes Gefilde bauen zu koͤnnen; alſofort ſtand ſie ſchon da vor ſeiner Einbildung; auf der Antonius-Kirche hatte er ſeine Reſidenz, auf dem Hoͤchſten ſah er das Schloß der Stadt, ſo wie Montalban in den Holzſchnitten im Buch von der ſchoͤnen Meluſine; dieſes Schloß ſollte Hein - richsburg heißen; wegen des Namens der Stadt ſtand er111 noch immer im Zweifel, doch war ihm der Name Stillin - gen der ſchoͤnſte. Unter dieſen Vorſtellungen ſtieg er auf vom Fuͤrſten zum Koͤnige, und wenn er aufs Hoͤchſte gekommen war, ſo ſah er Zellberg vor ſich liegen, und er war nichts weiter, als zeitiger Schulmeiſter daſelbſt, und ſo wars ihm dann auch recht, denn er hatte Zeit zum Leſen.
An dieſem Ort wohnte ein Jaͤger, Namens Kruͤger, ein redlicher, braver Mann; dieſer hatte zwei junge Knaben, aus denen er gern etwas rechts gemacht haͤtte. Er hatte den alten Stilling herzlich geliebt, und ſo liebte er auch ſeine Kinder. Dieſem war es Seelenfreude, den jungen Stilling als Schulmeiſter in ſeinem Dorf zu ſehen. Daher entſchloß er ſich, denſelben zu ſich ins Haus zu nehmen. Heinrichen war dieſes eben recht, ſein Vater machte alle Kleider fuͤr den Jaͤger und ſeine Leute, und deßwegen war er daſelbſt am mehreſten bekannt; uͤberdem wußte er, daß Kruͤger viel rare Buͤcher hatte, die er recht zu nuͤtzen gedachte. Er quartirte ſich daſelbſt ein; und das erſte, was er vornahm, war die Unterſuchung der Kruͤgeriſchen Bibliothek; er ſchlug einen alten Folianten auf, und fand eine Ueberſetzung Homers in deutſche Verſe; er huͤpfte vor Freuden, kuͤßte das Buch, druͤckte es an ſeine Bruſt, bat ſichs aus und nahm es mit in die Schule, wo ers in der Schublade unter dem Tiſch ſorgfaͤltig verſchloß und ſo oft darin las, als es ihm nur moͤglich war. Auf der lateiniſchen Schule hatte er den Virgilius erklaͤrt und bei der Gelegen - heit ſo viel vom Homer gehoͤrt, daß er vorher Schaͤtze darum gegeben haͤtte, um ihn nur einmal leſen zu koͤnnen; nun bot ſich ihm hier die Gelegenheit von ſelbſt dar, und er nutzte ſie auch rechtſchaffen.
Schwerlich iſt die Ilias ſeit der Zeit, daß ſie in der Welt geweſen, mit mehrerem Entzuͤcken und Empfindung geleſen worden. Hector war ein Mann, Achill aber nicht, Aga - memnon noch weniger; mit einem Wort: er hielt es durch - gehends mit den Trojanern, ob er gleich den Parias mit ſeiner Helenen kaum des Andenkens wuͤrdigte; beſon - ders, weil er immer zu Haus blieb, da er doch die Urſach des Kriegs war. Das iſt doch ein unertraͤglicher, ſchlechter Kerl!112 dachte er oft bei ſich ſelber. Niemand dauerte ihn mehr als der alte Priam. Die Bilder und Schilderungen des Homers waren ſo ſehr nach ſeinem Geſchmack, daß er ſich nicht enthal - ten konnte, laut zu jauchzen, wenn er ein ſo recht lebhaftes Wort fand, das der Sache angemeſſen war; damals waͤr’ die rechte Zeit geweſen, den Oſſian zu leſen.
Dieſe hohe Empfindung hatte aber auch noch Nebenurſachen, die ganze Gegend trug dazu bei. Man denke ſich einen bis zur hoͤchſten Stufe des Enthuſiasmus empfindſamen Geiſt, deſſen Geſchmack natuͤrlich und noch nach keiner Mode ge - ſtimmt war, ſondern der nichts als wahre Natur empfunden, geſehen und ſtudirt hatte, der ohne Sorge und Gram hoͤchſt zufrieden mit ſeinem Zuſtand lebte, und allem Vergnuͤgen offen ſtand; ein ſolcher Geiſt liest den Homer in der ſchoͤnſten und natuͤrlichſten Gegend von der Welt, und zwar des Mor - gens in der Fruͤhſtunde. Man ſtelle ſich die Lage dieſes Orts vor; er ſaß in der Schule an zwei Fenſtern, die nach Oſten gekehrt waren; dieſe Schule ſtand an der Mittagsſeite, am Abhang des hoͤchſten Huͤgels, um dieſelbe her waren alte Bir - ken mit ſchneeweißen Staͤmmen auf einen gruͤnen Raſen ge - pflanzt, deren dunkelgruͤne Blaͤtter beſtaͤndig fort im ewigen Winde flisperten. Gegen Sonnenaufgang war ein praͤchtiges Wieſenthal, das ſich an buſchigte Huͤgel und Gebirge anſchloß. Gegen Mittag lag, etwas niedriger, das Dorf, hinter demſel - ben eine Wieſe, und dann ſtieg unvermerkt eine Flur von Fel - dern auf, die ein Wald begraͤnzte. Gegen Abend in der Naͤhe war der hohe Giller mit ſeinen tauſend Eichen. Hier las Stilling den Homer im Mai und Junius, wenn ohne das die ganze halbe Welt ſchoͤn iſt und in der Kraft ihres Erhalters jauchzt.
Ueber das alles waren auch ſeine Bauern gute, natuͤrliche Leute, die beſtaͤndig mit alten Sagen und Erzaͤhlungen ſchwan - ger gingen und bei jeder Gelegenheit damit herauskramten; dadurch wurde der Schulmeiſter vollends recht mit ſeinem Ele - ment genaͤhrt und zu Empfindungen aufgelegt. Er ging eins - mals hinter der Schule den hoͤchſten Huͤgel hinauf ſpazieren, oben auf der Spitze traf er einen alten Bauern aus ſeinem113 Dorf, der Holz ſammelte; ſobald dieſer den Schulmeiſter kom - men ſah, hoͤrte er auf zu arbeiten und ſagte:
„ Es iſt gut, Schulmeiſter, daß du kommſt, ich bin doch „ muͤde; nun hoͤr’, was ich dir ſagen will, ich denke ſo eben „ dran. Ich und dein Großvater haben vor dreißig Jahren „ einmal hier Kohlen gebrannt, da hatten wir viel Freude! „ wir kamen immer zu einander, aßen und tranken zuſammen „ und redeten dann immer von alten Geſchichten. Du ſiehſt „ hier rund umher, ſo weit dein Auge reicht, keinen Berg, aber „ wir beſannen uns auf ſeinen Namen und den Ort, wo er „ am naͤchſten liegt; das war uns dann nun ſo recht eine Luſt, „ wenn wir da ſo lagen und uns Geſchichten erzaͤhlten, und „ zugleich den Ort zeigen konnten, wo ſie geſchehen waren. “ Nun hielt der Bauer die linke Hand uͤber die Augen, und mit der rechten wies er gegen Abend und Nordweſt hin und ſagte: „ Da, etwas niederwaͤrts, ſiehſt du das Geiſenber - „ ger Schloß, gerad hinter demſelben, dort weit weg, iſt ein „ hoher Berg mit drei Koͤpfen, der mittelſte heißt noch der „ Kindelsberg, da ſtand vor uralten Zeiten ein Schloß, „ das auch ſo hieß; da wohnten Ritter drauf, die waren ſehr „ gottloſe Leute. Da zur Rechten hatten ſie, an dem Kopf, „ ein ſehr ſchoͤnes Silber-Bergwerk, wovon ſie ſtockreich wur - „ den. Nu, was geſchah! Der Uebermuth ging ſo weit, daß „ ſie ſich ſilberne Kegel machen ließen; wenn ſie nun ſpielten, „ ſo warfen ſie nach dieſen Kegeln mit ſilbernen Kloͤtzen; dann „ backten ſie große Kuchen von Semmelmehl, wie Kutſchen - „ raͤder, machten in der Mitte Loͤcher darein und ſteckten ſie „ an die Achſen; das war nun eine himmelſchreiende Suͤnde, „ denn wie viele Menſchen haben kein Brod zu eſſen! Unſer „ Herr Gott ward es auch endlich muͤde; denn es kam des „ Abends ſpaͤt ein weißes Maͤnnchen ins Schloß, das ſagte „ ihnen an, daß ſie Alle binnen drei Tagen ſterben muͤßten, „ und zum Wahrzeichen gab es ihnen, daß dieſe Nacht eine „ Kuh zwei Laͤmmer werfen wuͤrde. Das geſchah auch, aber „ Niemand kehrte ſich dran, als der juͤngſte Sohn, der Ritter „ Sigmund hieß, und eine Tochter, die eine gar ſchoͤne Jung - „ frau war. Dieſe beteten Tag und Nacht. Die Andern ſtar -Stilling’s Schriften. I. Bd. 8114„ ben an der Peſt und dieſe Beiden blieben am Leben. Nun „ war aber hier auf dem Geiſenberg auch ein junger kuͤh - „ ner Ritter, der ritt beſtaͤndig ein großes ſchwarzes Pferd, „ deßwegen hieß man ihn auch nicht anders, als den Ritter mit „ dem ſchwarzen Pferd. Er war ein gottloſer Menſch, der „ immer raubte und mordete. Dieſer Ritter gewann die ſchoͤne „ Jungfrau auf dem Kindelsberg lieb und wollte ſie ab - „ ſolut haben, aber es nahm ein ſchlechtes Ende. Ich kann „ noch ein altes Lied von der Geſchichte. “
Der Schulmeiſter ſagte: ich bitt’ euch, Kraft (ſo hieß der Bauer), ſagt mir doch das Lied vor!
Kraft antwortete: das will ich gern thun, ich will dir’s wohl ſingen. Er fing an:
Stilling lauſchte ſtill, er durfte kaum Athem holen; die ſchoͤne Stimme des alten Kraft, die ruͤhrende Melodie und die Geſchichte ſelber wirkten dergeſtalt auf ihn, daß ihm das Herz pochte; er beſuchte den alten Bauern oft, der ihm dann das Lied ſo oft vorſang, bis ers auswendig konnte. Nun ſenkte ſich die Sonne hinter den fernen blauen Berg; Kraft und der Schulmeiſter gingen den Huͤgel herab, die braunen und ſcheckigten Kuͤhe grasten in der Trift, ihre heiſern Schellen klangen wiederhallend hin und her. Die Knaben liefen in den Hoͤfen herum und theilten ihr Butterbrod und Kaͤſe zuſammen; die Hausmuͤttern machten den Stall zurecht, und die Huͤhner flatſchten, eins nach dem andern, hinauf zu ihrem Loch; noch einmal drehte ſich der orangegelbe und rothbraune Hahn auf ſeinem Pfahl vor dem Loch herum und kraͤhte ſeinen Nachbarn gute Nacht; durch den Wald herab ſprachen die Kohlenbrenner, die Querſaͤcke auf den Nacken, und freuten ſich der nahen Ruhe.
Heinrichs Stilling’s Schulmethode war ſeltſam und ſo eingerichtet, daß er wenig oder nichts dabei verlor. Des Morgens, ſobald die Kinder in die Schule kamen und alle bei - ſammen waren, ſo betete er mit ihnen und catechiſirte ſie in den erſten Grundſaͤtzen des Chriſtenthums nach eigenem Gut - duͤnken ohne Buch; dann ließ er einen jeden ein Stuͤck leſen; wenn das vorbei war, ſo ermunterte er die Kinder, den Catechis - mus zu lernen, indem er ihnen verſprach, ſchoͤne Hiſtorien zu erzaͤhlen, wenn ſie ihre Aufgabe recht gut auswendig koͤnnen wuͤrden; waͤhrend der Zeit ſchrieb er ihnen vor, was ſie nach - ſchreiben ſollten, ließ ſie noch einmal Alle leſen und dann kam’s zum Erzaͤhlen, wobei vor und nach alles erſchoͤpft wurde, was er jemals in der Bibel, im Kaiſer Octavianus, der ſchoͤnen Magelone und andern mehr geleſen hatte; auch die Zerſtoͤrung der koͤniglichen Stadt Troja wurde mit vorgenommen. So war es auf ſeiner Schule Sitte und Gebrauch von einem Tag zum andern. Es laͤßt ſich nie ausſprechen, mit welchem Eifer die Kinder lernten, um nur fruͤh ans Erzaͤhlen zu kommen; waren ſie aber muthwillig und nicht fleißig geweſen, ſo erzaͤhlte der Schulmeiſter nicht, ſondern las ſelbſt.
Niemand verlor bei dieſer ſeltſamen Manier zu unterwei -117 ſen, als die Abc-Schuͤler und die am Buchſtabiren waren; die - ſer Theil des Schulamts war Stilling viel zu langweilig. Des Sonntags Morgens verſammelten ſich die Schulkinder um ihren angenehmen Lehrer, und ſo wanderte er mit ſeinem Gefolge unter den ſchoͤnſten Erzaͤhlungen nach Florenburg in die Kirche, und nach der Predigt in eben der Ordnung wie - der nach Haus.
Die Zellberger waren indeſſen mit Stilling recht gut zufrieden, ſie ſahen, daß ihre Kinder lernten, ohne viel ge - zuͤchtigt zu werden; verſchiedene hatten ſogar ihre Freude an all den ſchoͤnen Geſchichten, welche ihnen ihre Kinder zu er - zaͤhlen wußten. Beſonders liebte ihn Kruͤger außerordent - lich, denn er konnte Vieles mit ihm aus dem Paralacelſus reden (ſo ſprach der Jaͤger das Wort Paracelſus aus); er hatte eine altdeutſche Ueberſetzung ſeiner Schriften, und da er ein ſklaviſcher Verehrer aller der Maͤnner war, von de - nen er glaubte, daß ſie den Stein Lapis gehabt haͤtten, ſo waren ihm Jakob Boͤhms, Graf Bernhards und des Paracelſus Schriften große Heiligthuͤmer. Stilling ſelber fand Geſchmack darinnen, nicht blos wegen des Steins der Weiſen, ſondern weil er ganz hohe und herrliche Begriffe, beſonders im Boͤhm, zu finden glaubte; wenn ſie das Wort: Rad der ewigen Eſſenzien oder auch ſchielen der Blitz und andre mehr ausſprachen, ſo empfanden ſie eine ganz beſondere Erhebung des Gemuͤths. Ganze Stunden lang forſchten ſie in magiſchen Figuren, bis ſie manchmal Anfang und Ende verloren und meinten, die vor ihnen liegenden Zau - berbilder lebten und bewegten ſich; das war dann ſo rechte Seelenfreude, im Taumel groteske Ideen zu haben und leb - haft zu empfinden.
Allein dieſes paradieſiſche Leben war von kurzer Dauer. Herr Paſtor Stollbein und Herr Foͤrſter Kruͤger waren Todt - feinde. Dieſes kam daher: Stollbein war ein unumſchraͤnk - ter Monarſch in ſeinem Kirchſpiel; ſein geheimes Raths - Collegium, ich meine das Conſiſtorium, beſtand aus lauter Maͤnnern, die er ſelber angeordnet hatte und von denen er voraus wußte, daß ſie einfaͤltig genug waren, immer Ja zu118 ſagen. Vater Stilling war der Letzte geweſen, der noch vom vorigen Prediger beſtellet worden; daher fand er nirgends Widerſtand. Er erklaͤrte Krieg und ſchloß Frieden, ohne Je - mand zu Rath zu ziehen; alles fuͤrchtete ihn und zitterte in ſeiner Gegenwart. Doch kann ich nicht ſagen, daß das gemeine Weſen unter ſeiner Regierung ſonderlich gelitten haͤtte; er hatte bei ſeinen Fehlern eine Menge guter Eigenſchaften. Nur Kruͤger und einige der Vornehmſten zu Florenburg haß - ten ihn ſo ſehr, daß ſie faſt gar nicht in die Kirche gingen, vielweniger bei ihm communicirten. Kruͤger ſagte oͤffentlich: er ſey vom boͤſen Geiſt beſeſſen; und daher that er immer gerade das Gegentheil von dem, was der Paſtor gerne ſah.
Nachdem Stilling einige Wochen zu Zellberg gewe - ſen war, ſo beſchloß Herr Stollbein, ſeinen neuen Schul - meiſter daſelbſt einmal zu beſuchen; er kam des Vormittags um neun Uhr in die Schule; zum Gluͤck war Stilling we - der am Erzaͤhlen noch Leſen. Er wußte aber ſchon, daß er bei Kruͤger im Hauſe war, daher ſah er ganz muͤrriſch aus, ſchaute umher und fragte: Was macht ihr mit den Schiefer - ſteinen auf der Schule? — (Stilling hielt des Abends eine Rechenſtunde mit den Kindern.) Der Schulmeiſter ant - wortete: Darauf rechnen die Kinder des Abends. Der Pa - ſtor fuhr fort:
„ Das kann ich wohl denken, aber wer heißt euch das? “
Heinrich wußte nicht, was er ſagen ſollte, er ſah dem Paſtor ins Geſicht und verwunderte ſich; endlich erwiederte er laͤchelnd: Der mich geheißen hat, die Kinder Leſen, Schrei - ben und den Catechismus zu lernen, der hat mich auch gehei - ßen, ſie im Rechnen zu unterrichten.
„ Ihr .... ich haͤtte bald was geſagt! lehrt ſie erſt einmal das Noͤthigſte, und wenn ſie das koͤnnen, dann lehrt ſie auch Rechnen. “
Nun fing es an, Stillingen weich ums Herz zu werden. Das iſt ſo ſeiner Natur gemaͤß, anſtatt daß andere Leute boͤs und launigt werden, ſchießen ihm die Thraͤnen in die An - gen und die Backen herunter; es gibt aber auch einen Fall, in welchem er recht zornig werden kann: wenn man ihn oder119 auch ſonſt eine ernſte und empfindſame Sache ſatyriſch behan - delt. Gott! verſetzte er, wie ſoll ichs doch machen? Die wol - len haben, ich ſoll die Kinder rechnen lehren, und der Herr Paſtor wills nicht haben! Wem ſoll ich nun folgen?
„ Ich hab in Schulſachen zu befehlen, ſagte Stollbein, und eure Bauern nicht! “und damit ging er zur Thuͤre hinaus.
Stilling befahl alſofort, alle Schieferſteine herabzuneh - men und auf einen Haufen hinter dem Ofen unter die Bank zu legen; das wurde befolgt, doch ſchrieb ein jeder ſeinen Na - men mit dem Griffel auf den ſeinigen.
Nach der Schule ging er zu dem Kirchen-Aelteſten, erzaͤhlte ihm den Vorfall und fragte ihn um Rath. Der Mann laͤchelte und ſagte: Der Paſtor wird ſo ſeine boͤſe Laune gehabt haben, legt ihr die Steine zuruͤck, daß er ſie nicht ſieht, wenn er wie - der kommen ſollte; fahrt ihr aber fort, die Kinder muͤſſen doch Rechnen lernen! Er erzaͤhlte es auch Kruͤgern; dieſer glaubte, der Teufel habe ihn beſeſſen, und nach ſeiner Meinung ſollten nun auch die Maͤdchen ſich Schieferſteine anſchaffen und das Rechnen lernen, ſeine Kinder wenigſtens ſollten es nun zuerſt vornehmen. Und das geſchah auch; Stilling mußte den groͤß - ten Knaben ſogar in der Geometrie unterrichten.
So ſtanden die Sachen den Sommer uͤber, aber Niemand vermuthete, was den Herbſt geſchah. Vierzehn Tage vor Mar - tini kam der Aelteſte in die Schule und kuͤndigte Stilling im Namen des Paſtors an, auf Martini die Schule zu ver - laſſen und zu ſeinem Vater zuruͤckzukehren. Dieſes war dem Schulmeiſter und den Schuͤlern ein Donnerſchlag, ſie weinten allzuſammen. Kruͤger und die uͤbrigen Zellberger wur - den faſt raſend; ſie ſtampften mit den Fuͤßen und ſchwuren: der Paſtor ſollte ihnen ihren Schulmeiſter nicht nehmen. Allein Wilhelm Stilling, wie ſehr er ſich auch aͤrgerte, fand doch rathſamer, ſeinen Sohn zu ſich zu nehmen, um ihn an ſeinem fernern Gluͤck nicht zu hindern. Des Sonntags Nach - mittags vor Martini ſtopfte der gute Schulmeiſter ſein Biß - chen Kleider und Buͤcher in einen Sack, hing ihn auf den Ruͤcken und wanderte aus Zellberg das Hoͤchſte hinauf, ſeine Schuͤler gingen truppenweiſe hinten nach und weinten; er120 ſelbſt vergoß tauſend Thraͤnen und beweinte die ſuͤßen Zeiten, die er zu Zellberg zugebracht hatte. Der ganze weſtliche Himmel ſah ihm traurig aus, die Sonne verkroch ſich hinter ein ſchwarzes Wolkengebirge, und er wanderte im Dunkel des Waldes den Giller hinunter.
Des Montags Morgens ſetzte ihn ſein Vater wieder in ſeinen alten Winkel an die Naͤhnadel. Das Schneiderhandwerk war ihm nun doppelt verdrießlich, nachdem er die Suͤßigkeit des Schulhaltens geſchmeckt hatte. Das einzige, was ihm noch uͤbrig blieb, war, daß er ſeine alten Sonnenuhren wieder in Ordnung brachte und ſeiner Großmutter die Herrlichkeit des Homers erzaͤhlte, die ſich dann auch alles wohl gefallen ließ und wohl gar Geſchmack daran hatte, nicht ſo ſehr aus eignem Naturtrieb, ſondern weil ſie ſich erinnerte, daß ihr ſeliger Eberhard ein großer Liebhaber von dergleichen Sa - chen geweſen war.
Heinrich Stilling’s Leiden ſtuͤrmten nun mit voller Kraft auf ihn zu, er glaubte feſt, er ſey nicht zum Schneiderhand - werk geboren, und er ſchaͤmte ſich von Herzen, ſo dazuſitzen und zu Naͤhen; wenn daher jemand Anſehnliches in die Stube kam, ſo wurde er roth im Geſicht.
Einige Wochen hernach begegnete dem Oheim Simon, Herr Paſtor Stollbein im Fuhrwerk; als er den Paſtor von Ferne her reiten ſah, arbeitete er ſich uͤber Hals und Kopf mit dem Ochſen und ſeiner Karre aus dem Wege auf das Feld, ſtellte ſich mit dem Hute in der Hand neben den Ochſen hin, bis Herr Stollbein herzukam.
„ Nu, was macht euers Schwagers Sohn? “
Er ſitzt am Tiſch und naͤht!
„ Das iſt recht! ſo will ich’s haben! “
Stollbein ritt fort und Simon fuhr ſeiner Wege nach Haus. Alſofort erzaͤhlte er Wilhelmen, was der Paſtor geſagt hatte; Heinrich hoͤrte es mit groͤßtem Herzeleid, er - munterte ſich aber wieder, als er ſah, wie ſein Vater mit auf - gebrachtem Gemuͤth das Naͤhzeug von ſich warf, aufſprang121 und mit Heftigkeit ſagte: und ich will haben, er ſoll Schul haben, ſobald ſich Gelegenheit dazu aͤußert! Simon verſetzte: ich haͤtt’ ihn zu Zellberg gelaſſen, der Paſtor wird doch auch zu bezwingen ſeyn. Das haͤtte wohl geſchehen koͤnnen, antwortete Wilhelm, aber man hat ihn hernach doch immer auf dem Hals und wird ſeines Lebens nicht froh. Leiden iſt beſſer als Streiten. Meinetwegen, fuhr Simon fort, ich ſcheer mich nichts um ihn, er ſollte mir nur einmal zu nahe kommen! Wilhelm ſchwieg und dachte: das laͤßt ſich in der Stube hinterm Ofen gut ſagen.
Die muͤhſelige Zeit des Handwerks dauerte fuͤr jetzo nicht lange; denn vierzehn Tage vor Weihnachten kam ein Brief von Dorlingen aus der Weſtphaͤliſchen Grafſchaft Mark in Stilling’s Hauſe an. Es wohnte daſelbſt ein reicher Mann, Namens Steifmann, welcher den jungen Stilling zum Haus-Informator verlangte. Die Bedinge waren: daß Herr Steifmann vom Neujahr an bis naͤchſte Oſtern Unterwei - ſung fuͤr ſeine Kinder verlangte; dafuͤr gab er Stilling Koſt und Trank, Feuer und Licht; fuͤnf Reichsthaler Lohn bekam er auch, allein dafuͤr mußte er von den benachbarten Bauern ſo viel Kinder in die Lehre nehmen, als ſie ihm ſchicken wuͤr - den, das Schulgeld davon zog Steifmann ein; auf dieſe Weiſe hatte er die Schule faſt umſonſt.
Die alte Margarethe, Wilhelm, Eliſabeth, Ma - riechen und Heinrich berathſchlagten ſich hierauf uͤber die - ſen Brief. Margarethe fing nach einiger Ueberlegung an: Wilhelm, behalte den Jungen bei dir! denk einmal! ein Kind ſo weit in die Fremde zu ſchicken, iſt kein Spaß, es gibt wohl hier in der Naͤhe Gelegenheit fuͤr ihn. Das iſt auch wahr! ſagte Mariechen, mein Bruder Johann ſagt oft: daß die Bauern da herum ſo grobe Leute waͤren, wer weiß, was ſie mit dem guten Jungen anfangen werden, be - halt’ihn hier, Wilhelm! Eliſabeth gab auch ihre Stimme; ſie hielt aber dafuͤr, daß es beſſer ſey, wenn ſich Heinrich etwas in der Welt verſuchte; wenn ſie zu befehlen haͤtte, ſo muͤßte er ziehen. Wilhelm ſchloß endlich, ohne zu ſagen warum: wenn Heinrich Luſt zu gehen haͤtte, ſo waͤr’ er es122 wohl zufrieden. Ja wohl bin ich’s zufrieden! fiel er ein, ich wollte, daß ich ſchon da waͤr’! Margarethe und Marie - chen wurden traurig und ſchwiegen ſtill. Der Brief wurde alſo von Wilhelm beantwortet und alles eingewilligt.
Dorlingen lag neun ganze Stunden von Tiefenbach ab. Vielleicht war ſeit hundert Jahren Niemand aus der Stilling’ſchen Familie ſo weit fortgewandert und ſo lang ab - weſend geweſen. Einige Tage vor Heinrichs Abreiſe trauer - ten und weinten Alle, nur er ſelber war innig froh. Wilhelm verbarg ſeinen Kummer ſo viel er konnte. Margarethe und Mariechen empfanden zu ſehr, daß er ein Stilling war, deßwegen weinten ſie am meiſten, welches in den blin - den Staar-Augen der alten Großmutter erbaͤrmlich ausſah.
Der letzte Morgen kam, Alle verſanken in Wehmuth. Wil - helm ſtellte ſich hart gegen ihn; allein der Abſchied machte ihn nur deſto weicher. Heinrich vergoß auch viele Thraͤ - nen, aber er lief und wiſchte ſie ab. Zu Lichthauſen kehrte er bei ſeinem Oheim, Johann Stilling, ein, der ihm viel ſchoͤne Lehren gab. Nun kamen die Fuhrleute, die ihn mitnehmeu ſollten, und Heinrich reiste freudig mit ih - nen fort.
Die Gegenden, welche er in dieſer Jahreszeit durchzureiſen hatte, ſahen recht melancholiſch aus. Sie machten Eindruͤcke auf ihn, die ihn in gewiſſe Niedergeſchlagenheit verſetzten. Wenn Dorlingen in einer ſolchen Gegend liegt, dachte er immer, ſo wird mirs doch da nicht gefallen. Die Fuhrleute, mit denen er reiste, waren von da her zu Haus; er merkte oft, wie ſie zuſammen hinter ihm hergingen und uͤber ihn ſpotte - ten; denn weil er nichts mit ihnen ſprach und etwas bloͤd ausſah, ſo hielten ſie ihn fuͤr einen Schafskopf, mit dem man machen koͤnnte, was man wollte. Zuweilen zupfte ihn einer von hinten her, und wenn er ſich dann umſah, ſo ſtellten ſie ſich, als wenn ſie wichtige Sachen unter ſich auszumachen haͤtten. Dergleichen Behandlungen waren nun eben faͤhig, ſeinen Zorn zu reizen; er litt das ein paarmal, endlich drehte er ſich um, ſah ſie ſcharf an und ſagte: Hoͤrt, ihr Leute, ich bin und werd’ euer Schulmeiſter zu Dorlingen, und wenn123 eure Kinder ſo ungezogene Bengels ſind, wie ich vermuthe, ſo werd’ ich Mittel wiſſen, ihnen andere Sitten beizubringen; das koͤnnt ihr ihnen ſagen, wenn ihr nach Haus kommt! Die Fuhrleute ſahen ſich an, und bloß um ihrer Kinder willen lie - ßen ſie ihn zufrieden.
Des Abends ſpaͤt um neun Uhr kam er zu Dorlingen an. Steifmann betrachtete ihn vom Haupt bis zu Fuß, ſo auch ſeine Frau, Kinder und Geſinde. Man gab ihm zu eſſen, und darauf legte er ſich ſchlafen. Als er des Morgens fruͤh erwachte, erſchrack er ſehr, denn er ſah die Sonne, ſeinem Begriff nach, in Weſten aufgehen, ſie ruͤckte gegen Norden in die Hoͤhe und ging des Abends in Oſten unter. Das wollte ihm gar nicht in den Kopf; und doch hatte er ſo viel von der Aſtronomie und Geographie begriffen, daß er wohl wußte, die Zellberger und Tiefenbacher Sonne ſey eben dieſelbe, die auch zu Dorlingenleuchte. Dieſer ſeltſame Vorfall ver - ruͤckte ihm ſein Concept, und jetzt wuͤnſchte er von Herzen, ſeines Oheims Johann Compas zu haben, um zu ſehen, ob auch die Magnetnadel mit der Sonne einig ſey, ihn zu betruͤgen. Er fand zwar endlich die Urſache dieſer Erſchei - nung; er war den vorigen Abend ſpaͤt angekommen und hatte die allmaͤhlige Kruͤmmung des Thals nicht bemerkt. Allein er konnte doch ſeine Einbildung nicht bemeiſtern; alle Ausſich - ten in die rohen und oͤden Gegenden kamen ihm auch aus die - ſem Grunde traurig und fatal vor.
Steifmann war reich, er hatte viel Geld, Guͤter, Och - ſen, Kuͤhe, Schafe, Ziegen und Schweine, dazu ſeine Stahl - fabrik, worin Waaren verfertigt wurden, mit denen er Hand - lung trieb. Er hatte jetzt nur erſt die zweite Frau, hernach aber hat er die dritte oder wohl gar die vierte geheirathet; das Gluͤck war ihm ſo guͤnſtig, daß er verſchiedene Frauen nach einander nehmen konnte, wenigſtens ſchien ihm das Ster - ben und Wiedernehmen der Weiber eine beſondere Beluſtigung zu ſeyn. Die jetzige Frau war ein gutes Schaf, ihr Mann redete oft gar erbaulich mit ihr von den Tugenden ſeiner erſten Frau, ſo daß ſie aus großer Empfindung des Herzens oft blutige Thraͤnen weinte. Sonſt war er gar nicht zum Zorn124 aufgelegt; er redete nicht viel, was er aber ſagte, das war von Gewicht und Nachdruck, weil es gemeiniglich Jemand, der gegenwaͤrtig war, beleidigte. Er ließ ſich auch anfaͤng - lich mit ſeinem neuen Schulmeiſter in Geſpraͤche ein, allein er gefiel ihm nicht. Von allem, was Stilling gewohnt war zu reden, verſtand er nicht Ein Wort, eben ſo wenig, als Stilling begriff, wovon ſein Patron redete. Daher ſchwiegen ſie Beide, wenn ſie beiſammen waren.
Des folgenden Montags Morgens ging die Schule an; Steifmanns drei Knaben machten den Anfang. Vor und nach fanden ſich bei achtzehn große vierſchroͤtige Jungens ein, die ſich gegen ihren Schulmeiſter verhielten, wie ſo viel Pa - tagonier gegen Einen Franzoſen. Zehn bis zwoͤlf Maͤdchen von eben dem Schrot und Korn kamen auch und ſetzten ſich hinter den Tiſch. Stilling wußte nicht recht, was er mit dieſem Volk anfangen ſollte. Ihm war bang vor ſo vielen wilden Geſichtern; doch verſuchte er die gewoͤhnliche Schul - methode und ließ ſie beten, ſingen, leſen und den Catechismus lernen.
Dieſes ging ungefaͤhr vierzehn Tage ſeinen ordentlichen Gang; allein nun war es auch geſchehen, ein oder anderer Koſacken - aͤhnlicher Junge verſuchte es, den Schulmeiſter zu necken. Stilling brauchte den Stock rechtſchaffen, aber mit ſo wi - drigem Erfolg, daß, wenn er ſich muͤde auf dem ſtarken Buckel zerdroſchen hatte, der Schuͤler aus vollem Hals lachte, der Schulmeiſter aber weinte. Das war dann dem Herrn Steif - mann ſo ſeine liebſte Beluſtigung; wenn er in dem Schul - ſtuͤbchen Laͤrmen hoͤrte, ſo kam er, that die Thuͤre auf und er - goͤtzte ſich von Herzen.
Dieſes Verfahren gab Stillingen den letzten Stoß. Seine Schule wurde zum polniſchen Reichstag, wo ein Jeder that, was ihm recht daͤuchte. So wie nun der arme Schulmeiſter in der Schule alles gebrannte Herzeleid ausſtand, ſo hatte er auch außer derſelben keine frohe Stunde. Buͤcher fand er wenig, nur eine große Baſeler Bibel, deren Holzſchnitte er durch und durch wohl ſtudirte, auch wohl darin las, wiewohl er ſie oft durchgeleſen hatte. Zions Lehr’ und Wunder125 von Doktor Mel, nebſt noch einigen alten Poſtillen und Ge - ſangbuͤchern ſtanden auf der Kleiderkammer auf einem Brett in guter Ruhe, und waren wohl, ſeitdem ſie Herr Steifmann geerbt hatte, wenig gebraucht worden. In dem Hauſe ſelbſt war ihm Niemand hold, Alle ſahen ihn fuͤr einen einfaͤltigen dummen Knaben an; denn ihre niedertraͤchtigen, ironiſch-zoti - gen und zweideutigen Reden verſtand er nicht, er antwortete immer gutherzig, wie ers meinte nach dem Sinn der Worte, ſuchte uͤberhaupt einen Jeden mit Liebe zu gewinnen, und die - ſes war eben der gerade Weg, eines Jeden Schuhputzer zu werden.
Doch trug ſich einsmalen etwas zu, das ihn leicht das Le - ben haͤtte koſten koͤnnen, wenn ihn der guͤtige Vater der Men - ſchen nicht ſonderlich bewahrt haͤtte. Er mußte ſich des Mor - gens ſelbſt Feuer in den Ofen machen; als er nun einmal kein Holz fand, ſo wollte er ſich etwas holen; nun war uͤber der Kuͤche her eine Rauchkammer, wo man das Fleiſch raͤu - cherte und zugleich das Holz trocknete. Die Dreſchtenne ſtieß an die Kuͤche, und von dieſer Tenne ging eine Treppe nach der Rauchkammer. Es waren juſt ſechs Tagloͤhner beim Dreſchen. Heiurich lief die Treppe hinauf, machte die Thuͤre auf, aus welcher der Rauch wie eine dicke Wolke herauszog; er ließ die Thuͤre offen, that einen Sprung nach dem Holz, ergriff etliche Stuͤcke, indeſſen wirbelte einer von den Dreſchern auswendig die Thuͤre zu. Der arme Stilling gerieth in To - desangſt, der Rauch erſtickte ihn, es war ſtockfinſter da, er wurde irre und wußte nicht mehr, wo die Thuͤre war. In dieſem erſchrecklichen Zuſtand that er einen Sprung gegen die Wand, und traf juſt gerade gegen die Thuͤr, dergeſtalt, daß der Wirbel zerbrach und die Thuͤre aufſprang. Stilling ſtuͤrzte die Teppe herunter bis auf die Tenne, wo er betaͤubt und ſinnlos hingeſtreckt lag. Als er wieder zu ſich ſelbſt kam, ſah er die Dreſcher nebſt Herrn Steifmann um ſich ſtehen und aus vollem Halſe lachen. Des ſollte doch der T ..... nichtlachen! ſagte Steifmann. Dieſes ging Stillin - gen durch die Seele. Ja! antwortete er, der lacht wirk - lich, daß er endlich einmal ſeinesgleichen gefun -126 den hat. Das gefiel ſeinem Patron außerordentlich, und er pflegte wohl zu ſagen: das ſey das erſte und auch das letzte geſcheidte Wort geweſen, das er von ſeinem Schulmei - ſter gehoͤrt habe.
Das Beſte indeſſen bei der Sache war, daß Stilling keinen Schaden genommen hatte: er uͤberließ ſich gaͤnzlich der Wehmuth, weinte ſich die Augen roth, und erlangte weiter nichts dadurch, als Spott. So traurig ging ſeine Zeit vor - uͤber, und ſeine Wonne am Schulhalten wurde ihm haͤßlich verſalzen.
Sein Vater Wilhelm Stilling war indeſſen zu Haus mit angenehmeren Sachen beſchaͤftigt. Die Wunde uͤber Dortchens Tod war heil, er erinnerte ſich allezeit mit Zaͤrt - lichkeit an ſie; allein er trauerte nicht mehr, ſie war nun vier - zehn Jahre todt, und ſeine ſtrenge myſtiſche Denkungsart mil - derte ſich in ſo weit, daß er jetzt mit allen Menſchen Umgang pflog, doch war alles mit freundlichem Ernſt, Gottesfurcht und Rechtſchaffenheit vermiſcht, ſo daß er Vater Stilling aͤhnlicher wurde, als eins ſeiner Kinder. Er wuͤnſchte nun auch einmal Hausvater zu werden, eigenes Haus und Hof zu haben und den Ackerbau neben ſeinem Handwerk zu treiben; deßwegen ſuchte er ſich jetzt eine Frau, die neben den noͤthi - gen Eigenſchaften, Leibes und der Seele, auch Haus und Guͤ - ter haͤtte; er fand bald, was er ſuchte. Zu Leindorf, zwei Stunden von Tiefenbach weſtwaͤrts, war eine Wittwe von acht und zwanzig Jahren, eine anſehnliche brave Frau; ſie hatte zwei Kinder aus der erſten Ehe, wovon aber eins bald nach ihrer Hochzeit ſtarb. Dieſe war recht froh, als ſie Wil - helm begehrte, ob er gleich gebrechliche Fuͤße hatte. Die Hei - rath wurde geſchloſſen, der Hochzeittag beſtimmt und Hein - rich bekam einen Brief nach Dorlingen, der in den waͤrm - ſten und zaͤrtlichſten Ausdruͤcken, deren ſich nur ein Vater gegen ſeinen Sohn bedienen kann, ihm die Sache bekannt machte, und ihn auf den beſtimmten Tag zur Hochzeit einlud. Hein - rich las dieſen Brief, legte ihn hin, ſtand auf und bedachte ſich, er mußte ſich erſt tief pruͤfen, ehe er finden konnte, ob ihm wohl oder wehe dabei ward; ſo ganz verſchiedene Empfindun -127 gen ſtiegen in ſeinem Gemuͤth auf. Endlich ſchritt er ein Paar - mal vor ſich hin und ſagte zu ſich ſelbſt: Meine Mutter iſt im Himmel, mag dieſe einſtweilen in dieſem Jammerthal bei mir und meinem Vater ihre Stelle vertreten. Dereinſten werde ich doch dieſe verlaſſen und jene ſuchen. Mein Vater thut wohl! — Ich will ſie doch recht lieb haben und ihr allen Willen thun, ſo gut ich kann, ſo wird ſie mich wieder lieben, und ich werde Freude haben.
Nun machte er Steifmann die Sache bekannt, forderte etwas Geld und reiste nach Tiefenbach zuruͤck. Er wurde daſelbſt von Allen mit tauſend Freuden empfangen, beſonders von Wilhelm, dieſer hatte ein wenig gezweifelt, ob ſein Sohn auch murren wuͤrde; da er ihn aber ſo heiter kommen ſah, floßen ihm die Thraͤnen aus den Augen, er ſprang auf ihn zu und ſagte:
Willkommen, Heinrich!
„ Willkommen, Vater! ich wuͤnſche Euch von Herzen Gluͤck zu Eurem Vorhaben, und ich freue mich ſehr, daß Ihr nun in Eurem Alter Troſt haben koͤnnt, wenn’s Gott gefaͤllt. “
Wilhelm ſank auf einen Stuhl, hielt beide Haͤnde vor’s Geſicht und weinte. Heinrich weinte auch. Endlich fing Wilhelm an: Du weißt, ich hab’ mir in meinem Wittwer - ſtand fuͤnfhundert Reichsthaler erſpart; ich bin nun vierzig Jahre alt, und ich haͤtte vielleicht noch Vieles erſparen koͤnnen, dieſes alles entgeht dir nun; du waͤrſt doch der einzige Erbe davon geweſen!
„ Vater, ich kann ſterben, ihr koͤnnt ſterben, wir Beide koͤn - nen noch lange leben, ihr koͤnnt kraͤnklich werden und mit Eu - rem Gelde nicht einmal auskommen. Aber, Vater! iſt meine neue Mutter meiner ſeligen Mutter aͤhnlich? “
Wilhelm hielt wiederum die Haͤnde vor die Augen. Nein! ſagte er, aber ſie iſt eine brave Frau.
Auch gut, ſagte Heinrich und ſtand an’s Fenſter, um noch einmal ſeine alten romantiſchen Gegenden zu ſchauen. Es lag kein Schnee. Die Ausſicht in den nahen Wald kam128 ihm ſo angenehm vor, ob es gleich in den letzten Tagen des Februars war, daß er beſchloß, hinzuſpazieren; er ging den Berg hinauf und in den Wald hinein. Nachdem er eine Weile umhergewandelt und ſich ziemlich von den Haͤuſern entfernt hatte, wurde es ihm ſo wohl in ſeiner Seele, er vergaß der ganzen Welt und wandelte, in Gedanken vertieft, vor ſich hin; indeſſen kam er unvermerkt an die Weſtſeite des Geiſenber - ger Schloſſes. Schon ſah er zwiſchen den Staͤmmen der Baͤume durch auf dem Huͤgel die zerfallenen Mauern liegen. Das uͤber - raſchte ihn ein wenig. Nun rauſchte Etwas zur Seite im Ge - ſtraͤuche, er ſchaute hin und ſah ein anmuthiges Weibsbild in demſelben ſtehen, blaß, aber zaͤrtlich im Geſicht, in Leine und Baumwolle gekleidet. Er ſchauderte und das Herz klopfte ihm; da es aber noch fruͤh am Tage war, ſo fuͤrchtete er ſich nicht, ſondern fragte: Wo ſeyd ihr her? Sie antwortete: von Tie - fenbach. Das kam ihm fremd vor, denn er kannte ſie nicht. Wie heißt ihr denn? — Dortchen. Stilling that einen lauten Schrei und ſank zur Erde in Ohnmacht. Das gute Maͤd - chen wußte nicht, wie ihr geſchah, ſie kannte den jungen Bur - ſchen auch nicht. Denn ſie war erſt als Magd aufs Neujahr nach Tiefenbach[gekommen]. Sie lief zu ihm, kniete bei ihm auf die Erde und weinte. Sie verwunderte ſich ſehr uͤber den jungen Menſchen, beſonders, da er ſo weiche Haͤnde und ein ſo weißes Geſicht hatte: auch waren ſeine Kleider reiner und ſauberer, auch wohl ein wenig beſſer, als die der andern Burſchen. Der Fremde gefiel ihr. Indeſſen kam Stilling wieder zu ſich ſelber, er ſah die Weibsperſon nahe bei ſich, er richtete ſich auf, ſah ſie ſtarr an und fragte zaͤrtlich: was macht ihr hier? Sie antwortete ſehr freundlich; ich will duͤr - res Holz leſen. Wo ſeyd ihr her? Er erwiederte: ich bin auch von Tiefenbach: Wilhelm Stilling’s Sohn. Nun hoͤrte er, daß ſie ſeit Neujahr erſt Magd daſelbſt war; und ſie hoͤrte ſeine Umſtaͤnde, es that Beiden leid, daß ſie ſich verlaſſen mußten. Stilling ſpazierte nach dem Schloß und ſie las Holz. Es hat wohl zwei Jahre gedauert, eh das Bild dieſes Maͤdchens in ſeinem Herzen verloſch, ſo feſt hatte es ſich ſeiner Seele eingepraͤgt. Als die Sonne ſich zum Unter -129 gang neigte, ging er wieder nach Haus; er erzaͤhlte aber nichts von dem, was vorgefallen war, nicht ſo ſehr aus Ver - ſchwiegenheit, ſondern aus andern Urſachen.
Des andern Tages ging er mit ſeinem Vater und andern Freunden nach Leindorf zur Hochzeit; ſeine Stiefmutter empfing ihn mit aller Zaͤrtlichkeit; er gewann ſie lieb und ſie liebte ihn wieder; Wilhelm freute ſich deſſen von Herzen. Nun erzaͤhlte er auch ſeinen Eltern, wie betruͤbt es ihm zu Dorlingen ging. Die Mutter rieth, er ſollte zu Haus bleiben und nicht wieder hingehen; allein Wilhelm ſagte: „ Wir haben noch immer Wort gehalten, es darf an dir nicht fehlen; thun’s andere Leute nicht, ſo muͤſſen ſie’s verantwor - ten; du mußt aber deine Zeit aushalten. “ Dieſes war Stil - lingen auch nicht ſehr zuwider. Des andern Morgens reiste er wieder nach Dorlingen. Allein ſeine Schuͤler kamen nicht wieder; das Fruͤhjahr ruͤckte heran und ein Jeder begab ſich aufs Feld. Da er nun nichts zu thun hatte, ſo wies man ihm veraͤchtliche Dienſte an, ſo, daß ihm ſein taͤgliches Brod recht ſauer wurde.
Noch vor Oſtern, ehe er abreiste, hatten Steifmanns Knechte beſchloſſen, ihn recht trunken zu machen, um ſo recht ihre Freude an ihm zu haben. Als ſie des Sonntags aus der Kirche kamen, ſagte einer zum andern: laßt uns ein wenig waͤrmen, ehe wir uns auf den Weg begeben; denn es war kalt und ſie hatten eine Stunde zu gehen. Nun war Stil - ling gewohnt, in Geſellſchaft nach Haus zu gehen; er trat deßwegen mit hinein und ſetzte ſich zu dem Ofen. Nun gings ans Branntweintrinken, der mit einem Syrup verſuͤßt war; der Schulmeiſter mußte mittrinken; er merkte bald, wo das hinaus wollte, daher nahm er den Mund voll, ſpie ihn aber unvermerkt wieder aus, unter den Ofen ins Steinkohlengefaͤß. Die Knechte bekamen alſo zuerſt einen Rauſch, und nun merkten ſie nicht mehr auf den Schulmeiſter, ſondern ſie be - trunken ſich ſelbſt aufs beſte; unter dieſen Umſtaͤnden ſuchten ſie endlich Urſache an Stilling, um ihn zu ſchlagen, und kaum entkam er aus ihren Haͤnden. Er bezahlte ſeinen An -Stillings Schriften. I. Band. 9130theil an der Zeche und ging heimlich fort. Als er nach Haus kam, erzaͤhlte er Herrn Steifmann den Vorfall; allein der lachte daruͤber. Man ſah ihm an, daß er den mißlungenen Anſchlag bedauerte. Die Knechte wurden nun vollends wuͤthend und ſuchten allerhand Gelegenheit, ihm eins zu verſetzen; allein Gott bewahrte ihn. Noch zwei Tage vor ſeiner Abreiſe traf ihn ein Bauernſohn aus dem Dorf auf dem Feld, der auch bei der Branntweinszeche geweſen; dieſer griff ihn am Kopf und rang mit ihm, ihn zur Erde zu werfen; es war aber zu gutem Gluͤck ein alter Greis nahe dabei im Hof, dieſer kam herzu und fragte: was ihm der Schulmeiſter gethan habe? Der Burſche antwortete: Er hat mir nichts gethan, ich will ihm nur ein Paar um die Ohren geben. Der alte Bauer aber ergriff ihn und ſagte gegen Stilling: geh’ du nach Haus! Und darauf gab er jenem einige derbe Maulſchellen und verſetzte: nun geh du auch nach Haus, das hab’ ich nur ſo fuͤr Spaß gethan.
Den zweiten Oſtertag nahm Stilling ſeinen Abſchied zu Dorlingen, und des Abends kam er wieder bei ſeinen Eltern zu Leindorf an.
Nun war er in ſo weit wieder in ſeinem Element, er mußte freilich wacker auf dem Handwerk arbeiten; allein er wußte doch nun wieder Gelegenheit, an Buͤcher zu kommen. Den erſten Sonntag ging er nach Zellberg und holte den Ho - mer, und wo er ſonſt etwas wußte, das nach ſeinem Geſchmack ſchoͤn zu leſen war, das holte er herbei, ſo daß in Kurzem das Brett uͤber den Fenſtern her, wo ſonſt allerhand Geraͤthe geſtan - den hatte, ganz voll Buͤcher ſtand. Wilhelm war deſſen ſo gewohnt, er ſah es gern; allein der Mutter waren ſie zuwei - len im Wege, ſo, daß ſie fragte: Heinrich, was willſt du mit allen den Buͤchern machen? Er las alſo des Sonntags und waͤhrend dem Eſſen; ſeine Mutter ſchuͤttelte dann oft den Kopf und ſagte: das iſt doch ein wunderlicher Junge; — Wil - helm laͤchelte dann ſo auf Stillings Weiſe und ſagte: Gretchen, laß ihn halt machen! —
Nach einigen Wochen fing nun die ſchwerſte Feldarbeit an. Wilhelm mußte darin ſeinen Sohn auch brauchen, wenn er keinen Tagloͤhner an ſeine Stelle nehmen wollte, und damit131 wuͤrde die Mutter nicht zufrieden geweſen ſeyn, allein dieſer Zeitpunkt war der Anfang von Stillings ſchwerem Leiden; er war zwar ordentlich groß und ſtark, aber von Jugend auf nicht dazu gewoͤhnt, und er hatte kein Glied an ſich, das zu dergleichen Geſchaͤften gemacht war. Sobald er anfing zu Hacken oder zu Maͤhen, ſo zogen ſich alle ſeine Glieder an dem Werkzeug, als wenn ſie haͤtten zerbrechen wollen; er meinte oft vor Muͤdigkeit und Schmerzen niederzuſinken, aber da half alles nichts; Wilhelm fuͤrchtete Verdruß im Hauſe und ſeine Frau glaubte immer, Heinrich wuͤrde ſich nach und nach daran gewoͤhnen. Dieſe Lebensart wurde ihm endlich unertraͤglich, er freute ſich nunmehr, wenn er zuweilen an einem regnigten Tag am Handwerk ſitzen und ſeine zerkuirſchten Glie - der erquicken konnte; er ſeufzte unter dieſem Joch, ging oft allein, weinte die bitterſten Thraͤnen und flehte zum himmli - ſchen Vater um Erbarmung und um Aenderung ſeines Zuſtandes.
Wilhelm litt heimlich mit ihm. Wenn er des Abends mit geſchwollenen Haͤnden voller Blaſen nach Haus kam, und von Muͤdigkeit zitterte, ſo ſeufzte ſein Vater und Beide ſehnten ſich mit Schmerzen wieder nach einem Schuldienſt. Dieſer fand ſich auch endlich nach einem ſehr ſchweren und muͤhſeligen Sommer ein. Die Leindorfer, wo Wilhelm wohnte, beriefen ihn auf Michaelis 1756 zu ihrem Schulmeiſter. Stilling willigte in dieſen Beruf mit Freuden; er war nun gluͤckſelig und trat mit ſeinem ſiebenzehnten Jahr dieſes Amt wieder an. Er ſpeiste bei ſeinen Bauern um die Reihe, vor und nach der Schule aber mußte er ſeinem Vater am Hand - werk helfen. Auf dieſe Weiſe blieb ihm keine Zeit zum Stu - diren uͤbrig, als nur, wenn er in der Schule war, und da war der Ort nicht, um ſelber zu leſen, ſondern Andre zu unterrich - ten. Doch ſtahl er manche Stunde, die er auf die Mathematik und andere Kuͤnſteleien verwandte. Wilhelm merkte das, er ſtellte ihn daruͤber zu Rede und ſchaͤrfte ihm das Gewiſſen. Stilling antwortete mit betruͤbtem Herzen: „ Vater! meine „ ganze Seele iſt auf die Buͤcher gerichtet, ich kann meine Nei - „ gung nicht baͤndigen, gebt mir vor und nach der Schule Zeit, „ ſo will ich kein Buch in die Schule bringen. “Wilhelm9 *132erwiederte: das iſt doch zu beklagen! alles, was du lernſt, bringt dir ja in Brod und Kleider ein, und alles, was dich ernaͤhren koͤnnte, dazu biſt du ungeſchickt. Stilling be - trauerte ſelber ſeinen Zuſtand, denn das Schulhalten war ihm auch zur Laſt, wenn er dabei keine Zeit zum Leſen hatte; er ſehnte ſich deßwegen von ſeinem Vater ab und an einen andern Ort zu kommen.
Zu Leindorf waren indeſſen die Leute ziemlich mit ihm zufrieden, obgleich ihre Kinder in der Zeit mehr haͤtten lernen koͤnnen: denn ſein Weſen und ſein Umgang mit den Kindern gefiel ihnen. Auch der Herr Paſtor Dahlheim, zu deſſen Kirchſpiel Leindorf gehoͤrte, ein Mann, der ſeinem Amt Ehre machte, liebte ihn. Stilling wunderte ſich uͤber die Maßen, als er das Erſtemal bei dieſem vortrefflichen Mann auf ſein Zimmer kam; er war ein Greis von achtzig Jahren und lag juſt auf einem Ruhebettchen, als er zur Thuͤre herein - trat; er ſprang auf, bot ihm die Hand und ſagte: „ Nehmt „ mir nicht uͤbel, Schulmeiſter! daß ihr mich auf dem Bette „ findet, ich bin alt und meine Kraͤfte wanken. “ Stilling wurde von Ehrfurcht durchdrungen, ihm floßen die Thraͤnen die Wangen herab. Herr Paſtor! antwortete er, es freut mich recht ſehr, unter ihrer Aufſicht Schule zu halten! Gott gebe Ihnen viel Freude und Segen in Ihrem Alter! „ Ich danke euch, lieber Schulmeiſter! erwiederte der edle Alte, ich bin, Gott ſey Dank! nahe an dem Ziel meiner Laufbahn, und ich freue mich recht auf meinen großen Sabbath. “ Stilling ging nach Haus und unterwegs machte er die beſondere An - merkung: Herr Dahlheim muͤßte entweder ein Apoſtel oder Herr Stollbein ein Baalspfaffe ſeyn.
Herr Dahlheim beſuchte zuweilen die Leindorfer Schule, wenn er auch dann eben nicht alles in gehoͤriger Ordnung fand, ſo fuhr er nicht aus, wie Herr Stollbein, ſondern er ermahnte Stillingen ganz liebreich, dieſes oder jenes abzuaͤndern; und das that bei einem ſo empfindſamen Gemuͤth immer die beſte Wirkung. Dieſe Behandlung des Herrn Paſtors war wirklich zu bewundern, denn er war ein jaͤhzorniger, hitziger Mann, aber nur gegen die Laſter, nicht gegen die Fehler; dabei war er auch gar nicht133 herrſchſuͤchtig. Um den Charakter dieſes Mannes meinen Leſern zu ſchildern, will ich eine Geſchichte erzaͤhlen, die ſich mit ihm zugetragen hat, als er noch Hofprediger bei einem Fuͤrſten zu R … geweſen war. Dieſer Fuͤrſt hatte eine vortreffliche Ge - mahlin und mit derſelben auch verſchiedene Prinzeſſinnen; den - noch verliebte er ſich in eine Buͤrgerstochter in ſeiner Reſidenz - ſtadt, bei welcher er, ſeiner Gemahlin zum hoͤchſten Leidweſen, ganze Naͤchte zubrachte. Dahlheim konnte das ungeahndet nicht hingehen laſſen; er fing auf der Kanzel an, unvermerkt dagegen zu predigen, doch fuͤhlte der Fuͤrſt wohl, wohin der Hofprediger zielte, daher blieb er aus der Kirche und fuhr waͤhrend der Zeit auf ſein Luſtſchloß in den Thiergarten. Eins - mals kam Dahlheim und wollte in die Kirche gehen zu pre - digen, er traf den Fuͤrſten juſt auf dem Platz, als er in die Kutſche ſteigen wollte; der Hofprediger trat herzu und fragte: wo gedenken Euer Durchlaucht hin? Was liegt dir, Pfaff daran? war die Antwort. Sehr viel! verſetzte Dahlheim, und ging in die Kirche, allwo er mit trockenen Worten gegen die Ausſchweifungen der Großen dieſer Welt anging, und ein Weh uͤber das andere gegen ſie ausrief. Nun war die Fuͤr - ſtin in der Kirche, ſie ließ ihn zur Mittagstafel bitten, er kam, und ſie bedauerte ſeine Freimuͤthigkeit und befuͤrchtete uͤble Fol - gen. Indeſſen kam der Fuͤrſt wieder, fuhr aber auch alſofort wieder in die Stadt zu ſeiner Maitreſſe, welche zum Ungluͤck auch in der Hofkapelle geweſen war, und Herrn Dahlheim gehoͤrt hatte. Sowohl der Hofprediger, als auch die Fuͤrſtin hatten ſie geſehen, ſie konnten leicht das Gewitter vorausſe - hen, welches Herrn Dahlheim uͤber dem Haupt ſchwebte: dieſer aber kehrte ſich an nichts, ſondern ſagte der Fuͤrſtin, daß er alſofort hingehen und dem Fuͤrſten die Wahrheit ins Geſicht ſagen wollte, er ließ ſich auch gar nicht warnen, ſondern ging alſofort hin und gerade zum Fuͤrſten ins Zimmer. Als er hineintrat, ſtutzte derſelbe und fragte: was habt Ihr hier zu machen? Dahlheim antwortete: „ Ich bin gekommen, Ew. „ Durchlaucht Segen und Fluch vorzulegen, werden Die - „ ſelben dieſem ungeziemenden Leben nicht abſa - „ gen, ſo wird der Fluch Dero hohes Haus und134 „ Familie treffen, und Stadt und Land werden „ Fremde erben. “ Darauf ging er fort, und des folgen - den Tages wurde er abgeſetzt und des Landes verwieſen. Doch hatte der Fuͤrſt hiebei keine Ruhe, denn nach zwei Jahren rief er ihn mit Ehren wieder zuruͤck und gab ihm die beſte Pfarre, die er in ſeinem Lande hatte. Dahlheims Weiſſa - gung wurde indeſſen erfuͤllt. Schon vor mehr als vierzig Jah - ren iſt kein Zweig mehr von dieſem fuͤrſtlichen Hauſe uͤbrig geweſen. Doch ich kehre wieder zu meiner Geſchichte.
Stilling konnte mit aller ſeiner Gutherzigkeit doch nicht verhuͤten, daß ſich nicht Leute fanden, denen er in der Schule zu viel in Buͤchern las, es gab ein Gemurmel im Dorf, und viele vermutheten, daß die Kinder verſaͤumt wuͤrden. Ganz unrecht hatten die Leute wohl nicht, aber doch auch nicht ganz recht; denn er ſorgte noch ſo ziemlich, daß auch der Zweck, warum er da war, erreicht wurde. Es kam freilich den Bauern ſeltſam vor, ſo unerhoͤrte Figuren an den Schulfenſtern zu ſehen, wie ſeine Sonnenuhren waren. Oftmalen ſtanden zwei und mehrere auf der Straße ſtill und ſahen ihn am Fenſter durch ein Glaͤschen nach der Sonne gucken; da ſagte dann der Eine: der Kerl iſt nicht geſcheit! — der Andere vermuthete, er betrachte den Himmelslauf, und Beide irrten ſehr; es wa - ren nur Stuͤcke zerbrochener Fuͤße von Branntweinglaͤſern. Dieſe hielt er vors Auge und betrachtete gegen die Sonne die herrlichen Farben in ihren mancherlei Geſtalten, welches ihn, nicht ohne Urſache, koͤniglich ergoͤtzte.
Dieſes Jahr ging nun wiederum ſo ſeinen Gang fort; Hand - werksgeſchaͤfte, Schulhalten und verſtohlne Leſeſtunden hatten darinnen beſtaͤndig abgewechſelt, bis er, kurz vor Michaelis, da er eben ſein achtzehntes Jahr angetreten hatte, einen Brief von Herrn Paſtor Goldmann empfing, der ihm eine ſchoͤne Schule an einer Kapelle zu Preiſingen antrug. Dieſes Dorf liegt zwei Stunden ſuͤdwaͤrts von Leindorf ab, in einem herrlichen breiten Thal. Stilling wurde uͤber dieſen Brief entzuͤckt, daß er ſich nicht zu faſſen wußte; ſein Vater und ſeine Mutter ſelber freuten ſich uͤber die Maßen. Stil - ling dankte Herrn Goldmann ſchriftlich fuͤr dieſe vortreff -135 liche Recommendation und verſprach ihm Freude zu machen.
Dieſer Prediger war ein weitlaͤufiger Anverwandter des ſeligen Dortchens, mithin auch des jungen Stilling’s. Dieſe Urſache nebſt dem allgemeinen Ruf von ſeinen ſeltenen Gaben, hatten den braven Paſtor Goldmann bewogen, ihn der Preiſinger Gemeinde vorzuſchlagen. Er wanderte alſo auf Michaelis nach ſeiner neuen Beſtimmung. So wie er auf die Hoͤhe kam, ſah er das herrliche Thal vor ſich mit ſeinen breiten und gruͤnen Wieſen, gegenuͤber ein ſchoͤnes, gruͤnes Gebirge von lauter Waͤldern und Feldern. Mitten in der Ebene lag das Dorf Preiſingen rund und gedraͤngt zuſammen, die gruͤnen Obſtbaͤume und die weißen Haͤuſer dazwiſchen machten ein anmuthiges Anſehen. Gerad in der Mitte ragte der Kapellenthurm, mit blauen Schieferſteinen bedeckt und bekleidet, uͤber alles empor, und hinter dem Dorf her ſchimmerte das Fluͤßchen Saal im Glanz der Sonne. So brach er in Thraͤnen aus, ſetzte ſich eine Weile auf die Raſen nieder und ergoͤtzte ſich an der herrlichen Ausſicht. Hier fing er zuerſt an, ein Lied zu verſuchen, es gelang ihm auch ſo ziemlich, denn er hatte eine natuͤrliche Anlage dazu. Ich habe es unter ſeinen Papieren nachgeſucht, aber nicht fin - den koͤnnen.
Hier nahm er ſich nun feſt und unwiderruflich vor, Fleiß und Eifer auf die Schule zu verwenden, die uͤbrige Zeit aber in ſeinem mathematiſchen Studium fortzufahren. Als er die - ſen Bund mit ſich ſelber geſchloſſen hatte, ſo ſtand er auf und wanderte vollends nach Preiſingen hin.
Seine Wohnung wurde ihm bei einer reichen, vornehmen und dabei uͤber die Maßen dicken Wittwe angewieſen, die ſich Frau Schmoll naunte und zwei ſchoͤne ſittſame Toͤch - tern hatte, wovon die aͤlteſte Maria hieß, und zwanzig Jahre alt war; die andere aber hieß Anna, und war achtzehn Jahre alt. Beide Maͤdchen waren recht gute Kinder, ſo wie auch ihre Mutter. Sie lebten zuſammen wie Engel, in der edelſten Harmonie, und ſo zu ſagen, in einem Ueberfluß von Freuden und Vergnuͤgen, denn es fehlte ihnen nichts, und das wußten ſie auch zu nuͤtzen, daher brachten ſie auch ihre Zeit nebſt den136 Hausgeſchaͤften, mit Singen und allerhand erlaubten Ergoͤtz - lichkeiten zu. Stilling liebte zwar das Vergnuͤgen, allein die Unthaͤtigkeit des menſchlichen Geiſtes war ihm zuwider, daher konnte er nicht begreifen, daß die Leute keine Lange - weile hatten. Doch befand er ſich unvergleichlich in ihrer Geſellſchaft; wenn er ſich zuweilen in Betrachtung und Ge - ſchaͤften ermuͤdet hatte, ſo war es eine ſuͤße Erholung fuͤr ihn, mit ihnen umzugehen.
Stilling hatte noch an keine Frauenliebe gedacht; dieſe Leidenſchaft und das Heirathen war in ſeinen Augen Eins, und Jedes ohne das andere ein Graͤuel. Da er nun gewiß wußte, daß er keine von den Jungfern Schmoll heirathen konnte, indem keine weder einen Schneider, noch einen Schul - meiſter nehmen durfte, ſo unterdruͤckte er jeden Keim der Liebe, der ſo oft, beſonders zu Maria, in ſeinem Herzen aufbluͤ - hen wollte. Doch, was ſage ich von Unterdruͤcken! wer ver - mag das aus eigener Kraft? Stillings Engel, der ihn lei - tete, kehrte die Pfeile von ihm ab, die auf ihn geſchoſſen wurden. Die beiden Schweſtern dachten indeſſen ganz anders; der Schulmeiſter gefiel ihnen im Herzen, er war in ſeiner erſten Bluͤthe, voll Feuer und Empfindung; denn ob er gleich ernſt und ſtill war, ſo gab es doch Augenblicke, wo ſein Licht aus allen Winkeln des Herzens hervorglaͤnzte; dann breitete ſich ſein Geiſt aus, er floß uͤber von mittheilender, heiterer Freude, und dann war’s gut ſeyn in ſeiner Gegenwart. Aber es gibt der Geiſter wenig, die da empfinden koͤnnen; es iſt ſo etwas Geiſtiges und Erhabenes, von roher laͤrmender Freude ſo Entferntes, daß die Wenigſten begreifen werden, was ich hier ſagen will. Frau Schmoll und ihre Toͤchtern indeſſen fuͤhlten’s und empfanden’s in aller ſeiner Kraft. Andere Leute, von gemeinem Schlag, ſaßen dann oft und horchten; der Eine rief: Paule, du raſeſt! der Andere ſaß und ſtaunte, und der Dritte glaubte, er ſey nicht recht geſcheit. Die beiden Maͤdchen ruhten dann dort in einem dunkeln Winkel, um ihn ungeſtoͤrt beobachten zu koͤnnen, ſie ſchwiegen und hefteten ihre Augen auf ihn. Stilling merkte das mit tiefem Mit - leiden; allein er war feſt entſchloſſen, keinen Anlaß zu meh -137 rerem Ausbruch der Liebe zu geben. Sie waren Beide ſittſam und bloͤde, und deßwegen weit davon entfernt, ſich an ihn zu entdecken. Frau Schmoll ſaß dann, ſpielte mit ihrer ſchwarzen papiernen Schnupftabacksdoſe auf dem Schoos, und dachte nach, unter welche Sorte Menſchen der Schulmei - ſter wohl eigentlich gehoͤren moͤchte; fromm und brav war er in ihren Augen und recht gottesfuͤrchtig dazu; allein da er von allem redete, nur nicht von Sachen, womit Brod zu ver - dienen war, ſo ſagte ſie oft, wenn er zur Thuͤre hinaus ging: der arme Schelm, was will noch aus ihm werden! Das kann man nicht wiſſen, verſetzte denn wohl Maria zuweilen, ich glaube, er wird noch ein vornehmer Mann in der Welt. Die Mutter lachte und erwiederte oft: Gott laß es ihm wohl ge - hen! er iſt ein recht lieber Burſche; auf einmal wurden ihre Toͤchter lebendig.
Ich darf behaupten, daß Stilling die Preiſinger Schule nach Pflicht und Ordnung bediente; er ſuchte nun, bei reifern Jahren und Einſichten, ſeinen Ruhm in Unter - weiſung der Jugend zu befeſtigen. Allein es war Schade, daß es nicht aus natuͤrlicher Neigung herfloß. Wenn er eben ſowohl nur acht Stunden des Tages zum Schneiderhandwerk, als zum Schulamt haͤtte verwenden duͤrfen, ſo waͤre er ge - wiß noch lieber am Handwerk geblieben: denn das war fuͤr ihn ruhiger und nicht ſo vieler Verantwortung unterworfen. Um ſich nun die Schule angenehmer zu machen, erdachte er allerhand Mittel, wie er mit leichterer Muͤhe die Schuͤler zum Lernen aufmuntern moͤchte. Er fuͤhrte eine Rangordnung ein, die ſich auf die groͤßere Geſchicklichkeit bezog, er fand allerhand Wettſpiele im Schreiben, Leſen und Buchſtabiren; und da er ein großer Liebhaber vom Singen und der Muſik war, ſo ſuchte er ſchoͤne geiſtliche Lieder zuſammen, lernte ſelber die Muſiknoten mit leichter Muͤhe und fuͤhrte das vierſtimmige Singen ein. Dadurch wurde nun ganz Preiſingen voller Leben und Geſang. Des Abends vor dem Eſſen hielt er eine Rechenſtunde und nach derſelben eine Singſtunde. Wenn dann der Mond ſo ſtill und feierlich durch die Baͤume ſchim - merte, und die Sterne vom blauen Himmel herunter aͤugel -138 ten, ſo ging er mit ſeinen Saͤngern heraus an den Preiſin - ger Huͤgel, da ſetzten ſie ſich ins Dunkel und ſangen, daß es durch Berg und Thal erſcholl; dann gingen Mann, Weib und Kinder im Dorf vor die Thuͤr, ſtanden und horchten; ſie ſegneten ihren Schulmeiſter, gingen dann hinein, gaben ſich die Hand und legten ſich ſchlafen. Oft kam er mit ſei - nem Gefolge hinter Schmolls Haus in den Baumhof, und dann ſangen ſie ſauft und ſtill; entweder: Oduſuͤße Luſt! oder: Jeſus iſt mein Freudenlicht! oder: die Nacht iſt vor der Thuͤr! und was dergleichen ſchoͤne Lieder mehr waren: dann gingen die Maͤdchen ohne Licht oben auf ihre Kam - mer, ſetzten ſich hin und verſanken in Empfindung. Oft fand er ſie noch ſo ſitzen, wenn er nach Hauſe kam und ſchlafen gehen wollte; denn alle Kammern im Hauſe waren gemein - ſchaftlich, der Schulmeiſter hatte uͤberall freien Zutritt. Nie - mand war weniger ſorgfaͤltiger fuͤr ihre Toͤchtern, als Frau Schmoll; und ſie war gluͤckſelig, daß ſie es auch nicht noͤthig hatte. Wenn er dann Maria und Anna ſo in einem finſtern Winkel mit geſchloſſenen Augen fand, ſo gings ihm durchs Herz. Sie ſeufzte dann tief, druͤckte ihm die Hand und ſagte: Mir iſts wohl von Eurem Singen! Dann erwiederte er oft: Laßt uns fromm ſeyn, liebe Maͤdchen! im Himmel wollen wir erſt recht ſingen! und dann ging er fluͤchtig fort und legte ſich ſchlafen; er fuͤhlte wohl oft das Herz pochen, aber er hatte nicht Acht darauf. Ob die Maͤdchen mit dem Troſt auf jene Welt ſo voͤllig zufrieden geweſen, das laͤßt ſich nicht wohl ausmachen, weil ſie ſich nie daruͤber erklaͤrt haben.
Des Morgens vor der Schule und des Mittags vor und nach derſelben arbeitete er die Geographie und Wolf’s Anfangs - gruͤnde der Mathematik ganz durch; auch fand er Gelegenheit, ſeine Kenntniſſe in der Sonnenuhrkunſt noch hoͤher zu treiben, denn er hatte in der Schule, deren Fenſter eins gerade gegen Mittag ſtand, oben unter der Decke mit ſchwarzer Oelfarbe eine Sonnenuhr gemalt, ſo groß als die Decke war, in die - ſelbe hatte er die zwoͤlf himmliſchen Zeichen genau eingetragen und jedes in ſeine dreißig Grad eingetheilt; oben im Zenith der Uhr, oberhalb dem Fenſter, ſtand mit roͤmiſchen, zierlich139 gemalten Buchſtaben geſchrieben: Coeli enerrant gloriam Dei. (Die Himmel erzaͤhlen die Ehre Gottes.) Vor dem Fenſter war ein runder Spiegel befeſtigt, uͤber welchen eine Kreuzlinie mit Oelfarbe gezogen war; dieſer Spiegel ſtrahlte dann oben unter, und zeigte nicht allein die Stunden des Ta - ges, ſondern auch ganz genau den Stand der Sonne in dem Thierkreis. Vielleicht ſteht dieſe Uhr noch da, und jeder Schul - meiſter kann ſie benuͤtzen und dabei wahrnehmen, was fuͤr ei - nen Anteceſſor er ehemals gehabt habe.
Um dieſe Zeit hatte er im hiſtoriſchen Fache noch nichts ge - leſen, als Kirchenhiſtorien, Martergeſchichten, Lebensbeſchrei - bungen frommer Menſchen, deßgleichen auch alte Kriegshi - ſtorien vom dreißigjaͤhrigen Krieg und dergleichen. Im Poeti - ſchen fehlte es ihm noch, da war er noch immer nicht weiter gekommen, als vom Eulenſpiegel bis auf den Kaiſer Octa - vianus, den Reinike Fuchs mit eingeſchloſſen. Alle dieſe vortrefflichen Werke der alten Deutſchen hatte er wohl hun - dertmal geleſen und wieder Andern erzaͤhlt; er ſehnte ſich nun nach Neuem. Den Homer rechnete er nicht zu dieſer Lectuͤre, es war ihm um vaterlaͤndiſche Dichter zu thun. Stilling fand, was er ſuchte. Herr Paſtor Goldmann hatte einen Eidam, der ein Chirurgus und zugleich Apotheker war; die - ſer Mann hatte einen Vorrath von ſchoͤnen poetiſchen Schrif - ten, beſonders von Romanen; er lehnte ſie dem Schulmeiſter gern, und das erſte Buch, welches er mit nach Hauſe nahm, war die Aſiatiſche Baniſe.
Dieſes Buch fing er an einem Sonntag Nachmittag an zu leſen. Die Schreibart war ihm neu und fremd. Er glaubte in ein fremdes Land gekommen zu ſeyn und eine neue Sprache zu hoͤren, aber ſie entzuͤckte und ruͤhrte ihn bis auf den Grund ſeines Herzens; Blitz, Donner und Hagel, als die raͤchenden Werkzeuge des gerechten Himmels — war ein Ausdruck fuͤr ihn, deſſen Schoͤnheit er nicht genug zu ruͤhmen wußte. Goldbedeckte Thuͤrme — welche herr - liche Kuͤrze! und ſo bewunderte er das ganze Buch durch, die Menge von Metaphern, in welchen der Styl des Herrn von Ziegler gleichſam ſchwamm. Ueber alles aber ſchien140 ihm der Plan dieſes Romans ein Meiſterſtuͤck der Erdichtung zu ſeyn, und der Verfaſſer deſſelben war in ſeinen Augen der groͤßte Poet, den jemals Deutſchland hervorgebracht hatte. Als er im Leſen dahin kam, wo Balacin ſeine Baniſe im Tempel errettet und den Chaumigrem ermordet, ſo uͤberlief ihn der Schauer der Empfindung dergeſtalt, daß er fortlief, in einen geheimen Winkel niederkniete und Gott dankte, daß er doch endlich den Gottloſen ihren Lohn auf ihr Haupt bezahlte und die Unſchuld auf den Thron ſetzte. Er vergoß milde Thraͤnen und las mit eben der Waͤrme auch den zwei - ten Theil durch. Dieſer gefiel ihm noch beſſer; der Plan iſt verwickelter und im Ganzen mehr romantiſch. Darauf las er die zwei Quartbaͤnde von der Geſchichte des chriſtlichen deut - ſchen Großfuͤrſten Hercules und der koͤniglich boͤhmiſchen Prinzeſſin Valiska, und dieſes Buch gefiel ihm gleichfalls uͤber die Maßen; er las es im Sommer waͤhrend der Heu - erndte, als er einige Tage Ferien hatte, an einander ganz durch und vergaß die ganze Welt dabei. Was das fuͤr eine Gluͤckſeligkeit ſey, eine ſolche neue Schoͤpfung von Geſchichten zu leſen, gleichſam mit anzuſehen und alles mit den handeln - den Perſonen zu empfinden, das laͤßt ſich nur deneu ſagen, die ein Stillings-Herz haben.
Es war einmal eine Zeit, da man ſagte: der Hercules, die Baniſe und dergleichen, iſt das groͤßte Buch, das Deutſch - land hervorgebracht hat. Es war auch einmal eine Zeit, da mußten die Huͤte der Mannsperſonen dreieckigt hoch in die Luft ſtehen, je hoͤher, je ſchoͤner. Der Kopfputz der Weiber und Jungfrauen ſtand derweil in die Quere, je breiter, je beſ - ſer. Jetzt lacht man der Baniſe und des Hercules, eben ſo, wie man eines Hageſtolzen lacht, der noch mit hohem Hut, ſteifen Rockſtoͤßen und ellenlangen herabhaͤngenden Auf - ſchlaͤgen einhertritt. Anſtatt deſſen traͤgt man Huͤtchen, Roͤck - chen, Manſchettchen, liest Amonrettchen und bundſcheckigte Romaͤnchen, und wird unter der Hand ſo klein, daß man einen Mann aus dem vorigen Jahrhundert wie einen Rieſen anſieht, der von Grobheit ſtrotzt. Dank ſey’s vorab Klopſtock, und die Reihe herunter bis auf — daß ſie dem undeutſchen141 taͤndelnden Ton die Spitze geboten, und ihn auf die Neige gebracht haben. Es wird doch einmal eine Zeit kommen, wo man große Huͤte tragen, und alſo auch die Baniſe als eine herrliche Antiquitaͤt leſen wird.
Die Wirkungen dieſer Lectuͤre auf Stilling’s Geiſt waren wunderbar, und gewiß ungewoͤhnlich; es war Etwas in ihm, das ſeltene Schickſale in ſeinem eigenen Leben ahnete; er freute ſich auf die Zukunft, faßte Zutrauen zum lieben himm - liſchen Vater, und beſchloß großmuͤthig: ſo gerade zu, blind - lings dem Faden zu folgen, wie ihn ihm die weiſe Vorſicht in die Hand geben wuͤrde. Deßgleichen fuͤhlte er einen himm - liſchſuͤßen Trieb, in ſeinem Thun und Laſſen recht edel zu ſeyn, eben ſo, wie die Helden in gemeldeten Buͤchern vorgeſtellt wer - den. Er las dann mit einem empfindſam gemachten Herzen die Bibel und geiſtliche Lebensgeſchichten frommer Leute, als Gottfried Arnolds Leben der Altvaͤter; ſeine Kir - chen - und Ketzerhiſtorie und andere von der Art mehr. Dadurch erhielt nun ſein Geiſt eine hoͤchſt ſeltſame Richtung, die ſich mit nichts vergleichen und nicht beſchreiben laͤßt. Al - les, was er in der Natur ſah, jede Gegend idealiſirte er zum Paradies, alles war ihm ſchoͤn und die ganze Welt beinah ein Himmel. Boͤſe Menſchen rechnete er mit zu den Thieren, und was ſich halb gut auslegen ließ, das war nicht mehr boͤſe in ſeinen Augen. Ein Mund, der anders ſprach, als das Herz dachte, jede Ironie und jede Satyre war ihm ein Graͤuel, alle anderen Schwachheiten konnte er entſchuldigen.
Die Frau Schmoll lernte ihn auch immer mehr und mehr kennen, und ſo wuchs auch ihre Liebe zu ihm. Sie bedauerte nichts mehr, als daß er ein Schneider und Schulmeiſter war, beide Theile waren in ihren Augen ſchlechte Mittel, ans Brod zu kommen; ſie hatte auf ihre Weiſe ganz recht; Stilling wußte das ſo gut wie ſie; aber ſeine Nebengeſchaͤfte gefielen ihr eben ſo wenig, ſie ſagte wohl zuweilen im Scherz: Ent - weder der Schulmeiſter kommt noch einſt an meine Thuͤre und bettelt, oder kommt geritten und iſt zum Herrn geworden, ſo, daß wir uns tief vor ihm buͤcken muͤſſen. Dann praͤſentirte ſie ihm ihre142 Schnupftabaksdoſe, klopfte ihm auf die Schulter, und ſagte: Nehmt einmal ein Prischen, wir erleben noch etwas zuſam - men. Stilling laͤchelte dann, nahm’s und ſagte: Der Herr wird’s erſehen! Dieſes waͤhrte ſo fort, bis ins zweite Jahr ſeines Schulamts zu Preiſingen. Da fingen die beiden Maͤdchen an, ihre Liebe gegen den Schulmeiſter mehr und mehr zu aͤußern; Maria bekam Muth, ſich kla - rer zu entdecken, und die Hinderniſſe demſelben leichter zu machen; er fuͤhlte recht innig, daß er ſie lieben koͤnnte, aber ihm graute vor den Folgen; daher fuhr er fort, jedem Ge - danken an ſie zu widerſtehen, doch war er kmmer ins Geheim zaͤrtlich gegen ſie; es war ihm unmoͤglich, ſproͤde zu ſeyn. Anna ſah das und verzweifelte; ſie entdeckte ſich nicht, ſchwieg und verbiß ihren Gram. Stilling merkte aber da - von nichts, er ahnete nicht einmal etwas Verdrießliches, ſonſt wuͤrde er klug genug geweſen ſeyn, um ihr auch zaͤrtlich zu begegnen. Sie wurde ſtill und melancholiſch; niemand wußte, was ihr fehlte. Man ſuchte ihr allerhand Veraͤnde - rungen zu machen, aber alles war vergebens. Endlich wuͤnſchte ſie, ihre Tante zu beſuchen, die eine ſtarke Stunde von Prei - ſingen, nahe bei der Stadt Salen, wohnte. Man er - laubte ihr dieſes gern, und ſie ging mit einer Magd, welche deſſelbigen Abends wieder kam, und verſicherte, daß ſie ganz munter geworden ſey, als ſie zu ihrer Freundin gekommen waͤre. Nach einigen Tagen fing man an, ſie zu erwarten; allein ſie blieb aus, und man hoͤrte und ſah gar keine Nach - richt von da her. Die Frau Schmoll fing an zu ſorgen, ſie konnte nicht begreifen, wo das Maͤdchen bliebe; ſie fuhr alle - mal zuſammen, wenn des Abends die Thuͤr aufging, und fuͤrchtete eine Trauerpoſt zu hoͤren. Des folgenden Samſtags Mittags erſuchte ſie den Schulmeiſter, ihr Annchen wieder zu holen, er war nicht abgeneigt dazu, machte ſich fertig und ging fort.
Es war ſpaͤt im Oktober, die Sonne ſtand niedrig in Suͤ - den, an den Baͤumen hing noch da und dort ein gruͤnes Blatt, und ein kaͤltlicher Oſtwind pfiff in den blaͤtterloſen Birken. Er mußte uͤber eine große, lange Haide gehen; hier fuͤhlte143 er ſo etwas Schauderhaftes und Melancholiſches, er dachte an die Vergaͤnglichkeit aller Dinge; ihm war’s beim Abſchied der ſchoͤnen Natur, wie beim Abſchied einer lieben Freundin; allein ihn ſchreckte auch ein dunkles Ahnen, ſo, als wenn man beim Mondſchein an einem beruͤchtigten einſamen Orte vorbeigeht, wo man Geſpenſter vermuthet. Er ging und kam bei der Tante an. So wie er zur Thuͤre hereintrat, huͤpfte ihm Anna mit fliegenden Haaren und nachlaͤßigen Kleidern entgegen, huͤpfte ein paarmal um ihn herum, und ſagte:
„ Du biſt mein lieber Knabe! du liebſt mich aber nicht. „ Wart’ du! ſollſt auch kein Blumenſtraͤuschen haben! — So ein Straͤuschen — von Blumen, die an Felſen und Klippen wachſen, — ſo ein Feldkuͤmmelſtraͤuschen, das iſt fuͤr dich! “
Stilling erſtarrte, er ſtand da und ſagte kein Wort. Die Tante ſah ihn an und weinte, ſie aber huͤpfte und tanzte wie - der fort, und ſang:
Zwei Tage vorher war ſie des Abends vernuͤnftig und ge - ſund zu Bette gegangen, des Morgens aber war ſie eben ſo geweſen, wie ſie Stilling nun fand, Niemand konnte die Urſache errathen, woher dieſes Ungluͤck ſeinen Urſprung ge - nommen, der Schulmeiſter ſelber wußte ſie damals noch nicht, bis er ſie hernach aus ihren Reden erfahren hatte.
Die ehrliche Frau wollte beide heute nicht gehen laſſen, ſondern ſie erſuchte Stillingen, die Nacht da zu bleiben, und morgen mit der armen Nichte nach Haus zu gehen; er entſchloß ſich willig dazu und blieb da.
Des Abends, waͤhrend des Eſſens, ſaß ſie ganz ſtill am Tiſch, aß aber ſehr wenig. Stilling fragte ſie: Sage mir, Anna, ſchmeckt dir das Eſſen nicht? Sie antwortete: Ich habe gegeſſen, aber es bekommt mir nicht gut, — habe Herzweh! Sie ſah wild aus. Stille! fuhr der Schulmeiſter144 fort, du mußt ruhig ſeyn; du warſt ſonſt ein ſanftes, ruhi - ges Maͤdchen, wie iſt das, daß du dich ſo veraͤndert haſt? Du ſiehſt, die Tante weint uͤber dich, thut dir das nicht leid? Ich ſelber habe uͤber dich weinen muͤſſen, beſinne dich doch einmal! du warſt ſonſt nicht, wie du nun biſt, ei doch, wie du ſonſt warſt! Sie verſetzte: Hoͤre! ſoll ich dir ein fein Stuͤckchen erzaͤhlen?
„ Es war einmal eine alte Frau. “
Nun ſtand ſie auf, machte ſich krumm, nahm einen Stock in die Hand, ging in der Stube herum und machte die Figur einer alten Frau ganz natuͤrlich nach.
„ Du haſt wohl ehe eine alte Frau ſehen betteln gehen. Dieſe „ alte Frau bettelte auch, und wenn ſie Etwas bekam, dann „ ſagte ſie: Gott lohn’ euch! Nicht wahr? ſo ſagen die Bet - „ telleute, wenn man ihnen Etwas gibt? — Die Bettelfrau „ kam an eine Thuͤr — an eine Thuͤr! — Da ſtand ein freund - „ licher Schelm vom Jungen am Feuer und waͤrmte ſich — „ das war ſo ein Junge, als —
Sie winkte den Schulmeiſter an.
„ Der Junge ſagte freundlich zu der armen alten Frau, wie „ ſie ſo an der Thuͤre ſtand und zitterte: Kommt, Altmutter, „ und waͤrmt euch! Sie kam herzu.
Nun ging ſie auch wieder ganz behend, kam und ſtand krumm neben Stillingen.
„ Sie ging aber zu nahe aus Feuer zu ſtehen; — ihre alten „ Lumpen fingen an zu brennen, und ſie wards nicht gewahr. „ Der Juͤngling ſtand und ſah das. — Er haͤtt’s doch loͤſchen „ ſollen, nicht wahr, Schulmeiſter? — Er haͤtt’s loͤſchen ſollen?
Stilling ſchwieg. Er wußte nicht, wie ihm war; er hatte ſo eine dunkle Ahnung, die ihn ſehr melancholiſch machte. Sie wollte aber eine Antwort haben; ſie ſagte:
„ Nicht wahr, er haͤtte loͤſchen ſollen? — Gebt mir eine Ant - „ wort, ſo will ich auch ſagen: Gott lohn’ euch!
Ja! erwiederte er, er haͤtte loͤſchen ſollen. Aber wenn er nun kein Waſſer hatte, nicht loͤſchen konnte! — Stilling ſtand auf, er fand keine Ruhe mehr, doch durfte er ſichs nicht merken laſſen.
145„ Ja! (fuhr Anna fort und weinte) dann haͤtte er alles „ Waſſer in ſeinem Leibe zu den Augen herausweinen ſollen, „ das haͤtte ſo zwei huͤbſche Baͤchlein gegeben, zu loͤſchen. “
Sie kam wieder und ſah ihm ſcharf ins Geſicht; die Thraͤ - nen ſtanden ihm in den Augen.
„ Nun, die will ich dir doch abwiſchen! “
Sie nahm ihr weißes Schnupftuͤchlein, wiſchte ſie ab und ſetzte ſich wieder ſtill an ihren Ort. Alle waren ſtill und trau - rig. Drauf gingen ſie zu Bett.
Stillingen kam kein Schlaf in die Augen; er meinte nicht anders, als wenn ihm das Herz im Leibe vor lauter Mitleid und Erbarmen zerſpringen wollte. Er beſann ſich, was da wohl ſeine Pflicht waͤre? — Sein Herz ſprach fuͤr ſie um Erbarmung, ſein Gewiſſen aber forderte die ſtrengſte Zuruͤckhaltung. Er unterſuchte nun, welcher Forderung er folgen muͤßte? Das Herz ſagte: Du kannſt ſie gluͤckſelig ma - chen. Das Gewiſſen aber: Dieſe Gluͤckſeligkeit iſt von kur - zer Dauer, und dann folgt ein unabſehlich langes Elend darauf. Das Herz meinte: Gott koͤnnte die zukuͤnftigen Schickſale wohl recht gluͤcklich ausfallen laſſen; das Gewiſſen aber urtheilte: man muͤßte Gott nicht verſuchen, und nicht von ihm erwarten, daß er um ein paar Leidenſchaften zweier armer Wuͤrmer wil - len, eine ganze Verkettung vieler auf einander folgender Schick - ſale, wobei ſo viele andere Menſchen intereſſirt ſind, zerreißen und veraͤndern ſolle. Das iſt auch wahr! ſagte Stilling, ſprang aus dem Bett, wandelte auf und ab. Ich will freund - lich gegen ſie ſeyn, aber mit Ernſt und Zuruͤckhaltung.
Des Sonntags Morgens begab ſich der Schulmeiſter mit der armen Jungfer auf den Weg. Sie wollte abſolut an ſei - nem Arm gehen; er ließ das nicht gern zu, weil es ihm ſehr uͤbel wuͤrde genommen worden ſeyn, wenn es ehrbare Leute geſehen haͤtten. Doch er uͤberwand dieſes Vorurtheil und fuͤhrte ſie am rechten Arm. Als ſie auf oben gedachte Haide kamen, verließ ſie ihn, ſpazierte umher und pfluͤckte Kraͤuter, aber keine gruͤne, ſondern ſolche, die entweder halb oder ganz welk und duͤrre waren. Dabei ſang ſie folgendes Lied:
Stilling’s Schriften. I. Bd 10146Stilling mußte ſich mit Gewalt halten, daß er nicht laut weinte und heulte. Sie ſtand oft gegen der Sonne uͤber, ſah ſie zaͤrtlich an und ſang dann: Sonne, noch einmal blicke zuruͤcke! Ihr Ton war ſanft, wie einer Turteltaube, wenn ſie vor dem Untergang der Sonne noch einmal girrt. Ich wuͤnſchte, daß meine Leſer nur die ſanfte harmoniſche Melodien dieſes und anderer in dieſer Geſchichte vorkommenden Lieder gehoͤrt haͤtten, ſie wuͤrden dieſelben dop - pelt empfinden; doch werde ich ſie vielleicht dereinſten auch drucken laſſen.
Endlich ſprang ſie wieder an ſeinen Arm und ging mit ihm fort. Du weinſt, Faramund! ſagte ſie, aber du beißeſt mich doch nicht; heiß mich Lore, ich will dich Faramund heißen, willſt du? Ja! ſagte Stilling mit Thraͤnen, ſey du Lore, ich bin Faramund. Arme Lore, was wird die Mutter ſagen?
„ Hab’ ihr da ſo ein welkes Straͤuschen gebunden, mein „ Faramund! aber du weinſt? “
Ich weine um Lore.
„ Lore iſt ein gutes Maͤdchen. Biſt du wohl in der Hoͤlle „ geweſen, Faramund? “
Davor bewahre uns Gott.
Nun griff ſie ſeine rechte Hand, legte ſie unter ihre linke Bruſt und ſagte: Wie’s da klopft! — da iſt die Hoͤlle — da gehoͤrſt du hinein, Faramund! — Sie knirſchte auf den Zaͤhnen, ſah wild um ſich her. Ja! fuhr ſie fort, du biſt ſchon darinnen! — aber — wie ein boͤſer Engel! — Hier hielt ſie ein, weinte. Nein, ſagte ſie, ſo nicht, ſo nicht!
Unter dergleichen Reden, die dem guten Stilling ſcharfe Meſſer im Herzen waren, kamen ſie nach Hauſe. So wie ſie uͤber die Schwelle traten, kam Maria aus der Kuͤche und die Mutter aus der Stubenthuͤr heraus. Anna flog der Mut - ter um den Hals, kuͤßte ſie und ſagte: Ach, liebe Mutter! ich bin nun ſo fromm geworden, ſo fromm, wie ein Engel, und du, Mariechen, magſt ſagen, was du willſt (ſie draͤuete ihr mit der Fauſt), du haſt mir meinen Schaͤfer genommen, du weideſt da in guter Ruh. — Aber, kannſt du das Liedchen:149 Es graste ein Schaͤflein am Felſenſtein? Sie huͤpfte in der Stube und kuͤßte alle Menſchen, die ſie ſah. Frau Schmoll und Maria weinten laut. Ach! was muß ich erleben! ſagte die gute Mutter und heulte laut. Stilling erzaͤhlte indeſſen alles, was er von der Tante gehoͤrt hatte und trauerte herzlich um ſie. Seine Seele, die ohnehin ſo empfind - ſam war, verſank in tiefen Kummer. Denn er ſah nunmehr wohl ein, woher das Ungluͤck entſtanden war, und doch durfte er keinem Menſchen ein Woͤrtchen davon ſagen. Maria merkte es auch, ſie ſpiegelte ſich an ihrer Schweſter und zog ihr Herz allmaͤhlig von Stilling ab, indem ſie andern bra - ven Juͤnglingen Gehoͤr gab, die um ſie warben. Indeſſen brachte man die arme Anna oben im Hauſe auf ein Zim - mer, wo man eine alte Frau zu ihr that, die auf ſie Acht haben und ihrer warten mußte. Sie wurde zuweilen ganz raſend, ſo, daß ſie alles zerriß, was ſie nur zu faſſen bekam; man rief alsdann den Schulmeiſter, weil man keine andre Manns - perſon, außer dem Knecht, im Hauſe hatte; dieſer konnte ſie bald zur Ruhe bringen, er hieß ſie nur Lore, dann hieß ſie ihn Faramund und war ſo zahm, wie ein Laͤmmchen.
Ihr gewoͤhnlicher Zeitvertreib beſtand darin, daß ſie eine Schaͤferin vorſtellte; und dieſe Idee muß blos von obigem Lied hergekommen ſeyn, denn ſie hatte gewiß keine Schaͤfer - geſchichte oder Idyllen geleſen, ausgenommen einige Lieder, welche von der Art in Schmolls Hauſe ging und gaͤbe waren. Wenn man zu ihr hinaufkam, ſo hatte ſie ein weißes Hemd uͤber ihre Kleider angezogen und einen rundum abgezuͤgelten Mannshut auf dem Kopf. Um den Leib hatte ſie ſich mit einem gruͤnen Band geguͤrtet, deſſen lang herabhaͤugendes Ende ſie ihrem Schaͤferhund, den ſie Philax hieß und der Niemand anders, als ihre alte Aufwaͤrterin war, um den Hals gebun - den hatte. Das gute alte Weib mußte auf Haͤnden und Fuͤ - ßen herumkriechen und ſo gut bellen, als ſie konnte, wenn ſie von ihrer Gebieterin gehetzt wurde; oͤfters wars mit dem Bellen nicht genug, ſondern ſie mußte ſogar einen oder den andern ins Bein beißen. Zuweilen war die Frau muͤde, die Hundsrolle zu ſpielen, allein ſie bekam alsdann derbe Schlaͤge,150 denn Anna hatte beſtaͤndig einen langen Stab in der Hand; indeſſen ließ ſich die gute Alte gern dazu gebrauchen, weil ſie Anna damit ſtillen konnte und nebſt gutem Eſſen und Trinken einen guten Lohn bekam.
Dieſes Elend dauerte nur einige Wochen. Anna kam wie - der zu ſich ſelbſt, ſie bedauerte ſehr den Zuſtand, worin ſie ge - weſen war, wurde vorſichtiger und vernuͤnftiger als vorhin, und Stilling lebte wieder neu auf, beſonders als er nun merkte, daß er zwei ſo gefaͤhrlichen Klippen entgangen war. Unterdeſſen entdeckte Niemand in der Familie jemalen, was die wahre Urſache von Annens Unfall geweſen war.
Stilling beſorgte ſeine Schule unverdroſſen fort, doch ob er gleich Fleiß anwandte, ſeinen Schuͤlern Wiſſenſchaften beizubringen, ſo fanden ſich doch ziemlich viele unter ſeinen Bauern, die anfingen, ihm recht feind zu werden. Die Urſache davon iſt nicht zu entwickeln; Stilling war einer von den Menſchen, die Niemand gleichguͤltig ſind, entweder man mußte ihn lieben, oder man mußte ihn haſſen; die Erſtern ſahen auf ſein gutes Herz und vergaben ihm ſeine Fehler gern; die An - dern betrachteten ſein gutes Herz als dumme Einfalt, ſeine Handlungen als Fuchsſchwaͤnzereien und ſeine Gaben als Prahl - ſucht. Dieſe wurden ihm unverſoͤhnlich feind, und je mehr er ſie, ſeinem Charakter gemaͤß, mit Liebe zu gewinnen ſuchte, je boͤſer ſie wurden; denn ſie glaubten nur, es ſey blos Schmei - chelei von ihm, und wurden nur deſto feindſeliger gegen ihn. Endlich beging er eine Unvorſichtigkeit, die ihn vollends um die Preiſinger Schule brachte, wie gut die Sache auch von ſeiner Seite gemeint war.
Er band ſich nicht gern an die alte gewoͤhnliche Schulmethode, ſondern ſuchte allerhand Mittel hervor, um ſich und ſeine Schuͤ - ler zu beluſtigen; deßwegen erſann er taͤglich etwas Neues. Sein erfinderiſcher Geiſt fand vielerlei Wege, dasjenige, was die Kinder zu lernen hatten, ihnen ſpielend beizubringen. Viele ſeiner Bauern ſahen es als nuͤtzlich an, Andere betrach - teten es als Kindereien und ihn als einen Stocknarren. Be - ſonders aber fing er ein Stuͤck an, das allgemeines Aufſehen machte. Er ſchnitt weiße Blaͤtter in der Groͤße wie Karten;151 dieſe bezeichnete er mit Nummern; die Nummern bedeuteten diejenigen Fragen des Heidelbergiſchen Katechismus, welche die naͤmliche Zahl hatten; dieſe Blaͤtter wurden von vier oder fuͤnf Kindern gemiſcht, ſo viel ihrer zuſammen ſpielen wollten, alsdann wie Karten umgegeben und geſpielt; die groͤßere Num - mer ſtach immer die kleinere ab; derjenige, welcher am letzten die hoͤchſte Nummer hatte, brauchte nur die Frage zu lernen, die ſeine Nummer anwies, und wenn er ſie ſchon vorher aus - wendig gelernt hatte, ſo lernte er nichts bis den andern Tag, die andern aber mußten lernen, was ſie fuͤr Nummern vor ſich liegen hatten, und ihr Gluͤck beſtand darin, wenn ſie viele der Fragen wußten, die ihnen in ihren Nummern zugefallen waren. Nun hatte Stilling zuweilen das Kartenſpielen geſehen und auch ſein Spiel davon abſtrahirt, allein er ver - ſtand gar nichts davon, doch wurde es ihm ſo ausgelegt und die ganze Sache ſeinem Vetter, dem Herrn Paſtor Gold - mann, von der ſchlimmſten Seite vorgetragen.
Dieſer vortreffliche Mann liebte Stilling von Herzen und ſeine Unvorſichtigkeit ſchmerzte ihn aus der Maßen; er ließ den Schulmeiſter zu ſich kommen und ſtellte ihn wegen dieſer Sache zu Rede. Stilling erzaͤhlte ihm alles frei - muͤthig, zeigte ihm das Spiel vor und uͤberfuͤhrte ihn von dem Nutzen, den er dabei verſpuͤrt hatte. Allein Herr Gold - mann, der die Welt beſſer kannte, ſagte ihm: „ Mein lie - „ ber Vetter! man darf heutiges Tags ja nicht blos auf den „ Nutzen einer Sache ſehen, ſondern man muß auch allezeit „ wohl erwaͤgen, ob die Mittel, dazu zu gelangen, den Bei - „ fall der Menſchen haben, ſonſt erntet man Stank fuͤr Dank „ und Hohn fuͤr Lohn; ſo gehts euch jetzt, denn eure Bauern „ ſind ſo aufgebracht, daß ſie euch nicht laͤnger als bis Michae - „ lis behalten wollen, ſie ſind Willens, wenn ihr nicht gut - „ willig abdankt, die ganze Sache dem Inſpektor anzuzeigen, „ und ihr wißt, was der fuͤr ein Mann iſt. Nun waͤr’ es doch „ Schade, wenn die Sache ſo weit getrieben wuͤrde, weil ihr „ alsdann hier im Lande nie wieder Schulmeiſter werden koͤnn - „ tet; ich rathe euch deßwegen, danket ab und ſagt heute noch „ eurer Gemeinde, ihr waͤret des Schulhaltens muͤde, ſie moͤch -152 „ ten ſich einen andern Schulmeiſter waͤhlen. Ihr bleibt als - „ dann in Ehren und es wird nicht lange waͤhren, ſo werdet „ ihr eine beſſere Schule bekommen, als dieſe, die ihr bedient „ habt. Ich werde euch indeſſen lieb haben und ſorgen, daß „ ihr gluͤcklich werden moͤgt, ſo viel ich nur kann. “
Dieſe Rede drang Stilling durch Mark und Bein, er wurde blaß und die Thraͤnen ſtanden ihm in den Augen. Er hatte ſich die Sache vorgeſtellt, wie ſie war, und nicht, wie ſie ausgelegt werden koͤnnte; doch ſah er ein, daß ſein Vetter ganz recht hatte; er war nun abermal gewitzigt, und er nahm ſich vor, in Zukunft aͤußerſt behutſam zu ſeyn. Doch bedauerte er bei ſich ſelber, daß ſeine mehrſten Amtsbruͤder mit weniger Geſchicklichkeit und Fleiß, doch mehr Ruhe und Gluͤck genoͤßen, als er, und er begann einen dunkeln Blick in die Zukunft zu thun, was doch wohl der himmliſche Vater noch mit ihm vor - haben moͤchte. Als er nach Haus kam, kuͤndigte er mit innig - ſter Wehmuth ſeiner Gemeinde an, daß er abdanken wollte. Der groͤßte Theil erſtaunte, der boͤſeſte Theil aber war froh, denn ſie hatten ſchon Jemand im Vorſchlag, der ſich beſſer zu ihren Abſichten ſchickte, und nun hinderte ſie Niemand mehr, dieſelben zu erreichen. Die Frau Schmoll und ihre Toͤchtern konnten ſich am uͤbelſten darein finden, denn Erſtere liebte ihn, und die beiden Letztern hatten ihre Liebe in eine herzliche Freund - ſchaft verwandelt, die aber doch gar leicht wieder haͤtte in erſtern Brand gerathen koͤnnen, wenn er ſich zaͤrtlicher gegen ſie ausge - laſſen, oder daß ſie eine andere Moͤglichkeit, den erwuͤnſchten Zweck zu erreichen, geaͤußert haͤtte. Sie weinten alle drei und fuͤrchteten den Tag des Abſchiedes; doch der kam mehr als zu fruͤh. Die Maͤdchen verſanken in ſtummen Schmerz, Frau Schmoll aber weinte; Stilling ging wie ein Trunkener; ſie hielten an ihm an, ſie oft zu beſuchen; er verſprach das und taumelte wieder mitternachtwaͤrts den Berg hinauf; auf der Hoͤhe ſah er ſich nochmals nach ſeinem lieben Preiſin - gen um, ſetzte ſich hin und weinte. Ja! dachte er, Lampe ſingt wohl recht: Mein Leben iſt ein Pilgrimſtand — Da geh’ ich ſchon das drittemal wieder an das Schneider - handwerk, wann mag es doch wohl endlich Gott gefallen,153 mich beſtaͤndig gluͤcklich zu machen! Hab ich doch keine an - dere Abſicht, als ein rechtſchaffener Mann zu werden! Nun befahl er ſich Gott und wanderte mit ſeinem Buͤndel auf Lein - dorf zu.
Nach dem Verlauf von zwei Stunden kam er daſelbſt an. Wilhelm ſah ihn zornig an, als er zur Thuͤr hereintrat; das ging ihm durch die Seele; ſeine Mutter aber ſah ihn gar nicht an, er ſetzte ſich hin und wußte nicht, wie ihm war. Endlich fing ſein Vater an: „ Biſt du wieder da, ungerathe - „ ner Junge? Ich hab’ mir eitle Freuden deinetwegen gemacht, „ was helfen dich deine brodloſen Kuͤnſte? — Das Handwerk „ iſt dir zuwider, ſitzeſt da, ſeufzend und ſeufzend, und wenn „ du Schulmeiſter biſt, ſo wills nirgends fort. Zu Zellberg „ warſt’ ein Kind und hatteſt kindiſche Anſchlaͤge, darum gab „ man dir was zu; zu Dorlingen warſt’ ein Schuhputzer, „ ſogar kein Salz und Kraft haſt’ bei dir; hier zu Leindorf „ aͤrgerteſt du die Leute mit Saͤchelchen, die weder dir noch „ Andern nuͤtzten, und zu Preiſingen mußt’ entfliehen, um „ ſo eben deine Ehre zu retten! Was willſt’ nun hier machen? „ — Du mußt Handwerk und Feldarbeit ordentlich verrich - „ ten, oder ich kann dich nicht brauchen. “ Stilling ſeufzte tief und antwortete: Vater! ich fuͤhl’ es in meiner Seele, daß ich unſchuldig bin, ich kann mich aber nicht rechtfertigen; Gott im Himmel weiß alles! Ich muß zufrieden ſeyn, was er uͤber mich verhaͤngen wird. Aber:
Es waͤr’ doch entſetzlich, wenn mir Gott Triebe und Nei - gungen in die Seele gelegt haͤtte, und ſeine Vorſehung ver - weigerte mir, ſo lang ich lebe, die Befriedigung derſelben!
Wilhelm ſchwieg und legte ihm ein Stuͤck Arbeit vor. Er ſetzte ſich hin und fing wieder an zu arbeiten; er hatte ein ſo gutes Geſchicke dazu, daß ſein Vater oft zu zweifeln anfing, ob er nicht gar von Gott zum Schneider beſtimmt ſey. Dieſer Gedanke aber war Stillingen ſo unertraͤglich, daß154 ſich ſeine ganze Seele dagegen empoͤrte; er ſagte dann auch wohl zuweilen, wenn Wilhelm ſo etwas vermuthete: Ich glaube nicht, daß mich Gott in dieſem Leben zu einer beſtaͤndigen Hoͤlle verdammet habe!
Es war nunmehr Herbſt und die Feldarbeit mehrentheils vorbei, daher mußte er faſt immer auf dem Handwerk arbei - ten, und dieſes war ihm auch lieber, ſeine Glieder konnten es beſſer aushalten. Dennoch aber fand ſich ſeine tiefe Traurig - keit bald wieder ein, er war wie in einem fremden Lande, von allen Menſchen verlaſſen. Dieſes Leiden hatte ſo etwas ganz Beſonderes und Unbeſchreibliches; das Einzige, was ich nie habe begreifen koͤnnen, war dieſes: Sobald die Sonne ſchien, fuͤhlte er ſein Leiden doppelt; Licht und Schatten des Herbſtes brachte ihm ſo ein unausſprechliches Gefuͤhl in ſeine Seele, daß er vor Wehmuth oft zu vergehen glaubte, hingegen wenn es regnigt Wetter und ſtuͤrmiſch war, ſo befand er ſich beſſer, es war ihm, als wenn er in einer dunkeln Felſenkluft ſaͤße, er fuͤhlte dann eine verborgene Sicherheit, wobei es ihm wohl war. Ich hab’ unter ſeinen alten Papieren noch einen Aufſatz gefunden, den er dieſen Herbſt im Oktober an einem Sonntag Nachmittag verfertigt hat; es heißt unter anderem darin:
An einem andern Orte heißt es:
Wenn ſein Vater guter Laune war, ſo daß er ſich in Etwas an ihn entdecken durfte, ſo klagte er ihm zuweilen ſein inne - res trauriges Gefuͤhl. Wilhelm laͤchelte dann und ſagte: „ Das iſt etwas, welches wir Stillinge nicht kennen, das „ haſt du von deiner Mutter geerbt. Wir ſind immer gut „ Freund mit der Natur, ſie mag gruͤn, gelb oder weiß aus - „ ſehen; wir denken dann: das muß ſo ſeyn, und es gefaͤllt „ uns. Aber deine ſelige Mutter huͤpfte und tanzte im Fruͤh - „ ling, im Sommer war ſie munter und geſchaͤftig, im Anfange „ des Herbſtes fing ſie an zu trauern, bis Weihnachten weinte „ ſie, und dann fing ſie an zu hoffen und die Tage zu zaͤhlen; „ im Maͤrz lebte ſie ſchon halb wieder auf. “ Wilhelm laͤchelte, ſchuͤttelte den Kopf und ſagte: Es ſind doch beſondere Dinge! — Ach, ſeufzte dann Heinrich oft in ſeinem Her - zen, moͤchte ſie noch leben, ſie wuͤrde mich am beſten verſtehen!
Zuweilen fand Stilling ein Stuͤndchen, das er zum Leſen verwenden konnte, und dann daͤuchte ihm, als wenn er noch einen fernen Nachgeſchmack von den vergangenen ſeligen Zei - ten genoͤſſe, allein es war nur ein vorbeieilender Genuß. Um ihn her wirkten eitle froſtige Geiſter, er fuͤhlte das beſtaͤndige Treiben des Geldhungers, und der frohe ſtille Genuß war verſchwunden. — Er beweinte ſeine Jugend und trauerte um ſie, wie ein Braͤutigam um ſeine erblaßte Braut. Allein das alles half nichts, klagen durfte er nicht, und ſein Weinen brachte ihm nur Vorwuͤrfe.
Doch hatte er einen einzigen Freund zu Leindorf, der ihn ganz verſtand, und dem er alles klagen konnte. Dieſer Menſch hieß Caſpar und war ein Eiſenſchmelzer, eine edle Seele, warm fuͤr die Religion, mit einem Herzen voller Em - pfindſamkeit. Der November hatte noch ſchoͤne Herbſttage,156 deßwegen gingen Caſpar und Stilling Sonntags Nach - mittags ſpazieren, alsdann floßen ihre Seelen in einander uͤber; beſonders hatte Caſpar eine feſte Ueberzeugung in ſeinem Gemuͤth, daß ſein Freund Stilling vom himmliſchen Vater zu weit was anders, als zum Schulhalten und Schnei - derhandwerk beſtimmt ſey, er konnte das unwiderſprechlich darthun, daß Stilling ruhig und großmuͤthig beſchloß, alle ſeine Schickſale geduldig zu ertragen. Um Weihnachten blickte ihn das Gluͤck wieder freundlich an. Die Kleefelder Vor - ſteher kamen und beriefen ihn zu ihrem Schulmeiſter; dieſes war nun die beſte und ſchoͤnſte Kapellenſchule im ganzen Fuͤr - ſtenthum Salen. Er wurde wieder ganz lebendig, dankte Gott auf den Knien und zog hin. Sein Vater gab ihm beim Abſchied die treuſten Ermahnungen, und er ſelber that, ſo zu ſagen, ein Geluͤbde, jetzt alle ſeine Geſchicklichkeit und Wiſſen - ſchaft anzuwenden, um im Schulhalten den hoͤchſten Ruhm davon zu tragen. Die Vorſteher gingen mit ihm nach Salen, und er wurde daſelbſt vor dem Conſiſtorium von dem Inſpec - tor Meinhold beſtaͤtiget.
Mit dieſem feſten Entſchluß trat er mit dem Anfang des 1760ſten Jahrs, im zwanzigſten ſeines Alters, dieſes Amt wieder an, und bediente daſſelbe mit ſolchem Ernſt und Eifer, daß es rund umher bekannt wurde, und alle ſeine Feinde und Mißgoͤnner fingen an zu ſchweigen, ſeine Freunde aber zu triumphiren; er beharrte auch in dieſer Treue, ſo lange er da war. Demungeachtet ſetzte er doch ſeine Lectuͤre in den uͤbrigen Stunden fort. Das Clavier und die Mathematik waren ſein Hauptwerk; indeſſen wurden doch Dichter und Romane nicht vergeſſen. Gegen das Fruͤhjahr wurde er mit einem Amts-Collegen bekannt, der Graſer hieß und das Thal hinauf, eine ſtarke halbe Stunde weit von Kleefeld, auf dem Dorf Kleinhoven Schule hielt. Dieſer Menſch war einer von denjenigen, die immer mit vielbedeutender Miene ſtillſchweigen und im Verborgenen handeln.
Ich hab’ oft Luſt gehabt, die Menſchen zu claſſificiren, und da moͤcht’ ich die Claſſe, worunter Graſer gehoͤrte, die launigte nennen. Die beſten Menſchen darin ſind ſtille Be -157 obachter ohne Gefuͤhl, die mittelmaͤßigen ſind Duckmaͤuſer, die ſchlechteſten Spionen und Verraͤther. Graſer war freund - lich gegen Stilling, aber nicht vertraulich. Stilling hingegen war beides, und das gefiel Jenem, er beobachtete gern Andere im Lichte, ſtand aber dagegen ſelber lieber im Dunkeln. Um nun Stilling recht zum Freund zu behal - ten, ſo ſprach er immer von großen Geheimniſſen; er verſtand magiſche und ſympathetiſche Kraͤfte zu regieren, und einſtmals vertraute er Stillingen, unter dem Siegel der groͤßten Ver - ſchwiegenheit, an, daß er die erſte Materie des Steins der Weiſen recht wohl kenne; Graſer ſah dabei ſo geheimniß - voll aus, als wenn er wirklich das große Univerſal ſelber beſeſſen haͤtte. Stilling vermuthete es, und Graſer leug - nete es auf eine Art, die Jenen vollends uͤberzeugte, daß er gewiß den Stein der Weiſen habe; dazu kam noch, daß Gra - ſer immerfort ſehr viel Geld hatte, weit mehr, als ihm ſeine Umſtaͤnde einbringen konnten. Stilling war uͤberaus ver - gnuͤgt wegen dieſer Bekanntſchaft, ja er hoffte ſogar, dereinſt durch Huͤlfe ſeines Freundes ein Adeptus zu werden. Gra - ſer lieh ihm die Schriften Baſilius Valentinus. Er las ſie ganz aufmerkſam durch, und als er hinten an den Prozeß aus dem ungariſchen Vitriol kam, da wußte er gar nicht, wie ihm ward. Er glaubte wirklich, er koͤnnte nun den Stein der Weiſen ſelber machen. Er bedachte ſich eine Weile, nun fiel ihm ein, wenn der Prozeß ſo ganz vollkommen richtig waͤre, ſo muͤßte ihn ja ein jeder Menſch machen koͤnnen, der nur das Buch haͤtte.
Ich kann verſichern, daß Stilling’s Neigung zur Al - chymie niemalen den Stein der Weiſen zum Zweck hatte; wenn er ihn aber gefunden haͤtte, ſo waͤrs ihm lieb geweſen; ſondern ein Grundtrieb in ſeiner Seele, wovon ich bisher noch nichts geſagt habe, fing an, ſich bei reifern Jahren zu entwickeln, und der war ein unerſaͤttlicher Hunger nach Er - kenntniß der erſten Urkraͤfte der Natur. Damalen wußte er noch nicht, welchen Namen er dieſer Wiſſenſchaft beilegen ſollte. Das Wort Philoſophie ſchien ihm was anders zu bedeuten; dieſer Wunſch iſt noch nicht erfuͤllt, weder Neu -158 ton, noch Leibnitz, noch jeder Andere hat ihm Genuͤge thun koͤnnen; doch hat er mir geſtanden, daß er jetzt auf der wahren Spur ſey, und daß er zu ſeiner Zeit damit aus Licht treten werde.
Damalen ſchien ihm die Alchymie der Weg dahin zu ſeyn, und deßwegen las er alle Schriften von der Art, die er nur auftreiben konnte. Allein es war Etwas in ihm, das immer - fort rief: Wo iſt der Beweis, daß es wahr iſt? — Er kannte nur drei Quellen der Wahrheit: Erfahrung, mathematiſche Ueberfuͤhrung und die Bibel, und alle drei Quellen wollten ihm gar keinen Aufſchluß in der Alchymie geben, deßwegen ver - ließ er ſie vor der Hand ganz.
Einſtmals beſuchte er ſeinen Freund Graſer an einem Sam - ſtag Nachmittag; er fand ihn allein auf der Schule ſitzen, allwo er Etwas ausſtach, das einem Pettſchaft aͤhnlich war. Stil - ling fragte: Herr College! was machen Sie da?
„ Ich ſtech’ ein Pettſchaft. “
Laſſen ſie mich doch ſehen, das iſt ja feine Arbeit!
„ Es gehoͤrt fuͤr den Herrn von N. Hoͤren Sie, mein Freund „ Stilling! ich wollte Ihnen gern helfen, daß Sie ohne den „ Schulſtand und die Schneiderei zu Brod kommen koͤnnten. „ Ich beſchwoͤre Sie bei Gott, daß Sie mich nicht verrathen „ wollen. “
Stilling gab ihm die Hand darauf und ſagte: Ich werde Sie gewiß nicht verrathen.
„ Nun ſo hoͤren Sie! ich hab’ ein Geheimniß; ich kann Ku - „ pfer in Silber verwandeln, ich will Sie in Compagnie neh - „ men und Ihnen die Haͤlfte von dem Gewinn geben; indeſſen „ ſollen Sie zuweilen einige Tage heimlich verreiſen, und das „ Silber an gewiſſe Leute zu veraͤußern ſuchen. “
Stilling ſaß und dachte der Sache nach; der ganze Vor - trag gefiel ihm nicht, denn erſtlich ging der Trieb nicht dahin, viel Geld zu erwerben, ſondern nur Erkenntniß der Wahrheit und Wiſſenſchaften zu erlangen, um Gott und dem Naͤchſten damit zu dienen; und fuͤrs zweite kam ihm bei ſeiner geringen Weltkenntniß die ganze Sache doch verdaͤchtig vor; denn je mehr er nach dem Pettſchaft blickte, je mehr wurde er uͤber -159 zeugt, daß es ein Muͤnz-Stempel ſey. Es fing ihm daher an zu grauen, und er ſuchte Gelegenheit, von dem Schulmeiſter Graſer abzukommen, indem er ihm ſagte, er wolle nach Haus gehen und die Sache naͤher uͤberlegen.
Nach einigen Tagen entſtand ein Allarm in der ganzen Ge - gend; die Haͤſcher waren des Nachts zu Kleinhoven gewe - ſen und hatten den Schulmeiſter Graſer aufheben wollen, er war aber ſchon entwiſcht, er iſt hernach nach Amerika gegangen, und man hat weiter nichts von ihm gehoͤrt. Seine Mitſchuldigen aber wurden gefangen und nach Verdienſt ge - ſtraft. Er war eigentlich ſelber der rechte Kuͤnſtler geweſen und waͤre gewiß mit dem Strang belohnt worden, wenn man ihn ertappt haͤtte.
Stilling erſtaunte uͤber die Gefahr, in welcher er ge - ſchwebt hatte, und dankte Gott von Herzen, daß er ihn be - wahrt hatte.
So lebte er nun ganz vergnuͤgt fort und glaubte gewiß, daß die Zeit ſeiner Leiden zu Ende ſey, in der ganzen Ge - meinde fand ſich kein Menſch, der etwas Widriges von ihm geſprochen haͤtte, alles war ruhig; aber welch’ ein Sturm folgte auf dieſe Windſtille! Er war bald drei Vierteljahr zu Kleefeld geweſen, als er eine Vorladung bekam, den kuͤnf - tigen Dienſtag Morgens um neun Uhr vor dem fuͤrſtlichen Conſiſtorium zu Salen zu erſcheinen. Er verwunderte ſich uͤber dieſen ungewoͤhnlichen Vorfall; doch fiel ihm gar nichts Widriges ein; vielleicht, dachte er, ſind neue Schulordnun - gen beſchloſſen, die man mir und Andern vortragen will. Und ſo ging er ganz ruhig am beſtimmten Tage nach Salen hin.
Als er ins Vorzimmer der Conſiſtorialſtube trat, ſo fand er da zwei Maͤnner aus ſeiner Gemeinde ſtehen, von denen er nie gedacht haͤtte, daß ſie ihm widerwaͤrtig waͤren. Er fragte ſie, was vorginge? Sie antworteten: wir ſind vorge - laden und wiſſen nicht, warum; indeſſen wurden ſie alle Drei hineingefordert.
Oben am Fenſter ſtand ein Tiſch; auf der einen Seite deſſelben ſaß der Praͤſident, ein großer Rechtsgelehrter; er war klein von Statur, laͤnglicht und mager von Geſicht, aber160 ein Mann von einem vortrefflichen Charakter, voll Feuer und Leben. Auf der andern Seite des Tiſches ſaß der Inſpektor Meinhold, ein dicker Mann mit einem vollen laͤnglichten Geſicht; das große Unterkinn ruhte ſehr majeſtaͤtiſch auf dem feinen, wohlgeglaͤtteten und geſteiften Kragen, damit er nicht ſo leicht wund werden moͤchte; er hatte eine vortreffliche weiße und ſchoͤne Peruͤcke auf dem Haupt, und ein ſeidener ſchwar - zer Mantel hing ſeinen Ruͤcken herunter; er hatte hohe Augen - braunen, und wenn er Jemand anſah, ſo zog er die untern Augenlider hoch in die Hoͤhe, ſo daß er beſtaͤndig blinzelte. Die Abſaͤtze an ſeinen Schuhen krachten, wenn er darauf trat, und er hatte ſich angewoͤhnt, er mochte ſtehen oder ſitzen, im - merfort wechſelsweiſe auf die Abſaͤtze zu treten und ſie krachen zu laſſen. So ſaßen die beiden Herren da, als die Partheien hereintraten. Der Sekretarius aber ſaß hinter einem langen Tiſch und guckte uͤber einen Haufen Papier hervor. Stil - ling ſtellte ſich unten an den Tiſch, die beiden Maͤnner aber ſtanden gegenuͤber an der Wand.
Der Inſpektor raͤuſperte ſich, drehte ſich gegen die Maͤn - ner und ſprach:
„ Iſt das air Schoolmaiſter? “
Ja, Herr Oberhofprediger!
„ So! araͤcht! Ihr ſayd alſo der Schoolmaiſter von „ Kleefeld? “
Ja! ſagte Stilling.
„ ’r ſayd mer ain ſchoͤner Kerl! waͤr’t waͤrth, daß man aich „ aus dem Land paitſchte! “
Sachte! ſachte! redete der Praͤſident ein, audiatur et altera pars!
„ Herr Praͤſident! das k’hoͤrt ad forum ecclesiasticum. „ Sie habaͤ da nichts z’ ſagaͤ. “
Der Praͤſident ergrimmte und ſchwieg. Der Inſpektor ſah Stilling veraͤchtlich an und ſagte:
„ Wie ’r da ſtaͤht, der ſchlechte Menſch! “
Die Maͤnner lachten ihn hoͤhniſch aus. Stilling konnte das gar nicht ertragen, er hatte auf der Zunge, er wolle ſagen: wie Chriſtus vor dem Hohenprieſter! allein161 er nahm’s wieder zuruͤck, trat naͤher und ſagte: was hab’ ich gethan? Gott iſt mein Zeuge, ich bin unſchuldig! Der Inſpektor lachte hoͤhniſch und erwiederte:
„ Als wenn ’r nit wuͤtzt, was ’r ſelbſtan begangaͤ hat! „ fragt air K’wiſſaͤ! “
Herr Inſpektor! mein Gewiſſen ſpricht mich frei und der, der da recht richtet, auch; was hier geſchehen wird, weiß ich nicht.
„ Schwaigt, ’r Gottloſer! — ſagt mer, Kirchaͤaͤlteſter, was „ iſt eure Klage? “
Herr Oberhofprediger! wir habens heut vierzehn Tage pro - tocolliren laſſen.
„ Araͤcht’s is wahr! “
Und dieſes Protokoll, ſagte Stilling, muß ich haben!
„ Was wollt’r? Nain! ſollt’s nie habaͤ! “
C’est contre l’ordre du prince! verſetzte der Praͤſident und ging fort.
Der Inſpektor diktirte nun und ſagte: „ Schraibt, Sekre - „ taͤr! Hait erſchienaͤ N. N. Kirchaͤaͤlteſter von Kleefeld und „ N. N. Ainwahner daſelbſt, cantra ihren Schoolmaiſter „ Stilling. Klaͤger beziehaͤ ſich of variges Protocoll. Der „ Schoolmaiſter begehrte extractum Protocolli, wir’m aber „ aus giltigaͤ Ohrſachaͤ abk’ſchlagaͤ. “
Nun krachte der Inſpektor noch ein paarmal auf den Ab - ſaͤtzen, ſtemmte die Haͤnde in die Seiten und ſprach:
„ Koͤnnt nu nacher Haus geh! “ Sie gingen alle Drei fort.
Gott weiß es, daß die Erzaͤhlung wahr und wirklich ſo paſſirt iſt. Schande waͤr’s fuͤr mich, der proteſtantiſchen Kirche einen ſolchen Theologen anzudichten. Schande fuͤr mich, wenn Meinhold noch eine gute Seite gehabt haͤtte. — Aber! — Ein jeder junge Theologe ſpiegle ſich doch an dieſem Exempel und denke: Wer da will unter euch der Groͤßte ſeyn, der ſey der Geringſte!
Stilling war ganz betaͤubt, er begriff von allem, was er gehoͤrt hatte, nicht ein Wort. Die ganze Scene war ihm wie ein Traum, er kam nach Kleefeld, ohne zu wiſſen wie. Sobald er da anlangte, ging er in die Kapelle und zog dieStillings ſämmtl. Schriften. I. Band. 11162Glocke; dieſes war das Zeichen, wenn die Gemeinde in einem außerordentlichen Nothfall ſchleunigſt zuſammenberufen werden ſollte. Alle Maͤnner kamen eiligſt bei der Kapelle auf einem gruͤnen Platz zuſammen. Nun erzaͤhlte ihnen Stilling den ganzen Vorfall umſtaͤndlich. Da ſah man recht, wie die verſchiedenen Temperamente der Menſchen bei einerlei Urſache verſchieden wirken: Einige rasten, die andern waren launigt, noch Andere waren betruͤbt, und wieder Andere waren wohl bei der Sache; dieſe druͤckten den Hut aufs Ohr und riefen: kein T ..... ſoll uns den Schulmeiſter nehmen! Unter all dieſem Gewirre hatte ſich ein junger Menſch, Namens Reh - kopf weggeſchlichen, er ſetzte im Wirthshaus eine Vollmacht auf, mit dieſem Papier in der Hand kam er in die Thuͤr und rief: Wer Gott und den Schulmeiſter liebt, der komme her und unterſchreibe ſich! Da ging der ganze Trupp, etwa hundert Bauern, hinein und unterſchrie - ben ſich. Noch denſelben Tag ging Rehkopf mit zwanzig Bauern nach Salen und zum Inſpektor.
Rehkopf klopfte oder ſchellte nicht an der Thuͤre des Pfarrhauſes, ſondern ging gerade hinein, die Bauern hinter ihm her; im Vorhaus begegnete ihnen der Knecht. Wohin, ihr Leute? rief er, wart! ich will euch melden! Rehkopf verſetzte: geh’, fuͤlle deine Weinflaſche! wir koͤnnen uns ſel - ber melden; und ſo plotzten die zwei und vierzig Fuͤße die Treppe hinauf und gerade ins Zimmer des Inſpektors. Die - ſer ſaß da im Lehnſeſſel, er hatte einen damaſtenen Schlaf - rock an, eine baumwollene Muͤtze auf dem Kopf und eine feine Leidenſche Kappe daruͤber, dabei trank er ſo ganz ge - nuͤglich ſeine Taſſe Chocolade. Er erſchrack, ſetzte ſeine Taſſe hin und ſagte:
„ Gott! — ihr Lait — was wallt’r? “
Rehkopf antwortete: Wir wollen hoͤren, ob unſer Schul - meiſter ein Moͤrder, ein Ehebrecher oder ein Dieb iſt?
„ Behuͤt Gott! wer ſagt das? “
Herr! Sie ſagens oder laſſens, Sie behandeln ihn ſo! Ent - weder Sie ſollen ſagen und beweiſen, daß er ein Miſſethaͤter iſt, und in dem Fall wollen wir ihn ſelber abſchaffen; oder163 Sie ſollen uns Genugthuung fuͤr ſeine Schmach geben, und in dieſem Fall wollen wir ihn behalten. Sehen Sie hier unſere Vollmacht.
„ Waist aͤmahl her! “ Der Inſpektor nahm ſie und faßte ſie an, als wenn er ſie zerreißen wollte. Rehkopf trat hinzu, nahm ſie ihm aus der Hand und ſprach: Herr! laſ - ſen Sie ſich das vergehen! Sie verbrennen, weiß Gott! die Finger, und ich auch!
„ Ihr trotzt mer in maim Haus? “
Wie Sie’s nehmen, Herr! Trotz oder nicht!
Der Inſpektor zog gelindere Saiten auf und ſagte: „ Liebaͤ „ Lait! ihr wißt nit, was air Schoolmaiſter vor’n ſchlechter „ Menſch is, laſt mich doch machaͤ! “
Eben das wollen wir wiſſen, ob er ein ſchlechter Menſch iſt, verſetzte Rehkopf.
„ Schraͤckliche Dinge! Schraͤckliche Dinge hab’ ich von „ dem Kerl k’hoͤrt! “
Kann ſeyn! Ich hab’ auch gehoͤrt, daß der Herr Inſpek - tor ſternvoll beſoffen geweſen, als er letzthin zu Kleefeld Kapellen-Viſitation gehalten.
„ Was! Was! wer ſagt das? wollt’r “—
Still! Still! ich hab’s gehoͤrt, der Herr Inſpektor richtet nach Hoͤrenſagen, ſo darf ich’s auch.
„ Wart, ich will euch laͤrnaͤ. “
Herr! Sie lernen mich nichts, und was das Vollſanfen betrifft, Herr! — ich ſtand dabei, wie Sie auf der andern Seite vom Pferd herunterfielen, als man Sie auf der einen hinaufgehoben hatte. Wir erklaͤren Ihnen hiemit im Namen der Kleefelder Gemeinde, daß wir uns den Schulmeiſter nicht nehmen laſſen, bis er uͤberfuͤhrt iſt, und damit Adje!
Nun gingen ſie zuſammen nach Haus. Rehkopf ging den ganzen Abend uͤber die Straßen ſpazieren, huſtete, raͤuſperte ſich, daß man’s im ganzen Dorf hoͤren konnte.
Stilling ſah ſich alſo wiederum ins groͤßte Labyrinth verſetzt; er fuͤhlte wohl, daß er abermal wuͤrde weichen muͤſ - ſen, und was alsdann auf ihn wartete. Unterdeſſen kam er doch hinter das ganze Geheimniß ſeiner Verfolgung.
11 *164Der vorige Schulmeiſter zu Kleefeld war allgemein ge - liebt geweſen; nun hatte er ſich mit einem Maͤdchen daſelbſt verſprochen, und ſuchte, um ſich beſſer naͤhren zu koͤnnen, mehr Lohn zu bekommen; deßwegen, als er einen Beruf an einen andern Ort erhielt, ſo ſtellte er der Gemeinde vor, daß er ziehen wuͤrde, wenn man ihm nicht den Lohn erhoͤhte; er glaubte aber gewiß, man wuͤrde ihn um einiges Gelds wil - len nicht weggehen laſſen. Allein es ſchlug ihm fehl, man ließ ihm Freiheit, zu ziehen, und waͤhlte Stilling.
Es iſt leicht zu denken, daß die Familie des Maͤdchens nunmehr alle Kraft anwendete, um Stilling zu ſtuͤrzen, und dieſes bewerkſtelligten ſie ganz geheim, indem ſie den Inſpek - tor mit wichtigen Geſchenken das ganze Jahr durch uͤberhaͤuft hatten, ſo daß er ohne Urtheil und Recht beſchloß, ihn weg - zujagen.
Einige Tage nach dieſem Vorfall ließ ihn der Praͤſident erſuchen, zu ihm zu kommen; er ging hin. Der Praͤſident ließ ihn ſitzen und ſagte: „ Mein Freund Stilling, ich be - „ daure Euch von Herzen; und ich hab’ Euch zu mir kom - „ men laſſen, um Euch den beſten Rath zu geben, den ich „ weiß. Ich habe gehoͤrt, daß eure Bauern eine Vollmacht „ aufgeſetzt haben, um Euch zu ſchuͤtzen, allein ſie wird Euch „ gar nichts helfen: denn die Sache muß doch im Obercon - „ ſiſtorium abgethan werden, und da ſitzen lauter Freunde und „ Verwandte des Herrn Inſpektors. Ihr gewinnt weiter nichts, „ als daß er immer bitterer gegen Euch wird und Euch euer „ Vaterland zu eng macht. Wann ihr alſo wieder vors Con - „ ſiſtorium kommt, ſo fordert euern Abſchied. “
Stilling dankte fuͤr dieſen treuen Rath und verſetzte: Aber meine Ehre leidet darunter! Der Praͤſident erwiederte: Dafuͤr laßt mich ſorgen. Der Schulmeiſter verſprach, dem Rath zu folgen und ging nach Haus; er ſagte aber Niemand, was er vorhatte.
Als nun wiederum Conſiſtorium war, ſo wurde er mit ſei - nen Gegnern vorgeladen. Rehkopf aber ging ungerufen nach Salen hin, und ſogar ins Vorzimmer der Conſiſtorial - Stube. Stilling kam und wurde zuerſt vorgefordert. Der165 Praͤſident winkte ihm, ſeinen Vortrag zu thun. Hierauf fing der Schulmeiſter an: „ Herr Inſpektor! ich ſehe, daß man „ mir mein Amt ſchwer zu machen ſucht, ich begehre alſo aus „ Liebe zum Frieden meinen ehrlichen Abſchied. “ Der Inſpek - tor ſah ihn heiterlaͤchelnd an und ſagte:
„ Brav! Schoolmaiſter! den ſollt’r habaͤ, und ain Atteſt „ derzu, das unverglaichlich is. “
Nein, Herr Inſpektor! kein Atteſt. Tief in meiner Seele iſt ein Atteſt und Ehrenrettung geſchrieben, das kein Tod und kein Feuer des juͤngſten Tags ausloͤſchen wird; und das wird dereinſt meinen Verfolgern ins Geſicht blitzen, daß ſie erblin - den moͤchten. Dieſes ſagte Stilling mit gluͤhenden Wan - gen und funkelnden Augen.
Der Praͤſident laͤchelte ihn an und winkte ihm mit den Augen. Der Inſpektor aber that, als hoͤrte ers nicht, ſon - dern las eine Schrift oder Protokoll durch.
Nun ſagte der Praͤſident laͤchelnd zum Inſpektor: Verur - theilen gehoͤrt fuͤr Sie, aber fuͤr mich die Execution. Schreibt, Sekretaͤr:
„ Heut erſchien der Schulmeiſter Stilling zu Kleefeld „ und begehrte aus Liebe zum Frieden ſeinen ehrlichen Ab - „ ſchied, der ihm dann auch um dieſer Urſache willen zuge - „ ſtanden worden, doch mit dem Beding, daß er gehalten ſeyn „ ſoll, im Fall er wiederum berufen werden ſollte, oder man „ ihn ſonſten zu Geſchaͤften brauchen wollte, ſeine herrlichen „ Talente zum Beſten des Vaterlandes zu verwenden. “
Araͤcht! ſagte der Inſpektor: No Schoolmaiſter, damit ’r doch wißt, daß wer Raͤcht haͤttaͤ, aich Verweiſe z’ gaͤbaͤ, ſo ſag’ ich aich: ’r habt das heiligaͤ Nachtmahl proſtituirt. Wie r’ am laͤtztaͤ gegangen ſayd, habt’r nach dem K’nuß hoͤhniſch k’lacht.
Stilling ſah ihm ins Geſicht und ſagte: Ob ich gelacht habe, weiß ich nicht, das weiß ich aber wohl, daß ich nicht hoͤhniſch gelacht habe.
„ Man ſoll auch bai ſolch ainer heiligaͤ Handlungen nit „ lachaͤ. “
Stilling antwortete: der Menſch ſieht, was vor Augen166 iſt, Gott aber ſieht das Herz an. Ich kann nicht ſagen, ob ich gelacht habe; ich weiß aber wohl, was profanatio sa - crorum iſt, und hab’s lang gewußt.
Nun befahl der Praͤſident, daß ſeine Gegner hereintreten ſollten; ſie kamen, und der Sekretaͤr mußte ihnen das eben abgefaßte Protokoll vorleſen. Sie ſahen ſich an und ſchaͤm - ten ſich.
Habt ihr noch was einzuwenden, fragte der Praͤſident. Sie ſagten: Nein!
Nun dann, fuhr der ehrliche Mann fort, ſo hab’ ich noch was einzuwenden: Dem Herrn Inſpektor kommt’s zu, einen Schulmeiſter zu beſtaͤtigen, wenn ihr einen erwaͤhlt habt. Meine Pflicht aber iſt’s, Acht zu haben, daß Ruhe und Ordnung erhalten werde; deßwegen befehl ich euch bei hundert Gulden Strafe, den vorigen Schulmeiſter nicht zu waͤhlen, ſondern einen ganz unparteyiſchen, damit die Gemeinde wieder ru - hig werde.
Der Inſpektor erſchrack, ſah den Praͤſidenten an und ſagte: „ Auf die Wais werden die Lait nimmer zu Ruh kommaͤ. “
Herr Inſpektor! erwiederte Jener, das gehoͤrt ins forum politicum und geht Sie nichts an.
Indeſſen ließ ſich Rehkopf melden. Er wurde hereinge - laſſen. Dieſer begehrte das Protokoll zu ſehen im Namen ſeiner Principalen. Der Sekretaͤr mußte ihm das heutige vorleſen. Rehkopf ſah Stilling an und fragte ihn, ob das recht waͤre? Stilling antwortete: Man kann nicht immer thun, was recht iſt, ſondern man muß auch wohl zu - weilen die Augen zuthun und ergreifen, was man kann und nicht was man will; indeſſen dank’ ich Euch tauſendmal, rechtſchaffener Freund! Gott wird’s Euch vergelten! Rehkopf ſchwieg eine Weile, endlich fing er an und ſagte: So proteſtir’ ich im Namen meiner Principalen gegen die Wahl des vorigen Schulmeiſters, und begehre, daß dieſe Proteſtation zu Proto - koll getragen werde. Gut! ſagte der Praͤſident, das ſoll ge - ſchehen, ich hab’ daſſelbige auch ſchon vorhin bei hundert Gul - den Strafe verboten. Nun wurden ſie alle zuſammen nach Haus geſchickt und die Sache geſchloſſen.
167Stilling war alſo wiederum in ſeine betruͤbten Umſtaͤnde verſetzt, er nahm ſehr traurig Abſchied von ſeinen lieben Klee - feldern, ging aber nicht nach Haus, ſondern zum Herrn Paſtor Goldmann und klagte ihm ſeine Umſtaͤnde. Dieſer bedauerte ihn von Herzen und behielt ihn uͤber Nacht bei ſich. Des Abends hielten ſie Rath zuſammen, was Stilling nun wohl am fuͤglichſten vorzunehmen haͤtte. Herr Gold - mann erkannte ſehr wohl, daß er bei ſeinem Vater wenig Freude haben wuͤrde, und doch wußte er ihm auch kein an - deres Mittel an die Hand zu geben; endlich fiel ihm etwas ein, das ſowohl dem Paſtor, als auch Stilling angenehm und vortheilhaft vorkam.
Zehn Stunden von Salen liegt ein Staͤdtchen, welches Rothhagen heißt, in demſelben war der junge Herr Gold - mann, ein Sohn des Predigers, Richter. Noch zwei Stun - den weiter, zu Lahnburg, war Herr Schneeberg Hofpre - diger bei zwei hohen Prinzeſſinnen, und dieſer war ein Vet - ter des Herrn Goldmann. Nun glaubte der ehrliche Mann, wenn er Stillingen mit Empfehlungsſchreiben an beide Maͤnner abſchicken wuͤrde, ſo koͤnnte es nicht fehlen, ſie wuͤr - den ihm unterhelfen. Stilling hoffte ſelbſten ganz gewiß, es wuͤrde alles nach Wunſch ausſchlagen. Die Sache wurde alſo beſchloſſen, die Empfehlungsſchreiben fertig gemacht, und Stilling reiste des andern Morgens getroſt und freudig fort.
Das Wetter war dieſen Tag ſehr rauh und kalt, dabei war es wegen der kothigen Wege ſehr uͤbel zu reiſen. Doch ging Stilling viel vergnuͤgter ſeine Straße fort, als wenn er im ſchoͤnſten Fruͤhlingswetter nach Leindorf zu ſeinem Vater haͤtte gehen ſollen. Er fuͤhlte eine ſo tiefe Ruhe in ſeinem Gemuͤth und ein Wohlgefallen des Vaters der Menſchen, daß er froͤhlich fortwanderte, beſtaͤndig Dank und feurige Seufzer zu Gott ſchickte, ob er gleich bis auf die Haut vom Regen durchnaͤßt war. Schwerlich wuͤrd’s ihm ſo wohl geweſen ſeyn, wenn Meinhold Recht gehabt haͤtte.
Des Abends um ſieben Uhr kam er muͤd und naß zu Rothhagen an. Er fragte nach dem Haus des Herrn Rich - ters Goldmann, und dies wurde ihm gewieſen, er ging hin -168 ein und ließ ſich melden. Der Herr Goldmann kam die Treppe herabgelaufen und rief: Ei willkommen, Vetter Stil - ling! Willkommen in meinem Haus! Er fuͤhrte ihn die Treppe hinauf. Seine Liebſte empfing ihn ebenfalls freundlich und machte Anſtalten, daß er trockene Kleider an den Leib bekam, und die ſeinigen wiederum trocken wurden, hernach ſetzte man ſich zu Tiſch. Waͤhrend des Eſſens mußte Stilling ſeine Geſchichte erzaͤhlen; als das geſchehen war, ſagte Herr Gold - mann: Vetter! es muß doch etwas in eurer Lebensart ſeyn, das den Leuten mißfaͤllt, ſonſt waͤr’ es unmoͤglich, ſo ungluͤck - lich zu ſeyn. Ich werde es bald bemerken, wenn Ihr einige Tage bei mir geweſen ſeyd, ich will’s Euch dann ſagen, und Ihr muͤßt es ſuchen abzuaͤndern. Stilling laͤchelte und ant - wortete: Ich will mich freuen, Herr Vetter! wenn Sie mir meine Fehler ſagen, aber ich weiß ganz wohl, wo der Knoten ſitzt, und den will ich Ihnen aufknuͤpfen: Ich lebe nicht in dem Beruf, zu welchem ich geboren bin, ich thue alles mit Zwang, und deßwegen iſt auch kein Segen dabei.
Goldmann ſchuͤttelte den Kopf und erwiederte: Ei! Ei! wozu ſolltet Ihr geboren ſeyn? Ich glaube, Ihr habt Euch durch euer Romanleſen unmoͤgliche Dinge in den Kopf geſetzt. Die Gluͤcksfaͤlle, welche die Phantaſie der Dichter ihren Hel - den andichtet, ſetzen ſich in Kopf und Herz feſt, und erwecken einen Hunger nach dergleichen wunderbaren Veraͤnderungen.
Stilling ſchwieg eine Weile, ſah vor ſich nieder; endlich blickte er ſeinen Vetter durchdringend an und ſagte mit Nach - druck: Nein! bei den Romanen fuͤhl’ ich nur, mir iſts, als wenn mir alles ſelbſt widerfuͤhre, was ich leſe; aber ich habe gar keine Luſt, ſolche Schickſale zu erleben. Es iſt was an - ders, lieber Herr Vetter! ich habe Luſt zu Wiſſenſchaften, wenn ich nur einen Beruf haͤtte, in welchem ich mit Kopfarbeit mein Brod erwerben koͤnnte, ſo waͤre mein Wunſch erfuͤllt.
Goldmann verſetzte: Nun ſo unterſucht einmal dieſen Trieb unparteiiſch. Iſt nicht Ruhm und Ehrbegierde damit verknuͤpft? Habt Ihr nicht ſuͤße Vorſtellungen davon, wenn Ihr in einem ſchoͤnen Kleid und herrſchaftlichen Aufzug einher - treten koͤnntet? Wenn die Leute ſich buͤcken und den Hut vor169 Euch abziehen muͤßten, und wenn Ihr der Stolz und das Haupt eurer Familie wuͤrdet?
Ja! antwortete Stilling treuherzig, das fuͤhl ich freilich, und das macht mir manche ſuͤße Stunde.
Recht, fuhr Goldmann fort: Aber iſt es Euch auch ein wahrer Ernſt, ein rechtſchaffenen Mann in der Welt zu ſeyn, Gott und Menſchen zu dienen, und alſo auch nach dieſem Le - ben ſelig zu werden? Da heuchelt nun nicht, ſondern ſeyd auf - richtig. Habt Ihr den feſt entſchloſſenen Willen?
O ja! verſetzte Stilling, das iſt doch wohl der rechte Polarſtern, nach welchem ſich endlich, nach vielem Hin - und Hervagiren, mein Geiſt wie eine Magnetnadel richtet.
Nun, Vetter! erwiederte Goldmann: Nun will ich Euch eure Nativitaͤt ſtellen, und die ſoll zuverlaͤßig ſeyn. Hoͤrt mir zu! „ Gott verabſcheut nichts mehr, als den eiteln Stolz und die Ehrbegierde, ſeinen Nebenmenſchen, der oft beſſer iſt, als wir, tief unter ſich zu ſehen; das iſt verdorbene menſchliche Natur. Aber er liebt auch den Mann, der im Stillen und Verborgenen zum Wohl der Menſchen arbeitet, und nicht wuͤnſcht, offenbar zu ſeyn. Dieſen zieht Er durch Seine guͤ - tige Leitung, gegen ſeinen Willen endlich hervor und ſetzt ihn hoch hinauf. Da ſitzt dann der rechtſchaffene Mann — ohne Gefahr, geſtuͤrzt zu werden, und weil ihn die Laſt der Erhoͤ - hung niederdruͤckt, ſo betrachtet er alle Menſchen neben ſich ſo gut als ſich ſelbſt. Seht, Vetter! das iſt wahre, edle, ver - beſſerte oder wiedergeborene Menſchennatur. Nun will ich weiſſagen, was Euch widerfahren wird: Gott wird durch eine lange und ſchwere Fuͤhrung alle eure eiteln Wuͤnſche ſuchen abzufegen; gelingt Ihm dieſes, ſo werdet ihr endlich nach vie - len ſchweren Proben ein gluͤcklicher, großer Mann und ein vortreffliches Werkzeug Gottes werden! Wenn Ihr aber nicht folgt, ſo werdet Ihr Euch vielleicht bald hoch ſchwingen, und einen entſetzlichen Fall thun, der allen Menſchen, die es hoͤren werden, in die Ohren gellen wird! “
Stilling wußte nicht wie ihm ward, alle dieſe Worte waren, als wenn ſie Goldmann in ſeiner Seele geleſen haͤtte. Er fuͤhlte dieſe Wahrheit im Grund ſeines Herzens170 und ſagte mit inniger Bewegung und gefalteten Haͤnden: Gott! Herr Vetter! das iſt wahr! ich fuͤhl’s, ſo wird’s mir gehen.
Goldmann laͤchelte und ſchloß das Geſpraͤch mit den Wor - ten: Ich beginne zu hoffen, Ihr werdet endlich gluͤcklich ſeyn.
Des andern Morgens ſetzte der Richter Goldmann Stil - ling in die Schreibſtube und ließ ihn copiren; da ſah er nun alſofort, daß er ſich vortrefflich zu ſo Etwas ſchicken wuͤrde, und wenn die Frau Richterin nicht ein wenig geizig geweſen waͤre, ſo haͤtte er ihn alſofort zum Schreiber angenommen.
Nach einigen Tagen ging er nach Lahnburg. Der Hof - prediger war in den nahgelegenen vortrefflichen Thiergarten gegangen. Stilling ging ihm nach und ſuchte ihn daſelbſt auf. Er fand ihn in einem buſchigten Gang wandeln, er ging auf ihn zu, uͤberreichte ihm den Brief und gruͤßte ihn von den Herren Goldmann Vater und Sohn. Herr Schnee - berg kannte Stillingen, ſobald als er ihn ſah; denn ſie hatten ſich einmal in Salen geſehen und geſprochen. Nach - dem Herr Schneeberg den Brief geleſen hatte, ſo erſuchte er Stilling, mit ihm bis an Sonnenuntergang ſpazieren zu gehen und ihm indeſſen ſeine ganze Geſchichte zu erzaͤhlen. Er thats mit der gewoͤhnlichen Lebhaftigkeit, ſo daß der Hof - prediger zuweilen die Augen wiſchte.
Des Abends nach dem Eſſen ſagte Herr Schneeberg zu Stilling: Hoͤren Sie, mein Freund! ich weiß ein Etabliſ - ſement fuͤr Sie, und das ſoll Ihnen verhoffentlich nicht fehl - ſchlagen. Nur Eins iſt hier die Frage: Ob Sie ſich getrauen, demſelben mit Ehren vorzuſtehen?
„ Die Prinzeſſinnen haben hier in der Naͤhe ein ergiebiges „ Bergwerk, nebſt einer dazu gehoͤrigen Schmelzhuͤtte. Sie „ muͤſſen daſelbſt einen Mann haben, der das Berg - und Huͤt - „ tenweſen verſteht, dabei treu und redlich iſt und uͤberall das „ Intereſſe Ihrer Durchlauchten wohl beſorgt und in Acht nimmt. „ Der jetzige Verwalter zieht kuͤnftiges Fruͤhjahr weg, und „ alsdann waͤr’ es Zeit, dieſen vortheilhaften Dienſt anzutreten; „ Sie bekommen da Haus, Hof, Garten und Laͤndereien frei, „ nebſt dreihundert Gulden jaͤhrlichen Gehalt. Hier hab’ ich „ alſo zwei Fragen an Sie zu thun. Verſtehen Sie das Berg -171 „ und Huͤttenweſen hinlaͤnglich, und getrauen Sie ſich wohl, „ einen verrechnenden Dienſt zu uͤbernehmen? “
Stilling konnte ſeine herzliche Freude nicht bergen. Er antwortete: Was das Erſte betrifft, ich bin unter Kohlbren - nern, Berg - und Huͤttenleuten erzogen, und was mir etwa noch fehlen moͤchte, das kann ich dieſen folgenden Winter noch einholen. Schreiben und Rechnen, daran wird wohl kein Man - gel ſeyn. Das Andere: ob ich treu genug ſeyn werde, das iſt eine Frage, wo meine ganze Seele Ja dazu ſagt; ich verab - ſcheue jede Untreue, wie den Satan ſelber!
Der Hofprediger erwiederte: Ja, ich glaube gern, daß es Ihnen an uͤberfluͤſſiger Geſchicklichkeit nicht mangeln wird, davon hab’ ich ſchon gehoͤrt, als ich im Salen’ſchen Lande war. Allein, Sie ſind ſo ſicher in Anſehung der Treue. Die - ſen Artikel kennen Sie noch nicht. Ich gebe Ihnen zu, daß Sie jede wiſſentliche Untreue wie den Satan haſſen; allein es iſt hier eine beſondere Art von kluger Treue noͤthig, die koͤnnen Sie nicht kennen, weil Sie keine Erfahrung davon haben. Zum Beiſpiel: Sie ſtaͤnden in einem ſolchen Amt, nun ging Ihnen einmal das Geld aus, Sie haͤtten etwas in der Haushaltung noͤthig, haͤtten’s aber ſelber nicht und wuͤßtens auch nicht zu bekommen; wuͤrden Sie da nicht an die herrſchaftliche Kaſſe gehen und das Noͤthige herausnehmen?
Ja! ſagte Stilling, das wuͤrde ich kuͤhn thun, ſo lang ich noch Gehalt zu fordern haͤtte.
Ich geb Ihnen das einſtweilen zu, verſetzte Herr Schnee - berg, aber dieſe Gelegenheit macht endlich kuͤhner, man wird deſſen ſo gewohnt, man bleibt das erſte Jahr zwanzig Gulden ſchuldig, das andere vierzig, das dritte achtzig, das vierte zwei - hundert und ſo fort, bis man entlaufen oder ſich als einen Schel - men ſetzen laſſen muß. Denken Sie nicht, das hat keine Noth! — Sie ſind guͤtig von Temperament, da kommen bald vornehme und geringe Leute, die das merken. Sie werden taͤg - lich mit einer Flaſche Wein nicht auskommen, und blos dieſer Artikel nimmt Ihnen jaͤhrlich ſchon hundert Gulden weg, ohne dasjenige, was noch dazu gehoͤrt, die Kleider fuͤr Sie und die172 Haushaltung auch hundert; nun! — meinen Sie denn, mit den uͤbrigen hundert Gulden noch auszukommen!
Stilling antwortete: Davor muß man ſich huͤten.
Ja! fuhr der Hofprediger fort, freilich muß man ſich huͤten, aber wie wuͤrden Sie das anfangen?
Stilling verſetzte: Ich wuͤrde den Leuten, die mich beſuch - ten, aufrichtig ſagen: Herren oder Freunde! meine Umſtaͤnde leiden nicht, daß ich Wein praͤſentire, womit kann ich Ihnen ſonſt dienen?
Herr Schneeberg lachte. Ja, ſagte er, das geht wohl an, allein es iſt doch ſchwerer, als Sie denken. Hoͤren Sie! ich will Ihnen etwas ſagen, das Ihnen Ihr ganzes Leben lang nuͤtzlich ſeyn wird, Sie moͤgen in der Welt werden, was Sie wollen: Laſſen Sie Ihren aͤußern Aufzug und Betragen in Klei - dung, Eſſen, Trinken und Auffuͤhrung immer mittelmaͤßig buͤr - gerlich ſeyn, ſo wird Niemand mehr von Ihnen fordern, als Ihre Auffuͤhrung ausweist; komm ich in ein ſchoͤn meublirtes Zimmer, bei einem Mann in koſtbarem Kleide, ſo frag’ ich nicht lange, weß Standes er ſey, ſondern ich erwarte eine Flaſche Wein und Confect; komm ich aber in ein buͤrgerliches Zimmer bei einem Mann in buͤrgerlichem Kleide, ei ſo erwarte ich nichts weiter, als ein Glas Bier und eine Pfeife Tabak.
Stilling erkannte die Wahrheit dieſer Erfahrung, er lachte und ſagte: das iſt eine Lehre, die ich niemals vergeſſen werde.
Und doch, mein lieber Frennd, fuhr der Hofprediger fort, iſt ſie ſchwerer in Ausuͤbung zu bringen, als man denkt. Der alte Adam kitzelt ſich ſo leicht damit, wenn man ein Ehren - aͤmtchen kriegt, o wie ſchwer iſts alsdann, noch immer der alte Stilling zu bleiben! Man heißt nun gerne Herr Stilling, moͤchte auch gerne ſo ein ſchmales Treßchen an der Weſte haben, und das wachst dann nach und nach, bis man feſt ſitzt und ſich nicht zu helfen weiß. Nun, mein Freund! Punctum. Ich will helfen, was ich kann, damit Sie Bergverwalter werden.
Stilling konnte die Nacht vor Freuden nicht ſchlafen. Er ſah ſich ſchon in einem ſchoͤnen Hauſe wohnen, ſah eine Menge ſchoͤner Buͤcher in einer aparten Stube ſtehen, verſchiedene ſchoͤne mathematiſche Inſtrumente da haͤngen, mit Einem Wort, ſeine173 ganze Einbildung war ſchon mit ſeinem zukuͤnftigen gluͤckſeligen Zuſtand beſchaͤftiget.
Des andern Tages blieb er noch zu Lahnburg. Der Hof - prediger gab ſich alle Muͤhe, um gewiſſe Hoffnung wegen der bewußten Bedienung Stillingen mitzugeben, und es gelang ihm auch. Die ganze Sache wurde ſo zu ſagen beſchloſſen, und Stilling ging, vor Freude trunken, zuruͤck nach Roth - hagen zu Vetter Goldmann. Dieſem erzaͤhlte er die ganze Sache. Herr Goldmann mußte herzlich lachen, als er Stil - ling mit ſolchem Enthuſiasmus reden hoͤrte. Als er ausge - redet hatte, fing der Richter an: O Vetter! Vetter! wo will’s doch mit Euch hinaus? — Das iſt eine Stelle, die Euch Gott im Zorn gibt, wenn Ihr ſie bekommt, das iſt der gerade Weg zu Eurem gaͤnzlichen Verderben, und das will ich Euch bewei - ſen: ſobald Ihr da ſeyd, fangen alle Hofſchranzen an, Euch zu beſuchen und ſich bei Euch luſtig zu machen; leidet Ihr das nicht, ſo ſtuͤrzen ſie Euch, ſobald ſie koͤnnen, und laßt Ihr ih - nen ihre Freiheit, ſo reicht Euer Gehalt nicht halb zu.
Stilling erſchrack, als er ſeinen Vetter ſo reden hoͤrte; er erzaͤhlte ihm darauf alle die guten Lehren, die ihm der Hofpre - diger gegeben hatte.
Die Prediger koͤnnen das ſehr ſelten, ſagte Herr Gold - mann. Sie moraliſiren gut und ein braver Prediger kann auch in ſeinem Cirkel gut moraliſch leben, aber! aber! wir Andern koͤnnen das ſo nicht; man fuͤhrt die Geiſtlichen nicht ſo leicht in Verſuchung, als andere Leute. Sie haben gut ſagen! — Hoͤrt, Vetter! alle moraliſchen Predigten ſind nicht einen Pfifferling werth, der Verſtand beſtimmt niemalen unſre Handlungen, wenn die Leidenſchaften etwas ſtark dabei intereſ - ſirt ſind, das Herz macht allezeit ein Maͤntelchen darum und uͤberredet uns: ſchwarz ſey weiß! — Vetter! ich ſag Euch eine groͤßere Wahrheit, als Freund Schneeberg. Wer nicht dahin kommt, daß das Herz mit einer ſtar - ken Leidenſchaft Gott liebt, den hilft alles Mora - liſiren ganz und gar nichts. Die Liebe Gottes allein macht uns tuͤchtig, moraliſch gut zu wer - den. Dieſes ſey Euch ein Notabene, Vetter Stilling!174 und nun bitt’ ich Euch, gebt dem Herrn Berg-Verwalter ſei - nen ehrlichen Abſchied und bewillkommt die arme Naͤhnadel mit Freuden, ſo lang, bis Euch Gott hervorziehen wird. Ihr ſeyd mein lieber Vetter Stilling, und wenn Ihr auch nur ein Schneider ſeyd. Summa Summarum! ich will das ganze Ding ruͤckgaͤngig machen, ſobald ich nach Lahnburg komme.
Stilling konnte vor Empfindung des Herzens die Thraͤ - nen nicht einhalten. Es ward ihm ſo wohl in ſeiner Seele, daß er es nicht ausſprechen konnte. O! ſagte er, Herr Vet - ter! wahr iſt das! Woher erlang’ ich aber doch Kraft, um meinem teufliſchen Hochmuth zu widerſtehen! — ein, zwei, drei Tage! — und dann bin ich todt. — Was hilfts mich dann, ein großer, vornehmer Mann in der Welt geweſen zu ſeyn? — Ja, es iſt wahr! — Mein Herz iſt die falſcheſte Kreatur auf Gottes Erdboden, immer mein’ ich, ich haͤtte die Abſicht, nur mit meinen Wiſſenſchaften Gott und dem Naͤch - ſten zu dienen — und wahrlich! — es iſt nicht wahr! ich will nur gern ein großer Mann werden, gern hoch klimmen, um nur auch tief fallen zu koͤnnen. O! wo krieg ich Kraft, mich ſelber zu uͤberwinden?
Goldmann konnte ſich nicht mehr enthalten. Er weinte, fiel Stillingen um den Hals und ſagte: Edler! edler Vet - ter! ſeyd getroſt; dieſes treue Herz wird Gott nicht fahren laſſen. Er wird euer Vater ſeyn. Kraft erlangt man nur durch Arbeit; der Hammerſchmid kann einen Centner Eiſen unter dem Hammer hin und her wenden, wie einen leichten Stab, das iſt uns Beiden unmoͤglich, und ſo kann ein Menſch, der durch Pruͤfungen geuͤbt iſt, mehr uͤberwinden, als ein Mutterſoͤhnchen, das immer an der Bruſt ſaugt und nichts erfahren hat. Getroſt, Vetter! freut Euch nur, wenn Truͤb - ſale kommen, und glaubt alsdann, daß Ihr auf Gottes Uni - verſitaͤt ſeyd, der etwas aus Euch machen will! —
Des andern Tages reiste alſo Stilling getroͤſtet und ge - ſtaͤrkt wiederum nach ſeinem Vaterland. Der Abſchied von Herrn Goldmann koſtete ihn viele Thraͤnen, er glaubte, daß er der rechtſchaffenſte Mann ſey, den er je geſehen hatte, und ich glaube jetzt auch noch, daß Stilling recht gehabt habe. 175So ein Mann mag wohl Goldmann heißen; wie er ſprach, ſo handelte er auch; wenn er noch lebt und liest dieſes, ſo wird er weinen und ſein Gefuͤhl dabei wird engliſch ſeyn.
Auf der Heimreiſe nahm ſich Stilling feſt vor, ruhig am Schneiderhandwerk zu bleiben und nicht wieder ſo eitle Wuͤnſche zu hegen; diejenigen Stunden aber, die er frei ha - ben wuͤrde, wollte er ferner dem Studiren widmen. Doch als er nahe zu Leindorf kam, fuͤhlte er ſchon wieder die Melancholie anklopfen. Inſonderheit fuͤrchtete er die Vorwuͤrfe ſeines Vaters, ſo daß er alſo ſehr niedergeſchlagen zur Stu - benthuͤre hereintrat.
Wilhelm ſaß mit einem Lehrjungen am Tiſch und naͤhte. Er gruͤßte ſeinen Vater und ſeine Mutter, ſetzte ſich ſtill hin und ſchwieg. Wilhelm ſchwieg auch eine Weile, endlich legte er ſeinen Fingerhut nieder, ſchlug die Arme uͤber einan - der und fing an:
Heinrich! ich hab’ alles gehoͤrt, was dir abermals zu Kleefeld widerfahren iſt; ich will dir keine Vorwuͤrfe machen; das ſehe ich aber klar ein, es iſt Gottes Wille nicht, daß du ein Schulmeiſter werden ſollſt. Nun gib dich doch einmal ruhig aus Schneiderhandwerk und arbeite mit Luſt. Es fin - det ſich noch ſo manches Stuͤndchen, wo du deine Sachen fortſetzen kannſt.
Stilling aͤrgerte ſich recht uͤber ſich ſelber und befeſtigte ſeinen Vorſatz, den er unterwegs gefaßt hatte. Er antwortete deßwegen ſeinem Vater: Ja, Ihr habt ganz recht! ich will beten, daß mir unſer Herr Gott die Sinnen aͤndern moͤge! Und ſo ſetzte er ſich hin und fing wieder an zu Naͤhen. Die - ſes geſchah vierzehn Tage nach Michaelis Anno 1760, als er ins einundzwanzigſte Jahr getreten war.
Wenn er nun weiter nichts zu thun gehabt haͤtte, als auf dem Handwerk zu arbeiten, ſo wuͤrde er ſich beruhigt und in die Zeit geſchickt haben; allein ſein Vater ſtellte ihn auch aus Dreſchen. Er mußte den ganzen Winter durch des Morgens fruͤh um zwei Uhr aus dem Bett und auf die kalte Dreſch - tenne. Der Flegel war ihm erſchrecklich. Er bekam die Haͤnde voller lichter Blaſen, und ſeine Glieder zitterten vor Schmerzen176 und Muͤdigkeit, allein das half alles nichts, vielleicht haͤtte ſich ſein Vater uͤber ihn erbarmt, allein die Mutter wollte haben, daß ein jeder im Hauſe Brod und Kleider verdienen ſollte. Dazu kam noch ein Umſtand. Stilling konnte mit dem Schullohn niemals auskommen, denn er iſt in daſigen Gegenden außeror - dentlich klein; fuͤnf und zwanzig Reichsthaler des Jahrs iſt das Hoͤchſte, was einer bekommen kann; Speiſe und Trank geben einem die Bauern um die Reihe. Daher koͤnnen die Schulmeiſter alle ein Handwerk, welches ſie in den uͤbrigen Stunden treiben, um ſich deſto beſſer durchzuhelfen. Das war aber nun Stillings Sache nicht, er wußte in der uͤbrigen Zeit weit was Angenehmeres zu verrichten; dazu kam noch, daß er zuweilen ein Buch oder ſonſt Etwas kaufte, das in ſei - nem Kram diente, daher gerieth er in duͤrftige Umſtaͤnde, ſeine Kleider waren ſchlecht und abgetragen, ſo daß er ausſah, als einer, der gern will und kann nicht.
Wilhelm war ſparſam, und ſeine Frau in einem noch hoͤhern Grade; dazu bekam ſie verſchiedene Kinder nach einander, ſo daß der Vater Muͤhe genug hatte, ſich und die Seinigen zu naͤhren. Nun glaubte er, ſein Sohn waͤre groß und ſtark ge - nug, ſich ſeine Nothdurft ſelbſt zu erwerben. Als das nun ſo nicht recht fort wollte, wie er dachte, ſo wurde der gute Mann traurig und fing an zu zweifeln, ob ſein Sohn auch wohl end - lich gar ein liederlicher Taugenichts werden koͤnnte. Er fing an, ihm ſeine Liebe zu entziehen, fuhr ihn rauh an und zwang ihn, alle Arbeit zu thun, es mochte ihm ſauer werden oder nicht. Dieſes war nun vollends der letzte Stoß, der Stil - lingen noch gefehlt hatte. Er ſah, daß ers auf die Laͤnge nicht aushalten wuͤrde; ihm grauete vor ſeines Vaters Haus, deßwegen ſuchte er Gelegenheit, bei andern Schneidermeiſtern als Geſelle zu arbeiten, und dieſes ließ ſein Vater gern geſchehen.
Doch kamen auch zuweilen noch freudige Blicke dazwiſchen. Johann Stilling wurde wegen ſeiner großen Geſchicklich - keit in der Geometrie, Markſcheidekunſt und Mechanik, und wegen ſeiner Treue fuͤrs Vaterland, zum Commercien-Praͤſi - denten gemacht, deßwegen uͤbertrug er ſeinem Bruder die Land - meſſerei, welche Wilhelm auch aus dem Grunde verſtand. 177Wenn er nun einige Wochen ins Maͤrkiſche ging, um Buͤſche, Berge und Guͤter zu meſſen und zu theilen, ſo nahm er ſeinen Sohn mit, und dieſes war ſo recht nach Stillings Sinn. Er lebte dann in ſeinem Element, und ſein Vater hatte Freude daran, daß ſein Sohn beſſere Einſichten davon hatte, als er ſelber. Dieſes gab oftmalen zu allerhand Geſpraͤchen und Projekten Anlaß, welche Beide in der Einoͤde zuſammen wech - ſelten. Indeſſen war alles fruchtlos, und beſtand in bloßen leeren Worten. Oefters beobachteten ihn Leute, die in großen Geſchaͤften ſtanden, und die wohl Jemand gebraucht haͤtten. Dieſe bewunderten ſeine Geſchicklichkeit; allein ſein ſchlechter Aufzug mißfiel einem Jeden, der ihn ſah, und man urtheilte ingeheim von ihm, er muͤßte wohl ein Lump ſeyn. Das merkte er, und es brachte ihm unertraͤgliche Leiden. Er liebte ſelber ein reinliches, ehrbares Kleid uͤber die Maßen, allein ſein Vater konnte ihn nicht damit verſehen, und ließ ihn darben.
Dieſe Zeiten waren kurz und voruͤbergehend; ſobald er wie - der nach Haus kam, ſo ging das Elend wieder an. Stil - ling machte ſich alsdann bald wieder zu einem fremden Mei - ſter, um dem Joch zu entgehen. Doch reichte ſein Verdienſt lange nicht zu, um ſich ordentlich zu kleiden.
Einſtmals kam er nach Hauſe. Er hatte auf einem benach - barten Dorfe gearbeitet, und wollte etwas holen; er dachte an nichts Widriges, und trat deßwegen freimuͤthig in die Stube. Sein Vater ſprang auf, ſobald er ihn ſah, griff ihn und wollte ihn zur Erde werfen; Stilling aber ergriff ſeinen Vater an beiden Armen, hielt ihn ſo, daß er ſich nicht regen konnte, und ſah ihm mit einer Miene ins Geſicht, die einen Felſen haͤtte ſpalten koͤnnen. Und wahrlich! wenn er jemalen die Macht der Leiden in all’ ihrer Kraft auf ſein Herz hat ſtuͤrmen ſehen, ſo war es in dieſem Zeitpunkte. Wilhelm konnte dieſen Blick nicht ertragen — er ſuchte ſich loszureißen; allein er konnte ſich nicht regen; die Arme und Haͤnde ſeines Sohns waren feſt wie Stahl, und convulſiviſch geſchloſſen. Vater! ſprach er ſanftmuͤthig und durchdringend, Vater! — Euer Blut fleußt in meinen Adern, und das Blut — das BlutStilling’s ſämmtl. Schriften. I. Band. 12178eines ſeligen Engels — reizt mich nicht zur Wuth! — ich verehre Euch — ich liebe Euch — aber — hier ließ er ſeinen Vater los, ſprang gegen das Fenſter und rief: „ ich moͤchte ſchreien, daß die Erdkugel an ihrer Achſe bebte und die Sterne zitterten. “— Nun trat er ſeinem Vater wieder naͤher und ſprach mit ſanfter Stimme: „ Vater, was hab’ ich gethan, was ſtrafwuͤrdig iſt? “— Wilhelm hielt beide Haͤnde vors Geſicht, ſchluchzte und weinte. Stilling aber ging in einen abgelegenen Winkel des Hanſes und heulte laut.
Des Morgens fruͤh packte Stilling ſeinen Buͤndel, und ſagte zu ſeinem Vater: Ich will außer Land auf mein Hand - werk reiſen, laßt mich im Frieden ziehen; und die Thraͤnen ſchoſſen ihm wieder die Wangen herunter. Nein, ſagte Wil - helm, ich laß dich jetzt nicht ziehen, und weinte auch. Stil - ling konnte das nicht ertragen, und blieb. Dieſes geſchah 1761 im Herbſt.
Kurz hernach fand ſich zu Florenburg ein Schneider-Mei - ſter, der Stilling auf einige Wochen in Arbeit verlangte. Er ging hin und half dem Mann Naͤhen. Des folgenden Sonn - tags ging er nach Tiefenbach, um ſeine Großmutter zu beſu - chen. Er fand ſie am gewohnten Platz hinter dem Ofen ſitzen. Sie erkannte ihn bald an der Stimme, denn ſie war ſtaarblind und konnte ihn alſo nicht ſehen. Heinrich, ſagte ſie, komm, ſetze dich hier neben mich! Stilling that das. Ich habe gehoͤrt, fuhr ſie fort, daß dich dein Vater hart haͤlt, iſt wohl deine Mutter ſchuld daran? Nein, ſagte Stilling, ſie iſt nicht ſchuld daran, ſondern meine betruͤbten Umſtaͤnde.
„ Hoͤr, ſagte die ehrwuͤrdige Frau, es iſt dunkel um mich her, aber in meinem Herzen iſt’s deſto heller; ich weiß, es wird dir gehen wie einer gebaͤhrenden Frau, mit vielen Schmerzen mußt du gebaͤren, was aus dir werden ſoll. Dein ſeliger Großvater ſah das alles voraus. Ich denk’ mein Lebtag daran, wir la - gen einmal des Abends auf dem Bette und konnten nicht ſchla - fen. Da ſprachen wir dann ſo von unſern Kindern und auch von dir, denn du biſt mein Sohn und ich habe dich erzogen. Ja, ſagte er, Margrethe! wenn ich doch noch erleben moͤchte, was aus dem Jungen wird. Ich weiß nicht: Wilhelm —179 wird noch in die Klemme kommen, ſo ſtark als er jetzt das Chri - ſtenthum treibt, wird ers nicht ausfuͤhren, er wird ein frommer, ehrlicher Mann bleiben, aber er wird noch was erfahren. Denn er ſpart gern und hat Luſt zu Geld und Gut. Er wird wie - der heirathen, und dann werden ſeine gebrechlichen Fuͤße dem Kopf nicht folgen koͤnnen. Aber der Junge, der liebt nicht Geld und Gut, ſondern Buͤcher, und davon laͤßt ſichs im Bauernſtand nicht leben. Wie die beiden zuſammen ſtallen werden, weiß ich nicht! — Aber der Junge wird doch am Ende gluͤcklich ſeyn, das kann nicht fehlen. Wenn ich eine Axt mache, ſo will ich damit hauen, und wozu unſer Herr Gott einen Menſchen ſchafft, dazu will er ihn auch brauchen! “
Stilling war’s, als wenn er im dunkeln Heiligthum geſeſ - ſen und ein Orakel gehoͤrt haͤtte, es war, als wenn er entzuͤckt waͤre und aus der dunkeln Gruft ſeines Großvaters die gewohnte Stimme ſagen hoͤrte: „ Sey getroſt, Heinrich, der Gott deiner Vaͤter wird mit dir ſeyn! “
Nun redete er noch ein und anderes mit ſeiner Großmutter. Sie ermahnte ihn, geduldig und großmuͤthig zu ſeyn, er ver - ſprachs mit Thraͤnen und nahm Abſchied von ihr. Als er vor die Thuͤr kam, uͤberſah er ſeine alte romantiſche Gegenden; die Herbſtſonne ſchien ſo hell und ſchoͤn daruͤber hin, und da es noch fruͤh am Tage war, ſo beſchloß er, alle dieſe Oerter noch ein - mal zu beſuchen, und uͤber das alte Schloß nach Florenburg zuruͤckzugehen. Er ging alſo den Hof hinauf und in den Wald; er fand noch alle die Gegenden, wo er ſo viele Suͤßigkeiten ge - noſſen hatte, aber der eine Strauch war verwachſen und der andere ausgerottet, das that ihm leid. Er ſpazierte langſam den Berg hinauf bis aufs Schloß, auch da waren viele Mauern umgefallen, die in ſeiner Jugend noch geſtanden hatten; alles war veraͤndert; nur der Hollunderſtrauch auf dem Wall weſt - waͤrts ſtand noch.
Er ſtellte ſich auf die hoͤchſte Spitze zwiſchen die Ruinen, er konnte da uͤber alles hinwegſehen. Nun uͤberſchaute er den Weg von Tiefenbach nach Zellberg. Ihm traten alle die ſchoͤ - nen Morgen vor ſeine Seele, mit ihrem herrlichen Genuß, den er die Strecke herauf empfunden hatte. Nun blickte er nord -12 *180waͤrts in die Ferne, und ſah einen hohen blauen Berg; er er - kannte, daß dieſer Berg nahe bei Dorlingen war; nun traten ihm alle dortigen Scenen klar vors Gemuͤth, ſein Schickſal auf der Rauchkammer und alles andere, was er da gelitten hatte. Nun ſah er weſtwaͤrts die Leindorfer Wieſen in der Ferne liegen, er fuhr zuſammen und es ſchauderte ihm in allen Glie - dern. Suͤdwaͤrts ſah er die Preiſinger Berge mit der Haide, wo Anna ihr Lied ſang. Suͤdweſtwaͤrts fielen ihm die Klee - felder Gefilde in die Augen, und mit Einemmal uͤberdachte er ſein kurzes und muͤhſeliges Leben. Er ſank auf die Knie, weinte laut und betete feurig zum Allmaͤchtigen um Gnade und Erbarmen. Nun ſtand er auf, ſeine Seele ſchwamm in Em - pfindungen und Kraft; er ſetzte ſich neben den Hollunderſtrauch, nahm ſeine Schreibtafel aus der Taſche und ſchrieb:
Vergnuͤgt ſtand nun Stilling auf, und ſteckte ſeine Schreib - tafel in die Taſche. Er ſah, daß der Rand der Sonne auf den ſieben Bergen zitterte. Es ſchauerte etwas um ihn her, er fuhr zuſammen und eilte fort, iſt auch ſeitdem nicht wieder dahin gekommen.
Er hatte jetzt die wenigen Wochen, welche er zu Florenburg war, eine ſehr ſonderbare Gemuͤthsbeſchaffenheit. Er war traur - rig, aber mit einer ſolchen Zaͤrtlichkeit vermiſcht, daß man wuͤn - ſchen ſollte, auf ſolche Weiſe immer traurig zu ſeyn. Die Quelle von dieſem ſeltſamen Zuſtand hat er nie entdecken koͤnnen. Doch glaub’ ich, die haͤuslichen Umſtaͤnde ſeines Meiſters trugen viel dazu bei; es war eine ſo ruhige Harmonie in dieſem Hauſe; was Einer wollte, das wollte auch der Andere. Dazu hatte er auch eine große wohlgezogene Tochter, die man mit Recht un -182 ter die groͤßten Schoͤnheiten des ganzen Landes zaͤhlen mußte. Dieſe ſang unvergleichlich und konnte einen Vorrath von vielen ſchoͤnen Liedern.
Stilling ſpuͤrte, daß er mit dieſem Maͤdchen ſympathiſirte, und ſie auch mit ihm, doch ohne Neigung, ſich zu heirathen. Sie konnten Stunden lang zuſammenſitzen und ſingen, oder ſich etwas erzaͤhlen, ohne daß etwas Vertrauliches mit unterlief, als blos zaͤrtliche Freundſchaft. Was aber endlich daraus haͤtte werden koͤnnen, wenn dieſer Umgang lange gedauert haͤtte, das will ich nicht unterſuchen. Indeſſen genoß doch Stilling die Zeit manche vergnuͤgte Stunde; und dieſes Vergnuͤgen wuͤrde voll - kommner geweſen ſeyn, wenn er nicht noͤthig gehabt haͤtte, wie - der zuruͤck nach Leindorf zu gehen.
