PRIMS Full-text transcription (HTML)
[I][II][III]
Die Kunſt das menſchliche Leben zu verlängern
Süſses Leben! Schöne freundliche Gewohnheit des Daſeyns und Wirkens! von dir ſoll ich ſcheiden?
(Göthe,)
Jena,1797. in der akademiſchen Buchhandlung.
[IV][V]

Vorrede.

D as menſchliche Leben iſt, phyſiſch be - trachtet, eine eigenthümliche animaliſch - chemiſche Operation, eine Erſcheinung, durch die Konkurrenz vereinigter Natur - kräfte und immer wechſelnder Materien be - wirkt; dieſe Operation muſs, ſo wie jede andere phyſiſche, ihre beſtimmten Ge - ſetze, Grenzen und Dauer haben, in ſo fern ſie von dem Maas der verliehenen Kräfte und Materie, ihrer Verwendung, und manchen andern äuſſern und innernVI Umſtänden abhängt; aber ſie kann, ſo wie jede phyſiſche Operation, befördert oder gehindert, beſchleunigt oder retardirt werden, durch Feſtſetzung richtiger Grundſätze über ihr Weſen und Bedürfniſſe, und durch Erfarung laſſen ſich die Bedin - gungen beſtimmen, unter welchen dieſer Prozeſs beſchleunigt und verkürzt, oder re - tardirt und alſo verlängert werden kann; es laſſen ſich hierauf Regeln der diäteti - ſchen und mediziniſchen Behandlung des Lebens, zur Verlängerung deſſelben, bauen, und es entſteht hieraus eine eigne Wiſſen - ſchaft, die Macrobiotic, oder die Kunſt das Leben zu verlängern, die den Inhalt des gegenwärtigen Buchs ausmacht.

Man darf dieſe Kunſt nicht mit der gewöhnlichen Medizin oder mediziniſchen Diätetik verwechſeln, ſie hat andere Zwe - cke, andere Mittel, andere Grenzen. Der Zweck der Medizin iſt Geſundheit, der Ma - crobiotic hingegen langes Leben; die Mit - tel der Medizin ſind nur auf den gegenwär -VII tigen Zuſtand und deſſen Veränderung be - rechnet, die der Macrobiotic aber aufs Ganze; dort iſt es genug, wenn man im Stande iſt, die verlohrne Geſundheit wieder herzuſtellen, aber man fragt dabey nicht, ob durch die Art, wie man die Geſundheit wieder herſtellt, das Leben im Ganzen ver - längert oder verkürzt wird, welches leztre bey manchen Methoden der Medizin der Fall iſt; die Medizin muſs jede Krankheit als ein Uebel anſehen, das nicht bald genug weggeſchafft werden kann, die Macrobiotic zeigt, daſs manche Krankheiten Verlänge - rungsmittel des Lebens werden können; die Medizin ſucht, durch ſtärkende und andre Mittel, jeden Menſchen auf den höchſten Grad ſeiner phyſiſchen Vollkommenheit und Stärke zu erheben, die Macrobiotic aber zeigt, daſs es auch hier ein Maxi - mum giebt, und daſs ein zu weit getrieb - ner Grad von Stärkung das Mittel werden kann, das Leben zu beſchleunigen und folglich zu verkürzen; die practiſche Medizin iſt alſo, in Beziehung auf die Ma -VIII crobiotic, nur als eine Hülfswiſſenſchaft zu betrachten, die einen Theil der Lebensfeinde, die Krankheiten, erkennen, verhüten und wegſchaffen lehrt, die aber ſelbſt dabey den höhern Geſetzen der Macrobiotic unterge - ordnet werden muſs.

Langes Leben war von jeher ein Hauptwunſch, ein Hauptziel der Menſch - heit, aber wie verworren, wie widerſpre - chend waren und ſind noch jezt die Ideen über ſeine Erhaltung und Verlängerung! Der ſtrenge Theolog lächelt über ſolche Unter - nehmungen und fragt: Iſt nicht jedem Ge - ſchöpf ſein Ziel beſtimmt, und wer vermag ein Haarbreit ſeiner Länge oder eine Mi - nute ſeiner Lebensdauer zuzuſetzen? Der practiſche Arzt ruft uns zu: Was ſucht ihr nach beſondern Mitteln der Lebensver - längerung? Braucht meine Kunſt, erhal - tet Geſundheit, laſst keine Krankheit auf - kommen, und die, welche ſich etwa einſtel - len, curiren; dieſs iſt der einzige Weg zum langen Leben. Der Adept zeigtIX uns ſein Lebenselixir, und verſichert, nur, wer dieſen verkörperten Lebensgeiſt fleiſig einnähme, könne hoffen alt zu werden. Der Philoſoph ſucht das Problem ſo zu - ſen, daſs er den Tod verachten, und das Leben durch intenſiven Gebrauch verdop - peln lehrt. Die zahlloſe Legion von Empirikern und Quackſalbern hingegen, die ſich des groſsen Haufens bemeiſtert haben, erhält ihn in dem Glauben, daſs kein beſſe - res Mittel, alt zu werden ſey, als zur rech - ten Zeit Ader zu laſſen, zu ſchröpfen, zu purgiren u. ſ. f.

Es ſchien mir alſo nüzlich und nöthig, die Begriffe über dieſen wichtigen Gegen - ſtand zu berichtigen, und auf gewiſſe feſte und einfache Grundſätze zurückzuführen, wodurch dieſe Lehre Zuſammenhang und ſyſtematiſche Ordnung bekäme, die ſie bis - her nicht hatte.

Seit 8 Jahren iſt dieſer Gegenſtand die Lieblingsbeſchäftigung meiner Nebenſtun -X den geweſen, und ich würde mich ſehr freuen, wenn ſie andern auch nur halb ſo viel Unterhaltung und Nutzen ſchaffen ſollte, als ſie mir verſchafft hat. Ja ſelbſt in den zeitherigen traurigen und Menſchenverſchlingenden Zeiten, fand ich meine beſte Tröſtung und Aufheiterung darinn, an der Aufſuchung der Mit - tel zur Verlängerung des Lebens zu ar - beiten.

Mein Hauptzweck war zwar allerdings der, die Lehre von der Kunſt der Lebens - verlängerung ſyſtematiſch zu gründen, und die Mittel dazu anzugeben, aber un - vermerkt bekam ſie noch einige Nebenzwecke, die ich hier anführen muſs, um die Beur - theilung des Ganzen dadurch zu berichtigen. Einmal nehmlich ſchien mir dieſs der beſte Weg zu ſeyn, um mancher diätetiſchen Re - gel ein höheres Intereſſe und allgemeinere Gültigkeit zu geben, weil ich immer fand, daſs es weit weniger Eindruck machte, wenn man ſagte, dieſe oder jene Sache,XI dieſe oder jene Lebensweiſe iſt geſund oder ungeſund (denn dieſs iſt relativ, hängt von der ſtärkern oder ſchwächern Konſtitution und andern Nebenumſtänden ab, und be - zieht ſich auf die unmittelbaren Folgen, die gar oft auſſen bleiben, und den Nichtarzt unglaubig an dem ganzen Vorgeben ma - chen); als wenn man den Satz ſo ſtellte: dieſe Dinge, dieſe Lebensarten, verlän - gern oder verkürzen das Leben; denn dieſs hängt weniger von Umſtänden ab, und kann nicht nach den unmittelbaren Folgen beurtheilt werden. Zweytens wurde dieſe Arbeit unvermerkt ein Archiv, in wel - chem ich mehrere meiner Lieblingsideen nie - derlegte, bey welchen ich mich auch wohl zuweilen mancher kosmopolitiſchen Digreſ - ſion überlieſs, und mich freuete, dieſe Ideen an einen ſo ſchönen alles verbindenden Fa - den, als der Lebensfaden iſt, anreihen zu können.

Nach dem Standpunct, den ich bey Betrachtung meines Gegenſtandes nehmenXII muſste, war es natürlich, daſs ich ihn nicht blos mediziniſch, ſondern auch moraliſch behandelte. Wer kann vom menſchlichen Leben ſchreiben, ohne mit der moraliſchen Welt in Verbindung geſezt zu werden, der es ſo eigenthümlich zugehört? Im Gegen - theil habe ich bey dieſer Arbeit es mehr als je empfunden, daſs ſich der Menſch und ſein höherer moraliſcher Zweck auch phy - ſiſch ſchlechterdings nicht trennen laſſen, und ich darf es vielleicht dieſer Schrift als ein kleines Verdienſt anrechnen, daſs ſie nicht allein die Wahrheit und den Werth der moraliſchen Geſetze in den Augen vieler dadurch erhöht, daſs ſie ihnen die Unent - behrlichkeit derſelben auch zur phyſiſchen Erhaltung und Verlängerung des Lebens zeigt, ſondern daſs ſie auch mit unwider - leglichen Gründen darthut, daſs ſchon das Phyſiſche im Menſchen auf ſeine höhere moraliſche Beſtimmung berechnet iſt, daſs dieſes einen weſentlichen Unterſchied der menſchlichen Natur von der thieriſchen macht, und daſs ohne moraliſche KulturXIII der Menſch unaufhörlich mit ſeiner eignen Natur im Widerſpruch ſteht, ſo wie er hingegen durch ſie auch phyſiſch erſt der vollkommenſte Menſch wird. Wäre ich doch ſo glücklich, auf dieſe Weiſe einen doppelten Zweck zu erreichen, nicht blos die Menſchen geſünder und länger lebend, ſondern auch durch das Beſtreben dazu, beſſer und ſittlicher zu machen! Wenig - ſtens kann ich verſichern, daſs man eins ohne das andere vergebens ſuchen wird, und daſs phyſiſche und moraliſche Geſund - heit ſo genau verwandt ſind, wie Leib und Seele. Sie flieſſen aus gleichen Quellen, ſchmelzen in eins zuſammen, und geben vereint erſt das Reſultat der veredel - ten vnd vollkommensten Men - schennatvr.

Auch muſs ich erinnern, daſs dies Buch nicht für Aerzte allein, ſondern fürs ganze Publikum beſtimmt war, welches mir freylich die Pflicht auflegte, in manchen Puncten weitläuftiger und in manchen kür -XIV zer zu ſeyn, als es für den Arzt nöthig ge - weſen wäre. Ich hatte vorzüglich junge Leute dabey zum Zweck, weil ich überzeugt bin, daſs in dieſer Periode des Lebens vor - züglich auf Gründung eines langen und geſunden Lebens gewirkt werden kann, und daſs es eine unverzeihliche Vernachläſſigung iſt, daſs man noch immer bey der Bildung der Jugend dieſe ſo wichtige Belehrung über ihr phyſiſches Wohl vergiſst. Ich habe daher die Puncte vorzüglich ins Licht geſezt, die für dieſe Periode die wichtigſten ſind, und überhaupt ſo geſchrieben, daſs man das Buch jungen Leuten ohne Schaden in die Hände geben kann, und es würde mir eine unbeſchreibliche Freude ſeyn, wenn man es ihnen nicht allein zum Leſen em - pföhle, ſondern es auch in Schulen zur Be - lehrung über die wichtigſten Gegenſtände unſers phyſiſchen Wohls benuzte, die, ich wiederhole es nochmals, auf Schulen gege - ben werden muſs, denn ſie kommt (wie ich leider aus gar zu vielen Erfarungen weiſs) auf Akademien mehrentheils zu ſpät.

XV

Die Form der Vorleſungen erhielt es dadurch, weil ich drey Sommer hindurch wirklich öffentliche Vorleſungen darüber hielt, und ich glaubte, um ſo weniger ihm dieſe Einkleidung nehmen zu müſſen, da ſie dem Ganzen etwas mehr annäherndes und eindrückliches, genug, etwas mehr vom mündlichen Vortrag, zu geben ſchien.

Man wird mir es hoffentlich vergeben, daſs ich nicht alle Beyſpiele und Facta mit Citaten belegt habe; aber ich beſorgte, das Buch dadurch zu ſehr zu vergröſſern und zu vertheuern. Doch muſs ich erwähnen, daſs ich bey den Beyſpielen des menſchli - chen Alters aus der Geſchichte hauptſäch - lich Baco Historia vitae et mortis benuzt habe.

Uebrigens will ich im voraus recht gern zugeben, daſs manches anders, man - ches vollſtändiger, manches beſſer ſeyn könnte. Ich bin zufrieden mit der ſüſſenXVI Ueberzeugung, die mir niemand rauben wird, daſs das wenigſtens, was ich ge - ſchrieben habe, Nutzen ſtiften kann, ja gewiſs Nutzen ſtiften wird.

Jena, im Julius 1796.

Inhalt. [XVII]

Inhalt.

  • I. Theoretiſcher Theil.
  • I. Schickſale dieſer Wiſſenſchaft. Bey den Egyptiern und Griechen --- Gerocomic --- Gymnaſtic --- Hermippus --- Zuſtand derſelben im Mittelalter --- Theophraſtus Paracelſus --- Aſtrologiſche Methode --- Talismanns --- Thurn - eiſſen --- Cornaro und ſeine ſtrenge Diät --- Transfuſionsmethode --- Baco --- St. Germain --- Mesmer --- Caglioſtro --- Graham. Seite 3.
  • II. Unterſuchung der Lebenskraft und der Lebensdauer überhaupt. Eigenſchaften und Geſetze der Lebenskraft --- Begriff des Lebens --- Lebensconſumtion, un - zertrennliche Folge der Lebensoperation ſelbſt --- Lebensziel --- Urſachen der Lebensdauer --- Retardation der Lebensconſumtion --- Möglich - keit der Lebensverlängerung --- Geſchwind und langſam leben --- Intenſives und extenſives Le - ben --- der Schlaf. 41.
  • XVIII
  • III. Lebensdauer der Pflanzen. Verſchiedenheit derſelben --- Einjährige, zwey - jährige, vieljährige --- Erfarungen über die Um - ſtände, die dieſs beſtimmen --- Reſultate daraus --- Anwendung auf die Hauptprinzipien der Le - bensverlängerung --- Wichtiger Einfluſs der Zeugung und Kultur auf die Lebenslänge der Pflanzen. Seite 86.
  • IV. Lebensdauer der Thierwelt. Erfarungen von Pflanzenthieren --- Würmern --- Inſecten --- Metamorphoſe, ein wichtiges Le - bensverlängerungsmittel --- Amphibien --- Fiſche --- Vögel --- Säugthiere --- Reſultate --- Einfluſs der Mannbarkeit und des Wachsthums auf die Lebenslänge --- der Vollkommenheit oder Un - vollkommenheit der Organiſation --- der rapi - dern oder langſamern Lebensconſumtion --- der Reſtauration. 110.
  • V. Lebensdauer der Menſchen. Erklärung des unglaublich ſcheinenden Alters der Patriarchen --- das Alter der Welt hat kei - nen Einfluſs auf das Lebensalter der Menſchen --- Beyſpiele des Alters bey den Juden --- Grie - chen --- Römern --- Tabellen des Cenſus unter Veſpaſian --- Beyſpiele des hohen Alters bey Kaiſern, Königen und Päbſten --- Friedrich II. --- Bey Eremiten und Kloſterbrüdern --- Philoſo - phen und Gelehrten --- Schulmännern --- Dich - tern und Künſtlern --- das höchſte Alter findetXIX ſich nur unter Landleuten, Jägern, Gärtnern, Soldaten und Matroſen --- Beyſpiele --- Weni - ger bey Aerzten --- Kürzeſtes Leben --- Ver - ſchiedenheit des Alters nach dem Clima. S. 141.
  • VI. Reſultate aus den Erfarungen. Beſtim - mung des menſchlichen Lebensziels. Unabhängigkeit der Mortalität im Ganzen vom hohen Alter einzelner --- Einfluſs der Lage, des Clima, der Lufttemperatur und Beſtändigkeit auf Lebensdauer --- Inſeln und Halbinſeln --- die Alterreichſten Länder in Europa --- Nutzen des naturgemäſsen Lebens --- Die zwey ſchreck - lichſten Extreme der Mortalität in neuern Zei - ten --- Lebensverlängernde Kraft des Mitteltons in Allem --- Des Eheſtandes --- Des Geſchlechts --- Der Thätigkeit --- Der Frugalität --- Der Kultur --- Des Landlebens --- Auch bey Men - ſchen mögliche Verjüngung --- Beſtimmung des menſchlichen Lebensziels --- Abſolute und rela - tive Dauer deſſelben --- Tabellen über die leztere. 189.
  • VII. Genauere Unterſuchung des menſchli - chen Lebens. ſeiner Hauptmomente, und des Einfluſſes ſeiner höhern und intel - lectuellen Vollkommenheit auf die Dauer deſſelben. Das menſchliche Leben iſt das vollkommenſte, intenſivſtärkſte, und auch das längſte aller ähn - lichen organiſchen Leben --- Weſentlicher Be -XX griff dieſes Lebens --- ſeine Hauptmomente --- Zugang von auſſen --- Aſſimilation und Anima - liſation --- Nutrition und Veredlung der organi - ſchen Materie --- Selbſtkonſumtion der Kräfte und Organe durchs Leben ſelbſt --- Abſchei - dung und Zerſetzung der verbrauchten Theile --- die zum Leben nöthigen Organe --- Geſchichte des Lebens --- Urſachen der ſo vorzüglich lan - gen Lebensdauer des Menſchen --- Einfluſs der höhern Denkkraft und Vernunft darauf --- Wie kommt es, daſs bey den Menſchen, wo die - higkeit zum langen Leben am ſtärkſten iſt, den - noch die Mortalität am gröſsten iſt? Seite 216.
  • VIII. Specielle Grundlagen und Kennzei - chen der Lebensdauer einzelner Men - ſchen. Hauptpuncte der Anlage zum langen Leben --- Guter Magen und Verdauungsſyſtem, geſunde Zähne --- gut organiſirte Bruſt --- nicht zu reiz - bares Herz --- gute Reſtaurations - und Heilkraft der Natur --- Gehöriger Grad und Vertheilung der Lebenskraft, gut Temperament --- harmoni - ſcher und fehlerfreyer Körperbau --- mittlere Beſchaffenheit der Textur des Körpers --- kein vorzüglich ſchwacher Theil --- vollkommne Or - ganiſation der Zeugungskraft --- das Bild eines zum langen Leben beſtimmten Menſchen. 257.
  • IX. Prüfung verſchiedener neuer Methoden zur Verlängerung des Lebens, und Feſt -XXI ſetzung der einzig möglichen und auf menſchliches Leben paſſenden Methode. Verlängerung durch Lebenselixire, Goldtinctu - ren, Wundereſſenzen etc. --- durch Abhärtung --- durch Nichtsthun und Pauſen der Lebens - wirkſamkeit --- durch Vermeidung aller Krank - heitsurſachen, und der Conſumtion von auſſen --- durch geſchwindes Leben --- die einzig mög - liche Methode, menſchliches Leben zu verlän - gern --- Gehörige Verbindung der vier Haupt - indicationen --- Vermehrung der Lebenskraft --- Stärkung der Organe --- Mäſsigung der Lebens - konſumtion --- Begünſtigung der Reſtauration --- Modificationen dieſer Methode durch die ver - ſchiedene Conſtitution --- Temperament --- Le - bensalter --- Clima. Seite 280.
XXII

II. Practiſcher Theil.

  • I. Abſchnitt. Verkürzungsmittel des Lebens. 1. Die ſchwächliche Erziehung. Seite 337.
  • 2. Ausſchweifungen in der Liebe --- Verſchwendung der Zeugungskraft --- Onanie, ſowohl phyſiſche als moraliſche. 340.
  • 3. Uebermäſige Anſtrengung der Seelenkräfte. 352.
  • 4. Krankheiten --- deren unvernünftige Behandlung --- gewaltſame Todesarten --- Trieb zum Selbſt - mord. 363.
  • 5. Unreine Luft --- das Zuſammenwohnen der Men - ſchen in groſsen Städten. 374.
  • 6. Unmäſsigkeit im Eſſen und Trinken --- die raffi - nirte Kochkunſt --- geiſtige Getränke. 377.
  • 7. Lebensverkürzende Seelenſtimmungen und Lei - denſchaften --- üble Laune --- allzugroſse Ge - ſchäftigkeit. 386.
  • 8. Furcht vor dem Tode. 393.
  • XXIII
  • 9. Müſſiggang --- Unthätigkeit --- Lange Weile. S. 401.
  • 10. Ueberſpannte Einbildungskraft --- Krankheits - einbildung --- Empfindeley. 407.
  • 11. Gifte, ſowohl phyſiſche als contagiöſe. 414.
  • 12. Das Alter --- frühzeitige Inoculation deſſelben. 455.
  • II. Abſchnitt. Verlängerungsmittel des Lebens. 1. Gute phyſiſche Herkunft. 462.
  • 2. Vernünftige phyſiſche Erziehung. 475.
  • 3. Thätige und arbeitſame Jugend. 510.
  • 4. Enhaltſamkeit von dem Genuſs der phyſiſchen Liebe in der Jugend und auſſer der Ehe. 513.
  • 5. Glücklicher Eheſtand. 535.
  • 6. Der Schlaf. 545.
  • 7. Körperliche Bewegung. 558.
  • 8. Genuſs der freyen Luft --- mäſsige Temperatur der Wärme. 562.
  • 9. Das Land - und Gartenleben. 565.
  • 10. Reiſen. 575.
  • 11. Reinlichkeit und Hautkultur. 585.
  • 12. Gute Diät und Mäſsigkeit im Eſſen und Trin - ken --- Erhaltung der Zähne. 599.
  • 13. Ruhe der Seele --- Zufriedenheit --- Lebensver - längernde Seelenſtimmungen und Beſchäftigun - gen. 614.
  • XXIV
  • 14. Wahrheit des Karacters. S. 623.
  • 15. Angenehme und mäſsig genoſsne Sinnes - und Gefühlsreize. 626.
  • 16. Verhütung und vernünftige Behandlung der Krankheiten --- gehöriger Gebrauch der Medizin und des Arztes. 629.
  • 17. Rettung in ſchnellen Todesgefahren. 668.
  • 18. Das Alter und ſeine gehörige Behandlung. 682.
  • 19. Kultur der geiſtigen und körperlichen Kräfte. 691.
[1]

I. Theoretiſcher Theil.

A[2][3]

Erſte Vorleſung. Schickſale dieſer Wiſſenſchaft.

Bey den Egyptiern und Griechen Gerocomic Gymnaſtic Hermippus Zuſtand derſelben im Mit - telalter Theophraſtus Paracelſus Aſtrologiſche Methode Talismanns Thurneiſſen Cornaro und ſeine ſtrenge Diät Transfuſionsmethode Baco St. Germain Mesmer Caglioſtro Graham.

Durch die ganze Natur weht und wirket jene unbegreifliche Kraft, jener unmittelbare Ausfluſs der Gottheit, den wir Lebenskraft nennen. Ueberall ſtoſ - ſen wir auf Erſcheinungen und Wirkun - gen, die ihre Gegenwart, ob gleich in unendlich verſchiedenen Modificationen und Geſtalten unverkenntlich bezeugen,A 24und Leben iſt der Zuruf der ganzen uns umgebenden Natur. Leben iſts, wo - durch die Pflanze vegetirt, das Thier fühlt und wirket; aber im höchſten Glanz von Vollkommenheit, Fülle und Ausbildung erſcheint es in dem Men - ſchen, dem oberſten Glied der ſichtba - ren Schöpfung. Wir mögen die ganze Reihe der Weſen durchgehen, nirgends finden wir eine ſo vollkommne Verbin - dung faſt aller lebendigen Kräfte der Natur, nirgends ſo viel Energie des Le - bens, mit ſolcher Dauer vereinigt, als hier. Kein Wunder alſo, daſs der voll - kommenſte Beſitzer dieſes Gutes auch einen ſo hohen Werth darauf ſezt, und daſs ſchon der bloſse Gedanke von Le - ben und Seyn ſo hohen Reiz für uns hat. Jeder Körper wird uns um ſo intereſſan - ter, je mehr wir ihm eine Art von Le - ben und Lebensgefühl zutrauen können. Nichts vermag ſo ſehr auf uns zu wir - ken, ſolche Aufopferungen zu veran - laſſen, und die auſſerordentlichſten Ent - wicklungen und Anſtrengungen unſrer5 verborgenſten Kräfte hervorzubringen, als der Trieb es zu erhalten und in dem kritiſchen Augenblick es zu retten. Selbſt ohne Genuſs und Freuden des Lebens, ſelbſt für den, der an unheilbaren Schmerzen leidet, oder im dunkeln Ker - ker auf immer ſeine Freyheit beweint, behält der Gedanke zu ſeyn und zu le - ben noch Reiz, und es gehört ſchlech - terdings eine nur bey Menſchen mögli - che Zerrüttung der feinſten Empfin - dungsorgane, eine gänzliche Verdunke - lung und Tödtung des innern Sinns da - zu, um das Leben gleichgültig oder gar verhaſst zu machen. So weiſe und innig wurde Liebe des Lebens, dieſer eines denkenden Weſens ſo würdige Trieb, dieſer Grundpfeiler ſowohl der einzelnen als der öffentlichen Glückſe - ligkeit, mit unſerer Exiſtenz verwebt! Sehr natürlich war es daher, daſs der Gedanke in dem Menſchen aufſtei - gen muſte: Sollte es nicht möglich ſeyn, unſer Daſeyn zu verlängern, und dem nur gar zu flüchtigen Genuſs dieſes Guts6 mehr Ausdehnung zu geben? Und wirklich beſchäftigte dieſs Problem von jeher die Menſchheit auf verſchiedene Weiſe. Es war ein Lieblingsgegenſtand der ſcharfſinnigſten Köpfe, ein Tum - melplatz der Schwärmer, und eine Hauptlockſpeiſe der Charlatans und Be - trieger, bey denen man von jeher fin - den wird, daſs es entweder Umgang mit Geiſtern, oder Goldmacherkunſt oder Verlängerung des Lebens war, wodurch ſie das gröſsere Publikum angelten. Es iſt intereſſant und ein Beytrag zur Ge - ſchichte des menſchlichen Verſtandes zu ſehen, auf wie mannichfaltigen, ſich oft ganz entgegen geſezten Wegen man dieſs Gut zu erlangen hoffte, und da ſelbſt in den neueſten Zeiten die Caglio - ſtros und Mesmers wichtige Beyträge dazu geliefert haben, ſo glaube ich Ver - zeihung zu erhalten, wenn ich eine kurze Ueberſicht der nach und nach vorgekommenen Lebensverlängerungs - methoden vorausſchicke, ehe ich zu mei - nem Hauptgegenſtand übergehe.

7

Schon in den früheſten Zeiten, un - ter Egyptern, Griechen und Römern war dieſe Idee rege, und ſchon damals verfiel man in Egypten, der Mutter ſo mancher abentheuerlichen Ideen, auf künſtliche und unnatürliche Mittel zu dieſem Zweck, wozu freylich das durch Hitze und Ueberſchwemmungen unge - ſunde Clima Veranlaſſung geben mochte. Man glaubte die Erhaltung des Lebens in Brechen und Schwitzen gefunden zu haben, und es wurde allgemeine Sitte, alle Monate wenigſtens 2 Brechmittel zu nehmen, und ſtatt zu ſagen, wie befin - deſt du dich, fragte man einander: Wie ſchwitzeſt du? Ganz anders bildete ſich dieſer Trieb bey den Griechen, un - ter dem Einfluſs einer reinen und ſchö - nen Natur, aus. Man überzeugte ſich ſehr bald, daſs gerade ein vernünftiger Genuſs der Natur und die beſtändige Uebung unſerer Kräfte das ſicherſte Mit - tel ſey, die Lebenskraft zu ſtärken, und unſer Leben zu verlängern. Hippocra - tes und alle damaligen Philoſophen und8 Aerzte kennen keine andern Mittel, als Mäſsigkeit, Genuſs der freyen und rei - nen Luft, Bäder, und vorzüglich das tägliche Reiben des Körpers und Lei - besübung. Auf leztere ſezten ſie ihr gröſstes Vertrauen. Es wurden eigene Methoden und Regeln beſtimmt, dem Körper mannichfaltige, ſtarke und ſchwa - che, Bewegung zu geben; es entſtand eine eigene Kunſt der Leibesübung, die Gymnaſtik, daraus, und der gröſste Phi - loſoph und Gelehrte vergaſs nie, daſs Uebung des Leibes und Uebung der Seele immer in gleichem Verhältniſs bleiben müſste. Man brachte es wirk - lich zu einer auſſerordentlichen Voll - kommenheit, dieſe für uns faſt ver - ſchwundne Kunſt den verſchiedenen Na - turen, Situationen und Bedürfniſſen der Menſchen anzupaſſen, und ſie beſonders zu dem Mittel zu gebrauchen, die innere Natur des Menſchen immer in einer ge - hörigen Thätigkeit zu erhalten, und da - durch nicht nur Krankheitsurſachen un - wirkſam zu machen, ſondern auch ſelbſt9 ſchon ausgebrochne Krankheiten zu hei - len. Ein gewiſſer Herodicus gieng ſo weit, daſs er ſogar ſeine Patienten - thigte ſpazieren zu gehen, ſich reiben zu laſſen, und, jemehr die Kran[k]heit ab - mattete, deſto mehr durch Anſtrengung der Muſkelkräfte dieſe Mattigkeit zu überwältigen; und er hatte das Glück, durch ſeine Methode ſo vielen ſchwäch - lichen Menſchen das Leben viele Jahre zu verlängern, daſs ihm ſogar Plato den Vorwurf macht, er habe ſehr ungerecht gegen dieſe armen Leute gehandelt, durch ſeine Kunſt ihr immer ſterbendes Leben bis ins Alter zu verlängern. Die hellſten und naturgemäſſeſten Ideen über die Erhaltung und Verlängerung des Lebens finden wir beym Plutarch, der durch das glücklichſte Alter die Wahrheit ſeiner Vorſchriften beſtätigte. Schon er ſchlieſst ſeinen Unterricht mit folgenden auch für unſere Zeiten gülti - gen Regeln: den Ko[p]f kalt und die Füſse warm zu halten, anſtatt bey jeder Un - päſslichkeit gleich Arzneyen zu brau -10 chen, lieber erſt einen Tag zu faſten, und über dem Geiſt nie den Leib zu ver - geſſen.

Eine ſonderbare Methode, das Le - ben im Alter zu verlängern, die ſich ebenfalls aus den früheſten Zeiten her - ſchreibt, war die Gerocomic, die Ge - wohnheit, einen alten abgelebten Körper durch die nahe Atmosphäre friſcher auf - blühender Jugend zu verjüngen und zu erhalten. Das bekannteſte Beyſpiel da - von enthält die Geſchichte des König David, aber man findet in den Schriften der Aerzte mehrere Spuren, daſs es da - mals eine ſehr gewöhnliche und beliebte Hülfe des Alters war. Selbſt in neuern Zeiten iſt dieſer Rath mit Nutzen befolgt worden; der groſse Boerhave lieſs einen alten Amſterdamer Bürgermeiſter zwi - ſchen zwey jungen Leuten ſchlafen, und verſichert, der Alte habe dadurch ſicht - bar an Munterkeit und Kräften zuge - nommen. Und gewiſs wenn man be - denkt, was der Lebensdunſt friſch auf -11 geſchnittner Thiere auf gelähmte Glie - der, was das Auflegen lebendiger Thiere auf ſchmerzhafte Uebel vermag, ſo ſcheint dieſe Methode nicht verwerflich zu ſeyn.

Höchſtwahrſcheinlich gründete ſich auf dieſe Ideen der hohe Werth, den man bey Römern und Griechen auf das Anwehen eines reinen geſunden Athems ſezte. Es gehört hieher ei - ne alte Inſchrift, die man im vori - gen Jahrhundert zu Rom fand, und ſo lautet:

Aeſculapio et Sanitati L. Clodius Hermippus Qui vixit Annos CXV. Dies V. Puellarum Anhelitu Quod etiam poſt mortem ejus Non parum mirantur Phyſici Jam poſteri, ſic vitam ducite.
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Dem Aesculap und der Geſundheit geweiht von L. Clodius Hermippus der 115 Jahr 5 Tage lebte durch den Athem junger Mädgen u. ſ. w.

Dieſe Inſchrift mag nun ächt ſeyn oder nicht; genug ſie veranlaſste noch zu Anfang dieſes Jahrhunderts eine Schrift, worinne ein Doctor Cohauſen ſehr ge - lehrt beweiſet, dieſer Hermippus ſey ein Waiſenhausvorſteher oder Mädgenſchul - meiſter zu Rom geweſen, der beſtändig in dem Zirkel kleiner Mädgen gelebt, und eben dadurch ſein Leben ſo weit verlängert habe. Er giebt daher den wohlmeynenden Rath, ſich nur alle Mor - gen und Abende von kleinen unſchuldi - gen Mädgen anhauchen zu laſſen, und verſichert zu ſeyn, daſs man dadurch zur Stärkung und Erhaltung der Lebens - kräfte unglaublich viel beytragen werde, indem, ſelbſt nach dem Ausſpruch der Adepten, in dem Hauche der Unſchuld13 die erſte Materie am reinſten enthalten wäre.

Aber am ergiebigſten an neuen und abentheuerlichen Ideen über dieſe Mate - rie war jene tauſendjährige Nacht des Mittelalters, wo Schwärmerey und Aber - glauben alle reinen naturgemäſsen Be - griffe verbannten, wo zuerſt der ſpecu - lative Müſsiggang der Klöſter die und jene chemiſche und phyſiſche Erfindung veranlaſste, aber dieſelben mehr zur Verwirrung als zur Aufhellung der Be - griffe, mehr zur Beförderung des Aber - glaubens als zur Berichtigung der Er - kenntniſs nuzte. Dieſe Nacht iſts, in der die monſtröſeſten Geburten des menſchlichen Geiſtes ausgebrütet, und jene abentheuerlichen Ideen von Be - hexung, Sympathie der Körper, Stein der Weiſen, geheimen Kräften, Chiro - mantie, Kabala, Univerſalmedizin u. ſ. w. in die Welt geſezt oder wenigſtens ausgebildet wurden, die leider noch im - mer nicht auſser Cours ſind, und nur in14 veränderten und moderniſirten Geſtal - ten, immer noch zur Verführung des Menſchengeſchlechts dienen. In dieſer Geiſtesfinſterniſs erzeugte ſich nun auch der Glaube, daſs die Erhaltung und Ver - längerung des Lebens, die man zeither als ein Geſchenk der Natur auch durch die natürlichſten Mittel geſucht hatte, durch chemiſche Verwandlungen, durch Hülfe der erſten Materie, die man in Deſtillirkolben gefangen zu haben mey - nete, durch Vermeidung böſer Conſtel - lationen und ähnlichen Unſinn erhalten werden könnte. Es ſey mir erlaubt, ei - nige dieſer an die Menſchheit ergange - nen Vorſchläge, die, troz ihrer Unge - reimtheit dennoch Glauben fanden, nahmhaft zu machen.

Einer der unverſchämteſten Charla - tans und hochpralenden Lebensverlän - gerer war Theophraſtus Paracelſus, oder, wie ſein ganzer, ihn karakteriſirender Nahme hieſs: Philippus Aureolus Theo - phraſtus Paracelſus Bombaſtus ab Hohen -15 heim. Er war die halbe Welt durchrei - ſet, hatte aus allen Orten und Enden Rezepte und Wundermittel zuſammen - getragen, und beſonders, was damals noch ſelten war, in den Bergwerken Kenntniſs und Behandlung der Metalle ſtudirt. Er fing ſeine Laufbahn damit an, alles niederzureiſsen, was bisher gelehrt worden war, alle hohen Schulen mit der gröſsten Verachtung zu behan - deln, ſich als den erſten Philoſophen und Arzt der Welt zu präſentiren, und heilig zu verſichern, das keine Krank - heit ſey, die er nicht heilen, kein Leben, das er nicht verlängern könnte. Zur Probe ſeiner Inſolenz und des Tons, in dem die Charlatans des 15ten Jahrhun - derts ihr Publicum anredeten, will ich nur den Anfang ſeines Hauptwerks an - führen: Ihr müſſet mir nach, ich nicht euch, ihr mir nach, Avicenna, Rhaſes, Galen, Meſue, mir nach und nicht ich euch, ihr von Paris, ihr von Montpel - lier, ihr von Schwaben, ihr von Meiſ - ſen, ihr von Köln, ihr von Wien, und16 was an der Donau und dem Rheinſtrom liegt, ihr Inſeln im Meer, du Italien, du Dalmatien, du Athen, du Grieche, du Araber, du Iſraelite, mir nach und nicht ich euch; Mein iſt die Monar - chey! Man ſieht, daſs er nicht Un - recht hatte, wenn er von ſich ſagt: Von der Natur bin ich nicht ſubtil ge - ſponnen; es iſt auch nicht unſre Lan - desart, die wir unter Tannzapfen auf - wachſen. Aber er hatte die Gabe, ſei - nen Unſinn in einer ſo dunkeln und my - ſtiſchen Sprache vorzutragen, daſs man die tiefſten Geheimniſſe darinne ahnde - te, und noch hie und da darinnen ſucht, und daſs es wenigſtens ganz unmöglich war, ihn zu widerlegen. Durch alles dieſs und durch die neuen und auffallen - den Wirkungen einiger chemiſchen Mit - tel, die er zuerſt in die Medizin ver - pflanzte, machte er erſtaunliche Senſa - tion, und ſein Ruf wurde ſo verbreitet, daſs aus ganz Europa Schüler und Pa - tienten zu ihm ſtrömten, und daſs ſelbſt ein Erasmus ſich entſchlieſsen konnte,ihn17ihn zu conſultiren. Er ſtarb im 50ſten Jahre, ohneracht er den Stein der Un - ſterblichkeit beſaſs, und wenn man die - ſen vegetabiliſchen Schwefel genauer unterſucht, ſo findet man, daſs er weiter nichts war, als ein hitziges, dem Hof - mannſchen Liquor gleiches Mittel.

Aber nicht genug, daſs man die Chemie und die Geheimniſſe des Geiſter - reichs aufbot, um unſere Tage zu ver - längern, ſelbſt die Geſtirne muſsten da - zu benutzt werden. Es wurde damals allgemeiner Glaube, daſs der Einfluſs der Geſtirne (die man ſich doch nicht ganz müſsig denken konnte) Leben und Schickſale der Menſchen regierte, daſs jeder Planet und jede Conſtellation der - ſelben der ganzen Exiſtenz des darinne erzeugten Weſens eine gewiſſe Richtung zum Böſen oder Guten geben könne, und daſs folglich ein Aſtrolog nur die Stunde und Minute der Geburt zu wiſ - ſen brauche, um das Temperament, die Geiſtesfähigkeiten, die Schickſale, dieB18Krankheiten, die Art des Todes und auch den Tag deſſelben beſtimmen zu können. Dieſs war der Glaube nicht blos des groſsen Haufens, ſondern der gröſsten, verſtändigſten und einſichts - volleſten Perſonen der damaligen Zeit, und es iſt zum erſtaunen, wie lange und wie feſt man daran hing, ohneracht es nicht an Beyſpielen fehlen konnte, wo die Prophezeyung fehlſchlug. Biſchöffe, hohe Geiſtliche, berühmte Philoſophen und Aerzte gaben ſich mit dem Nativi - tätſtellen ab, man las ſogar auf Univer - ſitäten Collegia darüber, ſo gut wie über die Punktirkunſt und Cabala. Zum Be - weiſe erlaube man mir ein Paar Worte von dem berühmten Thurneiſen, dem glänzendſten Phänomen dieſer Art, und einem wirklich ausgezeichneten Men - ſchen, zu ſagen. Er lebte im vorigen Jahrhundert an dem Kurfürſtlichen Hofe zu Berlin, und war Leibarzt, Chemiſt, Nativitätſteller, Calendermacher, Buch - drucker und Buchhändler, alles in einer Perſon. Seine Reputation in der Aſtro -19 logie war ſo groſs, daſs faſt in keinem angeſehenen Hauſe in Teutſchland, Po - len, Ungarn, Dänema[r] k, ja ſelbſt in England ein Kind gebohren wurde, wo man nicht ſogleich einen Boten mit der Beſtimmung der Geburtsſtunde an ihn abſendete. Es kamen oft 8, 10 bis 12 ſolche Geburtsſtunden auf einmal bey ihm an, und er wurde zulezt ſo über - häuft, daſs er ſich Gehülfen zu dieſem Geſchäft halten muſste. Noch befinden ſich viele Bände ſolcher Anfragen auf der Bibliothek zu Berlin, in denen ſo - gar Briefe von der Königin Eliſabeth er - ſcheinen. Auſſerdem ſchrieb er noch jährlich einen aſtrologiſchen Calender, in welchem nicht nur die Natur des Jah - res überhaupt, ſondern auch die Haupt - begebenheiten und die Tage derſelben mit kurzen Worten oder Zeichen ange - geben waren. Ereylich lieferte er ge - wöhnlich die Auslegung erſt das Jahr darnach; doch findet man auch Beyſpie - le, daſs er ſich durch Geld und gute Worte bewegen lieſs, dieſelbe im vor -B 220aus mitzutheilen. Und bewundern muſs man, was die Kunſt der unbeſtimmten prophetiſchen Diction und die Gefällig - keit des Zufalls thun können; der Calen - der erhielt ſich über 20 Jahre, hatte reiſsenden Abgang, und verſchafte nebſt andern Charlatanerien dem Verfaſſer ein Vermögen von einigen 100000 Gul - den.

Aber wie konnte man in einer Kunſt, die dem Leben der Menſchen ſo beſtimmte und unvermeidliche Grenzen ſezte, Mittel zur Verlängerung deſſelben finden? Dieſs geſchah auf folgende ſinnreiche Art: Man nahm an, daſs eben ſo wie jeder Menſch unter dem Einfluſs eines gewiſſen Geſtirns ſtünde, eben ſo habe auch jeder andere Körper, Pflanzen, Thiere, ſogar ganze Länder und einzelne Häuſer, ein jegliches ſein eignes Geſtirn, von dem es regiert wür - de, und beſonders war zwiſchen den Planeten und Metallen ein genauer Zu - ſammenhang und Sympathie. Sobald21 man alſo wuſste, von welchen Conſtel - lationen und Geſtirnen das Unglück und die Krankheiten eines Menſchen her - rührten, ſo hatte er weiter nichts nöthig, als ſich lauter ſolcher Speiſen, Getränke und Wohnungen zu bedienen, die von den entgegengeſezten Planeten be - herrſcht wurden. Dieſs gab eine ganz neue Diätetik, aber freylich von ganz andrer Art als jene Griechiſche. Kam nun ein Tag vor, der durch ſeine beſon - ders unglückliche Conſtellation eine ſchwere Krankheit u. d. gl. fürchten lieſs, ſo begab man ſich an einen Ort, der unter einem freundlichen Geſtirn ſtand, oder man nahm ſolche Nahrungs - mittel und Arzneyen zu ſich, die un - ter der Protection eines guten Geſtirns den Einfluſs des böſen zu nichte mach - ten*)Marſilius Ficinus ermahnte damals in ſeiner Ab - handlung über Verlängerung des Lebens alle vorſichtige Leute, alle 7 Jahre einen Sterndeu - ter um Rath zu fragen, um ſich über die etwa in den folgenden 7 Jahren drohenden Gefahren. Aus eben dieſem Grunde22 hoffte man die Verlängerung des Lebens durch Talismanns und Amulete, Weil die Metalle mit den Planeten in genaue - ſter Verbindung ſtanden, ſo war es ge - nug, einen Talismann an ſich zu tragen, der unter gewiſſen Konſtellationen aus paſſenden Metallen geſchmolzen, gegoſ - ſen und geprägt war, um ſich die ganze Kraft und Protection des damit verbun - denen Planeten eigen zu machen. Man hatte alſo nicht nur Talismanns, die die Krankheiten eines Planeten abwendeten, ſondern auch Talismanns für alle aſtra - liſche Krankheiten, ja auch ſolche, die durch eine beſondere Vermiſchung ver -*)Nachricht einzuziehen, und vorzüglich die Mit - tel der heil. 3 Könige, Gold, Weyrauch und Myrrhen zu reſpectiren und gehörig zu gebrau - chen. M. Panſa dedizirte im Jahr 1470 dem Rathe zu Leipzig ein Buch De proroganda vita; Aureus libellus, worinn er den Herren ſehr angelegentlich räth, ſich vor allen Dingen ihre günſtigen und ungünſtigen Aspecten be - kannt zu machen, und alle 7 Jahre auf der Hut zu ſeyn, weil dann Saturn, ein böſer ſeindſeli - ger Planet, herrſchte.23 ſchiedener Metalle und eigene Künſte bey Schmelzung derſelben die wunder - bare Kraft erhielten, den ganzen Ein - fluſs einer unglücklichen Geburtsſtunde aufzuheben, zu Ehrenſtellen zu beför - dern, und in Handels - und Heyraths - geſchäften gute Dienſte zu leiſten. War Mars im Zeichen des Scorpions dar - auf geprägt, und ſie in dieſer Conſtella - tion gegoſſen, ſo machten ſie ſiegreich und unverwundbar im Kriege, und die teutſchen Soldaten waren von dieſer Idee ſo eingenommen, daſs von einer Niederlage derſelben in Frankreich ein franzöſiſcher Schriftſteller erzählt, man habe bey allen Todten und Gefangenen Amulete am Halſe hängend gefunden. Aber die Bilder der Planetgottheiten durften in dieſer Abſicht durchaus keine antike Form ſondern eine myſtiſche abentheuerliche Geſtalt und Tracht ha - ben. Man hat noch eines gegen die jo - vialiſchen Krankheiten mit dem Bildniſſe des Jupiters. Hier ſieht Jupiter völlig ſo aus, wie ein alter Wittenberger oder24 Baſeler Profeſſor. Es iſt ein bärtiger Mann in einem weiten mit Pelz gefüt - terten Ueberrok, hält in der einen Hand ein aufgeſchlagenes Buch, und docirt mit der rechten. Ich würde mich nicht ſo lange bey dieſer Materie aufge - halten haben, wenn nicht dieſe Grille voriger Jahrhunderte noch vor wenig Jahren von Caglioſtro wieder in Gang gebracht worden wäre, und noch in dem lezten Viertheil des achtzehenden Jahrhunderts hie und da Beyfall gefun - den hätte.

