Nach Danneker in Stahl gestochen v. Carl Mayer
Druck v. Dammel in Stuttgt.
Liegt ohne Zweifel die einzig mögliche Rechtfertigung der Veröffentlichung einer ſchriftſtelleriſchen Arbeit in der Nachweiſung eines weſentlichen Zeitbedürfniſſes, welches durch jene befriediget wird: ſo hat dieſe neue Ausgabe der ſämmtlichen Werke Stilling’s eine ſolche Rechtfertigung in hohem Grade für ſich.
Zwei große, das ganze Leben des Menſchen durch - dringende Gegenſätze ſind heut zu Tage hervorgetreten. Sie beziehen ſich ſowohl auf das Wiſſen als das Thun, ſo - wohl auf das innere Gebiet des Geiſtes als auf ſeine äußere Verwirklichung im Staatsorganismus. In beiden Sphären iſt einer Seits eine rein negative, ſich von den Banden göttlicher wie menſchlicher, religiöſer wie politi - ſcher Auctorität als ſolcher losſagende Tendenz, anderer Seits eine rein poſitive, in der Auctorität der chriſtlichen Religion als auf etwas Unwandelbarem, für die Vernunft des Menſchen Unzugänglichem ruhende, und in ihr zugleich die beſtehenden Staatsformen als geheiligt anſchauende Weltanſicht zum Bewußtſeyn gekommen.
Durch die neuerdings erfolgte Reaction iſt nun der Zeitgeiſt aus ſeinem in die Außenwelt gehenden, auf die Durchführung der Vernunft im Staate und die Voll - bringung der politiſchen Freiheit gerichteten Streben her - aus in ſeine innere Welt getrieben worden, und er ſcheint — wie dieß die große Zahl der neuerdings erſcheinenden reli - giöſen Schriften beweist — er ſcheint jetzt daran zu arbeiten, in ſeiner über dem politiſchen Treiben faſt vergeſſenen innern Welt, dem Reiche Gottes, ſich wieder anbauen, und die Freiheit, die er in Durchführung gewiſſer Staats - formen vergebens zu verwirklichen ſuchte, auf höhere Weiſe6 im Geiſte durch die Kindſchaft Gottes wieder gewinnen zu wollen. Aber derſelbe Kampf entgegengeſetzter Principien, welcher durch jene Reaction im Gebiete des Staates zur Ruhe gekommen iſt, beginnt nur um ſo heftiger im innern Gebiete des Geiſtes. Und hier tritt als Vorkämpfer der einen, nämlich der an der göttlichen Auctorität des Chriſten - thums ſtreng feſthaltenden Parthei, als ein ſolch leitender Genius tritt noch einmal der Geiſt Stilling’s auf.
Es iſt nämlich — wenn wir zuerſt auf die poſitive Seite der religiöſen Weltanſicht Stilling’s ſehen — Eine große Idee, welche dieſen Mann beſeelte, und von welcher alle ſeine Schriften erfüllt ſind, die nämlich: daß Gott kindlich auf ihn Vertrauenden auf eine unmittelbare und außerordentliche Weiſe durch eine alle menſchliche Be - rechnung übertreffende und von dem gewöhnlichen geſetz - und naturgemäßen Gange der Dinge ganz abweichende Schickung aus jeder Noth des Lebens helfe. Dieſe Idee tritt in ihrer Eigenthümlichkeit und beſtimmten Aus - prägung beſonders in dem Glauben hervor, daß ein in der Noth zu Gott geſchicktes Gebet nicht etwa bloß eine innere Erhörung durch höhere Stärkung des Geiſtes finde, ſondern, wofern es mit den Rathſchlüſſen Gottes übereinſtimmt, eine äußere göttliche Hilfeleiſtung durch wunderbare Errettung aus leiblicher Noth, Krankheit, Armuth ꝛc. zur Folge habe.
Was aber Stilling zu dem großen Volksſchriftſteller machte, der er war, was allen ſeinen Darſtellungen Leben - digkeit und eine unwiderſtehliche Kraft der Ueberzeugung verleiht, das iſt die Einheit ſeiner ganzen Perſönlichkeit mit ſeinem ſchriftſtelleriſchen Werke. Es bewährte ſich an ihm das alte Sprüchwort: Was vom Herzen kommt, das dringt zum Herzen. Stilling war im eigentlichen Sinne des Wortes eine religiöſe Individualität. Die lebendige Verwirklichung jenes Grundgedankens, von wel - chem alle ſeine Schriften beſeelt ſind, iſt ſein eigenes Leben. Nicht nur im Allgemeinen, ſondern auch in den einzelnen Scenen iſt ſeine Autobiographie eine wahre Ver - körperung jenes religiöſen Grundgedankens zu nennen, ſo daß man geneigt wäre, in ihr einen religiöſen Roman zu7 erblicken, hätte nicht Stilling ſelbſt uns hochbetheuernd verſichert, daß, mit Ausnahme der Namen und einiger Verzierungen, Alles wahr ſey.
Sein Leben nämlich ſtellt, nach ſeinen Hauptwende - punkten betrachtet, eine Erhebung von der niedrigſten, dunkelſten Lage zur glänzendſten Stellung dar, die Stilling als Profeſſor, Hofrath und als weltberühmter Volks - ſchriftſteller einnahm, und wie es alſo ſchon im Allge - meinen das Daſeyn einer für ihre Verehrer gütig ſorgenden Vorſehung bekundet, ſo iſt es auch im Einzelnen voll von Spuren göttlicher Hilfe, welche, in ſo viele Bedrängniſſe auch Stilling kam, doch nie ausblieb.
Johann Heinrich Jung, genannt Stilling, wurde 1740 zu Grund im Naſſau’ſchen geboren. Sein Vater, Schul - meiſter und Schneider, verlor frühe ſeine Frau, eines armen Pfarrers Tochter. Die religiöſe Richtung dieſes Mannes wurde durch dieſen Verluſt noch ſtrenger und ernſter. In der dürftigſten Lage, zurückgezogen von aller Welt, lebte der Vater. Beten, Leſen und Schreiben war die einzige Beſchäftigung des Kindes, äußerſt ſtreng über - haupt ſeine Erziehung. Aber eben dieſe Erziehung war in mehrfacher Beziehung geeignet, Stilling zu dem großen religiöſen Volksſchriftſteller zu bilden, als der er ſpäter auftritt. Vor Allem fand hier ſein religiös fühlender und denkender Geiſt noch das ungeſchminkte, friſche und lautere Chriſtenthum. In einem höheren Stande geboren und in der großen Welt erzogen, wäre er vielleicht dem Geiſte des religiöſen Indifferentismus frühe erlegen. Nur ein auf einem ſo friſchen und kräftigen religiöſen Boden, wie der unbefangene, aber eben darum ſtarke Glauben mancher den niederen Volksklaſſen angehörenden Individuen iſt, nur ein alſo aufgewachſener Sproß konnte ſo, wie Stilling, ſicher dem Sturme des in Unglauben verſunkenen Zeit - geiſtes Trotz bieten. Zudem war es gerade die Abge - ſchloſſenheit, welche zur Entwickelung des Geiſtes Stilling’s indirect am meiſten beitrug; denn er hatte hier Gelegen - heit, ſich in ſeiner Originalität frei und beinahe rein aus ſich zu entfalten. Eine lebhafte Phantaſie war ihm ange -8 boren, in welcher er alles von außen Gegebene ſchnell ſich aneignete und ſeiner eigenthümlichen Individualität gemäß durchbildete, aber auch Alles von ſich ſtieß, was ſich nicht bezwingen laſſen, was nicht in ſeine eigenthümliche innere Welt paſſen wollte. Alles dieß wieß hin auf ein ihm ur - ſprünglich eingeborenes inneres Leben, auf einen eigen - thümlich geſtalteten ſchöpferiſchen Geiſt, welcher, ſtatt von außen beſtimmt zu werden, vielmehr allem von außen Gegebenen ſeine eigene Form, ſeinen eigenen Charakter aufdrückte. Nur die wenigen myſtiſchen, unter dem reli - giöſen Theil des Volkes vielfach curſirenden Schriften eines Paracelſus und Jakob Böhme waren die wiſſen - ſchaftlichen Werke, die in Stilling’s Hände kamen. Aber er fühlte ſich auch von dem tiefſinnigen Geiſte des letztern tief, wie ein verwandter Geiſt, angeſprochen. Durch die wunderbare phantaſtiſche Form, in welcher Böhme redete, und an welcher ſo Viele, als an der Hauptſache, hängen bleiben, drang er zum wahren und philoſophiſchen Inhalte, dem verborgenen Kerne dieſer Werke, und ſo ſchuf er ſich frühe ſchon und beinahe ſelbſtſtändig eine eigenthümliche Welt religiöſer Gedanken und Gefühle, die er ſpäter bereichert und durchgebildet der Welt enthüllte.
Man denke ſich nun dieſen Geiſt und die äußere Lage, in welcher er ſich befand, welch ein Widerſpruch des Selbſt - gefühls und ſeines Standes! Nirgends wollte es ihm daher auch glücken: von einer Stelle begab er ſich zur andern, nie in dem ſeinem Geiſte angemeſſenen Elemente ſich be - findend, bis er ſich endlich kühn und Gott vertrauend ſeine Bahn brach. Er verſah zuerſt die Stelle eines Schulmeiſters in ſeinem Geburtsort, und erlernte daneben das Schnei - derhandwerk bei ſeinem Vater. Aber letzteres Geſchäft ward ihm ganz zuwider: er fühlte ſich zu etwas Edlerem berufen. Daher nahm er nach einander zwei Schulmeiſters - ſtellen an, ohngeachtet auch dieſe ihm nicht zuſagten. Beide mußte er bald wieder verlaſſen. Und ſo ging es auch in ſeinen ſpätern Jahren. Bald wird er wieder Schneider - geſelle, bald Informator. Endlich ſchien ihm ein Stern bei einem Kaufmann aufzugehen, der ihn als Hauslehrer9 zu ſich berief, und bei welchem er ſieben Jahre lang ver - weilte. Hier las er Milton’s verlorenes Paradies, Young’s Nachtgedanken, Klopſtock’s Meſſiade, Wolf und Leibnitz. In beider Philoſophie ſah er wohl eine fortlaufende Kette von Wahrheiten, aber das Princip, von welchem dieſe Folgerungen ausgingen, ſchien ihm falſch: das wahre, glaubte er, müſſe erſt gefunden werden, und dann ſey die wahre Philoſophie gegeben.
Hier indeß, als er in ſeinem 28ſten Jahre ſtund, ging die große Wendung ſeines Lebens vor ſich, durch die er aus der Dunkelheit geriſſen wurde, um als einer der erſten Sterne am wiſſenſchaftlichen Horizonte zu glänzen. Merk - würdig iſt auch hier die Art und Weiſe dieſer Wendung ſeines Lebens. In Reizens Hiſtorie der Wiedergeborenen las er einſt zum Zeitvertreib, und als er hier das Wort Eilikrinnia fand, ſo ſtund dieſes vor ihm, „ als wenn es im Glanze gelegen hätte; dabei fühlte er einen unwider - ſtehlichen Trieb, die griechiſche Sprache zu lernen, und einen verborgenen ſtarken Zug zu Etwas, das er noch gar nicht kannte, aber auch nicht zu ſagen wußte, was es war. Er beſann ſich und dachte: Was will ich doch mit der griechiſchen Sprache machen? Wozu wird ſie mir nützen? Allein alle Einwendungen der Vernunft waren fruchtlos, ſein Trieb war ſo groß und die Luſt ſo heftig, daß er nicht genug eilen konnte, um zum Anfange zu kommen. “ Wirklich erlernte er ſie im 28ſten Jahre ſeines Lebens, und zwar mit erſtaunlicher Fertigkeit. Als ihm bald dar - auf ſein Principal rieth, Medicin zu ſtudiren, da rief er ganz bewegt aus: Was ſoll ich ſagen? Ja ich fühle in meiner Seele, das iſt das große Ding, das immer vor mir verborgen geweſen, das ich ſo lange geſucht und nicht habe finden können.
Sofort ging er, nachdem er ſich einige Zeit auf ſein Stu - dium vorbereitet hatte, auf die Univerſität nach Straßburg, ohne irgend eine entfernte Ausſicht, wie er dieſes koſtſpielige Studium werde beſtreiten können. Aber er vertraute ſeinem Gotte, wie er ſagte, ſeinem reichen Vater im Himmel. Und wirklich, ſo oft er auch in dringende Geldverlegenheiten kam, jedes Mal erſchien ihm in der Stunde der höchſten10 Noth auf ſein Gebet hin eine Freunbeshand, die ihn unter - ſtützte. Nach Vollendung ſeiner Studienzeit wurde er practiſcher Arzt, und durch die vielen glücklichen Augen - kuren, die er machte, genügte er ſeinem innern Drange, zum Heile der Menſchen etwas beizutragen. Sonſt aber hatte er nicht viel Praxis, und er übernahm daher die Stelle eines Profeſſors der Kameralwiſſenſchaften zu Mar - burg. Auch hier indeß war es mehr ſeine ſchriftſtelleriſche als ſeine academiſche Thätigkeit, welche mit ruhmvollem Erfolge verknüpft war. Der unter den dortigen Studenten herrſchende Freiheitsgeiſt und religiöſe Scepticismus war natürlich nicht die Denkweiſe, welche ſie zu Stilling hätte hinziehen können. Er hatte oft bloß drei Zuhörer, ja er war einmal der Gegenſtand roher Ausgelaſſenheit der Studenten. Da war Stilling im größten Zwieſpalt mit ſich: er ſah, daß er als academiſcher Lehrer keinen Segen ſtiften könne, und doch fühlte er noch eine hohe Geiſtes - kraft in ſich, Großes zu wirken und zu ſchaffen. Da endlich in ſeinem 63ſten Jahre wurde Stilling der ihm durch die vorherrſchend religiöſe Richtung ſeiner Natur angewieſenen, von ſeiner Jugend an ihm immer dunkel vorſchwebenden Beſtimmung, im Großen für die Sache des Chriſtenthums zu wirken, durch die Gnade des Kurfürſten von Baden geſchenkt, welcher ihn zum Hofrath mit einem Gehalte von 1200 Gulden ernannte, ohne dagegen irgend eine Dienſt - leiſtung zu verlangen, ſo daß Stilling ſich in voller Muße ſeiner ſchriftſtelleriſchen Thätigkeit widmen konnte. In Heidelberg lebte er bis aus Ende ſeines Lebens, das am 2. April 1817 erfolgte.
Schwache und bedeutungsloſe Individuen laſſen ſich in Charakter und in ihrem Handeln durch die Umſtände beſtimmen; denn ſie haben keine Perſönlichkeit, welche ſich in der Außenwelt verwirklichte: aber geniale und ſchöpferiſche Naturen, denen eine Rolle in der Geſchichte der Menſchheit beſtimmt iſt, haben dieſes ihr zukünftiges Werk ſchon frühe als dunkle Ahnung in ſich, und je klarer ſie es in ihr Selbſtbewußtſeyn erheben, deſto unwider - ſtehlicher bahnen ſie ſich durch alle Hinderniſſe, die ihnen11 die äußere Lage, natürliche Geburt, Vorurtheile der Menſchen u. ſ. w. entgegenſetzen, den Weg zur Voll - bringung der Aufgabe ihres Lebens; ſie ſetzen Alles an die Erreichung dieſes göttlichen Endzwecks, weil dieſer ſelbſt eins iſt mit ihrer Perſönlichkeit, das Verzichten alſo auf jene Wirkſamkeit Verzichten auf ihr eigenes Ich wäre. Alles dieß finden wir auch bei Stilling. Von Natur hatte er einen Grundtrieb, dem er unbewußt folgte, die Ahnung einer univerſelleren Beſtimmung im Reiche Gottes: dieſe Ahnung war auch die ſeiner Großeltern und Eltern, über - haupt ſeiner Umgebung; darum ließ man ihn auch frei gewähren, ſo viele Wechſel auch ſein Jugendleben hatte. Dazu kam noch bei Stilling, daß vermöge ſeiner lebhaften Phantaſie jeder Entſchluß, welcher ihn auf ſeiner erha - benen Bahn weiter bringen ſollte, ſobald er aufkeimte, alsbald in aller Lebendigkeit und in der anziehendſten Form vor ſeiner Seele ſtund. Dürfen wir uns wundern, wenn ein ſo plötzlich und überraſchend aufſteigender Gedanke eine unwiderſtehliche Macht auf ſein Gemüth ausübte, wenn Stilling das Gefühl von etwas Unwillkührlichem und daher Göttlichem dabei hatte, und um ſo unbedenklicher ſeine bis - herige Laufbahn verließ, um dem höheren Winke, dem übernatürlichen Zuge zu folgen?
Wie dem auch ſey, die eigenen Lebensſchickſale, die eigenen Erfahrungen, die für ihn feſt ſtehende Thatſache von einer unmittelbar in das Leben eingreifenden Vor - ſehung, — dieß war für ihn der unwandelbare Grund, auf welchen ſich ſofort ſein ganzer religiöſer Glaube ſtützte. Nicht nur finden wir jene Idee beinahe auf jeder Seite ſeiner Schriften entwickelt: nicht nur ſind nament - lich ſein Chriſtlicher Menſchenfreund und ſeine Erzählungen voll von jener Anſicht, obgleich er hier außer der wunder - baren Lebensverkettung duldender Pilgrime die chriſtliche Liebe auch in ihrer das gewöhnliche Leben, namentlich das einfache ſtille Familienleben, und ſeinen natürlichen Gang veredelnden und verklärenden Macht ſchildert: nicht nur iſt alſo Stilling’s Geiſt durchdrungen von jenem Ver - trauen auf Gottes übernatürliche Vorſehung, ſondern12 hierin fand er auch eine für ihn vollkommen hinreichende Schutzwehr gegen allen Religionszweifel, hierauf gründete er ſeine ganze religiöſe Ueberzeugung. Derjenige, ſagte er einmal zu ſich, als er auf der Academie in Gefahr war, in Zweifel über die Religion zu gerathen, derjenige, der augenſcheinlich das Gebet der Menſchen erhört, und ihre Schickſale wunderbarer Weiſe und ſichtbar lenkt, muß unſtreitig wahrer Gott, und ſeine Lehre Gottes Wort ſeyn. Nun habe ich von jeher Jeſum Chriſtum als meinen Gott und Heiland verehrt und ihn angebetet. Er hat mich in meinen Nöthen erhört, und mir wunderbar beigeſtanden und geholfen: Folglich iſt Jeſus Chriſtus unſtreitig wahrer Gott, ſeine Lehre iſt Gottes Wort, und ſeine Religion, ſo wie Er ſie geſtiftet hat, die wahre.
Soviel über den Geiſt Stilling’s nach der poſitiven Seite ſeiner religiöſen Ueberzeugung. Aber dieſe ſeine eigenthümliche Anſicht bildete er nur aus im Gegenſatze gegen den Unglauben ſeiner Zeit. Seine Richtung iſt haupt - ſächlich eine polemiſche, und zwar vor Allem gegen die damals herrſchende Philoſophie Kant’s, inſoweit dieſe Ein - fluß auf die Geſtaltung des chriſtlichen Glaubens hatte. Das Eigenthümliche dieſer Polemik nun iſt, daß Stilling ſeinen Gegner aus deſſen eigenem Grundſatze zu wider - legen ſuchte, nach welchem unſere Begriffe bloße, uns ein - geborene Formen ſind, welchen das wahre Weſen der Dinge um uns her nicht entſpricht. Damit ſtimmt nun auch Stilling überein. Auf eine gemeinfaßlichere Weiſe, als Kant, ſucht er jenen Satz durch folgende Schlüſſe be - greiflich zu machen: Wenn unſere ſinnlichen Werkzeuge anders organiſirt wären, ſo empfänden wir die ganze ſinn - liche Welt ganz anders, als wir ſie jetzt empfinden. Licht, Farben, Figuren u. ſ. w. empfänden wir ganz anders, wäre unſer Auge anders organiſirt. Die Menſchen empfinden nur die Oberfläche der Dinge in Raum und Zeit, d. h. in der Ausdehnung und Aufeinanderfolge — in ihr inneres Weſen dringt kein erſchaffener Geiſt. Weil wir uns keine zwei Dinge zugleich vorſtellen können, darum mußten wir ſo organiſirt ſeyn, daß uns die Dinge im Raume und in13 der Zeit erſcheinen; daher iſt Raum und Zeit nur in unſerer Seele: außer uns iſt keines von beiden. Gemäß ſeiner religiöſen Tendenz drückt er dieſes auch ſo aus: Alle Vorſtellungen, die ſich auf Raum und Zeit beziehen, ſind eingeſchränkt: da nun Gott, der Ewige, Unendliche und Unbegreifliche, keine Schranken kennt, ſo ſtellt er ſich die Welt auch nicht in Raum und Zeit vor; da nun ſeine Vorſtellungen allein Wahrheit haben, ſo iſt auch die Welt nicht in Raum und Zeit. Endlich beweist Stilling die End - lichkeit unſerer Begriffe über die Welt, ihren Anfang und Umfang u. ſ. w. durch den bekannten Kant’ſchen Antinomie - Schluß, daß wir einer Seits den Raum als unendlich denken müſſen, weil, wenn er eine Grenze hätte, jenſeits ein leerer Raum gedacht werden müßte: anderer Seits ſich auch nicht eine endliche Unendlichkeit, d. h. ein unend - licher, mit lauter endlichen Dingen angefüllter Raum denken laſſe: alſo müſſe die ganze Vorſtellung des Raums überhaupt eine bloß ſubjective Vorſtellung endlicher Menſchen ſeyn.
Dieſe Lehre, in welcher er mit der Philoſophie Kant’s übereinſtimmte, wurde, ſowie die Idee einer unmittelbar wirkenden Vorſehung der aus der Erfahrung abſtrahirte Fundamentalſatz ſeines ganzen Glaubens ward, ſo das wiſſenſchaftliche Princip ſeiner philoſophiſch - religiöſen Ueberzeugung, aber auf eine entgegengeſetzte Weiſe, als dieß bei Kant der Fall war. War Stilling wohl im Grundſatze eines mit der damaligen Philo - ſophie, ſo ging er durch die Folgerungen, welche er aus dieſem Grundſatze machte, über die Philoſophie hin - aus in das chriſtliche Gebiet über: die Waffen, welche die Philoſophie gegen das Chriſtenthum führte, wandte er gegen jene zurück, und ſuchte ſie durch ihre eigenen Vorder - ſätze zu widerlegen. Daß die Begriffe von Raum und Zeit, daher auch von Bewegung u. ſ. w., bloß in uns, nicht aber auch in den Dingen außer uns exiſtiren, hatte er gezeigt. Er ſchloß aber ſofort, daß Gott uns für dieſe Welt dieſe Vorſtellungen angeſchaffen habe, daß wir uns in denſelben nothwendig und nach Gottes Willen, ſo lange wir hier leben, bewegen, daß wir aber zugleich nach Gottes Rath -14 ſchluß, ohne in Widerſprüche zu kommen, es nicht wagen dürfen, das wahre überſinnliche Weſen der Dinge beſtimmen zu wollen. Was alſo bleibe anderes übrig, als daß wir durch göttliche Offenbarung über das Ewige belehrt werden, wie es denn auch in der Natur der Sache liege, daß, wenn der Menſch über das Ueberſinnliche Aufſchluß erhalten ſolle, die Grundſätze zum Denken und Schließen aus der Natur des Ueberſinnlichen genommen, d. h. daß alsdann die Vernunft von Oben erleuchtet werde.
Kant hätte dieß zugeben müſſen, aber nur dann, wenn es bloß eine theoretiſche, nicht auch eine practiſche Ver - nunft gäbe. Allein nachdem Kant der theoretiſchen Ver - nunft alle Wahrheit abgeſprochen, ſo gründete er auf die Selbſtgeſetzgebung der Vernunft den poſitiven Theil ſeiner Wiſſenſchaft. Das Gute um des Guten willen zu üben, bloß zu wollen, was allgemeiner Grundſatz aller Menſchen ſeyn könnte, es zu wollen ohne Rückſicht darauf, ob die Erfüllung unſerer Pflicht uns angenehm oder unangenehm ſey, ja ohne von den Triebfedern der Liebe Gottes, welche immer doch nur ein ſubjectives Gefühl ſey, ſich beſtimmen zu laſſen: dieß fand er als unbedingte Forderung der ſo - genannten practiſchen Vernunft. Dieſe Lehre ſetzte die unbedingte Freiheit des Menſchen voraus, denn nur ein völlig freies Weſen kann jene Forderung „ du ſollſt “an ſich ſelbſt unbedingt ſtellen: von dieſer Lehre ſchloß aber auch Kant auf das Daſeyn Gottes, als des heiligen Welt - regenten, und auf die Unſterblichkeit, weil jene Forderung des Sittengeſetzes nie ganz erfüllt werden könne, der Menſch alſo in beſtändigem Fortſchritte begriffen ſeyn müſſe. So gründete er alſo eine von der poſitiven Religion ganz un - abhängige Vernunftreligion, deren ganzer magerer Inhalt jene drei Begriffe: Gott, Freiheit und Unſterblichkeit, waren, indem bei der Vorausſetzung der vollen Freiheit des menſchlichen Willens die Nothwendigkeit der Erlöſung hinwegfiel, und Chriſtus zu einem bloßen Sittenlehrer wurde, der in ſeinem Tode ein hohes Beiſpiel von Auf - opferung für das Gute aufſtellte. Dieß ſind die Haupt - lehren, welche der Leſer überall wird bekämpft ſehen. Hier15 nur kurz die Grundzüge der Stilling’ſchen Polemik gegen jene Lehren. Wie — fragt er öfter — kann auf das Moral - princip die Religion gegründet werden? Iſt nicht das ſitt - liche Gefühl verſchieden bei den verſchiedenen Völkern, bei dem gebildeten Europäer und bei dem Wilden, der blutige Rache gegen ſeinen Feind für eine ſittliche Pflicht hält? Aber — ſagt man — nicht das unter den Menſchen gel - tende, entſtellte, ſondern das reine Sittengeſetz iſt der Grund der Religion. Allein, erwiedert hierauf öfters Stilling, dieſes reine Sittengeſetz iſt eine leere Formel ohne Inhalt: von allem Möglichen, Guten und Böſen, läßt ſich denken, es könne allgemeiner Grundſatz aller Menſchen werden; überhaupt aber der Menſch iſt nicht bloß ein geiſtiges, er iſt auch ein ſinnliches Weſen. Läſſeſt du alſo die künftige Belohnung oder Beſtrafung nicht mehr als Triebfeder zum ſittlichen Handeln gelten, wie wirſt du alsdann auf die Menſchen, beſonders auf den Ungebildeten, veredelnd einwirken können? Wodurch aber die Kant’ſche Philoſophie mit dem Chriſtenthum in den größten Widerſpruch kam, das war die Lehre, daß der Menſch von Natur gut und vollkommen frei ſey. Dieſen Satz nun, der zur Leugnung der Nothwendigkeit der Erlöſung führte, greift Stilling hauptſächlich an, indem er die Sündhaftigkeit der menſch - lichen Natur in ſtarken Zügen darſtellt, und hieraus den Schluß zieht, daß nur die Gnade Gottes die Menſchheit aus ihrem Verderben erlöſen konnte, daß immer noch eine Kraft von Oben nothwendig ſey, wenn der Menſch gebeſſert und geheiligt werden ſolle. Nicht nur in wiſſenſchaftlicher Form durch Schlüſſe vertheidigt er dieſe Lehre, ſondern auch dadurch, daß er die chriſtliche Lehre von der Gnade in ihrer die Menſchen beſeligenden Wahrheit an einzelnen Beiſpielen zeigt, indem er namentlich einen neugläubigen Prediger vorführt, welcher vergebens einen im tiefen Ge - fühl ſeiner Verſchuldung vor Gott zagenden Sterbenden[d]urch leere Hoffnungen, durch Vorſtellungen, als wäre ſeine Sündhaftigkeit nicht ſo groß, als er meine, zu tröſten ſucht, während derſelbe im Innerſten durch einen andern Geiſtlichen beruhigt wird, welcher ihm einerſeits die Tiefe16 der menſchlichen Schuld, andererſeits die überſchwengliche Größe der göttlichen Gnade vorſtellt.
Doch nicht bloß die ernſte Weltweisheit, ſondern auch der frivole Witz eines Voltaire und ſeiner Geiſtesver - wandten bekämpfte das Chriſtenthum, und dieſer Witz hat bei einem ſo leichtſinnigen Volke, wie das franzöſiſche iſt, die Grundpfeiler des Chriſtenthums noch tiefer erſchüttert, als die Philoſophie, welche ſich ja herabließ, dem Chriſten - thum ihr Gewand zu leihen, und es in dieſer modernen Form dem Volke vorzulegen. Nimmt man noch dazu den Luxus und die Sittenloſigkeit der damaligen Zeit, ſo be - greift man, wie einem chriſtlich denkenden Manne bange ſeyn mußte um ſein Zeitalter. Das Heimweh drückt ſchon dem Titel nach die Sehnſucht Stilling’s aus, aus dieſer unchriſtlichen Zeit, wo er beinahe allein ſtund mit ſeinem Glauben, hinweg zu ſeyn. Aber dieſe Sehnſucht ging auch über in einen ernſten Unwillen über das Treiben ſeiner Zeitgenoſſen. Der graue Mann tritt als der letzte ernſtlich warnende Geſandte Gottes an die Chriſtenheit auf, mitten in einer dunkeln, in der Finſterniß wandelnden Menſchheit, und Grauen erregend für Alle, welche dem Unglauben und Luxus ſich ergeben. Ja Stilling ſah in dem allgemeinen Abfall von Chriſto ein Zeichen der Nähe des Antichriſts, und ſomit auch der Nähe des Herrn, um in ſichtbarer Geſtalt zu richten und ſein Reich zu vollenden. Von dieſem Gedanken iſt er ſo erfüllt, daß er im Hinblick auf das nahe Reich Chriſti zur Poeſie, ſeinem Chryſäon, ſich begeiſtert fühlte: der Glaube daran war ſo ſtark, daß er ſogar Verhaltungsregeln für die Zeit des wirklichen Einbruchs des tauſendjährigen Reichs vorſchreibt, die Frage näher unterſucht, ob Chriſtus ſich Allen oder bloß den Wiedergeborenen zeigen werde, ebenſo über Zeit und Ort der Ankunft Unterſuchungen anſtellt. So befremdend dieſe Hoffnung auch Manchem erſcheinen muß, der die Sache geiſtiger aufzufaſſen gewohnt iſt, ſo eigenthumlich iſt ſie doch dem Chriſten: in jeder Zeit einer Kriſis des göttlichen Reiches, am Anfang deſſelben, oder bei großen Entwick - lungspunkten, z. B. zur Zeit der Reformation, war die17 Hoffnung auf die Wiederkunft Chriſti unter Vielen rege; und eine ähnliche Kriſis ſteht — was nur Blinde leugnen können — auch jetzt demſelben bevor, und gewiß hat Stil - ling die Grundidee, um deren Vollführung es ſich handelt, richtig angegeben, wenn er ſagt: „ einſt mit der Ausgießung des Geiſtes auf Alle werde erkannt werden, daß nun der Unterſchied der verſchiedenen chriſtlichen Partheien aufhö - ren, uns ſich Alles in wahrer Einigkeit des Geiſtes verſam - meln werde; “dieſe Grundidee wird wohl jeden freier Den - kenden anſprechen, ſey es nun, daß er hievon nur einen gei - ſtigen Umſchwung der Menſchen, oder mehr in der Weiſe der Phantaſie eine zugleich äußerliche übernatürliche Ver - änderung der Dinge hofft. Jedenfalls zeigt die neue Heraus - gabe der Bengel’ſchen Erklärung der Apokalypſe, daß jene apokalyptiſchen Hoffnungen in einem großen Theile der Chri - ſtenheit wieder rege werden. An dieſe Schrift aber ſchließt ſich paſſend als berichtigender und erläuternder Leitfaden Stil - ling’s Siegesgeſchichte an, indem hier im Allgemei - nen dieſelben Vorſtellungen, nur nicht mit einer ſolchen, man möchte ſagen, der Weltregierung Gottes vorgreifenden und dem Glauben an die Apokalypſe mehr ſchädlichen als förder - lichen Beſtimmtheit die Angabe der Zukunft enthält, na - mentlich aber, indem ſie die complicirte, dem gemeinen Mann durchaus unverſtändliche Rechnung Bengels vereinfacht, ohne im Reſultate von ihm weſentlich abzuweichen.
Wir haben bisher den einen Gegenſatz betrachtet, gegen welchen die Schriften Stilling’s gerichtet ſind. Aber ſeine Polemik iſt eine gedoppelte, und eben durch dieſe Doppel - ſeitigkeit ſeiner Polemik gewinnt er den wahren Stand - punkt, welcher ſich in der Mitte befindet zwiſchen zwei Extremen, dem Unglauben und — dem Aberglauben. Wie Stilling dieſen in ſeinem Theobald ſchildert, haben wir kurz zur Einleitung anzugeben. Die Darſtellung des Geiſtes der Schwärmerei wird ſchon deren Widerlegung in ſich ſchließen. Der Aberglaube und die Schwärmerei iſt im Allgemeinen das Bewußtſeyn über die Religion, wie es ſich in der überreizten Phantaſie des ungebildeten Volkes darſtellt, welches religiöſe Begriffe von Gott, Unſterblich -Stilling’s Schriften. I. Bd 218keit u. ſ. w. nie rein und allgemein, ſondern immer in einer ſinnlichen Form anſchauet. Zunächſt ſollte man zwar eine entgegengeſetzte Vorſtellung vom Aberglauben und von der Schwärmerei ſich bilden. Die Richtung jener Frau v. Guyon, welche im Theobald auftritt, iſt gerade gegen die ſinnliche Seite des Menſchen gekehrt. Und in der That iſt es ein Zug der Schwärmerei, nicht nur die ſinnlichen Triebe, ſondern beinahe alles Menſchliche, den freien Willen, natürliche Gefühle und das Selbſtdenken ganz zu unterdrücken. Aber eben in der völligen Unterdrückung des Selbſtes geht der Genuß des Ewigen auf, deſſen Ge - fühlen ſich der Schwärmer ganz hingibt, ſo daß er leicht wieder aus ſeiner übernatürlichen Höhe in die gemeinſte Sinnlichkeit herabfällt. Andererſeits bedenke man den von einem Schwärmer im Theobald behaupteten Grundſatz: „ Wenn man den Willen Gottes nicht wiſſe, und weder Vernunft noch Offenbarung ſichern Rath gäben, ſo ſolle man gar nichts thun, ſondern ſchweigen und ruhen, bis ſich der Willen Gottes von ſelbſt entwickle. “ Ich frage: wozu führt dieſer Grundſatz? Geſetzt, Vernunft und Offen - barung reichten (was indeß nie der Fall ſeyn kann) einmal nicht zu, über Gottes Willen uns zu belehren; muß nicht irgend ein Organ in uns ſeyn, wodurch ſich alsdann Gott uns offenbarte? Da aber die Vernunft ausdrücklich aus - geſchloſſen iſt, was bleibt für eine andere Quelle höherer Erkenntniß übrig, als die Phantaſie oder das Gefühl? Wahrlich aber, daß dieſe Phantaſie, daß dieſes Gefühl ebenſo falſch, unſittlich und höchſtverkehrt, als dem Willen Gottes angemeſſen ſeyn könne, davon liefert eben die Er - zählung „ Theobald “traurige Beiſpiele: wenn z. B. der arme Bauernpurſche Theobald und ein Fräulein Amalie die aller menſchlichen Ordnung zuwiderlaufenden Einge - bungen ihrer fleiſchlichen Liebe für Gottes Willen halten, oder wenn in der ſogenannten Berlenburger Gemeinde Abſcheulichkeiten vorfallen, welche leicht an die falſchen Beſchuldigungen gegen die erſten Chriſten erinnerten, hätte nicht der Erzähler gerade das Intereſſe, den Pietismus in einem ſchöneren Lichte darzuſtellen; oder endlich, wenn19 der neunjährige Sohn jenes Theobalds, deſſen Phantaſie ſchon frühe durch myſtiſche Schriften im höchſten Grade entzündet wurde, ſchon in dieſem Alter Sünden der Ge - ſchlechtsliebe begehen und den abenteuerlichen Entſchluß faſſen und ausführen kann, dieſe ſündhafte Welt zu ver - laſſen und Einſiedler zu werden. Reichen Stoff und Nah - rung findet dieſe geſteigerte Phantaſie in der Lehre vom tauſendjährigen Reiche, deſſen Nähe alle ſchwärmeriſchen Secten wähnen, und in deſſen Ausmahlung in glänzenden ſinnlichen Bildern ſich ſtets ihre durch die Vernunft nicht geregelte Einbildungskraft ergeht, während die wahrhafte Frömmigkeit ſich mit der Wirklichkeit befreundet und die verſchiedenen Verhältniſſe, in denen wir als Familien -, Standes - und Staatsgenoſſen leben, durchdringt, beſeelt und verklärt. Endlich iſt ein Durchweg in dieſen Köpfen ſprudelnde Hoffnung die Wiederbringung aller Dinge, d. h. die Lehre, daß Alles, daß namentlich ſowohl böſe als gute Menſchen in Gott einſt wieder zurückkehren werden. An ſich iſt es wahr, daß Gott das Alleine ſey, das in allen Din - gen iſt. Aber zugleich lehrt die Vernunft und das Chriſten - thum, daß eine ewige Verſchiedenheit die Menſchen, ja ein ewiger Gegenſatz von Guten und Böſen Statt fin - den werde. Wir ſagen, die Vernunft iſt es, die dieß lehrt. Denn, weil der Menſch ein freies Weſen iſt, und bei jedem ein eigenthümlicher Gebrauch dieſes Willensvermögens Statt findet, ſo wird nie jene völlige Einheit aller in Gott zu Stande kommen. Ueber dieſe wirklichen Unterſchiede der Menſchen fliegt aber die Phantaſie des Schwärmers hinweg; er verſenkt ſich mit ſeinem trüben Gefühle in jene dunkle und myſtiſche Einheit aller Dinge, und je tiefer er ſich in dieſen Abgrund der endlichen vielgeſtalteten Welt im Geiſte be - gibt, deſto weniger fühlt er ſich in der Gegenwart der ent - wickelten und mannigfaltigen Welt, die in Unterſchiede von Charakteren, Ständen u. ſ. w. getheilt iſt — einheimiſch, und ſo bildet und verſtärkt ſich in ihm immer mehr der Wi - derwille gegen die wirkliche Ordnung der Dinge, ein Wider - wille, welcher oft in halsſtarrigen Ungehorſam gegen alle geiſtliche und weltliche Obrigkeit überſchlagen kann. Daher2 *20iſt es in der That ein ſchöner Gang in der Geſchichte Theo - balds, daß er denſelben, nachdem er alle mögliche Verirrun - gen durchlaufen, ſeine Verſöhnung im Staate finden läßt, in dem Theobald zulezt als hoher Staatsbeamter befreundet mit der wirklichen Welt und in ihr hohen Segen ſtiftend, auftritt.
Wir haben bisher im Allgemeinen die Richtung und den Geiſt darzuſtellen geſucht, welcher in den Schriften Stillings waltet. Ich glaube, wir dürfen nun kaum mehr fragen: Iſt Stillings Wiedererſcheinen weſentliches Bedürfniß der Zeit? gehört er nicht mit ſeiner Polemik einer verſchollenen Bil - dungsſtufe an, hat er nicht etwa Bedeutung blos für die da - malige Zeit, die damalige Denkweiſe, mit deren Bekämpfung er ſich immer beſchäftigt? Dieſe Frage, ſagen wir — dür - fen wir kaum mehr aufwerfen. Nicht nur bleibt der poſi - tive Theil der in ſeinen ſchriftſtelleriſchen Werken geäuſ - ſerten Weltanſicht, ſo lange das Chriſtenthum beſteht; und dieſe ſeine Weltanſicht nun — könnte ſie in einer lebendi - gern, anziehendern Form dargeſtellt ſeyn, als der phantaſie - volle Stilling es that? — ich ſage nicht nur nach ihrer poſiti - ven, auch nach ihrer polemiſchen Seite hin wird Stil - lings Tendenz noch für unſere Zeit von Bedeutung ſeyn. Die - jenige Auffaſſung des Chriſtenthums, welche durch die Kant’ - ſche Philoſophie ſich geſtaltete, iſt nicht etwa eine erſt damals gewordene, ſondern eine im Weſentlichen uralte, ſie iſt die des gewöhnlichen Menſchenverſtandes, welcher Gott in ein Jenſeits ſetzt, die Menſchheit ihrer Göttlichkeit entleert, alſo auch die Gottmenſchheit Chriſti und die ſich in uns einſen - kende Gnade leugnet, und dagegen ſtatt der in Gott zur Fülle gelangenden Freiheit, ein Vermögen leerer Willkühr im Menſchen ſetzt, welche nie das Gute an ſich erreicht, weßwe - gen zugleich eine Unſterblichkeit angenommen werden muß, in welcher der Menſch immer dem Unendlichen ſich nähern ſoll, ohne je mit demſelben eins zu werden. Die Syſteme der Arianer, Neſtorianer und Socianer ſind ganz verwandte Richtungen, und man kann ſagen — die Glieder der höhe - ren, ſogenannten aufgeklärten Stände ſind beinahe durch - gängig dieſer geiſtesarmen Weltanſicht zugethan. Der Feind alſo, den Stilling bekämpft, iſt noch nicht geſtorben,21 er lebt immer noch. Wo nun fändeſt du gegen dieſen Feind einen ſolchen Streiter des Herrn, wie dieſer Stilling war?
Allerdings als Philoſophie, als herrſchendes Syſtem iſt Kant’s Theorie durch neuere Formen der Weltweisheit verdrängt werden. Aber dieſe ſelbſt nun, ha - ben ſie ſich dem Chriſtenthum genähert? Wenn die neueſte Philoſophie Gott als Geiſt der Welt definirt, leugnet ſie da - mit nicht die Perſönlichkeit Gottes, welche eine Hauptlehre der chriſtlichen Religion iſt? Zwar nähert ſie ſich der Reli - gion dadurch, daß ſie die Lehre von der gottmenſchlichen Würde Chriſti vertheidigt; aber iſt dieß von ihr in dem ei - genthümlich chriſtlichen Sinne gemeinet, nach welchem Chri - ſtus ſpezifiſch von allen übrigen Menſchen verſchieden iſt; wird nicht vielmehr jene Einheit mit Gott, welche ſie Chriſto beilegt, zugleich als weſentliche Beſtimmung aller Men - ſchen behauptet?
Leuchtet hieraus ſchon der Widerſpruch der herrſchenden Philoſophie mit der Religion ein, ſo zeigt ſich dieſe In - haltsverſchiedenheit beider noch viel mehr in der philoſo - phiſchen Leugnung der perſönlichen Unſterblichkeit, welche letztere Lehre ſogar eine ebenſo wichtige Stellung in der chriſt - lichen Weltanſicht einnimmt, als der Lehre von Chriſti Per - ſon. Leugnet unſer Mitalter das Jenſeits, ſo kann es ſein wahres und göttliches Weſen nur im Staate finden. Der St. Simonismus ſprach in dieſer Beziehung ganz den Geiſt der Zeit aus, und er hätte gewiß größern Anhang gefunden, würde er nicht eine dem verhaßten hierarchiſchen Papismus verwandte Staatsform in ſein Syſtem aufgenommen haben. Aber im Lerminier tritt die neueſte philoſophiſch-religiöſe Richtung in ihrer ganzen Eigenthümlichkeit beſtimmt her - vor: Die Religion iſt hier ganz eins mit dem Staatsleben, und zwar iſt die Volksſouveränetät die angebetete Gottheit, auf deren Altar Religion, Wiſſenſchaft, Kunſt, ſowie alle menſchlichen Beſtrebungen ihre Erſtlinge als Weiheopfer niederlegen ſollen.
Ohne über die Wahrheit dieſer Lehren etwas hier zu ſa - gen, ſo bemerken wir nur: daß die allgemeine Leugnung des Jenſeits nothwendig von der religiöſen Seite eine Gegenwir -22 kung erwecken mußte. Es konnte nicht anders ſeyn: die ſelbſt in einer anomalen Form, im Zuſtande geiſtiger und leiblicher Zerrüttung ſich kundthuenden Hinweiſungen auf ein Jenſeits und auf das Hereinragen der Geiſterwelt in das Dieſſeits — dieſe Aeußerungen von Somnambülen muß - ten überall Aufſehen, überall Theilnahme erregen. Und an dieſe Erſcheinungen ſchließt ſich das unſerem Stilling eigenthümliche, ihm einerſeits hohe Bewunderung, anderer - ſeits Haß und Verachtung zuziehende Werk, die Theorie der Geiſterkunde. „ Da die heut zu Tage herrſchende Denkart, die aus der falſchen Aufklärung entſtanden iſt, die Bibellehre von Engeln, von der Fortdauer der menſchlichen Seele nicht annimmt, ſo frage ich jeden auf ſein Gewiſſen, ob es nicht Pflicht ſey, die Erfahrungszeugniſſe verſtorbener Menſchen öffentlich bekannt zu machen, und dadurch die Bi - bellehre zu bewahrheiten? “ Dieß iſt der von Stilling ſelbſt angegebene Endzweck ſeiner Schrift. Stilling war kein aber - gläubiſcher Bewunderer des Somnambulismus. Er erblickt in ihm eine außerordentliche Entwicklung einzelner, dem Menſchen angeborenen Kräfte, des Ahnungsvermögens und der Einbildungskraft (S. ſ. grauen Mann St. 29). Er war einer der Erſten, welche den Somnambulismus theo - retiſch zu begründen ſuchten: er ſtellte die Principien, auf welche man noch immer zurückgeht, die Lehre vom Aether, Nervengeiſt, Ahnungsvermögen zuerſt in wiſſenſchaftlicher Form auf. In dieſer Wiſſenſchaftlichkeit ſeines Ganges liegt einerſeits ſchon ein Bürge, daß er ſich frei erhielt vom un - bedingten Glauben an die ſomnambulen Erſcheinungen, wie an höhere Offenbarungen: andererſeits hat er ſich eben da - durch einen ſicheren Platz im Gebiete der auf den Somnam - bulismus ſich beziehenden, immer weiter ſchreitenden Wiſ - ſenſchaft, hiemit auch in dieſer Beziehung eine hohe Bedeu - tung für die von der regen Theilnahme an dieſen außeror - dentlichen Erſcheinungen und von der wiſſenſchaftlichen Er - klärung derſelben beinahe ganz verſchlungene Gegenwart erworben.
Dr. J. N. Grollmann.
In Weſtphalen liegt ein Kirchſprengel in einem ſehr bergich - ten Landſtriche, auf deſſen Hoͤhen man viele kleine Grafſchaf - ten und Fuͤrſtenthuͤmer uͤberſehen kann. Das Kirchdorf heißt Florenburg; die Einwohner aber haben von Alters her einen großen Eckel vor dem Namen eines Dorfs gehabt, und daher, ob ſie gleich auch von Ackerbau und Viehzucht leben muͤſſen, vor den Nachbarn, die bloße Bauern ſind, immer einen Vorzug zu behaupten geſucht, die ihnen aber auch da - gegen nachſagten, daß ſie vor und nach den Namen Floren - dorf verdraͤngt, und an deſſen Statt Florenburg eingefuͤhrt haͤtten; dem ſey aber wie ihm wolle, es iſt wirklich ein Ma - giſtrat daſelbſt, deſſen Haupt zu meiner Zeit Johannes Henrikus Scultetus war. Ungeſchlachte, unwiſſende Leute nannten ihn außer dem Rathhauſe Meiſter Hans, huͤbſche Buͤrger pflegten doch auch wohl Meiſter Schulde zu ſagen.
Eine Stunde von dieſem Orte ſuͤdoſtwaͤrts liegt ein kleines Doͤrfchen, Tiefenbach, von ſeiner Lage zwiſchen Bergen ſo genannt, an deren Fuͤße die Haͤuſer zu beiden Seiten des Waſ - ſers haͤngen, das ſich aus den Thaͤlern von Suͤd und Nord her juſt in die Enge und Tiefe zum Fluß hinſammelt. Der oͤſt - liche Berg heißt der Giller, geht ſteil auf, und ſeine Flaͤche nach Weſten gekehrt, iſt mit Maibuchen dicht bewachſen. Von ihm iſt eine Ausſicht uͤber Felder und Wieſen, die auf beiden Seiten durch hohe verwandte Berge geſperrt wird. Sie ſind ganz mit Buchen und Eichen bepflanzt, und man ſieht keine Luͤcke, außer wo manchmal ein Knabe einen Ochſen hinauf treibt und Brennholz auf halb gebahntem Wege zuſammen - ſchleppt.
26Unten am noͤrdlichen Berge, der Geiſenberg genannt, der wie ein Zuckerhut gegen die Wolken ſteigt, und auf deſſen Spitze Ruinen eines alten Schloſſes liegen, ſteht ein Haus, worin Stillings Eltern und Voreltern gewohnt haben.
Vor ungefaͤhr dreißig Jahren lebte noch darin ein ehrwuͤr - diger Greis, Eberhard Stilling, ein Bauer und Koh - lenbrenner. Er hielt ſich den ganzen Sommer durch im Walde auf und brannte Kohlen; kam aber woͤchentlich einmal nach Hauſe, um nach ſeinen Leuten zu ſehen, und ſich wieder auf eine Woche mit Speiſen zu verſehen. Er kam gemeiniglich Sonnabends Abends, um den Sonntag nach Florenburg in die Kirche gehen zu koͤnnen, allwo er ein Mitglied des Kirchen - raths war. Hierin beſtanden auch die mehreſten Geſchaͤfte ſeines Lebens. Sechs großgezogene Kinder hatte er, wovon die zween aͤlteſten Soͤhne, die vier juͤngſten aber Toͤchter waren.
Einsmals, als Eberhard den Berg herunter kam, und mit dem ruhigſten Gemuͤthe die untergehende Sonne betrach - tete, die Melodie des Liedes: Der lieben Sonnen Lauf und Pracht hat nun den Tag vollfuͤhret, auf einem Blatt pfiff, und dabei das Lied durchdachte, kam ſein Nach - bar Staͤhler hinter ihm her, der ein wenig geſchwinder gegangen war, und ſich eben nicht viel um die untergehende Sonne bekuͤmmert haben mochte. Nachdem er eine Weile ſchon nahe hinter ihm geweſen, auch ein paarmal fruchtlos gehuſtet hatte, fing er ein Geſpraͤch an, das ich hier woͤrtlich beifuͤ - gen muß.
„ Guten Abend, Ebert! “
Dank hab, Staͤhler! (indem er fortfuhr, auf dem Blatt zu pfeifen.)
„ Wenn das Wetter ſo bleibt, ſo werden wir unſer Gehoͤlze bald zugerichtet haben. Ich denke, dann ſind wir in drei Wochen fertig. “
Es kann ſeyn. (Nun pfiff er wieder fort.)
„ Es will ſo nicht recht mehr mit mir fort, Junge! Ich27 bin ſchon acht und ſechzig Jahr alt, und du wirſt halt ſieben - zig haben. “
Das ſoll wohl ſeyn. Da geht die Sonne hinter den Berg unter, ich kann mich nicht genug erfreuen uͤber die Guͤte und Liebe Gottes. Ich war ſo eben in Gedanken daruͤber; es iſt auch mit uns Abend, Nachbar Staͤhler! der Schatten des Todes ſteigt uns taͤglich naͤher, er wird uns erwiſchen, ehe wir’s uns verſehen. Ich muß der ewigen Guͤte danken, die mich nicht nur heute, ſondern den ganzen Lebenstag durch mit vielem Beiſtand getragen, erhalten und verſorgt hat.
„ Das kann wohl ſeyn. “
Ich erwarte auch wirklich ohne Furcht den wichtigen Augen - blick, wo ich von dieſem ſchweren, alten und ſtarren Leib be - freit werden ſoll, um mit den Seelen meiner Voreltern, und anderer heiligen Maͤnner, in einer ewigen Ruhe umgehen zu koͤnnen. Da werd’ ich finden: Doctor Luther, Calvi - nus, Oecolompadius, Bucerus, und Andere mehr, die mir unſer ſel. Paſtor, Herr Winterberg, ſo oft geruͤhmt, und geſagt hatte, daß ſie naͤchſt den Apoſteln, die froͤmmſten Maͤnner geweſen.
„ Das kann moͤglich ſeyn! Aber ſag’ mir Ebert, haft du die Leute, die du da herzaͤhlſt, noch gekannt? “
Wie ſchwatzeſt du? die ſind uͤber zweihundert Jahr todt.
„ So; — das waͤre! “
Dabei ſind alle meine Kinder groß, ſie haben ſchreiben und leſen gelernt, ſie koͤnnen ihr Brod verdienen, und haben mich und meine Margareth bald nicht mehr noͤthig.
„ Noͤthig? — hat ſich wohl! — Wie leicht kann ſich ein Maͤdchen oder Junge verlaufen, ſich irgend mit armen Leuten abgeben, und ſeiner Familie einen Klatſch anhaͤngen, wenn die Eltern nicht mehr Acht geben koͤnnen! “
Vor dem allem iſt mir nicht bange. Gott Lob! daß mein Achtgeben nicht noͤthig iſt. Ich hab’ meinen Kindern durch meine Unterweiſung und Leben einen ſo großen Abſcheu gegen das Boͤſe eingepflanzt, daß ich mich nicht mehr zu fuͤrchten brauche.
28Staͤhler lachte herzlich, eben wie ein Fuchs lachen wuͤrde, wenn er koͤnnte, der dem wachſamen Hahn ein Huͤhnchen ent - fuͤhrt hat, und fuhr fort:
„ Ebert, du haſt viel Vertrauen auf deine Kinder. Ich denke aber, du wirſt wohl die Pfeife in den Sack ſtecken, wenn ich dir alles ſagen werde, was ich weiß. “
Stilling drehte ſich um, ſtand und ſtuͤtzte ſich auf ſeine Holzaxt, laͤchelte mit dem zufriedenſten und zuverſichtlichſten Geſichte, und ſagte: Was weißeſt du denn, Staͤhler, das mir ſo weh in der Seele thun ſoll?
„ Haſt du gehoͤrt, Nachbar Stilling, daß dein Wilhelm, der Schulmeiſter, heirathet? “
Nein, davon weiß ich noch nichts.
„ So will ich dir ſagen, daß er des vertriebenen Predigers Moritzens Tochter zu Lichthauſen haben will, und daß er ſich mit ihr verſprochen hat. “
Daß er ſich mit ihr verſprochen hat, iſt nicht wahr; daß er ſie aber haben will, das kann ſeyn.
Nun gingen ſie wieder.
„ Kann das ſeyn? Ebert! — Kannſt du das leiden? Ein Bettelmenſch, das nichts hat, kannſt du das deinem Sohn geben? “
Gebettelt haben des ehrlichen Mannes Kinder nie; und wann ſie’s haͤtten? — Aber welche Tochter mag es ſeyn? Moritz hat zwo Toͤchter.
„ Dortchen. “
Mit Dortchen will ich mein Leben beſchließen. Nie will ich es vergeſſen! Sie kam einmal zu mir auf einen Sonntag Nachmittag, gruͤßte mich und Margareth von ihrem Vater, ſetzte ſich und ſchwieg. Ich ſah ihr an den Augen an, daß ſie was wollte, auf den Backen aber las ich, daß ſie’s nicht ſa - gen konnte. Ich fragte ſie, braucht ihr was? Sie ſchwieg und ſeufzte. Ich ging und holte ihr vier Reichsthaler; da! ſagte ich, die will ich euch leihen, bis ihr mir ſie wieder ge - ben koͤnnt.
29„ Du haͤtteſt ſie ihr wohl ſchenken koͤnnen; die bekommſt du dein Lebetag nicht wieder! “
Das war auch meine Meinung, daß ich ihr das Geld ſchenken wollte. Haͤtt’ ich es ihr aber geſagt, das Maͤdchen haͤtte ſich noch mehr geſchaͤmt. Ach, ſagte ſie, beſter liebſter Vater Stilling! (das gute Kind weinte blutige Thraͤnen) wenn ich ſeh’, wie mein alter Papa ſein trocken Brod im Mund herumſchlaͤgt, und kann es nicht kauen, ſo blutet mir das Herz.
Meine Margareth lief, holte einen großen Topf ſuͤße Milch, und ſeitdem hat ſie alle Woche ein paarmal ſuͤße Milch da - hin geſchickt.
„ Und du kannſt leiden, daß Wilhelm das Maͤdchen nimmt? “
Wenn er’s haben will, von Herzen gern. Geſunde Leute koͤnnen was verdienen, reiche Leute koͤnnen das Ihrige verlieren.
„ Du haſt vorhin geſagt, du wuͤßteſt noch nichts davon. Du weißt doch, wie du ſagſt, daß er ſich noch nicht mit ihr ver - ſprochen hat. “
Das weiß ich! — Er fragt mich gewiß vorher.
„ Hoͤr’! Er dich fragen? Ja, da kannſt du lange warten! “
Staͤhler! ich kenne meinen Wilhelm. Ich hab’ meinen Kindern immer geſagt, ſie koͤnnten ſo arm und ſo reich hei - rathen als ſie wollten und koͤnnten, ſie ſollten nur auf Fleiß und Froͤmmigkeit ſehen. Meine Margareth hatte nichts, und ich ein Gut mit vielen Schulden. Gott hat mich geſegnet, ich kann jedem hundert Gulden baar mitgeben.
„ Ich bin kein Gleichviels-Mann, wie du! Ich muß wiſ - ſen was ich thue, und meine Kinder ſollen heirathen, wie ich’s vor’s beſte erkenne. “
Ein jeder macht die Schuh nach ſeinem Leiſten, ſagte Stilling. Nun war er nah vor ſeiner Hausthuͤr.
Margareth Stilling hatte ſchon ihre Toͤchter zu Bette ge - hen laſſen. Ein Stuͤck Pfannenkuchen ſtand vor ihrem Ebert auf einem irdenen Teller in der heißen Aſche; ſie hatte auch noch ein wenig Butter dazu gethan. Ein Kuͤmpfchen mit ge - brockter Milch ſtand auf der Bank, und ſie begann zu ſorgen,30 wo ihr Mann wohl ſo lange bleiben moͤchte. Indem raſſelte die Klinge an der Thuͤre, und er trat herein. Sie nahm ihm ſeinen leinenen Querſack von der Schulter, deckte den Tiſch und brachte ihm ſein Eſſen. Jemini! ſagte Margareth, der Wilhelm iſt noch nicht hier. Es wird ihm doch nicht etwa Ungluͤck begegnet ſeyn. Sind auch wohl Woͤlfe hier herum? Hat ſich wohl, ſagte der Vater, und lachte: denn das war ſo ſeine Gewohnheit, er lachte oft ſtark, wenn er ganz allein war.
Der Schulmeiſter, Wilhelm Stilling, trat hierauf in die Stube. Nachdem er ſeine Eltern mit einem guten Abend gegruͤßt, ſetzte er ſich auf die Bank, legte die Hand an den Backen und war tiefſinnig. — Er ſagte lange kein Wort. Der alte Stilling ſtocherte ſeine Zaͤhne mit einem Meſſer, denn das war ſo ſeine Gewohnheit nach Tiſche zu thun, wenn er auch ſchon kein Fleiſch gegeſſen hatte. Endlich fing die Mut - ter an: Wilhelm, mir war als bang, dir ſollte was wi - derfahren ſeyn, weil du ſo lange ausbleibſt. Wilhelm ant - wortete: O, Mutter! das hat keine Noth. Mein Vater ſagt ja oft, wer auf ſeinen Berufswegen geht, darf nichts fuͤrch - ten. Hier wurd’ er bald bleich, bald roth, endlich brach er ſtammelnd los, und ſagte: Zu Lichthauſen (ſo hieß der Ort, wo er Schule hielt, und dabei den Bauern ihre Kleider machte) wohnt ein armer vertriebener Prediger, ich waͤre wohl willens, ſeine juͤngſte Tochter zu heirathen; wenn ihr beide Eltern es zufrieden ſeyd, ſo wird ſich kein Hinderniß mehr finden. Wil - helm, antwortete der Vater, du biſt drei und zwanzig Jahr alt; ich habe dich lehren laſſen, du haſt Erkenntniß genug, kannſt dir aber in der Welt nicht ſelber helfen, denn du haſt gebrechliche Fuͤße; das Maͤdchen iſt arm, und zur ſchweren Arbeit nicht angefuͤhrt; was haſt du fuͤr Gedanken, dich Ins - kuͤnftige zu ernaͤhren? Der Schulmeiſter antwortete: Ich will mit meiner Handthierung mich wohl durchbringen, und mich im uͤbrigen ganz an die goͤttliche Vorſorge uͤbergeben; die wird mich und meine Dorthe eben ſowohl naͤhren, als alle Voͤgel des Himmels. Was ſagſt du, Margareth? ſprach der Alte. — Hm! was ſollt ich ſagen, verſetzte ſie: weißt31 du noch, was ich dir zur Antwort gab, in unſern Brautta - gen? Laß uns Wilhelmen mit ſeiner Frau zu uns nehmen, er kann ſein Handwerk treiben. Dorthe ſoll mir und meinen Toͤchtern helfen, ſo viel ſie kann. Sie lernt noch immer et - was, denn ſie iſt noch jung. Sie koͤnnen mit uns an den Tiſch gehen; was er verdient, das gibt er uns, und wir verſorgen dann Beide mit dem Noͤthigen: ſo gehts, mein’ ich, am beſten. Wenn du meinſt, erwiederte der Vater, ſo mag er das Maͤdchen holen. Wilhelm! Wilhelm! denke was du thuſt, es iſt nichts Geringes. Der Gott deiner Vaͤter ſegne dich mit allem, was dir und deinem Maͤdchen noͤthig iſt. Wilhelmen ſtanden die Thraͤnen in den Augen. Er ſchuͤttelte Vater und Mutter die Hand, verſprach ihnen alle Treue, und ging zu Bette. Und nachdem der alte Stilling ſein Abendlied geſungen, die Thuͤr mit dem hoͤlzernen Wirbel zugeklemmt, Margareth aber nach den Kuͤhen geſehen hatte, ob ſie alle laͤgen und wiederkaͤueten, ſo gingen ſie auch ſchlafen.
Wilhelm kam auf ſeine Kammer, an welcher nur ein Laden war, der aber eben ſo genau nicht ſchloß, daß nicht ſo viel Tag haͤtte durchſchimmern koͤnnen, um zu wiſſen, ob man aufſtehen muͤſſe. Dieſes Fenſter war noch offen, daher trat er an daſſelbe, es ſah gerade gegen den Wald hin; alles war in tiefer Stille, nur zwo Nachtigallen ſangen wechſels - weiſe auf das allerlieblichſte. Dieſes war Wilhelmen oͤfters ein Wink geweſen. Er ſank an der Wand nieder. „ O Gott! ſeufzte er, dir dank ich, daß du mir ſolche Eltern gegeben haſt! O, laß ſie Freude an mir ſehen! Laß mich ihnen nicht zur Laſt ſeyn! Dir dank ich, daß du mir eine tugend - hafte Frau gibſt! O ſegne mich! “— Thraͤnen und Empfin - dungen hemmten ihm die Sprache, und da redete ſein Herz unausſprechliche Worte, welche nur die Seelen empfinden und kennen, die ſich in gleicher Lage befunden haben.
Nie hat Jemand ſanfter geſchlafen, als der Schulmeiſter. Sein inniges Vergnuͤgen weckte ihn des Morgens fruͤher als ſonſt. Er ſtand auf, ging heraus in den Wald und erneuerte32 alle ſeine heiligen Vorſaͤtze, die er je in ſeinem Leben ſich vor - genommen hatte. Um ſieben Uhr ging er wieder nach Haus, und aß mit ſeinen Eltern und Schweſtern die ſuͤße Milchſuppe und ein Butterbrod. Nachdem ſich nun der Vater zuerſt, hernach auch der Sohn den Bart abgemacht, die Mutter aber mit den Toͤchtern ſich berathſchlaget, wer unter ihnen zu Hauſe bleiben, und wer in die Kirche gehen ſollte, ſo zog man ſich an. Dieſes alles war in einer halben Stunde geſchehen; ſo - dann gingen die Toͤchter vor, darnach Wilhelm, und zu hin - derſt der Vater mit ſeinem dicken Dornenſtocke. Wenn der alte Stilling mit ſeinen Kindern ausging, ſo mußten ſie allemal vor ihm gehen, damit er, wie er zu ſagen pflegte, den Gang und die Sitten ſeiner Kinder ſehen, und ſie zur Ehr - barkeit anfuͤhren koͤnnte.
Nach der Predigt ging Wilhelm wieder nach Licht - hauſen, wo er Schulmeiſter war, und wo auch ſein aͤlte - rer verheiratheter Bruder, Johann Stilling, wohnte. In einem andern Nachbarhauſe hatte der alte Paſtor Moritz mit ſeinen zwo Toͤchtern ein paar Kammern gemiethet, in welchen er ſich aufhielt. Nachdem nun den Nachmittag Wil - helm ſeinen Bauern eine Predigt in der Kapelle vorgeleſen, und mit ihnen nach altem Brauch ein Lied geſungen, ſo eilte er, ſo geſchwind als es nur ſeine gebrechlichen Fuͤße zulaſſen wollten, nach Herrn Moritzen. Der alte Mann ſaß eben vor ſeinem Clavier, und ſpielte ein geiſtlich Lied. Sein Schlaf - rock war ſehr reinlich und ſchoͤn gewaſchen, nirgend ſah man einen Riß, aber wohl hundert Lappen. Neben ihm auf einer Kiſte ſaß Dorothe, ein Maͤdchen von zwei und zwanzig Jah - ren, ebenfalls ſehr reinlich, aber aͤrmlich, angezogen, die gar anmuthig das Lied zu ihres Vaters Melodie ſang. Sie winkte ihrem Wilhelm heiterlaͤchelnd. Er ſetzte ſich zu ihr und ſang mit aus ihrem Buch. Sobald das Lied zu Ende war, gruͤßte der Paſtor Wilhelmen und ſagte: Schulmeiſter, ich bin nie vergnuͤgter, als wenn ich ſpiele und ſinge. Wie ich noch Pre - diger war, da ließ ich manchmal lange ſingen, weil unter ſo viel vereinigten Stimmen das Herz weit uͤber alles Irdiſche33 ſich wegzwingt. Doch ich muß etwas anders mit euch reden. Mein Dortchen hat mir geſtern Abend herausgeſtammelt, daß es euch lieb habe; ich bin aber arm; was ſagen eure Eltern? Sie ſind mit allem herzlich wohl zufrieden, antwortete Wil - helm. Dortchen drangen Thraͤnen aus ihren hellen Augen, und der alte ehrwuͤrdige Mann ſtand auf, nahm ſeiner Toch - ter rechte Hand, gab ſie Wilhelmen und ſagte: Ich habe nichts in der Welt, als zwo Toͤchter; dieſe iſt mein Aug - apfel; nimm ſie, Sohn! nimm ſie! — Er weinte — „ der Se - gen Jehova triefe auf euch herunter, und mache euch geſegnet vor ihm und ſeinen Heiligen und geſegnet vor der Welt! Eure Kinder muͤſſen wahre Chriſten werden, eure Nachkommen ſeyen groß! Sie muͤſſen angeſchrieben ſtehen im Buche des Lebens! Mein ganzes Leben war Gott geheiliget; unter vielen Schwach - heiten, aber ohne Anſtoß hab’ ich gewandelt und alle Men - ſchen geliebt; dieß ſey auch eure Richtſchnur, ſo werden meine Gebeine in Frieden ruhen! “ Er wiſchte ſich hier die Augen. Beide Verlobten kuͤßten ihm Haͤnde, Backen und Mund, und hernach auch ſich ſelbſt zum Erſtenmale, und ſo ſaßen ſie wie - der nieder. Der alte Herr fing hierauf an: Aber Dortchen, dein Braͤutigam hat gebrechliche Fuͤße, haſt du das noch nicht geſehen? Ja, Papa, ſagte ſie, ich hab’s geſehen; aber er re - det immer ſo gut und ſo fromm mit mir, daß ich ſelten Acht auf ſeine Fuͤße gebe.
„ Gut, Dortchen, die Maͤdchen pflegen doch auch wohl auf die Leibesgeſtalt zu ſehen. “
Ich auch, Papa, gab ſie zur Antwort; aber Wilhelm gefaͤllt mir ſo, wie er iſt; haͤtte er nun gerade Fuͤße, ſo waͤre er Wilhelm Stilling nicht, und wie wuͤrde ich ihn denn lieb haben koͤnnen?
Der Paſtor laͤchelte zufrieden und fuhr fort: Du wirſt nun dieſen Abend auch die Kuͤche beſtellen muͤſſen, denn der Braͤu - tigam muß mit dir eſſen. Ich hab’ nichts, ſagte die unſchul - dige Braut, als ein wenig Milch, Kaͤſe und Brod: wer weiß aber, ob mein Wilhelm damit zufrieden iſt? Ja, verſetzte Wilhelm, ein Stuͤck trocken Brod mit auch zu eſſen, iſt an -Stilling’s Schriften. I. Bd. 334genehmer, als fette Milch mit Wetßbrod und Eierpfannen - kuchen. Herr Moritz zog indeſſen ſeinen abgetragenen brau - nen Rock mit ſchwarzen Knoͤpfen und Knoͤpfloͤchern an, nahm ſein lakirt geweſenes Rohr, ging und ſagte: Da will ich zum Amtsverwalter gehen, er wird mir ſeine Flinte leihen, und dann will ich ſehen, ob ich etwas ſchießen kann. Das that er oft, denn er war in ſeiner Jugend ein Freund von der Jagd geweſen.
Nun waren unſere Verlobten allein, und das hatten ſie Beide gewuͤnſcht. Wie er fort war ſchlugen ſie die Haͤnde in ein - ander, ſaßen neben einander, und erzaͤhlten ſich, was ein Je - des empfunden, geredet und gethan, ſeitdem ſie ſich einander gefallen hatten. Sobald ſie fertig waren, fingen ſie wieder von vorne an, und gaben der Geſchichte vielerlei Wendungen; ſo war ſie immer neu: fuͤr alle Menſchen langweilig, nur fuͤr ſie nicht.
Friedrike, Moritzens andere Tochter, unterbrach dieſes Vergnuͤgen. Sie ſtuͤrmte herein, indem ſie ein altes Hiſtorien-Lied daherſang. Sie ſtutzte. Stoͤr’ ich euch? fragte ſie. — Du ſtoͤrſt mich nie, ſagte Dortchen; denn ich gebe nie - mals Acht auf das, was du ſagſt oder thuſt. Ja, du biſt fromm, verſetzte jene; aber du darfſt doch ſo nah bei dem Schulmeiſter ſitzen? doch der iſt auch fromm. — Und noch dazu dein Schwager, fiel ihr Dorthe in die Rede, heute haben wir uns verſprochen. — Das gibt alſo eine Hochzeit fuͤr mich, ſagte Friedrike, und huͤpfte wieder zur Thuͤre hinaus.
Indem ſie ſo vergnuͤgt beiſammen ſaßen, ſtuͤrmte Friedrike wuͤthend wieder in die Kammer. Ach! rief ſie ſtammelnd, da bringen ſie meinen Vater blutig ins Dorf. Joſt, der Jaͤger, ſchlaͤgt ihn noch immer, und drei von Junkers Knech - ten ſchleppen ihn fort. Ach! ſie ſchlagen ihn todt! Dort - chen that einen hellen Schrei und floh zur Thuͤre hinaus. Wilhelm eilte ihr nach, aber der gute Menſch konnte nicht ſo geſchwind fort, wie die Maͤdchen. Sein Bruder Johann wohnte nah bei Moritzen, dem rief er. Dieſe beide gingen dann auf den Laͤrm zu. Sie fanden Moritzen in dem Wirths -35 hauſe auf einem Stuhl ſitzen; ſeine grauen Haare waren von Blut zuſammengebacken; die Knechte und der Jaͤger ſtanden um ihn, fluchten, ſpotteten, knuͤpften ihm Faͤuſte vor die Naſe, und eine geſchoſſene Schnepfe lag vor Moritzen auf dem Tiſch. Der unpartheiiſche Wirth trug ruhig Branntwein zu. Frie - drike bat flehentlich um Gnade, und Dortchen um ein wenig Branntwein, dem Vater den Kopf zu waſchen: allein ſie hatte kein Geld, zu bezahlen, und der Schade war auch zu groß fuͤr den Wirth, ihr ein halbes Glas zu ſchenken. Doch, wie die Weiber von Natur barmherzig ſind, ſo brachte die Wirthin einen Scherben, der unter dem Zapfen des Brannt - weins geſtanden, und daraus wuſch Dortchen dem Vater den Kopf. Moritz hatte ſchon vielmal geſagt, daß ihm der Junker Erlaubniß gegeben, ſo viel zu ſchießen, als ihm be - liebte; allein der war nun jetzt zum Ungluͤcke verreiſet; der Paſtor ſchwieg dabei ſtill und entſchuldigte ſich nicht mehr. So ſtanden die Sachen, als die Gebruͤder Stilling ins Wirths - haus kamen. Die erſte Rache, die ſie nahmen, war an ei - nem Branntweinglaſe, womit der Wirth aus dem Keller kam, und es ſehr behutſam trug, um nichts zu verſchuͤtten; wie - wohl dieſe Vorſicht eben ſo gar noͤthig nicht war, denn das Glas war uͤber ein Viertel leer. Johann Stilling wiſchte dem Wirth uͤber die Hand, daß das Glas gegen die Wand fuhr und in tauſend Stuͤcken ſprang. Wilhelm aber war ſchon in der Stube, griff ſeinen Schwiegervater an der Hand, und fuͤhrte ihn mit ſolchem Ernſt aus der Stube, gleich als wenn er der Junker ſelbſt geweſen waͤre, ſagte aber Niemand etwas, ſondern ſchwieg ganz ſtill. Der Jaͤger und die Knechte drohten, hielten bald hie, bald da; allein Wilhelm, der deſto ſtaͤrker in den Armen war, je ſchwaͤcher ſeine Fuͤße wa - ren, ſah und hoͤrte nicht, ſchwieg immer ſtill und arbeitete nur Moritzen los. Wo er an ſeinem Rock eine zugeklemmte Hand fand, die brach er auf, und ſo brachte er ihn vor die Thuͤr. Johann Stilling aber redete mit den Jaͤgern und den Knechten, und ſeine Worte waren lauter Meſſer fuͤr ſie; denn ein Jeder wußte, wie hoch er bei dem Junker angeſchrieben3 *36ſtand, und wie oft er mit ihm zu Abend ſpeiſen mußte. Die Sache lief am Ende dahin aus, daß der Jaͤger bei der Wie - derkunft des Junkers abgeſetzt, Moritzen aber zwanzig Tha - ler fuͤr ſeine Schmerzen ausgezahlt wurden. Was ihnen noch ſchneller durchhalf, war, daß der ganze Platz vor dem Hauſe voller Bauern ſtand, welche Tabak rauchten, und ſich mit dem Zuſehen beluſtigten; und es nur darauf ankam, daß ei - ner unter ihnen die Frage aufwarf, ob nicht durch dieſen Vor - fall Eingriff in ihre Freiheit geſchehen ſey? Ploͤtzlich wuͤrden hundert Faͤuſte bereit geweſen ſeyn, ihre chriſtliche Liebe ge - gen Moritzen auf den Nacken Joſtens und ſeiner Gefaͤhrten zu beweiſen. Auch war der Wirth eine feige Memme, der oft Ohrfeigen von ſeiner Frau verſchlucken mußte; und end - lich muß ich noch hinzufuͤgen, der alte Stilling und ſeine Soͤhne hatten ſich durch ihre ernſte und abgeſonderte Auffuͤh - rung eine ſolche Hochachtung erworben, daß faſt Niemand das Herz hatte, in ihrer Gegenwart nur zu ſcherzen; wozu noch kommt, was ich oben ſchon beruͤhrt, daß Johann Stil - ling bei dem Junker in großer Gnade ſtand. Nun wieder zur Geſchichte.