An einem Sonntag Abend ſaß Stilling mit Lieschen (ſo hieß das Maͤdchen) am Tiſch und ſangen zuſammen. Ob nun das Lied einigen Eindruck auf ſie machte, oder ob ihr ſonſt etwas Trauriges einfiel, weiß ich nicht, ſie fing herzlich an zu weinen. Stilling fragte ſie, was ihr fehlte? Sie ſagte aber nichts, ſondern ſtand auf und ging fort, kam auch dieſen Abend nicht wieder. Sie blieb von der Zeit an melancholiſch, ohne daß Stilling damals gewahr wurde, warum. Dieſe Veraͤn - derung machte ihm Unruhe, und zu einer andern Zeit, da ſie beide wiederum allein waren, ſetzte er ſo hart an ſie, daß ſie endlich folgender Geſtalt anfing:
„ Heinrich, ich kann und darf dir nicht ſagen, was mir fehlt, ich will dir aber etwas erzaͤhlen: Es war einmal ein Maͤd - chen, das war gut und fromm, und hatte keine Luſt zu unzuͤch - tigem Leben; aber ſie hatte ein zaͤrtliches Herz, auch war ſie ſchoͤn und tugendſam. “
„ Dieſe ging an einem Abend auf ihrer Schlafkammer ans Fenſter zu ſtehen, der Vollmond ſchien ſo ſchoͤn in den Hof, es war Sommer und alles draußen ſo ſtill. Sie bekam Luſt, noch ein wenig herausgehen. Sie ging ſtill zur Hinterthuͤr hinaus in den Hof und aus dem Hof auf die Wieſe, die daran ſtieß. Hier ſetzte ſie ſich unter eine Hecke in den Schatten und ſang mit leiſer Stimme: „ Weicht quaͤlende Gedanken! “ (Die - ſes war eben das Lied, welches Lieschen den Sonntag Abend183 mit Stilling ſang, als ſie ſo außerordentlich traurig wurde.) „ Nachdem ſie ein paar Verſe geſungen hatte, kam ein wohlbe - kannter Juͤngling zu ihr, der gruͤßte ſie und fragte: Ob ſie wohl ein klein wenig mit ihm die Wieſen herunter ſpazieren wollte? Sie thats nicht gern, doch als er ſie ſehr noͤthigte, ſo ging ſie mit. Als ſie nun eine Strecke zuſammen gewandelt hatten, ſo wurde dem Maͤdchen auf einmal alles fremd. Sie befand ſich in einer ganz unbekannten Gegend, der Juͤngling aber ſtand lang und weiß neben ihr, wie ein Todter, der auf der Bahre liegt, und ſah ſie erſchrecklich an. Dem Maͤdchen wurde tod - bange, und ſie betete recht herzlich, daß ihr doch der liebe Gott gnaͤdig ſeyn moͤchte. Nun drehte ſich der Juͤngling auf einmal mit dem Arm herum und ſprach mit holder Stimme: Da ſieh, wie es dir ergehen wird! ſie ſah vor ſich hin eine Weibsperſon ſtehen, welche ihr ſelbſten ſehr aͤhnlich oder wohl gar aͤhnlich war; ſie hatte alte Lumpen anſtatt der Kleider um ſich hangen, und ein kleines Kind auf dem Arm, welches eben ſo aͤrmlich ausſahe. Sieh! ſagte der Geiſt ferner, das iſt ſchon das dritte unehliche Kind, das du haben wirſt. Das Maͤdchen erſchrack und ſank in Ohnmacht. Als ſie wieder zu ſich ſelber kam, da lag ſie in ihrem Bett und ſchwitzte vor Angſt, ſie glaubte aber, ſie haͤtte getraͤumt. Siehe, Heinrich! das liegt mir immer ſo im Sinn, und deßwegen bin ich traurig. “ Stilling ſetzte hart an ſie mit Fragen, ob ihr das nicht ſelb - ſten paſſirt waͤre? Allein ſie laͤugnete es beſtaͤndig und bezeugte, daß es eine Geſchichte waͤre, die ſie haͤtte erzaͤhlen hoͤren.
Die traurige Lebensgeſchichte dieſer bedauernswuͤrdigen Perſon hat es endlich ausgewieſen, daß ſie dieſe ſchreckliche Ahnung ſel - ber muß gehabt haben; und nun laͤßt es ſich leicht begreifen, warum ſie damals ſo melancholiſch geworden. Ich uͤbergehe ihre Hiſtorie aus wichtigen Gruͤnden, und ſage nur ſo viel: Sie beging ein Jahr hernach eine kleine, ganz wohl zu entſchul - digende Thorheit; dieſe war der erſte Schritt zu ihrem Fall, und dieſer die Urſache ihrer folgenden ſchweren und betruͤbten Schickſale. Sie war eine edle Seele, begabt mit vortrefflichen Leibes - und Geiſtes-Gaben; nur ein Hang zur Zaͤrtlichkeit, mit etwas Leichtſinn verbunden, war die entfernte Urſache ihres Un -184 gluͤcks. Aber ich glaube, Ihr Schmelzer wird ſitzen, und ſie wie Gold im Feuer laͤutern, und wer weiß, ob ſie nicht der - maleinſt heller glaͤnzen wird, als ihr Richter, die ihr das Hei - rathen verboten, und wann ſie dann ein Kind von ihrem ver - lobten Braͤutigam zur Welt brachte, ſo mußte ſie mit dem Merk - zeichen einer Erzhure am Pranger ſtehen. Wehe den Geſetzge - bern, welche! — doch ich muß einhalten, ich werde nichts beſſern, wohl aber die Sache verſchlimmern. Noch ein Weh mit einem Fluch. Weh den Juͤnglingen, welche ein armes Maͤdchen blos als ein Werkzug der Wolluſt anſe - hen, und verflucht ſey der vor Gott und Menſchen, der ein gutes frommes Kind zu Fall bringt und ſie hernach im Elend verderben laͤßt!
Herr Paſtor Stollbein hatte indeſſen Stilling zu Flo - renburg entdeckt, und er ließ ihn rufen, als er die letzte Woche daſelbſt bei ſeinem Meiſter war. Er ging hin. Stollbein ſaß in einem Seſſel und ſchrieb. Stilling ſtellte ſich hin, mit dem Hut unter dem Arm.
„ Wie gehts? Stilling! “fragte der Prediger.
Mir gehts ſchlecht, Herr Paſtor, gerad wie der Taube Noaͤ, die nicht fand, wo ihr Fuß ruhen konnte.
„ So geht in den Kaſten! “
Ich kann die Thuͤr nicht finden.
Stollbein lachte herzlich und ſagte: „ Das kann wohl ſeyn. Euer Vater und ihr nahmets mir gewiß uͤbel, als ich eurem Ohm Simon ſagte: Ihr ſolltet Naͤhen, denn kurz darauf gin - get ihr ins Preußiſche und wolltet dem Paſtor Stollbein zu Trotz Schulhalten. Ich habs wohl gehoͤrt, wie’s gegangen hat. Nun, da Ihr lang herumgeflattert habt und die Thuͤre nicht finden koͤnnt, ſo iſts wieder an mir, daß ich Euch eine zeige. “
O Herr Paſtor! ſagte Stilling: Wenn Sie mir zur Ruhe helfen koͤnnen, ſo will ich Sie lieben als einen Engel, den Gott zu meiner Huͤlfe geſandt hat.
„ Ja, Stilling! jetzt iſt Gelegenheit vorhanden, zu welcher ich Euch von Jugend auf beſtimmt hatte, warum ich darauf trieb, daß Ihr Latein lernen ſolltet, warum ich ſo gern ſah, daß Ihr am Handwerk bleibet, als es zu Zellberg nicht mit185 Euch fort wollte. Ich haßte darum, daß Ihr bei Kruͤger wa - ret, weil Euch der gewiß vor und nach auf ſeine Seite und von mir ab wuͤrde gezogen haben, ich durfte aber auch nicht ſagen, warum ich ſo mit Euch verfuhr, ich meinte es aber gut. Waͤrt Ihr am Handwerk geblieben, ſo haͤttet Ihr jetzt Kleider auf dem Leib und ſo viel Geld in der Hand, um Euch helfen zu koͤnnen. Und was haͤtte es Euch denn geſchadet, es iſt ja jetzt noch fruͤh genug fuͤr Euch, um gluͤcklich zu werden. Hoͤrt! die hieſige lateiniſche Schule iſt vacant, Ihr ſollt hier Rector wer - den; Ihr habt Kopf genug, dasjenige bald einzuholen, was Euch etwa noch an Wiſſenſchaften und Sprachen fehlen koͤnnte. “
Stillings Herz erweiterte ſich. Er ſah ſich gleichſam aus einem finſtern Kerker in ein Paradies verſetzt. Er konnte nicht Worte genug finden, dem Paſtor zu danken; wiewohl er doch einen heimlichen Schauer fuͤhlte, wieder eine Schulbedienung anzutreten.
Herr Stollbein fuhr indeſſen fort: „ Nur Ein Knoten iſt hier aufzuloͤſen. Der hieſige Magiſtrat muß dazu diſponirt wer - den, ich habe ſchon in geheim gearbeitet, die Leute ſondirt und ſie geneigt fuͤr Euch gefunden. Allein Ihr wißt, wie’s hier ge - ſtellt iſt, ſobald ich nur anfange, etwas Nuͤtzliches durchzuſetzen, ſo halten ſie mir gerade deßwegen das Widerſpiel, weil ich der Paſtor bin, deßwegen muͤſſen wir ein wenig ſimuliren und ſehen, wie ſich das Ding ſchicken wird. Bleibet Ihr nur ruhig an Eurem Handwerk, bis ich Euch ſage, was Ihr thun ſollt. “
Stilling war zu Allem willig und ging wieder auf ſeine Werkſtatt.
Vor Weihnachten hatte Wilhelm Stilling ſehr viele Klei - der zu machen, daher nahm er ſeinen Sohn zu ſich, damit er ihm helfen moͤchte. Kaum war er einige Tage wieder zu Lein - dorf geweſen, als ein vornehmer Florenburger, der Gerichts - ſchoͤffe Keilhof, zur Stubenthuͤre hereintrat. Stilling bluͤhte eine Roſe im Herzen auf, ihm ahnete ein gluͤcklicher Wechſel.
Keilhof war Stollbeins groͤßter Feind; nun hatte er eine heimliche Bewegung gemerkt, daß man damit umging, Stilling zum Rector zu waͤhlen, und dieſes war ſo recht nach186 ſeinem Sinn. Da er nun gewiß glaubte, der Paſtor wuͤrde ihnen mit aller Macht zuwider ſeyn, ſo hatte er ſchon ſeine Maßregeln genommen, um die Sache deſto maͤchtiger durchzu - ſetzen. Deßwegen ſtellte er Wilhelm und ſeinem Sohn die Sache vor, und hielt darum an, daß Stilling aufs Neujahr zu ihm in ſein Haus ziehen und mit ſeinen Kindern eine Pri - vat-Information in der lateiniſchen Sprache vornehmen moͤchte. Die andern Florenburger Buͤrger wuͤrden alsdann vor und nach ihre Kinder zu ihm ſchicken und die Sache wuͤrde ſich ſo zuſam - menketten, daß man ſie auch gegen Stollbeins Willen wuͤrde durchſetzen koͤnnen.
Dieſe Abſicht war hoͤchſt ungerecht, denn der Paſtor hatte die Aufſicht uͤber die lateiniſche, wie uͤber alle andern Schulen in ſeinem Kirchſpiel, und alſo auch bei jeder Wahl die erſte Stimme.
Stilling wußte die geheime Liegenheit der Sache. Er freute ſich, daß ſich alles ſo gut ſchickte. Doch durfte er die Geſinnung des Predigers nicht entdecken, damit Herr Keilhof nicht alsbald ſeinen Vorſatz aͤndern moͤchte. Die Sache wurde alſo auf dieſe Weiſe beſchloſſen.
Wilhelm und ſein Sohn glaubte nunmehr gewiß, daß das Ende aller Leiden da ſey. Denn die Stelle war anſehnlich und eintraͤglich, ſo daß er ehrlich leben konnte, wenn er auch heira - then wuͤrde. Selbſt die Stiefmutter fing an, ſich zu freuen, denn ſie liebte Stilling wirklich, nur daß ſie nicht wußte, was ſie mit ihm machen ſollte; ſie fuͤrchtete immer, er verdiene Koſt und Trank nicht, geſchweige die Kleider; doch was das letzte betrifft, ſo war er ihr darin noch nie beſchwerlich geweſen, denn er hatte kaum die Nothdurft.
Er zog alſo aufs Neujahr 1762 nach Florenburg bei dem Schoͤffen Keilhof ein und fing ſeine lateiniſche Information an. Als er einige Tage da geweſen war, that ihm Herr Stoll - bein ingeheim zu wiſſen, er moͤchte einmal zu ihm kommen, doch ſo, daß es Niemand gewahr wuͤrde. Dieſes geſchah auch an einem Abend in der Daͤmmerung. Der Paſtor freute ſich von Herzen, daß die Sachen eine ſolche Wendung nahmen. „ Gebt Acht! ſagte er zu Stilling, wenn ſie wegen Eurer187 einmal eins ſind und alles regulirt haben, ſo muͤſſen ſie doch zu mir kommen und meine Einwilligung holen. Weil ſie nun immer gewohnt ſind, dumme Streiche zu machen, ſo ſind ſie auch gewohnt, daß ich ihnen allezeit contrair bin. Wie werden ſie auf ſpitzige Stichelreden ſtudiren? — und wenn ſie dann hoͤren werden, daß ich mit ihnen einer Meinung bin, ſo wird ſie’s wirklich reuen, daß ſie Euch gewaͤhlt haben, allein dann iſts zu ſpaͤt. Haltet Euch ganz ruhig und ſeyd nur brav und fleißig, ſo wirds gut gehen. “
Indeſſen fingen die Florenburger an, des Abends nach dem Eſſen zum Schoͤffen Keilhof zu kommen, um ſich zu berath - ſchlagen, wie man die Sache am beſten angreifen moͤchte, um auf alle Faͤlle gegen den Paſtor geruͤſtet zu ſeyn. Stilling hoͤrte das alles, und oͤfters mußte er hinausgehen, um durch Lachen der Bruſt Luft zu machen.
Unter denen, die zu Keilhof kamen, war ein ſonderlicher Mann, ein Franzoſe von Geburt, der hieß Gayet. So wie nun Niemand wußte, wo er eigentlich her war, deßgleichen ob er lutheriſch oder reformirt war, und warum er des Sommers ebenſowohl wollene Oberſtruͤmpfe mit Knoͤpfen an den Seiten trug, als des Winters; wie auch, woher er an das viele Geld kam, das er immer hatte, ſo wußte auch Niemand, mit wel - cher Partie ers hielt. Stilling hatte dieſen wunderlichen Heiligen ſchon kennen gelernt, als er in die lateiniſche Schule ging. Gayet konnte Niemand leiden, der ein Werkeltags - Menſch war; Leute, mit denen er umgehen ſollte, mußten Feuer und Trieb und Wahrheit und Erkenntniß in ſich haben; wenn er ſo Jemand fand, dann war er offen und vertraulich. Da er nun zu Florenburg Niemand von der Art wußte, ſo machte er ſich ein Plaiſir daraus, ſie Alle zuſammen, den Paſtor mit - gerechnet, zum Narren zu haben. Stilling aber hatte ihm von jeher gefallen, und nun, da er erwachſen und Informator bei Keilhof war, ſo kam er oft hin, um ihn zu beſuchen. Dieſer Gayet ſaß auch wohl des Abends da und hielte Rath mit den andern; dieſes war aber nie ſein Ernſt, ſondern nur, um ſeine Freude an ihnen zu haben. Einſtmals, als ihrer ſechs bis acht recht ernſtlich an der Schulſache uͤberlegten, fing er188 an: „ Hoͤrt, Ihr Nachbarn, ich will Euch was erzaͤhlen: Als ich noch mit dem Kaſten auf dem Ruͤcken laͤngs die Thuͤren ging und Huͤte feil trug, ſo kam ich auch von ungefaͤhr einmal ins Koͤnigreich Siberien, und zwar in die Hauptſtadt Emu - gie; nun war der Koͤnig eben geſtorben und die Reichsſtaͤnde wollten einen Andern waͤhlen. Nun war aber ein Umſtand da - bei, worauf Alles ankam: das Reich Kreuz-Spinn-Land graͤnzt an Siberien, und beide Staaten haben ſich ſeit der Suͤndfluth her immer in den Haaren gelegen, blos aus der Ur - ſache: Die Siberier haben lange in die Hoͤhe ſtehende Ohren, wie ein Eſel, und die Kreuz-Spinn-Laͤnder haben Ohr - lappen, die bis auf die Schulter hangen. Nun war von jeher Streit unter beiden Voͤlkern; Jedes wollte behaupten, Adam haͤtte Ohren gehabt wie ſie. Deßwegen mußte in beiden Laͤn - dern immer ein rechtglaͤubiger Koͤnig erwaͤhlt werden; das beſte Zeichen davon war, wenn Jemand gegen die andere Nation ei - nen unverſoͤhnlichen Haß hatte. Als ich nun da war, ſo hatten die Siberier einen vortrefflichen Mann im Vorſchlag, den ſie nicht ſo ſehr wegen ſeiner Rechtglaͤubigkeit, als vielmehr wegen ſeinen vortrefflichen Gaben, zum Koͤnig machen wollten. Nur er hatte hoch in die Hoͤhe ſtehende Ohren und auch herabhan - gende Ohrlappen, er trug alſo in dem Fall auf beiden Schul - tern; das wollte zwar vielen nicht gefallen, doch man waͤhlte ihn. Nun beſchloß der Reichsrath, daß der Koͤnig mit der wohlgeordneten hochohrigten Armee gegen den langohrigten Koͤ - nig zu Felde ziehen ſollte; das geſchah. Allein, was das einen Allarm gab! — Beide Koͤnige kamen ganz friedlich zuſammen, gaben ſich die Haͤnde und hießen ſich Bruͤder. Alſofort ſetzte man den Koͤnig mit den Zwitterohren wieder ab und ſchnitt ihm die Ohren ganz weg, nun konnt’ er laufen. “
Der Buͤrgermeiſter Scultetus nahm ſeine lange Pfeife aus dem Mund und ſagte: der Herr Gayet iſt doch weit in der Welt umher geweſen. Ja wohl! ſagte ein Anderer, aber ich glaube, er gibt uns einen Stich; er will damit ſagen, wir waͤren alle zuſammen Eſel. Schoͤffe Keilhof aber lachte, blinkte Herrn Gayet heimlich an und ſagte ihm ins Ohr: die Narren verſtehen nicht, daß Sie den Paſtor und ſein Conſiſiorium189 damit meinen. Stilling aber, der ein guter Geographus war und uͤberhaupt die ganze Fabel wohl verſtand, lachte recht herzlich und ſchwieg. Gayet ſagte Keilhof wieder ins Ohr: Sie habens halb und halb errathen.
Nachdem man nun glaubte, ſich in gehoͤrige Sicherheit geſetzt zu haben, ſo ſchickte man um Faſtnacht eine Deputation an den Paſtor ab; Schoͤffe Keilhof ging ſelbſt mit, denn er mußte das Wort fuͤhren. Stilling wurde Zeit und Weile lang, bis ſie wieder kamen, um zu hoͤren, wie die Sache abge - laufen waͤre. Er hoͤrte es auch von Wort zu Wort. Keilhof hatte den Vortrag gethan.
„ Herr Paſtor! wir haben uns einen lateiniſchen Schulmei - ſter ausgeſucht, wir kommen her, um es Ihnen anzukuͤndigen. “
Ihr habt mich aber nicht vorher gefragt, ob ich den auch haben will, den Ihr ausgeſucht habt.
„ Davon iſt die Frage nicht, die Kinder ſind unſer, die Schul iſt unſer und auch der Schulmeiſter. “
Aber welcher unter Euch verſteht wohl ſo viel Latein, um ei - nen ſolchen Schulmeiſter zu pruͤfen, ob er auch wohl zu dem Amte nutzt?
„ Dazu haben wir unſere Leute. “
Der Fuͤrſt aber ſagte: Ich ſoll der Mann ſeyn, der den hie - ſigen Rector examinirt und beſtaͤtiget, verſteht Ihr mich!
„ Deßwegen kommen wir ja auch her. “
Nun dann! ohne Weitlaͤufigkeit — ich hab auch einen aus - geſucht, der gut iſt, — und das iſt — der bekannte Schulmeiſter Stilling!
Keilhof und ſeine Leute ſahen ſich an. Stollbein aber ſtand und laͤchelte mit Triumph, und ſo ſchwieg man eine Weile und ſagte gar nichts.
Keilhof erholte ſich endlich und ſagte: „ Nun denn, ſo ſind wir ja Einer Meinung! “
Ja, Schoͤffe Starrkopf! wir waͤren denn doch endlich ein - mal Einer Meinung! bringt Euern Schulmeiſter her, ich will ihn beſtaͤtigen und einſetzen.
„ So weit ſind wir noch nicht, Herr Paſtor! wir wollen ein190 eigenes Schulhaus fuͤr ihn haben und die lateiniſche Schule von der deutſchen ſepariren. “
(Denn beide Schulen waren vereinigt, jeder Schulmeiſter be - kam das halbe Gehalt, und der lateiniſche half dem deutſchen in den uͤbrigen Stunden.)
Gott verzeih mir meine Suͤnde! da ſaͤet doch der Teufel wie - der ſein Unkraut. Wovon ſoll denn euer Rector leben?
„ Das iſt wiederum unſere Sache und nicht die Ihrige. “
Hoͤrt, Schoͤffe Keilhof! Ihr ſeyd ein recht dummer Kerl! ein Vieh, ſo groß als eins auf Gottes Erdboden geht, — ſcheert Euch nach Haus!
„ Was? Ihr — Ihr — ſcheltet mich? “
Geht, großer Narr! Ihr ſollt nun Euern Stilling nicht haben, ſo wahr ich Paſtor bin! und damit ging er in ſein Ca - binet und ſchloß die Thuͤre hinter ſich zu.
Noch eh der Schoͤffe nach Haus kam, erhielt Stilling Ordre, nach dem Pfarrhaus zu kommen; er ging und dachte nicht an - ders, als er wuͤrde nun zum Rector eingeſetzt werden. Allein wie erſchrack er nicht, als ihn Stollbein folgendergeſtalt an - redete:
„ Stilling! Eure Sache iſt nichts. Wenn ihr nicht ins groͤßte Elend, in Hunger und Kummer gerathen wollt, ſo me - lirt Euch nicht weiter mit den Florenburgern. “
Und hierauf erzaͤhlte ihm der Paſtor alles, was vorgefallen war. Stilling nahm mit groͤßter Wehmuth Abſchied von dem Paſtor. Seyd zufrieden! ſagte Herr Stollbein, Gott wird Euch noch ſegnen und gluͤcklich machen, bleibt nur an Eu - rem Handwerk, bis ich Euch ſonſt anſtaͤndig verſorgen kann.
Die Florenburger wurden indeſſen boͤs auf Stilling, weil er, wie ſie glaubten, heimlich mit dem Paſtor gepfluͤgt hatte. Sie verließen ihn alſo auch und waͤhlten einen Andern. Herr Stollbein ließ ihnen fuͤr dießmal ihren Willen; ſie machten einen neuen Rector, gaben ihm ein beſonderes Haus, und da ſie der alten deutſchen Schule das Gehalt nicht entziehen konnten und durften, zu einem neuen aber keinen Rath wußten, ſo be - ſchloßen ſie, ihm ſechzig Kinder zum Lateinlernen zu verſchaffen und von jedem Kind jaͤhrlich vier Reichsthaler zu bezahlen. 191Allein der rechtſchaffene Mann hatte das erſte Vierteljahr ſechzig, hernach vierzig, zu Ende des Jahrs zwanzig und endlich kaum fuͤnf, ſo daß er, bei aller Muͤh und Arbeit, endlich im Hunger, Kummer und Elend ſtarb und ſeine Frau und Kinder bettelten.
Nach dieſem Vorfall gab ſich Herr Stollbein in Ruhe, er fing an, ſtille zu werden und ſich um nichts mehr zu be - kuͤmmern; er verſah nur blos ſeine Amtsgeſchaͤfte, und zwar mit aller Treue. Der Hauptfehler, welcher ihn ſo oft zu thoͤ - richten Handlungen verleitet hatte, war ein Familienſtolz. Seine Frau hatte vornehme Verwandte, und die ſah er gern hoch ans Brett kommen. Auch er ſelber ſtrebte gern nach Gewalt und Ehre. Dieſes ausgenommen, war er ein gelehrter und ſehr gutherziger Mann; ein Armer kam nie fehl bei ihm, er gab, ſo lange er hatte, und half dem Elenden, ſo viel er konnte. Nur dann war er ausgelaſſen und unerbittlich, wenn er ſah, daß Jemand von geringem Stand Miene machte, ne - ben ihm emporzuſteigen. Aus dieſer Urſache war er auch Johann Stilling immer feind. Dieſer war, wie oben geſagt worden, Commercien-Praͤſident des Salen’ſchen Lan - des; und da Stollbein ein großer Liebhaber von Bergwerken war, ſo ließ er Herrn Stilling immer merken, daß er ihn gar nicht fuͤr das erkannte, was er war; und wenn Jener nicht beſcheiden genug geweſen waͤre, dem alten Mann nach - zugeben, ſo haͤtte es oft harte Stoͤße abgeſetzt.
Doch zeigte Stollbeins Beiſpiel, daß Guͤte des Herzens und Redlichkeit niemalen ungebeſſert ſterben laſſe.
Einſtmalen war eine allgemeine Gewerken-Rechnung abzu - legen, ſo daß alſo die vornehmſten Commercianten des Landes bei ihrem Praͤſidenten Stilling zuſammenkommen mußten. Herr Paſtor Stollbein kam auch, deßgleichen Schoͤffe Keil - hof, mit noch einigen andern Florenburgern. Herr Stil - ling ging auf den Paſtor zu, nahm ihn an der Hand und fuͤhrte ihn neben ſich an die rechte Seite und ließ ihn da ſitzen. Der Prediger war die ganze Zeit uͤber aus der Maßen freundlich. Nach dem Mittageſſen fing er an:
„ Meine Herrn und Freunde! Ich bin alt und ich fuͤhle, daß meine Kraͤfte mit Gewalt abnehmen, es iſt das letzte192 Mal, daß ich bei Ihnen bin, ich werde nicht wieder herkom - men. Iſt nun Jemand unter Ihnen, der mir nicht vergeben hat, wo ich ihn beleidigt habe, den bitt’ ich jetzt von Herzen um Verſoͤhnung. “
Alle Anweſenden ſahen ſich an und ſchwiegen. Herr Stil - ling konnte das unmoͤglich ausſtehen. Herr Paſtor! ſagte er, das bricht mir mein Herz! — Wir ſind Menſchen und fehlen Alle; ich hab’ Ihnen unendlich viel zu danken, Sie haben mir die Grundwahrheiten unſerer Religion beigebracht, und vielleicht hab’ ich Ihnen oft Anlaß zur Aergerniß gegeben, ich bin alſo der Erſte, der Sie von Grund ſeiner Seele um Verzeihung bittet, wo er Sie beleidigt hat. Der Paſtor wurde ſo geruͤhrt, daß ihm die Thraͤnen die Wangen herunter liefen; er ſtand auf, umarmte Stillingen und ſagte: Ich hab’ Sie oft beleidigt. Ich bedaure es und wir ſind Bruͤder. Nein, ſagte Stilling, Sie ſind mein Vater! geben Sie mir Ihren Segen! Stollbein hielt ihn noch feſt in den Armen und ſagte: Sie ſind geſegnet, Sie und Ihre ganze Familie, und das um des Mannes willen, der ſo oft mein Stolz und meine Freude war.
Dieſer Auftritt war ſo unerwartet und ſo ruͤhrend, daß die mehrſten Anweſenden Thraͤnen in Menge vergoßen, Stilling und Stollbein aber am mehrſten.
Nun ſtand der Prediger auf, ging herab zu Schoͤffe Keil - hof und den uͤbrigen Florenburgern, laͤchelte und ſagte: Sollen wir denn auch an dieſem Rechnungstage unſre Rechnung zu - ſammen abmachen? Keilhof antwortete: Wir ſind Ihnen nicht boͤſe! — Ja! verſetzte Herr Stollbein, davon iſt hier die Rede nicht. Ich bitte Euch alle feierlich um Vergebung, wo ich Euch beleidigt habe! — Wir vergeben Ihnen gerne, erwiederte Keilhof, aber das muͤßten Sie auf der Kanzel thun.
Stollbein fuͤhlte ſein ganzes Feuer wieder, doch ſchwieg er ſtill und ſetzte ſich neben Stilling hin. Dieſer aber wurde ſo voll Eifer, daß er im Geſicht gluͤhte. Herr Schoͤffe! fing er an! Sie ſind nicht werth, daß Ihnen Gott Ihre Suͤnden vergibt, ſo lange Sie ſo denken. Der193 Herr Paſtor iſt frei und hat ſeine volle Pflicht erfuͤllt. Chriſtus gebeut Liebe und Verſoͤhnlich - keit. Er wird Euch Euren Starrſinn auf den Kopf vergelten.
Herr Stollbein ſchloß dieſe ruͤhrende Scene mit den Wor - ten: Auch das ſoll geſchehen, ich will meine ganze Gemeinde oͤffentlich auf der Kanzel um Vergebung bitten und ihnen weiſ - ſagen, daß einer nach mir kommen werde, der ihnen eintraͤn - ken wird, was ſie an mir verſchuldet haben. Beides iſt auch in ſeiner ganzen Fuͤlle geſchehen.
Kurz nach dieſem Vorfall ſtarb Herr Stollbein im Frie - den und wurde zu Florenburg in der Kirche bei ſeiner Gat - tin begraben. In ſeinem Leben wurde er gehaßt und nach ſei - nem Tode beweint, geehrt und geliebt. Wenigſtens Hein - rich Stilling hielt ihn Lebenslang in ehrwuͤrdigem Andenken.
Stilling war noch bis Oſtern bei dem Schoͤffen Keil - hof, allein er merkte, daß ihn ein Jeder ſauer anſah, er wurde alſo auch dieſes Lebens muͤde.
Nun uͤberlegte er einſtmalen des Morgens auf dem Bett ſeine Umſtaͤnde; zu ſeinem Vater zuruͤckzukehren, war ihm ein erſchrecklicher Gedanke; denn die vielen Feldarbeiten haͤtten ihn auf die Laͤnge zu Boden gedruͤckt, dazu gab ihm ſein Vater nur Speiſe und Trank; denn was er allenfalls mehr verdiente, das rechnete ihm derſelbe auf den Vorſchuß, den er ihm in vorigen Jahren gethan hatte, wenn er mit dem Schullohn nicht auskommen konnte; er durfte alſo noch nicht an Kleider den - ken, und dieſe waren doch binnen Jahresfriſt ganz unbrauch - bar. Bei andern Meiſtern zu arbeiten war ihm ebenfalls ſchwer, und er ſah, daß er ſich auch damit nicht retten konnte, denn ein halber Gulden Wochenlohn trug ihm in einem gan - zen Jahr nicht ſo viel ein, als nur die allernothwendigſten Kleider erforderten. Er wurde halb raſend, fuhr aus dem Bett und rief: Allmaͤchtiger Gott! was ſoll ich denn ma - chen? — In dem Augenblick war es ihm, als wenn ihm in die Seele geſprochen wuͤrde: Geh’ aus deinem Vater - land, von deiner Freundſchaft und aus deinesStillings ſämmtl. Schriften. I. Band. 13194Vaters Haus in ein Land, das ich dir zeigen will! Er fuͤhlte ſich tief beruhigt und beſchloß alſofort, in die Fremde zu gehen.
Dieſes geſchah Dienſtags vor Oſtern. Denſelbigen Tag beſuchte ihn ſein Vater. Der gute Mann hatte wiederum ſeines Sohnes Schickſal vernommen, und deßwegen kam er nach Florenburg. Beide ſetzten ſich zuſammen auf ein ein - ſames Zimmer, und nun fing Wilhelm an:
„ Heinrich! ich komme zu dir, mit dir Rath zu pflegen; ich ſehe nunmehr klar ein, daß du unſchuldig geweſen biſt. Gott hat dich gewiß zum Schulhalten nicht beſtimmt, das Handwerk verſtehſt du; aber du biſt in ſolchen Umſtaͤnden, wo es dir die Nothdurft nicht verſchaffen kann; und bei mir zu ſeyn, iſt auch fuͤr dich nicht, du ſcheuſt mein Haus, und das iſt auch kein Wunder; ich bin nicht im Stande, dir das Noͤ - thige zu verſchaffen, wenn du nicht die Arbeit verrichten kannſt, die ich zu thun habe, es wird mir ſelber ſauer, Frau und Kin - der zu ernaͤhren. Was meinſt du, haſt du wohl nachgedacht, was du thun willſt? “
Vater! daruͤber hab’ ich lange Jahre nachgedacht; aber erſt dieſen Morgen iſt mir klar worden, was ich thun ſoll; ich muß in die Fremde ziehen und ſehen, was Gott mit mir vor hat.
„ Wir ſind alſo einerlei Meinung, mein Sohn! Wenn wir der Sache vernuͤnftig nachdenken, ſo finden wir, daß deine Fuͤhrung von Anfang dahin gezielt hat, dich aus deinem Va - terland zu treiben; und was kannſt du hier erwarten? Dein Oheim hat ſelber Kinder, und die wird er erſt ſuchen anzu - bringen, eh er dir hilft, indeſſen gehen deine Jahre um. Aber — du — wenn ich deine erſten Jahre — und die Freude bedenke, die ich an dir haben wollte — und du biſt nun fort — ſo iſts um Stillings Freude geſchehen! Das Ebenbild des ehrlichen Alten. “— Hier konnte er nicht mehr reden, er hielt beide Haͤnde vor die Augen, kruͤmmte ſich in einander und weinte laut.
Dieſe Scene war Stilling unausſtehlich, er wurde ohn - maͤchtig. Als er wieder zu ſich ſelber kam, ſtand ſein Vater195 auf, druͤckte ihm die Hand und ſagte: Heinrich! nimm von Niemand Abſchied, geh, wann dir der himmliſche Vater winkt! Die heiligen Engel werden dich begleiten, wo du hingehſt, ſchreib mir oft, wie es dir geht! Nun eilte er zur Thuͤre hinaus.
Stilling ermannte ſich, faßte Muth und empfahl ſich Gott; er fuͤhlte, daß er von allen Freunden ganz los war. Nichts hing ihm weiter an, ſondern er erwartete mit Verlan - gen den zweiten Oſtertag, welchen er zu ſeiner Abreiſe be - ſtimmt hatte; er ſagte Niemand in der Welt etwas von ſei - nem Vorhaben, beſuchte auch Niemand, ſondern blieb zu Haus.
Doch konnte er nicht unterlaſſen, noch einmal zu guter Letzt auf den Kirchhof zu gehen. Er thats nicht gern am Tage, deßwegen ging er des Abends vor Oſtern beim Licht des vol - len Mondes hin und beſuchte Vater Stilling’s und Dort - chen’s Grab, ſetzte ſich auf jedes eine kleine Weile und weinte ſtille Thraͤnen. Seine Empfindungen waren unausſprechlich. Er fuͤhlte ſo etwas in ſich und ſprach: Wenn dieſe Beiden noch lebten, ſo ging es dir weit anders in der Welt. Er nahm endlich ordentlich Abſchied von beiden Graͤbern und von den ehrwuͤrdigen Gebeinen, die darinnen verwesten, und ging fort.
Den folgenden Oſtermontag Morgen, Anno 1762, welches der zwoͤlfte April war, rechnete er mit dem Schoͤffen Keil - hof ab. Er bekam noch etwas uͤber vier Reichsthaler. Die - ſes Geld nahm er zu ſich, ging auf die Kammer, that ſeine drei zerlappten Hemde, das vierte hatte er an, ein Paar alte Struͤmpfe, eine Schlafkappe, ſeine Scheer und Fingerhut in einen Reiſeſack, zog darauf ſeine Kleider an, die aus ein paar mittelmaͤßig guten Schuhen, ſchwarzen wollenen Struͤmpfen, ledernen Hoſen, ſchwarzen tuchenen Weſte, einem ziemlich gu - ten braunen Rock von ſchlechtem Tuch, und einem großen Hut, nach der damaligen Mode, beſtanden. Nun kruͤmmte er ſein fadenrechtes braunes Haar, nahm ſeinen langen dornenen Stock in die Hand und wanderte auf Saalen zu, wo er ſich einen Reiſepaß beſorgte, und zu einem Thor herausging, das gegen Nordweſten ſteht. Er gerieth auf eine Landſtraße; ohne zu wiſſen, wohin ſie fuͤhrte, folgte er derſelben, und ſie13 *196brachte ihn am Abend in einen Flecken, welcher an der Graͤnze des Salen’ſchen Landes liegt.
Hier kehrte er in einem Wirthshauſe ein und ſchrieb einen Brief an ſeinen Vater nach Leindorf, in welchem er zaͤrt - lich Abſchied von ihm nahm, und ihm verſprach, ſobald er ſich irgendwo niederlaſſen wuͤrde, alles umſtaͤndlich zu ſchreiben. Unter den Buͤrgergaͤſten, welche des Abends in dieſem Hauſe tranken, waren verſchiedene Fuhrleute, eine Art Menſchen, bei denen man ſich am allerbeſten nach den Wegen erkundi - gen kann. Stilling fragte ſie, wohin dieſe Landſtraße fuͤhre. Sie ſagten: nach Schoͤnenthal. Nun hatte er in ſeinem Leben viel von dieſer weitberuͤhmten Handelsſtadt gehoͤrt; er beſchloß alſo, dahin zu reiſen, ließ ſich deßwegen die Oerter an dieſer Landſtraße und ihre Entfernung von einander ſagen, dieſes alles zeichnete er in ſeine Schreibtafel auf und legte ſich ruhig ſchlafen.
Des andern Morgens, nachdem er Kaffee getrunken und ein Fruͤhſtuͤck genommen hatte, empfahl er ſich Gott und ſetzte ſeinen Stab weiter; es war aber ſo nebelig, daß er kaum einige Schritte vor ſich hin ſehen konnte; da er nun auf eine große Haide kam, wo viele Wege neben einander hergingen, ſo folgte er immer demjenigen, welcher ihm am gebahnteſten ſchien. Als ſich nun zwiſchen zehn und eilf Uhr der Nebel vertheilte und die Sonne durchbrach, ſo fand er, daß ſein Weg gegen Morgen ging. Er erſchrack herzlich, wanderte noch ein wenig fort, bis auf eine Anhoͤhe, da ſah er nun den Flecken wieder nahe vor ſich, in welchem er uͤber Nacht geſchlafen hatte. Er kehrte wieder um, und da nun der Himmel heiter war, ſo fand er die große Heerſtraße, die ihn binnen einer Stunde auf eine große Hoͤhe fuͤhrte.
Hier ſetzte er ſich an einen gruͤnen Raſen und ſchaute gegen Suͤdoſten. Da ſah er nun in der Ferne das alte Geiſen - berger Schloß, den Giller, den hoͤchſten Huͤgel und andere gewohnte Gegenden mehr. Ein tiefer Seufzer ſtieg ihm in der Bruſt auf, Thraͤnen floßen ihm die Wangen herun - ter, er zog ſeine Tafel heraus und ſchrieb:
197Nun ſtand Stilling auf, trocknete ſeine Thraͤnen ab, nahm ſeinen Stab in die Hand, den Reiſeſack auf den Ruͤ - cken und wanderte uͤber die Hoͤhe ins Thal hinunter.
So wie Heinrich Stilling den Berg hinunter ins Thal ging und ſein Vaterland aus dem Geſichte verlor, ſo wurde auch ſein Herz leichter; er fuͤhlte nun, wie alle Verbindungen und alle Beziehungen, in welchen er bis dahin ſo aͤngſtlich ge - ſeufzt hatte, aufhoͤrten, und deßwegen athmete er freie Luft und war voͤllig vergnuͤgt.
Das Wetter war unvergleichlich ſchoͤn; des Mittags trank er in einem Wirthshaus, das einſam am Wege ſtand, ein Glas Bier, aß ein Butterbrod dazu und wanderte darauf wieder ſeine Straße, die ihn durch wuͤſte und oͤde Oerter, des Abends, nach Sonnenuntergang, in ein elendes Doͤrfchen brachte, wel - ches in einer moraſtigen Gegend, in einem engen Thal, in den Geſtraͤuchen lag; die Haͤuſer waren elende Huͤtten und ſtanden mehr in der Erde, als auf derſelben. An dieſem Ort war er nicht Willens geweſen, zu uͤbernachten, ſondern zwei Stunden weiter; allein da er ſich des Morgens fruͤh irr gegangen hatte, konnte er ſo weit nicht kommen.
An dem erſten Hauſe fragte er: ob Jemand im Dorfe wohne, der Reiſende beherberge? Man wies ihm ein Haus, er ging dahinein und fragte, ob er hier uͤbernachten koͤnnte? Die Frau ſagte: Ja. Er ging in die Stube, ſetzte ſich hin und legte ſeinen Reiſeſack ab. Der Hausvater kam herein, einige kleine Kinder verſammelten ſich bei dem Tiſch und die Frau brachte ein Thranlicht, welches ſie an eine haͤnfene Schnur mitten in der Stube aufhing; alles ſah ſo aͤrmlich und, die Wahrheit zu ſagen, ſo verdaͤchtig aus, daß Stilling angſt und bang wurde und lieber im lieben Wald geſchlafen haͤtte; doch das war ganz unnoͤthig, denn er beſaß nichts, das ſtehlenswerth war. Indeſſen brachte man ihm ein irdenes Schuͤſſelchen mit Sauer -202 kraut, ein Stuͤck Speck dabei und darauf ein paar gebackene Eier. Er ließ ſichs gut ſchmecken und legte ſich aufs Stroh, das man ihm in der Stube bereitet hatte. Er ſchlief vor Mit - ternacht, mehrentheils aus Angſt, nicht viel. Der Wirth und ſeine Frau ſchliefen auch in der Stube in einem Alkoven. Ge - gen zwoͤlf Uhr hoͤrte er die Frau zum Manne ſagen: Arnold, ſchlaͤfſt du? Nein, antwortete er, ich ſchlafe nicht. Stilling horchte, holte aber mit Fleiß ſtark Odem, damit ſie glauben ſollten, er ſchliefe feſt.
Was mag das wohl fuͤr ein Menſch ſeyn? ſagte die Frau. Arnold erwiederte: „ Das mag Gott wiſſen! ich habe den ganzen Abend nachgedacht, er ſprach nicht viel; ſollte es auch wohl eine rechte Sache mit dem Menſchen ſeyn? “
Denk doch nicht gleich was Arges von den Leuten! verſetzte Trine, er ſieht ſo ehrlich aus, wer weiß, was er all fuͤr Un - gluͤck ſchon erlebt hat! gewiß er dauert mich; ſobald als er zur Thuͤr hereintrat, kam er mir ſo traurig vor, unſer Herr Gott woll’ ihm doch als beiſtehn; ich kann ſehen, daß er et - was auf dem Herzen hat.
„ Du haſt recht, Trine! antwortete Arnold, Gott verzeih mir meinen Argwohn! ich dachte juſt an den Schulmeiſter aus dem Salen’ſchen Land, der vor ein paar Jahren hier ſchlief, der war juſt ſo gekleidet, und wir hoͤrten hernach, daß er ein Geldmuͤnzer geweſen. “
Arnold! ſagte Trine, du kannſt auch die Leute gar nicht aus dem Geſicht kennen; Jener ſah ſo ſchwarz und ſo finſter aus den Augen und durfte einen nicht anſehen, Dieſer aber ſieht ſo freundlich und ſo gut aus, er hat wahrlich ein gut Gewiſſen!
„ Ja, ja! ſchloß Arnold, wir wollen ihn unſerem Herr Gott befehlen, der ſoll ihm wohl helfen, wenn er fromm iſt. “
Nun ſchliefen die guten Leute wieder; Stilling wurde aber ſo vergnuͤgt auf ſeinem Stroh, er fuͤhlte den Stilling’ - ſchen Geiſt um ſich wehen und ſchlief ſo ſanft bis an den Mor - gen, als wenn er in Eiderdunen gelegen haͤtte. Sobald er erwachte, war ſchon ſein Wirth und ſeine Wirthin am Anklei - den; er ſah ſie Beide laͤchelnd an und wuͤnſchte ihnen einen203 guten Morgen. Sie fragten ihn, wie er geſchlafen haͤtte, und er antwortete: nach Mitternacht recht wohl. Ihr waret ge - ſtern Abend wohl recht muͤde? ſagte Trine, ihr ſahet ſo trau - rig aus. Stilling erwiederte: Lieben Freunde! ich war nicht ſo ſehr muͤde, allein ich habe viel in meinem Leben ausgeſtan - den und ſehe deßwegen trauriger aus, als ich bin; dazu muß ich bekennen, ich war bang, ob ich auch bei frommen Leuten waͤre. Ja, ſagte Arnold, ihr ſeyd bei Leuten, die Gott fuͤrch - ten und gern ſelig werden wollen; wenn ihr große Schaͤtze bei euch haͤttet, ſie waͤren bei uns verwahrt. Stilling reichte ihm ſeine rechte Hand und ſagte mit der zaͤrtlichſten Miene: Gott ſegne euch! ſo ſind wir einerlei Meinung. Trine! fuhr Arnold fort, mach’ uns einen guten Thee, hol’ etwas vom beſten Milchrahm dazu, da wollen wir Drei ſo zuſammentrin - ken, wir moͤchten nicht wieder zuſammenkommen. Die Frau war hurtig und froh, ſie that gern, was der Mann ſagte. Nun tranken die Drei den Thee und waren alle daheim. Stil - ling floß uͤber von Freundſchaft und Empfindung, es that ihm wehe, von den Leutchen wegzugehen, die Augen gingen ih - nen Allen uͤber, als er Abſchied nahm. Aufs Neue geſtaͤrkt, wanderte er wieder ſeinen Weg fort.
Nach fuͤnf Stunden, da es gerade Mittag war, kam er in einen ſchoͤnen Flecken, der in einer angenehmen Gegend lag; er fragte nach einem guten Wirthshauſe; man wies ihm eins an der Straße, er ging hinein, trat in die Stube und forderte etwas zu eſſen. Hier ſaß ein alter Mann am Ofen; der Schnitt ſeiner Kleidung zeigte etwas Vornehmes, die eigentliche Beſchaffenheit derſelben aber, daß er weit von ſeinem ehmali - gen Zuſtand herunter gekommen ſeyn mußte; ſonſt waren zwei Juͤnglinge und ein Maͤdchen daſelbſt, deren tiefe Trauerkleider den Verluſt eines nahen Anverwandten vermuthen ließen. Das Maͤdchen beſorgte die Kuͤche, ſie ſah modeſt und reinlich aus.
Stilling ſetzte ſich gegen den alten Mann uͤber; ſein of - fenes Geſicht und ſeine Freundlichkeit erweckte den Greis, daß er ſich mit ihm in ein Geſpraͤch einließ. Beide wurden bald vertraulich, ſo daß Stilling ſeine ganze Geſchichte erzaͤhlte. Conrad Brauer (ſo hieß der Alte) verwunderte ſich uͤber204 ihn und weiſſagte ihm viel Gutes. Nun ruͤſtete ſich der ehr - liche Mann auch, um ſeine Schickſale zu erzaͤhlen; das that er einem Jeden, der nur Luſt hatte, ihm zuzuhoͤren; dieſes ge - ſchah vor, waͤhrend und nach dem Mittageſſen. Die jungen Leute, welche ſeines Bruders Kinder waren, mochten das alles wohl hundertmal gehoͤrt haben; ſie merkten nicht ſonderlich auf, doch bekraͤftigten ſie zuweilen Etwas, das unglaublich war. Stilling hoͤrte indeſſen fleißiger zu, denn Erzaͤhlen war doch ohnehin ſeine Lieblingsſache. Conrad Brauer fing folgen - dermaßen an:
„ Ich bin der aͤlteſte unter dreien Bruͤdern; der mittlere iſt ein reicher Kaufmann an dieſem Ort, und der juͤngſte war der Vater dieſer Kinder, deren Mutter vor einigen Jahren, mein Bruder aber vor wenig Wochen geſtorben iſt. Ich legte mich in meiner Jugend aufs Wollenweberhandwerk, und da wir von unſern Eltern nichts ererbt hatten, ſo fuͤhrte ich meine beiden Bruͤder mit dazu an; doch der Juͤngſte that eine gute Heirath hier in dieſes Haus; er verließ alſo das Handwerk und wurde ein Wirth. Ich und mein mittelſter Bruder ſetzten unterdeſſen die Fabrik fort. Ich war gluͤcklich und kam unter Gottes Se - gen in eine gute Handlung, ſo, daß ich Wohlſtand und Reich - thum erlangte; ich ließ es meinen mittleren Bruder reichlich genießen. Ja, Gott weiß, daß ichs gethan habe! “
„ Indeſſen fing mein Bruder eine ſonderbare Freierei an. Hier in der Naͤhe wohnte eine alte Frauensperſon, die wenig - ſtens ſechzig Jahr alt und dabei aus der maßen haͤßlich war, ſo, daß man ſie auch wegen ihrer uͤbermaͤßigen Unreinlichkeit, ſo zu ſagen, mit keiner Zange haͤtte aufaſſen ſollen. Dieſe alte Jungfer war ſehr reich, dabei aber ſo geizig, daß ſie kaum ſatt Brod und Waſſer genoß. Die gemeine Rede ging: daß ſie ihr vieles Geld in einem Sack habe, den ſie an einem ganz unbekannten Ort verborgen haͤtte. Mein Bruder ging dahin und ſuchte das ausgeloͤſchte Feuer dieſer Perſon wiederum an - zuzuͤnden; es gelang ihm auch nach Wunſch, ſie wurde ver - liebt in ihn und er auch in ſie, ſo daß Trauung und Hoch - zeit bald vor ſich gingen. Mit der Entdeckung des Hausgoͤ - tzen wollte es aber lange nicht recht fort, doch gerieth es mei -205 nem braven Bruder endlich auch, er fand ihn und brachte ihn mit Freuden in Sicherheit; das kraͤnkte nun die gute Schwaͤ - gerin, daß ſie die Auszehrung bekam und zu großer Freude meines Bruders ſtarb. “
„ Er hielt ehrlich die Trauerzeit aus, ſuchte ſich aber unter der Hand eine junge, die ungefaͤhr ſo ſchwer ſeyn mochte, als er ganz unſchuldiger Weiſe geworden war; dieſe nahm er und nun fing er an, mit ſeinem Geld zu wuchern, und zwar auf meine Unkoſten; denn er handelte mit wollen Tuch, und ſo ſtach er mir alle meine Handlungsfreunde ab, indem er immer die Waaren wohlfeiler umſchlug, als ich. Hieruͤber fing ich an, zuruͤckzugehen, und meine Sachen verſchlimmerten ſich von Tag zu Tag. Dieſes ſah er wohl, er fing an, freundlich ge - gen mich zu ſeyn, und verſprach mir Geld vorzuſchießen, ſo viel ich noͤthig haben wuͤrde; ich war ſo thoͤricht, ihm zu glan - ben; als es ihm Zeit daͤuchte, nahm er mir alles, was ich auf der Welt hatte; meine Frau kraͤnkte ſich zu todt und ich lebe in Elend, Hunger und Kummer; meinen ſeligen Bruder hier im Haus hat er auf eben die Weiſe aufgefreſſen. “
Ja, das iſt wahr! ſagten die drei Kinder und weinten.
Stilling hoͤrte dieſe Geſchichte mit Entſetzen; er ſagte: das iſt wohl einer von den abſcheulichſten Menſchen unter der Sonne, dem wird’s in jener Welt ſauer eingetraͤnkt werden.
Ja, ſagte der alte Brauer, darauf laſſen’s ſolche Leute ankommen.
Nach dem Eſſen ging Stilling an ein Clavier, das an der Wand ſtand, ſpielte und ſang dazu: Wer nur den lie - ben Gott laͤßt walten. Der Alte faltete die Haͤnde und ſang aus vollem Halſe mit, ſo daß ihm die Thraͤnen uͤber die Wangen herab rollten, deßgleichen thaten auch die drei jungen Leute.
Nun bezahlte Stilling, was er verzehrt hatte, gab einem jeden die Hand und nahm Abſchied. Alle waren vertraulich mit ihm und begleiteten ihn vor die Hausthuͤre, wo ſie ihm noch einmal alle Viere die Hand gaben und ihn dem Schutz Gottes empfahlen.
Er wanderte alſo wiederum die Schoͤnenthaler Landſtraße fort206 und freute ſich von Herzen uͤber all die guten Leute, die er bis dahin angetroffen hatte. Dieſen Flecken will ich Holzheim nennen, denn ich werde doch mit meiner Geſchichte wieder da - hin muͤſſen.
Von hier bis Schoͤnenthal hatte er nur noch fuͤnf Stun - den zu reiſen; da er ſich aber zu Holzheim ziemlich lange auf - gehalten hatte, ſo konnte er des Abends nicht wohl dahin kom - men; er blieb alſo eine ſtarke Stunde dieſſeits in dem Staͤdt - chen Raſenheim uͤber Nacht liegen. Die Leute, bei denen er herbergte, waren nicht fuͤr ihn, und deßwegen blieb er auch ſtill und verſchloſſen.
Des andern Morgens begab er ſich auf den Weg nach Schoͤ - nenthal. Als er auf die Hoͤhe kam und die unvergleichliche Stadt mit dem paradieſiſchen Thal uͤberſchaute, ſo freute er ſich, ſetzte ſich hin auf den Raſen und beſchaute das alles eine Weile; hiebei ſtieg ihm der Wunſch ſo tief aus dem Innerſten ſeiner Seele empor: Ach Gott! moͤcht ich doch da mein Leben beſchließen!
Nun uͤberlegte er erſt, was er wohl eigentlich beginnen wollte. Der Abſcheu vor dem Schneiderhandwerk verleitete ihn, an eine Condition bei einem Kaufmann zu denken; da er nun zu Schoͤnenthal Niemand wußte, an den er ſich addreſſiren koͤnnte, ſo fiel ihm ein, daß Herr Dahlheim in dem Flecken Dornfeld, der Dreiviertelſtunden oſtwaͤrts Schoͤnenthal das Thal hinauf liegt, Prediger ſey; alſofort nahm er ſich vor, dahin zu gehen und ſich demſelben zu entde〈…〉〈…〉 Er ſtand auf, ging langſam den Berg hinunter, um alles wohl beſehen zu koͤnnen, und vollends in die Stadt hinein.
Hier bemerkte er alſofort, was Manufakturen und Handlung einem Ort vor Segen und Wohlſtand zuwenden koͤnnen; die praͤchtigen Pallaͤſte der Kaufleute, die zierlichen Haͤuſer der Buͤrger und Handwerksleute, nebſt der uͤberaus großen Reinlich - keit, die ſich ſogar in den Kleidern der Maͤgde und geringen Leute aͤußerte, entzuͤckte ihn ganz, hier gefiel es ihm uͤberaus wohl. Er ging durch die ganze Stadt und das Thal hinauf, bis nach Dornfeld. Er fand Herrn Dahlheim zu Haus, erzaͤhlte ihm auch kurz und gut ſeine Umſtaͤnde, allein der gute207 Herr Paſtor wußte keine Gelegenheit fuͤr ihn. Stilling war noch nicht erfahren genug, ſonſt haͤtte er leicht denken koͤnnen, daß man ſo keinen Menſchen von der Straße in Handlungs - dienſte aufnimmt, denn Herr Dahlheim, ob er gleich aus dem Salen’ſchen Lande zu Haus war, kannte doch weder Stil - ling, noch ſeine Familie.
Er reiste alſo wieder zuruͤck nach Schoͤnenthal und war halb Willens, ſich fuͤr einen Schneiderburſchen anzugeben; doch, als er im Verbeigehen unlaͤngſt eine Schneiderswerkſtatt ge - wahr wurde, daß es hier Mode ſey, mit uͤbereinander geſchla - genen Beinen auf dem Tiſch zu ſitzen, ſo ſchreckte ihn dieſes wieder ab, denn er hatte noch nie anders, als vor dem Tiſch auf einem Stuhl geſeſſen. Indem er nun ſo fuͤrbaß in den Gaſſen auf und abging, ſah er ein Pferd mit zwei Koͤrben auf dem Ruͤcken, und einen ziemlich wohlgekleideten Mann dabei ſtehen und die Koͤrbe feſtbinden. Da nun dieſer Mann ſo ziemlich gut ausſahe, ſo fragte ihn Stilling: ob er dieſen Abend noch aus der Stadt ginge? Der Mann ſagte: Ja! ich bin der Bote von Schauberg und gehe alſofort dahin ab. Stilling erinnerte ſich, daß daſelbſt der junge Herr Stoll - bein, des Florenburger Predigers Sohn, Paſtor ſey, deßglei - chen, daß ſich verſchiedene Salen’ſche Schneiderburſchen da - ſelbſt aufhielten; er beſchloß alſo, mit dem Boten dahin zu gehen; dieſer ließ es auch gerne geſchehen, Schauberg liegt drei Stunden fuͤdweſtwaͤrts von Schoͤnenthal ab.
Unterwegs ſuchte Stilling mit dem Boten vertraulich zu werden. Wenn es nun der ehrliche Wandsbecker geweſen waͤre, ſo wuͤrden die Beiden einen huͤbſchen Discurs gehalten haben; allein das war er nicht, obgleich der Schauberger unter Vielen einer der Rechtſchaffenſten ſeyn mochte, denn er nahm Stillings Reiſeſack umſonſt auf dem Pferde mit, ſo war er doch kein empfindſamer Bote, ſondern nur blos ein guter ehrlicher Mann, welches ſchon viel iſt. Sobald als ſie zu Schauberg ankamen, begab er ſich zum Herrn Paſtor Stoll - bein; dieſer hatte nun ſeinen Großvater wohl gekannt, deß - gleichen ſeine ſelige Mutter, auch kannte er ſeinen Vater, denn ſie waren Knaben zuſammen geweſen.
208Stollbein frcute ſich herzlich uͤber dieſen Landsmann; er rieth ihm alſofort, ſich ans Handwerk zu begeben, damit er an Brod kommen moͤchte, indeſſen wollte er Fleiß anwenden, um ihm zu einer anſtaͤndigen Condition zu verhelfen. Er ließ augenblicklich einen Schneiderburſchen zu ſich kommen, wel - chen er fragte: Ob nicht fuͤr dieſen Fremden eine Gelegen - heit in der Stadt ſey? O ja! antwortete jener, er kommt, als wenn er gerufen waͤre, Meiſter Nagel iſt ſehr verlegen um einen Geſellen. Stollbein ſchickte die Magd mit Stil - lingen hin und er wurde mit Freuden auf - und angenommen.
Als er nun des Abends zu Bette ging, ſo uͤberdachte er ſeinen Wechſel und die treue Vorſorge des Vaters im Him - mel. Ohne Vorſatz wohin, war er aus ſeinem Vaterlande gegangen, die Vorſehung hatte ihn drei Tage guͤtig geleitet, und ſchon des dritten Tages am Abend war er wieder ver - ſorgt. Jetzt leuchtete ihm ein, welch eine große Wahrheit es ſey, was ihm ſein Vater ſo oft geſagt hatte: Ein Hand - werk iſt ein theures Geſchenk Gottes und hat ei - nen goldnen Boden. Er wurde aͤrgerlich uͤber ſich ſelbſt, daß er dieſem ſchoͤnen Beruf ſo feind war; er betete herzlich zu Gott, dankte ihm fuͤr ſeine gnaͤdige Fuͤhrung und legte ſich ſchlafen.
Des Morgens fruͤh ſtand er auf und ſetzte ſich an die Werkſtatt. Meiſter Nagel hatte keinen andern Geſellen, als ihn, aber ſeine Frau, ſeine beiden Toͤchter und zwei Knaben halfen alle Kleider machen.
Stillings Behendigkeit und ungemeine Geſchicklichkeit im Schneiderhandwerk gewann ihm alſofort die Gunſt ſeines Meiſters; ſeine freundliche Geſpraͤchigkeit und Gutherzigkeit aber die Liebe und Freundſchaft der Frau und der Kinder. Er war kaum drei Tage da geweſen, ſo war er ſchon zu Hauſe; und weil er weder Vorwuͤrfe noch Verfolgungen zu befuͤrchten hatte, ſo war er vor die Zeit, ſo zu ſagen, vollkom - men vergnuͤgt.
Den erſten Sonntag Nachmittag verwendete er aufs Brief - ſchreiben, indem er ſeinem Vater, ſeinem Oheim und ſonſti - gen guten Freunden ſeine gegenwaͤrtigen Umſtaͤnde berichtete,209 um ſeine Familie zu beruhigen; denn man kann denken, daß ſie ſo lange um ihn ſorgten, bis ſie wußten, daß er am Brod war. Er erhielt auch bald freundſchaftliche Antworten auf dieſe Briefe, worin er zur Demuth und Rechtſchaffenheit ermahnt und vor aller Gefahr im Umgang mit unſichern Leuten ge - warnt wurde.
Indeſſen wurde er bald in ganz Schauberg bekannt. Des Sonntags Vormittags, wenn er in die Kirche ging, ſo ging er nirgend anders, als auf die Orgel, und weil der Organiſt ein ſteinalter und ungeſchickter Mann war, ſo getraute ſich Stilling, waͤhrend dem Singen und beim Ausgang aus der Kirche beſſer zu ſpielen; denn ob er gleich das Clavierſpielen nie kunſtmaͤßig, ſondern blos aus eigener Uebung und Nach - denken gelernt hatte, ſo ſpielte er doch den Choral ganz richtig und nach den Noten und vollkommen vierſtimmig; er erſuchte deßwegen den Organiſten, ihn ſpielen zu laſſen; dieſer war von Herzen froh und ließ ihn immer ſpielen. Weil er nun in den Vor - und Zwiſchenlaͤufen beſtaͤndig mit Sexten und Terzen um ſich warf und gern die ſanfteſten und ruͤhrendſten Regiſter zog, wodurch das Ohr des gemeinen Mannes und derer, die keine Muſik verſtehen, am mehrſten geruͤhrt wird, und weil er beim Ausgang aus der Kirche auch immer ein harmoniſches Singſtuͤck, das aber allezeit entweder traurig oder zaͤrtlich war, ſpielte, wobei faſt immer die Floͤtenregiſter mit dem Temulanten gebraucht wurden, ſo war Alles aufmerkſam auf den ſonderbaren Organiſten; der mehrſte Haufe ſtand vor der Kirche, bis er von der Orgel herunter und zur Kirchen - thuͤre herauskam; dann ſteckten die Leute die Koͤpfe zuſammen und fragten ſich untereinander: was das fuͤr ein Menſch ſeyn moͤchte? Endlich wards allgemein bekannt, es war des Schnei - der Nagels ſein Geſelle.
Wenn Jemand zu Meiſter Nagel kam, beſonders Leute von Condition, Kaufleute, Beamte, oder auch Gelehrte, die etwas wegen Kleiderſachen zu beſtellen hatten, ſo ließen ſie ſich mit Stillingen, wegen des Orgelſpielens, in ein Geſpraͤch ein; da brachte dann ein Wort das andere. Er miſchte zu der Zeit viele lateiniſche Brocken mit in ſeine Reden, ſonderlich wennStillings ſämmtl. Schriften. I. Baud. 14210er mit Leuten umging, von denen er vermuthete, daß ſie La - tein verſtuͤnden; das ſetzte dann Alle in Erſtaunen, nicht daß er eben ein Wunder von Gelehrſamkeit geweſen waͤre, ſondern weil er da ſaß und naͤhte und doch ſo ſprach, welches in Ei - ner Perſon vereinigt, beſonders in Schauberg, etwas Uner - hoͤrtes war. Alle Menſchen, vornehme und geringe, kamen und liebten ihn, und dieſes war eigentlich Stillings Element; wo man ihn nicht kannte, war er ſtill, und wo man ihn nicht liebte, traurig. Meiſter Nagel und alle ſeine Leute ehrten ihn dergeſtalt, daß er mehr Herr als Geſelle im Hauſe war.
Die vergnuͤgteſten Stunden hatten ſie Alle zuſammen des Sonntags Nachmittags; dann gingen ſie oben ins Haus auf eine ſchoͤne Kammer, deren Ausſicht ganz herrlich war; hier las ihnen Stilling aus einem Buche vor, das die Frau Na - gel geerbt hatte; es war ein alter Foliant mit vielen Holz - ſchnitten, das Titelblatt war verloren, es handelte von den niederlaͤndiſchen Geſchichten und Kriegen, unter der Statthal - terſchaft der Herzogin von Parma, des Herzogs von Alba, des großen Commeters u. ſ. w., nebſt den wunderbaren Schick - ſalen des Prinzen Moritz von Naſſau; hiebei verhielt ſich nun Stilling wie ein Profeſſor, der Lehrſtunden haͤlt; er erklaͤrte, er erzaͤhlte ein und anderes dazwiſchen, und ſeine Zuhoͤrer waren ganz Ohr. Erzaͤhlen iſt immer ſeine Sache geweſen, und Uebung macht endlich den Meiſter.
Gegen Abend ging er alsdann mit ſeinem Meiſter, oder vielmehr mit ſeinem Freund Nagel um die Stadt ſpazieren, und weil dieſelbe auf einer Hoͤhe, kaum fuͤnf Stunden vom Rhein abliegt, ſo war dieſer Spaziergang wegen der herrlichen Ausſicht unvergleichlich. Weſtwaͤrts ſah man eine große Strecke hin dieſen praͤchtigen Strom im Schimmer der Abendſonne majeſtaͤtiſch auf die Niederlande zueilen; rund umher lagen tauſend buſchigte Huͤgel, wo uͤberall entweder bluͤhende Bauern - hoͤfe, oder praͤchtige Kaufmannspallaͤſte zwiſchen den gruͤnen Baͤumen hervorguckten; dann waren Nagels und Stillings Geſpraͤche herzlich und vertraulich, ſie ergoßen ſich in einan - der, und Stilling ging eben ſo vergnuͤgt ſchlafen, als er auch ehmalen zu Zellberg gethan hatte.
211Herr Paſtor Stollbein hatte ſeine herzliche Freude daran, daß ſein Landsmann Stilling ſo allgemein beliebt war, und er machte ihm Hoffnung, daß er ihn mit der Zeit wuͤrde anſtaͤndig verſorgen koͤnnen.
So angenehm verfloßen dreizehn Wochen, und ich kann ſa - gen, daß Stilling waͤhrend der Zeit ſich weder ſeines Hand - werks ſchaͤmte, noch ſonſten großes Verlangen trug, davon abzukommen. Um das Ende dieſer Zeit, etwa mitten im Ju - nius, ging er an einem Sonntag Nachmittag durch eine Gaſſe der Stadt Schauberg; die Sonne ſchien angenehm und der Himmel war hier und da mit einzelnen Wolken bedeckt; er hatte weder tiefe Betrachtungen, noch ſonſt etwas ſonderliches in den Gedanken; von ungefaͤhr blickte er in die Hoͤhe und ſah eine lichte Wolke uͤber ſeinem Haupte hinziehen; mit die - ſem Anblick durchdrang eine unbekannte Kraft ſeine Seele, ihm wurde ſo innig wohl, er zitterte am ganzen Leibe und konnte ſich kaum enthalten, daß er nicht darniederſank; von dem Augen - blick an fuͤhlte er eine unuͤberwindliche Neigung, ganz fuͤr die Ehre Gottes und das Wohl ſeiner Mitmenſchen zu leben und zu ſterben; ſeine Liebe zum Vater der Menſchen und zum goͤttlichen Erloͤſer, deßgleichen zu allen Menſchen, war in dem Augenblick ſo groß, daß er willig ſein Leben aufgeopfert haͤtte, wenns noͤthig geweſen waͤre. Dabei fuͤhlte er einen unwider - ſtehlichen Trieb, uͤber ſeine Gedanken, Worte und Werke zu wachen, damit ſie alle Gott geziemend, angenehm und nuͤtzlich ſeyn moͤchten. Auf der Stelle machte er einen feſten unwi - derruflichen Bund mit Gott, ſich hinfuͤhro lediglich ſeiner Fuͤh - rung zu uͤberlaſſen und keine eiteln Wuͤnſche mehr zu hegen, ſondern wenn es Gott gefallen wuͤrde, daß er Lebenslang ein Handwerksmann bleiben ſollte, willig und mit Freuden damit zufrieden zu ſeyn.
Er kehrte alſo um und ging nach Haus und ſagte Nie - mand von dieſem Vorfall etwas, ſondern er blieb, wie er vor - hin war, nur daß er weniger und behutſamer redete, welches ihn noch beliebter machte.
Dieſe Geſchichte iſt eine gewiſſe Wahrheit. Ich uͤberlaſſe Schoͤngeiſtern, Philoſophen und Pſychologen, daraus zu machen,14 *212was ihnen beliebt; ich weiß wohl, was es iſt, das den Men - ſchen umkehrt und ſo ganz veraͤndert.
Dieſen Sonntag, als Obiges geſchah, uͤber drei Wochen ging Stilling des Nachmittags in die Kirche, nach derſelben fiel ihm vor der Kirchthuͤre ein, den Stadtſchulmeiſter einmal zu beſuchen; er verwunderte ſich ſelbſt, daß er das nicht eher gethan hatte, er ging alſo ſtehenden Fußes zu ihm hin; dieſer war ein anſehnlicher braver Mann; er kannte Stillingen ſchon und freute ſich, denſelben bei ſich zu ſehen; ſie tranken Thee zuſammen und rauchten eine Pfeife Tabak dazu. Endlich fing der Schulmeiſter an und fragte: Ob er nicht Luſt haͤtte, eine ſchoͤne Condition anzutreten? Flugs war ſeine Luſt dazu wieder ſo groß, als ſie jemals geweſen. O ja! antwortete er, das wuͤnſcht’ ich wohl von Herzen. Der Schulmeiſter fuhr fort: Sie kommen juſt, als wenn Sie gerufen waͤren; heut habe ich einen Brief von einem vornehmen Kaufmann erhalten, der eine halbe Stunde jenſeits Holzheim wohnt; er erſucht mich in demſelben, ihm einen guten Haus-Infor - mator anzuweiſen; ich habe an Sie nicht gedacht, bis Sie eben herein kommen; nun faͤllt mir ein, daß Sie wohl der Mann dazu waͤren; wenn Sie nun die Stelle annehmen wol - len, ſo iſt gar kein Zweifel mehr, daß Sie ſie erhalten wer - den. Stilling jauchzte innerlich vor Freuden, und glaubte feſt, jetzt ſey nun einmal die Stunde ſeiner Erloͤſung gekommen; er ſagte alſo: daß es von jeher ſein Zweck geweſen, mit ſei - nen wenigen Talenten Gott und den Naͤchſten zu dienen, und er ergreife dieſe Gelegenheit mit beiden Haͤnden, weil ſie eine Befoͤrderung ſeines Gluͤcks ſeyn koͤnne. Daran iſt wohl kein Zweifel, verſetzte der Schulmeiſter: es kommt nur auf Ihre Auffuͤhrung an, ſo koͤnnen Sie mit der Zeit freilich gluͤcklich, und befoͤrdert werden; naͤchſten Poſttag will ich dem Herrn Hochberg ſchreiben, ſo werden Sie bald abgeholt werden.
Nach einigen Geſpraͤchen ging Stilling wieder nach Haus. Er erzaͤhlte alſofort dieſen Vorfall Herrn Stollbein, deßgleichen auch dem Meiſter Nagel und ſeinen Leuten. Der Herr Paſtor war froh, Meiſter Nagel und die Seinigen aber trauer - ten, ſie wendeten alle Beredtſamkeit an, um ihn bei ſich zu213 behalten, allein das war vergebens, das Handwerk ſtank ihn an, Zeit und Welt ward ihm lang, bis er an ſeinen beſtimm - ten Ort kam; doch fuͤhlte er jetzt Etwas in ſeinem Innern, das dieſem Beruf beſtaͤndig widerſprach; dieß unbekannte Et - was uͤberzeugte ihn in ſeinem Gemuͤth, daß dieſe Neigung wie - derum aus dem alten verderbten Grund herruͤhre; dieſes neue Gewiſſen, wenn ich ſo reden darf, war erſt ſeit dem gemelde - ten Sonntag in ihm aufgewacht, da er eine ſo gewaltige Ver - aͤnderung bei ſich verſpuͤrt hatte. Dieſe Ueberzeugung kraͤnkte ihn, er fuͤhlte wohl, daß ſie wahr war, allein ſeine Neigung war allzu ſtark, er konnte ihr nicht widerſtehen; dazu fand ſich eine Art von Schlange bei ihm ein, welche ſich durch die Vernunft zu helfen ſuchte, indem ſie ihm vorſtellte: Ja, ſollte Gott das wohl haben wollen, daß du da ewig an der Naͤhnadel ſitzen bleiben ſollſt, und deine Talente vergraͤbſt? Keineswegs! du mußt bei der erſten Gelegenheit damit wu - chern, laß dich das nicht weiß machen, es iſt blos eine hypo - chondriſche Grille; alsdann warf das Gewiſſen wieder ein: Wie oft haſt du aber mit deinen Talenten in der Unterwei - ſung der Jugend wuchern wollen, und wie iſts dir dabei ge - gangen? — Die Schlange wußte dagegen einzuwenden: das ſeyen lauter Laͤuterungen geweſen, die ihn zu einem wichtigen Geſchaͤft haͤtten tuͤchtig machen ſollen. Nun glaubte Stil - ling der Schlange, und das Gewiſſen ſchwieg.
Schon den folgenden Sonntag kam ein Bote von Herrn Hochberg, der Stilling abholte. Alle weinten bei ſeinem Abſchied, er aber ging mit Freuden. Als ſie nach Holzheim kamen, ſo gingen ſie zu dem alten Brauer, der Stillin - gen bei ſeiner Durchreiſe ſeine Geſchichte erzaͤhlt hatte; er er - zaͤhlte dem ehrlichen Alten ſein neues Gluͤck, dieſer freute ſich, wie es ſchien, nicht ſo ſonderlich daruͤber, doch ſagte er: das iſt ſchon fuͤr Sie ein huͤbſcher Anfang. Stilling dachte da - bei: der Mann kann ſeine Urſache haben, daß er ſo ſpricht.
Nun gingen ſie noch eine halbe Stunde weiter, und kamen an Hochbergs Haus an. Dieſes lag in einem kleinen an - genehmen Thal an einem ſchoͤnen Bach, nicht weit von der Landſtraße, die Stilling gekommen war. Als ſie ins Haus214 traten, ſo kam die Frau Hochberg aus der Stube heraus. Sie war praͤchtig gekleidet, und eine Dame von ungemeiner Schoͤnheit; ſie gruͤßte Stillingen freundlich, und hieß ihn in die Stube gehen; er ging hinein, und fand ein herrlich meublirtes und ſchoͤn tapezirtes Zimmer; zwei wackere junge Knaben kamen herein, nebſt einem artigen Maͤdchen; die Kna - ben waren in rothe ſcharlachene Kleider auf Huſaren-Manier gekleidet, das Maͤdchen aber voͤllig im Ton einer jungen Prin - zeſſin. Die guten Kinder kamen, um dem neuen Lehrmeiſter ihre Aufwartung zu machen, ſie buͤckten ſich nach der Kunſt, und traten herzu, um ihm die Hand zu kuͤſſen. Das war Stilingen nun in ſeinem Leben nicht wiederfahren, er wußte ſich gar nicht darein zu ſchicken, noch was er ſagen ſollte; ſie ergriffen ſeine Hand; da er ihnen nun die hohle Hand hinhielt, ſo mußten ſie ſich plagen, dieſelbe herum zu drehen, um mit dem kleinen Maͤulchen oben auf die Hand zu kom - men. Nun merkte Stilling, wie man ſich bei der Gelegen - heit anſtellen muͤſſe. Die Kinder aber huͤpften wieder fort, und waren froh, daß ſie ihre Sache vollendet hatten.
Herr Hochberg und ſein alter Schwiegervater waren in die Kirche gegangen. Die Frau aber war in der Kuͤche, um ein und anderes zu veranſtalten, alſo befand ſich Stilling allein in der Stube; er merkte ſehr wohl, was hier zu thun war, und daß ihm zwei weſentliche Stuͤcke fehlten, um Hoch - bergs Hauslehrer zu ſeyn. Er verſtand die Complimentir - Kunſt gar nicht; ob er gleich nicht in dummer Grobheit er - zogen war, ſo hatte er ſich doch noch in ſeinem Leben nicht gebuͤckt, alles war bis dahin Gruß und Haͤndedruck geweſen. Die Sprache war ſein vaterlaͤndiſcher Dialect, worinnen er, aufs hoͤchſte genommen, Jemand mit dem Woͤrtchen Sie be - ehren konnte. Und vors zweite: ſeine Kleider waren nicht modiſch, und dazu nicht einmal gut, ſondern ſchlecht und ab - getragen; er hatte zwar bei Meiſter Nagel acht Gulden ver - dient; allein, was war das in ſo großem Mangel? — Er hatte fuͤr zwei Gulden neue Schuh, fuͤr zwei einen Hut, fuͤr zwei ein Hemd angeſchafft, und zwei Gulden hatte er alſo noch in der Taſche. Alle dieſe Anlagen aber waren noch kaum215 an ihm zu ſehen; er fuͤhlte alſofort, daß er ſich taͤglich wuͤrde ſchaͤmen muͤſſen, doch hatte er auch durch Aufmerkſamkeit taͤg - lich mehr und mehr Lebensart zu lernen und durch ſeinen treuen Fleiß, Geſchicklichkeit und gute Auffuͤhrung ſeine Herrſchaft zu gewinnen, ſo daß man ihm vor und nach aus ſeiner Noth helfen wuͤrde.
Herr Hochberg kam nun endlich auch herein, denn es war Mittag; dieſer vereinigte Alles, was nur Wuͤrde und kaufmaͤnniſches Anſehen genannt werden mag, in Einer Per - ſon. Er war ein anſehnlicher Mann, lang und etwas corpu - lent, er hatte ein Apfelrundes ganz brunettes Geſicht, mit großen pechſchwarzen Augen, und etwas dicken Lippen, und wenn er redete, ſo ſah man allezeit zwei Reihen Zaͤhne wie Alabaſter; ſein Gehen und Stehen war vollkommen ſpaniſch, doch muß ich auch dabei geſtehen, daß nichts Affectirtes dabei war, ſon - dern es war ihm Alles ſo natuͤrlich. So wie er herein trat, ſchaute er Stillingen eben ſo an, wie große Fuͤrſten gewohnt ſind, Jemand anzuſchauen. Stillingen drang dieſer Blick durch Mark und Bein, vielleicht eben ſo ſtark, als derjenige that, den er neun Jahr hernach vor einem der groͤßten Fuͤr - ſten Deutſchlands empfand. Allein ſeine Weltkenntniß mochte ſich auch wohl zu der Zeit gegen die Letztere verhalten, wie Hochberg gegen dieſen vortrefflichen Fuͤrſten.
Nach dieſem Blick nickte Herr Hochberg Stillingen an, und ſprach:
Serviteur Monsieur!
Stilling war kurz reſolvirt, buͤckte ſich ſo gut er konnte und ſagte:
„ Ihr Diener, Herr Principal! “
Doch, daß ich die Wahrheit geſtehe, auf dieſes Compliment hatte er auch eine Stunde her ſtudirt; da er aber nicht vor - aus wiſſen konnte, was Hochberg weiter ſagen wuͤrde, ſo war es nun auch geſchehen, und ſeine Geſchicklichkeit hatte ein Ende. Ein paarmal ging Hochberg die Stube auf und ab; nun ſah er wieder Stilling an, und ſagte:
Sind Sie reſolvirt, als Praͤceptor bei mir zu ſerviren?
„ Ja. “
216Verſtehen Sie auch Sprachen?
„ Die lateiniſche ſo ziemlich. “
Bon Monsieur! Sie brauchen ſie zwar noch nicht, doch iſt ihre Connaissance das Weſentliche in der Orthographie. Verſtehen Sie das Rechnen auch?
„ Ich habe mich in der Geometrie geuͤbt, und dazu wird das Rechnen erfordert, auch habe ich mich in der Sonnuhrkunſt und Mathematik etwas umgeſehen. “
Eh bien, das iſt artig! das convenirt mir; ich gebe Ihnen nebſt freiem Tiſch fuͤnf und zwanzig Gulden im Jahr.
Stilling ließ ſich das gefallen, wiewohl es ihm etwas zu wenig daͤuchte, deßwegen ſagte er:
„ Ich bin zufrieden mit dem, was Sie mir zulegen werden, und ich hoffe: Sie werden mir geben, was ich verdiene. “
Oui! Ihre Conduite wird determiniren, wie ich mich da zu verhalten habe.
Nun ging man an die Tafel. Auch hier ſah Stilling, wie viel er noch zu lernen hatte, eh er einmal Speiß und Trank nach der Mode in ſeinen Leib bringen konnte. Bei aller die - ſer Beſchwerlichkeit ſpuͤrte er eine heimliche Freude bei ſich ſelbſt, daß er doch nun endlich einmal aus dem Staube her - aus, und in den Zirkel vornehmer Leute kam, wornach er ſo lange verlangt hatte. Alles, was er ſah, das zum Wohlſtand und guten Sitten gehoͤrte, das beobachtete er auf’s genaueſte, ſogar uͤbte er ſich in geſchickten Verbeugungen, wenn er allein auf ſeiner Kammer war, und ihn Niemand ſehen konnte. Er ſah dieſe Condition als eine Schule an, worinnen er Anſtand und Lebensart lernen wollte.
Des andern Tages fing er mit den beiden Knaben und dem Maͤdchen die Information an; er hatte alle ſeine Freude an den Kindern, ſie waren wohl erzogen, und beſonders ſehr zaͤrt - lich gegen ihren Lehrer, und dieſes verſuͤßte alle Muͤhe. Nach einigen Tagen zog Herr Hochberg auf die Meſſe. Dieſer Abſchied that Stilling ſehr leid; denn er allein war der Mann, der mit ihm ſprechen konnte; die Andern redeten im - mer von ſolchen Sachen, die ihm ganz gleichguͤltig waren.
So verfloſſen einige Wochen ganz vergnuͤgt, ohne daß Stil -217 ling Etwas zu wuͤnſchen hatte, auſſer daß er doch endlich einmal beſſere Kleider bekommen moͤchte. Er ſchrieb dieſe Ver - aͤnderung an ſeinen Vater, und erhielt froͤhliche Antwort.
Herr Hochberg kam um Michaelis wieder. Stilling freute ſich bei ſeiner Ankunft, allein dieſe Freude dauerte nicht lange, Alles veraͤnderte ſich vor und nach in eine betruͤbte Lage fuͤr ihn. Herr und Frau Hochberg hatten geglaubt, daß ihr Informator noch Kleider zu Schauberg habe. Da ſie nun endlich ſahen, daß er wirklich alles mitgebracht hatte, ſo fin - gen ſie an, ſchlecht von ihm zu denken, und ihm nicht zu trauen; man verſchloß alles vor ihm, war zuruͤckhaltend, und oft merkte er aus ihren Reden, daß man ihn fuͤr einen Vagabun - den hielte. Nun war alles in der Welt Stillingen eher moͤglich, als Jemand nur eines Hellers werth zu entwenden, und deßwegen war ihm dieſer Umſtand ganz unertraͤglich. Es iſt auch gar nicht zu begreifen, woher doch die guten Leute auf einen ſo fatalen Einfall geriethen. Es iſt indeſſen am al - lerwahrſcheinlichſten, daß Jemand unter dem Geſinde untreu war, der dieſen Verdacht hinter ſeinem Ruͤcken auf ihn zu ſchieben ſuchte; und was noch das Schlimmſte war, ſie ließen ihn nichts Deutliches merken, daher man ihm auch alle Gele - genheit abgeſchnitten, ſich zu vertheidigen.
Vor und nach machte man ihm ſein Amt ſchwerer. So - bald er des Morgens aufſtand, ging er herunter in die Stube; man trank ſodann Caffee, um ſieben Uhr war das geſchehen, und ſofort mußte er mit den Kindern in die Schule, welche aus einem Kaͤmmerchen beſtand, das vier Fuß breit und zehn Fuß lang war, da kam er nun nicht heraus, bis man zwi - ſchen zwoͤlf und zwei Uhr zum Mittageſſen rief, und alſofort nach dem Eſſen ging er wieder hinein bis um vier Uhr, da man Thee trank; gleich nach dem Thee hieß es wieder: Nun Kinder, in die Schule! und dann kam er vor neun Uhr nicht wieder heraus, dann ſpeiste man zu Nacht, und ging darauf ſchlafen.
Auf dieſe Weiſe hatte er keinen Augenblick fuͤr ſich, als nur bloß den Sonntag, und dieſen brachte er auch traurig zu, weil er wegen Kleidermangel nicht mehr vor die Thuͤr, geſchweige218 zur Kirche gehen konnte. Waͤre er nun zu Schauberg ge - blieben, ſo wuͤrde ihn Meiſter Nagel vor und nach genug - ſam verſorgt haben, denn er hatte ſchon wirklich von Weitem Anſtalten dazu gemacht.
Nun war wirklich ein dreikoͤpfiger Hoͤllenhund auf den ar - men Stillng losgelaſſen. Aeuſſerſte Bettelarmuth, eine im - merfort dauernde Einkerkerung oder Gefangenſchaft, und drit - tens ein unertraͤgliches Mißtrauen, und daher entſtandene aͤuſ - ſerſte Verachtung ſeiner Perſon.
Gegen Martini fing ſein ganzes Gefuͤhl an zu erwachen, ſeine Augen gingen auf, und er ſah die ſchwaͤrzeſte Melancho - lie wie eine ganze Hoͤlle auf ihn anruͤcken. Er rief zu Gott, daß es von einem Pol zum andern haͤtte erſchallen moͤgen, aber da war keine Empfindung noch Troſt mehr, er konnte ſo - gar an Gott nicht einmal denken, ſo daß das Herz Theil da - ran hatte; und dieſe erſchreckliche Qual hatte er nie dem Na - men nach gekannt, vielweniger jemals das mindeſte davon empfunden; dazu hatte er rund um ſich her keine einzige treue Seele, welcher er ſeinen Zuſtand entdecken konnte, und einen ſolchen Freund aufzuſuchen, dazu hatte er nicht Kleider genug; ſie waren zerriſſen, und die Zeit mangelte ihm ſogar, dieſelben auszubeſſern.
Gleich Anfangs glaubte er ſchon nicht, daß er’s in dieſem Zuſtand lang aushalten wuͤrde, und doch wurde es von Tag zn Tag ſchlimmer; ſeine Herrſchaft und alle andere Menſchen kehrten ſich gar nicht an ihn, ſo, als wenn er nicht in der Welt geweſen waͤre, ob ſie ſchon mit ſeiner Information wohl zufrieden waren.
So wie Weihnachten heranruͤckte, ſo nahm auch ſein er - ſchrecklicher Zuſtand zu. Den ganzen Tag uͤber war er ganz ſtarr und verſchloſſen, wenn er aber des Abends um zehn Uhr auf ſeine Schlafkammer kam, ſo fingen ſeine Thraͤnen an los zu werden; er zitterte und zagte wie ein Uebelthaͤter, der in dem Augenblicke geradbrecht werden ſoll, und wenn er vollends ins Bette kam, ſo rang er dergeſtalt mit ſeiner Hoͤl - lenqual, daß das ganze Bett, und ſogar die Fenſterſcheiben zitterten, bis er einſchlief. Es war noch ein großes Gluͤck fuͤr219 ihn, daß er ſchlafen konnte, aber wenn er des Morgens er - wacht, und die Sonne auf ſein Bett ſchien, ſo erſchrack er, und war wieder ſtarr und kalt; die ſchoͤne Sonne kam ihm nicht anders vor, als Gottes Zornauge, das wie eine flam - mende Welt Blitz und Donner auf ihn herabzuſtuͤrzen drohte. Den ganzen Tag uͤber ſchien ihm der Himmel roth zu ſeyn, und er fuhr zuſammen vor dem Anblick eines jeden lebendi - gen Menſchen, als ob er ein Geſpenſt waͤre; hingegen in einer finſtern Gruft zwiſchen Leichen und Schreckbildern zu wachen, das waͤr’ ihm eine Freude und Erquickung geweſen.
Zwiſchen den Feiertagen fand er endlich einmal Zeit, ſeine Kleider durch und durch auszubeſſern, ſeinen Rock kehrte er um, und machte alles, ſo gut er konnte, zurecht. Die Ar - muth lehrt erfinden, er bedeckte ſeine Maͤngel, ſo daß er doch wenigſtens ein paarmal, ohne ſich zu ſchaͤmen, nach Holz - heim in die Kirche gehen durfte; er war aber ſo blaß und ſo hager geworden, daß er die Zaͤhne mit den Lippen nicht mehr bedecken konnte, ſeine Geſichtslineamente waren vor Gram ſchrecklich verzerrt, die Augenbraunen waren hoch in die Hoͤhe geſtiegen, und ſeine Stirn voller Runzeln, die Augen lagen wild, tief und finſter im Haupt, die Oberlippe hatte ſich mit den Naſenfluͤgeln empor gezogen, und die Winkel des Mun - des ſanken mit den haͤutigen Wangen herab; ein Jeder, der ihn ſah, betrachtete ihn ſtarr, und blickte bloͤd von ihm ab.
Des Sonntags nach dem Neujahr ging er in die Kirche. Unter Allen war Keiner, der ihn anſprach, als nur allein der Herr Paſtor Bruͤck; dieſer hatte ihn von der Kanzel beo - bachtet, und ſo wie die Kirche aus war, eilte der edle Mann heraus, ſuchte ihn unter den Leuten, die da vor der Thuͤre ſtanden, auf, griff ihn am Arm und ſagte: Gehen Sie mit mir, Herr Praͤceptor! Sie ſollen mit mir ſpeiſen, und dieſen Nachmittag bei mir bleiben. Es laͤßt ſich nicht ausſprechen, welche Wirkung dieſe leutſeligen Worte auf ſein Gemuͤth hat - ten, er konnte ſich kaum enthalten, laut zu weinen und zu heulen; die Thraͤnen floßen ihm ſtromweiſe die Wangen herun - ter, er konnte dem Prediger nichts antworten, und dieſer fragte ihn auch weiter nichts, ſprach auch nichts mit ihm,220 ſondern fuͤhrte ihn nur fort in ſein Haus; die Frau Paſto - rin und die Kinder entſetzten ſich vor ihm, und bedauerten ihn von Herzen.
Sobald ſich nun Herr Bruͤck ausgezogen hatte, ſetzte man ſich zu Tiſch. Alſofort fing der Paſtor an, von ſeinem Zu - ſtand zu reden, und zwar mit ſolcher Kraft und Nachdruck, daß Stilling nichts that, als laut weinen, und Alle, die mit zu Tiſch ſaßen, weinten mit. Dieſer vortreffliche Mann las in ſeiner Seele, was ihm fehlte; er behauptete mit Nach - druck, daß alle ſeine Leiden, die er von jeher gehabt habe, lauter Laͤuterungsfeuer geweſen ſeyen, wodurch ihn die ewige Liebe von ſeinen Unarten fegen und ihn zu etwas Sonderba - rem geſchickt machen wolle; auch gegenwaͤrtiger ſchwerer Zu - ſtand ſey um dieſer Urſache willen uͤber ihn gekommen, und es werde nicht lange mehr dauern, ſo wuͤrde ihn der Herr gnaͤdig erloͤſen; und was dergleichen Troͤſtungen mehr waren, die die brennende Seele des guten Stillings wie ein kuͤh - ler Than erquickten. Allein dieſer Troſt war von kurzer Dauer, er mußte am Abend doch wieder in ſeinen Kerker, und nun war der Schmerz auf dieſe Erquickung wieder um ſo viel un - leidlicher.
Dieſe erſchrecklichen Leiden dauerten von Martini bis den 12. April 1762, und alſo neunzehn bis zwanzig Wochen. Dieſer Tag war alſo der frohe Zeitpunkt ſeiner Erloͤſung. Des Morgens fruͤh ſtand er noch mit eben den ſchweren Lei - den auf, mit denen er ſich ſchlafen gelegt hatte; er ging wie gewoͤhnlich herunter an den Tiſch, trank Caffee, und darauf in die Schule; um neun Uhr, als er in ſeinem Kerker am Tiſch ſaß, und ganz in ſich ſelbſt gekehrt das Feuer ſeiner Leiden aushielt, fuͤhlte er ploͤtzlich eine gaͤnzliche Veraͤnderung ſeines Zuſtandes, alle ſeine Schwermuth und Schmerzen wa - ren gaͤnzlich weg, er empfand eine ſolche Wonne und tiefen Frieden in ſeiner Seele, daß er vor Freude und Seligkeit nicht zu bleiben wußte. Er beſann ſich und wurde gewahr, daß er Willens war, wegzugehen; dazu hatte er ſich entſchloſſen, ohne es zu wiſſen, ſo in demſelbigen Augenblick ſtand er auf, ging hinauf auf ſeine Schlafkammer, und dachte nach; wie viel221 Thraͤnen der Freude und der Dankbarkeit daſelbſt gefloſſen ſind, koͤnnen nur diejenigen begreifen, die ſich mit ihm in aͤhnlichen Umſtaͤnden befunden haben.
Hier packte er nun ſeine paar Lumpen, die er noch hatte, zuſammen, band ſeinen Hut mit hinein, den Stab aber ließ er zuruͤck. Dieſen Buͤndel warf er durch ein Fenſter hinter dem Hauſe in den Hof, ging darauf wieder herunter, und ſpazierte ganz gleichguͤltig zur Pforte hinaus, ging hinter das Haus, nahm den Pack, und wanderte ſo geſchwind als er konnte, das Feld hinauf, und eine ziemliche Strecke in den Buſch hinein; hier zog er ſeinen abgeſchabten Rock an, ſetzte den Hut auf, that ſeinen alten ſiamoiſenen Kittel, den er des Werketags getragen hatte, in den Buͤndel, ſchnitt einen Stecken ab, worauf er ſich ſtuͤzte, und wanderte nordwaͤrts durch Berg und Thal fort, ohne einen Weg zu haben. Jetzt war zwar ſein Gemuͤth ganz ruhig, er ſchmeckte die ſuͤße Freiheit in all ihrer Fuͤlle; allein er war doch ſo betaͤubt und faſt ſinnlos, ſo daß er an ſeinen Zuſtand gar nicht dachte, und keine Ueberlegung hatte. Als er eine Stunde durch wuͤſte Oerter fortgewandelt war, ſo gerieth er auf eine Landſtraße, und hier ſah er ungefaͤhr eine Stunde vor ſich hin auf der Hoͤhe ein Staͤdtchen liegen, wohin dieſe Straße fuͤhrte; er folgte derſelben ohne einen Willen zu haben warum, und gegen eilf Uhr kam er vor dem Thor an. Er fragte daſelbſt nach dem Namen der Stadt, und er vernahm, daß es Waldſtaͤtt war, wovon er zuweilen hatte reden hoͤren. Nun ging er zu einem Thor hinein, gerade durch die Stadt durch, und zum andern wieder heraus. Daſelbſt traf er nun zwei Straßen, welche ihm beide gleich ſtark gebahnt ſchienen, er er - waͤhlte eine von Beiden, und ging oder lief vielmehr dieſelbe fort. Nach einer kleinen halben Stunde gerieth er in einen Wald, die Straße verlor ſich, und nun fand er keinen Weg mehr; er ſezte ſich nieder, denn er hatte ſich muͤde gelaufen. Jetzt kam ſeine voͤllige Kraft zu Denken wieder, er beſann ſich, und hatte keinen einzigen Heller Geld bei ſich, denn er hatte noch wenig oder gar keinen Lohn von Hochberg gefordert; doch war er hungrig. Er war in einer Einoͤde, und wußte weit und breit um ſich her keinen Menſchen, der ihn kannte.
222Jetzt fing er an und ſagte bei ſich ſelber: „ Nun bin ich denn doch endlich auf den hoͤchſten Gipfel der Verlaſſung ge - ſtiegen, es iſt jetzt nichts mehr uͤbrig, als betteln oder ſterben; — das iſt der erſte Mittag in meinem Leben, an welchem ich kei - nen Tiſch fuͤr mich weiß! ja, die Stunde iſt gekommen, da das große Wort des Erloͤſers fuͤr mich auf der hoͤchſten Probe ſteht: Auch ein Haar von eurem Haupt ſoll nicht umkom - men! — Iſt das wahr, ſo muß mir ſchleunige Huͤlfe geſche - hen, denn ich habe bis auf dieſen Augenblick auf ihn getraut und ſeinem Worte geglaubt; — ich gehoͤre mit zu den Augen, die auf den Herrn warten, daß er ihnen zur rechten Zeit Speiſe gebe und ſie mit Wohlgefallen ſaͤttige; ich bin doch ſo gut ſein Geſchoͤpf, wie jeder Vogel, der da in den Baͤumen ſingt, und jedesmal ſeine Nahrung findet, wenn’s ihm Noth thut. “ Stil - lings Herz war bei dieſen Worten ſo beſchaffen, als das Herz eines Kindes, wenn es durch ſtrenge Zucht endlich wie Wachs zerfließt, der Vater ſich wegwendet und ſeine Thraͤnen verbirgt. Gott! was das Augenblicke ſind, wenn man ſieht, wie dem Vater der Menſchen ſeine Eingeweide brauſen, und er ſich vor Mitleiden nicht laͤnger halten kann! —
Indem er ſo dachte, ward es ihm ploͤtzlich wohl im Ge - muͤthe, und es war, als wenn ihm Jemand zuſpraͤche: Geh’ in die Stadt, und ſuch’ einen Meiſter! Im Augenblick kehrte er um, und indem er in eine ſeiner Taſchen fuͤhlte, ſo wurde er gewahr, daß er ſeine Scheere und Fingerhut bei ſich hatte, ohne daß er’s wußte. Er kam alſo wieder zuruͤck und ging zum Thor hinein. Er fand einen Buͤrger vor ſeiner Hausthuͤr ſtehen, dieſen gruͤßre er und fragte: wo der beſte Schneider - meiſter in der Stadt wohne? Dieſer Mann rief ein Kind, und ſagte ihm: da fuͤhre dieſen Menſchen zu dem Meiſter Iſaac! Das Kind lief vor Stilling her, und fuͤhrte ihn in einen abgelegenen Winkel an ein kleines Haͤuschen, und ging darauf wieder zuruͤck; er trat hinein, und kam in die Stube. Hier ſtand eine blaſſe, magere, dabei aber artige und reinliche Frau, und deckte den Tiſch, um mit ihren Kindern zu Mittag zn eſſen. Stilling gruͤßte ſie und fragte: Ob er hier Arbeit haben koͤnnte? Die Frau ſah ihn an, und be -223 trachtete ihn von Haupt bis zu Fuß. Ja! ſagte ſie ſittſam und freundlich: mein Mann iſt verlegen um einen Geſellen; wo ſeyd ihr her? Stilling antwortete: aus dem Salen - ſchen Lande! Die Frau heiterte ſich ganz auf, und ſagte: da iſt mein Mann auch her, ich will ihn rufen laſſen. Er war mit einem Geſellen und Lehrburſchen in einem Haus in der Stadt in Arbeit; ſie ſchickte eins von den Kindern und ließ ihn rufen. In ein paar Minuten kam Meiſter Iſaac zur Thuͤr herein; ſeine Frau ſagte ihm, was ſie wußte, und er fragte ferner, was er gern wiſſen wollte; der Meiſter nahm ihn willig an. Nun noͤthigte ihn die Frau an den Tiſch; und ſo war ſchon ſeine Speiſe bereitet geweſen, als er noch im Wald irre ging und nachdachte: Ob ihm auch Gott die - ſen Mittag die noͤthige Nahrung beſcheeren wuͤrde.
Meiſter Iſaac blieb da und ſpeiste mit. Nach dem Eſſen nahm er ihn mit in die Arbeit, bei einen Schoͤffen, der ſich Schauerhof ſchrieb; dieſer war ein Brodbaͤcker, dabei ein hagerer langer Mann. So wie ſich Meiſter Iſaac und ſein neuer Geſelle geſetzt hatten, und anfingen zu arbeiten, kam auch der Schoͤffe mit ſeiner langen Pfeife, ſetzte ſich zu den Schneidern, und fing mit Meiſter Iſaac an zu reden, wo ſie vermuthlich vorhin aufgehoͤrt hatten.
Ja! ſagte der Schoͤffe: Ich ſtelle mir den Geiſt Chriſti als eine allenthalben gegenwaͤrtige Kraft vor, die uͤberall in den Herzen der Menſchen wirke, um eine jede Seele in ſeine eigene Natur zu verwandeln; je ferner nun Jemand von Gott iſt, je fremder iſt ihm dieſer Geiſt. Was denkſt du davon, Bru - der Iſaac?
Ich ſtelle mir die Sache ungefaͤhr eben ſo vor, verſetzte der Meiſter: es iſt hauptſaͤchlich um den Willen des Menſchen zu thun, der Wille macht ihn faͤhig. —
Nun konnte ſich Stilling nicht mehr halten; er fuͤhlte, daß er bei frommen Leuten war, er fing ganz unvermuthet hinter dem Tiſch an, laut zu weinen und zu rufen: O Gott, ich bin zu Haus! ich bin zu Haus! Alle Anweſende erſtarrten, und entſetzten ſich; ſie wußten nicht, was ihm wiederfuhr. Meiſter Iſaac ſah ihn an und fragte: Wie iſt’s, Stilling? (er224 hatte ihm ſeinen Namen geſagt) Stilling antwortete: ich hab’ lange dieſe Sprache nicht mehr gehoͤrt; und da ich nun ſehe, daß Sie Leute ſind, die Gott lieben, ſo weiß ich mich vor Freude nicht zu faſſen. Meiſter Iſaac fuhr fort: Seyd Ihr dann auch ein Freund vom Chriſtenthum und von wahrer Gottſeligkeit?
O ja! verſetzte Stilling: von Herzen!
Der Schoͤffe lachte vor Freuden, und ſagte: da haben wir alſo einen Bruder mehr. Meiſter Iſaac und Schoͤffe Schauer - hof reichten und ſchuͤttelten ihm die Hand, und waren ſehr froh. Des Abends nach dem Eſſen ging der Geſelle und der Lehrjunge nach Haus, der Schoͤffe aber, Iſaac und Stil - ling blieben noch lange beiſammen, rauchten Tabak, tranken Bier dazu, und redeten auf eine erbauliche Weiſe vom Chriſten - thum. Heinrich Stilling lebte nun wieder vergnuͤgt zu Waldſtaͤtt; auf ſo viele Leiden und Gefangenſchaft ſchmeckte nun der Friede und die Freiheit ſo viel ſuͤßer. Er hatte von all ſeiner Drangſal ſeinem Vater nicht Ein Wort geſchrieben, um ihn nicht zu betruͤben; jetzt aber, da er von Hochberg ab und wieder bei dem Handwerk war, ſo ſchrieb er ihm Vieles, aber nicht alles. Die Antwort, welche er darauf erhielt, war wie - derum eine Bekraͤftigung, daß er zur Unterweiſung der Jugend nicht geſchaffen ſey.
Als Stilling nun einige Tage bei Meiſter Iſaac gewe - ſen war, ſo fing Letzterer einsmals uͤber der Arbeit mit ihm an, von ſeinen Kleidern zu ſprechen; der andere Geſelle und der Lehrburſche waren nicht gegenwaͤrtig; er erkundigte ſich genau nach allem, was er hatte. Als Iſaac das alles hoͤrte, ſtand er alſofort auf, und holte ihm ſchoͤnes violettes Tuch zum Rock, einen ſchoͤnen neuen Hut, ſchwarzes Tuch zur Weſte, Zeug zum Unterwaͤmmschen und zu Hoſen, ein paar gute feine Struͤmpfe, deßgleichen mußte ihm der Schuhmacher Schuhe anmeſſen, und ſeine Frau machte ihm ſechs neue Hemden; alles dieſes war in vierzehn Tagen fertig. Nun gab ihm ſein Meiſter auch einen von ſeinen Rohrſtaͤben in die Hand; und damit war Stilling ſchoͤner gekleidet, als er in ſeinem Leben geweſen war; dazu war auch alles nach der Mode, und nun durfte er ſich ſehen laſſen.
225Dieſes war nun der letzte Feind, der aufgehoben werden mußte. Stilling konnte ſeinen innigen Dank gegen Gott und ſeinen Wohlthaͤter nicht genug ausſchuͤtten; er weinte vor Freude, und war voͤllig wohl und vergnuͤgt. Aber geſegnet ſey deine Aſche — du Stillings Freund! da du liegſt und ruhſt! Wenn ein - mal die Stimme uͤber den ganzen flammenden Erdkreis erſchal - len wird: Ich bin nackend geweſen, und ihr habt mich bekleidet! ſo wirſt auch du dein Haupt empor heben, und dein verklaͤrter Leib wird ſiebenmal heller glaͤnzen, als die Sonne am Fruͤhlingsmorgen! —
Stillings Neigung, hoͤher in der Welt zu ſteigen, war nun fuͤr dieſe Zeit gleichſam aus dem Grunde und mit der Wur - zel ausgerottet; und er war feſt und unwiderruflich entſchloſſen, ein Schneider zu bleiben, bis er gewiß uͤberzeugt ſeyn wuͤrde, daß es der Wille Gottes ſey, etwas anders anzufangen; mit Einem Wort, er erneuerte den Bund mit Gott feierlich, den er verwichenen Sommer, den Sonntag Nachmittag, auf der Gaſſe zu Schauberg mit Gott geſchloſſen hatte. Sein Meiſter war auch ſo zufrieden mit ihm, daß er ihn nicht anders, als ſeinen Bruder behandelte; die Meiſterin aber liebte ihn uͤber die Maßen, und ſo auch die Kinder, ſo daß er nun wieder recht in ſeinem Element lebte.
Seine Neigung zu den Wiſſenſchaften blieb zwar noch im - mer, was ſie war, doch ruhte ſie unter der Aſche; ſie war ihm jetzt nicht zur Leidenſchaft, und er ließ ſie ruhen
Meiſter Iſaac hatte eine große Bekanntſchaft auf fuͤnf Stun - den umher mit frommen und erweckten Leuten. Der Sonntag war zu Beſuchen beſtimmt, daher ging er mit Stilling des Sonntags Morgens fruͤh nach dem Ort hin, den ſie ſich vorge - nommen hatten, und blieben den Tag uͤber bei den Freunden, des Abends gingen ſie wieder nach Haus; oder wenn ſie weit gehen wollten, ſo gingen ſie des Sonntags Nachmittags zuſam - men fort und kamen des Montags Vormittags wieder. Das war nun Stilling eine Seelenfreude, ſo viele rechtſchaffene Menſchen kennen zu lernen; beſonders gefiel es ihm, daß alle dieſe Leute nichts Enthuſiaſtiſches hatten, ſondern bloß Liebe gegen Gott und Menſchen auszuuͤben, im Leben und WandelStillings ſämmtl. Schriften. I. Band. 15226aber ihrem Haupte Chriſto nachzuahmen ſuchten. Dieſes kam mit Stillings Religionsſyſtem voͤllig uͤberein, und daher ver - band er ſich auch mit allen dieſen Leuten zur Bruͤderſchaft und aufrichtigen Liebe. Und wirklich, dieſe Verbindung hatte eine vortreffliche Wirkung auf ihn. Iſaac ermahnte ihn immerfort zum Wachen und Beten, und erinnerte ihn allezeit bruͤderlich, wo er irgendwo in Worten nicht behutſam genug war. Dieſe Lebensart war ihm aus der Maßen nuͤtzlich, und bereitete ihn immer mehr und mehr zu dem, was Gott aus ihm machen wollte.
Mitten im Mai, ich glaube, daß es bei Pfingſten war, be - ſchloß Meiſter Iſaac, im Maͤrkiſchen, etwa ſechs Stunden von Waldſtaͤtt, einige ſehr fromme Freunde zu beſuchen; dieſe wohnten in einem Staͤdtchen, das ich hier Rothenbeck heißen will. Er nahm Stillingen mit; es war das ſchoͤnſte Wetter von der Welt, und der Weg dahin ging durch bezau - bernde Gegenden, bald quer uͤber eine Wieſe, bald durch einen gruͤnen Buſch voller Nachtigallen, bald ein Feld hinauf vol - ler Blumen, bald uͤber einen buſchichten Huͤgel, bald auf eine Haide, wo die Ausſicht paradieſiſch war, dann in einen gro - ßen Wald, dann laͤngs einem plaͤtſchernden kuͤhlen Bach, und immer ſo wechſelsweiſe fort. Unſere beiden Pilger waren ge - ſund und wohl, ohne Sorge und Bekuͤmmerniß, hatten Frie - den von innen und auſſen, liebten ſich wie Bruͤder, ſahen und empfanden uͤberall den guten und nahen Vater aller Dinge in der Natur, und hatten eine Menge guter Freunde in der Welt, und wenig oder gar keine Feinde. Sie gingen oder lie - fen vielmehr Hand an Hand ihren Weg fort, redeten von allerhand Sachen ganz vertraulich, oder ſangen eine oder an - dere erbauliche Strophe, bis daß ſie gegen Abend, ohne Muͤdig - keit und Beſchwerde, zu Rothenbeck ankamen. Sie kehrten bei einem ſehr lieben und wohlhabenden Freunde ein, dem ſie alſo am wenigſten beſchwerlich fielen. Dieſer Freund ſchrieb ſich Gloͤckner; er war ein kleiner Kaufmann, und handelte mit allerhand Waaren. Dieſer Mann und ſeine Frau hatten keine Kinder. Beide empfingen die Fremden mit herzlicher Liebe; ſie kannten zwar Stillingen noch nicht, doch nah - men ſie ihn ſehr freundlich auf, als ſie Iſaac verſicherte,227 daß er mit ihnen Allen Einer Meinung und Eines Willens ſey.
Des Abends uͤber dem Eſſen erzaͤhlte Gloͤckner eine neue merkwuͤrdige Geſchichte von ſeinem Schwager Freymuth, die ſich folgendergeſtalt verhielt: Die Frau Freymuth war Gloͤckners Frau Schweſter, und im Chriſtenthum mit der - ſelben Eines Sinnes, daher kamen beide Schweſtern nebſt andern Freunden des Sonntags Nachmittags zuſammen, ſie wiederholten alsdann die Vormittags-Predigt, laſen in der Bibel, und ſangen geiſtliche Lieder; dieſes konnte nun Frey - muth ganz und gar nicht vertragen. Er war ein Erzfeind von ſolchen Sachen, hingegen ging er eben ſowohl fleißig in die Kirche und zum Nachtmahl, aber das war auch Alles; ent - ſetzliches Fluchen, Saufen, Spielen, unzuͤchtige Reden und Schlaͤgereien waren ſeine angenehmſten Beluſtigungen, womit er die Zeit zubrachte, die ihm von ſeinen Geſchaͤften uͤbrig blieb. Wenn er nun des Abends nach Haus kam, und fand ſeine Frau in der Bibel oder ſonſt einem erbaulichen Buche leſen, ſo fing er an abſcheulich zu fluchen: Du feiner pieti - ſtiſcher T ....! weißt ja wohl, daß ich das Leſen nicht ha - ben will; dann griff er ſie in den Haaren, ſchleppte ſie auf der Erde herum, und ſchlug ſie, bis das Blut aus Mund und Naſe herausſprang; ſie aber ſagte kein Wort, ſondern, wenn er aufhoͤrte, ſo faßte ſie ihn um die Knie, und bat ihn mit taufend Thraͤnen: er moͤchte ſich doch bekehren, und ſein Leben aͤndern; dann ſtieß er ſie mit den Fuͤßen von ſich und ſagte: Canaille! das will ich bleiben laſſen, ich will kein Kopfhaͤnger werden, wie du. Eben ſo behandelte er ſie auch, wenn er gewahr wurde, daß ſie bei andern frommen Leuten in Geſellſchaft geweſen war. So hatte er’s getrieben, ſo lange als ſeine Frau anderes Sinnes geweſen war, als er.
Nun aber vor kurzen Tagen hatte ſich Freymuth gaͤnz - lich geaͤndert, und zwar auf folgende Weiſe:
Freymuth reiste nach Frankfurt zur Meſſe. Waͤhrend dieſer Zeit hatte ſeine Frau alle Freiheit, nach ihrem Sinn zu leben; ſie ging nicht allein zu andern Freunden, ſondern ſie noͤthigte auch deren zuweilen eine ziemliche Anzahl in ihr Haus; dieſes hatte ſie auch letztverwichene Oſtermeſſe gethan. 15 *228Einsmals, als ihrer viele in Freymuths Hauſe an einem Sonntag Abend verſammelt waren, und zuſammen laſen, be - teten und ſangen, ſo gefiel es dem Poͤbel, dieſes nicht leiden zu wollen; ſie kamen und ſchlugen erſt alle Fenſter ein, die ſie nur erreichen konnten; und da die Hausthuͤr verſchloſſen war, ſo ſprengten ſie dieſelbe mit einem ſtarken Baum auf. Die Verſammlung in der Stube gerieth daruͤber in Angſt und Schrecken, und ein Jeder ſuchte ſich ſo gut zu verbergen, als er konnte; nur allein Frau Freymuth blieb; und als ſie hoͤrte, daß die Hausthuͤr aufſprang, ſo trat ſie heraus mit dem Licht in der Hand. Verſchiedene Burſche waren ſchon hereingedrungen, denen ſie im Voraus begegnete. Sie laͤchelte die Leute an, und ſagte gutherzig: Ihr Nachbarn! was wollt ihr? ſofort waren ſie, als wenn ſie geſchlagen waͤren, ſie ſa - hen ſich an, ſchaͤmten ſich, und gingen ſtill wieder nach Haus. Den andern Morgen beſtellte Frau Freymuth alsbald den Glaſer und Schreiner, um alles wieder in gehoͤrigen Stand zu ſtellen; dieſes geſchah, und kaum war alles richtig, ſo kam ihr Mann von der Meſſe wieder.
Nun bemerkte er alſofort die neuen Fenſter, er fragte deß - wegen ſeine Frau: wie das zuginge? Sie erzaͤhlte ihm die klare Wahrheit umſtaͤndlich, und verhehlte ihm nichts, ſeufzte aber zugleich in ihrem Gemuͤth zu Gott um Beiſtand, denn ſie glaubte nicht anders, als ſie wuͤrde erſchreckliche Schlaͤge bekommen. Doch Freymuth dachte daran nicht, ſondern er wurde raſend uͤber die Frevelthat des Poͤbels. Seine Meinung war, ſich grauſam an dieſen Spitzbuben, wie er ſie nannte, zu raͤchen; deßwegen befahl er ſeiner Frau drohend, ihm die Thaͤter zu ſagen, denn ſie hatte ſie geſehen und gekannt.
Ja, ſagte ſie: lieber Mann! die will ich dir ſagen, aber ich weiß noch einen groͤßern Suͤnder, als die Alle zuſammen; denn es war Einer, der hat mich wegen eben der Urſache ganz abſcheulich geſchlagen.
Freymuth verſtand das nicht, wie ſie es meinte; er fuhr auf, ſchlug auf ſeine Bruſt, und bruͤllte: den ſoll der T .... holen, und dich dazu, wenn du mir ihn nicht augen - blicklich fagſt! Ja! antwortete Frau Freymuth: den will229 ich dir ſagen, raͤche dich an ihm ſo viel du willſt; der Mann, der das gethan hat, biſt du und alſo ſchlimmer als die Leute, die nur blos die Fenſter eingeſchlagen haben. Freymuth verſtummte, und war wie vom Donner geruͤhrt, er ſchwieg eine Weile, endlich fing er an: Gott im Himmel, Du haſt Recht! — Ich bin wohl ein rechter Boͤſewicht geweſen, will mich an Leuten raͤchen, die beſſer ſind als ich. — Ja, Frau! ich bin der gottloſeſte Menſch auf Erden! Er ſprang auf, lief die Treppen hinauf auf ſein Schlafzimmer, lag da drei Tage und drei Naͤchte platt auf der Erde, aß nichts, bloß daß er ſich zuweilen Etwas zu trinken geben ließ. Seine Frau leiſtete ihm ſo viel Geſellſchaft als ſie konnte, und half ihm beten, damit er bei Gott durch den Erloͤſer Gnade erlan - gen moͤchte.
Am vierten Tage des Morgens ſtand er auf, war vergnuͤgt, lobte Gott, und ſagte: nun bin ich gewiß, daß mir meine ſchweren Suͤnden vergeben ſind! Von dem Augenblick an war er ganz umgekehrt; ſo demuͤthig, als er vorhin ſtolz, ſo ſanft - muͤthig, als er vorher trotzig und zornig, und ſo von Herzen fromm, als er vorhin gottlos geweſen war.
Dieſer Mann waͤre ein Gegenſtand fuͤr meinen Freund La - vater. Seine Geſichtsbildung iſt die roheſte und wildeſte von der Welt; es duͤrfte nur eine Leidenſchaft, zum Beiſpiel der Zorn, rege werden, die Lebensgeiſter brauchten nur jeden Muskel des Geſichts zu ſpannen, ſo wuͤrde er raſend ausſehen. Jetzt aber iſt er einem Loͤwen aͤhnlich, der in ein Lamm ver - wandelt worden iſt. Friede und Ruhe iſt jedem Geſichtsmus - kel eingedruͤckt, und das gibt ihm ein eben ſo frommes Aus - ſehen, als er vorhin wild war.
Nach dem Eſſen ſchickte Gloͤckner ſeine Magd in Frey - muths Haus, und ließ da anſagen, daß Freunde bei ihm angekommen waͤren. Freymuth und ſeine Frau kamen als - bald, und bewillkommten Iſaac und Stilling. Dieſer Letztere hatte den ganzen Abend ſeine Betrachtungen uͤber die beiden Leute; bald mußte er des Loͤwen Sanftmuth, bald des Lammes Heldenmuth bewundern. Alle Sechs waren ſehr ver -230 gnuͤgt zuſammen, ſie erbauten ſich ſo gut ſie konnten, und gingen ſpaͤt ſchlafen.
Unſere beiden Freunde blieben nun noch ein paar Tage zu Rothenbeck, beſuchten und wurden beſucht, auch gehoͤrte der Schulmeiſter daſelbſt, der ſich auch Stilling ſchrieb, und aus dem Salen’ſchen Land zu Haus war, mit unter die Ge - ſellſchaft der Frommen zu Rothenbeck; dieſen beſuchten ſie auch. Er gewann beſonders Stillingen lieb, beſonders da er hoͤrte, daß er auch lange Schulmeiſter geweſen war. Die beiden Stillinge machten einen Bund zuſammen, daß einer dem andern ſo lange ſchreiben ſollte, als ſie lebten, um die Freundſchaft zu unterhalten.
Endlich reisten ſie wieder von Rothenbeck nach Wald - ſtaͤtt zuruͤck, und begaben ſich an ihr Handwerk, wobei ſie ſich die Zeit mit allerhand angenehmen Geſpraͤchen vertrieben.
Es wohnte aber eine Stunde von Waldſtaͤtt ein weidli - cher Kaufmann, der ſich Spanier ſchrieb. Dieſer Mann hatte ſieben Kinder, wovon das aͤlteſte eine Tochter von etwa ſechzehn Jahren, das juͤngſte aber ein Maͤdchen von einem Jahr war. Unter dieſen Kindern waren drei Soͤhne und vier Toͤchter. Er hatte eine ſehr ſtarke Eiſen-Fabrik, die aus ſie - ben Eiſenhammern beſtand, wovon vier bei ſeinem Hauſe, drei aber anderthalb Stunden von ſeinem Hauſe ab, nicht weit von Herrn Hochbergs Haus lagen, wo Stilling geweſen war. Dabei beſaß er ungemein viele liegende Guͤter, Haͤuſer, Hoͤfe, und was dazu gehoͤrte, nebſt vielem Geſinde, Knechte, Maͤgde und Fuhrknechte, denn er hatte verſchiedene Pferde zu ſeinem eigenen Gebrauch.
Wenn nun Herr Spanier verſchiedene Schneiderarbeit fuͤr ſich und ſeine Leute zuſammen verſpart hatte, ſo ließ er Mei - ſter Iſaac mit ſeinen Geſellen kommen, um einige Tage bei ihm zu Naͤhen, und fuͤr ihn und ſeine Leute alle Kleider wie - der in Ordnung zu bringen.
Nachdem nun Stilling zwoͤlf Wochen bei Meiſter Iſaac geweſen war, ſo traf es ſich, daß ſie auch bei Herrn Spanier arbeiten mußten. Sie gingen alſo des Morgens fruͤh hin. Als ſie zur Stubenthuͤr hereintraten, ſo ſaß Herr Spanier231 allein am Tiſch, und trank den Caffee aus einem kleinen Kaͤnn - chen, das fuͤr ihn allein gemacht war. Langſam drehte er ſich um, ſah Stillingen ins Geſicht, und ſagte:
„ Guten Morgen, Herr Praͤceptor! “
Stilling war bluthroth, er wußte nicht, was er ſagen ſollte, doch erholte er ſich geſchwind, und ſagte: Ihr Diener, Herr Spanier. Doch dieſer ſchwieg nun wieder ſtill, und trank ſeinen Caffee fort. Stilling aber begab ſich auch an ſeine Arbeit.
Nach einigen Stunden ſpazierte Spanier auf und ab in der Stube, und ſagte kein Wort; endlich ſtand er vor Stil - lingen hin, ſah ihm eine Weile zu, und ſagte:
„ Das geht Euch ſo gut von ſtatten, Stilling! als wenn Ihr zum Schneider geboren waͤret, aber das ſeyd Ihr doch nicht? “
Wie ſo? fragte Stilling.
„ Eben darum, verſetzte Spanier: weil ich Euch zum In - formator bei meinen Kindern haben will. “
Meiſter Iſaac ſah Stillingen an und laͤchelte.
Nein, Herr Spanier! erwiederte Stilling, daraus wird nichts; ich bin unwiderruflich entſchloſſen, nicht wieder zu in - formiren. Ich bin jetzt ruhig und wohl bei meinem Hand - werk, und davon werde ich nicht wieder abgehen.
Herr Spanier ſchuͤttelte den Kopf, lachte, und fuhr fort: „ Das will ich Euch doch wohl anders lehren, ich habe ſo manchen Berg in der Welt eben und gleich gemacht, und ſollte Euch nicht auf andere Sinne bringen, deſſen wuͤrde ich mich vor mir ſelber ſchaͤmen.
Nun ſchwieg er den Tag davon ſtill. Stilling aber bat ſeinen Meiſter, daß er ihn des Abends moͤchte nach Haus gehen laſſen, um Herrn Spaniers Nachſtellungen zu ent - gehen; allein Meiſter Iſaac wollte das nicht geſchehen laſſen, deßwegen waffnete ſich Stilling aufs beſte, um Herrn Spa - nier mit den wichtigſten Gruͤnden widerſtehen zu koͤnnen.
Des andern Tages traf ſichs wieder, daß Herr Spanier in der Stube auf und abging; er fing gegen Stilling an:
„ Hoͤrt Stilling! wenn ich mir ein ſchoͤnes Kleid machen232 laſſe, und haͤnge es dann an den Nagel, ohne es jemals anzu - ziehen, bin ich dann nicht ein Narr? “
Ja! verſetzte Stilling: erſtens, wenn Sie’s nothwendig haben; und zweitens, wenn’s wohl getroffen iſt. Wie wenn Sie ſich aber einmal ein huͤbſches Kleid machen ließen, ohne daß Sie’s nothwendig haͤtten, oder Sie zoͤgens an, und es druͤckte Sie aller Orten, was wollten Sie alsdann machen?
„ Das will ich Euch ſagen, verſetzte Spanier: ſo gaͤb ichs einem Andern; dem’s recht waͤre. “
Aber, erwiederte Stilling: wenn Sie’s nun Sieben hin - ter einander gegeben haͤtten, und ein Jeder gaͤb’s Ihnen wie - der, und ſagte: es paßt mir nicht, was wuͤrden Sie dann anfangen?
Spanier antwortete: So waͤr’ ich doch ein Narr, wenn ichs muͤßig da haͤngen und die Motten freſſen ließe; hoͤr’! ich gaͤb’s dem Achten, und ſagte: nun aͤndert daran bis es euch recht iſt. Wenn aber nun der Achte ſich vollends dazu ver - ſtaͤnde, ſich in das Kleid zu ſchicken, und nicht mehr von ihm zu fordern, als wozu es gemacht iſt, ſo wuͤrde ich ja ſuͤndigen, wenn ichs ihm nicht gaͤbe!
Da haben Sie Recht, verſetzte Stilling; allein, dem allen ungeachtet bitte ich Sie um Gottes willen, Herr Spanier! laſſen Sie mich am Handwerk!
„ Nein! antwortete er: das thue ich nicht, Ihr ſollt und muͤßt mein Haus-Informator werden, und zwar unter folgen - den Bedingungen: Ihr koͤnnt nicht franzoͤſiſch, es iſt aber bei mir um vieler Urſachen willen noͤthig, daß Ihr’s verſteht, dero - wegen waͤhlt Euch einen Sprachmeiſter, wo Ihr wollt, zieht zu ihm hin, und lernt dieſe Sprache, ich bezahle alles gerne, was es koſten wird; ferner geb’ ich Euch dem ungeach - tet volle Freiheit, wieder von mir zu Meiſter Iſaac zu zie - hen, ſobald es Euch bei mir leid ſeyn wird. Und endlich ſollt Ihr alles haben an Kleidern und Zubehoͤr, was Ihr be - duͤrft, und das ſo lange, als Ihr bei mir ſeyn werdet. Nun hab’ ich aber auch Recht, dieſes dagegen zu fordern: daß Ihr in keine andere Condition treten wollt, ſo lange ich Euch233 noͤthig habe, es ſey denn, daß Ihr Euch auf Lebenslang ver - ſorgen koͤnntet. “
Meiſter Iſaac wurde durch dieſen Vorſchlag geruͤhrt. Nun! ſagte er gegen Stilling: jetzt begeht Ihr eine Suͤnde, wenn Ihr nicht einwilligt. Das kommt von Gott, und alle Eure vorigen Bedingungen kamen von Euch ſelbſt.
Stilling unterſuchte ſich genau, er fand gar keine Leiden - ſchaft oder Trieb nach Ehre bei ſich, ſondern er fuͤhlte im Ge - gentheil einen Wink in ſeinem Gewiſſen, daß dieſe Condition ihm von Gott angewieſen werde.
Nach einer kurzen Pauſe fing er an: „ Ja, Herr Spanier! noch Einmal will ichs wagen, aber ich thue es mit Furcht und Zittern. “
Spanier ſtand auf, gab ihm die Hand, und ſagte: „ Gott ſey Dank! nun hab’ ich auch dieſen Huͤgel wieder eben ge - macht; aber nun muͤßt Ihr auch alſofort zum Sprachmeiſter, lieber morgen als uͤbermorgen. “
Stillingen war dieſes ſo ganz recht, und ſelbſt Meiſter Iſaac ſagte: Uebermorgen iſts Sonntag, und dann koͤnnt Ihr in Gottes Namen reiſen. Dieſes wurde alſo beſchloſſen.
Ich muß geſtehen: daß, da nun Stilling wieder ein an - derer Menſch war, ſo vergnuͤgt er ſich auch eingebildet hatte zu ſeyn, ſo hatte er doch immer eine ungeſtimmte Saite, die er nie ohne eine Art von Mißvergnuͤgen beruͤhren durfte. So - bald ihm einfiel, was er in der Mathematik und andern Wiſ - ſenſchaften gethan und geleſen hatte, ſo ging ihm ein Stich durchs Herz, allein er ſchlug ſichs wieder aus dem Sinn; daher wurde ihm jetzt ganz anders, als er fuͤhlte, daß er aufs Neue recht in ſein Element kommen wuͤrde.
Iſaac goͤnnte ihm zwar ſein Gluͤck, allein es that ihm doch ſchmerzlich leid, daß er ihn ſchon miſſen ſollte, und Stil - lingen ſchmerzte es in ſeiner Seele, daß er von dem recht - ſchaffenſten Mann in der Welt, und ſeinem beſten Freunde, den er je gehabt hatte, Abſchied nehmen ſollte, ehe er ihm ſeine Kleider abverdient hatte; er redete deßwegen mit Herrn Spanier in Geheim, und erzaͤhlte ihm, was Meiſter Iſaac an ihm gethan habe. Spanier drangen die Thraͤnen in die234 Augen, und er ſagte: Der vortreffliche Menſch! das ſoll er mir entgelten, nie ſoll er Mangel haben. Nun gab er ihm einige Lonisd’ors mit dem Bedeuten, Iſaac davon zu bezah - len, und mit dem uͤbrigen hauszuhalten; wenns all waͤre, ſollte er mehr haben, nur dieß er alles huͤbſch berechnete, wozu es verwendet worden.
Stilling freute ſich aus der Maſſen; ſo einen Mann hatte er noch nicht angetroffen. Er bezahlte alſo Meiſter Iſaac mit dem Gelde, und nun geſtand ihm dieſer: daß er wirklich alle Kleider fuͤr ihn geborgt haͤtte. Das ging Stilling durchs Herz, er konnte ſich des Weinens nicht enthalten, und dachte bei ſich ſelbſt: Wenn jemals ein Mann ein marmornes Monument verdient hat, ſo iſts dieſer; nicht daß er ganze Voͤlker gluͤcklich gemacht hat, ſondern darum, daß ers wuͤrde gethan haben, wenn er gekonnt haͤtte.
Nochmals! — geſegnet ſey deine Aſche, mein Freund! aus - erkohren unter Tauſenden, — da Du liegſt und ſchlaͤfſt; dieſe hei - ligen Thraͤnen auf dein Grab — du wahrer Nachfolger Chriſti!!!
Des Sonntags nahm alſo Stilling Abſchied von ſeinen Freunden zu Waldſtaͤtt, und reiste uͤber Roſenheim nach Schoͤnenthal, um einen guten Sprachmeiſter zu ſuchen. Als er nahe bei letzterer Stadt kam, ſo erinnerte er ſich, daß er vor einem Jahr und etlichen Wochen dieſen Weg zuerſt ge - reist hatte; er uͤberdachte alle ſeine Schickſale in dieſer kurzen Zeit, und nun wieder ſeinen Zuſtand, er fiel nieder auf ſeine Knie, und dankte Gott herzlich fuͤr eine ſtrenge aber heilige und gute Fuͤhrung, bat aber zugleich, nunmehr auch ſeine Gnaden - ſonne uͤber ihn ſcheinen zu laſſen. Als er auf die Hoͤhe kam, wo er ganz Schoͤnenthal und das herrliche Thal hinauf uͤberſehen konnte, ſo wurde er begeiſtert, ſetzte ſich hin unter das Geſtraͤuche, zog ſeine Schreibtafel heraus und ſchrieb:
Stilling eilte nun den Berg hinunter nach Schoͤnenthal hin; er vernahm aber, daß die Sprachmeiſter daſelbſten ſich fuͤr ihn nicht ſchicken wuͤrden, indem ſie wegen vieler Ge - ſchaͤfte hin und her in den Haͤuſern, wenig Zeit auf ihn wuͤr - den verwenden koͤnnen. Da er nun eilig war und bald fer - tig ſeyn wollte, ſo mußte er eine Gelegenheit ſuchen, wo er in kurzer Zeit viel lernen konnte; endlich wurd’ er gewahr, daß ſich zu Dornfeld, wo Herr Dahlheim Prediger war, ein ſehr geſchickter Sprachmeiſter aufhielte. Da nun dieſer Ort nur drei viertel Stunden von Schoͤnenthal ablag, ſo entſchloß er ſich deſto lieber, dahin zu gehen.
Des Nachmittags um drei Uhr kam er daſelbſt an. Er fragte alsbald nach dem Sprachmeiſter, ging zu ihm, und fand einen ſehr ſeltſamen originellen Menſchen, der ſich Hees - feld ſchrieb. Er ſaß da in einem dunkeln Stuͤbchen, hatte einen ſchmutzigen Schlafrock von ſchlechtem Camelot an, mit einer Binde von demſelben Zeug umguͤrtet; auf dem Kopf hatte er eine latzige Muͤtze; ſein Geſicht war blaß, wie eines Menſchen, der ſchon einige Tage im Grabe gelegen, und im Verhaͤltniß gegen die Breite viel zu lang. Die Stirne war ſchoͤn, aber unter pechſchwarzen Augbraunen lagen ein paar ſchwarze, ſchmale, kleine Augen tief im Kopf; die Naſe war ſchmal und lang, der Mund ordentlich, aber das Kinn ſtand237 platt und ſcharf vorwaͤrts, das er auch immer ſehr weit vor - waͤrts trug, ſein rabenſchwarzes Haar war rund um gekraͤu - ſelt; ſonſt war er ſchmal, lang und ſchoͤn gewachſen.
Stilling erſchrack einigermaßen vor dieſem ſeltſamen Ge - ſichte, ließ aber doch nichts merken, ſondern gruͤßte ihn, und trug ihm ſein Vorhaben vor. Herr Heesfeld nahm ihn freundlich auf, und ſagte: ich werde an Ihnen thun was ich vermag. Stilling ſuchte ſich nun ein Quartier, und fing ſein Studium der franzoͤſiſchen Sprache an, und zwar folgenderge - ſtalt. Des Vormittags von acht bis eilf Uhr wohnte er der ordentlichen Schule bei, des Nachmittags von zwei bis fuͤnf auch, er ſaß aber mit Heesfeld an einem Tiſch, ſie ſprachen immer, und hatten Zeitvertreib zuſammen, wenn aber die Schule aus war, ſo gingen ſie ſpazieren.
So ſonderlich als Heesfeld gebildet war, ſo ſonderlich war er auch in ſeinem Leben und Wandel. Er gehoͤrte zur Claſſe der Launer wie ehemals Glaſer auch, denn er ſagte Niemand was er dachte, kein Menſch wußte wo er her war, und eben ſo wenig wußte Jemand, ob er arm oder reich war. Vielleicht hat er Niemand in ſeinem Leben zaͤrtlicher geliebt als Stillin - gen, und doch hat dieſer erſt nach ſeinem Tode inne geworden, wo er her war, und daß er ein reicher Mann geweſen.
Seine ſonderliche Denkungsart leuchtete auch daraus hervor, daß er immer ſeine Geſchicklichkeit verbarg, und nur ſo viel davon blicken ließ, als juſt noͤthig war. Daß er vollkommen franzoͤſiſch verſtand, aͤußerte ſich alle Tage, daß er aber auch ein vortrefflicher Lateiner war, das zeigte ſich erſt, als Stilling zu ihm kam, mit welchem er die Information auf den Fuß der lateiniſchen Grammatik einrichtete, und taͤglich mit ihm latei - niſche Verſe machte, die unvergleichlich ſchoͤn waren. Zeichnen, Tanzen, Phyſik und Chymie verſtand er in einem hohem Grad; und noch zwei Tage vor Stillings Abreiſe traf es ſich, daß letzterer in ſeiner Geſellſchaft auf einem Clavier ſpielte. Hees - feld hoͤrte zu. Als Stilling aufhoͤrte, ſetzte er ſich hin, und that anfaͤnglich, als wenn er in ſeinem Leben kein Clavier be - ruͤhrt haͤtte, aber in weniger als fuͤnf Minuten fing er ſo tref - flich melancholiſch-fuͤrchterlich an zu phantaſiren, daß einem die238 Haare zu Berge ſtanden; allmaͤhlig ſchwung er ſich zum me - lancholiſch-zaͤrtlichen, von da ins choleriſch-feurige, darauf ins gelaſſene ruhige, phantaſirte eine phlegmatiſche Murqui, darauf ein ſanguiniſch-zaͤrtliches Adagio, dann ein Allegro, und nun ſchloß er mit einer luſtigen Menuette aus D dur. Stilling haͤtte zerſchmelzen moͤgen uͤber ſeine empfindſame Art zu Spie - len, und bewunderte dieſen Mann aus der Maſſen.
Heesfeld war in ſeiner Jugend in Kriegsdienſte gegangen; wegen ſeiner Geſchicklichkeit wurde er von einem hohen Officier in ſeine eigenen Dienſte genommen, der ihn in Allem hatte un - terrichten laſſen, wozu er nur Luſt gehabt hatte; mit dieſem Herrn war er durch die Welt gereist, der nach zwanzig Jahren ſtarb, und ihm ein ſchoͤnes Stuͤck Geld vermachte. Heesfeld war nun vierzig Jahre alt, reiste nach Haus, aber nicht zu ſei - nen Eltern und Freunden, ſondern er nahm einen fremden Ge - ſchlechtsnamen an, ging nach Dornfeld als franzoͤſiſcher Sprach - meiſter, und obgleich ſeine Eltern und zween Bruͤder nur zwei Stunden von ihm ab wohnten, ſo wußten ſie doch gar nichts von ihm, ſondern ſie glaubten, er ſey in der Fremde geſtorben; auf ſeinem Todtbette aber hat er ſich ſeinen Bruͤdern zu erken - nen gegeben, ihnen ſeine Umſtaͤnde erzaͤhlt, und eine reichliche Erbſchaft hinterlaſſen: und nach ſeinem Syſtem war es auch da noch fruͤh genug.
Man nenne dieſes nun Fehler oder Tugend, er hatte bei dem allem eine edle Seele; ſeine Menſchenliebe war auf einen hohen Grad geſtiegen, aber er handelte in Geheim; auch denen er Gu - tes that, die durftens nicht wiſſen. Nichts konnte ihn mehr er - goͤtzen, als wenn er hoͤrte, daß die Leute nicht wuͤßten, was ſie aus ihm machen ſollten.
Wenn er mit Stilling ſpazieren ging, ſo ſprachen ſie von Kuͤnſten und Wiſſenſchaften. Ihr Weg ging immer in die wil - deſten Einoͤden, dann ſtieg Heesfeld auf einen ſchwankenden Baum, der ſich gut biegen ließ, ſetzte ſich oben in den Gipfel, hielt ſich feſt, und wiegte ſich mit ihm auf die Erde, legte ſich eine Weile in die Aeſte und ruhete. Stilling machte ihm das dann nach, und ſo lagen ſie und plauderten; wenn ſie deſſen muͤde waren, ſo ſtanden ſie auf und dann richteten ſich die239 Baͤume wieder auf; das war Heesfelds Freude, dann ſagte er wohl: ſchoͤn ſind unſere Betten, wenn wir aufſtehen, ſo fah - ren ſie gen Himmel. — Zuweilen gab er auch wohl Jemand ein Raͤthſel auf, und fragte: was ſind das vor Betten, die in die Luft fliegen, wenn man aufſteht?
Stilling lebte aus der Maßen vergnuͤgt zu Dornfeld. Herr Spanier ſchickte ihm Geld genug, und er ſtudirte recht fleißig, denn in neun Wochen war er fertig; es iſt unglaublich aber doch gewiß wahr; er verſtand dieſe Sprache nach zwei Mona - ten hinlaͤnglich, er las die franzoͤſiſche Zeitung teutſch weg, als wenn ſie in letzterer Sprache gedruckt waͤre, auch ſchrieb er ſchon damalen einen franzoͤſiſchen Brief ohne Grammaticalfeh - ler, und las richtig, nur fehlte ihm noch die Uebung im Sprechen. Den ganzen Syntax hatte er zur Genuͤge inne; ſo daß er nun ſelbſt getroſt anfangen konnte, in dieſer Sprache zu unterrichten.
Stilling beſchloß alſo, nunmehr von Herrn Heesfeld Abſchied zu nehmen, und zu ſeinem neuen Patron zu ziehen. Beide weinten, als ſie von einander gingen. Heesfeld gab ihm eine Stunde weit das Geleit. Als ſie ſich nun herzten und kuͤßten, ſchloß ihn Herr Heesfeld in die Arme, und ſagte: „ Mein Freund! wenn Ihnen je Etwas mangelt, ſo ſchreiben Sie mir, ich werde Ihnen thun, was ein Bruder dem andern thun ſoll; mein Wandel iſt verborgen, aber ich wuͤnſche zu wirken, wie die Mutter Natur, man ſieht ihre erſten Quellen nicht, aber man trinkt ſich ſatt an ihren klaren Baͤchen. “ Es fiel Stilling hart, von ihm weg zu kommen; endlich riſſen ſie ſich von einander, gingen ihres Weges, und ſahen nicht wieder hinter ſich.
Stilling wanderte alſo zuruͤck zu Herrn Spanier, und kam zwei Tage vor Michaelis 1763 des Abends in Herrn Spaniers Hauſe an. Dieſer Mann freute ſich uͤber die Maßen, als er Stilling ſo geſchwind bei ſich ſahe. Er behan - delte ihn alſofort als einen Freund, und Stilling fuͤhlte wohl, daß er nunmehro bei Leuten waͤre, die ihm Freude und Wonne machen wuͤrden.
Des andern Tages fing er ſeine Information an. Die Ein - richtung derſelben ward folgendergeſtalt von Herrn Spanier240 angeordnet: Die Kinder ſowohl, als ihr Lehrer, waren bei ihm in ſeiner Stube; auf dieſe Weiſe konnte er ſie ſelber beobach - ten und ziehen, und auch beſtaͤndig mit Stilling von allerhand Sachen reden. Dabei gab Herr Spanier ſeinem Haus-In - formator auch Zeit genug, ſelber zu leſen. Die Unterweiſung dauerte den ganzen Tag, aber ſo gemaͤchlich und unterhaltend, daß ſie Niemand langweilig und beſchwerlich werden konnte.
Herr Spanier aber hatte Stillingen nicht bloß zum Leh - rer ſeiner Kinder beſtimmt, ſondern er hatte noch eine ſchoͤne Abſicht mit ihm, er wollte ihn in ſeinen Handelsgeſchaͤften brau - chen; das entdeckte er ihm aber nicht eher, als bis auf den Tag, da er ihm einen Theil ſeiner Fabrik zu verwalten uͤbertrug. Hier - durch glaubte er auch Stillingen Veraͤnderung zu machen, und ihn vor der Melancholie zu bewahren.
Alles dieſes gelang auch vollkommen. Nachdem er vierzehen Tage informirt hatte, ſo uͤbertrug ihm Herr Spanier ſeine drei Haͤmmer, und die Guͤter, welche anderthalb Stunden von ſei - nem Hauſe, nicht weit von Hochbergs Wohnung lagen. Stilling mußte alle drei Tage dahin gehen, um die fertigen Waa - ren wegzuſchaffen, und Alles zu beſorgen.
Auch mußte er rohe Waaren einkaufen, und des Endes drei Stunden weit woͤchentlich ein paarmal auf die Landſtraße ge - hen, wo die Fuhrleute mit dem rohen Eiſen herkamen, um das noͤthige von ihnen einzukaufen; wenn er dann wieder kam und recht muͤde war, ſo that ihm die Ruhe ein paar Tage wieder gut, er las dann ſelbſten und informirte dabei.
Der vergnuͤgte Umgang aber, den Stilling mit Herrn Spanier hatte, war uͤber alles. Sie waren recht vertraulich zuſammen, redeten von Herzen von allerhand Sachen, beſon - ders war Spanier ein ausbuͤndiger geſchickter Landwirth und Kaufmann, ſo daß Stilling oftmals zu ſagen pflegte: Herrn Spaniers Haus war meine Academie, wo ich Oeconomie, Landwirthſchaft und das Commerzienweſen aus dem Grund zu ſtudieren Gelegenheit hatte.
So wie ich hier Stillings Lebensart beſchrieben habe, ſo dauerte ſie, ohne eine einzige truͤbe Stunde dazwiſchen zu ha - ben, ſieben ganze Jahre in einem fort; ich will davon nichts241 weiter ſagen, als daß er in all dieſer Zeit, in Abſicht der Welt - kenntniß, Lebensart, und obigen haͤuslichen Wiſſenſchaften ziem - lich zugenommen habe. Seine Schuͤler unterrichtete er, dieſe ganze Zeit uͤber, in der lateiniſchen und franzoͤſiſchen Sprache, wodurch er ſelber immer mehr Fertigkeit in beiden Stuͤcken erlangte, und dann in der reformirten Religion, im Leſen, Schreiben und Rechnen.
Seine eigne Lectuͤre beſtand anfaͤnglich in allerhand poe - tiſchen Schriften. Er las erſtlich Miltons verlornes Pa - radies, hernach Youngs Nachtgedanken, und darauf die Meſſiade von Klopſtock; drei Buͤcher, die recht mit ſeiner Seele harmonirten; denn ſo wie er vorhin ſanguiniſch zaͤrt - lich geweſen war, ſo hatte er nach ſeiner ſchrecklichen Periode bei Herrn Hochberg eine ſanfte, zaͤrtliche Melancholie an - genommen, die ihm auch vielleicht bis an ſeinen Tod anhaͤn - gen wird.
In der Mathematik that er jetzt nicht viel mehr, hingegen legte er ſich mit Ernſt auf die Philoſophie, las Wolfs teutſche Schriften ganz, desgleichen Gottſcheds geſammte Philoſophie, Leibnitzens Theodicee, Baumeiſters kleine Logik und Metaphyſik demonſtrirte er ganz nach, und nichts in der Welt war ihm angenehmer als die Uebung in dieſen Wiſſenſchaften; allein er ſpuͤrte doch eine Leere bei ſich und ein Mißtrauen gegen dieſe Syſteme, denn ſie erſtick - ten wahrlich alle kindliche Empfindung des Herzens gegen Gott; ſie moͤgen eine Kette von Wahrheiten ſeyn, aber die wahre philoſophiſche Kette, an welche ſich alles anſchließt, haben wir noch nicht. Stilling glaubte dieſe zu finden, allein er fand ſie nicht, und nun gab er ſich ferner aus Su - chen, theils durch eigenes Nachdenken, theils in andern Schrif - ten, und noch bis dahin wandelt er traurig auf dieſem Wege, weil er noch keine Auskunft ſiehet.
Herr Spanier ſtammte auch aus dem Salen’ſchen Lande her; denn ſein Vater war nicht weit von Kleefeld geboren, wo Stilling ſeine letzte Kapellenſchule bedient hatte, deßwegen hatte er auch zuweilen Geſchaͤfte daſelbſt zu verrichten, hierzu brauchte er nun Stilling auch darum am liebſten, weil er da -Stilling’s ſämmtl. Schriften. I. Band. 16242ſelbſt bekannt war. Nachdem er nun ein Jahr bei ſeinem Pa - tron, und alſo beinah dritthalb Jahr in der Fremde geweſen, ſo trat er ſeine erſte Reiſe zu Fuß nach ſeinem Vaterland an. Er hatte zwoͤlf Stunden von Herrn Spanier bis zu ſeinem Oheim Johann Stilling, und dreizehn bis zu ſeinem Vater; dieſe Reiſe wollte er in einem Tage abthun. Er machte ſich deß - wegen des Morgens fruͤh mit Tagesanbruch auf den Weg, und reiste vergnuͤgt fort, aber er nahm eine naͤhere Straße vor ſich, als er ehemals gekommen war. Des Nachmittags um vier Uhr kam er auf einer Hoͤhe an die Graͤnze des Sa - len’ſchen Landes, er ſah in all die bekannten Gebirge hinein, ſein Herz zerſchmolz, er ſetzte ſich hin, weinte Thraͤnen der Empfindſamkeit, und dankte Gott fuͤr ſeine ſchwere aber ſehr ſeltſame Fuͤhrung; er bedachte, wie elend und arm er aus ſeinem Vaterland ausgegangen, und daß er nun Ueberfluß an Geld, ſchoͤnen Kleidern und an aller Nothdurft habe; die - ſes machte ihn ſo weich und ſo dankbar gegen Gott, daß er ſich des Weinens nicht enthalten konnte.
Er wanderte alſo weiter, und kam nach einer Stunde bei ſeinem Oheim zu Lichthauſen an. Die Freude war nicht auszuſprechen, die da entſtand, als ſie ihn ſahen; er war nun lang und ſchlank ausgewachſen, hatte ein ſchoͤnes dunkelblaues Kleid, und ſeine weiße Waͤſche an, ſein Haar war gepudert, und rund um aufgerollt, dabei ſah er nun munter und bluͤhend aus, weil es ihm wohl ging. Sein Oheim umarmte und kuͤßte ihn, und die Thraͤnen liefen ihm die Wangen herunter, indem kam auch ſeine Muhme, Mariechen Stilling. Sie war ſeit der Zeit auch nach Lichthauſen verheirathet, ſie fiel ihm um den Hals, und kuͤßte ihn ohne Aufhoͤren.
Dieſe Nacht blieb er bei ſeinem Oheim, des andern Mor - gens ging er nach Leindorf zu ſeinem Vater. Wie der recht - ſchaffene Mann aufſprang, als er ihn ſo unvermuthet kommen ſah! er ſank wieder zuruͤck; Stilling aber lief auf ihn zu, umarmte und kuͤßte ihn zaͤrtlich, Wilhelm hielt ſeine Haͤnde vor die Augen und weinte, ſein Sohn vergoß ebenfalls Thraͤ - nen; indem kam auch die Mutter, ſie ſchuͤttelte ihm die Hand, und weinte laut vor Freuden, daß ſie ihn geſund wieder ſahe.
243Nun erzaͤhlte Stilling ſeinen Eltern Alles, was ihm be - gegnet war und wie gut es ihm nun ginge. Indeſſen er - ſchallte das Geruͤcht von Stillings Ankunft im ganzen Dorf. Das Haus wurde voller Leute; Alte und Junge kamen, um ihren ehemaligen Schulmeiſter zu ſehen und das ganze Dorf war voll Freude uͤber ihn.
Gegen Abend ging Wilhelm mit ſeinem Sohne uͤber die Wieſen ſpazieren. Er redete viel mit ihm von ſeinen vergan - genen und kuͤnftigen Schickſalen, und zwar recht im Ton des alten Stillings, ſo daß ſein Sohn von Ehrfurcht und Liebe durchdrungen war. Endlich fing Wilhelm an: Hoͤre mein Sohn, Du mußt deine Großmutter beſuchen, ſie liegt elend an der Gicht darnieder, und wird nicht lange mehr leben, ſie redet immer von dir, und wuͤnſcht noch einmal, vor ihrem Ende mit dir zu ſprechen. Des andern Morgens machte ſich alſo Stilling auf, und ging nach Tiefenbach hin. Wie ihm ward, als er das alte Schloß, den Giller, den hitzigen Stein und das Dorf ſelber ſahe! Dieſe Empfindung laͤßt ſich nicht ausſprechen; er unterſuchte ſich, und fand, wenn er noch ſei - nen jetzigen Zuſtand mit ſeiner Jugend vertauſchen koͤnnte, er wuͤrde es gerne thun. Er langte in kurzer Zeit im Dorfe an; alles Volk lief aus, ſo daß er gleichſam im Gedraͤnge an das ehrwuͤrdige Haus ſeiner Vaͤter kam. Es ſchauerte ihn, wie er hineintrat, juſt als wenn er in einen alten Tempel ginge. Seine Muhme Eliſabeth war in der Kuͤche, ſie lief auf ihn zu, gab ihm die Hand, weinte, und fuͤhrte ihn in die Stube; da lag nun ſeine Großmutter Margarethe Stil - ling in einem ſaubern Bettchen an der Wand bei dem Ofen; ihre Bruſt war hoch in die Hoͤhe getrieben. Die Knoͤchel an ihren Haͤnden waren dick, die Finger ſteif, und einwaͤrts aus - gereckt. Stilling lief zu ihr, griff ihre Hand und ſagte mit Thraͤnen in den Augen: wie gehts, liebe Großmutter? Es iſt mir eine Seelenfreude, daß ich Euch noch einmal ſehe. Sie ſuchte ſich in die Hoͤhe zu arbeiten, fiel aber ohnmaͤchtig zu - ruͤck. Ach! rief ſie: ich kann dich noch einmal vor meinem Ende hoͤren und fuͤhlen, komm doch zu mir, daß ich dich im Geſicht fuͤhlen kann! Stilling buͤckte ſich zu ihr; ſie fuͤhlte16 *244nach ſeiner Stirn, ſeinen Augen, Naſe, Mund, Kinn und Wangen. Indeſſen gerieth ſie auch mit den ſteifen Fingern in ſeine Haare, ſie fuͤhlte den Puder: So! ſagte ſie; Du biſt der Erſte, der aus unſerer Familie ſeine Haare pudert, ſey aber nicht der Erſte, der auch Gottesfurcht und Redlichkeit ver - gißt! Nun, fuhr ſie fort: kann ich dich mir vorſtellen, als wenn ich dich ſaͤhe; erzaͤhle mir nun auch, wie es dir gegan - gen hat, und wie es dir nun geht. Stilling erzaͤhlte ihr Alles kurz und buͤndig. Als er ausgeredet hatte, fing ſie an: Hoͤre, Heinrich! ſey demuͤthig und fromm, ſo wirds Dir wohl gehen, ſchaͤme Dich nie Deines Herkommens und deiner armen Freunde, Du magſt ſo groß werden in der Welt als Du willſt. Wer gering iſt, kann durch Demuth groß werden, und wer vornehm iſt, kann durch Stolz gering werden; wenn ich nun todt bin, ſo iſts einerlei, was ich in der Welt geweſen bin, wenn ich nur chriſtlich gelebt habe.
Stilling mußte ihr mit Hand und Mund Alles dieſes angeloben. Nachdem er nun noch ein und anderes mit ihr ge - redet hatte, nahm er ſchnell Abſchied von ihr, das Herz brach ihm, denn er wußte, daß er ſie in dieſem Leben nicht wieder ſehen wuͤrde; ſie war am Rande des Todes; allein ſie griff ihm die Hand, hielt ihn feſt, und ſagte: Du eilſt — Gott ſey mit Dir, mein Kind! vor dem Thron Gottes ſeh ich Dich wieder! Er druͤckte ihr die Hand und weinte. Sie merkte das: Nein! fuhr ſie fort, weine nicht uͤber mich! mir gehts wohl, ich empfehle Dich Gott von Herzen in ſeine vaͤterlichen Haͤnde, der wolle Dich ſegnen, und vor allem Boͤſen bewahren! Nun geh’ in Gottes Namen! Stilling riß ſich los, lief aus dem Hauſe weg, und iſt auch ſeitdem nicht wieder dahin gekommen. Einige Tage nachher ſtarb Margarethe Stilling; ſie liegt zu Florenburg neben ihrem Mann begraben.
Nun war’s Stilling, als wenn ihm ſein Vaterland zu - wider waͤre; er machte ſich fort und eilte wieder in die Fremde, kam auch bei Herrn Spanier wieder an, nachdem er fuͤnf Tage ausgeblieben war.
Ich will mich mit Stillings einfoͤrmiger Lebensart und Verrichtungen, die erſten vier Jahre durch, nicht aufhalten,245 ſondern ich gehe zu wichtigern Sachen uͤber. Er war nun ſchon eine geraume Zeit her mit der Information und Herrn Spaniers Geſchaͤften umgegangen; er ruͤckte immer mehr und mehr in ſeinen Jahren fort, und es begann ihm zuweilen einzufallen: was doch wohl am Ende noch aus ihm werden wuͤrde? — Mit dem Handwerk war’s nun gar aus, er hatte es in einigen Jahren nicht mehr verſucht, und die Unterwei - ſung der Jugend war ihm ebenfalls verdrießlich, er war ihrer von Herzen muͤde, und er fuͤhlte, daß er nicht dazu gemacht war; denn er war geſchaͤftig und wirkſam. Die Kaufmann - ſchaft gefiel ihm auch nicht, denn er ſah wohl ein, daß er ſich gar nicht dazu ſchicken wuͤrde, beſtaͤndig fort mit derglei - chen Sachen umzugehen, dieſer Beruf war ſeinem Grundtrieb zuwider; doch wurde er weder verdrießlich noch melancholiſch, ſondern er erwartete, was Gott aus ihm machen wuͤrde.
Einsmals an einem Fruͤhlingsmorgen, im Jahr 1768, ſaß er nach dem Kaffeetrinken am Tiſch; die Kinder liefen noch eine Weile im Hof herum, er griff hinter ſich nach einem Buch, und es fiel ihm juſt Reizens Hiſtorie der Wiederge - bornen in die Hand, er blaͤtterte ein wenig darinnen herum ohne Abſicht und ohne Nachdenken; indem fiel ihm die Ge - ſchichte eines Mannes ins Geſicht, der in Griechenland gereist war, um daſelbſt die Ueberbleibſel der erſten chriſtlichen Gemein - den zu unterſuchen. Die Geſchichte las er zum Zeitvertreib. Als er dahin kam, wo der Mann auf ſeinem Todtbette noch ſeine Luſt an der griechiſchen Sprache bezeugte, und beſonders bei dem Wort Eilikrineia ſo ein vortreffliches Gefuͤhl hatte, ſo war es Stilling, als wenn er aus einem tiefen Schlaf erwachte. Das Wort Eilikrineia ſtand vor ihm, als wenn es in einem Glanz gelegen haͤtte, dabei fuͤhlte er einen unwi - derſtehlichen Trieb, die griechiſche Sprache zu lernen, und ei - nen verborgenen ſtarken Zug zu Etwas, das er noch gar nicht kannte, auch nicht zu ſagen wußte, was es war. Er beſann ſich, und dachte: Was will ich doch mit der griechiſchen Sprache machen? wozu wird ſie mir nutzen? welche ungeheure Arbeit iſt das fuͤr mich, in meinem 28ſten Jahre noch eine ſo ſchwere Sprache zu lernen, die ich noch nicht einmal leſen246 kann! Allein alle Einwendungen der Vernunft waren ganz frucht - los, ſein Trieb dazu war ſo groß, und die Luſt ſo heftig, daß er nicht genug eilen konnte, um zum Anfang zu kommen. Er ſagte dieſes alles Herrn Spanier; dieſer bedachte ſich ein wenig, endlich ſagte er: wenn Ihr Griechiſch lernen muͤßt, ſo lernt es! Stilling machte ſich alſofort auf, und ging nach Waldſtaͤtt zu einem gewiſſen vortrefflichen Candidaten der Gottesgelahrtheit, der ſein ſehr guter Freund war, dieſem ent - deckte er alles. Der Candidat freute ſich, munterte ihn da - zu auf, und ſogar empfahl er ihm die Theologie zu ſtudieren; allein Stilling ſpuͤrte keine Neigung dazu, ſein Freund war auch damit zufrieden, und rieth ihm, auf den Wink Gottes genau zu merken, und demſelben, ſobald er ihn ſpuͤrte, blind - lings zu folgen. Nun ſchenkte er ihm die noͤthigen Buͤcher, die griechiſche Sprache zu lernen, und wuͤnſchte ihm Gottes Segen. Von da ging er auch zu den Predigern, und ent - deckte ihnen ſein Vorhaben; dieſe waren auch ſehr wohl da - mit zufrieden, beſonders Herr Seelburg verſprach ihm alle Huͤlfe und noͤthigen Unterricht, denn er kam alle Woche zwei - mal in Herrn Spaniers Haus.
Nun fing Stilling an Griechiſch zu lernen. Er applicirte ſich mit aller Kraft darauf, bekuͤmmerte ſich aber wenig um die Schulmethode, ſondern er ſuchte nur mit Verſtand in den Genius der Sprache einzudringen, um das, was er las, recht zu verſtehen. Kurz, in fuͤnf Wochen hatte er auch die fuͤnf er - ſten Kapitel des Evangeliums Matthaͤi, ohne Fehler gemacht zu haben, ins Lateiniſche uͤberſetzt, und alle Woͤrter zugleich analiſiret. Herr Paſtor Seelburg erſtaunte und wußte nicht, was er ſagen ſollte; dieſer rechtſchaffene Mann unterrichtete ihn nur in der Ausſprache, und die faßte er gar bald. Bei die - ſer Gelegenheit machte er ſich auch ans Hebraͤiſche, und brachte es auch darin in Kurzem ſo weit, das er mit Huͤlfe eines Lexi - cons ſich helfen konnte; auch hier that Herr Seelburg ſein Beſtes an ihm.
Indeſſen, daß er mit erſtaunlichem Fleiß und Arbeit ſich mit dieſen Sprachen beſchaͤftigte, ſchwieg Herr Spanier ganz ſtill dazu, und ließ ihn machen; kein Menſch wußte, was aus247 dem Dinge werden wollte, und er ſelber wußte es nicht; die mehreſten aber glaubten von ihm, er wuͤrde ein Prediger werden.
Endlich entwickelte ſich die ganze Sache auf einmal. An einem Nachmittag im Junius ſpazierte Herr Spanier in der Stube auf und ab, wie er zu thun pflegte, wenn er eine wich - tige Sache uͤberlegte; Stilling aber arbeitete an ſeinen Spra - chen und an der Information. „ Hoͤrt, Praͤceptor! fing end - lich Spanier an: mir faͤllt da auf Einmal ein, was Ihr thun ſollt, Ihr muͤßt Medicin ſtudiren. “
Ich kann’s nicht ausſprechen, wie Stilling bei dieſem Vor - ſchlag zu Muthe war, er konnte ſich faſt nicht auf den Fuͤßen halten, ſo daß Herr Spanier erſchrack, ihn angriff und ſagte: was fehlt Euch? „ O Herr Spanier! was ſoll ich ſagen, was ſoll ich denken? das iſts, wozu ich beſtimmt bin. Ja, ich fuͤhle in meiner Seele, das iſt das große Ding, das immer vor mir verborgen geweſen, das ich ſo lange geſucht, und nicht habe finden koͤnnen! Dazu hat mich der himmliſche Vater von Jugend auf durch ſchwere und ſcharfe Pruͤfungen vorbereiten wollen. Gelobet ſey der barmherzige Gott, daß er mir doch endlich ſeinen Willen offenbaret hat, nun will ich auch ge - troſt ſeinem Wink folgen.
Hierauf lief er nach ſeiner Schlafkammer, fiel auf ſeine Knie, dankte Gott, und bat den Vater der Menſchen, daß er ihn nun den naͤchſten Weg zum beſtimmten Zweck fuͤhren moͤchte. Er beſann ſich auf ſeine ganze Fuͤhrung, und nun ſah er klar ein, warum er eine ſo ausgeſonderte Erziehung ge - noſſen, warum er die lateiniſche Sprache ſo fruͤh habe lernen muͤſſen, warum ſein Trieb zur Mathematik und zur Erkennt - niß der verborgenen Kraͤfte der Natur ihm eingeſchaffen wor - den, warum er durch viele Leiden beugſam und bequem gemacht worden, allen Menſchen zu dienen, warum eine Zeit her ſeine Luſt zur Philoſophie ſo gewachſen, daß er die Logik und Meta - phyſik habe ſtudieren muͤſſen, und warum er endlich zur griechi - ſchen Sprache ſolche Neigung bekommen? Nun wußte er ſeine Beſtimmung, und von der Stunde an beſchloß er fuͤr ſich zu ſtudieren, und ſo lange Materialien zu ſammeln, bis es Gott gefallen wuͤrde, ihn nach der Univerſitaͤt zu ſchicken.
248Herr Spanier gab ihm nun Erlaubniß, des Abends einige Stunden fuͤr ſich zu nehmen, er brauchte ihn auch nicht mehr ſo ſtark in Handlungsgeſchaͤften, damit er Zeit haben moͤchte, zu ſtudieren. Stilling ſetzte nun mit Gewalt ſein Sprach - ſtudium fort, und fing an, ſich mit der Anatomie aus Buͤ - chern bekannt zu machen. Er las Kruͤger’s Naturlehre, und machte ſich Alles, was er las, ganz zu eigen, er ſuchte ſich auch einen Plan zu formiren, wornach er ſeine Studien ein - richten wolle, und dazu verhalfen ihm einige beruͤhmte Aerzte, mit denen er correſpondirte. Mit Einem Wort, alle Diſcipli - nen der Arzneikunde ging er fuͤr ſich ſo gruͤndlich durch, als es ihm fuͤr die Zeit moͤglich war, damit er ſich doch wenigſtens allgemeine Begriffe von allen Stuͤcken verſchaffen moͤchte.
Dieſe wichtige Neuigkeit ſchrieb er alſofort an ſeinen Vater und Oheim. Sein Vater antwortete ihm darauf: daß er ihn der Fuͤhrung Gottes uͤberlaſſe, nur koͤnne er von ſeiner Seite auf keine Unterſtuͤtzung hoffen, er ſollte nur behutſam ſeyn, damit er ſich nicht in ein neues Labyrinth ſtuͤrzen moͤchte. Sein Oheim aber war ganz unwillig auf ihn, der glaubte ganz gewiß, daß es nur ein bloßer Hang zu neuen Dingen ſey, der ſicherlich uͤbel ausſchlagen wuͤrde. Stilling ließ ſich das alles gar nicht anfechten, ſondern fuhr nur getroſt fort zu ſtudiren. Wo die Mittel herkommen ſollten, das uͤberließ er der vaͤter - lichen Vorſehung Gottes.
Im folgenden Fruͤhjahr, als er ſchon ein Jahr ſtudirt hatte, mußte er wieder in Geſchaͤften ſeines Herrn ins Salen’ſche Land reiſen. Dieſes erfreute ihn ungemein, denn er hoffte jetzt, ſeine Freunde muͤndlich beſſer zu uͤberzeugen: daß es wirklich der Wille Gottes uͤber ihn ſey, die Medicin zu ſtudiren. Er ging alſo des Morgens fruͤh fort, und des Nachmittags kam er bei ſeinem Oheim zu Lichthauſen an. Dieſer ehrliche Mann fing alſofort, nach der Bewillkommung an, mit ihm zu diſputiren wegen ſeines neuen Vorhabens. Die ganze Frage war: wo ſoll das viele Geld herkommen, als zu einem ſo weitlaͤufigen und koſtbaren Studium erfordert wird? — Stil - ling beantwortete dieſe Frage immer mit ſeinem Symbolum: jehovah jireh (der Herr wird’s verſehen).
249Des andern Morgens ging er auch zu ſeinem Vater; die - ſer war ebenfalls ſorgfaͤltig, und fuͤrchtete, er moͤchte in dieſem wichtigen Vorhaben ſcheitern: doch diſputirte er nicht mit ihm, ſondern uͤberließ ihn ſeinem Schickſal.
Nachdem er nun ſeine Geſchaͤfte verrichtet hatte, ging er wieder zu ſeinem Vater, nahm Abſchied von ihm, und darauf zu ſeinem Oheim. Dieſer war aber in ein paar Tagen ganz veraͤndert. Stilling erſtaunte daruͤber, noch mehr aber, als er die Urſache vernahm. „ Ja, ſagte Johann Stilling: Ihr muͤßt Medicin ſtudiren, jetzt weiß ich, daß es Gottes Wille iſt! “
Um dieſe Sache in ihrem Urſprung begreifen zu koͤnnen, muß ich eine kleine Ausſchweifung machen, die Johann Stilling betrifft. Er war, noch ehe er Landmeſſer wurde, mit einem ſonderbaren Mann, einem katholiſchen Pfarrer, be - kannt geworden, dieſer war ein ſehr geſchickter Augenarzt, und weit und breit wegen ſeiner Kuren beruͤhmt. Nun hatte Johann Stillings Frau ſehr wehe Augen, deßwegen ging ihr Mann zu Molitor hin, um Etwas fuͤr ſie zu holen. Der Pfarrer merkte bald, daß Johann einen offnen Kopf hatte, und deßwegen munterte er ihn auf, ſich wacker in der Geometrie zu uͤben. Molitor hatte es gut mit ihm vor, er hatte Anleitung, bei einem ſehr reichen und vornehmen Freiherrn Rentmeiſter zu werden, und dieſer Dienſt gefiel ihm beſſer als ſeine Pfarre. Nun war dieſer Freiherr ein großer Liebhaber von der Geometrie, und Willens, alle ſeine Guͤter auf Charten bringen zu laſſen. Hierzu beſtimmte Molitor Johann Stilling, und dieſes gerieth auch vollkommen. So lange der alte Freiherr lebte, hatten Molitor, Johann Stilling und zuweilen auch Wilhelm Stilling ihr Brod von dieſem Herrn; als dieſer aber ſtarb, ſo wurde Molitor abgedankt, und die Landmeſſerei hatte auch ein Ende.
Nun wurde Molitor in ſeinem Alter Vikarius in einem Staͤdtchen, welches vier Stunden von Lichthauſen nord - waͤrts liegt. Seine meiſte Beſchaͤftigung beſtand in chymiſchen Arbeiten und Augenkuren, worinnen er noch immer der beruͤhm - teſte Mann in der ganzen Gegend war.
Juſt nun waͤhrend der Zeit, daß Heinrich Stilling in250 Geſchaͤften ſeines Herrn im Salen’ſchen Lande war, ſchrieb der alte Herr Molitor an Johann Stilling „ daß er alle ſeine Geheimniſſe fuͤr die Augen ganz getreu und um - ſtaͤndlich, ihren Gebrauch und Zubereitung ſowohl, als auch die Erklaͤrung der vornehmſten Augenkrankheiten, nebſt ihrer Heilmethode, aufgeſetzt habe. Da er nun alt und nah an ſeinem Ende ſey, ſo wuͤnſchte er, dieſes gewiß herrliche Ma - nuſcript in guten Haͤnden zu ſehen. In Betracht nun der feſten und genauen Freundſchaft, welche unter ihnen Beiden, ohngeachtet der Religionsungleichheit, ununterbrochen fortge - waͤhrt habe, wollte er ihn freundlich erſuchen, ihm zu melden: ob nicht Jemand Rechtſchaffenes in ſeiner Familie ſey, der wohl Luſt haͤtte, die Arzneiwiſſenſchaft zu ſtudieren, den ſollte er zu ihm ſchicken, er waͤre bereit, demſelben alſofort das Manuſcript nebſt noch andern ſchoͤnen mediciniſchen Sachen zu uͤbergeben, und zwar ganz umſonſt, doch mit dem Beding, daß er ein Handgeluͤbde thun muͤßte, jederzeit arme Nothlei - dende umſonſt damit zu bedienen. Nur muͤßte es Jemand ſeyn, der Medicin ſtudiren wollte, damit die Sachen nicht un - ter Pfuſchers Haͤnde gerathen moͤchten. “
Dieſer Brief hatte Johann Stilling in Abſicht auf ſeinen Vetter ganz umgeſchmolzen. Daß er juſt in dieſem Zeitpunkt ankam, und daß Herr Molitor juſt in dieſer Zeit, da ſein Vetter ſtudiren wollte, auf den Einfall kam, das ſchien ihm ein ganz uͤberzeugender Beweis zu ſeyn, daß Gott die Hand mit im Spiel habe; deßwegen ſprach er auch zu Stillingen: Leſ’t dieſen Brief, Vetter! ich habe nichts mehr gegen Euer Vorhaben einzuwenden; ich ſehe, es iſt Gottes Finger.
Alſofort ſchrieb Johann Stilling einen ſehr freundſchaft - lichen und dankbaren Brief an Herrn Molitor, und empfahl ihm ſeinen Vetter auf’s Beſte. Mit dieſem Brief wanderte des andern Morgens Stilling nach dem Staͤdtchen hin, wo Molitor wohnte. Als er dahin kam, fragte er nach die - ſem Herrn; man wies ihm ein kleines niedliches Haͤuschen. Stilling ſchellte, und eine betagte Frauensperſon that ihm die Thuͤre auf, und fragte: Wer er waͤre? Er antwortete: ich251 heiße Stilling und hab’ Etwas mit dem Herrn Paſtor zu ſprechen. Sie ging hinauf; nun kam der alte Greis ſelber, bewillkommte Stilling, und fuͤhrte ihn hinauf in ſein klei - nes Kabinettchen. Hier uͤberreichtr er ſeinen Brief. Nachdem Molitor denſelben geleſen hatte, ſo umarmte er Stillin - gen, und erkundigte ſich nach ſeinen Umſtaͤnden und nach ſei - nem Vorhaben. Er blieb dieſen ganzen Tag bei ihm, beſahe das niedliche Laboratorium, ſeine bequeme Augen-Apotheke, und ſeine kleine Bibliothek. Dieſes alles, ſagte Herr Molitor, will ich Ihnen in meinem Teſtament vermachen, eh ich ſterbe. So verbrachten ſie dieſen Tag recht vergnuͤgt zuſammen.
Des andern Morgens fruͤh gab Molitor das Manuſcript an Stillingen ab, doch mit dem Beding, daß er’s abſchrei - ben, und ihm das Original wieder zuſtellen ſollte; dagegen ge - lobte Molitor mit einem theuren Eid, daß er’s Niemand weiter geben, ſondern es ſo verbergen wollte, daß es niemals Jemand wieder finden koͤnnte. Ueberdieß hatte der ehrliche Greis noch verſchiedene Buͤcher apart geſtellt, die er Stil - ling mit naͤchſtem zu ſchicken verſprach; allein dieſer packte ſie in ſeinen Reiſeſack, nahm ſie auf ſeinen Buckel und trug ſie fort. Molitor begleitete ihn bis vor das Thor, da ſah er auf gen Himmel, faßte Stilling an der Hand, und ſagte: „ Der Herr! der Heilige! der Ueberallgegenwaͤrtige! bewirke Sie durch ſeinen heiligen Geiſt zum beſten Menſchen, zum beſten Chriſten, und zum beſten Arzt! “ Hierauf kuͤßten ſie ſich, und ſchieden von einander.
Stilling vergoß Thraͤnen bei dieſem Abſchied, und dankte Gott fuͤr dieſen vortrefflichen Freund. Er hatte zehn Stunden bis zu Herrn Spanier hin; dieſe machte er noch heute ab, und kam des Abends, ſchwer mit Buͤchern beladen, zu Hauſe an. Er erzaͤhlte ſeinem Patron den neuen Vorfall; dieſer be - wunderte mit ihm die ſonderbare Fuͤhrung und Leitung Gottes.
Nun begab ſich Stilling ans Abſchreiben. In vier Wo - chen hatte er dieſes, bei ſeinen Geſchaͤften, vollendet. Er packte alſo ein Pfund guten Thee, ein Pfund Zucker, und ſonſt noch ein und anderes in den Reiſeſack, desgleichen auch die beiden Mannſcripte, und ging an einem fruͤhen Morgen252 wieder fort, um ſeinen Freund Molitor zu beſuchen, und ihm ſein Manuſcript wieder zu bringen. Am Nachmittag kam er vor ſeiner Hausthuͤr an und ſchellte; er wartete ein wenig, ſchellte wieder, aber es that ihm Niemand auf. In - deſſen ſtand eine Frau in einem Hauſe gegenuͤber an der Thuͤr, die fragte: Zu wem er wollte? Stilling antwortete: Zu dem Herrn Paſtor Molitor. Die Frau ſagte: der iſt ſeit acht Tagen in der Ewigkeit! — Stilling erſchrack, daß er blaß wurde, er ging in ein Wirthshaus, wo er ſich nach Moli - tors Todesumſtaͤnden erkundigte, und wer ſein Teſtament aus - zufuͤhren haͤtte. Hier hoͤrte er: daß er ploͤtzlich am Schlag geſtorben, und kein Teſtament vorhanden waͤre. Stilling kehrte alſo mit ſeinem Reiſeſack wieder um, und ging noch vier Stunden zuruͤck, wo er in einem Staͤdtchen bei einem gu - ten Freund uͤbernachtete, ſo daß er fruͤhzeitig des andern Ta - ges wieder zu Haus war. Den ganzen Weg durch konnte er ſich des Weinens nicht enthalten, ja er haͤtte gern auf Moli - tors Grab geweint, wenn der Zugang zu ſeiner Gruft nicht verſchloſſen geweſen waͤre.
Sobald er zu Hauſe war, fing er an, die molitoriſchen Me - dicamente zu bereiten. Nun hatte Herr Spanier einen Knecht, deſſen Knabe von zwoͤlf Jahren ſeit langer Zeit ſehr wehe Augen gehabt; an dieſem machte Stilling ſeinen er - ſten Verſuch, und der gerieth vortrefflich, ſo daß der Knabe in kurzer Zeit heil wurde; daher kam er bald in eine ordent - liche Praxis, ſo daß er viel zu thun hatte, und gegen den herbſt ſchon hatte ſich das Geruͤcht von ſeinen Kuren vier Stunden umher, bis nach Schoͤnenthal, verbreitet.
Meiſter Iſaac zu Waldſtaͤtt ſah ſeines Freundes Gang und Schickſale mit an, und freute ſich von Herzen uͤber ihn, ja er ſchwamm in Vergnuͤgen, wenn er ſich vorſtellte, wie er dermaleins den Doctor Stilling beſuchen, und ſich mit ihm ergoͤtzen wollte. Allein Gott machte einen Strich durch dieſe Rechnung, denn Meiſter Iſaac wurde krank, Stil - ling beſuchte ihn fleißig, und ſah mit Schmerzen ſeinen na - ben Tod. Den letzten Tag vor ſeinem Abſchied ſaß Stil - ling am Bette ſeines Freundes; Iſaac richtete ſich auf,253 faßte ihn an der Hand, und ſprach: Freund Stilling! ich werde ſterben, und eine Frau mit vier Kindern hinterlaſſen, fuͤr ihren Unterhalt ſorge ich nicht, denn der Herr wird ſie verſorgen; aber, ob ſie in des Herrn Wege wandeln werden, das weiß ich nicht, und darum trage ich Ihnen die Aufſicht uͤber ſie auf, ſtehen Sie ihnen mit Rath und That bei, der Herr wirds Ihnen vergelten. Stilling verſprach das von Herzen gerne, ſo lange als ſeine Aufſicht moͤglich ſeyn wuͤrde. Iſaac fuhr fort: wenn Sie von Herrn Spanier wegzie - hen werden, ſo entlaſſe ich Sie Ihres Verſprechens, — jetzt aber bitte ich Sie: denken Sie immer in Liebe an mich, und leben Sie ſo, daß wir im Himmel ewig vereint ſeyn koͤnnen. Stilling vergoß Thraͤnen, und ſagte: Bitten Sie fuͤr mich um Gnade und Kraft! Ja! ſagte Iſaac: das werde ich erſt thun, wenn ich werde vollendet haben, jetzt hab’ ich mit mir ſelber genug zu ſchaffen. Stilling ver - muthete ſein Ende noch ſo gar nahe nicht, daher ging er von ihm weg, und verſprach morgen wieder zu kommen; allein dieſe Nacht ſtarb er. Stilling ging bei ſeinem Leichen-Con - duct der Vorderſte, weil er keine Anverwandten hatte; er weinte uͤber ſeinem Grabe, und betrauerte ihn als einen Bru - der. Seine Frau ſtarb nicht lange nach ihm, ſeine Kinder aber ſind alle recht wohl verſorgt.
Nachdem nun Stilling beinahe ſechs Jahre bei Herrn Spanier in Condition geweſen war, und dabei die Augen - kuren fortſetzte, ſo trug es ſich bisweilen zu, daß ſein Herr mit ihm von einem bequemen Plan redete, nach welchem er ſich mit ſeinem Studiren zu richten haͤtte. Herr Spauier ſchlug ihm vor: er ſollte noch einige Jahre bei ihm bleiben, und ſo fuͤr ſich ſtudiren, alsdann wolle er ihm ein paar hundert Reichsthaler geben, damit koͤnne er nach einer Uni - verſitaͤt reiſen, ſich examiniren und promoviren laſſen, und nach einem Vierteljahr wieder kommen, und ſo bei Herrn Spanier ferner wohnen bleiben. Was er dann weiter mit ihm vor hatte, iſt mir nicht bekannt worden.
Dieſer Plan gefiel Stilling ganz, zumalen aber nicht. Sein Zweck war, die Medicin auf einer Univerſitaͤt aus dem254 Grunde zu ſtudiren; er zweifelte auch nicht, der Gott, der ihn dazu berufen habe, der wuͤrde ihm auch Mittel und Wege an die Hand geben, daß er’s ausfuͤhren koͤnne. Hiermit war aber Spanier nicht zufrieden, und deßwegen ſchwiegen ſie Beide endlich ganz ſtill von der Sache.
Im Herbſt des Jahres 1769, als Stilling eben ſein dreißigſtes Jahr angetreten hatte, und ſechs Jahre bei Herrn Spanier geweſen war, bekam er von einem Kaufmann zu Raſenheim, eine Stunde dieſſeits Schoͤnenthal, der ſich Friedenberg ſchrieb, einen Brief, worin ihn dieſer Mann erſuchte, ſo bald als moͤglich nach Raſenheim zu kom - men, weil einer ſeiner Nachbarn einen Sohn habe, der ſeit einigen Jahren mit boͤſen Augen behaftet geweſen, und Ge - fahr laufe, blind zu werden. Herr Spanier trieb ihn an, alſofort zu gehen. Stilling that das, und nach drei Stun - den kam er Vormittags bei Herrn Friedenberg zu Ra - ſenheim an. Dieſer Mann bewohnte ein ſchoͤnes niedliches Haus, welches er vor ganz kurzer Zeit hatte bauen laſſen. Die Gegend, wo er wohnte, war uͤberaus angenehm. Sobald Stilling in das Haus trat, und uͤberall Ordnung, Rein - lichkeit und Zierde ohne Pracht bemerkte, ſo freute er ſich, und fuͤhlte, daß er da wuͤrde wohnen koͤnnen. Als er aber in die Stube trat, und Herrn Friedenberg ſelber nebſt ſeiner Gattin und neun ſchoͤnen wohlgewachſenen Kindern ſo der Reihe nach ſahe, wie ſie Alle zuſammen nett und zierlich, aber ohne Pracht gekleidet, da gingen und ſtanden, wie alle Geſichter Wahrheit, Rechtſchaffenheit und Heiterkeit um ſich ſtrahlten, ſo war er ganz entzuͤckt, und nun wuͤnſchte er wirk - lich, ewig bei dieſen Leuten zu wohnen. Da war kein Trei - ben, kein Ungeſtuͤmm, ſondern eitel wirkſame Thaͤtigkeit aus Harmonie und gutem Willen.