Je ungereimter und verworrener die damaligen Begriffe waren, deſto ſchätzbarer muſs uns das Andenken ei - nes Mannes ſeyn, der ſich glücklich aus denſelben herauszuwinden und die Kunſt, ſein Leben zu verlängern, auf dem Wege der Natur und der Mäſsigkeit zu finden wuſste. Cornaro der Italiener wars, der durch die einfachſte und ſtrengſte Diät, und durch eine beyſpiel - loſe Beharrlichkeit in derſelben, ſich ein25 glückliches und hohes Alter verſchaffte, das ihm reichliche Belohnung ſeiner Ent - ſagung, und der Nachwelt ein lehrrei - ches Beyſpiel gab. Nicht ohne Theil - nahme und freudiges Mitgefühl kann man den drey und achtzigjährigen Greiſs die Geſchichte ſeines Lebens und ſeiner Erhaltung beſchreiben, und alle die Hei - terkeit und Zufriedenheit preiſsen - ren, die er ſeiner Lebensart verdankt. Er hatte bis in ſein 40ſtes Jahr ein ſchwelgeriſches Leben geführt, war be - ſtändig krank an Koliken, Glieder - ſchmerzen und Fieber, und kam durch lezteres endlich dahin, daſs ihn ſeine Aerzte verſicherten, er werde nicht viel über 2 Monate mehr leben, alle Arz - neyen ſeyen vergebens, und das einzige Mittel für ihn ſey eine ſparſame Diät. Er folgte dieſem Rath, bemerkte ſchon nach einigen Tagen Beſſerung, und nach Verlauf eines Jahres war er nicht nur völlig hergeſtellt, ſondern geſünder als er je in ſeinem Leben geweſen war. Er beſchloſs alſo, ſich noch mehr einzu -26 ſchränken, und ſchlechterdings nicht mehr zu genieſsen, als was zur Subſi - ſtenz unentbehrlich wäre, und ſo nahm er denn 60 ganzer Jahre hindurch täglich nicht mehr als 24 Loth Speiſe (alles mit eingeſchloſſen) und 26 Loth Getränk zu ſich. Dabey vermied er auch ſtarke Er - hitzungen, Erkältungen und Leiden - ſchaften, und durch dieſe ſich immer gleiche gemäſsigte Diät erhielt nicht nur ſein Körper, ſondern auch die Seele ein ſo beſtimmtes Gleichgewicht, daſs nichts ihn erſchüttern konnte. In ſeinem ho - hen Alter verlohr er einen wichtigen Prozeſs, worüber ſich zwey ſeiner Brü - der zu Tode grämten, er blieb gelaſſen und geſund; er wurde mit dem Wagen umgeworfen, und von den Pferden ge - ſchleift, daſs er Arm und Fuſs ausrenkte, er lieſs ſie wieder einrichten, und ohne ſonſt etwas zu brauchen war er in kur - zem wieder hergeſtellt. Aber am merkwürdigſten und beweiſend, wie gefährlich die geringſte Abweichung von einer langen Gewohnheit werden kann,27 war folgendes. Als er 80 Jahr alt war, drangen ſeine Freunde in ihn, doch nun, da ſein Alter mehr Unterſtützung brauchte, ſeiner Nahrung etwas zuzu - ſetzen. Er ſah zwar wohl ein, daſs mit der allgemeinen Abnahme der Kräfte auch die Verdauungskraft abnehmen, und man im Alter die Nahrung eher ver - mindern als vermehren müſste. Doch gab er nach, und erhöhete ſeine Speiſe auf 28 und ſein Getränk auf 32 Loth. Kaum hatte ich, ſagt er ſelbſt, dieſe Lebensart 10 Tage fortgeſezt, als ich anfing, ſtatt meiner vorigen Munter - keit und Fröhlichkeit, kleinmüthig, verdroſſen, mir und andern läſtig zu werden. Am 12ten Tage überfiel mich ein Schmerz in der Seite, der 24 Stun - den anhielt, und nun erfolgte ein Fie - ber, das 35 Tage in ſolcher Stärke fort - dauerte, daſs man an meinem Leben zweifelte. Aber durch Gottes Gnade und meine vorige Diät erholete ich mich wieder, und genieſse nun in mei - nem 83ſten Jahre den munterſten Lei -28 bes - und Seelenzuſtand. Ich ſteige von der Erden an auf mein Pferd, ich klet - tre ſteile Anhöhen hinauf, und habe erſt kürzlich ein Luſtſpiel voll von un - ſchuldiger Freude und Scherz geſchrie - ben. Wenn ich von meinen Privatge - ſchäften oder aus dem Senat nach Hauſe komme, ſo finde ich 11 Enkel, deren Auferziehung, Zeitvertreib und Geſän - ge die Freude meines Alters ſind. Oft ſinge ich ſelbſt mit ihnen, denn meine Stimme iſt jezt klärer und ſtärker, als ſie je in meiner Jugend war, und ich weiſs nichts von den Beſchwehrden und den mürriſchen und ungenieſsbaren Lau - nen, die ſo oft das Loos des Alters ſind. In dieſer glücklichen Stimmung erreichte er das hundertſte Jahr, aber ſein Beyſpiel iſt ohne Nachfolge geblie - ben. *)Auch würde ich recht ſehr bitten, ehe man dieſe Diät im ſtrengſten Sinn anfinge, erſt ſei - nen Arzt zu conſuliren. Denn nicht jedem iſt es heilſam, die Abſtinenz ſo weit zu treiben.

29

Es war eine Zeit, wo man in Frank - reich den Werth des Bluts ſo wenig zu kennen ſchien, daſs man König Ludwig XIII. in den lezten 10 Monaten ſeines Lebens 47mal zur Ader lieſs, und ihm noch überdieſs 215 Purganzen und 210 Lavements gab, und gerade da ſuchte man durch einen ganz entgegengeſezten Prozeſs, durch Einfüllung eines friſchen jungen Bluts in die Adern, das Leben der Menſchen zu verjüngen, zu verlän - gern, und incurable Krankheiten zu hei - len. Man nannte dieſs Transfuſion, und die Methode war dieſe, daſs man zwey Blutadern öfnete, und vermittelſt eines Röhrgens das Blut aus der Pulsader ei - nes andern lebenden Geſchöpfs in die eine leitete, während man durch die an - dre Aderöffnung das alte Blut auslaufen lieſs. Man hatte in England einige glückliche Verſuche an Thieren gemacht, und wirklich einigen alten lahmen und tauben Geſchöpfen, Schafen, Kälbern und Pferden, durch die Anfüllung mit dem Blute eines jungen Thiers, Gehör,30 Beweglichkeit und Munterkeit, wenig - ſtens auf einige Zeit wieder verſchafft; ja man unternahm es, furchtſame Ge - ſchöpfe durch das Blut eines wilden grauſamen Geſchöpfs kühn zu machen. Hierdurch aufgemuntert, trug man kein Bedenken, auch Menſchen auf dieſe Weiſe zu reſtauriren. Dr. Denis und Riva zu Paris waren wirklich ſo glück - lich, einen jungen Menſchen, der an ei - ner unheilbaren Schlafſucht litt (in der man ihm gleichfalls 20mal zu Ader ge - laſſen hatte) durch die Anfüllung mit Lamsblut, und einen Wahnſinnigen durch die Vertauſchung ſeines Bluts mit Kalbsblut völlig herzuſtellen. Aber da man nur die unheilbarſten und elende - ſten Menſchen dazu nahm, ſo trug ſichs bald zu, daſs einige unter der Operation ſtarben, und ſeitdem hat es niemand wieder gewagt. Doch iſt ſie an Thieren auch hier in Jena ſehr glücklich ausge - führt worden; und in der That ſollte ſie nicht ganz verworfen werden, denn, ob ſchon das eingelaſſene fremde Blut in31 kurzem in das unſrige verwandelt wer - den muſs, und alſo zur Verjüngung und Verlängerung des Lebens nicht viel da - von zu hoffen ſeyn möchte, ſo müſste doch bey gewiſſen Krankheiten, beſon - ders der Seele und des Nervenſyſtems, der plözliche ungewohnte Eindruck ei - nes neuen Blutes auf die edelſten Lebens - organe, eine groſse und heilſame Revo - lution bewirken können.

Selbſt der groſse Baco, deſſen Genie alles Wiſſen umfaſste, und der dem ſo lange irre geführten menſchlichen Geiſte zuerſt die Bahn vorzeichnete, die Wahr - heit wieder zu finden, ſelbſt dieſer groſse Mann fand das Problem der Verlänge - rung des Lebens ſeiner Aufmerkſamkeit und Unterſuchung würdig. Seine Ideen ſind kühn und neu. Er denkt ſich das Leben als eine Flamme, die beſtändig von der umgebenden Luft conſumirt wird. Jeder, auch der härteſte Körper wird am Ende durch dieſe beſtändige feine Verdunſtung aufgelöſet und deſtru -32 irt. Er zieht daraus den Schluſs, daſs durch Verhütung dieſer Conſumtion und durch eine von Zeit zu Zeit unternomm - ne Erneuerung unſrer Säfte das Leben verlängert werden könne. Zur Verhü - tung der Conſumtion von auſſen em - pfiehlt er beſonders kühle Bäder und das bey den Alten ſo beliebte Einreiben von Oel und Salben nach dem Bade; zur Ver - minderung der Conſumtion von innen Gemüthsruhe, eine kühle Diät und den Gebrauch des Opiums und der Opiatmit - tel, wodurch die zu groſse Lebhaftigkeit der innern Bewegungen gemäſsigt und das damit verbundene Aufreiben retar - dirt würde. Um aber bey zunehmenden Jahren die unvermeidliche Vertrocknung und Verderbniſs der Säfte zu verbeſſern, hält er für das beſte, alle 2 bis 3 Jahre einen Renovationsprozeſs mit ſich vor - zunehmen, der darinne beſteht, daſs man durch magere Diät und ausleeren - de Mittel erſt den Körper von allen al - ten und verdorbenen Säften befreye, und dann durch eine ausgeſuchte erfri -ſchende33ſchende und nahrhafte Diät und ſtärken - de Bäder die durſtigen Gefäſse wieder mit belebenden Säften anfülle, und ſich alſo von Zeit zu Zeit im eigentlichſten Verſtande erneue und verjünge. Das Wahre, was in dieſen Ideen liegt, iſt nicht zu verkennen, und mit einigen Modificationen würden ſie immer an - wendbar ſeyn.

In den neueſten Zeiten hat man lei - der mehr Progreſſen in den Künſten, das Leben zu verkürzen, als in der, es zu verlängern gemacht. Charlatans genug ſind erſchienen und erſcheinen noch täg - lich, die durch aſtraliſche Salze, Gold - tinkturen, Wunder - und Luftſalzeſſen - zen, himmliſche Betten, und magneti - ſche Zauberkräfte den Lauf der Natur zu hemmen verſprechen. Aber man fand nur zu bald, daſs der berühmte Thee zum langen Leben des Grafen St. Germain ein ſehr alltägliches Gemiſch von Sandelholz, Senesblättern und Fen -C34chel, das angebetete Lebenselixir Caglio - ſtros ein ganz gewöhnliches nur ſehr hitziges Magenelixir, die Wunderkraft des Magnetismus aus Imagination, Ner - venreiz und Sinnlichkeit zuſammenge - ſezt war, und die geprieſenen Luftſalze und Goldtincturen mehr auf das Leben ihrer Erfinder, als derer, die ſie einnah - men, berechnet waren.

Beſonders verdient die Erſcheinung des Magnetismus in dieſer Sammlung noch einige Erwähnung. Ein bankerut gewordener, und verachteter, aber ſchwärmeriſcher und wahrſcheinlich nicht ſowohl von unſichtbaren Kräften, als von unſichtbaren Obern geleiteter Arzt, Mesmer, fiel endlich auf den Ge - danken, künſtliche Magnete zu machen, und dieſe als ſouveraine Mittel gegen eine Menge Krankheiten, Lähmung, Gicht - flüſſe, Zahnweh, Kopfweh u. dgl. zu verkaufen. Da er merkte, daſs dieſs glückte, ſo ging er weiter, und ver -35 ſicherte, daſs er nun gar keine künſtliche Magnete mehr nöthig hätte, ſondern daſs er ſelbſt der groſse Magnet ſey, der die Welt magnetiſiren ſollte. Seine eigne Perſon war ſo mit magnetiſcher Kraft angefüllt, daſs er durch Berührung, durch Ausſtreckung ſeines Fingers, ja durch bloſses Anſchauen dieſelbe andern mittheilen zu können verſicherte. Er führte wirklich Beyſpiele von Perſonen an, die durch Berührungen von ihm, ja durch ſeine bloſsen Blicke verſicherten Empfindungen bekommen zu haben, als wenn man ſie mit einem Stock oder mit einem Eiſen geſchlagen hätte. Dieſe ſonderbare Kraft nannte er nun animali - ſchen Magnetismus, und vereinigte un - ter dieſer ſeltſamen Benennung alles, was der Menſchheit am meiſten am Herzen liegt, Weisheit, Leben und Geſundheit, die er dadurch nach Be - lieben mittheilen und verbreiten konnte.

C 236

Da man das Unweſen nicht länger in Wien dulden wollte, ſo ging er nach Paris, und hier nahm es nun erſt ſeinen rechten Anfang. Er hatte erſtaunlichen Zulauf; alles wollte von ihm geheilt ſeyn, alles wollte einen Theil ſeiner Kraft mitgetheilt haben, um auch Wun - der wirken zu können. Er errichtete eigne geheime Geſellſchaften, wo ein jeder Novize 100 Louisd’or erlegen muſste, und äuſserte endlich ganz laut, daſs er der Mann ſey, den die Vorſehung zum groſsen Erneuerungsgeſchäfte der ſo ſichtbar hinwelkenden menſchlichen Natur erwählt habe. Zum Beweiſs will ich Ihnen nur folgenden Zuruf mit - theilen, den er durch einen ſeiner Apoſtel ans Publicum ergehen lieſs. Seht eine Entdeckung, die dem Menſchengeſchlecht unſchäzbare Vor - theile und ihrem Erfinder ewigen Ruhm bringen wird! Seht eine allge - meine Revolution! Andre Menſchen werden die Erde bewohnen; ſie wer -37 den durch keine Schwachheiten in ih - rer Laufbahn aufgehalten werden, und unſre Uebel nur aus der Erzählung ken - nen! Die Mütter werden weniger von den Gefahren der Schwangerſchaft und den Schmerzen der Geburt leiden, wer - den ſtärkre Kinder zur Welt bringen, die die Thätigkeit, Energie und Anmuth der Urwelt erhalten werden. Thiere und Pflanzen, gleich empfänglich für die magnetiſche Kraft, werden frey von Krankheiten ſeyn; die Heerden werden ſich leichter vermehren, die Gewächſe in unſern Gärten werden mehr Kräfte haben und die Bäume ſchönere Früchte geben, der menſch - liche Geiſt, im Beſitz dieſes Weſens, wird vielleicht der Natur noch wunder - barere Wirkungen gebieten. Wer kann wiſſen, wie weit ſich ſein Einfluſs erſtrecken wird?

Man ſollte meynen, einen Traum aus dem tauſendjährigen Reiche zu -38 ren. Und dieſe ganzen pompöſen Ver - ſprechungen und Ausſichten verſchwan - den plötzlich, als eine Commiſſion, an deren Spitze Franklin ſtand, das Weſen des Magnetismus genauer unterſuchte. Der Nebel verſchwand, und es iſt nun von dem ganzen Blendwerk weiter nichts übrig geblieben, als die animali - ſche Electricität und die Ueberzeugung, daſs ſolche durch gewiſſe Arten von Streichen und Manipuliren des Körpers in Bewegung geſezt werden kann, aber gewiſs ohne Beyhülfe von Nerven - ſchwäche und Schwärmerey nie jene wunderbare Phänomene hervorbringen wird, noch weniger im Stande ſeyn kann, das menſchliche Leben zu verlän - gern.

Faſt ſchien es, als wolle man jene Idee ganz den Charlatans über - laſſen, um ſo mehr, da der aufge - klärtere Theil ſich für die Unmög - lichkeit dieſer Erfindung dadurch ent -39 ſchädigte, daſs er die Länge des Le - bens nicht in der Zahl der Tage, ſon - dern in dem Gebrauch und Genuſs deſ - ſelben fand.

Da aber dieſs doch unmöglich für einerley gelten kann, und da ſich in neuern Zeiten unſre Einſichten in die Natur des organiſchen Lebens und der dazu nöthigen Bedingungen ſo ſehr ver - vollkommnet und berichtigt haben, ſo iſt es wohl der Mühe werth, dieſe beſ - ſern Kenntniſſe zur Entwicklung eines ſo wichtigen Gegenſtandes zu verar - beiten, und die Methode, das Leben zu verlängern, ſo auf die Prinzipien der animaliſchen Phyſik zu gründen, daſs nicht allein eine beſtimmtere Richt - ſchnur des Lebens daraus entſtehe, ſon - dern auch, was kein unwichtiger Ne - bennutzen ſeyn wird, dieſer Gegen - ſtand inskünftige den Schwärmern und Betrügern unbrauchbar gemacht werde, die bekanntlich ihr Weſen in einem40 ſcientifiſchen Gebiet nur ſo lange trei - ben können, als es noch nicht durch die Fackel gründlicher Unterſuchung er - leuchtet iſt.

41

Zweyte Vorleſung. Unterſuchung der Lebenskraft und der Lebensdauer überhaupt.

Eigenſchaften und Geſetze der Lebenskraft Begriff des Lebens Lebensconſumtion, unzertrennliche Folge der Lebensoperation ſelbſt Lebensziel Urſachen der Lebensdauer Retardation der Lebensconſumtion Möglichkeit der Lebensverlängerung Geſchwind und langſam leben Intenſives und extenſives Le - ben der Schlaf.

Das erſte, worauf es uns bey Verlän - gerung des Lebens ankommt, muſs wohl nähere Kenntniſs der Natur des Le - bens und beſonders der Lebenskraft, der Grundurſache alles Lebens, ſeyn.

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Sollte es denn gar nicht möglich ſeyn, die innere Natur jener heiligen Flamme etwas genauer zu erforſchen, und daraus das, was ſie nähren, das, was ſie ſchwächen kann, zu erkennen? Ich fühle ganz, was ich bey dieſer Unterſuchung wage. Es iſt das Aller - heiligſte der Natur, dem ich mich - here, und nur zu viel ſind der Beyſpie - le, wo der zu kühne Forſcher geblendet und beſchämt zurückkehrte, und wo ſelbſt ihr innigſter Vertrauter, Haller, ausrufen muſste: Ins Innre der Natur dringt kein erſchaffner Geiſt. Aber dennoch darf dieſs uns nicht ab - ſchrecken. Die Natur bleibt immer eine gütige Mutter, ſie liebet und be - lohnt den, der ſie ſucht, und iſt es uns gleich nicht allemal möglich, das viel - leicht zu hoch geſteckte Ziel unſres Stre - bens zu erreichen, ſo können wir doch gewiſs ſeyn, auf dem Wege ſchon ſo43 viel Neues und Intereſſantes zu finden, daſs uns gewiſs ſchon der Verſuch, ihr näher zu kommen, reichlich belohnt wird. Nur hüte man ſich, mit zu raſchen übermüthigen Schritten auf ſie einzudringen. Unſer Sinn ſey offen, rein, gelehrig, unſer Gang vorſichtig und immer aufmerkſam, Täuſchungen der Phantaſie und der Sinne zu vermei - den, und unſer Weg ſey der ſichere, wenn gleich nicht der bequemſte, Weg der Erfahrung und beſcheidenen Prü - fung nicht der Flug kühner Hypo - theſen, der gewöhnlich zulezt der Welt nur zeiget, daſs wir wächſerne Flügel hatten. Auf dieſem Wege ſind wir am ſicherſten, das Schickſal jener Philo - ſophen zu vermeiden, von welchen Baco ſehr paſſend ſagt: ſie werden zu Nachteulen, die nur im Dunkel ihrer Träumereyen ſehen, aber im Licht der Erfahrung erblinden, und gerade das am wenigſten wahrnehmen können, was am hellſten iſt. Auf dieſem Wege und in dieſer Geiſtesſtimmung ſind ſeit44 dieſes groſsen Mannes Zeiten die Freun - de der Natur ihr näher gekommen, als jemals vorher, ſind Entdeckungen ihrer tiefſten Geheimniſſe, Benutzungen ihrer verborgenſten Kräfte gemacht worden, die unſer Zeitalter in Erſtaunen ſetzen, und die noch die Nachwelt bewundern wird. Auf dieſem Wege iſt es möglich geworden, ſelbſt ohne das innere Weſen der Dinge zu erkennen, dennoch durch unermüdetes Forſchen ihre Eigenſchaf - ten und Kräfte ſo genau abzuwiegen und zu ergründen, daſs wir ſie wenigſtens practiſch kennen und benutzen. So iſts dem menſchlichen Geiſte gelungen, ſelbſt unbekannte Weſen zu beherrſchen und nach ſeinem Willen und zu ſeinem Ge - brauch zu leiten. Die magnetiſche und electriſche Kraft, ſind beydes Weſen, die ſogar unſern Sinnen ſich entziehen, und deren Natur uns vielleicht ewig uner - forſchlich bleiben wird, und dennoch haben wir ſie uns ſo dienſtbar gemacht, daſs die eine uns auf der See den Weg45 zeigen, die andere die Nachtlampe am Bett anzünden muſs.

Vielleicht gelingt es mir, auch in ge - genwärtiger Unterſuchung ihr näher zu kommen, und ich glaube, daſs dazu fol - gende Behandlung die ſchicklichſte ſeyn wird: erſtens die Begriffe von Leben und Lebenskraft genauer zu beſtimmen, und ihre Eigenſchaften feſtzuſetzen, ſo - dann über die Dauer des Lebens über - haupt, und in verſchiedenen organiſchen Körpern insbeſondere, die Natur zu be - fragen, Beyſpiele zu ſammlen und zu vergleichen, und aus den Umſtänden und Lagen, in welchen das Leben eines Geſchöpfs längere oder kürzere Dauer hat, Schlüſſe auf die wahrſcheinlichſten Urſachen des langen oder kurzen Lebens überhaupt zu ziehen. Nach dieſen Vor - ausſetzungen wird ſich das Problem, ob und wie menſchliches Leben zu verlän - gern ſey, am befriedigendſten und ver - nünftigſten auflöſen laſſen.

46

Was iſt Leben und Lebenskraft? Dieſe Fragen gehören unter die vielen ähnlichen, die uns bey Unterſuchung der Natur aufſtoſsen. Sie ſcheinen leicht, betreffen die gewöhnlichſten all - täglichſten Erſcheinungen, und ſind dennoch ſo ſchwehr zu beantworten. Wo der Philoſoph das Wort Kraft braucht, da kann man ſich immer dar - auf verlaſſen, daſs er in Verlegenheit iſt, denn er erklärt eine Sache durch ein Wort, das ſelbſt noch ein Räthſel iſt; denn wer hat noch je mit dem Worte Kraft einen deutlichen Begriff verbinden können? Auf dieſe Weiſe ſind eine un - zählige Menge Kräfte, die Schwehrkraft, Attractionskraft, electriſche, magneti - ſche Kraft u. ſ. w. in die Phyſic gekom - men, die alle im Grunde weiter nichts bedeuten, als das X in der Algebra, die unbekannte Gröſse, die wir ſuchen. Indeſs wir müſſen nun einmal Bezeich - nungen für Dinge haben, deren Exiſtenz unleugbar, aber ihr Weſen unbegreiflich iſt, und man erlaube mir alſo auch hier47 ſie zu gebrauchen, ohneracht dadurch noch nicht einmal entſchieden wird, ob es eine eigene Materie oder nur eine Ei - genſchaft der Materie iſt, wovon wir reden.

Ohnſtreitig gehört die Lebenskraft unter die allgemeinſten, unbegreiflich - ſten und gewaltigſten Kräfte der Natur. Sie erfüllt, ſie bewegt alles, ſie iſt höchſt wahrſcheinlich der Grundquell, aus dem alle übrigen Kräfte der phyſi - ſchen, wenigſtens organiſchen, Welt flieſsen. Sie iſts, die alles hervorbringt, erhält, erneuert, durch die die Schö - pfung nach ſo manchem Tauſende von Jahren noch jeden Frühling mit eben der Pracht und Friſchheit hervorgeht, als das erſte mal, da ſie aus der Hand ihres Schöpfers kam. Sie iſt unerſchöpflich, unendlich, ein wahrer ewiger Hauch der Gottheit. Sie iſts endlich, die, verfeinert und durch eine vollkommnere Organiſation exaltirt, ſogar die Denk - und Seelenkraft entflammt, und dem48 vernünftigen Weſen zugleich mit dem Leben auch das Gefühl und das Glück des Lebens giebt. Denn ich habe im - mer bemerkt, daſs das Gefühl von Werth und Glück der Exiſtenz ſich ſehr genau nach dem mehr oder wenigern Reich - thum an Lebenskraft richtet, und daſs, ſo wie ein gewiſſer Ueberfluſs derſelben zu allen Genüſſen und Unternehmungen aufgelegter und das Leben ſchmackhaft macht, nichts ſo ſehr, als Mangel daran, im Stande iſt, jenen Ekel und Ueber - druſs des Lebens hervorzubringen, der leider unſere Zeiten ſo merklich aus - zeichnet.

Durch genauere Beobachtung ihrer Erſcheinungen in der organiſchen Welt laſſen ſich folgende Eigenſchaften und Geſetze derſelben beſtimmen:

1) Die Lebenskraft iſt das feinſte, durchdringendſte, unſichtbarſte Agens der Natur, das wir bis jezt kennen. Sie übertrifft darinne ſogar die Lichtmaterie,electri -49electriſche und magnetiſche Kraft, mit denen ſie übrigens am nächſten verwandt zu ſeyn ſcheint.

2) Ohneracht ſie alles durchdringt, ſo giebt es doch gewiſſe Modificationen der Materie, zu denen ſie eine gröſsere Verwandſchaft zu haben ſcheint, als zu andern. Sie verbindet ſich daher inni - ger und in gröſsrer Menge mit ihnen, und wird ihnen gleichſam eigen. Dieſe Modification der Materie nennen wir die organiſche Verbindung und Structur der Beſtandtheile, und die Körper, die ſie beſitzen, organiſche Körper, Pflan - zen und Thiere. Dieſe organiſche Stru - ctur ſcheint in einer gewiſſen Lage der feinſten Theilchen zu beſtehen, und wir ſtoſsen hier auf eine merkwürdige Aehn - lichkeit der Lebenskraft mit der magne - tiſchen Kraft, indem auch dieſe durch einen Schlag, der in gewiſſer Richtung auf ein Stück Eiſen geführt wird und die innere Lage der feinſten Beſtandtheile ändert, ſogleich erweckt, und durchD50eine entgegen geſezte Erſchütterung wie - der aufgehoben werden kann. Daſs we - nigſtens die organiſche Structur nicht in dem ſichtbaren faſerichten Gewebe liegt, ſieht man am Ey, wo davon keine Spur zu finden und dennoch organiſches Le - ben gegenwärtig iſt.

3) Sie kann in einem freyen und gebundenen Zuſtand exiſtiren, und hat darinne viel Aehnlichkeit mit dem Feu - erweſen und der electriſchen Kraft. So wie dieſe in einem Körper wohnen kön - nen, ohne ſich auf irgend eine Art zu äuſſern, bis ſie durch einen angemeſſe - nen Reiz in Wirkſamkeit verſezt werden, eben ſo kann die Lebenskraft in einem organiſchen Körper lange in einem ge - bundenen Zuſtand wohnen, ohne ſich durch etwas anders, als ſeine Erhaltung und Verhütung ſeiner Auflöſung, anzu - deuten. Man hat davon erſtaunliche Beyſpiele. Ein Saamenkorn kann auf dieſe Art Jahre, ein Ey mehrere Monate lang ein gebundenes Leben be -51 halten, es verdunſtet nicht, es verdirbt nicht, der bloſse Reiz der Wärme kann das gebundene Leben frey machen, und entwickeltes reges Leben hervorbringen. Ja ſelbſt das ſchon entwickelte organi - ſche Leben kann auf dieſe Art unterbro - chen und gebunden werden, aber den - noch in dieſem Zuſtande einige Zeit fort - dauern und die ihm anvertraute Organi - ſation erhalten, wovon uns beſonders die Polypen und Pflanzen-Thiere höchſt - merkwürdige Beyſpiele liefern.

4) So wie ſie zu verſchiedenen or - ganiſchen Körpern eine verſchiedene Verwandſchaft zu haben ſcheint, und manchen in gröſsrer manchen in gerin - gerer Menge erfüllt, ſo iſt auch ihre Bindung mit einigen feſter, mit andern lockrer. Und merkwürdig iſt es, daſs gerade da, wo ſie in vorzüglicher Menge und Vollkommenheit exiſtirt, ſie locke - rer anzuhängen ſcheint. Der unvoll - kommne ſchwach lebende Polyp zum Beyſpiel hält ſie feſter, als ein vollkomm -D 252neres Thier aus einer höhern Klaſſe der Weſen. Dieſe Bemerkung iſt für unſere jetzige Unterſuchung von vor - züglicher Wichtigkeit.

5) Sie giebt jedem Körper, den ſie erfüllt, einen ganz eigenthümlichen Ka - racter, ein ganz ſpezifiſches Verhältniſs zur übrigen Körperwelt. Sie theilt ihm nehmlich erſtens die Fähigkeit mit, Ein - drücke als Reize zu percipiren und dar - auf zu reagiren, und zweytens entzieht ſie ihn den allgemeinen phyſiſchen und chemiſchen Geſetzen der todten Natur, ſo daſs man alſo mit Recht ſagen kann: durch den Beytritt der Lebenskraft wird ein Körper aus der mechaniſchen und chemiſchen Welt in eine neue, die or - ganiſche oder belebte, verſezt. Hier finden die allgemeinen phyſiſchen Na - turgeſetze nur zum Theil und mit gewiſ - ſen Einſchränkungen ſtatt. Alle Ein - drücke werden in einem belebten Kör - per anders modifizirt und reflectirt, als in einem unbelebten. Daher iſt auch in53 einem belebten Körper kein blos mecha - niſcher oder chemiſcher Prozeſs möglich, und alles trägt den Karakter des Lebens. Ein Stoſs, Reiz, Kälte und Hitze wirken auf ein belebtes Weſen nach ganz eigen - thümlichen Geſetzen, und jede Wir - kung, die da entſteht, muſs als eine aus dem äuſſerlichen Eindruck und der Re - action der Lebenskraft zuſammengeſezte angeſehen werden.

Eben hierinn liegt auch der Grund der Eigenthümlichkeit einzelner Arten, ja jedes einzelnen Individuums. Wir ſehen täglich, daſs Pflanzen, die in ei - nerley Boden neben einander wachſen und ganz einerley Nahrung genieſsen, doch in ihrer Geſtalt, Säften und Kräf - ten himmelweit von einander verſchie - den ſind. Eben das finden wir im Thier - reich, und es iſt eigentlich das, wovon man ſagt: Ein jedes hat ſeine eigne Natur.

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6. Die Lebenskraft iſt das gröſste Erhaltungsmittel des Körpers, den ſie bewohnt. Nicht genug, daſs ſie die gan - ze Organiſation bindet und zuſammen hält; ſo widerſteht ſie auch ſehr kräftig den zerſtörenden Einflüſſen der übrigen Naturkräfte, in ſo fern ſie auf chemi - ſchen Geſetzen beruhen, die ſie aufzu - heben, wenigſtens zu modifiziren ver - mag. Ich rechne hieher hauptſächlich die Wirkungen der Fäulniſs, der Ver - witterung, des Froſts. Kein leben - diges Weſen fault; es gehört immer erſt Schwächung oder Vernichtung der Le - benskraft dazu, um Fäulniſs möglich zu machen. Selbſt in ihrem gebundenen unwirkſamen Zuſtand vermag ſie Fäul - niſs abzuhalten. Kein Ey, ſo lange noch Lebenskraft darinne iſt, kein Saa - menkorn, keine eingeſponnene Raupe, kein Scheintodter fault, und es iſt ein wahres Wunderwerk, wie ſie Körper, die eine ſo ſtarke Neigung zur Fäulniſs haben, wie eben der menſchliche, 60 80 ja 100 Jahre dafür ſchützen kann. 55 Aber auch der zweyten Art von Deſtru - ction, der Verwitterung, die endlich alles, ſelbſt die härteſten Körper auflö - ſet, und zerfallen macht, widerſteht ſie durch ihre bindende Eigenſchaft. Und eben ſo der ſo gefährlichen Entzie - hung der Feuertheilchen, dem Froſt. Kein lebender Körper erfriert, das heiſst, ſo lange ſeine Lebenskraft noch wirkt, kann ihm der Froſt nichts anhaben. Mitten in den Eisgebürgen des Süd - und Nordpols, wo die ganze Natur erſtarrt zu ſeyn ſcheint, ſieht man lebendige Ge - ſchöpfe, ſogar Menſchen, die nichts von dem allgemeinen Froſt leiden. *)Galanthus nivalis treibt ſogar ſeine Blüthe durch den Schnee aus gefrornen Erdreich; auch bleibt die Blume unbeſchädigt, ohneracht vieler ſtarken Nachtfröſte. Hunter lieſs Fiſche im Waſſer einfrieren; ſo lange ſie lebten, blieb das übrigens gefrorne Waſſer immer um ſie herum flüſsig, und bildete eine wahre Höhle; erſt in dem Augenblick, da ſie ſtarben, froren ſie ein.Und dieſs gilt ebenfalls nicht blos von ihrem56 wirkſamen, ſondern auch von dem ge - bundenen Zuſtande. Ein noch Leben habendes Ey und Saamenkorn erfriert weit ſpäter, als ein todtes. Der Bär bringt den ganzen Winter halb erſtarrt im Schnee, die todſcheinende Schwalbe, die Puppe des Inſects unter dem Eiſe zu, und erfrieren nicht. Dann erſt, wenn der Froſt ſo hoch ſteigt, daſs er die Le - benskraft ſchwächt oder unterdrückt, kann er ſie überwältigen, und den nun lebloſen Körper durchdringen. Dieſs Phänomen beruht beſonders auf der Ei - genſchaft der Lebenskraft, Wärme zu entwickeln, wie wir gleich ſehen wer - den.

7) Ein gänzlicher Verluſt der Le - benskraft zieht alſo die Trennung der organiſchen Verbindung des Körpers nach ſich, den ſie vorher erfüllte. Seine Materie gehorcht nun den Geſetzen und Affinitäten der todten chemiſchen Natur, der ſie nun angehört, ſie zerſezt und trennt ſich in ihre Grundſtoffe; es erfolgt57 unter den gewöhnlichen Umſtänden die Fäulniſs, die allein uns überzeugen kann, daſs die Lebenskraft ganz von ei - nem organiſchen Körper gewichen iſt. Aber groſs und erhebend iſt die Bemer - kung, daſs ſelbſt die, alles Leben zu vernichten ſcheinende, Fäulniſs, das Mittel werden muſs, wieder neues Le - ben zu entwickeln, und daſs ſie eigent - lich nichts anders iſt, als ein höchſt wichtiger Prozeſs, die in dieſer Geſtalt nicht mehr Lebensfähigen Beſtandtheile aufs ſchnellſte frey und zu neuen orga - niſchen Verbindungen und Leben ge - ſchickt zu machen. Kaum iſt ein Kör - per auf dieſe Art aufgelöſet, ſo fangen ſogleich ſeine Theilchen an, in tauſend kleinen Würmchen wieder belebt zu werden, oder ſie feyern ihre Auferſte - hung in der Geſtalt des ſchönſten Graſes, der lieblichſten Blumen, beginnen auf dieſe Art von neuen den groſsen Lebens - zirkel organiſcher Weſen, und ſind durch einige Metamorphoſen vielleicht ein Jahr darnach wieder Beſtandtheile58 eines eben ſo vollkommnen menſchli - chen Weſens, als das war, mit dem ſie zu verweſen ſchienen. Ihr ſcheinbarer Tod war alſo nur der Uebergang zu ei - nem neuen Leben, und die Lebenskraft verläſst einen Körper nur, um ſich bald vollkommener wieder damit verbinden zu können.

8) Die Lebenskraft kann durch ge - wiſſe Einwirkungen geſchwächt, ja ganz aufgehoben, durch andre erweckt, ge - ſtärkt, genährt werden. Unter die ſie vernichtenden gehört vorzüglich die Kälte, der Hauptfeind alles Lebens. Zwar ein mäſsiger Grad von Kälte kann in ſo fern ſtärkend ſeyn, indem er die Lebenskraft concentrirt, und ihre Verſchwendung hindert, aber es iſt keine poſitive ſon - dern negative Stärkung, und ein hoher Grad von Kälte verſcheucht ſie ganz. In der Kälte kann keine Lebensentwicklung geſchehen, kein Ey ausgebrütet werden, kein Saamenkorn keimen.

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Ferner gehören hieher gewiſſe Er - ſchütterungen, die theils durch Vernich - tung der Lebenskraft, theils auch durch eine nachtheilige Veränderung der in - nern organiſchen Lage der Theilchen zu wirken ſcheinen. So entzieht ein hefti - ger electriſcher Schlag, oder der Blitz, der Pflanzen - und Thierwelt augenblick - lich die Lebenskraft, ohne daſs man oft die geringſte Verletzung der Organe ent - decken kann. So können, beſonders bey vollkommnern Geſchöpfen, Seelen - erſchütterungen, heftiges Schrecken oder Freude, die Lebenskraft augen - blicklich aufheben.

Endlich giebt es noch gewiſſe phy - ſiſche Potenzen, die äuſſerſt ſchwächend, ja vernichtend auf ſie wirken, und die wir daher gewöhnlich Gifte nennen, z. E. das faule Contagium, das Kirſchlorbeer - waſſer, das weſentliche Oel der bittern Mandeln u. dgl.

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Aber nun exiſtiren auch Weſen von entgegengeſezter Art, die eine gewiſſe Freundſchaft und Verwandſchaft zur Le - benskraft haben, ſie erwecken, ermun - tern, ja höchſtwahrſcheinlich ihr eine feine Nahrung geben können. Dieſe ſind vorzüglich Licht, Wärme und Luft, oder vielmehr Sauerſtoff, drey Himmels - gaben, die man mit Recht die Freunde und Schutzgeiſter alles Lebens nennen kann.

Oben an ſteht das Licht, ohnſtreitig der nächſte Freund und Verwandte des Lebens, und gewiſs in dieſer Rückſicht von weit weſentlicherer Einwürkung, als man gewöhnlich glaubt. Ein jedes Ge - ſchöpf hat ein um ſo vollkommneres Le - ben, je mehr es den Einfluſs des Lichts genieſst. Man entziehe einer Pflanze, einem Thier, das Licht, es wird bey al - ler Nahrung, bey aller Wartung und Pflege, erſt die Farbe, dann die Kraft ver - lieren, im Wachsthum zurückbleiben, und am Ende verbutten. Selbſt der61 Menſch wird durch ein lichtloſes Leben bleich, ſchlaff und ſtumpf, und verliert zulezt die ganze Energie des Lebens, wie ſo manches traurige Beyſpiel lange im dunkeln Kerker verſchloſsner Perſo - nen beweiſst. Ja, ich glaube nicht zu viel zu ſagen, wenn ich behaupte: Organiſches Leben iſt nur in der Influenz des Lichts, und alſo wahrſcheinlich durch dieſelbe möglich, denn in den Eingeweyden der Erde, in den tiefſten Höhlungen, wo ewige Nacht wohnt, äuſſert ſich nur das, was wir unorgani - ſches Leben nennen. Hier athmet nichts, hier empfindet nichts, das einzige, was man etwa noch antrifft, ſind einige Ar - ten von Schimmel oder Steinmoos, der erſte unvollkommenſte Grad von Vege - tation. Sogar da zeigt ſich, daſs dieſe Vegetation meiſtens nur an oder bey verfaulten Holzwerk entſtehe. Alſo muſs auch da der Keim organiſchen Le - bens erſt durch Holz und Waſſer hinun - ter gebracht, oder Lebenserzeugende Fäulniſs hervorgebracht werden, wel -62 che auſſerdem in dieſen Abgründen nicht exiſtirt.

Die andere nicht weniger wohlthä - tige Freundin der Lebenskraft iſt: Wär - me. Sie allein iſt im Stande, den erſten Lebenskeim zu entwickeln. Wenn der Winter die ganze Natur in einen todten - ähnlichen Zuſtand verſezt hat, ſo braucht nur die warme Frühlingsluft ſie anzu - wehen, und alle ſchlafende Kräfte wer - den wieder rege. Je näher wir den Po - len kommen, deſto todter wird alles, und man findet endlich Gegenden, wo ſchlechterdings keine Pflanze, kein In - ſect, kein kleineres Thier exiſtiren, ſon - dern blos groſse Maſſen von Geſchöpfen, als Wallfiſche, Bären u. dgl., die zum Le - ben nöthige Wärme conſerviren können. Genug, wo Leben iſt, da iſt auch Wärme in mehr oder mindern Grade, und es iſt eine höchſtwichtige unzer - trennliche Verbindung zwiſchen beyden. Wärme giebt Leben, und Leben entwi - ckelt auch wiederum Wärme, und es iſt63 ſchwehr zu beſtimmen, welches Urſach und welches Folge iſt.

Von der auſſerordentlichen Kraft der Wärme, Leben zu nähren und zu erwecken, verdient folgendes ganz neue und entſcheidende Beyſpiel angeführt zu werden: Den zweyten Auguſt 1790 ſtürzte ſich ein Carabinier, Nahmens Petit zu Strasburg, ganz nackend aus dem Fenſter des Militairhoſpitals in den Rhein. Um 5 Uhr Nachmittags bemerkte man erſt, daſs er fehle, und er mochte über eine halbe Stunde im Waſſer gele - gen haben, als man ihn herauszog. Er war ganz tod. Man that weiter nichts, als daſs man ihn in ein recht durch - wärmtes Bett legte, den Kopf hoch, die Arme an den Leib, und die Beine nahe neben einander gelegt. Man begnügte ſich dabey, ihm nur immerfort warme Tücher, beſonders auf den Magen und die Beine aufzulegen. Auch wurden in verſchiedene Gegenden des Bettes heiſse Steine, mit Tüchern umwickelt, gelegt. 64Nach 7 bis 8 Minuten nahm man an den obern Augenliedern eine kleine Bewe - gung wahr. Einige Zeit darauf ging die bis dahin feſt an die obere geſchloſsne untere Kinnlade auf, es kam Schaum aus dem Munde, und Petit konnte eini - ge Löffel Wein verſchlucken. Der Puls kam wieder, und eine Stunde darauf konnte er reden. Offenbar wirkt die Wärme im Scheintod eben ſo kräftig, als zur erſten Entwicklung des Lebens, ſie nährt den kleinſten Funken des noch übrigen Lebens, facht ihn an, und bringt ihn nach und nach zur Flamme.

Die dritte wichtigſte Nahrung des Lebens iſt Luft. Wir finden kein We - ſen, das ganz ohne Luft leben könnte, und bey den meiſten folgt auf Entzie - hung derſelben ſehr bald, oft augen - blicklich der Tod. Und was ihren Ein - fluſs am ſichtbarſten macht, iſt, daſs die Athemholenden Thiere weit reicher an Lebenskraft ſind und ſie in vollkomm - nern Grade beſitzen, als die Nichtath -menden.65menden. Vorzüglich ſcheint die dephlo - giſtiſirte, oder Feuerluft, derjenige Be - ſtandtheil unſrer Atmosphäre zu ſeyn, der zunächſt und am kräftigſten die Le - benskraft nährt, und man hat in neuern Zeiten, wo uns unſere wunderthätige Chemie dieſelbe rein darzuſtellen ge - lehrt hat, durch das Einathmen derſel - ben ein allgemeines Gefühl von Stärkung und Ermunterung bemerkt. Die Grund - lage dieſer Feuer - oder Lebensluft nen - nen die Chemiker den Sauerſtoff (Oxy - gene), und dieſer Beſtandtheil iſt es ei - gentlich, der das Belebende in der Luft enthält, und beym Athemholen in das Blut übergehet. Auch das Waſſer gehört in ſo fern zu den Lebensfreunden, als es auch Sauerſtoff enthält, und we - nigſtens zu den Lebensbedingungen, als ohne Flüſsigkeit keine Aeuſserung des Lebens möglich iſt.

