Nach Danneker in Stahl gestochen v. Carl Mayer
Druck v. Dammel in Stuttgt.
Liegt ohne Zweifel die einzig mögliche Rechtfertigung der Veröffentlichung einer ſchriftſtelleriſchen Arbeit in der Nachweiſung eines weſentlichen Zeitbedürfniſſes, welches durch jene befriediget wird: ſo hat dieſe neue Ausgabe der ſämmtlichen Werke Stilling’s eine ſolche Rechtfertigung in hohem Grade für ſich.
Zwei große, das ganze Leben des Menſchen durch - dringende Gegenſätze ſind heut zu Tage hervorgetreten. Sie beziehen ſich ſowohl auf das Wiſſen als das Thun, ſo - wohl auf das innere Gebiet des Geiſtes als auf ſeine äußere Verwirklichung im Staatsorganismus. In beiden Sphären iſt einer Seits eine rein negative, ſich von den Banden göttlicher wie menſchlicher, religiöſer wie politi - ſcher Auctorität als ſolcher losſagende Tendenz, anderer Seits eine rein poſitive, in der Auctorität der chriſtlichen Religion als auf etwas Unwandelbarem, für die Vernunft des Menſchen Unzugänglichem ruhende, und in ihr zugleich die beſtehenden Staatsformen als geheiligt anſchauende Weltanſicht zum Bewußtſeyn gekommen.
Durch die neuerdings erfolgte Reaction iſt nun der Zeitgeiſt aus ſeinem in die Außenwelt gehenden, auf die Durchführung der Vernunft im Staate und die Voll - bringung der politiſchen Freiheit gerichteten Streben her - aus in ſeine innere Welt getrieben worden, und er ſcheint — wie dieß die große Zahl der neuerdings erſcheinenden reli - giöſen Schriften beweist — er ſcheint jetzt daran zu arbeiten, in ſeiner über dem politiſchen Treiben faſt vergeſſenen innern Welt, dem Reiche Gottes, ſich wieder anbauen, und die Freiheit, die er in Durchführung gewiſſer Staats - formen vergebens zu verwirklichen ſuchte, auf höhere Weiſe6 im Geiſte durch die Kindſchaft Gottes wieder gewinnen zu wollen. Aber derſelbe Kampf entgegengeſetzter Principien, welcher durch jene Reaction im Gebiete des Staates zur Ruhe gekommen iſt, beginnt nur um ſo heftiger im innern Gebiete des Geiſtes. Und hier tritt als Vorkämpfer der einen, nämlich der an der göttlichen Auctorität des Chriſten - thums ſtreng feſthaltenden Parthei, als ein ſolch leitender Genius tritt noch einmal der Geiſt Stilling’s auf.
Es iſt nämlich — wenn wir zuerſt auf die poſitive Seite der religiöſen Weltanſicht Stilling’s ſehen — Eine große Idee, welche dieſen Mann beſeelte, und von welcher alle ſeine Schriften erfüllt ſind, die nämlich: daß Gott kindlich auf ihn Vertrauenden auf eine unmittelbare und außerordentliche Weiſe durch eine alle menſchliche Be - rechnung übertreffende und von dem gewöhnlichen geſetz - und naturgemäßen Gange der Dinge ganz abweichende Schickung aus jeder Noth des Lebens helfe. Dieſe Idee tritt in ihrer Eigenthümlichkeit und beſtimmten Aus - prägung beſonders in dem Glauben hervor, daß ein in der Noth zu Gott geſchicktes Gebet nicht etwa bloß eine innere Erhörung durch höhere Stärkung des Geiſtes finde, ſondern, wofern es mit den Rathſchlüſſen Gottes übereinſtimmt, eine äußere göttliche Hilfeleiſtung durch wunderbare Errettung aus leiblicher Noth, Krankheit, Armuth ꝛc. zur Folge habe.
Was aber Stilling zu dem großen Volksſchriftſteller machte, der er war, was allen ſeinen Darſtellungen Leben - digkeit und eine unwiderſtehliche Kraft der Ueberzeugung verleiht, das iſt die Einheit ſeiner ganzen Perſönlichkeit mit ſeinem ſchriftſtelleriſchen Werke. Es bewährte ſich an ihm das alte Sprüchwort: Was vom Herzen kommt, das dringt zum Herzen. Stilling war im eigentlichen Sinne des Wortes eine religiöſe Individualität. Die lebendige Verwirklichung jenes Grundgedankens, von wel - chem alle ſeine Schriften beſeelt ſind, iſt ſein eigenes Leben. Nicht nur im Allgemeinen, ſondern auch in den einzelnen Scenen iſt ſeine Autobiographie eine wahre Ver - körperung jenes religiöſen Grundgedankens zu nennen, ſo daß man geneigt wäre, in ihr einen religiöſen Roman zu7 erblicken, hätte nicht Stilling ſelbſt uns hochbetheuernd verſichert, daß, mit Ausnahme der Namen und einiger Verzierungen, Alles wahr ſey.
Sein Leben nämlich ſtellt, nach ſeinen Hauptwende - punkten betrachtet, eine Erhebung von der niedrigſten, dunkelſten Lage zur glänzendſten Stellung dar, die Stilling als Profeſſor, Hofrath und als weltberühmter Volks - ſchriftſteller einnahm, und wie es alſo ſchon im Allge - meinen das Daſeyn einer für ihre Verehrer gütig ſorgenden Vorſehung bekundet, ſo iſt es auch im Einzelnen voll von Spuren göttlicher Hilfe, welche, in ſo viele Bedrängniſſe auch Stilling kam, doch nie ausblieb.
Johann Heinrich Jung, genannt Stilling, wurde 1740 zu Grund im Naſſau’ſchen geboren. Sein Vater, Schul - meiſter und Schneider, verlor frühe ſeine Frau, eines armen Pfarrers Tochter. Die religiöſe Richtung dieſes Mannes wurde durch dieſen Verluſt noch ſtrenger und ernſter. In der dürftigſten Lage, zurückgezogen von aller Welt, lebte der Vater. Beten, Leſen und Schreiben war die einzige Beſchäftigung des Kindes, äußerſt ſtreng über - haupt ſeine Erziehung. Aber eben dieſe Erziehung war in mehrfacher Beziehung geeignet, Stilling zu dem großen religiöſen Volksſchriftſteller zu bilden, als der er ſpäter auftritt. Vor Allem fand hier ſein religiös fühlender und denkender Geiſt noch das ungeſchminkte, friſche und lautere Chriſtenthum. In einem höheren Stande geboren und in der großen Welt erzogen, wäre er vielleicht dem Geiſte des religiöſen Indifferentismus frühe erlegen. Nur ein auf einem ſo friſchen und kräftigen religiöſen Boden, wie der unbefangene, aber eben darum ſtarke Glauben mancher den niederen Volksklaſſen angehörenden Individuen iſt, nur ein alſo aufgewachſener Sproß konnte ſo, wie Stilling, ſicher dem Sturme des in Unglauben verſunkenen Zeit - geiſtes Trotz bieten. Zudem war es gerade die Abge - ſchloſſenheit, welche zur Entwickelung des Geiſtes Stilling’s indirect am meiſten beitrug; denn er hatte hier Gelegen - heit, ſich in ſeiner Originalität frei und beinahe rein aus ſich zu entfalten. Eine lebhafte Phantaſie war ihm ange -8 boren, in welcher er alles von außen Gegebene ſchnell ſich aneignete und ſeiner eigenthümlichen Individualität gemäß durchbildete, aber auch Alles von ſich ſtieß, was ſich nicht bezwingen laſſen, was nicht in ſeine eigenthümliche innere Welt paſſen wollte. Alles dieß wieß hin auf ein ihm ur - ſprünglich eingeborenes inneres Leben, auf einen eigen - thümlich geſtalteten ſchöpferiſchen Geiſt, welcher, ſtatt von außen beſtimmt zu werden, vielmehr allem von außen Gegebenen ſeine eigene Form, ſeinen eigenen Charakter aufdrückte. Nur die wenigen myſtiſchen, unter dem reli - giöſen Theil des Volkes vielfach curſirenden Schriften eines Paracelſus und Jakob Böhme waren die wiſſen - ſchaftlichen Werke, die in Stilling’s Hände kamen. Aber er fühlte ſich auch von dem tiefſinnigen Geiſte des letztern tief, wie ein verwandter Geiſt, angeſprochen. Durch die wunderbare phantaſtiſche Form, in welcher Böhme redete, und an welcher ſo Viele, als an der Hauptſache, hängen bleiben, drang er zum wahren und philoſophiſchen Inhalte, dem verborgenen Kerne dieſer Werke, und ſo ſchuf er ſich frühe ſchon und beinahe ſelbſtſtändig eine eigenthümliche Welt religiöſer Gedanken und Gefühle, die er ſpäter bereichert und durchgebildet der Welt enthüllte.
Man denke ſich nun dieſen Geiſt und die äußere Lage, in welcher er ſich befand, welch ein Widerſpruch des Selbſt - gefühls und ſeines Standes! Nirgends wollte es ihm daher auch glücken: von einer Stelle begab er ſich zur andern, nie in dem ſeinem Geiſte angemeſſenen Elemente ſich be - findend, bis er ſich endlich kühn und Gott vertrauend ſeine Bahn brach. Er verſah zuerſt die Stelle eines Schulmeiſters in ſeinem Geburtsort, und erlernte daneben das Schnei - derhandwerk bei ſeinem Vater. Aber letzteres Geſchäft ward ihm ganz zuwider: er fühlte ſich zu etwas Edlerem berufen. Daher nahm er nach einander zwei Schulmeiſters - ſtellen an, ohngeachtet auch dieſe ihm nicht zuſagten. Beide mußte er bald wieder verlaſſen. Und ſo ging es auch in ſeinen ſpätern Jahren. Bald wird er wieder Schneider - geſelle, bald Informator. Endlich ſchien ihm ein Stern bei einem Kaufmann aufzugehen, der ihn als Hauslehrer9 zu ſich berief, und bei welchem er ſieben Jahre lang ver - weilte. Hier las er Milton’s verlorenes Paradies, Young’s Nachtgedanken, Klopſtock’s Meſſiade, Wolf und Leibnitz. In beider Philoſophie ſah er wohl eine fortlaufende Kette von Wahrheiten, aber das Princip, von welchem dieſe Folgerungen ausgingen, ſchien ihm falſch: das wahre, glaubte er, müſſe erſt gefunden werden, und dann ſey die wahre Philoſophie gegeben.
Hier indeß, als er in ſeinem 28ſten Jahre ſtund, ging die große Wendung ſeines Lebens vor ſich, durch die er aus der Dunkelheit geriſſen wurde, um als einer der erſten Sterne am wiſſenſchaftlichen Horizonte zu glänzen. Merk - würdig iſt auch hier die Art und Weiſe dieſer Wendung ſeines Lebens. In Reizens Hiſtorie der Wiedergeborenen las er einſt zum Zeitvertreib, und als er hier das Wort Eilikrinnia fand, ſo ſtund dieſes vor ihm, „ als wenn es im Glanze gelegen hätte; dabei fühlte er einen unwider - ſtehlichen Trieb, die griechiſche Sprache zu lernen, und einen verborgenen ſtarken Zug zu Etwas, das er noch gar nicht kannte, aber auch nicht zu ſagen wußte, was es war. Er beſann ſich und dachte: Was will ich doch mit der griechiſchen Sprache machen? Wozu wird ſie mir nützen? Allein alle Einwendungen der Vernunft waren fruchtlos, ſein Trieb war ſo groß und die Luſt ſo heftig, daß er nicht genug eilen konnte, um zum Anfange zu kommen. “ Wirklich erlernte er ſie im 28ſten Jahre ſeines Lebens, und zwar mit erſtaunlicher Fertigkeit. Als ihm bald dar - auf ſein Principal rieth, Medicin zu ſtudiren, da rief er ganz bewegt aus: Was ſoll ich ſagen? Ja ich fühle in meiner Seele, das iſt das große Ding, das immer vor mir verborgen geweſen, das ich ſo lange geſucht und nicht habe finden können.
Sofort ging er, nachdem er ſich einige Zeit auf ſein Stu - dium vorbereitet hatte, auf die Univerſität nach Straßburg, ohne irgend eine entfernte Ausſicht, wie er dieſes koſtſpielige Studium werde beſtreiten können. Aber er vertraute ſeinem Gotte, wie er ſagte, ſeinem reichen Vater im Himmel. Und wirklich, ſo oft er auch in dringende Geldverlegenheiten kam, jedes Mal erſchien ihm in der Stunde der höchſten10 Noth auf ſein Gebet hin eine Freunbeshand, die ihn unter - ſtützte. Nach Vollendung ſeiner Studienzeit wurde er practiſcher Arzt, und durch die vielen glücklichen Augen - kuren, die er machte, genügte er ſeinem innern Drange, zum Heile der Menſchen etwas beizutragen. Sonſt aber hatte er nicht viel Praxis, und er übernahm daher die Stelle eines Profeſſors der Kameralwiſſenſchaften zu Mar - burg. Auch hier indeß war es mehr ſeine ſchriftſtelleriſche als ſeine academiſche Thätigkeit, welche mit ruhmvollem Erfolge verknüpft war. Der unter den dortigen Studenten herrſchende Freiheitsgeiſt und religiöſe Scepticismus war natürlich nicht die Denkweiſe, welche ſie zu Stilling hätte hinziehen können. Er hatte oft bloß drei Zuhörer, ja er war einmal der Gegenſtand roher Ausgelaſſenheit der Studenten. Da war Stilling im größten Zwieſpalt mit ſich: er ſah, daß er als academiſcher Lehrer keinen Segen ſtiften könne, und doch fühlte er noch eine hohe Geiſtes - kraft in ſich, Großes zu wirken und zu ſchaffen. Da endlich in ſeinem 63ſten Jahre wurde Stilling der ihm durch die vorherrſchend religiöſe Richtung ſeiner Natur angewieſenen, von ſeiner Jugend an ihm immer dunkel vorſchwebenden Beſtimmung, im Großen für die Sache des Chriſtenthums zu wirken, durch die Gnade des Kurfürſten von Baden geſchenkt, welcher ihn zum Hofrath mit einem Gehalte von 1200 Gulden ernannte, ohne dagegen irgend eine Dienſt - leiſtung zu verlangen, ſo daß Stilling ſich in voller Muße ſeiner ſchriftſtelleriſchen Thätigkeit widmen konnte. In Heidelberg lebte er bis aus Ende ſeines Lebens, das am 2. April 1817 erfolgte.
