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Das Deutſche Reichsſtrafrecht
auf Grund des Reichsſtrafgeſetzbuchs und der übrigen ſtrafrechtlichen Reichsgeſetze unter Berückſichtigung der Rechtſprechung des Reichsgerichts ſyſtematiſch dargeſtellt
Berlin und Leipzig. Verlag von J. Guttentag. (D. Collin.)1881.
[V]

Vorwort.

Das nachſtehende kurzgefaßte Lehrbuch iſt zur Ein - führung in das Studium des Reichsſtrafrechtes beſtimmt. Es ſoll die Benützung umfangreicherer Werke nicht überflüſſig machen, ſondern ermöglichen und erleichtern. Es wendet ſich an den Studenten, der an die Theorie des Strafrechtes herantritt, und an den Praktiker, der bei ihr Rat ſucht und Löſung für die Fragen des täglichen Lebens. Dem einen wie dem andern ſoll das kleine Buch den Weg weiſen, nicht ihn ans Ziel führen.

Aber gerade weil das Buch nicht mehr ſein will als Wegweiſer in’s Strafrecht, mußte ſein Verfaſſer manches ernſter nehmen, als es ſonſt wohl zu geſchehen pflegt. Ge - rade die erſte Einführung muß eine ſtreng wiſſenſchaftliche ſein, d. h. ſie muß mit klaren ſchneidigen Begriffen arbeiten und dieſe in ein geſchloſſenes Syſtem bringen. Jene Begriffe und dieſes Syſtem zu gewinnen, ſchien mir Hauptaufgabe nicht nur, ſondern Exiſtenzberechtigung des Buches. Daß ich dabei meine eigenen Wege gegangen, wird mir wohl kaum verargt werden können; daß mir ſelbſt das Syſtem nicht völlig genügt, brauche ich demjenigen gegenüber, der auf gleichem Felde gearbeitet hat, nicht zu bemerken.

VIVorwort.

Die ſtrafrechtlichen Nebengeſetze heranzuziehen, iſt für ein noch ſo kurz gefaßtes Lehrbuch des Reichsſtrafrechtes einfach unerläßlich. Freilich ſtehe ich mit dieſer Anſicht ziemlich allein da; aber ich halte ihre Richtigkeit für ſo unbeſtreitbar, daß ich ihre Begründung mit Beruhigung dem unausbleib - lichen Entwickelungsgang unſerer Wiſſenſchaft überlaſſe.

Die Entſcheidungen des Reichsgerichtes ſind bis in die letzten Tage des Druckes eingehend berückſichtigt worden. Nicht nur deßhalb, weil dieſe Rückſichtnahme die praktiſche Brauchbarkeit des Buches erhöht; ſondern darum, weil der innere Wert der Reichsgerichts-Entſcheidungen es verlangt. Der höchſte deutſche Gerichtshof hat gethan, was die meiſten ſeiner partikulären Vorgänger zu thun ſich ſcheuten: er iſt herangetreten, ſo oft Gelegenheit ſich bot, an die von den Theoretikern aufgeworfenen Fragen; er hat Stellung ge - nommen zu ihnen und ihre Löſung verſucht. Und das iſt ein Verdienſt, das nicht hoch genug angeſchlagen werden kann. Dabei bleibt der Theorie das Recht der Kritik; ich habe dem Reichsgericht gegenüber oft von demſelben Gebrauch gemacht, und wollte gerade deßhalb die eben ausgeſprochene Bemerkung nicht unterdrücken.

Noch manche Eigentümlichkeit des Lehrbuchs , das in den wichtigſten Fragen ſtatt der Begründung Reſultate geben muß, würde der Rechtfertigung bedürfen.

Der Raum eines Vorwortes geſtattet es nicht. Möge das Wohlwollen der Leſer die Kürze und Lückenhaftigkeit der Darſtellung erläutern und ergänzen.

Gießen, November 1880.

Liszt.

[VII]

Inhaltsverzeichnis.

  • Einleitung.
  • I. Die Grundbegriffe.
  • Seite
  • §. 1. Das Strafrecht. I. Strafrecht im objektiven und ſubjektiven Sinne. II. Verbrechen und Strafe1
  • §. 2. Die Strafe. I. Die Strafe als Rechtsgüterſchutz. II. Ihre Wirkung. III. Art und Maaß der Strafe; ihre Rechtfertigung. Strafrecht und Willensfreiheit2
  • §. 3. Die Norm. I. Begriff der Norm. II. Ihr Ver - hältnis zum Rechtsgut. III. Umfang ihrer impera - tiven Kraft5
  • §. 4. Das Verbrechen. I. Delikt u. Verbrechen. II. Norm und Strafgeſetz. III. Civiles und kriminelles Un - recht9
  • §. 5. Urſächlicher Zuſammenhang zwiſchen Ver - brechen und Strafe. I. Entſtehung und Ent - wicklung der Strafe. II. Die Strafrechtstheorien im allgemeinen14
  • §. 6. Die einzelnen Strafrechtstheorien. I. Zweck - mäßigkeitstheorien. II. Rechtstheorien. III. Not - wendigkeitstheorien. IV. Vereinigungstheorien16
  • II. Das Strafgeſetz.
  • 1. Das Strafgeſetz als Quelle des Strafrechtes.
  • §. 7. I. Nulla poena sine lege. II. Auslegung. Ana - logie insbeſondere. III. Geſetz. Redaktionsverſehen. Druckfehler. Materialien. IV. Zweiteilige und ein - teilige Strafrechtsſätze24
  • VIII
  • Seite
  • 2. Die Reichsſtrafgeſetzgebung.
  • §. 8. Entſtehungsgeſchichte des Reichsſtrafge - ſetzbuchs. I. Das gemeine Recht und die Partikular - geſetzgebung. II. Die Vorläufer einer einheitlichen Strafgeſetzgebung. III. Das Strafgeſetzbuch für den norddeutſchen Bund. IV. Das Reichsſtrafgeſetz - buch. V. Die Novelle v. 26. Febr. 187627
  • §. 9. Die übrigen Reichsſtrafgeſetze in chronolo - giſcher Ueberſicht35
  • §. 10. Die Litteratur des Reichsſtrafrechtes. I. Kom - mentare. II. Lehrbücher. III. Grundriſſe. IV. Prä - judizienſammlungen40
  • 3. Geltungsgebiet der deutſchen Reichsſtrafgeſetze.
  • §. 11. Reichsrecht und Landesrecht. I. Das Prinzip. II. Die reichsrechtlich nicht geordneten Materien. III. Weitere Beſchränkungen der Landesgeſetzgebung. IV. Die Einführungsgeſetze43
  • §. 12. Das zeitliche Geltungsgebiet der Reichs - ſtrafgeſetze. I. Beginn und Ende ihrer Herrſchaft. II. Rückwirkende Kraft der Strafrechtsſätze. III. An - wendung des mildeſten Geſetzes. IV. Seine Anwen - dung in den höheren Inſtanzen. V. Der Zeitpunkt der begangenen That47
  • §. 13. Inländiſches und ausländiſches Recht. I. Theoretiſche Grundlegung. II. Die verſchiedenen Syſteme. III. Standpunkt der Reichsgeſetzgebung. Die Regel. IV. Fortſetzung. Die Ausnahmen. V. Auslieferungsverträge. VI. Ort der begangenen That51
  • §. 14. Befreiungen von der Herrſchaft der Straf - geſetze, I. aus ſtaatsrechtlichen, II. aus völker - rechtlichen Gründen58
  • §. 15. Allgemeine und beſondere Strafgeſetze. I. Fixirung des Unterſchiedes. II. Das Militär - ſtrafrecht insbeſondere60
  • §. 16. Friedensrecht und Kriegsrecht. I. Einfüh - rungs-Geſetz zum StGB. §. 4. II. Militär-StGB. §§. 160 und 155. III. Preßgeſetz §. 3662
  • IX
  • Allgemeiner Teil.
  • Erſtes Buch.
  • Das Verbrechen.
  • A.
  • I. Begriff und Einteilung. Seite
  • §. 17. Der Begriff des Verbrechens. I. Das Ver - brechen als Handlung; II. als normwidrige, III. ſchuldhafte, IV. mit Strafe belegte Handlung64
  • §. 18. Einteilungen des Verbrechens. I. Aeltere Ein - teilungen. Politiſche und nicht politiſche Delikte. II. Kriminelles und polizeiliches Unrecht. III. Die Dreiteilung in Verbrechen, Vergehen, Ueber - tretungen66
  • B. Die Begriffsmerkmale der verbrecheriſchen Handlung.
  • II. Das Verbrechen als Handlung.
  • §. 19. Der Begriff der Handlung. I. Die Handlung im engeren Sinne als willkürliche Körperbewegung. II. Die erweiterte Handlungsreihe. Körperbewegung und Erfolg. III. Ihre einzelnen Stadien. IV. Zeit und Ort der begangenen That70
  • §. 20. Die Lehre vom Kauſalzuſammenhange. I. Der Begriff der Urſache. II. Unterſchied zwiſchen Urſache und Bedingung. III. Mehrere Urſachen deſſelben Erfolges. Unterbrechung des Kauſalzu - ſammenhanges. IV. Die Zurechnung76
  • §. 21. Die ſogenannten Unterlaſſungsdelikte. I. Unrichtige Konſtruktionen. II. Die ſcheinbare Unterlaſſung als Handlung. III. Zeitpunkt der begangenen That79
  • III. Das Verbrechen als rechtswidrige Handlung.
  • §. 22. Ausſchließungsgründe der Rechtswidrig - keit im allgemeinen. I. Die Norm als Regei mit Ausnahmen. II. Einzelne Ausſchließungsgründe83
  • §. 23. Die Notwehr insbeſondere. I. Definition. II. Begriffsmerkmale. III. Ueberſchreitung der Not - wehr88
  • X
  • Seite
  • §. 24. Der Notſtand insbeſondere. I. Theoretiſcher Begriff. II. Poſitivrechtliche Beſchränkung. III. Cha - rakter der Notſtandshandlung. IV. Die außer - ſtrafrechtlichen Beſtimmungen über Notſtand. V. Die juriſtiſche Behandlung des Nötigers92
  • IV. Das Verbrechen als ſchuldhafte rechtswidrige Handlung.
  • 1. Die Vorausſetzung der Schuld.
  • §. 25. Die Zurechnungsfähigkeit. I. Sie iſt krimi - naliſtiſche Handlungsfähigkeit. II. Ihre Behand - lung im poſitiven Recht. III. Verminderte Zu - rechnungsfähigkeit. IV. Gerichtliche Feſtſtellung der Z. V. Zurechnungsfähigkeit muß im Augenblicke der Handlung im eigentlichen Sinne vorhanden ſein. Die actiones liberae in causa. VI. Die Kollektivperſönlikeit als Deliktsſubjekt95
  • §. 26. Die Fälle der Zurechnungsunfähigkeit. I. Fehlende geiſtige Reife (1. noch nicht abgeſchloſſene, 2. gehemmte Entwickelung). II. Fehlende geiſtige Geſundheit101
  • 2. Die Schuld ſelbſt und ihre Arten.
  • §. 27. Die Schuld. I. Begriff. II. Die Schuld als Deliktsmerkmal. Präſumption der Schuld. III. Die Schuld muß im Augenblicke der Handlung im eigentlichen Sinne vorhanden ſein. IV. Zurechnung105
  • §. 28. Der Vorſatz als Schuldart. I. Begriff. II. Bewußtſein der Normwidrigkeit als Begriffs - merkmal? III. Vorſatz und Abſicht. IV. Konkre - tiſierung des Vorſatzes. V. Irrtum. StGB. §. 59, error in objecto und aberratio ictus. VI. Ein - teilungen des Vorſatzes108
  • §. 29. Die Fahrläſſigkeit als Schuldart. I. Be - griff. II. Irrtum. III. Die reichsrechtlich ſtraf - baren Fälle. IV. Einteilungen der Fahrläſſigkeit117
  • V. Das Verbrechen als mit Strafe belegtes Delikt.
  • §. 30. Die Bedingungen der Strafbarkeit. I. Begriff. II. Juriſtiſche Bedeutung. III. Unter - ſchied von den Strafaufhebungsgründen, den pro - zeſſualen Hinderungsgründen und von den ſubjek - tiven Schuldausſchließungsgründen122
  • XI
  • Seite
  • §. 31. Der Antrag des Verletzten. I. Die Fälle der Antragsdelikte. II. Die beiden verſchiedenen Gruppen innerhalb derſelben. III. Poſitivrechtliche Behandlung der Antragsdelikte125
  • C. Die Erſcheinungsformen der verbrecheriſchen Handlung.
  • VI. Vollendung und Verſuch.
  • §. 32. Begriffliche Entwickelung. I. Vollendung des Delikts, des Verbrechens, der Rechtsgüterver - letzung. II. Vollendetes, fehlgeſchlagenes, ver - ſuchtes Verbrechen. III. Begriff und Strafbarkeit des Verſuchs. IV. Der Verſuch als Irrtum über die Kauſalität. V. Die Tauglichkeit oder Untauglich - keit von Mittel oder Objekt. 131
  • §. 33. Der Verſuch im poſitiven Recht. I. Be - ſchränkung der Strafbarkeit auf die Verletzung gewiſſer Normen. II. Begriffliche oder kaſuiſtiſche Bezeichnung der Verſuchshandlung. III. Straf - rahmen für den Verſuch. IV. Verſuchs - und Vorbereitungshandlung138
  • §. 34. Der Rücktritt vom Verſuch. I. Konſtruktion und Fälle. II. Freiwilligkeit des Rücktritts. III. Derſelbe iſt Strafaufhebungsgrund. IV. Rück - tritt bei als ſelbſtändigen Delikten beſtraften Vor - bereitungshandlungen? 143
  • VII. Thäterſchaft und Teilnahme.
  • §. 35. Die Entſtehung des Begriffs der Teil - nahme. I. Der Begriff der Teilnahme als Folge der poſitiv-rechtlichen Annahme einer Unterbrechung des Kauſalzuſammenhanges durch eine freie und vorſätzliche Handlung. II. Konſequenzen aus dieſer Auffaſſung. III. Die Arten der Teilnahme. IV. Die Begünſtigung iſt nicht Teilnahme. V. Mehr - fache Beteiligung derſelben Perſon an demſelben Verbrechen146
  • §. 36. Thäterſchaft und Mitthäterſchaft. I. Der Thäter. II. Der Mitthäter150
  • §. 37. Anſtiftung und Beihülfe. I. Der Anſtifter. II. Der Gehülfe. III. Einfluß perſönlicher Ver - hältniſſe auf die Strafbarkeit der Teilnehmer152
  • XII
  • Seite
  • §. 38. Teilnahmehandlungen als ſelbſtändige Delikte. I. Allgemeines. II. Die einzelnen Fälle157
  • VIII. Einheit und Mehrheit der Verbrechenshandlung.
  • §. 39. Die natürliche und die juriſtiſche Einheit der Verbrechenshandlung. I. Die natürliche Einheit. II. Die juriſtiſche Einheit (fortdauerndes; fortgeſetztes; gewerbs -, geſchäfts -, gewohnheits - mäßiges Verbrechen) 159
  • §. 40. Die Einheit der Verbrechenshandlung und die ſogenannte Idealkonkurrenz. I. Eine Handlung, eine Strafe. II. Die ſog. Geſetzeskonkurrenz. III. Die ſog. Idealkonkurrenz. IV. Gleichartige Idealkonkurrenz? 163
  • §. 41. Mehrheit der Verbrechenshandlungen. Rückfall und Realkonkurrenz. I. Rückfall. II. Realkonkurrenz168
  • Zweites Buch.
  • Die Strafe.
  • I. Der Begriff der Strafe.
  • §. 42. Der Begriff der Strafe. I. Definition. II. Strafe und Erſatz. III. Rechtsgüterverletzung, die nicht gegen den Schuldigen gerichtet iſt. IV. Disziplinarſtrafen. V. Prozeßſtrafe. VI. Exe - kutivſtrafen. VII. Ordnungsſtrafen und Polizei - ſtrafen. VIII. Verwaltungsmaßregeln171
  • II. Die Strafmittel.
  • §. 43. Im allgemeinen. I. Notwendige Eigenſchaften eines guten Strafmittels. II. Würdigung der wich - tigſten Strafmittel des modernen Rechts177
  • §. 44. Das Strafenſyſtem der Reichsgeſetzgebung. I. Das Syſtem der Strafmittel. II. Es iſt abſolut gemeines Recht. III. Würdigung desſelben181
  • A. Die Hauptſtrafen.
  • §. 45. 1. Die Todesſtrafe. I. Geſchichtliches. II. An - wendungsgebiet. III. Vollziehungsart183
  • §. 46. 2. Die Freiheitsſtrafen. I. Geſchichte. II. Die Freiheitsſtrafen des modernen Rechts. III. Vollzug der Freiheitsſtrafen186
  • XIII
  • Seite
  • §. 47. 3. Die Geldſtrafe. I. Verwertung im heutigen Recht. II. Mindeſtmaß und Höchſtmaß. III. Ver - wendung der eingezogenen Geldſtrafen191
  • §. 48. 4. Der Verweis. I. Anwendungsgebiet. II. Voll - ſtreckung193
  • B. Die Nebenſtrafen.
  • §. 49. 1. Nebenſtrafen an der Freiheit. I. Polizeiauf - ſicht. II. Arbeitshaus. III. Ausweiſung. IV. Auf - enthaltsbeſchränkung. V. Beſchränkung des Haus - rechtes194
  • §. 50. 2. Nebenſtrafen am Vermögen. I. Acceſſo - riſche Geldſtrafe. II. Einziehung. III. Unbrauch - barmachung. IV. Entziehung der Gewerbebefugnis198
  • §. 51. 3. Nebenſtrafen an der Ehre. I. Aberkennung ſämmtlicher, II. einzelner Ehrenrechte. III. Beſon - deres Nachverfahren200
  • Anhang.
  • §. 52. Die Buße. I. Anwendungsgebiet. II. Charakter der Buße204
  • III. Die geſetzlichen Strafrahmen und ihre Handhabung durch den Richter.
  • §. 53. Die normalen Strafrahmen und die Straf - zumeſſung. I. Abſolut und relativ beſtimmte Strafgeſetze. II. Geſichtspunkte bei Aufſtellung der Strafrahmen. III. Zumeſſung der Strafe inner - halb der Strafrahmen. IV. Notwendigkeit beſon - derer Strafrahmen. V. Notwendigkeit der Straf - umwandlung und Strafanrechnung; ſowie beſon - derer Beſtimmungen für den Fall der Realkon - kurrenz206
  • §. 54. Die beſonderen Strafrahmen und die Strafänderung. I. Erhöhte Strafrahmen: Strafſchärfung (Rückfall; Gewerbs - und Gewohn - heitsmäßigkeit; Eintritt eines ſchweren Erfolgs). II. Erniedrigte Strafrahmen: Strafmilderung (mildernde Umſtände; Jugend; Verſuch und Bei - hülfe) 210
  • §. 55. Strafumwandlung und Strafanrechnung I. Strafumwandlung. II. Strafanrechnung213
  • XIV
  • Seite
  • §. 56. Beſtimmung der Strafe im Falle realer Konkurrenz. I. Notwendigkeit einer Milderung des Kumulationsprinzipes. II. Die Geſammtſtrafe der Reichsgeſetzgebung. III. und IV. Abweichun - gen von derſelben. V. Beſondere Beſtimmungen der Nebengeſetze216
  • IV. Wegfall des ſtaatlichen Strafanſpruchs.
  • §. 57. Allgemeines. Die einzelnen Strafauf - hebungsgründe. I. Bedeutung und ſyſtematiſche Stellung der Strafaufhebungsgründe. II. Der Tod des Schuldigen. III. Thätige Reue. IV. Be - gnadigung219
  • §. 58. Die Verjährung insbeſondere. I. Ihre ju - riſtiſche Bedeutung. II. Verfolgungsverjährung. III. Vollſtreckungsverjährung223
  • Beſonderer Teil.
  • §. 59. Ueberſicht. I. Einteilungsgrund. II. Delikte gegen Rechtsgüter des Einzelnen. III. Delikte gegen das Staatsganze. IV. Delikte gegen die rechtlich ge - ſchützten Intereſſen des Publikums. V. Delikte gegen uneigentliche Rechtsgüter229
  • Erſtes Buch.
  • Strafbare Handlungen gegen Rechtsgüter des einzelnen Staatsbürgers.
  • I. Gegen Leib und Leben.
  • 1. §. 60. Die Tötung. I. Die vorſätzliche Tötung. II. Die fahrläſſige Tötung233
  • 2. §. 61. Die Körperverletzung. I. Begriff. II. Arten. III. Strafverfolgung. IV. Buße. V. Retorſion. 236
  • 3. §. 62. Gefährdung von Leib und Leben. I. Die Ausſetzung. II. Vergiftung . III. Abtreibung. IV. Der Raufhandel. V. Der Zweikampf241
  • II. Gegen die perſönliche Freiheit.
  • §. 63. I. Nötigung. II. Freiheitsberaubung. III. Menſchen - raub (Kinderraub, Entführung) 250
  • XV
  • Seite
  • III. Gegen das Vermögen.
  • A. Gegen das Eigentum.
  • 1. §. 64. Der Diebſtahl. I. Begriff. II. Arten. III. Nebenſtrafen256
  • §. 65. Verwandte Fälle. (StGB. §§. 290, 289, 291, 370.) 264
  • 2. §. 66. Der Raub. I. Begriff. II. Arten. III. Neben - ſtrafe267
  • 3. §. 67. Die Unterſchlagung. I. Begriff. II. Arten. III. Nebenſtrafe269
  • 4. §. 68. Die Sachbeſchädigung. I. Begriff. II. Arten272
  • B. Gegen Okkupationsrechte.
  • §. 69. I. Verletzung des Jagdrechtes. II. Unberechtigtes Fiſchen und Krebſen274
  • C. Gegen obligatoriſche Anſprüche.
  • 1. §. 70. Der Bankbruch. I. Begriff. II. Arten. III. Teilnahme dritter Perſonen. IV. Stimmen - kauf277
  • 2. §. 71. Die Untreue. I. Begriff. II. Arten284
  • 3. §. 72. Andere Fälle. I. Exekutionsvereitlung. II. Ver - tragsbruch. III. StrGB. §. 297288
  • D. Strafbare Handlungen gegen das Vermögen überhaupt.
  • 1. §. 73. Der Betrug. I. Begriff. II. Arten290
  • 2. §. 74. Die Erpreſſung. I. Begriff. II. Arten296
  • 3. §. 75. Strafbare Ausbeutung Anderer. I. Aus - beutung Minderjähriger. II. Wucher300
  • 4. §. 76. Das Glücksſpiel. I. StGB. §. 360, Ziff. 14. II. Gewerbsmäßiges Glücksſpiel. III. StGB. §. 285. IV. Oeffentliche Ausſpielung. V. Inhaber - papiere mit Prämien304
  • 5. §. 77. Die Partiererei. I. Begriff. II. Arten307
  • IV. Verletzung der Individualrechte.
  • 1. §. 78. Verletzung des Autorrechtes. I. Nachdruck. II. Unterlaſſung der Quellenangabe. III. Ver - breitung von Nachdrucksexemplaren312
  • 2. §. 79. Die übrigen Fälle. I. III. Verletzung der Urheberrechte. IV. Des Namen -, Firmen -, Markenrechtes. V. Des Patentrechtes316
  • XVI
  • Seite
  • V. Strafbare Handlungen gegen immaterielle Rechtsgüter.
  • 1. §. 80. Gegen die Ehre. I. Begriff der Ehre. II. Die Arten ihrer Verletzung. III. Rechtswidrigkeit. IV. Buße. V. Strafverfolgung. VI. Retorſion. VII. Privatgenugthuung319
  • 2. §. 81. Die übrigen Verletzungen immaterieller Rechtsgüter. I. Bedrohung. II. Verletzung des Hausrechtes. III. Verletzung des Brief - geheimniſſes. IV. Offenbarung von Privat - geheimniſſen329
  • Zweites Buch.
  • Strafbare Handlungen gegen rechtlich geſchützte Intereſſen des Publikums.
  • I. Die gemeingefährlichen Delikte des Strafgeſetzbuchs.
  • §. 82. Allgemeines. Brandſtiftung und Ueber - ſchwemmung. I. Begriff der Gemeingefährlich - keit. II. Brandſtiftung. III. Ueberſchwemmung332
  • §. 83. Fortſetzung. Die übrigen Fälle. I. StGB. §§. 315, 316. II. StGB. §§. 317, 318. III. StGB. §. 321. IV. StGB. §. 322. V. StGB. §. 323. VI. StGB. §. 324. VII. StGB. §§. 327, 328. VIII. StGB. §. 329. IX. StGB. §. 330338
  • II. Uebertretungen des Nahrungsmittelgeſetzes vom 14. Mai 1879.
  • §. 84. I. Verletzung der ſtaatlichen Aufſichtsmaßregeln. II. Nachmachung und Verfälſchung von Nahrungs - mitteln. III. Vergiftung derſelben343
  • III. Strafbare Handlungen gegen den öffentlichen Frieden.
  • §. 85. I. Landzwang. II. Landfriedensbruch. III. An - ſammeln von Waffen und Streitkräften. IV. Oeffent - liche Anreizung zum Klaſſenkampf. V. Kanzelmiß - brauch346
  • IV. Andere gegen die Intereſſen des Publikums gerichtete Delikte.
  • §. 86. I. Verleitung zur Auswanderung. II. Uebertre - tungen349
  • XVII
  • Seite
  • Drittes Buch.
  • Strafbare Handlungen gegen uneigentliche Rechts - güter (durch die Art des Angriffes charakteriſterte Delikte).
  • I. Strafbare Handlungen an Geld.
  • §. 87. I. Begriff. II. Arten353
  • II. Strafbare Handlungen an Urkunden.
  • §. 88. I. Begriff. II. Arten357
  • III. Strafbare Handlungen gegen die Religion.
  • §. 89. I. Gottesläſterung. II. Beſchimpfung von Re - ligionsgeſellſchaften. III. Beſchimpfender Unfug in Kirchen. IV. Hinderung und Störung des Gottesdienſtes. V. Frevel an Leichen und Gräbern364
  • IV. Strafbare Handlungen an Perſonenſtand und Ehe.
  • §. 90. I. Am Perſonenſtande. II. An der Ehe (Ehebe - trug, Doppelehe. Ehebruch) 367
  • V. Strafbare Handlungen gegen die Sittlichkeit.
  • §. 91. I. Blutſchande. II. Widernatürliche Unzucht. III. Unzucht mit Verletzung eines beſonderen Vertrauens - oder Gewaltverhältniſſes. IV. Nötigung zur Unzucht und gleichgeſtellte Fälle. V. Erſchlei - chung des Beiſchlafs. VI. Verführung eines un - beſcholtenen Mädchens. VII. Oeffentliches Aerger - nis durch unzüchtige Handlungen. VIII. Ver - breitung von unzüchtigen Schriften. IX. Kuppelei370
  • VI. Die Amtsdelikte.
  • §. 92. I. Allgemeines. II. Die einzelnen Amtsdelikte377
  • XVIII
  • Seite
  • Viertes Buch.
  • Strafbare Handlungen gegen das Gemeinweſen.
  • I. Gegen Beſtand und Sicherheit des Staates.
  • 1. §. 93. Der Hochverrat. I. Allgemeines. II. Die Arten. III. Vorbereitungshandlungen. IV. Oef - fentliche Aufforderung zum Hochverrat. V. Be - ſchlagnahme des Vermögens. VI. Hochverrat gegen befreundete Staaten391
  • 2. §. 94. Der Landesverrat. I. Begriff. II. Der militäriſche, III. der diplomatiſche Landesverrat. IV. Beſchlagnahme des Vermögens396
  • 3. §. 95. Gefährdung der militäriſchen Sicherheit des Staates. I. StGB. §. 360 Ziff. 1. II. Preßgeſetz §. 15. III. StGB. §. 329400
  • II. Gegen die Staatsgewalt und ihre Organe.
  • 1. §. 96. Gegen den Monarchen (Majeſtätsbeleidi - gung.) I. Allgemeines. II. Thätlichkeit. III. Ein - fache Beleidigung. IV. Beleidigung gegen Monarchen und Repräſentanten befreundeter Staaten401
  • 2. §. 97. Gegen geſetzgebende Verſammlungen und deren Mitglieder. I. StGB. §. 105. II. StGB. §. 106405
  • 3. §. 98. Strafbare Handlungen in Beziehung auf das politiſche Wahl - oder Stimmrecht. I. Verhinderung an der Ausübung deſſelben. II. Fälſchung des Wahlergebniſſes. III. Stimmen - kauf406
  • 4. §. 99. Widerſtand gegen die Staatsgewalt. I. Gewalt gegen Beamte. II. Aufruhr und Auf - lauf. III. Gewalt gegen Forſt - od. Jagdbeamte u. ſ. w. IV. Befreiung von Gefangenen407
  • 5. §. 100. Die ſtrafbaren Aufforderungen. I. Oeffent - liche Aufforderung zum Hochverrat. II. Zum Ungehorſam. III. Zu einer ſtrafbaren Handlung. IV. Zur Aufbringung von Geldſtrafen. V. StGB. §. 49 a. (Duchesne-Paragraph) 413
  • XIX
  • Seite
  • 6. §. 101. Mißachtung der Autorität der Staats - gewalt. I. Schmähung von Staatseinrichtungen. II. Amtsanmaßung. III. Bruch des ſtaatlichen Gewahrſams an Urkunden. IV. Beſchädigung u. ſ. w. von amtlichen Anſchlägen; V. von Autori - täts - oder Hoheitszeichen. VI. Verletzung amt - licher Siegel. VII. Arreſtbruch417
  • III. Gegen den Gang der Staatsverwaltung.
  • 1. §. 102. Gegen die Staatsverwaltung überhaupt: die falſche Ausſage. I. Allgemeines. II. Arten. III. Die unternommene Verleitung zum Meineid. IV. Die Verleitung zum Falſcheid. V. Strafmilderungs - und Strafaufhebungsgründe. VI. Nebenſtrafe420
  • 2. §. 103. Gegen die Rechtspflege. I. Eidesbruch. II. Veröffentlichung von Schriftſtücken eines Strafprozeſſes. III. Verletzung der Dingpflicht. IV. Nichtanzeige von Verbrechen. V Falſche Anſchuldigung. VI. Begünſtigung und Hehlerei426
  • 3. §. 104. Gegen die Verwaltung des Reichskriegs - weſens. I. Verleitung von Militärperſonen zum Ungehorſam. II. Falſchwerbung. III. Ver - leitung zur Deſertion und Beförderung derſelben. IV. Untauglichmachung zum Wehrdienſt. V. Arg - liſtige Wehrpflicht-Entziehung. VI. Verletzung der Wehrpflicht durch Auswanderung. VII. Ueber - tretung des Kriegsleiſtungs-Geſetzes vom 13. Juni 1873. VIII. Uebertretung des Feſtungsrayons - Geſetzes vom 21. Dezember 1871432
  • 4. §. 105. Gegen die ſtaatliche Ueberwachung des Geld - und Banknotenumlaufes. Ueber - tretung I. des Münzgeſetzes vom 9. Juli 1873; II. des Reichsbankgeſetzes vom 14. März 1875. 435
  • 5. §. 106. Gegen die ſtaatliche Ueberwachung des Geſundheitsweſens. I. StGB. §. 327. II. Verletzung der zur Verhütung von Viehſeuchen getroffenen Anordnungen (StGB. §. 328; Rinderpeſtgeſetz vom 21. Mai 1878; Desinfektions - geſetz vom 25. Februar 1876; Viehſeuchengeſetz vom 23. Juni 1880). III. Uebertretung des Reichsimpfgeſetzes vom 8. April 1874438
  • XX
  • Seite
  • 6. §. 107. Gegen die ſtaatliche Beaufſichtigung des Preßweſens (die Preßpolizeidelikte) 442
  • 7. §. 108. Uebertretungen der zum Schutze gegen die ſozial-demokratiſche Bewegung ge - troffenen ſtaatlichen Anordnungen. (Sozialiſtengeſetz vom 21. Oktober 1878.) 443
  • 8. §. 109. Gegen die ſtaatliche Ueberwachung des Aſſoziationsweſens. I. StGB. §. 128. II. StGB. §. 129. III. Hülfskaſſengeſetz vom 7. April 1876. IV. Genoſſenſchaftsgeſetz vom 4. Juni 1868446
  • 9. §. 110. Gegen die ſtaatliche Regelung des Ge - werbeweſens. Uebertretungen der Gewerbe - ordnung vom 21. Juni 1869. 448
  • 10. §. 111. Gegen den ſtrafrechtlichen Schutz des Eiſenbahn - nnd Poſtweſens450
  • 11. §. 112. Gegen den ſtrafrechtlichen Schutz des Schiffahrtsweſens. I. Uebertretung des Bundesflaggengeſetzes vom 25. Oktober 1867. II. Verletzung des Regiſtrierungsgeſetzes vom 28. Juni 1873. III. Uebertretung des Schiffs - meldungsgeſetzes vom 25. März 1880. IV. StGB. §. 145. V. Verletzung der Ver - pflichtungen zur Mitnahme hülfsbedürftiger See - leute. (Geſetz vom 27. Dezember 1872.) VI. Uebertretung der Strandungsordnung vom 17. Mai 1876. VII. Uebertretung der Seemanns - ordnung vom 27. Dezember 1872. 451
  • 12. §. 113. Strafbare Handlungen gegen das Reichs - finanzweſen. I. Quellen. II. Die Gruppen der hieher gehörenden Delikte. III. Charakte - riſtiſche Eigentümlichkeiten derſelben455
  • Paragraphenregiſter.
  • 1. Reichsſtrafgeſetzbuch460
  • 2. Die ſtrafrechtlichen Nebengeſetze460
  • Regiſter zu den Nebengeſetzen465
  • Alphabetiſches Sachregiſter467
[XXI]

Abkürzungen.

  • Abſ. = Abſatz. Anm. = Anmerkung.
  • E. ſiehe RGR.
  • GA. = (Goltdammer’s) Archiv für ge - meines deutſches und für preußiſches Strafrecht.
  • Geſ. = Geſetz.
  • GS. = Gerichtsſaal, Zeitſchrift f. Straf - recht und Strafprozeß (v. Schwarze).
  • HR. = v. Holtzendorff’s Rechtslexikon, 3. Aufl.
  • Liszt Preßrecht = Liszt, das deutſche Reichspreßrecht. Berlin 1880.
  • R. ſiehe RGR.
  • RGR. = Entſcheidung des Reichsgerichts; citiert ſowohl nach der von den Mit - gliedern der Reichsanwaltſchaft als nach der von Mitgliedern des Reichs - gerichts herausgegebenen Sammlung; erſtere iſt mit R., letztere mit E. be - zeichnet, bei beiden iſt Datum der Ent - ſcheidung, Nummer des Bandes und Seitenzahl angeführt.
  • RStGB. = Reichsſtrafgeſetzbuch.
  • StrPO. = Strafprozeßordnung.
  • Vdg. = Verordnung.
  • Vgl. = Vergleiche.

Druckfehler.

  • S. 9 Zeile 11 von oben lies zweimal: Verbote ſtatt Gebote.
  • S. 39 letzte Zeile iſt einzufügen: 54 a. Geſ. vom 25. März 1880, betreffend die Schiffsmeldungen bei den Konſulaten des deutſchen Reichs.
  • S. 142 Zeile 19 von oben lies: Handlungen ſtatt folgen.
  • S. 189 Zeile 22 nach Vollſtreckung einzufügen: der.
  • S. 237 Anm. 4 Zeile 3 lies vorherſehen ſtatt vorher geſehen.
  • S. 356 am Ende anzufügen: (StGB. §. 152).
  • S. 359 Zeile 6 von oben lies §. 270 ſtatt §. 269.

Der von den Amtsdelikten handelnde §. 92 iſt wiederholt irrigerſeits als §. 93 citiert.

[XXII]
[1]

Einleitung.

I. Die Grundbegriffe.

§. 1. Das Strafrecht.

I. Strafrecht im ſubjektiven Sinne iſt Recht zu ſtrafen, jus puniendi. Dieſes Recht ſteht nicht nur dem Staate, ſondern innerhalb der vom Staate gezogenen aller - dings ſehr eng geſteckten Grenzen auch dem Einzelindivi - duum (in Haus und Schule) ſowie den verſchiedenſten Gruppen von Einzelindividuen zu (Kirchen, Vereinen und Geſellſchaften, Vertretungs-Körpern uſw.). Wir haben es in dieſer Schrift nur mit dem ſtaatlichen Strafrecht zu thun.

Aber giebt es ein ſtaatliches Straf-Recht? Kann von einem Recht, als der, von der rechtſetzenden Gewalt ge - währten und gewährleiſteten Willensmacht dort geſprochen werden, wo der Träger der gewährten Willensmacht zugleich der Gewährende iſt? Paßt der Begriff des ſubjektiven Rechtes überhaupt auf die Willensmacht des Staates?

Die Beſeitigung dieſes Einwandes iſt von grundlegender Bedeutung.

Die an ſich ſchrankenloſe, der juriſtiſchen Faſſung ſpot - tende Strafgewalt des Staates wird zum ſtaatlichen Strafrechte durch Selbſtbeſchränkung. Die rechtſetzendevon Liszt, Strafrecht. 12Einleitung. I. Die Grundbegriffe.Gewalt ſetzt ſich ſelber Recht, indem ſie Vorausſetzung und Inhalt ihrer Bethätigung normirt. Das ſtaatliche Strafrecht im ſubjectiven Sinne iſt die rechtlich begrenzte Strafgewalt des Staates. Und der Inbegriff jener Rechtsſätze, durch welche die Ausübung der an ſich unbeſchränkten Strafgewalt des Staates nach Vor - ausſetzung und Inhalt begrenzt wird, bildet das Strafrecht im objektiven Sinne.

II. Damit gewinnen wir zwei weitere Grundbegriffe. Durch die Beſtimmung der Vorausſetzungen, an deren Vorliegen der Staat die Ausübung ſeiner Strafgewalt knüpft, entſteht der Begriff des Verbrechens; durch die Beſtim - mung dieſer Ausübung nach Maß und Inhalt der Begriff der Strafe (im juriſt. Sinne). Die Klarlegung beider Be - griffe bildet die Hauptaufgabe des allgemeinen Theils der Strafrechtswiſſenſchaft; während dem beſonderen Theile die Darſtellung der einzelnen Verbrechen und der an dieſelben geknüpften Strafen zufällt.

In den folgenden Paragraphen ſoll durch kurze, aber zuſammenhängende Entwicklung der beiden Begriffe Ver - brechen und Strafe die Grundlage für die eigentliche Darſtellung gewonnen werden. 1Vgl. dazu insbeſ. Binding die Normen; Thon Rechtsnorm und ſubjektives Recht; Ihering der Zweck im Recht; ſowie über - haupt die durch dieſe Werkehervorgerufene Literatur. Aus jüngſter Zeit Hertz das Unrecht und die allgem. Lehren des Strafrechts.

§. 2. Die Strafe.

I. Staat und Recht ſind um der Menſchen willen da. 3Die Strafe. § 2.Das Recht bezweckt den Schutz derjenigen Intereſſen, zu deren Schutz und Förderung die Einzelnen zur ſtaatlichen Gemeinſchaft zuſammengetreten ſind; wir können dieſe vom Recht, dem Geſammtwillen der Gemeinſchaft, geſchützten In - tereſſen als Rechtsgüter bezeichnen. Das Recht erreicht ſeinen Zweck, Rechtsgüterſchutz zu ſein, durch den Zwang in der doppelten Form: des direkten phyſiſchen Zwanges, der unmittelbaren Gewalt einerſeits; andererſeits des indi - rekten pſychiſchen Zwanges, der Motivation.

Auf dem Gebiete des Strafrechtes tritt uns der Zwang entgegen in der Geſtalt der Strafe. Die Strafe iſt ſtaat - licher Zwang zum Zwecke des Rechtsgüterſchutzes. Und zwar iſt ſie Rechtsgüterſchutz durch Rechtsgüterver - letzung; indem ſie beſtimmte Rechtsgüter, deren Träger der Verbrecher iſt, ſchmälert oder vernichtet, ſichert ſie die Rechts - güter der übrigen. Das iſt der konſtante Beſtandtheil, der weſenhafte Kern aller jener nach Zeit und Volk wechſelnden Erſcheinungsformen, welche die Strafe im Laufe der geſchicht - lichen Entwickelung angenommen hat.

II. Die Strafe erreicht ihren Zweck Rechtsgüterſchutz zu ſein auf zweifachem Wege.

1. Als mittelbarer Zwang oder Motivation durch Ver - mehrung und Kräftigung der den Einzelnen vom Verbrechen abhaltenden Motive; und zwar indem

  • a) die Androhung der Strafe abhaltend (abſchreckend und warnend) wirkt;
  • b) der Vollzug der Strafe die Wirkung der Androhung, dem beſtraften wie allen anderen gegenüber, ſichert oder potenzirt (Spezial - und Generalpräven - tion);
  • c) der Vollzug der Strafe unter günſtigen Umſtänden4Einleitung. I. Die Grundbegriffe.das labil gewordene ſittliche Gleichgewicht des Ver - brechers zu einem ſtabilen macht (Beſſerung).

2. Als unmittelbarer Zwang oder phyſiſche Gewalt durch dauernde oder vorübergehende Sequeſtrirung des Verbrechers (Sicherung).

III. Art und Maß der Strafe hat ſich daher lediglich nach dem im Einzelfalle angeſtrebten Ziele zu richten. Die Strafe muß eine andere ſein nach Inhalt und Umfang, wenn ſie präveniren, eine andere wenn ſie beſſern, eine andere wenn ſie ſichern ſoll. Allerdings huldigt die moderne Straf - geſetzgebung nur ſelten und meiſt unbewußt dieſem Gedanken; ſie behandelt den unverbeſſerlichen Gewohnheitsdieb und den reuezerknirſchten Gelegenheitsverbrecher nach derſelben Scha - blone.

Aber die ſcharfe Betonung des Zweckmomentes im Recht überhaupt und in der Strafe insbeſondere findet immer zahlreichere und immer bedeutendere Anhänger. Und die Zeit iſt hoffentlich in nicht allzu ferner Zukunft vorüber, in welcher die Forderung, daß die Staatsgewalt nicht ziel - und zwecklos die Rechtsgüter der Rechtsgenoſſen vernichte, als rationaliſtiſcher Dilettantismus abgefertigt werden kann.

Einer weiteren Rechtfertigung der Strafe, als des Nachweiſes ihrer Tauglichkeit zum Zwecke und ihrer Unent - behrlichkeit bedarf es nicht. Wer dem Staate den Nachweis ſeiner Berechtigung zu ſtrafen auferlegt, verkennt, daß der Begriff des Rechtes aus dem des Staates abzuleiten iſt und nicht umgekehrt, daß das Recht im ſubjektiven Sinne ein Wollen-Dürfen iſt, und die Grenzen des Dürfens vom Staate beſtimmt werden.

Die eben beſprochene Auffaſſung der Strafe entrückt das Strafrecht dem Streite über die menſchliche Willensfreiheit. 5Die Norm. § 3.Sie ſetzt nicht Freiheit des Wollens, ſondern Beſtimmbar - keit durch Motive voraus, und dieſe wird von keiner Seite geleugnet. Die Strafe iſt nach ihr nicht nur verträglich mit dem Determinismus, der auch die menſchliche Handlung dem allgemeinen Kauſalgeſetze unterwirft, ſondern erhält erſt durch ihn ihre feſte praktiſche Grundlage. Denn gerade wenn die Handlung notwendiges Produkt ihrer Faktoren iſt, gerade wenn ſie, dem Kräfteparallelogramme gemäß, not - wendig in der Richtung des ſtärkſten Motives erfolgt, kann durch Einführung neuer Faktoren in der Geſtalt neuer Mo - tive, ſowie durch Verſtärkung der in den gegebenen Faktoren vorhandenen motivirenden Kraft die Richtung der Handlung beſtimmt werden. 1Vgl. unten §. 25 die Lehre von der Zurechnungsfähigkeit. Dazu Hertz das Unrecht uſw. I S. 119 ff.

§. 3. Die Norm.

I. Wir haben als einen der Wege, auf welchen die Strafe ihren Zweck, den Schutz der Rechtsgüter, erreicht, die Androhung der Strafe bezeichnet. Der Geſetzgeber verbietet oder gebietet bei Strafe gewiſſe Handlungen, deren Vornahme oder Unterlaſſung einen Angriff auf die zu ſchützenden Rechtsgüter in ſich ſchließt; er verſtärkt die moti - virende Kraft ſeiner Imperative durch das Gewicht der Strafdrohung. Löſen wir die Strafdrohung aus, ſo erhalten wir einen einfachen, ſei es negativen, ſei es poſitiven Im - perativ. Dieſen, den Strafrechtsſätzen zu Grunde liegenden, der Strafdrohung entkleideten, ſtaatlichen Imperativ nennen wir die Norm. Die Norm gehört durchaus nicht nur dem6Einleitung. I. Die Grundbegriffe.Gebiete des Strafrechtes an; ſie ſpielt aber allerdings hier ihre bedeutendſte Rolle. Ohne klare Erkenntnis der Funk - tionen, welche die Norm auf dem Gebiete des Strafrechtes zu erfüllen hat, iſt tieferes Verſtändniß des Strafrechtes ſelbſt kaum möglich. Es iſt Binding’s bleibendes Verdienſt, nicht zuerſt aber am beſtimmteſten und konſequenteſten die Bedeutung der Norm betont zu haben.

II. Wir haben an dieſer Stelle zuerſt das Verhältnis der Normen zu den zu ſchützenden Rechtsgütern ins Auge zu faſſen.

1. Der Geſetzgeber kann ſich damit begnügen, ein be - ſtimmtes Intereſſe einfach unter ſeinen Rechtsſchutz zu ſtellen, es zu einem Rechtsgute zu erklären. Er verbietet dadurch nicht notwendig bei Strafe jede gegen das Rechtsgut gerichtete, wie immer geartete, Handlung. So entſtehen die allgemeinen, immer negativen Normen: Du ſollſt nicht töten, an fremdem Eigentum Dich nicht vergreifen, die Ehre Deines Mitbürgers nicht verletzen uſw.

2. Der Geſetzgeber kann aber auch gewiſſe, von ihm beſtimmt bezeichnete Handlungen verbieten, weil ihre Vornahme regelmäßig, wenn auch nicht immer, eine Ver - letzung oder Gefährdung des zu ſchützenden Rechtsgutes im Gefolge hat. Dann iſt dieſe Handlung verboten, auch wenn ſie im konkreten Falle die regelmäßige Wirkung nicht nach ſich zieht. So iſt der Handel mit Gift ohne polizeiliche Er - laubnis (StGB. §. 367 Nr. 3) im Intereſſe der körperlichen Sicherheit verboten auch dann, wenn der Handeltreibende durch die von ihm ergriffenen Vorſichtsmaßregeln jede Ge - fahr im konkreten Falle ausgeſchloſſen hat. Auch einzelne der ſog. gemeingefährlichen Delikte ſo z. B. die Brunnen - vergiftung des §. 324 StGB. gehören in dieſe Gruppe. 7Die Norm. § 3.Binding nennt dieſe Normen treffend Ungehorſamsver - bote. Wenn wir die unter 1 beſprochenen allgemeinen Normen als erſte allgemeine Umwallung des Rechtsgutes, als Hauptwall uns vorſtellen wollen, ſo können wir die Normen der zweiten Gruppe mit Ravelins vergleichen, die über den Hauptwall an einzelnen Stellen vorſpringen.

3. Der Geſetzgeber gebietet endlich einzelne beſtimmte Handlungen, weil ihre Unterlaſſung regelmäßig, wenn auch nicht immer, eine Verletzung oder Gefährdung des Rechts - gutes in ſich birgt: Gehorſamsgebote nach Binding. Bei unſerem Bilde bleibend, könnten wir vielleicht von de - tachirten Forts ſprechen. Der letzte Abſchnitt des StGB. ’s, die ſtrafrechtlichen Nebengeſetze des Reichs, ſowie die Polizei - ſtrafgeſetzgebung der Länder bieten zahlreiche Beiſpiele. Man denke an das Gebot des Raupens, des Reinigens der Schorn - ſteine, den Impfzwang, die Verpflichtung zur Desinfektion bei Eiſenbahnviehtransporten uſw. Es ſei ausdrücklich be - tont, daß auch dieſe Gebote negative Bedeutung haben, nicht zur Förderung, ſondern zum Schutze der Rechtsgüter da ſind.

4. Es geſchieht aber auch häufig, daß der Geſetzgeber mehrere Rechtsgüter durch eine und dieſelbe Norm ſchützt. Aus dem bisher Geſagten geht zur Genüge hervor, daß dies nur durch Normen geſchehen kann, die den unter 2 und 3 beſprochenen Gruppen angehören. Beſondere Beach - tung verdienen hier diejenigen Normen, durch welche der Geſetzgeber ſich gegen gewiſſe Arten des Angriffes wendet, ohne der Richtung des Angriffes auf ein beſtimmtes Rechts - gut begriffliche Bedeutung beizulegen. So ſind Münzfäl - ſchung oder Urkundenfälſchung verboten, weil ſie an Münzen und Urkunden, dieſen wichtigen Trägern des rechtlichen Ver -8Einleitung. I. Die Grundbegriffe.kehrs, begangen, nach den verſchiedenſten Richtungen hin ſtörend in die Rechtsgüterwelt eingreifen. So ſind durch das Verbot von Brandſtiftung und Ueberſchwemmung, alſo durch je eine Norm, Leben und Eigentum geſchützt.

III. Umfang der imperativen Kraft der Normen.

1. Normwidrig iſt jeder der Norm widerſprechende Zu - ſtand, ohne Rückſicht auf die Urſachen, die ihn herbeigeführt haben: das ſchuldhafte Unrecht wie das ſchuldloſe Nicht - Recht (vgl. unten §. 17 III), und innerhalb des erſteren die vorſätzliche wie die fahrläſſige Uebertretung der Norm. Es gibt keine beſonderen Fahrläſſigkeits - Normen (vgl. unten §. 29). Und zwar gilt dieſer Satz gleichmäßig für alle Normen-Gruppen. Dabei ſei ſchon hier betont (vgl. unten §. 4 I), daß mit der Normwidrigkeit die Strafbarkeit verbunden ſein kann, nicht muß.

2. Normwidrig iſt aber nicht nur die Herbeiführung (bez. Hinderung) des Zuſtandes ſelbſt, deſſen Herbeiführung die Norm verbietet (bez. gebietet), ſondern jede Veränderung der Außenwelt, welche die Gefahr des Uebertretenwerdens der Norm in ſich ſchließt. Der Begriff der Gefahr, in jüngſter Zeit lebhaft angegriffen (von Hertz) iſt für das Strafrecht unentbehrlich; er iſt aber auch, ſobald wir ſeine Entſtehung im Auge behalten, ein durchaus wiſſenſchaftlicher juriſtiſch faßbarer Begriff. Wir nennen immer im Hin - blicke auf einen beſtimmten Erfolg Gefährdung1Feſte Terminologie iſt un - erläßlich. Ich nehme Gefähr - dung als größere Gefahr. Ge - fahr würde vorliegen, wenn auch nur in einem kleinen Perzent -ſatze von Fällen, Gefährdung dann, wenn ſagen wir in über 50 % der Fälle der Erfolg ein - zutreten pflegte. jenen9Das Verbrechen. § 4.Zuſtand, der nach unſerer Erfahrung in der Mehrzahl der Fälle zum Erfolge führt. Bei genügender In - duktion könnten wir die Größe der Gefahr ſogar ziffermäßig (in Perzenten) beſtimmen. Iſt es ſicher geworden, daß der Erfolg nicht eintreten werde der aus dem Fenſter des 3. Stockes Geſtürzte iſt ohne ſchwere Verletzung unten ange - kommen ſo können wir, uns in einen früheren Zeitpunkt zurückverſetzend, die in dieſem vorhandene Gefahr beurteilen. Wir werden dieſem Begriffe wiederholt begegnen. Hier ge - nügt die Bemerkung, daß es beſondere Gefährdungs - gebote nicht giebt, daß ſie in den Verletzungsgeboten mit enthalten ſind (a. A. Binding). Das hindert den Geſetzgeber nicht (unten §. 4 I), nur die Verletzung, das wirkliche Ueber - tretenſein der Norm, mit Strafe zu belegen.

3. Aber die imperative Kraft der Norm greift noch weiter. Normwidrig, eine Uebertretung der Norm, iſt jede auf Verletzung der Norm gerichtete Handlung ohne Rück - ſicht auf ihren Erfolg. Die verſuchte Normübertretung iſt Normübertretung, mag ſie auch vom Geſetzgeber nicht mit Strafe bedroht ſein. Die Normwidrigkeit des Verſuches einer Normübertretung folgt aus der Exiſtenz dieſer Norm. Mit a. W.: es giebt keine beſonderen, den Verſuch verbietenden Normen und es bedarf keiner ſolchen (vgl. unten §. 32).

§. 4. Das Verbrechen.

Formell betrachtet, iſt Verbrechen jener Thatbeſtand, an welchen das objektive Recht den Eintritt der Strafe als Rechtsfolge knüpft. Wir haben hier zunächſt das Weſen dieſer Thatbeſtände und dann den Grund feſtzuſtellen, aus10Einleitung. I. Die Grundbegriffe.welchem der Geſetzgeber gerade gewiſſe Thatbeſtände zu Vorausſetzungen für den Eintritt ſeiner Strafgewalt erklärt.

I. Jedes Verbrechen erſcheint zunächſt als eine Ueber - tretung des der Strafdrohung zu Grunde liegenden Impe - rativs. Die ſchuldhafte Uebertretung einer ſtaat - lichen Norm nennen wir (mit Binding) Delikt. Jedes Verbrechen iſt alſo Delikt und muß alle Merkmale desſelben an ſich tragen. Aber noch ein Merkmal mehr: Verbrechen iſt das mit Strafe belegte Delikt. Nicht jedes Delikt iſt mithin Verbrechen. 1Zum Folgenden vgl. Binding Normen.

1. In weitaus den meiſten Fällen bedroht der Geſetz - geber vielmehr nur die durch irgend einen Umſtand quali - fizirte Normübertretung mit Strafe. So iſt jede Kuppelei Delikt, aber nur die gewohnheitsmäßig oder aus Eigennutz begangene iſt Verbrechen (StGB. §. 180).

2. In anderen Fällen muß zu der Normübertretung die Erfüllung einer weiteren, ganz außerhalb dieſer liegenden Bedingung hinzutreten, um die Strafbarkeit des Deliktes herbeizuführen: ſo der Antrag des Verletzten, oder die Ver - bürgung der Gegenſeitigkeit (StGB. §§. 102, 103); Straf - drohung einer auswärtigen Geſetzgebung (StGB. §. 4 Nr. 3); Auflöſung oder Scheidung einer Ehe (StGB. §§. 170, 172, 238); Oeffentlichkeit der Verübung (StGB. §. 183 u. A.) uſw. Es ſind dieß die doppelt bedingten Strafdrohungen, wie Binding ſie genannt hat.

3. Insbeſondere aber iſt der Umſtand ins Auge zu faſſen, daß an die Uebertretungen einer und derſelben Norm je nach der verſchiedenen Qualifikation der Uebertretung ver - ſchiedene Straffolgen geknüpft ſein können, ſo daß dem einen11Das Verbrechen. § 4.Delikte vielleicht eine ganze Reihe von Verbrechen kor - reſpondirt. So bildet das Recht aus dem Delikt der Tötung folgende Verbrechen: Mord, Todſchlag, Tötung auf Verlangen, Kindesmord, fahrläſſige Tötung, Tötung im Zweikampf, im Raufhandel, bei Gelegenheit eines Ver - brechens, Körperverletzung mit tötlichem Ausgange uſw.

II. So kann alſo die Norm, die dem Strafgeſetze zu Grunde liegt, eine von dieſem losgelöſte Exiſtenz führen, ihre eigene Geſchichte haben. Sie kann da ſein, lange ehe ein Strafgeſetz exiſtirt; aber ihr Untergang zieht auch das Straf - geſetz mit ſich.

Am deutlichſten vielleicht tritt dieſe Unabhängigkeit hervor in den ſog. Blankettſtrafgeſetzen nach Binding ( blinde Strafdrohungen nennt ſie Heinze). Es ſind jene, in welchen der Geſetzgeber eine Strafe knüpft an die Uebertretung einer Norm, die von einer anderen Gewalt erlaſſen iſt oder er - laſſen werden ſoll. Beiſpiele bieten StGB. §§. 145, 327 u. A. mehr.

III. Und nun fragen wir uns: Warum knüpft der Geſetzgeber an gewiſſe Delikte die Strafe als Rechtsfolge? Dieſe Frage ſchließt zwei Unterfragen in ſich. Eine nega - tive: warum nur an gewiſſe Delikte? eine poſitive: warum gerade an dieſe gewiſſen Delikte? Und da jedes Verbrechen Delikt iſt, ſo können wir die Frage auch ſo ſtellen: Wodurch unterſcheidet ſich das mit Strafe belegte Delikt (das ſog. kriminelle Unrecht) von dem nicht mit Strafe belegten (dem ſog. civilen Unrecht)? 2Vgl. insbeſ. Merkel krim. Abhandlungen 1867; die übrigeLiteratur bei Meyer Lehrb. S. 1 Note 1.

1. Die Strafe iſt Rechtsgüterſchutz durch Rechtsgüter -12Einleitung. I. Die Grundbegriffe.verletzung. Der Schutz den ſie gewährt, iſt theuer erkauft. 3Wahlberg krimin. u. nationalökon. Geſichtspunkte. 1872.Der Staat ſchneidet in ſein eigenes Fleiſch, um ſeine Rechts - güter zu wahren. Die Strafe iſt, war und wird ſein ein Uebel nicht nur für den Betroffenen, ſondern auch für die Gemeinſchaft. Nur dann alſo und nur ſoweit wird dieſe eigentümliche Art des Rechtsgüterſchutzes gerechtfertigt, d. h. dem Intereſſe der Gemeinſchaft entſprechend ſein, wenn ſie und ſoweit ſie unbedingt notwendig iſt zum Schutze der bedrohten Rechtsgüter. Sie iſt das äußerſte Mittel, die ultima ratio des Staates. Daher die von jeher, wenn auch nicht immer bewußt, hervortretende Tendenz der Geſetz - gebung, das Gebiet des mit Strafe belegten Unrechts auf das möglich kleinſte Maß einzuengen.

2. Die Grenzen dieſes Gebietes aber werden beſtimmt durch die Gefährlichkeit der einzelnen Delikte. Wolge - merkt: durch ihre Gefährlichkeit in abſtrakto nicht in konkreto. Verbrechen iſt die von Seiten der Geſetzgebung konſtatirte Gefährdung der Lebensbedingungen der Geſellſchaft (Ihering, Zweck im Recht). Der Geſetz - geber verbietet jedes Delikt, aber nur das gefährliche ver - bietet er bei Strafe.

Die Gefährlichkeit kann liegen:

a) In der Unerſetzlichkeit des angegriffenen Rechts - gutes (das Leben, die Geſchlechtsehre des Weibes).

b) In dem Werte des Rechtsgutes für die betr. Rechts - gemeinſchaft; richtiger, in der (häufig ſehr ſubjektiven) Wert - ſchätzung durch die rechtſetzenden Faktoren. Man denke an die verſchiedene Ausbildung des Strafrechts im theokra - tiſchen und im Kriegerſtaate, in der despotiſchen Monarchie13Das Verbrechen. § 4.und dem republikaniſchen Gemeinweſen, im Agrikultur - und im Induſtrieſtaate uſw.

c) In der Art des Angriffes. Von den beiden Hauptarten: Trug und Gewalt, fraus und vis, tritt bald die eine, bald die andere, je nach Volkscharakter und Zeit - verhältniſſen, als die gefährlichere in den Vordergrund. Man vergleiche das Verhältnis des Raubes zum Diebſtal nach altdeutſcher und nach moderner Auffaſſung.

d) In der Häufigkeit des Angriffes. Das Ueber - handnehmen gewiſſer Delikte (Fälſchung von Nahrungsmit - teln, ſozial-demokratiſche Umtriebe, Wucher uſw. ) kann die Geſetzgebung veranlaſſen, den ſtrafenden Arm zu erheben. Nur mag ſie Eines dabei nicht vergeſſen: die Strafe be - deutet in dieſem Falle ſymptomatiſche Behandlung eines tieferliegenden ſozialen Leidens; und dieſe iſt auf die Dauer erfolglos, wenn ſich mit ihr nicht die Bekämpfung der Krank - heitsurſache verbindet. Hebung des Volkswohlſtandes und der Volksbildung, freiheitliche Einrichtungen, die das Intereſſe des Einzelnen mit dem der Geſammtheit inniger verknüpfen, Entfaltung all der poſitiven Kräfte, die der Staatsverwaltung in ſo reichem Maße zur Verfügung ſtehen: ſie allein können die Krankheitsurſache beſeitigen und mit ihr die Symptome.

3. Aus dem Geſagten folgt die durch die Geſchichte auf das Glänzendſte beſtätigte Konſequenz, daß die Grenzlinie zwiſchen dem kriminellen und dem civilen Unrechte nicht durch aprioriſtiſche Konſtruktion gefunden und gezogen werden kann; daß ſie vielmehr eine durch wechſelnde Faktoren beſtimmte und darum ſchwankende ſein muß. Dieſe Anſicht, zu der ſich Geib, Wahlberg, Merkel, Heinze, Binding, Geyer, Thon, Ihering, Dahn u. A. bekennen, iſt eine der ſchönſten Errungenſchaften der modernen Strafrechtswiſſenſchaft.

14Einleitung. I. Die Grundbegriffe.

§. 5. Urſächlicher Zuſammenhang von Verbrechen und Strafe.

I. Wir haben die Strafe aufgefaßt als die bewußte und durch die Zweckvorſtellung beſtimmte Reaktion des Staates gegen das Verbrechen. Wir haben das Zweck - moment auch in den Begriff der Strafe hineingetragen. Beſtätigt ſich dieſe Anſicht, wenn wir die Geſchichte der Strafe befragen?

Die Geſchichte giebt uns nach meinem Dafürhalten keinen Anlaß, unſere Anſicht irgendwie zu ändern. Wol aber ge - währt ſie uns auf unſere Frage einen tiefen, viel zu wenig beachteten Einblick in die Entſtehung und in die Ent - wicklung der Strafe.

Das, was ſie heute iſt, war die Strafe nicht immer. Sie war und nicht nur in der Urgeſchichte der Menſch - heit blinde, inſtinktartige Reaktion gegen äußere Störung der Lebensbedingungen des Einzelnen oder der be - reits vorhandenen Gruppen von Einzelindividuen. Sie ruht in ihren letzten Wurzeln auf dem Rachetrieb (dem ressentiment Dühring’s),1Kurſus der Philoſophie. 1875. der nur eine beſondere Form des Selbſt - erhaltungstriebes iſt. Nichts liegt ihr in dieſem Sta - dium ferner, als Beſtimmbarkeit durch die Zweckvorſtellung. Die in unſeren Tagen ſo beliebten Analogien mit der Thier - welt liegen nahe genug; der genetiſche Zuſammenhang mit ihnen mag dahingeſtellt bleiben. Und auf verwandte Erſchei - nungen in der anorganiſchen Natur zurückgreifen,2Schütze Lehrbuch (Elaſti - zität). hieße mit Worten, nicht mit Begriffen operieren.

15Urſächl. Zuſammenhang von Verbrechen u. Strafe. § 5.

Aber wie im Laufe der Entwicklung des Einzelindividuums die (unwillkürliche) Reflexbewegung ſich umſetzt in eine will - kürliche, d. h. bewußte und durch Vorſtellungen beſtimmte Be - wegung, ſo iſt die Aeußerung des Rachetriebes durch eine allmählige Summirung von quantitativen Differenzen zu einem qualitativ Anderen, zur modernen Strafe ge - worden. Wer die Möglichkeit einer ſolchen Differenzirung leugnet, verkennt eine der wichtigſten Konſequenzen der Ent - wicklungslehre.

Wie dieſe Entwicklung vor ſich gegangen, von Stufe zu Stufe; wie das eigene Intereſſe zur Zügelung des Rache - triebes zwingt, wie durch die werdende und erſtarkende Staatsgewalt die Privatrache in immer engere Grenzen ge - bannt und endlich durch die ſtaatliche Reaktion erſetzt wird; wie die ſtaatliche Strafgewalt durch Selbſtbeſchränkung ſich in das Strafrecht des Staates umſetzt; wie durch die vor - angehende Drohung der Strafe, durch Ausbildung eines vielgliedrigen Strafenſyſtems, durch rationellen Strafvollzug das Zweckmoment in der Strafe zu immer weiterer und immer ſtärkerer Herrſchaft gelangt: das hat nicht unſer Lehrbuch, das hat die noch nicht geſchriebene Geſchichte der Strafe zu ſchildern. An dieſer Stelle genügt der einfache Hinweis auf den Urſprung der Strafe und die allmälige Wandlung ihres Charakters. Das Lehrbuch hat es wie bisher, ſo auch fortan nur mit der Strafe in der heutigen Geſtalt zu thun.

II. Die vorgetragene Anſicht iſt weit davon entfernt, allgemein anerkannt zu ſein; kaum weniger weit davon ent - fernt, auf allgemeine Anerkennung zu rechnen. Herrſcht doch in wenigen Disziplinen geringere Uebereinſtimmung in Bezug auf Methode und Ausgangspunkt, als auf dem Gebiete der16Einleitung. I. Die Grundbegriffe.allgemeinen Rechtslehre, die berufen iſt, an Stelle der Rechtsphiloſophie zu treten.

Man pflegt die Unterſuchungen über Urſprung und Weſen der Strafe in nicht ganz paſſender Weiſe als Straf - rechtstheorien zu bezeichnen. Ihre Zahl iſt überaus groß. Seit Plato und Ariſtoteles haben Philoſophen und Juriſten an ihnen mit einer gewiſſen Vorliebe gearbeitet; den engliſch - franzöſiſchen Rationalismus der Aufklärungsperiode beſchäf - tigen ſie nicht weniger als die Spekulation zur Blüthezeit der deutſchen Philoſophie. Und in der That iſt eine theoretiſche oder praktiſche Handhabung des Strafrechtes ebenſowenig wie die legislative Geſtaltung desſelben möglich ohne Stellung - nahme zu den hier aufgeworfenen Fragen.

Im folgenden Paragraphen ſoll eine kurze Ueberſicht über die wichtigſten Strafrechtstheorien gegeben werden. Wenige Worte werden genügen, um unſere Stellung ihnen gegen - über zu beleuchten; zu eingehender Kritik iſt hier nicht der Ort. 3Treffliche Darſtellungen bei Berner Lehrbuch, Heinze in H. H. I, Wächter Beilagen, Binding Grundriß. Bei letz - terem S. 91 Litteraturangaben. Dazu etwa noch Jellinek die ſozial-ethiſche Bedeutung von Recht, Unrecht, Strafe. 1878.

§. 6. Die Strafrechtstheorien. 1Ich ſchließe mich in Bezug auf die Einteilung der Straf - rechtstheorien größtenteils an Heinze an. Bei dieſem ſiehe die Gründe gegen die gewöhnliche Einteilung in abſolute, relative und gemiſchte Theorien.

I. Zweckmäßigkeitstheorien (auch relative Intereſſen - oder Nutzungstheorien). Die Strafe iſt ihnen Mittel zum Zweck, zur Bekämpfung der Verbrechen und damit zum17Die Strafrechtstheorien. § 6.Schutze der Rechtsordnung; mit der Unentbehrlichkeit und Tauglichkeit des Mittels iſt ihnen die Rechtfertigung des ſtaatlichen Strafrechts gegeben. Punitur ne peccetur; der Dieb wird gehängt, nicht weil er geſtohlen hat, ſondern damit nicht geſtohlen werde. Einig in dieſem Grundgedanken, weichen die hieher gehörigen Theorien von einander ab in Bezug auf die Funktion, die ſie der Strafe zuweiſen.

1. Nach der alten, heute allgemein aufgegebenen, Ab - ſchreckungstheorie iſt es die Vollziehung der Strafe, welche, durch ihre abſchreckende Wirkung auf die Ge - ſammtheit der Staatsbürger der künftigen Begehung von Verbrechen entgegenwirken ſoll.

2. Dagegen will die Theorie des pſychiſchen Zwan - ges dasſelbe Ziel durch die Androhung der Strafe er - reichen. Die von dem Geſetze wachzurufende Vorſtellung des den Verbrecher erwartenden Strafübels ſoll der Vor - ſtellung der Luſt, welche ſich der Begehrende von der Be - gehung des Verbrechens verſpricht, gegenübertreten, das zu dem Verbrechen treibende Motiv ſoll durch ein Gegen - motiv von gleicher Stärke in ſeiner motivirenden Kraft ge - hemmt werden. Schon von Ariſtoteles angedeutet, von Hobbes (de cive 1643, Leviathan 1651) vollſtändig ent - wickelt, von Sonnenfels und anderen Schriftſtellern der Aufklärungszeit vertreten, hat dieſer Gedanke in Anſelm Feuerbach (1775 1833) den glänzendſten und einfluß - reichſten Vorkämpfer gefunden, ſo daß die Theorie ſelbſt wol als die Feuerbach’ſche bezeichnet wird.

Eine Abart derſelben iſt die Warnungstheorie Bauer’s (1830), nach welcher ſich die Strafdrohung nicht nur an die ſinnliche, ſondern auch an die ſittliche Natur des Menſchen wendet.

von Liszt, Strafrecht. 218Einleitung. I. Die Grundbegriffe.

3. Die Special-Präventions-Theorie, die Grol - man (1799) aufgeſtellt hat, verlegt das Schwergewicht wieder in die Vollziehung der Strafe, will aber durch die Beſtrafung des Einen nicht die Uebrigen, ſondern dieſen ſelbſt von künftiger Begehung ſtrafbarer Handlungen abhalten, ſeinen verbrecheriſchen Willen unter das Geſetz beugen.

4. Dasſelbe Ziel, aber auf anderem Wege, verfolgt die Beſſerungstheorie, die, neben Stelzer, Ahrens, Groos, Schleiermacher u. A., insbeſondere der vor Kurzem verſtorbene Röder in einer Reihe von Schriften verteidigt hat. Sie bezweckt Verhütung künftiger Verbrechen durch die Beſſerung des Verbrechers bei Vollſtreckung der Strafe. Die Reform des Strafvollzuges, insbeſondere des Gefängnisweſens, iſt zum guten Theile den Anhängern der Beſſerungstheorie zu danken.

Es iſt das große Verdienſt der Zweckmäßigkeitstheorien, das Zweckmoment in der Strafe betont zu haben. Sie kranken aber an einem doppelten Fehler. Sie verkennen einerſeits den hiſtoriſchen Urſprung, andrerſeits die moderne Geſtaltung der Strafe, die es möglich macht, auf verſchiedenem Wege dasſelbe Ziel anzuſtreben.

II. Die Rechtstheorien ſuchen das ſtaatliche jus pu - niendi zu rechtfertigen, indem ſie dasſelbe einer der vorhan - denen Rechtsfiguren, einem der allgemein anerkannten Rechts - ſätze, unterordnen. Dies vereinigt ſie zu einer gemeinſamen Gruppe, mögen ſie auch ſonſt den Zweckmäßigkeitstheorien oder den unter IV zu beſprechenden Vereinigungstheorien nahe ſtehen. Es iſt den Rechtstheorien nicht gelungen, über ſchiefe Analogien hinauszukommen. Von allen Theorien haben ſie den geringſten Werth.

1. Die Vertragstheorie, von Hobbes, Beccaria,19Die Strafrechtstheorien. §. 6.Rouſſeau, Fichte u. A. vertreten, leitet das ſtaatliche Recht zu ſtrafen ab aus einem Vertragsverhältniſſe. Durch den Bürgervertrag in ſeinen beiden Beſtandteilen wird die Grenze für den Gebrauch der individuellen Freiheit beſtimmt und gegenſeitiger Schutz der Rechte zugeſichert. Wer den Bürgervertrag bricht, verliert die durch dieſen ihm zugeſicherten Rechte und müßte aus der Rechtsgemeinſchaft ausgeſchloſſen werden, hätte er nicht in dem zu dem Bürger - vertrage hinzutretenden Abbüßungsvertrag das Recht erlangt, durch Abbüßung einer Strafe ſich des Lebens in der Geſellſchaft wieder fähig zu machen.

2. Nach der Notwehr - oder Verteidigungs - theorie, als deren Anhänger Schulze (1813), Martin, ſowie eine Reihe von franzöſiſchen und italieniſchen Schrift - ſtellern zu nennen ſind, leitet der Staat ſein Strafrecht ab aus der durch jedes Verbrechen erzeugten fortwirkenden Ge - fährdung ſeiner Rechtsordnung, und dem durch dieſen Zuſtand begründeten Notrechte, das Fortbeſtehen des Staates gegen jene Gefahr zu ſichern.

3. Die Vergütungs - oder Wiederherſtellungs - theorie Welcker’s (1790 1869) ſieht den Zweck der Strafe in der Wiederaufhebung des durch das Ver - brechen verurſachten intellektuellen Schadens (ſo, wie der civile Erſatz die Beſeitigung des bewirkten materiellen Schadens bezweckt), und den Rechtsgrund derſelben einerſeits in der Verpflichtung jedes Rechtsgenoſſen die von ihm be - wirkte Rechtsverletzung wieder gutzumachen, andrerſeits in dem Rechte und der Pflicht der Staatsgewalt, die Bürger eventuell zwangsweiſe zur Erfüllung dieſer Rechtspflicht anzuhalten.

Eine wenig gelungene Umarbeitung der Welcker - ſchen Ausführungen iſt Hepp’s Theorie der bürgerlichen20Einleitung. I. Die Grundbegriffe.Gerechtigkeit (1843 5). Auch in Wächter’s Anſichten (Beilage 17) iſt der Einfluß Welcker’s unverkennbar.

III. Die Notwendigkeitstheorien (Vergeltungs - oder Gerechtigkeitstheorien). Sie ſtimmen alle darin überein, daß die Strafe nicht eine vom Staate willkürlich mit dem Verbrechen verknüpfte politiſche Maßregel, ſondern notwendige Folge des Verbrechens iſt; daß ſie ganz abgeſehen von ihrer etwaigen Zweckmäßigkeit eintreten muß; daß geſtraft wird, weil verbrochen worden und nicht damit nicht verbrochen werde, und daß mithin die Vergangenheit und nicht die Zukunft Eintritt, Art und Maß der Strafe beſtimme. Die Vergel - tungstheorien gruppiren ſich je nach der verſchiedenen Be - gründung dieſer ihnen gemeinſamen Auffaſſung.

1. Die Strafe iſt ein Poſtulat der Vernunft, das Strafgeſetz ein kategoriſcher Imperativ; Maßſtab für Qua - lität und Quantität der Strafe das jus talionis. So Kant (Kritik der praktiſchen Vernunft 1788 und Metaphyſ. An - fangsgründe der Rechtslehre 1799). Ihm folgen C. S. Zachariae (1805) und Henke (1811) in dem vergeblichen Bemühen, Umfang und Inhalt der von dem Vergeltungs - prinzipe geforderten Strafe nach anderen für das praktiſche Leben verwertbareren Grundſätzen zu beſtimmen.

2. Nach Herbart (allgem. praktiſche Philoſophie 1808), dem ſich Geyer anſchließt, iſt die Strafe eine äſthetiſche Notwendigkeit, begründet in unſerem Mißfallen am Streite, an der durch das Verbrechen hervorgerufenen Un - gleichheit; Rückgang des gleichen Quantums Weh von dem Verletzten auf den Verletzer, alſo Wiederherſtellung der ge - ſtörten Gleichheit iſt Weſen und Zweck der Strafe.

3. Die Strafe als dialektiſche Notwendigkeit. Nach Hegel (Grundlinien der Philoſophie des Rechts 1821) iſt die21Die Strafrechtstheorien. §. 6.Strafe die Vernichtung des Verbrechens durch die begriff - liche Macht des Rechts. Das Recht iſt ihm das verwirk - lichte Reich der Vernunft, die äußere Exiſtenz des vernünftigen Weſens des Willens. Das Verbrechen, als die Negation des Rechts, iſt demnach in ſich nichtig, denn der rechtswidrige Wille iſt im Widerſpruche mit ſich ſelbſt. Die Strafe aber iſt die Offenbarung dieſer Nichtigkeit des Verbrechens, die Konſtatirung ſeiner Scheinexiſtenz; die Strafe iſt Negation der Negation des Rechts (als Negation des Verbrechens), mithin die Poſition, die Wiederherſtellung des Rechts. Hegel’s Theorie iſt von beſtimmendem Einfluſſe geweſen auf Manche der bedeutendſten Kriminaliſten, insbeſondere auf Köſtlin, Luden, Hälſchner und Berner; aber auch in v. Bar’s Reprobationstheorie (Grundlagen des Strafrechts 1869), Heinze’s Leiſtungstheorie, Kitz’s Resciſſionstheorie (1874) laſſen ſich die Einwirkungen Hegel’ſcher Grundge - danken nachweiſen.

4. Die Strafe als göttliches Gebot. Nach Stahl (Philoſophie des Rechts) und Anderen iſt der Staat dazu von Gott geſetzt, um die äußere ethiſche Ordnung auf Erden zu handhaben. Kraft dieſer Vollmacht übt er die Strafgerech - tigkeit, ſtellt er dem Verbrechen gegenüber die Herrlichkeit des Staates, auf dem der Abglanz der Gottheit ruht, wieder her durch die Niederwerfung desjenigen, der ſich gegen die ethiſche Ordnung empörte.

5. Scheinbar im diametralen Gegenſatze zu den bis - herigen Theorien und doch im innerſten Kerne mit ihnen nahe verwandt iſt die Anſicht derjenigen, welche die Strafe als Naturnotwendigkeit, als eine, kraft eines Natur - geſetzes eintretende, notwendige Folge des Verbrechens be - trachten. Der geiſtvollſte Vertreter dieſer Theorie iſt Düh -22Einleitung. I. Die Grundbegriffe.ring (Kurſus der Philoſophie 1875 S. 219 243); ob auch Schütze (Lehrbuch) hieher zu rechnen, iſt zweifelhaft. Dühring führt die Strafe zurück auf das ressentiment, den Rachetrieb, der, Ausfluß des Selbſterhaltungstriebes, nicht nur den Menſchen zur Reaktion gegen Störungen ſeiner Integrität treibt.

Mit Dühring ſtimmt die in dieſem Lehrbuche vorge - tragene Anſicht in dem Ausgangspunkte überein; ſie betont jedoch im Gegenſatze zu Dühring die im Laufe der Ent - wicklung vor ſich gegangene Umgeſtaltung der Strafe. Her - bart’s Auffaſſung weicht bei genauerer Betrachtung nicht weſentlich von der Dühring’s ab. Hegel verleiht den Be - griffen eine Realität, die ſie nicht beſitzen; Kant und Stahl ſtützen ihre Theorien auf unbewieſene und unbeweisbare Fundamentalſätze.

IV. Eine letzte Gruppe, die der gemiſchten, ſynkre - tiſtiſchen oder Vereinigungstheorien ſucht nach der Verſöhnung der Gegenſätze, nach einer Verſchmelzung der widerſtrebenden Anſchauungen. Aus den überaus zalreichen, hieher gehörenden Theorien können nur einzelne hervorge - hoben werden.

1. Nach Berner (Lehrbuch) iſt die Strafe Vergeltung, alſo notwendige Folge des Verbrechens. Aber die von der Gerechtigkeit geforderte Strafe liegt zwiſchen einem Maximum und einem Minimum, innerhalb deſſen die von den Zweck - mäßigkeitstheorien betonten Zwecke der Strafe Berückſichti - gung finden können und müſſen. Berner’s Anſicht beruht, wie bereits wiederholt nachgewieſen, auf einem Sophisma: ſie operiert einmal mit dem Gattungsbegriff des Deliktes, und dann mit dem konkreten Delikt. Letzterem kann vom Stand -23Die Strafrechtstheorie. §. 6.punkte der Gerechtigkeitstheorien aus immer nur eine, ab - ſolut beſtimmte Strafe entſprechen.

2. Merkel (Krimin. Abhandlungen I) läßt die menſch - lichen Intereſſen als Werkzeuge im Dienſte einer höheren ſittlichen Weltordnung fungieren; ohne es zu wiſſen und zu wollen, vollſtreckt die von praktiſchen Geſichtspunkten aus - gehende menſchliche Strafgerechtigkeit die Gebote des Rechts und der Notwendigkeit. Merkel hat ſeine Auffaſſung mehr angedeutet als ausgeführt. Sie imponiert durch die Groß - artigkeit ihrer Weltanſchauung, entzieht ſich aber jeder Beur - teilung durch den in der Zweckvorſtellung befangenen Men - ſchengeiſt.

3. Binding (in Grünhut’s Zeitſchrift 1877 und in ſeinem Grundriß §. 70) trennt Strafrecht und Strafpflicht des Staates. Erſteres iſt ihm nur ein verwandeltes Recht auf Gehorſam gegen den Delinquenten, gerichtet auf Genug - thuung für das Irreparable im Delikte. Das Strafrecht iſt alſo notwendige Folge des Deliktes; nicht aber die Straf - pflicht. Dieſe tritt nur ein, wenn das Uebel der Nicht - beſtrafung für den Staat noch größer wäre als das Uebel der Beſtrafung, wenn die Bewährung der Autorität der ver - letzten Geſetze notwendig wird. Aber Binding’s Anſicht iſt keine Löſung, ſondern eine Verſchiebung des Problems. Woher der Staat das Recht nimmt, Normen aufzuſtellen und Gehorſam zu heiſchen, warum dieſes ſtaatliche Recht auf Gehorſam ſich gerade in die Strafe verwandelt, wird uns nicht geſagt.

4. Die Vereinigung der Gegenſätze iſt vielmehr nur mög - lich durch Zurückführung derſelben auf verſchiedene Ent - wicklungsſtufen desſelben Betrachtungsobjektes. Darum iſt die einzige Vereinigungstheorie, deren Methode als die24Einleitung. II. Das Strafgeſetz.richtige bezeichnet werden muß, die Abegg’s (in ſeinen Strafrechtstheorien 1835 und an anderen Orten). Auch er geht von der inſtinktmäßigen Rache aus, wie wir; aber ihm iſt das ſpäter ſich entwickelnde Zweckmoment in der Strafe nur Vorſtufe für die Anerkennung der Idee der Gerech - tigkeit. Abegg’s Theorie wird widerlegt durch den ganzen Gang der Entwicklungsgeſchichte der Menſchheit, ſo weit wir ihn überblicken können: überall liegt der Fortſchritt darin, daß der Naturtrieb wie die Naturkraft dem Zwecke dienſtbar gemacht wird. Klarheit des Zieles und zweckentſprechende Auswahl der Mittel ſind der Maßſtab jeglichen Fortſchrittes.

II. Das Strafgeſetz.

§. 7. 1. Das Strafgeſetz als Quelle des Strafrechts.

I. Die einzige Quelle des heutigen deutſchen Straf - rechtes iſt das Strafgeſetz. Alle Rechtsſätze, deren Inbe - griff das Strafrecht im obj. Sinne bildet, gehören dem geſetzten Rechte an. Geſetz iſt der durch das ver - faſſungsmäßige Zuſammenwirken der geſetzge - benden Faktoren erklärte, in der verfaſſungsge - mäßen Form verkündete Wille der Geſammtheit. 1Vgl. RVerf. Artt. 2, 5, 17.Ob ein Geſetz in dieſem Sinne vorliegt, hat der Richter ſelb - ſtändig zu prüfen. 2Lit. bei Windſcheid Pan -dekt. §. 14. A. A. Zorn Staatsr. S. 116.

Strafrecht iſt der Inbegriff der Rechtsſätze über Voraus - ſetzung und Inhalt der ſtaatlichen Strafgewalt. Wenn das Strafgeſetz einzige Quelle des Strafrechtes iſt, ſo heißt das:25Das Strafgeſetz als Quelle des Strafrechts. §. 7.die beiden Fragen, ob und wie zu ſtrafen iſt, haben wir ausſchließlich aus dem Geſetze zu beantworten. Das, nichts anderes und nicht mehr, ſagt die ſeit der Aufklärungsperiode in den Strafgeſetzbüchern immer wiederkehrende Rechtsregel: nullum crimen sine lege, nulla poena sine lege (RStGB. §. 2 Abſ. 1).

II. Für die Auslegung der Strafrechtsſätze3Lit. bei Binding Grund - riß S. 61. gelten die allgemeinen, auf allen Gebieten des Rechts zur Anwen - dung kommenden Regeln. 4Beiſpiel einer authent. In -terpretation (des §. 28 Nr. 3 Sozialiſt. Geſ. ) in dem Geſ. v. 31. Mai 1880 RGB. Nr. 12.Die Beantwortung der vielbe - ſprochenen Frage nach der Zuläſſigkeit der Analogie auf dem Gebiete des Strafrechts hängt davon ab, welchen Be - griff man mit dieſem Worte verknüpft. Zweierlei iſt zu unterſcheiden. 1. Die Entwicklung eines Rechtsſatzes aus dem Zuſammenhange der übrigen, alſo das Auffinden eines ſchon vorhandenen, aber nicht unmittelbar und nicht ausdrücklich ausgeſprochenen Rechtsſatzes. Will man dies (Geſetzes -) Analogie nennen, ſo unterliegt die unbeſchränkte Zuläſſigkeit derſelben auch auf dem Gebiete des Strafrechts keinem Zweifel. 2. Das Aufſtellen eines neuen weder unmittelbar noch mittelbar ausgeſprochenen Rechtsſatzes, der dem Grundgedanken des Geſetzgebers entſpricht und ſich dem Syſtem der übrigen Rechtsſätze anpaßt; alſo die Ausfüllung einer Lücke im Geſetze und zwar dem Geiſte desſelben entſpre - chend. Die Zulaſſung der Analogie in dieſem Sinne wider - ſpricht dem unter I beſprochenen Grundſatze. Wiſſenſchaft und Praxis können Straf-Rechtsſätze auffinden, nicht ſchaffen. Dabei mag zugegeben werden, daß die Scheidung beider Operationen im einzelnen Falle ſchwierig werden kann.

26Einleitung. II. Das Strafgeſetz.

III. Geſetz iſt der erklärte Wille der Geſammtheit; nicht der nicht erklärte Wille, und nicht die nichtgewollte Erklärung. Die Erklärung erfolgt nicht durch die Publi - kation (a. A. Binding), ſondern durch die Abſtimmung Seitens des Reichstages und Bundesrates, durch die Aus - fertigung ſeitens des Kaiſers.

Darnach haben wir die ſog. Redaktionsverſehen zu beurteilen. 5Lit. bei Binding Grund - riß S. 41.Von Redaktionsverſehen ſpricht man, wenn der er - klärte Wille ſelbſt auf einem Irrtume beruht. Da das Erklärte gewollt und das Gewollte erklärt iſt, liegt ein die Rechtsgenoſſen bindendes Geſetz vor, das nur durch Geſetz wieder beſeitigt werden kann. 6Die Novelle v. 26. Febr. 1876 hat eine Anzahl ſolcher RV. beſeitigt.Verſchieden davon iſt die Nichtübereinſtim - mung zwiſchen dem Texte der Kundmachung und jenem der ſanktionirten Beſchlüſſe. 7Der Ausdruck Druckfehler iſt zur Bezeichnung dieſer Fälle zu eng.Die irrtümlich kundgemachte Be - ſtimmung iſt nicht Geſetz, aber auch nicht der zwar ſanktio - nirte aber nicht kundgemachte Beſchluß. 8A. A. Binding Grundr. S. 42.Doch kann durch eine neue berichtigende Publikation dieſem Mangel abgeholfen werden.

Aus dem Geſagten folgt, daß die ſog. Materialien der Geſetze insbeſ. Motive und Kammerverhandlungen nur mit äußerſter Vorſicht als Interpretationsmittel verwertet werden können. Sie ſind nicht erklärter Wille der Geſammtheit, ſondern geben uns im günſtigſten Falle die Beweggründe, welche einzelne Mitglieder des einen der geſetzgebenden Fak - toren zu ihrer Willenserklärung beſtimmt haben.

27Das Reichsſtrafgeſetzbuch. §. 8.

IV. Unter den Strafrechtsſätzen ſelbſt können wir zwei Gruppen unterſcheiden.

Die erſte wir können ſie die der eigentlichen Straf - rechtsſätze nennen knüpft an das Verbrechen die Strafe. Die hieher gehörenden Rechtsſätze ſind demnach zweiteilig: ſie beſtehen aus dem Thatbeſtande einerſeits, alſo der Vor - ausſetzung, an deren Vorliegen der Eintritt der ſtaatlichen Strafgewalt gebunden iſt, und aus der Strafe andrerſeits, die als Rechtsfolge für den Eintritt jener Vorausſetzung an - gedroht iſt.

Den Rechtſätzen der zweiten Gruppe fehlt jene Zwei - teilung. Sie enthalten die näheren Erläuterungen der eigentlichen Strafrechtsſätze. Sie ſind paſſend begriffsent - wickelnde Rechtsſätze9Vgl. überhaupt Windſcheid §. 27. genannt worden. Sie verknüpfen nicht Thatbeſtand und Rechtsfolge, hören aber darum nicht auf, Rechtsſätze zu ſein.

2. Die Reichsſtrafgeſetzgebung.

§. 8. Das Reichsſtrafgeſetzbuch. Seine Entſtehungsgeſchichte.

Die einheitliche Strafgeſetzgebung war eine der erſten Gaben, welche das deutſche Volk dem wiedererſtandenen deutſchen Reiche zu danken hatte. Aber keine von jenen Gaben, wie ſie der Liebling des Glücks, mühe - und arbeitslos aus den Händen der launenhaften Göttin empfängt; die Frucht, welche das ſich erfüllende Geſchick in überraſchend kurzer Friſt zur Reife brachte, war das Reſultat harter28Einleitung. II. Das Strafgeſetz.hundertjähriger Arbeit, an der ſich die Beſten des Volkes mit ihren beſten Kräften betheiligt hatten.

I. Das alte gemeine deutſche Strafrecht, auf der pein - lichen Ger. Ordg. Karl’s V (1532) beruhend, durch Theorie und Praxis, zum kleinſten Teile durch die Geſetzgebung, weiter gebildet, war ſeit der zweiten Hälfte des 18. Jahr - hunderts in ſich zuſammengebrochen. Die einzelnen deutſchen Staaten nahmen die geſetzgebende Thätigkeit auf, für welche das Reich zu ſchwach und zu träge geweſen. Um 1750 ungefähr beginnt die Periode der Partikulargeſetzgebung auf dem Gebiete des Strafrechts. 1Vollſtändige Ueberſichten bei Binding die gemeinen deutſchen Strafgeſetzbücher. 2. Aufl. 1877; Wächter Beilagenzu Vorleſungen über d. StR. 1877; Berner Strafgeſetzge - bung in Deutſchland v. 1751 bis zur Gegenwart. 1867.

Dem von Baiern 1751 gegebenen Beiſpiele folgend ſcheiden die beiden größten deutſchen Staaten, erſt Oeſter - reich (1768, 1787, 1803), dann Preußen (1794) noch im Laufe des 18. Jahrhundertes aus dem Herrſchaftsgebiete des gemeinen Strafrechtes aus. Einen neuen Anſtoß zu einer lebhaften und andauernden auf Kodifikation des Strafrechtes abzielenden Bewegung in den verſchiedenen deutſchen Staaten gaben das von Feuerbach entworfene bairiſche StGB. von 1813 einerſeits, der in den Rheinländern eingeführte code pénal von 1810 andrerſeits. In raſcher Aufeinander - folge erſcheinen in den 3 Dezennien von 1838 bis 1869 die Geſetzbücher von Sachſen 1838, Württemberg 1839, Braunſchweig und Hannover 1840, Heſſen-Darmſtadt 1841, Baden 1845, Thüringen 1850, Preußen 1851, Sachſen 1855, Baiern 1861, Sachſen 1868, Hamburg 1869. Oeſterreich hatte ſich 1852 damit begnügt, ſein StGB. von29Das Reichsſtrafgeſetzbuch. §. 8.1803 der reaktionären Zeitſtrömung anzupaſſen. Das weiteſte Geltungsgebiet hatte das preuß. StGB. von 1851 gewonnen, welches der Geſetzgebung von Oldenburg (1858) und jener von Lübeck (1863) zu Grunde gelegt, 1852 in den Hohen - zollern’ſchen Fürſtenthümern, 1855 in Waldeck, 1867 in den neu erworbenen Gebietsteilen eingeführt worden war. Ge - meines Recht hatte ſich nur in den beiden Mecklenburg, in Lauenburg, Schaumburg-Lippe und Bremen erhalten. Neben ihm waren im Jahre 1869 zehn verſchiedene Partikular - ſtrafgeſetzbücher auf deutſchem Gebiete in Geltung.

II. Die an die Partikulargeſetzgebung gewendete Arbeit war keine vergebliche. Ohne ſie wäre das Reichsſtrafrecht nicht in ſo kurzer Zeit geſchaffen worden. Immer und immer wieder wurden die Grundſätze des Strafrechts geprüft, die Forderungen der Wiſſenſchaft mit den Ergebniſſen der Praxis verglichen, das Strafenſyſtem ausgebildet, die Technik ver - vollkommnet. Allmählich ſammelte ſich ein Schatz von gemein - ſamen Anſchauungen, ein materiell-gemeines deutſches Straf - recht, die langſam gewonnene aber ſichere Grundlage für ein gemeinſames Geſetzbuch.

Wiederholte Anläufe zu einem ſolchen ſcheiterten. Die von einzelnen Perſonen ausgearbeiteten Entwürfe (K. S. Zachariae 1826, v. Strombeck 1829, Krug 1857, v. Kräwel 1862) fanden wenig Beachtung; der §. 64 der Reichsverfaſſung vom 28. März 1849 veranlaßte das preu - ßiſche Juſtizminiſterium zur Herſtellung eines Entwurfes (1849), der, den raſch ſich verſchiebenden Zeitverhältniſſen zum Opfer fallend, bis auf wenige Exemplare, ohne ausge - geben zu werden, wieder eingeſtampft wurde. Auch der von Baiern in Verbindung mit mehreren anderen Regierungen im Jahre 1859 beim Bundestage geſtellte Antrag, die Mög -30Einleitung. II. Das Strafgeſetz.lichkeit und Nützlichkeit einer gemeinſamen Civil - und Kri - minalgeſetzgebung zu erörtern, hatte kein anderes Reſultat, als daß der Ausſchußbericht vom 12. Auguſt 1861 das Vor - handenſein eines ſehr dringenden Bedürfniſſes nach einem allg. deutſchen StGB. in Abrede ſtellte.

III. Es ſcheint, daß dieſelbe Anſicht in den maßgebenden Kreiſen noch herrſchte, als der Entwurf einer Norddeutſchen Bundesverfaſſung aufgeſtellt wurde. Der Art. 4 Nr. 13, welcher Civilprozeßordnung und Konkursverfahren, Wechſel - und Handelsrecht der gemeinſamen Geſetzgebung unterſtellte, erwähnte das Strafrecht nicht. Es iſt ein bleibendes Ver - dienſt Lasker’s, durch ein von ihm geſtelltes und von dem konſtituirenden Reichstage angenommenes Amendement die Einbeziehung des Strafrechts in das Gebiet der gemeinſamen Geſetzgebung veranlaßt zu haben (Art. 4 Nr. 13 der Bundes - verf. vom 26. Juli 1867).

In kurzer Friſt kam die Angelegenheit in Fluß. Auf Grund eines von den Abgeordneten Wagner und Planck geſtellten Antrages beſchloß der Reichstag am 18. April 1868, den Bundeskanzler aufzufordern, Entwürfe eines gemeinſamen Strafrechtes und eines gemeinſamen Strafprozeſſes, ſowie der dadurch bedingten Vorſchriften der Gerichtsorganiſation baldthunlichſt vorbereiten und dem Reichstage vorlegen zu laſſen. Nachdem der Bundesrat am 5. Juni 1868 dieſem Beſchluſſe beigetreten war, erſuchte der Bundeskanzler in dem Schreiben vom 17. Juni 1868 den preußiſchen Juſtizminiſter Dr. Leonhardt, die Ausarbeitung des Entwurfs eines Strafgeſetzbuches zu veranlaſſen.

1. Die Ausarbeitung wurde dem damaligen Geheimen Oberjuſtizrathe Dr. Friedberg übertragen; Gerichtsaſſeſſor Dr. Rubo und Kreisrichter Rüdorff wurden als Hülfs -31Das Reichsſtrafgeſetzbuch. §. 8.arbeiter beigeordnet. Am 31. Juli 1869 konnte der von Friedberg ausgearbeitete Entwurf (Entwurf I) dem Bun - deskanzler überreicht und gleichzeitig veröffentlicht werden. Sehr wertvolle Motive und (vier) Anlagen (Zuſammenſtellung ſtrafrechtlicher Beſtimmungen aus deutſchen und außerdeutſchen Geſetzgebungen; Todesſtrafe; Fragen aus dem Gebiete der gerichtlichen Medizin; höchſte Dauer zeitiger Zuchthausſtrafe) waren ihm beigegeben. Der Entwurf ſchloß ſich an das preußiſche StGB. von 1851 als Vorbild an, aber nicht ohne dasſelbe in einigen wichtigen Materien weſentlich zu verbeſſern.

2. Zur Prüfung des Entwurfes trat eine vom Bundes - rate ſchon am 3. Juli 1869 gewählte Kommiſſion von 7 Mitgliedern am 1. Oktober 1869 in Berlin zuſammen. Sie beſtand aus Leonhardt als Vorſitzendem, Friedberg als Referenten, Generalſtaatsanwalt Dr. v. Schwarze (Dres - den) als ſtellvertretendem Vorſitzenden, Senator Dr. Donandt (Bremen), Rechtsanwalt Juſtizrath Dr. Dorn (Berlin), Appellationsgerichtsrath Bürgers (Köln), Oberappellations - gerichtsrath Dr. Budde (Roſtock). Rubo und Rüdorff waren zu Schriftführern ernannt worden.

Die Theoretiker , von welchen keiner der Kommiſſion beigezogen worden war, beteiligten ſich durch handſchriftlich überreichte oder gedruckte Gutachen an dem nationalen Werke; ſo Anſchütz, Beſeler (handſchriftliche Mitteilungen), Ber - ner, Binding, Geyer, Häberlin, Hälſchner, Heinze, John, H. Meyer (gedruckte Gutachten, vgl. Rüdorff Komm. S. 22), Merkel, Geſſler, Seeger (Verhandlungen des 9. deutſchen Juriſtentags).

Nach 43 Sitzungen beendete die Kommiſſion ihre Be - ratung am 31. Dezember 1869, und überreichte am ſelben32Einleitung. II. Das Strafgeſetz.Tage den gedruckten Entwurf (Entwurf III) dem Bundes - kanzler (ohne Motive). Der Entwurf wurde nicht veröffent - licht, aber einzelnen Fachmännern zugeſchickt. Heinze, Vollert, Wächter (Rüdorff Komm. S. 23) veröffentlichten wertvolle Beſprechungen desſelben.

3. Der von der Kommiſſion feſtgeſtellte Entwurf wurde nunmehr vom Bundesrate in der Zeit vom 4. bis 11. Fe - bruar 1870 einer kurzen Beratung unterzogen, aus welcher er mit wenigen Abänderungen (ſo erhielt §. 2 Einf. Geſ. ſeine jetzige Faſſung) als Entwurf III hervorging.

Am 14. Februar 1870 wurde der Entwurf dem Reichs - tage vorgelegt. Die 4 Anlagen des Entwurfes I und die von Friedberg und v. Schwarze theilweiſe umgearbeiteten Motive zu dieſem waren beigelegt. Leonhardt und Fried - berg wurden von Seite der Regierungen mit der Vertretung des Entwurfes beauftragt.

Die erſte Leſung fand am 22. Februar ſtatt. Der Antrag v. Schwarze, den Entwurf einer Kommiſſion von 21 Mitgliedern zu überweiſen, wurde verworfen, und auf Antrag des Abgeordneten Albrecht beſchloſſen, den erſten (allgem.) Teil ſowie die Abſchn. 1 7 des zweiten Teils (hauptſächlich die politiſchen Delikte) durch Plenarberatung zu erledigen, und nur die übrigen Abſchnitte 8 29 des zweiten Theiles einer kommiſſionellen Vorberatung zu unter - ziehen.

Am 28. Februar begann die zweite Leſung, die am 8. April 1870 zu Ende geführt wurde.

Hervorzuheben wäre die große Debatte über die Todes - ſtrafe, deren Beſeitigung mit 118 81 Stimmen beſchloſſen wurde.

Für den Beginn der 3. Leſung war der 21. Mai 187033Das Reichsſtrafgeſetzbuch. §. 8.angeſetzt worden. Hier erklärte Juſtizminiſter Leonhardt im Auftrage der verbündeten Regierungen, daß dieſe von der Rücknahme mehrerer der in 2. Leſung gefaßten Beſchlüſſe das Zuſtandekommen des Geſetzes abhängig machten. In erſter Linie handelte es ſich um die Wiederherſtellung der Todesſtrafe. Das von Planck eingebrachte Amendement: in denjenigen Bundesſtaaten, in welchen die Todesſtrafe geſetzlich bereits abgeſchafft iſt, bewendet es hiebei führte zunächſt zu einer Vertagung der weiteren Beratung, und dann (22. Mai) zu einem Beſchluſſe des Bundesrates, welcher das Amendement als die einheitliche Rechtsbildung in einem der wichtigſten Punkte beeinträchtigend für unan - nehmbar erklärte.

Am 23. Mai wurden die Beratungen wieder aufge - nommen. Planck zog ſein Amendement zurück; nach einer großen Rede des Bundeskanzlers wurde die Wiederherſtellung der Todesſtrafe mit 127 gegen 110 Stimmen beſchloſſen Das Geſetz ſelbſt gelangte mit den vom Bundesrate ge - wünſchten Abänderungen am 25. Mai zur Annahme, erhielt am ſelben Tage die Genehmigung des Bundesrates, am 31. Mai 1870 mit dem Einführungsgeſetze die Ausfertigung des Bundesoberhauptes, und wurde in der am 8. Juni 1870 ausgegebenen Nr. 16 des RGBl. als StGB. für den nord - deutſchen Bund publiziert. Der Beginn ſeiner Wirkſamkeit wurde auf den 1. Januar 1871 feſtgeſetzt.

IV. Noch war jener Termin nicht herangekommen, als das deutſche Reich gegründet, und damit die Umwandlung des norddeutſchen in das Reichsſtrafgeſetzbuch angebahnt wurde.

1. Nach Art. 80 der zunächſt mit Baden und Heſſen am 15. November 1870 vereinbarten Verfaſſung des deut -von Liszt, Strafrecht. 334Einleitung. II. Das Strafgeſetz.ſchen Bundes trat das StGB. v. 31. Mai 1870 nebſt dem gleichzeitig erlaſſenen Einf. Geſ.

  • a) in Baden am 1. Januar 1872,
  • b) in Heſſen (ſoweit es nicht zum norddeutſchen Bunde gehört hatte) am 1. Januar 1871

in Kraft.

2. Nach dem mit Württemberg am 25. November 1870 abgeſchloſſenen Vertrage begann die Wirkſamkeit des StGB. mit dem 1. Januar 1872 (Art. 2 Nr. 6).

3. In Baiern erfolgte, entſprechend dem Vertrage v. 23. November 1870, die Einführung des StGB. ’s, mit Wir - kung vom 1. Januar 1872, durch das Geſ. v. 22. April 1871 (betreffend die Einführung Nordd. Bundesgeſetze in Baiern).

Inzwiſchen hatte §. 2 des Geſ. v. 16. April 1871, die Verfaſſung des deutſchen Reichs betr., das StGB. zum Reichsgeſetze erklärt.

Das Geſ. v. 15. Mai 1871, betr. die Redaktion des StGB. ’s für den Nordd. Bund als StGB. für das deutſche Reich nahm in dem Texte des StGB. ’s (nicht des Einf. Geſ. ) die durch die Aenderung der politiſchen Verhältniſſe not - wendig gewordenen Modifikationen vor.

4. In Elſaß-Lothringen wurde das StGB. (aber nicht das Einf. Geſ. vom 31. Mai 1870) durch das Geſ. v. 30. Auguſt 1871 (abgeändert durch Geſ. v. 14. Juli 1873) mit Wirkung vom 1. Oktober 1871 eingeführt.

Demnach begann die Wirkſamkeit des RStGB.

  • 1) am 1. Januar 1871 in den Gebieten des früheren Nordd. Bundes und in Heſſen ſüdl. des Main;
  • 2) am 1. Oktober 1871 in Elſaß-Lothringen;
  • 3) am 1. Januar 1872 in Württemberg, Baden, Baiern.
35Die übrigen Reichsſtrafgeſetze. §. 9.

V. Schon durch das Geſ. v. 10. Dezember 1871 erhielt das RStGB. einen Zuwachs in dem als §. 130a einge - fügten ſog. Kanzelparagraphen.

Viel tiefer greifend, wenn auch lange nicht durchgrei - fend, war die durch die Novelle vom 26. Februar 1876 ge - ſchaffene Reform des kaum ins Leben getretenen und doch ſchon vielfach als verbeſſerungsbedürftig bezeichneten Geſetz - buchs. Die wichtigſten Beſtimmungen der in der Winter - ſeſſion 1875 / 76 eingebrachten, nach eingehenden Beratungen (1. Leſung am 3. Dezember 1875; 2. Leſung vom 14. De - zember 1875 bis 29. Januar 1876; 3. Leſung 9. u. 10. Fe - bruar 1876) mit vielen und weſentlichen Veränderungen angenommenen Vorlage betrafen folgende Punkte:

  • 1. Verſchiedene Redaktionsverſehen wurden verbeſſert;
  • 2. In einer Reihe von Fällen (§§. 176, 177, 240, 241, 296, 370 Nr. 4) wurde das Antragserfordernis be - ſeitigt, in anderen (§§. 263, 292) beſchränkt, und im allgemeinen die Unwiderruflichkeit des Antrags als Regel aufgeſtellt (§. 64);
  • 3. Die Strafminima wurden erhöht in den §§. 113, 114, 117; der Umfang der Verantwortlichkeit erweitert in §. 4 Nr. 1;
  • 4. Neu eingefügt wurden §. 49 a, §. 103 a, §. 223 a, §. 296 a, §. 353 a, §. 366 a, §. 361 Nr. 9; §. 130 a 2. Abſ.

§. 9. Die übrigen Reichsſtrafgeſetze.

  • 1867. 1. Geſetz betr. die Erhebung einer Abgabe von Salz vom 12. Oktober 1867 §§. 11 18.
36Einleitung. II. Das Strafgeſetz.
  • 1867. 2. Geſetz betr. die Nationalität der Kauffahrteiſchiffe vom 25. Oktober 1867 §§. 13 15. 3. Geſetz über die Freizügigkeit vom 1. November 1867 §§. 3 u. 10.
  • 1868. 4. Geſetz betr. die Erwerbs - und Wirtſchaftsgenoſſen - ſchaften vom 4. Juli 1868 §§. 27, 66 68. (Schulze - Delitzſch 1873, Pariſius 1876, v. Sicherer 1877). 5. Geſetz betr. die Beſteuerung des Branntweins uſw. vom 8. Juli 1868 §§. 50 68; nur für einen Teil des Bundesgebietes geltend. 6. Geſetze betr. die ſubſidiariſche Haftung des Brauerei - (Brennerei -) Unternehmers für Zuwiderhandlungen gegen die Braumalz - (Branntwein -) Steuergeſetze durch Ver - walter, Gewerbsgehülfen und Hausgenoſſen vom 8. Juli 1868.
  • 1869. 7. Geſetz betr. die Maßregeln gegen die Rinderpeſt vom 7. April 1869. 8. Geſetz betr. die Einführung von Telegraphen-Frei - marken vom 16. Mai 1869. 9. Geſetz betr. die Wechſelſtempelſteuer vom 10. Juli 1869 §§. 15, 17, 23. Abgeändert durch Geſetz vom 4. Juni 1879. 10. Gewerbeordnung vom 21. Juni 1869 mit den Abänderungsgeſetzen vom 12. Juni 1872, 17. Juli 1878, 23. Juli 1879 §§. 143 153. 11. Geſetz betr. die Beſteuerung des Zuckers vom 26. Juli 1869 §. 4. 12. Vereinszollgeſetz vom 1. Juli 1869 §§. 134 165. 13. Geſetz betreffend die Sicherung der Zollvereins - grenze in den vom Zollgebiete ausgeſchloſſenen Hamburger Gebietsteilen vom 1. Juli 1869 Art. 1, 12, 15, 18.
37Die übrigen Reichsſtrafgeſetze. §. 9.
  • 1870. 14. Nachdrucksgeſetz vom 11. Juni 1870 §§. 18 ff. (Komm. Dambach 1870, Kloſtermann 1871, Wäch - ter 1875). 15. Geſetz betr. die Kommanditgeſellſchaften auf Aktien uſw. vom 11. Juni 1870 §§. 206, 249, 249 a.
  • 1871. 16. Reichsverfaſſung v. 16. April 1871 Artt. 22, 30. 17. Geſetz betr. die Inhaberpapiere mit Prämien vom 8. Juni 1871 §. 6. 18. Geſetz über das Poſtweſen vom 28. Oktober 1871 (Dambach 1872, Fiſcher 1876). 19. Geſetz betr. die Beſchränkung des Grundeigen - tums in der Nähe von Feſtungen vom 21. Dez. 1871.
  • 1872. 20. Geſetz wegen Erhebung der Brauſteuer vom 31. Mai 1872 §§. 27 42; nur für einen Teil des Bundesgebietes geltend. 21. Militärſtrafgeſetzbuch v. 20. Juni 1872 (Keller 1873, Hecker 1877, Rüdorff-Solms 1878). 22. Seemannsordnung vom 27. Dezember 1872, §§. 75, 79, 81 103. 23. Geſetz betr. die Verpflichtung deutſcher Kauffahrtei - ſchiffe zur Mitnahme hülfsbedürftiger Seeleute v. 27. De - zember 1872 §. 8.
  • 1873. 24. Geſetz über die Kriegsleiſtungen vom 13. Juni 1873 §. 27. 25. Geſetz betr. die Regiſtrierung und Bezeichnung der Kauffahrteiſchiffe vom 28. Juni 1873 §. 4. 26. Münzgeſetz vom 9. Juli 1873 Art. 13.
  • 1874. 27. Impfgeſetz vom 8. April 1874 §§. 14 17. 28. Reichsmilitärgeſetz vom 2. Mai 1874 §§. 18, 33, 60, 69. 29. Geſetz betr. die Verhinderung der unbefugten Aus -38Einleitung. II. Das Strafgeſetz.übung von Kirchenämtern vom 4. Mai 1874; enthält keine eigentlichen Strafbeſtimmungen.
  • 1874. 30. Geſetz über die Preſſe v. 7. Mai 1874 (Komm. von v. Schwarze 1874, Marquardſen 1875, Lehrb. von Berner 1876, Liszt 1880). 31. Strandungsordnung vom 17. Mai 1874 §. 43. 32. Geſetz über den Markenſchutz vom 30. Novbr. 1874 §§. 14 17 (Kloſtermann 1876, Meves 1876). 33. Geſetz betr. die Ausgabe von Banknoten vom 21. Dezember 1874.
  • 1875. 34. Bahnpolizeireglement für die Eiſenbahnen Deutſch - lands vom 4. Januar 1875. 35. Geſetz über die Beurkundung des Perſonenſtandes und die Eheſchließung vom 6. Februar 1875 §§. 67 69 (Komm. von Hinſchius 1875, Völk 1876, v. Sicherer 1878). 36. Bankgeſetz vom 14. März 1875 §§. 55 59 (Ströll 1875, Stommel 1875, Soetbeer 1875).
  • 1876. 37. Geſetz betr. das Urheberrecht an Werken der bildenden Künſte vom 9. Januar 1876 §. 16 (Bearb. v. Wächter 1877). 38. Geſetz betr. den Schutz der Photographien gegen unbefugte Nachbildung vom 10. Januar 1876 §. 9 (Wächter 1877). 39. Geſetz betr. das Urheberrecht an Muſtern und Modellen v. 11. Januar 1876 §. 14 (Dambach 1876). 40. Geſetz betr. die Beſeitigung von Anſteckungsſtoffen bei Viehbeförderung auf Eiſenbahnen vom 25. Febr. 1876. 41. Geſetz über die eingeſchriebenen Hülfskaſſen vom 7. April 1876 §§. 33, 34.
39Die übrigen Reichsſtrafgeſetze. §. 9.
  • 1876. 42. Die Not - und Lootſenſignalordnung für Schiffe auf See und auf den Küſtengewäſſern v. 14. Auguſt 1876. 43. Verordnung über das Verhalten der Schiffe nach einem Zuſammenſtoß vom 15. Auguſt 1876. 44. Geſetz betr. die Schonzeit für den Fang von Robben vom 4. Dezember 1876.
  • 1877. 45. Konkursordnung v. 10. Febr. 1877 §§. 209 214. 46. Patentgeſetz vom 25. Mai 1877 §§. 34 40 (Dambach 1877, Kohler 1878).
  • 1878. 47. Geſetz betr. Zuwiderhandlungen gegen die zur Abwehr der Rinderpeſt erlaſſenen Vieh-Einfuhrverbote vom 21. Mai 1878. 48. Geſetz betr. den Spielkartenſtempel v. 3. Juli 8781. 49. Geſetz gegen die gemeingefährlichen Beſtrebungen der Sozialdemokratie v. 21. Oktober 1878 (Komm. von v. Schwarze 1879, Gareis in Hirth’s Annalen 1879). Dazu Geſetz vom 31. Mai 1880 betr. authentiſche Er - klärung und Gültigkeitsdauer.
  • 1879. 50. Geſetz betr. den Verkehr mit Nahrungsmitteln, Genußmitteln und Gebrauchsgegenſtänden vom 14. Mai 1879 (Zinn, Bär, v. Schwarze 1879, Meyer und Finckelnburg 1880). 51. Geſetz über die Konſulargerichtsbarkeit vom 10. Juli 1879 §. 4. 52. Geſetz betr. die Beſteuerung des Tabacks vom 16. Juli 1879 §§. 32 47. 53. Geſetz über die Statiſtik des Waarenverkehrs vom 20. Juli 1879 §. 17 (enthält nur Beſtimmungen über Ordnungs - nicht über kriminelle Strafen.
  • 1880. 54. Verordnung zur Verhütung des Zuſammen - ſtoßens der Schiffe auf See vom 7. Januar 1880.
40Einleitung. II. Das Strafgeſetz.
  • 1880. 55. Geſetz betr. den Wucher vom 24. Mai 1880 (Reinwald 1880). 56. Geſetz betr. die Abwehr und Unterdrückung von Viehſeuchen vom 23. Juni 1880.

§. 10. Die Litteratur des Reichsſtrafrechts.

Die Erwartung, daß mit dem Inslebentreten eines ein - heitlichen Strafgeſetzbuches die Wiſſenſchaft des deutſchen Strafrechtes eine neue kräftige Anregung zu umfaſſender und fruchtbringender Thätigkeit erhalten werde, iſt in reichem Maße in Erfüllung gegangen. Die deutſche kriminaliſtiſche Litteratur weiſt auf allen ihren Feldern Arbeiten erſten Ranges auf.

I. Unter den Kommentaren ſind zu nennen:1Sie werden im Folgenden citiert mit dem Namen der Ver -faſſer und nach den behandelten §§. des StGB. ’s.

  • 1. Oppenhoff. 7. Aufl. 1879, ausgezeichnet durch die Verarbeitung eines beinahe überreichen praktiſchen Ma - terials, aber allzuſehr in den Feſſeln der früheren preuß. Rechtsſprechung befangen.
  • 2. v. Schwarze. 4. Aufl. 1879, reich an geiſtvollen Be - merkungen.
  • 3. Rüdorff. 2. Aufl. 1877, der an Unbefangenheit, Klar - heit und Beſtimmtheit der Darſtellung alle anderen Kommentatoren überragt.
  • 4. Rubo. 1879.
  • 5. Olshauſen. Erſter Band 1880, mit großer Aus - führlichkeit und muſterhafter Gründlichkeit gearbeitet.
41Die Litteratur des Reichsſtrafrechts. §. 10.

Hierher muß nach dem Titel geſtellt werden:

  • 6. Binding. Die gem. deutſchen StGBücher. Kommentar. I. Einleitung. 2. Aufl. 1877. (cit. Binding Einleitung).

II. Lehrbücher. 2citiert nach Namen und Seitenzahl der hier angeführten Auflagen.

  • 1. Berner. 10. Aufl. 1879, mit glänzender Darſtellung der allgemeinen Lehren, während der beſondere Teil leider der Legalordnung folgt.
  • 2. Schütze. 2. Aufl. 1874. Gedrängte Darſtellung eines reichen Materials, treffliche hiſtoriſche Einleitungen; zum Teil aber bereits überholt durch die neueren Leiſtungen der Wiſſenſchaft.
  • 3. H. Meyer. 2. Aufl. 1877. Mit ausgezeichneter Syſte - matik auch des beſonderen Teiles und ſchönen Litteratur - angaben.

Hieher gehört:

  • 4. v. Holtzendorff’s Handbuch der d. StR. in Einzel - beiträgen von verſchiedenen Verfaſſern. 4 Bde. 1871 bis 1877. Neben mancher ganz unbedeutenden einige Abhandlungen erſten Rauges enthaltend.

III. Ueberaus wertvolle Exkurſe finden ſich

  • 1. in Binding’s Grundriß zur Vorleſung über Gem. deutſches Strafrecht. 2. Aufl. 1879.
  • 2. in Wächter’s Beilagen zu Vorleſungen über das d. StR. 1877, (leider nur 1. Lieferung erſchienen).

Die Grundriſſe von Lueder (2. Aufl. 1877) und v. Bar (2. Aufl. 1878) ſind durch ihre Syſtematik von Be - deutung.

42Einleitung. II. Das Strafgeſetz.

IV. Unter den Zeitſchriften ſind von beſonderer Wich - tigkeit:

  • 1. das Archiv für gem. deutſches und für preuß. Straf - recht (herausgegeben früher von Goltdammer, ſpäter von Hahn, meiſt nach Erſterem benannt).
  • 2. Der Gerichtsſaal, herausgegeben von v. Schwarze, v. Holtzendorff u. A.