Herr Friedenberg bot ihm freundlich die Hand, und noͤthigte ihn zum Mittageſſen. Stilling nahm das Auer - bieten mit Freuden an. So wie er mit dieſen Leuten redete, ſo entdeckte ſich alſofort eine unausſprechliche Uebereinſtimmung der Geiſter; alle liebten Stilling in dem Augenblick, und er liebte auch ſie Alle uͤber die Maßen. Sein ganzes Geſpraͤch255 mit Herrn und Frau Friedenberg war bloß vom Chriſten - thum und der wahren Gottſeligkeit, wovon dieſe Leute ganz und allein Werk machten.
Nach dem Eſſen ging Herr Friedenberg mit ihm zum Patienten, welchen er beſorgte, und darauf wieder mit ſeinem Freund zuruͤck, um Kaffee zu trinken. Mit Einem Wort, dieſe drei Gemuͤther, Herr und Frau Friedenberg und Stil - ling ſchloſſen ſich feſt zuſammen, wurden ewige Freunde, ohne ſich es ſagen zu duͤrfen. Des Abends ging Letzterer wieder zu - ruͤck an ſeinen Ort, allein er fuͤhlte etwas Leeres nach dieſem Tage, er hatte ſeit der Zeit ſeiner Jugend nie wieder eine ſolche Haushaltung angetroffen, er haͤtte gern naͤher bei Herrn Frie - denberg gewohnt, um mehr mit ihm und ſeinen Leuten um - gehen zu koͤnnen.
Indeſſen fing der Patient zu Raſenheim an, ſich zu beſſern, und es fanden ſich mehrere in daſigen Gegenden, ſogar in Schoͤ - neuthal ſelbſt, die ſeiner Huͤlfe begehrten; daher beſchloß er, mit Genehmigung des Herrn Spaniers, alle vierzehn Tage des Samſtags Nachmittags wegzugehen, um ſeine Patienten zu beſuchen, und des Montags Morgens wieder zu kommen. Er richtete es deßwegen ſo ein, daß er des Samſtags Abends bei Herrn Friedenberg ankam, des Sonntags Morgens ging er dann umher, und bis nach Schoͤnenthal, beſuchte ſeine Kranken, und des Sonntags Abends kam er wieder nach Ra - ſenheim, von wo er des Montags Morgens wieder nach Hauſe ging. Bei dieſen vielfaͤltigen Beſuchen wurde ſeine genaue Ver - bindung mit Herrn Friedenberg und ſeinem Hauſe immer ſtaͤrker; er erlangte auch eine ſchoͤne Bekanntſchaft in Schoͤ - nenthal mit vielen frommen gottesfuͤrchtigen Leuten, die ihn Sonntags Mittags wechſelweiſe zum Eſſen einluden, und ſich mit ihm vom Chriſtenthum und andern guten Sachen unterredeten.
Dieſes dauerte ſo fort, bis in den Februar des folgenden Jah - res 1770, als Frau Friedenberg mit einem jungen Toͤchter - lein entbunden wurde; dieſe frohe Neuigkeit machte Herr Frie - denberg nicht nur ſeinem Freunde Stilling bekannt, ſon - dern er erſuchte ihn ſogar, des folgenden Freitags als Gevat - ter bei ſeinem Kinde an der Taufe zu ſtehen. Dieſes machte256 Stillingen ungemeine Freude. Herr Spanier konnte in - deſſen nicht begreifen, wie ein Kaufmann dazu komme, den Bedienten eines andern Kaufmanns zu Gevatter zu bitten; allein Stillingen wunderte das nicht, denn Herr Frie - denberg und er wußten von keinem Unterſchied des Stan - des mehr, ſie waren Bruͤder.
Zur beſtimmten Zeit ging alſo Stilling hin, um der Taufe beizuwohnen. Nun hatte aber Herr Friedenberg eine Tochter, welche die aͤlteſte unter ſeinen Kindern, und da - mals im ein und zwanzigſten Jahr war. Dieſes Maͤdchen hatte von ihrer Jugend an die Stille und Eingezogenheit ge - liebt, und deßwegen war ſie bloͤde gegen alle fremde Leute, beſonders wenn ſie etwas vornehmer gekleidet waren, als ſie gewohnt war. Ob dieſer Umſtand zwar in Anſehung Stil - lings nicht im Wege ſtand, ſo vermied ſie ihn doch, ſo viel ſie konnte, ſo daß er ſie wenig zu ſehen bekam. Ihre ganze Beſchaͤftigung hatte von Jugend auf in anſtaͤndigen Hausge - ſchaͤften, und dem noͤthigen Unterricht in der chriſtlichen Re - ligion nach dem evangeliſch-lutheriſchen Bekenntniß, nebſt Schreiben und Leſen beſtanden; mit Einem Worte, ſie war ein niedliches, artiges, junges Maͤdchen, die eben nirgends in der Welt geweſen war, um nach der Mode leben zu koͤnnen, deren gutes Herz aber alle dieſe, einem rechtſchaffenen Mann unbedeutende Kleinigkeiten reichlich erſetzte.
Stilling hatte dieſe Jungfer vor den andern Kindern ſeines Freundes nicht vorzuͤglich bemerkt, er fand in ſich kei - nen Trieb dazu, und er durfte auch an ſo Etwas nicht den - ken, weil er noch vorher weit ausſehende Dinge aus dem Wege zu raͤumen hatte.
Dieſes liebenswuͤrdige Maͤdchen hieß Chriſtine. Sie war ſeit einiger Zeit ſehr krank geweſen, und die Aerzte zweifelten Alle an ihrem Aufkommen. Wenn nun Stilling nach Ra - ſenheim kam, ſo fragte er nach ihr, als nach der Tochter ſeines Freundes; da ihm aber niemand Anlaß gab, ſie auf ihrem Zimmer zu beſuchen, ſo dachte er auch nicht daran.
Dieſen Abend aber, nachdem die Kindtaufe geendigt war, ſtopfte Herr Friedenberg ſeine lange Pfeife, und fragte257 ſeinen neuen Gevatter: Gefaͤllt es Ihnen, einmal mit mir meine kranke Tochter zu beſuchen? Mich verlangt, was Sie von ihr ſagen werden, Sie haben doch ſchon mehr Erkennt - niß von Krankheiten, als ein Anderer. Stilling war dazu willig; ſie gingen hinauf ins Zimmer der Kranken. Sie lag matt und elend im Bett, doch hatte ſie noch viele Munter - keit des Geiſtes. Sie richtete ſich auf, gab Stilling die Hand, und hieß ihn ſitzen. Beide ſetzten ſich alſo an’s Nachttiſchchen am Bett. Chriſtine ſchaͤmte ſich jetzt vor Stillingen nicht, ſondern ſie redete mit ihm von allerhand, das Chriſtenthum betreffende Sachen. Sie wurde ganz auf - geraͤumt und vertraulich. Nun hatte ſie oft bedenkliche Zufaͤlle, deßwegen mußte Jemand des Nachts bei ihr wachen; dieſes geſchah aber auch zum Theil deßwegen, weil ſie nicht viel ſchlafen konnte. Als nun Beide eine Weile bei ihr geſeſſen hatten, und eben weggehen wollten, ſo erſuchte die kranke Jungfer ihren Vater: ob er wohl erlauben wollte, daß Stil - ling mit ihrem aͤltern Bruder dieſe Nacht bei ihr wachen moͤchte? Herr Friedenberg gab das ſehr gerne zu, mit dem Beding aber, wenn es Stillingen nicht zuwider ſey. Dieſer leiſtete ſowohl der Kranken, als auch den Ihrigen die - ſen Freundſchaftsdienſt gerne. Er begab ſich alſo, mit dem aͤlteſten Sohn des Abends um neun Uhr auf ihr Zimmer; Beide ſetzten ſich vor das Bett an’s Nachttiſchchen, und ſpra - chen mit ihr von allerhand Sachen, um ſich die Zeit zu ver - treiben, zuweilen laſen ſie auch Etwas dazwiſchen.
Des Nachts um Ein Uhr ſagte die Kranke zu ihren beiden Waͤchtern: ſie moͤchten ein wenig ſtill ſeyn, ſie glaubte etwas ſchlafen zu koͤnnen. Dieſes geſchah. Der junge Herr Frie - denberg ſchlich indeſſen herab, um etwas Kaffee zu beſor - gen; er blieb aber ziemlich lang aus, und Stilling begann auf ſeinem Stuhl zu nicken. Nach etwa einer Stunde regte ſich die Kranke wieder. Stilling ſchob die Gardine ein wenig von einander, und fragte ſie: ob ſie geſchlafen habe? Sie antwortete: Ich hab’ ſo wie im Taumel gelegen. „ Hoͤ - ren Sie, Herr Stilling! ich habe einen ſehr lebhaften Ein - druck in mein Gemuͤth bekommen, von einer Sache, die ichStillings ſämmtl. Schriften. I. Band. 17258aber nicht ſagen darf, bis zur einer andern Zeit. “ Bei dieſen Worten wurde Stilling ganz ſtarr, er fuͤhlte vom Scheitel bis unter die Fußſohle eine noch nie empfundene Erſchuͤtterung, und auf einmal fuhr ihm ein Strahl durch die Seele wie ein Blitz. Es wurde ihm klar in ſeinem Gemuͤth, was jetzt der Wille Gottes ſey, und was die Worte der kranken Jungfer be - deuteten. Mit Thraͤnen in den Augen ſtand er auf, buͤckte ſich in’s Bett, und ſagte: „ Ich weiß es, liebe Jungfer, was ſie fuͤr einen Eindruck bekommen hat, und was der Wille Gottes iſt. “ Sie fuhr auf, reckte ihre Hand heraus, und verſetzte: „ Wiſſen Sie’s? “— Damit ſchlug Stilling ſeine rechte Hand in die ihrige, und ſprach: „ Gott im Himmel ſegne uns! Wir ſind auf ewig verbunden! “— Sie antwortete: „ Ja! wir ſind’s auf ewig! “—
Alsbald kam der Bruder, und brachte den Kaffee, ſetzte ihn hin, und alle Drei tranken zuſammen. Die Kranke war ganz ruhig wie vorher; ſie war weder freudiger noch trauriger, ſo, als wenn nichts Sonderliches vorgefallen waͤre. Stilling aber war wie ein Trunkener, er wußte nicht, ob er gewacht oder getraͤumt hatte, er konnte ſich uͤber dieſen unerhoͤrten Vorfall weder beſinnen noch nachdenken. Indeſſen fuͤhlte er doch eine unbeſchreiblich zaͤrtliche Neigung in ſeiner Seele gegen die theure Kranke, ſo daß er mit Freuden ſein Leben fuͤr ſie wuͤrde auf - opfern koͤnnen, wenn’s noͤthig waͤre, und dieſe reine Flamme war ſo, ohne angezuͤndet zu werden, wie ein Feuer vom Him - mel auf ſein Herz gefallen; denn gewiß, ſeine Verlobte hatte jetzt weder Reize, noch Willen zu reizen, und er war in einer ſolchen Lage, wo ihm vor dem Gedanken zu heirathen ſchauderte. Doch, wie geſagt: er war betaͤubt, und konnte uͤber ſeinen Zu - ſtand nicht eher nachdenken, bis des andern Morgens, da er wie - der zuruͤck nach Hauſe reiste. Er nahm vorher zaͤrtlich Ab - ſchied von ſeiner Geliebten, bei welcher Gelegenheit er ſeine Furcht aͤußerte; allein ſie war ganz getroſt bei der Sache, und ver - ſetzte: „ Gott hat gewiß die Sache angefangen, Er wird ſie auch gewiß vollenden! “
Unterwegs fing nun Stilling an, vernuͤnftig uͤber ſeinen Zuſtand nachzudenken, die ganze Sache kam ihm entſetzlich vor. 259Er war uͤberzeugt, daß Herr Spanier, ſobald er dieſen Schritt erfahren wuͤrde, alſofort ſeinen Beiſtand von ihm abziehen, und ihn abdanken wuͤrde, folglich waͤr er dann ohne Brod, und wieder in ſeine vorigen Umſtaͤnde verſetzt. Ueber das konnte er ſich unmoͤglich vorſtellen, daß Herr Friedenberg mit ihm zufrieden ſeyn wuͤrde; denn in ſolchen Umſtaͤnden ſich mit ſeiner Tochter zu verloben, wo er fuͤr ſich ſelber kein Brod verdienen, geſchweige Frau und Kinder ernaͤhren konnte, ja ſogar ein großes Kapital noͤthig hatte, das war eigentlich ein ſchlechtes Freundſchaftsſtuͤck, es konnte vielmehr als ein er - ſchrecklicher Mißbrauch derſelben angeſehen werden. Dieſe Vor - ſtellungen machten Stillingen herzlich angſt, und er fuͤrch - tete, in noch beſchwerlichere Umſtaͤnde zu gerathen, als er jemals erlebt hatte. Es war ihm wie einem, der auf einen hohen Felſen am Meer geklettert iſt, und, ohne Gefahr zer - ſchmettert zu werden, nicht herab kommen kann, er wagt’s und ſpringt ins Meer, ob er ſich mit Schwimmen noch ret - ten moͤchte.
Stilling wußte auch keinen andern Rath mehr; er warf ſich mit ſeinem Maͤdchen in die Arme der vaͤterlichen Fuͤr - ſorge Gottes, und nun war er ruhig; er beſchloß aber den - noch, weder Herrn Spanier noch ſonſt Jemand in der Welt Etwas von dieſem Vorfall zu ſagen.
Herr Friedenberg hatte Stillingen die Erlaubniß gegeben, alle Medicamente in daſigen Gegenden nun an ihn zu fernerer Beſorgung zu uͤbermachen; deßwegen ſchickte er des folgenden Samſtags, welches neun Tage nach ſeiner Verlo - bung war, ein Paͤckchen Medicin an ihn ab, wobei er einen Brief fuͤgte, der ganz aus ſeinem Herzen gefloſſen war, und welcher ziemlich entdeckte, was darinnen vorging; ja, was noch mehr war, er ſchloß ſogar ein verſiegeltes Schreiben an ſeine Verlobte darin ein, und alles dieſes that er ohne Ueber - legung und Nachdenken, was fuͤr Folgen daraus entſtehen koͤnnten; als aber das Paquet fort war, da uͤberdachte er erſt, was daraus werden koͤnnte; ihm ſchlug das Herz, und er wußte ſich faſt nicht zu faſſen.
Niemals iſt ein Weg fuͤr ihn ſaurer geweſen, als wie er17 *260acht Tage hernach des Samſtags Abends ſeinen gewoͤhnlichen Gang nach Raſenheim ging. Je naͤher er dem Hauſe kam, je mehr klopfte ſein Herz. Nun trat er zur Stubenthuͤr herein. Chriſtine hatte ſich in Etwas erholt; ſie war da - ſelbſt mit ihren Eltern und einigen Kindern. Er ging, wie gewoͤhnlich, mit freudigem Blick auf Friedenberg zu, gab ihm die Hand, und dieſer empfing ihn mit gewoͤhnlicher Freundſchaft, ſo auch die Frau Friedenberg, und endlich auch Chriſtine. Stilling ging nun wieder heraus, und hinauf nach ſeinem Schlafzimmer, um ein und anderes, das er bei ſich hatte, abzulegen. Ihm war ſchon ein Band vom Herzen, denn ſein Freund hatte entweder nichts gemerkt, oder er war mit der ganzen Sache zufrieden. Er ging nun wieder herunter, und erwartete, was ferner vorging. Als er unten auf die Treppe kam, ſo winkte ihm Chriſtine, die gegen der Wohnſtube uͤber in einer Kammerthuͤr ſtand; ſie ſchloß die Kammerthuͤr hinter ihm zu, und Beide ſetzten ſich neben einander. Chriſtine fing nun an:
„ Ach! welchen Schrecken haſt Du mir mit Deinen Brie - fen abgejagt! meine Eltern wiſſen Alles. Hoͤre, ich will Dir alles ſagen, wie es ergangen iſt. Als die Briefe kamen, war ich in der Stube, mein Vater auch, meine Mutter aber war in der Kammer auf dem Bett. Mein Vater brach den Brief auf, er fand noch einen drinnen an mich, er reichte mir denſelben mit den Worten: da iſt auch ein Brief an dich. Ich wurde roth, nahm ihn an, und las ihn. Mein Vater las den ſeinigen auch, ſchuͤttelte zuweilen den Kopf, ſtand und bedachte ſich, dann las er wieder. Endlich ging er in die Kammer zu meiner Mutter; ich konnte alles ver - ſtehen, was geſprochen wurde. Mein Vater las ihr den Brief vor. Als er ausgeleſen hatte, ſo lachte meine Mutter, und ſagte: Begreifſt Du auch wohl, was der Brief bedeutet? er hat Abſichten auf unſere Tochter. Mein Vater antwortete: Das iſt nicht moͤglich, er iſt ja nur eine Nacht mit meinem Sohn bei ihr geweſen, dazu iſt ſie krank, und doch kommt mir auch der Brief bedenklich vor. Ja, ja! ſagte die Mut - ter: denke nicht anders, es iſt ſo. Nun ging mein Vater261 hinaus, und ſagte nichts mehr. Alsbald rief mir meine Mut - ter: Komm Chriſtine! lege Dich ein wenig zu mir, Du biſt gewiß des Sitzens muͤde. Ich ging zu ihr, und legte mich neben ſie. Hoͤr’! fing ſie an: Hat Gevatter Stilling Neigung zu Dir? Ich ſagte rund aus: Ja! das hat er. Sie fuhr fort: Ihr ſeyd doch noch nicht verſprochen? Ja, Mut - ter! antwortete ich: Wir ſind auch verſprochen; und nun mußte ich weinen. Gott im Himmel! ſagte meine Mutter: Wie iſt das zugegangen? ihr ſeyd ja nicht zuſammen geweſen! Nun erzaͤhlte ich ihr umſtaͤndlich Alles, wie es ergangen iſt, und ſagte ihr die klare Wahrheit. Sie erſtaunte daruͤber, und ſagte: Du thuſt einen harten Angang. Stilling muß noch erſt ſtudiren, eh ihr beiſammen leben koͤnnt, wie willſt Du das aushalten? Du biſt ohnehin ſchwaͤchlichen Gemuͤths und Leibes. Ich ant - wortete: ich will mich ſchicken, ſo gut ich kann! der Herr wird mir beſtehen! ich muß dieſen heirathen; und wenn ihr Eltern mir es verbietet, ſo will ich euch darin gehorchen, aber einen Andern werde ich nie nehmen. Das wird keine Noth haben, verſetzte meine Mutter. Sobald nun meine Eltern wieder allein in der Kammer waren, und ich in der Stube, ſo erzaͤhlte ſie meinem Vater Alles, eben ſo, wie ich’s ihr erzaͤhlt hatte. Er ſchwieg lange; endlich fing er an: Das iſt mir eine unbeſchreib - liche Sache: ich kann nichts dazu ſagen. So ſteht die Sache noch, mein Vater hat mir kein Wort geſagt, weder Gutes noch Boͤſes. Nun iſt es aber unſere Pflicht, daß wir noch dieſen Abend unſere Eltern fragen, und ihre voͤllige Einwilligung er - halten. So eben, wie Du die Treppe herauf gingſt, ſagte mein Vater zu mir: Geh mit Stilling in die andere Stube allein, du ſollſt wohl mit ihm zu reden haben.
Stillingen huͤpfte das Herz vor Freuden. Er fuͤhlte nun gar wohl, daß ſeine Sachen einen erwuͤnſchten Ausſchlag neh - men wuͤrden. Er unterredete ſich noch ein Stuͤndchen mit ſeiner Geliebten; ſie verbanden ſich noch einmal, mit ineinander ge - ſchloſſenen Armen, zu einer ewigen Treue, und zu einem recht - ſchaffenen Wandel vor Gott und Menſchen.
Des Abends nach dem Eſſen, als alles im Hauſe ſchlief, ſaßen nur noch Herr und Frau Friedenberg nebſt Chri -262 ſtinen und Stillingen in der Stube. Letzterer fing nun an, und erzaͤhlte getreu den ganzen Vorfall mit den kleinſten Um - ſtaͤnden, und ſchloß mit dieſen Worten: Nun frage ich Sie aufrichtig: „ Ob Sie mich von Herzen gern unter die Zahl Ihrer Kinder aufnehmen wollen? ich werde alle kindliche Pflich - ten durch Gottes Gnade treulich erfuͤllen, und ich proteſtire feierlich gegen alle Huͤlfe und Beiſtand zu meinem Studiren. Ich begehre bloß Ihre Jungfer Tochter; ja, ich nehme Gott zum Zeugen, daß mir der Gedanke der fuͤrchterlichſte iſt, den ich haben kann, wenn ich mir vorſtelle, daß Sie wohl denken koͤnnten: ich haͤtte bei dieſer Verbindung eine unedle Abſicht gehabt.
Herr Friedenberg ſeufzte tief, und ein paar Thraͤnen liefen ſeine Wangen herunter. Ja, ſagte er: Herr Gevatter! ich bin damit zufrieden, und nehme Sie willig zu meinem Sohn an; denn ich ſehe, daß Gottes Finger in dieſer Sache wirkt. Ich kann nichts dawider einwenden; uͤberdem kenne ich Sie, und weiß wohl, daß Sie zu ehrlich ſind, um ſolche unchriſtliche Abſichten zu haben; das muß ich aber noch hinzufuͤgen, daß ich auch gar nicht im Stande dazu bin, Sie ſtudiren zu laſſen. Nun wendete er ſich zu Chriſtinen, und ſagte: Getrauſt Du dich aber auch, die lange Abweſenheit Deines Geliebten zu er - tragen? Sie antwortete: Ja, Gott wird mir Kraft dazu geben!
Nun ſtand Herr Friedenberg auf, umarmte Stillin - gen, kuͤßte ihn und weinte an ſeinem Halſe: nach ihm that Frau Friedenberg deßgleichen. Die Empfindung laͤßt ſich nicht ausſprechen, die Stilling dabei fuͤhlte: es war ihm, als wenn er in ein Paradies verſetzt wuͤrde. Wo das Geld zu ſeinem Studiren herkommen ſollte, darum bekuͤmmerte er ſich gar nicht. Die Worte: der Herr wirds verſehen! waren ſo tief in ſeine Seele gegraben, daß er nicht ſorgen konnte.
Nun ermahnte ihn Herr Friedenberg, daß er noch die - ſes Jahr bei Herrn Spanier aushalten, alsdann ſich aber folgenden Herbſt nach Univerſitaͤten begeben moͤchte. Stil - lingen war das recht nach ſeinem Sinn, und ohnehin ſein Wille. Endlich beſchloſſen ſie Alle zuſammen, dieſe ganze Sache geheim zu halten, um den ſchiefen Urtheilen der Men - ſchen vorzubeugen, und dann durch eifriges Gebet von allen263 Seiten den Segen von Gott zu dieſem wichtigen Vorhaben zu erbitten.
Stilling ſetzte nun bei Herrn Spanier ſeine Bedienung noch immer fort, deßgleichen ſeine gewoͤhnlichen Gaͤnge nach Raſen - heim und Schoͤnenthal. Ein Vierteljahr vor Michaelis kuͤndigte er Herrn Spanier ſein Vorhaben hoͤflich und freund - ſchaftlich an, und bat ihn, ihm doch dieſen Schritt nicht zu ver - uͤbeln, indem es endlich im dreißigſten Jahr ſeines Alters einmal Zeit ſey, fuͤr ſich ſelber zu ſorgen. Herr Spanier antwor - tete zu allem dem nicht Ein Wort, ſondern ſchwieg ganz ſtill; aber von dem an war ſein Herz von Stilling ganz abgekehrt, ſo daß ihm das letzte viertel Jahr noch ziemlich ſauer wurde, nicht daß ihm Jemand etwas in den Weg legte, ſondern weil die Freundſchaft und das Zutrauen ganz hin war.
Vier Wochen vor der Frankfurter Herbſtmeſſe nahm alſo Stilling von ſeinem bisherigen lieben Patron und dem ganzen Hauſe Abſchied. Herr Spanier weinte blutige Thraͤnen, aber er ſagte kein Wort, weder Gutes noch Boͤſes. Stilling weinte auch; und ſo verließ er ſeine letzte Schule oder Infor - mations-Bedienung, und zog nach Raſenheim zu ſeinen Freun - den, nachdem er ſieben ganze ſchoͤne Jahre an Einem Ort ruhig verlebt hatte.
Herr Spanier hatte ſeine wahre Abſicht mit Stilling nie entdeckt. So wie ſein Plan war, nur dem Titel nach Doktor zu werden, ohne hinlaͤngliche Kenntniſſe zu haben, das war Stillingen unmoͤglich einzugehen; und entdeckte Spa - nier den Reſt ſeiner Gedanken nicht ganz, ſo konnte es ja Stilling auch nicht wiſſen, und noch vielweniger ſich darauf verlaſſen. Ueber das alles fuͤhrte ihn die Vorſehung gleichſam mit Macht und Kraft, ohne ſein Mitwirken, ſo daß er fol - gen mußte, wenn er auch etwas Anders fuͤr ſich beſchloſſen gehabt haͤtte. Was aber noch das Schlimmſte fuͤr Stillingen war: er hatte nie einen beſtimmten Jahrlohn mit Herrn Spa - nier gemacht; dieſer rechtſchaffene Mann gab ihm reichlich, was er bedurfte. Nun hatte er ſich aber ſchon Buͤcher und andere Nothwendigkeiten angeſchafft, ſo daß er, wenn er alles rech - nete, ein Ziemliches jaͤhrlich empfangen hatte, deßwegen gab264 ihm nun Spanier beim Abſchied nichts, ſo daß er ohne Geld bei Friedenberg zu Raſenheim ankam. Dieſer zahlte ihm aber alſofort hundert Reichsthaler aus, um ſich das Noͤthigſte zu ſeiner Reiſe dafuͤr anzuſchaffen, und das uͤb - rige mitzunehmen. Seine chriſtlichen Freunde zu Schoͤnen - thal aber beſchenkten ihn mit einem ſchoͤnen Kleid, und erbo - ten ſich zu fernerm Beiſtand.
Stilling hielt ſich nun noch vier Wochen bei ſeiner Ver - lobten und den Ihrigen auf; waͤhrend dieſer Zeit ruͤſtete er ſich aus, nach der hohen Schule zu ziehen. Er hatte ſich noch keinen Ort erwaͤhlt, wohin, ſondern er erwartete einen Wink vom himmliſchen Vater; denn weil er aus purem Glauben ſtudiren wollte, ſo durfte er auch in nichts ſeinem eigenen Willen folgen.
Nach drei Wochen ging er noch einmal nach Schoͤnenthal, um ſeine Freunde daſelbſt zu beſuchen. Als er daſelbſt an - kam, fragte ihn eine ſehr theure und liebe Freundin: „ Wohin er zu ziehen Willens waͤre? “ Er antwortete: „ Er wuͤßte es nicht. “ „ Ey! ſagte ſie: unſer Herr Nachbar Trooſt reist nach Straßburg, um daſelbſt einen Winter zu bleiben, rei - ſen Sie mit demſelben! “ Dieſes fiel Stilling aufs Herz; er fuͤhlte, daß dieſes der Wink ſey, den er erwartet hatte. Indem trat gemeldter Herr Trooſt in die Stube herein. Al - ſofort fing die Freundin gegen ihn an, von Stillingen zu reden. Der liebe Mann freute ſich von Herzen uͤber ſeine Geſellſchaft, denn er hatte ſchon ein und anderes von ihm gehoͤrt.
Herr Trooſt war zu der Zeit ein Mann von vierzig Jah - ren, und noch unverheirathet. Schon zwanzig Jahr war er mit vielem Ruhm Chirurgus in Schoͤnenthal geweſen; allein er war jetzt mit ſeinen Kenntniſſen nicht mehr zufrie - den, ſondern er wollte noch einmal zu Straßburg die Ana - tomie durchſtudiren, und andere chirurgiſche Collega hoͤren, um mit neuer Kraft ausgeruͤſttet wieder zu kommen, und ſei - nem Naͤchſten deſto nuͤtzlicher dienen zu koͤnnen. In ſeiner Jugend hatte er ſchon einige Jahre auf dieſer beruͤhmten hohen Schule zugebracht, und den Grund zu ſeiner Wiſſenſchaft gelegt.
265Dieſer war nun der rechte Mann fuͤr Stillingen. Er hatte das edelſte und beſte Herz von der Welt, das aus lau - ter Menſchenliebe und Freundſchaft zuſammen geſetzt war; da - zu hatte er einen vortrefflichen Charakter, viel Religion und daraus fließende Tugenden. Er kannte die Welt und Straß - burg; und gewiß, es war ein recht vaͤterlicher Zug der Vor - ſehung, daß Stilling juſt jetzt mit ihm bekannt wurde. Er machte deßwegen alsbald Freundſchaft mit Herrn Trooſt. Sie beſchloſſen, mit Meß-Kaufleuten nach Frankfurt und von da mit einer Returkutſche nach Straßburg zu fahren; ſie beſtimmten nun auch den Tag ihrer Abreiſe, der nach acht Tagen feſtgeſetzt wurde.
Stilling hatte ſchon vorlaͤngſt ſeinem Vater und Oheim im Salen’ſchen Lande ſeine fernere wunderbare Fuͤhrung be - kannt gemacht; dieſe entſetzten ſich, erſtaunten, fuͤrchteten, hoff - ten und geſtanden: daß ſie ihn ganz an Gott uͤberlaſſen muͤß - ten, und daß ſie bloß von ferne ſtehen, und ſeinen Flug uͤber alle Berge hin, mit Furcht und Zittern anſehen koͤnnten, in - deſſen wuͤnſchten ſie ihm allen erdenklichen Segen.
Stillings Lage war jetzt in aller Abſicht erſchrecklich. Ein jeder Vernuͤnftige ſetze ſich in Gedanken einmal an ſeine Stelle und empfinde! — Er hatte ſich mit einem zaͤrtlichen, frommen, empfindſamen, aber dabei kraͤnklichen Maͤdchen ver - lobt, die er mehr als ſeine eigene Seele liebte, und dieſe wurde von allen Aerzten verzehrend erklaͤrt, ſo daß er ſehr fuͤrchten mußte, ſie bei ſeinem Abſchied zum letzten Mal zu ſehen. Dazu fuͤhlte er alle die ſchweren Leiden, die ihr zaͤrtlich lieben - des Herz waͤhrend einer ſo langen Zeit wuͤrde ertragen muͤſſen. Sein ganzes kuͤnftiges Gluͤck beruhte nun bloß darauf, ein rechtſchaffener Arzt zu werden; und dazu gehoͤrten zum wenig - ſten tauſend Reichsthaler, wozu keine hundert fuͤr ihn in der ganzen Welt zu finden waren; folglich ſah es auch in dieſem Fall mißlich mit ihm aus: fehlte es ihm da, ſo fehlte ihm Alles.
Und dennoch, ob ſich Stilling gleich dieß alles ſehr lebhaft vorſtellte, ſo ſetzte er doch ſein Vertrauen feſt auf Gott, und machte dieſen Schluß:
„ Gott faͤngt nichts an, außer er fuͤhrt es auch herrlich aus. 266Nun iſt es aber ewig wahr, daß Er meine gegenwaͤrtige Lage ganz und allein, ohne mein Zuthun ſo geordnet hat.
„ Folglich iſt es auch ewig wahr, daß er alles mit mir herrlich ausfuͤhren werde. “
Dieſer Schluß machte ihn oͤfters ſo muthig, daß er laͤchelnd gegen ſeine Freunde zu Raſenheim ſagte: „ Mich ſollte es doch verlangen, wo mein Vater im Himmel Geld fuͤr mich zuſammen treiben wird! “ Indeſſen entdeckte er keinem einzi - gen Menſchen weiter ſeine eigentlichen. Umſtaͤnde, beſonders Herrn Trooſt nicht, denn dieſer zaͤrtliche Freund wuͤrde groß Bedenken getragen haben, ihn mitzunehmen; oder er wuͤrde wenigſtens doch herzliche Sorge fuͤr ihn ausgeſtanden haben.
Endlich ruͤckte der Tag zur Abreiſe heran, und Chriſtine ſchwamm in Thraͤnen und wurde zuweilen ohnmaͤchtig, und das ganze Haus trauerte.
Am letzten Abend ſaßen Herr Friedenberg und Stil - ling allein zuſammen. Erſterer konnte ſich des Weinens nicht enthalten; mit Thraͤnen ſagte er zu Stillingen: Lieber Sohn! das Herz iſt mir ſehr ſchwer um Euch, wie gern wollte ich euch mit Geld verſehen, wenn ich nur koͤnnte, ich habe meine Handlung und Fabrik mit nichts angefangen, nunmehr bin ich eben ſo weit, daß ich mir helfen kann; wenn ich Euch aber wollte ſtudieren laſſen, ſo wuͤrde ich mich ganz zuruͤck ſetzen. Und dazu habe ich zehen Kinder, was ich dem Erſten thue, das bin ich hernach Allen ſchuldig.
Hoͤren Sie, Herr Schwiegervater! antwortete Stilling mit frohem Muth und froͤhlichem Geſicht: ich begehre keinen Hel - ler von Ihnen, glauben Sie nur gewiß: Derjenige, der in der Wuͤſte ſo viel tauſend Menſchen mit wenig Brod ſaͤttigen konnte, der lebt noch, dem uͤbergebe ich mich. Er wird ge - wiß Rath ſchaffen. Sorgen Sie nur nicht, „ der Herr wird’s verſehen! “
Nun hatte er ſeine Buͤcher, Kleider und Geraͤthe voraus nach Frankfurt geſchickt; und des andern Morgens, nach - dem er mit ſeinen Freunden gefruͤhſtuͤckt hatte, lief er hinauf nach der Kammer ſeiner Chriſtine: ſie ſaß und weinte. Er ergriff ſie in ſeine Arme, kuͤßte ſie und ſagte: „ Lebe wohl,267 mein Engel! Der Herr ſtaͤrke und erhalte Dich im Segen und Wohlergehen, bis wir uns wieder ſehen! “— und ſo lief er zur Thuͤr hinaus. Nun letzte er ſich mit einem Jeden, lief fort, und weinte ſich unterwegs ſatt. Der aͤltere Bruder ſei - ner Geliebten begleitete ihn bis Schoͤnenthal. Nun kehrte auch dieſer traurig um, und Stilling begab ſich zu ſeinen Reiſegefaͤhrten.
Ich will mich mit der Reiſegeſchichte nach Frankfurt weiter nicht aufhalten. Sie kamen alle gluͤcklich daſelbſt an, außer daß ſie in der Gegend von Ellefeld auf dem Rhein einen heftigen Schrecken ausgeſtanden hatten.
Vierzig Reichsthaler waren Stillings ganze Habſeligkeit ge - weſen, wie er von Raſenheim weggereist war. Nun muß - ten ſie ſich eilf Tage in Frankfurt aufhalten und auf Ge - legenheit warten, beſonders auch weil Herr Trooſt nicht eher fortkommen konnte; daher ſchmolz ſein Geld ſo zuſammen, daß er zwei Tage vor ſeiner Abreiſe nach Straßburg noch einen einzelnen Reichsthaler hatte, und dieſer war ſein Vor - rath, den er in der Welt wußte. Er entdeckte Niemand et - was, ſondern wartete auf den Wink des himmliſchen Vaters. Doch fand er bei allem ſeinem Muth nirgends recht Ruhe, er ſpazierte umher, und betete innerlich zu Gott; indeſſen gerieth er auf den Roͤmerberg, daſelbſt begegnete ihm ein Schoͤnen - thaler Kaufmann, der ihn wohl kannte, und auch ſein Freund war; dieſen will ich Liebmann nennen.
Herr Liebmann alſo gruͤßte ihn freundlich, und fragte, wie’s ihm ginge? Er antwortete: Recht gut! Das freut mich, verſetzte Jener: Kommen Sie dieſen Abend auf mein Zimmer, und ſpeiſen Sie mit mir, was ich habe! Stilling verſprach das. Nun zeigte ihm Herr Liebmann, wo er logirte.
Des Abends ging er an den beſtimmten Ort. Nach dem Eſſen fing Herr Liebmann an: Sagen Sie mir doch, mein Freund! wo bekommen Sie Geld her zum Studieren? Stil - ling laͤchelte, und antwortete: „ Ich habe einen reichen Va - ter im Himmel, der wird mich verſorgen. “ Herr Liebmann ſah ihn an, und erwiederte: Wie viel haben Sie noch? Stil - ling verſetzte: „ Einen Reichsthaler, — und das iſt Alles! “ 268So! — fuhr Liebmann fort: ich bin einer von Ihres Va - ters Rentmeiſtern, ich werde alſo jetzt einmal den Beutel ziehen. Damit zaͤhlte er Stillingen drei und dreißig Reichs - thaler hin, und ſagte: mehr kann ich fuͤr jetzt nicht miſſen. Sie werden uͤberall Huͤlfe finden. Koͤnnen ſie mir das Geld einſtens wieder geben, gut! wo nicht, auch gut — Stilling fuͤhlte heiße Thraͤnen in ſeinen Augen. Er dankte herzlich fuͤr dieſe Liebe, und verſetzte: „ Das iſt reich genug, ich wuͤnſche nicht mehr zu haben. “ Dieſe erſte Probe machte ihn ſo muthig, daß er gar nicht mehr zweifelte, Gott wuͤrde ihm gewiß durch Alles durchhelfen. Er erhielt auch Briefe von Raſenheim von Herrn Friedenberg und von Chriſtinen. Dieſe hatte Muth gefaßt, und ſtandhaft beſchloſſen, geduldig auszuharren. Friedenberg aber ſchrieb ihm in den aller - zaͤrtlichſten Ausdruͤcken, und empfahl ihn der vaͤterlichen Fuͤr - ſorge Gottes. Er beantwortete gleichfalls beide Briefe mit al - ler moͤglichen Zaͤrtlichkeit und Liebe. Von ſeiner erſten Glau - bensprobe aber meldete er nichts, ſondern ſchrieb nur, daß er Ueberfluß habe.
Nach zwei Tagen fand Herr Trooſt eine Returkutſche nach Mannheim, welche er fuͤr ſich und Stilling, nebſt noch einen redlichen Kaufmann von Luzern aus der Schweiz, mie - thete. Nun nahmen ſie wiederum von allen Bekannten und Freunden Abſchied, ſetzten ſich ein und reisten im Namen Gottes weiter.
Um ſich nun einander die Zeit zu verkuͤrzen, erzaͤhlte ein Jeder, was er wußte. Der Schweizer wurde ſo vertraulich, daß er unſern beiden Reiſenden ſein ganzes Herz entdeckte. Stilling wurde dadurch geruͤhrt, und er erzaͤhlte ſeine ganze Lebensgeſchichte mit allen Umſtaͤnden, ſo daß der Schweizer oft die milden Thraͤnen fallen ließ. Herr Trooſt ſelber hatte ſie noch nicht gehoͤrt, er wurde auch ſehr geruͤhrt, und ſeine Liebe zu Stillingen wurde deſto groͤßer.
Zu Mannheim nahmen ſie wieder eine Returkutſche bis Straßburg. Als ſie zwiſchen Speyer und Lauterburg in den großen Wald kamen, ſtieg Stilling aus. Er war das Fahren nicht gewohnt und konnte das Wiegen der Kutſche,269 beſonders in Sandwegen, nicht wohl ausſtehen. Der Schwei - zer ſtieg auch aus, Herr Trooſt aber blieb im Wagen. Als nun die beiden Reiſegefaͤhrten ſo zuſammen zu Fuß gingen, ſprach ihn der Schweizer an: Ob er ihm nicht das Manu - ſcript von Molitor, weil er es doppelt habe, gegen fuͤnf franzoͤſiſche neue Louisd’or uͤberlaſſen wollte? Stilling ſah die - ſes wiederum als einen Wink von Gott an, und daher ver - ſprach ers ihm.
Sie ſtiegen endlich wieder in die Kutſche. Unter allerhand Geſpraͤchen kam Herr Trooſt recht zur Unzeit an gemeldetes Manuſcript. Er glaubte, wenn Stilling einmal ſtudirt haben wuͤrde, ſo wuͤrde er wenig mehr aus dergleichen Sachen, Ge - heimniſſen und Salbereien machen, weil doch niemalen etwas Rechts daran ſey. Hiemit waren nun dem Schweizer ſeine fuͤnf Louis wieder lieber, als das Papier. Haͤtte Herr Trooſt gewußt, was zwiſchen Beiden vorgefallen war, ſo wuͤrde er wohl geſchwiegen haben.
Indeſſen kamen unſere Reiſende geſund und wohl zu Straß - burg an, und logirten ſich bei Herrn Rathmann Bleſing in der Art ein. Stilling ſowohl als ſein Freund ſchrieben nach Haus, und meldeten ihre gluͤckliche Ankunft, ein Jeder an gehoͤrigen Ort.
Stilling hatte nun keine Ruhe mehr, bis er das herr - liche Muͤnſter rund von innen und von auſſen geſehen hatte. Er ergoͤtzte ſich dergeſtalt, daß er oͤffentlich ſagte: „ Das al - lein iſt der Reiſe werth, gut! daß es ein Deutſcher gebaut hat. “ Des andern Tages ließen ſie ſich immatriculiren, und Herr Trooſt, der daſelbſt bekannt war, ſuchte ein bequemes Zimmer fuͤr ſie Beide. Dieſes fand er auch nach Wunſch, denn am bequemſten Ort fuͤr ſie wohnte ein vornehmer rei - cher Kaufmann, Namens R …, der einen Bruder in Schoͤ - nenthal gehabt hatte, und daher Liebe fuͤr Herrn Trooſt und ſeinen Gefaͤhrten bezeigte. Dieſer verpachtete ihnen ein herrli - ches tapezirtes Zimmer, unten im erſten Stock, fuͤr einen maͤßigen Preis; ſie zogen daſelbſt ein.
Nun ſuchte Herr Trooſt ein gutes Speiſequartier, und dieſes fand er gleichfalls ganz nahe, wo eine vortreffliche Tiſch -270 geſellſchaft war. Hier veraccordirte er ſich nebſt Stillingen auf den Monat. Dieſer aber erkundigte ſich nach den Lehrſtunden, und nahm deren ſo viel an, als nur gehalten wurden. Die Naturlehre, die Scheidekunſt und die Zergliederung waren ſeine Hauptſtuͤcke, die er alſofort vornahm.
Des andern Mittags gingen ſie zum Erſtenmal ins Koſt - haus zu Tiſche. Sie waren zuerſt da, man wies ihnen ihren Ort an. Es ſpeisten ungefaͤhr zwanzig Perſonen an dieſem Tiſch, und ſie ſahen einen nach den Andern hereintreten. Be - ſonders kam einer mit großen hellen Augen, prachtvoller Stirn und ſchoͤnem Wuchs, muthig ins Zimmer. Dieſer zog Herrn Trooſts und Stillings Augen auf ſich; Erſterer ſagte gegen Letztern: das muß ein vortrefflicher Mann ſeyn. Stil - ling bejahete das, doch glaubte er, daß ſie Beide viel Ver - druß von ihm haben wuͤrden, weil er ihn fuͤr einen wilden Kameraden anſah. Dieſes ſchloß er aus dem freien Weſen, das ſich der Student herausnahm; allein Stilling irrte ſehr. Sie wurde indeſſen gewahr, daß man dieſen ausge - zeichneten Menſchen „ Herr Goͤthe “nannte.
Nun fanden ſich noch zwei Mediziner, einer aus Wien, der andere ein Elſaͤßer. Der erſtere hieß Waldberg. Er zeigte in ſeinem ganzen Weſen ein Genie, aber zugleich ein Herz voller Spott gegen die Religion, und voller Ausgelaſſenheit in ſeinen Sitten. Der Elſaͤßer hieß Melzer, und war ein feines Maͤnnchen, er hatte eine gute Seele, nur Schade! das er etwas reizbar und mißtrauiſch war. Dieſer hatte ſeinen Sitz neben Stilling, und war bald Herzensfreund mit ihm. Nun kam auch ein Theologe, der hieß Leoſe, einer von den vortrefflichen Menſchen, Goͤthens Liebling, und das ver - diente er auch mit Recht, denn er war nicht nur ein edles Genie und ein guter Theologe, ſondern er hatte auch die ſel - tene Gabe, mit trockener Miene die treffendſte Satyre in Gegenwart des Laſters hinzuwerfen. Seine Laune war uͤber - aus edel. Noch Einer fand ſich ein, der ſich neben Goͤthe hinſetzte, von dieſem will ich nichts mehr ſagen, als daß er — ein guter Rabe mit Pfauenfedern war.
Noch ein vortrefflicher Straßburger ſaß da zu Tiſche. 271Sein Platz war der oberſte, und waͤre es auch hinter der Thuͤre geweſen. Seine Beſcheidenheit erlaubt nicht, ihm eine Lobrede zu halten: es war der Herr Actuarius Salzmann. Meine Leſer moͤgen ſich den gruͤndlichſten und empfindſamſten Philo - ſophen, mit dem aͤchteſten Chriſtenthum verpaart, denken, ſo denken ſie ſich einen Salzmann. Goͤthe und er waren Her - zensfreunde.
Herr Trooſt ſagte leiſe zu Stilling: Hier iſts am beſten, daß man vierzehn Tage ſchweigt. Letzterer erkannte dieſe Wahr - heit, ſie ſchwiegen alſo, und es kehrte ſich auch Niemand ſon - derlich an ſie, außer daß Goͤthe zuweilen ſeine Augen heruͤber - waͤlzte; er ſaß gegen Stilling uͤber, und er hatte die Regie - rung am Tiſch, ohne daß er ſie ſuchte.
Herr Trooſt war Stilling ſehr nuͤtzlich, er kannte die Welt beſſer, und daher konnte er ihn ſicher durchfuͤhren: Ohne ihn wuͤrde Stilling hundertmal angeſtoßen haben. So guͤtig war der himmliſche Vater gegen ihn. Er verſorgte ihn ſogar mit einem Hofmeiſter, der ihm nicht allein mit Rath und That beiſtehen, ſondern auch von dem er Anleitung und Fingerzeig in ſeinen Studien haben konnte. Denn gewiß, Herr Trooſt war ein geſchickter und erfahrner Wundarzt.
Nun hatte ſich Stilling voͤllig eingerichtet; er lief ſeinen Lauf heldenmuͤthig fort; er war jetzt in ſeinem Element; er verſchlang alles, was er hoͤrte, ſchrieb aber weder Collegia noch ſonſt Etwas ab, ſondern trug Alles zuſammen in allgemeine Begriffe uͤber. Selig iſt der Mann, der dieſe Methode wohl zu uͤben weiß! aber es iſt nicht einem Jeden gegeben. Seine bei - den Profeſſoren, die beruͤhmten Herren Spielmann und Lob - ſtein bemerkten ihn bald, und gewannen ihn lieb, beſonders auch darum, weil er ſich ernſt, maͤnnlich und eingezogen auffuͤhrte.
Allein ſeine 33 Reichsthaler waren nun wieder auf einen Einzigen herunter geſchmolzen, deßwegen begann er wiederum herzlich zu beten. Gott erhoͤrte ihn, und juſt in dieſer Zeit der Noth fing Herr Trooſt einmal des Morgens gegen ihn an, und ſagte: „ Sie haben, glaub ich, kein Geld mitgebracht; ich will Ihnen ſechs Carolin leihen, bis Sie Wechſel bekommen werden. “ Obgleich Stilling ſo wenig von Wechſel als von272 Geld wußte, ſo nahm er doch dieſes freundſchaftliche Erbieten an, und Herr Trooſt zahlte ihm ſechs neue Louisd’or aus. Wer war es nun, der das Herz dieſes Freundes juſt weckte, als es Noth war!!!
Herr Trooſt war nett und nach der Mode gekleidet; Stil - ling auch ſo ziemlich. Er hatte einen ſchwarzbraunen Rock mit mancheſternen Unterkleidern, nur war ihm noch eine runde Peruͤcke uͤbrig, die er zwiſchen ſeinen Beutel-Peruͤcken doch auch gern verbrauchen wollte. Dieſe hatte er einsmals aufgeſetzt, und kam damit an den Tiſch. Niemand ſtoͤrte ſich daran, als nur Herr Waldberg von Wien. Dieſer ſah ihn an, und da er ſchon vernommen hatte, daß Stilling ſehr fuͤr die Religion eingenommen war, ſo fing er an und fragte ihn: Ob wohl Adam im Paradies eine runde Peruͤcke moͤchte getragen haben? Alle lachten herzlich bis auf Salzmann, Goͤthe und Trooſt; dieſe lachten nicht. Stilling fuhr der Zorn durch alle Glieder, und antwortete darauf: „ Schaͤmen Sie ſich dieſes Spotts. Ein ſolcher alltaͤglicher Einfall iſt nicht werth, daß er belacht werde! — Goͤthe aber fiel ein, und verſetzte: Probiere erſt einen Menſchen, ob er des Spotts werth ſey? Es iſt teufelmaͤßig, einen rechtſchaffenen Mann, der keinen be - leidigt hat, zum Beſten zu haben! Von dieſer Zeit an nahm ſich Herr Goͤthe Stillings an, beſuchte ihn, gewann ihn lieb, machte Bruͤderſchaft und Freundſchaft mit ihm, und be - muͤthe ſich bei allen Gelegenheiten, Stillingen Liebe zu er - zeigen. Schade, daß ſo Wenige dieſen vortrefflichen Menſchen ſeinem Herzen nach kennen!
Nach Martini wurde das Collegium der Geburtshuͤlfe ange - ſchlagen, und die Lernbegierigen dazu eingeladen. Stillingen war dieſes ein Hauptſtuͤck, deßwegen fand er ſich des Montags Abends mit Andern ein, um zu unterſchreiben. Er dachte nicht anders, als daß dieſes Collegium, eben ſo wie die andern, erſt nach Endigung deſſelben bezahlt wuͤrde; allein, wie erſchrack er, als der Doctor ankuͤndigte: daß ſich die Herren moͤchten gefallen laſſen, kuͤnftigen Donnerſtag Abend ſechs neue Louisd’or fuͤrs Collegium zu bezahlen! Hier war alſo eine Ausnahme, und die hatte auch ihre gegruͤndete Urſachen. Wenn nun Stil -273 ling den Donnerſtag nicht bezahlte, ſo wurde ſein Name ausgeſtrichen. Dieſes war ſchimpflich, und ſchwaͤchte den Kre - dit, der doch Stillingen abſolut noͤthig war. Jetzt war alſo guter Rath theuer. Herr Trooſt hatte ſchon ſechs Co - rolin vorgeſchoſſen, und noch war kein Anſchein da, ſie wieder geben zu koͤnnen.
Sobald als Stilling in ſein Zimmer kam, und daſſelbe leer fand (denn Herr Trooſt war in ein Collegium gegan - gen), ſo ſchloß er die Thuͤre hinter ſich zu, warf ſich in einen Winkel nieder, und rang recht mit Gott um Huͤlfe und Er - barmen; indeſſen aͤuſſerte ſich nichts Troͤſtliches fuͤr ihn, bis den Donnerſtag Abend. Es war ſchon fuͤnf Uhr, und um ſechs Uhr war die Zeit, daß er das Geld haben mußte. Stil - ling begann faſt im Glauben zu wanken; der Angſtſchweiß brach ihm aus, und ſein ganzes Angeſicht war naß von Thraͤ - nen. Er fuͤhlte weder Muth noch Glauben mehr, und deß - wegen ſah er von ferne in eine Zukunft, die der Hoͤlle mit allen ihren Qualen aͤhnlich war. Indem er mit ſolchen trau - rigen Gedanken in dem Zimmer auf - und abging, klopfte Je - mand an die Thuͤr. Er rief: herein! Es war der Patron des Hauſes … der Herr R … Dieſer trat ins Zimmer, und nach den gewoͤhnlichen Complimenten fing er an: ich komme, um zu ſehen, wie Sie ſich befinden, und ob Sie mit mei - nem Zimmer zufrieden ſind. (Herr Trooſt war wiederum nicht da, und der wußte auch von Stillings jetzigem Kampf gar nichts.) Stilling antwortete: Es macht mir viel Ehre, daß Sie ſich nach meinem Befinden zu erkundigen be - lieben. Ich bin, Gott Lob! geſund, und Dero Zimmer iſt nach unſerer Beider hoͤchſtem Wunſch.
Herr R … verſetzte: das macht mir Freude, beſonders da ich ſehe, daß Sie ſo ſittſame wackere Leute ſind. Aber ich wollte doch vornehmlich noch Eins fragen: „ Haben Sie Geld mitgebracht, oder bekommen Sie Wechſel? “— Nun ward’s Stillingen als dem Habacuc, wie ihn der Engel des Herrn beim Schopf nahm, um ihn nach Babel zu fuͤhren. Er antwortete: Nein, ich habe kein Geld mitgebracht.
Stillings ſämmtl. Schriften. I. Baud. 18274Herr R … ſtand, ſah ihn ſtarr an, und verſetzte: „ Wie kommen Sie denn doch um Gottes Willen zurecht? “
Stilling antwortete: Herr Trooſt hat mir ſchon gelie - hen. „ Hoͤren Sie, fuhr Herr R … fort: der hat ſein Geld ſelber noͤthig. Ich will Ihnen Geld vorſchießen, ſo viel Sie brauchen, wenn Sie dann Wechſel bekommen, ſo geben Sie mir nur ſelbige, auf daß Sie keine Unruhe mit dem Verkauf haben moͤgen. Brauchen Sie auch wohl jetzt etwas Geld? “ Stil - ling konnte ſich kaum enthalten, daß er nicht laut rief, doch hielt er ſich an, und ließ ſich nichts merken. Ja! ſagte er, ich habe dieſen Abend ſechs Louisd’or noͤthig, und ich war verlegen.
Herr R … entſetzte ſich, und erwiederte: „ Ja, das glaub ich! Nun ſeh ich: Gott hat mich zu Ihrer Huͤlfe hergeſandt, “und ging zur Thuͤr hinaus.
Stilling wars nun wie dem Daniel im Loͤwengraben, da ihm Habacuc die Speiſe brachte; er verſank ganz von Empfindung, und wurde kaum gewahr, daß der Herr R … wieder hereintrat. Dieſer vortreffliche Mann brachte acht Louis - d’or, zaͤhlte ſie ihm dar, und ſagte: „ Da haben Sie noch etwas uͤbrig, und wenn das all iſt, ſo fordern Sie mehr. “
Stilling durfte ſeinen herzlichen Dank nicht ganz auslaſ - ſen, um ſich nicht allzuſehr bloß zu geben. Nun empfahl ſich der edle Mann, und ging fort.
In dem Kreis, worin ſich Stilling jetzt befand, hatte er taͤglich Verſuchungen genug, ein Religionszweifler zu werden. Er hoͤrte alle Tage neue Gruͤnde gegen die Bibel, gegen das Chriſtenthum, und gegen die Grundſaͤtze der chriſtlichen Religion. Alle ſeine Beweiſe, die er jemals geſammelt, und die ihn im - mer beruhigt hatten, waren nicht hinlaͤnglich mehr, ſeine ſtrenge Vernunft zu beruhigen; bloß dieſe Glaubensproben, deren er in ſeiner Fuͤhrung ſchon ſo viel erfahren hatte, machten ihn ganz unuͤberwindlich. Er ſchloß alſo:
„ Derjenige, der augenſcheinlich das Gebet der Menſchen er - hoͤrt, und ihre Schickſale wunderbarer Weiſe und ſichtbarlich lenkt, muß unſtreitig wahrer Gott, und ſeine Lehre Gottes Wort ſeyn.
„ Nun hab’ ich aber von jeher Jeſum Chriſtum als mei -275 nen Gott und Heiland verehrt und ihn angebetet. Er hat mich in meinen Noͤthen erhoͤrt, und mir wunderbar beigeſtanden und geholfen:
„ Folglich iſt Jeſus Chriſtus unſtreitig wahrer Gott, ſeine Lehre iſt Gottes Wort, und ſeine Religion, ſo wie Er ſie geſtiftet hat, die wahre. “
Dieſer Schluß galt ihm zwar bei Andern nichts, aber fuͤr ihn ſelbſt war er vollkommen hinreichend, ihn vor allem Zwei - fel zu ſchuͤtzen.
Sobald Herr R … fort war, fiel Stilling zur Erde nie - der, dankte Gott mit Thraͤnen, und warf ſich aufs neue in ſeine vaͤterlichen Arme; darauf ging er ins Collegium, und bezahlte ſo gut als der Reichſte.
Indem dieſes zu Straßburg vorging, beſuchte einſtmals Herr Liebmann von Schoͤnenthal Herrn Friedenberg zu Raͤſenheim, denn ſie waren ſehr gute Freunde. Lieb - mann wußte von Stillings Verbindung mit Chriſtinen nichts, doch wußte er wohl, daß Friedenberg ſein Herzens - freund war.
Als ſie ſo zuſammen ſaßen, ſo fiel auch das Geſpraͤch auf ihren Freund zu Straßburg. Liebmann wußte nicht genug zu erzaͤhlen, wie Herr Trooſt in ſeinen Briefen Stillings Fleiß, Genie und guten Fortgang im Studiren ruͤhmte. Frie - denberg und ſeine Leute, beſonders Chriſtine, fuͤhlten Wonne dabei in ihrem Herzen. Liebmann konnte nicht be - greifen, woher er Geld bekaͤme? Friedenberg auch nicht. Ey, fuhr Liebmann fort: ich wollte, daß ein Freund mit mir anſtaͤnde, wir wollten ihm einmal einen tuͤchtigen Wechſel ſchicken.
Herr Friedenberg merkte dieſen Zug der Vorſehung; er konnte ſich kaum des Weinens enthalten. Chriſtine aber lief hinauf auf ihr Zimmer, legte ſich vor Gott nieder, und be - tete. Friedenberg verſetzte: Ey, ſo will ich mit anſtehen! Liebmann freute ſich und ſagte: „ Wohlan! ſo zahlen Sie hundert und fuͤnfzig Reichsthaler, ich will auch ſo viel herbei - ſchaffen, und den Wechſel an ihn abſchicken. “ Friedenberg that das gerne.
18 *276Vierzehn Tage nach der ſchweren Glaubensprobe, die Stil - ling ausgeſtanden hatte, bekam er ganz unvermuthet einen Brief von Herrn Liebmann, nebſt einem Wechſel von drei - hundert Reichsthaler. Er lachte laut, ſtellte ſich gegen das Fenſter, ſah mit freudigem Blick gen Himmel, und ſagte:
„ Das war nur Dir moͤglich, Du allmaͤchtiger Vater! “
Nun bezahlte er Herrn Trooſt, Herrn R., und was er ſonſt ſchuldig war, und behielt noch genug uͤbrig, den ganzen Winter auszukommen. Seine Lebensart zu Straßburg war auffallend, ſo daß die ganze Univerſitaͤt von ihm zu ſagen wußte. Die Philoſophie war eigentlich von jeher diejenige Wiſſenſchaft geweſen, wozu ſein Geiſt die mehreſte Neigung hatte. Um ſich nun noch mehr darin zu uͤben, beſchloß er, des Abends von fuͤnf bis ſechs Uhr, welche Stunde ihm uͤbrig war, ein oͤffentliches Collegium in ſeinem Zimmer dar - uͤber zu leſen. Denn weil er eine gute natuͤrliche Gabe der Beredtſamkeit hatte, ſo entſchloß er ſich um deſto lieber dazu, theils um die Philoſophie zu wiederholen, und ſich ferner darin zu uͤben, theils aber auch um eine Geſchicklichkeit zu er - langen, oͤffentlich zu reden. Da er ſich nun nichts dafuͤr be - zahlen ließ, und dieſes Collegium als eine Repetition angeſe - hen wurde, ſo gings ihm durch, ohne daß Jemand etwas dagegen zu ſagen hatte. Er bekam Zuhoͤrer die Menge, und durch Gelegenheit viele Bekannte und Freunde.
Seine eigenen Collegia verſaͤumte er nie. Er praͤparirte ſich auf der Anatomie ſelbſten mit Luſt und Freude, und was er praͤparirt hatte, das demonſtrirte er auch oͤffentlich, ſo daß Profeſſoren und Studenten ſich ſehr uͤber ihn verwunderten. Herr Profeſſor Lobſtein, der dieſes Fach mit bekanntem groͤßten Ruhm verwaltet, gewann ihn ſehr lieb, und wendete allen Fleiß an, um ihm dieſe Wiſſenſchaft gruͤndlich beizu - bringen. Auch beſuchte er ſchon dieſen Winter mit Herrn Profeſſor Ehrmann die Kranken im Hoſpital. Er bemerkte da die Krankheiten, und auf der Anatomie ihre Urſachen. Mit277 Einem Wort: er wendete in allen Diſciplinen der Arznei - Wiſſenſchaft alles Moͤgliche an, um Gruͤndlichkeit zu erlangen.
Herr Goͤthe gab ihm in Anſehung der ſchoͤnen Wiſſen - ſchaft einen andern Schwung. Er machte ihn mit Oſſian, Shakespeare, Fielding und Sterne bekannt; und ſo gerieth Stilling aus der Natur ohne Umwege wieder in die Natur. Es war auch eine Geſellſchaft junger Leute zu Straßburg, die ſich die Geſellſchaft der ſchoͤnen Wiſſen - ſchaften nannte, dazu wurde er eingeladen, und zum Mitglied angenommen; auch hier lernte er die ſchoͤnſten Buͤcher, und den jetzigen Zuſtand der ſchoͤnen Literatur in der Welt kennen.
Dieſen Winter kam Herr Herder nach Straßburg. Stilling wurde durch Goͤthe und Trooſt mit ihm bekannt. Niemals hat er in ſeinem Leben mehr einen Menſchen bewun - dert, als dieſen Mann. „ Herder hat nur einen Gedanken, und dieſer iſt eine ganze Welt! “ Dieſer machte Stilling einen Umriß von Allem in Einem, ich kanns nicht anders nennen; und wenn jemals ein Geiſt einen Stoß bekommen hat zu einer ewigen Bewegung, ſo bekam ihn Stilling von Herdern, und das darum, weil er mit dieſem herrlichen Genie, in Anſehung des Naturells, mehr harmonirte als mit Goͤthe.
Das Fruͤhjahr ruͤckte heran, und Herr Trooſt ruͤſtete ſich wiederum zur Abreiſe. Stilling fuͤhlte zwar dieſe Trennung von einem ſo theuren Manne recht tief, allein er hatte doch nunmehr die ſchoͤnſte Bekanntſchaft in Straßburg, und da - zu hoffte er uͤber ein Jahr wieder bei ihm zu ſeyn. Er gab ihm Briefe mit; und da er ihm ſeine Verlobung entdeckt hatte, ſo empfahl er ihm, mit erſter Gelegenheit nach Raſenheim zu gehen, und den Seinigen alle ſeine Umſtaͤnde muͤndlich zu erzaͤhlen.
So verreiste dieſer ehrliche Mann im April wieder in die Niederlande, nachdem er noch einmal ſeine noͤthigſten Wiſſen - ſchaften mit groͤßtem Fleiß wiederholt hatte. Stilling aber ſetzte ſeine Studien wacker fort.
Zehn Tage vor Pfingſten ging Stilling in die Comoͤdie, um ein gewiſſes Stuͤck zu ſehen, das man ihm ſehr geruͤhmt278 hatte. Es war Romeo und Julie, ſo wie es Weiſſe dem deutſchen Theater bequem gemacht hat. Er kannte das Shakespeariſche Original, daher wollte er gern ſehen, wie die - ſes Stuͤck von der im Tragiſchen ſo beruͤhmten Madam Abt, welche die Hauptrolle ſpielte, ausgefuͤhrt wuͤrde.
Auf dem Parterre uͤberfiel ihn ein ſehr trauriges Gefuͤhl, ohne zu wiſſen, wo es herkam. Er hatte die ſchoͤnſten Briefe von den Seinigen, ſowohl aus dem Salen’ſchen Lande, als auch von Raſenheim. Er ging nach Hauſe, und beſann ſich, wo das wohl herruͤhren moͤchte. Doch es verſchwand wieder, Stilling bekuͤmmerte ſich alſo nicht weiter darum.
Des Dienſtags vor Pfingſten hatte der Sohn eines Profeſ - ſors Hochzeit, deßwegen waren keine Collegia. Stilling be - ſchloß alſo, dieſen Tag in ſeinem Zimmer zu bleiben, und fuͤr ſich zu arbeiten. Um neun Uhr uͤberfiel ihn ein ploͤtzli - cher Schrecken, das Herz klopfte wie ein Hammer, und er wußte nicht, wie ihm geſchah. Er ſtand auf, ging im Zim - mer auf und ab, und nun fuͤhlte er einen unwiderſtehlichen Trieb, nach Hauſe zu reiſen. Er erſchrack uͤber dieſen Zufall, und uͤberdachte den Schaden, der ihm ſowohl in Anſehung ſeines Geldes, als auch ſeines Studirens, dadurch zuwachſen koͤnnte. Er glaubte endlich, daß es eine hypochondriſche Grille ſey, ſuchte ſichs deßwegen mit Gewalt aus dem Sinn zu ſchlagen, und ſetzte ſich alſo wieder hin an ſeine Geſchaͤfte. Allein die Unruhe ward ſo groß, daß er wieder aufſtehen mußte. Nun wurde er recht betruͤbt; es war Etwas in ihm, das ihn mit Gewalt andrang, nach Hauſe zu reiſen.
Stilling wußte hier weder Rath noch Troſt. Er ſtellte ſich vor, was man von ihm denken koͤnnte, wenn er ſo auf Geradewohl fuͤnfzig Meilen weit reiſen, und vielleicht zu Hauſe alles im beſten Wohlſtand antreffen wuͤrde. Da aber die Be - aͤngſtigung und der Trieb gar nicht nachlaſſen wollte, ſo be - gab er ſich ans Beten, und flehte zu Gott, wenn es ja ſein Wille ſey, daß er nach Hauſe reiſen muͤßte, ſo moͤchte er ihm doch ſichere Gewißheit geben: warum? Indem er ſo bei ſich ſeufzte, trat der Comptoirbediente des Herrn R… herein ins Zimmer, und brachte ihm folgenden Brief:
279Raſenheim, den 9. Mai 1771.
Herzgeliebter Schwiegerſohn!
„ Ich zweifle nicht, Sie werden die Briefe von meiner Frau, Sohn und Herrn Trooſt wohl erhalten haben. Sie werden nicht erſchrecken, wenn ich Ihnen melde, daß Ihre liebe Braut ziemlich krank iſt. Dieſe Krankheit hat ihr ſeit zwei Tagen ſo heftig zugeſetzt, daß ſie jetzt recht — ja recht ſchwach iſt. Mein Herz iſt daruͤber ſo zerſchmolzen, daß mir tauſend Thraͤ - nen die Wangen herunter gefloſſen ſind; doch ich mag hievon nicht viel ſchreiben, ich moͤchte zu viel thun, ich bete und ſeufze fuͤr das liebe Kind recht herzlich, und auch fuͤr uns, damit wir uns kindlich ſeinem heiligen Willen uͤberlaſſen moͤgen. O der ewige Erbarmer wolle ſich unſerer Aller aus Gnaden an - nehmen! So hat nun Ihre liebe Braut gerne, daß ich Ihnen dieſes ſchreibe, denn ſie iſt ſo ſchwach, daß ſie gar nicht viel ſprechen kann — ich muß mit dem Schreiben ein wenig ein - halten, der aͤllmaͤchtige Gott wolle mir doch ins Herz legen, was ich ſchreiben ſoll! — ich fahre in Gottes Namen fort, und muß Ihnen melden, daß Ihre Braut menſchlichem An - ſehen nach — halten Sie ſich feſt, theuerſter Sohn! — nicht manchen Tag mehr hier zubringen wird, ſo wird ſie in die ewige Ruhe uͤbergehen; doch ich ſchreibe, wie wir Menſchen es anſehen. Nun, mein allerliebſter Sohn! ich meine, mein Herz zerſchmoͤlze, ich kann Ihnen nicht viel mehr ſchreiben. Ihre Braut ſaͤhe Sie in dieſer Welt noch Einmal gern; allein, was ſoll ich ſagen und rathen? ich kann nicht mehr, weil mir die Thraͤnen haͤufig aufs Papier fallen. Gott! du kenneſt mich, daß ich gern die Reiſekoſten bezahlen will! aber rathen darf ich nicht, fragen Sie den rechten Rathgeber, dem ich Sie auch von Herzen empfehle. Ich, Ihre Mutter, Braut, und die Kinder gruͤßen Sie alle tauſendmal, ich bin in Ewigkeit
Ihr getreuer Vater Peter Friedenberg. “
Stilling ſtuͤrzte wie ein Raſender von einer Wand an die andere, er weinte nicht, ſeufzte nicht, ſondern ſah aus wie einer, der an ſeiner Seligkeit zweifelt; er beſann ſich endlich ſo viel, daß er ſeinen Schlafrock auswarf, ſeine Kleider an -280 zog, und mit dem Brief zu Herrn Goͤthe hintaumelte. So - bald er in ſein Zimmer hinein trat, rief er mit Seelenzagen: Ich bin verloren! da lies den Brief! Goͤthe las, fuhr auf, ſah ihn mit naſſen Augen an, und ſagte: Du ar - mer Stilling! Nun ging er mit ihm zuruͤck nach ſeinem Zimmer. Es fand ſich noch ein wahrer Freund, dem Stil - ling ſein Ungluͤck klagte, dieſer ging auch mit. Goͤthe und dieſer Freund packten ihm das Noͤthige in ſein Felleiſen, ein Anderer ſuchte Gelegenheit fuͤr ihn, wodurch er wegreiſen koͤnnte, und dieſe fand ſich, denn es lag ein Schiffer auf der Preuſch parat, der den Mittag nach Mainz abfuhr und Stillin - gen gern mitnahm. Dieſer ſchrieb indeſſen ein paar Zeilen nach Hauſe und kuͤndigte ſeine baldige Ankunft an. Nachdem nun Goͤthe das Felleiſen bereit hatte, ſo lief er und beſorgte Proviant fuͤr ſeinen Freund, trug ihm den ins Schiff; Stil - ling ging reiſefertig mit. Hier letzten ſich Beide mit Thraͤ - nen. Nun fuhr Stilling im Namen Gottes ab, und ſo - bald er nur auf der Reiſe war, ſo fuͤhlte er ſein Gemuͤth beruhigt, und es ahndete ihm, daß er ſeine Chriſtine noch lebendig finden, und daß ſie beſſer werden wuͤrde; doch hatte er auch verſchiedene Buͤcher mitgenommen, um zu Hauſe ſein Studiren fortſetzen zu koͤnnen. Es war vorjetzo die bequemſte Zeit fuͤr ihn zu reiſen; denn die mehreſten Collegia hatten auf - gehoͤrt, und die wichtigſten hatten noch nicht wieder angefangen.
Auf der Reiſe bis Mainz fiel eben nichts Merkwuͤrdiges vor. Er kam des Freitags Abends um ſechs Uhr daſelbſt an, bezahlte ſeinen Schiffer, nahm ſein Felleiſen unter den Arm, und lief nach der Rheinbruͤcke, um Gelegenheit auf Coͤlln zu finden. Hier hoͤrte er nun, daß vor zwei Stunden ein großer bedeckter Nachen mit vier Perſonen abgefahren ſey, der noch wohl fuͤr viere Raum habe, und daß dieſer Nachen zu Bin - gen bleiben wuͤrde. Alsbald trat ein Schiffer herzu, welcher Stillingen verſprach, ihn fuͤr vier Gulden in drei Stun - den dahin zu ſchaffen, ungeachtet es ſechs Stunden von Mainz nach Bingen ſind. Stilling ging dieſen Accord ein. In - dem ſich nun der Schiffer zur Fahrt bereitete, fand ſich ein excellentes knappes Buͤrſchchen mit einem kleinen Felleiſen,281 ohngefaͤhr 15 Jahre alt, bei Stilling ein, und fragte: ob es nicht erlaubt waͤre, in ſeiner Geſellſchaft mit nach Coͤlln zu reiſen? Stilling war’s zufrieden, und da er dem Schif - fer noch zwei Gulden verſprach, ſo war’s der auch zufrieden.
Die beiden Reiſenden traten alſo in einen kleinen dreiborti - gen Nachen. Stillingen gefiel das ſchon gleich Anfangs nicht, er aͤuſſerte ſeine Beſorgniß, die beiden Schiffer aber lachten ihn aus. Nun fuhren ſie fort. Das Waſſer ging bis auf ein paar Finger breit an Bord, und wenn Stilling, der etwas lang war, nun ein wenig wankte, ſo glaubte er umzu - ſchlagen, und alsdann ging das Waſſer gaͤnzlich an Bord.
Dieſes Fuhrwerk war ihm fuͤrchterlich, und er wuͤnſchte herzlich auf dem Trockenen zu ſeyn, indeſſen ließ er ſich doch, um ſich die Zeit zu kuͤrzen, mit ſeinem kleinen Reiſegefaͤhrten in ein Geſpraͤch ein. Da hoͤrte er nun mit Erſtaunen, daß dieſer Knabe, der ein Sohn einer reichen Wittwe in H … war, ſo wie er da bei ihm ſaß, ganz allein nach dem Vor - gebirge der guten Hoffnung reiſen wollte, um daſelbſt ſeinen Bruder zu beſuchen. Stilling verwunderte ſich aus der Maſſen, und fragte ihn: ob ſeine Frau Mutter in ſeine Reiſe eingewilliget habe? Keineswegs! antwortete der Knabe: ich bin heimlich fortgegangen, ſie ließ mich in Mainz arretiren, aber ich hielt ſo lange an, bis ſie mir erlaubte zu reiſen, und mir einen Wechſel von eilf hundert Gulden ſchickte. Ich habe einen Oheim in Rotterdam, an den bin ich addreſſirt, der ſoll mir ferner forthelfen. Stilling beunruhigte ſich nun wegen des jungen Menſchen, denn er zweifelte nicht, daß die - ſer Oheim geheime Ordre haben wuͤrde, ihn mit Gewalt bei ſich zu halten.
Waͤhrend dieſen Geſpraͤchen fuͤhlte Stilling Kaͤlte an ſei - nen Fuͤßen; er ſahe zu und fand, daß das Waſſer in den Na - chen drang, und daß der Schiffer, der hinter ihm ſaß, wacker ſchoͤpfte. Nun wurde ihm aber im Ernſt bang, und er be - gehrte ausdruͤcklich, man ſollte ihn an der Binger Seite an’s Land ſetzen, er wollte gern den accordirten Lohn voͤllig geben, und bis Bingen zu Fuße gehen, allein die Schiffer wollten gar nicht, ſondern ruderten nur fort. Stilling gab ſich alſo282 ſelbſt ans Schoͤpfen, und er hatte, nebſt ſeinem Gefaͤhrten, genug zu thun, den Nachen leer zu halten. Indeſſen ward’s dunkel, ſie naͤherten ſich den Gebirgen, es erhub ſich ein Wind, und es ſtieg ein ſchwarzes Gewitter auf. Der Knabe fing im Nachen an zu zagen, und Stilling gerieth in eine tiefe Schwermuth, welche noch vergroͤßert wurde, als er merkte, wie die Schiffer durch eine Zeichenſprache zuſammen redeten, ſo daß ſie gewiß etwas Boͤſes im Sinn hatten.
Nun ward es voͤllig Nacht, das Gewitter ruͤckte heran, es ſtuͤrmte und blitzte, ſo daß der Nachen auf und abſchwankte, und der Untergang alle Augenblick gewiſſer wurde. Stilling kehrte ſich innerlich zu Gott, und bat herzlich, daß er ihn doch erhalten moͤchte, beſonders wenn ſeine Chriſtine noch laͤnger leben ſollte, damit ſie nicht durch eine Schreckens-Poſt von ſeinem ungluͤcklichen Tod ihre Seele in Kummer aushauchen moͤchte. Sollte ſie aber zu ihrer Ruhe ſchon uͤbergegangen ſeyn, ſo gab er ſich mit Freuden an Gottes Willen uͤber. In - dem er ſo dachte, ſah er auf, und nah vor ſich einen Maſtbaum von einer Jagd, er rief mit ſtarker Stimme um Huͤlfe; in dem Augenblick war ein Schiffmann mit einer Leuchte und und langen Hacken auf dem Verdeck. Seine Schiffleute ru - derten mit aller Macht abwaͤrts, allein es gelang ihnen nicht, denn weil ſie nahe am Ufer hinfuhren, ſo trieb ſie Wind und Strom auf die Jagd an, und ehe ſie’s vermutheten, war der Hacken im Nachen, und der Nachen am Schiff. Stilling und ſein Gefaͤhrte waren mit ihren Felleiſen auf dem Verdeck, ehe ſichs die Boͤſewichter von Schiffern verſahen. Der Schiff - mann leuchtete hin, und fing an: Ha, ha! ſeyd ihr die T … Kerls, die vor einigen Wochen die zwei Reiſenden da unten vertraͤnkt haben? wartet, laßt mich wieder nach Mainz kom - men! — Stilling warf ihnen ihren vollen Lohn herab ins Naͤchelchen, und ließ ſie laufen. Wie froh war er aber, und wie dankte er Gott, als er dieſer Gefahr entronnen war. Nun gingen ſie unten in die Cajuͤte. Die Schiffer waren von Cob - lenz, und brave Leute. Sie aßen alle zuſammen, und nun legten ſich beide Reiſende ins Gepaͤcke, das daſelbſt war, und ſchliefen ruhig, bis wieder der Tag anbrach. Nun befanden283 ſie ſich vor Bingen, ſie gaben den Schiffern ein gutes Trink - geld, ſtiegen aus, und ſahen ihren Nachen, mit dem ſie nach Coͤlln fahren wollten, daſelbſt an einen Pfahl gebunden.
Nicht weit vom Ufer war ein Wirthshaus, Stilling ging mit ſeinem Cameraden da hinein, und in die Stube, welche voller Stroh geſpreitet war. Dort in der Ecke lag ein vortrefflicher anſehnlicher Mann. Eine Strecke von demſelben ein Soldat. Wieder einen Schritt weiter ein junger Menſch, der einem verſoffenen Kauz von Studenten ſo aͤhnlich ſahe, als ein Ei dem andern. Der Erſte hatte eine baumwollene Muͤtze uͤber die Ohren gezogen, und einen Mantelrock auf der Schulter hangen, ſein ruſſiſcher Frack war um die Fuͤße ge - wickelt. Der Andere hatte ſein Schnupftuch um den Kopf gebunden, und den Soldatenrock uͤber ſich her, und ſchnarchte. Der Dritte lag da mit bloßem Haupt im Stroh, und ein engliſcher Frack lag quer uͤber ihn her; er richtete ſich auf, ſah uͤber quer in die Welt, wie einer, der den vorigen Abend zu viel ins Branntweinglas geguckt hatte. Hinten im Eck lag Etwas, man wußte nicht, was es war, bis es ſich regte, und zwiſchen Tuͤchern und Kiſſen hervorguckte: nun entdeckte Stil - ling, daß es eine Gattung von Weibs-Menſchen war.
Stilling betrachtete dieſe herrliche Gruppe eine Weile mit Freuden, endlich fing er an: „ Meine Herren, ich wuͤnſche Ihnen allerſeits einen gluͤckſeligen Morgen und gute Reiſe! Alle Drei richteten ſich auf, gaͤhnten und raͤuſperten ſich, und was dergleichen erſte Morgen-Verrichtungen mehr ſind; ſie guckten auf, ſahen da einen langen, laͤchelnden Mann mit einem muntern Knaben bei ſich ſtehen; ſie ſprangen alle auf, mach - ten ein Compliment, ein Jeder auf ſeine Weiſe, und dankten freundlich.
Der vornehmſte Herr war ein Menſch von einer hohen und edlen Geſichtsbildung, dieſer trat vor Stilling und ſagte: „ Wo kommen Sie ſo fruͤh her? “ Stilling erzaͤhlte kurz und gut, wie es ihm ergangen war. Mit einer edlen Miene fing dieſer Herr an: „ Sie ſind doch wohl kein Kaufmann, Sie kommen mir nicht ſo vor! “— Stilling verwunderte ſich uͤber dieſe Rede, er laͤchelte und ſagte: Sie muͤſſen ſich gut284 auf die Phyſiognomie verſtehen, ich bin kein Kaufmann, ich ſtudire Medicin! Der fremde Herr ſah ihn ernſt an, und ver - ſetzte: „ Sie ſtudiren alſo in der Mitte Ihres Lebens, da muͤſ - ſen vorher Berge zu uͤberſteigen geweſen ſeyn, oder Sie haben ſpaͤt gewaͤhlt! — Stilling erwiederte: Beides hat bei mir Platz. Ich bin ein Sohn der Vorſehung, ohne ihre ſonderbare Leitung waͤr ich entweder ein Schneider oder ein Kohlenbren - ner! Stilling ſagte dieſes mit Nachdruck und Herzensbewe - gung, wie er immer thut, wenn er auf dieſe Materie kommt. Der Unbekannte fuhr fort: „ Sie erzaͤhlen uns wohl unterwegs Ihre Geſchichte! “ Ja, ſagte Stilling, von Herzen gern! Nun klopfte ihn Jener auf die Schulter, und ſagte: „ Seyn Sie wer Sie wollen, Sie ſind ein Mann nach meinem Herzen! “
Ihr, die ihr meinen Bruder Lavater ſo peitſcht, woher kam’s, daß dieſer vornehme Fremde Stillingen im erſten Anblick lieb gewann? und welches iſt die Sprache, welches ſind die Buchſtaben, die er ſo geſchickt zu leſen und zu ſtu - diren wußte! —
Nun wurde auch der Student munter, er war auch ein wackerer Mann, er gruͤßte Stillingen, deßgleichen auch der Soldat. Stilling fragte: ob die Herren fruͤhſtuͤckten? Ja, ſagten Sie alle: Wir trinken Kaffee. Ich auch, ſetzte Stil - ling hinzu; er lief hinaus und beſtellte. Als er wieder her - ein kam, fragte er: Kann ich wohl die Ehre haben, mit mei - nem Gefaͤhrten von Dero angenehmen Geſellſchaft bis Coͤlln zu profitiren? Alle ſagten einmuͤthig: Ja! es wuͤrde ihnen Ehre und Freude machen. Stilling buͤckte ſich. Nun klei - deten ſie ſich Alle an, und das Frauenzimmer dahinten legte auch ſehr ſchamhaft ein Stuͤck nach dem andern an. Sie war Haushaͤlterin bei einem geiſtlichen Herrn in Coͤlln, und folglich ſehr behutſam in Geſellſchaft fremder Mannsleute, wie - wohl ſie das gar nicht noͤthig hatte, denn ſie war uͤber alle Maßen haͤßlich.
Der Kaffee kam, Stilling ſetzte ſich vor den Tiſch, zog den Krahnen der Kaffeekanne vor ſich und fing an zu zapfen; er war aufgeraͤumt, und in ſeiner Seele vergnuͤgt, warum? weiß ich nicht. Der fremde Herr ſetzte ſich neben ihn, und285 klopfte ihn wieder auf die Schulter, der Soldat ſetzte ſich auf eine andere Seite und klopfte ihn da auf die Schulter, die beiden jungen Leute aber ſetzten ſich hinter den Tiſch, und das Frauenzimmer ſaß dahinten, und trank aus einem Kaͤnn - chen allein.
Nach dem Fruͤhſtuͤck ſetzte man ſich in den Nachen, und Stilling merkte, daß Niemand den fremden Herrn kannte. Dieſer drang Stilling, daß er ſeine Lebensgeſchichte erzaͤh - len moͤchte. Sobald ſie durch das Bingerloch gefahren wa - ren, fing er damit an, und erzaͤhlte alles, ohne das Mindeſte zu verſchweigen, ſogar ſein Verloͤbniß, und das Schickſal ſeiner jetzigen Reiſe ſagte er aufrichtig. Der Unbekannte ließ zuweilen helle Thraͤnen fallen, der Soldat deßgleichen, und Beide wuͤnſchten von Herzen zu vernehmen, ob und wie er ſeine Verlobte angetroffen habe. Beide waren nun vertraut mit ihm, und nun fing auch der Soldat an:
„ Ich bin aus dem Zweibruͤck’ſchen, und von geringen Eltern geboren, doch wurde ich fleißig zur Schule gehalten, um durch Wiſſenſchaft zu erſetzen, was mir an Erbſchaft man - gelte. Nachdem ich von der Schule kam, nahm mich ein ge - wiſſer Beamter zum Schreiben zu ſich. Ich war da einige Jahre: ſeine Tochter ward mir geneigt, und wir wurden gute Freunde, ſogar, daß wir uns feſt verlobten, und uns verban - den, nie zu heirathen, wenn man uns Etwas in den Weg legen wuͤrde. Meine Herrſchaft entdeckte dieſes bald, und nun wurde ich fortgejagt. Doch fand ich noch ein Stuͤndchen, mit meiner Verlobten allein zu reden, bei welcher Gelegenheit wir unſer Band noch feſter knuͤpften. Darauf ging ich nach Hol - land und ließ mich zum Soldaten annehmen; ich ſchrieb ſehr oft an meine Geliebte, bekam aber nie Antwort, denn man hatte alle Briefe aufgefangen. Ich wurde daruͤber ſo verzweifelt, daß ich oft den Tod ſuchte, doch hatte ich noch immer Abſcheu vor dem Selbſtmord.
„ Bald darauf wurde unſer Regiment nach Amerika ab - geſchickt; die Cannibalen hatten Krieg gegen die Hollaͤnder angefangen, ich mußte alſo mit. Wir kamen in Surinam an und meine Compagnie lag in einem ſehr abgelegenen Fort. 286Ich war noch immer bis auf den Tod betruͤbt, und wuͤnſchte nichts mehr, als daß mich doch endlich einmal eine Kugel treffen moͤchte, nur ſchauderte ich vor der Gefangenſchaft, denn wer will wohl gerne aufgefreſſen werden! Ich hielt deß - wegen beſtaͤndig bei unſerm Commandanten an: er moͤchte mir doch einige Mannſchaft mitgeben, um gegen die Canni - balen zu ſtreifen; dieſes geſchah, und da wir immer gluͤcklich waren, ſo machte er mich zum Sergeanten. “
„ Einsmals kommandirte ich fuͤnfzig Mann; wir durchſtrichen einen Wald, und kamen weit von unſerer Feſtung ab; wir hatten alle unſere Musqueten mit geſpannten Hahnen unter dem Arm. Indem fiel ein Schuß auf mich; die Kugel pfiff an meinem Ohr vorbei. Nach einer kleinen Pauſe geſchah das wieder. Ich ſchaute hin, und ſah einen Wilden wieder laden. Ich rief ihm zu halten, und richtete das Gewehr auf ihn. Er war nah bei uns: Er ſtand und wir fingen ihn. Dieſer Wilde verſtand Hollaͤndiſch. Wir zwangen ihn, daß er uns ihr Oberhaupt verrathen, und zu demſelben hinfuͤhren mußte. Es war nicht weit bis dahin. Wir fanden einen Trupp Wil - den, die in guter Ruhe lagen. Ich hatte das Gluͤck, ihr Ober - haupt ſelber zu fangen. Wir trieben ihrer ſo viel vor uns her, als wir ihrer erhalten konnten, Viele aber entwiſchten. “
„ Hierdurch hatte nun der Katzenkrieg ein Ende. Ich wurde Lieutenant zur See, und kam mit meinem Regiment wieder nach Holland. Nun reiste ich mit Urlaub nach Hauſe, und fand meine Braut noch ſo, wie ich ſie verlaſſen hatte. Da ich nun mit Geld und Ehre verſehen war, ſo fand ich keinen Widerſtand mehr, wir wurden getraut, und nun haben wir ſchon fuͤnf Kinder. “
Dieſe Geſchichte ergoͤtzte die Reiſegeſellſchaft. Nun haͤtten ſowohl der Lieutenant, als auch Stilling gern des Unbe - kannten naͤhere Umſtaͤnde gewußt, allein er laͤchelte und ſagte: Verſchonen Sie mich damit, meine Herren! ich darf nicht.
So verfloß dieſer Tag unter den angenehmſten Geſpraͤchen. Gegen Abend bekamen ſie Sturm, und fuhren deßwegen zu Leitersdorf, unterhalb Neuwied, ans Land, wo ſie uͤber Nacht blieben. Der liederliche Burſche, den ſie bei ſich hat -287 ten, war ein Strasburger, und ſeinen Eltern entlaufen. Die - ſer machte mit dem Paſſagier bald Freundſchaft. Stilling warnte letzten hoͤflich, beſonders ſeinen Wechſel nicht ſehen zu laſſen, allein das alles half nichts. Er hoͤrte hernach, daß der Knabe um all ſein Geld gekommen, und der Strasbur - ger ſich aus dem Staube gemacht hatte.
Des Abends, als man ſchlafen gehen wollte, fanden ſich nur drei Betten fuͤr fuͤnf Perſonen. Sie losten, welche zwei und zwei beiſammen ſchlafen ſollten, und da fielen die zwei Burſchen zuſammen, der Lieutenant auf eins allein, und der fremde Herr mit Stilling bekamen das beſte. Hier bemerkte nun Stilling die geheimen Koſtbarkeiten ſeines Schlafgeſel - len, die etwas ſehr Hohes anzeigten. Er konnte dieſe Art zu reiſen, mit einem ſo hohen Stand nicht zuſammen reimen, er begann bald Verdacht zu ſchoͤpfen; doch, als er merkte, daß der Fremde vertraut mit Gott war, ſo ſchaͤmte er ſich ſeines Verdachts und war ruhig. Sie ſchliefen unter aller - hand vertraulichen Geſpraͤchen ein, und des andern Morgens reisten ſie wieder ab, und kamen des Abends geſund und wohl zu Coͤlln an. Hier wurde der Fremde thaͤtig. Es gin - gen in aller Geheime vornehme Leute bei ihm ab und zu. Er beſorgte ſich ein paar Bediente, kaufte Koſtbarkeiten ein, und was dergleichen Umſtaͤnde mehr waren. Sie logirten Alle zuſammen im Geiſt. Ungeachtet nun Betten genug da - ſelbſt vorraͤthig waren, ſo wollte doch der Fremde wieder bei Stilling ſchlafen. Dieſes geſchah auch.
Des Morgens eilte Stilling fort. Er und der Fremde umarmten und kuͤßten ſich. Letzterer ſagte zu ihm: „ Ihre Geſellſchaft, mein Herr! hat mir außerordentliches Vergnuͤgen gemacht. Fahren Sie nur fort in Ihrem Lauf, ſo werden Sie’s in der Welt weit bringen, ich werde Ihrer nie vergeſ - ſen. “ Stilling aͤußerte noch einmal ſein Verlangen, zu wiſſen, mit wem er gereist habe. Der Fremde laͤchelte, und ſagte: „ Leſen Sie die Zeitung fleißig, wenn Sie nach Hauſe kommen, und wenn Sie den Namen *** finden werden, ſo denken Sie an mich. “
288Stilling reiste nun zu Fuß fort, er hatte noch acht Stunden bis Raſenheim. Unterwegens beſann er ſich auf den Namen des Fremden, er war ihm bekannt, und doch wußte er nicht, wo er mit ihm hin ſollte. Nach acht Tagen las er in der Lippſtaͤdtiſchen Zeitung folgenden Artikel:
Coͤlln, den 19. Mai.
„ Der Herr von *** Ambaſſadeur des **** Hofes zu **** iſt in groͤßter Geheim heute hier durch nach Holland gereist, um wichtige Angelegenheiten zu beſorgen. “
Des zweiten Pfingſttags alſo am Nachmittag kam Stil - ling zu Raſenheim an. Er wurde mit tauſend Freuden - thraͤnen empfangen. Chriſtine aber war ſich ihrer ſelbſt nicht bewußt, denn ſie redete irre, daher als Stilling zu ihr kam, ſtieß ſie ihn weg, denn ſie kannte ihn nicht. Er ging ein wenig auf ein anderes Zimmer, indeſſen erholte ſie ſich, und man brachte ihr bei, daß ihr Braͤutigam angekom - men ſey. Nun konnte ſie ſich nicht mehr halten. Man rief ihn; er kam. Hier ging nun die zaͤrtlichſte Bewillkommung vor, die man ſich nur denken kann, aber ſie kam Chriſti - nen theuer zu ſtehen; ſie gerieth in die heftigſten Convulſio - nen, ſo daß Stilling in aͤußerſter Traurigkeit, drei Tage und drei Naͤchte, an ihrem Bette ihren letzten Stoß abwartete. Doch gegen alles Vermuthen erholte ſie ſich wieder, und bin - nen vierzehn Tagen war ſie ziemlich beſſer, ſo daß ſie zu - weilen am Tage etwas aufſtand.
Nun wurde dieſe Verloͤbniß uͤberall bekannt. Die beſten Freunde riethen Friedenberg, Beide copuliren zu laſſen. Dieſes wurde bewilliget, und Stilling, nach vorhergegan - genen gewoͤhnlichen Formalitaͤten 1771, den 17. Junius am Bette mit ſeiner Chriſtine zum Eheſtande eingeſegnet.
In Schoͤnenthal wohnte ein vortrefflicher Arzt, ein Mann von großer Gelehrſamkeit und Wirkſamkeit, noch im - mer mehr und mehr die Natur zu ſtudiren, dabei war er ohne Neid, und hatte das beſte Herz von der Welt. Dieſer theure Mann hatte Stillings Geſchichte zum Theil von ſeinem Freunde, Herrn Trooſt, gehoͤrt. Stilling hatte ihn auch bei dieſer Gelegenheit verſchiedenemal beſucht, und289 ſich ſeine Freundſchaft und Unterricht ausgebeten. Dieſer hieß Dinkler, und bediente eine weitlaͤufige Praxis.
Herr Doktor Dinkler alſo und Herr Trooſt wohnten Stillings Kopulation bei: und bei dieſer Gelegenheit ſchlu - gen ſie ihm Beide vor, daß er ſich in Schoͤnenthal nie - derlaſſen moͤchte, beſonders weil eben juſt ein Arzt daſelbſt geſtorben war. Stilling wartete abermal auf einen naͤhern Wink von Gott, daher ſagte er: er wolle ſich darauf beden - ken. Allein die beiden Freunde, Herr Doktor Dinkler und Herr Trooſt, gaben ſich alle Muͤhe, eine Wohnung in Schoͤ - nenthal fuͤr ihn auszuſpaͤhen, und dieſe fanden ſie auch, noch ehe Stilling wieder verreiste; auch verſprach der Herr Doktor, ſeine Chriſtine waͤhrend ſeiner Abweſenheit oͤfters zu beſuchen und fuͤr ihre Geſundheit zu ſorgen.
Herr Friedenberg fand nun auch eine Quelle, fuͤr ihn Geld zu bekommen, und nachdem nun alles angeordnet war, ſo ruͤſtete ſich Stilling wieder zur Abreiſe nach Straß - burg. Des Abends vor dieſem traurigen Tage ging er auf die Kammer ſeiner Gattin. Er fand ſie da mit gefalteten Haͤnden auf den Knien liegen. Er trat zu ihr, und ſahe ſie an: ſie war aber ſtarr, wie ein Stuͤck Holz. Er fuͤhlte an ihrem Puls, der ging ganz ordentlich. Er hob ſie auf, redete ihr zu, und brachte ſie endlich wieder zurechte. Die ganze Nacht verging unter beſtaͤndigem Trauren und Kaͤmpfen.
Des andern Morgens blieb Chriſtine auf ihrem Ange - ſicht im Bette liegen. Sie faßte ihren Mann um den Hals, weinte und ſchluchzte beſtaͤndig. Er riß ſich endlich mit Ge - walt von ihr. Seine beiden Schwaͤger begleiteten ihn bis Coͤlln. Noch des andern Tages, ehe er ſich in den Poſtwa - gen ſetzte, kam ein Bote von Raſenheim, und brachte die Nachricht, daß ſich Chriſtine nun beruhigt habe.
Dieſes machte Stillingen Muth, er fuͤhlte nun eine große Erleichterung, und er zweifelte nicht, er wuͤrde ſeine getreue liebe Chriſtine geſund wieder finden. Er empfahl ſie und ſich in die Vaterhaͤnde Gottes, nahm Abſchied von ſeinen Bruͤdern, und fuhr fort.
Stillings ſämmtl. Schriften. I. Band. 19290Binnen ſieben Tagen kam er, ohne Gefahr, oder ſonſt et - was Merkwuͤrdiges erfahren zu haben, wieder geſund und wohlbehalten in Straßburg an. Sein erſter Gang war zu Goͤthe. Der Edle ſprang hoch in die Hoͤhe, als er ihn ſahe, fiel ihm um den Hals und kuͤßte ihn: Biſt du wieder da, guter Stilling! rief er, und was macht dein Maͤd - chen? Stilling antwortete: Sie iſt mein Maͤdchen nicht mehr, ſie iſt nun meine Frau. „ Das haſt du gut gemacht, “erwiederte Jener; „ du biſt ein excellenter Junge. “ Dieſen hal - ben Tag verbrachten ſie vollends in herzlichen Geſpraͤchen und Erzaͤhlungen.
Der bekannte ſanfte Lenz war auch nun daſelbſt angekom - men. Seine artigen Schriften haben ihn beruͤhmt gemacht. Goͤthe, Lenz, Leoſe und Stilling machten jetzt ſo einen Zirkel aus, indem es Jedem wohl ward, der nur empfinden kann, was ſchoͤn und gut iſt. Stillings Enthuſiasmus fuͤr die Religion hinderte ihn nicht, auch ſolche Maͤnner herz - lich zu lieben, die freier dachten als er, wenn ſie nur keine Spoͤtter waren.
Nun ſetzte er ſeine mediciniſchen Studien mit allem Eifer fort, und ließ nichts aus, was nur zum Weſen dieſer Wiſ - ſenſchaft gehoͤrt. Den folgenden Herbſt diſputirte Herr Goͤthe oͤffentlich, und reiste nach Hauſe. Er und Stilling mach - ten einen ewigen Bund der Freundſchaft zuſammen. Leoſe reiste auch ab nach Verſailles, Lenz aber blieb da.
Den folgenden Winter las Stilling, mit Erlaubniß des Herrn Profeſſors Spielmann, ein Collegium uͤber die Chemie, praͤparirte auf der Anatomie vollends durch, was ihm noch fehlte, repetirte noch ein und anders, und darauf ſchrieb er ſeine lateiniſche Probſchrift ſelbſten, ohne Jemandes Beiſtand. Dieſe dedicirte er auf ſpecielle hoͤchſte Erlaubniß, Ihro Chur - fuͤrſtl. Durchl, zu Pfalz, ſeinem gnaͤdigſten Landesfuͤrſten, ließ ſich examiniren, und ruͤſtete ſich zur Abreiſe.
Hier war nun abermal viel Geld noͤthig, er ſchrieb das nach Hauſe. Herr Friedenberg erſchrack daruͤber. Des Mittags uͤber Tiſch wollte er ſeine Kinder einmal probiren. Sie ſaßen da alle Groß und Klein. Der Vater fing an:291 Kinder! euer Schwager hat noch ſo viel Geld noͤthig, was duͤnkt euch, wolltet ihr ihm wohl das ſchicken, wenn ihr’s haͤttet? Sie antworteten alle einhellig: Ja! und wenn wir auch unſre Kleider ausziehen und verſetzen ſollten! “ Das ruͤhrte die Eltern bis zu Thraͤnen, und Stilling ſchwur ihnen ewige Liebe und Treue, ſobald ers hoͤrte. Mit Einem Wort, es kam ein Wechſel nach Straßburg, der hinlaͤng - lich war.
Nun diſputirte Stilling mit Ruhm und Ehre. Herr Spielmann war Dekanus. Als ihm der nach geendigter Diſputation die Licenz gab, ſo brach er in Lobſpruͤche aus und ſagte: daß er lange Niemand die Licenz freudiger gege - ben habe, als gegenwaͤrtigem Kandidaten: denn er habe mehr in ſo kurzer Zeit gethan, als viele Andere in fuͤnf bis ſechs Jahren u. ſ. w.
Stilling ſtand da auf dem Katheder; die Thraͤnen floſ - ſen ihm haͤufig uͤber die Wangen herunter. Nun war ſeine Seele lauter Dank gegen Den, der ihn aus dem Staube hervorgezogen und zu einem Beruf geholfen hatte, worin er, ſeinem Trieb gemaͤß, Gott zu Ehren und dem Naͤchſten zum Nutzen leben und ſterben konnte.
Den 24. Maͤrz 1772 nahm er von allen Freunden zu Straßburg Abſchied, und reiste fort. Zu Mannheim uͤberreichte er ſeinem Durchlauchtigſten Chur - und Landes-Fuͤrſten ſeine Probſchrift, deßgleichen auch allen de - nen Herren Miniſtern. Er wurde bei dieſer Gelegenheit Correſpon - dent der Churpfaͤlziſchen Geſellſchaft der Wiſſenſchaften, und darauf reiste er bis nach Coͤlln, wo ihn Herr Frieden - berg mit tauſend Freuden empfing; unterwegens begegneten ihm auch ſeine Schwaͤger zu Pferde und holten ihn ab. Den 5. April kam er, in Geſellſchaft gemeldter Freunde, zu Ra - ſenheim an. Seine Chriſtine war oben auf ihrem Zim - mer. Sie lag mit dem Angeſicht auf dem Tiſch, und weinte mit lauter Stimme. Stilling druͤckte ſie an ſeine Bruſt, herzte und kuͤßte ſie. Er fragte, warum ſie jetzt weine? „ Ach! antwortete ſie: ich weine, daß ich nicht Kraft genug habe, Gott fuͤr alle ſeine Guͤte zu danken. “ Du haſt Recht,292 mein Engel! verſetzte Stilling: aber unſer ganzes Leben in Zeit und Ewigkeit ſoll lauter Dank ſeyn. Freue dich nun, daß uns der Herr bis dahin geholfen hat!
Den 1. Mai zog er mit ſeiner Gattin nach Schoͤnenthal in ſein beſtimmtes Haus, und fing ſeinen Beruf an. Herr Doktor Dinkler und Herr Trooſt ſind daſelbſt die treuen Gefaͤhrten ſeines Ganges und Wandels.
Bei der erſten Doktorpromotion zu Straßburg empfing er durch einen Notarium den Doktorgrad, und dieſes war nun auch der Schluß ſeines akademiſchen Laufs. Seine Familie im Salen’ſchen Land hoͤrte das alles mit entzuͤckender Freude. Wilhelm Stilling aber ſchrieb im erſten Brief an ihn nach Schoͤnenthal:
„ Ich hab’ genug, daß mein Sohn Joſeph noch lebt, ich muß hin und ihn ſehen, ehe ich ſterbe! “
Den 1. Mai 1772 des Nachmittags wanderte Stilling mit ſeiner Chriſtine zu Fuß nach Schoͤnenthal und Herr Friedenberg begleitete ſie; die ganze Natur war ſtill, der Himmel heiter, die Sonne ſchien uͤber Berg und Thal, und ihre warmen Fruͤhlingsſtrahlen entfalteten Kraͤuter, Blaͤtter und Bluͤthen. Stilling freute ſich ſeines Lebens und ſeiner Schickſale, und er glaubte gewiß, jetzt wuͤrde ſein Wirkungs - kreis groß und weit umfaſſend werden. Chriſtine hoffte das Naͤmliche und Friedenberg ſchritt bald vorne, bald hinten langſam fort, rauchte ſeine Pfeife, und wie ihm etwas Wirthſchaftliches einfiel, ſo ſagte er’s kurz und buͤndig, denn er glaubte, ſolche Erfahrungsſaͤtze wuͤrden den neuangehenden Hausleuten nuͤtzlich ſeyn. Als ſie nun auf die Hoͤhe kamen, von welcher ſie Schoͤnenthal uͤberſehen konnten, ſo durch - ſchauerte Stillingen eine unbeſchreibliche Empfindung, die er ſich nicht erklaͤren konnte; es ward ihm innig wohl und weh, und er ſchwieg ſtill, betete, und ſtieg mit ſeiner Begleitung hinab.
Dieſe Stadt liegt in einem ſehr anmuthigen Thal, welches von Morgen gegen Abend in gerader Linie fortlaͤuft und von einem mittelmaͤßigen Fluͤßchen, der Wupper, durchſtroͤmt wird; den Sommer uͤberſieht man das ganze Thal zwei Stun - den hinauf, bis an die Maͤrkiſche Graͤnze mit leinen Garn, wie beſchneit, und das Gewuͤhl von thaͤtigen und ſich gluͤck - lich naͤhrenden Menſchen iſt unbeſchreiblich; Alles ſteht voller einzelner Haͤuſer, ein Garten, ein Baumhof ſtoͤßt an den an - dern, und ein Spaziergang durch dieſes Thal hinauf iſt para - dieſiſch. Stilling traͤumte ſich eine ſelige Zukunft, und unter dieſen Traͤumen ſchritt er in’s Getoͤſe der Stadt hinein.
20 *296Nach einigen Minuten fuͤhrte ihn ſein Schwiegervater in das Haus, welches ihm Dinkler und Trooſt zu ſeiner Wohnung beſtimmt und gemiethet hatten; es ſtand von der Hauptſtraße etwas zuruͤck, nahe an der Wupper und hatte einen kleinen Garten nebſt einer herrlichen Ausſicht in das ſuͤd - liche Gebirge. Die Magd war ein paar Tage vorausgegan - gen, hatte Alles gereinigt und den kleinen Vorrath von Haus - geraͤthe in Ordnung gebracht.
Als man nun Alles hinlaͤnglich beſehen und beurtheilt hatte, ſo nahm Friedenberg mit vielen heißen Gegenswuͤnſchen Abſchied und wanderte wieder nach Raſenheim zuruͤck. Jetzt ſtand nun das junge Ehepaar da, und ſah ſich mit naſſen Augen an — der geſammelte Hausrath war knapp zugeſchnit - ten, ſechs breterne Stuͤhle, Tiſch und ein Bett fuͤr ſie und eins fuͤr die Magd, ein paar Schuͤſſeln, ſechs fayancene Tel - ler, ein paar Toͤpfe zum Kochen u. ſ. w., und dann die hoͤchſtnoͤthige Leinwand, nebſt den unentbehrlichſten Kleidern war Alles, was man in dem großen Hauſe auftreiben konnte. Man vertheilte dieſes Geraͤthe hin und her, und doch ſah es uͤberall unbeſchreiblich leer aus. An den dritten Stock dachte man gar nicht, der war wuͤſte und blieb’s auch.
Und nun die Kaſſe? — dieſe beſtand in Allem aus fuͤnf Reichsthalern in baarer Muͤnze, und damit Punktum.
Wahrlich! wahrlich! es gehoͤrte viel Vertrauen auf Gottes Vaterſorge dazu, um die erſte Nacht ruhig ſchlafen zu koͤnnen, und doch ſchlief Stilling mit ſeinem Weibe recht wohl; denn ſie zweifelten Beide keinen Augenblick, Gott werde fuͤr ſie ſorgen. Indeſſen plagte ihn zu gewiſſen Zeiten ſeine Ver - nunft ſehr, er gab ihr aber kein Gehoͤr, und glaubte nur. Des andern Tages machte er ſeine Viſiten, Chriſtine aber gar keine, denn ihr Zweck war, ſo unbekannt und verborgen zu leben, als es nur immer der Wohlſtand erlauben wuͤrde. Jetzt fand nun Stilling einen großen Unterſchied im Be - tragen ſeiner kuͤnftigen Mitbuͤrger und Nachbarn: ſeine pieti - ſtiſchen Freunde, die ihn ehemals als einen Engel Gottes em - pfingen, ihn mit den waͤrmſten Kuͤſſen und Gegenswuͤnſchen umarmten, blieben jetzt von Ferne ſtehen, buͤckten ſich blos297 und waren kalt; das war aber auch kein Wunder, denn er trug nun eine Peruͤcke mit einem Haarbeutel, ehemals war ſie blos rund und nur ein wenig gepudert geweſen, dazu haͤtte er auch Hand - und Halskrauſen am Hemd, und war alſo ein vornehmer, weltfoͤrmiger Mann geworden. Hin und wieder verſuchte man’s, mit ihm auf den alten Schlag von der Re - ligion zu reden, dann aber erklaͤrte er ſich freundlich und ernſt - lich: er habe nun lange genug von Pflichten ge - ſchwatzt, jetzt wolle er ſchweigen und ſie aus - uͤben; und da er vollends keiner ihrer Verſammlungen mehr beiwohnte, ſo hielten ſie ihn fuͤr einen Abtruͤnnigen und zogen nun bei allen Gelegenheiten in einem liebloſen und bedauern - den Ton uͤber ihn los. Wie ſehr iſt dieſe Maxime dieſer ſonſt ſo guten und braven Leute zu bejammern! — ich geſtehe gerne, daß die rechtſchaffenſten Leute und beſten Chriſten unter ihnen ſind, aber ſie verderben alles Gute wieder durch ihren Hang zum Richten; wer nicht mit ihnen gerad Eines Sinnes iſt, mit ihnen von Religion taͤndelt und empfindelt, der gilt nichts, und wird fuͤr unwiedergeboren gehalten; ſie beden - ken nicht, daß das Maul-Chriſtenthum gar keinen Werth hat, ſondern daß man ſein Licht durch gute Handlungen muͤſſe leuchten laſſen. Mit Einem Wort: Stilling wurde von ſeinen alten Freunden nicht allein ganz verlaſſen, ſondern ſo - gar verlaͤumdet; und als Arzt brauchten ſie ihn faſt gar nicht. Die Menge der reichen Kaufleute empfingen ihn blos hoͤflich, als einen Mann, der kein Vermoͤgen hat, und dem man gleich auf den erſten Blick den tiefen Eindruck beibrin - gen muß: „ hab’ nur ja niemals das Herz, Geld, Huͤlfe und Unterſtuͤtzung von mir zu begehren; ich bezahle deine Muͤhe nach Verdienſt, und weiter nichts. “ Doch fand er auch viele edle Maͤnner, wahre Menſchenſeelen, deren Blick edle Ge - ſinnungen verrieth. “
Das alles machte Stilling doch das Herz ſchwer: bis dahin war er entweder an einen voͤllig beſorgten Tiſch gegan - gen, oder er hatte bezahlen koͤnnen; die Welt um ihn her hatte wenig Bezug auf ihn gehabt, und bei allen ſeinen Lei - den war ſein Wirkungskreis unbedeutend geweſen; aber jetzt298 ſah er ſich auf Einmal in eine große, glaͤnzende, kleinſtaͤdtiſche, geldhungrige Kaufmannswelt verſetzt, mit welcher er im ge - ringſten nicht harmonirte, wo man die Gelehrten nur nach dem Verhaͤltniß ihres Geldvorraths ſchaͤtzte, wo Empfindſam - keit, Lektuͤre und Gelehrſamkeit laͤcherlich war, und wo nur der Ehre genoß, der viel erwerben konnte. Er war alſo ein hoͤchſt kleines Lichtchen, bei dem ſich Niemand aufhalten, viel - weniger erwaͤrmen mochte. Stilling fing alſo an, Kummer zu ſpuͤren.
Indeſſen vergingen zwei, es vergingen drei Tage, ehe ſich Jemand fand, der ſeiner Huͤlfe bedurfte, und die fuͤnf Reichs - thaler ſchmolzen verzweifelt zuſammen. Den vierten Tag des Morgens aber kam eine Frau von Dornfeld, einem Flecken, der drei Viertelſtunden von Schoͤnenthal oſtwaͤrts liegt; ſo wie ſie zur Thuͤr hereintrat, fing ſie mit thraͤnenden Augen an: „ Ach, Herr Doktor! wir haben von Ihnen gehoͤrt, daß „ Sie ein ſehr geſchickter Mann ſind, und Etwas verſtehen, „ nun haben wir ein großes, großes Ungluͤck im Haus, und „ da haben wir alle Doktoren fern und nah gebraucht, aber „ Niemand — Keiner kann ihm helfen; nun komme ich zu „ Ihnen; ach, helfen Sie doch meinem armen Kinde! “
Lieber Gott! dachte Stilling bei ſich ſelbſt, am erſten Patienten, den ich bekomme, haben ſich alle erfahrne Aerzte zu Schanden kurirt, was werde ich Unerfahrner denn ausrich - ten? Er fragte indeſſen: Was fehlt denn eurem Kinde?
Die arme Frau erzaͤhlte mit vielen Thraͤnen die Geſchichte ihres Kranken, welche vornehmlich auf folgende Umſtaͤnde hin - auslief:
Der Knabe war eilf Jahr alt, und hatte vor etwa einem Vierteljahr die Roͤtheln gehabt; aus Unachtſamkeit ſeiner Waͤr - ter war er zu fruͤh in die kalte Luft gekommen, die Roͤthel - materie war zuruͤck in’s Hirn getreten, und hatte nun ganz ſonderbare Wirkungen hervorgebracht: ſeit ſechs Wochen lag der Kranke ganz ohne Empfindung und Bewußtſeyn im Bett, er regte kein Glied am ganzen Leib, außer den rechten Arm, welcher Tag und Nacht unaufhoͤrlich, wie der Perpendickel einer Uhr, hin und her fuhr; durch Einfloͤßung duͤnner Bruͤhen299 hatte man ihm bis daher das Leben erhalten, außerdem aber durch keine Anwendung irgend einer Arznei etwas ausrichten koͤnnen. Die Frau beſchloß ihre weitlaͤufige Erzaͤhlung mit dem Verdacht: Sollte das Kind auch wohl behext ſeyn?
Nein, antwortete Stilling, das Kind iſt nicht behext, ich will kommen und es beſehen. Die Frau weinte wieder und ſagte: „ Ach, Herr Doktor, thun Sie das doch! “und nun ging ſie fort.
Doktor Stilling wanderte mit großen Schritten in ſei - nem Zimmer auf und ab; lieber Gott! dachte er: wer kann da Anfang und Ende finden? — daß man alle moͤgliche Mit - tel gebraucht hat, daran iſt kein Zweifel, denn die Leute wa - ren wohlhabend, was bleibt mir Anfaͤnger alſo uͤbrig? In dieſen ſchwermuͤthigen Gedanken nahm er Hut und Stock und reiste nach Dornfeld. Auf dem ganzen Wege betete er zu Gott um Licht und Segen und Kraft; das Kind fand er ge - rade ſo, wie es ſeine Mutter beſchrieben hatte, die Augen wa - ren geſchloſſen, es holte ordentlich Athem und der rechte Arm fuhr im regelmaͤßigen Takt von der Bruſt gegen die rechte Seite immer hin und her; er ſetzte ſich hin, beſahe und be - trachtete, und fragte Alles aus, und bei dem Weggehen beor - derte er die Frau, ſie moͤchte in einer Stunde nach Schoͤ - nenthal zu ihm kommen, er wolle waͤhrend der Zeit uͤber den ſeltſamen Umſtand nachdenken, und dann Etwas verord - nen. Auf dem Wege nach Hauſe dachte er hin und her, was er dem Kinde wohl Nuͤtzliches verordnen koͤnnte; endlich fiel ihm ein, daß Herr Spielmann Dippels thieriſches Oel als ein Mittel gegen die Zuckungen geruͤhmt haͤtte; dieß Medikament war ihm deſto lieber, denn er glaubte ſicher, daß es keiner von den Aerzten bisher wuͤrde gebraucht haben, weil es außer Mode gekommen ſey; er blieb alſo dabei, und ſo - bald er nach Hauſe kam, verſchrieb er ein Saͤftchen, von wel - chem jenes Oel die Baſis war; die Frau kam und holte es ab. Kaum waren zwei Stunden verfloſſen, ſo kam ein Bote, welcher Stillingen ſchleunig zu ſeinem Patienten abrief. Er lief fort; ſo wie er zur Thuͤr hereintrat, ſah er300 den Knaben froh, munter und geſund im Bett ſitzen; und man erzaͤhlte ihm, das Kind habe kaum ein Zuckerloͤffelchen voll von dem Saͤftchen hinuntergeſchluckt, ſo habe es die Au - gen geoͤffnet, ſey erwacht, habe Eſſen gefordert, und der Arm ſey ruhig und gerade ſo geworden, wie der andere. Wie dem guten Stilling dabei zu Muthe war, das laͤßt ſich nicht beſchreiben; das Haus war voller Menſchen, die das Wunder ſehen wollten; Alle ſchauten ihn wie einen Engel Gottes mit Wohlgefallen an. Jeder ſegnete ihn, die Einen aber weinten Thraͤnen der Freude und wußten nicht, was ſie dem geſchick - ten Doktor thun ſollten. Stilling dankte Gott innig in ſeiner Seele, und ſeine Augen waren voll Thraͤnen der Wonne; indeſſen ſchaͤmte er ſich von Herzen des Lobs, das man ihm beilegte, und das er ſo wenig verdiente, denn die ganze Kur war weder Methode noch Ueberlegung, ſondern blo - ßer Zufall, oder vielmehr goͤttliche vaͤterliche Vorſehung.
Wenn er ſich den ganzen Vorfall dachte, ſo konnte er ſich kaum des lauten Lachens entwehren, daß man von ſeiner ſtu - penden Geſchicklichkeit redete, und er war ſich doch bewußt, wie wenig er gethan hatte, indeſſen hieß ihn die Klugheit ſchwei - gen und alles fuͤr bekannt annehmen, doch ohne ſich eitle Ehre anzumaßen; er verſchrieb alſo nun noch abfuͤhrende und ſtaͤr - kende Mittel und heilte das Kind vollends.
Ich kann hier dem Drang meines Herzens nicht wehren, jungen Aerzten eine Lehre und Warnung mitzutheilen, die aus vielen Erfahrungen abſtrahirt iſt, und die auch dem Pub - likum, welches ſich ſolchen unerfahrnen Maͤnnern anvertrauen muß, nuͤtzlich ſeyn kann: Wenn der Juͤngling auf die Uni - verſitaͤt kommt, ſo iſt gemeiniglich ſein erſter Gedanke, bald fertig zu werden: denn das Studiren koſtet Geld, und man will doch auch gern bald ſein eigenes Brod eſſen; die noͤthig - ſten Huͤlfswiſſenſchaften: Kenntniß der griechiſchen und latei - niſchen Sprache, Mathematik, Phyſik, Chemie und Naturge - ſchichte werden verſaͤumt, oder wenigſtens nicht gruͤndlich ge - nug ſtudirt; im Gegentheil verſchwendet man die Zeit mit ſub - tilen anatomiſchen Gruͤbeleien, hoͤrt dann die uͤbrigen Collegien handwerksmaͤßig, und eilt nun aus Krankenbett. Hier aber301 findet man Alles ganz anders, man weiß wenig oder nichts von dem geheimen Gang der Natur und ſoll doch Alles wiſ - ſen; der junge Arzt ſchaͤmt ſich, ſeine Unkunde zu geſtehen, er ſchwadronirt alſo ein Galimathias daher, wobei dem erfahr - nen Praktiker die Ohren gellen, ſetzt ſich hin, und verſchreibt etwas nach ſeiner Phantaſie; wenn er nun noch einigermaßen Gewiſſen hat, ſo waͤhlt er Mittel, die wenigſtens nicht ſcha - den koͤnnen; allein wie oft wird dadurch der wichtigſte Zeit - punkt verſaͤumt, wo man nuͤtzlich wirken koͤnnte? — und uͤber das Alles glaubt man manchmal etwas Unſchaͤdliches ver - ſchrieben zu haben und bedenkt nicht, daß man auch dadurch noch ſchaden koͤnne, weil man die Krankheit nicht kennt.
Durchaus ſollten alſo die Juͤnglinge nach vollſtaͤndig erlang - ten Kenntniſſen der Huͤlfswiſſenſchaften, die Wundarznei aus dem Grunde ſtudiren, denn dieſe enthaͤlt die zuverlaͤßigſten Er - kenntnißgruͤnde, aus welchen man nach der Analogie auf die innern Krankheiten ſchließen kann; dann muͤßten ſie mit dem Lehrer der praktiſchen Arzneikunde, der aber ſelbſt ein ſehr gu - ter Arzt ſeyn muß, am Krankenbett die Natur ſtudiren, und dann endlich, aber man merke wohl! unter der Leitung eines geſchickten Mannes, ihr hoͤchſt wichtiges Amt an - treten! — Gott! wo fehlt es mehr, als in der Einrichtung des Medicinalweſens, und in der dazu gehoͤrigen Polizey? —
Dieſe erſte Kur machte ein großes Geraͤuſch; nun kamen Blinde, Lahme, Kruͤppel und unheilbare Kranke von aller Art; allein Dippels Oel half nicht Allen, und fuͤr alle Schaͤden hatte Stilling noch kein ſolches Spezificum gefunden; der Zulauf ließ alſo wieder nach; doch kam er nun in eine ordent - liche Praxis, die ihm den nothwendigſten Unterhalt verſchaffte. Seine Kollegen fingen indeſſen an, uͤber ihn loszuziehen, denn ſie hielten die Kur fuͤr eine Quackſalberei und machten das Publikum ahnden, daß er ein wahrer Charlatan ſey und wer - den wuͤrde. Dieſes vorlaͤufige Geruͤcht kam nun auch nach Ruͤſſelſtein ans Medicinalkollegium, und brachte den Raͤthen in denſelben nachtheilige Ideen von ihm bei, er wurde dahin zum Examen gefordert, in welchem er ziemlich hergenommen wurde; doch beſtand er trotz allen Verſuchen der Schikane ſo,302 daß Niemand etwas ihm anhaben konnte; er bekam alſo das Patent eines privilegirten Arztes.
Gleich zu Anfang dieſes Sommers machte Stilling be - kannt, daß er den jungen Wundaͤrzten und Barbiergeſellen ein Collegium uͤber die Pyſiologie leſen wolle; dieſes kam zu Stande, die Herren Dinkler und Trooſt beſuchten dieſe Stunde ſelbſt fleißig, und von der Zeit an hat er ununterbrochen Collegia geleſen; wenn er oͤffentlich redete, dann war er in ſeinem Element, uͤber dem Sprechen entwickelten ſich ſeine Be - griffe ſo, daß er oft nicht Worte genug finden konnte, um Al - les auszudruͤcken: ſeine ganze Exiſtenz heiterte ſich auf und ward zu lauter Leben und Darſtellung. Ich ſage das nicht aus Ruhmſucht, das weiß Gott; Er hatte ihm das Talent gegeben, Stilling hatte Nichts dabei gethan, ſeine Freunde ahndeten oft, er wuͤrde dereinſt noch oͤffentlicher Lehrer werden. Dann ſeufzte er bei ſich ſelbſt, und wuͤnſchte, aber ſahe keinen Weg vor ſich, wie er dieſe Stufe wuͤrde erſteigen koͤnnen.
Kaum hatte Stilling etliche Wochen unter ſolchen Ge - ſchaͤften zugebracht, als auf einmal die ſchwere Hand des All - maͤchtigen wiederum die Ruthe zuckte und ſchrecklich auf ihn zuſchlug. Chriſtine fing an zu trauern und krank zu wer - den, nach und nach fanden ſich ihre fuͤrchterlichen Zufaͤlle in all’ ihrer Staͤrke wieder ein; ſie bekam langwierige, heftige Zuckungen, die manchmal Stunden lang dauerten und den ar - men ſchwaͤchlichen Koͤrper dergeſtalt zuſammenzogen, daß es erbaͤrmlich anzuſehen war; oft warfen ſie die Convulſionen aus dem Bett heraus, wobei ſie ſo ſchrie, daß mans etliche Haͤu - ſer weit in der Nachbarſchaft hoͤren konnte; dieſes waͤhrte et - liche Wochen fort, als ihre Umſtaͤnde zuſehends gefaͤhrlicher wurden. Stilling ſahe ſie fuͤr vollkommen hektiſch an, denn ſie hatte wirklich alle Symptomen der Lungenſucht; jetzt fing er an zu zagen und mit Gott zu ringen, alle ſeine Kraͤfte erlagen, und dieſe neue Gattung von Kummer, ein Weib zu verlieren, das er ſo zaͤrtlich liebte, ſchnitt ihm tiefe Wunden ins Herz; dazu kamen noch taͤglich neue Nahrungsſorgen: er hatte an einem ſolchen Handelsort keinen Kredit, zudem war Alles ſehr theuer und die Lebensart koſtbar; mit jedem Erwa -303 chen des Morgens fiel ihm die Frage wie ein Centner ſchwer auf’s Herz: wirſt du auch dieſen Tag dein Auskom - men finden? denn der Fall war ſehr ſelten, daß er zwei Tage Geldvorrath hatte, freilich ſtunden ihm ſeine Erfahrungen und Glaubensproben deutlich vor Augen, aber er ſah denn doch taͤglich noch froͤmmere Leute, die mit dem bitterſten Man - gel rangen, und kaum Brod genug hatten, den Hunger zu ſtil - len; was konnte ihn alſo anders troͤſten, als ein unbedingtes Hingeben an die Barmherzigkeit des himmliſchen Vaters, der ihn nicht wuͤrde uͤber Vermoͤgen verſucht werden laſſen?
Dazu kam noch ein Umſtand: er hatte den Grundſatz, daß jeder Chriſt, und beſonders der Arzt, ohne zu vernuͤnfteln, blos im Vertrauen auf Gott, wohlthaͤtig ſeyn muͤſſe: dadurch beg〈…〉〈…〉 g er nun den großen Fehler, daß er den geheimen Haus - armen oͤfters die Arzneimittel in der Apotheke auf ſeine Rech - nung machen ließ, und ſich daher in Schulden ſteckte, die ihm hernach manchen Kummer machten; auch kam es ihm nicht darauf an, bei ſolchen Gelegenheiten das Geld, welches er ein - genommen hatte, hinzugeben. Ich kann nicht ſagen, daß in ſolchen Faͤllen innerer Trieb zur Wohlthaͤtigkeit ſeine Handlun - gen leitete, nein! es war auch ein gewiſſer Leichtſinn und Nichtachtung des Geldes damit verbunden; welche Schwaͤche des Charakters Stilling damals noch nicht kannte, aber end - lich durch viele ſchwere Proben genugſam kennen lernte. Daß er aber auf dieſe Weiſe eine ſehr ausgebreitete Praxis bekam, iſt kein Wunder, er hatte immer uͤberfluͤſſig zu thun, aber ſeine Muͤhe trug wenig ein. Chriſtine haͤrmte ſich auch daruͤber ab, denn ſie war ſehr ſparſam, und er ſagte ihr nichts davon, wenn er irgend Jemand etwas gab, um keine Vorwuͤrfe zu hoͤren, denn er glaubte gewiß, Gott wuͤrde ihn auf andere Weiſe dafuͤr ſegnen. Sonſt waren Beide ſehr maͤßig in Nah - rung und Kleidung, ſie begnuͤgten ſich blos mit dem, was der aͤußerſte Wohlſtand erforderte.
Chriſtine wurde alſo immer ſchlimmer, und Stilling glaubte nun gewiß, er wuͤrde ſie verlieren muͤſſen. An einem Vormittag, als er am Bette ſaß und ihr aufwartete, fing ihr der Odem auf Einmal an ſtill zu ſtehen, ſie reckte die Arme304 gegen ihren Mann aus, ſah ihn mit durchbohrendem Blick an, und hauchte die Worte aus: Lebe wohl — Engel — Herr, erbarme dich meiner — ich ſterbe! Damit ſtarrte ſie hin, alle Zuͤge des Todes erſchienen in ihrem Geſicht, der Odem ſtand, ſie zuckte, und Stilling ſtand wie ein armer Suͤnder vor ſeinem Scharfrichter, er fiel endlich uͤber ſie her, kuͤßte ſie, und rief ihr Worte des Troſtes ins Ohr, allein ſie war ohne Bewußtſeyn; in dem Augenblick, als Stilling Huͤlfe rufen wollte, kam ſie wieder zu ſich ſelbſt; ſie war viel beſſer und merklich erleichtert. Stilling hatte bei Weitem noch nicht mediziniſche Erfahrung genug, um alle die Rollen zu kennen, welche das ſchreckliche hyſteriſche Uebel in ſo ſchwaͤchlichen und reizbaren Koͤrpern zu ſpielen pflegt; daher kam’s, daß er ſo oft in Angſt und Schrecken geſetzt wurde. Chriſtine ſtarb alſo nicht, aber ſie blieb noch gefaͤhrlich krank und die fuͤrchterlichen Paroxismen dauerten immer fort, ſein Leben war daher eine immerwaͤhrende Folter, und jeder Tag hatte neue Martern fuͤr ihn und ſeine Gattin in Bereitſchaft.
Gerade in dieſer ſchweren Pruͤfungszeit kam ein Bote von einem Ort, der fuͤnf Stunden von Schoͤnenthal entlegen war, um ihn zu einer reichen und vornehmen Perſon zu holen, welche an einer langwierigen Krankheit darnieder lag; ſo ſchwer es ihm auch ankam, ſeine eigene Frau in dieſem truͤbſeligen Zu - ſtand zu verlaſſen, ſo ſehr fuͤhlte er doch die Pflicht ſeines Amts, und da die Umſtaͤnde jener Patientin nicht gefaͤhrlich waren, ſchickte er den Boten wieder fort und verſprach den andern Tag zu kommen; er richtete alſo ſeine Sachen darnach ein, um einen Tag abweſend ſeyn zu koͤnnen. Des Abends um ſieben Uhr ſchickte er die Magd fort, um eine Flaſche Malaga zu holen, denn mit dieſem Wein konnte ſich Chriſtine er - quicken; wenn ſie nur einige Tropfen nahm, ſo fand ſie ſich geſtaͤrkt. Nun war aber Chriſtinens juͤngere Schweſter, ein Maͤdchen von 13 Jahren, gerade da, um die Kranke zu be - ſuchen, dieſe ging alſo mit der Magd fort, um den Wein zu holen. Stilling empfahl dem Maͤdchen ernſtlich, bald wie - der zu kommen, weil noch Verſchiedenes zu thun und auf ſeine morgende Reiſe zuzuruͤſten ſey; indeſſen geſchah es nicht: der305 ſchoͤne Sommerabend verfuͤhrte die ohnehin ſo leichtſinnige Magd, ſpazieren zu gehen, daher kamen ſie erſt um neun Uhr nach Hauſe. Stilling hatte alſo ſeiner Frau das Bett machen und allerhand Arbeiten ſelbſt verrichten muͤſſen. Beide waren daher mit Recht verdruͤßlich. So wie die Magd zur Thuͤr hineintrat, fing Stilling in einem ſanften aber ernſten Ton an, ihr Ermahnungen zu geben und ſie an ihre Pflich - ten zu erinnern; die Magd ſchwieg ſtill und ging mit der Jungfer Friedenberg die Treppe hinab in die Kuͤche. Nach einer kleinen Weile hoͤrten ſie Beide eine dumpfe, ſchreckliche und fuͤrchterliche Stimme, und zugleich das Huͤlferufen der Schweſter. Die ohnehin ſchauerliche Abenddaͤmmerung und dann der ſchreckliche Ton machten einen ſolchen Eindruck, daß Stilling ſelbſt eiskalt uͤber den ganzen Leib wurde, die Kranke aber ſchrie uͤberlaut fuͤr Schrecken. Stilling lief indeſſen die Treppe hinab, um zu ſehen, was vorging. Da fand er nun die Magd mit fliegenden Haaren am Waſchſtein ſtehen und wie eine Unſinnige jenen ſcheußlichen Ton von ſich geben, der Geifer floß ihr aus dem Mund und ſie ſahe aus wie eine Furie.
Nun uͤberlief Stillingen der Ingrimm, er griff die Magd am Arm, drehte ſie herum und ſagte ihr mit Nachdruck: Gro - ßer Gott, was macht ſie? — welcher Satan treibt ſie, mich in meinen traurigen Umſtaͤnden ſo zu martern — hat ſie denn kein menſchliches Gefuͤhl mehr? — Dieß war nun Oel ins Feuer gegoſſen, ſie kriſch konvulſiviſch, riß ſich los, fiel hin, und bekam die fallende Sucht auf die ſchrecklichſte Weiſe; in dem naͤmlichen Augenblick hoͤrte er auch Chriſtine die fuͤrch - terlichſten Toͤne ausſtoßen, er lief alſo die Treppe hinauf und fand in der Daͤmmerung ſeine Frau in der allerſchrecklichſten Lage, ſie hatte alles Bettwerk herausgeworfen, und wuͤhlte krampfigt unten im Stroh, alle Beſonnenheit war fort, ſie knirſchte, und die Kraͤmpfe zogen ihr den Kopf hinterwaͤrts bis an die Ferſen. Jetzt ſchlugen ihm die Wellen des Jam - mers uͤber dem Kopf zuſammen, er lief hinaus zu den naͤch - ſten Nachbarn und alten Freunden und rief mit lautem Weh - klagen um Huͤlfe; Maͤnner und Weiber kamen und ſuchten306 beide Leidende wieder zurecht zu bringen; mit der Magd ge - lang es am erſten, ſie kam wieder zu ſich ſelbſt, und wurde zu Bette gebracht, Chriſtine aber blieb noch ein paar Stun - den in dem betruͤbten Zuſtande, dann wurde ſie ſtill; nun machte man ihr das Bett und legte ſie hinein, ſie lag wie ein Schlafender, ganz ohne Bewußtſeyn und ohne ſich ermun - tern zu koͤnnen; daruͤber wurde es Tag, zwei Nachbarinnen blieben nebſt der Schweſter bei Chriſtinen, und Stilling ritt mit dem ſchwerſten Herzen von der Welt zu ſeiner Pa - tientin. Als er des Abends wieder kam, ſo fand er ſeine Frau noch in der naͤmlichen Betaͤubung, und erſt des andern Mor - gens kam ſie wieder zu ſich ſelbſt.
Jetzt jagte er die boshafte Magd fort und miethete eine andere. Nun verzog ſich auch das Gewitter fuͤr diesmal, Chriſtine wurde wieder geſund, und es fand ſich, daß alle dieſe ſchrecklichen Zufaͤlle Folge einer anfangenden Schwanger - ſchaft geweſen waren. Den folgenden Herbſt hatte ſie wieder mit einer eiternden Bruſt zu thun, welche abermals viele ſchwere Umſtaͤnde veranlaßte; außerdem war ſie waͤhrend der Zeit recht geſund und munter.
Stillings haͤusliches Leben hatte alſo in jeder Ruͤckſicht einen ſchweren, kummervollen Anfang genommen. In ſeiner ganzen Lage war gar nichts Angenehmes, als die Zaͤrtlichkeit, womit ihn Chriſtine behandelte; Beide liebten ſich von Her - zen und ihr Umgang mit einander war ein Muſter fuͤr Ehe - leute. Doch machte ihm auch die uͤberſchwengliche Liebe ſei - ner Frau zuweilen recht bittere Stunden, denn ſie artete oͤf - ters in Eiferſucht aus; indeſſen verlor ſich dieſe Schwachheit in den erſten paar Jahren ganz. Im Uebrigen aber war Stillings ganze Verfaſſung dem Zuſtand eines Wanderers aͤhnlich, der in der Nacht durch einen Wald voller Raͤuber und reißender Thiere reist, und ſie von Zeit zu Zeit nah um ſich her rauſchen und bruͤllen hoͤrt. Ihn quaͤlten immerwaͤh - rende Nahrungsſorgen, er hatte wenig Gluͤck in ſeinem Be - ruf, wenig Liebe bei dem Publikum, unter welchem er lebte,307 und alſo keinen troͤſtenden Umgang. Niemand floͤßte ihm Muth ein, denn die es gekonnt haͤtten, kannten ihn und er ſie nicht, und die ihn und ſeine Lage kannten und bemerkten, verach - teten ihn, oder er war ihnen gleichguͤltig. Kam er zuweilen nach Raſenheim, ſo durfte er nichts ſagen, um keine Sor - gen zu erwecken, denn Herr Friedenberg war nun fuͤr das Kapital, mit welchem er ſtudirt hatte, Buͤrge geworden; ſogar ſeiner Chriſtine mußte er ſeinen Kummer verbergen, denn ihr zaͤrtliches Gemuͤth haͤtte ihn nicht mit ihm tragen koͤnnen, er mußte ihr alſo noch Muth einſprechen, und ihr die beſte Hoffnung machen.
Mit Stillings Beruf und Krankenbedienung war es uͤber - haupt eine ſonderbare Sache; ſo lange er unbemerkt unter den Armen und unter dem gemeinen Volk wirkte, ſo lange that er vortreffliche Kuren, faſt Alles gelang ihm; ſobald er aber einen Vornehmen, auf den viele Augen gerichtet waren, zu bedienen bekam, ſo wollte es auf keinerlei Weiſe fort, daher blieb ſein Wirkungskreis immer auf Leute, die wenig bezahlen konnten, eingeſchraͤnkt. Doch laͤßt ſich dieſer ſeltſam ſcheinende Umſtand leicht begreifen: Seine ganze Seele war Syſtem, Alles ſollte ihm nach Regeln gehen, daher hatte er gar keine Anlage zu der feinen und erlaubten Charlatanerie, die dem praktiſchen Arzt, der Etwas verdienen und vor ſich bringen will, ſo noͤthig iſt; wenn er alſo einen Kranken ſah, ſo unter - ſuchte er ſeine Umſtaͤnde, machte alsdann einen Plan, und ver - fuhr nach demſelben. Gelang ihm ſein Plan nicht, ſo war er aus dem Feld geſchlagen; nun arbeitete er mit Verdruß und konnte ſich nicht mehr helfen. Bei gemeinen und robuſten Koͤr - pern, in welchen die Natur regelmaͤßiger und einfacher wirkt, gelang ihm ſeine Methode am leichteſten, aber da, wo Wohlle - ben, feinere Nerven, verwoͤhnte Empfindung und Einbildung mit im Spiel waren, und wo die Krankenbedienung aus hun - derterlei Arten von wichtig ſcheinender Geſchaͤftigkeit zuſammen - geſetzt ſeyn mußte, da war Stilling nicht zu Haus.
Dieß Alles floͤßte ihm allmaͤhlig einen tiefen Widerwillen gegen die Arzneikunde ein, und bloß der Gedanke: Gott habe ihn zum Arzt beſtimmt, und er werde ihn alſo nach und nach308 in ſeinem Berufe gluͤcklich machen, erhielt ſeine Seele aufrecht und in unermuͤdeter Thaͤtigkeit. Aus dieſem Grunde faßte er ſchon im erſten Sommer den rieſenmaͤßigen Entſchluß, ſo lange zu ſtudiren und nachzudenken, bis er’s in ſeinem Beruf zur mathe - matiſchen Gewißheit gebracht haͤtte; er kam auch bei dieſer muͤhſeligen Arbeit auf wichtige Spuren und er entdeckte viele neue philoſophiſche Wahrheiten; allein je weiter er forſchte, deſto mehr fand er, daß er immer ungluͤcklicher werden wuͤrde, je mehr Grund und Boden er in ſeinem Beruf faͤnde; denn er ſahe immer mehr ein, daß der Arzt ſehr wenig thun, alſo auch wenig verdienen koͤnne; daruͤber wurde ſeine Hoffnung geſchwaͤcht, die Zukunft vor ſeinen Augen dunkel, gerade wie ein Wanderer, den auf unbekannten gefaͤhrlichen Wegen ein duͤſterer Nebel uͤber - faͤllt, ſo daß er keine zehn Schritte vor ſich weg ſehen kann. Er warf ſich alſo blindlings in die Vaterarme Gottes, hoffte, wo nichts zu hoffen war, und pilgerte ſeinen Weg ſehr ſchwer - muͤthig fort.
Darf ich’s ſagen, Freunde! Leſer! daß Stilling bei dem allem ein gluͤckſeliger Mann war? — Was iſt denn Men - ſchenbeſtimmung anders, als Vervollkommnung der Exiſtenz, um Gluͤckſeligkeit um ſich her verbreiten zu koͤnnen? — Gott - und Chriſtusaͤhnlichkeit iſt das ſtrahlende Ziel, das wie Mor - genglanz dem Sterblichen von Jugend auf entgegen glaͤnzt; allein wo iſt der Knabe, der Juͤngling, der Mann, bei dem Religion und Vernunft ſo viel Uebergewicht uͤber die Sinn - lichkeit haben, daß er nicht ſein Leben hindurch im Genuß vertraͤumt, und ſeiner Beſtimmung jenes erhabenen Ziels ver - gißt? — deßwegen iſt es ein unſchaͤtzbares Gluͤck, wenn ein Menſch von Jugend auf zum voͤlligen Vertrauen auf Gott angewieſen und er dann auch von der Vorſehung in die Lage geſetzt wird, dieſes Vertrauen uͤben zu muͤſſen; dadurch wird ſeine Seele geſchmeidig, demuͤthig, gelaſſen, duldend, ohne Un - terlaß wirkſam; ſie kaͤmpft durch Leiden und Meiden, und uͤberwindet Alles; kein Feind kann ihr weſentlich ſchaden, denn er ſtreitet gegen ihn mit den Waffen der Liebe, dieſen aber widerſteht Niemand, ja ſogar die Gottheit kann durch Liebe uͤberwunden werden! Das war Stillings Fall. Der309 Weiſe muß ihn alſo gluͤcklich ſchaͤtzen, ob ſich gleich ſchwerlich Jemand in ſeine Lage wuͤnſchen wird.
Gegen den Herbſt des 1772ſten Jahres kamen die beiden vortrefflichen Bruͤder Vollkraft von Ruͤſſelſtein nach Schoͤnenthal; der aͤlteſte war Hofkammerrath und ein edler, rechtſchaffener, vortrefflicher Mann, dieſer hatte eine Kommiſſion daſelbſt, welche ihn etliche Wochen aufhielt; ſein Bruder, ein empfindſamer, zaͤrtlicher und bekannter Dichter, und zugleich ein Mann von der beſten, edelſten und rechtſchaffenſten Geſin - nung, begleitete ihn, um ihm an einem Ort, wo ſogar keine Seelennahrung fuͤr ihn war, Geſellſchaft zu leiſten. Herr Dok - tor Dinkler war mit dieſen beiden edlen Maͤnnern ſehr wohl bekannt; beim erſten Beſuch ſchilderte er ihnen Stillingen ſo vortheilhaft, daß ſie begierig wurden, ihn kennen zu lernen; Dinkler gab ihm einen Wink und er eilte, ſie zu beſuchen. Dieß geſchah zum Erſtenmal an einem Abend; der Hofkam - merrath ließ ſich in ein Geſpraͤch mit ihm ein, und wurde dergeſtalt von ihm eingenommen, daß er ihn kuͤßte und um - armte, und ihm ſeine ganze Liebe und Freundſchaft ſchenkte; eben das war auch der Fall mit dem andern Bruder. Beide verſtanden ihn, und er verſtand ſie, die Herzen floßen in ein - ander uͤber, es entſtanden Seelengeſpraͤche, die nicht Jeder verſteht.
Stillings Augen waren bei dieſer Gelegenheit immer vol - ler Thraͤnen, ſein tiefer Kummer machte ſich Luft, aber von ſeiner Lage entdeckte er nie Etwas, denn er wußte, wie demuͤ - thigend es ſey, gegen Freunde ſich huͤlfsbeduͤrftig zu erklaͤren; er trug alſo ſeine Buͤrde allein, welche aber doch dadurch ſehr erleichtert wurde, daß er nun einmal Menſchen fand, die ihn verſtanden und ſich ihm mittheilten. Dazu kam noch eins: Stilling war von geringem Herkommen, er war von Ju - gend auf gewohnt, obrigkeitliche Perſonen, oder auch reiche, vornehme Leute, als Weſen von einer hoͤhern Art anzuſehen, daher war er immer in ihrer Gegenwart ſchuͤchtern und zu - ruͤckhaltend; dieß wurde ihm dann fuͤr Dummheit, Unwiſſen - heit und Ankleben ſeines niedrigen Herkommens ausgelegt; mit Einem Wort, von Leuten von gewoͤhnlicher Art, die keine feineStillings ſämmtl. Schriften. I. Band. 21310Empfindungsorgane hatten, wurde er verachtet: die Gebruͤder Vollkraft aber waren von einem ganz andern Schlag, ſie behandelten ihn vertraulich, er thaute bei ihnen auf, und konnte ſich ſo zeigen, wie er war.
Friedrich Vollkraft (ſo hieß der Hofkammerrath) fragte ihn bei dem erſten Beſuch, ob er nicht Etwas geſchrieben habe? Stilling antwortete: Ja! denn er hatte ſeine Geſchichte in Vorleſungen ſtuͤckweiſe an die Geſellſchaft der ſchoͤnen Wiſſen - ſchaften in Straßburg, welche damals noch beſtand, ge - ſandt, und die Abſchrift davon zuruͤck behalten. Die beiden Bruͤder wuͤnſchten ſehr, ſie zu leſen; er brachte ſie alſo bei dem naͤchſten Beſuch mit, und las ſie ihnen vor; ſowohl der Styl als die Deklamation war ihnen ſo unerwartet, daß ſie laut ausriefen und ſagten: das iſt ſchoͤn — unvergleichlich! — Sie ermunterten ihn alſo zum Schreiben und bewogen ihn, einen Aufſatz in den deutſchen Merkur, der damals an - fing, zu liefern; er that das, und ſchrieb Aſe-Neitha, eine orientaliſche Erzaͤhlung, ſie ſteht im erſten Stuͤck des dritten, und im erſten Stuͤck des vierten Bandes dieſer perio - diſchen Schrift, und gefiel allgemein.
Vollkraft wurde durch dieſe Bekanntſchaft Stillings Stuͤtze, die ihm ſeinen ſchweren Gang ſehr erleichterte, er hatte nun in Ruͤſſelſtein, wenn er dahin reiste, eine Herberge und einen Freund, der ihm durch ſeinen Briefwechſel manchen erquickenden Sonnenſtrahl mittheilte. Indeſſen wurde er durch dieſe Verbindung bei ſeinen Mitbuͤrgern, und beſonders bei den Pietiſten, noch verhaßter, denn in Schoͤnenthal herrſcht all - gemein ein ſteifes Anhangen an’s Religionsſyſtem, und wer im Geringſten anders denkt, wie das bei den Gebruͤdern Voll - kraft der Fall war, der iſt Anathema Maranatha, ſo - gar, wenn ſich einer mit Schriftſtellerei abgibt, in ſo fern er ein Gedicht, das nicht geiſtlich iſt, oder einen Roman, er mag noch ſo moraliſch ſeyn, ſchreibt, ſo bekommt er ſchon in ihren Augen den Anſtrich des Freigeiſtes und wird verhaßt. Freilich denken nicht alle Schoͤnenthaler Einwohner ſo, davon wer - den im Verfolg noch Proben erſcheinen; doch aber iſt das die Geſinnung des großen Haufens, und er gibt doch den Ton an.
311In dieſer Lage lebte Doktor Stilling unter mancherlei Abwechslungen fort; am Ende des 1772ſten Jahres machte er ſeine Hausrechnung; er zog die Bilanz zwiſchen Einnahme und Ausgabe, oder vielmehr Einkommen und Aufwand, und fand nun zu ſeinem groͤßten Leidweſen, daß er uͤber zweihun - dert Thaler mehr Schulden hatte, und das ging ſo zu: in Schoͤnenthal herrſchte der Gebrauch, daß man das, was man in der Stadt verdient, auf Rechnung ſchreibt; da man alſo kein Geld einnimmt, ſo kann man auch keines ausgeben; daher holt man bei den Kraͤmern ſeine Nothdurft, und laͤßt ſie anſchreiben: am Schluß des Jahres macht man ſeine Rechnungen und theilt ſie aus, und ſo empfaͤngt man Rech - nungen und bezahlt ſie; nun hatte Stilling zwar ſo viel verdient, als er verzehrt hatte, allein ſeine Forderungen waren in ſo kleinen Theilchen zerſtreut, daß er ſie unmoͤglich alle eintreiben konnte; er blieb alſo ſtecken: die Kraͤmer wurden nicht bezahlt, und ſo ſank ſein Kredit noch mehr; daher war ſein Kummer unausſprechlich. Die taͤgliche baare Ausgabe beſtritt er mit den Einnahmen von auswaͤrtigen Patienten, dieſe waren aber ſo knapp zugeſchnitten, daß er blos die Nothdurft hatte, und oͤfters auf die aͤußerſte Probe geſetzt wurde, wo ihn aber doch die Vorſehung nie verließ, ſondern ihm, wie ehemals, ſichtbar und wunderbarer Weiſe heraus - half; unter hundert Beiſpielen eins:
In Schoͤnenthal werden lauter Steinkohlen in der Kuͤche und in den Stubenoͤfen gebraucht; alle dieſe Steinkohlen wer - den aus der benachbarten Grafſchaft Mark herzugefuͤhrt; Stilling hatte alſo ſeinen Fuhrmann, der ihm von Zeit zu Zeit eine Pferdsladung brachte, welche er aber immer auf der Stelle bezahlen mußte, denn mit dem Gelde mußte der Fuhr - mann einkaufen; dieß hatte ihm auch noch nie gefehlt; denn er war immer mit dem Noͤthigen verſehen geweſen; einsmals kam dieſer Fuhrmann an einem Nachmittag vor die Thuͤre gefahren, die Steinkohlen waren noͤthig und der Mann konnte uͤberhaupt nicht abgewieſen werden. Nun hatte Stilling keinen halben Gulden im Hauſe, und er fand auch keine Frei - heit in ſich, bei einem Nachbar zu lehnen. Chriſtine weinte,21 *312und er flehte in feurigen Seufzern zu Gott; nur ein paar Conventionsthaler waren noͤthig, aber dem, der ſie nicht hat, faͤllt die Zahlung ſo ſchwer, als einem, der Tauſende bezahlen ſoll, und keine Hundert hat. Indeſſen lud der Fuhrmann ſeine Kohlen ab, und als das geſchehen war, wuſch er ſeine Haͤnde, um ſein Geld zu empfangen; Stilling klopfte das Herz und ſeine Seele rang mit Gott. Auf Einmal trat ein Mann mit ſeiner Frau zur Thuͤre herein, die guten Leute waren von Dornfeld; Stilling hatte den Mann vor einigen Wochen von einer ſchweren Krankheit kurirt, und ſein Verdienſt bis folgendes Neujahr auf Rechnung geſchrieben. Nach den ge - woͤhnlichen Gruͤßen fing der Mann an: „ Ich hab’ das Geld empfangen und wie ich da vor der Thuͤr hergehe, ſo faͤllt mir ein, ich brauchte auch meine Rechnung juſt nicht bis Neujahr ſtehen zu laſſen, ſondern ich wolle ſie als vor der Hand be - zahlen. Sie koͤnnten’s brauchen. “— „ Auch gut! “verſetzte Stilling; er ging, holte das Buch, machte die Rechnung und empfing zehn Reichsthaler.
Dieſer Beiſpiele erfuhr Stilling ſehr viele, er wurde auch dadurch im Glauben ſehr geſtaͤrkt und zum Ausharren er - muntert.
Den 5. Januar 1773 gebar ihm Chriſtine eine Tochter, und obgleich Alles den gewoͤhnlichen Weg der Natur ging, ſo gab es doch wieder ſechs erſchreckliche Stunden, in welchen die Furie Hyſterik ihre Krallen recht gebrauchte: denn bei dem Eintritt der Milch in die Bruͤſte wurde die arme Frau wie ein Wurm hin und her geſchleudert; ſolche Zeiten waren auch immer durchdringende Laͤuterungsfeuer fuͤr Stilling.
Im folgenden Fruͤhjahr, als er an einem Sonnabend auf ein benachbartes Dorf ritt, welches anderthalb Stunden von Schoͤnenthal liegt, um Kranke zu beſuchen, und den gan - zen Tag Haͤuſer und Huͤtten durchkrochen hatte, ſo kam am Abend eine arme, junge, wohlgeſtaltete Frau uͤber die Straße hergeſtiegen, die war blind, und ließ ſich fuͤhren; nun hatte Stilling noch immer einen vorzuͤglichen Ruf in der Heilung der Augenkrankheit; er ſtand vor der Thuͤr des Wirthshauſes313 neben ſeinem Pferde, und wollte eben aufſteigen. Nun fing die arme Frau an:
„ Wo iſt der Herr Doktor? “
„ Hier! was will ſie, gute Frau? “
„ Ach, ſehen Sie mir doch einmal in die Augen, ich bin „ ſchon etliche Jahre blind, habe zwei Kinder, die ich noch „ nicht geſehen habe, mein Mann iſt ein Tagloͤhner, ſonſt half „ ich uns mit Spinnen ernaͤhren, nun kann ich das nicht mehr, „ und mein Mann iſt recht fleißig, aber er kann’s doch allein „ nicht zwingen, und da geht’s uns ſehr uͤbel; ach, ſehen Sie „ doch, ob Sie mir helfen koͤnnen! “
Stilling ſahe ihr in die Augen und ſagte: ſie hat den grauen Staar, ihr koͤnnte vielleicht geholfen werden, wenn ſich ein geſchickter Mann faͤnde, der ſie operirte.
„ Verſtehen Sie das denn nicht? Herr Doktor!
Ich verſtehe das wohl, aber ich hab’s noch nie an lebendi - gen Perſonen probirt.
„ O ſo probiren Sie es doch an mir! “
Nein, liebe Frau, das probire ich nicht, ich bin zu furcht - ſam dazu, es koͤnnte mißlingen, und dann muͤßte ſie immer blind bleiben, es waͤre ihr nicht mehr zu helfen.
„ Wenn ich es aber nun wagen will? — Sehen Sie, ich „ bin blind, und werde nicht blinder als ich bin, vielleicht ſegnet Sie unſer Herr Gott, daß es geraͤth, operiren Sie mich! “
Bei dieſen Worten uͤberlief ihn ein Schauer, Operationen waren ſeine Sache nicht, er ſchwang ſich alſo auf’s Pferd und ſagte: Großer Gott! laſſe ſie mich in Ruhe, ich kann — ich kann ſie nicht operiren.
‚ Herr Doktor! Sie muͤſſen; es iſt Ihre Schuldigkeit! Gott „ hat Sie dazu berufen, den Armen, Nothleidenden zu helfen, „ ſobald Sie koͤnnen; nun koͤnnen Sie aber den Staar operi - „ ren, ich will die Erſte ſeyn, will’s wagen, und ich verklage „ Sie am juͤngſten Gericht, wenn ſie mir nicht helfen! “
Das waren nun Dolche in Stillings Herz, er fuͤhlte, daß die Frau Recht hatte, und doch hatte er eine unuͤberwindliche Furcht und Abneigung gegen alle Operationen am menſchlichen314 Koͤrper, denn er war auf der einen Seite zu zaͤrtlich, zu em - pfindſam und auf der andern auch zu gewiſſenhaft, um das lebenslaͤngliche Gluͤck eines Menſchen ſo auf’s Spiel zu ſetzen. Er antwortete alſo kein Wort mehr und trabte fort, unter - wegs kaͤmpfte er mit ſich ſelbſt, allein das Reſultat blieb im - mer, nicht zu operiren. Indeſſen ließ es die arme Frau nicht dabei bewenden, ſie ging zu ihrem Prediger.
Warum ſoll ich ihn nicht nennen — den edlen Mann, den Auserwaͤhlten unter Tauſenden, den ſeligen Theodor Muͤl - ler? — er war der Vater, der Rathgeber aller ſeiner Ge - meindeglieder, der kluge, ſanfte, unausſprechlich thaͤtige Knecht Gottes, ohne Pietiſt zu ſeyn; kurz, er war ein Juͤnger Je - ſus im vollen Sinn des Worts. Sein Prinzipal forderte ihn fruͤh ab, gewiß, um ihn uͤber viel zu ſetzen. Lavater beſang ſeinen Tod, die Armen beweinten und die Reichen be - trauerten ihn. Heilig ſey mir dein Reſt, du Saam - korn am Tage der Wiederbringung!
Dieſem edlen Manne klagte die arme Blinde ihre Noth und ſie verklagte zugleich den Doktor Stilling; Muͤller ſchrieb ihm daher einen dringenden Brief, in welchem er ihm alle die gluͤcklichen Folgen vorſtellte, welche dieſe Operation nach ſich ziehen wuͤrde, im Fall ſie gelaͤnge; dagegen ſchilderte er ihm auch die unbetraͤchtlichen Folgen, im Fall des Mißlingens. Stil - ling lief in der Noth ſeines Herzens zu Dinkler und Trooſt, Beide riethen ihm ernſtlich zur Operation, und der Erſte ver - ſprach ſogar mitzugehen und ihm beizuſtehen; dieß machte ihm einigen Muth, und er entſchloß ſich mit Zittern und Zagen dazu.
Zu dem allen kam noch ein Umſtand: Stilling hatte die Ausziehung des grauen Staars bei Lobſtein in Straßburg vorzuͤglich gelernt, ſich auch bei Boguer die Inſtrumente machen laſſen, denn damals war er Willens, dieſe vortreffliche und wohlthaͤtige Heilung noch mit ſeinen uͤbrigen Augenkuren zu ver - binden; als er aber ſelbſt praktiſcher Arzt wurde, und all’ das Elend einſehen lernte, welches auf mißlungene Krankenbedie - nung folgte, ſo wurde er aͤußerſt zaghaft, er durfte nichts wa - gen, daher verging ihm alle Luſt, den Staar zu operiren, und das alles war auch eine Haupturſache mit, warum er nicht ſo315 viel ausrichten konnte, wenigſtens nicht ſo viel auszurichten ſchien, als andere ſeiner Collegen, die Alles unternahmen, fort - wirkten, auch manchmal erbaͤrmlich auf die Naſe fielen, ſich aber doch wieder aufrafften, und bei alle dem weiter kamen, wie er.
Stilling ſchrieb alſo an Muͤllern, daß er den und den Tag mit Herrn Doktor Dinkler kommen wuͤrde, um die Frau zu operiren; Beide machten ſich demnach des Morgens auf den Weg und wanderten nach dem Dorfe hin; Dinkler ſprach Stillingen allen Muth ein, aber es half wenig. Sie ka - men endlich im Dorfe an, und gingen in Muͤllers Haus, aber dieſer ſprach ihm Troſt zu, und nun wurde die Frau nebſt dem Wundarzt geholt, der ihr den Kopf halten mußte. Als nun alles bereit war und die Frau ſaß, ſetzte ſich Stilling vor ihr; mit Zittern nahm er das Staarmeſſer und druͤckte es am gehoͤrigen Ort ins Auge; als aber die Patientin dabei, wie na - tuͤrlich iſt, etwas mit dem Odem zuckte, ſo zuckte Stilling auch das Meſſer wieder heraus, daher floß die waͤſſerichte Feuch - tigkeit durch die Wunde die Wange herunter, und das vordere Auge fiel zuſammen. Stilling nahm alſo die krumme Scheere und brachte ſie mit dem einen Schenkel gluͤcklich in die Wunde und nun ſchnitt er ordentlich unten herum, den halben Zirkel, wie gewoͤhnlich; als er aber recht zuſah, ſo fand er, daß er den Stern oder die Regenbogenhaut mit zerſchnitten hatte; er erſchrack, aber was war zu thun? — er ſchwieg ſtill und ſeufzte. In dem Augenblick fiel die Staarlinſe durch die Wunde uͤber den Backen herunter und die Frau rief in hoͤchſter Ent - zuͤckung der Freude: „ O Herr Doktor, ich ſehe Ihr Geſicht, ich ſehe Ihnen das Schwarze in den Augen. “ Alles jubelte! Stilling verband nun das Auge, und heilte ſie gluͤcklich, ſie ſahe mit dem Auge vortrefflich; einige Wochen nachher operirte er auch das andere Auge mit der linken Hand, jetzt gings ordent - lich, denn nun hatte er mehr Muth, er heilte auch dieſes, und ſo wurde die Frau wieder vollkommen ſehend. Dieſes gab nun einen Ruf, ſo daß mehrere Blinde kamen, die er alle der Reihe nach gluͤcklich operirte; nur ſelten mißlang ihm einer. Bei allem dem war das doch ſonderbar! dieſe wichtigen Kuren tru -316 gen ihm ſelten Etwas ein, die Mehrſten waren arm, denn dieſe operirte er umſonſt, und nur ſelten kam Jemand, der Et - was bezahlen konnte, ſeine Umſtaͤnde wurden alſo wenig ge - beſſert. Sogar nahmen Viele dadurch Anlaß, ihn mit Opera - teurs und Quackſalbern in Eine Klaſſe zu ſetzen. Gebt nur Acht! ſagten ſie, bald wird er anfangen, von Stadt zu Stadt zu ziehen und einen Orden anzuhaͤngen!
Im folgenden Herbſt im September kam die Frau eines der vornehmſten und reichſten und zugleich ſehr braven Kaufman - nes, oder vielmehr Kapitaliſten in Schoͤnenthal zum erſten - mal ins Kindbett; die Geburt war ſehr ſchwer, die arme Krei - ſende hatte ſchon zweimal vier und zwanzig Stunden in den Wehen gelegen und ſich abgearbeitet, ohne daß ſich noch die geringſte Hoffnung zur Entbindung zeigte. Herr Doktor Dink - ler, als Hausarzt, ſchlug Stillingen zur Huͤlfe vor, er wurde alſo auch gerufen; dieß war des Abends um 6 Uhr. Nachdem er die Sache gehoͤrig unterſucht hatte, ſo fand er, daß das Angeſicht des Kindes oberwaͤrts gerichtet, und daß der Kopf gegen den Durchmeſſer des Beckens ſo groß war, daß er ſich nicht einmal die Zange anzulegen traute; er ſahe alſo keinen andern Weg, als auf der Fontenelle den Kopf zu oͤffnen, dann ihn zuſammen zu druͤcken und es ſo herauszu - ziehen; denn an den Kaiſerſchnitt war nicht zu denken, beſon - ders da die gegruͤndete Vermuthung da war, das Kind ſey ſchon todt. Um ſich davon noch gewiſſer zu uͤberzeugen, war - tete er bis den Abend um neun Uhr, jetzt fand er den Kopf welk und zuſammengefallen, er fuͤhlte auch keine Spuren des Pulſes mehr auf der Fontenelle, er folgte alſo ſeinem Vor - ſatz, oͤffnete den Kopf, preßte ihn zuſammen, und bei der er - ſten Wehe wurde das Kind geboren. Alles ging hernach gut von ſtatten, die Frau Kindbetterin wurde bald wieder voll - kommen geſund. Was dergleichen Arbeiten den empfindſamen Stilling fuͤr Herzensangſt, Thraͤnen, Muͤhe und Mitleiden koſteten, das laͤßt ſich nicht beſchreiben, allein er fuͤhlte ſeine Pflicht, er mußte fort, wenn er gerufen wurde; er erſchrack daher, daß ihm das Herz pochte, wenn man des Nachts an ſeine Thuͤr klopfte, und dieſes hat ſich ſo feſt in ſeine Ner -317 ven verwebt, daß er noch auf die heutige Stunde zuſammen - faͤhrt, wenn des Nachts an ſeine Thuͤre geklopfet wird, ob er gleich gewiß weiß, daß man ihn nicht mehr zu Kindbet - terinnen ruft.
Dieſer Vorfall erweckte ihm zum Erſtenmal bei allen Schoͤ - nenthalern Hochachtung, jetzt ſahe er freundliche Geſichter in Menge, aber es waͤhrte nicht lange, denn etwa drei Wo - chen hernach kam ein Reſcript vom Medizinal-Collegium zu Ruͤſſelſtein, in welchem ihm befohlen wurde, ſich vor der Hand aller Geburtshuͤlfe zu enthalten und ſich vor dem Kolle - gium zum Examen in dieſem Fach zu melden. Stilling ſtand wie vom Donner geruͤhrt, er begriff von dem allem kein Wort, bis er endlich erfuhr, daß Jemand ſeine Geburts - huͤlfe bei obiger Kindbetterin in einem ſehr nachtheiligen Lichte berichtet habe.
Er machte ſich alſo auf den Weg nach Ruͤſſelſtein, wo er bei ſeinem Freund Vollkraft, ſeinem edlen Weibe, die Wenige ihres Gleichen hatte, und bei ſeinen vortrefflichen Geſchwiſtern einkehrte; dieſe Erquickung war ihm bei ſeinen traurigen Umſtaͤnden auch noͤthig. Nun verfuͤgte er ſich zu einem von den Medizinalraͤthen, der ihn ſehr hoͤhniſch mit den Worten empfing: Ich hoͤre, Sie ſtechen auch den Leuten die Augen aus? Nein, antwortete Stilling, aber ich habe verſchiedene gluͤcklich am Staar operirt.
Das iſt nicht wahr, ſagte der Rath trotzig; Sie luͤgen das! Nein, verſetzte Stilling, mit Feuer und Gluth in den Augen, ich luͤge nicht, ich kann Zeugen auftreten laſſen, die das unwiderſprechlich beweiſen; uͤberdieß kenne ich den Re - ſpekt, den ich Ihnen als einem meiner Vorgeſetzten ſchuldig bin, ſonſt wuͤrde ich Ihnen in dem naͤmlichen Ton antwor - ten. Eine graduirte Perſon, die allenthalben ihre Pflicht zu erfuͤllen ſucht, verdient auch von ihrer Obrigkeit Achtung. Der Medizinalrath lachte ihm unter die Augen und ſagte: heißt das ſeine Pflichten erfuͤllen, wenn man Kinder umbringt!
Jetzt ward es Stillingen dunkel vor den Augen, er wurde blaß, trat naͤher und verſetzte: Herr! — ſagen Sie das nicht noch einmal — damit aber fuͤhlte er ſeine ganze318 Lage und ſeine Abhaͤngigkeit von dieſem ſchrecklichen Manne, er ſank alſo zuruͤck[auf] einen Stuhl, und weinte wie ein Kind; dies diente nun zu weiter nichts, als daß er deſto mehr ge - hoͤhnt wurde; er ſtand alſo auf und ging fort. Damit man nun im Vollkraft’ſchen Hauſe ſeinen Kummer nicht zu ſehr merken moͤchte, ſo ſpazirte er eine Weile auf dem Wall herum, dann ging er ins Haus, und ſchien munterer, als er war. Die Urſache, warum er Herrn Vollkraft nicht Alles ſagte und klagte, lag in ſeiner Natur; denn ſo offenherzig er in allen Gluͤcksfaͤllen war, ſo ſehr verſchwieg er Alles, was er zu leiden hatte. Der Grund dazu war ein hoher Grad von Selbſtliebe und Schonung ſeiner Freunde. Gewiſſen Leu - ten aber, die von dergleichen Fuͤhrungen Erfahrung hatten, konnte er Alles ſagen — Alles entdecken; dieſe Erſcheinung aber hatte noch einen tiefern Grund, den er erſt lange nach - her bemerkt hat: vernuͤnftige, ſcharfſichtige Leute konnten nicht ſo gerade Alles, wie er, fuͤr goͤttliche Fuͤhrung halten; daran zweifelte Niemand, daß ihn die Vorſehung beſonders und zu großen Zwecken fuͤhre; ob aber nicht auch bei ſeiner Heirath, bei allerhand Schickſalen und Beſtimmungen viel Menſchliches mit untergelaufen ſey? das war eine andere Frage, die jeder philoſophiſche Kopf mit einem lauten Ja beantwortete; das konnte nun Stilling damals durchaus nicht ertragen, er glaubte es beſſer zu wiſſen, und eigentlich darum ſchwieg er. Der Verfolg dieſer Geſchichte wird’s zeigen, in wie fern jene Leute Recht oder Unrecht hatten. Doch ich lenke wieder ein auf meinem Wege.
Das Medizinal-Kollegium ſetzte nun die Termine zum Exa - men in der Geburtshuͤlfe und zur Entſcheidung wegen der Ent - bindung jener Schoͤnenthaler Frau an. Im Examen wur - den ihm die verfaͤnglichſten Fragen vorgelegt, er beſtand aber dem allen ungeachtet wohl; nun wurde auch die Maſchine mit der Puppe gebracht, dieſe ſollte er nun herausziehen, aber ſie wurde hinter der Gardine feſtgehalten, ſo, daß es unmoͤglich war, ſie zu bekommen; Stilling ſagte das laut, aber er wurde ausgelacht, und ſo beſtand er nicht im Examen. Es wurde alſo dekredirt: er ſey zwar in der Theorie ziem -319 lich, aber in der Praxis gar nicht beſtanden, es wurde ihm alſo nur in den hoͤchſten Nothfaͤllen geſtattet, den Gebaͤrenden Huͤlfe zu leiſten.
Bei allen dieſen verdruͤßlichen Vorfaͤllen mußte doch Stil - ling laut lachen, als er das las, und das ganze Publikum lachte mit: man verbot einem fuͤr ungeſchickt erklaͤrten Manne die Geburtshuͤlfe; nahm aber doch die allergefaͤhrlichſten Faͤlle davon aus, in dieſen erlaubte man dem Ungeſchickten den Beiſtand. In Anſehung des Entbindungsfalls aber erklaͤrte man Stillingen fuͤr den Urſacher des Todes des Kindes, doch verſchonte man ihn mit der Beſtrafung. Viel Gnade fuͤr den armen Doktor — ungeſtraft morden zu duͤrfen!
Indeſſen kraͤnkte ihn doch dieſes Dekret tief in der Seele, und er ritt alſo noch denſelben Nachmittag fort nach Duis - burg, um den ganzen Vorfall der mediziniſchen Fakultaͤt, welcher damals der verehrungswuͤrdige Leidefroſt als Deka - nus vorſtand, vorzulegen. Hier wurde er fuͤr vollkommen un - ſchuldig erklaͤrt, und er erhielt ein Reſponſum, das ſeine Ehre gaͤnzlich wieder herſtellte; dieſes Reſponſum publicirte der Mann der entbundenen Frau auf dem Schoͤnenthaler Rathhauſe ſelbſt. Indeſſen fiel doch der Werth dieſer Kur durch den ganzen Hergang um Vieles, und Stillings Feinde nahmen daher Anlaß, wieder recht zu laͤſtern.
Stillings gluͤckliche Staarkuren hatten indeſſen viel Auf - ſehen verurſacht, und ein gewiſſer Freund ließ ſogar in der Frank - furter Zeitung eine Nachricht davon einruͤcken. Nun war aber auf der Univerſitaͤt zu Marburg ein ſehr rechtſchaffener und geſchickter Lehrer der Rechtsgelehrſamkeit, der Herr Profeſſor Sorber, welcher ſchon drei Jahre am grauen Staar blind war, dieſem wurde die Zeitungsnachricht vorgeleſen; in dem Augenblick empfand er den Trieb bei ſich, die weite Reiſe nach Schoͤnenthal zu machen, um ſich von Stilling operiren und kuriren zu laſſen. Er kam alſo im Jahre 1774 am Ende des Aprils mit ſeiner Eheliebſten und zweien Toͤchtern an, und Stilling operirte ihn im Anfang des Mais gluͤcklich; auch ging die Kur dergeſtalt von ſtatten, daß der Patient ſein Geſicht vollkommen wieder bekam und noch bis heute ſeinem Lehramt320 ruͤhmlich vorſtehet. Waͤhrend der Zeit kam Chriſtine zum zweitenmal ins Kindbett und ſie gebar einen Sohn; außer den ſchrecklichen Zufaͤllen bei dem Milchfieber ging alles gluͤcklich von ſtatten.
Nun lag Stillingen noch eines am Herzen: er wuͤnſchte ſeinen Vater nach ſo langer Zeit einmal wieder zu ſehen; als Doktor hatte er ihn noch nicht geſprochen und ſeine Gattin kannte ihn noch gar nicht. Nun lud er den wuͤrdigen Mann zwar oͤfters ein, Wilhelm hatte auch oft verſprochen zu kom - men, allein es verſchob ſich immer, und ſo wurde nichts daraus. Jetzt aber verſuchte Stilling das Aeußerſte: er ſchrieb naͤm - lich, daß er ihm an einem beſtimmten Tage den halben Weg bis Meinerzhagen entgegen reiten und ihn dort abholen wolle. Dieß that Wirkung; Wilhelm Stilling machte ſich alſo zu rechter Zeit auf den Weg, und ſo trafen ſie Beide in dem beſtimmten Gaſthauſe zu Meinerzhagen an, ſie wankten ſich zur Umarmung entgegen, und die Gefuͤhle laſſen ſich nicht ausſprechen, welche Beiden das Herz beſtuͤrmten. Mit einzelnen Toͤnen gab Wilhelm ſeine Freude, daß ſein und Dortchens Sohn nun das Ziel ſeiner Beſtimmung er - reicht habe, zu erkennen; er weinte und lachte wechſelsweiſe, und ſein Sohn huͤtete ſich wohl, nur das Geringſte von ſeinen ſchweren Leiden, ſeinen zweifelhaften Gluͤcksumſtaͤnden und den Schwierigkeiten in ſeinem Beruf zu entdecken; denn dadurch wuͤrde er ſeinem Vater die ganze Freude verdorben haben. In - deſſen fuͤhlte er ſeinen Kummer um deſto ſtaͤrker, es kraͤnkte ihn, nicht ſo gluͤcklich zu ſeyn, als ihn ſein Vater ſchaͤtzte, und er zweifelte auch, daß ers je werden wuͤrde; denn er hielt ſich immer fuͤr einen Mann, der von Gott zur Arzneikunde be - ſtimmt ſey, mithin bei dieſem Beruf bleiben muͤſſe, ungeach - tet er anfing, Mißvergnuͤgen daran zu haben, weil er auf einer Seite ſo wenig Grund und Boden in dieſer Wiſſenſchaft fand, und dann, weil ſie ihn, wenn er als ein ehrlicher Mann zu Werk gehen wollte, nicht naͤhrte, geſchweige das Gluͤck ſeiner Familie gruͤndete.
Des andern Morgens ſetzte er ſeinen Vater aufs Pferd, er machte den Fußgaͤnger neben her auf dem Pfade, und ſo321 wallfahrteten ſie an dieſem Tage, unter den erquickendſten Geſpraͤchen neun Stunden weit bis Raſenheim, wo er ſeinen Vater ſeiner Chriſtinen geſammten Familie vor - ſtellte. Wilhelm wurde ſo empfangen, wie ers verdiente, er ſchuͤttelte jedem die Hand, und ſein redliches, charakteriſti - ſches Stillingsgeſicht erweckte allenthalben Ehrfurcht. Jetzt ließ der Doktor ſeinen Vater zu Fuß vorauswandern, einer ſeiner Schwaͤger begleitete ihn, er aber blieb noch ei - nige Minuten, um ſeinen Empfindungen im Schooß der Friedenbergiſchen Familie freien Lauf zu laſſen, er weinte laut, lobte Got und eilte nun ſeinem Vater nach. Noch nie hatte er den Weg von Raſenheim nach Schoͤ - nenthal mit ſolcher Herzenswonne gegangen, wie jetzt, und Wilhelm war ebenfalls in ſeinem Gott vergnuͤgt.
Beim Eintritt ins Haus flog Chriſtine dem ehrlichen Mann die Treppe herab entgegen, und fiel ihm mit Thraͤnen um den Hals; ſolche Auftritte muß man ſehen und die ge - hoͤrigen Empfindungs-Organe haben, um ſie in aller ihrer Staͤrke fuͤhlen zu koͤnnen.
Wilhelm blieb acht Tage bei ſeinen Kindern, und Stil - ling begleitete ihn wieder bis Meinerzhagen, von wannen dann Jeder in Frieden ſeinen Weg zog.
Einige Wochen nachher wurde Stilling einsmals des Morgens fruͤh in einen Gaſthof gerufen, man ſagte ihm, es ſey ein fremder Patient da, der ihn gerne ſprechen moͤchte; er zog ſich alſo an und ging hin; man fuͤhrte ihn ins Schlaf - zimmer des Fremden. Hier fand er nun den Kranken mit einem dicken Tuch um den Hals, und den Kopf in Tuͤcher verhuͤllt; der Fremde ſtreckte die Hand aus dem Bette, und ſagte mit ſchwacher und dumpfer Stimme: Herr Doktor! fuͤhlen Sie mir einmal den Puls, ich bin gar krank und ſchwach; Stilling fuͤhlte und fand den Puls ſehr regelmaͤ - ßig und geſund; er erklaͤrte ſich alſo auch ſo und erwiederte: ich finde gar nichts Krankes, der Puls geht ordentlich; ſo wie er das ſagte, hing ihm Goͤthe am Hals. Stillings Freude war unbeſchreiblich; er fuͤhrte ihn alſo in ſein Haus, auch Chriſtine war froh, dieſen Freund zu ſehen, und ruͤ -322 ſtete ſich zum Mittags-Eſſen. Nun fuͤhrte er Goͤthe hin - aus auf einen Huͤgel, um ihm die ſchoͤne Ausſicht uͤber die Stadt und das Thal hinauf zu zeigen.
Gerade zu dieſer Zeit waren die Gebruͤder Vollkraft wieder auf Kommiſſion da: ſie hatten einen Freund bei ſich, der ſich durch ſchoͤne Schriften ſehr beruͤhmt gemacht hat, den aber Stilling wegen ſeiner ſatyriſchen und juvenaliſchen Geißel nicht leiden mochte; er beſuchte alſo jetzt ſeine Freunde wenig, denn Juvenal (ſo will ich den Mann einſtweilen nennen) neckte ihn immer wegen ſeiner Anhaͤnglichkeit an die Religion. Waͤhrend der Zeit, daß Stilling mit Goͤthe ſpazieren ging, kam Herr Hofkammerrath Vollkraft zu Pferde an Stillings Thuͤr geſprengt, und rief der Magd zu, ſie ſollte ihrem Herrn ſagen, er ſey ploͤtzlich nach Ruͤſſelſtein abgereist, weil Goͤthe dort waͤre; Chriſtine war gerade nicht bei der Hand, um ihn von der Lage der Sache zu be - nachrichtigen. Vollkraft trabte alſo eiligſt fort. So wie Goͤthe und Stilling nach Haus kamen, und ihnen die Magd den Vorfall erzaͤhlte, ſo bedauerten ſie Beide den Irr - thum; indeſſen wars nun nicht zu aͤndern.
Goͤthen’s Veranlaſſung zu dieſer Reiſe war eigentlich fol - gende: Lavater beſuchte das Emſerbad und von da machte er eine Reiſe nach Muͤhlheim am Rhein, um dort einen Freund zu beſuchen; Goͤthe war ihm bis Ems gefolgt, und um allerhand Merkwuͤrdigkeiten und beruͤhmte Maͤnner zu ſe - hen, hatte er ihn bis Muͤhlheim begleitet; hier ließ nun Goͤthe Lavater zuruͤck, und machte einen Streifzug uͤber Ruͤſſelſtein nach Schoͤnenthal, um auch ſeinen alten Freund Stilling heimzuſuchen; zugleich aber hatte er Lava - tern verſprochen, auf eine beſtimmte Zeit wieder nach Muͤhl - heim zu kommen, und mit ihm zuruͤck zu reiſen. Waͤhrend Goͤthen’s Abweſenheit aber bekommt Lavater Veranlaſ - ſung, auch nach Ruͤſſelſtein und von da nach Schoͤnen - thal zu gehen, von dem allen aber wußte Goͤthe kein Wort. Als er daher mit Stilling zu Mittag gegeſſen hatte, machte er ſich mit obigem Juvenal zu Pferde wieder auf den Weg nach Ruͤſſelſtein, um dort Vollkraften anzutref -323 fen. Kaum waren Beide fort, ſo kam Lavater in Beglei - tung Vollkrafts, des bekannten Haſenkamp von Duis - burg, und des hoͤchſt merkwuͤrdigen, frommen und gelehrten Doktors Collenbuſch die Gaſſe hereingefahren. Dieß wurde Stilling angezeigt, er flog alſo den beiden Reitern nach und brachte ſie wieder zuruͤck.
Lavater und ſeine Begleiter waren mittlerweile bei einem bekannten und die Religion liebenden Kaufmann eingekehrt; Stilling, Goͤthe und Juvenal eilten alſo auch dahin. Niemals hat ſich wohl eine ſeltſamer gemiſchte Geſellſchaft bei - ſammen gefunden, als jetzt um den großen ovalrunden Tiſch her, der zugleich auf Schoͤnenthaler Art mit Speiſen be - ſetzt war. Es iſt der Muͤhe werth, daß ich dieſe Gaͤſte nur aus dem Groben zeichne.
Lavaters Ruf der praktiſchen Gottſeligkeit hatte unter Andern einen alten Ter Steeglaner herbeigelockt; dieſer war ein in aller Ruͤckſicht verehrungswuͤrdiger Mann, der nach den Grundſaͤtzen der reinen Myſtik, unverheirathet, aͤuſ - ſerſt heikel in der Wahl des Umgangs, ſehr freundlich, ernſt, voll ſanfter Zuͤge im Geſicht, ruhig im Blick, und uͤbrigens in allen ſeinen Reden behutſam war; er wog alle ſeine Worte auf der Goldwage ab, kurz, er[w]ar ein herrlicher Mann, wenn ich nur das einzige Eigenſinnige ausnehme, das alle dergleichen Leute ſo leicht annehmen, indem ſie intolerant ge - gen Alle ſind, die nicht ſo denken wie ſie! Dieſer ehrwuͤrdige Mann ſaß mit ſeinem runden, lebhaften Geſicht, runden Stutz - peruͤcke und ſchwarzen Unterkleidern oben an; mit einer Art von freundlicher Unruhe ſchaute er um ſich, ſagte auch wohl zuweilen heimliche Ermahnungsworte, denn er witterte Geiſter von ganz andern Geſinnungen.