Schwache und bedeutungsloſe Individuen laſſen ſich in Charakter und in ihrem Handeln durch die Umſtände beſtimmen; denn ſie haben keine Perſönlichkeit, welche ſich in der Außenwelt verwirklichte: aber geniale und ſchöpferiſche Naturen, denen eine Rolle in der Geſchichte der Menſchheit beſtimmt iſt, haben dieſes ihr zukünftiges Werk ſchon frühe als dunkle Ahnung in ſich, und je klarer ſie es in ihr Selbſtbewußtſeyn erheben, deſto unwider - ſtehlicher bahnen ſie ſich durch alle Hinderniſſe, die ihnen11 die äußere Lage, natürliche Geburt, Vorurtheile der Menſchen u. ſ. w. entgegenſetzen, den Weg zur Voll - bringung der Aufgabe ihres Lebens; ſie ſetzen Alles an die Erreichung dieſes göttlichen Endzwecks, weil dieſer ſelbſt eins iſt mit ihrer Perſönlichkeit, das Verzichten alſo auf jene Wirkſamkeit Verzichten auf ihr eigenes Ich wäre. Alles dieß finden wir auch bei Stilling. Von Natur hatte er einen Grundtrieb, dem er unbewußt folgte, die Ahnung einer univerſelleren Beſtimmung im Reiche Gottes: dieſe Ahnung war auch die ſeiner Großeltern und Eltern, über - haupt ſeiner Umgebung; darum ließ man ihn auch frei gewähren, ſo viele Wechſel auch ſein Jugendleben hatte. Dazu kam noch bei Stilling, daß vermöge ſeiner lebhaften Phantaſie jeder Entſchluß, welcher ihn auf ſeiner erha - benen Bahn weiter bringen ſollte, ſobald er aufkeimte, alsbald in aller Lebendigkeit und in der anziehendſten Form vor ſeiner Seele ſtund. Dürfen wir uns wundern, wenn ein ſo plötzlich und überraſchend aufſteigender Gedanke eine unwiderſtehliche Macht auf ſein Gemüth ausübte, wenn Stilling das Gefühl von etwas Unwillkührlichem und daher Göttlichem dabei hatte, und um ſo unbedenklicher ſeine bis - herige Laufbahn verließ, um dem höheren Winke, dem übernatürlichen Zuge zu folgen?
Wie dem auch ſey, die eigenen Lebensſchickſale, die eigenen Erfahrungen, die für ihn feſt ſtehende Thatſache von einer unmittelbar in das Leben eingreifenden Vor - ſehung, — dieß war für ihn der unwandelbare Grund, auf welchen ſich ſofort ſein ganzer religiöſer Glaube ſtützte. Nicht nur finden wir jene Idee beinahe auf jeder Seite ſeiner Schriften entwickelt: nicht nur ſind nament - lich ſein Chriſtlicher Menſchenfreund und ſeine Erzählungen voll von jener Anſicht, obgleich er hier außer der wunder - baren Lebensverkettung duldender Pilgrime die chriſtliche Liebe auch in ihrer das gewöhnliche Leben, namentlich das einfache ſtille Familienleben, und ſeinen natürlichen Gang veredelnden und verklärenden Macht ſchildert: nicht nur iſt alſo Stilling’s Geiſt durchdrungen von jenem Ver - trauen auf Gottes übernatürliche Vorſehung, ſondern12 hierin fand er auch eine für ihn vollkommen hinreichende Schutzwehr gegen allen Religionszweifel, hierauf gründete er ſeine ganze religiöſe Ueberzeugung. Derjenige, ſagte er einmal zu ſich, als er auf der Academie in Gefahr war, in Zweifel über die Religion zu gerathen, derjenige, der augenſcheinlich das Gebet der Menſchen erhört, und ihre Schickſale wunderbarer Weiſe und ſichtbar lenkt, muß unſtreitig wahrer Gott, und ſeine Lehre Gottes Wort ſeyn. Nun habe ich von jeher Jeſum Chriſtum als meinen Gott und Heiland verehrt und ihn angebetet. Er hat mich in meinen Nöthen erhört, und mir wunderbar beigeſtanden und geholfen: Folglich iſt Jeſus Chriſtus unſtreitig wahrer Gott, ſeine Lehre iſt Gottes Wort, und ſeine Religion, ſo wie Er ſie geſtiftet hat, die wahre.
Soviel über den Geiſt Stilling’s nach der poſitiven Seite ſeiner religiöſen Ueberzeugung. Aber dieſe ſeine eigenthümliche Anſicht bildete er nur aus im Gegenſatze gegen den Unglauben ſeiner Zeit. Seine Richtung iſt haupt - ſächlich eine polemiſche, und zwar vor Allem gegen die damals herrſchende Philoſophie Kant’s, inſoweit dieſe Ein - fluß auf die Geſtaltung des chriſtlichen Glaubens hatte. Das Eigenthümliche dieſer Polemik nun iſt, daß Stilling ſeinen Gegner aus deſſen eigenem Grundſatze zu wider - legen ſuchte, nach welchem unſere Begriffe bloße, uns ein - geborene Formen ſind, welchen das wahre Weſen der Dinge um uns her nicht entſpricht. Damit ſtimmt nun auch Stilling überein. Auf eine gemeinfaßlichere Weiſe, als Kant, ſucht er jenen Satz durch folgende Schlüſſe be - greiflich zu machen: Wenn unſere ſinnlichen Werkzeuge anders organiſirt wären, ſo empfänden wir die ganze ſinn - liche Welt ganz anders, als wir ſie jetzt empfinden. Licht, Farben, Figuren u. ſ. w. empfänden wir ganz anders, wäre unſer Auge anders organiſirt. Die Menſchen empfinden nur die Oberfläche der Dinge in Raum und Zeit, d. h. in der Ausdehnung und Aufeinanderfolge — in ihr inneres Weſen dringt kein erſchaffener Geiſt. Weil wir uns keine zwei Dinge zugleich vorſtellen können, darum mußten wir ſo organiſirt ſeyn, daß uns die Dinge im Raume und in13 der Zeit erſcheinen; daher iſt Raum und Zeit nur in unſerer Seele: außer uns iſt keines von beiden. Gemäß ſeiner religiöſen Tendenz drückt er dieſes auch ſo aus: Alle Vorſtellungen, die ſich auf Raum und Zeit beziehen, ſind eingeſchränkt: da nun Gott, der Ewige, Unendliche und Unbegreifliche, keine Schranken kennt, ſo ſtellt er ſich die Welt auch nicht in Raum und Zeit vor; da nun ſeine Vorſtellungen allein Wahrheit haben, ſo iſt auch die Welt nicht in Raum und Zeit. Endlich beweist Stilling die End - lichkeit unſerer Begriffe über die Welt, ihren Anfang und Umfang u. ſ. w. durch den bekannten Kant’ſchen Antinomie - Schluß, daß wir einer Seits den Raum als unendlich denken müſſen, weil, wenn er eine Grenze hätte, jenſeits ein leerer Raum gedacht werden müßte: anderer Seits ſich auch nicht eine endliche Unendlichkeit, d. h. ein unend - licher, mit lauter endlichen Dingen angefüllter Raum denken laſſe: alſo müſſe die ganze Vorſtellung des Raums überhaupt eine bloß ſubjective Vorſtellung endlicher Menſchen ſeyn.
Dieſe Lehre, in welcher er mit der Philoſophie Kant’s übereinſtimmte, wurde, ſowie die Idee einer unmittelbar wirkenden Vorſehung der aus der Erfahrung abſtrahirte Fundamentalſatz ſeines ganzen Glaubens ward, ſo das wiſſenſchaftliche Princip ſeiner philoſophiſch - religiöſen Ueberzeugung, aber auf eine entgegengeſetzte Weiſe, als dieß bei Kant der Fall war. War Stilling wohl im Grundſatze eines mit der damaligen Philo - ſophie, ſo ging er durch die Folgerungen, welche er aus dieſem Grundſatze machte, über die Philoſophie hin - aus in das chriſtliche Gebiet über: die Waffen, welche die Philoſophie gegen das Chriſtenthum führte, wandte er gegen jene zurück, und ſuchte ſie durch ihre eigenen Vorder - ſätze zu widerlegen. Daß die Begriffe von Raum und Zeit, daher auch von Bewegung u. ſ. w., bloß in uns, nicht aber auch in den Dingen außer uns exiſtiren, hatte er gezeigt. Er ſchloß aber ſofort, daß Gott uns für dieſe Welt dieſe Vorſtellungen angeſchaffen habe, daß wir uns in denſelben nothwendig und nach Gottes Willen, ſo lange wir hier leben, bewegen, daß wir aber zugleich nach Gottes Rath -14 ſchluß, ohne in Widerſprüche zu kommen, es nicht wagen dürfen, das wahre überſinnliche Weſen der Dinge beſtimmen zu wollen. Was alſo bleibe anderes übrig, als daß wir durch göttliche Offenbarung über das Ewige belehrt werden, wie es denn auch in der Natur der Sache liege, daß, wenn der Menſch über das Ueberſinnliche Aufſchluß erhalten ſolle, die Grundſätze zum Denken und Schließen aus der Natur des Ueberſinnlichen genommen, d. h. daß alsdann die Vernunft von Oben erleuchtet werde.
Kant hätte dieß zugeben müſſen, aber nur dann, wenn es bloß eine theoretiſche, nicht auch eine practiſche Ver - nunft gäbe. Allein nachdem Kant der theoretiſchen Ver - nunft alle Wahrheit abgeſprochen, ſo gründete er auf die Selbſtgeſetzgebung der Vernunft den poſitiven Theil ſeiner Wiſſenſchaft. Das Gute um des Guten willen zu üben, bloß zu wollen, was allgemeiner Grundſatz aller Menſchen ſeyn könnte, es zu wollen ohne Rückſicht darauf, ob die Erfüllung unſerer Pflicht uns angenehm oder unangenehm ſey, ja ohne von den Triebfedern der Liebe Gottes, welche immer doch nur ein ſubjectives Gefühl ſey, ſich beſtimmen zu laſſen: dieß fand er als unbedingte Forderung der ſo - genannten practiſchen Vernunft. Dieſe Lehre ſetzte die unbedingte Freiheit des Menſchen voraus, denn nur ein völlig freies Weſen kann jene Forderung „ du ſollſt “an ſich ſelbſt unbedingt ſtellen: von dieſer Lehre ſchloß aber auch Kant auf das Daſeyn Gottes, als des heiligen Welt - regenten, und auf die Unſterblichkeit, weil jene Forderung des Sittengeſetzes nie ganz erfüllt werden könne, der Menſch alſo in beſtändigem Fortſchritte begriffen ſeyn müſſe. So gründete er alſo eine von der poſitiven Religion ganz un - abhängige Vernunftreligion, deren ganzer magerer Inhalt jene drei Begriffe: Gott, Freiheit und Unſterblichkeit, waren, indem bei der Vorausſetzung der vollen Freiheit des menſchlichen Willens die Nothwendigkeit der Erlöſung hinwegfiel, und Chriſtus zu einem bloßen Sittenlehrer wurde, der in ſeinem Tode ein hohes Beiſpiel von Auf - opferung für das Gute aufſtellte. Dieß ſind die Haupt - lehren, welche der Leſer überall wird bekämpft ſehen. Hier15 nur kurz die Grundzüge der Stilling’ſchen Polemik gegen jene Lehren. Wie — fragt er öfter — kann auf das Moral - princip die Religion gegründet werden? Iſt nicht das ſitt - liche Gefühl verſchieden bei den verſchiedenen Völkern, bei dem gebildeten Europäer und bei dem Wilden, der blutige Rache gegen ſeinen Feind für eine ſittliche Pflicht hält? Aber — ſagt man — nicht das unter den Menſchen gel - tende, entſtellte, ſondern das reine Sittengeſetz iſt der Grund der Religion. Allein, erwiedert hierauf öfters Stilling, dieſes reine Sittengeſetz iſt eine leere Formel ohne Inhalt: von allem Möglichen, Guten und Böſen, läßt ſich denken, es könne allgemeiner Grundſatz aller Menſchen werden; überhaupt aber der Menſch iſt nicht bloß ein geiſtiges, er iſt auch ein ſinnliches Weſen. Läſſeſt du alſo die künftige Belohnung oder Beſtrafung nicht mehr als Triebfeder zum ſittlichen Handeln gelten, wie wirſt du alsdann auf die Menſchen, beſonders auf den Ungebildeten, veredelnd einwirken können? Wodurch aber die Kant’ſche Philoſophie mit dem Chriſtenthum in den größten Widerſpruch kam, das war die Lehre, daß der Menſch von Natur gut und vollkommen frei ſey. Dieſen Satz nun, der zur Leugnung der Nothwendigkeit der Erlöſung führte, greift Stilling hauptſächlich an, indem er die Sündhaftigkeit der menſch - lichen Natur in ſtarken Zügen darſtellt, und hieraus den Schluß zieht, daß nur die Gnade Gottes die Menſchheit aus ihrem Verderben erlöſen konnte, daß immer noch eine Kraft von Oben nothwendig ſey, wenn der Menſch gebeſſert und geheiligt werden ſolle. Nicht nur in wiſſenſchaftlicher Form durch Schlüſſe vertheidigt er dieſe Lehre, ſondern auch dadurch, daß er die chriſtliche Lehre von der Gnade in ihrer die Menſchen beſeligenden Wahrheit an einzelnen Beiſpielen zeigt, indem er namentlich einen neugläubigen Prediger vorführt, welcher vergebens einen im tiefen Ge - fühl ſeiner Verſchuldung vor Gott zagenden Sterbenden[d]urch leere Hoffnungen, durch Vorſtellungen, als wäre ſeine Sündhaftigkeit nicht ſo groß, als er meine, zu tröſten ſucht, während derſelbe im Innerſten durch einen andern Geiſtlichen beruhigt wird, welcher ihm einerſeits die Tiefe16 der menſchlichen Schuld, andererſeits die überſchwengliche Größe der göttlichen Gnade vorſtellt.
Doch nicht bloß die ernſte Weltweisheit, ſondern auch der frivole Witz eines Voltaire und ſeiner Geiſtesver - wandten bekämpfte das Chriſtenthum, und dieſer Witz hat bei einem ſo leichtſinnigen Volke, wie das franzöſiſche iſt, die Grundpfeiler des Chriſtenthums noch tiefer erſchüttert, als die Philoſophie, welche ſich ja herabließ, dem Chriſten - thum ihr Gewand zu leihen, und es in dieſer modernen Form dem Volke vorzulegen. Nimmt man noch dazu den Luxus und die Sittenloſigkeit der damaligen Zeit, ſo be - greift man, wie einem chriſtlich denkenden Manne bange ſeyn mußte um ſein Zeitalter. Das Heimweh drückt ſchon dem Titel nach die Sehnſucht Stilling’s aus, aus dieſer unchriſtlichen Zeit, wo er beinahe allein ſtund mit ſeinem Glauben, hinweg zu ſeyn. Aber dieſe Sehnſucht ging auch über in einen ernſten Unwillen über das Treiben ſeiner Zeitgenoſſen. Der graue Mann tritt als der letzte ernſtlich warnende Geſandte Gottes an die Chriſtenheit auf, mitten in einer dunkeln, in der Finſterniß wandelnden Menſchheit, und Grauen erregend für Alle, welche dem Unglauben und Luxus ſich ergeben. Ja Stilling ſah in dem allgemeinen Abfall von Chriſto ein Zeichen der Nähe des Antichriſts, und ſomit auch der Nähe des Herrn, um in ſichtbarer Geſtalt zu richten und ſein Reich zu vollenden. Von dieſem Gedanken iſt er ſo erfüllt, daß er im Hinblick auf das nahe Reich Chriſti zur Poeſie, ſeinem Chryſäon, ſich begeiſtert fühlte: der Glaube daran war ſo ſtark, daß er ſogar Verhaltungsregeln für die Zeit des wirklichen Einbruchs des tauſendjährigen Reichs vorſchreibt, die Frage näher unterſucht, ob Chriſtus ſich Allen oder bloß den Wiedergeborenen zeigen werde, ebenſo über Zeit und Ort der Ankunft Unterſuchungen anſtellt. So befremdend dieſe Hoffnung auch Manchem erſcheinen muß, der die Sache geiſtiger aufzufaſſen gewohnt iſt, ſo eigenthumlich iſt ſie doch dem Chriſten: in jeder Zeit einer Kriſis des göttlichen Reiches, am Anfang deſſelben, oder bei großen Entwick - lungspunkten, z. B. zur Zeit der Reformation, war die17 Hoffnung auf die Wiederkunft Chriſti unter Vielen rege; und eine ähnliche Kriſis ſteht — was nur Blinde leugnen können — auch jetzt demſelben bevor, und gewiß hat Stil - ling die Grundidee, um deren Vollführung es ſich handelt, richtig angegeben, wenn er ſagt: „ einſt mit der Ausgießung des Geiſtes auf Alle werde erkannt werden, daß nun der Unterſchied der verſchiedenen chriſtlichen Partheien aufhö - ren, uns ſich Alles in wahrer Einigkeit des Geiſtes verſam - meln werde; “dieſe Grundidee wird wohl jeden freier Den - kenden anſprechen, ſey es nun, daß er hievon nur einen gei - ſtigen Umſchwung der Menſchen, oder mehr in der Weiſe der Phantaſie eine zugleich äußerliche übernatürliche Ver - änderung der Dinge hofft. Jedenfalls zeigt die neue Heraus - gabe der Bengel’ſchen Erklärung der Apokalypſe, daß jene apokalyptiſchen Hoffnungen in einem großen Theile der Chri - ſtenheit wieder rege werden. An dieſe Schrift aber ſchließt ſich paſſend als berichtigender und erläuternder Leitfaden Stil - ling’s Siegesgeſchichte an, indem hier im Allgemei - nen dieſelben Vorſtellungen, nur nicht mit einer ſolchen, man möchte ſagen, der Weltregierung Gottes vorgreifenden und dem Glauben an die Apokalypſe mehr ſchädlichen als förder - lichen Beſtimmtheit die Angabe der Zukunft enthält, na - mentlich aber, indem ſie die complicirte, dem gemeinen Mann durchaus unverſtändliche Rechnung Bengels vereinfacht, ohne im Reſultate von ihm weſentlich abzuweichen.