V. Präjudikatenſammlungen (abgeſehen von den Zeit - ſchriften, unter welchen Goltdammer’s Archiv auch hier von beſonderer Bedeutung iſt):

  • 1. Oppenhoff (ſpäter Generalſtaatsanwaltſchaft) Recht - ſprechung des K. Obertribunals in Strafſachen bis 1879.
  • 2. Die deutſche Strafrechtspraxis. 1. Bd. 1877. von Pezold, Stiegele und Höhn. 2. Bd. 1880 von Zimmerle. Eine überſichtliche Zuſammenſtellung der Entſcheidungen der höchſten deutſchen Gerichte zum RStGB.
  • 3. Entſcheidungen des Reichsgerichts in Strafſachen (herausgegeben von den Mitgliedern des RGR. ’s.) Leipzig. Veit & Comp.
  • 4. Die Rechtſprechung des deutſchen Reichsge - richts in Strafſachen. Herausgegeben von den Mit - gliedern der Reichsanwaltſchaft. München u. Leipzig. Oldenburg.

VI. Von den Textausgaben des RStGB. ’s iſt die - dorff’ſche (10. Aufl. 1879) am meiſten zu empfehlen.

VII. Die Literatur der ſtrafrechtlichen Nebengeſetze des Reichs iſt in §. 3 angeführt.

43Reichsrecht und Landesrecht. §. 11.

3. Geltungsgebiet der deutſchen Reichsſtrafgeſetze.

§. 11. Geltungsgebiet des Reichsrechtes gegenüber dem Landes - rechte. 1Vgl. insbeſondere Heinze ſtaatsrechtliche und ſtrafrechtliche Erörterungen 1870. WeitereLit. bei Binding Grundriß S. 43.

I. Nach Art. 2 der Reichsverfaſſung übt das Reich das Recht der Geſetzgebung nach Maßgabe des Inhaltes der Verfaſſung und mit der Wirkung aus, daß die Reichsge - ſetze den Landesgeſetzen vorgehen. Die Landesgeſetz - gebung darf zu den Anordnungen der Reichsgeſetzgebung, mögen dieſe ausdrücklich oder ſtillſchweigend gegeben ſein, nicht in Widerſpruch treten; thut ſie es dennoch, ſo ſind ihre angeblichen Imperative ohne imperative Kraft, ſie ſind nicht Geſetz. Es iſt daher einerſeits die bisherige Lan - desgeſetzgebung beſeitigt, ſoweit die Sätze des Reichsrechtes mit ihr in Widerſpruch ſtehen, ohne daß es einer ausdrück - lichen Aufhebung bedürfte; und es iſt auch die künftige Lan - desgeſetzgebung andrerſeits unter derſelben Vorausſetzung und in demſelben Umfange wirkungslos.

Widerſpruch iſt aber nur möglich, wenn und ſoweit die Reichsgeſetzgebung Anordnungen getroffen hat; wo ſie es nicht gethan hat, iſt auch die Möglichkeit einer Kolliſion aus - geſchloſſen. Daher können wir den Grundſatz der Reichs - verfaſſung auch ſo ausdrücken: In den von der Reichs - geſetzgebung ſei es ausdrücklich, ſei es ſtillſchweigend geregelten Materien2Vgl. EG. z. StGB. §§. 2 u. 5. iſt die Thätigkeit der Lan - desgeſetzgebung ausgeſchloſſen. In dieſem Satze44Einleitung. II. Das Strafgeſetz.liegt das Schwergewicht auf dem Worte geregelt , nicht auf dem Worte Materie . Es iſt durchaus verkehrt, die Materie im Sinne des StGB. juriſtiſch definieren zu wollen. Die Frage lautet vielmehr in jedem einzelnen Falle: liegt ein einſchlagender, ſei es poſitiver, ſei es negativer Satz des Reichsrechtes vor? Dabei darf nicht vergeſſen werden, daß das Schweigen der Reichsgeſetzgebung eine dop - pelte Bedeutung haben kann: entweder die einer negativen und ſtillſchweigenden Anordnung, oder die der Ueberweiſung der Regelung an die Landesgeſetzgebung. Ob das eine oder das andere der Fall iſt, haben wir nicht aus der ganz irre - levanten Entſtehungsgeſchichte des Geſetzes, ſondern aus dem Geſetze ſelbſt, aus dem Zuſammenhange der ausdrücklich ausgeſprochenen Rechtsſätze untereinander zu beantworten. Die Frage nach dem der Landesgeſetzgebung überlaſſenen Gebiete, iſt eine Frage der Interpretation der Reichs - geſetzgebung. Dabei werden wir uns wegen Art. 4 Nr. 13 der Reichsverfaſſung im Zweifel für die Unzuläſſigkeit landesgeſetzlicher Regelung entſcheiden müſſen.

Beiſpiele. Aus der prinziploſen Zuſammenwürflung einzelner Uebertretungen in dem letzten Abſchnitte des RStGB. folgt die Zuläſſigkeit landesgeſetzlicher Thätigkeit auf dem Gebiete der Polizeidelikte; aus demſelben Grunde iſt die fortdauernde Geltung des §. 270 des preuß. StGB. (Abhalten von Bietern bei öffentlichen Verſteigerungen uſw. aus dem ſyſtemloſen Sammelabſchnitte ſtrafbarer Eigen - nutz ) zu behaupten. 3Ebenſo Rüdorff u. Merkel gegen das OT.Dagegen ergiebt ſich aus der einge - henden und ſyſtematiſchen Behandlung des falſchen Zeug - niſſes im StGB. der Rechtsſatz, daß die nichtbeeidete falſche45Reichsrecht und Landesrecht. §. 11.Ausſage ſtraflos zu laſſen ſei. 4Vgl. OAG. Dresden 27. Septbr. 1872 im Anſchluſſe an Heinze. Dagegen Meyer S. 587.Die allgem. Lehren des StGB. beanſpruchen ausſchließliche Geltung, aber (ſoweit nicht der unten III 1 erörterte Rechtsſatz eingreift) nur be - züglich der nicht der landesgeſetzlichen Regelung überlaſſenen Delikte. 5Sehr beſtritten. Vielfach wird ganz allgemeine Geltung behauptet.

II. In den reichsgeſetzlich nicht geregelten Materien hat die Landesgeſetzgebung freien Spielraum. Die bisherigen Landesgeſetze bleiben beſtehen, neue können gegeben werden. Nur dieſen Satz ſpricht §. 2 Abſ. 2 des EG. zum StGB. aus, wenn er auch irreleitend die beſonderen Vor - ſchriften dem StGB. gegenüberſtellt. Die äußere Stellung eines Rechtsſatzes in einem allgemeinen StGB., bzw. Polizei - StGB. oder aber in einem ſog. Spezialgeſetze hat für unſere Frage nicht die geringſte Bedeutung. Nur beiſpielsweiſe nennt der zit. §. 2: Preßpolizei -, Poſt -, Steuer -, Zoll -, Fiſcherei -, Jagd -, Forſt - und Feldpolizeigeſetze, Vorſchriften über Mißbrauch des Vereins - und Verſammlungsrechtes und über den Holz - (Forſt -) Diebſtahl. 6Auch die Anführung desHolzdiebſtahls iſt eine lediglich beiſpielsweiſe; er iſt eben und war es von jeher etwas weſentlich anderes als Diebſtahl, mit dem er nur den Namen gemein hat. Vgl. Binding Normen I S. 73.Auf dieſem Gebiete iſt die Landesgeſetzgebung auch zum Abweichen von den allge - meinen Beſtimmungen des RStGB. befugt; vgl. RGR. 1. Mai 1880, E II 34.

III. Aber auch auf dem an ſich der Landesgeſetzgebung überlaſſenen Gebiet, alſo in den reichsgeſetzlich nicht geregelten Materien, ſind jener gewiſſe Schranken gezogen.

46Einleitung. II. Das Strafgeſetz.

1. Wenn in Landesgeſetzen auf ſtrafrechtliche Vorſchriften, welche durch das StGB. für das deutſche Reich außer Kraft geſetzt ſind, verwieſen wird, ſei es ausdrücklich, ſei es ſtill - ſchweigend, ſo treten die entſprechenden Vorſchriften des letz - teren an die Stelle der erſteren (EG. §. 3).

Beiſpiel: An Stelle des §. 268 preuß. StGB., auf welchen Art. IV der Verordnung v. 25. Juni 1867 ver - weiſt, iſt §. 286 RStGB. getreten; vgl. RGR. 13. März 1880, E I 274. So werden wir in dem Schweigen der partikularen Nebenſtrafgeſetze über die allgemeinen Lehren eine Verweiſung auf die partikularen StGBücher erblicken können und darum die allgemeinen Beſtimmungen des RStGB. ’s zur Anwendung zu bringen haben.

2. Vom 1. Januar 1872 (1871) ab darf nur auf die im RStGB. enthaltenen Strafarten erkannt werden. Aus - genommen iſt die an Stelle der Gefängnis - oder Geldſtrafe angedrohte oder nachgelaſſene Forſt - oder Gemeindearbeit (EG. §. 6).

3. Während die unter 1 und 2 angeführten Beſchrän - kungen in gleicher Weiſe die bisherige wie die künftige Lan - desgeſetzgebung treffen, darf, ohne daß die beſtehenden Landesgeſetze durch dieſe Anordnung irgendwie berührt werden, in künftigen Landesgeſetzen nur Gefängnis bis zu zwei Jahren, Haft, Geldſtrafe, Einziehung einzelner Gegenſtände und die Entziehung öffentlicher Aemter angedroht werden (EG. §. 5). 7Dazu Heinze GS. XXX.

IV. Durch ausdrückliche reichsgeſetzliche Anordnung (EG. §. 8) wurde der Landesgeſetzgebung das übrigens ſelbſtver - ſtändliche Recht vorbehalten, durch Uebergangsbeſtim -47Das zeitliche Geltungsgebiet der Reichsſtrafgeſetze. §. 12.mungen die in Kraft bleibenden Landesſtrafgeſetze mit den Vorſchriften des RStGB. ’s in Uebereinſtimmung zu bringen. Solche Ausführungsgeſetze ſind in ſämmtlichen Bundesſtaaten mit Ausnahme von Preußen nebſt Lauenburg und Waldeck erlaſſen worden. Eine Ueberſicht derſelben findet ſich in Rüdorff’s Kommentar. 8S. 61. Vgl. auch Kayſer in HH. IV S. 5 ff.

§. 12. Das zeitliche Geltungsgebiet der Reichsſtrafgeſetze.

I. Beginn und Ende der Rechtsſätze des Reichsſtraf - rechtes beſtimmt ſich nach den allgemeinen Regeln. 1Vgl. Windſcheid §. 31.Dem - nach beginnt ihre verbindliche Kraft, ſofern nicht in dem Geſetze ſelbſt ein anderer Anfangstermin beſtimmt iſt,2Ueber das RStGB. vgl. oben §. 8 IV a. E. mit dem 14. Tage nach dem Ablaufe desjenigen Tages, an welchem das betr. Stück des Reichsgeſetzblattes in Berlin ausgegeben worden iſt (Reichsverf. Art. 2). Und es endet die Herrſchaft der Strafrechtsſätze, wenn ſie ſich nicht ſelbſt die verbindliche Kraft nur bis zu einem beſtimmten Zeit - punkte3Man denke an das ſog. Sozialiſtengeſetz. oder dem Eintritte einer Bedingung beilegen, mit ihrer ausdrücklichen oder ſtillſchweigenden Aufhebung durch die geſetzgebende Gewalt. 4Das Geſetz iſt einzige Quelle des Unterganges wie der Entſtehung der Reichsſtrafrechts - ſätze. Vgl. oben §. 7 I.

Bezüglich der ſtillſchweigenden Aufhebung iſt an dem Satze feſtzuhalten, daß das ſpätere Geſetz in den von ihm geregelten Materien die widerſprechenden Beſtim - mungen des älteren aufhebt.

48Einleitung. II. Das Strafgeſetz.

Dieſer Satz gilt zunächſt für das Verhältnis der ein - zelnen Reichsſtrafgeſetze zu einander, ohne Rückſicht darauf, ob das ſpätere oder das frühere Geſetz ein ſog. Spezialgeſetz oder das StGB. ſelbſt iſt. So iſt §. 23 des Wechſelſtempelſteuergeſetzes vom 10. Juni 1869, alſo eines Spezialgeſetzes, beſeitigt durch §§. 275, 276 RStGB. ; ſo iſt umgekehrt §. 287 StGB. erſetzt worden durch §. 14 des Geſetzes über den Markenſchutz v. 30. November 1874.

Derſelbe Satz gilt ferner für das Verhältnis der Reichs - ſtrafgeſetze zu den früheren Landesſtrafgeſetzen5EG. §. 2 Abſ. 1 u. 2. (aber nicht umgekehrt), und wurde in dieſem Zuſammenhange bereits beſprochen. 6Vgl. oben §. 11 I.

Er gilt endlich auch für das Verhältnis der Reichs - ſtrafgeſetzgebung zu dem Civilrechte, ſoweit eine Regelung der dieſem angehörenden Materien durch jene ſtattgefunden hat. So ſind die deutſchrechtlichen Inſtitute der Abbitte, des Widerrufes, der Ehrenerklärung;7Vgl. Meyer S. 423, Windſcheid §. 472 Note 8. ſo ſind die Privat - ſtrafen des römiſchen Rechtes,8Vgl. Windſcheid §. 326 mit der Lit. ſo ſind die Straffolgen der unbefugten Selbſthülfe9Windſcheid §. 123. beſeitigt worden durch das StGB.

II. Ein Rechtsſatz herrſcht oder gilt, heißt: Die von ihm an einen Thatbeſtand geknüpften Rechtsfolgen treten ein, ſobald der Thatbeſtand gegeben iſt. Daraus folgt, daß jeder Rechtsſatz nur auf die während ſeiner Herrſchaft ent - ſtandenen Thatbeſtände angewendet werden kann, ſoweit er nicht ſelbſt auch die hinter ihm liegenden Thatſachen ergreifen zu wollen erklärt. 10Vgl. Windſcheid §. 32.

Dieß gilt auch für die Strafrechtsſätze. Auch ſie haben49Das zeitliche Geltungsgebiet der Reichsſtrafgeſetze. §. 12.keine rückwirkende Kraft,11Lit. bei Binding Grund - riß S. 47. ſoweit der Geſetzgeber ſie ihnen nicht ausdrücklich beilegt.

Daraus folgt die in StGB. §. 2 Abſ. 1 indirekt aner - kannte Regel: Die Strafrechtsſätze finden Anwen - dung auf die während, ſie finden keine Anwen - dung auf die vor oder nach ihrer Geltung began - genen Delikte.

Lediglich den Intereſſen einer juriſtiſch nicht zu begrün - denden aber legislatoriſch zu billigenden Humanität trägt der Geſetzgeber Rechnung, wenn er von dieſer Regel, ohne ſie als Regel zu beſeitigen, die folgende Ausnahme zuläßt (StGB. §. 2 Abſ. 2).

Bei Verſchiedenheit der Geſetze von der Zeit der begangenen Handlung bis zu deren Aburtei - lung iſt das mildeſte Geſetz anzuwenden. Damit iſt den milderen Strafrechtsſätzen rückwirkende Kraft verliehen. Von dem einmal eingenommenen Standpunkte aus war es nur konſequent12A. A. die Meiſten. die Berückſichtigung nicht nur a) des zur Zeit der Begehung und b) die des zur Zeit der Aburteilung geltenden Geſetzes, ſondern auch der etwaigen Zwiſchenſtraf - geſetze vorzuſchreiben.

III. Wenn der Richter aus zwei oder mehr Geſetzen das mildeſte auszuwählen berufen wird, ſo hat er zunächſt den ihm vorliegenden Fall nach dem einen der in Frage kom - menden Geſetze, dann nach dem anderen, dann nach den übrigen etwa noch vorhandenen Geſetzen zu entſcheiden. (Daher iſt der Thatbeſtand nach allen dieſen Geſetzen feſt - zuſtellen; RGR. 6. Febr. 1880, E I 191.) Die für den Be -von Liszt, Strafrecht. 450Einleitung. II. Das Strafgeſetz.ſchuldigten günſtigſte Entſcheidung führt ihn zu dem mildeſten Geſetze. Dabei ſind nicht nur Umfang und Inhalt der Strafe, ſondern alle relevanten ſtrafrechtlichen Momente in Betracht zu ziehen. So Nebenſtrafen, der Ein - fluß erſchwerender und mildernder Umſtände, Beſtimmungen über Rückfall, thätige Reue, Teilnahme, Verſuch uſw. Auch das von dem einen oder dem anderen Geſetze geforderte Vorliegen des Antrages des Verletzten13Sehr beſtritten; die richtige Anſicht gegen dieſelbe die Praxis des OT. hat jetzt Ausdruck gefunden im Art. III der Novelle v. 26. Febr. 1876. oder einer anderen Bedin - gung der Strafbarkeit14Vgl. oben §. 4 I 2; unten §. 30. iſt bei der Abwägung in die Wag - ſchale zu werfen. Dasſelbe gilt bezüglich der Strafaufhe - bungsgründe (unten §. 57 I) und insbeſondere der Ver - jährung; iſt die Strafklage oder die Vollſtreckungsklage15Bezügl. der letzteren a. A. München 20. April 1877. nach dem einen oder dem anderen Geſetze verjährt wobei als Anfangspunkt des Verjährungslaufes für das frühere wie für das ſpätere Geſetz die Zeit der begangenen That anzunehmen iſt16Unbegründet iſt die An - ſicht, nach welcher der Beginn der Geltung des ſpäteren Ge -ſetzes als Anfangspunkt für den Lauf der nach dieſem zu berech - nenden Verjährung gilt. ſo muß Freiſprechung erfolgen. 17Die proportionale Berech - nung, für das Civilrecht ange - meſſen, weil es ſich hier um billigen Ausgleich zwiſchen gleich - berechtigten Intereſſen handelt, paßt nicht für das Strafrecht, welches einſeitig den Beſchul - digten begünſtigen will.Da - gegen ſind etwaige prozeſſuale Hinderniſſe, welche der Durchführung der Strafklage im Wege ſtehen (unten §. 57 III 2), außer Betracht zu laſſen.

Bei gleicher Milde der in Vergleich zu ziehenden Ge -51Inländiſches und ausländiſches Recht. §. 13.ſetze tritt die allgemeine Regel (ſiehe oben unter I) wieder in Kraft.

IV. Das mildere Geſetz iſt eventuell noch in den höheren Inſtanzen zur Anwendung zu bringen, ſoweit es die geſetz - liche Geſtaltung des eingelegten Rechtsmittels und die etwa eingetretene teilweiſe oder relative Unabänderlichkeit der unter - richterlichen Entſcheidung geſtatten.

V. Ueber die Frage, in welchem Zeitpunkte das Delikt als begangen anzuſehen iſt, vergleiche unten §. 19 IV.

§. 13. Geltungsgebiet der Reichsſtrafgeſetze gegenüber dem aus - ländiſchen Strafrechte. 1Recht unpaſſend bezeichnet man die in dieſem §. behandelten Rechtsſätze als internationales Strafrecht. Ein ſolches giebt es heute noch nicht. Lit. beiBinding Grundr. S. 49, ins - beſ. Rohland das internat. Strafrecht. 1877. Dazu Hamm GA. XXVI, Hälſchner GS. XXX, Geyer HR. Ausland .

I. Theoretiſche Begründung. Das Strafrecht bezweckt Rechtsſchutz. Welche Rechtsgüter ſind des Schutzes durch das heimiſche Strafrecht würdig und bedürftig?

1. In erſter Linie die heimiſchen Rechtsgüter; alſo das inländiſche Gemeinweſen in Beſtand und Sicherheit, in ſeinen Organen und Funktionen ſelbſt; dann jene Rechts - güter, deren Träger das inländiſche Gemeinweſen oder aber der einzelne Bürger desſelben iſt. Dem Bürger iſt der auf inländiſchem Territorium weilende Fremde als Gaſt gleich - zuſtellen. Von dieſem Standpunkte aus kann es keinen Un - terſchied begründen, ob der Angriff von einem Inländer oder52Einleitung. II. Das Strafgeſetz.einem Ausländer ausgeht; muß es ferner als irrelevant er - ſcheinen, ob die heimiſchen Rechtsgüter bzw. ihre Träger ſich im Inlande oder im Auslande befinden. 2Vgl. Entw. der Novelle v. 26. Febr. 1876 u. Motive dazu.

Praktiſche Erwägungen können den Staat allerdings be - ſtimmen, auf den Schutz ſeiner im Auslande befindlichen Rechtsgüter zu verzichten; ſo einerſeits das Vertrauen auf den von dem fremden Staate gewährleiſteten Schutz, andrer - ſeits die Furcht vor internationalen Verwicklungen. Er wird aber gut thun, dieſen Erwägungen möglichſt geringen Einfluß zu geſtatten.

2. Weiter zu greifen, hat der Staat nur dann Veran - laſſung, wenn es ſich um Rechtsgüter von internatio - nalem Werte handelt; um ſolche alſo, deren Träger nicht der einzelne Staat (oder die Bürger desſelben), ſon - dern die Kulturgemeinſchaft der civiliſierten Staaten iſt. Die Zahl derſelben dürfte kleiner ſein, als regelmäßig ange - nommen wird. Die Integrität des Münzverkehrs iſt eines der wichtigſten dieſer internationalen Rechtsgüter. Das Rechtsinſtitut des Privateigentums kann internationalen An - griffen gegenüber vorübergehend internationale Bedeutung erlangen. Zu uneingeſchränktem Schutze aller, auch der fremden, Rechtsgüter hat der einzelne Staat weder Veran - laſſung noch Beruf, ſo lange die ſtrafrechtlichen Anſchauungen der nächſtgelegenen Kulturnationen man vergleiche das deutſche Strafrecht mit dem franzöſiſchen oder engliſchen in ſo weſentlicher Beziehung von einander abweichen, wie dies heute noch der Fall iſt.

3. Von ganz anderen Erwägungen ausgehend, gelangt der Staat dazu, den Inländer, der im Auslande einen An -53Inländiſches und ausländiſches Recht. §. 13.griff auf ein weder inländiſches noch internationales Rechts - gut unternommen hat, der Herrſchaft ſeiner Strafgeſetze zu unterwerfen. Da der Inländer nämlich nach kontinentalem Grundſatze (anders nach engliſchem Recht) nie zur Beſtra - fung dem Auslande ausgeliefert wird (StGB. §. 9), würde der Inländer, der nach im Auslande begangener That ſich ins Inland geflüchtet hat, ohne dieſe Erweiterung des Gel - tungsgebietes der heimiſchen Geſetzgebung ſtraflos bleiben.

II. Das Geltungsgebiet des inländiſchen Strafrechts dem ausländiſchen gegenüber wird von Wiſſenſchaft und Ge - ſetzgebung in der verſchiedenſten Weiſe beſtimmt. Wir können die folgenden Syſteme unterſcheiden:

1. Das univerſelle der Weltrechtspflege, nach welchem jeder einzelne Staat als Repräſentant der Kultur - gemeinſchaft bei allen wo immer begangenen Verbrechen zur Ausübung der Rechtspflege berufen iſt.

2. Beſchränkte Syſteme.

a) Das Territorialitätsprinzip, welches den Staat für berechtigt erklärt, alle auf ſeinem Gebiete be - gangenen Verbrechen, aber auch nur dieſe, nach ſeinem Straf - rechte zu ahnden.

b) Das Prinzip der aktiven Nationalität. Der Staatsbürger wo immer er ſich befinden mag, aber auch nur er, unterſteht den inländiſchen Strafgeſetzen.

c) Das Prinzip der paſſiven Nationalität. Nach ihm ſchützt der Staat durch ſein Strafrecht nur die heimi - ſchen Rechtsgüter, dieſe aber auch dann, wenn ſie ſich im Auslande befinden.

3. Kombinirende Syſteme. Zu ihnen gehört das oben aufgeſtellte. In der modernen Geſetzgebung haben ſie die Herrſchaft. Sie gehen zumeiſt aus von dem Territorial -54Einleitung. II. Das Strafgeſetz.prinzip, machen aber daneben Anleihen bei den übrigen. Auch das Syſtem des Reichsſtrafrechts iſt ein kombinirendes.

III. Die Reichsſtrafgeſetzgebung geht aus von dem Territorialprinzip. Das inländiſche Recht findet An - wendung auf alle im Inlande begangenen ſtrafbaren Handlungen, auch wenn der Thäter ein Ausländer iſt. (StGB. §. 3.) Nur ſoweit es die eigentümliche Natur ge - wiſſer Delikte, welche in der Verletzung beſonderer nur dem Inländer obliegender Pflichten beſtehen, mit ſich bringt, tritt eine verſchiedene Behandlung der In - und Ausländer ein. So beim Landesverrat, bei Verletzung der Wehrpflicht (StGB. §§. 87 91, 140).

In Bezug auf die im Inlande begangenen Handlungen ſtellt die Reichsgeſetzgebung im Allgemeinen inländiſche und ausländiſche Rechtsgüter unter den gleichen ſtrafrechtlichen Schutz; eine allerdings weitgreifende Ausnahme machen die gegen Beſtand, Organe und Funktion der Staatsgewalt ge - richteten Delikte, die nur, wenn die inländiſche Staatsge - walt angreifend, überhaupt mit Strafe oder doch mit der vollen Strafe bedroht ſind. Vgl. den beſ. Teil. Auch die Individualrechte (den beſ. Teil) ſind, von beſonderen Staats - verträgen abgeſehen, nur dann ſtrafrechtlich geſchützt, wenn ihre Träger Inländer ſind.

Als Inland iſt im Sinne des Reichsſtrafrechtes3Alſo nicht, ſoweit es ſich um fortgeltende landesrechtliche Strafgeſetze (z. B. Verbot des Spieles in auswärtigen Lotte -rien) handelt; RGR. 24. Febr. 1880, E I 219; 13. März 1880, E I 274. jedes zum deutſchen Reich gehörige Gebiet zu betrachten (StGB. §. 8). Die bekannten Sätze des Staats - und Völkerrechtes finden auch hier Anwendung; demnach gelten Schiffe auf55Inländiſches und ausländiſches Recht. §. 13.offener See als inländiſches Gebiet. 4§. 10 StPO., der nur den Gerichtsſtand regelt, hat mit dieſer Frage gar nichts zu thun.Durch beſondere Anordnung5Geſetz über die Konſular - gerichtsbarkeit vom 10. Juli 1879 §. 4. wird das Geltungsgebiet der Reichsſtrafgeſetze auch auf die Konſulargerichtsbezirke ausgedehnt.

IV. Die Reichsſtrafgeſetzgebung iſt aber über dieſes als Regel (StGB. §. 4 Abſ. 1, §. 6) hingeſtellte Prinzip hin - ausgegangen. Freilich laſſen die Abweichungen von der Regel klare Auffaſſung von der Aufgabe der ſtaatlichen Strafgewalt vielfach vermiſſen. Wir haben zu unterſcheiden.

1. Im Auslande begangene Uebertretungen ſo - weit dieſelben überhaupt unter die Reichsgeſetzgebung fallen ſind nur dann zu beſtrafen, wenn dies durch beſondere Geſetze oder durch Verträge von Seiten des Reichs oder eines Einzelſtaates angeordnet iſt (StGB. §. 6).

2. Bezüglich der im Auslande begangenen Verbrechen oder Vergehen unterſcheidet das Geſetz weiter, indem es den Inländer in einer größeren Zahl von Fällen als den Ausländer dem inländiſchen Rechte unterwirft; in allen dieſen Fällen iſt die Verfolgung fakultativ (StGB. §. 4 Abſ. 2).

A. Der Inländer kann nach inländiſchem Rechte ver - folgt werden:

a) ohne weitere Bedingung, wenn er eine hoch - oder landesverräteriſche Handlung gegen das Reich oder einen Bundesſtaat, oder eine Beleidigung gegen einen Bun - desfürſten, oder ein Münzverbrechen, oder als Beamter des deutſchen Reichs oder eines Bundesſtaates eine Handlung begangen hat, die nach den Geſetzen des deutſchen Reichs (nicht bloß nach dem StGB. ) als Verbrechen oder Vergehen im Amte anzuſehen iſt (StGB. §. 4 N. 1 und 2);

56Einleitung. II. Das Strafgeſetz.

b) in anderen Fällen dann, wenn die begangene Handlung 1. nach den Geſetzen des deutſchen Reichs als Verbrechen oder Vergehen anzuſehen; 2. durch die Geſetze des Begehungsortes ſoweit ſolche beſtehen mit Strafe bedroht; 3. von den Gerichten des Auslandes nicht über die Handlung bereits rechtskräftig erkannt und entweder eine Freiſprechung erfolgt oder die ausgeſprochene Strafe voll - zogen;6Doch iſt in dieſem Falle ein beſonderes Nachverfahren (StGB. §. 37) zum Zwecke der Aberkennung der bürgerl. Ehren - rechte zuläſſig. Vgl. unten §. 51. 4. wenn nicht Strafverfolgung oder Strafvoll - ſtreckung nach den Geſetzen des Auslandes verjährt oder die Strafe erlaſſen iſt und 5. wenn der nach den Geſetzen des Auslandes erforderliche Antrag des Verletzten geſtellt wurde. Nur wenn alle 5 Bedingungen vorliegen, iſt die Verfolgung nach inländiſchem Recht zuläſſig (StGB. §. 4 Nr. 3, §. 5).

c) Beſondere Beſtimmungen enthalten StGB. §§. 102 und 298; Seemannsordnung vom 27. Dezember 1872 §. 100; Militär-StGB. vom 20. Juni 1872 §§. 7, 160, 161. 7Nicht aber §. 61 des Nach - druckgeſ. v. 11. Juni 1870, der regelmäßig biehergeſtellt wird.

Für die Entſcheidung der Frage, ob der Thäter Inländer oder Ausländer iſt, kommt ausſchließlich der Augenblick der Begehung der That (ſ. unten §. 19 IV) in Betracht.

B. Der Ausländer wird wegen der von ihm im Aus - lande begangenen Verbrechen und Vergehen

a) ohne Weiteres nach inländiſchem Rechte verfolgt, wenn es ſich um Hochverrath gegen das deutſche Reich oder einen Bundesſtaat oder um ein Münzverbrechen handelt, oder wenn er als Beamter des deutſchen Reichs oder eines Bun -57Inländiſches und ausländiſches Recht. §. 13.desſtaates eine Handlung begangen hat, die nach den Ge - ſetzen des deutſchen Reichs als Verbrechen oder Vergehen im Amte anzuſehen iſt (StGB. §. 4 Nr. 1).

b) Dagegen iſt in allen anderen Fällen, mit einer Aus - nahme, die Verfolgung ausgeſchloſſen. 8Ueber die Behandlung der ausländiſchen, bei dem krieg - führenden Heere zugelaſſenen, Offiziere und der Kriegsgefan - genen vgl. Milit. StGB. §§. 157 159.Iſt nämlich der Thäter zwar bei Begehung der Handlung nicht Inländer geweſen, es aber nachträglich geworden, ſo kann die Verfolgung gegen ihn eingeleitet werden, wenn die oben unter a, b 1 und 2 angeführten Bedingungen vorliegen, und überdies die zuſtändige Behörde des Landes, in welchem die ſtrafbare Handlung begangen wurde, die Verfolgung bean - tragt. In dieſem Falle iſt das ausländiſche Strafgeſetz an - zuwenden, wenn und ſoweit daſſelbe milder iſt (StGB. §. 4 Nr. 3 Abſ. 2).

In allen den unter A und B beſprochenen Fällen muß eine im Auslande vollzogene Strafe, wenn wegen derſelben Handlung im Gebiete des deutſchen Reiches abermals eine Verurteilung erfolgt, auf die zu erkennende Strafe in An - rechnung gebracht werden (StGB. §. 7). Dadurch kann die Notwendigkeit herbeigeführt werden (arg. StGB. §§. 44 und 157), eine etwa ſich ergebende Zuchthausſtrafe unter einem Jahre nach Maßgabe des §. 21 StGB. in Gefängnis zu verwandeln (vgl. unten §. 55 II 2).

V. Zur Ergänzung der Lücken, die ſich ergeben, ſo lange das Prinzip der Weltrechtspflege nicht allſeitig angenommen iſt, dienen die Auslieferungsverträge. 9Aufgezählt in der - dorff’ſchen Textausgabe u. den Kommentaren zu §. 9 StGB. Vgl. Bulmerincq in HR. Aſylrecht u. Auslieferungs - verträge .Deutſchland hat58Einleitung. II. Das Strafgeſetz.ſolche geſchloſſen mit Amerika, Italien, Großbritannien, der Schweiz, mit Belgien, Luxemburg, Braſilien, Schweden und Norwegen und mit Spanien.

VI. Ueber die Frage, welcher Ort als Begehungsort anzuſehen iſt, vgl. unten §. 19 IV.

§. 14. Befreiungen von der Herrſchaft der Strafgeſetze. 1Lit. bei Meyer Lehrbuch §. 22; dazu Bulmerincq HR. Exterritorialität.

I. Aus ſtaatsrechtlichen Gründen ſind von der Herr - ſchaft der Strafgeſetze befreit:

1. Das Staatsoberhaupt; alſo der Kaiſer, die Landesherren, der Regent.

2. Die Volksvertreter, und zwar die Mitglieder des Reichstages nach Art. 30 der Reichsverfaſſung, und die Mit - glieder eines Landtags oder einer Kammer eines zum Reich gehörigen Staates nach StGB. §. 11, indem ſie außerhalb der Verſammlung, zu welcher ſie gehören, weder wegen ihrer Abſtimmungen noch wegen der in Ausübung ihres Berufes gethanen Aeußerungen zur Verantwortung gezogen werden können.

3. Um die uneingeſchränkte Oeffentlichkeit der parlamen - tariſchen Verhandlungen und damit die fortwährende Wechſel - wirkung zwiſchen den Volksvertretern und der öffentlichen Meinung zu ſichern, verfügen Art. 22 Abſ. 2 der Reichs - verfaſſung und §. 12 StGB,2Ueber Grund und Trag -weite dieſer Anordnung vgl. Liszt Reichspreßrecht §. 45 (daſelbſt auch die Lit. des Jahres 1879). daß wahrheitsgetreue Berichte

59Befreiungen von der Herrſchaft der Strafgeſetze. §. 14.
  • a) über Verhandlungen in den öffentlichen Sitzungen des Reichstages,
  • b) über Verhandlungen eines Landtages oder einer Kammer eines zum Reiche gehörigen Staates von jeder Ver - antwortlichkeit frei bleiben, mithin auch der ſogenannten objektiven Verfolgung nicht unterzogen werden können.
    3Vgl. Liszt Preßrecht §. 55 I.
    3

In allen 3 Fällen iſt die Normwidrigkeit des Thuns ausgeſchloſſen, vgl. unten §. 22.

II. Aus völkerrechtlichen Rückſichten ſind befreit die exterritorialen Perſonen. Dazu gehören nach §§. 18 21 Ger. Verf. Geſ. die Chefs und Mitglieder der bei dem deutſchen Reiche beglaubigten Miſſionen, die Familien - glieder und das Geſchäftsperſonal derſelben, ſowie ihre Bedienſteten, ſoferne dieſe nicht Deutſche ſind. Da - gegen ſind die im deutſchen Reiche angeſtellten Konſuln der inländiſchen (Straf -) Gerichtsbarkeit unterworfen, ſoweit nicht in Verträgen des deutſchen Reichs mit anderen Mächten Vereinbarungen über die Befreiung der Konſuln von der inländiſchen Gerichtsbarkeit getroffen ſind.

Dieſe Befreiung iſt eine höchſt perſönliche (ein ſubjektiver Strafausſchließungsgrund, unten §. 30 III 3), ſo daß dritte Perſonen, die an dem von einem Exterritorialen begangenen Delikte als Mitthäter, Anſtifter oder Gehülfen beteiligt ſind, wegen dieſer ihrer Beteiligung zur Verantwortung gezogen werden können. 4Ebenſo OT. 14. Juni 1877.

60Einleitung. II. Das Strafgeſetz.

§. 15. Allgemeine und beſondere Strafgeſetze. 1Vgl. dazu Binding Grundriß S. 47.

I. Die Einteilung der Strafrechtsſätze in allgemeine und beſondere hat nur dann Bedeutung, wenn ſie maßgebend wird für die wiſſenſchaftliche Darſtellung des Strafrechtes, ſo daß aus dieſer die beſonderen Rechtsſätze ausgeſchieden werden. Bei der Beſtimmung der Grenzlinie zwiſchen den allgemeinen und den beſonderen Strafgeſetzen kann man von einem verſchiedenen Standpunkte ausgehen.

1. Man kann als allgemeine Strafrechtsſätze die in dem Strafgeſetzbuche ſelbſt, als beſondere die in Spezialge - ſetzen enthaltenen betrachten. Dies der gewöhnliche Stand - punkt der Lehrbücher (mit einer kleinen aber darum um ſo weniger gerechtfertigten Ausnahme bezüglich des Nachdrucks). Dieſer Standpunkt iſt durchaus unhaltbar. In den Spe - zialgeſetzen finden ſich theoretiſch und praktiſch außerordentlich wichtige Beſtimmungen, ohne deren Berückſichtigung Kenntnis und Verſtändnis des deutſchen Strafrechts mangelhaft bleiben müſſen. Dazu kommt, daß die Aufnahme eines Rechtsſatzes in das Strafgeſetzbuch ſelbſt oder in ein Spezialgeſetz vielfach durch rein zufällige Umſtände beſtimmt wird; ſo fanden ſich die Beſtimmungen über Bankbruch früher in dem StGB., während ſie jetzt in der Konkursordnung ſtehen.

2. Man könnte als Sonderrecht jene Normen be - zeichnen, die ſich nicht an alle Staatsbürger wenden, ſon - dern nur von gewiſſen Gruppen Beamten, Geiſtlichen, Militärperſonen, Gewerbetreibenden Gehorſam heiſchen. Dieſe Unterſcheidung, prinzipiell gewiß richtig, empfiehlt ſich61Allgemeine und beſondere Strafgeſetze. §. 15.zur Durchführung nicht, ſo lange die Frage, welcher Kate - gorie jede einzelne Norm angehört, nicht mit genügender Sicherheit beantwortet werden kann.

3. Auch jene Unterſcheidung, nach welcher das Sonder - recht gebildet wird durch die beſonderen Strafdrohungen für die von gewiſſen Perſonengruppen begangenen Ueber - tretungen allgemein bindender Normen, kann nicht zur Grund - lage genommen werden, da die Geſetzgebung ſelbſt ſie ſowol in ſtrafrechtlicher wie in ſtrafprozeſſualer Beziehung ignoriert.

4. Dagegen können wir das Gebiet des Sonderrechtes durch ein zwar äußerliches aber klares Merkmal in beſtimmter Weiſe abgrenzen von dem allgemeinen Recht. Sonderrecht iſt dasjenige, deſſen Beurteilung nicht den ordentlichen Ge - richten, ſondern Sondergerichten zugewieſen iſt. In dieſem Sinne beſchränken wir uns auf die Darſtellung des allgemeinen Strafrechts.

II. Die hervorragendſte Stelle nimmt innerhalb des Sonderrechtes das Militärſtrafrecht ein, das dem Ge - ſagten entſprechend, in dieſem Lehrbuche keine Berückſichtigung finden wird. Durch §. 7 EG. zum Ger. Verf. Geſ. wurde die Militärgerichtsbarkeit aufrecht erhalten. Dieſelbe be - ſchränkt ſich nach §. 39 des Militärgeſetzes vom 2. Mai 1874 auf Strafſachen. Es unterſtehen ihr

1. nur die Delikte der Militärperſonen, alſo2Milit. StGB. vom 20. Juni 1872 §. 4; vgl. Wehrgeſetz vom9. Novbr. 1867, Militärgeſetz vom 2. Mai 1874. der Perſonen des Soldatenſtandes und der Militärbeamten, welche zum Heer oder zur Marine gehören;

2. nur die militäriſchen Verbrechen und Vergehen der Militärperſonen, während andere von dieſen begangene62Einleitung. II. Das Strafgeſetz.ſtrafbare Handlungen nach den allgemeinen Strafgeſetzen beurteilt werden (MilitärStGB. §. 3, StGB. §. 10).

§. 16. Friedensrecht und Kriegsrecht.

I. Die Strafrechtsſätze, die als allgemeine im Sinne des vorigen Paragraphen den Gegenſtand unſerer Darſtellung bilden, erleiden zum Teil gewiſſe Modifikationen durch die Herrſchaft des Kriegsrechtes (EG. §. 4).

Die Modifikationen beſtehen darin, daß an Stelle der für gewiſſe Fälle des Hoch - und Landesverrates ſowie für einzelne gemeingefährliche Delikte in den §§. 81, 88, 90, 307, 311, 312, 315, 322, 323, 324 StGB. angedrohten Strafe des lebenslänglichen Zuchthauſes die Todesſtrafe tritt.

Die Vorausſetzung dieſer Veränderung der Strafdrohung iſt gegeben, wenn entweder

1. die genannten Handlungen in einem Teile des Bundesgebietes begangen werden, welchen der Kaiſer nach Art. 68 der Reichsverfaſſung alſo vorläufig noch nach den Vorſchriften des Preußiſchen Geſetzes vom 4. Juni 1851 in Kriegszuſtand erklärt hat; oder

2. wenn ſie während eines gegen das deutſche Reich aus - gebrochenen Krieges auf dem Kriegsſchauplatze begangen werden.

Für Baiern hat der beſprochene §. 4 EG. nach §. 7 Abſ. 2 des Geſetzes vom 22. April 1871 bis auf Weiteres keine Geltung.

II. Ferner beſtimmt das MilitärStGB. vom 20. Juni 1872 §. 160, daß die auf dem Kriegsſchauplatze, auch von63Friedensrecht und Kriegsrecht. §. 16.Nicht-Militärperſonen begangenen Delikte des Kriegsverrates (MilStGB. §§. 57 59) und der Plünderung von Gefalle - nen, Verwundeten uſw. (§. 134) nach den Militärſtrafgeſetzen zu beurteilen ſeien.

Der §. 155 des MilitärStGB. unterwirft alle Perſonen, welche während eines gegen das deutſche Reich ausgebroche - nen Krieges ſich in irgend einem Dienſt - oder Vertragsver - hältniſſe bei dem kriegführenden Heere befinden oder ſonſt bei demſelben ſich aufhalten oder ihm folgen, dem Militärſtrafrechte, insbeſondere den Kriegsgeſetzen.

III. Endlich iſt auf §. 30 Abſ. 1 Preßgeſetzes 7. Mai 1874 hinzuweiſen, nach welchem die für Zeiten der Kriegs - gefahr, des Kriegs, des erklärten Kriegs - oder Belagerungs - zuſtandes oder innerer Unruhen (Aufruhr) in Bezug auf die Preſſe beſtehenden beſonderen geſetzlichen Beſtimmungen bis auf Weiteres in Kraft bleiben. 1Vgl. Liszt Preßr. §. 12.

[64]

Allgemeiner Teil.

Erſtes Buch. Das Verbrechen.

I. Begriff und Einteilung.

§. 17. Der Begriff des Verbrechens.

Verbrechen iſt die vom Staate mit Strafe be - drohte, ſchuldhafte, normwidrige Handlung; kürzer: das ſtrafbare Delikt.

I. Das Verbrechen iſt wie das Delikt Handlung. Es iſt willkürliche, d. h. bewußte und durch Vorſtellungen be - ſtimmte, körperliche Bewegung. Es iſt Verwirklichung des Willens, wenn wir unter Willen nicht mehr verſtehen, als jenen pſychiſchen Akt, durch welchen die motoriſchen Ner - ven unmittelbar in Erregung verſetzt werden.

Wo keine Handlung in dieſem Sinne vorliegt, ſei es, daß die körperliche Bewegung überhaupt fehlt, ſei es, daß die gegebene Bewegung nicht auf den Willen zurückgeführt werden kann, dort kann auch weder von Delikt noch von Verbrechen die Rede ſein (fehlende Handlung als Grund für das Nichtvorliegen eines Verbrechens).

65Der Begriff des Verbrechens. §. 17.

II. Das Verbrechen iſt wie das Delikt normwidrige Handlung. Die Körperbewegung hat Veränderungen in der Außenwelt zur Folge, dieſe Veränderungen ſind im Wider - ſpruch mit der Norm. Die Handlung bewirkt, was die Norm verbietet; ſie verhindert, was die Norm gebietet.

Ohne Normübertretung kein Verbrechen. Die irrige An - nahme der Normwidrigkeit kann das an ſich normgemäße Thun nicht zu einem normwidrigen machen: das Putativdelikt oder Wahnverbrechen (vgl. über dasſelbe unten §. 28 I a. E.) iſt weder Delikt noch Verbrechen.

Das Verbrechen entfällt mit der Norm, alſo in allen jenen Fällen, in welchen eine Ausnahme von der imperativen Kraft der Norm eintritt (Ausſchluß der Rechtswidrig - keit als Grund für das Nichtvorliegen eines Verbrechens).

III. Das Verbrechen iſt wie das Delikt ſchuldhafte normwidrige Handlung. Es tritt damit in Gegenſatz zu dem ſchuldloſen oder objektiven Unrecht, dem Nicht-Recht. 1Vgl. darüber Meyer Lehr - buch S. 16 Anm. 10 mit Lit.,Thon Rechtsnorm u. ſubjekt. Recht S. 71 ff.Vorausſetzung der Schuld iſt die Zurechnungsfähigkeit, die nur bei dem menſchlichen Individuum gegeben ſein kann. Die beiden Arten der Schuld ſind im modernen Rechte Vorſatz und Fahrläſſigkeit.

Ohne Schuld weder Delikt noch Verbrechen; die That des Zurechnungsunfähigen und die weder vorſätzliche noch fahrläſſige Handlung des Zurechnungsfähigen ſind ſtrafrecht - lich irrelevant. (Fehlende Schuld als Grund für das Nichtvorliegen eines Verbrechens.)

IV. Das Verbrechen iſt im Gegenſatz zum Delikt die vom Staate mit Strafe bedrohte ſchuldhafte norm -von Liszt, Strafrecht. 566Erſtes Buch. I. Begriff und Einteilung.widrige Handlung; darin liegt das für den Unterſchied des kriminellen vom civilen Unrecht maßgebende Merkmal. Ohne Strafdrohung iſt wol Delikt aber nicht Verbrechen denkbar. (Fehlende Bedingung der Strafbarkeit als Grund für das Nichtvorliegen eines Verbrechens.) Aber nur das Mit-Strafe - bedroht-ſein, nicht das Beſtraft-werden iſt von Bedeutung. Das Verbrechen bleibt Verbrechen, auch wenn ein nachträg - lich eintretender Strafaufhebungsgrund (thätige Reue, Begnadigung uſw. ) die bereits vorhanden geweſene Straf - barkeit wieder beſeitigt; es bleibt Verbrechen, auch wenn aus prozeſſualen Gründen (nach der That entſtehende Geiſteskrankheit des Thäters uſw. ) die Geltendmachung des ſtaatlichen Strafanſpruches unmöglich wird.

Die hervorgehobenen Merkmale des Verbrechens liefern zugleich das Gerippe für die Darſtellung der Lehre vom Verbrechen.

§. 18. Einteilungen des Verbrechens.

I. Die meiſten der in der älteren Literatur vielbeſproche - nen Einteilungen der Verbrechen ſind heute teils ohne jede aktuelle Bedeutung, teils an anderer Stelle zu erörtern.

Auch die an ſich hochwichtige Unterſcheidung von poli - tiſchen und nicht politiſchen Verbrechen1Lit. bei Binding Grund - riß S. 54; dazu Wahlberg in Grünhut’s Zeitſchr. Bd. VII,Teichmann Revue de droit international XI. iſt für das Reichsſtrafrecht als ſolches gegenſtandslos geworden, nachdem alle dieſen Unterſchied feſthaltenden Reichsgeſetze aufgehoben67Einteilungen des Verbrechens. §. 18.ſind. 2So Reichswahlgeſetz vom 31. Mai 1869 §. 3 (beſtritten, vgl. Laband Staatsr. I S. 527; Zorn Staatsr. I S. 171 insbeſ. Note 6); Rechtshülfegeſetz v. 21. Juni 1869 § 27; Geſetz über die Organiſation der Bundeskonſu - late vom 8. Novbr. 1867 §. 22.Nur in den von dem deutſchen Reiche mit dem Aus - lande geſchloſſenen Auslieferungsverträgen ſpielen die politiſchen Verbrechen noch eine Rolle. Feſtzuhalten iſt, daß nicht das dem einzelnen Verbrechen im Allgemeinen zu Grunde liegende Motiv, ſondern die politiſche Bedeutung des durch dasſelbe angegriffenen Rechtsgutes für die Ein - reihung in die Gruppe der politiſchen Verbrechen entſcheidet. 3So Binding, Wahl - berg u. A.Demnach haben wir zu den politiſchen Verbrechen diejenigen zu rechnen, welche gegen Beſtand und Sicherheit des Ge - meinweſens, ſowie gegen die Organe und die Autorität der Staatsgewalt nicht aber gegen die Funktionen der Staats - verwaltung gerichtet ſind. 4Vgl. Wahlberg a. O. S. 9.

II. Die Unterſcheidung des polizeilichen Unrechts von dem eigentlichen (kriminellen) Verbrechen bietet wohl großes theoretiſches aber keinerlei praktiſches Intereſſe. Die Reichs - geſetzgebung hat dieſen Unterſchied ſowohl auf dem Gebiete des materiellen Strafrechts, wie auf jenem des Strafprozeß - rechtes unberückſichtigt gelaſſen. Theoretiſch betrachtet wird das Polizeiunrecht gebildet durch die Uebertretungen jener Normen, welche als reine Ungehorſamsverbote und Gehor - ſamsgebote (vgl. oben §. 3 II 2 u. 3) nicht unmittelbar ſondern mittelbar zum Schutze der Rechtsgüter beſtimmt ſind. 5Dieſe Unterſcheidung fällt zuſammen mit der von mate - riellem und formellem Unrechte bei Binding, Hälſchner, Merkel; Lit. und Zuſammen - ſtellung der verſchiedenen An ſichten bei Meyer Lehrbuch S. 136 ff.Die eigentümliche Natur dieſer Normen hat manche68Erſtes Buch. I. Begriff und Einteilung.Beſonderheiten des polizeilichen Unrechtes zur Folge, die am geeigneten Orte dargeſtellt werden ſollen.

III. Eine andere Einteilung der Verbrechen im weiteren Sinne iſt dagegen auch für das Reichsrecht von größter Be - deutung. Das RStGB. hat die aus dem franzöſiſchen Rechte ſtammende und von hier in eine Reihe deutſcher Partikulargeſetze (insbeſondere Baiern 1813 und Preußen 1851) übergegangene Dreiteilung (Trichotomie) der Ver - brechen (im weiteren Sinne) je nach der Schwere der auf ſie geſetzten Strafe in Verbrechen im engeren Sinne, Vergehen und Uebertretungen ohne jeden inneren Grund beibehalten. 6Lit. bei Binding Grund - riß S. 55; dazu Dochow HR. Einteilung.

Nach dieſer Einteilung (StGB. §. 1) iſt:

  • 1. Verbrechen (im engeren Sinne) jede mit dem Tode, mit Zuchthaus oder mit Feſtungshaft von mehr als 5 Jahren;
  • 2. Vergehen jede mit Feſtungshaft bis zu 5 Jahren, mit Gefängnis oder mit Geldſtrafe von mehr als 150 Mark;
  • 3. Uebertretung jede mit Haft oder mit Geldſtrafe bis zu 150 Mark bedrohte Handlung.
    7Ueber den vom Geſetzgeber begangenen Rechnungsfehler (er behandelt als gleichwertig 5 Jahreoder 60 Monate Gefängnis; 5 Jahre Feſtung oder 40 Mo - nate Gefängnis; 12 Monate Zuchthaus oder 18 Monate Ge - fängnis) vgl. Binding Grund - riß S. 55.
    7

Gegen die Dreiteilung läßt ſich allerdings nicht geltend machen, daß ſie die Schwere der ſtrafbaren Handlungen nach der Strafe und nicht dieſe nach jener beſtimme. Aber die Geſetzgebung hat damit ohne irgend einen ſtichhaltigen Grund69Einteilungen des Verbrechens. §. 18.die von jeher dem deutſchen Rechte eigene und allein natur - gemäße weil einfache Zweiteilung in ſchwere und leichte Fälle preisgegeben. Die Vorteile, welche §. 1 StGB. in redaktioneller Beziehung bietet, werden mehr als aufgewogen durch die vielen und ſchweren Zweifel, welche bei der prak - tiſchen Handhabung der Dreiteilung unvermeidlich ſind; die angebliche Vereinfachung der Kompetenzabgrenzung iſt, wie ein Blick auf das Gerichtsverfaſſungsgeſetz lehrt, nicht ein - getreten; und die oft (auch von Meyer) behauptete Not - wendigkeit einer Mittelſtufe wird durch den Umſtand als nicht vorhanden erwieſen, daß die Geſetzgebung ſelbſt, wenn ſie Verbrechen, Vergehen und Uebertretungen in der Behand - lung unterſcheidet,8Vgl. StGB. §§. 4, 6, 37; 40; 57 Nr. 4; 43, 49, 257;27, 29; 67; 74; 126, 240, 241; 151; 157 Nr. 1. den Vergehen in weitaus den meiſten Fällen (Ausnahme beim Verſuch, aber gerade hier in durch - aus verfehlter Weiſe) keine ſelbſtändige Stellung einräumt, ſondern dieſelben entweder mit den Verbrechen oder mit den Uebertretungen der Herrſchaft derſelben Grundſätze unterwirft.

Für die Anwendung der Dreiteilung ſind folgende (faſt ohne Ausnahme beſtrittene) Regeln zu merken:

1. Maßgebend iſt nicht die zu erkennende, ſondern die angedrohte Strafe; und zwar bei alternativer Strafdrohung die ſchwerſte der angedrohten Strafen (eine mit Gefäng - nis oder Haft bedrohte Handlung iſt immer Vergehen). Bei den, als Vielfaches eines abſolut beſtimmten Betrages (insbeſondere in den Zoll - und Steuergeſetzen) angedrohten Geldſtrafen entſcheidet das im konkreten Fall ſich er - gebende Maximum.

70Erſtes Buch. II. Das Verbrechen als Handlung.

2. Bei Erweiterungen des Strafrahmens wegen mil - dernder oder erſchwerender Umſtände iſt das Maximum des erweiterten Strafrahmens für alle normale, leichtere, ſchwerere Fälle maßgebend. Handelt es ſich dagegen um ſelbſtändige privilegirte oder qualifizirte Unterarten derſelben ſtrafbaren Handlung, ſo ſind die Strafrahmen ſowohl des Normalfalles, wie jene der Unterarten beſonders ins Auge zu faſſen. 9Die Grenzlinie iſt eine ſehr beſtrittene. Die Milderung der verwirkten Meineidſtrafe nach StGB. §§. 157 u. 158 gehört nicht hieher.

3. Die reduzirten Strafrahmen bei Verſuch, Beihilfe, Jugend ſind als Erweiterungen des normalen Strafrahmens zu betrachten.

II. Das Verbrechen als Handlung.

§. 19. Der Begriff der Handlung. 1Vgl. zum Folgenden dieim pſycholog. Teile ausgezeich - neten Ausführungen von Zitel - mann Irrtum u. Rechtsgeſchäft 1879. Treffliche Darſtellung ſchon bei Bekker Theorie des Strafrechts.

I. Das Verbrechen iſt wie das Delikt Handlung, d. h. willkürliche körperliche Bewegung. Genauer be - ſtimmt: willkürliche, d. h. bewußte und durch Vorſtel - lungen beſtimmte körperliche Bewegung; oder die durch einen pſychiſchen Akt hervorgerufene, von der Vorſtellung ihres Inhaltes begleitete Muskelerregung. Das iſt der engere und eigentliche, immer im Auge zu behaltende Begriff der Handlung. Ohne Handlung in dieſem Sinne iſt Delikt wie Verbrechen undenkbar.

71Der Begriff der Handlung. §. 19.

Daher ſind niemals Verbrechen:

1. Wegen mangelnder Körperbewegung die Ge - danken. Cogitationis poenam nemo patitur ſagt Ulpian in l. 18 Dig. 48, 19; und dieſer Satz muß um ſo entſchie - dener betont werden, als in jüngſter Zeit (Binding) dem Entſchluſſe an ſich die Bedeutung verurſachender deliktiſcher Thätigkeit beigelegt worden iſt.

2. Wegen fehlenden pſychiſchen Aktes.

a) die paſſiven Bewegungen, welche ohne Ver - mittlung der motoriſchen Nerven durch eine von Außen her unmittelbar auf die Muskeln wirkende Kraft her - vorgerufen werden. Abſolute Gewalt: ein Dritter führt ge - waltſam meine Hand zur Brandlegung; auf ſchmalem Alpen - pfade ſtrauchelnd, ſtürze ich meinen Begleiter in den Ab - grund.

b) Die Reflexbewegungen, bei welchen ein auf die Empfindungsnerven wirkender Reiz, unmittelbar ohne Ver - mittlung des Willens, die korreſpondierenden Bewegungs - nerven erregt. Die das Theebrett tragende Dienſtmagd nieſt heftig und zertrümmert das koſtbare Service.

3. Wegen Mangels der Vorſtellung (der Bewußt - heit, nicht des Bewußtſeins) alle Bewegungen, die nicht ins Bewußtſein treten. Der Zerſtreute nimmt den fremden Regenſchirm mit; zerreißt im Sprechen eine Ur - kunde uſw. Es genügt jedoch, wenn die Bewegung im All - gemeinen eine bewußte war, mögen auch die Details, wie dies nicht nur häufig, ſondern regelmäßig der Fall, ſich dem Bewußtwerden entziehen.

II. Die körperliche Bewegung ruft, kraft des Kauſalitäts - geſetzes, Veränderungen in der Außenwelt hervor. Man nennt dieſe Folgen Erfolg, und rechnet denſelben zur72Erſtes Buch. II. Das Verbrechen als Handlung.Handlung im weiteren Sinne. Die Vorſtellung des durch die Körperbewegung hervorzurufenden Erfolges iſt das we - ſentliche Merkmal im Begriffe des Vorſatzes; einem Be - griffe, der mit dem des Willens nicht verwechſelt werden darf.

Je nach der Verſchiedenheit der durch die Handlung übertretenen Normen geſtaltet ſich der Erfolg äußerlich ver - ſchieden.

a) Bei Uebertretung der allgemeinen, das Rechtsgut un - mittelbar ſchützenden negativen Normen (vgl. oben §. 3 II 1) beſteht der Erfolg nicht nur in dem Uebertretenſein der Norm, ſondern auch in der Verletzung, Gefährdung oder dem Angegriffenſein des geſchützten Rechtsgutes.

b) Bei den zum mittelbaren Rechtsgüterſchutze dienenden Gehorſams - und Ungehorſamsnormen dagegen (vgl. oben §. 3 II 2 und 3) beſteht der Erfolg der normwidrigen Handlung weſentlich nur darin, daß die Norm über - treten, ein von derſelben nicht gewollter Zuſtand herbeige - führt iſt.

Man hat nach dieſer Verſchiedenheit des Erfolges wohl zwiſchen Erfolgs - und Nichterfolgsdelikten, Rechts - und Ge - ſetzesverbrechen, materiellen und formellen Delikten unter - ſchieden. Doch haben alle dieſe Unterſcheidungen wenig Wert.

III. Wir können demnach bei der Handlung im weiteren Sinne (der erweiterten Handlungsreihe nach Zitelmann) drei allerdings nicht immer ſcharf von einander zu tren - nende Stadien unterſcheiden, von welchen jedes nach einer anderen Richtung hin von ſtrafrechtlicher Bedeu - tung iſt:

1. den Zeitpunkt, in welchem die körperliche Bewe -73Der Begriff der Handlung. §. 19.gung vorgenommen wird; Begehung der eigentlichen Hand - lung: wichtig für die Frage nach dem Vorliegen der Schuld (S. unten §. 25 V).

2. Den Zeitpunkt, in welchem der Erfolg eintritt: Voll - endung des Verbrechens.

3. Den Zeitraum zwiſchen den beiden Zeitpunkten, das Abrollen des durch die körperliche Bewegung in Bewegung geſetzten Kauſalzuſammenhanges: die Begehung der Handlung im weiteren, uneigentlichen Sinne, genauer: des Deliktes. Da aber jene Zeitpunkte keine mathematiſchen ſind, ſondern kleinere Zeiträume, müſſen wir näher abgrenzen. Der mitt - lere Zeitraum reicht von dem letzten körperlichen Akte bis zu dem Augenblicke, in welchem der Kauſalzuſammen - hang das Objekt trifft (die Kugel in den fremden Körper eindringt, der beleidigende Brief von dem Adreſſaten geleſen wird). Dies führt uns auf die früher ausgeſetzte (vgl. oben §. 12 V und 13 VI) Beantwortung der Frage nach dem Ort und der Zeit der begangenen That. 2Eine der beſtrittenſten Fra - gen. Aehnlich wie im Texte Haeberlin in GA. Bd. XXV. Lehrbb. und Kommentare des Strafr. u. StProzeßrechts be - handeln die Frage bei der Lehrevon der räumlichen und zeit - lichen Herrſchaft der Strafge - ſetze, bez. vom Gerichtsſtande der begangenen That. Vgl. auch Hälſchner GS. XXX.

IV. Die nach dem Kauſalitätsgeſetze wirkenden Naturkräfte ſind das Werkzeug in der Hand des Menſchen, das Mittel zur Verwirklichung ſeiner Zwecke. Der Menſch handelt (das Wort im weiteren Sinne genommen), ſo lange dieſe Kräfte wirken; er hat gehandelt, ſo bald ſie ihr Ziel erreichten. Freilich wirken die Naturkräfte vielleicht noch in dem getroffenen Objekte fort; die tödtliche Wunde führt74Erſtes Buch. II. Das Verbrechen als Handlung.langſam zum Tode: aber von jenem Augenblicke an hat der Thäter das Werkzeug aus der Hand gelegt, um paſſiv das Reſultat abzuwarten. Das Verbrechen wird alſo begangen während der ganzen Dauer des oben unter III 3 bezeich - neten Zeitraumes; es iſt begangen (Perfektum) in dem Augenblicke in welchem, an dem Orte an welchem die ablaufende Kauſalitätsreihe das bedrohte Objekt trifft. Dasſelbe meint wohl auch das RGR., wenn es (13. März 1880, E I 274) jenen Ort als Thatort bezeichnet, an welchem die von dem Thäter durch die von ihm benutzten oder in Bewegung geſetzten Kräfte erzielte Wirkſamkeit mit ſeinem Willen in die Erſcheinung tritt . Beiſpiele: A in Paris ſchickt am 1. Januar 1880 einen beleidigenden Brief an B in Berlin, den dieſer am 3. Januar 1880 erhält und lieſt; Berlin iſt Begehungsort, der 3. Januar der Zeitpunkt der Begehung. A hat am 1. Januar 1880 diesſeits der deut - ſchen Grenze ſtehend einen jenſeits derſelben befindlichen Franzoſen durch einen Schuß verwundet; der Getroffene ſtirbt in einem deutſchen Spitale am 8. Januar 1880; die That iſt am 1. Januar 1880 und zwar in Frankreich be - gangen. Beſonders bei fahrläſſigen Delikten iſt ein ſolches Auseinanderfallen des erſten und des letzten Gliedes der kauſalen Kette in zeitlicher wie in örtlicher Beziehung häufig. 3Bezügl. der vielbeſprochenen Preßdelikte vgl. mein Reichs - preßrecht §. 41.

Einzelanwendungen.

1. Anſtiftung und Beihülfe ſtehen unter der allge - meinen Regel. Dort wo der Anzuſtiftende den Rat uſw., wo der Thäter die Hülfeleiſtung empfängt, und in dem Augen - blicke, in welchem dies geſchieht, dort und dann iſt Anſtif -75Der Begriff der Handlung. §. 19.tung und Beihülfe begangen. Z. B. A in Paris beſtimmt durch einen am 1. Januar 1880 abgeſchickten, am 3. Januar 1880 eingetroffenen Brief den B in Berlin zur Ermordung des in London befindlichen C; wenn die That in London am 1. Februar 1880 ausgeführt wird, ſo iſt die Anſtiftung in Berlin am 3. Januar begangen (quod nunc demum apparuit).

2. Dagegen entſcheidet bei Begehung der That durch einen Anderen, mag dieſer zurechnungsunfähig oder ge - täuſcht oder gezwungen ſein, Ort und Zeit der Handlung des Werkzeuges. Wenn ich durch einen Blödſinnigen einen jenſeits der Grenze befindlichen Gegenſtand wegnehmen laſſe, ſo habe ich ihn jenſeits der Grenze weggenommen. Die verſchiedene Entſcheidung der beiden Fälle hat ihren Grund darin, daß Anſtiftung und Beihülfe Teilnahme an dem Thun eines Andern, Handeln durch ein Werkzeug dagegen eigenes Handeln iſt (vgl. unten §. 35).

3. Trifft die Handlung das Objekt überhaupt nicht, ſo iſt ſie dort und dann begangen, wo und wann das letzte Glied der Kette abbricht; es entſcheidet der letzte Vorberei - tungs - oder Verſuchsakt uſw.

4. Eine als juriſtiſche Einheit zu betrachtende Hand - lungsreihe, z. B. das fortgeſetzte oder das fortdauernde De - likt (vgl. unten §. 39 II) darf auch in Bezug auf unſere Frage nicht in ſeine unſelbſtändigen Teile auseinander ge - riſſen werden. Es iſt überall dort begangen, wo ein ſolcher Teil geſetzt worden, und während der ganzen Dauer der Handlungsreihe. Eine dadurch veranlaßte Kolliſion zwiſchen fremdem und einheimiſchem Rechte iſt zu Gunſten des letz - teren, zwiſchen ſpäterem und früherem Rechte zu Gunſten des milderen zu entſcheiden (die mehreren Gerichtsſtände ſind gleichberechtigt).

76Erſtes Buch. II. Das Verbrechen als Handlung.

§. 20. Die Lehre vom Kauſalzuſammenhange. 1Lit. bei Meyer Lehrbuch S. 178 Note 1. Insbeſondere die Schriften von v. Bar, v. Buri, Binding. Dazu Buri GS. XXIX. Cohn Zur Lehre vom verſuchten u. unvoll. Verbr. I 1880 S. 488 ff. Hertz Das Unrecht und die allgem. Lehren des Strafr. I. Bd. 1880. S. 167 ff. Der Text nähert ſich am meiſten der v. Buri - ſchen Auffaſſung. Seine phil. Begründung ſ. bei John Stuart Mill in deſſen Syſtem der Logik I. Bd.

I. Der Erfolg muß Folge der körperlichen Bewegung, dieſe muß ſeine Urſache ſein; Handlung und Erfolg müſſen im Kauſalzuſammenhange ſtehen. Wann iſt dies der Fall? wann kann der Erfolg auf eine menſchliche Thätigkeit als ſeine Urſache zurückgeführt werden?

Im ſtrengen Sinne iſt Urſache die Geſammtheit (die Totalität, nicht die Summe) aller Faktoren, durch deren Zuſammenwirken der Erfolg herbeigeführt wurde; oder, da man jeden einzelnen dieſer Faktoren Bedingung nennt, die Geſammtheit der Bedingungen des Er - folges. Die Zahl der einzelnen Bedingungen iſt eine un - endliche, räumlich und zeitlich unbegrenzte. Dieſer Begriff der Urſache iſt demnach für die praktiſche Betrachtung, auch für die juriſtiſche, unbrauchbar; ſie hält ſich an einzelne Bedingungen, und meint dieſe, wenn ſie von Urſache ſpricht. Für die Auswahl dieſer Urſache aus den Be - dingungen iſt lediglich der Standpunkt des Beobachters maßgebend; mit anderen Worten: ein objektiver realer Unter - ſchied zwiſchen den verſchiedenen Bedingungen exiſtiert nicht, keine von ihnen iſt an ſich, ſondern immer nur im Zuſam -77Die Lehre vom Kauſalzuſammenhange. §. 20.menwirken mit allen übrigen kauſal. Alle Bedingungen ſind objektiv gleichwertig; eine Verſchiedenheit exiſtiert nur in un - ſerer ſubjektiven Vorſtellung. So gelangen wir zu dem (nur ſcheinbar dem Begriffe der Urſache widerſprechenden) Reſultate: jede Bedingung iſt kauſal. Und mit Rück - ſicht auf die menſchliche Handlung: wer immer durch ſeine Körperbewegung eine Bedingung zu dem eingetretenen Erfolge geſetzt hat, hat denſelben mit bewirkt.

II. Die praktiſchen Konſequenzen dieſes Satzes werden wir ſofort kennen lernen. Aber vorher iſt eine ſcheinbare Abſchweifung nötig.

Je nach dem Standpunkte unſerer Betrachtung iſolieren wir eine oder die andere Bedingung und nennen ſie Urſache. Wir gelangen zur Wahl, indem wir entweder

1. eine Anzahl von Bedingungen, weil regelmäßig vor - handen, als gegeben vorausſetzen, und nun die ausnahms - weiſe hinzutretende als Urſache bezeichnen; oder

2. indem wir uns die günſtigen und ungünſtigen Be - dingungen als ſich das Gleichgewicht haltend vorſtellen, ſo daß uns die hinzutretende das Gleichgewicht ſtörende Be - dingung als Urſache erſcheint.

Auf dem erſten Wege gelangt v. Bar, auf dem zweiten Binding zu ſeiner Definition des Urſachenbegriffes. Beide Definitionen ſind nicht nur identiſch ſondern auch an ſich gleich richtig. Beide werden gleich unrichtig, ſobald man glaubt, daß dieſer Urſache reale Exiſtenz zukommt, und darauf weitere Schlüſſe baut. Wenn die beiden regelmäßig vorhandenen Kräfte a und b den Punkt M nach N bewegen, und nun durch das Hinzutreten der Kraft c eine Bewegung nach N′ eintritt, oder wenn die gleich ſtark gedachten Kräfte -78Erſtes Buch. II. Das Verbrechen als Handlung.maſſen + a und b den Punkt M im Gleichgewichte halten und nun die hinzutretende Kraft c den Punkt nach N′ be - wegt, ſo können wir (ungenau) in beiden Fällen die Kraft c als die Urſache der Bewegung von M nach N′ bezeichnen; aber nie dürfen wir vergeſſen, daß die Bewegung in Wahr - heit durch das Zuſammenwirken der drei Kräfte a und b und c verurſacht worden iſt.

III. Daraus ergiebt ſich die außerordentlich wichtige Konſequenz, daß ein und derſelbe Erfolg auf mehrere menſchliche Handlungen als ſeine Urſachen zurück - geführt werden kann, einerlei, ob ihr Zuſammenwirken ein gleichzeitiges oder ein ſucceſſives iſt. Insbeſondere kann der unmittelbar durch das Handeln des B herbeigeführte Erfolg mittelbar auf das (vorſätzliche oder fahrläſſige) Thun des A zurückgeführt werden. Eine Unterbrechung des Kauſal - zuſammenhanges wie man ſich möglichſt ſchief ausdrückt, genauer ein (juriſtiſches) Zurückführen des Erfolges auf die nächſte Urſache (die Handlung des B) findet nur ſoweit kraft poſitivrechtlicher Anordnung ſtatt, als dieſe nächſte Ur - ſache die freie (d. h. nicht im Notſtande StGB. §§. 52 und 54 begangene) von der Vorſtellung ihrer Kau - ſalität begleitete Handlung eines Zurechnungsfähi - gen iſt. Insbeſondere ſteht der Annahme des Kauſal - zuſammenhanges die eigene Fahrläſſigkeit des Beſchädigten nicht entgegen, RGR. 12. April 1880, E I 373, R I 578.

Beiſpiel. Wenn A dem B ein geladenes Gewehr mit der Aufforderung in die Hand giebt, auf den C loszudrücken, und B in der Meinung es ſei nicht geladen dies thut, ſo kann B wegen fahrläſſiger und neben ihm A wegen vor - ſätzlicher oder fahrläſſiger Tötung des C zur Verantwortung gezogen werden (ſo auch meiſt die Praxis gegen die Anſicht79Die ſogenannten Unterlaſſungsdelikte. §. 21.der Mehrzahl der Theoretiker). Hat dagegen B die Kauſa - lität ſeiner Handlung gekannt, ſo kann A nur, wenn Vorſatz bei ihm vorliegt, als Anſtifter ſtrafbar gemacht werden; hat er fahrläſſig gehandelt, ſo bleibt er ſtraflos. (Vgl. darüber das Nähere unten §. 35.)

IV. Zurechnen (vgl. unten §. 27 IV) heißt einen Erfolg auf die Schuld eines Menſchen zurückführen. Daraus folgt ein Doppeltes. Bei mangelndem Kauſalzuſammenhang iſt Zurechnung ausgeſchloſſen. Iſt dagegen der Kauſalzuſammen - hang konſtatiert, ſo muß überdies Schuld (Vorſatz oder Fahrläſſigkeit) vorliegen, damit der Erfolg zugerechnet werden kann. Die Kauſalitätsfrage und die Schuldfrage ſind ſtrenge zu trennen (anders v. Bar); mit dieſer Trennung entfallen auch alle Bedenken, die gegen die im Texte vertretene laxe (ſoll heißen: ſtreng-logiſche) Faſſung des Urſachenbegriffes erhoben zu werden pflegen.

§. 21. Die ſogenannten Unterlaſſungsdelikte. 1Lit. bei Meyer Lehrbuch S. 182 Note 1. Schriften von Luden, Krug, Glaſer, Mer - kel, v. Bar, v. Buri, Ort - mann, Binding. Dazu neuerdings Cohn S. 533 ff., Hertz S. 196 ff., SchwalbachGS. XXXI. Am beſten immer noch die Ausführungen von Luden. Binding’s Behand - lung der Unterlaſſungsdelikte iſt mir der ſicherſte Beweis für die Unhaltbarkeit ſeines Urſachen - begriffes.

I. Wir haben das Verbrechen als Handlung definiert; wie verhalten ſich dieſer Definition gegenüber die Unter - laſſungsdelikte? Wenn ſie keine Handlungen ſind, ſo war unſere Definition, weil zu eng, falſch und bedarf der Kor -80Erſtes Buch. II. Das Verbrechen als Handlung.rektur; wenn ſie aber Handlungen ſind, warum ſpricht man von Unterlaſſungen?

Man könnte verſucht ſein, die Unterlaſſungen als nega - tive rein pſychiſche Handlungen aufzufaſſen: die bewußte und durch Vorſtellungen beſtimmte Nicht-Erregung der motoriſchen Nerven. Auch der Entſchluß, nicht zu handeln iſt ja ein pſychiſcher Akt.2Im Grunde genommen iſt die Binding’ſche Konſtruktion der ſog. unechten Unterlaſſungs -delikte auf dieſen Gedanken zurückzuführen. Aber abgeſehen davon, daß wir damit den nicht in Bewegung umgeſetzten Gedanken, (denn mehr als eine Vorſtellung, deren Sieg entſchieden, iſt der Entſchluß nicht) zum Verbrechen ſtempeln, ſcheitert dieſer Verſuch an der nicht wegzuleugnenden Thatſache der fahrläſſigen Unterlaſſungsdelikte, bei welchen ein ſolcher Entſchluß nicht vorliegt.

Oder man könnte das Schwergewicht auf die der Unter - laſſung vorangehende poſitive Thätigkeit legen, wie Krug, Glaſer, Merkel das gethan; damit rettet man den Be - griff der Handlung, vernichtet aber die Unterlaſſung völlig, und gerät in weitaus den meiſten praktiſchen Fällen mit dem oberſten Grundſatze der Schuldlehre: die Schuld muß im Augenblicke der Verurſachung vorhanden ſein in unlösbaren Widerſpruch.

II. Es iſt ein anderer Weg noch möglich, der nur darum von den Meiſten überſehen wird, weil er ſo nahe liegt. Unterlaſſen heißt nicht Nichtsthun, ſondern: Etwas nicht thun; das nicht thun, was erwartet, was geſollt wurde. Unterlaſſung iſt Nichtthätigkeit mit Rückſicht auf ein ganz be - ſtimmtes erwartetes Thun; nicht ein Nicht-Handeln, ſon -81Die ſogenannten Unterlaſſungsdelikte. §. 21.dern ein Andershandeln. 3Vgl. Luden Abhandlgn. II S. 221; v. Bar Kauſal - zuſammenhang S. 97. Zu dem - ſelben Reſultate gelangt übrigensBinding ſelbſt (Normen II S. 447 ff. ) bezüglich der ſogen. echten Unterlaſſungsdelikte.Man kann nie ſagen: er hat unterlaſſen, ſondern immer nur: er hat dies oder jenes unterlaſſen. Damit iſt der Charakter der Unterlaſſungen als poſitiver Handlungen, die wie alle anderen kauſal ſein können, nachgewieſen. Und nur die eine Frage erhebt ſich: warum bezeichnen wir als Juriſten gerade ein gewiſſes Andershandeln nach ſeiner negativen Seite? Die Antwort lantet: weil wir gerade ein beſtimmtes Thun erwartet haben. Zu dieſer Erwartung ſind wir aber nur dann be - rechtigt, wenn der zu Beurteilende zu jenem beſtimmten Thun verpflichtet war. Somit lautet die Frage: Wann tritt die Verpflichtung zu einem beſtimmten poſi - tiven Thun ein? Die Exiſtenz dieſer Pflicht macht die Unterlaſſung nicht erſt kauſal, ſondern ſtrafbar, macht ſie nicht erſt zur Handlung, ſondern berechtigt uns, das Anders - handeln nur von ſeiner negativen Seite ins Auge zu faſſen.

1. Bei den durch Strafdrohung ſanktionirten Geboten des Rechts entſteht die Pflicht, eine beſtimmte Handlung vor - zunehmen, unmittelbar durch die Gebote ſelbſt. Man nennt die Uebertretungen dieſer Gebote echte Unterlaſſungs - oder Omiſſivdelikte.

2. Bei den negativen pönaliſirten Imperativen, den Ver - boten, muß dagegen die Pflicht zu einem beſtimmten kon - kreten Thun anderweitig begründet ſein. Nur durch dieſen Umſtand, nicht aber in ſeiner inneren Struktur unterſcheidet ſich das ſog. unechte Unterlaſſungsdelikt, das delictum pervon Liszt, Strafrecht. 682Erſtes Buch. II. Das Verbrechen als Handlung.omissionem commissum von der unter 1 beſprochenen Gruppe. Die Pflicht zum Handeln aber kann liegen:

a) in einer Rechtsnorm, die einem anderen als dem ſtrafrechtlichen Gebiete angehört (Pflicht der Eltern zur Er - nährung der Kinder, die vertragsmäßige Verpflichtung des Eiſenbahnperſonales, die Dienſtpflicht des Gefangenaufſehers, die Amtspflicht des Beamten uſw. );

b) in der vorhergegangenen Uebernahme oder An - maßung der Herrſchaft über den Ablauf der Kau - ſalitätsreihe, ſo daß das ſpätere Unterlaſſen als Auf - geben dieſer Herrſchaft, als ein Fahrenlaſſen der ergriffenen Zügel erſcheint. 4Aehnlich Binding Normen II S. 259 ff. Auch Merkel (krimin. Abhandlgn. I) verlangt, daß der Thäter die IntereſſenAnderer in zurechenbarer (?) Weiſe auf die Vornahme ent - ſprechender Handlungen geſtellt habe. Die gewöhnlichen Beiſpiele: der gute Schwimmer A hat den ſchlechten Schwimmer B durch das Verſprechen eventueller Hülfeleiſtung zu einer Schwimmpartie beſtimmt; in dem Augenblicke als B’s Kräfte nachlaſſen, faßt A den Tötungsvorſatz, und läßt B unterſinken. Oder: der Kutſcher läßt die Pferde über den im Wege liegenden Betrunkenen hinweg gehen.

Alle dieſe Fälle Gruppe I und Gruppe II a und b ſind ihrem innerſten Weſen nach gleich; ſcheinbar Un - terlaſſungen ſind ſie in Wahrheit Handlungen. Ihr Unter - ſchied liegt einzig und allein in dem verſchiedenen Grunde der Verpflichtung zu einem ganz beſtimmten Handeln. Sie wären kauſal auch ohne die Pflicht; aber ſie wären für den Kriminaliſten dann nicht ſtrafbare Unterlaſſungen, ſon - dern rechtlich indifferente Handlungen.

III. Eine nach dem Geſagten ſelbſtverſtändliche Konſe -83Mangelnde Rechtswidrigkeit im Allgemeinen. §. 22.quenz ſei ausdrücklich betont: Im Augenblicke des Unter - laſſens, d. h. in dem Augenblicke, in welchem das beſtimmte Thun vorzunehmen war, muß Schuld d. h. Zurechnungs - fähigkeit einerſeits, Vorſatz oder Fahrläſſigkeit andrerſeits vorgelegen haben. Zurückbeziehung auf einen früheren Zeit - punkt iſt hier wie überall unbedingt unzuläſſig.

III. Das Verbrechen als rechtswidrige Handlung.

§. 22. Die Ausſchließungsgründe der Rechtswidrigkeit im allgemeinen.

I. Das Verbrechen iſt wie das Delikt rechtswidrige Handlung; genauer: willkürliche Körperbewegung mit rechts - widrigem Erfolge. Die Handlung führt herbei oder ver - hindert, was die Norm vermieden oder bewirkt wiſſen will. Der Erfolg muß alſo der Norm widerſprechen.

Die Norm iſt aber eine Regel mit Ausnahmen. Sie verlangt nicht unbedingt und in allen Fällen Gehorſam, ſon - dern verzichtet unter gewiſſen Vorausſetzungen auf ihre bin - dende Kraft und hört damit, da ein nicht imperativer Im - perativ nicht denkbar iſt, auf, Norm zu ſein. Der Erfolg darf mithin nicht einer Ausnahme von der Herrſchaft der Norm entſprechen.

Solche Ausnahmen ſind im modernen Rechte meiſt aus - drücklich, hie und da aber auch leider ſtillſchweigend ausgeſprochen. Sie finden ſich teils im Strafgeſetzbuch ſelbſt, teils auf anderen Rechtsgebieten.

Das StGB. behandelt die Lehre von der Normwidrig - keit ohne jede innere Folgerichtigkeit. Es hebt bei einer ein -84Erſtes Buch. III. Das Verbrechen als rechtswidr. Handl.zelnen ſtrafbaren Handlung (Beleidigung §. 193) eine ganze Reihe von Umſtänden ausdrücklich hervor, die nicht nur hier, ſondern überall die Rechtswidrigkeit ausſchließen; es nimmt bei einer Anzahl von ſtrafbaren Handlungen das Merkmal der Rechtswidrigkeit in den beſonderen Thatbeſtand auf, um damit bei dieſen (und nur bei dieſen) Delikten das Bewußt - ſein der Rechtswidrigkeit als zum Vorſatze weſentlich zu be - zeichnen (vgl. unten §. 28 II); es regelt endlich in ſeinem allgemeinen Teile die Behandlung der Notwehr und des Notſtandes, durch deren Vorliegen die Rechtswidrigkeit des in Frage ſtehenden Thuns ausgeſchloſſen wird.

Ohne Rechtswidrigkeit des Handelns kann weder von De - likt noch von Verbrechen die Rede ſein. Es iſt daher ſtraf - bare Teilnahme an einer ſolchen Handlung nicht möglich (vgl. unten 35 II), während allerdings dritte Perſonen, welchen gegenüber die Gründe für die Ausſchließung nicht zutreffen, durch ihre Beteiligung ſich (als Thäter) eines ſtrafbaren Thuns ſchuldig machen können. Wohl aber iſt die an ſich nicht rechtswidrige Handlung, ſobald ſie über das eng umgrenzte Gebiet der ausnahmsweiſen Nichtherrſchaft der Norm hinausgreift, bezüglich dieſes Uebermaßes (ſoweit das - ſelbe ausgeſchieden werden kann) den allgemeinen Regeln unterworfen. Auch ſteht die irrige Subſumption der That unter eine der Ausnahmen der irrigen Nichtſubſumption unter die Regel juriſtiſch durchaus gleich. (Vgl. unten §. 35 II 3).

II. Unter den nicht im StGB. ſelbſt enthaltenen Aus - nahmen von der regelmäßigen Herrſchaft der Normen ſind (abgeſehen von den bereits oben §. 14 I beſprochenen Fällen) die folgenden von größerer Wichtigkeit.

1. Pflichtgemäße Ausübung eines öffentlichen85Mangelnde Rechtswidrigkeit im Allgemeinen. §. 22.Amtes ſchließt die Rechtswidrigkeit des Thuns aus. Man denke an Hausdurchſuchungen, Beſchlagnahme, Verhaftungen, Vollſtreckung von rechtskräftig erkannten Strafen uſw. Jede Ueberſchreitung der Amtsbefugniſſe dagegen macht die Hand - lung bezüglich dieſes Uebermaßes zu einer rechtswidrigen.

Da blinder Gehorſam gegenüber Befehlen des Vorge - ſetzten, von ausdrücklichen geſetzlichen Anordnungen (z. B. Mil. StGB. §. 47) abgeſehen, in der Amtspflicht nicht be - gründet iſt, ſo wird durch ſolchen Gehorſam an dem rechts - widrigen Charakter der Handlung nichts geändert.

2. Die Handlung iſt keine rechtswidrige, wenn ſie kraft einer beſonderen Berechtigung und innerhalb der Grenzen derſelben vorgenommen wurde. Die verſchiedenſten Fälle ge - hören hieher. Zu erwähnen ſind:

a) Erlaubte Selbſthülfe. Ueber die deutſchrechtliche Privatpfändung vgl. die bei Windſcheid §. 123 Note 7 angeführte Litteratur.

b) Erziehungs - und Disziplinargewalt; ſoweit eine ſolche den Eltern gegenüber den Kindern, dem Lehrer gegenüber ſeinen Schülern (vgl. RGR. 14. April 1880, R I 593, E II 10),1Vgl. v. Schwarze GS. XXIX. dem Lehrherrn gegenüber dem Lehrling (Gewerbe-Ordnung vom 21. Juni 1869 §. 119), dem Schiffer gegenüber der Bemannung des Schiffes (See - mannsordnung vom 27. Dezember 1872 §. 79 Abſ. 2), dem Ehemanne etwa nach Landesrecht2Ueber das gem. Recht vgl. Windſcheid §. 490 Note 11. gegenüber der Ehefrau (München 17. April 1875), der Kirche gegenüber ihren An - gehörigen, der Dienſtherrſchaft gegenüber dem Geſinde3Vgl. RGR. 12. April 1880, R I 573, E II 7. uſw. eingeräumt iſt. Zu beachten iſt, daß die Ausübung dieſes86Erſtes Buch. III. Das Verbrechen als rechtswidr. Handl.Rechtes, dauernd oder vorübergehend, von dem Berechtigten dritten Perſonen (von den Eltern dem Dienſtmädchen) über - tragen, daß ferner in manchen Fällen (Züchtigung eines mutwilligen Knaben durch beläſtigte Vorbeigehende) die Zu - ſtimmung des Berechtigten vorausgeſetzt werden kann.

c) Die in der StPO. §. 127 ausgeſprochene Ermächti - gung zur vorläufigen Feſtnahme eines auf friſcher That betroffenen oder verfolgten Verbrechers.

d) Die aus der geſetzmäßigen Ausübung eines öffent - lichen Berufes ſich ergebende Berechtigung zu Vornahme der - jenigen Handlungen, welche nach den Regeln der betreffenden Kunſt oder Wiſſenſchaft im konkreten Falle geboten ſind. Nach dieſem Geſichtspunkte ſind chirurgiſche Operationen überhaupt, iſt insbeſ. die vielbeſprochene Perforation4Lit. bei Meyer Lehrbuch S. 246 N. 8, dazu Janka Notſtand S. 262. (Zerſtück - lung der Frucht im Mutterleibe) zu beurteilen. Doch wäre gerade für dieſe Fälle geſetzliche Abgrenzung die Berechtigung dringend wünſchenswert.

3. Die von dem Träger eines Rechtsgutes gegebene Einwilligung zur Verletzung desſelben ſchließt die Rechts - widrigkeit der Verletzung nur dann und nur ſoweit aus, wenn und ſoweit die öffentliche Rechtsordnung dem Träger des Rechtsgutes die Dispoſition über dasſelbe eingeräumt hat. 5Lit. bei Binding Grund - riß S. 153.Sie wird die Dispoſition verſagen, wenn ſie dem betreffenden Rechtsgute eine über die Perſon ſeines Trägers hinausreichende Bedeutung beilegt. Ob ſie es gethan, iſt aus dem ganzen Zuſammenhange der geſetzlichen Beſtim - mungen, nicht nur aus den Verbrechens-Definitionen zu ent - nehmen. So bleibt die Tötung, auch wenn der Getötete87Mangelnde Rechtswidrigkeit im Allgemeinen. §. 22.ſie ernſtlich und ausdrücklich verlangt hat, rechtswidrige wenn auch milder beſtrafte Handlung (StGB. §. 216), während Beleidigung, Verletzung der weiblichen Geſchlechtsehre, Be - ſchränkung der perſönlichen Freiheit, Eingriffe in fremde Vermögensrechte uſw. (unter gewiſſen Vorausſetzungen) durch die Einwilligung des Verletzten den deliktiſchen Charakter verlieren. Der Satz volenti non fit injuria, abgeleitet von l. 1 §. 5 Dig. 47, 10 iſt in dieſer Allgemeinheit nach römi - ſchem wie nach heutigem Rechte unrichtig.

4. Die von dem Träger eines Rechtsgutes ſelbſt vorgenommene Verletzung desſelben6Lit. bei Binding Grundriß S. 152. ſollte principiell ebenſo beurteilt werden, wie die mit Einwilligung des Ver - letzten von einem Dritten ausgehende Handlung. Doch hat das poſitive Recht, von ſekundären Geſichtspunkten geleitet, die Grenzlinie dort vielfach anders beſtimmt als hier. Bei - ſpiele bietet die im modernen Rechte ziemlich allgemein an - genommene Beurteilung des Selbſtmordes, der Selbſtbe - fleckung, Selbſtkaſtration uſw. Die Selbſtverſtümmlung iſt nur ausnahmsweiſe (StGB. §. 142 Vereitlung der Wehr - pflichterfüllung) als Delikt behandelt.

5. Soweit das poſitive Recht eine totale oder par - tielle Rechtloſigkeit kennt, ebenſoweit ſchließt dieſe die Rechtswidrigkeit aller oder gewiſſer Verletzungen aus. Dem heutigen Rechte iſt eine ſolche Auffaſſung völlig fremd. Die unbefugte Tötung des zum Tode verurteilten Verbrechers unterliegt den allgemeinen Regeln. Anders dachte das ältere Recht: man erinnere ſich an die römiſche sacratio capitis, die germaniſche Friedloſigkeit, die Oberacht des mittelalter - lich deutſchen Rechtes; an die Rechtloſigkeit der Zigeuner88Erſtes Buch. III. Das Verbrechen als rechtswidr. Handl.nach zahlreichen Reichsgeſetzen des 16. Jahrhunderts,7Vgl. Binding Grundriß S. 153. die Ehrloſigkeit der Gottesläſterer nach den Reichspolizeiord - nungen von 1548 und 1577 uſw.

§. 23. Die Notwehr. 1Lit. bei Binding Grund - riß S. 154. Dazu v. Buri GS. XXX.

I. Notwehr iſt die zur Abwehr eines gegenwärti - gen rechtswidrigen Angriffes erforderliche Vertei - digung durch Verletzung des Angreifers. Sie iſt Rechtsgüterſchutz durch Rechtsgüterverletzung; Aufrechthaltung der bedrohten Rechtsordnung durch den oder die einzelnen Staatsbürger, Die Notwehrhandlung iſt zu allen Zeiten und bei allen Völkern, wenn auch in verſchiedenem Umfange, als eine nicht nur nicht ſtrafbare, ſondern als eine nicht rechtswidrige Rechtsgüterverletzung anerkannt worden; die Rechtsordnung hat von jeher in entwickelteren Rechten durch ausdrückliche Anordnung die von dem Einzelnen ausgehende Abwehr des unmittelbar drohenden Unrechtes in der Geſtalt der Notwehr ſanktionirt. Auf dieſer ſtaat - lichen Sanktion und nicht etwa auf einem angeborenen Rechte (Cicero: non scripta sed nata lex) beruht die Rechtmäßigkeit der Notwehrhandlung.

II. Begriffsmerkmale (StGB. §. 53).

1. Der Angriff muß

  • a) ein rechtswidriger, d. h. nicht berechtigter (vgl. oben §. 22) ſein. Daher iſt Notwehr nicht möglich89Die Notwehr. §. 23.gegenüber dem in rechtmäßiger Amtsausübung be - findlichen Beamten, gegenüber der Handhabung eines Disziplinarrechtes uſw. ; nicht möglich gegenüber der Notwehrhandlung ſelbſt oder der Notſtandshandlung (vgl. unten §. 24 III). Wohl aber wird ſie in dem Augenblicke berechtigt, in welchem eine Ueberſchreitung den an ſich rechtmäßigen Angriff zu einem rechts - widrigen macht, alſo auch gegenüber einem Exceſſe der Notwehr. Auch gegen den von einem Tiere oder oder einem Zurechnungsunfähigen ausgehenden Angriff iſt Notwehr möglich;
    2Anders die herrſchende An - ſicht, die, das Wort rechts - widrig unrichtig auslegend, in einem ſolchen Falle Notſtandannimmt. Lit. bei Binding Grundriß S. 155.
    2 denn dieſer Angriff kann zwar kein deliktiſcher (ſchuldhafte Rechtswidrigkeit) wohl aber ein nicht berechtigter (objektive Rechtswidrigkeit) ſein. Die entgegengeſetzte Anſicht würde die Vertei - digung in einem ſolchen Falle auf gegen Leib und Leben (StGB. §. 54) gerichtete Angriffe einſchränken müſſen. Ob der Angriff ein vorhergeſehener war oder nicht, ob er von dem Angegriffenen verſchuldet worden oder nicht, iſt nach dem heutigen Rechte irre - levant. 3Intereſſante Kaſuiſtik bei Binding Normen II S. 201 ff.
  • b) Der Angriff muß ferner ein gegenwärtiger ſein, d. h. unmittelbar bevorſtehen oder bereits begonnen haben. Es braucht daher einerſeits der Beginn des An - griffes nicht abgewartet zu werden, während andrerſeits auch der bereits begonnene aber noch fortgeſetzte90Erſtes Buch. III. Das Verbrechen als rechtswidr. Handl.Angriff abgewehrt werden kann. Ausgeſchloſſen iſt Notwehr dagegen
    • α) gegenüber einem erſt in der Zukunft drohen - den Angriffe. Schutzmaßregeln gegen künftige Verletzungen, wie Fußangeln, Selbſtgeſchoſſe, Wolfsgräben, ſind, wenn ſie erſt im Augenblicke des Angriffes funktioniren ſollen, geſtattet, ſoweit ſie nicht (was allerdings meiſt der Fall ſein wird) die Grenzen der erforderlichen Verteidi - gung überſchreiten.
      4Lit. bei Meyer Lehrbuch S. 250 Note 9.
      4
    • β) Gegenüber dem beendeten Angriffe. Da der Diebſtahl nicht ſchon mit der Ergreifung der Sache ſondern erſt mit dem Bruche des Gewahr - ſams vollendet wird, iſt Notwehr gegen den flüchtigen Dieb (aber ex continenti non ex inter - vallo l. 3 §. 9 Dig. 43, 16) allerdings unter Umſtänden zuläſſig.
      5Lit. bei Meyer Lehrbuch S. 250 Note 10.
      5
  • c) Der Angriff muß gegen irgend ein Rechtsgut, d. h. gegen ein rechtlich geſchütztes Intereſſe gerichtet ſein. Das Geſetz macht unter den Rechtsgütern keinen Unter - ſchied. Auch zum Schutze politiſcher Rechtsgüter iſt Notwehr zuläſſig.

2. Die Verteidigung darf

  • a) die Grenzen des unbedingt Notwendigen nicht über - ſchreiten. Das Maß der erforderlichen Verteidigung liegt in der Intenſität des Angriffes.
    6Lit. bei Meyer Lehrbuch S. 251 Note 12.
    6Iſt die Ab - wehr des Angriffes auf andere Weiſe nicht möglich,91Die Notwehr. §. 23.ſo kann auch das unbedeutendſte Rechtsgut durch Tötung des Angreifers geſchützt werden.
    7Treffende Bemerkungen ge - gen die abweichende Anſicht der älteren Schriftſteller in Ihe - ring’s Kampf ums Recht. Dagegen verwahrt ſich Geyer (zuletzt in v. Holtzendorff’sHandb. IV S. 94) gegen dieſe Totſchlägermoral .
    7Die Anſicht, nach welcher die Möglichkeit einer unſchimpflichen Flucht, des Anrufens fremder Hülfe uſw. die Rechtmäßigkeit der Notwehrhandlung ausſchließen ſoll, kann als eine heute allgemein aufgegebene bezeichnet werden.
  • b) Die Notwehr iſt nicht nur zum Schutze eigener, ſon - dern als Nothülfe auch zum Schutze fremder Rechts - güter geſtattet. Die Beſchränkung auf eine Bedrohung der Angehörigen (wie beim Notſtande StGB. §§. 52 u. 54) iſt hier unſerem Rechte fremd.

III. Sobald die Grenzen der erforderlichen Verteidigung überſchritten ſind, unterliegt die weitere Verteidigung als rechtswidrige Rechtsgüterverletzung den allgemeinen Re - geln. Doch bleibt nach §. 53 StGB. die durch Beſtür - zung, Furcht oder Schrecken herbeigeführte Ueberſchrei - tung ſtraflos; es liegt hier zwar eine objektiv ſtrafbare Hand - lung, zugleich aber auch ein ſubjektiver Strafausſchließungs - grund (unten §. 30 III 3) vor.

Die irrige Annahme der Notwehr iſt als irrige Sub - ſumption der That unter eine Ausnahme von der Herrſchaft der Norm nach den allgemeinen Grundſätzen (vgl. unten §. 28 II) zu beurteilen. Dasſelbe gilt von dem Eintritte des Erfolges bei einem anderen als dem vorgeſtellten Objekte (aberratio ictus oder error in objecto; vgl. unten §. 28 V). 8Gerade dieſe Fälle werden in der Praxis vielfach unrichtig entſchieden.

92Erſtes Buch. III. Das Verbrechen als rechtswidr. Handl.

§. 24. Der Notſtand. 1Lit. bei Binding Grund - riß S. 156; insbeſondere Ar -beiten v. Janka u. Stamm - ler. Dazu v. Buri GS. XXX.

I. Notſtand iſt wenn wir vorläufig von den Beſchrän - kungen des Begriffes durch das poſitive Recht abſehen ein Zuſtand gegenwärtiger Gefahr, aus dem es keine andere Rettung giebt, als die Uebertretung einer Norm; mag dieſer Zuſtand durch Naturkräfte, mag er durch den Angriff eines Dritten herbeigeführt worden ſein. Beiſpiele: Um das Waſſer zum Löſchen eines ausge - brochenen Brandes zu holen, eilen die Bedrohten quer über ein fremdes Saatfeld zum Fluſſe; der von Räubern über - fallene Poſtillon liefert dieſen den Geldbriefbeutel aus; von zwei durch ein Seil verbundenen Bergſteigern hackt der eine, der den abgeſtürzten aber noch am Seile hängenden Be - gleiter nicht länger zu halten vermag, das Seil ab uſw.

Wie die Notwehr, ſo iſt auch die Notſtandshandlung Rechtsgüterverletzung zum Zwecke des Rechtsgüterſchutzes; aber dort gerichtet gegen den Angreifenden, hier gegen einen unbeteiligten Dritten; dort Kampf für das Recht gegen das Unrecht, hier Kampf für das eigene Intereſſe gegen fremde gleichberechtigte, aber im Einzelfalle kollidierende Intereſſen.

II. Den theoretiſchen Begriff des Notſtandes hat die Reichsgeſetzgebung vielfach und nur zum Teile mit Recht eingeengt.

1. Zunächſt hat das poſitive Recht in durchaus unge - rechtfertigter Weiſe den einheitlichen Begriff des Notſtandes zerriſſen in Nötigung (StGB. §. 52 durch unwiderſteh -93Der Notſtand. §. 24.liche Gewalt2Dieſe ſchließt als phyſiſche (vis absoluta) den Begriff der Handlung aus (oben §. 19 I 2a), gehört alſo gar nicht hieher. oder Drohung ) und in den eigentlichen Not - ſtand (StGB. §. 54).

2. Das Geſetz verlangt ferner in beiden Fällen gegen - wärtige, auf andere Weiſe nicht abwendbare Gefahr für Leib oder Leben, verſagt alſo bei Gefahr für alle an - deren Rechtsgüter (z. B. auch für die perſönliche Freiheit, deren Beſchränkung doch gewiß von größerer Bedeutung iſt als eine geringfügige Körperverletzung) dem Notſtande ſeine Anerkennung. Doch iſt (ein dem Notſtand verwandter Fall) beabſichtigter Eigentumsſchutz bei der Herbeiführung einer Ueberſchwemmung (StGB. §. 213) Strafmilderungsgrund.

3. Nur zur eigenen Rettung und zur Rettung der nächſten Angehörigen (aufgezählt ſind dieſelben im 2. Abſ. §. 52) wird die Notſtandshandlung geſtattet.

4. Es muß endlich der Notſtand im engeren Sinne (StGB. §. 54) ein unverſchuldeter, d. h. ein nicht von dem Gefährdeten ſelbſt vorſätzlicher oder fahrläſſiger Weiſe herbeigeführter ſein.

III. Der Notſtand (im Sinne der unter II beſprochenen geſetzlichen Beſtimmungen) ſchließt die Rechtswidrigkeit, nicht bloß die Strafbarkeit, der zur Rettung aus demſelben unternommenen Handlung aus. Das Recht verzichtet auf die Befolgung ſeiner Normen, weil es unter den ge - gebenen Umſtänden auf ihre Befolgung ohnehin nicht rechnen kann und die Beſtrafung daher keinen Zweck hätte. 3Ueber die verſchiedenen Not - ſtandstheorien vgl. die bei Meyer Lehrb. S. 253 angef. Lit.Eine Norm aber ohne imperative Kraft iſt keine Norm. Das Recht verzichtet jedoch auf die bindende Kraft ſeiner Impe -94Erſtes Buch. III. Das Verbrechen als rechtswidr. Handl.rative jenen Perſonen gegenüber nicht, deren Beruf größere als die durchſchnittliche Standhaftigkeit in Leibes - und Le - bensgefahr bedingt; dem Soldaten (Milit. StGB. §. 49 Abſ. 1 vgl. mit §§. 84 88), dem Schiffsmann (See - mannsordnung von 1872 §. 32) iſt die Berufung auf den Notſtand ausdrücklich abgeſchnitten.

Iſt aber einmal Notſtand gegeben, dann beſteht kein weiterer Unterſchied innerhalb der Notſtandshandlungen; der Satz, daß nur das höhere Recht auf Koſten des niederen ſich erhalten dürfe, iſt aus den Motiven nicht in das Geſetz übergegangen.

IV. Die §§. 52 und 54 StGB. ſind die einzigen Quellen für die ſtrafrechtliche Behandlung des Notſtandes. Die Spezialbeſtimmungen des Handelsgeſetzbuchs (A. 702 und 708 über die große Haverei) und der Seemannsordnung (§. 75) haben keine über das Gebiet dieſer Geſetze hinaus - reichende Geltung. Auch die Anordnungen des römiſchen Rechtes4Vgl. Windſcheid §. 455 Note 11. oder partikularer Civilgeſetze ſind für das Straf - recht ohne Bedeutung. Ihre analoge Anwendung5Empfohlen von Meyer, Stammler, insbeſondere aber Binding Grundriß S. 157. iſt ſchon darum unmöglich, weil Analogie die Ausfüllung einer Lücke, nicht aber Beſeitigung eines Widerſpruches in dem Syſteme des Rechts zur Aufgabe hat.

V. Der Nötiger (StGB. §. 52) iſt nach den ſpäter (vgl. unten §. 36 I) zu beſprechenden Grundſätzen eventuell als Urheber der von dem Genötigten vorgenommenen Rechts - verletzung zu betrachten.

95Die Zurechnungsfähigkeit. §. 25.

IV. Das Uerbrechen als ſchuldhafte rechtswidrige Handlung.

1. Die Vorausſetzung der Schuld.

§. 25. Die Zurechnungsfähigkeit. 1Lit. bei Binding Grund - riß S. 57.

I. Zurechnungsfähigkeit iſt ſtrafrechtliche Handlungs - fähigkeit. 2Scharf betont von Bin - ding Normen II S. 46.Handlungsfähigkeit aber im juriſtiſchen Sinne iſt die Fähigkeit, juriſtiſch relevante Handlungen3Vgl. Windſcheid §. 71. vorzunehmen, d. h. ſolche Handlungen, an welche als Thatbeſtand das objektive Recht den Eintritt von Rechtsfolgen knüpft. Mithin iſt Zu - rechnungsfähigkeit die Fähigkeit, ſtrafrechtlich relevante, d. h. den Eintritt der Straffolge nach ſich ziehende Handlungen vorzunehmen; die Fähigkeit alſo, ſtrafrechtlich verant - wortlich gemacht zu werden.

Die Zurechnungsfähigkeit beſteht aus einer Summe von elementaren Fähigkeiten. 4Binding Normen II S. 54.Sie ſetzt voraus Selbſtbewußtſein und Bewußtſein der Außenwelt; Einſicht in die Stellung des Ich zu dieſer überhaupt und zur Rechtswelt insbeſon - dere; Kenntnis des Kauſalgeſetzes; eine Summe von ethi - ſchen, religiöſen und rechtlichen Vorſtellungen uſw. Sie iſt der allmählich in der Schule des Lebens erworbene normale geiſtige Beſitz des geiſtig reifen und geiſtig geſunden Menſchen. 5Vgl. Motive zu §. 51 StGB.Sie fehlt dem geiſtig unreifen; ſei es, daß die Entwicklung noch nicht abgeſchloſſen iſt, ſei es, daß96Erſt. Buch. IV. Das Verbr. als ſchuldh. rechtswidr. Handl.gehemmte Entwicklung vorliegt; ſie fehlt dem geiſtig kranken Individuum, mag es ſich um vorübergehende Stö - rungen oder länger dauernde Erkrankungen oder end - lich um den Verfall (Degenerationszuſtände) der Pſyche handeln.

Die Zurechnungsfähigkeit ſetzt normales Zuſammen - wirken der pſychiſchen Funktionen voraus; alſo nicht bloß normale Zahl und Klarheit der Vorſtellungen, ſondern auch normales Betonungsverhältnis der Vorſtellungen unter - einander, ſo daß ſie ausgeſchloſſen werden kann durch anormale Betonung einer einzelnen Vorſtellung (Zwangsvorſtellung). Sie iſt mit andern Worten nicht nur ein Kennen (Wiſſen), ſondern auch ein Können6So von den Kriminaliſten inbeſondere Meyer, Wahl - berg u. Geyer; der Pſychologe v. Volkmann, der Pſychiaterv. Krafft-Ebing u. A. Da - gegen die Hegelianer; auch Schütze u. A. (Wollen).

Wie die geiſtige Reife auf den verſchiedenen Gebieten des rechtlich indifferenten Handelns nicht mit demſelben Augen - blicke eintritt, ſondern hier längere dort kürzere Entwicklung vorangehen muß, ſo wird auch die rechtliche Handlungsfähig - keit auf den verſchiedenen Rechtsgebieten (z. B. öffentliches Recht, Civilrecht, Strafrecht) und deren Untergebieten (z. B. Familienrecht, Erbrecht, Obligationenrecht) nicht in demſelben Lebensſtadium erworben. Sie wird auch auf dem Gebiete des Strafrechtes bei demſelben Individuum in demſelben Augenblicke bald als vorhanden, bald als fehlend ange - nommen werden müſſen, je nachdem dieſe oder jene Gruppe von ſtrafbaren Handlungen in Frage ſteht (man denke an Tötung einerſeits, politiſche Delikte andrerſeits).

II. Die Reichsſtrafgeſetzgebung hat davon abge -97Die Zurechnungsfähigkeit. §. 25.ſehen, den Begriff der Zurechnungsfähigkeit feſtzuſtellen; ſie hat die Löſung dieſer Aufgabe den Bemühungen der ju - riſtiſchen und pſychologiſchen Wiſſenſchaft überlaſſen und ſich damit begnügt, dieſer und der Praxis einzelne leitende Geſichtspunkte an die Hand zu geben. Sie erſchöpft den Begriff der Zurechnungsfähigkeit nicht und will ihn nicht erſchöpfen, wenn ſie hier (StGB. §. 51) die freie Willens - beſtimmung und dort (StGB. §§. 56 58) die zur Er - kenntnis der Strafbarkeit erforderliche Einſicht hervorhebt. Sie konnte das um ſo leichter thun, als Zurechnungsfähig - keit der normale Zuſtand iſt.

III. Innerhalb der Zurechnungsfähigkeit, alſo nach Ausſchluß des ganzen Gebietes der Zurechnungsunfähig - keit, ſind unendliche Abſtufungen, wie innerhalb der körperlichen Geſundheit, von dem eben noch hinreichenden Minimum bis zur höchſten erreichbaren Vollkommenheit mög - lich. Es fragt ſich nun: ſoll der Geſetzgeber dieſe Abſtu - fungen berückſichtigen, wenn er die Straffolgen an den ſtraf - baren Thatbeſtand anknüpft? Das Minimum liegt ja tief unter dem Durchſchnittsmaße der geiſtigen Befähigung, und dieſes noch viel tiefer unter dem Maximum; ſoll der Geſetz - geber vielleicht einen doppelten Strafrahmen aufſtellen, den einen für die unterdurchſchnittliche, den anderen für die überdurchſchnittliche Zurechnungsfähigkeit? Man hat die Frage verwirrt, indem man die über das Minimum ſich er - hebende, aber unter dem Durchſchnittsniveau zurückbleibende Zurechnungsfähigkeit als verminderte Zurechnungsfähigkeit7Lit. bei Meyer Lehrbuch S. 326. bezeichnete, und dadurch vielfach den Glauben erweckte, als handle es ſich um einen Geiſteszuſtand, der weniger ſei alsvon Liszt, Strafrecht. 798Erſt. Buch. IV. Das Verbr. als ſchuldh. rechtswidr. Handl.Zurechnungsfähigkeit. Gegen die Bejahung der aufgeworfenen Frage ſpricht die Weite der Strafrahmen der deutſchen Strafgeſetze, insbeſondere ihr äußerſt geringes Minimum; für dieſelbe aber die auf dieſem Felde noch weit verbreitete und tiefgewurzelte Verwirrtheit, welche eine geſetzliche Regelung der Frage dringend wünſchenswert macht. In einem Falle bezüglich der jugendlichen Thäter (StGB. §. 57) hat übrigens das StGB. ſelbſt der verminderten Zurech - nungsfähigkeit Rechnung getragen.

IV. Die Zurechnungsfähigkeit iſt Vorausſetzung der Schuld. Sie muß, wie alle relevanten Umſtände, von Amtswegen feſtgeſtellt werden. Ausdrücklicher Feſtſtellung im Urteile bedarf es jedoch nur dann (StPO. §. 266), wenn ihr Vor - handenſein im Laufe der Verhandlung beſtritten worden war. Eine Ausnahme von dieſer Regel tritt nur ein, wenn es ſich um einen jugendlichen oder taubſtummen Thäter handelt: hier muß eventuell durch eine an die Geſchworenen ge - richtete Nebenfrage in allen Fällen poſitiv feſtgeſtellt werden, ob der Thäter bei Begehung der That die zur Er - kenntnis ihrer Strafbarkeit erforderliche Einſicht beſeſſen habe. 8Eigentümliche Anſicht bei Meyer S. 143 f.

V. Die Zurechnungsfähigkeit muß bei Begehung der That vorhanden geweſen ſein. Später eintretende Zurech - nungsunfähigkeit kann nur prozeſſuale Folgen nach ſich ziehen. Maßgebend iſt dabei (vgl. oben §. 19 III 1) jener Augenblick, in welchem die den Naturkauſalismus in Bewe - gung ſetzende körperliche Bewegung ſelbſt vorgenommen wurde; irrelevant der Geiſteszuſtand des Thäters in dem Augenblicke, in welchem der Kauſalismus das angegriffene99Die Zurechnungsfähigkeit. §. 25.Objekt trifft oder der Erfolg eintritt. Wer einen Brunnen vergiftet und dann ſich berauſcht, iſt verantwortlich, wenn, während er ſich im Zuſtande der Volltrunkenheit befindet, die von ihm in Ausſicht genommenen Perſonen aus dem vergifteten Brunnen trinken. Wer einen Wahnſinnigen zu einem Verbrechen beſtimmt, hat im Zuſtande der Zurech - nungsfähigkeit gehandelt, wenn auch der Wahnſinnige das Verbrechen ausführt, während der geiſtige Urheber der That im tiefſten Schlafe liegt.

Wir haben nur dieſe allgemeine Regel konſequent zur Anwendung zu bringen, um die berühmte Schulſtreitfrage nach der Beurteilung der ſog. actiones liberae in causa zu entſcheiden. 9Lit. bei Binding Grund - riß S. 60; ſchöne Darſtellung bei demſelben Normen IIS. 195 ff. Dazu Hertz das Unrecht uſw. I S. 189 ff.Sie liegen vor, wenn ein im Zuſtande der Zurechnungsunfähigkeit geſetztes Thun veranlaßt wurde durch einen im Zuſtande der Zurechnungsfähigkeit gefaßten Ent - ſchluß oder eine in dieſem Zuſtande begangene Fahrläſſigkeit. Beiſpiele: der Eiſenbahnwächter betrinkt ſich, um beim Heran - nahen des Eilzuges die Weichen nicht zu ſtellen; die Mutter, die wiſſen ſollte, daß ſie im Schlafe ſich unruhig hin und her wirft, hat fahrläſſiger Weiſe ihr Kind zu ſich ins Bett genommen und erdrückt. Wenn wir daran feſthalten, daß auch die menſchliche That (bezüglich des Zurechnungsun - fähigen wird dies ja allgemein zugegeben) unter dem Kau - ſalitätsgeſetze ſteht, ſo iſt in dieſen Fällen im entſcheidenden Augenblicke und das iſt jener, in welchem der Anſtoß zum Abrollen des Kauſalismus gegeben wurde Zurech - nungsfähigkeit vorhanden geweſen. Im nüchternen Zuſtande hat der Wächter, wachend die Mutter die Urſache zu dem100Erſt. Buch. IV. Das Verbr. als ſchuldh. rechtswidr. Handl.eingetretenen Erfolge geſetzt. Liegt nun außerdem der Kau - ſalzuſammenhang ſelbſt und auf der ſubjektiven Seite wirk - lich Vorſatz (vgl. unten §. 28 IV) oder Fahrläſſigkeit vor, ſo ſteht der Zurechnung des Erfolges zur Schuld nichts im Wege. 10Die Meinungen gehen weit auseinander. Meiſt wird in ganz einſeitiger Weiſe nur die Frage nach dem Vorliegen des Kauſalzuſammenhanges beſpro - chen. Zuſammenſtellungen der verſchiedenen Anſichten bei Bin - ding a. O.

VI. Da die Zurechnungsfähigkeit eine Art der Hand - lungsfähigkeit iſt, ſo kann nur der Menſch Subjekt eines Deliktes ſein. 11Ueber die abweichenden An - ſichten des älteren Rechts vgl. Geib Lehrb. II S. 197.Und zwar nach poſitivem Rechte nur das Einzelindividuum, nicht aber die Kollektivper - ſönlichkeit. Societas delinquere non potest. Immer können nur die einzelnen handelnden Vertreter, nicht aber der ver - tretene Geſammtkörper zur Verantwortung gezogen werden. Die nach den ſtrafrechtlichen Nebengeſetzen des Reiches auch den Kollektivperſönlichkeiten vielfach auferlegte ſubſidiäre Haftung für die zunächſt den Schuldigen treffenden Geld - ſtrafen (vgl. unten §. 42 III 2) iſt keine Strafe, wenn ſie auch in ihren Wirkungen einer ſolchen durchaus gleich - kommt.

Dabei ſei jedoch ausdrücklich betont, daß die Beſtrafung juriſtiſcher Perſonen nicht nur rechtlich möglich,12Die entgegengeſetzte Anſicht iſt nicht nur die herrſchende, ſondern die beinahe ausſchließ - lich bei Kriminaliſten wie Ci - viliſten herrſchende. Für die juriſtiſche Möglichkeit der Be - ſtrafung haben ſich Beſeler, Bluntſchli. Ziebarth, in jüngſter Zeit Felix Dahn Ver - nunft im Recht S. 168 ausge - ſprochen. ſondern auch innerhalb gewiſſer Grenzen nach dem von der engliſch - amerikaniſchen Praxis gegebenen Beiſpiele de lege ferenda101Die Fälle der Zurechnungsunfähigkeit. §. 26.empfehlenswert wäre. Sie iſt rechtlich möglich: Denn einmal ſind die Vorausſetzungen für die Handlungsfähigkeit der Kollektivperſönlichkeit auf dem Gebiete des Strafrechtes prinzipiell keine anderen als auf jenem des Civilrechtes13Freilich iſt die Handlungs - fähigkeit der juriſtiſchen Per - ſonen auch auf civilrechtlichem Gebiete beſtritten. Man vgl. z. B. Windſcheid §. 59. oder (was regelmäßig überſehen wird) auf dem des öffent - lichen Rechtes (wer Verträge ſchließen kann, der kann auch betrügeriſche oder wucheriſche Verträge ſchließen, oder die geſchloſſenen Lieferungsverträge StGB. §. 329! nicht halten),14Man vgl. die intereſſante Faſſung in §. 35 des Genoſſen -ſchaftsgeſetzes v. 4. Juni. 1868: Wenn eine Genoſſenſchaft ſich geſetzwidriger Handlungen oder Unterlaſſungen ſchuldig macht, durch welche das Gemeinwohl gefährdet wird .... ſo kann ſie aufgelöſt werden. und andrerſeits iſt die Kollektivperſönlichkeit auch Trägerin von Rechtsgütern (Vermögensrechte, Exiſtenz), die ſtrafweiſe geſchmälert oder vernichtet werden können. Und ſie iſt empfehlenswert, da es den Grundſätzen des Straf - rechtes widerſpricht, das Organ fremden Willens mit der vollen und ausſchließlichen Verantwortlichkeit zu belegen.

§. 26. Die Fälle der Zurechnungsunfähigkeit.

Die Zurechnungsfähigkeit, als der normale Geiſteszuſtand des geiſtig reifen und geiſtig geſunden menſchlichen Indivi - duums, iſt nicht vorhanden:

I. bei fehlender geiſtiger Reife.

Dieſe kann wieder eine doppelte Urſache haben:

102Erſt. Buch. IV. Das Verbr. als ſchuldh. rechtswidr. Handl.

1. Noch nicht abgeſchloſſene Entwicklung, Straf - unmündigkeit des Thäters. 1Lit. bei Binding Grund - riß S. 58. Dazu Ullmann GS. XXXI, Geyer HR. Al - tersſtufen .