Der alte Moritz wurde in wenig Tagen wieder beſſer, und man vergaß dieſe verdrießliche Sache um ſo eher, weil man ſich mit viel vergnuͤgteren Dingen beſchaͤftigte, naͤmlich mit den Zuruͤſtungen zur Hochzeit, welche der alte Stilling und ſeine Margarethe ein fuͤr allemal in ihrem Hauſe haben wollten. Sie maͤſteten ein paar Huͤhner zu Suppen, und ein fettes Milchkalb wurde dazu beſtimmt, auf großen irde - nen Schuͤſſeln gebraten zu werden; gebackene Pflaumen die Menge, und Reis zu Breien, nebſt Roſinen und Korinthen in die Huͤhnerſuppen, wurden im Ueberfluß angeſchafft. Der alte Stilling hat ſich wohl verlauten laſſen, daß ihn dieſe Hochzeit, nur allen an Speiſen und Viktualien bei zehen Reichs - thaler gekoſtet habe. Dem ſey aber wie ihm wolle, alles war doch aufgeraͤumt. Wilhelm hatte fuͤr die Zeit die Schule ausgeſetzt; denn in ſolchen Zeiten iſt man zu keinem Berufs - geſchaͤfte aufgelegt. Auch brauchte er die Tage nothwendig,37 ſeiner Braut und Schweſtern neue Kleider auf die Hochzeit zu machen, und ſonſt mancherlei zu handthieren. Stillings Toͤchter verlangten ſolche ebenfalls. Sie probirten oͤfters ihre neuen Waͤmmſer und Roͤcke von feinem ſchwarzen Tuch; die Zeit wurd’ ihnen Jahre lang, bis ſie ſie einmal einen ganzen Tag anhaben konnten.
Endlich brach dann der laͤngſt gewuͤnſchte Donnerſtag an. Alles war den Morgen vor der Sonne in Stillings Hauſe wach; nur der Alte, der den Abend vorher ſpaͤt aus dem Wald gekommen war, ſchlief ruhig, bis es Zeit war, mit den Braut - leuten zur Kirche zu gehen. Nun ging man in geziemter Ord - nung nach Florenburg, allwo die Braut mit ihrem Gefolge ſchon angekommen war. Die Copulation ging ohne Wider - ſpruch vor ſich, und alle zuſammen verfuͤgten ſich nun nach Tiefenbach zum Hochzeitmahle. Zwei lange Bretter wa - ren in der Stube neben einander auf hoͤlzerne Boͤcke gelegt, anſtatt des Tiſches; Margareth hatte ihre feinſten Tiſch - tuͤcher daruͤber geſpreitet, und nun wurden die Speiſen aufge - tragen. Die Loͤffel waren von Ahornholz, ſchoͤn glatt, mit ausgeſtochenen Roſen, Blumen und Laubwerk gearbeitet. Die Zulegmeſſer hatten ſchoͤne gelbe hoͤlzerne Stiele; ſo waren auch die Teller ſchoͤn rund und glatt vom haͤrteſten weißen Buchen - holz gedrechſelt. Das Bier ſchaͤumte in weißen ſteinernen Kruͤ - gen mit blauen Blumen. Doch ſtellte Margareth auch einem Jeden frei, anſtatt des Biers, von ihrem angenehmen Birnmoſt zu trinken, wenn Jemand dazu Belieben tragen moͤchte.
Nachdem alle zur Genuͤge gegeſſen und getrunken hatten, ſo wurden vernuͤnftige Geſpraͤche angeſtellt. Wilhelm aber und ſeine Braut wollten lieber allein ſeyn und reden; ſie gin - gen daher tief in den Wald hinein. Mit der Entfernung von den Menſchen wuchs ihre Liebe. Ach, waͤren keine Beduͤrf - niſſe des Lebens! keine Kaͤlte, Froſt und Naͤſſe, was wuͤrde dieſem Paar an einer irdiſchen Seligkeit gemangelt haben? Die beiden alten Vaͤter, die ſich indeſſen mit dem Krug Bier allein geſetzt hatten, verfielen in ein ernſtes Geſpraͤch. Stil - ling redete alſo:
38„ Herr Mitvater, mir hat immer gedaͤucht, Ihr haͤttet beſ - ſer gethan, wenn Ihr Euch an das Laboriren gar nicht ge - kehrt haͤttet. “
Warum, Mitvater?
„ Wenn Ihr Eure Uhrmacherei beſtaͤndig getrieben haͤttet, ſo haͤttet Ihr reichlich Euer Brod erwerben koͤnnen; nun aber hat Euch Eure Arbeit nichts geholfen, und dasjenige, was Ihr hattet, iſt noch dazu darauf gegangen. “
Ihr habt Recht und auch Unrecht. Wenn ich gewußt haͤtte, daß dreißig bis vierzig Jahr hingehen wuͤrden, eh’ ich den Stein der Weiſen wuͤrde gefunden haben, ſo haͤtte ich mich freilich bedacht, ehe ich’s angefangen haͤtte. Nun aber, da ich durch die lange Erfahrung Etwas gelernt habe, und tief in die Erkenntniſſe der Natur eingedrungen bin, nun wuͤrd’ es mir leid thun, wenn ich mich umſonſt ſollte lange geplagt haben.
„ Ihr habt Euch gewiß ſo lange umſonſt geplagt, denn Ihr habt Euch einmal bisher kuͤmmerlich beholfen. Ihr moͤgt nun ſo reich werden als Ihr wollt, Ihr koͤnnt doch das Elend ſo vieler Jahre nicht in Gluͤckſeligkeit verwandeln; und zudem glaub’ ich nicht, daß Ihr ihn jemals bekommt. Wenn ich die Wahrheit ſagen ſoll, ich glaube nicht, daß es einen Stein der Weiſen gibt! “
Ich kann Euch beweiſen, daß es einen Stein der Weiſen gibt. Ein gewiſſer Doktor Helvetius im Haag hat ein klein Buͤchlein geſchrieben, das guͤldene Kalb genannt: darin iſt es deutlich bewieſen, ſo daß Niemand, auch der groͤßte[Ungläubige], wenn er’s lieſet, nicht mehr zweifeln kann. Ob ich denſelben aber bekommen werde, das iſt eine andere Frage. Warum nicht eben ſowohl als ein Anderer? da er ein freies Geſchenk Gottes iſt.
„ Wenn Euch Gott den Stein der Weiſen ſchenken wollte, Ihr haͤttet ihn ſchon lange! Warum ſollte er ihn Euch ſo lange vorenthalten? Zudem iſt’s ja nicht noͤthig, daß Ihr ihn habt; wie viel Menſchen leben ohne den Stein der Weiſen! “
Das iſt wahr; aber wir ſollen uns ſo gluͤcklich machen als wir koͤnnen.
39„ Ein dreißigjaͤhrig Elend iſt gewiß kein Gluͤck; aber nehmt mir nicht uͤbel (er ſchuͤttelte ihm die Hand) ich habe, ſo lang ich lebe, keinen Mangel gehabt, bin geſund geweſen und alt worden, meine Kinder hab’ ich erzogen, lernen laſſen, und or - dentlich gekleidet. Ich bin recht vergnuͤgt, und alſo gluͤcklich! Man konnte mir den Stein der Weiſen nicht ſchenken. “
„ Aber hoͤrt, Mitvater! Ihr ſingt recht gut, und ſchreibt ſchoͤn; werdet Schulmeiſter hier im Dorfe! Friedriken koͤnnt Ihr vermiethen. Da hab’ ich noch eine Kleiderkammer, dar - ein will ich ein Bett ſtellen, ſo koͤnnt Ihr bei mir wohnen, und alſo immer bei Euern Kindern ſeyn. “
Euer Anerbieten, Mitvater, iſt ſehr gut; ich werd’ es auch annehmen, wenn ich nur noch einen Verſuch werde gemacht haben.
„ Macht keine Probe mehr, Mitvater! ſie wird Euch gewiß fehlen. Aber laßt uns von etwas Anderm reden. Ich bin ein großer Liebhaber von der Sternwiſſenſchaft; kennt Ihr auch wohl den Sirius im großen Hund? “
Ich bin eben kein Sternkundiger, doch aber kenn’ ich ihn.
„ Er ſteht gemeiniglich des Abends gegen Mittag. Er flammt ſo gruͤnroͤthlich. Wie weit mag er wohl von der Erde ſeyn? Sie ſagen, er ſoll wohl noch viel hoͤher ſeyn als die Sonne. “
O! wohl tauſendmal hoͤher!
„ Wie iſt das moͤglich? Ich bin ſo ein Liebhaber von den Sternen. Ich mein’ immer, ich waͤr’ ſchon dabei, wenn ich ſie beſehe. Aber kennt ihr auch den Wagen und den Pflug? “
Ja, man hat ſie mir wohl gewieſen.
„ O welch ein wunderbarer Gott! “
Margarethe Stilling hoͤrte dieſes Geſpraͤch; ſie kam und ſetzte ſich zu ihrem Mann. Ach Ebert! ſagte ſie, ich kann wohl an einer Blume ſehen, daß Gott wunderbar iſt. Laßt uns die begreifen lernen! Wir wohnen bei dem Gras und den Blumen; die laßt uns hier bewundern; wenn wir im Him - mel ſind, dann wollen wir die Sterne betrachten!
Das iſt recht, ſagte Moritz, es ſind ſo viele Wunder in der Natur; wenn wir die recht betrachten, ſo koͤnnen wir die40 Weisheit Gottes wohl kennen lernen! Doch ein Jeder hat ſo Etwas, wozu er beſonders Luſt hat.
So vertrieben die Hochzeitgaͤſte den Tag. Wilhelm Stil - ling und ſeine Braut verfuͤgten ſich auch nach Hauſe, und fin - gen ihren Eheſtand an; wovon ich im folgenden Kapitel meh - reres ſagen werde.
Stillings Toͤchter aber ſaßen in der Daͤmmerung unter dem Kirſchenbaum und ſangen folgendes ſchoͤne weltliche Liedlein:
Eberhard Stilling und Margareth ſeine eheliche Hausfrau, erlebten nun eine neue Periode in ihrer Haushal - tung. Da war nun ein neuer Hausvater und eine neue Haus - mutter in ihrer Familie entſtanden. Die Frage war alſo: Wo ſollen dieſe Beide ſitzen, wenn wir ſpeiſen? — Um die Dun - kelheit im Vortrag zu vermeiden, muß ich erzaͤhlen, wie eigent - lich Vater Stilling ſeine Ordnung und Rang am Tiſche be - obachtete. Oben in der Stube war eine Bank von einem ei - chenen Brett laͤngs der Wand genagelt, die bis hinter den Ofen reichte. Vor dieſer Bank, dem Ofen gegenuͤber, ſtand der Tiſch, als Klappe an die Wand befeſtigt, damit man ihn an dieſelbe aufſchlagen konnte. Er war aus einer eichenen Diele von Vater Stilling ſelbſten ganz feſt und treuherzig ausgearbeitet. An dieſem Tiſch ſaß Eberhard Stilling oben an der Wand, wo er durch das Brett befeſtigt war, und zwar vor demſelben. Vielleicht hatte er ſich dieſen vortheil - haften Platz darum gewaͤhlt, damit er ſeinen linken Ellenbo - gen auf das Brett ſtuͤtzen, und zugleich ungehindert mit der rechten Hand eſſen koͤnnte. Doch davon iſt keine Gewißheit, denn er hat ſich nie in ſeinem Leben deutlich daruͤber erklaͤret. An ſeiner rechten Seite vor dem Tiſch ſaßen ſeine vier Toͤch - ter, damit ſie ungehindert ab - und zugehen koͤnnten. Zwi - ſchen dem Tiſch und dem Ofen hatte Margareth ihren Platz; eines Theils, weil ſie leicht fror, und andern Theils, damit ſie fuͤglich uͤber den Tiſch ſehen konnte, ob etwa hier oder dort Etwas fehlte. Hinter dem Tiſch hatten Johann und Wilhelm geſeſſen, weil aber der eine verheirathet war, und der andere Schule hielt, ſo waren dieſe Plaͤtze leer, bis jetzt, da ſie dem jungen Ehepaar, nach reiflicher Ueberlegung, an - gewieſen wurden.
Zuweilen kam Johann Stilling ſeine Eltern zu beſuchen. Das ganze Haus freute ſich, wenn er kam; denn er war ein beſonderer Mann. Ein jeder Bauer im Dorfe hatte auch Ehrfurcht vor ihm. Schon in ſeiner fruͤhen Jugend hatte er einen hoͤlzernen Teller zum Aſtrolabium, und eine feine, ſchoͤne Butterdoſe von ſchoͤnem Buchenholz zum Compas umgeſchaf -43 fen, und von einem Huͤgel geometriſche Obſervationen ange - ſtellt. Denn zu der Zeit ließ der Landesfuͤrſt eine Landcharte verfertigen. Johann hatte zugeſehen, wann der Ingenieur operirte. Zu dieſer Zeit aber war er wirklich ein geſchickter Land - meſſer, wurde auch von Edeln und Unedeln bei Theilung der Guͤter gebraucht. Große Kuͤnſtler haben gemeiniglich die Tu - gend an ſich, daß ihr erfinderiſcher Geiſt immer etwas Neues ſucht; daher iſt ihnen dasjenige, was ſie ſchon erfunden ha - ben, und was ſie wiſſen, viel zu langweilig, es ferner zu ver - feinern. Johann Stilling war alſo arm: denn was er konnte, verſaͤumte er,[u]m dasjenige zu wiſſen, was er noch nicht konnte. Seine gute einfaͤltige Frau wuͤnſchte oft, daß ihr Mann ſeine Kuͤnſteleien auf Feld und Wieſen zu verbeſſern wenden moͤchte, damit ſie mehr Brod haͤtten. Allein, laßt uns der guten Frau ihre Einfalt verzeihen; ſie verſtand es nicht beſſer; wenigſtens Johann war klug genug hiezu. Er ſchwieg oder laͤchelte.
Die Quadratur des Zirkels und die immerwaͤhrende Bewe - gung beſchaͤftigten ihn zu dieſe[r]Zeit. War er nun in ein Geheimniß tiefer eingedrungen, ſo lief er geſchwind nach Tie - fenbach, um ſeinen Eltern und Geſchwiſtern ſeine Entdeckung zu erzaͤhlen. Kam er denn unten durchs Dorf herauf, und es erblickte ihn Jemand aus Stillings Hauſe, ſo lief man gleich nach Hauſe und rief Alle zuſammen, um ihn an der Thuͤre zu empfangen. Ein Jedes arbeitete dann mit doppel - tem Fleiß, um nach dem Abendeſſen nichts mehr zu thun zu haben. Dann ſetzte man ſich um den Tiſch, ſtuͤtzte die El - lenbogen darauf, und die Haͤnde an die Backen — Aller Au - gen war auf Johanns Mund gerichtet.
Alle halfen denn an der Quadratur des Zirkels erfin - den; ſelbſt der alte Stilling verwendete vielen Fleiß auf die Sache. Ich wuͤrde dem erfinderiſchen, oder beſſer, dem gu - ten und natuͤrlichen Verſtande dieſes Mannes Gewalt anthun, wenn ich ſagen ſollte: er haͤtte nichts in dieſer Sache gelei - ſtet. Bei ſeinem Kohlenbrennen beſchaͤftigte er ſich damit. Er zog eine Schnur um ſein Birnmoſtfaß, ſchnitt ſie mit ſeinem44 Brodmeſſer ab; ſaͤgte dann ein Brett genau vierkantig, und ſchabte es ſo lange, bis die Schnur juſt darum paßte. Nun mußte ja das viereckigte Brett genau ſo groß ſeyn, als der Zirkel des Moſtfaſſes. Eberhard ſprang auf einem Fuß her - um, verlachte die großen gelehrten Koͤpfe, daß ſie aus dem einfaͤltigen Dinge ſo viel Werks machten, und erzaͤhlte bei naͤchſter Gelegenheit ſeinem Johann die Erfindung. Wir wollen die Wahrheit geſtehen. Vater Stilling hatte wohl nichts Hoͤhniſches in ſeinem Charakter: doch lief hier eine kleine Satyre mit unter; aber der Landmeſſer machte bald der Freude ein Ende, indem er ſagte: Es iſt die Frage nicht, Vater! ob ein Schreiner einen viereckigten Kaſten machen koͤnne, der juſt ſo viel Haber enthalte, als eine runde cylindriſche Tonne; ſondern es muß ausgemacht ſeyn, wie ſich der Diameter des Zirkels gegen ſeine Peripherie verhalte, und dann, wie groß eine Seite des Quadrats ſeyn muͤſſe, wenn es ſo groß als der Zirkel ſeyn ſoll. Aber in beiden Faͤllen darf an einem Facit nicht der tauſendſte Theil eines Haars fehlen. Es muß in der Theorie durch die Algebra bewirkt werden koͤnnen, daß es wahr iſt!
Der alte Stilling wuͤrde ſich geſchaͤmt haben, wenn nicht die Gelehrſamkeit ſeines Sohns, und ſeine unmaͤßige Freude daruͤber, alles Schaͤmen bei ihm verdraͤngt haͤtte. Er ſagte deßwegen nichts weiter, als: Mit Gelehrten iſt nicht gut diſputiren; lachte, ſchuͤttelte den Kopf, und fuhr fort, von ei - nem birkenen Klotz Spaͤne zu ſchneiden, womit man Feuer und Lichter, auch allenfalls eine Pfeife Tabak anzuͤnden konnte. Dieſes war ſo ſeine Beſchaͤftigung bei muͤßigen Stunden.
Stillings Toͤchter waren ſtark und arbeitſam. Sie pfleg - ten die Erde, und ſie gab ihnen reiche Nahrung im Garten und Felde. Dortchen aber hatte zarte Glieder und Haͤnde, ſie wurde geſchwind muͤde, und dann ſeufzte ſie und weinte. Unbarmherzig waren nun die Maͤdchen eben nicht; aber ſie konnten doch nicht begreifen, warum ein Weibsbild, das eben ſo groß als ihrer Eine war, nicht auch eben ſo gut ſollte ar - beiten koͤnnen. Doch mußte ihre Schwaͤgerin oft ausruhen,45 auch ſagten ſie ihren Eltern niemals, daß ſie kaum ihr Brod verdiente. Wilhelm ſah es bald ein; er erhielt daher von der ganzen Familie, daß ſeine Frau ihm an Naͤhen und Klei - dermachen helfen ſollte. Dieſer Vertrag wurde geſchloſſen, und alle befanden ſich wohl dabei.
Der alte Paſtor Moritz beſuchte nun auch zum Erſtenmal ſeine Tochter. Dortchen weinte vor Freuden, wie ſie ihn ſah, und wuͤnſchte Hausmutter zu ſeyn, um ihm recht guͤtlich thun zu koͤnnen. Er ſaß den ganzen Nachmittag bei ſeinen Kindern, und redete mit ihnen von geiſtlichen Sachen. Er ſchien ganz veraͤndert, kleinmuͤthig und betruͤbt zu ſeyn. Ge - gen Abend ſagte er: Kinder! fuͤhrt mich einmal auf das Gei - ſenberger Schloß. Wilhelm legte ſeinen eiſernen ſchweren Fingerhut ab, und ſpukte in die Haͤnde; Dortchen aber ſteckte ihren Fingerhut an den kleinen Finger, und nun ſtiegen ſie zum Wald auf. Kinder! ſagte Moritz, mir iſt hier ſo wohl unter dem Schatten der Maibuchen. Je hoͤher wir kommen, je freier werd’ ich. Es iſt mir eine Zeit her geweſen, als Einem, der nicht zu Hauſe iſt. Dieſer Herbſt muß wohl der letzte meines Lebens ſeyn. Wilhelm und Dortchen hat - ten Thraͤnen in den Augen. Oben auf dem Berge, wo ſie bis an den Rhein, und die ganze Gegend uͤberſehen konnten, ſetzten ſie ſich an eine zerfallene Mauer des Schloſſes. Die Sonne ſtand in der Ferne nicht mehr hoch uͤber dem blauen Gebirge. Moritz ſah ſtarr dorthin, und ſchwieg lange; auch ſagten ſeine Begleiter nicht ein Wort. Kinder! ſprach er end - lich, ich hinterlaß euch nichts, wenn ich ſterbe. Ihr koͤnnt mich wohl miſſen. Niemand wird um mich weinen. Ich habe mein Leben muͤhſam und unnuͤtz zugebracht, und Nie - mand gluͤcklich gemacht. Mein lieber Vater! antwortete Wil - helm, Ihr habt doch mich gluͤcklich gemacht. Ich und Dort - chen werden herzlich um euch weinen. „ Kinder! verſetzte Moritz, unſere Neigungen fuͤhren uns leicht zum Verderben. Wie viel wuͤrde ich der Welt haben nutzen koͤnnen, wenn ich kein Alchymiſt geworden waͤre! Ich wuͤrde euch und mich gluͤcklich gemacht haben! (Er weinte laut.) Doch denke ich46 immer daran, daß ich meinen Fehler erkannt habe, und nun noch will ich mich aͤndern. Gott iſt ein Vater, auch uͤber die irrenden Kinder. Nun hoͤret noch eine Ermahnung von mir, und folgt derſelben: Alles was ihr thut, das uͤberlegt vorher wohl, ob es auch Andern nuͤtzlich ſeyn koͤnne. Findet ihr, daß es nur euch dienlich iſt, ſo denkt: das iſt ein Werk ohne Belohnung. Nur wo wir dem Naͤchſten dienen, da belohnt uns Gott! Ich habe arm und unbemerkt in der Welt dahin - gewandelt, und wann ich todt bin, dann wird man meiner bald vergeſſen: ich aber werde Barmherzigkeit finden vor dem Thron Chriſti, und ſelig ſeyn. “— Nun gingen ſie wieder nach Haus, und Moritz blieb immer traurig. Er ging um - her, troͤſtete die Arme und betete mit ihnen. Auch arbeitete er und machte Uhren, womit er ſein Brod erwarb, und noch Etwas uͤbrig behielt. Doch dieſes waͤhrte nicht lange, denn den folgenden Winter verlor man ihn; man fand ihn nach dreien Tagen unter dem Schnee und war todt gefroren.
Nach dieſem traurigen Zufall entdeckte man in Stillings Hauſe eine wichtige Neuigkeit. Dortchen war geſegneten Leibes, und Jedermann freuete ſich auf ein Kind, deren in vielen Jahren kein’s im Hauſe geweſen war. Mit was fuͤr Muͤhe und Fleiß man ſich auf Dortchens Entbindung ge - ruͤſtet, iſt nicht zu ſagen. Der alte Stilling ſelbſt freute ſich auf einen Enkel, und hoffte noch einmal vor ſeinem Ende ſeine alten Wiegenlieder zu ſingen und ſeine Erziehungskunſt zu beweiſen.
Nun nahete der Tag der Niederkunft heran, und 1740 den 12ten September, Abends um 8 Uhr, wurde Heinrich Stil - ling geboren. Der Knabe war friſch, geſund und wohl, und ſeine Mutter wurde gleichfalls, gegen die Weiſſagungen der Tiefenbacher Sybillen, geſchwind wieder beſſer.
Das Kind wurde in der Florenburger Kirche getauft. Vater Stilling aber, um dieſen Tag feierlicher zu machen, richtete ein Mahl an, bei welchem er den Herrn Paſtor Stoll - bein zu ſehen wuͤnſchte. Er ſchickte daher ſeinen Sohn Jo -47 hann ins Pfarrhaus, und ließ den Herrn erſuchen, mit nach Tiefenbach zu gehen, um ſeinem Mahle beizuwohnen. Johann ging, er that ſchon den Hut ab, als er in den Hof kam, um nichts zu verſehen; aber leider, wie oft iſt alle menſch - liche Vorſicht unnuͤtz! Es ſprang ein großer Hund hervor; Johann Stilling griff einen Stein, warf, und traf den Hund in eine Seite, daß er abſcheulich zu heulen anfing. Der Paſtor ſah durchs Fenſter was paſſirte; voll von Eifer ſprang er heraus, knuͤpfte dem armen Johann eine Fauſt vor die Naſe: Du lumpigter Flegel! kriſch er, ich will dich lernen meinem Hund begegnen! Stilling antwortete: Ich wußte nicht, daß es Ew. Ehrwuͤrden Hund war. Mein Bru - der und meine Eltern laſſen den Herrn Paſtor erſuchen, mit nach Tiefenbach zu gehen, um der Taufmahlzeit beizuwohnen. Der Paſtor ging und ſchwieg ſtill. Doch murrte er aus der Hausthuͤr zuruͤck: Wartet, ich will mitgehen. Er wartete faſt eine Stunde im Hof, liebkoſete den Hund, und das arme Thier war auch wirklich verſoͤhnlicher, als der große Gelehrte, der nun aus der Hausthuͤre herausging. Der Mann wan - delte mit Zuverſicht an ſeinem Rohrſtab. Johann trabte furchtſam hinter ihm mit dem Hut unterem Arm; den Hut aufzuſetzen war eine gefaͤhrliche Sache; denn er hatte in ſei - ner Jugend manche Ohrfeige von dem Paſtor bekommen, wenn er ihn nicht fruͤh genug, das iſt, ſo bald er ihn in der Ferne erblickte, abgezogen hatte. Doch aber eine ganze Stunde lang mit bloßem Haupt, im September, unter freiem Himmel zu gehen, war doch auch entſetzlich! Daher ſann er auf einen Fund, wie er fuͤglich ſeinen Kopf bedecken moͤchte. Ploͤtzlich fiel der Herr Stollbein zur Erde, daß es platſchte. Johann er - ſchrack. Ach! rief er, Herr Paſtor, habt Ihr Euch Scha - den gethan? Was gehts euch an, Schlingel! war die helden - muͤthige Antwort dieſes Mannes, indem er ſich aufraffte. Nun gerieth Johanns Feuer in etwas in Flammen, daß er herausfuhr: So freue ich mich denn herzlich, daß Ihr gefallen ſeyd, und laͤchelte noch dazu. Was! Was! rief der Paſtor. Aber Johann ſetzte den Hut auf, ließ den Loͤwen bruͤllen,48 ohne ſich zu fuͤrchten, und ging. Der Paſtor ging auch, und ſo kamen ſie denn endlich nach Tiefenbach.
Der alte Stilling ſtand vor der Thuͤre, mit bloßem Haupt; ſeine ſchoͤne grauen Haare ſpielten am Mond: er laͤchelte den Herrn Paſtor an, und ſagte, indem er ihm die Hand gab: Ich freue mich, daß ich in meinem Alter den Herrn Paſtor an meinem Tiſch ſehen ſoll; aber ich wuͤrde ſo kuͤhn nicht geweſen ſeyn, wenn meine Freude uͤber einen Enkel nicht ſo groß waͤre. Der Paſtor wuͤnſchte ihm Gluͤck, doch mit angehaͤngter wohlmeinender Drohung, daß, wenn ihn nicht der Fluch des Eli treffen ſollte, er mehr Fleiß auf die Erziehung ſeiner Kinder anwenden muͤßte. Der Alte ſtand da in ſeinem Vermoͤgen und laͤchelte, doch ſchwieg er ſtille und fuͤhrte Seine Ehrwuͤrden in die Stube. Ich will doch nicht hoffen, ſagte der Herr Paſtor, daß ich hier unter dem Schwarm von Bauern ſpeiſen ſoll. Vater Stilling antwortete: Hier ſpeist Niemand, als ich und meine Frau und Kinder, iſt Euch das ein Bauernſchwarm? Ei, was anders! antwortete jener. So muß ich Euch erinnern, Herr! — verſetzte Stilling, daß Ihr nichts weniger als ein Diener Chriſti, ſondern ein Phariſaͤer ſeyd. Er ſaß bei den Zoͤllnern und Suͤndern, und aß mit ihnen. Er war uͤberall klein und niedrig und demuͤthig. Herr Paſtor! … meine grauen Haare richten ſich in die Hoͤhe; ſetzt Euch, oder geht wieder! Hier pocht Etwas, ich moͤchte mich ſonſt an eurem Kleide vergreifen, wofuͤr ich doch ſonſten Reſpekt habe. Hier! Herr! hier vor meinem Hauſe ritt der Fuͤrſt vorbei; ich ſtand vor meiner Thuͤre; er kannte mich. Da ſagte er: Guten Morgen, Stilling! Ich ant - wortete: Guten Morgen, Ihr Durchlaucht! Er ſtieg vom Pferd, er war muͤde von der Jagd. Holt mir einen Stuhl, ſprach er, hier will ich ein wenig ruhen. Ich habe eine luf - tige Stube, antwortete ich, gefaͤllt es Ihro Durchlaucht in die Stube zu gehen, und da bequem zu ſitzen? Ja! ſagte er. Der Oberjaͤgermeiſter ging mit hinein. Da ſaß er, wo ich euch meinen beſten Stuhl hineingeſtellt habe. Meine Marga - reth mußte ihm fette Milch einbrocken und ein Butterbrod49 machen. Wir beide mußten mit ihm eſſen, und er verſicherte, daß ihm niemalen eine Mahlzeit ſo gut geſchmeckt habe. Wo Reinlichkeit iſt, da kann ein Jeder eſſen. Nun entſchließt euch, Herr Paſtor! — Wir Alle ſind hungrig. Der Paſtor ſetzte ſich und ſchwieg ſtill. Da rief Stilling allen ſeinen Kin - dern, aber Keines wollte hinein kommen, auch ſelbſt Mar - gareth nicht. Sie fuͤllte dem Prediger ein irdenes Kuͤmpf - chen mit Huͤhnerbruͤh, gab ihm einen Teller Cappes mit ei - nem huͤbſchen Stuͤck Fleiſch und einen Krug Bier. Stil - ling trug es ſelber auf; der Paſtor aß und trank geſchwind, redete nichts, und ging wieder nach Florenburg. Nun ſetzte ſich alles zu Tiſche. Margareth betete, und man ſpeiſete mit groͤßtem Appetit. Auch ſelbſt die Kindbetterin ſaß an Margarethens Stelle mit ihrem Knaben an der Bruſt. Denn Margareth wollte ihren Kindern ſelbſt dienen. Sie hatte ein ſehr feines weißes Hemd, welches noch ihr Braut - hemd war, angezogen. Die Ermel davon hatte ſie bis hin - ter die Ellenbogen aufgewickelt. Von feinem ſchwarzen Tuch hatte ſie ein Leibchen und Rock, und unter der Haube ſtan - den graue Locken hervor, ſchoͤn gepudert von Ehre und Alter. Es iſt wirklich unbegreiflich, daß waͤhrend der ganzen Mahlzeit nicht ein Wort vom Paſtor geredet wurde; doch halte ich dafuͤr, die Urſache war, daß Vater Stilling nicht davon anfing.
Indem man ſo da ſaß und mit Vergnuͤgen ſpeiste, klopfte eine arme Frau an die Thuͤre. Sie hatte ein klein Kind auf dem Ruͤcken in einem Tuche haͤngen, und bat um ein Stuͤck - lein Brod. Mariechen war hurtig. Die Frau kam in zerlumpten, beſudelten Kleidern, die aber doch die Form hat - ten, als wenn ſie ehemals einem vornehmen Frauenzimmer gehoͤrt haͤtten. Vater Stilling befahl, man ſollte ſie an die Stubenthuͤre ſitzen laſſen, und ihr von allem Etwas zu eſſen geben. Dem Kinde kannſt du etwas Reisbrei zu eſſen darrei - chen, Mariechen! ſagte er ferner. Sie aß, und es ſchmeckte ihr herzlich gut. Nachdem nun ſie und ihr Kind ſatt waren, dankte ſie mit Thraͤnen und wollte gehen. Nein, ſagte der alte Stilling, ſitzet und erzaͤhlet uns, wo ihr her ſeyd,Stillings Schriften. I. Band. 450und warum ihr ſo gehen muͤßt. Ich will euch auch Bier zu trinken geben. Sie ſetzte ſich und erzaͤhlte.
Ach lieber Gott! ſprach ſie. Leider ja! muß ich ſo gehen (Stillings Mariechen hatte ſich neben ſie, doch etwas von ihr abgeſetzt, ſie horchte mit groͤßter Aufmerkſamkeit, auch waren ihre Augen ſchon feucht), ich bin ja leider eine arme Frau. Vor zehen Jahren moͤchtet ihr Leute euch wohl eine Ehre daraus gemacht haben, wenn ich mit euch geſpeist haͤtte.
Wilhelm Stilling. Das waͤre!
Johann Stilling. Es ſey denn, daß ihr eine Stoll - beiniſche Natur gehabt haͤttet.
Vater Stilling. Seyd ſtill, Kinder! Laſſet die Frau reden!
„ Mein Vater iſt Paſtor zu — “
Mariechen. Jemini! Euer Vater ein Paſtor? ſie ruͤckt naͤher.
„ Ach ja! Freilich iſt er Paſtor. Ein ſehr gelehrter und reicher Mann. “
Vater Stilling. Wo iſt er Paſtor?
„ Zu Goldingen im Barchinger Land. Ja freilich! Leider ja! “
Johann Stilling. Das muß ich doch auf der Land - charte ſuchen. Das muß nicht weit vom Muͤhlerſee ſeyn, oben an der Spitze, gegen Septentrio zu.
„ Ach, mein junger Herr! ich weiß keinen Ort nahe dabei, der Schlendrian heißt. “
Mariechen. Unſer Johann ſagte nicht Schlendrian. Wie ſagteſt du?
Vater Stilling. Redet ihr fort! St! Kinder!
„ Nun war ich dazumal eine huͤbſche Jungfer, hatte auch ſchoͤne Gelegenheiten zu heirathen (Mariechen beſah ſie vom Haupt bis zum Fuß), allein keiner war meinem Vater recht. Der war ihm nicht reich genug, der Andere nicht vornehm genug, der Dritte ging nicht viel in die Kirche. “
Mariechen. Sage, Johann, wie heißen die Leute, die nicht in die Kirche gehen?
Johann Stilling. St! Maͤdchen! Separatiſten.
„ Gut! was ſoll mir geſchehen, ich ſahe wohl, ich wuͤrde51 keinen bekommen, wann ich mir nicht ſelber huͤlfe. Da war ein junger Barbiergeſell — “
Mariechen. Was iſt das, ein Barbiergeſell?
Wilhelm Stilling. Schweſterchen, frag hernach um alles. — Laß jetzt nur die Frau reden. Es ſind Burſche, die den Leuten den Bart abmachen.
„ Das bitte ich mir aus, hat ſich wohl! Mein Mann konnte, trotz dem beſten Doktor, kuriren. Ach ja! viel, viel Kuren that er. Kurz, ich ging mir ihm fort. Wir ſetzten uns zu Spelterburg. Das liegt am Spafluß. “
Johann Stilling. Ja, da liegt es. Ein paar Mei - len herauf, wo die Milder hineinfließt.
„ Ja, da liegt’s. Ich ungluͤckliches Weib! — Da wurde ich gewahr, daß mein Mann mit gewiſſen Leuten Umgang hatte. “
Mariechen. Waret ihr ſchon kopulirt?
„ Wer wollte uns kopulieren? lieber Gott! O ja nicht! — (Mariechen ruͤckte mit ihrem Stuhl ein wenig weiter von der Frau ab.) Ich wollte es abſolut nicht haben, daß mein Mann mit Spitzbuben umging; denn obgleich mein Vater nur ein Schuhflicker war — “Die Frau packte ihr Kind auf den Nacken, und lief, was ſie laufen konnte.
Vater Stilling, ſeine Frau und Kinder, konnten nicht begreifen, warum die Frau mitten in der Erzaͤhlung abbrach und davon lief. Es gehoͤrte auch wirklich eine wahre Logik dazu, die Urſache einzuſehen. Ein Jeder gab ſeine Stimme, doch waren alle Urſachen zweifelhaft; das vernuͤnftigſte Ur - theil, und zugleich auch das wahrſcheinlichſte, war wohl, daß der Frau von dem vielen und ungewohnten Eſſen etwas uͤbel geworden, und man beruhigte ſich auch dabei. Vater Stil - ling zog aber, ſeiner Gewohnheit nach, die Lehre aus dieſer Erzaͤhlung, daß es am beſten ſey, ſeinen Kindern Religion und Liebe zur Tugend einzupraͤgen, und dann im gehoͤri - gen Alter ihnen die freie Wahl im Heirathen zu vergoͤnnen, wenn ſie nur ſo waͤhlten, daß die Familie nicht wirklich da - durch beſchimpft wuͤrde. Ermahnen, ſagte er, muͤſſen frei - lich die Eltern ihre Kinder; allein Zwang hilft nichts mehr,4 *52wenn der Menſch ſein maͤnnliches Alter erreicht hat; er glaubt alsdann alles ſo gut zu verſtehen als ſeine Eltern.
Waͤhrend dieſer weiſen Rede, wobei alle Anweſenden hoͤchſt aufmerkſam waren, ſaß Wilhelm in tiefen Betrachtungen. Er hatte eine Hand an den Backen gelegt, und ſahe ſtarr ge - rade vor ſich hin. Hum! ſagte er, alles, was die Frau er - zaͤhlt hat, ſcheint mir verdaͤchtig. Im Anfang ſagte ſie, ihr Vater waͤre Paſtor zu … zu …
Mariechen. Zu Goldingen im Barchinger Land.
Ja, da war es. Und am Ende ſagte ſie, ihr Vater ſey ein Schuhflicker geweſen. Alle Anweſenden ſchlugen die Haͤnde zuſammen, und entſetzten ſich ſehr. Nun erkannte man, wa - rum die Frau weggelaufen war; man entſchloß ſich alſo, an jeder Thuͤre und Oeffnung im Hauſe vorſichtige Klingen und Klammern zu machen, und das wird auch Niemand der Stil - ling’ſchen Familie verdenken, wer einigermaßen den Zuſam - menhang der Dinge einzuſehen gelernt hat.
Dortchen redete die ganze Zeit durch nichts. Warum? kann ich eben nicht ſagen. Sie ſaͤugte ihren Heinrich alle Augenblicke, denn das war nun einmal ihr Alles. Der Junge war auch huͤbſch dick und fett. Die erfahrenſten Nachbarin - nen konnten ſchon gleich nach der Geburt in dem Geſichte des Kindes eine voͤllige Aehnlichkeit mit ſeinem Vater entdecken. Beſonders aber wollte man auch ſchon auf dem linken obern Augenlied die Grundlage einer kuͤnftigen Warze ſpuͤren, als welche der Vater daſelbſt hatte. Dennoch aber mußte eine verborgene Parteilichkeit alle Nachbarinnen zu dieſem falſchen Zeugniß bewogen haben; denn der Knabe hatte und bekam der Mutter Geſichtszuͤge und ihr ſanftes, gefuͤhliges Herz gaͤnzlich.
Vor und nach verfiel Dortchen in eine ſanfte Schwer - muth. Sie hatte an nichts in der Welt Vergnuͤgen mehr, aber auch an keinem Theile Verdruß. Sie genoß beſtaͤndig die Wonne der Wehmuth, und ihr zartes Herz ſchien ſich ganz in Thraͤnen zu verwandeln, in Thraͤnen ohne Harm und Kum - mer. Ging die Sonne ſchoͤn auf, ſo weinte ſie, und betrach - tete ſie tiefſinnig; ſprach auch wohl zuweilen: Wie ſchoͤn muß der ſeyn, der ſie gemacht hat! Ging ſie unter, ſo weinte ſie. 53Da geht der troͤſtliche Freund wieder von uns, ſagte ſie dann oft, und ſehnte ſich weit weg in den Wald, zur Zeit der Daͤm - merung. Nichts aber war ihr ruͤhrender, als der Mond; ſie fuͤhlte dann was Unausſprechliches, und ging ganze Abende unten an dem Geiſenberg. Wilhelm begleitete ſie faſt im - mer und redete ſehr freundlich mit ihr. Sie hatten beide etwas aͤhnliches in ihrem Charakter. Sie haͤtten die ganze Welt von Menſchen miſſen koͤnnen, nur Eins das Andere nicht: dennoch empfanden ſie jedes Elend und jeden Druck des Nebenmenſchen.
Beinahe anderthalb Jahre war Heinrich Stilling alt, als Dortchen an einem Sonntag Nachmittag ihren Mann erſuchte, mit ihr nach dem Geiſenberger Schloſſe zu ſpatzieren. Noch niemalen hatte ihr Wilhelm etwas abgeſchlagen. Er ging mit ihr. Sobald ſie in den Wald kamen, ſchlungen ſie ſich in ihre Arme und gingen Schritt vor Schritt unter dem Schatten der Baͤume und dem vielfaͤltigen Zwitſchern der Voͤgel den Berg hinauf. Dortchen fing an:
„ Was meynſt du, Wilhelm, ſollte man ſich wohl im Himmel kennen? “
O ja! liebes Dortchen! Chriſtus ſagt ja von dem reichen Mann, daß er Lazarum in dem Schooße Abrahams gekannt habe, und noch dazu war der reiche Mann in der Hoͤlle; da - her glaub’ ich gewiß, wir werden uns in jener Ewigkeit kennen.
„ O Wilhelm! wie ſehr freue ich mich, wenn ich daran denke, daß wir dann die ganze Ewigkeit durch ganz ohne Kum - mer, in lauter himmliſcher Luſt und Vergnuͤgen werden bei einander ſeyn! Mich duͤnkt auch immer, ich koͤnnte im Him - mel ohne dich nicht ſelig ſeyn. Ja, lieber Wilhelm! ge - wiß! gewiß wir werden uns da kennen! Hoͤr’ einmal, ich wuͤnſche das nun ſo herzlich! Gott hat ja meine Seele und mein Herz gemacht, das ſo wuͤnſchet; er wuͤrde es nicht ſo gemacht haben, wenn ich unrecht wuͤnſchte, und wenn es nicht ſo waͤre! Ja, ich werde dich kennen, und dich unter allen Menſchen ſuchen, und dann werd ich ſelig ſeyn! “
Wir wollen uns bei einander begraben laſſen, ſo brauchen wir nicht lange zu ſuchen.
54„ O moͤchten wir doch in einem Augenblick ſterben. Aber wo bliebe dann mein lieber Junge? “
Der wuͤrde hier bleiben, und wohl erzogen werden, und end - lich zu uns kommen.
„ Ich wuͤrde aber doch viele Sorge um ihn haben, ob er auch fromm werden wuͤrde. “
Hoͤre, Dortchen! du biſt ſchon lange her beſonders ſchwer - muͤthig geweſen. Wenn ich die Wahrheit ſagen ſoll, du machſt mich mit dir betruͤbt. Warum biſt du ſo gern mit mir allein! Meine Schweſtern glauben, du habeſt ſie nicht lieb.
„ Doch liebe ich ſie recht von Herzen. “
Du weinſt oft, als wenn du mißmuthig waͤreſt; das thut mir dann leid. Ich werde auch traurig. Haſt du Etwas auf dem Herzen, liebes Kind — das dich quaͤlt? Sag’ es mir. Ich werde dir Ruhe ſchaffen; es koſte auch was es wolle.
„ O nein! ich bin nicht mißmuthig, liebes Kind! ich bin nicht unzufrieden. Ich habe dich lieb, ich habe unſere El - tern und Schweſtern lieb, ja, ich habe alle Menſchen lieb. Aber ich will dir ſagen, wie es mir iſt. Wenn ich im Fruͤh - ling ſehe, wie Alles aufgeht, die Blaͤtter an den Baͤumen, die Blumen und die Kraͤuter, ſo iſt mir, als wenn es mich gar nicht anginge; es iſt mir dann, als wenn ich in einer Welt waͤre, worein ich nicht gehoͤrte. Sobald ich aber ein gelbes Blatt, eine verwelkte Blume, oder duͤrres Kraut finde, dann werden mir die Thraͤnen los, und mir wird ſo wohl, ſo wohl, daß ich es dir nicht ſagen kann; und doch bin ich nie freudig dabei. Sonſten machte mich das alles betruͤbt, und ich war nie froͤhlicher, als im Fruͤhling. “
Ich kenne das nicht. So viel aber iſt doch wahr, daß es mich recht empfindlich macht.
Indem ſie ſo redeten, kamen ſie zu den Ruinen des Schloſ - ſes auf die Seite des Berges, und empfanden die kuͤhle Luft vom Rhein her, und ſahen, wie ſie mit den langen, duͤrren Grashalmen und Epheublaͤttern an den zerfallenen Mauren ſpielte und darum pfiff. Hier iſt recht mein Ort, ſagte Dort - chen, hier wuͤnſcht’ ich zu wohnen. Erzaͤhle mir doch noch einmal die Geſchichte vom Johann Huͤbner, der hier auf55 dem Schloſſe gewohnt hat. Laß uns aber hier auf den Wall gegen die Mauern uͤber ſitzen. Ich duͤrfte um die Welt nicht zwiſchen den Mauern ſeyn, wenn du das erzaͤhleſt, denn ich graue immer, wenn ich’s hoͤre. Wilhelm erzaͤhlte:
Auf dieſem Schloſſe haben vor Alters Raͤuber gewohnt, die gingen des Nachts in’s Land umher, ſtahlen den Leuten das Vieh und trieben es dort in den Hof; da war ein großer Stall; und hernach verkauften ſie’s weit weg an fremde Leute. Der letzte Raͤuber, der hier gewohnt hat, hieß Johann Huͤbner. Er hatte eiſerne Kleider an, und war ſtaͤrker, als alle andere Burſche im ganzen Lande. Er hatte nur Ein Auge, und ei - nen großen krauſen Bart und Haare. Am Tage ſaß er mit ſeinen Knechten, die alle ſehr ſtark waren, dort an der Ecke, wo du noch das zerbrochene Fenſterloch ſiehſt; da hatten ſie eine Stube, da ſaßen ſie und ſoffen Bier. Johann Huͤbner ſah mit dem Einen Auge ſehr weit durchs ganze Land umher. Wenn er dann einen Reiter ſahe, da rief er: Hehloh! — da reitet ein Reiter! ein ſchoͤnes Roß, Hehloh! Und dann gaben ſie Acht auf den Reiter, nahmen ihm ſein Roß und ſchlugen ihn todt. Da war aber ein Fuͤrſt von Dillen - burg, der ſchwarze Chriſtian genannt, ein ſehr ſtarker Mann, der hoͤrte immer von Johann Huͤbners Raͤubereien, denn die Bauern kamen und klagten uͤber ihn. Dieſer ſchwarze Chriſtian hatte einen klugen Knecht, der hieß Hans Flick; den ſchickte er uͤber Land, dem Johann Huͤbner aufzupaſ - ſen. Der Fuͤrſt aber lag hinten im Giller, den du da ſieheſt, und hielt ſich da mit ſeinen Reitern verborgen; dahin brachten ihm auch die Bauern Brod und Butter und Kaͤſe. Hans Flick kannte den Johann Huͤbner nicht, er ſtreifte im Lande herum, und forſchte ihn aus. Endlich kam er an eine Schmiede, wo Pferde beſchlagen wurden. Da ſtanden viele Wagenraͤder an der Wand, die auch beſchlagen werden ſollten. Auf dieſelbe hatte ſich ein Mann mit dem Ruͤcken gelehnt, der hatte nur Ein Auge und ein eiſernes Wamms an. Hans Flick ging zu ihm und ſagte: Gott gruͤß dich, eiſerner Wamms - Mann mit Einem Auge! heißeſt du nicht Johann Huͤbner von Geiſenberg? Der Mann antwortete: Johann Huͤbner56 vom Geiſenberg liegt auf dem Rad. Hans Flick verſtand das Rad auf dem Gerichtsplatz, und ſagte: War das kuͤrz - lich? Ja, ſprach der Mann, erſt heut; Hans Flick glaubte doch nicht recht, und blieb bei der Schmiede, und gab auf den Mann Acht, der auf dem Rade lag. Der Mann ſagte dem Schmied ins Ohr: Er ſollte ihm ſein Pferd verkehrt be - ſchlagen, ſo daß das vorderſte Ende des Hufeiſens hinten kaͤme. Der Schmied that es, und Johann Huͤbner ritt weg. Wie er aufſaß, ſagte er dem Hans Flick: Gott gruͤß dich, braver Kerl! ſage deinem Herrn: Er ſolle mir Faͤuſte ſchicken, aber keine Leute, die hinter den Ohren lauſen. Hans Flick blieb ſtehen, und ſah, wo er uͤber’s Feld in den Wald ritt, lief ihm nach, um zu ſehen, wo er bliebe. Er wollte ſeiner Spur nachgehen, Johann Huͤbner aber ritt hin und her, die Kreuz und Quere, und Hans Flick wurde bald in den Fußſtapfen des Pferdes irre; denn wo er hingeritten war, da gingen die Fußſtapfen zuruͤck; darum verlor er ihn bald, und wußte nicht, wo er geblieben war. Endlich ertappte ihn doch Hans Flick, wie er mit ſeinen Knechten dort auf der Heide im Walde lag und geraubt Vieh huͤtete. Es war in der Nacht am Mondſchein. Er lief und ſagte es dem Fuͤrſten Chriſtian, der ritt in der Stille mit ſeinen Kerlen unten durch den Wald. Sie hatten den Pferden Moos unter die Fuͤße gebunden, kamen auch nahe zu ihm, ſprangen auf ihn zu, und ſie kaͤmpften zuſammen; Fuͤrſt Chriſtian und Johann Huͤbner hieben ſich auf die eiſernen Huͤte und Waͤmmſer, daß es klang; endlich aber blieb Johann Huͤbner todt, und der Fuͤrſt zog hier ins Schloß. Den Johann Huͤbner be - gruben ſie da unten in die Ecke, und der Fuͤrſt legte viel Holz um den großen Thurm, auch untergruben ſie ihn. Er fiel am Abend um, wie die Tiefenbacher die Kuͤhe molken; das ganze Land zitterte umher von dem Fall. Da ſiehſt du noch den lan - gen Steinhaufen, den Berg hinab; das iſt der Thurm, wie er gefallen iſt. Noch jetzt ſpuckt hier des Nachts zwiſchen eilf und zwoͤlf Uhr Johann Huͤbner mit dem einzigen Auge. Er ſitzt auf einem ſchwarzen Pferde und reitet um den Wall herum. Der alte Neuſ[e]r, unſer Nachbar, hat ihn oft ge -57 ſehen. Dortchen zitterte, und fuhr zuſammen, wenn ein Vogel aus einem Strauch in die Hoͤhe flog. Ich hoͤrte die Erzaͤhlung noch immer gern, ſagte ſie; wenn ich hier ſo ſitze, und wenn ich es noch zehnmal hoͤre, ſo werde ich es doch nicht muͤde. Laßt uns ein wenig um den Wall ſpatzieren. Sie gingen zuſammen um den Wall und Dortchen ſang:
Nun begann die Sonne unterzugehen, und Dortchen mit ihrem Wilhelm hatten recht die Wonne der Wehmuth gefuͤhlt. Wie ſie den Wald hinab gingen, durchdrang ein toͤdtlicher Schauer Dortchens ganzen Leib. Sie zitterte von einer kalten Empfindung, und es war ihr ſauer, Stillings Haus zu erreichen. Sie verfiel in ein hitziges Fieber. Wilhelm war Tag und Nacht bei ihr. Nach vierzehn Tagen ſagte ſie des Nachts um zwoͤlf Uhr zu Wilhelmen: Komm, leg dich zu Bette. Er zog ſich aus, und legte ſich zu ihr. Sie faßte ihn in ihren rechten Arm, er lag mit ſeinem Kopf an ihre Bruſt. Auf Einmal wurde er gewahr, daß das Pochen ihres Pulſes nachließ, und dann wieder ein paarmal klopfte. Er erſtarrte und rief ſeelzagend: Mariechen! Mariechen! Alles wurde wacker und lief herzu. Da lag Wilhelm und empfing Dort - chens letzten Athemzug in ſeinen Mund. Sie war nun todt!! Wilhelm war betaͤubt, und ſeine Seele wuͤnſchte nicht wie - der zu ſich ſelbſt zu kommen; doch endlich ſtieg er aus dem59 Bette, weinte und klagte laut. Selbſt Vater Stilling und ſeine Margarethe gingen zu ihr, und hielten ihr die Augen feſt zu, und ſchluchzeten. Es ſah betruͤbt aus, wie die bei - den alten Graukoͤpfe naß von Thraͤnen, zaͤrtlich auf den ver - bleichenden Engel blickten. Auch die Maͤdchen weinten laut, und erzaͤhlten ſich untereinander alle die letzten Worte und Lieb - koſungen, die ihnen ihre ſelige Schwaͤgerin geſagt hatte.
Wilhelm Stilling hatte mit ſeinem Dortchen in der ſtark bevoͤlkerten Landſchaft allein gelebt; nun war ſie todt und begraben, und er fand daher, daß er jetzt ganz allein in der Welt lebte. Eltern und Geſchwiſter waren um ihn, ohne daß er ſie bemerkte. In dem Geſichte ſeines verwaiſeten Kin - des ſahe er nur Dortchens Lineamente; und wenn er des Abends ſchlafen ging, ſo fand er ſein Zimmer ſtill und oͤde. Oft glaubte er den rauſchenden Fuß Dortchens zu hoͤren, wie ſie ins Bette ſtieg. Er fuhr dann in einander, Dort - chen zu ſehen, und ſah ſie nicht. Er durchdachte alle Tage, die ſie mit einander gelebt hatten, fand in jedem ein Paradies, und verwunderte ſich, daß er nicht damalen vor lauter Wonne gejauchzet hatte. Dann nahm er ſeinen Heinrichen in die Arme, weinte ihn naß, druͤckte ihn an ſeine Bruſt, und ſchlief mit ihm. Dann traͤumte er oft, wie er mit Dortchen im Geiſenberger Wald ſpatziere, wie er ſo froh ſey, daß er ſie wie - der habe. Im Traum fuͤrchtete er wacker zu werden, und dennoch erwachte er: ſeine Thraͤnen wurden dann neu und ſein Zuſtand war troſtlos. Vater Stilling ſah das alles, und den - noch troͤſtete er ſeinen Wilhelmen niemals. Margarethe und die Maͤdchen verſuchten es oft, aber ſie machten nur uͤbel aͤrger; denn alles beleidigte Wilhelmen, was nur dahin zielte, ihn aus ſeiner Trauer zu ziehen. Sie konnten aber gar nicht begreifen, wie es doch moͤglich ſeyn koͤnnte, daß ihr Vater gar keine Muͤhe anwendete, Wilhelmen aufzumuntern. Sie vereinigten ſich daher, ihren Vater dazu zu ermahnen, ſo - bald Wilhelm einmal im Geiſenberger Wald herumirren, und ſeines Dortchens Gaͤnge und Fußtritte aufſuchen und beweinen wuͤrde. Das that er oft, und daher waͤhrete es nicht60 lange, bis ſie Gelegenheit fanden, ihr Vorhaben auszufuͤhren. Margarethe nahm es auf ſich, ſobald der Tiſch abgetragen und Wilhelm fort war, Vater Stilling aber an ſeinen Zaͤh - nen ſtocherte, und gerade vor ſich hin auf einen Fleck ſah. Ebert, ſagte ſie, warum laͤſſeſt du den Jungen ſo herumge - hen? Du nimmſt dich ſeiner gar nicht an, redeſt ihm auch nicht ein wenig zu, ſondern thuſt, als wenn er dich gar nichts anginge. Der arme Menſch ſollte vor lauter Traurigkeit die Auszehrung bekommen. Margareth, antwortete der Alte laͤchelnd, was meinſt du wohl, daß ich ihm ſagen koͤnnte, ihn zu troͤſten? Sag’ ich ihm, er ſollte ſich zufrieden geben, ſein Dortchen ſey im Himmel, ſie ſey ſelig: ſo kommt das eben heraus, als wenn dir Jemand alles, was du auf der Welt am liebſten haſt, abnaͤhme und ich kaͤme dann her und ſagte: Gib dich zufrieden; deine Sachen ſind ja wohl ver - wahrt, uͤber ſechzig Jahr bekommſt du ſie ja wieder, es iſt ein braver Mann, der ſie hat u. ſ. w. Wuͤrdeſt du nicht recht boͤs auf mich werden und ſagen: Wovon leb’ ich aber die ſech - zig Jahre? Soll ich Dortchens Fehler alle aufzaͤhlen, und ſuchen, ihn zu uͤberreden, er habe nichts ſo gar Koſtbares ver - loren; ſo wuͤrde ich ihre Seele beleidigen, ein Luͤgner oder Laͤſterer ſeyn, weiter aber nichts ausrichten, als Wilhelmen mir auf immer zum Feinde machen; er wuͤrde alle ihre Tu - genden dagegen aufzaͤhlen, und ich wuͤrde in der Rechnung zu kurz kommen. Soll ich ihm ein anderes Dortchen auf - ſuchen? Das muͤßte juſt ein Dortchen ſeyn, und doch wuͤrd’ es ihm vor ihr eckeln. Ach! es gibt kein Dortchen mehr! — Ihm zitterten die Lippen und ſeine Augen waren naß. Nun wein - ten ſie wieder Alle, vornehmlich darum, weil ihr Vater weinte.
Bei dieſen Umſtaͤnden war Wilhelm nicht im Stande, ſein Kind zu verſorgen, oder ſonſt etwas Nuͤtzliches zu ver - richten. Margarethe nahm alſo ihren Enkel in voͤllige Ver - pflegung, fuͤtterte und kleidete ihn auf ihre altfraͤnkiſche Ma - nier aufs Reinlichſte. Die Maͤdchen gaͤngelten ihn, lehrten ihn beten und andaͤchtig Reimchen herſagen, und wenn Vater Stil - ling Samſtag Abends aus dem Walde kam und ſich bei dem Ofen geſetzt batte, ſo kam der Kleine geſtolpert, ſuchte auf61 ſeine Knieen zu klettern, und nahm jauchzend das auf ihn ge - ſparte Butterbrod; mauste auch wohl ſelbſten im Querſack, um es zu finden; es ſchmeckte ihm beſſer, als ſonſt der aller - beſte Reisbrei Kindern zu thun pfleget, wiewohl es allezeit von der Luft hart und vertrocknet war. Dieſes vertrocknete Butterbrod verzehrte Heinrich auf ſeines Großvaters Schooß, wobei ihm derſelbe entweder das Lied: Gerberli hieß mein Huͤneli; oder auch: Reiter zu Pferd da kommen wir her, vorſang, wobei er immer die Bewegung eines tra - benden Pferds mit dem Knie machte. Mit einem Wort: Stilling hatte den Kunſtgriff in ſeiner Kindererziehung, er wußte alle Augenblick eine neue Beluſtigung fuͤr Hein - richen, die immer ſo beſchaffen waren, daß ſie ſeinem Alter angemeſſen, das iſt, ihm begreiflich waren; doch ſo, daß im - mer dasjenige, was den Menſchen ehrwuͤrdig ſeyn muß, nicht allein nicht verkleinert, ſondern gleichſam im Vorbeigang groß und ſchoͤn vorgeſtellt wurde. Dadurch gewann der Knabe eine Liebe zu ſeinem Großvater, die uͤber alles ging: und da - her hatten denn die Begriffe, die er ihm beibringen wollte, Eingang bei ihm. Was ihm ſein Großvater ſagte, das glaubte er ohne weiteres Nachdenken.
Die ſtille Wehmuth Wilhelms verwandelte ſich nun vor und nach in eine geſpraͤchige und vertrauliche Traurigkeit. Nun ſprach er wieder mit ſeinen Leuten; ganze Tage redeten ſie von Dortchen, ſangen ihre Lieder, beſahen ihre Kleider, und dergleichen Dinge mehr. Wilhelm fing an, ein Wonne - gefuͤhl in ihrem Andenken zu empfinden, und einen Frieden zu ſchmecken, der uͤber alles ging, wenn er ſich vorſtellte, daß uͤber kurze Jahre auch ihn der Tod wuͤrde abfordern, wo er denn, ohne einiges Ende zu befuͤrchten, ewig in Geſellſchaft ſeines Dortchens die hoͤchſte Gluͤckſeligkeit, deren der Menſch nur faͤhig iſt, wuͤrde zu genießen haben. Dieſer große Ge - danke zog eine ganze Lebensaͤnderung nach ſich, wozu folgen - der Vorfall noch ein Großes mit beitrug. Etliche Stunden von Tiefenbach ab, war ein großes adeliches Haus, welches durch eine Erbſchaft an einen gewiſſen Grafen gefallen war. Auf dieſem Schloß hatte ſich eine Geſellſchaft frommer Leute62 eingepachtet. Sie hatten eine Fabrike von halbſeidenen Stoffen unter ſich angelegt, wovon ſie ſich naͤhreten. Was nun kluge Koͤpfe waren, die die Moden und den Wohlſtand in der Welt kannten, oder mit Einem Wort, wohllebende Leute, die hat - ten gar keinen Geſchmack an dieſer Einrichtung. Sie wußten, wie ſchimpflich es in der großen Welt waͤre, ſich oͤffentlich zu Jeſu Chriſto zu bekennen, oder Unterredungen zu halten, wo - rinnen man ſich ermahnte, Deſſen Lehre und Leben nachzufol - gen. Daher waren denn auch dieſe Leute in der Welt ver - achtet, und hatten keinen Werth; ſogar fanden ſich Menſchen, die wollten geſehen haben, daß ſie auf ihrem Schloſſe allerhand Graͤuel veruͤbten, wodurch dann die Verachtung noch groͤßer wurde. Mehr konnte man ſich aber nicht aͤrgern, als wenn man hoͤrte, daß dieſe Leute uͤber ſolche Schmach noch froh wa - ren, und ſagten, daß es ihrem Meiſter eben ſo ergangen. Un - ter dieſer Geſellſchaft war Einer, Namens Niclas, ein Menſch von ungemeinem Genie und Naturgaben. Er hatte Theologie ſtudirt, dabei aber die Maͤngel aller Syſteme ent - deckt, auch oͤffentlich dagegen geredet und geſchrieben; wes - wegen er ins Gefaͤngniß gelegt, hernach aber daraus wieder befreit worden, und mit einem gewiſſen Herrn lange auf Rei - ſen geweſen war. Er hatte ſich, um ruhig und frei zu leben, unter dieſe Leute begeben, und da er von ihrem Handwerk nichts verſtand, ſo trug er ihre verfertigten Zeuge weit umher feil, oder, wie man zu ſagen pflegt, er ging damit hauſieren. Dieſer Niclas war oft in Stillings Hauſe geweſen; weil er aber wußte, wie feſt man daſelbſt an den Grundſaͤtzen der reformirten Religion und Kirche hinge, ſo hatte er ſich nie herausgelaſſen; zu dieſer Zeit aber, da Wilhelm Stilling anfing, aus dem ſchwaͤrzeſten Kummer ſich loszuwenden, fand er Gelegenheit, mit ihm zu reden. Dieſes Geſpraͤch iſt wich - tig, darum will ich es hier beifuͤgen, ſo wie mir’s Niclas ſelbſten erzaͤhlt hat.
Nachdem ſich Niclas geſetzt, fing er an: Wie gehts Euch nun, Meiſter Stilling, koͤnnt Ihr Euch auch in das Ster - ben Eurer Frau ſchicken?
63„ Nicht zu wohl! das Herz iſt noch ſo wund, daß es blutet, doch fange ich an, mehreren Troſt zu finden. “
So geht’s, Meiſter Stilling, wenn man mit ſeinen Be - gierden ſich zu ſehr an etwas Vergaͤngliches anfeſſelt. Und wir ſind gewiß gluͤcklicher, wenn wir Weiber haben, als haͤtten wir keine, 1 Cor. 7, 29. Wir koͤnnten ſie von Herzen lieben; allein wie nuͤtzlich iſt es doch auch, wenn man ſich uͤbet, auch dieſem Vergnuͤgen abzuſterben und es zu ver - laͤugnen; gewiß wird uns dann der Verluſt nicht ſo ſchwer fallen.
„ Das laͤßt ſich recht gut predigen, aber thun, thun, leiſten, halten, das iſt eine andere Sache! “
Niclas laͤchelte und ſagte: Freilich iſt es ſchwer, beſon - ders wenn man ein ſolches Dortchen gehabt hat; doch aber, wenn’s nur Jemand ein Ernſt iſt, ja, wenn nur Jemand glaubt, daß die Lehre Jeſu Chriſti zur hoͤchſten Gluͤckſeligkeit fuͤhret, ſo wird’s einem Ernſt. Alsdann iſt es wirklich ſo ſchwer nicht, als man ſich’s vorſtellt. Laßt mich Euch die ganze Sache kuͤrzlich erklaͤren. Jeſus Chriſtus hat uns eine Lehre hinter - laſſen, die der Natur der menſchlichen Seele ſo angemeſſen iſt, daß ſie, wann ſie nur befolgt wird, nothwendig vollkommen gluͤcklich machen muß. Wenn wir alle Lehren aller Welt - weiſen durchgehen, ſo finden wir eine Menge Regeln, die ſo zuſammenhangen, wie ſie ſich ihr Lehrgebaͤude geformt hatten. Bald hinken ſie, bald laufen ſie, und dann ſtehen ſie ſtill; nur die Lehre Chriſti, aus den tiefſten Geheimniſſen der menſch - lichen Natur herausgezogen, fehlet nie, und beweiſet dem, der es recht einſieht, vollkommen, daß ihr Verfaſſer den Men - ſchen ſelber muͤſſe gemacht haben, indem er ihn bis auf den erſten Grundtrieb kannte. Der Menſch hat einen unendlichen Hunger nach Vergnuͤgen, — nach Vergnuͤgen, die im Stande ſind, ihn zu ſaͤttigen, die immer was Neues ausliefern, die eine unaufhoͤrliche Quelle neuer Vergnuͤgen ſind. In der gan - zen Schoͤpfung aber finden wir keine von ſolcher Art. So - bald wir ihrer durch den Wechſel der Dinge verluſtig werden, ſo laſſen ſie eine Qual zuruͤck, wie Ihr zum Exempel bei eurem Dortchen gewahr worden. Dieſer goͤttliche Geſetzgeber wußte, daß der Grund aller menſchlichen Handlungen die64 wahre Selbſtliebe ſey. Weit davon entfernt, dieſen Trieb, der viel Boͤſes anrichten kann, zu verdraͤngen, ſo gibt er lau - ter Mittel an die Hand, denſelben zu veredeln und zu verfei - nern. Er befiehlt, wir ſollen das beweiſen, was wir wuͤn - ſchen, daß ſie uns beweiſen ſollen; thun wir nun das, ſo ſind wir ihrer Liebe gewiß, ſie werden uns wohl thun und viel Vergnuͤgen machen, wenn ſie anders keine boͤſe Menſchen ſind. Er befiehlt, wir ſollen die Feinde lieben; ſobald wir nun ei - nem Feinde Liebes und Gutes erzeigen, ſo wird er gewiß auf das aͤußerſte gefoltert, bis er ſich mit uns ausgeſoͤhnt hat; wir ſelbſten aber genießen bei der Ausuͤbung dieſer Pflichten, die uns nur im Anfang ein wenig Muͤhe koſten, einen innern Frieden, der alle ſinnlichen Vergnuͤgen weit uͤbertrifft. Ueber - das iſt der Stolz eigentlich die Quelle aller unſerer geſellſchaft - lichen Laſter, alles Unfriedens, Haſſes und Stoͤrens der Ruhe. Wider die Wurzel alles Uebels iſt nun kein beſſer Mittel, als obiges Geſetz Jeſu Chriſti. Ich mag mich fuͤr jetzt nicht wei - ter daruͤber erklaͤren; ich wollte Euch nur ſo viel ſagen: daß es wohl der Muͤhe werth ſey, Ernſt anzuwenden, der Lehre Chriſti zu folgen, weil ſie uns dauerhafte und weſentliche Vergnuͤgen verſchafft, die uns im Verluſt anderer die Wage halten koͤnnen.
„ Sagt mir doch dieſes alles vor, Freund Niclas! ich muß es aufſchreiben, ich glaube, daß es wahr iſt, was Ihr ſagt. “
Niclas wiederholte es von Herzen, und immer mit einem Bißchen mehr oder weniger, und Wilhelm ſchrieb es auf, ſo wie er’s ihm vorſagte.
„ Aber, fuhr er fort, wenn wir durch die Nachfolge der Lehre Chriſti ſelig werden, wofuͤr iſt dann ſein Leben und Sterben? Die Prediger ſagen ja, wir koͤnnten die Gebote nicht halten, ſondern wir wuͤrden nur durch den Glauben an Chriſtum und durch ſein Verdienſt gerecht und ſelig. “
Niclas laͤchelte und ſagte: Davon laͤßt ſich einſt einmal weiter reden. Nehmt’s nur eine Weile ſo, daß wie Er uns durch ſein heiliges, reines Leben, da er in der Gnade vor Gott und den Menſchen hinwandelte, eine freie Ausſicht uͤber unſer Leben, uͤber die verworrenen Erdhaͤndel verſchafft hat,65 daß wir durch Einen Blick auf Ihn muthig werden, und hof - fen der Gnade, die uͤber uns waltet, zur groͤßeren Einfalt des Herzens, mit der man uͤberall durchkommt: ſo hat er auch, ſag’ ich, ſein Kreuz hin in die Nacht des Todes geflanzt, wo die Sonne untergeht und der Mond ſein Licht verliert, daß wir da hinaufblicken, und ein „ Gedenke mein! “in demuͤthi - ger Hoffnung rufen. So werden wir durch ſein Verdienſt ſelig, wenn Ihr wollt; denn er hat ſich die Freiheit der Seinen vom ewigen Tod ſcharf und ſauer genug verdient, und ſo werden wir durch den Glauben ſelig, denn der Glaube iſt Seligkeit. Laßt Euch indeſſen das alles nicht anfechten, und ſeyd im Kleinen treu, ſonſt werdet Ihr im Großen nichts ausrichten. Ich will Euch ein paar Blaͤtter hier laſſen, die aus dem franzoͤ - ſiſchen des Erzbiſchofs Fenelon uͤberſetzt ſind; ſie handeln von der Treue in kleinen Dingen; auch will ich Euch die Nachfolge Chriſti des Thomas von Kempis mit - bringen, ihr koͤnnt da weiter Nachricht bekommen.
Ich kann nicht eigentlich ſagen, ob Wilhelm aus wah - rer Ueberfuͤhrung dieſe Lehre angenommen, oder ob der Zuſtand ſeines Herzens ſo beſchaffen geweſen, daß er ihre Schoͤnheit empfunden, ohne ihre Wahrheit zu unterſuchen. Gewiß, wenn ich mit kaltem Blut den Vortrag dieſes Niclaſens durch - denke, ſo find’ ich, daß ich nicht alles reimen kann, aber im Ganzen iſts doch herrlich und gut.
Wilhelm kaufte von Niclaſen einige Ellen Stoff, ohne ſie noͤthig zu haben, und da nahm der gute Prediger ſein Buͤndel auf den Nacken und ging, doch mit dem Verſprechen, bald wieder zu kommen; und gewiß wird Niclas den ganzen Giller durch Gott recht herzlich fuͤr die Bekehrung Wilhelms gedankt haben. Dieſer nun fand eine tiefe, unwiderſtehliche Neigung in ſeiner Seele, die ganze Welt daran zu geben und mit ſeinem Kinde oben im Hauſe auf einer Kammer allein zu wohnen. Seine Schweſter Eliſabeth wurde an einen Lein - weber Simon an ſeine Stelle ins Haus verheirathet, er aber bezog ſeine Kammer, ſchaffte ſich einige Buͤcher an, die ihm von Niclas vorgeſchlagen wurden, und ſo verlebte er daſelbſt mit ſeinem Knaben viele Jahre.
Stilling’s Schriften. I. Bd. 566Die ganze Beſchaͤftigung dieſes Mannes ging waͤhrend die - ſer Zeit dahin, mit ſeinem Schneiderhandwerke ſeine Beduͤrf - niſſe zu erwerben (denn er gab fuͤr ſich und ſein Kind woͤchent - lich ein ertraͤgliches Koſtgeld ab an ſeine Eltern) und dann alle Neigungen ſeines Herzens, die nicht auf die Ewigkeit ab - zielten, zu daͤmpfen: endlich aber auch ſeinen Sohn in eben den Grundſaͤtzen zu erziehen, die er ſich als wahr und feſtge - gruͤndet eingebildet hatte. Des Morgens um vier Uhr ſtand er auf und fing an zu arbeiten: um ſieben weckte er ſeinen Heinrichen, und beim erſten Erwachen erinnerte er ihn freundlich an die Guͤtigkeit des Herrn, der ihn die Nacht durch von ſeinen Engeln bewachen laſſen. Danke ihm dafuͤr, mein Kind! ſagte Wilhelm, indem er den Knaben ankleidete. War dieſes geſchehen, ſo mußte er ſich in kaltem Waſſer waſchen, und dann nahm ihn Wilhelm bei ſich, ſchloß die Kammer zu, und fiel mit ihm vor dem Bette auf die Kniee und betete mit der groͤßten Innbrunſt des Geiſtes zu Gott, wobei ihm die Thraͤnen oft haͤufig zur Erde floßen. Dann bekam der Junge ſein Fruͤhſtuͤck, welches er mit einem Anſtand und Ord - nung verzehren mußte, als wenn er in Gegenwart eines Prin - zen geſpeiſet haͤtte. Nun mußte er ein kleines Stuͤck im Ca - techismus leſen, und vor und nach auswendig lernen; auch war ihm erlaubt, alte, anmuthige und einem Kind begreifliche Geſchichten, Theils geiſtliche, Theils weltliche, zu leſen, als da war: der Kaiſer Oktavianus mit ſeinem Weib und Soͤhnen; die Hiſtorie von den vier Haymons-Kindern; die ſchoͤne Me - luſine und dergleichen. Wilhelm erlaubte niemalen dem Kna - ben mit andern Kindern zu ſpielen, ſondern er hielt ihn ſo ein - gezogen, daß er im ſiebenten Jahre ſeines Alters noch keine Nachbars-Kinder, wohl aber eine ganze Reihe ſchoͤner Buͤcher kannte. Daher kam es denn, daß ſeine ganze Seele anfing, ſich mit Idealen zu beluſtigen; ſeine Einbildungskraft ward erhoͤht, weil ſie keine andere Gegenſtaͤnde bekam, als idealiſche Perſonen und Handlungen. Die Helden alter Romanzen, de - ren Tugenden uͤbertrieben geſchildert wurden, ſetzten ſich un - vermerkt, als ſo viel nachahmungswuͤrdige Gegenſtaͤnde, in ſein Gemuͤth feſte, und die Laſter wurden ihm zum groͤßeſten67 Abſcheu; doch aber, weil er beſtaͤndig von Gott und frommen Menſchen reden hoͤrte, ſo wurde er unvermerkt in einen Geſichts - punkt geſtellt, aus dem er Alles beobachtete. Das Erſte, wornach er fragte, wenn er von Jemand etwas las oder reden hoͤrte, bezog ſich auf ſeine Geſinnung gegen Gott und Chri - ſtum. Daher, als er einmal Gottfried Arnolds Leben der Altvaͤter bekam, konnte er gar nicht mehr aufhoͤren zu le - ſen, und dieſes Buch, nebſt Reizens Hiſtorie der Wiederge - bornen, blieb ſein beſtes Vergnuͤgen in der Welt, bis ins zehnte Jahr ſeines Alters; aber alle dieſe Perſonen, deren Lebens - beſchreibungen er las, blieben ſo feſt in ſeiner Einbildungskraft idealiſirt, daß er ſie nie in ſeinem Leben vergeſſen hat.