Wir haben bisher den einen Gegenſatz betrachtet, gegen welchen die Schriften Stilling’s gerichtet ſind. Aber ſeine Polemik iſt eine gedoppelte, und eben durch dieſe Doppel - ſeitigkeit ſeiner Polemik gewinnt er den wahren Stand - punkt, welcher ſich in der Mitte befindet zwiſchen zwei Extremen, dem Unglauben und — dem Aberglauben. Wie Stilling dieſen in ſeinem Theobald ſchildert, haben wir kurz zur Einleitung anzugeben. Die Darſtellung des Geiſtes der Schwärmerei wird ſchon deren Widerlegung in ſich ſchließen. Der Aberglaube und die Schwärmerei iſt im Allgemeinen das Bewußtſeyn über die Religion, wie es ſich in der überreizten Phantaſie des ungebildeten Volkes darſtellt, welches religiöſe Begriffe von Gott, Unſterblich -Stilling’s Schriften. I. Bd 218keit u. ſ. w. nie rein und allgemein, ſondern immer in einer ſinnlichen Form anſchauet. Zunächſt ſollte man zwar eine entgegengeſetzte Vorſtellung vom Aberglauben und von der Schwärmerei ſich bilden. Die Richtung jener Frau v. Guyon, welche im Theobald auftritt, iſt gerade gegen die ſinnliche Seite des Menſchen gekehrt. Und in der That iſt es ein Zug der Schwärmerei, nicht nur die ſinnlichen Triebe, ſondern beinahe alles Menſchliche, den freien Willen, natürliche Gefühle und das Selbſtdenken ganz zu unterdrücken. Aber eben in der völligen Unterdrückung des Selbſtes geht der Genuß des Ewigen auf, deſſen Ge - fühlen ſich der Schwärmer ganz hingibt, ſo daß er leicht wieder aus ſeiner übernatürlichen Höhe in die gemeinſte Sinnlichkeit herabfällt. Andererſeits bedenke man den von einem Schwärmer im Theobald behaupteten Grundſatz: „ Wenn man den Willen Gottes nicht wiſſe, und weder Vernunft noch Offenbarung ſichern Rath gäben, ſo ſolle man gar nichts thun, ſondern ſchweigen und ruhen, bis ſich der Willen Gottes von ſelbſt entwickle. “ Ich frage: wozu führt dieſer Grundſatz? Geſetzt, Vernunft und Offen - barung reichten (was indeß nie der Fall ſeyn kann) einmal nicht zu, über Gottes Willen uns zu belehren; muß nicht irgend ein Organ in uns ſeyn, wodurch ſich alsdann Gott uns offenbarte? Da aber die Vernunft ausdrücklich aus - geſchloſſen iſt, was bleibt für eine andere Quelle höherer Erkenntniß übrig, als die Phantaſie oder das Gefühl? Wahrlich aber, daß dieſe Phantaſie, daß dieſes Gefühl ebenſo falſch, unſittlich und höchſtverkehrt, als dem Willen Gottes angemeſſen ſeyn könne, davon liefert eben die Er - zählung „ Theobald “traurige Beiſpiele: wenn z. B. der arme Bauernpurſche Theobald und ein Fräulein Amalie die aller menſchlichen Ordnung zuwiderlaufenden Einge - bungen ihrer fleiſchlichen Liebe für Gottes Willen halten, oder wenn in der ſogenannten Berlenburger Gemeinde Abſcheulichkeiten vorfallen, welche leicht an die falſchen Beſchuldigungen gegen die erſten Chriſten erinnerten, hätte nicht der Erzähler gerade das Intereſſe, den Pietismus in einem ſchöneren Lichte darzuſtellen; oder endlich, wenn19 der neunjährige Sohn jenes Theobalds, deſſen Phantaſie ſchon frühe durch myſtiſche Schriften im höchſten Grade entzündet wurde, ſchon in dieſem Alter Sünden der Ge - ſchlechtsliebe begehen und den abenteuerlichen Entſchluß faſſen und ausführen kann, dieſe ſündhafte Welt zu ver - laſſen und Einſiedler zu werden. Reichen Stoff und Nah - rung findet dieſe geſteigerte Phantaſie in der Lehre vom tauſendjährigen Reiche, deſſen Nähe alle ſchwärmeriſchen Secten wähnen, und in deſſen Ausmahlung in glänzenden ſinnlichen Bildern ſich ſtets ihre durch die Vernunft nicht geregelte Einbildungskraft ergeht, während die wahrhafte Frömmigkeit ſich mit der Wirklichkeit befreundet und die verſchiedenen Verhältniſſe, in denen wir als Familien -, Standes - und Staatsgenoſſen leben, durchdringt, beſeelt und verklärt. Endlich iſt ein Durchweg in dieſen Köpfen ſprudelnde Hoffnung die Wiederbringung aller Dinge, d. h. die Lehre, daß Alles, daß namentlich ſowohl böſe als gute Menſchen in Gott einſt wieder zurückkehren werden. An ſich iſt es wahr, daß Gott das Alleine ſey, das in allen Din - gen iſt. Aber zugleich lehrt die Vernunft und das Chriſten - thum, daß eine ewige Verſchiedenheit die Menſchen, ja ein ewiger Gegenſatz von Guten und Böſen Statt fin - den werde. Wir ſagen, die Vernunft iſt es, die dieß lehrt. Denn, weil der Menſch ein freies Weſen iſt, und bei jedem ein eigenthümlicher Gebrauch dieſes Willensvermögens Statt findet, ſo wird nie jene völlige Einheit aller in Gott zu Stande kommen. Ueber dieſe wirklichen Unterſchiede der Menſchen fliegt aber die Phantaſie des Schwärmers hinweg; er verſenkt ſich mit ſeinem trüben Gefühle in jene dunkle und myſtiſche Einheit aller Dinge, und je tiefer er ſich in dieſen Abgrund der endlichen vielgeſtalteten Welt im Geiſte be - gibt, deſto weniger fühlt er ſich in der Gegenwart der ent - wickelten und mannigfaltigen Welt, die in Unterſchiede von Charakteren, Ständen u. ſ. w. getheilt iſt — einheimiſch, und ſo bildet und verſtärkt ſich in ihm immer mehr der Wi - derwille gegen die wirkliche Ordnung der Dinge, ein Wider - wille, welcher oft in halsſtarrigen Ungehorſam gegen alle geiſtliche und weltliche Obrigkeit überſchlagen kann. Daher2 *20iſt es in der That ein ſchöner Gang in der Geſchichte Theo - balds, daß er denſelben, nachdem er alle mögliche Verirrun - gen durchlaufen, ſeine Verſöhnung im Staate finden läßt, in dem Theobald zulezt als hoher Staatsbeamter befreundet mit der wirklichen Welt und in ihr hohen Segen ſtiftend, auftritt.
Wir haben bisher im Allgemeinen die Richtung und den Geiſt darzuſtellen geſucht, welcher in den Schriften Stillings waltet. Ich glaube, wir dürfen nun kaum mehr fragen: Iſt Stillings Wiedererſcheinen weſentliches Bedürfniß der Zeit? gehört er nicht mit ſeiner Polemik einer verſchollenen Bil - dungsſtufe an, hat er nicht etwa Bedeutung blos für die da - malige Zeit, die damalige Denkweiſe, mit deren Bekämpfung er ſich immer beſchäftigt? Dieſe Frage, ſagen wir — dür - fen wir kaum mehr aufwerfen. Nicht nur bleibt der poſi - tive Theil der in ſeinen ſchriftſtelleriſchen Werken geäuſ - ſerten Weltanſicht, ſo lange das Chriſtenthum beſteht; und dieſe ſeine Weltanſicht nun — könnte ſie in einer lebendi - gern, anziehendern Form dargeſtellt ſeyn, als der phantaſie - volle Stilling es that? — ich ſage nicht nur nach ihrer poſiti - ven, auch nach ihrer polemiſchen Seite hin wird Stil - lings Tendenz noch für unſere Zeit von Bedeutung ſeyn. Die - jenige Auffaſſung des Chriſtenthums, welche durch die Kant’ - ſche Philoſophie ſich geſtaltete, iſt nicht etwa eine erſt damals gewordene, ſondern eine im Weſentlichen uralte, ſie iſt die des gewöhnlichen Menſchenverſtandes, welcher Gott in ein Jenſeits ſetzt, die Menſchheit ihrer Göttlichkeit entleert, alſo auch die Gottmenſchheit Chriſti und die ſich in uns einſen - kende Gnade leugnet, und dagegen ſtatt der in Gott zur Fülle gelangenden Freiheit, ein Vermögen leerer Willkühr im Menſchen ſetzt, welche nie das Gute an ſich erreicht, weßwe - gen zugleich eine Unſterblichkeit angenommen werden muß, in welcher der Menſch immer dem Unendlichen ſich nähern ſoll, ohne je mit demſelben eins zu werden. Die Syſteme der Arianer, Neſtorianer und Socianer ſind ganz verwandte Richtungen, und man kann ſagen — die Glieder der höhe - ren, ſogenannten aufgeklärten Stände ſind beinahe durch - gängig dieſer geiſtesarmen Weltanſicht zugethan. Der Feind alſo, den Stilling bekämpft, iſt noch nicht geſtorben,21 er lebt immer noch. Wo nun fändeſt du gegen dieſen Feind einen ſolchen Streiter des Herrn, wie dieſer Stilling war?
Allerdings als Philoſophie, als herrſchendes Syſtem iſt Kant’s Theorie durch neuere Formen der Weltweisheit verdrängt werden. Aber dieſe ſelbſt nun, ha - ben ſie ſich dem Chriſtenthum genähert? Wenn die neueſte Philoſophie Gott als Geiſt der Welt definirt, leugnet ſie da - mit nicht die Perſönlichkeit Gottes, welche eine Hauptlehre der chriſtlichen Religion iſt? Zwar nähert ſie ſich der Reli - gion dadurch, daß ſie die Lehre von der gottmenſchlichen Würde Chriſti vertheidigt; aber iſt dieß von ihr in dem ei - genthümlich chriſtlichen Sinne gemeinet, nach welchem Chri - ſtus ſpezifiſch von allen übrigen Menſchen verſchieden iſt; wird nicht vielmehr jene Einheit mit Gott, welche ſie Chriſto beilegt, zugleich als weſentliche Beſtimmung aller Men - ſchen behauptet?
Leuchtet hieraus ſchon der Widerſpruch der herrſchenden Philoſophie mit der Religion ein, ſo zeigt ſich dieſe In - haltsverſchiedenheit beider noch viel mehr in der philoſo - phiſchen Leugnung der perſönlichen Unſterblichkeit, welche letztere Lehre ſogar eine ebenſo wichtige Stellung in der chriſt - lichen Weltanſicht einnimmt, als der Lehre von Chriſti Per - ſon. Leugnet unſer Mitalter das Jenſeits, ſo kann es ſein wahres und göttliches Weſen nur im Staate finden. Der St. Simonismus ſprach in dieſer Beziehung ganz den Geiſt der Zeit aus, und er hätte gewiß größern Anhang gefunden, würde er nicht eine dem verhaßten hierarchiſchen Papismus verwandte Staatsform in ſein Syſtem aufgenommen haben. Aber im Lerminier tritt die neueſte philoſophiſch-religiöſe Richtung in ihrer ganzen Eigenthümlichkeit beſtimmt her - vor: Die Religion iſt hier ganz eins mit dem Staatsleben, und zwar iſt die Volksſouveränetät die angebetete Gottheit, auf deren Altar Religion, Wiſſenſchaft, Kunſt, ſowie alle menſchlichen Beſtrebungen ihre Erſtlinge als Weiheopfer niederlegen ſollen.
Ohne über die Wahrheit dieſer Lehren etwas hier zu ſa - gen, ſo bemerken wir nur: daß die allgemeine Leugnung des Jenſeits nothwendig von der religiöſen Seite eine Gegenwir -22 kung erwecken mußte. Es konnte nicht anders ſeyn: die ſelbſt in einer anomalen Form, im Zuſtande geiſtiger und leiblicher Zerrüttung ſich kundthuenden Hinweiſungen auf ein Jenſeits und auf das Hereinragen der Geiſterwelt in das Dieſſeits — dieſe Aeußerungen von Somnambülen muß - ten überall Aufſehen, überall Theilnahme erregen. Und an dieſe Erſcheinungen ſchließt ſich das unſerem Stilling eigenthümliche, ihm einerſeits hohe Bewunderung, anderer - ſeits Haß und Verachtung zuziehende Werk, die Theorie der Geiſterkunde. „ Da die heut zu Tage herrſchende Denkart, die aus der falſchen Aufklärung entſtanden iſt, die Bibellehre von Engeln, von der Fortdauer der menſchlichen Seele nicht annimmt, ſo frage ich jeden auf ſein Gewiſſen, ob es nicht Pflicht ſey, die Erfahrungszeugniſſe verſtorbener Menſchen öffentlich bekannt zu machen, und dadurch die Bi - bellehre zu bewahrheiten? “ Dieß iſt der von Stilling ſelbſt angegebene Endzweck ſeiner Schrift. Stilling war kein aber - gläubiſcher Bewunderer des Somnambulismus. Er erblickt in ihm eine außerordentliche Entwicklung einzelner, dem Menſchen angeborenen Kräfte, des Ahnungsvermögens und der Einbildungskraft (S. ſ. grauen Mann St. 29). Er war einer der Erſten, welche den Somnambulismus theo - retiſch zu begründen ſuchten: er ſtellte die Principien, auf welche man noch immer zurückgeht, die Lehre vom Aether, Nervengeiſt, Ahnungsvermögen zuerſt in wiſſenſchaftlicher Form auf. In dieſer Wiſſenſchaftlichkeit ſeines Ganges liegt einerſeits ſchon ein Bürge, daß er ſich frei erhielt vom un - bedingten Glauben an die ſomnambulen Erſcheinungen, wie an höhere Offenbarungen: andererſeits hat er ſich eben da - durch einen ſicheren Platz im Gebiete der auf den Somnam - bulismus ſich beziehenden, immer weiter ſchreitenden Wiſ - ſenſchaft, hiemit auch in dieſer Beziehung eine hohe Bedeu - tung für die von der regen Theilnahme an dieſen außeror - dentlichen Erſcheinungen und von der wiſſenſchaftlichen Er - klärung derſelben beinahe ganz verſchlungene Gegenwart erworben.