Während das franzöſiſche Recht und ihm folgend Preußen (StGB. 1851) und Baiern (StGB. 1861) eine einzige ſtraf - rechtlich relevante Altersgrenze (16 Jahre) aufſtellten, um unterhalb derſelben Prüfung der Zurechnungsfähigkeit in jedem einzelnen Falle, oberhalb derſelben aber volle Zurechnung eintreten zu laſſen, hat das RStGB.,2Nach §. 50 des MilStGB. iſt mit Rückſicht auf die ſchon mit dem vollendeten 17. Lebens -jahre beginnende Waffenfähigkeit das Alter des Thäters ohne Einfluß auf die Beſtrafung militäriſcher Verbrechen und Vergehen. im Anſchluſſe an die das römiſch-kanoniſche und gemein-deutſche Recht beherr - ſchenden Grundſätze, eine doppelte Altersgrenze gezogen.

  • a) Kindheit; bis zum vollendeten 12. Jahre (StGB. §. 55). Unbedingte und ausnahmsloſe Zurechnungs - unfähigkeit. Infolge dieſes Grundſatzes Ausſchluß jeder ſtrafgerichtlichen Unterſuchung. Als polizeiliche Maßregel iſt die Unterbringung in eine Erziehungs - oder Beſſerungsanſtalt zugelaſſen, wenn die Vormund - ſchaftsbehörde die Begehung einer ſtrafbaren Hand - lung feſtgeſtellt und die Unterbringung für zuläſſig er - klärt hat. Die Aufſichtsperſonen können nach StGB. §. 361 Nr. 9 wegen unterlaſſener Aufſicht, oder nach dem unten §. 36 I zu beſprechenden Grundſatze als Selbſtthäter, nie aber als Teilnehmer (da ein Delikt nicht vorliegt) zur Verantwortung gezogen werden.
    3Die entgegenſtehende OT. 3. Mai 1872 iſt gewiß unrichtig.
    3
  • b) Jugendliches Alter vom vollendeten 12. bis zum vollendeten 18. Lebensjahr. Prüfung der Zurechnungs -103Die Fälle der Zurechnungsunfähigkeit. §. 26.fähigkeit überhaupt, der zur Erkenntnis der Straf - barkeit der begangenen That erforderlichen Einſicht ins - beſondere (die letztere muß poſitiv, eventuell durch die Geſchworenen StPO. §. 298 feſtgeſtellt werden) in jedem einzelnen Falle.
    • α) Fehlt die Fähigkeit, ſo tritt Freiſprechung ein (StGB. §. 56). In dem Urteile kann die Unter - bringung in eine Erziehungs - oder Beſſerungs - anſtalt ausgeſprochen werden. Bezüglich dritter Perſonen gilt das oben unter a geſagte.
    • β) Wird die Zurechnungsfähigkeit feſtgeſtellt, ſo tritt in Berückſichtigung der verminderten Zurech - nungsfähigkeit eine Reduktion der den Erwachſe - nen treffenden Strafrahmen ein (StGB. §. 57; vgl. unten §. 54 II 2).

Einen ſingulären ſubjektiven Strafausſchließungsgrund (§. 30 III 3) enthält StGB. §. 173 (Blutſchande) für Ver - wandte und Verſchwägerte abſteigender Linie unter 18 Jahren.

2. Gehemmte Entwicklung.

Auch hier muß die Zurechnungsfähigkeit überhaupt, die zur Erkenntnis der Strafbarkeit der begangenen That er - forderliche Einſicht insbeſondere in jedem einzelnen Falle ge - prüft und letztere poſitiv feſtgeſtellt werden (StGB. §. 58). Bei konſtatierter Zurechnungsfähigkeit tritt jedoch eine Re - duktion der normalen Strafrahmen nicht ein, obwohl ſie auch hier ohne Zweifel angezeigt wäre.

Wenn auch das Geſetz nur von Taubſtummen aus - drücklich ſpricht, ſo ſind doch dieſe Beſtimmungen auf alle Fälle von Entwicklungshemmung gleichmäßig anzuwenden (man denke an geringeren Cretinismus, an Angehörige wilder Völkerſtämme, in völliger Abgeſchloſſenheit aufgewachſene104Erſt. Buch. IV. Das Verbr. als ſchuldh. rechtswidr. Handl.Menſchen uſw.). Dabei handelt es ſich durchaus nicht um einen auf dem Wege der Rechtsanalogie gewonnenen neuen Rechtsſatz, ſondern um eine Konſequenz aus dem von uns aus den geſetzlichen Beſtimmungen abgeleiteten allgemeinen Begriff der Zurechnungsfähigkeit.

II. Bei fehlender geiſtiger Geſundheit. 4Lit. bei Binding Grundriß S. 58 u. 60.

Die geiſtigen Funktionen des in den Vollbeſitz der geiſti - gen Reife gelangten Individuums können kürzere oder längere Zeit gehemmt, geſtört oder allmähliger Vernichtung entgegengeführt werden. Sowie aber nicht jede Störung der vollen körperlichen Geſundheit als Krankheit bezeichnet werden kann, ſo wird auch nicht durch jede Störung in dem Spiele der geiſtigen Funktionen die Zurechnungsfähigkeit aus - geſchloſſen; das Minimalmaß, mit dem ſich das Recht über - haupt begnügen muß, bildet auch hier die untere Grenze. Darum verlangt StGB. §. 51, auch hier lediglich eine Seite in dem Inhalte der Zurechnungsfähigkeit beſonders (aber durchaus nicht ausſchließlich) betonend, einen ſolchen Zuſtand, durch welchen die freie Willensbeſtimmung des Thäters ausgeſchloſſen war. Eine erſchöpfende Aufzählung und entſprechende Bezeichnung dieſer verſchiedenen Hemmungs -, Störungs - und Degenerationszuſtände konnte bei dem heu - tigen Stande der Wiſſenſchaft nicht, wollte auch von dem Geſetze nicht gegeben werden. Die Ausdrücke des §. 51: Bewußtloſigkeit einerſeits, krankhafte Störung der Geiſtes - thätigkeit andererſeits, die überhaupt keinen erſchöpfenden Gegenſatz enthalten, ſind daher nicht zu betonen. Zu jener werden wir neben Fieberdelirium, Betäubungen, Trunkenheit, Ohnmachten, epileptiſchen Anfällen uſw. auch Schlaf, Schlaf -105Die Schuld. §. 27.trunkenheit, Schlafwandel u. dgl., zu dieſen neben den eigent - lichen Geiſteskrankheiten auch die mehrerwähnten Degenera - tionszuſtände zu rechnen haben.

Ob Zurechnungsfähigkeit im einzelnen Falle vorliegt oder nicht, hat auch bei dieſen Fällen der Richter zu entſchei - den, eventuell unter Zuziehung von Sachverſtändigen, deren Ausſpruch ihn hier ebenſowenig bindet wie ſonſt. 5Uebrigens kann dem Juriſten das Studium pſychiatriſcherWerke nicht dringend genug ans Herz gelegt werden.

2. Die Schuld ſelbſt und ihre Arten.

§. 27. Die Schuld.

I. Das Verbrechen iſt wie das Delikt, ſchuldhafte normwidrige Handlung. Nicht jede normwidrige Handlung des Zurechnungsfähigen iſt Delikt; nur unter gewiſſen Vorausſetzungen knüpft das objektive Recht die Delikts - folgen an die normwidrige Handlung. Dieſe ſubjektiven Vor - ausſetzungen nun, an deren Vorliegen der Eintritt der Deliktsfolgen geknüpft iſt nennen wir Schuld. Die rechtliche Schuld hat demnach mit der ethiſchen oder reli - giöſen Schuld nichts als leider! den Namen gemein.

Durch dieſe Faſſung des Schuldbegriffes iſt uns zugleich der Weg gewieſen, auf dem wir zur Erkennntnis ſeines In - haltes gelangen können. Jede aprioriſtiſche Konſtruktion ver - meidend, müſſen wir die Vorausſetzungen für den Eintritt der Deliktsfolgen, alſo die unbeſtrittenen Schuldfälle aus106Erſt. Buch. IV. Das Verbr. als ſchuldh. rechtswidr. Handl.dem poſitiven Rechte kennen zu lernen ſuchen. 1Strengſtes Feſthalten an der induktiven Methode iſt un - bedingt notwendig, wollen wir die Grundbegriffe der juriſtiſchen Wiſſenſchaft dem Auf - und Ab - wogen ſubjektiver Anſchauungen entziehen.Die augen - fälligſte Deliktsfolge, die Strafe, dient uns als Führer auf dieſem Wege. Die Betrachtung lehrt uns, daß jene Vor - ausſetzungen durch Vorſatz und Fahrläſſigkeit erſchöpft werden; dieſe ſind die beiden einzigen Schuldarten. Durch eine Zuſammenfaſſung der beiden Begriffe würde, wenn eine ſolche möglich wäre, der gemeinſchaftliche höhere Begriff der Schuld entſtehen. Die genauere Unterſuchung zeigt jedoch die Unmöglichkeit einer ſolchen Zuſammenfaſſung. Beim Vorſatz (ſ. unten §. 28 I) liegt das Schuldmoment, d. h. jener Umſtand, welcher die Deliktsfolgen nach ſich zieht, ledig - lich in der objektiven Normwidrigkeit der Handlung; bei der Fahrläſſigkeit dagegen in der pflichtwidrigen Nichtanwen - dung der anzuwendenden Sorgfalt. Der Vorſatz als ſolcher iſt noch nicht Schuld, ſondern findet ſich in gleicher Weiſe bei dem normgemäßen wie bei dem normwidrigen Handeln; die Fahrläſſigkeit dagegen iſt an ſich ſchon Schuld (wenn auch nicht immer ſtrafbare Schuld), und iſt auf anderem Gebiete als dem des normwidrigen Handelns gar nicht denk - bar. Beide Artbegriffe haben nichts gemein als ihre Wir - kung; daher kann der Gattungsbegriff auch nur nach dieſer beſtimmt werden. 2Anders die herrſchende An - ſicht. Doch beweiſt mir insbe -ſondere Binding’s Schuld - lehre in den Normen , daß der Verſuch, zuerſt den Begriff der Schuld und dann aus die - ſem den der Schuldarten zu be - ſtimmen (ſtatt umgekehrt) ſchei - tern muß, ſobald er konſequent durchgeführt wird.

II. Wir haben Vorſatz und Fahrläſſigkeit als die beiden107Die Schuld. §. 27.einzigen Schuldarten bezeichnet und dieſes Reſultat als ein aus dem poſitiven Rechte abgeleitetes hingeſtellt. Dieſer Be - hauptung widerſprechen nicht die zahlreich in den ſtrafrecht - lichen Nebengeſetzen ſich findenden Präſumptionen der Schuld. 3Man vgl. außer den Zoll - und Steuergeſetzen: Geſetz betr. die Nationalität der Kauffahrtei - ſchiffe vom 25. Oktober 1867 §. 14; Aktiengeſetz vom 11. Juni 1870 §. 249 a; Preßgeſetz vom 7. Mai 1874 §. 21 (nicht §. 20); Rinderpeſtgeſetz vom 21. Mai 1878 §. 3 Abſ. 2; Spielkarten - ſtempelgeſetz vom 3. Juli 1878 §. 10 Abſ. 3. Ueber dieſe Prä - ſumptionen Binding Normen II S. 612 ff.Denn wenn das objektive Recht bis zu dem Beweiſe des Gegenteils die Schuld Vorſatz oder Fahrläſſigkeit als erwieſen annimmt, vielleicht auch den Gegenbeweis dem An - geſchuldigten aufbürdet, ſo anerkennt es ja gerade dadurch, daß ohne Vorſatz oder Fahrläſſigkeit eine Beſtrafung nicht eintreten kann und ſoll. Durch die Präſumption einer Thatſache wird ja gerade deren rechtliche Bedeutung beſon - ders betont. 4Die einzige Ausnahme, bei der es ſich alſo nicht um eine Präſumption der Schuld ſondern um Ignorierung derſelben han - delt, bietet §. 137 Abſ. 1 des Vereinszollgeſetzes vom 3. Juli 1869, aber auch dieſer nur in - ſoweit weder der 2. Abſ. ein - greift, noch auch die Wortfaſſung des bezogenen §. 136 das Ge - genteil ergiebt.

Unſerem Satze, daß Vorſatz und Fahrläſſigkeit die ein - zigen Schuldarten ſeien und daß es ohne Schuld weder Delikt noch Verbrechen gebe, widerſprechen auch nicht jene Anordnungen, welche die Schwere der Strafe für das an ſich ſchuldhafte Thun abſtufen nach der Größe des ver - urſachten Schadens, unabhängig davon, ob gerade in Bezug auf die Verurſachung dieſes ſchwereren Erfolges Schuld vorliegt (vgl. unten §. 54 I 3). Denn die beſtrafte Hand -108Erſt. Buch. IV. Das Verbr. als ſchuldh. rechtswidr. Handl.lung iſt auch in dieſen Fällen eine ſchuldhafte; mit anderen Worten: Verurſachung eines gewiſſen Erfolges ohne Rück - ſicht auf Schuld in Bezug auf dieſen Erfolg iſt im Reichsſtrafrecht immer nur Strafſchärfungsgrund, nicht aber Deliktsmerkmal oder Bedingung der Strafbarkeit.

III. Die Schuld muß, ſei ſie Vorſatz, ſei ſie Fahrläſſig - keit, im Augenblicke der willkürlichen Körperbewegung vor - handen ſein. Späterer Eintritt, ſowie ſpäteres Entfallen der Schuld iſt ohne juriſtiſche Bedeutung. Vgl. das oben §. 25 V bezüglich der Zurechnungsfähigkeit Geſagte.

IV. Die Erklärung, daß die Handlung eines Zurech - nungsfähigen auf deſſen Vorſatz oder Fahrläſſigkeit beruhe, heißt Zurechnung oder Imputation. Die betreffende Handlung wird als zurechenbar bezeichnet. Es giebt alſo zurechenbare und nicht zurechenbare Handlungen eines Handlungsfähigen, während die Handlungen eines Zurech - nungsunfähigen, ſoweit er überhaupt willkürlicher körperlicher Bewegungen fähig iſt, nie zurechenbar ſind.

§. 28. Der Vorſatz. 1Lit. bei Binding Grund - riß S. 65, Normen II Note 614. Dazu Ortmann GS. XXX, Geyer in HR. dolus .

I. Vorſatz iſt der Wille (in dem oben §. 17 I ange - gebenen Sinne) als Urſache einer Handlung im engeren Sinne (oben §. 19 I) begleitet von der Vorſtellung der Kauſalität derſelben; d. h. begleitet von der Vor - ſtellung jener Veränderungen (oben §. 19 II), welche die Handlung in der Außenwelt hervorruft, und von der109Der Vorſatz. §. 28.Vorſtellung, daß dieſe Veränderungen durch die Hand - lung hervorgerufen werden würden. 2Dadurch unterſcheidet ſich der Vorſatz von dem Wunſch, welcher die Vorſtellung künfti - ger Veränderungen, aber nicht die Vorſtellung der Kauſalität der gegenwärtig vorgenommenenHandlung für dieſelben in ſich ſchließt.

Der Begriff des Vorſatzes iſt auf dem Gebiete des normgemäßen und des normwidrigen, des rechtlich bedeutſamen wie des rechtlich indifferenten Handelns ein und derſelbe. Man ſpricht von dem vorſätzlichen Abſchießen eines Gewehres, mag es ſich um die Tötung eines Menſchen, um Ausübung des Jagdrechtes oder lediglich darum handeln, daß die Ladung aus dem Rohre entfernt werde. Allerdings iſt der Sprachgebrauch kein kon - ſtanter; Abſicht und Vorſatz werden nebeneinander, der erſtere Ausdruck noch häufiger gebraucht. Aber dasſelbe Schwanken zeigt ſich in der Strafgeſetzgebung; auch dieſe gebraucht neben andern Synonimen für Vorſatz auch das Wort Abſicht3Zuſammenſtellung der Sy - nonima für Vorſatz bei Bin - ding Normen II Noten 669 u. 671. (alſo Abſicht = Vorſatz: erſte Bedeutung von Abſicht).

Nur die objektive Normwidrigkeit der Hand - lung macht den Vorſatz zum ſchuldhaften Vorſatz.

II. Daraus ergiebt ſich eine wichtige Konſequenz. Das Bewußtſein der Normwidrigkeit gehört nicht zum Be - griffe des Vorſatzes an ſich. Freilich könnte die Geſetzge - bung durch ausdrückliche oder ſtillſchweigende Anordnung den Eintritt der Deliktsfolgen bei der vorſätzlichen normübertre - tenden Handlung abhängig machen von dem Bewußtſein dieſer Eigenſchaft der Handlung; dann wäre der ſchuld - hafte Vorſatz der bewußt rechtswidrige Wille. Aber die110Erſt. Buch. IV. Das Verbr. als ſchuldh. rechtswidr. Handl.Geſetzgebung hat dies nicht gethan. 4Der von Binding Nor - men II S. 356 486 angetretene Gegenbeweis aus dem poſitiven Rechte iſt m. E. mißlungen. Der Beweis aus dem allgemei - nen Begriffe der Schuld aber fällt mit dieſem. Theorie und Praxis ſchwanken. Ueber letztere vgl. Binding Normen II Note 724. Die richtige Anſicht vertritt RGR. 29. Januar 1880, R I 291, E I 88 (für StGB. §. 180); 17. März 1880, E I272, R I 448 (für StGB. §. 137); (bedenklich RGR. 24. Oktober 1879, R I 16). Vgl. für die richtige Anſicht auch RGR. 9. Dezember 1879, R I 132.Nur ausnahmsweiſe hat ſie das an ſich ſelbſtverſtändliche Merkmal der Rechts - widrigkeit in den beſonderen Thatbeſtand einzelner Delikte aufgenommen und damit erklärt, daß die allgemeine Regel des §. 59 StGB., nach welcher die Vorſtellung alle Merk - male des beſonderen Thatbeſtandes umfaſſen muß (vgl. unten V) ausnahmsweiſe auch auf das Moment der Rechtswidrig - keit ausgedehnt werden ſolle. 5Gerade dieſe Ausnahmen beweiſen die Regel. Die Geg - ner auch Binding müſſen jene für geradezu ſinnlos er - klären.Man vgl. StGB. §§. 123, 124, 239, 240, 291, 339, 353 a u. A. Und zwar handelt es ſich hier durchaus um ſolche Normen, deren als Regel gedachte Herrſchaft durch zahlreiche Ausnahmen durchbrochen wird, ſo daß ein Zweifel darüber, ob ein konkreter Fall unter die Regel oder unter eine der Ausnahmen zu ſubſu - mieren ſei, leicht möglich iſt und Berückſichtigung verdient.

Abgeſehen von dieſen Ausnahmen iſt das Bewußtſein der Normwidrigkeit nur bei der Strafzumeſſung von Be - deutung. Vorſatz liegt alſo vor nicht nur bei irriger Nicht - ſubſumption der That unter die Norm, ſondern auch bei irriger Subſumption derſelben unter eine Ausnahme von der Norm (irriger Annahme eines Notſtandes, der Not - wehr, einer ſubjektiven Berechtigung uſw.). 6A. A. Meyer Lehrbuch S. 242 und die daſelbſt Note 5

111Der Vorſatz. §. 28.

Verſchieden von dem Mangel des Bewußtſeins der Norm - widrigkeit iſt der ſog. Verbrecherwahn, bei welchem der Verbrecher die Normwidrigkeit ſeines Thuns kennt, aber vermeintlich höheren Pflichten gehorchend, ſich bewußt über dieſelbe hinwegſetzt (vgl. Militär-StGB. §. 48).

Und das gerade Gegenſtück zu dem mangelnden Bewußt - ſein der Normwidrigkeit bildet das Wahnverbrechen oder Putativdelikt, bei welchem der Handelnde ſich den Er - folg ſeines Thuns richtig vorſtellt, dieſen aber irrig unter eine nicht exiſtirende Norm ſubſumirt, oder unter eine gege - bene Ausnahme von der Norm nicht ſubſumirt. Beiſpiel: irrige Annahme, daß ſcharfe Invektiven gegen einen Regenten des 16. Jahrhunderts Majeſtätsbeleidigung ſeien; irrige Nichtannahme eines Notſtandes uſw. Hier kann die fehlende Normwidrigkeit nicht durch die Vorſtellung derſelben erſetzt werden.

III. Es genügt zum Begriffe des Vorſatzes das Vor - handenſein der Vorſtellung, daß die Handlung kauſal ſein werde; es iſt nicht erforderlich, daß dieſe Vorſtellung gerade treibendes Motiv geweſen, daß der Thäter um dieſer Veränderungen willen die Handlung unternommen hat. 7Anders die herrſchende An - ſicht der Theoretiker. Für die im Texte vertretene Auffaſſung die Praxis.Wir können die Vorſtellung als treibendes Motiv Abſicht nennen (2. Bedeutung dieſes Wortes) und dem Vor - ſatze entgegenſtellen. In der That wird in der Reichsgeſetz - gebung das Wort Abſicht (ſelten) auch in dieſem Sinne ge - braucht (z. B. StGB. §. 225 u. A.).

Es genügt ferner die Vorſtellung der nächſten unmittel -6Angeführten. Gegen die im Text vertretene Anſicht ſcheint RGR. 28. Oktober 1879, R I 23 ſich auszuſprechen.112Erſt. Buch. IV. Das Verbr. als ſchuldh. rechtswidr. Handl.baren Folgen der Handlung; die entfernteren mittelbaren Folgen brauchen regelmäßig nicht vorgeſtellt zu werden. Die Vorſtellung dieſer entfernteren Folgen wird auch wohl Abſicht8Ueber die verſchiedene Be - deutung des Wortes Abſicht vgl. auch Binding Normen I Note 873. genannt (3. Bedeutung des Wortes). Sie iſt mittelbarer Vorſatz, alſo nicht notwendig treibendes Motiv. Wo ſie von dem Geſetzgeber bei einzelnen Delikten zum Thatbeſtandsmerkmal (man denke an die Zueignungsabſicht beim Diebſtahl; die Abſicht, ſich oder einem Dritten einen Vermögensvorteil zu verſchaffen, beim Betrug uſw. ) oder zum ſtraferhöhenden Umſtande gemacht wird, geht ſie in dem Vorſatz auf, d. h. es müſſen einerſeits in dieſem Falle auch die weiteren Folgen vorgeſtellt ſein, und es genügt andrer - ſeits das Vorhandenſein dieſer Vorſtellung.

IV. Die Vorſtellung von den durch die Handlung zu verurſachenden Veränderungen und dieſe Veränderungen ſelbſt müſſen ſich decken; nicht wie zwei kongruente Dreiecke (Binding), aber in allen weſentlichen Punkten. Decken ſie ſich in einem weſentlichen Punkte nicht, ſo liegt bezüglich dieſes Punktes Vorſatz nicht vor. Irrtum9Lit. über den Einfluß des Irrtums bei Binding Grund -riß S. 62. Vgl. auch Zitel - mann Irrtum u. Rechtsgeſchäft 1879. bezüglich eines weſentlichen Punktes ſchließt alſo den Vor - ſatz aus. 10Fahrläſſigkeit kann jedoch gerade wegen des Irrtums vor - liegen.Welche Punkte ſind aber weſentliche in der den ſtrafrechtlichen Vorſatz begleitenden Vorſtellung?

Ehe wir dieſe Frage beantworten, müſſen wir die Vorfrage erledigen: auf welche Punkte muß ſich überhaupt die Vorſtellung erſtrecken, um als individualiſierte Vorſtellung in Betracht zu113Der Vorſatz. §. 28.kommen? Die Vorſtellung muß beſtimmt ſein nach Ob - jekt und Mittel; genauer: ſie muß ſich durch Beziehung auf ein beſtimmtes Rechtsgut bez. deſſen Träger, auf die vorzunehmende körperliche Bewegung, und auf den Kauſalzuſammenhang zwiſchen dieſer und dem vorge - ſtellten Erfolge ſpezialiſiert haben. 11Vgl. die intereſſanten Aus - führungen bei Binding Nor -men II S. 412 ff. und Zitel - mann S. 433 ff. (S. 524).Ich muß wiſſen, ob ich töten, ſtehlen[oder] brandſtiften will, ehe von einem Vorſatze die Rede ſein kann; ich muß wiſſen, wen ich töten will und auf welche Weiſe. Dieſe Spezialiſierung kann nun eine mehr oder weniger genaue ſein; alle Menſchen die aus dieſem Brunnen trinken, der mir unbekannte anonyme Einſender einer mich beleidigenden Zeitungsannonce, der eben des Weges daherkommende Wandersmann, die in dem zu erbrechenden Schranke befindlichen Gegenſtände, ſie alle ſind genügend ſpezialiſierte Objekte meines Vorſatzes. Die Mi - nimalgrenze der Spezialiſierung, welche die Vorſtellung erreicht haben muß, läßt ſich durch allgemeine Regeln nicht fixieren; über dieſe Grenze hinaus kann die Vorſtellung und mit ihr der Vorſatz mehr oder weniger beſtimmt ſein.

Mit Rückſicht auf dieſen möglichen Unterſchied in der Spezialiſierung der Vorſtellung hat man Arten des Vor - ſatzes unterſcheiden wollen, ſobald es ſich um genügende aber nicht ganz genaue Vorſtellung des Erfolges handelt. So den dolus generalis, wenn mehrere Erfolge, den dolus alternativus, wenn zwei Erfolge in gleicher Linie, den dolus eventualis, wenn in erſter Linie der eine, in zweiter Linie der andere Erfolg vorgeſtellt waren; ihnen allen gegenüber den genau ſpezialiſierten dolus determinatus. von Liszt, Strafrecht. 8114Erſt. Buch. VI. Das Verbr. als ſchuldh. rechtswidr. Handl.Allein bei richtiger Auffaſſung des Vorſatzbegriffes ſind alle dieſe Einteilungen wertlos oder gefährlich. Jeder der vor - geſtellten Erfolge iſt vom Vorſatze erfaßt; der ſchwerſte derſelben daher, ob eingetreten oder nicht, für die ſtrafrecht - liche Beurteilung des Thäters maßgebend12Zu anderem Reſultate ge - langt Binding a. O. Die Beweisfrage iſt ſelbſtverſtändlich mit der theoretiſchen Entſchei - dung nicht zu verwechſeln. (vgl. auch unten §. 32 IV 2).

V. Und nun können wir zu der Beantwortung der oben aufgeworfenen Frage zurückkehren, die mit der eben erledigten durchaus nicht identiſch iſt. Welche Punkte in der ſpeziali - ſierten Vorſtellung ſind von ſolcher Wichtigkeit, daß Nicht - übereinſtimmung des Erfolges mit der Vorſtellung die Zu - rechnung zum Vorſatze ausſchließt?

1. Die nächſte Antwort giebt uns das poſitive Recht in §. 59 Abſ. 1 StGB. 13Beſondere Beſtimmung im Nachdrucksgeſetz vom 11. Juni 1870 §. 18 Abſ. 2: Beſtrafungbleibt ausgeſchloſſen, wenn der Veranſtalter des Nachdrucks auf Grund entſchuldbaren, thatſäch - lichen oder rechtlichen Irrtums in gutem Glauben gehandelt hat. Ebenſo in den drei Ur - heber-Geſetzen vom 9., 10., 11. Januar 1876.Es bezeichnet als weſentlich That - umſtände, welche zum geſetzlichen Thatbeſtande ge - hören oder die Strafbarkeit erhöhen ; alſo That - beſtandsmerkmale und erſchwerende Umſtände. Aber nur die Merkmale des beſonderen Thatbeſtandes, alſo jene Merk - male, die den Begriff des einzelnen Verbrechens konſtituiren, nicht die zum allgemeinen Thatbeſtande gehörenden, bei jedem Verbrechen wiederkehrenden Merkmale wie Zurech - nungsfähigkeit, Schuld, Widerrechtlichkeit uſw. Doch können auch Merkmale des allgemeinen Thatbeſtandes durch Auf - nahme in den Verbrechensbegriff den beſonderen Thatbeſtands -115Der Vorſatz. §. 28.merkmalen gleichgeſtellt werden (vgl. das oben unter II bez. der Widerrechtlichkeit Geſagte).

Es liegt alſo vorſätzlicher Diebſtahl nicht vor, wenn ich die Eigenſchaft der Sache als einer fremden; es liegt Aſcen - dententodſchlag nicht vor, wenn ich die Eigenſchaft des Er - ſchlagenen als meines Aſcendenten nicht kannte.

2. Es kann aber ein Umſtand auch dadurch zu einem weſentlichen werden, daß er, unter Ausſchluß aller an - deren korreſpondierenden Umſtände aus der Vor - ſtellung, mit vollſter Beſtimmtheit in die ſpezialiſierte Vor - ſtellung aufgenommen wurde.

Wenn der Erfolg daher bei einem ganz außerhalb der Vorſtellung liegenden Objekte oder auf einem außerhalb derſelben liegenden Wege (Kauſalzuſammenhang) oder end - lich wenn an dem vorgeſtellten Objekte ein außerhalb der Vorſtellung liegender Erfolg eingetreten iſt:14Man vgl. mit dem Geſagten Binding Normen II S. 434. ſo kann der Erfolg nicht zum Vorſatze zugerechnet werden.

Aus dem Geſagten folgt, daß die Möglichkeit der Nicht - übereinſtimmung zwiſchen Vorſtellung und Erfolg in weſent - lichen Punkten mit der größeren Spezialiſierung der Vor - ſtellung im geraden Verhältniſſe ſteht.

Dabei kann es der richtigen Anſicht nach keinen Unter - ſchied machen, ob der Eintritt des Erfolges bei einem an - deren als dem vorgeſtellten Objekte zurückzuführen iſt auf äußere Umſtände (ſog. aberratio ictus) oder auf einen Irrtum des Thäters über die Identität des Objektes (ſog. error in objecto oder in persona). Es iſt gleich unrichtig, die Zu - rechnung zum Vorſatz bei der aberratio immer ausſchließen,116Erſt. Buch. IV. Das Verbr. als ſchuldh. rechtswidr. Handl.als ſie bei dem error in persona immer annehmen zu wollen. 15Wie dies die herrſchende Anſicht thut. Lit. bei Meyer Lehrb. S. 165 f., auch bei Zi - telmann Note 410. Die rich - tige Anſicht iſt auf dem Gebiete des Civilrechtes die herrſchende;man vgl. z. B. Windſcheid §. 76. Uebrigens iſt die ganze Unterſcheidung zwiſchen ab. i. und error in p. ohne Wert. Vgl. v. Buri Kauſalität S. 83.

VI. Die alten Einteilungen des Vorſatzes haben bis auf Eine heute nur mehr dogmengeſchichtliches Intereſſe. Der dolus generalis, alternativus und eventualis wurden bereits beſprochen. Der dolus indirectus (Feuerbach’s culpa dolo determinata) iſt kein Vorſatz, denn die Vorherſehbarkeit kann den nicht vorgeſtellten Erfolg auch dann nicht zu einem vorgeſtellten machen, wenn derſelbe durch eine ſtrafbare Handlung veranlaßt wurde. Und der dolus subsequens widerſpricht dem Satze (vgl. oben §. 27 III), daß im Augen - blicke der That die Schuld, ſei es als Vorſatz, ſei es als Fahrläſſigkeit, vorhanden ſein muß.

Dagegen iſt die Einteilung in überlegten und nicht überlegten Vorſatz nicht nur pſychologiſch richtig, ſondern auch ſtrafrechtlich von Bedeutung. Das RStGB. hat den Gegenſatz von Mord und Todſchlag auf dieſen Unterſchied gebaut, und damit ſeine allgemeine Bedeutung wenigſtens für die Strafzumeſſung anerkannt. Ueberlegter Vorſatz, dolus praemeditatus, liegt vor, wenn die auftauchende Vor - ſtellung von der Kauſalität der vorgeſtellten Handlung nicht unmittelbar zur That führte, ſondern die kontraſtierenden Vorſtellungen Gelegenheit hatten, zur Geltung zu gelangen; nicht überlegter oder Affektvorſatz, dolus repentinus, wenn dies nicht der Fall war, ſondern die auftauchende Vorſtellung,117Die Fahrläſſigkeit. §. 29.alle kontraſtierenden Vorſtellungen gleichſam überrennend, ſo - fort ſich in That umſetzte. Dabei iſt das ſofort nicht zeitlich, ſondern nach der Einheitlichkeit der pſychiſchen Vor - gänge zu beſtimmen.

§. 29. Die Fahrläſſigkeit. 1Lit. bei Binding Grundriß S. 68. Dazu Geyer in HR. eulpa .

I. Fahrläſſigkeit, die zweite der beiden Schuldformen des heutigen Rechts, iſt der Wille als Urſache einer von der Vorſtellung ihrer Kauſalität (vgl. oben §. 28 I) nicht begleiteten Handlung mit rechts - widrigem Erfolge, wenn der Handelnde a) bei Vornahme der Handlung die von der Norm gebo - tene und nach Lage der konkreten Umſtände erfor - derliche Sorgfalt (objektiver Maßſtab) außer Acht gelaſſen hat, und wenn er b) den Erfolg hätte vorherſehen, d. h. die Vorſtellung von der Kau - ſalität ſeines Thuns hätte gewinnen können (ſub - jektiver Maßſtab).

1. Die ſtrafrechtliche Fahrläſſigkeit beſteht nach dieſem, aus dem poſitiven Recht abgeleiteten, Begriffe nicht ledig - lich in einer pflichtwidrigen Unachtſamkeit, in der Außerachtlaſſung der erforderlichen Sorgfalt. Die Uebertre - tungen des §. 366 Ziff. 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9 StGB. (z. B. Stehenlaſſen von Pferden auf öffentlichen Wegen mit Vernachläſſigung der erforderlichen Sicherheitsmaß - regeln ) ſind keine fahrläſſigen Delikte. Die pflichtwidrige118Erſt. Buch. IV. Das Verbr. als ſchuldh. rechtswidr. Handl.Unachtſamkeit kommt als ſtrafrechtliche Fahrläſſigkeit nur dann in Betracht, wenn ſie die Urſache eines weiteren rechts - widrigen Erfolges wurde, wenn alſo z. B. die vernachläſſigten Pferde ausgeriſſen ſind und ein Kind beſchädigt haben. Das Maß der anzuwendenden Sorgfalt beſtimmt ſich dabei ledig - lich nach der objektiven Natur der vorgenommenen Hand - lung, nicht aber nach dem Charakter des Handelnden.

2. Der eingetretene Erfolg muß ein für den unvorſichtig Handelnden vorherſehbarer geweſen ſein. Genauer: es muß dem Handelnden möglich geweſen ſein, die Vorſtellung von der Kauſalität ſeines Thun’s zu gewinnen. Bei der Beurteilung dieſer Frage ſind die geiſtigen Fähigkeiten des Handelnden, ſein größerer oder geringerer Scharfblick zu Grunde zu legen. Alſo nicht unachtſames Verhalten mit rechtswidrigem Erfolg, ſondern ſolches Verhalten mit indi - viduell vorherſehbarem rechtswidrigem Erfolge bildet das Weſen der Fahrläſſigkeit im heutigen Rechte.

3. Immer aber muß das fahrläſſige Delikt Handlung (mit Einſchluß der ſog. Unterlaſſungen; vgl. oben §. 21) d. h. willkürliche körperliche Bewegung ſein, zurückgeführt werden können auf den Willen, als den die motoriſchen Nerven unmittelbar erregenden pſychiſchen Akt. Nur iſt zu beachten, daß gerade bei dem fahrläſſigen Delikte die Handlung (im engeren Sinne) und der Erfolg zeitlich und räumlich weit ab von einander liegen können; z. B. der in Belgien 1879 erzeugte und nach Berlin verkaufte Dampfkeſſel explodiert daſelbſt im Jahre 1881 in Folge ſchleuderhafter Konſtruktion der Sicherheitsventile. Für die Frage nach der Schuld des Thäters iſt hier wie immer (oben §. 27 III) der Augenblick der körperlichen Bewegung maßgebend; Zeit und Ort der Begehung des Deliktes richtet ſich nach den allgemeinen119Die Fahrläſſigkeit. §. 29.Regeln (vgl. oben §. 19 IV), ſo daß in unſerem Beiſpiele das Delikt in Berlin und in dem Augenblicke begangen iſt, in welchem der Dampfkeſſel in der Fabrik zu funktionieren beginnt; die Vollendung des Verbrechens endlich be - ſtimmt ſich nach dem Eintritte des rechtswidrigen Erfolges. Ueber die Beteiligung Mehrerer an demſelben fahrläſſigen Delikte iſt das oben §. 20 III über den Kauſalzuſammen - hang und das unten §. 35 II 1 über die Teilnahme Ge - ſagte zu vergleichen.

II. Die Fahrläſſigkeit beruht auf einem Irrtume über die Kauſalität der Handlung; die Vorſtellung von dem Erfolge und der Erfolg ſelbſt decken ſich in einem weſent - lichen Punkte nicht. Inſofern bildet die Fahrläſſigkeit das Gegenbild des Vorſatzes; und von der Entſcheidung der Frage, welche Punkte in dem Inhalte der Vorſtellung als weſentliche zu betrachten ſeien (vgl. oben §. 28 V) wird die Grenzbeſtimmung zwiſchen dem Gebiete des Vorſatzes und jenem der Fahrläſſigkeit abhängen. Aber dieſe iſt nicht das reine Gegenbild des Vorſatzes; nicht jeder, ſondern nur der (kurz geſagt) verſchuldete Irrtum iſt Fahrläſſigkeit. Nicht mehr will der gänzlich überflüſſige und darum ver - wirrende 2. Abſatz des §. 59 StGB. ſagen.

III. Alle Normen ſind an ſich der fahrläſſigen Uebertre - tung fähig. Aber nicht jede fahrläſſige Normübertretung wird von dem poſitiven Rechte mit Strafe belegt. Es bildet im Gegenteile nach Reichsrecht die Beſtrafung fahrläſſiger Delikte eine Ausnahme, die nur dann als gegeben anzu - nehmen iſt, wenn der Wille, auch die fahrläſſige Uebertretung zu beſtrafen, ausdrücklich im Geſetze ausgeſprochen oder aus dem Zuſammenhange der geſetzlichen Beſtimmungen mit Sicherheit zu entnehmen iſt. Ausdrücklich droht das Geſetz120Erſt. Buch. IV. Das Verbr. als ſchuldh. rechtswidr. Handl.Strafe auch der fahrläſſigen Begehung in folgenden Fällen:

StGB. § 186 üble Nachrede; §§. 222 und 230 Tötung und Körperverletzung; §§. 121 und 347 Ent - weichenlaſſen von Gefangenen; 163 Falſcheid; 259 Par - tiererei (vgl. unten IV a. E.); 309, 311, 314, 316, 318, 326, 329 gemeingefährliche Delikte; 345 Vollſtreckung einer nicht zu vollſtreckenden Strafe.

Nebengeſetze: die Urhebergeſetze vom 11. Juni 1870 §§. 18, 20, 24; 9. Januar 1876 §. 16, 10. Januar 1876 §. 9, 11. Januar 1876 §. 14; Seemannsordnung vom 27. Dezember 1872 §§. 94 und 97; Preßgeſetz vom 7. Mai 1874 §. 21;2Daß es ſich hier um den gewöhnlichen Begriff der Fahr -läſſigkeit handelt. ſ. bei Liszt Preßrecht §. 51 f. Geſetz betreffend Beſeitigung von Anſteckungsſtoffen bei Viehbeförderung vom 25. Februar 1876 §. 5 (intereſſant für den Begriff der Fahrläſſigkeit); Nahrungsmittelgeſetz vom 14. Mai 1879 §§. 11 und 14; Geſetz betreffend Zuwiderhandlungen gegen die zur Ab - wehr der Rinderpeſt erlaſſenen Vieheinfuhrverbote vom 21. Mai 1878 §§. 3 u. 4 (das Impfgeſ. v. 8. April 1874 §. 17 gehört nur ſcheinbar hieher).

IV. Grade der Fahrläſſigkeit. Das poſitive Recht hat in zwei Fällen die Fahrläſſigkeit als eine qualifizierte behandelt, wenn der Thäter zu der von ihm außer Acht gelaſſenen Sorgfalt vermöge ſeines Amtes, Berufes oder Gewerbes beſonders verpflichtet war (StGB. §§. 222 und 230 Tötung und Körperverletzung).

Von dieſer beſonderen Anordnung des Geſetzes abgeſehen, ſind zwei Stufen der Strafbarkeit innerhalb der Fahrläſſig - keit zu unterſcheiden:

121Die Fahrläſſigkeit. §. 29.

1. Der Thäter hatte die (irrige) Vorſtellung, daß die Handlung nicht kauſal ſein werde; der leichtere Fall.

2. Der Thäter hat (blind drauf los) gehandelt, ohne überhaupt zu irgend einer Vorſtellung über die Kauſalität ſeines Thuns zu gelangen; der ſchwerere Fall (die luxuria des römiſchen Rechts, vgl. Windſcheid §. 101 Note 10).

Dieſe Einteilung fällt mit der durchaus unhaltbaren herrſchenden Einteilung in bewußte und unbewußte Fahr - läſſigkeit3Lit. bei Meyer S. 174 Note 17. (die auf einer ganz abweichenden Faſſung des Begriffes der Fahrläſſigkeit beruht) nicht zuſammen.

Endlich muß noch auf die ganz ſinguläre Beſtimmung in §. 259 StGB. aufmerkſam gemacht werden, nach welcher Partiererei auch dann anzunehmen iſt, wenn der Thäter zwar nicht wußte, aber den Umſtänden nach annehmen mußte, daß die von ihm verheimlichte uſw. Sache durch eine ſtraf - bare Handlung erlangt ſei. Es liegt hier ein beſonderer Fall der Fahrläſſigkeit vor;4So auch RGR. 28. April 1880, R I 691. nicht beſonders ſchwere Fahr - läſſigkeit:5Dies die Anſicht des RGR. in der eben cit. E., welche die Beſtimmung nicht auf culpaſchlechthin, ſondern auf culpa lata bezieht. denn immer liegt das Weſen derſelben in dem mangelnden und doch durch die Umſtände nahegelegten Be - wußtſein der Kauſalität; ſondern ein ſpeziell hervorge - hobener Fall der Fahrläſſigkeit, ſo daß jede andere fahr - läſſige Herbeiführung desſelben Erfolges6Z. B. der Thäter merkt nicht, daß ſeine Handlung ein Verheimlichen der betreffen - den Sachen in ſich ſchließt. nicht geſtraft werden kann.

122Erſtes Buch. V. Das Verbr. als ſtrafbares Delikt.

V. Das Verbrechen als das mit Strafe bedrohte Delikt.

§. 30. Die Bedingungen der Strafbarkeit im Allgemeinen.

I. Nicht jede ſchuldhafte normwidrige Handlung, nicht jedes Delikt iſt Verbrechen (vgl. oben §. 17 IV). In vielen, wenn auch lange nicht in allen Fällen, müſſen außer dem Vorliegen der Normübertretung noch andere Vorausſetzungen gegeben ſein, damit die Strafbarkeit des Thuns eintritt. Eine Reihe von Fällen, die ſich leicht verdreifachen läßt, wurde bereits in der Einleitung §. 4 I erwähnt, andere werden wir im beſonderen Teile zur Genüge kennen lernen. Man ſpricht hier poſitiv von Bedingungen der Straf - barkeit, oder wenn man negativ das Fehlen dieſer Be - dingungen bezeichnen will, von Strafausſchließungs - gründen. So kann man das Fehlen des Antrages bei den Antragsdelikten, die nicht erfolgte Auflöſung der Ehe bei den Verbrechen der §§. 170, 172, 238 StGB., den Mangel der verbürgten Gegenſeitigkeit in den Fällen der §§. 102 und 103 StGB. uſw. als Strafausſchließungs - gründe bezeichnen. Doch iſt dabei zu beachten: einmal, daß dieſer Ausdruck nicht immer in der in dem vorliegenden Lehrbuche feſtgehaltenen engeren Bedeutung gebraucht wird; und ferner, daß eine Verwechſelung dieſer objektiven die That ergreifenden Strafausſchließungsgründe mit den unter III 3 zu beſprechenden ſubjektiven Strafausſchließungen nahe liegt. Daher verdient der Ausdruck: Bedingungen der Strafbarkeit den Vorzug.

123Die Bedingungen d. Strafbarkeit im Allgemeinen. §. 30.

II. Fehlt eine der Bedingungen der Strafbarkeit, ſo kann wohl ein Delikt, nie aber ein Verbrechen vorliegen. Der nicht aus dem Delikte ſondern aus dem Verbrechen dem Staate gegen den Verbrecher erwachſende Strafanſpruch entſteht nicht, wenn und ſo lange die Bedingungen ſeines Entſtehens nicht gegeben ſind. So lange der Antrag nicht geſtellt, iſt das ſogenannte Antragsdelikt nicht Verbrechen. Eben darum kann auch vor Eintritt der Bedingung (z. B. der rechtskräftigen Scheidung der Ehe im Falle des §. 172 StGB. ) weder die Verfolgung eingeleitet, noch auch nur der Antrag auf Einleitung derſelben mit rechtlicher Wirkung geſtellt werden. RGR. 3. Januar 1880, E I 44, R I 180; 23. März 1880, R I 505, E II 62. Ebenſo iſt um bei dem Beiſpiele zu bleiben Begünſtigung des Ehebruches nur ſtrafbar, wenn die Scheidung der Ehe erfolgt; der Vor - wurf eines Ehebruchs nur unter der gleichen Bedingung falſche Anſchuldigung im Sinne des §. 164 StGB. uſw. Wenn aber die Bedingung eintritt, dann wird ihre Wirkung zurückbezogen auf den Zeitpunkt der Begehung der deliktiſchen Handlung; die nachträglich eingetretene Bedingung wirkt nicht ex nunc ſondern ex tunc, der Anſpruch gilt als entſtanden in dem Augenblicke der begangenen Handlung. Tritt die Bedingung dagegen nicht ein, ſo liegt ein Verbrechen über - haupt nicht vor. An einer ſolchen normwidrigen, aber nicht ſtrafbaren Handlung iſt ſtrafbare Teilnahme nicht möglich (vgl. unten §. 35 II 3); und ebenſo ſind alle objektiven Maßregeln, die eine ſtrafbare Handlung zur Voraus - ſetzung haben, ausgeſchloſſen. 1Vgl. Liszt Reichspreßrecht §. 55.

124Erſtes Buch. V. Das Verbr. als ſtrafbares Delikt.

III. Eben darum ſind nach Begriff und Wirkung ſtrenge von den Bedingungen der Strafbarkeit zu ſcheiden:

1. Die Strafaufhebungsgründe, durch welche die bereits eingetretene Strafbarkeit nachträglich beſeitigt, der bereits entſtandene Strafanſpruch wieder vernichtet wird (vgl. darüber unten §. 57 I).

2. Die der prozeſſualen Geltendmachung des An - ſpruches in ihrem Beginn oder in ihrer Durchführung im Wege ſtehenden Hinderniſſe. Die genauere Abgrenzung dieſer Fälle von den Strafausſchließungs - und den Straf - aufhebungsgründen iſt bisher von Wiſſenſchaft und Geſetz - gebung arg vernachläſſigt worden. Das Nähere gehört in das Strafprozeßrecht. Hier ſei nur erwähnt, daß außer der Flucht des Thäters oder einer nach begangener That ein - tretenden Störung ſeiner Zurechnungsfähigkeit insbeſondere der Fall der ſogenannten Ermächtigungsdelikte (StGB. §§. 99, 101, 197), bei welchen die Verfolgung von der Ermächtigung der beleidigten Perſon oder Körperſchaft abhängig gemacht iſt, in die Gruppe: Hinderniſſe der Straf - verfolgung zu ſtellen iſt. Die wichtigſten Konſequenzen dieſer Auffaſſung ſind Teilbarkeit und Nicht-Rücknehmbarkeit der Ermächtigung . Das Gleiche gilt von der Zugehörigkeit des Thäters zu einer geſetzgebenden Verſammlung,2Art. 31 RVerf., Einf. Geſ. zur StPO. §. 6. einer landesherrlichen Familie uſw.

3. Und endlich ſind von den Bedingungen der Straf - barkeit oder den eigentlichen (objektiven) Strafausſchließungs - gründen jene Fälle zu unterſcheiden, in welchen der Geſetz - geber nicht die Strafbarkeit der That, wol aber die des Schuldigen abhängig macht von dem Nichtvorliegen gewiſſer125Der Antrag des Verletzten insbeſondere. §. 31.Umſtände. So bleiben nach StGB. §. 173 (Blutſchande) Verwandte und Verſchwägerte ſtraflos, wenn ſie das 18. Le - bensjahr nicht erreicht haben; ſo iſt die perſönliche Begün - ſtigung nach §. 257 StGB. ſtraflos, wenn ſie dem Thäter oder Teilnehmer von einem Angehörigen gewährt worden iſt; das Gleiche gilt von dem Diebſtahl und Unterſchlagung, die von Aſcendenten an Deſcendenten oder zwiſchen Ehe - gatten begangen werden (StGB. §. 247) uſw. Ich werde dieſe Umſtände, in Ermangelung eines beſſeren Ausdruckes, ſubjektive Strafausſchließungsgründe nennen. Sie berühren und das iſt das Weſentliche die Strafbar - keit der That an ſich nicht, ſchließen daher die Strafbarkeit der Teilnehmer trotz der Strafloſigkeit des Hauptthäters nicht aus.

§. 31. Der Antrag des Verletzten insbeſondere. 1Die (wenig fördernde) Lit. bei Binding Grundriß S. 51. Dazu Medem GS. XXIX, Samuely GS. XXXII.

I. In einer rapid anſchwellenden Zahl von Fällen hat die moderne Geſetzgebung die Strafverfolgung von dem An - trag des Verletzten abhängig gemacht. Es bewahrheitete ſich der alte Erfahrungsſatz, daß gerade die unklarſten, un - ausgedachteſten geſetzgeberiſchen Gedanken die meiſte Ausſicht auf allgemeinen Beifall haben. Hat auch die Novelle vom 26. Februar 1876 mit den gröbſten Mißſtänden aufgeräumt (vgl. oben §. 8 V), ſo bleibt doch eine gründliche Reviſion der ganzen Lehre von den Antragsdelikten durch die Reichs - geſetzgebung ein dringendes Bedürfnis.

Die Antragsfälle des RStGB. ’s ſind: §§. 102, 103,126Erſtes Buch. V. Das Verbr. als ſtrafbares Delikt.104 (ſtafbare Handlungen gegen befreundete Staaten), 170, 172, 179, 182 (Eheerſchleichung, Ehebruch, Erſchleichung des Beiſchlafs, Verführung eines jungen Mädchens), 189, 194 196, 232 (Beleidigung und Körperverletzung), 236, 237 (Entführung), 247, 263 (Diebſtahl, Unterſchlagung, Be - trug gegen Angehörige), 288, 289, 292, 293, 299, 300 303 (Fälle ſtrafbaren Eigennutzes und Sachbeſchädigung), 370 Ziff. 5 u. 6 (Genußmittel - und Futterdiebſtahl).

Dazu kommen noch einzelne Fälle in den Nebengeſetzen; ſo im Preßgeſetz vom 7. Mai 1874 §. 19 Ziff. 3; Nach - drucksgeſetze vom 11. Juni 1870 §. 27, (ebenſo in den Ge - ſetzen vom 9., 10., 11. Januar 1876); §. 14 Markenſchutz - geſetz v. 30. November 1874; §. 34 Patentgeſetz v. 25. Mai 1877; Seemannsordnung vom 27. Dezember 1872 §. 81 und 84.

II. Bei genauerer Betrachtung müßten die Antragsdelikte in zwei, nach Inhalt und Behandlung weſentlich von ein - ander verſchiedene Gruppen zerlegt werden.

1. Gewiſſe Rechtsgüterverletzungen erſcheinen nur dann als ſolche, ſind nur dann für die öffentliche Rechtsordnung von Bedeutung, wenn der Verletzte ſie als Verletzung em - pfindet, und, daß er dies thut, in vorgeſchriebener beſtimmter Form (durch den Antrag auf Verfolgung) erklärt. Die unzüchtige Berührung eines Mädchens kann von der Be - rührten als Liebkoſung oder als tiefſte Entehrung empfunden werden. Hier iſt die Stellung des Antrages Bedingung der Strafbarkeit; die Befriſtung des Antrages hat guten Grund; die Rücknahme müßte (etwa bis zu Beginn der Hauptverhandlung) geſtattet, die Teilbarkeit ausgeſchloſſen ſein, Fehlen des Antrages müßte Freiſprechung mit definitiver Erledigung der Strafſache zur Folge haben; die Berech -127Der Antrag des Verletzten insbeſondere. §. 31.tigungen mehrerer Verletzten wären als von einander unab - hängig zu betrachten, bei Idealkonkurrenz (vgl. unten §. 40 III) mit einem von Amtswegen zu verfolgenden Verbrechen könnte dieſes auch bei mangelndem Antrage verfolgt werden uſw.

2. Bei der weitaus größeren Gruppe der Antragsfälle liegt die Sache durchaus anders. Man denke an die Not - zucht, die bis zur Novelle von 1876 Antragsdelikt war. Hier iſt das Intereſſe des Staates an der Verfolgung vom Anfange an gegeben; aber ihm ſteht das Intereſſe des Ver - letzten an der Nichtverfolgung (da die Unterſuchung und Ver - handlung der Sache für ihn nur eine neue und vielleicht die erſte an Schwere übertreffende Verletzung wäre) ſchroff ge - genüber. Und der Staat verzichtet dem Verletzten zu Liebe auf die Geltendmachung ſeines Strafanſpruches, ſo lange der Verletzte nicht durch die Stellung des Antrages er - klärt, daß das bei ihm vom Staate vorausgeſetzte Intereſſe im Einzelfalle nicht vorliege. Hier iſt der Antrag nicht Be - dingung der Strafbarkeit der That, ſondern Vorausſetzung der prozeſſualen Geltendmachung des ſtaatlichen Strafan - ſpruches; ſein Mangel nicht Strafausſchließungsgrund, ſon - dern Hindernis der Strafverfolgung in dem oben §. 30 III 3 beſprochenen Sinne; und die ganze Lehre von dieſen Antragsdelikten würde gar nicht ins Strafrecht, ſondern in das Strafprozeßrecht gehören. Die verſchiedene prinzipielle Auffaſſung würde dann auch bezüglich der oben unter 1 be - ſprochenen Konſequenzen in weitaus den meiſten Punkten zu ganz anderen Reſultaten führen.

Der Gegenſatz kann hier nicht weiter verfolgt werden, da er im poſitiven Recht keine Anerkennung gefunden hat. Eben darum iſt aber auch die ſyſtematiſche Stellung, die in dem Lehrbuche den Antragsdelikten gegeben wurde (ebenſo128Erſtes Buch. V. Das Verbr. als ſtrafbares Delikt.wie jede andere Stellung derſelben) eine nur teilweiſe rich - tige. Unhaltbar aber iſt in dieſer Allgemeinheit die vom RGR. 17. April 1880, R I 615 ausgeſprochene Anſicht, nach welcher der Strafantrag nicht zum Thatbeſtande gehöre, ſondern Vorausſetzung der Verfolgung ſei.

III. Poſitivrechtliche Behandlung der Antragsdelikte.

1. Berechtigt zur Antragsſtellung iſt

  • a) Derjenige, dem der Geſetzgeber in gewiſſen Fällen ausdrücklich dieſe Berechtigung zuweiſt; vgl. StGB. §§. 102 Nr. 3, 104, 170, 182, 189, 196, 288 uſw. ; §. 28 Nachdrucksgeſetz vom 11. Juni 1870.
  • b) In Ermangelung beſonderer Anordnung der durch das Verbrechen Verletzte, genauer geſprochen: der Träger des durch die ſtrafbare Handlung unmittelbar
    2Vgl. RGR. 16. April 1880, E I 370, R I 607.
    2 ange - griffenen Rechtsgutes; ſo der Eigentümer bei der Sach - beſchädigung, der Inhaber der befriedeten Räume beim Hausfriedensbruch uſw. Doch muß der Verletzte, um antragsberechtigt zu ſein, das 18. Lebensjahr zurück - gelegt haben (StGB. §. 65 Abſ. 1).
  • c) Der geſetzliche Vertreter ſtatt des Verletzten, wenn dieſer noch nicht 18 Jahre alt, geiſteskrank oder taub - ſtumm, oder aber eine Kollektivperſönlichkeit iſt (StGB. §. 65 Abſ. 2 u. 3; vgl. mit StPO. §. 414).
  • d) Neben dem Verletzten der geſetzliche Vertreter,
    3Nach dem Civilrecht zu be -ſtimmen, vgl. die in Anm. 2 angef. E des RGR. bezügl. der Stellung der unehelichen Mutter.
    3 wenn Erſterer über 18 Jahre alt aber noch minder - jährig iſt (StGB. §. 65 Abſ. 2), der Gatte und Vater nach §. 195 (232), der amtlich Vorge - ſetzte nach §. 196 (232).
129Der Antrag des Verletzten insbeſondere. §. 31.

Die Stellung des Antrages kann auch durch einen Spe - zialbevollmächtigten erfolgen; aber auch Generalvoll - macht iſt als genügend zu betrachten, wenn und ſoweit im ein - zelnen Falle angenommen werden kann, daß die Stellung des Antrages dem Willen des Berechtigten entſpricht; und insbe - ſondere gilt dies von ſtrafbaren Eingriffen in vermögensrecht - liche Intereſſen, mit deren Wahrung der Bevollmächtigte betraut iſt RGR. 20. April 1880, E I 387, R I 620. Ja ſelbſt ein Nichtbevollmächtigter wird zur Antragſtellung zu - zulaſſen ſein, wenn ſtillſchweigender Auftrag oder Einver - ſtändnis des Verletzten angenommen werden kann RGR. 17. Dezember 1879, R I 163.

Mehrere Antragsberechtigungen, mögen dieſe mehreren Verletzten oder aber dem Verletzten und den Nebenberech - tigten zukommen, ſind von einander unabhängig (StGB. §. 62; vgl. mit StPO. §. 415).

2. Das Antragsrecht iſt befriſtet. Es erliſcht (StGB. §. 61), wenn der zum Antrage Berechtigte es unterläßt, den Antrag binnen drei Monaten zu ſtellen. Die Friſt beginnt mit dem Tage, ſeit welchem der zum Antrage Berechtigte von der Handlung und von der Perſon des Thäters Kenntnis gehabt hat. Ebenſo nach §. 35 Nachdrucksgeſetz vom 11. Juni 1870. Die Friſt iſt demnach, wenn die Kenntnis z. B. am 12. Februar erlangt worden, mit Beginn des 12. Mai be - reits abgelaufen (RGR. 22. Dezember 1879, E I 40). Iſt die Strafbarkeit der That von einer zu ihrer Normwidrig - keit hinzutretenden Bedingung abhängig, ſo beginnt die An - tragsfriſt erſt mit dem Eintritte der Bedingung zu laufen, vgl. oben §. 30 II.

Eine weſentliche Veränderung erleidet dieſe Friſt in dem Falle wechſelſeitiger Beleidigungen und Körperverletzungenvon Liszt, Strafrecht. 9130Erſtes Buch. V. Das Verbr. als ſtrafbares Delikt.(StGB. §§. 198 und 232; StPO. §. 426) indem hier der Geklagte einerſeits bei Verluſt ſeines Rechtes verpflichtet iſt, den Antrag auf Beſtrafung ſpäteſtens bis zur Beendigung der Schlußvorträge in erſter Inſtanz zu ſtellen, hiezu aber auch dann berechtigt bleibt, wenn zu jenem Zeitpunkte die dreimonatliche Friſt bereits abgelaufen iſt. Eine beſondere Beſtimmung der Friſt findet ſich in §. 84 der Seemanns - ordnung vom 27. Dezember 1872 (bis zur Abmuſterung). Neben der Rügefriſt läuft die Verjährung des Verbrechens durchaus ſelbſtändig (vgl. unten §. 58).

3. Der Antrag iſt unteilbar. Die Verfolgung findet nach StGB. §. 63 gegen ſämmtliche an der Handlung Be - teiligte (Thäter und Teilnehmer) ſowie gegen den Be - günſtiger ſtatt, auch wenn nur gegen eine dieſer Perſonen auf Beſtrafung angetragen iſt; und die Rücknahme des An - trags gegen den Einen hat Einſtellung des Verfahrens über - haupt zur Folge. Dasſelbe muß aber auch von dem Ver - ſchweigen der Antragsfriſt gegen Einen der Schuldigen gelten (entgegengeſetzt RGR. 17. April 1880, R I 615). Aus - nahmsweiſe iſt die Teilbarkeit des Antrages ausgeſprochen in den §§. 247 und 289 StGB. ; eine Ausnahme, die auf die §§. 263, 292, 303 nicht ausgedehnt werden darf.

4. Die Zurücknahme des Antrages iſt ſeit der No - velle vom 26. Februar 1876 nur mehr in den geſetzlich be - ſonders vorgeſehenen Fällen und nur bis zur Verkündigung eines auf Strafe lautenden Urteils zuläſſig (StGB. §. 64). Dieſe beſonders vorgeſehenen Fälle ſind:

StGB. §§. 102 104, 194, 232, 247, 263, 292, 303, 370; Nachdrucksgeſetz vom 11. Juni 1870 §. 27.

Die Zurücknahme der Privatklage hat mit der des An - trages nichts zu thun (vgl. StPO. §. 431).

131Entwicklung des Verſuchsbegriffes. §. 32.

5. Der Antrag muß die Abſicht, die Verfolgung herbei - zuführen, beſtimmt zum Ausdrucke bringen. 4Ueber die Form vgl. StPO. §. 156.Verzicht auf den Antrag iſt juriſtiſch ohne Bedeutung;5ROHG. vom 13. Oktober 1876. Widerruf der Rücknahme des geſtellten Antrages unzuläſſig. Der Antrag ergreift die Klagthatſachen, nicht aber ihre juriſtiſche Qua - lifikation.

VI. Vollendung und Verſuch des Verbrechens.

§. 32. Begriffliche Entwicklung. 1Lit. bei Binding Grund - riß S. 73. Dazu Cohn Zur Lehre vom verſuchten und un - vollendeten Verbrechen I 1880.

I. 1. Das Delikt iſt vollendet, ſobald jener Zuſtand herbeigeführt, bez. vereitelt iſt, den herbeizuführen die Norm verbietet bez. gebietet, alſo mit dem Uebertretenſein der Norm.

2. Von der Vollendung des Deliktes haben wir die Vollendung des Verbrechens zu unterſcheiden. Das Ver - brechen iſt vollendet mit der Herbeiführung desjenigen norm - widrigen Zuſtandes, an deſſen Vorliegen (als Thatbeſtand) der Geſetzgeber den Eintritt der Strafe (als Rechtsfolge) geknüpft hat. Deckt ſich jener Thatbeſtand mit dem Inhalte der Norm, dann fallen Vollendung des Deliktes und Voll - endung des Verbrechens in denſelben Zeitpunkt. Decken ſie ſich nicht, ſo fallen auch beide Vollendungspunkte ausein - ander. So kann insbeſondere der Geſetzgeber den Eintritt132Erſtes Buch. VI. Vollendung u. Verſuch des Verbrechens.der Strafe an einen der Vollendung des Deliktes vorher - gehenden Zeitpunkt knüpfen. Er thut dies in zahlreichen Fällen: das Delikt der Münzfälſchung wäre vollendet mit dem In-Verkehr-Bringen der falſchen Münzen; das Ver - brechen der Münzfälſchung iſt nach §. 146 StGB. ſchon mit dem Fälſchen der Münze vollendet. Andere Beiſpiele bieten StGB. §§. 131, 229, 234, 253, 258, 298 ff. Vgl. auch die unten §. 33 III 2 zuſammengeſtellten Fälle. Um - gekehrt liegt ſcheinbar die Sache in allen Fällen, in welchen zur Normübertretung weitere Bedingungen hinzutreten müſſen, um die Strafbarkeit herbeizuführen (vgl. oben §. 30). So beim Ehebruch die Scheidung der Ehe und der Antrag des verletzten Ehegatten. Allein hier fallen Vollendung des De - liktes und Vollendung des Verbrechens nur ſcheinbar aus - einander: denn bei Eintritt der Bedingung iſt die Straf - barkeit ex tunc und nicht ex nunc begründet (oben §. 30 II).

3. Aus der verſchiedenen Stellung der Norm und des aus ihr gebildeten Verbrechen-Thatbeſtandes zu dem zu ſchützenden Rechtsgute (oben §. 3 II) folgt, daß Vollendung der Rechtsgüterverletzung weder mit der Vollendung des Deliktes noch mit jener des Verbrechens zuſammenzu - fallen braucht. Es genügt, auf dieſen vielfach überſehenen Gegenſatz aufmerkſam zu machen. Wir werden, wenn das Gegenteil nicht ausdrücklich bemerkt iſt, im folgenden nur das Verbrechen in ſeiner Vollendung oder Nicht-Vollendung ins Auge faſſen.

II. Um zu dem Begriffe des Verſuches zu gelangen, be - trachten wir, im Anſchluſſe an das oben §. 19 II Geſagte, die einzelnen Stadien der erweiterten Handlungsreihe und die ſich dabei ergebenden Komplikationen.

133Entwicklung des Verſuchsbegriffes. §. 32.

Wir können folgende Fälle unterſcheiden:2Der Einfachheit wegen habe ich Beiſpiele gewählt, bei wel - chen Vollendung des Verbrechens und Vollendung der Rechts - güterverletzung ſich decken. Es bedarf aber wohl nur eines Hin - blickes auf den unten §. 36 Ierörterten Begriff der fingierten Thäterſchaft, um ſich zu über - zeugen, daß bei jedem Ver - brechen unter Umſtänden dieſe Stadien auseinanderfallen kön - nen.

a) die körperliche Bewegung hat begonnen, iſt aber noch nicht abgeſchloſſen; ich bin im Begriffe, den nach New - York beſtimmten beleidigenden Brief in den Briefkaſten zu werfen; ich habe die das Beil führende Hand zum Schlage erhoben uſw.

b) die Bewegung iſt beendet, der Kauſalismus, dem ſie den Anſtoß gegeben, iſt im Laufen begriffen: mein Brief iſt auf dem Poſtdampfer unterwegs nach Amerika; der zu fällende Baum hat den letzten Schlag erhalten und be - ginnt langſam zu ſinken.

c) Die Kauſalreihe iſt abgelaufen, ohne das vorgeſtellte Objekt zu treffen: der Poſtdampfer iſt mit der ganzen Ladung geſcheitert, der Baum iſt geſtürzt, aber hart neben dem auf dem Raſen ſchlafenden B.

d) Die Kauſalreihe hat ablaufend das Objekt erreicht, aber noch iſt der vorgeſtellte Erfolg nicht eingetreten: mein Brief liegt im Hauſe des Adreſſaten, der auf einige Tage verreiſt, erſt in mehreren Stunden eintreffen ſoll: der ſchla - fende B iſt getroffen, tötlich verletzt, aber er lebt noch.

e) Der Erfolg, hier die Rechtsgüterverletzung Belei - digung, Tötung iſt eingetreten: Zeitpunkt der Voll - endung.

Die Vollendung des Verbrechens kann unterbleiben: ad a, wenn die Bewegung gehemmt wird; ad b, wenn die134Erſtes Buch. VI. Vollendung u. Verſuch des Verbrechens.Kauſalitätsreihe gar nicht ihr Objekt trifft; ad d, wenn der Erfolg nicht eintritt. Die Vollendung iſt (definitiv) unter - blieben im Falle c.

Will man dieſe Fälle durch beſondere Benennungen aus - einanderhalten, ſo kann man

1. von fehlgeſchlagenen Verbrechen ſprechen, wenn die auf den Erfolg gerichtete Handlung erfolglos vollzogen iſt. Hieher gehört dann Fall c, in welchen Fall b über - gehen kann; ſowie Fall d bei Ausbleiben des Erfolges.

2. Von ſuſpendiertem Erfolge, wenn der Erfolg ſicher, aber noch nicht eingetreten iſt; Fall d kann dieſe Ge - ſtalt annehmen.

3. Von beendetem Verſuche, wenn die körperliche Bewegung abgeſchloſſen iſt, der Handelnde aber noch die Möglichkeit hat, den Eintritt des Erfolges abzuwenden, Fall b und d, nicht aber a und e gehören möglicherweiſe hieher.

4. Von nichtbeendetem Verſuche, wenn die körper - liche Bewegung ſelbſt nicht abgeſchloſſen iſt: Fall a. 3Die Terminologie iſt eine ſehr ſchwankende; wichtig iſt es nur, die verſchiedene Strukturder einzelnen Fälle im Auge zu behalten.

III. Während die außerdeutſche Wiſſenſchaft fehlgeſchla - genes und verſuchtes Verbrechen mit Recht ſtrenge von ein - ander ſcheidet, zwingt uns der Stand der deutſchen Geſetz - gebung, beide unter einen gemeinſamen Begriff zu bringen. Demnach nennen wir Verſuch jede auf Herbeiführung des Erfolges gerichtete, dieſen aber nicht herbei - führende Handlung. In dieſer Definition bedeutet Er - folg: den Thatbeſtand, an welchen der Eintritt der Strafe geknüpft iſt; Richtung auf den Erfolg: den Vorſatz des135Entwicklung des Verſuchsbegriffes. §. 32.Thäters (oben §. 28 I), alſo deſſen (irrige) Vorſtellung von der Kauſalität ſeines Thuns. Ueber die ſcheinbare Ein - ſchränkung dieſes Begriffes im poſitiven Recht vgl. unten §. 33 IV.

Die Strafbarkeit des Verſuches, d. h. die Berechtigung des Staates ihn mit Strafe zu belegen, folgt aus ſeiner Normwidrigkeit (oben §. 3 III 3) verbunden mit dem Vor - liegen der ſchwereren Schuldart, des Vorſatzes. Es bedarf keiner beſonderen Norm, wohl aber (ſelbſtverſtändlich) eines beſonderen Strafgeſetzes, um den Verſuch ſtrafen zu können.

IV. Der Verſuch beruht immer auf einem Irrtum des Thäters über die Kauſalität ſeines Thuns. Sein Thun war begleitet von der Vorſtellung, daß die Hand - lung gewiſſe Veränderungen in der Außenwelt hervorrufen, daß ſie einen beſtimmten normwidrigen Erfolg verurſachen werde. Aber die Handlung verurſacht den vorgeſtellten Erfolg nicht; Erfolg und Vorſtellung des Er - folges decken ſich in einem weſentlichen Punkte nicht.

Die Beziehung des Verſuches zur Fahrläſſigkeit iſt ſomit eine unläugbare: hier Zurechnung des eingetretenen nicht vor - geſtellten Erfolges; dort Zurechnung des vorgeſtellten nicht eingetretenen Erfolges.

Aus dem Geſagten folgt:

1. daß wohl Verſuch eines vorſätzlichen, nicht aber Verſuch eines fahrläſſigen Verbrechens möglich iſt, da dieſes begrifflich mangelnde Vorſtellung der Kauſalität des Thuns erfordert; ſowie ferner, daß der Verſuch ſelbſt weder ein vorſätzlicher noch ein fahrläſſiger ſein kann, da er ein von beiden Begriffen verſchiedenes Verhältnis von Erfolg und Vorſtellung vorausſetzt; und endlich, daß die Möglichkeit eines Verſuches jener qualifizierten Verbrechensfälle ausge -136Erſtes Buch. VI. Vollendung u. Verſuch des Verbrechens.ſchloſſen iſt, bei welchen (vgl. unten §. 54 I 3) die objektive wenn auch nicht verſchuldete (oben §. 27 II) Thatſache des Eintrittes eines beſtimmten ſchwereren Erfolges zum Straf - ſchärfungsgrund gemacht iſt.

2. Daß auch bei generellem Vorſatze Verſuch möglich iſt;4Lit. bei Binding Grundriß S. 75. der ſchwerſte der vorgeſtellten nicht eingetretenen Erfolge giebt den Ausſchlag (vgl. oben §. 28 IV a. E.).

V. Der Verſuch beruht immer auf einem Irrtume über die Kauſalität des Thuns, d. h. auf der (irrigen) An - nahme, daß eine zur Herbeiführung des vorge - ſtellten Erfolges untaugliche Handlung zur Her - beiführung tauglich ſei.

Es iſt mithin eine ganz ſchiefe Anwendung an ſich nur relativer Begriffe, wenn man zwiſchen Verſuch mit untaug - lichem Mittel und Verſuch an untauglichem Objekt unter - ſcheiden will. Nur die Tauglichkeit der Handlung, als des Mittels zum Zwecke, ſteht zur Frage. Ferner: eine beſtimmte vorgenommene Handlung kann zur Herbeiführung eines beſtimmten vorgeſtellten Erfolges immer nur tauglich oder nicht tauglich, d. h. kauſal oder nicht kauſal ſein, nicht aber mehr oder weniger nicht kauſal; die Unterſcheidung zwiſchen abſoluter und relativer Untauglichkeit des Mittels (oder des Objektes) iſt daher eine grobe Verkennung des Urſachenbegriffes. Und endlich: Wenn das Weſen des Verſuches in dem Irrtume über die Kauſalität des Thuns beſteht, ſo kann dieſer Irrtum keinen Grund abgeben, um einzelne Verſuchsfälle nicht ſtrafen zu wollen.

In der Terminologie der herrſchenden Anſicht hieße das: auch der Verſuch mit abſolut untauglichem Mittel137Entwicklung des Verſuchsbegriffes. §. 32.oder an abſolut untauglichem Objekte iſt ſtrafbar,5Stand der Anſichten bei Meyer Lehrb. S. 200 Note 8. Lit. bei Binding Grundriß S. 76. Dazu Scherer GS. XXIX. Im Weſentlichen mit dem Texte übereinſtimmend die hochinter -eſſante RGR. 24. Mai 1880 (verein. Strafſenate), E I 439. Ebenſo bez. des Verſuchs am abſolut untauglichen Objekte RGR. 10. Juni 1880, E I 451 (d. h. kann vom Geſetzgeber geſtraft werden).

Wir müſſen dieſem Satze aber doch wohl eine Ein - ſchränkung beifügen. Der Geſetzgeber hat die Frage nach der Strafbarkeit des Verſuches bei Untauglichkeit des Mit - tels oder Objektes nicht ſelbſt gelöſt, ſondern die Löſung der Wiſſenſchaft überlaſſen. Daraus folgt, daß wir die Löſung nicht im Geſetze ſuchen, die Frage nicht aus dem Wortlaute des Geſetzes heraus entſcheiden dürfen. Wir müſſen zurückkehren auf den legislativen Grund der Strafbarkeit des Verſuches. Und dieſer liegt m. E. darin, daß jede normwidrige Handlung eine Gefahr für die Rechtsgüterwelt in ſich birgt. Der Begriff der Gefahr wurde oben §. 3 III 2 beſprochen. Nicht Gefähr - dung, ſondern Herbeiführung einer Gefahr im Sinne unſerer Terminologie bildet den Grund für die Strafbar - keit des Verſuches. Dieſe entfällt mithin, wenn eine Gefahr nicht herbeigeführt worden iſt, alſo wenn die Konſtellation, die der Thäter bewirkte, eine ſolche war, daß in einem verſchwindend kleinen Perzentſatz von Fällen der Erfolg einzutreten pflegt. Hieher würden die bekannten Schulfälle gehören: das Totbeten, Neſtelknüpfen, Verhexen; der Verſuch, den B, der auf einem in Kanonenſchußweite vom Ufer entfernten Schiffe ſich befindet, mittelſt einer Piſtole vom Ufer aus zu töten; Mordverſuch mit ungeladenem Ge - wehr, mit Zucker uſw. Beſondere, ganz außergewöhnliche138Erſtes Buch. VI. Vollendung u. Verſuch des Verbrechens.Komplikationen können auch in dieſen Fällen den Erfolg herbei - führen (man denke an die durch die Handlung hervorgerufene pſychiſche Erregung des Bedrohten). Bei weiterem Eingehen auf die Frage würde die Verſchiedenheit der Normen (oben §. 3 II), ihre nähere oder entferntere Beziehung zu dem zu ſchützenden Rechtsgute von Bedeutung werden. Für unſere Zwecke genügt das Geſagte. Nochmals ſei aber betont:

1. Jeder Verſuch iſt normwidrig und könnte daher ge - ſtraft werden; nicht jeder iſt poſitiv-rechtlich ſtrafbar.

2. Wir ſagen nicht: ſtrafbar iſt der gefährliche Verſuch, ſondern: nicht ſtrafbar iſt der ungefährliche Verſuch. Daß der Begriff der Gefahr ein relativer, iſt kein Einwand gegen die Richtigkeit dieſes Satzes, der ſich bemüht, das in uns allen vorhandene Rechtsgefühl zur Klarheit eines juriſtiſchen Gedankens zu erheben.

§. 33. Der Verſuch im poſitiven Recht.

Jede verſuchte Normübertretung iſt an ſich normwidriges Handeln, mithin Delikt, und darum geeignet die Straffolgen nach ſich zu ziehen. Aber der Staat hat keine Veranlaſſung in allen Fällen ſchon die verſuchte Normübertretung mit Strafe zu belegen.

I. Der Geſetzgeber kann und wird ſich darauf beſchränken, nur die verſuchte Uebertretung gewiſſer Normen unter Strafe zu ſtellen. Prinzipiell würde es ſich empfehlen, die Unterſcheidung zwiſchen den allgemeinen Normen und den Gehorſamsnormen (vgl. oben §. 3 II) zu Grunde zu legen, und die verſuchte Uebertretung der letzteren ſtraflos zu laſſen. Anders das poſitive Recht.

139Der Verſuch im poſitiven Recht. §. 33.

Das RStGB. geht in §. 43 von der Dreiteilung der ſtrafbaren Handlungen aus:

Der Verſuch eines Verbrechens wird immer, der eines Vergehens ausnahmsweiſe in den beſonders aus - gezeichneten Fällen,1Es ſind dies §§. 107, 120, 140, 141, 148, 150, 160, 169, 240, 242, 246, 253, 263, 289, 303 305, 339, 350, 352 StGB. ; Nahrungsmittelgeſetz v. 14. Mai 1879 §. 12, Geſetz gegen Rinder - peſt 21. Mai 1878 §. 1, Bank -geſetz 14. März 1875 §. 57 Abſ. 2. der einer Uebertretung nie ge - ſtraft.

Dagegen macht das Geſetz im Prinzipe wenigſtens keinen Unterſchied zwiſchen Geboten und Verboten. 2Allerdings iſt bei keinem Gebote die verſuchte Uebertre - tung unter Strafe geſtellt.Daß auch bei der Uebertretung eines Gebotes, alſo bei dem ſogenannten echten Unterlaſſungsdelikte, Verſuch möglich iſt, ſoweit es ſich um doloſe Unterlaſſung handelt, kann bei rich - tiger Auffaſſung der Unterlaſſungsdelikte (vgl. oben §. 21 II) keinem Zweifel unlerliegen. 3Lit. bei Binding Grund - riß S. 75.

II. Das poſitive Recht kann ferner entweder einzelne Handlungen, die ſich als verſuchte Uebertretung einer be - ſtimmten Norm darſtellen, herausgreifen, und nur dieſe Verſuchshandlungen mit Strafe bedrohen; oder aber jeden Verſuch der Uebertretung einer beſtimmten Norm unter Strafe ſtellen. Letzteres iſt, ſeitdem einmal der allgemeine Begriff des Verſuchs durch die italieniſche Jurisprudenz des Mittelalters ausgebildet worden war, der regelmäßig von der Geſetzgebung eingeſchlagene Weg. Nur ganz ausnahms - weiſe und nur wenn entfernte Verſuchshandlungen (ſogen. Vorbereitungshandlungen) in Frage ſtehen, entſchließt ſich der Geſetzgeber dazu, dieſe Fälle des ſtrafbaren Verſuches durch140Erſtes Buch. VI. Vollendung u. Verſuch des Verbrechens.individuelle Bezeichnung vor allen anderen hervorzuheben. Vgl. StGB. §§. 83 85, 151, 201; teilweiſe hieher ge - hörend §. 49 a. Durch die beſondere Bezeichnung dieſer Handlungen wird ihre Verſuchsnatur nicht geändert; daraus folgt, daß Verſuch derſelben, der als Verſuch in zweiter Po - tenz erſcheinen würde, nicht möglich iſt. 4Lit. bei Meyer S. 193 Note 14. A. A. Cohn S. 383 ff

III. Der Geſetzgeber kann weiter entweder für die ver - ſuchte und die vollendete ſtrafbare Handlung einen gemein - ſchaftlichen, oder für jede einen beſonderen Strafrahmen aufſtellen. Das letztere hat die Reichsgeſetzgebung gethan. Nach StGB. §. 44 iſt das verſuchte Verbrechen oder Vergehen milder zu beſtrafen als das vollendete, und zwar nach der folgenden Reduktionsſkala:

Iſt das vollendete Verbrechen mit dem Tode oder mit lebenslänglichem Zuchthaus bedroht, ſo tritt Zuchthausſtrafe nicht unter drei Jahren ein, neben welcher auf Zuläſſigkeit von Polizeiaufſicht erkannt werden kann. Lebenslängliche Feſtungshaft wird durch Feſtungshaft nicht unter drei Jahren erſetzt. In allen übrigen Fällen kann die Strafe bis auf ¼ des Mindeſtbetrages der auf das vollendete Verbrechen oder Vergehen angedrohten Freiheits - oder Geldſtrafe er - mäßigt werden. Iſt hiernach Zuchthausſtrafe unter einem Jahre verwirkt, ſo iſt dieſelbe nach Maßgabe des §. 21 StGB. in Gefängnis zu verwandeln.

Das Prinzip der milderen Beſtrafung des Verſuches wird jedoch durch eine wenn auch unbedeutende Zahl von Ausnahmen durchbrochen.

1. Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte und Zu - läſſigkeit der Polizeiaufſicht kann unter denſelben Voraus -141Der Verſuch im poſitiven Recht. §. 33.ſetzungen bei dem verſuchten, wie bei dem vollendeten Ver - brechen oder Vergehen ausgeſprochen werden (StGB. §. 45).

2. In einer Reihe von Fällen iſt das Unternehmen einer ſtrafbaren Handlung ihrer Vollendung in der Beſtra - fung gleichgeſtellt. Vgl. StGB. §§. 81, 82, 105, 114, 122 Abſ. 1, 159, 357; Salzſteuergeſetz vom 12. Oktober 1867 §. 11, Vereinszollgeſetz vom 1. Juli 1869 §§. 134 und 135, Tabakſteuergeſetz vom 16. Juli 1879 §§. 32 und 38, uſw. Durch dieſe Gleichſtellung in der Beſtrafung wird der Verſuchscharakter des Unternehmens nicht berührt; damit entfällt die Möglichkeit eines ſtrafbaren Verſuchs des - ſelben, der auch hier Verſuch in zweiter Potenz wäre.

3. Soweit Vorbereitungshandlungen beſtraft werden, fallen ſie nicht unter den reduzirten, ſondern unter einen beſonderen Strafrahmen. StGB. §§. 83 86, 151, 201, teilweiſe 49 a.

4. Endlich beſtraft §. 80 StGB. den hochverräteriſchen Mordverſuch wie den Mord ſelbſt mit dem Tode; auch §. 153 Gew. Ordg. ſtellt Verſuch und Vollendung in der Strafe einander gleich.

IV. Auch der Verſuch iſt Handlung im engeren Sinne, alſo willkürliche körperliche Bewegung, mag auch dieſelbe ihren Abſchluß nicht gefunden haben. Die Handlung kann aber auch aus einer ganzen Reihe von einzelnen, durch die einheitliche Zweckvorſtellung zu einer Geſammtheit verbunde - nen körperlichen Bewegungen beſtehen, die von der abſchlie - ßenden Bewegung mehr oder weniger entfernt ſind. Jede von ihnen, auch die entfernteſte, iſt bereits normwidriges Thun, iſt, wenn auf den Erfolg gerichtet, bereits verſuchte Normübertretung. Kriminalpolitiſche Erwägungen, unter welchen die Schwierigkeit der Beweisführung (für die Rich -142Erſtes Buch. VI. Vollendung u. Verſuch des Verbrechens.tung auf einen beſtimmten Erfolg) die erſte Rolle ſpielt, machen es wünſchenswert, nur die näheren, nicht ſchon die entfernteren Verſuchshandlungen zu beſtrafen. So entſteht der Unterſchied zwiſchen ſtrafloſen Vorbereitungs - und ſtrafbaren (eigentlichen) Verſuchshandlungen. Statt nun, wie es am zweckmäßigſten wäre, die Einteilung einer in Frage ſtehenden konkreten Handlung in die eine oder die andere Kategorie dem Ermeſſen der Praxis im Einzelfalle zu überlaſſen, hat die Reichsgeſetzgebung im Anſchluſſe an das franzöſiſche Recht es unternommen, die Grenzlinie ein für allemal zu ziehen. Dieſem Beſtreben verdanken wir die ſcheinbare5Denn der §. 43 ſoll nicht den Verſuch definieren, ſondern den ſtrafbaren Verſuch abgrenzen. Verſuchsdefinition im StGB. §. 43: Verſuch iſt Bethätigung des Entſchluſſes, ein Verbrechen oder Vergehen zu verüben, durch Handlungen, welche einen Anfang der Ausführung dieſes Verbrechens oder Ver - gehens enthalten. Die Grenzlinie zwiſchen Vorberei - tung und Verſuch im engeren Sinne (ſtrafbarem Verſuch) bildet demnach der Anfang der Ausführung, mit an - deren Worten: Verſuchshandlungen ſind jene Folgen, welche bereits wirklicher Beſtandteil der im Geſetze mit Strafe bedrohten That ſind. 6Lit. bei Meyer Lehrbuch S. 195 Note 2. Die im Textevertretene Anſicht (ſie ſchließt ſich möglichſt eng an die von Zachariae empfohlene Formu - lierung) iſt ſehr beſtritten.Beiſpiele: Der ſtraſ - bare Verſuch der Doppelehe beginnt erſt mit dem Akte der (zweiten) Eheſchließung, der Verſuch des Meineids erſt mit dem Beginne des Schwuraktes; der Verſuch der Entführung, des Diebſtahls erſt in dem Augenblicke, in welchem die Schutz - gewalt, der Gewahrſam des Machthabers geſtört wird uſw.

143Der Rücktritt vom Verſuche. §. 34.

Die Ausführungshandlung ſelbſt muß begonnen haben. Daß dieſe Beſchränkung den Bedürfniſſen der Rechtsordnung nicht genügt, bedarf wohl kaum eines Nach - weiſes.

Nur ausnahmsweiſe hat der Geſetzgeber auch Vorbe - bereitungshandlungen unter Strafe geſtellt. Hieher ge - hören die oben unter III 2 und 3 angeführten Fälle. 7Unternehmen iſt m. E. ein weiterer Begriff als Verſuch im engeren Sinne. Daran wird auch durch §. 82 StGB. nichtsgeändert. Doch iſt die Frage kontrovers.

Die Beſchränkung des ſtrafbaren Verſuches auf den Be - ginn der Ausführungshandlung ergiebt die Unmöglichkeit eines ſtrafbaren Verſuches in jenen Fällen, in welchen die Ausführungshandlung ſelbſt ſchon im erſten Zeitteilchen ihrer Verwirklichung dem geſetzlichen Thatbeſtande voll und ganz entſpricht. Ein Beiſpiel bieten die durch Verbreitung von Druckſchriften begangenen ſtrafbaren Handlungen. 8Vgl. Liszt Preßrecht §§. 41, 42.

§. 34. Der Rücktritt vom Verſuche.

I. In dem Augenblicke, in welchem die Grenzlinie zwiſchen den ſtrafloſen Vorbereitungshandlungen und dem ſtrafbaren Verſuche überſchritten wird, in demſelben Augenblicke iſt die auf den Verſuch geſetzte Strafe verwirkt. Das normwidrige Thun hat aufgehört, nur Delikt zu ſein, es iſt Verbrechen geworden. Dieſe Thatſache kann nicht mehr geändert, nicht nach rückwärts annulliert , nicht aus der Welt geſchafft werden. Wohl aber kann die Geſetzgebung aus kriminal - politiſchen Gründen dem bereits ſtraffällig gewordenen Thäter144Erſtes Buch. VI. Vollendung u. Verſuch des Verbrechens.eine goldene Brücke zum Rückzuge bauen. Sie hat es gethan, indem ſie den freiwilligen Rücktritt zum Straf - aufhebungsgrunde machte (StGB. §. 46). 1Lit. bei Meyer S. 202. Dazu Binding Normen II S. 234, 250 f., Cohn S. 612 ff.

Der freiwillige Rücktritt iſt unmöglich, wenn die Herr - ſchaft über die That und ihre Folgen bereits dem Thäter entriſſen iſt, alſo ſowohl beim ſuſpendierten Erfolg wie beim fehlgeſchlagenen Verbrechen (vgl. oben §. 32 II 1 und 2). Er iſt dagegen möglich:

1. Bei dem nichtbeendeten Verſuche (oben §. 32 II 4) durch Nichtvollendung der Handlung (StGB. §. 46 Nr. 1). Der Thäter läßt den zum Schlage erhobenen Arm ſinken; die nach dem Giftbecher ausgeſtreckte Hand zieht ſich zurück. 2Mit der Beendigung der Verſuchshandlung entfällt dem - nach die Anwendbarkeit des§. 46 Nr. 1, RGR. 12. März 1880, E I 307, R I 453.

2. Bei dem beendeten Verſuche (oben §. 32 II 3) durch Abwenden des Erfolges, alſo durch direktes Eingreifen in das bereits rollende Rad des Kauſalzuſammenhanges (StGB. §. 46 Nr. 2): der abgeſendete Brief wird während des Poſtlaufes zurückverlangt, die Wirkung des Giftes durch Gegengift paralyſiert.

II. In beiden Fällen verlangt das Geſetz Freiwillig - keit des Rücktritts. 3Worin dieſe beſteht iſt be - ſtritten. Lit. bei Meyer S. 226 Note 23.Ihren Gegenſatz bildet die thatſäch - liche oder angenommene Unmöglichkeit der Vollendung des Verbrechens. Im zweiten Falle iſt die ſtrafaufhebende Wir - kung des Rücktrittes an die weitere Bedingung geknüpft, daß die Handlung noch nicht entdeckt, d. h. noch Niemandem145Der Rücktritt vom Verſuche. §. 34.außer den an der That beteiligten Perſonen bekannt war. Auch Kenntnisnahme durch denjenigen, gegen den die Hand - lung gerichtet war, ſchließt die Annahme der Freiwilligkeit aus; bei denjenigen Delikten, bei welchen die Erzielung dieſer Kenntnisnahme zur Ausführungshandlung gehört (z. B. Er - preſſung) iſt demnach §. 46 Nr. 2 überhaupt nicht anwendbar; RGR. 12. März 1880, E I 307, R I 453.

III. Den freiwilligen Rücktritt behandelt das RStGB. als Strafaufhebungsgrund; nicht mehr iſt, wie im preußiſchen und anderen partikularen Strafgeſetzbüchern, die Nichtfreiwilligkeit der Nichtvollendung Bedingung der Straf - barkeit des Verſuches. Das heißt: der Rücktritt beſeitigt die bereits verwirkte Strafe, aber er ändert nichts an dem Ver - brechenscharakter der Verſuchshandlung. Und daraus folgt:

1. Der Rücktritt des Thäters macht weder den Mit - thäter noch den Anſtifter oder Gehülfen ſtraffrei;4Vgl. Meyer S. 203. denn die Thatſache, daß ſie ſich an einer ſtrafbaren Handlung betei - ligt haben, bleibt beſtehen.

2. Aber die Teilnehmer können ſich ſelbſt der Wohl - that des Geſetzes teilhaft machen: Anſtifter und Gehülfe allerdings nicht durch Nichtvollendung der Handlung nach §. 46 Nr. 1, denn hatten ſie ihre Handlung noch nicht beendet, ſo waren ſie überhaupt noch nicht ſtrafbar geworden (vgl. unten §. 37 I 2 a und II 2); wohl aber durch ſelbſtän - dige Abwendung des Erfolges nach §. 46 Nr. 2.

3. Nur die Strafe der verſuchten Handlung entfällt (§. 46: der Verſuch als ſolcher bleibt ſtraflos ), nicht aber die Strafbarkeit der etwa in der Verſuchshandlung ge - legenen vollendeten anderweitigen Normübertretung. Sovon Liszt, Strafrecht. 10146Erſtes Buch. VII. Thäterſchaft und Teilnahme.bleibt trotz Abwendung des Erfolges beim Giftmordverſuch die Beibringung des Giftes nach StGB. §. 229 ſtrafbar.

IV. Wenn Vorbereitungshandlungen mit beſonderer Strafe bedroht ſind oder das unternommene dem vollendeten Verbrechen in der Beſtrafung gleichgeſtellt iſt (vgl. oben §. 32 III 2 und 3), ſo entſpricht es wohl am meiſten der Abſicht des Geſetzes, hier die ſtrafaufhebende Wirkung des Rücktrittes auszuſchließen. Wir ſind berechtigt, dies zu thun, weil jene Wirkung nicht aus dem Begriffe der Verſuchshand - lung folgt, ſondern auf beſonderer poſitiv-rechtlicher Anord - nung beruht. 5A. A. Binding Grundriß S. 80. Lit. bei Meyer S. 202 Note 3.

VII. Chäterſchaft und Teilnahme. 1Lit. bei Binding Grund - riß S. 83 f. und Geyer inHR. Anſtiftung und Bel - hülfe . Dazu Cohn Zur Lehre vom verſuchten u. unvollendeten Verbrechen I 1880 S. 642 ff., Hertz Unrecht S. 172.

§. 35. Die Entſtehung des Begriffs der Teilnahme.

I. Knüpfen wir an das oben in der Lehre vom Kauſal - zuſammenhange Geſagte an. Könnten wir den theoretiſch allein richtigen Satz, daß jeder, der durch ſeine ſchuldhafte Handlung eine Bedingung für den Eintritt des Erfolges ge - ſetzt hat, für dieſen als Urſacher verantwortlich zu machen iſt, konſequent durchführen, dann wären Thäterſchaft und Verurſachung identiſche Begriffe, die Lehre von der Teilnahme hätte keine oder nur eine untergeordnete Stelle im Syſteme des Strafrechts. Aber das poſitive Recht hat, wie bereits147Die Entſtehung des Begriffs der Teilnahme. §. 35.bemerkt (oben §. 20 III) dieſen Satz durch eine hochwichtige Ausnahme durchbrochen.

Liegt zwiſchen einer Bedingung und dem einge - tretenen Erfolge eine freie (d. h. nicht im Notſtande begangene) und vorſätzliche (d. h. von der Vorſtellung ihrer Kauſalität begleitete) menſchliche Handlung als Zwi - ſchenurſache in der Mitte, ſo betrachtet das poſitive Recht nur dieſe letzte Handlung als Urſache des Erfolges. Das Setzen jener Bedingung kann daher nur als Bedingung dieſer Handlung, wenn überhaupt, in Betracht gezogen werden; nicht aber als mittelbare Urſache des letzteingetretenen, durch dieſe Handlung herbeigeführten Erfolges. So entſteht der juriſtiſche Begriff der Teil - nahme: das Setzen einer Bedingung für den Eintritt des durch weitere Zwiſchenurſachen vermittelten Erfolges, aufge - faßt nicht als Bedingung des Erfolges, ſondern als Be - dingung der Zwiſchenurſache. 2Dieſe von der gewöhnlichen allerdings weit abliegende Auf - faſſung ſtützt ſich auf das po - ſitive Recht, ſie ſucht aus dieſem den Begriff der Teilnahme zugewinnen, nicht aus einem aprioriſtiſch gefundenen Begriffe heraus das poſitive Recht zu interpretieren.Durch dieſen Gegenſatz ge - winnt der Begriff der Thäterſchaft prägnantere Geſtalt und engere Bedeutung.

Die beiden Formen der Teilnahme ſind Anſtiftung und Beihülfe: erſtere die Hervorrufung des Entſchluſſes zur That, letztere die Unterſtützung der Ausführung der That.

II. Aus dem Geſagten ergiebt ſich eine Reihe von Kon - ſequenzen.

1. Teilnahme (in den beiden Formen der Anſtiftung und148Erſtes Buch. VII. Thäterſchaft und Teilnahme.Beihülfe) iſt nur möglich bei vorſätzlichem, ausge - ſchloſſen bei fahrläſſigem Handeln des Thäters; denn nur jenes, nicht dieſes wird von dem Geſetzgeber als Unterbrechung des Kauſalzuſammenhanges aufgefaßt. Iſt die letzte Zwiſchenurſache eine fahrläſſige Handlung, ſo tritt der allgemeine uneingeengte Begriff der Thäterſchaft wieder in Geltung: Thäter iſt Jeder, der verurſacht, d. h. eine Be - dingung zum Erfolge geſetzt hat (vgl. das oben §. 20 III angeführte Beiſpiel); mit anderen Worten: der Unterſchied zwiſchen Thäterſchaft und Teilnahme verſchwindet hier wieder.

2. Fahrläſſige Teilnahme an vorſätzlichem Thun muß ſtraflos bleiben; auch hier iſt mit der vom Geſetze angenommenen Unterbrechung des Kauſalzuſammenhanges der Begriff der Thäterſchaft unvereinbar, der Begriff der Teilnahme aber nach poſitiv-rechtlicher Anordnung nicht anwendbar. 3Von den unter II 1 u. 2 beſprochenen Grundſätzen weicht ab §. 18 des Nachdruckgeſetzes vom 11. Juni 1870 (geltend auch für die Geſetze vom 9., 10., 11. Januar 1876): Wer vorſätzlich oder aus Fahr -läſſigkeit einen anderen zur Veranſtaltung eines Nachdrucks veranlaßt uſw., wird beſtraft, mag dieſer Andere vorſätzlich oder fahrläſſig oder ſchuldlos ge - handelt haben.

3. Teilnahme iſt Beteiligung an dem Verbrechen eines Anderen. Sie erhält ihren ſtrafrechtlichen Charakter durch die That des Thäters; ſie entfällt daher, wenn es zu einem Thun des Thäters überhaupt nicht gekommen oder wenn dieſes kein verbrecheriſches im Sinne des Geſetzes iſt (ſei es wegen fehlender Handlung, fehlender Normwidrigkeit, fehlender Schuld, Mangels einer Bedingung der Strafbar - keit); ſie bleibt aber beſtehen trotz des Vorliegens eines Strafaufhebungsgrundes, eines ſubjektiven Strafausſchlie -149Die Entſtehung des Begriffs der Teilnahme. §. 35.ßungsgrundes, oder eines nur den Thäter berührenden Hin - derniſſes der Strafverfolgung (vgl. §. 17 und §. 30 III).

4. Teilnahme an der Teilnahme iſt wegen der un - ſelbſtändigen Natur der letzteren nur als mittelbare Teil - nahme an der Haupthandlung ſtrafbar.

5. Mehrfache Teilnahme an derſelben Hauptthat iſt immer nur ein Verbrechen; bei Teilnahme an mehreren Hauptthaten durch dieſelbe Handlung (z. B. ein anſtiftendes Wort) iſt wegen der unſelbſtändigen, von der Hauptthat beſtimmten Natur der Teilnahme, reale Konkurrenz eben - ſovieler Verbrechen anzunehmen.

III. Die Abgrenzung der Thäterſchaft von der Anſtiftung iſt eine einfache und klare: dieſe iſt die Urſache jener. Schwieriger ſind Thäterſchaft und Beihülfe auseinander zu halten; es bedarf hier poſitivrechtlicher Anordnung. Das Geſetz verwendet zur Abgrenzung den bereits oben §. 33 IV beſprochenen Begriff der Ausführungshandlung. Thäter iſt derjenige, der die Ausführungshandlung ſetzt; Gehülfe derjenige, der in anderer Weiſe an der That be - teiligt iſt. Aber dieſe Unterſcheidung genügt dem Geſetze noch nicht, und ſo bildet es den Begriff der Mitthäter - ſchaft als Zwiſchenglied. Mitthäter iſt derjenige, der einen Teil der Ausführungshandlung begangen hat; Thäter derjenige, der die ganze Ausführungshandlung geſetzt hat.

Und damit haben wir das von der R. Geſetzgebung auf - geſtellte Schema gewonnen:

  • 1. Thäterſchaft;
  • 2. Teilnahme:
    • a) Mitthäterſchaft,
    • b) Anſtiftung,
    • c) Beihülfe.
150Erſtes Buch. VII. Thäterſchaft und Teilnahme.

IV. Die Begünſtigung iſt, weil dem Eintritte der Vollendung zeitlich nachfolgend, nie Setzen einer Bedingung zum Erfolge, mithin nie Teilnahme; wir haben daher keinen Grund, von der durchaus ſachgemäßen Auffaſſung des Geſetzgebers, der ſie in den beſonderen Teil geſtellt hat, ab - zuweichen.

V. Bei mehrfacher Beteiligung derſelben Perſon an demſelben Delikte wird die ſchwerere Form der Beteiligung durch die leichtere konſumiert, wie ja auch Vorbereitung und Verſuch neben der Vollendung des Verbrechens nicht mehr in Betracht kommen. Vgl. unten §. 40 II. Wenn der An - ſtifter ſich ſpäter an der Ausführung des Verbrechens als Thäter oder aber als Gehülfe beteiligt, behandelt ihn das Strafrecht im erſten Falle nur als Thäter, im zweiten nur als Anſtifter.

Daß dieſer Satz auf das Verhältnis der Teilnahme zur Begünſtigung keine Anwendung findet, bedarf nach dem oben unter IV Geſagten keines Beweiſes.

§. 36. Thäterſchaft und Mitthäterſchaft.

I. Thäter iſt derjenige, der die ganze Ausführungs - handlung begeht, den geſetzlichen Thatbeſtand des Ver - brechens voll und ganz verwirklicht; Notzüchter alſo z. B. derjenige, der nötigt und geſchlechtlich mißbraucht; Räuber derjenige, der Gewalt anwendet und die Sache wegnimmt. Dabei macht es keinen Unterſchied, ob der Erfolg lediglich durch eigene körperliche Thätigkeit, oder durch Benutzung der Naturkräfte, eines Werkzeuges, eines Thiers, eines Zurech - nungsunfähigen herbeigeführt wurde; die Benutzung der151Thäterſchaft und Mitthäterſchaft. §. 36.Handlung eines Zurechnungsfähigen dagegen ſchließt nur dann die Thäterſchaft nicht aus, wenn der Gebrauchte ent - weder unfrei (d. h. genötigt) oder unvorſätzlich (d. h. ohne die Vorſtellung der Kauſalität ſeines Thuns) gehandelt hat. 1Vgl. RGR. 5. März 1880, R I 429.Man ſpricht in ſolchen Fällen (nicht ganz genau) von fin - gierter Thäterſchaft. Dieſe mittelbare Begehung ermöglicht die Annahme der Thäterſchaft auch dort, wo körperliche oder überhaupt unmittelbare Begehung unmöglich wäre: ſo kann ſich eine Frauensperſon der Notzucht oder der Päderaſtie, ein Nichtverwandter der Blutſchande, ein Nichtbeamter eines eigentlichen Amtsdeliktes auf dem Wege der fingierten Thäter - ſchaft ſchuldig machen. Das Geſetz hat dieſen ziemlich all - gemein anerkannten Satz nur in §. 160 StGB. (Verleitung zum Falſcheide) verleugnet. Dagegen unterbricht die freie und vorſätzliche Handlung eines Zurechnungsfähigen den Kau - ſalzuſammenhang (vgl. RGR. 17. Januar 1880, E I 146). 2Ueber die eigentümliche Konſtruktion und Präſumption der Thäterſchaft des Redakteurs in §. 20 Abſ. 2 Preßgeſetz vom7. Mai 1874 vgl. Liszt Preß - recht §§. 49 und 50.

II. Mitthäter iſt derjenige, der in Gemeinſchaft mit einem Andern vorſätzlich einen Teil der Ausfüh - rungshandlung ſetzt (StGB. §. 47). 3Lit. bei Meyer Lehrbuch S. 213 Note 1.Eine Handlung, die nicht Ausführungshandlung iſt, d. h. nicht in den Kreis des vom Geſetze mit Strafe bedrohten Thuns hineinfällt, kann nie Mitthäterſchaft begründen. 4Von der Praxis häufig überſehen.So ſind A und B Mit - thäter, wenn A die Frauensperſon C vergewaltigt oder den D mit gegenwärtiger Gefahr für Leib und Leben bedroht und B die C mißbraucht oder dem D die Brieftaſche weg -152Erſtes Buch. VII. Thäterſchaft und Teilnahme.nimmt: denn Gewalt und Drohung ſind Thatbeſtandsmerk - male für Notzucht und Raub. Wenn aber A Wache ſtand, während B einen Einbruchsdiebſtahl verübte, ſo iſt A nicht Mitthäter ſondern Gehülfe; denn das Wacheſtehen iſt nicht Ausführungshandlung beim Diebſtahl. Mitthäterſchaft iſt eine Form der Teilnahme, mithin (oben §. 35 II 1) nur beim vorſätzlichen Verbrechen möglich; beim fahrläſſigen Ver - brechen iſt Jeder, der eine Bedingung zum Erfolge ſchuld - haft geſetzt hat, nicht Mitthäter, ſondern Thäter. Das praktiſche Reſultat iſt übrigens das gleiche: Jeder Mitthäter wird als Thäter beſtraft.

§. 37. Anſtiftung und Beihülfe.

I. Die Anſtiftung.

1. Anſtiftung iſt die vorſätzliche Beſtimmung eines Anderen zu der von ihm vorſätzlich begangenen ſtrafbaren Handlung (StGB. §. 48), mag dieſe Ver - brechen, Vergehen oder Uebertretung ſein. Durch welche Mittel der Andere beſtimmt wurde, iſt für den Begriff der Anſtiftung irrelevant; auch Zwang und Irrtumserregung ſind geeignete Mittel, ſolange der erſtere nicht in Nötigung übergeht, und der Irrtum nicht die Vorſätzlichkeit des Thuns ausſchließt.

2. Die Anſtiftung ſetzt als Form der Teilnahme eine zum Mindeſten verſuchte ſtrafbare Handlung auf Seiten des Angeſtifteten voraus. Sie bleibt mithin ſtraflos, wenn es auf Seiten des Thäters zu einem ſtrafbaren Ver - ſuche nicht gekommen iſt. Daher iſt

  • a) die verſuchte oder mißlungene Anſtiftung ſtraflos153Anſtiftung und Beihülfe. §. 37.(als ſolche erſcheint auch die Anſtiftung des ſog. alias facturus, d. h. des ſchon vor der Einwirkung zur That Entſchloſſenen). Doch beſtraft unſere Geſetzgebung in einzelnen Fällen ausnahmsweiſe auch die erfolglos ge - bliebene Anſtiftung; ſo StGB. §§. 111, 141, 159, 210, 357; Seemannsordnung vom 27. Dezember 1872 §. 88; vgl. auch die unten §. 38 II erwähnten Fälle.
  • b) Der Anſtifter bleibt ferner ſtraflos, wenn er ſelbſt das Zuſtandekommen der ſtrafbaren Handlung verhindert hat, ſei es durch pſychiſche, ſei es durch phyſiſche Ein - wirkung (daß Widerruf nicht genügt, ſollte wohl ſelbſtverſtändlich ſein). Dieſer Satz ergiebt ſich aus der acceſſoriſchen Natur der Anſtiftung, und iſt nicht als Rücktritt vom Verſuche nach StGB. §. 46 Nr. 1 zu konſtruieren (vgl. auch oben §. 34 III 2).
  • c) Wenn der Geſetzgeber Verſuchs - oder Vorbereitungs - handlungen als delicta sui generis unter beſondere Strafe geſtellt hat, ſo iſt Anſtiftung zu dieſen ſelb - ſtändig ſtrafbaren Handlungen möglich.

3. Der Anſtifter haftet nur für die von ihm vorſätzlich (d. h. mit dem Bewußtſein der Kauſalität ſeines Thuns) hervorgerufene Handlung. Decken ſich Handlung des An - geſtifteten und Anſtiftervorſatz in einem weſentlichen Punkte nicht, ſo liegt diesbezüglich Anſtiftung nicht vor. Die oben §. 28 IV, V für den Vorſatz überhaupt gegebenen Regeln beanſpruchen auch hier durchgreifende Geltung. Hiernach iſt der ſog. excessus mandati (ganz ſchiefer Ausdruck), hiernach ſind aberratio ictus und error in objecto, die dem Ange - ſtifteten begegnen, zu beurteilen. Iſt in Folge einer der beiden letztgenannten Eventualitäten der Vorſatz des Hauptthäters ausgeſchloſſen, ſo entfällt damit nach allgemeiner Regel die154Erſtes Buch. VII. Thäterſchaft und Teilnahme.Anſtiftung; doch kann hier auf Seiten des ſcheinbaren An - ſtifters (fingierte) Selbſtthäterſchaft vorliegen.

4. Die Strafe des Anſtifters iſt nach demjenigen Ge - ſetze zu beſtimmen, welches auf die Handlung Anwendung findet, zu welcher er wiſſentlich angeſtiftet hat.

5. Von dem Anſtifter verſchieden iſt der Anführer oder Rädelsführer (ein nicht-techniſcher Begriff), der von der Geſetzgebung an manchen Stellen ſo StGB. §§. 115, 125; Vereinszollgeſetz vom 1. Juli 1869 §§. 146 und 147; Seemannsordnung vom 27. Dezember 1872 §§. 89, 91 u. A. erwähnt wird. 1Vgl. auch die Hervorhebung der Vorſteher, Leiter, Ordner, Agenten, Redner, Kaſſierer inſozialdemokratiſchen Vereinen u. Verſammlungen §. 17 Sozial. Geſetz 21. Oktober 1878.

II. Die Beihülfe.

1. Beihülfe iſt die vorſätzliche Unterſtützung des von einem Anderen begangenen vorſätzlichen Ver - brechens oder Vergehens (StGB. §. 49). Die Unter - ſtützung der fremden Handlung kann eine pſychiſche oder phyſiſche ſein ( Rat oder That ), ſie kann auch in der vor der That gegebenen Zuſage nachträglicher Begünſtigung der - ſelben beſtehen (StGB. §. 257 Abſ. 3). Nie aber darf ſie Teil der Ausführungshandlung ſelbſt ſein.

2. Auch die Beihülfe ſetzt als Form der Teilnahme eine zum Mindeſten verſuchte ſtrafbare Handlung auf Seiten des Hauptthäters voraus. Will die Geſetzgebung die Bei - hülfe zu einem an ſich ſtrafloſen Thun (z. B. Beihülfe zum Selbſtmorde) unter Strafe ſtellen, ſo bedarf dies ausdrück - licher Erklärung. Das StGB. hat dies in den §§. 120, 121, 180, 285, 347, 355 gethan. Im übrigen findet das oben unter I 2 Geſagte auch auf die Beihülfe mit der Mo -155Anſtiftung und Beihülfe. §. 37.difikation Anwendung, daß der Verſuch der Beihülfe nur im Falle des §. 347 StGB. mit Strafe belegt iſt.

3. Auch für den Gehülfen iſt der ſtrafrechtliche Cha - rakter der Hauptthat nur inſoweit maßgebend, als die Vor - ſtellung der Kauſalität ſeines Thuns ſich auf jene erſtreckte. Vgl. oben I 3.

4. Die Strafe des Gehülfen iſt nach demjenigen Geſetze zu beſtimmen, welches auf die Handlung Anwendung findet, zu welcher er wiſſentlich Hülfe geleiſtet hat, jedoch nach den über die Beſtrafung des Verſuches aufgeſtellten Grundſätzen (vgl. oben §. 33 III) zu ermäßigen. Liegt Beihülfe zum Verſuche vor, ſo iſt zweimalige Reduktion des Strafrahmens nötig.

Nur ausnahmsweiſe droht das Geſetz dem Gehülfen gleiche Strafe wie dem Thäter in StGB. §. 143. Einen beſonderen Strafrahmen für die Beihülfe enthalten StGB. §§. 203 und 219; Wechſelſtempelgeſetz vom 10. Juni 1869 §. 15 (gegen Makler und Unterhändler, welche wiſſentlich unverſteuerte Wechſel verhandelt haben). Ausnahmsweiſe belegt §. 18 Sozialiſtengeſetz vom 21. Oktober 1878 die Beihülfe (Hergeben von Räumlichkeiten zu verbotenen Ver - einen und Verſammlungen) mit ſchwererer Strafe als die Thäterſchaft (Beteiligen an ſolchen Vereinen):

5. Eine beſondere Form der Beihülfe enthält §. 92 der Seemannsordnung vom 27. Dezember 1872: Verweigerung des Gehorſams gegenüber ſolchen Befehlen des Vorgeſetzten, welche ſich auf Abwehr oder Unterdrückung von Nötigung und Widerſtand beziehen.

III. Einfluß perſönlicher Verhältniſſe auf die Strafbarkeit der Anſtiftung und der Beihülfe (StGB. §. 50).

156Erſtes Buch. VII. Thäterſchaft und Teilnahme.

1. Strafſchärfungs - und Strafmilderungsgründe, die in perſönlichen Eigenſchaften oder Verhältniſſen des Han - delnden ihren Grund haben, ſind nur auf diejenigen Teilnehmer zur Anwendung zu bringen, bei welchen ſie vor - liegen. Mit dieſem Satze, der bezüglich des Mitthäters ſelbſtverſtändlich und nur bezüglich des Anſtifters und des Gehülfen wirklich von Bedeutung iſt, hat der Geſetzgeber eine der wichtigſten Konſequenzen aus ſeiner prinzipiellen Auffaſſung, daß Teilnahme die Beteiligung an dem Ver - brechen eines Anderen und nicht mittelbare Selbſtbege - hung des Verbrechens ſei, mit aller Entſchiedenheit (und mit vollem Rechte) abgelehnt. Beiſpiele: Wenn der Nichtver - wandte B den Sohn A des Vaters C, oder die Mutter A des neugeborenen Kindes C zur Tötung des Vaters oder Kindes C beſtimmt hat; oder wenn umgekehrt der Sohn A oder die Mutter A dem extraneus B zur Tötung des Vaters oder des Kindes C Hülfe geleiſtet haben: ſo iſt in beiden Fällen der Fremde B nach den Beſtimmungen über gemeine Tötung, der Sohn A nach jenen über Aſcendententodſchlag, die Mutter A nach jenen über Kindestötung zu beurteilen. Die Anordnung der Geſetzgebung iſt ſchon darum richtig, weil nur verſchieden qualifizierte Uebertretungen der einen Norm: Du ſollſt nicht töten! vorliegen (vgl. oben §. 4 I 3).

2. Handelt es ſich dagegen um perſönliche Eigenſchaften oder Verhältniſſe, welche ein an ſich ſtrafloſes Thun erſt zu einem ſtrafbaren machen, welche die Strafbarkeit alſo erſt begründen, nicht erhöhen oder vermindern (Bedingungen der Strafbarkeit in dem oben §. 30 erörterten Sinne): ſo ſind ſie, wenn beim Thäter vorliegend, dem Anſtifter und Gehülfen zuzurechnen; fehlt es an einer ſolchen Bedingung in der Perſon des Thäters, ſo liegt eine ſtrafbare Haupt -157Teilnahmehandlungen als ſelbſtändige Verbrechen. §. 38.that überhaupt nicht vor, und es kann daher auch von Teil - nahme an einer ſolchen keine Rede ſein.

Beiſpiel: Anſtiftung und Beihülfe zu einem reinen Amts - verbrechen ſind nach den für dieſes gegebenen Beſtimmungen zu beurteilen, während wenn der Beamte Anſtifter oder Ge - hülfe, ein Nichtbeamter aber Thäter iſt, ein Verbrechen über - haupt nicht vorliegt; denn der Nichtbeamte kann nur als fingierter, nicht aber als unmittelbarer Thäter ein Amtsdelikt begehen (vgl. oben §. 36 I).

3. Strafaufhebungsgründe (vgl. unten §. 57 I), pro - zeſſuale Hinderniſſe der Strafverfolgung und ſubjektive Straf - ausſchließungsgründe (oben §. 30 III) wirken immer nur für denjenigen, in deſſen Perſon ſie vorliegen, ſchließen daher die Möglichkeit einer Teilnahme an der objektiv ſtrafbaren Handlung nicht aus.

§. 38. Teilnahmehandlungen als ſelbſtändige Verbrechen.

I. Der Vollſtändigkeit wegen und zur Vermeidung von Mißverſtändniſſen ſei ausdrücklich erwähnt, daß der Geſetz - geber in einzelnen Fällen Handlungen, die als Teilnahme - handlungen erſcheinen könnten, wenn ſie in Beziehung zu einem beſtimmten begangenen Verbrechen gebracht würden, wegen ihres an ſich für die Rechtsordnung gefährlichen Cha - rakters als ſelbſtändige Verbrechen aufgefaßt und unter beſondere Strafe geſtellt hat. Dieſe Auffaſſung des Geſetz - gebers iſt auch für die Wiſſenſchaft bindend. Die Grund - ſätze, welche ſie in der Lehre von der Teilnahme entwickelt, haben für dieſe ſelbſtändigen Verbrechen keine Geltung. So ſind ſie ohne Rückſicht auf eine ſtrafbare Handlung des158Erſtes Buch. VII. Thäterſchaft und Teilnahme.Hauptthäters ſtrafbar und die Möglichkeit des Verſuchs wie der Teilnahme richtet ſich nach den allgemeinen Grundſätzen. Hier genüge die Ueberſicht über die wichtigſten Fälle; wir werden dieſen und anderen im beſonderen Teile wieder be - gegnen.

II. Es gehören hieher

1. Die öffentlichen Aufforderungen in StGB. §§. 85, 110 (nicht 111), 130, Preßgeſetz vom 7. Mai 1874 §. 16.

2. Die Aufreizung in StGB. §. 112.

3. Der Duchesne-Paragraph 49a StGB.

4. Das Komplott oder die Verabredung zur Begehung eines oder mehrerer beſtimmter Verbrechen;1Lit. bei Meyer S. 231 Note 4. in StGB. §. 83 als ſelbſtändiges Verbrechen, ſonſt wohl auch Vereins - zollgeſetz vom 1. Juli 1869 §§. 146 u. 147; Seemannsord - nung vom 27. Dezember 1872 §§. 87 u. 91 als Straf - ſchärfungsgrund behandelt.

5. Dagegen iſt die Bande, das iſt die auf die Begehung mehrerer noch nicht individuell beſtimmter Verbrechen gerichtete Verbindung, in der Reichsgeſetzgebung StGB. §§. 248 Nr. 6, 250 Nr. 2; Vereinszollgeſetz §. 146 nur mehr als Strafſchärfungsgrund von Bedeutung.

6. Endlich iſt die ſogenannte Konvenienz des Amts - vorgeſetzten StGB. §. 357 hier zu erwähnen.

159Natürliche u. juriſtiſche Einheit d. Handlung. §. 39.

VIII. Einheit und Mehrheit der Verbrechens - handlung. 1Lit. bei Binding Grund - riß S. 144 f. Dazu v. BuriEinheit und Mehrheit der Ver - brechen 1879.

§. 39. Die natürliche und die juriſtiſche Einheit der Handlung.