Neben dieſem ſaß der Hofkammerrath Vollkraft, ein fei - ner Weltmann, wie es wenige gibt, im Reiſehabit, doch nach der Mode gekleidet; ſein lebhaftes Naturell ſpruͤhte Funken des Witzes und ſein hochrectificirtes philoſophiſches Gefuͤhl urtheilte immer nach dem Zuͤnglein in der Wage des Wohlſtandes, des Lichts und des Rechts.
Auf dieſen folgte ſein Bruder, der Dichter: von ſeinem gan -324 zen Daſeyn ſtroͤmte ſanfte gefaͤllige Empfindung und Wohl - wollen gegen Gott und Menſchen, ſie mochten nun uͤbrigens denken und glauben was ſie wollten, wenn ſie nur gut und brav waren; ſein grauer Flockenhut lag hinter ihm im Fen - ſter und der Koͤrper war mit einem bunten Sommerfrack bekleidet.
Dann ſaß der Hauswirth neben dieſem; er hatte eine pech - ſchwarze Peruͤcke mit einem Haarbeutel auf dem Kopfe und einen braunen zizenen Schlafrock an, der mit einer gruͤnen ſei - denen Schaͤrpe umguͤrtet war; ſeine großen, hervorragenden Au - gen ſtarrten unter der hohen und breiten Stirne hervor, ſein Kinn war ſpitzig, uͤberhaupt das Geſicht dreieckigt und hager, aber voller Zuͤge des Verſtandes, er horchte lieber, als daß er redete, und wenn er ſprach, ſo war Alles vorher in ſeiner Gehirnkammer wohl abgeſchloſſen und decretirt worden; ſei - ner Tauben-Einfalt fehlte es an Schlangenklugheit wahrlich nicht!
Jetzt kam nun die Reihe an Lavater; ſein Evangeli - ſten-Johannes-Geſicht riß alle Herzen mit Gewalt zur Ehrfurcht und Liebe an ſich, und ſein munterer, gefaͤlliger Witz, verpaart mit einer lebhaften und unterhaltenden Laune, machte ſich alle Anweſende, die ſich nicht durch Witz und Laune zu verſuͤndigen glaubten, ganz zu eigen. Indeſſen waren unter der Hand ſeine phyſiognomiſchen Fuͤllhoͤrner, denen es hier an Stoff nicht fehlte, immer geſchaͤftig; er hatte einen geſchickten Zeichenmeiſter bei ſich, der auch ſeine Haͤnde nicht in den Schooß legte.
Neben Lavater ſaß Haſenkamp, ein vierzigjaͤhriger etwas gebuͤckter, hagerer, hectiſcher Mann, mit einem laͤnglich - ten Geſicht, merkwuͤrdiger Phyſiognomie, und uͤberhaupt Ehr - furcht erweckendem Anſehen; jedes Wort war ein Nachdenken und Wohlgefallen erregendes Paradoxon, ſelten mit dem Sy - ſtem uͤbereinſtimmend; ſein Geiſt ſuchte allenthalben Luft und aͤngſtete ſich in ſeiner Huͤlle nach Wahrheit, bis er ſie bald zerſprengte und mit einem lauten Hallelujah zur Quelle des Lichts und der Wahrheit emporflog; ſeine einzelnen Schrif - ten machen Orthodoxe und Heterodoxe den Kopf ſchuͤtteln,325 aber man muß ihn gekannt haben; er ſchritt, mit dem Per - ſpektiv in der Hand, beſtaͤndig im Lande der Schatten hin und her, und ſchaute hinuͤber in die Gegend der Lichtsgefilde, wenn die blendenden Strahlen ihm zuweilen das Auge truͤbten!
Auf ihn folgte Collenbuſch, ein theologiſcher Arzt oder mediciniſcher Gottesgelehrter; ſein Angeſicht war ſo auffallend, wie je eins ſeyn kann — ein Geſicht, das Lavaters gan - zes Syſtem erſchuͤtterte; es enthielt nichts Widriges, nichts Boͤſes, aber auch von Allem nichts, auf welches er Seelen - groͤße baute; indeſſen ſtrahlte aus ſeinen, durch die Kinderblat - tern verſtellten Zuͤgen eine geheime, ſtille Majeſtaͤt hervor, die man nur erſt nach und nach im Umgang entdeckte; ſeine mit dem ſchwarzen und grauen Staar kaͤmpfenden Augen und ſein immer offener, zwei Reihen ſchoͤner weißer Zaͤhne zeigender Mund ſchienen die Wahrheit, Weltraͤume weit herbeiziehen zu wollen, und ſeine hoͤchſt gefaͤllige, einnehmende Sprache, ver - bunden mit einem hohen Grad von Artigkeit und Beſcheidenheit, feſſelten jedes Herz, das ſich ihm naͤherte.
Jetzt folgte in der Reihe mein Juvenal: man denke ſich ein kleines, junges, rundkoͤpfigtes Maͤnnchen, den Kopf etwas nach einer Schulter gerichtet, mit ſchalkhaften hellen Augen und immer laͤchelnder Miene; er ſprach nichts, ſondern beob - achtete nur; ſeine ganze Atmosphaͤre war Kraft der Undurch - dringlichkeit, die Alles zuruͤckhielt, was ſich ihm naͤhern wollte.
Dann ſaß neben ihm ein junger edler Schoͤnenthaler Kaufmann, ein Freund von Stilling, ein Mann voller Re - ligion ohne Pietismus, gluͤhend von Wahrheitshunger, ein Mann, wie es Wenige gibt!
Nun folgte Stilling, er ſaß da mit tiefem, geheimem Kummer auf der Stirn, den jetzt die Umſtaͤnde erhellten, er ſprach hin und her, und ſuchte Jedem ſein Herz zu zeigen, wie es war.
Dann ſchloſſen noch einige unbedeutende, bloß die Luͤcke aus - fuͤllende Geſichter den Kreis. Goͤthe aber konnte nicht ſitzen, er tanzte um den Tiſch her, machte Geſichter und zeigte allent - halben, nach ſeiner Art, wie koͤniglich ihn der Zirkel vonStillings ſämmtl. Schriften. I. Band. 22326Menſchen gaudire. Die Schoͤnenthaler glaubten, Gott ſey bei uns! der Menſch muͤſſe nicht recht klug ſeyn; Stilling aber und Andere, die ihn und ſein Weſen beſſer kannten, mein - ten oft vor Lachen zu berſten, wenn ihn einer mit ſtarren und gleichſam bemitleidenden Augen anſah, und er dann mit gro - ßem hellem Blick ihn darnieder ſchoß.
Dieſe Scene waͤhrte, ziemlich tumultuariſch, kaum eine halbe Stunde, als Lavater, Haſenkamp, Collenbuſch, der junge Kaufmann und Stilling zuſammen aufbrachen, und in der heitern Abendſonne das paradieſiſche Thal hinauf - wanderten, um den oben beruͤhrten vortrefflichen Theodor Muͤller zu beſuchen. Dieſer Spaziergang iſt Stillingen unvergeßlich, Lavater lernte ihn und er den Lavatern kennen, ſie redeten viel zuſammen und gewannen ſich lieb. Vor dem Dorfe, in welchem Muͤller wohnte, kehrte Stil - ling mit ſeinem Freunde wieder um und nach Schoͤnenthal zuruͤck; waͤhrend der Zeit waren Goͤthe und Juvenal nach Ruͤſſelſtein verreist, des andern Morgens kam Lavater, er beſuchte Stilling, ließ ihn fuͤr ſeine Phyſiognomik zeichnen, und reiste dann wieder fort.
Dieſer merkwuͤrdige Zeitpunkt in Stillings Leben mußte umſtaͤndlich beruͤhrt werden; er aͤnderte zwar nichts in ſeinen Umſtaͤnden, aber er legte den Grund zu allerhand wichtigen Lenkungen ſeiner kuͤnftigen Schickſale. Noch Eines habe ich vergeſſen zu bemerken: Goͤthe nahm den Aufſatz von Stil - lings Lebensgeſchichte mit, um ihn zu Hauſe mit Muſe le - ſen zu kennen: wir werden an ſeinem Orte finden, wie vor - trefflich dieſer geringſcheinende Zufall, und alſo Goͤthen’s Be - ſuch von der Vorſehung benutzt worden.
Im Herbſt dieſes 1772ſten Jahres brachte ein Kaufmann aus Schoͤnenthal einen blinden Kaufmann, Namens Bauch, von Sonnenburg aus Sachſen, aus der Frankfurter Meſſe mit, in der Hoffnung, Stilling wuͤrde ihn kuriren koͤnnen. Stilling beſah ihn, ſeine Pupillen waren weit, aber doch noch etwas beweglich, der Anfang des grauen Staars327 war zwar da, allein der Patient war fuͤr dieſe geringe Ver - dunklung doch zu blind, als daß ſie bloß hievon herruͤhren konnte; er ſahe wohl, daß der anfangende ſchwarze Staar die Haupturſache des Uebels ſey: das Alles ſagte er auch, allein ſeine Freunde riethen ihm Alle, er moͤchte deſſen ungeachtet die Staaroperation verſuchen, beſonders auch darum, weil der Patient doch unheilbar ſey, und alſo durch die Operation nichts verloͤre, im Gegentheil ſey es Pflicht, Alles zu verſu - chen. Stilling ließ ſich alſo bewegen, denn der Patient verlangte ſelbſt nach dem Verſuch, und aͤußerte ſich, dieß letzte Mittel muͤſſe auch noch gewagt werden; er wurde alſo gluͤck - lich operirt und in die Kur genommen.
Dieſer Schritt war ſehr unuͤberlegt, und Stilling fand Gelegenheit genug, ihn zu bereuen; die Kur mißlang, die Au - gen wurden entzuͤndet, eiterten ſtark, das Geſicht war nicht nur unwiederbringlich verloren, ſondern die Augen bekamen auch nun noch ein haͤßliches Anſehen. Stilling weinte in der Einſamkeit auf ſeinem Angeſicht, und betete fuͤr dieſen Mann um Huͤlfe zu Gott, aber er wurde nicht erhoͤrt. Dazu kamen noch andere Umſtaͤnde: Bauch erfuhr, daß Stilling beduͤrf - tig war, er fing alſo an zu glauben, er habe ihn bloß operirt, um Geld zu verdienen, nun war zwar ſein Hauswirth, der Kaufmann, der ihn mitgebracht hatte, ein edler Mann und Stillings Freund, der ihm dieſe Zweifel auszureden ſuchte, allein es beſuchten Andere den Patienten, die ihm Verdacht ge - nug von Stillings Armuth, Mangel an Kenntniſſen und eingeſchraͤnktem Kopf in die Ohren blieſen; Bauch reiste alſo ungluͤcklich, voller Verdruß und Mißtrauen in Stillings Redlichkeit und Kenntniſſe, nach Frankfurt zuruͤck, wo er ſich noch einige Wochen aufhielt, um noch andere Verſuche mit ſeinen Augen zu machen, und dann wieder nach Hauſe zu reiſen.
Waͤhrend der Zeit hoͤrte ein ſehr edler, rechtſchaffener Frank - furter Patrizier, der Herr Oberhofmeiſter von Leesner, wie gluͤcklich der Herr Profeſſor Sorber zu Marburg von Stilling ſey kurirt worden; nun war er ſelbſt ſeit einigen Jahren ſtaarblind, er ſchrieb alſo an Sorbern, um gehoͤrige22 *328Kundſchaft einzuziehen, und er bekam die befriedigendſte Antwort: der Herr von Leesner ließ alſo ſeine Augen von verſchiede - nen Aerzten beſehen, und als Alle darin uͤbereinſtimmten, daß er einen heilbaren grauen Staar habe, ſo uͤbertrug er ſeinem Hausarzt, dem rechtſchaffenen, edeldenkenden Herrn Doktor Hoff - mann, die Sache, um mit Stillingen daruͤber Briefe zu wechſeln, und ihn zu bewegen, nach Frankfurt zu kommen, weil er, als ein alter, blinder und ſchwaͤchlicher Mann, ſich nicht die weite Reiſe zu machen getraute. Leesner verſprach Stillingen tauſend Gulden zu zahlen, die Kur moͤchte ge - lingen, oder nicht; dieſe tauſend Gulden ſtrahlten ihm bei ſei - ner kuͤmmerlichen Verfaſſung gewaltig in die Augen, und Chri - ſtine, ſo unertraͤglich ihr auch die Abweſenheit ihres Mannes vorkam, rieth ihm doch ſehr ernſtlich, dieſe Gruͤndung ſeines Gluͤcks nicht zu verſaͤumen; auch die Friedenbergiſche Familie und alle ſeine Freunde riethen ihm dazu. Nur der einzige Theodor Muͤller war ganz und gar nicht damit zufrieden; er ſagte: „ Freund, es wird Sie reuen und die tauſend Gul - den werden Ihnen theuer zu ſtehen kommen, ich ahnde traurige Schickſale, bleiben Sie hier, wer nicht zu Ihnen kommen will, der mag wegbleiben, Leesner hat Geld und Zeit, er wird kom - men, wenn er ſieht, daß Sie die Reiſe nicht machen wollen. “— Allein alle Ermahnungen halfen nicht, Stillings ehema - liger Trieb, der Vorſehung vorzulaufen, gewann auch jetzt die Ueberhand, er beſchloß alſo, nach Frankfurt zu reiſen, und ſagte daher dem Herrn von Leesner zu.
Jetzt traͤumte ſich nun Stilling eine gluͤckliche Zukunft und das Ende ſeiner Leiden: mit den tauſend Gulden glaubte er die dringendſten Schulden bezahlen zu koͤnnen, und dann ſahe er wohl ein, daß eine gluͤckliche Kur an einem ſolchen Manne großes Aufſehen erregen, und ihm einen gewaltigen und eintraͤglichen Zulauf in der Naͤhe und Ferne zuwege brin - gen wuͤrde. Indeſſen ſchien Bauch, der ſich noch in Frank - furt aufhielt, die ganze Sache wieder vernichten zu wollen; denn ſobald er hoͤrte, daß ſich Leesner Stillings Kur anvertrauen wollte, ſo warnte er ihn angelegentlich und ſetzte Stilling wegen ſeiner Duͤrftigkeit und geringen Kenntniſſe329 ſo ſehr herab, als er konnte; indeſſen half das alles nichts, Leesner blieb in ſeinem Vorſatz. Bauchs Verfahren konnte ihm im Grunde Niemand verdenken, denn er kannte Stil - lingen nicht anders, und ſeine Meinung, Leesnern fuͤr Ungluͤck zu warnen, war nicht unedel.
Goͤthe, der ſich noch immer bei ſeinen Eltern in Frank - furt aufhielt, freute ſich innig, ſeinen Freund Stilling auf einige Zeit bei ſich zu haben; ſeine Eltern boten ihm waͤh - rend ſeines Aufenthalts ihren Tiſch an, und mietheten ihm in ihrer Nachbarſchaft ein huͤbſches Zimmer; dann ließ auch Goͤthe eine Nachricht in die Zeitung ruͤcken, um damit meh - rere Nothleidende herbeizuholen. Und ſo wurde die ganze Sache regulirt und beſchloſſen. Stillings wenige Freunde freuten ſich und hofften, Andere ſorgten, und die mehreſten wuͤnſchten, daß er doch zu Schanden werden moͤchte.
Im Anfang des 1775ſten Jahres, in der erſten Woche des Januars, ſetzte ſich alſo Stilling auf ein Lehnpferd, nahm einen Boten mit ſich, und ritt an einem Nachmittag in dem ſchrecklichſten Regenwetter noch bis Waldſtaͤtt, hier blieb er uͤber Nacht; den andern Tag ſchien der Himmel eine neue Suͤndfluth uͤber die Erde fuͤhren zu wollen, alle Waſſer und Baͤche ſchwollen ungeheuer an, und Stilling gerieth mehr als Einmal in die aͤußerſte Lebensgefahr, doch kam er gluͤck - lich nach Meinerzhagen, wo er uͤbernachtete; des dritten Morgens machte er ſich wieder auf den Weg; der Himmel war nun ziemlich heiter, große Wolken flogen uͤber ſeinem Haupte hin, doch ſchoß die Sonne auch zuweilen aus ihrem Laufe milde Strahlen in ſein Angeſicht; ſonſt ruhte die ganze Natur, alle Waͤlder und Gebuͤſche waren entblaͤttert, eisgrau, Felder und Wieſen halb gruͤn, Baͤche rauſchten, der Sturm - wind ſauste aus Weſten, und kein einziger Vogel belebte die Scenen.
Gegen Mittag kam er an ein einziges Wirthshaus, in ei - nem ſchoͤnen ziemlich breiten Thale, welches im Roſenthal genannt wird; hier ſahe er nun, als er die Hoͤhe herab ritt, mit Erſtaunen und Schrecken, daß der ſtarke, mit einer ge - woͤlbten Bruͤcke verſehene Bach von einem Berg zum andern330 das ganze Thal uͤberſchwemmte; er glaubte den Rheinſtrom vor ſich zu ſehen, außer daß hie und da ein Strauch hervor - gukte. Stilling und ſein Begleiter klagten ſich wechſelweiſe ihren Kummer; auch hatte er ſeiner Chriſtine verſprochen, von Leindorf aus, wo ſein Vater wohnte, zu ſchreiben, denn ſein Weg fuͤhrte ihn gerade durch ſein Vaterland. Nun wußte er, daß Chriſtine am beſtimmten Tage Briefe erwarte, von hier aus gab’s keine Gelegenheit zu Verſendung derſelben, er mußte alſo fort, oder beſorgen, daß ſie aus Angſt Zufaͤlle be - kommen und wieder gefaͤhrlich krank werden wuͤrde.
In dieſer Verlegenheit bemerkte er, daß der Plankenzaun, welcher unter der Straße her bis an die Bruͤcke ging, noch immer einen Schuh hoch uͤber das Waſſer emporragte; dieß machte ihm Muth; er beſchloß alſo, ſeinen Begleiter hinter ſich auf’s Pferd zu nehmen und laͤngs dem Zaun auf die Bruͤcke zuzureiten.
Im Wirthshauſe wurde Mittag gehalten; hier traf er eine Menge Fuhrleute an, welche das Fallen des Waſſers erwar - teten, und ihm Alle riethen, ſich nicht zu wagen: allein das half nichts; ſein raſtloſer und immer fortſtrebender Geiſt war nicht zum Warten geſtimmt, wo das Wirken oder Ruhen blos auf ihn ankam; er nahm alſo den Bedienten hinter ſich auf’s Pferd, ſetzte in die Fluthen und kaͤmpfte ſich gluͤck - lich durch!
Nach ein paar Stunden war Stilling auf der Hoͤhe, von welcher er die Gebirge und Fluren ſeines Vaterlandes vor ſich ſah. Dort lag der hohe Kindelsberg ſuͤdoſtwaͤrts vor ihm, oſtwaͤrts, am Fuß deſſelben, ſahe er die Lichthaͤuſer Schornſteine rauchen, und er entdeckte bald unter denſelben, welcher ſeinem Oheim Johann Stilling zugehoͤrte; ein ſuͤßer Schauer durchzitterte alle ſeine Glieder, und alle Ju - gendſcenen gingen ſeiner Seele voruͤber; ſie daͤuchten ihm gol - dene Zeiten zu ſeyn. Was hab’ ich denn nun errungen? dachte er bei ſich ſelbſt — nichts anders, als ein glaͤnzendes Elend! — ich bin nun freilich ein Mann geworden, der an Ehre und Anſehen alle ſeine Vorfahren uͤbertrifft, allein was hilft mir das Alles, es haͤngt ein ſpitziges Schwert an einem331 ſeidenen Faden uͤber meinem Haupte, es darf nur fallen, ſo verſchwindet Alles wie eine Seifenblaſe! Meine Schulden werden immer groͤßer, und ich muß mich fuͤrchten, daß meine Kreditoren zugreifen, mir das Wenige, was ich habe, nehmen, mich dann nackend auf die Straße ſetzen, und dann habe ich ein zaͤrtliches Weib, die das nicht ertraͤgt, und zwei Kinder, die nach Brod lallen; Gott, der Gedanke war ſchrecklich! er marterte den armen Stilling Jahre lang unaufhoͤrlich, ſo daß er keinen frohen Augenblick haben konnte. Endlich ermannt er ſich wieder, ſeine große Erfahrung von Gottes Vatertreue, und dann die wichtige Hoffnung ſeiner jetzigen Reiſe ermun - terten ihn wieder, ſo daß er froh und heiter ins Dorf Licht - hauſen hineintrabte.
Er ritt zuerſt an das Haus des Schwiegerſohns des Jo - hann Stillings, welcher ein Gaſthalter war, und alſo Stallung hatte; hier wurde er von ſeiner Jugendfreundin und ihrem Manne mit lautem Jubel empfangen; dann wanderte er mit zitternder Freude und klopfendem Herzen zu ſeines Oheims Haus. Das Geruͤcht ſeiner Ankunft war ſchon durchs ganze Dorf erſchollen, alle Fenſter ſtacken voller Koͤpfe, und ſo wie er die Hausthuͤr aufmachte, ſchritten ihm die beiden Bruͤder Johann und Wilhelm entgegen: er umarmte Einen nach dem Andern, weinte an ihrem Halſe und beide Graukoͤpfe weinten auch die hellen Thraͤnen. „ Geſegnet ſeyn Sie mir! “fing der wahrhafte große Mann, Johann Stil - ling, an; „ geſegnet ſeyn Sie mir, lieber, lieber Herr Vet - ter! unſere Freude iſt uͤberſchwinglich groß, daß wir Sie am Ziel Ihrer Wuͤnſche ſehen; mit Ruhm ſind Sie hinaufgeſtie - gen auf die Stufe der Ehre, Sie ſind uns allen entflohen! Sie ſind der Stolz unſrer Familie u. ſ. w. “ Stilling ant - wortete weiter nichts, als: „ Es iſt ganz und allein Gottes Werk, Er hat’s gethan! “ Gern haͤtte er noch hinzugeſetzt: „ und dann bin ich nicht gluͤcklich, ich ſtehe am Rande des Abgrunds; “allein er behielt ſeinen Kummer fuͤr ſich und ging ohne weitere Umſtaͤnde in die Stube.
Hier fand er nun alle Baͤnke und Stuͤhle mit Nachbarn und Bauern aus dem Dorfe beſetzt, und die meiſten ſtanden332 gedraͤngt ineinander, Alle hatten Stilling als Knabe ge - kannt; ſo wie er hineintrat, waren alle Kappen und Huͤte unter den Armen, und Alles war ſtille, und Jeder ſahe ihn mit Ehrfurcht an. Stilling ſtand und ſchaute umher; mit Thraͤnen in den Augen und mit gebrochener Stimme ſagte er: „ Willkommen, willkommen, Ihr lieben Maͤnner und Freunde! Gott ſegne einen jeden unter Euch! — bedeckt Alle Eure Haͤupter, oder ich gehe auf der Stelle wieder hinaus; was ich bin, iſt Gottes Werk, Ihm allein die Ehre! “— Nun entſtand ein Freudegemurmel, Alle wunderten ſich und ſegneten ihn. Die beiden Alten und der Doktor ſetzten ſich un - ter die guten Leute, und alle Augen waren auf ſein Betra - gen, und alle Ohren auf ſeine Worte gerichtet. Was Vater Stillings Soͤhne jetzt empfanden, iſt unausſprechlich.
Wie kam’s doch, daß aus dem Doktor Stilling ſo viel Werks gemacht wurde, und was war die Urſache, daß man uͤber ſeine, in jedem Betracht noch mittelmaͤßige Erhoͤhung zum Doktor der Arzneikunde ſo ſehr erſtaunte? Es gab in ſeinem Vaterlande mehrere Bauernſoͤhne, die gelehrte und wuͤrdige Maͤnner geworden waren, und doch kraͤhete kein Hahn darnach? Wenn man die Sache in ihrer wahren Lage betrach - tet, ſo war ſie ganz natuͤrlich: Stilling war noch vor neun bis zehn Jahren Schulmeiſter unter ihnen geweſen; man hatte ihn allgemein fuͤr einen ungluͤcklichen Menſchen, und mitunter fuͤr einen hoffnungsloſen armen Juͤngling angeſehen; dann war er als ein armer verlaſſener Handwerksburſche fort - gereist, ſeine Schickſale in der Fremde hatte er ſeinem Oheim und Vater geſchrieben, das Geruͤcht hatte alles Natuͤrliche bis zum Wunderbaren, und das Wunderbare bis zum Wun - derwerk erhoͤht, und daher kam’s, daß man ihn als eine Sel - teuheit zu ſehen ſuchte. Er ſelbſt aber demuͤthigte ſich innig vor Gott, er kannte ſeine Lage und Umſtaͤnde beſſer, und be - dauerte, daß man ſo viel aus ihm machte; indeſſen thats ihm doch auch wohl, daß man ihn hier nicht verkannte, wie das in Schoͤnenthal ſein taͤgliches Schickſal war.
Des andern Morgens machte er ſich mit ſeinem Vater nach Leindorf auf den Weg. Johann Stilling gab ſeinem333 Bruder Wilhelm ſein eigenes Reitpferd, und er ging zu Fuß neben her, er wollte es nicht anders; vor dem Dorfe erſchienen ſchon ganze Gruppen Leindoͤrfer Juͤnglinge und Maͤn - ner, die ehemals ſeine Schuͤler und Freunde geweſen, und ihm eine Stunde entgegen gegangen waren; ſie umgaben ſein Pferd und begleiteten ihn. Zu Leindorf ſtand alles vor dem Dorfe, auf der Wieſe am Waſſer, und das Willkommrufen erſcholl ſchon von Ferne. Stille und tief gebeugt und geruͤhrt ritt er mit ſeinem Vater ins Dorf hinein, Johann Stil - ling ging jetzt wieder zuruͤck; in ſeines Vaters Haus empfing ihn ſeine Mutter ſehr ſchuͤchtern, ſeine Schweſtern aber um - armten ihn mit vielen Thraͤnen der Freude. Hier ſtroͤmte nun Alles zuſammen: Vater Stillings Toͤchter von Tie - fenbach kamen auch mit ihren Soͤhnen, von allen Seiten eil - ten Menſchen herzu, das Haus war unten und oben voll, und den ganzen Tag und die ganze folgende Nacht war an gar keine Ruhe zu denken. Stilling ließ ſich alſo von allen Seiten beſehen, er ſprach wenig, denn ſeine Empfindungen waren zu gewaltig, ſie beſtuͤrmten immer ſein Herz, daher eilte er fort: des andern Morgens ſetzte er ſich in einem ge - ſchloſſenen Kreis von hundert Menſchen zu Pferde, und ritt unter dem Getoͤne und Geſchrei eines vielfaͤltigen und oft wiederholten Lebewohls! fort; kaum war er vor dem Dorfe, ſo ſagte ihm der Bediente, daß ſein Vater ihm nachlief; er kehrte alſo um; ich habe ja nicht Abſchied genommen, lieber Sohn: ſagte der Alte, dann faßte er ihm ſeine Linke in beide Haͤnde, weinte und ſtammelte: der Allmaͤchtige ſegne dich!
Nun war Stilling wieder allein, denn ſein Begleiter ging ſeitwaͤrts auf dem Fußpfad. Jetzt fing er laut an zu weinen, alle ſeine Empfindungen ſtroͤmten in Thraͤnen aus, und machten ſeinem Herzen Luft. So wohl ihm der allge - meine Beifall und die Liebe ſeiner Verwandten, Freunde und Landsleute that, ſo tief bekuͤmmerte es ihn in der Seele, daß ſich all der Jubel blos auf einen falſchen Schein gruͤndete. Ach, ich bin ja nicht gluͤcklich! ich bin der Mann nicht, wo - fuͤr man mich haͤlt! ich bin kein Wundermann in der Arznei - kunde! kein von Gott gemachter Arzt, denn ich kurire ſelten334 Jemand; wenn’s geraͤth, ſo iſt es Zufall! ich bin gerade einer von den Alltaͤglichſten und Ungeſchickteſten in meinem Beruf! und was iſt denn auch am Ende ſo Großes aus mir geworden? Doktor der Arzneigelehrſamkeit bin ich, eine gra - duirte Perſon — gut, ich bin alſo ein Mann vom Mittel - ſtande! kein großes Licht, das Aufſehen macht, und verdiene alſo keinen ſolchen Empfang! u. ſ. w. Dieß waren Stil - lings laute und vollkommene wahre Gedanken, die immer wie Feuerflammen aus ſeiner Bruſt hervorloderten, bis er end - lich die Stadt Salen erblickte, und ſich nun beruhigte.
Stilling ſtrebte jetzt nicht mehr nach Ehre, ſein Stand war ihm vornehm genug, nur ſein Mißfallen an ſeinem Be - ruf, ſein Mangel und die Verachtung, in welcher er lebte, machten ihn ungluͤcklich.
Zu Salen hielt ſich Doktor Stilling verborgen, er ſpeiste nur zu Mittag, und ritt nach Dillenburg, wo er des Abends ziemlich ſpaͤt ankam, und bei ſeinem braven rechtſchaffenen Vetter, Johann Stillings zweitem Sohn, der daſelbſt Bergmeiſter war, einkehrte. Beide waren von gleichem Alter und von Jugend auf Herzensfreunde geweſen; wie er alſo hier empfangen wurde, das laͤßt ſich leicht den - ken. Nach einem Raſttag machte er ſich wieder auf den Weg - und reiste uͤber Herborn, Wetzlar, Butzbach und Fried - berg nach Frankfurt; hier kam er des Abends an, kehrte im Goͤthe’ſchen Hauſe ein und wurde mit der waͤrmſten Freundſchaft aufgenommen.
Des folgenden Morgens beſuchte er den Herrn von Lees - ner, er fand an ihm einen vortrefflichen Greis, voll gefaͤl - liger Hoͤflichkeit, verbunden mit einer aufgeklaͤrten Religions - geſinnung; ſeine Augen waren geſchickt zur Operation, ſo daß ihm Stilling die beſte Hoffnung machen konnte; der Tag, an welchem der Staar ausgezogen werden ſollte, wurde feſt - geſetzt. Stilling machte noch einige wichtige Bekanntſchaf - ten: er beſuchte den alten beruͤhmten Doktor Burggraf, der in der ausgebreitetſten und gluͤcklichſten Praxis alt, grau und gebrechlich geworden war; als dieſer vortreffliche Mann Stillingen eine Weile beobachtet hatte, ſo ſagte er: Herr335 Kollege! Sie ſind auf dem rechten Wege, ich hoͤrte von Ihrem Ruf hieher, und ſtellte mir nun einen Mann vor, der im hoͤchſten Modeputz mich beſuchen, und wie gewoͤhnlich ſich als Charlatan praͤſentiren wuͤrde, aber nun finde ich gerade das Gegentheil: Sie ſind beſcheiden, erſcheinen in einem modeſten Kleide, und ſind alſo ein Mann, wie der ſeyn ſoll, der De - nen, die unter der Ruthe des Allmaͤchtigen ſeufzen, beiſtehen muß. Gott ſegne Sie! es freut mich, daß ich am Ende mei - ner Tage noch Maͤnner finde, die alle Hoffnung geben, das zu werden, was ſie ſeyn ſollen. Stilling ſeufzte und dachte: wolle Gott, ich waͤre das, wofuͤr mich der große Mann haͤlt!
Dann beſuchte er den Herrn Prediger Kraft: mit dieſem theuren Mann ſtimmte ſeine Seele ganz uͤberein, und es entſtand eine innige Freundſchaft zwiſchen Beiden, die auch noch nach dieſem Leben fortdauern wird.
Indeſſen ruͤckte der Zeitpunkt der Operation heran. Stil - ling machte ſie in der Stille, ohne Jemand, außer ein paar Aerzten und Wundaͤrzten, Etwas zu ſagen. Dieſe waren denn auch alle gegenwaͤrtig, damit er doch ſachkundige Maͤn - ner auf jeden Fall zu Zeugen haben moͤchte. Alles gelang nach Wunſch, der Patient ſahe und erkannte nach der Opera - tion Jedermann: Das Geruͤcht erſcholl durch die ganze Stadt, Freunde ſchrieben an auswaͤrtige Freunde und Stilling erhielt von Schoͤnenthal ſchon Gluͤckwuͤnſchungsſchreiben, noch ehe er Antwort auf die ſeinigen haben konnte. Der Fuͤrſt von Loͤwenſtein-Wertheim, die Herzogin von Kurland, geborne Prinzeſſin von Waldeck, die ſich da - mals in Frankfurt aufhielt, alle adelichen Familien daſelbſt, und uͤberhaupt alle vornehmen Leute erkundigten ſich nach dem Erfolg der Operation, und Alle ließen jeden Morgen fragen, wie ſich der Patient befaͤnde.
Nie war Stilling zufriedener als jetzt; er ſah, wie ſehr dieſe Kur Aufſehen machen und wie vielen Ruhm, Beifall, Anſehen und Zulauf ſie ihm verſchaffen wuͤrde; ſchon wurde davon geredet, ihm mit dem Frankfurter Buͤrgerrecht ein Praͤ - ſent zu machen und ihn dadurch hinzuziehen. In dieſer Hoff - nung freute ſich der gute Doktor uͤber die Maßen, denn er336 dachte: hier iſt mein Wirkungskreis groͤßer, die Geſinnung des Publikums weniger kleinſtaͤdtiſch, als in Schoͤnenthal, hier iſt der Zulauf von Standesperſonen und Fremden unun - terbrochen und groß, du kannſt hier Etwas erwerben und ſo der Mann werden, der du von Jugend auf haſt ſeyn wollen.
Gerade zu dieſer Zeit fanden ſich noch etliche blinde Per - ſonen ein: der Erſte war der Herr Hofrath und Doktor Hut, Phyſikus in Wiesbaden, welcher in einer Nacht durch eine Verkaͤltung an einem Auge ſtaarblind geworden war; er logirte bei ſeinem Bruder, dem Herrn Hofrath und Con - ſulenten Hut, in Frankfurt; Stilling operirte und kurirte ihn gluͤcklich; dieſer allgemein bekannte und ſehr edle redliche Mann ward dadurch ſein immerwaͤhrender Freund, beſonders auch darum, weil ſie einerlei Geſinnungen hatten.
Der zweite war ein juͤdiſcher Rabbi, in der Judengaſſe zu Frankfurt wohnhaft; er war ſchon lange an beiden Augen blind und ließ Stilling erſuchen, zu ihm zu kommen: die - ſer ging hin und fand einen Greis von acht und ſechzig Jah - ren mit einem ſchneeweißen, bis auf den Guͤrtel herabhaͤngen - den Bart. So wie er hoͤrte, daß der Arzt da waͤre, ſtolperte er vom Stuhl auf, ſtrebte ihm entgegen, und ſagte: Herr Doktor! guke Se mer aͤmohl in die Aaga! — dann machte er ein grinzig Geſicht, und riß beide Augen ſperrweit auf; mittlerweile draͤngten ſich eine Menge Judengeſichter von aller - hand Gattung herbei, und hier und da erſcholl eine Stimme: horcht —! was wird er ſagaͤ! Stilling beſahe die Augen und erklaͤrte, daß er ihm naͤchſt Gott wuͤrde helfen koͤnnen.
Gotts Wunner (von allen Seiten) der Herr ſoll hundert Jahr laͤbaͤ!
Nun fing der Rabbi an: Pſcht — horchen Se aͤmohl, Herr Doktor! aber nur a Aag! nur ahns! — denn wenns un nicht gerieth — nur ahus.
Gut, antwortete Stilling, ich komme uͤbermorgen; alſo nur eins.
Des andern Tages operirte Stilling im Judenhoſpital eine arme Frau, und den folgenden Morgen den Rabbi. An dieſem Tage wurde er einsmals in des Herrn von Leesners337 Wohnung herab an die Hausthuͤre gerufen; hier fand er einen armen Betteljuden von etwa ſechzig Jahren; er war an bei - den Augen ſtockblind und ſuchte alſo Huͤlfe; ſein Sohn, ein feiner Juͤngling von ſechzehn Jahren, fuͤhrte ihn. Dieſer arme Mann weinte, und ſagte: Ach, lieber Herr Doktor! ich und meine Frau haben zehn lebendige Kinder, ich war ein fleißiger Mann, hab’ uͤber Land und Sand gelaufen, und ſie ehrlich ernaͤhrt; aber nun lieber Gott! ich bettle und Alles bettelt, und Sie wiſſen wohl, wie das mit uns Juden iſt. Stil - ling wurde innig geruͤhrt, mit Thraͤnen in den Augen ergriff er ſeine beiden Haͤnde, druͤckte ſie und ſagte: Mit Gott ſollt ihr euer Geſicht wieder haben! der Jude und ſein Sohn wein - ten laut, ſie wollten auf die Knie fallen, allein Stilling litt das nicht und fuhr fort: wo wollt ihr Quartier und Aufent - halt bekommen? ich nehme nichts von euch: aber ihr muͤßt doch vierzehn Tage hier bleiben. — Ja, lieber Gott! antwor - tete er, das wird Noth haben, es wohnen ſo viele reiche Ju - den hier, aber ſie nehmen keinen Fremden auf. Stilling verſetzte: kommt morgen um neun Uhr ins Judenſpital, dort will ich mit den Vorſtehern ſprechen.
Dieß geſchah: denn als Stilling dort die arme Frau verband, ſo kam der Blinde mit ſeinem Sohne heran geſtie - gen, die ganze Stube war voller Juden, vornehme und ge - ringe durcheinander. Hier trug nun der arme Blinde ſeine Noth klaͤglich vor, allein er fand kein Gehoͤr, dieß hartherzige Volk hatte kein Gefuͤhl fuͤr das große Elend ſeines Bruders. Stilling ſchwieg ſo lange ſtill, bis er merkte, daß Bitten und Flehen nicht half: jetzt aber fing er an ernſthaft zu re - den, er verwies ihnen ihre Unbarmherzigkeit derb, und bezeugte vor dem lebendigen Gott, daß er den Rabbi und die gegen - waͤrtige Patientin auf der Stelle verlaſſen und keine Hand mehr an ſie legen wuͤrde, bis der arme Mann auf vierzehn Tage ordentlich und bequem einlogirt waͤre und den gehoͤri - gen Unterhalt haͤtte. Das wirkte; denn in weniger als zwei Stunden hatte der arme Jude in einem Wirthshauſe, nah’ an der Judengaſſe, Alles, was er brauchte.
Nun beſuchte ihn Stilling, der Jude war zwar vergnuͤgt,338 allein er bezeugte eine ſehr ungewoͤhnliche Angſt fuͤr die Opera - tion, ſo daß Stilling fuͤrchtete, ſie moͤchte ungluͤckliche Fol - gen fuͤr die Kur haben; er nahm daher andre Maaßregeln und ſagte: hoͤrt! ich will die Operation noch ein paar Tage aufſchieben, morgen aber muß ich die Augen etwas reiben und aufklaͤren, das thut nun nicht weh, hernach wollen wir ſehen, wie wir’s machen: damit war der gute Mann ſehr zufrieden.
Den folgenden Morgen nahm er alſo den Wundarzt und einige Freunde mit; der Jude war gutes Muths, ſetzte ſich und ſperrte die Augen weit auf; Stilling nahm das Meſ - ſer und operirte ihm Ein Auge; ſo wie die Staarlinſe heraus war, rief der Jude: Ich glaub, der Herr hat mich keopperirt? — O Gott! ich ſeh, ich ſeh Alles! — Joel! Joel! (ſo hieß ſein Sohn) geh kuͤß aͤm de Fuͤß — kuͤß aͤm de Fuͤß! Joel ſchrie laut, fiel nieder und wollte kuͤſſen, allein es wurde nicht gelitten.
Na! Na! fuhr der Jude fort: ich wollt, ich haͤtt Millio - nen Aaga, vor aͤ halb Koppſtuͤck ließ ich mir immer ahns apperire! Kurz, der Jude wurde vollkommen ſehend, und als er wegreiste, lief er mit ausgereckten Armen durch die Fahr - gaſſe und uͤber die Sachſenhaͤuſer Bruͤcke hin, und rief unauf - hoͤrlich: „ O Ihr Leut, dankt Gott fuͤr mich, ich war blind und bin ſehend geworden! Gott laß den Doktor lange leben, damit er noch vielen Blinden helfen koͤnne! “ Stilling ope - rirte, außer dem Herrn von Leesner, noch ſieben Perſonen, und Alle wurden ſehend, indeſſen konnte ihm Keiner etwas zahlen, als der Herr Doktor Hut, der ihm ſeine Muͤhe reich - lich belohnte.
Aber nun fing auf einmal Stillings ſchrecklichſte Le - bensperiode an, die uͤber ſieben Jahr ununterbrochen fortge - dauert hat; der Herr von Leesner wurde, aller Muͤhe un - geachtet, nicht ſehend: ſeine Augen fingen an, ſich zu entzuͤn - den und zu eitern, mehrere Aerzte unterſtuͤtzten ihn, aber es half Alles nichts. Schmerzen und Furcht vor unheilbarer Blindheit ſchlugen alle Hoffnung darnieder.
Jetzt glaubte Stilling, er muͤßte vergehen, er rang mit339 Gott um Huͤlfe, aber Alles vergebens, alle freundlichen Geſich - ter verſchwanden, alles zog ſich zuruͤck und Stilling blieb in ſeinem Jammer allein: Freund Goͤthe und ſeine Eltern ſuchten ihn aufzurichten; allein das half nicht, er ſah nun weiter nichts als eine ſchreckliche Zukunft; Mitleiden ſeiner Freunde, das ihn nichts half, und dagegen Spott und Ver - achtung in Menge, wodurch ihm ferner alle Praxis wuͤrde erſchwert werden. Jetzt fing er an zu zweifeln, daß ihn Gott zur Medizin berufen habe; er fuͤrchtete, er habe denn doch vielleicht ſeinem eigenen Triebe gefolgt, und werde ſich nun lebenslang mit einem Beruf ſchleppen muͤſſen, der ihm aͤußerſt zuwider ſey; nun trat ihm ſeine duͤrftige Verfaſſung wieder lebhaft vor die Seele; er zitterte, und blos ein geheimes Ver - trauen auf Gottes vaͤterliche Vorſorge, das er kaum ſelbſt bemerkte, erhielt ihn, daß er nicht ganz zu Grunde ging.
Als er einsmals bei dem Herrn von Leesner ſaß und ſich mit Thraͤnen uͤber die mißlungene Kur beklagte: fing der edle Mann an: „ Geben Sie ſich zufrieden, lieber Doktor! es war mir gut, darum auch Gottes Wille, daß ich blind bleiben mußte, aber ich ſollte die Sache unternehmen und Ihnen tauſend Gul - den zahlen, damit den uͤbrigen Armen geholfen wuͤrde. “ Die tauſend Gulden empfing auch Stilling richtig, er nahm ſie mit Schwermuth an und reiste nach einem Aufenthalt von acht Wochen wieder nach Schoͤnenthal zuruͤck. Hier war nun Alles ſtill, alle ſeine Freunde bedauerten ihn, und vermie - den ſehr, von der Sache zu reden. Der liebe Theodor Muͤl - ler, der ihm ſo treu gerathen hatte, war zu ſeinem großen Kummer waͤhrend der Zeit in die Ewigkeit gegangen; der ge - meine Haufen aber, vornehmer und geringer Poͤbel, ſpotteten ohne Ende; das wußte ich wohl, hieß es, der Menſch hat ja nichts gelernt, und doch will er immer oben naus, es iſt dem Windbeutel ganz recht, daß er ſo auf die Naſe faͤllt, u. ſ. w.
Wenn nun auch Stilling ſich uͤber das Alles haͤtte hinaus - ſetzen wollen, ſo half es doch mitwirken, daß er nun keinen Zu - lauf mehr hatte; die Haͤuſer, welche er ſonſt bediente, hatten waͤhrend ſeiner Abweſenheit andre Aerzte angenommen, und Niemand bezeugte Luſt, ſich wieder zu ihm zu wenden; mit340 einem Worte: Stillings Praxis wurde ſehr klein, man fing an, ihn zu vergeſſen, ſeine Schulden wuchſen, denn die tauſend Gulden reichten zu ihrer Tilgung nicht zu, folglich wurde ſein Jammer unermeßlich. Er verbarg ihn zwar vor aller Welt, ſo viel er konnte, deſto ſchwerer wurde er ihm aber zu tragen; ſo - gar die Friedenbergiſche Familie fing an, kalt zu werden; denn ſein eigener Schwiegervater begann zu glauben, er muͤſſe wohl kein guter Haushalter ſeyn; er mußte manche ernſtliche Ermah - nung hoͤren, und oͤfters wurde ihm zu Gemuͤthe gefuͤhrt, daß das Kapital von fuͤnfzehn hundert Thalern, womit er ſtudirt, Inſtrumente und die noͤthigen Buͤcher nebſt dem dringendſten Hausrath angeſchafft, und wofuͤr Herr Friedenberg Buͤrge geworden war, nun bald bezahlt werden muͤßte; dazu wußte aber Stilling nicht den entfernteſten Weg; es kraͤnkte ihn tief in der Seele, daß der ihm ſein Kind gab, als noch kein Be - ruf, vielweniger Brod da war, der mit ihm blindlings auf die Vorſehung getraut hatte, nun auch zu wanken anfing. Chri - ſtine empfand dieſe Veraͤnderung ihres Vaters hoch, und be - gann daher einen Heldenmuth zu faſſen, der Alles uͤbertraf; das war aber auch noͤthig, ohne dieſe ungewoͤhnliche Staͤrke haͤtte ſie, als ein ſchwaches Weib, unterliegen muͤſſen.
Dieſer ganz verzweifelten Lage ungeachtet, fehlte es doch nie am Noͤthigen, nie hatte Stilling Vorrath, aber wenn’s da ſeyn mußte, ſo war es da; dieß ſtaͤrkte nun ihr Beider Glau - ben, ſo daß ſie doch das Leiden aushalten konnten.
Im Fruͤhjahr 1775 gebar Chriſtine wieder einen Sohn, der aber nach vier Wochen ſtarb; ſie litte in dieſem Kindbett auſſerordentlich; an einem Morgen ſahe ſie Stilling in ei - nem tauben Hinbruͤten da liegen, er erſchrack und fragte ſie, was ihre fehle? Sie antwortete, ich bin den Umſtaͤnden nach geſund, aber ich habe einen erſchrecklichen innern Kampf, laß mich in Ruhe, bis ich ausgekaͤmpft habe; mit der groͤßten Sorge erwartete er die Zeit der Aufklaͤrung uͤber dieſen Punkt. Nach zwei traurigen Tagen rief ſie ihn zu ſich, ſie fiel ihm um den Hals und ſagte: „ Lieber Mann! ich hab nun uͤber - wunden, jetzt will ich dir Alles ſagen: Siehe! ich kann keine Kinder mehr gebaͤren, du als Arzt wirſt es einſehen; indeſſen341 biſt du ein geſunder junger Mann; ich habe alſo die zwei Tage mit Gott und mit mir ſelbſt um meine Aufloͤſung ge - kaͤmpft und ihn ſehnlich gebeten, Er moͤchte mich doch zu ſich nehmen, damit du wieder eine Frau heirathen koͤnnteſt, die ſich beſſer fuͤr dich ſchickt, wie ich. “ Dieſer Auftritt ging ihm durch die Seele: Nein, liebes Weib! fing er an, indem er ſie an ſein klopfendes Herz druͤckte, daruͤber ſollſt du nicht kaͤmpfen, vielweniger um deinen Tod beten, lebe und ſey nur ganz getroſt! — von dieſer Sache laͤßt ſich kein Wort mehr ſagen. Chriſtine bekam von nun an keine Kinder mehr.
Den folgenden Sommer erhielt Stilling einen Brief von ſeinem Freunde, dem Herrn Doktor Hoffmann in Frank - furt, worin ihm im Vertrauen entdeckt wurde, daß der Herr von Leesner ſeine unheilbare Blindheit ſehr hoch empfaͤnde und uͤber ſeinen Augenarzt zuweilen Mißtrauen aͤußerte; da er nun ſo fuͤrſtlich bezahlt worden, ſo moͤchte er ſeinem guten Ruf noch dadurch die Krone aufſetzen, daß er auf ſeine eigene Koſten den Herrn von Leesner noch einmal beſuchte, um noch alles Moͤgliche zu verſuchen; indeſſen wollte er, Hoff - mann, dieſe Reiſe abermals in die Zeitung ſetzen laſſen, vielleicht wuͤrde ihm der Aufwand reichlich vergolten. Stil - ling fuͤhlte das Edle in dieſem Plan ganz, wenn er ihn aus - fuͤhren wuͤrde, ſelbſt Chriſtine rieth ihm zu reiſen, aber auch ſonſt Niemand, Jedermann war gegen dieſes Unternehmen; allein jetzt folgte er blos ſeiner Empfindung des Rechts und der Billigkeit; er fand auch einen Freund, der ihm hundert Thaler zu der Reife vorſtreckte; und ſo reiste er mit der Poſt abermal nach Frankfurt, wo er wieder bei Goͤthe einkehrte.
Der Herr von Leesner wurde durch dieſen unvermutheten Beſuch aͤußerſt geruͤhrt, und er that die erwuͤnſchte Wirkung, auch fanden ſich wieder verſchiedene Staarpatienten ein, die Stilling Alle operirte; Einige wurden ſehend, Einige nicht, Keiner aber war im Stande, ihm ſeine Koſten zu verguͤten, daher ſetzte ihn dieſe Reiſe um hundert Thaler tiefer in Schul - den; auch jetzt hielt er ſich wieder acht traurige Wochen in Frankfurt auf.
Stillings ſämmtl. Schriften. I. Band. 23342Waͤhrend der Zeit beging Stilling eine Unvorſichtigkeit, die ihn oft gereuet und viel Verdruß gemacht hat; er fand naͤmlich bei einem Freunde das Leben und die Meinun - gen des Magiſter Sebaldus Nothankers liegen, er nahm das Buch mit, und las es durch; die bittere Satyre, das Laͤcherlichmachen der Pietiſten, und ſogar wahrhaft from - mer Maͤnner, ging ihm durch die Seele; ob er gleich ſelbſt nicht mit den Pietiſten zufrieden war, auch vieles von ihnen dulden mußte, konnte er doch keinen Spott uͤber ſie ertragen, denn er glaubte, Fehler in der Religion muͤßten beweint, be - klagt, aber nicht laͤcherlich gemacht werden, weil dadurch die Religion ſelbſt zum Spott wuͤrde. Dieß Urtheil war gewiß ganz richtig, allein der Schritt, den jetzt Stilling wagte, war nicht weniger uͤbereilt. Er ſchrieb naͤmlich in einem Feuer: die Schleuder eines Hirtenknaben gegen den hohnſprechenden Philiſter, den Verfaſſer des Sebald Nothankers, und ohne die Handſchrift nur Ein - mal wieder kaltbluͤtig durchzugehen, gab er’s ſiedwarm in die Eichenberg’ſche Buchhandlung. Sein Freund Kraft wider - rieth ihm den Druck ſehr, allein es half nicht, es wurde ge - druckt.
Kaum war er wieder in Schoͤnenthal, ſo fing ihn der Schritt an zu reuen, er uͤberlegte nun, was er gethan, und welche wichtige Feinde er ſich dadurch auf den Hals gezogen haͤtte; zudem hatte er in der Schleuder ſeine Grundſaͤtze nicht genug entwickelt, er fuͤrchtete alſo, das Publikum moͤchte ihn fuͤr dummorthodox halten, er ſchrieb alſo ein Traktaͤtchen unter dem Titel: die große Panacee gegen die Krankheit des Unglaubens; dieſes wurde auch in dem naͤmlichen Ver - lag gedruckt. Waͤhrend dieſer Zeit fand ſich ein Vertheidiger des Sebald Nothankers; ein gewiſſer niederlaͤndiſcher Kaufmann ſchrieb gegen die Schleuder; dieß veranlaßte Stil - lingen, abermal die Feder zu ergreifen und die Theorie des Hirtenknaben zur Berichtigung und Verthei - digung der Schleuder deſſelben herauszugeben; in die - ſem Werk verfuhr er ſanft, er bat den Verfaſſer des Noth - ankers wegen ſeiner Heftigkeit um Vergebung, ohne jedoch343 das Geringſte von ſeinen Grundſaͤtzen zu widerrufen; dann ſuchte er ſeinem Gegner, dem niederlaͤndiſchen Kaufmann, rich - tige Begriffe von ſeiner Denkungsart beizubringen, und ver - mied dabei alle Bitterkeit, ſo viel als ihm moͤglich war. Auſ - ſer noch einigen kleinen Neckereien, die weiter keine Folgen hat - ten, ging nun die ganze Sache damit zu Ende.
Um dieſe Zeit entſtanden zu Schoͤnenthal zwei Anſtalten, an welchen Stilling vielen Antheil hatte: verſchiedene edle und aufgeklaͤrte Maͤnner errichteten eine geſchloſſene Geſellſchaft, die ſich Mittwochs Abends zu dem Ende verſammelte, um ſich durch Leſen nuͤtzlicher Schriften und Unterredung uͤber man - cherlei Materie wechſelſeitig zu vervollkommnen. Wer Luſt und Kraft hatte, konnte auch Abhandlungen vorleſen. Vermittelſt feſtgeſetzter Beitraͤge wurde allmaͤhlich eine Bibliothek von auserleſenen Buͤchern geſammelt und die ganze Anſtalt gemein - nuͤtzig gemacht; ſie bluͤht und beſteht noch, und iſt ſeit der Zeit noch weit bluͤhender und zahlreicher geworden.
Hier hatte nun Stilling, der, nebſt ſeinen beſtaͤndigen Freunden Trooſt und Dinkler, eins der erſten Mitglieder war, Gelegenheit, ſein Talent zu zeigen, und ſich den Auser - leſenſten ſeiner Mitbuͤrger beſſer bekannt zu machen: er legte Eulers Briefe an eine deutſche Prinzeſſin zum Grunde, und las in der Verſammlung der geſchloſſenen Geſellſchaft ein Collegium uͤber die Phyſik: dadurch empfahl er ſich un - gemein; alle Mitglieder gewannen ihn lieb und unterſtuͤtzten ihn auf allerlei Weiſe; freilich wurden ſeine Schulden dadurch nicht vermindert, im Gegentheil: der Mangel an Praxis ver - groͤßerte ſie von einem Tag zum andern, allein ſie waͤren doch noch groͤßer geworden, wenn ſich Stilling alles haͤtte anſchaffen ſollen, was ihm von dieſen braven Maͤnnern ge - ſchenkt wurde.
Die zweite Anſtalt betraf einen mineraliſchen Brunnen, welcher in der Naͤhe von Schoͤnenthal entdeckt wurde. Dink - ler, Trooſt und Stilling betrieben die Sache, und Letz - terer wurde von der Obrigkeit zum Brunnenarzt verordnet, er bekam zwar keinen Gehalt, allein ſeine Praxis wurde doch um Etwas vermehrt, obgleich nicht in dem Maße, daß er23 *344ſich ordentlich haͤtte durchbringen, geſchweige Schulden bezah - len koͤnnen.
Dieſe beiden Verbindungen brachte die Pietiſten noch mehr gegen ihn auf: ſie ſahen, daß er ſich immer mehr mit Welt - menſchen einließ, und des Raͤſonnirens und Laͤſterns war da - her kein Ende. Es iſt zu beklagen, daß dieſe ſonſt wahrhaft gute Menſchenklaſſe die große Lehre Jeſu, den ſie doch ſonſt ſo hoch verehren: Richtet nicht, ſo werdet ihr auch nicht gerichtet, ſo wenig beobachten: alle ihre Vorzuͤge werden dadurch vernichtet und ihr Urtheil an jenem Tage wird, ſo wie das Urtheil der Phariſaͤer, ſehr ſchwer ſeyn; ich nehme hier feierlich die Edlen und Rechtſchaffenen, dieß Salz der Erde, unter ihnen aus, ſie verdienen Ehrfurcht, Liebe und Schonung, und mein Ende ſey wie ihr Ende.
Im Fruͤhling des 1776ſten Jahres mußte Stilling eine andere Wohnung beziehen, weil ſein bisheriger Hausherr die ſeine ſelbſt brauchen wollte; Herr Trooſt ſuchte ihm alſo eine und fand ſie, ſie lag am untern Ende der Stadt, am Wege nach Ruͤſſelſtein, an einer Menge von Gaͤrten; ſie war paradieſiſch ſchoͤn und bequem. Stilling miethete ſie, und ruͤſtete ſich zum Aus - und Einzug. Nun ſtand ihm aber eine erſchreckliche Probe im Wege; bisher hatte er die ſiebzig Reichs - thaler Hausmiethe jaͤhrlich richtig bezahlen koͤnnen, aber jetzt war kein Heller dazu vorraͤthig, und doch durfte er nach dem Geſetz nicht eher ausziehen, bis er ſie richtig abgetragen hatte. Der Mangel an Kredit und Geld machte ihn auch bloͤde, ſeinen Hausherrn um Gedult anzuſprechen, indeſſen war doch kein ander Mittel; beladen mit dem aͤußerſten Kummer, ging er alſo hin: ſein Hausherr war ein braver, redlicher Kauf - mann, aber ſtrenge und genau, er ſprach ihn an, ihm noch eine kleine Zeit zu borgen; der Kaufmann bedachte ſich ein wenig und ſagte: „ Ziehen Sie in Gottes Namen, aber mit dem Beding, daß Sie in vierzehn Tagen bezahlen. “ Stil - ling verſprach im feſten Vertrauen auf Gott, nach Verlauf dieſer Zeit Alles zu berichtigen, und zog nun in ſeine neue Wohnung; die Heiterkeit dieſes Hauſes, die Ausſicht in Got - tes freie Natur, die bequeme Einrichtung, kurz, alle Umſtaͤnde345 trugen zur Erleichterung des tiefen Kummers freilich Vieles bei; allein die Sache ſelbſt wurde doch nicht gehoben und der nagende Wurm blieb.
Das Ende der vierzehn Tage ruͤckte heran, und es zeigte ſich nicht der geringſte Anſchein, woher die ſiebzig Thaler ge - nommen werden ſollten. Jetzt ging dem armen Stilling wieder das Waſſer an die Seele; oft lief er auf ſeine Schlaf - kammer, fiel auf ſein Angeſicht, weinte und flehte zu Gott um Huͤlfe, und wenn ihn ſein Beruf fort rief, ſo nahm Chri - ſtine ſeine Stelle ein, ſie weinte laut und betete mit einer Inbrunſt des Geiſtes, daß es einen Stein haͤtte bewegen ſol - len, allein es zeigte ſich keine Spur, an ſo viel Geld zu kom - men. Endlich brach der furchtbare Freitag an, Beide beteten den ganzen Morgen waͤhrend ihren Geſchaͤften unaufhoͤrlich, und die ſtechende Herzensangſt trieb ohne Unterlaß feurige Seufzer empor.
Um zehn Uhr trat der Brieftraͤger zur Thuͤr herein, in einer Hand hielt er das Quittungsbuͤchelchen, und in der andern einen ſchwer beladenen Brief. Voller Ahndung nahm ihn Stil - ling an, es war Goͤthe’s Hand und ſeitwaͤrts ſtand: be - ſchwert mit hundert und fuͤnfzehn Reichsthaler in Golde. Mit Erſtaunen brach er den Brief auf, las — und fand, daß Freund Goͤthe, ohne ſein Wiſſen, den Anfang ſeiner Ge - ſchichte unter dem Titel: Stillings Jugend hatte drucken laſſen, und hier war das Honorar. — Geſchwind quittirte Stilling den Empfang, um den Brieftraͤger nur fortzubrin - gen; jetzt fielen ſich beide Eheleute um den Hals, weinten laut und lobten Gott. Goͤthe hatte, waͤhrend Stillings letzter Reiſe nach Frankfurt, den bekannten Ruf nach Wei - mar bekommen, und dort hatte er Stillings Geſchichte zum Druck befoͤrdert.
Was dieſe ſichtbare Dazwiſchenkunft der hohen Vorſehung fuͤr gewaltige Wirkung auf Stilling und ſeiner Gattin Herzen machte, das iſt nicht zu ſagen; ſie faßten den uner - ſchuͤtterlich feſten Entſchluß, nie mehr zu wanken und zu zwei - feln; ſondern alle Leiden mit Gedult zu ertragen, auch ſahen ſie im Licht der Wahrheit ein, daß ſie der Vater der Men -346 ſchen an der Hand leite, daß alſo ihr Weg und Gang vor Gott recht ſey, und daß er ſie zu hoͤheren Zwecken durch ſolche Pruͤfungen vorbereiten wolle. O wie matt und wie ekel werden einem, der ſo vielfaͤltige Erfahrungen von dieſer Art hat, die Sophyſtereien der Philoſophen, wenn ſie ſagen: Gott bekuͤmmere ſich nicht um das Einzelne, ſondern blos ums Ganze, er habe den Plan der Welt feſtgeſetzt, mit Be - ten ließ ſich alſo nichts aͤndern. — O ihr Tuͤnchner mit loſem Kalk! — wie ſehr ſchimmert der alte Greuel durch! — Je - ſus Chriſtus iſt Weltregent, Stilling rief Ihn hundertmal an, und er half, — Er fuͤhrte ihn den dunkeln, gefaͤhrlichen Felſenweg hinan, und — doch ich will mir ſelbſt vorlaufen. Was helfen da Sophiſten-Spinnengewebe von logiſch-richtigen Schluͤſſen, wo eine Erfahrung der andern auf dem Fuß nach - folgt? Es werden im Verfolg dieſer Geſchichte noch treffen - dere Beweiſe erſcheinen. Stillings Freundſchaft mit Goͤthe und der Beſuch dieſes letztern zu Schoͤnenthal wurde von denen, die Auserwaͤhlte Gottes ſeyn wollen, ſo ſehr verlaͤſtert; man ſchauderte vor ihm als einem Freigeiſt, und ſchmaͤhte Stillingen, daß er Umgang mit ihm haͤtte, und doch war die Sache Plan und Anſtalt der ewigen Liebe, um ihren Zoͤg - ling zu pruͤfen, von ihrer Treue zu uͤberzeugen, und ihn fer - ner auszubilden. Indeſſen war Keiner von denen, die da laͤſter - ten, fuͤhlbar genug, um Stillingen nur mit einem Heller zu unterſtuͤtzen; ſogenannte Weltmenſchen waren am oͤfterſten die geſegneten Werkzeuge Gottes, wenn er Stillingen hel - fen und belehren wollte.
Ich habe es hundertmal geſagt und geſchrieben, und kanns nicht muͤde werden, zu wiederholen: Wer ein wahrer Knecht Gottes ſeyn will, der ſondre ſich nicht von den Menſchen ab, ſondern blos von der Suͤnde; er ſchließe ſich nicht an eine be - ſondere Geſellſchaft an, die ſichs zum Zweck gemacht hat, Gott beſſer zu dienen als Andere; denn in dem Bewußtſeyn dieſes Beſſerdienens wird ſie allmaͤhlig ſtolz, bekommt einen ge - meinen Geiſt, der ſich auszeichnet, Heuchler zu ſeyn ſcheint, und auch manchmal Heuchler, und alſo dem reinen und heili - gen Gott ein Greuel iſt. Ich habe viele ſolcher Geſellſchaften347 gekannt, und noch immer zertruͤmmerten ſie mit Spott, und der Religion zur Schmach. Juͤngling! willſt du den wahren Weg gehen, ſo zeichne dich durch nichts aus, als durch ein rei - nes Leben und edle Handlungen; bekenne Jeſum Chriſtum durch eine treue Nachfolge ſeiner Lehre und ſeines Lebens, und ſprich nur von Ihm, wo es Noth thut und frommt; dann aber ſchaͤme dich auch ſeiner nicht. Traue ihm in jeder Lage deiner Schickſale, und bete zu ihm mit Zuverſicht, er wird dich gewiß zum erhabnen Ziel fuͤhren!
In dieſen Jahren hatte ein großer, thaͤtiger und gewaltig wirkender Geiſt, der Herr Rath Eiſenhart zu Mannheim in der uralten Stadt Rittersburg, in Auſtraſien, eine ſtaatswirthſchaftliche Geſellſchaft errichtet; ſie beſtand aus verſchiedenen Gelehrten und verſtaͤndigen Maͤnnern, die ſich zu dem Zweck vereinigten, Landwirthſchaft, Fabriken und Hand - lung empor zu bringen, und dadurch das Volk, folglich auch den Regenten, zu begluͤcken. Dieß vortreffliche Inſtitut hatte auch der Kurfuͤrſt in Schutz genommen, geſtiftet und mit eini - gen Revenuͤen verſehen, um deſto zweckmaͤßiger wirken zu koͤn - nen. Nun hatte aber dieſe Geſellſchaft eine Siamois-Fabrike angefangen. Eiſenhart kannte Stilling, denn dieſer hatte ihn bei ſeiner Durchreiſe von Straßburg nach Schoͤnenthal beſucht; da nun jene Fabrike an letzterem Orte in außeror - dentlichem Flor iſt, ſo ſchrieb Eiſenhart an ihn und er - ſuchte ihn, ſich nach allerhand Handgriffen und Vortheilen, wodurch die Fabrike vervollkommnet werden koͤnnte, zu erkun - digen, und ihn uͤber die Sache zu belehren.
So wohl auch Stillingen jenes Inſtitut gefiel und ſo ſehr er ſich daruͤber freute, ſo gefaͤhrlich ſchien ihm doch der Auftrag, ſich als Spion gebrauchen zu laſſen: denn er be - fuͤrchtete mit Grund, die Schoͤnenthaler moͤchten endlich die Sache erfahren, und dann wuͤrde ſein Ungluͤck vollends graͤn - zenlos werden, damit er aber doch zeige, wie ſehr er der vor - trefflichen Anſtalt zugethan ſey, ſo ſchrieb er an den Herrn Eiſenhart ſehr freundſchaftlich, und ſtellte ihm die Gefahr vor, in welche er ſich durch einen ſolchen Schritt ſtuͤrzen wuͤrde, zugleich aber fragte er an, ob er nicht dem Inſtitut durch348 allerhand nuͤtzliche Abhandlungen dienen koͤnnte? — denn er habe in ſtaatswirthſchaftlichen Sachen und Gewerben prak - tiſche Erfahrungen geſammelt. Eiſenhart ſchrieb ihm bald wieder, und verſicherte ihn, daß dergleichen Abhandlungen ſehr willkommen ſeyn wuͤrden. Stilling gab ſich alſo ans Werk und arbeitete eine Schrift nach der andern aus, und ſchickte ſie dem Herrn Direktor Eiſenhart zu, der ſie dann in den Verſammlungen zu Rittersburg vorleſen ließ.
Stillings Arbeiten hatten einen ganz unerwarteten Bei - fall, und er wurde bald mit dem Patent, als auswaͤrtiges Mitglied der Churpfaͤlziſchen ſtaatswirthſchaftlichen Geſellſchaft, beehrt. Dieſes freute ihn ungemein, denn ob ihm gleich die ganze Verbindung, ſammt der Ehre, die er dadurch genoß, nichts eintrug, ſo empfand er doch eine wahre Freude an Be - ſchaͤftigungen von der Art, die ganz unmittelbar zum hoͤchſten Wohl der Menſchheit abzielten.
Stilling hatte von ſeiner gedruckten Lebensgeſchichte und von ſeinen Abhandlungen Ehre; er fing nun an, als ein nicht ſo ganz unbeliebter Schriftſteller bekannt zu werden; er ſetzte alſo ſeine Lebensgeſchichte fort, bis auf ſeine Niederlaſſung in Schoͤnenthal; dieſes Schreiben trug ihm auch Etwas ein, und erleichterte alſo ſeine haͤusliche Verfaſſung: allein die Schul - den blieben immer, und wurden nur in geringerem Maaß vergroͤßert. Wer kann ſichs aber vorſtellen, daß ihm dieſes Werk bei den Schoͤnenthalern den Verdacht der Freigeiſterei zuzog? — es iſt unbegreiflich, aber gewiß wahr; man nannte ihn einen Romanenhelden und Phantaſten, und wollte Grund - ſaͤtze finden, die dem Syſtem der reformirten Kirche ſchnur - gerade widerſprechen, und man erklaͤrte ihn fuͤr einen Mann, der keine Religion habe. — Dieſen Verdacht auszuloͤſchen, ſchrieb er die Geſchichte des Herrn von Morgen - than, allein das half wenig oder gar nichts, er blieb ver - achtet und ein immerwaͤhrender Gegenſtand der Laͤſterung, die im Herbſt des 1777ſten Jahres auf den hoͤchſten Gipfel der Bosheit[ſtieg]: Stilling fing naͤmlich auf Einmal an349 zu bemerken, daß man ihn, wenn er uͤber die Gaſſe ging, mit ſtarren Augen anſah und eine Weile beobachtete; wo er herging, da lief man an die Fenſter, ſchaute ihn begierig an, und liſpelte ſich zu: Siehe, da geht er, — du großer Gott! u. ſ. w. — Dieß Betragen von allen Seiten war ihm unbegreiflich, und erſchuͤtterte ihn durch Mark und Bein; wenn er mit Jemand ſprach, ſo merkte er, wie ihn bald Einer mit Aufmerkſamkeit betrachtete, bald ein Anderer ſich mit Wehmuth wegwandte; er ging alſo nur ſelten aus, trauerte in der Stille tief, und er kam ſich vor wie ein Geſpenſt, vor dem ſich Menſchen fuͤrchten und ihm ausweichen. Dieſe neue Art des Leidens kann ſich Niemand vorſtellen, ſie iſt zu ſon - derbar, aber auch ſo unertraͤglich, daß ganz vorzuͤgliche Kraͤfte noͤthig ſind, ſie zu ertragen. Nun bemerkte er auch, daß faſt gar keine Patienten mehr zu ihm kamen, und daß es alſo ſchien, als wenn es nun vollends gar aus waͤre. Dieſer ſchreckliche Zuſtand waͤhrte vierzehn Tage.
Endlich an einem Nachmittag trat ſein Hausherr zur Thuͤre herein; dieſer ſtellte ſich hin, ſah den Doktor Stilling mit ſtarren, bethraͤnten Augen an und ſagte: „ Herr Doktor! neh - „ men Sie mir nicht uͤbel, meine Liebe zu Ihnen draͤngt mich, „ Ihnen Etwas zu entdecken: denken Sie, das Geruͤcht laͤuft „ in ganz Schoͤnenthal herum, Sie ſeyen am Sonnabend vier - „ zehn Tage, des Abends auf Einmal unſinnig geworden, man „ merke es Ihnen zwar nicht an, aber Sie haͤtten voͤllig den „ Verſtand verloren, daher hat man auch alle Patienten vor „ Ihnen gewarnt. Sagen Sie mir doch einmal, wie iſt Ihnen „ denn? ich habe genau auf Sie Acht gegeben und habe nichts „ gemerkt. “
Chriſtine verhuͤllte ihr Angeſicht in ihre Schuͤrze, heulte laut und lief fort: Stilling aber ſtand und ſtaunte; Weh - muth, Aerger und unzaͤhlbare Empfindungen von aller Art ſtuͤrmten ſo gewaltſam aus dem Herzen gegen das Haupt zu, daß er wohl unſinnig haͤtte werden koͤnnen, wenn nicht die Miſchung ſeiner Saͤfte und ſeine innere Organiſation ſo auſ - ſerordentlich regelmaͤßig geweſen waͤre.
Mit einem unbeſchreiblichen, aus dem hoͤchſtlaͤcherlichen und350 hoͤchſttraurigen zuſammengeſetzten Affekt, ſchoſſen ihm Thraͤnen aus den Augen und Empfindungen aus der Seele, und er ſagte: „ Solche Bosheit hat doch wohl auch nie ein Adra - „ melech ausgeſonnen — teufliſch! — ſataniſch-kluͤger konnte „ man’s nicht anfangen, mir vollends alle Nahrung zu ent - „ ziehen — aber Gott, mein Raͤcher und mein Verſorger, lebt „ noch, Er wird mich nicht ewig in dieſer Hoͤlle ſchmachten „ laſſen — Er wird mich retten und verſorgen! Wie es um „ meinen Verſtand ausſieht, daruͤber gebe ich Niemand Rechen - „ ſchaft, man beobachte mich und meine Handlungen, ſo wird „ ſichs zeigen. Die ganze Sache iſt ſo außerordentlich, ſo un - „ menſchlich boshaft, daß ſich nichts weiter davon ſagen laͤßt. “ Nehmen Sie mirs nur nicht uͤbel, lieber Herr Doktor! fuhr ſein Hausherr fort, die Liebe zu Ihnen drang mich dazu. Nein, verſetzte Stilling, ich danke Ihnen dafuͤr!
Nun verſchwand zwar das Geruͤcht allmaͤhlig, ſo wie ein ſtinkendes Ungeheuer wegſchleicht, aber der Geſtank blieb zu - ruͤck, und fuͤr Stilling und ſeine gute Dulderin war zu Schoͤnenthal nunmehr die Luft verpeſtet; die Praxis nahm noch mehr ab, und mit ihr die Hoffnung, ſich naͤhren zu koͤn - nen. Wo das erſchreckliche Geruͤcht herkam, und wer den Baſilisk, der durch Anſchauen toͤdtet, ausgebruͤtet hatte, das bleibt dem großen Tage der Offenbarung vorbehalten. Stil - ling erfuhr die Quelle ſelbſt nicht mit Gewißheit, er ahndete zwar nach Gruͤnden der hoͤchſten Wahrſcheinlichkeit, aber huͤten wird er ſich, das Geringſte zu entdecken. Ueberhaupt wurde der ganze Vorgang nicht ſehr bemerkt, er machte wenig Auf - ſehen, denn dazu war Stilling nicht wichtig genug, er war ja kein Kaufmann, vielweniger reich, folglich auch aͤußerſt wenig an ihm gelegen!
Meine Leſer werden mir erlauben, daß ich auf dieſer furcht - baren Stelle ein wenig verweile, und ihnen die eigentliche Verfaſſung ſchildere, in welcher ſich Stilling jetzt befand, denn es iſt noͤthig, daß ſie ſeine ganze Lage recht empfinden.
Stilling und ſeine Gattin hatten bekanntlich nicht das geringſte Vermoͤgen, folglich auch nicht den geringſten reelen Kredit. — Außer der mediciniſchen Praxis hatte er keinen Be -351 ruf, kein Mittel, Geld zu verdienen, und dazu hatte er we - der Geſchicklichkeit, noch Anlage, vielweniger Luſt; an Kennt - niſſen fehlte es ihm nicht, aber wohl an der Kunſt, ſie anzu - wenden. Auf unaufhoͤrliche Vermuthungen — und wo hat der Arzt, wenn er nicht Wundarzt iſt, ſichere Gruͤnde? die Heilung der Krankheiten, Leben und Tod der Men - ſchen, man bedenke, was das ſagen will! gruͤnden zu muͤſ - ſen, das war Stillings Sache nicht, er war alſo zu nichts weniger geſchickt, als zum praktiſchen Arzt, und doch war er nichts anders, er wußte keine andere Nahrungsquelle, zugleich hatte ihn auch die Vorſehung zu dieſem Beruf geleitet — welch ein Kontraſt — welcher Widerſpruch — welch eine Pruͤfung der Glaubens - und Vertrauens-Beſtaͤndigkeit! und nun denke man ſich ein Publikum dazu, unter welchem und von welchem er leben mußte, und das ſo gegen ihn verfuhr!
Die Staarkuren dauerten zwar mit vorzuͤglichem Gluͤck fort, allein die mehreſten Patienten waren arm, ſelten konnte ihm einer Etwas bezahlen, und wenn zuweilen ein Wohlhabender kam, ſo mißlang ſie gewoͤhnlich.
Aber war vielleicht in Stillings Lebensart und Betragen Etwas, das ihn ſo herunterſetzte? — oder war er wirklich kein Haushalter, oder gar ein Verſchwender? — hierauf will ich unpartheiiſch und nach der Wahrheit antworten: Stil - lings ganzes Leben war offen und frei, jetzt aber uͤberall mit Schwermuth vermiſcht, nichts war an ihm, das Jemand be - leidigen konnte, als ſeine Offenherzigkeit, vermoͤge er vieles aus ſeinem Herzen fließen ließ, das er wohl haͤtte verſchweigen koͤnnen, woher er denn bei ſeinen Berufsverwandten und Kolle - gen als ruhmſuͤchtig, emporſtrebend, und ihnen den Rang ab - laufend, angeſehen wurde; im Grunde aber war dieſer Zug in ſeiner Seele nicht. Was ihm ſonſt am meiſten Leiden ver - urſacht hatte, war ein hoher Grad von Leichtſinn, er wog nicht immer die Folgen ab, was er ſagte oder that, mit Ei - nem Wort, er hatte einen gewiſſen Anſtrich von Etourderie oder Unbedachtſamkeit, und dieſe Unart war es eben, welche die vaͤterliche Vorſehung durch die langwierige Laͤuterung aus ſeinem Charakter wegbannen wollte. Was ſeine Sparſamkeit352 betraf, dawider konnte Niemand mit Grund Etwas einwen - den, und doch lag auch eine Urſache, warum es ihm ſo gar hinderlich ging, in ſeinem Charakter und in ſeiner haͤuslichen Verfaſſung. Nichts in der Welt war ihm druͤckender, als Jemand ſchuldig zu ſeyn, viele und druͤckende Schulden zu ha - ben. Sein Fleiß und ſeine Thaͤtigkeit waren unbegraͤnzt, aber er konnte nicht auf Zahlung dringen; ſein Charakter zwang ihn, auch im groͤßten eigenen Mangel, dem Armen ſeine Schuld zu ſchenken, und dem Reichen, der knauſerte oder uͤber ſeine Forderungen murrte, ein Kreuz uͤber die Rechnung — zu groß - muͤthig, um Geldes willen nur ein unangenehmes Wort zu verlieren, zu wehe. In Nahrung und Kleidung war er rein - lich, nett, aber ſehr modeſt und einfach, auch hatte er kein Steckenpferd, das ihm Geld gekoſtet haͤtte, und doch gab er oft ohne weitere Ueberlegung Etwas aus, das viel beſſer haͤtte koͤnnen verwendet werden, mit Einem Wort: er war ein Ge - lehrter und kein Kaufmann. Chriſtine hingegen war aͤußerſt ſparſam, ſie legte jeden Heller ein paarmal um, ehe ſie ihn ausgab, allein ſie uͤberſah das Ganze der Haushaltung nicht, ſie ſparte nur mit dem, was ihr in die Hand kam.
So viel iſt wahr, Stilling haͤtte, wenn er und ſeine Gattin den Kaufmannsgeiſt beſeſſen haͤtten, weniger Schulden gemacht, aber in ihrer Verfaſſung ganz ohne Schulden zu blei - ben, das war unmoͤglich. Dieſe Bemerkung bin ich der Wahr - heit ſchuldig.
Wer ſich eine lebhafte Vorſtellung von Stillings damali - ger Gemuͤthsverfaſſung machen will, der ſtelle ſich einen Wan - derer auf einem ſchmalen Fußſteig an einer ſenkrechten Felſen - wand vor, rechter Hand einer Hand breit, weiter einen Ab - grund von unſichtbarer Tiefe, links an ihn gedraͤngt, ſteil auf - ſteigend der Felſen, und drohenden lockern Steinmaſſen, die uͤber ſeinem Kopf hangen, vor ſich hin keine Hoffnung zum beſſern ſicheren Wege, im Gegentheil wird der Pfad immer ſchmaͤler, und nun hoͤrt er ganz auf, allenthalben Abgrund!
Stilling haͤtte nur brauchen ein Bekenner der neuen Modereligion zu ſeyn, ſo waͤre er fortgegangen und haͤtte Frau und Kinder ſitzen gelaſſen, aber die Verſuchung dazu kam ihm353 nicht einmal in den Sinn, er ſchloß ſich immer feſter an die Mutter Vorſehung an, er glaubte, es ſey ihr ein Leichtes, da einen Ausweg zu finden, wo alle menſchliche Klugheit keinen entdecken kann, und ging alſo, in Dunkel und Daͤmmerung, Schritt fuͤr Schritt ſeinen ſchmalen Weg fort.
Im Anfang des 1778ſten Jahres machte er abermal ſeine Rechnung, und fand zu ſeinem groͤßten Entſetzen, daß er das verfloſſene Jahr noch tiefer in Schulden gerathen war, als vorhin; zudem fingen einige ſeiner Kreditoren an zu drohen, und es ſchien nun mit ihm aus zu ſeyn; dazu kam noch ein Umſtand: er hatte die Subſcription auf die Werke der ſtaats - wirthſchaftlichen Geſellſchaft uͤbernommen und Geld empfangen, er war alſo auch an Herrn Eiſenhart acht und zwanzig Gulden ſchuldig geworden, die er nicht bezahlen konnte, auch da ſoll ich zu Schanden werden! ſagte er zu ſich ſelbſt. — In der groͤßten Angſt ſeines Herzens lief er auf ſeine Kam - mer, warf ſich vor Gott hin, und betete lange mit einer In - brunſt ohne Gleichen, dann ſtand er auf, ſetzte ſich und ſchrieb einen Brief an Eiſenharten, worin er ihm ſeine ganze Lage entdeckte und ihn bat, noch eine kleine Weile Gedult mit ihm zu haben. Bald darauf erhielt er Antwort: Eiſenhart ſchrieb ihm, er moͤchte der acht und zwanzig Gulden nur mit keinem Worte mehr gedenken, er habe geglaubt, es ging ihm wohl, und die mediziniſche Praxis ſey ſeine Freude, da er aber nun das Gegentheil ſaͤhe, ſo ſchluͤge er ihm vor, ob er nicht Luſt habe, einen Lehrſtuhl der Landwirthſchaft, Techno - logie, Handlung und Vieharzeneikunde auf der neu geſtifteten Kameralakademie zu Rittersburg anzunehmen? Zwei Lehrer ſeyen ſchon da, der eine lehre die Huͤlfswiſſenſchaften, Mathematik, Naturgeſchichte, Phyſik und Chemie, und der Andere: Polizei, Finanz - und Staatswirth - ſchaft; der Gehalt ſey ſechshundert Gulden, und die Colle - giengelder moͤchten auch leicht zwei bis drei hundert Gulden betragen; zu Rittersburg ſey es wohlfeil zu leben, und er ge - traue ſich, den Churfuͤrſten leicht dahin zu bewegen, daß er ihn beriefe, u. ſ. w.
Leſer, ſtehe ſtill und thue einen Blick in Stillings gan -354 zes Weſen — nach dem Leſen dieſes Briefes. — Wie wenn nun dem Wanderer, deſſen ſchrecklichen Felſenpfad ich oben beſchrieben habe, da, wo der Weg vor ihm ausgeht, links eine Thuͤre geoͤffnet wuͤrde, durch welche er einen Ausweg in bluͤ - hende Gefilde faͤnde, und in der Ferne vor ſich eine glaͤnzende Wohnung — eine Heimath ſaͤhe, die fuͤr ihn beſtimmt waͤre! — wie wuͤrde ihm ſeyn? — und gerade ſo war jetzt Stil - ling zu Muthe; er ſaß wie betaͤubt, Chriſtine erſchrack, ſchaute uͤber ſeine Schulter und las, ſie ſchlug ihre Haͤnde zuſammen, ſank auf einen Stuhl, weinte laut und lobte Gott.
Endlich ermannte er ſich, der Glanz des Lichts hatte ihn geblendet, er ſchaute nun mit ſtarrenden Augen durch die ge - oͤffnete Thuͤr in die glaͤnzende Zukunft, und beobachtete, ſahe — und ſahe ſeine ganze Beſtimmung. Von Jugend auf waren oͤffentliche Reden, Vortrag und Deklamation ſeine groͤßte Freude geweſen, und immer hatte er vielen Beifall genoſſen; Bruſt und Stimme — Alles war zum oͤffentlichen Vortrag geſchaf - fen. Nie hatte er ſich aber die entfernteſte Hoffnung machen koͤnnen, je Profeſſor werden zu koͤnnen, ob es gleich ſein hoͤch - ſter Wunſch war; denn in der Arzneikunde hatte er weder Gluͤck noch Ruf, und Beides wird doch zu dem Zweck erfor - dert, und ſonſt ließ ſich kein bekanntes Fach denken, in dem er haͤtte angeſtellt werden koͤnnen. Aber, was iſt denn der Vorſehung unmoͤglich? — Sie ſchuf ihm ein neues, noch wenig bearbeitetes Feld, wo er genug zu thun fand. Er uͤberſchaute ſeine Kenntniſſe, und fand, zu ſeinem aͤußerſten Erſtaunen, daß er unbemerkt von der Wiege an zu dieſem Beruf gebildet worden: unter Bauersleuten erzogen, hatte er die Landwirth - ſchaft gelernt, und alle Arbeiten vielfaͤltig ſelbſt verrichtet, wer kann ſie beſſer lehren, als ich? dachte er bei ſich ſelbſt; in den Waͤldern, unter Foͤrſtern, Kohlenbrennern, Holzmachern u. dergl. hatte er lange gelebt, er kannte alſo das Praktiſche des Forſtweſens ganz; von Jugend auf mit Bergleuten aller Art, mit Eiſen -, Kupfer - und Silber-Schmelzern, mit Stab - und Stahl - und Oſemund-Schmieden und Drahtziehern um - geben, hatte er dieſe wichtigen Fabriken aus dem Grund ken - nen gelernt; nach der Hand auch bei Herrn Spanier ſieben355 Jahr lang Guͤter und Fabriken verwaltet, und dabei die Hand - lung in allen ihren Theilen gruͤndlich begriffen und alles aus - geuͤbt; und damit es ihm auch ſogar an den Grund - und Huͤlfs-Wiſſenſchaften nicht fehlen moͤchte, ſo hatte ihn die Vorſehung ſehr weislich zum Studium der Arzneikunde gelei - tet, weil da Phyſik, Chemie, Naturgeſchichte u. dergl. unent - behrlich ſind; und wirklich hatte er auch dieſe Wiſſenſchaften, und von jeher die Mathematik, mit großer Vorliebe beſſer durchgearbeitet, als alles Andere; ſogar in Straßburg ſchon ein Collegium uͤber die Chemie geleſen; auch die Vieharznei - kunde war ihm, als praktiſcher Arzt, leicht. Endlich hatte er ſich in Schoͤnenthal mit allen Arten von Fabriken be - kannt gemacht; denn es hatte von jeher ein unwiderſtehlicher Trieb in ihm gewaltet, alle Gewerbe bis auf den Grund ken - nen zu lernen, ohne zu wiſſen, warum? Im Collegienleſen hatte er ſich uͤber das alles bis daher ununterbrochen geuͤbt, und jetzt iſt es Zeit, daß ich noch einer Sache gedenke, von welcher ich, ohne mich laͤcherlich zu machen, bis daher nichts ſagen konnte, die aber aͤußerſt wichtig iſt: Stilling war von Jugend auf ein außerordentlicher Freund der Geſchichte geweſen, und auch ziemlich darin bewandert, er hatte alſo von Regierungsſachen gute Kenntniſſe geſammelt. Dazu kamen noch Romane von allerlei Gattung, und vorzuͤglich politiſche, wodurch ſich in ſeiner Seele ein Trieb bildete, den Niemand entdeckte, weil er ſich deſſelben ſchaͤmte; Luſt zu regieren, uͤber - ſchwenglicher Hunger, Menſchen zu begluͤcken, war’s, was ihn drang; er hatte geglaubt, Letzteres als praktiſcher Arzt zu koͤnnen, aber nichts in dieſem Fach genuͤgte ihm. Morgen - thau’s Geſchichte war aus dieſer Quelle gefloſſen. Jetzt denke man ſich einen Mann, ohne Geburt, ohne Rang, ohne die mindeſte Hoffnung, je Staatsaͤmter bedienen zu koͤnnen, und dann jenen leidenſchaftlichen Hunger. Aber jetzt — jetzt ſchmolz dieſe Maſſe von Unregelmaͤßigkeit in den Strom ſei - ner kuͤnftigen Beſtimmung hinein: Nein! Nein! ich wollte auch ja nicht ſelbſt Regent ſeyn, rief er aus, als er allein war, aber Regenten - und Fuͤrſtendiener, Volksbegluͤcker bilden, das war’s und ich wußte es nicht. Wie ein Suͤnder die Ver -356 dammung flieht, dem nun der Richter Gnade winkt, und ihn aus dem Staub erhebt, hinſinkt und unausſprechlichen Dank ſtammelt, ſo verſank Stilling vor Gott, und ſtammelte unausſprechliche Worte. Auch Chriſtine war uͤberſchweng - lich froh, ſie ſehnte ſich fort aus ihrer Lage, hin in ein Land, das ſie nicht kannte.
Sobald ſich der Tumult in ſeiner Seele geſtillt hatte und er nun ruhig geworden war, ſo traten ihm alle ſeine Schul - den unter die Augen, kaum konnte er den Wirrwarr uͤberſe - hen! Wie kommſt Du aber hier weg, ohne zu bezahlen? Dieß war ein harter Knoten. Doch ermannte er ſich, denn er war zu ſehr von ſeiner Beſtimmung uͤberzeugt, als daß er nur im Geringſten haͤtte zweifeln koͤnnen; er ſchrieb alſo an Ei - ſenhart: daß ihm der Lehrſtuhl in Rittersburg ſehr angenehm waͤre, und daß er ſich der Stelle gewachſen fuͤhle, indeſſen wuͤrden ihn ſeine Kreditoren nicht ziehen laſſen: er fragte an, ob man ihm nicht ein gewiſſes Kapital vorſchießen koͤnnte? er wollte ſein Gehalt verſchreiben, und jaͤhrlich ein paar hundert Gulden nebſt der Intereſſen darauf abtragen; dieß wurde ihm aber rundaus abgeſchlagen: dagegen troͤſtete ihn Eiſenhart, daß ſich ſeine Glaͤubiger wohl wuͤrden zufrieden geben, wenn ſie nur einmal ſaͤhen, daß er Mittel haͤtte, ſie mit der Zeit befriedigen zu koͤnnen. Indeſſen wußte das Stilling beſſer, ſein perſoͤnlicher Kredit war allzuſehr geſchwaͤcht, achthundert Gulden wenigſtens mußten bezahlt werden, ſonſt ließ man ihn nicht ziehen; doch er faßte unuͤberwindlichen Muth, und hoffte, wo nichts zu hoffen war!
Nun verſchwieg er dieſen Vorfall keineswegs, er erzaͤhlte ihn ſeinen Freunden, und dieſe erzaͤhlten ihn wieder; es gab alſo ein allgemeines Stadtgeſchwaͤtz, der Doktor Stilling ſolle Profeſſor werden: nichts war nun den Schoͤnenthalern laͤcherlicher, als das: „ Stilling Profeſſor! “— Wie kommt der dazu? — er verſteht ja nichts, das iſt klare Windben - telei, er erdichtet das, blos um ſich groß zu machen, u. ſ. w. Waͤhrend der Zeit ging aber alles ſeinen Gang fort: der akademiſche Senat in Ritterburg waͤhlte Stilling zum or - deutlichen oͤffentlichen Profeſſor der Landwirthſchaft, Technologie,357 Handlung und Vieharzneikunde, und ſchlug ihn dem Chur - fuͤrſten vor; die Beſtaͤtigung erfolgte und es fehlte alſo nichts weiter, als die foͤrmliche Vokation. Daß ſich dieß alles bis in den Sommer hinein verzog, iſt natuͤrlich.
Jetzt entzog er ſich allmaͤhlig ſeinem bisherigen Beruf; auſ - ſer einigen wohlhabenden Stadtpatienten, die ihm das noͤthige Auskommen verſchafften, that er faſt nichts mehr in der Me - dizin, und er widmete ſich nun ganz ſeiner kuͤnftigen, ihm ſo ſehr angenehmen Beſtimmung. Alle ſeine ſtaatswirthſchaftli - chen Kenntniſſe lagen in ſeiner Seele wie ein verworrenes Chavs durcheinander, als kuͤnftiger Lehrer mußte er aber alles in ein Syſtem bringen, nichts war ihm leichter, als das, denn ſeine ganze Seele war Syſtem; das ſtaatswirthſchaftliche Lehr - gebaͤude entwickelte ſich alſo vor ſeinen Augen ohne Muͤhe, und er betrachtete das herrliche Ganze mit innigſtem Vergnuͤgen. Ich verweiſe meine Leſer auf ſeine herausgegebenen vielfaͤltigen Schriften, um ſie hier nicht mit gelehrten Abhandlungen aufzuhalten.
Ueber dieſen angenehmen Beſchaͤftigungen vorfloß der Som - mer, der Herbſt ruͤckte heran, und er erwartete von einem Tag zum andern ſeinen Beruf. Was geſchah? — in der er - ſten Septemberwoche erhielt er einen Brief von Eiſenhart, der die ganze Sache wieder gaͤnzlich vernichtete! — Bei dem Zug des Churfuͤrſten nach Baiern war das Projekt entſtan - den, die Kameralakademie nach Mannheim zu verlegen; hier waren nun Maͤnner von allerhand Gattung, welche Stil - lings Lehrſtuhl bekleiden ſollten und konnten. Eiſenhart beklagte ſich und ihn, allein es war nicht zu aͤndern.
Jetzt war ſein Zuſtand voͤllig unbeſchreiblich: er und ſein armes Weib ſaßen beiſammen auf ihrem Kaͤmmerlein und weinten um die Wette: nun ſchien Alles verloren zu ſeyn; er konnte ſich lange nicht beſinnen, nicht erholen, ſo betaͤubt war er. Endlich warf er ſich hin vor Gott, demuͤthigte ſich unter ſeine gewaltige Hand, und uͤbergab ſich, ſein Weib und ſeine zwei Kinder an die vaͤterliche Leitung des Allguͤtigen, und beſchloß nun, ohne das geringſte Murren, wieder zurStillings ſämmtl. Schriften. I. Band. 24358praktiſchen Medizin uͤberzugehen, und Alles zu dulden, was die Vorſehung uͤber ihn verhaͤngen wuͤrde. Nun fing er wie - der an auszugehen, Freunde und Bekannte zu beſuchen, und ihnen ſein Ungluͤck zu erzaͤhlen; ſeine Praxis ſpann ſich wieder an, und es hatte das Anſehen, als wenn’s ihm beſſer gehen ſollte, wie vorher. Er ergab ſich alſo ganz und war ruhig.
Den Kennern der goͤttlichen Wege wird ohne mein Erin - nern bekannt ſeyn, daß dieß Alles genau Methode der Vor - ſehung iſt: Stilling war mit Leidenſchaft und unreiner Begierde dem Ziel entgegen gelaufen, es hatte ſich Stolz, Eitelkeit, und wer weiß nicht was alles, mit eingemiſcht, in dieſer Verfaſſung waͤre er mit brauſendem Empordrang nach Rittersburg gekommen, und gewiß nicht gluͤcklich geweſen. Es iſt Maxime der ewigen Liebe, daß ſie ihre Zoͤglinge ge - ſchmeidig und ganz in ihren Willen gelaſſen macht, ehe ſie weiter geht. Fuͤr jetzt glaubte Stilling alſo feſt, er ſolle und muͤſſe Arzt bleiben, und ſeine Gelaſſenheit ging ſo weit, daß er die Vokation ſogar nicht mehr wuͤnſchte, ſondern ganz gleichguͤltig war. Gerade ſo gings ihm auch ehemals, als ihm ſein Handwerk ſo zuwider war; er eilte mit Ungeſtuͤmm von Schauberg weg und zu Herrn Hochberg; wie er - baͤrmlich es ihm da erging, das hab ich in ſeiner Wander - ſchaft beſchrieben! Nun kam er zum ſeligen Meiſter Iſaak, war ruhig und wollte gern Handwerksmann bleiben, ſo daß ihn Herr Spanier aus ſeinem Stand herausnoͤthigen mußte.
Die Schoͤnenthaler blieſen indeſſen wieder wacker Allarm, denn nun war es ausgemacht, daß die ganze Sache Stil - lings Erfindung, und blos aus Eitelkeit erſonnen geweſen war; das focht ihn aber wenig an, die Gewohnheit hatte ihn abgehaͤrtet, er ſah und hoͤrte ſo etwas nicht mehr; tief erge - ben in Gottes Willen, lief er vom Morgen fruͤh bis des Abends ſpaͤt, zwiſchen ſeinen Kranken, und Chriſtine ruͤſtete ſich auf den Winter, indem ſie, nach ihrer Gewohnheit, aller - hand Gemuͤſe einmachte, das Haus ausweißen und repariren ließ, u. ſ. w.
Nun kam acht Tage vor Michaelis ploͤtzlich und uner - wartet ſeine Vokation; ruhig und ganz ohne Ungeſtuͤmm em -359 pfing er ſie — doch war ihm innig wohl, er und ſeine Gat - tin lobten Gott, und ſie fingen an ſich zum Abzug und zur weitern Reiſe zu ruͤſten. Die Kameralakademie blieb nun zu Rittersburg, weil ſich bei ihrer Verſetzung zu viele Schwierig - keiten gefunden hatten.
Ich habe Stillings erſte Kur beſchrieben; ich will auch ſeine letzte ſchildern, denn ſie iſt nicht weniger merkwuͤrdig.
Eine gute Stunde oberhalb Schoͤnenthal wohnte ein ſehr rechtſchaffener, gottesfuͤrchtiger und reicher Kaufmann, Namens Kreds, ſeine Gattin gehoͤrte, in Anſehung ihres Kopfes und Herzens, unter die Edelſten ihres Geſchlechts, und ſie hatten Beide Stillingen oft gebraucht, denn ſie kannten und lieb - ten ihn. Nun hatten ſie einen Hauslehrer bei ihren Kindern, einen alten ſiebenzigjaͤhrigen Mann, der ein Sachſe von Ge - burt war und Stoi hieß. Dieſer Mann war einer von den ſonderbarſten Menſchen: lang, hager und ſehr ehrwuͤrdig von Anſehen; voller Kenntniſſe und mit der erhabenſten Tugend ausgeruͤſtet, beſaß er eine aus Religionsgruͤnden entſtandene Kaltbluͤtigkeit, Gelaſſenheit und Ergebenheit in Gottes Willen, die faſt ohne Beiſpiel iſt; alle Bewegungen und Stellungen ſeines Koͤrpers waren anſtaͤndig, ſein ganzes Daſeyn natuͤr - lich feierlich, und alles, was er ſprach, war abgewogen, jedes Wort war ein goldener Apfel in einer ſilbernen Schale; und was ſo ſehr vorzuͤglich an dieſem vortrefflichen Mann war, das war ſeine Beſcheidenheit und Behutſamkeit im Ur - theil: er ſprach nie von anderer Menſchen Fehler, ſondern er bedeckte ſie, wo er konnte, und ſah blos auf ſich. Stoi war ein Muſter des Menſchen und des Chriſten.
Dieſer merkwuͤrdige Mann bekam das Scharlachfrieſel. Der Gang der Krankheit war natuͤrlich, und wie gewoͤhnlich nicht gefaͤhrlich; endlich zog ſich die ganze Materie in den rechten Arm, welcher uͤber und uͤber ſcharlachroth wurde, und den Patienten ſo brannte und juckte, daß er’s nicht laͤnger auszu - halten vermochte. Stoi hatte ſich in ſeinem Leben um nichts weniger bekuͤmmert, als um ſeinen Koͤrper, er betrachtete ihn als ein gelehntes Haus, immer war er maͤßig und nie krank geweſen, folglich wußte er auch von keiner Behutſamkeit und24 *360von keiner Gefahr; er laͤßt ſich alſo einen Eimer kalt Waſſer bringen, und ſteckt den Arm hinein bis auf den Boden; das that ihm wohl, der Brand und das Jucken verging und mit ihm die Roͤthe und der Ausſchlag, er zog alſo den Arm wie - der heraus und ſiehe, er war wie der andere.
Stoi war froh, daß er ſich ſo leicht geholfen hatte. In - deſſen bemerkte er aber gar bald, daß der Arm ſeine Empfin - dungen verloren hatte, er kniff ſich in die Haut und fuͤhlte nichts, er fuͤhlte den Puls an dieſem Arm, und ſiehe, er ſtand ganz ſtill, er fuͤhlte ihn am Hals, und er ſchlug regelmaͤßig; kurz, er war uͤbrigens vollkommen geſund. Wenn er ſeinen Arm bewegen wollte, ſo fand er, daß er das nicht konnte, denn er war wie todt; nun traute er doch der Sache nicht recht, daher ließ er einen benachbarten Arzt kommen; dieſer erſchrack, wie billig, er belegte den Arm mit Zugpflaſtern, hieb ihn mit Neſſeln, aber alles umſonſt, er blieb unempfindlich. Nach und nach fingen die Finger an zu faulen, und dieſe Faͤulniß ſchlich allmaͤhlig weiter den Arm hinan.
Nun wurden Trooſt und Stilling gerufen, ſie gingen hin und fanden den Arm bis bald an den Ellenbogen dick aufge - laufen, ſchwarzbraun und unertraͤglich ſtinkend. So wie ſie zur Thuͤr hereintraten, fing Stoi an: Meine Herren! ich habe eine Unvorſichtigkeit begangen; (hier erzaͤhlte er die ganze Geſchichte) thun Sie ihre Pflicht, ich bin in der Hand Gottes, ich bin ſiebenzig Jahr alt und wohl zufrieden mit jedem Aus - gang, den die Sache nimmt.
Die beiden Aerzte berathſchlagten ſich; ſie ſahen wohl ein, daß der Arm abgenommen werden muͤßte, indeſſen glaubten ſie doch, noch vorher ein Mittel verſuchen zu muͤſſen, wodurch die Operation erleichtert werden koͤnnte. Herr Trooſt nahm alſo ein Meſſer und zerſchnitt die Gegend, wo der kalte Brand aufhoͤrte, rund herum mit vielen Schnitten; von dem allem empfand der Patient nichts, dann machten ſie Aufſchlaͤge von der Bruͤhe der Fieberrinde und verordneten auch, dieſe Bruͤhe haͤufig innerlich zu gebrauchen.
Des andern Tages wurden ſie wieder gerufen und erſucht, die Inſtrumente zum Abnehmen des Arms mitzubringen. Die -361 ſes thaten ſie und wanderten fort. Als ſie hinkamen, fanden ſie den Patienten mitten in der Stube auf einem Feldbett lie - gen; rundum laͤngs der Waͤnde ſtanden allerhand junge Leute, maͤnnlichen und weiblichen Geſchlechts, welche ſtille Thraͤnen vergoßen und beteten. Stoi aber lag ruhig da, und zeigte nicht die mindeſte Furcht. Meine Herren! fing er an, ich kann den Geſtank nicht ertragen, nehmen Sie mir den Arm ab, und zwar uͤber dem Ellenbogen, nahe an der Schulter, wo er gewiß noch geſund iſt; ob der Stumpen hernach einen Zoll laͤnger oder kuͤrzer iſt, darauf wird wohl nichts ankom - men. Stilling und Trooſt fanden das richtig und ver - ſprachen bald fertig zu ſeyn.
Ob nun gleich bei der furchtbaren Zuruͤſtung Alle zitterten, ſo zitterte doch Stoi nicht, er ſtreifte und wickelte das Hemd hinauf bis uͤber die Schulter, und zeigte den Ort, wo der Arm abgenommen werden ſollte. Stilling und Trooſt konnten ſich Beide des Laͤchelns nicht enthalten: als Letzterer die Klemm - ſchraube brachte, um die Pulsader zuzuſchrauben, ſo half er ſie ganz ruhig und gelaſſen anlegen, ſogar wollte er den Arm bei dem Schnitt helfen halten; dieß verwehrte ihm aber Stil - ling, im Gegentheil buͤckte er ſich auf das Angeſicht des Greiſes, lenkte es von der Operation ab, und ſprach mit ihm von andern Sachen; waͤhrend der Zeit machte Trooſt den Schnitt durchs Fleiſch bis auf den Knochen; Stoi that nur einen Seufzer und ſprach fort. Nun wurde auch der Kno - chen abgeſaͤgt, und dann der Stumpe verbunden.
Dieſer ganze Kaſus war merkwuͤrdig: Herr Trooſt ließ die Klemmſchraube ein wenig nach, um zu ſehen, ob die Puls - ader ſpringen wuͤrde, allein ſie ſprang auch da nicht, als ſie ganz weggenommen wurde; kurz, dieſe Frieſelmaterie hatte ſich oben am Arm in eine Geſchwulſt zuſammengezogen, welche die Pulsader und Nerven feſt zuſammendruͤckte; das erfuhr man aber erſt nach ſeinem Tode.
Alles ließ ſich gut an, es erfolgte eine gute Eiterung, und man glaubte der Heilung gewiß zu ſeyn, als Stilling abermal ſchleunig gerufen wurde, er lief hin und fand nun den guten Stoi roͤchelnd, ſehr ſchwer am Odem ziehen. Ich362 hab’ abermal eine Thorheit begangen, ſtammelte ihm der Kranke entgegen, ich ſtand auf — ging aus Fenſter — eine kalte Nordluft blies an meinen Arm — ich fing an zu frieren, die Materie iſt mir auf die Bruſt getreten — ich ſterbe — auch gut! — thun Sie noch ihre Pflicht, Herr Doktor, da - mit hernach die Welt nicht uͤber Sie laͤſtern moͤge. Stil - ling machte das Verband los, und fand die Wunde voͤllig trocken, er ſtreute ſpaniſch Fliegenpulver uͤber ſie her, und um - gab den ganzen Stumpen mit Zugpflaſtern; dann verordnete er auch andere dienliche Mittel, allein alles half nicht. Stoi ſtarb ihm unter den Haͤnden.
Jetzt ein großes Punktum hinter meine mediziniſche Pra - xis, ſagte Stilling zu ſich ſelbſt; er begleitete den guten Stoi zum Grabe, und begrub ihn mit ſeinem bisherigen Beruf. Doch beſchloß er, die Staarkuren auf immer beizube - halten, blos darum, weil er darin ſo gluͤcklich und die Kur ſelbſt ſo wohlthaͤtig war; dann aber machte er ſichs auch zum Geſetz, ſich dafuͤr in Zukunft nichts mehr bezahlen zu laſſen, ſondern ſich dadurch ein Kapital fuͤr jene Welt zu ſammeln.
Nun ruͤckte der Zeitpunkt heran, wo er Schoͤnenthal ver - laſſen und nach Rittersburg ziehen mußte: es war ſchon tief im Oktober, die Tage waren alſo kurz, die Witterung und die Wege ſchlimm, und endlich war er verbunden, mit dem Anfang des Novembers ſeine Kollegia anzufangen, indeſſen war noch vorher eine ſteile Klippe zu uͤberſteigen; — acht - hundert Gulden mußten bezahlt ſeyn, eher konnte er nicht ziehen. Verſchiedene Freunde riethen ihm, er ſollte bonis cidiren, und ſeinen Kreditoren Alles hingeben. Allein das war Stillings Sache nicht. Nein! Nein! ſagte er, Je - der ſoll bis auf den letzten Heller bezahlt werden, das ver - ſpreche ich im Namen Gottes, er hat mich gefuͤhrt, und wird mich gewiß nicht zu Schanden werden laſſen, ich will nicht zum Schelmen werden, und ihm, meinem himmliſchen Fuͤh - rer, aus der Schule laufen. Ja, alles gut! antwortete man ihm, was wollen Sie aber nun machen? — Bezahlen koͤn -363 nen Sie nicht, wenn man Sie nun mit Ihren Mobilien in Arreſt nimmt, was fangen ſie dann an?
Das uͤberlaſſe ich alles Gott, verſetzte er, und bekuͤmmere mich nicht darum, denn es iſt ſeine Sache.
Er fing alſo an, das, was er mitnehmen wollte, einzu - packen und nach Frankfurt zu verſenden; zum Verkauf des Uebrigen ſetzte er einen Tag zur Auktion an. Alles ging un - gehindert von ſtatten, und Niemand ruͤhrte ſich: er ſandte ab und empfing Geld, ohne daß der mindeſte Einſpruch ge - ſchahe; ſogar beſtellte er den Poſtwagen bis auf Ruͤſſel - ſtein fuͤr ſich, ſeine Frau und zwei Kinder, auf naͤchſtfol - genden Sonntag, und alſo acht Tage vorher. Indeſſen ſteckte man ihm unter der Hand, daß ſich ein paar Glaͤubiger ver - abredet haͤtten, ihn arretiren zu laſſen: denn da das Bis - chen Hausrath, das er uͤberhaupt beſaß, ſo viel wie nichts war, ſo hatten ſie ſich an nichts gekehret, und ſie glaubten, wenn ſie ihn ſo in ſeiner Laufbahn hinderten, ſo wuͤrden ſich Leute finden, die ihn ranzionirten. Stilling zitterte inner - lich vor Angſt, doch vertraute er feſt auf Gott.
Den folgenden Donnerſtag kam ſein Freund Trooſt mit froher laͤchelnder Miene und naſſen Augen zur Thuͤr herein - getreten, er trug ſchwer an ſeiner Taſche. Freund! fing er an, es geht wieder auf Stillings Weiſe, und er zog einen leinenen Sack mit Laubthalern heraus und warf ihn auf den Tiſch. Stilling und Chriſtine ſahen ſich an, und fin - gen an zu weinen.
Wie geht das zu? fragte er ſeinen Freund Trooſt. Das geht ſo zu, antwortete dieſer: ich war bei einem gewiſſen Kaufmann, den er auch nannte, ich wußte, daß Sie ihm ſechzig Thaler ſchuldig ſind, ich bat ihn alſo, er moͤchte Ih - nen die Schuld ſtreichen; der Kaufmann laͤchelte und ſagte: das nicht nur, ich will ihm noch ſechzig dazu ſchenken, denn ich weiß, wie ſehr er in der Klemme ſitzt; er zahlte mir alſo das Geld und da iſt es; jetzt haben Sie ſchon beinahe den achten Theil von dem, was Sie brauchen; aber nun will ich Ihnen einen Rath geben: Morgen muͤſſen Sie bei allen Bekannten Abſchied nehmen, damit Sie den Samſtag364 ruhig ſind, und ſich alſo zur Reiſe anſchicken koͤnnen. Seyn Sie getroſt und ſehen Sie zu, was Gott thun wird.
Stilling folgte und fing an, des Freitags Morgens Ab - ſchied zu nehmen; der Erſte, zu welchem er ging, war ein reicher Kaufmann; ſo wie er zur Thuͤr hineintrat, kam ihm dieſer entgegen, und ſagte: Herr Doktor! ich weiß, Sie kom - men Abſchied zu nehmen, ich habe Sie nie verkannt, Sie waren immer ein rechtſchaffener Mann, als Arzt konnte ich Sie nicht brauchen, denn ich war mit dem meinigen zufrie - den; Gott hat mich auch aus dem Staub erhoben und zum Mann gemacht, ich erkenne, was ich ihm ſchuldig bin; ha - ben Sie die Guͤte, dieſe Erkenntlichkeit in ſeinem Namen an - zunehmen, beſchaͤmen Sie mich nicht mit einem Abſchlag, und verſuͤndigen Sie ſich nicht durch Stolz. Damit umarmte und kuͤßte er ihn, und ſteckte ihm ein Roͤllchen von zwanzig Dukaten, folglich hundert Gulden in die Hand. Stilling erſtarrte, und der edle Wohlthaͤter lief fort. Erſtaunen ergriff ihn bei dem Schopf, wie jener Engel den Habakuk, er wurde wie empor gehoben von hoher Freude, und ging weiter.
Doch, was halte ich meine Leſer auf? — mit groͤßter Schonung und Beſcheidenheit wurden ihm Erkenntlichkeiten aufgedrungen; und wie er des Abends fertig war, und nach Hauſe kam — und nachzaͤhlte — was hatte er? — genau achthundert Gulden: — nichts mehr und nichts weniger.
Solche erhabene Scenen werden durch Beſchreibung und durch die glaͤnzendſten Ausdruͤcke nur geſchwaͤcht — ich ſchweige — und bete an! Gott wird Euch finden, ihr geheimen Schoͤ - nenthaler Freunde! ich will Euch am Tage der Vergeltung hervorziehen und ſagen: Siehe Herr, die warens, die mich Verlaſſenen erretteten, lohne ihnen nach deinen großen Ver - heißungen uͤberſchwenglich; und Er wirds thun. Dir aber, auserwaͤhlter und unwandelbarer Freund Trooſt! Dir ſage ich nichts. — Wenn wir einmal Hand in Hand die Gefilde jener Welt durchwallen, dann laͤßt ſich von der Sache reden.
Ich habe bisher hin und wieder den Charakter der Schoͤ - nenthaler nicht zum beſten geſchildert, und es iſt leicht moͤg -365 lich, daß viele meine Leſer gegen dieſen Ort uͤberhaupt einen widrigen Eindruck bekommen; ich muß ſelbſt geſtehen, daß ich mich dieſes Eindrucks nicht erwehren kann, das trifft aber die wenigen Edlen nicht, die dort — ſelbſt unter dem Rin - gen nach Reichthum ſeufzen, oder doch — neben ihrem Be - ruf auch die hohe Empfindung naͤhren, die wahre Gottes - und Menſchenliebe immer zu unzertrennlichen Gefaͤhrten hat. Dieſe Schoͤnenthaler Buͤrger koͤnnen mir alſo nicht verargen, daß ich die Wahrheit ſchreibe; um ihretwillen ſegnet Gott dieſen bluͤhenden Ort, und es gereicht ihnen zur Ehre vor Gott und Menſchen, daß ſie unter ſo vielen Verſuchungen Muth und Glauben behalten, und ſich nicht vom Strom hin - reißen laſſen.
Vorzuͤglich werden aber die dortigen Pietiſten das Wehe uͤber mich ausſchreien, daß ich ſie ſo oͤffentlich darſtelle, wie ſie ſind — auch dieß trifft nur die unter ihnen, die es verdient haben, warum haͤngen ſie auch den Schild der Religion und Gottesfurcht aus, und thun dann nicht, was ihnen Religion und Gottesfurcht gebent? — In unſern Zeiten, da das Chri - ſtenthum von allen Seiten bekaͤmpft und der Laͤſterung aus - geſetzt iſt, muß der rechtſchaffene Verehrer der Religion wir - ken und ſchweigen, auſſer wo er reden muß. Doch, was halte ich mich mit Entſchuldigung auf? Der Herr wirds ſehen und gerecht richten!
Ich habe lange des Herrn Friedenbergs und ſeiner Fa - milie nicht gedacht, nicht erzaͤhlt, wie ſich dieſer edle Mann mit den Seinigen bei Stillings Rufe nach Rittersburg betrug.
Friedenberg war Fabrikant und Kaufmann, er, ſeine Frau und Kinder waren aͤußerſt fleißig, ſparſam und thaͤtig, ihre Anhaͤnglichkeit an die Religion hatten ſie vor jeder Ver - ſchwendung und vor allen Luſtbarkeiten der großen Welt bewahrt; er hatte mit Nichts angefangen, und war doch unter dem goͤtt - lichen Segen zu einem zwar nicht reichen, aber doch wohlha - benden Mann geworden; daher hatte ſich eine Geſinnung bei ihm und den Seinigen herrſchend gemacht, die Stillingen nicht guͤnſtig war. Sie hatten keinen Begriff von dem Charak -366 ter eines Gelehrten, uͤberhaupt hatte die Gelehrſamkeit keinen hohen Werth bei ihnen: was nicht das Vermoͤgen vermehrt, war ihnen ſehr gleichguͤltig; als Kaufleute hatten ſie ganz recht; allein ſie waren auch deßwegen nicht faͤhig, Stillin - gen gehoͤrig zu beurtheilen, denn dieſer rang nach Wahrheit und Kenntniſſen; die unaufhoͤrliche Ueberlegung, wie jeden Augenblick Etwas zu verdienen oder zu erſparen ſey, konnte unmoͤglich einen Geiſt erfuͤllen, deſſen ganzer Wirkungskreis mit hoͤhern Dingen beſchaͤftigt war, daher entſtand nun eine Art von Kaͤlte, die Stillings gefuͤhlvolles Herz unſaͤglich ſchmerzte; er ſuchte ſeinem Schwiegervater die Sache in ihrer wahren Geſtalt vorzuſtellen, allein es blieb dabei: ein Mann muß ſich redlich naͤhren, das iſt ſeine erſte Pflicht; die zweite iſt dann freilich die, auch der Welt zu nuͤtzen. Ganz recht, dachte Stilling, kein Menſch in der Welt kann’s dem edlen Manne verargen, daß er ſo urtheilt.
Bei dem Ruf nach Rittersburg war Friedenberg nicht blos gleichguͤltig, ſondern gar mißmuthig; denn da er nun einmal ſeinen Schwiegerſohn fuͤr einen ſchlechten Haushalter hielt, ſo glaubte er, eine fixe Beſoldung wuͤrde ihm eben ſo we - nig helfen, als ſein Erwerb in Schoͤnenthal: und da er fuͤr ſeine Schulden Buͤrge geworden war, ſo befuͤrchtete er, er wuͤrde nun die ganze Buͤrde allein tragen, und vielleicht am Ende Alles bezahlen muͤſſen. Stillings Herz litte bei dieſer Lage entſetzlich, er konnte nichts dagegen einwenden, ſondern er mußte die Hand auf den Mund legen und ſchweigen, aber aus ſeinem beklemmten Herzen ſtiegen unaufhoͤrlich die bruͤn - ſtigſten Seufzer um Huͤlfe zum Vater im Himmel empor; ſein Vertrauen wankte nicht, und er glaubte gewiß, Gott werde ihn herrlich erretten und ſeinen Glauben kroͤnen. Indeſſen ver - ſprach er, ſeinem Schwiegervater jaͤhrlich ein paar hundert Gulden abzutragen, und ſo immerfort die Laſt zu erleichtern; dabei bliebs, und Friedenberg willigte in ſeinen Abzug.
Des Sonnabends ging nun Stilling mit ſeiner Chri - ſtine und beiden Kindern nach Raſenheim, um Abſchied zu nehmen. Die Schmerzen, welche bei ſolchen Gelegenheiten gewoͤhnlich ſind, wurden jetzt durch die Lage der Sachen ſehr367 erleichtert. Doch fuͤrchtete Stilling, ſeine Gattin moͤchte den Sturm der Empfindungen nicht ertragen, allein er irrte ſich; denn ſie empfand noch viel tiefer, als er, wie ſehr ſie und ihr Mann mißkannt worden; ſie war ſich bewußt, daß ſie nach allen ihren Kraͤften geſpart hatte, daß ihr Aufzug fuͤr die Frau eines Doktors auſſerordentlich maͤßig, und weit geringer ſey, als der Kleidervorrath ihrer Schweſtern; und endlich, daß ſie weder in Eſſen noch Trinken, noch in Mobilien mehr gethan hatte, als ſie verantworten konnte: ſie war alſo muthig und froh, denn ſie hatte ein gutes Gewiſſen. Als daher der Abend heranruͤckte und ihre ganze Familie im Kreis herumſaß und trauerte, ſo ſchickte ſie ihre beiden Kinder, nachdem ſie ihre Groß - eltern geſegnet hatten, weg, und nun trat ſie in den Kreis, ſtand hin und ſagte:
„ Wir reiſen fort in ein fremdes Land, das wir nicht ken - „ nen; wir verlaſſen Eltern, Geſchwiſter und Verwandten, und „ wir verlaſſen das Alles gerne, denn nichts iſt da, das uns „ den Abſchied ſchwer macht; Kreuz und Leiden ohne Zahl „ hat uns Gott zugeſchickt, und Niemand hat uns geholfen, „ erquickt, getroͤſtet; nur Gottes Gnade hat uns durch fremde „ Huͤlfe vor dem gaͤnzlichen Untergang gerettet. Ich gehe „ mit Freuden. Vater, Mutter, Bruͤder, Schweſtern, lebt ſo, „ daß ich Euch Alle vor dem Throne Gottes wieder finden „ moͤge! “—
Damit kuͤßte ſie einen nach dem andern die Reihe herum und lief fort, ohne eine Thraͤne zu vergießen; Stilling nahm nun auch, aber mit vielen Thraͤnen Abſchied, und wan - derte ihr nach.
Des folgenden Morgens ſetzte er ſich mit ſeinem Weib und Kindern in den Poſtwagen und fuhr fort.
So wie ſich Stillingen von dem Schauplatz ſeiner ſechs und ein halbjaͤhrigen feurigen Pruͤfung entfernte, ſo erweiterte ſich ſein Herz, ſeine ganze Seele war Dank und hohes Ge - fuͤhl der Freude. Nichts bringt reineres Vergnuͤgen, als die Erfahrungen, die uns uͤberſtandene Leiden gewaͤhren — gerei -368 nigter und immer verklaͤrter treten wir aus jedem Laͤuterungs - feuer hervor; und auch das iſt einziges und unſchaͤtzbares Verdienſt der Religion Jeſus, welches keine andere jemals gehabt hat: ſie lehrt uns die Suͤnde und die Leiden kennen. Dazu kam nun noch die frohere Ausſicht in die Zu - kunft, eine ganz ſeiner bisherigen Fuͤhrung und ſeinem Cha - rakter angemeſſene Beſtimmung, ein Beruf, der ihm ein ge - wiſſes Stuͤck Brod verſchaffte und Tilgung ſeiner Schulden hoffen ließ, und endlich ein Publikum, das keine Vorurtheile gegen ihn haben konnte. Das Alles goß tiefen Frieden in ſeine Seele.
Des Mittags fand er einen Theil der Schoͤnenthaler geſchloſſenen Geſellſchaft im Wirthshauſe, welche das Abſchied - mahl hatten bereiten laſſen; hier ſpeiste er und letzte ſich mit dieſen vortrefflichen Maͤnnern, und nun reiste er auf Ruͤſſel - ſtein zu. Zween ſeiner Schwaͤger begleiteten ihn auch bis hie - her, und gingen dann wieder zuruͤck. Von Ruͤſſelſtein nahm er einen geringen Wagen bis Koͤlln, und dort einen andern bis Frankfurt. Zu Koblenz beſuchte er die beruͤhmte Frau Kanzlerin Sophia von la Roche, er war ihr durch ſeine Lebensgeſchichte ſchon bekannt; dann reiste er weiter bis Frank - furt, wo er ſeine alten Freunde, vorzuͤglich aber den Herrn Pfarrer Kraft beſuchte, der ihm auſſerordentliche Liebe und Freundſchaft bezeugte.
Nach einem Raſttag ging er wegen des großen Gewaͤſ - ſers uͤber Mainz, Worms und Frankenthal nach Mannheim, wo er von Herrn Eiſenhart mit offenen Armen empfan - gen wurde. Hier fand er nun, wegen ſeiner im Druck er - ſchienenen Geſchichte, viel Goͤnner und Freunde. Allenthalben erwies man ihm Gnade, Freundſchaft, Liebe und Zaͤrtlichkeit: wie wohl das ihm und ſeiner Chriſtine nach ſo langer Zertretung und Verachtung that, das iſt nicht zu beſchrei - ben. Nun gab ihm aber auch Eiſenhart verſchiedene wich - tige Erinnerungen: Stillings Geſchichte hatte, bei allem Beifall in dortigen Gegenden, ein Vorurtheil des Pietismus erweckt, Jeder hielt ihn fuͤr einen Mann, der denn doch immer ein feiner Schwaͤrmer ſey, und vor dem man ſich in dieſer Ruͤck -369 ſicht in Acht zu nehmen habe; daher wurde er gewarnt, nicht zu viel von der Religion zu reden, ſondern nur durch Recht - ſchaffenheit und gute Handlungen ſein Licht leuchten zu laſſen, denn in einem Lande, wo die katholiſche Religion die herr - ſchende ſey, muͤſſe man ſehr vorſichtig ſeyn. Das Alles ſahe Stilling ein und verſprach daher heilig, Alles ſehr wohl zu beobachten; indeſſen mußte er herzlich lachen: denn zu Schoͤ - nenthal war er ein Freigeiſt, und hier nun ein Pietiſt — ſo wenig Wahrheit enthalten die Urtheile der Menſchen.
Nun ging die Reiſe in das waldigte und gebirgigte Auſtra - ſien; ungeachtet der rauhen Jahrszeit und der entblaͤtterten todten Natur ſtaunte doch Stilling rechts und links die ſtei - len Gebirge und Felſen, die uralten Waͤlder und die allenthal - ben an den Klippen hangenden ruinirten alten Ritterwohnungen an, Alles ſah ihm ſo vaterlaͤndiſch aus; es war ihm wohl, und bald ſahe er dort in der Ferne das waldumkraͤnzte Rit - tersburg mit allen ſeinen alten Thuͤrmen liegen; ſeine Bruſt erhob ſich, und das Herz pochte ſtaͤrker, je mehr er ſich dem Schauplatz ſeiner kuͤnftigen Beſtimmung naͤherte. Endlich fuhr er in der Abenddaͤmmerung zum Thore hinein; ſo wie ſich ſeine Kutſche links herum lenkte, und durch die enge Gaſſe fort - fuhr, hoͤrte er eine Mannsſtimme rechter Hand: Halt! rufen, der Kutſcher hielt.
Iſt der Herr Profeſſor Stilling in der Kutſche? Ein dop - peltes Ja! erſcholl aus dem Wagen; nun ſo ſteigen Sie aus, mein auserwaͤhlter, theurer Freund und Kollege! hier ſollen Sie logiren.
Der ſanfte, liebevolle und unerwartete Ton ruͤhrte Stil - ling und ſeine Gattin bis zu Thraͤnen, ſie ſtiegen aus, und fielen dem Herrn Profeſſor Siegfried und ſeiner Ehefreun - din in die Arme; bald erſchien auch der andere Kollege, der Herr Profeſſor Stillenfeld, deſſen eingezogener, ſtiller und ruhiger Charakter Stillings Aufmerkſamkeit am mehreſten auf ſich zog; Stillenfeld war noch unverheirathet, Sieg - fried aber hatte ſchon ein Kind; dieſer und ſeine Gattin waren vortreffliche Menſchen, voller Waͤrme fuͤr die Religion und alles Gute, und zugleich menſchenliebend bis zur Schwaͤr -370 merei; dabei war Siegfried ein ſehr gelehrter, tiefdenken - der philoſophiſcher Mann, deſſen Hauptneigung die Gottesge - lehrtheit war, die er auch ehemals ſtudirt hatte; hier aber lehrte er das Natur - und Voͤlkerrecht und die Polizei -, Finanz - und Staatswirthſchaft. Stillenfeld hingegen war ein ſehr feiner, edler und rechtſchaffener Mann, voller Syſtem, Ord - nung und mathematiſcher Genauigkeit; in der Mathematik, Naturlehre, Naturgeſchichte und Chemie hatte er ſchwerlich ſeines Gleichen. Unſerm Stilling war wohl bei dieſen Maͤnnern, und ſein Weib ſchloß ſich bald an die Frau Pro - feſſorin Siegfried an, welche ſie nun in Allem unterrich - tete, und ihr die Haushaltung einrichten half.
Freilich war der Abſtand zwiſchen Schoͤnenthal und Rittersburg groß: alte unregelmaͤßige Haͤuſer, niedrige Zimmer mit Balken in die Kreuz und Quere, kleine Fenſter mit runden oder ſechseckigten Scheiben, Thuͤren, die nirgends ſchloßen, Oefen von erſchrecklicher Groͤße, auf welchen die Hochzeit zu Kana in Galilaͤa mit ihren zwoͤlf ſteinernen Waſ - ſerkruͤgen in halb erhabener Arbeit gar erbaulich zu ſehen war, dann eine Ausſicht in lauter traurige Tannenwaͤlder, nirgends ein rauſchender Bach, ſondern ein ſchlangenfoͤrmig hinkriechen - des moraſtiges Waſſer u. ſ. w. Das Alles machte freilich einen ſonderbaren Kontraſt mit den vorhin gewohnten Gegen - ſtaͤnden; Chriſtine hatte auch oft Thraͤnen in den Augen, allein man wird nach und nach mit allem vertraut, und ſo gewoͤhnten ſich Beide in ihre neue Lage, und waren von Her - zen zufrieden.
Jetzt ſchrieb nun Stilling, ſowohl nach Raſenheim an ſeinen Schwiegervater, als auch nach Leindorf an ſei - nen Vater, und nach Lichthauſen an ſeinen Oheim, und ſchilderte dieſen Freunden ſeine ganze Lage nach der Wahr - heit; wobei er dann zugleich uͤberall die herrlichen Ausſichten, die er in die Zukunft hatte, keineswegs vergaß. Johann und Wilhelm Stilling waren uͤber dieſen neuen Aufſchwung ihres Heinrichs voller Staunen, ſie ſahen ſich an und ſag - ten gegen einander: Was wird noch aus ihm werden? Friedenberg hingegen freute ſich nicht ſonderlich, ſtatt deſ -371 ſen war ſeine Antwort voll vaͤterlicher Ermahnungen, nur gut hauszuhalten; fuͤr die Ehre, die ſeinem Schwiegerſohn und ſeiner Tochter dadurch widerfuhr, daß er nun Profeſſor war, hatte er kein Gefuͤhl; uͤberhaupt ruͤhrte ihn Glanz und Ehre nicht.
Weil ihm ſein Syſtem, daß er ſich von der Staatswirth - ſchaft gemacht hatte, ſehr am Herzen lag, ſo wendete er den erſten Winter an, es in ſeinem Lehrbuch auszuarbeiten und zugleich uͤber die geſchriebenen Bogen ein Kollegium zu leſen; im Fruͤhjahr wurde dieß Buch in Mannheim unter dem Titel: Verſuch einer Grundlehre ſaͤmmtlicher Ka - meralwiſſenſchaften gedruckt; es fand, ungeachtet ſei - ner Fehler und Unvollkommenheit, vielen Beifall, und Stil - ling fing nun an, ſeiner Beſtimmung vollkommen gewiß zu ſeyn, er fuͤhlte ſich ganz in ſeinem natuͤrlichen Fache, Alles, was ihm ſein Amt zur Pflicht machte, war auch zugleich ſeine groͤßte Freude. Man kann ſich keine gluͤcklichere Lage denken, als die, in welcher er ſich jetzt befand, denn auch das Publikum, in welchem er lebte, liebte, ehrte und ſchaͤtzte ihn und ſeine Chriſtine aus der Maßen; hier hoͤrte alles Schmaͤ - hen, alles Laͤſtern auf; haͤtte ihm von Schoͤnenthal aus nicht ein beſtaͤndiges Ungewitter wegen ſeiner Schulden ge - droht, ſo waͤre er vollkommen gluͤcklich geweſen.
Den folgenden Sommer las er nun die Forſtwiſſenſchaft, Landwirthſchaft und Technologie: denn er begnuͤgte ſich nicht blos mit den Wiſſenſchaften, die ihm aufgetragen waren, ſon - dern er brannte vor Verlangen, ſein Syſtem ſo weit auszu - fuͤllen, als ihm in ſeiner Sphaͤre moͤglich war; und da die bekannten Lehrbuͤcher nicht in ſeinen Plan paßten, ſo nahm er ſich vor, uͤber alle ſeine Wiſſenſchaften ſelbſt Kompendien zu ſchreiben, wozu er ſich alſo von Anfang an ruͤſtete.
Stilling war bisher von ſeinem himmliſchen Schmelzer ausgegluͤht und zu einem brauchbaren Werkzeug aus dem Gro - ben gearbeitet worden: nun fehlte ihm noch die Feile und die Politur; auch dieſe wurde nicht vergeſſen: denn es bildeten ſich von ferne Anlagen, die die letzte Hand an das Werk legen372 ſollten, und die ihm endlich noch ſchwerer wurden, als alles, was er bisher ausgeſtanden hatte.
Die ſtaatswirthſchaftliche Geſellſchaft, wovon er nun auch ordentliches Mitglied war, wirkte mit unausſprechlichem Se - gen und Fortgang fuͤr ihr Vaterland; und die Pfalz kann ihr in Ewigkeit ihre Bemuͤhungen nicht genug verdanken; dieß iſt Wahrheit und nicht Kompliment. Sie errichtete die Kameral - ſchule, legte eine Fabrike an, die ſehr bluͤht und vielen hun - dert Menſchen Brod gibt, und von dieſem Allem war der Herr Rath Eiſenhart das erſte und letzte Triebrad, das eigentliche Gewicht an der Uhr. Dann aber hatte ſie auch ein Landgut auf dem Dorfe Siegelbach, anderthalb Stun - den von Rittersburg gekauft, wo ſie allerhand neue land - wirthſchaftliche Verſuche machen und den Bauern mit guten Beiſpielen vorgehen wollten; dieß Gut war bisher von Ver - waltern betrieben worden, aber Alles ſchlug fehl, nichts wollte gerathen, denn alle Umſtaͤnde waren dem Gluͤck entgegen. Als nun Stilling nach Rittersburg kam, ſo wurde ihm, als Lehrer der Landwirthſchaft, die Verwaltung uͤbergeben; er nahm dieſes Nebenamt an, denn er glaubte, der Sache voͤllig gewachſen zu ſeyn. Der Verwalter wurde alſo abgeſchafft, und Stillingen die ganze Sache uͤbertragen; dieß geſchah alſofort bei dem Antritt ſeines Lehramts.
Als er nun nach Siegelbach kam, und Alles genau unterſuchte, ſo fand er einen großen ſchoͤnen, mit Quaderſtei - nen gepflaſterten Viehſtall, ganz nach der neuen Art einge - richtet; in demſelben zwanzig magere Gerippe von Schwei - zerkuͤhen, welche alle zuſammen taͤglich drei Schoppen Milch gaben, das wahre Bild von Pharaons ſieben mageren Kuͤhen; dann ſtanden da zwei Arbeitspferde mit zwei Fuͤllen, und draußen, in beſondern Stallungen, eine ziemliche Heerde Schweine, und ungeachtet es erſt November war, ſo war doch ſchon alles Heu lang verfuͤttert, und an Stroh zum Streuen war gar nicht zu denken. Es fehlte alſo in der Haus - haltung an Milch und Butter, und Futter fuͤr ſo viele große Maͤuler, Schluͤnde und Maͤgen. Das ſchlug nun dem guten Profeſſor gewaltig aufs Herz, er wandte ſich geraden Weges373 an die Geſellſchaft, hier aber fand er keine Ohren, Jeder ſagte ihm: er muͤſſe ſo gut thun, als er koͤnne, Jeder war des ewigen Zahlens muͤde. Jetzt fehlte es nun Stillingen wie - der an der noͤthigen Klugheit; er haͤtte alſofort abtreten und die Verwaltung wieder abgeben ſollen, allein das that er nicht, er war gar zuſehr fuͤr das ganze Inſtitut eingenommen, und glaubte, ſeine Ehre ſey mit der Ehre deſſelben aufs ge - naueſte verbunden, er muͤſſe es alſo durchſetzen, und eben dieß war ſein Ungluͤck.
Das erſte, was er vornahm, war der Verkauf der Haͤlfte des Viehſtandes, denn er hoffte, mit dem daraus geloͤsten Kapitel ſo viel Futter und Stroh zu kaufen, daß er die an - dere Haͤlfte fuͤglich durchbringen koͤnnte. Er veranſtaltete alſo eine gerichtliche Auktion und erſtaunte uͤber den Zulauf und uͤber die Preiſe, ſo daß er gewiß glaubte, er werde den ſchwe - ren Berg uͤberſteigen; allein wie erſchrack er, als er erfuhr, daß die mehreſten Kaͤufer Glaͤubiger waren, die an dem Gut zu fordern hatten! — Und die Andern, denen das Gut nichts zu zahlen hatte, waren arm: er bekam alſo wenig Geld, und wollte er ſich helfen, ſo mußte er in den Sack greifen, und wo das nicht zureichte, Geld auf eigenen Kredit aufnehmen.
Freilich hatte er die gegruͤndete Hoffnung, daß im kuͤnfti - gen Sommer die große und geſegnete Erndte alles uͤberfluͤßig erſetzen, und die großen Klee - und Futterſtuͤcke ſeine Kaſſe von der Buͤrde befreien wuͤrden, und inſofern waͤre er zu ent - ſchuldigen; indeſſen war es fuͤr einen Mann in ſeinen Um - ſtaͤnden immer Leichtſinn, ſo etwas zu unternehmen, beſon - ders da er die wahre Lage der Sache erfuhr. Gott! wie leicht iſt es aber, nach durchkaͤmpften ſchweren Truͤbſalen die Plaͤtz - chen ausfindig zu machen, wo man haͤtte ausweichen koͤnnen! Er ſey fuͤr ſeine Fuͤhrung geprieſen!
Zu dieſen drohenden Wolken ſammelten ſich noch andere: zu Rittersburg waren die regierenden Perſonen alle katholiſch, und dieß nach dem platten Sinn des Worts; die Franziska - ner hatten die Pfarrbedienung und Seelſorge ihrer Gemeinde; dieſen Geiſtlichen war alſo daran gelegen, daß Dummheit und Aberglauben immer unterhalten werden moͤchte; vorzuͤg -Stillings ſämmtl. Schriften. I. Band. 25374lich war der Oberbeamte ihr treuer Anhaͤnger. Nun hatte ſich aber die Kameralſchule daſelbſt eingeniſtet, deren Lehrer alle Proteſtanten waren, dieſe uͤbten ſogar noch Jurisdiction aus, das alles war ihnen daher natuͤrlicher Weiſe ein Dorn in den Augen. Nun befand ſich allda ein gewiſſer Gelehrter, Namens Spaͤſſel, ein ſonderbarer Heiliger, ſo wie es we - nige gibt; ſein Anzug war ſehr nachlaͤßig, mitunter auch un - ſauber, ſein Gang und Wandel ſchlutterlich, alle ſeine Reden niedrig-komiſch, ſo daß er in allen Geſellſchaften den Hans - wurſt vorſtellte. In Geheim war er der Spion eines vorneh - men Geiſtlichen, der bei dem Churfuͤrſten viel galt, und eben ſo auch der Zeitungs - und Maͤhrchentraͤger des Oberbeamten; oͤffentlich war er ein ſpoͤttelnder Witzling uͤber gewiſſe Ge - braͤuche ſeiner eigenen Religion; der aber war ungluͤcklich, der ihm alsdann half, denn er hatte ſich heimlich in die Fran - ziskanerbruͤderſchaft begeben, der er treulich anhing.
Schwer faͤllt es mir, dieſen Mann hier oͤffentlich zur Schau zu ſtellen, allein er war Werkzeug in der Hand der Vorſehung, ich kann ihn nicht weglaſſen: lebt er noch, wird er erkannt, und iſt er noch, was er war, ſo geſchieht ihm Recht, und es iſt Pflicht, jeden Rechtſchaffenen vor ihm zu warnen; iſt er aber todt, oder wird er nicht erkannt, ſo ſcha - det ihm meine Schilderung nicht. So lang ein Menſch in dieſem Lande der Erziehung und Vervollkommnung waltet, ſo lang iſt er der Beſſerung und Ruͤckkehr faͤhig; wird alſo Spaͤſ - ſel auch nach den Grundſaͤtzen ſeiner Kirche ein edler, recht - ſchaffener, wohlthaͤtiger Mann, ſo wird das ganze Publikum, das ihn ſonſt gerade ſo kannte, wie ich ihn hier ſchildere, ſeine Geſinnung aͤndern, ihn lieben, und es wird in Rittersburg eben ſowohl, als im Himmel, mehr Freude uͤber ſeine Ruͤck - kehr zur Tugend ſeyn, als uͤber neun und neunzig edle Men - ſchen, die einen ſo ſchweren Kampf gegen Temperament und Charakter nicht gekaͤmpft haben, als er. Dann aber werde auch ich auftreten und vor aller Welt ſagen: Komm, Bru - der! vergib, wie ich dir vergeben habe, du biſt beſſer als ich, denn du haſt mehrere Feinde uͤber - wunden!
375Dieſer Spaͤſſel hatte von jeher geſucht, in die ſtaatswirth - ſchaftliche Geſellſchaft aufgenommen, ſogar Profeſſor der Vieh - arzneikunde zu werden; allein man fuͤrchtete ſich vor ihm, denn er war ein ſehr gefaͤhrlicher Mann, der auch noch uͤber - das den Anſtand nicht hatte, welcher einem Lehrer ſo noͤthig iſt; folglich hatte man ihn mit aller Behutſamkeit entfernt ge - halten. Da nun Stilling das Fach der Vieharzneikunde zugleich mit bekam, ſo war er ihm im Wege. Dazu kam noch Etwas: die Geſellſchaft hatte ſeine Buͤcherſammlung, dieſe wurde woͤchentlich Einmal des Abends von ſechs bis acht Uhr geoͤffnet; Stilling uͤbernahm dieſe Leſeſtunde frei - willig und umſonſt zu halten, theils um ſich Litterarkennt - niß zu erwerben, theils auch ſeinen Zuhoͤrern dadurch noch mehr zu nuͤtzen; dann hatte auch die Geſellſchaft allen Gelehr - ten des Orts erlaubt, in dieſen Leſeſtunden ihre Buͤcher zu benutzen.
Spaͤſſel bediente ſich dieſer Wohlthat ſelten, doch fing er gegen das Fruͤhjahr an, oͤfter zu kommen; nun machte aber Stillingen die Siegelbacher Gutsverwaltung eine Aenderung in der Sache, er mußte nun alle Montag dorthin reiſen: und konnte alſo an dieſem Tage wie gewoͤhnlich die Leſeſtunde nicht halten, daher verlegte er ſie auf den Dienſtag Abend. Dieß machte er allen Studirenden bekannt, und bat ſie, es oͤffentlich zu ſagen. Spaͤſſel kam indeſſen drei Montage nacheinander an die verſchloſſene Thuͤr, den dritten ſetzte er ſich hin, und ſchrieb folgendes Billet; ich ruͤcke es gerade ſo ein, wie es war*)Späſſel ſchrieb ſo nicht aus Mangel an Kenntniß, ſon - dern aus Originalität.:
eſ Wird wohl darauf Angelegt ſeyn, das mich der herr Bro - feſſor Stilling for Einen Narren Halten Will — dient aber drauf zur Nachricht, daſ daſ Spaͤſſels ſach nit is —!!! die geſelſchaft ſoll ire Leute auf ire Pflicht und ſchuldigkeit anweiſen Spaͤſſel
Stilling ſchlug dieſen Zettel in einen Brief an den Direk - tor, Herrn Rath Eiſenhart ein, und berichtete ihm den25 *376Hergang; dieſer ſchrieb alſofort an Herrn Spaͤſſel und ſtellte ihm die Sache in ihrer wahren Liegenheit hoͤflich und beſchei - den vor; allein das war Oel ins Feuer gegoſſen, denn der ehrliche Mann kam zu Stilling und bediente ſich ſolcher haͤmiſcher und beleidigender Ausdruͤcke, daß dieſer in die lo - dernde Flamme gerieth, und den Spaͤſſel ſo geſchwind wie moͤglich zur Thuͤr hinaus und die Treppe hinunter promovirte, und ihm dann nachrief: Kommen Sie mir ja nicht wie - der uͤber die Schwelle, bis Sie ein braver Mann geworden ſind!
Dabei blieb’s — daß aber Spaͤſſel das Alles ſehr wohl behielt, um dereinſt Nutzen daraus zu ziehen, iſt leicht zu denken.
Um dieſe Zeit erſchien ein abermaliges Meteor am dortigen Horizont: ein gewiſſer anmaßlicher Englaͤnder, Namens Tom, hatte als engliſcher Sprachmeiſter Land und Sand durchzogen, tauſend Plane gemacht, Schloͤſſer in die Luft gebaut, und Al - les war mißlungen. Sonſt war er ein Mann von ungemei - nen Talenten, gelehrt und uͤberhaupt ein Genie im eigentli - chen Verſtande. Die Triebfeder aller ſeiner Handlungen war ein unbaͤndiger Stolz, ohne Religion; ſteifer Naturalismus und blindes Schickſal ſchienen ſeine Fuͤhrer zu ſeyn. Die Menſchenliebe, dieſes ſchoͤne Gotteskind, war ihm unbekannt, er liebte nichts als ſich ſelbſt; der Name Sprachmeiſter war ihm ein Graͤuel, ob er gleich im Grunde nichts anders vor - ſtellte, und er fuͤhrte den Charakter als Profeſſor der engliſchen Litteratur. Die Armuth war ihm eine Hoͤlle, und doch war er hoͤchſt arm; denn als ehemaliger wohlhabender Kaufmann hatte er die Rolle des großen Herrn geſpielt, und darauf, wie leicht zu denken, fallirt. Dieſer Mann hielt ſich damals in Mannheim auf, und ſchien ihm das Rittersburger Inſtitut gerade ein Schauplatz zu ſeyn, wo er ſich naͤhren und Ruhm erwerben koͤnnte. Er hielt deßwegen bei Eiſenhart an, er moͤchte ihm zu einer Profeſſorsſtelle an der Ritters - burger Akademie helfen; Eiſenhart, der freilich die Brauch - barkeit dieſes Mannes, aber auch ſeinen gefaͤhrlichen Charak - ter kannte, und uͤber das alles fuͤr noͤthig hielt, mit der Gnade377 des Churfuͤrſten hauszuhalten, ſchlug ihm daher ſein Geſuch immer rund ab. Endlich entſchloß ſich Tom, ohne Beſol - dung und ohne Ruf hinzugehen, er hielt daher bloß um die Erlaubniß an, dort ſich aufzuhalten und Kollegia leſen zu duͤr - fen; dieß wurde ihm gerne zugeſtanden. Eiſenhart ſchrieb daher an Stilling, dem die Beſorgung der Logis und der Quartiere fuͤr die Studirenden aufgetragen war, er moͤchte fuͤr Herrn Profeſſor Tom eine Wohnung miethen; zugleich ſchil - derte er ihm dieſen Mann, und beſtimmte ihm, wie ſeine Woh - nung beſchaffen ſeyn muͤßte.
Stilling miethete alſo ein paar ſchoͤne Zimmer bei einem Kaufmann, und erwartete nun Toms Ankunft.
Endlich an einem Nachmittag kam die Magd aus einem Wirthshauſe mit folgendem Zettel an Stilling: P. P.
Profeſſor Tom iſt hier.
Tom.
Hm! dachte Stilling — eine ſeltſame Ankuͤndigung!
Nun beobachtete er immer den Grundſatz, da, wo er ſich und der guten Sache nichts vergeben konnte, den unterſten Weg zu gehen. Er nahm alſo Hut und Stock, um nach dem Wirthshauſe zu gehen; jetzt in dem Augenblick wurde ihm aber von dem Kaufmann angekuͤndigt, daß er den engliſchen Sprach - meiſter nicht einziehen ließe, bis er das erſte Quartal voraus - bezahlt haͤtte. Gut! ſagte Stilling, und ging zum Wirths - hauſe; hier fand er nun einen anſehnlichen, wohlgewachſenen Mann, mit einer hohen breiten Stirn, großen ſtarren Augen, magerem Geſicht und ſpitzigem Maͤulchen, aus deſſen Zuͤgen Geiſt und Verſchlagenheit allenthalben hervorblickte; neben ihm ſtand ſeine Frau im Amazonenhabit, und graͤmender Kummer nagte ihr am Herzen, man merkte das an ihrem ſchwimmen - den Auge und herabhangenden Winkeln des Mundes.
Nach einigen gewechſelten Komplimenten, wobei Tom tief und gierig die Fuͤhlhoͤrner in Stillings Seele einzubohren ſchien, ſagte dieſer: Herr Profeſſor! ich habe geſehen, wo Sie abge - ſtiegen ſind, kommen Sie mit mir, um nun auch zu ſehen, wo ich wohne.
378„ Gut! “ Dabei ſpitzte er ſeinen Mund und ſah ſehr hoͤh - niſch aus. Als nun Stilling mit auf ſeinem Zimmer war, ſagte er weiter: Herr Profeſſor! es freut uns, einen ſo wak - kern Mann hieher zu bekommen, wir wuͤnſchen nun von Her - zen, daß es Ihnen hier wohl gehen moͤge.
Tom wandelte unter allerhand Geſichts - und Mienenſpielen hin und her, und antwortete:
„ Ich wills einmal verſuchen. “
Eins muß ich Ihnen aber ſagen, Sie werden es mir nicht uͤbel nehmen: ich habe zwei ſchoͤne Zimmer fuͤr 70 Gulden bei Herrn R … fuͤr ſie gemiethet, der ehrliche Mann fordert aber ein Quartal der Hausmiethe voraus; da Sie uns al - len nun unbekannt ſind, ſo iſt das dem Manne nicht ſo ſehr zu verargen.
„ So! — (er ſpazierte heftig auf und ab) nun dann gehe „ ich wieder nach Mannheim — ich laſſe mir hier weder „ von einem Profeſſoren, noch ſonſt von jemand Grobheiten „ machen. “
In Gottes Namen! — wir werden Sie ruhig und zufrie - den wieder ziehen laſſen.
„ Was? — warum hat man mich dann hieher gelockt. “
Jetzt griff ihn Stilling bei den Armen an, ſah ihm hell und ernſt laͤchelnd ins Geſicht, und verſetzte: Herr! Sie muͤſ - ſen hier den ſtolzen Britten nicht ſpielen wollen, darum bekuͤm - mert ſich unſer Einer, und jeder redliche deutſche Mann nicht das geringſte; auf Ihr Anhalten hat man Ihnen erlaubt herzukommen, und es ſteht platterdings in unſerer Gewalt, ob wir Sie wieder zum Thor hinausweiſen wollen, oder nicht; jetzt ſeyen Sie ruhig und beobachten Sie den Reſpekt, den Sie einem Manne, der Ihr Vorgeſetzter iſt, ſchuldig ſind, oder ziehen Sie wieder ab, wie es Ihnen gefaͤllt. Doch rathe ich Ihnen: bleiben Sie nun hier, und beobachten Sie die Pflich - ten des rechtſchaffenen Mannes, ſo wird ſich Alles geben. Denken Sie, daß Sie hier ein wildfremder Menſch ſind, den Niemand kennt, und der folglich auch nicht den geringſten Kre - dit hat: denn Ihren Namen kann ſo gut ein Schurke haben, als der ehrliche Mann.
379Jetzt wurde Stilling herausgerufen, der Kaufmann hatte die Mobilien des Herrn Toms beaugenſcheinigt, und kuͤndigte nun an, daß er den Sprachmeiſter ohne Vorſchuß aufnehmen wolle. Dieſe Nachricht beruhigte auch den Herrn Tom, er zog alſo ein.
Damit ich aber mit allen kleinen Vorfaͤllen und Nuͤancen nicht Zeit und Raum verſchleudern moͤge, ſo bemerke ich nur ins Allgemeine, daß ſich Spaͤſſel und Tom an einander anſchloſſen, und den Plan machten, Stillingen zu ſtuͤrzen, aus dem Sattel zu heben, und ſich dann in ſein Amt zu theilen. Ihre Anſtalten waren aͤußerſt fein, weitlaͤufig angelegt und reif - lich uͤberdacht, wie ſolches der Verfolg zeigen wird.
Der allgemeine Wahn, Stilling habe noch einigen Hang zur Schwaͤrmerei und zum Pietismus, ſchien beiden Kabali - ſten die ſchwache Seite zu ſeyn, wohin ſie ihre Kanonen rich - ten und Sturmluͤcken ſchießen muͤßten. Sie gingen daher in der Abenddaͤmmerung Stunden lang vor Stillings Hauſe in der Gaſſe auf und ab, um zu ſpioniren; nun hatte er den Gebrauch, daß er oͤfters Abends nach Tiſche auf ſeinem Klavier Choral ſpielte und dazu ſang, wo dann ſeine Chriſtine mit einſtimmte; dieß wurde ausgebreitet: es hieß, er hielte Haus - uͤbungen, Betſtunden u. dgl. und ſo wurde das Publikum all - maͤhlig vorbereitet. Eben dieſe Nachrichten ſchrieb dann auch Spaͤſſel an den Hof nach Muͤnchen, um Alles wohl zu praͤpariren.
Nun kam noch ein Zufall dazu, der der Sache vollends den Ausſchlag gab: Stilling hatte zu Siegelbach noch einen Vorrath von Schweizerkaͤſen gefunden, den er zu ſich ins Haus nahm, um ihn zu verkaufen; dieſes veranlaßte, daß verſchie - dene Buͤrgersleute, Weiber und Maͤdchen haͤufig kamen, um Kaͤſe zu kaufen: nun waren etliche unter denſelben, welche Werk von der Religion machten, und mit der Frau Profeſ - ſorin auch wohl davon redeten; eine unter ihnen lud ſie ein - mal in ihren Garten ein, um ihr mit ihren Kindern eine Ver - aͤnderung zu machen; Chriſtine nahm das ohne Bedenken an, und Stilling waͤhnte nichts Arges, ſie ging alſo an dem beſtimmten Tage hin, und nach der Kollegienſtunde wan -380 derte er auch in den Garten, um ſeine Frau und Kinder wie - der abzuholen. Hier fand er im Gartenhaͤuschen vier bis fuͤnf Weibsleute um ſeine Chriſtine ſitzen, einige Erbauungsbuͤ - cher lagen zwiſchen Johannesbeerenkuchen und Kaffeegeſchirr auf dem Tiſch, und Alle waren in einem chriſtlichen Geſpraͤch begriffen. Stilling ſetzte ſich zu ihnen und fing nun an, behutſam zu predigen: er ſtellte ihnen vor, wie gefaͤhrlich Zuſammenkuͤnfte von der Art an einem Ort ſeyen, wo man ohnehin ſo ſcharf auf alle Schritte und Tritte der Proteſtan - ten merkte; dann bewies er ihnen gruͤndlich und deutlich, daß das Chriſtenthum nicht in ſolchen Geſpraͤchen, ſondern in einem gottesfuͤrchtigen Leben beſtaͤnde, u. ſ. w.
Wer ſollte ſichs aber nun einfallen laſſen, daß Spaͤſſel gerade jetzt da hinter der Hecke ſtand, und Alles mit an - hoͤrte? — ſo Etwas traͤumte Stillingen nicht. Wie er - ſtaunte er alſo, als er acht Tage hernach die ernſthafteſten, und ich mag wohl ſagen, derbſten Vorwuͤrfe, von ſeinen Freun - den von Mannheim und Zweibruͤcken aus, zugeſchrie - ben bekam: er wußte wahrlich nicht, wie ihm geſchah — und wenn nicht von einer Winkelpredigt im Garten die Rede geweſen waͤre, ſo haͤtte er ſichs nicht einmal traͤumen laſſen, woher dieſe giftige Verlaͤumdung ihren Urſprung genommen habe. Er beantwortete daher obige Briefe maͤnnlich und nach der Wahrheit, ſeine Freunde glaubten ihm auch, allein im Ganzen blieb doch immer eine Senſation zuruͤck, die ihm, wenigſtens bei den Katholiſchen, nachtheilig war.
In Rittersburg ſelbſt machte das Ding auch Unruhe: der Oberbeamte drohte mit Einthuͤrmen und raͤſonnirte ſehr herrlich, die Proteſtanten aber murrten und beſchwerten ſich, daß man ihnen nicht einmal Hausandachten zugeſtehen wollte; bei dieſen verlor Stilling nichts, im Gegentheil, ſie ſchaͤtz - ten ihn deſto mehr. Die beiden proteſtantiſchen Geiſtlichen, zwei verehrungswuͤrdige vortreffliche Maͤnner, Herr W .... und Herr S …, nahmen ſich auch der Sache an, ſie beſuch - ten jene Weibsleute, ermahnten ſie zur Vorſicht, troͤſteten ſie und verſprachen ihnen Schutz, denn ſie wußten, daß ſie gute, brave Leute waren, die keine Grundſaͤtze hegten, die der Re -381 ligion zuwider ſeyen; Herr W .... predigte ſogar den folgen - den Sonntag uͤber die Vorſicht und Pflichten, in Anſehung der haͤuslichen Erbauung, wobei er ſich endlich gegen Stil - ling hinkehrte und ihm oͤffentlich zuredete, indem er in fol - gende Worte ausbrach: „ Du aber, leidender Wanderer zum er - habenen Ziel der Chriſten und des wahren Weiſen! ſey ge - troſt, dulde und wandle vorſichtig zwiſchen den Fallſtricken, die Dir Widerwaͤrtige legen! — Du wirſt ſiegen und Gott wird dich mit Segen kroͤnen, Gott wird deine Feinde mit Schande begleiten, aber uͤber dir wird glaͤnzen die Krone der Ueberwindung; Hand an Hand wollen wir uns in dieſer bren - nenden Sandwuͤſte begleiten und Einer ſoll dem andern Troſt zuſprechen, wenn ſein Herz nach Huͤlfe ſtoͤhnt, u. ſ. w. “ Die ganze Gemeinde blickte auf Stillingen hin, und ſegnete ihn.
Durch die Bemuͤhung dieſer vortrefflichen Maͤnner wurde die ganze Gemeinde ſtill, und da auch die Sache an den Churpfaͤlziſchen Kirchenrath berichtet wurde, ſo bekam auch der Oberbeamte die Weiſung, nicht mehr von Einthuͤrmen zu reden, bis wirklich polizeiwidrige Konventikel gehalten und in der Religion Exceſſe begangen wuͤrden. Indeſſen aber machinirten Tom und Spaͤſſel insgeheim am Hof zu Muͤnchen fort, und brachten es wirklich dahin, daß Stil - ling auf dem Punkt war, kaſſirt zu werden. Dieſen gefaͤhr - lichen Sturm erfuhr er aber nicht eher, bis er gluͤcklich vor - bei war; denn auch hier war die goͤttliche Dazwiſchenkunft der hohen Vorſehung ſichtbar: gerade in dem Augenblick, als der vornehme Geiſtliche ernſtlich in den Churfuͤrſten drang und ihm Stilling verdaͤchtig machte, auch die Sache ſo gut als entſchieden war, trat ein anderer, ebenfalls ſehr an - ſehnlicher Geiſtlicher, der aber ein warmer Goͤnner Stil - lings war, und die eigentliche Liegenheit der Rittersbur - ger Verfaſſung wußte, ins Kabinet. Dieſer, da er hoͤrte, wo - von die Rede war, nahm Stillings Parthei und verthei - digte ſie ſo treffend und uͤberzeugend, daß der Churfuͤrſt auf der Stelle den erſten intoleranten Praͤlaten zur Ruhe verwies, und dem Profeſſor nunmehro nicht ſeine Gnade entzog. Waͤre dieſer edle Geiſtliche nicht von ungefaͤhr dazu gekommen, ſo382 waͤre Stillings Ungluͤck graͤnzenlos geweſen. Erſt ein halb Jahr hernach erfuhr er die ganze Sache, ſo wie ich ſie erzaͤhlt habe.
Waͤhrend der Zeit lebte er ruhig fort, beobachtete ſeine Pflichten und betrug ſich ſo vorſichtig, als nur immer moͤg - lich war.
Spaͤſſel und Tom ſchmiedeten indeſſen noch allerhand weitausſehende Plane zu einer allgemeinen gelehrten Repu - blik, zu einer typographiſchen Geſellſchaft u. dgl. Ueber dieſe wichtigen Angelegenheiten wurden ſie aber ſelbſt uneinig und fingen an, ſich bitter zu haſſen; da nun auch Toms Glaͤu - biger in Bewegung geriethen, und Stilling zugleich Deka - nus der hohen Schule, alſo ſeine ordentliche Obrigkeit war, ſo kroch er zum Kreuz: er kam, weinte und bekannte Alles, was er mit Spaͤſſel zu ſeinem Schaden gewirkt hatte, ſo - gar zeigte er ihm die Briefe und Berichte, welche von ihnen nach Muͤnchen abgegangen waren; er erſtarrte uͤber alle die ſataniſche Bosheit und uͤberaus liſtigen Kunſtgriffe dieſer Men - ſchen; doch, da nun Alles vorbei war und er auch gerade zu dieſer Zeit erfuhr, wie er in Muͤnchen gerettet worden, ſo vergab er Spaͤſſeln und Tom Alles, und da nun letzte - rer in Noth und Jammer gerieth, ſo troͤſtete und unterſtuͤtzte er ihn, ſo gut er konnte, ohne der Gerechtigkeit zu nahe zu treten. Und als endlich Toms Bleiben in Rittersburg nicht mehr war, und derſelbe auf eine gewiſſe deutſche Uni - verſitaͤt ziehen wollte, um dort ſein Heil zu verſuchen, ſo ver - ſah ihn Stilling noch mit Reiſegeld, und gab ihm ſeinen herzlichen Segen.
Dort verſuchte nun Tom alle ſeine Kunſtgriffe noch ein - mal, um ſich empor zu ſchwingen, aber er ſcheiterte. Und was that er nun — er legte ſeinen Stolz ab, bekehrte ſich, zog ein ſehr modeſtes Kleid an, und ward ein — Pietiſt —!!! Gott gebe, daß ſeine Bekehrung wahrhaft gegruͤndet, und nicht Larve der Bosheit und des Stolzes iſt! Indeſſen iſt der Weg von einem Extrem zum andern gar nicht weit und ſchwer, ſondern ſehr leicht und gebahnt. Gott ſegne ihn383 und gebe ihm Gelegenheit, ſo viel Gutes zu wirken, daß ſein ehemaliges Schuldregiſter dadurch getilgt werden moͤge!
Stillings Lehramt war indeſſen hoͤchſt geſegnet, er lebte ganz in ſeinem Elemente. Mit allerhand, auch intereſſanten Vorfaͤllen, die aber auf ſeine Schickſale und Fuͤhrung keinen Bezug haben, mag ich meine Leſer nicht aufhalten, ich bleibe alſo bloß bei dem Hauptgang der Geſchichte.
Mit der Siegelbacher Gutsverwaltung ging es ſchief, Alles ſchlug fehl, uͤberall war Fluch, anſtatt des Segens; untreues Geſinde, diebiſche Nachbarn, heimliche Tuͤcke der Unterbeamten, Schulden, keine Unterſtuͤtzung, das Alles ſtand Stillingen im Wege, ſo daß er endlich, wenn er nicht ſelbſt mit zu Grunde gehen wollte, die ganze Verwaltung abgeben und ſeine Rechnung ablegen mußte. Dadurch wurde er nun zwar von dieſer ſchweren Buͤrde befreiet, allein er war wieder tiefer in Schulden gerathen: denn er hatte Vie - les verſucht und aufgewandt, das er theils nicht berechnen konnte, theils auch nicht wollte, um ſich nicht dem Verdacht des Eigennutzes zu unterziehen. So kam er zwar noch mit Ehren, aber doch mit Schulden aus der Sache.
Jetzt fing ſich nun alles Ungluͤck an, uͤber ſein Haupt zu - ſammen zu ziehen: In Rittersburg waren wieder Schul - den entſtanden; zu Schoͤnenthal waren kaum die Intereſ - ſen, geſchweige Etwas am Kapital abgetragen worden; zudem trug man ſich dort mit allerhand Geruͤchten; Stilling halte Kutſche und Pferde, mache erſtaunlichen Aufwand, und denke nicht an ſeine Schulden. Er hatte 600 Gulden fixen Gehalt, und bezog zwiſchen 2 — 300 Gulden Kollegien - gelder, dabei ſtiegen alle Preiſe in Rittersburg faſt aufs alterum tantum, bei aller Sparſamkeit blieb kaum ſo viel uͤbrig, als zu Entrichtung der Zinſen noͤthig war, womit ſoll - ten nun Schulden bezahlt werden? — Faſt jeden Poſttag kamen die quaͤlendſten Briefe von ſeinem Schwiegervater, oder doch von einem andern Schoͤnenthaler Glaͤubiger: Herr Friedenberg ſelbſt war in einer ſehr verdrießlichen Lage, er war Buͤrge, und wurde von dem Manne, der ehemals ſo[l]iebreich Stillingen aus Gottes - und Menſchenliebe un -384 terſtuͤtzt hatte, mit gerichtlicher Einklage bedroht. Stilling mußte alſo alle Augenblick gegenwaͤrtig ſeyn, daß ſein Wohl - thaͤter, ſein Schwiegervater, um ſeinetwillen in einen Konkurs gerieth. Dieſer Gedanke war Mord und Tod fuͤr ihn, und nun in allen dieſen ſchrecklichen Umſtaͤnden nicht der geringſte Wink zur Huͤlfe, nicht eine Ahnung von ferne.
Schrecklich! ſchrecklich war dieſe Lage, und wem konnte er ſie klagen? Niemand als Gott — das that er aber auch unaufhoͤrlich; er kaͤmpfte ohne Unterlaß mit Unglauben und Mißtrauen, und warf ſein Vertrauen nie weg. Alle ſeine Briefe an ſeinen Schwiegervater waren voll Uebergebung an die Vorſehung und troͤſtend, allein ſie hafteten und halfen nicht mehr. Herr Rath Eiſenhart ſelbſt, der Etwas von ſeiner Lage wußte, machte vergebliche Verſuche; Stilling ſchrieb Romane, den Florentin von Fahlendorn und die Theodore von der Linden, und ſuchte mit den Ho - norarien den Strom zu daͤmmen; allein das war wie ein Tropfen im Eimer. Er ſchrieb an verſchiedene große und beruͤhmte Freunde, und entdeckte ihnen ſeine Lage, allein Ei - nige konnten ihm nicht helfen, Andere faßten einen Widerwil - len gegen ihn, wieder Andere ermahnten ihn zum Ausharren, und noch ein Paar unterſtuͤtzten ihn mit einem Tropfen Kuͤh - lung auf ſeine lechzende Zunge.
Alles, alles war alſo vergebens, und von Schoͤnenthal herauf blitzte und donnerte es unaufhoͤrlich.
Waͤhrend dieſer ſchrecklichen Zeit ruͤſtete ſich der Allmaͤch - tige zum Gerichte uͤber Stilling, um endlich ſein Schick - ſal zu entſcheiden.
Den 17. Auguſt 1781, an einem ſehr ſchwuͤlen gewitter - vollen Tage, hatte Chriſtine der Magd einen ſehr ſchwe - ren Korb auf den Kopf gehoben, ſie fuͤhlte dabei einen Knack in der Bruſt, und bald darauf einen ſtechenden Schmerz mit Froſt und Fieber. So wie Stilling aus den Kollegio kam und in ihr Zimmer trat, ſchritt ſie ihm mit Todesblaͤſſe und einer Armen-Suͤndermiene entgegen, und ſagte: „ Zuͤrne nicht, lieber Mann; ich habe einen Korb gehoben, und mir in der385 Bruſt weh gethan, Gott ſey dir und mir gnaͤdig! — ich ahne meinen Tod. “
Da ſtand er betaͤubt, wie vom Schlage geruͤhrt — matt und abgehaͤrmt vom langwierigen Kummer, glaubte er den Todesſtoß zu fuͤhlen; den Kopf auf die Achſel geneigt, vor - waͤrtshaͤngend, die beiden Haͤnde unter dem Bauch gehalten, ſtarrte er, mit der Angſtmiene des Weinens, aber ohne Thraͤ - nen, auf Einen Fleck, und ſagte kein Wort — denn jetzt ahnete er auch Chriſtinens Tod mit Gewißheit. Endlich ermannte er ſich, troͤſtete ſie, und brachte ſie zu Bette. Am Abend in der Daͤmmerung trat die Krankheit in aller ihrer Staͤrke ein, Chriſtine legte ſich wie ein Lamm auf die Schlachtbank und ſagte: „ Herr mache mit mir, was du willſt, ich bin dein Kind — willſt du, daß ich meine Eltern und Geſchwiſter nicht mehr ſehen ſoll, ſo befehle ich ſie Alle in deine Haͤnde, leite ſie nur ſo, daß ich ſie dereinſt vor deinem Thron wieder ſehen moͤge. “
Chriſtinens erſte Krankheit war alſo jetzt ein eigentliches Bruſtfieber, wozu ſich hyſteriſche Paroxismen geſellten, die ſich in einem wuͤthenden Huſten aͤußerten; mehrere Aerzte und alle Mittel wurden gebraucht, ſie zu retten; nach 14 Tagen ließ es ſich auch zur Beſſerung an, und es ſchien, als wenn die Gefahr voruͤber waͤre. Stilling dichtete alſo Lobgeſaͤnge, und ſchrieb die frohe Nachricht ihrer Geneſung an ſeine Freunde; allein er betrog ſich ſehr, ſie ſtand nicht einmal vom Bette auf, im Gegentheil ging ihre Krankheit zu einer foͤrmlichen Lungenſucht uͤber; jetzt ſtieg Stillingen das Waſſer an die Seele; der Gedanke war ihm unertraͤglich, dieſes liebe Weib zu verlieren, denn ſie war die beſte Gattin von der Welt, artig, aͤußerſt gefaͤllig, der Ton ihrer Rede und ihre Beſcheidenheit nahm Jedermann ein, ihre Reinlichkeit war ohne Graͤnzen, rund um ſie her war Jedem wohl; in ihrem ſehr einfachen Anzug herrſchte Zierlichkeit und Ordnung, und Alles, was ſie that, geſchah mit der aͤußerſten Leichtigkeit und Geſchwindigkeit; uͤber das alles war ſie unter vertrauten Freun - den luſtig, und mit vielem Anſtand witzig, dabei aber von Herzen fromm und ohne Heuchelei. Die aͤußere Larve der Gottſeligkeit vermied ſie, denn die Erfahrung hatte ſie vor386 dem Pietismus gewarnt. Das Alles wußte Stilling, er fuͤhlte ihren Werth tief, und konnte daher den Gedanken nicht ertragen, ſie zu verlieren. Sie ſelbſt bekam nun wieder Luſt zum Leben, und troͤſtete ſich mit Hoffnung zur Geneſung. Indeſſen kamen zuweilen die ſchrecklichen Paroxismen wieder, ſie huſtete mit einer ſolchen Gewalt, daß Stuͤckchen Lunge wie Nuͤſſe die Stubenlaͤnge fortflohen; dabei litt ſie dann die grauſamſten Schmerzen. In aller dieſer Noth murrte ſie nie, ward nie ungeduldig, ſondern rief nur unablaͤſſig mit ſtarker Stimme: „ Herr, ſchone meiner nach deiner großen Barmherzigkeit! “— Wenn dann ihr Mann und ihre Waͤr - terin fuͤr Angſt, Mitleiden und Unterſtuͤtzung ſchwitzten, ſo ſahe ſie mit einer unausſprechlich bittenden Miene Beide an, und ſagte: „ Mein Engel und mein Alles! Meine liebe Frau N … habt doch Geduld mit mir, und verzeiht mir die Muͤhe, die ich Euch verurſache. “ Bekannte ſtanden oft von Ferne an der Thuͤr; auch Arme, die ſie erquickt hatte, denn ſie war ſehr wohlthaͤtig, und weinten laut.
Tage und Naͤchte kaͤmpfte Stilling; ein Eckchen in ſei - ner Studirſtube war glatt vom Knieen und naß von Thraͤ - nen, aber der Himmel war verſchloſſen, alle feurigen Seufzer prellten zuruͤck, er fuͤhlte, daß Gottes Vaterherz verſchloſſen war. Weil Chriſtine das harte Treten nicht vertragen konnte, ſo ging er beſtaͤndig auf den Struͤmpfen, er lief in der Noth ſeines Herzens aus einer Ecke des Zimmers in die andere, bis endlich die Sohlen durchgeſchliffen waren, und er Wochen lang auf den bloßen Fuͤßen ging, ohne es einmal zu empfinden. Waͤhrend aller dieſer Zeit kamen immer dro - hende, beleidigende Briefe von Schoͤnenthal an. Herrn Friedenbergs Herz war durch die Erwartung des nahen Todes ſeiner Tochter zerſchmettert, aber doch hoͤrten ſeine Vor - wuͤrfe nicht auf. Er glaubte nun einmal gewiß, Stilling ſey Schuld an allem Ungluͤck, und ſo half keine Entſchuldi - gung. Die Lage, worin ſich der arme empfindſame Mann jetzt befand, uͤbertrifft alle Beſchreibung; je mehr ihn aber die Noth draͤngte, deſto feuriger und ernſtlicher klammerte er ſich an die erbarmende Liebe Gottes an.
387Nach etlichen Wochen, im Anfang des Oktobers, ſtand Stilling einmal des Abends auf dem Hausgang am Fen - ſter, es war ſchon vollkommen Nacht, und er betete nach ſei - ner Gewohnheit heimlich zu Gott; auf Einmal fuͤhlte er eine tiefe Beruhigung, einen unausſprechlichen Seelenfrieden, und darauf eine tiefe Ergebung in den Willen Gottes, er fuͤhlte noch alle ſeine Leiden, aber auch Kraft genug, ſie zu ertragen. Er ging darauf ins Krankenzimmer und nahte ſich dem Bette, Chriſtine aber winkte ihm, zuruͤck zu bleiben, und nun ſahe er, daß ſie ernſtlich in der Stille betete, endlich rief ſie ihm, winkte ihm zu ſitzen und wendete ſich ſchwer, um ſich gegen ihn uͤber auf die Seite zu legen; dann ſah ſie ihn mit einem unausſprechlichen Blick an, und ſagte: „ Ich ſterbe, liebſter Engel, faſſe dich, ich ſterbe gern, unſer zehnjaͤhriger Eheſtand war lauter Leiden, es gefaͤllt Gott nicht, daß ich dich aus deinem Kummer erloͤst ſehen ſoll, aber Er wird dich erretten, ſey du getroſt und ſtille, Gott wird dich nicht verlaſſen! — meine zwei Kinder empfehl ich dir nicht, du biſt Vater, und Gott wird fuͤr ſie ſorgen. “ Dann machte ſie noch verſchie - dene Verordnungen, wendete ſich wieder um, und war nun ruhig. Von nun an redete Stilling oͤfters mit ihr vom Sterben, von ihren Erwartungen nach dem Tode, und that ſein Moͤglichſtes, um ſie zu ihrem Ende vorzubereiten. Manchmal fanden ſich noch Stunden der Angſt, und dann wuͤnſchte ſie einen ſanften Tod, und zwar am Tage, denn ſie ſcheute die Nacht. Sein Kollege Siegfried beſuchte ſie oft, denn ſeine Gattin konnte wegen Kraͤnklichkeit, Schwan - gerſchaft und Mitleiden ſelten, und am Ende gar nicht mehr kommen, und half ihm alſo kaͤmpfen und troͤſten.
Endlich, endlich nahte ſie ſich ihrer Aufloͤſung; den 17. Ok - tober, des Abends, bemerkte er die Vorboten des Todes: gegen eilf Uhr legte er ſich gaͤnzlich ermattet in ein Neben - zimmer und ruhte halb ſchlummernd in einer Betaͤubung; um fuͤnf Uhr des Morgens ſtand er wieder auf und fand ſeine liebe Sterbende ſehr ruhig und heiter. Nun habe ich uͤber - wunden! rief ſie ihm entgegen; jetzt ſehe ich die Freuden388 jener Welt lebhaft vor mir, nichts haͤngt mir mehr an — gar nichts! Dann ſagte ſie folgende Strophen*)Ich ruͤcke dieſes Lied ſo ein, wie es im Geſangbuch ſtehet, und erwarte nicht, daß es vernuͤnftige Rezenſenten Chriſti - nen〈…〉〈…〉 el deuten werden, einen Gebrauch davon gemacht zu haben, wann es vielleicht nicht in die jetzige Leſewelt paßt; Seelen von der Art laſſen ſich nicht in Kritiken ein, und waͤhlen das, was ſie aufweckt und erbaut.:
Stillings ganze Seele zerſchmolz in Thraͤnen: er ſetzte ſich nun vor das Bett und wartete den Abſchied ſeiner See - lenfreundin ab; oft druͤckte ſie ihm noch die Hand mit dem gewoͤhnlichen Lieblingsruf: „ Mein Engel und mein Alles “— ſonſt ſprach ſie nichts mehr; ihre Kinder verlangte ſie gar nicht zu ſehen, ſie empfahl ſie nur Gott. Oft wieder - holte ſie aber die Worte: „ Du kannſt durch die Todesthuͤ - ren traͤumend fuͤhren, “und freute ſich dann dieſes Troſtes.
Gegen 10 Uhr ſagte ſie: „ Lieber Mann! ich werde ſo ſchlaͤf - rig und mir iſt ſo wohl, ſollte ich etwa nicht wieder erwachen, und traͤumend hinuͤberſchlummern, ſo lebe wohl! “— Dann ſahe ſie ihn noch einmal mit ihren großen ſchwarzen Augen ſeelenvoll an, laͤchelte, druͤckte ihm die Hand und ſchlief ein. Nach etwa einer Stunde fing ſie an zu zucken, ſeufzte tief und ſchauderte; jetzt ſtand der Odem ſtill, und die Zuͤge des Todes ſtanden alle auf ihrem Geſicht, ihr Mund verzog ſich noch zum Laͤcheln — Chriſtine war nicht mehr.
Dieſen Auftritt muß ein zaͤrtlicher Ehegatte erfahren, ſonſt kann er ſich keinen Begriff davon machen. In dem Augen -Stilliugs ſämmtl. Schriften. I. Band. 26390blick trat Siegfried herein, ſchaute hin, fiel ſeinem Freund um den Hals, und beide vergoſſen milde Thraͤnen.
„ Du holder Engel! “rief Siegfried uͤber ſie hin, und ſchluchzte — „ haſt du nun ausgelitten? “— Stilling aber kuͤßte noch einmal ihre erblaßten Lippen und ſagte:
„ Du Dulderin ohne Gleichen, Dank dir fuͤr deine treue Liebe, gehe ein zu deines Herrn Freude! “
Als Siegfried fort war, brachte man die beiden Kin - der, er fuͤhrte ſie zur Leiche, ſie ſahen hin und ſchrieen laut; nun ſetzte er ſich, nahm auf jedes Knie eins, druͤckte ſie an ſeine Bruſt, und alle Drei weinten bittere Thraͤnen. Endlich ermannte er ſich und machte nun die Anſtalten, die die Um - ſtaͤnde erforderten.
Den 21. Oktober des Morgens in der Daͤmmerung trugen Stillings Rittersburger Freunde ſeine Gattin hinaus auf den Gottesacker und beerdigten ſie in der Stille; dieſe letzte Trennung erleichterten ihm die beiden proteſtantiſchen Predi - ger, ſeine Freunde, welche bei ihm ſaßen und ihn mit troͤ - ſtenden Geſpraͤchen unterhielten.
Mit Chriſtinens Tod endigte ſich nun eine große und wichtige Periode in Stillings Geſchichte, und es begann allmaͤhlig eine eben ſo wichtige, welche die Zwecke ſeiner bis - herigen ſchweren Fuͤhrung herrlich und ruhig enthuͤllte.
Nach Chriſtinens Tod ſuchte nun Stilling ſeine ein - ſame Lebensart zweckmaͤßig einzurichten; er reiste nach Zwei - bruͤcken, wo er ſehr gute und treue Freunde hatte; dort uͤber - legte er mit ihnen, wo er ſeine Kinder am beſten in eine Penſion unterbringen koͤnnte, damit ſie ordentlich erzogen wer - den moͤchten. Nun fand ſich in Zweibruͤcken eine dem Anſe - hen nach ſehr gute Gelegenheit; er machte alſo die Sache richtig, reiste dann zuruͤck und holte ſie ab. Die Tochter war jetzt im neunten, der Sohn aber ſieben Jahr alt.
Als er aber ſeine Kinder weggebracht hatte, und nun wie - der in ſeine einſame und oͤde Wohnung kam, ſo fiel alles Leiden mit unausſprechlich wehmuͤthiger Empfindung auf ihn391 zuruͤck, er verhuͤllte ſein Angeſicht, weinte und ſchluchzte, ſo daß er ſich kaum troͤſten konnte. Seine Haushaltung hatte er aufgegeben, die Magd weggeſchickt, und die Leute, bei denen er wohnte, brachten ihm das Eſſen auf ſein Zimmer; er war alſo in der Wildfremde ganz allein. Faſt reute es ihn, daß er ſeine Kinder und die Magd weggethan hatte, allein es war nicht anders moͤglich; ſeine Kinder mußten Erziehung haben, dazu aber beſchaͤftigte ihn ſein Beruf zu ſehr, und dann durfte er auch keiner Magd ſeine Haushaltung anver - trauen. So wie es jetzt war, war die Einrichtung freilich am beſten, aber fuͤr ihn unertraͤglich, er war gewohnt, an der Hand einer treuen Freundin zu wandeln, und die hatte er nun nicht mehr; ſein Leiden war unausſprechlich; zuweilen troͤſtete ihn ſein Vater Wilhelm Stilling in einem Brief, und ſtellte ihm ſeine erſten Jugendjahre vor, wo er ſich er - innern wuͤrde, wie lange und ſchwer er den Verluſt ſeines ſeligen Dortchens betrauert habe, doch habe die Zeit nach und nach die Wunde geheilet; es werde ihm auch noch ſo gehen; allein das half wenig, Stilling war jetzt einmal im Kummer und ſahe keinen Ausweg, wo er ſich heraus - winden koͤnnte.