Dr. J. N. Grollmann.
In Weſtphalen liegt ein Kirchſprengel in einem ſehr bergich - ten Landſtriche, auf deſſen Hoͤhen man viele kleine Grafſchaf - ten und Fuͤrſtenthuͤmer uͤberſehen kann. Das Kirchdorf heißt Florenburg; die Einwohner aber haben von Alters her einen großen Eckel vor dem Namen eines Dorfs gehabt, und daher, ob ſie gleich auch von Ackerbau und Viehzucht leben muͤſſen, vor den Nachbarn, die bloße Bauern ſind, immer einen Vorzug zu behaupten geſucht, die ihnen aber auch da - gegen nachſagten, daß ſie vor und nach den Namen Floren - dorf verdraͤngt, und an deſſen Statt Florenburg eingefuͤhrt haͤtten; dem ſey aber wie ihm wolle, es iſt wirklich ein Ma - giſtrat daſelbſt, deſſen Haupt zu meiner Zeit Johannes Henrikus Scultetus war. Ungeſchlachte, unwiſſende Leute nannten ihn außer dem Rathhauſe Meiſter Hans, huͤbſche Buͤrger pflegten doch auch wohl Meiſter Schulde zu ſagen.
Eine Stunde von dieſem Orte ſuͤdoſtwaͤrts liegt ein kleines Doͤrfchen, Tiefenbach, von ſeiner Lage zwiſchen Bergen ſo genannt, an deren Fuͤße die Haͤuſer zu beiden Seiten des Waſ - ſers haͤngen, das ſich aus den Thaͤlern von Suͤd und Nord her juſt in die Enge und Tiefe zum Fluß hinſammelt. Der oͤſt - liche Berg heißt der Giller, geht ſteil auf, und ſeine Flaͤche nach Weſten gekehrt, iſt mit Maibuchen dicht bewachſen. Von ihm iſt eine Ausſicht uͤber Felder und Wieſen, die auf beiden Seiten durch hohe verwandte Berge geſperrt wird. Sie ſind ganz mit Buchen und Eichen bepflanzt, und man ſieht keine Luͤcke, außer wo manchmal ein Knabe einen Ochſen hinauf treibt und Brennholz auf halb gebahntem Wege zuſammen - ſchleppt.
26Unten am noͤrdlichen Berge, der Geiſenberg genannt, der wie ein Zuckerhut gegen die Wolken ſteigt, und auf deſſen Spitze Ruinen eines alten Schloſſes liegen, ſteht ein Haus, worin Stillings Eltern und Voreltern gewohnt haben.
Vor ungefaͤhr dreißig Jahren lebte noch darin ein ehrwuͤr - diger Greis, Eberhard Stilling, ein Bauer und Koh - lenbrenner. Er hielt ſich den ganzen Sommer durch im Walde auf und brannte Kohlen; kam aber woͤchentlich einmal nach Hauſe, um nach ſeinen Leuten zu ſehen, und ſich wieder auf eine Woche mit Speiſen zu verſehen. Er kam gemeiniglich Sonnabends Abends, um den Sonntag nach Florenburg in die Kirche gehen zu koͤnnen, allwo er ein Mitglied des Kirchen - raths war. Hierin beſtanden auch die mehreſten Geſchaͤfte ſeines Lebens. Sechs großgezogene Kinder hatte er, wovon die zween aͤlteſten Soͤhne, die vier juͤngſten aber Toͤchter waren.
Einsmals, als Eberhard den Berg herunter kam, und mit dem ruhigſten Gemuͤthe die untergehende Sonne betrach - tete, die Melodie des Liedes: Der lieben Sonnen Lauf und Pracht hat nun den Tag vollfuͤhret, auf einem Blatt pfiff, und dabei das Lied durchdachte, kam ſein Nach - bar Staͤhler hinter ihm her, der ein wenig geſchwinder gegangen war, und ſich eben nicht viel um die untergehende Sonne bekuͤmmert haben mochte. Nachdem er eine Weile ſchon nahe hinter ihm geweſen, auch ein paarmal fruchtlos gehuſtet hatte, fing er ein Geſpraͤch an, das ich hier woͤrtlich beifuͤ - gen muß.
„ Guten Abend, Ebert! “
Dank hab, Staͤhler! (indem er fortfuhr, auf dem Blatt zu pfeifen.)
„ Wenn das Wetter ſo bleibt, ſo werden wir unſer Gehoͤlze bald zugerichtet haben. Ich denke, dann ſind wir in drei Wochen fertig. “
Es kann ſeyn. (Nun pfiff er wieder fort.)
„ Es will ſo nicht recht mehr mit mir fort, Junge! Ich27 bin ſchon acht und ſechzig Jahr alt, und du wirſt halt ſieben - zig haben. “
Das ſoll wohl ſeyn. Da geht die Sonne hinter den Berg unter, ich kann mich nicht genug erfreuen uͤber die Guͤte und Liebe Gottes. Ich war ſo eben in Gedanken daruͤber; es iſt auch mit uns Abend, Nachbar Staͤhler! der Schatten des Todes ſteigt uns taͤglich naͤher, er wird uns erwiſchen, ehe wir’s uns verſehen. Ich muß der ewigen Guͤte danken, die mich nicht nur heute, ſondern den ganzen Lebenstag durch mit vielem Beiſtand getragen, erhalten und verſorgt hat.
„ Das kann wohl ſeyn. “
Ich erwarte auch wirklich ohne Furcht den wichtigen Augen - blick, wo ich von dieſem ſchweren, alten und ſtarren Leib be - freit werden ſoll, um mit den Seelen meiner Voreltern, und anderer heiligen Maͤnner, in einer ewigen Ruhe umgehen zu koͤnnen. Da werd’ ich finden: Doctor Luther, Calvi - nus, Oecolompadius, Bucerus, und Andere mehr, die mir unſer ſel. Paſtor, Herr Winterberg, ſo oft geruͤhmt, und geſagt hatte, daß ſie naͤchſt den Apoſteln, die froͤmmſten Maͤnner geweſen.
„ Das kann moͤglich ſeyn! Aber ſag’ mir Ebert, haft du die Leute, die du da herzaͤhlſt, noch gekannt? “
Wie ſchwatzeſt du? die ſind uͤber zweihundert Jahr todt.
„ So; — das waͤre! “
Dabei ſind alle meine Kinder groß, ſie haben ſchreiben und leſen gelernt, ſie koͤnnen ihr Brod verdienen, und haben mich und meine Margareth bald nicht mehr noͤthig.
„ Noͤthig? — hat ſich wohl! — Wie leicht kann ſich ein Maͤdchen oder Junge verlaufen, ſich irgend mit armen Leuten abgeben, und ſeiner Familie einen Klatſch anhaͤngen, wenn die Eltern nicht mehr Acht geben koͤnnen! “
Vor dem allem iſt mir nicht bange. Gott Lob! daß mein Achtgeben nicht noͤthig iſt. Ich hab’ meinen Kindern durch meine Unterweiſung und Leben einen ſo großen Abſcheu gegen das Boͤſe eingepflanzt, daß ich mich nicht mehr zu fuͤrchten brauche.
28Staͤhler lachte herzlich, eben wie ein Fuchs lachen wuͤrde, wenn er koͤnnte, der dem wachſamen Hahn ein Huͤhnchen ent - fuͤhrt hat, und fuhr fort:
„ Ebert, du haſt viel Vertrauen auf deine Kinder. Ich denke aber, du wirſt wohl die Pfeife in den Sack ſtecken, wenn ich dir alles ſagen werde, was ich weiß. “
Stilling drehte ſich um, ſtand und ſtuͤtzte ſich auf ſeine Holzaxt, laͤchelte mit dem zufriedenſten und zuverſichtlichſten Geſichte, und ſagte: Was weißeſt du denn, Staͤhler, das mir ſo weh in der Seele thun ſoll?
„ Haſt du gehoͤrt, Nachbar Stilling, daß dein Wilhelm, der Schulmeiſter, heirathet? “
Nein, davon weiß ich noch nichts.
„ So will ich dir ſagen, daß er des vertriebenen Predigers Moritzens Tochter zu Lichthauſen haben will, und daß er ſich mit ihr verſprochen hat. “
Daß er ſich mit ihr verſprochen hat, iſt nicht wahr; daß er ſie aber haben will, das kann ſeyn.
Nun gingen ſie wieder.
„ Kann das ſeyn? Ebert! — Kannſt du das leiden? Ein Bettelmenſch, das nichts hat, kannſt du das deinem Sohn geben? “
Gebettelt haben des ehrlichen Mannes Kinder nie; und wann ſie’s haͤtten? — Aber welche Tochter mag es ſeyn? Moritz hat zwo Toͤchter.
„ Dortchen. “
Mit Dortchen will ich mein Leben beſchließen. Nie will ich es vergeſſen! Sie kam einmal zu mir auf einen Sonntag Nachmittag, gruͤßte mich und Margareth von ihrem Vater, ſetzte ſich und ſchwieg. Ich ſah ihr an den Augen an, daß ſie was wollte, auf den Backen aber las ich, daß ſie’s nicht ſa - gen konnte. Ich fragte ſie, braucht ihr was? Sie ſchwieg und ſeufzte. Ich ging und holte ihr vier Reichsthaler; da! ſagte ich, die will ich euch leihen, bis ihr mir ſie wieder ge - ben koͤnnt.
29„ Du haͤtteſt ſie ihr wohl ſchenken koͤnnen; die bekommſt du dein Lebetag nicht wieder! “
Das war auch meine Meinung, daß ich ihr das Geld ſchenken wollte. Haͤtt’ ich es ihr aber geſagt, das Maͤdchen haͤtte ſich noch mehr geſchaͤmt. Ach, ſagte ſie, beſter liebſter Vater Stilling! (das gute Kind weinte blutige Thraͤnen) wenn ich ſeh’, wie mein alter Papa ſein trocken Brod im Mund herumſchlaͤgt, und kann es nicht kauen, ſo blutet mir das Herz.
Meine Margareth lief, holte einen großen Topf ſuͤße Milch, und ſeitdem hat ſie alle Woche ein paarmal ſuͤße Milch da - hin geſchickt.
„ Und du kannſt leiden, daß Wilhelm das Maͤdchen nimmt? “
Wenn er’s haben will, von Herzen gern. Geſunde Leute koͤnnen was verdienen, reiche Leute koͤnnen das Ihrige verlieren.
„ Du haſt vorhin geſagt, du wuͤßteſt noch nichts davon. Du weißt doch, wie du ſagſt, daß er ſich noch nicht mit ihr ver - ſprochen hat. “
Das weiß ich! — Er fragt mich gewiß vorher.
„ Hoͤr’! Er dich fragen? Ja, da kannſt du lange warten! “
Staͤhler! ich kenne meinen Wilhelm. Ich hab’ meinen Kindern immer geſagt, ſie koͤnnten ſo arm und ſo reich hei - rathen als ſie wollten und koͤnnten, ſie ſollten nur auf Fleiß und Froͤmmigkeit ſehen. Meine Margareth hatte nichts, und ich ein Gut mit vielen Schulden. Gott hat mich geſegnet, ich kann jedem hundert Gulden baar mitgeben.
„ Ich bin kein Gleichviels-Mann, wie du! Ich muß wiſ - ſen was ich thue, und meine Kinder ſollen heirathen, wie ich’s vor’s beſte erkenne. “
Ein jeder macht die Schuh nach ſeinem Leiſten, ſagte Stilling. Nun war er nah vor ſeiner Hausthuͤr.
Margareth Stilling hatte ſchon ihre Toͤchter zu Bette ge - hen laſſen. Ein Stuͤck Pfannenkuchen ſtand vor ihrem Ebert auf einem irdenen Teller in der heißen Aſche; ſie hatte auch noch ein wenig Butter dazu gethan. Ein Kuͤmpfchen mit ge - brockter Milch ſtand auf der Bank, und ſie begann zu ſorgen,30 wo ihr Mann wohl ſo lange bleiben moͤchte. Indem raſſelte die Klinge an der Thuͤre, und er trat herein. Sie nahm ihm ſeinen leinenen Querſack von der Schulter, deckte den Tiſch und brachte ihm ſein Eſſen. Jemini! ſagte Margareth, der Wilhelm iſt noch nicht hier. Es wird ihm doch nicht etwa Ungluͤck begegnet ſeyn. Sind auch wohl Woͤlfe hier herum? Hat ſich wohl, ſagte der Vater, und lachte: denn das war ſo ſeine Gewohnheit, er lachte oft ſtark, wenn er ganz allein war.