Ich glaube alſo mit Recht behaupten zu können, daſs Licht, Wärme und Sauerſtoff, die wahren eigenthümlichenE66Nahrungs - und Erhaltungsmittel der Lebenskraft ſind. Gröbere Nahrungs - mittel (den Antheil von Sauerſtoff und Feuermaterie abgerechnet, den ſie ent - halten) ſcheinen mehr zur Erhaltung der Organe und zur Erſetzung der Con - ſumtion zu dienen. Sonſt lieſse ſichs nicht erklären, wie Geſchöpfe ſo lange ohne eigentliche Nahrung ihr Leben er - halten konnten. Man ſehe das Hühn - chen im Ey an. Ohne den geringſten Zugang von auſſen lebt es, entwickelt ſich, und wird ein vollkommnes Thier. Eine Hyazinten oder andere Zwiebel, kann ohne die geringſte Nahrung, als den Dunſt von Waſſer, ſich entwickeln, ihren Stengel und die ſchönſten Blätter und Blumen treiben. Selbſt bey voll - kommnern Thieren ſehen wir Erſchei - nungen, die auſſerdem unerklärbar - ren. Der Engländer Fordyce z. E. ſchloſs Goldfiſche in Gefäſse, mit Brunnenwaſſer gefüllt, ein, lies ihnen anfangs alle 24 Stunden, nachher aber nur alle 3 Tage friſches Waſſer geben, und ſo lebten ſie67 ohne alle Nahrung 15 Monate lang, und, was noch mehr zu bewundern iſt, wa - ren noch einmal ſo groſs geworden. Weil man aber glauben konnte, daſs doch in dem Waſſer eine Menge unſicht - barer Nahrungstheilchen ſeyn möchten, ſo deſtillirte er nun daſſelbe, ſezte ihm wieder Luft zu, und um auch allen Zu - gang von Inſecten abzuhalten, verſtopfte er das Gefäſs ſorgfältig. Demohngeach - tet lebten auch hier die Fiſche lange Zeit fort, wuchſen ſogar und hatten Excre - tionen. Wie wäre es möglich, daſs ſelbſt Menſchen ſo lange hungern und den - noch ihr Leben erhalten könnten, wenn die unmittelbare Nahrung der Lebens - kraft ſelbſt aus den Nahrungsmitteln ge - zogen werden müſste? Ein franzöſiſcher Offizier*)S. Hiſt. de l Academis R. des Sciences. An 1769. verfiel nach vielen erlittenen Kränkungen in eine Gemüthskrankheit, in welcher er beſchloſs, ſich auszuhun - gern, und blieb ſeinem Vorſatz ſo ge -E 268treu, daſs er ganzer 46 Tage nicht die geringſte Speiſe zu ſich nahm. Nur am fünften Tage foderte er abgezogenes Waſſer, und da man ihm ein halbes - ſel Anisbrantwein gab, verzehrte er ſol - ches in 3 Tagen. Als man ihm aber vorſtellte, daſs dieſs zu viel ſey, that er in jedes Glaſs Waſſer, das er trank, nicht mehr als 3 Tropfen, und kam mit dieſer Flaſche bis zum 39ſten Tage aus. Nun hörete er auch auf zu trinken, und nahm die lezten 8 Tage gar nichts mehr zu ſich. Vom 36ſten Tage an muſste er lie - gen, und merkwürdig war es, daſs die - ſer ſonſt äuſserſt reinliche Mann die ganze Zeit ſeiner Faſten über, einen ſehr üblen Geruch von ſich gab (eine Folge der unterlaſſenen Erneuerung ſeiner Säfte, und der damit verbundenen Ver - derbniſs), und daſs ſeine Augen ſchwach wurden. Alle Vorſtellungen waren um - ſonſt, und man gab ihn ſchon völlig verlohren, als plözlich die Stimme der Natur durch einen Zufall wieder in ihm erwachte. Er ſah ein Kind mit einem69 Stück Butterbrod hereintreten. Dieſer Anblick erregte mit einem male ſeinen Appetit dermaſſen, daſs er dringend um eine Suppe bat. Man reichte ihm von nun an alle 2 Stunden einige Löffel Reiſsſchleim, nach und nach ſtärkere Nahrung, und ſo wurde ſeine Geſund - heit, obwohl langſam, wieder herge - ſtellt. Aber merkwürdig war dieſs, daſs, ſo lange er faſtete und matt war, ſein eingebildeter Stand, ſein Wahnſinn verſchwunden war, und er ſich bey ſei - nem gewöhnlichen Nahmen nennen lieſs; ſobald er aber durchs Eſſen ſeine Kräfte wieder erlangte, kehrte auch das ganze Gefolge ungereimter Ideen wieder zurück.

9) Es giebt noch ein Schwächungs - oder Verminderungsmittel der Lebens - kraft, was in ihr ſelbſt liegt, nehmlich der Verluſt durch Aeuſserung der Kraft. Bey jeder Aeuſserung derſelben geſchieht eine Entziehung von Kraft, und wenn70 dieſe Aeuſserungen zu ſtark oder zu an - haltend fortgeſezt werden, ſo kann völ - lige Erſchöpfung die Folge ſeyn. Dieſs zeigt ſich ſchon bey der gewöhnlichen Erfahrung, daſs wir durch Anſtrengun - gen derſelben beym Gehen, Denken u. ſ. w. müde werden. Noch deutlicher aber zeigt ſichs bey den neuern Galuoni - ſchen Verſuchen, wo man nach dem Tode einen noch lebenden Muskel und Nerven durch Metallbelegung reizt. Wiederhohlt man den Reiz oft und ſtark, ſo wird die Kraft bald, geſchieht es langſamer, ſo wird ſie ſpäter erſchöpft, und ſelbſt, wenn ſie erſchöpft ſcheint, kann man dadurch, daſs man einige Zeit die Reizungen unterläſst, neue Anſamm - lung und neue Aeuſserungen derſelben bewirken. Dadurch entſteht alſo ein neues Stärkungsmittel, nehmlich die Ruhe, die unterlaſsne Aeuſserung. Da - durch kann ſie ſich ſammlen, und wirk - lich vermehren.

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10) Die nächſten Wirkungen der Lebenskraft ſind nicht blos, Eindrücke als Reize zu percipiren und darauf zu - rück zu wirken, ſondern auch die Be - ſtandtheile, die dem Körper zugeführt werden, in die organiſche Natur umzu - wandeln (d. h. ſie nach organiſchen Ge - ſetzen zu verbinden) und ihnen auch die Form und Structur zu geben, die der Zweck des Organismus erfodert.

11) Die Lebenskraft erfüllt alle Theile des organiſchen belebten Körpers, ſo wohl feſte als flüſſige, äuſsert ſich aber nach Verſchiedenheit der Organe auf verſchiedene Weiſe, in der Nerven - faſer durch Senſibilität, in der Muskel - faſer durch Irritabilität u. ſ[.]f. Dieſs ge - ſchieht einige Zeit ſichtbar und zuneh - mend, und wir nennen es Generation, Wachsthum, ſo lange, bis der orga - niſche Körper den ihm beſtimmten Grad von Vollkommenheit erreicht hat. Aber dieſe bildende ſchaffende Kraft hört des - wegen nun nicht auf zu wirken, ſon -72 dern das, was vorher Wachsthum war, wird nun beſtändige Erneurung, und dieſe immerwährende Reproduction iſt eins der wichtigſten Erhaltungsmittel der Geſchöpfe.

Dieſs ſey genug von dem Weſen dieſer Wunderkraft. Nun wird es uns leichter ſeyn, über das Verhältniſs die - ſer Kraft zum Leben ſelbſt, über das, was eigentlich Leben heiſst, und die Dauer deſſelben, etwas beſtimmteres zu ſagen.

Leben eines organiſchen Weſens heiſst der freye wirkſame Zuſtand jener Kraft, und die damit unzertrennlich verbundene Regſamkeit und Wirkſam - keit der Organe. Lebenskraft iſt alſo nur Fähigkeit; Leben ſelbſt Hand - lung. Jedes Leben iſt folglich eine fortdauernde Operation von Kraftäuſse - rungen und organiſchen Anſtrengun - gen. Dieſer Prozeſs hat alſo nothwen - dig eine beſtändige Gonſumtion der73 Kraft und der Organe zur unmittelbaren Folge, und dieſe erfodert wieder eine beſtändige Erſetzung beyder, wenn das Leben fortdauern ſoll. Man kann alſo den Prozeſs des Lebens als einen beſtän - digen Conſumtionsprozeſs anſehen, und ſein Weſentliches in einer beſtändigen Aufzehrung und Wiedererſetzung unſrer ſelbſt beſtimmen. Man hat ſchon oft das Leben mit einer Flamme verglichen, und wirklich iſt es ganz einerley Opera - tion. Zerſtörende und ſchaffende Kräfte ſind in unaufhörlicher Thätigkeit in ei - nem beſtändigen Kampf in uns, und je - der Augenblick unſrer Exiſtenz iſt ein ſonderbares Gemiſch von Vernichtung und neuer Schöpfung. So lange die Le - benskraft noch ihre erſte Friſchheit und Energie beſizt, werden die lebenden ſchaffenden Kräfte die Oberhand behal - ten, und in dieſem Streite ſogar noch ein Ueberſchuſs für ſie bleiben; der Kör - per wird alſo wachſen und ſich vervoll - kommnen. Nach und nach werden ſie ins Gleichgewicht kommen, und die74 Conſumtion wird mit der Regeneration in ſo gleichem Verhältniſs ſtehen, daſs nun der Körper weder zu noch abnimmt. Endlich aber mit Verminderung der Le - benskraft und Abnutzung der Organe wird die Conſumtion die Regeneration zu übertreffen anfangen, und es wird Abnahme, Degradation, zulezt gänzliche Auflöſung die unausbleibliche Folge ſeyn. Dieſs iſts, was wir auch durchgängig finden. Jedes Geſchöpf hat drey Perioden, Wachsthum, Stilleſtand, Abnahme.

Die Dauer des Lebens hängt alſo im Allgemeinen von folgenden Puncten ab: 1) zu allererſt von der Summe der Le - benskraft, die dem Geſchöpf bey - wohnt. Natürlich wird ein gröſsrer Vor - rath von Lebenskraft länger ausdauern und ſpäter conſumirt werden, als ein geringer. Nun wiſſen wir aber aus den vorigen, daſs die Lebenskraft zu man - chen Körpern mehr zu andern weniger Verwandſchaft hat, manche in gröſsrer75 manche in geringerer Menge erfüllt, ferner daſs manche äuſſerliche Einwir - kungen ſchwächend manche nährend für ſie ſind. Dieſs giebt alſo ſchon den erſten und wichtigſten Grund der Verſchiedenheit der Lebensdauer. 2) Aber nicht blos die Lebenskraft ſon - dern auch die Organe werden durchs Le - ben conſumirt und aufgerieben, folglich muſs in einem Körper von feſtern Orga - nen die gänzliche Conſumtion ſpäter er - folgen, als bey einem zarten leicht auf - löſslichen Bau. Ferner die Operation des Lebens ſelbſt bedarf die beſtändige Wirkſamkeit gewiſſer Organe, die wir daher Lebensorgane nennen. Sind dieſe unbrauchbar oder krank, ſo kann das Leben nicht fortdauern. Alſo eine ge - wiſſe Feſtigkeit der Organiſation und gehörige Beſchaffenheit der Lebensorga - ne giebt den zweyten Grund, worauf Dauer des Lebens beruht. 3) Nun kann aber der Prozeſs der Conſumtion ſelbſt, entweder langſamer oder ſchnel - ler vor ſich gehen, und folglich die76 Dauer deſſelben, oder des Lebens, bey übrigens völlig gleichen Kräften und Organen, länger oder kürzer ſeyn, je nachdem jene Operation ſchneller oder langſamer geſchieht, gerade ſo, wie ein Licht, das man unten und oben zugleich anbrennt, noch einmal ſo geſchwind verbrennt, als ein einfach angezündetes, oder wie ein Licht in dephlogiſtiſirter Luft gewiſs zehnmal ſchneller verzehrt ſeyn wird, als ein völlig gleiches in ge - meiner Luft, weil durch dieſes Medium der Prozeſs der Conſumtion wohl zehn - fach beſchleunigt und vermehrt wird. Dieſs giebt den dritten Grund der ver - ſchiedenen Lebensdauer. 4) Und da endlich die Erſetzung des Verlornen und die beſtändige Regeneration das Haupt - mittel iſt, der Conſumtion das Gegenge - wicht zu halten, ſo wird natürlich der Körper, der in ſich und auſſer ſich die beſten Mittel hat, ſich am leichtſten und vollkommenſten zu regeneriren, auch von längerer Dauer ſeyn, als ein anderer, dem dieſs fehlt.

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Genug, die Lebensdauer eines Ge - ſchöpfs wird ſich verhalten, wie die Summe der ihm angebornen Lebens - kräfte, die mehrere oder wenigere Fe - ſtigkeit ſeiner Organe, die ſchnellere oder langſamere Conſumtion, und die vollkommne oder unvollkommne Re - ſtauration. Und alle Ideen von Le - bensverlängerung, ſo wie alle dazu vor - geſchlagenen oder noch vorzuſchlagen - den Mittel, laſſen ſich unter dieſe 4 Claſſen bringen, und nach dieſen Grund - ſätzen beurtheilen.

Hieraus laſſen ſich mehrere lehrrei - che Folgerungen ziehen, und auſſerdem dunkele Fragen beantworten, von denen ich hier nur einige vorläufig anzeigen will.

Iſt das Ziel des Lebens beſtimmt oder nicht? Dieſe Frage iſt ſchon oft ein Zankapfel geweſen, der die Philoſo - phen und Theologen entzweyte, und ſchon mehrmals den Werth der armen78 Arzneykunſt ins Gedränge brachte. Nach obigen Begriffen iſt dieſe Frage leicht zu löſen. In gewiſſem Verſtande haben beyde Partheyen Recht. Aller - dings hat jedes Geſchlecht von Geſchö - pfen, ja jedes einzelne Individuum eben ſo gewiſs ſein beſtimmtes Lebensziel, als es ſeine beſtimmte Gröſse und ſeine eigenthümliche Maſſe von Lebenskraft, Stärke der Organe und Conſumtions - oder Regenerationsweiſe hat; denn die Dauer des Lebens iſt nur eine Folge die - ſer Conſumtion, die keinen Augenblick länger währen kann, als Kräfte und Or - gane zureichen. Auch ſehen wir, daſs deswegen jede Klaſſe von Weſen ihre be - ſtimmte Lebensdauer hat, der ſich die einzelnen Individuen mehr oder weniger nähern. Aber dieſe Conſumtion kann beſchleunigt oder retardirt wer - den, es können günſtige oder ungünſti - ge, zerſtörende oder erhaltende Um - ſtände Einfluſs haben, und daraus folgt denn, daſs, troz jener natürlichen Be -79 ſtimmung, das Ziel dennoch verrückt werden kann.

Nun läſst ſich auch ſchon im Allge - meinen die Frage beantworten: Iſt Ver - längerung des Lebens möglich? Sie iſt es allerdings, aber nicht durch Zauber - mittel und Goldtincturen, auch nicht in ſo fern, daſs man die uns zugetheilte Summe und Kapacität von Lebenskräf - ten zu vermehren und die ganze Beſtim - mung der Natur zu verändern hoffen könnte, ſondern nur durch gehörige Rückſicht auf die angegebnen 4 Puncte, auf denen eigentlich Dauer des Lebens beruht: Stärkung der Lebenskraft und der Organe, Retardation der Conſum - tion, und Beförderung und Erleichte - rung der Wiedererſetzung oder Regene - ration. Je mehr alſo Nahrung, Kleidung, Lebensart, Clima, ſelbſt künſtliche Mittel, dieſen Erforderniſſen ein Gnüge thun, deſto mehr werden ſie zur Verlängerung des Lebens wirken; Je mehr ſie dieſen entgegen arbeiten,80 deſto mehr werden ſie die Dauer der Exiſtenz verkürzen.

Vorzüglich verdient hier noch das, was ich Retardation der Lebensconſumtion nenne, als in meinen Augen das wich - tigſte Verlängerungsmittel des Lebens, einige Betrachtung. Wenn wir uns eine gewiſſe Summe von Lebenskräften und Organen, die gleichſam unſern Lebens - fond ausmachen, denken, und das Le - ben in der Conſumtion derſelben be - ſteht, ſo kann durch eine ſtärkere An - ſtrengung der Organe und die damit ver - bundene ſchnellere Aufreibung jener Fond natürlich ſchneller, durch einen mäſsigern Gebrauch hingegen langſamer aufgezehrt werden. Derjenige, der in einem Tage noch einmal ſo viel Lebens - kraft verzehrt, als ein anderer, wird auch in halb ſo viel Zeit mit ſeinem Vor - rath von Lebenskraft fertig ſeyn, und Organe, die man noch einmal ſo ſtark braucht, werden auch noch einmal ſo bald abgenuzt und unbrauchbar ſeyn. Die81Die Energie des Lebens wird alſo mit ſeiner Dauer im umgekehrten Verhält - niſs ſtehen, oder je mehr ein Weſen in - tenſiv lebt, deſto mehr wird ſein Leben an Extenſion verlieren. Der Aus - druck, geſchwind leben, der jezt ſo wie die Sache gewöhnlich worden iſt, iſt alſo vollkommen richtig. Man kann allerdings den Prozeſs der Lebenscon - ſumtion, ſie mag nun im Handeln oder Genieſsen beſtehen, geſchwinder oder langſamer machen, alſo geſchwind und langſam leben. Ich werde in der Folge das eine durch das Wort intenſives Le - ben, das andre durch extenſives bezeich - nen. Dieſe Wahrheit beſtätigt ſich nicht blos bey dem Menſchen, ſondern durch die ganze Natur. Je weniger in - tenſiv das Leben eines Weſens iſt, deſto länger dauert es. Man vermehre durch Wärme, Düngung, künſtliche Mittel, das intenſive Leben einer Pflanze, ſie wird ſchneller vollkommner ſich entwi - ckeln, aber auch ſehr bald vergehen. Selbſt ein Geſchöpf, was von Natur ei -F82nen groſsen Reichthum von Lebenskraft beſizt, wird, wenn ſein Leben ſehr in - tenſiv wirkſam iſt, von kürzerer Dauer ſeyn, als eins, das an ſich viel ärmer an Lebenskraft iſt, aber von Natur ein we - niger intenſives Leben hat. So iſts z. B. gewiſs, daſs die höhern Claſſen der Thiere ungleich mehr Reichthum und Vollkommenheit der Lebenskraft be - ſitzen, als die Pflanzen, und dennoch lebt ein Baum wohl hundertmal länger, als das Lebensvolle Pferd, weil das Le - ben des Baums intenſiv ſchwächer iſt. Auf dieſe Weiſe können ſo gar ſchwä - chende Umſtände, wenn ſie nur die in - tenſive Wirkſamkeit des Lebens min - dern, Mittel zur Verlängerung deſſelben werden, hingegen Lebensſtärkende und erweckende Einflüſſe, wenn ſie die in - nere Regſamkeit zu ſehr vermehren, der Dauer deſſelben ſchaden, und man ſieht ſchon hieraus, wie eine ſehr ſtarke Ge - ſundheit ein Hinderungsmittel der Dau - er, und eine gewiſſe Art von Schwäch - lichkeit das beſte Beförderungsmittel des83 langen Lebens werden kann; und daſs die Diät und die Mittel zur Verlänge - rung des Lebens nicht ganz die nehmli - chen ſeyn können, die man unter dem Nahmen ſtärkende verſteht. Die Natur ſelbſt giebt uns hierinne die beſte Anleitung, indem ſie mit der Exiſtenz jedes vollkommnern Geſchöpfs eine ge - wiſſe Veranſtaltung verwebt hat, die den Strom ſeiner Lebensconſumtion aufzu - halten und dadurch die zu ſchnelle Auf - reibung zu verhüten vermag. Ich meine den Schlaf, ein Zuſtand, der ſich bey al - len Geſchöpfen vollkommner Art findet, eine äuſſerſt weiſe Veranſtaltung, deren Hauptbeſtimmung, Regulirung und Re - tardation der Lebensconſumtion, genug das iſt, was der Pendel dem Uhrwerk. Die Zeit des Schlafs iſt nichts als eine Pauſe des intenſiven Lebens, ein ſcheinbarer Verluſt deſſelben, aber eben in dieſer Pauſe, in dieſer Unterbrechung ſeiner Wirkſamkeit, liegt das gröſste Mittel zur Verlängerung deſſelben. Eine 12 16ſtündige ununterbrochne DauerF 284des intenſiven Lebens bey Menſchen, bringt ſchon einen ſo reiſsenden Strom von Conſumtion hervor, daſs ſich ein ſchneller Puls, eine Art von allgemeinen Fieber (das ſo genannte tägliche Abend - fieber) einſtellt. Jezt kommt der Schlaf zu Hülfe, verſezt ihn in einen mehr paſ - ſiven Zuſtand, und nach einer ſolchen 7 bis 8 ſtündigen Pauſe iſt der verzeh - rende Strom der Lebensconſumtion ſo gut unterbrochen, das verlohrne ſo ſchön wieder erſezt, daſs nun Pulsſchlag und alle Bewegungen wieder langſam und regelmäſsig geſchehen, und alles wieder den ruhigen Gang gehet. *)Darum ſchlafen alte Leute weniger, weil bey ihnen das intenſive Leben, die Lebensconſum - tion, ſchwach iſt, und weniger Erholung braucht. Daher vermag nichts ſo ſchnell uns auf - zureiben und zu zerſtören, als lange dauernde Schlafloſigkeit. Selbſt die Neſtors des Pflanzenreichs, die Bäume, würden, ohne den jährlichen Winter -85 ſchlaf, ihr Leben nicht ſo hoch brin - gen.*)Ja bey mancher Pflanze finden wir wirklich etwas, was ſich mit dem täglichen Schlaf der Menſchen vollkommen vergleichen läſst. Sie legen alle Abende ihre Blätter an einander oder ſenken ſie nieder, die Blüten verſchlieſsen ſich, und die ganze Aeuſserliche verräth einen Zuſtand von Ruhe und Eingezogenheit. Man hat dieſs der Kühlung und Abendfeuchtigkeit zuſchreiben wollen, aber es geſchieht auch im Gewächs - hauſe. Andre haben es für eine Folge der Dun - kelheit gehalten, aber manche ſchlieſsen ſich im Sommer ſchon Nachmittags 6 Uhr. Ja das Tragopogon luteum ſchlieſst ſich ſchon früh um 9 Uhr, und dieſe Pflanze lieſse ſich alſo mit den Nachtthieren und Vögeln der animaliſchen Welt vergleichen, die bey Nacht nur munter ſind und bey Tage ſchlafen. Ja faſt jede Stunde des Tages hat eine Pflanze, die ſich da ſchlieſst, und darauf gründet ſich die Pflanzenuhr.

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Dritte Vorleſung. Lebensdauer der Pflanzen.

Verſchiedenheit derſelben Einjährige, zweyjährige, vieljährige Erfahrungen über die Umſtände, die dieſs beſtimmen Reſultata daraus Anwendung auf die Hauptprinzipien der Lebensverlängerung Wichtiger Einfluſs der Zeugung und Kultur auf die Lebenslänge der Pflanzen.

Es ſey mir nun erlaubt, zur Beſtätigung oder Prüfung alles des geſagten, einen Blick auf alle Claſſen der organiſirten Welt zu werfen, und die Belege zu mei - nen Behauptungen aufzuſuchen. Hier - bey werden wir zugleich Gelegenheit haben, die wichtigſten Nebenumſtände87 kennen zu lernen, die auf Verlängerung oder Verkürzung des Lebens Einfluſs haben. Unendlich mannichfaltig iſt die Dauer der verſchiedenen organi - ſchen Weſen! Von dem Schimmel an, der nur ein Paar Stunden lebt, bis zur Zeder, welche ein Jahrtauſend er - reichen kann, welcher Abſtand, welche unzählige Zwiſchenſtufen, welche Man - nichfaltigkeit von Leben! Und dennoch muſs der Grund dieſer längern oder kür - zern Dauer in der eigenthümlichen Be - ſchaffenheit eines jeden Weſens und ſei - nem Standpunct in der Schöpfung lie - gen, und durch fleiſiges Forſchen zu finden ſeyn. Gewiſs ein erhabener und intereſſanter, aber auch zugleich ein un - überſehlicher Gegenſtand! Ich werde mich daher begnügen müſſen, die Haupt - data heraus zu heben, und in unſern gegenwärtigen Geſichtspunct zu ſtellen.

Zuerſt ſtellen ſich uns die Pflanzen dar, dieſe unüberſehbare Welt von Ge - ſchöpfen, dieſe erſte Stufe der organi -88 ſchen Weſen, die ſich durch innere Zu - eignung ernähren, ein Individuum for - miren, und ihr Geſchlecht fortpflanzen. Welche unendliche Verſchiedenheit von Geſtalt, Organiſation, Gröſse und Dauer? Nach den neueſten Entdeckun - gen und Berechnungen wenigſtens 40000 verſchiedene Gattungen und Ar - ten!

Dennoch laſſen ſie ſich alle, nach ihrer Lebensdauer, in drey Hauptklaſſen bringen, einjährige, oder eigentlich nur halbjährige, die im Frühling entſte - hen und im Herbſt ſterben, zweyjährige, die am Ende des zweyten Jahres ſterben, und endlich perennirende, deren Dauer länger, von 4 Jahren, bis zu 1000, iſt.

Alle Pflanzen, die von ſaftiger wäſ - ſerigter Conſtitution ſind, und ſehr feine zarte Organe haben, haben ein kurzes Leben, und dauern nur ein, höchſtens zwey Jahre. Nur die, welche feſtere Organe und zähere Säfte haben, dauern89 länger; aber es gehört ſchlechterdings Holz dazu, um das höchſte Pflanzenle - ben zu erreichen.

Selbſt bey denen, welche nur eins oder zwey Jahre leben, finden wir einen merklichen Unterſchied. Die, welche kalter, geruch - und geſchmackloſer Na - tur ſind, leben unter gleichen Umſtän - den nicht ſo lange, als die ſtarkriechen - den, balſamiſchen, und mehr weſentli - ches Oel und Geiſt enthaltenden. z. B. Lactuk, Weizen, Korn, Gerſte, und alle Getraidearten leben nie länger als ein Jahr; hingegen Thymian, Poley, Iſop, Meliſſe, Wermuth, Majoran, Salbey u. ſ. w. können zwey und noch mehr Jahre fortleben.

Die Geſträuche und kleinern Bäume können ihr Leben auf 60, einige auch auf noch einmal ſo viel Jahre bringen. Der Weinſtock erreicht ein Alter von 60 ja 100 Jahren, und bleibt auch noch im höchſten Alter fruchtbar. Der Rosma -90 rin desgleichen. Aber Acanthus und Epheu können über 100 Jahr alt werden. Bey manchen, z. E. den Rubusarten iſt es ſchwehr das Alter zu beſtimmen, weil die Zweige in die Erde kriechen, und immer neue Bäumchen bilden, ſo daſs es ſchwehr iſt, die neuen von den alten zu unterſcheiden, und ſie gleich - ſam ihre Exiſtenz dadurch perennirend machen.

Das höchſte Alter erreichen die gröſsten, ſtärkſten und feſteſten Bäume, die Eiche, Linde, Buche, Kaſtanie, Ulme, Ahorn, Platane, die Zeder, der Oelbaum, die Palme, der Maulbeer - baum, der Baobab. *)Dieſer neu entdeckte Baum (Adanſonia digitata), ſcheint einer der älteſten werden zu können. Er bekommt im Stamme eine Dicke von 25 Fuſs, und Adanſon fand in der Mitte dieſes Jahrhun - derts an Bäumen, die erſt 6 Fuſs dick waren, Namen von Seefahrern aus dem 15ten und 16ten Jahrhundert eingeſchnitten, und dieſe Ein - ſchnitte hatten ſich noch nicht ſehr erweitert. Man kann91 mit Gewiſsheit behaupten, daſs einige Zedern des Libanons, der berühmte Ka - ſtanienbaum di centi cavalli in Sicilien, und mehrere heilige Eichen, unter de - nen ſchon die Alten Teutſchen ihre An - dacht hatten, ihr Alter auf 1000 und mehrere Jahre gebracht haben. Sie ſind die ehrwürdigſten, die einzigen noch lebenden, Zeugen der Vorwelt, und erfüllen uns mit heiligen Schauer, wenn der Wind ihr Silberhaar durchrauſcht, das ſchon einſt den Druiden und dem Teutſchen Wilden in der Bärenhaut zum Schatten diente.

Alle ſchnell wachſende Bäume, als Fichten, Birken, Maronniers u. ſ. w. haben immer ein weniger feſtes und dauerhaftes Holz und kürzere Lebens - dauer. Das feſteſte Holz und das längſte Leben hat die, unter allen am langſamſten wachſende, Eiche.

Kleinere Vegetabilien haben im Durchſchnitt ein kürzeres Leben, als92 die groſsen hohen und ausgebreite - ten.

Diejenigen Bäume, die das dauer - hafteſte und härteſte Holz haben, ſind nicht immer die, die auch am längſten leben. Z. B. der Buchsbaum, die Zy - preſſe, der Wachholder, Nuſsbaum und Birnbaum, leben nicht ſo lange, als die Linde, die doch ein weicheres Holz hat.

Im Durchſchnitt ſind diejenigen, welche ſehr ſchmackhafte, zarte und elaborirte Früchte tragen, von kürzerer Lebensdauer, als die, welche gar keine oder ungenieſsbare tragen; und auch unter jenen werden die, welche Nüſſe und Eicheln tragen, älter, als die, welche Beeren und Steinobſt hervor - bringen.

Selbſt dieſe kürzer lebenden, der Apfel - Birn - Apricoſen - Pfirſich - Kirſchbaum u. ſ. w. können unter ſehr93 günſtigen Umſtänden ihr Leben bis auf 60 Jahre bringen, beſonders wenn ſie zuweilen von dem Mooſe, das auf ihnen wächſt, gereinigt werden.

Im Allgemeinen kann man anneh - men, daſs diejenigen Bäume, welche ihr Laub und Früchte langſam erhalten und auch langſam verlieren, älter wer - den, als die, bey denen beydes ſehr ſchnell geſchieht. Ferner die culti - virten haben im Durchſchnitt ein kürze - res Leben, als die wilden, und die, wel - che ſaure und herbe Früchte tragen, ein längeres Leben, als die ſüſsen.

Sehr merkwürdig iſts, daſs, wenn man die Erde um die Bäume alle Jahre umgräbt, dieſs ſie zwar lebhafter und fruchtbarer macht, aber die Länge ihres Lebens verkürzt. Geſchieht es hin - gegen nur alle 5 oder 10 Jahre, ſo leben ſie länger. Eben ſo das öſtere Be - gieſsen und Düngen befördert die94 Fruchtbarkeit, ſchadet aber der Lebens - dauer.

Endlich kann man auch durch das öftre Beſchneiden der Zweige und Au - gen ſehr viel zum längern Leben eines Gewächſes beytragen, ſo daſs ſogar klei - nere, kurz lebende, Pflanzen, als La - vendel, Yſop u. dgl., wenn ſie alle Jahre beſchnitten werden, ihr Leben auf 40 Jahre bringen können.

Auch iſt bemerkt worden, daſs, wenn man bey alten Bäumen, die lange unbewegt und unverändert geſtanden haben, die Erde rund um die Wurzeln herum aufgräbt und lockrer macht, ſie friſcheres und lebendigeres Laub bekom - men, und ſich gleichſam verjüngen.

Wenn wir dieſe Erfahrungsſätze mit Aufmerkſamkeit betrachten, ſo iſt es wirklich auffallend, wie ſehr ſie die oben angenommnen Grundſätze von Le -95 ben und Lebensdauer beſtätigen, und ganz mit jenen Ideen zuſammentreffen.

Unſer erſter Grundſatz war: Je gröſser die Summe von Lebenskraft und die Fe - ſtigkeit der Organe, deſto länger iſt die Dauer des Lebens, und nun finden wir in der Natur, daſs gerade die gröſsten, vollkommenſten und ausgebildeſten (bey denen wir alſo den gröſsten Reich - thum von Lebenskraft annehmen müſ - ſen) und die, welche die feſteſten und dauerhafteſten Organe beſitzen, auch das längſte Leben haben, z. B. die Eiche, die Zeder.

Offenbar ſcheint hier das Volumen der Körpermaſſe mit zur Verlängerung des Lebens beyzutragen, und zwar aus dreyerley Gründen:

  • 1) Die Gröſse zeigt ſchon einen grö - ſern Vorrath von Lebenskraft oder bildender Kraft.
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  • 2) Die Gröſse giebt mehr Lebensca - pacität, mehr Oberfläche, mehr Zu - gang von auſsen.
  • 3) Je mehr Maſſe ein Körper hat, deſto mehr Zeit gehört dazu, ehe die äuſſern und innern Conſumtions - und Deſtructionskräfte ihn aufrei - ben können.

Aber wir finden, daſs ein Gewächs ſehr feſte und dauerhafte Organe haben kann, und dennoch nicht ſo lange lebt, als eins mit weniger feſten Organen, z. E. die Linde lebt weit länger, als der Buchsbaum und die Zypreſſe.

Dieſs führt uns nun auf ein, für das organiſche Leben und unſre künfti - ge Unterſuchung ſehr wichtiges, Geſetz, nehmlich, daſs in der organiſchen Welt nur ein gewiſſer Grad von Feſtigkeit die Lebensdauer befördert, ein zu hoher Grad von Tenacität aber ſie verkürzt. Im allgemeinen und bey unorganiſchen97 Weſen iſts zwar richtig, daſs, je feſter ein Körper, deſto mehr Dauer hat er; aber bey organiſchen Weſen, wo die Dauer der Exiſtenz in reger Wirkſamkeit der Organe und Circulation der Säfte beſteht, hat dieſs ſeine Grenzen, und ein zu hoher Grad von Feſtigkeit der Or - gane und Zähigkeit der Säfte, macht ſie früher unbeweglich, ungangbar, er - zeugt Stockungen, und führt das Alter und alſo auch den Tod ſchneller herbey.

Aber nicht blos die Summe der Kraft und die Organe ſind es, wovon Lebenskraft abhängt. Wir haben geſe - hen, daſs vorzüglich viel auf die ſchnel - lere oder langſamere Conſumtion, und auf die vollkommnere oder unvoll - kommnere Reſtauration ankommt. Be - ſtätigt ſich dieſs nun auch in der Pflan - zenwelt?

Vollkommen! Auch hier finden wir dieſs allgemeine Geſetz. Je mehr ein Gewächs intenſives Leben hat, jeG98ſtärker und ſchneller ſeine innre Con - ſumtion iſt, deſto ſchneller vergeht es, deſto kürzer iſt ſeine Dauer. Fer - ner, je mehr Fähigkeit in ſich oder auſſer ſich ein Gewächs hat, ſich zu re - generiren, deſto länger iſt ſeine Dauer.

Zuerſt das Geſetz der Conſumtion!

Im Ganzen hat die Pflanzenwelt ein äuſſerſt ſchwaches intenſives Leben. Er - nährung, Wachsthum, Zeugung, ſind die einzigen Geſchäfte, die ihr intenſi - ves Leben ausmachen. Keine willkühr - liche Ortsveränderung, keine regel - mäſsige Circulation, keine Muskel - noch Nervenbewegung. Ohnſtreitig iſt der höchſte Grad ihrer innern Conſum - tion, das höchſte Ziel ihres intenſiven Lebens, das Geſchäft der Generation. Aber wie ſchnell iſt ſie auch von Auflö - ſung und Zernichtung begleitet! Die Natur ſcheint hier gleichſam den gröſsten Aufwand ihrer ſchöpferiſchen Kräfte zu machen, und das Non plus99 ultra der äuſſerſten Verfeinerung und Vollendung darzuſtellen.

Welche Zartheit und Feinheit des Blüthenbaues, welche Pracht und wel - cher Glanz von Farben überraſcht uns da oft bey dem unanſehnlichſten Ge - wächs, dem wir eine ſolche Entwick - lung nie zugetraut hätten? Es iſt gleich - ſam das Feyerkleid, womit die Pflanze ihr höchſtes Feſt feyert, aber womit ſie auch oft ihren ganzen Vorrath von Le - benskraft, entweder auf immer, oder doch auf eine lange Zeit erſchöpft.

Alle Gewächſe ohne Ausnahme, ver - lieren ſogleich nach dieſer Cataſtrophe die Lebhaftigkeit ihrer Vegetation, fan - gen an ſtill zu ſtehen, abzunehmen, und ſie iſt der Anfang ihres Abſterbens. Bey allen einjährigen Gewächſen folgt das völlige Abſterben nach, bey den gröſsern und den Bäumen wenigſtens ein temporeller Tod, ein halbjähriger Stillſtand, bis ſie vermöge ihrer groſsenG 2100Regenerationskraft wieder in Stand ge - ſezt ſind, neue Blätter und Blüthen zu treiben.

Aus eben dem Grunde erklärt ſichs, warum alle Gewächſe, die früh zum Zeugungsgeſchäft gelangen, auch am ſchnellſten wegſterben; und es iſt das beſtändigſte Geſetz für die Lebensdauer in der Pflanzenwelt: Je früher und ei - liger die Pflanze zur Blüthe kommt, deſto kürzer dauert ihr Leben, je ſpäter, deſto länger. Alle die, welche gleich im erſten Jahre blühen, ſterben auch im er - ſten, die erſt im 2ten Jahre Blüthen trei - ben, ſterben auch im 2ten. Nur die Bäume und Holzgewächſe, welche erſt im 6ten, 9ten oder 12ten Jahre zu gene - riren anfangen, werden alt, und ſelbſt unter ihnen werden die Gattungen am älteſten, die am ſpäteſten zur Genera - tion gelangen. Eine äuſſerſt wich - tige Bemerkung, die theils unſre Ideen von Conſumtion vollkommen beſtätigt, theils uns ſchon einen lehrreichen101 Wink für unſre künftige Unterſuchung giebt.

Nun läſst ſich auch die wichtige Frage beantworten: Welchen Einfluſs hat Kultur auf das längere oder kürzere Leben der Pflanzen?

Kultur und Kunſt verkürzt im Gan - zen das Leben, und es iſt als Grundſatz anzunehmen, daſs im Durchſchnitt alle wilde, ſich ſelbſt überlaſsne Pflanzen länger leben, als die kultivirten. Aber nicht jede Art von Kultur verkürzt, denn wir können z. B. eine Pflanze, die im Freyen nur 1 oder 2 Jahre lang dau - ern würde, durch ſorgfältige Wartung und Pflege weit länger erhalten. Und dieſs iſt nun ein ſehr merkwürdiger Beweis, daſs auch in der Pflanzenwelt, durch eine gewiſſe Behandlung, Verlän - gerung des Lebens möglich iſt. Aber die Frage iſt nur, worinn liegt der Un - terſchied der Lebensverlängernden und Lebensverkürzenden Kultur? Es kann102 uns dieſs für die folgende Unterſuchung wichtig ſeyn. Sie läſst ſich wieder auf unſre erſten Grundſätze zurückbringen. Je mehr die Kultur das intenſive Leben und die innre Conſumtion verſtärkt, und zugleich die Organiſation ſelbſt zär - ter macht, deſto mehr iſt ſie der Lebens - dauer nachtheilig. Dieſs ſehen wir bey allen Treibhauspflanzen, die durch be - ſtändige Wärme, Düngung und andere Künſte zu einer anhaltenden innern Wirkſamkeit angetrieben werden, daſs ſie frühere, öftre und ausgearbeitetere Früchte tragen, als in ihrer Natur liegt. Der nehmliche Fall iſt, wenn, auch ohne treibende äuſſere Einwirkungen, blos durch gewiſſe Operation und Kün - ſte, der innern Organiſation der Ge - wächſe ein weit höherer Grad von Voll - kommenheit und Zartheit mitgetheilt wird, als in ihrer Natur lag, z. B. durch Oculiren, Pfropfen, die Künſte bey den gefüllten Blumen. Auch dieſe Kul - tur verkürzt die Dauer.

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Hingegen kann die Kultur das gröſste Verlängerungsmittel des Lebens werden, wenn ſie das intenſive Leben eines Gewächſes nicht verſtärkt, oder wohl gar die gewöhnliche Conſumtion etwas hindert und mäſsigt, ferner, wenn ſie die von Natur zu groſse Zähigkeit und Härte der Organe (Materie) bis auf den Grad mindert, daſs ſie länger gang - bar und beweglich bleiben, wenn ſie die deſtruirenden Einflüſſe abhält und ihnen beſſere Regenerationsmittel an die Hand giebt. So kann durch Hülfe der Kultur ein Weſen ein höheres Le - bensziel erreichen, als es nach ſeiner natürlichen Lage und Beſtimmung erhal - ten haben würde.

Wir können alſo die Lebensverlän - gerung durch Kultur bey Pflanzen auf folgende Weiſe bewirken:

  • 1) Indem wir durch öfteres Abſchnei - den der Zweige die zu ſchnelle Conſumtion verhüten; wir nehmen104 ihnen dadurch einen Theil der Or - gane, wodurch ſie ihre Lebenskraft zu ſchnell erſchöpfen würden, und concentriren dadurch gleichſam die Kraft nach innen.
  • 2) Indem wir eben dadurch die Blüte und den Aufwand von Generations - kräften verhindern und wenigſtens verſpäten. Wir wiſſen, daſs dieſs der höchſte Grad von innrer Le - bensconſumtion bey den Pflanzen iſt, und wir tragen alſo hier auf doppelte Art zur Verlängerung des Lebens bey, einmal, indem wir die Verſchwendung dieſer Kräfte verhüten, und indem wir ſie nöthi - gen zurückzuwirken, und als Er - haltungsmittel zu dienen.
  • 3) Indem wir die deſtruirenden Ein - flüſſe des Froſts, des Nahrungsman - gels, der ungleichen Witterung entfernen, und ſie alſo durch die Kunſt in einem gleichförmigen ge -105 mäſigten Mittelzuſtande erhalten. Geſezt daſs wir auch hierdurch das intenſive Leben etwas vermeh - ren, ſo liegt doch auch hierinn wieder eine deſto reichere Quelle zur Reſtauration.

Der vierte Hauptgrund endlich, worauf die Dauer eines jeden Weſens und alſo auch eines Gewächſes beruht, iſt die gröſsre oder geringere Fähigkeit ſich zu reſtauriren und von neuen zu er - zeugen.

Hier theilt ſich nun die Pflanzen - welt in zwey groſse Klaſſen: Die eine beſizt dieſe Fähigkeit gar nicht, und dieſe ſinds, die nur ein Jahr leben, (die einjährigen Gewächſe), und gleich nach vollbrachtem Generationsgeſchäft ſter - ben.

Die andre Klaſſe hingegen, die die groſse Fähigkeit beſizt, ſich alle Jahre zu regeniren, ſich neue Blätter, Zweige106 und Blüten zu ſchaffen, dieſe kann das erſtaunliche Alter von 1000 und mehr Jahren erreichen. Ein ſolches Ge - wächs iſt endlich ſelbſt als ein organiſir - ter Boden anzuſehen, aus welchem jähr - lich unzählige, dieſem Boden aber völ - lig analoge, Pflanzen hervorſproſſen. Und groſs und göttlich zeigt ſich auch in dieſer Einrichtung die Weisheit der Natur.

Wenn wir bedenken, daſs, wie uns die Erfahrung lehrt, ein Zeitraum von 8 bis 10 Jahren dazu gehört, um den Grad von Vollendung in der Organi - ſation, und von Verfeinerung in den Säften eines Baums hervorzubringen, der zum Blühen und Fruchttragen er - forderlich iſt, und nun ginge es wie bey andern Gewächſen, und der Baum ſtürbe nun gleich nach vollbrachter Generation ab. Wie unbelohnend würde dann die Kultur dieſer Gewächſe ſeyn, wie unverhältniſsmäſsig wäre der Aufwand von Vorbereitung und Zeit zu107 dem Reſultat? Wie ſelten würden Obſt und Früchte ſeyn!

Aber um dieſs zu verhüten, iſt nun dieſe weiſe Einrichtung von der Natur getroffen, daſs die erſte Pflanze nach und nach eine ſolche Konſiſtenz und Fe - ſtigkeit erlangt, daſs der Stamm zulezt die Stelle des Bodens vertritt, aus wel - chem nun alle Jahre unter der Geſtalt von Augen oder Knospen unzählige neue Pflanzen hervorkeimen.