I. Die natürliche Einheit der Handlung. Wenn Handlung im weiteren Sinne die willkürliche Körperbewegung mit dem durch ſie verurſachten Erfolge iſt, ſo kann die na - türliche Einheit dieſer erweiterten Handlungsreihe gegeben ſein:

1. Durch die Einheit der Körperbewegung trotz Mehrheit des Erfolges. Wenn ein Wort mehrere Menſchen beleidigt, ein Schuß mehrere Jagdvögel trifft uſw., liegt immer nur eine Handlung vor. Daran kann ſelbſt die Art-Verſchiedenheit der eingetretenen mehreren Erfolge nichts ändern. Hat der geſchleuderte Stein einen Menſchen ge - tötet, den zweiten verletzt und außerdem eine Scheibe zer - trümmert, ſo können wir nur von einer Handlung mit meh - reren Erfolgen, nie aber von mehreren Handlungen ſprechen. Eine durch poſitivrechtliche Anordnung geſchaffene Ausnahme von dieſem Satze haben wir oben in §. 35 II 5 kennen gelernt.

2. Durch die Einheit des Erfolges trotz Mehrheit der Körperbewegungen. Sechs Schüſſe aus dem ſechsläufigen Revolver treffen den B und töten ihn durch ihr Zuſammen - wirken; der Dieb entwendet die ſämmtlichen, demſelben Eigen - tümer gehörenden Wertgegenſtände, indem er ſie der Reihe160Erſtes Buch. VIII. Verbrechens-Einheit u. - Mehrheit.nach dem auf der Straße harrenden Genoſſen durchs Fenſter zuwirft uſw.

Dagegen kann von einer natürlichen Einheit der Hand - lung dann nicht mehr geſprochen werden, wenn ſowohl Mehr - heit der Körperbewegungen als auch Mehrheit der Erfolge vorliegt; wenn alſo z. B. durch die aus dem ſechsläufigen Re - volver abgefeuerten Schüſſe 6 Perſonen getötet werden, oder die mit mehreren diebiſchen Griffen entwendeten Gegenſtände verſchiedenen Perſonen gehören.

II. Die juriſtiſche Einheit der Handlung. Der Be - griff der Einheit iſt ein relativer, von dem Standpunkte des Betrachters abhängiger. Nichts hindert uns, auch eine Mehr - heit von Handlungen zu einer juriſtiſchen Einheit zuſammen - zufaſſen. Die wichtigſten Fälle einer ſolchen künſtlich ge - ſchaffenen Verbrechenseinheit ſind:

1. Das fortdauernde Verbrechen, d. i. die konti - nuierliche (ununterbrochene) Verwirklichung eines Verbrechens - begriffes. Beiſpiel: eine durch Wochen oder Monate an - dauernde Freiheitsentziehung. Nicht zu verwechſeln mit dem fortdauernden iſt das Zuſtandsverbrechen, welches durch eine einmalige Handlung einen dauernden rechtswidrigen Zu - ſtand erzeugt; hieher gehört z. B. die Doppelehe, der Dieb - ſtahl uſw. Der rechtswidrige Zuſtand kommt als weitere Folge der völlig abgeſchloſſenen Handlung ſtrafrechtlich nicht in Betracht.

2. Das fortgeſetzte Verbrechen, d. i. die nicht kon - tinuierliche, ſtoßweiſe Verwirklichung des Verbrechensbegriffes; eine Mehrheit von Handlungen, juriſtiſch zuſammengehalten durch die Gleichartigkeit der Schuld, der Körperbewegung und des Erfolges. Wann dieſe Gleichartigkeit vorliegt, wann nicht, läßt ſich durch eine allgemeine Regel hier ebenſowenig161Natürliche u. juriſtiſche Einheit d. Handlung. §. 39.wie in all den anderen Fällen entſcheiden, in welchen die Rechtswiſſenſchaft mit dem Begriffe der Gleichartigkeit ar - beitet. Deshalb das fortgeſetzte Verbrechen überhaupt leugnen wollen, heißt die Grenzlinie zwiſchen Theorie und Praxis verkennen. Beiſpiele: Das ehebrecheriſche Verhältnis des A mit der C führt zu einer Reihe von Beiſchlafsakten; der Diener nimmt ſich täglich eine Cigarre aus dem Ci - garrenkiſtchen ſeines Herrn; Verausgaben des auf einmal ſich verſchafften falſchen Geldes in Teilbeiträgen RGR. 4. Dezember 1879, E I 25, R I 114; wiederholt in meh - reren aufeinanderfolgenden Nächten mit demſelben Knaben getriebene widernatürliche Unzucht RGR. 10. Juli 1880, E I 450.

3. Das gewerbs -, geſchäfts -, gewohnheitsmä - ßige Verbrechen;2Vgl. v. Lilienthal Beiträge zur Lehre von den Kollektivde - likten 1879. eine durch die Jurisprudenz geſchaffene künſtliche Einheit von begangenen oder von begangenen und beabſichtigten Handlungen, die als Einheit vom Geſetzgeber bald zum ſtrafbarmachenden (vgl. oben §. 4 I), bald zum ſtraf - ſchärfenden (vgl. unten §. 54 I 2) Momente erhoben wird.

  • a) Die Gewerbsmäßigkeit charakteriſiert ſich einerſeits durch die auf öftere Wiederholung gerichtete Abſicht, andrerſeits durch die Abſicht des Thäters, ſich durch dieſe Wiederholung eine, wenn auch nicht regelmäßig oder dauernd fließende Einnahmsquelle zu ver - ſchaffen.
    3RGR. 24. April 1880, E I 654.
    3Vgl. StGB. §§. 260, 284, 294, 302 d, 360 Ziff. 6; Münzgeſetz vom 9. Juli 1873 §. 13; Reichsbankgeſetz vom 14. März 1875 §. 57 Abſ. 2; Patentgeſetz vom 25. Mai 1877 §. 4.
von Liszt, Strafrecht. 11162Erſtes Buch. VIII. Verbrechens-Einheit u. - Mehrheit.
  • b) Die Geſchäftsmäßigkeit teilt mit der Gewerbs - mäßigkeit die auf regelmäßige Wiederholung gerichtete Abſicht, dagegen fehlt die Abſicht, ſich eine ſtändige Einnahmsquelle zu eröffnen. Ob die einzelnen Hand - lungen honoriert werden oder nicht, iſt gleichgültig. Vgl. StGB. §. 144, Sozialiſtengeſetz §. 22. In beiden Fällen genügt das Vorliegen einer Hand - lung, die mit den beabſichtigten weiteren Handlungen zu der juriſtiſchen Einheit zuſammengefaßt wird.
  • c) Gewohnheit läßt ſich am anſchaulichſten definieren als der Zuſtand des labilen pſychiſchen Gleichgewichtes, in welchem ein dem Durchſchnittsmenſchen gegenüber nicht motivierender Reiz die Kraft eines Motives erlangt; oder als abnorm geſchwächte Widerſtandskraft gegen - über gewiſſen Reizen. Mit der Spezialiſierung ſteigt die Macht der Gewohnheit. Der Gewohnheitsver - brecher im Allgemeinen iſt ein theoretiſcher, der Ge - wohnheits-Dieb oder - Betrüger uſw. ein ſehr praktiſcher Begriff, von dem das poſitive Recht, vielfach eingeengt durch die gangbaren falſchen Anſchauungen über Schuld und Strafe einen viel zu beſcheidenen Gebrauch macht. Vgl. StGB. §§. 150, 180, 260, 302d; Münzgeſetz vom 9. Juli 1873 §. 13. Beim gewohnheitsmäßigen Verbrechen wird die jetzt begangene mit den früher be - gangenen Handlungen zu einer Einheit zuſammenge - faßt; dieſe müſſen normwidrig, brauchen aber nicht notwendig ſtrafbar zu ſein.

In allen Fällen, in welchen die Rechtswiſſenſchaft eine Mehrheit von Handlungen zu einer juriſtiſchen Einheit zu - ſammenfaßt, muß dieſe Einheit als ſolche in allen juriſtiſchen Beziehungen betrachtet und behandelt werden. Das juriſtiſch163Die Einheit des Verbr. Idealkonkurrenz. §. 40.einheitliche Verbrechen iſt demnach überall dort begangen, wo, und in jedem der Augenblicke, in welchen eine der Hand - lungen begangen wurde; bei einem Wechſel der Geſetzgebung kommt immer das mildere, bei einer Kolliſion des einheimiſchen und des fremden Rechtes immer das erſtere zur Anwendung. Iſt auch nur eine der Einzelhandlungen qualifiziert, ſo er - greift dieſe Qualifikation auch die übrigen Handlungen. Die Verjährung beginnt nicht, ehe die letzte der Handlungen geſetzt wurde uſw.

§. 40. Die Einheit des Verbrechens und die ſogenannte Ideal - konkurrenz.

I. Das Strafgeſetz verknüpft Verbrechen und Strafe; das Vorliegen eines Verbrechens iſt Bedingung für den Ein - tritt der Strafe. Faſſen wir das Verbrechen als norm - widrige, mit Strafe bedrohte Handlung, ſo kann ein Ver - brechen mag die Einheit eine natürliche oder eine ju - riſtiſche ſein immer nur eine Strafe nach ſich ziehen. Der einmalige Eintritt der Bedingung kann nur einmal die Folge erzeugen. Die Richtigkeit dieſes Satzes dürfte keinem Zweifel unterliegen. Aber nach einer anderen Richtung hin erheben ſich Schwierigkeiten. Welche der Vorausſetzungen des Strafeintrittes hat der Thäter erfüllt; welche Strafe hat er verwirkt? Mit andern Worten: es kann äußerſt zweifelhaft ſein, unter welchen der verſchiedenen Verbrechens - thatbeſtände die konkrete in Frage ſtehende That zu ſubſu - mieren iſt; zweifelhaft darum, weil mehrere jener Ver - brechensthatbeſtände auf dieſe Handlung paſſen. Für die Löſung dieſer Schwierigkeiten ſtehen uns 2 Regeln zu Gebote.

164Erſtes Buch. VIII. Verbrechens-Einheit u. - Mehrheit.

II. Zunächſt iſt derjenige Verbrechensthatbeſtand als gegeben anzunehmen, der den konkreten Fall am erſchöpfendſten berückſichtigt. Es ſind bei dieſer Prüfung die verſchiedenen Strafgeſetze in ihrem Verhältniſſe zu der übertretenen Norm, die verſchiedenen Normen in ihrem Verhältniſſe zu dem durch ſie zu ſchützenden Rechts - gute ins Auge zu faſſen (vgl. oben §. 4 I und 3 II). Dieſe Regel ſchließt eine Reihe von Fällen in ſich.

a) Die beſondere Beſtimmung lex specialis geht der allgemeinen der lex generalis vor. So fällt Majeſtätsbeleidigung immer unter §. 95 StGB., nie unter §. 185; ſo iſt Fälſchung eines Legitimationspapieres zum Zwecke beſſeren Fortkommens immer nach §. 363 StGB., nie als Urkundenfälſchung im Sinne des §. 267 zu behan - deln. In den Nebengeſetzen iſt dies zum Teil ausdrücklich angeordnet; vgl. Gewerbeordnung vom 21. Juni 1867 §§. 147, 148. 1In §. 147 iſt die Gew. - Ordg., in §. 148 ſind die Steuer - geſetze als lex specialis be - zeichnet.Nur dann, wenn die Sonderbeſtimmung nur eine beſondere Seite des Falles berückſichtigt, kommt neben ihr die allgemeine Anordnung zur Geltung: ſo Vereinszollgeſetz vom 1. Juli 1869 §§. 158, 159 u. A. 2Branntweinſteuergeſetz vom 8. Juli 1868 §. 67; Spielkarten - ſtempelgeſetz vom 3. Juli 1878 §. 12 Abſ. 2.Der Satz ne bis in idem erleidet hier eine ſcheinbare Ausnahme; ſcheinbar darum, weil nicht dieſelbe Handlung mehrmals, ſondern verſchiedene Seiten derſelben je einmal in Betracht gezogen werden.

b) Wenn das poſitive Recht die Möglichkeit einer mehr - fachen Bedeutung derſelben Handlung für die Rechtsordnung dadurch berückſichtigt, daß es zuſammengeſetzte Ver -165Die Einheit des Verbr. Idealkonkurrenz. §. 40.brechensthatbeſtände bildet, ſo iſt die konkrete Handlung nur unter dieſen zuſammengeſetzten Thatbeſtand, nicht aber unter deſſen Elemente zu ſubſumieren. So iſt der Begriff des Raubes aus Diebſtahl und Nötigung, der der Erpreſſung aus Nötigung und Verletzung der Geſchlechtsehre des Weibes zuſammengeſetzt; gewaltſame Sachentziehung, erzwungener Beiſchlaf ſind darum immer nur als Raub oder Notzucht aufzufaſſen.

c) Die qualifizierte Normübertretung abſor - biert die einfache, die ſchwerere vernichtet die leichtere. Einbruchsdiebſtahl iſt nur nach §. 243 StGB. zu beurteilen; wer die falſchen Schlüſſel geliefert und dann mit dem Andern ſelbſt geſtohlen hat, kommt nur als Mit - thäter, nicht auch als Gehülfe in Betracht (vgl. oben §. 35 V); vollendeter Zweikampf ſchließt die Anwendung des §. 201 StGB. ; vollendeter Hochverrath die der §§. 83 86 StGB. aus; umgekehrt wird beim ſog. Verſicherungsbetrug StGB. §. 265 durch die ſchwere Vorbereitungshandlung (Brandſtiftung) die etwa ſpäter eintretende Vollendung des Betruges abſorbiert.

d) Wenn zwei zum Schutze desſelben Rechtsgutes be - ſtimmte Normen zu einander in dem Verhältniſſe von all - gemeiner Norm (oben §. 3 II 1) und Gehorſamsnorm (oben §. 3 II 2 u. 3) ſtehen, und dieſelbe Handlung beide Normen verletzt, ſo iſt nur die Uebertretung der allgemeinen Norm ins Auge zu faſſen. Wer z. B. durch ſchnelles Fahren einen Menſchen getötet hat, iſt nur nach §. 222, nicht auch nach §. 366 Ziff. 2 StGB. zu beſtrafen.

III. Dieſe Regel aber läßt uns in all den zahlreichen Fällen im Stiche, in welchen keiner der in Frage kommenden Thatbeſtände dem konkreten Falle gerecht wird, keine ihn er -166Erſtes Buch. VIII. Verbrechens-Einheit u. - Mehrheit.ſchöpfend berückſichtigt. In Ermangelung beſonderer geſetz - licher Anordnung bleibt uns hier ein einziger Ausweg: wir wenden jenen Verbrechensthatbeſtand an, deſſen Strafe durch ihre größere Schwere uns die Be - rückſichtigung des konkreten Falles, wenn auch nicht vollſtändig, ſo doch annäherungsweiſe ge - ſtattet. So iſt die Notzucht an der eigenen Tochter, die ſowohl unter §. 173, als unter §. 177 StGB. fallen würde, nach dem letzteren Paragraphen zu beſtrafen. Dieſe ſubſidiäre Aushülfsregel und nicht mehr ſpricht §. 73 StGB. aus: Wenn eine und dieſelbe Handlung mehrere Strafgeſetze ver - letzt, ſo kommt nur dasjenige Geſetz, welches die ſchwerſte Strafe, und bei ungleichen Strafarten dasjenige Geſetz, welches die ſchwerſte Strafart androht, zur Anwendung.

Man ſpricht in dieſen Fällen von idealer Konkurrenz der Verbrechen , in den unter II erörterten Fällen da - gegen von Geſetzeskonkurrenz . Es iſt gegen dieſen Sprachgebrauch ſo lange nichts einzuwenden, als es ſich eben nur um eine Auseinanderhaltung der beiden Gruppen, nicht aber um die Betonung eines in Wahrheit gar nicht exiſtierenden begrifflichen Gegenſatzes zwiſchen ihnen handelt.

Hier wie dort paßt dieſelbe eine Handlung unter mehrere Strafgeſetze, und hier wie dort können wir nur eines von ihnen zur Anwendung bringen. Der Unterſchied liegt nur darin, daß wir dort (ad II) im Geſetze einen ſicheren An - haltspunkt zu ſachgemäßer Entſcheidung haben, während hier jeder andere Anhaltspunkt als der rein äußerliche: Schwere der angedrohten Strafe, fehlt. Für den Richter ergiebt ſich in dem letzteren Falle die Notwendigkeit, urteilsmäßig feſt - zuſtellen eventuell durch Befragung der Geſchworenen 167Die Einheit des Verbr. Idealkonkurrenz. §. 40.daß die Handlung unter beide Strafgeſetze fällt, und was ihn bei der Auswahl geleitet. 3Vgl. RGR. 27. April 1880, R I 681.Hat er aber die Wahl einmal getroffen, ſo iſt das mildere Strafgeſetz in keiner Weiſe mehr zu berückſichtigen; es kann mithin auch nicht etwa ſpäter die Annahme eines Rückfalls auf jene Feſtſtellung gegründet werden. Welches Strafgeſetz als das mildere anzuſehen, iſt nach den oben §. 12 III angegebenen Regeln zu beurteilen.

IV. Die herrſchende Anſicht teilt die ideale Konkurrenz (eine Handlung, mehrere Verbrechen)4Nach der im Texte vertre - tenen Anſicht liegt immer nur ein Verbrechen vor, und es handelt ſich nur um die Ent - ſcheidung der Frage: welches. Dabei kann dahingeſtellt bleiben, ob die durch §. 73 StGB. ſanktionierte zweite Regel nicht durch eine ſachgemäßere geſetz - liche Anordnung erſetzt werden könnte. in gleichartige und ungleichartige. Erſtere ſoll vorliegen, wenn durch eine Handlung verſchiedene Strafgeſetze, letztere wenn durch jene dasſelbe Geſetz mehrfach übertreten iſt. Dieſe Ein - teilung eines an ſich unhaltbaren Begriffes iſt doppelt verkehrt. Hat ein Schuß mehrere Menſchen verletzt, ein Wort mehrere Perſonen beleidigt, ein diebiſcher Griff mehrere Eigentümer geſchädigt, ſo iſt die Handlung unzweifelhaft als Körperver - letzung, Beleidigung, Diebſtahl aufzufaſſen und ein anderer Verbrechensbegriff kommt gar nicht in Frage. Damit ent - fällt die einzige Vorausſetzung, die uns berechtigt, von idealer Konkurrenz zu ſprechen. Es iſt die übertretene Norm auch nicht mehrmals, ſondern nur einmal, wenn auch in verſchie - denen Trägern des durch die Norm geſchützten Rechtsgutes verletzt. Die Strafrahmen der Reichsgeſetzgebung ſind groß genug, um die Berückſichtigung dieſes Umſtandes zu geſtatten. Von idealer Konkurrenz aber kann keine Rede ſein. Damit168Erſtes Buch. VIII. Verbrechens-Einheit u. - Mehrheit.iſt auch die vielbeſprochene Frage, ob auf dieſe Fälle §. 73 StGB. analog anzuwenden ſei eine Frage, die bei rich - tiger Faſſung des Konkurrenzbegriffes gar nicht aufgeworfen werden kann erledigt. Zur Anwendung gelangt hier vielmehr nur die allgemeine, nirgends ausdrücklich im Ge - ſetze ausgeſprochene, weil ſelbſtverſtändliche Regel, daß eine Handlung nur unter ein Strafgeſetz ſubſumiert werden und nur eine Strafe nach ſich ziehen kann; eine Strafe, bei deren Bemeſſung (vgl. unten §. 53 II 1 und III) die Aus - breitung der einen Rechtsverletzung allerdings in Anſchlag zu bringen iſt.

§. 41. Mehrheit der Uerbrechen. Rückfall und Realkonkurrenz.

Mehrere Verbrechen desſelben Thäters ſtehen nicht not - wendig in juriſtiſcher Beziehung zu einander. Wir haben im Gegenteile, von beſonderer geſetzlicher Anordnung abge - ſehen, die mehreren Verbrechen desſelben Thäters ebenſo ſelbſtändig zu behandeln, wie mehrere Handlungen verſchie - dener Thäter. Eine ſtrafrechtlich relevante Beziehung der meh - reren Handlungen desſelben Thäters untereinander entſteht nur durch poſitivrechtliche, von ſekundären Geſichtspunkten beeinflußte Anordnung des Geſetzgebers. Nach geltendem Rechte kann dieſe Beziehung ſein:

I. Rückfall; d. i. Begehung eines gleichen oder gleich - artigen Verbrechens nach gänzlicher oder teilweiſer Ver - büßung oder Erlaſſung der wegen eines früher begangenen gleichen oder gleichartigen Verbrechens zuerkannten Strafe; vorausgeſetzt, daß nicht ſeit Verbüßung oder Erlaß der frü - heren Strafe bis zur Begehung des neuen Verbrechens ein169Mehrheit der Verbrechen. Rückfall u. Konkurrenz. §. 41.gewiſſer Zeitraum (ſogenannte Rückfallsverjährung) ver - ſtrichen iſt, der die ſtrafrechtliche Beziehung zwiſchen beiden Handlungen als zerriſſen erſcheinen läßt.

Der Rückfall wird nach Reichsrecht nur in einzelnen Fällen und zwar immer nur als Strafſchärfungsgrund ver - wendet (vgl. unten §. 54 I 1).

II. Sogenannte reale Konkurrenz oder Zuſammen - treffen mehrerer ſtrafbarer Handlungen. Die konſequente Durchführung des prinzipiell unſtreitigen richtigen Gedankens, daß bei Begehung mehrerer Verbrechen durch denſelben Thäter jede der verbrecheriſchen Handlungen mit der ihr entſprechenden Einzelſtrafe, die Summe jener Handlungen daher mit der Summe dieſer Einzelſtrafen zu belegen ſei, führt nach der heute in der Geſetzgebung herrſchenden Auf - faſſung zu unerträglichen Härten (vgl. darüber das Nähere unter §. 56 I). Die geſetzliche Anordnung der Milderung dieſer Härten erheiſcht die geſetzliche Fixierung der Voraus - ſetzungen, unter welchen die Abweichung von dem Prinzipe ſtattfinden ſoll, und führt ſomit zu der Aufſtellung des Be - griffes der Realkonkurrenz. Der Begriff verdankt mithin lediglich den Bedürfniſſen der Strafanwendungspolitik ſeine Entſtehung. 1Wer aber deshalb von Strafenkonkurrenz ſtatt von Verbrechenskonkurrenz ſprechenwollte, würde den Grund mit der Folge verwechſeln.Vorausſetzungen der Realkonkurrenz ſind: einer - ſeits die, wenn auch thatſächlich vereitelte, rechtliche Mög - lichkeit gleichzeitiger Aburteilung, andrerſeits die thatſächliche Möglichkeit nachträglicher Berück - ſichtigung jener rechtlichen Möglichkeit. Genauer geſprochen: Realkonkurrenz iſt die Begehung mehrerer ver - brecheriſcher Handlungen durch denſelben Thäter, wenn

170Erſtes Buch. VIII. Verbrechens-Einheit u. - Mehrheit.

1. die mehreren Handlungen begangen waren, ehe wegen einer von ihnen das Urteil geſprochen worden iſt (Rechts - kraft des Urteils nicht erforderlich). Beiſpiel: Die Verbrechen a, b, c ſind am 1. Januar, 1. Februar, 1. März begangen; Realkonkurrenz liegt vor, wenn die Aburteilung wegen a, b und c am 15. März erfolgt; aber auch dann, wenn am 15. März lediglich über das Verbrechen a geſprochen wurde und die Verbrechen b und c erſt nachträglich zum Vorſchein kommen. Dagegen ſteht das am 16. März begangene Ver - brechen d nicht mehr in Realkonkurrenz mit a, b und c (StGB. §. 74).

2. Bei nicht gleichzeitiger Aburteilung iſt Realkonkurrenz nur dann anzunehmen, wenn die nachträgliche Entſcheidung über das ſpäter entdeckte Verbrechen ſtattfindet, ſo lange eine Verbeſſerung des früheren Urteils noch möglich iſt, ſo lange alſo die in dem früheren Urteile ausgeſprochene Strafe noch nicht vollſtändig verbüßt, verjährt oder erlaſſen iſt (StGB. §. 79). Beiſpiel: Iſt der Verbrecher wegen a am 15. März zu 3 Monaten Gefängnis verurteilt worden, ſo iſt Real - konkurrenz von b und c mit a anzunehmen, wenn b und c vor dem 15. Juni zur Aburteilung kommen, nicht aber wenn an dem Tage, an welchem das Urteil wegen b und c ge - fällt werden ſoll, die wegen a erkannte Strafe bereits ver - büßt, verjährt oder erlaſſen iſt.

[171]

Zweites Buch. Die Strafe.

I.

§. 42. Der Begriff der Strafe.

I. Strafe iſt Rechtsgüterſchutz durch Rechtsgüter - verletzung, vom Staate, als dem Träger und Schirmer der öffentlichen Rechtsordnung (als In - haber der öffentlichen Zwangsgewalt), gegen den Ueber - treter eines ſtaatlichen Imperatives aus Anlaß dieſer Uebertretung durch ſeine gerichtlichen Or - gane verhängt.

Das iſt der formale Begriff der Strafe. Alle einzelnen Merkmale müſſen gegeben ſein, um ihn zu erfüllen. Eine Rechtsfigur, der eines dieſer Merkmale fehlt, kann mit der Strafe verwandt, ſie kann aber nie Strafe ſein.

II. Die Strafe iſt Rechtsgüterverletzung ( Einbuße an Rechtsgütern ſagt Binding); ſie iſt ein malum passionis. Dadurch unterſcheidet ſie ſich weſentlich von dem Schadens - erſatz, mag ſie auch mit ihm unter den gemeinſamen höheren Begriff der Reaktion gegen das Unrecht gebracht werden können. Denn Schadenserſatz iſt Beſeitigung der Rechtsgüter - verletzung; er heilt die Wunde, während die Strafe eine172Zweites Buch. Die Strafe.neue Wunde ſchlägt. 1Vgl. über dieſe vielbeſprochene Frage beſonders Binding Nor - men I S. 166; Merkel Ab - handlungen I S. 57, Heinze H. H. I S. 337.Es iſt jedoch dabei vor einem weit verbreiteten Irrtume zu warnen. Erſatz des Schadens iſt ein weiterer Begriff als Erſatz des pekuniären Schadens; jedes Rechtsinſtitut, das die Heilung der durch das Unrecht geſchaffenen Rechtsverletzung bezweckt, können wir unter jenen Begriff bringen, auch wenn die Verletzung der Abſchätzung in Geld nicht zugänglich iſt. Paſſend bezeichnet man den Erſatz des ideellen, d. h. pekuniär nicht abſchätzbaren, Scha - dens als Genugthuung. Sie iſt nach dem Geſagten in begrifflichem Gegenſatze zur Strafe. Fälle der Genug - thuung ſind:

1. Die Buße, die ſich im RStGB., wie in den die In - dividualrechte ſchützenden Nebenſtrafgeſetzen findet (vgl. unten §. 52); das Gleiche gilt von dem Schmerzensgelde, das eben darum, ſoweit das Gebiet der Buße reicht, als aufge - hoben zu betrachten iſt. 2Vgl. Windſcheid §. 455 Note 31.

2. Die Ausfertigung des verurteilenden Erkenntniſſes an den Verletzten, ſowie die öffentliche Bekanntmachung des - ſelben auf Koſten des Verurteilten. 3StGB. §§. 165 und 200;§. 17 Markenſchutzgeſetz vom 30. November 1874; §. 35 Pa - tentgeſetz vom 25. Novbr. 1877. Siehe dagegen einen Fall, in dem die Veröffentlichung des Urteils Neben ſtrafe iſt, unten §. 44 I C; §. 16 Nahrungs - mittelgeſetz vom 14. Mai 1879.

Eine ganz ſinguläre Verbindung von Erſatz und Strafe, von Schadenserſatz und pönalem Element enthält §. 55 Nach - drucksgeſetz vom 11. Juni 1870, nach welchem die Entſchä - digung des Verletzten gebildet wird durch den ganzen Be - trag der Einnahme von jeder unbefugten öffentlichen Auf -173Der Begriff der Strafe. §. 42.führung eines dramatiſchen uſw. Werkes ohne Abzug der auf dieſelbe verwendeten Koſten.

III. Strafe iſt Verletzung eines Rechtsgutes, deſſen Träger der Normübertreter iſt. Trifft die Verletzung einen Dritten, ſo liegt nicht Strafe im eigentlichen Sinne vor. Daher ſcheiden aus dem Begriffe der Strafe aus:

1. Objektive Maßregeln, wie die Auflöſung einer Verſammlung, das Schließen eines Vereines, einer Kaſſe; ferner die Einziehung, Vernichtung, Unbrauchbarmachung von Gegenſtänden in zwei Fällen:

  • a) Wenn die Einziehung uſw. ſelbſtändig, d. h. unab - hängig von der Verfolgung oder Verurteilung einer be - ſtimmten Perſon[ausgeſprochen] werden kann;
    4StPO. §. 477 ff. regelt das beſondere hier eintretende ob - jektive Verfahren. Hieher ge - hören: StGB. §§. 42 u. 152; Nachdrucksgeſetz vom 11. Juni 1870 §§. 21, 22 u. 25, und die Urheberrechtsgeſetze vom 9., 10., 11. Januar 1876; Spiel - kartenſtempelgeſetz vom 3. Juli 1878 §. 10; Nahrungsmittel - geſetz vom 14. Mai 1879 §. 15. Vgl. unten §. 50 II u. III.
    4
  • b) Wenn die Einziehung uſw. zwar an die Verurteilung einer beſtimmten Perſon geknüpft iſt, ſich aber auch auf ſolche Gegenſtände erſtrecken kann, die weder dem Thäter, noch einem der Teilnehmer gehören.
    5StGB. §§. 41, 152, 295, 296a, 367, 369; Nahrungs -mittelgeſetz vom 14. Mai 1879 §. 15; Viehſeuchengeſetz vom 23. Juni 1880 §§. 65 und 66. Vgl. unten §. 50 II u. III.
    5

2. Die ſubſidiäre Haftung dritter Perſonen für die von dem Schuldigen verwirkten Geldſtrafen, die ſich in vielen Reichs - und Landes-Nebenſtrafgeſetzen ausgeſprochen findet. 6Vgl. die Reichsgeſetze vom 8. Juli 1868; §. 153 Vereins - zollgeſetz vom 1. Juli 1869; §. 18 Spielkartenſtempelgeſetz v. 3. Juli 1878; §. 43 Tabackſteuer - geſetz v. 16. Juli 1879; Waaren - verkehrsſtatiſtikgeſetz v. 20. Juli 1879 §. 17; die landesrechtl. Feld - u. Forſtpolizeigeſetze uſw.174Zweites Buch. Die Strafe.Doch iſt die Natur dieſes Rechtsinſtitutes keine unzweifel - hafte. Für ſeine Auffaſſung als Strafe würde ſprechen, daß die Haftung mit dem Nachweiſe entfällt, die Uebertretung ſei ohne Vorwiſſen des Haftpflichtigen begangen worden. Am intereſſanteſten iſt in dieſer Beziehung §. 38 Brauſteuer - geſetz vom 31. Mai 1872, nach welchem der Gewerbsinhaber für ſeine Verwalter, Gehülfen, Hausgenoſſen nur dann haftet, wenn er bei Auswahl, Anſtellung, Beaufſich - tigung dieſer Perſonen fahrläſſig, d. h. nicht mit der Sorgfalt eines ordentlichen Geſchäftsmannes zu Werke gegangen iſt. 7Iſt der Haftpflichtige ſelbſt mit einer derjenigen Perſonen, für die er zu haften hat, an dem begangenen Delikte ſtrafrechtlich beteiligt, ſo kann ihn die Zah - lung zweimal treffen: einmal alsStrafe, dann als Haftung für für ſeinen Genoſſen. A. A. RGR. 24. März 1880, E I 334, R I 508, aber ohne über - zengende Begründung.

Weſentlich verſchieden von dieſer ſubſidiären, nicht ſtraf - rechtlichen Haftung iſt die primäre rein ſtrafrechtliche Haf - tung des Gewerbeinhabers, die nicht im Reichsrechte, wohl aber partikularrechtlich (z. B. preußiſche Steuerordnung vom 8. Februar 1819) ſich findet. Vgl. RGR. 28. Mai 1880, E II 70.

Dagegen iſt die in §. 151 Gewerbe-Ordnung beſtimmte Mithaftung des verfügungsfähigen Vertretenen, mit deſſen Vorwiſſen der Stellvertreter die Uebertretung begangen hat, als eigentliche Strafdrohung (für Mitthäterſchaft) zu betrachten.

IV. Die Rechtsgüterverletzung muß von dem Staate als dem Inhaber der öffentlichen Zwangsgewalt, als dem Träger und Schirmer der öffentlichen Rechtsordnung ver -175Der Begriff der Strafe. §. 42.hängt werden. So wie die Beſtrafung in Haus und Schule, in Kirche und Vereinigung nicht Strafe im techniſchen Sinne iſt (vgl. oben §. 1), ſo iſt auch die Beſtrafung, die zwar vom Staate, aber nicht kraft der ihm zukommenden öffentlichen Zwangsgewalt ausgeht, keine eigentliche Strafe. Dies iſt der Grund, warum die ſtaatliche Disziplinarſtrafe, die der Staat im Intereſſe des internen Dienſtes verhängt, nicht Strafe im engeren Sinne iſt. 8Lit. über dieſe ſehr beſtrittene Frage bei Laband Staatsr. IS. 448, Binding Grundriß S. 112, Zorn Staatsr. S. 243.Konſequenzen: Ihre Ver - hängung iſt, weil nicht Strafſache, nicht Sache der ordent - lichen Strafgerichte; dieſelbe Normübertretung kann Diszi - plinarſtrafe und überdies eigentliche Strafe nach ſich ziehen (anerkannt u. A. in §. 95 der Seemannsordnung vom 27. De - zember 1872) uſw.

V. Nachteile, die auf die Nichtbeachtung eines nicht imperativen Rechtsſatzes geſetzt ſind, ſind nicht Strafe. So die ſogenannten Prozeßſtrafen aller Art; die pro - zeſſualen Vorſchriften heiſchen nicht unbedingten Gehorſam, wie die ſtaatlichen Imperative, ſie ſtellen vielmehr die Wahl zwiſchen zwei Alternativen frei.

VI. Die Strafe iſt an die begangene Rechtsverletzung geknüpft und wenn ſie auch durch ihre Zweckbeſtimmung in die Zukunft reicht, ſo hat ſie doch nicht einzelne konkrete Handlungen und Unterlaſſungen, ſondern dieſe Handlungen und Unterlaſſungen in abstracto im Auge. Dadurch unterſcheidet ſie ſich vom Strafzwange, der auf die Her - beiführung einer konkreten Handlung oder Unterlaſſung durch Rechtsgüterverletzung gerichtet iſt. Wichtig iſt die Unterſcheidung für das Prozeßrecht: Strafzwang zur Reali -176Zweites Buch. Die Strafe.ſierung der Zeugnispflicht neben der Strafe für Nichterfüllung dieſer Pflicht (StPO. §§. 69 u. 50, CPO. §§. 355 u. 345; vgl. auch Poſtgeſetz vom 28. Oktober 1871 §. 38). Auch ſonſt wird der Strafzwang vielfach in der Reichsgeſetzgebung verwertet; man vgl. das durch Ordnungsſtrafen anhalten im Handelsgeſetzbuch, in §. 66 des Genoſſenſchaftsgeſetzes vom 4. Juni 1868, §. 33 Geſetz 7. April 1876 über die ein - geſchriebenen Hülfskaſſen; die exekutoriſchen Geldſtrafen in §. 40 des Tabackſteuergeſetzes vom 16. Juli 1879.

VII. Begrifflich mit der eigentlichen Strafe ſich deckend ſind dennoch von derſelben kraft poſitiv geſetzlicher Anord - nung zu unterſcheiden jene kleinen Strafen für geringfügigere Rechtsverletzungen, welche die Reichsgeſetzgebung mit dem Namen der Ordnungsſtrafen bezeichnet. 9Zu unterſcheiden auch von den unter VI erwähnten Ord - nungsſtrafen , die nicht Strafe ſondern Zwang ſind. §. 40 Tabackſteuergeſetz vom 16. Juli 1879 nennt beide Arten neben - einander.(Beſonders häufig in den Zoll - und Steuergeſetzen10Vgl. z. B. Salzſteuerge - ſetz v. 12. Oktober 1867 §§. 13, 15; Zuckergeſetz von 1869 §. 4; Vereinszollgeſetz vom 1. Juli 1869 §§. 151, 152; Rübenzucker -ſteuergeſetz vom 2. Mai 1870 (Vrdg. v. 1846 §. 17); Brau - ſteuergeſetz vom 31. Mai 1872 §§. 32, 35, 36; auch Ger. Verf. - Geſ. §§. 56, 96, 179 ff. ; Spiel - kartenſtempelgeſetz vom 3. Juli 1878 §§. 11, 16; Tabackſteuer - geſetz §§. 34, 40 42; Geſetz betr. die Statiſtik des Waaren - verkehrs v. 20. Juli 1879 §. 17.). Dagegen iſt die ſogenannte Polizeiſtrafe, von beſonderer geſetzlicher An - ordnung abgeſehen, von der Strafe im engeren Sinne nicht verſchieden, ſelbſt wenn zwiſchen dem kriminellen und dem polizeilichen Unrecht eine prinzipielle Verſchiedenheit beſtehen ſollte11Vgl. über dieſe Frage oben §. 18 II. .

VIII. Endlich ſind von der Strafe zu unterſcheiden die177Die Strafmittel im allgemeinen. §. 43.Verwaltungsmaßregeln, die unabhängig von der ge - richtlichen Konſtatierung einer ſtrafbaren Handlung von den Organen der Staatsverwaltung verhängt werden können. Als Beiſpiele ſeien erwähnt die in dem Freizügigkeitsgeſetz vom 1. November 1867, dem Jeſuitengeſetz vom 4. Juli 1872, dem Geſetz betr. die Verhinderung der unbefugten Ausübung von Kirchenämtern vom 4. Mai 1874 uſw. an - gedrohten Nachteile.

II. Die Strafmittel.

§. 43. Im allgemeinen. 1Lit. bei Binding Grund - riß S. 115. InsbeſondereWahlberg Krimin. u. natio - nalökon. Geſichtspunkte 1872.

I. Die Strafe iſt Rechtsgüterſchutz durch Rechtsgüterver - letzung. Sie iſt Mittel zum Zweck. Jenes Strafmittel wird darum das geeignetſte ſein, das den Zweck (Rechts - güterſchutz) am ſicherſten, am vollſtändigſten und zugleich am billigſten (durch möglichſt geringe Rechtsgüterverletzung) er - reicht. Wir werden daher de lege ferenda folgende Anfor - derungen an die in Frage kommenden Strafmittel zu ſtellen haben.

1. Da die Strafe, je nach Lage der Umſtände verſchie - dene Zwecke verfolgt (vgl. oben §. 2 II), ſo müſſen wir jenem Strafmittel den Vorzug geben, das am geeignetſten iſt, ſich den verſchiedenen Strafzwecken je nach Bedürfnis anzupaſſen; jenem, mit dem wir bald drohen und ab - ſchrecken, bald beſſern, bald die Rechtsordnung ſchützen undvon Liszt, Strafrecht. 12178Zweites Buch. II. Die Strafmittel.ſichern können. Darum muß das unſeren höchſten Anforde - rungen entſprechende Strafmittel nach Inhalt und Umfang abſtufbar ſein, nach Intenſität und Extenſität eine Reihe von Graden zulaſſen, verſchiedene Arten des Strafvollzuges ge - ſtatten. Strafmittel, mit welchen wir nur den einen oder den anderen der Strafzwecke es iſt gleichgültig, welcher von ihnen es iſt zu verfolgen in der Lage ſind, werden hinter dehnbareren und teilbareren Strafmitteln zurückſtehen müſſen.

2. Das Strafmittel darf nicht die günſtige Wir - kung, die es nach der einen Richtung hin erzielt, pa - ralyſieren durch ungünſtige Wirkung nach einer an - deren Richtung hin. Es darf, wenn es beſſern will, nicht zugleich die abſchreckende oder ſichernde Wirkung der Strafe vernichten; nicht, wenn es die beiden letztgenannten Zwecke verfolgt, die Maſſen entſittlichen, und damit der Strafe ein wichtiges Moment ihrer motivierenden Kraft ent - ziehen. Die verſtümmelnden und beſchimpfenden Strafen, öffentlicher Vollzug grauſam verſchärfter Hinrichtungen uſw. einerſeits; die ſchablonenhafte Humanität unſerer modernen Muſterſtrafanſtalten andrerſeits mögen als warnende Bei - ſpiele dienen.

3. Wir werden jene Strafmittel verwerfen müſſen oder doch nur im Notfalle acceptieren können, die den Strafzweck nur mit Aufwand unverhältnismäßig draſtiſcher Mittel zu erreichen in der Lage ſind. Vernichtung der phyſiſchen, öko - nomiſchen, ethiſchen Perſönlichkeit (Todesſtrafe, Vermögens - konfiskation, Ehrloſigkeit) ſind als Mittel zum Zwecke des Rechtsgüterſchutzes zurückzuweiſen, ſo lange wir denſelben Zweck mit geringerem Kraftaufwande erreichen können.

4. Da ein einziges Strafmittel wohl kaum für die voll -179Die Strafmittel im allgemeinen. §. 43.ſtändige Erreichung ſämmtlicher Strafzwecke ausreichend iſt, wir mithin eine Zahl von Strafmitteln mit einander kombi - nieren müſſen, um zum Ziele zu gelangen, entſteht die wei - tere an das Strafmittelſyſtem zu ſtellende Anforderung, daß die verſchiedenen Strafmittel untereinander in einem klaren, einfachen, Abſchätzung und ſtufenweiſen Uebergang zulaſſenden Verhältniſſe zu einander ſtehen. Man kann dieſe Eigenſchaft als die Kommenſurabilität der Strafmittel bezeichnen.

II. 1. Aus dem eben Geſagten folgt die unbeſtreitbare Berechtigung der Freiheitsſtrafe, weitaus die erſte Stelle im Strafenſyſteme der Neuzeit einzunehmen. Sie iſt ſchmieg - ſam, wie kein anderes Strafmittel; ſie kann von ſtunden - langem Stubenarreſt bis zu lebenslanger Kettenſtrafe ſteigen; ſie geſtattet dem unbefangenen Strafvollzug, die ſämmtlichen denkbaren Strafzwecke mit größtmöglicher Sicherheit anzu - ſtreben; ſie läßt Verbindung mit den anderen Strafmitteln und nicht-unvermittelte Abgrenzung von denſelben (den meiſten von ihnen wenigſtens) zu. Freilich verlangt die Freiheits - ſtrafe, um ihre ſegensreiche Wirkung entfalten zu können, klarere Einſicht in Weſen und Zweck der Strafe, als ſie heute in den tonangebenden Kreiſen vorhanden zu ſein pflegt. Aber wenn die Freiheitsſtrafe in den alten Strafanſtalten plan - und ziellos gebraucht, in den neuen im Dienſte einer durchaus einſeitigen Beſſerungs - Theorie mißbraucht wird, ſo wird doch durch dieſen Umſtand die Anſicht derjenigen nicht gerechtfertigt, welche in unſeren Tagen (Mittelſtädt) mit gleicher Einſeitigkeit die zufälligen Fehler des Straf - vollzuges als weſentliche Fehler des Strafmittels aufgefaßt, und die Stellung der Freiheitsſtrafe in dem modernen Straf - mittelſyſteme angefochten haben.

180Zweites Buch. II. Die Strafmittel.

2. Der Todesſtrafe haften die meiſten jener Eigen - ſchaften an, die ein zweckentſprechendes Strafmittel nicht beſitzen ſoll. Sie paralyſiert ihre abſchreckende und ſichernde Wirkung durch das Mitleid für den Hingerichteten, das ſie in den Maſſen, durch das äſthetiſche. Mißbehagen, das ſie in den Gebildeten wachruft; ſie vernichtet eine Exiſtenz, die vielleicht noch den Zwecken der Gemeinſchaft hätte dienſtbar gemacht werden können; ſie ſteht ohne jede Vermittlung neben den übrigen Strafmitteln, von welchen es keinen Ueber - gang zu ihr giebt; ſie zwingt zu abſoluten Strafdrohungen und verwandelt das Begnadigungsrecht der Krone in ein Hinrichtungsrecht. Auch iſt es falſch, daß ihre abſchreckende und ſichernde Wirkung auf anderem Wege nicht erreicht werden könnte. Aber heute, wo der Freiheitsſtrafe dieſe abſchreckende und ſichernde Wirkung gänzlich abhanden ge - kommen iſt, muß die Todesſtrafe als unentbehrlich be - zeichnet werden. Die Reform des Gefängnisweſens nicht im Sinne der heute tonangebenden Reformatoren wird auch die Frage der Todesſtrafe zur befriedigenden Löſung bringen.

3. Die Vermögensſtrafe iſt teilbar und dehnbar, paßt ſich den übrigen Strafmitteln leicht an, hält die Trieb - feder zu einer Reihe von Verbrechensarten nieder; geſtattet aber keine irgendwie ins Gewicht fallenden Modifikationen des Strafvollzuges. Sie iſt daher trefflich geeignet, eine zweite Rolle im Strafenſyſteme zu ſpielen, und beſonders als Nebenſtrafe von großem Werte; darf aber auch nicht zu mehr, als zur zweiten Rolle berufen werden.

4. Große Gefahren birgt die Ehrenſtrafe. Auch in ihren mildeſten Formen nimmt ſie der geſunkenen ethiſchen Perſönlichkeit den letzten Halt. Ausſchluß jeder immer181Das Strafenſyſtem der Reichsgeſetzgebung. §. 44.dauernden Ehrenſtrafe, ſo lange der Staat den Verbrecher nicht gänzlich aufgegeben hat, iſt mithin dringend geboten.

§. 44. Das Strafenſyſtem der Reichsgeſetzgebung.

I. In dem Syſteme der Reichsgeſetzgebung haben wir Haupt - und Nebenſtrafen zu unterſcheiden. Erſtere jene, die auch allein; letztere jene, die (regelmäßig) nur in Verbindung mit einer Hauptſtrafe verhängt werden können.

Ein weiterer Einteilungsgrund ergiebt ſich, wenn wir die Rechtsgüter des Verbrechers ins Auge faſſen, deren Ver - letzung der Staat zum Zwecke des Rechtsgüterſchutzes vor - nimmt. Es ſind: Leben, Freiheit, Vermögen, Ehre.

Darnach gewinnen wir folgendes Syſtem:

A. Hauptſtrafen.

  • 1. Am Leben: die Todesſtrafe.
  • 2. An der Freiheit: Zuchthaus, Gefängnis, Feſtungs - haft, Haft.
  • 3. Am Vermögen: die Geldſtrafe.
  • 4. An der Ehre: der Verweis.

B. Nebenſtrafen.

  • 1. Am Leben: fehlt.
  • 2. An der Freiheit:
    • a) Stellung unter Polizeiaufſicht.
    • b) Ueberweiſung an die Landespolizeibehörde.
    • c) Ausweiſung aus dem Reichsgebiet.
    • d) Beſchränkung des Aufenthaltes.
    • e) Beſchränkung des Hausrechtes.
  • 3. Am Vermögen:
    • a) Die acceſſoriſche Geldſtrafe.
    • 182
    • b) Die Einziehung einzelner Gegenſtände.
    • c) Die Unbrauchbarmachung von Schriften u. dgl.
    • d) Die Entziehung der Gewerbebefugnis.
  • 4. An der Ehre: Die vollſtändige oder teilweiſe Ab - erkennung der bürgerlichen Ehrenrechte.

C. Beſondere, außerhalb des Strafenſyſtems ſtehende Strafübel enthalten: StGB. §. 161 dauernde Unfähigkeit als Zeuge oder Sachverſtändiger eidlich vernommen zu wer - den; StGB. §. 319 Unfähigkeit zu einer Beſchäftigung im Eiſenbahn - oder Telegraphendienſte oder in beſtimmten Zweigen dieſer Dienſte; Nahrungsmittelgeſetz vom 14. Mai 1879 §. 16 Bekanntmachung der Verurteilung auf Koſten des Schuldigen; Viehſeuchengeſetz vom 23. Juni 1880 §. 63 Wegfall des Entſchädigungsanſpruches für getötete Thiere; §. 11 Salzſteuergeſetz vom 12. Oktober 1867 Verluſt des Anſpruchs auf ſteuerfreien Salzbezug.

Im Uebrigen iſt das oben §. 42 über die Abgrenzung der Strafe von anderen verwandten Inſtituten des Reichs - rechts Geſagte zu vergleichen.

II. Die Beſtimmungen des Reichsſtrafgeſetzbuchs über das Strafenſyſtem ſind abſolut gemeines Recht. Sie binden die Landesgeſetzgebung auch auf jenen Gebieten, auf welchen dieſe im Uebrigen autonom iſt. Vgl. Einf. G. zum StGB. §. 6 und oben §. 11 III 2.

III. Wenn wir von der durchaus ungenügenden Rege - lung des Vollzugs der Freiheitsſtrafe abſehen, entſpricht das Strafenſyſtem der Reichsgeſetzgebung allen billigen Anforderun - gen. Freilich benimmt jene Lücke im Syſtem dem Syſteme ſelbſt den größten Teil ſeines Wertes.

183Die Todesſtrafe. §. 45.

A. Die Hauptſtrafen.

1. §. 45. Die Todesſtrafe. 1Lit. bei Meyer S. 260 Anm. 1.

I. Die Todesſtrafe, einſt die peinliche Strafe des ge - meinen Rechtes, iſt nach Inhalt und Umfang, ſeit der Be - ſeitigung der grauſam geſchärften Arten der Todesſtrafe und ſeit ihrer Beſchränkung auf wenige Ausnahmsfälle, in dem Syſteme des modernen Strafrechts neben der Freiheitsſtrafe völlig in den Hintergrund getreten.

Der Kampf, den die Schriftſteller der Aufklärungsperiode (vor Allen Beccaria und Sonnenfels 1764) gegen die Todesſtrafe eröffneten, hatte zunächſt nur geringen Erfolg: Abſchaffung der Todesſtrafe in Toscana 1786, in Oeſterreich 1787 (bis 1795). In ſeinen weiteren Wirkungen aber führte er, in Verbindung mit der ſeit den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts beginnenden Gefängnisreform, zur allmähligen Beſeitigung der qualifizierten und zur allmähligen Einſchrän - kung der Todesſtrafe überhaupt auf eine geringe Anzahl von Straffällen.

In Folge des §. 9 der deutſchen Grundrechte von 1848 wurde die Todesſtrafe in einer Reihe von deutſchen Staaten (nicht aber in Oeſterreich, Preußen, Baiern, Sachſen) beſei - tigt; doch führte in den meiſten dieſer Staaten die Herr - ſchaft der Reaktion zur Wiederherſtellung der Todesſtrafe. Nur Oldenburg, Anhalt, Bremen hielten an der Beſeitigung feſt; Sachſen fand es noch im Jahre 1868, als die Geſetz -184Zweites Buch. II. Die Strafmittel.gebung des Bundes in Strafſachen vor der Thüre ſtand, für angezeigt, zur Abſchaffung der Todesſtrafe zu ſchreiten. So ſtand die Frage, als die Beratung des norddeutſchen Strafgeſetzbuchs in Angriff genommen wurde. Die harten parlamentariſchen Kämpfe, die mit der Beibehaltung (bez. Wiedereinführung) der Todesſtrafe endeten, ſind bereits oben §. 8 III (S. 32 f.) geſchildert worden.

II. Anwendungsgebiet der Todesſtrafe. Wenn wir von dem MilitärStGB. abſehen, das die Todesſtrafe in 10 Fällen abſolut, in 8 Fällen alternativ androht,2Vgl. Binding Kommentar S. 107. findet ſich dieſelbe in der Reichsgeſetzgebung:

1. Als Strafe des vollendeten Mordes nach StGB. §. 211.

2. Als Strafe des Mordes und Mordverſuchs an dem Kaiſer, dem eigenen Landesherrn und dem Landesherrn des Aufenthaltsſtaates StGB. §. 80 (Antrag v. Kardorff).

In beiden Fällen kann die Todesſtrafe geſchärft werden (StGB. §. 32) durch die Aberkennung der bürgerlichen Ehren - rechte (vgl. unten §. 51 I); in beiden Fällen wird ihr An - wendungsgebiet beſchränkt durch die im StGB. (§§. 49 und 57) vorgeſchriebene Reduktion der Strafrahmen bei Verſuch, Beihülfe und jugendlichem Alter des Thäters (vgl. oben §. 33 III, §. 37 II 4, unten §. 54 II 2).

3. Eine weſentliche Erweiterung des Anwendungsgebietes der Todesſtrafe hat der Eintritt des Kriegsrechtes zur Folge. Vgl. darüber oben §. 16 I.

III. Vollzug der Todesſtrafe. Die Todesſtrafe iſt nach StGB. §. 13 durch Enthaupten, nach §. 14 Mil. -185Die Todesſtrafe. §. 45.StGB. durch Erſchießen zu vollſtrecken, wenn ſie wegen eines militäriſchen, im Felde auch dann, wenn ſie wegen eines nicht militäriſchen Verbrechens erkannt worden iſt.

Nach der StPO. (§. 485) iſt die Vollſtreckung der Todesſtrafe erſt zuläſſig, wenn der Träger des Begnadi - gungsrechtes (unten §. 57 IV 3 und 4) erklärt hat, von demſelben keinen Gebrauch machen zu wollen. Geiſteskrank - heit oder Schwangerſchaft hemmt die Vollſtreckung.

Durch die StPO. (§. 486) iſt ferner die ſogenannte Intramuranhinrichtung3Vgl. Ullmann GS. XXXI. (Vollſtreckung in einem um - ſchloſſenen Raume bei beſchränkter Oeffentlichkeit) Reichsrecht geworden. Bei der Hinrichtung müſſen zwei Mitglieder des Gerichtes erſter Inſtanz, ein Beamter der Staatsanwaltſchaft, ein Gerichtsſchreiber und ein Gefängnisbeamter gegenwärtig ſein. Der Gemeindevorſtand des Ortes, an welchem die Hinrichtung ſtattfindet, iſt aufzufordern, 12 Perſonen aus den Vertretern oder aus anderen achtbaren Mitgliedern der Gemeinde abzuordnen, um der Hinrichtung beizuwohnen. Außerdem iſt einem Geiſtlichen von dem Religionsbekennt - niſſe des Verurteilten, dem Verteidiger und nach Ermeſſen des die Vollſtreckung leitenden Beamten auch anderen Per - ſonen der Zutritt zu geſtatten. Ueber den Hergang iſt ein von dem ſtaatsanwaltſchaftlichen Beamten und dem Gerichtsſchreiber zu unterzeichnendes Protokoll aufzunehmen. Der Leichnam des Hingerichteten iſt den Angehörigen auf ihr Verlangen zur einfachen, ohne Feierlichkeiten vorzunehmenden Beerdi - gung zu verabfolgen.

Von dieſen Beſtimmungen abgeſehen, iſt die Vollſtreckung186Zweites Buch. II. Die Strafmittel.der Todesſtrafe (durch Fallbeil, Fallſchwert, eigentliche Ent - hauptung) landesrechtlich geordnet.

2. §. 46. Die Freiheitsſtrafe. 1Lit. bei Binding Grund - riß S. 116. Beſonders wichtig die Protokolle der internationalen Gefängniskongreſſe von London (1872) und Stockholm (1878). Aus neueſter Zeit Schriften von Almquiſt 1879 (über Schwe - den), Streng 1879 (Nürn - berg), Mittelſtädt 1879, von Schwarze 1880, Fulda 1880.

I. Die Freiheitsſtrafe gehört als eigentliche peinliche Strafe der Neuzeit an. Noch der peinlichen Ger. Ordnung Karl’s V iſt ſie in dieſer Bedeutung fremd; und die ſeit dem Ende des 16. und dem Anfange des 17. Jahrhunderts allmählich auftauchenden Zuchthäuſer (in Amſterdam 1595, Lübeck 1613, Hamburg 1618 uſw. ), für Landſtreicher und Arbeitsſcheue, für Bettler und liederliche Dirnen, für ſtörriges Geſinde und ungeratene Kinder beſtimmt, waren alles An - dere eher als Strafanſtalten im modernen Sinne. Erſt all - mählich dringt die Freiheitsſtrafe in wechſelnden, häufig noch ganz embryonalen Formen in das Strafenſyſtem ein. Ihr Sieg war entſchieden, als man in der Gemeinſchaft der Häftlinge den Krebsſchaden des bisherigen Strafvollzuges erkannt und damit zugleich den Weg zur Beſeitigung der gröbſten Mißſtände gefunden hatte.

Mit dem 1775 eröffneten Zuchthauſe zu Gent beginnt die Aera der Gefängnisreform. Der hier wenigſtens teil - weiſe durchgeführte Gedanke der Einzelhaft wird durch Howard ( 1790) und Blackſtone ( 1780) nach England, durch Benjamin Franklin ( 1790) nach Amerika ver -187Die Freiheitsſtrafe. §. 46.pflanzt. Hier entwickeln ſich (in den 20 er Jahren des neunzehnten Jahrhunderts) zwei rivaliſierende Syſteme; das Auburn’ſche Schweigſyſtem und das Penſylvaniſche Pöni - tentiar-Syſtem. Von Amerika flutet die Bewegung, die dort eine ſtark pietiſtiſche Färbung angenommen hatte, zurück nach Europa; allenthalben entſtehen, meiſt nach dem Muſter von Petonville (1842) Zellengefängniſſe, in dem von Bentham ( 1832) erdachten panoptiſchen Syſteme erbaut.

Aber noch während die Zellenhaft ihren Siegeszug durch Europa hielt, war ihr ein gefährlicher Gegner entſtanden in dem von Walter Crofton aufgeſtellten, 1857 in Irland, 1864 teilweiſe in England eingeführten Progreſſivſyſtem. Auf dem Gedanken allmählicher Wiederherſtellung des ſitt - lichen Gleichgewichts im Sträflinge, allmählicher Wiederein - führung desſelben in die bürgerliche Geſellſchaft aufgebaut, beſteht dasſelbe im Weſentlichen aus folgenden, von dem Verurteilten zu durchlaufenden Stadien: a) ſtrenge 9 mo - natliche Einzelhaft; b) gemeinſame Arbeit in 4 progreſſiven Abteilungen; c) Aufenthalt in der Zwiſchenanſtalt (interme - diate prison), in welcher dem Sträfling freierer Verkehr mit der Außenwelt geſtattet iſt; d) bedingte Entlaſſung mit der Möglichkeit des Widerrufes.

Daß das ſogenannte iriſche Syſtem, ſoweit es ſich um beſſerungsfähige und beſſerungsbedürftige Verbrecher handelt, glänzende Erfolge aufzuweiſen hat, kann nicht in Abrede ge - ſtellt werden; den Abſchreckungs - oder Sicherungszweck zu er - reichen, iſt es ungeeignet.

II. Die Freiheitsſtrafen der Reichsgeſetzgebung ſind Zuchthaus, Gefängnis, Feſtungshaft und Haft. Sie unterſcheiden ſich in folgenden Punkten.

1. Art der Verwendung. Zuchthaus iſt die Ver -188Zweites Buch. II. Die Strafmittel.brechensſtrafe; Gefängnis die Vergehens -, Haft die Uebertretungsſtrafe. Doch findet ſich Haft ausnahmsweiſe (StGB. §. 185 ſowie in §. 147 der Gew. Ordnung) auch bei Vergehen. Die Feſtungshaft ſoll ſowohl Zucht - haus als auch Gefängnis erſetzen, und wird wahlweiſe mit dieſen beiden Strafen bei einer Reihe politiſcher Delikte, aus - ſchließlich bei Zweikampf angedroht.

2. Dauer. Zuchthaus und Feſtungshaft ſind lebenslange oder zeitige, Gefängnis und Haft immer zeitige Freiheitsſtrafe. Das Maximum beträgt bei den beiden erſten 15 Jahre, bei Gefängnis 5 Jahre (Ausnahmen in StGB. §§. 57 und 74), bei Haft 6 Wochen (Ausnahmen in §§. 77 und 78 StGB.). Der Mindeſtbetrag iſt bei Zuchthaus 1 Jahr, ſo daß Bruchteile eines Jahres in Gefängnis umgewandelt werden müſſen (vgl. darüber unten §. 55 I 2); bei den übrigen Freiheitsſtrafen 1 Tag. Vgl. StGB. §§. 14 18.

3. Die Bemeſſung der Zuchthausſtrafe erfolgt nach vollen Monaten,2Dies gilt nicht bei Um - wandlung wohl aber bei derAnrechnung; vgl. unten §. 55 I 2 u. II. die der übrigen Freiheitsſtrafen nach vollen Tagen. StGB. §. 19.

4. Arbeitszwang iſt mit Zuchthaus obligatoriſch verbunden (StGB. §. 15); Außenarbeit bei Trennung von freien Arbeitern geſtattet. Die zu Gefängnis Verurteilten (StGB. §. 16) können auf eine ihren Fähigkeiten und Ver - hältniſſen angemeſſene Weiſe beſchäftigt werden; auf ihr Verlangen ſind ſie in dieſer Weiſe zu beſchäftigen; Außen - arbeit iſt nur mit ihrer Zuſtimmung zuläſſig. Bei Feſtungs - haft (StGB. §. 17) iſt Arbeitszwang ausnahmslos ausge -189Die Freiheitsſtrafe. §. 46.ſchloſſen; bei Haft findet er nur ganz ausnahmsweiſe (StGB. §. 362, 361 Z. 3 8 gegen Landſtreicher, Bettler, Müſſig - gänger, Arbeitsſcheue, Proſtituirte, Erwerbsloſe) ſtatt.

5. Neben Zuchthaus tritt der Verluſt gewiſſer Ehren - rechte von Rechtswegen ein (StGB. §. 31); neben Zucht - haus und (unter gewiſſen Vorausſetzungen) neben Ge - fängnis kann vollſtändige, neben letzterem und (in gewiſſen Fällen) neben der Feſtungshaft teilweiſe Ab - erkennung der Ehrenrechte ſtattfinden (StGB. §§. 32 ff. ); neben Haft iſt die Aberkennung ausgeſchloſſen. Vgl. das Nähere unten §. 51.

6. Einzelhaft und bedingte Entlaſſung (StGB. §§. 22 ff. ) finden bei Zuchthaus und Gefängnis, nicht aber bei Feſtungshaft und Haft Anwendung. Vgl. unten III 1 und 2.

III. Die Vollſtreckung der Freiheitsſtrafe iſt nur zum kleinſten Teile durch die bisherige Reichsgeſetzgebung geordnet, zum weitaus größten Teile der landesrechtlichen Beſtimmung überlaſſen. Die Reſolution des Reichstages vom 4. März 1870, in welcher der Wunſch nach reichsge - ſetzlicher Regelung ausgeſprochen wurde, hat bisher nur zur Ueberreichung eines Geſetzentwurfes über die Vollſtreckung Freiheitsſtrafen an den Bundesrath geführt. 3Ueber denſelben Tauffer GS. XXXI. Die Unklar - heit über Weſen und Zweck der Freiheitsſtrafe, die aus den wichtigſten Beſtimmungen dieſes Entwurfes ſpricht, läßt in - deſſen nur geringe Hoffnung auf eine halbwegs befriedigende Löſung der brennenden Reformfrage aufkommen.

Die bereits vorhandenen reichsgeſetzlichen Beſtimmungen über den Vollzug der Freiheitsſtrafen betreffen:

190Zweites Buch. II. Die Strafmittel.

1. Die Einzelhaft (StGB. §. 22). 4Holtzendorff HR. Einzelhaft .Zuchthaus - und Gefängnisſtrafe können ſowohl für die ganze Dauer, wie für einen Teil der erkannten Strafzeit in der Weiſe in Einzel - haft vollzogen werden, daß der Gefangene unausgeſetzt von anderen Gefangenen geſondert gehalten wird. Die Einzel - haft darf ohne Zuſtimmung des Gefangenen die Dauer von drei Jahren nicht überſteigen.

2. Die vorläufige (bedingte) Entlaſſung (Beurlau - bung (StGB. §§. 23 26). Die zu einer längeren (zei - tigen) Zuchthaus - oder Gefängnisſtrafe Verurteilten können, wenn ſie drei Vierteile, mindeſtens aber ein Jahr der ihnen auferlegten Strafe verbüßt, ſich auch während dieſer Zeit gut geführt haben, mit ihrer Zuſtimmung vorläufig entlaſſen werden.

Iſt die feſtgeſetzte Strafzeit abgelaufen, ohne daß ein Widerruf der vorläufigen Entlaſſung erfolgt iſt, ſo gilt die Freiheitsſtrafe als verbüßt.

Dagegen hat der Widerruf zuläſſig bei ſchlechter Führung des Entlaſſenen, ſowie wenn derſelbe den ihm auf - erlegten Verpflichtungen zuwiderhandelt die Wirkung, daß die ſeit der vorläufigen Entlaſſung bis zur Wiedereinliefe - rung verfloſſene Zeit auf die feſtgeſetzte Strafdauer nicht ein - gerechnet wird.

Entlaſſung und Widerruf liegen in der Hand der oberſten Juſtizaufſichtsbehörde; die vorläufige Feſtnahme Entlaſſener kann auch von der Ortspolizeibehörde verfügt werden.

3. Die gegen jugendliche Perſonen erkannten Frei - heitsſtrafen ſind in beſonderen nur für dieſen Zweck be - ſtimmten Anſtalten oder Räumen zu vollziehen.

191Die Geldſtrafe. §. 47.
3. §. 47. Die Geldſtrafe. 1Lit. bei Binding Grundriß S. 129. Dazu Kronecker GA. XXVII u. XXXVIII.

I. Die Geldſtrafe iſt die einzige Vermögens-Hauptſtrafe im Strafenſyſtem der Reichsgeſetzgebung. Sie hat hier reiche vielleicht zu reiche Verwendung gefunden. Sehen wir von den Fällen ab, in welchen Geldſtrafe neben Frei - heitsſtrafe cumulativ angedroht, in welchen ſie alſo Neben - ſtrafe iſt, ſo tritt ſie uns bei den einzelnen Delikten bald als ausſchließlich, bald als mit der Freiheitsſtrafe alternierend und zwar bald an erſter bald an zweiter Stelle angedrohte Strafe entgegen.

II. Der Mindeſtbetrag der Geldſtrafe iſt bei Ver - brechen und Vergehen drei Mark, bei Uebertretungen eine Mark.

Der Höchſtbetrag der Geldſtrafe iſt im allgemeinen Teile des StGB. ’s nicht angegeben; im beſonderen Teile überſteigt er 6000 Mark nicht, nur in dem durch das Wucher - geſetz vom 24. Mai 1880 eingefügten §. 302 d kann bis auf 15 000 Mark erkannt werden. Weit höher reicht die Geld - ſtrafe in den Nebengeſetzen, wo ſie in zahlreichen Fällen als Vielfaches oder quoter Teil der hinterzogenen Abgaben, des defraudirten Portos uſw. auftritt. Außer zahlreichen Zoll - und Steuergeſetzen ſeien als Beiſpiele erwähnt: Geſetz betr. die Inhaberpapiere mit Prämien vom 8. Juni 1871 §. 6: Geldſtrafe, welche dem 5. Teile des Nennwertes der den Gegenſtand der Zuwiderhandlung bildenden Papiere gleich - kommt, mindeſtens aber 100 Thaler betragen ſoll;

Bankgeſetz vom 14. März 1875 §. 55: Geldſtrafe, welche192Zweites Buch. II. Die Strafmittel.dem Zehnfachen des Betrages der unbefugt ausgegebenen Wertzeichen gleichkommt, mindeſtens aber 5000 Mark beträgt;

Wechſelſtempelſteuergeſetz vom 10. Juni 1869 §. 15: Geldbuße, welche dem 50fachen Betrage der hinterzogenen Abgabe gleichkommt;

Geſetz betr. Ausgabe von Banknoten vom 21. Dezember 1874 Art. II §. 2: 4fache Betrag der geſetzwidrig ausgege - benen Banknoten, mindeſtens aber 1000 Mark.

Die Seemannsordnung vom 27. Dezember 1872 rechnet in den §§. 83 und 84 nach dem Betrage der Monatsheuer.

III. Die Geldſtrafe wird vom Staate eingezogen und für öffentliche Zwecke verwendet, die in einzelnen Nebenge - ſetzen beſonders bezeichnet ſind. Vgl. z. B. Perſonenſtands - geſetz vom 6. Februar 1875 §. 70, nach welchem die hier angedrohten Geldſtrafen jenen Gemeinden zufließen, welche die ſächlichen Koſten der Standesämter zu tragen haben; Nah - rungsmittelgeſetz vom 14. Mai 1879 §. 17, nach welchem jene Kaſſen bezugsberechtigt ſind, welchen die Unterhaltung der zur techniſchen Unterſuchung von Nahrungs - und Ge - nußmitteln beſtimmten Anſtalten obliegt; Gewerbe-Ordnung §. 146 (Hülfskaſſe, andere zum Beſten der Arbeiter beſtehende Kaſſen, eventuell Ortsarmenkaſſe, Gewerbe-Ordnung §. 116); Poſtgeſetz vom 28. Oktober 1871 §. 33 (Poſtarmen - oder Unterſtützungskaſſe); Tabackſteuergeſetz vom 16. Juli 1879 §. 46 (Fiskus desjenigen Staates, von deſſen Behörden die Strafentſcheidung erlaſſen iſt); Waarenverkehrs-Statiſtik-Ge - ſetz vom 20. Juli 1879 §. 17 (ebenſo); Wechſelſtempelgeſetz vom 10. Juni 1869 §. 17 (ebenſo); Spielkartenſtempelgeſetz vom 3. Juli 1878 §. 19 (ebenſo); Seemannsordnung vom 27. Dezember 1872 §. 107 (Seemannskaſſe bez. Ortsarmen - kaſſe des Heimathshafens des Schiffes).

193Der Verweis. §. 48.

Die Vollſtreckung der Geldſtrafen erfolgt nach den Vorſchriften über die Vollſtreckung der Urteile der Civil - gerichte (StPO. § 495). Ueber die Vollſtreckung in den Nachlaß des Verurteilten (StGB. §. 30) vgl. unten §. 57 II; über die Umwandlung der Geldſtrafe in Freiheitsſtrafe (StGB. §§. 28 und 29) unten §. 55 I 1.

4. §. 48. Der Verweis. 1Lit. bei Binding Grund - riß S. 124. Dazu die Dar - ſtellungen des Strafprozeßrechtsbei der Lehre von der Straf - vollſtreckung.

I. Der Verweis, ſchon im gemeinen Recht und in mehre - ren deutſchen Partikularſtrafgeſetzbüchern als Strafmittel an - erkannt, findet ſich in der Reichsgeſetzgebung in einem ein - zigen Falle (StGB. §. 57 Ziff. 4): Hat ein jugendlicher Thäter ein Vergehen oder eine Uebertretung begangen, ſo kann in beſonders leichten Fällen auf Verweis erkannt werden.

II. Der Verweis iſt eigentliche Strafe, und zwar die einzige Hauptſtrafe an der Ehre. Er kann daher erſt erteilt werden, wenn das auf ihn erkennende Urteil rechtskräftig geworden iſt. Ueber den Vollzug dieſer Strafart fehlt es auch in der StPO. an ausdrücklichen Anord - nungen; es ſind daher die übrigen Beſtimmungen der StPO. zur analogen Anwendung zu bringen. So hat z. B. die Erteilung des Verweiſes gemäß §. 483 StPO. durch die Staatsanwaltſchaft auf Grund einer von dem Ge - richtsſchreiber zu erteilenden, mit der Beſcheinigung der Voll -von Liszt, Strafrecht. 13194Zweites Buch. II. Die Strafmittel.ſtreckbarkeit verſehenen, beglaubigten Abſchrift der Urteils - formel zu geſchehen. Wo die Analogie der Beſtimmungen der StPO. nicht ausreicht, iſt landesgeſetzliche Regelung notwendig und maßgebend.

B. Die Nebenſtrafen.

1. §. 49. Nebenſtrafen an der Freiheit. 1Lit. bei Binding Grundriß S. 123.

Daß wir es hier mit wirklichen Nebenſtrafen, nicht aber mit polizeilichen Maßregeln zu thun haben, ergiebt ſich aus dem oben §. 42 beſprochenen Begriffe der Strafe. Die richtige Auffaſſung der Strafe, nach welcher ſie Rechtsgüter - ſchutz durch Rechtsgüterverletzung iſt, nach welcher Art und Maß der Strafe lediglich beſtimmt wird durch das Be - dürfnis nach Schutz der Rechtsgüter, hat gerade in dieſen Nebenſtrafen an der Freiheit, freilich ohne daß der Geſetz - geber ſich klar geworden wäre über die theoretiſche Trag - weite ſeiner Anordnungen, prägnanten geſetzlichen Ausdruck gefunden. Zielbewußte Erweiterung dieſer Einrichtungen und Verſchmelzung derſelben mit den Hauptſtrafen bildet die Aufgabe künftiger rationeller Strafgeſetzgebung.

Es gehören hieher

I. Das gerichtliche Erkenntnis auf Zuläſſig - keit von Polizeiaufſicht, das neben der Freiheitsſtrafe, und zwar regelmäßig neben Zuchthaus, ausnahmsweiſe (StGB. §§. 180, 262, 294) auch neben Gefängnis, aber195Nebenſtrafen an der Freiheit. §. 49.nur in den durch das Geſetz ausdrücklich vorgeſehenen Fällen, dem richterlichen Ermeſſen anheimgegeben iſt (StGB. §. 38). Dieſe vorgeſehenen Fälle ſind: StGB. §§. 115, 116 (Auf - ruhr und Auflauf), 122 (Meuterei von Gefangenen), 125 (Landfriedensbruch), 146, 147 (Münzverbrechen), 180, 181 (Kuppelei), 248 (Diebſtahl und Unterſchlagung), 256 (Raub und Erpreſſung), 262 (Hehlerei), 294 (gewerbsmäßige Wild - dieberei), 325 (Reihe von gemeingefährlichen Delikten), 49 a (Aufforderung und Erbieten zu Verbrechen); ferner bei dem Verſuch eines mit Tod oder lebenslangem Zuchthaus be - drohten Verbrechens und der Beihülfe zu einem ſolchen (StGB. §§. 44 und 49); Nahrungsmittelgeſetz 14. Mai 1879 §. 13.

Iſt Polizeiaufſicht neben der Strafe des vollendeten Ver - brechens oder Vergehens zuläſſig, ſo gilt Gleiches bei der Verſuchsſtrafe (StGB. §. 45); iſt ſie wegen einer von mehreren real konkurrierenden ſtrafbaren Handlungen zuläſſig, ſo kann auf ſie auch neben der Geſammtſtrafe erkannt werden (StGB. §. 76).

Dem jugendlichen Thäter gegenüber darf Zuläſſigkeit der Polizeiaufſicht nicht ausgeſprochen werden (StGB. §. 57 Ziff. 5).

Durch ein ſolches Erkenntnis erhält die höhere Landes - polizeibehörde die Befugnis, nach Anhörung der Gefängnis - verwaltung den Verurteilten auf die Dauer von höchſtens 5 Jahren unter Polizeiaufſicht zu ſtellen. Dieſe Zeit wird von dem Tage berechnet, an welchem die Freiheitsſtrafe ver - büßt, verjährt oder erlaſſen iſt (StGB. §. 38).

Die Polizeiaufſicht hat folgende Wirkungen:

  • a) dem Verurteilten kann der Aufenthalt an einzelnen beſtimmten Orten von der höheren Landespolizeibehörde unterſagt werden;
196Zweites Buch. II. Die Strafmittel.
  • b) die höhere Landespolizeibehörde iſt befugt, den Aus - länder aus dem Bundesgebiete zu verweiſen;
  • c) Hausſuchungen unterliegen keiner Beſchränkung hin - ſichtlich der Zeit, zu welcher ſie ſtattfinden dürfen.

Weitere Folgen enthält die StPO. in den §§. 103, 104, 106, 113.

Zuwiderhandlungen gegen dieſe Beſchränkungen fallen unter StGB. §. 361 Ziff. 1 und 2.

II. Die Ueberweiſung an die Landespolizeibe - hörde. Neben der Verurteilung zur Haft wegen der in §. 361 StGB. Ziff. 3 8 bedrohten Delikte (gegen Land - ſtreicher, Bettler, Müßiggänger, Proſtituirte, Arbeitsſcheue, Erwerbsloſe) kann zugleich erkannt werden, daß die verur - teilte Perſon nach verbüßter Strafe der Landespolizeibehörde zu überweiſen ſei. Dieſe erhält dadurch die Befugnis, den Verurteilten entweder bis zu zwei Jahren in ein Arbeits - haus unterzubringen oder zu gemeinnützigen Arbeiten zu ver - wenden. Im Falle des §. 361 Ziff. 4 (Bettel) iſt dies je - doch nur dann zuläſſig, wenn der Verurteilte in den letzten drei Jahren wegen dieſer Uebertretung mehrmals rechts - kräftig verurteilt worden iſt, oder wenn derſelbe unter Dro - hungen oder mit Waffen gebettelt hat. Gegen Ausländer kann an Stelle der Unterbringung in ein Arbeitshaus Ver - weiſung aus dem Bundesgebiete eintreten (StGB. §. 362). Man ſpricht hier auch wohl von korrektioneller Nachhaft oder Anhang .

III. Die Ausweiſung aus dem Reichsgebiete iſt als Nebenſtrafe nur gegen Ausländer zuläſſig, und zwar in folgenden Fällen:

  • 1. Bei gewerbsmäßigem Betriebe des Glücksſpiels StGB. §. 284.
197Nebenſtrafen an der Freiheit. §. 49.
  • 2. An Stelle der Polizeiaufſicht oder der Unterbringung in ein Arbeitshaus StGB. §§. 39 Ziff. 2 u. 362 Abſ. 3.
  • 3. Gegen Perſonen, welche ſich die Agitation für ſozial - demokratiſche Beſtrebungen zum Geſchäfte machen, hier an Stelle der Verſagung des Aufenthaltes. Sozial. - Geſetz vom 21. Oktober 1878 §. 22.

Zuwiderhandlungen fallen unter §. 361 Ziff. 2 StGB., bez. unter §. 22 des Sozial. Geſetzes.

IV. Aufenthaltsbeſchränkung2Vgl. Leuthold in HR. Aufenthaltsbeſchränkung . als Verwaltungs - maßregel häufig, als Nebenſtrafe nur im Sozial. Geſetz (§. 22) angedroht. Bei geſchäftsmäßiger Agitation für ſozial - demokratiſche Beſtrebungen kann neben der Freiheitsſtrafe wegen gewiſſer Uebertretungen des Sozial. Geſetzes auf die Zu - läſſigkeit der Einſchränkung des Aufenthaltes erkannt werden. Die Landespolizeibehörde erhält dadurch das Recht, dem Verurteilten den Aufenthalt in beſtimmten Bezirken oder Ortſchaften zu verſagen; in ſeinem Wohnſitze jedoch nur dann, wenn er denſelben nicht bereits ſeit 6 Monaten inne hat. Ausländer können ausgewieſen werden.

V. Beſchränkung des Hausrechts trifft nach §. 3 Nahrungsmittelgeſetz vom 14. Mai 1879 die auf Grund der §§. 10, 12, 13 dieſes Geſetzes zu einer Freiheitsſtrafe ver - urteilten Perſonen inſofern, als die Polizei durch die Ver - urteilung die Berechtigung erhält, in den zu Herſtellung, Aufbewahrung, Verkauf der Nahrungsmittel uſw. beſtimmten Räumlichkeiten Reviſionen vorzunehmen. Die Befugnis beginnt mit der Rechtskraft des Urteils und erliſcht mit dem Ablaufe von drei Jahren von dem Tage an gerechnet, an welchem die Freiheitsſtrafe verbüßt, verjährt oder erlaſſen iſt.

198Zweites Buch. II. Die Strafmittel.

2. §. 50. Nebenſtrafen am Vermögen. 1Lit. bei Binding Grundriß S. 130.

I. Die acceſſoriſche Geldſtrafe, überaus häufig, beſonders bei den aus Gewinnſucht hervorgegangenen Ver - brechen, in der Reichsgeſetzgebung angedroht.

II. Die Einziehung der instrumenta und pro - ducta sceleris, d. i. derjenigen Gegenſtände, welche durch ein vorſätzliches Verbrechen oder Vergehen hervorgebracht oder welche zur Begehung eines ſolchen gebraucht oder be - ſtimmt ſind. Die Einziehung iſt im Urteile auszuſprechen (StGB. §. 40). Nur ausnahmsweiſe iſt ſie auch bei Ueber - tretungen[zuläſſig]: StGB. §§. 360, 367, 369 Ziff. 2.

Regelmäßig iſt der Ausſpruch der Einziehung dem Er - meſſen des Gerichtes anheimgeſtellt; in einzelnen Fällen (StGB. §§. 152, 295, 296 a, 335, 369 Ziff. 2) muß jedoch auf Einziehung erkannt werden.

Die Einziehung verliert den Charakter der Strafe, ſo - bald ſie nicht den Verurteilten, ſondern dritte Perſonen trifft, oder unabhängig von der Verfolgung oder Verurteilung einer beſtimmten Perſon ausgeſprochen werden kann. Vgl. oben §. 42 III 1.

Sehr häufig findet ſich die Einziehung in den Nebenge - ſetzen. Man vgl. Nachdrucksgeſetz vom 11. Juni 1870 §§. 21 und 25, die Urhebergeſetze vom 9., 10., 11. Januar 1876, Markenſchutzgeſetz vom 30. November 1874 §. 17, Reichs - flaggengeſetz vom 25. Oktober 1867 §§. 13 15, die Zoll - und Steuergeſetze, Sozialiſtengeſetz vom 21. Oktober 1878 §. 20, Nahrungsmittelgeſetz vom 14. Mai 1879 §. 15, Vieh -199Nebenſtrafen am Vermögen. §. 50.ſeuchengeſetz vom 23. Juni 1880 §§. 65 und 66 uſw. Sehr eingehende Beſtimmungen über Konfiskation enthält das Ver - einszollgeſetz vom 1. Juli 1869 §§. 134, 135, 147, 154 bis 157; zu bemerken iſt, daß, wenn die Konfiskation ſelbſt nicht vollzogen werden kann, an ihre Stelle die Zahlung einer Geldſumme tritt (§§. 155 und 147 letzter Abſatz).

III. Die Unbrauchbarmachung von Schriften u. dgl. Wenn der Inhalt einer Schrift, Abbildung oder Darſtellung ſtrafbar iſt, ſo iſt im Urteile auszuſprechen, daß alle Exemplare, ſowie die zu ihrer Herſtellung beſtimmten Platten und Formen unbrauchbar zu machen ſind. Die Vorſchrift bezieht ſich jedoch nur auf die im Beſitze des Verfaſſers, Druckers, Herausgebers, Verlegers oder Buch - händlers befindlichen und auf die öffentlich ausgelegten oder öffentlich angebotenen Exemplare. Iſt nur ein Teil der Schrift, Abbildung oder Darſtellung ſtrafbar, ſo iſt, inſofern eine Ausſcheidung möglich iſt, auszuſprechen, daß nur die ſtrafbaren Stellen und derjenige Teil der Platten und Formen, auf welchem ſich dieſe Stellen befinden, unbrauchbar zu machen ſind2Das Nähere bei Liszt Reichspreßrecht §§. 54 ff. (StGB. §. 41).

IV. Dauernder oder zeitiger Verluſt der Be - fugnis zum Gewerbebetrieb. Obwohl nach §. 143 der Gew. Ordnung vom 21. Juni 1869 (vgl. mit §. 4 des Preß - geſetzes vom 7. Mai 1874) die Berechtigung zum Gewerbe - betriebe weder durch richterliche noch durch adminiſtrative Entſcheidung entzogen werden kann, ſo iſt dieſer Satz von der Reichsgeſetzgebung doch nicht ausnahmslos durchgeführt worden.

1. So findet ſich der Verluſt der Gewerbeberechtigung200Zweites Buch. II. Die Strafmittel.als Strafe in manchen Steuergeſetzen angedroht, man vgl. z. B. Branntweinſteuergeſetz vom 8. Juli 1868 §§. 52 u. 53; Salzſteuergeſetz vom 12. Oktober 1867 §. 14.

2. Nach §. 23 des Sozial. Geſetzes vom 21. Oktober 1878 kann gegen ſozialdemokratiſche Agitatoren neben der Verur - teilung zu Freiheitsſtrafe wegen gewiſſer Uebertretungen des Sozial. Geſetzes auf Unterſagung des Gewerbebetriebes er - kannt werden, wenn es ſich um Gaſtwirte, Schankwirte, mit Branntwein oder Spiritus Kleinhandel treibende Perſonen, Buchdrucker, Buchhändler, Leihbibliothekare und Inhaber von Leſekabineten handelt (vgl. auch §§. 24, 25 Sozial. Geſetz).

3. §. 51. Uebenſtrafen an der Ehre. 1Lit. bei Binding Grundriß S. 124 u. Teichmann in HR. Ehrenſtrafen .

Die Nebenſtrafen an der Ehre beſtehen nach der Reichs - geſetzgebung nicht etwa in einer Vernichtung oder Schmäle - rung des Rechtsgutes der Ehre, ſondern in der gänzlichen oder teilweiſen Aberkennung gewiſſer vom Geſetze genau be - zeichneter Ehrenrechte , d. h. von Rechten und Fähigkeiten, welche ſich auf die öffentliche, nicht aber auf die privatrecht - liche oder ſoziale Stellung des Verurteilten beziehen.

I. Die Aberkennung ſämmtlicher Ehrenrechte. Sie umfaßt:

1. den dauernden Verluſt der aus öffentlichen Wahlen für den Verurteilten hervorgegangenen Rechte, ingleichen den201Nebenſtrafen an der Ehre. §. 51.dauernden Verluſt der öffentlichen Aemter,2Darunter ſind Advokatur, Anwaltſchaft, Notariat ſowie Geſchwornen - u. Schöffendienſt mitbegriffen. §. 106 Verluſt der Fähigkeit, ſich mit der Anleitung von Ar - beitern unter 18 Jahren zu befaſſen. Würden, Titel, Orden und Ehrenzeichen (nicht des Adels). StGB. §. 33.

2. Die Unfähigkeit, während der im Urteile beſtimmten Zeit

  • a) die Landeskokarde zu tragen;
  • b) in das deutſche Heer oder in die kaiſerliche Marine einzutreten;
  • c) öffentliche Aemter, Würden, Titel, Orden und Ehren - zeichen zu erlangen;
  • d) in öffentlichen Angelegenheiten zu ſtimmen, zu wählen oder gewählt zu werden oder andere politiſche Rechte auszuüben;
  • e) Zeuge bei Aufnahme von Urkunden zu ſein;
  • f) Vormund, Nebenvormund, Kurator, gerichtlicher Bei - ſtand oder Mitglied eines Familienrates zu ſein, es ſei denn, daß es ſich um Verwandte abſteigender Linie handele und die obervormundſchaftliche Behörde oder der Familienrat die Genehmigung erteile (StGB. §. 34).
    3Vgl. auch noch GewOrdg.
    3

Die Dauer der Unfähigkeit beträgt neben zeitiger Zucht - hausſtrafe mindeſtens 2 und höchſtens 10 Jahre, neben Ge - fängnisſtrafe mindeſtens 1 und höchſtens 5 Jahre (StGB. §. 32). Die Wirkung der Aberkennung tritt mit der Rechts - kraft des Urteils ein; die Zeitdauer der Unfähigkeit wird von dem Tage berechnet, an dem die Freiheitsſtrafe, neben welcher202Zweites Buch. II. Die Strafmittel.jene Aberkennung ausgeſprochen wurde, verbüßt, verjährt oder erlaſſen iſt (StGB. §. 36).

Die Aberkennung der ſämmtlichen Ehrenrechte iſt regel - mäßig dem Ermeſſen des Gerichtes überlaſſen; obligatoriſch vorgeſchrieben iſt ſie nur in den §§. 161 (Meineid), 181 (ſchwere Kuppelei), 302 d (Wucher nach dem Geſetz vom 24. Mai 1880) StGB.

Neben Todes - und neben Zuchthausſtrafe kann ſie ohne weiteres, neben Gefängnisſtrafe aber nur dann ausgeſprochen werden (StGB. §. 32), wenn die Dauer der erkannten Strafe drei Monate erreicht und entweder das Geſetz den Verluſt der bürgerlichen Ehrenrechte ausdrücklich zuläßt oder die Gefängnisſtrafe wegen Annahme mildernder Umſtände an Stelle von Zuchthausſtrafe ausgeſprochen wurde.

Die Fälle, in welchen das Geſetz den Verluſt ausdrück - lich zuläßt, ſind die §§. 49 a, 108, 109, 133, 142, 143, 150, 160, 161, 164, 168, 173, 175, 180, 183, 248, 256, 262, 263, 266, 280, 284, 289, 294, 302, 302 a, b, c (Wucher nach dem Geſetz vom 24. Mai 1880), 304, 329, 333, 350; Nahrungsmittelgeſetz vom 14. Mai 1879 §. 12; Seemanns - ordnung vom 27. Dezember 1872 §. 97.

Bei Verſuch (StGB. §. 45) iſt die Aberkennung zu - läſſig oder geboten, wenn ſie es neben der Strafe des voll - endeten Deliktes wäre (die Verſuchsſtrafe muß alſo bei Ge - fängnis mindeſtens 3 Monate betragen); ebenſo neben der Geſammtſtrafe, wenn ſie auch nur neben einer der ver - wirkten Einzelſtrafen zuläſſig oder geboten iſt (StGB. §. 76). Gegen den jugendlichen Thäter darf ſie nie ausgeſprochen werden (StGB. §. 57 Ziff. 5).

II. Die Aberkennung (der Verluſt) einzelner Ehrenrechte. Hier haben wir mehrere Fälle zu unterſcheiden:

203Nebenſtrafen an der Ehre. §. 51.

1. Die Verurteilung zur Zuchthausſtrafe hat die dauernde Unfähigkeit zum Dienſte in dem deutſchen Heere und der deutſchen Marine, ſowie die dauernde Unfähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Aemter von Rechtswegen zur Folge (StGB. §. 31).

2. Neben einer Gefängnisſtrafe, mit welcher die Ab - erkennung überhaupt hätte verbunden werden können, kann auf die Unfähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Aemter auf die Dauer von 1 bis zu 5 Jahren erkannt werden (StGB. §. 35).

3. Auf den dauernden Verluſt der bekleideten öffent - lichen Aemter und der aus öffentlichen Wahlen her - vorgegangenen Rechte kann erkannt werden in den Fällen der §§. 81, 83, 84, 87 91, 94, 95 StGB., und zwar nach §. 95 neben der Gefängnisſtrafe, in den übrigen Fällen neben der Feſtungshaft, die hier ausnahmsweiſe mit einer Minderung der Ehrenrechte verbunden ſein kann.

4. Nach den §§. 128, 129, 358 StGB. kann (nach den §§. 128 u. 129 nicht aber nach §. 358 nur gegen Beamte, die ſich dieſer Delikte ſchuldig gemacht haben) auf Verluſt der Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Aemter auf die Dauer von 1 bis zu 5 Jahren erkannt werden.

Für die Berechnung der Dauer der zeitigen Unfähigkeit gilt auch hier das oben ad I Geſagte.

III. Iſt ein Deutſcher im Auslande wegen eines Ver - brechens oder Vergehens beſtraft worden, das nach den Ge - ſetzen des deutſchen Reiches den Verluſt der bürgerlichen Ehrenrechte überhaupt oder einzelner bürgerlicher Ehrenrechte zur Folge hat oder zur Folge haben kann, ſo iſt ein neues Strafverfahren zuläſſig, um gegen den in dieſem Ver -204Zweites Buch. II. Die Strafmittel.fahren für Schuldig Erklärten auf jene Folgen zu erkennen (StGB. §. 37 vgl. mit §. 5 Nr. 1 u. 3).

Anhang.

§. 52. Die Buße. 1Lit. bei Binding Grund - riß S. 131; Windſcheid Pan -dekten §. 326; Dochow HR. Buße .

I. Anwendungsgebiet. Die Buße findet ſich ſowohl im Strafgeſetzbuch ſelbſt als auch in einzelnen Nebengeſetzen. Die Fälle, in welchen auf Buße erkannt werden kann, ſind die folgenden:

1. StGB. §. 188. Ueble Nachrede und Verleumdung (StGB. §§. 186 u. 187), wenn die Beleidigung nachteilige Folgen für die Vermögensverhältniſſe, den Erwerb oder das Fortkommen des Beleidigten mit ſich bringt. Maximum 6000 Mark.

2. StGB. §. 231. Körperverletzung in allen Fällen. Maximum 6000 Mark.

3. Nachdrucksgeſetz vom 11. Juni 1870 §§. 18, 43, 45. Bei vorſätzlichem wie bei fahrläſſigem Nachdruck. Maximum 6000 Mark.

4. Urheberrechtsgeſetze vom 9. Januar 1876 §. 16, 10. Januar 1876 §. 9, 11. Januar 1876 §. 14. Wie unter 3.

5. Markenſchutzgeſetz vom 30. November 1874 §. 15. Maximum 5000 Mark.

6. Patentgeſetz vom 25. Mai 1877 §. 36. Maximum 10000 Mark.

In allen Fällen iſt der Zuſpruch der Buße durch das205Die Buße. §. 52.im ſtrafprozeſſualen Verfahren zu ſtellende Verlangen des Verletzten (StPO. §§. 443 446) bedingt; iſt die Buße an den Verletzten zu entrichten, ſchließt die erkannte Buße die Geltendmachung eines weiteren Entſchädigungsanſpruches aus; haften die zur Buße Verurteilten als Geſammtſchuld - ner;2Wenn auch nur für die Fälle unter 2 6 ausdrücklich im Geſetze ausgeſprochen, giltdieſer Satz doch auch in gleicher Weiſe für Fall 1. darf auf einen höheren Betrag der Buße als den beantragten nicht erkannt werden (StPO. §. 445); kann der Anſpruch des Verletzten von deſſen Rechtsnachfolgern nicht er - hoben oder fortgeſetzt werden (StPO. §. 444 Abſ. 4); erfolgt die Eintreibung nach den Vorſchriften der CPO. (StPO. §. 495).

II. Charakter der Buße. Das Weſen der Buße iſt lebhaft beſtritten; bald wird ſie als Strafe, bald als Ent - ſchädigung, bald als ein aus beiden Elementen zuſammen - geſetztes Inſtitut betrachtet. Wenn wir im Auge behalten, daß der Begriff der Entſchädigung durch den Erſatz vermö - gensrechtlicher Nachteile nicht erſchöpft wird, ſondern auch die dem Verletzten gebührende Genugthuung für den von ihm erlittenen Eingriff in ſeine Rechtsſphäre überhaupt in ſich ſchließt (vgl. oben §. 42 II), ſo werden wir gegen die Auffaſſung der Buße als reiner Entſchädigung, beſſer viel - leicht: als Genugthuung keine Bedenken erheben können. Dieſe Auffaſſung ſchließt nicht aus, daß der Anſpruch auf Buße ein höchſt perſönlicher, nur dem Verletzten, nicht aber ſeinen Erben zuſtehender iſt. Direkte Beſtätigung findet der Genugthuungscharakter der Buße in den Nebengeſetzen (verb. ſtatt der Entſchädigung kann auf Buße erkannt werden ). Von dieſem Standpunkte aus können wir die meiſten der an die Buße anknüpfenden Kontroverſen erledigen. So iſt206Zweites Buch. III. Die geſetzlichen Strafrahmen ꝛc.weder der Nachweis eines pekuniären Nachteils,3Anerkannt RGR. 18. März 1880, E I 328, R I 493. noch ein ſolcher Nachteil überhaupt Bedingung für das Entſtehen des Anſpruchs; daher iſt auch bei verſuchtem Delikte Buße zuzuſprechen; daher iſt die Buße in jenen zahlreichen Fällen ausgeſchloſſen (vgl. unten §. 54 I 3), in welchen der Eintritt einer nicht verſchuldeten Körperverletzung ſtrafſchärfend wirkt; daher verjährt der Anſpruch auf Buße nach den Grundſätzen des Civilrechtes, wenn auch ſeine Geltend - machung im Strafprozeſſe durch die ſtrafrechtliche Verjährung des Deliktes thatſächlich unmöglich gemacht wird; daher wird die zuerkannte Buße durch Begnadigung nicht berührt, während die Abolitien (vgl. unten §. 57 IV 2 c) allerdings mit dem Strafverfahren auch die Geltendmachung des Buß - anſpruches verhindert. Daher iſt endlich das Schmerzens - geld, das in ſeinem innerſten Kerne mit der Buße ſich deckt, beſeitigt,4Vgl. Windſcheid §. 455 N. 32. ſoweit das Anwendungsgebiet der Buße reicht.

III. Die geſetzlichen Strafrahmen und ihre Hand - habung durch den Richter. 1Lit. bei Binding Grund - riß S. 133 f.

§. 53. Die normalen Strafrahmen und die richterliche Bemeſſung der Strafe.

I. In dem Weſen des ſtaatlichen Strafrechtes, als der Selbſtbeſchränkung der an ſich unbeſchränkten Strafgewalt207Die normalen Strafrahmen ꝛc. §. 53.(oben §. 1 I), liegt es, daß das Strafgeſetz nicht nur den Eintritt, ſondern auch Art und Maß der Strafe beſtimmt; daß der zweite Teil der eigentlichen Strafgeſetze mehr ent - hält, als die nur dem primitivſten Rechtszuſtande ent - ſprechenden Worte: der ſoll geſtraft werden (abſolut unbe - ſtimmte Strafgeſetze).

Bei Feſtſtellung der Art und des Maßes der Strafe kann der Geſetzgeber entweder das richterliche Ermeſſen ganz ausſchließen oder demſelben einen gewiſſen Spielraum geſtatten. Im 1. Falle entſtehen die ſog. abſolut be - ſtimmten Strafgeſetze, die in dem modernen Strafrechte eine ganz untergeordnete Rolle ſpielen (vgl. StGB. §§. 80, 211) und ihre Exiſtenz nur noch der Beibehaltung der Todesſtrafe verdanken. Meiſt ſchlägt der Geſetzgeber unſerer Tage den zweiten Weg ein: er ſtellt relativ beſtimmte Strafgeſetze auf. Die Relativität kann liegen:

1. Darin, daß der Geſetzgeber dem Richter innerhalb derſelben Strafart einen gewiſſen Spielraum zwiſchen einem Minimal - und einem Maximalbetrage läßt. In dieſem Falle iſt nicht nur der Abſtand zwiſchen Minimum und Maximum, ſondern auch die durch die Art der Berechnung (vgl. z. B. oben §. 46 II 3) beſtimmte Zahl der dazwiſchen liegenden Strafgrößen zu beachten. So enthält Zuchthaus bis zu 15 Jahren 169; Gefängnis bis zu 5 Jahren 1826; Feſtungshaft bis zu 15 Jahren 5478; Haft bis zu 6 Wochen 42 Strafgrößen.

2. Darin, daß der Geſetzgeber dem Richter die Wahl läßt zwiſchen zwei oder ſogar mehreren (wieder durch Minimum und Maximum begrenzten) Strafarten. Vgl. StGB. §. 185: Geldſtrafe bis zu 600 Mark oder Haft oder Gefängnis bis zu einem Jahre . In dieſem Falle208Zweites Buch. III. Die geſetzlichen Strafrahmen ꝛc.hat der Richter in leichteren Fällen die leichtere Strafart; wenn Zuchthaus und Feſtungshaft zur Wahl geſtellt ſind, Zuchthaus nur bei feſtgeſtellter ehrloſer Geſinnung des Thä - ters zu wählen (StGB. §. 20).

3. Darin, daß es dem richterlichen Ermeſſen in vielen Fällen überlaſſen wird, ob die Hauptſtrafe allein, oder neben derſelben eine Nebenſtrafe einzutreten hat.

Nur den relativ beſtimmten Strafgeſetzen gegenüber iſt der Ausdruck Strafrahmen paſſend.

II. Welche Geſichtspunkte haben den Geſetzgeber bei Aufſtellung ſeiner Strafrahmen zu leiten? Die richtige Antwort auf dieſe Frage liegt in dem Zweck der Strafe ſo klar wie möglich ausgeſprochen: das Bedürfnis der Rechts - ordnung nach Schutz ihrer Rechtsgüter iſt der erſte und wichtigſte Maßſtab; der zweite ergiebt ſich daraus, daß Mittel und Zweck im richtigen Verhältniſſe zu einander ſtehen müſſen, daß das Mittel nicht tiefere Wunden ſchlagen darf als die Vereitelung des Zweckes. Die weitere Durchführung dieſes Gedankens gehört umſoweniger hieher, als er im heutigen Recht nur in einzelnen Fällen und ohne daß der Geſetzgeber ſich klar darüber würde, die Aufſtellung der Strafrahmen beeinflußt. Der Geſetzgeber ſteht vielmehr unter dem Banne jener Anſicht, die den Maßſtab der Strafe in dem began - genen Verbrechen ſieht, jener Anſicht, die zwiſchen Unrecht und Strafe eine Gleichung herzuſtellen ſucht. Darum ſtuft der Geſetzgeber ſeine Strafſätze im Weſentlichen nach zwei Geſichtspunkten ab:

1. Nach der objektiven Bedeutung des Unrechtes, alſo nach Tiefe und Umfang der durch dasſelbe bewirkten Störung der Rechtsordnung;

209Die normalen Strafrahmen (Strafzumeſſung). §. 53.

2. nach der ſubjektiven Bedeutung des Unrechtes, alſo nach der Schwere der Schuld des Verbrechers.

III. Innerhalb der geſetzlichen Strafrahmen hat der Richter die Strafe für das einzelne konkrete Verbrechen zu bemeſſen; im Einzelfalle die Aufgabe zu löſen, die der Geſetzgeber im allgemeinen zu löſen hatte. Dieſer ſteht dem Diebſtahle, jener dieſem Diebſtahle gegenüber. Eben darum hat er innerhalb des ihm gelaſſenen Spielraumes dieſelben Geſichtspunkte zu beachten, die den Geſetzgeber bei der Auf - ſtellung ſeiner Strafrahmen geleitet haben. Dieſe Beſtim - mung der Strafe innerhalb des Strafrahmens heißt Straf - zumeſſung; die den Richter bei derſelben leitenden Ge - ſichtspunkte Strafmehrungs - (oder Straferhöhungs -) und Strafminderungsgründe.

IV. Wenn auch der Geſetzgeber die Strafrahmen für die einzelne Verbrechensart hinlänglich weit bemißt, ſo daß ſie der objektiven und ſubjektiven Schwere der meiſten Fälle dieſer Verbrechensart entſprechen, ſo können doch Fälle vorkommen, denen gegenüber der normale Strafrahmen ſich als zu eng erweiſt, in welchen alſo ein Hinaufgehen über das Maximum, ein Herabgehen unter das Minimum als angezeigt erſcheint. Für dieſe Fälle ſtellt der Geſetzgeber beſondere, ſei es ſchwerere ſei es leichtere, Strafrahmen auf. Nicht ganz korrekt ſpricht man hier von Strafänderung (als ob es ſich um eine richterliche und nicht um eine geſetzgeberiſche Thätigkeit handelte), zerfallend in Strafſchärfung und Strafmilderung.

V. Thatſächliche oder rechtliche Unanwendbarkeit an ſich anzuwendender Strafarten führt zur Strafumwandlung (unten §. 55 I); die Kolliſion zwiſchen früheren und ſpä - teren in derſelben Sache notwendig werdenden Entſcheidungenvon Liszt, Strafrecht. 14210Zweites Buch. III. Die geſetzlichen Strafrahmen ꝛc.zur Strafanrechnung (unten §. 55 II). Endlich ſind noch die beſonderen Beſtimmungen ins Auge zu faſſen, welche der Geſetzgeber für den Fall der Realkonkurrenz getroffen hat (unten §. 56).

§. 54. Die beſonderen Strafrahmen (ſog. Strafänderung ).

Die regelmäßige Weite der von der Reichsgeſetzgebung verwendeten normalen Strafrahmen geſtattet es, die Auf - ſtellung von beſonderen Strafrahmen auf ein verhältnis - mäßig kleines Gebiet zu beſchränken.

I. Erhöhte Strafrahmen (Strafſchärfung).

1. Den Rückfall (den Begriff ſ. oben §. 41 I) verwendet der Geſetzgeber nur in einzelnen Fällen und in durchaus in - konſequenter Weiſe als Strafſchärfungsgrund. So in dem StGB. ſelbſt in den §§. 244, 245 (Diebſtahl), 250 Z. 5 (Raub), 261 (Hehlerei), 264 (Betrug). Ferner in einzelnen Nebengeſetzen, beſonders in den Zoll - und Steuergeſetzen. Man vgl. Salzſteuergeſetz vom 12. Oktober 1867 §. 12; Branntweinſteuergeſetz vom 8. Juli 1868 §§. 52, 53; Ver - einszollgeſetz vom 1. Juli 1869 §§. 140 143; Rübenzucker - ſteuergeſetz vom Mai 1870 (Vrdg. von 1846 §§. 19, 20, 25); Poſtgeſetz vom 28. Oktober 1871 §. 28; Brauſteuer - geſetz vom 31. Mai 1872 §§. 33, 34; Tabakſteuergeſetz vom 16. Juli 1879 §§. 37 39. (Dagegen Nachdrucksgeſetz vom 11. Juni 1870 §. 23.)

2. In einzelnen Fällen wird für die gewerbs - oder gewohnheitsmäßige Begehung des Deliktes (Begriff oben §. 39 II 3) ein erhöhter Strafrahmen aufgeſtellt; vgl. StGB. §§. 260, 294, 302 d (Wucher); vgl. auch Vereins -211Die beſond. Strafrahmen (ſog. Strafänderung ). §. 54.zollgeſetz vom 1. Juli 1860 §. 141 2. Abſ. Andere Schär - fungsgründe wie die Oeffentlichkeit der Verübung, der Ge - brauch einer Waffe, Richtung der Handlung gegen einen Aſcendenten, Begehung um des eigenen Vorteils willen uſw. werden wir im beſonderen Teile kennen lernen; Anſpruch auf allgemeinere Bedeutung haben ſie nicht.

3. Erwähnung verdienen nur noch die zahlreichen Fälle, in welchen der Eintritt eines ſchwereren Erfolgs Strafſchärfung bewirkt. Man vgl. StGB. §§. 178, 220, 221, 226, 227, 229, 239, 251, 312, 315, 321 324 uſw. Zu bemerken iſt, daß in all dieſen Fällen der Erfolg nicht ſchuldhaft (alſo weder vorſätzlich noch fahrläſſig) herbeige - führt ſein braucht, daß er demnach jedem Teilnehmer zuzu - rechnen, ſowie endlich, daß ein Verſuch dieſer ſchwereren Fälle nicht möglich und denkbar iſt, weil bei Nichteintritt des ſchwereren Erfolges eben nur der einfache Fall, bei Ein - tritt desſelben aber ſofort Vollendung des ſchwereren Ver - brechens vorliegt. (vgl. oben §. 27 II, §. 32 IV 1.)

II. Erniedrigte Strafrahmen (Strafmilderung).

1. Bei zahlreichen Verbrechen hat der Geſetzgeber für den Fall mildernder Umſtände , die er nicht näher ſpezia - liſiert und die im ſchwurgerichtlichen Verfahren durch Be - fragung der Geſchworenen feſtzuſtellen ſind (StPO. §. 297), einen beſonderen niederen Strafrahmen aufgeſtellt. Dabei weiſt er in den meiſten Fällen den Richter beſtimmt an, ſich, wenn mildernde Umſtände vorliegen, dieſes milderen Straf - rahmens zu bedienen; in anderen Fällen (ſo StGB. §§. 187, 246, 263, 333, 340 nicht aber 228) dagegen läßt er dem Richter trotz Feſtſtellung des Vorliegens mildernder Um - ſtände die Wahl, ob er ſich des normalen oder des ernie - drigten Strafrahmens bedienen will. Nicht zu verwechſeln212Zweites Buch. III. Die geſetzlichen Strafrahmen ꝛc.mit den mildernden Umſtänden ſind die leichteren , minder ſchweren Fälle in StGB. §§. 57 Ziff. 4, 94, 96; hier liegt in der That nur ein Strafrahmen vor.

2. Die verminderte Zurechnungsfähigkeit (vgl. oben §. 25 III) hat der Geſetzgeber nur beim jugendlichen Alter, hier aber als allgemeinen (für alle von jugendlichen Perſonen begangenen ſtrafbaren Handlungen) Strafmil - derungsgrund verwertet. Vgl. StGB. §. 57.

  • a) Iſt die Handlung mit dem Tode oder mit lebensläng - lichem Zuchthaus bedroht, ſo lautet der erniedrigte Strafrahmen: Gefängnis von 3 15 Jahren.
  • b) Bei lebenslänglicher Feſtungshaft: Feſtungshaft von 3 15 Jahren.
  • c) In allen übrigen Fällen iſt die Strafe zwiſchen dem geſetzlichen Mindeſtbetrage der angedrohten Strafart und der Hälfte des Höchſtbetrages der angedrohten Strafe zu beſtimmen. Dies gilt auch für diejenigen Fälle, in welchen (vgl. oben §. 47 II) die Geldſtrafe dem Erwachſenen gegenüber als Vielfaches eines ab - ſolut beſtimmten Betrages zu bemeſſen iſt, ſo daß auch hier die in §. 27 StGB. angegebenen Minimalbeträge maßgebend ſind; RGR. 24. März 1880, E I 334. An Stelle von Zuchthaus tritt Gefängnisſtrafe von gleicher Dauer.
  • d) Wegen Vergehen oder Uebertretungen kann in beſon - ders leichten Fällen auf Verweis erkannt werden.
  • e) Auf Verluſt ſämmtlicher oder einzelner Ehrenrechte ſowie auf Zuläſſigkeit von Polizeiaufſicht iſt nicht zu erkennen.

Die mildere Behandlung der Kindestötung iſt dagegen nicht auf verminderte Zurechnungsfähigkeit zurückzuführen.

213Strafumwandlung und Strafanrechnung. §. 55.

3. Verſuch und Beihülfe (StGB. §§. 44 und 49; vgl. oben §§. 33 III und 37 II 4) ſind ebenfalls allgemeine Milderungsgründe. Hat ein jugendlicher Thäter ſich des Verſuches oder der Beihülfe ſchuldig gemacht, ſo iſt zuerſt die Reduktion des Strafrahmens nach §. 44, und dann die nach §. 57 StGB. vorzunehmen (ſehr beſtritten); jedenfalls findet zweimalige, eventuell dreimalige Erniedrigung des normalen Strafrahmens ſtatt.

§. 55. Strafumwandlung und Strafanrechnung.

I. Strafumwandlung. 1Lit. bei Binding Grundriß S. 141.

1. Eine nicht beizutreibende Geldſtrafe iſt in Freiheitsſtrafe umzuwandeln (StGB. §§. 28, 29, 78; StPO. §. 491). Und zwar tritt an Stelle der Geldſtrafe:

  • a) regelmäßig Gefängnis.
  • b) Haft bei Uebertretungen, ferner bei Vergehen, gegen welche Geldſtrafe allein oder an erſter Stelle oder wahlweiſe neben Haft angedroht iſt, dann, wenn die erkannte Strafe nicht den Betrag von 600 Mark und die an ihre Stelle tretende Freiheitsſtrafe nicht die Dauer von 6 Wochen überſteigt.
  • c) Zuchthaus. War neben der Geldſtrafe auf Zucht - haus erkannt, ſo iſt die an deren Stelle tretende Ge - fängnisſtrafe in Zuchthaus umzurechnen.

Maßſtab der Umwandlung. Bei den wegen eines214Zweites Buch. III. Die geſetzlichen Strafrahmen ꝛc.Verbrechens oder Vergehens erkannten Geldſtrafen iſt irgend ein Betrag zwiſchen 3 und 15 Mark, bei den wegen einer Uebertretung erkannten Geldſtrafen irgend ein Betrag zwiſchen einer und 15 Mark einer eintägigen Freiheitsſtrafe gleich - zuachten.

Grenzen der ſubſtituierten Freiheitsſtrafe. Der Mindeſtbetrag derſelben iſt ein Tag, der Höchſtbetrag bei Haft 6 Wochen, bei Gefängnis 1 Jahr. (Dieſer Haft - betrag kann überſchritten werden im Falle realer Konkurrenz, StGB. §. 78 Abſ. 2, vgl. unten §. 56 III 1.) Wenn eine neben der Geldſtrafe wahlweiſe angedrohte Freiheitsſtrafe ihrer Dauer nach den vorgedachten Höchſtbetrag nicht erreicht, ſo darf die ſubſtituierte Freiheitsſtrafe den angedrohten Höchſt - betrag jener Freiheitsſtrafe nicht überſteigen.

Der Verurteilte kann ſich durch Erlegung des Strafbe - trages, ſoweit dieſer durch die erſtandene Freiheitsſtrafe noch nicht getilgt iſt, von der letzteren frei machen.

Vielfach von dem eben Geſagten abweichende Beſtim - mungen enthalten die Nebengeſetze. So ſchließen ſie teil - weiſe die Umwandlung in Freiheitsſtrafe überhaupt aus; vgl. Wechſelſtempelgeſetz vom 10. Juni 1869 §. 15; Nach - drucksgeſetz vom 11. Juni 1870 §. 24. Oder ſie ſtellen einen anderen Umwandlungsfuß auf; ſo Nachdrucksgeſetz vom 11. Juni 1870 §. 18 Abſ. 3, die Gewerbeordnung nach dem Geſetz vom 12. Juni 1872 §§. 145 ff., Vereinszollgeſetz vom 1. Juli 1869 §. 162, die Salz -, Branntwein -, Tabak -, Rübenzucker -, Brau-Steuergeſetze, Poſtgeſetz vom 28. Oktbr. 1871 §. 31 uſw. Hieher gehören auch StPO. §§. 50, 69, 77; CPO. §§. 345, 355, 374.

2. Die Umwandlung einer Freiheitsſtrafe in eine andere kann aus rechtlichen Gründen notwendig werden. 215Strafumwandlung und Strafanrechnung. §. 55.So nach den §§. 44, 49, 157, 158 StGB., wenn nach dem erniedrigten Strafrahmen Zuchthausſtrafe unter einem Jahre (vgl. oben §. 46 II 2) verwirkt wäre; bei Feſtſtellung der Geſammtſtrafe nach §. 74 StGB. (vgl. unten §. 56 II); endlich wenn an Stelle der Geldſtrafe Zuchthaus treten ſoll, StGB. §. 28 (vgl. oben unter 1). In dieſen Fällen können auch Tage und Wochen Zuchthaus ausgeworfen werden (vgl. oben §. 46 II 3), da es ſich hier um ein rechnungsmäßig ſich ergebendes Reſultat handelt.

Maßſtab der Umrechnung (StGB. §. 21): 8 Mo - nate Zuchthaus gleich 12 Monate Gefängnis; 8 Monate Gefängnis gleich 12 Monate Feſtungshaft.

II. Strafanrechnung.

1. Eine erlittene Unterſuchungshaft kann als Strafverbüßung betrachtet und bei Fällung des Urteils auf die erkannte Strafe (die im Urteilstenor ihrem vollen Be - trage nach anzugeben iſt) ganz oder teilweiſe angerechnet werden (StGB. §. 60). Die Anrechnung iſt bei Freiheits - und Geldſtrafe, nicht bei Verweis oder Todesſtrafe, nie bei den Nebenſtrafen geſtattet.

2. Eine im Auslande vollzogene Strafe iſt, wenn wegen derſelben Handlung im Gebiete des deutſchen Reichs abermals eine Verurteilung erfolgt, auf die zu erkennende Strafe in Anrechnung zu bringen (StGB. §. 7 vgl. mit §§. 3 u. 4).

In den Fällen der Anrechnung iſt Zuchthaus wie regel - mäßig (oben §. 46 II 3) nach vollen Monaten zu berechnen.

3. Als einen der Strafanrechnung verwandten Fall haben wir die in den §§. 199 und 233 StGB. enthaltene Beſtim - mung (die ſog. Retorſion) zu konſtruieren. An Stelle der er - littenen Strafe wird hier die erlittene Beleidigung oder Körperverletzung zur Anrechnung gebracht.

216Zweites Buch. III. Die geſetzlichen Strafrahmen ꝛc.
§. 56. Die Beſtimmung der Strafe im Falle realer Konkurrenz mehrerer Verbrechen. 1Lit. bei Binding Grundriß S. 144 f. Dazu Herzog GS. XXX, Thomſen GS. XXXI.

I. Liegen mehrere ſelbſtändige Verbrechen desſelben Thä - ters zur ſtrafrechtlichen Beurteilung vor, ſo wäre die lo - giſch notwendige Folge aus der Selbſtändigkeit der einzelnen Verbrechen die Selbſtändigkeit der denſelben ent - ſprechenden Einzelſtrafen. 2Vgl. über den Begriff der Realkonkurrenz oben §. 41 II. Aber die Kumulierung der Einzelſtrafen bei der Strafvollſtreckung führt nach der in der heutigen Strafgeſetzgebung herrſchenden Anſicht, wenn es ſich um gewiſſe Strafmittel handelt, zu unverhältnis - mäßigen Härten. Mit dem Umfange der in der Strafe liegenden Rechtsgüterverletzung wächſt deren Intenſität; ſoll daher die kumulierende Strafvollſtreckung nur die wirkliche Summe der einzelnen Strafübel zufügen, ſo muß ſie dieſen an Umfang nehmen, was ſie durch die Kumulierung an Intenſität gewinnen. So gelangen wir zu der Forderung einer Mil - derung des Kumulationsprinzipes bei realer Kon - kurrenz; einer Milderung, die nur ſcheinbar eine ſolche, in Wahrheit aber eine Wiederherſtellung des urſprünglichen Gleichmaßes zwiſchen Einzelverbrechen und Einzelſtrafe iſt; einer Milderung, die aber nur dort und nur ſoweit ange - meſſen iſt, wo und ſoweit die Kumulierung jenes urſprüng - liche Gleichmaß ſtört. Dies iſt der Grundgedanke der in den §§. 74 ff. RStGB. niedergelegten Beſtimmungen.

II. Die Milderung der Kumulierung iſt im RStGB. 217Realkonkurrenz. §. 56.zum Ausdrucke gelangt in der Geſtalt der Geſammt - ſtrafe. Sie findet aber nur dort Anwendung, wo durch mehrere (gleichnamige oder ungleichnamige) Verbrechen oder Vergehen mehrere zeitige Freiheitsſtrafen verwirkt wurden; denn nur hier würde nach Anſicht des Geſetzgebers der kumulierende Strafvollzug eine von ihm nicht gewollte Schärfung jeder Einzelſtrafe bedeuten.