Dazu kam noch die traurige ſpaͤte Herbſtzeit, welche ohne - hin vielen Einfluß auf ſeine Seelenſtimmung hatte; wenn er zum Fenſter hinaus in die entblaͤtterte Natur blickte, ſo wars ihm, als wenn er ganz einſam unter Leichen wandelte, und nichts als Tod und Verweſung um ſich her ſaͤhe, mit Einem Wort: ſeine Wehmuth war nicht zu beſchreiben.
Nach vier Wochen, mitten im November, an einem Sonn - abend Nachmittag, ſtieg dieſe wehmuͤthige Empfindung aufs Hoͤchſte, er lief aus und ein und fand nirgends Ruhe; auf Einmal gerieth er ins Beten, er verſchloß ſich alſo auf ſein Zimmer, und betete mit der innigſten Inbrunſt und mit un - ausſprechlichem Vertrauen zu ſeinem himmliſchen Vater; er konnte nicht zum Aufhoͤren kommen. Wenn er auf dem Ka - theder war, ſo flehte ſein Herz immer fort, und ſo wie er wieder in ſeine Schlafkammer kam, ſo lag er wieder da, rief und betete laut. Des Abends um ſechs Uhr, als er ſein letz -26 *392tes Kollegium geleſen hatte, und nun eben in ſeine Stube getreten war, kam die Hausmagd und ſagte ihm, es ſey ſo eben ein junger Mann da geweſen, der nach ihm gefragt habe. Gleich darauf trat dieſer herein; mit einer freundlichen, einneh - menden Miene ſagte er: „ Herr Profeſſor, ich bin von R… und habe die Adjunktion auf eine Kameral-Bedienung; der Churfuͤrſtlichen Verordnung zufolge, muß ich alſo wenigſtens ein halb Jahr hier ſtudiren, ſo ſchwer mir das auch faͤllt, denn ich habe zwar keine Kinder, aber doch eine Frau, ſo freue ich mich doch, mit Stilling in Bekanntſchaft zu kommen. Nun habe ich eine Bitte an Sie: ich habe mit Bedauern gehoͤrt, daß Ihre Frau Gemahlin geſtorben iſt, und daß Sie nun ſo ein - ſam und traurig ſind, wie waͤrs, wenn Sie mir und meiner Frau erlaubten, bei Ihnen zu wohnen und mit Ihnen an einen Tiſch zu gehen? Wir haͤtten dann den Vortheil Ihres Umgangs, und Sie haͤtten Geſellſchaft und Unterhaltung. Ich darf mir ſchmeicheln, daß meine Frau Ihren Beifall haben wird, denn ſie iſt edel und gutherzig. “
Bei dieſen Worten thaute Stillings Seele auf, und es war ihm, als wenn ihm Jemand die Laſt ſeines Kummers auf Einmal von den Schultern gehoben haͤtte, er konnte kaum ſeine hohe Freude verbergen. Er ging alſo mit Herrn Kuͤhlenbach ins Wirthshans, um ſeiner Gattin aufzuwarten, die nun mit Freuden die willige Aufnahme erfuhr. Des andern Tages zog dieſes edle brave Paar in Stillings Wohnung ein.
Nun ging Alles wieder ſeinen ungehinderten muntern Gang fort; Stilling war zwar noch immer wehmuͤthig, allein es war Wonne-Wehmuth, in welcher er ſich wohl befand. Jetzt kam er nun auch ſo weit, daß er im Stande war, ſeine Lehr - buͤcher der Reihe nach herauszugeben; die Honorarien, welche er dafuͤr empfangen hatte, machten ihm Muth zur Tilgung ſeiner Schulden, denn er ſahe ein unabſehbares Feld vor ſich, in welchem er lebenslang als Schriftſteller arbeiten, und alſo jaͤhrlich ſein Einkommen auf wenigſtens 1500 Gulden bringen konnte. Jetzt verauctionirte er auch ſeinen unnoͤthigen Hausrath, und behielt nichts mehr, als was er ſelbſt noͤthig brauchte, und mit dem daraus geloͤsten Gelde bezahlte er die dringendſten Schulden.
393Dieſe ganz ertraͤgliche Lebensart dauerte ſo fort, bis gegen das Ende des Winters des 1782ſten Jahres. Jetzt fing nun Kuͤhlenbach an, vom Wegziehen zu reden; dieß machte Stil - lingen Angſt, denn er fuͤrchtete, die grauſame Schwermuth moͤchte wieder eintreten: er ſuchte daher allerhand Plane zu entwerfen, die ihm aber alle nicht einleuchten wollten. Nun bekam er gerade zu dieſer Zeit einen Brief von Herrn Eiſen - hart, in welchem ihm der Vorſchlag gethan wurde, wieder zu heirathen; Stilling ſahe wohl ein, daß dieß das Beſte fuͤr ihn ſeyn wuͤrde: er entſchloß ſich auch nach vielen Kaͤm - pfen dazu, und erwartete nun die Winke und Leitung der Vorſehung.
Seine erſten Gedanken fielen auf eine vortreffliche Wittwe, welche ein Kind, etwas Vermoͤgen, den edelſten Charakter hatte, und von ſehr gutem Herkommen und anſehnlicher Familie war, ſie hatte ſchon große Proben ihrer Haͤuslichkeit abgelegt, und kannte Stillingen. Er ſchrieb alſo an ſie; die brave Frau antwortete ihm, und gab ſolche wichtige Gruͤnde an, die ſie verhinderten, je wieder zu heirathen, daß Stilling als ein rechtſchaffener Mann handeln und ſchlechterdings abſtehen mußte. Dieſer mißlungene Verſuch machte ihn bloͤde, und er beſchloß, behutſam zu verfahren.
Um dieſe Zeit ging eine Aufklaͤrung in ſeiner Seele uͤber eine Sache vor, die er bis daher nicht von Ferne geahnet hatte: denn als er einsmals allein luſtwandelte und ſeinen zehnjaͤhri - gen ſchweren Eheſtand uͤberdachte, ſo forſchte er nach, woher es doch wohl gekommen ſeyn moͤge, daß ihn Gott ſo ſchwere Wege gefuͤhret habe, da doch ſeine Heirath ſo ganz von der Vorſehung veranſtaltet worden? — „ Iſt aber dieſe Veran - ſtaltung auch wohl wirklich wahr geweſen? “— fragte er ſich: „ kann nicht menſchliche Schwaͤche, kann nicht Unlauterkeit der Geſinnungen mit im Spiel geweſen ſeyn? “ Jetzt fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: er erkannte im Licht der Wahr - heit, daß ſein Schwiegervater, ſeine ſelige Chriſtine und er ſelbſt damals weder nach den Vorſchriften der Religion, noch nach der geſunden Vernunft gehandelt haͤtten, denn es ſey des Chriſten hoͤchſte Pflicht, unter der Leitung der Vorſe -394 hung jeden Schritt, und beſonders die Wahl einer Perſon zur Heirath, nach den Regeln der geſunden Vernunft und der Schicklichkeit zu pruͤfen, und wenn dieß gehoͤrig geſchehen ſey, den Segen von Gott zu erwarten. Das war aber ehe - mals Alles vernachlaͤſſigt worden: Chriſtine war ein un - ſchuldiges, unerfahrenes Maͤdchen, ſie liebte Stillingen ins - geheim, hing dieſer Liebe nach, betete zu Gott um Erfuͤllung ihrer Wuͤnſche, und ſo miſchte ſich Religion und Liebe in ihre hyſteriſchen Zufaͤlle. Das Alles kannten weder ihre El - tern noch Stilling, ſie ſahen das fuͤr goͤttliche Eingebun - gen und Wirkungen an, und folgten. Zu ſpaͤt zeigte ſich das Unſchickliche und Unvorſichtige in den betruͤbten Folgen. Chri - ſtine hatte kein Vermoͤgen, Stilling noch viel weniger; er mußte mit anderer Leute Geld ſtudiren, konnte nachher nicht kaufmaͤnniſch haushalten, und alſo weder ſich naͤhren, noch Schulden bezahlen; Chriſtine hingegen, welche kauf - maͤnniſch erzogen war, erwartete von ihrem Mann das große Planmaͤßige der Wirthſchaft, und hielt nur mit dem Haus, was ſie in die Hand bekam; ſie haͤtte alſo jeden Kaufmann gluͤcklich gemacht, aber niemals einen Gelehrten.
Doch erkannte Stilling bei dem Allem ſehr wohl, daß die ſchwere zehnjaͤhrige Fuͤhrung, ſo wie die Schickſale ſeines ganzen Lebens, ſeinem Charakter und ſeiner ganzen Exiſtenz unausſprechlich wohlthaͤtig geweſen waren. Gott hatte ſeine eigene Unlauterkeit zur Seife gebraucht, um ihn mehr und mehr zu reinigen, auch ſeine theure verklaͤrte Chriſtine war auf der Feuerprobe beſtanden, und auf eben dieſem Weg vol - lendet worden. Stilling brach alſo in lauten Dank aus gegen Gott, daß er Alles ſo wohl gemacht habe.
Dieſe Entdeckung ſchrieb er nun auch an Herrn Frieden - berg, allein dieſer nahm das uͤbel, er glaubte noch immer, die Sache ſey von Gott geweſen, nur er ſey an allem Schuld, und er muͤſſe ſich beſſern. Leſer! ich bitte inſtaͤndig, gegen dieſen auch nunmehro verklaͤrten edlen Mann keine Bitterkeit zu faſſen; er war redlich und fromm, dafuͤr wurde er von allen Menſchen erkannt, geliebt und geehrt; allein wie leicht kann der Rechtſchaffenſte irren — und welcher Heilige im395 Himmel hat nicht geirrt! Das wollte ihm aber am uͤbelſten einleuchten, daß Stilling wieder zu heirathen entſchloſſen war.
Da nun der erſte Verſuch, eine Gattin zu finden, mißlun - gen war, ſo fing Stillings Hausfreund Kuͤhlenbach an, vorzuſchlagen: er wuͤßte naͤmlich in S … eine vortreffliche Jungfer, welche ein ziemliches Vermoͤgen haͤtte, und dieſe, hoffte er, wuͤrde fuͤr Stilling ſeyn. Das muß ich noch bemerken, daß jetzt Jedermann zu einer reichen Frau rieth, denn man urtheilte, dadurch wuͤrde ihm am erſten geholfen werden, und er ſelbſt glaubte, das ſey das beſte Mittel, frei - lich ſchauderte er oft fuͤr ſich und ſeine Kinder, wenn er an eine reiche Gattin dachte, die vielleicht weiter keine gute Ei - genſchaften haͤtte; indeſſen verließ er ſich auf Gott: Kuͤh - lenbach zog alſo die Oſtern fort, und auf Pfingſten reiste Stilling nach S …, um den zweiten Verſuch zu machen, aber auch dieſer nebſt dem dritten ſchlug fehl, denn beide Per - ſonen waren verſprochen.
Jetzt machte Stilling ein großes Punktum hinter dieſe Bemuͤhungen; es war ganz und gar ſeine Sache nicht, Koͤrbe zu holen, er trat alſo mit gebeugtem Herzen vor Gott, und mit dem innigſten kindlichen Vertrauen zu ſeinem himmliſchen Vater ſagte er: „ Ich uͤbergebe dir, mein Vater! mein Schick - ſal ganz, ich habe nun gethan, was ich konnte, jetzt erwarte ich deinen Wink; iſt es dein Wille, daß ich wieder heira - rathen ſoll, ſo fuͤhre du mir eine treue Gattin zu; ſoll ich aber einſam bleiben, ſo beruhige mein Herz! “
Zu der Zeit wohnte die vortreffliche Frau geheime Staats - raͤthin, Sophie von la Roche, mit ihrem Gemahl und noch unverheiratheten Kindern in S .... Stilling hatte ſie beſucht, da er aber ihre vertraute Freundſchaft noch nicht ge - noß, ſo hatte er ihr von ſeinem Vorhaben nichts geſagt.
Den erſten Poſttag nach obigem Gebet und kindlicher Ue - berlaſſung an die Vorſehung, bekam er ganz unerwartet einen Brief von jener vortrefflichen Dame; er oͤffnete ihn begierig, und fand unter andern mit Erſtaunen folgendes:
„ Ihre hieſigen Freunde ſind nicht ſo vorſichtig geweſen, als „ Sie bei mir waren, denn hier iſt es eine allgemein bekannte396 „ Sache, daß Stilling da und dort vergebliche Heirathsan - „ traͤge gemacht habe. Das aͤrgert mich, und ich wollte, es „ waͤre nicht geſchehen. “
„ Muͤſſen Sie durchaus eine vermoͤgende Frau haben, oder „ waͤre Ihnen eine meiner Freundinnin recht, die ich Ihnen „ nach der Wahrheit ſchildern will? — Sie iſt ſehr tugend - „ haft, huͤbſch und von einer edlen, alten gelehrten Familie „ und vortrefflichen Eltern, der Vater iſt todt, aber ihre ver - „ ehrungswuͤrdige kraͤnkliche Mutter lebt noch, ſie iſt ungefaͤhr „ 23 Jahr alt, und hat viele Leiden erduldet; ſie iſt ſehr wohl „ erzogen, zu allen weiblichen Arbeiten ausnehmend geſchickt, „ eine ſehr ſparſame Haushaͤlterin, gottesfuͤrchtig und ein Engel „ fuͤr Ihre beiden Kinder; ſie hat nicht viel Vermoͤgen, wird „ aber ordentlich ausgeſtattet, u. ſ. w. Erſetzen Ihnen alle „ dieſe Eigenſchaften, fuͤr deren Wahrheit ich ſtehe, etliche tau - „ ſend Gulden, ſo geben Sie mir daruͤber Nachricht, ich will „ ſie Ihnen alsdann nennen und ſagen, was Sie zu thun „ haben, u. ſ. w. “
Wie es Stilling nach dem Leſen dieſes Briefes zu Muthe war, das laͤßt ſich nicht beſchreiben; vor ein paar Tagen hatte er ſeine Heirathsangelegenheiten ſo feierlich an die Vor - ſehung uͤbergeben, und nun zeigte ſich ihm eine Perſon, die gerade alle Eigenſchaften hatte, wie er ſie wuͤnſchte. Freilich fiel ihm der Gedanke ein, aber ſie hat wieder kein Vermoͤgen, wird alſo meine Qual nicht fortdauern? — Indeſſen durfte er jetzt nach ſeinen Grundſaͤtzen nicht raͤſonniren, ſie war der Gegenſtand, auf welche der Finger ſeines Fuͤhrers hinwies; er folgte alſo, und zwar ſehr gerne. Nun zeigte er auch Herrn Siegfried, ſeiner Gattin und dem lutheriſchen Prediger nebſt ſeiner Ehefreundin dieſen Brief, denn dieſe vier Perſo - nen waren ſeine innigſten Freunde. Alle erkannten den Wink der Vorſehung ſehr lebhaft, und ermahnten ihn, zu folgen. Er entſchloß ſich alſo im Namen Gottes, ſetzte ſich hin und ſchrieb einen ſehr verbindlichen Brief an die Frau von la Roche, in welchem er ſie bat, ihn mit der theuren Perſon bekannt zu machen, denn er wollte dem Wink der Vorſehung und ihrem Rath gehorchen. Acht Tage darauf erhielt er Ant -397 wort; die vortreffliche Frau ſchrieb ihm: ihre Freundin heiße Selma von St. Florintin, und ſey die Schweſter des daſigen Rathskonſulenten dieſes Namens; alles, was ſie ihm von ihr geſchrieben habe, ſey wahr, ſie habe ihr auch ſeinen Brief gezeigt, ihr nunmehr etwas von der Sache geſagt, und ſie habe ſich geaͤußert, daß es ihr nicht zuwider ſey, wenn ſie Stilling einmal beſuchte. Die Frau von la Roche rieth ihm alſo, nach Reichenburg zu reiſen, wo ſich Selma jetzt in dem Gaſthof zum Adler aufhalte, weil der Gaſthal - ter dieſes Hauſes ihr Verwandter ſey. Stilling war von jeher in allen ſeinen Unternehmungen raſch und feurig, flugs nahm er alſo Extrapoſt, und fuhr nach Reichenburg, wel - ches eine Tagreiſe von Rittersburg, und vier Stunden von S .... entlegen war. Er kam alſo am Abend dort an, und kehrte im gedachten Gaſthof ein. Jetzt war er nun in Verlegenheit, er durfte nicht nach der Perſon fragen, die er ſuchte, und ohne dieſes haͤtte ſeine Reiſe leicht vergeblich ſeyn koͤnnen, indeſſen hoffte er, ſie werde wohl zum Vorſchein kommen, und Gott werde ſeinen Gang ferner leiten. Da es nun noch fruͤh war, ſo ging er zu einem vertrauten Freunde; dieſem entdeckte er ſein Vorhaben, und obgleich dieſer Freund einen andern Plan mit ihm vorhatte, ſo geſtand er doch ein, daß Selma alles das ſey, was ihm die Frau von la Roche geſchrieben habe; ja ſie ſey eher noch mehr als weniger, bei dem Allem aber nicht reich. Stilling freute ſich von Her - zen uͤber dieſes Zeugniß und antwortete: wenn ſie ſchon nicht reich iſt, laßt ſie nur eine gute Haushaͤlterin ſeyn, ſo wird dennoch Alles gut gehen.
Er ging nun wieder in den Gaſthof zuruͤck; ohngeachtet aller Aufmerkſamkeit aber konnte er nicht das geringſte von ihr hoͤren und ſehen. Um neun Uhr ging man an die Table d’hôte, die Tiſchgeſellſchaft war angenehm und auserleſen, er ſaß wie im Feuer, denn auch jetzt erſchien Selma nicht, ihm wurde weh, und er wußte nicht, was er beginnen ſollte. Als es aber endlich zum Deſert kam, fing ein ehrwuͤrdiger Greis an, der ihm zur Linken ſaß: „ Mir iſt ein artiger Spaß „ paſſirt, ich entſchloß mich heute, der Frau von la Roche in398 „ S .... meine Aufwartung zu machen, und da nun unſere „ artige Tiſchgeſellſchafterin, die Mademoiſelle von St. Flo - „ rintin (hier ſpitzte Stilling die Ohren gewaltig) hoͤrte, „ daß ich dieſen Abend wieder hieher zuruͤckfuͤhre, ſo erſuchte „ ſie mich, ſie mitzunehmen, weil ſie gerne ihren Bruder, den „ Herrn Conſulenten, beſuchen moͤchte. Dieſe Geſellſchaft war „ mir ſehr angenehm, ſie fuhr alſo dieſen Morgen mit mir „ nach S ...., ging dann zu ihrem Bruder, und ich zur Frau „ von la Roche. Des Mittags uͤber Tiſch ließ ſie mir ſagen, „ ſie ginge mit ihrem Bruder des Weges nach Reichenburg „ ſpazieren, in einem gewiſſen Dorf wolle ſie auf die Kutſche „ warten, ich moͤchte alſo da anhalten, und ſie wieder mitneh - „ men. Ich ſagte das auch dem Kutſcher, der aber vergißt „ es, und nimmt einen andern Weg, folglich muͤſſen wir nun „ jetzt ihre Geſellſchaft entbehren. “
Nun wurde noch vieles zu Selma’s Ruhm geſprochen, ſo daß Stilling genug zu hoͤren hatte; jetzt wußte er, was er wiſſen mußte, ſein Gegenſtand war in S ....; er machte ſich alſo ſo geſchwind als er konnte auf ſein Zimmer, nicht zu ſchlafen, ſondern um zu denken; denn er uͤberlegte nun, ob es vielleicht ein Wink der Vorſehung ſey, daß er ſie nicht angetroffen habe, um ihn wieder von ihr abzuziehen? Er quaͤlte ſich die ganze Nacht mit dieſem Gedanken, und wußte nicht, ob er geraden Weges wieder nach Hauſe zuruͤckkehren, oder erſt nach S .... gehen ſollte, um vorher mit der Frau von la Roche zu ſprechen. Endlich behielt letzter Entſchluß die Oberhand; er ſtand alſo des Morgens um vier Uhr auf, zahlte ſeine Zeche, und ging zu Fuß nach S ...., wo er alſo den 25ſten Junius 1782 des Morgens um acht Uhr ankam.
So wie er zur Frau von la Roche ins Zimmer trat, ſchlug dieſe die Haͤnde zuſammen, und rief ihm mit ihrer unaus - ſprechlich holden Miene entgegen: Ei, Stilling! wo kommſt Du her? — Stilling verſetzte: Sie haben mich nach Rei - chenburg gewieſen, da iſt aber Selma nicht, ſie iſt hier. —
„ Hier iſt Selma? — wie geht das zu? “
Nun erzaͤhlte er ihr den ganzen Hergang.
„ Stilling! das iſt vortrefflich — das iſt ein Wink der399 „ Vorſehung, ich hab’ daruͤber nachgedacht, im Geſthof zu Rei - „ chenburg haͤtten Sie ſie ja nicht einmal anſehen, geſchweige „ mit ihr reden duͤrfen, hier aber laͤßt ſich Alles machen. “
Dieſe Worte heiterten ihn voͤllig auf und beruhigten ſein Herz.
Nun machte Sophie Anſtalt zu einer Zuſammenkunft: der andere Conſulent, der Herr P ...., ein Kollege des Herrn v. St. Florintin, nebſt ſeiner Gattin, waren ſehr gute Freunde von der Frau von la Roche und auch von Selma; an dieſe ſchrieb ſie alſo ein Billet, in welchem ſie ihnen ſagte, daß Stilling da ſey und ſie erſuchte, Selma nebſt ihrem Bruder davon zu benachrichtigen, und ſie zu bitten, gegen zehn Uhr in ihren Garten zu ſpazieren, er, der Herr Conſu - lent P .... moͤchte dann Stillingen auch dahin abholen.
Alles das geſchah; die Frau Conſulentin P .... holte Selma und ihren Bruder, und Herr P .... Stillingen ab.
Wie ihm auf dem Wege zu Muthe war, das weiß Gott. P .... fuͤhrte ihn alſo zum Thore hinaus, und linker Hand an die Mauer fort, gegen Mittag, in einen ſehr ſchoͤnen Baumgar - ten mit Nebengelaͤnder und einem ſchoͤnen Gartenhauſe. Die Sonne ſchien am unbewoͤlkten Himmel, und es war einer der ſchoͤnſten Sommertage.
Bei dem Eintritt ſah er dort Selma mit einem gelb - roͤthlichen ſeidenen Kleide und einem ſchwarzen Binſenhut be - kleidet, voller Unruh unter den Baͤumen wandeln, ſie rang die Haͤnde mit aͤuſſerſter Gemuͤthsbewegung; an einem an - dern Ort ging ihr Bruder mit der Frau Conſulentin umher. So wie ſich Stilling naͤherte und ſich ihnen zeigte, ſtellten ſich alle in Poſitur, ihn zu empfangen. Nachdem er rund umher ein allgemeines Kompliment gemacht hatte, trat er zu Selma’s Bruder. Dieſer Herr hatte ein majeſtaͤtiſches, ſehr ſchoͤnes Anſehen, er gefiel ihm bei dem erſten Anblick aus der Maßen, er trat alſo zu ihm, und ſagte: „ Herr „ Conſulent, ich wuͤnſche Sie bald Bruder nennen zu koͤn - nen! “— Dieſe Anrede, die nur Stilling thun konnte, mußte einen Mann von ſo feiner Erziehung und Weltkenntniß nothwen - dig frappiren; er buͤckte ſich alſo, laͤchelte und ſagte: Ihr ge - horſamer Diener, Herr Profeſſor! das wird mir eine Ehre ſeyn.
400Nun ging P .... und ſeine Gattin und von Florintin ſchleunig fort ins Gartenhaus, und ließen Stilling und Selma allein.
Jetzt trat er zu ihr, praͤſentirte ihr ſeinen Arm, und fuͤhrte ſie langſam vorwaͤrts; eben ſo gerade und ohne Umſchweife ſagte er zu ihr: „ Mademoiſelle! Sie wiſſen, wer ich bin, „ (denn ſie hatte ſeine Geſchichte geleſen) Sie wiſſen auch „ den Zweck meiner Reiſe, ich habe kein Vermoͤgen, aber hin - „ laͤngliches Einkommen und zwei Kinder, mein Charakter iſt „ ſo, wie ich ihn in meiner Lebensgeſchichte beſchrieben habe; „ koͤnnen Sie ſich entſchließen, meine Gattin zu werden, ſo „ halten Sie mich nicht lange auf, ich bin gewohnt, ohne „ Umſchweife zum Ziel zu eilen, ich glaube, Ihre Wahl wird „ Sie nie gereuen, ich fuͤrchte Gott, und werde ſuchen, Sie „ gluͤcklich zu machen. “
Selma erholte ſich aus ihrer Beſtuͤrzung; mit einer un - ausſprechlich holden Miene ſchlug ſie ihre geiſtvollen Augen empor, reckte die rechte Hand mit dem Faͤcher in die Hoͤhe, und ſagte: Was die Vorſehung will — das will ich auch!
Indem kamen ſie auch im Gartenhauſe an; hier wurde er nun beſehen, ausgeforſcht, gepruͤft und auf allen Seiten beleuchtet. Nur Selma ſchlug die Augen nieder, und ſagte kein Wort. Stilling ſtellte ſich ungeſchminkt dar, wie er war, und heuchelte nicht. Jetzt wurde nun die Abrede ge - nommen, daß Selma mit ihrem Bruder, Nachmittags nach Tiſche, zur Frau von la Roche kommen, und daß alsdann weiter von der Sache geredet werden ſollte. Damit ging Je - der wieder nach Hauſe.
Sophie fragte gleich beim Eintritt ins Zimmer: wie hat Ihnen meine Selma gefallen?
„ Vortrefflich! ſie iſt ein Engel! “
Nicht wahr? ich hoffe, Gott wird ſie Ihnen zufuͤhren.
Nach Tiſche wurde nun Selma ſehnlich erwartet, aber ſie kam nicht. Sophie und Stilling geriethen in Angſt, Beiden drangen die Thraͤnen in die Augen; endlich that die vortreffliche Frau einen Vorſchlag: wenn allenfalls Selma401 nicht einwilligen wuͤrde, der ihre Engelsſeele ganz zeigte, wie ſie iſt; allein Beſcheidenheit und andere wichtigen Gruͤnde verbieten mir, ihn zu entdecken.
In dem Zeitpunkt, als Stillings Angſt aufs hoͤchſte geſtiegen war, trat Herr von St. Florintin mit ſeiner Schweſter zur Thuͤre herein. Sophie griff den Conſulenten am Arm, und fuͤhrte ihn ins Nebenzimmer, und Stilling zog Selma neben ſich auf den Sopha.
War das Kaltſinn, oder was wars, fing er an, daß Sie mich ſo aͤngſtlich harren ließen?
„ Nicht Kaltſinn — (die Thraͤnen traten ihr in die Augen) „ ich mußte in eine Viſite gehen, und da wurde ich aufgehal - „ ten; meine Empfindung — iſt unausſprechlich. “
Sie entſchließen ſich alſo wohl, die Meinige zu werden?
„ Wenn meine Mutter einwilligt, ſo bin ich ewig die Ihrige! “
Ja, aber Ihre Frau Mutter?
„ Die wird nichts einwenden. “
Mit unausſprechlicher Freude umarmte und kuͤßte er ſie, und indem trat Sophie mit dem Conſulenten ins Zimmer. Dieſe ſtanden da, ſchauten hin und ſtarrten!
So weit ſind Sie ſchon? rief Sophie mit hoher Freude.
Ja! — Ja! im Arm fuͤhrte er ſie ihr entgegen.
Nun umfaßte die erhabene Seele Beide, ſchaute in die Hoͤhe, und ſagte mit Thraͤnen und innigſter Bewegung: „ Gott „ ſegne euch, meine Kinder! mit himmliſcher Wonne wird „ die verklaͤrte Chriſtine jetzt auf ihren Stilling herabſe - „ hen, denn ſie hat dir, mein Sohn, dieſen Engel zum Weibe „ erbeten. “
Dieſer Auftritt war Herz und Seelen erſchuͤtternd; Sel - ma’s Bruder hing ſich auch an dieſe Gruppe an, weinte, ſegnete, und ſchwur Stillingen ewige Brudertreue.
Nun ſetzte ſich Sophie, ſie nahm ihre Selma auf ihren Schooß, die ihr Geſicht in Sophiens Buſen verbarg, und ihn mit Thraͤnen netzte.
Endlich ermannten ſich Alle; Stillings Zug zu dieſer vortrefflichen Seele, ſeiner nunmehrigen Braut, war unbe - graͤnzt, ob er gleich ihre Lebensgeſchichte noch nicht wußte. 402Sie hingegen erklaͤrte ſich, ſie empfinde eine unbeſchreibliche Hochachtung und Ehrfurcht gegen ihn, die ſich bald in herz - liche Liebe verwandeln wuͤrde, dann trat ſie hin, und ſagte mit Wuͤrde: „ Ich werde bei Ihren Kindern Ihre ſelige „ Chri - „ ſtine ſo erſetzen, daß ich ſie ihr an jenem Tage getroſt wie - „ der zufuͤhren kann.
Jetzt ſchieden ſie von einander; Selma fuhr noch dieſen Abend nach Reichenburg, von da wollte ſie nach Kreuz - nach zu ihrer Mutter Schweſter reiſen, und dort ihre Braut - tage verleben. So wie ſie fort war, ſchrieb Stilling noch einen Brief an ſie, der ihr des andern Tages nachgeſchickt wurde, und nun reiste auch er froh und vergnuͤgt nach Rit - tersburg zuruͤck.
Als er nun wieder allein war und den ganzen Vorfall genau uͤberlegte, ſo fielen ihm ſeine vielen Schulden zentner - ſchwer aufs Herz — davon er ſeiner Selma kein Wort entdeckt hatte; das war nun zwar ſehr unrecht, ein in Wahr - heit unverzeihlicher Fehler, wenn man das einen Fehler nen - nen will, was moraliſch unmoͤglich iſt. Selma kannte Stil - lingen nur aus ſeinen Schriften und aus dem Geruͤcht, ſie ſah ihn an dem Tage, da ſie ſich mit ihm verſprach, das Erſtemal, hier fand das, was man zwiſchen jungen Leuten Liebe heißt, nicht ſtatt, der ganze Vorgang war Entſchluß, Ueberlegung, durch vernuͤnftige Vorſtellung entſtandenes Re - ſultat; haͤtte er nun Etwas von ſeinen Schulden geſagt, ſo waͤre ſie gewiß zuruͤckgeſchaudert; dieß fuͤhlte Stilling ganz — aber er fuͤhlte auch, was eine Entdeckung von der Art alsdann, wenn er ſie nicht wieder zuruͤckziehen konnte, fuͤr Folgen haben wuͤrde. Er war alſo in einem erſchrecklichen Kampf mit ſich ſelbſt, fand ſich aber zu ſchwach, die Sache zu offenbaren.
Indeſſen erhielt er den erſten Brief von ihr; er erſtaunte uͤber den Geiſt, der ihn ausgeboren hatte, und ahnete eine gluͤckliche Zukunft; Freiheit der Empfindung ohne Empfindelei, Richtigkeit und Ordnung im Denken, wohlgefaßte und reife Entſchluͤſſe herrſchte in Jeder Zeile, und Jeder, dem er den Brief zu leſen anvertraute, pries ihn ſelig.
403Indeſſen kam die Einwilligung von der Frau Kammerdirek - torin von St. Florintin, ſie wurde Stillingen bekannt gemacht, und nun war Alles richtig. Er reiste alſo nach Kreuznach zu ſeiner Braut, um einige Tage bei ihr zuzu - bringen und ſich naͤher mit ihr bekannt zu machen. Jetzt lernte er ſie nun recht kennen, und fand, in welchem Ueber - maße fuͤr alle ſeine bisherigen ſchweren und langwierigen Leiden er von der ewigen Vaterliebe Gottes ſey belohnet worden; ſeine Schulden aber konnte er hier unmoͤglich entdecken, er betete alſo unablaͤßig zu Gott, daß er doch die Sache ſo wenden moͤchte, damit ſie ein gutes Ende gewinnen moͤge.
Die Frau Tante war auch eine ſehr wuͤrdige, angenehme Frau, die ihn recht lieb gewann, und ſich dieſes Familienzu - wachſes freute.
Nahe bei dieſer Tante wohnte ein Kaufmann Namens Schmerz, ein Mann von vielem Geſchmack und Kenntniſ - ſen. Dieſer hatte Stillings Geſchichte geleſen, er war ihm alſo merkwuͤrdig; daher lud er ihn einſtmals an einem Abend mit ſeiner Braut und der Tante in ſeinen ſchoͤnen und vie - len Kennern wohlbekannten Garten ein. Dieſer liegt an der Nordweſtſeite der Stadt, ein Theil des alten Stadtgrabens iſt dazu benutzt worden. Wenn man nordwaͤrts zum Lin - ger Thor hinausgeht, ſo trifft man alſofort eine Thuͤre an, ſo wie man hineintritt, kommt man an ein Buſchwerk; lin - ker Hand hat man einen erhabenen Huͤgel, und rechts etwas tiefer einen Raſenplatz mit einer Bauernhuͤtte. Dann wan - delt man einen ebenen Fußſteig zwiſchen den Buͤſchen allmaͤh - lig hinab ins Thal, und nun ſtoͤßt man auf einen Pump - brunnen, bei welchem ſich ein Ruheſitz in einer Laube befin - det. Auf einer Tafel, die hier aufgehangen iſt, ſteht folgender Reim vom ſeligen Herrn Superintendenten Goͤtz zu Win - terberg eingegraben:
Dann kehrt man ſich nordwaͤrts quer uͤber in die Mitte des Thals, wandelt dann zwiſchen Blumen und Gemuͤßbeeten etwas durch daſſelbe fort, und nun fuͤhrt der Weg ganz nord - waͤrts an eine ſteile Felſenwand, in welche eine zierliche Kam - mer eingehauen iſt, und deren Waͤnde mit allerhand Gemaͤl - den uͤberzogen ſind, hier ſteht ein Kanapee mit Stuͤhlen und einem Tiſch.
Wenn man aus dieſer Felſenkluft wieder heraustritt, ſo kommt man nun in einen langen geraden Gang, der durch groͤßere Baͤume und Geſtraͤuche fortfuͤhrt, ſich gegen Suͤdwe - ſten richtet, und oben auf einen Quergang mit Raſenſitzen ſtoͤßt, hinter dieſen Sitzen ſteigt ein Wald von italieniſchen Pappeln ungemein reizend in die Hoͤhe, der ſich oben an die alte Stadtmauer und an ein Gebaͤude anſchließt; unten in dieſem Walde, nahe hinter der Raſenbank, guckt eine ſchoͤne, aus einem grauen Sandſtein gehauene Urne aus dem Gebuͤſche hervor. Dieſe Urne ſieht man, ſobald man aus der Felſen - kammer herab in den großen Gang eintritt; auf dem Wege durch dieſen Gang trifft man linker Hand, gegen die Huͤgel zu, ein Grabmahl mit Ruheſitzen und Inſchriften an, rechter Hand aber fuͤhrt ein kleiner Fußpfad zu des Diogenes Faß, welches groß genug iſt, um darinnen allerhand Betrach - tungen anzuſtellen; von hier fuͤhrt ein ſteiler Fußpfad weſt - waͤrts hinauf, zu einer verdorrten hohlen Eiche, in welcher ein Einſiedler in Lebensgroͤße mit einem langen Bart an einem Tiſchchen ſitzt, und dem, der die Thuͤr oͤffnet, ein Kom - pliment macht.
Dann fuͤhrt der Pfad linker Hand, oberhalb dem Pappel - wald, zwiſchen dieſem und der Stadtmauer herum, auf dem ſuͤdlichen, allenthalben in ſeinen Abhaͤngen mit Gebuͤſchen verwachſenen Huͤgel; auf demſelben befinden ſich nun Garten - beete, Nebengelaͤnder in dunkle gewoͤlbte Gaͤnge gebildet; eine Eremitage, eine Schaukel, Baͤnke und Stuͤhle von mancher - lei Art u. dergl. Dann ſtehen zwei von Erde und Raſen hoch aufgefuͤhrte Pyramiden da, deren jede oben eine Altane hat, zu welchen man auf einer Treppe hinaufſteigt: hier iſt nun die Ausſicht uͤber die Stadt, das Nobthal und die405 vorbeiſtroͤmende Nob uͤberirdiſch; damals ſchritt ein ſchrecklich langbeinigter zahmer Storch um den Fuß dieſer Pyramiden herum.
In dieſem reizenden Aufenthalt hatte Schmerz, wie oben gemeldet, Stilling, Selma und die Tante auf einen Abend eingeladen. Nachdem ſie nun genug herumgewandelt, alles beſehen hatten, und es nun ganz dunkel geworden war, ſo fuͤhrte man ſie in die Felſenkluft, wo ſie mit Erfriſchungen bedient wurden, bis es voͤllig Nacht war; endlich trat Schmerz herein und ſagte: Freunde! kommen Sie doch einmal in den Garten, um zu ſehen, wie die Nacht alles verſchoͤnert! Alle folgten ihm, Stilling ging voran, zu ſeiner Linken Schmerz und zur Rechten Selma, die andern folgten nach. So wie ſie in den langen Gang eintraten, uͤberraſchte ſie ein Anblick bis zum hoͤchſten Erſtaunen; die Urne, oben im Pappelwaͤld - chen, war mit vielen Laͤmpchen erleuchtet, ſo daß der ganze Wald wie gruͤnes Gold ſchimmerte.
Der Schmerz hatte Stillingen ſeine Urne er - leuchtet, und neben ihm wandelte nun ſeine Sa - lome*)Salome heißt Friede — Friedenreich., die Verkuͤnderin eines zukuͤnftigen ho - hen Friedens!!!
Schoͤner! ſchoͤner, ruͤhrender Gedanke!
Als nun Alle ihre frohen Verwunderungsausrufe geendigt hat - ten, ſo begann hinter der Urne aus dem Dunkel des Waldes her, mit unvergleichlich reinen blaſenden Inſtrumenten, eine ruͤhrende Muſik, und zwar die vortreffliche Arie aus Zemire und Azor, welche hinter dem Spiegel geſungen wird; zu - gleich war der Himmel mit Gewitterwolken uͤberzogen, und es donnerte und blitzte dazwiſchen. Stilling ſchluchzte und weinte, die Scene war fuͤr ſeine Seele und fuͤr ſein Herz zu gewaltig, er kuͤßte und umarmte bald Schmerzen, bald ſeine Selma, und floß vor Empfindung uͤber.
Jetzt entdeckte er wieder etwas Neues an ſeiner Braut, ſie fuͤhlte das Alles auch, war auch geruͤhrt; aber ſie blieb ganz ruhig, ihre Empfindung war kein herabſtuͤrzender Felſenſtrom, ſondern ein ruhig fortrieſelnder Bach im Wieſenthal.
Stillings ſämmtl. Schriften. I. Band. 27406Zwei Tage vor ſeiner Abreiſe von Krenznach ſaß er des Morgens mit der Tante und ſeiner Braut im Vorhauſe; jetzt trat der Brieftraͤger herein, und uͤberreichte einen Brief an Selma; ſie nahm ihn an, erbrach ihn, las, und ent - faͤrbte ſich; dann zog ſie die Tante mit ſich fort in die Stube, kam bald wieder heraus, und ging hinauf auf die Schlafkam - mer. Jetzt kam auch die Tante, ſetzte ſich neben Stilling und entdeckte ihm, daß Selma von einem Freunde einen Brief empfangen habe, in welchem ihr bekannt gemacht wor - den, daß er in vielen Schulden ſtecke; dieß ſey ihr aufgefal - len, er moͤchte alſo geſchwinde zu ihr hinaufgehen und mit ihr ſprechen, damit ſie nicht wieder ruͤckfaͤllig wuͤrde, denn es gebe viele brave Maͤnner, die dieſes Ungluͤck haͤtten, ſo Etwas muͤſſe keine Trennung machen, u. ſ. w. Jetzt ſtieg Stilling mit einer Empfindung die Treppe hinauf, die der - jenigen voͤllig gleich iſt, womit ein armer Suͤnder vor den Richter gefuͤhrt wird, um ſein Urtheil zu hoͤren.
Als er ins Zimmer hereintrat, ſo ſaß ſie an einem Tiſch - chen, und lehnte den Kopf auf ihre Hand.
Verzeihen Sie, meine[theuerſte] Selma! fing er an, daß ich Ihnen von meinen Schulden nichts geſagt habe, es war mir unmoͤglich, ich haͤtte Sie ja dann nicht bekommen, Ihr Beſitz iſt mir unentbehrlich; meine Schulden ſind nicht aus Pracht und Verſchwendung, ſondern aus aͤuſſerſter Noth ent - ſtanden; ich kann viel verdienen, und bin unermuͤdet im Ar - beiten, bei einer ordentlichen Haushaltung werden ſie in eini - gen Jahren getilgt ſeyn, und ſollte ich ſterben, ſo kann ja Niemand Forderung an Sie machen — Sie muͤſſen ſich alſo die Sache ſo vorſtellen, als wenn Sie jaͤhrlich einige hundert Gulden weniger Einnahme haͤtten, weiter verlieren Sie nichts dabei, mit tauſend Gulden kommen Sie in der Haushaltung fort, und das uͤbrige verwende ich dann zu Bezahlung der Schulden. Indeſſen, liebe, theure Seele! ich gebe Sie in dem Augenblick frei; und wenn es mich auch mein Leben koſten ſollte, ſo bin ich doch nicht faͤhig, Sie bei Ihrem Wort zu halten, ſobald es Sie reuet.
Damit ſchwieg er ſtill und erwartete ſein Urtheil.
407Mit innigſter Bewegung ſtand ſie jetzt auf, blickte ihn mit holder und durchdringender Miene an, und antwortete:
„ Nein, ich verlaſſe Stillingen nicht — Gott hat mich „ dazu beſtimmt, daß ich Ihre Laſt mit Ihnen tragen ſoll — „ Wohlan! — ich thue es gerne, haben Sie guten Muth, „ auch das werden wir mit Gott uͤberwinden. “
Wie es jetzt Stilling war, das laͤßt ſich kaum vorſtellen, er weinte, fiel ihr um den Hals und rief: Engel Gottes!
Nun ſtiegen ſie Hand in Hand die Treppe herunter, die Tante freute ſich innig uͤber den gluͤcklichen Ausgang dieſer verdrießli - chen und gefaͤhrlichen Sache, ſie troͤſtete Beide ſuͤß und aus Erfahrung.
Wie weiſe leitete jetzt wieder die Vorſehung Stillings Schickſal! — ſage mir Einmal, daß ſie nicht Gebete erhoͤrt! — eine fruͤhere Entdeckung haͤtte Alles wieder zerſchlagen, und eine ſpaͤtere vielleicht Verdruß gemacht. Jetzt war gerade die rechte Zeit.
Stilling reiste nun wieder ruhig und vergnuͤgt nach Rit - tersburg zuruͤck, und machte Anſtalten zur Vollziehung ſei - ner Heirath, welche bei der Tante zu Kreuznach vor ſich gehen ſollte.
Den Raum, vom jetzigen Zeitpunkt bis dahin, will ich in - deſſen mit Selma’s Lebensgeſchichte ausfuͤllen. In der Mitte des vorigen Jahrhunderts lebten in Frankreich zwei Bruͤder, beide von uraltem italieniſchen Adel, ſie nannten ſich Ritter von St. Florintin, genannt Tan - ſor. Einer von ihnen wurde Hugenotte, und mußte deßwegen fluͤchtig werden ohne Hab und Gut; ohne Vermoͤgen nahm er ſeine Zuflucht ins Heſſiſche, wo er ſich zu Ziegenhain nie - derließ, eine Handlung anfing, und eine ehrbare Jungfrau buͤr - gerlichen Standes heirathete; einer ſeiner Soͤhne, oder gar ſein einziger Sohn, ſtudirte die Rechtsgelehrtheit, wurde ein großer thaͤtiger rechtſchaffener Mann, und Syndikus in der Reichsſtadt Worms; hier uͤberfiel ihn am Ende des vorigen Jahrhunderts27 *408das große Ungluͤck, daß er bei Verheerung dieſer Stadt, durch die Franzoſen, ſeine in der Aſche liegende Wohnung mit ſeinem Weibe und vielen Kindern mit dem Ruͤcken anſehen mußte. Er zog alſo nach Frankfurt am Main, wo er abermal Syn - dikus, vieler Reichsſtaͤdte Rath, und ein großer anſehnlicher Mann wurde. Unter ſeinen vielen Soͤhnen war einer ebenfalls ein geſchickter Rechtsgelehrter, welcher in Marburg eine zeit - lang eine Regierungs-Aſſeſſorſtelle bekleidete, und nachher den Ruf als Kanzleidirektor zu Uſingen annahm.
Ein Sohn von dieſem, Namens Johann Wilhelm, war der Vater unſrer Selma; erſtlich bediente er eine Kammeraths - ſtelle zu W ...., und wurde hernach als Kammerdirektor ins Fuͤrſtenthum Nothingen in Ober-Schwaben berufen. Er war ein Mann von durchdringendem Verſtand, feurigen Ent - ſchluͤſſen, raſcher Ausfuͤhrung und unbeſtechlicher Redlichkeit, und da er beſtaͤndig am Hofe lebte, ſo war er auch zugleich ein ſehr feiner Weltmann, und ſein Haus war ein Lieblings - aufenthalt der edelſten und beſten Menſchen. Seine Gattin war ebenfalls edel, gutherzig, und von ſehr feinen Sitten.
Dieſe Eheleute hatten fuͤnf Kinder, zwei Soͤhne und drei Toͤch - ter, welche auch noch Alle leben; alle Fuͤnfe beduͤrfen meines Lobes nicht, ſie ſind vortreffliche Menſchen. Die aͤlteſte Toch - ter hat einen Rath und Amtmann im Fuͤrſtenthum U…, der aͤlteſte Sohn iſt Conſulent in S…, der zweite Sohn Kam - merrath zu Nothingen, die zweite Tochter hat einen braven Prediger in Franken, und das juͤngſte Kind iſt Selma.
Der Kammer-Direktor von St. Florintin hatte ſein ehr - liches Auskommen, aber er war zu redlich, um Schaͤtze zu ſam - meln; als er daher im Jahr 1776 ploͤtzlich ſtarb, ſo fand ſeine Wittwe wenigen Vorrath, ſie empfing zwar einen Gna - dengehalt, womit ſie auskommen konnte, und alle ihre Kinder waren verſorgt, nur Selma noch nicht: fuͤr dieſe fanden ſich auch zwar allerhand Anſchlaͤge, allein ſie war erſt im ſechzehn - ten Jahre, und uͤber das gefielen ihr alle dieſe Verſorgungsmit - tel nicht.
Nun hatten ſie ehemals eine ſehr reiche weitlaͤufige Anver - wandtin gehabt, welche in ihrem 50ſten Jahre einen jungen409 Cavalier von 27 Jahren geheirathet hatte; dieſer wohnte jetzt in Niederſachſen auf ihren Guͤtern in einem ſehr ſchoͤnen Schloß. Die St. Florintiniſche Familie wußte indeſſen von dieſer Frau weiter nichts, als alles Gute; da nun dieſe Dame, welche zugleich Selma’s Pathe war, den Tod des Kammer-Direktors erfuhr, ſo ſchrieb ſie im Jahr 1778 an die Wittwe, und bat ſie, ihr ihre Selma zu ſchicken, ſie wolle fuͤr ſie ſorgen und ſie gluͤcklich machen.
Die Frau von St. Florintin konnte ſich faſt unmoͤglich entſchließen, ihre ſo zaͤrtlich geliebte Tochter uͤber 70 deutſche Meilen weit wegzuſchicken; indeſſen, da ihr alle ihre Freunde und Kinder ernſtlich dazu riethen, ſo ergab ſie ſich endlich. Selma kniete vor ihr hin, und die ehrwuͤrdige Frau gab ihr unter tauſend Thraͤnen ihren Segen. Im Oktober des 1778. Jahres reiste ſie alſo, unter ſicherer Begleitung, nach Nieder - ſachſen, und ſie war gerade in Frankfurt, als Stilling mit Frau und Kindern hier durch, und von Schoͤnenthal nach Rit - tersburg zog.
Nach einer langen und beſchwerlichen Reiſe kam ſie endlich auf dem Schloſſe der Frau Obriſtin, ihrer Pathe, an; ihr Gemahl war in Amerika, und dort todt geblieben. Hier merkte ſie aber bald, daß ſie ihre Erwartung getaͤuſcht hatte, denn ſie wurde auf allerlei Weiſe mißhandelt. Dieß war eine hohe Schule, und eine harte Pruͤfung fuͤr das gute Maͤdchen. Sie war gut erzogen, Jedermann hatte ihr ſchoͤn gethan, und hier hatte Niemand Gefuͤhl fuͤr ihre Talente; zwar gabs Leute genug, die ſie ſchaͤtzten, allein die konnten ſie nur troͤſten, aber ihr nicht helfen.
Dazu kam noch eine Geſchichte: ein junger Cavalier machte ihr ernſtliche Heiraths-Antraͤge, dieſe nahm ſie an, die Heirath wurde zwiſchen beiderſeitigen Familien beſchloſſen, und ſie war wirklich ſeine Braut. Nun verreiste er, und auf dieſer Reiſe trug ſich etwas zu, das ihn von Selma wieder abzog; die Sache zerſchlug ſich.
Ich verſchweige die wahre Urſache dieſer Untreue, der große Tag wird ſie entwickeln.
Nach und nach ſtiegen die Leiden der guten frommen Seele410 aufs hoͤchſte, und zugleich erfuhr ſie, daß ihre Pathe weit mehr Schulden als Vermoͤgen habe; jetzt hatte ſie keine Ur - ſache mehr zu bleiben, ſie beſchloß alſo, wieder zu ihrer Mut - ter zu ziehen.
Die Beſcheidenheit verbietet mir, umſtaͤndlicher in der Be - ſchreibung ihrer Leiden und Auffuͤhrung zu ſeyn; duͤrfte ich es wagen, Alles zu ſagen, ſo wuͤrden meine Leſer erſtaunen. Aber ſie lebt, und erroͤthet ſchon uͤber das, was ich doch noth - wendig, als Stillings Geſchichtſchreiber, ſagen muß.
Zugleich wurde ſie auch noch kraͤnklich; es ſchien, als wenn ihr der Kummer eine Auszehrung zuziehen wuͤrde. Doch be - gab ſie ſich auf die Reiſe, nachdem ſie zwei Jahre im Ofen des Elends ausgehalten hatte. Zu Caſſel aber blieb ſie im Hauſe eines vortrefflichen frommen und rechtſchaffenen Freun - des, des Herrn Regierungsraths M… liegen, drei viertel Jahr hielt ſie ſich daſelbſt auf, waͤhrend welcher Zeit ſie gaͤnz - lich wieder kurirt wurde.
Nun reiste ſie weiter, und kam endlich zu ihrem Bruder nach S…, wo ſie ſich abermals eine geraume Zeit aufhielt. Hier fanden ſich zwar verſchiedene Gelegenheiten zur anſtaͤn - digen Verſorgung, aber Alle waren ihr nicht recht; denn ihre hohen Begriffe von Tugend, von ehelicher Liebe, und von Aus - breitung des Wirkungskreiſes, fuͤrchtete ſie bei allen dieſen Anſchlaͤgen vereitelt zu ſehen; ſie wollte alſo lieber zu ihrer Mutter ziehen.
Nun beſuchte ſie die Frau von la Roche oft, und ſie war auch gerade zugegen, als der verehrungswuͤrdigen Dame er - zaͤhlt wurde, daß Stilling daſelbſt Anſchlaͤge zum Heirathen gemacht haͤtte; Selma bezeigte einen Unwillen uͤber dieſes Geſchwaͤtz, und verwunderte ſich, als ſie hoͤrte, daß Stil - ling in der Naͤhe wohne. Jetzt fiel der Frau von la Roche der Gedanke ein, daß ſich Selma fuͤr Stilling ſchicke; ſie ſchwieg alſo ſtill, und ſchrieb den erſten Brief an ihn, wor - auf er alſofort antwortete: als ſie dieſe Antwort erhielt, war Selma gerade in Reichenburg. Sophie uͤbergab alſo Stil - lings Entſchluß der Frau Conſulentin P .... ihrer beiderſei - tigen Freundin. Dieſe eilte ſofort nach Reichenburg, und411 traf des Morgens fruͤh ihre Freundin noch im Bett an, ihre Augen waren naß von Thraͤnen, denn heute war ihr Geburts - tag, und ſie hatte gebetet und Gott gedankt.
Nun uͤberreichte ihr die Conſulentin Stillings Brief nebſt einem Schreiben von Sophien, in welchem ſie ihr muͤtterlichen Rath gab. Selma ſchlug dieſe Gelegenheit nicht aus, und ſie erlaubte Stillingen zu kommen.
Das Uebrige wiſſen meine Leſer.
Endlich waren alle Sachen gehoͤrig berichtigt, und Stil - ling reiste den 14. Auguſt 1782 nach Kreuznach, um ſich mit ſeiner Selma trauen zu laſſen. Bei ſeiner Ankunft merkte er die erſte Zaͤrtlichkeit an ihr; ſie fing nun an, ihn nicht blos zu ſchaͤtzen, ſondern ſie liebte ihn auch wirklich. Des folgenden Tages, als den 16., geſchah die Einſegnung im Hauſe der Tante, in Gegenwart einiger wenigen Freunde, durch den Herrn Inſpektor W…, welcher ein Freund Stil - lings, und uͤbrigens ein vortrefflicher Mann war; die Rede, welche er bei dieſer Gelegenheit hielt, iſt in die gedruckte Samm - lung ſeiner Predigten mit eingeruͤckt worden; dem ungeachtet aber ſteht ſie auch hier am rechten Orte.
Sie lautet von Wort zu Wort alſo:
„ Es ſind der Vergnuͤgungen viele, womit die ewige Vor - ſicht den Lebensweg des Mannes beſtreuet, der Sinn und Gefuͤhl fuͤr die Freuden der Tugend hat; wenn wir inzwi - ſchen alle dieſe Vergnuͤgungen gegen einander abwiegen, und Geiſt und Herz den Ausſpruch thun laſſen, welche von ihnen den Vorzug verdienen, werden ſie ſchnell und ſicher fuͤr die - jenigen entſcheiden, wodurch die ſuͤßen und edlen Triebe der Geſelligkeit befriedigt werden, welche der Schoͤpfer gegen uns verwandte Mitgeſchoͤpfe, in unſere Seele gepflanzet hat. Ohne einen Freund zu haben, dem wir unſer ganzes Herz oͤffnen, und in deſſen Schoß wir unſere allergeyeimſten Sorgen als ein unverletzliches Heiligthum niederlegen duͤrfen, der an un - ſern gluͤcklichen Begebenheiten Antheil nimmt, unſere Bekuͤm - merniſſe mit uns theilet, durch ſein Beiſpiel uns zu edlen412 Tugendthaten anfeuert, durch liebreiche Erinnerungen uns von Irrwegen und Fehltritten zuruͤckruft, in guten Tagen uns mit weiſem Rath unterſtuͤtzt, zur Leidensſtunde unſere Thraͤ - nen abtrocknet, ohne einen ſolchen Freund zu haben, was waͤr unſer Leben? Und doch muß das Vergnuͤgen der allervoll - kommenſten Freundſchaft demjenigen weichen, welches dem tugendhaften Manne die eheliche Verbindung mit einem tu - gendhaften Weibe gewaͤhrt.
„ Da ich nun heute das Gluͤck haben ſoll, ein ſo ſeliges Band durch das heilige Siegel der Religion zu befeſtigen, werden Sie, meine hochzuverehrenden Zuhoͤrer! mir erlauben, daß ich, ehe ich meine Haͤnde auf die zuſammengeſchlagenen Haͤnde meines verehrungswuͤrdigſten Freundes und der kuͤnf - tigen liebenswuͤrdigen Gefaͤhrtin ſeines Lebens lege, Sie mit einer kurzen Abſchilderung von den reinen Freuden der eheli - chen ſanften Freundſchaft unterhalte, welche durch religioͤſe Geſinnungen und edle Tugendliebe der Verbundenen gehei - ligt iſt.
„ Herrlich und an ſeligen Wonnegefuͤhlen reich, iſt der Bund, den der fromme und edeldenkende Juͤngling mit dem leiblichen Gefaͤhrten ſeiner bluͤhenden Jahre aufrichtet. Mitten unter dem Gedraͤnge einer Welt, die ſich aus kindiſcher Eitelkeit verbindet, und aus niedrigem Eigennutz wieder trennt, ent - deckt der fuͤhlbare Juͤngling eine ſchoͤne Seele, die ihn durch einen unwiderſtehlichen Zug einer edlen Sympathie zur innig - ſten Vereinigung und ſuͤßeſten Bruderliebe einladet. Ein gleich - geſtimmtes Herz, voll unverderbter Naturempfindung, aͤhnliche Neigung fuͤr das, was ſchoͤn und gut, und edel und groß iſt, fuͤhrte ſie zuſammen; ſie ſehen einander, und freundliches Zu - trauen ſchwebt auf ihrem Angeſicht; ſie ſprechen einander und zuſammenſtimmen ihre Gedanken, und gegen einander oͤffnen ſich ihre Herzen, und eine Seele zieht die andere an ſich; ſchon kennen ſie ſich, und ſchwoͤren, Hand in Hand, ſich ewig zu lieben: aber David und Jonathan lieben in einer Welt, worin Verhaͤltniſſe, die uns heilig und ehrwuͤrdig ſeyn muͤſſen, oft die ſuͤßeſten Freundſchaftsbuͤnde aufloͤſen, oft freudenlos, oder wohl gar zu einem Anlaß ſchmerzhafter413 Empfindungen machen. Jonathan hat ihn aufgerichtet, den Bund der heiligen Freundſchaft mit dem unſchuldsvollen Knaben Iſai, und nun iſt ihm der Juͤngling mehr als ein Bruder, denn er liebte ihn, wie die heilige Geſchichte ſagt, als ſeine eigene Seele. Gluͤcklicher Jonathan! koͤnnteſt du deinem Koͤnig und Vater nur einen geringern Theil der zaͤrt - lichen Werthhaltung fuͤr den Liebling deines Herzens mitthei - len: Vergebens! der Zorn Sauls verfolgte den ſchuldloſen David, und das ſanfte und das tugendhafte Herz des Soh - nes und Freundes bemuͤhet ſich umſonſt, die heiligen Pflichten der kindlichen Liebe mit den Pflichten der treueſten und zaͤrtlichen Freundſchaft zu vereinigen. Wer kann die Geſchichte der beiden Edlen leſen, ſie bei dem Stein Aſel, in jener bittern Abſchiedsſtunde, ſich einander herzen und weinen ſehen, ohne nicht Thraͤnen mit ihnen zu vergießen? Und wie oft iſt dieß das Loos der erhabendſten und großmuͤthigſten Seelen! Mag ihr Freundſchaftsbund ſich immer auf die reinſte und tugendhafteſte Zueignung gruͤnden, ſie koͤnnen ſolchen harten Zwang der Verhaͤltniſſe nicht aufheben, die einer guten Men - ſchenſeele heilig ſind. Der Befehl eines Vaters, gegen einan - der ſtreitenden Familienabſichten, je zuweilen einerlei Wuͤnſche, die, ob ſie gleich von Seiten eines Jeden gerecht ſind, doch nur fuͤr Einen koͤnnen erfuͤllt werden, trennen manchmal in dieſer Welt der Unvollkommenheit die allerzaͤrtlichſten Freund - ſchaftsverbindungen, oder zerreißen das Herz, um einer be - ſorglichen Trennung auszuweichen.
„ Nicht ſo mit der Freundſchaft, die zwiſchen edlen Seelen durch das heilige und unverletzliche Band der Ehe geſtiftet wird: ihre huldvollen Freuden ſind dieſer Erſchuͤtterung nicht unterworfen. Nur der Tod kann ihn aufheben, den Bund, welchen die Flamme der zaͤrtlichſten Liebe aufgerichtet und feier - liche Geluͤbde an dem heiligen Altar der Religion verſiegelt haben. Die Verhaͤltniſſe und Abſichten, die Wuͤnſche und Be - muͤhungen des Liebenden und der Geliebten ſind eben dieſelben; die Verwandtſchaft des Mannes iſt Verwandtſchaft des Wei - bes, ſeine Ehre ihre Ehre, ſein Vermoͤgen ihr Vermoͤgen.
„ Das unſchuldige und mit ſanften edlen Trieben erfuͤllte414 Herz der fromm gewaͤhlten Gattin findet in dem Manne, der Gott und die Tugend liebt, einen ſichern Gefaͤhrten auf der Reiſe des Lebens, einen treuen Rathgeber in verlegenen Um - ſtaͤnden, einen muthigen Beſchuͤtzer in Gefahren, einen groß - muͤthigen, bis in den Tod beſtaͤndigen Freund. Was er zum Beſten der Welt, des Vaterlandes, ſeines Hauſes wirkt, das hat Alles einen wohlthaͤtigen Einfluß auf das Gluͤck und die Freuden des Weibes, dem er mit ſeiner Hand auch ſein Herz geſchenkt hat. Von der Arbeit des Tages ermuͤdet, eilt er zu der ſuͤßen Geſellſchafterin ſeines Lebens, theilt ihr die geſam - melten Erfahrungen und Kenntniſſe mit, ſucht eine jede her - vorſchießende Bluͤthe ihres Geiſtes zu entwickeln, jedem ſchuͤch - ternen Wunſch ihres liebevollen Herzens zuvorzukommen, ver - gißt gern die nagenden Sorgen ſeines Berufs, des Undanks der Welt, und der bittern Hinderniſſe, die jeder Redliche auf dem Pfade unbeſtechlicher Rechtſchaffenheit findet, um ganz ihrem Gluͤcke zu leben, ſich ihr ganz zu ſchenken, die um ſei - netwillen Vater und Mutter und Freunde und Geſpielinnen verlaſſen, und mit allen Blumen geſchmuͤckt, ſich in die Arme des Einzigen geworfen hat, der ihrem Herzen Alles iſt. — Wie konnte er ihr nur in Gedanken treulos werden, der Mann, der die Groͤße des Opfers fuͤhlt, das ſie ihm dargebracht hat, und er weiß und glaubt, daß ein Vergelter im Himmel iſt, und was fuͤr einen koſtbaren Schatz hat er nicht in ihr ge - funden, der Gattin, die Gott und die Tugend liebt? Ihr ſanfter, herzbezwingender Umgang verſuͤßt eine jede Stunde ſeines Lebens; ihre zaͤrtliche Theilnehmung an ſeinem Schick - ſal erleichtert ihm jeden Schmerz, laͤßt eine jede Freude des Lebens doppelt empfinden; ihre holden Geſpraͤche verſetzen ihn oft in die Wonnegefuͤhle einer beſſern Welt, wenn ſein durch den Augenblick des Erden-Elends getruͤbtes Auge in die Hoͤhe gerichtet zu werden am meiſten bedarf. Gerne vermißt ſie den truͤglichen Schimmer voruͤberrauſchender Ergoͤtzlichkeiten, um ſie unverbittert zu genießen, die ſtille haͤusliche Gluͤckſelig - keit, die einzige, die es werth iſt, von edlen Seelen geſucht und gefunden zu werden, und kennt ſeine Freuden, die er nicht mitgenießt, der Erwaͤhlte ihres Herzens. Ihm zu gefallen,415 die Angelegenheiten ſeines Hauſes zu beſorgen, durch gutes Beiſpiel und Ordnungsliebe, und Sanftmuth und Gelindigkeit, jene Herrſchaft der Liebe uͤber Kinder und Hausgenoſſen und Geſinde zu behaupten, welche die ſchwerſte Pflicht und der edelſte Schmuck ihres Geſchlechtes iſt, die Erholungsſtunden ihres Mannes mit Vergnuͤgen zu wuͤrzen, durch unſchuldsvol - len Scherz ſeine Stirne aufzuheitern, wenn maͤnnlicher Ernſt darauf ruht, oder durch ſanften Zuſpruch ſeine Sorgen zu mil - dern, wenn widrige Erfolge gutgemeinter Abſichten ihn beruhi - gen: dieß iſt die Bemuͤhung des Tages, dieß der Nachtgedanke der Gattin, die Gott und die Tugend liebt.
„ Eine ſolche Gattin iſt das koſtbarſte Geſchenk des Him - mels: ein ſolcher Ehegatte der beſte Segen, womit die ewige Liebe ein frommes treues Herz belohnt. Segnet Er, der im Himmel wohnt, eine ſolche Ehe mit Nachkommenſchaft, welche entzuͤckende Ausſichten! welche reine Wolluſt, welche Selig - keit auf Erden! in gutartigen geliebten Kindern ſich neu leben zu ſehen, der Erde nuͤtzliche Buͤrger, dem Himmel ſelige Be - wohner zu erziehen, eine kraftvolle Stuͤtze unſers huͤlfloſen Al - ters, einen fuͤhlbaren Troſt in unſern Beſchwerden heranwach - ſen zu ſehen! O Gott! welch ein reicher Erſatz aller Muͤhe und Arbeit und Sorgen, die wir auf Erziehung und Pflege unſers Namens und unſerer Guͤter, und wenn, wie wir hof - fen duͤrfen, unſere Wuͤnſche erfuͤllt werden, auch unſerer Tu - genden verwenden! Welch ein koͤſtliches Loos, gewuͤrdigt wer - den, den ſuͤßen Namen Vater und Mutter zu tragen.
„ Heil Ihnen, verehrungswerther Freund! der Sie heute das Gluͤck genießen, mit einer Gattin auf ewig vereinigt zu werden! Ich kenne ihr edelmuͤthiges, allen freundſchaftlichen Gefuͤhlen offenes warmes frommes Herz; ich habe nicht noͤ - thig, Ihnen die Pflichten vor Augen zu ſtellen, die eine ſolche Verbindung Ihnen auflegt; Sie haben ſie ausgeuͤbt; Sie ſind dadurch gluͤcklich geworden; Sie werden es wieder werden; und wenn ſelige Geiſter das Schickſal ihrer ſterblichen Freunde erfahren und Antheil daran nehmen, ſo ſiehet die vollendete Heilige, die im Himmel iſt, mit reiner unbeſchreiblicher Freude416 auf die neue Verbindung herab, die Sie heute mit der Er - waͤhlten Ihres Herzens eingehen.
„ Heil und Segen Gottes uͤber Sie, liebenswuͤrdige Jung - fer Braut! der Freund Ihres Herzens iſt der Gatte Ihrer Wahl, Ihrer ganzen Hochachtung, Ihrer zaͤrtlichſten Zunei - gung wuͤrdig; getroſt duͤrfen Sie ſich in ſeine nach Ihnen ausgeſtreckten Arme werfen, ohne Beſorgniß von ihm erwarten, was die vollkommenſte Freundſchaft, eheliche Liebe und unver - bruͤchliche Treue zu geben vermag. Wer Gott fuͤrchtet, erfuͤl - let Geluͤbde und haͤlt Bund bis auf den Tod; wer durch ein - ſame und rauhe Wege gegangen iſt, dem iſt warme Herzens - freundſchaft, was der Labetrunk dem Wanderer iſt, der nach durchirrten duͤrren Einoͤden eine beſchattete Quelle findet; mit innigſtem Dankgefuͤhl naͤhert er ſich der Quelle, und heilig iſt ihm jeder Waſſertropfen, der Erquickung in ſein ſchmachten - des Herz gießt.
„ Gott, du erhoͤreſt unſer Gebet, und ſegneſt ſie, die deine Hand zuſammengefuͤhrt hat, und ſegneſt ſie mit allen Freu - den einer reinen und dem Tod unzerſtoͤrbaren Liebe! Amen! “
Darauf erfolgte nun die prieſterliche Einſegnung: Stil - lings und Selma’s Herzen und Haͤnde wurden unzertrenn - lich mit einander vereinigt, und der Allmaͤchtige gab ſeinen gnaͤdigen Segen zu dieſer Verbindung. Herr Schmerz nahm vielen Antheil an dieſer freudigen Begebenheit, er veranſtaltete das Hochzeitmahl und bewirthete das Brautpaar mit den Freun - den, die ihm beiwohnten, des Mittags und des Abends.
Auch den andern Tag wollte Schmerz durch eine Luſt - reiſe ins Rheingau feierlich machen: es wurden zwei Kut - ſchen beſtellt, in der einen fuhr Madame Schmerz, die Tante und Selma, in der andern er ſelbſt, der Herr Inſpektor W .... und Stilling; der Weg ging von Kreuznach auf Bingen, dort fuhren ſie uͤber den Rhein, dann auf Gei - ſenheim, um den Graͤflich Oſteiniſchen Pallaſt zu beſe - hen, und dann gegen Bingen uͤber auf den Niederwald, welcher auch dem Herren Grafen von Oſtein gehoͤrt, und auf die Art eines engliſchen Parks eingerichtet iſt. Die ganze Reiſe war bezaubernd, allenthalben fanden ſich Gegenſtaͤnde,417 die dem Auge eines fuͤr Natur und Kunſt fuͤhlbaren Geiſtes vorzuͤgliche Nahrung geben konnten; die ganze Geſellſchaft war daher auch ausnehmend vergnuͤgt. Des Mittags ſpeisten ſie mitten im Niederwald in einem Jaͤgerhauſe, und nach Tiſche wurde der Nachmittag mit Spazierengehen zugebracht; die mancherlei ſchoͤnen Parthieen, Ausſichten und Gegenſtaͤnde erquickten Auge und Herz. Gegen fuͤnf Uhr wurde die Ruͤck - reiſe wieder angetreten, die Kutſchen fuhren mit den Frauen - zimmern den Berg herab, und die Maͤnner gingen zu Fuß. Nun beſchloſſen dieſe, zu Ruͤdesheim einzutreten und noch eine Flaſche von dem hier wachſenden edlen Wein auf Freund - ſchaft zu trinken; mittlerweile ſollten ſich die Damen uͤberſetzen laſſen, und zu Bingen warten, bis ſie auch in einem Nachen nachkommen wuͤrden. Dieß geſchah; waͤhrend der Zeit aber entſtand ein Sturm, die Wellen gingen hoch, und es fing ſchon an dunkel zu werden, beſonders da ſich auch der Him - mel mit ſchwarzen Wolken uͤberzog. Sie ſetzten ſich dem un - geachtet nach ausgeleerter Flaſche in den Nachen, und ſchwank - ten in lauter Todesaͤngſten auf den rauſchenden Wellen, unter dem Brauſen des Stuͤrmwinds, mit genauer Noth gluͤcklich hinuͤber.
Da ſtanden ſie nun alle Drei zu Bingen am Ufer; um ihre Geliebten zu empfangen, dieſe aber hielten noch mit ih - ren Kutſchen auf der andern Seite. Endlich fuhren ſie auf die Noͤh — und die Noͤh ſtieß ab. Aber, großer Gott! wie ward ihnen, als die Noͤh nicht queer uͤber, ſondern den Fluß hinab ging! — Der Strom wuͤthete, und kaum eine halbe Viertelſtunde weiter hinab bruͤllte das Gewaͤſſer im Bin - gerloch, wie ein entfernter Donner: auf dieſen ſchreckhaften Ort trieb die Noͤh zu — und das Alles bei Anbruch der Nacht — Schmerz, W… und Stilling ſtanden da, wie an Haͤnden und Fuͤßen gelaͤhmt, ihre Angeſichter ſahen aus, wie das Antlitz armer Suͤnder, denen man ſo eben das Todesurtheil vorgeleſen hat; ganz Bingen lief zuſammen, alles laͤrmte, und Schiffer fuhren mit einem großen Boot ab, und den Ungluͤcklichen nach.
Indeſſen ſchwamm die Noͤh mit den Kutſchen immer weiter418 hinab, das Boot fuhr nach, und endlich ſah man Beide nicht mehr: uͤber das Alles wurde es immer dunkler und grauenvoller!
Stilling ſtand da, wie vor dem Richterſtuhl des Allmaͤch - tigen, beten konnte er nicht, nicht denken — ſeine Augen ſtarr - ten hin, zwiſchen die himmelhohen Berge, gegen das Bingerloch zu — es war ihm, als ſtaͤnde er im brennenden Sand bis an den Hals — ſeine Selma, dieß herrliche Geſchenk Gottes, war fuͤr ihn verloren — von allen Seiten drang das ſchreck - liche Geſchrei des Volks in ſeine betaͤubten Ohren: „ die ar - men Leute ſind hin — Gott ſey ihnen gnaͤdig! “ O Gott, welch ein Jammer! — und dieſer waͤhrte zwei Stunden.
Endlich draͤngte ſich ein junger Mann, ein Geiſtlicher Na - mens Gentli, durch das Volk zu den drei Maͤnnern, er ſtellte ſich mit einer Engelsmiene vor ihnen hin, druͤckte ihnen die Haͤnde, und ſagte: Zufrieden! zufrieden! liebe Herren! ſorgen Sie nicht — ſo leicht verungluͤckt Niemand, ſtoͤren Sie ſich an das Gewaͤſch des Poͤbels nicht, was gilts, die Da - men ſind ſchon jetzt heruͤber? Kommen Sie! wir wollen dieſ - ſeits am Ufer hinab gehen, kommen Sie! ich will Ihnen den Weg zeigen! — Dieſes war ein kuͤhler Thau auf die brennenden Herzen, ſie folgten; er fuͤhrte ſie am Arm die Wieſe hinab, und alle ſeine Worte waren Worte des Troſtes und des Friedens.
Als ſie nun gegen den Maͤuſethurm zuwandelten und im - mer die Augen auf den Strom gerichtet hatten, ſo hoͤrten ſie da gegenuͤber linker Hand ein Kniſtern und Raſſeln, als wenn eine Kutſche zwiſchen den Hecken faͤhrt; alle Viere ſchauten hin, allein es war zu dunkel, um zu ſehen; Stilling rief alſo mit lauter Stimme, und ſeine Selma antwortete: „ Wir ſind errettet!
Klopſtocks: Komm her Abbadona zu deinem Er - barmer! — und dieſe Worte: Wir ſind errettet! thaten ei - nerlei Wirkung; Schmerz, W.. und Stilling fielen dem guten katholiſchen Geiſtlichen um den Hals, gerade als wenn er ſelbſt ihr Erretter geweſen waͤre, und er freute ſich mit ih - nen als ein Bruder. O du Friedensbote! du aͤchter Evange - liſt, ſey ewig geſegnet!
419Nun liefen alle drei auf die Kutſche zu, Stilling lief voran, und kam auf dem Wege ſeiner Selma entgegen, die zu Fuß vorausging. Mit Erſtaunen fand er ſie ganz ruhig, ganz ohne Alteration und ohne Zeichen ausgeſtandener Angſt: dieß war ihm unbegreiflich; er fragte ſie wegen dieſer ſon - derbaren Erſcheinung, und ſie antwortete mit zaͤrtlich laͤcheln - der Miene: Ich dachte, Gott mache Alles wohl; waͤre es ſein Wille, mich Dir wieder zu entreißen, ſo muͤſſe er einen guten Zweck dabei haben, ſein Wille geſchehe alſo!
Nun vertheilten ſie ſich wieder in ihre Kutſchen und fuhren ruhig und ſicher in der Nacht nach Kreuznach.
Die Urſache alles dieſes Schreckens und Kummers war blos Trunkenheit der Faͤrcher, dieſe waren beſoffen, ſo daß ſie nicht allein ſtehen, geſchweige die Noͤh regieren konnten; die Schiffer, welche mit dem Boot geſchickt wurden, waren die einzige Urſache der Errettung, dieſe hatten die Noͤh nahe am Bingerloche getroffen, ſie an ihr Boot befeſtigt, und nun mit entſetzlicher Muͤhe und Arbeit oberhalb den Felſen und den Maͤuſethurm hinuͤber buxirt. Zur Strafe wurden die Faͤrcher kaſſirt, und bei Waſſer und Brod in den Thurm geſteckt, wel - ches alles ſie auch wohl verdient hatten.
Es iſt Plan der Vorſehung bei allen ihren Fuͤhrungen, wo - mit ſie den, der ſich von ihr fuͤhren laͤßt, zum großen glaͤn - zenden Ziel leitet, daß ſie, wenn ſie ihm ein großes Gluͤck ſchenkt, und er ſich mit Leidenſchaft daran haͤngt, ihm dieß Gluͤck wieder maͤchtig zu entreißen droht; blos um dieſe ſinn - liche Anhaͤnglichkeit, die jeder ſittlichen Vervollkommnung und der Wirkſamkeit, zum Beſten der Menſchen, ſo aͤußerſt zuwi - der iſt, gaͤnzlich abzutoͤdten; es iſt wahr, was die Myſtiker in dieſem Fall ſagen: Gott will ein ungetheiltes Herz, es darf die Geſchenke lieben und ſchaͤtzen, aber ja nicht mehr und hoͤher als den, der ſie gibt. Stilling hat dieſes in jedem Fall erfahren, wie das jeder aufmerkſame und in den goͤttlichen Wegen erfahrene Leſer leicht bemerken wird.
Ein paar Tage hernach reiste Stilling mit ſeiner Selma,420 in Begleitung der Tante nach Rittersburg; auf dem hal - ben Wege wurden ſie von den dort ſtudierenden Juͤnglingen abgeholt, welche durch Ueberreichung eines Gedichts, durch Mu - ſik und Ball ihre Freude und Theilnahme bezeugten.
So begann nun eine neue Periode ſeines haͤuslichen Lebens: Selma ließ alſofort die beiden Kinder aus Zweibruͤcken holen, und nahm ſich ihrer ſehr verſaͤumten Erziehung mit aͤußerſter Sorgfalt an. Zugleich ſtellte ſie Stilling die Nothwendigkeit vor, daß ſie die Kaſſe uͤbernaͤhme; denn ſie ſagte: lieber Mann! deine ganze Seele arbeitet in ihrem wichtigen Beruf, in ihrer hohen Beſtimmung; haͤusliche An - ordnungen und haͤusliche Sorgen und Ausgaben, ſie moͤgen groß oder klein ſeyn, ſind fuͤr dich zu gering, gehe du deinen Gang ungehindert fort, warte du nur deines Berufs, und uͤber - laſſe mir hernach Einnahme und Ausgabe, uͤbertrage mir Schul - den und Haushaltung, und laß mich dann ſorgen, du wirſt wohl dabei fahren. Stilling that das mit tauſend Freu - den, und er ſahe bald den gluͤckſeligen Erfolg; ſeine Kinder, ſeine Mobilien, ſein Tiſch, Alles wurde anſtaͤndig und ange - nehm eingerichtet, ſo daß Jeder Freude daran hatte. An ſei - nem Tiſch war jeder Freund willkommen, aber nie wurde traktirt, ſein Haus wurde der Zufluchtsort der edelſten Juͤng linge; Mancher blieb vom Verderben bewahrt, und Mancher wurde von Abwegen zuruͤckgerufen; das Alles aber geſchah mit einem ſolchen Anſtand und Wuͤrde, daß auch die giftigſte Laͤſterzunge nichts Ungeziemendes aufzubringen wagte.
Bei dem Allem wurde die Kaſſe nie leer, immer war Vor - rath, und nach Verhaͤltniß, auch Ueberfluß da, und nun machte Selma auch einen Plan zur Schuldentilgung: die Intereſ - ſen ſollten richtig abgefuͤhrt, und dann zuerſt die Ritters - burger Schulden getilgt werden. Dieß letzte geſchah auch in weniger als drei Jahren, und nun wurde Geld nach Schoͤ - nenthal geſchickt, dadurch wurden nun die Glaͤubiger ruhi - ger, mit einem Wort: Stillings langwierige und ſchwere Leiden hatten ein Ende.
Und wenn zuweilen noch quaͤlende Briefe kamen, ſo ant - wortete Selma ſelbſt, und das auf eine Art, die jedem nur421 einigermaßen vernuͤnftigen Manne Ruhe und Zufriedenheit ein - floͤßen mußte.
Indeſſen fanden ſich allmaͤhlig Umſtaͤnde, die Stillings Wirkungskreis ſehr einſchraͤnkten: ſeine Thaͤtigkeit und die Menge ſeiner Schriften erzeugten Neid; man ſuchte, ſo viel moͤglich, Dunkelheit gegen ihn zu verbreiten, und ihn in einem ſchiefen Lichte zu zeigen; er that Vieles zum gemeinen Be - ſten, allein man bemerkte es nicht, im Gegentheil war alles nicht recht, und wo ihm der Hof oder andere politiſche Koͤr - per eine Vergeltung angedeihen laſſen wollten, da wurde es verhindert. Dazu kam noch eins: Stilling wuͤnſchte, ſein ganzes Syſtem allein ausfuͤhren und lehren zu koͤnnen, allein das war bei der jetzigen Lage unmoͤglich, denn ſeine Kollegen theilten das Lehrgebaͤude mit ihm. Endlich war ſein Einkom - men zu klein, um fuͤr die Verſorgung ſeiner Familie wirken zu koͤnnen: denn dieß war nun ſein vornehmſtes Augenmerk, da ihn ſeine Schulden nicht mehr druͤckten.
Das Alles machte in ihm den Entſchluß rege, einem vor - theilhafteren Ruf zu folgen, ſobald ihm die Vorſehung einen ſolchen dereinſt an die Hand geben wuͤrde. Indeſſen war er innig froh und vergnuͤgt, denn das Alles waren keine Leiden, ſondern blos einſchraͤnkende Verhaͤltniſſe.
Im Jahr 1784 beſchloß endlich der Churfuͤrſt, die Kame - ralſchule von Rittersburg nach Heidelberg zu verle - gen, und ſie dort mit der uralten Univerſitaͤt zu vereinigen. Stilling befand ſich in ſofern wohl dabei, daß ſein Wir - kungskreis ausgedehnter, auch ſein Einkommen wenigſtens um Etwas ſtaͤrker wurde, allein an Gruͤndung eines Familien - gluͤcks war gar nicht zu denken, und der Neid wurde nun noch ſtaͤrker; er fand zwar auch viele wichtige Freunde daſelbſt, und bei dem Publiko gewann er eine allgemeine Liebe, weil er ſeine Staar - und Augenkuren, wie bisher, noch immer mit vie - lem Gluͤck und unentgeltlich fortſetzte. Allein er hatte doch auch manchen Kummer und manchen Verdruß hinunter zu ſchlucken. Was ihn am meiſten troͤſtete, war die allgemeineStillings ſämmtl. Schriften. I. Band. 28422Liebe der geſammten Univerſitaͤt, der ganzen Dienerſchaft, aller Studirenden und der Stadt; dazu kam noch, daß auch end - lich ſeine Treue und ſein Fleiß, aller Hinderniſſe ungeachtet, zu den Ohren des Churfuͤrſten drang, der ihm dann ohne ſein Wiſſen, und ganz unentgeldlich das Churfuͤrſtliche Hofraths - patent zuſchickte, und ihn ſeiner Gnade verſicherte.
Um dieſe Zeit ſtarb Herr Friedenberg an der Bruſt - waſſerſucht; Selma hatte ihn noch vorher durch einen ſehr ruͤhrenden Brief von Stillings Redlichkeit und von der gewiſſen Bezahlung ſeiner Schulden uͤberzeugt, und ſo ſtarb er ruhig und als ein Chriſt; denn dieß war er im ganzen Sinn des Worts: Friede ſey mit ſeiner Aſche!
Stilling wurde auch zum ordentlichen Mitglied der deut - ſchen Geſellſchaft in Mannheim aufgenommen, zu welchem Zweck er alle vierzehn Tage Sonntags, mit ſeinem Freunde, dem Herrn Kirchenrath Mieg, hinfuhr. Dieſe Reiſen waren immer eine ſehr angenehme Erholung, und er befand ſich wohl im Zirkel ſo vieler verehrungswuͤrdiger Maͤnner. Auch wurde ſeine Bekanntſchaft mit vortrefflichen Perſonen immer ausge - breiteter und nuͤtzlicher. Hierzu trug noch ein Umſtand Vie - les bei.
Im Jahr 1786 im Herbſt feierte die Univerſitaͤt Heidel - berg ihr viertes hundertjaͤhriges Jubilaͤum mit großer Pracht, und unter dem Zulauf einer großen Menge Menſchen aus der Naͤhe und aus der Ferne. Nun wurde Stillingen die feierliche Jubelrede im Namen und von Seiten der ſtaats - wirthſchaftlichen hohen Schule aufgetragen; er arbeitete ſie alſo wohlbedaͤchtig und ruhig aus, und erfuhr eine Wirkung, die wenig Beiſpiele hat, wozu aber auch die Umſtaͤnde nicht wenig, und vielleicht das mehrſte beitrugen. Alle Reden wur - den im großen Saal der Univerſitaͤt, und zwar lateiniſch gehalten, dazu war es grimmig kalt, und alle Zuhoͤrer wurden des ewigen Lateinredens und Promovirens muͤde. Als nun die Reihe an Stilling kam, ſo wurden alle Zuhoͤrer in den Saal der ſtaatswirthſchaftlichen hohen Schule gefuͤhrt, dieſer war ſchoͤn, und weil es Abend war, illuminirt und warm. 423Jetzt trat er auf, und hielt eine deutſche Rede, mit der ihm gewoͤhnlichen Heiterkeit. Der Erfolg war unerwartet: Thraͤ - nen begannen zu fließen, man freute ſich, man liſpelte ſich in die Ohren, und endlich fing man an zu klatſchen und Bravo zu rufen, ſo daß er aufhoͤren mußte, bis das Getoͤſe vorbei war. Dieß wurde zu verſchiedenen Malen wiederholt, und als er endlich vom Katheder herabſtieg, dankte ihm der Stell - vertreter des Churfuͤrſten, der Herr Miniſter von Oberndorf, ſehr verbindlich, und nun fingen die Pfaͤlzer Großen in ihren Sternen und Ordensbaͤndern an, herbei zu treten, und ihn der Reihe nach zu umarmen und zu kuͤſſen, welches hernach auch von den vornehmſten Deputirten der Reichsſtaͤdte und Univerſitaͤten geſchah. Wie Stillingen bei dieſem Auftritte zu Muthe war, das laͤßt ſich leicht errathen. Gott war mit ihm, und er vergoͤnnte ihm nun einmal einen Tropfen wohl - verdienten Ehrgenuß, der ihm ſo lange unbilliger Weiſe war vorenthalten worden. Indeſſen fuͤhlte er bei dem Allem wohl, wie wenig Antheil er an dem ganzen Verdienſt dieſer Ehre hatte. Sein Talent iſt Geſchenk Gottes; daß er es gehoͤrig hatte kultiviren koͤnnen, war Wirkung der goͤttlichen Vorſe - hung, und daß jetzt der Effekt ſo erſtaunlich war, dazu tha - ten auch die Umſtaͤnde das meiſte. Gott allein die Ehre!
Von dieſer Zeit an genoß Stilling die Liebe und die Achtung aller vornehmen Pfaͤlzer in großem Maaß, und ge - rade jetzt fing auch die Vorſehung an, ihm den Standpunkt zu bereiten, zu welchem ſie ihn ſeit vierzehn Jahren her durch viele langwierige und ſchwere Leiden hatte fuͤhren und bilden wollen.
Der Herr Landgraf von Heſſen-Caſſel hatte von ſeinem Regierungsantritt an den wohlthaͤtigen Entſchluß gefaßt, die Univerſitaͤt Marburg in einen beſſern Stand zu ſetzen, und zu dem Ende die beruͤhmten Maͤnner von Selchow, Bal - dinger und andere mehr dahin verpflanzt. Nun wuͤnſchte er auch das oͤkonomiſche Fach beſetzt zu ſehen; es wurden ihm zu dem Ende verſchiedene Gelehrte vorgeſchlagen, allein es ſtanden Umſtaͤnde im Wege, daß ſie nicht kommen konnten. 28 *424Endlich wurde im Herbſt des 1786ſten Jahres der ſelige Leske von Leipzig dahin berufen: er kam auch, that aber auf der Reiſe einen gefaͤhrlichen Fall, ſo daß er acht Tage nach ſei - ner Ankunft in Marburg ſtarb. Nun war wohl mehrmals von Stilling die Rede geweſen, allein es gab wichtige Maͤnner, die ſeinem Ruf entgegen ſtanden, weil ſie glaubten, ein Mann, der ſo viele Romane geſchrieben haͤtte, ſey einem ſolchen Lehrſtuhl ſchwerlich gewachſen. Allein dem Plan der Vorſehung widerſteht kein Menſch. Stilling wurde auf Veranlaſſung eines Reſcripts dem Herrn Landgrafen, im Fe - bruar des 1787ſten Jahres, von der Univerſitaͤt Marburg zum oͤffentlichen ordentlichen Lehrer der Oekonomie -, Finanz - und Kameral-Wiſſenſchaften, mit einem fixen Gehalt von 1200 Thalern ſchwer Geld, oder 2160 Gulden Reichswaͤhrung, und einer anſehnlichen Verſorgung fuͤr ſeine Frau, im Fall er ſter - ben ſollte, foͤrmlich und ordentlich berufen.
Dank ſey geſagt — inniger warmer Dank Wilhelm dem Neunten, dem Fuͤrſten der edlen und braven Heſſen. Er erkannte Stillings redliches Herz und ſeinen Drang, nuͤtz - lich zu werden, und das war der Grund, warum er ihn be - rief. Dieſes bezeugte er ihm nachher, als er die Gnade hatte, ihm aufzuwarten; er mußte ihm ſeine Geſchichte erzaͤhlen, und der Herr Landgraf war geruͤhrt und vergnuͤgt. Er ſelbſt dankte Gott, daß er ihn zum Werkzeug gebraucht habe, Stillings Gluͤck zu gruͤnden, und er verſprach zugleich, ihn immerfort zu unterſtuͤtzen, und Vatertreue an ihm und ſeiner Familie zu beweiſen.
Dieſen Ruf nahm Stilling mit innigſtem Dank gegen ſeinen weiſen und himmliſchen Fuͤhrer an, und nun ſahe er alle ſeine Wuͤnſche erfuͤllt: denn jetzt konnte er ungehindert ſein ganzes Syſtem ausarbeiten und lehren, und, bei ſeiner Haushaltung und Lebensart, auch zum Beſten ſeiner Kinder Etwas vor ſich bringen, folglich auch dieſe gluͤcklich machen. Ueberhaupt hatte er damals nur drei Kinder: die Tochter und der Sohn aus der erſten Ehe wuchſen heran; die Toch - ter ließ er auf ein Jahr zu den Verwandten ihrer ſeligen425 Mutter reiſen, den Sohn aber that er in der Gegend von Heilbronn, bei einem ſehr rechtſchaffenen Prediger, in eine Penſions-Anſtalt. Selma hatte drei Kinder gehabt: ein Soͤhnchen und eine Tochter waren aber ſchon in Heidel - berg geſtorben, das juͤngſte Kind alſo, ein Maͤdchen von Ei - nem Jahre, nahm er mit nach Marburg.
Nach dieſem Ort ſeiner Beſtimmung reiste er auf Oſtern 1787 mit Frau und Kind ab. In Frankfurt kehrte er abermals bei ſeinem alten und treuen Freund Kraft ein, der ſich nun uͤber den herrlichen Ausgang ſeiner ſchweren Schick - ſale herzlich freute, und mit ihm Gott dankte.
In Marburg wurde er von allen Gliedern der Univerſi - taͤt recht herzlich und freundſchaftlich empfangen und aufge - nommen; es war ihm, als kaͤm’ er in ſein Vaterland und zu ſeiner Freundſchaft. Selbſt diejenigen, die ihm entgegen ge - wirkt hatten, wurden ſeine beſten Freunde, ſobald ſie ihn kennen lernten, denn ihre Abſichten waren rein und lauter geweſen.
Nachdem er nun ſein Lehramt mit Zuverſicht und im Ver - trauen auf den goͤttlichen Beiſtand angetreten und ſich gehoͤ - rig eingerichtet hatte, ſo drang ihn ſein Herz, nun einmal wieder ſeinen alten Vater Wilhelm Stilling zu ſehen; die Reiſe des ehrwuͤrdigen Greiſes war nicht groß und be - ſchwerlich, denn Stillings Vaterland und Geburtsort iſt nur wenige Meilen von Marburg entfernt, er ſchrieb alſo an ihn, und lud ihn ein, zu ihm zu kommen, weil er ſelbſt keine Zeit hatte, die Reiſe zu machen. Der liebe Alte ver - ſprach das mit Freuden, und Stilling machte daher An - ſtalt, daß er mit einem Pferde abgeholt wurde: dieſes alles beſorgte der Sohn Johann Stilling, der Bergmeiſter zu Dillenburg.
Gerne haͤtte er auch ſeinen Oheim, den Johann Stil - ling, geſehen. Allein dieſen hatte ſchon ein Jahr vorher der große Hausvater aus ſeinem Tagewerk abgerufen, und ihn in einen weiten Wirkungskreis verſetzt. In ſeinen letzten Jah - ren war er Ober-Bergmeiſter geweſen, und hatte ungemein426 viel zur Gluͤckſeligkeit ſeines Vaters beigetragen; ſein ganzes Leben war unaufhoͤrliche Wirkſamkeit zum Beſten der Men - ſchen, und heißes Beſtreben nach Entdeckung neuer Wahrheiten; ſein Einfluß auf Leben, Sitten und Betragen ſeiner Nach - barn war ſo groß und ſo tief eingreifend, daß ſeine ganze aͤußere Lebens - und Handelsweiſe unter alle Bauern ſeines Dorfes vertheilt iſt, der Eine lacht wie er, der Andere hat ſeinen Gang angenommen, der Dritte ſeine Lieblingsausdruͤcke u. ſ. w. Sein Geiſt ruht zertheilt auf ſeinen Freunden, und macht ihn auch fuͤr dieſe Welt unſterblich. Aber auch ſein Gedaͤchtniß als Saatsdiener bleibt im Segen; denn ſeine Anſtalten und Verfuͤgungen werden den Armen der Nachwelt noch Brod und Erquickung ſchaffen, wann Johann Stil - lings Gebeine Staub ſind. Ruhe ſanft, wuͤrdiger Sohn Eberhard Stillings! du haſt ihm Ehre gemacht, dem frommen Patriarchen; und jetzt wird er ſich in ſeiner Hoheit ſeines Sohnes freuen, ihn vor den Thron des Erloͤſers fuͤhren, und ihm an den goldenen Stufen Dank opfern.
Im Sommer des Jahrs 1787, an einem ſchoͤnen heiteren Nachmittag, als Stilling auf dem Katheder ſtand und die Technologie lehrte, traten auf Einmal, mitten in der Rede, einige dort ſtudirende Herren in ſeinen Hoͤrſaal hinein. Ei - ner rief uͤberlaut: Ihr Vater iſt da, jetzt hoͤrt hier Alles auf! — Stilling verſtummte, mancherlei Empfin - dungen beſtuͤrmten ſein Herz, und er wankte, vom ganzen Kollegium begleitet, die Treppe herab.
Selma hatte unten an der Hausthuͤre ihren guten Schwie - gervater mit Thraͤnen bewillkommt, ihn und ſeinen Begleiter, den Bergmeiſter, in die Stube gefuͤhrt, und war nun hinge - gangen, um ihr Kind zu holen; waͤhrend der Zeit trat Stil - ling mit ſeiner Begleitung hinein, gerade der Thuͤre gegen - uͤber ſtand der Bergmeiſter, und ſeitwaͤrts linker Hand Wil - helm Stilling, er hielt ſeinen Hut in den Haͤnden, ſtand krumm gebuͤckt vor Alter, und in ſeinem ehrwuͤrdigen Ange - ſicht hatten die Zeit und mancherlei Truͤbſale viele und tiefe Furchen gegraben. Schuͤchtern, und mit der ihm ganz eige -427 nen ſchamhaften Miene, die Niemand ungeruͤhrt laͤßt, blickte er ſeitwaͤrts ſeinem kommenden Sohn ins Angeſicht. Dieſer trat mit der innigſten Bewegung ſeines Herzens vor ihn: hin - ter ihm ſtand der Haufen ſeiner Zuhoͤrer, und Alles laͤchelte mit hoher theilnehmender Freude; erſt ſtarrten ſie ſich einige Augenblicke an, dann fielen ſie in eine mit Weinen und Schluch - zen vermiſchte ſtille Umarmung. Nach dieſer ſtanden ſie wie - der und ſahen ſich an.
„ Vater! Ihr habt ſeit 13 Jahren ſehr gealtert! “
Das habe ich auch, mein Sohn!
„ Nicht — Sie — ehrwuͤrdiger Mann! ſondern Du! — „ ich bin Euer Sohn und ſtolz darauf, es zu ſeyn! — Euer „ Gebet und Eure Erziehung hat mich zu dem Mann gemacht, „ der ich nun geworden bin, ohne Euch waͤre ichs nicht. “
Nun, Nun! laß das ſo — Gott hats gethan! Er ſey gelobt!
„ Mir duͤnkt, ich ſtuͤnde vor meinem Großvater, Ihr ſeyd „ ihm ſehr aͤhnlich geworden, theurer Vater! “
Aehnlich nach Leib und Seele — ich fuͤhle die innere Ruhe, die auch er hatte, und wie er handelte, ſo ſuchte ich auch zu handeln.
„ Gott, wie hart und ſteif ſind Eure Haͤnde — wirds Euch „ denn ſo ſauer? “
Er laͤchelte, wie Vater Stilling, und ſagte: ich bin ein Bauer und zur Arbeit geboren, das iſt mein Beruf ſo, laß dich das nicht kuͤmmern, mein Sohn! — es wird mir ſchwer, mein Brod zu gewinnen, aber doch habe ich keinen Mangel, u. ſ. w.
Nun bewillkommte er auch den Bergmeiſter herzlich, und jetzt trat Selma mit ihrem Toͤchterchen herein, dieß nahm der Alte an der Hand und ſagte ſehr beweglich: der All - maͤchtige ſegne dich, mein Kind! — Selma ſetzte ſich hin, ſchaute den Greis an und vergoß milde Thraͤnen.
Jetzt zerſchlug ſich die Verſammlung, die Herren Studi - renden gingen fort, und nun fingen die Marburger Freunde428 an, Stillings Vater zu beſuchen, ihm widerfuhr eben ſo viel Ehre, als wenn er ein vornehmer Mann geweſen waͤre. Gott wird ihnen dieſe edle Geſinnung vergelten, ſie iſt ihrer Herzen wuͤrdig.
Einige Tage hielt ſich Wilhelm bei ſeinem Sohn auf, und er ſagte mehrmals: dieſe Zeit iſt mir ein Vorgeſchmack des Himmels; vergnuͤgt und ſeelenvoll reiste er dann wieder mit ſeinem Begleiter ab.
Jetzt lebt alſo nun Stilling in Marburg vollkommen gluͤcklich und im Segen, ſeine Ehe iſt eine taͤgliche Quelle des erhabendſten Vergnuͤgens, das ſich auf Erden denken laͤßt, denn Selma liebt ihn von ganzer Seele, uͤber Alles in der Welt, ihr ganzes Herz wallt ihm unaufhoͤrlich entgegen, und da ihn ſeine vielen und langwierigen Leiden aͤngſtlich gemacht haben, ſo, daß er immer E[t]〈…〉〈…〉as befuͤrchtet, ohne zu wiſſen was, ſo geht ihr ganzes Beſtreben dahin, ihn aufzuheitern, und die Thraͤnen von ſeinen Augen wegzuwiſchen, die ſo leicht fließen, weil ihre Gaͤnge und Ausfluͤſſe weit und gelaͤufig ge - worden ſind. Sie hat das, was man guten und angenehmen Ton heißt, ohne viele Geſellſchaft zu ſuchen und zu lieben: daher hat ihn ihr Umgang gebildet und auch fuͤr Menſchen von Rang genießbar gemacht. Gegen die Kinder erſter Ehe iſt ſie Alles, was Stilling nur wuͤnſchen kann, ſie iſt ganz Mutter und Freundin, mehr wollte ich von dem edlen Weibe nicht ſagen, ſie hatte alles Vorhergehende geleſen, und mir Vorwuͤrfe gemacht, daß ich ſie gelobt habe; allein ich bin ihr und meinen Leſern, Gott zum Preis, mehr ſchuldig; da - her habe ich naͤchſt Vorhergehendes und Folgendes vor ihr verborgen, ſie iſt etwas kurz und geſetzt, hat ein gefaͤlliges geiſtvolles Anſehen, und aus ihren blauen Augen und laͤcheln - der Miene quillt jedem Edlen ein Strom von Wohlwollen und Menſchenliebe entgegen. Sie hat in allen Sachen, auch in ſolchen, die eben nicht geradezu weiblich ſind, einen ruhig forſchenden Blick, und immer ein reifes, entſcheidendes Ur - theil, ſo daß ſie ihr Mann oft zu Rathe zieht, wenn ſein raſcher und thaͤtiger Geiſt partheiiſch iſt, er folgt ihr, und429 faͤhrt immer wohl. Sie denkt aufgeklaͤrt in der Religion, und iſt warm in ihrer Liebe zu Gott, dem Erloͤſer und dem Menſchen; ſo ſparſam ſie iſt, ſo freigebig und wohlthaͤtig wirkt ſie da, wo es angewandt iſt. Ihre Beſcheidenheit geht uͤber alles, ſie will immer abhaͤngig von ihrem Manne ſeyn, und iſt auch dann es, wenn er ihr folgt; ſie ſucht nie zu glaͤnzen, und doch gefaͤllt ſie, wo ſie erſcheint; jedem und jeder Edlen iſts in ihrem Umgange wohl. Ich koͤnnte noch mehr ſagen, allein ich baͤndige meine Feder. Wen Gott lieb hat, dem gebe er ein ſolches Weib, ſagte Goͤtz von Berlichingen von ſeiner Maria, und Stilling ſagt das naͤmliche von ſeiner Selma.
Ueber das Alles iſt ſein Einkommen groß und alle Nah - rungsſorgen ſind gaͤnzlich verſchwunden; von dem Segen in ſeinem Beruf laͤßt ſich nichts ſagen, der rechtſchaffene Mann und Chriſt wirkt unablaͤßig, uͤberlaͤßt Gott das Gedeihen, und ſchweigt.
Seine Staaroperationen ſetzt er auch in Marburg mit vielem Gluͤck und unentgeldlich fort; weit uͤber hundert Blinde, und mehrentheils arme Arbeitsleute, haben ſchon, unter dem Beiſtand Gottes, durch ihn ihr Geſicht und damit auch wie - der ihr Brod erhalten. Wie manche Wonneſtunde macht ihm dieſe leichte und ſo wohlthaͤtige Huͤlfe! — wenn ihm die lange Blindgeweſenen nach der Operation, oder beim Abſchied, die Haͤnde druͤcken und ihm ſeine Zahlung in dem uͤberſchweng - lich reichen Erbe der zukuͤnftigen Welt anweiſen! — — Noch immer ſey das Weib geſegnet, das ihn ehemals zu dieſer wohlthaͤtigen Heilmethode zwang! — ohne ſie waͤre er nicht ein ſo fruchtbares Werkzeug in der Hand des Vaters der Armen und Blinden geworden; noch immer ſey das Anden - ken des ehrwuͤrdigen Mol〈…〉〈…〉 ors geſegnet! ſein Geiſt genieße in den Lichtgefilden des Paradieſes Gottes alle uͤberſchweng - liche Wolluſt des Menſchenfreundes, daß er Stillingen zum Augenarzt bildete und die erſte Meiſterhand an ihn legte! —
Juͤngling, der du dieſes lieſeſt, wache uͤber jeden Keim in deiner Seele, der zur Wohlthaͤtigkeit und Menſchenliebe her -430 vorſproßt! Pflege ihn mit hoͤchſter Sorgfalt und erziehe ihn zum Baume des Lebens, der zwoͤlferlei Fruͤchte traͤgt; be - ſtimmt dich die Vorſehung zu einem nuͤtzlichen Beruf, ſo folge ihm, aber wenn auch noch nebenher ein Trieb erwacht, oder wenn die Vorſehung eine Ausſicht eroͤffnet, wo du, ohne deinem eigentlichen Beruf zu ſchaden, Saamen der Gluͤckſe - ligkeit ausſtreuen kannſt, da verſaͤume es nicht, laß es dir Muͤhe und ſauren Schweiß koſten, wenns noͤthig iſt; denn nichts fuͤhrt uns unmittelbarer Gott naͤher, als die Wohl - thaͤtigkeit.
Aber huͤte dich auch vor der in jetzigen Zeiten ſo ſtark ein - reißenden falſchen Thaͤtigkeit, die ich Taͤndelei zu nennen pflege. Der Sklave ſeiner Sinnlichkeit — der Wol - luͤſtling, deckt ſeinen Unflath mit der Tuͤnche der Menſchen - liebe, er will allenthalben Gutes thun und weiß nicht, was gut iſt, er befoͤrdert oft den armen Taugenichts zu einem Amte, wo er uͤberſchwenglich ſchadet, und wirkt, wo er nicht wirken ſoll. Eben ſo verfaͤhrt auch der ſtolze Prie - ſter in ſeiner eigenen Vernunft, die doch in dieſem Thal der Irrwiſche und Schatten noch gewaltig in den Kinderſchuhen herumſtolpert; er will Selbſtherrſcher in der moraliſchen Schoͤ - pfung ſeyn, legt unbehauene, oder auch verwitterte Steine im Bau an den unrechten Ort, und verkleiſtert Luͤcken und Loͤcher mit falſchem Moͤrtel.
Juͤngling! beſſere erſt dein Herz, und laß deinen Ver - ſtand durch das himmliſche Licht der Wahrheit erleuchten! Sey reines Herzens, ſo wirſt du Gott ſchauen, und wenn du dieſe Urquelle des Lichts ſieheſt, ſo wirſt du auch den geraden ſchmalen Steg ſehen, der zum Leben fuͤhrt; dann bete jeden Morgen zu Gott, daß er dir Gelegenheit zu guten Handlungen geben moͤge; ſtoͤßt dir dann eine ſolche auf, ſo erwiſch ſie bei den Haaren, wirke getroſt, Gott wird dir beiſtehen; und wenn dir eine wuͤrdige That gelungen iſt, ſo danke Gott innig in deinem Kaͤmmerlein und ſchweige!!
Ehe ich ſchließe, muß ich noch Etwas vom Herzen waͤlzen, das mich druͤckt: die Geſchichte lebender Perſonen iſt ſchwer431 zu ſchreiben; der Menſch begeht Fehler, Suͤnden, Schwachhei - ten und Thorheiten, die ſich dem Publikum nicht entdecken laſſen, daher ſcheint der Held der Geſchichte beſſer, als er iſt: eben ſo wenig darf man auch alles Gute ſagen, das er thut, damit man ihn nicht ſeines Gnadenlohns berauben moͤge.
Doch ich ſchreibe ja nicht Stillings ganzes Leben und Wandel, ſondern die Geſchichte der Vorſehung in ſeiner Fuͤh - rung. Der große Richter wird dereinſt ſeine Fehler auf die eine, und ſein weniges Gute auf die andere goldne Wagſchale des Heiligthums legen; was hier mangelt, o Erbarmer! das wird deine ewige Liebe erſetzen! —
Liebe Leſer und Stillingsfreunde! Ihr koͤnnt den Titel „ Heinrich Stillings Lehrjahre “nehmen, wie ihr wollt. — Er war bis daher ſelbſt Lehrer und diente von der Pique auf; er fing als Dorfſchulmeiſter zu Zellberg an, und endigte als Profeſſor in Marburg. Aber er war auch Schuͤler oder Lehrjunge in der Werkſtaͤtte des groͤßten Meiſters; ob er nun Geſelle werden koͤnne, das wird ſich bald zeigen — weiter wird ers wohl nicht bringen, weil wir ja alle nur einen Meiſter haben, und auch nur haben koͤnnen.
Stilling glaubte nun ganz feſt, das Lehramt der Staats - wiſſenſchaft ſey der Beruf, zu welchem er von der Wiege an vor - und zubereitet worden; und Marburg ſey auch der Ort, wo er bis an ſein Ende leben und wirken ſollte. Dieſe Ueberzeugung gab ihm eine innige Beruhigung, und er be - muͤhte ſich, in ſeinem Amt Alles zu leiſten, was die Kraft eines Menſchen leiſten kann; er ſchrieb ſein großes und weit - laͤuftiges Lehrbuch der Staats-Polizei, ſeine Finanz - wiſſenſchaft, das Camerale practicum, die Grund - lehre der Staatswirthſchaft, Heinrich Stillings haͤusliches Leben, und ſonſt noch viele kleine Abhandlun - gen und Flugſchriften mehr; wobei dann auch die Staar - und Augen-Kuren ununterbrochen fortgeſetzt wurden. Er las taͤglich vier, zuweilen auch fuͤnf Stunden Kollegien, und ſein Briefwechſel wurde auch immer ſtaͤrker, ſo daß er aus allen ſeinen Kraͤften arbeiten mußte, um ſeinen großen und ſchweren Wirkungskreis im Umſchwang zu erhalten; doch wurde ihm Alles dadurch um Vieles erleichtert, daß er in Marburg lebte.
Stillings ſämmtl. Schriften. I. Band. 29438Dieſe alte, von jeher durch den letzten Aufenthalt, Tod und Begraͤbniß der heiligen Landgraͤfin Eliſabeth von Heſſen, beruͤhmte Stadt, liegt krumm, ſchief und bucklicht, unter einer alten Burg, den Berg hinab; ihre enge Gaſſen, leimerne Haͤu - ſer. u. ſ. w. machen bei dem, der nur bloß durchreist, oder den Ort nur oberflaͤchlich kennen lernt, einen nachtheiligen, aber im Grunde ungerechten Eindruck; denn ſobald man das In - nere des geſellſchaftlichen Lebens — die Menſchen in ihrer wahren Geſtalt — dort kennen lernt, ſo findet man die Herz - lichkeit, eine ſolche werkthaͤtige Freundſchaft, wie man ſie ſchwerlich an einem andern Ort antreffen wird. Dieß iſt kein leeres Kompliment, ſondern ein Dankopfer und Zeugniß der Wahrheit, das ich den lieben Marburgern ſchuldig bin.
Dann gehoͤrt auch noch das dazu, daß die Gegend um die Stadt ſchoͤn und ſehr angenehm iſt, und dann belebt auch der Lahnfluß die ganze Landſchaft: denn ob er gleich auf ſei - nem ſchwachen Ruͤcken keine Laſten traͤgt, ſo arbeitet er doch allenthalben fleißig im Taglohn, und greift rechts und links den Nachbarn unter die Arme.
Das erſte Haus, welches in Marburg Stillingen und Selma die Arme der Freundſchaft oͤffnete, war das Coing’ - ſche: Doktor Johann Franz Coing war Profeſſor der Theologie und ein wahrer Chriſt; mit beiden Eigenſchaften verband er einen freundlichen, ſanften, gefaͤlligen und geheim wohlthaͤtigen Charakter; ſeine Gattin war ebenfalls eine fromme, gottesfuͤrchtige Frau, und von dem naͤmlichen Charakter; Beide ſtammten von franzoͤſiſchen Refuͤgie’s ab, und der Geſchlechts - name der Frau Profeſſorin iſt Duiſing. Dieſes ehrwuͤrdige Ehepaar hatte vier erwachſene Kinder, drei Toͤchter, Eliſe, Maria und Amalia, und einen Sohn Namens Juſtus, der die Theologie ſtudierte; dieſe vier Kinder ſind alle Eben - bilder der Eltern, Muſter chriſtlicher und haͤuslicher Tugenden; die ganze Familie lebte ſehr ſtill und eingezogen.
Die Urſachen, warum ſich das Coing’ſche Haus ſo warm und freundſchaftlich an das Stilling’ſche anſchloß, waren mannigfaltig: Eltern und Kinder hatten Stillings Lebens - geſchichte geleſen; beide Maͤnner waren Landsleute; Verwand -439 ten von beiden Seiten hatten ſich miteinander verheirathet; Pfarrer Kraft in Frankfurt, Stillings alter und be - waͤhrter Freund, war Coings Schwager, ihre beiden Gattin - nen waren leibliche Schweſtern; und was noch mehr als das Alles iſt, ſie waren von beiden Seiten Chriſten — und dies knuͤpft das Band der Liebe und der Freundſchaft feſter als Alles; — wo der Geiſt des Chriſtenthums herrſcht, da vereinigt er die Herzen durch das Band der Vollkommenheit in einem ſo hohen Grade, daß alle uͤbrigen menſchlichen Verhaͤltniſſe nicht damit vergli - chen werden koͤnnen; der iſt gluͤcklich, der es erfaͤhrt!
Selma ſchloß ſich vorzuͤglich an Eliſe Coing an, Gleich - heit des Alters, und vielleicht noch andere Urſachen, die in beider Frauenzimmer Charakter lagen, legten zu dieſer naͤheren Vereinigung den Grund.
Die vielen und ſchweren Geſchaͤfte, und beſonders auch ein hoͤchſtbeſchwerlicher Magenkrampf, der Stilling taͤglich, und beſonders gegen Abend, ſehr quaͤlte, wirkten den erſten Winter in Marburg heftig auf ſein Gemuͤth: er verlor ſeine Heiterkeit, wurde ſchwermuͤthig und ſo weichherzig, daß ihm bei dem geringſten ruͤhrenden Vorfall das Weinen un - vermeidlich wurde; daher ſuchte ihn Selma zu einer Reiſe zu bereden, die er in den Oſterferien zu ihren Verwandten in Franken und im Oettingiſchen machen ſollte. Mit vie - ler Muͤhe brachte ſie ihn endlich zum Entſchluß, und er un - ternahm dieſe Reiſe im Fruͤhjahr 1788, ein Student von Anſpach begleitete ihn bis in dieſe Stadt.
Es iſt in Stillings Charakter etwas Eigenes, daß die Landſchaften einen ſo tiefen und wohlthaͤtigen Eindruck auf ihn machen: wenn er reiſet oder auch nur ſpazieren geht, ſo iſt es ihm immer wie dem Kunſtliebhaber, wenn er in einer vortrefflichen Gemaͤlde-Gallerie umherwandelt — Stilling hat ein aͤſthetiſches Gefuͤhl fuͤr die ſchoͤne Natur.
Auf der Reiſe durch Franken quaͤlte ihn der Magenkrampf unaufhoͤrlich — er konnte keine Speiſen vertragen; aber der Charakter der Anſichten in dieſem Lande war ſtaͤrkend und troͤſtend fuͤr ihn — in Franken wohnt eine große Natur.
In Anſpach beſuchte Stilling Deutſchlands Oden -29 *440ſaͤnger Uz; er trat mit einer gewiſſen Schuͤchternheit in das Zimmer dieſes großen lyriſchen Dichters; Uz, ein kleines, etwas corpulentes Maͤnnchen, kam ihm freundlich ernſt entgegen, und erwartete mit Recht die Erklaͤrung des Fremden, wer er ſey? Dieſe Erklaͤrung erfolgte; hierauf umarmte und kuͤßte ihn der wuͤrdige Greis, und ſagte: Sie ſind alſo Hein - rich Stilling! — es freut mich ſehr, den Mann zu ſehen, den die Vorſehung ſo merkwuͤrdig fuͤhrt und der ſo freimuͤthig die Religion Jeſu bekennt, und muthig vertheidigt.
Hierauf wurde von Dichtern und Dichtkunſt geſprochen, und bei dem Abſchied ſchloß Uz Stilling noch einmal in die Arme, und ſagte: Gott ſegne, ſtaͤrke und erhalte Sie! — ermuͤden Sie nie, die Sache der Religion zu vertheidigen, und unſrem Haupt und Erloͤſer ſeine Schmach nachzutragen! — Die gegenwaͤr - tige Zeit bedarf ſolcher Maͤnner und die folgende wird ihrer noch mehr beduͤrfen! — dereinſt im beſſern Leben ſehen wir uns froͤhlich wieder!
Stilling wurde tief und innig geruͤhrt und geſtaͤrkt, und eilte mit naſſen Augen fort.
Uz, Kramer und Klopſtock werden wohl die Aſſaphs, Hemans und Jedithums im Tempel des neuen Je - ruſalems ſeyn. Wir werden ſehen, wenn es einmal wie - der Scenen aus dem Geiſterreich gibt.
Des andern Morgens fuhr Stilling fuͤnf Stunden wei - ter nach Dorf Kemmathen, einem Ort nicht weit von Dinkelsbuͤhl. Dort fuhr er vor das Pfarrhaus, ſtieg da am Hofthor aus, und wartete, daß man ihm aufmachte; der Herr Pfarrer, ein ſchoͤner bruͤnetter Mann, kam aus dem Hauſe, machte auf und dachte an nichts weniger, als an Schwager Stillings Gegenwart, die Ueberraſchung war ſtark. Die Frau Pfarrerin hatte indeſſen noͤthige Geſchaͤfte, und im Grunde war es ihr nicht ſo ganz recht, daß ſie eben jetzt durch einen Beſuch darin geſtoͤrt werden ſollte; indeſſen ihr Mann fuͤhrte ihr den Beſuch zu, ſie empfing ihn hoͤflich, wie gewoͤhnlich; als er ihr aber einen Gruß von Schweſter441 Selma brachte, und auch ſie Schweſter nannte, da ſank ſie ihm in die Arme.
Stilling verlebte einige ſelige Tage bei Bruder Hoh - bach und Schweſter Sophie. Die wechſelſeitige Bruder - und Schweſterliebe iſt unwandelbar auch jenſeits des Grabes!
Schweſter Sophie begleitete ihren Schwager nach Wal - lerſtein zu ihrem Bruder; zu Oettingen fuhren ſie am Kirchhof vorbei, wo Selma’s und Sophiens Vater ruht, dem jedes einige Thraͤnen weihte; dieß geſchah auch zu Bal - dingen am Grabe der Mutter. Der Bruder und ſeine Gattin freuten ſich des Beſuchs.
Sobald der Fuͤrſt Kraft Ernſt von Oettingen-Wal - lerſtein Stillings Ankunft erfahren hatte, lud er ihn ein, ſo lange er ſich dort aufhalten wuͤrde, an der fuͤrſtlichen Ta - fel zu ſpeiſen; dieß Anerbieten nahm er an, aber nur Mit - tags, weil er die Abendſtunden gern im Freundeskreiſe zubrin - gen wollte. Das Land des Fuͤrſten gehoͤrt unter die ange - nehmſten in Deutſchland: denn das Rieß iſt eine Ebene, die etliche Meilen im Durchſchnitt hat, von der Merniz durchwaͤſſert, und ringsum von hohen Gebirgen umkreist wird. Auf dem maͤßigen Huͤgel, an deſſen Fuß Wallerſtein liegt, uͤberſieht man den ganzen Garten Gottes; in der Naͤhe die Reichsſtadt Noͤrdlingen, und eine unzaͤhlbare Menge Staͤdte und Doͤrfer.
Stillings Aufenthalt allhier wurde dadurch wohlthaͤtig, daß er Augenkranken diente; er operirte den Praͤſidenten von Schade; die Kur war gluͤcklich, der wuͤrdige Mann erhielt ſein Geſicht wieder. Zu dieſer Zeit ſaß der, durchs graue Ungeheuer, und die hyperboreiſchen Briefe bekannte Weckherlin auf einer Bergfeſte im Fuͤrſtenthum Waller - ſtein gefangen: er hatte den Magiſtrat der Reichsſtadt Noͤrd - lingen auf eine muthwillige Art groͤblich beleidigt; dieſer requirirte dem Fuͤrſten von Wallerſtein, in deſſen Gebiet ſich Weckherlin aufhielt, und forderte Genugthuung; der Fuͤrſt ließ ihn alſo beim Kopf nehmen, und auf jenes Berg - ſchloß bringen. Der Bruder des Fuͤrſten, Graf Franz Lud - wig, haͤtte dem Gefangenen gern ſeine Freiheit wieder ver -442 ſchafft, er hatte auch ſchon deßfalls vergebliche Verſuche ge - macht; als er nun merkte, daß der Fuͤrſt eine beſondere Nei - gung zu Stilling aͤußerte, ſo lag er dieſem an, er moͤchte Weckherlin losbitten, denn er habe ſchon lange genug fuͤr ſeinen Muthwillen gebuͤßt.
Es gibt Faͤlle, in welchen der Chriſt nicht mit ſich ſelbſt aufs Reine kommen kann — dieſer war von der Art: einen Mann los zu bitten, der die Freiheit zum Nachtheil ſeines Nebenmenſchen, und beſonders der Obrigkeit mißbraucht, hat ſeine Bedenklichkeit; und auf der andern Seite iſt doch auch die Gefangenſchaft, beſonders fuͤr einen Mann wie Weckher - lin, ein ſchweres Leiden. — Der Gedanke, daß man ja allent - halben Mittel habe, einem Menſchen, der ſeine Freiheit miß - braucht, das Handwerk zu legen, uͤberwog Stillings Be - denklichkeit; er wagte es alſo, waͤhrend der Tafel, den Fuͤr - ſten zu bitten, Er moͤchte Weckherlin loslaſſen. — Der Fuͤrſt laͤchelte, und verſetzte: laß ich ihn los, ſo geht er in ein ander Land, und dann geht es uͤber mich her; uͤber das hat er ja an nichts Mangel, und er kann auf dem Schloß ſpazieren gehen und der freien Luft genießen, ſo wie er will. Nicht lange nachher erhielt denn doch der Gefangene ſeine Freiheit wieder.
Nach einem angenehmen Aufenthalt von zehn Tagen reiste Stilling von Wallerſtein wieder ab; die Verwandten begleiteten ihn bis Dinkelsbuͤhl, wohin auch Schweſter So - phie kam; hier blieben ſie des Nachts beiſammen; des Mor - gens nahm Stilling von ihnen allen einen zaͤrtlichen Ab - ſchied, und ſetzte dann ſeine Reiſe bis Frankfurt fort. Hier traf er ſeine Tochter Hannchen bei Freund Kraft an; ſie war eine Zeitlang bei ihren Verwandten in den Niederlanden geweſen; ſie war nun erwachſen. Der Vater freute ſich der Tochter, und die Tochter des Vaters. Beide fuhren nun zu - ſammen nach Marburg. Selma kam ihnen, in Beglei - tung des Freundes Coing und ihrer Freundin Eliſe, bis Gießen entgegen, und ſo kamen ſie denn alle zuſammen froh und zufrieden in Marburg wieder an.
Wer Stillings Lage jetzt leidenlos glaubt, der irrt ſehr:443 es gibt Leiden, unter allen die ſchwerſten, die man Niemand als nur dem Allwiſſenden klagen kann; weil ſie durch den Gedanken, daß ſie die vertrauteſten Freund ahnen koͤnnten, vollends unertraͤglich wuͤrden. Ich bitte alſo alle meine Leſer ſehr ernſtlich, ja nicht uͤber dieſe Art der Leiden nachzudenken, damit ſie nicht ins Vermuthen gerathen; denn hier waͤre jede Vermuthung ſuͤndlich. Außerdem war Stillings Magen - krampf Leidens genug.
Um dieſe Zeit kam eine wuͤrdige Perſon nach Marburg: dieſe war der Hofmeiſter zweier jungen Grafen, die dort unter ſeiner Aufſicht ſtudieren ſollten — er mag hier Raſchmann heißen — Raſchmann war Kandidat der Theologie, und beſaß ganz vorzuͤgliche Talente; er hatte einen durchdringen - den Verſtand, außerordentlich hellen Blick, ein ſehr gebildetes aͤſthetiſches Gefuͤhl, und eine Betriebſamkeit ohne Gleichen. Auf der andern Seite aber war er auch ein ſtrenger Beur - theiler aller Menſchen, die er kennen lernte; und eben dieß Kennenlernen war eines ſeiner liebſten und angenehmſten Geſchaͤfte; uͤberall und in allen Geſellſchaften beobachtete er mit ſeinem Adlersblick alle Menſchen und Handlungen, und entſchied dann uͤber ihren Charakter; freilich hatte die Uebung einen Meiſter aus ihm gemacht, aber ſeine Urtheile wurden nicht immer durch ihre chriſtliche Liebe geleitet, und die Feh - ler nicht immer mit ihrem Mantel bedeckt; indeſſen, er hatte die jungen Grafen vortrefflich erzogen, und noch gehoͤren ſie unter die beſten Menſchen, die ich kenne. Dieß machte Raſch - mann dem allem ungeachtet in den Augen aller Rechtſchaf - fenen ſchaͤtzbar.
In einer gewiſſen Verbindung hatte er eine große Rolle geſpielt, und da auch ſeine Fertigkeit in der Menſchenkunde bekommen. Außerdem liebte er die Pracht und einen guten Tiſch; er trank die beſten Weine, und ſeine Speiſen waren ausgeſucht delicat. Im Umgang war er ſehr genau, und kritt - lich und jaͤhzornig, und die Bedienten wurden geplagt und mißhandelt. Dieſer ausgezeichnete Mann ſuchte Stillings Freundſchaft; er und ſeine Grafen hoͤrten alle ſeine Kollegien, und kamen woͤchentlich ein paarmal in ſein Haus zum Be -444 ſuch, auch Er mußte oft neben andern Profeſſoren und Freun - den bei Ihm ſpeiſen; ſo viel iſt gewiß, daß Stilling in Raſchmanns Umgang Vergnuͤgen fand, ſo ſehr ſie auch in ihrer religioͤſen Denkungsart verſchieden waren: denn Raſch - manns Kenntniſſe waren ſehr ausgebreitet und ausgebildet, und im Umgang mit Leuten, die nicht unter ihm ſtanden, war er ſehr angenehm und aͤußerſt unterhaltend.
In dieſem Sommer 1788 kam auch der Kirchenrath Mieg von Heidelberg mit ſeiner lieben Gattin nach Marburg, um dortige Freunde und Stilling und Selma zu beſu - chen. Die Redlichkeit, raſtloſe Thaͤtigkeit, um Gutes zu wir - ken, und die gefuͤhlvolle wohlthaͤtige Seele Miegs, hatte auf Stilling einen liebevollen Eindruck gemacht, ſo daß beide herzliche Freunde waren; und in eben dem Verhaͤltniß ſtan - den auch die beiden Frauen gegen einander. Dieſer Beſuch knuͤpfte das Band noch feſter; aber er hatte außerdem noch eine wichtige Wirkung auf Stillings Denkungsart und philoſophiſches Syſtem.
Stilling war durch die Leibnitz-Wolfiſche Philoſo - phie in die ſchwere Gefangenſchaft des Determinismus gera - then — uͤber zwanzig Jahre lang hatte er mit Gebet und Flehen gegen dieſen Rieſen gekaͤmpft, ohne ihn bezwingen zu koͤnnen. Er hat zwar immer die Freiheit des Willens und der menſchlichen Handlungen in ſeinen Schriften behauptet, und gegen alle Einwuͤrfe ſeiner Vernunft auch geglaubt; er hatte auch immer gebetet, obgleich jener Rieſe ihm immer ins Ohr lispelte: dein Beten hilft nicht, denn was Gott in ſeinem Rathſchluß beſchloſſen hat, das geſchieht, du magſt beten oder nicht. Dem allem ungeachtet glaubte und betete Stilling immer fort, aber ohne Licht und Troſt, ſelbſt ſeine Gebets - Erhoͤrungen troͤſteten ihn nicht: denn der Rieſe ſagte, es ſey bloßer Zufall. — Ach Gott! — dieſe Anfechtung war ſchreck - lich! Die ganze Wonne der Religion, ihre Verheißungen die - ſes und des zukuͤnftigen Lebens — dieſer einzige Troſt im Le - ben, Leiden und Sterben, wird zum taͤuſchenden Dunſtbild, ſobald man dem Determinismus Gehoͤr gibt. Mieg wurde von ohngefaͤhr der Retter Stillings aus dieſer Gefangen -445 ſchaft: er ſprach naͤmlich von einer gewiſſen Abhandlung uͤber die Philoſophie, die ihm außerordentlich gefallen hatte; dann fuͤhrte er auch das Poſtulat des Kantiſchen Moralprinzips an, naͤmlich: Handle ſo, daß die Maxime deines Wol - lens jederzeit allgemeines Geſetz ſeyn koͤnne. Dieß erregte Stillings Aufmerkſamkeit: die Neuheit dieſes Sa - tzes machte tiefen Eindruck auf ihn; er beſchloß, Kants Schrif - ten zu leſen, bisher war er dafuͤr zuruͤckgeſchaudert, weil ihm das Studium einer neuen Philoſophie — und zumal die - ſer — ein unuͤberſteiglicher Berg zu ſeyn ſchien.
Kants Kritik der reinen Vernunft las er natuͤrlicher Weiſe zuerſt, er faßte ihren Sinn bald, und nun war auf Einmal ſein Kampf mit dem Determinismus zu Ende: Kant be - weist da durch unwiderlegbare Gruͤnde, daß die menſchliche Vernunft außer den Graͤnzen der Sinnenwelt ganz und gar nichts weiß — daß ſie in uͤberſinnlichen Dingen, allemal — ſo oft ſie aus ihren eigenen Prinzip[i]en urtheilt und ſchließt — auf Wiederſpruͤche ſtoͤßt, das iſt: ſich ſelbſt widerſpricht; dieß Buch iſt ein Commentar uͤber die Worte Pauli: der na - tuͤrliche Menſch vernimmt nichts von den Dingen, die des Geiſtes Gottes ſind, ſie ſind ihm eine Thorheit, u. ſ. w.
Jetzt war Stillings Seele wie emporgefluͤgelt; es war ihm bisher unertraͤglich geweſen, daß die menſchliche Vernunft, dieß goͤttliche Geſchenk, das uns von den Thieren unterſchei - det, der Religion, die ihm uͤber alles theuer war, ſchnurgerade entgegen ſeyn ſollte; aber nun fand er alles paſſend und Gott geziemend; er fand die Quelle uͤberſinnlicher Wahrheiten in der Offenbarung Gottes an die Menſchen, in der Bibel, und die Quelle aller der Wahrheiten, die zu dieſem Erdenleben ge - hoͤren, in Natur und Vernunft. Bei einer Gelegenheit, wo Stilling an Kant ſchrieb, aͤußerte er dieſem großen Phi - loſophen ſeine Freude und ſeinen Beifall. Kant antwortete, und in ſeinem Briefe an ihn ſtanden die ihm ewig unvergeß - lichen Worte:
„ Auch darin thun Sie wohl, daß Sie Ihre ein - zige Beruhigung im Evangelio ſuchen, denn es446 iſt die unverſiegbare Quelle aller Wahrheiten, die, wenn die Vernunft ihr ganzes Feld ausge - meſſen hat, nirgends anders zu finden ſind! “
Nachher las Stilling auch Kants Kritik der prak - tiſchen Vernunft, und dann ſeine Religionen inner - halb der Graͤnzen der Vernunft. Anfaͤnglich glaubte er in beiden Wahrſcheinlichkeit zu bemerken, aber bei reiferer Ueberlegung ſah er ein, daß Kant die Quelle uͤberſinn - licher Wahrheiten nicht im Evangelium, ſondern im Moral - prinzip ſuchte; wie kann aber dieſes, naͤmlich das ſitt - liche Gefuͤhl des Menſchen, das am Mexikaner die Menſchenopfer, dem Nordamerikaner das Skalpiren des Hirnſchaͤdels eines unſchuldigen Gefangenen, dem Otahei - taner das Stehlen und dem Hindus die Anbetung einer Kuh gebeut, Quelle uͤberſinnlicher Wahrheiten ſeyn? — Oder ſagte man: nicht das verdorbene, ſondern das reine Mo - ralprinzip, welches ſein Poſtulat richtig ausſpricht, ſey dieſe Quelle, ſo antworte ich: das reine Moralprinzip iſt eine bloße Form, eine leere Faͤhigkeit, das Gute und Boͤſe zu er - kennen; aber nun zeige mir einmal einer irgendwo einen Men - ſchen im Zuſtand des reinen Moralprinzips! — alle werden von Jugend auf durch mancherlei Irrſale getaͤuſcht, ſo daß ſie Boͤſes fuͤr gut und Gutes fuͤr boͤs halten. — Wenn das Moralprinzip zum richtigen Fuͤhrer der menſchlichen Hand - lungen werden ſoll, ſo muß ihm das wahre Gute und Schoͤne aus einer reinen unfehlbaren Quelle — gegeben werden — aber nun zeige man mir eine ſolche reine unfehl - bare Quelle außer der Bibel! — Es iſt eine ewige und gewiſſe Wahrheit, daß jeder Heiſcheſatz der gan - zen Moral eine unmittelbare Offenbarung Got - tes iſt — beweiſe mir Einer das Gegentheil — was die weiſeſten Heiden Schoͤnes geſagt haben, das war ihnen durch vielſeitige Reflexionen aus dem Licht der Offenbarung zugefloſſen.
Stilling hatte indeſſen durch Kants Kritik der reinen Vernunft genug gewonnen, und dieß Buch iſt und bleibt die einzig moͤgliche Philoſophie, dieß Wort im gewoͤhnlichen Ver - ſtande genommen.
447So ſehr auch Stilling nun von dieſer Seite beruhigt war, ſo ſehr drohte ihm von einer andern eine noch groͤßere Gefahr; ein weit feinerer und daher auch gefaͤhrlicherer Feind ſuchte ihn zu beruͤcken: ſein haͤufiger Umgang mit Raſch - mann floͤßte ihm allmaͤhlich, ohne daß ers merkte, eine Menge Ideen ein, die ihm einzeln gar nicht bedenklich ſchienen, aber hernach im Ganzen — zuſammengenommen — eine Anlage bildeten, aus der mit der Zeit nichts anders, als: erſt Sozi - nianismus, dann Deismus, dann Naturalismus und endlich Atheismus und mit ihm das Widerchriſten - thum entſtehen kann. So weit ließ es nun zwar ſein himm - liſcher Fuͤhrer nicht mit ihm kommen, daß er auch nur einen Anfang zu dieſem Abfall von der himmliſchen Wahrheit ge - macht haͤtte, indeſſen war das doch ſchon arg genug, daß ihm der verſoͤhnende Opfertod Jeſu anfing, eine orientaliſche Aus - ſchmuͤckung des ſittlichen Verdienſtes Chriſti um die Menſch - heit zu ſeyn.
Raſchmann wußte dieß mit ſo vieler Waͤrme und Ehr - erbietung gegen den Erloͤſer, und mit einer ſo ſcheinbaren Liebe gegen ihn vorzutragen, daß Stilling anfing, uͤberzeugt zu werden. Doch kam es nicht weiter mit ihm, denn ſeine reli - gioͤſen Begriffe und haͤufigen Erfahrungen waren gar zu tief in ſeinem ganzen Weſen eingewurzelt, als daß der Abfall weiter haͤtte gehen, oder auch nur beginnen koͤnnen.
Dieſer Zuſtand waͤhrte etwa ein Jahr, und eine gewiſſe erlauchte und begnadigte Dame wird ſich noch eines Briefes von Stilling aus dieſer Zeit erinnern, der ihm ihre Liebe und Achtung auf eine Zeitlang — naͤmlich ſo lang entzog, bis er wieder aufs Reine gekommen war.
Gottlob! dahin kam er wieder, und nun bemerkte er mit Erſtannen, wie ſehr ſich allmaͤhlig die zuͤchtigende Gnade ſchon von ſeinem Herzen entfernt hatte — von weitem zeigten ſich ſchon laͤngſt erloſchene ſuͤndliche ſinnliche Triebe in ſeinem Herzen, und der innere Gottesfriede war in ſeiner Seele zu einem fernen Schimmer geworden. Der gute Hirte holte ihn um, und leitete ihn wieder auf den rechten Weg, die Mittel dazu zeigt der Verfolg der Geſchichte.
448Dieſe Abweichung hatte den Nutzen, daß Stilling die Verſoͤhnungslehre noch genauer pruͤfte, und nun ſo feſt anfaßte, daß ſie ihm keine Gewalt mehr entreißen ſoll.
Des folgenden Jahrs, im Winter 1789, ſchrieb die regie - rende Graͤfin von Stollberg-Wernigerode an Stil - ling, er moͤchte ſie doch in den Oſterferien beſuchen — er antwortete, daß er um eines bloßen Beſuchs willen nicht rei - ſen duͤrfe; ſobald aber Blinde dort waͤren, denen er dienen koͤnnte, ſo wolle er kommen. Dieß hatte nun die Wirkung, daß der regierende Graf in ſeinem Lande bekannt machen ließ, es wuͤrde ihn ein Augenarzt beſuchen, wer alſo ſeiner Huͤlfe benoͤthigt waͤre, der moͤchte in der Charwoche auf das Wer - nigeroder Schloß kommen. Dieſe ſo wohlmeinende Ver - anſtaltung hatte nun das drollichte Geruͤcht veranlaßt: der Graf von Wernigerode habe allen Blinden in ſeinem Lande bei zehn Reichsthaler Strafe befohlen, in der Charwoche auf dem Schloß zu erſcheinen, um ſich da operiren zu laſſen.
Auf die erhaltene Nachricht, daß ſich Blinde einfinden wuͤr - den, trat alſo Stilling dieſe Reiſe den Dienſtag in der Charwoche zu Pferde an; der junge Fruͤhling war in voller Thaͤtigkeit, uͤberall gruͤnten ſchon die Stachelbeer-Straͤucher, und die Ausgeburt der Natur erfuͤllte Alles mit Wonne. Von jeher ſympathiſirte Stilling mit der Natur, daher war es ihm auf dieſer Reiſe innig wohl. Auf dem ganzen Wege war ihm nichts auffallender, als der Unterſchied zwiſchen Oſter - rode am Fuße des Harzes, und Clausthal auf der Hoͤhe deſſelben: dort gruͤnte der Fruͤhling, und hier, nur zwo Stun - den weiter, ſtarrte alles von Eis, Kaͤlte und Schnee, der we - nigſtens acht Schuh tief lag.
Am Charfreitag Abend kam Stilling auf dem Schloß zu Wernigerode an; er wurde mit ungemeiner Huld und Liebe von der graͤflichen Familie empfangen und aufgenommen. Hier fand er eilf Staarblinde, alle im Schloß einquartirt, ſie wurden aus der Kuͤche geſpeiſt, und Stilling operirte ſie449 am erſten Oſtertag Morgen vor der Kirche, und der graͤfliche Leibchirurgus beſorgte den Verband.
Unter dieſen Blinden war eine junge Frau von 28 Jahren, welche auf dem Heimwege von Andreasberg nach Ilſen - burg an der Seite des Brocken eingeſchneit worden; der Schnee war ſo ſtark und ſo haͤufig gefallen, daß er ihr end - lich uͤber dem Kopf zuſammen gegangen war, und ſie nun nicht weiter fort konnte; ſie hatte 24 Stunden in einer ruhi - gen Betaͤubung gelegen, als man ſie fand. Der ganze Unfall hatte ihrer Geſundheit weiter nicht geſchadet, außer daß ſie vollkommen ſtaarblind geworden war; ſie wurde nun wieder ſehend.
Dann waren auch ein alter Mann und ſeine alte Schwe - ſter unter dieſen Blinden; Beide hatten eine lange Reihe von Jahren den grauen Staar gehabt, und ſich alſo in zwanzig Jahren nicht geſehen. Als ſie nun Beide geheilt waren, und zuerſt wieder zuſammen kamen, ſo war ihre erſte Empfindung, daß ſie ſich Beide anſtaunten und verwunderten, wie ſie ſo alt ausſchen.
Die Tage, die Stilling hier im Vorhof des Himmels verlebte, ſind ihm ewig unvergeßlich. Acht Tage nach Oſtern reiste er wieder nach Marburg.
Nach einigen Wochen kam die liebe graͤflich-Wernigero - diſche Familie durch Marburg, um in die Schweiz zu reiſen; Stilling und Selma wurden von ihr beſucht und bei dieſer Gelegenheit aͤußerte der Graf den Gedanken, daß Er mit ſeiner Reiſegeſellſchaft kuͤnftigen 12. September wie - der bei ihm ſeyn, und dann mit ihm ſeinen Geburtstag feiern wollte. Der edle Mann hielt Wort; den 12. September, welcher Stillings 50ſter Geburtstag war, kam die ganze Reiſegeſellſchaft gluͤcklich, geſund und vergnuͤgt wieder in Mar - burg an.
Ein guter Freund aus der Suite des Grafen hatte ein paar Tage vorher Selma einen Wink davon gegeben, ſie hatte alſo auf den Abend ein großes Mahl veranſtaltet, zu welchem auch Raſchmann mit ſeinen Grafen, nebſt noch andern lieben Marburgern eingeladen waren, daß hierbei450 das Coing’ſche Haus nicht vergeſſen wurde, brauch’ ich wohl nicht zu erinnern. Noch nie war Stillings Geburtstag ſo hoch gefeiert worden. Erleuchtung ſeines Katheders, und eine Rede von Raſchmann erhoͤhten dieſe Feier. Artig war es. indeſſen, daß man Stillings Lebens-Jubilaͤum ſo feierlich beging, ohne daß ein Menſch daran gedacht hatte, daß dieſer gerade der 50ſte Geburtstag ſey; das Ganze machte ſich ſo von ſelbſt, nachher fiel es Stilling ein, und nun zeigte es ſich auch, daß dieſer Abend eine Einweihung zu einer neuen Lebensperiode geweſen ſey.
Bald nachher (im Herbſt 1789) fingen die Ferien an, in welchen Stilling eine Reiſe ins Darmſtaͤdtiſche und dann nach Neuwied machen mußte, um Blinden zu dienen. Raſchmann, ſeine Grafen und Selma begleiteten ihn bis Frankfurt, er reiste dann nach Ruͤſſelsheim am Main, wo er die Frau Pfarrerin Sartorius operirte, und nenn vergnuͤgte Tage bei dieſer chriſtlichen Familie verlebte; hier war der Ort, wo ſich Stilling in Anſehung der Verſoͤh - nungslehre zuerſt auf dem fahlen Pferd erwiſchte: der Pfarrer Sartoͤrius war noch aus der Halliſchen oder Frankens Schule, und ſprach mit Stilling uͤber die Wahrheiten der Religion in dieſem Styl, vorzuͤglich war von der Verſoͤh - nungslehre und von der zugerechneten Gerechtigkeit die Rede. Ohne es zu wollen, kam er mit dem Pfarrer in einen Disput uͤber dieſe Materie, und entdeckte nun, wie weit er ſchon ab - gekommen war — hier begann alſo ſeine Ruͤckkehr.
In Darmſtadt operirte Stilling auch verſchiedene Per - ſonen; hier traf er einen Mann an, der noch bis dahin der einzige Staarpatient iſt, der Gott zu Ehren blind bleiben wollte: denn als ihm Stillings Ankunft gemeldet, und geſagt wurde, er koͤnne nun mit der Huͤlfe Gottes wieder ſehend werden, ſo gab er ganz gelaſſen zur Antwort: der Herr hat mir dieß Kreuz aufgelegt, ihm zu Ehren will ichs auch tragen! “— welch ein Mißbegriff! —
Von Darmſtadt ging Stilling nach Mainz, wo ſich451 damals der Graf Maximilian von Degenfeld aufhielt. Beide wollten mit einander nach Neuwied reiſen. In Ge - ſellſchaft dieſes edlen Mannes beſuchte er den, wegen ſeines muſikaliſchen Inſtruments beruͤhmten Herrn von Duͤnewald; ſie beſahen ſeinen niedlichen Garten mit der Kapelle und ſei - nem Grab, und dann ſahen und hoͤrten ſie auch das eben er - waͤhnte Inſtrument, auf welchem ihnen der Eigenthuͤmer eine ganze Symphonie mit allen dazu gehoͤrigen Inſtrumenten na - tuͤrlich und vortrefflich vorſpielte. Wo dieß herrliche Stuͤck im Krieg geblieben iſt, und ob es nicht auf immer verſtimmt worden, das weiß ich nicht.
Des andern Morgens fuhren ſie in einem bedeckten Nachen den Rhein hinab. Es ging jetzt beſſer als im Jahr 1770, als auf der Reiſe nach Straßburg die Jacht umfiel, oder 1771, auf der Reiſe nach Haus, als Stilling auch dieſe Waſſer - fahrt am Abend in einem dreibortigen Kaͤhnchen machte, und ſich mit ſeinem Begleiter auf eine Jacht rettete. Es war ein praͤchtiger Herbſtmorgen, und die purpurne Morgenroͤthe bließ ſo ſtark in das Segel des bedeckten Nachens, daß ſie die ſechs Stunden von Mainz bis Bingen in dreien machten. Dieſe Waſſerfahrt iſt wegen der romantiſchen Anſichten weit und breit beruͤhmt, aber Stillingen wegen oben bemerkter ge - gelittener Unfaͤlle unvergeßlich. Nachmittags um vier Uhr kamen ſie in Neuwied an, wo ſie auch Raſchmann mit ſeinen Grafen und den jetzigen Vicekanzler der Univerſitaͤt, damals Profeſſor Erxleben, antrafen; mit dieſem Freund wurde Stilling bei dem Paſtor Minz einquartirt, die uͤb - rigen logirten zum Theil im Schloß.
Dieſe Reiſe Stillings nach Neuwied iſt darum in ſei - ner Geſchichte merkwuͤrdig, weil er hier zum Erſtenmal in ſei - nem Leben einen Herrnhuter Gemeinort kennen lernte und einer ihrer ſonntaͤglichen Gottesverehrungen beiwohnte, in wel - cher Br. Du Vernoy eine herrliche Predigt hielt. Alles zu - ſammen machte tiefen Eindruck auf Stilling, und brachte ihn der Bruͤdergemeinde naͤher, wozu auch Raſchmann Vie - les beitrug, welcher, ob er gleich in Anſehung ſeiner religioͤſen Geſinnungen himmelweit von ihr verſchieden war, doch mit452 vieler Hochachtung und mit Enthuſiasmus von ihr redete. Stilling war von jeher den Herruhutern gut geweſen, ob er gleich noch viele Vorurtheile gegen ſie hatte: denn er war bisher mit lauter Erweckten umgegangen, die Vieles an der Bruͤdergemeine auszuſetzen hatten, und ſelbſt hatte er noch keine Gelegenheit gehabt, ſie zu pruͤfen. Bei allem dem war ſie ihm wegen ihrer Miſſions-Anſtalten ſehr ehrwuͤrdig.
Der damals regierende Fuͤrſt Johann Friedrich Alexan - der, beruͤhmt durch ſeine Weisheit und Duldungs-Maximen, ein bejahrter Greis, war mit ſeiner Gemahlin auf ſeinem Luſtſchloß Monrepos, welches zwo Stunden von der Stadt entfernt iſt, und das Thal hinauf oben am Berg liegt, von wo aus man eine unvergleichliche Ausſicht hat. An einem ſchoͤnen Tage ließ er die beiden Marburger Profeſſoren, Erxleben und Stilling, in ſeiner Equipage holen; ſie ſpeisten zu Mittag mit dieſem Fuͤrſtenpaar, und kehrten am Abend wieder nach Neuwied zuruͤck. Hier entſtand eine vertrauliche religioͤſe Bekanntſchaft zwiſchen der alten Fuͤrſtin und Stilling, die durch einen ſehr fleißigen Briefwechſel bis zu ihrem Uebergang ins beſſere Leben unterhalten wurde; ſie war eine geborne Burggraͤfin von Kirchberg, eine ſehr fromme und verſtaͤndige Dame: Stilling freute ſich auf ih - ren Willkomm in den ſeligen Gefilden des Reichs Gottes.
Nachdem auch hier wieder Stilling einige Tage lang Blin - den gedient hatte, ſo reiste er in Begleitung ſeines Freundes und Kollegen Erxleben wieder nach Marburg zuruͤck.
In Wetzlar glaubte Stilling ganz gewiß einen Brief von Selma zu finden, aber er fand keinen. Bei ſeinem Ein - tritt ins Pfarrhaus bemerkte er an Freund Machenhauer und ſeiner Gattin eine gewiſſe Verlegenheit; ſchnell fragte er, ob kein Brief von Selma da ſey? Nein! antwortete ſie, Selma iſt nicht wohl, doch iſt ſie nicht gefaͤhrlich krank; dies ſollen wir Ihnen nebſt ihrem Gruß ſagen. Dieß war fuͤr Stilling genug: im Augenblick nahm er Extrapoſt, und kam am Nachmittag in Marburg an.
Ganz unerwartet begegnete ihm ſeine Tochter Hannchen im Vorhaus; ſie war ein halb Jahr bei Selma’s Geſchwi -453 ſtern in Schwaben zu Kemmathen und Wallerſtein ge - weſen. Schweſter Sophie Gohbach hatte ihr viele Liebe erwieſen, aber durch eine verdrießliche Krankheit, naͤmlich die Kraͤtze, war ſie in ſehr traurige Umſtaͤnde gerathen; ſie hatte unausſprechlich gelitten, und ſahe ſehr uͤbel aus. Stillings Vaterherz wurde zerriſſen, ſeine Wunden bluteten. Durch Hann - chen erfuhr er, daß die Mutter nicht gefaͤhrlich krank ſey.
So wie er die Treppe hinauf ſtieg, ſah er Selma blaß und entſtellt am Eck des Treppengelaͤnders ſtehen; mit einem zaͤrtlich-wehmuͤthigen Blick, durch Thraͤnen laͤchelnd, empfing ſie ihren Mann und ſagte: Lieber! ſey nicht bange, es hat nichts mit mir zu ſagen; er beruhigte ſich und ging mit ihr ins Zimmer.
Selma hatte im Fruͤhjahr ein ungluͤckliches Kindbett ge - habt, ſie mußte durch den Geburtshelfer entbunden werden. Bei dieſer Gelegenheit fuhr ein Schwert durch Stillings Seele, er mußte einen toͤdtlichen Schmerz durchkaͤmpfen, deſ - ſen Urſache nur Gott bekannt iſt, Selma ſelbſt hatte ſie nie erfahren. Ein bildſchoͤner Knabe kam todt auf die Welt: Vielleicht hatte auch Selma bei dieſer Gelegenheit gelitten, Gott weiß es! Vermuthlich war ein Fall, den ſie bei einer Feuersgefahr gethan hatte, Schuld an dieſer ungluͤcklichen Ent - bindung, und den ſpaͤtern Folgen. Jetzt war ſie nun wieder in geſegneten Umſtaͤnden und Stilling glaubte, daß ihre Unpaͤßlichkeit aus dieſer Quelle herruͤhre; ſie wurde auch wirk - lich wieder beſſer, aber nun folgte von ihrer Seite eine Erklaͤ - rung, die Stillings Seele, die durch ſo viele, langwierige und ſchwere Leiden ermuͤdet iſt, in tiefe Schwermuth ſtuͤrzte. Bald nach ſeiner Zuruͤckkunft von Neuwied, als er mit Selma auf ihrem Sopha ſaß, faßte ſie ſeine Hand, und ſagte:
Lieber Mann! hoͤre mich ganz ruhig an, und werde nicht traurig! ich weiß gewiß, daß ich in dieſem Kindbett ſterben werde — ich ſchicke mich auch fernerhin nicht mehr in deinen Lebensgang; wozu mich Gott dir gegeben hat, das hab ich erfuͤllt, aber in Zukunft werde ich nicht mehr in deine Lage paſſen. Wenn du nun willſt, daß ich die noch uͤbrige ZeitStilling’s ſämmtl. Schriften. I. Band. 30454ruhig leben und dann freudig ſterben ſoll, ſo mußt du mir verſprechen, daß du meine Freundin Eliſe Coing heirathen willſt, die ſchickt ſich von nun an beſſer fuͤr dich als ich, und ich weiß, daß ſie eine gute Mutter fuͤr meine Kinder, und eine treffliche Gattin fuͤr dich ſeyn wird — nun ſetze dich ein - mal uͤber das, was man Wohlſtand heißt, hinaus, und ver - ſprich mir das — Gelt, Lieber! du thuſt es? — der ſehn - ſuchtsvolle Blick, der aus ihren ſchoͤnen blauen Augen ſtrahlte, war unbeſchreiblich.
Meine Leſer moͤgen ſelbſt urtheilen, wie Stillingen in dieſem Augenblick zu Muthe war — daß er ihren Wunſch — ihr zu verſprechen, daß er Eliſe nach ihrem Tode heirathen wolle, unmoͤglich erfuͤllen konnte, laͤßt ſich leicht denken — doch ermannte er ſich, und antwortete: Liebes Kind! du weißt ſelbſt, daß du in jeder Schwangerſchaft deinen Tod geahnet haſt, und biſt gluͤcklich davon gekommen, ich hoffe, ſo wird es auch jetzt gehen — und dann beſinne dich einmal recht, ob es moͤglich ſey, dir zu verſprechen, was du von mir forderſt, es ſtoͤßt ja gegen Alles an, was nur Schicklichkeit genannt wer - den kann. Selma ſah verlegen um ſich her, und erwiederte: es iſt doch traurig, daß du dich nicht uͤber das Alles weg - ſetzen kannſt, um mich zu beruhigen; daß ich jetzt ſterben werde, das weiß ich ſicher, es iſt jetzt ganz anders als ſonſt.
Obgleich Stilling dieſer Todes-Ahnung eben keinen ſtar - ken Glauben beimaß, ſo wurde doch ſein Gemuͤth durch ſeine tiefe ahnende Schwermuth gedruͤckt, und er faßte den Ent - ſchluß, von nun an taͤglich auf den Knien um Selma’s Leben zu beten, den er auch treulich ausfuͤhrte.
Den ganzen Winter uͤber ruͤſtete ſich Selma zu ihrem Tod, wie zu einer großen Reiſe — man kann denken, wie ihrem Mann dabei zu Muthe war — ſie ſuchte alles in Ord - nung zu bringen, und das Alles mit Heiterkeit und Gemuͤths - ruhe. Zugleich ſuchte ſie dann immer ihren Mann zur Hei - rath mit Eliſe zu bewegen, und ihm ſein Verſprechen abzu - locken. Hierin ging ſie unglaublich weit: denn an einem Abend traf ſichs, daß Stilling, Selma und Eliſe ganz allein an einem runden Tiſchchen ſaßen und zuſammen aßen;455 gegen das Ende blickte Selma ſehnſuchtsvoll Eliſe an, und ſagte: Nicht wahr, liebes Lieschen, Sie heirathen meinen Mann, wenn ich todt bin? — Die Lage iſt ſchlechterdings unbeſchreiblich, in welcher ſich Stilling und Eliſe bei die - ſem Antrag befanden — Eliſe wurde blutroth im Geſicht, und antwortete: Sprechen Sie doch ſo nicht, Gott wolle uns fuͤr dieſen Fall bewahren! — und Stilling gab ihr einen liebevollen Verweis uͤber ihr unſchickliches Benehmen. Als ſie nun in dieſem Punkt mit ihrem Manne nicht fertig werden konnte, ſo wandte ſie ſich an gute Freunde, von denen ſie wußte, daß ſie uͤber Stilling viel vermochten, und bat ſie flehentlich, ſie moͤchten doch ſorgen, daß nach ihrem Tode ihr Wunſch erfuͤllt wuͤrde.
Im Fruͤhjahr 1790 ruͤckte nun allmaͤhlig der wichtige Zeit - punkt von Selma’s Niederkunft heran; Stillings Gebet um ihr Leben wurde dringender, ſie aber blieb immer ruhig. Den 11. Mai kam ſie mit einem jungen Sohn gluͤcklich nie - der, ſie befand ſich wohl, und Stilling freute ſich hoch und dankte Gott; dann machte er ſeiner lieben Kindbetterin zaͤrt - liche Vorwuͤrfe uͤber ihre Ahndung, allein ſie ſahe ihn bedenl - lich an, und ſagte ſehr nachdruͤcklich: Lieber Mann! wir ſind noch nicht fertig! Fuͤnf Tage war ſie recht wohl, ſie traͤnkte ihr Kind, und war heiter; aber am ſechsten zeigte ſich ein Frieſel, ſie wurde ſehr krank, und nun ging Stil - ling das Waſſer an die Seele. Freundin Eliſe kam, um ihr aufzuwarten, wobei ſie dann auch Hannchen treulich unterſtuͤtzte; auch Mutter Coing kam taͤglich, und loͤste zu Zeiten ihre Tochter ab.
Noch immer hatte Stilling Hoffnung zu ihrer Geneſung, als er aber an einem Nachmittag allein an ihrem Bette ſaß, ſo bemerkte er, daß ſie unordentlich zu reden anfing, und am Betttuch zurechtlegte und pfluͤckte. Jetzt lief er unter Gottes Himmel hinaus durch das Renthofer Thor, und dann durch das Birkenwaͤldchen, um den Schloßberg herum; er rief aus ſeinem Innerſten empor, daß es durch aller Himmel Himmel haͤtte dringen moͤgen, nicht um Selma’s Leben, denn er ver - langte kein Wunder, ſondern um Kraft fuͤr ſeine muͤde Seele, um dieſen harten Schlag ertragen zu koͤnnen.
30 *456Dies Gebet wurde erhoͤrt, er trat beruhigt in ſein Haus, der Friede Gottes thronte in ſeiner Bruſt; er hatte dem Herrn dieß große Opfer gebracht, und Er hatte es gnaͤdig an - genommen. Von nun an ſahe er Selma nur noch zwei - mal wenige Augenblicke: denn ſeine phyſiſche Natur litt zu ſehr, und man fuͤrchtete, ſie moͤchte es nicht aushalten, er ließ ſich alſo rathen und hielt ſich entfernt.
Des folgenden Tages am Nachmittag ging er noch einmal zu ihr, ſie hatte ſchon den Kinnbacken-Zwang; Eliſe ſaß auf dem Sopha und ruhte; jetzt erhob Selma den halber - loſchenen Blick, ſchaute ihren Mann ſehnlich an, und winkte dann auf Eliſe — Stilling ſchlug die Augen nieder und entfernte ſich.
Des folgenden Morgens ging er noch einmal an ihr Bett — Nein! den Anblick vergißt er nie Morgenroͤthe der Ewigkeit glaͤnzte auf ihrem Angeſicht. Iſt dir wohl? fragte er ſie — Vernehmlich hauchte ſie zwiſchen den zugeklemmten Zaͤhnen durch: O Ja! Stilling wankte fort, und ſahe ſie nicht wie - der: denn ſo ſtark auch ſein Geiſt war, ſo ſehr wurde doch ſeine phyſiſche Natur und ſein Herz erſchuͤttert, auch Eliſe konnte ihrer Freundin Sterben nicht ſehen, ſondern Mutter Coing druͤckte ihr die Augen zu. — Sie entſchlief die fol - gende Nacht den 23. Mai, Morgens um Ein Uhr; man kam weinend an Stillings Bett, es ihm zu ſagen: „ Herr dein Wille geſchehe! “war ſeine Antwort.
Selma! — todt! — das Weib, auf welches Stilling ſtolz war? — todt? — das will viel ſagen. Ja, in ſeiner Seele thronte hoher Friede, aber dennoch war ſein Zuſtand unbeſchreiblich, ſeine Natur entſetzlich erſchuͤttert — der im - merfort quaͤlende Magenkrampf hatte ohnehin ſchon ſein Ner - venſyſtem auf einen hohen Grad geſpannt, und dieſer Schlag haͤtte es ganz zerruͤtten koͤnnen, wenn ihn Gottes Vaterguͤte nicht unterſtuͤtzt — oder in der Modeſprache zu reden: wenn er nicht eine ſo ſtarke Natur gehabt haͤtte. Es war nun todt und ſtille um ihn her — bei Chriſtinens Abſchied war er457 durch das langwierige Leiden ſo vorbereitet, daß er eine Wohl - that, eine Erleichterung fuͤr ihn war, aber jetzt war es ganz anders.
Daß Selma recht hatte, als ſie ſagte: ſie paſſe in ſeinen Lebensgang nicht mehr, das fing er zwar an deutlich einzuſe - hen, und im Verfolg fand er es wahr, aber doch war ihr Heimgang herzeingreifend und ſchrecklich: ſie war ihm ſehr viel, fuͤr ihn ein großes Werkzeug in der Hand ſeines himmliſchen Fuͤhrers geweſen, und nun war ſie nicht mehr da.
Stilling war, als er Selma heirathete, noch nie unter Leuten von vornehmem Stand geweſen: von ſeinem Herkom - men und Erziehung hing ihm noch Vieles an: in ſeinem gan - zen Leben und Weben, Gehen und Stehen, Eſſen und Trin - ken, in der Art ſich zu kleiden, beſonders aber im Umgang mit vornehmen Leuten, benahm er ſich ſo, daß man im Au - genblick ſeinen niedern Urſprung bemerkte, immer that er der Sache entweder zu viel oder zu wenig. Dies alles polirte Selma, die ein ſehr gebildetes Frauenzimmer war, rein ab. Wenigſtens hat man ſpaͤterhin nie mehr die Bemerkung ge - macht, daß es Stilling an guter Lebensart fehle. Dieſe Politur war ihm aber auch noͤthig: denn nachher fand ſichs, daß er beſtimmt war, ſehr viel mit Perſonen vom hoͤchſten Rang umzugehen.
Vorzuͤglich war ſie ihm aber in ſeinem Schuldenweſen ein von Gott geſandter Engel der Huͤlfe: ſie war eine vortreff - liche Haushaͤlterin: mit einem ſehr maͤßigen Einkommen, in Lautern und Heidelberg hatte ſie doch ſchon uͤber zwei - tauſend Gulden Schulden abgetragen, und dadurch alle Kre - ditoren ſo beruhigt, daß die uͤbrigen zufrieden waren und gern warteten. Die Hauptſache aber war, daß ſie alſofort, ſobald ſie Stilling geheirathet hatte, ſeine durch den elenden ge - fuͤhlloſen Kaufmannsgeiſt unbarmherziger Kreditoren gequaͤlte Seele dergeſtalt beruhigte, daß er nicht wußte wie ihm ge - geſchah; ſie ſetzte ihn aus einem, jeden Augenblick dem Schiff - bruch drohenden Sturm aufs Trockene. — Warte du dei - nes Berufs — ſagte ſie — bekuͤmmere dich um nichts, und uͤberlaß mir die Sorge — und ſie hielt treulich458 Wort. Selma war alſo in ihrem neunjaͤhrigen Eheſtand ein unſchaͤtzbares Werkzeug der Begluͤckung fuͤr Stilling geweſen.
Wenn ſie ſich erklaͤrte, daß ſie kuͤnftig nicht mehr in Stil - lings Lebensgang paſſen wuͤrde, und wenn das auch ganz richtig war, ſo muß ich doch alle meine Leſer bitten, deßwe - gen nichts Arges zu denken oder zu ahnen. Selma hatte einen ausnehmenden edlen Charakter, ſie war ein herrliches Weib: aber es gibt Lagen und Verhaͤltniſſe, zu welchen auch der vortrefflichſte Menſch nicht paßt.
Stillings Fuͤhrung war immer planmaͤßig, oder viel - mehr: der Plan, nach welchem er gefuͤhrt wurde, war immer ſo offenbar, daß ihn jeder Scharfſichtige bemerkte — auch Raſchmann durchſchaute ihn, oft ſtaunte er Stilling an und ſagte: die Vorſehung muß etwas Sonderbares mit Ihnen vorhaben; denn alle Ihre großen und kleinen Schickſale zielen auf einen großen Zweck, der noch in der dunkeln Zukunft verborgen liegt. Dieß fuͤhlte auch Stilling ſehr wohl, und es beugte ihn in den Staub, aber es gab ihm auch Muth und Freudigkeit zum Fortringen auf der Kampfbahn, und wie ſehr eine ſolche Fuͤhrung das wahre Chriſtenthum, und den Glauben an den Weltverſoͤhner befoͤrdere, das laͤßt ſich leicht erachten.
Selma lag da entſeelt — Hannchen, ein Maͤdchen von ſechzehn und einem halben Jahr, ergriff nun mit Muth und Entſchloſſenheit das Ruder der Haushaltung, und eine treue brave Magd, die Selma ſchon in Lautern zu ſich genom - men, erzogen, und zu einer guten Koͤchin gebildet hatte, un - terſtuͤtzte ſie.
Von ſechs Kindern, die Selma geboren hatte, lebten noch drei: Liſette, Karoline und dann der verwaiste Saͤugling, dem ſie entflohen war. Liſette war vier und ein viertel, und Karoline zwei und ein halb Jahr alt. Selma ſelbſt hatte noch nicht volle dreißig Jahre gelebt, als ſie ſtarb, und ſo viel geleiſtet — ſonderbar iſts, daß ſie in ihren Braut - tagen zu Stilling ſagte: Sie werden mich nicht lange haben, denn ich werde nicht dreißig Jahre459 alt; ein merkwuͤrdiger Mann hat mir das in Oet - tingen geſagt.
So treu und rechtſchaffen auch Hannchen war, ſo war ſie doch der Erziehung ihrer kleinen Geſchwiſter damals noch nicht gewachſen; dafuͤr hatte aber die Verklaͤrte auch ſchon ge - ſorgt, denn ſie hatte verordnet, daß Liſette ſo lange zu ih - rer Freundin Mieg nach Heidelberg gebracht werden ſollte, bis ihr Vater wieder geheirathet haͤtte, und eben ſo lang ſollte auch Karoline bei einer andern guten Freundin, die einige Meilen weit von Marburg wohnte, verpflegt werden. Das Erſte wurde einige Wochen hernach ausgefuͤhrt: Stilling ſchickte ſie mit einer Magd nach Frankfurt ins Krafti - ſche Haus, wo ſie Freundin Mieg abholte; Karoline aber nahm Mutter Coing zu ſich, denn ſie ſagte: es iſt hart, dem tiefgebeugten Vater zwei Kinder auf Einmal zu entziehen und ſie ſo weit von ihm zu entfernen. Stilling war da - mit zufrieden, denn er war uͤberzeugt, daß Selma Eliſen beide Kinder uͤbertragen haͤtte, wenn es dem Wohlſtand nicht zuwider geweſen waͤre; — dieſer gebot nun dem Coing’ſchen Hauſe, ſich etwas zuruͤckzuziehen; ſtatt deſſen draͤngte ſich ein anderes zur Huͤlfe hervor.
Der jetzige geheime Rath und Regierungs-Direktor Rieß in Marburg war damals noch Regierungsrath und fuͤrſtli - cher Commiſſarius bei der Univerſitaͤts-Guͤterverwaltung, bei welcher auch Stilling als Kameraliſt gleich von Anfang an war angeſtellt worden: beide Maͤnner kannten und liebten ſich. Kaum war alſo Selma verſchieden, ſo kam Rieß und uͤbernahm die ganze Beſorgung, die die Umſtaͤnde erforderten; Stilling mußte alſofort mit ihm in ſein Haus gehen und da bleiben, bis alles vorbei war. Seine gute Gattin nahm zu - gleich auch den kleinen Saͤugling weg und verſchaffte ihm al - ſofort eine Amme, und dann ſorgte auch Rieß fuͤr die Be - erdigung der Leiche, ſo daß ſich Stilling ſchlechterdings um nichts zu bekuͤmmern brauchte. Das Kind wurde auch im Rieß’ſchen Hauſe getauft und Rieß und Coing nebſt Raſch - mann und den Grafen, die ſich dazu erboten, waren die Ge - vattern. Dergleichen Handlungen werden dereinſt hoch ange -460 rechnet werden; Rieß und Stilling ſind Freunde auf die Ewig - keit, und dort laͤßt ſich beſſer von der Sache ſprechen, als hier.
Das Erſte, was nun Stilling zu ſeiner Erleichterung vornahm, war, daß er ſeinen alten Vater Wilhelm Stil - ling holen ließ; der ehrwuͤrdige, vier und ſiebenzigjaͤhrige, in der Schule der Leiden hochgepruͤfte Greis kam alſofort; ſeine Seelenruhe und Gelaſſenheit in allen Leiden floͤßte auch ſeinem Sohne, der ſeinem Bilde aͤhnlich iſt, Troſt ein. Ge - gen vierzehn Tage blieb er da; waͤhrend der Zeit erholte ſich Stilling wieder, wozu dann auch Selma’s letzter Wille Vieles beitrug. Daß er wieder heirathen mußte, verſtand ſich von ſelbſt, denn er mußte Jemand haben, der ſeine Kin - der erzog und der Haushaltung vorſtand, weil ja Hannchen, wenn ſie ihr Gluͤck machen konnte, es um des Vaters Haus - haltung willen nicht verſcherzen durfte. Wie wohlthaͤtig war es nun, daß die rechtmaͤßige Beſitzerin ſeines Herzens ihre Nachfolgerin — und zwar ſo — beſtimmte, daß Stilling ſelbſt auch keine andere Wahl getroffen haben wuͤrde.
Wer es nicht erfahren hat, der kann es nicht glauben, wie wenig beruhigend es fuͤr einen Wittwer iſt, wenn er weiß, daß ſeine zur Ruhe gegangene Gattin ſeine Wahl billigt! — und hier war mehr als Billigung.
Nach Ablauf der Zeit, die der Wohlſtand beſtimmt und die Geſetze vorſchreiben, hielt Stilling um Eliſe an; die El - tern und ſie ſelbſt machten ihn durch ihr liebevolles Jawort wiederum gluͤcklich; Gottes gnaͤdiges Wohlgefallen an dieſer Verbindung, der verewigten Selma erfuͤllter Wille und der ſegnende Beifall aller guten Menſchen ſtroͤmten eine Ruhe in ſeine Seele, die nicht beſchrieben werden kann. Von nun an nahm ſich Eliſe Karolinens Erziehung an; auch beſuchte ſie Hannchen und ging ihr mit Rath an die Hand, und Stilling hatte nun auch wieder eine Freundin, mit der er von Herz zu Herzen reden konnte.
Jetzt ruͤckte nun auch wieder der zwoͤlfte September heran, der im vorigen Herbſt ſo glaͤnzend war gefeiert worden; Stil - ling hatte ſeitdem ein ſchweres Lebensjahr durchgekaͤmpft. Jetzt ſtudirte nun der Erbprinz von Heſſen in Marburg,461 welchem Stilling auch woͤchentlich viermal Unterricht gab; dieſer ließ ihn auf ſeinen Geburtstag zur Mittagstafel einla - den, und Vater Coing wurde ebenfalls gebeten; am Abend wurde er in Coings Haus gefeiert.
Der 19. November, der Tag der heiligen Eliſabeth, war von jeher in der Duiſing’ſchen Familie bemerkt worden, und gewoͤhnlich fuͤhrten auch die Frauenzimmer aus ihr dieſen Na - men; bei Eliſen war er beſonders auch deßwegen merkwuͤr - dig, weil ſie eigentlich dreimal Eliſabeth heißt: ſie wurde den 9. Mai 1756 geboren und hatte drei Taufzeugen, wie ſie wohl wenige Menſchen haben, naͤmlich ihre Großmutter Duiſing, deren ihre Mutter, Vultejus, und dann dieſer Urgroßmutter, alſo Eliſens Ur-Urgroßmutter, die Frau von Hamm; alle drei Matronen, die Großmutter, Urgroßmutter und Ur-Urgroßmutter waren auch bei der Taufe gegenwaͤrtig, und die letztere, die Frau von Hamm, legte bei der Tauf - mahlzeit den Gaͤſten vor. Alle drei Frauen hießen auch Eli - ſabeth. Dieſer Eliſabethen-Tag wurde zu Stillings und Eliſens Kopulation beſtimmt. Er las zuerſt ſeine vier Kollegien, gab dem Prinzen ſeine Stunde, und dann ging er ins Coing’ſche Haus zur Kopulation. Dieſe Berufstreue rechnete ihm der Churfuͤrſt von Heſſen hoch an, ob Er ihm auch gleich daruͤber ſchmerzende Vorwuͤrfe machte, daß er ſo bald wieder geheirathet habe.
Die Coing’ſche Eltern hatten verſchiedene Freunde zum Hochzeits-Abendmahl eingeladen, und der reformirte Prediger Schlarbaum, dieſer zuverlaͤſſige, und durch viele Proben bewaͤhrte Stillings-Freund verrichtete die Trauung; er und ſeine Familie ſind in Stillings Marburger Lebens - Geſchichte ſehr wohlthaͤtige Begleiter auf ſeinem Pfade geweſen.
Zwiſchen der Kopulation und der Mahlzeit ſpielte Stil - ling folgendes Lied, welches er auf dieſen Tag verfertigt hatte, auf dem Klavier, und Hannchen mit ihrer Silberkehle ſang es.
Die Melodie iſt von Rheineck, nach dem Lied: Sieh mein Auge nach den Bergen — in Schellhorns Sammlung geiſtlicher Lieder. Memmingen bei Dieſel 1780.
462Froh und heiter war dieſer Abend! — und nun fing ein neuer Lebensgang an, der ſich nach und nach von allen vori - gen unterſchied, und Stilling ſeiner eigentlichen Beſtim - mung naͤher brachte. Eliſe trat auch freudig und im Vertrauen auf Gott ihren neuen Wirkungskreis an, und ſie erfuhr bald, was ihr ein Freund ſchon bemerklich gemacht hatte, naͤmlich: daß es nichts Leichtes ſey, mit Stilling einen Weg zu gehen — Sie hat ihn bis daher treulich und feſt mitgepilgert, und oft und vielfaͤltig gezeigt, daß ſie verſteht, Stillings Gattin zu ſeyn.
Einige Wochen vor Stillings Hochzeit war auch endlich Raſchmann mit ſeinen Grafen von Marburg abgezogen. Er war ein Komet, der den Planeten Stilling eine Zeit -464 lang auf ſeiner Laufbahn begleitete, und mit ſeinem Dunſtkreis anwehte.
Freilich hatte er, wie oben gemeldet, auf einer Seite nach - theilig auf Stilling gewirkt; allein das verſchwand nun in dem neuen Familienkreiſe gar bald, und er wurde nachher, durch noch andere mitwirkende Urſachen, noch weit gegruͤnde - ter in der Verſoͤhungslehre als vorher; auf der andern Seite aber gehoͤrte Raſchmann auf eine merkwuͤrdige Weiſe unter die Werkzeuge zu Stillings Ausbildung: durch ihn erfuhr er große, geheime und wichtige Dinge — Dinge, die ins Große und Ganze gehen — Was Barruel und der Triumph der Philoſophie erzaͤhlen wol - len, in der Hauptſache auch richtig erzaͤhlen; in Nebenſachen aber auch irren, das wurde ihm jetzt bekannt.
Man muß aber ja nicht denken, daß Raſchmann Stil - ling vorſaͤtzlich in dem Allem unterrichtet habe, ſondern er war ſehr redſelig; wenn er nun ſeine Freunde zu Gaſt hatte, ſo kam immer, bald hier, bald da, ein Bruchſtuͤck zum Vor - ſchein, und da Stilling ein gutes Gedaͤchtniß hat, ſo behielt er Alles genau, und ſo erfuhr er in drei Jahren, welche Raſchmann in Marburg verlebte, den ganzen Zuſam - menhang deſſen, was ſeitdem ſo große und furchtbare Erſchei - nungen am Kirchen - und politiſchen Himmel hervorgebracht hat; wenn er nun das, was er ſelbſt erfahren und geleſen hatte, mit jenen Bruchſtuͤcken verband, und eines durchs an - dere berichtigte, ſo kam ein richtiges und wahres Ganzes heraus. Wie noͤthig und nuͤtzlich dieſe Kenntniß Stilling war, iſt und noch ſeyn wird, das kann der beurtheilen, der einen hellen Blick in den Zweck ſeines Daſeyns hat.
Die erſten Wochen in Eliſens Eheſtand waren angenehm, ihr Weg war mit Blumen beſtreut. Auch Stilling hatte außer ſeinem quaͤlenden Magenweh keine Leiden, aber vierzehn Tage vor Weihnachten fand ſich ſein beſtaͤndiger Hausfreund wieder recht ernſtlich ein.
463[465]Hannchen hatte von Jugend auf an einer Flechte auf dem linken Backen ſehr viel und oftmals ſchrecklich gelitten; Selma wendete alle moͤglichen Mittel an, um ſie davon zu befreien, und Eliſe ſetzte die Sorge mit allem Eifer fort. Nun kam gerade zu der Zeit ein beruͤhmter Arzt nach Mar - burg, dieſer wurde auch zu Rath gezogen, und er verordnete den Sublimat zum aͤußern Gebrauch; ob nun dieſer, oder eine von der ſeligen Mutter Chriſtine angeerbte Anlage, oder Beides zuſammen, ſo ſchreckliche Folgen hervorbrachte, das ſteht dahin — Genug, Hannchen bekam um oben bemerkte Zeit die fuͤrchterlichſten Kraͤmpfe. Dieſe, fuͤr jeden Zuſchauer ſo herzangreifenden Zufaͤlle, waren Eliſen noch beſonders ſchreckhaft — und zu dem war ſie guter Hoffnung — dem ungeachtet faßte ſie Heldenmuth, und wurde Hannchens ge - treue Waͤrterin. Der gute Gott aber bewahrte ſie vor allen nachtheiligen Folgen.
Dieß war der erſte Act des Trauerſpiels, nun folgte auch der zweite; dieſer war eine heiße, eine Glutprobe fuͤr Stil - ling, Eliſe und Hannchen. Ich will ſie jungen Leuten zur Warnung und Belehrung, doch ſo erzaͤhlen, daß eine ge - wiſſe, mir ſehr werthe Familie damit zufrieden ſeyn kann.
Hannchen hatte in einer honetten Geſellſchaft, auf Ver - langen, auf dem Klavier geſpielt und dazu geſungen — was kann unſchuldiger ſeyn, als dieſes? — und doch war es die einzige Veranlaſſung zu einem angſtvollen und ſchweren halb - jaͤhrigen Leiden: ein junger Menſch, der Theologie ſtudirte, und dem man nie den Eigenwillen gebrochen, den Hann - chen nie geſehen, von ihm nie etwas gehoͤrt hatte, befand ſich in dieſer Geſellſchaft: durch den Geſang wird er ſo hingeriſ - ſen, daß er von nun an alle, und endlich die desperateſten Mittel anwendete, um zu ihrem Beſitz zu gelangen. Erſt hielt er um ſie an, und als man ihm antwortete, wenn er eine an - ſtaͤndige Verſorgung haͤtte, ſo wuͤrde man, wenn er Hann - chens Einwilligung bekommen koͤnnte, nichts dagegen haben. Dieß war ihm aber bei weitem nicht genug — er beſtand darauf, daß man ihm jetzt die Heirath mit ihr verſichern ſollte. Hannchen erklaͤrte ſich laut, daß ſie ihn nie lieben,466 nie heirathen koͤnnte, und daß ſie nie die geringſte Veranlaſ - ſung zu dieſer Aufforderung gegeben habe. Allein das half alles nichts; nun wendete er ſich an die Eltern und ſuchte ihnen zu beweiſen, daß es ihre Pflicht ſey, ihre Tochter zur Heirath mit ihm zu zwingen — und als man dieſen Be - weis nicht guͤltig fand, ſo ſuchte er Gewalt zu brauchen; ein - mal kam er unvermuthet in Stillings Haus, als Stil - ling eben auf dem Katheder war, er ſtuͤrmte ins Zimmer, wo Hannchen war; zum Gluͤck hatte ſie eine gute Freundin bei ſich, ihr Angſtgeſchrei hoͤrte der Vater, er und Bruder Coing liefen herzu, und beide machten dem unſinnigen Men - ſchen die bitterſten Vorwuͤrfe.
Dann logirte er ſich gegenuͤber in einen Gaſthof ein, damit er jeden Augenblick das Trauerſpiel wiederholen koͤnnte; allein man brachte Hannchen an einen entlegenen Ort in Sicher - heit, ſo daß er wieder abzog. Ein Andermal kam er unver - ſehens; Hannchen war abweſend, und betrug ſich ſo wild und unbaͤndig, daß ihn Stilling vor die Hausthuͤre promoviren mußte; nun lief er in Coings Haus, wo Mutter Coing todtkrank lag, dort warf ihn Eliſe, die eben da war, eben - falls mit ſtarkem Arm vor die Hausthuͤr; nun gerieth er in Verzweiflung, man holte ihn von der Lahn zuruͤck, er warf ſich vor Stilling Haus auf den Boden, und endlich wurde er mit Muͤhe wieder an ſeinen, einige Stunden weit entlege - nen Wohnort gebracht; hernach ſchwaͤrmte er auf dem Lande umher, und beſtuͤrmte Stilling mit drohenden Briefen, ſo daß er endlich die Obrigkeit um Huͤlfe anſprechen, und ſich auf dieſe Weiſe Sicherheit verſchaffen mußte.