Am Nachmittag, von zwei bis drei Uhr, oder auch etwas laͤnger, ließ ihn Wilhelm in den Baumhof und Geiſenber - ger Wald ſpatzieren; er hatte ihm daſelbſt einen Diſtrikt an - gewieſen, den er ſich zu ſeinen Beluſtigungen zueignen, aber uͤber welchen er nicht weiter ohne Geſellſchaft ſeines Vaters hinausgehen duͤrfte. Dieſe Gegend war nicht groͤßer, als Wil - helm aus ſeinem Fenſter uͤberſehen konnte, damit er ihn nie aus den Augen verlieren moͤchte. War denn die geſetzte Zeit um, oder wenn ſich auch ein Nachbars-Kind Heinrichen von weitem naͤherte, ſo pfiff Wilhelm, und auf dieſes Zeichen war er den Augenblick wieder bei ſeinem Vater.
Dieſe Gegend, Stillings Baumhof und ein Strich Wal - des, der an den Hof graͤnzte, wurde von unſerem jungen Kna - ben alſo taͤglich bei gutem Wetter beſucht, und zu lauter idea - liſchen Landſchaften gemacht. Da war eine egyptiſche Wuͤſte, in welcher er einen Strauch zur Hoͤhle umbildete, in welche er ſich verbarg und den heiligen Antonius vorſtellte, betete auch wohl in dieſem Enthuſiasmus recht herzlich. In einer andern Gegend war der Brunu der Meluſine; dort war die Tuͤrkei, wo der Sultan und ſeine Tochter, die ſchoͤne Marcebilla, wohn - ten; da war auf einem Felſen das Schloß Montalban, in welchem Reinold wohnte u. ſ. w. Nach dieſen Oertern wall - fahrtete er taͤglich, kein Menſch kann ſich die Wonne einbil - den, die der Knabe daſelbſt genoß; ſein Geiſt floß uͤber, er ſtammelte Reimen und hatte dichteriſche Einfaͤlle. So war die5 *68Erziehung dieſes Kindes beſchaffen bis in’s zehnte Jahr. Eines gehoͤrt noch hierzu. Wilhelm war ſehr ſcharf; die mindeſte Uebertretung ſeiner Befehle beſtrafte er aufs ſchaͤrfſte mit der Ruthe. Daher kam zu obigen Grundlagen eine gewiſſe Schuͤch - ternheit in des jungen Stillings Seele, und aus Furcht vor den Zuͤchtigungen ſuchte er ſeine Fehler zu verhehlen und zu verdecken, ſo daß er ſich nach und nach zum Luͤgen verleiten ließ; eine Neigung, die ihm zum Ueberwinden bis in ſein zwanzigſtes Jahr viele Muͤhe gemacht hat. Wilhelms Ab - ſicht war, ſeinen Sohn beugſam und gehorſam zu erziehen, um ihn zu Haltung goͤttlicher und menſchlicher Geſetze faͤhig zu machen: und eine gewiſſenhafte Strenge fuͤhre, daͤuchte ihn, den naͤchſten Weg zum Zwecke: und da konnte er gar nicht begreifen, woher es doch kaͤme, daß ſeine Seligkeit, die er an den ſchoͤnen Eigenſchaften ſeines Jungen genoß, durch das Laſter der Luͤgen, auf welchem er ihn oft ertappte, ſo haͤßlich verſalzet wuͤrde. Er verdoppelte ſeine Strenge, beſonders wo er eine Luͤge gewahr wurde; allein er richtete dadurch weiter nichts aus, als daß Heinrich alle erdenkliche Kunſtgriffe anwendete, ſeine Luͤgen wahrſcheinlicher zu machen; und ſo wurde denn doch der gute Wilhelm betrogen. Sobald merkte der Knabe nicht, daß es ihm gelungen, ſo freute er ſich und dankte noch wohl Gott, daß er ein Mittel gefunden, einem Strafgericht zu entgehen. Doch muß ich auch dieſes zu ſeiner Ehrenrettung ſagen: er log nicht, als nur dann, wann er Schlaͤge damit abwenden konnte.
Der alte Stilling ſah alles dieſes ganz ruhig an. Die ſtrenge Lebensart ſeines Sohnes beurtheilte er nie; laͤchelte aber wohl zuweilen und ſchuͤttelte die grauen Locken, wenn er ſah, wie Wilhelm nach der Ruthe griff, weil der Knabe Etwas gegeſſen oder gethan hatte, das gegen ſeinen Befehl war. Dann ſagte er auch wohl in Abweſenheit des Kindes: Wilhelm! wer nicht will, daß ſeine Gebote haͤu - fig uͤbertreten werden, der muß nicht viel befeh - len. Alle Menſchen lieben die Freiheit. — Ja, ſagte Wilhelm dann, ſo wird mir aber der Junge eigenwil - lig. Verbeut du ihm, erwiederte der Alte, ſeine Feh -69 ler, wann er ſie eben begehen will, und unter - richte ihn warum; haſt du es aber vorhin verbo - ten, ſo vergißt der Knabe die vielen Gebote und Verbote, fehlt immer, du aber mußt dein Wort handhaben, und ſo gibts immer Schlaͤge. Wil - helm erkannte dieſes, und ließ vor und nach die mehreſten Regeln in Vergeſſenheit kommen; er regierte nun nicht mehr ſo ſehr nach Geſetzen, ſondern ganz monarchiſch; er gab ſeinen Befehl immer, wenn’s noͤthig war, richtete ihn nach den Um - ſtaͤnden ein, und nun wurde der Knabe nicht mehr ſo viel ge - zuͤchtigt, ſeine ganze Lebensart wurde in etwas aufgeweckter, freier und edler.
Heinrich Stilling wurde alſo ungewoͤhnlich erzogen, ganz ohne Umgang mit andern Menſchen; er wußte daher nichts von der Welt, nichts von Laſtern, er kannte gar keine Falſchheit und Ausgelaſſenheit; beten, leſen und ſchreiben war ſeine Beſchaͤftigung; ſein Gemuͤth war alſo mit wenigen Din - gen angefuͤllt: aber alles, was darin war, war ſo lebhaft, ſo deutlich, ſo verfeinert und veredelt, daß ſeine Ausdruͤcke, Reden und Handlungen ſich nicht beſchreiben laſſen. Die ganze Familie erſtaunte uͤber den Knaben, und der alte Stil - ling ſagte oft: der Junge entfleugtuns, die Fe - dern wachſen ihm groͤßer, als je Einer in unſerer Freundſchaft geweſen; wir muͤſſen beten, daß ihn Gott mit ſeinem guten Geiſt regieren wolle. Alle Nachbarn, die wohl in Stillings Hauſe kamen, und den Knaben ſahen, verwunderten ſich; denn ſie verſtanden nichts von allem, was er ſagte, ob er gleich gut deutſch redete. Unter andern kam einmal Nachbar Staͤhler hin, weilen er von Wilhelm ein Camiſol gemacht haben wollte; doch war wohl ſeine Hauptabſicht dabei, unter der Hand ſein Marie - chen zu verſorgen; denn Stilling war im Dorf angeſehen, und Wilhelm war fromm und fleißig. Der junge Hein - rich mochte acht Jahr alt ſeyn; er ſaß in einem Stuhl und las in einem Buch, ſah ſeiner Gewohnheit nach ganz ernſt - haft, und ich glaube nicht, daß er zu der Zeit noch in ſeinem70 Leben ſtark gelacht hatte. Staͤhler ſah ihn an und ſagte: Heinrich, was machſt du da?
„ Ich leſe. “
Kannſt du denn ſchon leſen?
Heinrich ſah ihn an, verwunderte ſich und ſprach: das iſt ja eine dumme Frage, ich bin ja ein Menſch! — Nun las er ſtark, mit Leichtigkeit, gehoͤrigem Nachdruck und Unter - ſcheidung. Staͤhler entſetzte ſich und ſagte: Hol’ mich der T.. ! ſo was hab’ ich mein Lebtag nicht geſehen. Bei dieſem Fluch ſprang Heinrich auf, zitterte und ſah ſchuͤchtern um ſich; wie er endlich ſah, daß der Teufel ausblieb, rief er: Gott, wie gnaͤdig biſt du! — trat darauf vor Staͤhlern und ſagte: Mann! habt ihr den Satan geſehen? Nein, ant - wortete Staͤhler. So ruft ihn nicht mehr, verſetzte Hein - rich, und ging in eine andere Kammer.
Das Geruͤcht von dieſem Knaben erſcholl weit umher; alle Menſchen redeten von ihm und verwunderten ſich. Selbſt der Paſtor Stollbein wurde neugierig, ihn zu ſehen. Nun war Heinrich noch nie in der Kirche geweſen, hatte daher auch noch nie einen Mann mit einer großen, weißen Peruͤcke und feinem ſchwarzen Kleide geſehen. Der Paſtor kam nach Tiefenbach hin, und weil er vielleicht ehe in ein anderes Haus gegangen war, ſo wurde ſeine Ankunft in Stillings Hauſe vorher ruchbar, wie auch, warum er gekommen war. Wil - helm unterrichtete ſeinen Heinrichen alſo, wie er ſich be - tragen muͤßte, wenn der Paſtor kaͤme. Er kam dann endlich, und mit ihm der alte Stilling. Heinrich ſtand an der Wand gerade auf, wie ein Soldat, der das Gewehr praͤſentirt; in ſeinen gefaltenen Haͤnden hielt er ſeine aus blauen und grauen tuchenen Lappen zuſammengeſetzte Muͤtze, und ſah dem Paſtor immer ſtarr in die Augen. Nachdem ſich Herr Stollbein geſetzt, und ein und ander Wort mit Wilhelmen geredet hatte, drehte er ſich gegen die Wand, und ſagte: Guten Mor - gen, Heinrich! —
„ Man ſagt guten Morgen, ſobald man in die Stube kommt. “
Stollbein merkte, mit wem er’s zu thun hatte, daher71 drehte er ſich mit ſeinem Stuhl neben ihn und fuhr fort: Kannſt du auch den Catechismus?
„ Noch nicht all. “
Wie, noch nicht all? das iſt ja das erſte, was die Kinder lernen muͤſſen.
„ Nein, Paſtor, das iſt nicht das erſte; Kinder muͤſſen erſt beten lernen, daß ihnen Gott Verſtand geben moͤge, den Ca - techismus zu begreifen. “
Herr Stollbein war ſchon im Ernſt aͤrgerlich, und eine ſcharfe Strafpredigt an Wilhelmen war ſchon ausſtudirt; doch dieſe Antwort machte ihn ſtutzig. Wie beteſt du denn? fragte er ferner.
„ Ich bete: Lieber Gott! gib mir doch Verſtand, daß ich begreifen kann, was ich leſe. “
Das iſt recht, mein Sohn, ſo bete fort!
„ Ihr ſeyd nicht mein Vater. “
Ich bin dein geiſtlicher Vater.
„ Nein, Gott iſt mein geiſtlicher Vater; ihr ſeyd ein Menſch, ein Menſch kann kein Geiſt ſeyn. “
Wie, haſt du denn keinen Geiſt, keine Seele?
„ Ja freilich! wie koͤnnt Ihr ſo einfaͤltig fragen? Aber ich kenne meinen Vater. “
Kennſt du denn auch Gott, deinen geiſtlichen Vater?
Heinrich laͤchelte. „ Sollte ein Menſch Gott nicht kennen? “
Du kannſt ihn ja doch nicht ſehen.
Heinrich ſchwieg, und holte ſeine wohlgebrauchte Bibel, und wies dem Paſtor den Spruch Roͤm. 1, V. 19 und 20.
Nun hatte Stollbein genug. Er hieß den Knaben hinaus gehen, und ſagte zu dem Vater: Euer Kind wird alle ſeine Voreltern uͤbertreffen; fahret fort, ihn wohl unter der Ruthe zu halten; der Junge wird ein großer Mann in der Welt.
Wilhelm hatte noch immer ſeine Wunde uͤber Dortchens Tod; er ſeufzte noch beſtaͤndig um ſie. Nunmehr nahm er auch zuweilen ſeinen Knaben mit nach dem alten Schloß, zeigte ihm ſeiner verklaͤrten Mutter Tritte und Schritte, alles, was ſie hier und da geredet und gethan hatte. Heinrich verliebte ſich ſo in ſeine Mutter, daß er alles, was er von ihr72 hoͤrte, in ſein Eigenes verwandelte, welches Wilhelmen ſo wohl gefiel, daß er ſeine Freude nicht bergen konnte.
Einſtmals an einem ſchoͤnen Herbſtabend gingen unſere bei - den Liebhaber des ſeligen Dortchens in den Ruinen des Schloſſes herum, und ſuchten Schneckenhaͤuschen, die daſelbſt ſehr haͤufig waren. Dortchen hatte daran ihre groͤßte Be - luſtigung gehabt. Heinrich fand neben einer Mauer unter einem Stein ein Zulegmeſſerchen mit gelben Buckeln und gruͤ - nen Stiel. Es war noch gar nicht roſtig, theils, weil es am Trocknen lag, theils, weil es ſo bedeckt gelegen, daß es nicht darauf regnen konnte. Heinrich war froh uͤber dieſen Fund, lief zu ſeinem Vater und zeigte es ihm. Wilhelm beſah es, wurde blaß, fing an zu ſchluchzen und zu heulen. Hein - rich erſchrack, ihm ſtanden auch ſchon die Thraͤnen in den Augen, ohne zu wiſſen warum; auch durfte er nicht fragen. Er drehte das Meſſer herum, und ſah, daß auf der Klinge mit Etzwaſſer geſchrieben ſtand: Johanna Dorothea Ca - tharina Stilling. Er ſchrie laut, und lag da, wie ein Todter. Wilhelm hoͤrte ſowohl das Leſen des Namens, als auch den lauten Schrei; er ſetzte ſich neben den Knaben, ſchuͤttelte an ihm, und ſuchte ihn wieder zurechte zu bringen. Indem er damit beſchaͤftiget war, ward ihm wohl in ſeiner Seele; er fand ſich getroͤſtet, er nahm den Knaben in ſeine Arme, druͤckte ihn an ſeine Bruſt, und empfand ein Vergnuͤ - gen, das uͤber Alles ging. Er nahete ſich zu Gott, wie zu ſeinem Freund, und meinte bis in die Herrlichkeit des Him - mels aufgezogen zu ſeyn und Dortchen unter den Engeln zu ſehen. Indeß kam Heinrich wieder zu ſich, und fand ſich in ſeines Vaters Armen. Er wußte ſich nicht zu beſinnen, daß ihn ſein Vater jemals in den Armen gehabt. Seine ganze Seele wurde durchdrungen, Thraͤnen der ſtaͤrkſten Empfindung floßen uͤber ſeine ſchneeweißen vollen Wangen herab. Vater, habt ihr mich lieb? — fragte er. Niemals hatte Wilhelm mit ſeinem Kinde weder geſcherzt noch getaͤndelt; daher wußte der Knabe von keinem andern Vater, als einem ernſthaften und ſtrengen Mann, den er fuͤrchten und verehren mußte. Wilhelms Kopf ſank Heinrichen auf die Bruſt; er73 ſagte: Ja! und weinte laut. Heinrich war außer ſich, und eben im Begriff, wieder ohnmaͤchtig zu werden; doch, der Vater ſtand ploͤtzlich auf und ſtellte ihn auf die Fuͤße. Kaum konnt’ er ſtehen. Komm, ſagte Wilhelm, wir wollen ein wenig herumgehen. Sie ſuchten das Meſſer, konnten es aber gar nicht wieder finden; es war ganz gewiß zwiſchen den Steinen tief hinab gefallen. Sie ſuchten lange, aber ſie fan - den’s nicht. Niemand war trauriger als Heinrich; doch der Vater fuͤhrte ihn weg und redete Folgendes mit ihm:
Mein Sohn! du biſt nun bald neun Jahr alt. Ich hab’ dich gelehrt und unterrichtet ſo gut ich gekonnt habe; du haſt nun bald ſo viel Verſtand, daß ich vernuͤnftig mit dir reden kann. Du haſt noch Vieles in der Welt vor dir, und ich ſel - ber bin noch jung. Wir werden unſer Leben auf unſerer Kam - mer nicht beſchließen koͤnnen; wir muͤſſen wieder mit Men - ſchen umgehen; ich will wiederum Schule halten, und du ſollſt mit mir gehen und ferner lernen. Befleißige dich auf alles, wozu du Luſt haſt, es ſoll dir an Buͤchern nicht fehlen; doch aber, damit du etwas Gewiſſes habeſt, womit du dein Brod erwerben koͤnneſt, ſo mußt du mein Handwerk lernen. Wird dich denn der liebe Gott in einen beſſern Beruf ſetzen, ſo haſt du Urſach, ihm zu danken; Niemand wird dich verachten, daß du mein Sohn biſt, und wenn du auch ein Fuͤrſt wuͤrdeſt. Hein - rich empfand Wonne uͤber ſeines Vaters Vertraulichkeit; ſeine Seele wurde unendlich erweitert; er fuͤhlte eine ſo ſanfte, un - bezwingbare Freiheit, dergleichen ſich nicht vorſtellen laͤßt; mit Einem Wort, er empfand jetzt zum Erſtenmal, daß er ein Menſch war! Er ſah ſeinen Vater an, und ſagte: Ich will alles thun, was Ihr haben wollt! Wilhelm laͤchelte ihn an, und fuhr fort: Du wirſt gluͤcklich ſeyn; nur mußt du nie vergeſ - ſen, mit Gott vertraulich umzugehen, der wird dich alsdann in deinen Schutz nehmen und dich vor allem Boͤſen bewahren. Unter dieſen Geſpraͤchen kamen ſie wieder nach Haus und auf ihre Kammer. Von dieſer Zeit an ſchien Wilhelm ganz veraͤndert; ſein Herz war wieder geoͤffnet worden, und ſeine frommen Geſinnungen hinderten ihn nicht, unter die Leute zu gehen. Alle Menſchen, auch die wildeſten, empfanden Ehr -74 furcht in ſeiner Gegenwart; denn ſein ganzer Menſch hatte in der Einſamkeit einen unwiderſtehlichen ſanften Ernſt an - genommen, aus dem eine reine, einfaͤltige Seele hervorblickte. Oefters nahm er auch ſeinen Sohn mit, zu dem er eine ganze neue, warme Liebe ſpuͤrte. Beim Finden des Meſſers war er Dortchens ganzen Charakter an dem Knaben gewahr wor - den; es war ſein und Dortchens Sohn; und uͤber dieſen Aufſchluß ſtuͤrzte alle ſeine Neigung auf Heinrichen, und er fand Dortchen in ihm wieder.
Nun fuͤhrte Wilhelm ſeinen Heinrichen zum Erſten - mal in die Kirche. Er erſtaunte uͤber alles, was er ſah; ſo - bald aber die Orgel anfing zu gehen, da wurde ſeine Empfin - dung zu maͤchtig, er bekam gelinde Zuckungen; eine jede ſanfte Harmonie zerſchmolz ihn, die Molltoͤne machten ihn in Thraͤ - nen fließen, und das raſche Allegro machte ihn aufſpringen. Wie erbaͤrmlich auch ſonſt der gute Organiſt ſein Handwerk verſtand, ſo war es doch Wilhelmen unmoͤglich, ſeinen Sohn davon abzubringen, nicht nach geendigter Predigt den Orga - niſten und ſeine Orgel zu ſehen. Er ſah ſie, und der Virtuoſe ſpielte ihm zu Gefallen ein Andante, welches vielleicht das erſtemal in der Florenburger Kirche war, daß dieſes einem Bauernjungen zu Gefallen geſchah.
Nun ſah auch Heinrich zum Erſtenmal ſeiner Mutter Grab. Er wuͤnſchte nur, ihre noch uͤbrigen Gebeine zu ſehen; da das aber nicht geſchehen konnte, ſo ſetzte er ſich auf den Grabeshuͤgel, pfluͤckte einige Herbſtblumen und Kraͤuter auf demſelben, ſteckte ſie vor ſich in ſeine Knopfloͤcher und ging weg. Er empfand hier nicht ſo viel, als bei Findung des Meſ - ſers: doch hatte er ſich, nebſt ſeinem Vater, die Augen roth geweint. Jener Zufall war ploͤtzlich und unerwartet, dieſer aber vorbedaͤchtlich uͤberlegt; auch war die Empfindung der Kirchenmuſik noch allzu ſtark in ſeinem Herzen.
Der alte Stilling bemerkte nun auch die Beruhigung ſeines Wilhelms. Mit innigem Vergnuͤgen ſahe er alle das Gute und Liebe an ihm und ſeinem Kinde; er wurde da - durch noch mehr aufgeheitert und faſt verjuͤngt.
Als er einmal im Fruͤhling auf einen Montag Morgen nach75 dem Walde zu ſeiner Handthierung ging, erſuchte er Wilhel - men, ihm ſeinen Enkel mitzugeben. Dieſer gab es zu, und Heinrich freute ſich zum hoͤchſten. Wie ſie den Giller hin - auf gingen, ſagte der Alte: Heinrich, erzaͤhl’ uns einmal die Hiſtorie von der ſchoͤnen Meluſine; ich hoͤre ſo gern alte Hiſtorien: ſo wird uns die Zeit nicht lang. Heinrich er - zaͤhlte ſie ganz umſtaͤndlich mit der groͤßten Freude. Vater Stilling ſtellte ſich, als wenn er uͤber die Geſchichte ganz erſtaunt waͤre, und als wenn er ſie in allen Umſtaͤnden wahr zu ſeyn glaubte. Dieß mußte aber auch geſchehen, wenn man Heinrichen nicht aͤrgern wollte; denn er glaubte alle dieſe Hiſtorien ſo feſt, als die Bibel. Der Ort, wo Stilling Kohlen brannte, war drei Stunden von Tiefenbach; man ging beſtaͤndig bis dahin im Wald. Heinrich, der alles ideali - ſirte, fand auf dieſem ganzen Wege lauter Paradies; alles war ihm ſchoͤn und ohne Fehler. Eine recht duͤſtere Maibuche, die er in einiger Entfernung vor ſich ſah, mit ihrem ſchoͤnen gruͤnen Licht und Schatten, machte einen Eindruck auf ihn; alſofort war die ganze Gegend ein Ideal und himmliſch ſchoͤn in ſeinen Augen. Sie gelangten dann endlich auf einen ſehr hohen Berg zum Arbeitsplatz. Die mit Raſen bedeckte Koͤh - lershuͤtte fiel dem jungen Stilling ſogleich in die Augen; er kroch hinein, ſah das Lager von Moos und die Feuerſtaͤtte zwiſchen zween rauhen Steinen, freute ſich und jauchzte. Waͤh - rend der Zeit, daß der Großvater arbeitete, ging er im Wald herum, und betrachtete alle Schoͤnheiten der Gegend und der Natur; alles war ihm neu und unausſprechlich reizend. An einem Abend, wie ſie des andern Tages wieder nach Hauſe wollten, ſaßen ſie vor der Huͤtte, da eben die Sonne unterge - gangen war. Großvater! ſagte Heinrich, wann ich in den Buͤchern leſe, daß die Helden ſo weit zuruͤck haben rechnen koͤnnen, wer ihre Voreltern geweſen, ſo wuͤnſch’ ich, daß ich auch wuͤßte, wer meine Voreltern geweſen ſind. Wer weiß, ob wir nicht auch von einem Fuͤrſten oder großen Herrn her - kommen? Meiner Mutter Vorfahren ſind alle Prediger gewe - ſen, aber die Eurigen weiß ich noch nicht; ich will ſie mir Alle aufſchreiben, wenn ihr ſie mir ſagt. Vater Stilling76 laͤchelte, und antwortete: wir kommen wohl ſchwerlich von ei - nem Fuͤrſten her; das iſt mir aber auch ganz einerlei: du mußt das auch nicht wuͤnſchen. Deine Vorfahren ſind alle ehr - bare, fromme Leute geweſen; es gibt wenig Fuͤrſten, die das ſagen koͤnnen. Laß’ dir das die groͤßte Ehre in der Welt ſeyn, daß dein Großvater, Urgroßvater und ihre Vaͤter alle Maͤnner waren, die zwar außer ihrem Hauſe nichts zu befehlen hatten, doch aber von allen Menſchen geliebt und geehrt wurden. Kei - ner von ihnen hat ſich auf unehrliche Art verheirathet, oder ſich mit einer Frauensperſon vergangen; keiner hat jemals be - gehrt, das nicht ſein war; und Alle ſind großmuͤthig geſtorben in ihrem hoͤchſten Alter. Heinrich freute ſich und ſagte: ich werde alſo alle meine Voreltern im Himmel finden? Ja, erwiederte der Großvater, das wirſt du; unſer Geſchlecht wird daſelbſt gruͤnen und bluͤhen. Heinrich! erinnere dich an die - ſen Abend, ſo lang du lebſt. In jener Welt ſind wir von gro - ßem Adel; verlier’ dieſen Vorzug nicht! Unſer Segen wird auf dir ruhen, ſo lange du fromm biſt; wirſt du gottlos wer - den und deine Eltern verachten, ſo werden wir dich in der Ewigkeit nicht kennen. Heinrich fing an zu weinen, und ſagte: ſeyd dafuͤr nicht bange, Großvater! ich werde fromm und froh ſeyn, daß ich Stilling heiße. Erzaͤhlet mir aber was ihr von unſern Voreltern wiſſet. Vater Stilling er - zaͤhlte: Meines Urgroßvaters Vater hieß Ulli Stilling. Er war ohngefaͤhr Anno 1500 geboren. Ich weiß aus alten Briefen, daß er nach Tiefenbach gekommen, wo er im Jahr 1530 Hans Staͤhlers Tochter geheirathet. Er iſt aus der Schweiz hergekommen, und mit Zwinglius bekannt geweſen. Er war ein ſehr frommer Mann, auch ſo ſtark, daß er einsmalen fuͤnf Raͤubern ſeine vier Kuͤhe wieder abgenom - men, die ſie ihm geſtohlen hatten. Anno 1536 bekam er ei - nen Sohn, der hieß Reinhard Stilling; dieſer war mein Urgroßvater. Er war ein ſtiller, eingezogener Mann, der Je - dermann Gutes that; er heirathete im 50ſten Jahr eine ganz junge Frau, mit der er viele Kinder hatte; in ſeinem 60ſten Jahr gebar ihm ſeine Frau einen Sohn, den Heinrich Stil - ling, der mein Großvater geweſen. Er war 1596 geboren,77 er wurde 101 Jahr alt, daher hab’ ich ihn noch eben gekannt. Dieſer Heinrich war ein ſehr lebhafter Mann, kaufte ſich in ſeiner Jugend ein Pferd, wurde ein Fuhrmann und fuhr nach Braunſchweig, Brabant und Sachſen. Er war ein Schirr - meiſter, hatte gemeiniglich 20 bis 30 Fuhrleute bei ſich. Zu der Zeit waren die Raͤubereien noch ſo ſehr im Gange, und noch wenig Wirthshaͤuſer an den Straßen, daher nahmen die Fuhrleute Proviant mit ſich. Des Abends ſtellten ſie die Kar - ren in einen Kreis herum, ſo daß einer an den andern ſtieß; die Pferde ſtellten ſie mitten ein, und mein Großvater mit den Fuhrleuten war bei ihnen. Wann ſie dann gefuͤttert hat - ten, ſo rief er: Zum Gebet, ihr Nachbarn! dann kamen ſie alle, und Heinrich Stilling betete ſehr ernſtlich zu Gott. Einer von ihnen hielt die Wache, und die andern krochen un - ter ihre Karren an’s Trockne, und ſchliefen. Sie fuͤhrten aber immer ſcharf geladen Gewehr und gute Saͤbel bei ſich. Nun trug es ſich einmal zu, daß mein Großvater ſelbſt die Wache hatte; ſie lagen im Heſſenland auf einer Wieſe, ihrer wa - ren ſechs und zwanzig ſtarke Maͤnner. Gegen eilf Uhr des Abends hoͤrte er einige Pferde auf der Wieſe reiten; er weckte in der Stille alle Fuhrleute und ſtand hinter ſeinem Karren. Heinrich Stilling aber lag auf ſeinen Knieen, und betete bei ſich ſelbſt ernſtlich, Endlich ſtieg er auf ſeinen Karren, und ſah umher. Es war genug Licht, ſo, daß der Mond eben untergehen wollte. Da ſah er ungefaͤhr zwanzig Maͤnner zu Pferd, wie ſie abſtiegen und leiſe auf die Karren losgingen. Er kroch wieder herab, ging unter den Karren, damit ſie ihn nicht ſaͤhen, gab aber wohl Acht, was ſie anfingen. Die Raͤuber gingen rund um die Wagenburg herum, und als ſie keinen Eingang fanden, fingen ſie an, an einem Karren zu ziehen. Stilling, ſobald er das ſah, rief: im Namen Gottes ſchießt! Ein jeder von den Fuhrleuten hatte den Hah - nen aufgezogen und ſchoßen unter den Karren heraus, ſo daß der Raͤuber ſofort Sechſe niederſanken; die andern Raͤuber erſchracken, zogen ſich ein wenig zuruͤck und redeten zuſammen. Die Fuhrleute luden wieder ihre Flinten: nun ſagte Stil - ling: gebt Acht, wenn ſie wieder naͤher kommen, dann ſchießt!78 ſie kamen aber nicht, ſondern ritten fort. Die Fuhrleute ſpannten mit Tagesanbruch wieder an, und fuhren weiter; ein Jeder trug ſeine geladene Flinte und ſeinen Degen, denn ſie waren nicht ſicher. Des Vormittags ſahen ſie aus einem Wald einige Reiter wieder auf ſie zureiten. Stilling fuhr zufoͤrderſt, und die Andern alle hinter ihm her. Dann rief er: Ein Je - der hinter ſeinen Karren, und den Hahnen geſpannt! Die Reiter hielten ſtille; der vornehmſte unter ihnen ritt allein auf ſie zu, ohne Gewehr, und rief: Schirrmeiſter, hervor! Mein Großvater trat hervor, die Flinte in der Hand und den De - gen unterem Arm. Wir kommen als Freunde! rief der Rei - ter. Heinrich traute nicht und ſtand da. Der Reiter ſtieg ab, bot ihm die Hand und fragte: Seyd ihr verwichene Nacht von Raͤubern angegriffen worden? Ja, antwortete mein Groß - vater, nicht weit von Hirſchfeld auf einer Wieſe. Recht ſo, antwortete der Reiter, wir haben ſie verfolgt, und kamen eben bei der Wieſe an, wie ſie fortjagten und ihr Einigen das Licht ausgeblaſen hattet; ihr ſeyd wackere Leute. Stilling fragte, wer er waͤre? der Reiter antwortete: Ich bin der Graf von Wittgenſtein, ich will euch zehn Reiter zum Geleit mit - geben, denn ich habe noch Mannſchaft genug dort hinten im Wald bei mir. Stilling nahm’s an, und accordirte mit dem Grafen, wie viel er ihm jaͤhrlich geben ſollte, wenn er ihn immer durchs Heſſiſche geleitete. Der Graf gelobt’s ihm, und die Fuhrleute fuhren nach Hauſe. Dieſer mein Großvater hatte im zwei und zwanzigſten Jahr geheirathet, und im 24ſten, nehmlich 1620, bekam er einen Sohn, Hans Stilling, dieſer war mein Vater. Er lebte ruhig, wartete ſeines Acker - baues und diente Gott. Er hatte den ganzen dreißigjaͤhrigen Krieg erlebt, und war oͤfters in die aͤußerſte Armuth gerathen. Er hat zehn Kinder erzeugt, unter welchen ich der juͤngſte bin. Ich wurde 1680 geboren, eben da mein Vater 60 Jahr alt war. Ich habe, Gott ſey Dank! Ruhe genoſſen und mein Gut wiederum von allen Schulden befreiet. Mein Vater ſtarb 1724, im 104ten Jahr ſeines Alters: ich hab’ ihn wie ein Kind verpflegen muͤſſen, und liegt zu Florenburg bei ſeinen Vor - eltern begraben.
79Heinrich Stilling hatte mit groͤßter Aufmerkſamkeit zu - gehoͤret. Nun ſprach er: Gott ſey Dank, daß ich ſolche El - tern gehabt habe! Ich will ſie Alle nett aufſchreiben, damit ich’s nicht vergeſſe. Die Ritter nennen ihre Voreltern Ahnen, ich will ſie auch meine Ahnen heißen. Der Großvater laͤchelte und ſchwieg.
Des andern Tages gingen ſie wieder nach Hauſe, und Hein - rich ſchrieb alle die Erzaͤhlungen in ein altes Schreibbuch, das er umkehrte, und die hinten weiß gebliebenen Blaͤtter mit ſeinen Ahnen vollpfropfte.
Mir werden die Thraͤnen los, da ich dieſes ſchreibe. Wo ſeyd ihr doch hingeflohen, ihr ſel’ge Stunden! Warum bleibt nur euer Andenken dem Menſchen uͤbrig! Welche Freude uͤber - irdiſcher Fuͤlle ſchmeckte der gefuͤhlige Geiſt der Jugend! Es gibt keine Niedrigkeit des Standes, wenn die Seele geadelt iſt. Ihr, meine Thraͤnen, die mein durchbrechender Geiſt her - auspreßt, ſagt’s jedem guten Herzen, ſagt’s ohne Worte, was ein Menſch ſey, der mit Gott ſeinem Vater bekannt iſt, und all’ ſeine Gaben in ihrer Groͤße ſchmeckt!
Heinrich Stilling war die Freude und Hoffnung ſei - nes Hauſes; denn ob gleich Johann Stilling einen aͤl - tern Sohn hatte, ſo war doch niemand auf denſelben ſonder - lich aufmerkſam. Er kam oft, beſuchte ſeine Großeltern, aber wie er kam, ſo ging er auch wieder. Eine ſeltſame Sache! — Eberhard Stilling war doch wahrlich nicht partheiiſch. Doch was halt’ ich mich hierbei auf? Wer kann dafuͤr, wenn man einen Menſchen vor dem andern mehr oder weniger lieben muß? Paſtor Stollbein ſah wohl, daß unſer Knabe Etwas werden wuͤrde, wenn man nur was aus ihm machte, daher kam es bei einer Gelegenheit, da er in Stillings Hauſe war, daß er mit dem Vater und Großvater von dem Jungen redete, und ihnen vorſchlug, Wilhelm ſollte ihn Latein ler - nen laſſen. Wir haben ja zu Florenburg einen guten lateini - ſchen Schulmeiſter; ſchickt ihn hin, es wird wenig koſten. Der alte Stilling ſaß am Tiſch, kaute an einem Spaͤnchen; ſo80 pflegte er wohl zu thun, wenn er Sachen von Wichtigkeit uͤberlegte. Wilhelm legte den eiſernen Fingerhut auf den Tiſch, ſchlug die Arme vor der Bruſt uͤber einander und uͤber - legte auch. Margareth hatte die Haͤnde auf dem Schooß gefalten, knickelte mit den Daumen gegen einander, blinzte gegenuͤber auf die Stubenthuͤre und uͤberlegte auch. Hein - rich aber ſaß, mit ſeiner wollenen Lappmuͤtze in der Hand, auf einem kleinen Stuhl, und uͤberlegte nicht, ſondern wuͤnſchte nur. Stollbein ſaß auf ſeinem Lehnſtuhl, eine Hand auf dem Knopf des Rohrſtabes und die andere in der Seite und wartete der Sachen Ausſchlag. Lange ſchwiegen ſie, endlich ſagte der Alte: Nun, Wilhelm, es iſt dein Kind; was meinſt du?
„ Vater, ich weiß nicht, woher ich die Koſten beſtreiten ſoll. “
Iſt das deine ſchwerſte Sorge, Wilhelm? wird dir dein lateiniſcher Junge auch noch Freude machen? da ſorg’ nur!
„ Was, Freude! ſagte der Paſtor; mit Eurer Freude! Hier iſt die Frage, ob Ihr was rechts aus dem Knaben machen wollt, oder nicht. Soll was rechts aus ihm werden, ſo muß er Latein lernen, wo nicht, ſo bleib’ er ein Luͤmmel wie — “
Wie ſeine Eltern, ſagte der alte Stilling.
„ Ich glaube, Ihr wollt mich foppen, verſetzte der Prediger. “
Nein, Gott bewahr’ uns! erwiederte Eberhard, nehmt mir nicht uͤbel; denn Euer Vater war ja ein Wollenweber, und konnte auch kein Latein; doch ſagten die Leute, er waͤre ein braver Mann geweſen, wiewohl ich nie Tuch bei ihm ge - kauft habe. Hoͤrt, lieber Herr Paſtor, ein ehrlicher Mann liebt Gott und den Naͤchſten, er thut recht und ſcheut Nie - mand, er iſt fleißig, ſorgt fuͤr ſich und die Seinigen, damit ſie Brod haben moͤgen. Warum thut er doch das alles? —
„ Ich glaube wahrhaftig, Ihr wollt mich catechiſiren, Stil - ling! Braucht Reſpekt und wißt, mit wem Ihr redet. Das thut er, weil es recht und billig iſt, daß er’s thut! “
Zuͤrnet nicht, daß ich Euch widerſpreche; er thut’s darum, damit er hier und dort Freude haben moͤge.
„ Ei was! damit kann er doch noch zur Hoͤlle fahren. “
Mit der Liebe Gottes und des Naͤchſten?
81„ Ja! ja! wenn er den wahren Glauben an Chriſtum nicht hat. “
Das verſteht ſich nun endlich von ſelber, daß man Gott und den Naͤchſten nicht lieben kann, wenn man an Gott und ſein Wort nicht glaubt. Aber antworte du, Wilhelm! Was duͤnkt dich?
Mich duͤnkt, wenn ich wuͤßte, woher ich die Koſten nehmen ſollte, ſo wuͤrde ich den Jungen wohl huͤten, daß er nicht zu lateiniſch wuͤrde. Er ſoll immer die muͤßigen Tage Cameel - haarkuoͤpfe machen und mir naͤhen helfen, bis man ſieht, was Gott aus ihm machen will.
Das gefaͤllt mir nicht uͤbel, Wilhelm, ſagte Vater Stil - ling; ſo rath ich auch. Der Junge hat einen unerhoͤrten Kopf, Etwas zu lernen; Gott hat dieſen Kopf nicht umſonſt gemacht; laß ihn lernen, was er kann und was er will; gib ihm zuweilen Zeit dazu, aber nicht zu viel, ſonſt kommt er dir an’s Muͤßiggehen, und liest auch nicht ſo fleißig; wenn er aber brav auf dem Handwerk geſchafft hat, und er wird auf die Buͤcher recht hungrig, dann laß ihn eine Stunde le - ſen; das iſt genug. Nur mach, daß er ein Handwerk recht - ſchaffen lernt, ſo hat er Brod, bis er ſein Latein brauchen kann und ein Herr wird.
„ Hm! Hm! ein Herr wird, brummte Stollbein, er ſoll kein Herr werden, er ſoll mir ein Dorfſchulmeiſter wer - den und dann iſts gut, wenn er ein wenig Latein kann. Ihr Bauersleute meint, das ging ſo leicht, ein Herr zu werden. Ihr pflanzt den Kindern den Ehrgeiz ins Herz, der doch vom Vater, dem Teufel, herkommt. “
Dem alten Stilling heiterten ſich ſeine großen hellen Au - gen auf; er ſtand da wie ein kleiner Rieſe (denn er war ein langer anſehnlicher Mann), ſchuͤttelte ſein weißgraues Haupt, laͤchelte und ſprach: Was iſt Ehrgeiz? Herr Paſtor!
Stollbein ſprang auf und rief: Schon wieder eine Frage! ich bin Euch nicht ſchuldig, zu antworten, ſondern Ihr mir. Gebt Acht in der Predigt, da werdet Ihr hoͤren, was Ehr - geiz iſt. Ich weiß nicht, Ihr werdet ſo ſtolz, Kirchenaͤlteſter! Ihr waret ſonſt ein ſittſamer Mann.
Stillings Schriften. I. Band. 682Wie Ihrs aufnehmt, ſtolz oder nicht ſtolz. Ich bin ein Mann; ich hab Gott geliebt und ihm gedient, Jedermann das Seinige gegeben, meine Kinder erzogen, ich war treu; meine Suͤnden vergibt mir Gott, das weiß ich; nun bin ich alt, mein Ende iſt nah; ob ich wohl recht geſund bin, ſo muß ich doch ſterben; da freu ich mich nun darauf, wie ich bald werde von hinnen reiſen. Laßt mich ſtolz darauf ſeyn, wie ein ehr - licher Mann mitten unter meinen großgezogenen frommen Kin - dern zu ſterben. Wenn ichs ſo recht bedenk’, bin ich munte - rer, als wie ich mit Margareth Hochzeit machte.
„ Man geht ſo mit Struͤmpf und Schuh nicht in Himmel! “ſagte der Paſtor.
Die wird mein Großvater auch ausziehen, ehe er ſtirbt, ſagte der kleine Heinrich.
Ein Jeder lachte, ſelbſt Stollbein mußte lachen.
Margareth machte der Ueberlegung ein Ende. Sie ſchlug vor, ſie wollte Morgens den Jungen ſatt fuͤttern, ihm als - dann ein Butterbrod fuͤr den Mittag in die Taſche geben, des Abends koͤnnte er ſich wieder daheim ſatt eſſen; und ſo kann der Junge Morgens fruͤh nach Florenburg in die Schule ge - hen, ſagte ſie, und des Abends wieder kommen. Der Som - mer iſt ja vor der Thuͤr; den Winter ſieht man wie man’s macht.
Nun war’s fertig. Stollbein ging nach Hauſe.
Zu dieſer Zeit ging eine große Veraͤnderung in Stillings Hauſe vor, die aͤlteſten Toͤchter heiratheten auswaͤrts, und alſo machte Eberhard und ſeine Margareth, Wilhelm, Mariechen und Heinrich die ganze Familie aus. Eber - hard beſchloß auch nunmehr, ſein Kohlbrennen aufzugeben, und blos ſeiner Feldarbeit zu warten.
Die Tiefenbacher Dorfſchule wurde vacant, und ein jeder Bauer hatte Wilhelm Stilling im Auge, ihn zum Schul - meiſter zu waͤhlen. Man trug ihm die Stelle auf; er nahm ſie ohne Widerwillen an, ob er ſich gleich innerlich aͤngſtigte, daß er mit ſolchem Leichtſinn ſein einſames, heiliges Leben verlaſſen und ſich unter die Menſchen begeben wollte. Der gute Mann hatte nicht bemerkt, daß ihn nur der Schmerz uͤber Dortchens Tod, der kein ander Gefuͤhl neben ſich litt,83 zum Einſiedler gemacht hatte, und daß er, da dieſer ertraͤgli - cher wurde, wieder Menſchen ſehen, wieder an einem Geſchaͤfte Vergnuͤgen finden konnte. Er legte ſichs ganz anders aus. Er glaubte, jener heilige Trieb fange an bei ihm zu erkalten, und nahm daher mit Furcht und Zittern die Stelle an. Er bekleidete ſie mit Treue und Eifer, und fing zuletzt an zu muth - maßen, daß es Gott nicht ungefaͤllig ſeyn koͤnnte, wenn er mit ſeinem Pfund wucherte, und ſeinem Naͤchſten zu dienen ſuchte.
Nun fing auch unſer Heinrich an, in die lateiniſche Schule zu gehen. Man kann ſich leicht vorſtellen, was er fuͤr ein Aufſehen unter den andern Schulknaben machte. Er war bloß in Stillings Haus und Hof bekannt, und war noch nie unter Menſchen gekommen; ſeine Reden waren immer un - gewoͤhnlich, und wenig Menſchen verſtanden, was er wollte; keine jugendlichen Spiele, wornach die Knaben ſo bruͤnſtig ſind, ruͤhrten ihn, er ging vorbei und ſah ſie nicht. Der Schul - meiſter Weiland merkte ſeinen faͤhigen Kopf und großen Fleiß; daher ließ er ihn ungeplagt; und da er merkte, daß ihm das langweilige Auswendiglernen unmoͤglich war, ſo be - freite er ihn davon, und wirklich Heinrichs Methode, Latein zu lernen, war fuͤr ihn ſehr vortheilhaft. Er nahm einen lateiniſchen Text vor ſich, ſchlug die Worte im Lexicon auf, da fand er dann, was jedes fuͤr ein Theil der Rede ſey; ſuchte ferner die Muſter der Abweichungen in der Grammatik u. ſ. f. Durch dieſe Methode hatte ſein Geiſt Nahrung in den beſten lateiniſchen Schriftſtellern, und die Sprache lernte er hinlaͤng - lich ſchreiben, leſen und verſtehen. Was aber ſein groͤßtes Vergnuͤgen ausmachte, war eine kleine Bibliothek des Schul - meiſters, die er Freiheit zu gebrauchen hatte. Sie beſtand aus allerhand nuͤtzlichen Coͤllniſchen Schriften; vornehmlich: der Reinicke Fuchs mit vortrefflichen Holzſchnitten, Kaiſer Octavianus nebſt ſeinem Weib und Soͤhnen; eine ſchoͤne Hi - ſtorie von den vier Haymons-Kindern, Peter und Magelone; die ſchoͤne Meluſine, und endlich der vortreffliche Hans Clauert. Sobald nun Nachmittags die Schule aus war, ſo machte er ſich auf den Weg nach Tiefenbach und las eine ſolche Hiſtorie unter dem Gehen. Der Weg ging durch gruͤne6 *84Wieſen, Waͤlder und Gebuͤſche, Berg auf und ab, und die reine wahre Natur um ihn machte die tiefſten feierlichen Ein - druͤcke in ſein offenes, freies Herz. Abends kamen dann un - ſere fuͤnf lieben Leute zuſammen; ſie ſpeisten, ſchuͤtteten eins dem andern ſeine Seele aus, und ſonderlich erzaͤhlte Heinrich ſeine Hiſtorien, woran ſich alle, Margareth nicht ausge - nommen, ungemein ergoͤtzten. Sogar der ernſte pietiſtiſche Wilhelm hatte Freude daran, und las ſie wohl ſelbſten Sonn - tags Nachmittags, wenn er nach dem alten Schloß wallfahrtete. Heinrich ſah ihm dann immer in’s Buch, wo er las, und wenn bald eine ruͤhrende Stelle kam, ſo jauchzte er in ſich ſel - ber, und wenn er ſah, daß ſein Vater dabei empfand, ſo war ſeine Freude vollkommen.
Indeſſen ging doch des jungen Stillings Lateinlernen vortrefflich von ſtatten, wenigſtens lateiniſche Hiſtorien zu le - ſen, zu verſtehen, lateiniſch zu reden und zu ſchreiben. Ob das nun genug ſey, oder ob mehr erfordert werde, weiß ich nicht, Herr Paſtor Stollbein wenigſtens forderte mehr. Nachdem Heinrich ohngefaͤhr ein Jahr in die lateiniſche Schule gegangen, ſo fiel es gemeldetem Herrn einmal ein, un - ſern Studenten zu examiniren. Er ſah ihn aus ſeinem Stu - benfenſter vor der Schule ſtehen, er pfiff, und Heinrich flog zu ihm. Lernſt du auch brav?
„ Ja, Herr Paſtor. “
Wie viel Verba anomala ſind?
„ Ich weiß es nicht. “
Wie, Flegel, du weißt’s nicht? Es moͤchte leicht, ich gaͤb dir eins auf’s Ohr. Sum, possum, nu! wie weiter?
„ Das hab ich nicht gelernt. “
He, Madlene! ruf den Schulmeiſter.
Der Schulmeiſter kam.
Was laßt ihr den Jungen lernen?
Der Schulmeiſter ſtand an der Thuͤre, den Hut unterem Arm, und ſagte demuͤthig:
„ Latein. “
Da! ihr Nichtsnutziger, er weiß nicht einmal wie viel Verba anomala ſind.
85„ Weißt du das nicht, Heinrich? “
Nein, ſagte dieſer, ich weiß es nicht.
Der Schulmeiſter fuhr fort: Nolo und Malo was ſind das fuͤr Woͤrter?
„ Das ſind Verba anomala. “
Fero und Volo was ſind das?
„ Verba anomala. “
Nun, Herr Paſtor, fuhr der Schulmeiſter fort, ſo kennt der Knabe alle Woͤrter.
Stollbein verſetzte: Er ſoll aber die Regeln alle auswen - dig lernen; geht nach Haus, ich wills haben!
(Beide:) Ja, Herr Paſtor!
Von der Zeit an lernte Heinrich mit leichter Muͤhe auch alle Regeln auswendig, doch vergaß er ſie bald wieder. Das ſchien ſeinem Charakter eigen werden zu wollen; was ſich nicht leicht bezwingen ließ, da flog ſein Genie uͤber weg. Nun genug von Stillings Lateinlernen! wir gehen weiter.
Der alte Stilling fing nunmehr an, ſeinen Vaterernſt abzulegen und gegen ſeine wenigen Hausgenoſſen zaͤrtlicher zu werden; beſonders hielt er Heinrichen, der nunmehr eilf Jahr alt war, viel von der Schule zuruͤck, und nahm ihn mit ſich, wo er ſeiner Feldarbeit nachging; redete viel mit ihm von der Rechtſchaffenheit eines Menſchen in der Welt, beſonders von ſeinem Verhalten gegen Gott; empfahl ihm gute Buͤcher, ſonderlich die Bibel zu leſen, hernach auch, was Doktor Lu - ther, Calvinus, Oecolampadius und Bucerus geſchrieben ha - ben. Einsmalen gingen Vater Stilling, Mariechen und Heinrich des Morgens fruͤh in den Wald, um Brennholz zuzubereiten. Margareth hatte ihnen einen guten Milch - brei mit Brod und Butter in einem Korb zuſammen gethan, welchen Mariechen auf dem Kopf trug, ſie ging den Wald hinauf voran, Heinrich folgte und erzaͤhlte mit aller Freude die Hiſtorie von den vier Haymons-Kindern, und Vater Stil - ling ſchritt, auf ſeine Holzaxt ſich ſtuͤtzend, ſeiner Gewohn - heit nach, muͤhſam hinten darein und hoͤrte fleißig zu. Sie kamen endlich zu einem weit entlegenen Ort des Waldes, wo ſich eine gruͤne Ebene befand, die am einen Ende einen ſchoͤnen86 Brunnen hatte. Hier laßt uns bleiben, ſagte Vater Stil - ling, und ſetzte ſich nieder; Mariechen nahm ihren Korb ab, ſtellte ihn hin und ſetzte ſich auch. Heinrich aber ſah in ſeiner Seele wieder die egyptiſche Wuͤſte vor ſich, worin - nen er gern Antonius geworden waͤre; bald darauf ſah er den Brunnen der Meluſine vor ſich, und wuͤnſchte, daß er Ray - mund waͤre; dann vereinigten ſich beide Ideen, und es wurde eine fromme romantiſche Empfindung daraus, die ihm alles Schoͤne und Gute dieſer einſamen Gegend mit hoͤchſter Wol - luſt ſchmecken ließ. Vater Stilling ſtand endlich auf und ſagte: Kinder bleibt ihr hier, ich will ein wenig herumgehen und abſtaͤndig Holz ſuchen, ich will zuweilen rufen, ihr ant - wortet mir dann, damit ich euch nicht verliere. Er ging.
Indeſſen ſaßen Mariechen und Heinrich beiſammen und waren vertraulich. Erzaͤhle mir doch, Baaſe! ſagte Hein - rich, die Hiſtorie von Joringel und Jorinde noch einmal. Mariechen erzaͤhlte:
„ Es war einmal ein altes Schloß mitten in einem großen dicken Wald, darinnen wohnte eine alte Frau ganz allein, das war eine Erzzauberinn. Am Tage machte ſie ſich bald zur Katze, oder zum Haaſen, oder zur Nachteule; des Abends aber wurde ſie ordentlich wieder wie ein Menſch geſtaltet. Sie konnte das Wild und die Voͤgel herbeilocken, und dann ſchlach - tete ſie’s, kochte und bratete es. Wenn Jemand auf hundert Schritte dem Schloß nahe kam, ſo mußte er ſtille ſtehen und konnte ſich nicht von der Stelle bewegen, bis ſie ihn los ſprach: wenn aber eine reine, keuſche Jungfer in den Kreis kam, ſo verwandelte ſie dieſelbe in einen Vogel und ſperrte ſie dann in einen Korb ein, in die Kammern des Schloſſes. Sie hatte wohl ſiebentauſend ſolcher Koͤrbe mit ſo raren Voͤgeln im Schloſſe.
Nun war einmal eine Jungfer, die hieß Jorinde; ſie war ſchoͤner als alle andern Maͤdchen, die, und dann ein garſchoͤner Juͤngling, Namens Joringel, hatten ſich zuſammen verſprochen. Sie waren in den Brauttagen, und hatten ihr groͤßtes Ver - gnuͤgen eins am andern. Damit ſie nun einsmalen vertraut zuſammen reden koͤnnten, gingen ſie in den Wald ſpatzieren. Huͤte dich, ſagte Joringel, daß du nicht zu nah’ an das Schloß87 kommſt! Es war ein ſchoͤner Abend, die Sonne ſchien zwiſchen den Staͤmmen der Baͤume hell ins dunkle Gruͤn des Waldes, und die Turteltaube ſang klaͤglich auf den alten Maibuchen. Jorinde weinte zuweilen, ſetzte ſich hin in Sonnenſchein und klagte. Joringel klagte auch; ſie waren ſo beſtuͤrzt, als wenn ſie haͤtten ſterben ſollen; ſie ſahen ſich um, waren irre, und wußten nicht, wohin ſie nach Hauſe gehen ſollten. Noch halb ſtand die Sonne uͤber dem Berg und halb war ſie unter. Jo - ringel ſah durchs Gebuͤſch und ſah die alte Mauer des Schloſ - ſes nah bei ſich, er erſchrack und wurde todtbang, Jorinde ſang:
Joringel ſah nach Jorinde. Jorinde war in eine Nach - tigal verwandelt, die ſang Zickuͤth Zickuͤth. Eine Nachteule mit gluͤhenden Augen flog dreimal um ſie herum und ſchrie dreimal Schu — hu — hu — hu! Joringel konnte ſich nicht regen; er ſtand da, wie ein Stein, konnte nicht weinen, nicht reden, nicht Hand noch Fuß regen. Nun war die Sonne un - ter; die Eule flog in einen Strauch, und gleich darauf kam eine krumme Frau aus dieſem Strauch hervor, gelb und ma - ger, große rothe Augen, krumme Naſe, die mit der Spitze an’s Kinn reichte. Sie murmelte, fing die Nachtigal und trug ſie auf der Hand fort. Joringel konnte nichts ſagen, nicht von der Stelle kommen; die Nachtigal war fort; end - lich kam das Weib wieder und ſagte mit dumpfer Stimme: Gruͤß dich, Zachiel! Wenn’s Moͤndel in’s Koͤrbel ſcheint, bind’ los, Zachiel, zu guter Stund! Da wurd Joringel los; er fiel vor dem Weib auf die Knie, und bat, ſie moͤchte ihm ſeine Jorinde wieder geben; aber ſie ſagte, er ſollte ſie nie wieder haben und ging fort. Er rief, er weinte, er jammerte, aber alles umſonſt. Nu! was ſoll mir geſchehen? Joringel ging fort und kam endlich in ein fremdes Dorf; da huͤtet er die Schaafe lange Zeit. Oft ging er rund um das Schloß herum, aber nicht zu nahe dabei; endlich traͤumte er einmal des88 Nachts, er faͤnde eine bluthrothe Blume, in deren Mitte eine ſchoͤne große Perle war; die Blume braͤch er ab, ging damit zum Schloſſe; alles, was er mit der Blume beruͤhrte, ward von der Zauberei frei; auch traͤumte er, er haͤtte ſeine Jorinde dadurch wieder bekommen. Des Morgens, als er erwachte, fing er an, durch Berg und Thal zu ſuchen, ob er eine ſolche Blume faͤnde; er ſuchte bis an den neunten Tag, da fand er die blutrothe Blume am Morgen fruͤh. In der Mitte war ein großer Thautropfe, ſo groß wie die ſchoͤnſte Perle. Dieſe Blume trug er Tag und Nacht bis zum Schloß. Nu! es war mir gut! Wie er auf hundert Schritte nahe dem Schloß kam, da wurd’ er nicht feſt, ſondern ging fort bis ans Thor. Joringel freute ſich hoch, beruͤhrte die Pforte mit der Blume und ſie ſprang auf; er ging hinein, durch den Hof, horchte, wo er die viert[n]Voͤgel vernaͤhm’. Endlich hoͤrt er’s; er ging und fand den Saal; darauf war die Zauberin, fuͤtterte die Voͤgel in den ſieben tauſend Koͤrben. Wie ſie den Joringel ſah, ward ſie boͤs, ſehr boͤs, ſchalt, ſpie Gift und Galle gegen ihn aus, aber ſie konnt’ auf zwei Schritte nicht an ihn kommen. Er kehrt’ ſich nicht an ſie, und ging, beſah die Koͤrbe mit den Voͤgeln; da waren aber viel hundert Nachtigallen; wie ſollte er nun ſeine Jorinde wieder finden! Indem er ſo zuſah, merkte er, daß die Alte heimlich ein Koͤrbchen mit einem Vogel nimmt und damit nach der Thuͤre geht. Flugs ſprang er hinzu, be - ruͤhrte das Koͤrbchen mit der Blume, und auch das alte Weib; nun konnte ſie nichts mehr zaubern; und Jorinde ſtand da, hatte ihn um den Hals gefaßt, ſo ſchoͤn als ſie ehemals war. Da macht’ er auch all die andern Voͤgel wieder zu Jungfern, und da ging er mit ſeiner Jorinde nach Hauſe, und lebten lange vergnuͤgt zuſammen. “
Heinrich ſaß wie verſteinert, ſeine Augen ſtarrten g’rad aus, und der Mund war halb offen. Baaſe! ſagte er endlich, das koͤnnt einem des Nachts bange machen. Ja, ſagte ſie, ich erzaͤhl’s auch des Nachts nicht, ſonſt werd’ ich ſelber bang. Indem ſie ſo ſaßen, pfiff Vater Stilling. Mariechen und Heinrich antworteten mit einem He! He! Nicht lange hernach kam er, ſah munter und froͤhlich aus, als wenn er89 etwas gefunden haͤtte; laͤchelte wohl zuweilen, ſtand, ſchuͤttelte den Kopf, ſah auf eine Stelle, faltete die Haͤnde, laͤchelte wieder. Mariechen und Heinrich ſahen ihn mit Verwun - derung an; doch durften ſie ihm nicht fragen; denn er thaͤt’s wohl oft ſo, daß er vor ſich allein lachte. Doch Stillingen war das Herz zu voll; er ſetzte ſich zu ihnen nieder und er - zaͤhlte; wie er anfing, ſo ſtanden ihm die Augen voll Waſſer. Mariechen und Heinrich ſahen es, und ſchon liefen ihnen auch die Augen uͤber.
Wie ich von euch in Wald hinein ging, ſah ich weit von mir ein Licht, eben ſo, als wenn Morgens fruͤh die Sonne aufgeht. Ich verwunderte mich ſehr. Ei! dachte ich, dort ſteht ja die Sonne am Himmel; iſt das denn eine neue Sonne? Das muß ja was Wunderliches ſeyn, das muß ich ſehen. Ich ging darauf zu; wie ich vorn hin kam, ſiehe, da war vor mir eine Ebne, die ich mit meinen Augen nicht uͤberſehen konnte. Ich hab’ mein Lebtag ſo etwas Herrliches nicht geſehen, ſo ein ſchoͤner Geruch, ſo eine kuͤhle Luft kam daruͤber her, ich kann’s euch nicht ſagen. Es war ſo weiß Licht durch die ganze Gegend, der Tag mit der Sonne iſt Nacht dagegen. Da ſtan - den viel tauſend praͤchtige Schloͤſſer, eins nah beim andern. Schloͤſſer! — ich kann’s euch nicht beſchreiben! als wenn ſie von lauter Silber waͤren. Da waren Gaͤrten, Buͤſche, Baͤche. O Gott, wie ſchoͤn! — Nicht weit von mir ſtand ein großes herrliches Schloß. (Hier liefen dem guten Stilling die Thraͤ - nen haͤufig die Wangen herunter, Mariechen und Hein - richen auch.) Aus der Thuͤr dieſes Schloſſes kam Jemand heraus auf mich zu, wie eine Jungfrau. Ach! ein herrlicher Engel! — Wie ſie nah bei mir war, ach Gott! da war es unſer ſeliges Dortchen! (Nun ſchluchzten ſie alle drei, keins konnte etwas reden, nur Heinrich rief und heulte: O meine Mutter! meine liebe Mutter!) — Sie ſagte gegen mich ſo freundlich, eben mit der Miene, die mir ehemals ſo oft das Herz ſtahl: Vater, dortiſt unſere ewige Wohnung, ihr kommt bald zu uns — Ich ſah, und ſiehe alles war Wald vor mir; das herrliche Geſicht war weg. Kinder, ich ſterbe bald; wie freu’ ich mich darauf! Heinrich konnte90 nicht aufhoͤren zu fragen, wie ſeine Mutter ausgeſehen, was ſie angehabt, und ſo weiter. Alle Drei verrichteten den Tag durch ihre Arbeit, und ſprachen beſtaͤndig von dieſer Geſchichte. Der alte Stilling aber war von der Zeit an, wie einer, der in der Fremde und nicht zu Hauſe iſt.
Ein altes Herkommen, deſſen ich (wie vieler andern) noch nicht erwaͤhnt, war, daß Vater Stilling alle Jahr ſelbſten ein Stuͤck ſeines Hausdaches, das Stroh war, eigenhaͤndig decken mußte. Das hatte er nun ſchon acht und vierzig Jahr gethan, und dieſen Sommer ſollt es wieder geſchehen. Er rich - tete es ſo ein, daß er alle Jahre ſo viel davon neu deckte, ſo weit das Roggenſtroh reichte, das er fuͤr dieß Jahr gezogen hatte.
Die Zeit des Dachdeckens fiel gegen Michaelstag, und ruͤckte nun mit Macht heran; ſo daß Vater Stilling anfing, da - rauf zu Werk zu legen. Heinrich war dazu beſtimmt, ihm zur Hand zu langen, und alſo wurde die lateiniſche Schule auf acht Tage ausgeſetzt Margarethe und Mariechen hielten taͤglich in der Ruͤche geheimen Rath uͤber die bequem - ſten Mittel, wodurch er vom Dachdecken zuruͤckgehalten werden moͤchte. Sie beſchloßen endlich Beide, ihm ernſtliche Vorſtel - lungen zu thun, und ihn vor Gefahr zu warnen; ſie hatten die Zeit waͤhrend des Mittageſſens dazu beſtimmt.
Margarethe brachte alſo eine Schuͤſſel Mus, und auf derſelben vier Stuͤcke Fleiſches, die ſo gelegt waren, daß ein jedes juſt vor den zu ſtehen kam, fuͤr den es beſtimmt war. Hinter ihr her kam Mariechen mit einem Kumpen voll ge - brockter Milch. Beide ſetzten ihre Schuͤſſeln auf den Tiſch, an welchem Vater Stilling und Heinrich ſchon an ihrem Ort ſaßen, und mit wichtiger Miene von ihrer nun morgen anzufangenden Dachdeckerei redeten. Denn im Vertrauen ge - ſagt, wie ſehr auch Heinrich auf Studieren, Wiſſenſchaf - ten und Buͤcher verpicht ſeyn mochte, ſo war’s ihm doch eine weit groͤßere Freude, in Geſellſchaft ſeines Großvaters, zu - weilen entweder im Wald, auf dem Feld oder gar auf dem Hausdach zu klettern; denn dieſes war nun ſchon das dritte Jahr, daß er ſeinem Großvater als Diakonus bei dieſer jaͤhr - lichen Solennitaͤt beigeſtanden. Es iſt alſo leicht zu denken,91 daß der Junge herzlich verdruͤßlich werden mußte, als er Mar - garethens und Mariechens Abſichten zu begreifen anfing.
Ich weiß nicht, Ebert, ſagte Margarethe, indem ſie ihre linke Hand auf ſeine Schultern legte, du faͤngſt mir ſo an, zu verfallen. Spuͤrſt du nichts in deiner Natur.
„ Man wird als alle Tage aͤlter, Margarethe. “
O Herr ja! Ja freilich, alt und ſteif.
Ja wohl, verſetzte Mariechen und ſeufzte.
Mein Großvater iſt noch recht ſtark fuͤr ſein Alter, ſagte Heinrich.
„ Ja wohl, Junge, antwortete der Alte. Ich wollte noch wohl in die Wette mit dir die Leiter ’nauf laufen. “
Heinrich lachte laut. Margarethe ſah wohl, daß ſie auf dieſer Seite die Veſtung nicht uͤberrumpeln wuͤrde; da - her ſuchte ſie einen andern Weg.
Ach ja, ſagte ſie, es iſt eine beſondere Gnade, ſo geſund in ſeinem Alter zu ſeyn; du biſt, glaub’ ich, nie in deinem Le - ben krank geweſen, Ebert?
„ In meinem Leben nicht, ich weiß nicht, was Krankheit iſt; denn an den Pocken und Roͤtheln bin ich herumgegangen. “
Ich glaub doch, Vater! verſetzte Mariechen, ihr ſeyd wohl verſchiedene Male vom Fallen krank geweſen: denn ihr habt uns wohl erzaͤhlet, daß ihr oft gefaͤhrlich gefallen ſeyd.
„ Ja, ich bin dreimal toͤdtlich gefallen. “
Und das viertemal, fuhr Margarethe fort, wirſt du dich todt fallen, mir ahnt es. Du haſt letzthin im Wald das Ge - ſicht geſehen; und eine Nachbarin hat mich kuͤrzlich gewarnt und gebeten, dich nicht auf’s Dach zu laſſen; denn ſie ſagte, ſie haͤtte des Abends, wie ſie die Kuͤh gemolken, ein Poltern und klaͤgliches Jammern neben unſerem Hauſe im Weg ge - hoͤrt. Ich bitte dich, Ebert! thu’ mir den Gefallen, und laß Jemand anders das Haus decken, du haſt’s ja nicht noͤthig.
„ Margarethe! — kann ich, oder Jemand anders denn nicht in der Straße ein ander Ungluͤck bekommen? Ich hab’ das Geſicht geſehen, ja, das iſt wahr! — unſere Nachbarin kann auch dieſe Vorgeſchichte gehoͤrt haben. Iſt dieſes gewiß, wird dann derjenige dem entlaufen, was Gott uͤber ihn be -92 ſchloſſen hat? Hat er beſchloſſen, daß ich meinen Lauf hier in der Straße endigen ſoll, werd’ ich armer Dummkopf von Menſchen! das wohl vermeiden koͤnnen? und gar wenn ich mich todtfallen ſoll, wie werd’ ich mich huͤten koͤnnen? Ge - ſetzt, ich bleib vom Dach, kann ich nicht heut oder Morgen da in der Straße einen Karren Holz losbinden wollen, drauf ſteigen, ſtraucheln und den Hals abſtuͤrzen? Margarethe! laß mich in Ruh; ich werde ſo ganz grade fortgehen, wie ich bis dahin gegangen bin; wo mich dann mein Stuͤndchen uͤberraſcht, da werd ichs willkommen heißen! “
Margarethe und Mariechen ſagten noch ein und das andere, aber er achtete nicht darauf, ſondern redete mit Hein - richen von allerhand, die Dachdeckerei betreffenden Sachen; daher ſie ſich zufrieden gaben, und ſich das Ding aus dem Sinne ſchlugen.
Des andern Morgens ſtanden ſie fruͤhe auf und der alte Stilling fing an, waͤhrend daß er ein Morgenlied ſang, das alte Stroh loszubinden und abzuwerfen, womit er denn dieſen Tag auch huͤbſch fertig wurde; ſo daß ſie des folgen - den Tages ſchon anfingen, das Dach mit neuem Stroh zu be - legen; mit Einem Wort, das Dach ward fertig, ohne die mindeſte Gefahr oder Schreck dabei gehabt zu haben; auſſer daß es noch einmal beſtiegen werden mußte, um ſtarke und friſche Raſen oben uͤber den Firſt zu legen. Doch damit eilte der alte Stilling ſo ſehr nicht; es gingen wohl noch acht Tage uͤber, eh’ es ihm einfiel, dieß letzte Stuͤck Arbeit zu verrichten.
Des folgenden Mittwochs ſtand Eberhard ungewoͤhn - lich fruͤh auf, ging im Hauſe umher, von einer Kammer zur andern, als wenn er was ſuchte. Seine Leute verwunderten ſich, fragten ihn, was er ſuche? Nichts, ſagte er. Ich weiß nicht, ich bin ſo wohl, doch hab ich keine Ruhe, ich kann nirgend ſtill ſeyn, als wenn Etwas in mir waͤre, das mich triebe, auch ſpuͤr ich ſo eine Bangigkeit, die ich nicht kenne. Margarethe rieth ihm, er ſollte ſich anziehen und mit Heinrichen nacher Lichthauſen gehen, ſeinen Sohn Jo - hann zu beſuchen. Er war damit zufrieden; doch wollte er zuerſt die Raſen oben auf den Hausfirſt legen, und dann des93 andern Tages ſeinen Sohn beſuchen. Dieſer Gedanke war ſeiner Frau und Tochter ſehr zuwider. Des Mittags uͤber Tiſch ermahnten ſie ihn wieder ernſtlich, vom Dach zu bleiben; ſelbſt Heinrich bat ihn, Jemand fuͤr Lohn zu kriegen, der vollends mit der Deckerei ein Ende mache. Allein, der vortreffliche Greis laͤchelte mit einer unumſchraͤnkten Gewalt um ſich her; ein Laͤcheln, das ſo manchem Menſchen das Herz geraubt und Ehrfurcht eingepraͤgt hatte! Dabei ſagte er aber kein Wort. Ein Mann, der mit einem beſtaͤndig guten Gewiſſen alt ge - worden, ſich vieler guten Handlungen bewußt iſt, und von Ju - gend auf ſich an einen freien Umgang mit Gott und ſeinem Erloͤſer gewoͤhnt hat, gelangt zu einer Groͤße und Freiheit, die nie der groͤßte Eroberer erreicht hat. Die ganze Antwort Stillings auf dieſe treugemeinten Ermahnungen der Sei - nigen beſtand darin: Er wollte da auf den Kirſchenbaum ſtei - gen, und ſich noch einmal recht ſatt Kirſchen eſſen. Es war naͤmlich ein Baum, der hinten im Hof ſtand, und ſehr ſpaͤt, aber deſto vortrefflicher Fruͤchte trug. Seine Frau und Tochter ver - wunderten ſich uͤber dieſen Einfall, denn er war wohl in zehn Jah - ren auf keinem Baum geweſen. Nun dann! ſagte Marga - rethe, du mußt nun vor dieſe Zeit in die Hoͤh, es mag koſten was es wolle. Eberhard lachte und antwortete: Je hoͤher, je naͤher zum Himmel! Damit ging er zur Thuͤr hinaus, und Heinrich hinter ihm her auf den Kirſchenbaum zu. Er faßte den Baum in ſeine Arme und die Knie, und kletterte hinauf bis oben hin, ſetzte ſich in eine Furke des Baums, fing an, aß Kir - ſchen, und warf Heinrichen zuweilen ein Aeſtchen herab. Margarethe und Mariechen kamen ebenfalls. Halt! ſagte die ehrliche Frau, heb mich ein wenig, Mariechen, daß ich nur die unterſten Aeſte faſſen kann, ich muß da probieren, ob ich auch noch hinauf kann. Es gerieth; ſie kam hinauf, Stilling ſah herab und lachte herzlich, und ſagte: das heißt recht verjuͤngt werden, wie die Adler. Da ſaßen beide ehrliche alte Graukoͤpfe in den Aeſten des Kirſchbaumes, und genoſſen noch einmal zu - ſammen die ſuͤßen Fruͤchte ihrer Jugend; beſonders war Stil - ling aufgeraͤumt. Margarethe ſtieg wieder herab, und ging mit Mariechen in den Garten, der eine ziemliche Strecke94 unterhalb dem Dorf war. Eine Stunde hernach ſtieg auch Eber - hard herab, ging und hatte einen Hacken, um Raſen damit ab - zuſchaͤlen. Er ging des Endes oben ans Ende des Hofs an den Wald; Heinrich blieb gegen dem Hauſe uͤber unter dem Kir - ſchenbaum ſitzen; endlich kam Eberhard wieder, hatte einen großen Raſen um den Kopf hangen, buͤckte ſich zu Heinrichen, ſah ganz ernſthaft aus und ſagte: Sieh, welch eine Schlafkappe! Heinrich fuhr in einander, und ein Schauer ging ihm durch die Seele. Er hat mir hernach wohl geſtanden, daß dieſes einen unvergeßlichen Eindruck auf ihn gemacht habe.