Die Geſammtſtrafe beſteht in einer Erhöhung der verwirkten ſchwerſten Strafe. Es werden zunächſt die ſämmtlichen Einzelſtrafen ausgeworfen. 3RGR. 28. November 1879, R I 102.Die ſchwerſte der - ſelben (bei gleichartigen die der Dauer, bei ungleichartigen die der Art nach ſchwerſte) bildet die Einſatzſtrafe, welche unverkürzt beizubehalten iſt; die übrigen Einzelſtrafen werden verhältnißmäßig gekürzt und dann zu der Einſatzſtrafe hin - zugerechnet. Die Geſammtſtrafe darf den Betrag der ver - wirkten Einzelſtrafen nicht erreichen, und 15jähriges Zucht - haus, 10jähriges Gefängnis oder 15jährige Feſtungshaft nicht überſteigen (StGB. §. 74).

III. Soweit es ſich um realkonkurrierende Uebertre - tungen oder um das Zuſammentreffen ſolcher mit Ver - brechen oder Vergehen handelt; ſoweit ferner nicht zeitige Freiheitsſtrafe untereinander, ſondern ſolche mit anderen Strafmitteln oder andere Strafmittel untereinander zu - ſammentreffen, findet die Geſammtſtrafe keine Anwendung. Doch wird das Prinzip der Kumulierung auch hier nicht rein durchgeführt.

1. So iſt zwar auf Geldſtrafen, welche wegen meh - rerer ſtrafbarer Handlungen allein oder neben einer Frei - heitsſtrafe verwirkt ſind, ihrem vollen Betrage nach zu218Zweites Buch. III. Die geſetzlichen Strafrahmen ꝛc.erkennen; allein bei Umwandlung derſelben in Freiheitsſtrafe dürfen 2 Jahre Gefängnis und, wenn die mehreren Geld - ſtrafen nur wegen Uebertretungen erkannt ſind, 3 Monate Haft nicht überſchritten werden (StGB. §. 78 vgl. mit §. 29).

2. Die Aberkennung der bürgerlichen Ehren - rechte und der Ausſpruch der Zuläſſigkeit von Polizei - aufſicht iſt zwar neben der Geſammtſtrafe zuläſſig oder geboten, auch wenn ſie nur neben der Verurteilung zu einer der konkurrierenden Einzelſtrafen zuläſſig oder geboten ſind4Es kann daher Aberkennung der bürgerl. Ehrenrechte neben Gefängnis nach §. 32 StGB.[nur] dann ausgeſprochen werden,wenn eine der Einzelſtrafen 3 Monate erreicht. RGR. 5. Fe - bruar 1880, R I 321. (StGB. §. 76); aber das für dieſe Nebenſtrafen an ſich vorgezeichnete Höchſtmaß (vgl. oben §. 51) darf auch in dem Falle der Realkonkurrenz nie überſchritten werden. Mit anderen Worten: beim Zuſammentreffen dieſer Nebenſtrafen abſorbiert die ſchwerſte aus ihnen alle gleichartigen Nebenſtrafen, ohne durch das Zuſammentreffen mit den zur Geſammtſtrafe vereinigten zeitigen Freiheits - Hauptſtrafen irgend wie berührt zu werden.

IV. Aber auch innerhalb des Gebietes der zeitigen Frei - heitsſtrafen erleidet das Prinzip der Geſammtſtrafe weſent - liche Einſchränkungen.

1. Trifft Haft mit einer anderen Freiheitsſtrafe zu - ſammen, ſo iſt auf die erſtere geſondert zu erkennen. Auf eine mehrfach verwirkte Haft iſt ihrem Geſammtbetrage nach, jedoch nicht über die Dauer von drei Monaten zu erkennen (StGB. §. 77).

2. Trifft Feſtungshaft nur mit Gefängnis zuſammen, ſo iſt auf jede dieſer Strafarten geſondert zu erkennen. Iſt219Die Strafaufhebungsgründe. §. 57.Feſtungshaft oder Gefängnis mehrfach verwirkt, ſo iſt hin - ſichtlich der mehreren Strafen gleicher Art ſo zu verfahren, als wenn dieſelben allein verwirkt wären. Doch darf die Geſammtdauer der Strafen in dieſen Fällen 15 Jahre nicht überſteigen (StGB. §. 75).

V. Abweichende Beſtimmungen finden ſich vielfach in den Nebengeſetzen. Man vgl. z. B. Braumalzgeſetz vom 4. Juli 1868 §. 35, Gewerbeordnung §. 150 u. A. Ganz eigentümlich das Spielkartenſtempelgeſetz vom 3. Juli 1878, welches in mehreren Strafdrohungen die Strafe nach der Zahl der einzelnen feilgehaltenen, erworbenen, gebrauchten uſw. Spiele bemißt.

IV. Der Wegfall des ſtaatlichen Strafanſpruchs.

§. 57. Allgemeines. Die einzelnen Strafaufhebungsgründe.

I. Die prinzipielle Bedeutung der Strafaufhebungsgründe, ihr Unterſchied von den Hinderniſſen, die ſich der Geltend - machung des ſtaatlichen Strafanſpruches in den Weg ſtellen, von den Bedingungen der Strafbarkeit, und den ſubjektiven Strafausſchließungsgründen wurde bereits oben §. 30 III erwähnt. Strafaufhebungsgründe ſind nach Begehung einer ſtrafbaren Handlung eintretende Umſtände, welchen das poſitive Recht die Wirkung beilegt, den bereits entſtandenen Strafanſpruch zu ver - nichten. Ihre Darſtellung gehört zum Teile, ſoweit ſie durch prozeſſuale Handlungen (wie rechtskräftige Entſcheidung über den erhobenen Anſpruch, Rücknahme des geſtellten Strafantrages oder der Privatklage) begründet werden, dem220Zweites Buch. IV. Der Wegfall des ſtaatl. Strafanſpruchs.Strafprozeßrechte an. Alle übrigen Strafaufhebungs - gründe ſind materiell rechtlicher Natur. Zu erwähnen ſind:

  • 1. der Tod des Schuldigen;
  • 2. thätige Reue;
  • 3. Begnadigung;
  • 4. Verjährung.

II. Der Tod des Schuldigen1Lit. bei Binding Grund - riß S. 159. tilgt nach heute all - gemein angenommener Anſicht nicht das Verbrechen, wohl aber den Strafanſpruch. Dieſer kann und ſoll auf die ſchuldloſen Rechtsnachfolger des Verſtorbenen nicht übergehen; der Ausſpruch oder Vollzug von Strafübeln gegen den Ver - ſtorbenen ſelbſt aber widerſpricht unſern modernen An - ſchauungen, ſo daß der Strafe ihre motivierende Kraft fehlen würde. Eben darum iſt es eine nicht zu billigende Ano - malie, wenn das StGB. in §. 30 ausnahmsweiſe die Vollſtreckung von Geldſtrafen in den Nachlaß an - ordnet, ſoferne das Urteil bei Lebzeiten des Verurteilten rechtskräftig geworden war.

III. Der thätigen Reue2Lit. bei Binding Grund - riß S. 159. legt unſere Geſetzgebung aus guten Gründen nur ausnahmsweiſe die Bedeutung eines Strafaufhebungsgrundes bei. Sie will in dieſen Fällen dem Verbrecher die Möglichkeit des Rückzuges offen laſſen, und ſo das durch ihn bedrohte Rechtsgut vor Verletzung überhaupt oder doch vor größerer Verletzung ſchützen. Außer dem be - reits beſprochenen Rücktritte vom Verſuche (oben §. 34) gehören hieher:

  • a) Widerruf der fahrläſſigen falſchen Ausſage StGB. §. 163;
221Die Strafaufhebungsgründe. §. 57.
  • b) Abſtehen vom Zweikampfe und Bemühung um Ver - hinderung desſelben StGB. §§. 204 und 209;
  • c) Rechtzeitiges Löſchen des bereits ausgebrochenen Bran - des StGB. §. 310.

IV. 1. Die Begnadigung. 3Lit. bei Binding Grund - riß S. 167. Dazu Geyer HR. Begnadigung .Der Verzicht des Straf - anſpruchs-Berechtigten auf den ihm erwachſenen Anſpruch iſt im modernen Strafrechte in ziemlich planloſer Weiſe zur Ausgleichung des abſtrakten Rechts mit der Billigkeit im konkreten Falle verwertet. Träger des Begnadigungsrechtes iſt nach dieſer Auffaſſung der Anſpruchsberechtigte, mithin in allen Fällen (auch in jenen der Antragsdelikte und der Pri - vatklage) der Staat. Dieſer übt das Begnadigungsrecht aus durch den Souverän; alſo das Reich durch den Kaiſer, die einzelnen Bundesſtaaten durch ihre Monarchen, bez. die Senate von Bremen, Hamburg, Lübeck.

2. Man unterſcheidet:

  • a) Völligen und teilweiſen Verzicht auf den Anſpruch (Nachlaß oder Milderung der Strafe).
  • b) Einzelbegnadigung und die mehrere, perſönlich oder ſachlich umgrenzte Gebiete umfaſſende Amneſtie.
  • c) Abolition: Niederſchlagung der Strafverfolgung;
    4Alſo Verzicht auf den mög - licherweiſe vorhandenen Straf - anſpruch und ſchon darum irra - tionell.
    4 Begnadigung im engeren Sinne: Erlaß der rechts - kräftig erkannten Strafe; Reſtitution: gänzlicher oder teilweiſer Erlaß der Ehrennebenſtrafe.

3. Dem Kaiſer ſteht das Begnadigungsrecht (nicht die Abolition, wohl aber auch die Reſtitution) zu in folgenden Fällen:

222Zweites Buch. IV. Der Wegfall des ſtaatl. Strafanſpruchs.
  • a) Nach der StPO. §. 484 in Sachen, in welchen das Reichsgericht in erſter und letzter Inſtanz erkannt hat (vgl. GVG. §. 136 Z. 1).
  • b) Nach dem Geſetz vom 10. Juli 1879 betr. die Kon - ſulargerichtsbarkeit §. 42 in Sachen, in welchen der Konſul oder das Konſulargericht in erſter Inſtanz er - kannt hat.
  • c) In Elſaß-Lothringen nach §. 3 des Geſetzes vom 9. Juni 1871 betr. die Vereinigung von Elſaß-Loth - ringen mit dem deutſchen Reiche.
    5Nicht hieher gehört das Ge - ſetz über die Rechtsverhältniſſe der Reichsbeamten v. 31. März 1873 §. 118, das von krimi - neller Strafe (und nur mit dieſer haben wir es thun) über - haupt nicht ſpricht.
    5

4. In allen übrigen Fällen ſind die Einzelſtaaten in der Perſon ihres Souveräns Träger des Begnadigungsrechtes. Doch iſt die Abolition in den meiſten Bundesſtaaten durch Verfaſſungsbeſtimmungen beſchränkt oder beſeitigt,6Vgl. Binding Grundriß S. 168. und die Begnadigung überhaupt darf in manchen Fällen, ſo insbe - ſondere in den Fällen der Miniſteranklage, nur unter ge - wiſſen Vorausſetzungen ausgeübt werden. 7Vgl. Binding Grundriß S. 169. Hauke Lehre v. d. Miniſterverantwortlichkeit 1880 S. 145 ff. mit Lit.

Bei Kolliſionen der partikularen Begnadigungsrechte untereinander iſt davon auszugehen, daß es ſich um Kolli - ſionen der Strafanſprüche handelt, ohne welche ein Be - gnadigungsrecht überhaupt nicht denkbar iſt. In Bezug auf Entſtehung und Geltendmachung der Strafanſprüche ſtehen aber die deutſchen Staaten zu einander in demſelben Verhältniſſe, wie die verſchiedenen Gerichte desſelben Staates. Es kann dieſer Satz geradezu als der Grundgedanke der223Die Verjährung. §. 58.heutigen Gerichtsverfaſſung Deutſchlands bezeichnet werden. Daraus folgt:

  • a) Iſt nur ein Anſpruch entſtanden, aber zugleich zweifel - haft, für welchen Staat (weil die verſchiedenen als untereinander gleichberechtigt konkurrierenden Gerichts - ſtände in verſchiedenen Staaten gelegen ſind), ſo wird durch die Entſcheidung über den Gerichtsſtand (nach den Vorſchriften der StPO. §§. 7 ff. ) auch über den Anſpruch zu Gunſten des einen der kollidierenden Ein - zelſtaaten entſchieden. Nur dieſer Staat kann daher das Begnadigungsrecht ausüben, und eine von einem anderen Staate ausgehende, etwa bereits vor dieſer Entſcheidung in der Geſtalt der Abolition erfolgte Begnadigung iſt ohne jede juriſtiſche Bedeutung.
  • b) Werden mehrere Anſprüche mehrerer Einzelſtaaten (z. B. im Falle der Konnexität) in demſelben Verfahren vereinigt, ſo berührt dieſe rein prozeſſuale Vereinigung die Anſprüche ſelbſt in keiner Weiſe. Das Begnadi - gungsrecht bleibt, auch nach rechtskräftiger Entſchei - dung, jedem Einzelſtaat für ſeinen Strafanſpruch vor - behalten.
    8Anders die herrſchende An - ſicht (Meyer, Löwe, Bin - ding), nach welcher immer je - nem Staat das Begnadigungs - recht zuſteht, deſſen Gericht inerſter Inſtanz erkannt hat. Ge - ſetzliche Regelung wäre dringend wünſchenswert.
    8

§. 58. Fortſetzung. Die Verjährung. 1Lit. bei Binding Grund - riß S. 160.

I. Alles objektive Recht beſteht darin, daß es an gewiſſe Thatſachen andere Thatſachen als deren Rechtsfolge knüpft. 224Zweites Buch. IV. Der Wegfall des ſtaatl. Strafanſpruchs.Eine Rechtsfolge ohne rechtſchaffende und als ſolche vom objektiven Rechte anerkannte Thatſache iſt keine Rechtsfolge. Aber die Macht der Thatſachen ſpottet nur zu oft der Im - perative des Rechts; ſie ſetzt ſich ſelbſt die Folgen, die das Recht ihr nicht gewähren will; und ſie findet in der Achtung, die allem Beſtehenden entgegengetragen wird, einen Erſatz für die mangelnde Sanktion des objektiven Rechts. Dieſen Zwieſpalt zwiſchen Recht und Thatſachen kann das Recht nur dadurch beſeitigen, daß es die Thatſachen zu Recht an - erkennt, die von ihnen erzeugten Folgen zu Rechtsfolgen erhebt. Das iſt der Grundgedanke aller Verjährung. Nicht die Zeit ſchafft das Recht: aber das Recht ſelbſt leiht ſeine Sanktion den Thatſachen, die eine gewiſſe Zeit hindurch ſich zu behaupten ſtark genug waren. Sekundäre Geſichts - punkte, insbeſondere die Schwierigkeiten, die der Feſtſtellung des Sachverhaltes in den Weg treten, wenn ein längerer Zeitraum ſeit ſeinem Entſtehen verfloſſen iſt, fördern die all - gemeine Anerkennung und umfaſſende Wirkung des Rechts - inſtituts der Verjährung, in welchem der Bruch des Rechts durch die Thatſachen rechtliche Geſtalt und Bedeutung gewinnt.

So tilgt die Zeit auch den ſtaatlichen Strafanſpruch; die thatſächliche Strafloſigkeit des Schuldigen wird vom po - ſitiven Rechte zum Strafaufhebungsgrunde geſtempelt. Selbſt eine rechtskräftig gewordene gerichtliche Anerkennung des ſtaatlichen Strafanſpruches hemmt wohl, hindert aber nicht ſeinen Untergang. Das moderne Recht kennt neben der Verfolgungsverjährung (Verjährung der actio ex delicto) auch die Vollſtreckungsverjährung (Verjährung der actio judicati).

225Fortſetzung. Die Verjährung. §. 58.

II. Die Verfolgungsverjährung.

1. Die Strafklage verjährt (StGB. §. 67):

  • a) bei Verbrechen in 20 Jahren, wenn ſie mit dem Tode oder mit lebenslänglichem Zuchthauſe; in 15 Jahren, wenn ſie im Höchſtbetrage mit einer Freiheitsſtrafe von einer längeren als 10 jährigen Dauer;
    2Hieher gehört auch die vom Geſetze vergeſſene lebenslängliche Feſtungshaft.
    2 in 10 Jahren, wenn ſie mit einer geringeren Freiheitsſtrafe bedroht ſind.
  • b) bei Vergehen in 5 oder 3 Jahren, je nachdem ſie im Höchſtbetrage mit einer längeren als dreimonat - lichen Gefängnisſtrafe, oder aber mit einer milderen Strafe bedroht ſind.
    3Alſo immer, wenn Geld - ſtrafe angedroht iſt, mag auchdie ihr entſprechende Freiheits - ſtrafe 3 Monate überſteigen (RGR. 27. Januar 1880, E I 167, R I 280).
    3
  • c) Bei allen Uebertretungen in 3 Monaten.

Für die Berechnung iſt das Höchſtmaß des Strafrahmens maßgebend; im Einzelnen gelten auch hier die oben §. 18 III aufgeſtellten Grundſätze.

Beſondere Verjährungsfriſten finden ſich in zahlreichen Nebengeſetzen; ſo Wechſelſtempelgeſetz vom 10. Juni 1869 §. 17 (5 Jahre), Gewerbeordnung vom 21. Juni 1869 §. 145 (3 Monate), Vereinszollgeſetz vom 1. Juli 1869 §. 164 (3 Jahre), Rübenzuckerſteuergeſetz vom 2. Mai 1870 [Vrdg. von 1846 §. 30] (5 Jahre), Nachdrucksgeſetz vom 11. Juni 1870 §§. 33 ff. (3 Jahre bez. 3 Monate), Braumalzſteuergeſetz vom 31. Mai 1872 §. 40 (3 Jahre), Preßgeſetz vom 7. Mai 1874 §. 22 (6 Monate), Spielkartenſtempelgeſetz vom 3. Juli 1878 §. 20 (3 Jahre), Patentgeſetz vom 25. Mai 1877 §. 38 (3 Jahre), Tabakſteuergeſetz vom 16. Juli 1879 §. 45 (3 Jahre). Vgl. auch Einf. Geſ. z. StGB. §. 7, nachvon Liszt, Strafrecht. 15226Zweites Buch. IV. Der Wegfall des ſtaatl. Strafanſpruchs.welchem Zuwiderhandlungen gegen die Vorſchriften über die Entrichtung der Branntweinſteuer, der Bierſteuer und der Poſtgefälle in 3 Jahren verjähren.

2. Der Friſtenlauf beginnt mit dem Tage, an welchem die Handlung begangen iſt, ohne Rückſicht auf den Zeitpunkt des eingetretenen Erfolges. Ueber den Zeitpunkt der be - gangenen That vgl. das oben §. 19 IV Geſagte. Daraus folgt, daß der Beginn der Verjährung unabhängig iſt von dem Eintritte der etwa noch erforderlichen Bedingungen der Strafbarkeit, wie z. B. Antrag des Verletzten, Scheidung der Ehe uſw. Doch kann unter Umſtänden das Ausſtehen einer ſolchen Bedingung ein Ruhen der Verjährung (unten unter 4) zur Folge haben. Eine Summe von Einzelhand - lungen, welche das Recht zu einer juriſtiſchen Einheit zu - ſammenfaßt (vgl. oben §. 39 II), iſt auch in Bezug auf den Beginn der Verjährung als ſolche zu betrachten: die Ver - jährung kann nicht beginnen, ehe die Handlung abgeſchloſſen iſt (anerkannt in §. 34 des Nachdrucksgeſetzes vom 11. Juni 1870). Beſondere Beſtimmungen: Nach §. 100 der Seemannsordnung vom 27. Dezember 1872 beginnt die Verjährung mit dem Tage, an welchem das Schiff zuerſt ein Seemannsamt erreicht. Intereſſant Nachdrucksgeſetz vom 11. Juni 1870: nach §§. 33 und 37 beginnt die Verjährung des Nachdrucks und des durch unterlaſſene Quellenangabe begangenen Deliktes mit dem Tage der erſten Verbreitung, obwohl ſchon mit der Herſtellung des erſten Exemplares nach §. 22 das Vergehen vollendet war. Die Verjährung der Wechſelſtempelhinterziehungen beginnt nach §. 17 des Geſetzes v. 10. Juni 1869 mit dem Tage der Ausſtellung des Wechſels.

3. Die Verjährung wird unterbrochen durch jede Hand - lung des Richters, welche wegen der begangenen That gegen227Fortſetzung. Die Verjährung. §. 58.den Thäter gerichtet iſt (StGB. §. 68). Doch hat die StPO. in den §§. 453 und 459 auch der polizeilichen Straffeſtſetzung und dem Strafbeſcheide der Verwaltungsbehörden die unter - brechende Wirkung beigelegt. Nach dem Wechſelſtempelgeſetz vom 10. Juni 1869 §. 17 unterbricht jede amtliche Handlung die Verjährung. Nur die gegen den Thäter als Thäter ge - richteten Handlungen unterbrechen die Verjährung; es genügt alſo nicht die Vorladung als Zeugen, ſelbſt wenn der Vorgela - dene ſich bei dieſer Gelegenheit ſchuldig bekennt und darum nicht beeidet wird (RGR. 24. November 1879, E I 231, R I 94).

Die Unterbrechung findet nur rückſichtlich desjenigen ſtatt, auf welchen die Handlung ſich bezieht.

Nach der Unterbrechung beginnt eine neue Verjährung.

4. Die Verjährung ruht (StGB. §. 69), wenn der Beginn oder die Fortſetzung des Strafverfahrens von einer Vorfrage abhängig iſt, deren Entſcheidung in einem anderen Verfahren erfolgen muß. (Man vgl. StGB. §§. 164, 170 172, 191; Einf. Geſ. z. GVG. §. 11 uſw.)

5. Wirkung der Verjährung iſt die Beſeitigung des Strafanſpruchs, nicht die des Verbrechens. Eben darum kann die Verjährung gegenüber einem von mehreren Teil - nehmern eingetreten ſein, während die übrigen noch ſtrafbar ſind; vgl. oben §. 37 III 3.

III. Die Vollſtreckungsverjährung. 4Lit. bei Binding Grundriß S. 166.

1. Die Vollſtreckung rechtskräftig erkannter Strafen ver - jährt (StGB. §. 70):

  • a) wenn auf Tod oder lebenslängliches Zuchthaus oder lebenslängliche Feſtungshaft erkannt iſt, in 30 Jahren;
  • b) wenn auf Zuchthaus oder Feſtungshaft von mehr als 10 Jahren erkannt iſt, in 20 Jahren;
228Zweites Buch. IV. Der Wegfall des ſtaatl. Strafanſpruchs.
  • c) wenn auf Zuchthaus bis zu 10 Jahren oder Feſtungs - haft von 5 10 Jahren oder Gefängnis von mehr als 5 Jahren erkannt iſt, in 15 Jahren;
  • d) wenn auf Feſtungshaft oder Gefängnis von 2 5 Jah - ren oder auf Geldſtrafe von mehr als 6000 Mark erkannt iſt, in 10 Jahren;
  • e) wenn auf Feſtungshaft oder Gefängnis bis zu 2 Jahren oder auf Geldſtrafe von mehr als 150 bis 6000 Mark erkannt iſt, in 5 Jahren;
  • f) wenn auf Haft oder Geldſtrafe bis zu 150 Mark er - kannt iſt, in 2 Jahren.

2. Die Verjährung beginnt mit dem Tage, an welchem das Urteil rechtskräftig geworden iſt (StGB. §. 70).

3. Die Verjährung wird unterbrochen durch jede auf Vollſtreckung der Strafe gerichtete Handlung derjenigen Be - hörde, welcher die Vollſtreckung obliegt, ſowie durch die zum Zwecke der Vollſtreckung erfolgende Feſtnahme des Verur - teilten. Nach der Unterbrechung beginnt eine neue Verjäh - rung (StGB. §. 72).

4. Die Vollſtreckung einer wegen derſelben Handlung neben einer Freiheitsſtrafe erkannten Geldſtrafe verjährt mit der Freiheitsſtrafe (StGB. §. 71). Ebenſo verjähren auch die übrigen Nebenſtrafen mit der Hauptſtrafe. Eine Ausnahme ſtellt das Geſetz für die zeitigen Nebenſtrafen an der Ehre (StGB. §. 36) und für die Nebenſtrafe der Polizeiaufſicht (StGB. §. 38) auf. Bei beiden beginnt die Wirkung des gerichtlichen Erkenntniſſes gerade mit der Verjährung der Hauptſtrafe. Dasſelbe gilt von der oben §. 49 V be - ſprochenen, nach §. 3 Nahrungsmittelgeſetz vom 14. Mai 1879 eintretenden, Nebenſtrafe an der Freiheit.

[229]

Beſonderer Teil.

§. 59. Ueberſicht.

I. Den natürlichen, heute allgemein in den ſyſtematiſchen Darſtellungen des Strafrechtes verwendeten, Einteilungs - grund des beſonderen Teiles unſerer Wiſſenſchaft bildet die Verſchiedenheit des durch die Strafe geſchützten, durch das Delikt bedrohten Rechtsgutes, alſo jener Intereſſen, die rechtlichen und zwar ſtrafrechtlichen Schutz durch die mo - derne Geſetzgebung genießen.

Auch die Normentheorie muß dieſen Einteilungsgrund anerkennen; denn weitaus die größte Zahl der ſtrafrechtlich relevanten Normen gehört zu der oben §. 3 II 1 beſprochenen Klaſſe, ſteht zu dem zu ſchützenden Rechtsgute in unmittel - barer und unverkennbarer Beziehung, ſtellt ſich bei genauerer Betrachtung einfach als die negative Seite der ſtaatlichen Er - klärung dar: Dieſes Intereſſe ſoll meines Schutzes teilhaftig, es ſoll ein Rechtsgut bleiben oder werden.

Legen wir der Einteilung des beſonderen Teiles die Verſchiedenheit der Rechtsgüter zu Grunde, ſo gewinnen wir ſofort zwei, ſcheinbar abſchließende, Gruppen von ſtrafbaren Handlungen. Die erſte Gruppe umfaßt die gegen den Einzelnen; die zweite die gegen die Geſammtheit ge - richteten Delikte. Wie das Recht überhaupt entweder die230Beſonderer Teil.Beziehungen der Einzelnen untereinander oder aber die Be - ziehungen der Einzelnen zur Geſammtheit regelt, ſo ſchützt auch das Strafrecht entweder dieſe oder aber jene Beziehungen.

II. Die erſte Gruppe bietet mehrfache Unterabteilungen. Alle Rechtsgüter des Einzelnen laſſen ſich in letzter Linie als Intereſſe an ungeſtörter Bethätigung zuſammenfaſſen. Aber je nachdem ſich dieſe Bethätigung materialiſiert, eine in Geld abſchätzbare, von dem Individuum trennbare und über - tragbare Herrſchaft begründet, oder aber zu dieſer Verdichtung nicht gelangt und nur als höchſtperſönliche Vollexiſtenz des Individuums erſcheint: können wir zwiſchen den Vermö - gensrechten einerſeits und den immateriellen Rechts - gütern andererſeits unterſcheiden. Zwiſchen dieſe beiden Unterabteilungen treten die Individualrechte, die zwar abſchätzbar und (in ihrer Verwertung) übertragbar geworden ſind, aber die volle Loslöſung von dem Individuum nicht zulaſſen. Eigentum und Ehre und zwiſchen ihnen das Autorrecht mögen an Stelle nicht hieher gehörender wei - terer Ausführungen das Geſagte beleuchten. Aber die Be - thätigung der Perſönlichkeit iſt nicht möglich ohne den Schutz ihres phyſiſchen Lebens wie ihrer freien Bewegung im Raum; Leben und Bewegung, beim Thiere die ganze Bethä - tigung des Individuums erſchöpfend, ſind beim Menſchen nicht Bethätigung ſelbſt, ſondern Vorausſetzung derſelben. So zerfallen die Delikte gegen den Einzelnen in folgende Klaſſen:

  • 1. gegen Leib und Leben;
  • 2. gegen die perſönliche Freiheit;
  • 3. gegen das Vermögen;
  • 4. gegen die Individualrechte;
  • 5. gegen die immateriellen Rechtsgüter.

III. Schwieriger geſtaltet ſich die Einteilung der zweiten231Ueberſicht. §. 59.Gruppe. Die Bethätigung der Geſammtheit als ſolcher re - präſentiert uns der Gang der Staatsverwaltung, der ar - beitende Geſammtorganismus. Vorausſetzung dieſer Be - thätigung iſt Beſtand und Sicherheit des Staatsganzen. Aber auch das Lebensprinzip des ſtaatlichen Organismus, die Kraft, welche das Ganze zuſammenhält und die einzelnen Glieder in Bewegung ſetzt: die Staatsgewalt als Abſtraktum wie in ihren Organen, bedarf des rechtlichen Schutzes. Damit gewinnen wir folgende Einteilung der in die 2. Gruppe gehörenden Delikte (wobei allerdings die Grenzlinien vielfach zweifelhafte ſind):

  • 1. gegen Beſtand und Sicherheit des Staates;
  • 2. gegen die Staatsgewalt und ihre Organe;
  • 3. gegen den Gang der Staatsverwaltung.

IV. Aber nur ſcheinbar erſchöpfen die bisher beſprochenen beiden Gruppen alle möglichen Fälle. Einer ganzen Reihe von ſtrafbaren Handlungen iſt es eigentümlich, daß ſie zwar gegen jene Rechtsgüter gerichtet ſind, die wir als rechtlich ge - ſchützte Intereſſen des Einzelnen bezeichnet haben, aber nicht gerichtet ſind gegen einen einzelnen oder mehrere einzelne Träger jener Rechtsgüter; daß ſich vielmehr ihre Wirkungen erſtrecken auf einen weder ziffermäßig noch indi - viduell geſchloſſenen Kreis von Einzelnen. Es ſind die gemeingefährlichen Delikte im weiteren Sinne; ge - richtet nicht gegen einzelne Staatsbürger und nicht gegen das Staatsganze, ſondern, wie wir kurz ſagen können, gegen das Publikum. Es gehören hieher:

  • 1. die gemeingefährlichen Delikte im engeren Sinne;
  • 2. die Verletzungen des Nahrungsmittelgeſetzes;
  • 3. die gegen den öffentlichen Frieden gerichteten ſtrafbaren Handlungen;
  • 4. eine Reihe anderer Fälle von meiſt polizeilichem Charakter.
232Beſonderer Teil.

V. Wir müſſen aber endlich noch eine letzte Reihe von ſtrafbaren Handlungen ins Auge faſſen, bei welchen unſer Einteilungsgrund uns vollſtändig im Stiche läßt; bei welchen nicht die Natur des angegriffenen Rechtsgutes, ſondern die Art des Angriffes maßgebend war für die Aufſtellung der Strafdrohung; die gefährlich ſind oder ſein können in gleicher Weiſe für den Einzelnen, für das Publikum und für das Staatsganze. Die Mittel, welche die Rechtsordnung geſchaffen hat zur Erreichung ihrer Zwecke, ſind in der Hand des Verbrechers ebenſoviele Mittel zum Angriffe auf die Rechtsordnung; wie die Naturkräfte, ſo kann er Geld und Urkunden, ſo kann er ſeine amtliche Stellung mißbrauchen zur Rechtsverletzung. Dieſem Mißbrauch ſucht der Geſetz - geber durch beſondere Normen (vgl. oben §. 3 II 4) vorzu - beugen; und er ſchafft, indem er das thut, eine Reihe von eigenartigen Verbrechen. Er ſchafft damit nicht neue Rechts - güter, ſondern er will die vorhandenen ſchützen, indem er den Mißbrauch ſeiner Rechtsinſtitutionen zu rechtswidrigen Zwecken verpönt. Nur um dieſen Gegenſatz und zugleich die Beziehung zu der Rechtsgüterwelt auszudrücken, können wir die Integrität dieſer Rechtsinſtitutionen und dann dieſe ſelbſt als uneigentliche Rechtsgüter bezeichnen, wobei der Ton auf dem Adjektiv, nicht auf dem Subſtantiv liegt. In dieſe Gruppe von ſtrafbaren Handlungen gehören:

  • 1. die Delikte an Geld;
  • 2. die Delikte an Urkunden;
  • 3. die Delikte gegen die Religion;
  • 4. die Delikte an Perſonenſtand und Ehe;
  • 5. die Delikte gegen die Sittlichkeit (die ſtaatliche Regelung des Geſchlechtstriebes);
  • 6. die Delikte im Amte.
[233]

Erſtes Buch. Strafbare Handlungen gegen Rechtsgüter des einzelnen Staatsbürgers.

I. Gegen Leib und Leben.

1. §. 60. Die Tötung. 1Lit. bei Meyer S. 367 Note 2.

I. Die vorſätzliche Tötung und zwar:

1. Mord (StGB. §. 211), wenn die Tötung mit Ueber - legung ausgeführt worden, d. h. wenn der Tötungsvorſatz überlegter Vorſatz (oben §. 28 VI) war. 2Die entgegengeſetzte Anſicht, welche zwiſchen Ueberlegung beimBeſchließen u. Ueberlegung beim Ausführen unterſcheidet, beruht auf einem pſychologiſchen Irr - tum.Strafe: Der Tod.

2. Todſchlag (StGB. §. 212), wenn die Tötung nicht mit Ueberlegung ausgeführt worden, der Tötungsvorſatz alſo ein nicht überlegter war. Strafe: Zuchthaus von 5 15 Jahren.

Privilegiert iſt der Todſchlag (StGB. §. 213), wenn der Thäter ohne eigene Schuld durch eine ihm oder einem Angehörigen (StGB. §. 52 Abſ. 2) zugefügte Mißhandlung oder ſchwere Beleidigung von dem Getöteten zum Zorne gereizt und hiedurch auf der Stelle (d. h. in continenti, ſo lange die durch die Kränkung hervorgerufene Gemütsbewegung234Erſtes Buch. I. Delikte gegen Leib und Leben.fortdauert) zur That hingeriſſen worden, oder wenn andere mildernde Umſtände vorhanden ſind. Strafe: Gefängnis nicht unter 6 Monaten. Auch hier bleibt der Todſchlag Verbrechen (oben §. 18 III); der Verſuch iſt daher ſtrafbar.

Qualifizierte Fälle:

  • a) Tötung bei Unternehmung einer ſtrafbaren Handlung (StGB. §. 214), um ein der Ausführung derſelben entgegentretendes Hindernis zu beſeitigen oder um ſich der Ergreifung auf friſcher That zu ent - ziehen. Strafe: Zuchthaus von 10 15 Jahren oder lebenslängliches Zuchthaus.
  • b) Tötung eines Verwandten aufſteigender Linie (StGB. §. 215). Strafe wie zu a.

3. Vorſätzlich (überlegte oder nicht überlegte) Tötung, zu welcher der Thäter durch das ausdrückliche und ernſtliche Verlangen des Getöteten beſtimmt worden iſt (StGB. §. 216). 3Lit. bei Meyer S. 377 Note 1. Dazu Ortmann GA. XXVI. Strafe: Gefängnis von 3 5 Jahren. Vergehen, daher Verſuch ſtraflos.

4. Vorſätzliche (überlegte oder nicht überlegte) Tötung eines unehelichen Kindes in oder gleich nach der Ge - burt durch die Mutter (StGB. §. 217). 4Lit. bei Meyer S. 378 Note 1.Objekt iſt das Kind, mithin ein menſchliches Weſen im Gegenſatz zum Fötus, der ungeborenen Leibesfrucht, die das charakteriſtiſche Objekt der Abtreibung iſt. Kindestötung iſt demnach erſt möglich, ſo - bald der Geburtsakt begonnen hat, die Leibesfrucht mit irgend einem Körperteile, wenn auch nicht gerade mit dem Kopfe, aus dem Mutterleibe in die Außenwelt getreten iſt (RGR. 8. Juni 1880, E I 446, R II 41).

235Die Tötung. §. 60.

Der legislative Grund für die mildere Behandlung der Kindestötung liegt einerſeits in der Stärke der die unehelich Gebärende zur Tötung treibenden Motive, andrerſeits in der durch den Gebärakt hervorgerufenen Verminderung der Zurechnungsfähigkeit (oben §. 25 III). Ob dieſe Gründe eine ſoweit gehende Berückſichtigung verdienten, mag hier dahingeſtellt bleiben. Jedenfalls tritt, den Anſchauungen des Geſetzgebers entſprechend, die mildere Behandlung der Kindestötung ein, mag die Kindesmutter in der Form der Thäterſchaft, mag ſie in der Form der Teilnahme, zu dem Eintritte des Erfolges mitwirken, während etwa beteiligte dritte (Thäter oder Teilnehmer) wegen gemeiner Tötung zu beſtrafen ſind (RGR. 8. Mai 1880, E II 154; vgl. auch oben §. 37 III 1). Strafe: Zuchthaus nicht unter 3 Jahren, bei mildernden Umſtänden Gefängnis nicht unter 2 Jahren. Vgl. auch StGB. §. 367 Zif. 1.

II. Die fahrläſſige Tötung (StGB. §. 222). Strafe: Gefängnis bis zu 3 Jahren; wenn der Thäter zu der von ihm aus den Augen geſetzten Aufmerkſamkeit vermöge ſeines Amtes, Berufes oder Gewerbes beſonders5Vgl. RGR. 23. April 1880, R I 649; auch RGR. 11. Fe - bruar 1880, E I 203, R I 341; 4. Mai 1880, R I 726. verpflichtet war, Gefängnis bis zu 5 Jahren.

Nicht bloß bei der Kindestötung, ſondern in allen6beſtritten bez. des Verhält - niſſes zwiſchen Mord u. Tod - ſchlag. Fällen der Tötung richtet ſich die Höhe der Strafbarkeit mehrerer Beteiligter nach der in §. 50 StGB. (vgl. oben §. 37 III 1) ausgeſprochenen Regel.

236Erſtes Buch. I. Delikte gegen Leib und Leben.

2. §. 61. Die Körperverletzung. 1Lit. bei Meyer S. 382 Note 1. Dazu Herbſt GA. XXVI.

I. Begriff. Das Geſetz unterſcheidet in nichts weniger als zutreffender Weiſe: a) körperliche Mißhandlung und b) Beſchädigung an der Geſundheit. Letz - tere ſetzt eine Verletzung der Körperſubſtanz voraus (auch das Zopfabſchneiden gehört hieher), und umfaßt die Beſchädigung der körperlichen wie der geiſtigen (im Sinne des gewöhnlichen Sprachgebrauchs) Geſundheit; erſtere liegt vor bei jeder ſtörenden Einwirkung auf die körperlichen Funktionen (z. B. Erregen von Schmerz, Unbehagen, Ekel, Schrecken), welche nicht von einer Verletzung der Körper - ſubſtanz begleitet iſt.

Ueber die Widerrechtlichkeit der Handlung und deren Wegfall gelten die allgemeinen, oben §. 22 beſprochenen, hier beſonders praktiſch wichtigen Regeln.

II. Arten.

1. Die vorſätzliche Körperverletzung.

  • a) Leichte Körperverletzung (StGB. §. 223). Strafe: Gefängnis bis zu 3 Jahren oder Geldſtrafe bis 1000 Mark; wenn gegen Verwandte aufſteigender Linie begangen, Gefängnis nicht unter einem Monate; doch tritt hier bei mildernden Umſtänden der regel - mäßige Strafſatz wieder ein (StGB. §. 228).
  • b) Qualifizierte Körperverletzung (StGB. §. 223 a), wenn mittels einer Waffe,

    2Waffe (vgl. Kries GA. XXV) iſt hier jedes zur (an - griffs - oder verteidigungsweiſen) Zufügung von Verletzungen geeignete Werkzeug, ohne Rück -

    insbeſondere eines Meſſers237Die Körperverletzung. §. 61.oder eines anderen gefährlichen Werkzeuges,
    3Zugeklapptes Taſchenmeſſer je nach der Art des Gebrauchs (RGR. 15. Mai 1880, R I 781).
    3 oder mittels eines hinterliſtigen Ueberfalls,
    4Setzt voraus, daß der An - griff nicht vorhergeſehen und daßdieſes Nichtvorhergeſehen durch den Thäter bewirkt wurde (RGR. 31. Mai 1880, E II 74, R I 844).
    4 oder von meh - reren gemeinſchaftlich
    5In der Form der Mitthäter - ſchaft oder der Nebenthäterſchaft ( zufälligen Mitthäterſchaft vgl. oben §. 35), vgl. RGR. 8. Mai 1880, R I 742.
    5 oder mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung begangen. Bezüglich aller dieſer qualifizierenden Umſtände iſt Vorſatz des Thä - ters, d. h. Bewußtſein der Kauſalität ſeines Thuns erforderlich (dagegen RGR. 14. Juni 1880, R II 68, E II S. 107; richtig bez. der gemeinſchaftlichen Be - gehung RGR. 8. Mai 1880, R I 742). Strafe: Gefängnis nicht unter 2 Monaten; bei mildernden Umſtänden (StGB. §. 228) Gefängnis bis zu drei Jahren oder Geldſtrafe bis 1000 Mark.
  • c) Schwere Körperverletzung (StGB. §. 224), wenn dieſelbe zur Folge hat, daß der Verletzte ein wichtiges Glied des Körpers, das Sehvermögen auf einem oder beiden Augen, das Gehör, die Sprache oder die Zeu - gungsfähigkeit verliert, oder in erheblicher Weiſe dauernd entſtellt wird, oder in Siechtum, Lähmung oder Geiſteskrankheit verfällt. Strafe: Zuchthaus bis zu 5 Jahren oder Gefängnis nicht unter einem Jahre; bei mildernden Umſtänden (StGB. §. 228) Gefängnis nicht unter einem Monate.
    2ſicht auf Beſtimmung und ge - wöhnliche Verwendung (RGR. 10. März 1880, R I S. 442), alſo auch z. B. ein Bierglas, ein Stock uſw.
    2238Erſtes Buch. I. Delikte gegen Leib und Leben.Die Strafe tritt ein, auch wenn in Bezug auf den ſchweren Erfolg weder Vorſatz noch Fahrläſſigkeit auf Seiten des Thäters vorliegt (vgl. oben §. 27 II a. E.); eben darum iſt aber auch die Verſuchsſtrafe ausge - geſchloſſen und nur eventuell Beſtrafung wegen ein - facher oder qualifizierter Körperverletzung zuläſſig, wenn die Abſicht des Thäters auf Herbeiführung des ſchweren Erfolges gerichtet geweſen, dieſer aber nicht eingetreten iſt (vgl. oben §. 32 IV 1). War da - gegen eine der eingetretenen Folgen beabſichtigt, ſo iſt (StGB. §. 225) auf Zuchthaus von 2 10 Jahren zu erkennen.
  • d) Körperverletzung mit tötlichem Ausgang (StGB. §. 226). Strafe: Zuchthaus nicht unter 3 Jahren oder Gefängnis nicht unter 3 Jahren; bei mildernden Umſtänden (StGB. §. 228) Gefängnis nicht unter 3 Monaten.

2. Fahrläſſige Körperverletzung (StGB. §. 230). Strafe: Geld bis 900 Mark oder Gefängnis bis 2 Jahren; bei Verletzung einer beſonderen Amts -, Berufs - oder Ge - werbspflicht (vgl. oben §. 60 Note 5) kann die Strafe auf 3 Jahre Gefängnis erhöht werden.

3. Körperverletzung, begangen im Amte (StGB. §. 340) ſ. unten §. 92 II 4 c.

III. Die Strafverfolgung tritt nur auf Antrag ein (StGB. §. 232), wenn es ſich um leichte vorſätzliche (StGB. §. 223, nicht aber §. 223 a) oder um nicht - qualifizierte (StGB. §. 230 1. Abſ. ) fahrläſſige Körper - verletzungen handelt. Rücknahme des Antrages iſt zuläſſig, wenn das Vergehen gegen einen Angehörigen (StGB. §. 52 Abſ. 2) verübt worden.

239Die Körperverletzung. §. 61.

Antragsberechtigt iſt der Verletzte (bez. deſſen Ver - treter; vgl. oben §. 31 III 1).

Abweichungen von dieſem Satze:

1. Sind Ehefrauen oder unter väterlicher Gewalt ſte - hende Kinder beleidigt worden, ſo haben ſowohl die Belei - digten, als deren Ehemänner und Väter das Recht, auf Beſtrafung anzutragen (StGB. §. 232 mit §. 195); und zwar auch noch nach dem Tode des Verletzten (RGR. 9. De - zember 1879, E I S. 29).

2. Iſt die ſtrafbare Handlung gegen eine Behörde, einen Beamten (Begriff unten §. 92 I 2), einen Religions - diener oder ein Mitglied der bewaffneten Macht, während ſie in der Ausübung ihres Berufes begriffen ſind, oder in Beziehung auf ihren Beruf begangen worden, ſo ſteht das Antragsrecht nicht nur den Verletzten, ſondern auch deren amtlich Vorgeſetzten zu (StGB. §. 232 mit §. 196).

Eine Erweiterung, bez. Beſchränkung der Antragsfriſt (vgl. oben §. 31 III 2) tritt bei wechſelſeitigen Körper - verletzungen, d. h. dann ein, wenn der klagende Verletzte den beklagten Verletzer ebenfalls verletzt hat. Einzige Vor - ausſetzung iſt mithin die prozeſſuale Stellung beider Teile, mögen auch die beiderſeitigen Verletzungen weder in zeitlichem noch in urſächlichem Zuſammenhange ſtehen (RGR. 4. Juni 1880, E II 87). In dieſem Falle iſt nämlich, wenn von einem Teile auf Beſtrafung angetragen worden, der andere Teil bei Verluſt ſeines Rechtes verpflichtet, den Antrag auf Beſtrafung ſpäteſtens bis zur Beendigung der Schlußvorträge in 1. Inſtanz (StPO. §. 428) zu ſtellen, hiezu aber auch dann berechtigt, wenn zu jenem Zeitpunkte die dreimonatliche Friſt bereits abgelaufen iſt (StGB. §. 232 mit §. 198). Auf den Fall, in welchem Körperverletzung und Beleidigung240Erſtes Buch. I. Delikte gegen Leib und Leben.einander gegenüberſtehen, iſt dieſe Beſtimmung nicht anzu - wenden. 6Beſtritten.

IV. In allen Fällen der Körperverletzung kann auf Verlangen des Verletzten neben der Strafe auf eine an den - ſelben zu erlegende Buße bis zum Betrage von 6000 Mark erkannt werden. Die Zuerkennung der Buße ſchließt die Geltendmachung eines weiteren Entſchädigungsanſpruchs aus (StGB. §. 231).

V. Retorſion (StGB. §. 233). Wenn leichte Körper - verletzungen (StGB. §. 223, nicht 223 a; RGR. 28. Oktober 1879, R I S. 23) mit ſolchen, Beleidigungen mit leichten Körperverletzungen oder letztere mit erſteren auf der Stelle (d. h. in continenti, ſo lange die durch die Kränkung her - vorgerufene Gemütsbewegung fortdauert) erwidert werden, ſo kann der Richter für beide Angeſchuldigte, oder für einen derſelben eine der Art oder dem Maße nach mildere oder überhaupt keine Strafe eintreten laſſen. Es handelt ſich dabei um eine Erweiterung des dem Richter bei Be - ſtimmung der Strafe zugewieſenen Spielraumes, nicht aber um die Gewährung eines dem civilrechtlichen Kompenſations - rechte analogen Anſpruches für den Schuldigen. Dem Richter ſoll die Gelegenheit geboten werden, einerſeits den Affekt des zuerſt Angegriffenen, andererſeits die Thatſache, daß dieſer bereits ſelbſt ſich Sühne genommen, in um - faſſendſter Weiſe in Betracht zu ziehen. Dieſe Erweiterung des richterlichen Ermeſſens geht bis zur Geſtattung der Strafumwandlung und der Verſchonung von aller Strafe; ſie ſetzt aber die Konſtatierung ſtrafbarer Handlungen auf beiden Seiten,7Ebenſo RGR. 16. Auguſt 1880, E II 181. mithin die Verurteilung beider Ange -241Gefährdung von Leib und Leben. §. 62.klagten voraus, kann daher nie zu einer Freiſprechung von der That führen, und iſt ausgeſchloſſen, wenn auf einer Seite wegen mangelnder Schuld (Zurechnungsfähigkeit), feh - lender Normwidrigkeit8Anwendbarkeit des §. 193; vgl. die in Note 7 cit. RGR. 16. Auguſt 1880. uſw. eine ſtrafbare Handlung über - haupt nicht vorliegt.

3. §. 62. Gefährdung1Begriff der Gefährdung oben §. 3 Note 1. von Leib und Leben.

I. Die Ausſetzung2Lit. bei Meyer S. 396 Note 1; dazu Platz, Verbrechen der Ausſetzung 1876. (StGB. §. 221). Dieſer Begriff umfaßt zwei Thatbeſtände:

1. Das Ausſetzen (im eigentlichen Sinne) einer wegen jugendlichen Alters, Gebrechlichkeit oder Krankheit (hieher gehören auch die durch übermäßigen Alkoholgenuß herbeigeführten Zuſtände) hülfloſen Perſon, d. h. das Ver - ſetzen aus dem bisherigen Zuſtand in einen andern: vollendet mithin, ſobald jene Beziehungen zur Außenwelt, in welchen der Verletzte ſich bisher befunden, gelöſt worden ſind.

2. Das Verlaſſen einer ſolchen Perſon in hülfloſer Lage, ſtrafbar nur dann, wenn der Verlaſſene unter der Obhut des Thäters ſtand, oder wenn dieſer für die Unter - bringung, Fortſchaffung oder Aufnahme des Verlaſſenen zu ſorgen hatte (es genügt obligatio ex re z. B. begründet durch das Aufnehmen eines ausgeſetzten Kindes von Seiten eines unbeteiligten Dritten). Ein Verſetzen in andere Lage iſt hier nicht erforderlich.

von Liszt, Strafrecht. 16242Erſtes Buch. I. Delikte gegen Leib und Leben.

Die Ausſetzung iſt regelmäßig Vergehen: der Strafſatz beträgt Gefängnis von 3 Monat bis 5 Jahren; wenn von den leiblichen Eltern gegen ihr Kind begangen, Gefängnis nicht unter 6 Monaten. Die Schwere des (wenn auch weder vorſätzlich noch fahrläſſig herbeigeführten) Erfolges macht die Ausſetzung zum Verbrechen: iſt eine ſchwere Körperverletzung (StGB. §. 224) der ausgeſetzten oder ver - laſſenen Perſon verurſacht worden, ſo tritt Zuchthaus bis zu 10 Jahren, und wenn der Tod verurſacht worden, Zuchthaus von 3 15 Jahren ein.

In den beiden erſten Fällen iſt der Verſuch wegen der Vergehensnatur der ſtrafbaren Handlung ſtraflos, bei den letzteren aus dem oben §. 32 IV 1 angegebenen Grunde nicht möglich. Darum3Die herrſchende Anſicht auch RGR. 21. April 1880, R I 639, E II 15 erblickt in dem angeführten Falle überhaupt keine Ausſetzung ; doch liegt(ſtrafloſer) Verſuch einer ſol - chen gewiß vor. tritt Strafloſigkeit ein, wenn der Ausſetzende in der Nähe des Ausgeſetzten verborgen wartet, bis dieſer etwa durch eine dritte Perſon aufgenommen wird.

II. Die ſogenannte Vergiftung4Lit. bei Meyer S. 399 Note 1; dazu Thomſen GS. 30. (StGB. §. 229) d. i. das in der Abſicht (Abſicht hier gleich treibendes Motiv; vgl. oben §. 28 III) die Geſundheit zu beſchädigen er - folgende Beibringen von Gift oder anderen Stoffen, welche die Geſundheit zu zerſtören geeignet ſind (Stoffe, von welchen ſich das Gift nur dadurch unterſcheidet, daß es ſchon in kleineren Doſen die geſundheitzerſtörende Wirkung zu äußern im Stande iſt). Das Weſen des Deliktes beſteht demnach in der, in Verletzungsabſicht begangenen, Ge - fährdung von Leib und Leben.

243Gefährdung von Leib und Leben. §. 62.

Mit dem Beibringen iſt das Verbrechen vollendet; etwaige Anwendung von Gegengiften ſchließt daher die Be - ſtrafung aus §. 229 StGB. nicht aus.

Strafe: regelmäßig Zuchthaus bis zu 10 Jahren; wenn durch die Handlung eine ſchwere Körperverletzung (StGB. §. 224) verurſacht worden, Zuchthaus nicht unter 5 Jahren; wenn der Tod verurſacht worden, Zuchthaus nicht unter 10 Jahren oder lebenslängliches Zuchthaus. Auch hier iſt (vgl. oben §. 27 II a. E.) der höhere Strafſatz lediglich durch den Eintritt der, wenn auch weder vorſätzlich noch fahrläſſig herbeigeführten, ſchweren Erfolge bedingt; bei Nichteintritt derſelben, auch wenn ſie beabſichtigt waren, daher der einfache Strafſatz anzuwenden (vgl. oben §. 32 IV 1).

Auf Buße iſt in allen Fällen der Vergiftung zu erkennen (StGB. §. 231), auch wenn eine Körperverletzung nicht ein - getreten iſt (vgl. oben §. 52 II).

III. Die Abtreibung5Lit. bei Meyer S. 393 Note 1. Dazu Kornfeld in H. R. Abtreibung . (StGB. §§. 218 220) ſetzt als Objekt eine noch nicht geborene Leibesfrucht (vgl. oben §. 60 I 4) voraus, und umfaßt zwei weſentlich verſchiedene Thatbeſtände:

1. Die Abtreibung im engeren Sinne, nämlich das (rechtswidrige) Bewirken einer Frühgeburt, mag auch die Abſicht des Thäters nicht auf Tötung der Leibesfrucht ge - richtet geweſen ſein;6Beſtritten.

2. die Tötung der Frucht im Mutterleibe.

Das Geſetz ſchützt in den Strafparagraphen gegen Ab - treibung in erſter Linie die Exiſtenz des Embryo, in zweiter16*244Erſtes Buch. I. Delikte gegen Leib und Leben.die körperliche Integrität der Schwangeren, läßt aber wegen des in abstracto gefährdenden Charakters der Abtreibung die Strafe auch dann eintreten, wenn im konkreten Falle eine Gefährdung weder der Schwangeren noch des Embryo eingetreten iſt.

Arten der Abtreibung:

1. Einfacher Fall (StGB. §. 218); Abtreibung: a) durch die Schwangere ſelbſt; b) durch einen Dritten mit Einwilligung der Schwangeren. Doch muß im Falle b. der Dritte, damit ihn die volle Strafe (§. 218, 3. Abſatz) treffe, nach den allgemeinen Grundſätzen als Thäter oder Mitthäter erſcheinen (das Geſetz verlangt, daß er die Mittel zur Ab - treibung bei der Schwangeren angewendet oder ihr bei - gebracht hat) ; bloßes Verſchaffen der Mittel würde als Beihülfe zu dem Delikte a. unter den reduzierten Strafrahmen fallen. 7Ebenſo RGR. 11. März 1880, E I 270, R I 450.Die Schwangere kann im Falle b. als Mitthäterin oder aber auch als Teilnehmerin nach den allgemeinen Grundſätzen erſcheinen. 8Ebenſo RGR. 25. Februar 1880, E I 263, R I 394.

Strafe: Zuchthaus bis zu 5 Jahren; bei mildernden Um - ſtänden Gefängnis nicht unter 6 Monaten.

2. Die Lohnabtreibung9Vgl. Pfizer GS. XXVIII. (StGB. §. 219). Schwerere Strafe Zuchthaus bis zu 10 Jahren trifft denjenigen, der einer Schwangeren, die ihre Frucht abgetrieben hat, gegen Entgelt die Mittel hiezu verſchafft, bei ihr ange - wendet oder ihr beigebracht hat.

Der Lohnabtreibung kann ſich die Schwangere ſelbſt nie, auch nicht als Gehülfin, ſchuldig machen;10a. A. RGR. 10. April 1880, E I 350, R I 568. der Dritte da -245Gefährdung von Leib und Leben. §. 62.gegen fällt unter den Strafrahmen des §. 219 auch dann, wenn er nur durch Verſchaffen der Mittel,11Intellektuelle Beihülfe u. Anſtiftung ſind nach §. 218 zu beſtrafen. alſo nur durch eine Beihülfehandlung, zu dem eingetretenen Erfolge mitgewirkt hat.

Eintritt des Erfolges iſt Bedingung für die Anwend - barkeit des §. 219; ſind die angewendeten, beigebrachten, ver - ſchafften Mittel ohne Erfolg geblieben, ſo kann nur aus §. 218 geſtraft werden. 12RGR. 9. Februar 1880. E I 194, R I 326; 10. April 1880 (oben Anm. 10).

3. Abtreibung durch einen Dritten ohne Einwilligung der Schwangeren (StGB. §. 220). Strafe: Zuchthaus nicht unter 2 Jahren; iſt durch die Handlung der Tod der Schwangeren verurſacht worden, Zuchthaus nicht unter 10 Jahren oder lebenslängliches Zuchthaus. Auch hier gilt für den qualifizierten Fall in Bezug auf Schuld und Verſuch das oben unter II Geſagte.

IV. Der Raufhandel (StGB. §. 227); vorliegend, wenn durch eine Schlägerei oder durch einen von Mehreren gemachten Angriff der Tod eines Menſchen oder eine ſchwere Körperverletzung (StGB. §. 224) verurſacht worden iſt.

Der Raufhandel umfaßt zwei weſentlich von einander verſchiedene Fälle:

1. Die einfache Beteiligung an einer Schlägerei oder an einem Angriff, die von den erwähnten Folgen be - gleitet geweſen ſind, vorausgeſetzt, daß der Angeklagte nicht ohne ſein Verſchulden hineingezogen worden iſt. Strafe: Gefängnis bis zu 3 Jahren. Die Strafbarkeit der Beteiligung wird dadurch nicht ausgeſchloſſen, daß der Urheber der ſchweren oder tötlichen Verletzung bekannt iſt; wohl aber kann246Erſtes Buch. I. Delikte gegen Leib und Leben.nach der oben §. 40 II d gegebenen Regel nicht dieſelbe Perſon mit Rückſicht auf denſelben Erfolg zugleich nach §. 227 und nach §§. 224 ff. geſtraft werden: es tritt vielmehr in dieſem Falle Konſumption des Deliktes des §. 227 ein.

2. Iſt eine der vorbezeichneten Folgen mehreren (vor - ſätzlichen) Verletzungen zuzuſchreiben, welche dieſelbe nicht einzeln, ſondern nur durch ihr Zuſammentreffen ver - urſacht haben, ſo wäre nach den allgemeinen Grundſätzen (vgl. oben §. 20 III) jede derjenigen Perſonen, welcher eine dieſer Verletzungen zur Laſt fällt, mit der vollen Strafe der §§. 224 226 zu belegen. In ganz ungerechtfertigter und nur aus hiſtoriſchen Reminiscenzen erklärbarer Weiſe ſtellt der Geſetzgeber für dieſen Fall einen beſonderen Straf - rahmen auf: Zuchthaus bis zu 5 Jahren, bei mildernden Umſtänden (StGB. §. 228) ſogar Gefängnis nicht unter einem Monate.

V. Der Zweikampf (StGB. §. 201 210). 13Lit. bei Meyer S. 403 Note 1. Dazu ZimmermannGS. XXX (vgl. denſelben im hiſtor. Taſchenbuch 1879).

1. Begriff. Nicht als Störung des öffentlichen Friedens, nicht als eigenmächtiger Eingriff in die ſtaatliche Rechtspflege, ſondern als ein ſtrafbares Auf’s-Spiel - Setzen von Leib und Leben erſcheint das Delikt des Zweikampfes, deſſen Exiſtenz einen unwiderleglichen Vorwurf gegen die, unſer modernes (überſpanntes, weil durchaus ſub - jektives) Ehrgefühl nicht befriedigende, Behandlung der Ehr - verletzungen in der modernen Geſetzgebung bildet. In ſyſtematiſcher Beziehung nimmt der Zweikampf unter den Delikten gegen Leib und Leben dieſelbe Stellung ein, wie das Glücksſpiel unter den ſtrafbaren Handlungen gegen das Vermögen.

247Gefährdung von Leib und Leben. §. 62.

Zweikampf iſt der verabredete, den hergebrachten oder vereinbarten Regeln entſprechende, Kampf mit tötlichen Waffen zwiſchen zwei Perſonen. Den Begriff der Waffe haben wir hier (im Gegenſatze zu dem oben §. 61 Note 2 Geſagten) im engeren Sinne zu nehmen: er umfaßt alle zu Angriff und Verteidigung be - ſtimmten und zur Zufügung von Verletzungen geeigneten Werkzeuge. 14Vgl. RGR. 2. Juni 1880, E I 445, R II 14.Tötliche Waffen aber ſind diejenigen, die bei beſtimmungsgemäßem Gebrauche und unter den gegebenen Umſtänden tötliche Verletzungen herbeizuführen geeignet ſind. Dabei müſſen, wie bei Anwendung aller relativen Begriffe des Strafrechtes, ganz außergewöhnliche Komplikationen außer Betracht gelaſſen werden. Demnach ſind ſtudentiſche Schlägermenſuren, wenn unter Anwendung der regel - mäßigen Vorſichtsmaßregeln vor ſich gehend, zwar als ein vielleicht ſtrafwürdiges (poſitiv-rechtlich ſtrafloſes) Auf’s - Spiel-Setzen der körperlichen Integrität, nicht aber als Kampf mit tötlichen Waffen zu betrachten. 15Die eben cit. RGR. hatdieſe Frage, als zur Kompetenz des Erſtrichters gehörig, nicht entſchieden.Die An - wendung der ſtrafgeſetzlichen Beſtimmungen über Körper - verletzung und Raufhandel iſt durch die Natur dieſer Men - ſuren als eines vereinbarten und geregelten Kampfes aus - geſchloſſen. Die akademiſchen Vorſchriften über Studentenduelle ſind durch das RStGB. als Straf -, nicht aber als Disziplinargeſetze (vgl. oben §. 42 IV) beſeitigt worden.

Das ſogenannte amerikaniſche Duell oder die Loſung um’s Leben iſt weder Zweikampf noch Anſtiftung zum Selbſt - morde, ſondern wie der Zweikampf ein Glücksſpiel um Leib248Erſtes Buch. I. Delikte gegen Leib und Leben.und Leben, und obgleich ſtrafwürdiger wie dieſer, nach poſi - tivem Rechte nicht ſtrafbar.

2. Der Geſetzgeber hat ſich nicht damit begnügt, den Zweikampf ſelbſt unter Strafe zu ſtellen, ſondern bedroht auch gewiſſe Vorbereitungshandlungen, nämlich die Her - ausforderung zum Zweikampf und die Annahme einer ſolchen, mit Strafe; und zwar regelmäßig (StGB. §. 201) mit Feſtungshaft bis zu 6 Monaten; wenn aber bei der Herausforderung die Abſicht, daß einer von beiden Teilen das Leben verlieren ſoll, entweder ausgeſprochen iſt oder aus der gewählten Art des Zweikampfes erhellt (StGB. §. 202), mit Feſtungshaft von 2 Monaten bis zu 2 Jahren.

Die Natur dieſer delicta sui generis als Vorbereitungs - handlungen ſchließt die Möglichkeit eines ſtrafbaren Ver - ſuches derſelben aus (vgl. oben §. 33 Note 4), geſtattet aber die ſtrafbare Teilnahme dritter Perſonen (vgl. oben §. 37 I 2 c). Einen Fall der Teilnahme hebt der Geſetz - geber beſonders hervor, indem er (in §. 203) diejenigen, welche den Auftrag zu einer Herausforderung übernehmen und ausrichten (die Kartellträger) mit Feſtungshaft bis 6 Monaten bedroht.

Die Strafe der Herausforderung und der Annahme der - ſelben, ſowie die Strafe der Kartellträger fällt weg (StGB. §. 204), wenn die Parteien den Zweikampf vor deſſen Beginn freiwillig aufgegeben haben. Entgegen der allgemeinen Regel (vgl. oben §. 37 III 3), daß Straf - aufhebungsgründe nur demjenigen zu Gute kommen, in deſſen Perſon ſie ſich ereignen, wirkt hier die thätige Reue der Hauptthäter zu Gunſten aller Beteiligten.

Kommt der Zweikampf wirklich zu Stande, ſo wird da - durch nach dem oben §. 40 II c Geſagten die Strafbarkeit249Gefährdung von Leib und Leben. §. 62.der Vorbereitungshandlungen für die beiden Parteien kon - ſumirt; die übrigen Beteiligten, auch die Kartellträger (arg. StGB. §. 209) haften nach den allgemeinen Grundſätzen über Teilnahme; aber nunmehr wegen ihrer Beteiligung am Zweikampfe ſelbſt.

3. Die Strafe des Zweikampfes iſt im Geſetze ver - ſchieden abgeſtuft:

  • a) Regelmäßiger Strafrahmen (StGB. §. 205): Feſtungs - haft von 3 Monaten bis zu 5 Jahren.
  • b) Wer ſeinen Gegner im Zweikampfe durch eine vor - ſätzlich zugefügte Verletzung tötet (StGB. §. 206), wird mit Feſtungshaft nicht unter 2 Jahren, und wenn der Zweikampf den Tod des einen von Beiden herbei - führen ſollte, mit Feſtungshaft nicht unter 3 Jahren beſtraft.
  • c) Iſt eine Tötung oder Körperverletzung mittelſt vor - ſätzlicher Uebertretung der vereinbarten oder herge - brachten Regeln des Zweikampfes bewirkt worden, ſo iſt der Uebertreter (StGB. §. 207), ſofern nicht nach den oben erwähnten Beſtimmungen eine härtere Strafe verwirkt iſt, nach den allgemeinen Vorſchriften über das Verbrechen der Tötung und der Körperverletzung zu beſtrafen. Das ſinguläre dieſer im übrigen ſelbſt - verſtändlichen Anordnung liegt darin, daß die Zwei - kampfſtrafen, wenn höher, eintreten ſollen, obwohl der Zweikampf in dem Augenblick aufgehört hat, Zweikampf zu ſein, in welchem die Ueberſchreitung der Kampfes - regeln ſtattgefunden hat.
  • d) Hat der Zweikampf ohne Sekundanten ſtattgefunden, ſo kann die verwirkte Strafe bis um die Hälfte, jedoch nicht über 15 Jahre erhöht werden (StGB. §. 208).
250Erſtes Buch. II. Delikte gegen die perſönliche Freiheit.

Die Behandlung der Teilnehmer richtet ſich nach den allgemeinen Regeln. Einen Fall hat auch hier der Geſetz - geber als delictum sui generis beſonders hervorgehoben (StGB. §. 210), und damit für unabhängig von den ſonſtigen Vorausſetzungen der Teilnahme (vgl. oben §. 35 II) erklärt. Wer einen Andern zum Zweikampf mit einem Dritten abſichtlich, insbeſondere durch Bezeigung oder An - drohung von Verachtung anreizt, wird, falls der Zweikampf (wenn auch nicht in Folge ſeiner Aufreizung) ſtattgefunden hat, mit Gefängnis (alſo nicht mit Feſtungshaft, der poena ordinaria des Zweikampfes) nicht unter 3 Monaten beſtraft.

Straflos bleiben (StGB. §. 209) Kartellträger, welche ernſtlich bemüht geweſen ſind, den Zweikampf zu verhindern,16Thätige Reue als Straf - aufhebungsgrund, oben §. 57. Sekundanten,17Subjektiver Strafausſchlie - ßungsgrund; vgl. oben §. 30 III 3. ſowie zum Zweikampf zugezogene Zeugen, Aerzte und Wundärzte. 18Selbſtverſtändlich, weil eineBeteiligung an der ſtrafbaren Handlung hier überhaupt nicht vorliegt.

II.

§. 63. Strafbare Handlungen gegen die perſönliche Freiheit. 1Lit. bei Meyer S. 410 Note 1.

Das durch die hieher gehörenden Delikte angegriffene Rechtsgut iſt die Freiheit der Bewegung im Raume, die Freiheit des Handelns, nicht die des Entſchließens (nicht die ſogenannte Willensfreiheit).

251Delikte gegen die perſönliche Freiheit. §. 63.

I. Die partielle Verletzung (Beſchränkung) der perſön - lichen Freiheit, oder die Nötigung.

1. Die Nötigung des R StGB. (§. 240), d. h. die Nötigung zu irgend einer Handlung, Duldung oder Unter - laſſung, wenn durch gewiſſe Mittel bewirkt. Dieſe Mittel ſind:

  • a) phyſiſche Gewalt,
    2Vgl. Wanjek GA. XXVII; auch RGR. 17. Juni 1880, E II 184, R II 81.
    2 nicht notwendig an der Perſon des zu Nötigenden (in homine), aber gegen den - ſelben (Vergewaltigung anderer Perſonen oder Ge - walt an Sachen) gerichtet (in hominem), als Mittel, ſeine Entſchließung zu beſtimmen.
  • b) pſychiſche Gewalt oder Bedrohung, und zwar: Be - drohung mit einem Verbrechen oder Vergehen. Die Drohung braucht keine ernſtlich gemeinte, d. h. die Ausführung derſelben braucht nicht beabſichtigt zu ſein, ſie muß aber dem Bedrohten als eine ernſtliche erſcheinen.
    3Vgl. RGR. 24. Dezember 1879, R I 173; 9. Februar 1880, R I 325.
    3Die Drohung muß gegen den zu - tigenden gerichtet, d. h. zur Beeinfluſſung ſeiner Ent - ſchließung beſtimmt und geeignet ſein; nicht erforderlich iſt, daß das angedrohte Verbrechen oder Vergehen an dem zu Nötigenden begangen werden ſoll. Die Dro - hung kann ſich vielmehr, ganz wie die Gewalt, auf andere Perſonen oder auf Sachen beziehen. Sie kann aus - drücklich ausgeſprochen oder durch ſymboliſche Hand - lungen (Erheben der Fauſt, Anlegen des Gewehrs uſw. ) angedeutet ſein.

Das an ſich ſelbſtverſtändliche Merkmal der Wider - rechtlichkeit der Nötigung iſt in den Thatbeſtand auf -252Erſtes Buch. II. Delikte gegen die perſönliche Freiheit.genommen; mithin zum Vorſatze Bewußtſein derſelben er - forderlich (vgl. oben §. 28 II). Durch die Berechtigung zur Nötigung an ſich wird die Berechtigung zur Nötigung durch die vom Geſetze verpönten Mittel, durch Gewalt oder Be - drohung mit Verbrechen oder Vergehen ſelbſtverſtänd - lich nicht gegeben. 4Vgl. RGR. 21. Oktober 1879, E I 5, R I 9; 26. Juni1880, R II 124.

Die Vollendung der Nötigung tritt erſt mit der erzwun - genen Handlung, Duldung, Unterlaſſung ein; der Verſuch, der hier trotz der Vergehensnatur des Deliktes ſtrafbar iſt, beginnt ſchon mit der Anwendung von Gewalt oder Drohung, als der Mittel zur Herbeiführung der Handlung uſw.

Strafe: Gefängnis bis zu 1 Jahr oder Geld bis zu 600 Mark.

2. Einen beſonderen Fall der Nötigung enthält §. 153 der Gewerbeordnung: Wer andere durch Anwendung körperlichen Zwanges, durch Drohungen, durch Ehrver - letzung, oder durch Verrufserklärung beſtimmt oder zu beſtimmen verſucht, an Verabredungen zum Behufe der Erlangung günſtigerer Lohn - und Arbeitsbedingungen, insbe - ſondere mittels Einſtellung der Arbeit oder Entlaſſung der Arbeiter, teilzunehmen oder ihnen Folge zu leiſten, oder An - dere durch gleiche Mittel hindert oder zu hindern ver - ſucht, von ſolchen Verabredungen zurückzutreten, wird mit Gefängnis bis zu 3 Monaten beſtraft, ſofern nach dem all - gemeinen Strafgeſetz nicht eine härtere Strafe eintritt. Die Erweiterung des Kreiſes der ſtrafbarmachenden Nötigungs - mittel ſowie die Gleichſtellung von Verſuch und Vollendung unterſcheiden ganz abgeſehen von dem Inhalt der - tigung dieſen Thatbeſtand von dem des §. 240 StGB.

253Delikte gegen die perſönliche Freiheit. §. 63.

II. Die totale (wenn auch vorübergehende)5RGR. 7. Juli 1880, R II 167. Verletzung (Entziehung) der perſönlichen Freiheit oder die Freiheits - beraubung (StGB. §. 239: wer einen Menſchen ein - ſperrt6Ihn in einem umſchloſſenen Raume feſthält. oder auf andere Weiſe des Gebrauches der perſön - lichen Freiheit beraubt )7Die Mittel, welche der Thäter anwendet, ſind an ſich gleichgültig; doch muß das Ver - halten des der Freiheit Be -raubten durch dieſe Mittel her - beigeführt ſein und darf nicht als deſſen freies und vorſätzliches Thun (oben §. 19 III) erſcheinen. Zu weit geht RGR. 7. Juli 1880, R II 167 (in den Grün - den). Die Sache liegt hier eben anders als bei der Nötigung. Auch hier iſt das Merkmal der Widerrechtlichkeit in den Thatbeſtand aufgenommen (vgl. oben § 28 II). Die Vollendung tritt mit der Entziehung der Freiheit ein; länger dauernde Freiheitsentziehung be - gründet ein fortdauerndes Delikt (vgl. oben §. 39 II 1).

Strafe:

  • a) Normalſatz: Gefängnis von 1 Tag bis zu 5 Jahren.
  • b) Wenn die Freiheitsentziehung über eine Woche ge - dauert hat, oder wenn eine ſchwere Körperverletzung (StGB. §. 224) des der Freiheit Beraubten durch die Freiheitsentziehung oder die ihm während derſelben widerfahrene Behandlung verurſacht (oben S. 237 c) worden iſt: Zuchthaus bis zu 10 Jahren, bei mildern - den Umſtänden Gefängnis nicht unter einem Monat.
  • c) Iſt auf die zu b angegebene Weiſe der Tod verurſacht worden, Zuchthaus nicht unter 3 Jahren, bei mil - dernden Umſtänden Gefängnis nicht unter 3 Mo - naten.
  • d) Ueber das Amtsdelikt des §. 341 vgl. unten §. 93 II 4d.
254Erſtes Buch. II. Delikte gegen die perſönliche Freiheit.

III. Die qualifizierte totale Entziehung der per - ſönlichen Freiheit oder der Menſchenraub. Das qualifi - zierende Moment liegt darin, daß der Thäter, nicht zufrie - den damit, dem Verletzten den Gebrauch ſeiner perſönlichen Freiheit entzogen zu haben, ſich eine poſitive und unmittel - bare Herrſchaft, eine Verfügungsgewalt über denſelben anmaßt. Es gehören hierher:

1. Der eigentliche Menſchenraub (StGB. §. 234); Objekt: jeder Menſch; die Erlangung der Herrſchaft ( Bemächtigung ſagt das Geſetz) muß erfolgen durch a) Ge - walt (vgl. oben §. 63 I 1a); b) Drohung (vgl. oben §. 63 I 1b), die aber hier nicht Drohung mit einem Ver - brechen oder Vergehen zu ſein braucht; c) Liſt, d. i. Täu - ſchung des zu Verletzenden über die Kauſalität der von ihm vorzunehmenden Handlung. Die Abſicht (hier gleich er - weiterter Vorſatz oben §. 28 III) muß darauf gerichtet ſein, den Angegriffenen in hülfloſer Lage auszuſetzen oder in Sklaverei, Leibeigenſchaft oder in auswärtige Kriegs - oder Schiffsdienſte zu bringen. Das Verbrechen iſt vollendet mit der (poſitiven) Erlangung der Herrſchaft; der Verſuch beginnt mit dem (negativen) Eingriff in die perſönliche Frei - heit. Strafe: Zuchthaus.

2. Kinderraub (StGB. §. 235) begangen dadurch, daß eine minderjährige Perſon ihren Eltern oder ihrem Vormund durch Gewalt, Drohung, Liſt entzogen wird. An - gegriffen iſt die perſönliche Freiheit des Minderjährigen; aber die Dispoſitionsbefugnis über dieſes Rechtsgut ſteht nicht ihm, ſondern den Eltern oder dem Vormunde zu. Darum ſchließt die Einwilligung der letztgenannten Perſonen die Normwidrigkeit des Thuns aus, während die des Min - derjährigen ſelbſt irrelevant iſt. Vollendet iſt das Delikt,255Delikte gegen die perſönliche Freiheit. §. 63.ſobald die Gewalt der Machthaber gebrochen und eine fremde Gewalt begründet iſt; der Verſuch beginnt mit dem erſten dieſer beiden Stadien. Strafe: regelmäßig Gefängnis; wenn die Handlung in der Abſicht geſchieht (Abſicht gleich erweiterter Vorſatz oben §. 28 III), die Perſon zum Betteln oder zu gewinnſüchtigen oder unſittlichen Zwecken oder Be - ſchäftigungen zu gebrauchen, Zuchthaus bis zu 10 Jahren.

3. Frauenraub oder Entführung8Vgl. Wahlberg H. R. Entführung . (StGB. §§. 236 bis 238), charakteriſiert einerſeits durch das Objekt, andrerſeits durch die geſchlechtliche Abſicht. Das Geſetz unterſcheidet zwei Arten:

  • a) Entführung der Frauensperſon gegen ihren Willen durch Liſt, Drohung, Gewalt, um ſie entweder zur Unzucht (Strafe: Zuchthaus bis zu 10 Jahren) oder zur Ehe zu bringen (Strafe: Gefängnis). Abſicht auch hier gleich erweiterter Vorſatz (oben §. 28 III). Voll - endet mit der Begründung der Herrſchaft des Ent - ührers (StGB. §. 236).
  • b) Entführung einer minderjährigen, unverehelich - ten Frauensperſon mit ihrem Willen, aber ohne Einwilligung der Eltern oder des Vormun - des, um ſie zur Unzucht oder zur Ehe zu bringen. Strafe: Gefängnis. Auch iſt hier die perſönliche Freiheit der Entführten das angegriffene Rechtsgut;
    9Beſtritten.
    9 daran wird durch den Umſtand nichts geändert, daß die Dispoſition über das Rechtsgut einer andern Perſon als dem Träger desſelben zuſteht. Auch der Diebſtahl ändert ſeinen Charakter nicht, wenn er mit Einwilligung des nicht verfügungsfähigen Eigentümers256Erſtes Buch. III. Delikte gegen das Vermögen.begangen wird. Jedes Mittel genügt; Liſt, Drohung, Gewalt ſind nicht erforderlich. Die Entführte ſelbſt kann, als Trägerin des angegriffenen Rechtsgutes, nicht Teilnehmerin an dem Delikte ſein. Ueber Voll - endung gilt das zu a Geſagte (StGB. §. 237).

Die Entführung iſt in beiden Fällen Antragsdelikt: antragsberechtigt im erſten Falle die Entführte, im zweiten der Gewalthaber. Hat der Entführer die Entführte gehei - ratet, ſo findet die Verfolgung nur ſtatt (StGB. §. 238), nachdem die Ehe für ungültig erklärt worden iſt. Dieſe Erklärung iſt Bedingung der Strafbarkeit in dem oben §. 30 angegebenen Sinne.

III. Strafbare Handlungen gegen das Vermögen.

A. Gegen das Eigentum.

1.
§. 64. Der Diebſtahl. 1Lit. bei Meyer S. 444 Anm. 1. Dazu Merkel in HR. Diebſtahl ; Bachem, derUnterſchied zwiſchen dem Furtum des römiſchen Rechts und dem Diebſtahl nach RStGB. 1880.

I. Begriff.

1. Diebſtahl iſt Eigentumsverletzung durch rechts - widrige Aneignung einer fremden beweglichen Sache, wenn letztere zu dieſem Zwecke erſt in den Gewahrſam des Thäters gebracht werden muß. Das letzterwähnte Moment unterſcheidet Diebſtahl und Unterſchlagung. Nach dieſer Definition wären Diebſtahl und Unterſchlagung erſt mit der Aneignung vollendet. Das257Der Diebſtahl. §. 64.poſitive Recht hat aber den Zeitpunkt der Vollendung zurück - geſchoben (vgl. oben §. 32 I 2); Diebſtahl iſt demnach (StGB. §. 242): Wegnahme einer fremden beweglichen Sache in der Abſicht rechtswidriger Aneignung.

2. Objekt iſt eine bewegliche oder beweglich gemachte Sache, mag dieſe auch keinen Tauſchwert haben; und zwar eine fremde, d. h. in dem Eigentume eines Anderen ſtehende Sache. An Sachen, die in niemandes Eigentum ſtehen, an herrenloſen, derelinquierten uſw. Sachen iſt Dieb - ſtahl nicht möglich, mag auch ein ausſchließliches Okkupations - recht auf dieſelben vorhanden ſein; wohl aber an Wild im eingefriedeten Gehege, Fiſchen in Privatteichen, an den der Leiche in’s Grab mitgegebenen Gegenſtänden (wenn ſie nicht als derelinquierte zu betrachten ſind) uſw. Diebſtahl wird unmöglich, wenn der Eigentümer das Eigentum ganz auf - giebt oder dem Thäter überträgt; dagegen ſchließt die Ein - willigung des Eigentümers in die Wegnahme der Sache den Diebſtahlsbegriff nicht aus. Der Eigentümer ſelbſt kann ſich des Diebſtahls an der eigenen Sache nicht ſchuldig machen, wohl aber der Miteigentümer an der ihm nicht ausſchließlich gehörenden.

3. Die Handlung beſteht in dem Wegnehmen, d. h. in dem Brechen des fremden und der Begründung des eigenen Gewahrſams. Gewahrſam (nicht gleich Beſitz im civilrechtlichen Sinne) bedeutet aber die Möglichkeit über die Sache thatſächlich zu verfügen, verbunden mit dem Willen dieſe Möglichkeit aufrecht zu erhalten. 2Vgl. RGR. 24. Mai 1880, E II 65, R I 818 (bedenklicheAnwendung des richtigen Satzes).Diebſtahl kann dem - nach nicht begangen werden an Sachen, die in keines Menſchen Gewahrſam ſtehen, wie an vom Hochwaſſer fort -von Liszt, Strafrecht. 17258Erſtes Buch. III. Delikte gegen das Vermögen.geſchwemmten oder verlorenen Gegenſtänden, wohl aber an vergeſſenen oder verlegten Sachen. Durch Aufgeben des Gewahrſams3Innehaben und Aufgeben des Gewahrſams durch einen Wahnſinnigen hat (mit Recht) RGR. 19. Juni 1880, R II 85 als nach Umſtänden möglich angenommen. von Seiten des Gewahrſams-Inhabers wird die Möglichkeit des Diebſtahls ausgeſchloſſen; nicht not - wendig aber ſchon durch Einwilligung in die Ergreifung der Sache. Der Gewahrſams-Inhaber ſelbſt kann ſich des Diebſtahls nicht (wohl aber der Unterſchlagung) ſchuldig machen; der Mitgewahrſams-Inhaber begeht Diebſtahl, wenn er ſich rechtswidrig die ausſchließliche Verfügungsgewalt verſchafft (vgl. das zu 2 über den Miteigentümer Ge - ſagte). Der letzte Satz iſt von großer praktiſcher Bedeutung, da in zahlreichen Fällen mehrfacher Gewahrſam an derſelben Sache ſei es gleichgeſtellten, ſei es einander untergeord - neten Perſonen zuſtehend vorkommt. 4RGR. 5. April 1880, R I 540, E II 1 (Entwendung von Ladenvorräten durch einen im Geſchäfte angeſtellten Verkäufer).Demnach iſt die Aneignung mitvermieteter Sachen durch den Mieter eines meublierten Zimmers als Diebſtahl zu betrachten, da der Thäter nur Mit-Gewahrſamsinhaber iſt. 5Dagegen (aber ohne über - zeugende Motivierung) RGR. 12. Juli 1880, R II 184.

4. Nicht erfolgte, wohl aber beabſichtigte Aneignung der Sache gehört zu den Merkmalen des Diebſtahls - begriffes. Aneignung aber beſteht darin, daß die Sache, gleichſam als wäre ſie Eigentum, den Zwecken des Thäters dauernd und ausſchließlich dienſtbar gemacht wird. Sofortige Vernichtung der Sache iſt nicht Aneignung, ebenſowenig vorübergehender Gebrauch derſelben; eben darum iſt Ver - pfändung der Sache nicht Aneignung, wenn die Abſicht und259Der Diebſtahl. §. 64.zugleich die gegründete Ausſicht rechtzeitiger Wiedereinlöſung beſteht. 6RGR. 22. April 1880, R I 659 u. 664, E II 22.Auch die Ausübung eines vermeintlichen Retentions - rechtes kann nicht als Aneignung betrachtet werden. 7Vgl. RGR. 5. Mai 1880, E II 48.

Die Abſicht (auch hier gleich erweiterter Vorſatz, oben §. 28 III) muß auf rechtswidrige Zueignung gehen. Dieb - ſtahl liegt alſo nicht vor, wenn ein Anſpruch auf Uebertra - gung des Eigentums an der Sache ſelbſt beſteht, wohl aber dann, wenn ein anderer Anſpruch durch die weggenommene Sache geſichert werden ſoll;8RGR. 9. Februar 1880, E I 193. Wegnahme von Geld, um ſich für eine begründete Geldforderung bezahlt zu machen, iſt demnach nur dann nicht Diebſtahl, wenn, was zu den ſeltenſten Fällen gehören dürfte, ein Anſpruch auf Ueber - tragung gerade der weggenommenen Geld ſtücke beſtand. 9A. A. RGR. 17. Juni 1880, E II 184, R II 73.

Gewinnſüchtige Abſicht, alſo Abſicht auf Erlangung eines Vermögensvorteils (animus lucri faciendi) iſt nach heutigem Recht nicht erforderlich. Der Diebſtahl iſt kein Bereicherungsdelikt.

5. Der Diebſtahl iſt vollendet mit der vollendeten Wegnahme, alſo ſobald der eigene Gewahrſam an der Sache durch den Thäter begründet iſt. Die alten zum Teil ab - weichenden Anſichten Kontrektations -, Ablations -, Ap - prehenſions-Theorien ſind heute allgemein aufgegeben. Der Verſuch ſtrafbar, auch wenn der Diebſtahl Ver - gehen iſt beginnt mit dem Brechen des fremden Ge - wahrſams; daher in verſchiedenen Zeitpunkten je nach der verſchiedenen Erſcheinung und Sicherung dieſes Gewahr - ſams;10Beſtritten. mit dem Einbrechen, Einſteigen, Einſchleichen bei17*260Erſtes Buch. III. Delikte gegen das Vermögen.Sachen, die ſich in umſchloſſenen Räumen befinden; erſt mit der Ergreifung von Vieh auf der Weide, geſchlagenem Holz im Forſte; mit dem Ausſtrecken der Hand, wenn damit ſchon die Herrſchaft des Eigentümers beeinträchtigt wird11Vgl. den Fall bei RGR. 9. Juli 1880, R II 142 (in der Begründung wohl zu weit gehend). uſw.

6. Beim Diebſtahl bildet die Verletzung des einen Rechts - gutes des Gewahrſams das Mittel zur Verletzung des anderen: des Eigentums. Halten wir an dem theoretiſchen Begriffe des Diebſtahls feſt (oben unter 1), ſo erſcheinen Eigentümer wie Gewahrſams-Inhaber als Verletzte im Sinne des gewöhnlichen Sprachgebrauchs. Verletzter im tech - niſchen Sinne des Wortes (oben §. 31 III 1) aber iſt nur der Träger des unmittelbar angegriffenen Rechtsgutes: mithin der Gewahrſams-Inhaber. 12Vgl. GA. XXV S. 177. Damit ſei das oben §. 31 III 1 b Geſagte berichtigt.Noch ſicherer iſt dieſes Reſultat von dem Standpunkte des poſitiven Rechtes aus, welches die Verletzung des Gewahrſams ſo ſehr in den Vordergrund ſtellt, daß es ſogar die bloß beabſichtigte Eigentumsverletzung zum Begriffe des Diebſtahls genügen läßt. Eine wichtige Anwendung dieſes Satzes ſiehe unten.

II. Arten des Diebſtahls.

1. Einfacher Diebſtahl (StGB. §. 242). Strafe: Gefängnis.

2. Qualifizierter Diebſtahl (StGB. §. 243) in folgenden Fällen:

  • a) Wenn aus einem zum Gottesdienſte beſtimmten Gebäude Gegenſtände geſtohlen werden, welche dem Gottesdienſte gewidmet ſind.
261Der Diebſtahl. §. 64.
  • b)
    13Vgl. Haager GS. XXX.
    13 Wenn aus einem Gebäude oder umſchloſſenen (d. h. von der Außenwelt
    14Alſo nicht aus einzelnen abgeſchloſſenen Räumen im In - nern eines Gebäudes (RGR. 23. Februar 1880, R I 379, E I 216.)
    14 in einer das Eindringen ab - haltenden Weiſe getrennten, wenn auch nicht mit der Bodenfläche verbundenen
    15RGR. 21. Januar 1880, R I 252.
    15) Raum mittels Einbruchs (gewaltſamer Beſeitigung der Hinderniſſe), Einſtei - gens (Umgehen der Hinderniſſe durch Eindringen auf einem nicht dazu beſtimmten Wege
    16RGR. 13. März 1880, RI 470; 27. April 1880, R I 685; 9. Juni 1880, R II 47.
    16) oder Erbrechens von Behältniſſen
    17Aufſchneiden eines Sackes: RGR. 29. Mai 1880, R I 832; Erbrechen eines Behältniſſes, in dem ſich der zum Diebſtahl notwendige Schlüſſel befindet: RGR. 26. Auguſt 1880, R II 102.
    17 geſtohlen wird.
  • c) Wenn zur Eröffnung eines Gebäudes oder der Zu - gänge eines umſchloſſenen Raumes, oder zur Eröffnung der im Innern befindlichen Thüren oder Behältniſſe falſche Schlüſſel oder andere zur ordnungsmäßigen Eröffnung nicht beſtimmte Werkzeuge angewendet werden.
  • d) Wenn auf einem öffentlichen (d. h. zum Gebrauche des Publikums beſtimmten) Wege, einer Straße, einem öffentlichen Platze, einer Waſſerſtraße oder einer Eiſen - bahn (mit Naturkräften, wenn auch nicht gerade mit Dampf betrieben, nicht aber Pferde-Eiſenbahnen; hier nur öffentliche nicht private Eiſenbahnen), oder in einem Poſtgebäude oder dem dazu gehörigen Hofraume, oder auf einem Eiſenbahnhofe eine zum Reiſegepäck oder zu anderen Gegenſtänden der Beförderung262Erſtes Buch. III. Delikte gegen das Vermögen.gehörende Sache mittels Abſchneidens oder Ablöſens der Befeſtigungs - oder Verwahrungsmittel, oder durch Anwendung falſcher Schlüſſel oder anderer zur ord - nungsmäßigen Eröffnung nicht beſtimmter Werkzeuge geſtohlen wird.
  • e) Wenn der Dieb oder einer der Teilnehmer bei Be - gehung der That Waffen (in dem oben §. 62 Note 14 angegebenen engeren Sinne) bei ſich führt. Abſicht von denſelben zu Angriff und Verteidigung Gebrauch zu machen, iſt nicht erforderlich; es genügt, wenn der Beſtohlene dieſe Abſicht als vorhanden annimmt (vgl. das oben §. 63 Note 3 bezüglich der Drohung Ge - ſagte).
  • f) Wenn zu dem Diebſtahle Mehrere mitwirken (oben §. 61 Note 5), welche ſich zur fortgeſetzten Begehung von Raub oder Diebſtahl verbunden haben (Bande, vgl. oben §. 38 II 5).
  • g)
    18Vgl. Haager GS. XXIX.
    18 Wenn der Diebſtahl zur Nachtzeit (d. i. die Zeit der Nachtruhe) in einem bewohnten Gebäude, in welches ſich der Thäter in diebiſcher Abſicht einge - ſchlichen, oder in welchem er ſich in gleicher Abſicht verborgen hatte, begangen wird, auch wenn zur Zeit des Diebſtahls Bewohner in dem Gebäude nicht an - weſend ſind. Einem bewohnten Gebäude werden der zu einem ſolchen gehörende umſchloſſene Raum und die in einem ſolchen befindlichen Gebäude jeder Art, ſowie Schiffe, welche bewohnt werden, gleich geachtet.

Strafe in allen Fällen: Zuchthaus bis zu 10 Jahren, bei mildernden Umſtänden Gefängnis nicht unter 3 Monaten.

263Der Diebſtahl. §. 64.

3. Diebſtahl im 2. Rückfall19Begriff oben §. 41 I. Be - handlung oben §. 54 I 1. (StGB. §§. 244 und 245). Vorausſetzung: zweimalige frühere Beſtrafung im In - lande20Begriff oben §. 13 III. wegen Diebſtahl, Raub, räuberiſchen Diebſtahls und räuberiſcher Erpreſſung und Hehlerei. Die Vorſtrafen müſſen ganz oder teilweiſe verbüßt oder erlaſſen ſein. Ein 10jäh - riger Zeitraum von Verbüßung oder Erlaß der letzten21Der zwiſchen der erſten und zweiten Verurteilung ver -ſtrichene Zeitraum iſt gleichgül - tig: vgl. RGR. 4. März 1880, R I 425, E I 246; 29. Mai 1880, R I 833. Strafe bis zur Begehung des neuen Diebſtahls ſchützt vor der Rückfallsſtrafe (ſogenannte Rückfallsverjährung). Die Strafe beträgt:

  • a) für einfachen Diebſtahl (StGB. §. 242) Zuchthaus bis zu 10 Jahren, bei mildernden Umſtänden Gefängnis nicht unter 3 Monaten;
  • b) für ſchweren Diebſtahl (StGB. §. 243) Zuchthaus nicht unter 2 Jahren, bei mildernden Umſtänden Ge - fängnis nicht unter einem Jahre.

4. Räuberiſcher Diebſtahl (StGB. §. 252), wenn der Dieb auf friſcher That betroffen, gegen eine Perſon (in hominem) Gewalt verübt (vgl. oben §. 63 I 1 a) oder Dro - hungen (vgl. oben §. 63 I 1 b) mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben anwendet, um ſich im Beſitze des ge - ſtohlenen Gutes zu erhalten.

Strafe: die des Raubes (vgl. unten §. 66).

5. Privilegierte Fälle22Vgl. Voitus GS. XXX. (StGB. §. 247):

  • a) Diebſtahl von Verwandten aufſteigender Linie gegen Verwandte abſteigender Linie oder zwiſchen Ehegatten begangen (§. 257 Abſ. 2), bleibt ſtraflos (ſubjektiver Strafausſchließungsgrund, vgl. oben §. 30 III 3);
264Erſtes Buch. III. Delikte gegen das Vermögen.
  • b) Diebſtahl gegen Angehörige (StGB. §. 52 Abſ. 2), Vormünder oder Erzieher; Diebſtahl an Sachen von unbedeutendem Werte gegen Perſonen, zu welchen der Thäter im Lehrlingsverhältniſſe ſteht oder in deren häuslicher Gemeinſchaft er als Geſinde ſich befindet: auf Antrag zu verfolgen; Antrag rücknehmbar (§. 247 Abſ. 1). Maßgebend iſt hier lediglich die Eigenſchaft des Beſtohlenen, d. i. nach dem oben I 6 Geſagten des Gewahrſams-Inhabers, nicht die des Eigentü - mers.
    23Dagegen RGR. 29. Mai 1880, E II 73, R I 839.
    23Der Diebſtahl bleibt Antragsdelikt, wenn auch die vom Sohne bei ſeinem Vater geſtohlenen Gegen - ſtände Eigentum eines Dritten ſind.

Beide Beſtimmungen (a und b) finden auf Teilnehmer oder Begünſtiger, welche nicht in einem der vorbezeichneten Verhältniſſe ſtehen, keine Anwendung (StGB. §. 247 Abſ. 3).

III. Neben der wegen Diebſtahls erkannten Gefängnis - ſtrafe kann auf Verluſt der bürgerlichen Ehrenrechte; neben der Zuchthausſtrafe auf Zuläſſigkeit von Polizei - aufſicht erkannt werden (StGB. §. 248).

§. 65. Dem Diebſtahl verwandte Fälle.

Aus dem Begriffe des Diebſtahls haben ſich im Laufe der hiſtoriſchen Entwicklung eine Reihe von Delikten losgelöſt und ſelbſtändige Bedeutung erlangt, die hier der beſſeren Ueberſicht wegen zuſammengeſtellt und dem Diebſtahle ange - ſchloſſen werden ſollen, wenn ſie auch, einzeln betrachtet, eine andere Stellung im Syſteme des beſonderen Teiles bean -265Dem Diebſtahl verwandte Fälle. §. 65.ſpruchen könnten. Es ſei betont, daß wir es hier mit ſelbſtändigen Deliktsbegriffen zu thun haben, auf welche daher das über den Diebſtahl Geſagte nicht ohne weiteres Anwendung findet.

1. Das ſogenannte furtum usus, richtiger Gebrauchs - anmaßung, wegen fehlender Aneignung nicht Diebſtahl, iſt nach Reichsrecht nur in dem einen beſonderen Falle (StGB. §. 290) ſtrafbar, wenn öffentliche Pfandleiher die von ihnen in Pfand genommenen Gegenſtände unbefugt (vgl. oben §. 28 II) ge - brauchen. Strafe: Gefängnis bis einem Jahre, das nach Ermeſſen mit Geldſtrafe bis 900 Mark verbunden werden kann.

2. Das ſogenannte furtum possessionis (StGB. §. 289), Wegnahme der eigenen beweglichen Sache oder einer fremden beweglichen Sache zu Gunſten des Eigentümers der - ſelben, aus dem Gewahrſam des Nutznießers, Pfandgläu - bigers oder des Gebrauchs - oder Retentionsberechtigten,1Ausräumung der invecta et illata gegen das Verbot des Vermieters: RGR. 8. Mai 1880, E I 429, R I 748. in rechtswidriger Abſicht. 2D. h. in der Abſicht, das Innehabungsrecht des Berech - tigten zu verletzen: RGR. 28. Juni 1880, R II 131.Strafe: Gefängnis bis zu 3 Jahren (daneben nach Ermeſſen Verluſt der bürgerlichen Ehrenrechte) oder Geldſtrafe bis zu 900 Mark. Verſuch ſtrafbar. An - tragsdelikt. StGB. §. 247 Abſ. 2 und 3 (oben §. 64 II 5) findet auch hier Anwendung.

3. Der Forſt - und Felddiebſtahl, durch Einfüh - rungsgeſetz §. 2 der Partikular-Geſetzgebung überlaſſen (vgl. oben §. 11 Note 6).

4. Die widerrechtliche Zueignung von bei den Uebungen der Artillerie verſchoſſener Munition oder von Bleikugeln266Erſtes Buch. III. Delikte gegen das Vermögen.aus den Kugelfängen der Truppen-Schießſtände (StGB. §. 291). Strafe: Gefängnis bis zu einem Jahre oder Geldſtrafe bis zu 900 Mark.

5. Unbefugte Verringerung eines fremden Grundſtücks, eines öffentlichen oder Privatweges oder eines Grenzrains durch Abgraben oder Abpflügen (StGB. §. 370 Ziff. 1) Strafe: Geld bis 150 Mark oder Haft.

6. Unbefugte Wegnahme von Erde, Steinen, Raſen aus öffentlichen oder Privatwegen; Graben von Erde, Lehm, Sand, Grand, Mergel aus fremden Grundſtücken; Hauen von Plaggen oder Bülten; Wegnahme von Raſen, Steinen, Mineralien aus fremden Grundſtücken, zu deren Gewinnung es einer Verleihung, einer Konzeſſion oder einer Erlaubnis einer Behörde nicht bedarf oder von ähnlichen Gegenſtänden (StGB. §. 370 Ziff. 2).

Strafe: wie zu 5.

7. Entwendung von Nahrungs - oder Genußmitteln von unbedeutendem Werte oder in geringer Menge zum alsbal - digen Gebrauche (ſogenannter Mundraub StGB. §. 370 Ziff. 5). Tabak, Cigarren, Parfüms, Saatkartoffeln;3Vgl. RGR. 24. Februar 1880, R I 385, E I 223. nicht aber Brennmaterialien gehören hierher. Strafe: wie zu 5. Antragsdelikt; Rücknahme zuläſſig. Entwendungen von Ver - wandten aufſteigender gegen Verwandten abſteigender Linie und zwiſchen Ehegatten bleiben ſtraflos.

8. Der ſogenannte Futterdiebſtahl (StGB. §. 370 Ziff. 6): Wegnahme von Getreide oder anderen zur Fütte - rung des Viehs beſtimmten oder geeigneten Gegenſtänden wider Willen des Eigentümers, um deſſen Vieh damit zu füttern.

Strafe: wie zu 5. Antragsdelikt; Rücknahme zuläſſig.

267Der Raub. §. 66.
2.
§. 66. Der Raub. 1Lit. bei Meyer S. 477 Anm. 1.

I. Begriff (StGB. §. 249).

Raub iſt gewaltſamer Diebſtahl. Er hat alle Merkmale des Diebſtahlsbegriffes: Wegnahme einer fremden beweglichen Sache in der Abſicht rechtswidriger Zueignung (vgl. das oben §. 64 über dieſe Merkmale Geſagte); unter - ſcheidet ſich aber von dem Diebſtahle durch die Mittel der Wegnahme. Dieſe ſind:

  • a) Gewalt gegen eine Perſon (oben §. 63 I 1 a), ſei es gegen die Perſon des Gewahrſamsinhabers ſelbſt oder gegen eine andere den Gewahrſam des Inhabers ſchützende Perſon;
  • b) Anwendung von Drohungen (oben §. 63 I 1 b) mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben.

Gewalt und Drohung ſind Mittel der Wegnahme, d. h. der Begründung des eigenen Gewahrſams auf Seiten des Thäters, mag dieſe unmittelbar durch den Thäter oder durch Vermittlung einer Entſchließung von ſeiten des Angegriffenen erfolgen; vorausgeſetzt, daß dieſe Entſchließung nicht als eine freie und vorſätzliche (oben §. 20 III) den Kauſalzu - ſammenhang zwiſchen dem Handeln des Thäters und dem eingetretenen Erfolge aufhebt. Ueber das Verhältnis des Raubes zur Erpreſſung vgl. das unten §. 74 bei dieſer Geſagte.

Der Raub iſt vollendet (wie der Diebſtahl) mit der268Erſtes Buch. III. Delikte gegen das Vermögen.vollendeten Wegnahme der Sache; der ſtrafbare Verſuch beginnt bereits mit der Anwendung von Gewalt oder Dro - hung.

II. Fälle des Raubes.

1. Einfacher Raub (StGB. §. 249). Strafe: Zuchthaus; bei mildernden Umſtänden Gefängnis nicht unter 6 Monaten.

2. Qualifizierter Raub (StGB. §. 250):

  • a) Wenn der Räuber oder einer der Teilnehmer am Raube bei Begehung der That Waffen bei ſich führt (oben §. 64 II 2 e).
  • b) Wenn zu dem Raube Mehrere mitwirken, welche ſich zur fortgeſetzten Begehung von Raub oder Diebſtahl verbunden haben (oben §. 64 II 2 f).
  • c) Wenn der Raub auf einem öffentlichen Wege, einer Straße, einer Eiſenbahn, einem öffentlichen Platze, auf offener See oder einer Waſſerſtraße begangen wird (Straßenraub).
  • d) Wenn der Raub zur Nachtzeit in einem bewohnten Gebäude (StGB. §. 247 Ziff. 3) begangen wird, in welches ſich der Thäter zur Begehung eines Raubes oder Diebſtahls eingeſchlichen oder ſich gewaltſam Ein - gang verſchafft oder in welchem er ſich in gleicher Abſicht verborgen hatte.
  • e) Wenn der Räuber bereits einmal als Räuber oder wegen räuberiſchen Diebſtahls (StGB. §. 252) oder räuberiſcher Erpreſſung (StGB. §. 255) im Inlande beſtraft worden iſt (Raub im erſten Rückfall). StGB. §. 245 findet auch hier Anwendung (oben §. 64 II 3). Strafe: Zuchthaus nicht unter 5 Jahren; bei269Die Unterſchlagung. §. 67.mildernden Umſtänden Gefängnis nicht unter einem Jahre.
  • f) Schwerſter Fall (StGB. §. 251): Raub, bei dem ein Menſch gemartert oder bei dem durch die verübte Gewalt eine ſchwere Körperverletzung (StGB. §. 224) oder der Tod eines Menſchen verurſacht (oben §. 61 II 1 c) worden iſt; gleichgültig, ob die gemarterte, verletzte, getötete Perſon der Beraubte ſelbſt oder ein Dritter iſt. Strafe: Zuchthaus nicht unter 10 Jahren oder lebenslängliches Zuchthaus.

III. Neben der Zuchthausſtrafe kann in allen Fällen auf Zuläſſigkeit von Polizeiaufſicht erkannt werden (StGB. §. 256).

3.
§. 67. Die Unterſchlagung. 1Lit. bei Meyer S. 483 Note 1. Dazu Kapff, dieUnterſchlagung 1879.

I. Begriff.

Unterſchlagung iſt Eigentumsverletzung durch rechts - widrige Aneignung einer fremden beweglichen Sache, welche der Thäter bereits in ſeinem Ge - wahrſame hat. Durch letzteres Merkmal unterſcheidet ſich die Unterſchlagung vom Diebſtahl, mit dem ſie die übrigen Begriffs-Elemente gemein hat. Es iſt daher das oben §. 64 I Geſagte auch hier anzuwenden. Dazu ſei noch Fol - gendes bemerkt.

1. Eine fremde Sache iſt auch hier Objekt des Deliktes. Durch den Uebergang des Eigentums an den Gewahrſams -270Erſtes Buch. III. Delikte gegen das Vermögen.inhaber wird demnach die Möglichkeit einer Unterſchlagung unbedingt ausgeſchloſſen, mag auch eine (obligatoriſche) Ver - pflichtung zur Rückgabe2Vgl. RGR. 10. März 1880, E II 132; 2. April 1880, R I 530, E I 343; 24. Mai 1880, E II 65, R I 815. oder zur Verwendung nach einer ganz beſtimmten Richtung hin3Vgl. RGR. 16. Januar 1880, E I 75; 8. Mai 1880, R I 745. beſtehen. Wichtig wird dieſer Satz bei Uebergabe von Geld oder anderen vertret - baren Sachen.

An einem Schatze iſt Unterſchlagung durch den Finder dann möglich, wenn nach dem maßgebenden Civilrecht4Ueber das römiſche Recht vgl. Windſcheid §. 184. durch das Finden ſelbſt einem Dritten (dem Eigentümer des Grundſtückes oder dem Staate) ſofort Eigentum an einem Teile des Schatzes, nicht bloß ein Anſpruch auf Herausgabe erworben wird. Für das Gebiet des preußiſchen Rechts nimmt Unterſchlagung an: RGR. 17. November 1879, R I 78, E I 16.

An Forderungen kann Unterſchlagung ebenſowenig wie Diebſtahl begangen werden; vgl. StGB. §. 266 Ziff. 2, (unten §. 71 II 1).

2. Der Thäter muß die Sache in ſeinem Gewahr - ſam haben. Auf welche Weiſe er dieſen erlangt, ob durch Zufall, durch ein Anvertrauen von ſeiten des bisherigen Gewahrſamsinhabers oder durch eine ſtrafbare Handlung, iſt gleichgültig. Doch wird in dem letzten dieſer Fälle, in Anwendung des oben §. 40 III über Geſetzeskonkurrenz Ge - ſagten, die Aneignung regelmäßig hinter dem ſtrafbaren In - den-Gewahrſam-Bringen zurücktreten. Auch die Fund - verhehlung (unrichtig ſprach man früher von Funddiebſtahl) iſt Unterſchlagung.

271Die Unterſchlagung. §. 67.

3. Die deliktiſche Thätigkeit beſteht in dem Aneignen. Das Geſetz ſieht von einer kaſuiſtiſchen Beſchreibung dieſes Begriffes ab. Jeder (äußere oder innere) Akt, durch welchen die Sache, als wäre ſie Eigentum, den Zwecken des Thäters dauernd und ausſchließlich dienſtbar gemacht wird, gehört hieher; Beiſeiteſchaffen, Ableugnen des Beſitzes, Veräußern, Verbrauchen, Verpfänden5Diskontierung von in Ver - wahrung übernommenen Wech - ſeln: RGR. 20. Mai 1880, R I 808. kann Aneignung ſein. Die An - eignung muß auch hier eine rechtswidrige ſein.

4. Die Vollendung tritt ein mit der geſchehenen An - eignung (anders beim Diebſtahl). Der Verſuch trotz der Vergehensnatur ſtrafbar beginnt mit der beginnenden Aneignung.

5. Verletzt iſt der Eigentümer, und nur er, nicht etwa derjenige, der die Sache dem Thäter übergeben (anvertraut) hatte.

II. Arten der Unterſchlagung:

  • 1. Einfache Unterſchlagung. Strafe: Gefängnis bis zu 3 Jahren; bei mildernden Umſtänden Geld - ſtrafe bis zu 900 Mark.
  • 2. Die Veruntreuung oder Unterſchlagung anver - trauter, d. h. auf Grund eines Rechtsgeſchäftes mit der Verpflichtung zur Rückgabe oder Weiterbeförde - rung
    6Vgl. RGR. 12. Januar 1880, E I 61 (Uebergabe zur Prüfung der Ehrlichkeit).
    6 übernommener Sachen. Strafe: Gefängnis bis zu 5 Jahren; bei mil - dernden Umſtänden Geld bis zu 900 Mark.
  • 3. Privilegierte Fälle (StGB. §. 247); dieſelben wie272Erſtes Buch. III. Delikte gegen das Vermögen.beim Diebſtahl; vgl. oben §. 64 II 5. Entſcheidend hier immer die Qualität des verletzten Eigentümers.
  • 4. Die Unterſchlagung im Amte (StGB. §§. 250 und 251, vgl. unten §. 93 II 7).

III. Neben Gefängnis kann auf Verluſt der bürger - lichen Ehrenrechte erkannt werden (StGB. §. 248).

4.
§. 68. Die Sachbeſchädigung. 1Lit. bei Meyer S. 440 Anm. 1.

I. Begriff.

1. Sachbeſchädigung iſt Eigentumsverletzung durch rechtswidrige Verletzung oder Vernichtung der Sachſubſtanz (Beſchädigung oder Zerſtörung der Sache, die auch als Sachganzes in Betracht kommen kann). Bei - ſpiele: Zerlegen einer Maſchine, Fliegenlaſſen eines Bienen - ſchwarmes, Ausſtrömenlaſſen von Gas, Ueberſtreichen eines Gemäldes. Gebrauchsentziehung ſelbſt dauernde gehört nicht hieher (Ausfliegenlaſſen eines Vogels; Verſenken in die See).

2. Objekt iſt auch hier eine fremde bewegliche Sache (vgl. oben §. 64 I 2); daß ſie Tauſchwert beſitze, iſt nicht erforderlich. 2Vgl. RGR. 21. April 1880, R I 640.

3. Die Rechtswidrigkeit iſt Begriffsmerkmal; da - her Bewußtſein derſelben zum Vorſatz erforderlich (oben §. 28 II).

4. Verletzt im techniſchen Sinne des Wortes (vgl. 273Die Sachbeſchädigung. §. 68.oben §. 31 III 1 b), daher eventuell antragsberechtigt, iſt immer nur der Eigentümer. 3Dagegen RGR. 12. März 1880, E I 306, welches auch den zum Gebrauche der Sacheperſönlich Berechtigten für ver - letzt, bez. antragsberechtigt erklärt.

5. Die Vollendung tritt mit der erfolgten Beſchädigung oder Zerſtörung der Sache ein; der Verſuch iſt auch wenn Vergehen ſtrafbar.

II. Arten.

1. Die einfache Sachbeſchädigung (StGB. §. 303). Strafe: Geld bis zu 1000 Mark oder Gefängnis bis zu 2 Jahren. Antragsdelikt. Antrag rücknehmbar, wenn gegen Angehörige (StGB. §. 52 Abſ. 2) verübt.

2. Beſchädigung oder Zerſtörung von res sacrae religiosae publicae (StGB. §. 304). Das Geſetz nennt: Gegenſtände der Verehrung einer im Staate beſtehenden Re - ligionsgeſellſchaft; Sachen, die dem Gottesdienſte gewidmet ſind; Grabmäler, öffentliche Denkmäler; Gegenſtände der Kunſt, Wiſſenſchaft, des Gewerbes, welche in öffentlichen Sammlungen aufbewahrt werden oder öffentlich ausgeſtellt ſind; Gegenſtände, welche zum öffentlichen Nutzen oder zur Verſchönerung öffentlicher Wege, Plätze oder Anlagen dienen (mögen ſie auch nicht gerade zu dieſem Zwecke beſtimmt ſein4Vgl. RGR. 10. Dezember 1879, R I 134.). Strafe: Gefängnis bis zu 3 Jahren oder Geld bis zu 1500 Mark. Neben Gefängnis kann auf Verluſt der bürger - lichen Ehrenrechte erkannt werden.

Nur des Zuſammenhanges wegen es ſei dies aus - drücklich betont iſt dieſer Fall mit der einfachen Sach - beſchädigung unter den Eigentumsdelikten zu behandeln; die Richtung gegen den Einzelnen tritt völlig, die gegen dasvon Liszt, Strafrecht. 18274Erſtes Buch. III. Delikte gegen das Vermögen.Eigentum hinter der Verletzung des öffentlichen Gebrauchs - rechtes zurück.

3. Gänzliche oder teilweiſe Zerſtörung (nicht Beſchädigung) von in fremdem Eigentum ſtehenden Gebäuden, Schiffen, Brücken, Dämmen, gebauten Straßen, Eiſenbahnen (oben §. 64 II 2 d5)Doch ſind hier den öffent - lichen die privaten Zwecken die - nenden Eiſenbahnen gleichzu - ſtellen. oder anderen Bauwerken6Kaſuiſtik: RGR. 30. Juni1880, R II 140. (Herausreißen eines feſt mit dem Boden ver - bundenen Hofthores.). Strafe: Gefängnis nicht unter 1 Monat. Hier iſt der Charakter der einfachen Sachbeſchädigung als eines gegen den Einzelnen gerichteten Eigentumsdeliktes vollſtändig gewahrt; zugleich aber bildet dieſer Fall den Uebergang von der Sachbeſchädi - gung zu den gemeingefährlichen Delikten.

4. In einer ganzen Reihe von Fällen tritt die Bedeutung der Sachbeſchädigung als eines Eigentumsdeliktes ſo ſehr in den Hintergrund, daß die Einreihung dieſer Fälle unter andere Deliktsbegriffe oder ihre ſelbſtändige Behandlung angezeigt erſcheint. Vgl. StGB. §§. 90 Ziff. 2, 133 ff., 168, 265, 274, 315 ff. ; Forſt - und Feldfrevel uſw.

B.

§. 69. Strafbare Handlungen gegen Okkupationsrechte. 1Lit. bei Meyer S. 491 Note 1.

I. Verletzung des Jagdrechtes.

1. Begriff.

Jagdrecht iſt das Recht auf ausſchließliche Okkupation jagdbarer Tiere. Diebſtahl und nicht Verletzung des Jagd -275Strafbare Delikte gegen Okkupationsrechte. §. 69.rechtes iſt anzunehmen, wenn die Tiere wie bei Wild im umſchloſſenen Gehege bereits okkupirt ſind2Vgl. RGR. 6. Dezember 1879, R I 120..

Die Verletzung erfolgt durch unbefugte (Begriffsmerkmal! vgl. oben §. 28 II) Ausübung der Jagd. Dieſer Begriff umfaßt ein Doppeltes.

  • a) Schon das einfache dem-Wilde-Nachſtellen (Auf - dem-Anſtande-ſtehen; Anſchleichen; das Schlingen - legen uſw.). Schon mit dieſen Handlungen iſt die Vollendung des Deliktes eingetreten.
  • b) Die wirkliche Okkupation jagdbarer Tiere (auch von Fallwild, nicht aber von abgeworfenen Hirſchſtan - gen u. dgl. ; auch die Jagdfolge uſw.). Mit der Okku - pation, d. h. der Begründung des eigenen Gewahr - ſams, alſo nicht notwendig erſt mit dem Herausſchaffen aus dem Forſte
    3A. A. RGR. 13. April 1880, R I 589.
    3, tritt hier die Vollendung ein.

2. Arten.

  • a) Einfacher Fall (StGB. §. 292). Strafe: Geld bis zu 300 Mark oder Gefängnis bis zu 3 Monaten. Antragsdelikt, wenn gegen einen Angehörigen (StGB. §. 52 Abſ. 2) begangen. Antrag rücknehmbar.
  • b) Qualifizierter Fall (StGB. §. 293), wenn dem Wilde nicht mit Schießgewehr oder Hunden, ſondern mit Schlingen, Netzen, Fallen oder anderen Vorrich - tungen nachgeſtellt, oder wenn das Vergehen während der geſetzlichen Schonzeit, in Wäldern, zur Nachtzeit (Zeit von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang) oder gemeinſchaftlich von Mehreren (oben §. 61 Note 5) be - gangen wird. Strafe: Geld bis zu 600 Mark oder Ge -276Erſtes Buch. III. Delikte gegen das Vermögen.fängnis bis zu 6 Monaten. Antrag nicht erforderlich (beſtritten).
  • c) Wilddieberei (StGB. §. 294): gewerbsmäßiges (Begriff oben §. 39 II 3) Betreiben des unberechtigten Jagens. Strafe: Gefängnis nicht unter 3 Monaten, neben welchem auf Verluſt der bürgerlichen Ehren - rechte ſowie auf Zuläſſigkeit von Polizeiaufſicht erkannt werden kann.

In allen 3 Fällen iſt (StGB. §. 295) auf Einziehung des Gewehrs, des Jagdgerätes und der Hunde, welche der Thäter bei ſich geführt hat, ingleichen der Schlingen, Netze, Fallen und anderen Vorrichtungen zu erkennen, ohne Unter - ſchied, ob ſie dem Verurteilten gehören oder nicht (vgl. oben §. 50 II), und ohne Unterſchied ferner, ob dieſe Gegenſtände zur Jagdausübung beſtimmt waren oder nicht4Vgl. RGR. 6. Dezember 1879, R I 119, E I 28..

  • d) Vgl. noch StGB. §. 368 Ziff. 10 u. 11: Geldſtrafe bis zu 60 Mark oder Haft bis zu 14 Tagen trifft denjenigen, der
    • α) ohne Genehmigung des Jagdberechtigten oder ohne ſonſtige Befugnis auf einem fremden Jagdgebiete außerhalb des öffentlichen, zum gemeinen Gebrauche beſtimmten Weges, wenn auch nicht jagend, doch zur Jagd ausgerüſtet, betroffen wird;
    • β) denjenigen, der unbefugt Eier oder Junge von jagdbarem Federvieh (oder von Singvögeln) aus - nimmt.

II. Verletzung des Rechts zur Okkupation von Fiſchen und Krebſen (auch die Perlmuſchelfiſcherei gehört hierher).

277Der Bankbruch. §. 70.