Hierdurch wird ein zwiefacher Nutzen erhalten. Einmal, weil dieſe Pflanzen aus einem ſchon organiſirten Boden entſpringen, ſo erhalten ſie ſchon aſſimilirte und elaborirte Säfte, und können dieſelben alſo ſogleich zur Blüte und Frucht verarbeiten, welches mit Säften, die ſie unmittelbar aus der Erde erhielten, unmöglich wäre.

Zweytens können dieſe feinern Pflanzen, die wir im Grunde als eben ſo108 viel einjährige anſehen müſſen, nach geendigter Fructification wieder abſter - ben, und dennoch das Gewächs ſelbſt, der Stamm, perenniren. Die Na - tur bleibt alſo auch hier ihrem Grund - geſetz treu, daſs das Zeugungsgeſchäft die Lebenskraft der einzelnen Indi - viduen erſchöpft, und dennoch peren - nirt das Ganze.

Genug, die Reſultate aller dieſer Erfahrungen ſind:

Das hohe Alter eines Gewächſes gründet ſich auf folgende Puncte:

  • 1) Es muſs langſam wachſen.
  • 2) Es muſs langſam und ſpät ſich fort - pflanzen.
  • 3) Es muſs einen gewiſſen Grad von Feſtigkeit und Dauer der Organe, genug Holz, haben, und die Säfte dürfen nicht zu wäſsricht ſeyn.
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  • 4) Es muſs groſs ſeyn, und eine be - trächtliche Ausdehnung haben.
  • 5) Es muſs ſich in die Luft erheben.

Das Gegentheil von allem dieſen ver - kürzt das Leben.

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Vierte Vorleſung. Lebensdauer der Thierwelt.

Erfahrungen von Pflanzenthieren Würmern In - ſecten Metamorphoſe, ein wichtiges Lebensverlänge - rungsmittel Amphibien Fiſche Vögel Säug - thiere Reſultate Einfluſs der Mannbarkeit und des Wachsthums[auf] die Lebenslänge der Vollkom - menheit oder Unvollkommenheit der Organiſation der rapidern oder langſamern Lebensconſumtion der Reſtauration.

Das Thierreich iſt die zweyte Hauptklaſſe, der vollkommnere Theil der organiſchen Welt, unendlich reich an Weſen, Mannichfaltigkeit und111 verſchiedenen Graden der Vollkom - menheit und Dauer. Von der Ephemera, dieſem kleinen vergäng - lichen Inſect, das etwa einen Tag lebt, und das in der 20ſten Stunde ſeines Le - bens als ein erfahrner Greiſs unter ſeiner zahlreichen Nachkommenſchaft ſteht, bis zum 200jährigen Elefanten giebt es unzählige Zwiſchenſtufen von Lebens - fähigkeit und Dauer, und ich werde bey dieſem unermeſslichen Reichthum zufrieden ſeyn, nur einzelne Data zu ſammlen, die unſre Hauptfrage: Wor - auf beruht Länge des Lebens? erläutern können.

Um mit der unvollkommenſten, ſehr nahe an die Pflanzen gränzenden, Klaſſe, den Würmern, anzufangen, ſo ſind zwar dieſelben, wegen ihrer zarten weichen Beſchaffenheit, auſſerordentlich leicht zu zerſtören und zu verletzen, aber ſie haben, wie die Pflanzen, den beſten Schutz, in ihrer auſſerordentli - chen Reproductionskraft, wodurch ſie112 ganze Theile wieder erſetzen, ja ſelbſt getheilt in 2 3 Stücke[,]fortleben kön - nen, und ihre Dauer iſt folglich ſchwehr zu beſtimmen.

In dieſer Klaſſe exiſtiren die Ge - ſchöpfe, die faſt unzerſtörbar ſcheinen, und mit denen Fontana und Götze ſo viele merkwürdige Verſuche angeſtellt haben. Erſtrer lieſs Räderthiere und Fadenwürmer in glühend heiſser Sonne vertrocknen, im Backofen ausdorren, und nach Verlauf von halben Jahren konnte er durch etwas laues Waſſer den - noch das ausgetrocknete Geſchöpf wie - der beleben.

Dieſe Erfahrungen beſtätigen unſern Satz, daſs, je unvollkommner die Orga - niſation, deſto zäher das Leben iſt. Es iſt der Fall wie mit den Pflanzenſaamen, und man könnte ſagen, daſs dieſe erſten Puncte der thieriſchen Schöpfung gewiſ - ſermaſſen nur erſt die Keime, die Saamenfür113für die vollkommnere thieriſche Welt ſind.

Bey den Inſecten, die ſchon mehr Thier ſind, und eine ausgebildetere Or - ganiſation haben, kann zwar die Repro - ductionskraft keine ſolche Wunder thun. Aber hier hat die Natur eine andre weiſe Einrichtung getroffen, die offenbar ihre Exiſtenz verlängert: die Metamorphoſe. Das Inſect exiſtirt vielleicht 2, 3, 4 Jahre lang als Larve, als Wurm: dann verpuppt es ſich, und exiſtirt nun wie - der in dieſem Todenähnlichen Zuſtand geraume Zeit, und am Ende deſſelben erſcheint es erſt als vollendetes Geſchöpf. Nun erſt hat es Augen, nun erſt den ge - fiederten ätheriſchen, oft ſo prächtigen Körper, und was das Gepräge ſeiner Vollendung am meiſten zeigt, nun erſt iſt es zur Zeugung geſchickt. Aber die - ſer Zuſtand, den man die Zeit ſeiner Blüte nennen könnte, iſt der kürzeſte, es ſtirbt nun bald, denn es hat ſeine Be - ſtimmung erreicht.

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Ich kann hier die Bemerkung nicht übergehen, wie ſehr dieſe Erſcheinun - gen mit unſern zum Grunde gelegten Ideen von der Urſach der Lebensdauer übereinſtimmen. In der erſten Exi - ſtenz, als Wurm, wie unvollkommen iſt da das Leben, wie gering ſeine Be - wegung, die Generation noch gar nicht möglich; blos zum Eſſen und Verdauen ſcheint das ganze Geſchöpf da zu ſeyn wie denn auch manche Raupen eine ſo ungeheure Kapacität haben, daſs ſie in 24 Stunden 3mal mehr verzehren, als ihr ganzes Gewicht beträgt. Alſo eine äuſserſt geringe Selbſtaufreibung, und eine ungeheure Reſtauration! Kein Wunder alſo, daſs ſie in dieſem Zuſtand, troz ihrer Kleinheit und Unvollkommen - heit, ſo lange leben können. Eben ſo der Zwiſchenzuſtand als Puppe, wo das Geſchöpf ganz ohne Nahrung lebt, aber auch weder von innen noch von auſſen conſumirt wird. Aber nun die lezte Periode ſeiner Exiſtenz, der völlig aus - gebildete Zuſtand, als geflügeltes ätheri -115 ſches Weſen. Hier ſcheint die ganze Exiſtenz faſt in unaufhörlicher Bewe - gung und Fortpflanzung zu beſtehen, alſo in unaufhörlicher Selbſtconſumtion, und an Nahrung und Reſtauration iſt faſt gar nicht zu denken, denn viele Schmetterlinge bringen in dieſem Zu - ſtand gar keinen Mund mit auf die Welt. Bey einer ſolchen Verfeinerung der Or - ganiſation, bey einer ſolchen Dispro - portion zwiſchen Einnahme und Aus - gabe iſt keine Dauer möglich, und die Erfahrung beſtätigt es, daſs das Inſect ſehr bald ſtirbt. Hier ſtellt uns alſo das nehmliche Geſchöpf den Zu - ſtand des vollkommenſten und unvoll - kommenſten Lebens und die damit ver - bundene längere oder kürzere Dauer ſehr anſchaulich dar.

Die Amphibien, dieſe kalten Zwit - tergeſchöpfe, können ihr Leben auſſer - ordentlich hoch bringen; ein Vorzug, den ſie vorzüglich der Zähigkeit ihres Lebens, d. h. der ſehr innigen undH 2116ſchwehr zu trennend n Verbindung der Lebenskraft mit der Materie und ihrem ſchwachen intenſiven Leben verdanken.

Wie zäh ihr Leben iſt, davon hat man erſtaunliche Beweiſe. Man hat Schildkröten geraume Zeit ohne Kopf leben, und Fröſche, mit aus der Bruſt geriſſenen Herzen, noch herum hüpfen geſehen, und wie wir oben geſehen ha - ben, konnte eine Schildkröte 6 Wochen lang ganz ohne Nahrung leben; welches zugleich zur Gnüge zeigt, wie gering ihr intenſives Leben und alſo das Be - dürfniſs der Reſtauration iſt. Ja es iſt erwieſen, daſs man Kröten leben - dig in Steinen, ja in Marmorblöcken eingeſchloſſen, angetroffen hat. *)Noch im Jahr 1733 fand man in Schweden eine ſolche 7 Ellen tief in einem Steinbruch, mitten in dem härteſten Geſtein, zu dem man ſich den Zugang erſt mit vieler Mühe durch Hammer und Meiſel hatte bahnen müſſen. Sie lebte noch, aber äuſſerſt ſchwach, ihre Haut war verſchrumpft, und ſie hie und da mit einer ſteinigten KrnſteSie117 mögen nun als Eyer oder als ſchon ge - bildete Weſen darinne eingeſchloſſen worden ſeyn, ſo iſt eins ſo erſtaunens - würdig wie das andere. Denn was für eine Reihe von Jahren gehörte dazu, ehe ſich dieſer Marmor generiren, und ehe er ſeine Feſtigkeit erreichen konnte!

Eben ſo groſs iſt der Einfluſs der Regenerationskraft auf die Verlängerung ihres Lebens. Eine Menge Gefahren und Todesurſachen werden dadurch unſchädlich gemacht, und ganze verlor - ne Theile wieder erſezt. Hierhin gehört auch das Geſchäft des Häutens, das wir bey den meiſten Geſchöpfen die -*)umgeben. S. Schwed. Abhandlungen. 3. Band. p. 285. Das wahrſcheinlichſte iſt, daſs die Kröte noch ſehr klein in eine kleine Spalte des Geſteins kam, ſich da von der Feuchtigkeit und den auch hinein kriechenden Inſecten nährte, und end - lich wurde durch Tropfſtein dieſe Spalte ausge - füllt, und die indeſſen groſs gewordene Kröte da - mit inkruſtirt.118 ſer Klaſſe finden. Schlangen, Fröſche, Eidechſen u. a. werfen alle Jahre ihre ganze Haut ab, und es ſcheint dieſe Art von Verjüngung ſehr weſentlich zu ih - rer Erhaltung und Verlängerung zu ge - hören. Etwas ähnliches finden wir durch die ganze Thierwelt: Die Vögel wechſeln die Federn, auch Schnäbel, (das ſogenannte Mauſern), die Inſecten ver - larven ſich, die meiſten vierfüſsigen Thiere wechſeln die Haare und Klauen.

Das höchſte Alter erreichen, ſo weit jezt unſre Beobachtungen gehen, die Schildkröten und Krokodille.

Die Schildkröte, ein äuſſerſt träges, in allen ſeinen Bewegungen langſames und phlegmatiſches Thier, und beſon - ders ſo langſam wachſend, daſs man auf 20 Jahre kaum eine Zunahme von weni - gen Zollen rechnen kann, lebt 100 und mehrere Jahre.

119

Der Krokodill, ein groſses ſtarkes lebensvolles Thier, in ein hartes Panzer - hemde eingeſchloſſen, unglaublich viel freſſend und mit einer auſſerordentli - chen Verdauungskraft begabt, lebt eben - falls ſehr lange, und nach der Be - hauptung mehrerer Reiſenden iſt er das einzige Thier, das ſo lange wächſt, als es lebt.

Erſtaunlich iſts, was man unter den kaltblütigen Waſſerbewohnern, den Fiſchen, für Greiſse findet. Viel - leicht erreichen ſie im Verhältniſs ihrer Gröſse das höchſte Alter unter allen Geſchöpfen. Man weiſs aus der alten Römiſchen Geſchichte, daſs es in den kaiſerlichen Fiſchteichen mehrmals Muränen gab, welche das 60ſte Jahr er - reichten, und die am Ende ſo bekannt mit den Menſchen und ſo umgänglich wurden, daſs Craſſus Orator unam ex illis defleuerit.

120

Der Hecht, ein trocknes äuſſerſt ge - fräſsiges Thier, und der Karpfen kön - nen, nach glaubwürdigen Zeugniſſen, ihr Leben auf anderthalb hundert Jahre bringen. Der Lachs wächſt ſchnell, und ſtirbt bald; Hingegen die langſamer wachſende Barſch lebt länger.

Es ſcheint mir hierbey einiger Be - merkung werth, daſs in dem Fiſchreich der natürliche Tod viel ſeltner vor - kommt, als in den andern Naturreichen. Hier herrſcht weit allgemeiner das Ge - ſetz des unaufhörlichen Uebergangs des einen in das andre, nach dem Recht des Stärkern. Eins verſchlingt das andre, der Stärkere den Schwächern, und man kann behaupten, daſs im Waſſer weni - ger Tod exiſtirt, indem das Sterbende unmittelbar wieder in die Subſtanz eines Lebenden übergeht, und folglich der Zwiſchenzuſtand von Tod ſeltner exiſtirt, als auf der Erde. Die Verweſung ge - ſchieht in dem Magen des Stärkern. 121 Dieſe Einrichtung zeugt aber von hoher göttlicher Weisheit. Man denke ſich, daſs die unzähligen Millionen Waſſer - bewoher, die täglich ſterben, nur einen Tag unbegraben (oder, welches hier eben das heiſst, nicht verzehrt) da - gen; ſie würden ſogleich faulen, und die fürchterlichſte peſtilenzialiſche Aus - dünſtung verbreiten. Im Waſſer, hier, wo jenes groſse Verbeſſerungsmittel der animaliſchen Fäulniſs, die Vegetation, in weit geringern Maaſe exiſtirt, hier muſste jede Veranlaſſung zur Fäulniſs verhütet werden, und deswegen beſtän - diges Leben da herrſchen.

Unter den Vögeln giebt es ebenfalls viele ſehr lange lebende Arten. Hierzu tragen ohnſtreitig folgende Umſtände viel bey:

  • 1) Sie ſind auſſerordentlich gut be - deckt, denn es kann keine voll - kommnere, und die Wärme mehr122 zuſammenhaltende Bedeckung ge - ben, als die Federn.
  • 2) Sie haben alle Jahre eine Art von Reproduction und Verjüngung, die wir das Mauſern nennen. Der Vo - gel ſcheint dabey etwas krank zu werden, wirft endlich die alten Fe - dern ab, und bekömmt neue. Viele werfen auch ihre Schnäbel ab, und erhalten neue, ein wichtiger Theil der Verjüngung, weil ſie dadurch in den Stand geſezt werden, ſich beſſer zu nähren.
  • 3) Die Vögel genieſsen unter allen Thieren die meiſte und reinſte Luft.
  • 4) Sie bewegen ſich viel. Aber ihre Bewegung iſt die geſundeſte von allen, ſie iſt aus der activen und paſſiven zuſammengeſezt, d. h. ſie werden getragen, und haben blos123 die Anſtrengung der Fortbewegung. Sie gleicht dem Reiten, welches daher ebenfalls den Vorzug vor al - len andern Bewegungen hat.
  • 5) Durch eine eigne Einrichtung wird bey ihnen mit dem Urin eine groſse Menge Erde weggeſchaft, und alſo eine der Haupturſachen gehoben, die bey andern Thieren Trocken - heit, frühes Alter und Tod herbey führt.

Der Steinadler, ein ſtarkes groſses feſtfaſerigtes Thier, erreicht ein äuſſerſt hohes Alter. Man hat Beyſpiele, daſs manche in Menagerien über 100 Jahre gelebt haben.

Eben ſo die Geyer und Falken, beydes Fleiſchfreſſende Thiere. Herr Selwand in London erhielt vor wenig Jahren einen Falken von dem Vorgebürge der guten Hofnung, den man mit einem goldnen Halsbande gefangen hatte, worauf in124 Engliſcher Sprache ſtand: Sr. Majeſtät, K. Jacob von England. An. 1610. Es wa - ren alſo ſeit ſeiner Gefangenſchaft 182 Jahr verfloſſen. Wie alt war er wohl, als er entfloh? Er war von der gröſsten Art dieſer Vögel, und beſaſs noch eine nicht geringe Munterkeit und Stärke, doch bemerkte man, daſs ſeine Augen etwas dunkel und blind, und die Hals - federn weiſs worden waren.

Der Rabe, ein fleiſchfreſſender Vo - gel, von harten ſchwarzen Fleiſch, kann ebenfalls ſein Leben auf 100 Jahre brin - gen; ſo auch der Schwan, ein ſehr gut befiedertes, von Fiſchen lebendes, und das flieſsende Waſſer liebendes Thier.

Vorzüglich zeichnet ſich der Papa - gey aus. Man hat Beyſpiele gehabt, daſs er noch als Gefangener des Menſchen 60 Jahre gelebt hat, und wie alt war er vielleicht ſchon, als er gefangen wurde? Es iſt ein Thier, das faſt alle Arten von Speiſe verzehrt und verdaut, den Schna -125 bel wechſelt, und dunkles feſtes Fleiſch hat.

Der Pfau lebt bis zum 20ſten Jahre. Hingegen der Hahn, ein hitziges, ſtreitſüchtiges und geiles Thier, weit kürzer. Von noch kürzerm Leben iſt der Sperling, der Libertin unter den - geln. Die kleinen Vögel leben im Gan - zen auch kürzer. Die Amſel und der Stiegliz noch am längſten, bis zum 20ſten Jahr.

Wenden wir uns nun zu den voll - kommenſten, dem Menſchen am näch - ſten kommenden, vierfüſsigen Säugthie - ren, ſo finden wir hier ebenfalls eine auffallende Verſchiedenheit des Al - ters.

Am höchſten unter allen bringt es wohl der Elefant, der auch durch ſeine Gröſse, langſames Wachsthum (er wächſt bis ins 30ſte Jahr), äuſſerſt feſte126 Haut und Zähne, den gröſsten Anſpruch darauf hat. Man rechnet, daſs er 200 Jahr alt werden kann.

Das Alter des Löwen iſt nicht genau zu beſtimmen, doch ſcheint er es ziem - lich hoch zu bringen, weil man zuwei - len welche ohne Zahn gefunden hat.

Nun folgt der Bär, der groſse Schlä - fer und nicht weniger phlegmatiſch im Wachen, und dennoch von keiner lan - gen Lebensdauer. Ein ſchlimmer Troſt für diejenigen, die im Nichtsthun das Arcanum zum langen Leben gefun - den zu haben glauben.

Das Kameel hingegen, ein mageres, trocknes, thätiges, äuſſerſt dauerhaftes Thier, wird alt. Gewöhnlich erreicht es 50, oft auch 100 Jahre.

Das Pferd bringt es doch nicht - her, als etwa 40 Jahre; ein zwar groſses und kraftvolles Thier, das aber wenig127 mit Haaren bedeckt, empfindlicher und von ſcharfen zur Fäulniſs geneigten Säften iſt. Doch kann es einen Theil ſeines kürzern Lebens der Plage des Menſchen zu danken haben, denn wir haben noch keine Erfahrungen, wie alt es in der Wildniſs werden kann. In eben dem Verhältniſs ſteht der Eſel. Das Maulthier, das Product von beyden, hat mehr Dauer, und wird älter.

Was man vom hohen Alter der Hirſche geſagt hat, iſt Fabel. Sie werden etwa 30 Jahr und etwas dar - über alt.

Der Stier, ſo groſs und ſtark er iſt, lebt dennoch nur kurze Zeit, 15, höch - ſtens 20 Jahre.

Der gröſste Theil der kleinern Thiere, Schaafe, Ziegen, Füchſe, Haaſen, leben höchſtens 7 bis 10 Jahre, die Hunde und Schweine ausge -128 nommen, die es auf 15 bis 20 Jahre bringen.

Aus dieſer Mannichfaltigkeit von Erfarung laſſen ſich nun folgende Re - ſultate ziehen:

Die thieriſche Welt hat im Ganzen weit mehr innere und äuſſere Bewegung, ein weit zuſammengeſezteres und voll - kommneres intenſives Leben, und alſo gewiſs mehr Selbſtconſumtion als die Vegetabiliſche. Ferner ſind die Or - gane dieſes Reichs weit zarter, ausgebil - det und mannichfaltiger. Folglich müſs - ten eigentlich Thiere ein kürzeres Leben haben, als Pflanzen. Dafür aber haben ſie mehr Reichthum und Energie der Le - benskraft, mehr Berührungspuncte mit der ganzen ſie umgebenden Natur, folg - lich mehr Zugang und Erſatz von auſſen. Es muſs alſo in dieſer Klaſſe zwarſchweh -129ſchwehrer ſeyn, ein ſehr ausgezeichnet hohes Alter zu erreichen, aber auch ein zu kurzes Leben wird ſelten ſeyn. Und das iſts auch, was wir in der Er - fahrung finden. Ein mittleres Alter, von 5 40 Jahren, iſt das gewöhn - lichſte.

Je ſchneller ein Thier entſteht, je ſchneller es zur Vollkommenheit reift, deſto ſchneller vergeht auch ſein Leben. Dieſs ſcheint eines der allgemeinſten Naturgeſetze zu ſeyn, das ſich durch alle Klaſſen hindurch beſtätigt. Nur muſs man die Entwicklung nicht blos von dem Wachsthum verſtehen, und darnach berechnen. Denn es giebt Thiere, die, ſo lange ſie leben, zu wachſen ſcheinen, und bey denen das Wachsthum einen Theil der Ernährung ausmacht, ſondern es kommt vorzüglich auf folgende zwey Puncte an:

I130
  • 1) Auf die Zeit der erſten Entwick - lung im Ey, entweder in oder auſſer dem Körper.
  • 2) Auf den Zeitpunct der Mannbar - keit, den man als das höchſte Ziel der phyſiſchen Ausbildung und als den Beweiſs anſehen kann, daſs das Geſchöpf nun den höchſten Grad der Vollendung erreicht hat, deſſen es im Phyſiſchen fähig war.

Die Regel muſs alſo ſo beſtimmt werden: Je kürzere Zeit ein Geſchöpf zur Ausbildung im Mutterleibe oder Ey braucht, deſto ſchneller vergeht es. Der Elefant, der bis zum 3ten Jahre trägt, lebt auch am längſten, Hirſche, Stiere, Hunde u. ſ. w., deren Tragezeit nur von 3 bis 6 Monate iſt, erreichen ein weit kürzeres Ziel. Quod cito fit, cito perit.

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Vorzüglich aber das Geſetz: Je frü - her ein Geſchöpf ſeine Mannbarkeit er - reicht, je früher es ſich propagirt, deſto hürzer dauert ſeine Exiſtenz. Dieſs Ge - ſetz, das wir ſchon im Pflanzenreiche ſo vollkommen beſtätigt finden, herrſcht auch im Thierreich ohne Ausnahme. Das gröſste Beyſpiel davon geben uns die Inſecten. Ihre erſte Periode bis zur Mannbarkeit, d. h. ihr Larvenleben kann ſehr lange, ja mehrere Jahre, dau - ern; ſobald ſie aber ihre groſse Verwand - lung gemacht, d. h. ihre Mannbarkeit erreicht haben, ſo iſts auch um ihr Le - ben geſchehen. Und bey den vierfüſsi - gen Thieren iſt dieſs ſo gewiſs, daſs ſich ſogar die Lebenslänge eines Geſchöpfs ziemlich richtig darnach beſtimmen läſst, wenn man die Epoque der Mann - barkeit als den fünften Theil der ganzen Lebensdauer annimmt.

Pferde, Eſel, Stiere ſind im 3ten oder 4ten Jahre mannbar, und leben 15 20I 2132Jahre. Schaafe im 2ten Jahre, und leben 8 10 Jahre.

Alle gehörnten Thiere leben im Durchſchnitt kürzer, als die ungehörn - ten.

Die Thiere mit dunklern ſchwär - zern Fleiſch ſind im Ganzen länger le - bend, als die mit weiſsem Fleiſch.

Eben ſo ſind die ſtillen furchtſamen Thiere von kürzrer Lebensdauer, als die vom entgegen geſezten Tempera - ment.

Vorzüglich ſcheint eine gewiſſe Be - deckung des Körpers einen groſsen Ein - fluſs auf die Lebensdauer zu haben. So leben die Vögel, die gewiſs die dauer - hafteſte und beſte Bedeckung haben, vorzüglich lange, ſo auch der Elefant, der Rhinoceroſs, der Crocodill, die die feſteſte Haut haben.

133

Auch hat die Art der Bewegung ih - ren Einfluſs. Das Laufen ſcheint der Lebenslänge am wenigſten, hingegen das Schwimmen und Fliegen, genug, die aus der activen und paſſiven zuſammen - geſezte Bewegung am meiſten vortheil - haft zu ſeyn.

Auch beſtätigt ſich der Grundſatz: Je weniger intenſiv das Leben eines Ge - ſchöpfs, und je geringer ſeine innre und äuſsre Conſumtion, d. h. nach dem ge - wöhnlichen Sprachgebrauch, je unvoll - kommner das Leben eines Geſchöpfs iſt, deſto dauerhafter iſt es. Hingegen: je zarter, feiner und zuſammengeſezter die Organiſation und je vollkommner das Leben, deſto vergänglicher iſt es.

Dieſs zeigen uns am deutlichſten folgende Erfahrungen:

  • 1) Die Zoophyten, oder Pflanzenthie - re, deren ganze Organiſation im134 Magen, Mund und Ausgang beſteht, haben ein äuſſerſt zähes und unzer - ſtörbares Leben.
  • 2) Alle kaltblütigen Thiere haben im Durchſchnitt ein längeres und zähe - res Leben, als die warmblütigen, oder, welches eben das iſt, die nicht athemholenden haben hierinn einen Vorzug für den athemholen - den Thieren. Und warum? Das Athemholen iſt die Quelle der in - nern Wärme, und Wärme beſchleu - nigt Conſumtion. Das Geſchäft der Reſpiration iſt alſo überhaupt eine zwar beträchtliche Vermeh - rung der Vollkommenheit eines Ge - ſchöpfs, aber auch ſeiner Conſum - tion. Ein athmendes Geſchöpf hat gleichſam doppelte Circulation, die allgemeine und die kleinere, durch die Lunge, ferner doppelte Ober - fläche, die mit der Luft in be - ſtändige Berührung kommen, die135 Haut und die Oberfläche der Lungen, und endlich auch eine weit ſtärkere Reizung, und folg - lich eine weit ſtärkere Selbſtcon - ſumtion ſowohl von innen als auſſen.
  • 3) Die im Waſſer lebenden Geſchöpfe leben im Ganzen länger, als die in der Luft lebenden; und zwar aus eben dem Grunde, weil das Ge - ſchöpf im Waſſer wenig ausdunſtet, und weil das Waſſer bey weitem nicht ſo ſehr conſumirt, als die Luft.
  • 4) Den allerſtärkſten Beweis endlich, was die Verminderung der äuſſern Conſumtion für eine erſtaunliche Wirkung auf Verlängerung des Le - bens hat, geben die Beyſpiele, wo dieſelbe gänzlich unmöglich ge - macht wurde, die Beyſpiele von Kröten, die in feſten Geſtein einge -136 ſchloſſen waren, und die hier, blos durch Unterbrechung der Conſum - tion von auſſen, um ſo vieles län - ger ihr Leben conſervirt hatten. Hier konnte gar nichts verdunſten, nichts aufgelöſet werden, denn das wenige von Luft, was etwa zugleich mit eingeſchloſſen wurde, muſste ſehr bald ſo ſaturirt werden, daſs nichts mehr aufgenommen werden konnte. Eben deswegen konnte das Geſchöpf auch ſo lange ohne alle Nahrung exiſtiren, denn das Bedürfniſs der Nahrung entſteht erſt aus dem Verluſt, den wir durch die Verdunſtung und Conſumtion erleiden. Hier, wo alles zuſam - men bleibt, brauchts keinen Er - ſatz. Dadurch konnte alſo die Lebenskraft und die Organiſation vielleicht 100mal länger, als im natürlichen Zuſtande erhalten wer - den.
137

Auch das lezte Prinzip der Lebensver - längerung, der vollkommneren Reſtaura - tion, findet in dieſem Naturreich ſeine vollkommne Beſtätigung:

Der höchſte Grad von Reſtaura - tion iſt die Reproduction ganz neuer Or - gane.

Wir finden dieſe Kraft in einem be - wundernswürdigen Grade in der Klaſſe der Pflanzenthiere, der Würmer und Amphibien, genug derjenigen Geſchö - pfe, welche kaltes Blut und keine oder nur knorpelichte Knochen haben. Und bey allen dieſen Geſchöpfen exiſtirt eine ausgezeichnete Lebensdauer.

Etwas ähnliches iſt das Abwerfen der Schuppen bey den Fiſchen, der Häute bey Schlangen, Krokodillen, Frö - ſchen u. ſ. w., der Federn und Schnäbel bey den Vögeln, und wir bemerken im - mer, je vollkommner dieſe Renovation138 geſchieht, deſto länger iſt Verhältniſs - mäſsig das Leben:

Ein vorzüglich wichtiger Gegen - ſtand aber, in Abſicht auf Reſtauration, iſt die Ernährung. Hier äuſſert ſich der weſentlichſte Unterſchied der Pflan - zen - und Thierwelt. Statt daſs alle Pflanzen ohne Unterſchied ihre Nahrung von auſſen an ſich ziehen, iſt hingegen bey allen Thieren das unveränderliche Geſetz, daſs die Nahrung zuerſt in eine eigne dazu beſtimmte Höhle oder Schlauch (gewöhnlich Magen genannt) kommen muſs, ehe ſie in die Maſſe der Säfte aufgenommen, und ein Theil des Thieres werden kann; und der un - ſichtbare Polyp hat ſo gut, wie der Elefant, dieſen auszeichnenden, Ka - racter des Thiers, ein Maul und einen Magen.

Dieſs iſts, was die Hauptbaſis der Thierwelt, den karacteriſtiſchen Unter -139 ſchied des Thiers von der Pflanze aus - macht, und worauf ſich eben der Vor - zug der Individualität, des innern voll - kommnern, entwickeltern Lebens, ur - ſprünglich gründet. Daher kann in Thieren die aufgenommene Materie ei - nen weit höhern Grad von Vollendung erhalten, als in Pflanzen; die Wurzeln ſind gleichſam inwendig (die Milchge - fäſse), und erhalten den Nahrungsſaft ſchon durch den Darmkanal aſſimilirt und verfeinert. Daher brauchen Thiere mehr Abſonderungen und Excre - tiones, Pflanzen weniger. Daher geht bey Thieren der Trieb des Nah - rungsſaftes und aller Bewegungen von innen nach auſſen, bey den Pflanzen von auſſen nach innen. Daher ſtirbt das Thier von auſſen nach innen ab, die Pflanze umgekehrt, und man ſieht Bäume, wo Mark und alles Innere völlig fehlen, und nur noch die Rinde exiſtirt, und welche dennoch fortleben. Daher können Thiere weit mannich -140 faltigere Nahrung aufnehmen, und ſich weit vollkommner reſtauriren, und da - durch der ſtärkern Selbſtconſumtion das Gleichgewicht halten.

141

Fünfte Vorleſung. Lebensdauer der Menſchen.

Erklärung des unglaublich ſcheinenden Alters der Patri - archen Das Alter der Welt hat keinen Einfluſs auf das Lebensalter der Menſchen Beyſpiele des Alters bey den Juden Griechen Römern Tabellen des Cenſus unter Veſpaſian Beyſpiele des hohen Alters bey Kaiſern, Königen und Pübſten Frie - drich II. bey Eremiten und Kloſterbrüdern Philo - ſophen und Gelehrten Schulmännern Dichtern und Künſilern das höchſte Alter findet ſich nur unter Landleuten, Jägern, Gürtnern, Soldaten und Matro - ſen Beyſpiele Weniger bey Aerzten Kürzeſtes Leben Verſchiedenheit des Alters nach dem Clima.

Aber nun laſſen Sie uns zu der Haupt - quelle unſrer Erfahrung, zu der Ge - ſchichte des Menſchen, übergehen,142 und hier Beyſpiele ſammlen, die für unſre Unterſuchung fruchtbar ſeyn kön - nen.

Ich werde Ihnen die merkwürdig - ſten Beyſpiele des höchſten Menſchenal - ters vorlegen, und wir werden daraus ſehen, in welchem Clima, unter wel - chen Glücksumſtänden, in welchem Stand, mit welchen Geiſtes - und Körper - anlagen der Menſch das höchſte Alter er - reicht habe. Eine angenehme Ue - berſicht, die uns einen eignen Theil der Weltgeſchichte, die Geſchichte des menſchlichen Alters, und die venerable Gallerie der Neſtors aller Zeiten und Völker, bekannt machen wird. Ich werde hie und da eine kurze Karacteri - ſtik beyfügen, um zugleich einen Wink zu geben, in wie fern Karacter und Tem - perament auf die Länge des Lebens Ein - fluſs hatte.

Gewöhnlich glaubt man, daſs in der Jugend der Welt auch ihre Bewoh -143 ner ein jugendlicheres und vollkommne - res Leben, eine Rieſengröſse, unglaub - liche Kräfte, und eine erſtaunliche Le - bensdauer gehabt haben. Lange trug man ſich mit einer Menge derglei - chen Geſchichten, und mancher ſchö - ne Traum verdankt ihnen ſeine Ent - ſtehung. So trug man kein Be - denken, in allem Ernſt, dem Urvater Adam eine Länge von 900 Ellen und ein Alter von faſt 1000 Jahren beyzulegen. Aber die ſcharfe und gründliche Kritik neuer Phyſiker hat die hie und da ge - fundenen vermeynten Rieſenknochen in Elefanten und Rhinocerosknochen verwandelt, und hellſehende Theologen haben gezeigt, daſs die Chronologie je - ner Zeiten nicht die jetzige ſey. Man hat mit der höchſten Wahrſcheinlichkeit erwieſen (inſonderheit Hensler), daſs die Jahre der Alten bis auf Abraham nur 3 Monate, nachhero 8 Monate, und erſt nach Joſeph 12 Monate enthielten. Eine Behauptung, die dadurch noch mehr Beſtätigung erhält, daſs noch jezt Völ -144 ker im Orient exiſtiren, welche das Jahr zu 3 Monat rechnen; ferner, daſs es ganz unerklärbar ſeyn würde, warum das Lebensalter der Menſchen gleich nach der Sündfluth um die Hälfte ver - kürzt wurde. Eben ſo unbegreiflich müſste es ſeyn, warum die Patriarchen immer erſt im 60ſten, 70ſten ja 100ten Jahre heyrathen, welches ſich aber ſo - gleich hebt, wenn wir dieſs Alter nach dieſem Maasſtabe berechnen, denn da wird das 20ſte oder 30ſte Jahr daraus, alſo eben der Zeitpunct, in dem wir auch jezt noch heyrathen. Ueber - haupt bekommt nun alles, nach dieſer Berichtigung, eine andere Geſtalt. Die 1600 Jahre vor der Sündfluth werden zu 414 Jahr, und das 900jährige Alter des Methuſalems (das höchſte, was angege - ben wird) ſinkt auf 200 Jahr herab, ein Alter, das gar nicht unter die Unmög - lichkeiten gehört, und dem noch in neuern Zeiten Menſchen nahe gekom - men ſind.

Auch145

Auch in der Profangeſchichte er - zählt man in jener Zeit viel von Heroen und Arcadiſchen Königen, die ein Alter von vielen 100 Jahren erreicht haben ſollen, welches ſich aber auf eben dieſe Art auflöſen läſst.

Schon mit Abraham, (alſo mit dem Zeitpunkt einer etwas conſtatirtern Ge - ſchichte), fängt ſich ein Lebensalter an, welches gar nichts auſſerordentliches mehr hat, und auch noch jezt erreicht werden kann, beſonders wenn man die Frugalität, das freye, luftgewohnte und nomadiſche Leben jener Patriarchen an - nehmen wollte.

Die Jüdiſche Geſchichte giebt uns folgende Facta: Abraham, ein Mann von groſser und entſchloſsner Seele, und dem alles glücklich ging, erreichte ein Alter von 175 Jahren, ſein Sohn Iſaac, ein Ruhe liebender, keuſcher und ſtiller Mann, 180; Jacob, ebenfalls ein Freund des Friedens, aber ſchlauer, nur 147;K146der Kriegsmann Ismael 137; die einzige Frau der alten Welt, von deren Lebens - dauer wir etwas erfahren, Sarah, 127 Jahre; Joſeph, reich an Klugheit und Politik, in der Jugend bedrängt, im Al - ter hochgeehrt, lebte 110 Jahr.

Moſes, ein Mann von auſſerordent - lichen Geiſt und Kraft, reich an Thaten aber ſchwach an Worten, brachte ſein Sorgen - und Strapazenvolles Leben, bis auf 120 Jahre. Aber ſchon er klagt, unſer Leben währt 70 Jahr, wenns hoch kommt, 80; und wir ſe - hen hieraus, daſs ſchon vor 3000 Jahren es in dieſem Stück gerade ſo war, wie jezt.

Der kriegeriſche und immer thätige Joſua, ward 110 Jahr alt. Eli, der Hoheprieſter, ein fetter, phlegmatiſcher und gelaſſener Mann, lebte einige 90, aber Eliſa, ſtreng gegen ſich und gegen andre, und ein Verächter aller Bequem - lichkeiten und Reichthümer, lebte weit147 über 100 Jahre. In den lezten Zei - ten des Jüdiſchen Staats zeichnete ſich der Prophet Simeon, voll Hofnung und Vertrauen auf Gott, durch ein 90jähriges Alter aus.

So ſehr übrigens bey den Egyptiern alles voll Fabeln iſt, ſo hat doch das Al - ter ihrer Könige, welches von den älte - ſten Zeiten her gemeldet wird, gar nichts beſonders. Die höchſte Regie - rungsdauer iſt etwas über 50 Jahr.

Von dem hohen Alter der Seres, oder der heutigen Chineſer, hatte man, nach dem Lucian zu urtheilen, ſehr hohe Begriffe. Sie heiſſen ausdrücklich ma - crobii, und zwar ſchreibt Lucian ihr langes Leben ihrem häufigen Waſſertrin - ken zu. War es vielleicht auch ſchon der Thee, den ſie damals tran - ken?

Bey den Griechen finden wir meh - rere Beyſpiele von hohen Alter. DerK 2148weiſe Solon, ein Mann von groſser Seele, tiefen Nachdenken und feurigen Patrio - tismus, doch nicht gleichgültig gegen die Annehmlichkeiten des Lebens, brach - te ſein Alter auf 80 Jahr. Epimenides von Creta ſoll 157 Jahr alt geworden ſeyn. Der luſtige, ſchwärmende Ana - creon lebte 80 Jahr, eben ſo lange Sopho - cles und Pindar. Gorgias und Leon - tium, ein groſser Redner, und ein viel gereiſter und im Umgang und Unter - richt der Jugend lebender Mann, brach - te ſein Alter auf 108 Jahr, Protagoras von Abdera, ebenfalls ein Redner und Reiſender, auf 90; Iſocrates, ein Mann von groſser Mäſsigkeit und Beſcheiden - heit, auf 98 Jahr. Democrit, ein Freund und Forſcher der Natur, und dabey von guter Laune und heitern Sinn, ward 109 Jahr, der ſchmuzige und frugale Diogenes, 90. Zeno, der Stifter der ſtoiſchen Secte und ein Mei - ſter in der Kunſt der Selbſtverleugnung, erreichte beynahe 100 Jahr, und Plato, eines der göttlichſten Genies, die je ge -149 lebt haben, und ein Freund der Ruhe und ſtillen Betrachtung, 81 Jahr. Pythagoras, deſſen Lehre vorzüglich gute Diät, Mäſsigung der Leidenſchaf - ten und Gymnaſtik empfahl, wurde auch ſehr alt. Er pflegte das menſchli - che Leben in vier gleiche Theile zu thei - len. Vom 1ſten zum 20ſten Jahre ſey man ein Kind (anfangender Menſch), von 20 bis zu 40 ein junger Menſch, von 40 bis zu 60 erſt ein Menſch, von 60 bis 80 ein alter oder abnehmender Menſch, und nach dieſer Zeit rechne er niemand mehr unter die Lebendigen, er möge auch ſo lange leben, als er wolle.

Unter den Römern verdienen fol - gende bemerkt zu werden.

M. Valerius Corvinus, wurde über 100 Jahr alt, ein Mann von groſsem Muth und Tapferkeit, vieler Populari - tät und beſtändigem Glück. Orbi - lius, der berühmte Orbilius, erſt Soldat,150 dann Pädagog, aber immer noch mit mi - litäriſcher Strenge, erreichte in dieſer Lebensart ein Alter von 100 Jahren. Wie hoch der Mädgenſchulmeiſter Her - mippus ſein Alter brachte, haben wir ſchon geſehen. Fabius, durch ſein Zaudern bekannt, zeigte durch ſein 90 jähriges Alter, daſs man auch dem Tode damit etwas abgewinnen könne. Und Cato, der Mann von eiſernem Körper und Seele, ein Freund des Land - lebens und ein Feind der Aerzte, wurde über 90 Jahre alt.

Auch von Römiſchen Frauen haben wir merkwürdige Beyſpiele eines langen Lebens. Terentia, des Cicero Frau, troz ihres vielen Unglücks, Kummers und des Podagra, was ſie plagte, ward 103 Jahre alt. Und Auguſtus Gemahlin, Li - via, eine herſchſüchtige, leidenſchaft - liche und dabey glückliche Frau, 90 Jahr.

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Beſonders merkwürdig iſts, daſs man mehrere Beyſpiele von ſehr alt ge - wordnen Römiſchen Actricen hat, ein Vorzug, den ſie leider jezt verlohren ha - ben, und der zu beweiſen ſcheint, daſs jezt mehr Lebensconſumtion mit ihrem Stande verknüpft iſt, als ehemals. Eine gewiſſe Luceja, die ſehr jung zum Theater kam, war 100 Jahr Actrice, und erſchien noch im 112ten Jahre auf dem Theater. Und Galeria copiala, eine Actrie und Tänzerin zugleich, wurde 90 Jahre nach ihrem erſten Auftritt auf dem Theater, wieder aufgeführt, um als ein Wunder den Pompejus zu complimen - tiren. Und dennoch wars noch nicht zum leztenmale. Zur Feyer des Auguſts erſchien ſie noch einmal auf dem Theater.

Einen äuſſerſt ſchäzbaren Beytrag von der Lebensdauer, zu den Zeiten des Kaiſer Veſpaſian liefert uns Plinius, aus den Regiſtern des Cenſus, einer völlig ſichern und glaubwürdigen Quelle. Hier152 zeigt ſich nun, daſs in dem Theile Ita - liens, der zwiſchen den Appeninen und dem Po liegt, in dem Jahr dieſer Zählung (dem 76ſten unſrer Zeitrechnung) 124 Menſchen lebten, welche 100 und mehr Jahre alt waren, nehmlich 54 von 100 Jahren, 57 von 110, 2 von 125, 4 von 130, ebenfalls 4 von 135 bis 137, 3 von 140. Auſſer dieſen fanden ſich noch be - ſonders in Parma 5 Menſchen, deren drey 120, und zwey 130 Jahre alt waren; in Piacenza eine von 130 Jahren; zu Fauentia eine Frau von 132 Jahren. In einer einzigen Stadt bey Piacenza, (Vellejacium) lebten 10, von denen ſechs 110, und vier 120 Jahre erreicht hatten.

Auch des berühmten Ulpians Mor - talitätstabellen treffen auf eine auffallen - de Art mit den unſrigen, und zwar von groſsen Städten überein. Man kann nach ihnen das alte Rom und London, in Abſicht auf die Lebensprobabilität völlig parallel ſtellen.

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Man ſieht alſo zur Gnüge, daſs die Dauer des menſchlichen Lebens zu den Zeiten Moſes, der Griechen, der Römer, und jezt immer dieſelbe war, und daſs das Alter der Erde keinen Ein - fluſs auf das Alter ihrer Bewohner hat, den Unterſchied etwa ausgenommen, den die verſchiedene Kultur ihrer Ober - fläche und die daher rührende Verſchie - denheit des Clima hervorbringen kann.

So iſts z. B. gewiſs, daſs jezt in Ita - lien nach Verhältniſs nicht ſo viele und auch nicht ſo ſehr alte Leute angetroffen werden, als zu Veſpaſians Zeiten; aber die Urſache iſt, daſs damals wegen meh - rern Waldungen das Clima noch kälter war, und die Menſchen feſter machte. *)Man findet davon mehrere Spuren. So erzählt z. E. Plinius von Wintern, wo der Wein in den Kellern, und die Tiber bis auf den Grund ge - froren war.Auch iſts nicht unwahrſcheinlich, daſs die eigenthümliche Wärme der Erde ſelbſt wandern, und ſich zuweilen in ei -154 nem Erdſtrich mehr anhäufen, in dem andern aber vermindern kann.

Das Reſultat der Unterſuchung bleibt immer: Der Menſch kann noch jezt eben das Alter erreichen, als ehe - dem. Der Unterſchied liegt nur darinn, daſs es ſonſt mehrere, und jezt weniger erreichen.