Der Schulmeiſter, Wilhelm Stilling, trat hierauf in die Stube. Nachdem er ſeine Eltern mit einem guten Abend gegruͤßt, ſetzte er ſich auf die Bank, legte die Hand an den Backen und war tiefſinnig. — Er ſagte lange kein Wort. Der alte Stilling ſtocherte ſeine Zaͤhne mit einem Meſſer, denn das war ſo ſeine Gewohnheit nach Tiſche zu thun, wenn er auch ſchon kein Fleiſch gegeſſen hatte. Endlich fing die Mut - ter an: Wilhelm, mir war als bang, dir ſollte was wi - derfahren ſeyn, weil du ſo lange ausbleibſt. Wilhelm ant - wortete: O, Mutter! das hat keine Noth. Mein Vater ſagt ja oft, wer auf ſeinen Berufswegen geht, darf nichts fuͤrch - ten. Hier wurd’ er bald bleich, bald roth, endlich brach er ſtammelnd los, und ſagte: Zu Lichthauſen (ſo hieß der Ort, wo er Schule hielt, und dabei den Bauern ihre Kleider machte) wohnt ein armer vertriebener Prediger, ich waͤre wohl willens, ſeine juͤngſte Tochter zu heirathen; wenn ihr beide Eltern es zufrieden ſeyd, ſo wird ſich kein Hinderniß mehr finden. Wil - helm, antwortete der Vater, du biſt drei und zwanzig Jahr alt; ich habe dich lehren laſſen, du haſt Erkenntniß genug, kannſt dir aber in der Welt nicht ſelber helfen, denn du haſt gebrechliche Fuͤße; das Maͤdchen iſt arm, und zur ſchweren Arbeit nicht angefuͤhrt; was haſt du fuͤr Gedanken, dich Ins - kuͤnftige zu ernaͤhren? Der Schulmeiſter antwortete: Ich will mit meiner Handthierung mich wohl durchbringen, und mich im uͤbrigen ganz an die goͤttliche Vorſorge uͤbergeben; die wird mich und meine Dorthe eben ſowohl naͤhren, als alle Voͤgel des Himmels. Was ſagſt du, Margareth? ſprach der Alte. — Hm! was ſollt ich ſagen, verſetzte ſie: weißt31 du noch, was ich dir zur Antwort gab, in unſern Brautta - gen? Laß uns Wilhelmen mit ſeiner Frau zu uns nehmen, er kann ſein Handwerk treiben. Dorthe ſoll mir und meinen Toͤchtern helfen, ſo viel ſie kann. Sie lernt noch immer et - was, denn ſie iſt noch jung. Sie koͤnnen mit uns an den Tiſch gehen; was er verdient, das gibt er uns, und wir verſorgen dann Beide mit dem Noͤthigen: ſo gehts, mein’ ich, am beſten. Wenn du meinſt, erwiederte der Vater, ſo mag er das Maͤdchen holen. Wilhelm! Wilhelm! denke was du thuſt, es iſt nichts Geringes. Der Gott deiner Vaͤter ſegne dich mit allem, was dir und deinem Maͤdchen noͤthig iſt. Wilhelmen ſtanden die Thraͤnen in den Augen. Er ſchuͤttelte Vater und Mutter die Hand, verſprach ihnen alle Treue, und ging zu Bette. Und nachdem der alte Stilling ſein Abendlied geſungen, die Thuͤr mit dem hoͤlzernen Wirbel zugeklemmt, Margareth aber nach den Kuͤhen geſehen hatte, ob ſie alle laͤgen und wiederkaͤueten, ſo gingen ſie auch ſchlafen.
Wilhelm kam auf ſeine Kammer, an welcher nur ein Laden war, der aber eben ſo genau nicht ſchloß, daß nicht ſo viel Tag haͤtte durchſchimmern koͤnnen, um zu wiſſen, ob man aufſtehen muͤſſe. Dieſes Fenſter war noch offen, daher trat er an daſſelbe, es ſah gerade gegen den Wald hin; alles war in tiefer Stille, nur zwo Nachtigallen ſangen wechſels - weiſe auf das allerlieblichſte. Dieſes war Wilhelmen oͤfters ein Wink geweſen. Er ſank an der Wand nieder. „ O Gott! ſeufzte er, dir dank ich, daß du mir ſolche Eltern gegeben haſt! O, laß ſie Freude an mir ſehen! Laß mich ihnen nicht zur Laſt ſeyn! Dir dank ich, daß du mir eine tugend - hafte Frau gibſt! O ſegne mich! “— Thraͤnen und Empfin - dungen hemmten ihm die Sprache, und da redete ſein Herz unausſprechliche Worte, welche nur die Seelen empfinden und kennen, die ſich in gleicher Lage befunden haben.
Nie hat Jemand ſanfter geſchlafen, als der Schulmeiſter. Sein inniges Vergnuͤgen weckte ihn des Morgens fruͤher als ſonſt. Er ſtand auf, ging heraus in den Wald und erneuerte32 alle ſeine heiligen Vorſaͤtze, die er je in ſeinem Leben ſich vor - genommen hatte. Um ſieben Uhr ging er wieder nach Haus, und aß mit ſeinen Eltern und Schweſtern die ſuͤße Milchſuppe und ein Butterbrod. Nachdem ſich nun der Vater zuerſt, hernach auch der Sohn den Bart abgemacht, die Mutter aber mit den Toͤchtern ſich berathſchlaget, wer unter ihnen zu Hauſe bleiben, und wer in die Kirche gehen ſollte, ſo zog man ſich an. Dieſes alles war in einer halben Stunde geſchehen; ſo - dann gingen die Toͤchter vor, darnach Wilhelm, und zu hin - derſt der Vater mit ſeinem dicken Dornenſtocke. Wenn der alte Stilling mit ſeinen Kindern ausging, ſo mußten ſie allemal vor ihm gehen, damit er, wie er zu ſagen pflegte, den Gang und die Sitten ſeiner Kinder ſehen, und ſie zur Ehr - barkeit anfuͤhren koͤnnte.
Nach der Predigt ging Wilhelm wieder nach Licht - hauſen, wo er Schulmeiſter war, und wo auch ſein aͤlte - rer verheiratheter Bruder, Johann Stilling, wohnte. In einem andern Nachbarhauſe hatte der alte Paſtor Moritz mit ſeinen zwo Toͤchtern ein paar Kammern gemiethet, in welchen er ſich aufhielt. Nachdem nun den Nachmittag Wil - helm ſeinen Bauern eine Predigt in der Kapelle vorgeleſen, und mit ihnen nach altem Brauch ein Lied geſungen, ſo eilte er, ſo geſchwind als es nur ſeine gebrechlichen Fuͤße zulaſſen wollten, nach Herrn Moritzen. Der alte Mann ſaß eben vor ſeinem Clavier, und ſpielte ein geiſtlich Lied. Sein Schlaf - rock war ſehr reinlich und ſchoͤn gewaſchen, nirgend ſah man einen Riß, aber wohl hundert Lappen. Neben ihm auf einer Kiſte ſaß Dorothe, ein Maͤdchen von zwei und zwanzig Jah - ren, ebenfalls ſehr reinlich, aber aͤrmlich, angezogen, die gar anmuthig das Lied zu ihres Vaters Melodie ſang. Sie winkte ihrem Wilhelm heiterlaͤchelnd. Er ſetzte ſich zu ihr und ſang mit aus ihrem Buch. Sobald das Lied zu Ende war, gruͤßte der Paſtor Wilhelmen und ſagte: Schulmeiſter, ich bin nie vergnuͤgter, als wenn ich ſpiele und ſinge. Wie ich noch Pre - diger war, da ließ ich manchmal lange ſingen, weil unter ſo viel vereinigten Stimmen das Herz weit uͤber alles Irdiſche33 ſich wegzwingt. Doch ich muß etwas anders mit euch reden. Mein Dortchen hat mir geſtern Abend herausgeſtammelt, daß es euch lieb habe; ich bin aber arm; was ſagen eure Eltern? Sie ſind mit allem herzlich wohl zufrieden, antwortete Wil - helm. Dortchen drangen Thraͤnen aus ihren hellen Augen, und der alte ehrwuͤrdige Mann ſtand auf, nahm ſeiner Toch - ter rechte Hand, gab ſie Wilhelmen und ſagte: Ich habe nichts in der Welt, als zwo Toͤchter; dieſe iſt mein Aug - apfel; nimm ſie, Sohn! nimm ſie! — Er weinte — „ der Se - gen Jehova triefe auf euch herunter, und mache euch geſegnet vor ihm und ſeinen Heiligen und geſegnet vor der Welt! Eure Kinder muͤſſen wahre Chriſten werden, eure Nachkommen ſeyen groß! Sie muͤſſen angeſchrieben ſtehen im Buche des Lebens! Mein ganzes Leben war Gott geheiliget; unter vielen Schwach - heiten, aber ohne Anſtoß hab’ ich gewandelt und alle Men - ſchen geliebt; dieß ſey auch eure Richtſchnur, ſo werden meine Gebeine in Frieden ruhen! “ Er wiſchte ſich hier die Augen. Beide Verlobten kuͤßten ihm Haͤnde, Backen und Mund, und hernach auch ſich ſelbſt zum Erſtenmale, und ſo ſaßen ſie wie - der nieder. Der alte Herr fing hierauf an: Aber Dortchen, dein Braͤutigam hat gebrechliche Fuͤße, haſt du das noch nicht geſehen? Ja, Papa, ſagte ſie, ich hab’s geſehen; aber er re - det immer ſo gut und ſo fromm mit mir, daß ich ſelten Acht auf ſeine Fuͤße gebe.
„ Gut, Dortchen, die Maͤdchen pflegen doch auch wohl auf die Leibesgeſtalt zu ſehen. “
Ich auch, Papa, gab ſie zur Antwort; aber Wilhelm gefaͤllt mir ſo, wie er iſt; haͤtte er nun gerade Fuͤße, ſo waͤre er Wilhelm Stilling nicht, und wie wuͤrde ich ihn denn lieb haben koͤnnen?
Der Paſtor laͤchelte zufrieden und fuhr fort: Du wirſt nun dieſen Abend auch die Kuͤche beſtellen muͤſſen, denn der Braͤu - tigam muß mit dir eſſen. Ich hab’ nichts, ſagte die unſchul - dige Braut, als ein wenig Milch, Kaͤſe und Brod: wer weiß aber, ob mein Wilhelm damit zufrieden iſt? Ja, verſetzte Wilhelm, ein Stuͤck trocken Brod mit auch zu eſſen, iſt an -Stilling’s Schriften. I. Bd. 334genehmer, als fette Milch mit Wetßbrod und Eierpfannen - kuchen. Herr Moritz zog indeſſen ſeinen abgetragenen brau - nen Rock mit ſchwarzen Knoͤpfen und Knoͤpfloͤchern an, nahm ſein lakirt geweſenes Rohr, ging und ſagte: Da will ich zum Amtsverwalter gehen, er wird mir ſeine Flinte leihen, und dann will ich ſehen, ob ich etwas ſchießen kann. Das that er oft, denn er war in ſeiner Jugend ein Freund von der Jagd geweſen.
Nun waren unſere Verlobten allein, und das hatten ſie Beide gewuͤnſcht. Wie er fort war ſchlugen ſie die Haͤnde in ein - ander, ſaßen neben einander, und erzaͤhlten ſich, was ein Je - des empfunden, geredet und gethan, ſeitdem ſie ſich einander gefallen hatten. Sobald ſie fertig waren, fingen ſie wieder von vorne an, und gaben der Geſchichte vielerlei Wendungen; ſo war ſie immer neu: fuͤr alle Menſchen langweilig, nur fuͤr ſie nicht.
Friedrike, Moritzens andere Tochter, unterbrach dieſes Vergnuͤgen. Sie ſtuͤrmte herein, indem ſie ein altes Hiſtorien-Lied daherſang. Sie ſtutzte. Stoͤr’ ich euch? fragte ſie. — Du ſtoͤrſt mich nie, ſagte Dortchen; denn ich gebe nie - mals Acht auf das, was du ſagſt oder thuſt. Ja, du biſt fromm, verſetzte jene; aber du darfſt doch ſo nah bei dem Schulmeiſter ſitzen? doch der iſt auch fromm. — Und noch dazu dein Schwager, fiel ihr Dorthe in die Rede, heute haben wir uns verſprochen. — Das gibt alſo eine Hochzeit fuͤr mich, ſagte Friedrike, und huͤpfte wieder zur Thuͤre hinaus.
Indem ſie ſo vergnuͤgt beiſammen ſaßen, ſtuͤrmte Friedrike wuͤthend wieder in die Kammer. Ach! rief ſie ſtammelnd, da bringen ſie meinen Vater blutig ins Dorf. Joſt, der Jaͤger, ſchlaͤgt ihn noch immer, und drei von Junkers Knech - ten ſchleppen ihn fort. Ach! ſie ſchlagen ihn todt! Dort - chen that einen hellen Schrei und floh zur Thuͤre hinaus. Wilhelm eilte ihr nach, aber der gute Menſch konnte nicht ſo geſchwind fort, wie die Maͤdchen. Sein Bruder Johann wohnte nah bei Moritzen, dem rief er. Dieſe beide gingen dann auf den Laͤrm zu. Sie fanden Moritzen in dem Wirths -35 hauſe auf einem Stuhl ſitzen; ſeine grauen Haare waren von Blut zuſammengebacken; die Knechte und der Jaͤger ſtanden um ihn, fluchten, ſpotteten, knuͤpften ihm Faͤuſte vor die Naſe, und eine geſchoſſene Schnepfe lag vor Moritzen auf dem Tiſch. Der unpartheiiſche Wirth trug ruhig Branntwein zu. Frie - drike bat flehentlich um Gnade, und Dortchen um ein wenig Branntwein, dem Vater den Kopf zu waſchen: allein ſie hatte kein Geld, zu bezahlen, und der Schade war auch zu groß fuͤr den Wirth, ihr ein halbes Glas zu ſchenken. Doch, wie die Weiber von Natur barmherzig ſind, ſo brachte die Wirthin einen Scherben, der unter dem Zapfen des Brannt - weins geſtanden, und daraus wuſch Dortchen dem Vater den Kopf. Moritz hatte ſchon vielmal geſagt, daß ihm der Junker Erlaubniß gegeben, ſo viel zu ſchießen, als ihm be - liebte; allein der war nun jetzt zum Ungluͤcke verreiſet; der Paſtor ſchwieg dabei ſtill und entſchuldigte ſich nicht mehr. So ſtanden die Sachen, als die Gebruͤder Stilling ins Wirths - haus kamen. Die erſte Rache, die ſie nahmen, war an ei - nem Branntweinglaſe, womit der Wirth aus dem Keller kam, und es ſehr behutſam trug, um nichts zu verſchuͤtten; wie - wohl dieſe Vorſicht eben ſo gar noͤthig nicht war, denn das Glas war uͤber ein Viertel leer. Johann Stilling wiſchte dem Wirth uͤber die Hand, daß das Glas gegen die Wand fuhr und in tauſend Stuͤcken ſprang. Wilhelm aber war ſchon in der Stube, griff ſeinen Schwiegervater an der Hand, und fuͤhrte ihn mit ſolchem Ernſt aus der Stube, gleich als wenn er der Junker ſelbſt geweſen waͤre, ſagte aber Niemand etwas, ſondern ſchwieg ganz ſtill. Der Jaͤger und die Knechte drohten, hielten bald hie, bald da; allein Wilhelm, der deſto ſtaͤrker in den Armen war, je ſchwaͤcher ſeine Fuͤße wa - ren, ſah und hoͤrte nicht, ſchwieg immer ſtill und arbeitete nur Moritzen los. Wo er an ſeinem Rock eine zugeklemmte Hand fand, die brach er auf, und ſo brachte er ihn vor die Thuͤr. Johann Stilling aber redete mit den Jaͤgern und den Knechten, und ſeine Worte waren lauter Meſſer fuͤr ſie; denn ein Jeder wußte, wie hoch er bei dem Junker angeſchrieben3 *36ſtand, und wie oft er mit ihm zu Abend ſpeiſen mußte. Die Sache lief am Ende dahin aus, daß der Jaͤger bei der Wie - derkunft des Junkers abgeſetzt, Moritzen aber zwanzig Tha - ler fuͤr ſeine Schmerzen ausgezahlt wurden. Was ihnen noch ſchneller durchhalf, war, daß der ganze Platz vor dem Hauſe voller Bauern ſtand, welche Tabak rauchten, und ſich mit dem Zuſehen beluſtigten; und es nur darauf ankam, daß ei - ner unter ihnen die Frage aufwarf, ob nicht durch dieſen Vor - fall Eingriff in ihre Freiheit geſchehen ſey? Ploͤtzlich wuͤrden hundert Faͤuſte bereit geweſen ſeyn, ihre chriſtliche Liebe ge - gen Moritzen auf den Nacken Joſtens und ſeiner Gefaͤhrten zu beweiſen. Auch war der Wirth eine feige Memme, der oft Ohrfeigen von ſeiner Frau verſchlucken mußte; und end - lich muß ich noch hinzufuͤgen, der alte Stilling und ſeine Soͤhne hatten ſich durch ihre ernſte und abgeſonderte Auffuͤh - rung eine ſolche Hochachtung erworben, daß faſt Niemand das Herz hatte, in ihrer Gegenwart nur zu ſcherzen; wozu noch kommt, was ich oben ſchon beruͤhrt, daß Johann Stil - ling bei dem Junker in großer Gnade ſtand. Nun wieder zur Geſchichte.