Indeſſen ſtieg Vater Stilling mit dem Raſen das Dach hinauf. Heinrich ſchnitzelte an einem Hoͤlzchen; indem er drauf ſah, hoͤrte er ein Gepolter; er ſah hin, vor ſeinen Au - gen wars ſchwarz, wie die Nacht — lang hingeſtreckt lag da der theure, liebe Mann unter der Laſt von Leitern, ſeine Haͤnde vor der Bruſt gefalten; die Augen ſtarrten; die Zaͤhne klapperten und alle Glieder bebten, wie ein Menſch im ſtar - ken Froſt. Heinrich warf eiligſt die Leitern von ihm, ſtreckte die Arme aus, und lief wie ein Raſender das Dorf hinab, und erfuͤllte das ganze Thal mit Zeter und Jammer. Mar - garethe und Mariechen hoͤrten im Garten kaum halb die ſeelzagende kenntliche Stimme ihres geliebten Knaben; Mariechen that einen hellen Schrei, rang die Haͤnde uͤber dem Kopf und flog das Dorf hinauf. Margarethe ſtrebte hinter ihr her, die Haͤnde vorwaͤrts ausgeſtreckt, die Augen ſtarrten umher; dann und wann machte ein heiſerer Schrei der beklemmenden Bruſt ein wenig Luft. Mariechen und Hein - rich waren zuerſt bei dem lieben Manne. Er lag da lang ausgeſtreckt, die Augen und der Mund waren geſchloſſen, die Haͤnde noch vor der Bruſt gefalten, und ſein Odem ging lang - ſam und ſtark, wie bei einem geſunden Menſchen, der ordent - lich ſchlaͤft; auch bemerkte man nirgend, daß er blutruͤnſtig war. Mariechen weinte haͤufige Thraͤnen auf ſein Angeſicht und jammerte beſtaͤndig: Ach! mein Vater! mein Vater! Heinrich ſaß zu ſeinen Fuͤßen im Staub, ſchluchzte und weinte. Indeſ - ſen kam Margarethe auch hinzu; ſie fiel neben ihm nieder auf die Knie, faßte ihren[Mann] um den Hals, rief ihm mit95 ihrer gewohnten Stimme ins Ohr, aber er gab kein Zeichen von ſich. Die heldenmuͤthige Frau ſtand auf, faßte Muth; auch war keine Thraͤne aus ihren Augen gekommen. Einige Nachbarn waren indeſſen hinzugekommen; vergoſſen Alle Thraͤ - nen, denn er war allgemein geliebt geweſen. Margarethe machte geſchwind in der Stube ein niedriges Bette zurecht; ſie hatte ihre beſten Betttuͤcher, die ſie vor etlich und vierzig Jahren als Braut gebraucht hatte, uͤbergeſpreitet. Nun kam ſie ganz gelaſſen heraus, und rief: Bringt nur meinen Eber - hard herein aufs Bett! Die Maͤnner faßten ihn an, Marie - chen trug am Kopf, und Heinrich hatte beide Fuͤße in ſei - nen Armen: ſie legten ihn aufs Bett, und Margarethe zog ihn aus und deckte ihn zu. Er lag da, ordentlich wie ein geſunder Menſch, der ſchlaͤft. Nun wurde Heinrich be - ordert, nach Florenburg zu laufen, um einen Wundarzt zu holen. Der kam auch denſelben Abend, unterſuchte ihn, ließ ihm zur Ader und erklaͤrte ſich, daß zwar nichts zerbrochen ſey, aber doch ſein Tod binnen dreien Tagen gewiß ſeyn wuͤrde, indem ſein Gehirn ganz zerruͤttet waͤre.
Nun wurden Stillings Kinder alle Sechs zuſammen berufen, die ſich auch des andern Morgens Donnerſtags zeitig einfanden. Sie ſetzten ſich alle rings ums Bette, waren ſtille, klagten und weinten. Die Fenſter wurden mit Tuͤchern zuge - hangen, und Margarethe wartete ganz gelaſſen ihrer Hausgeſchaͤfte. Freitags Nachmittags fing der Kopf des Kran - ken an zu beben, die oberſte Lippe erhob ſich ein wenig und wurde blaͤulicht, und ein kalter Schweiß duftete uͤberall hervor. Seine Kinder ruͤckten naͤher ums Bette zuſammen. Mar - garethe ſah es auch: ſie nahm einen Stuhl und ſetzte ſich zuruͤck an die Wand ins Dunkele; alle ſahen vor ſich nieder und ſchwiegen. Heinrich ſaß zu den Fuͤßen ſeines Groß - vaters, ſah ihn zuweilen mit naſſen Augen an und war auch ſtille. So ſaßen ſie Alle bis Abends neun Uhr. Da bemerkte Cathrine zuerſt, daß ihres Vaters Odem ſtill ſtand. Sie rief aͤngſtlich: Mein Vater ſtirbt! — Alle fielen mit ihrem Angeſicht auf das Bette, ſchluchzten und weinten. Heinrich ſtand da, ergriff ſeinem Großvater beide Fuͤße, und weinte96 bitterlich. Vater Stilling holte alle Minuten tief Odem, wie Einer, der tief ſeufzet, und von einem Seufzer zum an - dern war der Odem ganz ſtill; an ſeinem ganzen Leibe regte und bewegte ſich nichts als ſein Unterkiefer, der ſich bei jedem Seufzer ein wenig vorwaͤrts ſchob.
Margarethe Stilling hatte bis dahin bei all ihrer Traurigkeit noch nicht geweint; ſobald ſie aber Cathrinen rufen hoͤrte, ſtand ſie auf, ging aus Bett, und ſah ihrem ſter - benden Manne ins Geſicht; nun fielen einige Thraͤnen die Wan - gen herunter; ſie dehnte ſich aus, denn ſie war vom Alter ein wenig gebuͤckt, richtete ihre Augen auf und reckte die Haͤnde gen Himmel, und betete mit dem feurigſten Herzen; ſie holte jedesmal aus tiefſter Bruſt Odem, und den verzehrte ſie in einem bruͤnſtigen Seufzer. Sie ſprach die Worte plattdeutſch nach ihrer Gewohnheit aus, aber ſie waren alle voll Geiſt und Leben. Der Inhalt ihrer Worte war, daß ihr Gott und Er - loͤſer ihres lieben Mannes Seele gnaͤdig aufnehmen, und zu ſich in die ewige Freude nehmen moͤge. Wie ſie anfing zu beten, ſahen alle ihre Kinder auf, erſtaunten, ſanken am Bett auf die Kniee und beteten in der Stille mit. Nun kam der letzte Herzensſtoß; der ganze Koͤrper zog ſich; er ſtieß einen Schrei aus; nun war er verſchieden. Margarethe hoͤrte auf zu beten, faßte dem entſeelten Manne ſeine rechte Hand an, ſchuͤttelte ſie und ſagte: „ Leb wohl, Eberhard! in dem ſchoͤ - nen Himmel ſehen wir uns bald wieder! “ So wie ſie das ſagte, ſank ſie nieder auf ihre Knie; alle ihre Kinder fielen um ſie herum. Nun weinte auch Margarethe die bitterſten Thraͤ - nen, und klagte ſehr.
Die Nachbarn kamen indeſſen, um den Entſeelten anzuklei - den. Die Kinder ſtanden auf, und die Mutter holte das Todtenkleid. Bis den folgenden Montag lag er auf der Bahre; da fuͤhrte man ihn nach Florenburg, um ihn zu begraben.
Herr Paſtor Stollbein iſt aus dieſer Geſchichte als ein ſtoͤrriſcher, wunderlicher Mann bekannt, allein auſſer dieſer Laune war er gut und weichherzig. Wie Stilling ins Grab geſenkt wurde, weinte er helle Thraͤnen; und auf der Kanzel waren unter beſtaͤndigem Weinen ſeine Worte: „ Es iſt97 mir leid um dich, mein Bruder Jonathan! Wollte Gott, ich waͤre fuͤr dich geſtorben! “ Und der Text zur Leichenrede war: „ Ei du frommer und getreuer Knecht! du biſt uͤber Weniges getreu geweſen, ich will dich uͤber Viel ſetzen; gehe ein zu deines Herrn Freude! “
Sollte einer meiner Leſer nach Florenburg kommen, gegen die Kirchthuͤr uͤber, da, wo der Kirchhof am hoͤchſten iſt, da ſchlaͤft Vater Stilling auf dem Huͤgel. Sein Grab bedeckt kein praͤchtiger Leichſtein; aber oft fliegen im Fruͤhling ein Paar Taͤubchen einſam hin, girren und liebkoſen ſich zwiſchen dem Gras und Blumen, die aus Vater Stillings Moder her - vorgruͤnen.
Vater Stilling war zu den ruhigen Wohnungen ſeiner Voreltern hingegangen, und in ſeinem Hauſe ruhte alles in trauriger Todesſtille. Seit mehr als hundert Jahren hatte eine jede Holzart, ein jedes Milchfaß, und jedes andere Haus - geraͤthe ſeinen beſtimmten Ort, der vom langen Gebrauch glatt und polirt war. Ein jeder Nachbar und Freund, aus der Naͤhe und Ferne, fand immer alles in gewohnter Ordnung: und das macht vertraulich. — Man trat in die Hausthuͤr, und war daheim. — Aber nun hing alles oͤd und ſtill; Ge - ſang und Freude ſchwiegen, und am Tiſch blieb ſeine Stelle leer; Niemand getraute ſich, ſich hinzuſetzen, bis ſie Hein - rich endlich einnahm, aber er fuͤllte ſie nur halb aus.
Margarethe trauerte indeſſen ſtill und ohne Klagen; Heinrich aber redete viel mit ihr von ſeinem Großvater. Er dachte ſich den Himmel wie eine herrliche Gegend von Waͤldern, Wieſen und Feldern, wie ſie im ſchoͤnſten Mai gruͤnen und bluͤ - hen, wenn der Suͤdwind daruͤber her faͤchelt, und die Sonne jedem Geſchoͤpfe Leben und Gedeihen einfloͤßt. Dann ſah er Vater Stilling mit hellem Glanz ums Haupt einhertreten, und ein ſilberweiß Gewand um ihn herabfließen.
Auf dieſe Vorſtellung bezogen ſich alle ſeine Reden. Eins - mals fragte ihn Margarethe: Was meinſt du, Heinrich! was dein Großvater jetzt machen wird? Er antwortete: er wird nach dem Orion, nach dem Sirius, dem Wagen und dem Siebengeſtirn reiſen und alles wohl beſehen, und dann wird er ſich erſt recht verwundern, und ſagen, wie er ſo oft geſagt hat: O welch ein wunderbarer Gott! — Dazu hab’ ich aber keine Luſt, erwiederte Margarethe; was werd’ ich denn da ma - chen? Heinrich verſetzte: ſo wie es Marie machte, die zu den Fuͤßen Jeſus ſaß. Mit dergleichen Unterredungen102 wurde das Andenken an den ſeligen Mann oft ernenert.
Die Haushaltung konnte auf dem Fuß, ſo wie ſie jetzt ſtand, nicht lange beſtehen, deßwegen forderte die alte Mut - ter ihren Eidam Simon mit ſeiner Frau Eliſabeth wie - der nach Haus. Denn ſie hatten an einem andern Ort Haus und Hof gepachtet, ſo lange der Vater lebte. Sie kamen mit ihren Kindern und Geraͤthe, und uͤbernahmen das vaͤterliche Erbe; alsbald wurde alles fremd, man brach eine Wand der Stube ein, und baute ſie vier Schuh weiter in den Hof. Si - mon hatte nicht Raum genug; er war kein Stilling — und der eichene Tiſch voll Segen und Gaſtfreiheit, der alte biedere Tiſch wurde mit einem gelben ahornenen, voller ver - ſchloſſener Schubladen verwechſelt; er bekam ſeine Stelle auf dem Balken hinter dem Schornſtein. — Heinrich wallfahr - tete zuweilen hin, legte ſich neben ihn auf den Boden, und weinte. Simon fand ihn einmal in dieſer Stellung, er fragte: Heinrich, was machſt du da? Dieſer antwortete: ich weine um den Tiſch. Der Oheim lachte, und ſagte: Du magſt wohl um ein altes eichenes Brett weinen! Heinrich wurde aͤrger - lich und verſetzte: dieſes Gewerbe dahinten, und dieſen Fuß da, und dieſe Ausſchnitte am Gewerbe hat mein Großvater gemacht, — wer ihn lieb hat, kann das nicht zerbrechen. Simon wurde zornig und erwiederte: er war mir nicht groß genug, und wo ſollt’ ich denn den meinigen laſſen? Oheim! ſagte Heinrich, den ſolltet ihr hieher geſtellt haben, bis meine Großmutter todt iſt, und wir andern fort ſind.
Indeſſen veraͤnderte ſich alles; das ſanfte Wehen des Stil - ling’ſchen Geiſtes verwandelte ſich ins Gebrauſe einer aͤngſt - lichen Begierde nach Geld und Gut. Margarethe empfand dieſes, und mit ihr ihre Kinder; ſie zog ſich zuruͤck in einen Winkel hinter den Ofen, und da verlebte ſie ihre uͤbrigen Jahre; ſie wurde ſtarrblind, doch hinderte ſie dieſes nicht an ihrem Flachsſpinnen, womit ſie ihre Zeit zubrachte.
Vater Stilling iſt hin, nun will ich ſeinem Enkel, dem jungen Heinrich, auf dem Fuß folgen, wo er hingeht, alles Andere ſoll mich nicht aufhalten.
103Johann Stilling war nun Schoͤffe und Landmeſſer; Wilhelm Schulmeiſter zu Tiefenbach; Mariechen Magd bei ihrer Schweſter Eliſabeth; die andern Toͤch - ter waren aus dem Hauſe verbeirathet, und Heinrich ging nach Florenburg in die lateiniſche Schule.
Wilhelm hatte eine Kammer in Stilling’s Haus, auf derſelben ſtand ein Bett, worin er mit ſeinem Sohn ſchlief, und am Fenſter war ein Tiſch mit dem Schneidergeraͤthe; denn ſobald als er von der Schule kam, arbeitete er an ſeinem Hand - werk. Des Morgens fruͤh nahm Heinrich ſeinen Schulſack, worin nebſt den noͤthigen Schulbuͤchern und einem Butterbrod fuͤr den Mittag, auch die Hiſtoria von den vier Haymonskin - dern oder ſonſt ein aͤhnliches Buch nebſt einer Hirtenfloͤte ſich befanden; ſobald er dann gefruͤhſtuͤckt hatte, machte er ſich auf den Weg, und wenn er hinaus vor’s Dorf kam, ſo nahm er ſein Buch heraus und las waͤhrend dem Gehen; oder er trillerte alte Romanzen und andere Melodien auf ſeiner Floͤte. Das Lateinlernen wurde ihm gar nicht ſchwer, und er behielt dabei Zeit genug, alte Geſchichten zu leſen. Des Sommers ging er alle Abend nach Haus, des Winters aber kam er nur Samſtags Abend, und ging des Montags Morgen wieder fort; dieſes waͤhrte vier Jahre, doch blieb er aufs letzte des Sommers uͤber viel zu Haus und half ſeinem Vater am Schnei - derhandwerk oder er machte Knoͤpfe.
Der Weg nach Florenburg und die Schule ſelber mach - ten ihm manche vergnuͤgte Stunden. Der Schulmeiſter war ein ſanfter, vernuͤnftiger Mann und wußte zu geben und zu nehmen. Des Nachmittags nach dem Eſſen ſammelte Stil - ling einen Haufen Kinder um ſich her, ging mit ihnen hin - aus aufs Feld oder an einen Bach, und dann erzaͤhlte er ihnen allerhand ſchoͤne, empfindſame Hiſtorien, und wenn er ſich ausgeleert hatte, ſo mußten Andere erzaͤhlen. Einsmals wa - ren ihrer auch Etliche zuſammen auf einer Wieſe, es fand ſich ein Knabe herzu, dieſer fing an: Hoͤrt, Kinder! ich will euch was erzaͤhlen: „ Neben uns wohnt der alte Fruͤhling, ihr „ wißt, wie er daher geht und ſo an ſeinem Stock zittert: er „ hat keine Zaͤhne mehr, auch hoͤrt und ſieht er nicht viel. Wenn104 „ er denn ſo da am Tiſch ſaß und zitterte, ſo verſchuͤttete er „ immer Vieles, auch floß ihm zuweilen Etwas wieder aus „ dem Mund. Das eckelte dann ſeinem Sohn und ſeiner Schnur, „ und deßwegen mußte der alte Großvater endlich hinter dem „ Ofen im Eck eſſen; ſie gaben ihm etwas in einem irdenen „ Schuͤſſelchen und noch dazu nicht einmal ſatt. Ich hab’ „ ihn wohl ſehen eſſen, er ſah ſo betruͤbt nach dem Tiſch, und „ die Augen waren ihm dann naß. Nun hat er ehegeſtern ſein „ irdenes Schuͤſſelchen zerbrochen. Die junge Frau keiffte ſehr „ mit ihm, er ſagte aber nichts, ſondern ſeufzte nur. Da kauf - „ ten ſie ihm ein hoͤlzernes Schuͤſſelchen fuͤr ein paar Heller, „ da mußte er geſtern Mittag zum Erſtenmal daraus eſſen; „ wie ſie ſo da ſitzen, ſo ſchleppt der kleine Knabe von vier - „ thalb Jahr auf der Erde kleine Brettchen zuſammen. Der „ junge Fruͤhling fragte: was machſt du da, Peter? Ho! „ ſagte das Kind, ich mach’ ein Troͤglein, daraus ſol - „ len Vater und Mutter eſſen, wenn ich groß bin. „ Der junge Fruͤhling und ſeine Frau ſahen ſich eine Weile „ an, fingen endlich an zu weinen und holten alſofort den alten „ Großvater an den Tiſch und ließen ihn mit eſſen. “
Die Kinder ſprangen in die Hoͤhe, klaſchten in die Haͤnde, lachten und riefen: das iſt recht artig; ſagte das der kleine Peter? Ja, verſetzte der Knabe, ich bin dabei geſtanden, wie’s geſchah. Heinrich Stilling aber lachte nicht, er ſtand da und ſah vor ſich nieder; die Geſchichte drang ihm durch Mark und Bein bis ins Innerſte ſeiner Seele; end - lich fing er an: das ſollte meinem Großvater widerfahren ſeyn! Ich glaube, er waͤre von ſeinem hoͤlzernen Schuͤſſelchen auf - geſtanden, in die Ecke der Stube gegangen und dann haͤtte er ſich hingeſtellt und gerufen: Herr, ſtaͤrke mich in dieſer Stube, daß ich mich einſt raͤche an dieſen Philiſtern! Dann haͤtte er ſich gegen den Eckpfoſten geſtraͤubt und das Haus eingeworfen. Sachte! ſachte! Stilling! redete ihm der groͤßten Knaben einer ein, das waͤre doch von deinem Groß - vater ein wenig zu arg geweſen. Du haſt recht! ſagte hein - rich; aber denk! es iſt doch recht ſataniſch: wie oft hat wohl der alte Fruͤhling ſeinen Jungen auf dem Schoos ge -105 habt, und ihm die beſten Brocken in den Mund geſteckt? Es waͤre doch kein Wunder, wenn einmal ein feuriger Drache um Mitternacht, wenn das Viertel des Mondes eben untergegan - gen iſt, ſich durch den Schornſtein eines ſolchen Hauſes hin - unterſchlengerte und alles Eſſen vergiftete. Wie er eben auf den Drachen kam, iſt kein Wunder, denn er hatte ſelbſten vor einigen Tagen des Abends, als er nach Haus ging, einen großen durch die Luft fliegen ſehen, und er glaubte bis jetzt noch feſt, daß es einer von den oberſten Teufeln ſelbſt geweſen.
So verfloß die Zeit unter der Hand, und es war nun bald an dem, daß er die lateiniſche Schule nach und nach verlaſ - ſen und ſeinem Vater am Handwerk helfen mußte; doch die - ſes war ſchweres Leiden fuͤr ihn; er lebte nur in den Buͤ - chern, und es daͤuchte ihm immer, man ließe ihm nicht Zeit genug zum Leſen; deßwegen ſehnte er ſich unbeſchreiblich, ein - mal Schulmeiſter zu werden. Dieſes war in ſeinen Augen die hoͤchſte Ehrenſtelle, die er jemals zu erreichen glaubte. Der Gedanke, ein Paſtor zu werden, war zu weit jenſeits ſei - ner Sphaͤre. Wenn er ſich aber zuweilen hinaufſchwung, ſich auf die Kanzel dachte und ſich dazu vorſtellte, wie ſelig es ſey, ein ganzes Leben unter Buͤchern hinzubringen, ſo erweiterte ſich ſein Herz, er wurde von Wonne durchdrungen, und dann fiel ihm wohl zuweilen ein: Gott hat mir dieſen Trieb nicht umſonſt eingeſchaffen, ich will ruhig ſeyn, Er wird mich leiten, und ich will Ihm folgen.
Dieſer Enthuſiasmus verleitete ihn zuweilen, wenn ſeine Leute nicht zu Haus waren, eine luſtige Comoͤdie zu ſpielen; er verſammelte ſo viel Kinder um ſich her, als er zuſammen - treiben konnte, hing einen ſchwarzen Weiberſchurz auf den Ruͤcken, machte ſich einen Kragen von weißem Papier, trat alsdann auf einen Lehnſtuhl, ſoͤ, daß er die Lehne vor ſich hatte, und dann fing er mit einem Anſtand an zu Predigen, der alle Zuhoͤrer in Erſtaunen ſetzte. Dieſes that er oft, denn es war auch ſein einziges Kinderſpiel, das er jemalen mag getrieben haben.
Nun trug es ſich einsmalen zu, als er recht heftig deklamirte, und ſeinen Zuhoͤrern die Hoͤlle heiß machte, daß Herr Paſtor106 Stollbein auf einmal in die Stube trat; er laͤchelte nicht oft, doch konnte er’s jetzt nicht verbeißen; Heinrich lachte aber nicht, ſondern er ſtand wie eine Bildſaͤule da, blaß wie die Wand, und das Weinen war ihm naͤher als das Lachen; ſeine Zuhoͤrer ſtellten ſich alle an die Wand und falteten die Haͤnde. Heinrich ſah den Paſtor furchtſam an, ob er viel - leicht den Rohrſtab aufheben moͤchte, um ihn zu ſchlagen; denn das war ſo ſeine Gewohnheit, wenn er die Kinder ſpie - len ſah; doch er that’s jetzt nicht, er ſagte nur: geh herunter und ſtell dich da hin, wirf den naͤrriſchen Anzug von dir! Hein - rich gehorchte gern; Stollbein fuhr fort:
„ Ich glaub’ du haſt wohl den Paſtor im Kopf? “
Ich hab’ kein Geld zu ſtudiren.
„ Du ſollſt nicht Paſtor, ſondern Schulmeiſter werden! “
Das will ich gern, Herr Paſtor! aber wenn unſer Herr Gott nun haben wollte, daß ich Paſtor oder ein anderer ge - lehrter Mann werden ſollte, muß ich dann ſagen: Nein, lie - ber Gott! ich will Schulmeiſter bleiben, der Herr Paſtor wills nicht haben?
„ Halt’s Maul, du Eſel! weißt du nicht, wen du vor dir haſt? “
Nun catechiſirte der Paſtor die Kinder alle, darin hatte er eine vortreffliche Gabe.
Bei naͤchſter Gelegenheit ſuchte Herr Stollbein den Wil - helm zu bereden, er moͤchte doch ſeinen Sohn ſtudiren laſſen, er verſprach ſogar, Vorſchub zu verſchaffen: allein dieſer Berg war zu hoch, er ließ ſich nicht erſteigen.
Heinrich kaͤmpfte indeſſen in ſeinem beſchwerlichen Zu - ſtand rechtſchaffen; ſeine Neigung zum Schulhalten war un - ausſprechlich; aber nur blos aus dem Grund, um des Hand - werks los zu werden und ſich mit Buͤchern beſchaͤftigen zu koͤnnen; denn er fuͤhlte ſelbſt gar wohl, daß ihm die Unter - richtung anderer Kinder ewige Langeweile machen wuͤrde. Doch machte er ſich das Leben ſo ertraͤglich, als es ihm moͤglich war. Die Mathematik nebſt alten Hiſtorien und Ritterge - ſchichten war ſein Fach; denn er hatte wirklich den Tobias Beutel und Bions mathematiſche Werkſchule ziemlich im107 Kopf; beſonders ergoͤtzte ihn die Sonnenuhrkunſt uͤber die Maße. Es ſah komiſch a〈…〉〈…〉 wie er ſich den Winkel, in wel - chem er ſaß und naͤhte, ſo nach ſeiner Phantaſie ausſtaffirt hatte: die Fenſterſcheiben waren voll Sonnenuhren, inwendig vor dem Fenſter ſtand ein viereckigter Klotz, in Geſtalt eines Wuͤr - fel, mit Papier uͤberzogen und auf allen fuͤnf Seiten mit Son - nenuhren bezeichnet, deren Zeiger abgebrochene Naͤhnadeln waren: oben unter der Stubendecke war gleichfalls eine Son - nenuhr, die von einem Stuͤcklein Spiegel im Fenſter erleuch - tet wurde; und ein aſtronomiſcher Ring von Fiſchbein hing an einem Faden vor dem Fenſter; dieſer mußte auch die Stelle der Taſchenuhr vertreten, wenn er ausging. Alle dieſe Uhren waren nicht allein gruͤndlich und richtig gezeichnet, ſondern er verſtand auch ſchon dazumal die gemeine Geometrie nebſt dem Rechnen und Schreiben aus dem Grund, ob er gleich nur ein Knabe von zwoͤlf Jahren und ein Lehrjunge im Schneiderhand - werk war.
Der junge Stilling fing auch nunmehr an, zu Herrn Stollbein in die Catechiſation zu gehen; das war ihm nun zwar eine Kleinigkeit, allein es hatte doch auch ſeine Beſchwer - den; denn da der Paſtor immer ein Aug auf ihn hatte, ſo ent - deckte er auch immer Etwas an ihm, das ihm nicht gefiel; zum Beiſpiel: wenn er in die Kirche oder in die Catechiſa - tionsſtube kam, ſo war er immer der Vorderſte, und hatte alſo auch immer den oberſten Stand; dieſes konnte nun der Pa - ſtor gar nicht leiden, denn er liebte an andern Leuten die De - muth ungemein. Einsmals fuhr er ihn an und ſagte:
„ Warum biſt du immer der Vorderſte? “
Er antwortete: wenns Lernen gilt, ſo bin ich nicht gern der Hinterſte.
„ Ei, weißt du Schlingel kein Mittel zwiſchen Hinten und Vornen? “
Stilling haͤtte gern noch ein Woͤrtchen dazu geſetzt, al - lein er fuͤrchtete ſich, den Paſtor zu erzuͤrnen. Herr Stollbein ſpazirte die Stube ab, und indem er wieder heraufkam, ſagte108 er laͤchelnd: „ Stilling! was heißt das auf deutſch: medium tenuere beati? “
Das heißt: die Seligen haben den Mittelweg gehalten; doch daͤucht mir, man koͤnnte auch ſagen: plerique medium tenentes sunt damnati. (Die nehr eſten Leute ſind verdammt, die das Mittel gehalten haben, d. i. die weder kalt noch warm ſind.) Herr Stollbein ſtutzte, ſah ihn an und ſagte: Junge! ich ſage dir, du ſollſt das Recht haben, voran zu ſtehen, du haſt vortrefflich geantwortet. Doch nun ſtand er nie wieder vornen, damit ihm die andern Kindern nicht boͤs werden moͤch - ten. Ich weiß nicht, ob es Feigherzigkeit oder ob es Demuth war. Nun fragte ihn Herr Stollbein wieder: Warum gehſt du nicht an deinen Ort? Er antwortete: Wer ſich ſelbſt er - niedriget, der ſoll erhoͤhet werden. Schweig! erwiederte der Paſtor, du biſt ein vorwitziger Burſche.
Dieſes ging nun ſo ſeinen Gang fort bis ins Jahr 1755 auf Oſtern, da Heinrich Stilling vierzehn und ein halb Jahr alt war; vierzehn Tage vor dieſer Zeit ließ ihn Herr Paſtor Stollbein allein vor ſich kommen und ſagte zu ihm: Hoͤr’, Stilling, ich wollte gern einen braven Kerl aus dir machen, du mußt aber huͤbſch fromm und mir, deinem Vor - geſetzten, gehorſam ſeyn; auf Oſtern will ich dich mit noch andern, die aͤlter ſind, als du, zum heiligen Abendmahl ein - ſegnen, und dann will ich ſehen, ob ich dich nicht zum Schul - meiſter machen kann. Stilling huͤpfte das Herz vor Freu - den, er dankte dem Paſtor und verſprach, alles zu thun, was er haben wollte. Das gefiel dem alten Manne von Herzen, er ließ ihn im Frieden gehen, und hielt ſein Wort treulich; denn auf Oſtern ging er zum Nachtmahl, und alſofort wurde er zum Schulmeiſter nach Zellberg beſtimmt, welches Amt er den erſten Mai antreten mußte. Die Zellberger ver - langten auch mit Schmerzen nach ihm; denn ſein Ruf war weit und breit erſchollen. Die Wonne laͤßt ſich nicht ausſpre - chen, welche der junge Stilling hieruͤber empfand, er konnte kaum den Tag erwarten, der zum Antritt ſeines Amts be - ſtimmt war.
Zellberg liegt eben hinter der Spitze des Gillers, man109 geht von Tiefenbach gerade den Wald hinauf; ſobald man auf die Hoͤhe kommt, hat man vor ſich ein großes ebenes Feld, nahe zur rechten Seite den Wald, deſſen hundertjaͤhrige Ei - chen und Maibuchen in gerader Linie gegen Oſten zu, wie eine preußiſche Wachtparade, hingepflanzt ſtehen und den Himmel zu tragen ſcheinen; faſt oſtwaͤrts am Ende des Waldes erhebt ſich ein buſchigter Huͤgel, auf dem Hoͤchſten oder auch der Haͤngesberg genannt; dieſes iſt der hoͤchſte Gipfel von ganz Weſtphalen. Von Tiefenbach bis dahin hat man drei Viertelſtund beſtaͤndig gerad und ſteil aufzuſteigen. Lin - ker Hand liegt eine herrliche Flur, die ſich gegen Norden in einen Huͤgel von Saatland erhebt, dieſer heißt: auf der Antonius-Kirche. Vermuthlich hat in alten Zeiten eine Kapelle da geſtanden, die dieſem Heiligen gewidmet geweſen. Vor dieſem Huͤgel, ſuͤdwaͤrts, liegt ein ſchoͤner herrſchaftli - cher Meierhof, der von Paͤchtern bewohnt wird. Nordoſtwaͤrts ſenkt ſich die Flaͤche in eine vortreffliche Wieſe, die ſich zwi - ſchen buſchigten Huͤgeln herumdraͤngt; zwiſchen dieſer Wieſe und dem Hoͤchſten geht durchs Gebuͤſch ein gruͤner Raſen - weg vom Feld aus laͤngs die Seite des Huͤgels fort, bis er ſich endlich im feierlichen Dunkel dem Auge entzieht; es iſt ein bloßer Holzweg, und von der Natur und dem Zufall ſo entſtanden. Sobald man uͤber den hoͤchſten Huͤgel hin iſt, ſo kommt man an das Dorf Zellberg; dieſes liegt alſo an der Oſtſeite des Gillers, da, wo in einer Wieſe ein Bach entſpringt, der endlich zum Fluß wird und nicht weit von Caſſel in die Weſer faͤllt. Die Lage dieſes Orts iſt be - zaubernd ſchoͤn, beſonders im ſpaͤtern Fruͤhling, im Sommer und im Anfange des Herbſts; der Winter aber iſt daſelbſt fuͤrch - terlich. Das Geheul des Sturms und der Schwall von Schnee, welcher vom Wind getrieben hinſtuͤrzt, verwandelt dieſes Pa - radies in eine Norwegiſche Landſchaft. Dieſer Ort war alſo der erſte, wo Heinrich Stilling die Probe ſeiner Faͤhig - keiten ablegen ſollte.
Auf den kleinen Doͤrfern in dieſen Gegenden wird vom er - ſten Mai bis auf Martini und alſo den Sommer durch woͤ - chentlich nur zwei Tage, naͤmlich Freitags und Samſtags,110 Schul gehalten; und ſo war’s auch zu Zellberg. Stil - ling ging Freitags Morgens mit Sonnenaufgang hin und kam des Sonntags Abends wieder. Dieſer Gang hatte fuͤr ihn etwas Unbeſchreibliches; — beſonders wenn er des Mor - gens vor Sonnenaufgang auf der Hoͤhe aufs Feld kam, und die Sonne dort aus der Ferne zwiſchen den buſchigten Huͤgeln aufſtieg; vor ihr her ſaͤuſelte ein Windchen, und ſpielte mit ſeinen Locken; dann ſchmolz ſein Herz, er weinte oft, und wuͤnſchte Engel zu ſehen, wie Jakob zu Mahanaim. Wenn er nun da ſtand und in Wonnegefuͤhl zerſchmolz, ſo drehte er ſich um und ſah Tiefenbach unten im naͤchtlichen Nebel liegen. Zur Linken ſenkte ſich ein großer Berg, der hitzige Stein genannt, vom Giller herunter, zur Rechten vorwaͤrts lagen ganz nahe die Ruinen des Geiſenberger Schloſſes. Da traten dann alle Scenen, die da zwiſchen ſeinem Vater und ſeiner ſeligen Mutter, zwiſchen ſeinem Vater und ihm vorgegangen waren, als ſo viele vom herrlichſten Licht erleuch - tete Bilder vor ſeine Seele; er ſtand da wie ein Trunkener und uͤberließ ſich ganz der Empfindung. Dann ſchaute er in die Ferne; zwoͤlf Meilen ſuͤdwaͤrts lag der Taunus oder Feld - berg nahe bei Frankfurt, acht bis neun Meilen weſtwaͤrts lagen vor ihm die ſieben Berge am Rhein, und ſo fort eine unzaͤhlbare Menge weniger beruͤhmter Gebirge; aber nord - weſtlich lag ein hoher Berg, der mit ſeiner Spitze dem Giller faſt gleich kam; dieſer verdeckte Stillingen die Ausſicht uͤber die Schaubuͤhne ſeiner kuͤnftigen großen Schickſale.
Hier war der Ort, wo Heinrich eine Stunde lang ver - weilen konnte, ohne ſich ſelbſt recht bewußt zu ſeyn; ſein gan - zer Geiſt war Gebet, inniger Friede und Liebe gegen den All - maͤchtigen, der das Alles gemacht hatte.
Zuweilen wuͤnſchte er auch wohl ein Fuͤrſt zu ſeyn, um eine Stadt auf dieſes Gefilde bauen zu koͤnnen; alſofort ſtand ſie ſchon da vor ſeiner Einbildung; auf der Antonius-Kirche hatte er ſeine Reſidenz, auf dem Hoͤchſten ſah er das Schloß der Stadt, ſo wie Montalban in den Holzſchnitten im Buch von der ſchoͤnen Meluſine; dieſes Schloß ſollte Hein - richsburg heißen; wegen des Namens der Stadt ſtand er111 noch immer im Zweifel, doch war ihm der Name Stillin - gen der ſchoͤnſte. Unter dieſen Vorſtellungen ſtieg er auf vom Fuͤrſten zum Koͤnige, und wenn er aufs Hoͤchſte gekommen war, ſo ſah er Zellberg vor ſich liegen, und er war nichts weiter, als zeitiger Schulmeiſter daſelbſt, und ſo wars ihm dann auch recht, denn er hatte Zeit zum Leſen.
An dieſem Ort wohnte ein Jaͤger, Namens Kruͤger, ein redlicher, braver Mann; dieſer hatte zwei junge Knaben, aus denen er gern etwas rechts gemacht haͤtte. Er hatte den alten Stilling herzlich geliebt, und ſo liebte er auch ſeine Kinder. Dieſem war es Seelenfreude, den jungen Stilling als Schulmeiſter in ſeinem Dorf zu ſehen. Daher entſchloß er ſich, denſelben zu ſich ins Haus zu nehmen. Heinrichen war dieſes eben recht, ſein Vater machte alle Kleider fuͤr den Jaͤger und ſeine Leute, und deßwegen war er daſelbſt am mehreſten bekannt; uͤberdem wußte er, daß Kruͤger viel rare Buͤcher hatte, die er recht zu nuͤtzen gedachte. Er quartirte ſich daſelbſt ein; und das erſte, was er vornahm, war die Unterſuchung der Kruͤgeriſchen Bibliothek; er ſchlug einen alten Folianten auf, und fand eine Ueberſetzung Homers in deutſche Verſe; er huͤpfte vor Freuden, kuͤßte das Buch, druͤckte es an ſeine Bruſt, bat ſichs aus und nahm es mit in die Schule, wo ers in der Schublade unter dem Tiſch ſorgfaͤltig verſchloß und ſo oft darin las, als es ihm nur moͤglich war. Auf der lateiniſchen Schule hatte er den Virgilius erklaͤrt und bei der Gelegen - heit ſo viel vom Homer gehoͤrt, daß er vorher Schaͤtze darum gegeben haͤtte, um ihn nur einmal leſen zu koͤnnen; nun bot ſich ihm hier die Gelegenheit von ſelbſt dar, und er nutzte ſie auch rechtſchaffen.
Schwerlich iſt die Ilias ſeit der Zeit, daß ſie in der Welt geweſen, mit mehrerem Entzuͤcken und Empfindung geleſen worden. Hector war ein Mann, Achill aber nicht, Aga - memnon noch weniger; mit einem Wort: er hielt es durch - gehends mit den Trojanern, ob er gleich den Parias mit ſeiner Helenen kaum des Andenkens wuͤrdigte; beſon - ders, weil er immer zu Haus blieb, da er doch die Urſach des Kriegs war. Das iſt doch ein unertraͤglicher, ſchlechter Kerl!112 dachte er oft bei ſich ſelber. Niemand dauerte ihn mehr als der alte Priam. Die Bilder und Schilderungen des Homers waren ſo ſehr nach ſeinem Geſchmack, daß er ſich nicht enthal - ten konnte, laut zu jauchzen, wenn er ein ſo recht lebhaftes Wort fand, das der Sache angemeſſen war; damals waͤr’ die rechte Zeit geweſen, den Oſſian zu leſen.
Dieſe hohe Empfindung hatte aber auch noch Nebenurſachen, die ganze Gegend trug dazu bei. Man denke ſich einen bis zur hoͤchſten Stufe des Enthuſiasmus empfindſamen Geiſt, deſſen Geſchmack natuͤrlich und noch nach keiner Mode ge - ſtimmt war, ſondern der nichts als wahre Natur empfunden, geſehen und ſtudirt hatte, der ohne Sorge und Gram hoͤchſt zufrieden mit ſeinem Zuſtand lebte, und allem Vergnuͤgen offen ſtand; ein ſolcher Geiſt liest den Homer in der ſchoͤnſten und natuͤrlichſten Gegend von der Welt, und zwar des Mor - gens in der Fruͤhſtunde. Man ſtelle ſich die Lage dieſes Orts vor; er ſaß in der Schule an zwei Fenſtern, die nach Oſten gekehrt waren; dieſe Schule ſtand an der Mittagsſeite, am Abhang des hoͤchſten Huͤgels, um dieſelbe her waren alte Bir - ken mit ſchneeweißen Staͤmmen auf einen gruͤnen Raſen ge - pflanzt, deren dunkelgruͤne Blaͤtter beſtaͤndig fort im ewigen Winde flisperten. Gegen Sonnenaufgang war ein praͤchtiges Wieſenthal, das ſich an buſchigte Huͤgel und Gebirge anſchloß. Gegen Mittag lag, etwas niedriger, das Dorf, hinter demſel - ben eine Wieſe, und dann ſtieg unvermerkt eine Flur von Fel - dern auf, die ein Wald begraͤnzte. Gegen Abend in der Naͤhe war der hohe Giller mit ſeinen tauſend Eichen. Hier las Stilling den Homer im Mai und Junius, wenn ohne das die ganze halbe Welt ſchoͤn iſt und in der Kraft ihres Erhalters jauchzt.
Ueber das alles waren auch ſeine Bauern gute, natuͤrliche Leute, die beſtaͤndig mit alten Sagen und Erzaͤhlungen ſchwan - ger gingen und bei jeder Gelegenheit damit herauskramten; dadurch wurde der Schulmeiſter vollends recht mit ſeinem Ele - ment genaͤhrt und zu Empfindungen aufgelegt. Er ging eins - mals hinter der Schule den hoͤchſten Huͤgel hinauf ſpazieren, oben auf der Spitze traf er einen alten Bauern aus ſeinem113 Dorf, der Holz ſammelte; ſobald dieſer den Schulmeiſter kom - men ſah, hoͤrte er auf zu arbeiten und ſagte:
„ Es iſt gut, Schulmeiſter, daß du kommſt, ich bin doch „ muͤde; nun hoͤr’, was ich dir ſagen will, ich denke ſo eben „ dran. Ich und dein Großvater haben vor dreißig Jahren „ einmal hier Kohlen gebrannt, da hatten wir viel Freude! „ wir kamen immer zu einander, aßen und tranken zuſammen „ und redeten dann immer von alten Geſchichten. Du ſiehſt „ hier rund umher, ſo weit dein Auge reicht, keinen Berg, aber „ wir beſannen uns auf ſeinen Namen und den Ort, wo er „ am naͤchſten liegt; das war uns dann nun ſo recht eine Luſt, „ wenn wir da ſo lagen und uns Geſchichten erzaͤhlten, und „ zugleich den Ort zeigen konnten, wo ſie geſchehen waren. “ Nun hielt der Bauer die linke Hand uͤber die Augen, und mit der rechten wies er gegen Abend und Nordweſt hin und ſagte: „ Da, etwas niederwaͤrts, ſiehſt du das Geiſenber - „ ger Schloß, gerad hinter demſelben, dort weit weg, iſt ein „ hoher Berg mit drei Koͤpfen, der mittelſte heißt noch der „ Kindelsberg, da ſtand vor uralten Zeiten ein Schloß, „ das auch ſo hieß; da wohnten Ritter drauf, die waren ſehr „ gottloſe Leute. Da zur Rechten hatten ſie, an dem Kopf, „ ein ſehr ſchoͤnes Silber-Bergwerk, wovon ſie ſtockreich wur - „ den. Nu, was geſchah! Der Uebermuth ging ſo weit, daß „ ſie ſich ſilberne Kegel machen ließen; wenn ſie nun ſpielten, „ ſo warfen ſie nach dieſen Kegeln mit ſilbernen Kloͤtzen; dann „ backten ſie große Kuchen von Semmelmehl, wie Kutſchen - „ raͤder, machten in der Mitte Loͤcher darein und ſteckten ſie „ an die Achſen; das war nun eine himmelſchreiende Suͤnde, „ denn wie viele Menſchen haben kein Brod zu eſſen! Unſer „ Herr Gott ward es auch endlich muͤde; denn es kam des „ Abends ſpaͤt ein weißes Maͤnnchen ins Schloß, das ſagte „ ihnen an, daß ſie Alle binnen drei Tagen ſterben muͤßten, „ und zum Wahrzeichen gab es ihnen, daß dieſe Nacht eine „ Kuh zwei Laͤmmer werfen wuͤrde. Das geſchah auch, aber „ Niemand kehrte ſich dran, als der juͤngſte Sohn, der Ritter „ Sigmund hieß, und eine Tochter, die eine gar ſchoͤne Jung - „ frau war. Dieſe beteten Tag und Nacht. Die Andern ſtar -Stilling’s Schriften. I. Bd. 8114„ ben an der Peſt und dieſe Beiden blieben am Leben. Nun „ war aber hier auf dem Geiſenberg auch ein junger kuͤh - „ ner Ritter, der ritt beſtaͤndig ein großes ſchwarzes Pferd, „ deßwegen hieß man ihn auch nicht anders, als den Ritter mit „ dem ſchwarzen Pferd. Er war ein gottloſer Menſch, der „ immer raubte und mordete. Dieſer Ritter gewann die ſchoͤne „ Jungfrau auf dem Kindelsberg lieb und wollte ſie ab - „ ſolut haben, aber es nahm ein ſchlechtes Ende. Ich kann „ noch ein altes Lied von der Geſchichte. “
Der Schulmeiſter ſagte: ich bitt’ euch, Kraft (ſo hieß der Bauer), ſagt mir doch das Lied vor!
Kraft antwortete: das will ich gern thun, ich will dir’s wohl ſingen. Er fing an:
Stilling lauſchte ſtill, er durfte kaum Athem holen; die ſchoͤne Stimme des alten Kraft, die ruͤhrende Melodie und die Geſchichte ſelber wirkten dergeſtalt auf ihn, daß ihm das Herz pochte; er beſuchte den alten Bauern oft, der ihm dann das Lied ſo oft vorſang, bis ers auswendig konnte. Nun ſenkte ſich die Sonne hinter den fernen blauen Berg; Kraft und der Schulmeiſter gingen den Huͤgel herab, die braunen und ſcheckigten Kuͤhe grasten in der Trift, ihre heiſern Schellen klangen wiederhallend hin und her. Die Knaben liefen in den Hoͤfen herum und theilten ihr Butterbrod und Kaͤſe zuſammen; die Hausmuͤttern machten den Stall zurecht, und die Huͤhner flatſchten, eins nach dem andern, hinauf zu ihrem Loch; noch einmal drehte ſich der orangegelbe und rothbraune Hahn auf ſeinem Pfahl vor dem Loch herum und kraͤhte ſeinen Nachbarn gute Nacht; durch den Wald herab ſprachen die Kohlenbrenner, die Querſaͤcke auf den Nacken, und freuten ſich der nahen Ruhe.
Heinrichs Stilling’s Schulmethode war ſeltſam und ſo eingerichtet, daß er wenig oder nichts dabei verlor. Des Morgens, ſobald die Kinder in die Schule kamen und alle bei - ſammen waren, ſo betete er mit ihnen und catechiſirte ſie in den erſten Grundſaͤtzen des Chriſtenthums nach eigenem Gut - duͤnken ohne Buch; dann ließ er einen jeden ein Stuͤck leſen; wenn das vorbei war, ſo ermunterte er die Kinder, den Catechis - mus zu lernen, indem er ihnen verſprach, ſchoͤne Hiſtorien zu erzaͤhlen, wenn ſie ihre Aufgabe recht gut auswendig koͤnnen wuͤrden; waͤhrend der Zeit ſchrieb er ihnen vor, was ſie nach - ſchreiben ſollten, ließ ſie noch einmal Alle leſen und dann kam’s zum Erzaͤhlen, wobei vor und nach alles erſchoͤpft wurde, was er jemals in der Bibel, im Kaiſer Octavianus, der ſchoͤnen Magelone und andern mehr geleſen hatte; auch die Zerſtoͤrung der koͤniglichen Stadt Troja wurde mit vorgenommen. So war es auf ſeiner Schule Sitte und Gebrauch von einem Tag zum andern. Es laͤßt ſich nie ausſprechen, mit welchem Eifer die Kinder lernten, um nur fruͤh ans Erzaͤhlen zu kommen; waren ſie aber muthwillig und nicht fleißig geweſen, ſo erzaͤhlte der Schulmeiſter nicht, ſondern las ſelbſt.
Niemand verlor bei dieſer ſeltſamen Manier zu unterwei -117 ſen, als die Abc-Schuͤler und die am Buchſtabiren waren; die - ſer Theil des Schulamts war Stilling viel zu langweilig. Des Sonntags Morgens verſammelten ſich die Schulkinder um ihren angenehmen Lehrer, und ſo wanderte er mit ſeinem Gefolge unter den ſchoͤnſten Erzaͤhlungen nach Florenburg in die Kirche, und nach der Predigt in eben der Ordnung wie - der nach Haus.
Die Zellberger waren indeſſen mit Stilling recht gut zufrieden, ſie ſahen, daß ihre Kinder lernten, ohne viel ge - zuͤchtigt zu werden; verſchiedene hatten ſogar ihre Freude an all den ſchoͤnen Geſchichten, welche ihnen ihre Kinder zu er - zaͤhlen wußten. Beſonders liebte ihn Kruͤger außerordent - lich, denn er konnte Vieles mit ihm aus dem Paralacelſus reden (ſo ſprach der Jaͤger das Wort Paracelſus aus); er hatte eine altdeutſche Ueberſetzung ſeiner Schriften, und da er ein ſklaviſcher Verehrer aller der Maͤnner war, von de - nen er glaubte, daß ſie den Stein Lapis gehabt haͤtten, ſo waren ihm Jakob Boͤhms, Graf Bernhards und des Paracelſus Schriften große Heiligthuͤmer. Stilling ſelber fand Geſchmack darinnen, nicht blos wegen des Steins der Weiſen, ſondern weil er ganz hohe und herrliche Begriffe, beſonders im Boͤhm, zu finden glaubte; wenn ſie das Wort: Rad der ewigen Eſſenzien oder auch ſchielen der Blitz und andre mehr ausſprachen, ſo empfanden ſie eine ganz beſondere Erhebung des Gemuͤths. Ganze Stunden lang forſchten ſie in magiſchen Figuren, bis ſie manchmal Anfang und Ende verloren und meinten, die vor ihnen liegenden Zau - berbilder lebten und bewegten ſich; das war dann ſo rechte Seelenfreude, im Taumel groteske Ideen zu haben und leb - haft zu empfinden.
Allein dieſes paradieſiſche Leben war von kurzer Dauer. Herr Paſtor Stollbein und Herr Foͤrſter Kruͤger waren Todt - feinde. Dieſes kam daher: Stollbein war ein unumſchraͤnk - ter Monarſch in ſeinem Kirchſpiel; ſein geheimes Raths - Collegium, ich meine das Conſiſtorium, beſtand aus lauter Maͤnnern, die er ſelber angeordnet hatte und von denen er voraus wußte, daß ſie einfaͤltig genug waren, immer Ja zu118 ſagen. Vater Stilling war der Letzte geweſen, der noch vom vorigen Prediger beſtellet worden; daher fand er nirgends Widerſtand. Er erklaͤrte Krieg und ſchloß Frieden, ohne Je - mand zu Rath zu ziehen; alles fuͤrchtete ihn und zitterte in ſeiner Gegenwart. Doch kann ich nicht ſagen, daß das gemeine Weſen unter ſeiner Regierung ſonderlich gelitten haͤtte; er hatte bei ſeinen Fehlern eine Menge guter Eigenſchaften. Nur Kruͤger und einige der Vornehmſten zu Florenburg haß - ten ihn ſo ſehr, daß ſie faſt gar nicht in die Kirche gingen, vielweniger bei ihm communicirten. Kruͤger ſagte oͤffentlich: er ſey vom boͤſen Geiſt beſeſſen; und daher that er immer gerade das Gegentheil von dem, was der Paſtor gerne ſah.
Nachdem Stilling einige Wochen zu Zellberg gewe - ſen war, ſo beſchloß Herr Stollbein, ſeinen neuen Schul - meiſter daſelbſt einmal zu beſuchen; er kam des Vormittags um neun Uhr in die Schule; zum Gluͤck war Stilling we - der am Erzaͤhlen noch Leſen. Er wußte aber ſchon, daß er bei Kruͤger im Hauſe war, daher ſah er ganz muͤrriſch aus, ſchaute umher und fragte: Was macht ihr mit den Schiefer - ſteinen auf der Schule? — (Stilling hielt des Abends eine Rechenſtunde mit den Kindern.) Der Schulmeiſter ant - wortete: Darauf rechnen die Kinder des Abends. Der Pa - ſtor fuhr fort:
„ Das kann ich wohl denken, aber wer heißt euch das? “
Heinrich wußte nicht, was er ſagen ſollte, er ſah dem Paſtor ins Geſicht und verwunderte ſich; endlich erwiederte er laͤchelnd: Der mich geheißen hat, die Kinder Leſen, Schrei - ben und den Catechismus zu lernen, der hat mich auch gehei - ßen, ſie im Rechnen zu unterrichten.
„ Ihr .... ich haͤtte bald was geſagt! lehrt ſie erſt einmal das Noͤthigſte, und wenn ſie das koͤnnen, dann lehrt ſie auch Rechnen. “
Nun fing es an, Stillingen weich ums Herz zu werden. Das iſt ſo ſeiner Natur gemaͤß, anſtatt daß andere Leute boͤs und launigt werden, ſchießen ihm die Thraͤnen in die An - gen und die Backen herunter; es gibt aber auch einen Fall, in welchem er recht zornig werden kann: wenn man ihn oder119 auch ſonſt eine ernſte und empfindſame Sache ſatyriſch behan - delt. Gott! verſetzte er, wie ſoll ichs doch machen? Die wol - len haben, ich ſoll die Kinder rechnen lehren, und der Herr Paſtor wills nicht haben! Wem ſoll ich nun folgen?
„ Ich hab in Schulſachen zu befehlen, ſagte Stollbein, und eure Bauern nicht! “und damit ging er zur Thuͤre hinaus.
Stilling befahl alſofort, alle Schieferſteine herabzuneh - men und auf einen Haufen hinter dem Ofen unter die Bank zu legen; das wurde befolgt, doch ſchrieb ein jeder ſeinen Na - men mit dem Griffel auf den ſeinigen.
Nach der Schule ging er zu dem Kirchen-Aelteſten, erzaͤhlte ihm den Vorfall und fragte ihn um Rath. Der Mann laͤchelte und ſagte: Der Paſtor wird ſo ſeine boͤſe Laune gehabt haben, legt ihr die Steine zuruͤck, daß er ſie nicht ſieht, wenn er wie - der kommen ſollte; fahrt ihr aber fort, die Kinder muͤſſen doch Rechnen lernen! Er erzaͤhlte es auch Kruͤgern; dieſer glaubte, der Teufel habe ihn beſeſſen, und nach ſeiner Meinung ſollten nun auch die Maͤdchen ſich Schieferſteine anſchaffen und das Rechnen lernen, ſeine Kinder wenigſtens ſollten es nun zuerſt vornehmen. Und das geſchah auch; Stilling mußte den groͤß - ten Knaben ſogar in der Geometrie unterrichten.
So ſtanden die Sachen den Sommer uͤber, aber Niemand vermuthete, was den Herbſt geſchah. Vierzehn Tage vor Mar - tini kam der Aelteſte in die Schule und kuͤndigte Stilling im Namen des Paſtors an, auf Martini die Schule zu ver - laſſen und zu ſeinem Vater zuruͤckzukehren. Dieſes war dem Schulmeiſter und den Schuͤlern ein Donnerſchlag, ſie weinten allzuſammen. Kruͤger und die uͤbrigen Zellberger wur - den faſt raſend; ſie ſtampften mit den Fuͤßen und ſchwuren: der Paſtor ſollte ihnen ihren Schulmeiſter nicht nehmen. Allein Wilhelm Stilling, wie ſehr er ſich auch aͤrgerte, fand doch rathſamer, ſeinen Sohn zu ſich zu nehmen, um ihn an ſeinem fernern Gluͤck nicht zu hindern. Des Sonntags Nach - mittags vor Martini ſtopfte der gute Schulmeiſter ſein Biß - chen Kleider und Buͤcher in einen Sack, hing ihn auf den Ruͤcken und wanderte aus Zellberg das Hoͤchſte hinauf, ſeine Schuͤler gingen truppenweiſe hinten nach und weinten; er120 ſelbſt vergoß tauſend Thraͤnen und beweinte die ſuͤßen Zeiten, die er zu Zellberg zugebracht hatte. Der ganze weſtliche Himmel ſah ihm traurig aus, die Sonne verkroch ſich hinter ein ſchwarzes Wolkengebirge, und er wanderte im Dunkel des Waldes den Giller hinunter.
Des Montags Morgens ſetzte ihn ſein Vater wieder in ſeinen alten Winkel an die Naͤhnadel. Das Schneiderhandwerk war ihm nun doppelt verdrießlich, nachdem er die Suͤßigkeit des Schulhaltens geſchmeckt hatte. Das einzige, was ihm noch uͤbrig blieb, war, daß er ſeine alten Sonnenuhren wieder in Ordnung brachte und ſeiner Großmutter die Herrlichkeit des Homers erzaͤhlte, die ſich dann auch alles wohl gefallen ließ und wohl gar Geſchmack daran hatte, nicht ſo ſehr aus eignem Naturtrieb, ſondern weil ſie ſich erinnerte, daß ihr ſeliger Eberhard ein großer Liebhaber von dergleichen Sa - chen geweſen war.
Heinrich Stilling’s Leiden ſtuͤrmten nun mit voller Kraft auf ihn zu, er glaubte feſt, er ſey nicht zum Schneiderhand - werk geboren, und er ſchaͤmte ſich von Herzen, ſo dazuſitzen und zu Naͤhen; wenn daher jemand Anſehnliches in die Stube kam, ſo wurde er roth im Geſicht.
Einige Wochen hernach begegnete dem Oheim Simon, Herr Paſtor Stollbein im Fuhrwerk; als er den Paſtor von Ferne her reiten ſah, arbeitete er ſich uͤber Hals und Kopf mit dem Ochſen und ſeiner Karre aus dem Wege auf das Feld, ſtellte ſich mit dem Hute in der Hand neben den Ochſen hin, bis Herr Stollbein herzukam.
„ Nu, was macht euers Schwagers Sohn? “
Er ſitzt am Tiſch und naͤht!
„ Das iſt recht! ſo will ich’s haben! “
Stollbein ritt fort und Simon fuhr ſeiner Wege nach Haus. Alſofort erzaͤhlte er Wilhelmen, was der Paſtor geſagt hatte; Heinrich hoͤrte es mit groͤßtem Herzeleid, er - munterte ſich aber wieder, als er ſah, wie ſein Vater mit auf - gebrachtem Gemuͤth das Naͤhzeug von ſich warf, aufſprang121 und mit Heftigkeit ſagte: und ich will haben, er ſoll Schul haben, ſobald ſich Gelegenheit dazu aͤußert! Simon verſetzte: ich haͤtt’ ihn zu Zellberg gelaſſen, der Paſtor wird doch auch zu bezwingen ſeyn. Das haͤtte wohl geſchehen koͤnnen, antwortete Wilhelm, aber man hat ihn hernach doch immer auf dem Hals und wird ſeines Lebens nicht froh. Leiden iſt beſſer als Streiten. Meinetwegen, fuhr Simon fort, ich ſcheer mich nichts um ihn, er ſollte mir nur einmal zu nahe kommen! Wilhelm ſchwieg und dachte: das laͤßt ſich in der Stube hinterm Ofen gut ſagen.
Die muͤhſelige Zeit des Handwerks dauerte fuͤr jetzo nicht lange; denn vierzehn Tage vor Weihnachten kam ein Brief von Dorlingen aus der Weſtphaͤliſchen Grafſchaft Mark in Stilling’s Hauſe an. Es wohnte daſelbſt ein reicher Mann, Namens Steifmann, welcher den jungen Stilling zum Haus-Informator verlangte. Die Bedinge waren: daß Herr Steifmann vom Neujahr an bis naͤchſte Oſtern Unterwei - ſung fuͤr ſeine Kinder verlangte; dafuͤr gab er Stilling Koſt und Trank, Feuer und Licht; fuͤnf Reichsthaler Lohn bekam er auch, allein dafuͤr mußte er von den benachbarten Bauern ſo viel Kinder in die Lehre nehmen, als ſie ihm ſchicken wuͤr - den, das Schulgeld davon zog Steifmann ein; auf dieſe Weiſe hatte er die Schule faſt umſonſt.
Die alte Margarethe, Wilhelm, Eliſabeth, Ma - riechen und Heinrich berathſchlagten ſich hierauf uͤber die - ſen Brief. Margarethe fing nach einiger Ueberlegung an: Wilhelm, behalte den Jungen bei dir! denk einmal! ein Kind ſo weit in die Fremde zu ſchicken, iſt kein Spaß, es gibt wohl hier in der Naͤhe Gelegenheit fuͤr ihn. Das iſt auch wahr! ſagte Mariechen, mein Bruder Johann ſagt oft: daß die Bauern da herum ſo grobe Leute waͤren, wer weiß, was ſie mit dem guten Jungen anfangen werden, be - halt’ihn hier, Wilhelm! Eliſabeth gab auch ihre Stimme; ſie hielt aber dafuͤr, daß es beſſer ſey, wenn ſich Heinrich etwas in der Welt verſuchte; wenn ſie zu befehlen haͤtte, ſo muͤßte er ziehen. Wilhelm ſchloß endlich, ohne zu ſagen warum: wenn Heinrich Luſt zu gehen haͤtte, ſo waͤr’ er es122 wohl zufrieden. Ja wohl bin ich’s zufrieden! fiel er ein, ich wollte, daß ich ſchon da waͤr’! Margarethe und Marie - chen wurden traurig und ſchwiegen ſtill. Der Brief wurde alſo von Wilhelm beantwortet und alles eingewilligt.
Dorlingen lag neun ganze Stunden von Tiefenbach ab. Vielleicht war ſeit hundert Jahren Niemand aus der Stilling’ſchen Familie ſo weit fortgewandert und ſo lang ab - weſend geweſen. Einige Tage vor Heinrichs Abreiſe trauer - ten und weinten Alle, nur er ſelber war innig froh. Wilhelm verbarg ſeinen Kummer ſo viel er konnte. Margarethe und Mariechen empfanden zu ſehr, daß er ein Stilling war, deßwegen weinten ſie am meiſten, welches in den blin - den Staar-Augen der alten Großmutter erbaͤrmlich ausſah.
Der letzte Morgen kam, Alle verſanken in Wehmuth. Wil - helm ſtellte ſich hart gegen ihn; allein der Abſchied machte ihn nur deſto weicher. Heinrich vergoß auch viele Thraͤ - nen, aber er lief und wiſchte ſie ab. Zu Lichthauſen kehrte er bei ſeinem Oheim, Johann Stilling, ein, der ihm viel ſchoͤne Lehren gab. Nun kamen die Fuhrleute, die ihn mitnehmeu ſollten, und Heinrich reiste freudig mit ih - nen fort.
Die Gegenden, welche er in dieſer Jahreszeit durchzureiſen hatte, ſahen recht melancholiſch aus. Sie machten Eindruͤcke auf ihn, die ihn in gewiſſe Niedergeſchlagenheit verſetzten. Wenn Dorlingen in einer ſolchen Gegend liegt, dachte er immer, ſo wird mirs doch da nicht gefallen. Die Fuhrleute, mit denen er reiste, waren von da her zu Haus; er merkte oft, wie ſie zuſammen hinter ihm hergingen und uͤber ihn ſpotte - ten; denn weil er nichts mit ihnen ſprach und etwas bloͤd ausſah, ſo hielten ſie ihn fuͤr einen Schafskopf, mit dem man machen koͤnnte, was man wollte. Zuweilen zupfte ihn einer von hinten her, und wenn er ſich dann umſah, ſo ſtellten ſie ſich, als wenn ſie wichtige Sachen unter ſich auszumachen haͤtten. Dergleichen Behandlungen waren nun eben faͤhig, ſeinen Zorn zu reizen; er litt das ein paarmal, endlich drehte er ſich um, ſah ſie ſcharf an und ſagte: Hoͤrt, ihr Leute, ich bin und werd’ euer Schulmeiſter zu Dorlingen, und wenn123 eure Kinder ſo ungezogene Bengels ſind, wie ich vermuthe, ſo werd’ ich Mittel wiſſen, ihnen andere Sitten beizubringen; das koͤnnt ihr ihnen ſagen, wenn ihr nach Haus kommt! Die Fuhrleute ſahen ſich an, und bloß um ihrer Kinder willen lie - ßen ſie ihn zufrieden.
Des Abends ſpaͤt um neun Uhr kam er zu Dorlingen an. Steifmann betrachtete ihn vom Haupt bis zu Fuß, ſo auch ſeine Frau, Kinder und Geſinde. Man gab ihm zu eſſen, und darauf legte er ſich ſchlafen. Als er des Morgens fruͤh erwachte, erſchrack er ſehr, denn er ſah die Sonne, ſeinem Begriff nach, in Weſten aufgehen, ſie ruͤckte gegen Norden in die Hoͤhe und ging des Abends in Oſten unter. Das wollte ihm gar nicht in den Kopf; und doch hatte er ſo viel von der Aſtronomie und Geographie begriffen, daß er wohl wußte, die Zellberger und Tiefenbacher Sonne ſey eben dieſelbe, die auch zu Dorlingenleuchte. Dieſer ſeltſame Vorfall ver - ruͤckte ihm ſein Concept, und jetzt wuͤnſchte er von Herzen, ſeines Oheims Johann Compas zu haben, um zu ſehen, ob auch die Magnetnadel mit der Sonne einig ſey, ihn zu betruͤgen. Er fand zwar endlich die Urſache dieſer Erſchei - nung; er war den vorigen Abend ſpaͤt angekommen und hatte die allmaͤhlige Kruͤmmung des Thals nicht bemerkt. Allein er konnte doch ſeine Einbildung nicht bemeiſtern; alle Ausſich - ten in die rohen und oͤden Gegenden kamen ihm auch aus die - ſem Grunde traurig und fatal vor.
Steifmann war reich, er hatte viel Geld, Guͤter, Och - ſen, Kuͤhe, Schafe, Ziegen und Schweine, dazu ſeine Stahl - fabrik, worin Waaren verfertigt wurden, mit denen er Hand - lung trieb. Er hatte jetzt nur erſt die zweite Frau, hernach aber hat er die dritte oder wohl gar die vierte geheirathet; das Gluͤck war ihm ſo guͤnſtig, daß er verſchiedene Frauen nach einander nehmen konnte, wenigſtens ſchien ihm das Ster - ben und Wiedernehmen der Weiber eine beſondere Beluſtigung zu ſeyn. Die jetzige Frau war ein gutes Schaf, ihr Mann redete oft gar erbaulich mit ihr von den Tugenden ſeiner erſten Frau, ſo daß ſie aus großer Empfindung des Herzens oft blutige Thraͤnen weinte. Sonſt war er gar nicht zum Zorn124 aufgelegt; er redete nicht viel, was er aber ſagte, das war von Gewicht und Nachdruck, weil es gemeiniglich Jemand, der gegenwaͤrtig war, beleidigte. Er ließ ſich auch anfaͤng - lich mit ſeinem neuen Schulmeiſter in Geſpraͤche ein, allein er gefiel ihm nicht. Von allem, was Stilling gewohnt war zu reden, verſtand er nicht Ein Wort, eben ſo wenig, als Stilling begriff, wovon ſein Patron redete. Daher ſchwiegen ſie Beide, wenn ſie beiſammen waren.
Des folgenden Montags Morgens ging die Schule an; Steifmanns drei Knaben machten den Anfang. Vor und nach fanden ſich bei achtzehn große vierſchroͤtige Jungens ein, die ſich gegen ihren Schulmeiſter verhielten, wie ſo viel Pa - tagonier gegen Einen Franzoſen. Zehn bis zwoͤlf Maͤdchen von eben dem Schrot und Korn kamen auch und ſetzten ſich hinter den Tiſch. Stilling wußte nicht recht, was er mit dieſem Volk anfangen ſollte. Ihm war bang vor ſo vielen wilden Geſichtern; doch verſuchte er die gewoͤhnliche Schul - methode und ließ ſie beten, ſingen, leſen und den Catechismus lernen.
Dieſes ging ungefaͤhr vierzehn Tage ſeinen ordentlichen Gang; allein nun war es auch geſchehen, ein oder anderer Koſacken - aͤhnlicher Junge verſuchte es, den Schulmeiſter zu necken. Stilling brauchte den Stock rechtſchaffen, aber mit ſo wi - drigem Erfolg, daß, wenn er ſich muͤde auf dem ſtarken Buckel zerdroſchen hatte, der Schuͤler aus vollem Hals lachte, der Schulmeiſter aber weinte. Das war dann dem Herrn Steif - mann ſo ſeine liebſte Beluſtigung; wenn er in dem Schul - ſtuͤbchen Laͤrmen hoͤrte, ſo kam er, that die Thuͤre auf und er - goͤtzte ſich von Herzen.
Dieſes Verfahren gab Stillingen den letzten Stoß. Seine Schule wurde zum polniſchen Reichstag, wo ein Jeder that, was ihm recht daͤuchte. So wie nun der arme Schulmeiſter in der Schule alles gebrannte Herzeleid ausſtand, ſo hatte er auch außer derſelben keine frohe Stunde. Buͤcher fand er wenig, nur eine große Baſeler Bibel, deren Holzſchnitte er durch und durch wohl ſtudirte, auch wohl darin las, wiewohl er ſie oft durchgeleſen hatte. Zions Lehr’ und Wunder125 von Doktor Mel, nebſt noch einigen alten Poſtillen und Ge - ſangbuͤchern ſtanden auf der Kleiderkammer auf einem Brett in guter Ruhe, und waren wohl, ſeitdem ſie Herr Steifmann geerbt hatte, wenig gebraucht worden. In dem Hauſe ſelbſt war ihm Niemand hold, Alle ſahen ihn fuͤr einen einfaͤltigen dummen Knaben an; denn ihre niedertraͤchtigen, ironiſch-zoti - gen und zweideutigen Reden verſtand er nicht, er antwortete immer gutherzig, wie ers meinte nach dem Sinn der Worte, ſuchte uͤberhaupt einen Jeden mit Liebe zu gewinnen, und die - ſes war eben der gerade Weg, eines Jeden Schuhputzer zu werden.
Doch trug ſich einsmalen etwas zu, das ihn leicht das Le - ben haͤtte koſten koͤnnen, wenn ihn der guͤtige Vater der Men - ſchen nicht ſonderlich bewahrt haͤtte. Er mußte ſich des Mor - gens ſelbſt Feuer in den Ofen machen; als er nun einmal kein Holz fand, ſo wollte er ſich etwas holen; nun war uͤber der Kuͤche her eine Rauchkammer, wo man das Fleiſch raͤu - cherte und zugleich das Holz trocknete. Die Dreſchtenne ſtieß an die Kuͤche, und von dieſer Tenne ging eine Treppe nach der Rauchkammer. Es waren juſt ſechs Tagloͤhner beim Dreſchen. Heiurich lief die Treppe hinauf, machte die Thuͤre auf, aus welcher der Rauch wie eine dicke Wolke herauszog; er ließ die Thuͤre offen, that einen Sprung nach dem Holz, ergriff etliche Stuͤcke, indeſſen wirbelte einer von den Dreſchern auswendig die Thuͤre zu. Der arme Stilling gerieth in To - desangſt, der Rauch erſtickte ihn, es war ſtockfinſter da, er wurde irre und wußte nicht mehr, wo die Thuͤre war. In dieſem erſchrecklichen Zuſtand that er einen Sprung gegen die Wand, und traf juſt gerade gegen die Thuͤr, dergeſtalt, daß der Wirbel zerbrach und die Thuͤre aufſprang. Stilling ſtuͤrzte die Teppe herunter bis auf die Tenne, wo er betaͤubt und ſinnlos hingeſtreckt lag. Als er wieder zu ſich ſelbſt kam, ſah er die Dreſcher nebſt Herrn Steifmann um ſich ſtehen und aus vollem Halſe lachen. Des ſollte doch der T ..... nichtlachen! ſagte Steifmann. Dieſes ging Stillin - gen durch die Seele. Ja! antwortete er, der lacht wirk - lich, daß er endlich einmal ſeinesgleichen gefun -126 den hat. Das gefiel ſeinem Patron außerordentlich, und er pflegte wohl zu ſagen: das ſey das erſte und auch das letzte geſcheidte Wort geweſen, das er von ſeinem Schulmei - ſter gehoͤrt habe.
Das Beſte indeſſen bei der Sache war, daß Stilling keinen Schaden genommen hatte: er uͤberließ ſich gaͤnzlich der Wehmuth, weinte ſich die Augen roth, und erlangte weiter nichts dadurch, als Spott. So traurig ging ſeine Zeit vor - uͤber, und ſeine Wonne am Schulhalten wurde ihm haͤßlich verſalzen.
Sein Vater Wilhelm Stilling war indeſſen zu Haus mit angenehmeren Sachen beſchaͤftigt. Die Wunde uͤber Dortchens Tod war heil, er erinnerte ſich allezeit mit Zaͤrt - lichkeit an ſie; allein er trauerte nicht mehr, ſie war nun vier - zehn Jahre todt, und ſeine ſtrenge myſtiſche Denkungsart mil - derte ſich in ſo weit, daß er jetzt mit allen Menſchen Umgang pflog, doch war alles mit freundlichem Ernſt, Gottesfurcht und Rechtſchaffenheit vermiſcht, ſo daß er Vater Stilling aͤhnlicher wurde, als eins ſeiner Kinder. Er wuͤnſchte nun auch einmal Hausvater zu werden, eigenes Haus und Hof zu haben und den Ackerbau neben ſeinem Handwerk zu treiben; deßwegen ſuchte er ſich jetzt eine Frau, die neben den noͤthi - gen Eigenſchaften, Leibes und der Seele, auch Haus und Guͤ - ter haͤtte; er fand bald, was er ſuchte. Zu Leindorf, zwei Stunden von Tiefenbach weſtwaͤrts, war eine Wittwe von acht und zwanzig Jahren, eine anſehnliche brave Frau; ſie hatte zwei Kinder aus der erſten Ehe, wovon aber eins bald nach ihrer Hochzeit ſtarb. Dieſe war recht froh, als ſie Wil - helm begehrte, ob er gleich gebrechliche Fuͤße hatte. Die Hei - rath wurde geſchloſſen, der Hochzeittag beſtimmt und Hein - rich bekam einen Brief nach Dorlingen, der in den waͤrm - ſten und zaͤrtlichſten Ausdruͤcken, deren ſich nur ein Vater gegen ſeinen Sohn bedienen kann, ihm die Sache bekannt machte, und ihn auf den beſtimmten Tag zur Hochzeit einlud. Hein - rich las dieſen Brief, legte ihn hin, ſtand auf und bedachte ſich, er mußte ſich erſt tief pruͤfen, ehe er finden konnte, ob ihm wohl oder wehe dabei ward; ſo ganz verſchiedene Empfindun -127 gen ſtiegen in ſeinem Gemuͤth auf. Endlich ſchritt er ein Paar - mal vor ſich hin und ſagte zu ſich ſelbſt: Meine Mutter iſt im Himmel, mag dieſe einſtweilen in dieſem Jammerthal bei mir und meinem Vater ihre Stelle vertreten. Dereinſten werde ich doch dieſe verlaſſen und jene ſuchen. Mein Vater thut wohl! — Ich will ſie doch recht lieb haben und ihr allen Willen thun, ſo gut ich kann, ſo wird ſie mich wieder lieben, und ich werde Freude haben.
Nun machte er Steifmann die Sache bekannt, forderte etwas Geld und reiste nach Tiefenbach zuruͤck. Er wurde daſelbſt von Allen mit tauſend Freuden empfangen, beſonders von Wilhelm, dieſer hatte ein wenig gezweifelt, ob ſein Sohn auch murren wuͤrde; da er ihn aber ſo heiter kommen ſah, floßen ihm die Thraͤnen aus den Augen, er ſprang auf ihn zu und ſagte:
Willkommen, Heinrich!
„ Willkommen, Vater! ich wuͤnſche Euch von Herzen Gluͤck zu Eurem Vorhaben, und ich freue mich ſehr, daß Ihr nun in Eurem Alter Troſt haben koͤnnt, wenn’s Gott gefaͤllt. “
Wilhelm ſank auf einen Stuhl, hielt beide Haͤnde vor’s Geſicht und weinte. Heinrich weinte auch. Endlich fing Wilhelm an: Du weißt, ich hab’ mir in meinem Wittwer - ſtand fuͤnfhundert Reichsthaler erſpart; ich bin nun vierzig Jahre alt, und ich haͤtte vielleicht noch Vieles erſparen koͤnnen, dieſes alles entgeht dir nun; du waͤrſt doch der einzige Erbe davon geweſen!
„ Vater, ich kann ſterben, ihr koͤnnt ſterben, wir Beide koͤn - nen noch lange leben, ihr koͤnnt kraͤnklich werden und mit Eu - rem Gelde nicht einmal auskommen. Aber, Vater! iſt meine neue Mutter meiner ſeligen Mutter aͤhnlich? “
Wilhelm hielt wiederum die Haͤnde vor die Augen. Nein! ſagte er, aber ſie iſt eine brave Frau.