Laſſen Sie uns nun das Lebensalter nach den verſchiedenen Ständen und Lagen der Menſchen durchgehen, und dabey beſonders auf die neuern Zeiten Rückſicht nehmen.

Und zwar erſtens Kaiſer und Köni - ge, genug, die Groſsen dieſer Welt. Hat ihnen die Natur, die ihnen am voll - kommenſten alle Vorzüge und Freuden des Lebens ſchenkte, nicht auch ihre ſchönſte Gabe, ein längeres Leben ver - liehen? Leider nicht. Weder die ältere noch neuere Geſchichte ſagt uns, daſs dieſe Prärogative ihnen beſonders eigen155 geweſen wäre. Wir finden in der alten Geſchichte nur wenige Könige, die das 80ſte Jahr erreicht haben. Und vollends die neuere. In der ganzen Reihe der Römiſch-teutſchen Kaiſer, von Auguſt an gerechnet, bis auf unſre Zeiten, wel - che zuſammen über 200 betragen, fin - den wir, die zwey erſten, den Auguſt und Tiberius ausgenommen, nur vier, welche das 80ſte Jahr erreichten, den Gordian, Valerian, Anaſtaſius und Juſti - nian.

Auguſt wurde 76 Jahre alt, ein Mann von ruhigem und gemäſsigten Geiſt, aber ſchnell und lebhaft im Handeln, mäſsig in den Genüſſen der Tafel, aber deſto empfänglicher für die Freuden der Künſte und Wiſſenſchaften. Er aſs nur die einfachſten Speiſen, und, wenn er nicht hungerte, gar nicht, trank nie über ein Pfund Wein, hielt aber ſehr darauf, daſs Freude und gute Geſell - ſchaft die Mahlzeit würzten. Uebrigens war er von heiterm Sinn und ſehr glück -156 lich, und, was den Punct des Lebens betraf, ſo geſinnt, daſs er noch kurz vor ſeinem Tode zu ſeinen Freunden ſa - gen konnte: Plaudite, Amici. Applau - dirt, meine Freunde, die Komödie iſt zu Ende. Eine Geiſtesſtimmung, die der Erhaltung des Lebens äuſſerſt vor - theilhaft iſt. Im 30ſten Jahre überſtand er eine ſchwehre und ſo gefährliche Krankheit, daſs man ihn für verlohren hielt. Es war eine Art von Nerven - krankheit, die durch das warme Verhal - ten und die warmen Bäder, die ihm ſei - ne gewöhnlichen Aerzte riethen, nur noch verſchlimmert werden muſste. An - tonius Muſa kam alſo auf den Einfall, ihn gerade auf die entgegengeſezte Art zu behandeln. Er muſste ſich ganz kalt verhalten und ganz kalt baden, und in kurzem war er wieder hergeſtellt. Dieſe Krankheit ſowohl, als die dadurch be - wirkte nüzliche Veränderung ſeiner Le - bensart, trugen wahrſcheinlich viel zur Verlängerung ſeines Lebens bey.

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Und nebenbey lehrt uns dieſe Ge - ſchichte, daſs man ſehr Unrecht hat, die Methode des kalten Badens die Engliſche zu nennen, da ſie ſchon ſo alt iſt.

Der Kaiſer Tiberius lebte noch zwey Jahr länger, er war von heftiger Ge - müthsart, aber vir lentis maxillis, wie ihn Auguſt nennte, ein Freund der Wol - luſt, aber bey dem allen diätetiſch, und ſelbſt in dem Genuſs nicht ohne Auf - merkſamkeit auf ſeine Geſundheit, ſo daſs er zu ſagen pflegte, er hielte den für einen Narren, der nach dem 30ſten Jahre noch einen Arzt um ſeine Diät be - fragte, weil ein jeder alsdenn ſchon mit einiger Aufmerkſamkeit das, was ihm nützlich und ſchädlich wäre, erkannt haben müſste.

Der berühmte Eroberer Aurengzeb erreichte zwar ein 100jähriges Alter, aber er iſt nicht ſowohl als König, ſon - dern vielmehr als Nomade zu betrach - ten.

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Eben ſo ſelten iſt das hohe Alter in den Königs - und Fürſtenhäuſern der neuern Zeit. Nur die Könige von Frank - reich, aus dem Bourbonſchen Hauſe, machen eine Ausnahme, wo gleich drey auf einander folgende ein Alter von 70 Jahren erreichten.

Auch dürfen wir hier, als eines der wichtigſten neuern Beyſpiele, des groſsen Königs, Friedrich II. nicht vergeſſen. Er war in allem groſs, ſelbſt in ſeinem Phy - ſiſchen. Er erreichte nicht nur ein, unter den Königen ſchon ſehr ſeltnes, Alter von 76 Jahren, ſondern, was noch mehr ſagen will, er erreichte es nach dem Mühe-Sorgen - und Strapazenvoll - ſten Leben, das vielleicht je ein Menſch durchlebte, von dem er 20 Jahr im wirk - lichen Kriege zubrachte, und dabey alle Strapazen eines gemeinen Soldaten er - trug, nur mit dem Unterſchied, daſs er zugleich als Feldherr für alle dachte, und die Nacht, wenn jener Ruhe fand, noch159 mit tiefen Nachdenken und neuen Pla - nen zubrachte.

Die geiſtliche Hoheit war in dieſem Betracht nicht glücklicher. Von 300 Päbſten, die man rechnen kann, haben nicht mehr als 5 ein Alter von 80 Jahren erreicht oder überſchritten, ohneracht hier der Vortheil eintritt, daſs ſie erſt ſpät zu dieſer Würde gelangen, und alſo mehr Wahrſcheinlichkeit eines ho - hen Alters haben.

Aber eine Menge von auſſerordent - lichen Beyſpielen findet man unter den Eremiten und Kloſtergeiſtlichen, die bey der ſtrengſten Diät, Selbſtverleugnung und Abſtraction, gleichſam entbunden von allen menſchlichen Leidenſchaften und dem Umgange, der ſie rege machen kann, ein contemplatives Leben, doch mit körperlicher Bewegung und Luft - genuſs verbunden, führten. So wurde der Apoſtel Johannes 93 Jahre, der Ere - mit Paullus, bey einer faſt unglaublich160 ſtrengen Diät und in einer Höhle, 113, und der heilige Antonius 105 Jahre alt; Athanaſius, Hieronymus überſchritten ebenfalls das 80ſte Jahr. In neuern Zeiten, wo die Abſtraction des Geiſtes, die Selbſtverleugnung und frugale Diät einige Abänderungen erlitten haben, ſind dieſe Beyſpiele ſeltner worden.

Eben ſo ſehr haben ſich tiefdenken - de Philoſophen von jeher durch hohes Alter ausgezeichnet, beſonders wenn ihre Philoſophie ſich mit der Natur be - ſchäftigte und ihnen das göttliche Ver - gnügen, neue wichtige Wahrheiten zu entdecken, gewährte. Der reinſte Ge - nuſs, eine wohlthätige Exaltation unſrer ſelbſt, und eine Art von Reſtauration, die unter die vorzüglichen Lebensver - längerungsmittel eines vollkommnen Geſchöpfs zu gehören ſcheint! Die Aelteſten finden wir unter den Stoikern und Pythagoraeern, bey denen Bezäh - mung der Leidenſchaften und der Sinn -lichkeit,161lichkeit, und eine ſtrenge Diät, unter die weſentlichſten Eigenſchaften eines Philoſophen gehörten. Wir haben ſchon oben die Beyſpiele eines Plato und Iſocrabes betrachtet. Appollonius von Tyana, ein ſchöner, vollkommner, in allen geiſtigen und körperlichen Eigen - ſchaften auſſerordentlicher Mann, der bey den Chriſten für einen Zauberer, bey den Römern und Griechen für einen Götterboten galt, in ſeiner Diät ein Nachfolger des Pythagoras, und ein groſser Freund des Reiſens, ward über 100 Jahr alt. Xenophilus, ebenfalls ein Pythagoraeer, 106 Jahr. Der Phi - loſoph Daemonax, ebenfalls 100 Jahr; er war ein Mann von äuſſerſt ſtrengen Sitten, und von einer ungewöhnlichen ſtoiſchen Apathie. Man fragte ihn vor ſeinem Tode: Wie er begraben ſeyn wollte? Macht euch darum keine Sorge, antwortete er, die Leiche wird ſchon der Geſtank begraben. Aber, willſt du denn, warfen ihm ſeine Freunde ein, Hunden und Vögeln zur Speiſe dienen?

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Warum nicht? erwiederte er, ich habe, ſo lange ich lebte, den Menſchen nach allen Kräften zu nützen geſucht, warum ſollte ich nach meinem Tode nicht auch den Thieren etwas geben?

Selbſt in neuern Zeiten haben die Philoſophen dieſen Vorzug ſich erhalten. Und die gröſsten und tiefſten Denker ſcheinen darinne eine Frucht mehr ihrer geiſtigen Freuden zu genieſsen. Kepler und Baco erreichten ein hohes Alter; Newton, der ſo ganz alle ſeine Freuden und Genüſſe in höhern Sphären fand, daſs man verſichert, er habe ſeine Jung - frauſchaft mit ins Grab genommen, kam bis auf 90 Jahre. Euler, ein Mann von unbegreiflicher Thätigkeit, deſſen tief - gedachte Schriften ſich über 300 belau - fen, näherte ſich ebenfalls dieſem Alter, und noch jezt zeigt der gröſste lebende Philoſoph, Kant, daſs die Philoſophie nicht nur das Leben lange erhalten, ſon - dern auch noch im höchſten Alter die treueſte Gefährdin und eine uner -163 ſchöpfliche Quelle der Glückſeeligkeit für ſich und andere bleiben kann.

Beſonders zeichnen ſich die Acade - miciens in dieſer Rückſicht aus. Ich brauche nur an den ehrwürdigen Fonte - nelle, der 100 Jahr weniger eins alt wur - de, und an den Neſtor Formey, zu erin - nern, die Beyde Secretaires perpetuels, erſtrer der Franzöſiſchen, leztrer der Berliner Academie, waren.

Eben ſo finden wir unter den Schul - männern viele Beyſpiele eines langen Lebens, ſo daſs man beynahe glauben ſollte, der beſtändige Umgang mit der Jugend könne etwas zu unſrer eignen Verjüngung und Erhaltung beytragen.

Einen ganz vorzüglichen Rang in der Geſchichte des langen Lebens, be - haupten aber die Dichter und Künſtler, genug, die Glücklichen, deren haupt - ſächliches Geſchäft im Spielen der Phan -L 2164taſie und ſelbſtgeſchaffnen Welten be - ſteht, und deren ganzes Leben im ei - gentlichſten Verſtande ein ſchöner Traum iſt. Wir haben ſchon oben geſehen, wie hoch Anacreon, So - phocles, Pindar, ihr Leben brach - ten. Young, Voltaire, Bodmer, Hal - ler, Metaſtaſio, Gleim, Utz, Oeſer haben alle ein hohes Alter erreicht, und ich erlaube mir hier die Hofnung, die zugleich gewiſs der Wunſch eines jeden von uns iſt, zu äuſſern, daſs die Zierde der Teutſchen Dichter, Wieland, die neueſte Beſtätigung dieſes Grund - ſatzes geben möge.

Aber die auſſerordentlichſten Bey - ſpiele von langen Leben finden wir nur unter den Menſchenklaſſen, die unter körperlicher Arbeit, und in freyer Luft, ein einfaches naturgemäſses Leben füh - ren, unter Landleuten, Gärtnern, - gern, Soldaten und Matroſen. Nur in dieſen Ständen erreicht der Menſch noch165 jezt ein Alter von 140, ja 150 Jahren. Ich kann mir das Vergnügen nicht ver - ſagen, Ihnen die merkwürdigſten dieſer Beyſpiele etwas umſtändlich zu erzehlen, denn in ſolchen Fällen hat oft auch der kleinſte Umſtand Intereſſe und Bedeu - tung.

Im Jahr 1670 ſtarb H. Jenkins in Yorkſhire. Er war ſchon im Jahr 1513 bey der Schlacht zu Flowdenfield gewe - ſen, und damals 12 Jahr alt. Man konnte aus den Regiſtern der Kanzleyen und andrer Gerichtshöfe erſehen, daſs er 140 Jahre lang vor Gericht erſchienen war, und Eyde abgelegt hatte. Gegen die Wahrheit der Sache iſt alſo nichts einzuwenden. Er war bey ſeinem Tode 169 Jahr alt. Seine lezte Beſchäfti - gung war Fiſcherey, und er konnte noch, als er ſchon weit über 100 Jahre alt war, in ſtarken Strömen ſchwim - men.

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Ihm kommt Th. Parre am nächſten, ebenfalls ein Engländer aus Shropſhire. Er war ein armer Bauersmann, und muſste ſich mit ſeiner täglichen Arbeit ernähren. Als er 120 Jahre alt war, ver - heyrathete er ſich wieder mit einer Wittwe, mit der er noch 12 Jahre lebte, und ſo, daſs ſie verſicherte, ihm nie ſein Alter angemerkt zu haben. Bis in ſein 130ſtes Jahr verrichtete er noch alle Ar - beit im Hauſe, und pflegte ſogar noch zu dreſchen. Einige Jahr vor ſeinem Tode erſt fingen die Augen und das Ge - dächtniſs an ſchwach zu werden, das Gehör und ſein Verſtand aber blieben bis zu Ende gut. In ſeinem 152ſten Jahre hörete man von ihm in London, der - nig wurde ſehr begierig dieſe Seltenheit zu ſehen, und er muſste ſich auf den Weg machen. Und dieſs brachte ihn höchſtwahrſcheinlich um ſein Leben, das er auſſerdem noch länger würde fort - geſezt haben. Er wurde nehmlich da ſo königlich tractirt, und auf einmal in ein ſo ganz entgegengeſeztes Leben verſezt,167 daſs er bald darauf 1635 in London ſtarb. Er war 152 Jahr und 9 Monate alt wor - den, und hatte 9 Könige von England erlebt. Das allermerkwürdigſte war nun dieſs, daſs man bey der Section, welche Harvey verrichtete, alle ſeine Eingeweyde in dem geſundeſten Zuſtan - de antraf; nicht der geringſte Fehler war zu entdecken. Sogar die Rippen waren noch nicht einmal verknochert, was man ſonſt bey allen alten Leuten findet. In ſeinem Körper lag alſo noch nicht die mindeſte Urſache des Todes, und er war blos an ſchnell erzeugter Ueberfüllung geſtorben, weil man ihm zu viel zu gute gethan hatte.

Ein Beweis, daſs in manchen Fa - milien eine ſolche altinachende Anlage, ein beſonders gutes Stamen vitae ſeyn könne, giebt eben dieſer Parre. Erſt vor wenig Jahren ſtarb ſeine Uren - kelin zu Corke in einem Alter von 103 Jahren.

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Faſt von eben der Art iſt folgendes ganz neueres Beyſpiel. *)Heinze Kiel. Neues Magaz. I. B. 3. St.Ein Däne, Nahmens Draakenberg, geboren 1626, diente bis in ſein 91ſtes Jahr als Matroſe auf der Königl. Flotte, und brachte 15 Jahre ſeines Lebens in der Türkiſchen Sklaverey, und alſo im gröſsten Elende, zu. Als er 111 Jahr alt war, und ſich nun zur Ruhe geſezt hatte, fiels ihm ein, doch nun zu heyrathen, und er nahm eine 60jährige Frau; dieſe aber überlebte er lange, und nun in ſeinem 130ſten Jahre verliebte er ſich noch in ein junges Bauermädgen, die aber, wie man wohl denken kann, ſeinen Antrag ausſchlug. Er verſuchte ſein Heil nun noch bey mehrern; da er aber nirgends glücklicher war, ſo beſchloſs er endlich ledig zu bleiben, und lebte ſo noch 16 Jahre. Erſt im Jahre 1772 ſtarb er im 146ſten Jahre ſeines Alters. Er war ein Mann von ziemlich heftigen Tempera -169 ment, und zeigte oft ſeine Stärke noch in den lezten Jahren ſeines Lebens.

Im Jahr 1757 ſtarb zu Cornwallis I. Effingham im 144ſten Jahr ſeines Alters. Er war unter Jacob I. Regierung von ſehr armen Eltern geboren, und von Kindheit auf zur Arbeit gewöhnt, diente lange als Soldat und Korporal, und als ſolcher auch in der Schlacht bey Höch - ſtädt. Zulezt kehrte er zurück in ſeinen Geburtsort, und lebte als Tagelöhner bis an ſein Ende. Zu bemerken iſt, daſs er in der Jugend niemals hitzige und ſtarke Getränke getrunken, immer ſehr mäſsig gelebt, und nur ſelten Fleiſch gegeſſen hat. Er wuſste bis zu ſeinem 100ſten Jahre faſt nicht, was Krankheit war, und machte noch 8 Tage vor ſeinem Ende eine Reiſe von drey Meilen.

Die allerneueſten und nicht weni - ger merkwürdigen Beyſpiele ſind fol - gende:

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Im Jahr 1792 ſtarb im Holſteinſchen ein gewiſſer Stender, ein arbeitſamer Bauersmann, im 103ten Jahre. Seine Nahrung war beynahe nichts anders als Grütze und Buttermilch; äuſſerſt ſelten aſs er Fleiſch, und immer nur ſehr ſtark geſalzen. Er hatte faſt niemals Durſt, und trank daher ſehr ſelten. Tabak rauchte er gern. Erſt im Alter fing er an Thee und zuweilen Koffee zu trinken. Die Zähne verlor er bald. Krank war er nie. Aergern konnte er ſich gar nicht, d. h. es war bey ihm phyſiſch unmöglich daſs die Galle überging. Er vermied auch alle Gelegenheit zu Zank und Streit. Dafür aber hatte er ein deſto gröſsres Vertrauen auf die Vorſehung, und wuſste ſich dadurch in allen Uebeln und Unglücksfällen zu tröſten und aufzurich - ten. Seine liebſte Unterhaltung war im - mer: Gottes Güte.*)Schlesw. Hollſtein. Provinz. Blatt. 1792.

Eins der aller ſonderbarſten Bey - ſpiele, wie unter dem abwechſelnd -171 ſten Spiele des Glücks, der anhal - tenſten Todesgefahr und den nach - theiligſten Einflüſſen, ſich dennoch das Leben eines Menſchen unglaub - lich lange erhalten kann, iſt folgendes: Im Jahr 1792 ſtarb in Preuſsen ein alter Soldat, Nahmens Mittelſtedt, in einem Alter von 112 Jahren. Dieſer Mann war 1681 im Jun. zu Fiſſahn in Preuſsen geboren, und wurde als Be - dienter von ſeiner Herrſchaft, die in ei - nem Abend ihre ganze Equipage und 6 Bediente dazu verſpielte, ebenfalls mit verſpielt. Er ging hierauf in Kriegs - dienſte, und diente 67 Jahre als Soldat, machte alle Feldzüge unter König Frie - drich I. Friedrich Wilhelm I. und Frie - drich II. beſonders den ganzen 7jährigen Krieg mit, wohnte 17 Hauptbataillen bey,*)In dieſer Abſicht verdient auch das Beyſpiel des Kaiſerl. Generals Graf Molza Erwähnung, welcher 1792 im 78ſten Jahr ſtarb. Er hatte vom 18ten Jahre an gedient, 17 Feldzüge und 9 Be - wo er unzähligemal dem Tode172 trozte und viel Bleſſuren erhielt. Im 7jährigen Kriege wurde ihm das Pferd unter dem Leibe erſchoſſen und er ge - rieth in Ruſſiſche Gefangenſchaft. Nach allen dieſen ausgeſtandenen Müh - ſeligkeiten heyrathete er, und nachdem ihm zwey Weiber geſtorben waren, heyrathete er im Jahr 1790, alſo im 110ten Jahre ſeines Alters, die dritte Frau. Er war noch im Stande, bis kurz vor ſeinem Tode, alle Monate 2 Stun - den Wegs zu gehen um ſich ſeine kleine Penſion zu holen.

In eben dem Jahre ſtarb zu Neus im Erzſtift Kölln, ein Greiſs von 112 Jahren; (H. Kauper) er war ein Mann von ſtar - ken Körper, war gewohnt täglich einen kleinen Spaziergang zu machen, konnte bis an ſeinen Tod ohne Brille leſen, und behielt auch den Gebrauch ſeiner Ver - nunft bis ans Ende.

*)lagerungen mitgemacht, und war 7mal ſchwehr verwundet worden.
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In England ſtarb vor kurzem Helena Gray im 105ten Jahre ihres Alters. Sie war klein von Perſon, ſehr munter, auf - geräumt und launigt, und bekam wenig Jahre vor ihrem Tode neue Zähne.

Noch im vorigen Jahre lebte in der Grafſchaft Fife, Thomas Garrik in ſeinem 108ten Jahre, noch ſehr munter und war noch immer, ſo wie in vorigen Zei - ten, wegen ſeines Strauſsenmagens be - rühmt. Seit 20 Jahren lag er nie krank zu Bett.

Noch vor kurzen lebte zu Tacony bey Philadelphia, (meldet ein Engliſches Blatt vom vorigen Jahre) ein Schuſter, Nahmens R. Glan, in ſeinem 114ten Jahre. Er iſt ein geborner Schotte, hat noch König Wilhelm III. geſehen, hat den vollen Gebrauch ſeines Geſichts und Gedächtniſſes, iſst und trinkt behaglich, verdaut herrlich, arbeitet die ganze Woche, und wallfahrtet Sonntags nach Philadelphia in die Kirche. Seine174 dritte Frau lebt noch, iſt 30 Jahr alt, und iſt mit ſeiner Amtsführung zu - frieden.

Ein gewiſſer Baron, Baravicino de Capellis, ſtarb 1770 zu Meran in Tyrol, in einem Alter von 104 Jahren. Er hatte vier Frauen gehabt; im 14ten Jahre die erſte, und im 84ſten die vierte geheyra - thet. Aus der lezten Ehe wurden ihm 7 Kinder gebohren, und als er ſtarb, war ſeine Frau mit dem 8ten ſchwanger. Er verlor die Munterkeit ſeines Leibes und ſeiner Seele nicht eher, als in den lezten Monaten ſeines Lebens. Nie brauchte er eine Brille, und machte noch oft, in ſeinem hohen Alter, einen Weg von 2 Stunden zu Fuſs. Seine gewöhnliche Koſt waren Eyer; nie aſs er gekochtes Fleiſch, nur dann und wann etwas gebratenes, aber immer nur wenig. Thee trank er häufig mit Roſſo - lis und Zuckerkand.

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Ant. Senish, ein Ackermann im Dorfe Puy in Limoges, ſtarb im Jahr 1770 im 111ten Jahre ſeines Alters. Er arbeitete noch 14 Tage vor ſeinem Ende, hatte noch ſeine Haare und Zähne, und ſein Geſicht hatte nicht abgenommen. Seine gewöhnliche Koſt waren Kaſtanien und Türkiſch Korn. Nie hatte er Ader gelaſſen, und nie etwas zum Abführen genommen.

Ich kann mich unmöglich enthalten, hier eine der intereſſanteſten Geſchich - ten des hohen Alters einzuſchalten, die uns in Schubarts Engliſchen Blättern (2. Band. 2. Stück) mitgetheilt wird:

Die Jugend einer gewiſſen Stadt in Kent lacht immer, wenn man den alten Nobs nennt. Ihre Väter ſchon pflegten ihnen von dieſem Wundermann zu er - zählen, deſſen ganze Lebensart ſo regel - mäſsig war, wie der Schattenweifer ei - ner Sonnenuhr. Von einer Zeit zur an - dern lieſs ſich zu gewiſſen Stunden die176 ehrwürdige Geſtalt ſehen. Man ſah ihn mitten in den Hundstägen am jähen - gelhange arbeiten, mitten im Winter den Eisbehangenen Berg hinan klettern; läſſig zugeknöpft im herbſten Froſte, und trotzend dem ehernen Nordſturm; im Herbſte bis an die Hüften entblöſst Hut, Atzel und Stock in einer Hand, in - deſs die andere unbedeckt gegen die dumpfe neblichte Luft anruderte.

Sein gewöhnlicher Spaziergang ging nach dem Gipfel eines Hügels, den er ſtets in einer beſtimmten Zeit erreich - te, und Nobs rühmte ſich, er habe nicht weniger als 40,000 mal die Schritte ge - zählt, ſo er zu dieſer Wallfahrt brauchte. Zu Highgate trank er dann bedächtlich ſeine einzige Bouteille, ſah eine Stunde lang hinab ins dampfige Thal, und trug ſich hernach ganz ruhig wieder nach Hauſe. Jede kleinſte Krümmung des Weges war ihm bekannt, und er wuſste, ohne niederzuſehen, wo er den Fuſs aufheben müſſe, um über einen Steinhin -177hinwegzuſchreiten. Den Weg fand er mit verbundenen Augen, und wär er auch ganz blind geweſen, ſo hätte man ihn eben ſo wenig fünf Schritte über das Thor der Herberge hinausführen kön - nen, als der arbeitende Hund, der das Waſſer aus dem Brunnen zieht, weiter gepeitſchet werden kann, wenn der Ei - mer den Rand erreicht hat.

Jedermann auf dem Wege kannte den alten Nobs, und Nobs kannte jeder - männiglich; er grüſste freundlich nach allen Seiten hin: aber ſelbſt die älteſte Bekanntſchaft hätt es nicht über ihn ver - mocht, irgendwo einzuſprechen, und Erfriſchung zu ſich zu nehmen; nie er - laubte er ſich früher zu trinken, als bis er ſeinen Krugvoll durch das beſtimmte Tagwerk verdient hatte.

Alle Bewohner am Wege kannten den wunderbaren Alten, und unter ih - nen war keiner, der ihn nicht liebte. Der Harmloſe iſt derjenige Karacter, mitM178welchem ſich alle Menſchen am liebſten vertragen; und eben das war er im höchſten Grade. Er hatte ſeine Eigen - heiten, aber ſie beluſtigten, und die ganze Gegend ſchien einen gemein - ſchaftlichen Verluſt erlitten zu haben, als ihn der Tod hinwegraffte.

Für jedes Haus, für jede Hütte am Wege hatte er ſeinen eignen Gruſs, der jedesmal der Perſon angepaſst war. Keine ſeiner Redensarten beleidigte, denn man nahm ſie ſo, wie er ſie mein - te, als hieſs es: Nobs geht fürbaſs.

Aufgeſchürzt! war ſein Wort, wenn er am Milchlager vorbeyging; worauf die rothbackigten Mädchen er - wiederten: Guten Spaziergang, Mei - ſter! Ging er am Schneider vorüber, ſo ſagte er mit gutherzigem Kopfnicken: Puz s Licht! und die Antwort war: Wart alter Schalk. Am Pappelhof ſchlug er auf die Hundshütte, und we - delnd begegneten ihm die argloſen Thie -179 re. Am Pfarrhauſe nahm er die Mütze ab, und ſang je und je ein andächtiges Amen! Es war blos ein einfältiges zweyſilbiges Wort, aber es drückte die ganze Verehrung des guten Mannes für die Religion aus.

Kaum daſs ihn der Regen von ſei - nem Wanderzug abhalten konnte; ſelbſt alsdann ſpazierte er in Gedanken nach Highgate. Er machte nemlich aus ſei - nen zwey Stuben nur eine, und trat zur geſezten Zeit ſeine Wallfahrt an. Da er wuſste, wie viel Schritte dazu erforder - lich wären, ſo ging er durch beyde Zim - mer auf und nieder, bis die Zahl voll, und ſo weit das Tagwerk vollbracht war. Aber wie ſtand es, wird man fragen, mit den verſchiedenen Stationen? Die wurden nicht übergangen. Hatte er ſo viel Schritte gezählt, als zum Milchlager erforderlich waren, ſo rief er: Aufgeſehürzt! Waren der Schrit - te zum Schneider genug, ſo rief er ſein Top! eben ſo regelmäſsig, als ſtreckteM 2180der querbeinige Bruder ſein Käſegeſicht zur Antwort heraus; am Pappelhof ſchlug er ſtatt der Hundshütte auf den Tiſch; und wenn er ſein Amen geſagt hatte, ſo ſchüttelte er ſich eben ſo freu - dig, als befände er ſich am Ziel ſeiner Wanderſchaft. Auf dieſer Zimmerreiſe ſah er in der Einbildung jeden Winkel, der ihm auf der würklichen vorkam: auf der Brücke umduftete ihn das friſche Heu; er hob ſeine Füſse höher, wenn er im Geiſt an den Hügel gekommen war; im Hintergrunde des Zimmers wurden zween Stühle neben einander gepflanzt, über die er hinüberkletterte, wenn ihm ein Zaun vorkam. Er lüftete ſich, wenn er an ſeiner Herberge ange - langt war; er öffnete ſeine Flaſche; von einem ſeiner Fenſter aus mahlte ſich ſei - ne Phantaſie die ganze Ausſicht des - gels: und wenn er dann eine Stunde ausgeruht und ſich erfriſcht hatte, ſo trat er eben ſo bedächtig den Rückzug an; überſtieg wieder jeden Zaun, und181 zollte von Station zu Station ſeine Grüſse.

Ihr, die ihr dieſen wunderlichen Alten belacht, laſst denkenden Ernſt auf eure Stirne treten, und ahmt ihm nach! Durch dieſe täglichen Uebungen brachte er ſein Leben auf 96 Jahre. Er war ein Vater dem Betrübten, ein Tröſter dem Leidenden, dem Dürftigen ein Stab der beſte gutmütigſte Menſch der ganzen Gegend. Stets froh in ſich ſelber, ſuchte er auch über Andere Frohſinn zu ver - breiten, und achtete kein Opfer zu groſs. Den Unglücklichen widmete er die Ga - ben, welche Andere an loſe Vergnügun - gen verſchwenden, und bekam ihr ſeg - nendes Lächeln und ihr Gebet zum Loh - ne. Mag der Sturm ſeine Aſche ver - ſtreuen, das Andenken an ſein Herz wird ewig unter dieſen Menſchen le - ben.

Die, ſo ihn blos ſahen, liebten den Mann wegen ſeiner Eigenheiten; die ſei -182 nes Beyſtandes bedurften, verehrten ihn wegen ſeiner Tugend und Milde. Im ganzen Laufe eines ſo langen Lebens konnte niemand aufſtehen und ſagen: Nobs habe ihn auch nur in Gedanken be - leidigt. Bey einem ſehr mittelmäſsigen Einkommen behauptete er 60 Jahre hin - durch den Namen des Mildthätigen, und lieſs bey ſeinem Hinſcheiden ſeiner Familie nur wenig zurück. Aber er vermachte ihr dabey ein unſchäzbares Erbe jene Segnungen, welche der lohnende Himmel für die Kinder der Barmherzigen aufbewahrt.

Dieſs ſind die Beyſpiele des höch - ſten Alters in neuern Zeiten, die mir be - kannt worden ſind. Leute von 100 Jahren rechne ich hierunter gar nicht, denn die kommen häufiger vor. Noch vor einigen Jahren ſtarb in Bürgel, nicht weit von hier, ein Zimmermann in ſei - nem 104ten Jahre. Er hatte noch täglich gearbeitet. Seine liebſte Beſchäftigung war zulezt, Garn zu ſpinnen. Einſt ſaſs183 er hinter ſeinem Spinnrade. Mit einem - male bemerkte ſeine Tochter, daſs er nicht mehr ſpann. Sie ſah alſo nach ihm, und er war geſtorben.

Billig ſollten nun die Aerzte hier auch eine vorzügliche Stelle behaupten, welche die Mittel zum Leben und zur Geſundheit ſo reichlich an andere aus - ſpenden. Aber leider iſt dieſs nicht der Fall. Bey ihnen heiſts am mei - ſten: Aliis inſerviendo conſumuntur: aliis medendo moriuntur.

Wenigſtens bey den practiſchen Aerzten iſt die Sterblichkeit ſehr groſs, vielleicht gröſser, als bey irgend einem andern Metier. Sie können gerade am wenigſten die Geſundheits - und Vor - ſichtsregeln beobachten, die ſie andern geben, und dann exiſtiren wenige Be - ſchäftigungen, wo Leibes - und Seelen - conſumtion zugleich ſo groſs wäre, wie in dieſer. Kopf und Füſse müſſen im - mer gemeinſchaftlich arbeiten. Doch184 gilt dieſe gröſsere Sterblichkeit mehr von den erſten 10 Jahren der Praxis. Ein Arzt, der dieſe glücklich überſtanden hat, erlangt eine gewiſſe Feſtigkeit, eine gewiſſe Unempfindlichkeit gegen die Strapazen und Krankheitsurſachen, durch die Gewohnheit werden ſelbſt die üblen Ausdünſtungen und anſteckenden Krankheitsgifte weniger nachtheilig, er bekommt mehr Gleichmuth bey den täg - lichen herzbrechenden Jammerſcenen, und ſelbſt gegen die mannichfaltigen Ungerechtigkeiten, und moraliſchen Mishandlungen, die dieſes Metier be - gleiten, und ſo kann alſo ein Arzt, der ſeine Probezeit glücklich ausgehalten hat, ein alter Mann werden.

Unſer Ahnherr, Hippocrates, geht uns da mit gutem Beyſpiele vor. Er ward 104 Jahr alt. Sein Leben beſtand in Beobachtung der Natur, im Reiſen und Krankenbeſuchen; er lebte mehr in klei - nen Orten und auf dem Lande, als in groſsen Städten. Galen, Crato, Fo -185 reſtus, Plater, Hofmann, Haller, van Swieten, Boerhave erreichten alle ein be - trächtliches Alter.

In Anſehung der Kürze des Lebens zeichnen ſich beſonders Berg - und Hüt - tenarbeiter, alſo die Menſchen, die un - ter der Erde oder in beſtändigen giftigen Ausdünſtungen leben, aus. Es giebt Gruben, die viel Arſenic und Cobald enthalten, wo die Arbeiter nicht über 30 Jahre alt werden.

Und nun noch einen Blick auf den Unterſchied des Alters nach dem Clima, oder vielmehr der Landesart.

Oben an ſteht Schweden, Norwegen, Dänemark und England. Dieſe Länder haben unſtreitig die älteſten Menſchen in neuern Zeiten hervorgebracht. Die Beyſpiele von 130, 40, 50jäh - rigen Menſchen gehören dieſen Län - dern zu.

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So ſehr die nördlichere Lage dem hohen Alter vortheilhaft iſt, ſo iſt doch ein gar zu hoher Grad von Kälte der Le - benslänge ebenfalls nachtheilig. In Island und den nördlichſten Theilen von Aſien (Sibirien), erreicht man höch - ſtens ein Alter von 60 -- 70 Jahren.

Auſſer England und Schottland hat auch Ireland den Ruhm eines hohen Al - ters. In einem einzigen mittelmäſsigen Ort (Dunsford) in Irrland, zählete man 80 Perſonen über 80. Und Baco ſagt: ich glaube, es exiſtirt im ganzen Lande kein Dörfgen, wo nicht ein Menſch von 80 Jahren anzutreffen wäre.

In Frankreich iſt das höchſte Alter nicht ſo häufig, doch ſtarb im Jahr 1757, noch ein Mann von 121 Jahren.

Eben ſo in Italien; doch hat man von den nördlichen Provinzen, der Lombardey, Beyſpiele von hohem Alter.

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Auch in Spanien giebts Beyſpiele von Menſchen, die bis zum 110ten Jahr gelebt haben, doch ſelten.

Das ſchöne und geſunde Griechen - land hat noch immer den Ruhm des ho - hen Alters, den es ſonſt hatte. Tourne - fort traf noch zu Athen einen alten Con - ſul von 118 Jahren an. Beſonders zeich - net ſich die Inſel Naxos aus.

Selbſt in Egypten und Indien finden ſich Beyſpiele von ſehr langen Leben, beſonders unter der Secte der Bramanen, Anachoreten und Einſiedler, die die Schwelgerey und Faulheit der andern Einwohner dieſer Länder nicht lieben.

Aethiopien ſtand ehedem in dem Ruf eines ſehr langen Lebens; aber Bruce erzählt uns das Gegentheil.

Vorzüglich ſind einige Gegenden von Ungarn durch ihr hohes Alter be - rühmt

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Teutſchland hat zwar viele Alte, aber wenig Beyſpiele von auſſerordent - lichen hohen Alter.

Selbſt in Holland kann man alt wer - den, aber es geſchieht nicht häufig, und das Alter erhebt ſich ſelten bis zum 100ten Jahr.

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Sechste Vorleſung. Reſultate aus den Erfarungen. Be - ſtimmung des menſchlichen Lebens - ziels.

Unabhängigkeit der Mortalität im Ganzen vom hohen Alter einzelner Einfluſs der Lage, des Clima, der Lufttemperatur und Beſtändigkeit auf Lebensdauer Inſeln und Halbinſeln die Alterreichſten Länder in Europa Nutzen des naturgemäſsen Lebens Die zwey ſchrecklichſten Extreme der Mortalität in neuern Zeiten Lebensverlängernde Kraft des Mitteltons in Allem des Eheſtandes des Geſchlechts der Thätigkeit der Frugalität der Kultur des Landlebens Auch bey Menſchen mögliche Ver - jüngung Beſtimmung des menſchlichen Lebensziels Abſolute und relatife Dauer deſſelben Tabellen über die leztere.

Um nicht durch zu überhäufte Bey - ſpiele zu ermüden, breche ich hier ab,190 und werde die übrigen in der Folge bey ſchicklichen Gelegenheiten anfüh - ren.

Für jezt erlaube man mir, nun die wichtigſten allgemeinen Reſultate und Schluſsfolgen aus dieſen Erfahrungen zu ziehen.

I. Das Alter der Welt hat bisher noch keinen merklichen Einfluſs auf das Alter der Menſchen gehabt. Man kann noch immer eben ſo alt werden, als zu Abrahams und noch frühern Zeiten. Al - lerdings giebt es Perioden, wo in dem nehmlichen Lande die Menſchen einmal länger, das andremal kürzer lebten, aber dieſs rührt offenbar nicht von der Welt, ſondern von den Menſchen ſelbſt her. Waren dieſe noch wild, einfach, arbeit - ſam, Kinder der Luft und der Natur, Hirten, Jäger und Ackersleute, ſo war auch ein hohes Alter bey ihnen gewöhn - lich. Wurden ſie aber nach und nach der Natur untreu, überverfeinert und191 luxuriös, ſo wurde auch die Lebens - dauer kürzer. Aber das nehmliche Volk, durch eine Revolution wieder in einen rohern naturgemäſsern Zuſtand verſezt, kann ſich auch wieder zu dem natürlichern Ziel des Lebens erheben. Folglich ſind dieſs nur Perioden, welche kommen und gehen; das Menſchenge - ſchlecht im Ganzen leidet darunter nicht, und behält ſein ihm angewieſe - nes Lebensziel.

II. Der Menſch kann, wie wir ge - ſehen haben, unter faſt allen Himmels - ſtrichen, in der heiſsen und kalten Zone, ein hohes Alter erreichen. Der Unter - ſchied ſcheint nur darinne zu liegen, daſs dieſs in manchen häufiger, in man - chen ſeltner geſchieht, und daſs, wenn man auch ein hohes, doch nicht überall das höchſte Alter erreichen kann.

III. Selbſt in den Gegenden, wo die Mortalität im Ganzen ſehr groſs iſt, können einzelne Menſchen ein höheres192 Alter erreichen, als in den Gegenden, wo die allgemeine Mortalität geringer iſt. Wir wollen z. B. die wärmern Ge - genden des Orients nehmen. Hier iſt die Mortalität im Ganzen äuſſerſt gering, daher auch die auſſerordentliche Popu - lation, beſonders das kindliche Alter leidet hier weit weniger, wegen der be - ſtändigen gleichförmigen und reinen Temperatur der Luft. Und dennoch giebts hier verhältniſsmäſsig weit weni - ger ſehr alte Menſchen, als in den nörd - lichern Gegenden, wo die Mortalität im Ganzen gröſser iſt.

IV. Hochliegende Orte haben im Ganzen mehr und höhere Alte, als tief - liegende. Doch iſt auch hier ein gewiſ - ſes Maas, und man kann die Regel nicht ſo beſtimmen: Je höher, je beſſer. Der äuſſerſte Grad von Höhe, die Höhe der Gletſcher, iſt wieder dem Alter nach - theilig, und die Schweiz, ohnſtreitig das höchſte Land in Europa, hat weni - ger Alte aufzuweiſen, als die Gebirgevon193von Schottland. Die Urſache iſt zweyfach: Einmal, eine zu hohe Luft iſt zu trocken, ätheriſch und rein, con - ſumirt alſo ſchneller, und zweytens die Lufttemperatur iſt zu ungleich, Wärme und Kälte wechſeln zu ſchnell ab, und nichts iſt der Lebensdauer nachtheiliger, als zu ſchneller Wechſel.

V. In kältern Himmelsſtrichen wird der Menſch im Ganzen älter, als in heiſsen und zwar aus doppeltem Grun - de: Einmal, weil im heiſsen Clima die Lebensconſumtion ſtärker iſt, und dann weil das kalte Clima das Clima der Mäſsigkeit iſt, und auch dadurch der Selbſtconſumtion Einhalt thut. Aber auch dieſs gilt nur bis zu einem gewiſſen Grad. Die höchſte Kälte von Grönland, Nova Zembla u. ſ. w. verkürzt wieder das Leben.

VI. Ganz vorzüglich zuträglich zur Verlängerung des Lebens iſt, Gleichför - migkeit der Luft, beſonders in AbſichtN194auf Wärme und Kälte, Schwehre und Leichtigkeit. Daher die Länder, wo ſchnelle und ſtarke Abwechſelungen im Barometer - und Thermometerſtand ge - wöhnlich ſind, der Lebensdauer nie vor - theilhaft ſind. Es kann ſolch ein Land übrigens geſund ſeyn, es können viel Menſchen alt werden, aber ein ho - hes Alter erreichen ſie nicht, denn jene ſchnelle Abwechſelungen ſind eben ſo viele innere Revolutionen, und dieſe conſumiren erſtaunlich, ſowohl Kräfte als Organe. In dieſer Abſicht zeich - net ſich beſonders Teutſchland aus, deſ - ſen Lage es zu einem beſtändigen Ge - miſch von warmen und kalten Clima, vom Süden und Norden macht, wo man oft in einem Tage zugleich Froſt und auch die gröſste Hitze erlebt, und wo der März ſehr heiſs und der May be - ſchneyt ſeyn kann. Dieſs Zwitterclima Teutſchlands iſt gewiſs die Haupturſa - che, daſs, troz ſeiner übrigens geſunden Lage, zwar im Ganzen die Menſchen ein ziemliches Alter erreichen, aber die195 Beyſpiele von ſehr hohen Alter weit ſelt - ner ſind, als in andern, faſt unter glei - cher Breite belegenen, benachbarten Ländern.

VII. Ein zu hoher Grad von Tro - ckenheit, ſo wie zu groſse Feuchtigkeit, iſt der Lebensdauer nachtheilig. Daher iſt eine, mit einer feinen Feuchtigkeit ge - miſchte, Luft, die beſte, um ein hohes Alter zu erlangen, und zwar aus folgen - den Urſachen: Eine feuchte Luft iſt ſchon zum Theil ſaturirt, und alſo we - niger durſtig, ſie entzieht alſo dem Kör - per weniger, d. h. ſie conſumirt ihn we - niger. Ferner, in feuchter Luft iſt im - mer mehr Gleichförmigkeit der Tempe - ratur, weniger ſchnelle Revolution von Hitze und Kälte möglich. Und endlich erhält eine etwas feuchte Atmosphäre die Organe länger geſchmeidig und jugend - lich, da hingegen die zu trockne weit ſchneller Trockenheit der Faſer und den Karacter des Alters herbeyführt.

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Den auffallendſten Beweis hiervon geben uns die Inſeln. Wir finden, daſs von jeher und noch jezt die Inſeln und Halbinſeln die Wiegen des Alters waren. Immer werden die Menſchen auf den Inſeln älter als auf dem dabey unter glei - cher Breite liegenden feſten Lande. So leben die Menſchen auf den Inſeln des Archipelagus länger, als in dem gleich dabey liegenden Aſien; auf der Inſel Cypern länger, als in Syrien, auf Formoſa und Japan länger, als in China, in Eng - land und Dänemark länger, als in Teutſch - land.

Doch hat Seewaſſer dieſe Wirkung weit mehr, als ſüſses Waſſer; daher auch Seeleute ſo alt werden können. Stillſte - hende ſüſse Waſſer hingegen ſchaden wieder durch ihre mephitiſche Ausdün - ſtungen.

VIII. Sehr viel ſcheint auch auf den Boden, ſelbſt auf die Erdart, genug auf den ganzen Genius loci anzukommen, und hier ſcheint ein kalchichter Boden197 am wenigſten geſchickt zu ſeyn, das Al - ter zu befördern.