1. Einfaches unberechtigtes Fiſchen oder Krebſen (StGB. §. 370 Ziff. 4). Strafe: Geld bis zu 150 Mark oder Haft.

2. Unberechtigtes (Begriffsmerkmal! oben §. 28 II) Fiſchen oder Krebſen zur Nachtzeit (wie oben I 2) oder unter An - wendung ſchädlicher oder explodierender Stoffe (StGB. §. 296). Strafe: Geld bis zu 600 Mark oder Gefängnis bis zu 6 Monaten.

3. Ausländer, welche in den deutſchen Küſtengewäſſern unbefugt fiſchen, trifft die unter 2. angegebene Strafe, auch wenn keiner der erſchwerenden Umſtände des §. 296 vorliegt (StGB. §. 296 a).

C. Strafbare Handlungen gegen obligatoriſche Anſprüche.

1.
§. 70. Der Bankbruch. 1Lit. bei Meyer S. 520 Note 1; dazu Merkel HR. Bankrutt .

Geregelt durch die §§. 209 212 der Konk. -Odg., die an Stelle der §§. 281 283 StGB. getreten ſind. Ueber das Verhältnis des Reichsrechtes zum Landesrechte vgl. Einf. Geſ. zur Konk. -Odg. §§. 4 u. 5.

I. Begriff.

Der Bankbruch gehört zu denjenigen Delikten, deren be - griffliche Entwicklung eben im Fluſſe begriffen iſt, ohne daß Geſetzgebung und Wiſſenſchaft zu abſchließenden Reſultaten gelangt wären. Eben darum bietet er der juriſtiſchen Kon -278Erſtes Buch. III. Delikte gegen das Vermögen.ſtruktion wie der praktiſchen Anwendung der geſetzlichen Be - ſtimmungen größere Schwierigkeiten als andere, zu endgülti - ger Geſtaltung gelangte, Verbrechensbegriffe.

1. Bankbruch iſt wenn wir vom poſitiven Rechte ab - ſehen Gefährdung der obligatoriſchen Anſprüche der Gläubiger durch Mißbrauch des Kredites. Die Geſammtforderungen der Gläubiger ſind das nächſte Angriffs - objekt des Bankbruches, mag er auch in ſeinen Folgewir - kungen, über die Vermögensintereſſen der Nächſtbeteiligten hinausgreifend, eine Erſchütterung der publica fides, der Sicherheit des Kreditweſens in weiteren, nicht abgegrenzten und nicht abzugrenzenden Kreiſen herbeiführen. Der Miß - brauch des Kredites aber würde bei dieſer Faſſung des Be - griffes in jeder Vernachläſſigung derjenigen Sorgfalt beſtehen, zu welcher der Kreditnehmer dem Kreditgeber gegenüber, wenn auch nicht rechtlich, ſo doch als gewiſſenhafter Haus - wirt, verpflichtet iſt. Allerdings hätte dieſem erweiterten Begriffe gegenüber der Name Bankbruch nur mehr hiſto - riſche Berechtigung.

2. Im poſitiven Rechte iſt der Begriff des Bankbruches weſentlich eingeſchränkt.

  • a) Das Geſetz macht die Zahlungseinſtellung oder die Eröffnung des Konkursverfahrens zur Be - dingung der Strafbarkeit (in dem oben §. 30 angege - benen Sinne). Es bedarf nach Anſicht des Geſetz - gebers einer ſcharfen, greifbaren Bezeichnung des Augen - blickes, in welchem die Intereſſen der Gläubiger als definitiv gefährdet anzuſehen ſind. Zahlungseinſtellung aber iſt die Nichterfüllung einer fälligen Ver - pflichtung auf Grund wirklicher, vermeint - licher oder fingierter Zahlungsunfähigkeit,279Der Bankbruch. §. 70.daher zu unterſcheiden einerſeits von der wirklichen Unfähigkeit zur Erfüllung der ſchwebenden Verbind - lichkeiten, andrerſeits von der Ueberſchuldung, dem Ueberſtiegenſein der Paſſiva durch die Aktiva.
  • b) Das Geſetz hebt in kaſuiſtiſcher Weiſe, jedes andere etwa gleichwertige Verhalten ausſchließend, jene Handlungen des Schuldners hervor, in welchen regelmäßig (nicht not - wendig immer) ein Mißbrauchen des Kredites gelegen iſt; die regelmäßig, wenn auch nicht notwendig im Einzelfalle, zur eingetretenen Zahlungseinſtellung, mithin zu der vom Geſetze in dieſer erblickten Gefährdung der Vermögens - intereſſen der Gläubiger, in kauſaler Beziehung ſtehen.
  • c) Nach dieſer Einengung des Begriffes konnte das Geſetz davon abſehen, ob die im Allgemeinen vorhandene Gefährdung der Gläubigeranſprüche auch im konkreten Falle eingetreten iſt oder nicht.

So erhält der Begriff des Bankbruches eine weſentlich veränderte Geſtalt. Er liegt vor, wenn ein Schuldner:

  • 1. ſeine Zahlungen eingeſtellt (den Konkurs eröffnet) und
  • 2. gewiſſe vom Geſetze bezeichnete Handlungen begangen hat.

3. Trotz dieſer veränderten Geſtalt behält unſere ur - ſprüngliche Definition ihre Bedeutung. Immer liegt in der auf beſtimmte Weiſe herbeigeführten, in einem beſtimmten Augenblicke als gegeben angenommenen Gefährdung der ver - mögensrechtlichen Anſprüche der Gläubiger der Kern des De - liktes. Die Geſammtheit der an derſelben Zahlungseinſtellung beteiligten Gläubiger iſt Trägerin des angegriffenen Rechts - gutes. Daraus folgt:

  • a) Wenn ein Schuldner mit Rückſicht auf dieſelbe Zahlungseinſtellung (Konkurseröffnung) mehrere der vom Geſetze bezeichneten Handlungen begangen hat280Erſtes Buch. III. Delikte gegen das Vermögen.(z. B. Differenzſpiel und Vernichtung der Handels - bücher), ſo liegt nur eine ſtrafbare Handlung, nicht Realkonkurrenz mehrerer vor.
    2Beſtritten. Richtige Anſicht: RGR. 15. November 1879, R I 77, E I 101; 20. April 1880, R I 627. Vgl. auch RGR. 5. Juni 1880, R II 32) mehr - facher Unterlaſſung der Bilanz - ziehung).
    2
  • b) So lange es ſich um dieſelbe Zahlungseinſtel - lung (Konkurseröffnung) handelt, können nicht zwei Bankbrüche angenommen werden, mag auch der That - beſtand des einfachen wie der des qualiſizierten Falles vorliegen; der Schuldner hat ſich vielmehr nur eines Bankbruches und zwar des ſchwereren Falles ſchuldig gemacht.
    3Beſtritten. Lit. bei Meyer S. 529 Note 1. RGR. 22. Juni 1880, E II 198 hat die Frage prinzipiell nicht entſchieden, aber Unmöglichkeit realer Konkurrenz zwiſchen §. 209 Ziff. 3 bez. 4 u. §. 210 Ziff. 2 bez. 3 angenommen.
    3

In beiden Fällen iſt mit der Einheit des Erfolges die Einheit der Handlung, und zwar nicht eine nur juriſtiſche, ſon - dern eine natürliche Handlungseinheit (oben §. 39 I 2) gegeben.

4. Die vom Geſetze bezeichneten Handlungen können der Zahlungseinſtellung (Konkurseröffnung) zeitlich vorangehen oder ihr nachfolgen; im erſten Falle iſt das Delikt mit der Zahlungseinſtellung, im letzteren mit der Vornahme der be - treffenden Handlung vollendet. Dieſe Möglichkeit, Bank - bruch anzunehmen, obwohl die Zahlungseinſtellung voraus - gegangen iſt, tritt erſt damit ein, daß in dem poſitiv-recht - lichen Begriffe des Bankbruches von dem Vorliegen des Kauſal - zuſammenhanges zwiſchen den einzelnen Handlungen und der Zahlungseinſtellung im konkreten Falle abgeſehen iſt.

5. Subjekt des Deliktes iſt nach der Konkursordnung jeder Schuldner, nicht bloß der Kaufmann. Auch Mitglieder281Der Bankbruch. §. 70.des Vorſtandes einer Aktiengeſellſchaft oder eingetragenen Genoſſenſchaft, ſowie die Liquidatoren einer Handelsgeſellſchaft oder eingetragenen Genoſſenſchaft, welche ihre Zahlungen ein - geſtellt hat oder über deren Vermögen das Konkursverfahren eröffnet worden iſt, können ſich des Bankbruches ſchuldig machen, wenn ſie in dieſer Eigenſchaft die mit Strafe be - drohten Handlungen begangen haben (Konk. -Odg. §. 214).

6. Ort der begangenen That iſt auch hier wird unſere theoretiſche Definition von Wichtigkeit nicht derjenige, an welchem die einzelnen im Geſetze bezeichneten Handlungen be - gangen ſind, ſondern derjenige, an welchem der Schuldner im Augenblicke der Zahlungseinſtellung oder Konkurseröffnung ſeinen wirtſchaftlichen Wohnſitz hat (vgl. oben §. 19 IV); Schuld dagegen muß auf ſeiten des Angeklagten in dem Augenblicke vorliegen, in welchem er die Einzelhandlungen ge - ſetzt hat (oben §. 19 III 1).

II. Arten.

1. Der einfache Bankbruch (Konk. -Odg. §. 210). Er liegt, die Zahlungseinſtellung oder Konkurseröffnung voraus - geſetzt, vor, wenn der Schuldner:

  • a) durch Aufwand, Spiel oder Differenzhandel mit Waaren oder Börſenpapieren (nicht bloß das eigentliche Diffe - renzgeſchäft, ſondern auch effektive Lieferungsgeſchäfte, wenn auf unſolider Spekulation beruhend, gehören hieher)
    4Vgl. RGR. 31. März 1880, R I 526, E I 282; 10. April1880, R I 563.
    4 übermäßige Summen verbraucht hat oder ſchuldig geworden iſt;
  • b) wenn er Handelsbücher zu führen unterlaſſen hat, deren Führung ihm geſetzlich oblag, oder dieſelben verheim -282Erſtes Buch. III. Delikte gegen das Vermögen.licht, vernichtet oder ſo unordentlich geführt hat, daß ſie keine Ueberſicht des Vermögenszuſtandes gewähren;
  • c) wenn er es gegen die Beſtimmung des Handelsgeſetz - buchs unterlaſſen hat, die Bilanz ſeines Vermögens in der vorgeſchriebenen Zeit zu ziehen.

Strafe: Gefängnis bis zu 2 Jahren.

Ganz verkehrt iſt es, dieſen Fall des Bankbruchs als fahrläſſigen Bankbruch zu bezeichnen. Die einzelnen Hand - lungen müſſen vielmehr alle vorſätzlich, d. h. mit dem Be - wußtſein ihrer Kauſalität begangen ſein. Der Schuldner muß wiſſen, daß er Handelsbücher zu führen hat, daß er ſie vernichtet uſw.

2. Der ſogenannte betrügeriſche Bankbruch (Konk. - Odg. §. 209). Zu der Thatſache der Zahlungseinſtellung oder Konkurseröffnung muß außer den vom Geſetz be - zeichneten Handlungen die Abſicht, die Gläubiger zu benachteiligen, d. h. in ihren Anſprüchen zu ſchädigen, hinzutreten. Das Schema dieſes Falles wäre alſo: Ge - fährdung in Verletzungsabſicht, wie wir dasſelbe oben §. 62 II bei der Vergiftung gefunden haben. Erreichung der Abſicht iſt ebenſowenig wie Eintritt der Gefährdung im kon - kreten Falle erforderlich.

Die Strafe Zuchthaus, bei mildernden Umſtänden Gefängnis nicht unter 3 Monaten trifft jenen Schuldner, welcher:

  • a) Vermögensſtücke verheimlicht oder bei Seite geſchafft, d. h. den Gläubigern entzogen hat. Auch Veräußerung von unbeweglichen Sachen gehört hierher;
    5RGR. 22. Juni 1880, E II 118, R II 97.
    5
283Der Bankbruch. §. 70.
  • b) Schulden oder Rechtsgeſchäfte anerkannt oder aufge - ſtellt hat, welche ganz oder teilweiſe erdichtet ſind;
  • c) Handelsbücher zu führen unterlaſſen hat, deren Füh - rung ihm geſetzlich oblag;
  • d) ſeine Handelsbücher (auch wenn er zur Führung nicht verpflichtet war) vernichtet, verheimlicht oder ſo geführt oder verändert hat, daß dieſelben keine Ueberſicht des Vermögensſtandes gewähren.

3. Die ſogenannte Gratifikation (Konk. -Odg. §. 210). Gefängnis bis zu 2 Jahren trifft jenen Schuldner, welcher Zahlungseinſtellung oder Konkurseröffnung vorausgeſetzt obwohl er ſeine Zahlungsunfähigkeit kannte, einem Gläu - biger in der Abſicht, ihn vor den übrigen zu begünſtigen, eine Sicherung oder Befriedigung gewährt hat, welche der - ſelbe nicht oder nicht in der Art oder nicht zu der Zeit zu beanſpruchen hatte.

III. Die Teilnahme dritter Perſonen wird zunächſt nach den allgemeinen Grundſätzen behandelt. Doch hat das Geſetz (Konk. -Odg. §. 212) gewiſſe Fälle als delicta sui generis unter beſondere Strafe geſtellt und damit von den ſonſtigen Vorausſetzungen der Teilnahme losgelöſt: mit Zucht - haus bis zu 10 Jahren, bei mildernden Umſtänden mit Ge - fängnis oder mit Geld bis zu 6000 Mark wird beſtraft, wer:

  • 1. im Intereſſe des Schuldners Zahlungseinſtellung oder Konkurseröffnung auch hier vorausgeſetzt Ver - mögensſtücke desſelben verheimlicht oder bei Seite ge - ſchafft hat; oder
  • 2. im Intereſſe eines ſolchen Schuldners, oder um ſich oder einem andern einen (nicht notwendig rechtswidrigen) Vermögensvorteil
    6Begriff unten §. 73 I 3.
    6 zu verſchaffen, in dem Verfahren er -284Erſtes Buch. III. Delikte gegen das Vermögen.dichtete Forderungen im eigenen Namen oder durch vorgeſchobene Perſonen geltend gemacht hat. Verſuch und Teilnahme an dieſem ſelbſtändigen De - likte ſind der allgemeinen Regel gemäß möglich.

IV. An den Bankbruch des Schuldners reiht das Geſetz ein beſonderes Delikt des Konkurs gläubigers an (Konk. -Odg. §. 213): Ein Gläubiger, welcher ſich von dem Gemein - ſchuldner oder anderen Perſonen beſondere Vorteile dafür hat gewähren oder verſprechen laſſen, daß er bei den Abſtim - mungen der Konkursgläubiger in einem gewiſſen Sinne ſtimme, wird mit Geldſtrafe bis zu 3000 Mark oder mit Gefängnis bis zu einem Jahre beſtraft.

Bevorſtehende Abſtimmung iſt vorausgeſetzt; mit dem Ge - währen oder Verſprechen tritt die Vollendung ein, mag auch die ſpätere Abſtimmung der Verabredung nicht entſprechen; Teilnahme dritter Perſonen iſt möglich.

2.
§. 71. Die Untreue. 1Lit. bei Meyer S. 545 Note 1.

I. Begriff.

Von der Untreue gilt das oben §. 70 vom Bankbruch Geſagte in erhöhtem Maße. Wir finden in der modernen Geſetzgebung nur ſchwache, meiſt kaſuiſtiſche, Anſätze zu be - grifflicher Entwicklung dieſes Deliktes, das zur Ausfüllung einer der fühlbarſten Lücken unſeres Strafrechtes berufen iſt.

Auch die Untreue iſt gerichtet gegen obligatoriſche, aus Verträgen oder vertragsähnlichen Verhältniſſen ent -285Die Untreue. §. 71.ſpringende Anſprüche. Sie gehört darum zweifelsohne zu den Delikten gegen das Vermögen, wenn wir dieſes als die Geſammtheit der dinglichen und perſönlichen An - ſprüche auffaſſen. Daß die in Frage ſtehenden Anſprüche der Abſchätzung in Geld nicht immer zugänglich ſind, iſt kein Grund gegen die Richtigkeit der ſyſtematiſchen Stellung, die wir hier der Untreue gegeben haben.

Aber nicht alle obligatoriſchen Anſprüche ſind der Ver - letzung durch Untreue fähig, ſondern nur jene, welche auf gewiſſenhafte Geſchäftsführung oder überhaupt auf gewiſſenhafte Wahrnehmung fremder Inter - eſſen gehen.

Somit gewinnen wir den Begriff: Untreue iſt die Ver - letzung der aus Verträgen oder vertragsähnlichen Verhältniſſen entſpringenden Pflicht zur Wahr - nehmung anvertrauter fremder Intereſſen.

II. Das Geſetz beſtraft die Untreue in folgenden Fällen.

1. Untreue im engeren Sinne (StGB. §. 266). Ge - fängnis mit fakultativer Aberkennung der bürgerlichen Ehren - rechte trifft:

  • a) Vormünder, Kuratoren, Güterpfleger, Sequeſter, Maſſen - verwalter, Vollſtrecker letztwilliger Verfügungen und Ver - walter von Stiftungen, wenn ſie abſichtlich (Abſicht gleich Vorſatz,
    2Vgl. RGR. 28. Januar 1880, E I 172, R I 287;23. März 1880, E I 329; 2. Juli 1880, R II 155.
    2 nicht gleich Motiv; oben §. 28 III) zum Nachteile der ihnen anvertrauten Perſonen oder Sachen handeln.
  • b) Bevollmächtigte, welche über Forderungen oder andere Vermögensſtücke des Auftraggebers abſichtlich zum Nach - teile deſſelben verfügen.
286Erſtes Buch. III. Delikte gegen das Vermögen.
  • c) Feldmeſſer, Verſteigerer, Mäkler, Güterbeſtätiger, Schaff - ner, Wäger, Meſſer, Bracker, Schauer, Stauer und andere zur Betreibung ihres Gewerbes von der Obrig - keit verpflichtete Perſonen, wenn ſie bei den ihnen über - tragenen Geſchäften abſichtlich diejenigen benachteiligen, deren Geſchäfte ſie beſorgen.

Die Untreue iſt qualifiziert neben Gefängnis fakul - tativ Geldſtrafe bis zu 3000 Mark wenn ſie begangen wird, um ſich oder einem Anderen einen rechtswidrigen Vermögens - vorteil zu verſchaffen (über dieſen Begriff vgl. unten §. 73 I 3).

2. Nach dem Geſetz über eingeſchriebene Hülfs - kaſſen vom 7. April 1876 §. 34 unterliegen Mitglieder des Vorſtandes oder des Ausſchuſſes, welche abſichtlich zum Nach - teile der Kaſſe gehandelt haben, der Strafbeſtimmung des §. 266 StGB.

3. Die ſogenannte Prävarikation des Rechtsfreun - des, im Geſetz (StGB. §. 356) unrichtig unter die Amts - delikte geſtellt. Gefängnis nicht unter 3 Monaten trifft den Advokaten, Anwalt oder anderen Rechtsbeiſtand, der bei den ihm vermöge ſeiner amtlichen (?) Stellung anvertrauten An - gelegenheiten in derſelben Rechtsſache beiden Parteien durch Rat oder Beiſtand pflichtwidrig dient. Handelt er im Ein - verſtändniſſe mit der Gegenpartei zum Nachteile ſeiner Partei, ſo tritt Zuchthaus bis zu 5 Jahren ein.

4. Das Geſetz vom 11. Juni 1870, die Kommandit - geſellſchaften auf Aktien und die Aktiengeſellſchaf - ten betreffend, enthält mehrere ſtrafbare Handlungen, die zum Teile allerdings als gegen die ſtaatliche Oberaufſicht gerichtet erſcheinen, mithin dem 3. Abſchnitte des beſonderen Teiles einzureihen wären, zum Teile aber den Charakter der287Die Untreue. §. 71.ſtrafbaren Untreue, der Vernachläſſigung anvertrauter Inter - eſſen tragen.

Es gehören hieher:

  • a) Art. 206. Die perſönlich haftenden Mitglieder und die Mitglieder des Aufſichtsrates einer Kommandit - geſellſchaft auf Aktien werden mit Gefängnis bis zu 3 Monaten beſtraft:
    • 1. Wenn ſie vorſätzlich behufs Eintragung des Ge - ſellſchaftsvertrages in das Handelsregiſter falſche Angaben über Zeichnung oder Einzahlung des Ka - pitals der Kommanditiſten machen.
    • 2. Wenn durch ihre Schuld (Fahrläſſigkeit genügt) länger als 3 Monate die Geſellſchaft ohne Auf - ſichtsrat geblieben iſt, oder in dem letzteren die zur Beſchlußfähigkeit erforderliche Zahl von Mit - gliedern gefehlt hat.
    • 3. Wenn ſie in ihren Darſtellungen, in ihren Ueber - ſichten über den Vermögensſtand der Geſellſchaft oder in den in der Generalverſammlung gehal - tenen Vorträgen wiſſentlich den Stand der Ver - hältniſſe der Geſellſchaft unwahr darſtellen oder verſchleiern.
    Bei mildernden Umſtänden in den Fällen 2 und 3 tritt Geldſtrafe bis zu 3000 Mark ein.
  • b) Art. 249. Unter den gleichen Vorausſetzungen trifft die gleiche Strafe die Mitglieder des Aufſichtsrates und des Vorſtandes einer Aktiengeſellſchaft.
  • c) Art. 249a. Mitglieder des Vorſtandes einer Aktien - geſellſchaft werden mit Gefängnis bis zu 3 Monaten beſtraft, wenn ſie der Vorſchrift des Art. 240 HGB. zuwider dem Gericht die Anzeige zu machen unter -288Erſtes Buch. III. Delikte gegen das Vermögen.laſſen, daß das Vermögen der Geſellſchaft nicht mehr die Schulden deckt. Die Strafe tritt nicht ein, wenn von ihnen nachgewieſen wird (vgl. oben §. 27 Note 3), daß die Anzeige ohne ihr Verſchulden unter - blieben iſt. Fahrläſſigkeit genügt alſo auch hier.
3.
§. 72. Andere Fälle.

I. Die Exekutionsvereitlung (StGB. §. 288), vorliegend, wenn jemand bei einer ihm drohenden Zwangs - vollſtreckung, in der Abſicht (gleich Vorſatz1Daher liegt §. 288 vor, auch wenn die Abſicht (gleich trei - bendes Motiv, oben §. 28 III) auf Befriedigung eines an - deren Gläubigers gerichtet war: RGR. 5. November 1879, E I 96, R I 37. oben §. 28 III) die Befriedigung des Gläubigers (aus dieſer Zwangsvoll - ſtreckung, nicht notwendig überhaupt2Vgl. RGR. 8. April 1880, E I 560.) zu vereiteln, Beſtand - teile ſeines Vermögens veräußert oder bei Seite ſchafft (oben §. 70 II 2 a). Strafe: Gefängnis bis zu 2 Jahren. Antragsdelikt.

Die Zwangsvollſtreckung iſt eine drohende, ſobald der Gläubiger Schritte zur gerichtlichen Eintreibung ſeiner For - derung gemacht hat; Klagerhebung kann genügen, Beginn des Vollſtreckungsverfahrens iſt nicht erforderlich. 3Vgl. RGR. 1. November 1879, R I 31; 16. Dezember 1879, E I 37, R I 151; 1. Mai 1880, E II 145; 25. Mai 1880, E II 67, R I 824.

II. Der einfache Vertragsbruch4Lit. insbeſondere über die Strafbarkeit des Arbeiter - kontraktsbruches bei Meyer S. 516 Note 1 u. 518 Note 4. iſt, wenn wir von dem gemeingefährlichen Delikte des §. 329 StGB. abſehen,289Andere Fälle. §. 72.nach dem, noch immer von falſchen Vorſtellungen über die Natur des kriminellen Unrechtes beherrſchten, Reichsſtrafrecht nur in einem einzigen Falle unter Strafe geſtellt. Es iſt dies der Bruch des Heuervertrages. Dieſer wird:

  • 1. Mit Gefängnis bis zu einem Jahre beſtraft, wenn die Heuer bereits gegeben war, und der Schiffsmann mit derſelben entläuft oder ſich verborgen hält, um ſich dem übernommenen Dienſte zu entziehen, und zwar ohne Unterſchied, ob das Vergehen im Inlande oder im Auslande begangen iſt (StGB. §. 298). Durch den letzteren Zuſatz wird der Eintritt der Strafe un - abhängig gemacht von der ſonſt nach §. 4 StGB. er - forderlichen Strafbarkeit der Handlung am Orte der That (vgl. oben §. 13 S. 56). Der geſetzgeberiſche Grund liegt in der Strafloſigkeit dieſes Deliktes nach engliſchem und amerikaniſchem Recht.
  • 2. Die anderen Fälle des Bruches des Heuervertrages werden nach §. 81 Seemannsordnung vom 27. De - zember 1872 auf Antrag des Schiffers mit Geldſtrafe bis zu 300 Mark (bez. 60 Mark) oder Gefängnis bis zu 3 Monaten beſtraft.

III. Nach StGB. §. 297 trifft den Reiſenden oder Schiffsmann, welcher ohne Vorwiſſen des Schiffers, in - gleichen den Schiffer, welcher ohne Vorwiſſen des Rheders Gegenſtände an Bord nimmt, welche das Schiff oder die Ladung gefährden, indem ſie die Beſchlagnahme oder Ein - ziehung des Schiffes oder der Ladung veranlaſſen können, Geldſtrafe bis zu 1500 Mark oder Gefängnis bis zu 2 Jahren.

von Liszt, Strafrecht. 19290Erſtes Buch. III. Delikte gegen das Vermögen.

D. Strafbare Handlungen gegen das Vermögen überhaupt.

1.
§. 73. Der Betrug. 1Lit. bei Meyer S. 498 Note 1. Dazu Zimmermann GS. XXIX. Merkel HR. Betrug .

I. Begriff.

Betrug iſt Vermögensbeſchädigung in Bereiche - rungsabſicht, herbeigeführt durch argliſtige Er - regung und Unterhaltung eines Irrtums. Der zu Beſchädigende handelt ſelbſt, aber ohne ſich der Kauſalität ſeines Thuns bewußt zu ſein; juriſtiſch betrachtet (oben §. 20 III) iſt es alſo nicht der Beſchädigte, der ſich ſelbſt, ſondern der Täuſchende, der einem Anderen die Beſchädigung zufügt. Die Merkmale des Betrugsbegriffes bedürfen der näheren Erläuterung.

1. Die argliſtige Täuſchung beſteht in der Vorſpiege - lung falſcher oder in der Entſtellung oder Unter - drückung wahrer Thatſachen als Mittel zur Erregung und Unterhaltung des Irrtums.

Thatſache iſt Alles, was der Gegenwart oder Ver - gangenheit, nicht aber was der Zukunft angehört; Vorgänge der Außenwelt und im Inneren des Täuſchenden, phyſiſche wie pſychiſche Thatſachen ſtehen einander gleich. 2Sehr beſtritten. Die rich -tige Anſicht vertritt: RGR. 24. Januar 1880, R I 272; 8. März 1880, E I 305; 3. April 1880, R I 535; 10. Auguſt 1880, R II 54.Auch Täu - ſchung über Anſichten und Abſichten des Thäters, nicht aber291Der Betrug. §. 73.z. B. über die Ausſichten des ins Leben zu rufenden Unter - nehmens gehören hieher.

2. Die Erregung und die Unterhaltung des Irr - tums ſtehen einander gleich. Beide können durch Verſchwei - gen von Thatſachen begangen werden. Dieſes Nichtreden iſt aber nur dann dem Reden gleichwertig, wenn der Ge - täuſchte berechtigt war, das Reden zu erwarten;3Richtig RGR. 13. März 1880, E I 309. wenn alſo eine Verpflichtung zum Reden beſtand, die nicht notwendig eine Rechtspflicht zu ſein braucht,4Rechtspflicht verlangt RGR. 4. November 1879, R I 36. ſondern auch in den ge - ſchäftlichen Gewohnheiten begründet ſein oder aber auch aus dem vorhergegangenen poſitiven Verhalten folgen kann. 5Dieſes vorhergegangene Ver - halten giebt nicht etwa dem Schweigen die Bedeutung des Sprechens, ſondern läßt es ebenals ein unberechtigtes erſcheinen. Schief RGR. 15. März 1880, E I 314.Es gelten hier ohne Ausnahme dieſelben Grundſätze, die oben §. 21 über die Bedeutung der ſcheinbaren Unterlaſſungen überhaupt entwickelt wurden.

Nach dem Geſagten iſt auch der ſogenannte Kredit - betrug, d. h. die Erſchleichung des Kredites durch einen Zahlungsunfähigen, zu beurteilen. Nur dann liegt argliſtige Täuſchung vor, wenn der Getäuſchte die Benachrichtigung von der vorhandenen Zahlungsunfähigkeit zu erwarten be - rechtigt war. 6Vgl. RGR. 7. April 1880, R I 558, E II 5.

3. Die Täuſchung muß erfolgen in Bereicherungs - abſicht, d. i. in der Abſicht (gleich erweiterter Vorſatz, oben §. 28 III) ſich oder einem Dritten einen rechtswi - drigen Vermögensvorteil7Vgl. darüber Waag GS. XXXI. zu verſchaffen.

292Erſtes Buch. III. Delikte gegen das Vermögen.

Vermögensvorteil iſt nicht bloß die Vermehrung des Vermögens, alſo die Gewinnung eines neuen dinglichen oder perſönlichen Anſpruches, ſondern jede Verbeſſerung der Vermögenslage, alſo die Sicherung oder Erweiterung der vorhandenen Anſprüche oder die Abwehr einer ihnen drohenden Schädigung. 8Beſeitigung eines ungün - ſtigen Civilprozeßurteils: RGR. 5. Februar 1880, E I 186. Auch Abwendung der Zahlung einer Schuld, ſelbſt wenn dieſe als Geldſtrafe aus einem De - likte entſpringt; dagegen RGR. 1. Mai 1880, E II 34, R I 713 (aber ohne überzeugende Begründung).Erlangung des Beſitzes,9RGR. 10. Januar 1880, E I 55. eines Darlehns10RGR. 3. Mai 1880, R I 716. gehört hieher; ebenſo die Sicherung eines bereits erlangten Vorteils. 11RGR. 7. Mai 1880, E II 53.Erwirkung der Zahlung oder Verbürgung durch einen Dritten kann unter Umſtänden Vermögensvorteil ſein. 12RGR. 17. März 1880, E I 318, R I 481.

Rechtswidrig aber iſt jeder Vorteil, auf welchen der Handelnde keinen rechtlich begründeten Anſpruch hatte;13Sehr beſtritten. Für die richtige Anſicht hat ſich ausge - ſprochen: RGR. 10. November 1879, R I 49; 22. Januar 1880, R I 261; 17. März 1880, E I 318. nicht nur der dem Geſetze zuwiderlaufende Vermögensvorteil gehört hieher, ſondern die ganze, überaus große und praktiſch hoch - wichtige Gruppe der dem Rechte indifferenten Vermögens - vorteile. Rechtswidrig hat demnach nicht poſitive, ſondern rein negative Bedeutung; am entſprechendſten wäre der Aus - druck nicht rechtlich begründet . Der Betrug entfällt alſo nur dann, wenn die argliſtige Täuſchung das Mittel zur Durchſetzung eines wohl erworbenen und bereits fälligen An - ſpruchs iſt.

293Der Betrug. §. 73.

Es iſt gleichgültig, ob der Thäter den Vorteil ſich oder einem Dritten zuwenden will; die beabſichtigte Zuwendung an die Armenkaſſe z. B. würde die Strafbarkeit nicht be - ſeitigen. 14RGR. 19. März 1880, R I 495.

4. Der vollendete Betrug ſetzt eingetretene Vermö - gensbeſchädigung voraus. Vermögensbeſchädigung iſt aber nicht nur die Verminderung des Vermögens, alſo der Verluſt eines dinglichen oder perſönlichen Anſpruches, ſondern jede Verſchlechterung der Vermögenslage. So die Ceſſion einer unſicheren Hypothek an Zahlungsſtatt;15RGR. 13. März 1880, E I 267, R I 444. die Prolongation eines Wechſels16RGR. 21. Oktober 1879, R I 12. uſw. Vereitelung zu erwar - tenden Gewinnes gehört nur dann hieher, wenn bereits ein Anſpruch auf denſelben vorhanden war. 17Dagegen ſtellt RGR. 14. Ja - nuar 1880, E I 68 das lucrum cessans dem damnum emergens durchaus gleich.Die Vermögens - beſchädigung kann eine bleibende oder vorübergehende ſein; durch die Möglichkeit künftiger Ausgleichung wird der Begriff nicht ausgeſchloſſen.

5. Die Täuſchung muß das Mittel der Vermögens - beſchädigung ſein; beide müſſen im Kauſalzuſammenhange zu einander ſtehen. 18Vgl. darüber Feige GA. XXVI. Der Täuſchende iſt es ja, der ſelbſt das Vermögen des Getäuſchten beſchädigt. Dies ſchließt die Mög - lichkeit mehrerer als Mittel benutzter Zwiſchenglieder nicht aus; wie des Beſchädigten ſelbſt, ebenſo kann ſich der Betrüger ſchon nach allgemeinen Grundſätzen (oben §. 20 III) auch anderer Perſonen als Mittel für ſeine Zwecke bedienen. Mit anderen Worten: Identität der getäuſchten und der be -294Erſtes Buch. III. Delikte gegen das Vermögen.ſchädigten Perſon iſt nicht erforderlich. Insbeſondere kann die Beſchädigung des Prozeßgegners durch eine Täuſchung des Richters herbeigeführt werden; vorausgeſetzt, daß es ſich nicht um einfach unwahre, durch Vernehmung der Gegen - partei in dieſer Eigenſchaft erkennbare, Parteibehauptungen, ſondern um ein Fälſchen der Beweismittel handelt. 19Der richtigen Anſicht folgt RGR. 25. Februar 1880, E I 227, R I 387; 17. März 1880, R I 479; 22. Mai 1880, R I 808; 8. Juni 1880, E II 91.

Das Erſchleichen von Liberalitäten iſt nur dann Be - trug, wenn ſie durch eine wirkliche Irreführung des Schenk - gebers erlangt wurden; nicht aber dann, wenn der Kauſal - zuſammenhang fehlt und nicht die Täuſchung, ſondern der Wunſch den läſtigen Bewerber loszuwerden oder Gutmütigkeit uſw. die Urſache waren, welche den der Kauſalität ſeines Thuns ſich bewußten Schenkgeber zur Schenkung be - ſtimmten.

6. Der Verſuch der auch, wenn Vergehen, ſtrafbar beginnt bereits mit der Vorſpiegelung, Entſtellung, Unter - drückung der Thatſachen. Iſt die angeſtrebte Vermögens - beſchädigung auf dem vom Thäter gewählten Wege nicht zu erreichen, ſo liegt Verſuch mit untauglichem Mittel vor, der nach den allgemeinen Regeln (oben §. 32 V) zu beur - teilen iſt. 20Ueberſehen in RGR. 8. Mai 1880, R I 744; richtig (mit Bezug auf StGB. §. 268) RGR. 5. Februar 1880, E I 186.

II. Die Arten des Betruges.

1. Der einfache Betrug (StGB. §. 263). Strafe: Gefängnis; daneben fakultativ Geldſtrafe bis zu 3000 Mark, ſowie Verluſt der bürgerlichen Ehrenrechte. Bei mildernden Umſtänden kann ausſchließlich auf Geldſtrafe erkannt werden. 295Der Betrug. §. 73.Antragsdelikt, wenn gegen Angehörige (StGB. §. 52 Abſ. 2) Vormünder oder Erzieher begangen; Antrag rücknehmbar.

2. Betrug im 2. Rückfall (StGB. §§. 264 und 245) Vorausſetzungen:

  • a) Zwei inländiſche Vorſtrafen wegen Betrugs.
  • b) Gänzliche oder teilweiſe Verbüßung oder Erlaſſung dieſer Strafen.
  • c) Nichteintritt der (10 jährigen) Rückfallsverjährung.
    21Vgl. überhaupt das oben §. 64 II 3 Geſagte.
    21

Strafe: Zuchthaus bis zu 10 Jahren und zugleich Geldſtrafe von 150 bis zu 6000 Mark, bei mildernden Um - ſtänden Gefängnis nicht unter 3 Monaten, daneben fakultativ Geldſtrafe bis zu 3000 Mark.

3. Der ſogenannte Verſicherungsbetrug (StGB. §. 265) vorliegend, wenn Jemand in betrügeriſcher Abſicht eine gegen Feuersgefahr verſicherte Sache in Brand ſetzt, oder ein Schiff, welches als ſolches oder in ſeiner Ladung oder in ſeinem Frachtlohn verſichert iſt, ſinken oder ſtranden macht. Strafe: Zuchthaus bis zu 10 Jahren und zugleich Geld - ſtrafe von 150 bis zu 6000 Mark, bei mildernden Umſtänden Gefängnis nicht unter 6 Monaten, daneben fakultative Geld - ſtrafe bis zu 3000 Mark.

Betrügeriſche Abſicht bedeutet den Vorſatz, auf Grund des Geſchehenen an dem Verſicherer einen Betrug zu be - gehen. Vom Standpunkte der Betrugsdefinition in StGB. §. 263 erſcheint die Brandlegung uſw. als Vorbereitungs - handlung zum Betrug, die hier wie in anderen Fällen, vgl. oben §. 33 IV vom Geſetzgeber als beſonderes Delikt unter Strafe geſtellt iſt, ſo daß wir getreu der allgemeinen Regel (oben §. 33 II) auch hier die Unmöglichkeit eines ſtraf -296Erſtes Buch. III. Delikte gegeu das Vermögen.baren Verſuches, ebenſo wie die Möglichkeit ſtrafbarer Teil - nahme (§. 37 I 2 c und II 2) behaupten müſſen. Wird der geplante Betrug wirklich ausgeführt, ſo kann nach dem oben §. 40 II c Geſagten nicht etwa Konkurrenz von Verſicherungs - betrug und einfachem Betrug angenommen werden; die auf die Vorbereitungshandlung geſetzte Strafe iſt, der Betrugsſtrafe gegenüber, eine ſo hohe, daß wir vielmehr zu dem Reſultate gelangen müſſen, die Ausführungshandlung komme der Vor - bereitungshandlung gegenüber ſtrafrechtlich gar nicht mehr in Betracht.

2.
§. 74. Die Erpreſſung. 1Lit. bei Meyer S. 512 Note 1. Dazu Katz GS. XXXI.

I. Begriff.

1. Erpreſſung iſt Vermögensbeſchädigung in Be - reicherungsabſicht durch Nötigung. Das Mittel der Vermögensbeſchädigung ſcheidet die Erpreſſung vom Betrug. Negativ: hier aber nicht dort das mangelnde Bewußtſein von der Kauſalität des Thuns auf Seiten des Beſchädigten; poſitiv: dort aber nicht hier das Bewußtſein von der Un - freiwilligkeit des Thuns. Das Vorhalten einer nicht gela - denen Piſtole, die Behauptung Vertreter einer gefürchteten Räuberbande zu ſein uſw., können als Mittel der Erpreſſung wie des Raubes, nicht des Betruges, in Betracht kommen.

2. Das poſitive Recht hat den Begriff der Erpreſſung teilweiſe abweichend geſtaltet.

  • a) Es hat die Vermögensbeſchädigung aus der Delikts - definition entfernt, und ſich mit der Bereicherungs -297Die Erpreſſung. §. 74.abſicht begnügt. Demnach iſt Erpreſſung: Nötigung in Bereicherungsabſicht.
  • b) Die Nötigung als Erpreſſung und die Nötigung als ſelbſtändiges Delikt (StGB. §. 240; oben §. 63 I) decken ſich nicht. Erſteres iſt der weitere Begriff. Erpreſſung iſt Nötigung zu Handlung, Duldung, Unterlaſſung, begangen
    • 1. durch Gewalt (wie bei der Nötigung) und zwar gegen eine, nicht notwendig an einer, Perſon;
    • 2. durch Drohung irgend welcher Art, alſo nicht notwendig mit ſtrafbaren oder auch nur rechts - widrigen
      2RGR. 12. Februar 1880, E I 205, R I 345.
      2 Handlungen; während zur Nötigung als ſelbſtändigem Delikte Drohung mit Verbrechen oder Vergehen erforderlich iſt.

3. Zu den einzelnen Begriffsmerkmalen vgl. das oben §. 63 I bei der Nötigung und §. 73 I beim Betrug Ge - ſagte. Die Vollendung tritt mit der erzwungenen Hand - lung, Duldung, Unterlaſſung ein; Verſuch immer ſtrafbar.

4. Das Verhältnis der Erpreſſung zum Raube bedarf noch einiger Bemerkungen.

  • a) Die Erpreſſung iſt Vermögensdelikt überhaupt, der Raub Eigentumsdelikt. Der letztere iſt auf Wegnahme fremder beweglicher Sachen gerichtet, der erſteren iſt eine ſolche Beſchränkung fremd. Nach dieſer Richtung erſcheint der Betrugsbegriff als der ſpeziellere, und geht mithin in der Anwendung dem der Erpreſſung vor (vgl. oben §. 40 I a).
  • b) Der Raub charakteriſiert ſich als Wegnehmen, mithin als unmittelbare oder mittelbare Selbſtthätigkeit des298Erſtes Buch. III. Delikte gegen das Vermögen.Räubers; die Erpreſſung dagegen als Nötigung, mithin nicht notwendig als Selbſtthätigkeit des Er - preſſers, ſondern und zwar ſogar regelmäßig als Herbeiführung der Entſchließung und Thätigkeit des zu Beſchädigenden. Auch nach dieſer Richtung hin erſcheint mithin der Raub als der engere Begriff. Dieſem Unterſchiede entſprechen die Mittel zur Bege - hung der beiden Delikte.
    • 1. Gewalt iſt beim Raube Mittel der Wegnahme, bei der Erpreſſung möglicherweiſe Mittel der Selbſtthätigkeit des Erpreſſers, regelmäßig aber Mittel der Einwirkung auf den zu Beſchädigenden.
    • 2. Die Drohung muß beim Raube ſo geartet ſein, um die Handlung des Beraubten (Herausgabe) als eine unfreie, mithin (vgl. oben §. 20 III) als eine den Kauſalzuſammenhang zwiſchen dem Thun des Räubers und dem Enderfolge nicht unter - brechende erſcheinen zu laſſen; demgemäß verlangt das Geſetz beim Raube Drohung mit gegen - wärtiger Gefahr für Leib und Leben , während bei der Erpreſſung die Drohung dieſen Grad von Intenſität nicht zu erreichen braucht und regelmäßig auch nicht erreicht (vgl. aber unten die räuberiſche Erpreſſung ).

Faſſen wir das unter a und b Geſagte zuſammen, ſo ergiebt ſich:

    • 1. Erpreſſung liegt vor, wenn es ſich nicht um Wegnahme einer fremden beweglichen Sache handelt, mag auch Gewalt oder Drohung den Mitteln des Raubes entſprechen, alſo Selbſt - handeln auf Seiten des Thäters gegeben ſein.
    • 299
    • 2. Erpreſſung liegt vor, auch wenn es ſich um Wegnahme einer fremden beweglichen Sache han - delt, wenn Gewalt und Drohung dieſem Er - forderniſſe nicht entſprechen.
    • 3. Raub iſt nur dann anzunehmen, wenn α) die Wegnahme einer fremden beweglichen Sache vor - liegt und β) Gewalt oder Drohung die Erlan - gung der Sache als eigene Handlung des Thäters erſcheinen laſſen.

II. Die Arten der Erpreſſung.

1. Die einfache Erpreſſung (StGB. §. 253). Strafe: Gefängnis nicht unter einem Monat.

2. Die qualifizierte Erpreſſung (StGB. §. 254), wenn durch Bedrohung mit Mord, Brandſtiftung oder Ueber - ſchwemmung begangen. Strafe: Zuchthaus bis zu 5 Jahren.

3. Die räuberiſche Erpreſſung (StGB. §. 255), von der einfachen durch die Intenſität der Mittel, vom Raube dadurch unterſchieden, daß es ſich nicht um Wegnahme einer fremden beweglichen Sache handelt (während die Mittel denen des Raubes entſprechen). Die Mittel ſind:

  • a) Gewalt an
    3Ich nehme, um zu dieſem Reſultate zu gelangen, zwei Text - änderungen im Geſetze vor, die mir dem Sinne des Geſetzes vollkommen zu entſprechen ſchei - nen. Ich ſage a) in §. 253 ſtatt Gewalt : Gewalt gegen eine Perſon (da es gar keine andere für die Nötigung rele -vante Gewalt giebt, iſt dieſe Aenderung unbedenklich); b) in §. 255 ſtatt Gewalt gegen eine Perſon : Gewalt an einer Perſon. Die ganze Frage nach dem Verhalten zwiſchen einfacher und räuberiſcher Er - preſſung iſt übrigens äußerſt beſtritten.
    3 einer Perſon (in homine vgl. oben §. 63 I 1 a) wenn auch nicht gerade an der Perſon des Genötigten.
300Erſtes Buch. III. Delikte gegen das Vermögen.
  • b) Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben.

Strafe: die des Raubes.

4. Ueber die Erpreſſung im Amte (StGB. §. 339) vgl. unten §. 93 II 4 b.

Neben der wegen Erpreſſung erkannten Gefängnisſtrafe (in den Fällen 1 und 3) kann auf Verluſt der bürgerlichen Ehrenrechte; neben der Zuchthausſtrafe (in den Fällen 2 und 3) auf Zuläſſigkeit von Polizeiaufſicht erkannt werden (StGB. §. 256).

3.
§. 75. Strafbare Ausbeutung Anderer.

Als Mittel der Vermögensbeſchädigung kennt die Reichs - geſetzgebung ferner die Ausbeutung des Leichtſinns, der Unerfahrenheit oder der Notlage Anderer. Auch in dieſen Fällen iſt, mag auch eine ſcheinbar freie und bewußte Handlung des Beſchädigten ſelbſt dazwiſchen liegen, der ein - getretene Erfolg auf Rechnung des Thäters zu ſetzen; Uner - fahrenheit und Leichtſinn ſchließen nach Anſicht des Geſetz - gebers das Bewußtſein von der Kauſalität der Handlung auf Seite des Beſchädigten, die Notlage ſchließt die Freiheit ſeiner Beſtimmung, ganz oder wenigſtens teilweiſe, aus. Der Geſetzgeber nimmt ſomit kraft einer durchaus berechtigten Analogie Kauſalzuſammenhang zwiſchen dem Thun des Thäters und der erfolgten Vermögensbeſchädigung an, wo derſelbe, bei ſtrengem Feſthalten des allgemeinen Grundſatzes (oben §. 20 III) eigentlich in Abrede geſtellt werden müßte. Er thut dies aber nur unter beſonderen, genau bezeichneten,301Strafbare Ausbeutung Anderer. §. 75.Vorausſetzungen, und verwendet die angedeutete Konſtruk - tion zur Bildung von nur zwei, eng umſchriebenen Delikts - begriffen.

I. Vermögensbeſchädigung in Bereicherungs - abſicht durch Benutzung des Leichtſinns und der Unerfahrenheit Minderjähriger. Ueber die Bereiche - rungsabſicht ſiehe oben §. 73 I 3. An Stelle der in unſere Definition aufgenommenen Vermögensbeſchädigung führt das Geſetz die einzelnen Handlungen ausſchließend auf, in welchen es ein für allemale und ohne ſich in eine Unterſuchung des konkreten Falles einzulaſſen, dieſelbe erblicken zu wollen erklärt. Demnach liegt das fragliche Delikt vor:

1. Wenn Jemand in gewinnſüchtiger Abſicht1Soviel wie Bereicherungsabſicht. und unter Benutzung des Leichtſinnes und der Unerfahrenheit eines Minderjährigen ſich von demſelben Schuldſcheine, Wechſel, Empfangsbekenntniſſe, Bürgſchaftsinſtrumente oder eine an - dere, eine Verpflichtung enthaltende Urkunde aus - ſtellen oder auch nur mündlich ein Zahlungsver - ſprechen erteilen läßt (StGB. §. 301). Strafe: Ge - fängnis bis zu 6 Monaten oder Geldſtrafe bis zu 1500 Mark. Antragsdelikt.

2. Wenn Jemand in gleicher Abſicht und auf gleiche Weiſe ſich von dem Minderjährigen unter Verpfändung der Ehre, auf Ehrenwort, eidlich oder unter ähnlichen Ver - ſicherungen oder Beteuerungen die Zahlung einer Geld - ſumme oder die Erfüllung einer anderen, auf Gewährung geldwerter Sachen gerichteten Verpflichtung aus einem Rechts - geſchäfte verſprechen läßt (StGB. §. 302). Strafe: Ge - fängnis bis zu einem Jahre oder Geldſtrafe bis zu 3000 Mark. 302Erſtes Buch. III. Delikte gegen das Vermögen.Neben Gefängnis Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte zuläſſig. Antragsdelikt.

Gleiche Strafe trifft denjenigen, welcher ſich eine For - derung, von der er weiß, daß deren Berichtigung ein Minder - jähriger in der vorbezeichneten Weiſe verſprochen hat, abtreten läßt. Antragsdelikt.

II. Wucher,2Vgl. v. Lilienthal Jahrb. f. Nationalökonomie 1880. Da - ſelbſt die Litt. ſtrafbar nach dem Geſetz vom 24. Mai 1880; ausgegeben am 31. Mai 1880; in Kraft vom 14. Juni 1880.

Wucher liegt vor, wenn Jemand unter Ausbeutung der Notlage, des Leichtſinns oder der Unerfahrenheit eines Anderen3Feſtſtellung der Bereiche - rungsabſicht hier nicht erforder - lich, weil aus den übrigen Be - griffsmerkmalen folgend. für ein Darlehen oder im Falle der Stundung einer Geldforderung ſich oder einem Dritten Vermögensvorteile verſprechen oder gewähren läßt, welche den üblichen Zinsfuß dergeſtalt überſchreiten, daß nach den Um - ſtänden des Falles die Vermögensvorteile in auffäl - ligem Mißverhältniſſe zu der Leiſtung ſtehen.

Fälle des Wuchers.

1. Einfacher Fall (StGB. §. 302 a). Gefängnis bis zu 6 Monaten und Geldſtrafe bis zu 3000 Mark. Ab - erkennung der Ehrenrechte fakultativ.

2. Qualifizierter Fall (StGB. §. 302 b); vorliegend, wenn Jemand ſich oder einem Dritten die wucherlichen Ver - mögensvorteile verſchleiert oder wechſelmäßig oder unter Ver - pfändung der Ehre, auf Ehrenwort, eidlich oder unter ähn - lichen Verſicherungen oder Beteuerungen verſprechen läßt. Strafe: Gefängnis bis zu einem Jahre und Geldſtrafe bis zu 6000 Mark. Aberkennung der Ehrenrechte fakultativ.

303Strafbare Ausbeutung Auderer. §. 75.

3. Gewerbs - oder gewohnheitsmäßiger (Begriffe oben §. 39 II 3) Wucher (StGB. §. 302 d). Strafe: Gefängnis nicht unter 3 Monaten und Geldſtrafe von 150 bis zu 15000 Mark. Aberkennung der Ehrenrechte obliga - toriſch (vgl. oben §. 51 I S. 202).

4. Die unter 1 und 2 angeführten Strafen treffen auch denjenigen, welcher mit Kenntnis des Sachverhaltes eine (wenn auch vor dem 14. Juni 1880 entſtandene) Forderung der angegebenen Art (nach dem 14. Juni 1880) erwirbt und entweder a) dieſelbe weiter veräußert, oder b) die wucherlichen Vermögensvorteile geltend macht4Die Faſſung des Geſetzes iſt eine unglückliche. Zu beach - ten außer dem im Texte Ge - ſagten: a) Wer eine vor dem 14. Juni 1880 von einem An - deren erworbene wucherliche Forderung nach dem 14. Juni 1880 geltend macht, kann nicht nach §. 302 c geſtraft werden. b) Die Beſtimmung bezieht ſich nur auf die von einem An - deren erworbenen Forderungen;Geltendmachung einer vor dem 14. Juni 1880 entſtandenen wucherlichen Forderung durch den Wucherer ſelbſt fällt wenn, auch nach dem 14. Juni 1880 ſtattfindend, nicht unter das Geſetz. (StGB. §. 302 c).

5. Im Zuſammenhange mit den Strafbeſtimmungen gegen Wucher ſteht §. 360 Ziff. 12 StGB. in der neuen, durch das Geſetz vom 24. Mai 1880 beſtimmten Faſſung:

Wer als Pfandleiher oder Rückkaufshändler bei Aus - übung ſeines Gewerbes den darüber erlaſſenen Anordnungen zuwiderhandelt, insbeſondere den durch Landesgeſetz oder Anordnung der zuſtändigen Behörde beſtimmten Zinsfuß überſchreitet, wird mit Geldſtrafe bis zu 150 Mark oder Haft beſtraft. 5Ueber die civilrechtl. Nicht - Wirkſamkeit wucherlicher Ge - ſchäfte vgl. Art. 3 des Geſetzes vom 24. Mai 1880.

304Erſtes Buch. III. Delikte gegen das Vermögen.
4.
§. 76. Das Glücksſpiel.

Als eine Gefährdung eigenen und fremden Ver - mögens reiht ſich das Glücksſpiel an die übrigen Ver - mögensdelikte. Der Geſetzgeber wacht über den Vermögens - intereſſen der Staatsbürger, wenn dieſe ſelbſt die nötige Vorſicht aus den Augen laſſen. Aber, ſich wohl bewußt, daß es ſich dabei um eine polizeiliche Bevormundung der freien Selbſtbeſtimmung Mündiger handle, bedroht das moderne Recht nicht das einfache Selbſtſpielen, ſondern wenn wir von der Beſtrafung des gewerbsmäßigen Glücksſpiels abſehen nur die Gewährung der Gelegenheit zum Glücks - ſpiel durch dritte Perſonen unter gewiſſen Vorausſetzungen mit Strafe. Strafbar iſt:

I. Das unbefugte Halten von Glücksſpielen auf einem öffentlichen Wege, einer Straße, einem öffentlichen Platze oder in einem öffentlichen Verſammlungsorte (StGB. §. 360 Ziff. 14). Strafe: Geld bis zu 150 Mark oder Haft; Einziehung der auf dem Spieltiſche oder in der Bank be - findlichen Gelder, ohne Unterſchied, ob ſie dem Verurteilten gehören oder nicht, fakultativ (vgl. oben §. 50 II).

II. Das gewerbsmäßige (Begriff oben §. 39 II c) Glücksſpiel (StGB. §. 284). Strafe: Gefängnis bis zu 2 Jahren, daneben fakultativ Geldſtrafe von 300 bis zu 6000 Mark und Verluſt der bürgerlichen Ehrenrechte. Iſt der Verurteilte ein Ausländer, ſo iſt die Landespolizeibehörde befugt, denſelben aus dem Reichsgebiete auszuweiſen (oben §. 49 III); Rückkehr des Verwieſenen iſt (nach StGB. §. 361 Ziff. 2) ſtrafbar.

305Das Glücksſpiel. §. 76.

III. Der Inhaber eines öffentlichen Verſamm - lungsortes, welcher Glücksſpiele daſelbſt geſtattet oder zur Verheimlichung ſolcher Spiele mitwirkt (StGB. §. 285). Strafe: Geld bis zu 1500 Mark.

IV. Das öffentliche Veranſtalten von Ausſpie - lungen beweglicher oder unbeweglicher Sachen ohne obrig - keitliche Erlaubnis; insbeſondere das Veranſtalten von öffent - lichen Lotterien,1Vgl. die Artt. Lotterie von Gareis u. Liszt in HR. d. i. das Ausſpielen von Geldpreiſen (StGB. §. 286). Strafe: Gefängnis bis zu 2 Jahren oder Geldſtrafe bis zu 3000 Mark.

Die Ausſpielung iſt eine öffentliche, wenn die Betei - ligung einer, wenn auch ziffermäßig abgegrenzten Zahl von individuell nicht beſtimmten Perſonen zugänglich iſt. 2RGR. 20. April 1880, E I 357, R I 576.

Eine Ausſpielung liegt auch dann vor, wenn der Preis für den Hoffnungskauf mit dem Preis für eine wirkliche Gegenleiſtung in eine einheitliche Summe zuſammengeſchmolzen iſt; z. B. Verbindung der Ausſpielung mit einer Theater - vorſtellung,3RGR. 9. Januar 1880, E I 53, R I 205. mit der Subſcription auf ein Lieferungswerk uſw.

Auch die durch Beteiligung an einer anderen (vielleicht ſogar geſtatteten) Lotterie erworbene Gewinnſthoffnung kann zum Gegenſtande weiterer (ſtrafbarer) Ausſpielung gemacht werden (Partialſcheine, Promeſſen u. dgl.). 4RGR. 5. Januar 1880, E I 133, R I 194.

Bewußtſein der Rechtswidrigkeit im Allgemeinen iſt auch hier nicht erforderlich (oben §. 28 II), wohl aber das Bewußtſein, ohne obrigkeitliche Genehmigung eine öffent - liche Lotterie zu veranſtalten.

Das Delikt iſt vollendet in dem Augenblicke, invon Liszt, Strafrecht. 20306Erſtes Buch. III. Delikte gegen das Vermögen.welchem die Anteilsſcheine dem Publikum zugänglich gemacht ſind. 5RGR. 20. April 1880, E I 357, R I 576.

Die landesgeſetzlichen Vorſchriften, welche das Spielen in auswärtigen6Ausland iſt hier auch ein Bundesſtaat dem anderen gegen - über (vgl. oben §. 13 Note 3). Lotterien, das Auffordern hiezu, das Ankündigen derſelben uſw. mit Strafe bedrohen, ſind durch die, durchaus nicht abſchließende Regelung dieſer Ma - terie im RStGB. (oben §. 11 I) nicht berührt worden. So bleiben z. B. in Kraft die preußiſchen Verordnungen vom 5. Juli 1847 (für die alten) und vom 25. Juni 1867 Art. IV (für die neuen Provinzen). 7RGR. 10. Januar 1880, R I 209; 24. Februar 1880, E I 219, R I 380; 13. März 1880, E I 274, R I 460.Ueber den Begehungs - ort dieſer Delikte vgl. oben §. 19 IV.

V. Das Geſetz vom 8. Juni 1871 betreffend die In - haberpapiere mit Prämien verbietet in §. 6:

1. Das Ausgeben von auf den Inhaber lautenden Schuldverſchreibungen, in welchen allen Gläubigern oder einem Teile derſelben außer der Zahlung der verſchriebenen Geldſumme eine Prämie dergeſtalt zugeſichert wird, daß durch Ausloſung oder durch eine andere auf den Zufall geſtellte Art der Ermittlung die zu prämiirenden Schuldverſchrei - bungen und die Höhe der ihnen zufallenden Prämie be - ſtimmt werden ſollen, innerhalb des deutſchen Reiches, wenn das Ausgeben nicht auf Grund eines Reichs - geſetzes und zum Zwecke der Anleihe eines Bundes - ſtaates oder des Reiches erfolgt.

Strafe: Geldſtrafe, welche dem 5. Teile des Nenn -307Die Partiererei. §. 77.wertes der den Gegenſtand der Zuwiderhandlung bildenden Papiere gleichkommt, mindeſtens aber 300 Mark betragen ſoll.

2. Das Weiterbegeben ſolcher Papiere, welche

  • a) im Inlande nach Verkündigung des Geſetzes vom 8. Juni 1871,
  • b) im Auslande nach dem 30. April 1871

ausgegeben worden ſind. Gleichgeſtellt iſt der Fall, wenn ſolche Papiere an den Börſen oder an anderen zum Ver - kehre mit Wertpapieren beſtimmten Verſammlungsorten zum Gegenſtande eines Geſchäfts oder einer Geſchäftsvermittlung gemacht werden.

Strafe: wie zu 1.

3. Das Weiterbegeben von ſolchen Papieren, die im Auslande vor dem 1. Mai 1871 ausgegeben und nicht ab - geſtempelt ſind. Derſelbe Fall wie zu 2 gleichgeſtellt. Die Strafbarkeit beginnt mit dem 14. Juli 1871.

Strafe: wie zu 1.

4. Die öffentliche Ankündigung, Ausbietung, Empfehlung von den unter 2 und 3 angeführten Pa - pieren ſowie die Notierung derſelben zur Feſtſtellung eines Kurswertes.

Strafe: Geldſtrafe bis zu 300 Mark oder Gefängnis bis zu 3 Monaten.

5.
§. 77. Die Partiererei. 1Lit. bei Meyer S. 533 Note 1.

I. Begriff.

1. Von der Reichsgeſetzgebung in eine durchaus unge - rechtfertigte Verbindung mit der Begünſtigung durch Auf -308Erſtes Buch. III. Delikte gegen das Vermögen.ſtellung des Zwitterbegriffs der Hehlerei gebracht, bean - ſprucht die Partiererei ſelbſtändige Stellung unter den Ver - mögensdelikten. Sie iſt Perpetuierung, in den meiſten Fällen ſogar Vertiefung, einer rechtswidrigen Ver - mögenslage.

Sie tritt zu einer bereits erfolgten Vermögensbeſchädigung2Die durchaus nicht Vermö - gensdelikt im eigentlichen Sinne zu ſein braucht. hinzu, ſetzt dieſe begrifflich voraus, bringt aber das dem Be - rechtigten entzogene Vermögensobjekt in noch weitere Ent - fernung von ſeiner Verfügungsgewalt.

2. Die Partiererei (StGB. §. 259) beſteht entweder in dem Verheimlichen,3So viel wie unterdrücken, beiſeiteſchaffen; alſo der Verfü - gung des Berechtigten entziehen. Ankaufen, Zum-Pfande-Neh - men, An-Sich-Bringen von mittels einer ſtraf - baren Handlung erlangten Sachen um des eigenen Vorteils4Es genügt der gewöhnliche, durch den Geſchäftsbetrieb er -zielte Vorteil, außergewöhnlich großer Vorteil iſt nicht erforder - lich: RGR. 28. Mai 1880, R I 830. (nicht notwendig, wenn auch regelmäßig Ver - mögensvorteils) willen, oder aber darin, daß in gleicher Abſicht zu deren Abſatz bei Anderen mit gewirkt wird.

Das Delikt erſtreckt ſich lediglich auf jene individuell be - ſtimmten Sachen, die unmittelbar durch die betreffende ſtraf - bare Handlung erlangt wurden;5RGR. 6. Juli 1880, R II 164. nicht aber auf andere an deren Stelle getretene Sachen, wie den aus denſelben gewonnenen Erlös,6Dagegen RGR. 16. Juni 1880, R II 72. oder Forderungen, deren Ceſſion z. B. durch Betrug bewirkt worden uſw.

Die Sachen müſſen durch eine ſtrafbare Handlung erlangt ſein, ſie müſſen den Charakter ihres ſtrafbaren309Die Partiererei. §. 77.Erwerbes bereits an ſich tragen, dieſe ſtrafbare Erwerbungs - Handlung muß demnach zeitlich der Partiererei vorangehen. 7RGR. 28. Mai 1880, E II 69, R I 831.

Die Natur der ſtrafbaren Handlung iſt gleichgültig; ſie kann Eigentumsdelikt oder irgend ein anderes Vermögens - delikt ſein; ſie braucht aber überhaupt nicht gegen das Ver - mögen gerichtet ſein (z. B. Verheimlichung von durch einen Mord erlangten Sachen). Feſtſtellung der ſtrafbaren Hand - lung, wenigſtens der Gattung nach, im Urteile iſt ſelbſtver - ſtändlich erforderlich. 8RGR. 31. Januar 1880,E I 180; 5. April 1880, R I 537.

Iſt die Sache durch ein Antragsdelikt erlangt worden, ſo haben wir die Bedeutung des Antrages als einer Be - dingung der Strafbarkeit (oben §. 31) im Auge zu behalten. Wird der Antrag nicht geſtellt, ſo liegt eine durch eine ſtraf - bare Handlung erlangte Sache nicht vor, mithin auch keine Partiererei; wird er nachträglich geſtellt, ſo iſt die Er - langungshandlung ex tunc eine ſtrafbare, und eben darum das in der Zwiſchenzeit erfolgte Verheimlichen als ſtrafbare Partiererei zu betrachten.

3. Die Partiererei kann vorſätzlich oder fahrläſſig begangen werden:

  • a) Der Vorſatz beſteht in dem Bewußtſein von der Kauſalität des Thuns; der Thäter muß wiſſen, nicht nur daß er Sachen verheimlicht, verkauft uſw., ſondern auch daß dieſe Sachen durch eine ſtrafbare Handlung erlangt ſind. Kenntnis dieſer Handlung nach Art und Umſtänden kann dagegen nicht gefordert werden.
    9RGR. 5. April u. 8. April 1880, R I 537.
    9
310Erſtes Buch. III. Delikte gegen das Vermögen.
  • b) Auch die fahrläſſige Partiererei iſt ſtrafbar. Aber nicht jede Fahrläſſigkeit, auch nicht nur die culpa lata
    10Dies die Anſicht von RGR. 28. April 1880, R I 691, E II 140; vgl. überhaupt das oben §. 29 a. E. Geſagte.
    10 fällt unter das Geſetz; ſondern nur ein ganz beſtimmter Fall des fahrläſſigen Verhaltens: wenn der Thäter den Umſtänden nach annehmen muß, daß die Sache durch eine ſtrafbare Handlung erlangt iſt . Straflos bliebe z. B. derjenige, der nicht weiß, daß er zum Abſatze der (wie ihm bekannt) geſtohlenen Sache mitwirkt, obwohl er bei einiger Aufmerkſamkeit dies hätte bemerken können.
    11Der Einwand, daß ſolche Fälle praktiſch nicht vorkommen, trifft nicht die Richtigkeit der im Texte verſuchten Konſtruktion; wohl aber beweiſt er die prak -tiſche Wichtigkeit der Kontro - verſe: nach Anſicht des RGR. iſt nur culpa lata, nach der im Texte vertretenen jede ſtrafrecht - liche relevante culpa in weitaus den meiſten praktiſch vorkom - menden Fällen ſtrafbar.
    11

4. Die Partiererei iſt vollendet, ſobald eine der im Geſetze angeführten Thätigkeiten geſetzt iſt, ſobald die Sache einen weiteren Schritt aus dem Machtbereiche des Be - rechtigten gemacht hat. Die folgenden Kreuz - und Quer - läufe der Sache ſind juriſtiſch irrelevant. Wenn alſo A eine geſtohlene Sache am 1. Januar in Frankreich angekauft und am 1. Juli in Deutſchland weiter verkauft hat, ſo kann er nur wegen jenes Ankaufes, nicht wegen dieſes Verkaufes zur Verantwortung gezogen werden. 12RGR. 15. März 1880, E I 279, R I 471.

II. Die Arten der Partiererei.

1. Die einfache Partiererei (StGB. §. 259). Strafe: Gefängnis.

311Die Partiererei. §. 77.

2. Die gewerbs - oder gewohnheitsmäßige (Be - griff oben §. 39 II 3) Partiererei (StGB. §. 260). Strafe: Zuchthaus bis zu 10 Jahren.

3. Partiererei im 2. Rückfall (StGB. §. 261). Strafe:

  • a) Zuchthaus nicht unter 2 Jahren, bei mildernden Um - ſtänden Gefängnis nicht unter einem Jahre, wenn ſich die letzte Handlung auf einen ſchweren Diebſtahl (StGB. §. 243), einen Raub, oder ein dem Raube gleich zu beſtrafendes Verbrechen (räuberiſcher Diebſtahl, räuberiſche Erpreſſung) bezieht.
  • b) Zuchthaus bis zu 10 Jahren, bei mildernden Um - ſtänden Gefängnis nicht unter 3 Monaten in allen anderen Fällen.

In Bezug auf die Vorſtrafen ſtehen Partiererei und Hehlerei einander gleich. Im Uebrigen iſt das oben §. 64 II 3 Geſagte (StGB. §. 245) auch hier anzuwenden.

4. Ein der Partiererei verwandtes Delikt bedroht StGB. §. 370 Ziff. 3: Geldſtrafe bis zu 150 Mark oder Haft trifft denjenigen, der von einem zum Dienſtſtande gehörenden Unter - offizier oder Gemeinen des Heeres oder der Marine ohne ſchriftliche Erlaubnis des vorgeſetzten Kommandeurs Mon - tierungs - oder Armaturſtücke kauft oder zum Pfande nimmt.

312Erſtes Buch. IV. Verletzung der Individualrechte.

IV. Verletzung der Individualrechte. 1Ueber dieſen Begriff vgl. Gareis Grundriß zu Vorle - ſungen über das deutſche bür - gerliche Recht 1877. §§. 40 ff., u. die hier angeführte Lit. Die Individualrechte bilden das Mit - telglied zwiſchen den reinen Ver - mögensrechten und den rein im - materiellen Rechtsgütern. Mit erſteren haben ſie gemein nicht nur die Abſchätzbarkeit in Geld, ſondern vor Allem die Ausbil - dung zu ſubjektiven Rechten und die Negoziabilität. Aber damit iſt ihre Bedeutung nichterſchöpft: es iſt die ſichbethäti - gende Perſönlichkeit ſelbſt, die ſchaffende Individuali - tät, die in ihnen geſchützt wird.

1.

§. 78. Verletzung des Autorrechtes.

Quelle: Geſetz betreffend das Urheberrecht an Schrift - werken, Abbildungen, muſikaliſchen Kompoſitionen und drama - tiſchen Werken vom 11. Juni 1870.

Das Geſetz findet Anwendung (§. 61) 1. auf alle Werke inländiſcher Urheber, mögen ſie im Inlande oder Aus - lande erſchienen2Erſcheinen iſt ſoviel wie Ausgeben; vgl. darüber Liszt Preßrecht §. 42 V. Wenn das - ſelbe Werk zuerſt im Auslande und ſpäter im Inlande erſcheint, ſo liegen juriſtiſch zwei ſelb - ſtändige Werke vor, deren zweites den Schutz des Geſetzes genießt. A. A. (gewiß unrichtig) RGR. 12. Juni 1880, E II 180, R II 62. oder überhaupt noch nicht veröffentlicht ſein; 2. auf Werke ausländiſcher Urheber, wenn ſie bei Verlegern erſcheinen, die im Gebiete des deutſchen Reiches ihre Handelsniederlaſſung haben (vgl. oben §. 13 III).

I. Der eigentliche Nachdruck.

1. Nachdruck iſt die mechaniſche Vervielfältigung a) eines Schriftwerkes; b) geographiſcher, topographi -313Verletzung des Autorrechtes. §. 78.ſcher, naturwiſſenſchaftlicher, architektoniſcher, techniſcher und ähnlicher Zeichnungen und Abbildungen, welche nach ihrem Hauptzwecke nicht als Kunſtwerke zu betrachten ſind; c) muſikaliſcher Kompoſitionen; ohne Genehmigung des Berechtigten, in der Abſicht, den Nachdruck inner - halb oder außerhalb des deutſchen Reiches zu verbreiten (§§. 4 7, 18; 43 f., 45 ff.).

Dem Nachdrucke ſteht gleich die unbefugte öffentliche Aufführung eines dramatiſchen, muſikaliſchen oder dramatiſch-muſikaliſchen Werkes, mag die Aufführung eine vollſtändige ſein oder mit unweſentlichen Aenderungen vor ſich gehen (§§. 50 und 54).

2. Strafbar iſt die vorſätzliche oder fahrläſſige Veranſtaltung eines Nachdrucks (Thäterſchaft), ſowie die vorſätzliche oder fahrläſſige Veranlaſſung (Anſtif - tung) eines Anderen zur ſei es vorſätzlichen oder fahr - läſſigen, ſei es ſchuldloſen Veranſtaltung eines Nachdrucks (§§. 18, 20, 54). Daß wir es hier mit einer durchaus ſingulären Abweichung von den allgemeinen Grundſätzen über Teilnahme zu thun haben (fahrläſſige Anſtiftung einer - ſeits, Anſtiftung zu fahrläſſigem Delikt andererſeits), wurde bereits oben §. 35 Note 3 bemerkt.

3. Strafe für Veranſtaltung wie Veranlaſſung: Geld - ſtrafe bis zu 3000 Mark, die im Falle der Uneinbringlichkeit nach Maßgabe der allgemeinen Strafgeſetze in eine entſpre - chende Freiheitsſtrafe bis zu 6 Monaten umzuwandeln iſt. Rückfallsſchärfung iſt ausgeſchloſſen (§. 23).

4. Der Veranſtalter bleibt ſtraffrei, wenn er auf Grund entſchuldbaren, thatſächlichen oder rechtlichen Irrtums in gutem Glauben gehandelt hat (§. 18 Abſ. 2). Somit ſchließt auch der Mangel des Bewußtſeins der Rechtswidrigkeit,314Erſtes Buch. IV. Verletzung der Individualrechte.wenn derſelbe auf einem entſchuldbaren Irrtume beruht, die Strafbarkeit aus (vgl. oben §. 28 II).

5. Statt der Entſchädigung kann neben der Strafe auf Verlangen des Beſchädigten auf eine an dieſen zu erlegende Geldbuße bis zum Betrage von 6000 Mark erkannt werden. Die zu derſelben Verurteilten haften als Geſammt - ſchuldner. Zuerkennung der Buße ſchließt die Geltend - machung eines weiteren Entſchädigungsanſpruches aus (§§. 18 und 54).

Dagegen beſteht die Entſchädigung, welche dem Berech - tigten im Falle der unbefugten öffentlichen Aufführung eines dramatiſchen uſw. Werkes zu gewähren iſt, in dem ganzen Betrage der Einnahme von jeder Aufführung ohne Abzug der auf dieſelbe verwendeten Koſten (§. 55); vgl. oben §. 42 II a. E.).

6. Die vorrätigen Nachdrucksexemplare und die zur widerrechtlichen Vervielfältigung ausſchließlich beſtimmten Vorrichtungen unterliegen der Einziehung (§. 21), und ſind nachdem auf dieſe rechtskräftig erkannt worden iſt, entweder zu vernichten oder ihrer gefährdenden Form zu entkleiden und alsdann dem Eigentümer zurückzugeben. Die Einziehung erſtreckt ſich auf alle Exemplare und Vorrichtungen, die ſich im Eigentume des Veranſtalters des Nachdruckes, des Druckers, der Sortimentsbuchhändler, der gewerbsmäßigen Verbreiter und desjenigen, der den Nachdruck veranlaßt hat, befinden.

Die Einziehung tritt auch dann ein, wenn der Veran - ſtalter oder Veranlaſſer des Nachdruckes weder vorſätzlich noch fahrläſſig gehandelt hat. Sie erfolgt auch gegen die Erben desſelben.

315Verletzung des Autorrechtes. §. 78.

Der Antrag auf Einziehung iſt ſo lange zuläſſig (§. 36), als ſolche Exemplare oder Vorrichtungen vorhanden ſind.

7. Das Vergehen des Nachdruckes iſt vollendet, ſobald ein Nachdrucksexemplar hergeſtellt worden iſt (§. 22). Im Falle des Verſuches tritt weder Beſtrafung noch Entſchä - digungsverbindlichkeit ein. Die Einziehung der Vorrichtungen erfolgt jedoch auch in dieſem Falle.

8. Der Nachdruck iſt Antragsdelikt. Antrag rück - nehmbar bis zur Verkündigung eines auf Strafe lautenden Erkenntniſſes (§. 27). Antragsberechtigt iſt jeder in ſeinem Urheber - oder Verlagsrechte Beeinträchtigte (§. 28). Das Antragsrecht entfällt, wenn der Antrag nicht binnen 3 Mo - naten nach erlangter Kenntnis von dem begangenen Ver - gehen und von der Perſon des Thäters geſtellt wird (§. 36).

9. Das Vergehen des Nachdruckes verjährt in 3 Jahren, von dem Tage, an welchem die Verbreitung der Nachdrucks - exemplare zuerſt ſtattgefunden hat (§. 33).

II. Vorſätzliche oder fahrläſſige Unterlaſſung der Quellenangabe (§. 24), ſoweit dieſe bei geſtattetem Ab - drucke bereits veröffentlichter Schriften vorgeſchrieben iſt (§. 7 a), wird an dem Veranſtalter und Veranlaſſer des Ab - druckes mit Geldſtrafe bis zu 60 Mark geahndet. Um - wandlung in Freiheitsſtrafe ausgeſchloſſen (vgl. oben §. 55 I a. E.). Eine Entſchädigungspflicht tritt nicht ein. An - tragsdelikt; das oben I 8 Geſagte findet auch hier An - wendung. Das Delikt verjährt in 3 Monaten von dem Tage, an welchem der Abdruck zuerſt verbreitet worden iſt (§. 37).

III. Das vorſätzliche Verbreiten von Nachdrucks - exemplaren (das gewerbsmäßige Feilhalten, Verkaufen uſw.). Strafe: wie oben I 3; Geldbuße wie oben I 5. Ein -316Erſtes Buch. IV. Verletzung der Individualrechte.ziehung findet auch dann ſtatt, wenn der Verbreiter nicht vorſätzlich gehandelt hat. Veranſtalter und Veranlaſſer des Nachdruckes trifft Entſchädigungspflicht und Strafe, wenn ſie nicht ſchon als ſolche entſchädigungspflichtig und ſtrafbar ſind (§. 25).

Antragsdelikt: wie oben I 8. Die Verjährung tritt in 3 Jahren von dem Tage ein, an welchem die Ver - breitung zuletzt ſtattgefunden hat.

2.

§. 79. Die übrigen Fälle.

I. Verletzung des Urheberrechtes an Werken der bildenden Künſte, nach dem Geſetz vom 9. Januar 1876 §. 5 begangen durch unbefugte Nachbildung eines ſolchen Werkes in der Abſicht, dieſelbe zu verbreiten. Das oben §. 78 I 2 9, II und III Geſagte, findet auch hier An - wendung (§. 16).

II. Verletzung der Urheberrechtes an Photo - graphien, nach dem Geſetz vem 10. Januar 1876 §. 3 begangen durch unbefugte mechaniſche Nachbildung eines pho - tographiſchen Werkes in Verbreitungsabſicht. Auch hier gelten die oben §§. 78 I 2 9, II und III angeführten Grundſätze (§. 9).

III. Verletzung des Urheberrechtes an Muſtern und Modellen, nach dem Geſetz vom 11. Januar 1876 §. 5 begangen durch unbefugte Nachbildung eines Muſters oder Modelles in Verbreitungsabſicht. Das oben §. 78 I 2 9, II und III Geſagte iſt auch hier anzuwenden (§. 14).

IV. Verletzung des Namen -, Firmen - oder317Die übrigen Fälle. §. 79.Markenrechtes. 1Vgl. Merkel HR. Fa - briks - und Waarenzeichenfäl - ſchung .Nach §. 14 des Geſetzes vom 30. No - vember 1874, der an Stelle des §. 287 StGB. getreten iſt, wird derjenige, welcher:

  • a) Waaren oder deren Verpackung wiſſentlich mit einem nach Maßgabe dieſes Geſetzes zu ſchützenden Waaren - zeichen, oder mit dem Namen oder der Firma eines inländiſchen Produzenten oder Handeltreibenden widerrechtlich bezeichnet, oder
  • b) dergleichen widerrechtlich bezeichnete Waaren in Ver - kehr bringt oder feilhält,

mit Geldſtrafe von 150 bis zu 3000 Mark oder mit Ge - fängnis bis zu 6 Monaten beſtraft.

Die Verfolgung tritt nur auf Antrag des verletzten Produzenten oder Handeltreibenden ein. 2Schon dies beweiſt, daß der Geſetzgeber in erſter Linie den Schutz des Individualrechtes und nicht jenen des Publikumsim Auge hat, daß es alſo un - richtig iſt, hier von einem Fälſchungs-Delikte zu ſpre - chen, und die Verletzung der publica fides an erſter Stelle zu betonen.

Statt der Entſchädigung kann neben der Strafe auf Ver - langen des Beſchädigten auf eine an dieſen zu erlegende Buße bis zum Betrage von 5000 Mark erkannt werden. Die zu derſelben Verurteilten haften als Geſammtſchuldner. Die Zuerkennung ſchließt die Geltendmachung eines weiteren Entſchädigungsanſpruches aus (§. 15).

In dem verurteilenden Erkenntniſſe iſt (§. 17) auf Antrag des Verletzten bezüglich der im Beſitze des Verurteilten be - ſindlichen Waaren auf Vernichtung der Zeichen auf der Verpackung oder den Waaren, oder wenn die Beſeitigung der Zeichen in anderer Weiſe nicht möglich iſt, auf Ver -318Erſtes Buch. IV. Verletzung der Individualrechte.nichtung der Verpackung oder der Waaren ſelbſt zu erkennen.

Ferner iſt (§. 17) dem Verletzten die Befugnis zuzu - ſprechen, die Verurteilung auf Koſten des Verurteilten öf - fentlich bekannt zu machen. Die Art der Bekannt - machung und die Friſt zu derſelben iſt in dem Urteile zu be - ſtimmen (vgl. oben §. 42 II 2).

V. Die Verletzung des Patentrechtes. 3Vgl. Ernſt Meier HR. Erfinderpatente .Geſetz vom 25. Mai 1877. Die Erteilung eines Patentes (ſie findet nach §. 1 ſtatt für neue Erfindungen, welche eine gewerbliche Verwertung geſtatten) hat die Wirkung, daß niemand befugt iſt, ohne Erlaubnis des Patentinhabers den Gegenſtand der Erfindung gewerbsmäßig herzuſtellen, in Verkehr zu bringen oder feilzuhalten, bez. das erfundene Verfahren anzuwenden oder den Gegenſtand der Erfindung zu gebrauchen (§. 4).

1. Wer unbefugt und wiſſentlich eine patentierte Erfindung in Gebrauch nimmt, wird (§. 34) mit Geldſtrafe bis zu 5000 Mark oder mit Gefängnis bis zu einem Jahre beſtraft. Antragsdelikt.

Oeffentliche Bekanntmachung der Verurteilung (§. 35) wie oben unter IV. Statt der Entſchädigung kann (§. 36) auf Buße bis zu 10000 Mark erkannt werden. Weiterer Entſchädigungsanſpruch in dieſem Falle ausgeſchloſſen. Mehrere Verurteilte haften als Geſammtſchuldner.

Die Klagen wegen Verletzung des Patentrechtes ver - jähren (§. 38) rückſichtlich jeder einzelnen dieſelbe begrün - denden Handlung in drei Jahren.

2. Nicht als die Verletzung eines Individualrechtes, ſon - dern als eine Gefährdung der Intereſſen des Pu -319Delikte gegen die Ehre. §. 80.blikums haben wir die nur des Zuſammenhanges wegen an dieſer Stelle behandelte Simulierung des Patent - ſchutzes (§. 40) zu betrachten. Mit Geldſtrafe bis zu 150 Mark oder Haft wird beſtraft:

  • a) Wer Gegenſtände oder deren Verpackung mit einer Be - zeichnung verſieht, welche geeignet iſt, den Irrtum zu erregen, daß die Gegenſtände durch ein Patent geſchützt ſeien;
  • b) wer in öffentlichen Anzeigen, auf Aushängeſchildern, auf Empfehlungskarten oder in ähnlichen Kundgebungen eine Bezeichnung anwendet, welche geeignet iſt, den gleichen Irrtum zu erregen.

V. Strafbare Handlungen gegen immaterielle Rechtsgüter.

1.

§. 80. Gegen die Ehre. 1Lit. bei Meyer S. 420 Note 1. Dazu Freudenthal Syſtem des Rechts der Ehren -kränkungen. 1880. John HR. Beleidigung .

I. Begriff.

Ehre als Rechtsgut iſt das rechtlich geſchützte In - tereſſe des Einzelindividuums oder der Indivi - duengruppe, als die eingenommene Stellung voll - kommen ausfüllend betrachtet und behandelt zu werden.

In dieſer Definition liegt im Gegenſatze zu der herr - ſchenden Anſicht ausgedrückt, daß Ehre im Rechtsſinne und Menſchenwürde oder bürgerliche Achtung nicht320Erſtes Buch. V. Delikte gegen immaterielle Rechtsgüter.identiſche Begriffe ſind. Die Ehre trägt vielmehr einen höchſt - perſönlichen, durchaus individuellen Charakter; und gerade in dieſer ſubjektiven Baſis unſeres modernen Ehrgefühles (welche durch eine gewiſſe Ueberſpannung desſelben bedingt iſt und umgekehrt wieder dieſe fördert) liegt der charakteriſtiſche Unter - ſchied des heutigen Ehrbegriffes gegenüber der römiſchen Bürgerehre wie der germaniſchen Genoſſenehre. Der Inhalt der Ehre iſt nach der hier vertretenen Auffaſſung ein anderer, wenn es ſich um den Bauer oder den Handwerker, den Of - fizier oder den Fabriksherrn, den Staatsmann oder den Ge - lehrten, den Beamten oder den Studenten handelt. Mit Recht hat das RGR. (1. November 1879, R I 28) in der Aeußerung über eine Rede Bismarcks: eine ſolche Rede könne jeder Schornſteinfeger halten eine Beleidigung des Reichskanzlers erblickt, ohne damit der Menſchenwürde oder bürgerlichen Ehrenhaftigkeit der Schornſteinfeger nahezutreten.

Die Ehre iſt ein Rechtsgut, aber kein ſubjektives Recht. Der Rechtsſchutz der Ehre erſchöpft ſich in dem Schutze gegen Verletzung. Der Ehre ſteht rechtlich kein poſitiver Anſpruch auf Achtung, ſondern nur ein negativer Anſpruch auf Nicht - ausdruck der Nichtachtung, auf Nichtverletzung gegen - über. Sie iſt in Geld nicht abſchätzbar (die Buße iſt Ge - nugthuung für den Angriff, nicht Wiederherſtellung der ver - minderten Ehre), nicht negoziabel: ein rein immaterielles Rechtsgut.

Das poſitive Recht ſchützt regelmäßig, von beſonderer An - ordnung abgeſehen, nur die Ehre des Einzelindividuums, nicht die der Individuengruppen. 2Vgl. Zimmermann GA. XXV; Bolze GA. XXVI. Die herrſchende Anſicht vertrittauch RGR. 31. Januar 1880, E I 178, R I 302.Ausnahmen finden ſich:

321Delikte gegen die Ehre. §. 80.
  • 1. StGB. §§. 196, 197 Beleidigung von Behörden und politiſchen Körperſchaften;
  • 2. StGB. §. 187 Gefährdung des Kredits von Handels - geſellſchaften;
  • 3. StGB. §. 189 Schutz der Familienehre.

II. Arten der ſtrafbaren Handlungen gegen die Ehre.

1. Die Ehrverletzung (StGB. §. 185) oder die Be - leidigung im eigentlichen Sinne; der Ausdruck der Nichtachtung, mag derſelbe in der Form eines Urteils oder in der Form einer das Urteil in ſich ſchließenden Thatſachenbehauptung er - folgen.

Der Vorſatz (fahrläſſige Beleidigung iſt denkbar, aber nicht ſtrafbar) beſteht auch hier lediglich in dem Bewußtſein von der Kauſalität des Thuns; eine darüber hinausgehende Abſicht, ein ſogenannter animus injuriandi, iſt nicht er - forderlich. 3Ueber dieſe Frage herrſcht noch vielfache, durch §. 193 StGB. geſteigerte Unklarheit. Auch die einſchlagenden Ent - ſcheidungen des RGR. enthaltenmanche recht bedenkliche Bemer - kung.

Die Beleidigung iſt vollendet, ſobald der Ausdruck der Nichtachtung zur Kenntnis des Beleidigten oder einer dritten Perſon gelangt iſt. Der Verſuch iſt nicht ſtrafbar. War der gewählte Ausdruck nicht geeignet, das Auszudrückende aus - zudrücken, ſo würde nur (ſtrafloſer) Verſuch vorliegen. Dabei muß aber die Anſchauungsweiſe der betreffenden Kreiſe, darf nicht etwa ein objektiver Maßſtab zu Grunde gelegt werden. 4RGR. 22. April 1880, E I 390.

Strafe:

  • a) Geldſtrafe bis zu 600 Mark, oder Haft oder Gefängnis bis zu einem Jahre;
von Liszt, Strafrecht. 21322Erſtes Buch. V. Delikte gegen immaterielle Rechtsgüter.
  • b) wenn mittels einer Thätlichkeit, d. h. mittels eines unmittelbar gegen den Körper des zu Beleidigenden gerichteten, wenn auch fehlgeſchlagenen Angriffes be - gangen, Geldſtrafe bis zu 1500 Mark oder Gefängnis bis zu 2 Jahren. Der verſchiedene Vorſatz ſcheidet die Realinjurie und die Körperverletzung; iſt was wohl in der Regel der Fall ſein dürfte das Bewußtſein vorhanden, daß die Handlung nach beiden Richtungen hin kauſal ſein werde, ſo giebt nach dem oben §. 40 III Geſagten der höhere Strafſatz den Ausſchlag.

2. Die Gefährdung der Ehre durch üble Nachrede (StGB. §. 186), d. i. das Behaupten oder Verbreiten von nicht erweislich wahren Thatſachen ( Thatſache vgl. oben §. 73 S. 290) in Beziehung auf einen Anderen, welche denſelben ver - ächtlich zu machen oder in der öffentlichen Meinung herab - zuwürdigen geeignet ſind. Die üble Nachrede iſt nicht Ver - letzung, ſondern Gefährdung der Ehre; nicht Ausdruck der Nichtachtung, ſondern Mitteilung des Materiales, das An - dere zur Nichtachtung veranlaſſen kann. Sie kann daher nicht gegenüber dem Betroffenen,5RGR. 24. Oktober 1879, R I 14. ſondern nur in Bezug auf ihn gegenüber dritten Perſonen, begangen werden; und iſt vollendet mit der Behauptung oder Verbreitung der That - ſachen. Daher iſt ferner im Gegenſatze zu dem oben unter 1 Geſagten nicht die Anſchauung derjenigen Kreiſe, für welche die Aeußerung zunächſt berechnet iſt, ſondern die des ob - jektiv urteilenden Publikums maßgebend. 6Vgl. RGR. 23. Januar1880, E I 161 (zunächſt mit Bezug auf §. 131 StGB. ge - fällt).Der Vorſatz muß auch das Bewußtſein, die Thatſachen ſeien nicht erweislich wahr umfaſſen. Hält der Behauptende die Thatſachen für323Delikte gegen die Ehre. §. 80.erweislich wahr, während ſie es in Wirklichkeit nicht ſind, ſo kann Fahrläſſigkeit vorliegen, die nach der Faſſung des §. 186 ebenfalls ſtrafbar iſt.

Strafe:

  • a) Geldſtrafe bis zu 600 Mark oder Haft oder Gefängnis bis zu einem Jahre;
  • b) wenn
    • α) öffentlich, d. i. vor unbeſtimmt welchen und unbeſtimmt wie vielen Perſonen oder
    • β) durch Verbreitung von Schriften, Abbil - dungen oder Darſtellungen
      7Vgl. Liszt Preßrecht §. 42.
      7 begangen,
    Geldſtrafe bis zu 1500 Mark oder Gefängnis bis zu 2 Jahren.

3. Die Gefährdung der Ehre durch Verleumdung (StGB. §. 187), von der üblen Nachrede unterſchieden:

  • a) dadurch, daß an Stelle der nicht erweislich wahren Thatſachen unwahre Thatſachen treten;
  • b) durch das Hinzukommen der mala fides, des Wiſſens von der Unwahrheit der behaupteten oder verbreiteten Thatſachen (kann daher nur vorſätzlich begangen werden).

Im Uebrigen deckt ſich der Thatbeſtand der Verleumdung mit jenem der üblen Nachrede.

Strafe: Gefängnis bis zu 2 Jahren; wenn die oben zu 2 b angeführten Qualifikationen vorliegen, Gefängnis nicht unter einem Monate. Bei mildernden Umſtänden kann die Strafe bis auf einen Tag Gefängnis ermäßigt, oder auf Geldſtrafe bis zu 900 Mark erkannt werden.

4. Die Gefährdung des Kredites durch Verleum -324Erſtes Buch. V. Delikte gegen immaterielle Rechtsgüter.dung (StGB. §. 187), d. i. die wider beſſeres Wiſſen in Bezug auf einen Anderen erfolgende Behauptung oder Ver - breitung von Thatſachen, welche deſſen Kredit zu gefährden geeignet ſind. Der perſönliche Kredit iſt nichts als die wirtſchaftliche Seite der Ehre, das Intereſſe desjenigen, deſſen Stellung das Kreditnehmen mit ſich bringt, als zah - lungsfähig und zahlungswillig betrachtet und behandelt zu werden. Daß dieſe Seite der Ehre auch in Bezug auf Handelsgeſellſchaften, alſo Kollektivperſönlichkeiten, durch §. 187 StGB. geſchützt werden ſoll, wird allgemein zuge - geben.

Strafe wie zu 4.

5. Gefährdung der Familienehre durch Ver - leumdung Verſtorbener (StGB. §. 189), d. h. Be - ſchimpfung des Andenkens eines Verſtorbenen durch wider beſſeres Wiſſen erfolgende Behauptung oder Verbreitung von Thatſachen, welche denſelben bei ſeinen Lebzeiten verächtlich zu machen oder in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen geeignet geweſen wären. Der Tote iſt nicht mehr Rechts - ſubjekt; er kann in ſeiner Ehre ebenſowenig wie in ſeinem Leben verletzt werden, da er jene ebenſowenig mehr beſitzt wie dieſe. Aber die Intereſſen der Familie als einer In - dividuengruppe, einer Kollektivperſönlichkeit erſtrecken ſich über das Leben der einzelnen Generation hinaus. Die Fa - milienehre wird verletzt durch Beſchimpfung eines ver - ſtorbenen Gliedes, und dieſe Familienehre ſchützt der Geſetz - geber. 8Die Konſtruktion des §. 189 StGB. iſt eine ſehr beſtrittene. Für meine Auffaſſung ſcheint mir nicht nur Stellung undFaſſung des §. 189, ſondern auch das natürliche Gefühl zu ſprechen. Die Solidarität der Intereſſen der FamiliengliederDaher die Antragsberechtigung der Angehörigen325Delikte gegen die Ehre. §. 80.(Eltern, Kinder, Ehegatten), daher die Beſchränkung des rechtlichen Schutzes auf jene wenigen Generationen, die als im unmittelbaren Zuſammenhange mit dem Verſtorbenen befindlich betrachtet werden können, die daher durch das Urteil über den Verſtorbenen mit berührt werden.

Strafe: Gefängnis bis zu 6 Monaten, bei mildernden Umſtänden Geldſtrafe bis zu 900 Mark.

III. Die allgemeinen Grundſätze über Rechtswidrigkeit und Wegfall derſelben (oben §. 22) beanſpruchen unein - geſchränkte Geltung auch auf dem Gebiete der Beleidigungen. Hatte der Handelnde ein Recht zur Vornahme der Handlung, ſo liegt eben kein Delikt vor. Der Geſetzgeber wollte dieſe allgemeine Regel dem Richter gerade hier ins Gedächtnis rufen und zugleich durch Beiſpiele illuſtrieren, hat aber gerade dadurch die Praxis vielfach irregeführt. Die hieher gehörigen Beſtimmungen ſind:

1. StGB. §. 193. Tadelnde Urteile über wiſſenſchaft - liche, künſtleriſche oder gewerbliche Leiſtungen, ingleichen Aeußerungen, welche zur Ausführung oder Verteidigung von Rechten oder zur Wahrnehmung berechtigter Intereſſen9Durch den Berechtigten ſelbſt oder durch einen zur Wahrneh -mung derſelben berufenen Dritten; vgl. RGR. 24. De - zember 1879, E I 128, R I 171; 22. Januar 1880, R I 260. ge - macht werden, ſowie Vorhaltungen und Rügen der Vorge - ſetzten gegen ihre Untergebenen, dienſtliche Anzeigen oder Ur - teile von Seiten eines Beamten und ähnliche Fälle ſind nur inſofern ſtrafbar, als das Vorhandenſein einer Beleidigung aus der Form der Aeußerung oder aus den Umſtänden,8kann wohl nicht geleugnet werden, und ſie iſt es, welche die Fa - milie hier wie ſonſt zur Kollek - tivperſönlichkeit erhebt.326Erſtes Buch. V. Delikte gegen immaterielle Rechtsgüter.unter welchen ſie geſchah, hervorgeht. Dieſer letzte Zuſatz ſagt nur, daß mit dem Ueberſchreiten der Grenzen der Be - rechtigung die Rechtswidrigkeit beginnt. 10Bei dieſer Auffaſſung des §. 193 kann es keinem Zweifel unterliegen, daß derſelbe auch auf die Fälle der Verleumdung prinzipiell anzuwenden iſt. Freilich wird Berechtigung zur Verleumdung nur ganz aus -nahmsweiſe (z. B. im Notſtande) vorliegen.Falſch iſt es, die Abſicht zu betonen und dieſe als etwas vom Vorſatze ver - ſchiedenes aufzufaſſen. 11Bedenklich RGR. 5. De - zember 1879, R I 116; 16. März 1880, E I 317, R I 475; 30. April 1880, E I 406.

2. Mit dem Beweiſe der Wahrheit entfällt ohne Weiteres die Annahme der in den §§. 186, 187, 189 (oben II 2 5) enthaltenen Delikte, welche begrifflich Unwahrheit oder wenigſtens Nicht-Beweisbarkeit der behaupteten oder verbreiteten Thatſachen erfordern. Aber auch im Falle des §. 185 (oben II 1) ſchließt die Wahrheit der Thatſachen (ſoweit ſolche überhaupt in Frage ſtehen) die Rechtswidrigkeit aus; es ſei denn, daß die durch das Recht die Wahrheit zu ſagen gezogenen Grenzen überſchritten wurden, und der Thäter dem Vorbringen der Thatſachen etwas Weiteres, eine Beleidigung enthaltendes, hinzugefügt hat. Dies und nichts Anderes ſagt §. 192 mit den Worten: Der Wahrheits - beweis ſchließt die Beſtrafung nach §. 185 nicht aus, wenn das Vorhandenſein einer Beleidigung aus der Form der Be - hauptung oder Verbreitung oder aus den Umſtänden, unter welchen ſie geſchah, hervorgeht.

Iſt die Thatſache eine ſtrafbare Handlung, ſo iſt (§. 190 StGB. ) der Wahrheitsbeweis:

  • a) als erbracht anzuſehen, wenn der Beleidigte wegen dieſer Handlung rechtskräftig verurteilt;
327Delikte gegen die Ehre. §. 80.
  • b) ausgeſchloſſen, wenn er wegen derſelben vor der Behauptung oder Verbreitung rechtskräftig freigeſprochen worden iſt.
    12Es handelt ſich hier nicht um eine Beſchränkung der freien Beweiswürdigung, ſondernum eine ſolche des Beweis - thema’s (der beweispflichtigen oder beweisfähigen Thatſachen).
    12

IV. Auf Buße bis zu 6000 Mark kann (StGB. §. 188) auf Verlangen in den Fällen der §§. 186 und 187 (oben II, 2, 3, 4) erkannt werden, wenn die Beleidigung nach - teilige Folgen für die Vermögensverhältniſſe, den Erwerb oder das Fortkommen des Beleidigten mit ſich bringt. Da - mit iſt die Geltendmachung eines weiteren Entſchädigungs - anſpruches ausgeſchloſſen.

V. Die Beleidigung iſt Antragsdelikt (StGB. §. 194). Rücknahme des Antrages zuläſſig. Antragsberechtigt im Falle des §. 189 (oben II 5) ſind die Eltern, Kinder und der Ehegatte des Verſtorbenen; im übrigen gelten die allgemeinen Regeln (oben §. 31 II 1). Ueber das ſelbſtändige Antrags - recht des Vaters und Ehemannes im Falle des §. 195 StGB. ’s, ſowie des Amtsvorgeſetzten im Falle des §. 196 vgl. oben §. 61 III 1 und 2. Nicht Antrags -, ſondern Er - mächtigungsdelikt (oben §. 30 III 2) iſt die Beleidigung (StGB. §. 197), wenn dieſelbe begangen worden iſt gegen eine geſetzgebende Verſammlung des Reichs oder eines Bundesſtaats oder gegen eine andere politiſche Körperſchaft.

Die Modifikationen der Antragsfriſt bei wechſelſeitigen Beleidigungen ſiehe oben §. 61 III.

VI. Retorſion (§. 199 StGB.). Wenn eine Beleidi - gung auf der Stelle erwidert wird, ſo kann der Richter beide Beleidiger oder einen derſelben für ſtraffrei erklären. Vgl. auch hier das oben §. 61 V Geſagte.

328Erſtes Buch. V. Delikte gegen immaterielle Rechtsgüter.

VII. Neben der Buße kennt das Geſetz (StGB. §. 200) bei der Beleidigung noch zwei andere Formen der Privat - Genugthuung (oben §. 42 II 2), die an Stelle der auf - gehobenen Inſtitute der Abbitte, des Widerrufes, der Ehren - erklärung getreten ſind:

1. Die Ausfertigung des Schuldurteiles an den Beleidigten auf Koſten des Verurteilten (obligatoriſch in allen Fällen).

2. Die Befugnis der Beleidigten13Auch den ſelbſtändig An - tragsberechtigten (StGB. §. 195 und §. 196) iſt dieſe Befugnis zuzuſprechen: RGR. 18. Februar 1880, R I 360. zur öffentlichen Bekanntmachung der Verurteilung auf Koſten des Verurteilten.

Dieſe iſt zuzuſprechen bei öffentlich oder durch Verbrei - tung von Schriften, Darſtellungen, Abbildungen14Ueber dieſe Begriffe ſiehe oben S. 323. begangenen Beleidigungen. Art der Bekanntmachung und Friſt zu der - ſelben iſt im Urteile zu beſtimmen. Erfolgte die Beleidigung in einer Zeitung oder Zeitſchrift, ſo iſt der verfügende Teil des Urteils auf Antrag15Der Antrag kann auch imVollſtreckungsverfahren geſtellt werden. des Beleidigten durch die öffentlichen Blätter bekannt zu machen, und zwar wenn möglich durch dieſelbe Zeitung oder Zeitſchrift und mit der - ſelben Schrift, wie der Abdruck der Beleidigung geſchehen. 16Es bedarf keiner Feſtſetzung dieſer beſonderen Art der Be - kanntmachung im Urteile: RGR. 14. April 1880, R I 598. Vgl. im Uebrigen Liszt Preßrecht §. 27 III.

329Die übrigen Verletzungen immaterieller Rechtsgüter. §. 81.

2.

§. 81. Die übrigen Verletzungen immaterieller Rechtsgüter.

I. Die Störung der Rechtsſicherheit des Einzelnen (ſeines Vertrauens auf ungeſchmälerten Genuß der ihm zu - ſtehenden Rechtsgüter) durch Bedrohung mit der Be - gehung eines unmittelbar oder mittelbar gegen ihn ge - richteten Verbrechens (StGB. §. 241). 1Lit. bei Meyer S. 536 Note 1.Zur Vollendung iſt Kenntnisnahme des Bedrohten2Ebenſo RGR. 15. Novem - ber 1879, R I 73. und thatſächlich er - folgte Störung in ſeiner Rechtsſicherheit3Dagegen RGR. 15. No - vember 1879, R I 73. erforderlich; ſollte es daran fehlen, ſo läge nur (ſtrafloſer) Verſuch vor. Vgl. über Drohung im übrigen das oben §. 63 S. 251 Geſagte.

Strafe: Gefängnis bis zu 6 Monaten, oder Geldſtrafe bis zu 300 Mark.

II. Verletzung des Hausrechtes, das iſt des recht - lich geſchützten Intereſſes an ungeſtörter Bethätigung des eigenen Willens in der eigenen Wohnung, durch Hausfriedens - bruch4Lit. bei Meyer S. 537 Note 1. (StGB. §§. 123 und 124). Als die Objekte, auf welche das Hausrecht ſich erſtreckt, nennt das Geſetz: die Wohnung, die Geſchäftsräume, das befriedete5Nicht abgeſchloſſene, ſondern als von dem Haus - rechte ergriffen bezeichnete Räume: RGR. 6. April 1880, E I 547. Beſitztum des Einzelnen; es ſtellt ihnen gleich: abge - ſchloſſene6Begriff oben §. 64 bei Note 14. Räume, die zum öffentlichen Dienſte beſtimmt ſind.

330Erſtes Buch. V. Delikte gegen immaterielle Rechtsgüter.

Das Hausrecht ſteht dem Inhaber der Wohnung, bez. ſeinen Stellvertretern zu; bei Räumen, welche wie Flure, Treppen, Vorräume u. dgl. zur Benutzung der Inhaber mehrerer Wohnungen beſtimmt ſind, jedem von dieſen;7RGR. 3. November 1879, R I 33; 10. Dezember 1879, E I 121, R I 138. be - züglich der öffentlichen Räume demjenigen, der über dieſe zu verfügen berechtigt iſt.

Die Fälle des Hausfriedensbruches.

1. Der einfache Hausfriedensbruch (StGB. §. 123 1. Abſ. ) begangen entweder

  • a) durch widerrechtliches (oben §. 28 II)
    8Ueberſchreitung einer gegebe - nen Berechtigung hat die Wider - rechtlichkeit des Plus zur Folge: RGR. 24. November 1879, E I 21, R I 92.
    8 Eindringen in die genannten Räume; oder
  • b) dadurch, daß derjenige, der in ſolchen Räumen ohne Befugnis verweilt, ſich trotz Aufforderung des Berech - tigten nicht entfernt.
    9Kündigung der Wohnung, des Dienſtes uſw. macht das Verweilen in den bisher inne - gehabten Räumen nicht notwen - dig zu einem widerrechtlichen: RGR. 24. Februar 1880, E I 222; 27. April 1880, E I 398.
    9

Antragsdelikt. Antragsberechtigt iſt der Träger des Hausrechtes; und zwar auch dann, wenn er in der Perſon ſeines Stellvertreters in ſeinem Hausrechte verletzt worden iſt.

Strafe: Gefängnis bis zu 3 Monaten oder Geldſtrafe bis zu 300 Mark.

2. Qualifizierter Fall (StGB. §. 123 3. Abſ. ); vorliegend, wenn eine der unter 1 angeführten Handlungen von einer mit Waffen verſehenen (vgl. oben §. 64 II 2 e) Perſon oder von Mehreren gemeinſchaftlich (oben §. 61 Note 5) begangen wird.

331Die übrigen Verletzungen immaterieller Rechtsgüter. §. 81.

Von Amtswegen zu verfolgen. Strafe: Gefängnis von einer Woche bis zu einem Jahre.

3. Gewaltſamer Hausfriedensbruch (StGB. §. 124). Wenn ſich eine Menſchenmenge öffentlich zuſammen - rottet und in der Abſicht, Gewaltthätigkeiten gegen Perſonen oder Sachen mit vereinten Kräften zu begehen, in die oben genannten Räume widerrechtlich eindringt, ſo wird jeder, welcher an dieſen Handlungen teilnimmt, mit Gefängnis von einem Monat bis zu zwei Jahren beſtraft. Zu - ſammenrottung iſt die durch gemeinſame rechtswidrige Abſicht zuſammengehaltene, nach außen als geſchloſſene Gruppe hervortretende, räumliche Vereinigung mehrerer Menſchen (vgl. RGR. 1. Juni 1880, E II 80, R II 5).

Oeffentlich erfolgt die Zuſammenrottung, wenn der Anſchluß dem Publikum, alſo unbeſtimmt wie vielen und un - beſtimmt welchen Perſonen, freiſteht.

Auf Seiten des Teilnehmers muß Vorſatz vorliegen, d. i. hier das Bewußtſein, Teil einer ſtrafbare Zwecke ver - folgenden Zuſammenrottung zu ſein (RGR. 1. Juli 1880, R II 150).

4. Ueber das Amtsdelikt des §. 342 StGB. vgl. unten §. 93 II 4 e.

III. Verletzung des Brief - und Urkundenge - heimniſſes (StGB. §. 299), begangen durch unbefugte (oben §. 28 II) Eröffnung eines verſchloſſenen Briefes oder einer anderen verſchloſſenen Urkunde,10Urkunde hat hier nicht tech - niſche Bedeutung (unten §. 89I 1), ſondern umfaßt jedes Schriftſtück. die nicht zur Kenntnisnahme des Thäters beſtimmt iſt. Erfolgte oder auch nur beabſichtigte Kenntnisnahme iſt nicht erforderlich. 332Erſtes Buch. V. Delikte gegen immaterielle Rechtsgüter.Antragsdelikt; antragsberechtigt iſt der Abſender, ſo lange er über die Sendung zu verfügen in der Lage iſt; ſpäter der Adreſſat. Strafe: Geldſtrafe bis zu 300 Mark oder Gefängnis bis zu 3 Monaten. Ueber das Amtsdelikt des §. 354 StGB. vgl. unten §. 93 II 10.

IV. Unbefugte (oben §. 28 II) Offenbarung von Privatgeheimniſſen durch Rechtsanwälte, Advokaten, Notare, Verteidiger in Strafſachen, Aerzte, Wundärzte, Hebammen, Apotheker, ſowie die Gehülfen dieſer Perſonen, wenn ihnen dieſe Geheimniſſe kraft ihres Amtes, Standes oder Gewerbes anvertraut ſind (StGB. §. 300). Vorſatz erforderlich. 11Beſtritten; auch Fahrläſſigkeit ſoll nach Manchen ge - nügen.Antragsdelikt; antragsberechtigt iſt der - jenige, deſſen Geheimnis in Frage ſteht, d. h. derjenige, der das Geheimnis anvertraut hat, oder, wenn es an einem ſolchen fehlt, derjenige, den es betrifft.

Strafe: Geldſtrafe bis zu 1500 Mark oder Gefängnis bis zu 3 Monaten.

[333]

Zweites Buch. Strafbare Handlungen gegen rechtlich ge - ſchützte Intereſſen des Publikums.

I. Die gemeingefährlichen Delikte des Strafgeſetz - buches.

§. 82. Allgemeines. Brandſtiftung und Ueberſchwemmung.

I. Das ſcheinbar charakteriſtiſche Merkmal dieſer Gruppe, die durch die hieher gehörigen Delikte herbeigeführte Ge - fährdung von Leib, Leben, Eigentum des Publi - kums kommt auch anderen ſtrafbaren Handlungen zu. Den - noch empfiehlt es ſich aus praktiſchen Gründen, die Bezeich - nung gemeingefährliche Delikte auf die im 27. Abſchnitt des StGB. ’s enthaltenen Fälle zu beſchränken.

Jenes Merkmal erfordert im Einzelnen:

1. Gefährdung, d. i. (in dem oben entwickelten Sinne) die Herbeiführung eines Zuſtandes, der nach unſerer Erfah - rung in der Mehrzahl der Fälle zu dem rechtswidrigen Erfolge führt.

2. Gefährdung von Leib, Leben, Eigentum; nicht aber der übrigen privaten oder öffentlichen Rechtsgüter. Es entſpricht dem gewöhnlichen Sprachgebrauche der Geſetzgebung nicht, z. B. auch die Preß-Delikte als gemeingefährliche zu bezeichnen.

334Zweites Buch. I. Die gemeingefährlichen Delikte im e. S.

3. Gemeingefährdung, d. i. Herbeiführung eines Zu - ſtandes, in welchem nicht ein einzelner Träger der genannten Rechtsgüter, oder mehrere, nach Zahl und Individualität beſtimmte Träger derſelben, ſondern das Publikum, die Oeffentlichkeit, ein nach Zahl und Individualität nicht ab - geſchloſſener Perſonenkreis, als gefährdet erſcheint. Darum gehört insbeſondere die rechtswidrige Entfeſſelung der Natur - kräfte, deren Wirkung jeder Berechnung wie jeder Beherr - ſchung ſpottet, die der Thäter, hat er ſie einmal gerufen, nicht mehr bannen kann in die Gruppe der gemeingefähr - lichen Delikte.

Das genannte Merkmal wird vom Geſetzgeber in ver - ſchiedener Weiſe zur Bildung der einzelnen Deliktsbegriffe verwertet.

  • a) In manchen Fällen iſt der regelmäßige, wenn auch im konkreten Falle nicht gegebene, Charakter der Handlung für den Geſetzgeber maßgebend; dann iſt die Gemeingefährlichkeit nicht Begriffsmerkmal. Bei - ſpiel: Die Brandſtiftung.
  • b) In anderen Fällen hat der Geſetzgeber die Gemein - gefährlichkeit, wie bei der Ueberſchwemmung, zum Be - griffsmerkmal erhoben, und ſomit ihr Vorliegen im konkreten Falle zur Bedingung für den Eintritt der Strafbarkeit gemacht.
  • c) Endlich finden ſich Fälle ein Beiſpiel bietet §. 323 StGB., in welchen die regelmäßige Gemein - gefährlichkeit genügt, die konkrete Handlung alſo dieſe Eigenſchaft nicht an ſich zu tragen braucht, wohl aber die Gefährdung eines oder mehrerer Einzelner (nicht Gemeingefährdung) Bedingung der Straf - arkeit iſt.
335Allgemeines. Brandſtiftung u. Ueberſchwemmung. §. 82.

Bei der Handhabung der einzelnen Deliktsbegriffe iſt dieſe verſchiedene Verwertung des Merkmals der Gemein - gefährlichkeit wohl ins Auge zu faſſen.

II. Den erſten Rang unter den gemeingefährlichen De - likten nimmt die Brandſtiftung1Lit. bei Meyer S. 555 Note 1. Dazu Ullmann GS. XXX; Wanjek GS. XXX; John HR. Brandſtiftung . ein. Sie unterſcheidet ſich durch ihre Gemeingefährlichkeit von der Sachbeſchädi - gung. Aber nicht jede im konkreten Falle gemeingefährliche Sachbeſchädigung durch Brandlegung iſt Brandſtiftung im Sinne des Geſetzgebers; dieſer hat vielmehr die Fälle der gemeingefährlichen Brandſtiftung ausſchließend aufgezählt, und damit die Unterſuchung nach dem Vorliegen jenes Merk - males im Einzelfalle einfürallemale abgeſchnitten.

Die Brandſtiftung iſt vollendet, ſobald nicht nur der Zündſtoff oder ein Teil des Brandobjektes in Brand geſetzt, ſondern das Feuer ausgebrochen, d. h. ein ſolcher Brand entſtanden iſt, der die Gefahr eines wenigſtens teilweiſen Abbrennens in ſich ſchließt, und erhöhte Kraftanſtrengung, ſowie fremde Hülfe zur Bewältigung fordert. 2RGR. 3. Mai 1880, E I 375, R I 720.

Die thätige Reue (oben §. 57 III) iſt als Strafauf - hebungsgrund anerkannt (StGB. §. 310). Sie liegt vor, wenn der Thäter, ſei es auch durch Herbeirufung fremder Hülfe,3RGR. 3. Mai 1880, E I 375, R I 720. den Brand wieder gelöſcht hat, bevor derſelbe ent - deckt4Nach derſelben RGR. iſt Entdeckung nicht anzunehmen, wenn nur der zur Hülfeleiſtung Herbeigerufene allein die Brand - ſtiftung wahrgenommen hat. und ein weiterer als der durch die bloße Inbrand - ſetzung bewirkte Schade entſtanden iſt.

336Zweites Buch. I. Die gemeingefährlichen Delikte im e. S.

Fälle der Brandſtiftung.

A. Vorſätzliche.

1. Mit (abſtrakter) Gemeingefahr für das Leben.

  • a) Einfacher Fall (StGB. §. 306): wenn in Brand geſetzt wird:
    • 1. Ein zu gottesdienſtlichen Verſammlungen be - ſtimmtes Gebäude;
    • 2. ein Gebäude, ein Schiff oder eine Hütte, welche zur Wohnung von Menſchen dienen;
    • 3. eine Räumlichkeit, welche zeitweiſe zum Aufent - halte von Menſchen dient, und zwar zu einer Zeit, während welcher Menſchen in derſelben ſich aufzuhalten pflegen.
    Strafe: Zuchthaus.
  • b) Qualifizierter Fall (StGB. §. 307).
    • 1. Wenn der Brand den Tod eines Menſchen da - durch verurſacht (oben §. 61 II 1 c) hat, daß dieſer zur Zeit der That in einer der in Brand geſetzten Räumlichkeiten ſich befand;
    • 2. wenn die Brandſtiftung in der Abſicht (gleich - treibendes Motiv, oben §. 28 III) begangen worden iſt, um unter Begünſtigung derſelben Mord oder Raub zu begehen oder einen Aufruhr zu erregen;
    • 3. wenn der Brandſtifter, um das Löſchen des Feuers zu verhindern oder zu erſchweren, Löſch - gerätſchaften entfernt oder unbrauchbar gemacht hat.
    Strafe: Zuchthaus nicht unter 10 Jahren oder lebenslängliches Zuchthaus.

2. Mit (abſtrakter) Gemeingefahr für Eigentum oder Leben (StGB. §. 308); wenn Gebäude, Schiffe, Hütten,337Allgemeines. Brandſtiftung u. Ueberſchwemmung. §. 82.Bergwerke, Magazine, Waarenvorräte, welche auf dazu be - ſtimmten öffentlichen Plätzen lagern, Vorräte von landwirt - ſchaftlichen Erzeugniſſen5Düngerhaufen gehören we - gen der eingetretenen Verände - rung der urſprünglichen Beſtand - teile derſelben (Stroh uſw. ) nichthieher; RGR. 19. Juni 1880, R II 82. oder von Bau - oder Brenn - materialien, Früchte auf dem Felde, Waldungen oder Torf - moore in Brand geſetzt werden, und dieſe Gegenſtände ent - weder a) fremdes Eigentum ſind, oder b) zwar dem Brand - ſtifter eigentümlich gehören, jedoch ihrer Beſchaffenheit und Lage nach geeignet ſind, das Feuer einer der im §. 306 Nr. 1 3 bezeichneten Räumlichkeiten oder einem der vor - ſtehend bezeichneten fremden Gegenſtände mitzuteilen.

Strafe: Zuchthaus bis zu 10 Jahren, bei mildernden Umſtänden Gefängnis nicht unter 6 Monaten.

B. Fahrläſſige Brandſtiftung (StGB. §. 309), wenn an einem der in den §§. 306 und 308 bezeichneten Gegen - ſtände begangen. Strafe: Gefängnis bis zu einem Jahre, oder Geldſtrafe bis zu 900 Mark; wenn durch den Brand der Tod eines Menſchen verurſacht worden, Gefängnis von einem Monate bis zu 3 Jahren.

Neben Zuchthaus kann in allen Fällen der Brandſtiftung auf Zuläſſigkeit von Polizeiaufſicht erkannt werden (StGB. §. 325).

C. Der Brandſtiftung iſt gleichgeſtellt (StGB. §. 311) die gänzliche oder teilweiſe Zerſtörung einer Sache durch den Gebrauch von Pulver oder anderen explodierenden Stoffen.

III. Die Herbeiführung einer Ueberſchwem - mung. 6Wanjek GS. XXXI.

von Liszt, Strafrecht. 22338Zweites Buch. I. Die gemeingefährlichen Delikte im e. S.