Auch gut, ſagte Heinrich und ſtand an’s Fenſter, um noch einmal ſeine alten romantiſchen Gegenden zu ſchauen. Es lag kein Schnee. Die Ausſicht in den nahen Wald kam128 ihm ſo angenehm vor, ob es gleich in den letzten Tagen des Februars war, daß er beſchloß, hinzuſpazieren; er ging den Berg hinauf und in den Wald hinein. Nachdem er eine Weile umhergewandelt und ſich ziemlich von den Haͤuſern entfernt hatte, wurde es ihm ſo wohl in ſeiner Seele, er vergaß der ganzen Welt und wandelte, in Gedanken vertieft, vor ſich hin; indeſſen kam er unvermerkt an die Weſtſeite des Geiſenber - ger Schloſſes. Schon ſah er zwiſchen den Staͤmmen der Baͤume durch auf dem Huͤgel die zerfallenen Mauern liegen. Das uͤber - raſchte ihn ein wenig. Nun rauſchte Etwas zur Seite im Ge - ſtraͤuche, er ſchaute hin und ſah ein anmuthiges Weibsbild in demſelben ſtehen, blaß, aber zaͤrtlich im Geſicht, in Leine und Baumwolle gekleidet. Er ſchauderte und das Herz klopfte ihm; da es aber noch fruͤh am Tage war, ſo fuͤrchtete er ſich nicht, ſondern fragte: Wo ſeyd ihr her? Sie antwortete: von Tie - fenbach. Das kam ihm fremd vor, denn er kannte ſie nicht. Wie heißt ihr denn? — Dortchen. Stilling that einen lauten Schrei und ſank zur Erde in Ohnmacht. Das gute Maͤd - chen wußte nicht, wie ihr geſchah, ſie kannte den jungen Bur - ſchen auch nicht. Denn ſie war erſt als Magd aufs Neujahr nach Tiefenbach[gekommen]. Sie lief zu ihm, kniete bei ihm auf die Erde und weinte. Sie verwunderte ſich ſehr uͤber den jungen Menſchen, beſonders, da er ſo weiche Haͤnde und ein ſo weißes Geſicht hatte: auch waren ſeine Kleider reiner und ſauberer, auch wohl ein wenig beſſer, als die der andern Burſchen. Der Fremde gefiel ihr. Indeſſen kam Stilling wieder zu ſich ſelber, er ſah die Weibsperſon nahe bei ſich, er richtete ſich auf, ſah ſie ſtarr an und fragte zaͤrtlich: was macht ihr hier? Sie antwortete ſehr freundlich; ich will duͤr - res Holz leſen. Wo ſeyd ihr her? Er erwiederte: ich bin auch von Tiefenbach: Wilhelm Stilling’s Sohn. Nun hoͤrte er, daß ſie ſeit Neujahr erſt Magd daſelbſt war; und ſie hoͤrte ſeine Umſtaͤnde, es that Beiden leid, daß ſie ſich verlaſſen mußten. Stilling ſpazierte nach dem Schloß und ſie las Holz. Es hat wohl zwei Jahre gedauert, eh das Bild dieſes Maͤdchens in ſeinem Herzen verloſch, ſo feſt hatte es ſich ſeiner Seele eingepraͤgt. Als die Sonne ſich zum Unter -129 gang neigte, ging er wieder nach Haus; er erzaͤhlte aber nichts von dem, was vorgefallen war, nicht ſo ſehr aus Ver - ſchwiegenheit, ſondern aus andern Urſachen.
Des andern Tages ging er mit ſeinem Vater und andern Freunden nach Leindorf zur Hochzeit; ſeine Stiefmutter empfing ihn mit aller Zaͤrtlichkeit; er gewann ſie lieb und ſie liebte ihn wieder; Wilhelm freute ſich deſſen von Herzen. Nun erzaͤhlte er auch ſeinen Eltern, wie betruͤbt es ihm zu Dorlingen ging. Die Mutter rieth, er ſollte zu Haus bleiben und nicht wieder hingehen; allein Wilhelm ſagte: „ Wir haben noch immer Wort gehalten, es darf an dir nicht fehlen; thun’s andere Leute nicht, ſo muͤſſen ſie’s verantwor - ten; du mußt aber deine Zeit aushalten. “ Dieſes war Stil - lingen auch nicht ſehr zuwider. Des andern Morgens reiste er wieder nach Dorlingen. Allein ſeine Schuͤler kamen nicht wieder; das Fruͤhjahr ruͤckte heran und ein Jeder begab ſich aufs Feld. Da er nun nichts zu thun hatte, ſo wies man ihm veraͤchtliche Dienſte an, ſo, daß ihm ſein taͤgliches Brod recht ſauer wurde.
Noch vor Oſtern, ehe er abreiste, hatten Steifmanns Knechte beſchloſſen, ihn recht trunken zu machen, um ſo recht ihre Freude an ihm zu haben. Als ſie des Sonntags aus der Kirche kamen, ſagte einer zum andern: laßt uns ein wenig waͤrmen, ehe wir uns auf den Weg begeben; denn es war kalt und ſie hatten eine Stunde zu gehen. Nun war Stil - ling gewohnt, in Geſellſchaft nach Haus zu gehen; er trat deßwegen mit hinein und ſetzte ſich zu dem Ofen. Nun gings ans Branntweintrinken, der mit einem Syrup verſuͤßt war; der Schulmeiſter mußte mittrinken; er merkte bald, wo das hinaus wollte, daher nahm er den Mund voll, ſpie ihn aber unvermerkt wieder aus, unter den Ofen ins Steinkohlengefaͤß. Die Knechte bekamen alſo zuerſt einen Rauſch, und nun merkten ſie nicht mehr auf den Schulmeiſter, ſondern ſie be - trunken ſich ſelbſt aufs beſte; unter dieſen Umſtaͤnden ſuchten ſie endlich Urſache an Stilling, um ihn zu ſchlagen, und kaum entkam er aus ihren Haͤnden. Er bezahlte ſeinen An -Stillings Schriften. I. Band. 9130theil an der Zeche und ging heimlich fort. Als er nach Haus kam, erzaͤhlte er Herrn Steifmann den Vorfall; allein der lachte daruͤber. Man ſah ihm an, daß er den mißlungenen Anſchlag bedauerte. Die Knechte wurden nun vollends wuͤthend und ſuchten allerhand Gelegenheit, ihm eins zu verſetzen; allein Gott bewahrte ihn. Noch zwei Tage vor ſeiner Abreiſe traf ihn ein Bauernſohn aus dem Dorf auf dem Feld, der auch bei der Branntweinszeche geweſen; dieſer griff ihn am Kopf und rang mit ihm, ihn zur Erde zu werfen; es war aber zu gutem Gluͤck ein alter Greis nahe dabei im Hof, dieſer kam herzu und fragte: was ihm der Schulmeiſter gethan habe? Der Burſche antwortete: Er hat mir nichts gethan, ich will ihm nur ein Paar um die Ohren geben. Der alte Bauer aber ergriff ihn und ſagte gegen Stilling: geh’ du nach Haus! Und darauf gab er jenem einige derbe Maulſchellen und verſetzte: nun geh du auch nach Haus, das hab’ ich nur ſo fuͤr Spaß gethan.
Den zweiten Oſtertag nahm Stilling ſeinen Abſchied zu Dorlingen, und des Abends kam er wieder bei ſeinen Eltern zu Leindorf an.
Nun war er in ſo weit wieder in ſeinem Element, er mußte freilich wacker auf dem Handwerk arbeiten; allein er wußte doch nun wieder Gelegenheit, an Buͤcher zu kommen. Den erſten Sonntag ging er nach Zellberg und holte den Ho - mer, und wo er ſonſt etwas wußte, das nach ſeinem Geſchmack ſchoͤn zu leſen war, das holte er herbei, ſo daß in Kurzem das Brett uͤber den Fenſtern her, wo ſonſt allerhand Geraͤthe geſtan - den hatte, ganz voll Buͤcher ſtand. Wilhelm war deſſen ſo gewohnt, er ſah es gern; allein der Mutter waren ſie zuwei - len im Wege, ſo, daß ſie fragte: Heinrich, was willſt du mit allen den Buͤchern machen? Er las alſo des Sonntags und waͤhrend dem Eſſen; ſeine Mutter ſchuͤttelte dann oft den Kopf und ſagte: das iſt doch ein wunderlicher Junge; — Wil - helm laͤchelte dann ſo auf Stillings Weiſe und ſagte: Gretchen, laß ihn halt machen! —
Nach einigen Wochen fing nun die ſchwerſte Feldarbeit an. Wilhelm mußte darin ſeinen Sohn auch brauchen, wenn er keinen Tagloͤhner an ſeine Stelle nehmen wollte, und damit131 wuͤrde die Mutter nicht zufrieden geweſen ſeyn, allein dieſer Zeitpunkt war der Anfang von Stillings ſchwerem Leiden; er war zwar ordentlich groß und ſtark, aber von Jugend auf nicht dazu gewoͤhnt, und er hatte kein Glied an ſich, das zu dergleichen Geſchaͤften gemacht war. Sobald er anfing zu Hacken oder zu Maͤhen, ſo zogen ſich alle ſeine Glieder an dem Werkzeug, als wenn ſie haͤtten zerbrechen wollen; er meinte oft vor Muͤdigkeit und Schmerzen niederzuſinken, aber da half alles nichts; Wilhelm fuͤrchtete Verdruß im Hauſe und ſeine Frau glaubte immer, Heinrich wuͤrde ſich nach und nach daran gewoͤhnen. Dieſe Lebensart wurde ihm endlich unertraͤglich, er freute ſich nunmehr, wenn er zuweilen an einem regnigten Tag am Handwerk ſitzen und ſeine zerkuirſchten Glie - der erquicken konnte; er ſeufzte unter dieſem Joch, ging oft allein, weinte die bitterſten Thraͤnen und flehte zum himmli - ſchen Vater um Erbarmung und um Aenderung ſeines Zuſtandes.
Wilhelm litt heimlich mit ihm. Wenn er des Abends mit geſchwollenen Haͤnden voller Blaſen nach Haus kam, und von Muͤdigkeit zitterte, ſo ſeufzte ſein Vater und Beide ſehnten ſich mit Schmerzen wieder nach einem Schuldienſt. Dieſer fand ſich auch endlich nach einem ſehr ſchweren und muͤhſeligen Sommer ein. Die Leindorfer, wo Wilhelm wohnte, beriefen ihn auf Michaelis 1756 zu ihrem Schulmeiſter. Stilling willigte in dieſen Beruf mit Freuden; er war nun gluͤckſelig und trat mit ſeinem ſiebenzehnten Jahr dieſes Amt wieder an. Er ſpeiste bei ſeinen Bauern um die Reihe, vor und nach der Schule aber mußte er ſeinem Vater am Hand - werk helfen. Auf dieſe Weiſe blieb ihm keine Zeit zum Stu - diren uͤbrig, als nur, wenn er in der Schule war, und da war der Ort nicht, um ſelber zu leſen, ſondern Andre zu unterrich - ten. Doch ſtahl er manche Stunde, die er auf die Mathematik und andere Kuͤnſteleien verwandte. Wilhelm merkte das, er ſtellte ihn daruͤber zu Rede und ſchaͤrfte ihm das Gewiſſen. Stilling antwortete mit betruͤbtem Herzen: „ Vater! meine „ ganze Seele iſt auf die Buͤcher gerichtet, ich kann meine Nei - „ gung nicht baͤndigen, gebt mir vor und nach der Schule Zeit, „ ſo will ich kein Buch in die Schule bringen. “Wilhelm9 *132erwiederte: das iſt doch zu beklagen! alles, was du lernſt, bringt dir ja in Brod und Kleider ein, und alles, was dich ernaͤhren koͤnnte, dazu biſt du ungeſchickt. Stilling be - trauerte ſelber ſeinen Zuſtand, denn das Schulhalten war ihm auch zur Laſt, wenn er dabei keine Zeit zum Leſen hatte; er ſehnte ſich deßwegen von ſeinem Vater ab und an einen andern Ort zu kommen.
Zu Leindorf waren indeſſen die Leute ziemlich mit ihm zufrieden, obgleich ihre Kinder in der Zeit mehr haͤtten lernen koͤnnen: denn ſein Weſen und ſein Umgang mit den Kindern gefiel ihnen. Auch der Herr Paſtor Dahlheim, zu deſſen Kirchſpiel Leindorf gehoͤrte, ein Mann, der ſeinem Amt Ehre machte, liebte ihn. Stilling wunderte ſich uͤber die Maßen, als er das Erſtemal bei dieſem vortrefflichen Mann auf ſein Zimmer kam; er war ein Greis von achtzig Jahren und lag juſt auf einem Ruhebettchen, als er zur Thuͤre herein - trat; er ſprang auf, bot ihm die Hand und ſagte: „ Nehmt „ mir nicht uͤbel, Schulmeiſter! daß ihr mich auf dem Bette „ findet, ich bin alt und meine Kraͤfte wanken. “ Stilling wurde von Ehrfurcht durchdrungen, ihm floßen die Thraͤnen die Wangen herab. Herr Paſtor! antwortete er, es freut mich recht ſehr, unter ihrer Aufſicht Schule zu halten! Gott gebe Ihnen viel Freude und Segen in Ihrem Alter! „ Ich danke euch, lieber Schulmeiſter! erwiederte der edle Alte, ich bin, Gott ſey Dank! nahe an dem Ziel meiner Laufbahn, und ich freue mich recht auf meinen großen Sabbath. “ Stilling ging nach Haus und unterwegs machte er die beſondere An - merkung: Herr Dahlheim muͤßte entweder ein Apoſtel oder Herr Stollbein ein Baalspfaffe ſeyn.
Herr Dahlheim beſuchte zuweilen die Leindorfer Schule, wenn er auch dann eben nicht alles in gehoͤriger Ordnung fand, ſo fuhr er nicht aus, wie Herr Stollbein, ſondern er ermahnte Stillingen ganz liebreich, dieſes oder jenes abzuaͤndern; und das that bei einem ſo empfindſamen Gemuͤth immer die beſte Wirkung. Dieſe Behandlung des Herrn Paſtors war wirklich zu bewundern, denn er war ein jaͤhzorniger, hitziger Mann, aber nur gegen die Laſter, nicht gegen die Fehler; dabei war er auch gar nicht133 herrſchſuͤchtig. Um den Charakter dieſes Mannes meinen Leſern zu ſchildern, will ich eine Geſchichte erzaͤhlen, die ſich mit ihm zugetragen hat, als er noch Hofprediger bei einem Fuͤrſten zu R … geweſen war. Dieſer Fuͤrſt hatte eine vortreffliche Ge - mahlin und mit derſelben auch verſchiedene Prinzeſſinnen; den - noch verliebte er ſich in eine Buͤrgerstochter in ſeiner Reſidenz - ſtadt, bei welcher er, ſeiner Gemahlin zum hoͤchſten Leidweſen, ganze Naͤchte zubrachte. Dahlheim konnte das ungeahndet nicht hingehen laſſen; er fing auf der Kanzel an, unvermerkt dagegen zu predigen, doch fuͤhlte der Fuͤrſt wohl, wohin der Hofprediger zielte, daher blieb er aus der Kirche und fuhr waͤhrend der Zeit auf ſein Luſtſchloß in den Thiergarten. Eins - mals kam Dahlheim und wollte in die Kirche gehen zu pre - digen, er traf den Fuͤrſten juſt auf dem Platz, als er in die Kutſche ſteigen wollte; der Hofprediger trat herzu und fragte: wo gedenken Euer Durchlaucht hin? Was liegt dir, Pfaff daran? war die Antwort. Sehr viel! verſetzte Dahlheim, und ging in die Kirche, allwo er mit trockenen Worten gegen die Ausſchweifungen der Großen dieſer Welt anging, und ein Weh uͤber das andere gegen ſie ausrief. Nun war die Fuͤr - ſtin in der Kirche, ſie ließ ihn zur Mittagstafel bitten, er kam, und ſie bedauerte ſeine Freimuͤthigkeit und befuͤrchtete uͤble Fol - gen. Indeſſen kam der Fuͤrſt wieder, fuhr aber auch alſofort wieder in die Stadt zu ſeiner Maitreſſe, welche zum Ungluͤck auch in der Hofkapelle geweſen war, und Herrn Dahlheim gehoͤrt hatte. Sowohl der Hofprediger, als auch die Fuͤrſtin hatten ſie geſehen, ſie konnten leicht das Gewitter vorausſe - hen, welches Herrn Dahlheim uͤber dem Haupt ſchwebte: dieſer aber kehrte ſich an nichts, ſondern ſagte der Fuͤrſtin, daß er alſofort hingehen und dem Fuͤrſten die Wahrheit ins Geſicht ſagen wollte, er ließ ſich auch gar nicht warnen, ſondern ging alſofort hin und gerade zum Fuͤrſten ins Zimmer. Als er hineintrat, ſtutzte derſelbe und fragte: was habt Ihr hier zu machen? Dahlheim antwortete: „ Ich bin gekommen, Ew. „ Durchlaucht Segen und Fluch vorzulegen, werden Die - „ ſelben dieſem ungeziemenden Leben nicht abſa - „ gen, ſo wird der Fluch Dero hohes Haus und134 „ Familie treffen, und Stadt und Land werden „ Fremde erben. “ Darauf ging er fort, und des folgen - den Tages wurde er abgeſetzt und des Landes verwieſen. Doch hatte der Fuͤrſt hiebei keine Ruhe, denn nach zwei Jahren rief er ihn mit Ehren wieder zuruͤck und gab ihm die beſte Pfarre, die er in ſeinem Lande hatte. Dahlheims Weiſſa - gung wurde indeſſen erfuͤllt. Schon vor mehr als vierzig Jah - ren iſt kein Zweig mehr von dieſem fuͤrſtlichen Hauſe uͤbrig geweſen. Doch ich kehre wieder zu meiner Geſchichte.
Stilling konnte mit aller ſeiner Gutherzigkeit doch nicht verhuͤten, daß ſich nicht Leute fanden, denen er in der Schule zu viel in Buͤchern las, es gab ein Gemurmel im Dorf, und viele vermutheten, daß die Kinder verſaͤumt wuͤrden. Ganz unrecht hatten die Leute wohl nicht, aber doch auch nicht ganz recht; denn er ſorgte noch ſo ziemlich, daß auch der Zweck, warum er da war, erreicht wurde. Es kam freilich den Bauern ſeltſam vor, ſo unerhoͤrte Figuren an den Schulfenſtern zu ſehen, wie ſeine Sonnenuhren waren. Oftmalen ſtanden zwei und mehrere auf der Straße ſtill und ſahen ihn am Fenſter durch ein Glaͤschen nach der Sonne gucken; da ſagte dann der Eine: der Kerl iſt nicht geſcheit! — der Andere vermuthete, er betrachte den Himmelslauf, und Beide irrten ſehr; es wa - ren nur Stuͤcke zerbrochener Fuͤße von Branntweinglaͤſern. Dieſe hielt er vors Auge und betrachtete gegen die Sonne die herrlichen Farben in ihren mancherlei Geſtalten, welches ihn, nicht ohne Urſache, koͤniglich ergoͤtzte.
Dieſes Jahr ging nun wiederum ſo ſeinen Gang fort; Hand - werksgeſchaͤfte, Schulhalten und verſtohlne Leſeſtunden hatten darinnen beſtaͤndig abgewechſelt, bis er, kurz vor Michaelis, da er eben ſein achtzehntes Jahr angetreten hatte, einen Brief von Herrn Paſtor Goldmann empfing, der ihm eine ſchoͤne Schule an einer Kapelle zu Preiſingen antrug. Dieſes Dorf liegt zwei Stunden ſuͤdwaͤrts von Leindorf ab, in einem herrlichen breiten Thal. Stilling wurde uͤber dieſen Brief entzuͤckt, daß er ſich nicht zu faſſen wußte; ſein Vater und ſeine Mutter ſelber freuten ſich uͤber die Maßen. Stil - ling dankte Herrn Goldmann ſchriftlich fuͤr dieſe vortreff -135 liche Recommendation und verſprach ihm Freude zu machen.
Dieſer Prediger war ein weitlaͤufiger Anverwandter des ſeligen Dortchens, mithin auch des jungen Stilling’s. Dieſe Urſache nebſt dem allgemeinen Ruf von ſeinen ſeltenen Gaben, hatten den braven Paſtor Goldmann bewogen, ihn der Preiſinger Gemeinde vorzuſchlagen. Er wanderte alſo auf Michaelis nach ſeiner neuen Beſtimmung. So wie er auf die Hoͤhe kam, ſah er das herrliche Thal vor ſich mit ſeinen breiten und gruͤnen Wieſen, gegenuͤber ein ſchoͤnes, gruͤnes Gebirge von lauter Waͤldern und Feldern. Mitten in der Ebene lag das Dorf Preiſingen rund und gedraͤngt zuſammen, die gruͤnen Obſtbaͤume und die weißen Haͤuſer dazwiſchen machten ein anmuthiges Anſehen. Gerad in der Mitte ragte der Kapellenthurm, mit blauen Schieferſteinen bedeckt und bekleidet, uͤber alles empor, und hinter dem Dorf her ſchimmerte das Fluͤßchen Saal im Glanz der Sonne. So brach er in Thraͤnen aus, ſetzte ſich eine Weile auf die Raſen nieder und ergoͤtzte ſich an der herrlichen Ausſicht. Hier fing er zuerſt an, ein Lied zu verſuchen, es gelang ihm auch ſo ziemlich, denn er hatte eine natuͤrliche Anlage dazu. Ich habe es unter ſeinen Papieren nachgeſucht, aber nicht fin - den koͤnnen.
Hier nahm er ſich nun feſt und unwiderruflich vor, Fleiß und Eifer auf die Schule zu verwenden, die uͤbrige Zeit aber in ſeinem mathematiſchen Studium fortzufahren. Als er die - ſen Bund mit ſich ſelber geſchloſſen hatte, ſo ſtand er auf und wanderte vollends nach Preiſingen hin.
Seine Wohnung wurde ihm bei einer reichen, vornehmen und dabei uͤber die Maßen dicken Wittwe angewieſen, die ſich Frau Schmoll naunte und zwei ſchoͤne ſittſame Toͤch - tern hatte, wovon die aͤlteſte Maria hieß, und zwanzig Jahre alt war; die andere aber hieß Anna, und war achtzehn Jahre alt. Beide Maͤdchen waren recht gute Kinder, ſo wie auch ihre Mutter. Sie lebten zuſammen wie Engel, in der edelſten Harmonie, und ſo zu ſagen, in einem Ueberfluß von Freuden und Vergnuͤgen, denn es fehlte ihnen nichts, und das wußten ſie auch zu nuͤtzen, daher brachten ſie auch ihre Zeit nebſt den136 Hausgeſchaͤften, mit Singen und allerhand erlaubten Ergoͤtz - lichkeiten zu. Stilling liebte zwar das Vergnuͤgen, allein die Unthaͤtigkeit des menſchlichen Geiſtes war ihm zuwider, daher konnte er nicht begreifen, daß die Leute keine Lange - weile hatten. Doch befand er ſich unvergleichlich in ihrer Geſellſchaft; wenn er ſich zuweilen in Betrachtung und Ge - ſchaͤften ermuͤdet hatte, ſo war es eine ſuͤße Erholung fuͤr ihn, mit ihnen umzugehen.
Stilling hatte noch an keine Frauenliebe gedacht; dieſe Leidenſchaft und das Heirathen war in ſeinen Augen Eins, und Jedes ohne das andere ein Graͤuel. Da er nun gewiß wußte, daß er keine von den Jungfern Schmoll heirathen konnte, indem keine weder einen Schneider, noch einen Schul - meiſter nehmen durfte, ſo unterdruͤckte er jeden Keim der Liebe, der ſo oft, beſonders zu Maria, in ſeinem Herzen aufbluͤ - hen wollte. Doch, was ſage ich von Unterdruͤcken! wer ver - mag das aus eigener Kraft? Stillings Engel, der ihn lei - tete, kehrte die Pfeile von ihm ab, die auf ihn geſchoſſen wurden. Die beiden Schweſtern dachten indeſſen ganz anders; der Schulmeiſter gefiel ihnen im Herzen, er war in ſeiner erſten Bluͤthe, voll Feuer und Empfindung; denn ob er gleich ernſt und ſtill war, ſo gab es doch Augenblicke, wo ſein Licht aus allen Winkeln des Herzens hervorglaͤnzte; dann breitete ſich ſein Geiſt aus, er floß uͤber von mittheilender, heiterer Freude, und dann war’s gut ſeyn in ſeiner Gegenwart. Aber es gibt der Geiſter wenig, die da empfinden koͤnnen; es iſt ſo etwas Geiſtiges und Erhabenes, von roher laͤrmender Freude ſo Entferntes, daß die Wenigſten begreifen werden, was ich hier ſagen will. Frau Schmoll und ihre Toͤchtern indeſſen fuͤhlten’s und empfanden’s in aller ſeiner Kraft. Andere Leute, von gemeinem Schlag, ſaßen dann oft und horchten; der Eine rief: Paule, du raſeſt! der Andere ſaß und ſtaunte, und der Dritte glaubte, er ſey nicht recht geſcheit. Die beiden Maͤdchen ruhten dann dort in einem dunkeln Winkel, um ihn ungeſtoͤrt beobachten zu koͤnnen, ſie ſchwiegen und hefteten ihre Augen auf ihn. Stilling merkte das mit tiefem Mit - leiden; allein er war feſt entſchloſſen, keinen Anlaß zu meh -137 rerem Ausbruch der Liebe zu geben. Sie waren Beide ſittſam und bloͤde, und deßwegen weit davon entfernt, ſich an ihn zu entdecken. Frau Schmoll ſaß dann, ſpielte mit ihrer ſchwarzen papiernen Schnupftabacksdoſe auf dem Schoos, und dachte nach, unter welche Sorte Menſchen der Schulmei - ſter wohl eigentlich gehoͤren moͤchte; fromm und brav war er in ihren Augen und recht gottesfuͤrchtig dazu; allein da er von allem redete, nur nicht von Sachen, womit Brod zu ver - dienen war, ſo ſagte ſie oft, wenn er zur Thuͤre hinaus ging: der arme Schelm, was will noch aus ihm werden! Das kann man nicht wiſſen, verſetzte denn wohl Maria zuweilen, ich glaube, er wird noch ein vornehmer Mann in der Welt. Die Mutter lachte und erwiederte oft: Gott laß es ihm wohl ge - hen! er iſt ein recht lieber Burſche; auf einmal wurden ihre Toͤchter lebendig.
Ich darf behaupten, daß Stilling die Preiſinger Schule nach Pflicht und Ordnung bediente; er ſuchte nun, bei reifern Jahren und Einſichten, ſeinen Ruhm in Unter - weiſung der Jugend zu befeſtigen. Allein es war Schade, daß es nicht aus natuͤrlicher Neigung herfloß. Wenn er eben ſowohl nur acht Stunden des Tages zum Schneiderhandwerk, als zum Schulamt haͤtte verwenden duͤrfen, ſo waͤre er ge - wiß noch lieber am Handwerk geblieben: denn das war fuͤr ihn ruhiger und nicht ſo vieler Verantwortung unterworfen. Um ſich nun die Schule angenehmer zu machen, erdachte er allerhand Mittel, wie er mit leichterer Muͤhe die Schuͤler zum Lernen aufmuntern moͤchte. Er fuͤhrte eine Rangordnung ein, die ſich auf die groͤßere Geſchicklichkeit bezog, er fand allerhand Wettſpiele im Schreiben, Leſen und Buchſtabiren; und da er ein großer Liebhaber vom Singen und der Muſik war, ſo ſuchte er ſchoͤne geiſtliche Lieder zuſammen, lernte ſelber die Muſiknoten mit leichter Muͤhe und fuͤhrte das vierſtimmige Singen ein. Dadurch wurde nun ganz Preiſingen voller Leben und Geſang. Des Abends vor dem Eſſen hielt er eine Rechenſtunde und nach derſelben eine Singſtunde. Wenn dann der Mond ſo ſtill und feierlich durch die Baͤume ſchim - merte, und die Sterne vom blauen Himmel herunter aͤugel -138 ten, ſo ging er mit ſeinen Saͤngern heraus an den Preiſin - ger Huͤgel, da ſetzten ſie ſich ins Dunkel und ſangen, daß es durch Berg und Thal erſcholl; dann gingen Mann, Weib und Kinder im Dorf vor die Thuͤr, ſtanden und horchten; ſie ſegneten ihren Schulmeiſter, gingen dann hinein, gaben ſich die Hand und legten ſich ſchlafen. Oft kam er mit ſei - nem Gefolge hinter Schmolls Haus in den Baumhof, und dann ſangen ſie ſauft und ſtill; entweder: Oduſuͤße Luſt! oder: Jeſus iſt mein Freudenlicht! oder: die Nacht iſt vor der Thuͤr! und was dergleichen ſchoͤne Lieder mehr waren: dann gingen die Maͤdchen ohne Licht oben auf ihre Kam - mer, ſetzten ſich hin und verſanken in Empfindung. Oft fand er ſie noch ſo ſitzen, wenn er nach Hauſe kam und ſchlafen gehen wollte; denn alle Kammern im Hauſe waren gemein - ſchaftlich, der Schulmeiſter hatte uͤberall freien Zutritt. Nie - mand war weniger ſorgfaͤltiger fuͤr ihre Toͤchtern, als Frau Schmoll; und ſie war gluͤckſelig, daß ſie es auch nicht noͤthig hatte. Wenn er dann Maria und Anna ſo in einem finſtern Winkel mit geſchloſſenen Augen fand, ſo gings ihm durchs Herz. Sie ſeufzte dann tief, druͤckte ihm die Hand und ſagte: Mir iſts wohl von Eurem Singen! Dann erwiederte er oft: Laßt uns fromm ſeyn, liebe Maͤdchen! im Himmel wollen wir erſt recht ſingen! und dann ging er fluͤchtig fort und legte ſich ſchlafen; er fuͤhlte wohl oft das Herz pochen, aber er hatte nicht Acht darauf. Ob die Maͤdchen mit dem Troſt auf jene Welt ſo voͤllig zufrieden geweſen, das laͤßt ſich nicht wohl ausmachen, weil ſie ſich nie daruͤber erklaͤrt haben.
Des Morgens vor der Schule und des Mittags vor und nach derſelben arbeitete er die Geographie und Wolf’s Anfangs - gruͤnde der Mathematik ganz durch; auch fand er Gelegenheit, ſeine Kenntniſſe in der Sonnenuhrkunſt noch hoͤher zu treiben, denn er hatte in der Schule, deren Fenſter eins gerade gegen Mittag ſtand, oben unter der Decke mit ſchwarzer Oelfarbe eine Sonnenuhr gemalt, ſo groß als die Decke war, in die - ſelbe hatte er die zwoͤlf himmliſchen Zeichen genau eingetragen und jedes in ſeine dreißig Grad eingetheilt; oben im Zenith der Uhr, oberhalb dem Fenſter, ſtand mit roͤmiſchen, zierlich139 gemalten Buchſtaben geſchrieben: Coeli enerrant gloriam Dei. (Die Himmel erzaͤhlen die Ehre Gottes.) Vor dem Fenſter war ein runder Spiegel befeſtigt, uͤber welchen eine Kreuzlinie mit Oelfarbe gezogen war; dieſer Spiegel ſtrahlte dann oben unter, und zeigte nicht allein die Stunden des Ta - ges, ſondern auch ganz genau den Stand der Sonne in dem Thierkreis. Vielleicht ſteht dieſe Uhr noch da, und jeder Schul - meiſter kann ſie benuͤtzen und dabei wahrnehmen, was fuͤr ei - nen Anteceſſor er ehemals gehabt habe.
Um dieſe Zeit hatte er im hiſtoriſchen Fache noch nichts ge - leſen, als Kirchenhiſtorien, Martergeſchichten, Lebensbeſchrei - bungen frommer Menſchen, deßgleichen auch alte Kriegshi - ſtorien vom dreißigjaͤhrigen Krieg und dergleichen. Im Poeti - ſchen fehlte es ihm noch, da war er noch immer nicht weiter gekommen, als vom Eulenſpiegel bis auf den Kaiſer Octa - vianus, den Reinike Fuchs mit eingeſchloſſen. Alle dieſe vortrefflichen Werke der alten Deutſchen hatte er wohl hun - dertmal geleſen und wieder Andern erzaͤhlt; er ſehnte ſich nun nach Neuem. Den Homer rechnete er nicht zu dieſer Lectuͤre, es war ihm um vaterlaͤndiſche Dichter zu thun. Stilling fand, was er ſuchte. Herr Paſtor Goldmann hatte einen Eidam, der ein Chirurgus und zugleich Apotheker war; die - ſer Mann hatte einen Vorrath von ſchoͤnen poetiſchen Schrif - ten, beſonders von Romanen; er lehnte ſie dem Schulmeiſter gern, und das erſte Buch, welches er mit nach Hauſe nahm, war die Aſiatiſche Baniſe.
Dieſes Buch fing er an einem Sonntag Nachmittag an zu leſen. Die Schreibart war ihm neu und fremd. Er glaubte in ein fremdes Land gekommen zu ſeyn und eine neue Sprache zu hoͤren, aber ſie entzuͤckte und ruͤhrte ihn bis auf den Grund ſeines Herzens; Blitz, Donner und Hagel, als die raͤchenden Werkzeuge des gerechten Himmels — war ein Ausdruck fuͤr ihn, deſſen Schoͤnheit er nicht genug zu ruͤhmen wußte. Goldbedeckte Thuͤrme — welche herr - liche Kuͤrze! und ſo bewunderte er das ganze Buch durch, die Menge von Metaphern, in welchen der Styl des Herrn von Ziegler gleichſam ſchwamm. Ueber alles aber ſchien140 ihm der Plan dieſes Romans ein Meiſterſtuͤck der Erdichtung zu ſeyn, und der Verfaſſer deſſelben war in ſeinen Augen der groͤßte Poet, den jemals Deutſchland hervorgebracht hatte. Als er im Leſen dahin kam, wo Balacin ſeine Baniſe im Tempel errettet und den Chaumigrem ermordet, ſo uͤberlief ihn der Schauer der Empfindung dergeſtalt, daß er fortlief, in einen geheimen Winkel niederkniete und Gott dankte, daß er doch endlich den Gottloſen ihren Lohn auf ihr Haupt bezahlte und die Unſchuld auf den Thron ſetzte. Er vergoß milde Thraͤnen und las mit eben der Waͤrme auch den zwei - ten Theil durch. Dieſer gefiel ihm noch beſſer; der Plan iſt verwickelter und im Ganzen mehr romantiſch. Darauf las er die zwei Quartbaͤnde von der Geſchichte des chriſtlichen deut - ſchen Großfuͤrſten Hercules und der koͤniglich boͤhmiſchen Prinzeſſin Valiska, und dieſes Buch gefiel ihm gleichfalls uͤber die Maßen; er las es im Sommer waͤhrend der Heu - erndte, als er einige Tage Ferien hatte, an einander ganz durch und vergaß die ganze Welt dabei. Was das fuͤr eine Gluͤckſeligkeit ſey, eine ſolche neue Schoͤpfung von Geſchichten zu leſen, gleichſam mit anzuſehen und alles mit den handeln - den Perſonen zu empfinden, das laͤßt ſich nur deneu ſagen, die ein Stillings-Herz haben.
Es war einmal eine Zeit, da man ſagte: der Hercules, die Baniſe und dergleichen, iſt das groͤßte Buch, das Deutſch - land hervorgebracht hat. Es war auch einmal eine Zeit, da mußten die Huͤte der Mannsperſonen dreieckigt hoch in die Luft ſtehen, je hoͤher, je ſchoͤner. Der Kopfputz der Weiber und Jungfrauen ſtand derweil in die Quere, je breiter, je beſ - ſer. Jetzt lacht man der Baniſe und des Hercules, eben ſo, wie man eines Hageſtolzen lacht, der noch mit hohem Hut, ſteifen Rockſtoͤßen und ellenlangen herabhaͤngenden Auf - ſchlaͤgen einhertritt. Anſtatt deſſen traͤgt man Huͤtchen, Roͤck - chen, Manſchettchen, liest Amonrettchen und bundſcheckigte Romaͤnchen, und wird unter der Hand ſo klein, daß man einen Mann aus dem vorigen Jahrhundert wie einen Rieſen anſieht, der von Grobheit ſtrotzt. Dank ſey’s vorab Klopſtock, und die Reihe herunter bis auf — daß ſie dem undeutſchen141 taͤndelnden Ton die Spitze geboten, und ihn auf die Neige gebracht haben. Es wird doch einmal eine Zeit kommen, wo man große Huͤte tragen, und alſo auch die Baniſe als eine herrliche Antiquitaͤt leſen wird.
Die Wirkungen dieſer Lectuͤre auf Stilling’s Geiſt waren wunderbar, und gewiß ungewoͤhnlich; es war Etwas in ihm, das ſeltene Schickſale in ſeinem eigenen Leben ahnete; er freute ſich auf die Zukunft, faßte Zutrauen zum lieben himm - liſchen Vater, und beſchloß großmuͤthig: ſo gerade zu, blind - lings dem Faden zu folgen, wie ihn ihm die weiſe Vorſicht in die Hand geben wuͤrde. Deßgleichen fuͤhlte er einen himm - liſchſuͤßen Trieb, in ſeinem Thun und Laſſen recht edel zu ſeyn, eben ſo, wie die Helden in gemeldeten Buͤchern vorgeſtellt wer - den. Er las dann mit einem empfindſam gemachten Herzen die Bibel und geiſtliche Lebensgeſchichten frommer Leute, als Gottfried Arnolds Leben der Altvaͤter; ſeine Kir - chen - und Ketzerhiſtorie und andere von der Art mehr. Dadurch erhielt nun ſein Geiſt eine hoͤchſt ſeltſame Richtung, die ſich mit nichts vergleichen und nicht beſchreiben laͤßt. Al - les, was er in der Natur ſah, jede Gegend idealiſirte er zum Paradies, alles war ihm ſchoͤn und die ganze Welt beinah ein Himmel. Boͤſe Menſchen rechnete er mit zu den Thieren, und was ſich halb gut auslegen ließ, das war nicht mehr boͤſe in ſeinen Augen. Ein Mund, der anders ſprach, als das Herz dachte, jede Ironie und jede Satyre war ihm ein Graͤuel, alle anderen Schwachheiten konnte er entſchuldigen.
Die Frau Schmoll lernte ihn auch immer mehr und mehr kennen, und ſo wuchs auch ihre Liebe zu ihm. Sie bedauerte nichts mehr, als daß er ein Schneider und Schulmeiſter war, beide Theile waren in ihren Augen ſchlechte Mittel, ans Brod zu kommen; ſie hatte auf ihre Weiſe ganz recht; Stilling wußte das ſo gut wie ſie; aber ſeine Nebengeſchaͤfte gefielen ihr eben ſo wenig, ſie ſagte wohl zuweilen im Scherz: Ent - weder der Schulmeiſter kommt noch einſt an meine Thuͤre und bettelt, oder kommt geritten und iſt zum Herrn geworden, ſo, daß wir uns tief vor ihm buͤcken muͤſſen. Dann praͤſentirte ſie ihm ihre142 Schnupftabaksdoſe, klopfte ihm auf die Schulter, und ſagte: Nehmt einmal ein Prischen, wir erleben noch etwas zuſam - men. Stilling laͤchelte dann, nahm’s und ſagte: Der Herr wird’s erſehen! Dieſes waͤhrte ſo fort, bis ins zweite Jahr ſeines Schulamts zu Preiſingen. Da fingen die beiden Maͤdchen an, ihre Liebe gegen den Schulmeiſter mehr und mehr zu aͤußern; Maria bekam Muth, ſich kla - rer zu entdecken, und die Hinderniſſe demſelben leichter zu machen; er fuͤhlte recht innig, daß er ſie lieben koͤnnte, aber ihm graute vor den Folgen; daher fuhr er fort, jedem Ge - danken an ſie zu widerſtehen, doch war er kmmer ins Geheim zaͤrtlich gegen ſie; es war ihm unmoͤglich, ſproͤde zu ſeyn. Anna ſah das und verzweifelte; ſie entdeckte ſich nicht, ſchwieg und verbiß ihren Gram. Stilling merkte aber da - von nichts, er ahnete nicht einmal etwas Verdrießliches, ſonſt wuͤrde er klug genug geweſen ſeyn, um ihr auch zaͤrtlich zu begegnen. Sie wurde ſtill und melancholiſch; niemand wußte, was ihr fehlte. Man ſuchte ihr allerhand Veraͤnde - rungen zu machen, aber alles war vergebens. Endlich wuͤnſchte ſie, ihre Tante zu beſuchen, die eine ſtarke Stunde von Prei - ſingen, nahe bei der Stadt Salen, wohnte. Man er - laubte ihr dieſes gern, und ſie ging mit einer Magd, welche deſſelbigen Abends wieder kam, und verſicherte, daß ſie ganz munter geworden ſey, als ſie zu ihrer Freundin gekommen waͤre. Nach einigen Tagen fing man an, ſie zu erwarten; allein ſie blieb aus, und man hoͤrte und ſah gar keine Nach - richt von da her. Die Frau Schmoll fing an zu ſorgen, ſie konnte nicht begreifen, wo das Maͤdchen bliebe; ſie fuhr alle - mal zuſammen, wenn des Abends die Thuͤr aufging, und fuͤrchtete eine Trauerpoſt zu hoͤren. Des folgenden Samſtags Mittags erſuchte ſie den Schulmeiſter, ihr Annchen wieder zu holen, er war nicht abgeneigt dazu, machte ſich fertig und ging fort.
Es war ſpaͤt im Oktober, die Sonne ſtand niedrig in Suͤ - den, an den Baͤumen hing noch da und dort ein gruͤnes Blatt, und ein kaͤltlicher Oſtwind pfiff in den blaͤtterloſen Birken. Er mußte uͤber eine große, lange Haide gehen; hier fuͤhlte143 er ſo etwas Schauderhaftes und Melancholiſches, er dachte an die Vergaͤnglichkeit aller Dinge; ihm war’s beim Abſchied der ſchoͤnen Natur, wie beim Abſchied einer lieben Freundin; allein ihn ſchreckte auch ein dunkles Ahnen, ſo, als wenn man beim Mondſchein an einem beruͤchtigten einſamen Orte vorbeigeht, wo man Geſpenſter vermuthet. Er ging und kam bei der Tante an. So wie er zur Thuͤre hereintrat, huͤpfte ihm Anna mit fliegenden Haaren und nachlaͤßigen Kleidern entgegen, huͤpfte ein paarmal um ihn herum, und ſagte:
„ Du biſt mein lieber Knabe! du liebſt mich aber nicht. „ Wart’ du! ſollſt auch kein Blumenſtraͤuschen haben! — So ein Straͤuschen — von Blumen, die an Felſen und Klippen wachſen, — ſo ein Feldkuͤmmelſtraͤuschen, das iſt fuͤr dich! “
Stilling erſtarrte, er ſtand da und ſagte kein Wort. Die Tante ſah ihn an und weinte, ſie aber huͤpfte und tanzte wie - der fort, und ſang:
Zwei Tage vorher war ſie des Abends vernuͤnftig und ge - ſund zu Bette gegangen, des Morgens aber war ſie eben ſo geweſen, wie ſie Stilling nun fand, Niemand konnte die Urſache errathen, woher dieſes Ungluͤck ſeinen Urſprung ge - nommen, der Schulmeiſter ſelber wußte ſie damals noch nicht, bis er ſie hernach aus ihren Reden erfahren hatte.
Die ehrliche Frau wollte beide heute nicht gehen laſſen, ſondern ſie erſuchte Stillingen, die Nacht da zu bleiben, und morgen mit der armen Nichte nach Haus zu gehen; er entſchloß ſich willig dazu und blieb da.
Des Abends, waͤhrend des Eſſens, ſaß ſie ganz ſtill am Tiſch, aß aber ſehr wenig. Stilling fragte ſie: Sage mir, Anna, ſchmeckt dir das Eſſen nicht? Sie antwortete: Ich habe gegeſſen, aber es bekommt mir nicht gut, — habe Herzweh! Sie ſah wild aus. Stille! fuhr der Schulmeiſter144 fort, du mußt ruhig ſeyn; du warſt ſonſt ein ſanftes, ruhi - ges Maͤdchen, wie iſt das, daß du dich ſo veraͤndert haſt? Du ſiehſt, die Tante weint uͤber dich, thut dir das nicht leid? Ich ſelber habe uͤber dich weinen muͤſſen, beſinne dich doch einmal! du warſt ſonſt nicht, wie du nun biſt, ei doch, wie du ſonſt warſt! Sie verſetzte: Hoͤre! ſoll ich dir ein fein Stuͤckchen erzaͤhlen?
„ Es war einmal eine alte Frau. “
Nun ſtand ſie auf, machte ſich krumm, nahm einen Stock in die Hand, ging in der Stube herum und machte die Figur einer alten Frau ganz natuͤrlich nach.
„ Du haſt wohl ehe eine alte Frau ſehen betteln gehen. Dieſe „ alte Frau bettelte auch, und wenn ſie Etwas bekam, dann „ ſagte ſie: Gott lohn’ euch! Nicht wahr? ſo ſagen die Bet - „ telleute, wenn man ihnen Etwas gibt? — Die Bettelfrau „ kam an eine Thuͤr — an eine Thuͤr! — Da ſtand ein freund - „ licher Schelm vom Jungen am Feuer und waͤrmte ſich — „ das war ſo ein Junge, als —
Sie winkte den Schulmeiſter an.
„ Der Junge ſagte freundlich zu der armen alten Frau, wie „ ſie ſo an der Thuͤre ſtand und zitterte: Kommt, Altmutter, „ und waͤrmt euch! Sie kam herzu.
Nun ging ſie auch wieder ganz behend, kam und ſtand krumm neben Stillingen.
„ Sie ging aber zu nahe aus Feuer zu ſtehen; — ihre alten „ Lumpen fingen an zu brennen, und ſie wards nicht gewahr. „ Der Juͤngling ſtand und ſah das. — Er haͤtt’s doch loͤſchen „ ſollen, nicht wahr, Schulmeiſter? — Er haͤtt’s loͤſchen ſollen?
Stilling ſchwieg. Er wußte nicht, wie ihm war; er hatte ſo eine dunkle Ahnung, die ihn ſehr melancholiſch machte. Sie wollte aber eine Antwort haben; ſie ſagte:
„ Nicht wahr, er haͤtte loͤſchen ſollen? — Gebt mir eine Ant - „ wort, ſo will ich auch ſagen: Gott lohn’ euch!
Ja! erwiederte er, er haͤtte loͤſchen ſollen. Aber wenn er nun kein Waſſer hatte, nicht loͤſchen konnte! — Stilling ſtand auf, er fand keine Ruhe mehr, doch durfte er ſichs nicht merken laſſen.
145„ Ja! (fuhr Anna fort und weinte) dann haͤtte er alles „ Waſſer in ſeinem Leibe zu den Augen herausweinen ſollen, „ das haͤtte ſo zwei huͤbſche Baͤchlein gegeben, zu loͤſchen. “
Sie kam wieder und ſah ihm ſcharf ins Geſicht; die Thraͤ - nen ſtanden ihm in den Augen.
„ Nun, die will ich dir doch abwiſchen! “
Sie nahm ihr weißes Schnupftuͤchlein, wiſchte ſie ab und ſetzte ſich wieder ſtill an ihren Ort. Alle waren ſtill und trau - rig. Drauf gingen ſie zu Bett.
Stillingen kam kein Schlaf in die Augen; er meinte nicht anders, als wenn ihm das Herz im Leibe vor lauter Mitleid und Erbarmen zerſpringen wollte. Er beſann ſich, was da wohl ſeine Pflicht waͤre? — Sein Herz ſprach fuͤr ſie um Erbarmung, ſein Gewiſſen aber forderte die ſtrengſte Zuruͤckhaltung. Er unterſuchte nun, welcher Forderung er folgen muͤßte? Das Herz ſagte: Du kannſt ſie gluͤckſelig ma - chen. Das Gewiſſen aber: Dieſe Gluͤckſeligkeit iſt von kur - zer Dauer, und dann folgt ein unabſehlich langes Elend darauf. Das Herz meinte: Gott koͤnnte die zukuͤnftigen Schickſale wohl recht gluͤcklich ausfallen laſſen; das Gewiſſen aber urtheilte: man muͤßte Gott nicht verſuchen, und nicht von ihm erwarten, daß er um ein paar Leidenſchaften zweier armer Wuͤrmer wil - len, eine ganze Verkettung vieler auf einander folgender Schick - ſale, wobei ſo viele andere Menſchen intereſſirt ſind, zerreißen und veraͤndern ſolle. Das iſt auch wahr! ſagte Stilling, ſprang aus dem Bett, wandelte auf und ab. Ich will freund - lich gegen ſie ſeyn, aber mit Ernſt und Zuruͤckhaltung.
Des Sonntags Morgens begab ſich der Schulmeiſter mit der armen Jungfer auf den Weg. Sie wollte abſolut an ſei - nem Arm gehen; er ließ das nicht gern zu, weil es ihm ſehr uͤbel wuͤrde genommen worden ſeyn, wenn es ehrbare Leute geſehen haͤtten. Doch er uͤberwand dieſes Vorurtheil und fuͤhrte ſie am rechten Arm. Als ſie auf oben gedachte Haide kamen, verließ ſie ihn, ſpazierte umher und pfluͤckte Kraͤuter, aber keine gruͤne, ſondern ſolche, die entweder halb oder ganz welk und duͤrre waren. Dabei ſang ſie folgendes Lied:
Stilling’s Schriften. I. Bd 10146Stilling mußte ſich mit Gewalt halten, daß er nicht laut weinte und heulte. Sie ſtand oft gegen der Sonne uͤber, ſah ſie zaͤrtlich an und ſang dann: Sonne, noch einmal blicke zuruͤcke! Ihr Ton war ſanft, wie einer Turteltaube, wenn ſie vor dem Untergang der Sonne noch einmal girrt. Ich wuͤnſchte, daß meine Leſer nur die ſanfte harmoniſche Melodien dieſes und anderer in dieſer Geſchichte vorkommenden Lieder gehoͤrt haͤtten, ſie wuͤrden dieſelben dop - pelt empfinden; doch werde ich ſie vielleicht dereinſten auch drucken laſſen.
Endlich ſprang ſie wieder an ſeinen Arm und ging mit ihm fort. Du weinſt, Faramund! ſagte ſie, aber du beißeſt mich doch nicht; heiß mich Lore, ich will dich Faramund heißen, willſt du? Ja! ſagte Stilling mit Thraͤnen, ſey du Lore, ich bin Faramund. Arme Lore, was wird die Mutter ſagen?
„ Hab’ ihr da ſo ein welkes Straͤuschen gebunden, mein „ Faramund! aber du weinſt? “
Ich weine um Lore.
„ Lore iſt ein gutes Maͤdchen. Biſt du wohl in der Hoͤlle „ geweſen, Faramund? “
Davor bewahre uns Gott.
Nun griff ſie ſeine rechte Hand, legte ſie unter ihre linke Bruſt und ſagte: Wie’s da klopft! — da iſt die Hoͤlle — da gehoͤrſt du hinein, Faramund! — Sie knirſchte auf den Zaͤhnen, ſah wild um ſich her. Ja! fuhr ſie fort, du biſt ſchon darinnen! — aber — wie ein boͤſer Engel! — Hier hielt ſie ein, weinte. Nein, ſagte ſie, ſo nicht, ſo nicht!
Unter dergleichen Reden, die dem guten Stilling ſcharfe Meſſer im Herzen waren, kamen ſie nach Hauſe. So wie ſie uͤber die Schwelle traten, kam Maria aus der Kuͤche und die Mutter aus der Stubenthuͤr heraus. Anna flog der Mut - ter um den Hals, kuͤßte ſie und ſagte: Ach, liebe Mutter! ich bin nun ſo fromm geworden, ſo fromm, wie ein Engel, und du, Mariechen, magſt ſagen, was du willſt (ſie draͤuete ihr mit der Fauſt), du haſt mir meinen Schaͤfer genommen, du weideſt da in guter Ruh. — Aber, kannſt du das Liedchen:149 Es graste ein Schaͤflein am Felſenſtein? Sie huͤpfte in der Stube und kuͤßte alle Menſchen, die ſie ſah. Frau Schmoll und Maria weinten laut. Ach! was muß ich erleben! ſagte die gute Mutter und heulte laut. Stilling erzaͤhlte indeſſen alles, was er von der Tante gehoͤrt hatte und trauerte herzlich um ſie. Seine Seele, die ohnehin ſo empfind - ſam war, verſank in tiefen Kummer. Denn er ſah nunmehr wohl ein, woher das Ungluͤck entſtanden war, und doch durfte er keinem Menſchen ein Woͤrtchen davon ſagen. Maria merkte es auch, ſie ſpiegelte ſich an ihrer Schweſter und zog ihr Herz allmaͤhlig von Stilling ab, indem ſie andern bra - ven Juͤnglingen Gehoͤr gab, die um ſie warben. Indeſſen brachte man die arme Anna oben im Hauſe auf ein Zim - mer, wo man eine alte Frau zu ihr that, die auf ſie Acht haben und ihrer warten mußte. Sie wurde zuweilen ganz raſend, ſo, daß ſie alles zerriß, was ſie nur zu faſſen bekam; man rief alsdann den Schulmeiſter, weil man keine andre Manns - perſon, außer dem Knecht, im Hauſe hatte; dieſer konnte ſie bald zur Ruhe bringen, er hieß ſie nur Lore, dann hieß ſie ihn Faramund und war ſo zahm, wie ein Laͤmmchen.
Ihr gewoͤhnlicher Zeitvertreib beſtand darin, daß ſie eine Schaͤferin vorſtellte; und dieſe Idee muß blos von obigem Lied hergekommen ſeyn, denn ſie hatte gewiß keine Schaͤfer - geſchichte oder Idyllen geleſen, ausgenommen einige Lieder, welche von der Art in Schmolls Hauſe ging und gaͤbe waren. Wenn man zu ihr hinaufkam, ſo hatte ſie ein weißes Hemd uͤber ihre Kleider angezogen und einen rundum abgezuͤgelten Mannshut auf dem Kopf. Um den Leib hatte ſie ſich mit einem gruͤnen Band geguͤrtet, deſſen lang herabhaͤugendes Ende ſie ihrem Schaͤferhund, den ſie Philax hieß und der Niemand anders, als ihre alte Aufwaͤrterin war, um den Hals gebun - den hatte. Das gute alte Weib mußte auf Haͤnden und Fuͤ - ßen herumkriechen und ſo gut bellen, als ſie konnte, wenn ſie von ihrer Gebieterin gehetzt wurde; oͤfters wars mit dem Bellen nicht genug, ſondern ſie mußte ſogar einen oder den andern ins Bein beißen. Zuweilen war die Frau muͤde, die Hundsrolle zu ſpielen, allein ſie bekam alsdann derbe Schlaͤge,150 denn Anna hatte beſtaͤndig einen langen Stab in der Hand; indeſſen ließ ſich die gute Alte gern dazu gebrauchen, weil ſie Anna damit ſtillen konnte und nebſt gutem Eſſen und Trinken einen guten Lohn bekam.
Dieſes Elend dauerte nur einige Wochen. Anna kam wie - der zu ſich ſelbſt, ſie bedauerte ſehr den Zuſtand, worin ſie ge - weſen war, wurde vorſichtiger und vernuͤnftiger als vorhin, und Stilling lebte wieder neu auf, beſonders als er nun merkte, daß er zwei ſo gefaͤhrlichen Klippen entgangen war. Unterdeſſen entdeckte Niemand in der Familie jemalen, was die wahre Urſache von Annens Unfall geweſen war.
Stilling beſorgte ſeine Schule unverdroſſen fort, doch ob er gleich Fleiß anwandte, ſeinen Schuͤlern Wiſſenſchaften beizubringen, ſo fanden ſich doch ziemlich viele unter ſeinen Bauern, die anfingen, ihm recht feind zu werden. Die Urſache davon iſt nicht zu entwickeln; Stilling war einer von den Menſchen, die Niemand gleichguͤltig ſind, entweder man mußte ihn lieben, oder man mußte ihn haſſen; die Erſtern ſahen auf ſein gutes Herz und vergaben ihm ſeine Fehler gern; die An - dern betrachteten ſein gutes Herz als dumme Einfalt, ſeine Handlungen als Fuchsſchwaͤnzereien und ſeine Gaben als Prahl - ſucht. Dieſe wurden ihm unverſoͤhnlich feind, und je mehr er ſie, ſeinem Charakter gemaͤß, mit Liebe zu gewinnen ſuchte, je boͤſer ſie wurden; denn ſie glaubten nur, es ſey blos Schmei - chelei von ihm, und wurden nur deſto feindſeliger gegen ihn. Endlich beging er eine Unvorſichtigkeit, die ihn vollends um die Preiſinger Schule brachte, wie gut die Sache auch von ſeiner Seite gemeint war.
Er band ſich nicht gern an die alte gewoͤhnliche Schulmethode, ſondern ſuchte allerhand Mittel hervor, um ſich und ſeine Schuͤ - ler zu beluſtigen; deßwegen erſann er taͤglich etwas Neues. Sein erfinderiſcher Geiſt fand vielerlei Wege, dasjenige, was die Kinder zu lernen hatten, ihnen ſpielend beizubringen. Viele ſeiner Bauern ſahen es als nuͤtzlich an, Andere betrach - teten es als Kindereien und ihn als einen Stocknarren. Be - ſonders aber fing er ein Stuͤck an, das allgemeines Aufſehen machte. Er ſchnitt weiße Blaͤtter in der Groͤße wie Karten;151 dieſe bezeichnete er mit Nummern; die Nummern bedeuteten diejenigen Fragen des Heidelbergiſchen Katechismus, welche die naͤmliche Zahl hatten; dieſe Blaͤtter wurden von vier oder fuͤnf Kindern gemiſcht, ſo viel ihrer zuſammen ſpielen wollten, alsdann wie Karten umgegeben und geſpielt; die groͤßere Num - mer ſtach immer die kleinere ab; derjenige, welcher am letzten die hoͤchſte Nummer hatte, brauchte nur die Frage zu lernen, die ſeine Nummer anwies, und wenn er ſie ſchon vorher aus - wendig gelernt hatte, ſo lernte er nichts bis den andern Tag, die andern aber mußten lernen, was ſie fuͤr Nummern vor ſich liegen hatten, und ihr Gluͤck beſtand darin, wenn ſie viele der Fragen wußten, die ihnen in ihren Nummern zugefallen waren. Nun hatte Stilling zuweilen das Kartenſpielen geſehen und auch ſein Spiel davon abſtrahirt, allein er ver - ſtand gar nichts davon, doch wurde es ihm ſo ausgelegt und die ganze Sache ſeinem Vetter, dem Herrn Paſtor Gold - mann, von der ſchlimmſten Seite vorgetragen.
Dieſer vortreffliche Mann liebte Stilling von Herzen und ſeine Unvorſichtigkeit ſchmerzte ihn aus der Maßen; er ließ den Schulmeiſter zu ſich kommen und ſtellte ihn wegen dieſer Sache zu Rede. Stilling erzaͤhlte ihm alles frei - muͤthig, zeigte ihm das Spiel vor und uͤberfuͤhrte ihn von dem Nutzen, den er dabei verſpuͤrt hatte. Allein Herr Gold - mann, der die Welt beſſer kannte, ſagte ihm: „ Mein lie - „ ber Vetter! man darf heutiges Tags ja nicht blos auf den „ Nutzen einer Sache ſehen, ſondern man muß auch allezeit „ wohl erwaͤgen, ob die Mittel, dazu zu gelangen, den Bei - „ fall der Menſchen haben, ſonſt erntet man Stank fuͤr Dank „ und Hohn fuͤr Lohn; ſo gehts euch jetzt, denn eure Bauern „ ſind ſo aufgebracht, daß ſie euch nicht laͤnger als bis Michae - „ lis behalten wollen, ſie ſind Willens, wenn ihr nicht gut - „ willig abdankt, die ganze Sache dem Inſpektor anzuzeigen, „ und ihr wißt, was der fuͤr ein Mann iſt. Nun waͤr’ es doch „ Schade, wenn die Sache ſo weit getrieben wuͤrde, weil ihr „ alsdann hier im Lande nie wieder Schulmeiſter werden koͤnn - „ tet; ich rathe euch deßwegen, danket ab und ſagt heute noch „ eurer Gemeinde, ihr waͤret des Schulhaltens muͤde, ſie moͤch -152 „ ten ſich einen andern Schulmeiſter waͤhlen. Ihr bleibt als - „ dann in Ehren und es wird nicht lange waͤhren, ſo werdet „ ihr eine beſſere Schule bekommen, als dieſe, die ihr bedient „ habt. Ich werde euch indeſſen lieb haben und ſorgen, daß „ ihr gluͤcklich werden moͤgt, ſo viel ich nur kann. “
Dieſe Rede drang Stilling durch Mark und Bein, er wurde blaß und die Thraͤnen ſtanden ihm in den Augen. Er hatte ſich die Sache vorgeſtellt, wie ſie war, und nicht, wie ſie ausgelegt werden koͤnnte; doch ſah er ein, daß ſein Vetter ganz recht hatte; er war nun abermal gewitzigt, und er nahm ſich vor, in Zukunft aͤußerſt behutſam zu ſeyn. Doch bedauerte er bei ſich ſelber, daß ſeine mehrſten Amtsbruͤder mit weniger Geſchicklichkeit und Fleiß, doch mehr Ruhe und Gluͤck genoͤßen, als er, und er begann einen dunkeln Blick in die Zukunft zu thun, was doch wohl der himmliſche Vater noch mit ihm vor - haben moͤchte. Als er nach Haus kam, kuͤndigte er mit innig - ſter Wehmuth ſeiner Gemeinde an, daß er abdanken wollte. Der groͤßte Theil erſtaunte, der boͤſeſte Theil aber war froh, denn ſie hatten ſchon Jemand im Vorſchlag, der ſich beſſer zu ihren Abſichten ſchickte, und nun hinderte ſie Niemand mehr, dieſelben zu erreichen. Die Frau Schmoll und ihre Toͤchtern konnten ſich am uͤbelſten darein finden, denn Erſtere liebte ihn, und die beiden Letztern hatten ihre Liebe in eine herzliche Freund - ſchaft verwandelt, die aber doch gar leicht wieder haͤtte in erſtern Brand gerathen koͤnnen, wenn er ſich zaͤrtlicher gegen ſie ausge - laſſen, oder daß ſie eine andere Moͤglichkeit, den erwuͤnſchten Zweck zu erreichen, geaͤußert haͤtte. Sie weinten alle drei und fuͤrchteten den Tag des Abſchiedes; doch der kam mehr als zu fruͤh. Die Maͤdchen verſanken in ſtummen Schmerz, Frau Schmoll aber weinte; Stilling ging wie ein Trunkener; ſie hielten an ihm an, ſie oft zu beſuchen; er verſprach das und taumelte wieder mitternachtwaͤrts den Berg hinauf; auf der Hoͤhe ſah er ſich nochmals nach ſeinem lieben Preiſin - gen um, ſetzte ſich hin und weinte. Ja! dachte er, Lampe ſingt wohl recht: Mein Leben iſt ein Pilgrimſtand — Da geh’ ich ſchon das drittemal wieder an das Schneider - handwerk, wann mag es doch wohl endlich Gott gefallen,153 mich beſtaͤndig gluͤcklich zu machen! Hab ich doch keine an - dere Abſicht, als ein rechtſchaffener Mann zu werden! Nun befahl er ſich Gott und wanderte mit ſeinem Buͤndel auf Lein - dorf zu.
Nach dem Verlauf von zwei Stunden kam er daſelbſt an. Wilhelm ſah ihn zornig an, als er zur Thuͤr hereintrat; das ging ihm durch die Seele; ſeine Mutter aber ſah ihn gar nicht an, er ſetzte ſich hin und wußte nicht, wie ihm war. Endlich fing ſein Vater an: „ Biſt du wieder da, ungerathe - „ ner Junge? Ich hab’ mir eitle Freuden deinetwegen gemacht, „ was helfen dich deine brodloſen Kuͤnſte? — Das Handwerk „ iſt dir zuwider, ſitzeſt da, ſeufzend und ſeufzend, und wenn „ du Schulmeiſter biſt, ſo wills nirgends fort. Zu Zellberg „ warſt’ ein Kind und hatteſt kindiſche Anſchlaͤge, darum gab „ man dir was zu; zu Dorlingen warſt’ ein Schuhputzer, „ ſogar kein Salz und Kraft haſt’ bei dir; hier zu Leindorf „ aͤrgerteſt du die Leute mit Saͤchelchen, die weder dir noch „ Andern nuͤtzten, und zu Preiſingen mußt’ entfliehen, um „ ſo eben deine Ehre zu retten! Was willſt’ nun hier machen? „ — Du mußt Handwerk und Feldarbeit ordentlich verrich - „ ten, oder ich kann dich nicht brauchen. “ Stilling ſeufzte tief und antwortete: Vater! ich fuͤhl’ es in meiner Seele, daß ich unſchuldig bin, ich kann mich aber nicht rechtfertigen; Gott im Himmel weiß alles! Ich muß zufrieden ſeyn, was er uͤber mich verhaͤngen wird. Aber:
Es waͤr’ doch entſetzlich, wenn mir Gott Triebe und Nei - gungen in die Seele gelegt haͤtte, und ſeine Vorſehung ver - weigerte mir, ſo lang ich lebe, die Befriedigung derſelben!
Wilhelm ſchwieg und legte ihm ein Stuͤck Arbeit vor. Er ſetzte ſich hin und fing wieder an zu arbeiten; er hatte ein ſo gutes Geſchicke dazu, daß ſein Vater oft zu zweifeln anfing, ob er nicht gar von Gott zum Schneider beſtimmt ſey. Dieſer Gedanke aber war Stillingen ſo unertraͤglich, daß154 ſich ſeine ganze Seele dagegen empoͤrte; er ſagte dann auch wohl zuweilen, wenn Wilhelm ſo etwas vermuthete: Ich glaube nicht, daß mich Gott in dieſem Leben zu einer beſtaͤndigen Hoͤlle verdammet habe!
Es war nunmehr Herbſt und die Feldarbeit mehrentheils vorbei, daher mußte er faſt immer auf dem Handwerk arbei - ten, und dieſes war ihm auch lieber, ſeine Glieder konnten es beſſer aushalten. Dennoch aber fand ſich ſeine tiefe Traurig - keit bald wieder ein, er war wie in einem fremden Lande, von allen Menſchen verlaſſen. Dieſes Leiden hatte ſo etwas ganz Beſonderes und Unbeſchreibliches; das Einzige, was ich nie habe begreifen koͤnnen, war dieſes: Sobald die Sonne ſchien, fuͤhlte er ſein Leiden doppelt; Licht und Schatten des Herbſtes brachte ihm ſo ein unausſprechliches Gefuͤhl in ſeine Seele, daß er vor Wehmuth oft zu vergehen glaubte, hingegen wenn es regnigt Wetter und ſtuͤrmiſch war, ſo befand er ſich beſſer, es war ihm, als wenn er in einer dunkeln Felſenkluft ſaͤße, er fuͤhlte dann eine verborgene Sicherheit, wobei es ihm wohl war. Ich hab’ unter ſeinen alten Papieren noch einen Aufſatz gefunden, den er dieſen Herbſt im Oktober an einem Sonntag Nachmittag verfertigt hat; es heißt unter anderem darin:
An einem andern Orte heißt es:
Wenn ſein Vater guter Laune war, ſo daß er ſich in Etwas an ihn entdecken durfte, ſo klagte er ihm zuweilen ſein inne - res trauriges Gefuͤhl. Wilhelm laͤchelte dann und ſagte: „ Das iſt etwas, welches wir Stillinge nicht kennen, das „ haſt du von deiner Mutter geerbt. Wir ſind immer gut „ Freund mit der Natur, ſie mag gruͤn, gelb oder weiß aus - „ ſehen; wir denken dann: das muß ſo ſeyn, und es gefaͤllt „ uns. Aber deine ſelige Mutter huͤpfte und tanzte im Fruͤh - „ ling, im Sommer war ſie munter und geſchaͤftig, im Anfange „ des Herbſtes fing ſie an zu trauern, bis Weihnachten weinte „ ſie, und dann fing ſie an zu hoffen und die Tage zu zaͤhlen; „ im Maͤrz lebte ſie ſchon halb wieder auf. “ Wilhelm laͤchelte, ſchuͤttelte den Kopf und ſagte: Es ſind doch beſondere Dinge! — Ach, ſeufzte dann Heinrich oft in ſeinem Her - zen, moͤchte ſie noch leben, ſie wuͤrde mich am beſten verſtehen!
Zuweilen fand Stilling ein Stuͤndchen, das er zum Leſen verwenden konnte, und dann daͤuchte ihm, als wenn er noch einen fernen Nachgeſchmack von den vergangenen ſeligen Zei - ten genoͤſſe, allein es war nur ein vorbeieilender Genuß. Um ihn her wirkten eitle froſtige Geiſter, er fuͤhlte das beſtaͤndige Treiben des Geldhungers, und der frohe ſtille Genuß war verſchwunden. — Er beweinte ſeine Jugend und trauerte um ſie, wie ein Braͤutigam um ſeine erblaßte Braut. Allein das alles half nichts, klagen durfte er nicht, und ſein Weinen brachte ihm nur Vorwuͤrfe.
Doch hatte er einen einzigen Freund zu Leindorf, der ihn ganz verſtand, und dem er alles klagen konnte. Dieſer Menſch hieß Caſpar und war ein Eiſenſchmelzer, eine edle Seele, warm fuͤr die Religion, mit einem Herzen voller Em - pfindſamkeit. Der November hatte noch ſchoͤne Herbſttage,156 deßwegen gingen Caſpar und Stilling Sonntags Nach - mittags ſpazieren, alsdann floßen ihre Seelen in einander uͤber; beſonders hatte Caſpar eine feſte Ueberzeugung in ſeinem Gemuͤth, daß ſein Freund Stilling vom himmliſchen Vater zu weit was anders, als zum Schulhalten und Schnei - derhandwerk beſtimmt ſey, er konnte das unwiderſprechlich darthun, daß Stilling ruhig und großmuͤthig beſchloß, alle ſeine Schickſale geduldig zu ertragen. Um Weihnachten blickte ihn das Gluͤck wieder freundlich an. Die Kleefelder Vor - ſteher kamen und beriefen ihn zu ihrem Schulmeiſter; dieſes war nun die beſte und ſchoͤnſte Kapellenſchule im ganzen Fuͤr - ſtenthum Salen. Er wurde wieder ganz lebendig, dankte Gott auf den Knien und zog hin. Sein Vater gab ihm beim Abſchied die treuſten Ermahnungen, und er ſelber that, ſo zu ſagen, ein Geluͤbde, jetzt alle ſeine Geſchicklichkeit und Wiſſen - ſchaft anzuwenden, um im Schulhalten den hoͤchſten Ruhm davon zu tragen. Die Vorſteher gingen mit ihm nach Salen, und er wurde daſelbſt vor dem Conſiſtorium von dem Inſpec - tor Meinhold beſtaͤtiget.
Mit dieſem feſten Entſchluß trat er mit dem Anfang des 1760ſten Jahrs, im zwanzigſten ſeines Alters, dieſes Amt wieder an, und bediente daſſelbe mit ſolchem Ernſt und Eifer, daß es rund umher bekannt wurde, und alle ſeine Feinde und Mißgoͤnner fingen an zu ſchweigen, ſeine Freunde aber zu triumphiren; er beharrte auch in dieſer Treue, ſo lange er da war. Demungeachtet ſetzte er doch ſeine Lectuͤre in den uͤbrigen Stunden fort. Das Clavier und die Mathematik waren ſein Hauptwerk; indeſſen wurden doch Dichter und Romane nicht vergeſſen. Gegen das Fruͤhjahr wurde er mit einem Amts-Collegen bekannt, der Graſer hieß und das Thal hinauf, eine ſtarke halbe Stunde weit von Kleefeld, auf dem Dorf Kleinhoven Schule hielt. Dieſer Menſch war einer von denjenigen, die immer mit vielbedeutender Miene ſtillſchweigen und im Verborgenen handeln.
Ich hab’ oft Luſt gehabt, die Menſchen zu claſſificiren, und da moͤcht’ ich die Claſſe, worunter Graſer gehoͤrte, die launigte nennen. Die beſten Menſchen darin ſind ſtille Be -157 obachter ohne Gefuͤhl, die mittelmaͤßigen ſind Duckmaͤuſer, die ſchlechteſten Spionen und Verraͤther. Graſer war freund - lich gegen Stilling, aber nicht vertraulich. Stilling hingegen war beides, und das gefiel Jenem, er beobachtete gern Andere im Lichte, ſtand aber dagegen ſelber lieber im Dunkeln. Um nun Stilling recht zum Freund zu behal - ten, ſo ſprach er immer von großen Geheimniſſen; er verſtand magiſche und ſympathetiſche Kraͤfte zu regieren, und einſtmals vertraute er Stillingen, unter dem Siegel der groͤßten Ver - ſchwiegenheit, an, daß er die erſte Materie des Steins der Weiſen recht wohl kenne; Graſer ſah dabei ſo geheimniß - voll aus, als wenn er wirklich das große Univerſal ſelber beſeſſen haͤtte. Stilling vermuthete es, und Graſer leug - nete es auf eine Art, die Jenen vollends uͤberzeugte, daß er gewiß den Stein der Weiſen habe; dazu kam noch, daß Gra - ſer immerfort ſehr viel Geld hatte, weit mehr, als ihm ſeine Umſtaͤnde einbringen konnten. Stilling war uͤberaus ver - gnuͤgt wegen dieſer Bekanntſchaft, ja er hoffte ſogar, dereinſt durch Huͤlfe ſeines Freundes ein Adeptus zu werden. Gra - ſer lieh ihm die Schriften Baſilius Valentinus. Er las ſie ganz aufmerkſam durch, und als er hinten an den Prozeß aus dem ungariſchen Vitriol kam, da wußte er gar nicht, wie ihm ward. Er glaubte wirklich, er koͤnnte nun den Stein der Weiſen ſelber machen. Er bedachte ſich eine Weile, nun fiel ihm ein, wenn der Prozeß ſo ganz vollkommen richtig waͤre, ſo muͤßte ihn ja ein jeder Menſch machen koͤnnen, der nur das Buch haͤtte.
Ich kann verſichern, daß Stilling’s Neigung zur Al - chymie niemalen den Stein der Weiſen zum Zweck hatte; wenn er ihn aber gefunden haͤtte, ſo waͤrs ihm lieb geweſen; ſondern ein Grundtrieb in ſeiner Seele, wovon ich bisher noch nichts geſagt habe, fing an, ſich bei reifern Jahren zu entwickeln, und der war ein unerſaͤttlicher Hunger nach Er - kenntniß der erſten Urkraͤfte der Natur. Damalen wußte er noch nicht, welchen Namen er dieſer Wiſſenſchaft beilegen ſollte. Das Wort Philoſophie ſchien ihm was anders zu bedeuten; dieſer Wunſch iſt noch nicht erfuͤllt, weder Neu -158 ton, noch Leibnitz, noch jeder Andere hat ihm Genuͤge thun koͤnnen; doch hat er mir geſtanden, daß er jetzt auf der wahren Spur ſey, und daß er zu ſeiner Zeit damit aus Licht treten werde.