IX. Nach allen Erfahrungen ſind England, Dänemark, Schweden und Norwegen, diejenigen Länder, wo der Menſch das höchſte Alter erreicht, und wir finden bey genauer Unterſuchung, daſs hier eben alle die bisher beſtimm - ten Eigenſchaften zuſammen treffen. Hingegen Abyſſinien, einige Gegenden von Weſtindien, Surinam ſind die Län - der, wo der Menſch am kürzeſten lebt.

X. Je mehr der Menſch der Natur und ihren Geſetzen treu bleibt, deſto länger lebt er, je weiter er ſich davon entfernt, deſto kürzer. Dieſs iſt eins der allgemeinſten Geſetze. Daher in denſelben Gegenden, ſo lange die Be - wohner das frugale Hirten - und Jäger - leben führten, wurden ſie alt; ſobald ſie civiliſirter wurden und dadurch in Luxus, Ueppigkeit und Faulheit verfie - len, ſank auch ihre Lebensdauer herab;198 daher ſind es nicht die Reichen und Vornehmen, nicht die, die Gold - und Wundertincturen einnehmen, wel - che ſehr alt werden; ſondern Bauern, Ackersleute, Matroſen, ſolche Men - ſchen, denen es vielleicht in ihrem gan - zen Leben nicht eingefallen iſt, wie mans machen müſſe, um alt zu werden, ſind die, bey denen man die erſtaunlich - ſten Beyſpiele antrifft.

XI. Den äuſſerſten ſchrecklichſten Grad menſchlicher Sterblichkeit treffen wir in zwey Erfindungen der neuern Zeit an, unter den Negerſclaven in Weſtindien, und in den Findelhäuſern. Von den Negerſclaven ſtirbt jährlich der 5te oder 6te, alſo ungefähr ſo viel, als wenn beſtändig die fürchterlichſte Peſt unter ihnen wüthete. Und von 7000 Findelkindern, welche gewöhnlich alle Jahre in das Findelhaus zu Paris - bracht werden, ſind nach Verlauf von 10 Jahren noch 180 übrig, und 6820 ſind geſtorben, alſo von 40 entrinnt nur ei -199 ner dieſem offnen Grab. Iſt es nicht höchſtmerkwürdig und ein neuer Be - weis unſers vorigen Satzes, daſs gerade da die Sterblichkeit am ſchrecklichſten iſt, wo der Menſch ſich am weiteſten von der Natur entfernt, wo die heilig - ſten Geſetze der Natur zu Boden getre - ten, und ihre erſten feſteſten Bande zer - riſſen werden? Da, wo der Menſch ſich im eigentlichſten Verſtande unters Vieh erniedrigt, hier das Kind von der Bruſt der Mutter reiſst, und es Mieth - lingen hülflos überläſst, dort den Bru - der vom Bruder, von ſeiner Heimath, von ſeinem vaterländiſchen Boden trennt, ihn auf einen fremden ungeſun - den Boden verpflanzt, und ihn da ohne Hofnung, ohne Troſt, ohne Freude, mit der beſtändigen Sehnſucht nach den Hinterlaſſenen im Herzen, unter den härteſten Arbeiten zu Tode peinigt. Ich kenne keine Seuche, keine Landpla - ge, keine Lage der Menſchheit, weder in der alten noch neuern Zeit, wo die Sterblichkeit den Grad erreicht hätte,200 den wir in den Findelhäuſern antreffen. Es gehörte eine Ueberverfeinerung dazu, die nur den neueſten Zeiten aufgehoben war. Es gehörten jene elende politiſche Rechenkünſtler dazu, welche darthun konnten, der Staat ſey die beſte Mutter, und es ſey zur Plusmacherey weiter nichts nöthig, als die Kinder für ein Ei - genthum des Staats zu erklären, ſie in Depot zu nehmen, und einen öffentli - chen Schlund anzulegen, der ſie ver - ſchlinge. Man ſieht nun zu ſpät die ſchauderhaften Folgen dieſer unnatürli - chen Mutterſchaft, dieſer Geringſchät - zung der erſten Grundpfeiler der menſchlichen Geſellſchaft, Ehe und elter - licher Pflicht. So ſchrecklich rächt die Natur die Uebertretung ihrer heilig - ſten Gebote!

XII. Das Reſultat aller Erfarung und ein Hauptgrund der Macrobiotic iſt: Omnia mediocria ad vitam prolongandam ſunt utilia. Der Mittelton in allen Stü - cken, die aurea mediocritas, die Horaz ſo201 ſchön beſang, von der Hume ſagt, daſs ſie das Beſte auf dieſer Erde ſey, iſt auch zur Verlängerung des Lebens am con - venabelſten. In einer gewiſſen Mit - telmäſsigkeit des Standes, des Clima, der Geſundheit, des Temperaments, der Leibesconſtitution, der Geſchäfte, der Geiſteskraft, der Diät u. ſ. w. liegt das gröſste Geheimniſs, um alt zu werden. Alle Extreme, ſo wohl das zu viel als das zu wenig, ſo wohl das zu hoch als das zu tief hindern die Verlängerung des Lebens.

XIII. Bemerkenswerth iſt auch fol - gender Umſtand: Alle ſehr alte Leute waren verheyrathet, und zwar mehr als einmal, und gewöhnlich noch im hohen Alter. Kein einziges Beyſpiel exi - ſtirt, daſs ein lediger Menſch ein ſehr hohes Alter erreicht hätte. Dieſe Regel gilt eben ſo wohl vom weiblichen als männlichen Geſchlechte. Hieraus ſcheint zu erhellen: Ein gewiſſer Reichthum an Generationskräften iſt zum langen Leben202 ſehr vortheilhaft. Es iſt ein Beytrag zur Summe der Lebenskraft, und die Kraft, andre zu procreiren, ſcheint mit der Kraft, ſich ſelbſt zu regeneriren und zu reſtauriren, im genaueſten Verhältniſs zu ſtehen. Aber es gehört Ordnung und Mäſsigkeit in der Verwendung der - ſelben dazu, alſo der Eheſtand, das ein - zige Mittel, dieſe zu erhalten.

Das gröſste Beyſpiel giebt ein Fran - zos, Namens de Longue ville. Dieſer lebte 110 Jahr, und hatte 10 Weiber ge - habt, die lezte noch im 99ſten Jahre, welche ihm noch in ſeinem 101ſten Jahre einen Sohn gebahr.

XIV. Es werden mehr Weiber als Männer alt, aber das höchſte Ziel des menſchlichen Alters erreichen doch nur Männer. Das Gleichgewicht und die Nachgiebigkeit des weiblichen Kör - pers ſcheint ihm für eine gewiſſe Zeit mehr Dauer und weniger Nachtheil von den zerſtörenden Einflüſſen zu geben. 203Aber um ein ſehr hohes Alter zu errei - chen, gehört ſchlechterdings Manns - kraft dazu. Daher werden mehr Weiber alt, aber weniger ſehr alt.

XV. In der erſten Hälfte des Lebens iſt thätiges, ſelbſt ſtrapazantes Leben, in der lezten Hälfte aber eine ruhigere und gleichförmige Lebensart zum Alter zu - träglich. Kein einziges Beyſpiel findet ſich, daſs ein Müſſiggänger ein ausge - zeichnet hohes Alter erreicht hätte.

XVI. Eine reiche und nahrhafte Diät, Uebermaas von Fleiſchkoſt, ver - längert nicht das Leben. Die Beyſpiele des höchſten Alters ſind von ſolchen Menſchen, welche von Jugend auf mehr Pflanzenkoſt genoſſen, ja oft ihr ganzes Leben hindurch kein Fleiſch gekoſtet hatten.

XVII. Ein gewiſſer Grad von Kul - tur iſt dem Menſchen auch phyſiſch nöthig und befördert die Länge des204 Lebens. Der rohe Wilde lebt nicht ſo lange.

XVIII. Das Leben auf dem Lande und in kleinen Städten iſt dem langen Leben günſtig, in groſsen Städten un - günſtig. In groſsen Städten ſtirbt ge - wöhnlich jährlich der 25ſte bis 30ſte, auf dem Lande der 40ſte, 50ſte. Beſonders wird die Sterblichkeit in der Kindheit durchs Stadtleben äuſſerſt vermehrt, ſo daſs da gewöhnlich die Hälfte aller Ge - bornen ſchon vor dem dritten Jahre ſtirbt, da hingegen auf dem Lande die Hälfte erſt bis zum 20ſten oder 30ſten Jahre aufgerieben iſt. Der geringſte Grad der menſchlichen Mortalität, iſt einer von 60 des Jahrs, und dieſer findet ſich nur hie und da im Landleben. *)Selbſt bey uns findet ſich davon ein Beyſpiel. Nicht weit von Jena (welches ſelbſt die geringe Mortalität von 1 zu 40 hat). liegt in einer ho - hen ſehr geſunden Gegend der Fleeken Remda, wo gewöhnlich nur der 60ſte Menſch jährlich Rirbt.

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XIX. Bey manchen Menſchen ſcheint wahrlich eine Art von Verjün - gung möglich zu ſeyn. Bey vielen Bey - ſpielen des höchſten Alters bemerkte man, daſs im 60ſten, 70ſten Jahre, wo andre Menſchen zu leben aufhören, neue Zähne und neue Haare hervorka - men, und nun gleichſam eine neue Pe - riode des Lebens anfing, welche noch 20 und 30 Jahre dauern konnte. Eine Art von Reproduction ſeiner ſelbſt, wie wir ſie ſonſt nur bey unvollkommnern Geſchöpfen wahrnehmen.

Von der Art iſt das merkwürdigſte mir bekannte Beyſpiel, ein Greiſs, der zu Rechingen (Oberamt Bamberg) in der Pfalz lebte, und 1791 im 120ſten Jahre ſtarb. Dieſem wuchſen im Jahr 1787, nachdem er lange ſchon keine Zähne mehr gehabt hatte, auf einmal 8 neue Zähne. Nach 6 Monaten fielen ſie aus, der Abgang wurde aber durch neue Stockzähne oben und unten wieder er - ſezt, und ſo arbeitete die Natur 4 Jahre206 lang unermüdet, und noch bis 4 Wo - chen vor ſeinem Ende fort. Wenn er ſich der neuen Zähne einige Zeit recht bequem zum Zermalmen der Speiſen be - dient hatte, ſo nahmen ſie, bald eher bald ſpäter, wieder Abſchied, und ſo - gleich ſchoben ſich in dieſe oder in an - dre Lücken neue Zähne nach. Alle dieſe Zähne bekam und verlohr er ohne Schmerzen; ihre Zahl belief ſich zuſam - men wenigſtens auf ein halbes Hundert.

Die bisher aufgeſtellten Erfarungen können uns nun auch Aufſchluſs über die wichtige Frage geben: Welches iſt das eigentliche Lebensziel des Men - ſchen? Man ſollte glauben, man müſste doch hierüber nun einige Gewiſsheit ha - ben. Aber es iſt unglaublich, welche Verſchiedenheit der Meynungen dar - über unter den Phyſikern herrſcht; Ei - nige geben dem Menſchen ein ſehr ho - hes, andre ein ſehr geringes Lebensziel. Einige glaubten, man brauche hierzu nur zu unterſuchen, wie hoch es die207 wilden Menſchen brächten; denn in die - ſem Naturſtande müſſe ſich wohl das na - türliche Lebensziel am ſicherſten ausmit - teln laſſen. Aber dieſs iſt falſch. Wir müſſen bedenken, daſs dieſer Stand der Natur auch meiſtens der Stand des Elends iſt, wo der Mangel an Geſellig - keit und Kultur den Menſchen nöthigt, ſich weit über ſeine Kräfte zu ſtrapazi - ren und zu conſumiren, wo er über - dieſs, vermöge ſeiner Lage, weit mehr deſtruirende Einflüſſe und weit weniger Reſtauration genieſst. Nicht aus der Klaſſe der Thiermenſchen müſſen wir unſre Beyſpiele nehmen (denn da theilt er ſeine Eigenſchaften mit dem Thier) ſondern aus der Klaſſe, wo durch Ent - wicklung und Kultur der Menſch ein vernünftiges wirklich menſchliches We - ſen worden iſt, dann erſt hat er auch im Phyſiſchen ſeine Beſtimmung und ſeine Vorzüge erreicht, und durch Vernunft auch auſſer ſich die Reſtaurationsmittel und glücklichern Lagen bewirkt, die ihm möglich ſind; nun erſt können wir208 ihn als Menſch betrachten, und Bey - ſpiele aus ſeinem Zuſtand nehmen.

So könnte man auch wohl glauben, der Tod am Marasmus d. h. am Alter, ſey das wahre Lebensziel des Menſchen. Aber dieſe Rechnung wird dadurch in unſern Zeiten gewaltig trüglich, weil, wie Lichtenberg ſagt, die Menſchen die Kunſt erfunden haben, ſich auch das Al - ter vor der Zeit inoculiren zu laſſen, und man jezt ſehr alte Leute von 30 bis kann 40 Jahren ſehen, bey denen alle Symptomen des höchſten Alters vorhan - den ſind, als Steifigkeit und Trockenheit, Schwäche, graue Haare, verknöcherte Rippen, die man ſonſt nur in einem Alter von 30 bis 90 Jahren findet. Aber dieſs iſt ein erkünſteltes relatives Alter, und dieſer Maasſtab kann alſo nicht zu einer Berechnung genuzt werden, die das Le - bensziel des Menſchengeſchlechts über - haupt zum Gegenſtand hat.

Man209

Man iſt ſogar auf die ſeltſamſten Hypotheſen gefallen, um dieſe Frage aufzulöſen. Die alten Egyptier glaub - ten zum Beyſpiel, das Herz nehme 50 Jahre lang alle Jahre um 2 Drachmen an Gewicht zu, und nun wieder 50 Jahre lang in eben dem Verhältniſs ab. Nach dieſer Rechnung war nun im 100ten Jahre gar nichts mehr vom Herzen übrig, und alſo war das 100te Jahr das Lebens - ziel des Menſchen.

Ich glaube daher, um dieſe Frage befriedigend zu beantworten, muſs man durchaus folgenden weſentlichen Unter - ſchied machen.

  • 1. Wie lange kann der Menſch über - haupt (als Geſchlecht betrachtet) ausdauern, was iſt die abſolute Le - bensdauer des menſchlichen Ge - ſchlechts? Wir wiſſen, jede Thierklaſſe hat ihre abſolute Le - bensdauer; alſo auch der Menſch.
O210
  • 2. Wie lange kann der Menſch im einzelnen, das Individuum, leben, oder was iſt die relative Lebens - dauer der Menſchen?

Was die erſte Frage betrifft, die Unterſuchung der abſoluten Lebensdau - er des menſchlichen Geſchlechts, ſo hindert uns nichts, das Ziel derſelben auf die äuſſerſten Grenzen der nach der Erfarung möglichen Lebensdauer zu ſetzen. Es iſt hierzu genug, zu wiſ - ſen, was der menſchlichen Natur mög - lich iſt, und wir können einen ſolchen Menſchen, der das höchſte Ziel menſch - licher Exiſtenz erreicht hat, als ein Ideal der vollkommenſten Menſchennatur, als ein Muſter deſſen, weſſen die menſchli - che Natur unter günſtigen Umſtänden fähig iſt, betrachten. Nun zeigt uns aber die Erfarung unwiderſprech - lich, der Menſch könne noch jezt ein Alter von 150 bis 160 Jahren erreichen, und, was das wichtigſte iſt, das Beyſpiel von Th. Parre, den man im 152ſten211 Jahre ſecirte, beweiſt, daſs noch in die - ſem Alter der Zuſtand aller Eingeweyde ſo vollkommen und fehlerfrey ſeyn konnte, daſs er gewiſs noch länger hätte leben können, wenn ihm nicht die un - gewohnte Lebensart eine tödliche Voll - blütigkeit zugezogen hätte. Folglich kann man mit der höchſten Wahrſchein - lichkeit behaupten: Die menſchliche Organiſation und Lebenskraft ſind im Stande eine Dauer und Wirkſamkeit von 200 Jahren auszuhalten. Die Fähig - keit, ſo lange zu exiſtiren, liegt in der menſchlichen Natur, abſolute genom - men.

Dieſe Behauptung bekommt nun dadurch noch ein groſses Gewicht, daſs wir das Verhältniſs zwiſchen der Zeit des Wachsthums und der Lebensdauer da - mit übereinſtimmend finden. Man kann annehmen, daſs ein Thier achtmal länger lebt, als es wächſt. Nun braucht der Menſch im natürlichen, nicht durchO 2212Kunſt beſchleunigten Zuſtand, 25 volle Jahre, um ſein vollkommnes Wachsthum und Ausbildung zu erreichen, und auch dieſs Verhältniſs giebt ihm ein abſolutes Alter von 200 Jahren.

Man werfe nicht ein: Das hohe Alter iſt der unnatürliche Zuſtand, oder die Ausnahme von der Regel; und das kürzere Leben iſt eigentlich der natürli - che Zuſtand. Wir werden hernach ſehen, daſs faſt alle vor dem 100ten Jahre erfolgenden Todesarten, künſtlich d. h. durch Krankheiten oder Zufälle hervorgebracht ſind. Und es iſt gewiſs, daſs bey weitem der gröſste Theil des Menſchengeſchlechts eines unnatürli - chen Todes ſtirbt, etwa von 10000 erreicht nur einer das Ziel von 100 Jahren.

Nun aber die relative Lebensdauer des Menſchen! Dieſe iſt freylich ſehr variabel, ſo verſchieden, als jedes Indi -213 viduum ſelbſt. Sie richtet ſich nach der beſſern oder ſchlechtern Maſſe, aus der es formirt wurde, nach der Lebensart, langſamern oder ſchnellern Conſumtion, und nach allen den tauſendfachen Um - ſtänden, die von innen und auſſen auf ſeine Lebensdauer influiren können. Man glaube ja nicht, daſs noch jezt je - der Menſch einen Lebensfond von 150 oder 200 Jahren auf die Welt bringt. Leider iſt es das Schickſal unſrer Gene - ration, daſs oft ſchon die Sünden der Väter dem Embryo ein weit kürzeres Stamen vitae mittheilen. Nehmen wir nun noch das unzählige Heer von Krankheiten und andern Zufällen, die jezt heimlich und öffentlich an unſerm Leben nagen, ſo ſieht man wohl, daſs es jezt ſchwehrer als jemals iſt, jenes Ziel zu erreichen, deſſen die menſchli - che Natur wirklich fähig iſt. Aber dennoch müſſen wir jenes Ziel immer zum Grunde legen, und wir werden hernach ſehen, wie viel in unſrer Ge -214 walt ſtehet, Hinderniſſe aus dem Wege zu räumen, die uns jezt davon abhal - ten.

Als eine Probe des relativen Lebens des jetzigen Menſchengeſchlechts mag folgende auf Erfarungen gegründete Ta - belle dienen:

Von 100 Menſchen, die geboren werden

  • ſterben 50 vor dem 10ten Jahre.
  • 20 zwiſchen 10 und 20.
  • 10 20 und 30.
  • 6 30 und 40.
  • 5 40 und 50.
  • 3 50 und 60.

Alſo nur 6 kommen über 60 Jahre.

Haller, der die meiſten Beyſpiele des menſchlichen Alters geſammlet hat, fand folgendes Verhältniſs der relativen Lebensdauer:

215
  • Beyſpiele von 100 -- 110 Jahren, über 1000.
  • 110 -- 120 60.
  • 120 -- 130 29.
  • 130 -- 140 15.
  • 140 -- 150 6.
  • 169 1.
216

Siebente Vorleſung. Genauere Unterſuchung des menſchlichen Lebens, ſeiner Hauptmomente, und des Einfluſſes ſeiner höhern und intellectuel - len Vollkommenheit auf die Dauer deſſelben.

Das menſchliche Leben iſt das vollkommenſte, intenſiv - ſtärkſte, und auch das längſte aller ähnlichen organi - ſchen Leben Weſentlicher Begriff dieſes Lebens ſeine Hauptmomente Zugang von auſſen Aſſi - milation und Animaliſation Nutrition und Vered - lung der organiſchen Materie Selbſtkonſumtion der Kräfte und Organe durchs Leben ſelbſt Abſchei - dung und Zerſetzung der verbrauchten Theile die zum Leben nöthigen Organe Geſchichte des Lebens Urſachen der ſo vorzüglich langen Lebensdauer des Menſchen Einfluſs der höhern Denkkraft und Ver - nunft darauf Wie kommt es, daſs bey den Men - ſchen, wo die Fähigkeit zum langen Leben am ſtärkſten iſt, dennoch die Mortalität am gröſsten iſt?

Wir kommen nun zu unſerm Haupt - zweck, die bisherigen Prämiſſen auf217 die Verlängerung des menſchlichen Le - bens anzuwenden. Aber ehe wir dieſs zu thun im Stande ſind, müſſen wir durchaus erſt folgende Fragen un - terſuchen: Worin beſteht eigentlich menſchliches Leben? Auf welchen Orga - nen, Kräften und Verrichtungen beruht dieſe wichtige Operation und ihre Dau - er? Worin unterſcheidet es ſich we - ſentlich von dem Leben anderer Geſchö - pfe und Weſen?

Der Menſch iſt unſtreitig das oberſte Glied, die Krone der ſichtbaren Schö - pfung, das ausgebildetſte, lezte, vollen - detſte Product ihrer wirkenden Kraft, der höchſte Grad von Darſtellung derſel - ben, den unſre Augen zu ſehen, unſre Sinne zu faſſen vermögen. Mit ihm ſchlieſst ſich unſer ſublunariſcher Ge - ſichtskreis; er iſt der äuſſerſte Punct, mit welchem und in welchem die Sin - nenwelt an einer höheren geiſtigen Welt218 angrenzt. Die menſchliche Organiſa - tion iſt gleichſam ein Zauberband, durch welches zwey Welten von ganz verſchie - dener Natur mit einander verknüpft und verwebt ſind; ein ewig unbegreifli - ches Wunder, durch welches der Menſch Bewohner zweyer Welten zugleich, der intellectuellen und der ſinnlichen, wird.

Mit Recht kann man den Menſchen als den Inbegriff der ganzen Natur anſe - hen, als ein Meiſterſtück von Zuſam - menſetzung, in welchem alle in der übri - gen Natur zerſtreut wirkenden Kräfte, alle Arten von Organen und Lebensfor - men zu einem Ganzen vereint ſind, ver - eint wirken, und auf dieſe Art den Men - ſchen im eigentlichſten Sinn zu der kleinen Welt (dem Abdruck und In - begriff der gröſsern) machen, wie ihn die ältern Philoſophen ſo oft nannten.

219

Sein Leben iſt das entwickeltſte; ſeine Organiſation die zarteſte und aus - gebildetſte; ſeine Säfte und Beſtandtheile die veredeltſten und organiſirteſten; ſein intenſives Leben, ſeine Selbſtkonſum - tion eben deswegen die ſtärkſte. Er hat folglich mehr Berührungspuncte mit der ihn umgebenden Natur, mehr Bedürf - niſſe; aber auch eben deswegen eine rei - chere und vollkommnere Reſtauration, als irgend ein anderes Geſchöpf. Die todten, mechaniſchen und chemiſchen Kräfte der Natur, die organiſchen oder lebendigen Kräfte, und jener Funke der göttlichen Kraft, die Denkkraft, ſind hier auf die wundervolleſte Art mit ein - ander vereinigt und verſchmolzen, um das groſse göttliche Phänomen, was wir menſchliches Leben nennen, darzu - ſtellen.

Und nun einen Blick in das Weſen und den Mechanismus dieſer Operation, ſo viel uns davon erkennbar iſt!

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Menſchliches Leben, von ſeiner phyſiſchen Seite betrachtet, iſt nichts anders, als ein unaufhörlich fortgeſez - tes Aufhören und Werden, ein beſtän - diger Wechſel von Deſtruction und Re - ſtauration, ein fortgeſezter Kampf che - miſcher zerlegender Kräfte und der alles bindenden und neuſchaffenden Lebens - kraft. Unaufhörlich werden neue Be - ſtandtheile aus der ganzen uns umge - benden Natur aufgefaſst, aus dem tod - ten Zuſtand zum Leben hervorgerufen, aus der chemiſchen in die organiſche be - lebte Welt verſezt, und aus dieſen un - gleichartigen Theilen durch die ſchöpfe - riſche Lebenskraft ein neues gleichförmi - ges Product erzeugt, dem in allen Puncten der Karacter des Lebens eingeprägt iſt. Aber eben ſo unaufhörlich verlaſſen die gebrauchten, abgenuzten und verdorbe - nen Beſtandtheile dieſe Verbindung wie - der, gehorchen den mechaniſchen und chemiſchen Kräften, die mit den leben - den in beſtändigem Kampf ſtehen, tre - ten ſo wieder aus der organiſchen in die221 chemiſche Welt über, und werden wie - der ein Eigenthum der allgemeinen un - belebten Natur, aus der ſie auf eine kurze Zeit ausgetreten waren. Dies un - unterbrochene Geſchäft iſt das Werk der immer wirkſamen Lebenskraft in uns, folglich mit einer unaufhörlichen Kraft - äuſſerung verbunden; und dies iſt ein neuer wichtiger Beſtandtheil der Lebens - operation. So iſt das Leben ein beſtän - diges Nehmen, Aneignen und Wieder - geben, ein immerwährendes Gemiſch von Tod und neuer Schöpfung.

Das, was wir alſo im gewöhnlichen Sinne Leben eines Geſchöpfs (als Darſtel - lung betrachtet) nennen, iſt nichts wei - ter als eine bloſse Erſcheinung, die durchaus nichts eignes und ſelbſtſtändi - ges hat, als die wirkende geiſtige Kraft, die ihr zum Grunde liegt, und die alles bindet und ordnet. Alles übrige iſt ein bloſses Phänomen, ein groſses fortdau - erndes Schauſpiel, wo das Dargeſtellte keinen Augenblick daſſelbe bleibt, ſon -222 dern unaufhörlich wechſelt; wo der ganze Gehalt, die Form, die Dauer der Darſtellung vorzüglich von den dazu benuzten und beſtändig wechſelnden Stoffen und der Art ihrer Benutzung ab - hängt, und das ganze Phänomen keinen Augenblick länger dauern kann, als das beſtändige Zuſtrömen von auſſen dauert, das dem Prozeſs Nahrung giebt; alſo die allergröſste Analogie mit der Flam - me, nur daſs dieſe ein bloſs chemiſcher, das Leben aber ein chemiſch-animali - ſcher Prozeſs, eine chemiſch-animaliſche Flamme iſt.

Das menſchliche Leben beruht alſo, ſeiner Natur nach, auf folgenden Haupt - momenten.

I. Zugang der Lebensnahrung von auſſen, und Aufnahme derſelben.

Hierzu gehört alſo nicht bloſs das, was wir gewöhnlich Nahrung nennen, Speiſe und Trank, ſondern noch viel -223 mehr das beſtändige Zuſtrömen der fei - nern und geiſtigern Lebensnahrung aus der Luft, welche vorzüglich zur Unter - haltung der Lebenskraft zu gehören ſcheint; da jene gröbern Nahrungsmit - tel mehr zur Erhaltung und Wiederer - zeugung der Materien des Körpers und ſeiner Organe dienen. Ferner nicht bloſs das, was durch Mund und Magen eingeht; denn auch unſre Lunge und Haut nimmt eine Menge Lebensnahrung in ſich auf, und iſt für die geiſtigere Erhaltung noch weit wichtiger als der Magen.

II. Aneignung, Aſſimilation und Animali - ſation Uebertritt aus der chemiſchen in die organiſche Welt, durch Einfluſs der Lebenskraft.

Alles, was in uns eingeht, muſs erſt den Karacter des Lebens erhalten, wenn es unſer heiſsen ſoll. Alle Beſtandtheile, ja ſelbſt die feinſten Agentien der Natur, die in uns einſtrömen, müſſen animali -224 ſirt werden, d. h. durch den Zutritt der Lebenskraft ſo modificirt und auf eine ganz neue Art gebunden werden, daſs ſie nicht ganz mehr nach den Geſetzen der todten und chemiſchen Natur, ſon - dern nach den ganz eigenthümlichen Geſetzen des organiſchen Lebens wirken und ſich gegen andere verhalten, kurz als Beſtandtheile des lebenden Körpers nie einfach, ſondern immer als zuſam - mengeſezt (aus ihrer eigentlichen Natur und den Geſetzen der Lebenskraft) ge - dacht werden können. Genug, alles was in uns iſt, ſelbſt chemiſche und me - chaniſche Kräfte, ſind animaliſirt. So z. E. die Electricität, der Wärmeſtoff; ſie ſind, ſobald ſie Beſtandtheile des le - benden Körpers werden, komponirter Natur (animaliſirte Electricität, anima - liſirter Wärmeſtoff) und nicht mehr bloſs nach den Geſetzen und Verhältniſ - ſen, die ſie in der allgemeinen Natur hatten, zu beurtheilen, ſondern nach den ſpecifiſchen organiſchen Geſetzen beſtimmt und wirkend. Eben ſo dasoxigene225oxigene und die andern neuentdeckten chemiſchen Stoffe. Man hüte ſich ja, ſie ſich ſo in der lebenden Verbindung un - ſers Körpers zu denken, wie wir ſie im Luftapparat wahrnehmen; auch ſie wir - ken nach andern und ſpecifiſchen Ge - ſetzen. Ich glaube dieſe Bemerkung kann man jezt nicht genug empfehlen, und ſie allein kann uns bey der übrigen äuſſerſt empfehlungswerthen Anwen - dung der chemiſchen Grundſätze auf das organiſche Leben richtig leiten. Al - lerdings haben wir auch jene chemiſche Agenzien und Kräfte in uns, und ihre Kenntniſs iſt uns unentbehrlich; aber ihre Wirkungsart in uns iſt anders mo - dificirt, denn ſie befinden ſich in einer ganz andern Welt.

Dieſe wichtige Operation der Aſſi - milation und Animaliſation iſt das Ge - ſchäft zuerſt des abſorbirenden und Drü - ſenſyſtems, (in ſeinem weitſten Umfange nicht bloſs Milchgefäſse, ſondern auch die einſaugenden Gefäſse der HautP226und der Lunge) das man gleichſam den Vorhof nennen kann, durch welchen alles gehen muſs, was uns eigen werden ſoll; und dann des Cirkulationsſyſtems, durch deſſen Bearbeitung den Beſtand - theilen die organiſche Vollendung mit - getheilt wird.

III. Nutrition Figirung der nun ani - maliſirten Beſtandtheile Weitere Veredlung derſelben.

Die völlig animaliſirten Beſtand - theile werden nun verkörpert und in Organe verwandelt, (das Geſchäft der plaſtiſchen Kraft). Durch die Be - arbeitung noch feinerer und vollkomme - nerer Abſonderungswerkzeuge werden die organiſchen Beſtandtheile zum höch - ſten Grad ihrer Veredlung und Vervoll - kommung gebracht; durch das Gehirn zum nervenbelebenden Flüſſigen, durch die Generationsorgane zum Zeugungs - ſtoff, beydes Verbindungen der ver -227 feinertſten organiſchen Materie mit ei - nem reichen Antheil Lebenskraft.

IV. Selbſtkonſumtion der Organe und Kräfte durch Lebensäuſſerung.

Das wirkende Leben ſelbſt iſt eine unaufhörliche Kraftäuſſerung und Hand - lung, folglich mit unaufhörlichem Kraft - aufwand und beſtändiger Konſumtion der Organe verbunden. Alles, wodurch ſich die Kraft als handelnd und thätig zeigt, iſt Kraftäuſſerung; denn es ge - ſchieht keine, auch nicht die kleinſte Lebensäuſſerung, ohne Reiz und Re - action der Kraft. Dieſs iſt Geſetz der organiſchen Natur. Alſo ſowohl die ohne unſer Wiſſen und Willen geſche - henden innern Bewegungen der Cirku - lation, Chylifikation, Aſſimilation und Sekretion, als auch die freywilligen und Seelenwirkungen, ſind beſtändiger Kraft - aufwand, und konſumiren unaufhalt - ſam Kräfte und Organe.

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Dieſer Lebenstheil iſt beſonders wichtig für die Dauer und Beſchaffen - heit des Lebens. Je ſtärker die Le - bensäuſſerung, deſto ſchneller die Auf - reibung, deſto kürzer die Dauer. Aber iſt ſie zu ſchwach, dann iſt die Folge ein zu ſeltner Wechſel der Beſtandtheile, folglich eine unvollkommene Reſtaura - tion, und eine ſchlechte Qualität des Körpers.

V. Abſcheidung und neue Zerſetzung der Beſtandtheile. Austritt derſelben aus der organiſchen Welt in die chemi - ſche, und Wiedervereinigung mit der allgemeinen unbelebten Natur.

Die verbrauchten, in dieſer Verbin - dung nicht mehr haltbaren Beſtandtheile treten nun wieder aus ihr heraus. Sie verlieren den Einfluſs der Lebenskraft, und fangen an ſich wieder nach den bloſs chemiſchen Naturgeſetzen zu zerſetzen, zu trennen und zu binden. Daher tra - gen alle unſre Abſonderungen die deut -229 lichſten Spuren der Fäulniſs an ſich, eines bloſs chemiſchen Prozeſſes, der, als ſolcher, nie in dem wirklich beleb - ten Zuſtand möglich iſt. Das Ge - ſchäft, ſie aus dem Körper zu entfernen, haben die Secretions - und Excretions - organe, die daſſelbe mit ununterbroche - ner Thätigkeit betreiben, der Darmka - nal, die Nieren, vorzüglich aber die ganze Oberfläche der Haut und die Lun - gen. Dieſe Verrichtungen ſind wahre chemiſch-animaliſche Operationen; die Wegſchaffung ſelbſt geſchieht durch die Lebenskräfte, aber die Producte ſind ganz chemiſch.

Dieſe Hauptmomente bilden das Le - ben im Ganzen, und auch in jedem Au - genblick; denn ſie ſind beſtändig ver - bunden, beſtändig gegenwärtig, und unzertrennlich von der Operation des Lebens.

Die Organe, die zum Leben gehö - ren, ſind ſchon zum Theil dabey er -230 wähnt worden. Man kann ſie in gegen - wärtiger Rückſicht am füglichſten in drey groſse Klaſſen theilen: die empfan - genden und zubereitenden, die ausgeben - den, und die, welche dieſe gegenſeitigen Bewegungen, ſo wie die ganze innre Oeko - nomie, in Gleichgewicht und Ordnung er - halten. Viele tauſende von gröſsern und kleinern Organen ſind unaufhörlich be - ſchäftigt, die durch die innere Konſum - tion abgeriebnen und verdorbnen Theil - chen abzuſondern und auszuſtoſsen. Auſſer den eigentlich ſogenannten Aus - leerungswegen iſt die ganze Oberfläche der Haut und der Lungen mit Millionen ſolcher Abſonderungsorgane bedeckt, und in unaufhörlicher Thätigkeit. Eben ſo häufig und mannichfaltig ſind die Wege der zweyten Klaſſe, der Reſtaura - tion. Nicht genug, daſs der Abgang der gröbern Theile durch Hülfe der Ver - dauungswerkzeuge aus den Nahrungs - mitteln erſezt wird, ſo iſt auch das Re - ſpirationsorgan, die Lunge, unaufhör - lich beſchäftigt, aus der Luft geiſtige231 Nahrung, Lebenswärme und Lebens - kraft, einzuziehen. Das Herz und der davon abhängende Umlauf des Bluts dient dazu, dieſe Bewegungen zu regu - liren, die aufgenommene Wärme und Nahrung in alle Puncte zu verbreiten, und die abgenuzten Theilchen nach ih - ren Abſonderungswegen hinzutreiben. Zu dem allem kommt nun noch der wichtige Einfluſs der Seelenkraft und ihrer Organe, die den Menſchen unter allen Geſchöpfen am vollkommenſten erfüllt, und zwar einerſeits die Selbſt - konſumtion, das intenſive Leben, ver - mehrt, aber zugleich für den Menſchen ein äuſſerſt wichtiges Reſtaurationsmit - tel wird, das unvollkommnern Weſen fehlt.

Von der auſſerordentlichen Selbſt - konſumtion des menſchlichen Körpers kann man ſich einen Begriff machen, wenn man bedenkt, daſs der Herzſchlag und die damit verbundne Fortbewegung des Bluts, alle Tage 100,000 mal ge -232 ſchieht, d. h. daſs ſich das Herz und alle Pulsadern täglich 100,000 mal mit einer ganz auſſerordentlichen Kraft zuſam - menziehen, die eine Laſt von 50 60 Pfund Blut in beſtändiger Fortbewegung zu erhalten vermag. (Welche Uhr, welche Maſchine von dem härteſten Ei - ſen würde nicht durch einen ſolchen Ge - brauch in kurzem abgenuzt ſeyn?) Rechnen wir hierzu noch die faſt eben ſo unaufhörlichen Muskularbewegungen unſers Körpers, die um ſo mehr aufrei - ben müſſen, da dieſe Theile mehr aus weichen und gallertartigen Partikeln be - ſtehen, ſo wird man ſich ungefähr einen Begriff machen können, mit welchem Verluſt von Subſtanz zum Beyſpiel ein Fuſsweg von 10 Meilen oder ein Kou - rierritt von 80 Meilen verbunden ſeyn mag. Und nicht bloſs weiche und flüſſige, ſondern auch die feſteſten Thei - le werden nach und nach durch den Ge - brauch abgenuzt. Wir ſehen dieſs am deutlichſten bey den Zähnen, welche offenbar durch langen Gebrauch abge -233 rieben, hingegen beym Nichtgebrauch (in Ermangelung der Antagoniſten) oft ausnehmend lang werden. Es iſt erwieſen, daſs wir uns auf dieſe Art ſehr bald aufgezehrt haben würden, wenn kein Erſatz da wäre, und es iſt ſehr wahrſcheinlich berechnet, daſs wir alle 3 Monate nicht mehr dieſelben ſind, und aus ganz neuen Partikeln beſte - hen.

Aber eben ſo auſſerordentlich und wunderbar iſt der beſtändige Erſatz des Verlohrnen. Man kann dieſs ſchon daraus abnehmen, daſs, troz des beſtän - digen Verluſtes, dennoch unſre Maſſe dieſelbe bleibt. Am allerſchnellſten regeneriren ſich die flüſſigen Theile wie - der, und die Erfarung hat gelehrt, daſs oft der ſtärkſte Blutverluſt in 14 Tagen wieder erſezt war. Die feſten Theile reproduciren ſich durch eben die Kräfte und Mechanismen, wie bey der erſten Entſtehung; das gallertartige nährende Prinzip wird durch die Cirkulation nach234 allen Theilen hingeleitet, und organi - ſirt ſich überall nach den plaſtiſchen Ge - ſetzen des Theils. Selbſt die allerfeſte - ſten, die Knochen, werden regenerirt, wie man durch die Verſuche mit der Fär - berröthe beweiſen kann, bey deren Ge - nuſs in kurzem ganz rothe Knochen ent - ſtehen. Eben ſo erzeugen ſich ganze verlohren gegangene Knochen von neuem wieder, und mit Bewunderung findet man im Elfenbein (dem härtſten animaliſchen Körper) zuweilen Bleyku - geln, die einſt hineingeſchoſſen wurden, in allen Puncten mit feſter Elfenbeinſub - ſtanz umgeben.

Der gewöhnliche Gang, oder die Geſchichte des menſchlichen Lebens, iſt kurz folgende:

Das Herz, (der Grundquell aller Le - bensbewegung und Lebensverbreitung, und die Grundkraft ſowohl der abſon - dernden als der wiederherſtellenden Operationen) wird im Verhältniſs des235 zunehmenden Alters immer kleiner, ſo daſs es zulezt achtmal weniger Raum zum Ganzen einnimmt, als im Anfange des Lebens; zugleich wird ſeine Sub - ſtanz immer dichter und härter, und in eben dem Verhältniſs wird ſeine Reiz - barkeit geringer. Folglich nehmen die wirkenden Kräfte von Jahr zu Jahr mehr ab, die wiederſtehenden hingegen im - mer mehr zu. Das nehmliche geſchieht auch im ganzen Syſtem der Gefäſse und aller Bewegungsorgane. Alle Gefäſse werden nach und nach immer härter, enger, zuſammengeſchrumpfter, un - brauchbarer; Arterien werden knöchern, eine Menge der feinſten Gefäſse ver - wachſen ganz.

Die Folgen davon ſind unausbleib - lich:

  • 1. Durch dieſes Verwachſen und Ver - ſchrumpfen werden auch die wich - tigſten und feinſten Reſtaurations - organe des Lebens, die Wege des236 Zugangs und der Aſſimilation von auſſen (Lunge, Haut, abſorbirende und Milchgefäſse) ungangbarer, folglich der Zutritt nährender und belebender Beſtandtheile von auſſen immer ſchwächer. Die Nahrung kann weder ſo mehr aufgenommen, noch ſo gut bereitet und vertheilt werden, als zuvor.
  • 2. Durch dieſe zunehmende Härte und Trockenheit der Faſern verlie - ren ſie immer mehr von ihren be - wegenden und empfindenden Kräf - ten. Irritabilität und Senſibilität nehmen immer in demſelben Ver - hältniſs ab, als jene zunimmt, und ſo räumen die wirkenden und ſelbſt - thätigen Kräfte in uns den zerſtören - den, mechaniſchen und chemiſchen immer mehr Feld ein.
  • 3. Durch dieſe Abnahme der Bewe - gungskraft, durch dieſe Verwach - ſung unzähliger Gefäſsgen leiden237 nun hauptſächlich die Abſonderun - gen, die unentbehrlichſten Hülfs - mittel unſrer beſtändigen Reini - gung und der Fortſchaffung des verdorbenen. Das wichtigſte Or - gan derſelben, die Haut, wird mit den Jahren immer feſter, undurch - dringlicher und unbrauchbarer. Eben ſo die Nieren, die Ausdün - ſtungsgefäſse des Darmkanals und der Lungen. Die Säfte müſſen daher im Alter immer unreiner, ſchärfer, zäher und erdigter wer - den. Die Erde, der gröſste Anta - goniſt aller Lebensbewegung, be - kommt dadurch in unſerm Körper immer mehr und mehr das Ueber - gewicht, und wir nähern uns da - durch ſchon bey lebendigem Leibe unmerklich unſrer endlichen Be - ſtimmung: Werde wieder zur Er - de, von der du genommen biſt!

Auf dieſe Weiſe führt unſer Leben ſelbſt das Aufhören deſſelben, den na -238 türlichen Tod herbey, und folgendes iſt der Gang deſſelben:

Zuerſt nehmen die dem Willen un - terworfnen Kräfte, nachher auch die unwillkührlichen und eigentlichen Le - bensbewegungen ab. Das Herz kann nicht mehr das Blut in die entfernteſten Theile treiben. Puls und Wärme flie - hen von den Händen und Füſsen; doch wird das Blut noch von dem Her - zen und den gröſsern Gefäſsen in Be - wegung erhalten, und ſo hält ſich das Lebensflämmchen, wiewohl ſchwach, noch einige Zeit. Zulezt kann das Herz das Blut nicht einmal mehr durch die Lungen preſſen, und nun wen - det die Natur noch alle Kraft an, um die Reſpiration zu verſtärken, und dadurch dem Blut noch einigen Durch - gang zu verſchaffen. Endlich ſind auch dieſe Kräfte erſchöpft. Die linke Herzkammer erhält folglich kein Blut mehr, wird nicht mehr gereizt, und ruht; während die rechte noch eini -239 ges Blut aus den ſchon halb abgeſtor - benen Theilen zugeſchickt bekommt. Aber nun erkalten auch dieſe Theile völlig, die Säfte gerinnen, das Herz er - hält gar kein Blut mehr, es hört alle Be - wegung auf, und der Tod iſt vollkom - men.

Ehe ich weiter gehe, muſs ich noch einige auffallende und räthſelhafte Um - ſtände berühren, die ſich jedem bey der Unterſuchung der Lebensdauer des Men - ſchen aufdringen, und einer beſondern Aufmerkſamkeit werth ſind.

Das erſte Räthſel iſt: Wie iſt es möglich, daſs der Menſch, deſſen Organi - ſation die zarteſte und komplicirteſte, deſ - ſen Selbſtkonſumtion die rapideſte iſt, und deſſen Lebensdauer alſo die allerkürzeſte ſeyn ſollte, dennoch alle Klaſſen der voll - kommnern Thiere, die mit ihm gleiche240 Gröſse, gleiche Organiſation, gleichen Standpunct in der Schöpfung haben, ſo auffallend an Lebensdauer übertrifft?

Bekanntlich ſind die unvollkomm - nern Organiſationen die, welche die meiſte Dauer, wenigſtens Tenacität des Lebens haben. Der Menſch, als das al - lervollkommenſte Geſchöpf, müſste folg - lich in dieſer Rückſicht weit unter ihnen ſtehen. Ferner erhellt aus den vorigen Unterſuchungen, daſs die Lebensdauer eines Thieres um ſo precärer und kürzer iſt, je mehr Bedürfniſſe des Lebens es hat. Der Menſch hat deren unſtreitig am meiſten, ein neuer Grund einer kürzern Dauer! Ferner iſt vorher ge - zeigt worden, daſs bey den Thieren der höchſte Grad der Selbſtkonſumtion der Act der Zeugung iſt, und ihre Lebens - dauer ganz ſichtbarlich abkürzt. Auch hierin hat der Menſch eine ausgezeich - nete Vollkommenheit, und bey ihm kommt noch eine neue Art der Zeugung,die241die geiſtige oder das Denkgeſchäft hin - zu, und ſeine Dauer müſste alſo da - durch noch mehr leiden.