1. Vorſätzliche.

  • a) Mit Gemeingefahr (im konkreten Fall) für Menſchen - leben (StGB. §. 312). Strafe: Zuchthaus nicht unter 3 Jahren; wenn der Tod eines Menſchen ver - urſacht (oben §. 61 II 1 c) worden, Zuchthaus nicht unter 10 Jahren oder lebenslängliches Zuchthaus.
  • b) Mit Gemeingefahr (im konkreten Falle) für das Eigentum (StGB. §. 313). Strafe: Zuchthaus; wenn die Abſicht des Thäters nur auf Schutz ſeines Eigentums gerichtet geweſen (vgl. oben §. 24 II 2), Gefängnis nicht unter einem Jahre.

2. Fahrläſſige (StGB. §. 314) Ueberſchwemmung mit konkreter Gemeingefahr für Leben oder Eigentum. Strafe: Gefängnis bis zu einem Jahre; wenn der Tod eines Men - ſchen verurſacht worden, Gefängnis von einem Monate bis zu 3 Jahren.

Neben Zuchthaus kann auf Polizeiaufſicht erkannt werden (StGB. §. 325).

§. 83. Fortſetzung. Die übrigen gemeingefährlichen Delikte des Strafgeſetzbuches.

I. Gefährdung des Eiſenbahn-Transportes1Begriff oben §. 64 II 2 d. (StGB. §§. 315 und 316) durch Beſchädigung von Eiſen - bahnanlagen, Beförderungsmitteln oder ſonſtigem Zubehör, durch Bereitung von Hinderniſſen mittels falſcher Zeichen oder Signale oder auf andere Weiſe (Gemeingefahr in ab - stracto).

339Fortſetzung. Die übrigen gemeingefährl. Delikte. §. 83.

1. Vorſätzlich begangen (§. 315). Strafe: Zuchthaus bis zu 10 Jahren; bei Verurſachung (oben §. 61 II 1 c) einer ſchweren Körperverletzung (StGB. §. 224) Zuchthaus nicht unter 5 Jahren; bei Verurſachung des Todes nicht unter 10 Jahren oder lebenslänglich. Polizeiaufſicht kann erkannt werden (§. 325).

2. Fahrläſſig begangen (§. 316). Strafe: Ge - fängnis bis zu einem Jahre; bei Verurſachung des Todes Gefängnis von einem Monate bis zu 3 Jahren.

3. Die unter 2 bezeichnete Strafe trifft die zur Leitung der Eiſenbahnfahrten und zur Aufſicht über Bahn und Be - förderungsbetrieb angeſtellten Perſonen, wenn ſie durch Vernachläſſigung der ihnen obliegenden Pflichten2Alſo auch, wenn nicht durch Beſchädigung von Eiſenbahnan - lagen uſw. einen Transport in Gefahr ſetzen.

II. Verhinderung oder Störung der Benutzung einer zu öffentlichen Zwecken dienenden Tele - graphenanſtalt (Gemeingefahr in abstracto).

1. Vorſätzlich begangen (StGB. §. 317). Strafe: Gefängnis von einem Monate bis zu 3 Jahren.

2. Fahrläſſig begangen (§. 318). Strafe: Ge - fängnis bis zu einem Jahre oder Geldſtrafe bis zu 900 Mark.

3. Die zu 2 bezeichnete Strafe trifft die zur Beauf - ſichtigung und Bedienung der Telegraphenanſtalten und ihrer Zubehörungen angeſtellten Perſonen, wenn ſie durch Pflichtvernachläſſigung die Benutzung der Anſtalt verhindern oder ſtören.

Zu I und II.

Die wegen einer der angeführten Handlungen verurteilten340Zweites Buch. I. Die gemeingefährlichen Delikte im e. S.Angeſtellten (I 3 und II 3) können zugleich für unfähig zu einer Beſchäftigung im Eiſenbahn - oder Telegraphendienſte oder in beſtimmten Zweigen dieſer Dienſte erklärt werden (StGB. §. 319).

Die Vorſteher der Eiſenbahngeſellſchaft oder Tele - graphenanſtalt, welche nicht ſofort nach Mitteilung des rechts - kräftigen Erkenntniſſes die Entfernung des Verurteilten bewir - ken, werden mit Geldſtrafe bis zu 300 Mark oder Gefängnis bis zu 3 Monaten beſtraft. Gleiche Strafe trifft den für unfähig Erklärten, der ſich nachher wieder anſtellen läßt, ſowie diejenigen, die ihn trotz Kenntnis der Unfähigkeitserklärung wieder angeſtellt haben.

III. Zerſtörung oder Beſchädigung von Waſſer - leitungen, Schleuſen, Wehren, Deichen, Dämmen oder anderen Waſſerbauten; von Brücken, Fähren, Wegen, Schutz - wehren; von Bergwerksvorrichtungen zur Waſſerhaltung, Wetterführung, zum Ein - und Ausfahren der Arbeiter; Störung des Fahrwaſſers in ſchiffbaren Strömen, Flüſſen oder Kanälen: wenn dadurch Gefahr für Leben oder Geſundheit Anderer herbeigeführt wurde (Gefähr - dung, wenn auch nicht Gemein gefährdung im konkreten Fall erforderlich).

1. Vorſätzlich begangen (StGB. §. 321). Strafe: Gefängnis nicht unter 3 Monaten; bei Verurſachung einer ſchweren Körperverletzung (StGB. §. 224) Zuchthaus bis zu 5 Jahren; des Todes, Zuchthaus nicht unter 5 Jahren. Neben Zuchthaus Polizeiaufſicht fakultativ (§. 325).

2. Fahrläſſig begangen (§. 326). Strafe: Bei Verurſachung eines Schadens, Gefängnis bis zu einem Jahre; bei Verurſachung des Todes, Gefängnis von einem Monat bis zu 3 Jahren.

341Fortſetzung. Die übrigen gemeingefährl. Delikte. §. 83.

IV. Strafbare Handlungen an zur Sicherung der Schiffahrt beſtimmten Feuerzeichen oder anderen zu dieſem Zwecke aufgeſtellten Zeichen; und zwar Zerſtören, Wegſchaffen, Unbrauchbarmachen, Auslöſchen, dienſtpflichtwidriges Nicht-Aufſtellen; Aufſtellen eines falſchen Zeichens, welches geeignet iſt, die Schiffahrt unſicher zu machen; insbeſondere nächtliches Anzünden von Feuer auf der Strandhöhe, welches die Schiffahrt zu gefährden geeignet iſt (abſtrakte Gemeingefährdung genügt).

1. Vorſätzlich begangen (StGB. §. 322). Strafe: Zuchthaus bis zu 10 Jahren; bei Verurſachung der Stran - dung eines Schiffes, Zuchthaus nicht unter 5 Jahren; des Todes eines Menſchen, Zuchthaus nicht unter 10 Jahren oder lebenslängliches Zuchthaus. Polizeiaufſicht fakultativ (§. 325).

2. Fahrläſſig begangen (§. 326). Strafe: wie oben zu III 2.

V. Bewirkung des Strandens oder Sinkens eines Schiffes, wenn dadurch Gefahr für das Leben eines anderen herbeigeführt wird (konkrete Gefährdung, nicht aber Gemeingefährdung erforderlich).

1. Vorſätzlich begangen (StGB. §. 323). Strafe: Zuchthaus nicht unter 5 Jahren; bei Verurſachung des Todes eines Menſchen, Zuchthaus nicht unter 10 Jahren oder lebenslängliches Zuchthaus. Polizeiaufſicht fakultativ (§. 325).

2. Fahrläſſig begangen (§. 326). Strafe wie oben zu III 2.

VI. Vergiftung von Brunnen oder Waſſerbe - hältern, die zum Gebrauche Anderer dienen; Vergiftung von Gegenſtänden, welche zum öffentlichen Verkaufe oder342Zweites Buch. I. Die gemeingefährlichen Delikte im e. S.Verbrauche beſtimmt ſind, oder Beimiſchung von Stoffen, von welchen dem Thäter bekannt iſt, daß ſie die menſchliche Geſundheit zu zerſtören geeignet ſind; wiſſentliches Ver - kaufen, Feilhalten, In-Verkehr-Bringen ſolcher vergifteter oder mit gefährlichen Stoffen vermiſchter Sachen mit Verſchwei - gung dieſer Eigenſchaft. 3Vgl. Nahrungsmittelgeſetz im nächſten §. Dieſes iſt Spezialgeſetz mit Bezug auf ge -wiſſe Gegenſtände, und geht ſomit dem §. 324 StGB. vor.(Abſtrakte Gemeingefährdung ge - nügt).

1. Vorſätzlich begangen (StGB. §. 324). Strafe: Zuchthaus bis zu 10 Jahren; bei Verurſachung des Todes Zuchthaus nicht unter 10 Jahren oder lebenslänglich Zucht - haus. Polizeiaufſicht fakultativ (§. 325).

2. Fahrläſſig begangen (§. 326). Strafe: wie oben III 2.

VII. Verletzung der zur Verhütung von an - ſteckenden Krankheiten oder Viehſeuchen getroffe - nen Vorſichtsmaßregeln (StGB. §. 327 und 328). Siehe darüber unten §. 107 I und II.

VIII. Nichterfüllung (oder Erfüllung nicht zur be - ſtimmten Zeit oder nicht in der vorbedungenen Weiſe) von mit einer Behörde geſchloſſenen Lieferungsver - trägen:

  • a) über Bedürfniſſe des Heeres oder der Marine zur Zeit eines Krieges; oder
  • b) über Lebensmittel zur Abwendung oder Beſeitigung eines Notſtandes (StGB. §. 329; abſtrakte Gemein - gefährlichkeit genügt).

1. Vorſätzlich begangen. Strafe: Gefängnis nicht unter 6 Monaten; Ehrverluſt fakultativ.

343Uebertretungen des Nahrungsmittel-Geſetzes.

2. Fahrläſſig begangen. Strafe: wenn durch die Handlung ein Schaden verurſacht worden, Gefängnis bis zu 2 Jahren.

Dieſelben Strafen finden auch gegen Unterlieferanten, Vermittler und Bevollmächtigte des Lieferanten Anwendung, welche mit Kenntnis des Zweckes der Lieferung die Nichterfüllung vorſätzlich oder fahrläſſig verurſachen.

IX. Verletzung der allgemein anerkannten Re - geln der Baukunſt bei Leitung oder Ausführung eines Baues, wenn dadurch für andere eine (nicht notwendig ge - meine) Gefahr entſteht (StGB. §. 330).

Strafe: Geldſtrafe bis zu 900 Mark oder Gefängnis bis zu einem Jahre.

II. Uebertretungen des Geſetzes vom 14. Mai 1879, betreffend den Verkehr mit Nahrungsmitteln, Genutß - mitteln, Gebrauchsgegenſtänden. 1Außer den oben §. 9 Nr. 50 angeführten Kommentaren zu vgl. v. Schwarze GS. XXXI (daſelbſt S. 83 Lit.); Lieb - reich Bemerkungen 1879; Hof -mann in der deutſchen Viertel - jahrsſchrift für öffentliche Ge - ſundheitspflege XI. Die Ma - terialien in GA. XXVII.

§. 84.

Das Geſetz bezieht ſich (§. 1) auf Nahrungs - und Genußmittel, ſowie auf Spielwaren, Tapeten, Farben, -, Trink - und Kochgeſchirr und Petro - leum, und ſchließt ſich mit dem ſchwerſten von ihm mit Strafe bedrohten Falle unmittelbar an den Thatbeſtand des §. 324 StGB. an.

344Zweites Buch. II. Uebertretungen d. Nahrungsmittel-Geſ.

I. Der Verkehr mit den genannten Gegenſtänden iſt der ſtaatlichen Beaufſichtigung unterſtellt (§§. 1 4). Widerſtand gegen dieſelbe (Verweigerung des Eintrittes in die Geſchäftsräumlichkeiten, der Entnahme von Proben, der Reviſion gegenüber den zuſtändigen Polizeibeamten) unterliegt (§. 9) einer Geldſtrafe von 50 150 Mark oder der Strafe der Haft. Ueberdies iſt dem Kaiſer (mit Zuſtimmung des Bundesrates) ein weitgehendes Verordnungsrecht zum Schutze der Geſundheit eingeräumt (§§. 5 7), kraft deſſen Herſtellung, Aufbewahrung, Verpackung, Verkauf, Verwendung gewiſſer Gegenſtände verboten werden kann. Uebertretung dieſer Verordnungen wird mit Geldſtrafe bis zu 150 Mark oder mit Haft beſtraft (§. 8).

II. 1. Die Nachmachung oder Verfälſchung von Nahrungs - oder Genußmitteln zum Zwecke der Täuſchung im Handel und Verkehr;

2. Das Verkaufen von verdorbenen, nachge - machten, verfälſchten Nahrungs - oder Genußmitteln unter Verſchweigung dieſes Umſtandes, ſowie das Feilhalten der - ſelben unter einer zur Täuſchung geeigneten Bezeichnung wird (§. 10) mit Gefängnis bis zu 6 Monaten und Geldſtrafe bis zu 1500 Mark, oder mit einer dieſer Strafen; die fahrläſſige Begehung der unter 2 be - zeichneten Handlungen aber (§. 11) mit Geldſtrafe bis zu 150 Mark oder mit Haft beſtraft.

III. 1. Herſtellung von Gegenſtänden, welche beſtimmt ſind, Anderen als Nahrungs - oder Genußmittel zu dienen, in ſolcher Weiſe, daß der (beſtimmungsgemäße)2Nicht übermäßige. Ent - ſpricht Genuß einer größeren Menge, oder wiederholter Genußder Beſtimmung und Natur des Gegenſtandes, ſo iſt der ſtraf - bare Thatbeſtand gegeben, auch Genuß345Uebertretungen des Nahrungsmittel-Geſetzes.derſelben die menſchliche Geſundheit zu beſchädigen geeignet iſt; ſowie das Verkaufen, Feilhalten, In-Verkehr - Bringen von Gegenſtänden, deren Genuß die menſchliche Geſundheit zu beſchädigen geeignet iſt, als Nahrungs - oder Genußmittel;

2. Die Herſtellung von Bekleidungsgegenſtänden, Spiel - waren, Tapeten, -, Trink - und Kochgeſchirr oder Petro - leum in einer ſolchen Weiſe, daß der beſtimmungsgemäße oder vorauszuſehende Gebrauch derſelben die menſchliche Ge - ſundheit zu beſchädigen geeignet iſt; ſowie das Verkaufen, Feilhalten, In-Verkehr-Bringen ſolcher Gegenſtände.

Strafe:

  • a) Vorſätzliche Begehung.
    • α) Einfacher Fall (§. 12): Gefängnis mit fakulta - tivem Ehrverluſt. Verſuch ſtrafbar. Bei Ver - urſachung einer ſchweren Körperverletzung (StGB. §. 224) oder des Todes, Zuchthaus bis zu fünf Jahren.
    • β) Schwerer Fall (§. 13), vorliegend, wenn der Genuß oder Gebrauch der genannten Gegenſtände die menſchliche Geſundheit zu zerſtören geeignet, und dieſe Eigenſchaft dem Thäter bekannt war. Zuchthaus bis zu 10 Jahren; bei Verurſachung des Todes Zuchthaus nicht unter 10 Jahren oder lebenslängliches Zuchthaus. Polizeiaufſicht fakultativ.
  • b) Fahrläſſige Begehung (§. 14). Geldſtrafe bis zu 1000 Mark oder Gefängnis bis zu 6 Monaten; bei

    2wenn der nur einmalige Genuß einer geringeren Menge eineGefahr nicht herbeiführt (RGR. 9. Juni 1880, E II 178).

    346Zweites Buch. III. Delikte gegen den öffentlichen Frieden.Verurſachung eines Schadens an der Geſundheit eines Menſchen, Gefängnis bis zu einem Jahre; des Todes, Gefängnis von einem Monat bis zu drei Jahren.

Einziehung der fraglichen Gegenſtände iſt in den unter III behandelten Fällen ohne Unterſchied ob ſie dem Verurteilten gehören oder nicht (vgl. oben §. 42 III 1 b) neben der Strafe obligatoriſch, als objektive Maßregel (vgl. oben §. 42 III 1 a) fakultativ. In den übrigen Fällen (unter I und II) kann neben der Strafe auf Einziehung erkannt werden (§. 15).

Die öffentliche Bekanntmachung der Verur - teilung (hier Nebenſtrafe, vgl. oben §. 44 I C) auf Koſten der Schuldigen kann, die der Freiſprechung auf Koſten der Staatskaſſe, bez. des Anzeigers, muß auf An - trag der Freigeſprochenen, angeordnet werden (§. 16).

Ueber die Verwendung der Geldſtrafen (§. 17) vgl. oben §. 47 III.

III. Strafbare Handlungen gegen den öffentlichen Frieden. 1Es handelt ſich um dasſelbe Rechtsgut, wie in dem oben §. 81 I angeführten Falle; aber als Träger desſelben erſcheint hier nicht ein Einzelner oder eine Summe von ſolchen, ſon -dern das Publikum in dem uns bekannten Sinne.

§. 85.

I. Störung des öffentlichen Friedens durch Landzwang, d. i. durch Bedrohung mit einem gemeingefährlichen2StGB. 27. Abſchnitt. Ver - brechen (StGB. §. 126). 3Lit. bei Meyer S. 605 Note 1.Vollendet, ſobald die Bedrohung zu öffentlicher Kenntnis gelangt iſt.

347Delikte gegen den öffentlichen Frieden. §. 85.

Strafe: Gefängnis bis zu einem Jahre.

II. Landfriedensbruch (StGB. §. 125):4Lit. bei Meyer S. 602 Note 1. Teilnahme an einer öffentlichen Zuſammenrottung, wenn von der zu - ſammengerotteten Menſchenmenge mit vereinten Kräften Ge - waltthätigkeiten an Perſonen oder Sachen begangen werden. 5Ueber den Begriff der Zu - ſammenrottung ſ. oben §. 81 II 3.

Der Unterſchied von dem gewaltſamen Haus friedens - bruch (StGB. §. 124; oben §. 81 II 3) liegt in einem Doppelten:

  • a) Beim Hausfriedensbruch, nicht aber hier, iſt Ein - dringen in fremde Wohnräume erforderlich;
  • b) Beim Hausfriedensbruch genügt die auf Begehung von Gewaltthätigkeiten gerichtete Abſicht, hier iſt wirkliche Begehung von ſolchen erforderlich.

Strafe: Gefängnis nicht unter 3 Monaten; die - delsführer (vgl. oben §. 37 I 5) ſowie diejenigen, welche Gewaltthätigkeiten gegen Perſonen begangen oder Sachen geplündert, vernichtet oder zerſtört haben, trifft Zuchthaus bis zu 10 Jahren mit fakultativer Stellung unter Polizei - aufſicht, bei mildernden Umſtänden Gefängnis nicht unter 6 Monaten.

III. Anſammeln von Waffen und Streitkräften.

Strafbar iſt:

  • a) Wer unbefugter Weiſe einen bewaffneten Haufen bildet oder befehligt, oder eine Mannſchaft, von der er weiß, daß ſie ohne geſetzliche Befugnis geſammelt iſt, mit Waffen oder Kriegsbedürfniſſen verſieht (StGB. §. 127 Abſ. 1). Strafe: Gefängnis bis zu 2 Jahren.
  • b) Wer ſich einem ſolchen bewaffneten Haufen anſchließt348Zweites Buch. III. Delikte gegen den öffentlichen Frieden.(StGB. §. 127 Abſ. 2); Strafe: Gefängnis bis zu einem Jahre;
  • c) wer außerhalb ſeines Gewerbebetriebes heimlich oder wider das Verbot der Behörde Vorräte von Waffen oder Schießbedarf aufſammelt (StGB. §. 360 Ziff. 2); Strafe: Geldſtrafe bis zu 150 Mark oder Haft. Einziehung zuläſſig, ohne Rückſicht darauf, ob die Gegenſtände dem Verurteilten gehören oder nicht (vgl. oben §. 50 II).

IV. Gefährdung des öffentlichen Friedens durch öffent - liche Anreizung verſchiedener Klaſſen der Bevölkerung, d. i. verſchiedener durch gemeinſame Intereſſen mit einander verbundener und von anderen deutlich abgegrenzter Perſonen - kreiſe,6Z. B. die Bourgeoiſie, die Infallibiliſten, die Nationallibe - ralen, die Großgrundbeſitzer uſw. zu Gewaltthätigkeiten gegen einander (StGB. §. 130). 7Lit. bei Meyer S. 607 Note 3.

Strafe: Geldſtrafe bis zu 600 Mark oder Gefängnis bis zu 2 Jahren.

V. Gefährdung des öffentlichen Friedens durch Miß - brauch der geiſtlichen Stellung (in Ausübung oder in Veranlaſſung der Ausübung des Berufes als Religionsdiener); begangen (StGB. §. 130 a)

1.8Erſter Abſ. des ſog. Kan - zelparagraphen, aufgenommen durch Geſetz vom 10. Dezember 1871. durch

  • a) öffentlich vor einer Menſchenmenge, oder
  • b) in einer Kirche oder einem anderen zu religiöſen Ver - ſammlungen beſtimmten Orte vor Mehreren
349Delikte gegen andere Intereſſen des Publikums. §. 86.

erfolgende Verkündigung oder Erörterung von Angelegen - heiten des Staates;

2.9Zweiter Abſ., aufgenommen durch die Novelle vom 26. Fe - bruar 1876. durch Ausgabe oder Verbreitung von Schriftſtücken, in welchen ſolche Angelegenheiten zum Gegenſtande einer Verkündigung oder Erörterung gemacht ſind.

Strafe (zu 1 und 2): Gefängnis oder Feſtungshaft bis zu 2 Jahren.

IV. Andere gegen die Intereſſen des Publikums gerichtete ſtrafbare Handlungen.

§. 86.

I. Die geſchäftsmäßige (Begriff oben §. 39 II 3 b) Verleitung von Deutſchen zur Auswanderung unter Vorſpiegelung falſcher Thatſachen (Begriff oben §. 73 I 2) oder mit wiſſentlich unbegründeten Angaben oder durch andere auf Täuſchung berechnete Mittel (StGB. §. 144). Strafe: Gefängnis von einem Monat bis zu zwei Jahren. Wie aus der Faſſung des §. 144 (Geſchäftsmäßigkeit; Deutſche im Plural) ſowie aus ſeiner Stellung im Syſteme des StGB. (Verletzung der öffentlichen Ordnung) zur Genüge hervorgeht, haben wir es mit einem gegen das Publikum und nicht mit einem gegen den Einzelnen gerichteten Delikte zu thun.

II. Es gehört hieher ferner eine große Anzahl der im letzten (29.) Abſchnitte des Reichsſtrafgeſetzbuches enthaltenen Uebertretungen.

So §. 360 Ziff. 10: verweigerte Hülfeleiſtung bei Un -350Zweites Buch. IV. Delikte geg. and. Intereſſen d. Publikums.glücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not (dazu Stran - dungsordnung vom 17. Mai 1874 §. 9).

§. 360 Ziff. 11: ruheſtörender Lärm und grober Unfug;1Daß hier öffentliche Inter - eſſen, nicht ſolche einzelner Per - ſonen oder individuell begrenzter Perſonenkreiſe in Frage ſtehen, betont RGR. 27. April 1880, E I 400, R I 677.

§. 360 Ziff. 13: Tierquälerei.

§. 361: Uebertretung der in Folge der Stellung unter Polizeiaufſicht auferlegten Beſchränkungen;2Vgl. oben §. 49 I. Rückkehr Ausge - wieſener;3Vgl. oben §. 49 II. Landſtreicherei, Bettelei, Spiel, Trunk, Müſſiggang; Proſtitution;4Daß es ſich hier im Sinne der Reichsgeſetzgebung um den Schutz der Geſundheit, deröffentlichen Ordnung, des öffent - lichen Anſtandes, nicht aber um den der Sittlichkeit handelt, ſollte der Faſſung des §. 361 Ziff. 6 gegenüber nicht bezwei - felt werden. Arbeitsſcheu; Unterſtandsloſigkeit;5Ueber das in den Fällen des §. 361 Nr. 3 8 zuläſſige Arbeitshaus vgl. §. 49 II. Nichtabhal - tung der Gewaltuntergebenen von der Begehung von Dieb - ſtählen und gewiſſen anderen Delikten;6Vgl. oben §. 26 I 1.

§. 365: Ueberſchreitung der Polizeiſtunde;

§. 366 Ziff. 1: Verletzung der Sonntagsfeier;

§. 366 Ziff. 2 9: ſchnelles und unvorſichtiges Fahren und Reiten; Nichtbeaufſichtigen von Tieren; Hetzen von Hunden; Werfen von Steinen; unvorſichtiges Aufhängen, Aufſtellen, Ausgießen, Auswerfen, Liegenlaſſen;

§. 366 Ziff. 10: Verletzung der zur Erhaltung von Sicherheit, Bequemlichkeit, Reinlichkeit, Ruhe an öffentlichen Orten erlaſſenen Anordnungen;

§. 366 a: Uebertretung der zum Schutze der Dünen, Fluß - und Meeresufer erlaſſenen Verordnungen;

§. 367: vorzeitige oder heimliche Beerdigung von Leich -351Delikte gegen andere Intereſſen des Publikums. §. 86.namen; unbefugter Handel mit Gift; unbefugte Zubereitung von explodierenden Stoffen; Unvorſichtigkeit bei Zubereitung, Aufbewahrung, Verkauf von Giftwaren, Schießpulver u. dgl., beim Legen von Selbſtgeſchoſſen, Gebrauch von Feuergewehr; unbefugtes Führen von Waffen; unbefugtes oder unvorſich - tiges Halten wilder oder bösartiger Tiere; Unvorſichtigkeit in Bezug auf Brunnen, Keller, Gebäude und dgl.

§. 368: Nicht-Schließung der Weinberge; Unterlaſſung des Raupens; Unvorſichtigkeit in Bezug auf feuergefährliche Gegenſtände und Anlagen; unberechtigtes Betreten fremder Gärten, Weinberge, Wieſen, Aecker uſw.

§. 369 Ziff. 1: unbefugtes Anfertigen von Schlüſſeln, Verabfolgen von Nachſchlüſſeln oder Dietrichen;

§. 369 Ziff. 3: Uebertretung der Vorſchriften über An - legung, Verwahrung, Benützung von Feuerſtätten durch in Feuer arbeitende Gewerbetreibende.

[352]

Drittes Buch. Strafbare Handlungen gegen uneigentliche Rechtsgüter (durch die Art des Angriffes charakteriſierte Delikte).

I. Strafbare Handlungen an Geld. 1Lit. bei Meyer S. 572 Note 1.

§. 87.

I. Begriff.

Das Angriffsobjekt für die hieher gehörigen Delikte bilden:

1. Geld; und zwar Metallgeld wie Papiergeld; in - ländiſches wie ausländiſches Geld (StGB. §. 146);

2. die im StGB. §. 149 angeführten geldvertretenden Wertzeichen; nämlich auf den Inhaber lautende Schuld - verſchreibungen, Banknoten, Aktien oder deren Stelle ver - tretende Interimsſcheine oder Quittungen, ſowie die zu dieſen Papieren gehörenden Zins -, Gewinnanteils - oder Erneuerungs - ſcheine (Coupons und Talons); wenn von dem Reich, dem norddeutſchen Bunde, einem Bundesſtaate oder fremden Staate oder von einer zur Ausgabe ſolcher Papiere be - rechtigten Gemeinde, Korporation, Geſellſchaft oder Privat - perſon ausgeſtellt.

353I. Delikte an Geld. §. 87.

Die an Geld oder geldvertretenden Wertzeichen begangenen ſtrafbaren Handlungen (regelmäßig wenn auch viel zu eng Münz delikte genannt) ſind als ſolche, ohne jede Rückſicht auf ihre konkrete Richtung gegen ein beſtimmtes Rechtsgut, ſtrafbar. Die Norm, durch welche ſie verboten werden, ge - hört zu den oben §. 3 II 4 erwähnten Normen, welche zum mittelbaren Schutze nicht eines, ſondern verſchiedener Rechtsgüter beſtimmt, durch die Art des Angriffes nicht durch ſeine Richtung Charakter und Inhalt bekommen. Die Münzhoheit des Staates, das Intereſſe des Publi - kums an Sicherheit des rechtlichen Verkehrs und die Ver - mögensintereſſen des Einzelnen verlangen in gleich ge - bieteriſcher Weiſe nach ſtrafrechtlichem Schutze für die Inte - grität der Geldzeichen. So entſtehen die allen konkurrie - renden Intereſſen Genüge leiſtenden Normen zum Schutze der Geldzeichen, deren Uebertretungen uns hier beſchäftigen. Falſch iſt es, die ſogenannten Münzdelikte als lediglich gegen den Staat, oder bloß gegen das Publikum, oder nur gegen das Privatvermögen gerichtet, aufzufaſſen; bequem aber be - denklich, den kriminaliſtiſchen Nothelfer aus allen ſyſtematiſchen Bedrängniſſen, die publica fides, anzurufen; denn der Staat und die Einzelnen ſind ebenſo intereſſiert wie das Publikum ; ſchief endlich, die Integrität der Geldzeichen ſelbſt zu einem Rechtsgute zu erheben, als ſchütze der Staat das Geld um des Geldes und nicht um anderer Rechtsgüter willen. In einem lediglich das Rechtsgut und nicht zugleich die Norm berückſichtigenden Syſteme kann den Münzdelikten kein ihnen entſprechender Platz angewieſen werden.

Die internationale Bedeutung der Geldzeichen der mo - dernen Kulturſtaaten hat das StGB. in §. 4 Ziff. 1 aner - kannt: Münzverbrechen werden, auch wenn im Auslande,von Liszt, Strafrecht. 23354Drittes Buch. Delikte gegen uneigentliche Rechtsgüter.ſei es von einem Inländer, ſei es von einem Ausländer be - gangen, ohne weiteres nach heimiſchem Recht beſtraft.

II. Die Arten.

1. Die eigentliche Münzfälſchung (StGB. §. 146); und zwar;

  • a) das Nachmachen
    2Ein gewiſſer Grad von Aehnlichkeit, ſo daß die Mög - lichkeit einer, wenn auch kurzen Cirkulation gegeben iſt, muß gefordert werden.
    2 von unechtem Gelde (Falſchmün - zerei);
  • b) das Verfälſchen von echtem Gelde, d. h. die Vor - nahme einer ſolchen Veränderung an den Geldzeichen, durch welche echtem Gelde der Schein höheren Wertes oder verrufenem Gelde das Anſehen eines noch gel - tenden gegeben wird;

beides (a und b) in Verbreitungsabſicht, d. h. in der Abſicht, das nachgemachte oder verfälſchte Geld als echtes zu gebrauchen oder ſonſt als echtes3Doch genügt hier im Urteil die Feſtſtellung der Abſicht inVerkehr zu bringen ; die Worte als echt , die als ſelbſtverſtänd - lich im Geſetze fehlen, brauchen nicht ausdrücklich feſtgeſtellt zu werden; RGR. 30. April 1880, E I 408, R I 703. in Verkehr zu bringen.

Die Vollendung tritt nicht erſt mit dem Verbreiten, ſondern ſchon mit dem Fälſchen ein.

Strafe: Zuchthaus nicht unter 2 Jahren, mit fakul - tativer Polizeiaufſicht; bei mildernden Umſtänden Gefängnis.

2. Das Verbreiten gefälſchten (nachgemachten oder verfälſchten) Geldes; und zwar:

  • a) wenn die Fälſchung von dem Verbreiter ſelbſt, aber ohne Verbreitungsabſicht vorgenommen worden;
  • b) wenn der Verbreiter ſich das gefälſchte Geld ander - weitig verſchafft hat. 355I. Delikte an Geld. §. 87.In beiden Fällen iſt die Vollendung erſt mit der Verbreitung gegeben. Strafe: wie zu 1 (StGB. §. 247).
  • c) Wenn der Thäter das gefälſchte Geld als echtes em - pfängt, und nach erkannter Unechtheit weiter giebt (StGB. §. 148). Vollendet mit der Verbreitung; Strafe: Gefängnis bis zu 3 Monaten oder Geld - ſtrafe bis zu 300 Mark; Verſuch ſtrafbar.

3. Das Einführen von gefälſchtem Gelde aus dem Auslande zum Zwecke der Verbreitung (§. 147 StGB.). Vollendet mit der Einfuhr. Strafe wie zu 1.

4. Das In-Verkehr-Bringen von echten, zum Um - laufe beſtimmten Metallgeldſtücken, die durch Beſchneiden, Abfeilen oder auf andere Art verringert ſind, als vollgültigen (das Kippen und Wippen ); wenn der Thäter:

  • a) die Verringerung ſelbſt vorgenommen hat, oder
  • b) die von einem anderen verringerten Münzen gewohn - heitsmäßig oder
  • c) im Einverſtändniſſe mit dem Verringerer in Verkehr bringt (StGB. §. 150).

Strafe: Gefängnis, daneben fakultativ Geldſtrafe bis zu 3000 Mark, ſowie Ehrverluſt. Verſuch ſtrafbar.

5. Das Anſchaffen oder Anfertigen von Stempeln, Siegeln, Stichen, Platten oder anderen zur Anfertigung von Geldzeichen dienlichen Formen zum Zwecke eines Münzverbrechens wird (StGB. §. 151) mit Gefängnis bis zu 2 Jahren beſtraft. Das Geſetz ſtellt hier gewiſſe Vorbereitungshandlungen als delictum sui generis unter beſondere Strafe, es wird daher durch die Begehung des geplanten Münzverbrechens ſelbſt die Strafbarkeit jener Handlungen konſumiert (vgl. oben §. 40 II c).

356Drittes Buch. Delikte gegen uneigentliche Rechtsgüter.

In allen bisher erwähnten Fällen iſt auf Einziehung des gefälſchten Geldes, ſowie der unter 5 bezeichneten Gegen - ſtände zu erkennen, auch wenn die Verfolgung oder Ver - urteilung einer beſtimmten Perſon nicht ſtattfindet (StGB. §. 152; vgl. oben §. 50 II).

6. Im Zuſammenhange mit den eigentlichen Münz - delikten ſtehen die im §. 360 Ziff. 4, 5, 6 StGB. enthal - tenen Uebertretungen (Strafe: Geldſtrafe bis zu 150 Mark oder Haft); nämlich

  • a) die Anfertigung der oben unter 5 genannten Ge - genſtände ohne ſchriftlichen Auftrag einer Behörde oder die Verabfolgung derſelben an einen andern als die Behörde;
  • b) das Unternehmen eines Abdruckes von dieſen Gegenſtänden oder des Druckes von Formularen zu derartigen Papieren ohne ſchriftlichen Auftrag der Behörde, oder die Verabfolgung von Abdrücken an Andere als die Behörde;
  • c) die Anfertigung oder Verbreitung von Druck - ſachen oder Abbildungen, welche in Form oder Ver - zierung den Geldzeichen ähnlich ſind; ſowie das Anfertigen von Formen, welche zur Erzeugung der - artiger Druckſachen oder Abbildungen dienen können.

Auf Einziehung der Vervielfältigungsmittel, Abdrücke, Abbildungen kann neben der Strafe erkannt werden, ohne Unterſchied, ob ſie dem Verurteilten gehören oder nicht.

357II. Delikte an Urkunden. §. 88.

II. Strafbare Handlungen an Urkunden. 1Lit. bei Meyer S. 591 Note 1.

§. 88.

I. Begriff.

1. Urkunde im ſtrafbaren Sinne iſt jeder der Sin - nenwelt angehörige Gegenſtand (nicht bloß Schrift - ſtück), der zur Feſtſtellung rechtlich erheblicher That - ſachen beſtimmt iſt (Eignung dazu iſt begrifflich weder genügend noch erforderlich). 2Beſtritten.

Die Urkunden zerfallen in öffentliche und private. Oeffentliche Urkunden ſind nach §. 380 CPO. diejenigen, welche von einer öffentlichen Behörde innerhalb der Grenzen ihrer Amtsbefugniſſe oder von einer mit öffent - lichem Glauben verſehenen Perſon innerhalb des ihr zugewieſenen Geſchäftskreiſes in der vorgeſchriebenen Form aufgenommen ſind. Alle übrigen Urkunden ſind private.

Auch die öffentliche Urkunde muß Urkunde ſein, alſo der obigen Definition entſprechen. Damit iſt ſie aber auch ohne weiteres unter den Schutz des Strafgeſetzes geſtellt. Anders bei Privaturkunden. Dieſe genießen den vollen Schutz des Geſetzes nur dann, wenn ſie zum Beweiſe von Rechten oder Rechtsverhältniſſen von Erheb - lichkeit ſind. Es iſt dies kein in dem Begriffe der Ur - kunde liegendes, ſondern ein zu den Begriffsmerkmalen hinzutretendes Merkmal. Ein zur Feſtſtellung einer Thatſache beſtimmter Gegenſtand kann dennoch für den Beweis dieſer Thatſache durchaus unerheblich ſein; die358Drittes Buch. Delikte gegen uneigentliche Rechtsgüter.Geſtaltung des Prozeßverfahrens (freie Beweiswürdigung!) kann dieſen Gegenſatz auf wenige Fälle einſchränken, ohne ihn ganz zu beſeitigen. 3Ein Punkt, der allgemein überſehen wird. Kaſuiſtik über Beweiserheblichkeit in RGR. 20. Januar 1880, E 1 159; 15. Januar 1880, R I233; 4. Februar 1880, E I 293; 8. Mai 1880, R I 751; 24. Mai 1880, R I 810; 3. Juni 1880, E II 174, R II 26.

2. Die ſtrafbaren Handlungen an Urkunden teilen den oben §. 87 I erörterten Charakter der Münzdelikte. Mög - licher Weiſe (in abstracto) gerichtet gegen die Sicherheit des öffentlichen (im Sinne von publicus) Rechtsverkehrs, gegen die verſchiedenſten (nicht bloß das Vermögen bildenden) Rechts - güter des Einzelnen oder gegen die Staatsverwaltung (insbeſondere die ſtaatliche Rechtspflege) ſind ſie wegen dieſer möglichen Beziehung unter Strafe geſtellt ohne Rückſicht darauf, ob im konkreten Falle eine dieſer Beziehungen und welche gegeben iſt. Auch hier entſcheidet die Art und nicht die Richtung des Angriffes; auch hier müſſen wir es ver - meiden, von einer Verletzung der publica fides zu ſprechen, außer wenn es uns eben darum zu thun iſt, durch den Ge - brauch eines möglichſt dehnbaren Ausdruckes uns tieferes Eindringen in die Natur dieſer Delikte zu erſparen.

II. Die Arten.

1. Die eigentliche Urkundenfälſchung, zerfallend in die Nachmachung einer unechten, und die Verfälſchung einer echten Urkunde. Gleich geachtet wird es (StGB. §. 269), wenn Jemand einem mit der Unterſchrift eines Anderen ver - ſehenen Papiere ohne deſſen Willen oder deſſen Anordnungen zuwider durch Ausfüllung einen urkundlichen Inhalt giebt.

Das Gebrauchmachen zum Zwecke der Täuſchung,359II. Delikte an Urkunden. §. 88.ſei es a) (StGB. §. 267), daß der Thäter ſelbſt die Ur - kunde in rechtswidriger Abſicht (d. h.4Häufig anders gefaßt; mit der Faſſung des Textes über - einſtimmend RGR. 3. Juni 1880, E II 174. (Gebrauch eines ge - fälſchten Beweismittels zum Zwecke der Ausübung eines dem Thäter zuſtehenden Rechts.) Bei - ſpiele in RGR. 4. Februar 1880, E I 293; 12. Februar 1880, R I 350; 1. Mai 1880, E II 34, R I 713. in der Abſicht, von ihr zum Zwecke einer Täuſchung Gebrauch zu machen), gefälſcht hat; ſei es b) daß er wiſſentlich von einer durch ihn ſelbſt ohne dieſe Abſicht oder durch einen Dritten gefälſchten Urkunde Gebrauch macht (StGB. §. 269), bildet nach poſi - tivem Recht den Kern der eigentlichen Urkundenfälſchung. Erſt mit dem Gebrauchen (d. h. mit dem Vorzeigen der Urkunde, um durch die ihr innewohnende Beweiskraft auf den Anderen zu wirken)5Vgl. RGR. 28. Februar 1880, E I 230, R I 400. Das Aufgeben eines Telegramms unter falſchem Namen iſt daher nicht Urkundenfälſchung: RGR. 15. Mai 1880, R I 793; 31. März 1880, R 1 513. tritt die Vollendung ein. Der ſtraf - bare Verſuch beginnt dagegen im Falle a ſchon mit dem Beginne des Fälſchens, im Falle b erſt mit dem Beginne des Gebrauchens. Daß der zu Täuſchende und der zu Be - ſchädigende nicht identiſch zu ſein brauchen, dürfte zweifel - los ſein.

Strafe: Gefängnis.

Erhöhte Strafe tritt ein (StGB. §. 268), wenn die Fälſchung in der Abſicht (gleich erweiterter Vorſatz, oben §. 28 III) begangen wird, ſich oder einem Anderen einen nicht notwendig rechtswidrigen6RGR. 3. Mai 1880, E II 41. Vermögensvorteil (Begriff oben §. 73 I 3) zu verſchaffen, oder einem Anderen Schaden (nicht notwendig an ſeinem Vermögen) zuzufügen; und zwar:

360Drittes Buch. Delikte gegen uneigentliche Rechtsgüter.
  • a) bei Privaturkunden Zuchthaus bis zu 5 Jahren mit fakultativer Geldſtrafe bis zu 3000 Mark;
  • b) bei öffentlichen Urkunden Zuchthaus bis zu 10 Jahren mit fakultativer Geldſtrafe von 150 bis zu 6000 Mark.

Bei mildernden Umſtänden zu a Gefängnis nicht unter 1 Woche, zu b nicht unter 3 Monaten; daneben fakultative Geldſtrafe bis zu 3000 Mark.

Neben Gefängnis iſt Ehrverluſt fakultativ (§. 280).

2. Die Bewirkung einer materiell unrichtigen öffentlichen Beurkundung, d. h. der Beurkundung von Erklärungen oder Thatſachen, welche für Rechte oder Rechts - verhältniſſe von Erheblichkeit ſind, in öffentlichen (zur Feſt - ſtellung im öffentlichen Intereſſe, nicht bloß im Intereſſe des inneren Dienſtes7RGR. 23. Dezember 1879, E I 42, R I 168; 13. März 1880, E I 312, R I 458. beſtimmten) Büchern, Urkunden, Regiſtern als abgegeben oder geſchehen, während ſie überhaupt nicht oder in anderer Weiſe oder von einer Perſon in einer ihr nicht zuſtehenden Eigenſchaft8Abgabe der Vaterſchaftser - klärung vor dem Standesamte durch den Nicht-Vater: RGR. 10. November 1879, E I 9, R I 55. oder von einer anderen Perſon9Strafantritt für den Ver - urteilten; Erſcheinen ſtatt des Angeklagten (RGR. 27. April 1880, R I 686). abgegeben oder geſchehen ſind.

Der Beamte, der die falſche Beurkundung wiſſentlich vor - nimmt, macht ſich eines Amtsdeliktes (StGB. §. 348; unten §. 93 II 6) ſchuldig;10Vgl. auch Seemannsord - nung vom 27. Dezember 1873 §§. 93 Ziff. 1, 99 Ziff. 2. der Nichtbeamte wird, abgeſehen von einer etwaigen Teilnahme an dem Amtsdelikte, beſtraft, wenn er:

  • a) die falſche Beurkundung bewirkt (StGB. §. 271) oder
361II. Delikte an Urkunden. §. 88.
  • b) von einer ſolchen falſchen Beurkundung zum Zwecke einer Täuſchung Gebrauch macht (§. 273).

Strafe in beiden Fällen: Gefängnis bis zu 6 Monaten oder Geldſtrafe bis zu 300 Mark; wenn in Bereicherungs - oder Schadensabſicht (wie oben §. 73 I 3) begangen, Zuchthaus bis zu 10 Jahren mit fakultativer Geldſtrafe von 150 bis zu 6000 Mark, oder bei mildernden Umſtänden Gefängnis mit fakultativer Geldſtrafe bis zu 3000 Mark (StGB. §§. 272 und 273).

3. Vernichtung, Beſchädigung,11Beeinträchtigung der Be - weiskraft, mag auch die Sub - ſtanz der Urkunde unverletzt ge - blieben ſein (z. B. Durchſtreichen der Unterſchrift: RGR. 29. Juni 1880, R II 135). Unterdrückung12D. h. Entziehung aus der Verfügungsgewalt des Berech - tigten, mag auch die Abſicht, ſelbſt gelegentlich von der Ur - kunde Gebrauch zu machen, vor - handen ſein; dagegen RGR. 22. Januar 1880, E I 159, R I 258. einer Urkunde,13Begriff: oben am Eingang dieſes §. Beweiserheblichkeit iſt hier nicht erforderlich, wohl aber nach dem Begriffe der Urkunde Be - weisbeſtimmung; RGR. 23. Ja - nuar 1880, E I 162, R I 263 im erſten Punkt derſelben, im zweiten anderer Anſicht; vgl. auch OT. 20. Oktober 1875, c. Arnim. die dem Thäter nicht oder nicht aus - ſchließlich gehört, in der Abſicht, einem Anderen Nachteil zu - zufügen (StGB. §. 274 Ziff. 1).

Strafe: Gefängnis mit fakultativer Geldſtrafe bis zu 3000 Mark. Ehrverluſt fakultativ (§. 280).

4. Die Grenzverrückung (StGB. §. 274 Ziff. 2), d. i. das Wegnehmen, Vernichten, Unkenntlichmachen, Ver - rücken oder fälſchlich Setzen von Grenzſteinen oder anderen zur Bezeichnung einer Grenze oder eines Waſſerſtandes14Sei es dauernd oder nur proviſoriſch: RGR. 22. Mai 1880, R I 811. be - ſtimmten Merkmalen in Schädigungsabſicht. Als Spezial -362Drittes Buch. Delikte gegen uneigentliche Rechtsgüter.fall vom Geſetze beſonders hervorgehoben, obwohl die ge - nannten Merkzeichen unter den allgemeinen Begriff der Ur - kunden fallen.

Strafe: wie zu 3.

5. Strafbare Handlungen an und mit Stempel - papier, Stempelmarken, Stempelblanketten, Stem - pelabdrücken, Poſt - oder Telegraphenfreimarken, geſtempelten Briefcouverts und zwar:

  • a) das Nachmachen und Verfälſchen in Gebrauchsabſicht,
    15Die Vollendung tritt hier im Gegenſatze zu der eigent - lichen Urkundenfälſchung ſchon mit der Fälſchung ein.
    15 ſowie das Gebrauchen von gefälſchten Gegenſtänden dieſer Art, mag auch die Fälſchung nicht von dem Thäter herrühren (§. 275). Strafe: Gefängnis nicht unter 3 Monaten, daneben Ehrverluſt fakultativ (§. 280).
  • b) Die wiſſentliche Wiederverwendung verwen - deter Stempel
    16Wiederverwendung von Poſt - und Telegraphen - zeichen unterliegt nur der De - fraudationsſtrafe; vgl. unten §. 114.
    16 (von Marken, Blanketten, Papier, Abdrücken) zu ſtempelpflichtigen Schriftſtücken (StGB. §. 276). Strafe (neben der Defraudationsſtrafe): Geld - ſtrafe bis zu 600 Mark.
  • c) Das wiſſentliche Veräußern oder Feilhalten von bereits verwendetem Stempelpapier nach Ent - fernung der darauf geſetzten Schriftzeichen, ſowie von bereits verwendeten Stempelmarken, Stempelblanketten, ausgeſchnittenen oder ſonſt abgetrennten Stempelab - drücken (StGB. §. 364). Strafe: Geldſtrafe bis zu 150 Mark.
363II. Delikte an Urkunden. §. 88.
  • d) Anfertigung von Formen, welche zur Erzeugung von Stempelpapier uſw. dienen können, ohne ſchriftlichen Auftrag der Behörde, oder Verabfolgung an einen anderen als die Behörde (StGB. §. 360 Ziff. 4). Strafe: Geldſtrafe bis zu 150 Mark oder Haft.
  • e) Das unbefugte Unternehmen oder Verabfolgen eines Abdruckes von den unter d genannten Formen (StGB. §. 360 Ziff. 5). Strafe: wie zu d.

Einziehung zu d und e, ohne Unterſchied, ob die Gegen - ſtände dem Verurteilten gehören oder nicht, fakultativ.

6. Strafbare Handlungen an und mit Legitimations - papieren (StGB. §. 363 nennt: Päſſe, Militärabſchiede, Wanderbücher oder ſonſtige Legitimationspapiere; Dienſt - und Arbeitsbücher oder ſonſtige auf Grund beſonderer Vorſchriften auszuſtellende Zeugniſſe; Führungs - und Fähigkeitszeugniſſe) in der Abſicht, Behörden oder Privatperſonen zum Zwecke eigenen oder fremden beſſeren Fortkommens, und zwar:

  • a) Fälſchung derſelben;
  • b) wiſſentliches Gebrauchmachen von denſelben;
  • c) Gebrauch machen von echten, aber für einen Anderen ausgeſtellten Papieren;
  • d) Ueberlaſſen ſolcher Papiere an Andere.

Spezialdelikt gegenüber der eigentlichen Urkunden - fälſchung.

Strafe: Haft oder Geldſtrafe bis zu 150 Mark.

7. Uebertretung der Vorſchriften über Maß - und Ge - wichtspolizei (StGB. §. 369 Ziff. 2). Strafe: Geld bis zu 100 Mark oder Haft bis zu 4 Wochen.

8. Strafbare Handlungen in Bezug auf Geſund - heitszeugniſſe.

364Drittes Buch. Delikte gegen uneigentliche Rechtsgüter.
  • a) Ausſtellung von unrichtigen Zeugniſſen durch Aerzte und andere approbierte Medizinalperſonen wider beſſeres Wiſſen zum Gebrauche bei einer Behörde oder Verſicherungsgeſellſchaft (§. 278). Strafe: Gefängnis von einem Monat bis zu zwei Jahren mit fakultativem Ehrverluſt (§. 280).
  • b) Ausſtellung von Zeugniſſen über eigenen oder frem - den Geſundheitszuſtand unter der dem Thäter nicht zuſtehenden Bezeichnung als Arzt oder als eine andere nicht approbierte Medizinalperſon; oder unberechtigte Ausſtellung unter dem Namen dieſer Perſonen; oder Verfälſchung echter Geſundheits - zeugniſſe: wenn der Thäter von denſelben zur Täu - ſchung von Behörden oder Verſicherungsgeſellſchaften Gebrauch macht
    17Vollendet erſt mit dem Ge - brauchen.
    17 (StGB. §. 277). Strafe: Gefängnis bis zu einem Jahre mit fakultativem Ehr - verluſt (§. 280).
  • c) Das Gebrauchen von Zeugniſſen der unter a und b bezeichneten Art zum Zwecke der Täuſchung von Behörden oder Verſicherungsgeſellſchaften (§. 279). Strafe: Gefängnis bis zu einem Jahre mit fakulta - tivem Ehrverluſt (§. 280).

III. Strafbare Handlungen gegen die Religion. 1Lit. bei Meyer S. 632 Note 1. Dazu Villnov GS. XXXI.

§. 89.

Die Religion wird von dem modernen Staate nicht als ſolche, nicht um ihrer ſelbſt, ſondern um anderer Intereſſen365III. Delikte gegen die Religion. §. 89.willen geſchützt. Das ſtaatliche Intereſſe an dem Vorhanden - ſein der richtigen ſtaatsbürgerlichen Geſinnung, als deren Fundament religiöſer Sinn von maßgebender Seite betrachtet wird; das Recht der Religionsgenoſſenſchaften auf ungeſtörte Religionsübung; das Intereſſe des Einzelnen und des Publi - kums an Nichtverletzung des religiöſen Gefühles: alle dieſe verſchiedenen Intereſſen hat der Staat im Auge, wenn er Angriffe auf die Religion unter Strafe ſtellt. Um jener eigentlichen Rechtsgüter willen erhebt er die Religion zum uneigentlichen, juriſtiſchen Rechtsgut. Nach Reichsrecht iſt ſtrafbar:

I. Die Erregung eines Aergerniſſes (d. i. die Verletzung des religiöſen Gefühls,2RGR. 12. Juli 1880, E II 196, R II 183 (bez. §. 183 StGB.). wobei nicht der Stand - punkt der Zuhörenden, ſondern der objektive Maßſtab des Richters entſcheidet) durch öffentlich3Nicht Erregung eines öffent - lichen Aergerniſſes, ſondern Er - regung eines Aergerniſſes durch öffentliche Läſterung bildet den Thatbeſtand des Deliktes. Wenn daher zur Vollendung auch ge - fordert werden muß, daß irgendjemand thatſächlich Aergernis genommen hat, in ſeinem re - ligiöſen Gefühle verletzt worden iſt, ſo genügt es doch, wenn dies nur bei einer einzigen Per - ſon der Fall war (RGR. 12. Juli 1880, E II 196, R II 183). (unbeſtimmt wie vielen und unbeſtimmt welchen Perſonen zugänglich) und in beſchimpfenden Aeußerungen erfolgende Läſterung Gottes (StGB. §. 166). Dabei iſt der Gottesbegriff im Sinne der anerkannten Religionsgeſellſchaften, alſo im ſtreng konfeſſionellen Sinne zu interpretieren. 4Läſterung Jeſu iſt Gottes - läſterung: RGR. 13. Dezember 1879, R I 144.Mangelnde Rechts - widrigkeit (man denke z. B. an wiſſenſchaftliche Unterſuchungen) ſchließt die Annahme eines Deliktes hier wie überall aus.

366Drittes Buch. Delikte gegen uneigentliche Rechtsgüter.

Strafe: Gefängnis bis zu 3 Jahren.

II. Oeffentliche (wie zu I) Beſchimpfung einer der chriſtlichen Kirchen oder einer anderen mit Korporations - rechten innerhalb des Bundesgebietes beſtehenden Religionsgeſellſchaft als ſolcher ſowie ihrer Einrichtungen oder Gebräuche, von welchen die Glaubensſätze einerſeits, die einzelnen konkreten hiſtoriſchen Vorgänge andererſeits zu unterſcheiden ſind. 5RGR. 31. März 1880, R I 521.(StGB. §. 166.) Berechtigter Kritik fehlt das Merkmal der Rechtswidrigkeit. 6RGR. 31. März 1880, R I 521.Strafe: wie zu I.

III. Die Verübung beſchimpfenden Unfugs in Kirchen oder in einem anderen zu religiöſen Verſammlungen (nicht nur der anerkannten, ſondern aller beſtehenden Reli - gionsgeſellſchaften) beſtimmten Orte (StGB. §. 166).

Strafe: wie zu I.

IV. Durch Thätlichkeit7Ueber dieſen Begriff ſiehe oben §. 80 II 1 b. oder Drohung8Begriff oben §. 63 I 1 b. begangene Hin - derung eines Anderen an der Ausübung des Gottesdienſtes einer im Staate beſtehenden Religions - geſellſchaft; ſowie die vorſätzliche Verhinderung oder Störung des Gottesdienſtes oder einzelner gottesdienſt - licher Verrichtungen einer ſolchen Religionsgeſellſchaft durch Erregung von Lärm oder Unordnung in einem der oben III genannten Orte (StGB. §. 167). Strafe: wie zu I. Ueber das Amtsdelikt des §. 339 Abſ. 3 StGB. vgl. unten §. 93 II 4 b.

V. Frevel an Leichen und Gräbern (StGB. §. 168); und zwar:

367IV. Delikte an Perſonenſtand und Ehe. §. 90.
  • a) Unbefugte Wegnahme einer Leiche aus dem Ge - wahrſame der dazu berechtigten Perſon (Wegnahme von Leichenteilen iſt nach §. 367 Ziff. 1 als Ueber - tretung ſtrafbar);
  • b) unbefugte Zerſtörung oder Beſchädigung von Gräbern;
    9Ueber Sachbeſchädigung an Grabdenkmälern ſiehe oben §. 68 II 2.
    9
  • c) Verübung beſchimpfenden Unfugs an einem Grabe.
    10Ueber Diebſtahl aus Gräbern uſw. ſiehe oben §. 64 I 2.
    10

Strafe: Gefängnis bis zu 2 Jahren mit fakultativem Ehrverluſt.

IV. Strafbare Handlungen an Perſonenſtand und Ehe.

§. 90.

Der Perſonenſtand einer Perſon beſtimmt deren Stellung im öffentlichen wie im Privatrechte nach allen Richtungen; das Intereſſe des Beteiligten ſelbſt und das aller übrigen Rechtsgenoſſen, ſowie das Intereſſe des Staates verlangen gebieteriſch die Integrität des Perſonenſtandes. Er iſt kein eigentliches aber eines der wichtigſten uneigentlichen Rechts - güter. Das Gleiche gilt von dem Rechtsinſtitute der Ehe.

I. Der ſtrafrechtliche Schutz des Perſonenſtandes.

1. Das Geſetz vom 6. Februar 1875 über die Beur - kundung des Perſonenſtandes und die Eheſchließung bedroht im §. 68 mit einer Uebertretungsſtrafe (Geldſtrafe bis zu 150 Mark oder Haft) die Verletzung der in den §§. 17 20, 22 24, 56 58 dieſes Geſetzes begründeten Anzeigepflichten. Doch tritt die Strafverfolgung nicht ein,368Drittes Buch. Delikte gegen uneigentliche Rechtsgüter.wenn die Anzeige, obwohl nicht von den zunächſt Ver - pflichteten, doch rechtzeitig gemacht worden iſt: ein ganz ſingulärer Strafaufhebungsgrund.

Ueber die in den §§. 67 und 69 desſelben Geſetzes ent - haltenen Amtsdelikte vgl. unten §. 93 II. 3 a. Eine be - ſondere Beſtimmung über die Verwendung der Geld - ſtrafen (vgl. oben §. 47 III) enthält §. 70 des Geſetzes.

2. Die vorſätzliche Veränderung oder Unter - drückung des Perſonenſtandes eines anderen1Auch eines Verſtorbenen. Darin liegt zugleich ein ſicherer Beweis, daß die Richtung gegen Rechtsgüter Einzelner das Weſen dieſes Deliktes nicht er - ſchöpft: denn der Verſtorbene iſt nicht mehr Rechtsſubjekt. (nicht alſo des Thäters ſelbſt); insbeſondere die Unterſchiebung oder vorſätzliche Verwechslung eines Kindes (StGB. §. 169). 2Lit. bei Meyer S. 540 Note 1.Abſicht, Andere zu ſchädigen, iſt, da es ſich um ein uneigentliches Rechtsgut handelt, nicht erforderlich; wohl aber die, wenn auch nicht dauernde, Herbeiführung eines Zuſtandes, die Begründung eines status, als der Baſis der rechtlichen Stellung des Individuums, ſo daß alſo das einmalige, nur für den konkreten Fall erfolgende Sich-Ausgeben für einen Anderen nicht hieher gehört.

Strafe: Gefängnis bis zu 3 Jahren; wenn in gewinn - ſüchtiger Abſicht (Abſicht, ſich oder einem Anderen einen rechts - widrigen Vermögensvorteil zu verſchaffen)3Ueber die hier in Frage kommenden Begriffe ſiehe oben §. 73 I 3. begangen, Zucht - haus bis zu 10 Jahren. Verſuch ſtrafbar.

II. Strafrechtlicher Schutz der Ehe.

1. Der Ehebetrug (StGB. §. 170), begangen durch argliſtige4Begriff der Argliſt oben §. 73 I 2. Verſchweigung eines geſetzlichen Ehehinderniſſes bei369IV. Delikte an Perſonenſtand und Ehe. §. 90.Eingehung einer Ehe dem anderen Teile gegenüber; oder durch argliſtige Verleitung des anderen Teiles zur Ehe - ſchließung mittels einer ſolchen Täuſchung, welche den Ge - täuſchten berechtigt, die Gültigkeit der Ehe anzufechten. Auf - löſung der Ehe aus einem dieſer Gründe iſt Bedingung der Strafbarkeit (vgl. oben §. 30).

Antragsdelikt; die Antragsfriſt beginnt zu laufen erſt mit dem die Ehe löſenden rechtskräftigen Erkenntniſſe (vgl. oben §. 30 II). Dagegen läuft die Verjährungs - friſt ſchon von dem Tage, an welchem die Handlung be - gangen iſt, alſo von dem Tage der Eheſchließung (vgl. oben §. 58 II 2).

2. Die Bigamie oder Doppelehe (StGB. §. 171);5Lit. bei Meyer S. 612 Note 1. Dazu Wahlberg HR. Bigamie . begangen durch Schließung einer Ehe von einem oder mit einem6Wer wiſſentlich mit einem Ehegatten eine Ehe ſchließt, be - geht das Delikt als Thäter. Im Uebrigen finden die Grund - ſätze über Teilnahme uneinge - ſchränkte Anwendung. Ueber das Amtsdelikt des §. 338 StGB. vgl. unten §. 92 II 3 b. Ehegatten, bevor die frühere Ehe aufgelöſt, für un - gültig oder nichtig erklärt worden iſt. Vollendet mit der vollendeten Eheſchließung; der ſtrafbare Verſuch beginnt mit dem Beginne des Eheſchließungsaktes.

Strafe: Zuchthaus bis zu 5 Jahren, bei mildernden Umſtänden Gefängnis nicht unter 6 Monaten.

Die Verjährung beginnt, kraft ſingulärer, aus allge - meinen Grundſätzen nicht abzuleitender, daher auf andere Fälle nicht auszudehnender, Vorſchrift des Geſetzes erſt mit dem Tage, an welchem eine der beiden Ehen aufgelöſt, für ungültig oder nichtig erklärt worden iſt.

von Liszt, Strafrecht. 24370Drittes Buch. Delikte gegen uneigentliche Rechtsgüter.

3. Der Ehebruch (StGB. §. 172),7Lit. bei Meyer S. 615 Note 7. Dazu Wahlberg HR. Ehebruch , Roſenthal, die Rechtsfolgen des Ehebruchs 1880 (hiſtoriſch). begangen nur durch eigentlichen Beiſchlaf, d. i. die naturgemäße Ver - einigung der Geſchlechtsteile; nicht durch beiſchlafsähn - liche Handlungen, d. i. durch Mißbrauch des Körpers eines Andern zur Befriedigung des eigenen Geſchlechts - triebes; nicht durch unzüchtige, d. i. auf Erregung des Geſchlechtstriebes gerichtete Handlungen. Der Ehebruch iſt Antragsdelikt. Strafe: Gefängnis bis zu 6 Monaten.

Scheidung der Ehe wegen des betreffenden Ehebruches iſt Bedingung der Strafbarkeit; erſt mit ihr beginnt daher der Lauf der Antragsfriſt,8Ebenſo RGR. 31. Januar 1880, E I 44, R I 180; 23. März1880, R I 505. Vgl. auch oben §. 30 II, und Fiſcher GS. XXXI. während die Ver - jährung der Strafverfolgung nach allgemeiner Regel (vgl. oben §. 58 II 2) ſchon mit der Begehung des Ehebruches beginnt, allerdings aber nach §. 69 StGB. während der Dauer des Scheidungsverfahrens ruht (vgl. oben §. 58 II 4).

V. Strafbare Handlungen gegen die Sittlichkeit.

§. 91.

Auch die Sittlichkeit iſt ein uneigentliches Rechtsgut. Sie iſt kein rechtlich geſchütztes Intereſſe des Staates, ſie iſt auch im modernen Rechte kein Rechtsgut des Einzelnen, wenn wir nicht, gewiſſen Sittlichkeitsdelikten wie der Notzucht gegen - über, die Sittlichkeit auffaſſen wollen als das Rechtsgut der perſönlichen Freiheit in ihrer Bethätigung nach einer be -1Lit. bei Meyer S. 610 Note 1. Dazu Villnow GS. XXX. 371V. Delikte gegen die Sittlichkeit. §. 91.ſtimmten, die Vornahme oder Duldung geſchlechtlicher Akte umfaſſenden, Richtung. Wohl aber haben der Staat, der Einzelne, das Publikum ein indirektes, mittelbares Intereſſe daran, daß die Ausübung des Geſchlechtstriebes in geregelter Weiſe, innerhalb gewiſſer Schranken erfolgt und ſo wird auch die Sittlichkeit, nicht um ihrer ſelbſt ſondern um an - derer Intereſſen willen, nicht als ſelbſtändiges Rechtsgut ſondern anderen Rechtsgütern zu Liebe unter Strafſchutz ge - ſtellt. Die Sittlichkeit, die im Sinne des modernen Straf - rechtes nicht mehr bedeutet, als die Vermeidung jener Aus - ſchreitungen, die das Geſetz als ſolche bezeichnet hat. Dieſe ſtrafbaren Ausſchreitungen ſind:

I. Der Inceſt oder die Blutſchande (StGB. §. 173), d. i. der Beiſchlaf (Begriff oben S. 370):

  • 1. zwiſchen Verwandten auf - und abſteigender Linie;
    2Ehelichkeit der Verwandt - ſchaft nicht erforderlich: RGR. 21. 9. 80, R II 223.
    2
  • 2. zwiſchen Verſchwägerten, auf - und abſteigender Linie (mag auch die das Schwägerſchaftsverhältnis be - gründende Ehe gelöſt ſein);
    3RGR. 7. April 1880, R I 548.
    3
  • 3. zwiſchen Geſchwiſtern.

Strafe:

  • zu 1. Zuchthaus bis zu 5 Jahren gegen die Ascen - denten; Gefängnis bis zu 2 Jahren gegen die Des - cendenten;
  • zu 2. und 3. Gefängnis bis zu 2 Jahren.

In allen Fällen Ehrverluſt fakultativ. Verwandte ab - ſteigender Linie bleiben ſtraflos, wenn ſie das 18. Lebensjahr nicht vollendet haben (ſubjektiver Strafausſchließungsgrund in dem oben §. 30 III 3 erörterten Sinne).

372Drittes Buch. Delikte gegen uneigentliche Rechtsgüter.

II. Die widernatürliche Unzucht (StGB. §. 175), d. h. Beiſchlaf oder beiſchlafsähnliche Handlungen4Begriff oben S. 370. Vgl. auch RGR. 23. April 1880, E I 395, R I 652; 24. April 1880, R I 662; 20. 9. 80, R II 220. Wenn leibliche Eltern mit ihren Kindern einfach unzüchtige Hand -lungen vornehmen, ſo können ſie weder nach §. 173 noch nach §. 174 geſtraft werden. zwiſchen Perſonen desſelben Geſchlechtes oder von Menſchen mit Tieren vorgenommen.

Strafe: Gefängnis mit fakultativem Verluſt der Ehren - rechte.

III. Unzucht mit Verletzung eines beſonderen Vertrauens - oder Gewaltverhältniſſes (StGB. §. 174); nämlich Vornahme unzüchtiger Handlungen (Begriff oben S. 370):

1. von Vormündern mit ihren Pflegebefohlenen, Adoptiv - und Pflegeeltern mit ihren Kindern, Geiſt - lichen, Lehrern, Erziehern mit ihren minderjährigen Schülern oder Zöglingen;

2. von Beamten5Nicht im techniſch-juriſtiſchen Sinne; vgl. unten §. 92 I 2. mit Perſonen, gegen welche ſie eine Unterſuchung zu führen haben oder welche ihrer Obhut an - vertraut ſind;

3. von Beamten, Aerzten oder anderen Medi - zinalperſonen, welche in Gefängniſſen oder in öffentlichen, zur Pflege von Kranken, Armen oder anderen Hülfloſen be - ſtimmten Anſtalten beſchäftigt oder angeſtellt ſind, mit den in das Gefängnis oder die Anſtalt aufgenommenen Perſonen.

Strafe: Zuchthaus bis zu 5 Jahren, bei mildernden Umſtänden Gefängnis nicht unter 6 Monaten.

IV. Nötigung zur Unzucht und gleichgeſtellte Fälle (StGB. §. 176):

373V. Delikte gegen die Sittlichkeit. §. 91.

1. Nötigung einer Frauensperſon zur Duldung un - züchtiger Handlungen (vgl. oben S. 370) durch Ge - walt oder durch Drohung mit gegenwärtiger Ge - fahr für Leib oder Leben. 6Ueber dieſe Begriffe vgl. oben §. 63 I 1 a und b.

Strafe:

  • a) für den einfachen Fall: Zuchthaus bis zu 10 Jahren, bei mildernden Umſtänden Gefängnis nicht unter 6 Mo - naten.
    7Goeb GA. XXVII.
    7
  • b) Als beſonderen Deliktsbegriff hebt das Geſetz (§. 177) aus den hieher gehörigen Fällen die auf die angege - bene Art bewirkte Nötigung zur Duldung des außerehelichen Beiſchlafes oder die Notzucht hervor. Strafe: Zuchthaus, bei mildernden Umſtänden Gefängnis nicht unter einem Jahre.
  • c) Zuchthaus nicht unter 10 Jahren oder lebenslängliches Zuchthaus tritt (StGB. §. 178) in den Fällen a wie b ein, wenn durch die Handlung der Tod der verletzten Perſon verurſacht (oben §. 61 II 1 c) worden iſt.

2. Mißbrauch einer in einem willenloſen oder be - wußtloſen Zuſtande befindlichen oder einer geiſtes - kranken Frauensperſon zum außerehelichen Beiſchlaf. 8Jeſſen GS. XXXI.

Strafe:

  • a) für den einfachen Fall: wie oben 1 a;
  • b) wenn der Thäter die Frauensperſon mißbraucht, nach - dem er ſie zu dieſem Zwecke in einen willenloſen oder bewußtloſen Zuſtand verſetzt hat, ſo liegt (StGB. §. 177) Notzucht vor und tritt die oben 1 b bezeichnete Strafe ein.
374Drittes Buch. Delikte gegen uneigentliche Rechtsgüter.
  • c) Qualifizierter Fall wie oben 1 c.

3. Vornahme unzüchtiger Handlungen mit Perſonen unter 14 Jahren, oder Verleitung derſelben zur Duldung ſolcher Handlungen; wegen des vom Geſetze angenommenen Mangels der Verfügungsfähigkeit dieſer Perſonen den - tigungsfällen gleichgeſtellt.

Strafen: wie 1 a und c.

V. Die Erſchleichung des Beiſchlafes (StGB. §. 179), d. i. die Verleitung einer Frauensperſon zur Ge - ſtattung des Beiſchlafes durch Vorſpiegelung einer Trauung oder durch Erregung oder Benutzung eines anderen Irrtums, in welchem ſie den Beiſchlaf für einen ehelichen hielt. Voll - endet mit dem Beiſchlaf, nicht mit der ihm etwa zeitlich vorangehenden Geſtattung . Antragsdelikt.

Strafe: Zuchthaus bis zu 5 Jahren, bei mildernden Umſtänden Gefängnis nicht unter 6 Monaten.

VI. Verführung eines unbeſcholtenen Mäd - chens, welches das 16. Lebensjahr nicht vollendet hat, zum Beiſchlafe (StGB. §. 182). Unbeſcholtenheit darf dabei nicht als gleichbedeutend mit Jungfräulichkeit genommen werden; dieſe kann vorhanden ſein, während jene fehlt und umgekehrt. Die Verfolgung tritt nur auf Antrag der Eltern oder des Vormundes der Verführten ein.

Strafe: Gefängnis bis zu einem Jahre.

VII. Das öffentliche9d. h. ſo vorgenommen, daß die Handlung von unbeſtimmt wie vielen und unbeſtimmt wel - chen Perſonen wahrgenommen werden konnte; RGR. 10. Fe - bruar 1880, E I 199, R I 327. Geben eines Aergerniſſes10Vgl. oben S. 365. Auchhier iſt nicht öffentl. Aergernis gefordert; es genügt, wenn eine Perſon Anſtoß genommen hat, mag dies auch derjenige ſein, gegen den die unzüchtige Hand - lung gerichtet war (RGR. 12. Juli 1880, E II 196, R II 183.375V. Delikte gegen die Sittlichkeit. §. 91.(d. i. Verletzung des Sittlichkeitsgefühles) durch unzüch - tige Handlungen11Ueber den Begriff vgl. oben S. 370. u. RGR. 28. Februar 1880, R I 404. (StGB. §. 183). Auch mündliche Aeußerungen ſind unbedenklich hieher zu rechnen (beſtritten).

Strafe: Gefängnis bis zu 2 Jahren, oder Geldſtrafe bis zu 500 Mark; neben Gefängnis Aberkennung der Ehren - rechte fakultativ.

VIII. Das Verbreiten von unzüchtigen Schriften, Abbildungen, Darſtellungen12Ueber Ankündigung von Preſervativs, Specialitäten uſw. vgl. RGR. 15. Dezember 1879, R I 149. (StGB. §. 184). Verbreiten ſetzt Zugänglichmachen für das Publikum, alſo für einen nicht abgeſchloſſenen Kreis individuell nicht beſtimmter Perſonen voraus;13Das Nähere über den Be - griff der Verbreitung bei Liszt Preßrecht §. 42. das Geſetz ſelbſt nennt Verkaufen, Verteilen oder ſonſt Verbreiten; ſowie Ausſtellen oder Anſchlagen an Orten, welche dem Publikum zugänglich ſind.

Strafe: Geldſtrafe bis zu 300 Mark oder Gefängnis bis zu 6 Monaten.

IX. Die Kuppelei, oder die Vorſchubleiſtung zur Un - zucht durch Vermittlung oder durch Gewährung oder Ver - ſchaffung von Gelegenheit. Dabei haben wir als Unzucht zu betrachten: a) den außerehelichen Beiſchlaf überhaupt; b) die von dem Geſetze mit Strafe bedrohten beiſchlafs - ähnlichen oder einfach unzüchtigen Handlungen.

Die Kuppelei iſt nicht als Teilnahme im Sinne des Strafrechts, ſondern als ſelbſtändiges Delikt aufzufaſſen. Denn:

  • a) ſie ſetzt keine ſtrafbare Handlung, zu welcher Hülfe ge - leiſtet wird, voraus;
376Drittes Buch. Delikte gegen uneigentliche Rechtsgüter.
  • b) die Strafbarkeit der Kuppelei iſt, auch wenn die unter - ſtützte Unzuchtshandlung ſelbſt vom Geſetze mit Strafe bedroht ſein ſollte, durchaus unabhängig von dem Vorliegen einer Schuld auf Seiten derjenigen, welche dieſe Unzuchtshandlung vorgenommen haben;
  • c) nicht jede Hülfeleiſtung (z. B. Rat) zur Unzucht, ſon - dern nur die Vermittlung, die Gewährung oder Ver - ſchaffung von Gelegenheit, d. i. die Herbeiführung eines ſolchen Zuſtandes, welcher der Ausübung der Unzucht günſtigere Bedingungen bietet als früher vorhanden waren,
    14Sehr beſtritten. Wenn RGR. 15. Mai 1880, E II 164, R I 782 zum Begriffe des Verſchaffens von Gelegenheit die Erklärung von Seiten des Dritten, zur Benützung dieſer Gelegenheit geneigt zu ſein, for - dert, ſo kann dem nicht beige - treten werden.
    14 iſt Kuppelei.
  • d) Die Kuppelei iſt vollendet mit dem Vermitteln uſw., mag es auch zu einem Unzuchtsakte ſelbſt nicht ge - kommen ſein
    15Ebenſo RGR. 15. Mai 1880, E II 164, R I 782.
    15 (eine Ausnahme ſiehe unten). Kuppelei kann liegen in dem Vermieten von Wohnungen an Proſtituierte;
    16Vgl. RGR. 28. Februar 1880, R I 402; 27. April 1880, R I 680; 28. Mai 1880, R I 828.
    16 ſie liegt in dem Halten von Bordellen, und daran wird durch polizeiliche Konzeſſionierung der Bordelle nicht das Geringſte geändert, ſo lange Reichs - recht nicht durch Landesrecht, Geſetz nicht durch Verfügung der adminiſtrativen Gewalt gebrochen werden kann.
    17Im gleichen Sinne iſt dieſe berühmte Kontroverſe entſchieden worden in RGR. 29. Januar 1880, E I 88, R I 291.
    17

Die Kuppelei iſt nicht an ſich, ſondern nur bei dem Hinzutreten gewiſſer Umſtände, die wir als Bedingungen377V. Delikte gegen die Sittlichkeit. §. 91.der Strafbarkeit (vgl. oben §. 30) aufzufaſſen haben, vom Geſetze mit Strafe bedroht.

Dieſe Umſtände ſind:

1. Gewohnheitsmäßiges (Begriff oben §. 39 II 3) oder aus Eigennutz18d. h. in der Abſicht, ſich oder einem Dritten einen Ver - mögensvorteil (oben §. 73 I 3) zu verſchaffen. (RGR. 28. Mai 1880, R I 828). erfolgendes Betreiben der Kuppelei (StGB. §. 180).

Strafe: Gefängnis; Ehrverluſt und Polizeiaufſicht fa - kultativ.

2. Anwendung hinterliſtiger Kunſtgriffe, um der Unzucht Vorſchub zu leiſten; gleichgeſtellt iſt der Fall, wenn Eltern ihre Kinder, Vormünder ihre Pflegebefohlenen, Geiſtliche, Lehrer, Erzieher die von ihnen zu unter - richtenden oder zu erziehenden Perſonen verkuppelt haben (StGB. §. 181). In dieſem letzterwähnten Falle muß es, damit die Kuppelei ſtrafbar wird,19Oder damit, da §. 181 zu - gleich dem §. 180 gegenüber als qualifizierter Fall erſcheint, gegen gewerbsmäßige oder eigennützige Kuppelei auf die ſchwerere Strafe des §. 181 erkannt werden kann. zur Vornahme unzüch - tiger Handlungen gekommen ſein.

Strafe: Zuchthaus bis zu 5 Jahren; Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte obligatoriſch (vgl. oben §. 51 I S. 202); Polizeiaufſicht fakultativ.

378Drittes Buch. Delikte gegen uneigentliche Rechtsgüter.

VI. Die Amtsdelikte. 1Lit. bei Meyer S. 693 Note 1; dazu Schütze HR. Amtsverbrechen .

§. 92.

I. Allgemeines.

1. Die Amtsdelikte charakteriſieren ſich, ebenſo wie die in den vorhergehenden Paragraphen beſprochenen Gruppen von ſtrafbaren Handlungen, nicht durch die Richtung des An - griffes gegen beſtimmte Rechtsgüter, ſondern durch die Art, durch das Mittel des Angriffes. Der Mißbrauch der Amtsgewalt zur Begehung ſtrafbarer Handlungen iſt das gemeinſame Merkmal, das die ſämmtlichen Amtsdelikte zu einer Gruppe vereinigt. Damit iſt die ihnen hier gegebene Stellung gerechtfertigt. Wollte man die Natur des ange - griffenen Rechtsgutes als maßgebenden Einteilungsgrund be - trachten, ſo würden die Amtsdelikte als einheitliche Gruppe verſchwinden.

2. Amtsdelikte ſind die öffentlich-ſtrafbaren, alſo nicht bloß disziplinar zu ahndenden (oben §. 42 VI)2Zu der dort angeführtenLit. vgl. noch Zorn Staatsrecht S. 243. Hand - lungen der Beamten, alſo nicht die Delikte im Amte, ſondern die Delikte der Beamten im Amte. Die Begriffe Amt (oben §. 51 Note 2) und Beamter decken ſich nicht. Beamter iſt derjenige,3Vgl. Zorn Staatsrecht S. 225. der auf Grund ſtaatlicher Be - ſtallung als Organ der Staatsgewalt (mithin unter ſtaatlicher Autorität) für Staatszwecke thätig zu ſein be - rufen iſt. StGB. §. 359 giebt keine Definition, wenn er es für gleichgültig erklärt, ob es ſich um den unmittelbaren oder379VI. Die Amtsdelikte. §. 92.mittelbaren Dienſt des Reiches oder eines Bundesſtaates; um vorläufige oder definitive, zeitweilige oder lebenslange An - ſtellung handle; ob der Angeſtellte einen feſten Gehalt oder ausſchließlich Gebühren beziehe; ob ein Dienſteid geleiſtet worden oder nicht. 4Vgl. RGR. 13. November 1879, R I 64; 19. Januar 1880, E I 153; 18. März 1880, E I 327, R I 494; 24. Juni 1880,R II 109; 1. Juli 1880, E II 189, R II 144.Wohl aber rechnet er ausdrücklich, über unſeren Begriff hinausgreifend, auch die Notare zu den Beamten, ohne Rückſicht auf die landesrechtliche Verſchiedenheit ihrer Stellung. Advokaten und Anwälte, Geſchworene, Schiedsrichter und Schöffen ſind keine Beamten, wenn auch die drei letztgenannten Perſonen ein Amt im Sinne des Ge - ſetzes (StGB. §. 31, Abſ. 2) ausüben. 5Vgl. noch Mil. StGB. §. 145.

3. Man teilt die Amtsdelikte ein in eigentliche und uneigentliche, je nach dem die Beamten-Eigenſchaft als Bedingung der Strafbarkeit (oben §. 30), oder aber als Strafſchärfungsgrund erſcheint. Zu den uneigentlichen Amts - delikten gehören auch die in StGB. §§. 128, 129, 174, 222, 230, 300 behandelten Fälle. Die Einteilung iſt von Wichtigkeit für die Behandlung der Teilnahme dritter Per - ſonen; es ſei in dieſer Beziehung auf das oben §. 37 III Geſagte verwieſen.

4. Die im Auslande, ſei es von Inländern, ſei es von Ausländern, begangenen Amtsdelikte können ohne weiteres nach inländiſchem Rechte verfolgt werden (vgl. oben §. 13 IV).

5. Die Beamtenqualität muß im Augenblicke der That (oben §. 19 III 1) vorhanden ſein (RGR. vom 9. Juli 1880, R II 181).

6. Neben der wegen einer Reihe von Amtsdelikten (StGB. 380Drittes Buch. Delikte gegen uneigentliche Rechtsgüter.§§. 331, 339 341, 352 355, 357) erkannten Gefängnis - ſtrafe kann, wenn dieſelbe auch die Dauer von drei Monaten nicht erreicht, gegen Beamte (nie gegen etwa beteiligte Nicht - beamte) auf Verluſt der Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Aemter auf die Dauer von 1 bis zu 5 Jahren erkannt werden (StGB. §. 358; vgl. oben §. 51 II 4).

II. Die einzelnen Amtsdelikte.

1. Geſchenkannahme in Amtsſachen (Beſtechung). 6Vgl. Teichmann HR. Beſtechung ; Zorn Staats - recht S. 238.

  • a) Das Annehmen, Fordern oder Sichverſprechenlaſſen von Geſchenken oder anderen (nicht notwendig Vermögens -) Vorteilen von Seiten eines Beamten für eine an ſich nicht pflichtwidrige Amtshandlung (StGB. §. 331).
    7Vgl. auch Mil. StGB. §. 140; Salzſteuergeſetz vom12. Oktober 1867 §. 17; Brannt - weinſteuergeſetz v. 8. Juli 1868 §. 68.
    7Das Geſchenk muß Aequivalent für die Amtshand - lung ſein; wird es gegeben, um einem allgemeinen Gebrauche zu entſprechen (wie Trinkgelder, Neujahrs - geſchenke), um beſondere nicht in das Amt einſchla - gende Gefälligkeiten zu entlohnen, oder um dem Ge - fühle perſönlicher Dankbarkeit oder Verehrung Ausdruck zu geben uſw., ſo liegt Beſtechung nicht vor.
    8Vgl. RGR. 19. November 1879, R I 83, E II 129.
    8Die Praxis hat hier im Einzelfalle die richtige Grenze zu ziehen. Strafe: Geld bis zu 300 Mark oder Gefängnis bis zu 6 Monaten. Der Geſchenkgeber kann nicht nach §. 331 beſtraft werden: arg. §§. 333 und 334 Abſ. 2; doch trifft381VI. Die Amtsdelikte. §. 92.ihn nach einzelnen Nebengeſetzen9Vereinszollgeſetz v. 1. Juli 1869 §. 160; Brauſteuergeſetz vom 31. Mai 1872 §. 36; Tabak - ſteuergeſetz vom 16. Juli 1879 §. 41. eine Ordnungs - ſtrafe.
  • b) Das Annehmen, Fordern, Sichverſprechenlaſſen von Geſchenken oder anderen Vorteilen von Seiten eines Beamten für eine Handlung, die eine Verletzung einer Amts - oder Dienſtpflicht
    10Auch Mißbrauch des freienErmeſſens gehört hierher: RGR. 29. April 1880, E I 404.
    10 enthält (StGB. §. 332). Strafe: Zuchthaus bis zu fünf Jahren; bei mildernden Umſtänden Gefängnis. Wer einem Beamten oder einem Mitgliede der bewaffneten Macht Vorteile anbietet, ver - ſpricht, oder gewährt, um ihn11Es ſtehen mithin hier nur künftige Handlungen in Frage. zu einer ſolchen Handlung zu beſtimmen, wird nach §. 333 mit Ge - fängnis (mit fakultativem Ehrverluſt), bei mildernden Umſtänden mit Geldſtrafe bis zu 1500 Mark beſtraft.
  • c) Das Annehmen, Fordern, Sichverſprechenlaſſen von Geſchenken oder anderen Vorteilen von Seiten eines Richters, Schiedsrichters, Geſchworenen oder Schöffen,
    12Das Geſetz greift hier weit über den Begriff des Beamten hinaus.
    12 um eine Rechtsſache, deren Leitung oder Entſcheidung ihm obliegt, zu Gunſten oder zum Nachteile eines Beteiligten zu entſcheiden (StGB. §. 334). Strafe: Zuchthaus. Denjenigen, der die Geſchenke oder Vorteile anbietet, verſpricht oder gewährt, trifft ebenfalls Zuchthaus, an deſſen Stelle jedoch bei mildernden Umſtänden Gefängnis treten kann. 382Drittes Buch. Delikte gegen uneigentliche Rechtsgüter.In allen Fällen (a c) iſt im Urteile das Em - pfangen oder der Wert desſelben für dem Staate verfallen zu erklären (StGB. §. 335).

2. Die Beugung des Rechts zu Gunſten oder zum Nachteile einer Partei durch einen Beamten oder Schieds - richter13Vgl. vorige Anmerkung. bei Leitung oder Entſcheidung einer Rechtsſache (StGB. §. 336). Strafe: Zuchthaus bis zu 5 Jahren.

3. Strafbare Handlungen bei Trauung und Ehe - ſchließung.

  • a) Ein Geiſtlicher oder Religionsdiener,
    14Vgl. Anmerkung. 12.
    14 welcher zur Trauung ſchreitet, bevor ihm nachgewieſen worden iſt, daß die Ehe vor dem Standesbeamten geſchloſſen ſei, wird mit Geldſtrafe bis zu 300 Mark oder mit Ge - fängnis bis zu 3 Monaten beſtraft (§. 67 des Per - ſonenſtandsgeſetzes vom 6. Februar 1875; an Stelle des §. 337 StGB. getreten).
  • b) Zuchthaus bis zu 5 Jahren trifft den Religionsdiener oder Perſonenſtandsbeamten, welcher, wiſſend daß eine Perſon verheiratet iſt, eine neue Ehe derſelben ſchließt (StGB. §. 338; vgl. oben §. 90 II 2).

4. Mißbrauch der Amtsgewalt zur Bedrückung Privater.

  • a) Widerrechtliche Nötigung zu einer Handlung, Dul - dung, Unterlaſſung durch Mißbrauch der Amtsgewalt oder durch Androhung eines beſtimmten Mißbrauches derſelben (StGB. §. 339; vgl. oben §. 63 I). Strafe: Gefängnis. Verſuch ſtrafbar.
  • b) Der Thatbeſtand gewiſſer Delikte, die ſich als Spezial - fälle dem allgemeinen Begriffe der Nötigung gegenüber -383IV. Die Amtsdelikte. §. 92.ſtellen laſſen (es ſind die §§. 106, 107, 167, 253 StGB. ; vgl. unten §. 98, oben §. 89 IV, §. 74), er - fährt durch §. 339 Abſ. 3 inſofern eine Erweiterung, als Mißbrauch der Amtsgewalt oder Andro - hung eines beſtimmten Mißbrauches derſelben, wenn von einem Beamten ausgehend, für an ſich ſchon geeignete Begehungsmittel erklärt werden.
  • c) Körperverletzung, die der Beamte in Ausübung oder in Veranlaſſung der Ausübung ſeines Amtes vor - ſätzlich begeht oder begehen läßt
    15Das Begehenlaſſen um - faßt ein Doppeltes: a) das (paſſive) Geſchehenlaſſen, wobei einfach die oben §. 21 II a ge - gebene Konſtruktion der Unter - laſſungsdelikte zur Anwendung zu bringen iſt; b) das (poſitive) Anordnen der Vollziehung, wo -bei, mag der Vollziehende das Bewußtſein der Kauſalität ſeines Thuns haben oder nicht (vgl. oben §. 35 I), immer der Beamte als Thäter aufgefaßt wird.
    15 (StGB. §. 340; vgl. oben §. 61).
    16Vgl. noch Mil. StGB. §§. 122, 123, 148.
    16Strafe:
    • 1. Gefängnis nicht unter 3 Monaten; bei mil - dernden Umſtänden Gefängnis von einem Tage bis zu fünf Jahren oder Geldſtrafe bis zu 900 Mark;
    • 2. wenn die Körperverletzung eine ſchwere (StGB. §. 224) war, Zuchthaus nicht unter 2 Jahren; bei mildernden Umſtänden Gefängnis nicht unter 3 Monaten.
  • d) Beſchränkung der perſönlichen Freiheit durch Verhaftung, vorläufige Ergreifung und Feſtnahme oder Zwangsgeſtellung, die der Beamte vorſätzlich und wider - rechtlich vornimmt oder vornehmen läßt,
    17Vgl. Anmerkung 15.
    17 oder durch384Drittes Buch. Delikte gegen uneigentliche Rechtsgüter.vorſätzliche und widerrechtliche Verlängerung der Dauer einer Freiheitsentziehung (StGB. §. 341; vgl. oben §. 63 II). Strafe: die des §. 239 StGB. (oben §. 63 II); mindeſtens aber Gefängnis von 3 Monaten.
  • e) Hausfriedensbruch durch einen Beamten in Aus - übung oder in Veranlaſſung der Ausübung ſeines Amtes (StGB. §. 342; vgl. oben §. 81 II). Strafe: Gefängnis bis zu einem Jahre oder Geldſtrafe bis zu 900 Mark.
    18Vgl. Vereinszollgeſetz vom 1. Juli 1869 §. 126.
    18

5. Mißbrauch der Amtsgewalt im Strafver - fahren.

  • a) Die Anwendung (oder das Anwendenlaſſen)
    19Vgl. oben Anmerkung 15.
    19 von Zwangsmitteln, um Geſtändniſſe oder Aus - ſagen zu erpreſſen (StGB. §. 343). Strafe: Zuchthaus bis zu 5 Jahren.
  • b) Vorſätzliche Beantragung oder Beſchließung der Er - öffnung oder Fortſetzung einer Unterſuchung zum Nachteile einer Perſon, deren Unſchuld dem be - treffenden Beamten bekannt iſt (StGB. §. 344). Strafe: Zuchthaus.
  • c) Das Vollſtreckenlaſſen
    20Vgl. oben Anmerkung 15.
    20 einer Strafe, von welcher der Beamte weiß, daß ſie überhaupt nicht oder nicht der Art oder dem Maße nach vollſtreckt werden darf (StGB. §. 345). Strafe:
    • 1. bei vorſätzlicher Begehung, Zuchthaus;
    • 2. bei fahrläſſiger Begehung Gefängnis oder Feſtung385VI. Die Amtsdelikte. §. 92.bis zu einem Jahre oder Geldſtrafe bis zu 900 Mark.
  • d) Begünſtigung von Verbrechern; und zwar: die Unterlaſſung der Verfolgung einer ſtrafbaren Hand - lung; oder die Begehung einer Handlung, die geeignet iſt, eine Freiſprechung oder eine dem Geſetze nicht ent - ſprechende Beſtrafung zu bewirken; oder das Nichtbe - treiben der Vollſtreckung einer ausgeſprochenen Strafe; oder endlich die Vollſtreckung einer gelinderen als der ausgeſprochenen Strafe: wenn von einem vermöge ſeines Amtes zur Mitwirkung bei Ausübung der Straf - gewalt oder bei Vollſtreckung der Strafe berufenen Beamten in der Abſicht begangen, Jemanden der ge - ſetzlichen Strafe rechtswidrig zu entziehen (StGB. §. 346).
    21Vgl. Mil. StGB. §§. 118, 119.
    21Strafe: Zuchthaus bis zu 5 Jahren; bei mil - dernden Umſtänden Gefängnis nicht unter einem Mo - nate.
  • e) Das Entweichenlaſſen, die Bewirkung oder Be - förderung
    22Hier iſt Verſuch der Bei -hülfe (Beförderung) ſtrafbar; vgl. oben §. 37 II 2.
    22 der Befreiung eines Gefangenen durch den Beamten, deſſen Beaufſichtigung, Begleitung oder Be - wachung der Gefangene anvertraut iſt (StGB. §. 347; vgl. unten §. 100 IV).
    23Vgl. Mil. StGB. §. 144.
    23Strafe:
    • 1. bei vorſätzlicher Begehung Zuchthaus bis zu 5 Jahren, bei mildernden Umſtänden Gefängnis nicht unter einem Monate;
    • 386
    • 2. bei fahrläſſiger Begehung Gefängnis bis zu 6 Monaten oder Geldſtrafe bis zu 600 Mark.

6. Strafbare Handlungen in Beziehung auf Urkunden (StGB. §. 348).

  • a) Die vorſätzliche Falſch-Beurkundung einer rechtlich erheblichen Thatſache, oder das Falſch-Eintragen einer ſolchen in öffentliche Regiſter oder Bücher durch einen zur Aufnahme
    24Aufnahme (verſchieden von der Ausſtellung) der Urkunde iſt die beweiskräftige Feſtſtellung der Thatſache: RGR. 13. März 1880, E I 312, R I 458.
    24 öffentlicher Urkunden befugten Beamten innerhalb ſeiner Zuſtändigkeit (vgl. oben §. 88 II 2). Strafe: Gefängnis nicht unter einem Monate.
  • b) die vorſätzliche Vernichtung, Bei-Seite-Schaffung, Beſchädigung oder Verfälſchung einer dem Beamten amtlich anvertrauten oder zugänglichen Urkunde durch dieſen. Urkunde iſt auch hier (vgl. oben §. 88 I) jeder zur Feſtſtellung rechtlich erheblicher Thatſachen be - ſtimmte
    25RGR. 23. Januar 1880,E I 162, R I 263 hält die Eignung für dieſen Zweck für genügend und erforderlich.
    25 Gegenſtand; Privaturkunden gehören auch dann hieher, wenn ſie nicht beweiserheblich ſind. Strafe: wie zu a.

In beiden Fällen (a und b) tritt Zuchthaus bis zu 10 Jahren mit obligatoriſcher Geldſtrafe von 150 bis zu 3000 Mark ein (StGB. §. 349), wenn der Thäter die Handlung in der Abſicht begangen hat, ſich oder einem An - deren einen Vermögensvorteil zu verſchaffen oder einem An - deren Schaden zuzufügen. 26Ueber dieſe Begriffe vgl. oben §. 73 I 3.

7. Die Amtsunterſchlagung, alſo die von einem Beamten begangene Unterſchlagung (vgl. oben §. 67) von387VI. Die Amtsdelikte. §. 92.Geldern oder anderen Sachen, die er in amtlicher Eigen - genſchaft,27Alſo nicht als beſonders vertrauenswürdige Privatperſon: RGR. 3. Juni 1880, E II 84, R II 22. wenn auch mit Ueberſchreitung der Grenzen ſeiner Zuſtändigkeit,28Ebenſo RGR. 17. De - zember 1879, E I 124, R I 159; 19. Januar 1880, E I 153, R I 247. empfangen oder in Gewahrſam hat (StGB. §. 350). Strafe: Gefängnis nicht unter 3 Monaten mit fakultativem Ehrverluſt. Verſuch ſtrafbar.

Die Strafe wird geſchärft (Zuchthaus bis zu 10 Jahren; bei mildernden Umſtänden Gefängnis nicht unter 6 Mo - naten), wenn der Beamte in Beziehung auf die Unterſchla - gung die zur Eintragung oder Kontrolle der Einnahmen oder Ausgaben beſtimmten Rechnungen, Regiſter oder Bücher unrichtig geführt, verfälſcht oder unterdrückt, oder unrichtige Abſchlüſſe oder Auszüge aus dieſen Rechnungen, Regiſtern oder Büchern, oder unrichtige Belege zu denſelben vorgelegt hat, oder wenn in Beziehung auf die Unterſchlagung auf Fäſſern, Beuteln oder Paketen der Geldinhalt fälſchlich be - zeichnet iſt (StGB. §. 351).

8. Erhebung von Gebühren, Abgaben, Steuern, Vergütungen, von welchen der Erhebende weiß, daß der Zah - lende ſie überhaupt nicht oder nur in geringerem Betrage ſchuldet;29Vorausgeſetzt wird auf Seiten des Zahlenden die Mei - nung, es handle ſich um eine beſtehende Verpflichtung; anderen Falls kann Beſtechung vorliegen: RGR. 24. Juni 1880, R II 109. und zwar:

  • a) wenn von einem Beamten, Advokaten, Anwalt oder ſonſtigen Rechtsbeiſtand
    30Ueberſchreitung des Beam - tenbegriffes.
    30 vorgenommen, der Gebühren uſw. für amtliche Verrichtungen zu ſeinem Vorteile zu erheben hat (StGB. §. 352). Strafe: Geld -388Drittes Buch. Delikte gegen uneigentliche Rechtsgüter.ſtrafe bis zu 300 Mark oder Gefängnis bis zu einem Jahre. Verſuch ſtrafbar.
  • b) Wenn von einem Beamten begangen, der Gebühren uſw. für eine öffentliche Kaſſe zu erheben hat, ſofern er das rechtswidrig Erhobene ganz oder zum Teile nicht zur Kaſſe bringt (StGB. §. 353). Strafe: Gefängnis nicht unter 3 Monaten.

Gleiche Strafe (wie zu b) trifft den Beamten, welcher bei amtlichen Ausgaben an Geld oder Naturalien dem Empfänger vorſätzlich und rechtswidrig Abzüge macht und die Ausgaben als vollſtändig geleiſtet in Rechnung ſtellt (StGB. §. 353 Abſ. 2).

9. Strafbare Handlungen im diplomatiſchen Dienſt des deutſchen Reichs (StGB. §. 353a; Arnim - paragraph ).

  • a) Verletzung der Amtsverſchwiegenheit durch widerrechtliche Mitteilung von ihm amtlich anvertrauten oder zugänglichen Schriftſtücken, oder von ihm durch ſeinen Vorgeſetzten erteilten Anweiſungen oder von deren Inhalt an Andere. Strafe: Gefängnis oder Geldſtrafe bis zu 5000 Mark.
  • b) Vorſätzlicher Ungehorſam gegen amtlich erteilte An - weiſungen des Vorgeſetzten; Strafe: wie zu a.
  • c) Berichtung von erdichteten oder entſtellten Thatſachen an den Vorgeſetzten, in der Abſicht (hier gleich Motiv), dieſen in ſeinen amtlichen Handlungen irre zu leiten; Strafe: wie zu a.

10. Widerrechtliche Eröffnung oder Unterdrückung31Unterdrückung iſt jede, wenn auch nur vorüberge - hende Entziehung aus demPoſtverkehr; RGR. 8. Dezember 1879, E I 124, R I 114.389VI. Die Amtsdelikte. §. 92.von der Poſt anvertrauten Briefen32Auch Poſtanweiſungen ſind Briefe: RGR. 8. Dezember 1879, E I 124, R I 114. oder Paketen durch Poſtbeamte. Gleichgeſtellt iſt die Geſtattung der Vor - nahme einer ſolchen Handlung durch Andere ſowie die Bei - hülfe33Ausnahme von der oben §. 37 III 2 aufgeſtellten Regel: obwohl nicht der Thäter, ſondern nur der Gehülfe Beamte iſt, liegt dennoch ein eigentliches Amtsdelikt vor. hiezu (StGB. §. 354). Strafe: Gefängnis nicht unter 3 Monaten.

11. Strafbare Handlungen von Telegraphen - beamten oder anderen mit der Beaufſichtigung und Be - dienung einer zu öffentlichen Zwecken dienenden Telegraphen - anſtalt betrauten Perſonen (StGB. §. 355).

  • a) Verfälſchung von der Anſtalt anvertrauten De - peſchen;
  • b) Widerrechtliche Eröffnung oder Unterdrückung der - ſelben;
  • c) Benachrichtigung Anderer von dem Inhalte der De - peſchen.

Gleichgeſtellt iſt auch hier34Vgl. oben Anmerkung 15. die Geſtattung der Vornahme ſolcher Handlungen durch Dritte ſowie die Hülfeleiſtung dazu.

Strafe: Gefängnis nicht unter 3 Monaten.

12. Die ſogenannte Konnivenz des Amtsvorgeſetzten (StGB. §. 357). Sie liegt vor:

  • a) wenn der Amtsvorgeſetzte ſeinen Untergebenen zu einer ſtrafbaren Handlung im Amte
    35Nicht bloß die im 28. Abſchn. StGB. enthaltenen Amtsde - likte .
    35 vorſätzlich verleitet
    36Vorauszuſetzen iſt das Nicht - vorliegen einer Anſtiftung; ſonſt wäre nicht §. 357, ſondern §. 48 StGB. anzuwenden.
    36 oder zu verleiten unternimmt;
    37Vgl. oben §. 37 I 2 a.
    37
390Drittes Buch. Delikte gegen uneigentliche Rechtsgüter.
  • b) wenn er eine ſolche Handlung ſeiner Untergebenen wiſſentlich geſchehen läßt;
    38Hier liegt, da die Ver - pflichtung zur Verhinderung vorhanden war, ein Unter -laſſungsdelikt aus der oben §. 21 II a beſprochenen Gruppe vor.
    38
  • c) wenn die von einem anderen Beamten begangene ſtrafbare Handlung die zur Aufſicht oder Kontrolle des Angeklagten gehörenden Geſchäfte betrifft.
    39Auch hier gilt das in der vorigen Anmerkung Geſagte
    39

Als Strafe für die Konnivenz gilt die auf jene Hand - lung, zu welcher die Konnivenz geleiſtet wurde, geſetzte Strafe.

[391]

Viertes Buch. Strafbare Handlungen gegen das Gemeinweſen.

I. Gegen Beſtand und Sicherheit des Staates.

1.

§. 93. Hochverrat. 1Lit. bei Meyer S. 639 Note 1; Zorn Staatsrecht S. 276 ff.

I. 1. Hochverrat im Gegenſatze zum Landesverrate iſt der Angriff auf Beſtand und Sicherheit des Staates als eines Einzelindividuums. Die hochverräteriſchen Handlungen würden ihren Charakter nicht verlieren, auch wenn der Staat, gegen welchen ſie gerichtet ſind, der einzige auf Erden beſtehende wäre.

2. Objekt des Hochverrates im eigentlichen Sinne iſt aber nur das inländiſche Staatsganze, d. h. dasjenige, deſſen Geſetzgebung in Frage ſteht; für uns das deutſche Reich, und jeder einzelne deutſche Bundesſtaat. 2Soweit es ſich nicht um Angriffe auf den Monarchen handelt, iſt kein Unterſchied ge - macht zwiſchen Reich und Ein -zelſtaat, kein Unterſchied zwiſchen den Einzelſtaaten unter einander. Gegen jede derartige Unter - ſcheidung vom ſtaatsrechtlichen Standpunkte aus (wohl mit Un - recht) Zorn a. O.Es bedarf beſonderer Anordnung, wenn Beſtand und Sicherheit auch ausländiſcher Gemeinweſen unter ſtrafrechtlichen Schutz geſtellt werden ſoll (vgl. StGB. §. 102 und unten II);3Vgl. oben §. 13 III S. 54. zur392Viertes Buch. I. Gegen Beſtand u. Sicherheit des Staates.Gewährung ſolchen Schutzes wird die heimiſche Geſetzgebung nicht nur durch ihr Intereſſe an Aufrechthaltung freundnach - barlicher Beziehungen beſtimmt, ſondern in erſter Linie durch die immer ſtärker werdende Intereſſengemeinſchaft ſämmtlicher Kulturſtaaten, welche jede Erſchütterung des einen Gemein - weſens auf alle übrigen zu reflektieren droht.

3. Andererſeits kommt dem Hochverrate gegenüber das inländiſche Strafrecht zur Anwendung, auch wenn die ſtraf - bare Handlung im Auslande, ſei es von einem Inländer, ſei es von einem Ausländer begangen wurde (StGB. §. 4 Ziff. 1, vgl. oben §. 13 III).

II. Die Reichsgeſetzgebung bezeichnet in kaſuiſtiſcher Weiſe, mit Ausſchluß aller übrigen etwa gleichwertigen, jene Hand - lungen, in welchen ſie einen Angriff auf Beſtand und Sicherheit des Staates erblickt. Darnach iſt Hochverrat im Sinne des poſitiven Rechtes:

1. Mord und Mordverſuch an dem Kaiſer, an dem eigenen Landesherrn oder während des Aufenthaltes in einem Bundesſtaate an dem Landesherrn dieſes Staates verübt. Strafe: der Tod (StGB. §. 80).

2. Das Unternehmen, einen Bundesfürſten (abgeſehen von dem Falle unter 1) zu töten, gefangen zu nehmen, in Feindes Gewalt zu liefern oder zur Regierung unfähig zu machen (StGB. §. 81 Ziff. 1).

3. Das Unternehmen, die Verfaſſung des deutſchen Reichs oder eines Bundesſtaates oder die in demſelben be - ſtehende Thronfolge gewaltſam zu ändern (StGB. §. 81 Ziff. 2).

4. Das Unternehmen, das Bundesgebiet einem fremden Staate oder das Gebiet eines Bundesſtaates einem anderen Bundesſtaate ganz oder teilweiſe gewaltſam einzu -393Hochverrat. §. 93.verleiben; oder einen Teil des Bundesgebietes oder des Ge - bietes eines Bundesſtaates vom Ganzen loszureißen (StGB. §. 81 Ziff. 3 und 4). 4Das Unternehmen, das ganze Gebiet eines Bundesſtaates ge - waltſam zum Reichslande zu machen, könnte nicht als Hoch -verrat betrachtet werden: Folge der kaſuiſtiſchen Faſſung des Geſetzes.

Strafe zu 2 4: lebenslängliches Zuchthaus oder lebens - längliche Feſtungshaft, bei mildernden Umſtänden Feſtungs - haft nicht unter 5 Jahren; neben Feſtungshaft kann auf Verluſt der bekleideten öffentlichen Aemter, ſowie der aus öffentlichen Wahlen hervorgegangenen Rechte erkannt werden (vgl. oben §. 51 II 3).

III. 1. Im Falle 1 unter II iſt Verſuch und Vollendung in der Beſtrafung gleichgeſtellt (vgl. oben §. 33 III 4); in den Fällen 2 4 gilt dasſelbe von dem Unternehmen (vgl. oben §. 33 III 3). StGB. §. 82 giebt uns eine, nicht notwendig über das Gebiet des Hochverrates hinaus anzuwendende, Definition dieſes Unternehmens: jede Hand - lung, durch welche das Vorhaben unmittelbar zur Ausführung gebracht werden ſoll. Alſo nicht die beginnende Ausführungshandlung (oben §. 33 IV) ſelbſt, ſondern die dieſen Beginn unmittelbar vorbereitende Handlung. 5Sehr beſtritten.Mit anderen Worten: das Unternehmen umfaßt ein weiteres Gebiet als der Verſuch; umſchließt auch Vorbereitungshandlungen; aber nur jene, die un - mittelbar an das Verſuchsgebiet angrenzen. Die §§. 81 und 82 laſſen alſo den bei weitem größeren Teil der Vorberei - tungshandlungen ſtraflos.

2. Dieſe Lücke füllen die folgenden Paragraphen aus. Auch die Vorbereitungshandlungen zum Hochverrat394Viertes Buch. I. Gegen Beſtand u. Sicherheit des Staates.ſind unter Strafe geſtellt; und zwar in der Weiſe, daß ge - wiſſe beſonders gefährliche Vorbereitungshandlungen unter beſondere höhere, alle übrigen unter gemeinſamen niederen Strafrahmen fallen.

  • a) Das hochverräteriſche Komplott (die Verabredung der Ausführung eines hochverräteriſchen Unternehmens zwiſchen Mehreren; vgl. oben §. 38 II 4) wird nach StGB. §. 83 mit Zuchthaus oder Feſtungshaft nicht unter 5 Jahren, bei mildernden Umſtänden mit Feſtungs - haft nicht unter 2 Jahren beſtraft. Neben Feſtungs - haft iſt teilweiſer Ehrverluſt fakultativ zugelaſſen (vgl. oben §. 51 II 3).
  • b) Dieſelbe Strafe trifft (StGB. §. 84) denjenigen, welcher zur Vorbereitung eines Hochverrates
    • α) ſich mit einer auswärtigen
      6Es iſt dies auch die Regie - rung eines deutſchen Bundes -ſtaates gegenüber der eines an - deren Bundesſtaates.
      6 Regierung einläßt, oder
    • β) die ihm vom Reiche oder einem Bundesſtaate anvertraute Macht mißbraucht, oder
    • γ) Mannſchaften anwirbt oder in den Waffen einübt.
  • c) Jede andere, ein hochverräteriſches Unternehmen vor - bereitende Handlung wird (StGB. §. 86) mit Zucht - haus oder Feſtungshaft bis zu 3 Jahren, bei mil - dernden Umſtänden mit Feſtungshaft von 6 Monaten bis zu 3 Jahren beſtraft.

IV. Die öffentliche Aufforderung zum Hochverrat (StGB. §. 85) ſiehe unten §. 101 I.

V. In den Fällen der §§. 80, 81, 83, 84 StGB. (oben395Hochverrat. §. 93.II 1 4, III 2 a und b) kann bei Eröffnung der Unter - ſuchung das Vermögen, welches der Angeſchuldigte beſitzt oder welches ihm ſpäter anfällt, bis zur rechtskräftigen Been - digung des Verfahrens mit Beſchlag belegt werden (StGB. §. 93, vgl. mit StPO. §§. 480, 333 ff.).

VI. Wird eine der vorbezeichneten (II 2 4, III und V) Handlungen gegen ein ausländiſches Gemeinweſen begangen, ſo liegt, wie bereits (oben I) bemerkt, zwar nicht eigentlicher Hochverrat, wohl aber ein dieſem nächſtverwandtes Delikt vor, das unter gewiſſen Vorausſetzungen (StGB. §. 102) die Thätigkeit der inländiſchen Strafgewalt wachruft. Dieſe Vorausſetzungen ſind:

1. Verbürgte Gegenſeitigkeit (nicht notwendig durch Staatsvertrag; ein die Gewähr künftiger Feſthaltung bie - tender Gerichtsgebrauch genügt).

2. Während der deutſche Unterthan ſowohl im In - lande wie im Auslande und hier ohne die Beſchränkungen der §§. 4, 5 StGB. (oben §. 13 III) für die Begehung derartiger Handlungen verantwortlich gemacht wird, haftet der Ausländer nur während ſeines Aufenthaltes im Inlande,7Der Aufenthaltsort des Thäters und der Begehungsort des Verbrechens (oben §. 19 IV) brauchen nicht notwendig zu - ſammenzufallen. Nur der erſtere iſt maßgebend. alſo nur als subditus temporarius.

3. Die Verfolgung tritt nur auf Antrag der aus - wärtigen Regierung ein; der Antrag iſt rücknehmbar.

Strafe:

  • a) In den oben II 2 4, III 2 a und b angeführten Fällen Feſtungshaft von einem bis zu 10 Jahren, bei mildernden Umſtänden von 6 Monaten bis zu 10 Jahren;
396Viertes Buch. I. Gegen Beſtand u. Sicherheit des Staates.
  • b) in den oben III 2 c und IV angeführten Fällen Feſtungshaft von einem Monat bis zu 3 Jahren.

2.

§. 94. Landesverrat.

I. 1. Landesverrat iſt der Angriff auf Beſtand und Sicherheit des Staates als eines Gliedes der Völker - familie. Er wird im Gegenſatze zum Hochverrat erſt möglich durch das Nebeneinanderbeſtehen mehrerer Ge - meinweſen. Nicht die Benachteiligung des eigenen Gemein - weſens, ſondern die damit verbundene Unterſtützung eines fremden Staates bildet ſein charakteriſtiſches Merkmal. Der Staatsbürger wird nicht nur zum Feinde, er wird zu - gleich zum Verräter des Vaterlandes. 1Nur hier, nicht beim Hoch - verrat, kann von einer Ver - letzung der dem Staate ſchuldi - gen Treue, als dem charakteri - ſtiſchen Merkmale des Deliktesgeſprochen, die Unterſcheidung zwiſchen Inländern und Aus - ländern gebilligt werden. A. A. Zorn Staatsrecht S. 276 ff.

2. Dieſer Charakter des Landesverrates, der ihm zu Grunde liegende qualifizierte Treubruch, bringt es mit ſich, daß der Kreis der möglichen Subjekte dieſes Deliktes eine Einſchränkung erleidet. Der Deutſche haftet zwar auch, wenn er im Auslande einen Landesverrat gegen das deutſche Reich oder einen Bundesſtaat begeht, ohne weiteres nach in - ländiſchem Rechte (StGB. §. 4 Ziff. 2, vgl. oben §. 13 III); aber der Ausländer kann ſich des in §. 88 StGB. be - drohten Falles (unten II 2) gar nicht, der übrigen Fälle nur als subditus temporarius (während ſeines Aufenthaltes innerhalb des Bundesgebietes unter dem Schutze des deutſchen397Landesverrat. §. 94.Reiches oder eines Bundesſtaates) ſchuldig machen, und iſt im übrigen nach Kriegsgebrauch zu behandeln (StGB. §. 91).

3. Das inländiſche Recht gewährt nur den inländi - ſchen Gemeinweſen (dem Reiche und ſeinen Gliedern) den Schutz ſeiner Strafgewalt.

4. Man teilt den Landesverrat ein in den militä - riſchen und den diplomatiſchen. Erſterer beſteht in der kriegeriſchen, letzterer (unter poſitiv-rechtlicher Beſchränkung der Strafbarkeit auf gewiſſe Fälle) in jeder anderweitigen Unterſtützung einer auswärtigen Macht.

II. Der militäriſche Landesverrat.

1. Die Konſpiration ( Sich-Einlaſſen StGB. §. 87) mit einer ausländiſchen (nicht deutſchen) Regierung, um dieſelbe zu einem Kriege gegen das deutſche Reich zu veranlaſſen.

Strafe:

  • a) Zuchthaus nicht unter 5 Jahren, bei mildernden Um - ſtänden Feſtungshaft von 6 Monaten bis zu 5 Jahren;
  • b) wenn der Krieg ausgebrochen iſt, lebenslängliches Zucht - haus, bei mildernden Umſtänden Feſtungshaft nicht unter 5 Jahren.

Neben Feſtungshaft kann auf Verluſt der bekleideten öffentlichen Aemter, ſowie der aus öffentlichen Wahlen her - vorgegangenen Rechte erkannt werden (vgl. oben §. 51 II 3).

2. Dienſt in der feindlichen Kriegsmacht wäh - rend eines gegen das deutſche Reich ausgebrochenen Krieges, oder Waffentragen gegen das deutſche Reich oder deſſen Bundesgenoſſen (StGB. §. 88).

Strafe:

  • a) wenn der Thäter ſchon vor Ausbruch des Krieges in fremden Kriegsdienſten ſtand, Zuchthaus von 2 bis zu398Viertes Buch. I. Gegen Beſtand u. Sicherheit des Staates.10 Jahren, oder Feſtungshaft von gleicher Dauer; bei[mildernden] Umſtänden Feſtungshaft bis zu 10 Jahren;
  • b) wenn dies nicht der Fall, lebenslängliches Zuchthaus oder lebenslängliche Feſtungshaft, bei mildernden Um - ſtänden Feſtungshaft nicht unter 5 Jahren.

Neben Feſtungshaft iſt Aberkennung der bekleideten öffent - lichen Aemter, ſowie der aus öffentlichen Wahlen hervorge - gangenen Rechte zuläſſig (vgl. oben §. 51 II 3).

3. Vorſätzliche Begünſtigung ( wer Vorſchub leiſtet StGB. §. 89) einer feindlichen Macht2Beteiligung an einer Kriegs - anleihe des Gegners kann ge - wiß hieher gehören. Der Vor -ſatz beſteht auch hier nur in dem Bewußtſein von der Kauſalität des Thuns. während eines gegen das deutſche Reich ausgebrochenen Krieges, oder Benachteiligung der Truppen des deutſchen Reichs oder der Bundesgenoſſen desſelben.

Strafe: Zuchthaus bis zu 10 Jahren oder Feſtungs - haft von gleicher Dauer, bei mildernden Umſtänden Feſtungs - haft bis zu 10 Jahren. Teilweiſer Ehrverluſt wie oben zu 2.

4. Aus dem in §. 89 StGB. (oben 3) aufgeſtellten Be - griffe hebt §. 90 gewiſſe beſonders ſchwere Fälle hervor, um ſie einer verſchärften Strafe zu unterwerfen. Lebenslängliches Zuchthaus, bei mildernden Umſtänden Feſtungshaft nicht unter 5 Jahren (teilweiſer Ehrverluſt wie oben zu 2) trifft den Deutſchen, welcher während eines gegen das deutſche Reich ausgebrochenen Krieges vorſätzlich

  • a) Feſtungen, Päſſe, beſetzte Plätze oder andere Ver - teidigungspoſten, ingleichen deutſche oder verbündete Truppen oder einzelne Offiziere oder Soldaten in feindliche Gewalt bringt;
399Landesverrat. §. 94.
  • b) Feſtungswerke, Schiffe oder andere Fahrzeuge der Kriegs - marine, Kaſſen, Zeughäuſer, Magazine oder andere Vorräte von Waffen, Schießbedarf oder anderen Kriegs - bedürfniſſen in feindliche Gewalt bringt oder dieſelben, ſowie Brücken und Eiſenbahnen zum Vorteile des Feindes zerſtört oder unbrauchbar macht;
  • c) dem Feinde Mannſchaften zuführt oder Soldaten des deutſchen oder verbündeten Heeres verleitet, zum Feinde überzugehen;
  • d) Operationspläne oder Pläne von Feſtungen oder feſten Stellungen dem Feinde mitteilt;
  • e) dem Feinde als Spion dient oder feindliche Spione aufnimmt, verbirgt oder ihnen Beiſtand leiſtet; oder
  • f) einen Aufſtand unter den deutſchen oder verbündeten Truppen erregt.