Damalen ſchien ihm die Alchymie der Weg dahin zu ſeyn, und deßwegen las er alle Schriften von der Art, die er nur auftreiben konnte. Allein es war Etwas in ihm, das immer - fort rief: Wo iſt der Beweis, daß es wahr iſt? — Er kannte nur drei Quellen der Wahrheit: Erfahrung, mathematiſche Ueberfuͤhrung und die Bibel, und alle drei Quellen wollten ihm gar keinen Aufſchluß in der Alchymie geben, deßwegen ver - ließ er ſie vor der Hand ganz.
Einſtmals beſuchte er ſeinen Freund Graſer an einem Sam - ſtag Nachmittag; er fand ihn allein auf der Schule ſitzen, allwo er Etwas ausſtach, das einem Pettſchaft aͤhnlich war. Stil - ling fragte: Herr College! was machen Sie da?
„ Ich ſtech’ ein Pettſchaft. “
Laſſen ſie mich doch ſehen, das iſt ja feine Arbeit!
„ Es gehoͤrt fuͤr den Herrn von N. Hoͤren Sie, mein Freund „ Stilling! ich wollte Ihnen gern helfen, daß Sie ohne den „ Schulſtand und die Schneiderei zu Brod kommen koͤnnten. „ Ich beſchwoͤre Sie bei Gott, daß Sie mich nicht verrathen „ wollen. “
Stilling gab ihm die Hand darauf und ſagte: Ich werde Sie gewiß nicht verrathen.
„ Nun ſo hoͤren Sie! ich hab’ ein Geheimniß; ich kann Ku - „ pfer in Silber verwandeln, ich will Sie in Compagnie neh - „ men und Ihnen die Haͤlfte von dem Gewinn geben; indeſſen „ ſollen Sie zuweilen einige Tage heimlich verreiſen, und das „ Silber an gewiſſe Leute zu veraͤußern ſuchen. “
Stilling ſaß und dachte der Sache nach; der ganze Vor - trag gefiel ihm nicht, denn erſtlich ging der Trieb nicht dahin, viel Geld zu erwerben, ſondern nur Erkenntniß der Wahrheit und Wiſſenſchaften zu erlangen, um Gott und dem Naͤchſten damit zu dienen; und fuͤrs zweite kam ihm bei ſeiner geringen Weltkenntniß die ganze Sache doch verdaͤchtig vor; denn je mehr er nach dem Pettſchaft blickte, je mehr wurde er uͤber -159 zeugt, daß es ein Muͤnz-Stempel ſey. Es fing ihm daher an zu grauen, und er ſuchte Gelegenheit, von dem Schulmeiſter Graſer abzukommen, indem er ihm ſagte, er wolle nach Haus gehen und die Sache naͤher uͤberlegen.
Nach einigen Tagen entſtand ein Allarm in der ganzen Ge - gend; die Haͤſcher waren des Nachts zu Kleinhoven gewe - ſen und hatten den Schulmeiſter Graſer aufheben wollen, er war aber ſchon entwiſcht, er iſt hernach nach Amerika gegangen, und man hat weiter nichts von ihm gehoͤrt. Seine Mitſchuldigen aber wurden gefangen und nach Verdienſt ge - ſtraft. Er war eigentlich ſelber der rechte Kuͤnſtler geweſen und waͤre gewiß mit dem Strang belohnt worden, wenn man ihn ertappt haͤtte.
Stilling erſtaunte uͤber die Gefahr, in welcher er ge - ſchwebt hatte, und dankte Gott von Herzen, daß er ihn be - wahrt hatte.
So lebte er nun ganz vergnuͤgt fort und glaubte gewiß, daß die Zeit ſeiner Leiden zu Ende ſey, in der ganzen Ge - meinde fand ſich kein Menſch, der etwas Widriges von ihm geſprochen haͤtte, alles war ruhig; aber welch’ ein Sturm folgte auf dieſe Windſtille! Er war bald drei Vierteljahr zu Kleefeld geweſen, als er eine Vorladung bekam, den kuͤnf - tigen Dienſtag Morgens um neun Uhr vor dem fuͤrſtlichen Conſiſtorium zu Salen zu erſcheinen. Er verwunderte ſich uͤber dieſen ungewoͤhnlichen Vorfall; doch fiel ihm gar nichts Widriges ein; vielleicht, dachte er, ſind neue Schulordnun - gen beſchloſſen, die man mir und Andern vortragen will. Und ſo ging er ganz ruhig am beſtimmten Tage nach Salen hin.
Als er ins Vorzimmer der Conſiſtorialſtube trat, ſo fand er da zwei Maͤnner aus ſeiner Gemeinde ſtehen, von denen er nie gedacht haͤtte, daß ſie ihm widerwaͤrtig waͤren. Er fragte ſie, was vorginge? Sie antworteten: wir ſind vorge - laden und wiſſen nicht, warum; indeſſen wurden ſie alle Drei hineingefordert.
Oben am Fenſter ſtand ein Tiſch; auf der einen Seite deſſelben ſaß der Praͤſident, ein großer Rechtsgelehrter; er war klein von Statur, laͤnglicht und mager von Geſicht, aber160 ein Mann von einem vortrefflichen Charakter, voll Feuer und Leben. Auf der andern Seite des Tiſches ſaß der Inſpektor Meinhold, ein dicker Mann mit einem vollen laͤnglichten Geſicht; das große Unterkinn ruhte ſehr majeſtaͤtiſch auf dem feinen, wohlgeglaͤtteten und geſteiften Kragen, damit er nicht ſo leicht wund werden moͤchte; er hatte eine vortreffliche weiße und ſchoͤne Peruͤcke auf dem Haupt, und ein ſeidener ſchwar - zer Mantel hing ſeinen Ruͤcken herunter; er hatte hohe Augen - braunen, und wenn er Jemand anſah, ſo zog er die untern Augenlider hoch in die Hoͤhe, ſo daß er beſtaͤndig blinzelte. Die Abſaͤtze an ſeinen Schuhen krachten, wenn er darauf trat, und er hatte ſich angewoͤhnt, er mochte ſtehen oder ſitzen, im - merfort wechſelsweiſe auf die Abſaͤtze zu treten und ſie krachen zu laſſen. So ſaßen die beiden Herren da, als die Partheien hereintraten. Der Sekretarius aber ſaß hinter einem langen Tiſch und guckte uͤber einen Haufen Papier hervor. Stil - ling ſtellte ſich unten an den Tiſch, die beiden Maͤnner aber ſtanden gegenuͤber an der Wand.
Der Inſpektor raͤuſperte ſich, drehte ſich gegen die Maͤn - ner und ſprach:
„ Iſt das air Schoolmaiſter? “
Ja, Herr Oberhofprediger!
„ So! araͤcht! Ihr ſayd alſo der Schoolmaiſter von „ Kleefeld? “
Ja! ſagte Stilling.
„ ’r ſayd mer ain ſchoͤner Kerl! waͤr’t waͤrth, daß man aich „ aus dem Land paitſchte! “
Sachte! ſachte! redete der Praͤſident ein, audiatur et altera pars!
„ Herr Praͤſident! das k’hoͤrt ad forum ecclesiasticum. „ Sie habaͤ da nichts z’ ſagaͤ. “
Der Praͤſident ergrimmte und ſchwieg. Der Inſpektor ſah Stilling veraͤchtlich an und ſagte:
„ Wie ’r da ſtaͤht, der ſchlechte Menſch! “
Die Maͤnner lachten ihn hoͤhniſch aus. Stilling konnte das gar nicht ertragen, er hatte auf der Zunge, er wolle ſagen: wie Chriſtus vor dem Hohenprieſter! allein161 er nahm’s wieder zuruͤck, trat naͤher und ſagte: was hab’ ich gethan? Gott iſt mein Zeuge, ich bin unſchuldig! Der Inſpektor lachte hoͤhniſch und erwiederte:
„ Als wenn ’r nit wuͤtzt, was ’r ſelbſtan begangaͤ hat! „ fragt air K’wiſſaͤ! “
Herr Inſpektor! mein Gewiſſen ſpricht mich frei und der, der da recht richtet, auch; was hier geſchehen wird, weiß ich nicht.
„ Schwaigt, ’r Gottloſer! — ſagt mer, Kirchaͤaͤlteſter, was „ iſt eure Klage? “
Herr Oberhofprediger! wir habens heut vierzehn Tage pro - tocolliren laſſen.
„ Araͤcht’s is wahr! “
Und dieſes Protokoll, ſagte Stilling, muß ich haben!
„ Was wollt’r? Nain! ſollt’s nie habaͤ! “
C’est contre l’ordre du prince! verſetzte der Praͤſident und ging fort.
Der Inſpektor diktirte nun und ſagte: „ Schraibt, Sekre - „ taͤr! Hait erſchienaͤ N. N. Kirchaͤaͤlteſter von Kleefeld und „ N. N. Ainwahner daſelbſt, cantra ihren Schoolmaiſter „ Stilling. Klaͤger beziehaͤ ſich of variges Protocoll. Der „ Schoolmaiſter begehrte extractum Protocolli, wir’m aber „ aus giltigaͤ Ohrſachaͤ abk’ſchlagaͤ. “
Nun krachte der Inſpektor noch ein paarmal auf den Ab - ſaͤtzen, ſtemmte die Haͤnde in die Seiten und ſprach:
„ Koͤnnt nu nacher Haus geh! “ Sie gingen alle Drei fort.
Gott weiß es, daß die Erzaͤhlung wahr und wirklich ſo paſſirt iſt. Schande waͤr’s fuͤr mich, der proteſtantiſchen Kirche einen ſolchen Theologen anzudichten. Schande fuͤr mich, wenn Meinhold noch eine gute Seite gehabt haͤtte. — Aber! — Ein jeder junge Theologe ſpiegle ſich doch an dieſem Exempel und denke: Wer da will unter euch der Groͤßte ſeyn, der ſey der Geringſte!
Stilling war ganz betaͤubt, er begriff von allem, was er gehoͤrt hatte, nicht ein Wort. Die ganze Scene war ihm wie ein Traum, er kam nach Kleefeld, ohne zu wiſſen wie. Sobald er da anlangte, ging er in die Kapelle und zog dieStillings ſämmtl. Schriften. I. Band. 11162Glocke; dieſes war das Zeichen, wenn die Gemeinde in einem außerordentlichen Nothfall ſchleunigſt zuſammenberufen werden ſollte. Alle Maͤnner kamen eiligſt bei der Kapelle auf einem gruͤnen Platz zuſammen. Nun erzaͤhlte ihnen Stilling den ganzen Vorfall umſtaͤndlich. Da ſah man recht, wie die verſchiedenen Temperamente der Menſchen bei einerlei Urſache verſchieden wirken: Einige rasten, die andern waren launigt, noch Andere waren betruͤbt, und wieder Andere waren wohl bei der Sache; dieſe druͤckten den Hut aufs Ohr und riefen: kein T ..... ſoll uns den Schulmeiſter nehmen! Unter all dieſem Gewirre hatte ſich ein junger Menſch, Namens Reh - kopf weggeſchlichen, er ſetzte im Wirthshaus eine Vollmacht auf, mit dieſem Papier in der Hand kam er in die Thuͤr und rief: Wer Gott und den Schulmeiſter liebt, der komme her und unterſchreibe ſich! Da ging der ganze Trupp, etwa hundert Bauern, hinein und unterſchrie - ben ſich. Noch denſelben Tag ging Rehkopf mit zwanzig Bauern nach Salen und zum Inſpektor.
Rehkopf klopfte oder ſchellte nicht an der Thuͤre des Pfarrhauſes, ſondern ging gerade hinein, die Bauern hinter ihm her; im Vorhaus begegnete ihnen der Knecht. Wohin, ihr Leute? rief er, wart! ich will euch melden! Rehkopf verſetzte: geh’, fuͤlle deine Weinflaſche! wir koͤnnen uns ſel - ber melden; und ſo plotzten die zwei und vierzig Fuͤße die Treppe hinauf und gerade ins Zimmer des Inſpektors. Die - ſer ſaß da im Lehnſeſſel, er hatte einen damaſtenen Schlaf - rock an, eine baumwollene Muͤtze auf dem Kopf und eine feine Leidenſche Kappe daruͤber, dabei trank er ſo ganz ge - nuͤglich ſeine Taſſe Chocolade. Er erſchrack, ſetzte ſeine Taſſe hin und ſagte:
„ Gott! — ihr Lait — was wallt’r? “
Rehkopf antwortete: Wir wollen hoͤren, ob unſer Schul - meiſter ein Moͤrder, ein Ehebrecher oder ein Dieb iſt?
„ Behuͤt Gott! wer ſagt das? “
Herr! Sie ſagens oder laſſens, Sie behandeln ihn ſo! Ent - weder Sie ſollen ſagen und beweiſen, daß er ein Miſſethaͤter iſt, und in dem Fall wollen wir ihn ſelber abſchaffen; oder163 Sie ſollen uns Genugthuung fuͤr ſeine Schmach geben, und in dieſem Fall wollen wir ihn behalten. Sehen Sie hier unſere Vollmacht.
„ Waist aͤmahl her! “ Der Inſpektor nahm ſie und faßte ſie an, als wenn er ſie zerreißen wollte. Rehkopf trat hinzu, nahm ſie ihm aus der Hand und ſprach: Herr! laſ - ſen Sie ſich das vergehen! Sie verbrennen, weiß Gott! die Finger, und ich auch!
„ Ihr trotzt mer in maim Haus? “
Wie Sie’s nehmen, Herr! Trotz oder nicht!
Der Inſpektor zog gelindere Saiten auf und ſagte: „ Liebaͤ „ Lait! ihr wißt nit, was air Schoolmaiſter vor’n ſchlechter „ Menſch is, laſt mich doch machaͤ! “
Eben das wollen wir wiſſen, ob er ein ſchlechter Menſch iſt, verſetzte Rehkopf.
„ Schraͤckliche Dinge! Schraͤckliche Dinge hab’ ich von „ dem Kerl k’hoͤrt! “
Kann ſeyn! Ich hab’ auch gehoͤrt, daß der Herr Inſpek - tor ſternvoll beſoffen geweſen, als er letzthin zu Kleefeld Kapellen-Viſitation gehalten.
„ Was! Was! wer ſagt das? wollt’r “—
Still! Still! ich hab’s gehoͤrt, der Herr Inſpektor richtet nach Hoͤrenſagen, ſo darf ich’s auch.
„ Wart, ich will euch laͤrnaͤ. “
Herr! Sie lernen mich nichts, und was das Vollſanfen betrifft, Herr! — ich ſtand dabei, wie Sie auf der andern Seite vom Pferd herunterfielen, als man Sie auf der einen hinaufgehoben hatte. Wir erklaͤren Ihnen hiemit im Namen der Kleefelder Gemeinde, daß wir uns den Schulmeiſter nicht nehmen laſſen, bis er uͤberfuͤhrt iſt, und damit Adje!
Nun gingen ſie zuſammen nach Haus. Rehkopf ging den ganzen Abend uͤber die Straßen ſpazieren, huſtete, raͤuſperte ſich, daß man’s im ganzen Dorf hoͤren konnte.
Stilling ſah ſich alſo wiederum ins groͤßte Labyrinth verſetzt; er fuͤhlte wohl, daß er abermal wuͤrde weichen muͤſ - ſen, und was alsdann auf ihn wartete. Unterdeſſen kam er doch hinter das ganze Geheimniß ſeiner Verfolgung.
11 *164Der vorige Schulmeiſter zu Kleefeld war allgemein ge - liebt geweſen; nun hatte er ſich mit einem Maͤdchen daſelbſt verſprochen, und ſuchte, um ſich beſſer naͤhren zu koͤnnen, mehr Lohn zu bekommen; deßwegen, als er einen Beruf an einen andern Ort erhielt, ſo ſtellte er der Gemeinde vor, daß er ziehen wuͤrde, wenn man ihm nicht den Lohn erhoͤhte; er glaubte aber gewiß, man wuͤrde ihn um einiges Gelds wil - len nicht weggehen laſſen. Allein es ſchlug ihm fehl, man ließ ihm Freiheit, zu ziehen, und waͤhlte Stilling.
Es iſt leicht zu denken, daß die Familie des Maͤdchens nunmehr alle Kraft anwendete, um Stilling zu ſtuͤrzen, und dieſes bewerkſtelligten ſie ganz geheim, indem ſie den Inſpek - tor mit wichtigen Geſchenken das ganze Jahr durch uͤberhaͤuft hatten, ſo daß er ohne Urtheil und Recht beſchloß, ihn weg - zujagen.
Einige Tage nach dieſem Vorfall ließ ihn der Praͤſident erſuchen, zu ihm zu kommen; er ging hin. Der Praͤſident ließ ihn ſitzen und ſagte: „ Mein Freund Stilling, ich be - „ daure Euch von Herzen; und ich hab’ Euch zu mir kom - „ men laſſen, um Euch den beſten Rath zu geben, den ich „ weiß. Ich habe gehoͤrt, daß eure Bauern eine Vollmacht „ aufgeſetzt haben, um Euch zu ſchuͤtzen, allein ſie wird Euch „ gar nichts helfen: denn die Sache muß doch im Obercon - „ ſiſtorium abgethan werden, und da ſitzen lauter Freunde und „ Verwandte des Herrn Inſpektors. Ihr gewinnt weiter nichts, „ als daß er immer bitterer gegen Euch wird und Euch euer „ Vaterland zu eng macht. Wann ihr alſo wieder vors Con - „ ſiſtorium kommt, ſo fordert euern Abſchied. “
Stilling dankte fuͤr dieſen treuen Rath und verſetzte: Aber meine Ehre leidet darunter! Der Praͤſident erwiederte: Dafuͤr laßt mich ſorgen. Der Schulmeiſter verſprach, dem Rath zu folgen und ging nach Haus; er ſagte aber Niemand, was er vorhatte.
Als nun wiederum Conſiſtorium war, ſo wurde er mit ſei - nen Gegnern vorgeladen. Rehkopf aber ging ungerufen nach Salen hin, und ſogar ins Vorzimmer der Conſiſtorial - Stube. Stilling kam und wurde zuerſt vorgefordert. Der165 Praͤſident winkte ihm, ſeinen Vortrag zu thun. Hierauf fing der Schulmeiſter an: „ Herr Inſpektor! ich ſehe, daß man „ mir mein Amt ſchwer zu machen ſucht, ich begehre alſo aus „ Liebe zum Frieden meinen ehrlichen Abſchied. “ Der Inſpek - tor ſah ihn heiterlaͤchelnd an und ſagte:
„ Brav! Schoolmaiſter! den ſollt’r habaͤ, und ain Atteſt „ derzu, das unverglaichlich is. “
Nein, Herr Inſpektor! kein Atteſt. Tief in meiner Seele iſt ein Atteſt und Ehrenrettung geſchrieben, das kein Tod und kein Feuer des juͤngſten Tags ausloͤſchen wird; und das wird dereinſt meinen Verfolgern ins Geſicht blitzen, daß ſie erblin - den moͤchten. Dieſes ſagte Stilling mit gluͤhenden Wan - gen und funkelnden Augen.
Der Praͤſident laͤchelte ihn an und winkte ihm mit den Augen. Der Inſpektor aber that, als hoͤrte ers nicht, ſon - dern las eine Schrift oder Protokoll durch.
Nun ſagte der Praͤſident laͤchelnd zum Inſpektor: Verur - theilen gehoͤrt fuͤr Sie, aber fuͤr mich die Execution. Schreibt, Sekretaͤr:
„ Heut erſchien der Schulmeiſter Stilling zu Kleefeld „ und begehrte aus Liebe zum Frieden ſeinen ehrlichen Ab - „ ſchied, der ihm dann auch um dieſer Urſache willen zuge - „ ſtanden worden, doch mit dem Beding, daß er gehalten ſeyn „ ſoll, im Fall er wiederum berufen werden ſollte, oder man „ ihn ſonſten zu Geſchaͤften brauchen wollte, ſeine herrlichen „ Talente zum Beſten des Vaterlandes zu verwenden. “
Araͤcht! ſagte der Inſpektor: No Schoolmaiſter, damit ’r doch wißt, daß wer Raͤcht haͤttaͤ, aich Verweiſe z’ gaͤbaͤ, ſo ſag’ ich aich: ’r habt das heiligaͤ Nachtmahl proſtituirt. Wie r’ am laͤtztaͤ gegangen ſayd, habt’r nach dem K’nuß hoͤhniſch k’lacht.
Stilling ſah ihm ins Geſicht und ſagte: Ob ich gelacht habe, weiß ich nicht, das weiß ich aber wohl, daß ich nicht hoͤhniſch gelacht habe.
„ Man ſoll auch bai ſolch ainer heiligaͤ Handlungen nit „ lachaͤ. “
Stilling antwortete: der Menſch ſieht, was vor Augen166 iſt, Gott aber ſieht das Herz an. Ich kann nicht ſagen, ob ich gelacht habe; ich weiß aber wohl, was profanatio sa - crorum iſt, und hab’s lang gewußt.
Nun befahl der Praͤſident, daß ſeine Gegner hereintreten ſollten; ſie kamen, und der Sekretaͤr mußte ihnen das eben abgefaßte Protokoll vorleſen. Sie ſahen ſich an und ſchaͤm - ten ſich.
Habt ihr noch was einzuwenden, fragte der Praͤſident. Sie ſagten: Nein!
Nun dann, fuhr der ehrliche Mann fort, ſo hab’ ich noch was einzuwenden: Dem Herrn Inſpektor kommt’s zu, einen Schulmeiſter zu beſtaͤtigen, wenn ihr einen erwaͤhlt habt. Meine Pflicht aber iſt’s, Acht zu haben, daß Ruhe und Ordnung erhalten werde; deßwegen befehl ich euch bei hundert Gulden Strafe, den vorigen Schulmeiſter nicht zu waͤhlen, ſondern einen ganz unparteyiſchen, damit die Gemeinde wieder ru - hig werde.
Der Inſpektor erſchrack, ſah den Praͤſidenten an und ſagte: „ Auf die Wais werden die Lait nimmer zu Ruh kommaͤ. “
Herr Inſpektor! erwiederte Jener, das gehoͤrt ins forum politicum und geht Sie nichts an.
Indeſſen ließ ſich Rehkopf melden. Er wurde hereinge - laſſen. Dieſer begehrte das Protokoll zu ſehen im Namen ſeiner Principalen. Der Sekretaͤr mußte ihm das heutige vorleſen. Rehkopf ſah Stilling an und fragte ihn, ob das recht waͤre? Stilling antwortete: Man kann nicht immer thun, was recht iſt, ſondern man muß auch wohl zu - weilen die Augen zuthun und ergreifen, was man kann und nicht was man will; indeſſen dank’ ich Euch tauſendmal, rechtſchaffener Freund! Gott wird’s Euch vergelten! Rehkopf ſchwieg eine Weile, endlich fing er an und ſagte: So proteſtir’ ich im Namen meiner Principalen gegen die Wahl des vorigen Schulmeiſters, und begehre, daß dieſe Proteſtation zu Proto - koll getragen werde. Gut! ſagte der Praͤſident, das ſoll ge - ſchehen, ich hab’ daſſelbige auch ſchon vorhin bei hundert Gul - den Strafe verboten. Nun wurden ſie alle zuſammen nach Haus geſchickt und die Sache geſchloſſen.
167Stilling war alſo wiederum in ſeine betruͤbten Umſtaͤnde verſetzt, er nahm ſehr traurig Abſchied von ſeinen lieben Klee - feldern, ging aber nicht nach Haus, ſondern zum Herrn Paſtor Goldmann und klagte ihm ſeine Umſtaͤnde. Dieſer bedauerte ihn von Herzen und behielt ihn uͤber Nacht bei ſich. Des Abends hielten ſie Rath zuſammen, was Stilling nun wohl am fuͤglichſten vorzunehmen haͤtte. Herr Gold - mann erkannte ſehr wohl, daß er bei ſeinem Vater wenig Freude haben wuͤrde, und doch wußte er ihm auch kein an - deres Mittel an die Hand zu geben; endlich fiel ihm etwas ein, das ſowohl dem Paſtor, als auch Stilling angenehm und vortheilhaft vorkam.
Zehn Stunden von Salen liegt ein Staͤdtchen, welches Rothhagen heißt, in demſelben war der junge Herr Gold - mann, ein Sohn des Predigers, Richter. Noch zwei Stun - den weiter, zu Lahnburg, war Herr Schneeberg Hofpre - diger bei zwei hohen Prinzeſſinnen, und dieſer war ein Vet - ter des Herrn Goldmann. Nun glaubte der ehrliche Mann, wenn er Stillingen mit Empfehlungsſchreiben an beide Maͤnner abſchicken wuͤrde, ſo koͤnnte es nicht fehlen, ſie wuͤr - den ihm unterhelfen. Stilling hoffte ſelbſten ganz gewiß, es wuͤrde alles nach Wunſch ausſchlagen. Die Sache wurde alſo beſchloſſen, die Empfehlungsſchreiben fertig gemacht, und Stilling reiste des andern Morgens getroſt und freudig fort.
Das Wetter war dieſen Tag ſehr rauh und kalt, dabei war es wegen der kothigen Wege ſehr uͤbel zu reiſen. Doch ging Stilling viel vergnuͤgter ſeine Straße fort, als wenn er im ſchoͤnſten Fruͤhlingswetter nach Leindorf zu ſeinem Vater haͤtte gehen ſollen. Er fuͤhlte eine ſo tiefe Ruhe in ſeinem Gemuͤth und ein Wohlgefallen des Vaters der Menſchen, daß er froͤhlich fortwanderte, beſtaͤndig Dank und feurige Seufzer zu Gott ſchickte, ob er gleich bis auf die Haut vom Regen durchnaͤßt war. Schwerlich wuͤrd’s ihm ſo wohl geweſen ſeyn, wenn Meinhold Recht gehabt haͤtte.
Des Abends um ſieben Uhr kam er muͤd und naß zu Rothhagen an. Er fragte nach dem Haus des Herrn Rich - ters Goldmann, und dies wurde ihm gewieſen, er ging hin -168 ein und ließ ſich melden. Der Herr Goldmann kam die Treppe herabgelaufen und rief: Ei willkommen, Vetter Stil - ling! Willkommen in meinem Haus! Er fuͤhrte ihn die Treppe hinauf. Seine Liebſte empfing ihn ebenfalls freundlich und machte Anſtalten, daß er trockene Kleider an den Leib bekam, und die ſeinigen wiederum trocken wurden, hernach ſetzte man ſich zu Tiſch. Waͤhrend des Eſſens mußte Stilling ſeine Geſchichte erzaͤhlen; als das geſchehen war, ſagte Herr Gold - mann: Vetter! es muß doch etwas in eurer Lebensart ſeyn, das den Leuten mißfaͤllt, ſonſt waͤr’ es unmoͤglich, ſo ungluͤck - lich zu ſeyn. Ich werde es bald bemerken, wenn Ihr einige Tage bei mir geweſen ſeyd, ich will’s Euch dann ſagen, und Ihr muͤßt es ſuchen abzuaͤndern. Stilling laͤchelte und ant - wortete: Ich will mich freuen, Herr Vetter! wenn Sie mir meine Fehler ſagen, aber ich weiß ganz wohl, wo der Knoten ſitzt, und den will ich Ihnen aufknuͤpfen: Ich lebe nicht in dem Beruf, zu welchem ich geboren bin, ich thue alles mit Zwang, und deßwegen iſt auch kein Segen dabei.
Goldmann ſchuͤttelte den Kopf und erwiederte: Ei! Ei! wozu ſolltet Ihr geboren ſeyn? Ich glaube, Ihr habt Euch durch euer Romanleſen unmoͤgliche Dinge in den Kopf geſetzt. Die Gluͤcksfaͤlle, welche die Phantaſie der Dichter ihren Hel - den andichtet, ſetzen ſich in Kopf und Herz feſt, und erwecken einen Hunger nach dergleichen wunderbaren Veraͤnderungen.
Stilling ſchwieg eine Weile, ſah vor ſich nieder; endlich blickte er ſeinen Vetter durchdringend an und ſagte mit Nach - druck: Nein! bei den Romanen fuͤhl’ ich nur, mir iſts, als wenn mir alles ſelbſt widerfuͤhre, was ich leſe; aber ich habe gar keine Luſt, ſolche Schickſale zu erleben. Es iſt was an - ders, lieber Herr Vetter! ich habe Luſt zu Wiſſenſchaften, wenn ich nur einen Beruf haͤtte, in welchem ich mit Kopfarbeit mein Brod erwerben koͤnnte, ſo waͤre mein Wunſch erfuͤllt.
Goldmann verſetzte: Nun ſo unterſucht einmal dieſen Trieb unparteiiſch. Iſt nicht Ruhm und Ehrbegierde damit verknuͤpft? Habt Ihr nicht ſuͤße Vorſtellungen davon, wenn Ihr in einem ſchoͤnen Kleid und herrſchaftlichen Aufzug einher - treten koͤnntet? Wenn die Leute ſich buͤcken und den Hut vor169 Euch abziehen muͤßten, und wenn Ihr der Stolz und das Haupt eurer Familie wuͤrdet?
Ja! antwortete Stilling treuherzig, das fuͤhl ich freilich, und das macht mir manche ſuͤße Stunde.
Recht, fuhr Goldmann fort: Aber iſt es Euch auch ein wahrer Ernſt, ein rechtſchaffenen Mann in der Welt zu ſeyn, Gott und Menſchen zu dienen, und alſo auch nach dieſem Le - ben ſelig zu werden? Da heuchelt nun nicht, ſondern ſeyd auf - richtig. Habt Ihr den feſt entſchloſſenen Willen?
O ja! verſetzte Stilling, das iſt doch wohl der rechte Polarſtern, nach welchem ſich endlich, nach vielem Hin - und Hervagiren, mein Geiſt wie eine Magnetnadel richtet.
Nun, Vetter! erwiederte Goldmann: Nun will ich Euch eure Nativitaͤt ſtellen, und die ſoll zuverlaͤßig ſeyn. Hoͤrt mir zu! „ Gott verabſcheut nichts mehr, als den eiteln Stolz und die Ehrbegierde, ſeinen Nebenmenſchen, der oft beſſer iſt, als wir, tief unter ſich zu ſehen; das iſt verdorbene menſchliche Natur. Aber er liebt auch den Mann, der im Stillen und Verborgenen zum Wohl der Menſchen arbeitet, und nicht wuͤnſcht, offenbar zu ſeyn. Dieſen zieht Er durch Seine guͤ - tige Leitung, gegen ſeinen Willen endlich hervor und ſetzt ihn hoch hinauf. Da ſitzt dann der rechtſchaffene Mann — ohne Gefahr, geſtuͤrzt zu werden, und weil ihn die Laſt der Erhoͤ - hung niederdruͤckt, ſo betrachtet er alle Menſchen neben ſich ſo gut als ſich ſelbſt. Seht, Vetter! das iſt wahre, edle, ver - beſſerte oder wiedergeborene Menſchennatur. Nun will ich weiſſagen, was Euch widerfahren wird: Gott wird durch eine lange und ſchwere Fuͤhrung alle eure eiteln Wuͤnſche ſuchen abzufegen; gelingt Ihm dieſes, ſo werdet ihr endlich nach vie - len ſchweren Proben ein gluͤcklicher, großer Mann und ein vortreffliches Werkzeug Gottes werden! Wenn Ihr aber nicht folgt, ſo werdet Ihr Euch vielleicht bald hoch ſchwingen, und einen entſetzlichen Fall thun, der allen Menſchen, die es hoͤren werden, in die Ohren gellen wird! “
Stilling wußte nicht wie ihm ward, alle dieſe Worte waren, als wenn ſie Goldmann in ſeiner Seele geleſen haͤtte. Er fuͤhlte dieſe Wahrheit im Grund ſeines Herzens170 und ſagte mit inniger Bewegung und gefalteten Haͤnden: Gott! Herr Vetter! das iſt wahr! ich fuͤhl’s, ſo wird’s mir gehen.
Goldmann laͤchelte und ſchloß das Geſpraͤch mit den Wor - ten: Ich beginne zu hoffen, Ihr werdet endlich gluͤcklich ſeyn.
Des andern Morgens ſetzte der Richter Goldmann Stil - ling in die Schreibſtube und ließ ihn copiren; da ſah er nun alſofort, daß er ſich vortrefflich zu ſo Etwas ſchicken wuͤrde, und wenn die Frau Richterin nicht ein wenig geizig geweſen waͤre, ſo haͤtte er ihn alſofort zum Schreiber angenommen.
Nach einigen Tagen ging er nach Lahnburg. Der Hof - prediger war in den nahgelegenen vortrefflichen Thiergarten gegangen. Stilling ging ihm nach und ſuchte ihn daſelbſt auf. Er fand ihn in einem buſchigten Gang wandeln, er ging auf ihn zu, uͤberreichte ihm den Brief und gruͤßte ihn von den Herren Goldmann Vater und Sohn. Herr Schnee - berg kannte Stillingen, ſobald als er ihn ſah; denn ſie hatten ſich einmal in Salen geſehen und geſprochen. Nach - dem Herr Schneeberg den Brief geleſen hatte, ſo erſuchte er Stilling, mit ihm bis an Sonnenuntergang ſpazieren zu gehen und ihm indeſſen ſeine ganze Geſchichte zu erzaͤhlen. Er thats mit der gewoͤhnlichen Lebhaftigkeit, ſo daß der Hof - prediger zuweilen die Augen wiſchte.
Des Abends nach dem Eſſen ſagte Herr Schneeberg zu Stilling: Hoͤren Sie, mein Freund! ich weiß ein Etabliſ - ſement fuͤr Sie, und das ſoll Ihnen verhoffentlich nicht fehl - ſchlagen. Nur Eins iſt hier die Frage: Ob Sie ſich getrauen, demſelben mit Ehren vorzuſtehen?
„ Die Prinzeſſinnen haben hier in der Naͤhe ein ergiebiges „ Bergwerk, nebſt einer dazu gehoͤrigen Schmelzhuͤtte. Sie „ muͤſſen daſelbſt einen Mann haben, der das Berg - und Huͤt - „ tenweſen verſteht, dabei treu und redlich iſt und uͤberall das „ Intereſſe Ihrer Durchlauchten wohl beſorgt und in Acht nimmt. „ Der jetzige Verwalter zieht kuͤnftiges Fruͤhjahr weg, und „ alsdann waͤr’ es Zeit, dieſen vortheilhaften Dienſt anzutreten; „ Sie bekommen da Haus, Hof, Garten und Laͤndereien frei, „ nebſt dreihundert Gulden jaͤhrlichen Gehalt. Hier hab’ ich „ alſo zwei Fragen an Sie zu thun. Verſtehen Sie das Berg -171 „ und Huͤttenweſen hinlaͤnglich, und getrauen Sie ſich wohl, „ einen verrechnenden Dienſt zu uͤbernehmen? “
Stilling konnte ſeine herzliche Freude nicht bergen. Er antwortete: Was das Erſte betrifft, ich bin unter Kohlbren - nern, Berg - und Huͤttenleuten erzogen, und was mir etwa noch fehlen moͤchte, das kann ich dieſen folgenden Winter noch einholen. Schreiben und Rechnen, daran wird wohl kein Man - gel ſeyn. Das Andere: ob ich treu genug ſeyn werde, das iſt eine Frage, wo meine ganze Seele Ja dazu ſagt; ich verab - ſcheue jede Untreue, wie den Satan ſelber!
Der Hofprediger erwiederte: Ja, ich glaube gern, daß es Ihnen an uͤberfluͤſſiger Geſchicklichkeit nicht mangeln wird, davon hab’ ich ſchon gehoͤrt, als ich im Salen’ſchen Lande war. Allein, Sie ſind ſo ſicher in Anſehung der Treue. Die - ſen Artikel kennen Sie noch nicht. Ich gebe Ihnen zu, daß Sie jede wiſſentliche Untreue wie den Satan haſſen; allein es iſt hier eine beſondere Art von kluger Treue noͤthig, die koͤnnen Sie nicht kennen, weil Sie keine Erfahrung davon haben. Zum Beiſpiel: Sie ſtaͤnden in einem ſolchen Amt, nun ging Ihnen einmal das Geld aus, Sie haͤtten etwas in der Haushaltung noͤthig, haͤtten’s aber ſelber nicht und wuͤßtens auch nicht zu bekommen; wuͤrden Sie da nicht an die herrſchaftliche Kaſſe gehen und das Noͤthige herausnehmen?
Ja! ſagte Stilling, das wuͤrde ich kuͤhn thun, ſo lang ich noch Gehalt zu fordern haͤtte.
Ich geb Ihnen das einſtweilen zu, verſetzte Herr Schnee - berg, aber dieſe Gelegenheit macht endlich kuͤhner, man wird deſſen ſo gewohnt, man bleibt das erſte Jahr zwanzig Gulden ſchuldig, das andere vierzig, das dritte achtzig, das vierte zwei - hundert und ſo fort, bis man entlaufen oder ſich als einen Schel - men ſetzen laſſen muß. Denken Sie nicht, das hat keine Noth! — Sie ſind guͤtig von Temperament, da kommen bald vornehme und geringe Leute, die das merken. Sie werden taͤg - lich mit einer Flaſche Wein nicht auskommen, und blos dieſer Artikel nimmt Ihnen jaͤhrlich ſchon hundert Gulden weg, ohne dasjenige, was noch dazu gehoͤrt, die Kleider fuͤr Sie und die172 Haushaltung auch hundert; nun! — meinen Sie denn, mit den uͤbrigen hundert Gulden noch auszukommen!
Stilling antwortete: Davor muß man ſich huͤten.
Ja! fuhr der Hofprediger fort, freilich muß man ſich huͤten, aber wie wuͤrden Sie das anfangen?
Stilling verſetzte: Ich wuͤrde den Leuten, die mich beſuch - ten, aufrichtig ſagen: Herren oder Freunde! meine Umſtaͤnde leiden nicht, daß ich Wein praͤſentire, womit kann ich Ihnen ſonſt dienen?
Herr Schneeberg lachte. Ja, ſagte er, das geht wohl an, allein es iſt doch ſchwerer, als Sie denken. Hoͤren Sie! ich will Ihnen etwas ſagen, das Ihnen Ihr ganzes Leben lang nuͤtzlich ſeyn wird, Sie moͤgen in der Welt werden, was Sie wollen: Laſſen Sie Ihren aͤußern Aufzug und Betragen in Klei - dung, Eſſen, Trinken und Auffuͤhrung immer mittelmaͤßig buͤr - gerlich ſeyn, ſo wird Niemand mehr von Ihnen fordern, als Ihre Auffuͤhrung ausweist; komm ich in ein ſchoͤn meublirtes Zimmer, bei einem Mann in koſtbarem Kleide, ſo frag’ ich nicht lange, weß Standes er ſey, ſondern ich erwarte eine Flaſche Wein und Confect; komm ich aber in ein buͤrgerliches Zimmer bei einem Mann in buͤrgerlichem Kleide, ei ſo erwarte ich nichts weiter, als ein Glas Bier und eine Pfeife Tabak.
Stilling erkannte die Wahrheit dieſer Erfahrung, er lachte und ſagte: das iſt eine Lehre, die ich niemals vergeſſen werde.
Und doch, mein lieber Frennd, fuhr der Hofprediger fort, iſt ſie ſchwerer in Ausuͤbung zu bringen, als man denkt. Der alte Adam kitzelt ſich ſo leicht damit, wenn man ein Ehren - aͤmtchen kriegt, o wie ſchwer iſts alsdann, noch immer der alte Stilling zu bleiben! Man heißt nun gerne Herr Stilling, moͤchte auch gerne ſo ein ſchmales Treßchen an der Weſte haben, und das wachst dann nach und nach, bis man feſt ſitzt und ſich nicht zu helfen weiß. Nun, mein Freund! Punctum. Ich will helfen, was ich kann, damit Sie Bergverwalter werden.
Stilling konnte die Nacht vor Freuden nicht ſchlafen. Er ſah ſich ſchon in einem ſchoͤnen Hauſe wohnen, ſah eine Menge ſchoͤner Buͤcher in einer aparten Stube ſtehen, verſchiedene ſchoͤne mathematiſche Inſtrumente da haͤngen, mit Einem Wort, ſeine173 ganze Einbildung war ſchon mit ſeinem zukuͤnftigen gluͤckſeligen Zuſtand beſchaͤftiget.
Des andern Tages blieb er noch zu Lahnburg. Der Hof - prediger gab ſich alle Muͤhe, um gewiſſe Hoffnung wegen der bewußten Bedienung Stillingen mitzugeben, und es gelang ihm auch. Die ganze Sache wurde ſo zu ſagen beſchloſſen, und Stilling ging, vor Freude trunken, zuruͤck nach Roth - hagen zu Vetter Goldmann. Dieſem erzaͤhlte er die ganze Sache. Herr Goldmann mußte herzlich lachen, als er Stil - ling mit ſolchem Enthuſiasmus reden hoͤrte. Als er ausge - redet hatte, fing der Richter an: O Vetter! Vetter! wo will’s doch mit Euch hinaus? — Das iſt eine Stelle, die Euch Gott im Zorn gibt, wenn Ihr ſie bekommt, das iſt der gerade Weg zu Eurem gaͤnzlichen Verderben, und das will ich Euch bewei - ſen: ſobald Ihr da ſeyd, fangen alle Hofſchranzen an, Euch zu beſuchen und ſich bei Euch luſtig zu machen; leidet Ihr das nicht, ſo ſtuͤrzen ſie Euch, ſobald ſie koͤnnen, und laßt Ihr ih - nen ihre Freiheit, ſo reicht Euer Gehalt nicht halb zu.
Stilling erſchrack, als er ſeinen Vetter ſo reden hoͤrte; er erzaͤhlte ihm darauf alle die guten Lehren, die ihm der Hofpre - diger gegeben hatte.
Die Prediger koͤnnen das ſehr ſelten, ſagte Herr Gold - mann. Sie moraliſiren gut und ein braver Prediger kann auch in ſeinem Cirkel gut moraliſch leben, aber! aber! wir Andern koͤnnen das ſo nicht; man fuͤhrt die Geiſtlichen nicht ſo leicht in Verſuchung, als andere Leute. Sie haben gut ſagen! — Hoͤrt, Vetter! alle moraliſchen Predigten ſind nicht einen Pfifferling werth, der Verſtand beſtimmt niemalen unſre Handlungen, wenn die Leidenſchaften etwas ſtark dabei intereſ - ſirt ſind, das Herz macht allezeit ein Maͤntelchen darum und uͤberredet uns: ſchwarz ſey weiß! — Vetter! ich ſag Euch eine groͤßere Wahrheit, als Freund Schneeberg. Wer nicht dahin kommt, daß das Herz mit einer ſtar - ken Leidenſchaft Gott liebt, den hilft alles Mora - liſiren ganz und gar nichts. Die Liebe Gottes allein macht uns tuͤchtig, moraliſch gut zu wer - den. Dieſes ſey Euch ein Notabene, Vetter Stilling!174 und nun bitt’ ich Euch, gebt dem Herrn Berg-Verwalter ſei - nen ehrlichen Abſchied und bewillkommt die arme Naͤhnadel mit Freuden, ſo lang, bis Euch Gott hervorziehen wird. Ihr ſeyd mein lieber Vetter Stilling, und wenn Ihr auch nur ein Schneider ſeyd. Summa Summarum! ich will das ganze Ding ruͤckgaͤngig machen, ſobald ich nach Lahnburg komme.
Stilling konnte vor Empfindung des Herzens die Thraͤ - nen nicht einhalten. Es ward ihm ſo wohl in ſeiner Seele, daß er es nicht ausſprechen konnte. O! ſagte er, Herr Vet - ter! wahr iſt das! Woher erlang’ ich aber doch Kraft, um meinem teufliſchen Hochmuth zu widerſtehen! — ein, zwei, drei Tage! — und dann bin ich todt. — Was hilfts mich dann, ein großer, vornehmer Mann in der Welt geweſen zu ſeyn? — Ja, es iſt wahr! — Mein Herz iſt die falſcheſte Kreatur auf Gottes Erdboden, immer mein’ ich, ich haͤtte die Abſicht, nur mit meinen Wiſſenſchaften Gott und dem Naͤch - ſten zu dienen — und wahrlich! — es iſt nicht wahr! ich will nur gern ein großer Mann werden, gern hoch klimmen, um nur auch tief fallen zu koͤnnen. O! wo krieg ich Kraft, mich ſelber zu uͤberwinden?
Goldmann konnte ſich nicht mehr enthalten. Er weinte, fiel Stillingen um den Hals und ſagte: Edler! edler Vet - ter! ſeyd getroſt; dieſes treue Herz wird Gott nicht fahren laſſen. Er wird euer Vater ſeyn. Kraft erlangt man nur durch Arbeit; der Hammerſchmid kann einen Centner Eiſen unter dem Hammer hin und her wenden, wie einen leichten Stab, das iſt uns Beiden unmoͤglich, und ſo kann ein Menſch, der durch Pruͤfungen geuͤbt iſt, mehr uͤberwinden, als ein Mutterſoͤhnchen, das immer an der Bruſt ſaugt und nichts erfahren hat. Getroſt, Vetter! freut Euch nur, wenn Truͤb - ſale kommen, und glaubt alsdann, daß Ihr auf Gottes Uni - verſitaͤt ſeyd, der etwas aus Euch machen will! —
Des andern Tages reiste alſo Stilling getroͤſtet und ge - ſtaͤrkt wiederum nach ſeinem Vaterland. Der Abſchied von Herrn Goldmann koſtete ihn viele Thraͤnen, er glaubte, daß er der rechtſchaffenſte Mann ſey, den er je geſehen hatte, und ich glaube jetzt auch noch, daß Stilling recht gehabt habe. 175So ein Mann mag wohl Goldmann heißen; wie er ſprach, ſo handelte er auch; wenn er noch lebt und liest dieſes, ſo wird er weinen und ſein Gefuͤhl dabei wird engliſch ſeyn.
Auf der Heimreiſe nahm ſich Stilling feſt vor, ruhig am Schneiderhandwerk zu bleiben und nicht wieder ſo eitle Wuͤnſche zu hegen; diejenigen Stunden aber, die er frei ha - ben wuͤrde, wollte er ferner dem Studiren widmen. Doch als er nahe zu Leindorf kam, fuͤhlte er ſchon wieder die Melancholie anklopfen. Inſonderheit fuͤrchtete er die Vorwuͤrfe ſeines Vaters, ſo daß er alſo ſehr niedergeſchlagen zur Stu - benthuͤre hereintrat.
Wilhelm ſaß mit einem Lehrjungen am Tiſch und naͤhte. Er gruͤßte ſeinen Vater und ſeine Mutter, ſetzte ſich ſtill hin und ſchwieg. Wilhelm ſchwieg auch eine Weile, endlich legte er ſeinen Fingerhut nieder, ſchlug die Arme uͤber einan - der und fing an:
Heinrich! ich hab’ alles gehoͤrt, was dir abermals zu Kleefeld widerfahren iſt; ich will dir keine Vorwuͤrfe machen; das ſehe ich aber klar ein, es iſt Gottes Wille nicht, daß du ein Schulmeiſter werden ſollſt. Nun gib dich doch einmal ruhig aus Schneiderhandwerk und arbeite mit Luſt. Es fin - det ſich noch ſo manches Stuͤndchen, wo du deine Sachen fortſetzen kannſt.
Stilling aͤrgerte ſich recht uͤber ſich ſelber und befeſtigte ſeinen Vorſatz, den er unterwegs gefaßt hatte. Er antwortete deßwegen ſeinem Vater: Ja, Ihr habt ganz recht! ich will beten, daß mir unſer Herr Gott die Sinnen aͤndern moͤge! Und ſo ſetzte er ſich hin und fing wieder an zu Naͤhen. Die - ſes geſchah vierzehn Tage nach Michaelis Anno 1760, als er ins einundzwanzigſte Jahr getreten war.
Wenn er nun weiter nichts zu thun gehabt haͤtte, als auf dem Handwerk zu arbeiten, ſo wuͤrde er ſich beruhigt und in die Zeit geſchickt haben; allein ſein Vater ſtellte ihn auch aus Dreſchen. Er mußte den ganzen Winter durch des Morgens fruͤh um zwei Uhr aus dem Bett und auf die kalte Dreſch - tenne. Der Flegel war ihm erſchrecklich. Er bekam die Haͤnde voller lichter Blaſen, und ſeine Glieder zitterten vor Schmerzen176 und Muͤdigkeit, allein das half alles nichts, vielleicht haͤtte ſich ſein Vater uͤber ihn erbarmt, allein die Mutter wollte haben, daß ein jeder im Hauſe Brod und Kleider verdienen ſollte. Dazu kam noch ein Umſtand. Stilling konnte mit dem Schullohn niemals auskommen, denn er iſt in daſigen Gegenden außeror - dentlich klein; fuͤnf und zwanzig Reichsthaler des Jahrs iſt das Hoͤchſte, was einer bekommen kann; Speiſe und Trank geben einem die Bauern um die Reihe. Daher koͤnnen die Schulmeiſter alle ein Handwerk, welches ſie in den uͤbrigen Stunden treiben, um ſich deſto beſſer durchzuhelfen. Das war aber nun Stillings Sache nicht, er wußte in der uͤbrigen Zeit weit was Angenehmeres zu verrichten; dazu kam noch, daß er zuweilen ein Buch oder ſonſt Etwas kaufte, das in ſei - nem Kram diente, daher gerieth er in duͤrftige Umſtaͤnde, ſeine Kleider waren ſchlecht und abgetragen, ſo daß er ausſah, als einer, der gern will und kann nicht.
Wilhelm war ſparſam, und ſeine Frau in einem noch hoͤhern Grade; dazu bekam ſie verſchiedene Kinder nach einander, ſo daß der Vater Muͤhe genug hatte, ſich und die Seinigen zu naͤhren. Nun glaubte er, ſein Sohn waͤre groß und ſtark ge - nug, ſich ſeine Nothdurft ſelbſt zu erwerben. Als das nun ſo nicht recht fort wollte, wie er dachte, ſo wurde der gute Mann traurig und fing an zu zweifeln, ob ſein Sohn auch wohl end - lich gar ein liederlicher Taugenichts werden koͤnnte. Er fing an, ihm ſeine Liebe zu entziehen, fuhr ihn rauh an und zwang ihn, alle Arbeit zu thun, es mochte ihm ſauer werden oder nicht. Dieſes war nun vollends der letzte Stoß, der Stil - lingen noch gefehlt hatte. Er ſah, daß ers auf die Laͤnge nicht aushalten wuͤrde; ihm grauete vor ſeines Vaters Haus, deßwegen ſuchte er Gelegenheit, bei andern Schneidermeiſtern als Geſelle zu arbeiten, und dieſes ließ ſein Vater gern geſchehen.
Doch kamen auch zuweilen noch freudige Blicke dazwiſchen. Johann Stilling wurde wegen ſeiner großen Geſchicklich - keit in der Geometrie, Markſcheidekunſt und Mechanik, und wegen ſeiner Treue fuͤrs Vaterland, zum Commercien-Praͤſi - denten gemacht, deßwegen uͤbertrug er ſeinem Bruder die Land - meſſerei, welche Wilhelm auch aus dem Grunde verſtand. 177Wenn er nun einige Wochen ins Maͤrkiſche ging, um Buͤſche, Berge und Guͤter zu meſſen und zu theilen, ſo nahm er ſeinen Sohn mit, und dieſes war ſo recht nach Stillings Sinn. Er lebte dann in ſeinem Element, und ſein Vater hatte Freude daran, daß ſein Sohn beſſere Einſichten davon hatte, als er ſelber. Dieſes gab oftmalen zu allerhand Geſpraͤchen und Projekten Anlaß, welche Beide in der Einoͤde zuſammen wech - ſelten. Indeſſen war alles fruchtlos, und beſtand in bloßen leeren Worten. Oefters beobachteten ihn Leute, die in großen Geſchaͤften ſtanden, und die wohl Jemand gebraucht haͤtten. Dieſe bewunderten ſeine Geſchicklichkeit; allein ſein ſchlechter Aufzug mißfiel einem Jeden, der ihn ſah, und man urtheilte ingeheim von ihm, er muͤßte wohl ein Lump ſeyn. Das merkte er, und es brachte ihm unertraͤgliche Leiden. Er liebte ſelber ein reinliches, ehrbares Kleid uͤber die Maßen, allein ſein Vater konnte ihn nicht damit verſehen, und ließ ihn darben.
Dieſe Zeiten waren kurz und voruͤbergehend; ſobald er wie - der nach Haus kam, ſo ging das Elend wieder an. Stil - ling machte ſich alsdann bald wieder zu einem fremden Mei - ſter, um dem Joch zu entgehen. Doch reichte ſein Verdienſt lange nicht zu, um ſich ordentlich zu kleiden.
Einſtmals kam er nach Hauſe. Er hatte auf einem benach - barten Dorfe gearbeitet, und wollte etwas holen; er dachte an nichts Widriges, und trat deßwegen freimuͤthig in die Stube. Sein Vater ſprang auf, ſobald er ihn ſah, griff ihn und wollte ihn zur Erde werfen; Stilling aber ergriff ſeinen Vater an beiden Armen, hielt ihn ſo, daß er ſich nicht regen konnte, und ſah ihm mit einer Miene ins Geſicht, die einen Felſen haͤtte ſpalten koͤnnen. Und wahrlich! wenn er jemalen die Macht der Leiden in all’ ihrer Kraft auf ſein Herz hat ſtuͤrmen ſehen, ſo war es in dieſem Zeitpunkte. Wilhelm konnte dieſen Blick nicht ertragen — er ſuchte ſich loszureißen; allein er konnte ſich nicht regen; die Arme und Haͤnde ſeines Sohns waren feſt wie Stahl, und convulſiviſch geſchloſſen. Vater! ſprach er ſanftmuͤthig und durchdringend, Vater! — Euer Blut fleußt in meinen Adern, und das Blut — das BlutStilling’s ſämmtl. Schriften. I. Band. 12178eines ſeligen Engels — reizt mich nicht zur Wuth! — ich verehre Euch — ich liebe Euch — aber — hier ließ er ſeinen Vater los, ſprang gegen das Fenſter und rief: „ ich moͤchte ſchreien, daß die Erdkugel an ihrer Achſe bebte und die Sterne zitterten. “— Nun trat er ſeinem Vater wieder naͤher und ſprach mit ſanfter Stimme: „ Vater, was hab’ ich gethan, was ſtrafwuͤrdig iſt? “— Wilhelm hielt beide Haͤnde vors Geſicht, ſchluchzte und weinte. Stilling aber ging in einen abgelegenen Winkel des Hanſes und heulte laut.
Des Morgens fruͤh packte Stilling ſeinen Buͤndel, und ſagte zu ſeinem Vater: Ich will außer Land auf mein Hand - werk reiſen, laßt mich im Frieden ziehen; und die Thraͤnen ſchoſſen ihm wieder die Wangen herunter. Nein, ſagte Wil - helm, ich laß dich jetzt nicht ziehen, und weinte auch. Stil - ling konnte das nicht ertragen, und blieb. Dieſes geſchah 1761 im Herbſt.
Kurz hernach fand ſich zu Florenburg ein Schneider-Mei - ſter, der Stilling auf einige Wochen in Arbeit verlangte. Er ging hin und half dem Mann Naͤhen. Des folgenden Sonn - tags ging er nach Tiefenbach, um ſeine Großmutter zu beſu - chen. Er fand ſie am gewohnten Platz hinter dem Ofen ſitzen. Sie erkannte ihn bald an der Stimme, denn ſie war ſtaarblind und konnte ihn alſo nicht ſehen. Heinrich, ſagte ſie, komm, ſetze dich hier neben mich! Stilling that das. Ich habe gehoͤrt, fuhr ſie fort, daß dich dein Vater hart haͤlt, iſt wohl deine Mutter ſchuld daran? Nein, ſagte Stilling, ſie iſt nicht ſchuld daran, ſondern meine betruͤbten Umſtaͤnde.
„ Hoͤr, ſagte die ehrwuͤrdige Frau, es iſt dunkel um mich her, aber in meinem Herzen iſt’s deſto heller; ich weiß, es wird dir gehen wie einer gebaͤhrenden Frau, mit vielen Schmerzen mußt du gebaͤren, was aus dir werden ſoll. Dein ſeliger Großvater ſah das alles voraus. Ich denk’ mein Lebtag daran, wir la - gen einmal des Abends auf dem Bette und konnten nicht ſchla - fen. Da ſprachen wir dann ſo von unſern Kindern und auch von dir, denn du biſt mein Sohn und ich habe dich erzogen. Ja, ſagte er, Margrethe! wenn ich doch noch erleben moͤchte, was aus dem Jungen wird. Ich weiß nicht: Wilhelm —179 wird noch in die Klemme kommen, ſo ſtark als er jetzt das Chri - ſtenthum treibt, wird ers nicht ausfuͤhren, er wird ein frommer, ehrlicher Mann bleiben, aber er wird noch was erfahren. Denn er ſpart gern und hat Luſt zu Geld und Gut. Er wird wie - der heirathen, und dann werden ſeine gebrechlichen Fuͤße dem Kopf nicht folgen koͤnnen. Aber der Junge, der liebt nicht Geld und Gut, ſondern Buͤcher, und davon laͤßt ſichs im Bauernſtand nicht leben. Wie die beiden zuſammen ſtallen werden, weiß ich nicht! — Aber der Junge wird doch am Ende gluͤcklich ſeyn, das kann nicht fehlen. Wenn ich eine Axt mache, ſo will ich damit hauen, und wozu unſer Herr Gott einen Menſchen ſchafft, dazu will er ihn auch brauchen! “
Stilling war’s, als wenn er im dunkeln Heiligthum geſeſ - ſen und ein Orakel gehoͤrt haͤtte, es war, als wenn er entzuͤckt waͤre und aus der dunkeln Gruft ſeines Großvaters die gewohnte Stimme ſagen hoͤrte: „ Sey getroſt, Heinrich, der Gott deiner Vaͤter wird mit dir ſeyn! “
Nun redete er noch ein und anderes mit ſeiner Großmutter. Sie ermahnte ihn, geduldig und großmuͤthig zu ſeyn, er ver - ſprachs mit Thraͤnen und nahm Abſchied von ihr. Als er vor die Thuͤr kam, uͤberſah er ſeine alte romantiſche Gegenden; die Herbſtſonne ſchien ſo hell und ſchoͤn daruͤber hin, und da es noch fruͤh am Tage war, ſo beſchloß er, alle dieſe Oerter noch ein - mal zu beſuchen, und uͤber das alte Schloß nach Florenburg zuruͤckzugehen. Er ging alſo den Hof hinauf und in den Wald; er fand noch alle die Gegenden, wo er ſo viele Suͤßigkeiten ge - noſſen hatte, aber der eine Strauch war verwachſen und der andere ausgerottet, das that ihm leid. Er ſpazierte langſam den Berg hinauf bis aufs Schloß, auch da waren viele Mauern umgefallen, die in ſeiner Jugend noch geſtanden hatten; alles war veraͤndert; nur der Hollunderſtrauch auf dem Wall weſt - waͤrts ſtand noch.
Er ſtellte ſich auf die hoͤchſte Spitze zwiſchen die Ruinen, er konnte da uͤber alles hinwegſehen. Nun uͤberſchaute er den Weg von Tiefenbach nach Zellberg. Ihm traten alle die ſchoͤ - nen Morgen vor ſeine Seele, mit ihrem herrlichen Genuß, den er die Strecke herauf empfunden hatte. Nun blickte er nord -12 *180waͤrts in die Ferne, und ſah einen hohen blauen Berg; er er - kannte, daß dieſer Berg nahe bei Dorlingen war; nun traten ihm alle dortigen Scenen klar vors Gemuͤth, ſein Schickſal auf der Rauchkammer und alles andere, was er da gelitten hatte. Nun ſah er weſtwaͤrts die Leindorfer Wieſen in der Ferne liegen, er fuhr zuſammen und es ſchauderte ihm in allen Glie - dern. Suͤdwaͤrts ſah er die Preiſinger Berge mit der Haide, wo Anna ihr Lied ſang. Suͤdweſtwaͤrts fielen ihm die Klee - felder Gefilde in die Augen, und mit Einemmal uͤberdachte er ſein kurzes und muͤhſeliges Leben. Er ſank auf die Knie, weinte laut und betete feurig zum Allmaͤchtigen um Gnade und Erbarmen. Nun ſtand er auf, ſeine Seele ſchwamm in Em - pfindungen und Kraft; er ſetzte ſich neben den Hollunderſtrauch, nahm ſeine Schreibtafel aus der Taſche und ſchrieb:
Vergnuͤgt ſtand nun Stilling auf, und ſteckte ſeine Schreib - tafel in die Taſche. Er ſah, daß der Rand der Sonne auf den ſieben Bergen zitterte. Es ſchauerte etwas um ihn her, er fuhr zuſammen und eilte fort, iſt auch ſeitdem nicht wieder dahin gekommen.
Er hatte jetzt die wenigen Wochen, welche er zu Florenburg war, eine ſehr ſonderbare Gemuͤthsbeſchaffenheit. Er war traur - rig, aber mit einer ſolchen Zaͤrtlichkeit vermiſcht, daß man wuͤn - ſchen ſollte, auf ſolche Weiſe immer traurig zu ſeyn. Die Quelle von dieſem ſeltſamen Zuſtand hat er nie entdecken koͤnnen. Doch glaub’ ich, die haͤuslichen Umſtaͤnde ſeines Meiſters trugen viel dazu bei; es war eine ſo ruhige Harmonie in dieſem Hauſe; was Einer wollte, das wollte auch der Andere. Dazu hatte er auch eine große wohlgezogene Tochter, die man mit Recht un -182 ter die groͤßten Schoͤnheiten des ganzen Landes zaͤhlen mußte. Dieſe ſang unvergleichlich und konnte einen Vorrath von vielen ſchoͤnen Liedern.
Stilling ſpuͤrte, daß er mit dieſem Maͤdchen ſympathiſirte, und ſie auch mit ihm, doch ohne Neigung, ſich zu heirathen. Sie konnten Stunden lang zuſammenſitzen und ſingen, oder ſich etwas erzaͤhlen, ohne daß etwas Vertrauliches mit unterlief, als blos zaͤrtliche Freundſchaft. Was aber endlich daraus haͤtte werden koͤnnen, wenn dieſer Umgang lange gedauert haͤtte, das will ich nicht unterſuchen. Indeſſen genoß doch Stilling die Zeit manche vergnuͤgte Stunde; und dieſes Vergnuͤgen wuͤrde voll - kommner geweſen ſeyn, wenn er nicht noͤthig gehabt haͤtte, wie - der zuruͤck nach Leindorf zu gehen.
An einem Sonntag Abend ſaß Stilling mit Lieschen (ſo hieß das Maͤdchen) am Tiſch und ſangen zuſammen. Ob nun das Lied einigen Eindruck auf ſie machte, oder ob ihr ſonſt etwas Trauriges einfiel, weiß ich nicht, ſie fing herzlich an zu weinen. Stilling fragte ſie, was ihr fehlte? Sie ſagte aber nichts, ſondern ſtand auf und ging fort, kam auch dieſen Abend nicht wieder. Sie blieb von der Zeit an melancholiſch, ohne daß Stilling damals gewahr wurde, warum. Dieſe Veraͤn - derung machte ihm Unruhe, und zu einer andern Zeit, da ſie beide wiederum allein waren, ſetzte er ſo hart an ſie, daß ſie endlich folgender Geſtalt anfing:
„ Heinrich, ich kann und darf dir nicht ſagen, was mir fehlt, ich will dir aber etwas erzaͤhlen: Es war einmal ein Maͤd - chen, das war gut und fromm, und hatte keine Luſt zu unzuͤch - tigem Leben; aber ſie hatte ein zaͤrtliches Herz, auch war ſie ſchoͤn und tugendſam. “
„ Dieſe ging an einem Abend auf ihrer Schlafkammer ans Fenſter zu ſtehen, der Vollmond ſchien ſo ſchoͤn in den Hof, es war Sommer und alles draußen ſo ſtill. Sie bekam Luſt, noch ein wenig herausgehen. Sie ging ſtill zur Hinterthuͤr hinaus in den Hof und aus dem Hof auf die Wieſe, die daran ſtieß. Hier ſetzte ſie ſich unter eine Hecke in den Schatten und ſang mit leiſer Stimme: „ Weicht quaͤlende Gedanken! “ (Die - ſes war eben das Lied, welches Lieschen den Sonntag Abend183 mit Stilling ſang, als ſie ſo außerordentlich traurig wurde.) „ Nachdem ſie ein paar Verſe geſungen hatte, kam ein wohlbe - kannter Juͤngling zu ihr, der gruͤßte ſie und fragte: Ob ſie wohl ein klein wenig mit ihm die Wieſen herunter ſpazieren wollte? Sie thats nicht gern, doch als er ſie ſehr noͤthigte, ſo ging ſie mit. Als ſie nun eine Strecke zuſammen gewandelt hatten, ſo wurde dem Maͤdchen auf einmal alles fremd. Sie befand ſich in einer ganz unbekannten Gegend, der Juͤngling aber ſtand lang und weiß neben ihr, wie ein Todter, der auf der Bahre liegt, und ſah ſie erſchrecklich an. Dem Maͤdchen wurde tod - bange, und ſie betete recht herzlich, daß ihr doch der liebe Gott gnaͤdig ſeyn moͤchte. Nun drehte ſich der Juͤngling auf einmal mit dem Arm herum und ſprach mit holder Stimme: Da ſieh, wie es dir ergehen wird! ſie ſah vor ſich hin eine Weibsperſon ſtehen, welche ihr ſelbſten ſehr aͤhnlich oder wohl gar aͤhnlich war; ſie hatte alte Lumpen anſtatt der Kleider um ſich hangen, und ein kleines Kind auf dem Arm, welches eben ſo aͤrmlich ausſahe. Sieh! ſagte der Geiſt ferner, das iſt ſchon das dritte unehliche Kind, das du haben wirſt. Das Maͤdchen erſchrack und ſank in Ohnmacht. Als ſie wieder zu ſich ſelber kam, da lag ſie in ihrem Bett und ſchwitzte vor Angſt, ſie glaubte aber, ſie haͤtte getraͤumt. Siehe, Heinrich! das liegt mir immer ſo im Sinn, und deßwegen bin ich traurig. “ Stilling ſetzte hart an ſie mit Fragen, ob ihr das nicht ſelb - ſten paſſirt waͤre? Allein ſie laͤugnete es beſtaͤndig und bezeugte, daß es eine Geſchichte waͤre, die ſie haͤtte erzaͤhlen hoͤren.
Die traurige Lebensgeſchichte dieſer bedauernswuͤrdigen Perſon hat es endlich ausgewieſen, daß ſie dieſe ſchreckliche Ahnung ſel - ber muß gehabt haben; und nun laͤßt es ſich leicht begreifen, warum ſie damals ſo melancholiſch geworden. Ich uͤbergehe ihre Hiſtorie aus wichtigen Gruͤnden, und ſage nur ſo viel: Sie beging ein Jahr hernach eine kleine, ganz wohl zu entſchul - digende Thorheit; dieſe war der erſte Schritt zu ihrem Fall, und dieſer die Urſache ihrer folgenden ſchweren und betruͤbten Schickſale. Sie war eine edle Seele, begabt mit vortrefflichen Leibes - und Geiſtes-Gaben; nur ein Hang zur Zaͤrtlichkeit, mit etwas Leichtſinn verbunden, war die entfernte Urſache ihres Un -184 gluͤcks. Aber ich glaube, Ihr Schmelzer wird ſitzen, und ſie wie Gold im Feuer laͤutern, und wer weiß, ob ſie nicht der - maleinſt heller glaͤnzen wird, als ihr Richter, die ihr das Hei - rathen verboten, und wann ſie dann ein Kind von ihrem ver - lobten Braͤutigam zur Welt brachte, ſo mußte ſie mit dem Merk - zeichen einer Erzhure am Pranger ſtehen. Wehe den Geſetzge - bern, welche! — doch ich muß einhalten, ich werde nichts beſſern, wohl aber die Sache verſchlimmern. Noch ein Weh mit einem Fluch. Weh den Juͤnglingen, welche ein armes Maͤdchen blos als ein Werkzug der Wolluſt anſe - hen, und verflucht ſey der vor Gott und Menſchen, der ein gutes frommes Kind zu Fall bringt und ſie hernach im Elend verderben laͤßt!
Herr Paſtor Stollbein hatte indeſſen Stilling zu Flo - renburg entdeckt, und er ließ ihn rufen, als er die letzte Woche daſelbſt bei ſeinem Meiſter war. Er ging hin. Stollbein ſaß in einem Seſſel und ſchrieb. Stilling ſtellte ſich hin, mit dem Hut unter dem Arm.
„ Wie gehts? Stilling! “fragte der Prediger.
Mir gehts ſchlecht, Herr Paſtor, gerad wie der Taube Noaͤ, die nicht fand, wo ihr Fuß ruhen konnte.
„ So geht in den Kaſten! “
Ich kann die Thuͤr nicht finden.
Stollbein lachte herzlich und ſagte: „ Das kann wohl ſeyn. Euer Vater und ihr nahmets mir gewiß uͤbel, als ich eurem Ohm Simon ſagte: Ihr ſolltet Naͤhen, denn kurz darauf gin - get ihr ins Preußiſche und wolltet dem Paſtor Stollbein zu Trotz Schulhalten. Ich habs wohl gehoͤrt, wie’s gegangen hat. Nun, da Ihr lang herumgeflattert habt und die Thuͤre nicht finden koͤnnt, ſo iſts wieder an mir, daß ich Euch eine zeige. “
O Herr Paſtor! ſagte Stilling: Wenn Sie mir zur Ruhe helfen koͤnnen, ſo will ich Sie lieben als einen Engel, den Gott zu meiner Huͤlfe geſandt hat.
„ Ja, Stilling! jetzt iſt Gelegenheit vorhanden, zu welcher ich Euch von Jugend auf beſtimmt hatte, warum ich darauf trieb, daß Ihr Latein lernen ſolltet, warum ich ſo gern ſah, daß Ihr am Handwerk bleibet, als es zu Zellberg nicht mit185 Euch fort wollte. Ich haßte darum, daß Ihr bei Kruͤger wa - ret, weil Euch der gewiß vor und nach auf ſeine Seite und von mir ab wuͤrde gezogen haben, ich durfte aber auch nicht ſagen, warum ich ſo mit Euch verfuhr, ich meinte es aber gut. Waͤrt Ihr am Handwerk geblieben, ſo haͤttet Ihr jetzt Kleider auf dem Leib und ſo viel Geld in der Hand, um Euch helfen zu koͤnnen. Und was haͤtte es Euch denn geſchadet, es iſt ja jetzt noch fruͤh genug fuͤr Euch, um gluͤcklich zu werden. Hoͤrt! die hieſige lateiniſche Schule iſt vacant, Ihr ſollt hier Rector wer - den; Ihr habt Kopf genug, dasjenige bald einzuholen, was Euch etwa noch an Wiſſenſchaften und Sprachen fehlen koͤnnte. “
Stillings Herz erweiterte ſich. Er ſah ſich gleichſam aus einem finſtern Kerker in ein Paradies verſetzt. Er konnte nicht Worte genug finden, dem Paſtor zu danken; wiewohl er doch einen heimlichen Schauer fuͤhlte, wieder eine Schulbedienung anzutreten.
Herr Stollbein fuhr indeſſen fort: „ Nur Ein Knoten iſt hier aufzuloͤſen. Der hieſige Magiſtrat muß dazu diſponirt wer - den, ich habe ſchon in geheim gearbeitet, die Leute ſondirt und ſie geneigt fuͤr Euch gefunden. Allein Ihr wißt, wie’s hier ge - ſtellt iſt, ſobald ich nur anfange, etwas Nuͤtzliches durchzuſetzen, ſo halten ſie mir gerade deßwegen das Widerſpiel, weil ich der Paſtor bin, deßwegen muͤſſen wir ein wenig ſimuliren und ſehen, wie ſich das Ding ſchicken wird. Bleibet Ihr nur ruhig an Eurem Handwerk, bis ich Euch ſage, was Ihr thun ſollt. “
Stilling war zu Allem willig und ging wieder auf ſeine Werkſtatt.
Vor Weihnachten hatte Wilhelm Stilling ſehr viele Klei - der zu machen, daher nahm er ſeinen Sohn zu ſich, damit er ihm helfen moͤchte. Kaum war er einige Tage wieder zu Lein - dorf geweſen, als ein vornehmer Florenburger, der Gerichts - ſchoͤffe Keilhof, zur Stubenthuͤre hereintrat. Stilling bluͤhte eine Roſe im Herzen auf, ihm ahnete ein gluͤcklicher Wechſel.
Keilhof war Stollbeins groͤßter Feind; nun hatte er eine heimliche Bewegung gemerkt, daß man damit umging, Stilling zum Rector zu waͤhlen, und dieſes war ſo recht nach186 ſeinem Sinn. Da er nun gewiß glaubte, der Paſtor wuͤrde ihnen mit aller Macht zuwider ſeyn, ſo hatte er ſchon ſeine Maßregeln genommen, um die Sache deſto maͤchtiger durchzu - ſetzen. Deßwegen ſtellte er Wilhelm und ſeinem Sohn die Sache vor, und hielt darum an, daß Stilling aufs Neujahr zu ihm in ſein Haus ziehen und mit ſeinen Kindern eine Pri - vat-Information in der lateiniſchen Sprache vornehmen moͤchte. Die andern Florenburger Buͤrger wuͤrden alsdann vor und nach ihre Kinder zu ihm ſchicken und die Sache wuͤrde ſich ſo zuſam - menketten, daß man ſie auch gegen Stollbeins Willen wuͤrde durchſetzen koͤnnen.
Dieſe Abſicht war hoͤchſt ungerecht, denn der Paſtor hatte die Aufſicht uͤber die lateiniſche, wie uͤber alle andern Schulen in ſeinem Kirchſpiel, und alſo auch bei jeder Wahl die erſte Stimme.
Stilling wußte die geheime Liegenheit der Sache. Er freute ſich, daß ſich alles ſo gut ſchickte. Doch durfte er die Geſinnung des Predigers nicht entdecken, damit Herr Keilhof nicht alsbald ſeinen Vorſatz aͤndern moͤchte. Die Sache wurde alſo auf dieſe Weiſe beſchloſſen.
Wilhelm und ſein Sohn glaubte nunmehr gewiß, daß das Ende aller Leiden da ſey. Denn die Stelle war anſehnlich und eintraͤglich, ſo daß er ehrlich leben konnte, wenn er auch heira - then wuͤrde. Selbſt die Stiefmutter fing an, ſich zu freuen, denn ſie liebte Stilling wirklich, nur daß ſie nicht wußte, was ſie mit ihm machen ſollte; ſie fuͤrchtete immer, er verdiene Koſt und Trank nicht, geſchweige die Kleider; doch was das letzte betrifft, ſo war er ihr darin noch nie beſchwerlich geweſen, denn er hatte kaum die Nothdurft.