Der arme bedauernswuͤrdige Menſch ging in die Fremde, wo er in der Bluͤthe ſeiner Jahre geſtorben iſt. Es wird El - tern, Juͤnglingen und Jungfrauen nicht ſchwer fallen, aus die - ſer traurigen, und fuͤr Stilling und die Seinigen ſo ſchreck - lichen Geſchichte, den gehoͤrigen Nutzen und zweckmaͤßige Be - lehrung zu ziehen.
Dem guten Hannchen wurde indeſſen die feurige Pruͤ - fung mit Segen vergolten; fuͤnf Stunden von Marburg in dem Darmſtaͤdtiſchen Dorf Dexbach ſtand ein jun -467 ger Prediger, Namens Schwarz, der mit Stilling in vertrautem Freundſchaftsverhaͤltniß lebte; und weil er noch unverheirathet war, mit ſeiner vortrefflichen Mutter und lie - benswuͤrdigen Schweſter haushielt; dieſer rechtſchaffene und chriſtliche Mann hat ſich hernach durch mehrere gute Schrif - ten, vorzuͤglich uͤber die moraliſchen Wiſſenſchaften, durch den Religionslehrer, Erziehungsſchriften u. ſ. w. beruͤhmt gemacht. Hannchen und ſeine Schweſter Karoline liebten ſich herzlich, und dieſe war auch die gute Freundin, die eben bei Hannchen war, als der Kandidat ins Zimmer ſtuͤrmte, und dieſe brachte ſie auch nach Dexbach zu ihrem Bruder in Sicherheit. Durch Gottes weiſe Leitung, und auf chriſtliche und anſtaͤndige Art, entſtand zwiſchen Schwarz und Hannchen eine Gott gefaͤllige Liebe, welche der Eltern Einwilligung und Gottes Vaterguͤte mit Gnade kroͤnte: im Fruͤhjahr 1792 wurde Schwarz mit Hannchen in Stillings Haus ehlich verbunden. Sie iſt eine gute Gattin, eine gute Mutter von ſechs hoffnungsvollen Kindern, eine vortreffliche Gehuͤlfin in ihres Mannes Erziehungsanſtalt, und uͤberhaupt ein edles Weib, die ihrem rechtſchaffenen Manne und ihren Eltern Freude macht.
Der Kampf mit dem Kandidaten trug ſich in der erſten Haͤlfte des 1791. Jahres zu, er wurde noch durch zween Trauerfuͤlle erſchwert: im Februar ſtarb der kleine Franz, Selma’s zuruͤckgelaſſener Saͤugling, an der Kopfwaſſerſucht, und nun neigte es ſich auch mit Mutter Coing zu Ende: ſie war ſchon einige Zeit ſchwaͤchlich, beſonders engbruͤſtig ge - geweſen. Durch Werke der Liebe, die ſie in Nachtwachen verrichtete, hatte ſie ſich vermuthlich verkaͤltet, jetzt wurde ihre Krankheit ernſtlich und gefaͤhrlich. Stilling beſuchte ſie oft, ſie war ruhig und[freudig], und ging mit einer unbeſchreib - lichen Seelenruhe ihrer Aufloͤſung entgegen, und wenn ſie ih - rer Kinder gedachte, ſo verſicherte ihr Stilling, daß ſie die ſeinigen ſeyen, wenn die Eltern vor ihm ſterben ſollten.
Alle dieſe traurigen Vorfaͤlle wirkten auch nachtheilig auf468 Eliſens Geſundheit, auch ſie wurde krank, doch eben nicht gefaͤhrlich, indeſſen mußte ſie denn doch das Bett huͤten, wel - ches ihr um deßwillen beſonders wehe that, weil ſie nun ihre gute Mutter nicht beſuchen konnte. Beide Kranken, Mutter und Tochter, ſchickten ſich taͤglich wechſelſeitig Boten, und Jede troͤſtete die andere, daß es nicht gefaͤhrlich ſey.
An einem Morgen fruͤh gegen das Ende des Maͤrzes kam eine Trauerbotſchaft: Mutter Coing ſey im Herrn entſchla - fen; Stilling mußte Eliſen dieſe Nachricht beibringen — das war ein ſchweres Stuͤck Arbeit, allein er fuͤhrte es aus und lief dann ins elterliche Haus. So wie er in die Stube hinein trat, fiel ihm die Leiche ins Auge; ſie lag auf einem Feldbett, der Thuͤr gegenuͤber; — ſie war eine ſehr ſchoͤne Frau geweſen und die vieljaͤhrige ſtille Uebung im Chriſten - thum hatte ihre Zuͤge ungemein veredelt; auf ihrem erblaßten Antlitz glaͤnzte — nicht Hoffnung, ſondern Genuß des ewigen Lebens. Vater Coing ſtand vor der Leiche, er blickte Stil - ling durch Thraͤnen laͤchelnd an und ſagte: Gott Lob, ſie iſt bei Gott! — er trauerte, aber chriſtlich.
Es gibt keinen frohern, keinen herzerhebendern Gedanken, als ſeine lieben Entſchlafenen ſelig zu wiſſen; — Vater Coing, der um dieſe Zeit ſeinen Geburtstag feierte, hatte ſich ſeine liebe Gattin von Gott zum Geburtstagsgeſchenk ausgebeten, aber er bekam’s nicht; Stilling hatte ein halbes Jahr um das Leben ſeiner Selma gefleht, aber er wurde nicht erhoͤrt.
Liebe, chriſtliche Seelen! laßt euch durch ſolche Beiſpiele ja nicht vom Beten abſchrecken — der Vater will, daß wir, ſeine Kinder, ihn um alles bitten ſollen, weil uns dieß beſtaͤn - dig in der Anhaͤnglichkeit und Abhaͤngigkeit von ihm erhaͤlt; kann er uns nun das, warum wir beten, nicht gewaͤhren, ſo gibt Er uns etwas beſſers dafuͤr. Wir koͤnnen gewiß verſi - chert ſeyn, daß der Herr jedes glaͤubige Gebet erhoͤrt, wir er - langen immer Etwas dadurch, das wir ohne unſer Gebet nicht erlangt haben wuͤrden, und zwar das, was fuͤr uns das Beſte iſt.
Wenn der Chriſt ſo weit gekommen iſt, daß er im Wandel in der Gegenwart Gottes beharren kann, und ſeinen eigenen469 Willen ganz und ohne Vorbehalt dem allein guten Willen Gottes aufgeopfert hat, ſo betet er im innern Grund ſeines Weſens unaufhoͤrlich, der Geiſt des Herrn vertritt ihn dann mit unausſprechlichem Seufzen, und nun betet er nie verge - bens: denn der heilige Geiſt weiß, was der Wille Gottes iſt; wenn Er alſo das Herz aufregt, um Etwas zu bitten, ſo gibt Er auch zugleich Glauben und Zuverſicht der Erhoͤrung; man betet und man wird erhoͤrt.
Stilling und Eliſe hatten von Anfang ihrer Verbin - dung an den Schluß gefaßt, nun auch ihren Sohn Jacob aus der erſten Ehe wieder zu ſich zu nehmen; er wurde nun ſiebzehn Jahre alt, und mußte nun alſo ſeine akademiſche Lauf - bahn antreten; er war bis daher bei dem wuͤrdigen und ge - lehrten Prediger Grimm zu Schluttern in der Naͤhe von Heilbronn in einer Penſionsanſtalt geweſen, da erzogen, und zum Studiren vorbereitet worden; da nun Stilling nicht anders als in den Ferien reiſen konnte, ſo wurden die naͤchſten Oſterferien dazu beſtimmt, und alſo dem Jacob geſchrieben, er moͤchte ſich an einem beſtimmten Tag bei Freund Mieg in Heidelberg einfinden, denn ſeine Eltern wuͤr - den dahin kommen und ihn abholen. Zugleich beſchloſſen ſie dann auch, Liſette wieder mit zuruͤck zu nehmen: denn Eliſe wollte alle die vier Kinder beiſammen haben, um ihre Mutterpflichten mit aller Treue an ihnen ausuͤben zu koͤnnen; und um auch Vater Coing mit ſeinen Kindern in ihrer tie - fen Trauer eine Erquickung und wohlthaͤtige Zerſtreuung zu verſchaffen, beſchloſſen Beide, dieſe Lieben nach Frankfurt zu Freund Kraft zu bringen, um ſie dann auch bei der Zu - ruͤckkunft von Heidelberg wieder mit nach Marburg zu nehmen. Dieſer ganze Plan wurde genau ſo 1791 in den Oſterferien ausgefuͤhrt.
Bald nach der Ankunft in Heidelberg fand ſich auch Jacob ein, er war ein guter und braver Juͤngling gewor - den, der ſeinen Eltern Freude machte, auch er freute ſich ih - rer, und daß er auch endlich einmal wieder bei ſeinen Eltern leben konnte. Mit Liſetten aber gab es Schwierigkeiten:Stillings ſämmtl. Schriften. I. Band 31470Freundin Mieg, die keine Kinder hatte, wuͤnſchte das Maͤd - chen zu behalten, auch erklaͤrte ſie, daß ihre Mutter, deren Herz an dem Kinde hinge, ihr Leben daruͤber einbuͤßen koͤnnte, wenn es ihr entzogen wuͤrde. Stillingen thats in der Seele weh, ſein Toͤchterchen zuruͤck zu laſſen, und Eliſe weinte — ſie glaubte, es ſey ihre eigene und keines Andern Pflicht, ihrer ſeligen Freundin Kinder zu erziehen, und ſie wuͤrden der - einſt von ihrer und keiner andern Hand gefordert werden; in - deſſen beide Eltern beruhigten ſich, und ließen das Maͤdchen in der Pflege ihrer Freundin Mieg. Daß es ſehr wohl da aufgehoben geweſen, das wird ſich im Verfolg zeigen. Dann kehrten ſie mit ihrem Sohn wieder nach Frankfurt zuruͤck; Bruder Coing hatte ſie auf dieſer Reiſe in die Pfalz begleitet.
Nach einem kurzen Aufenthalt in Frankfurt trat nun die ganze Geſellſchaft wieder die Ruͤckreiſe nach Marburg an, wo alſo beide Profeſſoren zu rechter Zeit anlangten, um ihren Beruf und ihre Kollegien anfangen zu koͤnnen.
Im Herbſt 1791 kam Eliſe gluͤcklich mit einer jungen Tochter nieder, welche den in der Duishing’ſchen Familie gewoͤhnlichen Namen Lubecka bekam. Außer dem Magen - krampf war jetzt eine kleine Leidenspauſe, aber ſie waͤhrte nicht lange; denn Hannchen, die nun mit Schwarz verſprochen war, bekam wieder die fuͤrchterlichen Kraͤmpfe, von denen ſie aber in wenigen Wochen, durch den ſehr geſchickten Arzt, den Oberhofrath Michaelis, der auch zu Stillings intimſten Freunden gehoͤrt, gaͤnzlich befreit wurde.
Auf Neujahrstag 17[9]2 wurde Stilling von der Univer - ſitaͤt zum Prorector gewaͤhlt; ſie hat dieſe Wuͤrde immer in großer Achtung erhalten, aber dagegen iſt auch dieß Amt auf keiner Univerſitaͤt ſo ſchwer zu verwalten als auf dieſer. Stil - ling trat es mit Zuverſicht auf den goͤttlichen Beiſtand an, und wahrlich! er bedurfte ihn auch in dieſem Jahre mehr als je.
Als nun die Oſtern, folglich Hannchens Verheirathen ſich naͤherte, ſo beſorgte Eliſe die Ausſtattungsgeſchaͤfte, und Stilling lud den Onkel Kraft mit ſeiner Gattin und Kin - dern, dann auch Vater Wilhelm Stilling zur Hochzeit;471 alle kamen auch, und Stilling rechnete dieſe Tage unter die vergnuͤgteſten ſeines ganzen Lebens, — dem Kreuztraͤger Wilhelm Stilling war dieſe Zeit — wie er ſich ausdruͤckte — ein Vorgeſchmack des Himmels. Schwarz und Hannchen wurden unter dem Segen ihrer Eltern, Großel - tern, Freunden und Verwandten in Stillings Hauſe mit einander verbunden; ihre Ehe iſt gluͤcklich, und es geht ihnen wohl.
Dann kehrten auch die lieben Beſuchenden wieder in ihre Heimath zuruͤck.
Seit einiger Zeit ſtudirte ein junger Kavalier, der jetzige Koͤnigliche Preußiſche Landrath von Vinke zu Marburg; er logirte in Stillings Haus und ſpeiste auch an ſeinem Tiſch; er gehoͤrte unter die vortrefflichſten Juͤnglinge, die je - mals in Marburg ſtudirt haben. Jetzt ſchrieb nun ſein Vater, der Domdechant von Vinke zu Minden, daß er dieſen Sommer mit ſeiner Gemahlin und Kindern kommen, und Stilling und ſeine Eliſe beſuchen wuͤrde. Dieß geſchah denn auch, und zwar gerade damals, als die deutſchen Fuͤr - ſten den Zug nach Champagne machten und der Herzog von Weimar mit ſeinem Regiment nach Marburg kam. Mit dieſem Regenten wurde jetzt Stilling auch bekannt. Der Domdechant und er brachten einen angenehmen Nachmittag mit ihm zu. Nachdem dieſer liebe Beſuch vorbei war, ſo wurde Eliſe wieder krank: ſie war in geſegneten Umſtaͤnden, welche durch dieſen Zufall vernichtet wurden; indeſſen ging es noch gluͤcklich ab, ſo daß ſie am neunten Tage, an wel - chem die Witterung ſehr ſchoͤn war, wieder ausgehen konnte: man beſchloß alſo in den Garten zu gehen; und da Schwarz und Hannchen auch da waren, um ihre Mutter zu beſuchen, ſo kam auch Vater Coing zu dieſer Gartenparthie, er war dieſen Nachmittag beſonders heiter und froh, und da er Abend - luft ſcheute, die auch Eliſen noch nicht zutraͤglich war, ſo nahm er ſie an den Arm und fuͤhrte ſie nach Haus, und als er unten an der Gartenmauer vorbei ging, ſo beſtreuten ihn die jungen Leute von oben herab mit Blumen.
Des andern Morgens um 5 Uhr kam Stillings Kuͤchen - magd in ſein Schlafzimmer, und erſuchte ihn herauszukom -31 *472men; er zog ſich etwas an, ging heraus, und fand Schwarz und Hannchen blaß und mit niedergeſchlagenen Augen ge - genuͤber im offenen Zimmer ſtehen: Lieber Vater! fing Schwarz an, was Sie ſo oft geahnt haben, iſt eingetroffen; Vater Coing iſt entſchlafen! — Dieſer Donnerſchlag fuhr Stil - ling durch Mark und Bein — und nun ſeine, jetzt noch ſo ſchwache, Eliſe, die ihren Vater ſo zaͤrtlich liebte! — doch er faßte Muth, ging zu ihr ans Bett, und ſagte: Lieschen! wir haben einen lieben Todten! — ſie antwortete: ach Gott! Hannchen? — denn die war auch guter Hoffnung — Nein! erwiederte er: Vater Coing iſt es! — Eliſe jammerte ſehr, doch faßte ſie ſich chriſtlich — indeſſen legte dieſer Schre - cken den erſten Grund zu einem ſchweren Kreuz, an dem ſie noch immer zu tragen hat. Nun eilte Stilling zu den lieben Geſchwiſtern, ſie ſtanden alle Drei auf einem Kleeblatt in der Stube und weinten; Stilling umarmte und kuͤßte ſie, und ſagte: Sie ſind nun jetzt alle drei meine Kinder, ſobald als es moͤglich iſt, ziehen Sie bei mir ein! — Dieß geſchah denn auch, ſobald die Leiche zu ihrer Ruhe gebracht war. Das Zuſammenwohnen mit dieſen lieben Geſchwiſtern iſt fuͤr Stilling in der Folge unbeſchreiblich wohlthaͤtig und troͤſtlich geworden, wie ſich hernach zeigen wird. Vater Coing hatte einen Steckfluß bekommen, man hatte den Arzt gerufen, und alle moͤglichen Mittel angewendet, ihn zu retten; allein vergebens. Er bezeugte ganz ruhig, daß er zum Sterben bereit ſey. Er war ein vortrefflicher Mann, und ſein Segen ruht auf ſeinen Kindern.
Hier faͤngt nun Stillings wichtigſte Lebensperiode an; es gingen Veraͤnderungen in und außer ihm vor, die ſeinem ganzen Weſen eine ſehr bedeutende Richtung gaben, und ihn zu ſeiner wahren Beſtimmung vorbereiteten.
Bald nach Vater Coings Tode kam die Zeit, in welcher der Prorector der Marburger Univerſitaͤt, nebſt dem fuͤrſtlichen Kommiſſarius, nach Niederheſſen reiſen, die dortigen Vogteien beſuchen, und die Zehenten, welche der Univerſitaͤt gehoͤren,473 an den Meiſtbietenden verſteigern muß. Die beiden Freunde Rieß und Stilling traten alſo dieſe Reiſe an, und letzte - rer nahm Eliſe mit, um ihr Aufheiterung, Erholung und Zerſtreuung zu verſchaffen: denn ihre Krankheit, und beſonders des Vaters ploͤtzlicher Tod, hatte ihr zugeſetzt. Nach verrich - teten Amtsgeſchaͤften ging Stilling mit ihr uͤber Kaſſel wieder zuruͤck nach Marburg. In Kaſſel, und ſchon etwas fruͤher, fing Eliſe an, eine unangenehme Empfindung inwen - dig im Halſe zu bemerken; in Kaſſel wurde dieſe Empfin - dung ſtaͤrker, und in der rechten Seite ihres Halſes entſtand ein unwillkuͤhrliches und abwechſelndes Zucken des Kopfs nach der rechten Seite, doch war es noch nicht merklich. Sie reis - ten nun nach Hauſe und warteten ihres Berufs.
Jetzt nahten nun wieder die Herbſtferien; der Oheim Kraft in Frankfurt ſchrieb, daß dort eine reiche blinde Juͤdin ſey, welche wuͤnſche, von Stilling operirt zu werden, ſie wolle gern die Reiſekoſten bezahlen, wenn er kommen und ihr helfen wolle. Stilling war dazu willig, allein er mußte ſich erſt zu Kaſſel die Erlaubniß auswirken, weil der Mar - burger Prorector keine Nacht außer der Stadt zubringen darf. Dieſe Erlaubniß erhielt er, folglich uͤbertrug er nun ſein Amt dem Exprorector, und trat in Begleitung ſeiner Eliſe die Reiſe nach Frankfurt an. Als ſie gegen Abend zu Vilbel, einem ſchoͤnen Dorfe an der Nidda, zwo Stunden von Frankfurt, ankamen, und vor einem Wirthshaus ſtill hielten, um den Pferden Brod zu geben, ſo kam die Wirthin heraus an die Kutſche, und mit aͤngſtlicher Miene ſagte ſie: Ach, wiſſen Sie denn auch, daß Franzoſen ins Reich eingefallen ſind, und ſchon Speyer einge - nommen haben? — Dieſe Nachricht fuhr wie ein electri - ſcher Schlag durch Stillings ganze Exiſtenz, indeſſen hoffte er noch, daß es ein leeres Geruͤchte, und nicht ſo arg ſeyn moͤchte; er ſetzte alſo mit ſeiner Begleitung die Reiſe nach Frankfurt fort, und kehrte dort bei Kraft ein; hier erfuhr er nun, daß die Nachricht leider! in ihrem ganzen Umfange wahr, und die ganze Stadt in Furcht und Unruhe ſey. Es iſt durchaus noͤthig, daß ich hier uͤber die ſonderbaren Wirkun -474 gen, welche dieſe Nachricht in Stillings Seele hervorbrachte, einige Betrachtungen anſtelle:
Koͤnig Ludwig der Vierzehnte von Frankreich, nach ihm der Herzog Regent von Orleans, und endlich Lud - wig der Fuͤnfzehnte, hatten in einer Reihe von hundert Jah - ren die franzoͤſiſche Nation zu einem beiſpielloſen Luxus ver - leitet; eine Nation, die in der Wolluſt verſunken iſt, und deren Nerven durch alle Arten der Ueppigkeit geſchwaͤcht ſind, nimmt die witzigen Spoͤttereien eines Voltaire als Philoſophie, und die ſophiſtiſchen Traͤume eines Rouſſeau als Religion an; dadurch entſteht dann natuͤrlicher Weiſe ein Nationalcha - rakter, der fuͤr den ſinnlichen Menſchen aͤußerſt hinreißend, angenehm und gefaͤllig iſt; und da er zugleich das Blendende eines Syſtems, und eine aͤußere Politur hat, ſo macht er ſich auch dem Denker intereſſant, und erwirbt ſich daher den Beifall aller cultivirten Nationen.
Daher kam es denn auch, daß unſer deutſcher hoher und niederer Adel, Frankreich fuͤr die hohe Schule der feinen Lebensart, des Wohlſtandes und — der Sittlichkeit, — hielt. Man ſchaͤmte ſich der Kraftſprache der Deutſchen und ſprach franzoͤſiſch; man waͤhlte franzoͤſiſche Abentheurer, Fri - ſeurs, und genug, wenn er ein Franzoſe war, zu Erziehern kuͤnftiger Regenten, und gar oft franzoͤſiſche Putzmacherinnen zu Gouvernanten unſerer Prinzeſſinnen, Comteſſen und Fraͤu - leins. Der deutſche Nationalcharakter, und mit ihm die Re - ligion, geriethen ins alte Eiſen und in die Rumpelkammer.
Jetzt wollten nun die Gelehrten, und beſonders die Theo - logen, rathen und helfen, und dazu waͤhlten ſie — den Weg der Accommodation, ſie wollten zwiſchen Chriſto und Be - lial Frieden ſtiften, jeder ſolle etwas nachgeben, Chriſtus ſolle die Dogmen der Glaubenslehren aufheben und Belial die groben Laſter verbieten, und beide ſollten nun weiter nichts zum Religions-Grundgeſetz anerkennen, als die Moral; denn darin ſey man ſich einig, daß ſie muͤſſe geglaubt und gelehrt werden; was das Thun betrifft, das uͤberlaͤßt man der Frei - heit eines jeden einzelnen Menſchen, die heilig gehalten und keineswegs gekraͤnkt werden darf. Dieſes Chriſto-Belial -475 ſche Syſtem ſollte dann, par honneur de lettre, chriſt - liche Religionslehre heißen, um Chriſtum und ſeine wah - ren Verehrer nicht gar zu ſehr vor den Kopf zu ſtoßen. So entſtand unſere heut zu Tag ſo hoch geprieſene Aufklaͤrung und die Neologie der chriſtlichen Religion.
Ich bitte aber recht ſehr, mich nicht mißzuverſtehen! — Vorſaͤtzlich wollte keiner dieſer Maͤnner zwiſchen Chriſto und Belial — Frieden ſtiften, zumal, da man die Exiſtenz des Letztern nicht mehr glaubte; ſondern die von Jugend auf unvermerkt ins Weſen des menſchlichen Denkens, Urtheilens und Schließens eingeſchlichene Grundlage aller menſchlichen Vorſtellungen, die ſich — wenn man nicht ſehr wachſam iſt, uns ganz unwillkuͤhrlich durch den Geiſt der Zeit aufdringt, alterirte das Moralprinzip und die Vernunft dergeſtalt, daß man nun Vieles in der Bibel aberglaͤubiſch, laͤcherlich und abgeſchmackt fand und ſich daher uͤber alles wegſetzte, und nun mit ſolchen verfaͤlſchten Prinzipien und alterirten Pruͤ - fungsorganen die Reviſion der Bibel, dieſes uralten Heiligthums — das kuͤhnſte Wagſtuͤck unter allen — unter - nahm. So entſtand nun der Beginn des großen Abfalls, den Chriſtus und ſeine Apoſtel, und vorzuͤglich Paulus, ſo be - ſtimmt vorausgeſagt und zugleich bemerkt haben, daß bald darauf der Menſch der Suͤnden, der Menſchgewor - dene Satan erſcheinen und durch ploͤtzliche Ankunft des Herrn in den Abgrund geſchleudert werden ſollte.
Dieß große und bedeutende Ganze in Stillings Vor - ſtellungen von der gegenwaͤrtigen Lage des Chriſtenthums und des Reichs Gottes hatte ſich waͤhrend einer großen Reihe von Jahren, theils durchs Studium der Geſchichte, theils durch Beobachtung der Zeichen der Zeit, theils durch fleißiges Leſen und Betrachten der bibliſchen Weiſſagungen, und theils durch Mittheilungen, im Verborgenen großer Maͤnner, nach und nach gebildet, und ſeine Wichtigkeit erfuͤllte ſeine Seele; hiezu kam nun eine andere, nicht weniger wichtige Bemerkung, die mit jenem im Einklang ſtand.
Er hatte das Entſtehen eines großen Buͤndniſſes unter Men - ſchen von allen Staͤnden bemerkt, ſeinen Wachsthum und Fort -476 gang geſehen und ſeine Grundſaͤtze, die nichts Geringeres, als Verwandlung der chriſtlichen in Naturreligion, und der monar - chiſchen Staatsverfaſſung in demokratiſche Republiken, oder doch wenigſtens unvermerkte Leitung der Regenten, zum Zweck hatten, kennen gelernt, und durch wunderbare Leitung der Vor - ſehung von Raſchmann erfahren, wie weit die Sache ſchon gediehen ſey, und dieß gerade zu der Zeit, als die franzoͤſiſche Revolution ausbrach. Er wußte, in wie fern die deutſchen Maͤn - ner von dieſem Bunde mit den franzoͤſiſchen Demagogen im Einverſtaͤndniß ſtanden, und war alſo in der gegenwaͤrtigen Zeitgeſchichte, und in ihrem Verhaͤltniß zu den bibliſchen Weiſ - ſagungen hinlaͤnglich orientirt.
Das Reſultat von allen dieſen Vorſtellungen in Stillings Seele war, daß Deutſchland fuͤr ſeine Buhlereien mit Frankreich eben durch dieſe Macht erſchrecklich wuͤrde ge - zuͤchtiget werden, er ſah den großen Kampf vorher, durch den dieſe Zuͤchtigung ausgefuͤhrt werden ſollte: denn womit man ſuͤndigt, damit wird man geſtraft! Und da der Abfall gleichſam mit beſchleunigter Bewegung zunahm, ſo ahnete er auch ſchon von weitem die allmaͤhlige vorbereitende Gruͤndung des Reichs des Menſchen der Suͤnden. Daß dieß Alles ſeine Richtigkeit habe, naͤmlich: daß dieſe Vorſtellungen wirklich in Stillings Seele lebten und webten, ehe Jemand an die franzoͤſiſche Revolution und ihre Folgen dachte, das bezeugen gewiſſe Stellen in ſeinen Schriften, und beſonders eine oͤffent - liche Rede, die er 1786 in der Kurfuͤrſtlichen Deutſchen Geſellſchaft zu Mannheim gehalten hat, die aber aus leicht zu begreifenden Urſachen nicht gedruckt worden iſt. Bei allen dieſen Ueberzeugungen und Vorſtellungen aber hatte er doch nicht gedacht, daß das Gewitter ſo ſchnell und ſo ploͤtz - lich uͤber Deutſchland ausbrechen wuͤrde — das vermuthet er wohl, daß die franzoͤſiſche Revolution den entfernten Grund zum großen letzten Kampf zwiſchen Licht und Finſterniß legen wuͤrde, aber daß dieſer Kampf ſo nahe ſey, das ahnete er nicht: denn es war ihm gar nicht zweifelhaft, daß die vereinigte Macht der deutſchen Fuͤrſten in Frankreich ſiegen wuͤrde — aber jetzt erfuhr er das ganz anders — es war ihm unbe -477 ſchreiblich zu Muthe: auf der einen Seite nunmehr ſolche Er - wartungen in der Naͤhe, die die hoͤchſten Wuͤnſche des Chri - ſten uͤberſteigen, und auf der andern auch Erwartungen von nie erhoͤrten Truͤbſalen und Leiden, die der bevorſtehende große Kampf unvermeidlich mit ſich bringen wuͤrde. Ja, wahrlich! eine Gemuͤthsverfaſſung, deren Gewalt einen Mann, der in ſeinem Leben ſo viel gearbeitet hatte, und noch arbeitete, leicht haͤtte zu Boden druͤcken koͤnnen, wenn ihn nicht die Vorſehung zu wichtigen Zwecken haͤtte aufbewahren wollen!
Man ſollte denken, das ſey nun ſchon Schmelzfeuer genug geweſen, allein gerade jetzt in dieſer Angſtzeit kam noch eine beſondere Glut hinzu, die der große Schmelzer, aus ihm allein bekannten Urſachen, zu veranſtalten noͤthig fand; ich habe oben erinnert, daß Eliſe durch Schrecken, in einem durch Krankheit geſchwaͤchten Zuſtand, ein Zucken des Kopfs nach der rechten Seite bekommen habe; bis daher war dieß Uebel nicht ſehr bedeutend geweſen, aber jetzt wurde es fuͤr die gute Seele und ihren Mann fuͤrchterlich und ſchrecklich: denn des andern Tages ihrer Anweſenheit in Frankfurt entſtand ein ſchreckenvoller Allarm, die Franzoſen ſeyen im Anmarſch — der Magiſtrat verſammelte ſich auf dem Roͤ - mer, Waſſertonen wurden gefuͤllt, um bei dem Bombarde - ment den Brand loͤſchen zu koͤnnen, u. ſ. w., mit Einem Wort: der allgemeine Schrecken war unbeſchreiblich; fuͤr Eliſe kam aber nun noch ein beſonderer Umſtand hinzu; die Univerſitaͤt Marburg iſt ein Heſſiſcher Landſtand, Stil - ling war ihr Prorector, und ihr Landesherr im Krieg mit Frankreich. Es war alſo nichts wahrſcheinlicher, als daß die Franzoſen bei ihrem Einfall in Frankfurt, Stilling als Geißel nach Frankreich ſchicken wuͤrden. Dieß war fuͤr Eliſe, die ihren Mann zaͤrtlich liebte, zu viel; jetzt zuckte der Kopf beſtaͤndig nach der rechten Schulter, und der ganze obere Koͤrper wurde dadurch verzogen — Eliſe litt ſehr da - bei, und Stilling glaubte in all’ dem Jammer vergehen zu muͤſſen; Eliſe hatte einen geraden, ſchoͤnen Wuchs, und nun die druͤckende Leidensgeſtalt — es war kaum auszuhal - ten; bei allem dem war es ſchlechterdings unmoͤglich, aus478 der Stadt zu kommen, dieſer und der folgende Tag mußte noch ausgehalten werden, wo ſich’s dann auch zeigte, daß die Franzoſen erſt Mainz einzunehmen ſuchten; jetzt fand Stil - ling Gelegenheit zur Abreiſe, und da die Juͤdin unheilbar blind war, ſo fuhr er mit Eliſe wieder nach Marburg. Hier wurden nun alle moͤglichen Mittel verſucht, die gute Seele von ihrem Jammer zu befreien; allein Alles iſt bis dahin vergebens geweſen, ſie traͤgt dieß Elend nun uͤber eilf Jahr! — es iſt zwar Etwas beſſer als damals, indeſſen doch noch immer ein ſehr hartes Kreuz fuͤr ſie ſelbſt und auch fuͤr ihren Mann
Stilling wirkte in ſeinem Prorectorat und Lehramt treu - lich fort, und Eliſe trug ihren Jammer, wie es einer Chriſtin gebuͤhrt; hiezu geſellte ſich nun noch die Angſt, von den Fran - zoſen uͤberfallen zu werden; der Kurfuͤrſt kam zwar Anfangs Oktobers wieder, aber ſeine Truppen ruͤckten wegen des ſchlim - men Wetters ſehr langſam nach. Heſſen, und mit ihm die ganze Gegend war alſo unbeſchuͤtzt, folglich hatte der franzoͤſiſche General Cuſtine freie Hand — waͤre ſein Muth und ſein Verſtand ſo groß geweſen, wie ſein Schnurr - und Backenbart, ſo haͤtte ein groͤßerer Theil von Deutſchland ſeine politiſche Exiſtenz verloren: denn die allgemeine Stimmung war damals revolutionaͤr und guͤnſtig fuͤr Frankreich.
Indeſſen wußte man damals doch nicht, was Cuſtine vor - hatte, und man mußte Alles erwarten; ſeine Truppen hausten in der Wetterau umher, und man hoͤrte zu Zeiten ihren Kanonendonner; Alles ruͤſtete ſich zur Flucht, nur die Chefs der Kollegien durften nicht von ihren Poſten gehen, folglich auch Stilling nicht, er mußte aushalten. Dieſe Lage druͤckte ſeine Seele, die ohnehin von allen Seiten geaͤngſtigt war, außer - ordentlich.
An einem Sonntag Morgen, gegen das Ende des Oktobers, entſtand das fuͤrchterliche Geruͤcht in der Stadt, die Franzoſen ſeyen in der Naͤhe, und kaͤmen den Lahnberg herunter — jetzt ging Stilling das Waſſer an die Seele, er fiel auf ſeiner Studierſtube auf die Knie, und flehte mit Thraͤnen zum Herrn um Troſt und Staͤrke; jetzt fiel ſein Blick auf ein Spruchbuͤch - lein, welches da vor ihm unter andern Buͤchern ſtand, er fuͤhlte479 eine Anregung in ſeinem Gemuͤthe, es aufzuſchlagen, er ſchlug auf, und bekam den Spruch: Ich hebe meine Haͤnde auf zu den Bergen, von welchen mir Huͤlfe koͤmmt, meine Huͤlfe kommt vom Herrn, u. ſ. w.; noch einmal ſchlug er auf, und nun hieß es: Ich will eine feurige Mauer umher ſeyn, u. ſ. w.; muthig und getroſt ſtand er auf, und von der Zeit an hatte er auch keine Angſt mehr vor den Franzoſen; es kamen auch wirklich keine, und bald ruͤckten die Preußen und Heſſen heran, Frankfurt wurde erobert, und dann Mainz belagert.
Hier muß ich zwei Anmerkungen machen, die mir keiner mei - ner Leſer veruͤbeln wird.
1) Das Aufſchlagen bibliſcher Spruͤche, um den Willen Gottes oder gar die Zukunft zu erforſchen, iſt durchaus Miß - brauch der heiligen Schrift, und dem Chriſten nicht erlaubt. Will man es thun, um aus dem goͤttlichen Wort Troſt zu holen, ſo geſchehe es mit voͤlliger Gelaſſenheit und Ergebung in den Willen Gottes; aber man werde auch nicht niederge - ſchlagen oder kleinmuͤthig, wenn man einen Spruch bekommt, der nicht troͤſtlich iſt — das Aufſchlagen iſt kein Mittel, das uns Gott zu irgend einem Zweck angewieſen hat, es iſt eine Art des Looſes, und dieß iſt ein Heiligthum, das nicht ent - weiht werden darf.
2) Stillings außerordentliche Aengſtlichkeit mag wohl hie und da die nachtheilige Idee fuͤr ihn erregen, als ſey er ein Mann ohne Muth. Darauf dient zur Antwort. : Stil - ling zittert vor jeder kleinen und großen Gefahr, ehe ſie zur Wirklichkeit kommt; aber wenn ſie da iſt, ſo iſt er auch in der groͤßten Noth muthig und getroſt. Dieß iſt aber auch die natuͤrliche Folge lang erduldeter Leiden: man fuͤrchtete ſie, weil man ihre Schmerzen kennt, und man traͤgt ſie getroſt, weil man des Tragens gewohnt iſt, und ihre geſeg - neten Folgen weiß.
Auf die naͤchſten Oſterferien wurde Stilling von der wuͤrdigen Vinkiſchen Familie zum Beſuch nach Preu - ßiſch-Minden eingeladen. Er nahm dieſe Einladung mit Dank an, und ſein Hausfreund, der junge Vinke, und noch480 einige Freunde aus Kaſſel begleiteten ihn. Auf dieſer Reiſe litt Stilling ſehr am Magenkrampf, die Witterung war rauh, und er machte ſie zu Pferde. Von Minden begleitete er auch gedachte Familie nach ihrem praͤchtigen Ritterſitz Oſtenwalde, vier Stunden von Osnabruͤck, dann reiste er uͤber Detmold wieder nach Haus.
Auf dieſer Reiſe lernte Stilling einige merkwuͤrdige Per - ſonen kennen, mit denen er auch zum Theil in genaue freund - ſchaftliche Verhaͤltniſſe kam, naͤmlich die nunmehr verſtorbene Fuͤrſtin, Juliane von Buͤckeburg, Kleucker in Osna - bruͤck — dieſer hatte Stilling aber vorher ſchon in Mar - burg beſucht — Moͤſer und ſeine Tochter, die Frau von Voigt; die Fuͤrſtin Chriſtine von der Lippe zu Det - mold, die drei Theologen: Ewald, Paſſavant von Koͤlln, und den fuͤrſtl. Lippiſchen Leibarzt Scherf. Alle dieſe wuͤr - digen Perſonen erzeigten Stilling Ehre und Liebe. Dann lebte auch damals noch in Detmold eine ſehr wuͤrdige Ma - trone, die Wittwe des ſel. General-Superintendenten Stoſch mit ihren Toͤchtern, deren die aͤlteſte Selma’s vertraute Freundin geweſen war; Stilling beſuchte ſie, und wurde mit ruͤhrender Zaͤrtlichkeit empfangen; bei dem Abſchied fiel ihm die ehrwuͤrdige Frau um den Hals, weinte und ſagte: Wenn wir uns hier nicht wiederſehn, ſo beten Sie doch fuͤr mich, daß mich der Herr vollenden wolle, damit ich Sie dereinſt in ſeinem Reich wiederum, freudiger wie jetzt, moͤge umarmen koͤnnen.
Als Stilling von dieſer Reiſe wieder nach Marburg, und vor ſeine Hausthuͤre kam, ſo trat Eliſe heraus, um ih - ren Mann zu empfangen; aber welch ein Anblick! — ein Schwert fuhr durch ſeine Seele — Eliſe ſtand da krumm und ſchief, ihr Halsziehen theilte ſich auch dem obern Koͤrper ſtaͤrker mit — es war ſchrecklich! das Herz blutete fuͤr Mit - leid und Wehmuth, aber das half nicht, es mußte ertragen werden. Indeſſen geſchah Alles, um die gute Frau zu kuri - ren: man verſuchte die wirkſamſten Mittel: Vier Kegel Moca wurden auf ihren Schultern auf der bloßen Haut verbrannt:481 ſie ertrug dieſe ſchrecklichen Schmerzen, ohne einen Laut von ſich zu geben, allein es half nicht; ſie brauchte Baͤder und die Spritztauche, die auch ſehr heftig wirkt, allein es kam weiter nichts dabei heraus, als daß ſie nun die zweite unzei - tige Niederkunft aushalten mußte, wobei ſie wirklich in Le - bensgefahr gerieth, doch aber unter Gottes Beiſtand durch die angewandten Mittel wieder zurecht gebracht wurde. Nach und nach beſſerte es ſich mit dem Halsziehen in ſo fern, daß es denn doch ertraͤglicher wurde.
In dieſem Fruͤhjahre 1793 trat der Kandidat Coing ſein Predigtamt an, indem er bei der reformirten Gemeinde zu Gmuͤnd, einer Stadt im Oberfuͤrſtenthum Heſſen, fuͤnf Stunden von Marburg, angeſtellt wurde. Er war etwas uͤber ein halb Jahr in Stillings Haus geweſen; Coing wuͤrde auch dann ſein Bruder ſeyn, wenn ihn kein Band der Blutsverwandtſchaft an ſein Herz knuͤpfte.
Das Merkwuͤrdigſte, was in dieſem und dem folgenden Jahr in Stillings Geſchichte vorkommt, iſt die Heraus - gabe zweier Werke, die eigentlich die Werkzeuge der Entſchei - dung ſeiner Beſtimmung geworden ſind; naͤmlich die Scenen aus dem Geiſterreich, zwei Baͤnde, und dann das Heim - weh in vier Baͤnden und dem dazu gehoͤrigen Schluͤſſel.
Die Scenen aus dem Geiſterreich thaten unerwar - tete Wirkung, ſie erwarben Stilling ein großes religioͤſes Publikum — ich kann ohne Prahlerei, mit Wahrheit ſagen: in allen vier Welttheilen; dadurch wurden nun allenthalben die wahren Verehrer Jeſu Chriſti aufs neue aufmerkſam auf den Mann, deſſen Lebensgeſchichte ſchon Eindruck auf ſie gemacht hatte. Die Scenen koͤnnte man wohl die Vor - laͤufer des Heimwehs nennen: ſie machten aufmerkſam auf den Verfaſſer; das Heimweh aber vollendete alles, es entſchied ganz allein Stillings Schickſal, wie der Verfolg zeigen wird.
Der Urſprung beider Buͤcher iſt ſehr merkwuͤrdig, denn er beweist unwiderlegbar, daß Stilling ſchlechterdings nichts zu ſeiner Beſtimmung und zur Entſcheidung ſeines Schickſals beigetragen habe; dies iſt zwar in ſeiner ganzen Fuͤhrung der482 Fall, wie ich am Schluß dieſes Bandes zeigen werde, aber bei dieſen Buͤchern, die lediglich, beſonders das Heimweh, die eigentlichen Werkzeuge ſeiner Beſtimmung ſind, kommt es darauf an, daß ich ihren Urſprung mit allen Umſtaͤnden und nach der genaueſten Wahrheit erzaͤhle.
Die Scenen aus dem Geiſterreich entſtanden folgenderge - ſtalt: Als noch Raſchmann mit ſeinen Grafen in Mar - burg war, ſo wurde einesmals des Abends in einer Geſell - ſchaft bei ihm von Wieland’s Ueberſetzung des Lucians geſprochen; Raſchmann las einige Stellen daraus vor, die aͤußerſt komiſch waren; die ganze Geſellſchaft lachte uͤberlaut und Jeder bewunderte die Ueberſetzung als ein unnachahmliches Meiſterſtuͤck. Bei einer gewiſſen Gelegenheit fiel nun Stil - ling dies Buch wieder ein; flugs, ohne ſich lange zu beden - ken, verſchrieb er es fuͤr ſich. Einige Zeit nachher ſchlug ihm das Gewiſſen uͤber dieſen uͤbereilten Schritt: Wie! — ſprach dieſe ruͤgende Stimme in ſeiner Seele, du kaufſt ein ſo theu - res Werk von ſieben Baͤnden, und zu welchem Zweck? — blos um zu lachen! — und du haſt noch ſo viele Schulden — und Frau und Kinder zu verſorgen! — und wenn das Alles nicht waͤre, welche Huͤlfe haͤtteſt du einem Nothleiden - den dadurch verſchaffen koͤnnen? — du kaufſt ein Buch, das dir zu deinem ganzen Beruf nicht einmal nuͤtzlich, geſchweige nothwendig iſt. Da ſtand Stilling vor ſeinem Richter, wie ein armer Suͤnder, der ſich auf Gnade und Ungnade ergibt. Es war ein harter Kampf, ein ſchweres Ringen um Gnade — endlich erhielt er ſie, und nun ſuchte er auch von ſeiner Seite dies Vergehen ſo viel moͤglich wieder gut zu machen. Haben Lucian und Wieland — dachte er — Scenen aus dem Reich erdichteter Gottheiten geſchrieben, theils um das Ungereimte der heidniſchen Goͤtterlehre auf ſeiner laͤcher - lichen Seite zu zeigen, theils auch, um dadurch die Leſer zu beluſtigen, ſo will ich nun Scenen aus dem wahren chriſtlichen Geiſterrech, zum ernſtlichen Nachdenken und zur Bekehrung und Erbauung der Leſer ſchreiben und das dafuͤr zu erhaltende Honorarium zum beſten armer Blinder verwenden; dieſen Gedanken fuͤhrte er aus und ſo entſtand483 ein Buch, welches oben bemerkte, durchaus unerwartete Wir - kung that.
Der Urſprung des Heimweh’s war eben ſo wenig planmaͤ - ßig: Stilling hatte durch eine beſondere Veranlaſſung den Triſtram Shandy von Lorenz Sterne aufmerkſam geleſen.
Bald nachher fuͤgte es ſich auch, daß er die Lebenslaͤufe in aufſteigender Linie las. Beide Buͤcher ſind bekannt - lich in einem ſententioͤſen humoriſtiſchen Styl geſchrieben. Bei dieſer Lectuͤre hatte Stilling einen weit andern Zweck als den, welchen die Vorſehung dabei bezielte.
Zu dieſen zweien Vorbereitungen kam nun noch eine dritte: Stilling hatte ſeit Jahr und Tag den Gebrauch gehabt, taͤglich einen Spruch aus dem alten Teſtament, aus dem Hebraͤiſchen, und auch einen aus dem neuen Teſtament, aus dem Griechiſchen zu uͤberſetzen, und dann daraus eine kurzge - faßte und reichhaltige Sentenz zu formiren. Dieſer Senten - zen hatte er in einer großen Menge vorraͤthig, und dabei keinen andern Zweck, als Bibelſtudium. Wer konnte ſich nun vorſtellen, daß dieſe geringfuͤgigen und im Grunde nichts bedeutenden Sachen den wahren und eigentlichen Grund zur Entwicklung einer ſo merkwuͤrdigen Fuͤhrung legen ſollten? — Wahrlich! Stilling ahnte ſo etwas nie von Ferne.
Bald nach dem Leſen oben bemerkter Buͤcher, etwa gegen das Ende des Julius 179[3], kam an einem Vormittag der Buchhaͤndler Krieger in Marburg zu Stilling und bat ihn, er moͤchte ihm doch auch einmal etwas Aeſthetiſches, etwa einen Roman, in Verlag geben, damit er Etwas haͤtte, das ihm Nutzen braͤchte, mit den trockenen Kompendien ging es ſo langſam her, u. ſ. w. Stilling fand in ſeinem Ge - muͤth Etwas, das dieſen Antrag billigte; er verſprach ihm alſo ein Werk von der Art, und daß er auf der Stelle da - mit anfangen wolle.
Jetzt fiel Stilling ploͤtzlich der Gedanke ein, er habe von Jugend auf den Wunſch in ſeiner Seele genaͤhrt, nach Johann Bunians Beiſpiel, den Buß -, Bekehrungs - und Heiligungs-Weg des wahren Chriſten, unter dem Bilde einer484 Reiſe zu beſchreiben; er beſchloß alſo dieſen Gedanken auszu - fuͤhren, und da er erſt kuͤrzlich jene humoriſtiſchen Buͤcher ge - leſen, dieſen Styl und dieſe Art des Vortrags zu waͤhlen, und dann ſeinen Vorrath von Sentenzen uͤberall auf eine ſchickliche Weiſe mit einzumiſchen. Zu dem Titel: das Heim - weh, gab ihm eine Idee Anlaß, die er kurz vorher Jemand in ſein Stammbuch geſchrieben hatte, naͤmlich: Selig ſind, die das Heimweh haben, denn ſie ſollen nach Haus kommen! — denn er urtheilte, daß ſich dieſer Ti - tel gut zu einem Buch ſchickte, das die leidensvolle Reiſe eines Chriſten nach ſeiner himmliſchen Heimath enthalten ſollte.
So vorbereitet, fing nun Stilling an, das Heimweh zu ſchreiben. Da er aber nicht recht traute, ob es ihm auch in dieſer Methode gelingen wuͤrde, ſo las er die erſten ſechs Hefte zweien ſeiner Vertrauten Freunde, Michaelis und Schlar - baum, vor; dieſen gefiel der Anfang auſſerordentlich, und ſie munterten ihn auf, ſo fortzufahren. Um aber doch ſicher zu gehen, ſo waͤhlte er ſieben Maͤnner aus dem Kreis ſeiner Freunde, die ſich alle vierzehn Tage bei ihm verſammelten, und denen er dann das binnen der Zeit Geſchriebene vorlas, und ihr Urtheil daruͤber anhoͤrte.
Der Gemuͤthszuſtand, in welchen Stilling waͤhrend dem Ausarbeiten dieſes, vier große Octavbaͤnde ſtarken, Buchs ver - ſetzt wurde, iſt ſchlechterdings unbeſchreiblich; ſein Geiſt war wie in aͤtheriſche Kreiſe emporgehoben; ihn durchwehte ein Geiſt der Ruhe und des Friedens, und er genoß eine Wonne, die mit Worten nicht beſchrieben werden kann. Wenn er an - fing zu arbeiten, ſo ſtrahlten Ideen ſeiner Seele voruͤber, die ihn ſo belebten, daß er kaum ſo ſchnell ſchreiben konnte, als es der Ideengang erforderte; daher kam es auch, daß das ganze Werk eine ganz andere Geſtalt, und die Dichtung eine ganz andere Tendenz bekam, als er ſie ſich im Anfang ge - dacht hatte.
Hierzu kam nun noch eine ſonderbare Erſcheinung: in dem Zuſtande zwiſchen Schlafen und Wachen ſtellten ſich ſeinem innern Sinn ganz uͤberirdiſch ſchoͤne, gleichſam paradieſiſche Landſchafts-Ausſichten vor — er verſuchte ſie zu zeichnen,485 aber das war unmoͤglich. Mit dieſer Vorſtellung war dann allemal ein Gefuͤhl verbunden, gegen welches alle ſinnlichen Vergnuͤgen fuͤr nichts zu achten ſind — es war eine ſelige Zeit! — Dieſer Zuſtand dauerte genau ſo lang, als Stilling am Heimweh ſchrieb, naͤmlich vom Auguſt 1793 bis in den Dezember 1794, alſo volle fuͤnf viertel Jahr.
Hier muß ich aber den chriſtlichen Leſer ernſtlich bitten, ja nicht ſo lieblos zu urtheilen, als ob Stilling ſich dadurch etwa einer goͤttlichen Eingebung, oder nur etwas Aehnliches, anmaßen wolle. — Nein, Freunde! Stilling maßt ſich uͤberhaupt gar nichts an: es war eine erhoͤhte Em - pfindung der Naͤhe des Herrn, der der Geiſt iſt; dieß Licht ſtrahlte in ſeine Seelenkraͤfte, und erleuchtete die Imagination und die Vernunft. In dieſem Licht ſollte Stil - ling das Heimweh ſchreiben; aber deßwegen iſt es doch im - mer ein gebrechliches Menſchenwerk: wenn man einen Lehr - jungen, der bisher beim truͤben Oellicht armſelige Sachen machte, auf einmal die Fenſterladen oͤffnet, und die Sonne auf die Werkſtaͤtte ſtrahlen laͤßt, ſo macht er noch immer eine Lehrjungenarbeit, aber ſie wird noch beſſer als vorher.
Daher kam nun auch der beiſpielloſe Beifall, den dieß Buch hatte: eine Menge Exemplare wanderten nach Amerika, wo es haͤufig geleſen wird. In Aſien, wo es chriſtlich geſinnte Deutſche gibt, wurde das Heimweh bekannt und geleſen. Aus Daͤnemark, Schweden und Rußland bis nach Aſtra - chan, bekam Stilling Zeugniſſe dieſes Beifalls. Aus allen Provinzen Deutſchlands erhielt Stilling aus allen Staͤn - den — vom Thron bis zum Pflug eine Menge Briefe, die ihm den lauteſten Beifall bezeugten; nicht wenige gelehrte Zweif - ler wurden dadurch uͤberzeugt, und fuͤr das wahre Chriſten - thum gewonnen; mit Einem Wort, es gibt wenig Buͤcher, die eine ſolche ſtarke und weit um ſich greifende Senſation gemacht haben, als Stillings Heimweh. Man ſehe dieß nicht als Prahlerei an, es gehoͤrt zum Weſen dieſer Geſchichte.
Aber auch auf Stilling ſelbſt wirkte das Heimweh maͤch - tig und leidensvoll — die Wonne, die er waͤhrend des Schrei - bens empfunden hatte, hoͤrte nun auf; die tiefe und die in -Stillings ſämmtl. Schriften. I. Band. 32486nere Ueberzeugung, daß auch die Staatswirthſchft ſein wah - rer Beruf nicht ſey, brachte eben die Wirkung in ſeinem Ge - muͤth hervor, wie ehemals die Entdeckung in Elberfeld, die ausuͤbende Arzneikunde ſey ſeine Beſtimmung nicht, ihn druͤckte eine bis in das Innerſte der Seele dringende Wehmuth, eine unausſprechliche Zerſchmolzenheit des Herzens und Geiſteszer - knirſchung; alles Lob und aller Beifall der Fuͤrſten, der groͤßten und beruͤhmteſten Maͤnner, machte ihm zwar einen Augenblick Freude, aber dann empfand er tief, daß ihn ja das Alles nicht anginge, ſondern daß alles Lob nur Dem gebuͤhre, der ihm ſolche Talente anvertraut habe; ſo iſt ſeine Gemuͤthsſtel - lung noch, und ſo wird ſie auch bleiben.
Es iſt merkwuͤrdig, daß gerade in dieſem Zeitpunkt drei ganz von einander unabhaͤngige Stimmen Stillings akademi - ſches Lehramt nicht mehr fuͤr ſeinen eigentlichen Beruf erklaͤrten.
Die erſte war eine innere Ueberzeugung, die waͤhrend der Zeit, in welcher er am Heimweh ſchrieb, in ihm entſtanden war, und von welcher er keinen Grund anzugeben wußte. Der Grundtrieb, den er von Kind auf ſo ſtark empfunden hatte, ein wirkſames Werkzeug zum Beſten der Religion in der Hand des Herrn zu werden, und der auch immer die wir - kende Urſache von ſeinen religioͤſen Nebenbeſchaͤftungen war, ſtand jetzt in groͤßerer Klarheit vor ſeinen Augen als jemals, und erfuͤllte ihn mit Sehnſucht, von allem Irdiſchen losge - macht zu werden, um dem Herrn und ſeinem Reich ganz al - lein und aus allen Kraͤften dienen zu koͤnnen.
Die zweite Stimme, die das Naͤmliche ſagte, ſprach aus allen Briefen, die aus den entfernteſten und naͤchſten Gegen - den einliefen: die groͤßten und kleinſten Maͤnner, die Vor - nehmſten und die Geringſten forderten ihn auf, ſich dem Dienſt des Herrn und der Religion ausſchließlich und ganz zu widmen, und daß er ja nicht aufhoͤren moͤchte, in dieſem Fach zu arbeiten.
Die dritte Stimme endlich war, daß um eben dieſe Zeit ein akademiſcher Orden und der Revolutionsgeiſt in Mar - burg unter den Studirenden herrſchend waren, wodurch ihr ganzes Weſen mit ſolchen Grundſaͤtzen und Geſinnungen an - gefuͤllt wurde, die den Lehren, welche Stilling vortrug, ſchnur -487 gerade entgegen waren: daher nahm die Anzahl ſeiner Zuhoͤ - rer immer mehr und mehr ab, und der Geiſt der Zeit, die herrſchende Denkungsart und die allgemeine Richtung der deut - ſchen Kameral-Politik ließen ihm keinen Schimmer von Hoff - nung uͤbrig, daß er fernerhin durch ſeine ſtaatswirthſchaftli - chen Grundſaͤtze Nutzen ſtiften wuͤrde.
Jetzt bitte ich, nun einmal ruhig zu uͤberlegen, wie einem ehrlichen, gewiſſenhaften Mann in einer ſolchen Lage zu Muthe ſeyn muͤſſe! — und ob die ganze Stellung dieſes Schick - ſals Stillings blindes Ohngefaͤhr und Zufall ſeyn koͤnnte?
So hell und ſo klar jetzt das Alles war, ſo dunkel war der Weg zum Ziel: es ließ ſich damals durchaus kein Aus - weg denken, um dazu zu gelangen: denn ſeine Familie war zahlreich; ſein Sohn ſtudirte; der Krieg und noch andere Umſtaͤnde machten Alles ſehr theuer; der Huͤlfsbeduͤrftigen waren viel; ſeine ſtarke Beſoldung reichte kaum zu; es waren noch viele Schulden zu bezahlen; zwar hatte Eliſe, die red - lich und treu in Anſehung der Haushaltung in Selma’s Fußſtapfen trat, aller Krankheiten, ſchweren Ausgaben, und Hannchens Verheirathung ungeachtet, in den wenigen Jah - ren ſchon einige hundert Gulden abgetragen, auch wurden die Zinſen jaͤhrlich richtig bezahlt, aber in den gegenwaͤrtigen Um - ſtaͤnden war an eine merkliche Schuldentilgung nicht zu den - ken, folglich mußte Stilling um der Beſoldung willen ſein Lehramt behalten und mit aller Treue verſehen. Man denke ſich in ſeine Lage: zu dem Wirkungskreis, in welchem er mit dem groͤßten Segen und mit Freudigkeit haͤtte geſchaͤftig ſeyn koͤnnen und zu dem er von Jugend auf eine unuͤberwindliche Neigung gehabt hatte, zu dem Beruf zu gelangen, lagen un - uͤberſteigliche Hinderniſſe im Weg. Hingegen der Beruf, in welchem er ohne Segen und ohne Hoffnung arbeiten mußte, war ihm durchaus unentbehrlich. Hiezu kam dann noch der traurige Gedanke: was ſein Landesfuͤrſt ſagen wuͤrde, wenn er erfuͤhre, daß Stilling fuͤr die ſchwere Beſoldung ſo we - nig leiſtete, oder vielmehr leiſten koͤnnte?
Das Jahr 1794 ſtreute wieder viele Dornen auf Stillings Lebensweg; denn im Februar ſtarb Eliſens aͤlteſtes Toͤchter -32 *488chen, Lubeka, an den Folgen der Roͤtheln, und im Verfolg kamen noch bitterere Leiden hinzu.
Den folgenden Sommer im Julius ſchrieb ihm Lava - ter, daß er auf ſeiner Ruͤckreiſe von Kopenhagen durch Marburg kommen und ihn beſuchen wuͤrde; dieß erfuͤllte ihn mit wahrer Freude: er hatte dieſen Freund ſeines Her - zens gerade vor zwanzig Jahren in Elberfeld, und alſo in ſeinem Leben nur einmal geſehen, aber doch zu Zeiten ver - trauliche Briefe mit ihm gewechſelt. Es war ihm aͤußerſt wichtig, ſich mit dieſem merkwuͤrdigen Zeugen der Wahrheit einmal wieder muͤndlich zu unterhalten, und uͤber Vieles mit ihm auszure - den, das fuͤr Briefe zu beſchwerlich und zu weitlaͤufig iſt. La - vater kam mit ſeiner frommen, liebenswuͤrdigen Tochter, der jetzigen Frau Pfarrerin Geßner in Zuͤrich, an einem Sonn - tag Nachmittag in Marburg an. Stilling ging ihm ungefaͤhr eine Stunde weit entgegen. Lavater blieb da bis des andern Morgens fruͤh, wo er dann ſeine Reiſe fortſetzte.
Man wird ſich ſchwerlich aus der ganzen Geſchichte eines Gelehrten erinnern, der ſo viel Aufſehen erregte, und ſo weniges doch erregen wollte, als Lavater: als am Abend in Stil - lings Haus geſpeist wurde, ſo war der Platz vor dem Hauſe gedraͤngt voller Menſchen und auswaͤrts an den Fenſtern ein Kopf am andern. Er war aber auch in mancher Ruͤckſicht ein merkwuͤrdiger Mann, ein großer Zeuge der Wahrheit von Jeſu Chriſto. Zwiſchen Lavater und Stilling wurde nun das Bruderband noch enger geknuͤpft; ſie ſtaͤrkten ſich einer am andern, und beſchloßen, ſich weder durch Tod, noch durch Leben, weder durch Schmach, noch durch Schande, von dem jetzt ſo verachteten und gehaßten Chriſtus abwendig machen zu laſſen.
Bald nachher erfolgte dann das bittere Leiden, deſſen ich oben gedacht habe; es war eine heiße Pruͤfung: Stilling hatte den Gebrauch, daß er in den Pfingſtferien mit ſeinen Zuhoͤrern nach Caſſel ging, um ihnen auf Wilhelms - hoͤhe die auslaͤndiſchen Holzarten zu zeigen. Dieß geſchah vorzuͤglich um derer willen, die die Forſtwiſſenſchaft ſtudirten; indeſſen gingen auch viele Andere mit, um auch die uͤbrigen489 Merkwuͤrdigkeiten in Caſſel zu beſehen. Der Weg wurde gewoͤhnlich hin und her zu Fuß gemacht. Nun hatte Stil - ling auf dieſer Reiſe das Vergnuͤgen, daß der Kurfuͤrſt einen ſeiner Wuͤnſche erfuͤllte, naͤmlich eine beſondere Forſtſchule an - zulegen. Als er nun mit ſeinen Begleitern nach Hauſe reiste, und die Studenten unter ſich von dem Vergnuͤgen ſprachen, das ſie in Caſſel genoſſen haͤtten, und daß Alles ſo wohl gelungen waͤre, ſo fuͤgte Stilling hinzu, und ſagte: auch ich bin recht vergnuͤgt geweſen, denn ich habe auch einen Zweck erreicht, den ich zu erreichen wuͤnſchte — weiter erklaͤrte er ſich nicht; er hatte aber das Verſprechen des Kurfuͤrſten im Auge, ein Forſt-Inſtitut anlegen zu wollen.
Nun war zu der Zeit ein Privatlehrer in Marburg, ein rechtſchaffener und gelehrter junger Mann, den die Studenten ſehr lieb hatten; er war der Kantiſchen Philoſophie zugethan, und dieſe war zu der Zeit an der Tagesordnung; da nun der Kurfuͤrſt jener Philoſophie nicht recht guͤnſtig war, auch vielleicht ſonſt noch etwas Nachtheiliges von jenem Privatleh - rer gehoͤrt hatte, ſo ſchickte er ein Reſcript an den jungen Mann, vermoͤge welchem er als Profeſſor der Philoſophie mit hundert Thalern Beſoldung, nach Hanau verſetzt werden ſollte. — Dieſer mußte Folge leiſten, aber die Studenten wur - den wuͤthend, und ihr ganzer Verdacht fiel auf Stilling; denn man deutete jenen Ausdruck auf der Caſſeler Reiſe da - hin, daß er unter dem Wohlgelingen ſeines Wunſches des Privatlehrers Wegberufung im Sinn gehabt und dieſe Wegbe - rufung bewirkt haͤtte. Die Gaͤhrung ſtieg endlich aufs Hoͤch - ſte, und um zum Tumultuiren zu kommen, beſchloßen ſie, dem Privatlehrer, der nun auch zum Abzug bereit war, eine Muſik zu bringen, bei der Gelegenheit ſollte dann Stillings Haus geſtuͤrmt und die Fenſter eingeworfen werden. Sein guter Sohn Jakob erfuhr das Alles, er ſtudirte die Rechts - gelahrtheit, war ſehr ordentlich und fleißig und nahm an der - gleichen Unordnungen nie den geringſten Antheil. Der brave Juͤngling gerieth in die groͤßte Angſt, denn ſeine Mutter Eliſe, die er herzlich liebte, war wieder guter Hoffnung, und ſeine Tante Amalia Coing, Eliſens juͤngſte Schweſter, toͤdt -490 lich krank an der rothen Ruhr — er ſahe alſo die Lebensge - fahr dreier Menſchen vor Augen, denn der damalige Geiſt der Zeit, der mit dem Terrorismus in Frankreich zuſam - menhing, ſchnaubte Mord und Tod, und die Studenten lebten im revolutionaͤren Sinn und Taumel.
Jakob gab alſo ſeinen Eltern Nachricht von der Gefahr, die ihnen auf den Abend drohte, und bat, man moͤchte doch die Fenſter nach der Straße und nach dem Platz hin aushe - ben und die Amalia an einen andern Ort legen, denn ſie lag an den Fenſtern nach der Straße hin. Die Fenſter wur - den nun zwar nicht ausgehoben, aber die Kranke wurde hin - ten in einen Alkofen gebettet. Jakob aber ging bei den Studenten herum und legte ſich aufs Bitten; er ſtellte ihnen die Gefahren vor, die aus dem Schrecken entſtehen koͤnnten, allein das heißt tauben Ohren predigen; endlich, als er nicht nachlaſſen wollte, ſagte man ihm unter dem Beding zu, wenn er auch zum Orden uͤberginge und ſich aufnehmen laſſen wolle. Zwei bange Stunden kaͤmpfte der gute Juͤngling in der Wahl zwiſchen zweien Uebeln; endlich glaubte er doch, der Eintritt in den Orden ſey das Geringere; er ließ ſich al - ſo aufnehmen, das Ungluͤck wurde abgewendet und es blieb nun dabei, daß die Studenten im Zug bei Stillings Hauſe blos ausſpuckten — das konnten ſie nun thun, dazu war Raum genug auf der Gaſſe.
Stilling wußte kein Wort davon, daß ſich ſein Sohn in einen Studentenorden hatte aufnehmen laſſen, er erfuhr es erſt ein Jahr hernach, doch ſo, daß es ihm weder Schrecken noch Kummer verurſachte: Jakob hielt ſehr ernſtlich bei ſeinen Eltern an, man moͤchte ihn noch ein halb Jahr nach Goͤttingen ſchicken. Die wahre Urſache, warum? wußte nie - mand, er ſchuͤtzte vor, daß es ihm ſehr nuͤtzlich ſeyn wuͤrde, wenn er auch in Goͤttingen ſtudirt haͤtte. Kurz, er ließ nicht nach, bis ſeine Eltern endlich einwilligten, und ihn ein Winterhalb-Jahr nach Goͤttingen ſchickten; ſein geheimer Zweck aber war, dort wieder aus dem Orden zu gehen, und dieß dem dortigen Prorector anzuzeigen; in Marburg konnte er das nun nicht, wenn nicht der Laͤrm wieder von vorne ange -491 hen ſollte. Gerade zu der Zeit wurden nun auf dem Reichs - tag zu Regensburg alle akademiſchen Orden verboten, und die Univerſitaͤten begannen die Unterſuchungen; zum Gluͤck hatte nun Jakob ſchon vorher bei dem Prorector der Or - den abgeſagt und ſich daruͤber ein Zeugniß geben laſſen, und ſo entging er der Strafe. Den folgenden Sommer, als er nun wieder zu Marburg war, begann auch dort die Un - terſuchung — mit groͤßter Verwunderung, und ganz unerwar - tet, fand man auch ihn auf der Liſte. Jetzt trat er auf, und zeigte ſein Zeugniß vor; die Sache wurde zur Entſcheidung an den Kurfuͤrſten berichtet; Stilling ſchrieb Ihm die wahre Urſache, warum ſein Sohn in den Orden getreten ſey, der Kurfuͤrſt hatte Wohlgefallen an dieſer Handlung, und ſprach ihn von allen Strafen und jeder Verantwortung frei.
In dieſem Jahre entſtand auch ein neues Verhaͤltniß in Stillings Familie; Eliſens beide Schweſtern Maria und Amalia, zwei ſehr gute und liebenswuͤrdige Seelen, waren fuͤr Stilling ein wahres Geſchenk Gottes; in ih - rem Umgang war ihm, aber auch jedermann, der in dieſen haͤuslichen Zirkel kam, innig wohl. Die drei Schweſtern tru - gen den durch Leiden und Arbeit faſt zu Boden gedruͤckten Mann auf den Haͤnden.
Amalia hatte durch ihren vortrefflichen Charakter, durch ihre Schoͤnheit und Modonna-Geſicht, tiefen Eindruck auf Jakob gemacht. Der gute junge Mann ſtand Anfangs in den Gedanken, es ſey nicht erlaubt, ſeiner Stiefmutter Schwe - ſter zu heirathen, er kaͤmpfte alſo eine Zeitlang, und war im Zweifel, ob es nicht beſſer ſey, das elterliche Haus zu verlaſ - ſen? — Doch vertraute er ſich ſeinem Schwager Schwarz, der ihm Muth machte, und ihm rieth, ſein Verlangen den Eltern bekannt zu machen. Stilling und Eliſe fanden nichts dabei zu erinnern, ſondern ſie gaben beide ihren Segen und ihre Einwilligung zur Heirath, ſobald als Jakob eine Verſorgung haben wuͤrde; dieſe blieb aber ſieben Jahre aus. Waͤhrend dieſer Zeit war ihr beider Wandel wie ihr Charakter untadelhaft; doch um Laͤſterungen auszuweichen, uͤbernahm er nicht lange nachher die Fuͤhrung eines Cavaliers, der in Mar -492 burg die Rechte ſtudirte, zu dieſem zog er, und wohnte nicht eher wieder im elterlichen Hauſe, bis er Amalien heirathete.
In dieſem Herbſt berief auch der Kurfuͤrſt den jungen Coing zum Geſandtſchafts-Prediger nach Regensburg, wo er ei - nige Jahre mit ausgezeichnetem Beifall dies Amt verwaltete.
In dieſer Verfaſſung geſchah der Uebergang ins 1795ſte Jahr; den 4ten Januar wurde Eliſe gluͤcklich von einem jungen Sohn entbunden, der den Namen Friedrich bekam, und noch lebt. Vierzehn Tage nachher bekam Stilling an einem Sonntag Nachmittag die traurige Nachricht, daß ſein vieljaͤhriger vertrauter Freund, und nunmehriger Oheim Kraft, ploͤtzlich in die ſelige Ewigkeit uͤbergegangen ſey. Stilling weinte uͤberlaut, es war aber auch ein Verluſt, der ſchwer wieder erſetzt werden konnte.
Die Todesart dieſes vortrefflichen Mannes und beruͤhmten Predigers war auffallend ſchoͤn: er ſaß mit ſeiner guten Gat - tin, einer Tochter und einem oder zweien guten Freunden des Abends am Tiſch, alle waren heiter und Kraft beſonders munter. Seiner Gewohnheit nach betete er laut am Tiſch, das geſchah alſo auch jetzt; nach geendigter Mahlzeit ſtand er auf, richtete ſeinen Blick empor, fing an zu beten, und in dem Augenblick nahm der Herr ſeinen Geiſt auf, er ſank nie - der und war auf der Stelle todt.
Kraft war ein gelehrter Theologe und großer Bibelfor - ſcher; ohne beſondere Rednergaben, ein beruͤhmter hinreißender Kanzelredner; in jeder Predigt lernte man etwas. Er ſpannte immer die Aufmerkſamkeit, und ruͤhrte die Herzen unwiderſteh - lich. Ich war einſtmals in der Kirche zu Frankfurt, ein preußiſcher Offizier kam und ſetzte ſich neben mich: ich ſah ihm an, daß er blos da war, um doch auch einmal in die Kirche zu gehen. Der Kirchendiener kam, und legte jedem von uns ein Geſangbuch mit dem aufgeſchlagenen Liede vor; mein Offizier guckte kaltbluͤtig hinein, und ließ es dann gut ſeyn; mich ſah er gar nicht an; das ſtand aber auch in ſei -493 nem freien Belieben; endlich trat Kraft auf die Kanzel — der Offizier ſah hinauf, ſo wie man eben ſieht, wenn man nicht weiß, ob man geſehen hat. Kraft betete — der Offi - zier ſah ein paarmal hinauf, ließ es aber doch dabei bewen - den. Kraft predigte, aber nun wurde endlich der Kopf des Offiziers beweglich, ſeine Augen waren ſtarr auf den Prediger gerichtet, und der Mund war weit offen, um Alles zu ver - ſchlingen, was Kraft aus dem guten Schatz ſeines Herzens vorbrachte; ſo wie er Amen ſagte, wandte ſich der Offizier zu mir und ſagte: So habe ich in meinem Leben nicht Pre - gen hoͤren!
Kraft war ein mit Weisheit begabter Mann, und in al - len ſeinen Handlungen konſequent — er war ein unausſprech - licher warmer Liebhaber des Erloͤſers, und auch ein eben ſo treuer Nachfolger deſſelben. Er war unbeſchreiblich wohlthaͤ - tig und darin war dann auch ſeine fromme Gattin ſeine treue Gehuͤlfin; wenn es darauf ankam, und wohl angewendet war, ſo konnte er mit Freuden hundert Gulden hingeben, und das auf eine ſo angenehme Art, daß es heraus kam, als ob man ihm den groͤßten Gefallen erzeigte, wenn man’s ihm abnaͤhme. In ſeinen Studenten-Jahren ſprach ihn ein armer Mann um ein Almoſen an, er hatte kein Geld bei ſich, flugs nahm er ſeine ſilberne Schnallen von den Schuhen, und gab ſie dem Armen. Ohnerachtet er ſehr orthodox war, ſo war er doch der toleranteſte Mann von der Welt, hoͤflich und gaſtfrei im hoͤchſten Grade.
In Geſellſchaften war Kraft munter, angenehm, ſcherzhaft und witzig; als er im Jahr 1792 auf Oſtern Stilling beſuchte, und dieſer an einem Abend eine Geſellſchaft guter Freunde zum Eſſen gebeten hatte, ſo gerieth das Geſpraͤch auf die Rentkammern der deutſchen Fuͤrſten, und auf die verderb - lichen Grundſaͤtze, welche hin und wieder zum groͤßten Nach - theil der Regenten und ihrer Unterthanen, darin herrſchend wuͤrden; endlich fing Kraft, der bisher geſchwiegen hatte, mit ſeinem gewoͤhnlichen Pathos an, und ſagte: Wenn ſie auch ſagen werden, Chriſtus ſey in der Kam - mer, ſo ſollt ihr ihnen nicht glauben.
494Selig biſt du theurer Gottesmann! die Erinnerung an Dein fruͤhes Wiederſehn im Reiche Gottes, iſt deinem Freund Stilling ein Labetrank auf ſeinem leidensvollen Pilgerwege.
Krafts Stelle wurde mit dem chriſtlichen Prediger Paſ - ſavant aus Detmold, Stillings vertrauten Freund, wie - der beſetzt. Er hinterließ nebſt ſeiner bis in den Staub ge - beugten Gattin, drei Toͤchter; die aͤlteſte war ſchon einige Jahre vorher an ſeinen Kollegen, den rechtſchaffenen Prediger Hausknecht, verheirathet worden; dieſer iſt ebenfalls ein aͤcht chriſtlicher evangeliſch geſinnter Mann, und Stillings vertrauter Freund, ſein Haus hat ihm das Kraftiſche er - ſetzt. Die zweite Tochter heirathete einen exemplariſch from - men Prediger, Namens Eiſentraͤger aus Bremen, der nach Worms berufen wurde, aber bald ſeinem Schwieger - vater nachfolgte; die dritte Tochter heirathete nach beider El - tern Tod einen jungen und chriſtlichgeſinnten Rechtsgelehrten, Namens Burckhardt, welcher jetzt fuͤrſtlich Oranien-Naſ - ſauiſcher Regierungsrath in Dillenburg iſt. Dann hatte ſich auch der Mutter Coing und der Frau Pfarrerin Kraft juͤngſte Schweſter, die Jungfer Duiſing, eine Zeitlang im Kraftiſchen Hauſe aufgehalten; dieſe beiden Schweſtern, die juͤngſte Kraftiſche Tochter, und dann eine alte treue und fromme Hausmagd Catharina machten jetzt noch die Hausgeſellſchaft aus. Da aber nun die gute Wittwe in Frankfurt keine bleibende Staͤtte mehr fand und ſich nach ihrer Vaterſtadt Marburg und ihren Blutsverwandten ſehnte, ſo miethete ihr Stilling eine Wohnung, die ſie aber in einem Jahre wieder verließ, und mit Stilling und ſeiner Familie ins alte Familienhaus zog, wo ſie nun in chriſtlicher Liebe und Vertraulichkeit alle zuſammen lebten.
Stillings ſchwermuͤthige Seelenſtimmung und viele faſt unbezwingliche Geſchaͤfte, veranlaßten ihn und ſeine Eliſe, eine laͤndliche Wohnung zu Ockershauſen, einem Dorfe eine Viertelſtunde von Marburg, zu miethen und da den groͤß - ten Theil des Sommers zuzubringen, um von der freien und495 reinen Luft in der ſchoͤnen Natur mehr Staͤrkung, Erholung und Aufheiterung zu erhalten; auch Eliſe hatte dieſes alles noͤthig; denn durch ihr Halsziehen wurden auch die Bruſt - muskeln in ihrer freien Bewegung gehindert, dadurch bekam ſie ein bald ſtaͤrkeres, bald ſchwaͤcheres Druͤcken auf die Bruſt, welches ſie noch bis auf den heutigen Tag aͤngſtigt und zu Zeiten außerordentlich ſchwermuͤthig macht — auch ihr Weg iſt recht Stillings-artig, und dieß macht ihrem, ſie ſo zaͤrt - lich liebenden Mann oft ſeine Buͤrde ſchwerer.
Von nun an wohnte Stilling mit ſeiner Familie vier Jahre lang einen großen Theil des Fruͤhlings, Sommers und Herbſtes in Ockershauſen in einem ar〈…〉〈…〉 en Hauſe, an welchem ein ſchoͤner Obſtgarten nebſt einer Laube iſt, und aus welchem man eine ſchoͤne Ausſicht auf den Lahnberg hat. Seine Kollegien aber las er in der Stadt in ſeinem Hauſe.
An einem Morgen im Fruͤhjahr 1796 kam ein junger ſchoͤ - ner Mann in einem gruͤnen ſeidenpluͤſchenen Kleide, ſchoͤnen Stauchen und ſeidenen Regenſchirm nach Ockershauſen in Stillings Haus; dieſer Herr machte Stillingen ein Kompliment, das eine feine und ſehr vornehme Erziehung ver - rieth. Stilling erkundigte ſich, wer er ſey? — er erfuhr, daß es der merkwuͤrdige ..... war; Stilling wunderte ſich uͤber den Beſuch, und ſeine Verwunderung ſtieg durch die Er - wartung, was dieſer aͤußerſt raͤthſelhafte Mann vorzubringen haben moͤchte. Nachdem ſich Beide geſetzt hatten, fing der Fremde damit an, daß er Stillingen wegen eines Augen - kranken conſulirte; indeſſen ſein Anliegen druͤckte ihn ſo, daß er bald zu weinen anfing, Stillingen bald die Hand und bald den Arm kuͤßte und dann ſagte: Herr Hofrath! nicht wahr, Sie haben das Heimweh geſchrieben? „ Ja! mein Herr ....! “
Er. So ſind Sie einer meiner geheimen Obern (er kuͤßte Stilling wieder die Hand und den Arm und weinte faſt laut).
Still. Nein! lieber Herr ....! ich bin weder Ihr noch irgend eines Menſchen geheimer Oberer — ich bin durchaus in keiner Verbindung.
Der Fremde ſah Stilling ſtarr und mit inniger Bewe -496 gung an und erwiederte: Liebſter Herr Hofrath! hoͤren Sie auf, ſich zu verbergen, ich bin lang und hart genug gepruͤft worden, ich daͤchte doch, Sie kennten mich ſchon!
Still. Liebſter Herr ....! ich bezeuge Ihnen bei dem le - bendigen Gott, daß ich in keiner geheimen Verbindung ſtehe und wahrlich nichts von dem Allem begreife, was Sie von mir erwarten.
Dieſe Aeußerung war zu ſtark und zu ernſtlich, als daß ſie den Fremden haͤtte in Ungewißheit laſſen koͤnnen; jetzt war nun die Reihe an ihm, zu ſtaunen und ſich zu verwundern, er fuhr alſo fort: Aber ſo ſagen Sie mir doch, woher wiſſen Sie denn etwas von der großen und ehrwuͤrdigen Verbindung im Orient, die ſie im Heimweh ſo umſtaͤndlich beſchrieben, und ſogar ihre Verſammlungshaͤuſer in Egypten, auf dem Berge Sinai, im Kloſter Canobin und unter dem Tem - pel zu Jeruſalem genau beſtimmt haben?
Still. Von dem allem weiß ich ganz und gar nichts, ſondern dieſe Ideen und Vorſtellungen kamen mir ſehr lebhaft in die Imagination. Es iſt alſo blos Fiction, pure Erdichtung.
Er. Verzeihen Sie! — die Sache verhaͤlt ſich in der That und Wahrheit ſo — es iſt unbegreiflich — erſtaunlich, daß ſie das ſo getroffen haben. Nein! — das kommt nicht von ungefaͤhr! —
Jetzt erzaͤhlte nun dieſer Herr die wahren Umſtaͤnde von der Verbindung im Orient. Stilling ſtaunte und wun - derte ſich aus der Maßen, denn er hoͤrte merkwuͤrdige und außerordentliche Dinge, die aber nicht von der Art ſind, daß ſie oͤffentlich bekannt gemacht werden duͤrfen; nur ſo viel betheure ich bei der hoͤchſten Wahrheit, daß das - jenige, was Stilling von dieſem Herrn erfuhr, nicht auf die entfernteſte Art Beziehung auf po - litiſche Verhaͤltniſſe hat.
Um die naͤmliche Zeit ſchrieb auch ein gewiſſer großer Fuͤrſt an ihn und fragte ihn: woher er doch Etwas von der Verbindung im Orient wiſſe? denn die Sache ver - halte ſich ſo, wie er ſie im Heimweh beſchrieben497 habe. Die Antwort fiel natuͤrlich ſchriftlich ſo aus, wie er ſie obigem Fremden muͤndlich gegeben hatte.
Stilling hat mehrere ſolche Erfahrungen, wo ſeine Ima - gination der wahren Thatſache, ohne vorher das Gegentheil davon gewußt, oder auch nur geahnt zu haben, ganz gemaͤß war; im Verfolg werden noch zwei Faͤlle von der Art vor - kommen. Wie das nun iſt, und Was es iſt, das weiß Gott! — Stilling macht keine Reflexionen daruͤber, ſon - dern er laͤßt es auf ſeinem Werth beruhen, und ſieht es als Direktion der Vorſehung an, die ihn auf eine ausgezeichnete Art fuͤhren will.
Die Eroͤffnung von dem orientaliſchen Geheimniß iſt aber immer eine hoͤchſtwichtige Sache fuͤr ihn, weil ſie Bezug auf das Reich Gottes hat. Indeſſen iſt doch auch da noch Vie - les im Dunkeln: denn Stilling erfuhr hernach von einem andern ſehr wichtigen Manne auch Etwas von einer orienta - liſchen Verbindung, die aber von einer ganz andern Art, und ebenfalls nicht von politiſcher Beziehung iſt. Ob nun Beide ganz von einander verſchieden ſind, oder mit einander mehr oder weniger in Relation ſtehen, das muß ſich noch ent - wickeln.
Hierzu kamen noch andere außerordentliche merkwuͤrdige Entdeckungen: Stilling erhielt von den verſchiedenen Orten her Nachrichten von den Erſcheinungen aus dem Geiſterreich; vom Wiederkommen laͤngſt und vor Kurzem verſtorbener Per - ſonen hohen und niedern Standes; von merkwuͤrdigen Ahnun - gen, u. ſ. w., lauter Entdeckungen, deren Wahrheit apodictiſch bewieſen iſt. Schade, daß keine einzige von der Art iſt, daß ſie bekannt gemacht werden darf! — aber das iſt bei ſolchen Sachen gewoͤhnlich der Fall — es heißt auch da: ſie haben Moſen und die Propheten — und wir noch dazu Chriſtum und die Apoſtel; wir ſind nicht auf außer - ordentliche Erkenntnißquellen angewieſen. Stillings Begriffe vom Hades, von der Geiſterwelt, vom Zuſtand der Seele nach dem Tode, ſind naͤchſt denen, in der heil. Schrift zum Nachdenken hingeworfenen Winken, aus dieſen Quellen ge - ſchoͤpft, indeſſen ſind das keine Glaubensartikel, Jeder mag498 davon halten, was er will: nur daß er ſie nicht verurtheile; denn dadurch wuͤrde er ſich zugleich ſelbſt verurtheilen.
Das Jahr 1796 war fuͤr ganz Nieder-Deutſchland ein Jahr des Schreckens und des Jammers, der Uebergang der Franzoſen auf das rechte Rheinufer, ihr Zug nach Fran - ken, und dann ihr Ruͤckzug erfuͤllten die ganze Gegend mit namenloſem Elend; und da Heſſen Frieden hatte, ſo fluͤch - tete Alles in die Marburger Gegend; als man einmal von Obrigkeits wegen die fremden Fluͤchtlinge, die ſich daſelbſt auf - hielten, zaͤhlte, ſo fand man ihrer in Marburg und den umliegenden Ortſchaften fuͤnf und vierzig tauſend. Es war erbaͤrmlich anzuſehen, wie Menſchen aus allen Staͤnden in unabſehbaren Reihen, in Kutſchen, auf Leiterwagen, auf Karren von Ochſen, Pferden, Kuͤhen und Eſeln gezogen, mit reichem oder aͤrmlichem Gepaͤcke, zu Fuß, zu Pferd, zu Eſeln, barfuß, oder beſchuht, oder geſtiefelt, Elend und Jammer im Geſicht, die Straßen erfuͤllten, und mit lautem Dank den Fuͤrſten ſegneten, der Friede gemacht hatte.
Stillings Gemuͤth wurde durch dies Alles und dann noch durch den herrſchenden Geiſt der Zeit, der Allem, was heilig iſt, Hohn ſpricht, unbeſchreiblich gedruͤckt, und ſeine Sehnſucht fuͤr den Herrn zu wirken vermehrt. Dies Alles hatte ihn ſchon im Jahr 1795 bewogen, eine Zeitſchrift unter dem Namen: der graue Mann, herauszugeben, welche ganz unerwartet großen Beifall fand, deßwegen ſie noch im - mer fortgeſetzt wird. Man liest ſie nicht nur in allen Pro - vinzen Deutſchlands haͤufig, ſondern ſo wie das Heim - weh in allen Welttheilen. Ich ſelbſt habe Amerikaniſche deutſche Zeitungen geſehen, in welchem der graue Mann ſtuͤck - weiſe, unter verſprochener Fortſetzung, eingeruͤckt war.
Unter den vielen Fluͤchtlingen wurden Stilling und ſei - ner Familie zwei ſehr verehrungswuͤrdige Perſonen beſonders wichtig: der Prinz Friedrich von Anhalt-Bernburg - Schaumburg, ein wahrer Chriſt im reinen Sinn des Worts, miethete ſich in Marburg ein Haus; dann wohnte bei ihm499 ſeine naͤchſte Blutsverwandtin, die Graͤfin Louiſe von Witt - genſtein-Berlenburg zum Carlsberg. Beide Muͤt - ter waren leibliche Schweſtern, naͤmlich Graͤfinnen Henckel von Donnersmark, und wahre Chriſtinnen geweſen, die ihre Kinder vortrefflich und gottesfuͤrchtig erzogen hatten. Dieſe beiden, in jedem Betracht edle Menſchen, wuͤrdigten Stil - ling und Eliſe ihres vertrauten Umgangs, und ſie waren Beiden in ihrer Familie, die Zeit ihres fuͤnfjaͤhrigen Aufent - halts in Marburg in jeder Lage, und in jedem Betracht Engel des Troſtes und der Huͤlfe. Dieſer liebe Prinz und die huldvolle Graͤfin wohnten da vom Sommer 1796 bis in den Herbſt 1801.
Zu gleicher Zeit kam Stilling auch mit zwei abweſenden Fuͤrſten in nähere Verhaͤltniſſe: der allgemein anerkannt vor - treffliche und chriſtliche Kurfuͤrſt von Baden, ſchrieb zu Zei - ten an ihn, und der Prinz Karl von Heſſen, ein wahrer und ſehr erleuchteter Chriſt, trat mit ihm in eine ordentliche Korreſpondenz, die noch fortdauert.
Nun iſt es auch einmal Zeit, daß ich wieder an Vater Wilhelm Stilling gedenke und den Reſt ſeiner Lebensge - ſchichte dieſer mit einverleibe: ſeine zweite Heirath war nicht geſegnet geweſen, alles Ringens, Arbeitens und Sparens un - geachtet war er immer weiter zuruͤckgekommen und in Schul - den verſunken, und ſeine vier Kinder zweiter Ehe, drei Toͤch - ter und ein Sohn, alle grundbrave und ehrliche Leute, wur - den alle arm und ungluͤcklich. Der alte Patriarch ſahe ſie alle um ſich her — er ſah ihren Jammer, ohne ihnen helfen zu koͤnnen. Stilling lebte indeſſen entfernt und wußte von dem allem wenig; daß es aber ſeinem Vater ſo gar uͤbel ginge, davon wußte er ganz und gar nichts; Wilhelm hatte auch mehr als eine gegruͤndete Urſache, ſeinem Sohn ſeine wahre Lage zu verhehlen, denn er hatte ſich ehemals ſehr oft gegen ihn geaͤußert: dafuͤr, daß er ſich von einem Kinde unterſtuͤtzen ließe, wolle er lieber trocken Brod eſſen; — beſonders aber mochte ihm folgender Ge -500 danke wohl ſchwer auf dem Herzen liegen: er hatte auch ſeinem Sohn in ſeinem Elend oft die bitterſten Vorwuͤrfe uͤber ſeinen Zuſtand gemacht und ihm geſagt, er ſey ein verlorner Menſch, er tauge zu nichts, man werde nichts als Schimpf und Schande an ihm erleben, er werde ſein Brod noch betteln muͤſſen, u. ſ. w. Von dieſem Sohn ſich nun noch unter - ſtuͤtzen zu laſſen, oder ihm nach den Fingern ſehen zu muͤſſen, das mochte dem guten Alten bei ſeinem Ehrgefuͤhl wohl ſchwer fallen. Indeſſen erfuhr denn doch Stilling in Marburg nach und nach mehr von der wahren Lage ſeines Vaters, und ungeachtet er noch ſelbſt eine große Schuldenlaſt zu tilgen hatte, ſo glaubte er doch, er koͤnne ſich in dieſem Fall wohl uͤber die bekannte Regel: ſo lange man Schulden habe, duͤrfe man kein Geld zu andern Zwecken verwen - den, hinausſetzen; er beſchloß alſo, auf Ueberlegung mit Eliſe, woͤchentlich einen Thaler zur Unterſtuͤtzung des alten Vaters beizutragen, und auch zu Zeiten ſo viel Kaffee und Zucker hin - zuſchicken, als die beiden Alten (denn die Mutter lebte auch noch) brauchten. Eliſe ſchickte auch noch außerdem dann und wann, wie ſie ſichere Gelegenheit fand, eine Flaſche Wein zur Staͤrkung nach Leindorf.
Endlich ſtarb denn auch Wilhelm Stillings zweite Frau ploͤtzlich an einem Steckfluß, er uͤbertrug nun ſeiner juͤngſten Tochter, die einen Fuhrmann geheirathet hatte, die Haushaltung, und ging dann bei ihr an den Tiſch. Indeſſen wurde es dieſer armen Frau ſehr ſauer; ihr Mann war im - mer mit dem Pferde auf der Straße und zu arm; u[m]ſich fuͤr Geld Unterſtuͤtzung zu verſchaffen, mußte ſie vom Mor - gen bis auf den ſpaͤten Abend im Felde und im Garten ar - beiten; folglich fehlte es dem guten Alten gaͤnzlich an der ge - hoͤrigen Pflege. Eben ſo wenig konnten auch die andern Kinder etwas thun, denn ſie konnten ſich ſelbſt nicht retten, geſchweige noch Jemand an die Hand gehen; mit Einem Wort: das Elend war groß.
Wilhelm Stilling war damals in ſeinem achtzigſten Jahr und recht von Herzen geſund; aber ſeine ohnehin alten501 und gebrechlichen Fuͤße waren aufgebrochen und voller eitern - der und fauler Geſchwuͤre, und dann fingen auch ſeine Seelen - kraͤfte an zu ſchwinden, beſonders nahm ſein Gedaͤchtniß außer - ordentlich ab.
Endlich im Auguſt 1796 bekam Stilling einen Brief von einem Verwandten, der den frommen Alten beſucht und allen ſeinen Jammer geſehen hatte. Dieſer Brief enthielt die Schilderung des Elends und die Aufforderung an Stilling, er moͤchte ſeinen Vater zu ſich nehmen, ehe er im Leiden ver - ginge. Das hatte Stilling nicht gewußt. — Auf der Stelle ſchickte er hin und ließ ihn nach Marburg fahren. Als man ihm nun zu Ockershauſen anſagte, ſein Vater ſey in ſeinem Hauſe zu Marburg, ſo eilte er hin, um ihn zu be - willkommen. Aber, du großer Gott! welch ein Jammer! — ſo wie er ins Zimmer trat, kam ihm ein Peſthauch entgegen, wie er ihn noch nie in einem anatomiſchen Theater empfun - den hatte. Kaum konnte er ſich ihm nahen, um ihn zu kuͤſ - ſen und zu umarmen — das Elend war groͤßer, als ich es beſchreiben kann. Es war eine Wohlthat fuͤr den guten Va - ter, daß damals ſeine Verſtandeskraͤfte ſchon ſo abgenommen hatten, daß er ſein Elend nicht ſonderlich empfand. Einige Jahre fruͤher waͤre es ihm bei ſeinem Ehrgefuͤhl und gewohn - ten Reinlichkeit unertraͤglich geweſen.
Stillingen blutete das Herz bei ſeinem Anblick; aber Eliſe, die ſo oft gewuͤnſcht hatte, daß ihr doch das Gluͤck werden moͤchte, ihre Eltern in ihrem Alter zu pflegen, griff das Werk mit Freuden an; man hat von jeher ſo viel Ruͤh - mens von den Heiligen der katholiſchen Kirche gemacht, und ihnen das beſonders hoch angerechnet, daß ſie in den Hoſpi - taͤlern und Lazarethen die ſtinkenden Geſchwuͤre der armen Kranken verbunden hatten — hier geſchah mehr — weit mehr — Du willſt durchaus nicht, daß ich hier etwas zu deinem Ruhme ſagen ſoll, edles gutes Weib! — nun ich ſchweige — aber Vater Wilhelm, der nicht mehr ſo viel bei Verſtand war, daß er deine beiſpielloſe Kindesliebe erken - nen und dich dafuͤr ſegnen konnte, wird dir dereinſt in ver -Stillings ſämmtl. Schriften. I. Band. 33502klaͤrter Geſtalt entgegenkommen, du holde Kreuztraͤgerin! Stil - lings Leidens - und Lebensgefaͤhrtin! und den hier verſaͤum - ten Dank in vollem Maß einbringen. An ſeiner Hand ſchwebt Dortchen einher, um ihre Tochter Eliſe zu bewillkommen, Vater Eberhard Stilling laͤchelte dir Frieden zu, und Selma wird auch ihre Freundin umarmen und ſagen: Heil dir, daß du meinen Erwartungen ſo herrlich entſprochen haſt! — alle dieſe Verklaͤrten fuͤhren dich dann vor den Thron des Allerbarmers, er neigt den Scepter aller Welten gegen deine Stirne und ſagt: Was du dieſem meinem Knecht ge - than haſt, das haſt du mir gethan; gehe hin, du Buͤrgerin des neuen Jeruſalems, und genieße der Seligkeiten Fuͤlle!
Eliſe ſetzte dies ſchwere Liebesgeſchaͤft bis in den Oktober fort, dann kam ſie wieder in die Wochen mit einer Tochter, die noch lebt und Amalia heißt. Jetzt unterzog ſich Ama - lia Coing, die kuͤnftige Enkelſchwiegertochter Wilhelm Stillings, dieſer Pflege, dafuͤr wirds ihr auch wohlgehen, ihr Leben wird groß ſeyn in Zeit und Ewigkeit.
Das Ende dieſes 1796ſten Jahres war traurig: im Herbſt ſtarb ein Bruder der ſeligen Mutter Coing und der Tante Kraft, ledigen Standes, er war Advokat in Frankenberg und ſtarb ploͤtzlich an einem Schlagfluß. Ein anderer eben - falls lediger Bruder, der Amts-Actuarius in Dorheim in der Wetterau war, kam nun, ſeines Bruders Sachen in Frankenberg in Ordnung zu bringen, und ſtarb zehn Tage vor Weihnachten in Stillings Haus; durch alle dieſe Schlaͤge wurde die gute Wittwe Kraft, die auch im verfloſſenen Som - mer ihre Tochter Eiſentraͤger als Wittwe wieder bekommen hatte, ganz zu Boden gedruͤckt, auch ſie legte ſich und ſtarb am erſten Weihnachtsfeiertage ſanft und ſelig, ſo wie ihre Schweſter Coing. Jetzt waren nun noch die Jungfer Dui - ſing, die Wittwe Eiſentraͤger und die ledige Jungfer Kraft mit ihrer braven alten Katharine da; die Jungfer Kraft heirathete den folgenden Sommer den Herrn Burk - hardt in Dillenburg, die uͤbrigen drei Nachgelaſſenen aus dem ehrwuͤrdigen Zirkel des ſeligen Kraft leben nun jetzt noch503 im von Hamm’ſchen Familienhauſe in Marburg, welches der Tante Duiſing eigenthuͤmlich zugehoͤrt.
Der gute Schwarz hatte mit ſeinem Hannchen im 1796ſten Jahr etwas Rechts zu leiden gehabt: er hatte ſein einſames Dexbach verlaſſen und eine Pfarrſtelle zu Echzell in der Wetterau angenommen, wo er nun allen Schrecken des Kriegs ausgeſetzt war. Hannchen war auch mit unter den fuͤnf und vierzig tauſend Fluͤchtenden, und ſie hielt ihr drittes Kindbett ruhig bei ihren Eltern zu Marburg und reiste dann wieder auf ihren Poſten.
Das Jahr 1797 war eben nicht merkwuͤrdig in Stillings Lebensgang, Alles ruͤckte ſo in der gewoͤhnten Sphaͤre fort, außer daß ſich Stillings innere Leiden eher vermehrten als verminderten — ihn druͤckte beſtaͤndig eine innige Wehmuth, eine unbeſchreibliche Freudenloſigkeit raubte ihm allen Genuß. Das Einzige, was ihn aufrecht hielt, war ſein haͤuslicher Zir - kel, in welchem es Jedem wohl wurde, der ſich darin befand. Eliſe und ihre beiden Schweſtern Maria und Amalia waren die Werkzeuge, die der Herr brauchte, um ſeinem Kreuz - traͤger das Tragen zu erleichtern, obgleich Eliſe ſelbſt unter ihrer Buͤrde beinahe erlag.
Von allem dem empfand Vater Wilhelm gar nichts, er war Kind und wurde es immer mehr, und damit es ihm an keiner Aufwartung fehlen moͤchte, ſo ließ Stilling ſeiner aͤlteſten Schweſter Tochter Mariechen kommen, die dann ihre Pflicht am Großvater treulich ſo lang erfuͤllte, bis ihre Aufwartung ſich nicht mehr fuͤr ein junges Maͤdchen ſchickte und eine alte Wittwe angenommen wurde, die Tag und Nacht ſeiner wartete. Mariechens Charakter entwickelte ſich zu ihrem Vortheil, ſie genießt die Achtung und Liebe aller guten Menſchen, und ſie wird von Stilling und Eliſe als Kind geliebt. Mit Vater Wilhelm kam es nach und nach ſo weit, daß er Niemand, und am Ende ſogar ſeinen Sohn nicht mehr kannte; von ſeiner zweiten Heirath und Kinder wußte er faſt gar nichts mehr, aber von ſeiner Heirath mit Dortchen und von ſeinen Jugendjahren ſprach er zuweilen in einzelnen Ideen. Sobald man aber vom Chriſtenthum zu reden anfing, ſo kam33 *504ihm ſein Geiſt wieder, dann ſprach er zuſammenhaͤngend und vernuͤnftig; und als dieß auch aufhoͤrte, ſo hing doch ſeine Vorſtellungskraft noch an ein paar Bibelſpruͤchen von der Vergebung der Suͤnden durch das Leiden und Sterben Chriſti, die er unzaͤhligemal mit vielen Thraͤnen und Haͤnderingen wiederholte und ſich damit in ſeinem Leiden troͤſtete. Aus dieſem Beiſpiel kann man lernen, wie wichtig es ſey, wenn man den Kindern fruͤhzeitig das Gedaͤchtniß mit erbaulichen Spruͤchen aus der Bibel und Liederverſen anfuͤllt. Die erſten Eindruͤcke im Gedaͤchhniß des Kindes ſind unausloͤſchbar. In der Jugend helfen ihnen ſolche Spruͤche und Verſe wenig; aber wenn ſie im hohen Alter Wilhelm Stillings Wuͤſte durchpilgern muͤſſen, wo ſie einſam, von aller Empfindung des geſellſchaftlichen Lebens und ihres eigenen[Bewußtſeyns] entbloͤßt, nur noch einen kleinen Schimmer der Vernunft zum Fuͤhrer haben, da wo ſie ihren ganzen Lebensgang vergeſſen haben, da ſind ſolche Spruͤche und Verſe Himmelsbrod, das zum Uebergang uͤber den ſchauerlichen Strom des Todes ſtaͤrkt.
Uebrigens ſind ſie in Kreuz und Truͤbfal, in Noth und Tod herrliche Staͤrkungs - und Troͤſtungsmittel.
In den Pfingſtferien dieſes 1797ſten Jahres erfuhren Stil - ling und Eliſe wieder eine merkwuͤrdige Probe der goͤttli - chen Vorſorge: er hatte allerdings einen anſehnlichen Gehalt, aber auch eben ſo anſehnliche und nothwendige Ausgaben, denn es war zu der Zeit in Marburg alles theuer; nun wird ſich jeder Hausvater ſolcher Zeitpunkte erinnern, wo gerade vie - lerlei Umſtaͤnde zuſammentrafen, die vereinigt eine Preſſe von Geldnoth verurſachten, aus der man ſich nicht zu retten wußte und wo man auch nicht in der Lage war, Schulden machen zu koͤnnen oder zu duͤrfen. Ungefaͤhr in dieſer Lage befand ſich Stilling, oder vielmehr Eliſe, als welche in Sel - ma’s Fußſtapfen getreten war und die Haushaltungsſorge nebſt der Verwaltung der Kaſſe ganz allein uͤbernommen hatte. Nun hatte aber eine ſehr wuͤrdige und anſehnliche Dame in der Schweiz einige Zeit vorher an Stilling geſchrieben und ihn wegen der Blindheit ihres Mannes zu Rath gezogen. Gerade jetzt in der Preſſe, als Stilling mit den Studen -505 ten in Caſſel war und ſeine gewoͤhnliche Pfingſtreiſe mit ih - nen machte, bekam er einen Brief von dieſer Dame mit einem Wechſel von dreihundert Gulden, wobei ſie ſchrieb: Stilling moͤchte ja nie an eine Vergeltung oder dafuͤr zu leiſtenden Dienſt denken; ſie fuͤhle ſich gedrungen, dieſe Kleinigkeit zu ſchicken, und baͤte nun ferner, der Sache nicht mehr zu ge - denken. So wurde der Druck auf einmal gehoben, aber auch Eliſens Glauben ſehr geſtaͤrkt.
Zu den wichtigſten Stillings-Freunden und Freundinnen geſellt ſich in dieſem Jahre noch eine ſehr verehrungswuͤrdige Perſon: die Graͤfin Chriſtine von Waldeck, Wittwe des Grafen Joſias zu Waldeck-Bergheim und geborne Graͤfin von Iſenburg-Buͤdingen; dieſe beſchloß, ihre zwei juͤngern Soͤhne nach Marburg zu ſchicken und ſie dort ſtudiren zu laſſen. Endlich entſchloß ſie ſich ſelbſt, mit ihrer liebenswuͤrdigen Toch - ter, der Comteſſe Karoline, ſo lang nach Marburg zu ziehen, als ihr Sohn dort ſtudiren wuͤrde. Was dieſe chriſt - liche Dame Stillingen und Eliſen geweſen iſt, wie man - nigfaltig ihr zur Menſchenliebe geſchaffenes Herz auf Rath und That bedacht war, das laͤßt ſich nicht beſchreiben. Sie ſchloß ſich ſo ganz an den Prinzen Friedrich von Anhalt und die Graͤfin Louiſe an; allen Dreien durften Stilling und Eliſe alle ihre Leiden klagen und uͤber alle ihre Anlie - gen vertraulich mit ihnen ausreden.
Das Jahr 1798 iſt in Stillings Geſchichte deßwegen merkwuͤrdig, weil er in demſelben die Siegsgeſchichte der chriſtlichen Religion in einer gemeinnuͤtzigen Er - klaͤrung der Offenbarung Johannis ſchrieb und dann mit ſeiner Eliſe die erſte bedeutende Reiſe machte.
Mit der Siegsgeſchichte hatte es folgende Bewandtniß: die wichtigen Folgen, welche die franzoͤſiſche Revolution hatte, und die Ereigniſſe, welche hin und wieder zum Vorſchein ka - men, machten allenthalben auf die wahren Verehrer des Herrn, die auf die Zeichen der Zeit merkten, einen tiefen Eindruck. Verſchiedene fingen nun an, gewiſſe Stuͤcke aus der Offen - barung Johannis auf dieſe Zeiten anzuwenden, ohne auf den ganzen Zuſammenhang der Weiſſagung, und ihren Geiſt506 in der Bibel uͤberhaupt, Ruͤckſicht zu nehmen. Sehr verſtaͤn - dige Maͤnner hielten ſchon die franzoͤſiſche Kokarde fuͤr das Zeichen des Thiers, und glaubten alſo, das Thier aus dem Abgrund ſey ſchon aufgeſtiegen und der Menſch der Suͤnden wirklich da. Dieſe ziemlich allgemeine Senſation unter den wahren Chriſten kam Stilling bedenklich vor und er war Willens, im grauen Manne davor zu warnen.
Auf der andern Seite war es ihm doch auch aͤußerſt wich - tig, daß der bekannte fromme und gelehrte Praͤlat Bengel ſchon vor fuͤnfzig Jahren in ſeiner Erklaͤrung der Apocalypſe beſtimmt vorausgeſagt hatte, daß in dem letzten Jahrzehent des achtzehnten Jahrhunderts der große Kampf anfangen und der roͤmiſche Stuhl geſtuͤrzt werden ſollte. Dieſes hatte nun ein Ungenannter in Karlsruhe in einer naͤhern und beſtimm - ten Erlaͤuterung des Bengel’ſchen apocalyptiſchen Rech - nungsſyſtems noch genauer ausfindig gemacht und ſogar die Jahre aus dem neunziger Jahrzehent feſtgeſetzt, in welchen Rom geſtuͤrzt werden ſollte, und dieß achtzehn Jahre vorher, ehe es wirklich eintraf. Dieß Alles machte Stilling auf - merkſam auf Bengels Schriften, und beſonders auf das ſo eben beruͤhrte Buch des Karlsruher ungenannten Verfaſſers.
Hier kamen nun noch zwei Umſtaͤnde, die auf Stillings Gemuͤth wirkten, und es zu einer ſo wichtigen Arbeit vorbe - reiteten: Das Heimweh hatte auf verſchiedene Mitglieder der Herrnhuter Bruͤdergemeine tiefen und wohlthaͤtigen Eindruck gemacht; er wurde in dieſer Gemeine bekannter, man fing an, ſeine Lebensgeſchichte allgemeiner zu leſen, und auch ſeine uͤbrigen Schriften, beſonders der graue Mann, wurde durchgehends als erbaulich anerkannt. Er wurde von durch - reiſenden Bruͤdern beſucht, auch er las viele ihrer Schriften, mit einem Wort: die Bruͤdergemeine wurde ihm immer ehr - wuͤrdiger, beſonders auch dadurch, daß er in ihren Schriften uͤberhaupt, und vorzuͤglich in ihren Gemein - und Miſſions - Nachrichten, auch Prediger-Konferenz-Protokollen, die man ihm mittheilte, einen ungemein raſchen Fortſchritt in der Ver - vollkommnung der Lehre und des Lebens bemerkte, und daß alle ihre Anſtalten von der Vorſehung ganz ausgezeichnet ge -507 leitet und mit Segen begleitet wurden, und was vollends eine naͤhere Vereinigung bewirkte, das war ein Briefwechſel mit einem wuͤrdigen und lieben Prediger aus der Bruͤderge - meine, dem Bruder Erxleben, der damals in Bremen, und hernach zu Norden in Oſtfriesland das Lehramt verwaltete, gegenwaͤrtig aber Ehechorhelfer in Herrnhut iſt. Die Korreſpondenz mit dieſem lieben Mann dauert noch fort, und wird wohl nicht eher aufhoͤren, bis Einer von Beiden zur oberen Gemeine abgerufen wird.
Stilling entdeckte alſo in dieſer Gemeine eine wichtige Anſtalt zur vorbereitenden Gruͤndung des Reichs Gottes; ſie ſchien ihm ein Seminarium deſſelben zu ſeyn, und dieſe Idee gab ihm einen wichtigen Aufſchluß uͤber eine Haupt-Hiero - glyphe der Apocalypſe.
Der zweite Umſtand, der Stilling zu einer ſo wichtigen und kuͤhnen Arbeit vorbereitete, war die große und ganz un - erwartete Entdeckung in England, welche die merkwuͤrdige neue und große Miſſions-Anſtalt zur Folge hatte. Dieſe Sache war ſo auffallend und der Zeitpunkt ihres Entſtehens ſo merk - wuͤrdig, daß kein wahrer Chriſtus-Verehrer gleichgiltig bleiben konnte. In Stillings Gemuͤth aber beſtaͤrkt ſie die Idee, daß auch dieſe Anſtalt ein Beweis von der ſchleunigen Annaͤhe - rung des Reichs Gottes ſey; und allenthalben blickte der wahre Chriſt nach dem großen goldnen Uhrzeiger an des Tem - pels Zinnen, und wer bloͤde Augen hatte, der fragte den Schaͤrferſehenden: wie viel Uhr es ſey? —
Ungeachtet aber, daß dieß Alles in Stillings Seele vorging, ſo kam ihm doch kein Gedanke in den Sinn, ſich an die heilige Hieroglyphe der Apocalypſe zu wagen, ſondern vielmehr im grauen Mann jeden fuͤr dieſes Wageſtuͤck zu warnen, weil ſo viele daruͤber zu Schanden geworden waren. Allein ſo wie das Unerwartete in Stillings Fuͤhrung al - lenthalben Thema und Maxime der Vorſehung iſt, ſo ging es auch in dieſem Fall:
An einem Sonntag Morgen, im Maͤrz des 1798ſten Jahrs, beſchloß Stilling, nicht in die Kirche zu gehen, ſondern am grauen Mann zu arbeiten, und beſonders darinnen etwas Nuͤtz -508 liches uͤber die Offenbarung Johannis dem chriſtli - lichen Leſen mitzutheilen; um ſich nun in dieſer wichtigen und ſchweren Materie in Etwas zu orientiren, ſo nahm er die vorhin bemerkte Karlsruher Erlaͤuterung zur Hand, ſetzte ſich damit an ſeinen Pult, und fing an zu leſen. Ploͤtz - lich und ganz unerwartet durchdrang ihn eine ſanfte und innige ſehr wohlthaͤtige Ruͤhrung, die in ihm den Entſchluß erzeugte, die ganze Apocalypſe aus dem griechiſchen Grundtext zu uͤber - ſetzen, ſie Vers fuͤr Vers zu erklaͤren, und das Bengel’ſche Rechnungs-Syſtem beizubehalten, weil es bis dahin anwend - bar geweſen, und beſonders in dieſen Zeiten ſo merkwuͤrdig eingetroffen waͤre. Er begab ſich alſo auf der Stelle an dieſe Arbeit und hoffte, der Geiſt des Herrn wuͤrde ihn bei allen dunkeln Stellen erleuchten und in alle Wahrheit fuͤhren. Stil - lings Siegsgeſchichte der chriſtlichen Religion iſt alſo kein vorher durchdachtes ausſtudirtes Werk, ſondern ſie wurde ſo ſtuͤckweiſe in den Nebenſtunden unter Gebet und Flehen um Licht und Gnade niedergeſchrieben und dann ohne weiters an Freund Raw nach Nuͤrnberg zur Buchdrucker - preſſe geſchickt. Sobald Stilling nur die Zeit dazu findet, ſo wird er in Nachtraͤgen zur Siegsgeſchichte noch Manches naͤher beſtimmen, berichtigen und erlaͤutern.
Wer nicht vorſaͤtzlich und boshafter Weiſe alles uͤbel aus - legen und zu Bolzen drehen will, ſondern nur ehrlich und billig denkt, der wird Stilling nicht beſchuldigen, daß er bei ſeinen Leſern die Idee erregen wolle, er ſchreibe aus goͤtt - licher Inſpiration; ſondern mein Zweck iſt, ſie zu uͤberzeugen, daß ſeine Schriften — ſie moͤgen mehr oder weniger mangel - haft ſeyn — doch unter der beſondern Leitung der Vorſehung ſtehen — dafuͤr iſt ihm ſeine ganze Fuͤhrung, und dann auch der ungemeine, unerwartete Segen, der auf ſeinen Schriften ruht, Buͤrge. Dieß war auch wieder bei der Siegsgeſchichte der Fall: denn kaum war ein Jahr verfloſſen, ſo wurde ſie ſchon zum zweitenmal aufgelegt.
Dieſen ganzen Sommer durch war Stillings Schwer - muth auf den hoͤchſten Grad geſtiegen — er dachte manch - mal uͤber dieſen Zuſtand nach, und brauchte ſeine ganze medi -509 ziniſche Vernunft, um in dieſer Sache auf den Grund zu kommen, aber er fand keinen. Hypochondrie war es nicht, wenigſtens nicht die gewoͤhnliche, ſondern es war eigentlich Freudenleerheit, auf welche auch der reinſte ſinnliche Ge - nuß keinen Eindruck machte; die ganze Welt wurde ihm fremd, ſo, als ob ſie ihn nichts anginge, Alles was andern, auch guten Menſchen, Vergnuͤgen machte, war ihm ganz gleichguͤl - tig — Nichts! — ganz und gar Nichts! — als ſein großer Geſichtspunkt, der ihm aber Theils dunkel, Theils ganz un - erreichbar ſchien, fuͤllte ſeine ganze Seele aus, auf den ſtarrte er hin, ſonſt auf Nichts. Seine ganze Seele, Herz und Ver - ſtand, hing mit der ganzen Fuͤlle der Liebe an Chriſto, aber nicht anders als mit einer wehmuͤthigen Empfindung. Das Schlimmſte war, daß er dieſe ſchwere Lage Niemand klagen konnte, weil ihn Niemand verſtand; — ein paarmal entdeckte er ſich frommen Freunden in den Niederlanden, allein dieſe nahmen es ihm ſogar uͤbel, daß er glaubte in einem ſo erhabe - nen myſtiſchen Zuſtand zu ſtehen: denn er hatte ſeine Gemuͤthsver - faſſung den Stand des dunkeln Glaubens genannt. O Gott, es iſt ſchwer, den Weg des heiligen Kreuzes zu gehen! — aber hernach bringt er auch unausſprechlichen Segen.
Die wahre Urſache, warum ihn ſein himmlicher Fuͤhrer in dieſe traurige Gemuͤthsſtimmung gerathen ließ, war wohl fuͤrs Erſte, um ihn vor dem Stolz, und der allen Sinn fuͤr Religion und Chriſtenthum toͤdtenden Eitelkeit zu bewahren, in welche er ohne dieſen Pfahl im Fleiſch gewiß gerathen waͤre, weil ihm von allen Seiten her, aus der Naͤhe und Ferne, von Hohen und Niedern, Gelehrten und Ungelehrten, außerordentlich viel Schoͤnes und Herzerhebendes zum Lob geſagt wurde; in dieſem Zuſtand freute es ihn einen Augen - blick, ſo wie Einen ein warmer Sonnenſtrahl an einem dun - keln Dezembertage; dann aber war es wieder wie vorher, und ihm gerade ſo zu Muth, als wenn es ihn gar nicht an - ginge. Fuͤrs zweite aber mochte auch wohl der himmliſche Schmelzer dieſen Sohn Levi noch aus andern hoͤhern Urſa - chen auf dieſen Treibheerd ſetzen, um gewiſſe Grundtriebe des Verderbens radical auszubrennen.
510Dieſer Seelenzuſtand dauert noch immer fort, auſſer daß nun eine innige Ruhe, und ein tiefer Seelenfriede damit verbunden iſt.
Eliſe, ob ſie gleich ſelbſt ſehr litt, war doch immer die einzige Seele unter allen Freunden, der er ſich ganz entdecken und mittheilen konnte; ſie litt dann noch mehr, ohne ihm helfen zu koͤnnen; allein ihre Theilnahme und treue Pflege waren ihm denn doch unſchaͤtzbare Wohlthaten, und beſonders machte ihm ihr Umgang Alles weit ertraͤglicher. Von der Zeit an ſchloßen ſich Beide immer inniger und feſter an ein - ander an, und wurden ſich wechſelſeitig immer unentbehrlicher. Ueberhaupt war Stillings ganzer haͤuslicher Zirkel unaus - ſprechlich liebevoll und wohlthaͤtig fuͤr ihn; in einer andern Lage haͤtte er es nicht ausgehalten. Es war auch ſehr gut, daß ſein Magenkrampf nachzulaſſen begann: denn mit einem ſo aͤußerſt geſchwaͤchten Koͤrper haͤtte er es nicht ertragen koͤnnen.
Stillings Staaroperationen und Augenkuren waren be - ſonders geſegnet, und er hatte ſie von Elberfeld an bis daher ununterbrochen fortgeſetzt, aber ſie hatten auch eine dop - pelte Beſchwerlichkeit fuͤr ihn: ſeine einmal angenommene Maxime, von welcher er auch nicht abgehen kann, von keiner Staar - oder andern Augenkur Etwas zu fordern, ſondern Je - dermann unentgeltlich damit zu dienen, es ſey denn, daß ihm Jemand von freien Stuͤcken erkenntlich iſt, und ihm — aber ohne ſich wehe zu thun — ein Geſchenk macht, zog ihm einen erſtaunlichen Zulauf von Augenkranken zu; jeden Au - genblick wurde er durch ſolche Leidende an ſeiner Arbeit unter - brochen, und ſeine Geduld dadurch aufs aͤußerſte gepruͤft. Aber die zweite noch groͤßere Beſchwerlichkeit war die, daß man ihm von allen Seiten arme Blinde mit Zeugniſſen der Armuth zuſchickte, ohne daß ſie das noͤthige Geld zum Unter - halt waͤhrend der Kur mitbrachten — einen ſolchen bedauerns - wuͤrdigen Blinden ohne Huͤlfe, um einiger Gulden willen wie - der zuruͤckzuſchicken, das lag in Stillings Charakter nicht. Zwar hatten die Direktoren der beiden proteſtantiſchen Wai - ſenhaͤuſer in Marburg die Guͤte, ſolche arme Blinde fuͤr eine maͤßige Bezahlung waͤhrend der Kur aufzunehmen und511 zu verpflegen, aber fuͤr dieſe maͤßige Bezahlung mußte denn doch Stilling ſorgen; und dieſe wohlthaͤtige Einrichtung hatte dann auch die beſchwerliche Folge, daß Inlaͤnder und Auslaͤn - der deſto kuͤhner ihre armen Blinden ohne Geld ſchickten, — da gabs dann manche Glaubensprobe, aber der Herr hat ſie auch alle herrlich legitimirt, wie der Verfolg zeigen wird.
Mitten im Sommer dieſes 1798ſten Jahres ſchrieb Dok - tor Wienholt in Bremen an Stilling, und erſuchte ihn, dorthin zu kommen, weil einige Staarblinde dort waͤren, die von ihm operirt zu werden wuͤnſchten: denn das Wohl - gelingen ſeiner Kuren wurde weit und breit bekannt, und be - ſonders von denen, die in Marburg ſtudirten, allenthalben erzaͤhlt. Stilling antwortete, daß er in den Herbſtferien kommen wolle. Dieſes geſchahe denn auch, und Eliſe be - ſchloß, ihn zu begleiten, ungeachtet ſie nicht recht wohl war; ſie hatte dazu einen doppelten Grund, ſie trennte ſich nicht gern lange von ihrem Mann, und er hatte auch ihre Unter - ſtuͤtzung und Pflege noͤthig, und dann wollte ſie auch gern einmal die Stadt ſehen, aus welcher ihre Vorfahren muͤtter - licher Seite herſtammten: denn ihr Ahnherr war ein Brabaͤn - ter, Namens Duiſing, welcher unter dem Herzog Alba ausgewandert war, und ſich in Bremen niedergelaſſen hatte; hier lebten nun noch zwei liebe und in großem Anſehen ſte - hende Vettern, die Gebruͤder Meyer, beide Doktoren der Rechte, deren der Eine einer von den vier regierenden Buͤr - germeiſtern, und der Andere Sekretarius bei einem dortigen Kollegio war. Dieſe Verwandten wuͤnſchten auch ſehr, daß ſie die Marburger Freunde einmal beſuchen moͤchten.
Stilling und Eliſe traten alſo Sonnabends den 22ſten September 1798 die Reiſe nach Bremen an; das Uebel - befinden der guten Frau aber machte die Reiſe ſehr aͤngſtlich; er mußte den Poſtillonen ein gutes Trinkgeld geben, damit ſie nur langſam fahren moͤchten, weil ſie das ſchnelle Fahren durchaus nicht ertragen konnte. Sie machten die Reiſe uͤber Hannover, wo ſie von Stillings vertrautem Freund, dem Hof - und Conſiſtorial-Rath Falk, herzlich empfangen und ſehr freundſchaftlich behandelt wurden. Freitags den 28ſten512 September kamen ſie des Abends ſpaͤt, aber gluͤcklich in Bre - men an, und kehrten bei dem Sekretarius Meyer ein. Die - ſer edle Mann und ſeine treffliche Gattin paßten ſo recht zum Stillings-Paar, ſie wurden bald ein Herz und eine Seele, und ſchloſſen den Bund der Bruder - und Schweſter - ſchaft miteinander; der Buͤrgermeiſter an ſeiner Seite aber, der die perſonifizirte Freundſchaft ſelbſt war, that ſein Beſtes, um den Marburger Verwandten Freude zu machen. Er ruht nun ſchon in ſeiner Kammer, der gute edle Mann; Ge - lehrſamkeit, unbeſchraͤnkte Gutmuͤthigkeit und treufleißige Staats - verwaltung waren die Grundlagen ſeines Charakters.
Stilling machte zwei und zwanzig Staar-Operationen in Bremen, und bediente auſſerdem noch Viele, die an den Augen litten. Unter jenen Staar-Patienten war einer von honnettem Buͤrgerſtand, ein alter Mann, der viele Jahre blind geweſen, und daher in ſeinen Vermoͤgensumſtaͤnden zuruͤckge - kommen war. Verſchiedene Damen erſuchten Stilling, er moͤchte ihnen doch erlauben, zuzuſehen, denn ſie wuͤnſchten Zeugen von der Freude zu ſeyn, die ein ſolcher Mann haͤtte, der ſo lange blind geweſen waͤre. Die Operation ging gluͤck - lich von ſtatten, und Stilling erlaubte ihm nun, ſich um - zuſchen — der Patient ſah ſich um, ſchlug die Haͤnde zuſam - men, und ſagte: Ach, da ſind Damen, und es ſieht hier ſo unaufgeraͤumt aus! — Die guten Frauen wuß - ten nicht, was ſie ſagen und denken ſollten, und gingen nach einander zur Thuͤr hinaus.
Stilling machte in Bremen auch wieder einige intereſ - ſante Bekanntſchaften, und erneuerte auch ein Paar alte Freund - ſchafts-Buͤndniſſe, naͤmlich mit dem Doktor und Profeſſor Meiſter, den er ſchon in Elberfeld kennen gelernt hatte, und mit Ewald, der nun ſchon Prediger da war. Der beruͤhmte Doktor Olbers wurde Stillings Freund, und bei ihm lernte er auch den großen Aſtronomen, den Oberamt - mann Schroͤder, kennen. Mit Wienholt ſchloß er auch den Bruderbund: er und ſeine Gattin gehoͤren in die Klaſſe der beſten Menſchen.
Bremen hat ſehr viele fromme und chriſtliche Einwoh -513 ner, und uͤberhaupt iſt der Volkscharakter feiner und geſitte - teter, als in andern großen Handelsſtaͤdten. Dieß iſt beſon - ders den vortrefflichen Predigern zuzuſchreiben, welche die Stadt von jeher hatte, und auch noch hat.
Nach einem ſehr vergnuͤgten Aufenthalt von drei Wochen und ein Paar Tagen reisten Stilling und Eliſe Sonn - tags den 21ſten Oktober von Bremen wieder ab. Der Herr hat ſeine Hand geſegnet, und die wohlhabenden Patien - ten hatten ihn auch ſo reichlich beſchenkt, daß nicht allein die koſtbare Reiſe bezahlt war, ſondern auch noch Etwas uͤbrig blieb, welches bei der großen und ſchweren Haushaltung wohl zu ſtatten kam.
Die Bremer Verwandten begleiteten ihre reiſenden Freunde bis an den Aſſeler Damm, wo ſie einen thraͤnenvollen Abſchied nahmen, und dann wieder zuruͤckgingen. Der Weg bis Hoya war ſchrecklich, doch kamen ſie gluͤcklich, aber des Abends ſpaͤt in gedachter Stadt an; in Hannover ſpra - chen ſie wieder bei Freund Falk zu, der ſie mit wahrer chriſt - licher Bruderliebe empfing, dann ſetzten ſie ihre Reiſe fort, und kamen zu rechter Zeit geſund und geſegnet in Marburg an, wo ſie auch die Ihrigen alle wohl und vergnuͤgt antrafen.
Die Reiſe nach Bremen hatte Stillingen wieder mehrere Freunde und Bekanntſchaft verſchafft, aber auch ſeine Correſpondenz, mithin auch ſeine Arbeit betraͤchtlich vermehrt. Konſultationen wegen Augenkrankheiten und Briefe religioͤſen Inhalts kamen poſttaͤglich in Menge, ſo daß er ſie mit aller Muͤhe kaum beantworten konnte; hiezu kam dann noch der taͤgliche Zulauf von Augenpatienten aller Art; ſo daß es faſt nicht moͤglich war, Alles zu leiſten, was geleiſtet werden mußte: doch verſaͤumte Stilling in ſeinem Amte nichts, ſondern er ſtrengte ſeine aͤußerſten Kraͤfte an, um allen die - ſen Pflichten zu entſprechen.
Unter dieſen Umſtaͤnden fing er das 1799ſte Jahr an. Den 22ſten Februar kam Eliſe mit ihrem juͤngſten Kind, einem Maͤdchen, gluͤcklich nieder; die Graͤfin Waldeck wuͤnſchte514 es aus der Taufe zu heben, welches natuͤrlicher Weiſe mit vielem Dank angenommen wurde; von ihr hat das Toͤchter - chen den Namen Chriſtine bekommen; es lebt noch, und macht, ſo wie ſeine aͤltern Geſchwiſtern, den Eltern Freude.
Mit Lavater war Stilling ſeit ſeinem Beſuch in Marburg in ein weit naͤheres Verhaͤltniß gekommen. Beide waren aber in gewiſſen Punkten verſchiedener Meinung; dieß veranlaßte alſo einen lebhaften Briefwechſel, wodurch aber die herzlichſte Bruderliebe nicht getruͤbt wurde. Beide lebten und wirkten fuͤr den Herrn und ſein Reich; ihr großer Zweck war auch ihr Band der Liebe. Zu dieſer Zeit war nun auch der beruͤhmte Arzt, der Doktor Hotze, in Frankfurt, bei ſeinem vortrefflichen Schwiegerſohn, dem Doktor de Neuf - ville. Stilling hatte vor einigen Jahren ſchon Hotze kennen gelernt und mit ihm auf ewig den Bruderbund geſchloſ - ſen, und nun war auch Paſſavant in Frankfurt; Beide waren Lavaters und Stillings bruͤderliche Freunde und auch unter ſich genau vereinigt. Dieſen beiden Freunden, Hotze und Paſſavant, alſo ſchickte Lavater ſeine Briefe an Stilling offen, und dieſer ſandte dann auch ſeine Ant - worten unverſiegelt an beide Maͤnner, wodurch eine ſehr auge - nehme und lehrreiche Converſation entſtand. Die Gegenſtaͤnde, welche verhandelt wurden, waren die wichtigſten Glaubens - Artikel, z. B. die Verſoͤhnungslehre, die Gebetserhoͤrungen, der Wunderglaube u. dgl. In dieſem 1799ſten Jahre hatte nun dieſer Briefwechſel aufgehoͤrt, denn Lavater wurde ge - fangen genommen und nach Baſel deportirt, und Hotze war auch nicht mehr in Frankfurt. Dieß Alles mache ich um eines ſonderbaren Phaͤnomens willen bemerklich, wel - ches Stilling Sonnabends den 13. Julius begegnete.
Vor ſeiner Reiſe nach Bremen hatte ihm ein Freund im Vertrauten entdeckt, daß ein gewiſſer beruͤhmter und ſehr wuͤrdiger Mann in druͤckenden Mangel gerathen ſey; dieß erzaͤhlte Stilling in Bremen einigen Freunden; Doktor Wienholt uͤbernahm die Sammlung und ſchickte ihm im Winter gegen viertehalbhundert Gulden in alten Louisd’ors; als ſich nun Stilling naͤher nach der Art und Weiſe erkun -515 digte, wie man dem verehrungswuͤrdigen Manne das Geld ſicher in die Haͤnde bringen koͤnnte, ſo erfuhr er, daß der Mangel jenes Mannes ſo druͤckend nicht ſey und daß ihm dieſe Art der Huͤlfe ſehr weh thun wuͤrde. Dieß bewog Stilling, das Geld zuruͤckzubehalten und in Bremen anzufragen, ob es zur engliſchen Miſſion verwendet, oder den vor Kurzem ſo aͤußerſt ungluͤcklich gewordenen Unterwald - nern in der Schweiz zugewendet werden ſolle? — Dieß Letztere wurde bewilligt, und Stilling trat deßfalls mit dem beruͤhmten und chriſtlichen frommen Antiſtes Heß in Zuͤrich in Correſpondenz, weil ſich dieſer liebevolle Mann jener Ungluͤcklichen — wie ſo ſehr viele Zuͤrcher — ernſt - lich annahm.
In dieſer Angelegenheit ſchrieb nun Stilling am oben gedachten 13. Julius an Heß, wobei ihm etwas Seltſames widerfuhr: mitten im Schreiben, als er gerade des Zuſtan - des gedachte, indem ſich jetzt die Schweiz befand, bekam er auf einmal einen tiefen Eindruck ins Gemuͤth, mit der Ueberzeugung: Lavater wuͤrde eines blutigen To - des — des Martertodes ſterben. Dieß letzte Wort: Martertod, war eigentlich der Ausdruck, den er empfand — noch etwas war damit verbunden, das ſich jetzt noch nicht ſagen laͤßt. Daß Stilling ſehr daruͤber erſtaunte, iſt na - tuͤrlich. Waͤhrend dieſem Erſtaunen wurde er nun auch uͤber - zeugt, daß er dieſen Aufſchluß in dieſem Brief an Heß ſchrei - ben muͤßte, er that es alſo auch und bat ihn zugleich, er moͤchte dieß Lavatern bei Gelegenheit ſagen. Heß ant - wortete bald, bezeugte ſeine Verwunderung und verſprach, es Lavatern zu entdecken, er muͤßte aber dazu eine gelegene Zeit abwarten. So viel ich mich erinnere, iſt es auch La - vatern wirklich geſagt worden.
Mein verehrungswuͤrdiger Freund Heß wird ſich dieſes Alles noch ſehr wohl erinnern. Dieſe Ahnung hatte Stil - ling am 13. Julius, und zehn Wochen und einige Tage nachher bekam Lavater den toͤdtlichen Schuß, deſſen Fol - gen eine fuͤnfzehn Monat waͤhrende Marter und dann der Tod waren.
516Der chriſtliche, wahrheitliebende Leſer wird freundlich erſucht, dergleichen Erſcheinungen und Erfahrungen nicht hoͤher zu wuͤrdigen, als ſie es verdienen, und lieber gar kein Urtheil zu faͤllen. Es wird einſt eine Zeit kommen, wo man ſich wieder lebhaft an dieſe Ahnung erinnern wird.
In den Herbſtferien brachte Stilling ſeine Gattin nach dem Dorfe Muͤnſter bei Buzbach in der Wetterau, wohin nun Schwarz von Echzell verſetzt worden war; dann reiste Stilling nach Frankfurt und Hanau, wo wiederum Augenpatienten auf ihn warteten, Eliſe aber blieb zu Muͤnſter.
Die merkwuͤrdigen Perſonen, mit denen Stilling auf dieſer Reiſe theils in naͤhere, theils in perſoͤnliche Bekannt - ſchaft kam, waren: Der regierende Landgraf zu Homburg; dieſen wahrhaften Chriſtus-Verehrer hatte er in Marburg bei dem Prinzen Friedrich ſchon kennen lernen, jetzt aber machte er ihm ein paarmal ſeine Aufwartung in Frank - furt: dann den regierenden Fuͤrſt Wolfgang Ernſt von Iſenburg-Birſtein, und ſeine vortreffliche Gemahlin, beide auch wahre Chriſten, und dann den regierenden Grafen von Iſenburg-Buͤdingen, Ernſt Caſimir, ſeine Gemahlin, und deren Schweſter, die Graͤfin Karoline von Bent - heim-Steinfurth, alle Drei aͤcht Evangeliſch geſinnte, ſehr werthe Perſonen: mit der Graͤfin Karoline ſtand Stilling ſchon vorher in einem erbaulichen Briefwechſel; ihre Schwe - ſter Polyxene, eine ſehr begnadigte Seele, lebte in Sie - gen, auch mit dieſer ſtand Stilling lange in einer religioͤ - ſen Korreſpondenz. Dieſe war aber ſchon vor einiger Zeit zu ihrer Ruhe eingegangen.
Wenn ich in dieſer Geſchichte oͤfters hoher Standesperſonen gedenke, die Stillingen ihres Vertrauens gewuͤrdigt haben, ſo bitte ich, das ja nicht als Prahlerey anzuſehen; ich habe dabei keinen andern Zweck, als der Welt zu zeigen, daß in den hoͤhern Staͤnden wahre Chriſtus-Religion eben ſo gut ihre treuen Verehrer findet, als in den niedern — ich halte es fuͤr Pflicht, dieß recht oft und laut zu ſagen: denn ſeit eini - gen Jahrzehenden her iſt es an der Tagesordnung, den Re -517 gentenſtand und den Adel ſo ſehr herabzuwuͤrdigen, als nur immer moͤglich iſt. Freilich iſt das heut zu Tage auch eben keine ſonderliche Empfehlung, wenn man Jemand fuͤr einen wahren Chriſten in altevangeliſchem Verſtand erklaͤrt; aber wenn man doch auch einen Nichtchriſten, oder Unchriſten ſchil - dert, ſo iſt das doch noch weniger empfehlend. Der Geiſt unſerer Zeit iſt ſehr inconſequent. Dann fand Stilling noch drei ſchaͤtzbare Perſonen in Buͤdingen, den verdienſt - vollen Inſpektor Keller; den Regierungsrath Hedebrand, und den jungen Hofprediger Meiſter, ein Sohn ſeines Freun - des in Bremen, von dem er eine meiſterhafte und aͤcht chriſt - liche Predigt hoͤrte.
Nach einem dreitaͤgigen hoͤchſt vergnuͤgten Aufenthalt in Buͤdingen, reiste Stilling mit einem jungen Herrn von Graͤfenmeyer, der auf die Univerſitaͤt Goͤttingen zie - hen wollte, bis Buzbach. Der Weg fuͤhrte durch eine mo - raſtige und waſſerreiche Gegend, welche damals im Ruf der Unſicherheit war; es wurde Vieles von einem Zinngießer oder Kupferſchmidt erzaͤhlt, welcher der Anfuͤhrer einer Raͤuberbande ſeyn ſollte, und in dortiger Gegend zu Hauſe war. Dieß gab dann auch dem Kutſcher und dem Bedienten auf dem Bock reichen Stoff zur Unterhaltung. Naͤchtliche Einbruͤche, Raub -, Mord - und Hinrichtungs-Geſchichten mancher Art wur - den ſehr ernſthaft und ſchauerlich erzaͤhlt, und dann auch wohl ein wenig mit dichteriſchem Feuer ausgeſchmuͤckt. Dieß ging ſo fort, bis vor den Florſtaͤdter Wald. — Auf einmal ſah der Kutſcher den Bedienten ſehr bedeutend an, und ſagte: Wahrhaftig! da iſt er! — Stilling ſahe zum Schlag hinaus, und ſah da einen ſtarken, großen und geſetzten Mann, in einem blauen Rock, mit meſſingnen Knoͤpfen und dicken Waden, den ſpitzigen Hut auf einem Ohr, und einen Knoten - ſtock in der Hand, vorwaͤrts gegen den Wald hinſchreiten; der Kutſcher drehte ſich um, furchtſam und bedeutend lispelte er zur Kutſche hinein: Das iſt er!
„ Wer?
Ei, der Zinngießer!
„ So!
Stillings ſämmtl. Schriften. I. Band. 34518Freilich war das nicht angenehm, allein Stilling iſt in ſolchen Faͤllen nicht furchtſam. Vor dem Walde ſtieg er um der boͤſen Wege Willen aus, und ging voraus zu Fuß: denn dieſe fuͤrchtete er mehr als aller Welt Zinngießer oder Kupfer - ſchmiede. Der Wald war voller Holzarbeiter, kein Raͤuber ließ ſich hoͤren oder ſehen.
In Buzbach fand Stilling bei ſeiner Ankunft des Abends ſeinen guten, treuen Schwiegerſohn Schwarz; beide blieben die Nacht bei dem Oberfoͤrſter Beck, deſſen Schwie - gervater Stilling des andern Morgens vom Staar befreite, dann gingen ſie zuſammen nach Muͤnſter, wo ſie die theure Eliſe und alle Lieben, den Umſtaͤnden nach wohl antrafen.
Nach einem ruhigen und erquickenden Aufenthalt von ſechs Tagen, trat Stilling mit den Seinigen wieder die Heim - reiſe an; Schwarz begleitete ſie bis Buzbach; es war Montags den 14ten Oktober. Hier gab es einen kleinen Aufenthalt, es wurde bei dem Oberfoͤrſter gefruͤhſtuͤckt, und Schwarz ging, um Etwas zu beſorgen; auf einmal kam er gelaufen, als Stilling eben in die Kutſche ſteigen wollte, und rief: Lieber Vater! Lavater iſt geſchoſſen wor - den, und ſchwer verwundet! — Wie ein Blitz und Donnerſchlag fuhr dieſe Nachricht durch Stillings ganzes Weſen, er that einen lauten Schrei, und die Thraͤnen ſchoßen ihm die Wangen herab. Bei allem Schmerz und Mitleid ſpuͤrte er doch innerlich eine tiefe Beruhigung und Ergebung in den Willen Gottes, und der merkwuͤrdige Umſtand ſeiner eingetroffenen Ahnung gab ihm eine ungemein ſtarke Zuverſicht, daß der Herr hier heilſame Abſichten bezwecke; jetzt wurde nun die Reiſe fortgeſetzt, und ſie kamen des Abends gluͤcklich nach Marburg.
Das letzte Jahr des achtzehnten Jahrhunderts, 1800, waͤlzte ſich in Anſehung Stillings hoch her und ſchwerfaͤllig in ſeiner Sphaͤre herum, ob ihm gleich nichts beſonders Merk - wuͤrdiges in demſelben begegnete. In den Oſterferien mußte er wieder eine Reiſe nach Frankfurt, Offenbach und519 Hanau machen; Eliſe konnte ihn dießmal nicht begleiten. Stilling operirte wieder verſchiedene Blinde an allen drei Orten. In Hanan hatte er ſeinen drei bis viertaͤgigen Auf - enthalt bei dem Regierungsrath Rieß, einem Bruder des Marburger Freundes: er und ſeine Gattin gehoͤren unter Stillings und Eliſens vertrauteſte Freunde.
Eine neue Bekanntſchaft, die ihn vorzuͤglich intereſſirte, machte er dießmal in der Frankfurter Meſſe mit dem be - ruͤhmten Kaufmann Wirſching aus Nuͤrnberg; dieſer alte, ehrwuͤrdige Greis war jetzt noch einmal gleichſam zum Ver - gnuͤgen mit ſeinen Kindern zur Meſſe gereist, und es war ihm eine große Freude, daß er Stilling da fand, deſſen Lebensgeſchichte und uͤbrige Schriften er mit Beifall und Nutzen geleſen hatte. Wirſching war ein armer Waiſenknabe ge - weſen, dem ſeine Eltern nichts hinterlaſſen hatten; durch Fleiß, untadelhafte Froͤmmigkeit, Vertrauen auf Gott, durch ſein vor - zuͤgliches Handlungs-Genie und große Reiſen hatte er ſich ein großes Vermoͤgen erworben, und er zeigte mit Preis und Dank gegen ſeinen himmliſchen Fuͤhrer, ſeinem Freunde Stil - ling die zwei großen Waarenlager, die nun jetzt ſein Eigen - thum waren, und aus lauter ſogenannten Nuͤrnberger-Waaren beſtanden. Wirſching machte durch ſeine Demuth, Beſchei - denheit und gruͤndliche Kenntniß im Chriſtenthum tiefen Ein - druck auf Stilling, und Beide ſchloſſen ſich bruͤderlich an einander an. Nach vollendeten Geſchaͤften reiste Stilling wieder nach Marburg.
Lavater war durch den Schuß nicht unmittelbar toͤdtlich verwundet worden, aber doch auch ſo, daß die Wunde mit der Zeit toͤdtlich werden mußte. Sein Leiden ſetzte alle ſeine Freunde in innige tiefe Ruͤhrung; zaͤrtliches Mitleiden trieb ſie zu gemeinſchaftlichem Gebet fuͤr ihren Freund an, und brachte ſie ſich untereinander naͤher. Stilling correſpondirte ſeinetwegen, und uͤber ihn, mit Paſſavant in Frankfurt, dem reformirten Prediger Achelis in Goͤttingen, und dann kam noch eine gewiſſe Julie hinzu. Dieß fromme, chriſtliche und durch viele ſchwere Leiden geuͤbte Frauenzimmer war be - ſonders durch Lavaters Schriften tief und innig geruͤhrt34 *520und erbaut worden. Dieß bewog ſie, mit Lavatern in ei - nen Briefwechſel zu treten; da ſie aber gegruͤndete Urſachen hatte, verborgen zu bleiben, ſo entdeckte ſie ſich Lavatern nie; — er correſpondirte alſo lange mit einer gewiſſen Julie im noͤrdlichen Deutſchland, ohne nur von Ferne zu ahnen, wer ſie ſey; er ſchickte ihr manches Erinnerungszeichen, wie das ſo ſeine Art war; dieß alles geſchahe aber durch Paſ - ſavant, der allein um ihr Geheimniß wußte und ſie kannte. Jetzt in Lavaters ſchweren Leiden hoͤrte Stilling zuerſt etwas von Julien, er ſchrieb alſo an Paſſavant, er moͤchte ihm doch wo moͤglich entdecken, wer die Julie ſey? — Nach einiger Zeit erfolgte dann auch dieſe Entdeckung.
Julie iſt die Tochter des ehemaligen Buͤrgermeiſters Eicke, eines redlichen und ehrlichen Mannes zu Hannoͤveriſch - Minden; ſie war mit dem bekannten und rechtſchaffenen Theologen Richerz verheirathet, welcher zuerſt Univerſitaͤts - Prediger in Goͤttingen, und zuletzt Superintendent zu Giff - horn im Hannoͤveriſchen war; er iſt durch mehrere gute theo - logiſche Schriften beruͤhmt geworden, und er ſtarb auch als ein wahrer Chriſt, nach einer langwierigen Krankheit, an der Auszehrung. Julie war ebenfalls von jeher ſehr ſchwaͤchlich und kraͤnklich; ſie litt an ihrem eigenen Koͤrper außerordent - lich viel, und mußte auch noch ihren kranken Gatten pflegen; haͤtte ſie ihr munterer Geiſt und ihr ruhiges Hingeben in den Willen Gottes, uͤberhaupt ihr chriſtlicher Sinn nicht aufrecht erhalten, ſo haͤtte ſie Alles, was ihr die Liebe auferlegte, nicht ertragen koͤnnen. Sie hatte nie Kinder, und lebte als Wittwe in ihrer Vaterſtadt Minden; jetzt war nun ihr Vater ſehr alt und ſchwaͤchlich, ſie hielt es daher fuͤr Pflicht, ihn zu war - ten und zu pflegen, und wohnte alſo auch bei ihm im Hauſe.
Von nun an correſpondirte Stilling ſehr fleißig mit Julie, und die Gegenſtaͤnde ihrer Briefe waren Lavaters Leiden, und dann das einzige Nothwendige, um welches es jedem Chriſten vorzuͤglich zu thun ſeyn muß.
Ach, duͤrfte doch Alles geſagt werden, was der Herr an den Seinigen thut! — Ja! — auch der Unglaubige wuͤrde — erſtaunen, aber doch nicht glauben.
521Lavater correſpondirte auf ſeinem Krankenlager noch flei - ßig mit Stilling. Sie verhandelten nicht mehr contraver - ſirend, ſondern einmuͤthig bruͤderlich die wichtigſten Religions - wahrheiten. Vierzehn Tage vor ſeinem Tod ſchrieb er zum letztenmal an ſeinen Freund nach Marburg, und 1801 am 2. Januar, alſo auch am zweiten Tag des neunzehnten Jahr - hunderts, ſtarb dieſer große merkwuͤrdige Mann, er ſtarb als ein großer Zeuge der Wahrheit von Jeſu Chriſto. Kurz hernach verfertigte Stilling das bekannte Gedicht: Lava - ters Verklaͤrung, welches erſt beſonders gedruckt, dann in die dritte Auflage des erſten Bandes der Scenen aus dem Geiſterreich eingeruͤckt worden iſt. Einige Rezenſenten wollten es nicht gelten laſſen, daß Stilling Lavater einen Blut - zeugen der Wahrheit genannt hatte, und Andere behaupteten, ſeine Schußwunde ſey nicht die Veranlaſſung zu ſeinem Tod geweſen, allein die Sache ſpricht von ſelbſt.
Lavaters geheiligtes Herz vergab ſeinem Moͤrder voll - kommen; ſogar ſagte er: er wolle ihn dereinſt in allen Himmeln und Hoͤllen aufſuchen, und ihm fuͤr die Verwundung danken, die ihm eine ſo lehrreiche Schule geworden ſey: und er verordnete ſehr ernſtlich, daß man dieſem Ungluͤcklichen nicht ferner nachfragen, ſondern ihn der goͤttlichen Erbarmung uͤberlaſſen ſollte; ſeine Hinter - laſſenen befolgten dieß auch redlich, mir aber wird zur Be - waͤhrung meiner Behauptung doch Folgendes zu ſagen er - laubt ſeyn.
Der Soldat, der Lavatern toͤdtlich verwundete, war ein Schweizer aus dem franzoͤſiſchen Theil des Kantons Bern (pays de Vaud); er und noch ein Kamerad polterten an ei - nem Hauſe neben Lavaters Pfarrwohnung; Lavater hoͤrte, daß ſie zu trinken forderten, er nahm alſo eine Flaſche Wein und Brod, und lief hinaus, um es den beiden Soldaten zu bringen; der Grenadier, der ihn hernach ſchoß, war beſonders freundlich gegen ihn, er dankte ihm fuͤr das Genoſſene, und nannte ihn Bruder-Herz! denn er ſprach nebſt ſeiner fran - zoͤſiſchen Mutterſprache auch Deutſch; Lavater ging nun wieder in ſein Haus, der Grenadier aber ſprach mit einigen Zuͤrchern, welche da in der Naͤhe ſtanden; bald darauf kam522 Lavater wieder, um dieſen freundlichen Soldaten um Schutz gegen einen Andern anzuſprechen, und nun war dieſer Menſch wuͤthend gegen ihn, und ſchoß ihn.
Wie iſt nun dieſe fuͤrchterliche Veraͤnderung in dem Ge - muͤth dieſes ungluͤcklichen jungen Mannes anders erklaͤrbar, als folgendergeſtalt: er war ein gebildeter Mann, der Lava - ters Schriften kannte — denn jeder Schweizer, der nur leſen konnte, las ſie — zugleich war er revolutionsſuͤchtig, wie ſehr viele Waadtlaͤnder, folglich nicht allein von ganz ent - gegengeſetzter Denkungsart, ſondern auch wegen Lavaters Energie in Beziehung auf Religion und Vaterland, wuͤthend gegen ihn aufgebracht: denn nicht gar lange vorher waren ſeine Briefe an den franzoͤſiſchen Director Reubel, und an das Directorium ſelbſt herausgekommen, gedruckt und haͤufig geleſen worden. Als ihm nun Lavater Wein und Brod brachte, da kannte er ihn noch nicht; nach dem Hinweggehen aber ſprach er mit den Umſtehenden, und erfuhr nun, daß dieſer ſo freundliche, wohlthaͤtige Mann der Pfarrer Lavater ſey; jetzt gerieth er in Wuth, die noch ein kleiner Weinrauſch vermehrte; gerade jetzt kam nun ungluͤcklicher Weiſe der gute Mann zu ihm, und wurde geſchoſſen. So iſt alles leicht zu begreifen und erklaͤrbar. In dieſer Ueberzeugung behauptete ich: Lavater ſey ein Blutzeuge der Wahrheit: denn er wurde wegen ſeiner religioͤſen und politiſchen Geſinnung und Zeugniſſe toͤdlich verwundet.
Lavaters Tod war gleichſam das Signal zur großen und herrlichen Entwicklung der Schickſale Stillings, die noch immer in ein undurchdringliches Dunkel der Zukunft verhuͤllt waren. Um die ganze Sache recht deutlich und nach der Wahr - heit ins Licht zu ſtellen, muß ich ſeine Lage ausfuͤhrlich ſchil - dern; der chriſtliche Leſer wird finden, daß es der Muͤhe werth iſt.
Stillings Hausgenoſſen, die er zu verſorgen hatte, wa - ren folgende Perſonen:
Bei dieſer haͤuslichen Lage denke man ſich nun Stillings Gedraͤnge in ſeinem Wirkungskreis:
1) Einen beſtaͤndigen ſchriftlichen und perſoͤnlichen Zulauf von Augenpatienten aller Art, aus der Naͤhe und Ferne, ſo daß dieſer Beruf allein einen Mann beſchaͤftigen konnte, indeſ - ſen aber außer den Reiſen, in der haͤuslichen Praxis ſo viel als nichts eintrug. Die Reiſen aber uͤbernahm er nur, wenn er gerufen wurde, und zwar in den Ferien.
2) Eine ungemein große religioͤſe Correſpondenz, deren Wich - tigkeit und Nutzſtiftung auf mancherlei Art nur der beurthei - len kann, der die Briefe geſehen hat, und nun die Aufforde - rung von allen Seiten, religioͤſe Buͤcher zu ſchreiben, und allein fuͤr den Herrn und ſein Reich zu wirken, wobei dann nun wiederum nicht allein Nichts heraus kam, ſondern wo die Ho - norarien bei Weitem nicht zureichten, um das Poſtgeld zu be - zahlen — alſo hatte hier Stilling zwei aͤußerſt wichtige, weit und breit wohlthaͤtig fruchtbare Berufsarten — zu denen, beſonders zum religioͤſen Wirkungskreis, er ſich nun auch gaͤnz - lich beſtimmt und berufen fuͤhlte, aber nun eine ſo ſchwere und koſtbare Haushaltung, und dann zwei Berufe, wo keine Beſoldung zu denken und zu erwarten war! — wie ließ ſich525 das mit einander verbinden? — Und nun uͤber das Alles noch eine Schuldenlaſt von ſechzehn bis ſiebenzehnhundert Gulden — womit ſollte dieſe Summe bezahlt werden? — Nun kam noch dazu, daß
3) Stillings Lehramt, aus oben ſchon einmal angefuͤhr - ten Urſachen, immer unfruchtbarer, und ſein Hoͤrſaal immer leer wurde; da half weder ſein bekannter lebhafter Vortrag, noch ehemals ſo beliebte Deutlichkeit, noch fließende Beredt - ſamkeit — kurz — das Kameralſtudium fing in Marburg an, aus der Mode zu kommen, und dann nahm auch die Anzahl der Studirenden, aus allgemein bekannten Urſachen in allen Fakultaͤten ab, und dieſer unfruchtbare, immer ruͤckwaͤrts gehende Beruf war es denn doch, fuͤr den Stilling beſoldet wurde, und ohne den er ſchlechterdings nicht leben konnte.
Zu dem Allem kam nun noch die druͤckende Forderung des Gewiſſens: der rechtſchaffene Mann, geſchweige der wahre Chriſt, muͤſſe Amt und Beſoldung in die Haͤnde ſeines Fuͤrſten niederlegen, ſobald er es nicht mehr pflichtmaͤßig verwalten koͤnne; und wenn dieſes auch ſeine Schuld nicht waͤre, ſo ſey er doch dazu verbunden. Dieſe Forderung, die kein So - phiſt aus Stillings Gewiſſen heraus demonſtriren kann, machte ihm angſt und bange, und doch konnte er ihr nicht Folge leiſten, er war wie an Haͤnden und Fuͤßen gebunden.
Jetzt frage ich jeden vernuͤnftigen Leſer: wie war da an eine wahrſcheinliche Auskunft, ein Rettungsmittel zu denken? — in der gegenwaͤrtigen Verfaſſung ſeiner Haushaltung brauchte er uͤber zweitauſend Gulden, ohne damit Schulden abtragen zu koͤnnen.
Dieſe mußte ihm entweder der Kurfuͤrſt von Heſſen geben, und ihn zugleich von ſeinem Lehramt entlaſſen, oder
Ein fremder Fuͤrſt mußte Stilling mit einer Beſoldung von zweitauſend Gulden als Augenarzt und religioͤſen Schrift - ſteller berufen.
Dies waren die einzigen an ſich denkbaren Wege, um aus dieſer Lage heraus zu kommen.
Wer nur einigermaßen die kurheſſiſche Verfaſſung kennt,526 der weiß, daß der erſte Weg moraliſch unmoͤglich war, dazu kam nun noch im Winter 1803 ein Vorfall, der ihn auch von Stillings Seite moraliſch unmoͤglich machte, wie ich weiter unten gehoͤrigen Orts erzaͤhlen werde.
Sich die Moͤglichkeit, oder wenigſtens die Ausfuͤhrbarkeit des zweiten Ausweges als ein Ziel der Hoffnung ausſtecken zu wollen, waͤre ſchwaͤrmeriſche Eitelkeit, und wenn dann auch dies Ziel waͤre erreicht worden, ſo konnte Stilling nicht von Marburg wegziehen: denn Vater Wilhelm war in ſolchen Umſtaͤnden, daß er ſich keine Stunde weit transporti - ren ließ, und ihn unter den Haͤnden fremder Leuten zuruͤckzu - laſſen, das lag in Stillings und Eliſens Kreis der Moͤg - lichkeit nicht. Und dann war ja auch Jakob noch nicht ver - ſorgt; ihn zuruͤckzulaſſen und aus der Ferne zu unterſtuͤtzen, und noch dazu ſeine Amalie mitzunehmen, und von ihm zu trennen, das war, von allen Seiten betrachtet, zu hart; mit Einem Wort, es fanden ſich auch in dieſem Fall unuͤberſteig - liche Schwierigkeiten.
So war Stillings Lage beſchaffen; die mannigfaltigen Geſchaͤfte und das druͤckende Verhaͤltniß machten ihm das Le - ben ſchwer, und dann kam die gewoͤhnliche innerliche tiefe Schwermuth noch dazu, ſo daß er alle moͤgliche Leidens-Er - fahrungen, und einen beſtaͤndigen Wandel in der Gegenwart Gottes, mit ununterbrochenem Wachen und Beten noͤthig hatte, um nicht unter der Buͤrde zu erliegen. In dieſen Umſtaͤnden war alſo das Reiſen wohlthaͤtig fuͤr ihn, und dazu kam es nun auch wieder.
Das Heimweh und die Siegsgeſchichte hatten ihm eine große Anzahl Freunde und Correſpondenten aus allen Staͤn - den, Gelehrte und Ungelehrte, maͤnnlichen und weiblichen Ge - ſchlechts aus allen Provinzen Deutſchlands, beſonders aber aus dem Wuͤrtembergiſchen, und ganz vorzuͤglich aus der Schweiz verſchafft. In St. Gallen, Schaffhau - ſen, Winterthur, Zuͤrich, Bern, Baſel, und auch auf dem Lande hin und wieder, befanden ſich viele Stillings - Freunde und Leſer ſeiner Schriften; dann hatte auch der junge Kirchhofer, ein vortrefflicher Juͤngling, der einzige Sohn527 des wuͤrdigen Conrector Kirchhofers in Schaffhauſen, in der Mitte der 90ger Jahre in Marburg Theologie ſtu - dirt, und war in Stillings Haus ſo wie in ſeinem elter - lichen behandelt worden; jetzt war er nun Prediger zu Schlatt in ſeinem vaterlaͤndiſchen Kanton; durch dieß Verhaͤltniß hatte ſich ein inniges Freundſchaftsband zwiſchen der Kirchhoferi - ſchen und der Stilling’ſchen Familie gebildet; die vier chriſtlichgeſinnten und ſehr gebildeten Schweſtern des jungen Kirchhofers, die eine große Bekanntſchaft mit den wah - ren Verehrern und Verehrerinnen des Herrn durch die ganze Schweiz haben, und fleißig Briefe mit ihnen wechſeln, tra - ten nun auch mit Stilling in Correſpondenz, und verſchaff - ten ihm eine noch groͤßere und ſehr intereſſante Bekanntſchaft. Dieß alles bereitete nun die Reiſe vor, welche in Stillings bisherigem Leben bei weitem die wichtigſte und bedeutendſte war.
Im Maͤrz dieſes 1801ſten Jahres bekam er ganz unerwar - tet einen Brief von ſeinem Herzensfreund, dem Pfarrer Sul - zer aus Winterthur, der ein Bruders-Sohn des beruͤhmten Berliner Gelehrten dieſes Namens iſt; in welchem er ge - fragt wurde: ob er wohl dieſes Fruͤhjahr nach Winterthur kommen, und eine ſehr ehrwuͤrdige Matrone, welche ſtaarblind ſey, operiren wollte? denn ſie wuͤnſche von Stilling, den ſie ſchaͤtzte und liebte, unter Gottes Beiſtand das Geſicht zu erhalten; Reiſekoſten und Verſaͤumniß ſollten ihm erſtattet werden. Dieß Anerbieten erfuͤllte Stillings Seele mit Freude; und die Kinder, beſonders Jakob, ahnten Gluͤck von der Reiſe; bei allem dem glaubte doch Stilling, daß bei einer ſo großen und koſtbaren Reiſe Vorſicht noͤthig ſey; er ſchrieb alſo Sulzern wieder, daß er zwar gerne kommen wolle, allein Eliſe muͤſſe ihn begleiten, und weil der Poſtwa - gen auch die Nacht durch ginge, ſo koͤnnten ſie wegen Schwaͤch - lichkeit ſich dieſer Gelegenheit nicht bedienen, ſondern ſie muͤß - ten Extrapoſt nehmen, und dieß wuͤrde Etwas koſtbar werden. Sulzer anwortete nur kurz, das Alles wuͤrde berichtiget wer - den, ſie ſollten nur kommen.
Jetzt hielt nun Stilling bei dem Kurfuͤrſten um Urlaub an, und er und ſeine Eliſe ruͤſteten ſich zu dieſer aͤußerſt528 intereſſanten und erwuͤnſchten Reiſe: und um deſto ruhiger ſeyn zu koͤnnen, wurde beſchloſſen, daß man Jakob, die Amalie, die Karoline und die drei Kleinen nach Braach zum Bruder Coing und der Schweſter Maria bringen, ei - nige Zeit da bleiben, dann den Friedrich und die Malchen da laſſen, und dann bei der Ruͤckkehr, mit Amalien, Ka - rolinen und dem zweijaͤhrigen Chriſtinchen uͤber Berg - heim gehen, und die Graͤfin von Waldeck, die nun wieder von Marburg abgezogen war, beſuchen wolle. Waͤhrend der Zeit ſollte dann das gute Mariechen mit den uͤbrigen Hausgenoſſen den alten Großvater pflegen und die Haushal - tung beſorgen. Dieſer Plan wurde nun auch genau ſo ausgefuͤhrt.
Stilling und Eliſe traten ihre erſte Schweizer-Reiſe Freitags den 27. Maͤrz 1801 des Morgens um 5 Uhr an; in Buzbach fanden ſie ihre Kinder und Kindes-Kinder Schwarz, die ihnen gluͤckliche Reiſe wuͤnſchten, und am Abend wurden ſie im liebevollen Hausknecht’ſchen Hauſe zu Frankfurt mit Freuden empfangen. Des folgenden Tages kauften ſie allerhand Noͤthiges zur Reiſe, vorzuͤglich ſchaffte ſich Stilling einen leichten Reiſewagen an, der ihm auf einer ſolchen weiten Reiſe noͤthig war, und den 29. Maͤrz, am Palmſonntag, gings dann mit Extrapoſt auf Heidelberg zu.
Ich darf nicht vergeſſen, zu bemerken, daß Stilling gleich am erſten Tag der Reiſe ſeinen aͤußerſt quaͤlenden Ma - genkrampf in aller ſeiner Staͤrke wieder bekam: bisher war er ſeit geraumer Zeit faſt ganz verſchwunden geweſen. Dieß verſalzte ihm nun freilich alles Vergnuͤgen, aber er fand nach - her, wie gut es war, daß ihm der Herr dieß Salz mit auf den Weg gegeben hatte; ohne dieß haͤtte er gewiß Gefahr ge - laufen, ſich durch alle Lobeserhebungen und Ehrenbezeugungen zu verſteigen, und einen ſchrecklichen Fall zu thun.
Unſere Reiſende freuten ſich ſehr auf Heidelberg, theils um ihre Freunde Miegs, dann aber auch Liſettchen zu ſehen, welche nun fuͤnfzehn Jahr alt war, und die ſie ſeit 1791, alſo in zehn Jahren nicht geſehen hatten. Dieß Maͤdchen hatte durch ihre ausgezeichnete und ganz beſondere Liebenswuͤrdigkeit die Herzen Aller derer gewonnen, die ſie kennen lernten; Jeder,529 der von Heidelberg kam und in Miegs Hauſe geweſen war, konnte Liſettchen nicht genug ruͤhmen; ihr ganzer Charakter war Religioſitaͤt und ein ruhiger, ſtiller Frohſinn; abgeſchieden von allen rauſchenden Luſtbarkeiten, lebte ihr gan - zes Weſen nur in der hoͤheren Sphaͤre, und ihre bedeutende Seele hing von ganzem Herzen an ihrem Erbarmer. Dieſe Tochter nun einmal wieder ans Herz zu druͤcken, war reine und hohe Elternfreude.
Liſette hatte aber auch mit einer ſolchen Sehnſucht ihre Eltern erwartet, daß man ſie am Abend, als Jene etwas ſpaͤt ankamen, mit Wein laben mußte. Um halb neun Uhr des Abends hielten ſie vor Miegs Thuͤr; der Willkomm war unbeſchreiblich. Den Montag blieben ſie in Heidelberg, und den Dienſtag fuhren ſie bis Heilbronn; des Mitt - wochs ſetzten ſie ihre Reiſe fort und kamen gegen Mittag nach Ludwigsburg; hier trafen ſie im Waiſenhauſe Stutt - garter Freunde an, die ihnen entgegen gekommen waren: naͤmlich den Miniſter von Seckendorf, mit dem Stilling ſeit vielen Jahren in einem chriſtlichen Freundſchafts-Verhaͤlt - niß ſteht; den Hofmedikus Doktor Reuß, den Regierungs - oder Hofrath Walther von Gaildorf; einen franzoͤſiſchen Compagnie-Chirurgus, Namens Oberlin, ein Sohn des theuern Gottesmannes Oberlin im Steinthal im Elſaß, und vielleicht noch Andere mehr, deren ich mich nicht mehr erinnere; beſonders aber freute ſich Stilling, auch ſeinen alten Freund, den Waiſen-Schullehrer Iſrael Hartmann wieder zu ſe - hen, von dem Lavater ſagte: wenn jetzt Chriſtus als Menſch unter uns wandelte, ſo wuͤrde Er ihn zum Apoſtel waͤhlen. Die ganze Geſellſchaft ſpeiste zuſammen im Wai - ſenhauſe, es war Jedem innig wohl: es iſt etwas Großes um eine Geſellſchaft lauter guter Menſchen — Eliſe ſetzte ſich neben den ehrwuͤrdigen Greis Hartmann, ſie konnte ſich nicht ſatt an ihm ſehen und ihm nicht genug zuhoͤren, ſie fand Aehnlichkeit zwiſchen ihm und dem ſeligen Vater Coing. Zwiſchen dem Hofmedikus Reuß, ſeiner Gattin, Stilling und Eliſen knuͤpfte ſich ein genaues Freund - ſchaftsband auf Zeit und Ewigkeit. Den Nachmittag fuhren530 ſie Alle zuſammen nach Stuttgart; Stilling und Eliſe herbergten im Seckendorfiſchen Hauſe.
Stilling machte hier wieder anſehnliche und merkwuͤrdige perſoͤnliche Bekanntſchaften mit Wuͤrtembergiſchen from - men und gelehrten Maͤnnern, unter welchen ſich ſein Herz beſonders an Storr, Hofcaplan Rieger, Moſer, Dann, u. a. m. anſchloß, er fand auch unvermuthet ſeinen Freund Matthiſſon hier, der ſich bei ſeinem ehemaligen Hausfreund, dem rechtſchaffenen Hofrath Hartmann, aufhielt.
Des andern Tages, am gruͤnen Donnerſtag Nachmittag, fuhren ſie nach Tuͤbingen, am Charfreitag nach Tuttlin - gen, und den Sonntag vor Oſtern nach Schaffhauſen, wo ſie von der Kirchhofer’ſchen Familie mit lautem Jubel aufgenommen wurden.
Auf dem Wege von Tuttlingen nach Schaffhauſen — wenn man naͤmlich uͤber die Hoͤhe faͤhrt, gibt es einen Ort, von dem man eine Ausſicht hat, die fuͤr einen Deutſchen, der noch nie in der Schweiz war und Sinn fuͤr ſo Etwas hat, erſtaunlich iſt. Man fuͤhrt von Tuttlingen aus, all - maͤhlig die Hoͤhe hinan, und uͤber dieſe hinaus, bis vorn auf die Spitze; hier hat man nun folgenden Anblick: linkerhand gegen Suͤdoſten, etwa eine Stunde weit in gerader Linie, ſteht der Rieſenfels, mit ſeiner nunmehr zerſtoͤrten Veſte Hohent - wiel, und rechterhand gegen Suͤdweſten, ungefaͤhr in derſel - ben Entfernung, trotzt einem ſein Bruder, ein eben ſo hoher und ſtarker Rieſe, mit ſeiner ebenfalls zerſtoͤrten Veſte Ho - henſtaufen — der Poſtillon ſagte: der hohe Stoffel — entgegen. Zwiſchen dieſen beiden Seiten-Pfoſten zeigt ſich nun folgende Landſchaft: links, laͤngs Hohentwiel hin, etwa drei Meilen weit, glaͤnzt einem der Bodenſee, weit und breit wie ſchmelzend Silber entgegen; an der Suͤdſeite deſſel - ben uͤberſieht man das paradieſiſche Thurgau und jenſeits die Graubuͤndtner Alpen; mehr rechts den Kanton Ap - penzell mit ſeinen Schneebergen, den Kanton Glarus mit ſeinen Rieſengebirgen, beſonders den uͤber alle emporragenden Glaͤrnitſch, der hohe Sentis mit den ſieben zackichten Kuhfirſten liegt mehr oͤſtlich; ſo ſieht man die ganze Reihe531 der Schneeberge bis in den Kanton Bern hinein, und man uͤberblickt einen großen Theil der Schweiz — fuͤr Stil - ling war das eine herzerhebende Augenweide. Wenn man die ganze Alpenkette laͤngs dem Horizont hinliegen ſieht, ſo kommt ſie einem wie eine große Saͤge vor, mit der man Pla - neten ſpalten koͤnnte.
Stilling blieb bis Oſterdienſtag in Schaffhauſen; er machte etliche gluͤckliche Staaroperationen, unter welchen eine beſonders merkwuͤrdig war: ein blindgeborner Juͤngling von 15 Jahren, ein Sohn frommer chriſtlicher Eltern, des Profeſſor Altorfer, wurde am Oſtermontag Morgen in Gegenwart vieler Perſonen operirt; als ihm der erſte Licht - ſtrahl in das nunmehr vom Staar befreite rechte Auge hin - einblitzte, ſo fuhr er auf und rief: ich ſehe die Majeſtaͤt Gottes! — Dieſer Ausdruck ruͤhrte alle Anweſende bis zu den Thraͤnen; dann wurde auch das andere Auge operirt; eine leichte Entzuͤndung hinderte hernach die Erlangung eines vollkommenen Geſichts; indeſſen er ſieht doch nothduͤrftig, und Stilling hofft ihm durch eine zweite Operation zum voͤlligen Gebrauch ſeiner Augen zu verhelfen.
Noch einen artigen Gedanken dieſes guten Juͤnglings muß ich bemerken: Die Eltern hatten einen goldnen Ring verferti - gen laſſen, in welchen eine ſchoͤne Garbe von Haaren, von einem jeden Mitglied der Familie, ſchwer von goldnen Fruͤch - ten eingefaßt iſt; dieſen Ring bekam Eliſe nach der Opera - tion, und der liebe Patient hatte den Einfall, daß folgende Deviſe darauf eingegraben werden ſollte: Geſchrieben im Glauben, uͤbergeben im Schauen — allein der Raum war zu klein dazu.
Deſſelben Tages, des Nachmittags, gingen Stilling und Eliſe in Begleitung der Kirchhofer’ſchen Familie, zu Fuß an den beruͤhmten Rheinfall; der Magenkrampf war aber ſo heftig, daß er oft zuruͤckbleiben mußte, und auch von dem praͤchtigen Schauſpiel der Natur nicht den erwarteten Genuß hatte. Stilling und Eliſe gingen auf der hoͤlzernen Altane ſo nahe an den Waſſerſturz, daß ſie ſich darinnen haͤtten waſchen koͤnnen. Dieſe erhabene Naturſcene iſt ſchlechterdings532 unbeſchreiblich, man muß ſie ſehen und hoͤren, um eine rich - tige Vorſtellung davon zu bekommen: der immerwaͤhrende Donner, das Zittern des Bodens, auf dem man ſteht, und die ungeheure Waſſermaſſe, die ſich milchweiß ungefaͤhr 80 Schuh hoch mit unwiderſtehlicher Gewalt den Felſen herab - waͤlzt, und bruͤllend in den weiten kochenden Keſſel ſtuͤrzt, und das in einer Breite von ein paar hundert Schritten — das Alles zuſammen gibt eine Vorſtellung, in welcher der ſtolze Menſch zum Wuͤrmchen im Staube wird. Ueberhaupt hat das die Schweiz ſo an ſich, daß ſie der ſtolzen Schwe - ſter Kunſt ihre Obermacht zeigt, und ſie unter ihre gewal - tige Hand demuͤthigt.
Am folgenden Tage, naͤmlich Oſterdienſtag Nachmittags, fuhren unſere Reiſenden nach Winterthur; auf halbem Wege, in dem romantiſchen Flecken Andolfingen an der Thur, fanden ſie den ehrwuͤrdigen Freund, den Pfarrer Sul - zer, nebſt ein Paar aus der Familie der Matrone, die Stil - ling hatte kommen laſſen; ſie waren ihnen entgegen gefah - ren, und empfingen ſie auf’s Zaͤrtlichſte und Herzlichſte; ſo zuſammen ſetzten ſie nun ihre Reiſe nach Winterthur fort, wo ſie des Abends in der Daͤmmerung ankamen.
Die Patientin, welche Stilling hatte kommen laſſen, war die Wittwe Frey in der Harfe; ſie hat zwei Soͤhne zu ſich ins Haus verheirathet, mit dieſen fuͤhrt ſie eine an - ſehnliche Handlung. Hier wurde auch Stilling mit ſeiner Eliſe — darf ich mich ſo ausdruͤcken? — wie Engel Got - tes aufgenommen und behandelt.
Lieben Leſer! verzeiht mir hier einen gerechten Herzeus - erguß, den ich unmoͤglich zuruͤckhalten kann.
Es iſt mir hier nicht moͤglich, mit Worten auszudruͤcken, was Stilling und Eliſe im Frey’ſchen Hauſe, in die - ſem Vorhof des Himmels, genoſſen haben; allen inniggelieb - ten Gliedern der Frey’ſchen Familie werden Beide dereinſt oͤffentlich vor allen Himmelsheeren danken und laut verkuͤn - digen, was fuͤr Wohlthaten ſie ihnen erzeigt haben; hier iſt Zunge und Feder zu ſchwach dazu — und der Herr wird hier und dort ihr Vergelter ſeyn! Eliſe ſchloß mit den533 Schwiegerloͤchtern der Frau Frey ein ewiges und enges Schweſterbuͤndniß.
Stilling operirte dieſe liebe Frau des folgenden Tages vollkommen gluͤcklich, ſie bekam hernach eine Entzuͤndung an’s rechte Auge, aber mit dem linken ſieht ſie, Gott Lob! recht gut.
Stillings Aufenthalt in Winterthur war außeror - dentlich gedraͤngt voll von Geſchaͤften: taͤglich machte er meh - rere Operationen, und Hunderte von Leidenden kamen, um ſich bei ihm Raths zu erholen; dazu kam nun noch ſein un - endlich quaͤlender Magenkrampf, wodurch ihm jeder Genuß jeder Art auf das bitterſte verſalzen wurde. Indeſſen kam doch Frei - tags den 10. April ein Beſuch, der auf eine kurze Zeit den Magenkrampf uͤberwog: Lavaters frommer Bruder, der Rathsherr Diethelm Lavater, ein ſehr geſchickter Arzt, dann der liebe chriſtlichfrohe Geßner, Lavaters Schwie - gerſohn, und Louiſe, die unermuͤdete Pflegerin und Waͤr - terin ihres verklaͤrten Vaters, und dann noch eine erhabene Kreuztraͤgerin, eine Wittwe Fueßli von Zuͤrich, die nun auch ſchon unter den Harfenſpielern am Kriſtallmeer ins Halle - lujah mit einſtimmt. Dieſe vier Lieben traten in Stil - lings Zimmer. So wird es uns dereinſt ſeyn, wenn wir uͤberwunden haben und in den Lichtgefilden des Reichs Got - tes anlangen; die Seligen der Vorzeit, unſere lieben Voran - gegangenen, und alle die großen Heiligen, die wir hienieden ſo ſehr wuͤnſchten gekannt zu haben, werden zu unſerer Um - armung herbeieilen und dann den Herrn ſelbſt — mit ſeinen ſtrahlenden Wunden zu ſehen —! — die Feder entfaͤllt mir.
Dieſe Lieben blieben uͤber Mittwoch da, und reisten dann wieder nach Zuͤrich zuruͤck.
Montags, den 13. April, reiste Stilling in Sulzers, des jungen Kirchhofers von Schaffhauſen, und oben - gedachter Frau Fueßli Begleitung nach Zuͤrich, um die dortigen Freunde, und dann auch einen Staarblinden zu be - ſehen, der ihn erwartete; dieſer war der beruͤhmte Fabrikant und Handelsmann Eßlinger, deſſen fromme und wohlthaͤ - tige Geſinnung allgemein bekannt iſt, und nun auch ſchon droben im Reich des Lichts ihre Vergeltung empfaͤngt. Eß -Stilling’s ſämmtl. Schriften. I. Baud. 35534linget entſchloß ſich mit folgenden Worten zur Operation: Ich hatte mein Schickſal dem Herrn anheimge - ſtellt, und von ihm Huͤlfe erwartet, nun ſchickte er ſie mir in’s Haus, folglich will ich ſie auch mit Dank annehmen.
Jetzt ſahe Stilling nun auch die verehrungswuͤrdige Gat - tin ſeines verklaͤrten Bruderfreundes Lavaters — ein Weib, das eines ſolchen Mannes werth war — das Bild der erha - bendſten Chriſtentugend — Wahrlich, Lavaters Frau und Kinder ſind Menſchen der erſten Klaſſe. Am Abend reiste Stilling in Sulzers Begleitung wieder nach Winterthur.
Hier empfing Stilling ein Schreiben vom Magiſtrat zu Schaffhauſen, in welchem er ihm ſehr liebreich und verbindlich fuͤr die Wohlthaten dankte, die er einigen Ungluͤck - lichen Ihrer Stadt bewieſen hatte. Am Tag ſeiner Abreiſe nach Zuͤrich aber widerfuhr ihm noch eine beſondere Ehre: des Mittags uͤber Tiſch im Frey’ſchen Hauſe, kam der Doktor Steiner, ein junger vortrefflicher Mann, der ein Mitglied des Magiſtrats war, und uͤberreichte Stilling mit einer ruͤhrenden Rede, die er mit Thraͤnen begleitete, im Namen der Stadt Winterthur, eine ſchwere, ſehr ſchoͤne ſilberne Medaille in einer netten Kapſel, die ein Winterthu - rer Frauenzimmer verfertigt hatte. Auf dem Deckel dieſer Kapſel ſtehen die Worte:
Auf der einen Seite der Medaille ſteht im Lapidarſiyl eingegraben:
Dem chriſtlichen Menſchenfreund, Heinrich Stil - ling, Hofrath und Profeſſor zu Marburg, von den Vorſtehern der Gemeinde Winterthur, zu einem kleinen Denkmal ſeines ſegenreichen Auf - enthalts in dieſer Stadt, im April des Jahrs535 1801, und zum Zeichen der Ehrerbietung und der dankbaren Liebe ihrer Bewohner.
Auf der andern Seite heißt es in eben dem Styl:
Unermuͤdlich wirkſam, ſtets zum Troſt der lei - denden Menſchheit, ſaͤet er treffliche Saat auf den großen Tag der Vergeltung.
Mit welcher Ruͤhrung und tiefen Beugung vor Gott er dieſes Ehrendenkmal empfing, und wie er es beantwortete, das koͤnnen meine Leſer leicht denken.
An dieſem feierlichen Tage, Donnerſtags den 16. April, reisten nun Stilling und Eliſe unter einem thraͤnenvollen Abſchied von allen Seiten von Winterthur nach Zuͤrich ab. Hier kehrten ſie bei Geßner ein, der ſie nebſt ſeinem herrlichen Weibe, Lavaters Tochter, die mit ihm in Kopen - hagen war, mit Armen der Freundſchaft empfing.
Die erſte Arbeit, die Stilling in Zuͤrich verrichtete, war Eßlingers Operation; ſie gelang ſehr gut er erhielt ſein Geſicht, aber es waͤhrte nicht lang, ſo bekam er den ſchwarzen Staar, und blieb nun unheilbar blind bis an ſeinen Tod.
Auch dieſem Hauſe kann Stilling erſt in der Ewigkeit nach Wuͤrde danken, hier iſt es nicht moͤglich.
Hier in Zuͤrich wurde er von außen durch einen unbe - ſchreiblichen Zulauf von Augenkranken, und von innen durch den empfindlichſten Magenkrampf gedraͤngt und gepeinigt. Zu Zeiten riß ihm dann die Geduld aus, ſo daß er die Leute hart anfuhr, und ſich uͤber die Menge beſchwerte; dieß nah - men ihm verſchiedene Zuͤrcher ſo uͤbel, daß er hernach rath - ſam fand, dort ein oͤffentliches Schreiben circuliren zu laſſen, in welchem er Alle und Jede, die er beleidigt hatte, um Ver - gebung bat. Es iſt unmoͤglich, die ganze Menge merkwuͤr - diger und vortrefflicher Menſchen, beiderlei Geſchlechts, die Stilling in der Schweiz uͤberhaupt, und beſonders in Zuͤrich perſoͤnlich kennen lernte, und die ihn ihrer Freund - ſchaft wuͤrdigten, hier namentlich anzufuͤhren. Heß, die beiden Doktoren Hirzel Vater und Sohn, Profeſſor Meyer, der beruͤhmte Kupferſtecher und Zeichner Lips, der auch Stil -35 *536ling zeichnete und in Kupfer geſtochen hat, und ſonſt noch einige namhafte Perſonen zeichneten ſich, naͤchſt Lavaters Familie, Verwandten und Freunden, in Freundſchaftsbezeu - gungen vorzuͤglich aus.
Dienſtags den 21. April reiste Stilling mit ſeiner Eliſe nach einem ſehr ruͤhrenden Abſchied von Zuͤrich weg, der Winterthurer Doktor Steiner, der ihm die Medaille uͤberreichte, und der junge Freund Kirchhofer, Pfarrer zu Schlatt, reisten mit.
Daß auch der Zuͤricher Magiſtrat Stillingen in einem Schreiben dankte, darf nicht vergeſſen werden.