III. Der diplomatiſche Landesverrat; nach StGB. §. 92 vorliegend, wenn Jemand vorſätzlich

1. Staatsgeheimniſſe oder Feſtungspläne, oder ſolche Ur - kunden, Aktenſtücke oder Nachrichten, von denen er weiß, daß ihre Geheimhaltung einer anderen Regierung gegenüber für das Wohl des deutſchen Reichs oder eines Bundesſtaates erforderlich iſt, dieſer Regierung mitteilt oder öffentlich be - kannt macht;

2. zur Gefährdung der Rechte des deutſchen Reichs oder eines Bundesſtaates im Verhältnis zu einer anderen Re - gierung die über ſolche Rechte ſprechenden Urkunden oder Beweismittel vernichtet, verfälſcht oder unterdrückt;

3. ein ihm von Seiten des deutſchen Reichs oder eines Bundesſtaates aufgetragenes Staatsgeſchäft mit einer anderen Regierung zum Nachteil deſſen führt, der ihm den Auftrag erteilt hat.

400Viertes Buch. I. Gegen Beſtand u. Sicherheit des Staates.

Strafe: Zuchthaus nicht unter 2 Jahren, bei mildernden Umſtänden Feſtungshaft nicht unter 6 Monaten.

IV. In allen Fällen des Landesverrates kann (StGB. §. 93) Beſchlagnahme des Vermögens des Beſchul - digten in der oben §. 93 V angegebenen Weiſe ſtattfinden.

3.

§. 95. Gefährdung der militäriſchen Sicherheit des Staates.

Die hieher gehörenden Delikte charakteriſieren ſich negativ durch den fehlenden animus hostilis (bei deſſen Vorliegen ſie in Landesverrat übergehen können), poſitiv durch die ihnen im allgemeinen (nicht notwendig im konkreten Falle) innewohnende Gefährdung der militäriſchen Intereſſen des Staates.

I. Das unbefugte Aufnehmen oder Veröffent - lichen von Feſtungsriſſen oder Riſſen einzelner Feſtungs - werke wird nach StGB. §. 360 Ziff. 1 als Uebertretung (mit Geldſtrafe bis zu 150 Mark oder Haft) beſtraft. Ein - ziehung der Riſſe zuläſſig, ohne Unterſchied, ob ſie dem Verurteilten gehören oder nicht (vgl. oben §. 50 II).

II. Veröffentlichungen (in der Preſſe) über Trup - penbewegungen oder Verteidigungsmittel in Zeiten der Kriegsgefahr oder des Krieges trotz des öffentlich bekannt gemachten Verbotes des Reichskanzlers (Preßgeſetz §. 15). 1Vgl. Liszt Preßr. §. 46 II.

Strafe: (Preßgeſetz §. 18 Ziff. 1): Geldſtrafe bis zu 1000 Mark oder Haft oder Gefängnis bis zu 6 Monaten.

III. Auch die Nichterfüllung von Lieferungsver -401Gegen den Monarchen: Majeſtätsbeleidigung. §. 96.trägen, die mit einer Behörde über Bedürfniſſe des Heeres oder der Marine zur Zeit eines Krieges geſchloſſen wurden (StGB. §. 329), könnte hieher geſtellt werden, wurde aber von uns des Zuſammenhanges wegen bereits an anderer Stelle (vgl. oben §. 84 VIII) behandelt.

II. Strafbare Handlungen gegen die Staatsgewalt und ihre Organe.

1.

§. 96. Gegen den Monarchen: Majeſtätsbeleidigung.

I. 1. Die Ehre des Trägers der ſtaatlichen Souverä - nität iſt begrifflich keine andere als die des Privatmannes; der Ehrbegriff ſelbſt, richtig gefaßt (vgl. oben §. 80 I) iſt dehnbar genug, um ſich jeder Lebensſtellung des Individuums anzupaſſen. Wir bewegen uns innerhalb der allgemeinen Definition der Beleidigung, wenn wir die Majeſtätsbeleidi - gung beſtimmen als die Verletzung der dem Souverän (nicht als Menſchen, ſondern eben als dem Repräſentanten der Souveränität) geſchuldeten Achtung; und es bedarf nach dem oben §. 80 I Geſagten keiner weiteren Ausfüh - rungen darüber, daß dieſe Achtung nach Inhalt und Umfang die dem Privatmanne geſchuldete ebenſoweit überragt, als die Stellung des Souveräns im ſtaatlichen Leben die des Privatmannes. Die Aufſtellung des beſonderen Deliktes Majeſtätsbeleidigung in der modernen Geſetzgebung hat dem - nach, wenn wir von den veränderten, der Schwere wie der politiſchen Natur des Deliktes rechnungtragenden Straf - rahmen abſehen, juriſtiſche Bedeutung nur nach der Richtungvon Liszt, Strafrecht. 26402Viertes Buch. II. Delikte gegen die Staatsgewalt ꝛc.hin, als die für die gewöhnliche Beleidigung gegebenen be - ſonderen (alſo nicht aus dem Begriffe des Verbrechens fol - genden) Beſtimmungen, ſo jene über Antragserfordernis, Buße, Retorſion uſw., auf die Majeſtätsbeleidigung keine Anwendung finden.

2. Nur der monarchiſche Träger der Souveränität, ſowie die Mitglieder ſeiner Familie und ſein Repräſentant (der Regent) können nach heutigem deutſchen Rechte Objekt der Majeſtätsbeleidigung ſein; die Träger der Souveränität in den republikaniſchen Gemeinweſen Deutſchlands ent - behren des erhöhten ſtrafrechtlichen Schutzes ihrer Ehre. Der ſtaatsrechtlichen Geſtaltung des deutſchen Reiches entſprechend, hebt das Geſetz den Kaiſer, den Landesherrn des Hei - matsſtaates und jenen des Aufenthaltsſtaates des Thäters aus den übrigen Bundesfürſten hervor;1Gegen dieſe Unterſcheidungen Zorn Staatsrecht S. 276 ff. eigentüm - licher Weiſe kommt die Familie des Kaiſers (insbeſondere der deutſche Kronprinz) nur als landesherrliche Familie (Kronprinz von Preußen) in Betracht.

3. Eigentliche Majeſtätsbeleidigung iſt nur gegen einen deutſchen Monarchen poſitiv rechtlich möglich; doch ge - nießen auch die Landesherren und Regenten, ſowie die diplo - matiſchen Repräſentanten ausländiſcher Staatsweſen unter gewiſſen Vorausſetzungen eines geringeren Schutzes durch das deutſche Strafrecht (vgl. unten IV).

4. Die Strafen ſtufen ſich ab, je nachdem es ſich um eine Thätlichkeit (Begriff oben §. 80 S. 322) oder um eine einfache Beleidigung handelt. Als Beleidigung haben wir hier wohl die oben §. 80 II 1, 2, 3, 4 (StGB. §§. 185,403Gegen den Monarchen: Majeſtätsbeleidigung. §. 96.186, 187)2Soweit dieſe §§. nicht ſchwerere Strafe androhen. angeführten Fälle, nicht aber den Fall des §. 189 StGB. (oben §. 80 II 5) zu betrachten.

5. Von einem Deutſchen im Auslande gegen einen Bundesfürſten (nicht gegen eine landesherrliche Familie oder gegen den Regenten eines Bundesſtaates) begangenen Beleidigungen ſind ohne weiteres nach inländiſchem Straf - rechte zu beſtrafen (StGB. §. 4 Ziff. 2; vgl. oben §. 13 III).

II. Thätlichkeit

1. gegen den Kaiſer, gegen die Landesherren des Thäters oder während deſſen Aufenthalts in einem Bundesſtaate gegen den Landesherrn dieſes Staa - tes: lebenslängliches Zuchthaus oder lebenslängliche Feſtungs - haft, in minder ſchweren Fällen (oben §. 54 II 1) Zuchthaus nicht unter 5 Jahren oder Feſtungshaft von gleicher Dauer; neben Feſtungshaft teilweiſer Ehrverluſt (oben §. 51 II 3) zuläſſig; bei mildernden Umſtänden Feſtungshaft nicht unter 5 Jahren (StGB. §. 94);

2. gegen ein Mitglied des landesherrlichen Hauſes oder den Regenten des Heimats - oder Aufenthalts - ſtaates: Zuchthaus nicht unter 5 Jahren oder Feſtungshaft von gleicher Dauer; in minder ſchweren Fällen (oben §. 54 II 1) Zuchthaus bis zu 5 Jahren oder Feſtungshaft von gleicher Dauer; bei mildernden Umſtänden Feſtungshaft von einem Jahre bis zu 5 Jahren (StGB. §. 96);

3. gegen einen anderen Bundesfürſten: Zuchthaus von 2 bis zu 10 Jahren oder Feſtungshaft von gleicher Dauer; bei mildernden Umſtänden Feſtungshaft von 6 Monaten bis zu 10 Jahren (StGB. §. 98);

4. gegen ein Mitglied des landesherrlichen Hauſes404Viertes Buch. II. Delikte gegen die Staatsgewalt ꝛc.oder den Regenten eines anderen Bundesſtaates: Zuchthaus bis zu 5 Jahren oder Feſtungshaft von gleicher Dauer; bei mildernden Umſtänden Feſtungshaft von einem Monate bis zu 3 Jahren (StGB. §. 100).

III. Einfache Beleidigung

1. gegen die oben II 1 genannten Perſonen: Gefängnis nicht unter 2 Monaten oder Feſtungshaft von 2 Monaten bis zu 5 Jahren; neben Gefängnis teilweiſer Ehrverluſt (oben §. 51 II 3) fakultativ (StGB. §. 95);

2. gegen die oben II 2 genannten Perſonen: Gefängnis von einem Monate bis zu 3 Jahren oder Feſtungs - haft von gleicher Dauer (StGB. §. 97);

3. gegen die oben II 3 genannten Perſonen: Gefängnis von einem Monate bis zu 3 Jahren oder Feſtungs - haft von gleicher Dauer; Verfolgung nur mit Ermächtigung des Beleidigten (StGB. §. 99);

4. gegen die Regenten (nicht gegen die Mitglieder des landesherrlichen Hauſes) der oben II 4 genannten Staaten: Gefängnis von einer Woche bis zu 2 Jahren oder Feſtungshaft von gleicher Dauer; Verfolgung nur mit Ermächtigung des Beleidigten (StGB. §. 101).

IV. 1. Thätliche oder einfache Beleidigung gegen den Landesherrn oder den Regenten eines nicht zum deutſchen Reiche gehörenden Staates; wird, ſofern in dieſem Staate dem deutſchen Reiche die Gegenſeitigkeit ver - bürgt iſt (vgl. oben §. 93 VI), nach StGB. §. 103 mit Ge - fängnis von einer Woche bis zu 2 Jahren oder mit Feſtungs - haft von gleicher Dauer beſtraft. Antragsdelikt; antrags - berechtigt die auswärtige Regierung; Antrag rücknehmbar.

2. Beleidigung (thätliche oder einfache) gegen einen bei dem Reich, einem bundesfürſtlichen Hofe oder bei dem Senate405Delikte gegen geſetzgebende Verſammlungen ꝛc. §. 97.einer der freien Hanſeſtädte beglaubigten Geſandten oder Geſchäftsträger wird mit Gefängnis bis zu einem Jahre oder mit Feſtungshaft von gleicher Dauer beſtraft (StGB. §. 104). Antragsdelikt; Antrag rücknehmbar.

2.

§. 97. Strafbare Handlungen gegen geſetzgebende Verſamm - lungen und deren Mitglieder.

I. Das Unternehmen, den Senat oder die Bürgerſchaft einer der freien Hanſeſtädte, oder eine geſetzgebende Verſamm - lung des Reiches oder eines Bundesſtaates1Ausländiſche Verſammlun - gen ſind nicht geſchützt.

  • 1. auseinanderzuſprengen;
  • 2. zur Faſſung oder Unterlaſſung von Be - ſchlüſſen zu nötigen;
  • 3. Mitglieder aus ihnen gewaltſam zu entfer - nen (StGB. §. 105).

Strafe: Zuchthaus nicht unter 5 Jahren oder Feſtungs - haft von gleicher Dauer; bei mildernden Umſtänden Feſtungs - haft nicht unter einem Jahre.

II. Die durch Gewalt oder durch Bedrohung mit einer ſtrafbaren Handlung2Ueber dieſe Begriffe oben §. 63 I 1 a und b. begangene Verhinderung eines Mit - gliedes einer der unter I bezeichneten Verſammlungen,

  • 1. ſich an den Ort der Verſammlung zu begeben, oder
  • 2. zu ſtimmen (StGB. §. 106).

Poſitiver Zwang, insbeſondere zur Abgabe der Stimme gehört nicht hieher, ſondern fällt eventuell unter StGB. §. 240 (oben §. 63 I).

406Viertes Buch. II. Delikte gegen die Staatsgewalt ꝛc.

Strafe: Zuchthaus bis zu 5 Jahren oder Feſtungshaft von gleicher Dauer; bei mildernden Umſtänden Feſtungshaft bis zu 2 Jahren.

Ueber das Amtsdelikt des §. 339 Abſ. 3 StGB. vgl. oben §. 92 II 4 b.

3.

§. 98. Strafbare Handlungen in Beziehung auf das politiſche Wahl - oder Stimmrecht.

I. Durch Gewalt oder durch Bedrohung1Siehe oben §. 63 I 1 a und b. mit einer ſtraf - baren Handlung begangene Verhinderung (nicht poſitiver Zwang) eines Deutſchen,2Der Ausländer iſt nicht ge - ſchützt. in Ausübung ſeiner ſtaats - bürgerlichen Rechte3Nicht bloß zu oder in den im vorigen Paragraphen auge - führten Verſammlungen. zu wählen oder zu ſtimmen (StGB. §. 107).

Strafe: Gefängnis nicht unter 6 Monaten oder Feſtungs - haft bis zu 5 Jahren. Verſuch ſtrafbar.

Ueber das Amtsdelikt des §. 339 Abſ. 3 StGB. vgl. oben §. 92 II 4 b.

II. Vorſätzliche Herbeiführung eines unrichtigen Ergebniſſes bei Wahlhandlungen in öffentlichen Angelegenheiten, oder Verfälſchung des Wahler - gebniſſes (StGB. §. 108).

Strafe:

  • 1. Wenn der Thäter mit der Sammlung von Wahl - oder Stimm-Zetteln oder - Zeichen oder mit der Führung407Widerſtand gegen die Staatsgewalt. §. 99.der Beurkundungsverhandlung beauftragt war, Ge - fängnis von einer Woche bis zu 3 Jahren;
  • 2. wenn dies nicht der Fall, Gefängnis bis zu zwei Jahren.

In beiden Fällen kann auf Verluſt der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden.

III. Kauf oder Verkauf von Wahlſtimmen in einer öffentlichen Angelegenheit (StGB. §. 109). Der civilrechtliche Begriff des Kaufes findet dabei keine An - wendung; wohl aber iſt eine, wenn auch nicht ausdrückliche Vereinbarung über Abgabe der Stimme in einem beſtimmten Sinne einerſeits und über die Gegenleiſtung andererſeits er - forderlich. Mit dieſer Vereinbarung iſt das Vergehen voll - endet, mag es auch gar nicht zur Abgabe der Stimme ge - kommen oder dieſe nicht der Verabredung gemäß erfolgt ſein. Beſtechung zum Zweck der Wahlenthaltung fällt nicht hieher.

Strafe: Gefängnis von einem Monate bis zu zwei Jahren; auch kann auf Verluſt der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden.

4.

§. 99. Widerſtand gegen die Staatsgewalt. 1Nur die inländiſche Staatsgewalt wird geſchützt. Zum Beweiſe dient, abgeſehen von dem oben §§. 93 VI, 96 IV, 97 Note 1, 98 Note 1 Geſagten, insbeſ. §. 103 a StGB. (unten S. 419).

I. Gewalt gegen Beamte. 2Lit. bei Meyer S. 664 Note 2. Dazu Kirchenheim GS. XXX.

1. Durch Gewalt oder durch Bedrohung mit Gewalt3Ueber dieſe Begriffe oben §. 63 I 1 a und b. geleiſteter Widerſtand gegen einen Beamten, welcher408Viertes Buch. II. Delikte gegen die Staatsgewalt ꝛc.zur Vollſtreckung von Geſetzen, von Befehlen und Anord - nungen der Verwaltungsbehörden, oder von Urteilen oder Verfügungen der Gerichte berufen, und in der rechtmäßigen Ausübung ſeines Amtes begriffen iſt (StGB. §. 113).

Der Begriff des Beamten iſt aus dem oben §. 92 I 2 Geſagten zu entnehmen; doch ſtellt das Geſetz (StGB. §. 113 Abſ. 3) den Beamten gleich: jene Perſonen, welche zur Unter - ſtützung des Beamten zugezogen waren; Mannſchaften der bewaffneten Macht; endlich Mannſchaften einer Gemeinde -, Schutz - oder Bürgerwehr.

Die Amtsausübung muß eine rechtmäßige ſein; ſie iſt es, wenn die Amtshandlung nicht nur innerhalb der Grenzen der allgemeinen Zuſtändigkeit des Beamten ſich bewegt, ſon - dern auch im Einzelfalle ihre Vornahme bei pflichtgemäßer Berückſichtigung der dem Beamten im Augenblicke vorliegenden Umſtände als geboten erſcheint, mag ſie ſich auch nachträglich, bei Klärung der Sachlage, als überflüſſig oder ſogar unge - rechtfertigt darſtellen. 4Kaſuiſtik: RGR. 5. De - zember 1879, E I 26, R I 116; RGR. 3. Juni 1880, E II 82.

Irrige Annahme der Rechtmäßigkeit von Seiten des Beamten kann den Mangel derſelben nicht erſetzen.

Da das Vergehen des §. 113 StGB. nur vorſätzlich be - gangen werden kann, iſt das Bewußtſein des Thäters von der Rechtmäßigkeit der Amtsausübung unerläßlich;5Dagegen RGR. 22. April 1880, R I 642. ſein Mangel, ſollte er auch auf grober Fahrläſſigkeit beruhen, ſchließt die Strafbarkeit des Widerſtandes aus.

Strafe: Gefängnis von 14 Tagen bis zu 2 Jahren; bei mildernden Umſtänden Gefängnis bis zu einem Jahre oder Geldſtrafe bis zu 1000 Mark. 6Beſondere Beſtimmungen

409Widerſtand gegen die Staatsgewalt. §. 99.

2. Thätlicher Angriff7Begriff oben S. 322. auf eine der unter 1 ge - nannten Perſonen, während ſie in der rechtmäßigen Aus - übung ihres Amtes oder Dienſtes begriffen iſt (StGB. §. 113). Strafe wie unter 1.

3. Das Unternehmen, durch Gewalt oder Drohung eine Behörde oder einen Beamten zur Vornahme oder Unter - laſſung einer Amtshandlung zu nötigen (StGB. §. 114). 8Kaſuiſtik: RGR. 13. Mai 1880, R I 770.

Strafe: Gefängnis nicht unter 3 Monaten; bei mil - dernden Umſtänden Gefängnis bis zu 2 Jahren.

II. Aufruhr und Auflauf.

1. Aufruhr. 9Lit. bei Meyer S. 670 Note 1; dazu Teichmann HR. Aufruhr .Die Teilnahme an einer öffentlichen Zuſammenrottung,10Begriff oben S. 331. bei welcher eine der unter I bezeichneten Handlungen mit vereinten Kräften begangen wird (StGB. §. 115). 11Vgl. Milit. StGB. §§. 9 Ziff. 3, 103, 106 110.

Strafe: Gefängnis nicht unter 6 Monaten; gegen die Rädelsführer (oben §. 37 I 5) ſowie diejenigen Perſonen, welche eine der unter I bezeichneten Handlungen begangen haben, Zuchthaus bis zu 10 Jahren mit fakultativer Polizei - aufſicht, bei mildernden Umſtänden Gefängnis nicht unter 6 Monaten.

2. Auflauf: rechtswidriges Verweilen in einer auf6vielfach in den Nebengeſetzen; ſo Vereinszollgeſetz vom 1. Juli 1869 §§. 148, 161; Salzſteuer - geſetz vom 12. Oktober 1867 §. 17; Brau - und Branntwein - ſteuergeſetz vom 4. u. 8. Juli 1868 §§. 37 u. 68; Braumalz - ſteuergeſetz vom 31. Mai 1872 §. 36; Tabakſteuergeſetz vom 16. Juli 1879 §. 41. Häufigſind insbeſondere ergänzende Ordnungsſtrafen angedroht.410Viertes Buch. II. Delikte gegen die Staatsgewalt ꝛc.öffentlichen Wegen, Straßen oder Plätzen verſammelten Menſchenmenge, welche von dem zuſtändigen Beamten oder Befehlshaber der bewaffneten Macht dreimal aufgefordert worden ſich zu entfernen (StGB. §. 116).

Strafe: Gefängnis bis zu 3 Monaten oder Geldſtrafe bis zu 1500 Mark.

Iſt bei einem Auflaufe gegen die Beamten oder die be - waffnete Macht mit vereinten Kräften thätlicher Widerſtand geleiſtet oder Gewalt verübt worden, ſo treten gegen die - jenigen, welche an dieſen Handlungen teilgenommen, die Strafen des Aufruhrs ein.

III. Gewalt gegen Forſt - oder Jagdbeamte, Waldeigentümer, Forſt - oder Jagdberechtigte oder gegen einen von dieſen beſtellten Aufſeher (StGB. §§. 117 119). Der Autorität der Staatsgewalt iſt hier die Autorität gewiſſer Privatperſonen wegen des Bedürfniſſes derſelben nach intenſiverem ſtrafrechtlichen Schutze gegen An - griffe gleichgeſtellt. Zwei Fälle gehören hieher:

1. Durch Gewalt oder durch Bedrohung mit Gewalt geleiſteter Widerſtand gegen die genannten Perſonen, wenn ſie in der rechtmäßigen12Begriff oben I. Ausübung ihres Amtes oder Rechtes begriffen ſind;

2. der thätliche Angriff gegen dieſelben während der Ausübung ihres Amtes oder Rechtes.

Daß die rechtswidrige Handlung innerhalb des be - treffenden Revieres oder zwar außerhalb desſelben, aber in unmittelbarem Zuſammenhange mit einer innerhalb des Re - vieres vorgenommenen Amtshandlung oder Rechtsausübung ſtattgefunden habe, iſt zum Thatbeſtande des Vergehens nicht411Widerſtand gegen die Staatsgewalt. §. 99.erforderlich; es genügt die Richtung der Handlung gegen die genannten, eines höheren ſtrafrechtlichen Schutzes bedürftigen Perſonen. 13Ebenſo im Gegenſatze zur früheren preußiſchen Praxis RGR. 15. Mai 1880, E II 167, R I 789.Ebenſowenig läßt ſich bei dem klaren Wortlaute des Geſetzes die14Vom RGR. 29. Mai 1880, E II 170, R I 835 aufgeſtellte. Anſicht rechtfertigen, daß nicht die Aus - übung des Jagdrechtes oder anderer den angeführten Privat - perſonen zuſtehender Rechte, ſondern nur die zum Schutze der Waldungen und Jagden gegen Forſt - und Jagd - frevler vorgenommenen Handlungen in §. 117 gemeint ſeien.

Die Strafe iſt vielfach abgeſtuft.

  • a) Regelmäßiger Strafrahmen: Gefängnis von 14 Tagen bis zu 3 Jahren; bei mildernden Umſtänden Gefängnis bis zu einem Jahre (StGB. §. 117);
  • b) wenn der Widerſtand oder der Angriff unter Drohung mit Schießgewehr, Aexten oddr anderen gefährlichen Werkzeugen erfolgt oder mit Gewalt an der Perſon
    15in homine, vgl oben §. 63 I 1 a.
    15 begangen worden iſt: Gefängnis nicht unter 3 Mo - naten, bei mildernden Umſtänden nicht unter einem Monate (StGB. §. 117);
  • c) wenn durch den Widerſtand oder den Angriff eine Körperverletzung deſſen, gegen welchen die Handlung begangen iſt, verurſacht worden: Zuchthaus bis zu 10 Jahren, bei mildernden Umſtänden Gefängnis nicht unter 3 Monaten (StGB. §. 118);
  • d) wenn eine der Handlungen von Mehreren gemein - ſchaftlich
    16Vgl. oben §. 61 Note 5.
    16 begangen worden iſt, ſo kann die Strafe (a c) bis um die Hälfte des angedrohten Höchſtbe -412Viertes Buch. II. Delikte gegen die Staatsgewalt ꝛc.trages, die Gefängnisſtrafe jedoch nicht über 5 Jahre erhöht werden (StGB. §. 120).

IV. Die Befreiung von Gefangenen (StGB. §§. 120 122)17Vgl. auch Mil. StGB. §§. 58 Ziff. 11, 79, 80, 144, 159. vorausſetzend, daß der Gefangene (Unter - ſuchungs - wie Strafgefangene, der in civilprozeſſualer wie in polizeilicher Haft Befindliche) ſich bereits thatſächlich in der Gewalt der Obrigkeit befunden hat, nicht erſt in dieſelbe ge - bracht werden ſoll, charakteriſiert ſich durch den Bruch dieſer Gewalt und nicht durch den allerdings auch in ihr ge - legenen Eingriff in die ſtaatliche Rechtspflege, gehört mithin nicht zu den unten §. 103 behandelten Delikten, ſon - dern an jene Stelle, welche auch die Syſtematik des RStGB. ihr angewieſen hat.

1. Die Selbſtbefreiung, regelmäßig ſtraflos, iſt nach dem RStGB. §. 122 nur18Anders Mil. StGB. §§. 79, 80, 159. ſtrafbar als Meuterei:

  • a) wenn die Gefangenen ſich zuſammenrotten
    19Begriff oben S. 331.
    19 und mit vereinten Kräften
    • α) die Anſtaltsbeamten oder die mit der Beaufſich - tigung Beauftragten angreifen, oder
    • β) denſelben Widerſtand leiſten, oder
    • γ) es unternehmen, ſie zu Handlungen oder Unter - laſſungen zu nötigen; oder wenn
  • b) Gefangene ſich zuſammenrotten und mit vereinten Kräften einen gewaltſamen Ausbruch unternehmen.

Strafe: Gefängnis nicht unter 6 Monaten; gegen die - jenigen Meuterer, welche Gewaltthätigkeiten gegen die An - ſtaltsbeamten oder gegen die mit der Baufſichtigung Beauf -413Die ſtrafbaren Aufforderungen. §. 100.tragten verüben, Zuchthaus bis zu 10 Jahren mit fakultativer Polizeiaufſicht.

2. Die vorſätzliche Befreiung eines Gefangenen aus der Gefangenanſtalt oder aus der Gewalt der bewaffneten Macht, des Beamten oder desjenigen, unter deſſen Beauf - ſichtigung, Begleitung oder Bewachung er ſich befindet (StGB. §. 120). Gleichgeſtellt iſt die vorſätzliche Beihülfe zu der, wenn auch an ſich ſtrafloſen Selbſtbefreiung (vgl. oben §. 37 II. 2).

Strafe: Gefängnis bis zu 3 Jahren; Verſuch ſtrafbar.

3. Das vorſätzliche Entweichenlaſſen20Hier bleibt Fahrläſſigkeit ſtraflos. eines Gefangenen oder die vorſätzliche oder fahrläſſige Beförderung ſeiner Be - freiung durch eine mit der Beaufſichtigung oder Begleitung des Gefangenen beauftragte Perſon.

Strafe (StGB. §. 121):

  • a) bei vorſätzlichem Handeln Gefängnis bis zu 3 Jahren;
  • b) bei fahrläſſiger Beförderung der Befreiung Gefängnis bis zu 3 Monaten oder Geldſtrafe bis zu 300 Mark.

Ueber das Amtsdelikt des §. 347 StGB. vgl. oben §. 92 II 5 e.

5.

§. 100. Die ſtrafbaren Aufforderungen.

I. Die öffentlich1Zur Oeffentlichkeit (obenS. 323) muß das weitere Merk - mal vor einer Menſchenmenge hinzutreten. vor einer Menſchenmenge oder durch Verbreitung oder öffentlichen Anſchlag oder öffentliche Aus - ſtellung von Schriften oder anderen Darſtellungen erfolgte414Viertes Buch. II. Delikte gegen die Staatsgewalt ꝛc.Aufforderung zu einem hochverräteriſchen Unter - nehmen (StGB. §. 85). 2Vgl. StGB. §. 102 und oben §. 93 III.

Strafe: Zuchthaus bis zu 10 Jahren oder Feſtungs - haft von gleicher Dauer; bei mildernden Umſtänden Feſtungs - haft von einem Jahre bis zu 5 Jahren.

II. Die auf dem unter I bezeichneten Wege erfolgte Aufforderung zum Ungehorſam gegen Geſetze oder rechtsgültige Verordnungen oder gegen die von der Obrigkeit innerhalb ihrer Zuſtändigkeit getroffenen Anordnungen (StGB. §. 110). 3Vgl. Mil. StGB. §§. 99 bis 102.

Strafe: Geldſtrafe bis zu 600 Mark oder Gefängnis bis zu 2 Jahren.

III. Die auf dieſelbe Weiſe erfolgte Aufforderung zu einer (wenn auch nur landesrechtlich) ſtrafbaren Handlung (StGB. §. 111).

Strafe: Geldſtrafe bis zu 600 Mark oder Gefängnis bis zu einem Jahre; doch darf die Strafe, der Art und dem Maße nach, keine ſchwerere ſein, als die auf die Handlung ſelbſt, zu welcher aufgefordert wurde, angedrohte. Wenn die Aufforderung die ſtrafbare Handlung oder einen ſtrafbaren Verſuch derſelben zur Folge gehabt hat, ſo iſt der Auffor - dernde gleich einem Anſtifter zu beſtrafen. Er iſt da - gegen Anſtifter im techniſchen Sinne des Wortes und nicht nach §. 111, ſondern §. 48 StGB. ſtrafbar, wenn die Merk - male des Anſtiftungsbegriffes (Richtung des Vorſatzes auf Herbeiführung einer beſtimmten, individualiſierten Handlung durch eine beſtimmte Perſon oder durch mehrere ſolche) gegeben ſind; er wird gleich einem Anſtifter nach415Die ſtrafbaren Aufforderungen. §. 100.§. 111 StGB. beſtraft, wenn eines dieſer Merkmale fehlt, wenn alſo z. B. die ausſchließlich auf Einſchüchterung der Regierung berechnete und nur ihr gegenüber ernſt gemeinte Aufforderung die vom Thäter nicht vorhergeſehene und noch weniger beabſichtigte Begehung der ſtrafbaren Handlung durch einen Dritten zur Folge gehabt hat.

IV. Die öffentliche Aufforderung mittels der Preſſe zur Aufbringung der wegen einer ſtrafbaren Hand - lung erkannten Geldſtrafen und Koſten, ſowie die öffentliche Beſcheinigung mittels der Preſſe über den Empfang der zu ſolchen Zwecken gezahlten Beiträge4Vgl. Liszt Preßr. §. 46 III. (Preßgeſetz §. 16). 5Es iſt hier die Aufforderung zu einer nicht einmal immer rechtswidrigen Handlung unter Strafe geſtellt. Deutlicher als bei den übrigen öffentlichen Auf - forderungen tritt hier als ſtraf -begründender Umſtand ihr de - monſtrativer Charakter gegen - über der Staatsgewalt in den Vordergrund.

Strafe: Geldſtrafe bis zu 1000 Mark oder Haft oder Gefängnis bis zu 6 Monaten (Preßgeſetz §. 18 Ziff. 1). Das zufolge ſolcher Aufforderung Empfangene oder der Wert desſelben iſt der Armenkaſſe des Orts der Sammlung für verfallen zu erklären.

V. Neben die öffentlichen Aufforderungen iſt ſeit der Novelle vom 26. Februar 1876 das in StGB. §. 49 a (in dem, dem belgiſchen Geſetze vom 7. Juli 1875 nachgebil - deten, Duchesne-Paragraphen) mit Strafe bedrohte ſelbſtän - dige (nicht als verſuchte Anſtiftung zu konſtruierende) Delikt getreten. 6Vgl. Geyer HR. Auffor - derung mit Lit.StGB. §. 49 a umfaßt:

1. Die Aufforderung eines Anderen zur Begehung eines Verbrechens (im engeren Sinne) oder zur Teilnahme416Viertes Buch. II. Delikte gegen die Staatsgewalt ꝛc.an einem Verbrechen, ſowie die Annahme einer ſolchen Auf - forderung.

2. Das Sich-Erbieten zur Begehung eines Verbrechens oder zur Teilnahme an einem Verbrechen, ſowie die An - nahme eines ſolchen Erbietens.

Es wird jedoch das lediglich mündlich ausgedrückte Auf - fordern oder Erbieten, ſowie die Annahme eines ſolchen nur dann beſtraft, wenn die Aufforderung oder das Erbieten an die Gewährung von Vorteilen irgend welcher Art (nicht not - wendig pekuniärer Natur) geknüpft worden, und dadurch die Ernſtlichkeit desjenigen, der die Initiative ergreift, be - wieſen iſt. 7Daß er ſelbſt einen genau beſtimmten Vorteil gewähren werde, braucht nicht in Ausſichtgeſtellt worden zu ſein (RGR. 2. Juli 1880, R II 153).

Auch abgeſehen von dieſer ausdrücklichen Anordnung des Geſetzes iſt Ernſtlichkeit der Aufforderung und des Er - bietens zur Strafbarkeit notwendig, bei Mangel derſelben auch die Annahme ſtraflos. Aufforderung und Erbieten müſſen der Ausdruck eines (bedingt gefaßten) Entſchluſſes ſein, der durch die Annahme zu einem unbedingten wird. 8Vgl. RGR. 31. März 1880, E I 338, R I 515.

Strafe:

  • a) Wenn das geplante Verbrechen mit dem Tode oder mit lebenslänglichem Zuchthauſe bedroht iſt, Gefängnis nicht unter 3 Monaten;
  • b) wenn es mit einer geringeren Strafe bedroht iſt, Ge - fängnis bis zu 2 Jahren oder Feſtungshaft von gleicher Dauer.

Neben Gefängnis kann auf Verluſt der bürgerlichen Ehren - rechte, ſowie auf Zuläſſigkeit von Polizeiaufſicht erkannt werden.

417Mißachtung der Autorität der Staatsgewalt. §. 101.

6.

§. 101. Mitzachtung der Autorität der Staatsgewalt. 1Nur die inländiſche Staats - gewalt wird von dem Falle in StGB. §. 103 a abgeſehen geſchützt.

I. Die öffentliche wiſſentliche Behauptung oder Verbreitung von erdichteten oder entſtellten That - ſachen,2Thatſachen: vgl. oben §. 73 S. 290. Dagegen RGR. 14. Juli 1880, R II 197. um dadurch Staatseinrichtungen (d. i. dauernde Beſtandteile der Staatsverfaſſung oder Staatsver - waltung,3Z. B. der Bundesrat, die allgemeine Wehrpflicht, das Reichskanzleramt uſw. nicht aber die allgemeinen Rechtsinſtitute der Ehe, des Eigentums uſw. ) oder Anordnungen der Obrigkeit verächtlich zu machen4Maßgebend die Anſchauun - gen unbefangener Kreiſe; vgl. oben §. 80 Note 6. (StGB. §. 131).

Strafe: Geldſtrafe bis zu 600 Mark oder Gefängnis bis zu 2 Jahren.

II. Die unbefugte Ausübung eines öffentlichen Amtes5Begriff des Amtes hier weder nach §. 31 noch nach §. 359 StGB., ſondern nach den Landesgeſetzen zu beſtimmen. oder die Vornahme einer Handlung, die nur kraft eines öffentlichen Amtes vorgenommen werden darf6Vgl. Zimmermann GS. XXX; RGR. 7. Juli 1880, R II 167. (ſoge - nannte Amtsanmaßung ; StGB. §. 132).

Strafe: Gefängnis bis zu einem Jahre oder Geldſtrafe bis zu 300 Mark. 7Vgl. §. 2 des Geſetzes zur Verhinderung der unbefugten Ausübung von Kirchenämtern vom 4. Mai 1874; auch StGB. §. 360 Ziff 8.

III. Die vorſätzliche Vernichtung, Bei-Seite-Schaf - fung oder Beſchädigung von Urkunden, Regiſtern, Aktenvon Liszt, Strafrecht. 27418Viertes Buch. II. Delikte gegen die Staatsgewalt ꝛc.oder anderen Gegenſtänden, welche ſich zur amtlichen Aufbewahrung an einem dazu beſtimmten Orte be - finden, oder welche einem Beamten oder einem Dritten amtlich übergeben worden ſind (StGB. §. 133).

Zu dem Amtsdelikte des §. 348 StGB. (oben §. 92 S. 386) verhält ſich dieſes Vergehen ungefähr ſo, wie Diebſtahl zur Unterſchlagung; §. 133 ſetzt den Bruch eines fremden, §. 348 den Mißbrauch des eigenen Gewahrſams voraus. Derjenige Beamte, der den Gewahrſam hat, kann ſich daher des in §. 133 StGB. enthaltenen Vergehens nicht ſchuldig machen.

Strafe: Gefängnis; wenn die Handlung in gewinn - ſüchtiger Abſicht begangen worden, Gefängnis nicht unter 3 Monaten mit fakultativem Ehrverluſt.

IV. Das böswillige Abreißen, Beſchädigen oder Verunſtalten von öffentlich angeſchlagenen Be - kanntmachungen, Verordnungen, Befehlen oder Anzeigen von Behörden oder Beamten (StGB. §. 134). Böswillig bezeichnet die auf Herbeiführung der Rechtsverletzung gerichtete Abſicht als Motiv der Handlung (oben §. 28 III); dieſe muß erfolgen zu dem Zwecke, um die Mißachtung der Autorität der Staatsgewalt an den Tag zu legen.

Strafe: Geldſtrafe bis zu 300 Mark oder Gefängnis bis zu 6 Monaten.

V. Die böswillige Wegnahme, Zerſtörung oder Beſchädigung von öffentlichen Zeichen der ſtaat - lichen Autorität (Zeichen, durch welche die Thatſache der Herrſchaft der Staatsgewalt öffentlich kenntlich gemacht werden ſoll, wie Grenzpfähle u. dgl. ) oder von Hoheits - zeichen (Symbolen der Staatsgewalt, wie Fahnen,419Mißachtung der Autorität der Staatsgewalt. §. 101.Wappen u. dgl. ) oder die Verübung an beſchimpfendem Unfug an dieſen Gegenſtänden.

Strafe:

  • 1. Wenn gegen die inländiſche Staatsgewalt gerichtet, nach StGB. §. 135 Geldſtrafe bis zu 600 Mark oder Gefängnis bis zu 2 Jahren.
  • 2. Wenn gegen einen nicht zum deutſchen Reiche gehörenden Staat gerichtet, nach §. 103a die gleiche Strafe.

Der unbefugte Gebrauch der Abbildung des kaiſerlichen Wappens, oder der Wappen von Bundesfürſten oder eines Landeswappens iſt in StGB. §. 360 Ziff. 7 mit einer Uebertretungsſtrafe (Geldſtrafe bis 150 Mark oder Haft) bedroht.

VI. Das vorſätzliche Erbrechen, Ablöſen oder Beſchädigen eines amtlichen Siegels, welches von einer Behörde oder einem Beamten angelegt iſt, um Sachen zu verſchließen, zu bezeichnen oder in Beſchlag zu nehmen, oder die Aufhebung des durch ein ſolches Siegel bewirkten amtlichen Verſchluſſes (StGB. §. 136). 8Vgl. Vereinszollgeſetz vom 1. Juli 1869 §§. 144, 151; Salzſteuergeſetz vom 12. Oktober 1867 §. 15.

Strafe: Gefängnis bis zu 6 Monaten.

VII. Arreſtbruch. Wer Sachen (nicht Forderungen), welche durch die zuſtändigen Behörden oder Beamten ge - pfändet oder in Beſchlag genommen worden ſind (Subhaſta - tion, Sequeſtration, Obſervation,9RGR. 2. April 1880, E I 287. Arreſt, Veräußerungs - verbot uſw. gehören hieher) vorſätzlich, d. h. in Kenntnis der amtlichen Beſchlagnahme,10Vgl. RGR. 16. April 1880, E I 368, R I 610. bei Seite ſchafft, zerſtört420Viertes Buch. III. Delikte geg. den Gang der Staatsverw.oder in anderer Weiſe der Verſtrickung ganz oder teilweiſe entzieht,11Thäter kann ſowol der Eigentümer oder der Gepfän - dete als auch ein Dritter, ja ſelbſt der Gläubiger ſein, zu deſſen Gunſten die Beſchlag - nahme erfolgte (RGR. 1. Mai 1880, R I 705). Vgl. noch RGR. 16. Sept. 1880, R II 213. wird nach StGB. §. 137 mit Gefängnis bis zu einem Jahre beſtraft.

III. Strafbare Handlungen gegen den Gang der Staatsverwaltung.

1.

§. 102. Gegen die Verwaltung überhaupt: die falſche Ausſage. 1Lit. bei Meyer S. 578 Note 1; dazu Jagemann GS. XXIX.

I. Allgemeines.

1. Nach Reichsrecht iſt die falſche Ausſage nicht an ſich und ohne weitere Vorausſetzung, ſondern nur dann ſtrafbar, wenn ſie

  • 1. durch Eid oder eine andere, dieſem gleichgeſtellte oder angereihte Beteuerungsform bekräftigt
    2Daß die landesrechtlichen Strafdrohungen gegen die un - beeidete falſche Ausſage beſeitigt ſind, wurde bereits oben §. 11 Note 4 bemerkt.
    2 und
  • 2. vor einer zur Abnahme dieſer Beteuerungsformen zu - ſtändigen Behörde abgelegt wurde.

Beide Momente müſſen zu der an ſich normwidrigen falſchen Ausſage hinzutreten, ohne daß dieſe dadurch auf - hören würde falſche Ausſage zu ſein. Durch das Erfordernis der Bekräftigung wird das Weſen des Deliktes nicht ver -421Gegen die Verwaltung überhaupt. §. 102.ändert; wird der Mißbrauch der Beteuerungsform, der nur Strafbarkeitsmerkmal iſt, nicht zum Normwidrigkeitsmerkmal geſtempelt. Und andererſeits iſt damit zugleich nachgewieſen, daß die inkorrekt ſogenannten Eidesdelikte ihren Platz im Syſteme des Strafrechtes nicht neben Urkunden - und Münz - fälſchung haben können; denn während dieſe ſtrafbar ſind ohne jede weitere Rückſichtnahme auf ihre Richtung gegen ein beſtimmtes Rechtsgut, iſt der Mißbrauch des Eides und der verwandten Beteuerungsformen nur ſtrafbar, wenn hinzu - tretend zu einer falſchen Ausſage vor Gericht oder vor einer anderen öffentlichen Behörde. Dieſe falſche bekräftigte Aus - ſage aber hat unverkennbar die Richtung gegen ein be - ſtimmtes Rechtsgut: ſie gefährdet die Sicherheit nicht bloß der Rechtspflege, ſondern des Ganges der Staatsverwaltung überhaupt, ſoweit dieſe ihren Entſcheidungen die Ausſagen der Staatsbürger zu Grunde legt. Selbſt wenn alſo die publica fides ein Rechtsgut wäre thatſächlich iſt ſie ein Wort, hinter dem ein Begriff nicht ſteckt, wäre die falſche Ausſage nicht als unmittelbar gegen ſie gerichtet aufzu - faſſen. 3Ich habe keine Veranlaſſung, von dieſer ſchon 1877 in meiner falſchen Ausſage vertretenen Anſicht abzugehen.

2. Unter den eben beſprochenen, ſofort näher zu erläu - ternden Vorausſetzungen iſt die falſche beeidete oder bekräf - tigte Ausſage ſtrafbar. Sind ſie gegeben, ſo darf weder die Rechtsgültigkeit der Beteuerungsform,4Ebenſo RGR. 23. Februar 1880, E I 217. noch die Beach - tung der für den Gebrauch derſelben vorgezeichneten Forma - litäten, noch auch die Erheblichkeit der einzelnen Ausſage5Auch falſche Beantwortung der Generalfragen kann ſtrafbar machen, wenn ſich die Beteue -422Viertes Buch. III. Delikte geg. den Gang der Staatsverw.als Bedingung der Strafbarkeit gefordert werden. Selbſt die Nichtzuſtändigkeit der Behörde im Einzelfalle hindert die Strafbarkeit der falſchen Ausſage nicht,6A. A. RGR. 25. Juni 1880, E II 123, R II 110. wenn die Behörde nur zur Entgegennahme von Verſicherungen der fraglichen Art im allgemeinen berechtigt war.

II. Die Arten.

A. Vorſätzliche falſche Ausſage.

1. Der eigentliche Meineid.

  • a) In eigener Sache, als zugeſchobener, zurückgeſcho - bener oder auferlegter Eid im Civilprozeß (StGB. §. 153). Strafe: Zuchthaus bis zu 10 Jahren.
  • b) In fremder Sache, als eidlich bekräftigtes falſches Zeugnis oder falſches Gutachten, vor einer zur Ab - nahme von Eiden zuſtändigen Behörde abgelegt (StGB. §. 154), mag die Beeidigung der Ausſage vorangehen oder ihr nachfolgen.

Strafe: Zuchthaus bis zu 10 Jahren; wenn die falſche Ausſage in einer Strafſache zum Nachteile eines Angeſchul - digten abgegeben und dieſer zum Tode, zu Zuchthaus oder zu einer anderen mehr als 5 Jahre betragenden Freiheits - ſtrafe verurteilt worden iſt, Zuchthaus nicht unter 3 Jahren.

2. Gleichgeſtellte Fälle (StGB. §. 155).

  • a) Falſche Ausſage des Mitgliedes einer Religionsgeſell - ſchaft, welcher das Geſetz den Gebrauch gewiſſer Be - teuerungsformeln an Stelle des Eides geſtattet, unter der Beteuerungsformel ſeiner Geſellſchaft;

5rung auch auf dieſe erſtreckte; in der Entſcheidung, nicht aber in der Begründung richtig RGR. 5. Mai 1880, E II 45, R I 732.

423Gegen die Verwaltung überhaupt. §. 102.
  • b) falſche Ausſage einer Partei, eines Zeugen oder Sach - verſtändigen unter Berufung auf den bereits früher in derſelben Angelegenheit geleiſteten Eid;
  • c) falſche Ausſage eines Sachverſtändigen, welcher als ſolcher ein - für allemal vereidet iſt, unter Berufung auf dieſen Eid;
  • d) falſche amtliche Ausſage eines Beamten unter Be - rufung auf ſeinen Dienſteid.

Strafe: wie unter 1 a und b.

3. Falſche Ausſage vor einer zur Abnahme von Verſiche - rungen an Eidesſtatt zuſtändigen Behörde unter Verſiche - rung an Eidesſtatt oder unter Berufung auf eine ſolche (StGB. §. 156).

Strafe: Gefängnis von einem Monat bis zu 3 Jahren.

B. Fahrläſſige Begehung einer der unter 1 bis 3 ge - nannten Handlungen (StGB. §. 163). Notwendig iſt hier: a) objektive Unwahrheit der Ausſage; b) Unkenntnis des Ausſagenden über dieſe Unwahrheit; c) die Unkenntnis muß durch Fahrläſſigkeit verſchuldet, Einſicht bei pflichtgemäßer Sorgfalt möglich geweſen ſein. 7Beiſpiele in RGR. 13. No - vember 1879, E I 99, R I 61;21. Juni 1880, R II 89; 24. Juni 1880, R II 104.

Strafe: Gefängnis bis zu einem Jahre.

III. Während im allgemeinen die erfolglos gebliebene Anſtiftung ſtraflos bleibt (vgl. oben §. 37 I 2 a), bedroht §. 159 StGB. die unternommene Verleitung zur falſchen Ausſage als ſelbſtändiges Delikt, an welchem mithin ſtrafbare Teilnahme möglich iſt (oben §. 37 I 2 c und II 2), mit Strafe, und zwar:

424Viertes Buch. III. Delikte geg. den Gang der Staatsverw.
  • 1. wenn es ſich um eigentlichen Meineid oder um einen gleichgeſtellten Fall handelt (oben II A 1 und 2 mit Zuchthaus bis zu 5 Jahren;
  • 2. wenn dagegen eine falſche Verſicherung an Eides - ſtatt (oben II A 3) in Frage ſteht, mit Gefängnis bis zu einem Jahre.

IV. Die Verleitung zur falſchen Ausſage (Vorſatz vorhanden beim Verleitenden, fehlend beim Schwörenden) iſt in der Reichsgeſetzgebung, mit Durchbrechung der allgemeinen Regeln über fingierte Thäterſchaft (vgl. oben §. 36 I) eben - falls zum ſelbſtändigen Delikte gemacht (StGB. §. 160), und damit ein theoretiſch wie praktiſch gleich verkehrtes Privilegium zu Gunſten der Herbeiführung einer falſchen Ausſage geſchaffen worden.

Strafe:

  • 1. bei Verleitung zum Falſcheid (oben II A 1 und 2) Gefängnis bis zu 2 Jahren mit fakultativem Verluſt der bürgerlichen Ehrenrechte;
  • 2. bei Verleitung zur falſchen Verſicherung an Eidesſtatt (oben II A 3) Gefängnis bis zu 6 Monaten.

Der Verſuch iſt ſtrafbar.

V. Strafmilderungs - und Strafaufhebungs - gründe.

1. Bei vorſätzlicher falſcher Ausſage des Zeugen oder Sachverſtändigen (oben II A 1 b, 2 und 3) iſt die an ſich verwirkte Strafe auf die Hälfte bis ein Viertel zu ermäßigen (StGB. §. 157), wobei Zuchthaus unter einem Jahre in Gefängnis umgerechnet werden muß (vgl. oben §. 55 I 2; §. 46 II 3), wenn

  • a) die Angabe der Wahrheit gegen den Ausſagenden eine425Gegen die Verwaltung überhaupt. §. 102.Verfolgung wegen eines Verbrechens oder Vergehens nach ſich ziehen konnte; oder
  • b) der Ausſagende die falſche Ausſage zu Gunſten einer Perſon, rückſichtlich welcher er die Ausſage ablehnen durfte, erſtattet hat, ohne über ſein Recht, die Aus - ſage ablehnen zu dürfen, belehrt worden zu ſein.

2. Die gleiche Strafermäßigung tritt ein (StGB. §. 158), wenn derjenige, welcher ſich einer vorſätzlichen falſchen Aus - ſage (oben II A 1 3, auch in eigener Sache) ſchuldig gemacht hat, bevor eine Anzeige gegen ihn erfolgt oder eine Unter - ſuchung gegen ihn eingeleitet und bevor ein Rechtsnachteil für einen Anderen aus der falſchen Ausſage entſtanden iſt, dieſe bei derjenigen Behörde, bei welcher er ſie abgegeben hat, widerruft.

3. Bei der fahrläſſigen falſchen Ausſage (oben II B) iſt dem rechtzeitigen Widerruf unter den zu 2 angegebenen Vorausſetzungen die Wirkung eines Strafaufhebungs - grundes beigelegt (StGB. §. 163 Abſ. 2).

VI. Bei jeder Verurteilung wegen vorſätzlicher falſcher Ausſage (oben II A 1 3, nicht aber III oder IV)8Jetzt auch vom RGR. 10. Juni 1880, E II 93, R II 46anerkannt, und damit wohl de - finitiv entſchieden. iſt, ſo - weit nicht Strafmilderung aus den oben V 1 und 2 angeführten Gründen eintritt, auf Verluſt der bürgerlichen Ehrenrechte (obligatoriſch, vgl. oben §. 51 I S. 202) und außerdem auf die dauernde Unfähigkeit des Verurteilten, als Zeuge oder Sachverſtändiger eidlich vernommen zu werden, zu erkennen (StGB. §. 161 Abſ. 1).

In den Fällen der §§. 156 159 StGB. (oben II A 3; V 1 und 2, III) kann neben Gefängnis auf Ehrverluſt er - kannt werden (StGB. §. 161 Abſ. 2).

426Viertes Buch. III. Delikte geg. den Gang der Staatsverw.

2.

§. 103. Strafbare Handlungen gegen die Rechtspflege.

I. Der Eidesbruch, d. i. das vorſätzliche Zuwider - handeln gegen eine durch eidliches Angelöbnis vor Gericht beſtellte Sicherheit oder gegen das in einem Offenbarungs - eide gegebene Verſprechen (StGB. §. 162).

Strafe: Gefängnis bis zu 2 Jahren.

II. Die mittels der Preſſe erfolgende Veröffentlichung der Anklageſchrift oder anderer amtlicher Schrift - ſtücke eines Strafprozeſſes, bevor dieſelben in öffent - licher Sitzung kundgegeben worden ſind oder das Verfahren ſein Ende erreicht hat (Preßgeſetz §. 17). 1Vgl. Liszt Preßr. §. 46 IV.

Strafe: Geldſtrafe bis zu 1000 Mark oder Haft oder Gefängnis bis zu 6 Monaten (Preßgeſetz §. 18 Ziff. 1).

III. Verletzungen der Dingpflicht (der Pflicht, Recht zu ſprechen und des Rechtes zu helfen).

1. Das Vorſchützen unwahrer Thatſachen als Entſchuldigung durch denjenigen, der als Zeuge, Geſchwo - rener oder Schöffe berufen oder als Sachverſtändiger zum Erſcheinen geſetzlich verpflichtet iſt (StGB. §. 138).

Strafe: Gefängnis bis zu 2 Monaten.

2. Einfache Nichterfüllung der Dingpflicht. 2Ich führe der Vollſtändig - keit wegen alle hieher gehörigen Fälle an, wenn auch Ger. -Verf. - Geſ. §. 56 ausdrücklich von einer Ordnungsſtrafe (oben §. 43VII) ſpricht und auch in den übrigen Fällen die Auffaſſung des angedrohten Uebels als einer Ordnungsſtrafe eine gewiſſe Be - rechtigung hat.

  • a) Durch Schöffen, Geſchworene, Vertrauens -427Delikte gegen die Rechtspflege. §. 103.männer des zur Wahl derſelben berufenen Aus - ſchuſſes (Ger. -Verf.-Geſ. §§. 56 und 96). Ordnungs - ſtrafe von 5 1000 Mark.
  • b) Nichterſcheinen des ordnungsmäßig geladenen Zeugen (StPO. §. 50, CPO. §. 345). Geldſtrafe bis zu 300 Mark, bei Uneinbringlichkeit derſelben Haft bis zu 6 Wochen; bei wiederholtem Ausbleiben kann die Strafe noch einmal erkannt werden.
  • c) Verweigerung der Zeugenausſage oder der Eidesleiſtung durch den Zeugen (StPO. §. 69, CPO. §. 355). Strafe wie zu b, aber ohne die Zu - läſſigkeit abermaliger Verhängung derſelben.
  • d) Nichterſcheinen des Sachverſtändigen oder Verweigerung der Erſtattung des Gutachtens (StPO. §. 77, CPO. §. 374). Geldſtrafe bis zu 300 Mark, bei wiederholtem Ungehorſam bis zu 600 Mark.
    3Vgl. §. 38 Poſtgeſetz vom 28. Oktober 1871, welches die Vorladung vor die Poſtbehörde der gerichtlichen Vorladung gleich - ſtellt.
    3

IV. Unterlaſſung der rechtzeitigen Anzeige von dem Vorhaben gewiſſer Verbrechen4Vgl. Wolff GA. XXVII. (eines Hoch - verrates, Landesverrates, Münzverbrechens, Mordes, Raubes, Menſchenraubes, gemeingefährlichen Verbrechens) bei der Be - hörde oder bei der durch das Verbrechen bedrohten Perſon, vorausgeſetzt, a) daß der Unterlaſſende zu einer Zeit, in welcher die Verhütung des Verbrechens möglich iſt, von dem Vorhaben glaubhafte Kenntnis erhielt, und b) daß das Ver - brechen oder ein ſtrafbarer Verſuch desſelben begangen worden iſt (StGB. §. 139). 5Vgl. auch Mil. StGB. §§. 60 (Nichtanzeige als Mit - thäterſchaft), 77, 104.Die Verpflichtung zur Anzeige obliegt428Viertes Buch. III. Delikte geg. den Gang der Staatsverw.auch, trotz §. 257 Abſ. 2 StGB. den Angehörigen des Thäters. 6RGR. 15. Mai 1880, E II 57, R I 785.

Strafe: Gefängnis.

V. Die falſche Anſchuldigung,7Lit. bei Meyer S. 542 Note 1. d. i. die Anzeige bei einer Behörde, durch welche der Anzeigende wider beſſeres Wiſſen Jemanden der Begehung einer ſtrafbaren Handlung oder der Verletzung einer Amtspflicht beſchuldigt (StGB. §. 164).

Die Anzeige ſetzt voraus, daß ein Straf - oder Diszi - plinarverfahren wegen der angeſchuldeten Handlung gegen den Beſchuldigten noch nicht eingeleitet iſt, und unterſcheidet ſich eben dadurch von dem falſchen Zeugniſſe, das in einem be - reits eingeleiteten Verfahren zu Ungunſten des Angeſchuldigten oder Angeklagten abgelegt wird; ſie muß das liegt in dem Worte Anzeige mit dem Bewußtſein erfolgen, daß ſie die Einleitung des Verfahrens zur Folge haben werde. In der Ueberreichung der Privatklage kann eine Anzeige im Sinne des Geſetzes gelegen ſein. 8RGR. 7. November 1879, R I 44.

Anſchuldigung einer ſtrafbaren Handlung liegt auch dann vor, wenn der ſtaatliche Strafanſpruch infolge des Eintrittes eines Strafaufhebungsgrundes untergegangen iſt;9Bezüglich der Verjährung ausgeſprochen von RGR. 25. Fe - bruar 1880, E I 229, R I 393. ſie liegt nicht vor, wenn der Strafanſpruch wegen des Mangels einer Bedingung der Strafbarkeit (vgl. oben §. 30 II) gar nicht zur Entſtehung gelangte.

Strafe: Gefängnis nicht unter einem Monat mit fakul - tativem Ehrverluſt. Als Privatgenugthuung (oben §. 43429Delikte gegen die Rechtspflege. §. 103.II 2) iſt im Falle der Verurteilung des Anzeigers (StGB. §. 165)

  • 1. dem Verletzten die Befugnis zuzuſprechen, das Schuld - urteil auf Koſten des Schuldigen öffentlich bekannt zu machen (die Art der Bekanntmachung, ſowie die Friſt zu derſelben iſt in dem Urteile zu beſtimmen);
  • 2. dem Verletzten auf Koſten des Schuldigen eine Aus - fertigung des Urteils zu erteilen.

So lange ein in Folge der gemachten Anzeige einge - leitetes Verfahren anhängig iſt, ſoll mit dem Verfahren und mit der Entſcheidung über die falſche Anſchuldigung innege - halten werden (§. 164 2. Abſ. StGB.).

VI. Begünſtigung und Helerei. 10Lit. bei Meyer S. 236 Note 1; dazu Gretener Be - günſtigung und Hehlerei 1879; Geyer HR. Begünſtigung .Begünſti - gung (StGB. §. 257)11Vgl. auch Vereinszollgeſetz vom 1. Juli 1869 §. 149. iſt die wiſſentliche, nach Begehung eines Verbrechens oder Vergehens dem Thäter oder Teil - nehmer gegenüber zu dem Zwecke erfolgende Beiſtandleiſtung, um entweder

  • a) den Schuldigen der Beſtrafung zu entziehen
    12Z. B. Verbüßung der Freiheitsſtrafe oder Zahlung der Geldſtrafe unter dem Namen eines Anderen, falſche Angaben in einem Zeugniſſe oder Gna - dengeſuche uſw.
    12 (perſön - liche Begünſtigung), oder
  • b) demſelben die Vorteile des Verbrechens oder Vergehens zu ſichern (ſachliche Begünſtigung).

Die Begünſtigung erſcheint in ihren beiden Formen als eine Hemmung der ſtaatlichen Rechtspflege; ſie hindert, mag ſie als perſönliche der ſtrafenden Gerechtigkeit in die Arme fallen, mag ſie als ſachliche die civilrechtliche Ausgleichung430Viertes Buch. III. Delikte geg. den Gang der Staatsverw.unmöglich zu machen trachten, den Eintritt der Rechtsfolgen, welche der Staat an die Begehung des Verbrechens oder Vergehens geknüpft hat. Dieſer Charakter beſtimmt ihre Stellung im Syſteme des beſonderen Teils; die Begünſtigung iſt nicht Teilnahme an dem begangenen Delikte, weil nicht Setzen einer Bedingung zu dem eingetretenen Erfolge (vgl. oben §. 35 IV); ſie hat aber auch mit der Partiererei (vgl. oben §. 77), die reines Vermögensdelikt iſt, prinzipiell nichts gemein. Poſitiv rechtlich iſt ſie freilich mit dieſer durch den verunglückten Mittelbegriff der Hehlerei in Verbindung gebracht.

Die Begünſtigung ſetzt die Begehung eines Verbrechens oder Vergehens voraus, und da ſie nur als vorſätzlich be - gangene ſtrafbar iſt, die Kenntnis dieſes Umſtandes auf Seiten des Thäters. 13Dagegen die herrſchende Anſicht.

Iſt die Hauptthat Antragsdelikt, ſo kann auch die Be - günſtigung nur auf Antrag verfolgt werden; arg. StGB. §§. 63 und 247 Abſ. 2 und 4. 14Vgl. übrigens noch das oben §. 77 Geſagte.

Strafe: Geldſtrafe bis zu 600 Mark oder Gefängnis bis zu einem Jahre; wenn der Thäter den Beiſtand ſeines Vorteils wegen leiſtet, Gefängnis; doch darf die Strafe, der Art und dem Maße nach, keine ſchwerere ſein, als die auf die Handlung ſelbſt angedrohte.

Die Begünſtigung bleibt ſtraflos (ſubjektiver Strafaus - ſchließungsgrund in dem oben §. 30 III 3 beſprochenen Sinne), wenn ſie dem Thäter oder Teilnehmer von einem Angehörigen gewährt worden iſt, um ihn der Beſtrafung zu entziehen (StGB. §. 257 Abſ. 2).

431Delikte gegen die Rechtspflege. §. 103.

Die Begünſtigung iſt als Beihülfe zu beſtrafen, wenn ſie vor Begehung der That zugeſagt worden iſt. Dieſe Be - ſtimmung leidet auch auf Angehörige Anwendung (StGB. §. 257 Abſ. 3). Die Bedeutung dieſer Anordnung wird vielfach mißverſtanden. Sie erweitert nicht den Begriff der Beihülfe und verengert nicht den Begriff der Begünſtigung. Leiſtung des ſchon vorher zugeſagten Beiſtandes wäre Beihülfe und Begünſtigung in realer, unter Umſtänden in idealer Konkurrenz; dieſe Konſequenz weiſt §. 257 Abſ. 3 zurück: nicht Begünſtigung und Beihülfe, ſondern nur Beihülfe iſt anzunehmen. Darum ſagt das Geſetz nicht: Die Be - günſtigung iſt Beihülfe, ſondern: ſie iſt als Beihülfe zu beſtrafen. 15Die Analogie mit dem oben §. 35 V beſprochenen Rechtsſatze liegt auf der Hand.

2. Hehlerei (StGB. §. 258): Begünſtigung (perſön - liche oder ſachliche) um des eigenen Vorteils16Nicht notwendig Vermö - gensvorteil. willen, wenn mit Bezug auf gewiſſe Eigentumsdelikte (Dieb - ſtahl, Unterſchlagung, Raub, räuberiſchen Diebſtahl, räuberiſche Erpreſſung) begangen.

Strafe:

  • a) wenn der Begünſtigte einen einfachen Diebſtahl oder eine Unterſchlagung begangen hat, Gefängnis;
  • b) wenn er einen ſchweren Diebſtahl, einen Raub oder ein dem Raube gleich zu beſtrafendes Verbrechen be - gangen hat, Zuchthaus bis zu 5 Jahren.

Sind mildernde Umſtände vorhanden, ſo tritt Gefängnis nicht unter 3 Monaten ein.

Die Hehlerei bleibt ſtrafbar, auch wenn der Hehler ein Angehöriger des Begünſtigten iſt.

432Viertes Buch. III. Delikte geg. den Gang der Staatsverw.

In Bezug auf die gewerbs - oder gewohnheitsmäßige Hehlerei (StGB. §. 260), die Hehlerei im zweiten Rückfalle (StGB. §. 261), die Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte und die Stellung unter Polizeiaufſicht iſt das oben §. 77 von der Partiererei Geſagte auch auf die eigentliche Hehlerei anzuwenden.

3.

§. 104. Strafbare Handlungen gegen die Verwaltung des Reichskriegsweſens. 1Vgl. Laband Staatsrecht III; Zorn Staatsrecht I.

I. Die Aufforderung oder Anreizung (StGB. §. 112):2Vgl. Mil. StGB. §. 99 ff.

  • 1. einer Perſon des Soldatenſtandes,
    3Wehrgeſetz vom 9. Novem -ber 1867 §§. 6, 7, 15; Mil. - StGB. §§. 4 6.
    3 ſei es des deutſchen Heeres, ſei es der kaiſerlichen Marine, zum Ungehorſam gegen Befehle des Oberen;
  • 2. einer Perſon des Beurlaubtenſtandes
    4Wehrgeſetz §. 15; Militär - geſetz vom 2. Mai 1874 §. 56.
    4 zum Un - gehorſam gegenüber der Einberufung zum Dienſte.

Strafe: Gefängnis bis zu 2 Jahren.

II. Die Falſchwerbung (StGB. §. 141), d. i. die Anwerbung eines Deutſchen zum Militärdienſte einer aus - ländiſchen Macht, oder die Zuführung an die Werber einer ſolchen.

Strafe: Gefängnis von 3 Monaten bis zu 3 Jahren; Verſuch ſtrafbar.

III. Die vorſätzliche Verleitung eines deutſchen Sol - daten zur Deſertion oder die Beförderung derſelben433Delikte geg. die Verwaltung des Reichskriegsweſens. §. 104.(StGB. §. 141). Deſertion iſt nach Mil. StGB. §. 69 die unerlaubte Entfernung in der Abſicht, ſich der geſetzlichen oder übernommenen Verpflichtung zum Dienſte dauernd zu entziehen.

Beförderung der Deſertion (Beihülfe und nicht Begünſti - gung) iſt nur möglich, ſo lange dieſe ſelbſt nicht als voll - endetes Delikt vorliegt, ſo lange alſo der Flüchtling nicht die von ihm beabſichtigte Flucht von dem Dienſtorte an einen anderen Ort vollendet hat. 5RGR. 31. März 1880, R I 511.

Strafe: Gefängnis von 3 Monaten bis zu 3 Jahren; Verſuch ſtrafbar.

IV. Die vorſätzliche Untauglichmachung zur Erfüllung der Wehrpflicht; mag ſie von dem Wehrpflichtigen an ſich ſelbſt durch Selbſtverſtümmelung oder auf andere Weiſe, mag ſie durch einen Dritten an dem Wehrpflichtigen auf deſſen Verlangen begangen ſein (StGB. §. 142). In dem letzt - erwähnten Falle erſcheinen der Wehrpflichtige wie der Un - tauglichmachende als Thäter (nicht als Mitthäter); mit an - deren Worten: es nimmt das Geſetz hier ausnahmsweiſe (vgl. oben §. 35 I) Unterbrechung des Kauſalzuſammen - hanges nicht an, obwohl der als Zwiſchenurſache handelnde Dritte das Bewußtſein von der Kauſalität ſeines Thuns hat.

Strafe: Gefängnis nicht unter einem Jahre mit fakul - tativem Ehrverluſt.

V. Die Anwendung von auf Täuſchung berech - neten Mitteln, in der Abſicht ſich der Erfüllung der Wehr - pflicht ganz oder teilweiſe zu entziehen (StGB. §. 143).

Strafe: Gefängnis mit fakultativem Ehrverluſt.

Thäterſchaft und Teilnahme (mit Einſchluß der Beihülfe) von Liszt, Strafrecht. 28434Viertes Buch. III. Delikte geg. den Gang der Staatsverw.ſind hier ausnahmsweiſe in der Beſtrafung einander gleich - geſtellt (vgl. oben §. 37 II 4).

VI. Verletzung der Wehrpflicht durch Aus - wanderung.

1. Auswanderung eines Wehrpflichtigen im Widerſpruche mit einer vom Kaiſer für die Zeit eines Krieges oder einer Kriegsgefahr erlaſſenen und öffentlich bekannt gemachten be - ſonderen Anordnung (StGB. §. 140 Ziff. 3).

Strafe: Gefängnis bis zu 2 Jahren mit fakultativer Geldſtrafe bis zu 3000 Mark. Verſuch ſtrafbar.

2. Verlaſſen des Bundesgebietes ohne Erlaubnis durch einen Wehrpflichtigen in der Abſicht (gleich Motiv) ſich dem Eintritte in den Dienſt des ſtehenden Heeres oder der Flotte zu entziehen; oder das Verbleiben außerhalb des Bundesgebietes nach erreichtem militärpflichtigen Alter in gleicher Abſicht (StGB. §. 140 Ziff. 1). Strafe: Geld - ſtrafe von 150 bis 3000 Mark oder Gefängnis von einem Monate bis zu einem Jahre; Verſuch ſtrafbar.

3. Auswanderung eines Offiziers oder im Offiziersrange ſtehenden Arztes des Beurlaubtenſtandes ohne Erlaubnis (StGB. §. 140 Ziff. 2; wiederholt im RMil. G. vom 2. Mai 1874 §. 60 Ziff. 2). Strafe: Geldſtrafe bis zu 3000 Mark oder Haft oder Gefängnis bis zu 6 Monaten. Verſuch ſtrafbar.

In allen drei Fällen kann das Vermögen des Ange - ſchuldigten, inſoweit als es nach dem Ermeſſen des Richters zur Deckung der den Angeſchuldigten möglicherweiſe treffenden höchſten Geldſtrafe und der Koſten des Verfahrens erforderlich iſt, mit Beſchlag belegt werden (StGB. 140 Abſ. 3).

  • 4. a) Auswanderung eines beurlaubten Reſerviſten oder Wehrmannes der Land - oder Seewehr ohne Erlaubnis;
435Delikte gegen das Geld - u. Banknotenweſen. §. 105.
  • b) eines Erſatzreſerviſten I. Klaſſe ohne vorhergehende An - zeige an die Militärbehörde (StGB. §. 310 Ziff. 3; vgl. mit RMil. G. vom 2. Mai 1874 §. 69 Ziff. 8).

Strafe: Geldſtrafe bis zu 150 Mark oder Haft. 6Ueber das Prozeßverfahren in den Fällen 1 4 vgl. StPO. §§. 470 476.7Vgl. noch die in RMil. Geſ. vom 2. Mai 1874 §§. 33 und 69 Ziff. 6 enthaltenen Uebertretungen.

VII. Uebertretung der auf Grund des Geſetzes vom 13. Juni 1873 über die Kriegsleiſtungen hinſichtlich der Anmeldung und Stellung der Pferde zur Vormuſterung, Muſterung oder Aushebung getroffenen Anordnungen (§. 27 des Geſetzes). Strafe: Geldſtrafe bis zu 150 Mark.

VIII. Uebertretungen des Geſetzes vom 21. Dezember 1871, betreffend die Beſchränkungen des Grundeigentums in der Umgebung von Feſtungen (Feſtungsrayonsgeſetz §. 32). Strafe: Geldbuße bis 15 bez. 150 Mark.

4.

§. 105. Strafbare Handlungen gegen die ſtaatliche Ueber - wachung des Geld - und Banknotenumlaufes. 1Vgl. R. Verf. Art. 4 Ziff. 3 und 4.

I. Nach Art. 13 des Münzgeſetzes vom 9. Juli 1873 iſt der Bundesrat befugt, den Wert zu beſtimmen, über welchen hinaus fremde Gold - und Silbermünzen nicht in Zahlung angeboten und gegeben werden dürfen, ſowie den Umlauf fremder Münzen gänzlich zu unterſagen.

Gewohnheits - oder gewerbsmäßige (vgl. oben §. 39 II 3) Zuwiderhandlungen gegen die vom Bundesrate nach dieſer Richtung hin getroffenen Anordnungen werden mit Geldſtrafe bis zu 150 Mark oder mit Haft beſtraft.

436Viertes Buch. III. Delikte geg. den Gang der Staatsverw.

II. Uebertretungen des Reichsbankgeſetzes vom 14. März 1875.

1. Die unbefugte2Hieher gehört auch die Aus - gabe von Banknoten, die aufeinen Betrag unter 100 Mark lauten. Ausgabe von Banknoten oder ſonſtigen auf den Inhaber lautenden unverzinslichen Schuld - verſchreibungen (§. 55). Strafe: Geldſtrafe, welche dem Zehnfachen des Betrages der ausgegebenen Wertzeichen gleich kommt, mindeſtens aber 5000 Mark beträgt.

2. Nach §. 43 des Geſetzes dürfen Noten einer Bank, die ſich bei Erlaß des Geſetzes im Beſitze der Befugnis zur Notenausgabe befand, außerhalb desjenigen Staates, welcher ihnen dieſe Befugnis erteilt hat, zu Zahlungen nicht gebraucht werden. Der Umtauſch ſolcher Noten gegen andere Noten, Papiergeld oder Münzen unterliegt dieſem Verbote nicht. Zuwiderhandlungen werden nach §. 56 mit Geldſtrafe bis zu 150 Mark beſtraft.

3. Ausländiſche Banknoten oder ſonſtige auf den Inhaber lautende unverzinsliche Schuldverſchreibungen aus - ländiſcher Korporationen, Geſellſchaften oder Privaten dürfen, wenn ſie ausſchließlich oder neben anderen Wertbeſtim - mungen in Reichswährung oder in einer deutſchen Landeswährung ausgeſtellt ſind, innerhalb des Reichs - gebietes zu Zahlungen nicht gebraucht werden (§. 11). Die Verletzung dieſer Anordnung wird (§. 57) mit Geldſtrafe von 50 bis zu 5000 Mark, bei gewerbsmäßiger Verwendung (oben §. 39 II 3) nebenbei mit Gefängnis bis zu einem Jahre beſtraft. Verſuch ſtrafbar.

4. Den Notenbanken iſt nicht geſtattet (§. 7):

  • a) Wechſel zu acceptieren;
437Delikte gegen das Geld - u. Banknotenweſen. §. 105.
  • b) Waaren oder kurshabende Papiere für eigene oder für fremde Rechnung auf Zeit zu kaufen oder auf Zeit zu verkaufen, oder für die Erfüllung ſolcher Kaufs - oder Verkaufsgeſchäfte Bürgſchaft zu übernehmen.

Die Mitglieder des Vorſtandes, welche dieſer Beſtimmung zuwiderhandeln, werden (§. 58) mit Geldſtrafe bis zu 5000 Mark beſtraft.

5. Banken, welche bei Erlaß des Geſetzes ſich im Be - ſitze der Befugnis zur Notenausgabe befanden, dürfen (§. 42) außerhalb desjenigen Staates, welcher ihnen dieſe Be - fugnis erteilt hat, Bankgeſchäfte durch Zweiganſtalten weder betreiben, noch durch Agenten für ihre Rechnung betreiben laſſen, noch als Geſellſchafter an Bank - häuſern ſich beteiligen.

Die Uebertretung dieſer Anordnung wird (§. 58) an den Vorſtehern der Zweiganſtalt, an den Agenten und Geſell - ſchaftern der Bank und an den Mitgliedern des Bankvor - ſtandes mit Geldſtrafe bis zu 5000 Mark beſtraft.

6. Wiſſentlich unwahre Darſtellung oder Ver - ſchleierung des Standes der Bankverhältniſſe in den (durch §. 8) vorgeſchriebenen Veröffentlichungen. Strafe (gegen die Mitglieder des Vorſtandes): Gefängnis bis zu 3 Monaten (§. 59 Ziff. 1).

7. Wenn die Bank mehr Noten ausgiebt als ſie auszugeben befugt iſt; oder wenn eine Korporation, welche das Recht zur Ausgabe von auf den Inhaber lautenden un - verzinslichen Schuldverſchreibungen beſitzt, mehr ſolche Geld - zeichen ausgiebt, als ſie auszugeben befugt iſt, ſo trifft (§. 59 Ziff. 3) die Mitglieder des Vorſtandes eine Geldſtrafe, welche dem Zehnfachen des zuviel ausgegebenen Betrages gleich - kommt, mindeſtens aber 5000 Mark beträgt.

438Viertes Buch. III. Delikte geg. den Gang der Staatsverw.

5.

§. 106. Strafbare Handlungen gegen die ſtaatliche Ueber - wachung des Geſundheitsweſens.

Die Reichsgeſetzgebung hat die Befolgung ſowohl der von den Einzelſtaaten, als der von ihr ſelbſt kraft Art. 4 Nr. 15 R. Verf.1Der Beaufſichtigung ſeitens des Reichs und der Geſetzgebung desſelben unterliegen .... die Maßregeln der Medizinal - und Veterinärpolizei. erlaſſenen, das Geſundheitsweſen betreffenden Anordnungen durch Androhung von teilweiſe ſehr ſtrengen Strafen zu ſichern geſucht.

Es gehören hieher:

I. Die wiſſentliche Verletzung der Abſperrungs - oder Aufſichtsmaßregeln oder Einfuhrverbote, welche von der zuſtändigen Behörde zur Verhütung des Ein - führens oder Verbreitens einer anſteckenden Krankheit angeordnet werden (StGB. §. 327). 2Vom StGB. unter die ge - meingefährlichen Delikte geſtellt (oben §. 84), richtiger, da es ſich um Uebertretung konkreter An - ordnungen handelt, hier im Zuſammenhange zu behandeln.

Vorausgeſetzt ſind nicht ſtändige Einrichtungen, ſondern ad hoc, mit Rückſicht auf eine beſtimmte bereits ausgebrochene oder drohende Epidemie, erlaſſene Anordnungen.

Strafe: Gefängnis bis zu 2 Jahren; wenn in Folge dieſer Verletzung ein Menſch von der Krankheit ergriffen worden, Gefängnis von 3 Monaten bis zu 3 Jahren.

II. Verletzung der Anordnungen zur Verhütung des Einführens oder Verbreitens von Vieh - ſeuchen.

439Delikte gegen das Geſundheitsweſen. §. 106.

1. Wiſſentliche Verletzung der von der zuſtändigen3Beſtimmt ſich nach den Landesgeſetzen: RGR. 21. Ok - tober 1879, E I 1, R I 5; 4. Mai 1880, E II. 151, R I 724. Behörde ad hoc (vgl. oben unter I) angeordneten Ab - ſperrungs - oder Aufſichtsmaßregeln oder Ein - fuhrverbote (StGB. §. 328).

Strafe: Gefängnis bis zu einem Jahre; wenn in Folge der Verletzung Vieh von der Seuche ergriffen worden, Ge - fängnis von einem Monat bis zu 2 Jahren.

2. Einen ſpeziellen Fall hebt das Geſetz vom 21. Mai 1878, betreffend Zuwiderhandlungen gegen die zur Abwehr der Rinderpeſt erlaſſenen Vieheinfuhrverbote durch er - höhte Strafdrohungen, und teilweiſe Erweiterung des That - beſtandes beſonders hervor, ſo daß §. 328 StGB. ſubſi - diär anwendbar bleibt.

  • a) Die vorſätzliche Uebertretung der auf Grund des Geſetzes vom 7. April 1869 erlaſſenen Beſchränkungen oder Verbote der Einfuhr
    4D. h. aus dem Auslande ins Reich, oder aus einem Bun - desſtaat in den andern; nicht aber Transport von einem Ortean einen anderen desſelben Bundesſtaates: RGR. 15. Juni 1880, E II 114; doch kann hier der Thatbeſtand des §. 328 StGB. gegeben ſein.
    4 lebender Widerkäuer (§. 1). Strafe: Gefängnis von einem Monate bis zu zwei Jahren. Verſuch ſtrafbar.
    5Im Falle des §. 328 bleibt der Verſuch ſtraflos.
    5
  • b) Qualifizierter Fall (§. 2); wenn in der Abſicht (gleich erweiterter Vorſatz; oben §. 28 III) begangen, ſich oder einem Anderen einen (nicht notwendig rechts - widrigen) Vermögensvorteil
    6Ueber dieſen Begriff oben §. 73 I 3.
    6 zu verſchaffen oder einem Anderen (nicht notwendig an deſſen Vermögen) 440Viertes Buch. III. Delikte geg. den Gang der Staatsverw.Schaden zuzufügen. Strafe: Zuchthaus bis zu fünf Jahren oder Gefängnis nicht unter 6 Monaten.
  • c) Fahrläſſige Uebertretung der unter a genannten Beſchränkungen oder Verbote (§. 3).
    7StGB. §. 328 bedroht nur die wiſſentliche Uebertretung.
    7Strafe: Geld bis zu 600 Mark oder Gefängnis bis zu 3 Monaten. Bei Perſonen, welche nicht weiter als 15 Kilometer von der Grenze ihren Wohnſitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben, oder welche mit den betroffenen Tieren gewerbsmäßig Handel treiben, iſt die Un - kenntnis der Verbote als durch Fahrläſſigkeit verſchuldet anzunehmen, wenn ſie nicht den Nachweis führen, daß ſie ohne ihr Verſchulden durch beſondere Umſtände verhindert waren, von den - ſelben Kenntnis zu erlangen (vgl. oben §. 27 Note 3).
  • d) Iſt in Folge der Zuwiderhandlung Vieh von der Seuche ergriffen worden, ſo iſt (§. 4)
    • im Falle a auf Gefängnis nicht unter 3 Monaten;
    • im Falle b auf Zuchthaus bis zu 10 Jahren oder Gefängnis nicht unter einem Jahre;
    • im Falle c auf Geldſtrafe bis zu 2000 Mark oder Gefängnis bis zu einem Jahre
    zu erkennen.

3. Vernachläſſigung der den Eiſenbahnverwaltungen obliegenden Verpflichtung zur Desinfektion bei Vieh - beförderungen auf Eiſenbahnen wird nach §. 5 des Geſetzes vom 25. Februar 1876 an denjenigen Perſonen, welchen vermöge ihrer dienſtlichen Stellung oder eines ihnen erteilten Auftrages die Anordnung, Ausführung oder Ueber - wachung der Desinfektion obliegt, mit Geldſtrafe bis zu441Delikte gegen das Geſundheitsweſen. §. 106.1000 Mark; und wenn in Folge der Vernachläſſigung Vieh von der Seuche ergriffen worden, mit Geldſtrafe bis zu 3000 Mark oder Gefängnis bis zu einem Jahre beſtraft.

4. Das Geſetz vom 23. Juni 1880 (ausgegeben 30. Juni 1880, in Kraft vom 1. April 1881) betreffend die Abwehr und Unterdrückung von Viehſeuchen (mit Ausnahme der Rinderpeſt) hat eine Reihe von Anordnungen getroffen, deren Befolgung, ſoweit nicht nach den beſtehenden geſetz - lichen Vorſchriften eine höhere Strafe verwirkt iſt, mit Ueber - tretungsſtrafen bedroht wird. Die Bedeutung des Geſetzes gegenüber §. 328 StGB. liegt darin, daß Kenntnis der erlaſſenen Anordnungen nicht Thatbeſtandsmerkmal iſt, mithin auch fahrläſſig verſchuldete Unkenntnis unter die Strafdrohung fällt. Die vom Geſetzgeber beliebte Ausſcheidung der Rin - derpeſt hat zur Folge, daß die Uebertretung der zum Schutze gegen dieſe erlaſſenen Anordnungen, die nicht Beſchränkungen oder Verbote der Einfuhr ſind, nur wenn wiſſentlich übertreten, beſtraft werden können (!).

III. Die Verletzungen des Reichsimpfgeſetzes vom 8. April 1874 durch Eltern, Pflegeeltern, Vormünder, Schul - vorſteher, ſowie Denjenigen, der unbefugt Impfungen vor - nimmt, unterliegen Uebertretungsſtrafen. Vergehensſtrafe (Geldſtrafe bis zu 500 Mark oder Gefängnis bis zu 3 Mo - naten) trifft (§. 17) Denjenigen, der bei Ausführung einer Impfung fahrläſſig8Es liegt hier nicht Fahr - läſſigkeit in dem techniſchen Sinne des Strafrechts (oben §. 29) vor, da nicht ein rechtswidriger Er - folg vorausgeſetzt, ſondern die Unvorſichtigkeit bei der Impfungbeſtraft wird (nicht fahrläſſige Impfung , ſondern Fahrläſſig - keit der Ausdruck wäre beſſer vermieden worden bei Aus - führung der Impfung). handelt.

442Viertes Buch. III. Delikte geg. den Gang der Staatsverw.

6.

§. 107. Strafbare Handlungen gegen die ſtaatliche Regelung des Preßweſens: die Preßpolizeidelikte. 1Das Nähere bei Liszt Preßrecht. Daſelbſt auch die Litteratur.

Quelle: Geſetz über die Preſſe vom 7. Mai 1874.

I. Verletzung der Verpflichtung zur Nennung von Namen und Wohnort des Druckers und des Ver - legers (oder beim Selbſtvertriebe des Verfaſſers oder Heraus - gebers) auf jeder Druckſchrift; des verantwortlichen (mit den vom Geſetze geforderten Eigenſchaften ausgeſtatteten) Redakteurs außerdem auf jeder periodiſchen Druckſchrift (§§. 6 8):

  • 1. durch wiſſentlich falſche Angaben (§. 18 Ziff. 2), wobei der Verleger einer periodiſchen Druckſchrift ſchon dann haftet, wenn er die fälſchliche Angabe des Redakteurs wiſſentlich geſchehen läßt ;
  • 2. auf andere Weiſe (§. 19 Ziff. 1).
  • Strafe: zu 1 Geldſtrafe bis zu 1000 Mark oder Haft oder Gefängnis bis zu 6 Monaten;
  • zu 2 Geldſtrafe bis zu 150 Mark oder Haft.

II. Die Verletzung der Verpflichtung zur Ab - lieferung der Pflichtexemplare von jeder Nummer einer periodiſchen Druckſchrift gleichzeitig mit dem Beginne der Austeilung oder Verſendung (§. 9).

Strafe (§. 19 Ziff. 2): wie oben I 2.

III. Verletzung der Verpflichtung zur Aufnahme amtlicher Bekanntmachungen in periodiſchen Druck - ſchriften (§. 10).

443Delikte gegen das Sozialiſtengeſetz. §. 108.

Strafe (§. 19 Ziff. 3): wie oben I 2. Antrags - delikt. Mit der Verurteilung, bei unberechtigter Verwei - gerung der Aufnahme in gutem Glauben mit der Frei - ſprechung, iſt die Aufnahme des Schriftſtückes in die nächſt - folgende Nummer anzuordnen.

IV. Verletzung der Verpflichtung des verantwort - lichen Redakteurs einer periodiſchen Druckſchrift, Be - richtigungen mitgeteilter Thatſachen auf Verlangen eines Beteiligten ohne Einſchaltungen und Weglaſſungen auf - zunehmen (§. 10).

Strafe (§. 19 Ziff. 3): wie oben I 2. Antrags - delikt. Anordnung der Aufnahme wie oben III.

V. Verbreitung ausländiſcher periodiſcher Druck - ſchriften gegen das vom Reichskanzler auf Grund des §. 14 des Preßgeſetzes erlaſſene Verbot.

Strafe (§. 18 Ziff. 1): wie oben I 1.

VI. Vorſätzliche Verbreitung oder Wiederabdruck von in Beſchlag genommenen Druckſchriften (§. 28).

Strafe: Geldſtrafe bis zu 500 Mark oder Gefängnis bis zu 6 Monaten.

Eine beſondere Verjährungsfriſt für die Preßpolizei - delikte ordnet §. 22 des Preßgeſetzes an (vgl. oben §. 58 II 1).

7.

§. 108. Strafbare Handlungen gegen das Sozialiſtengeſetz. 1Vgl. Bunſen GS. XXX.

Quelle: Reichsgeſetz vom 21. Oktober 1878 gegen die gemeingefährlichen Beſtrebungen der Sozialdemokratie; ge - nauer (§. 1 des Geſetzes) gegen ſozialdemokratiſche, ſozia -444Viertes Buch. III. Delikte geg. den Gang der Staatsverw.liſtiſche oder kommuniſtiſche, auf den Umſturz der beſtehenden Staats - oder Geſellſchaftsordnung gerichtete Beſtrebungen.

I. 1. Die Beteiligung an einem verbotenen ſozia - liſtiſchen Vereine als Mitglied oder durch irgend eine Thätigkeit im Intereſſe des Vereines; oder die Teilnahme an einer verbotenen oder aufgelöſten ſozialiſtiſchen Verſammlung (§. 17). Strafe: Geldſtrafe bis zu 500 Mark oder Gefängnis bis zu 3 Monaten; gegen die Vorſteher, Leiter, Ordner, Agenten, Redner, Kaſſierer des Vereins oder der Verſammlung, ſowie gegen diejenigen, welche zu der Verſammlung auffordern, Gefängnis von einem Mo - nate bis zu einem Jahre. Das Hergeben von Räumlichkeiten für verbotene Vereine oder Verſammlungen wird (§. 18) ebenfalls mit Gefängnis von einem Monate bis zu einem Jahre beſtraft (vgl. oben §. 37 II 4).

2. Die Verbreitung, Fortſetzung, der Wiederabdruck einer verbotenen oder einer von der vorläufigen Be - ſchlagnahme betroffenen Druckſchrift (§. 19). 2Liszt Preßrecht §§. 33 u. 39.

Strafe: Geldſtrafe bis zu 1000 Mark oder Gefängnis bis zu 6 Monaten.

3. Das Einſammeln von Beiträgen zur Förderung der oben genannten Beſtrebungen, ſowie die öffentliche Auf - forderung zur Leiſtung ſolcher Beiträge trotz öffentlich bekannt gemachten polizeilichen Verbotes (§. 20).

Strafe: Geldſtrafe bis zu 500 Mark oder Gefängnis bis zu 3 Monaten. Auch iſt das zu Folge der verbotenen Sammlung oder Aufforderung Empfangene der Armenkaſſe des Orts der Sammlung für verfallen zu erklären.

In allen dieſen Fällen hat der Strafrichter nicht die445Delikte gegen das Sozialiſtengeſetz. §. 108.materielle, wohl aber die formelle Richtigkeit des polizeilichen Verbotes zu prüfen. 3RGR. 2. Dezember 1879, E I 23, R I 130; 14. Juli 1880, R II 193.

II. Wer eine der unter I genannten Handlungen nach erfolgter Bekanntmachung des Verbotes durch den Reichs - anzeiger, aber ohne Kenntnis desſelben, begeht, iſt mit Geldſtrafe bis zu 150 Mark oder mit Haft zu beſtrafen (§. 21).

III. Ueber die bei Verurteilung ſogenannter Agitatoren wegen einer der unter I bezeichneten Handlungen zuläſſigen Nebenſtrafe der Aufenthaltsbeſchränkung vgl. oben §. 49 IV. Zuwiderhandlungen werden mit Gefängnis von einem Monate bis zu einem Jahre beſtraft (§. 22).

IV. 1. Unterſagung des Gewerbebetriebes kann (§. 23) als Nebenſtrafe (ſiehe oben §. 50 IV 2) gegen ge - wiſſe Gewerbetreibende erkannt werden.

2. Perſonen, welche entweder ſich die Agitation für ſozia - liſtiſche Beſtrebungen zum Geſchäfte machen, oder auf Grund einer Beſtimmung des Sozialiſten-Geſetzes rechtskräftig zu einer Strafe verurteilt ſind, kann (§. 24) von der Landespolizei - behörde die Befugnis zur gewerbsmäßigen oder nicht ge - werbsmäßigen öffentlichen Verbreitung von Druck - ſchriften ſowie die Befugnis zum Handel mit Druck - ſchriften im Umherziehen entzogen werden. 4Vgl. Liszt Preßrecht §. 18 (iſt keine Nebenſtrafe, ſondern eine polizeiliche Maßregel).

Zuwiderhandlungen gegen jenes Urteil (§. 23; oben 1) oder dieſe Verfügung (§. 24; oben 2) werden mit Geldſtrafe bis zu 1000 Mark oder Haft oder Gefängnis bis zu ſechs Monaten beſtraft (§. 25).

V. Wer die bei Verhängung des ſogenannten kleinen446Viertes Buch. III. Delikte geg. den Gang der Staatsverw.Belagerungszuſtandes (§. 28) getroffenen Anordnungen mit Kenntnis derſelben oder nach erfolgter öffentlicher Bekannt - machung derſelben auch ohne Kenntnis derſelben5RGR. 13. April 1880, E I 363, R I 584. übertritt (§. 28 Abſ. 4), wird mit Geldſtrafe bis zu 1000 Mark oder mit Haft oder mit Gefängnis bis zu 6 Monaten beſtraft.

8.

§. 109. Strafbare Handlungen gegen die ſtaatliche Ueber - wachung des Aſſoziationsweſens.

I. Die Teilnahme an einer Verbindung, deren Daſein, Verfaſſung oder Zweck vor der Staatsregierung geheim gehalten werden ſoll, oder in welcher gegen unbekannte Obere Gehorſam oder gegen bekannte Obere unbedingter Gehorſam verſprochen wird (StGB. §. 128).

Strafe: gegen die Mitglieder Gefängnis bis zu 6 Mo - naten; gegen Stifter und Vorſteher der Verbindung Ge - fängnis von einem Monate bis zu einem Jahre. Gegen Beamte kann auf Verluſt der Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Aemter auf die Dauer von einem Jahre bis zu 5 Jahren erkannt werden (vgl. oben §. 51 II 4).

II. Die Teilnahme an einer Verbindung, zu deren Zwecken oder Beſchäftigungen es gehört, Maßregeln der Verwal - tung oder die Vollziehung von Geſetzen durch un - geſetzliche Mittel zu verhindern oder zu entkräften (StGB. §. 129).

Strafe: gegen die Mitglieder Gefängnis bis zu einem Jahre; gegen die Stifter und Vorſteher der Verbindung Gefängnis von 3 Monaten bis zu 2 Jahren; gegen Beamte447Delikte gegen das Aſſoziationsweſen. §. 109.kann auf Verluſt der Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Aemter auf die Dauer von einem Jahre bis zu 5 Jahren erkannt werden (vgl. oben §. 51 II 4).

III. Zuwiderhandlungen gegen die (im öffentlichen Inter - eſſe getroffenen) Anordnungen des Geſetzes vom 7. April 1876 über die eingeſchriebenen Hülfskaſſen werden (§. 34) an den Mitgliedern des Vorſtandes oder des Ausſchuſſes mit Geldſtrafe bis zu 300 Mark beſtraft.

IV. Uebertretungen des Geſetzes vom 4. Juni 1868, be - treffend die privatrechtliche Stellung der Erwerbs - und Wirtſchaftsgenoſſenſchaften.

1. Geldſtrafe bis zu 600 Mark trifft (§. 27 Abſ. 2) die Mitglieder des Vorſtandes, wenn ihre Handlungen auf an - dere als die in §. 1 des Geſetzes erwähnten geſchäftlichen Zwecke (Förderung des Kredits, des Erwerbs oder der Wirtſchaft der Mitglieder mittels gemeinſchaftlichen Geſchäfts - betriebes) gerichtet ſind, oder wenn ſie in der Generalver - ſammlung die Erörterung von Anträgen geſtatten oder nicht hindern, welche auf öffentliche Angelegenheiten gerichtet ſind, deren Erörterung unter die Landesgeſetze über das Vereins - und Verſammlungsrecht fällt.

2. Unrichtigkeiten in den nach dem Geſetze dem Vor - ſtande obliegenden Anzeigen oder ſonſtigen amtlichen An - gaben werden (§. 67) gegen Vorſtandsmitglieder mit Geld - buße bis zu 60 Mark geahndet.

448Viertes Buch. III. Delikte geg. den Gang der Staatsverw.

9.

§. 110. Strafbare Handlungen gegen die ſtaatliche Regelung des Gewerbeweſens.

Quelle: Gewerbeordnung vom 21. Juni 1869.

I. Aus den in der Gew. -Odg. §§. 143 153 mit Strafe bedrohten Handlungen ſeien die folgenden hervorgehoben:

1. Verletzung der Verpflichtung der Gewerbetreibenden (§. 115), die Löhne ihrer Arbeiten bar in Reichswährung auszuzahlen (§. 146 Ziff. 1: Verbot des Truckſyſtems).

2. Uebertretung der in den §§. 135, 136 oder auf Grund der §§. 139, 139 a getroffenen Verfügungen über die Ver - wendung von jugendlichen Arbeitern und Arbeiterinnen in den Fabriken (§. 146 Ziff. 2); Verletzung der den Gewerbe - Unternehmern obliegenden Verpflichtung (§. 120), auf Ge - ſundheit und Sittlichkeit, ſowie auf die weitere Fortbildung ihrer Arbeiter unter 18 Jahren die erforderliche Rückſicht zu nehmen, und jene Einrichtungen zu treffen, welche zu thun - lichſter Sicherheit gegen Gefahr für Leben und Geſundheit notwendig ſind trotz Aufforderung der Behörde (§. 147 Ziff. 4) ; Verletzung der geſetzlichen Pflichten gegen die Lehr - linge (§. 148 Ziff. 9 und 10).

3. Betrieb eines Gewerbes, Errichtung einer gewerblichen Anlage ohne obrigkeitliche Genehmigung, ſoweit eine ſolche erforderlich iſt (§. 147 Ziff. 1 und 2);1Vgl. auch StGB. §. 360 Ziff. 9.

4. Unbefugte Bezeichnung als Arzt oder Beilegung eines ähnlichen Titels, durch den der Glauben erweckt wird, der449Delikte geg. die ſtaatl. Regelung d. Gewerbeweſens. §. 110.Inhaber desſelben ſei eine geprüfte Medizinalperſon (§. 147 Ziff. 3).

5. Gewerbebetrieb ohne die vorgeſchriebene Anzeige oder den erforderlichen Legitimationsſchein (§. 148 Ziff. 1 3, 7); Gewerbebetrieb trotz Unterſagung desſelben (§. 148 Ziff. 4); gewerbsmäßige öffentliche Verbreitung von Druckſchriften ohne polizeiliche Erlaubnis (§. 148 Ziff. 5); Verletzung der Vor - ſchriften über das Aufſuchen von Waarenbeſtellungen (§. 148 Ziff. 6); Ueberſchreitung der Taxordnungen (§. 148 Ziff. 8).

6. Verletzung der geſetzlichen Anordnungen über das Mit-Sich-Führen des Legitimationsſcheines (§. 149).

7. Verletzung der geſetzlichen Vorſchriften über die Ar - beitsbücher (§. 150).

II. Die Strafe beträgt:

  • 1. im Falle des §. 146: Geldſtrafe bis zu 2000 Mark und im Unvermögensfalle (oben §. 55 I 1) Gefängnis bis zu 6 Monaten;
  • 2. im Falle des §. 147: Geldſtrafe bis zu 300 Mark bez. Haft;
  • 3. im Falle des §. 148: Geldſtrafe bis zu 150 Mark bez. Haft bis zu 4 Wochen;
  • 4. im Falle des §. 149: Geldſtrafe bis zu 30 Mark bez. Haft bis zu 8 Tagen;
  • 5. im Falle des §. 150: Geldſtrafe bis zu 20 Mark bez. Haft bis zu 3 Tagen.

III. Ueber die Verjährungsfriſt (§. 145) vgl. oben §. 58 II; über die Idealkonkurrenz der Uebertretungen der Ge - werbeordnung mit Zuwiderhandlungen gegen die Steuergeſetze (§§. 147 und 148) vgl. oben §. 40 II a; über die Mit - haftung des verfügungsfähigen Gewerbe-Inhabers, mit deſſen Vorwiſſen ſein Stellvertreter eine ſtrafbare Handlung be -von Liszt, Strafrecht. 29450Viertes Buch. III. Delikte geg. den Gang der Staatsverw.gangen hat (§. 151) oben §. 43 III a. E.; endlich über Nötigung bei Arbeitseinſtellungen oben §. 63 I 2.

10.

§. 111. Strafrechtlicher Schutz des Eiſenbahn -1Vgl. R. Verf. Art. 4 Ziff. 8, Art. 8 Ziff. 5. und Poſtweſens. 2Vgl. R. Verf. Art. 4 Ziff. 10.

I. Zuwiderhandlungen

  • 1. gegen die in den §§. 53 61 des Bahnpolizei - Reglements vom 4. Januar 1875 enthaltenen Be - ſtimmungen für das Publikum (Verpflichtung zum Gehorſam gegenüber der Bahnverwaltung und den Bahnpolizeibeamten, Verbot den Bahnkörper zu be - treten, Anlagen und Betriebsmittel zu beſchädigen, den Betrieb zu ſtören, eigenmächtiges Oeffnen der Thüren, Ein - und Ausſteigen während des Fahrens);
  • 2. gegen die in §. 62 daſelbſt angeführte Beſtimmung des Eiſenbahn-Betriebsregelments vom 11. Mai 1874 (Verbot des Mitnehmens feuergefährlicher Gegenſtände in die Perſonenwagen)

werden nach §. 62 daſelbſt mit Geldſtrafe bis zu 30 Mark beſtraft.

II. Verletzung der beſonderen Vorrechte der Poſten (Verbot der Pfändung, Verpflichtung zum Aus - weichen, zum Oeffnen der Thore und Schlagbäume, zur Be - wirkung der Ueberfahrt) werden nach dem Poſtgeſetze vom 28. Oktober 1871 (§§. 18, 19, 23) mtt Geldſtrafe (von höchſtens 60 Mark) bedroht.

451Strafrechtlicher Schutz des Schiffahrtsweſens. §. 112.

11.

§. 112. Strafrechtlicher Schutz des Schiffahrtsweſens. 1Vgl. R. Verf. Art. 4 Ziff. 7 und Art. 54.

I. Verletzung der Vorſchriften des Geſetzes vom 25. Ok - tober 1867, betreffend die Nationalität der Kauf - fahrteiſchiffe und ihre Befugnis zur Führung der Bundesflagge (vgl. R. Verf. Art. 54 und 55).

1. Unberechtigte Führung der Bundesflagge (§. 13); Geldſtrafe bis zu 1500 Mark oder Gefängnis bis zu 6 Mo - naten; Konfiskation des Schiffes zuläſſig.

2. Führung der Bundesflagge vor Eintragung in das Schiffsregiſter oder Ausfertigung des Certifikats (§. 14); Geldſtrafe bis zu 300 Mvrk oder verhältnismäßiges Ge - fängnis. Präſumption der Schuld (vgl. oben §. 27 Note 3).

3. Nichtanmeldung der zum Schiffsregiſter anzumeldenden Thatſachen (§. 15). Strafe wie zu 2. Sie wird verdoppelt, wenn die Verpflichtung auch binnen 6 Wochen nach dem erſten Schuldurteile nicht erfüllt iſt.

II. Verletzung des Geſetzes vom 28. Juni 1873, be - treffend die Regiſtrierung und Bezeichnung der Kauf - fahrteiſchiffe (das Schiff muß ſeinen Namen auf jeder Seite des Bugs, ſeinen Namen und den Namen des Hei - matshafens am Heck tragen). Strafe: Geldſtrafe bis zu 150 Mark oder Haft.

III. Verletzung des Geſetzes vom 25. März 1880 (und der dazu gehörigen Verordnung vom 28. Juli 1880), be - treffend die Schiffsmeldungen bei den Konſulaten des deutſchen Reichs. Geldſtrafe bis zu 200 Mark. 2In der Ueberſicht über die Nebengeſetze (oben §. 9) noch nicht erwähnt.

452Viertes Buch. III. Delikte geg. den Gang der Staatsverw.

IV. Uebertretung

1. der vom Kaiſer zur Verhütung des Zuſammen - ſtoßens der Schiffe auf See erlaſſenen Verordnung vom 7. Januar 1880,3Damit iſt die Verordnung vom 23. Dezember 1871 beſeitigt. in Kraft vom 1. September 1880 (über das Führen von Lichtern, Schallſignalen und Mäßigung der Geſchwindigkeit bei Nebel, über das Ausweichen der Schiffe uſw.);

2. der vom Kaiſer über das Verhalten der Schiffer nach einem Zuſammenſtoße von Schiffen auf See erlaſſenen Verordnung vom 15. März 1876 (jeder Schiffer hat dem Anderen den zur Abwendung oder Verringerung der nachteiligen Folgen des Zuſammenſtoßes erforderlichen Bei - ſtand zu leiſten, ſoweit er dazu ohne erhebliche Gefahr für das eigene Schiff und die darauf befindlichen Perſonen im Stande iſt; und ihm unter derſelben Vorausſetzung die - tige Auskunft über Namen und Heimat wie Kurs des eigenen Schiffes zu geben);

3. der kaiſerlichen Not - und Lootſen-Signalord - nung für Schiffe auf See und auf den Küſtengewäſſern vom 14. Auguſt 1876.

Strafe nach §. 145 StGB. : Geldſtrafe bis zu 1500 Mark.

V. Verletzung der durch das Geſetz vom 27. Dezember 1872, betreffend die Verpflichtung deutſcher Kauf - fahrteiſchiffe zur Mitnahme hülfsbedürftiger See - leute, getroffenen Anordnungen. Strafe: Geldſtrafe bis zu 150 Mark oder Haft.

VI. Uebertretung der Beſtimmungen der Strandungs - ordnung vom 17. Mai 1876.

453Strafrechtlicher Schutz des Schiffahrtsweſens. §. 112.

1. Unterlaſſene Anzeige eines Falles von Seenot (§. 7);

2. Nichtanzeige der Bergung von an das Land getrie - benen Stücken des Schiffes, ſeiner Ladung uſw. oder Nicht - Ablieferung dieſer Gegenſtände (§. 13);

3. Nichtanzeige der Bergung von Seeauswurf, ſtrand - triftigen, verſunkenen oder ſeetriftigen Gegenſtänden (§§. 20 und 21);

4. Bergung oder Hülfeleiſtung gegen den Willen des Schiffers (§§. 7 und 12).

Strafe (nach §. 43): Geldſtrafe bis zu 150 Mark oder Haft.

VII. Strafbare Uebertretungen der Seemannsord - nung vom 27. Dezember 1872.

1. Bruch des Heuervertrages (§§. 81, 82, Uebertretungs - ſtrafe; vgl. ob. S. 289);

2. Dienſtesentziehung (§. 83): Geldſtrafe bis zum Be - trage einer Monatsheuer;

3. Gröbliche Verletzung der Dienſtpflicht durch den Schiffsmann (§. 84): Geldſtrafe bis zum Betrage einer Monatsheuer;

4. Verweigerung des Gehorſams gegenüber wiederholten Befehlen des Vorgeſetzten (§. 86): Gefängnis bis zu drei Monaten oder Geldſtrafe bis zu 300 Mark. Qualifiziert bei gemeinſchaftlicher verabredeter Verweigerung durch zwei oder mehrere Perſonen der Schiffsmannſchaft (§. 87); mil - dernde Umſtände hier zugelaſſen.

5. Unternommene Nötigung des Schiffsvorgeſetzten zur Vornahme oder zur Unterlaſſung einer dienſtlichen Verrich - tung; unternommener gewaltſamer Widerſtand gegen denſelben oder thätlicher Angriff auf ihn (§§. 89 und 90). Strafe: Gefängnis bis zu 2 Jahren, bei mildernden Umſtänden454Viertes Buch. III. Delikte geg. den Gang der Staatsverw.Geldſtrafe bis zu 600 Mark. Qualifiziert, wenn von meh - reren auf Verabredung gemeinſchaftlich begangen (§. 91). Mildernde Umſtände in allen Fällen zugelaſſen. Als Ge - hülfe wird derjenige beſtraft (§. 92), der den auf Abwehr oder Unterdrückung dieſer Handlungen gerichteten Befehlen des Vorgeſetzten den Gehorſam verweigert (vgl. oben §. 37 II 5).

6. Aufforderung zweier oder mehrerer Perſonen der Schiffsmannſchaft zur Begehung einer der unter 4 und 5 angeführten Handlungen (§. 88). Strafe: wenn die Auf - forderung Erfolg gehabt, die der Anſtiftung; wenn nicht, bei Aufforderung zu den unter 4 angeführten Handlungen Geld - ſtrafe bis zu 300 Mark, bei Aufforderung zu den unter 5 angeführten Geldſtrafe bis zu 600 Mark oder Gefängnis bis zu einem Jahre.

7. Entſtellung, Unterdrückung, Vorſpiegelung von That - ſachen bei Verhandlungen vor dem Seemannsamte; Unter - laſſung der Stellung zur Muſterung; Unterlaſſung des Aus - weiſes über ein dem Dienſtantritte entgegenſtehendes Hindernis gegenüber dem Seemannsamte (§. 93). Uebertretungsſtrafe.

8. Vorſätzliches oder fahrläſſiges Vorbringen einer auf unwahre Behauptungen geſtützten Beſchwerde über Seeun - tüchtigkeit des Schiffes oder Mangelhaftigkeit des Proviantes bei einem Seemannsamte, wenn auf Grund dieſer Behaup - tungen eine Unterſuchung eingeleitet wurde (§. 94). Strafe: Bei vorſätzlicher Begehung Gefängnis bis zu 3 Monaten, bei fahrläſſiger, Geldſtrafe bis zu 300 Mark.

9. Mißbrauch der Disziplinargewalt durch den Schiffs - vorgeſetzten (§. 96): Geldſtrafe bis zu 900 Mark oder Gefängnis bis zu einem Jahre.

10. Mangelhafte Verproviantierung des Schiffes (§. 97).

455Delikte gegen das Reichsfinanzweſen. §. 113.

Strafe:

  • a) wenn vorſätzlich begangen, Gefängnis mit fakultativer Geldſtrafe bis zu 1500 Mark und fakultativem Ehr - verluſt;
  • b) wenn fahrläſſig begangen, und wenn in Folge deſſen der Schiffsmannſchaft die gebührende Koſt nicht ge - währt werden kann, Geldſtrafe bis zu 600 Mark oder Gefängnis bis zu einem Jahre.

11. Zurücklaſſung eines Schiffsmannes im Auslande ohne Genehmigung des Seemannsamtes (§. 98 vgl. mit §. 71). Geldſtrafe bis zu 300 Mark, Haft oder Gefängnis bis zu 3 Monaten.

12. Verſchiedene kleinere Pflichtverletzungen von Seiten des Schiffers ſind in §. 99 mit Uebertretungsſtrafe belegt.

Dieſe Beſtimmungen (1 12) finden auch dann Anwen - dung (§. 100), wenn die ſtrafbaren Handlungen außerhalb des Bundesgebietes begangen ſind (vgl. oben §. 13 III A c). Ueber den Beginn der Verjährung in dieſem Falle vgl oben §. 58 II 2.

12.

§. 113. Strafbare Handlungen gegen das Reichsfinanzweſen.

I. Als Quellen kommen in Betracht:

1. Salzſteuergeſetz vom 28. Oktober 1867 §§. 11 14;

2. Branntweinſteuergeſetz vom 8. Juli 1868 §§. 50 bis 68;

3. Geſetz betreffend die Einführung von Telegraphen - freimarken vom 16. Mai 1869, §. 2;

4. Wechſelſtempelſteuergeſetz vom 10. Juni 1869 §§. 15 17;

456Viertes Buch. III. Delikte geg. den Gang der Staatsverw.

5. Zuckerſteuergeſetz vom 26. Juni 1869 §. 4;

6. Vereins-Zollgeſetz vom 1. Juli 1869 §§. 134 bis 164;

7. Rübenzuckerſteuergeſetz vom 2. Mai 1870 (Verord - nung vom 7. Auguſt 1846 §§. 17 30);

8. Reichspoſtgeſetz vom 28. Oktober 1871 §§. 27 33;

9. Brauſteuergeſetz vom 31. Mai 1872 §§. 27 40;

10. Reichsbankgeſetz vom 14. März 1875 §. 59 Ziff. 2;

11. Spielkartenſtempelſteuergeſetz vom 3. Juli 1878 §§. 10 20;

12. Tabakſteuergeſetz vom 16. Juli 1879 §§. 32 45;

13. Waarenverkehrsſtatiſtikgeſetz vom 20. Juli 1879 §. 17.

II. Die in dieſen Geſetzen mit Strafe bedrohten Hand - lungen laſſen ſich in folgende Kategorien bringen:

1. Die Kontrebande, d. i. nach der in §. 134 Vereins - zollgeſetz gegebenen Definition das Unternehmen, Gegen - ſtände, deren Ein -, Aus - oder Durchfuhr verboten iſt, dieſem Verbote zuwider ein -, aus - oder durch - zuführen.

2. Die Defraudation, oder die einfache Hinter - ziehung der ſchuldigen Abgabe, wobei meiſt ſchon das Unternehmen mit der vollen Strafe der Vollendung belegt iſt. Hieher gehört auch die Verwendung entwerteter Poſt - oder Telegraphen-Freimarken, ſowie die Umgehung des Poſt - zwanges.

3. Die Erſchleichung einer Steuer - oder Zoll-Rück - vergütung, die überhaupt nicht, oder nicht in der geforderten Höhe beanſprucht werden durfte; vgl. die oben I unter 5 und 12 angeführten Geſetze.

4. Die Verletzung derjenigen Anordnungen, die zum457Delikte gegen das Reichsfinanzweſen. §. 113.Zwecke der Ueberwachung und Einhebung getroffen ſind (in vielen Fällen nur mit Ordnungsſtrafen belegt).

Wenn die in Frage ſtehende That ſowohl unter einen der eben erwähnten Deliktsbegriffe als auch unter einen der im StGB. enthaltenen fällt, ſo gehen die Steuergeſetze als lex specialis nach der oben §. 40 II a gegebenen Regel in der Anwendung vor. Paßt der Thatbeſtand dagegen nur unter das StGB., nicht unter einen jener Deliktsbegriffe, ſo iſt eben das StGB. zur Anwendung zu bringen. 1Die entgegengeſetzte Anſicht in RGR. 26. Juni 1880 R II 114, daß die auf Steuerhinter - ziehung gerichteten Handlungen nur dann nach dem StGB. beurteilt werden dürfen, wenndas betreffende Steuergeſetz aus - drücklich auf dieſes verweiſt oder überhaupt nicht erſchöpfend die Materie regeln will kann nicht als richtig betrachtet werden.

III. Die Zoll - und Steuergeſetze des Reichs bieten in ihren ſtrafrechtlichen Beſtimmungen gar manche Eigentüm - lichkeit. Hervortreten der rein fiskaliſchen Intereſſen; die Be - tonung des Abſchreckungsprinzipes und doch andererſeits wieder das Streben, zwiſchen Verbrechen und Strafe eine wenn möglich ziffermäßig auszudrückende Gleichung aufzu - ſtellen; der Anſchluß an ältere geſetzgeberiſche Vorbilder und die damit zuſammenhängende Neigung, durch kaſuiſtiſche Be - ſtimmungen das freie richterliche Ermeſſen zu beſchränken: all dieſe zuſammenwirkenden Umſtände machen die fraglichen Geſetze zu einer Fundgrube intereſſanter ſtrafrechtlicher Sonder - beſtimmungen. Näheres Eingehen auf dieſelben iſt hier nicht möglich; doch ſollen die wichtigſten Eigentümlichkeiten zur Ueberſicht zuſammengeſtellt werden. Als Paradigma kann das Vereinszollgeſetz dienen.

1. Der Thatbeſtand, mit welchem die ſtrafbare Handlung458Viertes Buch. III. Delikte geg. den Gang der Staatsverw. als vollbracht angenommen wird , iſt vielfach in der de - taillierteſten Weiſe geſchildert; man vgl. §. 136 Vereins - Zollgeſetz mit ſeinen 9 Ziffern, die wieder mehrfach unter - geteilt ſind.

2. Häufig begegnen Schuldpräſumptionen (vgl. oben §. 27 Note 3); die Thatſachen ſollen genügen, um die Strafe herbeizuführen, und dem Angeklagten obliegt es, durch die Führung des Beweiſes ſeiner Unſchuld ſich die Straf - freiheit oder doch die Erſetzung der kriminellen Strafe durch eine Ordnungsſtrafe zu ſichern.

3. Die regelmäßig an erſter Stelle verwendete Geldſtrafe wird als Vielfaches oder als quoter Teil der im Einzelfalle hinterzogenen Abgabe bemeſſen (vgl. auch oben §. 47 II). Die Umwandlung in Freiheitsſtrafe, in einem Falle (Wechſel - ſtempelgeſetz) ausgeſchloſſen, findet häufig nach einem anderen als dem im StGB. aufgeſtellten Maßſtabe ſtatt (oben §. 55 I 1).

Die Nebenſtrafe der Konfiskation wird reichlichſt ver - wendet, und ihre Anwendung durch detaillierte Beſtimmungen geregelt (z. B. Vereinszollgeſetz §§. 154 157; vgl. auch oben §. 50 II).

Auch die Nebenſtrafe der Entziehung der Gewerbeberech - tigung ſpielt hier eine gewiſſe Rolle (vgl. oben §. 50 IV).

4. Eines der für den konſtruierenden Theoretiker inter - eſſanteſten Rechtsinſtitute iſt die regelmäßig wiederkehrende ſubſidiäre Haftung dritter unſchuldiger Perſonen für die von dem Schuldigen verwirkte Geldſtrafe (vgl. oben §. 42 III 2).

5. Mit größter, wir können ſagen: dem ganzen Syſteme der Reichsgeſetzgebung gegenüber anormaler Strenge wird der Rückfall getroffen: die Geldſtrafe verwandelt ſich in459Delikte gegen das Reichsfinanzweſen. §. 113.Freiheitsſtrafe, die Maxima der Strafrahmen werden vervier - facht uſw. (vgl. oben §. 54 I 1).

6. Aber auch ſonſt tritt das Streben, der richterlichen Tendenz zur Milde zu begegnen, in der Verwendung zahl - reicher Schärfungsgründe hervor. Auch nach dieſer Richtung hin bildet das Vereinszollgeſetz in den §§. 144 148 ein lehrreiches Beiſpiel.

7. Beſondere Beſtimmungen über die Behandlung der idealen Konkurrenz vgl. oben §. 40 II a; der realen Kon - kurrenz oben §. 56 V.

8. Endlich ſind die Verjährungsfriſten regelmäßig ab - weichend vom StGB. bemeſſen (oben §. 58 II 1); und ſelbſt über Beginn und Unterbrechung der Verjährung beſondere Anordnungen getroffen (oben §. 58 II 2 und 3).

[460]461462463464
[465]466
[467]468469470471472473

Buchdruckerei von Guſtav Schabe (Otto Francke) in Berlin N.

About this transcription

TextDas deutsche Reichsstrafrecht auf Grund des Reichsstrafgesetzbuchs und der übrigen strafrechtlichen Reichsgesetze
Author Franz von Liszt
Extent507 images; 100862 tokens; 12625 types; 754857 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationDas deutsche Reichsstrafrecht auf Grund des Reichsstrafgesetzbuchs und der übrigen strafrechtlichen Reichsgesetze unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Reichsgerichts systematisch dargestellt Franz von Liszt. . XX, [2], 473 S. GuttentagBerlinLeipzig1881.

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Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz SBB-PK, Gl 22100-7http://stabikat.de/DB=1/SET=12/TTL=1/CMD?ACT=SRCHA&IKT=1016&SRT=YOP&TRM=648654125

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