Er zog alſo aufs Neujahr 1762 nach Florenburg bei dem Schoͤffen Keilhof ein und fing ſeine lateiniſche Information an. Als er einige Tage da geweſen war, that ihm Herr Stoll - bein ingeheim zu wiſſen, er moͤchte einmal zu ihm kommen, doch ſo, daß es Niemand gewahr wuͤrde. Dieſes geſchah auch an einem Abend in der Daͤmmerung. Der Paſtor freute ſich von Herzen, daß die Sachen eine ſolche Wendung nahmen. „ Gebt Acht! ſagte er zu Stilling, wenn ſie wegen Eurer187 einmal eins ſind und alles regulirt haben, ſo muͤſſen ſie doch zu mir kommen und meine Einwilligung holen. Weil ſie nun immer gewohnt ſind, dumme Streiche zu machen, ſo ſind ſie auch gewohnt, daß ich ihnen allezeit contrair bin. Wie werden ſie auf ſpitzige Stichelreden ſtudiren? — und wenn ſie dann hoͤren werden, daß ich mit ihnen einer Meinung bin, ſo wird ſie’s wirklich reuen, daß ſie Euch gewaͤhlt haben, allein dann iſts zu ſpaͤt. Haltet Euch ganz ruhig und ſeyd nur brav und fleißig, ſo wirds gut gehen. “
Indeſſen fingen die Florenburger an, des Abends nach dem Eſſen zum Schoͤffen Keilhof zu kommen, um ſich zu berath - ſchlagen, wie man die Sache am beſten angreifen moͤchte, um auf alle Faͤlle gegen den Paſtor geruͤſtet zu ſeyn. Stilling hoͤrte das alles, und oͤfters mußte er hinausgehen, um durch Lachen der Bruſt Luft zu machen.
Unter denen, die zu Keilhof kamen, war ein ſonderlicher Mann, ein Franzoſe von Geburt, der hieß Gayet. So wie nun Niemand wußte, wo er eigentlich her war, deßgleichen ob er lutheriſch oder reformirt war, und warum er des Sommers ebenſowohl wollene Oberſtruͤmpfe mit Knoͤpfen an den Seiten trug, als des Winters; wie auch, woher er an das viele Geld kam, das er immer hatte, ſo wußte auch Niemand, mit wel - cher Partie ers hielt. Stilling hatte dieſen wunderlichen Heiligen ſchon kennen gelernt, als er in die lateiniſche Schule ging. Gayet konnte Niemand leiden, der ein Werkeltags - Menſch war; Leute, mit denen er umgehen ſollte, mußten Feuer und Trieb und Wahrheit und Erkenntniß in ſich haben; wenn er ſo Jemand fand, dann war er offen und vertraulich. Da er nun zu Florenburg Niemand von der Art wußte, ſo machte er ſich ein Plaiſir daraus, ſie Alle zuſammen, den Paſtor mit - gerechnet, zum Narren zu haben. Stilling aber hatte ihm von jeher gefallen, und nun, da er erwachſen und Informator bei Keilhof war, ſo kam er oft hin, um ihn zu beſuchen. Dieſer Gayet ſaß auch wohl des Abends da und hielte Rath mit den andern; dieſes war aber nie ſein Ernſt, ſondern nur, um ſeine Freude an ihnen zu haben. Einſtmals, als ihrer ſechs bis acht recht ernſtlich an der Schulſache uͤberlegten, fing er188 an: „ Hoͤrt, Ihr Nachbarn, ich will Euch was erzaͤhlen: Als ich noch mit dem Kaſten auf dem Ruͤcken laͤngs die Thuͤren ging und Huͤte feil trug, ſo kam ich auch von ungefaͤhr einmal ins Koͤnigreich Siberien, und zwar in die Hauptſtadt Emu - gie; nun war der Koͤnig eben geſtorben und die Reichsſtaͤnde wollten einen Andern waͤhlen. Nun war aber ein Umſtand da - bei, worauf Alles ankam: das Reich Kreuz-Spinn-Land graͤnzt an Siberien, und beide Staaten haben ſich ſeit der Suͤndfluth her immer in den Haaren gelegen, blos aus der Ur - ſache: Die Siberier haben lange in die Hoͤhe ſtehende Ohren, wie ein Eſel, und die Kreuz-Spinn-Laͤnder haben Ohr - lappen, die bis auf die Schulter hangen. Nun war von jeher Streit unter beiden Voͤlkern; Jedes wollte behaupten, Adam haͤtte Ohren gehabt wie ſie. Deßwegen mußte in beiden Laͤn - dern immer ein rechtglaͤubiger Koͤnig erwaͤhlt werden; das beſte Zeichen davon war, wenn Jemand gegen die andere Nation ei - nen unverſoͤhnlichen Haß hatte. Als ich nun da war, ſo hatten die Siberier einen vortrefflichen Mann im Vorſchlag, den ſie nicht ſo ſehr wegen ſeiner Rechtglaͤubigkeit, als vielmehr wegen ſeinen vortrefflichen Gaben, zum Koͤnig machen wollten. Nur er hatte hoch in die Hoͤhe ſtehende Ohren und auch herabhan - gende Ohrlappen, er trug alſo in dem Fall auf beiden Schul - tern; das wollte zwar vielen nicht gefallen, doch man waͤhlte ihn. Nun beſchloß der Reichsrath, daß der Koͤnig mit der wohlgeordneten hochohrigten Armee gegen den langohrigten Koͤ - nig zu Felde ziehen ſollte; das geſchah. Allein, was das einen Allarm gab! — Beide Koͤnige kamen ganz friedlich zuſammen, gaben ſich die Haͤnde und hießen ſich Bruͤder. Alſofort ſetzte man den Koͤnig mit den Zwitterohren wieder ab und ſchnitt ihm die Ohren ganz weg, nun konnt’ er laufen. “
Der Buͤrgermeiſter Scultetus nahm ſeine lange Pfeife aus dem Mund und ſagte: der Herr Gayet iſt doch weit in der Welt umher geweſen. Ja wohl! ſagte ein Anderer, aber ich glaube, er gibt uns einen Stich; er will damit ſagen, wir waͤren alle zuſammen Eſel. Schoͤffe Keilhof aber lachte, blinkte Herrn Gayet heimlich an und ſagte ihm ins Ohr: die Narren verſtehen nicht, daß Sie den Paſtor und ſein Conſiſiorium189 damit meinen. Stilling aber, der ein guter Geographus war und uͤberhaupt die ganze Fabel wohl verſtand, lachte recht herzlich und ſchwieg. Gayet ſagte Keilhof wieder ins Ohr: Sie habens halb und halb errathen.
Nachdem man nun glaubte, ſich in gehoͤrige Sicherheit geſetzt zu haben, ſo ſchickte man um Faſtnacht eine Deputation an den Paſtor ab; Schoͤffe Keilhof ging ſelbſt mit, denn er mußte das Wort fuͤhren. Stilling wurde Zeit und Weile lang, bis ſie wieder kamen, um zu hoͤren, wie die Sache abge - laufen waͤre. Er hoͤrte es auch von Wort zu Wort. Keilhof hatte den Vortrag gethan.
„ Herr Paſtor! wir haben uns einen lateiniſchen Schulmei - ſter ausgeſucht, wir kommen her, um es Ihnen anzukuͤndigen. “
Ihr habt mich aber nicht vorher gefragt, ob ich den auch haben will, den Ihr ausgeſucht habt.
„ Davon iſt die Frage nicht, die Kinder ſind unſer, die Schul iſt unſer und auch der Schulmeiſter. “
Aber welcher unter Euch verſteht wohl ſo viel Latein, um ei - nen ſolchen Schulmeiſter zu pruͤfen, ob er auch wohl zu dem Amte nutzt?
„ Dazu haben wir unſere Leute. “
Der Fuͤrſt aber ſagte: Ich ſoll der Mann ſeyn, der den hie - ſigen Rector examinirt und beſtaͤtiget, verſteht Ihr mich!
„ Deßwegen kommen wir ja auch her. “
Nun dann! ohne Weitlaͤufigkeit — ich hab auch einen aus - geſucht, der gut iſt, — und das iſt — der bekannte Schulmeiſter Stilling!
Keilhof und ſeine Leute ſahen ſich an. Stollbein aber ſtand und laͤchelte mit Triumph, und ſo ſchwieg man eine Weile und ſagte gar nichts.
Keilhof erholte ſich endlich und ſagte: „ Nun denn, ſo ſind wir ja Einer Meinung! “
Ja, Schoͤffe Starrkopf! wir waͤren denn doch endlich ein - mal Einer Meinung! bringt Euern Schulmeiſter her, ich will ihn beſtaͤtigen und einſetzen.
„ So weit ſind wir noch nicht, Herr Paſtor! wir wollen ein190 eigenes Schulhaus fuͤr ihn haben und die lateiniſche Schule von der deutſchen ſepariren. “
(Denn beide Schulen waren vereinigt, jeder Schulmeiſter be - kam das halbe Gehalt, und der lateiniſche half dem deutſchen in den uͤbrigen Stunden.)
Gott verzeih mir meine Suͤnde! da ſaͤet doch der Teufel wie - der ſein Unkraut. Wovon ſoll denn euer Rector leben?
„ Das iſt wiederum unſere Sache und nicht die Ihrige. “
Hoͤrt, Schoͤffe Keilhof! Ihr ſeyd ein recht dummer Kerl! ein Vieh, ſo groß als eins auf Gottes Erdboden geht, — ſcheert Euch nach Haus!
„ Was? Ihr — Ihr — ſcheltet mich? “
Geht, großer Narr! Ihr ſollt nun Euern Stilling nicht haben, ſo wahr ich Paſtor bin! und damit ging er in ſein Ca - binet und ſchloß die Thuͤre hinter ſich zu.
Noch eh der Schoͤffe nach Haus kam, erhielt Stilling Ordre, nach dem Pfarrhaus zu kommen; er ging und dachte nicht an - ders, als er wuͤrde nun zum Rector eingeſetzt werden. Allein wie erſchrack er nicht, als ihn Stollbein folgendergeſtalt an - redete:
„ Stilling! Eure Sache iſt nichts. Wenn ihr nicht ins groͤßte Elend, in Hunger und Kummer gerathen wollt, ſo me - lirt Euch nicht weiter mit den Florenburgern. “
Und hierauf erzaͤhlte ihm der Paſtor alles, was vorgefallen war. Stilling nahm mit groͤßter Wehmuth Abſchied von dem Paſtor. Seyd zufrieden! ſagte Herr Stollbein, Gott wird Euch noch ſegnen und gluͤcklich machen, bleibt nur an Eu - rem Handwerk, bis ich Euch ſonſt anſtaͤndig verſorgen kann.
Die Florenburger wurden indeſſen boͤs auf Stilling, weil er, wie ſie glaubten, heimlich mit dem Paſtor gepfluͤgt hatte. Sie verließen ihn alſo auch und waͤhlten einen Andern. Herr Stollbein ließ ihnen fuͤr dießmal ihren Willen; ſie machten einen neuen Rector, gaben ihm ein beſonderes Haus, und da ſie der alten deutſchen Schule das Gehalt nicht entziehen konnten und durften, zu einem neuen aber keinen Rath wußten, ſo be - ſchloßen ſie, ihm ſechzig Kinder zum Lateinlernen zu verſchaffen und von jedem Kind jaͤhrlich vier Reichsthaler zu bezahlen. 191Allein der rechtſchaffene Mann hatte das erſte Vierteljahr ſechzig, hernach vierzig, zu Ende des Jahrs zwanzig und endlich kaum fuͤnf, ſo daß er, bei aller Muͤh und Arbeit, endlich im Hunger, Kummer und Elend ſtarb und ſeine Frau und Kinder bettelten.
Nach dieſem Vorfall gab ſich Herr Stollbein in Ruhe, er fing an, ſtille zu werden und ſich um nichts mehr zu be - kuͤmmern; er verſah nur blos ſeine Amtsgeſchaͤfte, und zwar mit aller Treue. Der Hauptfehler, welcher ihn ſo oft zu thoͤ - richten Handlungen verleitet hatte, war ein Familienſtolz. Seine Frau hatte vornehme Verwandte, und die ſah er gern hoch ans Brett kommen. Auch er ſelber ſtrebte gern nach Gewalt und Ehre. Dieſes ausgenommen, war er ein gelehrter und ſehr gutherziger Mann; ein Armer kam nie fehl bei ihm, er gab, ſo lange er hatte, und half dem Elenden, ſo viel er konnte. Nur dann war er ausgelaſſen und unerbittlich, wenn er ſah, daß Jemand von geringem Stand Miene machte, ne - ben ihm emporzuſteigen. Aus dieſer Urſache war er auch Johann Stilling immer feind. Dieſer war, wie oben geſagt worden, Commercien-Praͤſident des Salen’ſchen Lan - des; und da Stollbein ein großer Liebhaber von Bergwerken war, ſo ließ er Herrn Stilling immer merken, daß er ihn gar nicht fuͤr das erkannte, was er war; und wenn Jener nicht beſcheiden genug geweſen waͤre, dem alten Mann nach - zugeben, ſo haͤtte es oft harte Stoͤße abgeſetzt.
Doch zeigte Stollbeins Beiſpiel, daß Guͤte des Herzens und Redlichkeit niemalen ungebeſſert ſterben laſſe.
Einſtmalen war eine allgemeine Gewerken-Rechnung abzu - legen, ſo daß alſo die vornehmſten Commercianten des Landes bei ihrem Praͤſidenten Stilling zuſammenkommen mußten. Herr Paſtor Stollbein kam auch, deßgleichen Schoͤffe Keil - hof, mit noch einigen andern Florenburgern. Herr Stil - ling ging auf den Paſtor zu, nahm ihn an der Hand und fuͤhrte ihn neben ſich an die rechte Seite und ließ ihn da ſitzen. Der Prediger war die ganze Zeit uͤber aus der Maßen freundlich. Nach dem Mittageſſen fing er an:
„ Meine Herrn und Freunde! Ich bin alt und ich fuͤhle, daß meine Kraͤfte mit Gewalt abnehmen, es iſt das letzte192 Mal, daß ich bei Ihnen bin, ich werde nicht wieder herkom - men. Iſt nun Jemand unter Ihnen, der mir nicht vergeben hat, wo ich ihn beleidigt habe, den bitt’ ich jetzt von Herzen um Verſoͤhnung. “
Alle Anweſenden ſahen ſich an und ſchwiegen. Herr Stil - ling konnte das unmoͤglich ausſtehen. Herr Paſtor! ſagte er, das bricht mir mein Herz! — Wir ſind Menſchen und fehlen Alle; ich hab’ Ihnen unendlich viel zu danken, Sie haben mir die Grundwahrheiten unſerer Religion beigebracht, und vielleicht hab’ ich Ihnen oft Anlaß zur Aergerniß gegeben, ich bin alſo der Erſte, der Sie von Grund ſeiner Seele um Verzeihung bittet, wo er Sie beleidigt hat. Der Paſtor wurde ſo geruͤhrt, daß ihm die Thraͤnen die Wangen herunter liefen; er ſtand auf, umarmte Stillingen und ſagte: Ich hab’ Sie oft beleidigt. Ich bedaure es und wir ſind Bruͤder. Nein, ſagte Stilling, Sie ſind mein Vater! geben Sie mir Ihren Segen! Stollbein hielt ihn noch feſt in den Armen und ſagte: Sie ſind geſegnet, Sie und Ihre ganze Familie, und das um des Mannes willen, der ſo oft mein Stolz und meine Freude war.
Dieſer Auftritt war ſo unerwartet und ſo ruͤhrend, daß die mehrſten Anweſenden Thraͤnen in Menge vergoßen, Stilling und Stollbein aber am mehrſten.
Nun ſtand der Prediger auf, ging herab zu Schoͤffe Keil - hof und den uͤbrigen Florenburgern, laͤchelte und ſagte: Sollen wir denn auch an dieſem Rechnungstage unſre Rechnung zu - ſammen abmachen? Keilhof antwortete: Wir ſind Ihnen nicht boͤſe! — Ja! verſetzte Herr Stollbein, davon iſt hier die Rede nicht. Ich bitte Euch alle feierlich um Vergebung, wo ich Euch beleidigt habe! — Wir vergeben Ihnen gerne, erwiederte Keilhof, aber das muͤßten Sie auf der Kanzel thun.
Stollbein fuͤhlte ſein ganzes Feuer wieder, doch ſchwieg er ſtill und ſetzte ſich neben Stilling hin. Dieſer aber wurde ſo voll Eifer, daß er im Geſicht gluͤhte. Herr Schoͤffe! fing er an! Sie ſind nicht werth, daß Ihnen Gott Ihre Suͤnden vergibt, ſo lange Sie ſo denken. Der193 Herr Paſtor iſt frei und hat ſeine volle Pflicht erfuͤllt. Chriſtus gebeut Liebe und Verſoͤhnlich - keit. Er wird Euch Euren Starrſinn auf den Kopf vergelten.
Herr Stollbein ſchloß dieſe ruͤhrende Scene mit den Wor - ten: Auch das ſoll geſchehen, ich will meine ganze Gemeinde oͤffentlich auf der Kanzel um Vergebung bitten und ihnen weiſ - ſagen, daß einer nach mir kommen werde, der ihnen eintraͤn - ken wird, was ſie an mir verſchuldet haben. Beides iſt auch in ſeiner ganzen Fuͤlle geſchehen.
Kurz nach dieſem Vorfall ſtarb Herr Stollbein im Frie - den und wurde zu Florenburg in der Kirche bei ſeiner Gat - tin begraben. In ſeinem Leben wurde er gehaßt und nach ſei - nem Tode beweint, geehrt und geliebt. Wenigſtens Hein - rich Stilling hielt ihn Lebenslang in ehrwuͤrdigem Andenken.
Stilling war noch bis Oſtern bei dem Schoͤffen Keil - hof, allein er merkte, daß ihn ein Jeder ſauer anſah, er wurde alſo auch dieſes Lebens muͤde.
Nun uͤberlegte er einſtmalen des Morgens auf dem Bett ſeine Umſtaͤnde; zu ſeinem Vater zuruͤckzukehren, war ihm ein erſchrecklicher Gedanke; denn die vielen Feldarbeiten haͤtten ihn auf die Laͤnge zu Boden gedruͤckt, dazu gab ihm ſein Vater nur Speiſe und Trank; denn was er allenfalls mehr verdiente, das rechnete ihm derſelbe auf den Vorſchuß, den er ihm in vorigen Jahren gethan hatte, wenn er mit dem Schullohn nicht auskommen konnte; er durfte alſo noch nicht an Kleider den - ken, und dieſe waren doch binnen Jahresfriſt ganz unbrauch - bar. Bei andern Meiſtern zu arbeiten war ihm ebenfalls ſchwer, und er ſah, daß er ſich auch damit nicht retten konnte, denn ein halber Gulden Wochenlohn trug ihm in einem gan - zen Jahr nicht ſo viel ein, als nur die allernothwendigſten Kleider erforderten. Er wurde halb raſend, fuhr aus dem Bett und rief: Allmaͤchtiger Gott! was ſoll ich denn ma - chen? — In dem Augenblick war es ihm, als wenn ihm in die Seele geſprochen wuͤrde: Geh’ aus deinem Vater - land, von deiner Freundſchaft und aus deinesStillings ſämmtl. Schriften. I. Band. 13194Vaters Haus in ein Land, das ich dir zeigen will! Er fuͤhlte ſich tief beruhigt und beſchloß alſofort, in die Fremde zu gehen.
Dieſes geſchah Dienſtags vor Oſtern. Denſelbigen Tag beſuchte ihn ſein Vater. Der gute Mann hatte wiederum ſeines Sohnes Schickſal vernommen, und deßwegen kam er nach Florenburg. Beide ſetzten ſich zuſammen auf ein ein - ſames Zimmer, und nun fing Wilhelm an:
„ Heinrich! ich komme zu dir, mit dir Rath zu pflegen; ich ſehe nunmehr klar ein, daß du unſchuldig geweſen biſt. Gott hat dich gewiß zum Schulhalten nicht beſtimmt, das Handwerk verſtehſt du; aber du biſt in ſolchen Umſtaͤnden, wo es dir die Nothdurft nicht verſchaffen kann; und bei mir zu ſeyn, iſt auch fuͤr dich nicht, du ſcheuſt mein Haus, und das iſt auch kein Wunder; ich bin nicht im Stande, dir das Noͤ - thige zu verſchaffen, wenn du nicht die Arbeit verrichten kannſt, die ich zu thun habe, es wird mir ſelber ſauer, Frau und Kin - der zu ernaͤhren. Was meinſt du, haſt du wohl nachgedacht, was du thun willſt? “
Vater! daruͤber hab’ ich lange Jahre nachgedacht; aber erſt dieſen Morgen iſt mir klar worden, was ich thun ſoll; ich muß in die Fremde ziehen und ſehen, was Gott mit mir vor hat.
„ Wir ſind alſo einerlei Meinung, mein Sohn! Wenn wir der Sache vernuͤnftig nachdenken, ſo finden wir, daß deine Fuͤhrung von Anfang dahin gezielt hat, dich aus deinem Va - terland zu treiben; und was kannſt du hier erwarten? Dein Oheim hat ſelber Kinder, und die wird er erſt ſuchen anzu - bringen, eh er dir hilft, indeſſen gehen deine Jahre um. Aber — du — wenn ich deine erſten Jahre — und die Freude bedenke, die ich an dir haben wollte — und du biſt nun fort — ſo iſts um Stillings Freude geſchehen! Das Ebenbild des ehrlichen Alten. “— Hier konnte er nicht mehr reden, er hielt beide Haͤnde vor die Augen, kruͤmmte ſich in einander und weinte laut.
Dieſe Scene war Stilling unausſtehlich, er wurde ohn - maͤchtig. Als er wieder zu ſich ſelber kam, ſtand ſein Vater195 auf, druͤckte ihm die Hand und ſagte: Heinrich! nimm von Niemand Abſchied, geh, wann dir der himmliſche Vater winkt! Die heiligen Engel werden dich begleiten, wo du hingehſt, ſchreib mir oft, wie es dir geht! Nun eilte er zur Thuͤre hinaus.
Stilling ermannte ſich, faßte Muth und empfahl ſich Gott; er fuͤhlte, daß er von allen Freunden ganz los war. Nichts hing ihm weiter an, ſondern er erwartete mit Verlan - gen den zweiten Oſtertag, welchen er zu ſeiner Abreiſe be - ſtimmt hatte; er ſagte Niemand in der Welt etwas von ſei - nem Vorhaben, beſuchte auch Niemand, ſondern blieb zu Haus.
Doch konnte er nicht unterlaſſen, noch einmal zu guter Letzt auf den Kirchhof zu gehen. Er thats nicht gern am Tage, deßwegen ging er des Abends vor Oſtern beim Licht des vol - len Mondes hin und beſuchte Vater Stilling’s und Dort - chen’s Grab, ſetzte ſich auf jedes eine kleine Weile und weinte ſtille Thraͤnen. Seine Empfindungen waren unausſprechlich. Er fuͤhlte ſo etwas in ſich und ſprach: Wenn dieſe Beiden noch lebten, ſo ging es dir weit anders in der Welt. Er nahm endlich ordentlich Abſchied von beiden Graͤbern und von den ehrwuͤrdigen Gebeinen, die darinnen verwesten, und ging fort.
Den folgenden Oſtermontag Morgen, Anno 1762, welches der zwoͤlfte April war, rechnete er mit dem Schoͤffen Keil - hof ab. Er bekam noch etwas uͤber vier Reichsthaler. Die - ſes Geld nahm er zu ſich, ging auf die Kammer, that ſeine drei zerlappten Hemde, das vierte hatte er an, ein Paar alte Struͤmpfe, eine Schlafkappe, ſeine Scheer und Fingerhut in einen Reiſeſack, zog darauf ſeine Kleider an, die aus ein paar mittelmaͤßig guten Schuhen, ſchwarzen wollenen Struͤmpfen, ledernen Hoſen, ſchwarzen tuchenen Weſte, einem ziemlich gu - ten braunen Rock von ſchlechtem Tuch, und einem großen Hut, nach der damaligen Mode, beſtanden. Nun kruͤmmte er ſein fadenrechtes braunes Haar, nahm ſeinen langen dornenen Stock in die Hand und wanderte auf Saalen zu, wo er ſich einen Reiſepaß beſorgte, und zu einem Thor herausging, das gegen Nordweſten ſteht. Er gerieth auf eine Landſtraße; ohne zu wiſſen, wohin ſie fuͤhrte, folgte er derſelben, und ſie13 *196brachte ihn am Abend in einen Flecken, welcher an der Graͤnze des Salen’ſchen Landes liegt.
Hier kehrte er in einem Wirthshauſe ein und ſchrieb einen Brief an ſeinen Vater nach Leindorf, in welchem er zaͤrt - lich Abſchied von ihm nahm, und ihm verſprach, ſobald er ſich irgendwo niederlaſſen wuͤrde, alles umſtaͤndlich zu ſchreiben. Unter den Buͤrgergaͤſten, welche des Abends in dieſem Hauſe tranken, waren verſchiedene Fuhrleute, eine Art Menſchen, bei denen man ſich am allerbeſten nach den Wegen erkundi - gen kann. Stilling fragte ſie, wohin dieſe Landſtraße fuͤhre. Sie ſagten: nach Schoͤnenthal. Nun hatte er in ſeinem Leben viel von dieſer weitberuͤhmten Handelsſtadt gehoͤrt; er beſchloß alſo, dahin zu reiſen, ließ ſich deßwegen die Oerter an dieſer Landſtraße und ihre Entfernung von einander ſagen, dieſes alles zeichnete er in ſeine Schreibtafel auf und legte ſich ruhig ſchlafen.
Des andern Morgens, nachdem er Kaffee getrunken und ein Fruͤhſtuͤck genommen hatte, empfahl er ſich Gott und ſetzte ſeinen Stab weiter; es war aber ſo nebelig, daß er kaum einige Schritte vor ſich hin ſehen konnte; da er nun auf eine große Haide kam, wo viele Wege neben einander hergingen, ſo folgte er immer demjenigen, welcher ihm am gebahnteſten ſchien. Als ſich nun zwiſchen zehn und eilf Uhr der Nebel vertheilte und die Sonne durchbrach, ſo fand er, daß ſein Weg gegen Morgen ging. Er erſchrack herzlich, wanderte noch ein wenig fort, bis auf eine Anhoͤhe, da ſah er nun den Flecken wieder nahe vor ſich, in welchem er uͤber Nacht geſchlafen hatte. Er kehrte wieder um, und da nun der Himmel heiter war, ſo fand er die große Heerſtraße, die ihn binnen einer Stunde auf eine große Hoͤhe fuͤhrte.
Hier ſetzte er ſich an einen gruͤnen Raſen und ſchaute gegen Suͤdoſten. Da ſah er nun in der Ferne das alte Geiſen - berger Schloß, den Giller, den hoͤchſten Huͤgel und andere gewohnte Gegenden mehr. Ein tiefer Seufzer ſtieg ihm in der Bruſt auf, Thraͤnen floßen ihm die Wangen herun - ter, er zog ſeine Tafel heraus und ſchrieb:
197Nun ſtand Stilling auf, trocknete ſeine Thraͤnen ab, nahm ſeinen Stab in die Hand, den Reiſeſack auf den Ruͤ - cken und wanderte uͤber die Hoͤhe ins Thal hinunter.
So wie Heinrich Stilling den Berg hinunter ins Thal ging und ſein Vaterland aus dem Geſichte verlor, ſo wurde auch ſein Herz leichter; er fuͤhlte nun, wie alle Verbindungen und alle Beziehungen, in welchen er bis dahin ſo aͤngſtlich ge - ſeufzt hatte, aufhoͤrten, und deßwegen athmete er freie Luft und war voͤllig vergnuͤgt.
Das Wetter war unvergleichlich ſchoͤn; des Mittags trank er in einem Wirthshaus, das einſam am Wege ſtand, ein Glas Bier, aß ein Butterbrod dazu und wanderte darauf wieder ſeine Straße, die ihn durch wuͤſte und oͤde Oerter, des Abends, nach Sonnenuntergang, in ein elendes Doͤrfchen brachte, wel - ches in einer moraſtigen Gegend, in einem engen Thal, in den Geſtraͤuchen lag; die Haͤuſer waren elende Huͤtten und ſtanden mehr in der Erde, als auf derſelben. An dieſem Ort war er nicht Willens geweſen, zu uͤbernachten, ſondern zwei Stunden weiter; allein da er ſich des Morgens fruͤh irr gegangen hatte, konnte er ſo weit nicht kommen.
An dem erſten Hauſe fragte er: ob Jemand im Dorfe wohne, der Reiſende beherberge? Man wies ihm ein Haus, er ging dahinein und fragte, ob er hier uͤbernachten koͤnnte? Die Frau ſagte: Ja. Er ging in die Stube, ſetzte ſich hin und legte ſeinen Reiſeſack ab. Der Hausvater kam herein, einige kleine Kinder verſammelten ſich bei dem Tiſch und die Frau brachte ein Thranlicht, welches ſie an eine haͤnfene Schnur mitten in der Stube aufhing; alles ſah ſo aͤrmlich und, die Wahrheit zu ſagen, ſo verdaͤchtig aus, daß Stilling angſt und bang wurde und lieber im lieben Wald geſchlafen haͤtte; doch das war ganz unnoͤthig, denn er beſaß nichts, das ſtehlenswerth war. Indeſſen brachte man ihm ein irdenes Schuͤſſelchen mit Sauer -202 kraut, ein Stuͤck Speck dabei und darauf ein paar gebackene Eier. Er ließ ſichs gut ſchmecken und legte ſich aufs Stroh, das man ihm in der Stube bereitet hatte. Er ſchlief vor Mit - ternacht, mehrentheils aus Angſt, nicht viel. Der Wirth und ſeine Frau ſchliefen auch in der Stube in einem Alkoven. Ge - gen zwoͤlf Uhr hoͤrte er die Frau zum Manne ſagen: Arnold, ſchlaͤfſt du? Nein, antwortete er, ich ſchlafe nicht. Stilling horchte, holte aber mit Fleiß ſtark Odem, damit ſie glauben ſollten, er ſchliefe feſt.
Was mag das wohl fuͤr ein Menſch ſeyn? ſagte die Frau. Arnold erwiederte: „ Das mag Gott wiſſen! ich habe den ganzen Abend nachgedacht, er ſprach nicht viel; ſollte es auch wohl eine rechte Sache mit dem Menſchen ſeyn? “
Denk doch nicht gleich was Arges von den Leuten! verſetzte Trine, er ſieht ſo ehrlich aus, wer weiß, was er all fuͤr Un - gluͤck ſchon erlebt hat! gewiß er dauert mich; ſobald als er zur Thuͤr hereintrat, kam er mir ſo traurig vor, unſer Herr Gott woll’ ihm doch als beiſtehn; ich kann ſehen, daß er et - was auf dem Herzen hat.
„ Du haſt recht, Trine! antwortete Arnold, Gott verzeih mir meinen Argwohn! ich dachte juſt an den Schulmeiſter aus dem Salen’ſchen Land, der vor ein paar Jahren hier ſchlief, der war juſt ſo gekleidet, und wir hoͤrten hernach, daß er ein Geldmuͤnzer geweſen. “
Arnold! ſagte Trine, du kannſt auch die Leute gar nicht aus dem Geſicht kennen; Jener ſah ſo ſchwarz und ſo finſter aus den Augen und durfte einen nicht anſehen, Dieſer aber ſieht ſo freundlich und ſo gut aus, er hat wahrlich ein gut Gewiſſen!
„ Ja, ja! ſchloß Arnold, wir wollen ihn unſerem Herr Gott befehlen, der ſoll ihm wohl helfen, wenn er fromm iſt. “
Nun ſchliefen die guten Leute wieder; Stilling wurde aber ſo vergnuͤgt auf ſeinem Stroh, er fuͤhlte den Stilling’ - ſchen Geiſt um ſich wehen und ſchlief ſo ſanft bis an den Mor - gen, als wenn er in Eiderdunen gelegen haͤtte. Sobald er erwachte, war ſchon ſein Wirth und ſeine Wirthin am Anklei - den; er ſah ſie Beide laͤchelnd an und wuͤnſchte ihnen einen203 guten Morgen. Sie fragten ihn, wie er geſchlafen haͤtte, und er antwortete: nach Mitternacht recht wohl. Ihr waret ge - ſtern Abend wohl recht muͤde? ſagte Trine, ihr ſahet ſo trau - rig aus. Stilling erwiederte: Lieben Freunde! ich war nicht ſo ſehr muͤde, allein ich habe viel in meinem Leben ausgeſtan - den und ſehe deßwegen trauriger aus, als ich bin; dazu muß ich bekennen, ich war bang, ob ich auch bei frommen Leuten waͤre. Ja, ſagte Arnold, ihr ſeyd bei Leuten, die Gott fuͤrch - ten und gern ſelig werden wollen; wenn ihr große Schaͤtze bei euch haͤttet, ſie waͤren bei uns verwahrt. Stilling reichte ihm ſeine rechte Hand und ſagte mit der zaͤrtlichſten Miene: Gott ſegne euch! ſo ſind wir einerlei Meinung. Trine! fuhr Arnold fort, mach’ uns einen guten Thee, hol’ etwas vom beſten Milchrahm dazu, da wollen wir Drei ſo zuſammentrin - ken, wir moͤchten nicht wieder zuſammenkommen. Die Frau war hurtig und froh, ſie that gern, was der Mann ſagte. Nun tranken die Drei den Thee und waren alle daheim. Stil - ling floß uͤber von Freundſchaft und Empfindung, es that ihm wehe, von den Leutchen wegzugehen, die Augen gingen ih - nen Allen uͤber, als er Abſchied nahm. Aufs Neue geſtaͤrkt, wanderte er wieder ſeinen Weg fort.
Nach fuͤnf Stunden, da es gerade Mittag war, kam er in einen ſchoͤnen Flecken, der in einer angenehmen Gegend lag; er fragte nach einem guten Wirthshauſe; man wies ihm eins an der Straße, er ging hinein, trat in die Stube und forderte etwas zu eſſen. Hier ſaß ein alter Mann am Ofen; der Schnitt ſeiner Kleidung zeigte etwas Vornehmes, die eigentliche Beſchaffenheit derſelben aber, daß er weit von ſeinem ehmali - gen Zuſtand herunter gekommen ſeyn mußte; ſonſt waren zwei Juͤnglinge und ein Maͤdchen daſelbſt, deren tiefe Trauerkleider den Verluſt eines nahen Anverwandten vermuthen ließen. Das Maͤdchen beſorgte die Kuͤche, ſie ſah modeſt und reinlich aus.
Stilling ſetzte ſich gegen den alten Mann uͤber; ſein of - fenes Geſicht und ſeine Freundlichkeit erweckte den Greis, daß er ſich mit ihm in ein Geſpraͤch einließ. Beide wurden bald vertraulich, ſo daß Stilling ſeine ganze Geſchichte erzaͤhlte. Conrad Brauer (ſo hieß der Alte) verwunderte ſich uͤber204 ihn und weiſſagte ihm viel Gutes. Nun ruͤſtete ſich der ehr - liche Mann auch, um ſeine Schickſale zu erzaͤhlen; das that er einem Jeden, der nur Luſt hatte, ihm zuzuhoͤren; dieſes ge - ſchah vor, waͤhrend und nach dem Mittageſſen. Die jungen Leute, welche ſeines Bruders Kinder waren, mochten das alles wohl hundertmal gehoͤrt haben; ſie merkten nicht ſonderlich auf, doch bekraͤftigten ſie zuweilen Etwas, das unglaublich war. Stilling hoͤrte indeſſen fleißiger zu, denn Erzaͤhlen war doch ohnehin ſeine Lieblingsſache. Conrad Brauer fing folgen - dermaßen an:
„ Ich bin der aͤlteſte unter dreien Bruͤdern; der mittlere iſt ein reicher Kaufmann an dieſem Ort, und der juͤngſte war der Vater dieſer Kinder, deren Mutter vor einigen Jahren, mein Bruder aber vor wenig Wochen geſtorben iſt. Ich legte mich in meiner Jugend aufs Wollenweberhandwerk, und da wir von unſern Eltern nichts ererbt hatten, ſo fuͤhrte ich meine beiden Bruͤder mit dazu an; doch der Juͤngſte that eine gute Heirath hier in dieſes Haus; er verließ alſo das Handwerk und wurde ein Wirth. Ich und mein mittelſter Bruder ſetzten unterdeſſen die Fabrik fort. Ich war gluͤcklich und kam unter Gottes Se - gen in eine gute Handlung, ſo, daß ich Wohlſtand und Reich - thum erlangte; ich ließ es meinen mittleren Bruder reichlich genießen. Ja, Gott weiß, daß ichs gethan habe! “
„ Indeſſen fing mein Bruder eine ſonderbare Freierei an. Hier in der Naͤhe wohnte eine alte Frauensperſon, die wenig - ſtens ſechzig Jahr alt und dabei aus der maßen haͤßlich war, ſo, daß man ſie auch wegen ihrer uͤbermaͤßigen Unreinlichkeit, ſo zu ſagen, mit keiner Zange haͤtte aufaſſen ſollen. Dieſe alte Jungfer war ſehr reich, dabei aber ſo geizig, daß ſie kaum ſatt Brod und Waſſer genoß. Die gemeine Rede ging: daß ſie ihr vieles Geld in einem Sack habe, den ſie an einem ganz unbekannten Ort verborgen haͤtte. Mein Bruder ging dahin und ſuchte das ausgeloͤſchte Feuer dieſer Perſon wiederum an - zuzuͤnden; es gelang ihm auch nach Wunſch, ſie wurde ver - liebt in ihn und er auch in ſie, ſo daß Trauung und Hoch - zeit bald vor ſich gingen. Mit der Entdeckung des Hausgoͤ - tzen wollte es aber lange nicht recht fort, doch gerieth es mei -205 nem braven Bruder endlich auch, er fand ihn und brachte ihn mit Freuden in Sicherheit; das kraͤnkte nun die gute Schwaͤ - gerin, daß ſie die Auszehrung bekam und zu großer Freude meines Bruders ſtarb. “
„ Er hielt ehrlich die Trauerzeit aus, ſuchte ſich aber unter der Hand eine junge, die ungefaͤhr ſo ſchwer ſeyn mochte, als er ganz unſchuldiger Weiſe geworden war; dieſe nahm er und nun fing er an, mit ſeinem Geld zu wuchern, und zwar auf meine Unkoſten; denn er handelte mit wollen Tuch, und ſo ſtach er mir alle meine Handlungsfreunde ab, indem er immer die Waaren wohlfeiler umſchlug, als ich. Hieruͤber fing ich an, zuruͤckzugehen, und meine Sachen verſchlimmerten ſich von Tag zu Tag. Dieſes ſah er wohl, er fing an, freundlich ge - gen mich zu ſeyn, und verſprach mir Geld vorzuſchießen, ſo viel ich noͤthig haben wuͤrde; ich war ſo thoͤricht, ihm zu glan - ben; als es ihm Zeit daͤuchte, nahm er mir alles, was ich auf der Welt hatte; meine Frau kraͤnkte ſich zu todt und ich lebe in Elend, Hunger und Kummer; meinen ſeligen Bruder hier im Haus hat er auf eben die Weiſe aufgefreſſen. “
Ja, das iſt wahr! ſagten die drei Kinder und weinten.
Stilling hoͤrte dieſe Geſchichte mit Entſetzen; er ſagte: das iſt wohl einer von den abſcheulichſten Menſchen unter der Sonne, dem wird’s in jener Welt ſauer eingetraͤnkt werden.
Ja, ſagte der alte Brauer, darauf laſſen’s ſolche Leute ankommen.
Nach dem Eſſen ging Stilling an ein Clavier, das an der Wand ſtand, ſpielte und ſang dazu: Wer nur den lie - ben Gott laͤßt walten. Der Alte faltete die Haͤnde und ſang aus vollem Halſe mit, ſo daß ihm die Thraͤnen uͤber die Wangen herab rollten, deßgleichen thaten auch die drei jungen Leute.
Nun bezahlte Stilling, was er verzehrt hatte, gab einem jeden die Hand und nahm Abſchied. Alle waren vertraulich mit ihm und begleiteten ihn vor die Hausthuͤre, wo ſie ihm noch einmal alle Viere die Hand gaben und ihn dem Schutz Gottes empfahlen.
Er wanderte alſo wiederum die Schoͤnenthaler Landſtraße fort206 und freute ſich von Herzen uͤber all die guten Leute, die er bis dahin angetroffen hatte. Dieſen Flecken will ich Holzheim nennen, denn ich werde doch mit meiner Geſchichte wieder da - hin muͤſſen.
Von hier bis Schoͤnenthal hatte er nur noch fuͤnf Stun - den zu reiſen; da er ſich aber zu Holzheim ziemlich lange auf - gehalten hatte, ſo konnte er des Abends nicht wohl dahin kom - men; er blieb alſo eine ſtarke Stunde dieſſeits in dem Staͤdt - chen Raſenheim uͤber Nacht liegen. Die Leute, bei denen er herbergte, waren nicht fuͤr ihn, und deßwegen blieb er auch ſtill und verſchloſſen.
Des andern Morgens begab er ſich auf den Weg nach Schoͤ - nenthal. Als er auf die Hoͤhe kam und die unvergleichliche Stadt mit dem paradieſiſchen Thal uͤberſchaute, ſo freute er ſich, ſetzte ſich hin auf den Raſen und beſchaute das alles eine Weile; hiebei ſtieg ihm der Wunſch ſo tief aus dem Innerſten ſeiner Seele empor: Ach Gott! moͤcht ich doch da mein Leben beſchließen!
Nun uͤberlegte er erſt, was er wohl eigentlich beginnen wollte. Der Abſcheu vor dem Schneiderhandwerk verleitete ihn, an eine Condition bei einem Kaufmann zu denken; da er nun zu Schoͤnenthal Niemand wußte, an den er ſich addreſſiren koͤnnte, ſo fiel ihm ein, daß Herr Dahlheim in dem Flecken Dornfeld, der Dreiviertelſtunden oſtwaͤrts Schoͤnenthal das Thal hinauf liegt, Prediger ſey; alſofort nahm er ſich vor, dahin zu gehen und ſich demſelben zu entde〈…〉〈…〉 Er ſtand auf, ging langſam den Berg hinunter, um alles wohl beſehen zu koͤnnen, und vollends in die Stadt hinein.
Hier bemerkte er alſofort, was Manufakturen und Handlung einem Ort vor Segen und Wohlſtand zuwenden koͤnnen; die praͤchtigen Pallaͤſte der Kaufleute, die zierlichen Haͤuſer der Buͤrger und Handwerksleute, nebſt der uͤberaus großen Reinlich - keit, die ſich ſogar in den Kleidern der Maͤgde und geringen Leute aͤußerte, entzuͤckte ihn ganz, hier gefiel es ihm uͤberaus wohl. Er ging durch die ganze Stadt und das Thal hinauf, bis nach Dornfeld. Er fand Herrn Dahlheim zu Haus, erzaͤhlte ihm auch kurz und gut ſeine Umſtaͤnde, allein der gute207 Herr Paſtor wußte keine Gelegenheit fuͤr ihn. Stilling war noch nicht erfahren genug, ſonſt haͤtte er leicht denken koͤnnen, daß man ſo keinen Menſchen von der Straße in Handlungs - dienſte aufnimmt, denn Herr Dahlheim, ob er gleich aus dem Salen’ſchen Lande zu Haus war, kannte doch weder Stil - ling, noch ſeine Familie.
Er reiste alſo wieder zuruͤck nach Schoͤnenthal und war halb Willens, ſich fuͤr einen Schneiderburſchen anzugeben; doch, als er im Verbeigehen unlaͤngſt eine Schneiderswerkſtatt ge - wahr wurde, daß es hier Mode ſey, mit uͤbereinander geſchla - genen Beinen auf dem Tiſch zu ſitzen, ſo ſchreckte ihn dieſes wieder ab, denn er hatte noch nie anders, als vor dem Tiſch auf einem Stuhl geſeſſen. Indem er nun ſo fuͤrbaß in den Gaſſen auf und abging, ſah er ein Pferd mit zwei Koͤrben auf dem Ruͤcken, und einen ziemlich wohlgekleideten Mann dabei ſtehen und die Koͤrbe feſtbinden. Da nun dieſer Mann ſo ziemlich gut ausſahe, ſo fragte ihn Stilling: ob er dieſen Abend noch aus der Stadt ginge? Der Mann ſagte: Ja! ich bin der Bote von Schauberg und gehe alſofort dahin ab. Stilling erinnerte ſich, daß daſelbſt der junge Herr Stoll - bein, des Florenburger Predigers Sohn, Paſtor ſey, deßglei - chen, daß ſich verſchiedene Salen’ſche Schneiderburſchen da - ſelbſt aufhielten; er beſchloß alſo, mit dem Boten dahin zu gehen; dieſer ließ es auch gerne geſchehen, Schauberg liegt drei Stunden fuͤdweſtwaͤrts von Schoͤnenthal ab.
Unterwegs ſuchte Stilling mit dem Boten vertraulich zu werden. Wenn es nun der ehrliche Wandsbecker geweſen waͤre, ſo wuͤrden die Beiden einen huͤbſchen Discurs gehalten haben; allein das war er nicht, obgleich der Schauberger unter Vielen einer der Rechtſchaffenſten ſeyn mochte, denn er nahm Stillings Reiſeſack umſonſt auf dem Pferde mit, ſo war er doch kein empfindſamer Bote, ſondern nur blos ein guter ehrlicher Mann, welches ſchon viel iſt. Sobald als ſie zu Schauberg ankamen, begab er ſich zum Herrn Paſtor Stoll - bein; dieſer hatte nun ſeinen Großvater wohl gekannt, deß - gleichen ſeine ſelige Mutter, auch kannte er ſeinen Vater, denn ſie waren Knaben zuſammen geweſen.
208Stollbein frcute ſich herzlich uͤber dieſen Landsmann; er rieth ihm alſofort, ſich ans Handwerk zu begeben, damit er an Brod kommen moͤchte, indeſſen wollte er Fleiß anwenden, um ihm zu einer anſtaͤndigen Condition zu verhelfen. Er ließ augenblicklich einen Schneiderburſchen zu ſich kommen, wel - chen er fragte: Ob nicht fuͤr dieſen Fremden eine Gelegen - heit in der Stadt ſey? O ja! antwortete jener, er kommt, als wenn er gerufen waͤre, Meiſter Nagel iſt ſehr verlegen um einen Geſellen. Stollbein ſchickte die Magd mit Stil - lingen hin und er wurde mit Freuden auf - und angenommen.
Als er nun des Abends zu Bette ging, ſo uͤberdachte er ſeinen Wechſel und die treue Vorſorge des Vaters im Him - mel. Ohne Vorſatz wohin, war er aus ſeinem Vaterlande gegangen, die Vorſehung hatte ihn drei Tage guͤtig geleitet, und ſchon des dritten Tages am Abend war er wieder ver - ſorgt. Jetzt leuchtete ihm ein, welch eine große Wahrheit es ſey, was ihm ſein Vater ſo oft geſagt hatte: Ein Hand - werk iſt ein theures Geſchenk Gottes und hat ei - nen goldnen Boden. Er wurde aͤrgerlich uͤber ſich ſelbſt, daß er dieſem ſchoͤnen Beruf ſo feind war; er betete herzlich zu Gott, dankte ihm fuͤr ſeine gnaͤdige Fuͤhrung und legte ſich ſchlafen.
Des Morgens fruͤh ſtand er auf und ſetzte ſich an die Werkſtatt. Meiſter Nagel hatte keinen andern Geſellen, als ihn, aber ſeine Frau, ſeine beiden Toͤchter und zwei Knaben halfen alle Kleider machen.
Stillings Behendigkeit und ungemeine Geſchicklichkeit im Schneiderhandwerk gewann ihm alſofort die Gunſt ſeines Meiſters; ſeine freundliche Geſpraͤchigkeit und Gutherzigkeit aber die Liebe und Freundſchaft der Frau und der Kinder. Er war kaum drei Tage da geweſen, ſo war er ſchon zu Hauſe; und weil er weder Vorwuͤrfe noch Verfolgungen zu befuͤrchten hatte, ſo war er vor die Zeit, ſo zu ſagen, vollkom - men vergnuͤgt.
Den erſten Sonntag Nachmittag verwendete er aufs Brief - ſchreiben, indem er ſeinem Vater, ſeinem Oheim und ſonſti - gen guten Freunden ſeine gegenwaͤrtigen Umſtaͤnde berichtete,209 um ſeine Familie zu beruhigen; denn man kann denken, daß ſie ſo lange um ihn ſorgten, bis ſie wußten, daß er am Brod war. Er erhielt auch bald freundſchaftliche Antworten auf dieſe Briefe, worin er zur Demuth und Rechtſchaffenheit ermahnt und vor aller Gefahr im Umgang mit unſichern Leuten ge - warnt wurde.
Indeſſen wurde er bald in ganz Schauberg bekannt. Des Sonntags Vormittags, wenn er in die Kirche ging, ſo ging er nirgend anders, als auf die Orgel, und weil der Organiſt ein ſteinalter und ungeſchickter Mann war, ſo getraute ſich Stilling, waͤhrend dem Singen und beim Ausgang aus der Kirche beſſer zu ſpielen; denn ob er gleich das Clavierſpielen nie kunſtmaͤßig, ſondern blos aus eigener Uebung und Nach - denken gelernt hatte, ſo ſpielte er doch den Choral ganz richtig und nach den Noten und vollkommen vierſtimmig; er erſuchte deßwegen den Organiſten, ihn ſpielen zu laſſen; dieſer war von Herzen froh und ließ ihn immer ſpielen. Weil er nun in den Vor - und Zwiſchenlaͤufen beſtaͤndig mit Sexten und Terzen um ſich warf und gern die ſanfteſten und ruͤhrendſten Regiſter zog, wodurch das Ohr des gemeinen Mannes und derer, die keine Muſik verſtehen, am mehrſten geruͤhrt wird, und weil er beim Ausgang aus der Kirche auch immer ein harmoniſches Singſtuͤck, das aber allezeit entweder traurig oder zaͤrtlich war, ſpielte, wobei faſt immer die Floͤtenregiſter mit dem Temulanten gebraucht wurden, ſo war Alles aufmerkſam auf den ſonderbaren Organiſten; der mehrſte Haufe ſtand vor der Kirche, bis er von der Orgel herunter und zur Kirchen - thuͤre herauskam; dann ſteckten die Leute die Koͤpfe zuſammen und fragten ſich untereinander: was das fuͤr ein Menſch ſeyn moͤchte? Endlich wards allgemein bekannt, es war des Schnei - der Nagels ſein Geſelle.
Wenn Jemand zu Meiſter Nagel kam, beſonders Leute von Condition, Kaufleute, Beamte, oder auch Gelehrte, die etwas wegen Kleiderſachen zu beſtellen hatten, ſo ließen ſie ſich mit Stillingen, wegen des Orgelſpielens, in ein Geſpraͤch ein; da brachte dann ein Wort das andere. Er miſchte zu der Zeit viele lateiniſche Brocken mit in ſeine Reden, ſonderlich wennStillings ſämmtl. Schriften. I. Baud. 14210er mit Leuten umging, von denen er vermuthete, daß ſie La - tein verſtuͤnden; das ſetzte dann Alle in Erſtaunen, nicht daß er eben ein Wunder von Gelehrſamkeit geweſen waͤre, ſondern weil er da ſaß und naͤhte und doch ſo ſprach, welches in Ei - ner Perſon vereinigt, beſonders in Schauberg, etwas Uner - hoͤrtes war. Alle Menſchen, vornehme und geringe, kamen und liebten ihn, und dieſes war eigentlich Stillings Element; wo man ihn nicht kannte, war er ſtill, und wo man ihn nicht liebte, traurig. Meiſter Nagel und alle ſeine Leute ehrten ihn dergeſtalt, daß er mehr Herr als Geſelle im Hauſe war.
Die vergnuͤgteſten Stunden hatten ſie Alle zuſammen des Sonntags Nachmittags; dann gingen ſie oben ins Haus auf eine ſchoͤne Kammer, deren Ausſicht ganz herrlich war; hier las ihnen Stilling aus einem Buche vor, das die Frau Na - gel geerbt hatte; es war ein alter Foliant mit vielen Holz - ſchnitten, das Titelblatt war verloren, es handelte von den niederlaͤndiſchen Geſchichten und Kriegen, unter der Statthal - terſchaft der Herzogin von Parma, des Herzogs von Alba, des großen Commeters u. ſ. w., nebſt den wunderbaren Schick - ſalen des Prinzen Moritz von Naſſau; hiebei verhielt ſich nun Stilling wie ein Profeſſor, der Lehrſtunden haͤlt; er erklaͤrte, er erzaͤhlte ein und anderes dazwiſchen, und ſeine Zuhoͤrer waren ganz Ohr. Erzaͤhlen iſt immer ſeine Sache geweſen, und Uebung macht endlich den Meiſter.
Gegen Abend ging er alsdann mit ſeinem Meiſter, oder vielmehr mit ſeinem Freund Nagel um die Stadt ſpazieren, und weil dieſelbe auf einer Hoͤhe, kaum fuͤnf Stunden vom Rhein abliegt, ſo war dieſer Spaziergang wegen der herrlichen Ausſicht unvergleichlich. Weſtwaͤrts ſah man eine große Strecke hin dieſen praͤchtigen Strom im Schimmer der Abendſonne majeſtaͤtiſch auf die Niederlande zueilen; rund umher lagen tauſend buſchigte Huͤgel, wo uͤberall entweder bluͤhende Bauern - hoͤfe, oder praͤchtige Kaufmannspallaͤſte zwiſchen den gruͤnen Baͤumen hervorguckten; dann waren Nagels und Stillings Geſpraͤche herzlich und vertraulich, ſie ergoßen ſich in einan - der, und Stilling ging eben ſo vergnuͤgt ſchlafen, als er auch ehmalen zu Zellberg gethan hatte.
211Herr Paſtor Stollbein hatte ſeine herzliche Freude daran, daß ſein Landsmann Stilling ſo allgemein beliebt war, und er machte ihm Hoffnung, daß er ihn mit der Zeit wuͤrde anſtaͤndig verſorgen koͤnnen.
So angenehm verfloßen dreizehn Wochen, und ich kann ſa - gen, daß Stilling waͤhrend der Zeit ſich weder ſeines Hand - werks ſchaͤmte, noch ſonſten großes Verlangen trug, davon abzukommen. Um das Ende dieſer Zeit, etwa mitten im Ju - nius, ging er an einem Sonntag Nachmittag durch eine Gaſſe der Stadt Schauberg; die Sonne ſchien angenehm und der Himmel war hier und da mit einzelnen Wolken bedeckt; er hatte weder tiefe Betrachtungen, noch ſonſt etwas ſonderliches in den Gedanken; von ungefaͤhr blickte er in die Hoͤhe und ſah eine lichte Wolke uͤber ſeinem Haupte hinziehen; mit die - ſem Anblick durchdrang eine unbekannte Kraft ſeine Seele, ihm wurde ſo innig wohl, er zitterte am ganzen Leibe und konnte ſich kaum enthalten, daß er nicht darniederſank; von dem Augen - blick an fuͤhlte er eine unuͤberwindliche Neigung, ganz fuͤr die Ehre Gottes und das Wohl ſeiner Mitmenſchen zu leben und zu ſterben; ſeine Liebe zum Vater der Menſchen und zum goͤttlichen Erloͤſer, deßgleichen zu allen Menſchen, war in dem Augenblick ſo groß, daß er willig ſein Leben aufgeopfert haͤtte, wenns noͤthig geweſen waͤre. Dabei fuͤhlte er einen unwider - ſtehlichen Trieb, uͤber ſeine Gedanken, Worte und Werke zu wachen, damit ſie alle Gott geziemend, angenehm und nuͤtzlich ſeyn moͤchten. Auf der Stelle machte er einen feſten unwi - derruflichen Bund mit Gott, ſich hinfuͤhro lediglich ſeiner Fuͤh - rung zu uͤberlaſſen und keine eiteln Wuͤnſche mehr zu hegen, ſondern wenn es Gott gefallen wuͤrde, daß er Lebenslang ein Handwerksmann bleiben ſollte, willig und mit Freuden damit zufrieden zu ſeyn.
Er kehrte alſo um und ging nach Haus und ſagte Nie - mand von dieſem Vorfall etwas, ſondern er blieb, wie er vor - hin war, nur daß er weniger und behutſamer redete, welches ihn noch beliebter machte.
Dieſe Geſchichte iſt eine gewiſſe Wahrheit. Ich uͤberlaſſe Schoͤngeiſtern, Philoſophen und Pſychologen, daraus zu machen,14 *212was ihnen beliebt; ich weiß wohl, was es iſt, das den Men - ſchen umkehrt und ſo ganz veraͤndert.
Dieſen Sonntag, als Obiges geſchah, uͤber drei Wochen ging Stilling des Nachmittags in die Kirche, nach derſelben fiel ihm vor der Kirchthuͤre ein, den Stadtſchulmeiſter einmal zu beſuchen; er verwunderte ſich ſelbſt, daß er das nicht eher gethan hatte, er ging alſo ſtehenden Fußes zu ihm hin; dieſer war ein anſehnlicher braver Mann; er kannte Stillingen ſchon und freute ſich, denſelben bei ſich zu ſehen; ſie tranken Thee zuſammen und rauchten eine Pfeife Tabak dazu. Endlich fing der Schulmeiſter an und fragte: Ob er nicht Luſt haͤtte, eine ſchoͤne Condition anzutreten? Flugs war ſeine Luſt dazu wieder ſo groß, als ſie jemals geweſen. O ja! antwortete er, das wuͤnſcht’ ich wohl von Herzen. Der Schulmeiſter fuhr fort: Sie kommen juſt, als wenn Sie gerufen waͤren; heut habe ich einen Brief von einem vornehmen Kaufmann erhalten, der eine halbe Stunde jenſeits Holzheim wohnt; er erſucht mich in demſelben, ihm einen guten Haus-Infor - mator anzuweiſen; ich habe an Sie nicht gedacht, bis Sie eben herein kommen; nun faͤllt mir ein, daß Sie wohl der Mann dazu waͤren; wenn Sie nun die Stelle annehmen wol - len, ſo iſt gar kein Zweifel mehr, daß Sie ſie erhalten wer - den. Stilling jauchzte innerlich vor Freuden, und glaubte feſt, jetzt ſey nun einmal die Stunde ſeiner Erloͤſung gekommen; er ſagte alſo: daß es von jeher ſein Zweck geweſen, mit ſei - nen wenigen Talenten Gott und den Naͤchſten zu dienen, und er ergreife dieſe Gelegenheit mit beiden Haͤnden, weil ſie eine Befoͤrderung ſeines Gluͤcks ſeyn koͤnne. Daran iſt wohl kein Zweifel, verſetzte der Schulmeiſter: es kommt nur auf Ihre Auffuͤhrung an, ſo koͤnnen Sie mit der Zeit freilich gluͤcklich, und befoͤrdert werden; naͤchſten Poſttag will ich dem Herrn Hochberg ſchreiben, ſo werden Sie bald abgeholt werden.
Nach einigen Geſpraͤchen ging Stilling wieder nach Haus. Er erzaͤhlte alſofort dieſen Vorfall Herrn Stollbein, deßgleichen auch dem Meiſter Nagel und ſeinen Leuten. Der Herr Paſtor war froh, Meiſter Nagel und die Seinigen aber trauer - ten, ſie wendeten alle Beredtſamkeit an, um ihn bei ſich zu213 behalten, allein das war vergebens, das Handwerk ſtank ihn an, Zeit und Welt ward ihm lang, bis er an ſeinen beſtimm - ten Ort kam; doch fuͤhlte er jetzt Etwas in ſeinem Innern, das dieſem Beruf beſtaͤndig widerſprach; dieß unbekannte Et - was uͤberzeugte ihn in ſeinem Gemuͤth, daß dieſe Neigung wie - derum aus dem alten verderbten Grund herruͤhre; dieſes neue Gewiſſen, wenn ich ſo reden darf, war erſt ſeit dem gemelde - ten Sonntag in ihm aufgewacht, da er eine ſo gewaltige Ver - aͤnderung bei ſich verſpuͤrt hatte. Dieſe Ueberzeugung kraͤnkte ihn, er fuͤhlte wohl, daß ſie wahr war, allein ſeine Neigung war allzu ſtark, er konnte ihr nicht widerſtehen; dazu fand ſich eine Art von Schlange bei ihm ein, welche ſich durch die Vernunft zu helfen ſuchte, indem ſie ihm vorſtellte: Ja, ſollte Gott das wohl haben wollen, daß du da ewig an der Naͤhnadel ſitzen bleiben ſollſt, und deine Talente vergraͤbſt? Keineswegs! du mußt bei der erſten Gelegenheit damit wu - chern, laß dich das nicht weiß machen, es iſt blos eine hypo - chondriſche Grille; alsdann warf das Gewiſſen wieder ein: Wie oft haſt du aber mit deinen Talenten in der Unterwei - ſung der Jugend wuchern wollen, und wie iſts dir dabei ge - gangen? — Die Schlange wußte dagegen einzuwenden: das ſeyen lauter Laͤuterungen geweſen, die ihn zu einem wichtigen Geſchaͤft haͤtten tuͤchtig machen ſollen. Nun glaubte Stil - ling der Schlange, und das Gewiſſen ſchwieg.
Schon den folgenden Sonntag kam ein Bote von Herrn Hochberg, der Stilling abholte. Alle weinten bei ſeinem Abſchied, er aber ging mit Freuden. Als ſie nach Holzheim kamen, ſo gingen ſie zu dem alten Brauer, der Stillin - gen bei ſeiner Durchreiſe ſeine Geſchichte erzaͤhlt hatte; er er - zaͤhlte dem ehrlichen Alten ſein neues Gluͤck, dieſer freute ſich, wie es ſchien, nicht ſo ſonderlich daruͤber, doch ſagte er: das iſt ſchon fuͤr Sie ein huͤbſcher Anfang. Stilling dachte da - bei: der Mann kann ſeine Urſache haben, daß er ſo ſpricht.
Nun gingen ſie noch eine halbe Stunde weiter, und kamen an Hochbergs Haus an. Dieſes lag in einem kleinen an - genehmen Thal an einem ſchoͤnen Bach, nicht weit von der Landſtraße, die Stilling gekommen war. Als ſie ins Haus214 traten, ſo kam die Frau Hochberg aus der Stube heraus. Sie war praͤchtig gekleidet, und eine Dame von ungemeiner Schoͤnheit; ſie gruͤßte Stillingen freundlich, und hieß ihn in die Stube gehen; er ging hinein, und fand ein herrlich meublirtes und ſchoͤn tapezirtes Zimmer; zwei wackere junge Knaben kamen herein, nebſt einem artigen Maͤdchen; die Kna - ben waren in rothe ſcharlachene Kleider auf Huſaren-Manier gekleidet, das Maͤdchen aber voͤllig im Ton einer jungen Prin - zeſſin. Die guten Kinder kamen, um dem neuen Lehrmeiſter ihre Aufwartung zu machen, ſie buͤckten ſich nach der Kunſt, und traten herzu, um ihm die Hand zu kuͤſſen. Das war Stilingen nun in ſeinem Leben nicht wiederfahren, er wußte ſich gar nicht darein zu ſchicken, noch was er ſagen ſollte; ſie ergriffen ſeine Hand; da er ihnen nun die hohle Hand hinhielt, ſo mußten ſie ſich plagen, dieſelbe herum zu drehen, um mit dem kleinen Maͤulchen oben auf die Hand zu kom - men. Nun merkte Stilling, wie man ſich bei der Gelegen - heit anſtellen muͤſſe. Die Kinder aber huͤpften wieder fort, und waren froh, daß ſie ihre Sache vollendet hatten.
Herr Hochberg und ſein alter Schwiegervater waren in die Kirche gegangen. Die Frau aber war in der Kuͤche, um ein und anderes zu veranſtalten, alſo befand ſich Stilling allein in der Stube; er merkte ſehr wohl, was hier zu thun war, und daß ihm zwei weſentliche Stuͤcke fehlten, um Hoch - bergs Hauslehrer zu ſeyn. Er verſtand die Complimentir - Kunſt gar nicht; ob er gleich nicht in dummer Grobheit er - zogen war, ſo hatte er ſich doch noch in ſeinem Leben nicht gebuͤckt, alles war bis dahin Gruß und Haͤndedruck geweſen. Die Sprache war ſein vaterlaͤndiſcher Dialect, worinnen er, aufs hoͤchſte genommen, Jemand mit dem Woͤrtchen Sie be - ehren konnte. Und vors zweite: ſeine Kleider waren nicht modiſch, und dazu nicht einmal gut, ſondern ſchlecht und ab - getragen; er hatte zwar bei Meiſter Nagel acht Gulden ver - dient; allein, was war das in ſo großem Mangel? — Er hatte fuͤr zwei Gulden neue Schuh, fuͤr zwei einen Hut, fuͤr zwei ein Hemd angeſchafft, und zwei Gulden hatte er alſo noch in der Taſche. Alle dieſe Anlagen aber waren noch kaum215 an ihm zu ſehen; er fuͤhlte alſofort, daß er ſich taͤglich wuͤrde ſchaͤmen muͤſſen, doch hatte er auch durch Aufmerkſamkeit taͤg - lich mehr und mehr Lebensart zu lernen und durch ſeinen treuen Fleiß, Geſchicklichkeit und gute Auffuͤhrung ſeine Herrſchaft zu gewinnen, ſo daß man ihm vor und nach aus ſeiner Noth helfen wuͤrde.
Herr Hochberg kam nun endlich auch herein, denn es war Mittag; dieſer vereinigte Alles, was nur Wuͤrde und kaufmaͤnniſches Anſehen genannt werden mag, in Einer Per - ſon. Er war ein anſehnlicher Mann, lang und etwas corpu - lent, er hatte ein Apfelrundes ganz brunettes Geſicht, mit großen pechſchwarzen Augen, und etwas dicken Lippen, und wenn er redete, ſo ſah man allezeit zwei Reihen Zaͤhne wie Alabaſter; ſein Gehen und Stehen war vollkommen ſpaniſch, doch muß ich auch dabei geſtehen, daß nichts Affectirtes dabei war, ſon - dern es war ihm Alles ſo natuͤrlich. So wie er herein trat, ſchaute er Stillingen eben ſo an, wie große Fuͤrſten gewohnt ſind, Jemand anzuſchauen. Stillingen drang dieſer Blick durch Mark und Bein, vielleicht eben ſo ſtark, als derjenige that, den er neun Jahr hernach vor einem der groͤßten Fuͤr - ſten Deutſchlands empfand. Allein ſeine Weltkenntniß mochte ſich auch wohl zu der Zeit gegen die Letztere verhalten, wie Hochberg gegen dieſen vortrefflichen Fuͤrſten.
Nach dieſem Blick nickte Herr Hochberg Stillingen an, und ſprach:
Serviteur Monsieur!
Stilling war kurz reſolvirt, buͤckte ſich ſo gut er konnte und ſagte:
„ Ihr Diener, Herr Principal! “
Doch, daß ich die Wahrheit geſtehe, auf dieſes Compliment hatte er auch eine Stunde her ſtudirt; da er aber nicht vor - aus wiſſen konnte, was Hochberg weiter ſagen wuͤrde, ſo war es nun auch geſchehen, und ſeine Geſchicklichkeit hatte ein Ende. Ein paarmal ging Hochberg die Stube auf und ab; nun ſah er wieder Stilling an, und ſagte:
Sind Sie reſolvirt, als Praͤceptor bei mir zu ſerviren?
„ Ja. “
216Verſtehen Sie auch Sprachen?
„ Die lateiniſche ſo ziemlich. “
Bon Monsieur! Sie brauchen ſie zwar noch nicht, doch iſt ihre Connaissance das Weſentliche in der Orthographie. Verſtehen Sie das Rechnen auch?
„ Ich habe mich in der Geometrie geuͤbt, und dazu wird das Rechnen erfordert, auch habe ich mich in der Sonnuhrkunſt und Mathematik etwas umgeſehen. “
Eh bien, das iſt artig! das convenirt mir; ich gebe Ihnen nebſt freiem Tiſch fuͤnf und zwanzig Gulden im Jahr.
Stilling ließ ſich das gefallen, wiewohl es ihm etwas zu wenig daͤuchte, deßwegen ſagte er:
„ Ich bin zufrieden mit dem, was Sie mir zulegen werden, und ich hoffe: Sie werden mir geben, was ich verdiene. “
Oui! Ihre Conduite wird determiniren, wie ich mich da zu verhalten habe.
Nun ging man an die Tafel. Auch hier ſah Stilling, wie viel er noch zu lernen hatte, eh er einmal Speiß und Trank nach der Mode in ſeinen Leib bringen konnte. Bei aller die - ſer Beſchwerlichkeit ſpuͤrte er eine heimliche Freude bei ſich ſelbſt, daß er doch nun endlich einmal aus dem Staube her - aus, und in den Zirkel vornehmer Leute kam, wornach er ſo lange verlangt hatte. Alles, was er ſah, das zum Wohlſtand und guten Sitten gehoͤrte, das beobachtete er auf’s genaueſte, ſogar uͤbte er ſich in geſchickten Verbeugungen, wenn er allein auf ſeiner Kammer war, und ihn Niemand ſehen konnte. Er ſah dieſe Condition als eine Schule an, worinnen er Anſtand und Lebensart lernen wollte.
Des andern Tages fing er mit den beiden Knaben und dem Maͤdchen die Information an; er hatte alle ſeine Freude an den Kindern, ſie waren wohl erzogen, und beſonders ſehr zaͤrt - lich gegen ihren Lehrer, und dieſes verſuͤßte alle Muͤhe. Nach einigen Tagen zog Herr Hochberg auf die Meſſe. Dieſer Abſchied that Stilling ſehr leid; denn er allein war der Mann, der mit ihm ſprechen konnte; die Andern redeten im - mer von ſolchen Sachen, die ihm ganz gleichguͤltig waren.
So verfloſſen einige Wochen ganz vergnuͤgt, ohne daß Stil -217 ling Etwas zu wuͤnſchen hatte, auſſer daß er doch endlich einmal beſſere Kleider bekommen moͤchte. Er ſchrieb dieſe Ver - aͤnderung an ſeinen Vater, und erhielt froͤhliche Antwort.
Herr Hochberg kam um Michaelis wieder. Stilling freute ſich bei ſeiner Ankunft, allein dieſe Freude dauerte nicht lange, Alles veraͤnderte ſich vor und nach in eine betruͤbte Lage fuͤr ihn. Herr und Frau Hochberg hatten geglaubt, daß ihr Informator noch Kleider zu Schauberg habe. Da ſie nun endlich ſahen, daß er wirklich alles mitgebracht hatte, ſo fin - gen ſie an, ſchlecht von ihm zu denken, und ihm nicht zu trauen; man verſchloß alles vor ihm, war zuruͤckhaltend, und oft merkte er aus ihren Reden, daß man ihn fuͤr einen Vagabun - den hielte. Nun war alles in der Welt Stillingen eher moͤglich, als Jemand nur eines Hellers werth zu entwenden, und deßwegen war ihm dieſer Umſtand ganz unertraͤglich. Es iſt auch gar nicht zu begreifen, woher doch die guten Leute auf einen ſo fatalen Einfall geriethen. Es iſt indeſſen am al - lerwahrſcheinlichſten, daß Jemand unter dem Geſinde untreu war, der dieſen Verdacht hinter ſeinem Ruͤcken auf ihn zu ſchieben ſuchte; und was noch das Schlimmſte war, ſie ließen ihn nichts Deutliches merken, daher man ihm auch alle Gele - genheit abgeſchnitten, ſich zu vertheidigen.
Vor und nach machte man ihm ſein Amt ſchwerer. So - bald er des Morgens aufſtand, ging er herunter in die Stube; man trank ſodann Caffee, um ſieben Uhr war das geſchehen, und ſofort mußte er mit den Kindern in die Schule, welche aus einem Kaͤmmerchen beſtand, das vier Fuß breit und zehn Fuß lang war, da kam er nun nicht heraus, bis man zwi - ſchen zwoͤlf und zwei Uhr zum Mittageſſen rief, und alſofort nach dem Eſſen ging er wieder hinein bis um vier Uhr, da man Thee trank; gleich nach dem Thee hieß es wieder: Nun Kinder, in die Schule! und dann kam er vor neun Uhr nicht wieder heraus, dann ſpeiste man zu Nacht, und ging darauf ſchlafen.
Auf dieſe Weiſe hatte er keinen Augenblick fuͤr ſich, als nur bloß den Sonntag, und dieſen brachte er auch traurig zu, weil er wegen Kleidermangel nicht mehr vor die Thuͤr, geſchweige218 zur Kirche gehen konnte. Waͤre er nun zu Schauberg ge - blieben, ſo wuͤrde ihn Meiſter Nagel vor und nach genug - ſam verſorgt haben, denn er hatte ſchon wirklich von Weitem Anſtalten dazu gemacht.
Nun war wirklich ein dreikoͤpfiger Hoͤllenhund auf den ar - men Stillng losgelaſſen. Aeuſſerſte Bettelarmuth, eine im - merfort dauernde Einkerkerung oder Gefangenſchaft, und drit - tens ein unertraͤgliches Mißtrauen, und daher entſtandene aͤuſ - ſerſte Verachtung ſeiner Perſon.
Gegen Martini fing ſein ganzes Gefuͤhl an zu erwachen, ſeine Augen gingen auf, und er ſah die ſchwaͤrzeſte Melancho - lie wie eine ganze Hoͤlle auf ihn anruͤcken. Er rief zu Gott, daß es von einem Pol zum andern haͤtte erſchallen moͤgen, aber da war keine Empfindung noch Troſt mehr, er konnte ſo - gar an Gott nicht einmal denken, ſo daß das Herz Theil da - ran hatte; und dieſe erſchreckliche Qual hatte er nie dem Na - men nach gekannt, vielweniger jemals das mindeſte davon empfunden; dazu hatte er rund um ſich her keine einzige treue Seele, welcher er ſeinen Zuſtand entdecken konnte, und einen ſolchen Freund aufzuſuchen, dazu hatte er nicht Kleider genug; ſie waren zerriſſen, und die Zeit mangelte ihm ſogar, dieſelben auszubeſſern.
Gleich Anfangs glaubte er ſchon nicht, daß er’s in dieſem Zuſtand lang aushalten wuͤrde, und doch wurde es von Tag zn Tag ſchlimmer; ſeine Herrſchaft und alle andere Menſchen kehrten ſich gar nicht an ihn, ſo, als wenn er nicht in der Welt geweſen waͤre, ob ſie ſchon mit ſeiner Information wohl zufrieden waren.
So wie Weihnachten heranruͤckte, ſo nahm auch ſein er - ſchrecklicher Zuſtand zu. Den ganzen Tag uͤber war er ganz ſtarr und verſchloſſen, wenn er aber des Abends um zehn Uhr auf ſeine Schlafkammer kam, ſo fingen ſeine Thraͤnen an los zu werden; er zitterte und zagte wie ein Uebelthaͤter, der in dem Augenblicke geradbrecht werden ſoll, und wenn er vollends ins Bette kam, ſo rang er dergeſtalt mit ſeiner Hoͤl - lenqual, daß das ganze Bett, und ſogar die Fenſterſcheiben zitterten, bis er einſchlief. Es war noch ein großes Gluͤck fuͤr219 ihn, daß er ſchlafen konnte, aber wenn er des Morgens er - wacht, und die Sonne auf ſein Bett ſchien, ſo erſchrack er, und war wieder ſtarr und kalt; die ſchoͤne Sonne kam ihm nicht anders vor, als Gottes Zornauge, das wie eine flam - mende Welt Blitz und Donner auf ihn herabzuſtuͤrzen drohte. Den ganzen Tag uͤber ſchien ihm der Himmel roth zu ſeyn, und er fuhr zuſammen vor dem Anblick eines jeden lebendi - gen Menſchen, als ob er ein Geſpenſt waͤre; hingegen in einer finſtern Gruft zwiſchen Leichen und Schreckbildern zu wachen, das waͤr’ ihm eine Freude und Erquickung geweſen.