Die Reiſe ging von Zuͤrich uͤber Baden und Lenzburg nach Zofingen, im Kanton Bern, wo Stilling den Schultheiß Senn — bei dem Wort Schultheiß darf man ſich keinen deutſchen Dorfſchultheiß denken — operiren ſollte; eben deßwegen reiste der Doktor Steiner mit, denn er war ein Verwandter von Senn, und weil ſich Stilling nicht aufhalten konnte, ſo wollte Steiner etliche Tage da bleiben und die Kur vollenden. Senn iſt ein ehrwuͤrdiger Mann, und ſtille, beſcheidene, chriſtliche Tugend iſt der Hauptzug in ſeinem und ſeiner Familie Charakter.
Mittwoch Morgens, den 22. April, operirte Stilling den Schultheiß Senn und noch eine arme Magd, und reiste dann mit ſeiner Eliſe das ſchoͤne Thal, laͤngs der Aar uͤber Aarburg und Olten herab, und dann den Hauenſtein hinan. Dieſer Berg wuͤrde in Deutſchland ſchon fuͤr einen hohen Berg gelten, hier aber kommt er nicht in Betracht. Oben auf der Hoͤhe iſt der Weg durch einen Felſen gehauen, und wenn man uͤber den Gipfel weg iſt, ſo ſieht man nach Deutſchland hinuͤber; in Nordweſten erſcheinen zweifelhaft die Bogeſiſchen Gebirge, und im Norden bemerkt man den obern Anfang des Schwarzwaldes; dreht man ſich aber um, ſo erſcheint die ganze Alpenkette am ſuͤdoͤſtlichen Horizont.
Nachdem ſie eine Strecke diesſeits herabgefahren waren, ſo kamen ſie vor ein einſames Wirthshaus, aus welchem eine wohlgekleidete artige Frau herausgelaufen kam und ſehr freund - lich fragte: ob Stilling in der Kutſche ſey? Und als ſie537 das Wort Ja! hoͤrte, ſo floß ihr ganzes Herz mit ihren Augen von Liebes - und Freundſchafts-Ergießungen uͤber: ſie brachte ein Fruͤhſtuͤck heraus, ihr Mann und Kinder kamen auch herzu, und es folgte eine viertelſtuͤndige ſehr herzliche und chriſtliche Unterhaltung, dann nahmen die Reiſenden Abſchied, und fuhren weiter das Thal hinab. Dieſer Ort heißt Leu - felfingen, und der Gaſtwirth Fluͤhebacher. Mit der Frau Fluͤhebacherin hat Stilling ſeitdem einen erbau - lichen Briefwechſel gefuͤhrt.
Am Abend um ſechs Uhr kamen die Reiſenden in Baſel an, wo ſie auf die freundſchaftlichſte Art von dem Raths - herrn und Kaufmann Daniel Schorndorf, ſeiner Gattin und Kindern aufgenommen wurden. In dieſer lieben chriſt - lichgeſinnten Familie verlebten ſie einige ſelige Tage.
Hier gab es auch wieder Vieles zu thun; dann machte auch Stilling wieder wichtige Bekanntſchaften, beſonders mit den Theologen von der deutſchen Geſellſchaft zur Befoͤrderung wahrer Gottſeligkeit, und dann auch ſonſt noch mit frommen Predigern, Huber, La Roche, u. a. m.
Nach einem Aufenthalt von vier Tagen nahm auch hier Stilling ruͤhrenden Abſchied, und reiste mit ſeiner Eliſe Montags den 27. April Morgens fruͤh von Baſel ab.
Jetzt, meine lieben Leſer! wer Ohren hat zu hoͤren, der hoͤre, und wer ein Herz zu empfinden hat, der empfinde! —
Stilling hatte ein tauſend ſechs hundert und ungefaͤhr fuͤnfzig Gulden Schulden — unter den zwei und ſiebenzig Staarblinden, die er in der Schweiz operirte, war eine Perſon, die kein Wort von ſeinen Schulden wußte, wenigſtens nicht von Ferne ahnen konnte, wie viel ihrer waͤren, nur aus innerem Antriebe, Stillingen eine be - quemere Lage zu verſchaffen — ganz genau ein tauſend ſechs hundert und fuͤnfzig Gulden fuͤr die Staaroperation und Kur bezahlte. Als Stil - ling und Eliſe des Abends zuſammen auf ihr Schlafzim - mer kamen, ſo fanden ſie das Geld theils baar, theils in Wechſeln auf ihrem Bette — genau die Summe ihrer Schul -538 den, von der das Werkzeug in der Hand Gottes kein Wort wußte.
Mein Gott, wie war beiden guten Seelen zu Muth! — mit welcher Ruͤhrung ohne gleichen ſanken Beide vor dem Bette auf die Knie, und brachten Dem feurigen Dank, der dieß unausſprechlich wichtige Zeugniß ſeiner allerſpezielleſten Vorſorge und Fuͤhrung ſo ganz augenſcheinlich abgelegt hatte.
Eliſe ſagte: das heißt wohl recht, ſeinen Freunden gibt Er es ſchlafend. — Von nun an wolle ſie nie wieder miß - trauiſch ſeyn.
Noch mehr! — die gute Seele, welche ein paar Jahre vorher die dreihundert Gulden ſchickte, als Stilling in Kaſſel, und Eliſe in der Preſſe war, wurde jetzt auch beſucht, um ihr den gebuͤhrenden Dank zu bezeugen; ihr Mann wurde operirt: und als Stilling gegen alle fernere Bezah - lung proteſtirte, ſo ſagte der edle Mann ganz pathetiſch: das iſt nun meine Sache! und ſchickte dann Stillingen ſechshundert Gulden in ſein Logis; — damit waren nun auch die Reiſekoſten bezahlt.
Noch mehr! Stillings himmliſcher Fuͤhrer wußte, daß er in wenigen Jahren noch eine huͤbſche Summe noͤthig haben wuͤrde; Stilling wußte aber davon kein Wort. Dieſe Summe wurde ihm von verſchiedenen wohlhabenden Patien - ten mit vielem Dank ausbezahlt. Auſſerdem kamen noch ſo viele Geſchenke und Liebesandenken an Koſtbarkeiten dazu, daß Stilling und Eliſe aus der Schweiz wie zwei Bienen von der Blumenreiſe zuruͤckkamen.
Lieber Leſer! Gott, der Allwiſſende, weiß, daß dieß Alles reine, und mit keinem Wort ausgeſchmuͤckte Wahrheit iſt. Wenn das Alles aber nun reine heilige Wahrheit iſt, was folgt dann daraus? — Am Schluß dieſes Buͤchleins werden wir es finden.
Unſere Reiſenden nahmen ihren Weg durchs Breisgau herab auf Karlsruhe; von Baſel bis an dieſen Ort, oder vielmehr bis nach Raſtadt, wurde Stilling von einer entſetzlichſten Angſt gemartert, es war ihm, als ob er dem gewiſſen Tod entgegen ginge: die Veranlaſſung dazu war eine Warnung, die ihm insgeheim und ernſtlich zu Baſel539 gegeben wurde, ja nicht uͤber Straßburg zu reiſen; aus dieſer Stadt ruͤhrte auch dieſe Warnung her, ein Freund hatte deßfalls nach Baſel geſchrieben.
Dazu kam noch ein Umſtand: ein gewiſſer gefaͤhrlicher Mann drohte Stillingen in Baſel; der Grund von allem dem liegt in ſeinen Schriften, welche Vieles enthalten, das einem revolutionsſuͤchtigen Freigeiſt unertraͤglich iſt. Mir iſt mit Gewißheit bekannt, daß es Leute gibt, die vor Zorn die Zaͤhne auf einander beißen, wenn nur Stillings Na - men genannt wird; ſonderbar! Stilling beißt bei keines Menſchen Namen! — Freunde! auf welcher Seite iſt nun Wahrheit! — Wahrlich! — Wahrlich! nicht da, wo gebiſſen wird!
Bei allem dem iſt es doch etwas Eigenes, das Stilling nur zu gewiſſen Zeiten, und manchmal bei noch geringeren Veranlaſſungen, eine ſolche unbeſchreibliche Angſt bekommt; bei andern, weit groͤßern Gefahren, iſt er oft gar nicht furcht - ſam. Ich glaube, daß es Einwirkungen eines unſichtbaren boͤſen Weſens, eines Satans-Engels ſind, die Gott aus wei - ſen Urſachen dann und wann zulaͤßt; eine koͤrperliche Dis - poſition kann Veranlaſſung zu einer ſolchen feurigen Verſu - chung geben, allein das Ganze der Verſuchung iſt we - der im Koͤrper noch in der Seele gegruͤndet; dieß kann aber durch nichts anders, als durch eigene Erfahrung bewieſen wer - den. Daß es aber ſolcher Sichtungen des Satans gibt, das bezeugt die heilige Schrift.
Stillings Angſt war am heftigſten zu Freiburg im Breisgau, zu Offenburg und zu Appenweyer. Zu Raſtadt wurde ſie ertraͤglich, aber hier fing nun der Ma - genkrampf an heftig zu raſen; Mittwochs, den 29. April, fuhren ſie des Morgens mit einem ſchlafenden Poſtillon und zwei muͤden Pferden nach Karlsruhe; auf dieſem Wege war jener Magenkrampf faſt unertraͤglich; Stilling ſehnte ſich nach Ruhe; anfangs war er nicht Willens, zum Kur - fuͤrſten zu gehen, ſondern ſich lieber durch Ruhe zu erquicken; indeſſen dachte er doch auch, da dieſer große, weiſe und fromme Fuͤrſt das Heimweh mit ſo vielem Beifall geleſen und ihm540 deßfalls ein paarmal geſchrieben hatte, ſo waͤre es doch wohl Schuldigkeit, wenigſtens den Verſuch zu machen, ob er zur Aufwartung angenommen wuͤrde? Er ging alſo ins Schloß, meldete ſich, wurde augenblicklich vorgelaſſen, und mußte den Abend um fuͤnf Uhr auf ein Stuͤndchen wieder kommen. Ueber dieſen Beſuch ſage ich kein Wort weiter, als daß er den entfernten Grund zur endlichen Aufloͤſung des Stillings - knoten legte, ohne daß es Stilling damals ahnete.
Donnerſtags den 30. April reisten Beide von Karlsruhe nach Heidelberg; Liſette hatte die ganze Zeit uͤber um eine gluͤckliche Reiſe fuͤr ihre Eltern gebetet. Des andern Morgens, Freitags den 1. Mai, reisten ſie weiter, Mieg und Liſette begleiteten ſie bis Heppenheim: hier vor der Thuͤr des Gaſthauſes ſahen ſie ihre Liſette in dieſem Leben zum Letztenmal. Mieg ging mit ihr zuruͤck nach Heidelberg, und Stilling und Eliſe ſetzten ihren Weg fort nach Frankfurt, wo ſie des folgenden Tages, Sonn - tags den 2. Mai geſegnet, gluͤcklich und wohlbehalten ankamen.
Von Frankfurt machten ſie nun noch eine Reiſe ins Schlangenbad, um den alten ehrwuͤrdigen Burggraf Rull - mann und noch einige Arme zu operiren. Dort in der an - genehmen Einoͤde hatten ſie nun Zeit, die ganze Reiſe zu recapiruliren, und nachdem auch hier Alles verrichtet war, ſo reisten ſie wieder nach Marburg, wo ſie den 15. Mai ankamen, und Alles geſund und wohl antrafen.
Das Erſte, was nun Stilling vornahm, war die Abtra - gung ſeiner Schulden — das Hauptkapital, welches ihm zu Schoͤnenthal gleich nach ſeiner Zuruͤckkunft von Straß - burg, unter der Buͤrgſchaft ſeines Schwiegervaters war vor - geſchoſſen worden, das ſtand noch groͤßtentheils, und die Buͤrg - ſchaft war noch nicht aufgehoben; aber jetzt geſchah es auf Einmal. Jetzt blieb er Niemand, ſo viel er ſich erinnern konnte, einen Heller mehr ſchuldig. Er war ehemals deswe - gen von Heidelberg weggezogen, um vermittelſt des großen Gehalts die Schulden zu tilgen — das war ſein und Sel -541 ma’s, aber nicht des Herrn Plan: denn der Hauptſtock wurde nicht durch die Beſoldung, ſondern aus der Kaſſe der Vor - ſehung bezahlt. Die Abſicht des Herrn bei dem Zug nach Marburg war keine andere, als ihn vor dem Ungluͤck und den Schrecken des Kriegs zu bewahren, und in Sicherheit zu bringen, und dann ſeine dreißigjaͤhrige unerſchuͤtterliche Stand - haftigkeit im Vertrauen auf ſeine Huͤlfe, auch dann, wann es am dunkelſten ausſahe, und in einem Lande, welches durch den Krieg am mehreſten ausgeſogen war, auf eine eklatante, auf eine ſolche Weiſe zu kroͤnen, ſo daß Jedermann bekennen muß: Das hat der Herr gethan!
Sollte Jemand Etwas dabei zu erinnern haben, daß ich ſage, es ſey des Herru Plan geweſen, Stillingen vor den Schrecken des Kriegs zu bewahren, da es ja weit beſſere Menſchen gaͤbe, die den Krieg haͤtten aushalten muͤſſen, ſo dient einem ſolchen zur dienſtwilligen Antwort: daß ein guter Hirte die ſchwaͤchſten Schafe, die am we - nigſten aushalten koͤnnen, am erſten und ſorgfaͤl - tigſten fuͤr Sturm und Ungewitter verbirgt.
Wenn die Vorſehung Etwas ausfuͤhren will, ſo thut ſie es nicht halb, ſondern ganz. Stilling war in Straß - burg, als er dort ſtudirte, einem Freund zwiſchen 40 bis 50 Gulden ſchuldig geblieben, der Freund trieb nicht auf die Bezahlung, und Stilling hatte auch mit der uͤbrigen Schul - denlaſt ſo viel zu thun, daß er froh war, wenn ihn ein Kre - ditor in Ruhe ließ. Dieß ging ſo fort bis zur franzoͤſiſchen Revolution, wo es uͤberall, auch in Straßburg, drunter und druͤber ging; nun kam auch noch der Krieg dazu, wo - durch die Communication zwiſchen Deutſchland und Frank - reich vollends erſchwert wurde; und da auch Stilling noch andere und druͤckendere Schulden hatte, ſo dachte er an die - ſen Poſten nicht mehr, aber ſein himmliſcher Fuͤhrer, der durchaus und vollkommen gerecht iſt, dachte allerdings daran, denn alſofort, nach Stillings Reiſe in die Schweiz, kommt ein Freund zum Bruder des laͤngſt verſtorbenen Straßbur - ger Kreditors, und bezahlt nicht allein das Kapitaͤlchen, ſon - dern auch die Intereſſen von dreißig Jahren, ſo daß alſo542 ſeine Zahlung fuͤr Stilling beinahe hundert Gulden betrug. Stilling bekam alſo von unbekannter Hand die Quittung uͤber die Bezahlung dieſes Poſtens, aber er hat nie den Freund erfahren, der ihm auf eine ſo edle Art dieſen Liebesdienſt er - zeigt hat. Er wird dich aber dereinſt finden, edler Mann! dort, wo Alles offenbar wird, und dann erſt wird er dir nach Wuͤrden danken koͤnnen.
Das war eine geſegnete Schuldentilgungs-Reiſe! — ein wichtiger Stillingsknoten, eine Schulden - Maſſe von fuͤnfthalb tauſend Gulden machen zu muͤſſen, und ſie ganz ohne Vermoͤgen, blos durch den Glauben, redlich und ehrlich, mit den Zinſen bis auf den letzten Heller zu bezahlen, war nun herrlich geloͤst. Hallelujah!
Etliche Wochen nach Stillings Zuruͤckkunft aus der Schweiz begegnete ihm etwas Merkwuͤrdiges; er ſaß an ei - nem Vormittag an ſeinem Pult, es klopfte Jemand an ſeine Thuͤr, auf das Wort herein! trat ein junger Mann von 27 bis 30 Jahren ins Zimmer; er ſahe unſtaͤt und fluͤchtig aus, blickte ſchuͤchtern umher, und oft mit ſcheuem Blick auf La - vaters Portrait: Sie ſind in Zuͤrich geweſen? fing er an, ich war auch da! — ich muß fort! — er ging unruhig um - her, ſchaute nach Lavaters Bild, und ſagte haſtig: ich kann in Deutſchland nicht bleiben, es iſt uͤberall unſicher fuͤr mich — man koͤnnte mich fangen — ach Herr Hofrath! ma - chen Sie, daß ich fortkomme! — Stilling gerieth in Ver - legenheit, und fragte: Sind Sie ein Schweizer? Ach ja, ant - wortete er, ich bin ein Schweizer! — aber ich habe keine Ruhe, ich will nach Amerika, machen Sie, daß ich dahin komme! u. ſ. w. Unter beſtaͤndigem Hin - und Herlaufen, und Blik - ken nach Lavaters Bild, ſprach er noch Mehreres, das bei Stilling die Vermuthung erregte, er ſey Lavaters Moͤr - der. Er rieth ihm alſo, nach Hamburg zu gehen, wo er immer Gelegenheit faͤnde, nach Amerika zu kommen; er moͤchte aber eilen, damit er der Polizei nicht in die Haͤnde geriethe; ploͤtzlich lief der arme Menſch zur Thuͤr hinaus und fort.
Nachdem nun Stilling ſeine ſo lang getragene Schulden -543 laſt ehrlich abgewaͤlzt hatte, ſo wurde nun eine andere Sache vorgenommen. Als Stilling und Eliſe aus der Schweiz zuruͤck kamen, uͤbernachteten ſie in Muͤnſter bei ihren Kin - dern Schwarz; nachdem ſie ihnen nun erzaͤhlt hatten, was der Herr an ihnen gethan, und wie er ſie geſegnet habe, ſo ſchlugen Schwarz und Hannchen vor, ob die Eltern nun nicht des Jakobs und der Amalie ſieben Jahre lang ge - pruͤfte Liebe kroͤnen, und ſie trauen laſſen wollten, da ja doch in der ganzen Lage dadurch eigentlich nichts geaͤndert oder er - ſchwert wuͤrde? — Die Eltern fanden nichts dagegen einzu - wenden, und um die beiden Verlobten zu uͤberraſchen, und ihnen eine deſto hoͤhere Freude zu machen, wollten ſie alle Zubereitung geheim halten, dann Freund Schlarbaum mit ſeiner Familie zum Thee bitten, und der ſollte dann auf Ein - mal vortreten und Beide kopuliren. Die Ausfuͤhrung dieſes Planes gerieth aber nur zum Theil: die Sache blieb nicht ganz geheim, die Trauung geſchah den 12. Julius in dieſem 1801ten Jahre. Jetzt zog nun Jakob wieder zu ſeinen El - tern, er und ſeine Gattin blieben an ihrem Tiſch und in dem naͤmlichen oͤkonomiſchen Verhaͤltniß wie bisher.
Eliſe hatte im vorigen Sommer 1800 das Bad zu Hof - geißmar gebraucht, es war mit ihrem Hals aber eher ſchlim - mer als beſſer geworden: jetzt wollte man nun auch das Schlangenbad verſuchen: ſie reiste auf ſechs Wochen da - hin, aber auch das half wenig.
In dieſem Sommer ſchrieb Stilling den zweiten Band der Scenen aus dem Geiſterreich; bei dieſer Gelegen - heit muß ich doch etwas Artiges und Merkwuͤrdiges erzaͤhlen, jeder mag daraus machen was er will: ich habe oben geſagt, daß Stilling im verwichenen Winter, bald nach Lavaters Tod, ein Gedicht, unter dem Namen „ Lavaters Verklaͤ - rung “herausgegeben habe; in dieſem Gedicht holen die bei - den vor Lavater verſtorbenen Freunde, Felix Heß und Pfenniger, in Geſtalt zweier Engel den muͤden Kaͤmpfer nach ſeinem Tode ab und fuͤhren ihn nach Neu-Jeruſalem. Jetzt, etwa ein halb Jahr nach der Herausgabe dieſes Ge - dichts, kam Stillings frommer und treuer Freund, der544 reformirte Prediger Breidenſtein in Marburg zu ihm, um ihn zu beſuchen; Beide redeten uͤber allerhand Sachen, und unter andern auch uͤber jenes Gedicht; es iſt artig, ſagte Breidenſtein, daß Sie des ſeligen Felix Heß Verſpre - chen ſo ſchoͤn benutzt haben. Wie ſo? — antwortete Stil - ling, was fuͤr ein Verſprechen? Breidenſtein erwiederte: Lavater ſtand vor etlichen und zwanzig Jahren an Felix Heßens Sterbebette, weinte und ſagte: nun ſtehſt du aber nicht an meinem Bette, wenn ich ſterbe! — Heß antwortete: ich werde dich dann abholen! — Stilling verſetzte: Nein, wahrlich! davon habe ich nie ein Wort gehoͤrt — das iſt doch ſonderbar! — wo ſteht das? ich muß es ſelbſt leſen! — das ſollen Sie! ſagte Breidenſtein, das iſt allerdings ſonderbar! Des andern Tages ſchickte er Lavaters vermiſchte Schriften, in welchen eine kurze Lebens - beſchreibung von Felix Heß befindlich iſt; da ſteht nun dies Geſpraͤch genau ſo, wie es Breidenſtein erzaͤhlte.
Daß Stilling jene Geſchichte nie gehoͤrt und geſehen, wenigſtens in vielen Jahren nicht daran gedacht hat, wenn er ſie auch ehemals geleſen haben ſollte, welches ich doch nicht glaube, das kann ich bei der hoͤchſten Wahrheit verſichern. Wenn nun alſo dieſe ſonderbare Sache Zufall iſt, ſo iſt er einer der ſelteſten, die jemals geſchehen ſind: denn erſtlich ſagt Heß vor nunmehr ungefaͤhr 30 Jahren, nahe vor ſeinem Tode, zu Lavater: ich werde dich abholen, wenn du ſtirbſt! — jetzt, ſo viele Jahre ſpaͤter, ſtirbt Lavater — Stilling entſchließt ſich, ein Gedicht auf ſeinen Tod zu machen — entſchließt ſich, die Dichtung ſo zu entwerfen, daß ihn zwei ſeiner Freunde abholen ſollen, und waͤhlt nun auch den Mann dazu, der es ihm vor dreißig Jahren verſprochen hatte!!! — Noch Eins:
Als Stilling in Zuͤrich war, ſo ſagte man ihm, Lava - ter habe noch einen Freund gehabt, mit dem er auf einem noch vertrautern Fuß geſtanden habe, als mit Felix Heß, warum er den nicht in ſeinem Gedicht zu Lavaters Abho - lung gebraucht habe? Stilling fragte: wer denn dieſer Freund geweſen ſey? Man antwortete ihm: es ſey Heinrich Heß545 geweſen. Dies veranlaßte nun Stilling, dieſen Freund in den Scenen aus dem Geiſterreich aufzufuͤhren, und zwar ſo: der verklaͤrte Heinrich Heß ſollte Lavatern zur Mut - ter Maria abholen, weil ihn dieſe, als einen treuen Vereh - rer ihres Sohns, gern kennen lernen moͤchte; dann ſollte ſich Lavater von Maria den Charakter des Herrn in ſeinem irdiſchen Leben erzaͤhlen laſſen, u. ſ. w. Dieß iſt nun auch im zweiten Band der Scenen genau ſo ausgefuͤhrt worden. Lange nachher, als das Werk ſchon gedruckt war, las Stil - ling einmal von ungefaͤhr in Lavaters Jeſus Meſſias das 26ſte Kapitel des erſten Bandes, die ſtille Verborgenheit Jeſus bis in ſein 30ſtes Jahr, und fand nun hier wiederum mit Verwunderung, daß Lavater ſich damit troͤſtet: die Mutter Maria werde ihm dereinſt in den ſeligen Gefilden erzaͤhlen, was ihr Sohn in ſeinem irdi - ſchen Leben fuͤr einen Charakter gehabt habe u. ſ. w. Daß Stilling dieß vorher nie in ſeinem Leben geleſen hatte, das kann man mir auf mein Wort glauben.
Dieſen Herbſt des 1801ſten Jahres kam es auch wieder zu einer Reiſe. An einem Ort im noͤrdlichen Deutſchland befand ſich eine ſehr wuͤrdige, fromme Perſon, die den Staar hatte: ſie war zu arm, um nach Marburg zu kommen, oder auch um Stilling kommen zu laſſen. Dieſer beſprach ſich mit Eliſe uͤber dieſe Sache, und ſie beſchloſſen, weil der Herr ihre Schweizer-Reiſe ſo ſehr geſegnet und ihnen ſo viel Gutes erzeigt haͤtte, ſo wollten ſie aus Dankbarkeit nun auf ihre eigene Koſten zu der wuͤrdigen Patientin reiſen, und ihr unter Gottes Beiſtand zu ihrem Geſicht verhelfen. Sie ruͤſteten ſich alſo wieder zur Reiſe, und Stilling ſchrieb an die Perſon, daß er kommen wolle. Dieſe freute ſich, wie man leicht den - ken kann, außerordentlich, und machte auch Stillings Vor - haben in dortigen Gegenden bekannt. Da nun die Reiſe uͤber Braunſchweig ging, ſo wurde er freundlich eingeladen, in dem Stobwaſſeriſchen Hauſe zu logiren — Stobwaſ - ſer iſt ein beruͤhmter Handelsmann, er hat eine betraͤchtliche Lakierfabrik, und iſt ein Mitglied der Bruͤdergemeinde. Stil - ling nahm dieß Anerbieten mit Dank an, und da nun auch546 ihr Weg uͤber Minden ging, ſo beſchloſſen ſie, bei Julien einen Beſuch abzulegen, um auch dieſe gute Seele perſoͤnlich kennen zu lernen: dieſe lud ſie aber freundlich ein, bei ihr zu logiren, welches dann auch mit Freuden zugeſagt wurde.
Stilling und Eliſe traten dieſe Reiſe den 18. Sep - tember an, ſie nahmen Karoline bis Kaſſel mit, dort ſollte ſie bleiben, bis die Eltern wieder zuruͤckkaͤmen, denn da ſie durch ihr Betragen und herzliche Liebe zu ihren Eltern, dieſen Freude machte, ſo ſuchten ſie ihr das auch bei Gele - genheit zu erwiedern. In Kaſſel logirten ſie bei dem Herrn geheimen Rath von Kunckel, deſſen Gattin eine nahe Bluts - verwandtin von Eliſe iſt. Der geheime Rath von Kun - ckel aber war von jeher Stillings wahrer, bewaͤhrter und vertrauter Freund, und wird es auch wohl bleiben, ſo lange ihr Beider Daſeyn waͤhrt. Kunckel hat von der Pike auf gedient, und iſt durch ſeine treue Thaͤtigkeit geworden, was er iſt.
Des folgenden Tages am Nachmittag fuhren ſie nach Min - den, dort blieben ſie den Sonntag. Julie empfing ſie mit der ganzen Fuͤlle der chriſtlichen Liebe, ſie und der rechtſchaf - fene reformirte Prediger Klugiſt, nebſt ſeiner lieben Gattin, erzeigten beiden Reiſenden alle moͤgliche Freundſchaft. Julie und Eliſe ſchloſſen den Schweſterbund auf ewig, und ver - banden ſich, den Weg fortzupilgern, den uns unſer anbetungs - wuͤrdiger Erloͤſer vorgezeichnet und ſelbſt vorgegangen hat. Julie hat noch zwei vortreffliche Schweſtern, die auch da wa - ren und den chriſtlich freundſchaftlichen Zirkel vermehren halfen.
Zu Goͤttingen fanden ſie den treuen Achelis gerade im Begriff, abzureiſen; er hatte einen Beruf als Prediger in der Naͤhe von Bremen bekommen; ſeine Gattin war ſchon mit ihrer Schweſter voraus nach Bovenden, wo ſie ihn erwartete. Achelis begleitete nun Stilling und Eliſe, und von Bovenden fuhren ſie zuſammen bis Nordheim, wo ſich dann Alle unter tauſend Segenswuͤnſchen trennten.
Hier in Nordheim uͤberfiel Stilling eine unbeſchreib - liche Angſt; ſie fing eben vor dem Abſchied von Achelis an; ob es der gute Mann noch gemerkt hat, das weiß ich547 nicht. Es war eigentlich eine Angſt fuͤr boͤſen Wegen, und fuͤr Umfallen der Kutſche — ſie war aber ſo entſetzlich, daß es kaum auszuhalten war; ſie waͤhrte die ganze Reiſe durch, und wurde bald ſtaͤrker, bald ſchwaͤcher.
Dienſtag den 22. September des Nachmittags kamen ſie gluͤcklich im Stobwaſſeriſchen Hauſe zu Braunſchweig an; er ſelbſt war mit ſeiner Gattin in Berlin, wo er auch eine anſehnliche Fabrik hat, ſeine Leute erzeigten aber den Reiſenden alle moͤgliche Liebe und Freundſchaft; es war Stilling und Eliſe innig wohl unter dieſen guten Menſchen.
Von hier aus fuhr nun Stilling zu der Perſon, welche dieſe Reiſe veranlaßt hatte: ſie wurde ſehend. In Braun - ſchweig ſelbſt operirte er zwoͤlf Perſonen, und vier Stun - den von da, zu Ampleben, einem Ritterſitz des Herrn von Boͤttichers, nebſt einem Pfarrdorf, eine Frau von Bode, die nebſt ihrem Gattin auch zu den wahren Verehrern unſers Erloͤſers gehoͤrt. Stilling und Eliſe fuhren dahin, blie - ben einige Tage da, die Frau von Bode wurde auch ſehend, und dann gingen ſie wieder zuruͤck nach Braunſchweig.
Da man Eliſen ernſtlich gerathen hatte, wegen ihrem Halsziehen den beruͤhmten Arzt und großen Gelehrten, den Hofrath Beireiß in Helmſtaͤdt, zu conſuliren, ſo wurde die Reiſe auch dahin unternommen. Der große Mann gab ſich alle erdenkliche Muͤhe, den Reiſenden Vergnuͤgen zu machen, er ſchrieb auch Eliſen eine Kur vor, die ſie aber nicht aus - halten konnte, weil ſie ſie zu ſtark angriff.
Waͤhrend des Aufenthaltes in Braunſchweig machte Stilling verſchiedene intereſſante perſoͤnliche Bekanntſchaf - ten mit Campe, von Zimmermann, Eſchenburg, Pokels und noch Andern mehr. Der Herzog bezeigte ſich außerordentlich gnaͤdig, er ließ Stilling zweimal zu ſich kom - men, und unterredete ſich lange mit ihm uͤber allerhand Sachen, unter Andern auch uͤber die Religion, uͤber welche er ſich gruͤndlich und erbaulich aͤuſſerte. Dann ſagte er auch zu Stilling: Alles, was Sie hier gethan haben, das ſehe ich ſo an, als waͤr’ es Mir ſelbſt geſche - hen — und des folgenden Tages ſchickte er ihm ſechzig548 Louisd’or in ſein Quartier. Damit war alſo nicht nur die Reiſe bezahlt, ſondern es blieb auch noch uͤbrig. Es war alſo der Wille der Vorſehung, daß das Schweizergeld zu einem weit andern Zweck aufbehalten werden ſollte.
Waͤhrend Stillings Aufenthalt in Braunſchweig, kam die Gemahlin des Erbgrafen von Stollberg-Wer - nigerode, eine geborne Prinzeſſin von Schoͤnberg, gluͤck - lich mit einer jungen Graͤfin ins Wochenbett; die Eltern hatten Stilling zum Taufpathen des Kindes gewaͤhlt, dieß beſtaͤrkte nun den Vorſatz, den man ſchon in Marburg gefaßt hatte, einen kleinen Umweg uͤber Wernigerode zu machen, noch mehr. Dem zu Folge reisten ſie Freitags den 9. Oktober von Braunſchweig ab, und kamen des Abends an gedachten Ort, auf der hohen Burg, der von alten Zeiten her chriſtlich geſinnten graͤflichen Familie an.
Hier waren Stilling und Eliſe wie im Vorhof des Himmels. Er beſuchte auch ſeine alten Freunde, Superin - tendenten Schmid, Hofrath Fritſche, Rath Benzler, Regierungsrath Blum, und den Sekretair Cloſſe, der ſein Lied im Heimweh: „ Es wankte ein Wanderer alt und muͤde “, vortrefflich in Muſik geſetzt hat. Den Sonn - abend, den Sonntag und den Montag blieben ſie bei der graͤflichen Familie; ein vornehmer Herr aus Sachſen, der in Geſchaͤften da war, und neben Stilling an der Tafel ſaß, ſagte mit Ruͤhrung zu ihm: Wahrlich! man ſollte von Zeit zu Zeit hieher reiſen, um ſich einmal wieder zu erholen und zu ſtaͤrken — und gewiß! er hatte Recht: Religion, Wohlſtand, Feinheit der Sitte, Froh - ſinn, Anſtand und voͤllige Praͤtenſionsloſigkeit, beſtimmen den Charakter eines jeden Mitglieds dieſer edlen Familie.
Bei allem dem wich hier Stillings Schwermuth nicht, ſie war kaum auszuhalten.
Dienſtag den 13. Oktober nahmen die Reiſenden von der Wernigeroder Herrſchaft ruͤhrenden und dankharen Ab - ſchied; der Graf ließ ſie durch ſeinen Kutſcher mit zwei Pfer - den bis nach Seeſen fahren, von da nahm dann Stilling Poſt auf Gandersheim, wo eine vieljaͤhrige Freundin von549 ihm, die Graͤfin Friederike von Ortenburg, Stiftsdame iſt; dieſe hatte ihn erſucht, ſie zu beſuchen, weil ſich dort an den Augen Leidende befaͤnden, die ihn erwarteten.
Die Graͤfin Friderike freute ſich ſehr uͤber Stillings Beſuch; uͤberhaupt erzeigte man beiden Reiſenden dort viele Ehre: ſie ſpeisten des Abends bei der Prinzeſſin von Co - burg, welche in Abweſenheit der Fuͤrſtin Aebtiſſin ihre Stelle vertritt. Stilling bediente hier verſchiedene Patienten, und operirte eine arme alte Frau. Den Abend vor der Abreiſe ſtieg ſeine Schwermuth bis zur Hoͤllenangſt; gegen Mitter - nacht aber wendete er ſich mit großem Ernſt im Gebet zu Gott, daß es durchdringen mußte, und nun ſchlief er ruhig bis an den Morgen, und ſetzte dann mit ſeiner Eliſe ſeine Heimreiſe fort; ſie kamen des Abends ſpaͤt in Minden an, wo wiederum Julie, Klugiſt und ſeine Gattin in Freund - ſchaftsbezeugungen wetteiferten.
Jetzt bemerkte man deutlich, daß es mit Juliens altem Vater zu Ende ging; Stilling und Eliſe baten ſie alſo, ſie moͤchte, wenn ihr Vater zu ſeiner Ruhe eingegangen waͤre, zum Beſuch nach Marburg kommen, denn das wuͤrde ihr zur Erholung und Aufheiterung dienen. Julie verſprach, ſie wolle kommen.
In Kaſſel bekam Stilling viel zu thun, ſo daß er vom Morgen bis an den Abend Recepte ſchreiben, und Rath ertheilen mußte, er operirte auch hier verſchiedene Perſonen.
Meine Leſer werden ſich erinnern, daß Bruder Coing zu Braach bei Rothenburg an der Fulda, 11 Stunden von Kaſſel, Prediger geworden ſey, und daß Maria Coing nebſt den beiden Kindern Friedrich und Malchen auch jetzt da waren. Dieſe beiden Kinder, auch die Schwe - ſter Maria, wenn ſie es wuͤnſchte, dort abzuholen, dann aber auch und vorzuͤglich den guten lieben Bruder einmal zu beſuchen, war Stillings und Eliſens Vorhaben: da ſie jetzt in der Naͤhe waren, um dieſes Vorhaben auszufuͤhren, reisten ſie Donnerſtag den 22. Oktober von Kaſſel ab; bei dem Ausfahren durchs Leipziger Thor ſagte er zu ſeiner Frau:Stillings ſämmtl. Schriften. I. Band. 36550Ach liebes Kind! was gaͤb ich drum, wenn ich jetzt nach Marburg fahren koͤnnte! — Eliſe antwortete: Ey ſo laß uns das thun! — indeſſen Stilling wollte nicht, denn er dachte, wenn ihm ein Ungluͤck bevorſtaͤnde, ſo koͤnnte ihm das allenthalben wiederfahren; ſie fuhren alſo fort; der Bru - der kam ihnen zu Pferd entgegen, und am Abend kamen ſie gluͤcklich in Braach an.
Der Aufenthalt an dieſem, an ſich angenehmen Ort, war auf acht Tagen feſtgeſetzt, waͤhrend der Zeit war Stilling zu Muth, wie einem armen Suͤnder, der in wenigen Tagen hingerichtet werden ſoll; er operirte ein Frauenzimmer in Rothenburg und bediente verſchiedne Patienten. Maria, die in Braach ſchwaͤchlich geworden war, ſollte nun nebſt den beiden Kindern wieder mit nach Marburg reiſen, und die Abreiſe wurde auf Donnerſtag den 29. Oktober beſtimmt. Zu dieſem Ende ſchickte Bruder Coing nach Morſchen auf die Poſt, und beſtellte die Pferde.
Mittwochs Abends, alſo den Tag vor der Abreiſe, ſtieg Stillings Schwermuth ſo hoch, daß er zu Eliſen ſagte: Wenn die Qual der Verdammten in der Hoͤlle auch nicht groͤßer iſt, als die meinige, ſo iſt ſie groß genug!
Des folgenden Morgens kam der Poſtillon zu beſtimmter Zeit, er hatte den Poſtwagen nach Rothenburg gefahren, folglich brauchte er vier Pferde, die aber gegen alle Poſtord - nungen ſehr munter und luſtig waren; er ſpannte ein, und fuhr ledig durch die Fulda, Stilling, Eliſe, Maria, die Kinder und der Bruder ließen ſich einen Schußweges weiter oben in einem Nachen uͤberſetzen, mittlerweile kam der Po - ſtillon jenſeits die Weiſe herauf, und hielt am gegenſeitigen Ufer.
Sie ſtiegen ein: Stilling ſaß hinten rechter Hand, neben ihm Eliſe mit dem Malchen auf dem Schooß, gegen ihr uͤber Maria, und gegen Stilling uͤber der Friedrich; jetzt nahm Bruder Coing Abſchied und ging wieder zuruͤck; ploͤtzlich klatſchte der Poſtillon, die vier raſchen Pferde gingen los in vollem Trab, der Poſtillon drehte kurz, die vordern Kutſchenraͤder faßten die Langwied, und ſchleuderten die Kutſche551 mit einer ſolchen Gewalt auf den Boden, daß der Kaſten rundum in der Mitte entzwei borſt; da es nun eine Halb - chaiſe, alſo vorn unbedeckt iſt, ſo flogen Eliſe, Maria und die beiden Kinder dort uͤber die Wieſe hin, Stilling aber, der auf der Fallſeite hinten im Eck ſaß, blieb im Wa - gen, und wurde jaͤmmerlich zugerichtet. Zum Gluͤck fuhr der Kehrnagel heraus, ſo daß die Kutſche nicht geſchleift wurde, ſie blieb alſo ſtill liegen, und Stilling lag ſo feſt einge - klemmt, daß er ſich nicht regen konnte. Es iſt außerordent - lich merkwuͤrdig, daß in dem Augenblick alle Schwermuth weg war; ungeachtet der heftigen Schmerzen, denn der ganze Koͤrper war wie geradbrecht, fuͤhlte er eine innere Ruhe und Heiterkeit, eine ſolche erhabene Freude, wie er ſie noch nie empfunden hatte; und ungeachtet er noch gar nicht wußte, welches die Folgen ſeyn wuͤrden, ſo war er ſo innig ergeben in den goͤttlichen Willen, daß ihn auch nicht die geringſte Furcht vor dem Tod anwandelte; ſo ſehr auch der Poſtillon einen derben Ausputzer, und dann eine namhafte Strafe ver - dient hatte, ſo ſagte ihm Stilling doch ſehr guͤtig, und weiter nichts, als: Freund! ihr habt zu kurz gedreht.
Eliſe, Maria und die Kinder hatten nicht das geringſte gelitten — Bruder Coing kam auch wieder herzugelaufen — als ſie nun den Mann, an dem ihrer aller Seele haͤngt, ſo blutruͤnſtig und entſtellt unter der Kutſche liegen ſahen, ſo fingen ſie alle jaͤmmerlich an zu lamentiren; die Kutſche wurde aufgehoben, und der verwundete gequetſchte Mann hinkte an Eliſens Arm wieder nach Braach zuruͤck; der Poſtillon ſchleppte die eben ſo verwundete und gequetſchte Kutſche auch dahin, und er kam ſo mit genauer Noth davon, daß ihn die Braacher Bauern nicht tuͤchtig zudeckten. Dieſe waren aber auf andere Weiſe thaͤtig; der Eine warf ſich auf’s Pferd, und rennte in vollem Gallopp nach Rothenburg, um Aerzte zu holen, und die andern ſchickten Erfriſchungen, ſo gut ſie ſie hatten, und ſo gut ſie es verſtunden; alles wurde aber natuͤrlicher Weiſe ſo angenommen, als ob es das Koſt - barſte und Schicklichſt ſey.
Stillings koͤrperlicher Zuſtand war erbaͤrmlich; die ganze36 *552rechte Bruſt war dick aufgeſchwollen, und wenn man mit der Hand daruͤber her ſtreicht, ſo rauſchte es; eine Rippe war geknickt; hinten unter dem rechten Schulterblatt empfand er heftige Schmerzen; an der rechten Schlaͤfe hatte er eine Wunde, die heftig blutete, und nur einen Strohhalm breit von der Schlaf-Pulsader entfernt war, und in der rechten Leiſte und Huͤfte empfand er heftige Schmerzen, ſo oft er den Schenkel bewegte. Kurz, jede Bewegung war ſchmerzhaft.
Die Aerzte von Rothenburg, der Leibarzt Hofrath Meiß und der Leibchirurgus Freiß, zwei ſehr geſchickte Maͤnner, fanden ſich bald ein, und durch ihre treue Pflege und Gottes Segen wurde Stilling in wenigen Tagen ſo weit wieder hergeſtellt, daß er nach Marburg reiſen konnte. Die Kutſche aber konnten ſie mit aller ihrer gelehrten Geſchicklichkeit nicht kuriren, aber ſie ſorgten denn doch auch fuͤr ihre Heilung: dieſe wurde dem Hofſattler uͤbertragen, der ſie ſo gut wieder herſtellte, daß ſie feſter wurde als vorher.
Montags den 2. November wurde die Reiſe wieder nach Marburg angetreten: Stilling ritt langſam, weil er in den ſchrecklichen Wegen dem Fahren nicht traute, es war aber auch rathſam: denn die Frauenzimmer und die Kinder wur - den noch einmal — doch ohne Schaden umgeworfen. Coing begleitete ſeinen Schwager zu Pferd bis Mabern, wo Ka - roline ſie erwartete; des folgenden Tages fuhren ſie dann Alle zuſammen nach Marburg, weil von da an der Weg Chauſee iſt, Coing ritt aber wieder nach Braach zuruͤck. Mit den Folgen dieſes Falls hatte Stilling noch eine Weile zu kaͤmpfen, beſonders blieb ihm noch lange ein Schwin - del uͤbrig, der aber endlich auch ganz verſchwunden iſt.
Stillings Zuſtand waͤhrend dieſer Braunſchweiger Reiſe bis daher, kann ich am beſten durch ein Gleichniß be - greiflich machen: Ein einſamer Reiſender zu Fuß kommt am Abend in einen Wald, durch dieſen muß er noch, ehe er an die Herberge kommt. Es wird Nacht, der Mond ſcheint im jungen Licht, alſo nur daͤmmernd; jetzt geſellt ſich ein ſehr verdaͤchtiger, furchtbarer Mann zu ihm, dieſer weicht nicht von ihm, und machte immer Miene, ihn anzufallen und zu ermor -553 den; endlich greift er ihn auf Einmal an, und verwundet ihn — ploͤtzlich ſind einige der beſten Freunde des Reiſenden bei der Hand, der Feind flieht, der Verwundete erkennt ſeine Freunde, die ihn nun in die Herberge bringen und ihn pflegen, bis er wieder wohl iſt. Liebe Leſer! nehmt dieß Gleichniß wie ihr wollt, aber mißbraucht es nicht!
Der Anfang des 1802. Jahrs war traurig fuͤr Stilling und Eliſe. Sonntags den 3. Januar bekam er einen Brief von Freund Mieg aus Heidelberg, worinnen er ihm mel - dete, Liſette ſey krank, er glaube aber nicht, daß es Etwas zu bedeuten haͤtte, denn die Aerzte gaͤben noch Hoffnung. Bei dem Leſen dieſes Briefes bekam Stilling einen tiefen Ein - druck ins Gemuͤth, ſie ſey wirklich todt. Es liegt ſo in ſeiner Seele, daß er ſich allemal freut, wenn er erfaͤhrt, daß ein Kind, oder auch ſonſt ein frommer Menſch geſtorben iſt: denn er weiß alsdann wieder eine Seele in Sicherheit — dieß Ge - fuͤhl macht ihm auch den Tod der Seinigen leichter, als ſonſt gewoͤhnlich iſt; indeſſen da er ein gefuͤhlvolles Herz hat, ſo ſetzt es doch in Anſehung der phyſiſchen Natur immer einen harten Kampf ab: dieß war auch jetzt der Fall, er litt einige Stunden ſehr, dann opferte er ſein Liſettchen dem Herrn, der es ihm gegeben hatte, wieder auf; und den 6. Januar, als er die Todesnachricht von Mieg bekam, war er ſtark, und konnte die ſehr tief gebeugte Pflegeltern ſelbſt, und kraͤf - tig troͤſten, aber Eliſe litt ſehr.
Die Freunde Mieg ließen Liſette ſehr ehrenvoll begraben, Mieg gab ein klein Buͤchelchen heraus, das ihren Lebenslauf, Charakter, Tod und Begraͤbniß, und einige bei dieſer Gelegen - heit entſtandene Schriften oder Aufſaͤtze und Gedichte enthaͤlt.
Man kann ſich kaum die Wehmuth vorſtellen, die dieſe Pflegeltern bei dem Heimgang dieſes lieben Maͤdchens empfanden; ſie hatten ſie vortrefflich erzogen und gebildet, und Gott wird es ihnen vergelten, daß ſie ſie zur Gottesfurcht und zu einem chriſtlichen Sinn angehalten haben.
Merkwuͤrdig iſt es, daß die alte Mutter Wilhelmi einige554 Wochen hernach ihrem Liebling folgte, ſo wie es ihre Tochter Mieg ſchon laͤngſt befuͤrchtet hatte.
Um dieſe Zeit ſtarb auch der Buͤrgermeiſter Eicke zu Muͤn - den, Juliens Vater. Stilling und Eliſe wiederholten alſo ihre Einladung an Julie, zu kommen, ſobald alle ihre Sachen in Ordnung ſeyen: ſie folgte dieſem Ruf, und kam mitten im Januar nach Marburg, wo es ihr in Stillings haͤuslichem Zirkel und chriſtlichem Umgang ſo wohl gefiel, daß ſie endlich den Wunſch aͤußerte, in dieſer Familie zu le - ben. Stilling und Eliſe freuten ſich uͤber dieſe Aeuße - rung, und die Sache wurde in Ordnung gebracht: Julie zahlt ein hinlaͤngliches Koſtgeld, und beſchaͤftigt ſich dann mit der Bildung der kleinen Maͤdchen Malchen und Chriſtin - chen; gegen die Bezahlung des Koſtgeldes proteſtirte nun zwar Eliſe ernſtlich, aber Julie beharrte dabei, daß ſie un - ter keiner andern Bedingung unter ihnen wohnen koͤnne; beide verſchwiſterte Seelen wurden alſo endlich einig; im Maͤrz reiste Julie nach Erfurt, um eine Freundin zu beſuchen, und im folgenden Auguſt kam ſie wieder. Von der Zeit an iſt ſie nun Stillings haͤuslichem Zirkel einverliebt, in wel - chem ſie durch ihre Gottesfurcht, Heiterkeit, Leidenserfahrun - gen, und beſonders durch Leitung und Bildung der Maͤdchen, ein wahrer Segen Gottes iſt.
In dieſem Fruͤhjahr kam es auch wieder zu einer Reiſe: Stilling wurde nach Fulda verlangt, Eliſe begleitete ihn. Bei der Ruͤckreiſe nahmen ſie den Weg uͤber Hanau und Frankfurt, und beſuchten dann auch den Prinzen Frie - drich von Anhalt, und die Graͤfin Louiſe, die den vorigen Herbſt von Marburg weg und nach Homburg vor der Hoͤhe gezogen waren. Bei dieſer Gelegenheit lernten ſie auch die Wittwe des Prinzen Victor von Anhalt kennen; dieſe iſt eine wuͤrdige Schweſter der Fuͤrſtin Chriſtine zur Lippe, eine wahre Chriſtin und perſoniſicirte Demuth. Nach einer Abweſenheit von etwa vier Wochen kamen ſie wieder in Mar - burg an. Bald nachher wurde Amalie gluͤcklich von einer jungen Tochter entbunden.
Jetzt nahte ſich auch nun der wichtige Zeitpunkt, in wel -555 chem Caroline zum Abendmahl confirmirt werden ſollte; ſie war nun vierzehn und ein halb Jahr alt, und fuͤr ihr Al - ter groß und ſtark. Zwei Jahr hatte ſie bei den wuͤrdigen Stillings-Freunden, den beiden reformirten Predigern Schlarbaum und Breidenſtein, einen ſehr guten Reli - gions-Unterricht bekommen, und der hatte auch wohlthaͤtig auf ſie gewirkt: ſie hat einen frommen chriſtlichen Sinn, und es iſt fuͤr den Vater eine große Freude und ſehr beruhigend, daß ſeine drei aͤlteſten Kinder auf dem Wege ſind, wahre Chriſten zu werden. Julie ſchrieb aus Erfurt an Caroline, und trug der Tante Duiſing auf, ihr den Brief an ihrem Con - firmationstage zu uͤberreichen, es iſt der Muͤhe werth, daß ich ihn hier einruͤcke: „ Meine theure, ewiggeliebte Caroline!
„ An dem feſtlichen Tage deines Lebens, wo alle deine Lie - „ ben mit neuer Liebe Dich aus Herz druͤcken, da wird auch „ mein Gebet ſich mit dem ihrigen vereinigen; vielleicht in der - „ ſelben Stunde, in welcher Du die feierlichen Geluͤbde ewiger „ Treue und Liebe an Den ablegſt, der immer unſre ganze „ Seele erfuͤllen ſollte, bete auch ich zu ihm fuͤr dich um „ Glauben, Treue und Liebe.
„ O meine liebe, beſte Caroline! ich bitte Dich flehentlich, „ bedenke es doch ja recht, und halte doch ja, was du an die - „ ſem fuͤr Dich in Zeit und Ewigkeit ſo wichtigen Tage ver - „ ſprichſt! Liebe den Herrn wie Du kein anderes liebſt! — Du „ kannſt nichts Groͤßeres, Beſſeres und Wichtigeres „ thun — laß dir weder durch Freuden noch durch Leiden — „ nicht durch Schmeichelei noch durch Spott der Welt — „ durch nichts laß dir die Krone rauben, die Dein Glaube „ heut in der Hand des Herrn fuͤr dich erblickt, und bleibe „ Ihm treu bis in den Tod, u. ſ. w. “
Die Confirmation geſchah auf Pfingſten mit Gebet und vie - ler Ruͤhrung von allen Seiten.
Stillings Lage wurde indeſſen immer druͤckender, auf einer Seite wurde ſein religioͤſer Wirkungskreis groͤßer, frucht - barer und bedeutender: die Direktoren der Erbauungsbuͤcher - Geſellſchaft in London, welche in ein paar Jahren ſchon556 fuͤr eine Million Gulden erbauliche und nuͤtzliche Schriften unter die gemeinen Leute in England ausgetheilt hatten, ſchrieben ihm einen herzerhebenden Brief, und munterten ihn auf, dieſe Anſtalt auch in Deutſchland zu bewerkſtelligen. Zugleich nahm auch ſeine religioͤſe Korreſpondenz, und nicht weniger die Praxis ſeiner Augenkuren zu; auf der andern Seite aber wurde ſein eigentlicher akademiſcher Beruf immer unfruchtbarer: die deutſche Entſchaͤdigung hatte die Provinzen, aus denen gewoͤhnlich die Univerſitaͤt Marburg beſucht wurde, an andere Regenten gebracht, die ſelbſt Univerſitaͤten haben, wohin alſo nun ihre jungen Leute gehen und da ſtudiren muͤſ - ſen; die Zahl der Studirenden wurde alſo merklich kleiner, und wer noch ſtudirte, der wendete ſich zu den Brodſtudien, zu welchem das Kameralfach nicht gehoͤrt; und endlich wird man auch auf allen Univerſitaͤten eine Abnahme des Triebs zum Studiren bemerken: die Urſache davon gehoͤrt nicht hieher. Genug, Stillings Auditorium wurde immer kleiner, ſo daß er oft nur zwei bis drei Zuhoͤrer hatte, dieß war ihm uner - traͤglich — eine ſo große Beſoldung und ſo wenig dafuͤr thun zu koͤnnen, wollte ſich mit ſeinem Gewiſſen nicht vertragen, und doch war er wie angenagelt, er konnte nicht anders, er mußte aushalten: denn ohne dieſe Beſoldung konnte er nicht leben; bei allem dem fuͤllte nun ſein großer und einziger Grundtrieb, fuͤr den Herrn und ſein Reich allein zu wirken und zu leben — ſein ganzes Weſen; er ſahe und hoͤrte alle Tage, wie weit und breit wohlthaͤtig ſein religioͤſer Wirkungskreis war und den mußte er hintanſetzen, um eines gar unfruchtbaren Broderwerbens willen.
Endlich kam nun noch ein Hauptumſtand zu dem Allen: der Kurfuͤrſt von Heſſen will zwar von ganzem Herzen die Religion unterſtuͤtzen, aber Er hat auch einen Grundſatz, der an und fuͤr ſich ſelbſt ganz richtig iſt, naͤmlich: Jeder Staatsdiener ſoll ſich dem Fach, dem er ſich ein - mal gewidmet hat, ganz widmen — Er ſicht gar nicht gern, wenn Einer zu einem andern Beruf uͤbergeht: nun war aber Stilling in dem Fall, daß er gegen die beiden Theile dieſes Grundſatzes handeln mußte;557 auch dieß machte ihm manche traurige Stunde — ſein Kampf war ſchwer — aber gerade jetzt fing auch die Vorſehung an, von weitem Anſtalten zur Ausfuͤhrung ihres Plans zu treffen; es iſt der Muͤhe werth, daß ich hier alles mit der genaueſten Puͤnktlichkeit erzaͤhle.
Den 5. Julius dieſes 1802. Jahres bekam Stilling von einem, ihm ganz unbekannten armen Handwerksmann, aus einem von Marburg ſehr weit entfernten Ort, der auch kein Wort von Stillings Lage wußte und wiſſen konnte, indem er ſie Niemand entdeckte, auch nicht konnte und durfte, einen Brief, in welchem dieſer Mann ihm er - zaͤhlte, er habe einen merkwuͤrdigen Traum gehabt, in welchem er ihn auf einem großen Felde, auf welchem viele Schaͤtze auf Haͤufchen umher zerſtreut gelegen haͤtten, hin und her gehend und beſchaͤftigt geſehen; und er habe nun den Auftrag bekommen, ihm zu ſchreiben, und ihm zu ſagen: er ſolle nun alle dieſe Schaͤtze beiſammen auf einen Hau - fen tragen, dann ſich dabei zur Ruhe ſetzen, und dieſes einzigen Schatzes warten.
Stilling hat in ſeinem ganzen Leben ſo viele Wirkun - gen des entwickelten Ahnungsvermoͤgens geſehen, gehoͤrt und empfunden, auch ſo viele — ohne die Theorie vom Ahnungs - vermoͤgen — unbegreifliche Wahrſagereien hyſteriſcher und hypochondriſcher Menſchen erlebt, daß er wohl weiß, wohin ſolche Dinge gemeiniglich gehoͤren, und unter welche Rubrik ſie zu bringen ſind. Der Inhalt dieſes Briefs aber ſtand ſo im Einklang mit dem, was in ſeinem Innern vorging, daß er es unmoͤglich als eine Sache von ohngefaͤhr anſehen konnte; er ſchrieb alſo dem Mann, daß er zwar wohl einſaͤhe, daß die Vereinigung des Mannigfaltigen ins Einfache gut fuͤr ihn waͤre, aber er muͤſſe von ſeiner Profeſſur leben, er moͤchte ſich alſo fer - ner erklaͤren, wie er das meine? Die Antwort war: er ſolle das der Fuͤgung des Herrn uͤberlaſſen, der wuͤrde es wohl ein - zurichten wiſſen. Dieſer Vorfall brachte in Stillings Ge - muͤth die erſte Ahnung einer nahen Veraͤnderung und Entwick - lung ſeiner endlichen Beſtimmung hervor, und gab ihm nun - mehr die gehoͤrige Richtung, und den Blick auf das fuͤr jetzt558 noch kaum merkbare Ziel, damit er kein Tempo verſaͤumen moͤchte.
Ungefaͤhr um die naͤmliche Zeit, oder noch Etwas ſpaͤter, bekam er auch einen Brief vom Pfarrer Koͤnig zu Burgdorf im Emmenthal im Kanton Bern, daß er kommen moͤchte, denn fuͤr die Sicherheit der Reiſekoſten ſey geſorgt. Dieſer Pfar - rer Koͤnig war ſtaarblind, und hatte ſchon vorher mit Stil - ling desfalls correſpondirt; dieſer hatte ihm auch verſprochen zu kommen, ſobald er nur wiſſe, daß ihm die Reiſekoſten erſtat - tet wuͤrden. Jetzt fingen alſo Stilling und Eliſe an, ſich zur zweiten Schweizerreiſe zu ruͤſten.
Waͤhrend aller dieſer Vorfaͤlle nahm Vater Wilhelms Ge - ſundheitszuſtand, der bisher ſo ganz feſt und dauerhaft geweſen war, eine ganz andere Richtung: in Anſehung ſeiner Seelenkraͤfte war er nun ſo ganz Kind geworden, daß er gar keinen Verſtand und Urtheilskraft mehr hatte; ſein Koͤrper aber fing an, die zum Leben noͤthigen Verrichtungen zu vernachlaͤßigen; zudem lag er ſich wund, ſo daß nun ſein Zuſtand hoͤchſt bedauernswuͤr - dig war, taͤglich mußte der Wundarzt mit ein paar Gehuͤlfen kommen, um ihm ſeinen wunden Ruͤcken und uͤbrige Theile zu verbinden, wobei der arme Mann ſo entſetzlich lamentirte, daß die ganze Nachbarſchaft um ſeine Aufloͤſung betete.
Stilling konnte den Jammer nicht ertragen, er ging gewoͤhn - lich fort, wenn die Verbindungszeit kam: aber auch zwiſchen der Zeit winſelte er oͤfters erbaͤrmlich. Endlich kam dann auch der Tag ſeiner Erloͤſung; am ſechsten September, Abends um halb zehn Uhr, ging er zu den ſeligen Wohnungen ſeiner Vorfah - ren uͤber. Stilling ließ ihn mit den Feierlichkeiten begraben, die in Marburg bei Honoratioren uͤblich ſind.
Wilhelm Stilling iſt alſo nun nicht mehr hienieden; ſein ſtiller, von den Großen dieſer Erde unbemerkbarer Wandel, war denn doch Saat auf eine fruchtbare Zukunft. Nicht der iſt im - mer ein großer Mann, der weit und breit beruͤhmt iſt; — auch der iſt nicht immer groß, der viel thut, ſondern der iſts im eigentlichen Sinn, der hier ſaͤet, und dort tauſendfaͤltig erndtet. Wilhelm Stilling war ein Thraͤnenſaͤer — er ging hin und weinte, und trug edlen Saamen, jetzt wird er nun auch wohl mit Freuden erndten. Seine Kinder, Heinrich und Eliſe, freuen559 ſich dereinſt auf ſein Willkommen — ſie freuen ſich, daß er mit ihnen zufrieden ſeyn wird.
Acht Tage nach Vater Wilhelm Stillings Tod traten Stilling und Eliſe ihre zweite Schweizerreiſe an: Montags, den 13. September 1802, fuhren ſie von Marburg ab; in Frankfurt fand Stilling Augenpatienten, die ihn ein paar Tage aufhielten. Donnerſtag den 16. kamen ſie des Nach - mittags fruͤhzeitig nach Heidelberg; der Willkommen bei Freundin Mieg war erſchuͤtternd von beiden Seiten. Mieg war in Geſchaͤften auf dem Lande, und kam erſt gegen Abend wie - der: er hatte des Mittags in Geſellſchaft eines angeſehenen Man - nes geſpeist, der den Gedanken geaͤußert hatte: Ein großer Herr muͤſſe Stilling blos dafuͤr beſolden, daß er ſeinen wohlthaͤtigen Beruf an Augenkranken un - gehindert ausuͤben koͤnnte. Dieß machte Stilling wieder aufmerkſam auf Alles, was vorhergegangen war. Der Traum jenes Handwerksmannes, Vater Wilhelms Tod, und nun dieſe Aeußerung — die weiter von keiner Bedeutung ſchien, aber gerade jetzt Eindruck machte — und endlich wieder eine Schweizerreiſe — das Alles zuſammen brachte eine hochahnende Stimmung in Stillings Gemuͤth hervor.
Des folgenden Tages, Freitags den 17. September, ſetzten beide Reiſende ihren Weg nach Karlsruhe fort.
Hier muß ich in meiner Erzaͤhlung etwas zuruͤckgehen, um Alles unter einen gehoͤrigen Geſichtspunkt zu bringen.
Jakob war — wie ich oben bemerkte — im verwichenen Fruͤhjahr Vater geworden; ungeachtet ſeiner Geſchicklichkeit und Rechtſchaffenheit, und ungeachtet aller guten Zeugniſſe der Mar - burger Regierung, war doch in Kaſſel fuͤr ihn nicht das Ge - ringſte auszurichten. Nun konnte er bei ſeiner Denkungsart von der Rechtspraxis unmoͤglich leben, ſein Vater mußte ihn alſo betraͤchtlich unterſtuͤtzen, und uͤber das Alles ſahe er nun den An - wachs einer Familie vor ſich; dieß Alles zuſammen druͤckte den guten jungen Mann ſehr, er hatte alſo dringend bei ſeinem Vater angehalten, er moͤchte ihn bei ſeiner Durchreiſe in Karlsruhe dem Kurfuͤrſten empfehlen; denn er ſey ja urſpruͤnglich ein Pfaͤl - zer, und koͤnne alſo auch dort Anſpruch auf Verſorgung machen.
560Es iſt Stillings ganzem Charakter zuwider, einen Fuͤrſten, bei dem er in beſondern Gnaden ſteht, um irgend Etwas von der Art zu bitten, oder Jemand zu einem Amt zu empfehlen. So dringend noͤthig nun auch ſeines Sohnes Verſorgung war, ſo ſchwer und faſt unmoͤglich daͤuchte es ihm, fuͤr ihn bei dem Kur - fuͤrſten anzuhalten.
Noch muß ich erinnern, daß die Graͤfin von Waldeck, um dem Jakob bei ſeiner Hochzeit eine Freude zu machen, bei dem regierenden Grafen von Wernigerode angehalten hatte, Er moͤchte ihm den Juſtizrathstitel geben; dieß geſchahe, und der Kurfuͤrſt von Heſſen erlaubte auch, daß er ſich dieſes Titels bedienen moͤchte. Jetzt wende ich mich nun wieder zur Fortſe - tzung der Geſchichte.
Stilling und Eliſe kamen alſo Freitags, den 17. Septem - ber, des Abends in Karlsruhe an. Sonnabends Morgens, den 18., ſahe Stilling in das bekannte Loſungsbuͤchlein der Bruͤdergemeinde, welches auf jeden Tag im Jahr zwei Spruͤche aus der Bibel nebſt zwei Liederverſe enthaͤlt: der erſte Spruch wird die Loſung genannt, und der zweite heißt der Lehrtext. Stilling nimmt es auf allen Reiſen mit, um taͤglich einen religioͤſen Gegenſtand zur Beſchaͤftigung fuͤr Kopf und Herz zu haben. Mit Erſtaunen fand er auf den heutigen Tag die Worte: 2. Sam. 7, V. 25. Bekraͤftige nun Herr Gott das Wort in Ewigkeit, das du uͤber deinen Knecht und uͤber ſein Haus geredet haſt, und thue, wie du geredet haſt. Der Liedervers heißt:
Nun ſuchte er auch den Lehrtext auf den heutigen Tag, und fand die ſchoͤnen Worte: Sey getreu bis in den Tod, ſo will ich dir die Krone des Lebens geben! —
Dieſer merkwuͤrdige Umſtand vollendete nun die frohahnende Zuverſicht, es werde heute zu einer Art von Entwicklung kom - men. Bald darauf trat ein Bedienter vom Hofe ins Zimmer, dieſer brachte einen gnaͤdigen Gruß vom Kurfuͤrſten, mit dem561 Erſuchen, um neun Uhr zu Ihm zu kommen, und den Mittag zur Tafel zu bleiben.
Dieſem Befehl zufolge, und ſo vorbereitet, ging alſo Stil - ling um neun Uhr ins Schloß: er wurde augenblicklich vor - gelaſſen, und ſehr gnaͤdig empfangen. Nach einigen Wortwechſe - lungen fuͤhlte Stilling die Freimuͤthigkeit in ſich, ſeinen Sohn zu empfehlen; er machte vorher die Vorbereitung, daß er ſagte: es ſey nichts ſchwerer fuͤr ihn, als Fuͤrſten, die Gnade fuͤr ihn haͤtten, Antraͤge von der Art zu machen, allein ſeine Umſtaͤnde und ſeine Lage draͤngten ihn ſo, daß er jetzt einmal eine Aus - nahme von der Regel machen mußte. Hierauf ſchilderte er nun ſeinen Sohn nach der Wahrheit, und erbot ſich zu den guͤltigſten ſchriftlichſten Beweiſen, naͤmlich den Zeugniſſen der Marbur - ger Regierung; endlich bat er dann, Se. Durchlaucht moͤch - ten ihn nur von der Pike auf dienen laſſen, und ihn dann ſo befoͤrdern, wie er es verdiene: wenn er nur ſo viel bekaͤme, daß er bei gehoͤriger Sparſamkeit leben koͤnne, ſo wuͤrde er das als eine große Gnade anſehen; dann ſchloß er mit den Worten: Ew. Durchlaucht nehmen mir dieſe erſte und letzte Empfehlung nicht ungnaͤdig. Der Kurfuͤrſt aͤußerte ſich gnaͤdig, und ſagte: Er wolle bei der Organiſation der Pfalz ſehen, ob Er ihn un - terbringen koͤnne; reden Sie doch auch, ſetzte der vortreffliche Fuͤrſt hinzu, mit den Miniſtern und geheimen Raͤthen, damit ſie von der Sache wiſſen, wenn ſie zur Sprache kommt! — Daß das Stilling verſprach, und auch das Verſprechen hielt, das verſteht ſich.
Dieſe Vorbereitung hatte nun Veranlaſſung gegeben, von Stillings eigener Lage zu reden: der Kurfuͤrſt floͤßte Stil - ling ein ſolches Zutrauen ein, daß er ſich gerade aus ſo erklaͤrte, wie es in ſeinem Innern lag; hierauf ſagte der große und edle Fuͤrſt: „ Ich hoffe, Gott wird mir Gelegenheit ver - ſchaffen, Sie aus dieſer druͤckenden Lage heraus - zubringen und ſo zu ſetzen, daß Sie bloß Ihrer religioͤſen Schriftſtellerei und Ihrer Augenku - ren warten koͤnnen; Sie muͤſſen von allen irdi - ſchen Geſchaͤften und Verhaͤltniſſen ganz frei ge - macht werden. “
562Wie Stillingen in dem Augenblick — in welchem ihm die große Entwicklung ſeines Lebensplans ſo herrlich aus der Ferne entgegenſtrahlte — zu Muthe war, das iſt unbeſchreiblich. Eilen Sie mit der Ausfuͤhrung dieſer Sache? fuhr der Kurfuͤrſt fort. Stilling antwortete: Nein! gnaͤdigſter Herr; auch bitte ich unterthaͤnigſt, ja zu warten, bis die Vorſehung irgendwo eine Thuͤr oͤffnet, damit Niemand darunter leidet, oder auf irgend eine Art zuruͤckgeſetzt wird. Der Fuͤrſt erwiederte: Alſo ein halb Jahr oder ein Jahr koͤnnten Sie noch wohl warten? Stilling antwortete: ich warte, ſo lang es Gott gefaͤllt, bis Ew. Durch - laucht den Weg gefunden haben, den die Vorſehung vorzeichnet.
Das uͤbrige, dieſes in Stillings Geſchichte merkwuͤrdigen Tages, uͤbergehe ich: nur das bemerke ich noch, daß er auch der Frau Markgraͤfin aufwartete, die ſich noch immer uͤber den Tod Ihres Gemahls nicht troͤſten konnte.
Wer den Kurfuͤrſten von Baden kennt, der weiß, daß dieſer Herr nie ſein fuͤrſtlich Wort wieder zuruͤcknimmt, und allemal mehr haͤlt und thut, als er verſprochen hat. Jedes chriſtliche Herz, das Gefuͤhl hat, kann Stilling nachempfinden, wie ihm jetzt zu Muthe war. Gelobt ſey der Herr! ſeine Wege ſind heilig, wohl dem, der ſich Ihm ohne Vorbehalt ergibt! — Wer ſich auf Ihn verlaͤßt, wird nicht zu Schanden!
Sonntags Morgens operirte Stilling noch einen alten ar - men Bauersmann, den der Kurfuͤrſt ſelbſt hatte kommen laſſen; dann ſetzte er mit ſeiner Eliſe die Reiſe nach der Schweiz fort. Je naͤher ſie dieſem ihrem Ziel kamen, deſto furchtbarer wurde das Geruͤcht, daß die ganze Schweiz unter den Waffen und im Aufſtand ſey; angenehm war das nun freilich nicht, allein Stilling wußte, daß er in ſeinem wohlthaͤtigen Beruf reiste, und faßte alſo mit Eliſe ein feſtes Vertrauen auf die goͤttliche Bewahrung, und dieß Vertrauen war auch nicht vergeblich.
In Freiburg im Breisgau erfuhren ſie die harte Pruͤ - fung, welche die Stadt Zuͤrich den 13. September hatte aus - halten muͤſſen, aber auch, daß ſie den Schutz Gottes maͤchtig erfahren hatte. Dienſtags den 21. September kamen ſie des563 Abends zu Baſel im lieben Schorndorfiſchen Hauſe geſund und gluͤcklich an; da es aber in der Gegend von Burgdorf noch immer unruhig war, ſo ſchrieb Stilling an den Pfarrer Koͤnig, er ſey in Baſel, und erwartete von ihm Nachricht, wann er ſicher kommen koͤnne? Bis dieſe Nachricht kam, waren ſie Beide ruhig und vergnuͤgt in Baſel; er diente einigen Augen - kranken, und operirte auch zwei Blinde.
Am folgenden Tage, Mittwochs den 22. September, hatte Stilling eine große Freude: in Baſel lebt ein ſehr geſchickter Maler, Marquard Wocher, ein Mann vom edelſten Herzen und chriſtlichen Geſinnungen; dieſer hatte Stillingen auf der erſten Schweizerreiſe zu einem dortigen angeſehenen Mann, Herr Reber, gefuͤhrt, der eine ſehr praͤchtige Gemaͤldeſammlung hat: hier zog ein ecce homo Gemaͤlde Stillings ganze Aufmerk - ſamkeit auf ſich. Bei der laͤngern Betrachtung dieſes leidenden Chriſtusbildes kamen ihm die Thraͤnen in die Augen; Wocher bemerkte dieß, und fragte: Gefaͤllt Ihnen dieß Stuͤck? — Stil - ling antwortete: Ausnehmend! Ach, wenn ich nur eine treue Kopie davon haͤtte; aber ich kann ſie nicht bezahlen. — Die ſollen ſie haben, erwiederte Wocher, ich mache ihnen ein Praͤſent damit.
Jetzt heute brachte Wocher dieß praͤchtige Stuͤck zum Will - komm, alle Kenner bewundern es.
Hier iſt nun auch der Ort, wo ich einer außerordentlichen Wohlthat Gottes gedenken muß — wer kann ſie Alle erzaͤhlen? — aber eine und andere, die mit dieſer Geſchichte in Verbindung ſteht, kann doch nicht uͤbergangen werden.
Meine Leſer werden ſich des Meiſter Iſaacs zu Waldſtaͤdt erinnern, wie er Stilling ſo liebevoll in der hoͤchſten Tiefe ſeines Elends aufnahm, und von Haupt bis zu Fuß kleidete; nun hatte ihm zwar Stilling, als er bei Spanier war, die baaren Auslagen wieder erſetzt, aber es druͤckte ihn doch oft, daß er der braven Familie dieſes edlen Mannes jene Liebe auf keine Weiſe vergelten koͤnne. Jetzt kam es zu dieſer Vergeltung, und zwar auf eine herrliche, Gottgeziemende Weiſe.
Der aͤlteſte Sohn des Meiſter Iſaacs hatte auch das Schnei - derhandwerk gelernt, war dann auf ſeiner Wanderſchaft nach Baſel gekommen, hatte ſich einige Jahre dort aufgehalten, und564 da er auch das wahre Chriſtenthum liebt, ſo war er dort auch mit wahren Chriſtusverehrern bekannt geworden, hernach hatte er ſich dann in Waldſtaͤtt — Rade vorm Wald, im Herzog - thum Berg — ſeiner Vaterſtadt, als Schneidermeiſter nieder - gelaſſen, ſeine Geſchwiſter zu ſich genommen, und mit ihnen haus - gehalten; da er aber das Sitzen nicht vertragen konnte, ſo fing er eine kleine Handelſchaft an: ein braver Kaufmann gab ihm Kredit, und ſo naͤhrte er ſich und ſeine Geſchwiſter ehrlich und redlich. Jetzt in dieſem Sommer den 24. Auguſt kommt Feuer aus, die ganze Stadt liegt in wenigen Stunden ganz in der Aſche, und den guten Kindern des frommen Iſaacs war nicht allein das, was ihnen ſelbſt zugehoͤrte, ſondern auch der ganze Vorrath erborgter Waaren verbrannt. Freund Becker — ſo ſchreibt ſich eigentlich die Familie — ſchrieb dieß Ungluͤck nicht ſelbſt an Stil - ling, dazu denkt er zu delicat; aber ein anderer Freund ſchrieb ihm, und erinnerte ihn, was er dieſer Familie ſchuldig ſey — Stilling gerieth in Verlegenheit; das, was er der Familie ſchenken konnte, wenn er ſich auch aufs ſtaͤrkſte angriff, war im - mer nur eine Kleinigkeit fuͤr ſie, und doch fuͤr ihn in ſeiner Lage druͤckend; er ſchickte alſo Etwas, und da er gerade jetzt kurz vor der Reiſe das 12. Stuͤck des grauen Mannes ſchrieb, ſo fuͤgte er hinten eine Nachricht von dieſem Ungluͤck an, und bat um mitleidsvolle Huͤlfe. Jetzt in Baſel mußte nun Stilling auf Erſuchen der Mitglieder von der deutſchen Geſellſchaft, eine Erbauungsrede halten, wo etliche hundert Menſchen verſammelt waren; am Schluß der Rede erinnerte Stilling an ihren ehemaligen Freund, und erzaͤhlte ſein Ungluͤck: dieß wirkte ſo viel, daß dieſen Abend beinahe hundert Gulden geſammelt wurden, die man Stilling brachte. Dieß war der huͤbſche Anfang einer anſehnlichen Huͤlfe: denn die Erinnerung im 12. Stuͤck des grauen Mannes hat den Beckeriſchen Kindern ungefaͤhr tauſend, und der Stadt Rade vorm Wald gegen fuͤnfhundert Gulden eingetragen, welches Geld alles an Stilling eingeſendet wurde.
Ich erzaͤhle dieſes blos deßwegen, um zu beweiſen, daß der Herr fuͤr diejenigen, die ſich ganz und unbedingt von Ihm fuͤhren laſſen, ſo vollkommen ſorgt, daß ſie durchaus alle Schulden, auch ſogar die Liebeserzeigungen, wieder erſtatten koͤnnen.
565In einigen Tagen kam dann auch die Nachricht von Burg - dorf, daß dort Alles ruhig ſey, daher machten ſich Stilling und Eliſe Mittwochs den 29. September auf den Weg: in Lieſtall operirte er Jemand, zu Leufelfingen ſpeisten ſie bei Freundin Fluͤhebacherin, zu Olten fanden ſie Freunde und Freundinnen von Aarau, mit denen ſie Thee tranken, und zu Aarburg holte ſie der wuͤrdige Schultheiß Senn von Zofingen ab, bei dem ſie uͤbernachten ſollten. Als ſie nun ſo in den Abendſtunden das herrliche Aarthal hinauf fuhren, und die zum Untergang ſich neigende Sonne die ganze Landſchaft uͤberſtrahlte, ſo ſahe Stilling auf einmal im Suͤdweſten uͤber dem Horizont eine purpurfarbige Lufterſchei - nung, praͤchtig anzuſehen; bald entdeckte er, daß es ein Schnee - gebirge, wahrſcheinlich die Jungfrau oder das Jungfer - horn war. Wer ſo Etwas nie geſehen hat, der kann ſich auch keine Vorſtellung davon machen, es iſt eben, als ſehe man in eine uͤberirdiſche Landſchaft, ins Reich des Lichts, allein bei dieſem Sehen bleibts auch, denn dorthin zu klettern, und da im ewigen Schnee und Eis zu hauſen, das moͤchte wohl eben nicht angenehm ſeyn. Freund Senn, der in ſeinem Kabriolet voraus fuhr, drehte ſich um, und ſagte: welch’ eine Ma - jeſtaͤt Gottes — ich habe nun die Schneeberge ſo viel hundertmal beleuchtet geſehen, und doch ruͤhrt mich der Anblick noch immer.
Nach einer ſehr liebreichen Bewirthung im Senniſchen Hauſe zu Zofingen, fuhren ſie des andern Morgens nach Burgdorf, wo ſie des Abends um 6 Uhr ankamen, und ſich ins Pfarrhaus einlogirten. Die Stadt Burgdorf liegt auf einem Huͤgel, der einem Sattel aͤhnlich iſt, auf der Spitze gegen Abend ſteht die Kirche mit dem Pfarrhaus, und auf der Spitze gegen Morgen liegt das Schloß, zwiſchen beiden Spitzen auf dem Sattel ſelbſt befindet ſich die Stadt, die dann wie eine bunte Satteldecke an beiden Seiten hinabhaͤngt; an der Nordſeite rast die Emme, ein reißender Waldſtrom, vorbei, von beiden Spiz - zen hat man eine vortreffliche Ausſicht: gegen Nordweſten den Jura, dort das blaue Gebirge genannt, und im Suͤden erſcheint dann wieder die praͤchtige Alpenreihe vom Mutterhorn und Schreckhorn an, bis weit uͤber die Jungfrau hinaus.
Stillings ſämmtl. Schriften. I. Band. 37566Hier operirte Stilling verſchiedene Blinde; der wuͤrdige Pfarrer Koͤnig wurde auch mit einem Auge vollkommen ſehend, außerdem aber bediente er viele Augenpatienten. Einer Opera - tion muß ich noch beſonders gedenken, weil dabei Etwas vorfiel, das den Charakter der Schweizerbauern ins Licht ſtellte: zwei ſchoͤne ſtarke Maͤnner, baͤuriſch aber gut und reinlich gekleidet — Reinlichkeit iſt ein Hauptcharakterzug der Schweizer — kamen mit einem alten ehrwuͤrdigen Graukopf ins Pfarrhaus, und frag - ten nach dem fremden Doktor; Stilling kam, und nun ſagte der Eine: Da bringe wer unſern Vater — er iſcht blend — choͤnnterm helfe? — Stilling beſahe ſeine Augen, und antwortete: Ja, lieben Freunde! Mit Gottes Huͤlfe ſoll euer Vater ſehend wieder nach Haus gehen. Die Maͤnner ſchwiegen, aber die hellen Thraͤnen perlten die Wangen herab, dem blinden Greis bebten die Lippen, und die ſtarren Augen wurden naß.
Bei der Operation ſtellte ſich der eine Sohn auf die eine Seite des Vaters, und der Andere auf die andere Seite, in dieſer Stel - lung ſahen ſie zu; als nun alles vorbei war, und der Vater wieder ſah, ſo floſſen wieder die Thraͤnen, aber keiner ſagte ein Wort, außer daß der aͤlteſte fragte: Herr Dochtor! was ſind wer ſchuldig? — Stilling antwortete: ich bin kein Arzt fuͤr Geld, da ich aber auf der Reiſe bin, und viele Koſten habe, ſo will ich Etwas annehmen, wenn ihr mir Etwas geben koͤnnt, es darf euch aber im geringſten nicht druͤcken; — pathe - tiſch erwiederte der aͤlteſte Sohn: Uns druͤcht nichts, wenns unſern Vater betrifft! — und der Juͤngere〈…〉〈…〉 te hinzu: Unſere linke Hand nimmt nicht wieder zuruͤck, was die Rechte gegeben hat! — Das ſollte ſo viel heißen — das, was wir geben, das geben wir gern. Stil - ling druͤckte ihnen mit Thraͤnen die Haͤnde, und ſagte: Vor - trefflich! — ihr ſeyd edle Maͤnner, Gott wird euch ſegnen!
Stilling und Eliſe bekamen viele Freunde und Freundin - nen in Burgdorf; man uͤberhaͤufte ſie mit Wohlwollen und Liebeserzeigungen, und die vortreffliche Frau Pfarrerin Koͤnig beſchaͤmte ſie durch ihre uͤberfließende treu Verpflegung und Be - wirthung. Hier lernten ſie nun auch den beruͤhmten Peſta - lozzi und ſein Erziehungs-Inſtitut kennen, das jetzt allenthal -567 ben ſo viel Aufſehens macht. Peſtalozzis Hauptcharakterzug iſt Menſchen - und beſonders Kinderliebe; daher hat er ſich auch ſeit langer Zeit mit dem Erziehungsgeſchaͤfte abgegeben; er iſt alſo ein achtungswerther, edler Mann. Eigentlich iſt ſeine Erziehungsmethode nicht der Gegenſtand, der ſo viel Aufſehens macht, ſondern die Lehrmethode, der Unterricht der Kinder — dieſer iſt erſtaunlich, Niemand glaubt es, bis er es geſehen und gehoͤrt hat — aber eigentlich werden dadurch nur die Anſchau - ungsbegriffe entwickelt, die ſich auf Raum und Zeit beziehen; darin bringen es dieſe Zoͤglinge in kurzer Zeit zu einem hohen Grad der Vollkommenheit. Wie es aber nun mit der Entwick - lung abſtrakter Begriffe, dann der ſittlichen und religioͤſen Kraͤfte gehen, und was uͤberhaupt die Peſtalozziſche Methode fuͤr Einfluß auf das praktiſche Leben in die Zukunft haben wird, das muß man von der Zeit erwarten. Deßwegen ſollte man behutſam ſeyn, und erſt einmal ſehen, was aus den Knaben wird, die auf dieſe Art gebildet worden ſind. — Es iſt doch wahrlich! bedenklich, in Erziehungsſachen ſo ſchnell zuzufahren, ehe man des guten Erfolgs gewiß iſt.
Montags den 4. Oktober des Nachmittags reisten Stilling und Eliſe vier Stunden weiter nach Bern, wo ſie bei dem Verwalter Niehans, einem frommen und treuen Freund Got - tes und der Menſchen, einkehrten. Der viertaͤgige Aufenthalt in dieſer ausnehmend ſchoͤnen Stadt war gedraͤngt voller Ge - ſchaͤfte: Staaroperationen, Bedienung vieler Augenkranken, Be - ſuche geben und annehmen, loͤsten ſich immer mit großer Eile ab. Dann gewannen auch hier wieder beide Reiſende einen großen Schatz von Freunden und Freundinnen, beſonders kam Stilling mit den dreien gottesfuͤrchtigen Predigern Wittenbach, Muͤeß - lin und Lorſa in naͤhere Bekanntſchaft. Auch die ſchaͤtzbaren Bruͤder Studer duͤrfen nicht vergeſſen werden; der eine beſchenkte ihn mit einem herrlich illuminirten Kupferſtich, der die Ausſicht von Bern auf die Schneegebirge vorſtellt und von ihm ſelbſt verfertigt iſt.
Sonntags Morgens den 10. Oktober reisten Stilling und Eliſe wieder von Bern ab; unterwegs beſahen ſie zu Hindel - bank das beruͤhmte Grabmal der Frau Pfarrerin Langhaus, welches der heſſiſche große Kuͤnſtler Nahl verfertigt hat.
37 *568Zu Burgdorf operirte Stilling noch einige Blinde, und dann reisten Beide wieder uͤber Zofingen nach Zuͤrich, Win - terthur und St. Gallen, wo ſie bei dem frommen und gelehrten Antiſtes Staͤhelin logirten, und wiederum mit vie - len edlen Menſchen das Band der Freundſchaft knuͤpften. Hier operirte er nur Eine Perſon, diente aber mehreren Augenkranken.
Mittwochs den 27. Oktober fuhren ſie durch das paradieſiſche Thurgau laͤngs dem Bodenſee nach Schaffhauſen: unter - wegs zu Arbon wurde noch ein Mann vom Staar befreit. In Schaffhauſen kehrten ſie wieder im lieben Kirchhofer’ſchen Hauſe ein. Auch hier gabs wieder viel zu thun, aber auch Ge - muͤthsunruhe und Traurigkeit, denn Sonntags den 31. Oktober, des Nachmittags ruͤckten ſchon die Franzoſen da ein.
Montags den 1. November verließen ſie die liebe Schweiz, und da ein blinder Kaufmann von Ebingen einen Expreſſen nach Schaffhauſen geſchickt hatte, ſo mußten ſie einen be - traͤchtlichen Umweg uͤber Moͤßkirch und die ſchwaͤbiſche Alp nehmen; von Ebingen wurden ſie nach Balingen abgeholt, wo es auch viel zu thun gab, und von da fuhren ſie dann nach Stuttgart, wo ſie im Seckendorfiſchen Hauſe einen ge - ſegneten Aufenthalt hatten, und wo Stilling auch wieder vie - len Leidenden dienen konnte.
Hier fand er zu ſeiner großen Freude den Herrnhuter Uni - taͤtsaͤlteſten Goldmann, mit dem er in ein inniges Bruder - verhaͤltniß kam.
Von Stuttgart mußten ſie wieder einen großen und be - ſchwerlichen Umweg uͤber den Schwarzwald nach Calw nehmen, wo Stilling den frommen Pfarrer Haͤrlin von Neubulach, mit ſeiner lieben trefflichen Gattin und Tochter fand, die ihm alle drei ſchon durch Briefwechſel bekannt waren. Auch hier verſammelte ſich im Hauſe des chriſtlichen Buchhalters Schill ein Kreis edler Menſchen um die Reiſenden her. Von hier fuhren ſie nun Dienſtags, den 9. November, nach Karlsruhe. Auf Verlangen der Frau Markgraͤfin hatte Stilling dieſen Umweg wieder gemacht, weil ſich dort noch Blinde fanden, die operirt werden mußten. Der Kurfuͤrſt wiederholte ſein Verſprechen, und Freitags den 12. November traten ſie ihre Nachhauſereiſe uͤber569 Mannheim und Frankfurt an; hier und in Vilbel wur - den noch drei Blinde operirt, und Dienſtags den 16. November kamen ſie geſund und gluͤcklich wieder in Marburg an.
Die erſte Schweizerreiſe loͤste den erſten Stillingsknoten, naͤmlich die Bezahlung der Schulden, und die zweite loͤste den zweiten, naͤmlich Stillings endliche Beſtimmung.
Was der erhabene Weltregent anfaͤngt, das vollendet er auch im Kleinen wie im Großen, in der Bauernhuͤtte, wie am Hof. Er vergißt ſo wenig der Ameiſe, wie des groͤßten Monarchen. Ihm mißlingt nichts, und nichts bleibt Ihm ſtecken. Die Vor - ſehung ging ihren hohen Gang fort.
Bruder Coing heirathete im Fruͤhjahr 1802 ein treffliches Frauenzimmer, das ſeiner werth iſt. Stilling, Eliſe, Schwe - ſter Maria und Jakob reisten auf die Hochzeit, welche zu Homburg in Niederheſſen, im Hauſe der wuͤrdigen Frau Me - tropolitanin Wiskemann, der Braut Mutter, gefeiert werden ſollte. Nun lebt in Kaſſel ein edler, chriſtlichgeſinnter und ver - moͤgender Mann, der Rath Cnyeim, dieſer war Wittwer, und ſeine beiden liebeswuͤrdigen Kinder verheirathet; er lebte alſo mit einem Bedienten und einer Koͤchin allein, und bedurfte nun wieder eine fromme und rechtſchaffene Gattin, die an ſeiner Hand den Lebensweg mit ihm fortpilgerte. Ein Bruder dieſes wuͤrdigen Mannes iſt Prediger in Homburg, und ebenfalls ein ſehr lieber Mann, dieſer ſahe und beobachtete Schweſter Maria, und fand, daß ſie ſeinen Bruder in Kaſſel gluͤcklich machen wuͤrde. Nach Beobachtung der gehoͤrigen Vorſichts - und Wohl - ſtandesregeln, kam dieſe Verbindung zu Stande, und Maria — die edle, ſanfte, gute und chriſtliche Seele hat einen Mann bekommen, ſo wie er gerade fuͤr ſie paßt; ſie iſt ſo gluͤcklich, wie man hienieden ſeyn kann.
So ruht der Eltern Coing Segen auf ihren vier Kindern; ſie ſind alle gluͤcklich und geſegnet verheirathet: der Bruder Coing hat eine Gattin bekommen, wie ſie der Herr einem Manne gibt, den Er liebt; auch Amalia lebt gluͤcklich mit Stillings rechtſchaffenen Sohn; Eliſe geht den ſauerſten und ſchwerſten570 Gang an Stillings Seite, allein nebſt Vater Coings Se - gen, wird ihr Vater Wilhelm noch eine beſondere Gnade vom Herrn erbitten.
Das 1802. Jahr wurde mit einem angenehmen Beſuch be - ſchloſſen; Stillings naͤchſter Blutsverwandter und vertrauter Jugendfreund von der Wiege an, der Oberbergmeiſter von Dil - lenburg, beſuchte ihn auf einige Tage; er iſt Johann Stil - lings zweiter Sohn, und ein rechtſchaffener geſchickter Mann, Beide erneuerten ihren Bruderbund und ſchieden dann wieder von einander.
Im Anfange des 1803. Jahres trug ſich etwas zu, das auf Stillings endliche Beſtimmung einen wichtigen Einfluß hatte: es kam naͤmlich ein Reſcript von Kaſſel an die Marbur - ger Univerſitaͤt, des Inhalts: Daß kein Schriftſteller in Marburg ſeine Geiſtesproducte dem Druck uͤbergeben ſollte, bis ſie vom Prorector und dem Decan der Facultaͤt, in deren Fach die Abhand - lung gehoͤre, gepruͤft worden ſey.
Dieſe Einſchraͤnkung der Preßfreiheit, die nicht etwa das ganze Land oder alle gelehrte Schulen und Gelehrten in Heſſen, ſon - dern blos und allein Marburg betraf, that allen dortigen Pro - feſſoren, die ſich im geringſten nichts Boͤſes bewußt waren, un - gemein wehe: denn wie ſehr dadurch ein ehrlicher Mann allen nur moͤglichen Neckereien ausgeſetzt wird, wenn zwei ſeiner Kolle - gen das Recht haben, ſeine Arbeiten zu pruͤfen, das koͤnnen nur Gelehrte, eigentlich nur Profeſſoren beurtheilen, die das ohnehin ſo ſchwere Kollegialverhaͤltniß auf Univerſitaͤten kennen.
Stilling dachte hin und her — und das that wohl jeder Marburger Profeſſor — was doch wohl die Veranlaſſung zu dieſem ſo ſehr harten Reſcript geweſen ſeyn moͤchte? — Jetzt war, außer den gewoͤhnlichen akademiſchen Schriften, Pro - grammen, Diſſertationen und dgl. nichts von einem Marbur - ger Verfaſſer herausgekommen, als der graue Mann von Stilling, und dann die theologiſche Annalen von Wachler; Einer von Beiden mußte alſo wahrſcheinlicher Weiſe verdaͤchtig gemacht worden ſeyn. Stilling durchdachte die letzten Hefte des grauen Mannes, und fand nicht das geringſte571 Anſtoͤßige; er konnte alſo unmoͤglich denken, daß eine ſo ortho - doxe Schrift, welche Religioſitaͤt, die allgemeine Ruhe und Sicher - heit, und die Erhaltung des Gehorſams und der Liebe der Unter - thanen gegen ihre Regenten zum Zweck hat, Urſach zu dieſem, fuͤr die Univerſitaͤt ſo traurigen Geſetz gegeben habe; um aber doch zur Gewißheit in dieſer Sache zu kommen, ſchrieb er einen ſehr hoͤflichen und herzlichen Brief an einen gewiſſen Herrn in Kaſſel, dem er in ſeinem Leben kein Haar gekraͤnkt hatte, und erkundigte ſich mit Beſcheidenheit nach der Urſache des harten Cenſurreſcripts — allein wie erſchrack er, als er in einer ziem - lich ſtachlichten, nicht liebevollen Antwort, die Nachricht bekam: der graue Mann habe das Cenſurreſcript veran - laßt — nach und nach wurde dieß auch allgemein bekannt, und nun kann ſich Jeder leicht vorſtellen, wie Stilling zu Muthe ſeyn mußte, wenn er bedachte, daß er die Veranlaſſung zu einer, fuͤr die Univerſitaͤt ſo ſchweren, Buͤrde gegeben habe; jetzt war er nun auf Einmal mit Marburg und Heſſen fertig; — Zeit und Weile wurden ihm zu lang, bis der Herr ſein Schickſal vollends entſchied. Daß der Kurfuͤrſt von Heſſen an dieſem Reſcript durchaus unſchuldig war, das brauche ich wohl nicht zu erinnern. — Wie kann ein großer Herr alle Schriften leſen und pruͤfen? — dieſe und noch viele andere Sachen muß er ſachkundigen Maͤnnern zur Entſcheidung uͤberlaſſen. Ich berufe mich auf alle Leſer des grauen Mannes, und wenn mir einer eine einzige Stelle zeigen kann, die den Reichscenſurgeſetzen entgegen iſt, ſo will ich verloren haben.
Haͤtte man nun nicht Stillingen einen Wink geben ſol - len, er moͤchte doch den grauen Mann nicht ſchrei - ben? — ihn aber der ganzen Univerſitaͤt, allen ſeinen Kolle - gen zum Stein des Anſtoßes zu machen, das war ſehr hart fuͤr einen Mann, der dem Fuͤrſten und dem Staat ſechzehen Jahr lang mit aller Treue gedient hat.
Ja, wahrlich! jetzt war in Heſſen Stillings Bleibens nicht mehr, und wie gut war es, daß er nun gerade kurz vor - her in Karlsruhe eine frohe Ausſicht erhalten hatte. Er erklaͤrte oͤffentlich, und auch in ſeinem Votum, welches auf ſein Verlangen der Vorſtellung der Univerſitaͤt an den Kurfuͤrſten572 beigelegt wurde, Seine Durchlaucht moͤchte doch der Univerſitaͤt das Cenſurreſcript wieder abnehmen, er allein wolle ſich ihm unterwerfen, allein das half nicht, es blieb bei dem einmal gegebenen Geſetz.
Der Kurfuͤrſt hatte uͤbrigens von jeher viele Gnade fuͤr Stil - ling, er wird Ihm noch in der Ewigkeit dafuͤr danken, und ſeine ehrfurchtsvolle Liebe gegen dieſen in ſo mancher Abſicht großen Fuͤrſten wird nie erloͤſchen.
In dieſen Oſterferien kam es wieder zu einer wichtigen und merkwuͤrdigen Reiſe: In Herrnhut in der Oberlauſitz und den dortigen Gegenden waren viele Blinde und Augenkranke, die Stillings Huͤlfe verlangten, ſein treuer und lieber Corre - ſpondent Erxleben ſchrieb ihm alſo: er moͤchte kommen, fuͤr die Erſtattung der Reiſekoſten ſey geſorgt. Stilling und Eliſe ruͤſteten ſich alſo wiederum zu dieſer großen Reiſe: denn Herrnhut iſt von Marburg neun und fuͤnfzig deutſche Meilen entfernt.
Freitags den 25. Maͤrz reisten ſie von Marburg ab; wegen der boͤſen Wege in Thuͤringen, beſchloſſen ſie, uͤber Eiſenach zu gehen. Hier ſahe Stilling ſeinen vieljaͤhrigen Freund, den Kammerdirektor von Goͤchhauſen, zum Erſtenmal, dieſer edle Mann war krank, indeſſen es beſſerte ſich bald wieder mit ihm. Unterwegs hielten ſie ſich nirgends auf: ſie fuhren uͤber Gotha, Erfurt, Weimar, Naumburg, Weißenfels, Leipzig, Wurzen — wo ſie mit ihrem chriſtlichen Freund, dem Gerichtsdirector Richter, welcher nebſt ſeiner Tochter Auguſte mit Stilling in einem erbaulichen Briefwechſel ſteht, ein paar Stunden ſehr angenehm zubrachten — und Meiſ - ſen nach Dresden; hier uͤbernachteten ſie im goldnen Engel, und fanden auch hier ihren Freund von Cuningham kraͤnk - lich; Stilling machte noch dieſen Abend einen Beſuch bei dem verehrungswuͤrdigen Miniſter von Burgsdorf, und wurde wie ein chriſtlicher Freund empfangen.
Freitags den erſten April reisten ſie nun in die Lauſitz, ſie kamen am Nachmittag ſchon zu Kleinwelke, einem ſchoͤnen Herrnhutergemeinort, an; ſie fanden ihren Freund, den Prediger Nietſchke, in tiefer Trauer, er hatte ſeine treffliche Gattin573 vierzehn Tage vorher fuͤr dieſes Leben verloren. Stilling weinte mit ihm, denn das iſt der beſte Troſt, den man einem Mann geben kann, dem ſo wie Nietſchke, alle Troſtquellen geoͤffnet ſind, die Natur fordert ihr Recht, der aͤuſſere Menſch trauert, indem der innere Gott ergeben iſt.
Hier wohnten ſie des Abends der Singſtunde, oder dem An - fang der Feier der Charwoche bei, auch machten ſie angenehme Bekanntſchaften. Stilling beſah auch einige Blinde, die er bei der Ruͤckreiſe operiren wollte.
Sonnabend den 2. April fuhren ſie des Morgens von Klein - welke uͤber Budiſſin und Loͤbau nach Herrnhut. Die - ſer Ort liegt auf einer flachen Anhoͤhe zwiſchen zwei Huͤgeln, deren der eine noͤrdlich, der andere ſuͤdlich iſt; jener heißt der Hutberg und dieſer der Heinrichsberg, auf jedem ſteht ein Pavillon, von dem die Ausſicht auſſerordentlich ſchoͤn iſt: gegen Oſten etwa fuͤnf Stunden weit, ſieht man das maje - ſtaͤtiſche Schleſiſche Rieſengebirge, und gegen Mittag nach Boͤhmen hin.
Wie herzlich und liebevoll Stilling und Eliſe an dieſem aͤuſſerſt lieben und angenehmen Ort empfangen wurden, und was ſie Gutes da genoſſen haben, das laͤßt ſich unmoͤglich be - ſchreiben. Eben ſo wenig kann ich die Geſchichte des zehntaͤgigen Aufenthalts erzaͤhlen, denn es wuͤrde dieß Buch allzuſehr ver - groͤßern, und dann wurde auch Stilling von den Vorſtehern ernſtlich erſucht, ja nicht viel zum Lob der Bruͤder - gemeinde zu ſagen und zu ſchreiben, denn ſie gedeihten beſſer unter Druck, Verachtung und Vergeſſenheit, als wenn man ſie ruͤhmt.
Erxleben und Goldmann freuten ſich vorzuͤglich ihrer Ankunft, der erſte als Correſpondent, und der zweite als per - ſoͤnlicher Bekannter von Stuttgart her.
Daß ich uͤbrigens keines Freundes und keiner Freundin weiter hier namentlich gedenke, wird mir Niemand veruͤbeln — wie koͤnnte ich ſie Alle nennen? — und geſchehe das nicht, ſo koͤnnte es dem wehe thun, der ausgelaſſen wuͤrde.
Wuͤrde ich auch nur die vielen Standesperſonen und Adeli - chen, mit denen Stilling und Eliſe hier in ein bruͤderliches574 Verhaͤltniß kamen, bemerken wollen, ſo muͤßte das der Menge der vortrefflichen Seelen aus der Buͤrgerſchaft wieder leid thun, und das mit Recht: denn in dem Verhaͤltniß, worinnen man in Herrnhut ſteht, iſt man Allen im Herrn Jeſu Chriſto verſchwiſtert, da gilt kein Stand mehr etwas, ſondern die neue Kreatur, die aus Waſſer und Geiſt wiedergeboren iſt. Wer uͤbrigens Herrnhut in ſeiner religioͤſen und politiſchen Ver - faſſung gern kennen moͤchte, der leſe nur Paſtor Frohbergers Briefe uͤber Herrnhut, da findet er Alles genau beſchrieben.
Die Feier der Charwoche iſt in allen Bruͤdergemeinden, vor - zuͤglich aber in Herrnhut, herzerhebend und himmliſch; Stil - ling und Eliſe wohnten allen Stunden, die ihr gewidmet ſind, fleißig und andaͤchtig bei: auch erlaubten ihnen die ehr - wuͤrdigen Biſchoͤfe und Vorſteher, am gruͤnen Donnerſtag Abends mit der Gemeinde zu communiziren; dieſe Communion iſt, was ſie eigentlich ſeyn ſoll: eine feierliche Vereinigung mit dem Haupte Chriſto und mit allen ſeinen Gliedern unter allen Religions - partheien. Was ein chriſtlichgeſinntes Herz in dieſer Stunde empfindet, und wie einem da zu Muth iſt, das kann nicht be - ſchrieben, ſondern es muß erfahren werden. Es war Stil - ling zu dieſer Zeit zu Muth, als wenn er zu ſeiner neuen kuͤnf - tigen Beſtimmung eingeweiht wuͤrde; und zu ſolch einer Ein - weihung war denn freilich kein Ort geſchickter, als der, wo Je - ſus Chriſtus und ſeine Religion vielleicht am reinſten und lau - terſten in der ganzen Welt bekannt und gelehrt wird, als der Ort, wo nach dem Verhaͤltniß der Menſchenzahl uͤberhaupt, gewiß die mehreſten wahren Chriſten wohnen.
Zweier Perſonen in Herrnhut muß ich doch noch beſon - ders gedenken: naͤmlich der dortigen Ortsherrſchaft, welche aus dem Baron von Wattewille und ſeiner Gemahlin, einer gebornen Graͤfin von Zinzendorf, beſteht; dieſe wuͤrdige Dame iſt ihrem ſeligen Vater ſehr aͤhnlich, und fließt auch eben ſo von Gottes - und Menſchenliebe uͤber; auch ihr Gemahl iſt ein edler und Gottliebender Mann; Beide erzeigten Stilling und Eliſe viele Freundſchaft.
Stilling operirte in Herrnhut verſchiedene Perſonen, und ging einigen Hunderten mit Rath und That an die Hand. 575Das Gedraͤnge der Huͤlfsbeduͤrftigen war auſſerordentlich groß.
Dienſtags den 12. April, alſo am dritten Oſtertag, reisten ſie unter dem Segen vieler edler Menſchen von Herrnhut nach Kleinwelke. Hier wurden noch Einige operirt, und am folgenden Tage fuhren ſie nach Dresden, wo ſie bis den Sonnabend blieben, und dann ihren Ruͤckweg uͤber Wald - heim, Coldiz, Grimma und Wurzen nach Leipzig nahmen. Die Urſachen dieſes Umwegs waren, einige Blinden im Armenhauſe zu Waldheim, denen der liebevolle Vater der Armen, der Miniſter von Burgsdorf, gern zu ihrem Ge - ſicht helfen wollte, und dann eine freundliche Einladung ſeiner Kinder von Hopfgarten in Coldiz; hier operirte Stil - ling die letzten Staarblinden auf dieſer Reiſe. Es thut mir wehe, daß ich nicht Allen den lieben vortrefflichen Menſchen, die Stilling und Eliſe ſo unausſprechlich viele Liebe erzeigt, und mit denen ſie ſich auf Zeit und Ewigkeit vereinigt haben, hier laut und oͤffentlich danken kann und da[ß]; allein Jeder ſieht ein, daß das aus vielen wichtigen Gruͤnden nicht angeht. Wir wollen das auf die Ewigkeit verſparen.
Donnerſtags den 21., Nachmittags reisten ſie von Leipzig ab, und blieben uͤber Nacht in Weißenfels; den folgenden Tag fuhren ſie bis Weimar; und da ſie Beſtellungen nach dem Herrnhuter Gemeinort Neudietendorf hatten, ſo machten ſie von Erfurt aus einen kleinen Umweg dahin, blie - ben den Sonntag da, und reisten dann des Montags uͤber Gotha nach Eiſenach. In Gotha wartete Stilling dem Herzog auf, mit dem er eine kurze intereſſante Unterredung hatte.
In Eiſenach fanden ſie ihren lieben Freund von Goͤchhau - ſen wieder beſſer; mit ihm, ſeinem Bruder und Schweſter, und mit dem wuͤrdigen Doctor Muͤller brachten ſie einen ver - gnuͤgten Abend zu, und fuhren dann Dienſtags, den 26. April, nach Kaſſel. Hier ruhten ſie nun aus bis Montags den 2. Mai. Bruder Coing kam mit ſeiner Gattin auch dahin, alle Geſchwiſter waren dieſe Tage uͤber ſehr vergnuͤgt zuſammen. Dann reiste Bru - der Coing mit ſeiner Julie wieder nach Hauſe, und Stilling und Eliſe an ſo eben bemerktem Tage wieder nach Marburg.
576Es iſt bekannt, daß der Landgraf von Heſſen-Kaſſel in dieſem Fruͤhjahr die Kurwuͤrde annahm, zu welchem Ende große Feierlichkeiten veranſtaltet wurden. Waͤhrend dieſer Zeit, Frei - tags den 20. Mai, bekam Stilling des Morgens fruͤh einen Brief durch eine Staffette von Kaſſel, in welchem er erſucht wurde, augenblicklich Poſt zu nehmen und dorthin zu kommen, denn der Prinz Karl von Heſſen aus Daͤnemark ſey da, er habe ſeinen Bruder unerwartet uͤberraſcht, und wuͤnſche nun auch Stilling zu ſprechen. Dieſer machte ſich alſo ſogleich auf, beſtellte Poſt, Eliſe ruͤſtete ſich auch, und um halb ſechs ſaßen Beide ſchon in ihrer Kutſche; Abends um neun Uhr kamen ſie bei den Geſchwiſtern Cnyrim in Kaſſel an. Die beiden folgenden Tage verlebte Stilling aͤußerſt vergnuͤgte Stunden mit dem Prinzen: Sachen von der aͤußerſten Wichtigkeit, das Reich Gottes betreffend, wurden verhandelt. Prinz Karl iſt ein wahrer Chriſt; er haͤngt mit dem hoͤchſten Grad der Liebe und der Verehrung am Erloͤſer, er lebt und ſtirbt fuͤr ihn, dabei hat er ſeltene und außerordentliche Kenntniſſe und Erfahrungen, die aber bei weitem nicht fuͤr Jedermann ſind und von denen hier auf keinen Fall die Rede ſeyn kann. Nach einem chriſtlichen und liebevollen Abſchied von dieſem großen und erleuchteten Fuͤr - ſten, reisten alſo Stilling und Eliſe, Montags den 23. Mai, wieder von Kaſſel ab, und kamen des Abends in Marburg an.
Dieſen Sommer waren Stillings Kollegien ſehr ſchlecht beſetzt. Haͤtte er im vorigen Herbſt nicht die neue Ausſicht in Karlsruhe bekommen, ſo wuͤrde er ſich nicht haben troͤſten koͤnnen. Jetzt nahten nun die Pfingſtfeiertage heran. Stilling und Eliſe hatten ſich ſchon lange vorgenommen, in dieſen Ferien ihre Freunde zu Wittgenſtein zu beſuchen, und weil Stil - lings Geburtsdoͤrfchen nur fuͤnf Stunden von dort entfernt iſt, ſo wollten ſie zuſammen nach Tiefenbach und Floren - burg wallfahrten und alle die Oerter beſuchen, die Stillings Jugend - und Juͤnglingsjahre — wenigſtens ihnen Bei - den — merkwuͤrdig gemacht hatte. Stilling freute ſich ſehr, dieſe Oerter, die er in ſieben bis acht und dreißig Jahren nicht577 geſehen hatte, am Arm ſeiner theuren Eliſe einmal wieder zu beſuchen. Ihn uͤberlief ein Schauer, wenn dieſe Vorſtellungen ſeiner Seele voruͤbergingen.
Dieſen Vorſatz auszufuͤhren, reisten Beide in Begleitung ihres achtjaͤhrigen Sohns Friedrich, dem ſie des Vaters Heimath zeigen wollten, den Tag vor Pfingſten, Sonnabends den 28. Mai nach Wittgenſtein, welches ſieben Stunden von Marburg entfernt iſt. Der dortige graͤfliche Kanzleidirektor Hombergk zu Bach iſt gebuͤrtig von Marburg, und nicht allein Eliſens naher Blutsverwandter, ſondern er und ſeine Gattin ſind auch Stillings und Eliſens vertraute Freunde und vortreffliche Menſchen. Der Aufenthalt bei dieſen guten Seelen war ſehr wohlthaͤtig und alle dortigen Freunde thaten ihr Beſtes, um beide Beſuchende auf alle Weiſe zu erquicken und zu erfreuen.
Der Dienſtag nach Pfingſten war nun der Tag, an welchem die Reiſe nach Stillings Geburtsort vorgenommen werden ſollte; Hombergk und ſeine Gattin wollten ſie begleiten — allein Stilling wurde von einer unerklaͤrbaren Angſt uͤberfal - len, die ſich vermehrte, ſo wie ſich der Tag naͤherte und die ihm die Ausfuͤhrung ſeines Vorhabens unmoͤglich machte; ſo ſehr er ſich vorher auf die Beſuchung des Schauplatzes ſeiner Jugend - ſcenen gefreut hatte, ſo ſehr ſchauderte er jetzt dafuͤr zuruͤck — es war ihm gerade ſo zu Muth, als ob dort große Gefahren auf ihn warteten. Gott weiß allein den Grund und die Urſache die - ſer ſo ſonderbaren Erſcheinung — es war nicht eine ſolche Angſt, wie die, welche er auf der Braunſchweiger-Reiſe empfand, ſondern es war vielleicht das Warnen ſeines Schutzengels, welches mit der Sehnſucht, ſeinen Geburtsort zu ſehen, kaͤmpfte, und dieſer Kampf machte Leiden. Jener war ein Hiobs -, dieſer aber ein Jakobskampf. — Aus dieſer Reiſe wurde alſo nichts, ſeine Lieben reſpectirten ſeine Angſt, und gaben alſo nach.
Zu Wittgenſtein kam nun endlich der merkwuͤrdige Zeit - punkt, in welchem Stilling, im drei und ſechzigſten Jahr ſei - nes Alters, die Entſcheidung ſeines Schickſals erfuhr, er bekam einen Brief von ſeinem Sohn aus Marburg, in welchem ihm dieſer die frohe Nachricht ſchrieb, daß ihn der Kurfuͤrſt von Ba -578 den als wirklichen Juſtizrath mit einem ordentlichen Gehalt an Geld und Naturalien nach Mannheim ans Kurfuͤrſtliche Hof - gericht berufen habe — das war eine Vokation, die ihrer Bei - der Erwartung uͤbertraf — dann war auch eine beſondere An - frage an Stilling beigelegt, naͤmlich: ob er wohl, vor der Hand, bis man ſeine Beſoldung verbeſſern koͤnnte, fuͤr zwoͤlfhundert Gulden jaͤhrlich kom - men wollte?
Die Freude uͤber des langgepruͤften Jakobs Verſorgung, und die nahe und gewiſſe Ausſicht, aus der nunmehro unertraͤg - lich gewordenen Lage herauszukommen, erfuͤllten Stilling und Eliſe mit Wonne und tiefer Beruhigung, mit Thraͤnen opferten ſie Gott Dank, und eilten nach Haus, weil der Jakob auch zugleich Befehl bekommen hatte, ſobald als moͤglich zu kom - men, und ſein Amt anzutreten. Sie fuhren alſo Freitags, den 3. Junius, von Wittgenſtein ab, und kamen des Nachmit - tags zu Marburg an.
Jetzt wurden nun alle Haͤnde in Wirkſamkeit geſetzt, um Ja - kobs und Amaliens Zug nach Mannheim zu beſchleuni - gen. In Stillings Seele aber entſtand nun ein heftiger Kampf zwiſchen Vernunft und Glauben.
Wenn man jetzt Stillings Lage blos nach vernuͤnftigen, oͤkonomiſchen Gruͤnden beurtheilt, ſo war es allerdings bedenk - lich, eine Stelle mit Zwoͤlfhundert Thalern im zwanzig Gul - denfuß, gegen Zwoͤlfhundert Gulden Reichscourant zu ver - wechſeln, beſonders da bei jener ſtarken Beſoldung nichts uͤbrig blieb — es ließen ſich ſogar Gruͤnde denken, die Stillingen ſeine Schwierigkeiten benehmen, ihn beſtimmen konnten, in Mar - burg zu bleiben und ſeine Stelle zu behalten, denn er konnte ja ruhig ſo fortfahren, wie bisher — in den Ferien reiſen, und zwiſchen denſelben ſein Amt treulich verwalten; kamen wenige oder gar keine Zuhoͤrer, ſo war das ja ſeine Schuld nicht — und was ſeinen Grundtrieb, fuͤr die Religion zu wirken, betraf, ſo konnte das ja nebenher, wie bisher, geſchehen, und wenn er dann nicht Alles zwingen konnte, ſo fordert ja Gott nichts uͤber Vermoͤgen, man laͤßt den Stein liegen, den man nicht heben kann, u. ſ. w.
579Stillings Gewiſſen aber, das durch viele Glaubens - und Leidenserfahrungen berichtigt, und durch die langwierige vieljaͤh - rige Zucht der Gnade von allen Sophiſtereyen gereinigt iſt, ur - theilt ganz anders; nach ſeiner innigſten Ueberzeugung mußte er durchaus ſein Amt niederlegen, ſeine Beſoldung in die Haͤnde ſeines Fuͤrſten wieder zuruͤckgeben, ſobald er ſie nicht mehr zur Befriedigung deſſelben und ſeines eigenen Gewiſſens verdie - nen konnte. — Dieſer Satz leidet durchaus keine Einſchraͤnkung, und wer anders denkt, der denkt unrichtig. Stilling konnte auch das getroſt thun und wagen, da ihm jetzt ein Weg gezeigt wurde, auf welchem er zum Ziel gelangte, ſobald er ihn einſchlug; er hatte in wenigen Jahren erfahren, daß der Herr Mittel ge - nug habe, ohne die Marburger Beſoldung aus der Noth zu helfen: denn nicht nur mit dieſer, ſondern mit Schweizergeld wurden die Schulden getilgt, mit Dieſem und nicht mit Jener wird der Zug und die neue Einrichtung beſtritten. Es iſt fer - ner des wahren Chriſten unbedingte Pflicht, ſobald ihm unter verſchiedenen Berufsarten die Wahl gelaſſen wird, diejenige zu waͤhlen, die der Menſchheit den mehreſten Nutzen bringt, am wohlthaͤtigſten wirkt, und dabei kommt es nun gar nicht auf ein kleineres, oder uͤberhaupt auf einen Gehalt an: denn ſobald man dieſen Grundſatz befolgt, ſobald tritt man in den unmit - telbaren Dienſt des Vaters und Regenten aller Menſchen, daß Der nun ſeine Diener beſoldet, ihnen gibt, was ſie beduͤrfen, das verſteht ſich — Stilling fand ſich alſo hoch verpflichtet, dem Ruf zu folgen: denn daß er durch ſeine Augenkuren, und vorzuͤglich durch ſeine Schriftſtellerei, unendlich mehr Nutzen ſtif - tet, als durch ſein akademiſches Lehramt, das iſt gar keinem Zweifel unterworfen, und eben jene Faͤcher machten ſeinen gan - zen Beruf aus, wenn er die Baden’ſche Vokation annahm; es war alſo durchaus Pflicht, den Ruf anzunehmen, vorzuͤglich da noch mit der Zeit Beſoldungsvermehrung und zwar von einem Herrn verſprochen wurde, der gewiß haͤlt, was er verſpricht.
Zu dieſem Allem kam nun noch Stillings ganze Fuͤhrung von der Wiege an; der muͤßte ſehr blind ſeyn, der nicht einſehen koͤnnte, daß dieſe planmaͤßig den Weg zu der Thuͤr gezeigt hat, die der Kurfuͤrſt von Baden jetzt oͤffnete. Haͤtte Stilling580 eine andere Gelegenheit erwarten wollen, wo ihm mehr Beſol - dung zugeſagt wuͤrde, ſo waͤre das ſeiner Lage, bei ſeinen Glan - benserfahrungen, ein hoͤchſt ſtrafbares Mißtrauen, und da die Vorſehung dieſen Ruf unzweifelbar vorbereitet und zubereitet hatte, auch eine ſchwere Suͤnde des Ungehorſams geweſen, wenn er ſie nicht angenommen haͤtte; und dann war dieſe Vokation ſo ſel - ten, ſo einzig in ihrer Art, daß man unmoͤglich noch Einmal eine aͤhnliche erwarten konnte; und endlich ſieht der Erleuchtete, der wahre Chriſt leicht ein, daß Stillings großer Fuͤhrer keinen andern Zweck dabei hat, als ihn und ſeine Eliſe immer - fort im Glaubensodem zu erhalten, — ſie in die Lage ſetzen, daß ſie ihm immer nach ſeiner milden Hand ſehen, und ihre Au - gen auf ihn warten muͤſſen. Dieſe Ueberzeugungen Alle beſtimm - ten Beide, den Ruf in Gottes Namen anzunehmen; um aber doch Alles zu thun, was gethan werden konnte, um ſich vor - wurfsfrei zu erhalten, ſchrieb Stilling an den Kurfuͤrſten von Baden, und bat wo moͤglich noch um eine Zulage an Natural - beſoldung; darauf kam dann die Vokation, in welcher ihm dieſe Zulage zugeſichert wurde, ſobald irgendwo eine faͤllig werden wuͤrde.
Jetzt, lieben Leſer! war nun auch die große Frage uͤber Stillings eigentliche und endliche Beſtimmung entſchieden, und der zweite groͤßte Knoten ſeiner wunderbaren Fuͤhrung ge - loͤst — jetzt kann man nicht mehr ſagen, ſein Glaube und ſein Vertrauen auf Jeſum Chriſtum und ſeine Weltregierung ſey Schwaͤrmerei und Aberglauben; im Gegentheil, der Erloͤſer hat ſich ſelbſt, und den Glauben ſeines Knechts herrlich und augen - ſcheinlich legitimirt, und zum Beweis, daß ihm Stillings Ent - ſchluß wohlgefaͤllig ſey, gab Er ihm noch folgendes herrliche Zei - chen ſeines gnaͤdigen Beifalls.
Mehr als 50 Meilen von Marburg entfernt lebt eine Dame, die von Stillings gegenwaͤrtiger Lage und Beduͤrfniſſen nicht das Allergeringſte wußte, der er aber durch ſeine Schriften be - kannt war; dieſe fuͤhlt ſich in ihrem Gemuͤth angeregt, Stil - lingen 20 Louisd’or zu ſchicken. Sie folgte dieſer Anre - gung einfaͤltig und im Glauben, packte die 20 Louisd’or ein, und ſchrieb dann dabei: ſie habe einen Trieb in ſich ge - ſpuͤrt, ihm das Geld zu ſchicken, er werde nun wohl581 wiſſen, es zu gebrauchen, und wozu es dienen ſolle. — Durch dieſe hundert und achtzig Gulden wurde nun das, was von der Schweizerreiſe noch uͤbrig war, vermehrt, alſo der Zug von Marburg und die Einrichtung einer neuen Haushaltung an einem fremden Ort dadurch erleichtert; ich ver - muthe aber, daß Stillingen noch Etwas bevorſteht, das die Urſache enthaͤlt, warum ihm dies Geld zugewendet worden iſt.
Guter Gott! welch eine Fuͤhrung, wenn man ſie mit unge - truͤbtem Auge und unpartheiiſch betrachtet! — haͤtte Einer von allen bisherigen Zuͤgen der Vorſehung gefehlt, ſo waͤre es nicht moͤglich geweſen, dieſe Vokation anzunehmen; haͤtte Stilling in der Schweiz nur ſein Schuldenkapital und die Reiſekoſten bekommen, ſo waͤre das eine herrliche und ſichtbare Gnade Got - tes geweſen, aber dann haͤtte er doch in Marburg bleiben muͤſſen, weil es ihm an den Mitteln zum Fortziehen und zum Einrichten an einem fremden Ort gefehlt haͤtte: denn in Mar - burg behielt er von allem ſeinem Einkommen nichts uͤbrig.
Gelobt ſey der Herr! Er iſt noch der alte Bibelgott — Ja! Es heißt mit Recht: Ich bin, der ich war, und ſeyn werde, immer der Naͤmliche. Jeſus Chriſtus ge - ſtern, heute, und derſelbe in Ewigkeit!
Sonntag den 25. Junius zogen Jakob und Amalie unter vielen Thraͤnen aller Freunde, und unter den herzlichſten Seg - nungen der Eltern nach Mannheim; und nun ruͤſtete ſich auch Stilling und Eliſe zu ihrem Zug nach Heidelberg, wel - chen Ort ihnen der Kurfuͤrſt zum kuͤnftigen Wohnplatz ange - rathen: denn ſie koͤnnen in den Baden’ſchen Laͤndern woh - nen wo ſie wollen, weil Stilling kein Amt hat, ſondern nun blos und allein dem großen Grundtrieb, der von Jugend auf in ihm zur Entwicklung gearbeitet hat, und jetzt erſt reif geworden iſt, naͤmlich als ein Zeuge der Wahrheit, fuͤr Jeſum Chri - ſtum, ſeine Religion und ſein Reich zu wirken, und dann durch ſeine wohlthaͤtigen Augenkuren dem leidenden Naͤchſten zu dienen, gewidmet iſt; bei allem dem war es aber doch die groͤßte Schul - digkeit, den Rath des Kurfuͤrſten als einen Befehl anzuſehen, welches auch darum leicht war, weil Stilling keinen beque -Stillings ſämmtl. Schriften. I. Band. 38582mern und angenehmern Ort wußte, und weil er auch ſchon da bekannt war, indem er ehemals da gewohnt hatte.
Bei dem Kurfuͤrſten von Heſſen hielt er nun um ſeinen Ab - ſchied an, und er bekam ihn auch, und bei dem Wegziehen ſchrieb Stilling noch einmal an ihn, und dankte ihm fuͤr alle bisher genoſſene Gnade und Wohlthaten, und bat um ferneres gnaͤdi - ges Wohlwollen, welches ihm dann auch der Kurfuͤrſt in einem gnaͤdigen Handſchreiben zuſicherte.
Was fuͤr eine wehmuͤthige Empfindung Stillings Abzug in ganz Heſſen, vorzuͤglich aber in Marburg verurſacht habe, das laͤßt ſich nicht beſchreiben: die ganze Buͤrgerſchaft trauerte, und bei dem Wegziehen, Sonnabends den 10. September des Morgens fruͤh, weinte die ganze Nachbarſchaft — von dieſen ruͤhrenden Auftritten kein Wort mehr. Stillings und Eli - ſens Herzen wurden tief verwundet; beſonders als ſie bei dem Kirchhof vorbei fuhren, wo ſo viele ihrer Lieben ruhen.
Daß Freundin Julie mit zog, das verſteht ſich. Sie fuh - ren des erſten Tages zu ihren Kindern Schwarz nach Muͤn - ſter; hier blieben ſie den Sonntag und den Montag, welcher Stillings Geburtstag war, und jetzt ausnehmend herrlich gefeiert wurde: Schwarz und Julie hatten den Plan dazu entworfen, und er wurde vortrefflich ausgefuͤhrt. Die Geburts - tagsfeiern alle habe ich ſeit 1791 nicht mehr erzaͤhlen moͤgen, ſie enthalten zu viel Schmeichelhaftes und Ruhmvolles, und dieß Alles zu beſchreiben, wuͤrde ekelhaft ſeyn.
Dienſtags den 13. September nahmen ſie von ihren Kindern Schwarz Abſchied, und fuhren bis Frankfurt; hier blieben ſie den Mittwoch und den Donnerſtag; den Freitag fuhren ſie bis Heppenheim und Sonnabends den 17. September Vormit - tags zogen ſie in Heidelberg ein; artig war auch die heutige Loſung, ſie ſteht 2. Moſ. 15, v. 17. Bringe ſie hinein, und pflanze ſie auf den Berg deines Erbtheils, den du, Herr, dir zur Wohnung gemacht haſt, zu deinem Heiligthum, Herr! das deine Hand berei - tet hat. Daß man hier den Berg des Erbtheils Jehovah und ſein Heiligthum nicht auf Heidelberg anwenden duͤrfe, brauch’ ich wohl nicht zu erinnern, ſondern Stilling dachte583 ſich unter dem Berg des Erbtheils Jehovah, ſeiner Wohnung und ſeinem Heiligthum, das geiſtliche Zion und den myſtiſchen Tempel Gottes, in welchem er nun als ſein Knecht angeſtellt werde und wirken ſollte.
Freund Mieg hatte fuͤr eine ſchoͤne Wohnung und die Freun - dinnen Mieg und Baſſermann fuͤr andere Beduͤrfniſſe ge - ſorgt. Da wohnt nun Stilling mit ſeiner Eliſe, mit Ju - lien, mit Karoline, den dreien Kindern Friedrich, Mal - chen und Chriſtinchen, der treuen, lieben und guten Ma - riechen und einer Magd, und harret nun ferner des Herrn und ſeiner gnaͤdigen Fuͤhrung.
Wie ſehr gern haͤtte ich gewiſſen lieben Familien und naͤhern innigen Herzensfreunden in Marburg hier oͤffentlich vor dem ganzen Publikum fuͤr ihre Liebe und Freundſchaft gedankt — aber ſagt, Ihr Lieben! wie konnte ich das, ohne hier oder da Jemand, den ich nicht nenne, oder nennen kann, zu kraͤnken? — Die ganze liebe trauliche Stadt Marburg iſt meine Freundin, und ich bin ihr Freund, und in dieſem Verhaͤltniß bleiben wir gegen einander bis zu unſerer Verklaͤrung, und weiter hin, ſo lang unſer Bewußtſeyn waͤhret. Ihr Lieben Alle kennt uns und wir Euch. Der Herr unſer Gott uns Alle. Der ſey Euer großer Lohn. Amen!
Zufoͤrderſt bitte ich alle meine Leſer recht herzlich, dieſe noch uͤbrigen wenigen Blaͤtter mit ruhigem und unparteiiſchem Ge - muͤth zu leſen, und ſorgfaͤltig zu pruͤfen: denn ſie enthalten den wahren Geſichtspunkt, aus welchem Stillings ganzes Leben, alle fuͤnf Baͤnde durch, angeſehen und beurtheilt werden muß.
Daß ich der Hofrath Jung, der Verfaſſer aller fuͤnf Baͤnde, ſelbſt Heinrich Stilling bin, daß es alſo meine eigene Ge - ſchichte iſt, das weiß Jedermann, mein Incognito dient daher zu weiter nichts, ich lege es ab, und ſpreche nun nicht mehr in Stillings, ſondern in meiner eigenen Perſon.
38 *584Dieſe erſte Hauptfrage: ob meine ganze Geſchichte, ſo wie ich ſie in Heinrich Stillings Jugend, Juͤnglings - jahren, Wanderſchaft, haͤuslichem Leben und Lehr - jahren erzaͤhlt habe, wirklich und in der That wahr ſey, kann ich mit gutem Gewiſſen, mit Ja beantworten: in meiner Ju - gendgeſchichte ſind die Perſonen, ihre Charaktere, und die Ge - ſchichte ſelbſt nach der Wahrheit geſchildert und beſchrieben; aber es kommen allerlei Verzierungen darinnen vor, weil ſie der da - malige Zweck noͤthig machte, dieſe Verzierungen nehmen aber in den folgenden Baͤnden ſo ab, daß in den Juͤnglingsjah - ren wenige, in der Wanderſchaft noch wenigere, und im haͤuslichen Leben gar keine mehr vorkommen, nur die Per - ſonen und Oerter mußten aus gewiſſen Ruͤckſichten, die ich nicht vermeiden konnte, unter erdichtete Namen verſteckt werden; in dieſem Bande aber, in Stillings Lehrjahren, kommt nicht allein keine Verzierung mehr vor, ſondern ich habe auch alle Oerter und Perſonen, zwei, naͤmlich Raſchmann und einen gewiſſen Kanditaten ausgenommen, mit ihren wahren Namen benannt, und zwar aus der ſehr wichtigen Urſache, damit jeder - mann pruͤfen und erfahren koͤnne, ob ich die reine, unge - ſchminkte Wahrheit erzaͤhle? — Und wahrlich, es iſt ſehr der Muͤhe werth, ſich davon zu uͤberzeugen: denn wenn meine Geſchichte in ihrem ganzen Umfang wahr iſt, ſo entſte - hen Reſultate daraus, die ſich wohl die wenigſten Leſer vorſtel - len, die mehreſten aber nicht von Ferne ahnen koͤnnen. Es iſt alſo eine unnachlaͤſſige Pflicht fuͤr mich, dieſe Reſultate, dieſe Folgerungen gewiſſenhaft und mit vernunftmaͤßiger logiſcher Rich - tigkeit zu entwickeln und darzuſtellen. Ich bitte alſo alle meine Leſer inſtaͤndig, alles Folgende aufs genaueſte und ſchaͤrfſte zu pruͤfen.
1) Die Schickſale des Menſchen von ſeiner Geburt an, bis an ſeinen Tod, entſtehen entweder alle der Reihe nach, durch ein blindes Ohngefaͤhr, oder
2) Nach einem von Gott mit Weisheit entworfenen Plan, zu deſſen Ausfuͤhrung die Menſchen entweder als wirklich freie Weſen, oder ſo wie die phyſiſche Natur, maſchinenmaͤßig, doch ſo, daß es ihnen daͤucht, ſie handelten frei, mitwirken. Dieſe letzte fuͤrchterliche Idee: naͤmlich der Menſch ſchiene585 nur frei zu handeln, im Grund aber wirke er doch maſchi - nenmaͤßig, iſt das, was man Determinismus nennt. Es iſt hier der Ort nicht, dieſen ſchrecklichen Unſinn zu wider - legen, wenn es aber verlangt wird, ſo kann ichs, Gottlob! un - widerſprechlich.
Ich nehme alſo hier als ausgemacht an, daß Gott die Welt mit unendlicher Weisheit regiere, doch ſo, daß die Menſchen als freie Weſen mit einwirken, und dieß um deßwillen, weil der Deter - minismus auf meinen gegenwaͤrtigen Zweck keinen Einfluß hat.
Es liegt ſchon im Begriff des Worts: blindes Ohnge - faͤhr! daß dieß Unding keine vorher bedachten Plane entwerfen, mit großer Weisheit die Mittel zur Ausfuͤhrung von Ferne vor - bereiten, und hernach mit Kraft ausfuͤhren koͤnne; wo man alſo dieß Alles, wie in meiner Lebensgeſchichte, mit der hoͤchſten Evidenz wahrnimmt, da waͤre es Unſinn, an ein blindes Ohn - gefaͤhr zu denken; und da auch in den Schickſalen eines jeden Menſchen, folglich auch bei mir, unzaͤhlich viele andere Men - ſchen mit zum Ziel wirken, ſo koͤnnen alle dieſe mitwirkende Weſen unmoͤglich unter der Leitung eines blinden Ohngefaͤhrs ſtehen: ich ſetze alſo den Schluß feſt: daß nichts von ohn - gefaͤhr geſchehe, und geſchehen koͤnne.
Daß der Menſch — durchgehends genommen, zum Theil Mei - ſter ſeines Schickſals ſeyn koͤnne, und auch gewoͤhnlich ſein Gluͤck oder Ungluͤck groͤßtentheils ſich ſelbſt zuzuſchreiben habe, das wird wohl keiner meiner Leſer bezweifeln, er muͤßte denn ein De - terminiſt ſeyn; mit dieſem aber komme ich hier gar nicht in Colliſion; ob ich aber zu meiner Fuͤhrung mitge - wirkt habe, — ob ich auch nur auf die entfernteſte Art, zu irgend Einem meiner entſcheidenden Schickſale auch nur das Geringſte planmaͤßig bei - getragen habe? das iſt eine Frage, worauf hier Alles ankommt — denn, kann ich beweiſen, daß das nicht der Fall iſt, ſo entſtehen Folgen daraus, die ins Große und Ganze gehen, und von der aͤußerſten Wichtigkeit fuͤr un - ſere Zeitgenoſſen ſind.
Es gibt Menſchen, welche von Jugend auf einen gewiſſen Grundtrieb in ſich empfinden; dieſen faſſen und behalten ſie im586 Auge bis an ihren Tod; ſie wenden allen ihren Verſtand und alle ihre Kraͤfte an, den Zweck, wozu ſie ihr Grundtrieb antreibt, zu erreichen. Z. B. der Eine hat eine unuͤberwindliche Neigung, einen Grundtrieb zu mechaniſchen Arbeiten; er ringt, ſtrebt, arbeitet und erfindet ſo lang, bis er Kunſtwerke hervorbringt, die den, der ſie ſieht, in Erſtaunen ſetzen. Dieß iſt nun der Fall mit allen Berufsarten, Kuͤnſten und Wiſſenſchaften, in je - dem Fach findet man ſolche emporringende Menſchen, man nennt ſie große Maͤnner, große Geiſter, Genie’s, u. ſ. w. Vielen gelingt aber auch, bei aller ihrer Kraft und Staͤrke des Grundtriebs, alle ihre Muͤhe und Beſtreben nicht, weil es nicht in den Plan der großen Weltregierung paßt; — Vielen, auch ſolchen großen Geiſtern, die entſetzlich viel Boͤſes in der Welt ſtiften, gelingts, und zwar darum, weil ihre Wirkſamkeit mit ihren Folgen zu guten Zwecken gebraucht werden kann. Es iſt alſo ausgemacht, und ganz gewiß, daß ſolche Menſchen, wenig - ſtens groͤßtentheils, ſelbſt ihren Lebensplan gemacht und ausge - fuͤhrt haben, und ihr Grundtrieb war ihnen natuͤrlich. Man durchdenke den Lebensgang vieler großer und beruͤhmter, guter und boͤſer Maͤnner, und dann wird man an dieſer meiner Be - hauptung nicht mehr zweifeln koͤnnen.
Jetzt iſt nun das die eigentliche große — die Hauptfrage: Bin ich ein ſolcher Menſch? — ge - hoͤre ich unter die eben bemerkte Klaſſe merkwuͤr - diger Maͤnner, die ihre Schickſale großentheils ſelbſt bewirkt haben?
Wir wollen dieſe Frage auf’s ſtrengſte und unparteiiſch un - terſuchen und beantworten; es kommt alſo erſtlich darauf an, ob ich wirklich einen ſolchen maͤchtigen Grundtrieb hatte? — Allerdings — Ja! ich hatte ihn, und habe ihn noch: er iſt, weit ausgebreitet ins Große und Ganze gehende Wirkſamkeit fuͤr Jeſum Chriſtum, ſeine Religion und ſein Reich, — aber man muß wohl bemerken, daß dieſer Trieb ganz und gar nicht in meinem na - tuͤrlichen Charakter lag — denn dieſer iſt vielmehr, ins Große und Ganze gehender hoͤchſt leichtſinniger Genuß phyſiſcher und geiſtiger ſinnlicher Vergnuͤ -587 gen; ich bitte, dieſe Grundlage meines Charakters ja nicht aus der Acht zu laſſen. Jener erſte gute Grundtrieb wurde ganz von außen in mich gebracht, und zwar folgendergeſtalt:
Meiner Mutter fruͤher Tod legte den Grund zu Allem, damit fing mein himmliſcher Fuͤhrer im zweiten Jahre meines Alters an; waͤre ſie am Leben geblieben, ſo war mein Vater ein Bauer, dann mußte ich fruͤh mit ins Feld, ich lernte leſen und ſchreiben, und das war Alles; mein Kopf und mein Herz wurden dann mit den alltaͤglichen Dingen angefuͤllt, und was aus meinem ſittlichen Charakter geworden waͤre, das weiß Gott. Jetzt aber, da meine Mutter ſtarb, wurde meines Vaters religioͤſer Cha - rakter auf’s hoͤchſte geſpannt, und durch Umgang mit Myſtikern bekam er ſeine Richtung; er zog ſich mit mir in die Einſamkeit zuruͤck, ſeine Schneiderprofeſſion paßte ganz dazu, und ſeinen Grundſaͤtzen gemaͤß, wurde ich ganz von der Welt abgeſchieden erzogen; Kopf und Herz bekamen alſo keine andere Gegenſtaͤnde zu hoͤren, zu ſehen und zu empfinden, als religioͤſe; ich mußte immer Geſchichten und Lebenslaͤufe großer und im Reich Got - tes beruͤhmter, frommer und heiliger Maͤnner und Frauen leſen; dazu kam dann auch das wiederholte Leſen und Wiederleſen der heiligen Schrift; mit einem Wort, ich ſahe und hoͤrte nichts als Religion und Chriſtenthum, und Menſchen, die dadurch heilig und fromm geworden waren, und fuͤr den Herrn und ſein Reich gewirkt und gelebt, auch wohl Blut und Leben fuͤr ihn aufge - opfert hatten; nun iſt aber bekannt, daß die erſten Eindruͤcke in eine noch ganz leere Seele, beſonders wenn ſie allein, ſtark und Jahre lang anhaltend ſind, dem ganzen Weſen des Menſchen gleichſam unausloͤſchbar eingeaͤtzt werden, das war alſo auch mein Fall: jener Grundtrieb: weit ausgebreitete, ins Große und Ganze gehende Wirkſamkeit, fuͤr Je - ſum Chriſtum, ſeine Religion und ſein Reich, wurde meinem ganzen Weſen ſo tief eingepraͤgt, daß ihn waͤhrend ſo vieler Jahre kein Leiden und kein Schickſal ſchwaͤchen konnten, er iſt im Gegentheil immer ſtaͤrker und unuͤberwindlicher gewor - den; wurde er auch zu Zeiten durch dunkle Ausſichten auf kurz oder lang dem Anſchauen entruͤckt, ſo fiel er mir hernach doch wieder um ſo viel deutlicher in die Augen. Daß ich als Kind588 dieſen Grundtrieb geſucht und gewollt haͤtte, das wird nun wohl Niemand einfallen — daß ihn mein Vater zum Zweck gehabt habe, iſt laͤcherlich, der wollte erſtlich einen chriſtlichen frommen Menſchen, und dann einen tuͤchtigen Schulmeiſter aus mir ma - chen; und da dieſer Beruf in meinem Vaterlande keinen Haus - vater mit Frau und Kindern ernaͤhrt, ſo ſollte ich ſein Hand - werk dazu lernen, um dann ehrlich durch die Welt kommen zu koͤnnen. Daß er mir ſolche Geſchichten zum leſen gab geſchah deßwegen, weil doch Kinder etwas Unterhaltendes haben muͤſſen, und dann ſollte es mir Luſt machen, ein wahrer Chriſt zu wer - den. Daß aber jener Grundtrieb daraus entſtand, das war die Abſicht nicht eines blinden Ohngefaͤhrs, nicht meines Va - ters, nicht die meinige, ſondern des großen Weltregenten, der mich dereinſt brauchen wollte.
Ich ſetze alſo feſt, daß Gott nicht durch natuͤr - liche Anlagen, ſondern durch ſeine weiſe Leitung und Regierung ganz allein jenen Grundtrieb, ins Große und Ganze fuͤr Jeſum Chriſtum und ſein Reich zu leben und zu wirken, meinem Weſen ein - gegeiſtert, und zur eigenthuͤmlichen Eigenſchaft gemacht habe.
Da aber nun mein natuͤrlicher Grundtrieb: ins Große und Ganze gehender hoͤchſtleichtſinniger Genuß phyſiſcher und geiſtiger ſinnlicher Vergnuͤgen, je - nem mir eingeimpften Grundtrieb ſchnurgerade zuwider wirkte, ſo fing mein himmliſcher Fuͤhrer ſchon fruͤh an, dieſen beſchwer - lichen Feind zu bekaͤmpfen: das Werkzeug dazu war ebenfalls mein Vater, aber wiederum ohne es nur von Ferne zu ahnen: denn er wußte meinen natuͤrlichen Grundtrieb ganz und gar nicht, ſonſt haͤtte er ganz gewiß Klippen vermieden, an denen ich un - vermeidlich haͤtte ſcheitern muͤſſen, wenn mich Gottes Vater - hand nicht leicht hinuͤber gefuͤhrt haͤtte. Von dem Allem ahnete aber mein Vater nichts — bloß aus dem myſtiſchen Grundſatz der Abtoͤdtung des Fleiſches, wurde ich faſt taͤglich mit der Ruthe gehauen — Ja ich weiß ganz gewiß, daß er mich manchmal bloß deßwegen gezuͤchtiget hat, um ſeine Liebe zu mir zu kreu - zigen und zu verlaͤugnen. Bei jedem Andern haͤtte dieſe Art589 der Zucht entſetzlich ſchaͤdliche Wirkung gethan, bei mir aber — man glaube es auf mein Wort — war es eine unumgaͤnglich noͤthige Erziehungsmethode; denn meine leichtſinnige Sinnlich - keit ging in unbewachten Augenblicken unglaublich weit; Nie - mand, als Gott und ich, weiß es, welche entſetzliche Gedanken, Wuͤnſche und Begierden in meiner Seele geweckt wurden; es war, als ob eine maͤchtige feindſelige Kraft unſchuldige, nichts Boͤſes wollende Menſchen aufgereizt haͤtte, mich in die giftigen Verſuchungen und Gefahren fuͤr meinen ſittlichen Charakter zu ſtuͤrzen, allein es gelang nie; nicht mein religioͤſer Grundtrieb, nicht meine Grundſaͤtze — denn wo hat ein Kind Grundſaͤtze? ſondern blos meines Vaters ſtrenge Zucht und Gottes gnaͤdige Bewahrung ſind die Urſache, daß ich nicht hundert - und tau - ſendmal in den Abgrund des Verderbens geſtuͤrzt bin.
Eben dieß in mir liegende große, meinem religioͤſen Grund - trieb ganz entgegenwirkende Verderben iſt die Urſache, warum mein himmliſcher Fuͤhrer mich uͤber ſechzig Jahre lang in der Schule der Leiden uͤben mußte, ehe Er mich brauchen konnte; und man wird im Verfolg immer finden, daß alle Leiden da - hin abzielten, Leichtſinn und Sinnlichkeit zu toͤdten und mit der Wurzel auszurotten.
Jetzt kommt es nun darauf an, zu unterſuchen, ob ich denn wirklich ein großer Mann, ein großer Geiſt, oder ein groß Genie bin? — das iſt: ob ich mich mit Macht durch eigene Kraͤfte und Anlagen dahin gebracht habe, dem von Gott mir geſchenkten Grundtrieb, fuͤr Chriſtenthum, ſeine Religion und ſein Reich, ins Große und Ganze zu wirken, nun - mehr Folge leiſten zu koͤnnen?
Was mein Vater aus mir machen wollte, war: ein guter Schulmeiſter und nebenher ein Schneider, und den Zweck er - reichte er auch in ſo fern, daß ich Schulmeiſter und Schneider wurde; ich aber hatte keinen hoͤhern Wunſch, als Prediger zu werden. — Dieſe Wirkung brachte alſo mein religioͤſer Grund - trieb hervor — ich wollte Theologie ſtudiren; das haͤtte mein Vater zwar auch gern geſehen, aber es war durchaus nicht moͤg - lich, ſein ganzes Vermoͤgen reichte nicht hin, mich nur zwei590 Jahre lang auf der hohen Schule zu unterhalten. Es mußte alſo bei dem Schulmeiſter und Schneider bleiben, und mein Grundtrieb begnuͤgte ſich mit unerſaͤttlichem Leſen und For - ſchen in allen Faͤchern von Wiſſenſchaften: denn da mein Geiſt nun einmal Geſchmack an geiſtigen Vorſtellungen und Wiſſen - ſchaften, oder ein aͤſthetiſches Gefuͤhl bekommen hatte, ſo lief er nun dieſe Bahn unaufhaltbar fort, und ſuchte nur immer Gelegenheit, zu leſen und auf den Buͤchern zu bruͤten. Das, was ich alſo in den Faͤchern der Wiſſenſchaften an Kenntniſſen errungen habe, das koͤnnte man allenfalls meinem Fleiß und meiner Thaͤtigkeit zuſchreiben; und ſo viel iſt auch wahr, daß es der Herr nebenher zu einem Vorbereitungsmittel gebraucht habe, aber zur Entwicklung meiner wahren Beſtimmung hat es gerade zu nichts geholfen.
Immerfort an der Nadel zu ſitzen und den Leuten Kleider zu machen, das war mir in der Seele zuwider, und die Knaben und Maͤdchen immer und ewig im A B C, im Buchſtabiren, im Leſen und im Schreiben zu unterrichten, das war mir eben ſo langweilig; nach und nach dachte ich mir die Beſtimmung, Schneider und Schulmeiſter zu ſeyn, als etwas Hoͤchſttrauriges, und damit ſing auch mein inneres Leiden an: denn ich ſah keine Moͤglichkeit, Prediger, oder ſonſt Etwas zu werden.
Die ſtrenge Zucht meines Vaters blieb immer; ich wurde frei - lich nun nicht mehr alle Tage geſchlagen, aber in ſeiner Naͤhe war mir nie wohl. Seine unerbittliche Strenge bei jedem kleinen Fehler, weckte den unwiderſtehlichen Trieb in mir, mich ſo oft und ſo lange wie moͤglich von ihm zu entfernen, und dieß auch noch um deßwillen, weil ich bei ihm von fruͤh Morgens bis in die ſpaͤte Nacht an der Nadel ſitzen mußte, daher kams denn, daß ich jeden Ruf zu einer Schulſtelle mit groͤßter Freude annahm; da ich aber nicht mit Luſt, ſondern bloß aus Pflicht Kinder un - terrichtete, und dann auch außer den Schulſtunden auf den Buͤ - chern bruͤtete, ſo war ich im Grunde kein guter Schullehrer, und mit dem Schneiderhandwerk Etwas nebenher zu verdienen, daran dachte mein Herz nicht; zudem brachte mich mein gutmuͤthiger Leichtſinn um das Bischen Lohn, das ich als Schullehrer bekam, folglich mußte mich mein Vater immer neu kleiden und unter -591 halten; er ſahe alſo zu ſeinem groͤßten Leidweſen, daß ein guter Schulmeiſter an mir verdorben war; dadurch wurde er alſo natuͤrlicher Weiſe noch ernſthafter und unfreundlicher gegen mich, und als er nun noch gar eine weltlich geſinnte, gefuͤhlloſe Frau bekommen hatte, welche forderte, daß ihr Stiefſohn mit ins Feld gehen, alle Bauernarbeit, auch die ſchwerſte verrichten, Hacken, Maͤhen und Dreſchen ſollte, ſo ſtieg mein Jammer auf’s hoͤchſte, dazu waren meine Glieder von Jugend auf nicht angewoͤhnt wor - den, jetzt litt ich erſchrecklich. Von den rauhen Werkzeugen wur - den die Haͤnde immer voller Blaſen, und die Haut blieb am Hackenſtiel kleben: wenn ich die Grasſenſe oder den Dreſchflegel ſchwang, ſo krachten mir Rippen und Huͤften; Tage und Wochen ſchienen mir eine Ewigkeit zu ſeyn, und uͤber das Alles war die Zukunft finſter, ich konnte mir keine Rettung aus dieſer Lage denken, auch berief man mich nicht mehr zu Schulaͤmtern, es bleib mir alſo nichts mehr uͤbrig, als auf dem Lande umher bei Schneidermeiſtern als Geſelle zu arbeiten, dazu fand ſich dann auch Gelegenheit; aber bei dem Allem kam ich ſo in Kleidern und Waͤſche zuruͤck, daß ich von Jedermann als ein Taugenichts und verlorner Menſch betrachtet wurde. Mein religioͤſer Grund - trieb glaͤnzte mir aus der Ferne entgegen; wenn ich mir Spe - ner, Franke und uͤberhaupt ſo recht fromme Prediger dachte, und mir dann vorſtellte, welch eine Seligkeit es fuͤr mich ſeyn wuͤrde, ſo ein Mann zu werden, und daß es doch in meiner Lage unmoͤglich waͤre, ſo brach mir das Herz.
Die Abſichten, warum mich die Vorſehung in dieſe entſetzlich traurige Lage fuͤhrte, waren zweifach: erſtlich, um meine uͤber alle Vorſtellung gehende Sinnlichkeit und den unbaͤndigen Leicht - ſinn zu bekaͤmpfen. — Dieſe Abſicht merkte ich wohl, und dann, um mich aus meinem Vaterland zu brin - gen, weil ſie in demſelben ihren Plan mit mir nicht ausfuͤhren konnte; dieſen Zweck aber merkte ich ganz und gar nicht, ich war dergeſtalt in mein Vaterland ver - liebt, daß mich nur die aͤußerſte Nothwendigkeit hinausbannen konnte, und dazu kam es dann auch; ich ging fort.
Man merke hier wohl, daß dieſer erſte Schritt zu meiner kuͤnftigen Beſtimmung ſchlechterdings592 nicht mit, ſondern gegen meinen Willen geſchah; ich mußte durch die Macht der Vorſehung hinaus - getrieben werden! — Es iſt zu meinem Zweck Al - les daran gelegen, daß man ſich bis zur hoͤchſten Evidenz uͤberzeuge: ich habe Nichts zum Plan meiner Fuͤhrung beigetragen.
Mein erſter Vorſatz war, nach Holland zu gehen und da bei Kaufleuten Dienſte zu ſuchen: allein in Solingen im Her - zogthum Berg, machte man mir dieſen Vorſatz leid, ich blieb da und arbeitete auf dem Handwerk. Dieſe Beſchaͤftigung war mir nun von Herzen zuwider: denn meine Sinnlichkeit forderte immer beluſtigende Abwechſelung; Romanen oder ſonſt unter - haltende Geſchichten zu leſen, das war’s eigentlich, wohin meine Sinnlichkeit ihre Richtung genommen hatte; meine Imagination, meine Phantaſie war immerhin mit den allerromanhafteſten Bildern in unausſprechlicher Lebhaftigkeit beſchaͤftigt, und mein Leichtſinn ſetzte ſich uͤber alle Bedenklichkeiten weg. Die ewige Liebe erbarmte ſich hier zwar meiner ſo, daß ſie mich durch einen unausſprechlich innigen, tief in mein Herz dringenden, und mein ganzes Weſen erfuͤllenden Zug zur Einkehr, und mein ganzes kuͤnftiges Leben dem Herrn zu widmen, unwiderruflich beſtimmte; dieſer Zug iſt auch bis daher immer geblieben, und wird bleiben, bis ich vor ſeinem Thron ſtehe; aber dadurch war mein natuͤr - liches Verderben noch lange nicht ausgewurzelt, das mußte nun Jeſus Chriſtus durch ſeine große und herrliche Erloͤſung, durch ſeinen Geiſt, vermittelſt langwieriger, ſchwerer und leidens - voller Pruͤfungen bekaͤmpfen und uͤberwinden; noch iſt dieß große Geſchaͤft nicht vollendet, und wird auch nicht vollendet werden, bis meine Seele vom Leibe der Suͤnden und des Todes befreit iſt.
Ungeachtet nun mein Geiſt ſeine Richtung zum großen Ziel der Menſchenbeſtimmung genommen hatte, ſo gab es doch noch unendlich viele Abwege, und bald gerieth ich auf einen: meine Abneigung gegen das Schneiderhandwerk machte, daß ich ſogleich zufuhr, als mir die Hauslehrerſtelle bei einem Kaufmann ange - tragen wurde, und mein Leichtſinn erkundigte ſich — nach nichts! — Hier ſtieg mein Jammer auf die hoͤchſte Stufe, ſolch eine Schwermuth, ſolch eine Hoͤllenqual, ſolch eine Ent -593 behrung alles deſſen, was Menſchen troͤſten kann, vermag ſich Niemand vorzuſtellen, der ſo Etwas nie erfahren hat. Hier wurde Sinnlichkeit und Leichtſinn an der Wurzel angegriffen. Endlich hielt ichs nicht aus, ich lief fort, irrte in der Wildniß umher, beſann mich wieder, ging zuruͤck nach Rade vorm Wald, und der ſelige Johann Jacob Becker (Meiſter Iſaak) machte das herrliche Meiſterſtuͤck der chriſtlichen Men - ſchenliebe an mir. — Jetzt war ich aber auch ſo gruͤndlich von meinem Widerwillen gegen das Schneiderhandwerk kurirt, daß mich hernach Herr Spanier und der Meiſter Becker ſelbſt kaum bereden konnten, bei Erſterem die Hauslehrerſtelle anzu - nehmen; und ich bin ſogar jetzt noch ſo weit von jenem Wider - willen entfernt, daß ich mich — wenn es ſeyn muͤßte — im Augenblick wieder auf die Werkſtatt ſetzen koͤnnte.
Waͤhrend meinem Aufenthalt bei Spanier ſchien ſich Alles dazu anzuſchicken, daß ich Kaufmann werden ſollte; ich wurde taͤglich in Handelsgeſchaͤften gebraucht, alles ging mir gut von ſtatten; und ob ich gleich von Natur keine Neigung zur Hand - lung hatte, ſo glaubte ich doch, es ſey Gottes Fuͤhrung, der ich wohl wuͤrde folgen muͤſſen; beſonders da mir auch heimlich ver - ſichert wurde, daß eine reiche, ſchoͤne und rechtſchaffene junge Kaufmannstochter fuͤr mich beſtimmt ſey, ihr Vater wolle ſie mir geben und mich dann in Compagnie nehmen. Ob ich gleich an dem allen keine ſonderliche Freude hatte, ſo glaubte ich doch, es ſey Ganz der Vorſehung, dem ich folgen, und die ganze Sache als ein beſonderes Gluͤck anſehen muͤßte.
In dieſer Vorſtellung und Erwartung bekam ich, ganz gewiß ohne mein Mitwirken, den in meiner Geſchichte vorkommenden beſondern Eindruck, ich muͤßte Medizin ſtudiren; gut — ich fuͤr mich hatte nichts dazu gegeben, und diejenigen, die mein Schickſal lenken wollten, auch nicht; denn ſie ſagten: es ſey doch auffallend fuͤr eine vornehme Familie, einem Menſchen, der noch vor kurzem Schneiderburſch geweſen ſey, ſeine Tochter zu geben; haͤtte ich aber ſtudirt und promovirt, ſo koͤnnte das Alles denn doch fuͤglich ausgefuͤhrt werden, ich waͤre dann Doktor und Kaufmann zugleich. Das war Plan der Menſchen, und auch Plan meines himmliſchen Fuͤhrers. Bald nachher widerfuhr mir594 die merkwuͤrdige Geſchichte mit dem Paſtor Molitor zu At - tendorn, der mir ſeine Augenarkana mittheilte, und dann ſich niederlegte und ſtarb. Daß ich in meinem Leben nicht daran ge - dacht hatte, Augenarzt zu werden, und daß auch weder ich, noch Jemand von den Meinigen, auch nur von Ferne Veranlaſſung zu dieſer Mittheilung gegeben hatte, das weiß Gott! — und nun uͤberlege nur Jeder, der meine Geſchichte geleſen hat, was mir meine Augenkuren bis daher geweſen, noch ſind, und ferner ſeyn werden! — Wer da nicht die Alles regierende Hand einer allwiſſenden, allmaͤchtigen Gottheit erkennt, der hat keine Augen zum Sehen, und keine Ohren zum Hoͤren, ihm iſt nicht zu helfen.
Ich bediente mich der erlangten Mittel zu Augenkrankheiten, und kam dadurch in Bekanntſchaft mit der wuͤrdigen Familie meines ſeligen Schwiegervaters, Peter Heyders, zu Rons - dorf im Herzogthum Berg, und gegen alles Erwarten, gegen alle meine Plane und Vorſaͤtze, muß ich mich da mit einer abge - zehrten, ſehr ſchwaͤchlichen Perſon am Krankenbette verſprechen — eine Handlung, woran wahrhaftig meine Sinnlichkeit nicht Schuld war, ich that es blos aus Gehorſam gegen Gott, weil ich glaubte, es ſey nicht ſein Wille, es war da von meiner Seite an nichts dergleichen zu denken. Ich verſprach mich mit Chri - ſtine, ob ich gleich wußte, daß mich ihr Vater im geringſten nicht unterſtuͤtzen konnte und daß nun die Unterſtuͤtzung von der vorher zu erwartenden Seite gaͤnzlich aus war. Und nun ging ich mit einem halben Laubthaler auf die Univerſitaͤt nach Straß - burg; wie wunderbar mich dort der Herr durchgefuͤhrt habe, iſt aus meiner Geſchichte bekannt.
Jetzt frage ich abermal, war es mein Plan, mich mit Chriſtinen zu verheirathen, und war es mein Machwerk, Medizin in Straßburg zu ſtudiren?
Ich kam wieder, ſetzte mich als ausuͤbender Arzt und Augen - arzt, ganz ohne Beſoldung in Elberfeld. Nun erwartete ich auſſerordentliche Folgen in meiner Praxis: denn ich ſahe mich als einen Mann an, den der Herr beſonders zu dieſem Beruf ausgeruͤſtet habe — dann dachte ich mit meinem religioͤſen Grund - trieb fuͤr den Herrn und ſein Reich zu wirken, in Verbindung595 mit dieſem, und glaubte, ich wuͤrde nun am Krankenbette ein ſehr wohlthaͤtiges Werkzeug in der Hand des Herrn ſeyn, und den Kranken nach Leib und Seel dienen koͤnnen, und dann dachte ich, ich wollte religioͤſe Buͤcher ſchreiben, und dann meinem Grund - trieb Genuͤge leiſten, aber von allen dieſen Erwartungen kam ganz und gar nichts, meine Praxis war auch ganz und gar auſſer - ordentlich, ſondern ſehr ordentlich, ſehr gewoͤhnlich, auſſer daß meine Augenkuren viel Aufſehen machten, beſonders waren meine Staaroperationen ausnehmend gluͤcklich — aber auch dieſe habe ich meinem eigenen Geſchicke ganz und gar nicht zu verdanken: ich lernte ſie zwar in Straßburg, aber blos, weil ſie zum chirurgiſchen Studium gehoͤren, vor der Ausuͤbung aber hatte ich einen ſolchen Schauder und Abſcheu, daß ich noch wohl weiß, wie mir zu Muth war, als die arme Frau zu Wich - linghauſen, der ſelige Paſtor Muͤller, der Doktor Dink - ler in Elberfeld, und Freund Trooſt daſelbſt, mich gleich - ſam zwangen, die Operation an der ſo eben gemeldeten armen Frau zu wagen; mit Zittern und Beben machte ich ſie erbaͤrm - lich ſchlecht — und die Frau ſahe vortrefflich — nun bekam ich zwar mehr Muth, und doch noch jetzt, nachdem ich uͤber fuͤnf - zehnhundert Blinde operirt habe, wandelt mich noch immer eine Angſt an, wenn ich operiren ſoll.
Ich bezeuge alſo wiederum bei der hoͤchſten Wahrheit, daß ich im geringſten nichts dazu bei - getragen habe, daß ich Augenarzt — und noch dazu ein ſo ganz auſſerordentlich geſegneter Au - genarzt geworden bin. Das iſt ganz allein Fuͤh - rung des Herrn.
In welche tiefe Schwermuth ich nun verſank, als ich vor Au - gen ſahe, daß auch die Arzneikunde mein Fach nicht ſey, das laͤßt ſich nicht beſchreiben; dazu kam nun noch die druͤckende Laſt meiner Schulden, die jedes Jahr betraͤchtlich wuchs, ohne daß ich es aͤndern und verhuͤten konnte — das war wahrhafte Arznei gegen Sinnlichkeit und Leichtſinn, und Beide wurden auch, Gott ſey’s gedankt! ganz mit der Wurzel ausgerottet — nun ſah ich ganz und gar keinen Ausweg mehr: ich hatte Frau und Kinder, immer wachſende Schulden, und immer abnehmenden Verdienſt596 — an Gelehrſamkeit und Kenntniſſen fehlte es mir nicht, ich durchkroch alle alte und neue Winkel der mediziniſchen Litteratur, aber ich fand in dieſer ſchwankenden Wiſſenſchaft lauter Unwiſ - ſenſchaft, alles bloße Wahrſcheinlichkeit und Vermuthung; jetzt war ich der Arzneikunde herzlich muͤde; aber womit ſollte ich mich nun naͤhren, und — womit meine Schulden be - zahlen? — da mußte ich mich der Vorſehung auf Gnade und Ungnade ergeben; und das that ich auch auf immer und ewig, und von Herzen, und dieſe Uebergabe iſt nicht allein nicht auf - gehoben, ſondern ſie iſt bis dahin immer ſtaͤrker und immer un - bedingter geworden.
Religioͤſe Buͤcher? — Ja, die ſchrieb ich, aber ohne merkli - chen Erfolg: die Schleuder eines Hirtenknaben, die große Panacee, gegen die Krankheit des Reli - gionszweifels, und die Theodicee des Hirtenkna - ben, thaten wenig Wirkung, dagegen Stillings Jugend — ein Aufſatz, den ich gar nicht zum Druck, ſondern blos einer Geſellſchaft junger Leute zum Vorleſen geſchrieben hatte und den Goͤthe ganz ohne mein Wiſſen und Wollen zum Druck befoͤrderte, machte unerwartete und unglaubliche Senſation; ich wurde drin - gend aufgefordert, fortzufahren, und ſchrieb nun in Elberfeld nacheinander Stillings Juͤnglingsjahre und Wander - ſchaft. Ich darf kuͤhn behaupten, daß ſehr wenig Buͤcher ihren Verfaſſern ein ſo großes, edeldenkendes und wohlwollendes Publi - kum erworben haben, als eben dieſes; und noch jetzt, nach acht und zwanzig Jahren, nach ſo vielen Veraͤnderungen, Fortſchritten und Ruͤckſchritten in Kultur und Litteratur, iſt und bleibt Stil - ling Mode; man liest ihn noch immerfort, mit eben der Luſt und mit eben der Erbauung als im Anfang; und welch einen Segen dieß Buch in Anſehung der Religion und des wahren Chri - ſtenthums geſtiftet hat, das weiß der Allwiſſende und zum Theil auch ich; denn ich kann eine Menge ſchriftlicher Zeugniſſe dieſer Wahrheit aufweiſen. Stillings Lebensgeſchichte legte alſo den erſten und bedeutenden Grund zu meiner wahren Beſtimmung und Befolgung meines religioͤſen Grundtriebes.
Jetzt bitte ich wiederum ſorgfaͤltig zu bemer - ken, daß ich zu dieſem auſſerordentlich wichtigen597 Theil meiner Geſchichte, der den Grund zu mei - ner endlichen wahren Beſtimmung, naͤmlich der Befolgung meines religioͤſen Grundtriebs legte, im geringſten keine Veranlaſſung gab, ſondern daß es pur freie Verfuͤgung der Vorſehung war.
Fragt man mich, warum mich mein himmliſcher Fuͤhrer nicht ſchon damals auf meinen rechten Poſten ſetzte? ſo antworte ich: damals war noch gar Vieles an mir weg zu poliren; ich war auch in meinen Grundſaͤtzen noch nicht feſt genug; ich kaͤmpfte noch mit dem Determinismus, und dann war es auch noch lange nicht an dem Zeitpunkt, in welchem ich wirkſam ſeyn ſollte.
Als endlich die Noth am groͤßten war, und ich weder aus noch ein wußte, ſo wurde ich auf eine Art gerettet, an die ich nie von Ferne gedacht hatte, und die ich mir nie haͤtte traͤumen laſſen: auf Veranlaſſung einer Abhandlung uͤber die Forſtwirth - ſchaftliche Benutzung der Gemeinwaldung im Fuͤrſtenthum Naſ - ſau-Siegen, meinem Vaterland — womit ich einem gewiſſen Freund einen Gefallen zu erzeigen glaubte, wurde ich an die neu - errichtete Kameralſchule zu Kaiſerslautern in der Pfalz zum ordentlichen, oͤffentlichen Lehrer der Landwirthſchaft, Tech - nologie, Handlungswiſſenſchaft und Vieharzneikunde, mit ſechs - hundert Gulden fixer Beſoldung berufen, und bei meinem Abzug wurden die dringendſten Schulden, naͤmlich acht hundert Gulden, auf eine eben ſo unerwartete Art getilgt als in der Schweiz zuletzt vor drittehalb Jahren der Hauptſtock derſelben getilgt wurde. Ich zog alſo mit meiner Familie nach Lautern.
Daß dieß abermal nicht mein angelegter Plan, nicht meine Fuͤhrung, ſondern lediglich und allein Plan und Ausfuͤhrung meines himmliſchen Fuͤhrers war, das muß Jedermann fuͤhlen, der nur einigermaßen des Nachdenkens faͤhig iſt.
Jetzt glaubte ich aber nun gewiß, daß das Studium der Staats - wirthſchaft der Beruf ſey, wozu mich die Vorſehung von Ju - gend auf geleitet und vorbereitet habe; denn ich hatte Gelegen - heit gehabt, alle die Faͤcher, die ich lehrte, ſelbſt praktiſch zu ler - nen, ich hatte Medizin ſtudirt, weil mir die Huͤlfswiſſenſchaften dazu in meinem gegenwaͤrtigen Beruf unentbehrlich waren. DurchStillings ſämmtl. Schriften. I. Band 39598dieſe Anſicht wurde mein religioͤſer Grundtrieb nicht ausgeloͤſcht, ſondern ich gedachte ihn mit dieſem Beruf zu verbinden; in die - ſer Ueberzeugung blieb ich fuͤnf und zwanzig Jahr ganz ruhig, und arbeitete mit aller Treue in meinem Beruf; dieſes bewei - ſen meine eilf Lehrbuͤcher, und die große Menge von Abhandlun - gen, die ich waͤhrend dieſer Zeit geſchrieben habe; mein Herz dachte — beſonders auch in meinem Alter, an keine Veraͤnde - rungen mehr, bis endlich das Heimweh zum maͤchtigen Mittel wurde, mich auf meinen eigentlichen Standpunkt zu ſtellen.
Wie unabſichtlich ich das Heimweh geſchrieben habe, das wiſſen meine Leſer aus dieſem letzten Bande; die Vorbereitun - gen dazu, naͤmlich das Sammeln vieler Sentenzen, das Leſen humoriſtiſcher Schriften u. dergl. waren nicht im Geringſten planmaͤßig bei mir, aber planmaͤßig bei Gott — der Entſchluß, das Heimweh herauszugeben, war ſo wenig vorbedacht, daß ich mich erſt dazu entſchloß, als mich Krieger bat, ich moͤchte ihm doch etwas Aeſthetiſches ausarbeiten, und als ich anfing, war es noch gar nicht mein Zweck, ein Werk von einer ſolchen Bedeutung zu ſchreiben, als es mir unter den Haͤnden ward, und als es ſich hernach in ſeiner Wirkung zeigte — dieſer war und iſt noch ungemein groß; es wirkt wie ein Ferment in allen vier Welttheilen — dieß kann ich beweiſen — Jetzt kam von allen Seiten die Forderung an mich, mich ganz der religioͤ - ſen Schrifſtellerei zu widmen, ich ſey von Gott dazu beſtimmt, u. ſ. w. Der graue Mann, die Scenen aus dem Geiſterreich, und die Siegsgeſchichte, vermehrten und verſtaͤrkten dieſe Aufforderung meines aus vielen tauſend guten Menſchen beſtehenden Publikums — allein wie konnte ich dieſen Stimmen Gehoͤr geben? — eine Menge haͤuslicher Hinderniſſe ſtanden im Wege, — meine Schulden waren noch nicht bezahlt — und wo war der Fuͤrſt, der mich zu einem ſolchen ganz un - gewoͤhnlichen Zweck beſoldete? — Antwort: der Herr raͤnmte auf eine herrliche und goͤttliche Weiſe die Hinderniſſe aus dem Wege — auf eine herrliche und goͤttliche Weiſe bezahlte er meine Schulden, und das Heimweh hatte den großen, guten und from - men Kurfuͤrſten von Baden ſo vorbereitet, daß Er ſich ſogleich599 bei der erſten Veranlaſſung dazu entſchloß, mich auf meinen wahren Standpunkt zu ſtellen.
Seht meine Lieben! ſo unbeſchreiblich weiſe und heilig hat mich der Herr endlich zu dem Ziel geleitet, wozu er mir ſchon in den erſten Kinderjahren den Grundtrieb einimpfen ließ. Meine jetzige Beſchaͤftigung iſt alſo:
1. Fortſetzung meiner Augenkuren; denn dieſer Be - ruf iſt durch des Herrn Fuͤhrung legitimirt und mir angewieſen.
2. Fortſetzung meiner religioͤſen Schriftſtel - lerei, ſo wie ſie mir mein himmliſcher Fuͤhrer an die Hand gibt, und
3. Die Austheilung und Ausarbeitung kleiner erbaulicher Schriften fuͤr den gemeinen Mann, wozu mir Geldbeitraͤge von guten chriſtlich geſinnten Freunden geſchickt werden, um ſolche Schriften umſonſt unter das gemeine Volk vertheilen zu koͤnnen. Ob nun der Herr noch etwas Wei - teres mit mir vor hat, das weiß ich nicht — ich bin ſein Knecht. Er brauche mich, wie es Ihm gefaͤllig iſt! — aber ohne beſtimmt ſeinen Willen zu wiſ - ſen, thue ich auch keinen Schritt.
Jetzt werden nun auch wohl alle meine Leſer uͤberzeugt ſeyn, daß ich kein großer Mann, großer Geiſt, oder großes Genie bin: — denn ich habe zu meiner ganzen Fuͤhrung im geringſten nichts beigetragen; auch meine natuͤrliche Anlagen mußten durch viele Muͤhe, und auf langwierigen Leidenswegen, erſt muͤhſam vor - und zubereitet werden; ich war bloß leidende Materie in der blinden Hand des Kuͤnſtlers; Thon in der Hand des Toͤpfers. Wer mich alſo fuͤr einen Mann von großen Talenten und großen Tugenden anſieht, oder mich gar als einen großen Heiligen taxirt, der thut mir ſehr unrecht: er verfaͤhrt gerade ſo unſchicklich, als wenn einer eine alte eichene, grob und baͤuriſch ausgearbeitete Kiſte darum fuͤr ein großes Kunſt - und Meiſterſtuͤck ruͤhmen und preiſen wollte, weil ein großer Herr koſtbare Schaͤtze zum taͤglichen Gebrauch darin aufhebt. Wer ſich uͤber mich wundern und freuen will, der bewundere meine Fuͤhrung, bete den Vater der Menſchen an, und danke Ihm, daß Er ſich noch immer nicht unbezeugt laͤßt, und auch auf ſeinen heiligen Wegen Zeugen ausruͤſtet, und um die eilfte Stunde noch Arbeiter in ſeinen Weinberg ſendet.
39 *600Jetzt bitte ich nun inſtaͤndig, Gott und der Wahrheit die Ehre zu geben, und folgende Saͤtze genau zu pruͤfen:
1. Zeigt meine ganze Lebensgeſchichte nicht unwiderſtehlich, daß mich nicht menſchlicher Verſtand und Weisheit, ſondern der — der der Menſchen Herz, Handlungen und Schickſale — doch ohne Zwang ihres freien Willens — zu lenken verſteht, von An - fang bis zu Ende wahrhaft nach einem vorbedachten Plan ge - leitet, gebildet und erzogen habe?
2. Zeigt meine Geſchichte nicht ebenfalls unwiderlegbar, daß von meiner Seite nicht das Geringſte, weder zum Entwurf, noch zur Ausfuͤhrung meines Lebensplans geſchehen ſey? — weder Schwaͤrmerei noch Irrthuͤmer hatten an jenem Plan, an deſſen Ausfuͤhrung Theil: denn wo ich ſchwaͤrmte oder irrte, da wurde ich immer durch die Entwicklung eines Beſſern belehrt.
3. Wenn mich alſo nun der Allweiſe, Allguͤtige und Alles - vermoͤgende Weltregent ſelbſt geleitet, vor - und zubereitet hat, ohne daß weder ich ſelbſt, noch irgend ein Menſch, Antheil an ſeinem Plan hatte: kann Ihm da ſein Werk mißlungen ſeyn? — kann Er einen Irrgeiſt, einen Schwaͤrmer und Obſcuranten — ſo — leiten und fuͤhren wie mich, um die Menſchen zu taͤuſchen? — Ja! zulaſſen kann Ers, daß ſich ein Schwaͤrmer und Verfuͤhrer ſelbſt durch Schwierigkeiten durcharbeitet und eigenmaͤchtig ſich ein Publi - kum erwirbt: denn Er laͤßt freie Weſen auch frei wirken, ſo lange es mit ſeinem hohen Rath beſtehen kann; aber zeige mir Einer in meinem ganzen Leben, daß ich mich irgendwo durch Schwierigkeiten von der Art durchgearbeitet, oder geſucht habe, mir ein Publikum in religioͤſer Hinſicht zu erwerben.
4. Folgt alſo nun nicht aus dem Allem, daß mein religioͤſes Lehrſyſtem, welches kein anderes iſt, als dasjenige, welches Chri - ſtus und ſeine Apoſtel — und nachher alle rechtglaͤubige Kirchen - vaͤter alle Jahrhunderte durch, gelehrt haben, wahr, und aber - mals durch meine Fuͤhrung legitimirt worden ſey? — ich kann Ideen, — ich kann Nebenbegriffe haben, die noch unlauter, noch nicht genug berichtiget ſind, aber in der Hauptſache des Chriſtenthums irre ich ſo gewiß nicht, als ich gewiß bin, daß mich Gott mein ganzes Leben durch gefuͤhrt, und ſelbſt zum Zeu -601 gen der Wahrheit gebildet hat. Indeſſen bin ich mir vor Gott mit der vollkommenſten Aufrichtigkeit bewußt, daß keine meiner religioͤſen Ideen durch muͤhſames Nachdenken entſtanden, oder Reſultat irgend einer Deduction der bloßen Vernunft ſey, ſondern Alle ſind Aufſchluͤſſe in meinem Gemuͤthe, die mir bei dem Be - trachten ſchwieriger Bibelſtellen von ſelbſt gekommen ſind. Die Hauptſache des Chriſtenthums aber beruht, nach meiner Ueber - zeugung, auf folgenden Grundſaͤtzen:
1. Die heiligen Schriften, ſo wie wir ſie gegenwaͤrtig haben, enthalten vom erſten Kapitel des erſten Buchs Moſis an, bis auf’s letzte Kapitel des Propheten Maleachi, und vom erſten Kapitel des Evangeliums Matthaͤi an, bis auf’s letzte Kapitel der Apocalypſe, die Geſchichte der Offenbarungen Gottes an die Menſchen, und ſind daher die einzige zuverlaͤßige Quelle aller derer uͤberſinnlichen Wahrheiten, die dem Menſchen zu ſeiner Beſtimmung noͤthig ſind.
2. Die erſten Menſchen waren von Gott vollkommen erſchaf - fen worden, ſie ſuͤndigten aber durch Ungehorſam gegen Gott, und verloren dadurch das Gleichgewicht zwiſchen den ſinnlichen und ſittlichen Grundtrieben; die ſinnlichen wurden immer uͤber - wiegender, und daher wurde in ihrer ganzen Nachkommenſchaft das Dichten und Trachten des menſchlichen Herzens boͤſe von Jugend auf und immerdar.
3. Vorher war auch ſchon eine Klaſſe hoͤherer geiſtiger Weſen von Gott abgefallen und boͤſe geworden; der Fuͤrſt dieſer Weſen hatte die erſten Menſchen zum Abfall verleitet; dieſe boͤſen Gei - ſter koͤnnen dann auf den geiſtigen Theil des Menſchen wirken, wenn er ihnen Anlaß dazu gibt; es gibt aber auch gute Gei - ſter, die um den Menſchen her ſind, und ebenfalls auf ihn wir - ken, wenn es die Umſtaͤnde erfordern. Jene boͤſen Geiſter nebſt ihrem Fuͤrſten, den Satan, ſeine Engel und alle boͤſe Menſchen, nenne ich das Reich der Finſterniß.
4. Gott hat von Ewigkeit her ein Weſen ausgeboren, das mit ihm gleicher Natur iſt, und gegen Ihn in dem Verhaͤltniß ſteht wie ein Sohn gegen ſeinen Vater, daher nennet es auch die Bibel den Sohn Gottes, den Logos, das Gottwort, dieſer Sohn Gottes uͤbernahm die Fuͤhrung und Erloͤſung des ge -602 fallenen menſchlichen Geſchlechts; im alten Bunde offenbarte Er ſich unter dem Namen Jehovah, und im neuen Bunde als wahrer Menſch unter dem Namen Jeſus Chriſtus. Er iſt Gott und Menſch in Einer Perſon.
5. Dieſer Gottmenſch Jeſus Chriſtus erloͤste die gefallene Menſchheit durch ſeinen blutigen Opfertod, von der Suͤnde, vom Tode, und von der Strafe der Suͤnden. In dieſem blutigen Opfertod liegt der Grund zur Verſoͤhnung mit Gott, zur Verge - bung der Suͤnden, folglich auch der Seligkeit. Die Sittenlehre Chriſti, die ſchon in allen ihren Punkten im alten Teſtament enthalten, und ſogar von Heiden faſt vollkommen gelehrt worden iſt, dient nur blos dazu, damit man pruͤfen koͤnne, ob der blutige Opfertod Chriſti, und in wie fern er an einem Menſchen ſeine Wirkung gethan habe? — Sie iſt natuͤrliche Folge des Erloͤſungsgeſchaͤfts, aber ohne dieſes eben ſo wenig Gottge - faͤllig auszuuͤben moͤglich, als daß ein Kranker die Geſchaͤfte eines Geſunden ſollte verrichten koͤnnen.
6. Jeſus Chriſtus ſtand von den Todten auf, und wurde dadurch auch die Grundurſache der Auferſtehung der Menſchen, dann fuhr er gen Himmel, und uͤbernahm die Weltregierung. Er iſt alſo jetzt der Gott, der Alles regiert, alle Schickſale der Men - ſchen lenkt, und im Großen wie im Kleinen, im Ganzen wie im Einzelnen, Alles zum großen Ziel der Menſchenerloͤſung lei - tet, und endlich hinausfuͤhrt. Zu dem Ende ſteht Er mit allen ſeinen wahren Verehrern und treuen Dienern, nebſt den heiligen Engeln, als das Reich des Lichts, dem Reich der Finſterniß gegen - uͤber; beide kaͤmpften ſo lange gegen einander, bis das Letzte ganz uͤberwunden, und ſo das Erloͤſungsgeſchaͤft vollendet iſt; dann uͤberantwortet der Sohn dem Vater wieder das Reich, und die - ſer iſt dann wieder Alles in Allem.
7. Gott will und muß in Jeſu Chriſto, in ſeinem Na - men, das iſt: in ſeiner Perſon angebetet werden. Gott außer Chriſto, iſt ein methaphyſiſches Unding, das ſich die kuͤhne Vernunft von der Idee eines hoͤchſt vollkommenen Men - ſchen abſtrahirt hat; dieſes Unding, das nirgends als im Kopf der Philoſophen exiſtirt, anbeten, iſt pure Abgoͤtterei. In603 Chriſto findet man nur den Vater der Menſchen, nur da will und kann er angebetet werden.