Es fragt ſich alſo: wodurch hat der Menſch auch in Abſicht der Dauer ſeines Lebens einen ſolchen Vorzug?

Ich glaube den Grund in folgenden gefunden zu haben.

  • I. Das ganze Zellgewebe des Menſchen, oder die Grundfaſer, iſt von weit zärterer und weicherer Textur, als bey den Thieren derſelben Klaſſen. Selbſt die ſogenannte Nervenhaut eines Darms iſt bey einem Hunde viel härter, und läſst ſich nicht ſo aufblaſen, wie beym Menſchen. Auch die Adern, die Knochen, ſelbſt das Gehirn, ſind bey Thieren weit feſter, und haben mehr Erde. Nun habe ich aber oben gezeigt, daſs ein gar zu groſser Grad von Härte und Sprödigkeit der OrganeQ242der Lebensdauer hinderlich iſt, weil ſie dadurch früher ihre Nachgiebig - keit und Brauchbarkeit verlieren, und weil die Trockenheit und Stei - figkeit, welche das Alter und zulezt den völligen Stillſtand bewirken, dadurch beſchleunigt werden. Folg - lich muſs ſchon aus dieſem Grunde der Menſch ein ſpäteres Alter und ein längeres Lebensziel haben.
  • II. Der Menſch wächſt langſamer, wird ſpäter mannbar, alle ſeine Entwick - lungen haben längere Perioden; und ich habe ſchon gezeigt, daſs die Dauer eines Geſchöpfs deſto län - ger iſt, je langſamer ſeine Entwick - lungen geſchehen.
  • III. Der Schlaf, (das gröſste Retarda - tions - und Erhaltungsmittel des Le - bens) iſt dem Menſchen am regel - mäſsigſten und beſtändigſten eigen.
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  • IV. Einen Hauptunterſchied macht die vollkommene Seelenorganiſation
    *)Ich bitte, mich hier recht zu verſtehen. Nicht etwa daſs ich die Seele ſelbſt zu den Theilen oder Producten, oder Eigenſchaften oder Blüthen des Körpers rechnete. Keineswegs! Die Seele iſt in meinen Augen etwas ganz vom Körper verſchie - denes, ein Weſen aus einer ganz andern, - hern, intellectuellen Welt; aber in dieſer ſub - lunariſchen Verbindung, und um menſchliche Seele zu ſeyn, muſs ſie Organe haben, und zwar nicht bloſs zu den Handlungen, ſondern auch zu den Empfindungen, ja ſelbſt zu den höhern Verrichtungen des Denkens und Ideenverbin - dens. Die erſte Urſach des Denkens iſt alſo gei - ſtig, aber das Denkgeſchäft ſelbſt (ſo wie es in dieſer menſchlichen Maſchine getrieben wird) iſt organiſch. So allein wird das ſo auffal - lend mechaniſche in vielen Denkgeſetzen, der Einfluſs phyſiſcher Urſachen auf Verbeſſerung und Zerrüttung des Denkgeſchäfts erklärbar, und man kann das Geſchäft ſelbſt materiell betrachten und heilen, (ein Fall, den unſer Beruf als Aerzte oft mit ſich bringt) ohne ein Materialiſt zu ſeyn, d. h. ohne die erſte Urſache deſſelben, die Seele, für Materie zu halten, welches mir wenigſtens abſurd zu ſeyn ſcheint.
    *)Q 2244und Denkfähigheit des Menſchen die Vernunft!

Dieſe höhere und göttliche Kraft, die dem Menſchen allein beywohnt, hat den auffallendſten Einfluſs, nicht allein auf ſeine Karacteriſtik im Ganzen, ſon - dern auch auf ſeine Lebensvollkommen - heit und Dauer, und zwar auf folgende Art.

  • 1. Ganz natürlich muſs die Summe der wirkenden lebendigen Kräfte in uns durch dieſen Beytritt der rein - ſten und göttlichſten vermehrt wer - den.
  • 2. Durch ſeine äuſſerſt veredelte und verfeinerte Gehirnorganiſation be - kommt der Menſch ein ganz neues ihm allein eigenthümliches Reſtau - rationsorgan, oder vielmehr ſeine ganze Lebenskapacität wird da - durch vermehrt. Der Beweis iſt folgender:245 Je mehr ein Körper Organe zur Aufnahme, Entwicklung und Ver - arbeitung mannigfaltiger Einflüſſe und Kräfte hat, deſto reicher und vollkommner iſt ſeine Exiſtenz. Hierin liegt der Hauptbegriff von Lebenskapacität. Nur das exiſtirt für uns, wofür wir Sinne oder Or - gane haben, es aufzunehmen und zu benutzen; und je mehr wir alſo derſelben haben, deſto mehr leben wir. Das Thier, das keine Lungen hat, kann in der reinſten Lebens - luft leben, und es wird dennoch keine Wärme, kein Lebensprincip daraus erhalten, bloſs weil es kein Organ dafür hat. Der Verſchnitte - ne genieſst eben die Nahrungsmit - tel, lebt unter eben den Einflüſſen, hat das nehmliche Blut, wie der Unverſchnittene, deſſen ungeach - tet fehlt ihm ſowohl die Kraft als Materie der Generation, ſowohl die phyſiſche als moraliſche Mannskraft, weil er keine Organe zu ihrer246 Entwicklung hat. Genug, wir können eine Menge Kräfte um uns, ja ſelbſt ſchlafende Keime derſelben in uns haben, die aber, ohne ein angemeſsnes Entwicklungsorgan, ganz für uns verlohren ſind. Von dieſem Geſichtspunct aus müſſen wir auch die menſchliche Gehirnor - ganiſation betrachten. Sie iſt un - ſtreitig der höchſte Grad von Ver - feinerung der organiſchen Materie. Es iſt durch alle Beobachtungen er - wieſen, daſs der Menſch unter allen Thieren das zarteſte, und, im Ver - hältniſs zu den Nerven, auch das gröſste Gehirn habe. In dieſem Or - gane werden (wie in dem Alembik des Ganzen) die feinſten und geiſtig - ſten Theile der durch Nahrung und Reſpiration uns zugeführten Kräfte geſammlet, ſublimirt und zum höchſten Grad veredelt, und von da aus durch die Nerven dem gan - zen Körper in allen ſeinen Puncten247 mitgetheilt. Es wird wirklich eine neue Lebensquelle.
  • 3. Durch dieſe höchſtvollkommene Seelenkraft tritt der Menſch in Ver - bindung mit einer ganz neuen, für die ganze übrige Schöpfung verbor - genen Welt der geiſtigen. Sie giebt ihm ganz neue Bei ührungs - puncte, ganz neue Einflüſſe, ein neues Element. Könnte man in dieſer Rückſicht nicht den Men - ſchen ein Amphibion von einer - heren Art (man verzeihe den Aus - druck) nennen, denn er iſt ein Weſen, das in zwey Welten, der materiellen und der geiſtigen, zu - gleich lebt und das auf ihn an - wenden, was ich vorhin aus der Er - farung von den Thieramphibien ge - zeigt habe, daſs die Exiſtenz in zwey Welten zugleich das Leben verlängert? Welch ein uner - meſsliches Meer von Geiſtesnahrung und Geiſteseinflüſſen eröfnet uns248 nicht dieſe höhere und vollkomm - nere Organiſation? Eine ganz neue und dem Menſchen allein eigne Klaſſe von Nahrungs - und Erwe - ckungsmitteln der Lebenskraft ſtellt ſich uns hier dar, die der feinern ſinnlichen und höhern moraliſchen Gefühle und Berührungen. Ich will hier nur an die Genüſſe und Stärkungen erinnern, die in der Muſik, der bildenden Kunſt, den Reizen der Dichtung und Phantaſie liegen; an das Wonnegefühl, das uns die Erforſchung der Wahrheit oder eine neue Entdeckung im Rei - che derſelben gewährt; an die rei - che Quelle der Kraft, die in dem Gedanken der Zukunft liegt, und in dem Vermögen, ſie zu vergegen - wärtigen und durch Hoffnung zu leben, wenn uns die Gegenwart verläſst. Welche Stärkung, wel - che unerſchütterliche Feſtigkeit kann uns nicht der einzige Gedanke und Glaube an Unſterblichkeit ge -249 ben! Genug, der Lebensumfang des Menſchen erhält hierdurch eine erſtaunliche Ausdehnung; er zieht nun wirklich ſeine Lebensſubſiſtenz aus zwey Welten zugleich, aus der körperlichen und geiſtigen, aus der gegenwärtigen und zukünftigen; ſeine Lebensdauer muſs nothwen - dig dadurch gewinnen.
  • 4. Endlich trägt die vollkommnere Seelenkraft auch in ſo fern zur Er - haltung und Verlängerung des Le - bens bey, daſs der Menſch dadurch der Vernunft theilhaftig wird, wel - che alles in ihm regulirt, das bloſs thieriſche in ihm, den Inſtinkt, die wüthende Leidenſchaft, und die damit verbundene ſchnelle Konſum - tion, mäſsigt, und ihn auf dieſe Art in jenem Mittelzuſtand zu er - halten vermag, der, wie oben ge - zeigt worden, zum langen Leben ſo nothwendig iſt.
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Kurz, der Menſch hat offenbar mehr geiſtigen Antheil, als ihm bloſs für dieſe Welt nöthig wäre, und dieſes Uebermaſs von geiſtiger Kraft hält und trägt gleichſam das Körperliche mit. Nur der körperliche Antheil führt die Aufreibung und den Tod mit ſich. *)Nicht ganz unrecht drückte ſich daher ein Franzos ſo aus: La mort eſt la plus grande betiſe.

Ich kann hier die Bemerkung nicht unterdrücken, wie ſichtbar auch hierin der moraliſche Zweck, die höhere Be - ſtimmung des Menſchen mit ſeiner phy - ſiſchen Exiſtenz verwebt iſt, und wie alſo das, was ihn eigentlich zum Men - ſchen macht, Vernunft und höheres Denkvermögen, nicht bloſs ſeine mora - liſche, ſondern auch ſeine phyſiſche Vollkommenheit erhält; folglich eine gehörige Kultur ſeiner geiſtigen Kräfte, beſonders die moraliſche, ihn unleug - bar nicht bloſs moraliſch ſondern auch phyſiſch vollkommener macht, und ſei -251 ne Lebenskapacität und Dauer (wie wir in der Folge ausführlicher ſehen wer - den) vermehrt. Der bloſse Thier - menſch ſinkt auch in Abſicht der Lebens - dauer zu den Thieren, mit denen er an Gröſse und Feſtigkeit in Parallel ſteht, ja ſelbſt noch unter ſie (wie ich gleich zei - gen werde) herab; da hingegen oft der ſchwächlichſte Menſch vorzüglich durch dieſe geiſtige Subſiſtenz ſein Leben viel weiter hinausſchieben kann, als das ſtärkſte Thier.

Aus eben dieſen Prinzipien läſst ſich nun auch das zweyte Räthſel auflöſen, nehmlich: Wie kommt es, daſs eben in dem Menſchengeſchlecht, deſſen Lebens - dauer die des Thiers ſo weit übertrifft, und, wie uns Beyſpiele gezeigt haben, zu einer auſſerordentlichen Höhe gelangen kann, dennoch ſo wenige ihr wahres Ziel erreichen, und die meiſten vor der Zeit ſterben? oder mit andern Worten, daſs da, wo die gröſste Dauer möglich iſt, dennoch die Sterblichkeit am gröſsten iſt?

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Eben die gröſsre Weichheit und Zartheit der Organe, die den Menſchen einer langen Dauer fähig macht, expo - nirt ihn auch mehrern Gefahren, leich - tern Unterbrechungen, Stockungen und Verletzungen.

Ferner die mehrern Berührungs - puncte, die er mit der ihn umgebenden Welt hat, machen ihn auch empfängli - cher für eine Menge nachtheiliger Ein - flüſſe, die eine gröbere Organiſation nicht fühlt; ſeine vielfachern Bedürf - niſſe vervielfältigen die Gefahren durch Entziehung ihrer Befriedigung.

Selbſt das geiſtige Leben hat ſeine ganz eignen Gifte und Gefahren. Was weiſs das Thier von fehlgeſchlagner Hof - nung, unbefriedigtem Ehrgeiz, ver - ſchmähter Liebe, von Kummer, Reue, Verzweiflung? Und wie lebensverzeh - rend und tödtend ſind für den Menſchen dieſe Seelengifte?

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Endlich liegt noch ein Hauptgrund darin, daſs der Menſch, ungeachtet er zum vernünftigen Weſen organiſirt iſt, dennoch Freyheit hat, ſeine Vernunft zu gebrauchen oder nicht. Das Thier hat ſtatt der Vernunft Inſtinkt, und zu - gleich weit mehr Gefühlloſigkeit und Härte für ſchädliche Eindrücke. Der Inſtinkt lehrt es, das zu genieſsen, was ihm gut iſt, das zu vermeiden, was ihm ſchadet; er ſagt ihm, wenn es genug hat, wenn es Ruhe bedarf, wenn es krank iſt. Der Inſtinkt ſichert es vor Uebermaſs und Ausſchweifungen, ohne Diätregeln. Bey dem Menſchen hin - gegen iſt alles, auch das Phyſiſche, auf Vernunft berechnet; er hat weder In - ſtinkt, jene Miſsgriffe zu vermeiden, noch Feſtigkeit genug, ſie zu ertragen. Alles dieſs ſollte die Vernunft bey ihm erſetzen. Fehlt ihm alſo dieſe, oder verſäumt er ihre Stimme zu hören, ſo verliert er ſeinen einzigen Wegweiſer, ſein gröſstes Erhaltungsmittel, und ſinkt auch phyſiſch nicht allein zum Thier,254 ſondern ſelbſt unter das Thier herab; weil dieſs von Natur ſchon für die Ver - nunft in Betreff ſeiner Lebenserhaltung entſchädigt iſt. Der Menſch hingegen ohne Vernunft iſt allen ſchädlichen Ein - flüſſen Preis gegeben, und das aller ver - gänglichſte und korruptibelſte Geſchöpf unter der Sonne. Der natürliche Man - gel der Vernunft iſt für die Dauer und Erhaltung des Lebens weit weniger nachtheilig, als der unterlaſsne Gebrauch derſelben da, wo ſie von Natur iſt.

Aber wie Haller ſo wahr ſagt:

Unſelig Mittelding von Engeln und vom Vieh,
Gott gab dir die Vernunft, und du gebrauchſt
ſie nie.

Hierin liegt der Hauptgrund, warum der Menſch bey aller Anlage zur höch - ſten Dauer des Lebens dennoch die gröſste Mortalität hat.

255

Man wende nicht ein, dieſe Be - hauptung werde dadurch widerlegt, daſs doch viele Wahnſinnige ihr Leben hoch bringen. Hier kommt es nehmlich zuerſt auf die Art des Wahnſinnes an. Iſt es Wuth und Raſerey, ſo kürzt dieſs allerdings das Leben gar ſehr ab, weil ſie den höchſten Grad von Kraftäuſſerung und Lebenskonſumtion mit ſich führt. Eben ſo der höchſte Grad von Melanko - lie und Seelenangſt, weil er die edelſten Organe lähmt, und die Kräfte verzehrt. Aber in dem Mittelzuſtande, wo die Ver - nunft nicht ganz fehlt, ſondern nur eine unrichtige Idee, eine falſche aber oft höchſt behagliche Vorſtellungsart ſich eingeſchlichen hat, da kann der phyſi - ſche Nutzen der Vernunft immer blei - ben, wenn auch der moraliſche viel ver - liert. Ja ein ſolcher Menſch iſt oft wie ein angenehm Träumender anzuſehen, auf den eine Menge Bedürfniſſe, Sorgen, Unannehmlichkeiten und lebenverkür - zende Eindrücke (ſelbſt phyſiſche Krank - keitsurſachen, wie die Erfahrung lehrt)256 gar nicht wirken; der in ſeiner ſelbſtge - ſchaffnen Welt glücklich dahin lebt, und alſo weit weniger Deſtruction und Le - benskonſumtion hat. Dazu kommt nun noch endlich, daſs, wenn auch der Blödſinnige ſelbſt nicht Vernunft hat, dennoch die Menſchen, die ihn umge - ben und warten, für ihn denken und ihm ihre Vernunft gleichſam leihen. Er wird alſo doch durch Vernunft erhal - ten, es mag nun ſeine eigne oder eine fremde ſeyn.

Achte257

Achte Vorleſung. Specielle Grundlagen und Kennzeichen der Lebensdauer einzelner Menſchen.

Hauptpuncte der Anlage zum langen Leben Guter Magen und Verdauungsſyſtem, geſunde Zähne gut organiſirte Bruſt nicht zu reizbares Herz gute Reſtaurations - und Heilkraft der Natur Gehöriger Grad und Vertheilung der Lebenskraft, gut Tempera - ment harmoniſcher und fehlerfreyer Körperbau mittlere Beſchaffenheit der Textur des Körpers kein vorzüglich ſchwacher Theil vollkommne Organiſa - tion der Zeugungskraft das Bild eines zum langen Leben beſtimmten Menſchen.

Nach dieſen allgemeinen Begriffen kann ich nun zu der Beſtimmung derR258ſpeciellen und individuellen Grundlage des langen Lebens übergehen, die in dem Menſchen ſelbſt liegen muſs. Ich will die Haupteigenſchaften und Anlagen angeben, die nach obigen Grundſätzen und der Erfahrung ein Menſch durchaus haben muſs, der auf ein langes Le - ben Rechnung machen will. Dieſe Schilderung kann zugleich ſtatt ei - ner kurzen Semiotik des langen Lebens dienen.

Die Eigenſchaften, die man die Fundamenta des langen Lebens im Menſchen nennen kann, ſind fol - gende:

I. Vor allen Dingen muſs der Ma - gen und das ganze Verdauungsſyſtem gut beſchaffen ſeyn. Es iſt un - glaublich, von welcher Wichtigkeit dieſer Groſsmächtigſte aller Herrſcher im animaliſchen Reiche in dieſer Hin - ſicht iſt, und man kann mit vollem Recht behaupten, ohne einen guten Ma -259 gen iſt es unmöglich ein hohes Alter zu erlangen.

In zweyerley Rückſicht iſt der Ma - gen der Grundſtein des langen Lebens: Einmal indem er das erſte und wich - tigſte Reſtaurationsorgan unſrer Natur iſt, die Pforte, wodurch alles, was unſer werden ſoll, eingehen muſs, die erſte Inſtanz, von deren guten oder ſchlechten Zuſtand nicht nur die Quan - tität ſondern auch die Qualität unſers Erſatzes abhängt. Zweytens, in - dem durch die Beſchaffenheit des Ma - gens ſelbſt die Einwirkung der Lei - denſchaften, der Krankheitsurſachen und andrer zerſtörenden Einflüſſe auf unſern Körper modificirt wird. Er hat einen guten Magen, ſagt man im Sprichwort, wenn man jemand karacteriſiren will, auf den weder Aerger, noch Kummer, noch Kränkun - gen ſchädlich wirken, und gewiſs es liegt viel Wahres darinne. Alle die - ſe Leidenſchaften müſſen vorzüglichR 2260den Magen aſſiciren, von ihm gleich - ſam empfunden und angenommen werden, wenn ſie in unſer Phyſiſches übergehen und ſchaden ſollen. Ein guter robuſter Magen nimmt gar keine Notiz davon. Hingegen ein ſchwa - cher empfindſamer Magen wird alle Augenblicke durch ſo etwas in ſeiner Verrichtung geſtört, und folglich das ſo wichtige Reſtaurationsgeſchäft un - aufhörlich unterbrochen, und ſchlecht betrieben. Eben ſo iſt es mit den meiſten phyſiſchen Krankheitseinflüſ - ſen; die meiſten machen ihren er - ſten Eindruck auf den Magen; da - her Zufälle der Verdauung immer die erſten Symptome der Krankheiten ſind. Er iſt auch hier die erſte Inſtanz, durch welche ſie in unſern Körper wir - ken, und nun die ganze Oeconomie ſtören. Ueberdieſs iſt er ein Haupt - organ, von welchem das Gleichge - wicht der Nervenbewegungen, und beſonders der Antrieb nach der Peri - pherie abhängt. Iſt er alſo kräftig261 und wirkſam, ſo können ſich Krank - heitsreize gar nicht ſo leicht fixiren, ſie werden entfernt und durch die Haut verflüchtigt, ehe ſie noch wirk - liche Stöhrung des Ganzen bewir - ken, d. h. die Krankheit hervorbrin - gen konnten.

Einen guten Magen erkennt man aus zweyerley. Nicht blos aus dem treflichen Appetit, denn dieſer kann auch Folge irgend eines Reizes ſeyn, ſondern vorzüglich aus der leich - tern und vollkommnern Verdauung. Wer ſeinen Magen je gefühlt hat, der hat ſchon keinen recht guten Magen. Man muſs gar nicht füh - len, daſs man gegeſſen hat, nach Ti - ſche nicht ſchläfrig, verdroſſen oder unbehaglich werden, früh morgens keinen Schleim im Halſe haben, und gehörige und gut verdaute Ausleerun - gen.

262

Die Erfahrung lehrt uns auch, daſs alle die, welche ein hohes Alter erreichten, ſehr guten Appetit hatten, und ſelbſt noch im höchſten Alter be - hielten.

Zur guten Verdauung ſind nun gute Zähne ein ſehr nothwendiges Stück, und man kann ſie daher als ſehr weſentliche Eigenſchaften zum langen Leben anſehen, und zwar auf zweyerley Art. Einmal ſind gute und feſte Zähne immer ein Haupt - kennzeichen eines geſunden feſten Körpers und guter Säfte. Wer die Zähne ſehr frühzeitig verliert, der hat ſchon mit einem Theil ſeines Körpers ge - wiſſermaſsen auf die andre Welt pränu - merirt. Zweytens ſind die Zähne ein Hauptmittel zur vollkommnen Ver - dauung, und folglich zur Reſtauration.

II. Gut organiſirte Bruſt und Re - ſpirationswerkzeuge. Man erkennt ſie an einer breiten gewölbten Bruſt, der263 Fähigkeit, den Athem lange zu hal - ten, ſtarker Stimme und ſeltnen Huſten. Das Athemholen iſt eine der unaufhörlichſten und nothwen - digſten Lebensverrichtungen; das Or - gan der unentbehrlichſten geiſtigern Reſtauration, und zugleich das Mit - tel, wodurch das Blut unaufhörlich von einer Menge verdorbener Theil - chen befreyt werden ſoll. Bey wem alſo dieſe Organe gut beſtellt ſind, der beſizt eine groſse Aſſecu - renz auf ein hohes Alter, und zwar auch darinne, weil dadurch den de - ſtruirenden Urſachen und dem Tode eine Hauptpforte genommen wird, durch welche ſie ſich einſchleichen können. Denn die Bruſt gehört unter die vorzüglichſten atria mortis (Angriffs - puncte des Todes).

III. Ein nicht zu reizbares Herz. Wir haben oben geſehen, daſs eine Haupturſache unſrer innern Conſum -264 tion oder Selbſtaufreibung in dem be - ſtändigen Blutumlauf liegt. Der, wel - cher in einer Minute 100 Pulsſchläge hat, muſs ſich alſo ungleich ſchneller aufreiben, als der, welcher deren nur 50 hat. Die Menſchen folglich, wel - che beſtändig einen etwas gereizten Puls haben, bey denen jede kleine Gemüthsbewegung, jeder Tropfen Wein, ſogleich die Bewegung des Herzens vermehrt, ſind ſchlechte Kan - didaten zum langen Leben, denn ihr ganzes Leben iſt ein beſtändiges Fie - ber, und es wird dadurch auf doppel - te Art der Verlängerung des Lebens entgegen gearbeitet, theils durch die damit verknüpfte ſchnellere Aufreibung, theils weil die Reſtauration durch nichts ſo ſehr gehindert wird, als durch einen beſtändig beſchleunigten Blutumlauf. Es iſt durchaus eine ge - wiſſe Ruhe nothwendig, wenn ſich die nährenden Theilchen anlegen, und in unſre Subſtanz verwandeln ſollen. 265Daher werden ſolche Leute auch nie fett.

Alſo ein langſamer gleichförmiger Puls iſt ein Hauptmittel und Zeichen des langen Lebens.

IV. Gehöriger Grad und Verthei - lung der Lebenskraft; gutes Tempera - ment. Ruhe, Ordnung und Harmonie in allen innern Verrichtungen und Be - wegungen iſt ein Hauptſtück zur Er - haltung und Verlängerung des Lebens, dieſes beruht aber vorzüglich auf ei - nem gehörigen Zuſtand der allgemei - nen Reizbarkeit und Empfindlichkeit des Körpers, und zwar muſs dieſelbe überhaupt weder zu groſs, noch zu ſchwach, dabey aber gleichförmig vertheilt ſeyn, kein Theil verhältniſs - mäſsig zu viel oder zu wenig haben. Ein gewiſſer Grad von Unempfind - lichkeit, eine kleine Beymiſchung von Phlegma, iſt alſo ein äuſſerſt wichti -266 ges Stück zur Verlängerung des Le - bens. Sie vermindert zu gleicher Zeit die Selbſtaufreibung, und verſtattet eine weit vollkommnere Reſtauration, und wirkt alſo am vollſtändigſten auf Lebensverlängerung. Hieher gehört der Nutzen eines guten Temperaments, welches in ſo fern eine Hauptgrundlage des langen Lebens werden kann. Das beſte iſt in dieſer Abſicht das ſangui - niſche, mit etwas Phlegma tempe - rirt. Dieſs giebt heitern frohen Sinn, gemäſsigte Leidenſchaften, guten Muth, genug die ſchönſte Seelenanlage zur Longävität. Schon die Urſache dieſer Seelenſtimmung pflegt gewöhnlich Reichthum an Lebenskraft zu ſeyn. Und da nun auch Kant bewieſen hat, daſs eine ſolche Miſchung von Tempe - rament das geſchickteſte ſey, um mo - raliſche Vollkommenheit zu erlangen, ſo glaube ich, man könne daſſelbe wohl unter die gröſsten Gaben des Himmels rechnen.

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V. Gute Reſtaurations - und Heil - kraft der Natur, wodurch aller Verluſt, den wir beſtändig erleiden, nicht allein erſezt, ſondern auch gut erſezt wird. Sie beruht nach dem obigen auf einer guten Verdauung und auf einem ruhigen gleichförmi - gen Blutumlauf. Auſſer dieſem gehört aber noch dazu: die vollkommne und rege Wirkſamkeit der einſaugenden Ge - fäſse, (des lymphatiſchen Syſtems), und eine gute Beſchaffenheit und regel - mäſsige Wirkung der Abſonderungsor - gane. Jenes bewirkt, daſs die nähren - den Subſtanzen leicht in uns übergehen, und an den Ort ihrer Beſtimmung ge - langen können, dieſes, daſs ſie voll - kommen von allen fremden und ſchäd - lichen Beymiſchungen befreyt werden, und völlig rein in uns kommen. Und dieſs macht eigentlich den Begriff der vollkommenſten Reſtauration aus.

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Es iſt unglaublich, was dieſes Talent für ein groſses Erhaltungsmit - tel des Lebens iſt. Bey einem Men - ſchen, der dieſes hat, kann wirklich die Conſumtion auſſerordentlich ſtark ſeyn, und er verliert dennoch nichts dadurch, weil er ſich äuſſerſt ſchnell wieder erſezt. Daher haben wir Bey - ſpiele von Menſchen, die ſelbſt unter Debauchen und Strapazen ſehr alt wurden. So konnte z. B. ein Herzog von Richelieu, ein Ludwig XV. alt wer - den.

Eben ſo muſs auch eine gute Heil - kraft der Natur damit verbunden ſeyn; d. h. das Vermögen der Natur, ſich bey Unordnungen und Stöhrun - gen leicht zu helfen, Krankheitsur - ſachen abzuhalten und zu heilen, Ver - letzungen wieder herzuſtellen. Es lie - gen erſtaunliche Kräfte der Art in unſrer Natur, wie uns die Beyſpiele der Naturmenſchen zeigen, welche269 faſt gar keine Krankheiten haben, und bey denen die fürchterlichſten Wunden ganz von ſelbſt heilen.

VI. Ein gleichförmiger und fehler - freyer Bau des ganzen Körpers. Ohne Gleichförmigkeit der Structur wird nie Gleichförmigkeit der Kräfte und Bewegungen möglich ſeyn, ohne wel - che es doch unmöglich iſt alt zu werden. Ueberdieſs geben ſolche Fehler der Structur leicht zu örtli - chen Krankheiten Gelegenheit, wel - che zum Tode führen können. Da - her wird man auch nicht finden, daſs ein Verwachſener ein ſehr hohes Alter erreicht.

VII. Kein Theil, kein Eingewey - de darf einen vorzüglichen Grad von Schwäche haben. Sonſt kann die - ſer Theil am leichteſten zur Aufnah - me einer Krankheitsurſache dienen, der erſte Keim einer Stöhrung und Sto -270 ckung, und gleichſam das Atrium mortis werden. Es kann bey übrigens ſehr guter und vollkommner Organiſation, dieſs der heimliche Feind werden, von welchem hernach die Deſtruction aufs Ganze ausgeht.

VIII. Die Textur der Organiſa - tion muſs von mittlerer Beſchaffenheit, zwar feſt und dauerhaft, aber nicht zu trocken oder zu rigide ſeyn. Wir haben geſehen, daſs durch alle Klaſſen organiſcher Weſen ein zu ho - her Grad von Trockenheit und Härte der Lebensdauer hinderlich iſt. Bey dem Menſchen muſs ſie es am allermei - ſten ſeyn, weil ſeine Organiſation, ſeiner Beſtimmung gemäſs, die zarte - ſte iſt, und alſo durch ein Uebermaas erdigter Theile am leichteſten unbrauch - bar gemacht werden kann. Sie ſcha - det alſo auf doppelte Art, theils indem ſie das Alter, den Hauptfeind des Le - bens, weit früher herbeyführt, theils271 indem dadurch die feinſten Organe der Reſtauration weit eher unbrauchbar gemacht werden. Die Härte unſrer Organiſation, die zum langen Leben dienen ſoll, muſs nicht ſowohl in mechaniſcher Zähigkeit, als vielmehr in Härte des Gefühls beſtehen, nicht ſowohl eine Eigenſchaft der gröbern Textur, als vielmehr der Kräfte ſeyn. Der Antheil von Erde muſs gerade ſo groſs ſeyn, um hinlängliche Spannkraft und Ton zu geben, aber weder zu groſs, daſs Unbeweglichkeit, noch zu klein, daſs eine zu leichte Beweglich - keit davon entſtünde; denn beydes ſcha - det der Lebensdauer.

IX. Ein vorzüglicher Grund zum langen Leben liegt endlich, nach meiner Ueberzeugung, in einer voll - kommnen Organiſation der Zeugungs - kraft.

Ich glaube, man hat ſehr Unrecht, dieſelbe blos als ein Conſumtionsmittel272 und die Producte als bloſse Exeretionen anzuſehen, ſondern ich bin überzeugt, daſs dieſe Organe eins unſrer gröſsten Erhaltungs - und Regenerationsmittel ſind, und meine Gründe ſind folgende:

1. Die Organe der Zeugung haben die Kraft, die feinſten und geiſtigſten Beſtandtheile aus den Nahrungsmitteln abzuſondern, zugleich aber ſind ſie ſo organiſirt, daſs dieſe veredelten und vervollkommneten Säfte wieder zurück - gehen und ins Blut aufgenommen wer - den können. Sie gehören alſo, eben ſo wie das Gehirn, unter die wichtigſten Organe zur Vervollkommung und Ver - edlung unſrer organiſchen Materie und Kraft und alſo unſres Selbſt. Die rohen Nahrungstheile würden uns wenig hel - fen, wenn wir nicht Organe hätten, die das feinſte davon herausziehen, verar - beiten und uns in dieſer Geſtalt wieder geben und zueignen könnten. Nicht die Menge der Nahrung, ſondern dieMenge273Menge und Vollkommenheit der Organe zu deren Bearbeitung und Benutzung iſt es, was unſre Lebenskapacität und Fülle vermehrt, und unter dieſen Orga - nen behauptet gewiſs das der Genera - tion einen vorzüglichen Rang.

2. Was Leben geben kann, muſs auch Leben erhalten. In den Zeugungs - ſäften iſt die Lebenskraft ſo concentrirt, daſs der kleinſte Theil davon ein künfti - ges Weſen zum Leben hervorrufen kann. Läſst ſich wohl ein gröſsrer Bal - ſam zur Reſtauration und Erhaltung unſrer eignen Lebenskraft denken?

3. Die Erfarung lehrt zur Gnüge, daſs nicht eher der Körper ſeine voll - kommne Feſtigkeit und Conſiſtenz er - hält, bis dieſe Organe ihre Vollkommen - heit erlangt haben, und im Stande ſind, dieſe neue Art von Säften zu erzeugen, und dadurch die neue Kraft zu entwi - ckeln. Der deutlichſte Beweis, daſs ſie nicht blos für andere, ſondern zu -S274nächſt und zuerſt für uns ſelbſt beſtimmt ſind, und einen ſo auſſerordentlichen Einfluſs auf unſer ganzes Syſtem ha - ben, daſs ſie gleichſam alles mit einem neuen noch nie gefühlten Karacter im - prägniren. Mit dieſer Entwicklung der Mannbarkeit, bekommt der Menſch einen neuen Trieb zum Wachsthum, der oft unglaublich ſchnell iſt; ſeine Geſtalt bekommt Beſtimmtheit und Karacter; ſeine Muskeln und Knochen Feſtigkeit, ſeine Stimme wird tief und voll; eine neue Generation des Barthaars geht her - vor; ſein Karacter wird feſter und ent - ſchloſsner, genug, der Menſch wird nun erſt an Leib und Seel ein Mann.

Bey manchen Thieren wachſen ſo - gar um dieſe Zeit ganz neue Theile. z. E. Hörner, Geweihe, welche bey denen nie entſtehen, die man verſchnitten hat. Man ſieht hieraus, wie ſtark der An - trieb, der Zufluſs der durch dieſe Or - gane hervorgebrachten neuen Kräfte und Säfte ſeyn muſs.

275

4. Alle dieſe wichtigen Vervoll - kommnungen und Vorzüge fehlen dem, dem die Zeugungsorgane geraubt wur - den; ein deutlicher Beweis, daſs ſie alle erſt die Wirkung derſelben und ihrer Abſonderungen ſind.

5. Kein Verluſt andrer Säfte und Kräfte ſchwächt die Lebenskraft ſo ſchnell und ſo auffallend, als die Ver - ſchwendung der Zeugungskräfte. Nichts giebt ſo ſehr das Gefühl und den Reiz des Lebens, als groſser Vorrath dieſer Säfte, und nichts erregt ſo leicht Ekel und Ue - berdruſs im Leben, als Erſchöpfung daran.

6. Mir iſt kein Beyſpiel bekannt, daſs ein Verſchnittner ein ausgezeichnet hohes Alter erreicht hätte. Sie bleiben immer nur Halbmenſchen.

7. Alle die, welche die höchſte Stufe des menſchlichen Lebens erreicht haben, waren reich an Zeugungskraft,S 2276und ſie blieb ihnen ſogar bis in die lez - ten Jahre getreu. Sie heyratheten ins - geſammt noch im 100ten, 112ten und noch ſpätern Jahren, und zwar, wie ihre Weiber bezeugten, nicht pro forma.

8. Aber (was ich beſonders zu be - merken bitte) ſie waren mit dieſen Kräf - ten nicht verſchwenderiſch, ſondern haushälteriſch und ordentlich umgegan - gen. Sie hatten ſie in der Jugend ge - ſchont, und alle waren verheyrathet, ge - wiſs das ſicherſte und einzige Mittel zur Ordnung in dieſem Punct.

Laſſen Sie mich nun, nach allem dieſen, das Bild eines zum langen Le - ben beſtimmten Menſchen zeichnen. Er hat eine proportionirte und gehörige Statur, ohne jedoch zu lang zu ſeyn. Eher iſt er von einer mittelmäſsigen Gröſse und etwas unterſezt. Seine Ge - ſichtsfarbe iſt nicht zu roth; wenigſtens zeigt die gar zu groſse Röthe in der Ju -277 gend ſelten langes Leben an. Seine Haare nähern ſich mehr dem Blonden, als dem Schwarzen, die Haut iſt feſt aber nicht rauh (den Einfluſs der glück - lichen Geburtsſtunde werden wir her - nach betrachten). Er hat keinen zu groſsen Kopf, groſse Adern an den Ex - tremitäten, mehr gewölbte als flügelför - mig hervorſtehende Schultern, keinen zu langen Hals, keinen hervorſtehenden Bauch, und groſse aber nicht tief ge - furchte Hände, einen mehr breiten als langen Fuſs, faſt runde Waden. Dabey eine breite gewölbte Bruſt, ſtarke Stim - me, und das Vermögen, den Athem lange ohne Beſchwehrde an ſich zu hal - ten. Ueberhaupt völlige Harmonie in allen Theilen. Seine Sinne ſind gut, aber nicht zu fein, der Puls langſam und gleichförmig.

Sein Magen iſt vortreflich, der Ap - petit gut, die Verdauung leicht. Die Freuden der Tafel ſind ihm wichtig,278 ſtimmen ſein Gemüth zur Heiterkeit, ſeine Seele genieſst mit. Er iſst nicht blos um zu eſſen, ſondern es iſt ihm eine feſtliche Stunde für jeden Tag, eine Art von Wolluſt, die den weſentlichen Vorzug für andern hat, daſs ſie ihn nicht ärmer, ſondern reicher macht. Er iſst langſam, und hat nicht zu viel Durſt. Groſser Durſt iſt immer ein Zeichen ſchneller Selbſtkonſumtion.

Er iſt überhaupt heiter, geſprächig, theilnehmend, offen für Freude, Liebe und Hoffnung, aber verſchloſſen für die Gefühle des Haſſes, Zorns und Neids. Seine Leidenſchaften werden nie heftig und verzehrend. Kommt es je einmal zu wirklichen Aerger und Zorn, ſo iſt es mehr eine nüzliche Erwärmung, ein künſtliches und wohlthätiges Fieber, ohne Ergieſsung der Galle. Er liebt dabey Beſchäftigung, beſonders ſtille Meditationen, angenehme Speculatio - nen iſt Optimiſt, ein Freund der279 Natur, der häuslichen Glückſeligkeit, entfernt von Ehr - und Geldgeiz und al - len Sorgen für den andern Tag.

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Neunte Vorleſung. Prüfung verſchiedener neuer Methoden zur Verlängerung des Lebens, und Feſt - ſetzung der einzig möglichen und auf menſchlich Leben paſſenden Methode.

Verlängerung durch Lebenselixire, Goldtineturen, Wundereſſenzen etc. durch Abhärtung durch Nichtsthun und Pauſen der Lebenswirkſamkeit durch Vermeidung aller Krankheitsurſachen, und der Conſum - tion von auſſen durch geſchwindes Leben die ein - zig mögliche Methode menſchliches Leben zu verlän - gern gehörige Verbindung der vier Hauptindicationen Vermehrung der Lebenskraft Stärkung der Or - gane Mäſsigung der Lebenskonſumtion Begünſti - gung der Reſtauration Modificationen dieſer Metho - de durch die verſchiedene Conſtitution Tempera - ment Lebensalter Clima.

Es exiſtiren mehrere Methoden und Vorſchläge zur Verlängerung des Le -281 bens. Die ältern ſuperſtitioſen, aſtrolo - giſchen und phantaſtiſchen, haben wir ſchon oben durchgegangen und gewür - digt. Aber es giebt noch einige neuere, die ſchon auf richtigere Grundſätze von Leben und Lebensdauer gebaut zu ſeyn ſcheinen, und die noch einige Unterſu - chung verdienen, ehe wir zur Feſt - ſetzung der einzig möglichen über - gehen.

Ich glaube hinlänglich erwieſen zu haben, daſs Verlängerung des Lebens auf viererley Art möglich iſt.

  • 1. Durch Vermehrung der Lebenskraft ſelbſt.
  • 2. Durch Abhärtung der Organe.
  • 3. Durch Retardation der Lebenskon - ſumtion.
  • 4. Durch Erleichtrung und Vervollkom - mung der Reſtauration.
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Auf jede dieſer Ideen hat man nun Plane und Methoden gebaut, die zum Theil ſehr ſcheinbar ſind, und viel Glück gemacht haben, die aber gröſstentheils darinne fehlen, daſs ſie nur auf eins ſe - hen, und die andern Rückſichten dar - über vernachläſſigen.

Laſſen Sie uns einige der vorzüg - lichſten durchgehen, und prüfen.

Auf die erſte Idee: die Vermehrung der Quantität von Lebenskraft baueten vorzüglich, und bauen noch immer alle die Verfertiger und Nehmer von Gold - tincturen, aſtraliſchen Salzen, Lapis Philoſophorum und Lebenselixiren. Selbſt Electricität und thieriſcher Magne - tismus gehören zum Theil in dieſe Klaſſe. Alle Adepten, Roſenkreuzer und Conſorten, und eine Menge ſonſt ganz vernünftige Leute, ſind völlig davon überzeugt, daſs ihre erſte Materie eben ſo wohl die Metalle in Gold verwandeln, als dem Lebensflämmchen beſtändig283 neues Oel zuzugieſsen vermöge. Man braucht deshalb nur täglich etwas von ſolchen Tincturen zu nehmen, ſo wird der Abgang von Lebenskraft immer wie - der erſezt; und ſo ein Menſch kann nach dieſer Theorie nie einen Mangel oder gar gänzlichen Verluſt derſelben erleiden. Darauf gründet ſich die Ge - ſchichte von dem berüchtigten Gualdus, der 300 Jahre durch dieſe Hülfe gelebt haben ſoll, und der, wie einige feſtig - lich glauben, noch jezt lebt, u. ſ. w.

Aber alle Verehrer ſolcher Hülfen täuſchen ſich auf eine traurige Art. Der Gebrauch dieſer Mittel, welche alle äuſſerſt hitzig und reizend ſind, ver - mehrt natürlich das Lebensgefühl, und nun halten ſie Vermehrung des Lebens - gefühls für reelle Vermehrung der Le - benskraft, und begreifen nicht, daſs eben die beſtändige Vermehrung des Le - bensgefühls durch Reizung das ſicher - ſte Mittel iſt, daſs Leben abzukürzen, und zwar auf folgende Art:

284

1. Dieſe zum Theil ſpirituöſen Mit - tel wirken als ſtarke Reize, vermeh - ren die innere Bewegung, das intenſive Leben, und folglich die Selbſtkonſum - tion, und reiben ſchneller auf. Dieſs gilt aber nicht blos von den gröbern ſondern auch von den feinern Mitteln dieſer Art. Selbſt Electricität, Magne - tismus, ſogar das Einathmen der dephlo - giſtiſirten Luft, wovon man doch gewiſs glauben könnte, es müſste die ſanfteſte Manier ſeyn Lebenskraft beyzubringen, vermehren die Selbſtkonſumtion aus - nehmend. Man hat dieſs am beſten bey Schwindſüchtigen wahrnehmen können, die man dieſe Luft athmen lieſs. Ihr Lebensgefühl wurde zwar dadurch aus - nehmend erhöhet, aber ſie ſtarben ſchneller.

2. Dieſe Mittel excitiren, indem ſie das Lebensgefühl erhöhen, auch die Sinnlichkeit, machen zu allen Kraftäu - ſerungen, Genüſſen und Wohllüſten aufgelegter (ein Punct, der ſie wohl285 manchen beſonders empfehlen mag), und auch dadurch vermehren ſie die Selbſtkonſumtion.

3. Sie ziehen zuſammen und trock - nen aus, folglich machen ſie die feinſten Organe weit früher unbrauchbar, und führen das, was ſie eben verhüten ſollten, das Alter, weit ſchneller her - bey.

Und geſezt wir brauchten eine ſol - che Exaltation unſers Lebensgefühls, ſo bedarfs ja dazu weder Deſtillirkolben noch Schmelztiegel. Hierzu hat uns die Natur ſelbſt das ſchönſte Deſtillat berei - tet, das jene alle übertrifft: den Wein. Iſt etwas in der Welt, wovon man ſagen kann, daſs es die prima materia, den Erdgeiſt in verkörperter Geſtalt enthält, ſo iſts gewiſs dieſes herrliche Product, und dennoch ſehen wir, daſs ſein zu häufiger Gebrauch ebenfalls ſchnellere Conſumtion und ſchnelleres Alter be -286 wirkt, und das Leben offenbar ver - kürzt.