Der alte Moritz wurde in wenig Tagen wieder beſſer, und man vergaß dieſe verdrießliche Sache um ſo eher, weil man ſich mit viel vergnuͤgteren Dingen beſchaͤftigte, naͤmlich mit den Zuruͤſtungen zur Hochzeit, welche der alte Stilling und ſeine Margarethe ein fuͤr allemal in ihrem Hauſe haben wollten. Sie maͤſteten ein paar Huͤhner zu Suppen, und ein fettes Milchkalb wurde dazu beſtimmt, auf großen irde - nen Schuͤſſeln gebraten zu werden; gebackene Pflaumen die Menge, und Reis zu Breien, nebſt Roſinen und Korinthen in die Huͤhnerſuppen, wurden im Ueberfluß angeſchafft. Der alte Stilling hat ſich wohl verlauten laſſen, daß ihn dieſe Hochzeit, nur allen an Speiſen und Viktualien bei zehen Reichs - thaler gekoſtet habe. Dem ſey aber wie ihm wolle, alles war doch aufgeraͤumt. Wilhelm hatte fuͤr die Zeit die Schule ausgeſetzt; denn in ſolchen Zeiten iſt man zu keinem Berufs - geſchaͤfte aufgelegt. Auch brauchte er die Tage nothwendig,37 ſeiner Braut und Schweſtern neue Kleider auf die Hochzeit zu machen, und ſonſt mancherlei zu handthieren. Stillings Toͤchter verlangten ſolche ebenfalls. Sie probirten oͤfters ihre neuen Waͤmmſer und Roͤcke von feinem ſchwarzen Tuch; die Zeit wurd’ ihnen Jahre lang, bis ſie ſie einmal einen ganzen Tag anhaben konnten.
Endlich brach dann der laͤngſt gewuͤnſchte Donnerſtag an. Alles war den Morgen vor der Sonne in Stillings Hauſe wach; nur der Alte, der den Abend vorher ſpaͤt aus dem Wald gekommen war, ſchlief ruhig, bis es Zeit war, mit den Braut - leuten zur Kirche zu gehen. Nun ging man in geziemter Ord - nung nach Florenburg, allwo die Braut mit ihrem Gefolge ſchon angekommen war. Die Copulation ging ohne Wider - ſpruch vor ſich, und alle zuſammen verfuͤgten ſich nun nach Tiefenbach zum Hochzeitmahle. Zwei lange Bretter wa - ren in der Stube neben einander auf hoͤlzerne Boͤcke gelegt, anſtatt des Tiſches; Margareth hatte ihre feinſten Tiſch - tuͤcher daruͤber geſpreitet, und nun wurden die Speiſen aufge - tragen. Die Loͤffel waren von Ahornholz, ſchoͤn glatt, mit ausgeſtochenen Roſen, Blumen und Laubwerk gearbeitet. Die Zulegmeſſer hatten ſchoͤne gelbe hoͤlzerne Stiele; ſo waren auch die Teller ſchoͤn rund und glatt vom haͤrteſten weißen Buchen - holz gedrechſelt. Das Bier ſchaͤumte in weißen ſteinernen Kruͤ - gen mit blauen Blumen. Doch ſtellte Margareth auch einem Jeden frei, anſtatt des Biers, von ihrem angenehmen Birnmoſt zu trinken, wenn Jemand dazu Belieben tragen moͤchte.
Nachdem alle zur Genuͤge gegeſſen und getrunken hatten, ſo wurden vernuͤnftige Geſpraͤche angeſtellt. Wilhelm aber und ſeine Braut wollten lieber allein ſeyn und reden; ſie gin - gen daher tief in den Wald hinein. Mit der Entfernung von den Menſchen wuchs ihre Liebe. Ach, waͤren keine Beduͤrf - niſſe des Lebens! keine Kaͤlte, Froſt und Naͤſſe, was wuͤrde dieſem Paar an einer irdiſchen Seligkeit gemangelt haben? Die beiden alten Vaͤter, die ſich indeſſen mit dem Krug Bier allein geſetzt hatten, verfielen in ein ernſtes Geſpraͤch. Stil - ling redete alſo:
38„ Herr Mitvater, mir hat immer gedaͤucht, Ihr haͤttet beſ - ſer gethan, wenn Ihr Euch an das Laboriren gar nicht ge - kehrt haͤttet. “
Warum, Mitvater?
„ Wenn Ihr Eure Uhrmacherei beſtaͤndig getrieben haͤttet, ſo haͤttet Ihr reichlich Euer Brod erwerben koͤnnen; nun aber hat Euch Eure Arbeit nichts geholfen, und dasjenige, was Ihr hattet, iſt noch dazu darauf gegangen. “
Ihr habt Recht und auch Unrecht. Wenn ich gewußt haͤtte, daß dreißig bis vierzig Jahr hingehen wuͤrden, eh’ ich den Stein der Weiſen wuͤrde gefunden haben, ſo haͤtte ich mich freilich bedacht, ehe ich’s angefangen haͤtte. Nun aber, da ich durch die lange Erfahrung Etwas gelernt habe, und tief in die Erkenntniſſe der Natur eingedrungen bin, nun wuͤrd’ es mir leid thun, wenn ich mich umſonſt ſollte lange geplagt haben.
„ Ihr habt Euch gewiß ſo lange umſonſt geplagt, denn Ihr habt Euch einmal bisher kuͤmmerlich beholfen. Ihr moͤgt nun ſo reich werden als Ihr wollt, Ihr koͤnnt doch das Elend ſo vieler Jahre nicht in Gluͤckſeligkeit verwandeln; und zudem glaub’ ich nicht, daß Ihr ihn jemals bekommt. Wenn ich die Wahrheit ſagen ſoll, ich glaube nicht, daß es einen Stein der Weiſen gibt! “
Ich kann Euch beweiſen, daß es einen Stein der Weiſen gibt. Ein gewiſſer Doktor Helvetius im Haag hat ein klein Buͤchlein geſchrieben, das guͤldene Kalb genannt: darin iſt es deutlich bewieſen, ſo daß Niemand, auch der groͤßte[Ungläubige], wenn er’s lieſet, nicht mehr zweifeln kann. Ob ich denſelben aber bekommen werde, das iſt eine andere Frage. Warum nicht eben ſowohl als ein Anderer? da er ein freies Geſchenk Gottes iſt.
„ Wenn Euch Gott den Stein der Weiſen ſchenken wollte, Ihr haͤttet ihn ſchon lange! Warum ſollte er ihn Euch ſo lange vorenthalten? Zudem iſt’s ja nicht noͤthig, daß Ihr ihn habt; wie viel Menſchen leben ohne den Stein der Weiſen! “
Das iſt wahr; aber wir ſollen uns ſo gluͤcklich machen als wir koͤnnen.
39„ Ein dreißigjaͤhrig Elend iſt gewiß kein Gluͤck; aber nehmt mir nicht uͤbel (er ſchuͤttelte ihm die Hand) ich habe, ſo lang ich lebe, keinen Mangel gehabt, bin geſund geweſen und alt worden, meine Kinder hab’ ich erzogen, lernen laſſen, und or - dentlich gekleidet. Ich bin recht vergnuͤgt, und alſo gluͤcklich! Man konnte mir den Stein der Weiſen nicht ſchenken. “
„ Aber hoͤrt, Mitvater! Ihr ſingt recht gut, und ſchreibt ſchoͤn; werdet Schulmeiſter hier im Dorfe! Friedriken koͤnnt Ihr vermiethen. Da hab’ ich noch eine Kleiderkammer, dar - ein will ich ein Bett ſtellen, ſo koͤnnt Ihr bei mir wohnen, und alſo immer bei Euern Kindern ſeyn. “
Euer Anerbieten, Mitvater, iſt ſehr gut; ich werd’ es auch annehmen, wenn ich nur noch einen Verſuch werde gemacht haben.
„ Macht keine Probe mehr, Mitvater! ſie wird Euch gewiß fehlen. Aber laßt uns von etwas Anderm reden. Ich bin ein großer Liebhaber von der Sternwiſſenſchaft; kennt Ihr auch wohl den Sirius im großen Hund? “
Ich bin eben kein Sternkundiger, doch aber kenn’ ich ihn.
„ Er ſteht gemeiniglich des Abends gegen Mittag. Er flammt ſo gruͤnroͤthlich. Wie weit mag er wohl von der Erde ſeyn? Sie ſagen, er ſoll wohl noch viel hoͤher ſeyn als die Sonne. “
O! wohl tauſendmal hoͤher!
„ Wie iſt das moͤglich? Ich bin ſo ein Liebhaber von den Sternen. Ich mein’ immer, ich waͤr’ ſchon dabei, wenn ich ſie beſehe. Aber kennt ihr auch den Wagen und den Pflug? “
Ja, man hat ſie mir wohl gewieſen.
„ O welch ein wunderbarer Gott! “
Margarethe Stilling hoͤrte dieſes Geſpraͤch; ſie kam und ſetzte ſich zu ihrem Mann. Ach Ebert! ſagte ſie, ich kann wohl an einer Blume ſehen, daß Gott wunderbar iſt. Laßt uns die begreifen lernen! Wir wohnen bei dem Gras und den Blumen; die laßt uns hier bewundern; wenn wir im Him - mel ſind, dann wollen wir die Sterne betrachten!
Das iſt recht, ſagte Moritz, es ſind ſo viele Wunder in der Natur; wenn wir die recht betrachten, ſo koͤnnen wir die40 Weisheit Gottes wohl kennen lernen! Doch ein Jeder hat ſo Etwas, wozu er beſonders Luſt hat.
So vertrieben die Hochzeitgaͤſte den Tag. Wilhelm Stil - ling und ſeine Braut verfuͤgten ſich auch nach Hauſe, und fin - gen ihren Eheſtand an; wovon ich im folgenden Kapitel meh - reres ſagen werde.
Stillings Toͤchter aber ſaßen in der Daͤmmerung unter dem Kirſchenbaum und ſangen folgendes ſchoͤne weltliche Liedlein:
Eberhard Stilling und Margareth ſeine eheliche Hausfrau, erlebten nun eine neue Periode in ihrer Haushal - tung. Da war nun ein neuer Hausvater und eine neue Haus - mutter in ihrer Familie entſtanden. Die Frage war alſo: Wo ſollen dieſe Beide ſitzen, wenn wir ſpeiſen? — Um die Dun - kelheit im Vortrag zu vermeiden, muß ich erzaͤhlen, wie eigent - lich Vater Stilling ſeine Ordnung und Rang am Tiſche be - obachtete. Oben in der Stube war eine Bank von einem ei - chenen Brett laͤngs der Wand genagelt, die bis hinter den Ofen reichte. Vor dieſer Bank, dem Ofen gegenuͤber, ſtand der Tiſch, als Klappe an die Wand befeſtigt, damit man ihn an dieſelbe aufſchlagen konnte. Er war aus einer eichenen Diele von Vater Stilling ſelbſten ganz feſt und treuherzig ausgearbeitet. An dieſem Tiſch ſaß Eberhard Stilling oben an der Wand, wo er durch das Brett befeſtigt war, und zwar vor demſelben. Vielleicht hatte er ſich dieſen vortheil - haften Platz darum gewaͤhlt, damit er ſeinen linken Ellenbo - gen auf das Brett ſtuͤtzen, und zugleich ungehindert mit der rechten Hand eſſen koͤnnte. Doch davon iſt keine Gewißheit, denn er hat ſich nie in ſeinem Leben deutlich daruͤber erklaͤret. An ſeiner rechten Seite vor dem Tiſch ſaßen ſeine vier Toͤch - ter, damit ſie ungehindert ab - und zugehen koͤnnten. Zwi - ſchen dem Tiſch und dem Ofen hatte Margareth ihren Platz; eines Theils, weil ſie leicht fror, und andern Theils, damit ſie fuͤglich uͤber den Tiſch ſehen konnte, ob etwa hier oder dort Etwas fehlte. Hinter dem Tiſch hatten Johann und Wilhelm geſeſſen, weil aber der eine verheirathet war, und der andere Schule hielt, ſo waren dieſe Plaͤtze leer, bis jetzt, da ſie dem jungen Ehepaar, nach reiflicher Ueberlegung, an - gewieſen wurden.
Zuweilen kam Johann Stilling ſeine Eltern zu beſuchen. Das ganze Haus freute ſich, wenn er kam; denn er war ein beſonderer Mann. Ein jeder Bauer im Dorfe hatte auch Ehrfurcht vor ihm. Schon in ſeiner fruͤhen Jugend hatte er einen hoͤlzernen Teller zum Aſtrolabium, und eine feine, ſchoͤne Butterdoſe von ſchoͤnem Buchenholz zum Compas umgeſchaf -43 fen, und von einem Huͤgel geometriſche Obſervationen ange - ſtellt. Denn zu der Zeit ließ der Landesfuͤrſt eine Landcharte verfertigen. Johann hatte zugeſehen, wann der Ingenieur operirte. Zu dieſer Zeit aber war er wirklich ein geſchickter Land - meſſer, wurde auch von Edeln und Unedeln bei Theilung der Guͤter gebraucht. Große Kuͤnſtler haben gemeiniglich die Tu - gend an ſich, daß ihr erfinderiſcher Geiſt immer etwas Neues ſucht; daher iſt ihnen dasjenige, was ſie ſchon erfunden ha - ben, und was ſie wiſſen, viel zu langweilig, es ferner zu ver - feinern. Johann Stilling war alſo arm: denn was er konnte, verſaͤumte er,[u]m dasjenige zu wiſſen, was er noch nicht konnte. Seine gute einfaͤltige Frau wuͤnſchte oft, daß ihr Mann ſeine Kuͤnſteleien auf Feld und Wieſen zu verbeſſern wenden moͤchte, damit ſie mehr Brod haͤtten. Allein, laßt uns der guten Frau ihre Einfalt verzeihen; ſie verſtand es nicht beſſer; wenigſtens Johann war klug genug hiezu. Er ſchwieg oder laͤchelte.
Die Quadratur des Zirkels und die immerwaͤhrende Bewe - gung beſchaͤftigten ihn zu dieſe[r]Zeit. War er nun in ein Geheimniß tiefer eingedrungen, ſo lief er geſchwind nach Tie - fenbach, um ſeinen Eltern und Geſchwiſtern ſeine Entdeckung zu erzaͤhlen. Kam er denn unten durchs Dorf herauf, und es erblickte ihn Jemand aus Stillings Hauſe, ſo lief man gleich nach Hauſe und rief Alle zuſammen, um ihn an der Thuͤre zu empfangen. Ein Jedes arbeitete dann mit doppel - tem Fleiß, um nach dem Abendeſſen nichts mehr zu thun zu haben. Dann ſetzte man ſich um den Tiſch, ſtuͤtzte die El - lenbogen darauf, und die Haͤnde an die Backen — Aller Au - gen war auf Johanns Mund gerichtet.