8. Der heilige Geiſt, der Geiſt des Vaters und des Sohns, iſt wahrhaft Ein Weſen, mit dem Vater und dem Sohn glei - cher goͤttlicher Natur. Er iſt eine moraliſche goͤttliche Liebeskraft, die von Beiden ausgeht, ſo wie Licht und Waͤrme von der Sonne ausſtrahlt; ſeit den erſten Pfingſten bis daher iſt er beſtaͤndig wirkſam; Jeder, der von Herzen an Chriſtum glaubt, ſeine Heils - lehre annimmt, ſein Suͤndenelend herzlich bereut, und nun mit inniger Sehnſucht wuͤnſcht, von der Suͤnde frei, und ein wahres Kind Gottes zu werden, der zieht nach dem Verhaͤltniß ſeines Glaubens und in dem Grad ſeiner Sehnſucht, den heiligen Geiſt an, ſo, daß dann ſeine ſittlichen Kraͤfte immer mehr und mehr geſtaͤrkt, und ſeine ſinnlichen je mehr und mehr geſchwaͤcht werden.
Dieß iſt mein beſtaͤndiges wahres, durch viele Pruͤfungen, Erfahrungen und Laͤuterungen bewaͤhrtes Glaubens -, Lehr - und Lebensſyſtem, welches ich nicht durch Speculation, und durch Bemuͤhung des Kopfs, ſondern waͤhrend meines vieljaͤhrigen Rin - gens nach Licht und Wahrheit, aus Drang und Beduͤrfniß des Herzens, einzeln, nach und nach, wie ſeltene Goldkoͤrner, an meinem muͤhſeligen Pilgerwege aufgeleſen, geſammelt, und dann in ein vernuͤnftiges Ganzes gebracht habe. Es iſt das reine, durch keine Sophiſterey und Modeexegeſe getruͤbte, Dogma der heiligen Schrift, auf deſſen Gewißheit und Wahrheit ich leben und ſterben will.
Dieſer alten chriſtlichen Glaubens - und Heils - lehre ſteht nun die neue Aufklaͤrung gerade gegenuͤber; edle und Wahrheit liebende rechtſchaffene Maͤnner ziehen die Letz - tere der Erſten aus dem Grunde vor, weil ſie uͤberzeugt ſind, daß die durch die Aufklaͤrung modifizirte Religionslehre der menſchlichen Vernunft angemeſſener ſey, als jenes altchriſt - liche Syſtem; ſie haben daher eine Exegeſe, eine Bibelerklaͤrung, erfunden, die zu ihrer Philoſophie paßt; allein die guten Maͤn - ner merken, oder merken nicht, daß die Tendenz dieſer neuen Aufklaͤrung auf bloße Naturreligion hinſtrebt; deren Dog - men bloße Sittenlehre iſt, die am Ende die Sendung Chriſti ganz unnoͤthig macht, und der Bibel nicht mehr bedarf. Da604 nun aber weder das aͤſthetiſche Gefuͤhl, noch die Schoͤnheit der Tugend, die durch den Fall Adams verlornen ſittlichen Kraͤfte geben kann, ſo nimmt unter der Herrſchaft der Aufklaͤrung die Sittenloſigkeit unaufhaltbar zu, das Verderben waͤchst mit be - ſchleunigter Bewegung, die Menſchheit ſinkt in die allerſinnlo - ſeſte Barbarey zuruͤck, und die goͤttlichen Gerichte uͤben ſtrenge und gerechte Rache uͤber ein Volk aus, das alle Mittel zur ſitt - lichen Beſſerung und Veredlung verachtet.
Dagegen beweißt die Erfahrung aller Jahrhunderte an Mi - lionen einzelnen Menſchen, daß die altchriſtliche Glau - benslehre ihre Anhaͤnger zu guten und heiligen Buͤrgern, Ehe - gatten, Freunden, Eltern und Kindern gebildet habe; die Auf - klaͤrung kann wohl hin und wieder einen honnetten Menſchen, und buͤrgerliche Tugend — aber doch nur zur Noth — zu Stande bringen; ein ſolcher Menſch kann zu Zeiten eine glaͤnzende That ausuͤben, aber im Verborgenen, voͤllig unbekannt, aus wahrer Gottes - und Menſchenliebe, auch den Feinden, mit Aufopferung, Wohlthaten erzeigen, das iſt ſchlechterdings nur da moͤglich, wo der Geiſt Chriſti herrſchend iſt.
Nun entſteht aber die hoͤchſt wichtige Frage: woher es doch komme, daß ſolche edle, Wahrheitliebende Maͤn - ner bei allen dieſen unzweifelbaren Erfahrungen, denn doch noch immer bei ihrem Aufklaͤrungsſy - ſtem bleiben? Hierauf dient zur Antwort: es gibt zwei Praͤmiſſen — zwei Grundlagen aller religioͤſen Demon - ſtration; ſind dieſe Praͤmiſſen falſch, ſo wird auch jede mathe - matiſch richtige Beweisfuͤhrung falſch und unrichtig: und das iſt hier gerade der Fall.
Die ganze chriſtliche Glaubenslehre gruͤndet ſich auf folgen - den Grundſatz: Gott ſchuf die erſten Menſchen als frei wirkende Weſen, mit der Tendenz zu immer wachſender ſittlicher Vollkommenheit, und da - mit in gleichem Schritt gehenden Genuß des hoͤch - ſten Gutes; ſie ließen ſich aber durch ein unbe - kanntes boͤſes Weſen verfuͤhren, daß ſie ihre Ten - denz zu immer wachſender ſinnlichen Vervoll - kommnung, und damit in gleichem Schritt gehen -605 den Genuß der irdiſchen Guͤter anwendeten. Die - ſen Grundſatz lehrt uns die heilige Schrift; und daß er un - zweifelbar wahr ſey, das lehrt uns eine beinahe ſechstauſendjaͤhrige Erfahrung. Hieraus folgt nun unmittelbar:
Waͤre der Menſch in ſeinem natuͤrlichen Zuſtand geblie - ben, ſo waͤre ihm auch die Befolgung der Sittenlehre natuͤrlich geweſen, ſein Kopf haͤtte ſie ihm geſagt, und ſein Herz haͤtte ſie befolgt; dann war alſo die Naturreligion die einzige wahre. In dem gegenwaͤrtigen gefallenen Zuſtand aber, wo die Sinn - lichkeit allwaltend herrſcht, und die ſittlichen Kraͤfte gelaͤhmt ſind, kann man von dem ſchwaͤchern Theil nicht fordern, daß es das Staͤrkere uͤberwinden ſoll, folglich iſt in der Natur kein Weg zur Erloͤſung, ſondern der Schoͤpfer muß wiederum ins Mittel treten, wenn die Menſchheit gerettet werden ſoll.
Wer nun auf dieſe Vorderſaͤtze eine richtige logiſche Demon - ſtration gegruͤndet, der findet die ganze chriſtliche Heilslehre ſehr vernuͤnftig, und die heutige Aufklaͤrung ſehr unvernuͤnftig.
Der Grundſatz der Aufklaͤrung aber iſt nun folgender: die ganze Schoͤpfung iſt ein zuſammenhaͤngendes Ganze, welchem der Schoͤpfer ſeine geiſtigen und phyſiſchen Kraͤfte angeſchaffen, und ihnen ihre ewige und unveraͤnderliche Geſetze gegeben hat, nach welchem ſie unaufhaltbar wirken; ſo daß alſo nun keine goͤttliche Einwirkung mehr noͤthig iſt; folglich geht Alles in der ganzen Schoͤpfung einen unabaͤnderlichen nothwendigen Gang, der das allgemeine Beſte aller Weſen zum Zweck hat. Die Menſchenklaſſe iſt ein Theil dieſes Ganzen, und die ewigen Geſetze der Natur wirken ſo, daß der freie Wille jedes Menſchen bei jeder Hand - lung ſo gelenkt wird, daß er das thut. Die Sit - tenlehre enthaͤlt die Geſetze, nach denen der freie Wille geleitet werden muß. Dieſer Grundſatz iſt der eigentliche Determinismus, und man mag ſich verſtecken und verwahren wie man will, bei allen, auch den gemaͤßigſten Neologen, iſt er mehr oder weniger offener oder verſteckter, die Grundidee von Allem.
606Wie mag aber wohl die Vernunft zu dieſer Idee gekommen ſeyn? — Antw. auf einem ſehr natuͤrlichen Wege; ſie ſuchte ſich von dem Daſeyn eines hoͤchſten Weſens zu uͤberzeugen, und dann auch ſeine Natur und Eigenſchaften zu ergruͤnden; und da ſie in der ganzen ſinnlichen Schoͤpfung kein anderes vernuͤnf - tiges Weſen kennt, als ſich ſelbſt, ſo abſtrahirt ſie alle Schran - ken von der menſchlichen Seele weg, und findet alsdann eine unendliche vernuͤnftige, allmaͤchtige, allwiſſende, allliebende, all - gegenwaͤrtige menſchliche Seele, die ſie nun Gott nennt; ſo wie nun ein menſchlicher Kuͤnſtler ein Kunſtwerk, z. B. eine Uhr macht, dieſe Uhr aber ſehr unvollkommen ſeyn wuͤrde, wenn der Kuͤnſtler immerfort bald hier bald da, ein Raͤdchen drehen, ruͤcken, oder auf irgend eine Art immer nachhelfen muͤßte, ſo hat der hoͤchſt vollkommene Kuͤnſtler auch eine Maſchine gemacht, die aber, eben darum, weil der Meiſter hoͤchſt vollkommen iſt, auch hoͤchſt vollkommen ſeyn muß, und alſo nirgend einer Nach - huͤlfe oder Mitwirkung des Kuͤnſtlers noͤthig haben darf.
Daß aber dieſer ſchreckliche Grundſatz nicht wahr iſt, das ſagt uns unſer eigenes Freiheitsgefuͤhl, aber auch eben die naͤm - liche Vernunft: denn wenn er wahr waͤre, ſo waͤre — man mag ſich drehen und wenden wie man will — jede menſchliche Handlung, ſo wie ſie geſchieht, vom Schoͤpfer beſtimmt. Die greulichſten Thaten, die irgend nur Menſchen begehen koͤnnen, und die ſchrecklichſten Leiden, die ſich die Menſchen unter ein - ander zufuͤgen, alle die Unterdruͤckungen der Wittwen und Wai - ſen, alle Greuel des Kriegs, u. ſ. w., daß Alles hat der Gott der neuen Aufklaͤrung gewollt: denn Er hat ja die Natur ſo eingerichtet, daß das Alles erfolgen mußte, u. ſ. w.
Daß jede nur einigermaßen vernuͤnftige Vernunft, vor die - ſem gewiß logiſch richtigen Folgeſatz zuruͤckbeben muß, wird Niemand laͤugnen — folglich ſteht hier die Vernunft mit ſich ſelbſt im Widerſpruch, und wo das der Fall iſt, da hoͤrt ihr Gebiet auf, da iſt ihre Grenze. Schrecklicher laͤßt ſich nichts denken, als wenn man die menſchliche Vernunft, beſonders in unſern Zeiten, wo der unbaͤndigſte Luxus und die unbaͤndigſte Sittenloſigkeit mit einander wetteifern, auf ſolche Wege leitet — und nun das noch gar chriſtliche Religion nennen will — o der ungeheuern Gotteslaͤſterung!
607Meine Lieben! ſeyd entweder ganz Chriſten nach dem wah - ren altevangeliſchen Syſtem, oder ſeyd ganz Naturaliſten, ſo weiß man doch, wie man mit euch daran iſt. Denkt an Laodicea. Der Mittelweg hier iſt eine Falle, die der Satan den Menſchen geſtellt hat.
Lieben Bruͤder! lieben Schweſtern Alle! wir wollen uns an den Vater unſers Herrn Jeſu Chriſti, an Jeſum Chri - ſtum und ſeinen Geiſt treulich halten, die heiligen Schriften alten und neuen Teſtaments, ſo wie wir ſie haben, und wie ſie der geſunde Menſchenverſtand verſteht, fuͤr unſere einzige Glaubens - und Erkenntnißquelle annehmen; Er kommt bald, und dann wird Er unſere Treue gnaͤdig anſehen. Amen!
Bald am Ziel meiner Wallfahrt, im Anfange meines ſieben und ſiebenzigſten Lebensjahrs, nach einem Jahr durchkaͤmpf - ter koͤrperlicher Leiden, Magenkrampf und Entkraͤftungen, durch - weht mich gleichſam ein heiliger Schauer. Die große Reihe durchlebter Jahre gehet wie Schattenbilder an der Wand vor meiner Seele voruͤber, und die Gegenwart kommt mir vor, wie ein großes feierliches Bild, das aber mit einem Schleier bedeckt iſt, den ich erſt luͤften werde, wenn meine Huͤlle im Grabe ruht und der Auferſtehung entgegen reift. Gnade und Barmherzig - keit, Seligkeit durch die Verſoͤhnungsgnade meines himmliſchen Fuͤhrers wird von dieſem Bilde mein ganzes Weſen durchſtrahlen. Hallelujah!
Es ſieht doch jetzt ganz anders um mich her aus, als wie ich meine Umgebungen in Heinrich Stillings Jugend be - ſchrieben habe. Mein Alter und meine Jugend ſind gar ver - ſchiedene Standpunkte; ich ſitze nicht mehr im kleinen dunkeln Stuͤbchen zwiſchen Sonnenuhren, am eichenen Umklapptiſch, und naͤhe fuͤr den Nachbar Jakob an einem Bruſtlatz, oder mache Knoͤpfe an den Sonntagsrock fuͤr Schuhmachers Pe - ter. Eberhard Stilling ſchreitet nicht mehr im leinenen Kittel kraͤftig umher, und Margareth kommt nicht mehr emſig, um hinter dem Ofen im bunten Kaͤſtchen Salz in die Suppe zu holen. Nicht mehr ſchnurren die Raͤder meiner bluͤ - henden Muhme um die Oellampe her, und die Stimme ihres Geſanges iſt laͤngſt verhallt.
Oheim Johann Stilling kommt nicht mehr, uns ſtau - nenden Zuhoͤrern von ſeinen neuen Entdeckungen in der Elektri -Stilling’s ſämmtl. Schriften. I. Band. 40614zitaͤt, Mechanik, Optik, Mathematik und dergleichen zu erzaͤh - len. Nein! es ſieht nun ganz anders um mich her aus. Da ſitze ich auf dem bequemen Großvaterſtuhl vor meinem viel ge - brauchten Pulte, und an den Waͤnden um mich her haͤngen Pfaͤnder zur Erinnerung an meine nahen und fernen Freunde. Meine viele Jahre lang ſchwer leidende und ſchwer gepruͤfte Eliſe wankt um mich her, und beſorgt Gegenwart und Zukunft, und meine juͤngſte Tochter Chriſtine geht ihr an die Hand, und fuͤhrt ihre Verordnungen aus. Sie iſt die einzige von mei - nen Kindern, die noch bei mir iſt, und die mich oft durch ihr Klavierſpielen ermuntert und erquickt.
Meine Tochter Hanna lebt mit ihrem lieben Schwarz und zehn Kindern zu Heidelberg im Segen; ihre aͤlteſte Toch - ter iſt mit dem Profeſſor Voͤmel in Hanau verheirathet, und hat mich mit einem Urenkel beſchenkt, deſſen Pathe ich bin; und der aͤlteſte Sohn Wilhelm war Rektor an der Schule zu Weinheim an der Bergſtraße und auch Diakonus daſelbſt; jetzt iſt er hier Hofmeiſter und Erzieher des einzigen Sohnes unſers wuͤrdigen Staatsminiſters, des Herrn von Berkheim. Die Univerſitaͤt Heidelberg gab ihm das Doktordiplom der Philoſophie wegen ſeines Fleißes, wegen ſeiner Kenntniſſe und geſitteten Betragens; auch dieſer beſucht mich beinahe taͤglich. Mein Sohn in Raſtadt lebt mit ſeiner Frau und ſechs Kin - dern im Segen. Der Herr fuͤhrte ihn ſchwere Wege, aber er geht ſie mit den Seinigen, wie es dem Chriſten geziemt; ſeine aͤlteſte Tochter Auguſte iſt auch bei mir, um im Graimbergi - ſchen Inſtitut zum ehrbaren chriſtlichen Frauenzimmer gebildet zu werden; auch dieſe hilft mir meine alten truͤben Tage erheitern.
Da die wuͤrdige Stifterin des eben gedachten Inſtituts, die Frau von Graimberg, die Erziehung der beiden großherzog - lichen Prinzeſſinnen uͤbernommen, und meine dritte Tochter Amalia als Gehuͤlfin ins Schloß mitgenommen hat, ſo hat nun meine aͤltere Tochter Karoline die Fuͤhrung des Inſti - tuts als Vorſteherin angetreten; ihr ſchoͤner Wirkungskreis er - heitert den Abend meines Lebens, und beide Toͤchter beſuchen uns beide Eltern faſt taͤglich. Endlich verlebte auch mein zwei - ter Sohn Friedrich noch das letzte halbe Jahr bei uns, ehe615 er als Kameraliſt und Oekonom ſeine Laufbahn in Rußland antritt; ſeine Guitarre und ſein ſchoͤner maͤnnlicher Geſang ver - ſcheuchen mir manche truͤbe Stunde. Doch mir faͤllt eben ein, daß die Großvaͤter und Großmuͤtter gar geſpraͤchig werden, wenn von ihrer Familie die Rede iſt; um nun nicht in dieſen Fehler zu verfallen, will ich lieber einlenken, und den Faden meiner Lebensgeſchichte an Stillings Lehrjahre anknuͤpfen.
Bei meiner Ankunft in Heidelberg 1803 im September, er - fuhr ich, daß der Großherzog, damals noch Kurfuͤrſt, in Mann - heim ſey; ich fuhr alſo des andern Tages dahin, um Ihm perſoͤnlich meine Ankunft anzuzeigen, und mich Ihm zu empfeh - len. Er empfing mich ſehr gnaͤdig, und ſagte: „ Ich freue mich, Sie in meinem Land zu wiſſen; ich habe von Jugend auf den Wunſch gehabt, der Religion und dem Chriſtenthum alle meine Kraͤfte zu widmen: allein Gott hat mir das Regentenamt an - vertraut, dem ich alle meine Kraͤfte ſchuldig bin; Sie ſind nun der Mann, den Gott zu dieſem Zweck zubereitet hat. Ich ent - binde Sie daher von allen irdiſchen Verbindlichkeiten, und trage Ihnen auf, durch ihren Briefwechſel und Schriftſtellerei Reli - gion und praktiſches Chriſtenthum an meiner Stelle zu befoͤr - dern; dazu berufe und beſolde ich Sie. “
Das war nun auch meine politiſche und rechtskraͤftige Vo - kation zu meinem kuͤnftigen Beruf, der nichts fehlte, als eine ſchriftliche Ausfertigung, die ich aber nicht fuͤr noͤthig hielt, in - dem ich wohl wußte, daß mich deßfalls Niemand in Anſpruch nehmen wuͤrde. Ich kehrte alſo mit einer innigen Seelenruhe nach Heidelberg zuruͤck, denn nun war ja der große Grundtrieb, der von der Wiege an mein Inneres gedraͤngt hatte, befriedigt. Nur Ein Hauptpunkt ſtoͤrte, ungeachtet meines unerſchuͤtterli - chen Vertrauens auf meinen himmliſchen Fuͤhrer, meine Ruhe: ich fand Alles in Heidelberg ganz anders, als ich es vor zehn und einem halben Jahre verlaſſen hatte; Alles war theuer, nicht wohlfeiler, als in Marburg, Verſchiedenes noch theurer; man hatte uns geſchrieben, wir ſollten unſer Hausgeraͤthe verkaufen, denn wir koͤnnten es in Heidelberg beſſer wieder anſchaffen,40 *616allein wir fanden es ganz anders. Unſere ſchoͤnen Moͤbels gin - gen in Marburg fuͤr geringe Preiſe fort, und wir mußten ſchlechtes Geraͤthe fuͤr theuere Preiſe dafuͤr anſchaffen; kurz, der Zug von Marburg nach Heidelberg, nebſt der voͤlligen Einrichtung am letztern Ort, koſtete gegen tauſend Gulden; ich konnte dieß noch von dem Segen, den mir meine Reiſen gebracht hatten, beſtreiten; aber zur Nachhuͤlfe blieb auch nichts uͤbrig.
In Marburg hatte ich gegen dritthalb tauſend Gulden ein - zunehmen, und ſie auch bei aller Sparſamkeit gebraucht, ohne etwas uͤbrig zu behalten; Verhaͤltniſſe, die ich dem Publikum nicht entdecken und nicht erklaͤren kann, vermehrten meine Aus - gaben betraͤchtlich. Dieſe Verhaͤltniſſe waren nun beinahe noch immer die naͤmlichen, und ſie zu beſtreiten hatte ich kaum die Haͤlfte von meinem Marburger Einkommen einzunehmen. So wie wir Beide, ich und meine Frau, am Schluſſe des Jah - res 1803, nach und nach dieſe Entdeckungen und Erfahrungen machten, und fanden, daß wir in Heidelberg im geringſten nicht wohlfeiler haushalten konnten, als in Marburg, ſo la - gerte ſich ſchwarze Schwermuth wie ein Berg auf meine Seele; meine Vernunft ſprach ſehr lebhaft und laut: „ Du haſt nie einen Schritt gethan, dich eigenmaͤchtig aus der Lage zu ſetzen, in die dich die Vorſehung gefuͤhrt hatte; darum half dir dein himmliſcher Fuͤhrer auch maͤchtig durch. — Iſt dieß aber auch jetzt der Fall? — Haſt du weder mittelbar noch unmittelbar dazu beigetragen, daß dich der Kurfuͤrſt von Baden hieher beru - fen hat? — War dein Grundtrieb, fuͤr den Herrn und ſein Reich zu wirken, rein? Lag nicht in der Tiefe deiner Seele auch die Eitelkeit verborgen, als ein großes Licht in der Kirche Got - tes zu glaͤnzen, und durch deine Schriften in aller Welt beruͤhmt zu werden? — Und endlich: gibt es wohl hoͤhere Pflichten, als dafuͤr zu ſorgen, daß Frau und Kinder nicht in Mangel und Armuth gerathen? — Und iſt es zu verantworten, wenn man die Mittel, die die Vorſehung dazu an die Hand gegeben hat, gegen eine Lage vertauſcht, die doch bei allem guten Meinen und guten Willen noch im Dunkel der Zukunft verhuͤllt iſt? u. ſ. w. Alle dieſe Fragen ſtanden wie ſtrafende Richter vor meiner Seele, und ich konnte kein Wort zu meiner Vertheidi -617 gung vorbringen. — Großer Gott! wie war’s mir zu Muthe! — Ich fand nun keinen andern Ausweg, als mich durch die ſtrengſte, genaueſte und unpartheiiſche Selbſtpruͤfung zu erfor - ſchen, wie es in Anſehung aller dieſer Punkte mit mir ſtehe?
Bei dieſer Unterſuchung fand ich nun, was alle Adamskin - der in ſolchen Faͤllen finden, daß Alles, was ſie beginnen, und worin ſie mitwirken, mit Suͤnden befleckt iſt, aber in der Haupt - ſache meiner Fuͤhrung fand ich nichts, das mir zum Vorwurf gereichen konnte, denn alle Umſtaͤnde, die meinen Wirkungs - kreis, meine Verhaͤltniſſe und meine Lage in Marburg beſtimm - ten, gaben mir einmuͤthig den Wink, mich von dieſem Stand - punkte zu entfernen; was aber nun dieſem Wink vollends das Siegel eines goͤttlichen Berufs aufdruͤckte, war, daß es Einen Fuͤrſten gab, der gerade einen ſolchen Mann brauchte, deſſen Grundtrieb, fuͤr den Herrn und ſein Reich zu wirken, bei ihm herrſchend war, und daß dieſer Fuͤrſt dieſen Mann kannte und liebte; ein Fall, der wohl der Einzige in ſeiner Art iſt.
Schon im verwichenen Sommer, als mir der Kurfuͤrſt ſchrieb, er koͤnne mir jetzt 1200 Gulden geben, ich moͤchte kommen, er wuͤrde nach und nach meine Umſtaͤnde verbeſſern; eroͤffnete ich ihm, daß ich davon nicht leben und beſtehen koͤnnte; da aber darauf kein Entſchluß folgte, ſo uͤberlegte ich noch einmal alles genau, und fuͤhlte nun die Pflicht, dem Rufe zu folgen, denn ich war uͤberzeugt, daß er der Einzige ſey, den ich in meinem ganzen Leben erwarten koͤnnte.
Bei der Pruͤfung, ob mein Grundtrieb, fuͤr den Herrn zu wirken, rein ſey, oder ob ſich nicht auch ingeheim die Eitelkeit mit einmiſche, ein großer und durch meine Schriften beruͤhmter Mann zu werden? fand ich, daß alle unſere beſten Werke im goͤttlichen Lichte die Probe nicht aushalten; aber ich fand auch, daß ich, wenn die Eitelket mein Grundtrieb waͤre, gewiß den Beruf nicht waͤhlen wuͤrde, der gerade der Verachtung und dem Widerſpruch der großen Maͤnner dieſer Zeit am meiſten ausge - ſetzt iſt. Nachdem ich dieſes alles im Reinen hatte, ſo war nun von Verſorgung meiner Familie nicht mehr die Rede; denn war ich uͤberzeugt, daß ich den Willen meines himmliſchen Fuͤh - rers befolgt hatte, ſo kuͤmmerte mich das nicht mehr. Wie618 herrlich der Herr mein Vertrauen legitimirte, das wird der Verfolg dieſer Geſchichte zeigen.
Den Schluß des 1803. Jahres brachte ich nun mit Einraͤu - mung meiner Bibliothek und mit der voͤlligen Einrichtung mei - nes Schreibepultes und meiner Studierſtube zu, welche Ge - ſchaͤfte aber durch eine Menge Briefe und Geſuche, auch von Augenkranken, faſt taͤglich unterbrochen wurde. So beſchloß ich dieß fuͤr mich ſo merkwuͤrdige Jahr, und fing dann das 1804te mit der Fortſetzung meiner Lebensgeſchichte, mit Heinrich Stil - lings Lehrjahren an. Dieſe Schrift, nebſt der Ausarbeitung des 15. Hefts des grauen Mannes, und ein paar Erzaͤhlungen in Aſchenbergs Taſchenbuch beſchaͤftigten mich dieſen Winter, der uͤberhaupt fuͤr mich und die Meinigen ſehr leidend war: denn unſere Karoline wurde gefaͤhrlich krank, und unſere juͤngſte Tochter Chriſtine bekam ein Geſchwuͤr am linken Arm, das einen Knochenfraß, Laͤhmung oder gar den Tod befuͤrchten ließ; Karoline wurde endlich wieder geſund, aber Chriſtine, damals im fuͤnften Jahr, ſchien nach und nach auszuzehren und unheilbar zu werden; zugleich kam es nun auch dazu, daß mein Geldvorrath auf die Neige ging, folglich wieder von hoͤherer Hand geholfen werden muß; dieſe Huͤlfe zoͤgerte aber auch nicht: denn gegen das Ende des Monat Maͤrz erhielt ich einen Brief aus der Oberlauſitz, von einer ſehr verehrungswuͤrdigen Freundin, die mich aufforderte, zu kommen, indem viele arme Blinde und an den Augen Leidende meine Gegenwart erforderten; dieſe Rei - ſekoſten wuͤrden verguͤtet werden, und ich wuͤrde ſchon unterwegs 200 Thaler (360 Gulden) zur Unterſtuͤtzung antreffen.
Wir dankten dem Herrn fuͤr ſeine fortdauernde gnaͤdige Fuͤh - rung, und fingen nun an, uns zu dieſer weiten Reiſe vorzube - reiten; denn von Heidelberg bis Herrenhut, oder lieber Goͤrlitz, wohin ich auch berufen wurde, ſind es 80 teutſche Meilen, oder 160 Stunden.
Meine erſte Schuldigkeit war nun, dem Kurfuͤrſten von die - ſer Reiſe Nachricht zu geben, ich fuhr alſo nach Carlsruhe, wo ich einige vergnuͤgte Tage in ſeiner Geſellſchaft zubrachte.
Bei dieſer Gelegenheit trug er mir auf, mit Gliedern der Unitaͤtsaͤlteſten-Konferenz zu Bertholsdorf zu reden, denn er619 wuͤnſche ſehr, daß im Badiſchen ein Bruͤdergemeindeort an - gelegt werden moͤchte. Dann nahm ich Abſchied von Ihm, und kehrte wieder nach Heidelberg zuruͤck.
Obgleich unſere Freundin Julie Richerz mit wahrer Mut - tertreue fuͤr unſere zwei kleinen Maͤdchen ſorgte, ſo fiel es doch, und beſonders meiner Frau ſchwer, die kleine elende Chriſtine auf ſo viele Wochen zu verlaſſen; indeſſen, es war nicht zu aͤndern: denn ich, als ein 64 jaͤhriger Mann, konnte wegen meiner oͤftern Anfaͤlle vom Magenkrampf, nicht allein reiſen.
Den 3. April 1804 traten wir alſo unſere Reiſe mit unſe - rem eigenen Wagen, und mit Extrapoſt an; das Fruͤhlingswet - ter war ungemein angenehm; zu Heidelberg und die Bergſtraße hinab bluͤhten die Mandel - und Pfirſichbaͤume in voller Pracht; die ganze Natur ſchien uns anzulaͤcheln, und eine vergnuͤgte Reiſe zu verkuͤnden; allein wir taͤuſchten uns, denn als ich am Nachmittage zwiſchen Darmſtadt und Frankfurt den Feldberg in der Ferne ſah, wie er noch von oben herab bis zur Haͤlfte mit Schnee bedeckt war, und daß die Wetterauerge - birge noch in dieß Winterkleid gehuͤllt waren, ſo fing ich an zu fuͤrchten, denn ich kannte den Weg nach Herrnhut noch von der erſten Reiſe her; wir kamen den Abend in Frankfurt an.
Es kann den Leſern der Geſchichte des Abends meines Le - bens ſehr gleichguͤltig ſeyn, wie es uns von einem Tage zum an - dern, auf allen Poſtſtationen ergangen iſt; genug, es war eine muͤhſelige Reiſe: Magenkraͤmpfe von innen, und beſtaͤndige Gefahr von Witterung und boͤſen Wegen von außen war an der Tagesordnung; es gab aber auch mitunter Erquickungen und Fruͤhlingstage; freilich ſelten, aber deſto angenehmer und ſtaͤr - kender waren ſie.
Daß unterwegens die 200 Thaler unſer warteten, das verſteht ſich von ſelbſt.
Wir hielten uns auf dieſer Reiſe ein Paar Tage in Kaſſel, einen in Eiſenach und anderthalbe in Erfurt auf. Endlich kamen wir den 19. April des Abends nach Kleinwelke, einem Bruͤdergemeindeort, nahe bei Bautzen, in der Oberlauſitz.
Hier fing nun ſchon mein Wirkungskreis an, zu dem ich durch dieſe Reiſe berufen war: Staar - und Augenpatienten aller Art620 kamen in Menge, und ich diente ihnen in Schwachheit, ſo viel und ſo gut ich konnte.
Den 23. reisten wir von Kleinwelke nach Herrenhut, wo wir im Gemeinlogis einkehrten, und auch alsbald von ver - ſchiedenen lieben Freunden beſucht wurden. In Herrenhut genoſſen wir die Fruͤchte der Bruderliebe in ihrer ganzen Fuͤlle, und der Herr gab mir auch Gelegenheit, viel zu wirken und vie - len Leidenden zu dienen.
Ich trug auch der Unitaͤtsaͤlteſten-Konferenz in Ber - tholsdorf den Wunſch des Kurfuͤrſten von Baden, einen Bruͤdergemeindeort in ſeinen Staaten zu haben, vor; allein da man eben im Begriff war, die Gemeinde Koͤnigsfeld auf dem Schwarzwalde, im Wuͤrtembergiſchen, nahe an der Badiſchen Graͤnze, zu gruͤnden, ſo konnte aus einem dop - pelten Grunde obiger Wunſch nicht gewaͤhrt werden; erſtlich, weil die Anlage eines ſolchen Gemeindeorts ſehr viel koſtet, und zweitens, weil Koͤnigsfeld an der Badiſchen Graͤnze liegt, eine zweite Gemeinde in der Naͤhe alſo uͤberfluͤßig ſeyn wuͤrde. Artig iſt es indeſſen, daß einige Jahre ſpaͤter, durch einen Laͤn - dertauſch, Koͤnigsfeld unter Badiſche Hoheit kam, und alſo Karl Friedrichs frommer Wunſch doch noch erfuͤllt wurde.
Wir blieben bis den 9. Mai zu Herrenhut, und fuhren dann um 11 Uhr fuͤnf Stunden weiter nach Goͤrlitz, wohin ich auch von Augenkranken berufen wurde.
Goͤrlitz iſt eine aͤußerſt angenehme, ſehr nahrhafte und bluͤ - hende Stadt; ſie liegt auf einer ſchoͤnen fruchtbaren Ebene, die ſich gegen Morgen durch einen felſigen Abſturz an das Fluͤßchen, die Neiße, anſchließt. Auf dieſem Felſen ſteht die praͤchtige Peter-Paulskirche, die durch ihre große und wunderbare Orgel, durch ihre große Glocke und unterirdiſche Kirche beruͤhmt iſt; der Sonnenaufgang uͤber das Rieſengebirge iſt in dieſer Stadt ein herrlicher Anblick. Gegen Suͤdweſten in einer klei - nen Entfernung, ſteht der Berg, die Landeskrone, ganz einſam; hier ſcheint er gar nicht hoch zu ſeyu, und doch ſieht man ihn in der ganzen Lauſitz, ſobald man nur ein wenig in die Hoͤhe kommt. Die Urſache iſt, weil in dieſer Gegend das ganze Land am hoͤchſten iſt.
621Goͤrlitz war mir auch von einer andern Seite her merkwuͤr - dig. Der beruͤhmte Jakob Boͤhm war hier Schuhmacher - meiſter und Buͤrger; es war mir außerordentlich ruͤhrend, ſein Andenken noch ſo bluͤhend und im Segen zu finden; man macht ſich in Goͤrlitz eine Ehre daraus, daß Boͤhm Buͤrger daſelbſt war, ungeachtet er vor 200 Jahren dort lebte, und unverdien - ter Weiſe, beſonders von der damaligen Geiſtlichkeit, vorzuͤglich von Paſtor Primarius Gregorius Richter, ſchnoͤde miß - handelt wurde. Boͤhm lehrt in ſeinen Schriften nichts, das der Augsburgiſchen Confeſſion widerſpricht; er war ein fleißiger Kirchengaͤnger, und genoß das Abendmahl oft; in ſei - nem Lebenswandel war er untadelhaft, ein treuer Unterthan, ein muſterhafter Hausvater und Ehegatte und ein liebevoller Nach - bar; das alles weiß man in Goͤrlitz noch wohl, und dennoch behandelte ihn die ſtolze Prieſterſchaft wie einen Erzketzer. Eins - mals an einem Morgen kam Meiſter Boͤhm zum Herrn Pa - ſtor Richter, um Etwas zu beſorgen; ſo wie er zur Thuͤre herein trat, ergriff Richter einen Pantoffel, und warf ihn dem guten Schuſter an den Kopf; dieſer hob ihn ganz ruhig auf, und trug ihn dem Paſtor wieder vor die Fuͤße. Als Boͤhm 1624 geſtorben war, ſo wollten ihn die Prediger nicht auf den Kirchhof begraben laſſen; man berichtete den Fall an’s Ober - conſiſtorium in Dresden. Die Leiche mußte alſo ſtehen blei - ben, bis die Reſolution zuruͤck kam, welche befahl, daß man Boͤhms Leiche mit allen Ehren, wie es einem guten Chriſten gebuͤhre, beerdigen, und daß ihm die geſammte Geiſtlichkeit das Geleit geben ſollte. Dieß geſchah denn auch, aber nur bis un - ter das Thor, wo die geſtrengen Herrn wieder umkehrten. Der Kirchhof liegt an der Nordſeite der Stadt; ich ließ mir Boͤhms Grab zeigen, welches mit einem kleinen viereckigten gehauenen Stein, der Boͤhms Geburtsjahr, Namen und Sterbejahr be - zeichnet, bedeckt iſt. Ein namhafter privatiſirender Gelehrter in Goͤrlitz erzaͤhlte mir, daß er auf einem Spaziergange zwei Englaͤnder bei dieſem Grabe geſehen, wie ſie ihre Tabaksdoſen ausgeleert, und mit Erde von Boͤhms Grabe angefuͤllt haͤtten; dieſes habe ihn bewogen, einen neuen Stein darauf zu legen, indem der alte kaum mehr zu ſehen geweſen ſey.
622Wir genoſſen in dieſer angenehmen Stadt viele Freundſchaft, und ich hatte Gelegenheit genug, auch Leidenden zu dienen. Nach einem Aufenthalt von ſechs Tagen reisten wir von Goͤr - litz nach Niesky, einem anſehnlichen Bruͤdergemeindeort, wo ſich auch das Seminarium befindet, in welchem junge Leute zum Lehramt vorbereitet und gebildet werden. Hier lernte ich vortreffliche und gelehrte Maͤnner, auch ſonſt intereſſante Mit - glieder der Bruͤdergemeinde kennen, die uns auch viele Liebe und Freundſchaft bewieſen.
Des folgenden Tages fuhr ich einige Stunden weit auf’s Land, um einen blinden Standesherrn zu operiren; ich ſah die ſogenannte Schneekuppe, den hoͤchſten Gipfel des Rieſenge - birges, in der Ferne vor mir; mir duͤnkt doch, daß der Blauen, am obern Ende des Schwarzwaldes, noch hoͤher, als der Brocken und die Schneekuppe ſey, indeſſen ſind dieſe Berge nur Huͤgel gegen die Schweizeralpen.
Am Nachmittag kehrte ich wieder nach Niesky zuruͤck; wir logirten im Gaſthofe der Gemeinde, wie das an allen Ge - meindeorten gewoͤhnlich iſt; mit allen dem Beſuchen und Beſucht - werden, mit allen Operationen und Augenkuren mag ich meine Leſer nicht aufhalten; das war, wie allenthalben, wo ich hin kam; nur Eine Bemerkung muß ich hier einſchalten. Die Lau - ſitz hat ihre ganz eigene Verfaſſung; ſie beſteht aus lauter großen adelichen Guͤtern, welche Standesherrſchaften, ſo wie die adelichen Beſitzer auch Standesherren genannt werden. Bertholsdorf iſt eben eine ſolche Herrſchaft; ſie gehoͤrt aber jetzt der Bruͤdergemeinde, die ihren Standesherrn aus ihren Mitgliedern waͤhlt, deren immer mehrere von Adel ſind. Dann gehoͤren auch ſechs Staͤdte zur Lauſitz, unter denen Bautzen und Goͤrlitz die erſten ſind; auch dieſe ſechs Staͤdte haben ihre beſondern Freiheiten und Vorzuͤge.
Die Unterthanen aller dieſer Herrſchaften ſind durchgehends Wenden, naͤmlich Nachkommen der alten Vandaliſchen Nation, die zur Zeit der Voͤlkerwanderungen eine ſo große Rolle ſpielte. Sie bekennen ſich alle zur chriſtlichen Religion, haben aber noch immer ihre eigene Sprache, ob ſie gleich faſt alle623 teuſch verſtehen und ſprechen; auch findet man noch Kirchen, worin Wendiſch gepredigt wird. Alle ſind leibeigen.
Des folgenden Tages bekamen wir eine Einladung von einer benachbarten Standesherrſchaft, wir ſollten ein paar Tage bei ihnen zubringen, damit ich eine alte blinde Frau in ihrem eigenen Hauſe operiren koͤnnte; wir fuhren alſo des Nachmittags nach dieſem pa - radieſiſchen Landſitz hin. Am Abend nahm mich die Edelfrau am Arm, und fuͤhrte mich durch huͤgelichte Baumgaͤrten, am Ende des Dorfs, in eine kleine, aͤrmliche, aber reinliche und wohl erhaltene Bauernhuͤtte; wir fanden im dunkeln Stuͤbchen ein altes blindes Muͤtterchen auf einem Stuhl ſitzen.
Guten Abend, Muͤtterchen! ſagte die Graͤfin: Hier ſchickt dir der liebe Gott einen Freund, durch den er dir dein Geſicht wieder ſchenken will.
Die Frau fuhr vom Stuhl auf, ſtrebte vorwaͤrts, ſtreckte die Haͤnde aus und ſtoͤhnte mit Thraͤnen: wo ſind Sie, Engel Gottes? Die Graͤfin kuͤßte ſie auf eine Wange, und ſagte: ſetze dich, Muͤtterchen! hier haſt du Etwas, das mußt du morgen einnehmen, und uͤbermorgen bring’ ich dir dann dieſen Freund, der dir die Augen oͤffnen wird. Ich ſprach auch noch einige freund - liche Troſtworte mit der alten Baͤuerin, und dann gingen wir nach Hauſe. Am beſtimmten Tage, des Morgens, ging ich mit der Graͤfin wieder dahin und operirte die Frau; dann ſtellte ich ſie mit ihren nunmehr wieder geoͤffneten Augen vor die Graͤfin. Nein! ſolche Augenblicke ſind ſchlechterdings unbeſchreiblich. — Das war ein ſchwaches Bild von der Scene, die ich bald erleben werde, wenn ich armer Suͤnder nackt und blos vor Ihm erſcheinen und Ihn dann mit geoͤffneten Augen ſehen werde, wie Er iſt. Mit Thraͤnen der Freude umarmte die Graͤfin das hochgluͤckliche Weib; dann gingen wir wieder nach Hauſe; daß die Patientin nach Wunſch verpflegt wurde, das iſt leicht zu. denken. — Aber nun hatte die gute Graͤfin noch eine andere Herzensangelegenheit: es kam nun darauf an, wie ſie mir auf eine zarte, gefuͤhlige Art die 200 Thaler, die ſie fuͤr mich als Belo’h - nung fuͤr die Operation beſtimmt hatte, in die Haͤnde bringen ſollte; auch das fuͤhrte ſie meiſterhaft aus.
Selig biſt du nun, durch viele Leiden vollendete, ſchwer ge -624 pruͤfte und verklaͤrte Freundin! Ruhe ſanft in den Armen deines Erloͤſers, bis wir uns wieder ſehen.
Es iſt eine durchaus richtige Bemerkung, daß Unterthanen nie gluͤcklicher ſeyn koͤnnen, als wenn ſie Leibeigene ſolcher vor - trefflichen Herrſchaften ſind.
Wir blieben neun Tage in Niesky, und als meine Geſchaͤfte geendigt waren, ſo reisten wir wieder zuruͤck nach Kleinwelke, wo wir den 24. Mai des Abends ankamen.
Hier fand ich nun wieder viel zu thun, ſo daß ich bis den 29. da bleiben mußte.
An dieſem Tage reisten wir wieder zuruͤck nach Herrenhut, zur Predigerconferenz, zu welcher ich eingeladen worden war.
Es iſt der Muͤhe werth, daß ich dieſe merkwuͤrdige Anſtalt meinen Leſern etwas naͤher entwickle.
Es waren jetzt gerade 50 Jahre, als der Biſchof Reichel dieſe Zuſammenkunft veranlaßte, und jetzt lebte der ehrwuͤrdige Greis noch, ſo daß er alſo das Jubilaͤum dieſer Predigerconfe - renz feiern konnte. Am 30. Mai kommen eine Menge Prediger aus beiden proteſtantiſchen Confeſſionen, aus allen benachbarten Provinzen, in Herrenhut zuſammen; es waren ihrer jetzt ungefaͤhr 70. Kein Prediger wurde abgewieſen, und es kommt hier nicht darauf an, ob er mit der Bruͤderkirche in Verbindung ſteht, oder nicht. Leute aus andern Staͤnden werden ohne be - ſondere Verguͤnſtigung nicht zugelaſſen, die Standesherren aus - genommen; denn dieſe muͤſſen doch wiſſen, was ihre Prediger thun und beſchließen, um noͤthigenfalls die Hand bieten oder mitrathen zu koͤnnen. Einigen Kandidaten vergoͤnnt man auch den Zutritt. Man verſammelt ſich des Morgens um 8 Uhr, eroͤffnet die Sitzung mit Gebet und Geſang, und berathſchlagt ſich dann nicht ſo ſehr uͤber wiſſenſchaftliche Gegenſtaͤnde, als vielmehr uͤber die Amtsfuͤhrung, das Leben und den Wandel der Prediger und der Gemeindeglieder, und beſonders uͤber die Auf - rechthaltung der reinen Lehre des praktiſchen Chriſtenthums.
An dieſe Predigerconferenz laufen nicht allein Briefe aus allen Provinzen Europens, ſondern aus allen Welttheilen ein; dieſe koͤnnen nun unmoͤglich alle an dieſem Tage geleſen werden; mam waͤhlt alſo die wichtigſten heraus, liest ſie vor, berathſchlagt625 ſich daruͤber, und beantwortet ſie hernach. Die Verhandlungen dieſes Tages werden zu Papier gebracht, und dieſe Protokolle theilt man dann den auswaͤrtigen Mitgliedern und Freunden der Bruͤdergemeinde mit.
Das Jubilaͤum machte die gegenwaͤrtige Verſammlung be - ſonders merkwuͤrdig: die beiden Biſchoͤffe Reichel und Riß - ler, die noch viele Jahre mit Zinzendorf gearbeitet, und Aſien, Afrika und Amerika im Dienſt des Herrn bereist hatten, waren gegenwaͤrtig. Der Erſte, als der eigentliche Stifter der Anſtalt, und der Prediger Baumeiſter aus Herrenhut, eroͤffneten die Sitzung mit kurzen und ſalbungs - vollen Reden. Solche Maͤnner muß man gehoͤrt haben, wenn man uͤber religioͤſe Beredtſamkeit ein Urtheil faͤllen will.
Des Mittags wird die ganze Geſellſchaft im Gemeindegaſthaus von der Gemeinde an[ſ]taͤndig, maͤßig, aber bis zur Saͤttigung bewirthet, und des folgenden Morgens reiſen dann die Herren alle wieder ab.
Dieß war nun auch unſer Fall, wir reisten uͤber Kleinwelke, Ponnewitz, Koͤnigsbruͤck und Hermsdorf nach Dres - den, weil wir von gedachten Orten her von den Standesherr - ſchaften ſehr liebevoll waren eingeladen worden. Wir blieben an jedem Ort uͤber Nacht, und kamen den vierten Juni, Vormit - tags um 9 Uhr, in Dresden an. Hier blieben wir dieſen Tag, beſuchten unſere Freunde, und ſetzten dann des folgenden Mor - gens unſern Weg fort. In Wurzen und Leipzig wurde ich durch Staar - und Augenpatienten aufgehalten; eben ſo auch in Erfurt und Kaſſel; hier erfuhr ich nun zu meiner Verwun - derung, daß der Kurfuͤrſt von Baden meinen Schwiegerſohn Schwarz zum Profeſſor der Theologie nach Heidelberg berufen, und daß er den Beruf angenommen habe. Dazu hatte ich nun nicht das Geringſte beigetragen: denn ich hatte mirs zum unverbruͤchlichen Geſetz gemacht, meinen Einfluß, den ich in meinem gegenwaͤrtigen Verhaͤltniß auf den Kurfuͤrſten haben konnte, nie zu irgend einer Empfehlung, und am wenigſten meiner Kinder und Verwandten zu benutzen; indeſſen war es mir noch unendlich wichtig und anbetungswuͤrdig, daß die guͤtige Vorſe -626 hung meine zwei aͤlteſten verheiratheten Kinder mit ihren Familien in meine Naͤhe fuͤhrte, und ſo anſtaͤndig verſorgte.
In Marburg, wo ich ebenfalls einige Tage bleiben mußte, beſuchte mich Schwarz, um mir die Geſchichte ſeiner Vocation zu erzaͤhlen, wobei wir uns dann uͤber die Wichtigkeit ſeiner Be - ſtimmung mit großem Ernſt unterhielten. Von hier ſetzten wir nun unſere Reiſe ohne Aufenthalt bis Heidelberg fort, wo wir am 4. Juli des Abends geſund und nach Leib und Seele geſegnet, ankamen. Bis Weinheim waren uns unſere Mann - heimer und Heidelberger Kinder entgegen gefahren, wo wir dann auch unſer Chriſtinchen geſund und geneſen antra - fen. Das Alles ſtimmte nun zum lebhafteſten Dank gegen unſern himmliſchen Fuͤhrer.
Auf dieſer muͤhſeligen und gefahrvollen vierteljaͤhrigen Reiſe hatte uns doch die Vorſehung ſo gnaͤdig geleitet und bewahrt, daß uns auch nicht der geringſte Unfall begegnet war, und wenn ich vollends alle die Wohlthaten und Segnungen erzaͤhlen wollte, die wir genoſſen hatten, und die erbaulichen Unterredungen und den himmliſchen Umgang mit ſo vielen begnadigten Kindern Got - tes aus allen Staͤnden mittheilen koͤnnte, ſo wuͤrde es vielen Le - ſern zur Erbauung dienen, allein die Beſcheidenheit auf meiner Seite, und das leidige Splitter’chen auf der andern, macht es mir zur Pflicht, davon zu ſchweigen, aber das kann ich verſichern, daß uns beiden dieſe Reiſe zu unſerer Belehrung und Heiligung ausnehmend befoͤrderlich geweſen.
Unſer Aufenthalt in Heidelberg waͤhrte dießmal nicht lange: der Kurfuͤrſt, der noch immer in Schwetzingen war, ließ mich von Zeit zu Zeit in der Hofequipage zur Tafel holen: einſt ſagte er waͤhrend des Eſſens: „ Lieber Freund! ich gehe nun bald nach Baden, Sie muͤſſen mit mir auf einige Wochen dahin gehen, denn ich habe Sie gern in der Naͤhe. “ Ich antwortete: Eure Kurfuͤrſtliche Durchlaucht haben zu befehlen; im Grund aber erſchrack ich, denn woher ſollte ich das Geld neh - men, mich einige Wochen in einem ſolchen ſtark beſuchten Badorte aufzuhalten? Die Reiſe hatte mir freilich einige hundert Gulden eingetragen, die hatte ich aber noͤthig auf die Zukunft und den627 Winter; ploͤtzlich faßte ich mich, und mein alter Wahlſpruch, der ſo oft mein Stecken und Stab geweſen war, — „ der Herr wirds verſehen! “— — beruhigte mich. Nach der Tafel nahm mich der Kurfuͤrſt mit in ſein Kabinet, und gab mir 300 Gulden mit den Worten: „ Das iſt fuͤr den Aufenthalt in Baden. “
Meine Beſchaͤftigung beſtand in meinem ſtarken Briefwechſel, im Schreiben des grauen Mannes und des chriſtli - chen Menſchenfreunds, dann auch in Bedienung vieler Staar - und Augenpatienten, die taͤglich kamen und Huͤlfe ſuchten.
Der 24. Julius war nun der Zeitpunkt, an dem ich nach Baden gehen mußte, ich nahm alſo unſere Freundin Julie, meine Frau, die kleine Chriſtine, und meine Nichte Marie - chen, die uns aufwarten ſollte, mit; denn meiner Frau, der Julie und der geſchwaͤchten Chriſtine war das Bad ſehr heilſam, wir bezogen unſer Quartier im Gaſt - und Badhauſe zum Salmen, waͤhrend dem unſere Karoline mit den beiden Kleinen, dem Friedrich, der Amalie und den Maͤgden die Haushaltung in Heidelberg fortſetzten.
Baden iſt eine uralte, zu der Roͤmer Zeiten ſchon ſtark be - ſuchte Badſtadt, ſie liegt in einem paradieſiſchen Thal, und iſt ein aͤuſſerſt angenehmer Aufenthalt, ſie iſt ſieben Stunden von Karlsruhe, und zwei von Raſtadt entfernt; das Thal nimmt ſeine Richtung von Suͤdoſten gegen Nordweſten, und wird von dem Fluͤßchen Ohß durchſtroͤmt, das ſich beſonders durch Holzfloͤßen wichtig macht, den Horizont begraͤnzt das hohe zackichte Gebirge des Schwarzwaldes, an deſſen Fuß auf beiden Seiten des Thals fruchtbare, von unten bis oben mit Aeckern, Weinbergen und Gaͤrten beſaͤte Huͤgel das Auge ergoͤtzen. An einem dieſer Huͤgel gegen Norden haͤngt an der Mittagsſeite die Stadt herab, auf der Spitze ſteht das Schloß, welches vor der Erbauung Raſtadts von dem Markgrafen von Baden-Ba - den bewohnt wurde.
Durch die weite Oeffnung des Thals gegen Nordweſten ſieht man uͤber die paradieſiſchen Gefilde des Großherzogthums Ba - den und des ſchwelgenden Elſaß hin, in blauer Ferne die romantiſchen vogeſiſchen Gebirge, und der majeſtaͤtiſche628 Rhein durchſchlaͤngelt dieſes weite Thal wie ein breites Silber - band, das man uͤber ein buntes Blumenfeld hinwirft. Wenn im hohen Sommer die Sonne uͤber die Vogeſen untergeht, und das Badner Thal bis ans Hochgebirge im Hintergrund beleuchtet, ſo iſt das ein Anblick, der zu den groͤßten Naturſchoͤn - heiten gehoͤrt; er muß geſehen werden, beſchreiben kann man ihn nicht. Uebrigens iſt die Luft hier ſo balſamiſch und rein, daß auch Viele, blos um ſie zu athmen, hieher kommen, ohne die Baͤder zu gebrauchen.
Daß ich keiner von den gewoͤhnlichen Badgaͤſten war, die nur dahin kommen, um ſich einmal im Jahr luſtig zu machen (denn dazu hat jede Art des ſinnlichen Geſchmacks Gelegenheit genug), das werden mir meine Leſer wohl auf mein Wort glauben.
Ich beſchaͤftigte mich ſo wie zu Haus, mit Briefſchreiben, Schriftſtellerarbeiten und Augenkuren, verſaͤumte aber dabei nicht, taͤglich, wenn es nur die Witterung erlaubte, hinaus in den Garten Gottes zu gehen, um die wandelnde, nicht jedem merkbare Stimme der ewigen Liebe zu hoͤren. Nach und nach ſammelte ſich auch ein Kreis guter Menſchen, in dem es uns wohl war, und die den reinen Naturgenuß mit uns theilten.
Hier ſchrieb ich das erſte Taſchenbuch von 1805, welches das gaͤnzlich mißlungene Bildniß des Kurfuͤrſten enthaͤlt; dieſer hielt ſich mehrentheils zwei Stunden von hier, auf der Favo - rite, einem ſehr niedlichen Luſtſchloſſe auf, wo ich ihn von Zeit zu Zeit beſuchte.
Gegen das Ende des Monats Auguſt gab es wieder Anlaß zu einer Reiſe: der alte blinde Pfarrer Faber zu Gais - burg, in der Naͤhe von Stuttgart, wuͤnſchte von mir ope - rirt zu werden. — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — —
(Zweite etwas umgeänderte Auflage 1835.)
Das Leben des Großherzoglich Badiſchen Geheimen Hofraths Johann Heinrich Jung, genannt Stilling, Doctors der Arz - neikunde und der Weltweisheit, und mehrerer gelehrten Geſell - ſchaften Mitglied, ſo reich geſegnet an mannichfaltiger Wirkſam - keit, iſt durch deſſen eigene Beſchreibung ſchon lange in den Augen eines jeden Glaubigen als ein auffallendes Zeugniß der vaͤterlichen Vorſehung Gottes bekannt. In dieſen Blaͤttern wollen wir nur die Hauptzuͤge von ſeinem am 2. April 1817 erfolgten Lebens - ende mittheilen, um der Welt ein neues Beiſpiel darzuſtellen, wie der Chriſt durch ſeinen Glauben bis zum Tode Gott verherrliche.
Der ehrwuͤrdige Greis, deſſen aͤlteſter Enkel ich mich zu ſeyn ruͤhme, und in deſſen Naͤhe mich gluͤckliche Verhaͤltniſſe ſeit einem Jahre vor ſeinem Tode fuͤhrten, begann zu Anfang des Jahres 1816 in dem 77. ſeines Alters, an Abnahme ſeiner ſonſt ſo geſunden und ſtarken Leibeskraͤfte zu erkranken.
Mit kummervoller Beſorgniß bemerkten Kinder, Kindeskinder, Freunde und Verehrer die fortſchreitende Entkraͤftung des gelieb - ten Vaters Stilling, und fern und nah ſtieg manches Gebet um laͤngere Erhaltung ſeines Lebens zum Himmel empor. Gott hat es nach ſeiner Weisheis erhoͤrt, denn der ließ ihn noch auf laͤn - gere Zeit zum Segen zuruͤck, als wir nach damaligen Umſtaͤnden erwarten durften.
Eine Erholungsreiſe zu ſeinen Kindern nach Heidelberg und der dortigen Gegend, und ſpaͤter im Sommer eine gleiche nachStillings ſämmtl. Schriften. I. Band. 41630Baden und zu ſeinen Kindern nach Raſtadt, ſchienen ſeine Natur wiederum zu ſtaͤhlen; und wirklich konnte er im Verlaufe des vorigen Sommers noch 17 Blinden das Geſicht wieder ge - ben; da er aber bei ſeiner Mattigkeit mit ſchmerzhaftem Ma - genkrampf unaufhoͤrlich belaſtet war und dazu an Seitenſchmer - zen litt, — welche er ſelbſt einem fruͤheren Falle aus der Kutſche, und einem dadurch entſtandenen organiſchen Fehler zuſchrieb, — mußte er ſeit Anfang des Winters 1816 — 1817 gaͤnzlich das Bett huͤten. Ohnerachtet der ſtaͤrkendſten Mittel, die zu ſeiner Schmerzenlinderung angewendet wurden, ſchwanden mehr und mehr ſeine Kraͤfte. Von dieſer Zeit an war es ihm nicht mehr moͤglich, ſeinen Briefwechſel fortzuſetzen, nur die wichtigſten Briefe ließ er durch die Seinigen beantworten; und als ihm auch das Diktiren in ſeiner Kraͤnklichkeit zu ſchwer wurde, konnten keine Antworten mehr erfolgen.
Doch war dieß nicht das Einzige, was ihn betruͤbte, wohl uͤberzeugt von der Nachſicht derer, die ſich ſchriftlich an ihn ge - wendet hatten, ſondern er mußte auch ſehen, daß mit ihm zu gleicher Zeit ſeine ſchon von vielen Jahren her an Halskraͤmpfen fortwaͤhrend leidende Gattin von heftigen Bruſtſchmerzen und Lungengeſchwuͤren befallen wurde. Mit der freudigſten Ergebung in den Willen der goͤttlichen Vorſehung duldete das ehrwuͤrdige Ehepaar; und der Anblick ſeiner ſchmerzvollen Leiden war fuͤr Kinder und Freunde herzzerreißend, aber ihr Beiſpiel erhebend.
Zuweilen ſchienen Vater Stillings Lebenskraͤfte ſich zu erneuern, dann ſuchte er ſeine Hauptarbeiten fortzufuͤhren; je - doch unterlag ſeine Hand bald der Leibesſchwaͤche. In dieſen kraͤftigeren Stunden war es, wo er ſein Alter zu ſchreiben anfing, und es ſo weit fuͤr den Druck ausfertigen konnte, als es voran ſtehet.
Mehreres zu ſchreiben, ließen ihm ſeine Kraͤfte nicht zu, und die Fortſetzung ſchreiben zu laſſen, unterſagte er. Auch iſt dasjenige, was er hier von ſeinem Alter erzaͤhlt, hinreichend, um ſeine letzte aͤußere Lage kennen zu lernen, und zugleich die Geiſteskraft zu bewundern, welche ſtets auf dem Krankenbette ſeine Begleiterin blieb, und ſeine Seele noch in den letzten Athem - zuͤgen zum Himmel trug. Und das Wenige, was wir hier von631 ſeinem weitern Fortleben melden, ſoll nicht als Fortſetzung ſei - ner Lebensgeſchichte betrachtet ſeyn, ſondern als ein Zeugniß fuͤr die Wahrheit des chriſtlichen Glaubens, und dabei als Gewaͤhr - leiſtung der Wuͤnſche vieler Freunde, welche Kenntniß ſeiner letzten Stunde begehren.
Mit Freude, ſagte er zu Anfang des Winters, als er das letzte Heft ſeiner bibliſchen Erzaͤhlungen und ſein Schatzkaͤſtlein aus der Druckerey erhielt: „ Nun habe ich doch meine bibliſche Geſchichte noch vollendet! “ Gegen Weih - nachten hin nahm die Schwaͤche des verehrten Vaters und die Krankheit ſeiner theuern Gattin bis zu dem Grade zu, daß wir fuͤr Beide nicht mehr lange hoffen konnten. Auch entledigten ſich Beide aller irdiſchen Sorgen, welche ſie fuͤr ihre Hinterlaſſene noch auf dem Herzen hatten, und waren zur Heimreiſe geſchickt. Indeſſen wollte uns der Himmel ihre Gegenwart noch einige Monate goͤnnen, denn zu Anfang des neuen Jahres 1817 kamen ſie wieder zu mehr Kraͤften, ſo daß ſie zuweilen außer Bett eine Zeitlang zu bleiben vermochten.
Zuvor hatte der ehrwuͤrdige Greis oft zu ſeiner fuͤr ihn noch auf dem Sterbebette beſorgten Gattin geſagt: „ Es iſt mir „ einerlei, wie es kommt, fortwirken oder nicht, ich „ bin auf alles gefaßt. “ Ja, dieſe gaͤnzliche Ergebung in den Willen ſeines himmliſchen Vaters, zeigte er fortwaͤhrend, und rief darum auch einmal in einem durch ſeinen heftigen Ma - genkrampf veranlaßten Schmerz: „ Gott hat mich von Ju - „ gend auf mit beſonderer Vorſehung geleitet, ich „ will nicht unzufrieden ſeyn, ſondern Ihn auch „ in meinem Leiden verherrlichen! “
Dabei war die Beſchaͤftigung ſeiner Gedanken die ganze Zeit ſeiner Bettlaͤgerigkeit auf die Gegenſtaͤnde des Reiches Gottes ge - richtet, von dieſen unterhielt er ſich am liebſten mit ſeiner Gat - tin und ſeinen Kindern und Freunden, und darum las er mit unbeſchreiblichem Wohlgefallen die Schriften von Kanne „ Le - ben und aus dem Leben erweckter Chriſten; “— und von Schu - bert „ Altes und Neues aus der hoͤhern Seelenkunde, “und ſagte einmal: „ Dieſe Maͤnner ſind von der Vorſe - „ hung zu tuͤchtigen Werkzeugen in dieſem Jahr -41 *632„ hunderte auserkohren! “ Und als er Blumhards Magazin fuͤr die neueſte Geſchichte der proteſtantiſchen Miſſions - Bibel-Geſellſchaften, Baſel 1817, durchleſen hatte, und wir uns von dem ſchoͤnen Fortgang des Reichs Gottes in der neuern Zeit unterhielten, ſo ſagte er: „ Siehe, l. S., das iſt jetzt „ in meinem Alter meine Freude und Erholung, „ wenn ich ſo da liege, und hoͤre von der weitern „ Ausbreitung des Chriſtenthums. “
Mit dieſer Beſchaͤftigung, mit dem Leſen anderer chriſtlicher Buͤcher, und der Erbauung aus der heiligen Schrift die immer neben ihm lag — und aus geiſtlichen Liedern, brachte er ſeine Zeit dahin, die ihm auch, wie er ſagte, nie lang wurde.
Nur zuweilen ließen ſeine Kraͤfte ihm zu, ſich mit uns zu unterhalten, und kamen Freunde, die ihn ſprechen wollten, zu einem ſolchen guͤnſtigen Augenblicke, ſo konnte er ihrem Wunſche Gehoͤr geben. Alsdann gab er immer dieſelbe muntere Unter - haltung, die ihn im geſellſchaftlichen Leben jederzeit ſo lie - benswuͤrdig gemacht hatte. In ſolchen Stunden ſprach er gerne von ſeinem Jugendleben, und erzaͤhlte einer Freundin oͤfters mit beſonderer Freude von ſeinen Verwandten in den niederrheini - ſchen Gegenden. Wenn man ihm aber die Freude uͤber ſein beſ - ſeres Ergehen aͤußerte, ſo wollte er das nicht hoͤren; und als ihm einmal eine junge Freundin ſagte, ſie hoffe, daß die ſchoͤ - nere Fruͤhlingszeit ihm wieder neue Lebenskraͤfte zufuͤhren werde, entgegnete er: „ Ach, ſagen Sie mir ſo Etwas nicht, „ denn ich will nicht, daß ſich meine Freunde taͤu - ſchen! “— Und dem Arzte aͤußerte er oft, wie er ſein Ende herannahen fuͤhle.
Seine Aufheiterung war wie immer, Geſang und Spiel, und waͤhrend die jungen Freunde nach ſeinem Gefuͤhle ſangen, ent - rollten ihm Wonnethraͤnen. Da er ſeit einigen Wochen nicht mehr in einem Zimmer mit ſeiner leidenden Gattin liegen konnte, weil ihre Krankheiten entgegengeſetzte Temperatur erforderten, beſuchte er dieſelbe taͤglich eine Zeit lang, und dann wurde er an der Duldenden Bett geleitet, oder zuletzt auf einem Arm - ſtuhle gerollt: — und hier war es eine Freude, ihre erbaulichen Geſpraͤche anzuhoͤren.
633Wie er von Jugend auf durch ſeinen Wandel und ſeinen zahl - reichen Schriften bei der erſtaunenswerthen Beleſenheit und Kenntniß, welche er in allen Faͤchern und Gegenſtaͤnden mit ſo vieler Anſtrengung ſich erworben hatte, jederzeit bewieſen, was der Apoſtel Paulus ſagt, daß naͤmlich die Erkenntniß Jeſu Chriſti alles andere Wiſſen uͤbertreffe, ſo beſtaͤtigte er dieß, als wir un - ter einander von der Wirkſamkeit ſeiner Schriften redeten, und er uns ſagte: „ Ja, alle Kenntniſſe, Faͤhigkeit zum „ Schreiben, Anſehen und dergleichen, hat man „ blos durch Umſtaͤnde nach dem Willen Gottes er - „ halten, und nach ihnen wird kein Menſch gefragt „ und gerichtet, wenn er vor den Thron Gottes „ kommt. Aber die Anwendung und das bischen „ Demuth und Glauben, was man hat, das iſt es, „ was einem die Gnade Gottes zum Verdienſt an - „ rechnen will. “ Auch aͤußerte er gelegentlich ſeinem juͤng - ſten Sohne: Es thue ihm leid, daß er in ſeinem Leben nicht mehr Zeit auf Zeichnen und Handarbeiten angewendet habe. Aber auch in dergleichen Dingen beſaß er beſondere Geſchicklichkeit.
Der Aeußerungen, die ſeine Thaͤtigkeitsliebe und den Glau - ben an Jeſum Chriſtum bezweckten, koͤnnten wir viele anfuͤh - ren, wenn wir nicht zu weitlaͤufig wuͤrden. Auch iſt es Allen bekannt, daß der ehrwuͤrdige Vater Stilling im Leben und in Schriften nur den Erloͤſer prieß und verherrlichte, und als ein ausgezeichnetes Werkzeug der goͤttlichen Gnade in der Zeit der unglaͤubigen Aufklaͤrung neben manchen andern tuͤchtigen Maͤn - nern zur großen Stuͤtze der Kirche auserkohren war. Immer war ſeine Geſellſchaft zur Aufheiterung, Belehrung und Erbau - ung, und ſolche blieb ſie bis zu ſeiner Abſchiedsſtunde.
Als indeſſen die Fruͤhlingszeit nahete, nahmen auch die Krank - heitsumſtaͤnde des ehrwuͤrdigen Ehepaares zu. Aber beide, willig in dem Vertrauen zum Herrn, ſuchten mit großer Selbſtverlaͤug - nung den Ihrigen ihre Leiden und Abnahme zu verbergen. Jedoch bemerkten wir die Annaͤherung der traurigen Zeit, die bald er - folgte. Nachdem ſeiner treuen Hausfrau Lungengeſchwuͤre trotz aller angewendeten Mittel zum voͤlligen Ausbruch gekommen waren, und Beengung und Schwaͤchung zum hoͤchſten Grade634 zugenommen hatten, entſchlief ſie den 22. Maͤrz d. J. ſanft und ſelig in dem Herrn. Zwei Tage zuvor hatte der ehrwuͤrdige Greis, als Arzt ihr nahes Ende wohl merkend, nachdem er ihr einige ſchoͤne Verſe aus Gellerts Liedern, und aus Paul Gerhards: „ Befiehl du deine Wege “u. ſ. w., vorgeſprochen, mit den Wor - ten von ihr Abſchied genommen: — „ Der Herr ſegne „ dich, du leidender Engel! — der Herr ſey mit dir! “ Und als er ihr Abſterben vernahm, faltete er in Ruhe die Haͤnde, hob ſeinen Blick gen Himmel, ſeufte und dankte: „ Gottlob ſie hat vollendet! “ Seitdem lebte er auch ſchon mehr in jener Welt, er war lieber wie vorher ſich ſelbſt uͤberlaſſen, wohl fuͤhlend, daß das Verſcheiden ſeiner Gattin auch fuͤr ihn der erſte Uebergangsſchritt ſey. Darum ſagte er uns, als wir bei ihm um die Entſchlafene trauerten: „ Sehet, das kann „ mir nicht ſo leid ſeyn, als Euch, da ich hoffe, ſie „ bald wieder zu ſehen! “ Und was er vor vielen Jahren den 19. Nov. 1790 in dem von ihm auf ſeine dritte Hochzeit gedichteten Liede gebetet, und was beide geahndet hatten, naͤm - lich jene Worte:
das wurde wahr.
Seine Entkraͤftung wuchs, wenn gleich ſein Geiſt immer leben - dig blieb wie der eines Juͤnglings, nach ſeiner eigenen Ausſage, und wie der lebhafte Blick ſeines Auges, der ſich bis in die letz - ten Athemzuͤge offen und heiter erhielt, bezeugte. Darum ver - mochte er einige Tage vor ſeinem Ende noch der edlen Tochter einer erhabenen Freundin, auf ihren Wunſch, einige Staͤrkungs - worte fuͤr deren nahe Confirmation zu geben, und mit ihrem erhabenen Sohne und edlen Schweſter kurze Unterredungen zu pflegen. Auch redete er mit Bekannten uͤber dieſes und jenes, und ſo ſagte er einmal zu einem alten Freunde und zu ſeiner zweiten Tochter unter andern: „ Hoͤrt, ich muß Euch et - „ was ſehr Wichtiges ſagen, was zur Seelenkunde „ gehoͤrt: Naͤmlich, ich habe ganz das Gefuͤhl, als635 „ wenn ich ein doppeltes Ich haͤtte, ein geiſtiges „ und ein leibliches. Das geiſtige Ich ſchwebt „ uͤber dem thieriſchen. Beide ſind in dem Men - „ ſchen im Kampfe, und nur durch Abtoͤdtung alles „ ſinnlichen Begehrens kann man dahin kommen, „ daß es nicht mehr zuſammenhaͤngt. Aber durch „ eigene Kraft nicht, ſondern durch Selbſtverlaͤug - „ nung mit dem Beiſtande Gottes. “
Jede andere Unterhaltung, als die von Gott und deſſen Heils - anſtalten, war ihm laͤſtig, und deßhalb ſagte er: „ Er habe „ ſeit ſeinem Krankenlager noch keinen Augen - „ blick lange Weile gehabt; aber ſeit dem Tode „ ſeiner Frau werde ihm die Zeit lange. “ Denn die Vollendete war ihm zur unentbehrlichen Lebensgefaͤhrtin und Seelenfreundin geworden durch ihre aufopfernde Liebe und Sorgfalt fuͤr ihn, wie durch ihre Theilnahme auch an dem Ge - ringſten, was ihn betraf. Sie war voll Zaͤrtlichkeit auch gegen ihre zugebrachten Kinder, und uͤberhaupt ein Muſter von Men - ſchenfreundlichkeit und Milde, von Selbſtverlaͤugnung und Demuth und ihm deßhalb ſo unendlich viel werth. Darum ſehnte er ſich deſto mehr daheim zu ſeyn, aller irdiſchen Gedanken und Sorgen enthoben. Taͤglich wuchs ſeine Mattigkeit, und da er ſeit einem halben Jahre vor jeder ſubſtantioͤſen Speiſe einen unuͤberwindlichen Widerwillen bekommen, den auch die geſchickteſten aͤrztlichen Bemuͤhungen und alle Sorgfalt der Freunde nicht zu benehmen vermochten, und da das Waſſer in der Bruſt anſchwoll, ſo war es voraus zu ſehen, daß der theure Mann nur noch einige Tage als lebendiges Vorbild unter uns verweilen werde. In dieſen Lagen ſagte er zu einer Freundin: „ Jetzt geht es bald! “ Und als ſie erwiederte: „ Ach! was ſind Sie gluͤcklich, daß Sie dieß ſagen koͤnnen, “antwortete er ihr freundlich: „ Nun das „ freut mich, daß Sie das erkennen! “
Als wir ſein nahes Ende erfuhren, ermannten wir uns in dem Schmerze, und ſuchten noch jeden Augenblick ſeiner Gegen - wart zur Erbauung und Staͤrkung im Glauben zu benutzen. Denn hatte ſeine Umgebung je dieſen ſegensreichen Einfluß, ſo war es auf dem Sterbebette, wo er mit der bewundernswerthe -636 ſten Beſonnenheit und Ruhe den Augenblick des Uebergangs er - wartete, den er vielleicht auf die Stunde voraus merkte, und wo er durch ſeine kindliche Hingebung in Gottes Fuͤgung mitten in dem Todeskampfe als ein rechter Glaubensheld Chriſtum ver - herrlichte, der ihn dafuͤr ſtaͤrkte und ſodann verklaͤrte. Sein Lebensende war ein ſichtbarer Beweis fuͤr die Wahrheit des chriſt - lichen Glaubens, denn bei der Geiſteskraft und allem dem Be - wußtſeyn, welches der Selige bis zum letzten Athemzuge nebſt allem Gedaͤchtniſſe bewahrte, und bei der Ernſthaftigkeit, mit welcher er ſelbſt, dieſer weit Gefoͤrderte, die nahe Abforderung ſich darſtellte, mit der Ruhe und Heiterkeit, welche darauf folgte und ſein wuͤrdevolles Antlitz umleuchtete, kann kein bloßer Deiſt oder Rationaliſt, kann nur ein Chriſt hinſcheiden. Die Ehre ſeines Lebens und ſeiner Lehren, und die Sache des Reiches Gottes fordert mich darum auf, ſeine letzten Tage mit den wich - tigſten Aeußerungen, welche er nach dem Zeugniſſe aller Anwe - ſenden und des verehrten Arztes bei voͤlligem Bewußtſeyn ge - than, oͤffentlich vor aller Welt auszuſprechen, damit man Gott die Ehre gebe.
Als er ſein Abſterben nicht mehr ferne ſah, verlangte er alle ſeine Kinder zu ſich, welche auch ihre Geſchaͤfte ſo eintheilen konnten, daß ihnen dieſe letzte Freude vergoͤnnt war; jedoch aͤngſtigte ihn der Gedanke, ſie moͤchten ihr Amt um ſeinetwil - len vergeſſen, und darum ſagte er ihnen, als er ſie laͤnger wie gewoͤhnlich bei ſich verweilen ſah: „ Ja es wird Euch zu „ lange; Ihr verſaͤumt zuviel, geht Eurem Berufe „ nach! “ Denn ſo gern er ſie um ſich hatte, konnte er nicht lei - den, wenn es ſchiene, man vernachlaͤßige ſeine Berufsgeſchaͤfte; nachdem ſie ihn daruͤber beruhigt hatten, ließ er zu, daß beſtaͤn - dig eines von ſeinen Kindern bei ihm am Bette ſaß. Vorher naͤmlich brauchte er immer eine Schelle, um die in dem Vor - zimmer zur Bedienung aufmerkenden Seinigen zu rufen, indem er gerne allein blieb, auch ſprach er mit einem Jeden von Din - gen, welche ihm um deßwillen noch an dem Herzen lagen. Daß ihm, der ſich nach jener Behauſung, die im Himmel iſt, ſehnte, die Zeit in den oͤfteren Anfaͤllen der Krankheit ſeit den letzten zwei Tagen lange wurde, beweist ſein oͤfteres Fragen nach der Uhr.637 In der Nacht ſchon vom Palmſonntag auf den Montag ſprach er ſeinem juͤngſten Sohne, der gerade bei ihm wachte, viel von ſeinem nahen Tode, das er zuvor nie gethan, und ſchon damals ſein Ende naͤher glaubend, ſagte er ihm gegen Tagesanbruch: „ Jetzt rufe deine Geſchwiſter zuſammen! “ Jedoch kam er wieder zu mehreren Kraͤften, und, was er noch den Tag vor ſeinem Sterben that, er ließ ſich ein Pfeifchen ſtopfen. Es machte ihm aber das Waſſer in der Bruſt viel zu ſchaffen, nachdem ſich ſchon einige Wochen zuvor ſeine Seitenſchmerzen des Magenkrampfes verloren hatten; darum mußte er ſchwer und laut athmen und ſtoͤhnen, und oͤfters huſten, was alles an dem vorletzten Tage verging. Er ſprach ſehr wenig, nur ab - gebrochene Saͤtze, aber immer mit voͤlligem Bewußtſeyn; auch ſchlief er wenig, wenn gleich er oft die Augen zuſchloß, denn alsbald oͤffnete er ſie, ſo wie ſich Jemand bewegte, oder die Thuͤre ging.
An dieſem Tage und fruͤher, und noch am folgenden mag er ſich viel mit Beweiſen, Einwuͤrfen, Gegenbeweiſen und Wider - legen, fuͤr die Lehre der Unſterblichkeit und des chriſtlichen Glau - bens in Gedanken beſchaͤftigt haben, das ſchien aus ſeiner Unruhe im Schlafen und Wachen, und aus den abgebrochenen Worten und Saͤtzen, welche er deßhalb ausſprach, hervor zu leuchten. Denn, wie man auch vom heiligen Martinus ſagt, ſah er im - mer im Traume neben ſich einen ſchwarzen Mann, der ihn quaͤlte, und der ſeinen regen Geiſt beſchaͤftigte und beunruhigte, gleichſam ſcheinend, als wollten boͤſe Geiſter ihn noch auf dem Sterbebette aͤngſtigen oder gar von dem Glauben abwendig machen. Denn ſchlafend ſagte er: „ Sagt mir doch, liebe Kin - „ der, wer iſt der ſchwarze Mann da, der mich im - „ mer quaͤlt? Seht Ihr ihn denn nicht? “ Einige Tage zuvor hatte er, wie er des andern Tags ſeinen Toͤchtern erzaͤhlte, getraͤumt: Der ſchwarze Mann ſpreche zu ihm: komme mit! Er aber habe geantwortet: „ Nein ich will nicht, gehe weg! “allein dieſe Anfechtungen waren alle am vorletz - ten Tage uͤberwunden, und ſeine Unruhe in große Ruhe und Feierlichkeit uͤbergegangen. Auch erklaͤrte er ſich hieruͤber ſeiner dritten Tochter mit den Worten: „ Ich glaube, ich habe638 „ den Todeskampf ausgekaͤmpft, denn ich fuͤhle „ mich ſo allein, gleichwie in einer Eindde; — „ und doch innerlich ſo wohl. “ Als ſie indeſſen meinte, er habe nicht ferner mit dem Tode zu ringen — und ſie ihn daruͤber befragte, erwiederte er: „ Nein, es iſt noch man - „ ches Proͤbchen zu beſtehen. “ Und daß der Chriſt weder mit Leichtſinn, noch mit Vermeſſenheit dem nahen Tode ins Auge blickt, erkennt man aus ſeinen Aeußerungen, welche er deßhalb ſeiner zweiten Tochter gab, als ſie an einem dieſer Tage mit ihm ſich vom Tode unterhielt, und er ſagte: „ Es iſt „ eine wichtige Sache um das Sterben, und keine „ Kleinigkeit. “ Und ein anderes Mal: „ Es iſt eine „ wunderbare Sache um die Zukunft! “ Woraus zu erſehen iſt, wie auch dem Manne, der auf alle Seiten hin fuͤr die Ehre des Hoͤchſten mit allen ſeinen Kraͤften in der Welt ge - wirkt hatte, und dem die Zukunft mit den ſchoͤnſten Farben ſich darſtellen konnte, wie auch ihm der Uebergang in jenes Leben und die baldige Rechenſchaft hoͤchſt ernſt und wichtig vorkam. Da er ſein ganzes Leben hindurch im Schlafe laut geſprochen, war dieß auch jetzt noch der Fall, und da er einige Male da - zwiſchen aufwachte, fragte er ſeine zweite Tochter: „ Nicht „ wahr, ſeitdem meine Frau todt iſt, bin ich nicht zu Hauſe, ich rede ungereimte Sachen im Schlafe? “— Als ſie ihm entgegnete: nein, im Gegentheil, was er rede ſey nur erbaulich, ſo ſagte er: „ Ja, das iſt eine rechte Gnade „ Gottes! “ Die Beſorgniß, im ſchlummernden Zuſtande etwas Ungeziemendes zu ſagen, aͤußerte er mehrmals, denn er wollte nur zur Ehre des Herrn reden und ausharren. So hoͤrte ich ihn im Schlafe nur gottesfuͤrchtige Aeußerungen thun, als: „ Gott hat mich mit unausſprechlicher Huld ge - „ leitet! — Der Herr ſegne Sie! “und — „ Ja, „ man muß erſt genau nachſehen, wie es gemeint „ iſt, ehe man in Irrthum uͤbergeht! “und dergleichen.
Mit zunehmender Schwaͤche ließ auch das oͤftere Sprechen im Schlafe nach, und wachend redete er weniger durch Worte als durch freundliche Blicke. Wenn er ſah, wie ſich Alle beeifer - ten, ihn zu bedienen, ſagte er mehrmals: „ Ihr lieben En -639 „ gel, ich mache Euch ſo viele Muͤhe! “ So ſagte er auch: „ Ach ihr Kinder, ich bin ſo geruͤhrt durch „ Eure beiſpielloſe Liebe! uͤbrigens wuͤnſchte ich „ um Euertwillen, daß ich nicht im Paroxismus „ ſtuͤrbe! “— Naͤmlich oͤfters wiederholte ſich ein heftiger An - fall ſeiner Uebelkeit, der durch das Waſſer in der Bruſt veran - laßt wurde, weil ſeine Krankheit in voͤllige Bruſtwaſſerſucht uͤber - gegangen war; und darum ſagte er uns einige Male: „ Es „ iſt doch etwas Trauriges, wenn man erſticken „ muß; aber es ſoll ja ſeyn! “ An ſeinem Bette, das in ſeiner Arbeitsſtube ſtand, aus welcher ſo viel Segen fuͤr die Welt ausging, und welche durch erhabene Gemaͤlde, Kupferſtiche und Denkmaͤler geſchmuͤckt, einem Heiligthume glich, hatte er fort - waͤhrend ſchoͤne Blumen in Toͤpfen ſtehen. Auf dieſen und auf dem gegen ihn an der Wand haͤngenden Kupferſtiche der Madonna nach Raphael von Muͤller, weilten beſonders gerne ſeine Blicke.
So ſagte er ſeinem juͤngſten Sohne, der ihm die Blumenſtoͤcke beſorgte, im Geſpraͤch: „ Siehe l. S. die ſchoͤnen Blumen (es waren Hyacinthen, Narciſſen und Veilchen), „ und darum „ herum die ſchoͤnen Kinderkoͤpfe! “ In der Nacht vom letzten Maͤrz auf den erſten April, ſprach er noch mancherlei mit mir von meinen lieben Eltern und Geſchwiſtern in Heidel - berg, und von andern Dingen, und von meinem geiſtlichen Amte. Sodann begehrte er ein Glas friſches Waſſer, was er mit beſon - derer Luſt trank, wie denn uͤberhaupt ſein trockener Gaumen mehr und mehr nach labenden Getraͤnken lechzte; und dieſen Trunk ruͤhmte er des andern Tages ſeinen beiden juͤngſten Toͤch - tern, ſagend: „ Es kann ſich Niemand den Wohlge - „ ſchmack vorſtellen, den ich heute Nacht hatte, „ als ich ein Glas friſches Waſſer trank; wenn „ die Natur wieder in ihren reinen Zuſtand zu - „ ruͤckkehrt, und Waſſer und Wein genießt, ſo iſt „ das das Beſte, wenn es der Krampf erlaubt. “ Und darum ſagte er bald darauf: „ Die einfachſten Spei - „ ſen ſind fuͤr den Menſchen in der erſten und letz - „ ten Zeit noͤthig; Waſſer und Milch iſt der An - „ fang und das Ende. “
640Gegen Tagesanbruch rief er ſeinem juͤngſten Sohne, er ſolle ihm ein Pfeifchen ſtopfen, was ihm behaglich ſchmeckte. An demſelben Morgen des erſten Aprils, als ſeine Kinder bei ihm waren, und mit uns noch einer meiner Bruͤder, den er des Abends vorher nach deſſen Ankunft um das Wohlergehen der Seinigen befragt hatte, ermahnte er uns alſo: „ Liebe Kin - „ der, befleißigt Euch der wahren Gottesfurcht! „ da meint man als, es ſey gethan, wenn man nur „ in die Kirche und zum heiligen Nachtmahl blos „ gehe; aber die gaͤnzliche Ergebung in den Wil - „ len Gottes, beſtaͤndiger Umgang mit ihm, und „ Gebet, das iſt es! “
Als darauf ſeine zweite Tochter ihn bat, im Himmel mit ſeiner verklaͤrten Gattin Fuͤrbitte fuͤr die Seinigen einzulegen, antwortete er in ſeiner einfachen Art: „ Ja, da muß man „ erſt ſehen, wie es jenſeits der Gebrauch iſt, dann „ bitten wir fuͤr Euch! “
Darauf betete er jenen Vers aus dem Halliſchen Geſang - buche, Lied 11, 22.
Und als er hoͤrte, daß ſeine dritte Tochter ihre Schweſter fragte, wo dieſe Worte ſtuͤnden, gab er die neben ihm liegende Halliſche Sammlung geiſtlicher Lieder ſeiner zweiten Tochter, ließ ſie einige der ſchoͤnſten Lieder aufſchlagen und zeichnen, und be - fahl an, ſolche ihre Kinder im Inſtitute im Choral gut ſingen lernen zu laſſen, und ſagte: „ Lernt brav Verſe und Spruͤche auswendig, man kann ſie brauchen! “ Zugleich empfahl er ihr, die Kirchenlieder immer nur in der aͤchten einfachen Kirchenme - lodie, ohne Kuͤnſtelei, ſingen zu laſſen. Denn er liebte auch im Kirchlichen das Einfache, Erhabene. Darauf ſagte er ihr, als von gewiſſen Freunden die Rede war: „ Schreibe den Lieben, „ ich haͤtte mich viel in den letzten Tagen mit ihnen beſchaͤftigt, „ ich haͤtte ſie lieb, und wir wuͤrden einmal Stoff genug zum „ Geſpraͤche finden. “ Von denſelbigen ſagte er auch hernach: „ Sie ſind vom Herrn geliebt. “
641An dieſem Dienſtage, den erſten April, kamen viele Freunde, um ihn nochmals zu ſehen, den ehrwuͤrdigen Greis, wie er da lag mit aller Glaubenskraft, und freudig und feierlich duldete. Und ein jedes Herz ward durch dieſen Anblick zum Himmel er - hoben, und der Wunſch, einſtmals eines gleichen Chriſtentodes zu ſterben, erzeugte manche neue edle Entſchluͤſſe des thaͤtigen Lebens zur Verherrlichung Gottes auf Erden.
Und wenn dann Vater Stilling ſeine Freunde zur halboffenen Thuͤre, die ſeinem Auge gerade gegenuͤber ſtand, herein ſchauen oder kommen ſah, bewies er ihnen ſeine Liebe durch freundliches Zunicken, und genoß er gerade eines kraͤftigeren Augenblickes, ſo ſagte er dieſem und jenem einige Worte. Dabei verließ ihn nie ſein munterer Sinn, der alle Menſchen zu ihm von jeher hingeriſſen hatte. Als eine Freundin durch die Thuͤre ſah, und er es bemerkte, ſagte er ſcherzhaft: „ Fr. v. R. guckt durch „ das Schluͤſſelloch. “ Eine andere Freundin kam gegen Mittag, und dankend fuͤr die Bekanntſchaft, welche ſie nebſt den andern durch Gottes Gnade mit ihm gemacht habe, ſprach ſie von dem herrlichen reinen Gemuͤthe, das ihm der Herr gegeben habe, worauf er erwiederte: „ O, Sie muͤſſen nicht loben! “ Derſelben erzaͤhlte er nachher, indem er den Zeitraum ſeines gan - zen Lebens, der, wie er ſelbſt ſagte, lange waͤre, aber ihm wie ein Traum vorkaͤme, uͤberdachte: „ Da habe ich einmal in mei - „ ner Jugend eine kleine Floͤte gehabt, die fiel mir auf den Bo - „ den und zerbrach, und da weinte ich zwei Tage lang; und „ ſie koſtete nur zwoͤlf Kreuzer, aber damals war das Geld rar, “und fuhr dann fort: „ Sagt, was haben nun eigentlich die Re - „ cenſenten gegen mich ausrichten koͤnnen? Sie haben ſchreiben „ moͤgen, was ſie wollten, ſo hat’s nichts geholfen! “ Um dieſe Zeit ließ er mich rufen und fragte: „ Sage, wie wird denn das Jubilaͤum des Reformationsfeſtes dieſes Jahr gefeiert? “ Als ich ihm in der Ueberzeugung, daß man keine Feierlichkeit zu die - ſem wichtigen Feſte verſaͤumen, und daß es in manchen Laͤn - dern gewiß nicht in Vergeſſenheit gerathen werde, antwortete er: Ja, ich habe davon gehoͤrt, ja wohl; ſo war er in dieſer An - gelegenheit beruhigt.
In der Mittagszeit wollte er ſich wieder mehr ſelbſt uͤberlaſ -642 ſen bleiben, und ſprach wenig oder nichts, auch war ſeine Be - aͤngſtigung ſchon damals voruͤber, und die heitere Ruhe glaͤnzte aus ſeinen großen geiſtvollen Augen.
Die Uhren, welche neben ihm hingen, hatte er bis an dieſen Tag ſelbſt aufgezogen, auch ſeine Ringe in der Schublade des neben ihm ſtehenden Tiſchchens, und dergleichen Dinge, nachge - zaͤhlt, und ſeine Ordnungsliebe, die ihm zu ſeinen zahlreichen Geſchaͤften ſtets ſo foͤrderlich geweſen war, verließ ihn nicht bis zu den letzten Augenblicken, wo er noch darauf bedacht war, die Getraͤnke und Arzneien, die er immer ſelbſt begehrte, und oͤfters abſchlug, wenn man ſie ihm fruͤher darreichte, mit An - ſtand zu nehmen. Auch ließ er noch zuvor abgewelkte Blumen mit friſchen vertauſchen, die er alle bei Namen zu nennen wußte, und auf ſein Tiſchchen ſtellen. Nachmittags begehrte er wieder ein Pfeifchen zu rauchen und war heiter und ruhig. Da ihm ſeine Lippen geſchwollen waren, bat er ſich eine glaͤſerne Roͤhre zum Trinken aus, und gab an, wo wir ſie, da ſie zu lang war, abnehmen ſollten; damit war er mit dieſer Art zu Trinken ſehr zufrieden, und ſagte ſcherzhaft: „ Bei der glaͤſernen Roͤhre mer - „ ken auch die Douanen im Halſe nichts vom Trinken. “
Gegen Abend ſchlummerte er wieder mehr, weßhalb auch we - niger Freunde den Wunſch, ihn, den Verehrten, nochmals zu ſehen, befriedigen konnten, weil ihn das oͤftere Bewegen an der Thuͤre ſtoͤrte.
Als er einmal erwachte, ſagte er zu ſeinen anweſenden Toͤch - tern: „ Immer meine ich, es waͤre Morgen. Nun jenſeits wird es ſich wohl aufklaͤren. “
Wie ſeine zweite Tochter ihm einen Blumenſtrauß von ihren Zoͤglingen, die er alle unausſprechlich liebte, mitbrachte mit den Worten: L. V. dieſe Blumen ſchicken Ihnen die Kinder, erwie - derte er mit ſeinem herzlichen Tone: „ Die lieben Kinder! Sie „ ſind auch wie die zarten Blumen, die ſich willig entfalten, „ und der Sonne ſtille halten! “
Gegen ſechs Uhr klagte er ſeinem freundſchaftlichen Arzte von ſelbſt alle ſeine Umſtaͤnde, und fing noch ein Geſpraͤch uͤber die Guͤte des Trinkwaſſers von dem Herrnbrunnen in Baden-Baden mit demſelben an. Bald darauf langte, den ehrwuͤrdigen Vater643 nochmals zu ſehen, ſein aͤlteſter Sohn von Raſtadt an, den er wegen des Paroxismus nicht gleich empfangen konnte, aber dem er nachher zurief: „ Jetzt kannſt du kommen! “ Und als derſelbe von der Vollendung der verklaͤrten Mutter redete, erwie - derte er: „ Ja ſiehe, davon kann man nicht ſo reden; ſie hat „ ausgelitten; und ich muß entweder noch fortwirken oder fort - „ leiden! “ Von einem Freunde, welcher Tags zuvor ihn noch ſahe, redete er mit vieler Ehrfurcht und Liebe, und ſagte: „ Ich „ habe oͤfters Gelegenheit gehabt, ihn zu ſehen; da hab ich viel „ von theoſophiſchen Gegenſtaͤnden, deren ganzes Reich er durch - „ forſcht hat, mit ihm geſprochen, und da lernte ich ſein Herz kennen! “
Spaͤter ſagte ich ihm, dieſe Maibluͤmchen (die auf ſeinem Tiſchchen ſtanden) ſind doch gar zu ſchoͤn; worauf er in ſeinem muntern Sinne erwiederte: „ Mir iſt nichts zu ſchoͤn; “und als ſeine zweite Tochter darnach zu ihm ſagte: Ja, L. V. Sie werden bald noch ganz andere Schoͤnheiten zu ſehen kriegen! entgegnete er: „ Das kann man nicht wiſſen, nur fuͤhlen! “ Weiterhin ſprach er: „ Ich habe Euch alle ſo lieb, und doch „ wird mir die Trennung ſo leicht! “ Als ihm ſein aͤlteſter Sohn erwiederte: Das macht, weil Sie den Herrn ſo lieb haben, antwortete er: „ Ja, das iſt es! “ Zu demſelben ſagte er ſpaͤter: „ In deinem Glauben bleibe, der hat mich nie irre ge - „ fuͤhrt, der wird auch dich treu leiten; und da wollen wir Alle „ anhalten! “ Dann ſagte er: „ Bleibt nur in der Liebe, Ihr „ lieben Engel! “ Und als ihm ſeine dritte Tochter entgegnete: Sie ſind unſer Engel, L. V., antwortete er: „ Wir wollen es „ uns gegenſeitig ſeyn! “ Waͤhrend dem nahte die Nachtzeit, und er legte ſich mehrmals, um zu ſchlafen; — uͤberhaupt war ſein ganzes Weſen ruhig. Sobald er erwachte und Veranlaſſung und Kraft zum Reden fand, that er es. — So ſagte er ein - mal: „ Wenn unſer Erloͤſer das nur zu trinken gehabt haͤtte, „ was ich habe, dann waͤre es noch gut fuͤr ihn geweſen: aber „ da haben ſie ihm Eſſig gegeben, die Zunge herausgeſtreckt, ihn „ verhoͤhnt, und er ſprach: Vater! verzeih ihnen, ſie wiſſen „ nicht, was ſie thun; das war das groͤßte Gebet, was je aus - „ geſprochen worden. “ Und darauf betete er: „ Vater, wenn „ es dein heiliger Wille iſt, daß ich noch ferner hier bleibe, ſo644 „ gib mir auch Kraft, und ich will gern noch wirken und dulden! “
Nachher ſagte ſeine dritte Tochter: Ach, was muͤſſen Sie da ſo ſchlecht liegen; darauf erwiederte er: „ Sag nur das doch „ nicht immer; unſer Herr lag noch ganz anders da! “ Spaͤ - terhin, uns Alle um ſich bemerkend, unſere traurenden Blicke auf ihn geheftet, ſagte er: „ Wenn Ihr mit mir ſprechen wollt, ſo thut es doch! “
Als man ihm das Nachtlicht, das er ſich gewoͤhnlich um die Schlafzeit kommen ließ, brachte, ſagte er: „ Ich brauche es nicht, „ ich reiſe die ganze Nacht! “ Spaͤterhin fuhr er fort: „ Wenn „ man zur chriſtlichen Gemeinde gehoͤrt, ſo muß nicht nur Mann „ und Weib, ſondern auch alle Kinder in einem Punkte uͤberein - „ ſtimmen; und das iſt ſchrecklich ſchwer. “
Gegen Morgen hatte er folgenden Traum, den er nach dem Erwachen ſeinem aͤlteſten Sohne und der dritten Tochter erzaͤhlte: „ Ich habe mich mit meiner ſeligen Gattin im Hausweſen thaͤ - „ tig gefuͤhlt; nachher iſt mir der graue Mann, aber nicht der „ im Heimweh, erſchienen, und hat mich in Himmel gefuͤhrt, „ und geſagt: Ich ſolle mich um meine Frau nichts bekuͤmmern, „ dieſer gehe es wohl; er ſelbſt habe ſie von einer Stufe der „ Vollendung zur andern gefuͤhrt, aber ich muͤſſe noch warten! “ Nachher erklaͤrte er: „ Ach ich fuͤhle eine unbeſchreibliche Seelen - „ ruhe, die ihr mir bei meinem koͤrperlichen Elend nicht anſehet! “ Unterdeſſen ſtieg aber ſeine Schwaͤche, und es ward ihm ſchwer, anhaltende Worte zu reden, da ſchon vorher ſeine Stimme die Staͤrke verloren, darum that er mehr abgebrochene Aeußerungen, als: „ Eine voͤllige Hingabe an den Herrn, “u. dergl. und haͤtte oft gerne fortgefahren, wenn es die Schwaͤche zugelaſſen haben wuͤrde.
Aber es ſtieg auch ſeine Ruhe und feierliche Stimmung zu immer hoͤherem Grade, und in ſeiner Gegenwart konnte man nur beten. Da war es, als er ſich kraͤftig fuͤhlte, ein erhabe - nes hoheprieſterliches Gebet auszuſprechen, darin er zu Gott flehete: „ Er moͤge ſeine Kinder alle in dem Glauben an Je - „ ſum Chriſtum erhalten, ſie als Reben am Weinſtocke bewah - „ ren, daß er ſie noch nach Jahrtauſenden gleich einem Reisbuͤnd - „ lein zuſammengebunden, faͤnde! “
645Bald darauf an dieſem Charmittwoch, den zweiten April, des Morgens gegen vier Uhr, als er fuͤhlte, daß ſein Ende heran - nahe und er hingehe zum Vater; — als er ſich zu einer letzten feierlichen Handlung ſtark genug wußte, verſammelte er uns Alle um ſich her, und nachdem er uns in ſeiner gewoͤhnlichen Guͤte gefragt, ob wir nichts gegen ſein jetziges Vorhaben haͤtten, das h. Abendmahl mit uns zu halten, und nachdem ihm ſein aͤlteſter Sohn die Bedenklichkeiten daruͤber benommen, zumal da in dieſer naͤchtlichen Stunde nicht wohl der einzige Geiſtliche der reformirten Gemeinde zu Karlsruhe (damals war noch nirgends eine Evang. Kirchenvereinigung vollzogen), auch ein ehrwuͤrdi - ger Greis, herzu gerufen werden konnte, und als er auch unſer Wohlgefallen und unſern Dank fuͤr dieß ſein patriarchaliſches Unternehmen erfahren hatte, ließ er uns knieen, entbloͤßte ſein Haupt, faltete die Haͤnde, und mit aller Kraft des Geiſtes und und des Glaubens, welche ſich in ſeiner Stimme nochmals aus - druͤckte, betete er ohngefaͤhr alſo: „ Du, der du am Kreuze dein „ Blut fuͤr uns gabſt, und Tod und Hoͤlle uͤberwandeſt, der auch „ da ſeinen Feinden verzieh, du goͤttlicher Verſoͤhner! vergieb uns „ auch jetzt, wenn wir uns unterwinden, hier Etwas vorzuneh - „ men in unſerer Schwachheit, was wir uns ſonſt nicht unter - „ ſtehen wuͤrden! “
Alsbald nahm er den Teller, worauf er das Brod in Stuͤcken gebrochen hatte, hielt zwei und zwei Finger kreuzweiſe daruͤber, ſprach die gewoͤhnlichen Einſetzungsworte, und fuhr fort: „ Und „ du, o Herr, ſegne auch dieſe Speiſe! “ Darauf ſagte er: „ Neh - „ met hin, und eſſet, das iſt ſein Leib, der fuͤr unſere Suͤnden „ in den Tod gegeben worden! “
Und ſomit nahmen wir, im Geiſte ergriffen, von der hohen Wuͤrde des chriſtlichen Greiſes, der noch auf dem Sterbebette mit den Seinigen den Bund der Liebe feierte, das heilige Mahl. Und nachdem er den Wunſch geaͤußert: „ Wenn doch jetzt auch „ unſere Heidelberger Kinder hier waͤren! “nahm er auch ſeinen gewoͤhnlichen Becher als Kelch, legte ebenfalls die Haͤnde kreuz - weiſe daruͤber, dankete und ſprach nach den Einſetzungsworten: „ Trinket Alle daraus, das iſt der Kelch des Neuen TeſtamentsStillings ſämmtl. Schriften. I. Band 42646„ in ſeinem Blute, welches fuͤr Euch und fuͤr Viele — und am „ Ende fuͤr Alle vergoſſen worden iſt zur Vergebung der Suͤn - „ den! “und als er zuletzt genommen, ſtreckte er ſeine Haͤnde zum Segen aus, und rief: „ Der Herr ſey mit Euch! “
Und nachdem er dieſe feierliche, erhabene Handlung, welche er ohne Noth nicht unternommen haͤtte, weil er in Allem Ord - nung, Brauch und Sitte ehrte und befolgte, nach rein evange - liſchen Grundſaͤtzen als chriſtlicher Patriarch auf dem Sterbebette beendigt, legte er ſich zum Schlummer nieder, und es zeigte ſich auf ſeinem ſchon damals verklaͤrten Antlitze des Glaubens - helden erhabener Seelenfriede. Auch mochte er mit uns zwei - feln, ob er noch den Tagesanbruch dieſes Charmittwochs erlebte.
Von nun an ſtieg ſeine Schwaͤche mehr und mehr, und krampf - hafte Empfindungen ſtellten ſich ein, ſo daß wir oͤfters den Au - genblick des Erſtickens wahrzunehmen glaubten. Herzzerreißend war der Anblick des ehrwuͤrdigen Greiſes, wenn ihm der Athem ſtockte, er ſeine Haͤnde faltete, und ſeinen Blick zum Himmel hob, meinend, er werde nun der Lebensluft nie mehr genießen. Mehrmals hatten wir dieſen aͤngſtenden, fuͤr uns ſo ſchrecklichen Anblick des Erſtickens; und wir konnten nur beten, Gott moͤge ihm den Heimgang erleichtern. Wenn ſich dann der harte An - fall wiederholte, rief er aus: „ Herr nimm mich auf in deine „ ewige Huͤtte! “oder einmal, da es ihm ſchwer ward, das Ath - men vor dem Waſſer in der Bruſt zu erringen, breitete er die Arme nach oben, und rief: „ Fort, fort! “ Unterdeſſen ward ſein lechzender trockener Gaumen durch labende Getraͤnke fortwaͤhrend erquickt, und ſeine Liebe zur Reinlichkeit und Ordnung war bis ans Ende wahrzunehmen. Ein anderes Mal rief er in dem quaͤlenden Krampfe: „ Du Todesuͤberwinder, Kraft! “ Alles dieß rief er aber mit ſchwacher jedoch bewegter Stimme; und mit ſeinen Blicken weilte er auf allen den Seinigen, die um ſein Bett herſtanden, und die ſein hohes Beiſpiel der Geduld und des Gei - ſtes in dieſem anhaltenden Todeskampfe nur zum Gebete an - treiben konnte. Und wo ſich das Eine oder das Andere von uns durch Dienſtleiſtungen genoͤthigt fand, wegzugehen, und be - ſorgt war, dem ſterbenden Vater noch jegliches erquickende und ſtaͤrkende Mittel darzureichen, ſah er ihm aͤngſtlich nach, und647 ſagte einige Male: „ Es geht keines weg! “ So rang der ehr - wuͤrdige Greis mehrere Stunden um ſeine Vollendung, und es war, als wenn fernher Strahlen vom Reiche des Lichts ſein erhabenes Antlitz umleuchteten, und ihm Kraft im Kampfe zu - fuͤhrten. Sah er uns dann trauernd um ſich her ſtehen, und bemerkte er unſer Leiden um ihn, ſo ſagte er: „ Habt Geduld! “ Spaͤter am Vormittage ſah er einen befreundeten Geiſtlichen durch die Thuͤre blicken, den er mit einem freundlichen Blicke begruͤßte, und der an ſein Bett trat, und ſeine Gedanken ausſprach, als: „ Derjenige, der dort am Kreuze litt, hilft Ihnen uͤberwinden! “worauf er erwiederte: „ Ja wohl, daran zweifle ich nicht! “ Und als jener folgende Worte ausgeſprochen:
antwortete er mit: „ Ja und Amen! “
Aber es nahete allgemach der ernſte traurige Augenblick heran. Der weitgefoͤrderte Chriſt ſollte den Kelch der Pruͤfungen gleich ſeinem Erloͤſer, zum herrlichen Glaubenszeugniſſe vor der Welt, bis auf die Hefe trinken. — Und es war die Mitte der heiligen Woche. Mit ſeinem Heilande ging er dem Tode und der Vollen - dung entgegen. Da, ſein von Liebe und Wuͤrde ſtrahlendes Angeſicht ſchauend, konnte man rufen: Tod, wo iſt dein Sta - chel! Hoͤlle, wo iſt dein Sieg! Gott aber ſey Dank, der ihm den Sieg verliehen durch ſeinen Herrn Jeſum Chriſtum! “
Immer ſuchte er uns, das Eine nach dem Andern, mit ſei - nem lieblichen feierlichen Blicke, und rief einmal: „ Haltet an im Gebet! “und wir unterließen es nicht.
Noch einige Male labte ſich ſein lechzender Gaumen durch kuͤhlendes Getraͤnke, bis er zuletzt ſagte: „ Laß gut ſeyn, es geht „ nicht mehr hinunter! “ Mehrmals ſtammelte er in ſeinem krampf - haften Zuſtande Flehensworte zu dem Vollbringer, als: „ Herr ſchneide den Lebensfaden ab! “dann: „ Vater, nimm meinen Geiſt auf! “und jetzt glaubten wir den letzten Athemzug zu hoͤ - ren. Jedoch ſeine ſtarke Natur ermannte ſich noch ein wenig - er bereitete ſich auf den bevorſtehenden Stoß durch eine geſtreckte42 *648Lage, und was er ſonſt fuͤr noͤthig hielt, vor, dann heftete er ſeinen Blick auf die gegenuͤber haͤngend Madonna, und jetzt brach ſich ſein Auge, und er ſchloß es mit aller Gewalt der leiblichen und geiſtigen Staͤrke. Wir aber ſtanden athemlos und hielten an im Gebet; und der Krampf verzog ſchrecklich des Duldenden Zuͤge, Einmal, und zum zweiten Male ſchien es, als wollten boͤſe Geiſter ſeine edle Miene verruͤcken; aber ſiehe da! es tra - ten die edlen Falten des erhabenen Antlitzes in ihre Wuͤrde und Freundlichkeit zuruͤck, die himmliſche Reinheit ſtellte ſich vollkomm - ner dar unſern ſtarrenden Augen; und als um die Mittagszeit die Sonne am freundlichſten ſtrahlte, ſtockte der Athem, und der Chriſt hatte uͤberwunden; der Glaube war ſein Sieg.
Die ſcheidende Seele ließ alle ihre Freundlichkeit, Reinheit und Wuͤrde der leiblichen Huͤlle zuruͤck; dieſe blieb wie von Himmels - ſtrahlen verklaͤrt. Chriſten vom niederſten bis zum hoͤchſten welt - lichen Stande weinten Thraͤnen der tiefſten Wehmuth an dem geliebten Leichname, und baten Gott um gleiche Foͤrderung im Glauben.
Auf Erden iſt Trauer um den vollendeten Wohlthaͤter, Rath - geber, Freund und Vater ohne Gleichen, — Vater Stilling wird bis in die fernſten Lande hin beweint: aber im Himmel iſt unter den Seligen Freude, und ewiger Lobgeſang ſeiner Seele vor Gott.
zugleich Namens der uͤbrigen Kinder des Verſtorbenen.
(Zweite Auflage mit einigen Umaͤnderungen. 1835.)
Wir uͤbergeben Stillings letzte Arbeit, den Anfang des 6. Ban - des von ſeinem Leben, der leider nur zu ſehr Anfang geblieben iſt, dem Publikum und den Freunden ganz ſo, wie er ihn nieder - ſchrieb, in unveraͤnderter Geſtalt. Wir glauben dieſes ſowohl dem Verfaſſer als ſeinen Leſern ſchuldig zu ſeyn, und muͤſſen da - her ſelbſt ein gewiſſes Gefuͤhl der Schicklichkeit verlaͤugnen, in - wiefern von uns in dem Buche geſprochen iſt. Stilling muß in aller ſeiner Offenheit und Redlichkeit, wie er ſich von Anfang ge - geben hat, bis an ſein Ende daſtehen. Wer moͤchte auch an ſei - nem Werke Etwas aͤndern wollen?
Derſelbe Grund beſtimmt uns, ihn in ſeinen letzten Tagen und Lebensſtunden zu zeigen, ſo wie er bis zum Uebergang in ſeine Heimath lebte, dachte und ſprach; und wir ſahen es gerne, daß ſein aͤlteſter Enkel das alles treulich auffaßte, und mit den - jenigen Empfindungen niederſchrieb, die dem Enkel geziemten. Auch hier mußte das kindliche Gemuͤth alles erzaͤhlen, wie es war.
So hielten wir es den Leſern und Freunden Stillings am mei - ſten angenehm, und ſo hielten wir es auch dem Vollendeten und ſeiner Wirkſamkeit angemeſſen. Er ſteht von ſeinem Lebensan -650 fang bis an ſein Lebensende in ſeiner wahren Geſtalt da. Seine Geſchichte weiter zu ſchreiben, als ſeine eigene Erzaͤhlung reicht, hat er, mit allem Recht, unterſagt; und die Sache unterſagt es. Zu ſo Etwas darf nichts Fremdartiges hinzukommen, und Stil - ling war ſo ſehr er ſelbſt, daß Alles, was auch ſeine Vertrau - teſten als Fortſetzung ſchreiben wuͤrden, fremdartig bleiben wuͤrde; oder wie ſeine Tochter Karoline ſich uͤber ein ſolches Verſuchen - wollen ausdruͤckte: „ Das kann Niemand von uns Allen, nur Er konnte in dem Kinderton fortſchreiben, und nur Er ſo mit Kinderaugen die goͤttlichen Fuͤhrungen enthuͤllen: ich wenigſtens koͤnnte nichts beitragen. Die ganze Geſchichte ſeines Alters liegt einem ſchoͤnen himmliſchen Gemaͤlde gleich vor meinem innern Auge, aber ſo wie ich ihm naͤher treten will, Etwas herauszu - holen, fließt es in ein ganzes zuſammen, und ich ziehe mich ehr - furchtsvoll zuruͤck. “
Indeſſen duͤrfen wir chronologiſch die Hauptbegebenheiten an - geben von der Zeit an, wo ſeine Beſchreibung aufhoͤrt.
Der Aufenthalt unſerer Eltern in Baden-Baden, womit die - ſes Fragment endigt, faͤllt in den Sommer 1805.
In dem Fruͤhling 1806 zogen ſie von Heidelberg nach Karls - ruhe. In den folgenden Jahren befanden ſie ſich gewoͤhnlich waͤhrend der Sommerzeit in Baden, wo ſich auch der Hof waͤh - rend der Kurzeit aufzuhalten pflegte. Auch brachten ſie einige - male die Sommermonate bei Freunden zu Bar im Elſaß an den Vogeſen zu, wo die milde Luft ihrer Geſundheit zuſagte.
In dem Jahr 1811 ſtarb den 10. Juni der hoͤchſtſelige Groß - herzog, Karl Friedrich von Baden, dieſer unvergeßliche Fuͤrſt, als gerade unſer Vater auf einer Reiſe abweſend war. Die ausgezeichnete Gnade des verewigten Herrn gegen ſeinen treuer - gebenen Verehrer und Freund erbte auf den erhabenen Thron - folger fort, und nie dachte unſer Vater anders auch an dieſen, als mit tiefem Dank und Segenswunſch.
Mit jedem Jahre wurden die koͤrperlichen Uebel unſern Eltern mehr fuͤhlbar; indeſſen verließ ſie nicht die hohe Chriſtenkraft, und ſomit auch nicht die Heiterkeit, womit ſie ſelbſt in den oft bedenklichen Kriegslaͤuften der Zukunft getroſt entgegen ſahen, und wodurch ihr Kreis von Hohen und Niedern geſucht wurde.
651Im Fruͤhling 1813 beſuchten ſie ihre Kinder in Heidelberg, und gewaͤhrten dieſen, ſo wie nicht wenigen Einwohnern dieſer von ihnen ſo heimathlich geliebten Stadt, feſtliche Stunden und Tage.
Dieſen Beſuch wiederholten ſie im Fruͤhling 1816. Allein ihre damals ſchon voͤllig ſinkende Geſundheit, wo die unguͤnſtige Witterung alle Staͤrkung verſagte, ließen uns keine ſolche Fami - lienfeier mehr hoffen. Nur wenige Stunden des Tags fand ſich der ehrwuͤrdige Greis ſtark genug zur Unterhaltung; dann war er aber noch mit ſeiner herrlichen Kraft fuͤr alle Anweſende, beſonders auch fuͤr die Kinder, der angenehm belehrende Geſell - ſchafter; man fuͤhlte ſich bei ihm in ein hoͤheres Daſeyn gehoben. Als ſie uns verließen, die lieben, frommen Eltern, da ſahen wir ihnen mit Wehmuth nach, dankten aber Gott, daß uns noch dieſe geſegneten Wochen vergoͤnnt geweſen. Auch erhob ſich wie - der einige Hoffnung, als ſie noch im Sommer ihre Kinder in Raſtadt beſuchen konnten, und noch einige Wochen nach Baden gingen. Indeſſen kamen gegen den Winter hin die Krankheits - uͤbel mit doppelter Macht wieder, ſo daß wir ſchon um Chriſt - tag das Hinſcheiden des treuen Elternpaars befuͤrchteten Sie erholten ſich nur Etwas, und nur auf kurze Zeit. Das Weitere ſagt die vorſtehende Beſchreibung.
Seine Reiſen in den letzteren Jahren, die uͤbrigens hier nicht alle angegeben ſind, waren immer zugleich fuͤr Augenkranke wohl - thaͤtig. Noch im letzten Sommer gelangen ſeiner ſchwachen Hand, die aber, wie immer, von ſeiner Glaubensſtaͤrke feſtgehalten wurde, mehrere Staaroperationen. Seit mehreren Jahren ſchrieb er ſie nicht mehr auf, nachdem er uͤber 2000 ſolcher, die gelungen waren, zaͤhlen konnte, nur Wenige waren nicht gelungen; auch ver - dankte ihm eine nicht kleine Anzahl von Blindgebornen das Geſicht.
Selbſt nach ſeinem Tode blieb noch dem Angeſicht ſeine Wuͤrde, und nicht ohne Anmuth. Herr Schmidt der juͤngere in Karls - ruhe hat ihn ſo auf dem Leichenbette mit der Umgebung des haͤus - lichen Heiligthums ſchoͤn gezeichnet, und wir finden den ſeligen Vater in dieſem kleinen Bilde beſſer getroffen, wie in irgend einem von den mehreren Kupferſtichen: daher war es uns erfreulich, daß es die Verlagshandlung als Beilage fuͤr gegenwaͤrtige Schrift von einem geſchaͤtzten Kuͤnſtler ſtechen ließ.
652Nun ſey es erlaubt, noch davon zu reden, wie mir Jung-Stil - lings religioͤſer Charakter waͤhrend unſerer beinahe 30jaͤhrigen Bekanntſchaft erſchienen. Und faſt moͤchte ich das bloß in den wenigen bibliſchen Worten zuſammenfaſſen: Chriſtus hatte in ihm eine Geſtalt gewonnen.
Das konnte man recht eigentlich von dieſem Manne ſagen. Sein ganzes Leben ſagt es in ſeinen Schriften, und mehr noch in ſeiner Art zu wirken und zu ſeyn. Das Chriſtenthum, von ſeiner Kindheit auf ſeiner Seele ſehr beſtimmt und kraͤftig einge - floͤßt, war mit ihm erwachſen, in ſeine Thaͤtigkeit ſo wie in ſeine Denkart uͤbergegangen, und mit ſeinem Alter gereift. Auch war es ſelbſt der Gegenſtand ſeiner Wirkſamkeit geworden; uͤber nichts dachte er lieber, von nichts ſprach er tiefer aus dem Herzen, fuͤr nichts fuͤhlte er ſich innerlich ſo ſehr berufen, als fuͤr das Chri - ſtenthum. Er kannte die Goͤttlichkeit dieſer Religion unmittel - bar, indem ihr Geiſt ihn bis in ſein Innerſtes durchdrungen hatte, und in jeder ſonſt unbedeutend ſcheinenden Entſchließung heraus wirkte, ſo daß ſein Gemuͤth hierdurch jene Tiefe, Fuͤlle und Kraft erhielt, die ſein Leben ſo vielen erbaulich und bewunderns - wuͤrdig machte. Das war die Kraft, die ſeiner Beredſamkeit das Feuer gab, die aus ſeinen Augen leuchtete, uͤber ſein wuͤr - devolles, maͤnnlich ſchoͤnes Angeſicht ſtrahlte, von ſeinem edlen Haupte an in allen Geberden ſeiner anſehnlichen Geſtalt in freier Lebendigkeit, Anſtand und Anmuth verbreitete, den Kreis der Hoͤrenden, ihn immer naͤher herbeiziehend, erheiterte und erhob, welche nah und fern die Herzen gewann, und Hohen wie Nie - deren einen Mann von der liebenswuͤrdigſten Gradheit, wir moͤch - ten ſagen Naivetaͤt zeigte. Man ſah, man hoͤrte, man las ihn und ſagte ſich ſelbſt: das iſt ein Chriſt.
Er hatte eine kraͤftige Natur und eine ſpruͤhende Lebhaftigkeit. Das ſetzte ihn auch ſo manchen ſchweren Kaͤmpfen in ſeinem Juͤnglingsalter aus. Groß war bei ihm die Macht des welt - lichen Sinnes: viel groͤßer die Macht der Religion, und ſchon in ſeinem Knabenalter ſieggewohnt. Seine Seelenreinheit blieb unbefleckt, und darum war ſelbſt ſeine koͤrperliche Reinlichkeit von ſeinem religioͤſen Sinne gehoben; auch ſeine geordnete Diaͤt und Nuͤchternheit hing damit zuſammen. Es lag[gewiſſermaßen]653 etwas Orientaliſches in ſeinem Weſen. Nirgends war er Schwaͤch - ling, jedes ſeiner Worte war Kraft, jeder ſeiner Gedanken ein ſtarkes Kind ſeiner Seele, jedes Bild ſeiner lebenvollen Phan - taſie trat in ſcharfen Umriſſen hervor und war in brennende Farben getaucht; ſelbſt die Handzeichnungen, womit er ſich manchmal in Erholungsſtunden verſuchte, hatten daher etwas Grelles. So nahm er auch nichts leicht. Sein Naturell neigte vielmehr ſich zu einer gewiſſen Schwermuth hin. Daher die Feierlichkeit in ſeinem Weſen, und der oft fuͤr Andere etwas druͤk - kende Ernſt, womit er Dinge aufnahm, uͤber die man wohl leich - ter hinſehen konnte; ihm ſtellte ſich alles, was er vernahm, ſogleich in eine Beziehung auf ſeine Religion. Dieſer feierliche Ernſt war die ſtrengſte Gewiſſenhaftigkeit; eine ſowohl innere als aͤußere Wahrheit, wie ſie uns ſelten genug ſcheint. Eben damit hing ſein Humor zuſammen, wie man ihn bekanntlich an gefuͤhlvollen und großen Seelen manchmal bemerkt. Steht ihnen und ihrem Kreiſe das Wichtige und Heilige feſt, ſo iſt bei ihrem reinen Bewußtſeyn ein leichter Scherz ſeinem Spiel frei - gegeben, und der Geiſt kann ſich auch bei dem kuͤhnſten Contraſt auf das Herz verlaſſen. Dagegen nahm er alles, was die Re - ligion und Sittlichkeit, und wenn auch durch Nebendinge bedrohte, ſehr ernſthaft. Er konnte weder ein unguͤnſtiges Urtheil, noch einen gefaͤhrlichen Scherz uͤber jemand, der ihm von einer guten Seite bekannt war, geſchweige uͤber Freunde, ohne eine zuruͤck - weiſende Gegenerinnerung und, wenn er nichts dagegen ver - mochte, doch mit einem Seufzer anhoͤren.
Nichts entruͤſtete ihn mehr, als das Beſpoͤtteln und Verhoͤhnen, ſelbſt wenn es nicht grade das Heilige angriff: und dagegen welche Milde, womit er Beleidigungen aufnahm, ſelbſt wenn ſie in Grobheit gegen ihn ausbrachen! Dieſer tiefe Ernſt zeigt ſich in ſeiner Wahrheitsliebe bei Religionszweifel von Jugend auf. Sein ganzer Geiſt war alsdann in Bewegung: oft kaͤmpfte er bis auf’s Blut, um ſich Licht und Gewißheit zu erringen. Ja es war, als wenn ein innerer Feind ihm alles Wahre, das ihm heilig blieb, und alles Gute, worin er lebte, von dem Entſtehen an ſtreitig gemacht haͤtte, und ihm, immer neckend, anfocht, und als ob er alles Schritt vor Schritt erringen muͤſſe, um654 hierin ſein treu erkaͤmpftes Eigenthum zu beſitzen. Wie ſein Glaube von Anfang feſt ſtand, davon iſt ſein Stillingsbuch das wahrſte und lauteſte Bekenntniß. So ſtellte ihn ſeine tiefe und kraͤftige Natur in einen fortſiegenden Tugendkampf, und ſo machte ihn die Gotteskraft des Evangeliums zu einem Glaubenshelden, der wohl zehnmal Maͤrtyrer geworden waͤre. Er lebte ſich gleich - ſam in die erſten Zeiten des Chriſtenthums, wo ihn die Verkuͤn - digung des Herrn und die Schmach fuͤr den Herrn zu einem apoſtoliſchen Streiter wuͤrde gemacht haben; weßhalb er auch bei der Apokalypſe, als Siegsgeſchichte des Chriſtenthums, ſo gerne weilte. Ueberhaupt zeigte ſich in ſeinem gewaltigen Geiſtesleben, daß man die Meinung, das Chriſtenthum ſey eine Religion der Schwachen, ſehr falſch verſteht, wenn man nicht hinzu ſetzt: und darum noch mehr der Starken.
Bei ſolchem innern Leben und unter ſolchen Schickſalen — beides verhaͤlt ſich ja bei großen Menſchen zu einander wie die innere Natur eines Planeten zu ſeiner Geſchichte — mußte ihm auch das Chriſtenthum hauptſaͤchlich von der Seite entgegen leuchten, wie ſich daſſelbe bei ſeinem Eintreten in die Welt offen - bart hatte, naͤmlich in ſeinem Kampfe. Hiernach betrachtete er beſtaͤndig die Weltlage, und er aͤußerte manches wegen der Zukunft, das wie ein prophetiſches Wort nach 10 oder 20 Jah - ren nur zu ſehr eintraf. Am ſtaͤrkſten war aber dieſes in Be - ziehung auf ſein eigenes Innere. Wer die menſchliche Suͤnd - haftigkeit mit chriſtlicher Selbſterkenntniß einſieht, kann unmoͤg - lich ſich ſelbſt den Sieg zuſchreiben; er weiß es gar wohl, daß die Kraft von oben kommt. So rief Stilling uͤberall den Bei - ſtand Gottes an, und fuͤhlte lobpreißend die Naͤhe des Herrn. Wir wuͤrden ihn mit einem Auguſtinus vergleichen, wenn er, wie dieſer, von einer laſterhaften Verdorbenheit ſich erſt in ſpaͤ - tern Zeiten loszukaͤmpfen gehabt haͤtte; und wenn ihm nicht das tolle, lege! durch die Froͤmmigkeit, die von ſeinem Kindesalter an mit ihm erwachſen war, waͤre erſpart worden. Ich habe ihm manchmal meine Gedanken geaͤußert, wie jener innere Kampf, womit man in das Gottesreich eintritt, Wiederge - burt genannt, auch als ſtetig in der Zeit ſich entwickelnd ſtatt finden koͤnne, ſo daß von Kindheit auf das innere Leben durch -655 aus freundlich hervordraͤnge, und wie mir eben dieſes das Ziel des Chriſtenthums und der chriſtlichen Erziehung zu ſeyn ſchiene; und ich habe mich gefreut, hierin im Allgemeinen ſeine Zuſtim - mung zu erhalten. Er war keinesweges den bekannten pietiſti - ſchen Vorſtellungen hold, ob er gleich in der Bekehrungsgeſchichte einzelner Menſchen ſolche Silberblicke der Entſcheidung annahm. Doch ganz iſt er nie in meine Idee eingegangen; die ſeinige neigte ſich immer mehr einem ſtrengen, als einem freundlichen Anfang des goͤttlichen Lebens zu. Daß er uͤbrigens ein abgeſagter Feind von Phariſaͤismus, und beſonders von dem Duͤnkel der From - men oder vielmehr der Froͤmmlinge war, iſt ſchon aus ſeinen Schriften, und ſelbſt aus Verfolgungen, die er deßhalb in fruͤ - heren Jahren zu erleiden hatte, bekannt. Das lag auch zu ſehr in der Wahrheit ſeines ganzen Weſens. Niemand war mehr von jeder Art von Affection entfernt, als er. Seine Ueberzeu - gung, daß der Fromme es nur durch die richtigſte Demuth ſey, ſtand in ſeinem Innerſten feſt, und bewies ſich, ſchon ohne ſein Wiſſen, in allen ſeinen Aeußerungen. Gegen Niemand war er in ſeinen Forderungen ſo ſtrenge, als gegen ſich ſelbſt; und machte ihm ſein leiſes ſittliches Gefuͤhl auch nur einigen Vorwurf, ſo konnte ihn das ſo beunruhigen, daß er ſelbſt koͤrperlich dabei litt.
Solche Wahrheit und Lauterkeit war ſein Weſen. Sein zu - verſichtliches Beten, ſein unermuͤdetes Arbeiten, ſein unerſchoͤpf - liches Wohlthun, ſein geſelliges Unterhalten, ſein freundliches Entgegenkommen, alles war der Erguß ſeines Gott geweiheten Gemuͤths. An ihm konnte man ſo recht ſehen, wie die Religion die ganze Natur des Menſchen durchdringt und alle ſeine Eigen - thuͤmlichkeiten aufſucht, um ihn ganz, ſo wie er gerade dieſer Menſch iſt, zu veredeln. Andere Anlagen, andere Erziehung, andere Verhaͤltniſſe: und die Froͤmmigkeit wo ſie wahrhaft im Herzen iſt, hat eine ganz andere Geſtalt, und ſoll ſie haben, als ſie bei Jung-Stilling hatte. Sie war aus ſeinem Innerſten er - wachſen und in ſein Weſen eingefloſſen, er war mit ihr ganz Eins. So entquoll auch alles, was er darin ſprach und ſchrieb, frei aus dem Herzen, und ſein Geiſt gab allem ſein eigenes Gepraͤge. Naivetaͤt, Originalitaͤt, Genialitaͤt, wie man dergleichen mit frem - den Worten zu nennen pflegt, moͤchte man hier gerne mit deut -656 ſchen Worten bezeichneu, weil es ſo deutſch auch in ſeinen reli - gioͤſen Geſpraͤchen erſchien. Dieſe Staͤrke ſeines reichen Geiſtes verlieh ihm jene ungemeine Beredtſamkeit, die ſchon in kleinen Un - terhaltungen ſeine Geſellſchaft ſo angenehm machte, und wirklich die Herzen zu ihm hinriß. Denn Froͤmmigkeit, in Menſchenliebe gebildet, zieht faſt unwiderſtehlich an. Es iſt wohl mehr als ein - mal der Fall geweſen, daß Leute mit einem Vorurtheil gegen Jung, ja ſelbſt mit einem zuruͤckgehaltenen Spott in ſeine Naͤhe kamen, und mit welchen ganz andern Gefuͤhlen verließen ſie ihn! Manchem war da ein Licht aufgegangen, und mancher druͤckte ihm mit ſtiller Abbitte und redender Hochachtung die Hand. Hohe und Niedere, Menſchen jeden Standes und jeder Stufe von Bil - dung erfreuten ſich in ſeinem Umgang. Er war ein Kraftmann, und das Chriſtenthum hatte in ihm gerade diejenige herrliche Ge - ſtalt gewonnen, wie ſie dieſem Manne entſprach.
Auch hatte Jung eine ganz eigene perſoͤnliche Zuneigung zu dem Erloͤſer. Ich bin uͤberzeugt, daß in ſeiner Phantaſie ein ſcharf gezeichnetes und lebendig ausgemaltes Bild von Chriſtus ſtand, welches aus ſeinem innerſten Weſen als ſein hoͤchſtes Ideal hervorgegangen war, in welchem er die Gottheit ſchaute, und an den er ſich im Gebete wandte; ſein himmliſcher Freund, mit welchem er in taͤglichem und in dem vertrauteſten Umgange ſtand. Wie ein Evangeliſt Johannes das Bild aus der hellen Wirklich - keit in ſich trug, ſo daß er wohl wußte, was er mit den Wor - ten ſagte: „ Und wir ſahen ſeine Herrlichkeit als die Herrlichkeit „ des eingebornen Sohnes vom Vater, “und wie ein Apoſtel Pau - lus ihn ſo im Geiſte ſchauete, daß er ſagen konnte: „ Ich lebe, „ doch nun nicht ich, ſondern Chriſtus lebt in mir; “ſo ſtand ein Nachbild in der Seele jenes aͤchten Chriſten, der ſeit der letz - ten Haͤlfte des 18. Jahrhunderts in frommen Betrachtungen heran - gereift war, es ſtand in ihm nach ſeiner eigenthuͤmlichen Beſchaf - fenheit geſtaltet. Der Gekreuzigte war es, auf den ſeine Seele immer hinſchaute.
Eben dieſe ſehr beſtimmten Vorſtellungen befreundeten ihn mit der Bruͤdergemeinde noch beſonders, außer dem allgemeinen Weſen einer tiefchriſtlichen Denkart; doch befreundete es ihn auch nur, und er war weder aͤußerlich noch innerlich dieſer von657 ihm mit Recht hochgeachteten und geliebten Geſellſchaft angehoͤ - rig. Sein Chriſtus war der Welterloͤſer, fuͤr welchen er jeden Augenblick in den Tod gegangen waͤre, wie man fuͤr Vater, Freund und Herrn in den Tod geht; aber er ſtand ihm ſo vor, wie gerade nicht dieſem oder jenem andern Chriſtusjuͤnger, und ſo kann man auch in dieſer Hinſicht ſagen, Chriſtus hatte in ihm eine Geſtalt gewonnen.
War jemand geeignet, Sectenſtifter zu werden, ſo war es Jung, und manchmal haben ihm Schwaͤrmer ſo was angeſonnen, weil ſie in ſeiner Geiſtesmacht viel fuͤr ſich hofften, aber auch viel wider ſich fuͤrchteten. Aber nur zum letzten hatten ſie Grund, denn er wies alle ab, ſobald er ſie als Schwaͤrmer erkannte; auch vermochten ſie etwa nur eine Zeit lang den argloſen Stil - ling zu taͤuſchen. Oft entlarvte er ſie, und dadurch zog er ſich beſonders in ſeinen juͤngern Jahren Feindſchaft und ſogar Ver - folgung zu. Eins ſeiner fruͤhern Buͤcher: Theobald oder die Schwaͤrmer, das fuͤr die Kirchengeſchichte der zweiten Haͤlfte des achtzehnten Jahrhunderts wichtig iſt, beweiſet das ſehr entſchieden. Man muß ſtaunen, wenn man die Kraft ſieht, womit er ſich auch durch jene Gefahren hindurchgekaͤmpft hat, und daß er, ſo wie ſeinem einigen Herrn und Heiland, ſo auch ſeiner vaͤterlichen Kirche treu verblieben, und das alles mit der freieſten Selbſtbeſtimmung. Auch ſein Werk: das Heimweh, legt dieſes alles dar. Aber es iſt recht zu bedauern, daß man gerade hierin den geiſtvollen Mann ſo groͤblich mißverſtanden hat. Wollte ja ſogar boͤſe Leumuth noch in neuern Zeiten ihm Secti - rerei ſchuld geben. Davon war er unendlich entfernt.
Mit gleichem Recht, oder vielmehr Unrecht, haͤtte man ihn des Indifferentismus zeihen koͤnnen. Denn jeder glaubige Chriſt, der auch nicht ſeiner reformirten Confeſſion zugehoͤrte, war ihm ein guter Chriſt, und er befreundete ſich mit ihm bis zur Bruͤder - lichkeit, ſobald er ſich nur in der Liebe zu Jeſus Chriſtus mit ihm verbunden fuͤhlte. Wie manche edle Seele von der roͤmiſch - und von der griechiſch-katholiſchen Kirchenpartei ſtand mit ihm im religioͤſen Herzensverein! Es gab auch Juden, die er fuͤr Gottes - fuͤrchtige und von der Seligkeit nicht ausgeſchloſſen hielt, und denen er es nicht einmal anſann, das Chriſtenthum anzunehmen. 658Kurz in der liberalen Geſinnung gegen andere Glaubensge - noſſen konnte Stilling fuͤr manche orthodoxe, und ſelbſt fuͤr nicht wenige heterodoxe und die Toleranz im Munde fuͤhrende Theologen ein Muſter ſeyn. Manche engſinnige Menſchen und Froͤmmlinge waren deßhalb uͤbel genug auf ihn zu ſprechen. Als ihm vor einigen Jahren das Anſinnen in einer Schrift gemacht wurde, katholiſch zu werden, ſo regte das ſeinen ganzen Unwillen auf, den er in einer Gegenſchrift ausſprach. Er ſtand zu tief im Weſen des Chriſtenthums, als daß er auf die aͤußere Form mehr Werth haͤtte legen ſollen, als ſie verdient. Iſt doch die freundliche Beur - theilung anderer Religionsmeinungen gewoͤhnlich das Zeichen aͤchter Religioſitaͤt.
Nur gegen Meinungen, die den weſentlichen Lehren des Chri - ſtenthums ſeiner Anſicht nach droheten, war er unerbittlich ſtrenge, wenn ſie oͤffentlich auftraten. Er entwarf ſich auch da manchmal ein allzugrelles Bild von einem Gegner, ſo daß er ungerecht wer - den konnte. Mehrmals hielt ich es daher fuͤr Pflicht, ihm dieſes zu bemerken, das ſtimmte ihn auch wohl zu milderen Geſinnun - gen; aber ich mußte auch dann die ſeinige hochachten, wenn wir verſchiedener Meinung blieben, denn die ſeinige hing mit dem heiligen Ernſt zuſammen, womit er fuͤr die Wahrheit ſtritt, wie ſie einmal bei ihm feſtſtand; und ich kannte auch ſeine Selbſt - verlaͤugnung, womit er ſeine eigne Meinung aufgab, ſobald er nur die Wahrheit wirklich auf der Seite des Andern ſah. Ge - meiniglich wirkten erſt ſpaͤterhin dergleichen Erinnerungen, nach - dem er alles in ſeinem feſt zuſammenhaͤngenden Syſteme damit verglichen hatte. Uebrigens war er jederzeit bereit, auch dem bitterſten Gegner als Menſch zu helfen, wo er nur konnte. In der perſoͤnlichen Unterhaltung wurde er leicht der Freund deſſen, den er aus der Ferne unguͤnſtig angeſehen hatte; alles dieſes aus demſelben Herzensgrunde. Von dem Religionslehrer verlangte er mit unerbittlicher Strenge, daß er das Evangelium verkuͤndige, und daß er ſelbſt daran glaube; das erſtere, weil er dazu beru - fen, das zweite, weil er ſonſt ein Heuchler ſey.
Jung-Stilling war keineswegs in Allem ſtreng orthodox, auch konnte er es recht gut ſehen, daß Andere in kirchlichen Lehren verſchieden dachten, wenn ſie nur evangeliſch waren, und es mit659 dem Reiche Chriſti redlich meinten. Viele Geiſtliche gehoͤrten zu ſeinen Freunden; wie war es aber anders moͤglich, als daß nicht jeder mit ihm, der ſo individuelle Anſichten hatte, uͤbereinſtimmte? Dennoch hielt er auch auf ſolche viel, und hoͤrte wohl ihre Pre - digten gerne. Mein Verhaͤltniß mit ihm war von Anfang an von dieſer Art. Ich war erſt 23 Jahre alt, da ich ihn kennen lernte, war noch einigermaßen in der Wolfiſchen, mehr noch in der Kantiſchen Philoſophie begriffen, und gab ihm eben nicht gerne nach. Wir ſprachen uns frei gegen einander aus, und gerade ſo ſchenkte er mir ſeine Freundſchaft; damals waren die Verhaͤlt - niſſe ſo, daß uns beiden noch kein Gedanke unſerer nachmaligen Familienverbindung kommen konnte. Auch ich hatte Vorurtheile gegen ihn, und habe ſie nicht ſo leichter Hand aufgegeben; und er wußte, daß wir in manchen Lehrmeinungen nicht uͤbereinkom - men wuͤrden; demungeachtet wuchs unſere Freundſchaft ſowohl von Seiten des Geiſtes, als des Herzens; er wollte mich keines - wegs in ſeine Anſichten hinuͤberziehen, nachdem er ſich nur ſo weit uͤberzeugt hatte, daß mir das bibliſch-evangeliſche Chriſten - thum am Herzen liege: und ich fand in ihm von den Jahren ſeiner bluͤhendſten Wirkſamkeit an bis in ſein hohes Alter immer mehr den hochherzigen Mann, die Geiſtesgroͤße und das Chriſten - gemuͤth, das mir eine herrliche Welt aufgeſchloſſen hat. Ich danke Gott fuͤr dieſe Lebenswohlthat. Denn was es heißt, in ein ſolches Gemuͤth einzuſchauen, das haben viele, die in Bekannt - ſchaft mit ihm kamen, wohl erfahren. Was mir ſchon in fruͤher Jugend als das Weſen aͤchter Froͤmmigkeit in geachteten Perſo - nen, in ihrem Leben ſelbſt erſchienen war, und was mir Schrif - ten und Studien ausbilden halfen, fand ich in dieſem Manne ſo klar vor mir ſtehen, daß mein Ideal unendlich dadurch ge - wann, und ſelbſt ſeine menſchlichen Schwaͤchen mir immer augen - blicklich gegen jene wahre und hohe Kraft ſchwanden. Darum folgt ihm mein Dank in die Ewigkeit. Und ſo iſt es gewiß bei nicht wenigen ſeiner Freunde der Fall. Wenn man den Edlen wirklich kannte, ſo aͤrgerte man ſich daher doch nur im Anfang uͤber die beſchraͤnkten und feindſeligen Beurtheilungen, die in oͤffentlichen Blaͤttern uͤber ihn ergingen; bald aber aͤrgerte man ſich nicht mehr, ſondern bedauerte nur dieſe Leute, die uͤber einen660 Mann urtheilten, deſſen Hoͤhe ſie freilich nicht aus ſich ſelbſt zu wuͤrdigen vermochten.
Er hatte allerdings auch ſeine Schwaͤchen, denn er war Menſch, und auch bei der Groͤße gibt es Schwaͤchen. Dem Sohne ziemt es nicht, den Vater zu tadeln, waͤre ich aber ein Fremder, ſo wuͤrde ich vielleicht das, was mir an ihm tadelnswerth erſchienen, aufſtellen, und ich bin uͤberzeugt, daß uͤber dieſes alles hin ſeine Trefflichkeit nur heller[h]ervorglaͤnzen werde. Doch wird es mir erlaubt ſeyn, einiges anzufuͤhren, um zu zeigen, wie leicht ſol - cher Tadel uͤbertrieben ſey. Er ließ ſich von den Menſchen ein - nehmen, ſobald ſie ihm nur eine religioͤſe Seite darboten. So oft er ſich nun auch ſo an Menſchen getaͤuſcht ſah, und dieſes hoͤchſt ſchmerzlich empfand, ſo wollte er doch einmal ſchlechter - dings nicht mißtrauiſch gegen Menſchen werden, und lieber haͤtte er ſich, wie unſer Erloͤſer, einen Judaskuß gefallen laſſen, als das Vertrauen nicht etwa zu einem Menſchen, ſondern zu dem Guten in dem Menſchen aufgegeben. Nie ſah ich ihn in ſchwe - rerem Kampfe, als wenn jemand ihn endlich ſelbſt noͤthigte, die - ſes Vertrauen ihm zu entziehen. „ Huͤtet Euch vor dem Richten! “war gewoͤhnlich das Wort, womit er Warnungen der Art ſeinen Freunden beantwortete. Geſtehen muß ich dabei, daß er wirk - lich manchmal Recht behielt, und daß er auch mir oͤfters eine gute Seite an jemand zeigte, die ich im Unwillen uͤberſehen hatte. Der Weltmenſch wird ſich freilich nicht ſo leicht taͤuſchen laſſen, denn er kennt die Vielfachheit und Durchtriebenheit der Men - ſchen recht gut. Wer aber in edler Einfalt in den Menſchen gerne Gottes Kinder ſieht, muͤßte uͤber alle Eitelkeit erhaben ſeyn, wenn er jenen hohen Zug der Religion in ihrer hoͤchſten Vollkommen - heit beſitzen wollte, die Menſchen zu durchſchauen, ohne den Glau - ben an ihr Beſſeres zu verlieren; er muͤßte dem Heiligen des Evangeliums ganz nahe ſtehen. Fand er endlich unwiderlegbar jemand ſchlechter, als er es ihm zugetraut, und konnte ſeine uner - muͤdete Lehrhaftigkeit nichts bei ihm bewirken, ſo gehoͤrte der - ſelbe freilich nicht mehr in den Kreis ſeiner Freunde, und ſeine Liebe trauerte um ihn mehr, als wenn er geſtorben waͤre.
Stillings haͤusliches Leben iſt aus ſeinen eigenen Schilderun - gen bekannt; aber nur die Hausfreunde ſahen es ſo, wie es661 ganz verdiente bekannt zu ſeyn. Denn auch in ſeinem Hauſe waltete der Geiſt dieſes gottſeligen, aber kaͤmpfenden Hausvaters, und nicht blos ſein Arbeitszimmer war einem ſtillen Tempel zu vergleichen, ſondern alle Perſonen, die zu ſeinem Hausweſen ge - hoͤrten, fuͤhlten ſich durch eine Liebe hoͤherer Art vereinigt. Da war nichts weniger als Kopfhaͤngerei, durchaus kein froͤmmeln - des Weſen; vielmehr ſah der Vater gerne alles munter um ſich her, und war, trotz ſeiner Anwandlungen zur Schwermuth, doch leicht zum Frohſinne geſtimmt, ja er wußte oft ſelbſt zur Freude zu ſtimmen. So war es an ſeinem Tiſche, ſo war es in den haͤufigen Abendgeſellſchaften, die ſich bei ihm einfanden, und wo unter jung und alt die ſchoͤnſte geſellige Freude herrſchte; noch in ſeinem hohen Alter war er ſo ſeelenvergnuͤgt, wenn er den tanzenden Reihen ſeiner Enkel und anderer jungen Leute zuſah, wie er es war, wenn er die Seinigen muſiciren hoͤrte, oder ſelbſt am Klavier einen chriſtlichen Choral mit ihnen anſtimmte. Ein liebevoller Geiſt war es, der jeden in dieſem Hauſe anwehte, wer nur eintrat, und welcher die, welche darin lebten, feſſelte, welcher daher auch auf das Geſinde uͤberging. Man hoͤrte da nie ein unfreundliches Wort, und die Maͤgde dienten mit einer Liebe und Treue, als waͤren ſie Toͤchter des Hauſes; man ſah recht, wie es nur eines chriſtlichen Hausweſens bedarf, um den vielen Klagen uͤber das Geſinde zu begegnen, und daſſelbe nicht etwa zu uͤberbilden, ſondern in ſeinem Dienen zu veredeln.
Derſelbe chriſtliche Sinn war es auch, welcher unſern Vater in der Wahl ſeiner Gattinnen ſo gluͤcklich geleitet hatte, daß er mit jeder in einer wahrhaft chriſtlichen Ehe lebte. Seine erſte Gattin, die fromme Chriſtine, welche ein fruͤhes Opfer ihrer haͤus - lichen Thaͤtigkeit in jener bedraͤngten Lage geworden war, nannte ihn nur „ ihren Engel und ihr Alles. “ Seine zweite Gattin, die geiſtreiche Selma, welche ihm eine neue Welt in ihrem herrlichen Gemuͤth eroͤffnete, und welche, waͤhrend ſie ſeine oͤkonomiſchen Umſtaͤnde verbeſſern konnte, ſeinen religioͤſen Sinn gleichſam in die Welt einfuͤhrte, und ſein ganzes Leben bereicherte und ver - ſchoͤnerte, verehrte in ihm zugleich den Freund fuͤr den Himmel. Und endlich ſeine Lebens - und Sterbensgefaͤhrtin Eliſe ſetzte waͤh -Stillings ſämmtl. Schriften. I. Band. 43662rend ihrer laͤngern Ehe Stillings haͤuslichem Leben die Krone auf. Wie viel verdankte ſie ihm, die fromme Dulderin! wie viel er ihr! Beide waren ganz in ihrem Chriſtenthume Eins ge - worden, die Seelenſtaͤrke ihres Gatten war nun auch die ihrige; durch ihr unendlich liebevolles Weſen leuchtete ſie als die milde Sonne in dem Hauſe; ſie uͤbernahm den Theil der Erziehung der Kinder, wozu er ſich ſeiner Natur und ſeinem Bekenntniß nach unfaͤhig fuͤhlte, und die Kinder der drei Ehen waren um die Mutter her, als waͤren ſie Einer zugehoͤrig, das Wort Stief - kind hatte fuͤr keines derſelben einen Sinn. Und ſo koͤnnten wir Kinder ſaͤmmtlich vieles aus uͤberfließendem Herzen ſagen, das in aller Beziehung zeigen wuͤrde, was es heißt, ein chriſtliches Ehepaar. Es iſt eine tiefe Wahrheit in den Worten: der Mann wird durch das Weib, und das Weib durch den Mann geheiligt. Aber Kraft und Staͤrkung in dem Chriſtenthume ſoll von dem Hausvater auf ſolche Art ausgehen, wie es hier der Fall war.
Wir muͤſſen hierbei noch eines Punktes erwaͤhnen, worin wohl manchmal unſerm Vater laute und ſtille Vorwuͤrfe gemacht wurden, das iſt ſein Grundſatz, womit er ſeine aͤußerlichen Ver - moͤgensumſtaͤnde ſo ganz der Vorſehung uͤberließ. Denn, ſagte man, das iſt Schwaͤrmerei! oder auch: das iſt ein Unrecht gegen die Seinigen! Wir wuͤrden jedes Wort fuͤr verloren halten, wenn wir ſolchen moraliſirenden Buchſtaͤblern antworten wollten, die ſich mit ſogenannten allgemeinen Maximen abmuͤhen, weil ſie nicht zu der Idee, welche in dem Lebensganzen eines Men - ſchen ausgeſprochen iſt, hinaufzuſteigen im Stande ſind. Nur den Freunden, welche hierin mit unſerm Vater nicht ganz im Klaren ſind, wollen wir es ſagen, daß er ſehr lebendig das Be - wußtſeyn von ſeiner Lebensbeſtimmung in ſich trug, damit ſie auch ihm das Urtheil zukommen laſſen, was uͤberall großen See - len gebuͤhrt. Denn ſolche haben ihren eigenen Gang, und wo iſt es je auch etwa irgend einem großen Geſchichtſchreiber einge - fallen, ſolche Menſchen darum Schwaͤrmer zu nennen, weil ſie die geheimnißvolle Zuſage der aͤußern Erfolge zu ihrem innern Berufe in tiefſter Ueberzeugung in ſich trugen? Laͤßt man doch ſelbſt einem Julius Caͤſar in ſeinem Kahne Gerechtigkeit wieder - fahren! Der glaubige Chriſt Jung-Stilling wußte wohl, warum663 er an ſeine Gebetserhoͤrungen glaubte und nur er verſtand ſich hierin ſelbſt, und die Bedingungen, unter welchen er daran glauben durfte. Auch laͤßt ſich ſeine Lage mit der eines Geiſtli - chen vergleichen, welcher von allen Seiten zur Zeit der Noth angegangen wird, um zu helfen, und der, chriſtlich wie er iſt, lieber ſelbſt darbt, als Herz und Hand verſchließt.
Geldgedanken lagen einem Stilling am entfernteſten unter allen, dieſes Gift des geiſtigen Lebens, das in die ſchoͤnſten Ideen zerſtoͤrend einfließt. Wer das geheime Maͤrtyrerthum kennt, worin diejenigen leiden, welche des Geiſtes Geſchaͤfte treiben, und durch Nahrungsſorgen unterbrochen werden, mag es einem Stilling hoch anrechnen, daß er ſich mit ſeiner Chriſtenkraft uͤber das Plus und Minus und die leidigen Zahlbegriffe erhob, und ungeſtoͤrt in ſeinem groͤßeren Berufe fortwirkte. Darum verließ ihn auch die Vorſehung nicht. Sie erweckte ihm Freunde, die ebenfalls groß dachten, und ſich in reicherem oder hoͤherem Stande befanden, die es ihm dann moͤglich machten, ſeinem wahren Berufe ganz und freudig zu leben, und der vielfache Wohlthaͤter von Vielen zu ſeyn. Nahm er von hundert Augenkuren nichts, ſo gab es unter den dankbaren Seelen, welchen er des Leibes Auge wieder gluͤcklich geoͤffnet, auch manche, die mit irdiſchen Guͤtern geſegnet waren, und die durch ihre freiwilligen Geſchenke ihn in den Stand ſetzten, Andern wieder auf mehrfache Weiſe zu helfen. Dank Euch, Ihr Edlen, nah und fern, die Ihr ent - weder noch hienieden, oder ſchon droben die Fruͤchte Eurer Werke genießet!
Stillings Ehegattinnen ſtimmten auch ganz in ſeine Wohl - thaͤtigkeit ein, und ſo war es nichts Geringes fuͤr ſeine letztere, daß ſich bei ſeinen vermehrten Geſchaͤften die Huͤlfsbeduͤrftigen oft an ſie zunaͤchſt wendeten. Ihr Herz kannte keine Graͤnzen im Wohlthun, aber ſtrenge gebietend ſetzten ſich dann die haͤus - lichen Umſtaͤnde entgegen. Hierzu kam nun ihre natuͤrliche Sorg - lichkeit, und das machte dann ihr ſowohl als ihrem Manne nicht wenig Noth, bis ſie es endlich durch ſein ernſtes Zureden und ihre liebevolle Achtung gegen ihn, zu einer frommen Ergebung ſelbſt ſo weit brachte, daß ein Blick auf ihre Chriſtenſtaͤrke auch ihn wiederum ſtaͤrkte. So geſchah es, daß ſie einer Klippe ent -43 *664ging, woran ſonſt gerade ſolche Frauen von zaͤrterem Sinne leicht ſcheitern, indem ſie in Schwerſinn verſinken, oder ein muͤrriſches Weſen annehmen, oder, welches oft noch ſchlimmer wirkt, durch ſtumme Klagen ſich und die Ihrigen nur quaͤlen. Man bedenke, wenn ein Stilling eine ſolche Gattin gehabt haͤtte! Wenigſtens waͤre er vor der Zeit geſtorben. Aber er hatte ſich auch die treue Gehuͤlfin dadurch geiſtig erworben, daß er nicht etwa ihre Schwaͤ - chen allzu nachgiebig ertrug, ſondern bei ihrem mehr als 20jaͤh - rigen Koͤrperleiden ſie mit Gruͤnden des Chriſtenthums kraͤftigte, ihre Selbſtverlaͤugnung unterſtuͤtzte, und ſo zu veredeln wußte, daß ſie als eine der edelſten Frauen anerkannt worden. Die Seelenfreundſchaft dieſes Ehepaars war eine Vereinigung fuͤr die Ewigkeit, und ſie konnte ſich fuͤr die Erde nicht ſchoͤner vollenden, als daß ſie bei der nur anſcheinenden Trennung Hand in Hand in jene Heimath hinuͤbergingen, wie er ſelbſt 27 Jahre vorher ahn - dungsvoll als frommer Saͤnger an ſeinem Trauungstage geſun - gen hatte. Nie werde ich auch vergeſſen, wie ſich beide — es war ein Vierteljahr vor ihrem Tode — uͤber dieſen gemeinſamen Uebergang in die Ewigkeit unterhielten. Das war eine Heiter - keit, womit ſie daruͤber ſprachen, wie ſie wohl ſonſt von einer vor - genommenen Reiſe redeten. Wir Kinder konnten dabei kaum traurig werden; die lieben Eltern freuten ſich auf die Reiſe, denn ſie wußten, daß der himmliſche Vater ſie abrufe.
Bei dieſem chriſtlichen Hausſtande konnte es nicht am Segen fehlen. Alles war in einem einfachen, aber wohlgeordneten Wohl - ſtand, und mitten unter den Lebensſorgen wußten unſere Eltern doch alles das ſehr ſchicklich bei ihrer ausgebreiteten Bekanntſchaft und Gaſtfreundſchaft zu beobachten, was dieſe erforderte. Die Kinder erhielten alles, was zur guten Erziehung gehoͤrt; ſie ſind nun faſt alle verſorgt, und die Eltern ſind niemanden etwas ſchuldig geblieben, was bezahlbar iſt. Dank ihrer treuen Fuͤrſorge! Ja wir ſind uͤberzeugt, daß es kein Unrecht der Eltern iſt, wenn ſie den Kindern kein Geld und Gut hinterlaſſen, ſondern viel - mehr oft ein großes Unrecht, wenn ſie das fuͤr ſie ſammeln, was den Goͤtzendienſt der Welt beguͤnſtigt. Moͤge der Segen dieſer Eltern ſo auf ihren Kindern ruhen, daß keines ihrer unwuͤrdig ſey! „ Sind wir doch ſo reich, “ſchreibt die zweite Tochter an665 die aͤlteſte, „ ſolche fromme Eltern und Vorfahren gehabt zu ha - „ ben, wer moͤchte mit anderm Reichthum tauſchen! “— Und die aͤlteſte ſchrieb dieſer: „ Wo ſind nun, wenn ich zu Euch „ komme, die Edlen, denen wir alles zu danken haben? wo der „ Engelsvater, bei deſſen Anblick man vor Ehrfurcht niederſinken „ mochte, in deſſen Naͤhe man ſo tief das Gluͤck fuͤhlte, ſein Kind „ zu ſeyn? Ach, und die reine, liebe Mutter mit ihrer Sorge „ und Zaͤrtlichkeit! Die leidende Engelsſeele! wo ſoll ich ſie ſuchen?
Daß in den letztern Baͤnden der Stillingsgeſchichte das Per - ſoͤnliche, welches ſeine Familie betrifft, weggeblieben waͤre, moͤch - ten wir wohl wuͤnſchen; auch moͤchte ſonſt manches auf einem fremden Standpunkte zu kleinlich erſcheinen. Man bedenke aber, daß dem Verfaſſer nichts zu klein war, was ihm zum Bekennt - niß ſeines Glaubens an die allergenaueſte Vorſehung diente, weil er wohl wußte, wie in ihrem Gange uͤberhaupt nichts klein ſey. Und wer mag jene Kindlichkeit und Offenheit tadeln, welche nur in die ſpaͤtern Verhaͤltniſſe nicht mehr paſſen wollte, aber deſto mehr den klaſſiſchen Werth der erſten Theile jenes Buches erhoͤht! Es war des großen Dichters unſerer Nation nicht unwerth, daß er das Werk zuerſt zum Druck befoͤrdert hat. Auch wir Kinder Stillings danken Goͤthe dafuͤr, wie wir uͤberhaupt ſein edles Herz in allem erkennen, was er ſchon als akademiſcher Freund unſerem Vater geweſen, wofuͤr unſer Dankgefuͤhl nie erſterben wird. In ihrer Richtung waren dieſe beiden Geiſter ſehr ver - ſchieden, aber ſie blieben auch im Alter, und gewiſſermaßen im Stillen, Freunde. Goͤthe hat ſich in dem Buche, das aus ſei - nem Leben erzaͤhlt, auf eine Art uͤber Jung erklaͤrt, welche die - ſen ungemein gefreut hat; und geruͤhrt hat er ihn durch den Be - ſuch, welchen er dem alten Freund noch im Jahre 1815 in Karlsruhe abſtattete. Leider mußte durch eine ungluͤckliche Fuͤ - gung kleiner aͤußerer Umſtaͤnde unſer Vater gerade an dieſem Tage wegreiſen, er ſprach nach der langen Reihe von Jahren den Jugendfreund kaum eine halbe Stunde. Es war dem Va - ter und den Seinigen ſehr ſchmerzlich, daß ein laͤngeres Zuſam - menſeyn, das er ſelbſt ſo ſehr gewuͤnſcht hatte, nun gaͤnzlich ver - eitelt war. Nie haben wir ihn anders, als mit geruͤhrtem Her - zen und großer Hochachtung von dieſem Freunde ſprechen hoͤren. 666Ueberhaupt verlor ſein treues Gemuͤth keinen bewaͤhrten Freund auch aus der fruͤhern Zeit.
Jung-Stilling hatte das Gluͤck, bei einer ſo ausgebreiteten Bekanntſchaft, wie ſie nicht leicht ein Gelehrter findet, auch viele vertraute Freunde zu beſitzen, mit welchen er im muͤndlichen und ſchriftlichen Umgang lebte. Schon ſeine gelehrte Laufbahn, wo er in Zweigen der Kameraliſtik als Schoͤpfer von immer noch geſchaͤtzten Syſtemen auftrat, und uͤberhaupt ſein genialer Geiſt hatte ihm viel Anſehen, manche perſoͤnliche Verbindung und eine große Korreſpondenz erworben. Wie mancher ausge - zeichnete Staatsmann war ſein Zuhoͤrer, und ſchaͤtzt immer noch dieſen Lehrer? Wir koͤnnten auch der Hochachtung erwaͤhnen, welche ihm ein Kant in einem Briefe bewies, worin ihm der - ſelbe uͤber einige Fragen, die Anwendung ſeiner philoſophiſchen Grundſaͤtze theils auf kameraliſtiſche Gegenſtaͤnde, theils auf das Chriſtenthum betreffend, ausfuͤhrlich antwortet, und es dieſer große Philoſoph mit voller Zuſtimmung billigt, daß Jung ſeine Beruhigung im Evangelium ſuche. Doch hier iſt nicht der Ort zu allem dieſem. Wir wollen nur hierbei denjenigen dieſer Freunde, die etwa noch leben, unſern Dank laut verſichern, daß ſie auch in ſolchen Verhaͤltniſſen unſerm Vater Freundlichkeit bewieſen haben.
Vornehmlich aber war es ſeine religioͤſe Schriftſtellerei und ſein ausgezeichneter Chriſtusglaube, was ihm viele Gemuͤths - freunde nah und fern erwarb. In faſt allen europaͤiſchen Laͤn - dern, auf dem Lande und in den Hauptſtaͤdten, in beiden In - dien, in dem Hottentottenlande, im weiten Aſien und auf Ota - heiti wurde ſeiner mit Liebe gedacht, wurde fuͤr ihn gebetet; — o, es war etwas Großartiges, zu hoͤren, wie bei ihm oft aus den entlegenſten Gegenden der Erde zugleich Nachrichten vom Reiche Gottes einliefen, wie das Chriſtenthum eine ſo ſchoͤne Ge - meinſchaft der Geiſter unter den verſchiedenſten Voͤlkern unter - hielt, wie er von ſeiner Seite alles dazu beizutragen ſuchte, und ſich in dieſem ſo ſeltenen und großen Wirkungskreiſe nur mit Demuth gluͤcklich fuͤhlte! Ich bin uͤberzeugt, daß er mit einem apoſtoliſchen Geiſte aller dieſer chriſtlichen Freunde, und ſo be - ſonders auch der chriſtlichen Miſſionsgeſchaͤfte in ſeinem taͤglichen Gebete gedacht hat.
667Wer ihm auch in geheimen Angelegenheiten ſein Vertrauen geſchenkt hat, wird es, waͤhrend Jung-Stilling lebte, nicht bereut haben. Niemand braucht auch nach dieſes Freundes Tode zu beſorgen, daß ſeine Geheimniſſe unbewahrt blieben. Keins ſei - ner Kinder und keiner ſeiner Vertrauten hat etwas von dem er - fahren, was ihm je ein Freund als ein Heiligthum in ſeine Seele gelegt. Auch hat er ſelbſt alles Geheime fuͤr ſich nur in Chif - fern geſchrieben, die nur er verſtand, und hat alle ſeine gehei - men Papiere dem aͤlteſten Sohne, dem damaligen Hofgerichts - rath Jung in Raſtadt, jetzigen Oberhofgerichtsrath zu Mannheim, uͤbergeben, deſſen Treue anerkannt iſt, und der alles heilig ver - wahrt, bis es etwa von denen, welchen es eignet, abgefordert wird. Wir wiſſen jedes Vertrauen, das unſerm ſeligen Vater geſchenkt worden, noch nach ſeinem Tode zu ehren.
Auch manche Große der Erde gewaͤhrten ihm das Gluͤck einer naͤhern Bekanntſchaft, worin er das ſchauen konnte, was er in jedem Menſchen ſo gerne ſah, und was er mit doppelter Freude in ihnen erblickte. Denn er ehrte in ihnen ihre goͤttliche Beſtim - mung, und auch das war ihm Religion. Sie ſchaͤtzten ſeine Gradheit, Offenheit und Beſcheidenheit, erfreuten ſich an ſeinem reichen Geiſte, und ſtaͤrkten ſich an ſeiner Gottſeligkeit. Er ſuchte nicht die Großen, ſie ſuchten ihn, und das machte ihnen Ehre, denn er ſprach auch ihnen ſeine Ueberzeugung freimuͤthig aus, und erlaubte nie irgend eine Schmeichelei; nur vergaß er nie ſeine Ehrfurcht. Ueberhaupt hatte er in dieſen Verbindungen nie - mals ſich vor Augen, und machte zu keinem aͤußern Zwecke da - von Gebrauch, als etwa wo es anging, fuͤr irgend eine wichtige Wohlthat. Daß er auch den Seinigen hierdurch nicht Vortheile zu verſchaffen ſuchte, war ganz ſeiner Wuͤrde und unſern Wuͤn - ſchen gemaͤß.
Wo er einmal Gnade von einem Großen empfangen hatte, blieb es ihm ſtets ins Herz geſchrieben. So dachte er bis an ſein Ende mit Dankgefuͤhl an ſeinen vorigen Landesherrn, den Kurfuͤrſten Wilhelm den IX. von Heſſen Koͤn. H. Er hatte auch die Huld Sr. Majeſtaͤt des ruſſiſchen Kaiſers Alexan - der I. auf eine Art erfahren, daß ſein ganzes Herz dieſem ho - hen Menſchenfreund mit Segenswuͤnſchen ergeben war. — Doch668 es ziemt uns nicht, die Gnadenbezeugungen aller der guͤtigen Erhabenen zu nennen, ſo gerne wir auch unſer Dankgefuͤhl laut ausſprechen moͤchten.
Aber uͤbergehen duͤrfen wir nicht ein Verhaͤltniß, welches zu - naͤchſt in Stillings religioͤſes Leben gehoͤrt. Das war die Freund - ſchaft zwiſchen ihm und dem verewigten Großherzog von Baden, Karl Friedrich, welche ſchon ſeit langen Jahren beſtand. Beide waren Freunde und Chriſten ſeltner Art; wer ſie beide ſah, glaubte in ihnen eine apoſtoliſche Wuͤrde zu erblicken. Jung-Stilling iſt bekannt, aber auch Karl Friedrich, und wer je das Gluͤck hatte, in dieſes Fuͤrſten - und Chriſtengemuͤth zu ſchauen, beſitzt eine bleibende Seelenfreude. Sie waren beide durch ihr innerſtes We - ſen zu einander hingezogen, und ſo war unter ihnen eine Freund - ſchaft der ſeltenſten Art erwachſen. Auch blieb das Heiligthum derſelben bei der großen aͤußern Verſchiedenheit durch den gegen - ſeitigen Edelſinn rein bewahrt, und wurde nicht durch die min - deſte fremdartige Einmiſchung entweiht. Oft dachte Jung-Stil - ling im Kreiſe ſeiner Familie an den hochgefeierten Herrn mit Thraͤnen, und heilig wuͤrde ſchon darum den Seinigen das An - denken dieſes Fuͤrſten ſeyn. Auch die ausgezeichnete Gnade, welche ihm Hoͤchſtdeſſelben erhabener Nachfolger, der Großherzog Karl erwieſen, erfuͤllte das Herz unſers Vaters mit der geruͤhrteſten Dankbarkeit bis uͤber das Grab. Und der Dank gegen dieſes hohe und liebe Fuͤrſt nhaus iſt fuͤr Jung-Stillings Kinder und Kindeskinder ein gluͤckliches Erbtheil.
Wir moͤchten allen Freunden Stillings nah und ferne ſagen, daß wir ſein Andenken dadurch ehren, wenn wir im Herzen behalten, was ſie ihm geweſen. Wir glauben ſeine Stimme zu vernehmen, wie er ihnen Segen aus dem Lande der Verklaͤ - rung zuruft.
Eine Scene aus der Geiſterwelt. Seinen Freunden und Verehrern von .... r ..
Stillings Tod in einem Gedicht zu verherrlichen, war von dem Tage an, wo er ſtarb, mein feſter Vorſatz. Ich konnte ihn aber nicht ausfuͤhren, ehe ich die umſtaͤndliche Nachricht von ſeinen letzten Augenblicken hatte. Daher erſcheint dieß Gedicht ſo ſpaͤt, ohnehin da auch andere haͤufige Arbeiten mich an der Ausfuͤhrung hinderten. Was den Plan betrifft: ſo glaubte ich, Stillings Anſichten im Allgemeinen folgen zu muͤſſen; denn ſein Geiſt, durch ſo manche Erfahrungen gelaͤutert, mußte eben - deßwegen auch eine wahrere Anſicht von uͤberirdiſchen Dingen haben, und ſo wenig wir auch die Ewigkeit zu durchſchauen vermoͤgen: ſo erhebend iſt es doch fuͤr unſer Gemuͤth, ſich in die Geiſterwelt gleichſam mit einem Zauberſchlag zu verſetzen, und die Feier der Belohnung eines Gerechten mitzubegehen. — Als einer der waͤrmſten Verehrer des Verewigten glaubte ich auf dieſe Art ihm noch die letzte Ehre zu erweiſen, und keiner ſeiner wahren Freunde wird mir das verargen. Ich nahm La - vaters Verklaͤrung zum Muſter, und da dieſe durch ihren innern Werth ſo vielen Beifall fand: ſo wird Stillings Siegesfeier wenigſtens durch Stillings Namen eini - gen Werth erhalten.
Daß Stilling bei ſeinem Eintritt ins Lichtreich vieles von ſeiner Idee Abweichende gefunden haben wird, daran iſt kein Zweifel; wer will, wer kann es aber deßwegen wehren, Vermu -670 thungen aufzuſtellen, die auf Vernunft und Analogie, auf Glaube und Offenbarung gegruͤndet, und wenigſtens zuverlaͤſſig der wahren Geſtalt des ewigen Lebens nicht zuwider ſind: wenn nur ein Nutzen dadurch bezweckt wird, den man doch gewiß nicht laͤugnen kann.
Um nun auch ein Wort von der Form zu ſprechen, ſo weiß ich zwar recht gut, daß der Hexameter nicht der dramatiſchen Poeſie angehoͤrt; aber durch ſeinen majeſtaͤtiſchen Gang, durch ſeine Wuͤrde und Fuͤlle ſcheint er mir fuͤr ſolche Gedichte ſehr paſſend, auch ohne mich auf Stillings Lavater zu beru - fen. Einige Namen habe ich aus Stillings Geiſterſce - nen beibehalten, theils weil ſie ſchon bekannt ſind, theils weil ich eine Neuerung hier fuͤr unnoͤthig halte.
Einige eigenthuͤmliche Vorſtellungen und Muthmaßungen in dem Gedichte wird der Leſer nicht verkennen.
Anmerk. 1. Ich laſſe Stilling bei ſeinem Erwachen vom Tod nicht erſtaunend ausrufen: Wo bin ich? War ich nicht noch eben krank? ꝛc. weil ich glaube, daß er, als ein im Geiſterreich ſo bewanderter Mann, und auf dieſen Augenblick ſo lange gefaßt, nicht ſo ſehr überraſcht worden ſey, wenn auch die Wirklichkeit ſeine Erwartung weit übertraf.
Anmerk. 2. Den Todesengel denke ich mir nicht als einen in Schauer gehüllten Diener Gottes, ſondern in einer mehr freundlichen Geſtalt; denn ſeine Verrichtung iſt für den Menſchen immer wohlthätig; den Gerechten führt er zur Vergeltung, den Gottloſen hält er von fernerer Verſündigung ab.
Eile, du himmliſcher Bruder! O kaum, kaum kann ich’s erwarten, Bis ich den Theuren erblicke, umarmend ihn in Entzückung; Bis ich ihn wallen ſeh’ im Gefild’, nach dem ſich ſein Geiſt ſehnt, Und einſtimmen ihn höre in unſere Freudengeſänge, In des Himmels Triumph!
O glaube mir, ſelbſt auch ereil’ ich Harrend den Augenblick, wenn ſein Geiſt, von der Hülle entbunden, Freudig empor ſich hebt aus irdiſcher Feſſeln Umſchlingung; Wenn er, den ſiegenden Blick von des Erdballs Trümmern gehoben, Durch die Räume des Aethers, vorbei den Glanz der Geſtirnwelt, Aufwärts ſchwebt zu der Flur, wo des himmliſchen Athems Gedüfte Seinen Geiſt umweht, wo des Heimweh’s ſchmerzliche Wehmuth Schwindet im Himmelslicht, und in innige Wonne ſich auflöst. Welch’ ein freudiges Amt, den Erhabenen heimzuführen In die Wohnung des Vaters, wo Schmerz ſich endet und Trauer! Wer war wirkſam wie Er? — Entflammt von Liebe zu Jeſus Wollte er Friede bringen der Welt, ſie zur Seligkeit rufend; Wollte das ganze Geſchlecht der ſündebelaſteten Menſchen Innig liebend umfah’n, und zum ewigen Licht’ hin leiten. Viele verehrten ihn auch, und benützten die warnenden Winke, Die ſeinem ahnenden Geiſt’, voll göttlicher Weihe, entquollen; Aber die Feinde des Kreuzes, von ſchimmerndem Truge verblendet, Achteten nicht ſein Wort, und entwürdigten Gottes Geweihten. — Stilling duldete ſtill, und trug ſelbſt Schande und Kränkung, Denn ihn ſtärkte der Blick auf die allumfaſſende Liebe, Ihn ſein Vertrauen auf Den, der für uns einſt blutend erblaßte. Wer hat gekämpft wie Er mit Ungemach widriger Schickung, Schmerzen und Körperqual? Wen hat der Finger des Höchſten So in die Nacht der Leiden, ins Dunkel der Prüfung geführet? Und wer heftete feſter den thränenden Blick durch das Dunkel672 Auf den leitenden Stern, der Licht und Hoffnung ihm ſtrahlte? Unermüdet und treu, ſtets thätig mit Rathen und Helfen, Goß er des Lichtes Strahl in das Auge jammernder Blinden, Und entflammte die Herzen mit Funken göttlichen Feuers. Nie erſtarb ſeine Liebe zum Ewigen; feſt und beharrlich War ſein Sinn zu Gott. — Er wird jetzt herrlich ihm lohnen. — Nun, mein Bruder, wohlan! — Des Kämpfenden Schmerz iſt am Ziele!
Sieh’, wie ſein matter Blick empor ſich erhebet zum Himmel, Wie ſein Auge ſich labt an unſerer Wolke Umſtralung! Gieß’ ihm Frieden ins Herz, und ſchwinge die Sichel der Löſung Ueber des Scheidenden Haupt!
Empor aus der ſinkenden Huͤlle! Werde zu Licht, du Geiſt!
Hallelujah! Preis dem Erlöſer! Mich auch führt er zum Licht! Sagt, Himmliſche! bin ich es würdig? Darf ich Ihm, dem Ewigen, nah’n, meine Rettung Ihm danken?
Ja, du wirſt Ihn ſehen! Durch wenige Stufen nur fuͤhrt dich Deiner Vollendung Pfad hinan zu des Ewigen Throne! Doch, ihr Brüder, ich ſcheide! Mich ruft ein göttlicher Auftrag, Mich der Vollendung Amt.
Entdecke mir, Strahlenumglänzter! Wie man als Waller im Staub dich nannte, welches der Länder Dich auf der Erde genährt —
Du nannteſt mich Eberhard Stilling, Ich meinen Enkel Dich!
O Herrlicher, trieb dich die Liebe, Die du mir ſchon auf Erden geweiht, mir entgegen zu eilen? — Nun ſo gönne mir auch, wenn du darfſt, jetzt deine Umarmung!
Theurer! ſchon lange erwartet’ ich dich in den Pforten von Zion. Jetzt, da du ausgeglaubt, jetzt folgt dir das ſelige Schauen.
Ach, wie ſüß iſt’s doch, und wie wonnig, was nimmer und niemals Einer verirdiſchten Seele, ſich vorzuſtellen, vergönnt iſt: Einen verklärten Geiſt in Geiſtergeſtalt zu um - faſſen! Welch’ ein unendliches Meer von Wonne werd’ ich genießen, Bis ich die Himmliſchen alle begrüßt in Bruder-Umarmung! — Sage mir aber, wer ſind jene beiden Schimmerumgoß’nen? Engel oder Verklärte? Wie nennt ſie die himmliſche Sprache?
Iſrael, Lavater einſt, und Eickel, jetzt Betachiah!
Bin ich, ihr Heilige! würdig, euch ſtets noch Brüder zu nennen?
Bruder Ohephjah! ſo nennen wir dich als Jeruſalems Bürger, Tauſendmal willkommen in dieſer ewigen Heimath, In den frohen Gefilden Aetherions! — Uns iſt es Freude, Dir, der du unſ’re Verklärung ſangſt, entgegen zu eilen.
O gedenket des ſchwachen Geſangs nicht! Nur wie ein Schatten Iſt er von dieſem Gefild’; ihn umſchleiert der Sterblichkeit Hülle. Nie kann ein irdiſcher Geiſt, gebeugt von des Körpers Umengung, Dieſe unendliche Welt voll Seligkeit gänzlich erfaſſen.
Schwinden muß irdiſcher Glanz, wo des Himmels Strahlen erglühen!
Bruder! Bürger des Himmels! genieße nun jenes Entzücken, Jenen himmliſchen Jubel, nach dem du auf Erden dich ſehnteſt! 674Blicke nicht ſorgend zurück auf die theuren Kinder und Lieben, Die mit umflortem Blick nachweinend am traurigen Grabe Stehen; es ruht auf ihnen dein hinterlaſſener Segen, Und ihre Seligkeit iſt im Rath der Liebe beſchloſſen. Auch der trauernden Freunde Zahl, deine warmen Verehrer, Liebend gedenken ſie dein, und auf manchem, den du dort kannteſt, Ruht dein Elias-Geiſt.
Dem Herrn allein ſey die Ehre! Was ich Schwacher im Staube gewirkt, war göttliche Gnade.
Hebt euch, Geliebte! empor, und ſchwebt auf dem Fittig des Wunſches Hin zum Sitze der Freude, wo goldener Wolken Umwallung Durch der Seligkeit Tempel weht, und die Säulen des Friedens; Wo die Verklärten thronen, und ewig danken und rühmen; Wo in balſamiſchen Düften ihr Dankgebet zu dem Thron wallt. Dort wirſt du alle finden, Ohephjah! die du einſt liebteſt, Alle, die dir voran in die Wohnung des Friedens gezogen.
Ewige Liebe! gib Kraft, dieß hohe Entzücken zu faſſen, Das mit Gewalt mich ergreift bei ſo vieler Seligen Anblick! Sagt mir, ihr Brüder! geweiht in die Kunde der Himmelsbewohner, Wer die Herrlichen waren, ſo lange im Körper ſie wallten?
Hier dieſe nahenden Geiſter, die einſt auf der Erde dich kannten, Will ich dir nennen; bald wenn du des Ewigen Antlitz geſchaut haſt, Wird dein Blick ſich erhellen, und jeglicher wird dir bekannt ſeyn, Sieh, wie ſie freundlich dir nah’n, und nach deiner Umfaſſung ſtreben: Dieſe umſchlungenen Seelen, die Edeln aus ihrem Geſchlechte, Glänzend im Strahlengewand — ſie waren Gefährtinnen kurz noch Dir auf der dornigen Bahn: Chriſtine, Eliſe und Selma! Dort in verjüngter Geſtalt erblickſt du Dortchen und Wilhelm, Hier deine früh’ entſchlummerten Kinder; dort deine Freunde,675 Deiner Verwandten Zahl — ſie alle ſchimmern im Lichte, In der Verklärung Wonne — ſie alle freuen ſich deiner, Wehen dir Himmelsluft und balſamiſchen Athem entgegen.
Uebermaß der Wonne! Welch Meer von Seligkeit gießt ſich Ueber mich her! Ein Augenblick nur dieſes himmliſchen Wohlſeyns Wiegt unzählige Jahre des ſchmerzlichſten Leidens und Kampfs auf!
Preis dem unendlichen Licht! dem Schaffenden, daß Er mich würdigt, Ihn zu erblicken, das Weſen der Weſen, der Schöpfungen Urquell! Als noch der Erde Feſſeln mit Laſt und Kummer mich drückten, Weilte ich gern in einſamer Still’, und empor von der Erde Auf den Schwingen der Phantaſie zum Aether gehoben,[f]orſchte ich ſinnend nach, und ſuchte mir Spuren des Urbilds. O welch’ ſüßer Genuß, wenn ein Funke nur höheren Urſprungs Mir die Seele entflammte! Wie plötzlich ſchwanden mir Schmerzen, Angſt und Kummer dahin! Wie unausſprechlich, wie herrlich Muß das Entzücken ſeyn, den Herrn von Angeſicht ſchauen! Ach! die Hoffnung ſchon begießt mich mit Strömen von Jubel!
Steige herauf, Geweihter! Der wundenbeſtralte Erlöſer, Der beim Vater die Menſchheit vertritt — mich hat Er gewürdigt, — Der ich im Erdenthal ſchon ſeine Herrlichkeit ſchaute — Dich zum Thron zu führen, wo Freude im höchſten Genuß quillt!
O ſo gib mir auch Kraft, den gefeierten Anblick zu tragen!
Jeſus Chriſtus, Erbarmer! Dich ſchauend, bin ich nun ſelig!
Komm zur Freude des Herrn, du Getreuer! du Sieger im Kampfe!
Höher emporzuſchweben, verſagt dem Geiſt’ die Ermattung. Noch zu ſehr klebt irdiſcher Staub an den ſinkenden Schwingen. Aber was ich geſeh’n, iſt Wahrheit. Stilling iſt ſelig In dem Herrn entſchlafen, nachdem er Tauſenden ſegnend, Warnend und helfend erſchien, Laßt uns, ihr Brüder, ihm folgen! Kurz iſt der Erde Schmach, und ewig der Selig - keit Wonne!
Ende des erſten Bandeſ.
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