Zwiſchen den Feiertagen fand er endlich einmal Zeit, ſeine Kleider durch und durch auszubeſſern, ſeinen Rock kehrte er um, und machte alles, ſo gut er konnte, zurecht. Die Ar - muth lehrt erfinden, er bedeckte ſeine Maͤngel, ſo daß er doch wenigſtens ein paarmal, ohne ſich zu ſchaͤmen, nach Holz - heim in die Kirche gehen durfte; er war aber ſo blaß und ſo hager geworden, daß er die Zaͤhne mit den Lippen nicht mehr bedecken konnte, ſeine Geſichtslineamente waren vor Gram ſchrecklich verzerrt, die Augenbraunen waren hoch in die Hoͤhe geſtiegen, und ſeine Stirn voller Runzeln, die Augen lagen wild, tief und finſter im Haupt, die Oberlippe hatte ſich mit den Naſenfluͤgeln empor gezogen, und die Winkel des Mun - des ſanken mit den haͤutigen Wangen herab; ein Jeder, der ihn ſah, betrachtete ihn ſtarr, und blickte bloͤd von ihm ab.
Des Sonntags nach dem Neujahr ging er in die Kirche. Unter Allen war Keiner, der ihn anſprach, als nur allein der Herr Paſtor Bruͤck; dieſer hatte ihn von der Kanzel beo - bachtet, und ſo wie die Kirche aus war, eilte der edle Mann heraus, ſuchte ihn unter den Leuten, die da vor der Thuͤre ſtanden, auf, griff ihn am Arm und ſagte: Gehen Sie mit mir, Herr Praͤceptor! Sie ſollen mit mir ſpeiſen, und dieſen Nachmittag bei mir bleiben. Es laͤßt ſich nicht ausſprechen, welche Wirkung dieſe leutſeligen Worte auf ſein Gemuͤth hat - ten, er konnte ſich kaum enthalten, laut zu weinen und zu heulen; die Thraͤnen floßen ihm ſtromweiſe die Wangen herun - ter, er konnte dem Prediger nichts antworten, und dieſer fragte ihn auch weiter nichts, ſprach auch nichts mit ihm,220 ſondern fuͤhrte ihn nur fort in ſein Haus; die Frau Paſto - rin und die Kinder entſetzten ſich vor ihm, und bedauerten ihn von Herzen.
Sobald ſich nun Herr Bruͤck ausgezogen hatte, ſetzte man ſich zu Tiſch. Alſofort fing der Paſtor an, von ſeinem Zu - ſtand zu reden, und zwar mit ſolcher Kraft und Nachdruck, daß Stilling nichts that, als laut weinen, und Alle, die mit zu Tiſch ſaßen, weinten mit. Dieſer vortreffliche Mann las in ſeiner Seele, was ihm fehlte; er behauptete mit Nach - druck, daß alle ſeine Leiden, die er von jeher gehabt habe, lauter Laͤuterungsfeuer geweſen ſeyen, wodurch ihn die ewige Liebe von ſeinen Unarten fegen und ihn zu etwas Sonderba - rem geſchickt machen wolle; auch gegenwaͤrtiger ſchwerer Zu - ſtand ſey um dieſer Urſache willen uͤber ihn gekommen, und es werde nicht lange mehr dauern, ſo wuͤrde ihn der Herr gnaͤdig erloͤſen; und was dergleichen Troͤſtungen mehr waren, die die brennende Seele des guten Stillings wie ein kuͤh - ler Than erquickten. Allein dieſer Troſt war von kurzer Dauer, er mußte am Abend doch wieder in ſeinen Kerker, und nun war der Schmerz auf dieſe Erquickung wieder um ſo viel un - leidlicher.
Dieſe erſchrecklichen Leiden dauerten von Martini bis den 12. April 1762, und alſo neunzehn bis zwanzig Wochen. Dieſer Tag war alſo der frohe Zeitpunkt ſeiner Erloͤſung. Des Morgens fruͤh ſtand er noch mit eben den ſchweren Lei - den auf, mit denen er ſich ſchlafen gelegt hatte; er ging wie gewoͤhnlich herunter an den Tiſch, trank Caffee, und darauf in die Schule; um neun Uhr, als er in ſeinem Kerker am Tiſch ſaß, und ganz in ſich ſelbſt gekehrt das Feuer ſeiner Leiden aushielt, fuͤhlte er ploͤtzlich eine gaͤnzliche Veraͤnderung ſeines Zuſtandes, alle ſeine Schwermuth und Schmerzen wa - ren gaͤnzlich weg, er empfand eine ſolche Wonne und tiefen Frieden in ſeiner Seele, daß er vor Freude und Seligkeit nicht zu bleiben wußte. Er beſann ſich und wurde gewahr, daß er Willens war, wegzugehen; dazu hatte er ſich entſchloſſen, ohne es zu wiſſen, ſo in demſelbigen Augenblick ſtand er auf, ging hinauf auf ſeine Schlafkammer, und dachte nach; wie viel221 Thraͤnen der Freude und der Dankbarkeit daſelbſt gefloſſen ſind, koͤnnen nur diejenigen begreifen, die ſich mit ihm in aͤhnlichen Umſtaͤnden befunden haben.
Hier packte er nun ſeine paar Lumpen, die er noch hatte, zuſammen, band ſeinen Hut mit hinein, den Stab aber ließ er zuruͤck. Dieſen Buͤndel warf er durch ein Fenſter hinter dem Hauſe in den Hof, ging darauf wieder herunter, und ſpazierte ganz gleichguͤltig zur Pforte hinaus, ging hinter das Haus, nahm den Pack, und wanderte ſo geſchwind als er konnte, das Feld hinauf, und eine ziemliche Strecke in den Buſch hinein; hier zog er ſeinen abgeſchabten Rock an, ſetzte den Hut auf, that ſeinen alten ſiamoiſenen Kittel, den er des Werketags getragen hatte, in den Buͤndel, ſchnitt einen Stecken ab, worauf er ſich ſtuͤzte, und wanderte nordwaͤrts durch Berg und Thal fort, ohne einen Weg zu haben. Jetzt war zwar ſein Gemuͤth ganz ruhig, er ſchmeckte die ſuͤße Freiheit in all ihrer Fuͤlle; allein er war doch ſo betaͤubt und faſt ſinnlos, ſo daß er an ſeinen Zuſtand gar nicht dachte, und keine Ueberlegung hatte. Als er eine Stunde durch wuͤſte Oerter fortgewandelt war, ſo gerieth er auf eine Landſtraße, und hier ſah er ungefaͤhr eine Stunde vor ſich hin auf der Hoͤhe ein Staͤdtchen liegen, wohin dieſe Straße fuͤhrte; er folgte derſelben ohne einen Willen zu haben warum, und gegen eilf Uhr kam er vor dem Thor an. Er fragte daſelbſt nach dem Namen der Stadt, und er vernahm, daß es Waldſtaͤtt war, wovon er zuweilen hatte reden hoͤren. Nun ging er zu einem Thor hinein, gerade durch die Stadt durch, und zum andern wieder heraus. Daſelbſt traf er nun zwei Straßen, welche ihm beide gleich ſtark gebahnt ſchienen, er er - waͤhlte eine von Beiden, und ging oder lief vielmehr dieſelbe fort. Nach einer kleinen halben Stunde gerieth er in einen Wald, die Straße verlor ſich, und nun fand er keinen Weg mehr; er ſezte ſich nieder, denn er hatte ſich muͤde gelaufen. Jetzt kam ſeine voͤllige Kraft zu Denken wieder, er beſann ſich, und hatte keinen einzigen Heller Geld bei ſich, denn er hatte noch wenig oder gar keinen Lohn von Hochberg gefordert; doch war er hungrig. Er war in einer Einoͤde, und wußte weit und breit um ſich her keinen Menſchen, der ihn kannte.
222Jetzt fing er an und ſagte bei ſich ſelber: „ Nun bin ich denn doch endlich auf den hoͤchſten Gipfel der Verlaſſung ge - ſtiegen, es iſt jetzt nichts mehr uͤbrig, als betteln oder ſterben; — das iſt der erſte Mittag in meinem Leben, an welchem ich kei - nen Tiſch fuͤr mich weiß! ja, die Stunde iſt gekommen, da das große Wort des Erloͤſers fuͤr mich auf der hoͤchſten Probe ſteht: Auch ein Haar von eurem Haupt ſoll nicht umkom - men! — Iſt das wahr, ſo muß mir ſchleunige Huͤlfe geſche - hen, denn ich habe bis auf dieſen Augenblick auf ihn getraut und ſeinem Worte geglaubt; — ich gehoͤre mit zu den Augen, die auf den Herrn warten, daß er ihnen zur rechten Zeit Speiſe gebe und ſie mit Wohlgefallen ſaͤttige; ich bin doch ſo gut ſein Geſchoͤpf, wie jeder Vogel, der da in den Baͤumen ſingt, und jedesmal ſeine Nahrung findet, wenn’s ihm Noth thut. “ Stil - lings Herz war bei dieſen Worten ſo beſchaffen, als das Herz eines Kindes, wenn es durch ſtrenge Zucht endlich wie Wachs zerfließt, der Vater ſich wegwendet und ſeine Thraͤnen verbirgt. Gott! was das Augenblicke ſind, wenn man ſieht, wie dem Vater der Menſchen ſeine Eingeweide brauſen, und er ſich vor Mitleiden nicht laͤnger halten kann! —
Indem er ſo dachte, ward es ihm ploͤtzlich wohl im Ge - muͤthe, und es war, als wenn ihm Jemand zuſpraͤche: Geh’ in die Stadt, und ſuch’ einen Meiſter! Im Augenblick kehrte er um, und indem er in eine ſeiner Taſchen fuͤhlte, ſo wurde er gewahr, daß er ſeine Scheere und Fingerhut bei ſich hatte, ohne daß er’s wußte. Er kam alſo wieder zuruͤck und ging zum Thor hinein. Er fand einen Buͤrger vor ſeiner Hausthuͤr ſtehen, dieſen gruͤßre er und fragte: wo der beſte Schneider - meiſter in der Stadt wohne? Dieſer Mann rief ein Kind, und ſagte ihm: da fuͤhre dieſen Menſchen zu dem Meiſter Iſaac! Das Kind lief vor Stilling her, und fuͤhrte ihn in einen abgelegenen Winkel an ein kleines Haͤuschen, und ging darauf wieder zuruͤck; er trat hinein, und kam in die Stube. Hier ſtand eine blaſſe, magere, dabei aber artige und reinliche Frau, und deckte den Tiſch, um mit ihren Kindern zu Mittag zn eſſen. Stilling gruͤßte ſie und fragte: Ob er hier Arbeit haben koͤnnte? Die Frau ſah ihn an, und be -223 trachtete ihn von Haupt bis zu Fuß. Ja! ſagte ſie ſittſam und freundlich: mein Mann iſt verlegen um einen Geſellen; wo ſeyd ihr her? Stilling antwortete: aus dem Salen - ſchen Lande! Die Frau heiterte ſich ganz auf, und ſagte: da iſt mein Mann auch her, ich will ihn rufen laſſen. Er war mit einem Geſellen und Lehrburſchen in einem Haus in der Stadt in Arbeit; ſie ſchickte eins von den Kindern und ließ ihn rufen. In ein paar Minuten kam Meiſter Iſaac zur Thuͤr herein; ſeine Frau ſagte ihm, was ſie wußte, und er fragte ferner, was er gern wiſſen wollte; der Meiſter nahm ihn willig an. Nun noͤthigte ihn die Frau an den Tiſch; und ſo war ſchon ſeine Speiſe bereitet geweſen, als er noch im Wald irre ging und nachdachte: Ob ihm auch Gott die - ſen Mittag die noͤthige Nahrung beſcheeren wuͤrde.
Meiſter Iſaac blieb da und ſpeiste mit. Nach dem Eſſen nahm er ihn mit in die Arbeit, bei einen Schoͤffen, der ſich Schauerhof ſchrieb; dieſer war ein Brodbaͤcker, dabei ein hagerer langer Mann. So wie ſich Meiſter Iſaac und ſein neuer Geſelle geſetzt hatten, und anfingen zu arbeiten, kam auch der Schoͤffe mit ſeiner langen Pfeife, ſetzte ſich zu den Schneidern, und fing mit Meiſter Iſaac an zu reden, wo ſie vermuthlich vorhin aufgehoͤrt hatten.
Ja! ſagte der Schoͤffe: Ich ſtelle mir den Geiſt Chriſti als eine allenthalben gegenwaͤrtige Kraft vor, die uͤberall in den Herzen der Menſchen wirke, um eine jede Seele in ſeine eigene Natur zu verwandeln; je ferner nun Jemand von Gott iſt, je fremder iſt ihm dieſer Geiſt. Was denkſt du davon, Bru - der Iſaac?
Ich ſtelle mir die Sache ungefaͤhr eben ſo vor, verſetzte der Meiſter: es iſt hauptſaͤchlich um den Willen des Menſchen zu thun, der Wille macht ihn faͤhig. —
Nun konnte ſich Stilling nicht mehr halten; er fuͤhlte, daß er bei frommen Leuten war, er fing ganz unvermuthet hinter dem Tiſch an, laut zu weinen und zu rufen: O Gott, ich bin zu Haus! ich bin zu Haus! Alle Anweſende erſtarrten, und entſetzten ſich; ſie wußten nicht, was ihm wiederfuhr. Meiſter Iſaac ſah ihn an und fragte: Wie iſt’s, Stilling? (er224 hatte ihm ſeinen Namen geſagt) Stilling antwortete: ich hab’ lange dieſe Sprache nicht mehr gehoͤrt; und da ich nun ſehe, daß Sie Leute ſind, die Gott lieben, ſo weiß ich mich vor Freude nicht zu faſſen. Meiſter Iſaac fuhr fort: Seyd Ihr dann auch ein Freund vom Chriſtenthum und von wahrer Gottſeligkeit?
O ja! verſetzte Stilling: von Herzen!
Der Schoͤffe lachte vor Freuden, und ſagte: da haben wir alſo einen Bruder mehr. Meiſter Iſaac und Schoͤffe Schauer - hof reichten und ſchuͤttelten ihm die Hand, und waren ſehr froh. Des Abends nach dem Eſſen ging der Geſelle und der Lehrjunge nach Haus, der Schoͤffe aber, Iſaac und Stil - ling blieben noch lange beiſammen, rauchten Tabak, tranken Bier dazu, und redeten auf eine erbauliche Weiſe vom Chriſten - thum. Heinrich Stilling lebte nun wieder vergnuͤgt zu Waldſtaͤtt; auf ſo viele Leiden und Gefangenſchaft ſchmeckte nun der Friede und die Freiheit ſo viel ſuͤßer. Er hatte von all ſeiner Drangſal ſeinem Vater nicht Ein Wort geſchrieben, um ihn nicht zu betruͤben; jetzt aber, da er von Hochberg ab und wieder bei dem Handwerk war, ſo ſchrieb er ihm Vieles, aber nicht alles. Die Antwort, welche er darauf erhielt, war wie - derum eine Bekraͤftigung, daß er zur Unterweiſung der Jugend nicht geſchaffen ſey.
Als Stilling nun einige Tage bei Meiſter Iſaac gewe - ſen war, ſo fing Letzterer einsmals uͤber der Arbeit mit ihm an, von ſeinen Kleidern zu ſprechen; der andere Geſelle und der Lehrburſche waren nicht gegenwaͤrtig; er erkundigte ſich genau nach allem, was er hatte. Als Iſaac das alles hoͤrte, ſtand er alſofort auf, und holte ihm ſchoͤnes violettes Tuch zum Rock, einen ſchoͤnen neuen Hut, ſchwarzes Tuch zur Weſte, Zeug zum Unterwaͤmmschen und zu Hoſen, ein paar gute feine Struͤmpfe, deßgleichen mußte ihm der Schuhmacher Schuhe anmeſſen, und ſeine Frau machte ihm ſechs neue Hemden; alles dieſes war in vierzehn Tagen fertig. Nun gab ihm ſein Meiſter auch einen von ſeinen Rohrſtaͤben in die Hand; und damit war Stilling ſchoͤner gekleidet, als er in ſeinem Leben geweſen war; dazu war auch alles nach der Mode, und nun durfte er ſich ſehen laſſen.
225Dieſes war nun der letzte Feind, der aufgehoben werden mußte. Stilling konnte ſeinen innigen Dank gegen Gott und ſeinen Wohlthaͤter nicht genug ausſchuͤtten; er weinte vor Freude, und war voͤllig wohl und vergnuͤgt. Aber geſegnet ſey deine Aſche — du Stillings Freund! da du liegſt und ruhſt! Wenn ein - mal die Stimme uͤber den ganzen flammenden Erdkreis erſchal - len wird: Ich bin nackend geweſen, und ihr habt mich bekleidet! ſo wirſt auch du dein Haupt empor heben, und dein verklaͤrter Leib wird ſiebenmal heller glaͤnzen, als die Sonne am Fruͤhlingsmorgen! —
Stillings Neigung, hoͤher in der Welt zu ſteigen, war nun fuͤr dieſe Zeit gleichſam aus dem Grunde und mit der Wur - zel ausgerottet; und er war feſt und unwiderruflich entſchloſſen, ein Schneider zu bleiben, bis er gewiß uͤberzeugt ſeyn wuͤrde, daß es der Wille Gottes ſey, etwas anders anzufangen; mit Einem Wort, er erneuerte den Bund mit Gott feierlich, den er verwichenen Sommer, den Sonntag Nachmittag, auf der Gaſſe zu Schauberg mit Gott geſchloſſen hatte. Sein Meiſter war auch ſo zufrieden mit ihm, daß er ihn nicht anders, als ſeinen Bruder behandelte; die Meiſterin aber liebte ihn uͤber die Maßen, und ſo auch die Kinder, ſo daß er nun wieder recht in ſeinem Element lebte.
Seine Neigung zu den Wiſſenſchaften blieb zwar noch im - mer, was ſie war, doch ruhte ſie unter der Aſche; ſie war ihm jetzt nicht zur Leidenſchaft, und er ließ ſie ruhen
Meiſter Iſaac hatte eine große Bekanntſchaft auf fuͤnf Stun - den umher mit frommen und erweckten Leuten. Der Sonntag war zu Beſuchen beſtimmt, daher ging er mit Stilling des Sonntags Morgens fruͤh nach dem Ort hin, den ſie ſich vorge - nommen hatten, und blieben den Tag uͤber bei den Freunden, des Abends gingen ſie wieder nach Haus; oder wenn ſie weit gehen wollten, ſo gingen ſie des Sonntags Nachmittags zuſam - men fort und kamen des Montags Vormittags wieder. Das war nun Stilling eine Seelenfreude, ſo viele rechtſchaffene Menſchen kennen zu lernen; beſonders gefiel es ihm, daß alle dieſe Leute nichts Enthuſiaſtiſches hatten, ſondern bloß Liebe gegen Gott und Menſchen auszuuͤben, im Leben und WandelStillings ſämmtl. Schriften. I. Band. 15226aber ihrem Haupte Chriſto nachzuahmen ſuchten. Dieſes kam mit Stillings Religionsſyſtem voͤllig uͤberein, und daher ver - band er ſich auch mit allen dieſen Leuten zur Bruͤderſchaft und aufrichtigen Liebe. Und wirklich, dieſe Verbindung hatte eine vortreffliche Wirkung auf ihn. Iſaac ermahnte ihn immerfort zum Wachen und Beten, und erinnerte ihn allezeit bruͤderlich, wo er irgendwo in Worten nicht behutſam genug war. Dieſe Lebensart war ihm aus der Maßen nuͤtzlich, und bereitete ihn immer mehr und mehr zu dem, was Gott aus ihm machen wollte.
Mitten im Mai, ich glaube, daß es bei Pfingſten war, be - ſchloß Meiſter Iſaac, im Maͤrkiſchen, etwa ſechs Stunden von Waldſtaͤtt, einige ſehr fromme Freunde zu beſuchen; dieſe wohnten in einem Staͤdtchen, das ich hier Rothenbeck heißen will. Er nahm Stillingen mit; es war das ſchoͤnſte Wetter von der Welt, und der Weg dahin ging durch bezau - bernde Gegenden, bald quer uͤber eine Wieſe, bald durch einen gruͤnen Buſch voller Nachtigallen, bald ein Feld hinauf vol - ler Blumen, bald uͤber einen buſchichten Huͤgel, bald auf eine Haide, wo die Ausſicht paradieſiſch war, dann in einen gro - ßen Wald, dann laͤngs einem plaͤtſchernden kuͤhlen Bach, und immer ſo wechſelsweiſe fort. Unſere beiden Pilger waren ge - ſund und wohl, ohne Sorge und Bekuͤmmerniß, hatten Frie - den von innen und auſſen, liebten ſich wie Bruͤder, ſahen und empfanden uͤberall den guten und nahen Vater aller Dinge in der Natur, und hatten eine Menge guter Freunde in der Welt, und wenig oder gar keine Feinde. Sie gingen oder lie - fen vielmehr Hand an Hand ihren Weg fort, redeten von allerhand Sachen ganz vertraulich, oder ſangen eine oder an - dere erbauliche Strophe, bis daß ſie gegen Abend, ohne Muͤdig - keit und Beſchwerde, zu Rothenbeck ankamen. Sie kehrten bei einem ſehr lieben und wohlhabenden Freunde ein, dem ſie alſo am wenigſten beſchwerlich fielen. Dieſer Freund ſchrieb ſich Gloͤckner; er war ein kleiner Kaufmann, und handelte mit allerhand Waaren. Dieſer Mann und ſeine Frau hatten keine Kinder. Beide empfingen die Fremden mit herzlicher Liebe; ſie kannten zwar Stillingen noch nicht, doch nah - men ſie ihn ſehr freundlich auf, als ſie Iſaac verſicherte,227 daß er mit ihnen Allen Einer Meinung und Eines Willens ſey.
Des Abends uͤber dem Eſſen erzaͤhlte Gloͤckner eine neue merkwuͤrdige Geſchichte von ſeinem Schwager Freymuth, die ſich folgendergeſtalt verhielt: Die Frau Freymuth war Gloͤckners Frau Schweſter, und im Chriſtenthum mit der - ſelben Eines Sinnes, daher kamen beide Schweſtern nebſt andern Freunden des Sonntags Nachmittags zuſammen, ſie wiederholten alsdann die Vormittags-Predigt, laſen in der Bibel, und ſangen geiſtliche Lieder; dieſes konnte nun Frey - muth ganz und gar nicht vertragen. Er war ein Erzfeind von ſolchen Sachen, hingegen ging er eben ſowohl fleißig in die Kirche und zum Nachtmahl, aber das war auch Alles; ent - ſetzliches Fluchen, Saufen, Spielen, unzuͤchtige Reden und Schlaͤgereien waren ſeine angenehmſten Beluſtigungen, womit er die Zeit zubrachte, die ihm von ſeinen Geſchaͤften uͤbrig blieb. Wenn er nun des Abends nach Haus kam, und fand ſeine Frau in der Bibel oder ſonſt einem erbaulichen Buche leſen, ſo fing er an abſcheulich zu fluchen: Du feiner pieti - ſtiſcher T ....! weißt ja wohl, daß ich das Leſen nicht ha - ben will; dann griff er ſie in den Haaren, ſchleppte ſie auf der Erde herum, und ſchlug ſie, bis das Blut aus Mund und Naſe herausſprang; ſie aber ſagte kein Wort, ſondern, wenn er aufhoͤrte, ſo faßte ſie ihn um die Knie, und bat ihn mit taufend Thraͤnen: er moͤchte ſich doch bekehren, und ſein Leben aͤndern; dann ſtieß er ſie mit den Fuͤßen von ſich und ſagte: Canaille! das will ich bleiben laſſen, ich will kein Kopfhaͤnger werden, wie du. Eben ſo behandelte er ſie auch, wenn er gewahr wurde, daß ſie bei andern frommen Leuten in Geſellſchaft geweſen war. So hatte er’s getrieben, ſo lange als ſeine Frau anderes Sinnes geweſen war, als er.
Nun aber vor kurzen Tagen hatte ſich Freymuth gaͤnz - lich geaͤndert, und zwar auf folgende Weiſe:
Freymuth reiste nach Frankfurt zur Meſſe. Waͤhrend dieſer Zeit hatte ſeine Frau alle Freiheit, nach ihrem Sinn zu leben; ſie ging nicht allein zu andern Freunden, ſondern ſie noͤthigte auch deren zuweilen eine ziemliche Anzahl in ihr Haus; dieſes hatte ſie auch letztverwichene Oſtermeſſe gethan. 15 *228Einsmals, als ihrer viele in Freymuths Hauſe an einem Sonntag Abend verſammelt waren, und zuſammen laſen, be - teten und ſangen, ſo gefiel es dem Poͤbel, dieſes nicht leiden zu wollen; ſie kamen und ſchlugen erſt alle Fenſter ein, die ſie nur erreichen konnten; und da die Hausthuͤr verſchloſſen war, ſo ſprengten ſie dieſelbe mit einem ſtarken Baum auf. Die Verſammlung in der Stube gerieth daruͤber in Angſt und Schrecken, und ein Jeder ſuchte ſich ſo gut zu verbergen, als er konnte; nur allein Frau Freymuth blieb; und als ſie hoͤrte, daß die Hausthuͤr aufſprang, ſo trat ſie heraus mit dem Licht in der Hand. Verſchiedene Burſche waren ſchon hereingedrungen, denen ſie im Voraus begegnete. Sie laͤchelte die Leute an, und ſagte gutherzig: Ihr Nachbarn! was wollt ihr? ſofort waren ſie, als wenn ſie geſchlagen waͤren, ſie ſa - hen ſich an, ſchaͤmten ſich, und gingen ſtill wieder nach Haus. Den andern Morgen beſtellte Frau Freymuth alsbald den Glaſer und Schreiner, um alles wieder in gehoͤrigen Stand zu ſtellen; dieſes geſchah, und kaum war alles richtig, ſo kam ihr Mann von der Meſſe wieder.
Nun bemerkte er alſofort die neuen Fenſter, er fragte deß - wegen ſeine Frau: wie das zuginge? Sie erzaͤhlte ihm die klare Wahrheit umſtaͤndlich, und verhehlte ihm nichts, ſeufzte aber zugleich in ihrem Gemuͤth zu Gott um Beiſtand, denn ſie glaubte nicht anders, als ſie wuͤrde erſchreckliche Schlaͤge bekommen. Doch Freymuth dachte daran nicht, ſondern er wurde raſend uͤber die Frevelthat des Poͤbels. Seine Meinung war, ſich grauſam an dieſen Spitzbuben, wie er ſie nannte, zu raͤchen; deßwegen befahl er ſeiner Frau drohend, ihm die Thaͤter zu ſagen, denn ſie hatte ſie geſehen und gekannt.
Ja, ſagte ſie: lieber Mann! die will ich dir ſagen, aber ich weiß noch einen groͤßern Suͤnder, als die Alle zuſammen; denn es war Einer, der hat mich wegen eben der Urſache ganz abſcheulich geſchlagen.
Freymuth verſtand das nicht, wie ſie es meinte; er fuhr auf, ſchlug auf ſeine Bruſt, und bruͤllte: den ſoll der T .... holen, und dich dazu, wenn du mir ihn nicht augen - blicklich fagſt! Ja! antwortete Frau Freymuth: den will229 ich dir ſagen, raͤche dich an ihm ſo viel du willſt; der Mann, der das gethan hat, biſt du und alſo ſchlimmer als die Leute, die nur blos die Fenſter eingeſchlagen haben. Freymuth verſtummte, und war wie vom Donner geruͤhrt, er ſchwieg eine Weile, endlich fing er an: Gott im Himmel, Du haſt Recht! — Ich bin wohl ein rechter Boͤſewicht geweſen, will mich an Leuten raͤchen, die beſſer ſind als ich. — Ja, Frau! ich bin der gottloſeſte Menſch auf Erden! Er ſprang auf, lief die Treppen hinauf auf ſein Schlafzimmer, lag da drei Tage und drei Naͤchte platt auf der Erde, aß nichts, bloß daß er ſich zuweilen Etwas zu trinken geben ließ. Seine Frau leiſtete ihm ſo viel Geſellſchaft als ſie konnte, und half ihm beten, damit er bei Gott durch den Erloͤſer Gnade erlan - gen moͤchte.
Am vierten Tage des Morgens ſtand er auf, war vergnuͤgt, lobte Gott, und ſagte: nun bin ich gewiß, daß mir meine ſchweren Suͤnden vergeben ſind! Von dem Augenblick an war er ganz umgekehrt; ſo demuͤthig, als er vorhin ſtolz, ſo ſanft - muͤthig, als er vorher trotzig und zornig, und ſo von Herzen fromm, als er vorhin gottlos geweſen war.
Dieſer Mann waͤre ein Gegenſtand fuͤr meinen Freund La - vater. Seine Geſichtsbildung iſt die roheſte und wildeſte von der Welt; es duͤrfte nur eine Leidenſchaft, zum Beiſpiel der Zorn, rege werden, die Lebensgeiſter brauchten nur jeden Muskel des Geſichts zu ſpannen, ſo wuͤrde er raſend ausſehen. Jetzt aber iſt er einem Loͤwen aͤhnlich, der in ein Lamm ver - wandelt worden iſt. Friede und Ruhe iſt jedem Geſichtsmus - kel eingedruͤckt, und das gibt ihm ein eben ſo frommes Aus - ſehen, als er vorhin wild war.
Nach dem Eſſen ſchickte Gloͤckner ſeine Magd in Frey - muths Haus, und ließ da anſagen, daß Freunde bei ihm angekommen waͤren. Freymuth und ſeine Frau kamen als - bald, und bewillkommten Iſaac und Stilling. Dieſer Letztere hatte den ganzen Abend ſeine Betrachtungen uͤber die beiden Leute; bald mußte er des Loͤwen Sanftmuth, bald des Lammes Heldenmuth bewundern. Alle Sechs waren ſehr ver -230 gnuͤgt zuſammen, ſie erbauten ſich ſo gut ſie konnten, und gingen ſpaͤt ſchlafen.
Unſere beiden Freunde blieben nun noch ein paar Tage zu Rothenbeck, beſuchten und wurden beſucht, auch gehoͤrte der Schulmeiſter daſelbſt, der ſich auch Stilling ſchrieb, und aus dem Salen’ſchen Land zu Haus war, mit unter die Ge - ſellſchaft der Frommen zu Rothenbeck; dieſen beſuchten ſie auch. Er gewann beſonders Stillingen lieb, beſonders da er hoͤrte, daß er auch lange Schulmeiſter geweſen war. Die beiden Stillinge machten einen Bund zuſammen, daß einer dem andern ſo lange ſchreiben ſollte, als ſie lebten, um die Freundſchaft zu unterhalten.
Endlich reisten ſie wieder von Rothenbeck nach Wald - ſtaͤtt zuruͤck, und begaben ſich an ihr Handwerk, wobei ſie ſich die Zeit mit allerhand angenehmen Geſpraͤchen vertrieben.
Es wohnte aber eine Stunde von Waldſtaͤtt ein weidli - cher Kaufmann, der ſich Spanier ſchrieb. Dieſer Mann hatte ſieben Kinder, wovon das aͤlteſte eine Tochter von etwa ſechzehn Jahren, das juͤngſte aber ein Maͤdchen von einem Jahr war. Unter dieſen Kindern waren drei Soͤhne und vier Toͤchter. Er hatte eine ſehr ſtarke Eiſen-Fabrik, die aus ſie - ben Eiſenhammern beſtand, wovon vier bei ſeinem Hauſe, drei aber anderthalb Stunden von ſeinem Hauſe ab, nicht weit von Herrn Hochbergs Haus lagen, wo Stilling geweſen war. Dabei beſaß er ungemein viele liegende Guͤter, Haͤuſer, Hoͤfe, und was dazu gehoͤrte, nebſt vielem Geſinde, Knechte, Maͤgde und Fuhrknechte, denn er hatte verſchiedene Pferde zu ſeinem eigenen Gebrauch.
Wenn nun Herr Spanier verſchiedene Schneiderarbeit fuͤr ſich und ſeine Leute zuſammen verſpart hatte, ſo ließ er Mei - ſter Iſaac mit ſeinen Geſellen kommen, um einige Tage bei ihm zu Naͤhen, und fuͤr ihn und ſeine Leute alle Kleider wie - der in Ordnung zu bringen.
Nachdem nun Stilling zwoͤlf Wochen bei Meiſter Iſaac geweſen war, ſo traf es ſich, daß ſie auch bei Herrn Spanier arbeiten mußten. Sie gingen alſo des Morgens fruͤh hin. Als ſie zur Stubenthuͤr hereintraten, ſo ſaß Herr Spanier231 allein am Tiſch, und trank den Caffee aus einem kleinen Kaͤnn - chen, das fuͤr ihn allein gemacht war. Langſam drehte er ſich um, ſah Stillingen ins Geſicht, und ſagte:
„ Guten Morgen, Herr Praͤceptor! “
Stilling war bluthroth, er wußte nicht, was er ſagen ſollte, doch erholte er ſich geſchwind, und ſagte: Ihr Diener, Herr Spanier. Doch dieſer ſchwieg nun wieder ſtill, und trank ſeinen Caffee fort. Stilling aber begab ſich auch an ſeine Arbeit.
Nach einigen Stunden ſpazierte Spanier auf und ab in der Stube, und ſagte kein Wort; endlich ſtand er vor Stil - lingen hin, ſah ihm eine Weile zu, und ſagte:
„ Das geht Euch ſo gut von ſtatten, Stilling! als wenn Ihr zum Schneider geboren waͤret, aber das ſeyd Ihr doch nicht? “
Wie ſo? fragte Stilling.
„ Eben darum, verſetzte Spanier: weil ich Euch zum In - formator bei meinen Kindern haben will. “
Meiſter Iſaac ſah Stillingen an und laͤchelte.
Nein, Herr Spanier! erwiederte Stilling, daraus wird nichts; ich bin unwiderruflich entſchloſſen, nicht wieder zu in - formiren. Ich bin jetzt ruhig und wohl bei meinem Hand - werk, und davon werde ich nicht wieder abgehen.
Herr Spanier ſchuͤttelte den Kopf, lachte, und fuhr fort: „ Das will ich Euch doch wohl anders lehren, ich habe ſo manchen Berg in der Welt eben und gleich gemacht, und ſollte Euch nicht auf andere Sinne bringen, deſſen wuͤrde ich mich vor mir ſelber ſchaͤmen.
Nun ſchwieg er den Tag davon ſtill. Stilling aber bat ſeinen Meiſter, daß er ihn des Abends moͤchte nach Haus gehen laſſen, um Herrn Spaniers Nachſtellungen zu ent - gehen; allein Meiſter Iſaac wollte das nicht geſchehen laſſen, deßwegen waffnete ſich Stilling aufs beſte, um Herrn Spa - nier mit den wichtigſten Gruͤnden widerſtehen zu koͤnnen.
Des andern Tages traf ſichs wieder, daß Herr Spanier in der Stube auf und abging; er fing gegen Stilling an:
„ Hoͤrt Stilling! wenn ich mir ein ſchoͤnes Kleid machen232 laſſe, und haͤnge es dann an den Nagel, ohne es jemals anzu - ziehen, bin ich dann nicht ein Narr? “
Ja! verſetzte Stilling: erſtens, wenn Sie’s nothwendig haben; und zweitens, wenn’s wohl getroffen iſt. Wie wenn Sie ſich aber einmal ein huͤbſches Kleid machen ließen, ohne daß Sie’s nothwendig haͤtten, oder Sie zoͤgens an, und es druͤckte Sie aller Orten, was wollten Sie alsdann machen?
„ Das will ich Euch ſagen, verſetzte Spanier: ſo gaͤb ichs einem Andern; dem’s recht waͤre. “
Aber, erwiederte Stilling: wenn Sie’s nun Sieben hin - ter einander gegeben haͤtten, und ein Jeder gaͤb’s Ihnen wie - der, und ſagte: es paßt mir nicht, was wuͤrden Sie dann anfangen?
Spanier antwortete: So waͤr’ ich doch ein Narr, wenn ichs muͤßig da haͤngen und die Motten freſſen ließe; hoͤr’! ich gaͤb’s dem Achten, und ſagte: nun aͤndert daran bis es euch recht iſt. Wenn aber nun der Achte ſich vollends dazu ver - ſtaͤnde, ſich in das Kleid zu ſchicken, und nicht mehr von ihm zu fordern, als wozu es gemacht iſt, ſo wuͤrde ich ja ſuͤndigen, wenn ichs ihm nicht gaͤbe!
Da haben Sie Recht, verſetzte Stilling; allein, dem allen ungeachtet bitte ich Sie um Gottes willen, Herr Spanier! laſſen Sie mich am Handwerk!
„ Nein! antwortete er: das thue ich nicht, Ihr ſollt und muͤßt mein Haus-Informator werden, und zwar unter folgen - den Bedingungen: Ihr koͤnnt nicht franzoͤſiſch, es iſt aber bei mir um vieler Urſachen willen noͤthig, daß Ihr’s verſteht, dero - wegen waͤhlt Euch einen Sprachmeiſter, wo Ihr wollt, zieht zu ihm hin, und lernt dieſe Sprache, ich bezahle alles gerne, was es koſten wird; ferner geb’ ich Euch dem ungeach - tet volle Freiheit, wieder von mir zu Meiſter Iſaac zu zie - hen, ſobald es Euch bei mir leid ſeyn wird. Und endlich ſollt Ihr alles haben an Kleidern und Zubehoͤr, was Ihr be - duͤrft, und das ſo lange, als Ihr bei mir ſeyn werdet. Nun hab’ ich aber auch Recht, dieſes dagegen zu fordern: daß Ihr in keine andere Condition treten wollt, ſo lange ich Euch233 noͤthig habe, es ſey denn, daß Ihr Euch auf Lebenslang ver - ſorgen koͤnntet. “
Meiſter Iſaac wurde durch dieſen Vorſchlag geruͤhrt. Nun! ſagte er gegen Stilling: jetzt begeht Ihr eine Suͤnde, wenn Ihr nicht einwilligt. Das kommt von Gott, und alle Eure vorigen Bedingungen kamen von Euch ſelbſt.
Stilling unterſuchte ſich genau, er fand gar keine Leiden - ſchaft oder Trieb nach Ehre bei ſich, ſondern er fuͤhlte im Ge - gentheil einen Wink in ſeinem Gewiſſen, daß dieſe Condition ihm von Gott angewieſen werde.
Nach einer kurzen Pauſe fing er an: „ Ja, Herr Spanier! noch Einmal will ichs wagen, aber ich thue es mit Furcht und Zittern. “
Spanier ſtand auf, gab ihm die Hand, und ſagte: „ Gott ſey Dank! nun hab’ ich auch dieſen Huͤgel wieder eben ge - macht; aber nun muͤßt Ihr auch alſofort zum Sprachmeiſter, lieber morgen als uͤbermorgen. “
Stillingen war dieſes ſo ganz recht, und ſelbſt Meiſter Iſaac ſagte: Uebermorgen iſts Sonntag, und dann koͤnnt Ihr in Gottes Namen reiſen. Dieſes wurde alſo beſchloſſen.
Ich muß geſtehen: daß, da nun Stilling wieder ein an - derer Menſch war, ſo vergnuͤgt er ſich auch eingebildet hatte zu ſeyn, ſo hatte er doch immer eine ungeſtimmte Saite, die er nie ohne eine Art von Mißvergnuͤgen beruͤhren durfte. So - bald ihm einfiel, was er in der Mathematik und andern Wiſ - ſenſchaften gethan und geleſen hatte, ſo ging ihm ein Stich durchs Herz, allein er ſchlug ſichs wieder aus dem Sinn; daher wurde ihm jetzt ganz anders, als er fuͤhlte, daß er aufs Neue recht in ſein Element kommen wuͤrde.
Iſaac goͤnnte ihm zwar ſein Gluͤck, allein es that ihm doch ſchmerzlich leid, daß er ihn ſchon miſſen ſollte, und Stil - lingen ſchmerzte es in ſeiner Seele, daß er von dem recht - ſchaffenſten Mann in der Welt, und ſeinem beſten Freunde, den er je gehabt hatte, Abſchied nehmen ſollte, ehe er ihm ſeine Kleider abverdient hatte; er redete deßwegen mit Herrn Spanier in Geheim, und erzaͤhlte ihm, was Meiſter Iſaac an ihm gethan habe. Spanier drangen die Thraͤnen in die234 Augen, und er ſagte: Der vortreffliche Menſch! das ſoll er mir entgelten, nie ſoll er Mangel haben. Nun gab er ihm einige Lonisd’ors mit dem Bedeuten, Iſaac davon zu bezah - len, und mit dem uͤbrigen hauszuhalten; wenns all waͤre, ſollte er mehr haben, nur dieß er alles huͤbſch berechnete, wozu es verwendet worden.
Stilling freute ſich aus der Maſſen; ſo einen Mann hatte er noch nicht angetroffen. Er bezahlte alſo Meiſter Iſaac mit dem Gelde, und nun geſtand ihm dieſer: daß er wirklich alle Kleider fuͤr ihn geborgt haͤtte. Das ging Stilling durchs Herz, er konnte ſich des Weinens nicht enthalten, und dachte bei ſich ſelbſt: Wenn jemals ein Mann ein marmornes Monument verdient hat, ſo iſts dieſer; nicht daß er ganze Voͤlker gluͤcklich gemacht hat, ſondern darum, daß ers wuͤrde gethan haben, wenn er gekonnt haͤtte.
Nochmals! — geſegnet ſey deine Aſche, mein Freund! aus - erkohren unter Tauſenden, — da Du liegſt und ſchlaͤfſt; dieſe hei - ligen Thraͤnen auf dein Grab — du wahrer Nachfolger Chriſti!!!
Des Sonntags nahm alſo Stilling Abſchied von ſeinen Freunden zu Waldſtaͤtt, und reiste uͤber Roſenheim nach Schoͤnenthal, um einen guten Sprachmeiſter zu ſuchen. Als er nahe bei letzterer Stadt kam, ſo erinnerte er ſich, daß er vor einem Jahr und etlichen Wochen dieſen Weg zuerſt ge - reist hatte; er uͤberdachte alle ſeine Schickſale in dieſer kurzen Zeit, und nun wieder ſeinen Zuſtand, er fiel nieder auf ſeine Knie, und dankte Gott herzlich fuͤr eine ſtrenge aber heilige und gute Fuͤhrung, bat aber zugleich, nunmehr auch ſeine Gnaden - ſonne uͤber ihn ſcheinen zu laſſen. Als er auf die Hoͤhe kam, wo er ganz Schoͤnenthal und das herrliche Thal hinauf uͤberſehen konnte, ſo wurde er begeiſtert, ſetzte ſich hin unter das Geſtraͤuche, zog ſeine Schreibtafel heraus und ſchrieb:
Stilling eilte nun den Berg hinunter nach Schoͤnenthal hin; er vernahm aber, daß die Sprachmeiſter daſelbſten ſich fuͤr ihn nicht ſchicken wuͤrden, indem ſie wegen vieler Ge - ſchaͤfte hin und her in den Haͤuſern, wenig Zeit auf ihn wuͤr - den verwenden koͤnnen. Da er nun eilig war und bald fer - tig ſeyn wollte, ſo mußte er eine Gelegenheit ſuchen, wo er in kurzer Zeit viel lernen konnte; endlich wurd’ er gewahr, daß ſich zu Dornfeld, wo Herr Dahlheim Prediger war, ein ſehr geſchickter Sprachmeiſter aufhielte. Da nun dieſer Ort nur drei viertel Stunden von Schoͤnenthal ablag, ſo entſchloß er ſich deſto lieber, dahin zu gehen.
Des Nachmittags um drei Uhr kam er daſelbſt an. Er fragte alsbald nach dem Sprachmeiſter, ging zu ihm, und fand einen ſehr ſeltſamen originellen Menſchen, der ſich Hees - feld ſchrieb. Er ſaß da in einem dunkeln Stuͤbchen, hatte einen ſchmutzigen Schlafrock von ſchlechtem Camelot an, mit einer Binde von demſelben Zeug umguͤrtet; auf dem Kopf hatte er eine latzige Muͤtze; ſein Geſicht war blaß, wie eines Menſchen, der ſchon einige Tage im Grabe gelegen, und im Verhaͤltniß gegen die Breite viel zu lang. Die Stirne war ſchoͤn, aber unter pechſchwarzen Augbraunen lagen ein paar ſchwarze, ſchmale, kleine Augen tief im Kopf; die Naſe war ſchmal und lang, der Mund ordentlich, aber das Kinn ſtand237 platt und ſcharf vorwaͤrts, das er auch immer ſehr weit vor - waͤrts trug, ſein rabenſchwarzes Haar war rund um gekraͤu - ſelt; ſonſt war er ſchmal, lang und ſchoͤn gewachſen.
Stilling erſchrack einigermaßen vor dieſem ſeltſamen Ge - ſichte, ließ aber doch nichts merken, ſondern gruͤßte ihn, und trug ihm ſein Vorhaben vor. Herr Heesfeld nahm ihn freundlich auf, und ſagte: ich werde an Ihnen thun was ich vermag. Stilling ſuchte ſich nun ein Quartier, und fing ſein Studium der franzoͤſiſchen Sprache an, und zwar folgenderge - ſtalt. Des Vormittags von acht bis eilf Uhr wohnte er der ordentlichen Schule bei, des Nachmittags von zwei bis fuͤnf auch, er ſaß aber mit Heesfeld an einem Tiſch, ſie ſprachen immer, und hatten Zeitvertreib zuſammen, wenn aber die Schule aus war, ſo gingen ſie ſpazieren.
So ſonderlich als Heesfeld gebildet war, ſo ſonderlich war er auch in ſeinem Leben und Wandel. Er gehoͤrte zur Claſſe der Launer wie ehemals Glaſer auch, denn er ſagte Niemand was er dachte, kein Menſch wußte wo er her war, und eben ſo wenig wußte Jemand, ob er arm oder reich war. Vielleicht hat er Niemand in ſeinem Leben zaͤrtlicher geliebt als Stillin - gen, und doch hat dieſer erſt nach ſeinem Tode inne geworden, wo er her war, und daß er ein reicher Mann geweſen.
Seine ſonderliche Denkungsart leuchtete auch daraus hervor, daß er immer ſeine Geſchicklichkeit verbarg, und nur ſo viel davon blicken ließ, als juſt noͤthig war. Daß er vollkommen franzoͤſiſch verſtand, aͤußerte ſich alle Tage, daß er aber auch ein vortrefflicher Lateiner war, das zeigte ſich erſt, als Stilling zu ihm kam, mit welchem er die Information auf den Fuß der lateiniſchen Grammatik einrichtete, und taͤglich mit ihm latei - niſche Verſe machte, die unvergleichlich ſchoͤn waren. Zeichnen, Tanzen, Phyſik und Chymie verſtand er in einem hohem Grad; und noch zwei Tage vor Stillings Abreiſe traf es ſich, daß letzterer in ſeiner Geſellſchaft auf einem Clavier ſpielte. Hees - feld hoͤrte zu. Als Stilling aufhoͤrte, ſetzte er ſich hin, und that anfaͤnglich, als wenn er in ſeinem Leben kein Clavier be - ruͤhrt haͤtte, aber in weniger als fuͤnf Minuten fing er ſo tref - flich melancholiſch-fuͤrchterlich an zu phantaſiren, daß einem die238 Haare zu Berge ſtanden; allmaͤhlig ſchwung er ſich zum me - lancholiſch-zaͤrtlichen, von da ins choleriſch-feurige, darauf ins gelaſſene ruhige, phantaſirte eine phlegmatiſche Murqui, darauf ein ſanguiniſch-zaͤrtliches Adagio, dann ein Allegro, und nun ſchloß er mit einer luſtigen Menuette aus D dur. Stilling haͤtte zerſchmelzen moͤgen uͤber ſeine empfindſame Art zu Spie - len, und bewunderte dieſen Mann aus der Maſſen.
Heesfeld war in ſeiner Jugend in Kriegsdienſte gegangen; wegen ſeiner Geſchicklichkeit wurde er von einem hohen Officier in ſeine eigenen Dienſte genommen, der ihn in Allem hatte un - terrichten laſſen, wozu er nur Luſt gehabt hatte; mit dieſem Herrn war er durch die Welt gereist, der nach zwanzig Jahren ſtarb, und ihm ein ſchoͤnes Stuͤck Geld vermachte. Heesfeld war nun vierzig Jahre alt, reiste nach Haus, aber nicht zu ſei - nen Eltern und Freunden, ſondern er nahm einen fremden Ge - ſchlechtsnamen an, ging nach Dornfeld als franzoͤſiſcher Sprach - meiſter, und obgleich ſeine Eltern und zween Bruͤder nur zwei Stunden von ihm ab wohnten, ſo wußten ſie doch gar nichts von ihm, ſondern ſie glaubten, er ſey in der Fremde geſtorben; auf ſeinem Todtbette aber hat er ſich ſeinen Bruͤdern zu erken - nen gegeben, ihnen ſeine Umſtaͤnde erzaͤhlt, und eine reichliche Erbſchaft hinterlaſſen: und nach ſeinem Syſtem war es auch da noch fruͤh genug.
Man nenne dieſes nun Fehler oder Tugend, er hatte bei dem allem eine edle Seele; ſeine Menſchenliebe war auf einen hohen Grad geſtiegen, aber er handelte in Geheim; auch denen er Gu - tes that, die durftens nicht wiſſen. Nichts konnte ihn mehr er - goͤtzen, als wenn er hoͤrte, daß die Leute nicht wuͤßten, was ſie aus ihm machen ſollten.
Wenn er mit Stilling ſpazieren ging, ſo ſprachen ſie von Kuͤnſten und Wiſſenſchaften. Ihr Weg ging immer in die wil - deſten Einoͤden, dann ſtieg Heesfeld auf einen ſchwankenden Baum, der ſich gut biegen ließ, ſetzte ſich oben in den Gipfel, hielt ſich feſt, und wiegte ſich mit ihm auf die Erde, legte ſich eine Weile in die Aeſte und ruhete. Stilling machte ihm das dann nach, und ſo lagen ſie und plauderten; wenn ſie deſſen muͤde waren, ſo ſtanden ſie auf und dann richteten ſich die239 Baͤume wieder auf; das war Heesfelds Freude, dann ſagte er wohl: ſchoͤn ſind unſere Betten, wenn wir aufſtehen, ſo fah - ren ſie gen Himmel. — Zuweilen gab er auch wohl Jemand ein Raͤthſel auf, und fragte: was ſind das vor Betten, die in die Luft fliegen, wenn man aufſteht?
Stilling lebte aus der Maßen vergnuͤgt zu Dornfeld. Herr Spanier ſchickte ihm Geld genug, und er ſtudirte recht fleißig, denn in neun Wochen war er fertig; es iſt unglaublich aber doch gewiß wahr; er verſtand dieſe Sprache nach zwei Mona - ten hinlaͤnglich, er las die franzoͤſiſche Zeitung teutſch weg, als wenn ſie in letzterer Sprache gedruckt waͤre, auch ſchrieb er ſchon damalen einen franzoͤſiſchen Brief ohne Grammaticalfeh - ler, und las richtig, nur fehlte ihm noch die Uebung im Sprechen. Den ganzen Syntax hatte er zur Genuͤge inne; ſo daß er nun ſelbſt getroſt anfangen konnte, in dieſer Sprache zu unterrichten.
Stilling beſchloß alſo, nunmehr von Herrn Heesfeld Abſchied zu nehmen, und zu ſeinem neuen Patron zu ziehen. Beide weinten, als ſie von einander gingen. Heesfeld gab ihm eine Stunde weit das Geleit. Als ſie ſich nun herzten und kuͤßten, ſchloß ihn Herr Heesfeld in die Arme, und ſagte: „ Mein Freund! wenn Ihnen je Etwas mangelt, ſo ſchreiben Sie mir, ich werde Ihnen thun, was ein Bruder dem andern thun ſoll; mein Wandel iſt verborgen, aber ich wuͤnſche zu wirken, wie die Mutter Natur, man ſieht ihre erſten Quellen nicht, aber man trinkt ſich ſatt an ihren klaren Baͤchen. “ Es fiel Stilling hart, von ihm weg zu kommen; endlich riſſen ſie ſich von einander, gingen ihres Weges, und ſahen nicht wieder hinter ſich.
Stilling wanderte alſo zuruͤck zu Herrn Spanier, und kam zwei Tage vor Michaelis 1763 des Abends in Herrn Spaniers Hauſe an. Dieſer Mann freute ſich uͤber die Maßen, als er Stilling ſo geſchwind bei ſich ſahe. Er behan - delte ihn alſofort als einen Freund, und Stilling fuͤhlte wohl, daß er nunmehro bei Leuten waͤre, die ihm Freude und Wonne machen wuͤrden.
Des andern Tages fing er ſeine Information an. Die Ein - richtung derſelben ward folgendergeſtalt von Herrn Spanier240 angeordnet: Die Kinder ſowohl, als ihr Lehrer, waren bei ihm in ſeiner Stube; auf dieſe Weiſe konnte er ſie ſelber beobach - ten und ziehen, und auch beſtaͤndig mit Stilling von allerhand Sachen reden. Dabei gab Herr Spanier ſeinem Haus-In - formator auch Zeit genug, ſelber zu leſen. Die Unterweiſung dauerte den ganzen Tag, aber ſo gemaͤchlich und unterhaltend, daß ſie Niemand langweilig und beſchwerlich werden konnte.
Herr Spanier aber hatte Stillingen nicht bloß zum Leh - rer ſeiner Kinder beſtimmt, ſondern er hatte noch eine ſchoͤne Abſicht mit ihm, er wollte ihn in ſeinen Handelsgeſchaͤften brau - chen; das entdeckte er ihm aber nicht eher, als bis auf den Tag, da er ihm einen Theil ſeiner Fabrik zu verwalten uͤbertrug. Hier - durch glaubte er auch Stillingen Veraͤnderung zu machen, und ihn vor der Melancholie zu bewahren.
Alles dieſes gelang auch vollkommen. Nachdem er vierzehen Tage informirt hatte, ſo uͤbertrug ihm Herr Spanier ſeine drei Haͤmmer, und die Guͤter, welche anderthalb Stunden von ſei - nem Hauſe, nicht weit von Hochbergs Wohnung lagen. Stilling mußte alle drei Tage dahin gehen, um die fertigen Waa - ren wegzuſchaffen, und Alles zu beſorgen.
Auch mußte er rohe Waaren einkaufen, und des Endes drei Stunden weit woͤchentlich ein paarmal auf die Landſtraße ge - hen, wo die Fuhrleute mit dem rohen Eiſen herkamen, um das noͤthige von ihnen einzukaufen; wenn er dann wieder kam und recht muͤde war, ſo that ihm die Ruhe ein paar Tage wieder gut, er las dann ſelbſten und informirte dabei.
Der vergnuͤgte Umgang aber, den Stilling mit Herrn Spanier hatte, war uͤber alles. Sie waren recht vertraulich zuſammen, redeten von Herzen von allerhand Sachen, beſon - ders war Spanier ein ausbuͤndiger geſchickter Landwirth und Kaufmann, ſo daß Stilling oftmals zu ſagen pflegte: Herrn Spaniers Haus war meine Academie, wo ich Oeconomie, Landwirthſchaft und das Commerzienweſen aus dem Grund zu ſtudieren Gelegenheit hatte.
So wie ich hier Stillings Lebensart beſchrieben habe, ſo dauerte ſie, ohne eine einzige truͤbe Stunde dazwiſchen zu ha - ben, ſieben ganze Jahre in einem fort; ich will davon nichts241 weiter ſagen, als daß er in all dieſer Zeit, in Abſicht der Welt - kenntniß, Lebensart, und obigen haͤuslichen Wiſſenſchaften ziem - lich zugenommen habe. Seine Schuͤler unterrichtete er, dieſe ganze Zeit uͤber, in der lateiniſchen und franzoͤſiſchen Sprache, wodurch er ſelber immer mehr Fertigkeit in beiden Stuͤcken erlangte, und dann in der reformirten Religion, im Leſen, Schreiben und Rechnen.
Seine eigne Lectuͤre beſtand anfaͤnglich in allerhand poe - tiſchen Schriften. Er las erſtlich Miltons verlornes Pa - radies, hernach Youngs Nachtgedanken, und darauf die Meſſiade von Klopſtock; drei Buͤcher, die recht mit ſeiner Seele harmonirten; denn ſo wie er vorhin ſanguiniſch zaͤrt - lich geweſen war, ſo hatte er nach ſeiner ſchrecklichen Periode bei Herrn Hochberg eine ſanfte, zaͤrtliche Melancholie an - genommen, die ihm auch vielleicht bis an ſeinen Tod anhaͤn - gen wird.
In der Mathematik that er jetzt nicht viel mehr, hingegen legte er ſich mit Ernſt auf die Philoſophie, las Wolfs teutſche Schriften ganz, desgleichen Gottſcheds geſammte Philoſophie, Leibnitzens Theodicee, Baumeiſters kleine Logik und Metaphyſik demonſtrirte er ganz nach, und nichts in der Welt war ihm angenehmer als die Uebung in dieſen Wiſſenſchaften; allein er ſpuͤrte doch eine Leere bei ſich und ein Mißtrauen gegen dieſe Syſteme, denn ſie erſtick - ten wahrlich alle kindliche Empfindung des Herzens gegen Gott; ſie moͤgen eine Kette von Wahrheiten ſeyn, aber die wahre philoſophiſche Kette, an welche ſich alles anſchließt, haben wir noch nicht. Stilling glaubte dieſe zu finden, allein er fand ſie nicht, und nun gab er ſich ferner aus Su - chen, theils durch eigenes Nachdenken, theils in andern Schrif - ten, und noch bis dahin wandelt er traurig auf dieſem Wege, weil er noch keine Auskunft ſiehet.
Herr Spanier ſtammte auch aus dem Salen’ſchen Lande her; denn ſein Vater war nicht weit von Kleefeld geboren, wo Stilling ſeine letzte Kapellenſchule bedient hatte, deßwegen hatte er auch zuweilen Geſchaͤfte daſelbſt zu verrichten, hierzu brauchte er nun Stilling auch darum am liebſten, weil er da -Stilling’s ſämmtl. Schriften. I. Band. 16242ſelbſt bekannt war. Nachdem er nun ein Jahr bei ſeinem Pa - tron, und alſo beinah dritthalb Jahr in der Fremde geweſen, ſo trat er ſeine erſte Reiſe zu Fuß nach ſeinem Vaterland an. Er hatte zwoͤlf Stunden von Herrn Spanier bis zu ſeinem Oheim Johann Stilling, und dreizehn bis zu ſeinem Vater; dieſe Reiſe wollte er in einem Tage abthun. Er machte ſich deß - wegen des Morgens fruͤh mit Tagesanbruch auf den Weg, und reiste vergnuͤgt fort, aber er nahm eine naͤhere Straße vor ſich, als er ehemals gekommen war. Des Nachmittags um vier Uhr kam er auf einer Hoͤhe an die Graͤnze des Sa - len’ſchen Landes, er ſah in all die bekannten Gebirge hinein, ſein Herz zerſchmolz, er ſetzte ſich hin, weinte Thraͤnen der Empfindſamkeit, und dankte Gott fuͤr ſeine ſchwere aber ſehr ſeltſame Fuͤhrung; er bedachte, wie elend und arm er aus ſeinem Vaterland ausgegangen, und daß er nun Ueberfluß an Geld, ſchoͤnen Kleidern und an aller Nothdurft habe; die - ſes machte ihn ſo weich und ſo dankbar gegen Gott, daß er ſich des Weinens nicht enthalten konnte.
Er wanderte alſo weiter, und kam nach einer Stunde bei ſeinem Oheim zu Lichthauſen an. Die Freude war nicht auszuſprechen, die da entſtand, als ſie ihn ſahen; er war nun lang und ſchlank ausgewachſen, hatte ein ſchoͤnes dunkelblaues Kleid, und ſeine weiße Waͤſche an, ſein Haar war gepudert, und rund um aufgerollt, dabei ſah er nun munter und bluͤhend aus, weil es ihm wohl ging. Sein Oheim umarmte und kuͤßte ihn, und die Thraͤnen liefen ihm die Wangen herunter, indem kam auch ſeine Muhme, Mariechen Stilling. Sie war ſeit der Zeit auch nach Lichthauſen verheirathet, ſie fiel ihm um den Hals, und kuͤßte ihn ohne Aufhoͤren.
Dieſe Nacht blieb er bei ſeinem Oheim, des andern Mor - gens ging er nach Leindorf zu ſeinem Vater. Wie der recht - ſchaffene Mann aufſprang, als er ihn ſo unvermuthet kommen ſah! er ſank wieder zuruͤck; Stilling aber lief auf ihn zu, umarmte und kuͤßte ihn zaͤrtlich, Wilhelm hielt ſeine Haͤnde vor die Augen und weinte, ſein Sohn vergoß ebenfalls Thraͤ - nen; indem kam auch die Mutter, ſie ſchuͤttelte ihm die Hand, und weinte laut vor Freuden, daß ſie ihn geſund wieder ſahe.
243Nun erzaͤhlte Stilling ſeinen Eltern Alles, was ihm be - gegnet war und wie gut es ihm nun ginge. Indeſſen er - ſchallte das Geruͤcht von Stillings Ankunft im ganzen Dorf. Das Haus wurde voller Leute; Alte und Junge kamen, um ihren ehemaligen Schulmeiſter zu ſehen und das ganze Dorf war voll Freude uͤber ihn.
Gegen Abend ging Wilhelm mit ſeinem Sohne uͤber die Wieſen ſpazieren. Er redete viel mit ihm von ſeinen vergan - genen und kuͤnftigen Schickſalen, und zwar recht im Ton des alten Stillings, ſo daß ſein Sohn von Ehrfurcht und Liebe durchdrungen war. Endlich fing Wilhelm an: Hoͤre mein Sohn, Du mußt deine Großmutter beſuchen, ſie liegt elend an der Gicht darnieder, und wird nicht lange mehr leben, ſie redet immer von dir, und wuͤnſcht noch einmal, vor ihrem Ende mit dir zu ſprechen. Des andern Morgens machte ſich alſo Stilling auf, und ging nach Tiefenbach hin. Wie ihm ward, als er das alte Schloß, den Giller, den hitzigen Stein und das Dorf ſelber ſahe! Dieſe Empfindung laͤßt ſich nicht ausſprechen; er unterſuchte ſich, und fand, wenn er noch ſei - nen jetzigen Zuſtand mit ſeiner Jugend vertauſchen koͤnnte, er wuͤrde es gerne thun. Er langte in kurzer Zeit im Dorfe an; alles Volk lief aus, ſo daß er gleichſam im Gedraͤnge an das ehrwuͤrdige Haus ſeiner Vaͤter kam. Es ſchauerte ihn, wie er hineintrat, juſt als wenn er in einen alten Tempel ginge. Seine Muhme Eliſabeth war in der Kuͤche, ſie lief auf ihn zu, gab ihm die Hand, weinte, und fuͤhrte ihn in die Stube; da lag nun ſeine Großmutter Margarethe Stil - ling in einem ſaubern Bettchen an der Wand bei dem Ofen; ihre Bruſt war hoch in die Hoͤhe getrieben. Die Knoͤchel an ihren Haͤnden waren dick, die Finger ſteif, und einwaͤrts aus - gereckt. Stilling lief zu ihr, griff ihre Hand und ſagte mit Thraͤnen in den Augen: wie gehts, liebe Großmutter? Es iſt mir eine Seelenfreude, daß ich Euch noch einmal ſehe. Sie ſuchte ſich in die Hoͤhe zu arbeiten, fiel aber ohnmaͤchtig zu - ruͤck. Ach! rief ſie: ich kann dich noch einmal vor meinem Ende hoͤren und fuͤhlen, komm doch zu mir, daß ich dich im Geſicht fuͤhlen kann! Stilling buͤckte ſich zu ihr; ſie fuͤhlte16 *244nach ſeiner Stirn, ſeinen Augen, Naſe, Mund, Kinn und Wangen. Indeſſen gerieth ſie auch mit den ſteifen Fingern in ſeine Haare, ſie fuͤhlte den Puder: So! ſagte ſie; Du biſt der Erſte, der aus unſerer Familie ſeine Haare pudert, ſey aber nicht der Erſte, der auch Gottesfurcht und Redlichkeit ver - gißt! Nun, fuhr ſie fort: kann ich dich mir vorſtellen, als wenn ich dich ſaͤhe; erzaͤhle mir nun auch, wie es dir gegan - gen hat, und wie es dir nun geht. Stilling erzaͤhlte ihr Alles kurz und buͤndig. Als er ausgeredet hatte, fing ſie an: Hoͤre, Heinrich! ſey demuͤthig und fromm, ſo wirds Dir wohl gehen, ſchaͤme Dich nie Deines Herkommens und deiner armen Freunde, Du magſt ſo groß werden in der Welt als Du willſt. Wer gering iſt, kann durch Demuth groß werden, und wer vornehm iſt, kann durch Stolz gering werden; wenn ich nun todt bin, ſo iſts einerlei, was ich in der Welt geweſen bin, wenn ich nur chriſtlich gelebt habe.
Stilling mußte ihr mit Hand und Mund Alles dieſes angeloben. Nachdem er nun noch ein und anderes mit ihr ge - redet hatte, nahm er ſchnell Abſchied von ihr, das Herz brach ihm, denn er wußte, daß er ſie in dieſem Leben nicht wieder ſehen wuͤrde; ſie war am Rande des Todes; allein ſie griff ihm die Hand, hielt ihn feſt, und ſagte: Du eilſt — Gott ſey mit Dir, mein Kind! vor dem Thron Gottes ſeh ich Dich wieder! Er druͤckte ihr die Hand und weinte. Sie merkte das: Nein! fuhr ſie fort, weine nicht uͤber mich! mir gehts wohl, ich empfehle Dich Gott von Herzen in ſeine vaͤterlichen Haͤnde, der wolle Dich ſegnen, und vor allem Boͤſen bewahren! Nun geh’ in Gottes Namen! Stilling riß ſich los, lief aus dem Hauſe weg, und iſt auch ſeitdem nicht wieder dahin gekommen. Einige Tage nachher ſtarb Margarethe Stilling; ſie liegt zu Florenburg neben ihrem Mann begraben.
Nun war’s Stilling, als wenn ihm ſein Vaterland zu - wider waͤre; er machte ſich fort und eilte wieder in die Fremde, kam auch bei Herrn Spanier wieder an, nachdem er fuͤnf Tage ausgeblieben war.
Ich will mich mit Stillings einfoͤrmiger Lebensart und Verrichtungen, die erſten vier Jahre durch, nicht aufhalten,245 ſondern ich gehe zu wichtigern Sachen uͤber. Er war nun ſchon eine geraume Zeit her mit der Information und Herrn Spaniers Geſchaͤften umgegangen; er ruͤckte immer mehr und mehr in ſeinen Jahren fort, und es begann ihm zuweilen einzufallen: was doch wohl am Ende noch aus ihm werden wuͤrde? — Mit dem Handwerk war’s nun gar aus, er hatte es in einigen Jahren nicht mehr verſucht, und die Unterwei - ſung der Jugend war ihm ebenfalls verdrießlich, er war ihrer von Herzen muͤde, und er fuͤhlte, daß er nicht dazu gemacht war; denn er war geſchaͤftig und wirkſam. Die Kaufmann - ſchaft gefiel ihm auch nicht, denn er ſah wohl ein, daß er ſich gar nicht dazu ſchicken wuͤrde, beſtaͤndig fort mit derglei - chen Sachen umzugehen, dieſer Beruf war ſeinem Grundtrieb zuwider; doch wurde er weder verdrießlich noch melancholiſch, ſondern er erwartete, was Gott aus ihm machen wuͤrde.
Einsmals an einem Fruͤhlingsmorgen, im Jahr 1768, ſaß er nach dem Kaffeetrinken am Tiſch; die Kinder liefen noch eine Weile im Hof herum, er griff hinter ſich nach einem Buch, und es fiel ihm juſt Reizens Hiſtorie der Wiederge - bornen in die Hand, er blaͤtterte ein wenig darinnen herum ohne Abſicht und ohne Nachdenken; indem fiel ihm die Ge - ſchichte eines Mannes ins Geſicht, der in Griechenland gereist war, um daſelbſt die Ueberbleibſel der erſten chriſtlichen Gemein - den zu unterſuchen. Die Geſchichte las er zum Zeitvertreib. Als er dahin kam, wo der Mann auf ſeinem Todtbette noch ſeine Luſt an der griechiſchen Sprache bezeugte, und beſonders bei dem Wort Eilikrineia ſo ein vortreffliches Gefuͤhl hatte, ſo war es Stilling, als wenn er aus einem tiefen Schlaf erwachte. Das Wort Eilikrineia ſtand vor ihm, als wenn es in einem Glanz gelegen haͤtte, dabei fuͤhlte er einen unwi - derſtehlichen Trieb, die griechiſche Sprache zu lernen, und ei - nen verborgenen ſtarken Zug zu Etwas, das er noch gar nicht kannte, auch nicht zu ſagen wußte, was es war. Er beſann ſich, und dachte: Was will ich doch mit der griechiſchen Sprache machen? wozu wird ſie mir nutzen? welche ungeheure Arbeit iſt das fuͤr mich, in meinem 28ſten Jahre noch eine ſo ſchwere Sprache zu lernen, die ich noch nicht einmal leſen246 kann! Allein alle Einwendungen der Vernunft waren ganz frucht - los, ſein Trieb dazu war ſo groß, und die Luſt ſo heftig, daß er nicht genug eilen konnte, um zum Anfang zu kommen. Er ſagte dieſes alles Herrn Spanier; dieſer bedachte ſich ein wenig, endlich ſagte er: wenn Ihr Griechiſch lernen muͤßt, ſo lernt es! Stilling machte ſich alſofort auf, und ging nach Waldſtaͤtt zu einem gewiſſen vortrefflichen Candidaten der Gottesgelahrtheit, der ſein ſehr guter Freund war, dieſem ent - deckte er alles. Der Candidat freute ſich, munterte ihn da - zu auf, und ſogar empfahl er ihm die Theologie zu ſtudieren; allein Stilling ſpuͤrte keine Neigung dazu, ſein Freund war auch damit zufrieden, und rieth ihm, auf den Wink Gottes genau zu merken, und demſelben, ſobald er ihn ſpuͤrte, blind - lings zu folgen. Nun ſchenkte er ihm die noͤthigen Buͤcher, die griechiſche Sprache zu lernen, und wuͤnſchte ihm Gottes Segen. Von da ging er auch zu den Predigern, und ent - deckte ihnen ſein Vorhaben; dieſe waren auch ſehr wohl da - mit zufrieden, beſonders Herr Seelburg verſprach ihm alle Huͤlfe und noͤthigen Unterricht, denn er kam alle Woche zwei - mal in Herrn Spaniers Haus.
Nun fing Stilling an Griechiſch zu lernen. Er applicirte ſich mit aller Kraft darauf, bekuͤmmerte ſich aber wenig um die Schulmethode, ſondern er ſuchte nur mit Verſtand in den Genius der Sprache einzudringen, um das, was er las, recht zu verſtehen. Kurz, in fuͤnf Wochen hatte er auch die fuͤnf er - ſten Kapitel des Evangeliums Matthaͤi, ohne Fehler gemacht zu haben, ins Lateiniſche uͤberſetzt, und alle Woͤrter zugleich analiſiret. Herr Paſtor Seelburg erſtaunte und wußte nicht, was er ſagen ſollte; dieſer rechtſchaffene Mann unterrichtete ihn nur in der Ausſprache, und die faßte er gar bald. Bei die - ſer Gelegenheit machte er ſich auch ans Hebraͤiſche, und brachte es auch darin in Kurzem ſo weit, das er mit Huͤlfe eines Lexi - cons ſich helfen konnte; auch hier that Herr Seelburg ſein Beſtes an ihm.
Indeſſen, daß er mit erſtaunlichem Fleiß und Arbeit ſich mit dieſen Sprachen beſchaͤftigte, ſchwieg Herr Spanier ganz ſtill dazu, und ließ ihn machen; kein Menſch wußte, was aus247 dem Dinge werden wollte, und er ſelber wußte es nicht; die mehreſten aber glaubten von ihm, er wuͤrde ein Prediger werden.
Endlich entwickelte ſich die ganze Sache auf einmal. An einem Nachmittag im Junius ſpazierte Herr Spanier in der Stube auf und ab, wie er zu thun pflegte, wenn er eine wich - tige Sache uͤberlegte; Stilling aber arbeitete an ſeinen Spra - chen und an der Information. „ Hoͤrt, Praͤceptor! fing end - lich Spanier an: mir faͤllt da auf Einmal ein, was Ihr thun ſollt, Ihr muͤßt Medicin ſtudiren. “
Ich kann’s nicht ausſprechen, wie Stilling bei dieſem Vor - ſchlag zu Muthe war, er konnte ſich faſt nicht auf den Fuͤßen halten, ſo daß Herr Spanier erſchrack, ihn angriff und ſagte: was fehlt Euch? „ O Herr Spanier! was ſoll ich ſagen, was ſoll ich denken? das iſts, wozu ich beſtimmt bin. Ja, ich fuͤhle in meiner Seele, das iſt das große Ding, das immer vor mir verborgen geweſen, das ich ſo lange geſucht, und nicht habe finden koͤnnen! Dazu hat mich der himmliſche Vater von Jugend auf durch ſchwere und ſcharfe Pruͤfungen vorbereiten wollen. Gelobet ſey der barmherzige Gott, daß er mir doch endlich ſeinen Willen offenbaret hat, nun will ich auch ge - troſt ſeinem Wink folgen.
Hierauf lief er nach ſeiner Schlafkammer, fiel auf ſeine Knie, dankte Gott, und bat den Vater der Menſchen, daß er ihn nun den naͤchſten Weg zum beſtimmten Zweck fuͤhren moͤchte. Er beſann ſich auf ſeine ganze Fuͤhrung, und nun ſah er klar ein, warum er eine ſo ausgeſonderte Erziehung ge - noſſen, warum er die lateiniſche Sprache ſo fruͤh habe lernen muͤſſen, warum ſein Trieb zur Mathematik und zur Erkennt - niß der verborgenen Kraͤfte der Natur ihm eingeſchaffen wor - den, warum er durch viele Leiden beugſam und bequem gemacht worden, allen Menſchen zu dienen, warum eine Zeit her ſeine Luſt zur Philoſophie ſo gewachſen, daß er die Logik und Meta - phyſik habe ſtudieren muͤſſen, und warum er endlich zur griechi - ſchen Sprache ſolche Neigung bekommen? Nun wußte er ſeine Beſtimmung, und von der Stunde an beſchloß er fuͤr ſich zu ſtudieren, und ſo lange Materialien zu ſammeln, bis es Gott gefallen wuͤrde, ihn nach der Univerſitaͤt zu ſchicken.
248Herr Spanier gab