Alle halfen denn an der Quadratur des Zirkels erfin - den; ſelbſt der alte Stilling verwendete vielen Fleiß auf die Sache. Ich wuͤrde dem erfinderiſchen, oder beſſer, dem gu - ten und natuͤrlichen Verſtande dieſes Mannes Gewalt anthun, wenn ich ſagen ſollte: er haͤtte nichts in dieſer Sache gelei - ſtet. Bei ſeinem Kohlenbrennen beſchaͤftigte er ſich damit. Er zog eine Schnur um ſein Birnmoſtfaß, ſchnitt ſie mit ſeinem44 Brodmeſſer ab; ſaͤgte dann ein Brett genau vierkantig, und ſchabte es ſo lange, bis die Schnur juſt darum paßte. Nun mußte ja das viereckigte Brett genau ſo groß ſeyn, als der Zirkel des Moſtfaſſes. Eberhard ſprang auf einem Fuß her - um, verlachte die großen gelehrten Koͤpfe, daß ſie aus dem einfaͤltigen Dinge ſo viel Werks machten, und erzaͤhlte bei naͤchſter Gelegenheit ſeinem Johann die Erfindung. Wir wollen die Wahrheit geſtehen. Vater Stilling hatte wohl nichts Hoͤhniſches in ſeinem Charakter: doch lief hier eine kleine Satyre mit unter; aber der Landmeſſer machte bald der Freude ein Ende, indem er ſagte: Es iſt die Frage nicht, Vater! ob ein Schreiner einen viereckigten Kaſten machen koͤnne, der juſt ſo viel Haber enthalte, als eine runde cylindriſche Tonne; ſondern es muß ausgemacht ſeyn, wie ſich der Diameter des Zirkels gegen ſeine Peripherie verhalte, und dann, wie groß eine Seite des Quadrats ſeyn muͤſſe, wenn es ſo groß als der Zirkel ſeyn ſoll. Aber in beiden Faͤllen darf an einem Facit nicht der tauſendſte Theil eines Haars fehlen. Es muß in der Theorie durch die Algebra bewirkt werden koͤnnen, daß es wahr iſt!
Der alte Stilling wuͤrde ſich geſchaͤmt haben, wenn nicht die Gelehrſamkeit ſeines Sohns, und ſeine unmaͤßige Freude daruͤber, alles Schaͤmen bei ihm verdraͤngt haͤtte. Er ſagte deßwegen nichts weiter, als: Mit Gelehrten iſt nicht gut diſputiren; lachte, ſchuͤttelte den Kopf, und fuhr fort, von ei - nem birkenen Klotz Spaͤne zu ſchneiden, womit man Feuer und Lichter, auch allenfalls eine Pfeife Tabak anzuͤnden konnte. Dieſes war ſo ſeine Beſchaͤftigung bei muͤßigen Stunden.
Stillings Toͤchter waren ſtark und arbeitſam. Sie pfleg - ten die Erde, und ſie gab ihnen reiche Nahrung im Garten und Felde. Dortchen aber hatte zarte Glieder und Haͤnde, ſie wurde geſchwind muͤde, und dann ſeufzte ſie und weinte. Unbarmherzig waren nun die Maͤdchen eben nicht; aber ſie konnten doch nicht begreifen, warum ein Weibsbild, das eben ſo groß als ihrer Eine war, nicht auch eben ſo gut ſollte ar - beiten koͤnnen. Doch mußte ihre Schwaͤgerin oft ausruhen,45 auch ſagten ſie ihren Eltern niemals, daß ſie kaum ihr Brod verdiente. Wilhelm ſah es bald ein; er erhielt daher von der ganzen Familie, daß ſeine Frau ihm an Naͤhen und Klei - dermachen helfen ſollte. Dieſer Vertrag wurde geſchloſſen, und alle befanden ſich wohl dabei.
Der alte Paſtor Moritz beſuchte nun auch zum Erſtenmal ſeine Tochter. Dortchen weinte vor Freuden, wie ſie ihn ſah, und wuͤnſchte Hausmutter zu ſeyn, um ihm recht guͤtlich thun zu koͤnnen. Er ſaß den ganzen Nachmittag bei ſeinen Kindern, und redete mit ihnen von geiſtlichen Sachen. Er ſchien ganz veraͤndert, kleinmuͤthig und betruͤbt zu ſeyn. Ge - gen Abend ſagte er: Kinder! fuͤhrt mich einmal auf das Gei - ſenberger Schloß. Wilhelm legte ſeinen eiſernen ſchweren Fingerhut ab, und ſpukte in die Haͤnde; Dortchen aber ſteckte ihren Fingerhut an den kleinen Finger, und nun ſtiegen ſie zum Wald auf. Kinder! ſagte Moritz, mir iſt hier ſo wohl unter dem Schatten der Maibuchen. Je hoͤher wir kommen, je freier werd’ ich. Es iſt mir eine Zeit her geweſen, als Einem, der nicht zu Hauſe iſt. Dieſer Herbſt muß wohl der letzte meines Lebens ſeyn. Wilhelm und Dortchen hat - ten Thraͤnen in den Augen. Oben auf dem Berge, wo ſie bis an den Rhein, und die ganze Gegend uͤberſehen konnten, ſetzten ſie ſich an eine zerfallene Mauer des Schloſſes. Die Sonne ſtand in der Ferne nicht mehr hoch uͤber dem blauen Gebirge. Moritz ſah ſtarr dorthin, und ſchwieg lange; auch ſagten ſeine Begleiter nicht ein Wort. Kinder! ſprach er end - lich, ich hinterlaß euch nichts, wenn ich ſterbe. Ihr koͤnnt mich wohl miſſen. Niemand wird um mich weinen. Ich habe mein Leben muͤhſam und unnuͤtz zugebracht, und Nie - mand gluͤcklich gemacht. Mein lieber Vater! antwortete Wil - helm, Ihr habt doch mich gluͤcklich gemacht. Ich und Dort - chen werden herzlich um euch weinen. „ Kinder! verſetzte Moritz, unſere Neigungen fuͤhren uns leicht zum Verderben. Wie viel wuͤrde ich der Welt haben nutzen koͤnnen, wenn ich kein Alchymiſt geworden waͤre! Ich wuͤrde euch und mich gluͤcklich gemacht haben! (Er weinte laut.) Doch denke ich46 immer daran, daß ich meinen Fehler erkannt habe, und nun noch will ich mich aͤndern. Gott iſt ein Vater, auch uͤber die irrenden Kinder. Nun hoͤret noch eine Ermahnung von mir, und folgt derſelben: Alles was ihr thut, das uͤberlegt vorher wohl, ob es auch Andern nuͤtzlich ſeyn koͤnne. Findet ihr, daß es nur euch dienlich iſt, ſo denkt: das iſt ein Werk ohne Belohnung. Nur wo wir dem Naͤchſten dienen, da belohnt uns Gott! Ich habe arm und unbemerkt in der Welt dahin - gewandelt, und wann ich todt bin, dann wird man meiner bald vergeſſen: ich aber werde Barmherzigkeit finden vor dem Thron Chriſti, und ſelig ſeyn. “— Nun gingen ſie wieder nach Haus, und Moritz blieb immer traurig. Er ging um - her, troͤſtete die Arme und betete mit ihnen. Auch arbeitete er und machte Uhren, womit er ſein Brod erwarb, und noch Etwas uͤbrig behielt. Doch dieſes waͤhrte nicht lange, denn den folgenden Winter verlor man ihn; man fand ihn nach dreien Tagen unter dem Schnee und war todt gefroren.
Nach dieſem traurigen Zufall entdeckte man in Stillings Hauſe eine wichtige Neuigkeit. Dortchen war geſegneten Leibes, und Jedermann freuete ſich auf ein Kind, deren in vielen Jahren kein’s im Hauſe geweſen war. Mit was fuͤr Muͤhe und Fleiß man ſich auf Dortchens Entbindung ge - ruͤſtet, iſt nicht zu ſagen. Der alte Stilling ſelbſt freute ſich auf einen Enkel, und hoffte noch einmal vor ſeinem Ende ſeine alten Wiegenlieder zu ſingen und ſeine Erziehungskunſt zu beweiſen.
Nun nahete der Tag der Niederkunft heran, und 1740 den 12ten September, Abends um 8 Uhr, wurde Heinrich Stil - ling geboren. Der Knabe war friſch, geſund und wohl, und ſeine Mutter wurde gleichfalls, gegen die Weiſſagungen der Tiefenbacher Sybillen, geſchwind wieder beſſer.
Das Kind wurde in der Florenburger Kirche getauft. Vater Stilling aber, um dieſen Tag feierlicher zu machen, richtete ein Mahl an, bei welchem er den Herrn Paſtor Stoll - bein zu ſehen wuͤnſchte. Er ſchickte daher ſeinen Sohn Jo -47 hann ins Pfarrhaus, und ließ den Herrn erſuchen, mit nach Tiefenbach zu gehen, um ſeinem Mahle beizuwohnen. Johann ging, er that ſchon den Hut ab, als er in den Hof kam, um nichts zu verſehen; aber leider, wie oft iſt alle menſch - liche Vorſicht unnuͤtz! Es ſprang ein großer Hund hervor; Johann Stilling griff einen Stein, warf, und traf den Hund in eine Seite, daß er abſcheulich zu heulen anfing. Der Paſtor ſah durchs Fenſter was paſſirte; voll von Eifer ſprang er heraus, knuͤpfte dem armen Johann eine Fauſt vor die Naſe: Du lumpigter Flegel! kriſch er, ich will dich lernen meinem Hund begegnen! Stilling antwortete: Ich wußte nicht, daß es Ew. Ehrwuͤrden Hund war. Mein Bru - der und meine Eltern laſſen den Herrn Paſtor erſuchen, mit nach Tiefenbach zu gehen, um der Taufmahlzeit beizuwohnen. Der Paſtor ging und ſchwieg ſtill. Doch murrte er aus der Hausthuͤr zuruͤck: Wartet, ich will mitgehen. Er wartete faſt eine Stunde im Hof, liebkoſete den Hund, und das arme Thier war auch wirklich verſoͤhnlicher, als der große Gelehrte, der nun aus der Hausthuͤre herausging. Der Mann wan - delte mit Zuverſicht an ſeinem Rohrſtab. Johann trabte furchtſam hinter ihm mit dem Hut unterem Arm; den Hut aufzuſetzen war eine gefaͤhrliche Sache; denn er hatte in ſei - ner Jugend manche Ohrfeige von dem Paſtor bekommen, wenn er ihn nicht fruͤh genug, das iſt, ſo bald er ihn in der Ferne erblickte, abgezogen hatte. Doch aber eine ganze Stunde lang mit bloßem Haupt, im September, unter freiem Himmel zu gehen, war doch auch entſetzlich! Daher ſann er auf einen Fund, wie er fuͤglich ſeinen Kopf bedecken moͤchte. Ploͤtzlich fiel der Herr Stollbein zur Erde, daß es platſchte. Johann er - ſchrack. Ach! rief er, Herr Paſtor, habt Ihr Euch Scha - den gethan? Was gehts euch an, Schlingel! war die helden - muͤthige Antwort dieſes Mannes, indem er ſich aufraffte. Nun gerieth Johanns Feuer in etwas in Flammen, daß er herausfuhr: So freue ich mich denn herzlich, daß Ihr gefallen ſeyd, und laͤchelte noch dazu. Was! Was! rief der Paſtor. Aber Johann ſetzte den Hut auf, ließ den Loͤwen bruͤllen,48 ohne ſich zu fuͤrchten, und ging. Der Paſtor ging auch, und ſo kamen ſie denn endlich nach Tiefenbach.
Der alte Stilling ſtand vor der Thuͤre, mit bloßem Haupt; ſeine ſchoͤne grauen Haare ſpielten am Mond: er laͤchelte den Herrn Paſtor an, und ſagte, indem er ihm die Hand gab: Ich freue mich, daß ich in meinem Alter den Herrn Paſtor an meinem Tiſch ſehen ſoll; aber ich wuͤrde ſo kuͤhn nicht geweſen ſeyn, wenn meine Freude uͤber einen Enkel nicht ſo groß waͤre. Der Paſtor wuͤnſchte ihm Gluͤck, doch mit angehaͤngter wohlmeinender Drohung, daß, wenn ihn nicht der Fluch des Eli treffen ſollte, er mehr Fleiß auf die Erziehung ſeiner Kinder anwenden muͤßte. Der Alte ſtand da in ſeinem Vermoͤgen und laͤchelte, doch ſchwieg er ſtille und fuͤhrte Seine Ehrwuͤrden in die Stube. Ich will doch nicht hoffen, ſagte der Herr Paſtor, daß ich hier unter dem Schwarm von Bauern ſpeiſen ſoll. Vater Stilling antwortete: Hier ſpeist Niemand, als ich und meine Frau und Kinder, iſt Euch das ein Bauernſchwarm? Ei, was anders! antwortete jener. So muß ich Euch erinnern, Herr! — verſetzte Stilling, daß Ihr nichts weniger als ein Diener Chriſti, ſondern ein Phariſaͤer ſeyd. Er ſaß bei den Zoͤllnern und Suͤndern, und aß mit ihnen. Er war uͤberall klein und niedrig und demuͤthig. Herr Paſtor! … meine grauen Haare richten ſich in die Hoͤhe; ſetzt Euch, oder geht wieder! Hier pocht Etwas, ich moͤchte mich ſonſt an eurem Kleide vergreifen, wofuͤr ich doch ſonſten Reſpekt habe. Hier! Herr! hier vor meinem Hauſe ritt der Fuͤrſt vorbei; ich ſtand vor meiner Thuͤre; er kannte mich. Da ſagte er: Guten Morgen, Stilling! Ich ant - wortete: Guten Morgen, Ihr Durchlaucht! Er ſtieg vom Pferd, er war muͤde von der Jagd. Holt mir einen Stuhl, ſprach er, hier will ich ein wenig ruhen. Ich habe eine luf - tige Stube, antwortete ich, gefaͤllt es Ihro Durchlaucht in die Stube zu gehen, und da bequem zu ſitzen? Ja! ſagte er. Der Oberjaͤgermeiſter ging mit hinein. Da ſaß er, wo ich euch meinen beſten Stuhl hineingeſtellt habe. Meine Marga - reth mußte ihm fette Milch einbrocken und ein Butterbrod49 machen. Wir beide mußten mit ihm eſſen, und er verſicherte, daß ihm niemalen eine Mahlzeit ſo gut geſchmeckt habe. Wo Reinlichkeit iſt, da kann ein Jeder eſſen. Nun entſchließt euch, Herr Paſtor! — Wir Alle ſind hungrig. Der Paſtor ſetzte ſich und ſchwieg ſtill. Da rief Stilling allen ſeinen Kin - dern, aber Keines wollte hinein kommen, auch ſelbſt Mar - gareth nicht. Sie fuͤllte dem Prediger ein irdenes Kuͤmpf - chen mit Huͤhnerbruͤh, gab ihm einen Teller Cappes mit ei - nem huͤbſchen Stuͤck Fleiſch und einen Krug Bier. Stil - ling trug es ſelber auf; der Paſtor aß und trank geſchwind, redete nichts, und ging wieder nach Florenburg. Nun ſetzte ſich alles zu Tiſche. Margareth betete, und man ſpeiſete mit groͤßtem Appetit. Auch ſelbſt die Kindbetterin ſaß an Margarethens Stelle mit ihrem Knaben an der Bruſt. Denn Margareth wollte ihren Kindern ſelbſt dienen. Sie hatte ein ſehr feines weißes Hemd, welches noch ihr Braut - hemd war, angezogen. Die Ermel davon hatte ſie bis hin - ter die Ellenbogen aufgewickelt. Von feinem ſchwarzen Tuch hatte ſie ein Leibchen und Rock, und unter der Haube ſtan - den graue Locken hervor, ſchoͤn gepudert von Ehre und Alter. Es iſt wirklich unbegreiflich, daß waͤhrend der ganzen Mahlzeit nicht ein Wort vom Paſtor geredet wurde; doch halte ich dafuͤr, die Urſache war, daß Vater Stilling nicht davon anfing.
Indem man ſo da ſaß und mit Vergnuͤgen ſpeiste, klopfte eine arme Frau an die Thuͤre. Sie hatte ein klein Kind auf dem Ruͤcken in einem Tuche haͤngen, und bat um ein Stuͤck - lein Brod. Mariechen war hurtig. Die Frau kam in zerlumpten, beſudelten Kleidern, die aber doch die Form hat - ten, als wenn ſie ehemals einem vornehmen Frauenzimmer gehoͤrt haͤtten. Vater Stilling befahl, man ſollte ſie an die Stubenthuͤre ſitzen laſſen, und ihr von allem Etwas zu eſſen geben. Dem Kinde kannſt du etwas Reisbrei zu eſſen darrei - chen, Mariechen! ſagte er ferner. Sie aß, und es ſchmeckte ihr herzlich gut. Nachdem nun ſie und ihr Kind ſatt waren, dankte ſie mit Thraͤnen und wollte gehen. Nein, ſagte der alte Stilling, ſitzet und erzaͤhlet uns, wo ihr her ſeyd,Stillings Schriften. I. Band. 450und warum ihr ſo gehen muͤßt. Ich will euch auch Bier zu trinken geben. Sie ſetzte ſich und erzaͤhlte.
Ach lieber Gott! ſprach ſie. Leider ja! muß ich ſo gehen (Stillings Mariechen hatte ſich neben ſie, doch etwas von ihr abgeſetzt, ſie horchte mit groͤßter Aufmerkſamkeit, auch waren ihre Augen ſchon feucht), ich bin ja leider eine arme Frau. Vor zehen Jahren moͤchtet ihr Leute euch wohl eine Ehre daraus gemacht haben, wenn ich mit euch geſpeist haͤtte.
Wilhelm Stilling. Das waͤre!
Johann Stilling. Es ſey denn, daß ihr eine Stoll - beiniſche Natur gehabt haͤttet.
Vater Stilling. Seyd ſtill, Kinder! Laſſet die Frau reden!
„ Mein Vater iſt Paſtor zu — “
Mariechen. Jemini! Euer Vater ein Paſtor? ſie ruͤckt naͤher.
„ Ach ja! Freilich iſt er Paſtor. Ein ſehr gelehrter und reicher Mann. “
Vater Stilling. Wo iſt er Paſtor?
„ Zu Goldingen im Barchinger Land. Ja freilich! Leider ja! “
Johann Stilling. Das muß ich doch auf der Land - charte ſuchen. Das muß nicht weit vom Muͤhlerſee ſeyn, oben an der Spitze, gegen Septentrio zu.
„ Ach, mein junger Herr! ich weiß keinen Ort nahe dabei, der Schlendrian heißt. “
Mariechen. Unſer Johann ſagte nicht Schlendrian. Wie ſagteſt du?
Vater Stilling. Redet ihr fort! St! Kinder!
„ Nun war ich dazumal eine huͤbſche Jungfer, hatte auch ſchoͤne Gelegenheiten zu heirathen (Mariechen beſah ſie vom Haupt bis zum Fuß), allein keiner war meinem Vater recht. Der war ihm nicht reich genug, der Andere nicht vornehm genug, der Dritte ging nicht viel in die Kirche. “
Mariechen. Sage, Johann, wie heißen die Leute, die nicht in die Kirche gehen?
Johann Stilling. St! Maͤdchen! Separatiſten.
„ Gut! was ſoll mir geſchehen, ich ſahe wohl, ich wuͤrde51 keinen bekommen, wann ich mir nicht ſelber huͤlfe. Da war ein junger Barbiergeſell — “
Mariechen. Was iſt das, ein Barbiergeſell?
Wilhelm Stilling. Schweſterchen, frag hernach um alles. — Laß jetzt nur die Frau reden. Es ſind Burſche, die den Leuten den Bart abmachen.
„ Das bitte ich mir aus, hat ſich wohl! Mein Mann konnte, trotz dem beſten Doktor, kuriren. Ach ja! viel, viel Kuren that er. Kurz, ich ging mir ihm fort. Wir ſetzten uns zu Spelterburg. Das liegt am Spafluß. “
Johann Stilling. Ja, da liegt es. Ein paar Mei - len herauf, wo die Milder hineinfließt.
„ Ja, da liegt’s. Ich ungluͤckliches Weib! — Da wurde ich gewahr, daß mein Mann mit gewiſſen Leuten Umgang hatte. “
Mariechen. Waret ihr ſchon kopulirt?
„ Wer wollte uns kopulieren? lieber Gott! O ja nicht! — (Mariechen ruͤckte mit ihrem Stuhl ein wenig weiter von der Frau ab.) Ich wollte es abſolut nicht haben, daß mein Mann mit Spitzbuben umging; denn obgleich mein Vater nur ein Schuhflicker war — “Die Frau packte ihr Kind auf den Nacken, und lief, was ſie laufen konnte.
Vater Stilling, ſeine Frau und Kinder, konnten nicht begreifen, warum die Frau mitten in der Erzaͤhlung abbrach und davon lief. Es gehoͤrte auch wirklich eine wahre Logik dazu, die Urſache einzuſehen. Ein Jeder gab ſeine Stimme, doch waren alle Urſachen zweifelhaft; das vernuͤnftigſte Ur - theil, und zugleich auch das wahrſcheinlichſte, war wohl, daß der Frau von dem vielen und ungewohnten Eſſen etwas uͤbel geworden, und man beruhigte ſich auch dabei. Vater Stil - ling zog aber, ſeiner Gewohnheit nach, die Lehre aus dieſer Erzaͤhlung, daß es am beſten ſey, ſeinen Kindern Religion und Liebe zur Tugend einzupraͤgen, und dann im gehoͤri - gen Alter ihnen die freie Wahl im Heirathen zu vergoͤnnen, wenn ſie nur ſo waͤhlten, daß die Familie nicht wirklich da - durch beſchimpft wuͤrde. Ermahnen, ſagte er, muͤſſen frei - lich die Eltern ihre Kinder; allein Zwang hilft nichts mehr,4 *52wenn der Menſch ſein maͤnnliches Alter erreicht hat; er glaubt alsdann alles ſo gut zu verſtehen als ſeine Eltern.
Waͤhrend dieſer weiſen Rede, wobei alle Anweſenden hoͤchſt aufmerkſam waren, ſaß Wilhelm in tiefen Betrachtungen. Er hatte eine Hand an den Backen gelegt, und ſahe ſtarr ge - rade vor ſich hin. Hum! ſagte er, alles, was die Frau er - zaͤhlt hat, ſcheint mir verdaͤchtig. Im Anfang ſagte ſie, ihr Vater waͤre Paſtor zu … zu …
Mariechen. Zu Goldingen im Barchinger Land.
Ja, da war es. Und am Ende ſagte ſie, ihr Vater ſey ein Schuhflicker geweſen. Alle Anweſenden ſchlugen die Haͤnde zuſammen, und entſetzten ſich ſehr. Nun erkannte man, wa - rum die Frau weggelaufen war; man entſchloß ſich alſo, an jeder Thuͤre und Oeffnung im Hauſe vorſichtige Klingen und Klammern zu machen, und das wird auch Niemand der Stil - ling’ſchen Familie verdenken, wer einigermaßen den Zuſam - menhang der Dinge einzuſehen gelernt hat.
Dortchen redete die ganze Zeit durch nichts. Warum? kann ich eben nicht ſagen. Sie ſaͤugte ihren Heinrich alle Augenblicke, denn das war nun einmal ihr Alles. Der Junge war auch huͤbſch dick und fett. Die erfahrenſten Nachbarin - nen konnten ſchon gleich nach der Geburt in dem Geſichte des Kindes eine voͤllige Aehnlichkeit mit ſeinem Vater entdecken. Beſonders aber wollte man auch ſchon auf dem linken obern Augenlied die Grundlage einer kuͤnftigen Warze ſpuͤren, als welche der Vater daſelbſt hatte. Dennoch aber mußte eine verborgene Parteilichkeit alle Nachbarinnen zu dieſem falſchen Zeugniß bewogen haben; denn der Knabe hatte und bekam der Mutter Geſichtszuͤge und ihr ſanftes, gefuͤhliges Herz gaͤnzlich.
Vor und nach verfiel Dortchen in eine ſanfte Schwer - muth. Sie hatte an nichts in der Welt Vergnuͤgen mehr, aber auch an keinem Theile Verdruß. Sie genoß beſtaͤndig die Wonne der Wehmuth, und ihr zartes Herz ſchien ſich ganz in Thraͤnen zu verwandeln, in Thraͤnen ohne Harm und Kum - mer. Ging die Sonne ſchoͤn auf, ſo weinte ſie, und betrach - tete ſie tiefſinnig; ſprach auch wohl zuweilen: Wie ſchoͤn muß der ſeyn, der ſie gemacht hat! Ging ſie unter, ſo weinte ſie. 53Da geht der troͤſtliche Freund wieder von uns, ſagte ſie dann oft, und ſehnte ſich weit weg in den Wald, zur Zeit der Daͤm - merung. Nichts aber war ihr ruͤhrender, als der Mond; ſie fuͤhlte dann was Unausſprechliches, und ging ganze Abende unten an dem Geiſenberg. Wilhelm begleitete ſie faſt im - mer und redete ſehr freundlich mit ihr. Sie hatten beide etwas aͤhnliches in ihrem Charakter. Sie haͤtten die ganze Welt von Menſchen miſſen koͤnnen, nur Eins das Andere nicht: dennoch empfanden ſie jedes Elend und jeden Druck des Nebenmenſchen.
Beinahe anderthalb Jahre war Heinrich Stilling alt, als Dortchen an einem Sonntag Nachmittag ihren Mann erſuchte, mit ihr nach dem Geiſenberger Schloſſe zu ſpatzieren. Noch niemalen hatte ihr Wilhelm etwas abgeſchlagen. Er ging mit ihr. Sobald ſie in den Wald kamen, ſchlungen ſie ſich in ihre Arme und gingen Schritt vor Schritt unter dem Schatten der Baͤume und dem vielfaͤltigen Zwitſchern der Voͤgel den Berg hinauf. Dortchen fing an:
„ Was meynſt du, Wilhelm, ſollte man ſich wohl im Himmel kennen? “
O ja! liebes Dortchen! Chriſtus ſagt ja von dem reichen Mann, daß er Lazarum in dem Schooße Abrahams gekannt habe, und noch dazu war der reiche Mann in der Hoͤlle; da - her glaub’ ich gewiß, wir werden uns in jener Ewigkeit kennen.
„ O Wilhelm! wie ſehr freue ich mich, wenn ich daran denke, daß wir dann die ganze Ewigkeit durch ganz ohne Kum - mer, in lauter himmliſcher Luſt und Vergnuͤgen werden bei einander ſeyn! Mich duͤnkt auch immer, ich koͤnnte im Him - mel ohne dich nicht ſelig ſeyn. Ja, lieber Wilhelm! ge - wiß! gewiß wir werden uns da kennen! Hoͤr’ einmal, ich wuͤnſche das nun ſo herzlich! Gott hat ja meine Seele und mein Herz gemacht, das ſo wuͤnſchet; er wuͤrde es nicht ſo gemacht haben, wenn ich unrecht wuͤnſchte, und wenn es nicht ſo waͤre! Ja, ich werde dich kennen, und dich unter allen Menſchen ſuchen, und dann werd ich ſelig ſeyn! “
Wir wollen uns bei einander begraben laſſen, ſo brauchen wir nicht lange zu ſuchen.
54„ O moͤchten wir doch in einem Augenblick ſterben. Aber wo bliebe dann mein lieber Junge? “
Der wuͤrde hier bleiben, und wohl erzogen werden, und end - lich zu uns kommen.
„ Ich wuͤrde aber doch viele Sorge um ihn haben, ob er auch fromm werden wuͤrde. “
Hoͤre, Dortchen! du biſt ſchon lange her beſonders ſchwer - muͤthig geweſen. Wenn ich die Wahrheit ſagen ſoll, du machſt mich mit dir betruͤbt. Warum biſt du ſo gern mit mir allein! Meine Schweſtern glauben, du habeſt ſie nicht lieb.
„ Doch liebe ich ſie recht von Herzen. “
Du weinſt oft, als wenn du mißmuthig waͤreſt; das thut mir dann leid. Ich werde auch traurig. Haſt du Etwas auf dem Herzen, liebes Kind — das dich quaͤlt? Sag’ es mir. Ich werde dir Ruhe ſchaffen; es koſte auch was es wolle.
„ O nein! ich bin nicht mißmuthig, liebes Kind! ich bin nicht unzufrieden. Ich habe dich lieb, ich habe unſere El - tern und Schweſtern lieb, ja, ich habe alle Menſchen lieb. Aber ich will dir ſagen, wie es mir iſt. Wenn ich im Fruͤh - ling ſehe, wie Alles aufgeht, die Blaͤtter an den Baͤumen, die Blumen und die Kraͤuter, ſo iſt mir, als wenn es mich gar nicht anginge; es iſt mir dann, als wenn ich in einer Welt waͤre, worein ich nicht gehoͤrte. Sobald ich aber ein gelbes Blatt, eine verwelkte Blume, oder duͤrres Kraut finde, dann werden mir die Thraͤnen los, und mir wird ſo wohl, ſo wohl, daß ich es dir nicht ſagen kann; und doch bin ich nie freudig dabei. Sonſten machte mich das alles betruͤbt, und ich war nie froͤhlicher, als im Fruͤhling. “
Ich kenne das nicht. So viel aber iſt doch wahr, daß es mich recht empfindlich macht.
Indem ſie ſo redeten, kamen ſie zu den Ruinen des Schloſ - ſes auf die Seite des Berges, und empfanden die kuͤhle Luft vom Rhein her, und ſahen, wie ſie mit den langen, duͤrren Grashalmen und Epheublaͤttern an den zerfallenen Mauren ſpielte und darum pfiff. Hier iſt recht mein Ort, ſagte Dort - chen, hier wuͤnſcht’ ich zu wohnen. Erzaͤhle mir doch noch einmal die Geſchichte vom Johann Huͤbner, der hier auf55 dem Schloſſe gewohnt hat. Laß uns aber hier auf den Wall gegen die Mauern uͤber ſitzen. Ich duͤrfte um die Welt nicht zwiſchen den Mauern ſeyn, wenn du das erzaͤhleſt, denn ich graue immer, wenn ich’s hoͤre. Wilhelm erzaͤhlte:
Auf dieſem Schloſſe haben vor Alters Raͤuber gewohnt, die gingen des Nachts in’s Land umher, ſtahlen den Leuten das Vieh und trieben es dort in den Hof; da war ein großer Stall; und