Aber es iſt wirklich thöricht, die Lebenskraft in concentrirter Geſtalt in den Körper ſchaffen zu wollen, und nun zu glauben, man habe etwas groſses gethan. Fehlt es uns an Gelegenheit da - zu? Es iſt ja alles um und neben uns damit erfüllt. Jede Nahrung, die wir zu uns nehmen, jeder Mundvoll Luft, den wir einathmen, iſt voll davon. Die Hauptſache liegt darinne, unſre Organe in dem Stand zu erhalten, ſie einzuzie - hen, aufzunehmen und ſich eigen zu machen. Man fülle einem lebloſen Kör - per noch ſo viele Lebenstropfen ein; er wird deshalb doch nicht wieder anfan - gen zu leben, weil er keine Organe mehr hat, ſich dieſelbe eigen zu machen. Nicht der Mangel an Lebenszugang, ſondern der an Lebensrezeptivität iſts, was den Menſchen am Ende untüchtig macht, länger zu leben. Für jene ſorgt287 die Natur ſelbſt, und alle Lebenstropfen ſind in dieſer Rückſicht unnöthig.

Auf die zweyte Grundidee: Stär - kung der Organe, hat man ebenfalls ein ſehr beliebtes Syſtem gebaut, das Syſtem der Abhärtung. Man glaubte, je mehr man die Organe abhärtete, deſto länger müſsten ſie natürlich der Conſumtion und Deſtruction widerſtehen.

Aber wir haben ſchon oben geſehen, was für ein groſser Unterſchied unter der mechaniſchen und unter der leben - digen Dauer eines Dings iſt, und daſs nur ein gewiſſer Grad der Feſtigkeit der - ſelben zuträglich, ein zu groſser aber ſehr nachtheilig iſt. Der weſentliche Karacter des Lebens beſteht in ungehin - derter und freyer Wirkſamkeit aller Or - gane und Bewegung der Säfte, und was kann dieſer und folglich der Dauer des Lebens nachtheiliger ſeyn, als zu groſse Härte und Rigidität der Organe? Der Fiſch hat gewiſs das weichſte wäſſe -288 richteſte Fleiſch, und dennoch übertrifft er an Lebensdauer ſehr viele weit feſtere und härtere Thiere.

Die beliebte Methode der Abhär - tung alſo, welche darinn beſteht, daſs man durch beſtändiges Baden in kaltem Waſſer, durch einen faſt unbedeckten Körper in der ſtrengſten Luft, durch die ſtrapazanteſten Bewegungen, ſich feſt und unverwüſtlich zu machen ſucht, bewirkt nichts weiter, als daſs unſre Or - gane rigider, zäher und trockner, und alſo früher unbrauchbar werden, und daſs wir folglich, anſtatt unſer Leben zu verlängern, ein früheres Alter und eine frühere Deſtruction dadurch her - beyrufen.

Es liegt unſtreitig etwas Wahres bey dieſer Methode zum Grunde. Nur hat man darinn gefehlt, daſs man fal - ſche Begriffe damit verband, und ſie zu weit trieb. Nicht ſowohl Abhärtung der Faſern, ſondern Abhärtung des Ge -fühls289fühls iſts, was zur Verlängerung des Le - bens beytragen kann. Wenn man alſo die abhärtende Methode nur bis zu dem Grade braucht, daſs ſie zwar die Faſer feſt, aber nicht hart und ſteif macht, daſs ſie die zu groſse Reizbarkeit, eine Haupturſache der zu ſchnellen Aufrei - bung, abſtumpft und aufhebt, und da - durch zugleich den Körper weniger em - pfänglich für zerſtöhrende Wirkungen von auſſen macht; alsdenn kann ſie allerdings zur Verlängerung des Lebens behülflich ſeyn.

Vorzüglich aber hat die dritte Idee: Retardation der Lebensconſumtion, einen groſsen Reiz, und iſt beſonders von de - nen, die von Natur ſchon einen groſsen Hang zum Phlegma und zur Gemäch - lichkeit haben, mit Freuden angenom - men, aber ſehr unrichtig angewendet worden. Das Aufreiben des Körpers durch Arbeit und Anſtrengung war ih - nen an ſich ſchon unangenehm, ſie freuen ſich alſo, es nun nicht blos be -T290ſchwerlich, ſondern auch ſchädlich zu finden, und im Nichtsthun das groſse Ge - heimniſs des langen Lebens zu haben, das alle Arcana Caglioſtros und St. Ger - mains aufwöge.

Ja, andere ſind noch weiter gegan - gen, und insbeſondere Maupertuis hat den Gedanken geäuſſert, ob es nicht möglich wäre, durch eine völlige Unter - brechung der Lebenswirkſamkeit, durch einen künſtlichen Scheintod, die Selbſt - conſumtion völlig zu verhindern, und das Leben durch ſolche Pauſen vielleicht Jahrhunderte lang zu verlängern. Er ſtüzt ſeinen Vorſchlag auf das Leben des Hühnchens im Ey, des Inſects in der Puppe, das durch Hülfe der Kälte und andrer Mittel, wodurch man das Thier länger in dieſem Todtenſchlaf erhält, wirklich verlängert werden kann. Auf dieſe Art brauchte es zur Verlänge - rung des Lebens weiter nichts, als die Kunſt, jemand halb zu tödten. Selbſt dem groſsen Franklin gefiel dieſe Idee. 291Er bekam Maderawein aus America ge - ſchickt, der in Virginien auf Bouteillen gezogen worden war, und fand darin einige todte Fliegen. Er legte ſie in die heiſse Juliusſonne, und es dauerte kaum drey Stunden, ſo erhielten dieſe Schein - todten ihr Leben wieder, was eine ſo lange Zeit unterbrochen geweſen war. Sie bekamen erſt einige krampfhafte Zuckungen, dann richteten ſie ſich auf die Beine, wiſchten ſich die Augen mit den Vorderfüſsen, puzten die Flügel mit den Hinterfüſsen, und fingen bald dar - auf an zu fliegen. Dieſer ſcharfſinnige Philoſoph wirft hierbey die Frage auf: Wenn durch eine ſolche gänzliche Un - terbrechung aller in - und äuſſerlichen Conſumtion ein ſolcher Stillſtand des Lebens und dabey doch Erhaltung des Lebensprinzips möglich iſt; ſollte nicht ein ähnlicher Prozeſs mit dem Menſchen vorzunehmen ſeyn? Und wenn dieſs wäre, ſezt er als ächter Patriot hinzu, ſo könnte ich mir keine gröſsre Freude den - ken, als mich auf dieſe Art, nebſt eini -T 2292gen guten Freunden, in Maderawein erſäufen zu laſſen, und nun nach 50 oder mehr Jahren durch die wohlthäti - gen Sonnenſtrahlen meines Vaterlandes wieder ins Leben gerufen zu werden, um nun zu ſehen, was für Früchte die Saat getragen, welche Veränderungen die Zeit vorgenommen hätte.

Aber dieſe Vorſchläge fallen in ihr Nichts zurück, ſobald wir auf das wahre Weſen und den Zweck des menſchlichen Lebens ſehen. Was heiſst denn Le - ben des Menſchen? Wahrlich nicht blos Eſſen, Trinken und Schlafen. Sonſt käme es ſo ziemlich mit dem Leben des Schweins überein, dem Cicero keinen andern Namen zu geben wuſste, als ein Verhütungsmittel der Fäulniſs. Das Leben des Menſchen hat eine höhere Be - ſtimmung: er ſoll wirken, handeln, ge - nieſsen, er ſoll nicht blos da ſeyn, ſon - dern ſein Leben ſoll die in ihm liegen - den göttlichen Keime entwickeln, ſie vervollkommnen, ſein und andrer Glück293 bauen. Er ſoll nicht blos eine Lücke in der Schöpfung ausfüllen, nein, er ſoll der Herr, der Beherrſcher, der Beglü - cker der Schöpfung ſeyn. Kann man alſo wohl von einem Menſchen ſagen: er lebt; wenn er ſein Leben durch Schlaf, lange Weile oder gar einen ſcheinbaren Tod verlängert? Aber was noch mehr iſt, wir finden auch hier wieder einen neuen Beweis, wie unzer - trennlich der moraliſche Zweck des Menſchen mit ſeiner phyſiſchen Beſtim - mung und Einrichtung verwebt iſt, und wie die Beförderung des einen immer auch die des andern nach ſich zieht. Ein ſolches unmenſchliches Leben (wie mans mit Recht nennen kann), würde geradezu, nicht Verlängerung ſondern Verkürzung des menſchlichen Lebens herbeyführen, und zwar auf doppelte Art:

1. Die menſchliche Maſchine iſt aus ſo zarten und feinen Organen zuſam - mengeſezt, daſs ſie äuſſerſt leicht durch294 Unthätigkeit und Stilleſtand unbrauch - bar werden können. Nur Uebung und Thätigkeit iſts, was ſie brauchbar und dauerhaft erhält. Ruhe und Nichtge - brauch iſt ihr tödlichſtes Gift.

2. Wir haben geſehen, daſs nicht blos Verminderung der Conſumtion, ſondern auch gehörige Beförderung der Reſtauration, zur Erhaltung und Verlän - gerung des Lebens nöthig iſt. Dazu ge - hört aber zweyerley: einmal, voll - kommne Aſſimilation des Nüzlichen, und zweytens, Abſonderung des Schäd - lichen. Das leztere kann nie Statt haben, ohne hinlängliche Thätigkeit und Bewe - gung. Was wird alſo die Folge einer ſolchen Lebensverlängerung durch Ruhe und Unthätigkeit ſeyn? Der Menſch conſumirt ſich wenig oder nicht, und dennoch reſtaurirt er ſich. Es muſs alſo endlich eine ſehr nachtheilige Ueberfül - lung entſtehen, weil er immer einnimmt, und nicht verhältniſsmäſsig ausgiebt. Und dann, was das Schlimmſte iſt, es295 muſs endlich eine groſse Corruption mit ihren Folgen, Schärfen, Krankheiten etc. überhand nehmen; denn die Abſonde - rung des Schädlichen fehlt. Ganz natür - lich muſs nun ein ſolcher Körper früher deſtruirt werden, wie auch die Erfarung lehrt.

3. Was endlich die Lebensverlänge - rung durch wirkliche Unterbrechung der Lebenswirkſamkeit, durch einen temporehen Scheintod betrifft; ſo beruft man ſich zwar dabey auf die Beyſpiele von Inſecten, Kröten und andern Thie - ren, die, wie wir oben geſehen haben, vielleicht 100 und mehr Jahre, alſo weit über ihre natürliche Exiſtenz durch ei - nen ſolchen Todtenſchlaf erhalten wor - den ſind.

Allein man bedenkt bey allen ſol - chen Vorſchlägen nicht, daſs alle jene Verſuche mit ſehr unvollkommnen Thie - ren gemacht wurden, bey welchen von ihrem natürlichen halben Leben bis zum296 wirklichen Stilleſtand, der Sprung weit geringer iſt, als beym Menſchen, der den höchſten Grad von Lebensvollkommen - heit beſizt, und beſonders überſieht man den wichtigen Unterſchied, den hier das Reſpirationsgeſchäfte macht. Alle dieſe Thiere haben das Bedürfniſs des Athem - holens von Natur ſchon weniger, ſie haben von Natur wenig Wärme zum Le - ben nöthig. Hingegen der Menſch braucht beſtändigen Zugang von Wärme und geiſtigen Kräften, genug von dem pabulum vitae, das in der Luft liegt, wenn ſein Leben fortdauern ſoll. Eine ſolche gänzliche Unterbrechung des Athemholens würde ſchon durch den völligen Verluſt der innern Wärme töd - lich werden. Selbſt der vollkommnere Seelenreiz iſt ſo mit der Organiſation des Menſchen verwebt, daſs ſein Ein - fluſs nicht ſo lange ganz aufhören kann, ohne Abſterbung und Deſtruction der dazu nöthigen feinern Organe nach ſich zu ziehen.

297

Andere haben die Verlängerung ih - res Lebens auf dem Wege geſucht, daſs ſie alle Krankheitsurſachen zu fliehen, oder gleich zu heben ſuchten. Alſo Er - kältung, Erhitzung, Speiſe, Getränke, u. ſ. w. Aber dieſe Methode hat das übele, daſs wir doch nicht im Stande ſind, alle abzuhalten, und daſs wir dann deſto empfindlicher gegen die werden, die uns treffen. Auch könnte die Ver - hinderung der Conſumtion von auſſen dahin gezogen werden. Wir finden nehmlich, daſs man in heiſſen Ländern, wo die warme Luft die Haut beſtändig offen, und die Verdunſtung unſrer Be - ſtandtheile weit anhaltender macht, ſich damit hilft, daſs man die Haut beſtändig mit Oel und Salben reibt, und dadurch den wäſſerichten flüchtigen Theilen wirklich die Wege der Verdunſtung ver - ſtopft. Man empfindet davon ein wah - res Gefühl der Stärkung, und es ſcheint in einem ſolchen Clima nothwendig zu ſeyn, um die zu ſchnelle Conſumtion, durch die äuſſerſt ſtarke Verdunſtung, zu298 hindern. Aber auch blos auf ein ſolches Clima wäre dieſs anwendbar. In un - ſerm Clima, wo die Luft ſelbſt gröſsten - theils die Dienſte eines ſolchen Haut - verſtopfenden Mittels vertritt, haben wir mehr dafür zu ſorgen, die Ausdün - ſtung zu befördern, als ſie noch mehr zu verhindern.

Noch muſs ich ein Wort von einem ganz neuen Experiment, das Leben zu verlängern, ſagen, das blos in Vermehrung des intenſiven Lebens beſteht. Man be - ſtimmt nehmlich dabey die Länge des Lebens nicht nach der Zahl der Tage, ſondern nach der Summe des Gebrauchs oder Genuſſes, und glaubt, daſs, wenn man in einer beſtimmten Zeit noch ein - mal ſo viel gethan oder genoſſen hätte, man auch noch einmal ſo lange gelebt habe, als ein andrer in der doppelten Zeit. So ſehr ich dieſe Methode an ſich reſpectire, wenn ſie in edler Wirkſam - keit beſteht, und die Folge eines regen Thatenreichen Geiſtes iſt, ſo ſehr ich299 überzeugt bin, daſs bey der Ungewiſs - heit unſers Lebens dieſe Idee ungemein viel einladendes hat; ſo muſs ich doch bekennen, daſs man dadurch ſeinen Zweck gewiſs nicht erreicht, und daſs ich die Rechnung für falſch halte. Da dieſe Meynung ſo viel Anhänger ge - funden hat, ſo wird mirs wohl erlaubt ſeyn, ſie etwas genauer zu analyſiren, und meine Gründe dagegen auseinander zu ſetzen.

Zu allen Operationen der Natur ge - hört nicht allein Energie, die intenſive Kraft, ſondern auch Extenſion, Zeit. Man gebe einer Frucht noch einmal ſo viel Wärme und Nahrung, als ſie im na - türlichen Zuſtand hat; ſie wird zwar in noch einmal ſo kurzer Zeit eine ſchein - bare Reifung erhalten, aber gewiſs nie den Grad von Vollendung und Ausarbei - tung, den die Frucht im natürlichen Zuſtand, bey halb ſo viel intenſiver Wirkſamkeit und noch einmal ſo viel Zeit erlangt hätte.

300

Eben ſo das menſchliche Leben. Wir müſſen es als ein zuſammenhängen - des Ganzes mehrerer Wirkungen, als ei - nen groſsen Reifungsprozeſs anſehen, deſſen Zweck möglichſte Entwicklung und Vollendung der menſchlichen Natur an ſich und völlige Ausfüllung ſeines Standpuncts im Ganzen iſt. Nun iſt aber Reifung und Vollendung nur das Product von Zeit und Erfarung, und es iſt alſo unmöglich, daſs ein Menſch, der nur 30 Jahr gelebt hat, geſezt er habe auch in der Zeit doppelt ſo viel gearbei - tet und gethan, eben die Reifung und Vollendung erhalten könne, als ein Zeit - raum von 60 Jahren giebt. Ferner, vielleicht war er beſtimmt, 2 bis 3 Ge - nerationen hindurch ſein Leben nüzlich zu ſeyn; ſein zu groſser Eifer rafft ihn ſchon in der erſten weg. Er erfüllt alſo, weder in Abſicht auf ſich ſelbſt, noch auf andere, die Beſtimmung und den Zweck ſeines Lebens vollkommen, un - terbricht den Lauf ſeiner Tage, und bleibt immer ein feiner Selbſtmörder.

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Noch ſchlimmer aber ſiehts mit de - nen aus, die ihre Lebensverlängerung in Concentrirung der Genüſſe ſuchen. Sie kommen weit früher dahin, ſich auf - zureiben, und was das ſchlimmſte iſt, ſie werden oft dadurch geſtraft, daſs ſie nun ein blos extenſives Leben ohne alle Intenſion führen müſſen, d. h. ſie müſ - ſen ſich ſelbſt, ſich und andern zur Laſt, überleben, oder vielmehr ſie exiſtiren länger, als ſie leben.

Die wahre Kunſt, menſchliches Le - ben zu verlängern, beſteht alſo darinn, daſs man obige vier Grundſätze (oder, nach der Sprache der Aerzte, Indicatio - nen) gehörig verbinde und anwende, ſo aber, daſs keinem auf Koſten des andern ein Genüge geſchehe, und daſs man nie vergeſſe, daſs vom menſchlichen Leben die Rede iſt, welches nicht blos im Exi - ſtiren, ſondern auch im Handeln und Genieſsen und Erfüllung ſeiner Beſtim - mung beſtehen muſs, wenn es den302 Nahmen: menſchliches Leben, verdie - nen ſoll.

Hier eine kurze Ueberſicht der gan - zen Methode:

Zuerſt muſs die Summe oder der Fonds der Lebenskraft ſelbſt gehörig gege - ben und genährt werden, aber doch nie bis zu dem Grade, daſs eine zu heftige Kraftäuſſerung daraus entſtünde, ſon - dern nur ſo viel, als nöthig iſt, um die innern und äuſſern Lebensgeſchäfte mit Leichtigkeit, gehöriger Stärke und Dauer zu verrichten, und um den Be - ſtandtheilen und Säften den Grad von organiſchem Character mitzutheilen, der ihnen zu ihrer Beſtimmung und zu Verhütung chemiſcher Verderbniſſe - thig iſt.

Dieſs geſchieht am ſicherſten:

1. Durch geſunde und kräftige Ge - neration.

303

2. Durch reine und geſunde Le - bensnahrung, oder Zugang von auſſen; alſo reine atmosphäriſche Luft, und reine, friſche, gut verdauliche Nah - rungsmittel und Getränke.

3. Durch einen geſunden und brauchbaren Zuſtand der Organe, durch welchen der Lebenszugang von auſſen uns eigen gemacht werden muſs, wenn er uns zu Gute kommen ſoll. Dieſe we - ſentlichen Lebensorgane ſind: Lunge, Magen, Haut, auf deren Geſunderhal - tung die Lebensnahrung zunächſt be - ruht.

4. Durch gleichförmige Verbrei - tung der Kraft im ganzen Körper; denn ohne dieſe iſt der Kraftvorrath unnütz, ja ſogar ſchädlich. Jeder Theil, jedes Eingeweyde, jeder Punct unſers Kör - pers, muſs den Antheil von Lebenskraft erhalten, der ihm zur gehörigen Voll - ziehung ſeiner Geſchäfte nöthig iſt. Be - kommt einer zu wenig, ſo entſteht304 Schwäche deſſelben; bekommt er zu viel, ſo ſind die Folgen zu heftigen Be - wegungen, Reizungen, Congeſtionen deſſelben, und immer iſt dann wenigſtens jene Harmonie aufgehoben, die der Grundpfeiler des geſunden Lebens iſt. Dieſe gleichförmige Vertheilung der Kraft wird bewirkt, vorzüglich durch gleichförmige Uebung und Gebrauch je - des Theils, jedes Organs unſers Körpers, durch körperliche Bewegung, ſchickli - che gymnaſtiſche Uebungen, laue Bäder und Reiben des Körpers.

Zweytens muſs den Organen, oder der Materie des Körpers ein gehöriger Grad von Feſtigkeit und Abhärtung gege - ben werden, aber nicht bis zum Grade der wirklichen Steifigkeit und Härte, die dem Leben mehr nachtheilig als beför - derlich ſeyn würde.

Dieſe Abhärtung, von der hier die Rede iſt, iſt zweyfach: Vermehrte Bin - dung und Cohäſion der Beſtandtheile,und305und alſo phyſiſche Feſtigkeit der Faſer, und dann Abhärtung des Gefühls gegen nachtheilige und krankmachende Ein - drücke.

Die gehörige Feſtigkeit und Cohä - ſionskraft der Faſer (daſſelbe, was die Aerzte Ton, Spannkraft nennen) wirkt auf folgende Art zur Verlängerung des Lebens:

Einmal, indem dadurch die Bin - dung unſrer Beſtandtheile vermehrt wird, können ſie durch den Lebenspro - zeſs ſelbſt nicht ſo ſchnell aufgerieben, zerſezt und getrennt werden, folglich geſchieht der Wechſel der Beſtandtheile nicht ſo rapide, ihr Erſatz braucht nicht ſo oft zu erfolgen, und das ganze inten - ſive Leben iſt langſamer, welches immer ein Gewinn für die Extenſion und Dauer deſſelben iſt. Zur beſſern Erläuterung will ich nur an das Leben des Kindes und des Mannes erinnern. Bey jenem iſt die phyſiſche Cohäſionskraft, die Fe -U306ſtigkeit der Faſer, weit geringer, die Bindung der Beſtandtheile alſo ſchwä - cher und lockrer, es reibt ſich daher weit ſchneller auf, der Wechſel ſeiner Beſtandtheile iſt weit rapider, es muſs weit öfter und weit mehr eſſen, weit öfter und mehr ſchlafen, um das Ver - lohrne zu erſetzen, der ganze Blutum - lauf geſchieht weit geſchwinder, genug, das intenſive Leben, die Selbſtconſum - tion iſt ſtärker, als bey dem Manne, der feſtere Faſern hat.

Ferner, indem dadurch die wahre Stärke der Organe erſt bewirkt wird. Lebenskraft allein giebt noch keine Stärke. Es muſs erſt ein gehöriger Grad der einfachen Cohäſionskraft ſich mit der Lebenskraft verbinden, wenn das entſtehen ſoll, was wir Stärke des Or - gans und ſo auch des Ganzen nennen. Auch dieſs erhellet am deutlichſten aus dem Vergleich des Kindes mit dem Man - ne. Das Kind iſt weit reicher an Le - benskraft, Reizfähigkeit, Bildungstrieb,307 Reproductionskraft, als der Mann, und dennoch hat dieſer lebensreiche Körper weniger Stärke, als der des Mannes, blos weil die Cohäſion der Faſern beym Kinde noch ſchwach und locker iſt.

Endlich, indem die zu groſse, kränk - liche oder unregelmäſsige Reizbarkeit, Empfindlichkeit und ganze Erregbarkeit der Faſer, durch eine gehörige Beymi - ſchung der Cohäſionskraft, regulirt, ge - mäſsigt und in gehörigen Schranken und Richtungen erhalten wird; wodurch alſo die zu ſtarke Reizung und Kraftcon - ſumtion beym Leben ſelbſt gemindert, folglich die Extenſion und Dauer des Lebens vermehrt, auch zugleich der Vor - theil erreicht wird, daſs äuſſere und nachtheilige Reize weniger ſchnell und heftig wirken.

Auch ſcheint durch eine ſtärkere Cohäſion ſelbſt die Capacität der Materie für Lebenskraft erhöht, wenigſtens eineU 2308feſtere Bindung der Lebenskraft mit der Materie bewirkt zu werden.

Die Mittel, wodurch dieſe ver - mehrte Feſtigkeit und Cohäſion der Fa - ſer bewirkt wird, ſind:

1. Uebung und Gebrauch der Mus - kelkraft und Faſer, ſowohl der willkühr - lichen, durch freywillige Muskularbe - wegung, als auch der unwillkührlichen, z. E. der des Magens und Darmkanals, durch angemeſsne Reize z. E. etwas feſte und harte Speiſen, der Blutgefäſse, durch etwas ſtimulirende Nahrungsmit - tel. Bey jeder Bewegung einer Faſer geſchieht Zuſammenziehung derſelben, d. h. die Beſtandtheile nähern ſich einan - der, und geſchieht dieſs öfter, ſo wird dadurch ihre Cohäſion oder Ton ſelbſt vermehrt. Nur muſs man ſich gar ſehr hüten, den Reiz nicht zu ſtark werden zu laſſen, weil er ſonſt die Conſumtion zu ſehr vermehren und dadurch ſchaden würde.

309

2. Der Genuſs gelatinöſer, binden - der, eiſenhaltiger Nahrungsmittel, wel - che dieſe Kraft vermehren, und die Ver - meidung zu vieler wäſsrigter Subſtanzen, die ſie mindern.

3. Mäſsige Beförderung der Aus - dünſtung, durch Reiben, Bewegung u. d. gl.

4. Kühle Temperatur der Luft und des ganzen Verhaltens. Ein Haupt - punct! Ohnerachtet Kälte kein poſitives Stärkungsmittel der Lebenskraft iſt, ſo vermehrt und ſtärkt ſie doch die todte Cohäſions - oder Spannkraft, und ver - meidet ſelbſt die zu ſtarke Aeuſſerung und Erſchöpfung der lebendigen Kraft, und kann auf ſolche Weiſe ein groſses negatives Stärkungsmittel der Lebens - kraft ſelbſt werden. Wärme hingegen ſchwächt, theils durch Erſchlaffung der Cohäſion, theils durch Erſchöpfung der Lebenskraft.

310

Doch wiederhole ich bey allen die - ſen Mitteln, Kälte, feſter ſubſtantieller Nahrung, Bewegung u. ſ. w. daſs man ſie nie zu weit treiben darf, damit nicht ſtatt der gehörigen Feſtigkeit eine zu groſse Steifigkeit und Rigidität der Faſer entſtehe.

Die Abhärtung des Gefühls gegen Krankheitsurſachen wird am beſten da - durch bewirkt, wenn man ſich an man - cherley ſolche Eindrücke und ſchnelle Abwechſelungen gewöhnt.

Das dritte iſt: Man vermindere oder mäſsige die Lebensconſumtion, damit keine zu ſchnelle Aufreibung der Kräfte und Or - gane erfolge.

Die ganze Lebensoperation (wie ſchon oben gezeigt worden) iſt Hand - lung, Aeuſſerung der Lebenskraft, und folglich unvermeidlich mit Conſumtion und Erſchöpfung dieſer Kraft verbun - den. Dieſs iſt nicht blos der Fall bey311 den willkührlichen, ſondern auch un - willkührlichen Verrichtungen, nicht blos bey den äuſſern, ſondern auch bey den innern Lebensgeſchäften, denn ſie werden auch durch beſtändigen Reiz und Reaction unterhalten. Beyde alſo dürfen nicht übermäſsig angeſtrengt werden, wenn wir unſre Conſumtion verzögern wollen.

Ich rechne dahin vorzüglich folgen - de Reizungen und Kraftäuſſerungen:

1. Anſtrengung des Herzens - und Blutſyſtems und zu anhaltende Beſchleu - nigung der Circulation, z. E. durch zu reizende hitzige Nahrungsmittel, Affe - cten, fieberhafte Krankheiten. Starke Wein - und Brantweintrinker, leiden - ſchaftliche Menſchen, haben beſtändig einen gereizten ſchnellen Puls, und er - halten ſich in einem beſtändigen künſt - lichen Fieber, wodurch ſie ſich eben ſo gut abzehren und aufreiben, als wenn es ein wirkliches Fieber wäre.

312

2. Zu ſtarke oder anhaltende An - ſtrengung der Denkkraft (was darunter zu verſtehen ſey, wird in der Folge deutlicher werden,) wodurch nicht al - lein Lebenskraft erſchöpft, ſondern ſie auch zugleich dem Magen und Verdau - ungsſyſtem entzogen, folglich auch zu - gleich das wichtigſte Reſtaurationsmittel verdorben wird.

3. Zu häufige und zu ſtarke Rei - zung und Befriedigung des Geſchlechts - triebs. Es wirkt faſt eben ſo und gleich - verderblich auf Beſchleunigung der Le - bensconſumtion, als die Anſtrengungen der Denkkraft.

4. Zu heftige und anhaltend fortge - ſezte Muskularbewegung. Doch gehört dazu ſchon äuſſerſter Exceſs, wenn ſie ſchaden ſoll.

5. Alle ſtarke, oder anhaltend dau - ernde Excretionen, z. E. Schweiſse, Diarrhöen, Katharrhe, Huſten, Blut -313 flüſſe u. d. gl. Sie erſchöpfen nicht nur die Kraft, ſondern auch die Materie, und deterioriren dieſelbe.

6. Alle zu heftig oder zu anhaltend auf uns wirkende Reize, wodurch im - mer auch Kraft erſchöpft wird. Je reiz - voller das Leben, deſto ſchneller ver - ſtrömt es. Dahin gehören zu ſtarke oder zu anhaltende Reizungen der Sin - neswerkzeuge und Gefühlsorgane, Af - fecten, Uebermaas in Wein, Brant - wein, Gewürzen, haut-gout. Selbſt öftre Ueberladungen des Magens gehö - ren hieher, um ſo mehr, da ſie gewöhn - lich auch noch die Nothwendigkeit er - regen, Abführungs - oder Brechmittel zu nehmen, welches auch als Schwä - chung nachtheilig iſt.

7. Krankheiten mit ſehr vermehr - ter Reizung, beſonders fieberhafte.

8. Wärme, wenn ſie zu ſtark und zu anhaltend auf uns wirkt; daher zu314 warmes Verhalten von Jugend auf eins der gröſsten Beſchleunigungsmittel der Conſumtion und Verkürzungsmittel des Lebens iſt.

9. Endlich gehört ſelbſt ein zu ho - her Grad von Reizfähigkeit (Irritabilität und Senſibilität) der Faſer unter dieſe Rubrik. Je gröſser dieſe iſt, deſto leich - ter kann jeder, auch der kleinſte, Reiz, eine heftige Reizung, Kraftäuſſerung und folglich Krafterſchöpfung erregen. Ein Menſch, der dieſe fehlerhafte Ei - genſchaft hat, empfindet eine Menge Eindrücke, die auf gewöhnliche Men - ſchen gar keine Wirkung haben, und wird von allen, auch den gewöhnlich - ſten, Lebensreizen, doppelt afficirt; ſein Leben iſt alſo intenſiv unendlich ſtärker, aber die Lebensconſumtion muſs auch doppelt ſo ſchnell geſchehen. Alles folglich, was die Reizfähigkeit ſowohl moraliſch als phyſiſch zu ſehr erhöhen kann, gehört zu den Beſchleunigungs - mitteln der Conſumtion.

315

Viertens, die Reſtauration der ver - lohrnen Kräfte und Materien muſs leicht und gut geſchehen.

Dazu gehört:

1. Geſundheit, Gangbarkeit und Thätigkeit der Organe, durch welche die neuen reſtaurirenden Theile in uns ein - gehen ſollen; ſie iſt zum Theil unauf - hörlich und permanent, wie durch die Lungen, zum Theil periodiſch, wie durch den Magen. Es gehören hieher, die Lungen, die Haut, und der Magen und Darmkanal. Dieſe Organe müſſen durchaus geſund, gangbar und thätig ſeyn, wenn eine gute Reſtauration ge - ſchehen ſoll, und ſind daher für Ver - längerung des Lebens höchſt wichtig.

2. Geſundheit, Thätigkeit und Gangbarkeit der unzähligen Gefäſse, durch welche die in uns aufgenommenen Beſtandtheile uns aſſimilirt, verähnlicht, vervollkommnet und veredlet werden316 müſſen. Dieſs iſt zuerſt und vorzüglich das Geſchäft des abſorbirenden (lympha - tiſchen) Syſtems, und ſeiner unzähligen Drüſen, und denn auch des Blut - oder Circulationsſyſtems, wo die organiſche Veredlung vollendet wird. Ich halte daher das abſorbirende Syſtem für eins der Hauptorgane der Reſtauration. Hierauf muſs vorzüglich in der Kindheit geſehen werden, denn die erſte Nah - rung in der zarteſten Kindheit, die Be - handlung in dem erſten Jahre des Le - bens, beſtimmen am meiſten den Zuſtand dieſes Syſtems, und gar häufig wird die - ſer gleich im Anfange durch unkräftige, verdorbene, kleiſterige Nahrung und Unreinlichkeit verdorben, und dadurch eine der weſentlichſten Grundlagen des kürzern Lebens gelegt.

3. Geſunder Zuſtand der Nahrungs - mittel und Materien, aus denen wir uns reſtauriren. Speiſen und Getränke müſ - ſen rein (frey von verdorbenen Theilen), mit gehörigem Nahrungsprinzip verſe -317 hen, gehörig reizend, (denn auch ihr Reiz iſt zur gehörigen Verdauung und ganzen Lebensoperation nöthig), aber auch mit einem gehörigen Antheil von Waſſer oder Flüſſigen verbunden ſeyn. Dieſs leztre iſt beſonders ein wichtiger und oft überſehener Umſtand. Waſſer, wenn es auch nicht ſelbſt Nahrung iſt, (obgleich auch dieſs durch das Beyſpiel von Fiſchen, Würmern u. ſ. w., die man lange Zeit durch bloſses Waſſer nährte, ſehr wahrſcheinlich wird), iſt wenig - ſtens zum Geſchäft der Reſtauration und Ernährung unentbehrlich, einmal, weil es das Vehikel für die eigentliche Nah - rungsſtoffe ſeyn muſs, wenn ſie aus dem Darmkanal in alle Puncte des Körpers gehörig vertheilt werden ſollen, und dann, weil eben dieſes Vehikel auch zur gehörigen Abſonderung und Ausleerung des Verdorbenen, folglich zur Reini - gung des Körpers, ganz unentbehr - lich iſt.

318

4. Geſunder und ſchicklicher Zu - ſtand der Luft, in der und von der wir leben. Die Luft iſt unſer eigentliches Element, und auf doppelte Art ein höchſtwichtiges Reſtaurationsmittel des Lebens: erſtens, indem ſie uns unauf - hörlich zwey der geiſtigſten und unent - behrlichſten Lebensbeſtandtheile (Sauer - ſtoff und Wärmeſtoff) mittheilt, und dann, indem ſie das wichtigſte Vehikel iſt, uns die verdorbenen Beſtandtheile zu entziehen und in ſich aufzunehmen. Sie iſt das vorzüglichſte Medium für die - ſen beſtändigen Umtauſch der feinern Beſtandtheile. Der bey weitem beträcht - lichſte und wichtigſte Theil unſrer Ab - ſonderungen und Ausleerungen iſt gas - förmig d. h. die Materie muſs in Dunſt verwandelt werden, um ausgeſtoſſen zu werden. Dahin gehören alle Abſonde - rungen unſrer äuſſern Oberfläche, der Haut und der Lungen. Dieſe Verdün - ſtung hängt nun nicht blos von der Kraft und Gangbarkeit der aushauchenden Ge - fäſse, ſondern auch von der Beſchaffen -319 heit der Luft ab, die ſie aufnimmt. Je mehr dieſe ſchon mit Beſtandtheilen überladen iſt, deſto weniger kann ſie neue Stoffe aufnehmen, (daher hemmt feuchte Luft die Ausdünſtung). Hier - aus ergiebt ſich folgende Beſtimmung: Die Luft, in der wir leben, muſs einen hinlänglichen Antheil Sauerſtoffgas (Le - bensluft) enthalten, doch nicht zu viel, weil ſie ſonſt zu ſtark reizen und die Le - bensconſumtion beſchleunigen würde, und ſie muſs ſo wenig wie möglich fremde Beſtandtheile in ſich aufgelöſet enthalten, alſo nicht feucht, nicht durch erdigte, vegetabiliſche oder animaliſche Stoffe verunreinigt ſeyn;*)Man ſieht, wie ſehr man, bey Beſtimmung der Verdorbenheit der Luft, unreine und ſaturirts Luft unterſcheiden ſollte, was gewöhnlich nicht geſchieht. Die Verdorbenheit der Luft kann entweder in einem zu geringen Antheil Sauer - ſtoffgas, alſo in der chemiſchen Miſchung liegen, und dieſe könnte man unreine Luft nennen (im Gegenſatz der reinen. Lebensluft), oder ſie kann ihre Tem - peratur darf nicht zu warm und nicht320 zu kalt ſeyn, (denn erſteres erſchöpft die Kraft und erſchlafft, leztres macht die Faſer zu ſteif und rigide), und ſie muſs weder in der Temperatur, noch in der Miſchung, noch in dem Druck, zu ſchnellen Abwechſelungen unterworfen ſeyn, denn es iſt eins der durch Erfa - rung am meiſten beſtätigten Geſetze, daſs Gleichförmigkeit der Luft und des Clima die Länge des Lebens ungemein begünſtigt.

5. Freye Wege und wirkſame Orga - ne für die Abſonderungen und Auslee - rungen der verdorbenen Beſtandtheile. Unſer Leben beſteht im beſtändigen Wechſel der Beſtandtheile. Werden die abgenuzten und unbrauchbaren nicht immer abgeſondert und ausgeſtoſsen, ſo iſt es unmöglich, daſs wir die neuen und friſchen in der gehörigen Mengeuns*)durch fremde in ihr aufgenommene Beſtandtheile verdorben ſeyn, und dieſs könnte ſaturirte Luſt heiſſen.321uns zueignen, und, was noch übler iſt, der neue Erſatz verliert durch die Bey - miſchung der zurückgehaltenen und verdorbenen ſeine Reinheit, und erhält ſelbſt wieder den Character der Verdor - benheit. (Daher die ſogenannte Schärfe, Verſchleimung, Unreinigkeit, Verderb - niſs der Säfte, oder vielmehr der ganzen Materie). Die Reſtauration wird alſo durch ſchlechte Abſonderungen auf dop - pelte Art gehindert, theils in der Quan - tität, theils in der Qualität. Die Or - gane, auf denen dieſe Abſonderung und Reinigung des Körpers hauptſächlich beruht, ſind: die Haut, das wichtigſte (denn man hat berechnet, daſs zwey Drittheil der abgenuzten Beſtandtheile durch die unmerkliche Hautausdünſtung verfliegen), die Nieren, der Darmkanal, die Lungen.

6. Angenehme und mäſsig genoſsne Sinnesreize. Es gehört, wie oben ge - zeigt, zu den Vorzügen der menſchli - chen Organiſation und ſeiner höhernX322auch phyſiſchen Vollkommenheit, daſs er für geiſtigere Eindrücke und deren Veredlung empfänglich iſt, und daſs dieſe einen ungleich gröſsern Einfluſs auf den phyſiſchen Lebenszuſtand ha - ben, als bey den Thieren. Es eröfnet ſich ihm dadurch eine neue Reſtaura - tionsquelle, die dem Thiere fehlt, die Genüſſe und Reize angenehmer und nicht zu weit getriebner Sinnlichkeit.

7. Angenehme Seelenſtimmung, fro - he und mäſsige Affecten, neue, unter - haltende, groſse Ideen, ihre Schöpfung, Darſtellung und ihr Umtauſch. Auch die - ſe höhern, dem Menſchen ausſchlieſslich eignen, Freuden, gehören zur obigen Rubrik der Lebensverlängerungsmittel. Hofnung, Liebe, Freude, ſind daher ſo beglückende Affecten, und kein ge - wiſſeres und allgemeineres Erhaltungs - mittel des Lebens und der Geſundheit giebt es wohl, als Heiterkeit, Frohſinn des Gemüths. Dieſe Seelenſtimmung erhält die Lebenskraft in gehöriger323 gleichförmiger Regbarkeit, befördert Digeſtion und Circulation, und vorzüg - lich das Geſchäft der unmerklichen Haut - ausdünſtung wird durch nichts ſo ſchön unterhalten. Glücklich ſind da - her die Menſchen auch phyſiſch, denen der Himmel das Talent einer immer zu - friedenen und heitern Seele verliehen hat, oder die ſich durch Geiſteskultur und moraliſche Bildung dieſelbe ver - ſchafft haben! Sie haben den ſchönſten und reinſten Lebensbalſam in ſich ſelbſt!

Dieſe vorgetragenen Sätze enthalten den allgemeinen Plan und die Grundre - geln einer jeden vernünftigen Lebens - verlängerung. Doch gilt auch hiervon, was von jeder diätetiſchen und medizi - niſchen Regel gilt, daſs ſie bey der An - wendung ſelbſt Rückſicht auf den ſpe - ciellen Fall verlangen, und dadurch ihre genauere Beſtimmung und Modification erhalten müſſen.

X 2324

Vorzüglich ſinds folgende Umſtän - de, die bey der Anwendung in Betracht zu ziehen ſind.

Die verſchiedne Conſtitution des Sub - jects in Abſicht auf die einfachen Be - ſtandtheile und Faſern. Je trockner, feſter und rigider von Natur der körper - liche Zuſtand iſt, deſto weniger brau - chen die Mittel der zweyten Indication (einer ſchicklichen Abhärtung) angewen - det zu werden; je mehr von Natur Schlaffheit das Eigenthum der Faſer iſt, deſto mehr.

Ferner, das verſchiedene angebor - ne Temperament (worunter ich immer den verſchiedenen Grad der Reizfähig - keit und ihr Verhältniſs zur Seelenkraft verſtehe). Je mehr das Subject zum phlegmatiſchen Temperament gehört, de - ſto mehr, deſto ſtärkere Reize ſind an - wendbar. Ein Grad von Reizung, der bey einem ſanguiniſchen Aufreibung und Erſchöpfung bewirken würde, iſt hier325 wohlthätig, nothwendig zum gehörigen Grade der Lebensoperation, ein Mittel der Reſtauration. Eben ſo das melan - choliſche Temperament: es verlangt auch mehr Reiz, aber angenehmern, abwech - ſelndern und nicht zu heftigen. Je mehr aber das ſanguiniſche Temperament herrſcht, deſto vorſichtiger und mäſsi - ger müſſen alle, ſowohl phyſiſche als moraliſche, Reize angewendet werden, und noch mehr erfodert das choleriſche Temperament hierinne Aufmerkſamkeit, wo oft ſchon der kleinſte Reiz die hef - tigſte Kraftanſtrengung und Erſchöpfung hervorbringen kann.

Ferner die Perioden des Lebens. Das Kind, der junge Menſch hat ungleich mehr Lebenskraft, Reizfähigkeit, locke - rere Bindung, ſchnellern Wechſel der Beſtandtheile. Hier muſs weit weniger Reiz gegeben werden, weil ſchon ein geringer Reiz ſtarke Reaction erregt; hier iſt verhältniſsmäſsig mehr auf Re - ſtauration und Abhärtung zu ſehen. Im Alter hingegen iſt alles, was Reiz heiſst,326 im ſtärkern Grade anwendbar. Hier iſt das Reſtauration, was in der Kindheit Conſumtion geweſen ſeyn würde. Milch iſt Wein für Kinder; Wein iſt Milch für Alte. Auch erfodert das Alter, wegen der damit verbundenen gröſsern Rigidität, nicht Vermehrung derſelben, durch die zweyte Indication, ſondern eher Verminderung durch erweichen - de, anfeuchtende Dinge: Fleiſchbrü - hen, kräftige Suppen, laue Bäder.

Endlich macht auch das Clima eini - gen Unterſchied. Je ſüdlicher es iſt, deſto gröſser iſt die Reizfähigkeit, deſto ſtärker die beſtändige Reizung, deſto rapider der Lebensſtrom, und deſto kürzer die Dauer. Hier iſt folglich gar ſehr darauf zu ſehen, daſs durch zu ſtar - ke Reize dieſe Krafterſchöpfung nicht noch mehr beſchleunigt werde. Im nördlichen Clima hingegen, wo die küh - lere Temperatur an ſich ſchon die Kraft mehr concentrirt und zuſammenhält, iſt dieſs weniger zu fürchten.

[327]

II. Practiſcher Theil.

[328][329]

Ich komme nun zu dem wichtigſten Theil der Abhandlung, der practiſchen Kunſt, das Leben zu verlängern. Nun erſt kann ich Ihnen mit Grund und mit Ueberzeugung diejenigen Mittel bekannt machen, wodurch allein, aber auch ge - wiſs, Verlängerung des Lebens möglich iſt. Sind ſie gleich nicht ſo ſpeciös, prahleriſch und geheimniſsvoll, als die gewöhnlich ſo genannten, ſo haben ſie doch den Vorzug, daſs ſie überall und ohne Koſten zu haben ſind, ja zum Theil ſchon in uns ſelbſt liegen, daſs ſie mit Vernunft und Erfarung vollkom - men übereinſtimmen, und nicht blos Länge, ſondern auch Brauchbarkeit des330 Lebens erhalten. Genug, ſie verdienen, nach meiner Meynung, den Nahmen Univerſalmittel mehr, als alle jene Char - latanerieen.

Wir ſind beſtändig von Freunden und Feinden des Lebens umgeben. Wer es mit den Freunden des Lebens hält, wird alt; wer hingegen die Feinde vor - zieht, verkürzt ſein Leben. Nun wäre zwar wohl von jedem vernünftigen Menſchen zu erwarten, daſs er die er - ſtern vorziehen und die leztern von ſich ſelbſt ſchon vermeiden würde, aber das ſchlimmſte iſt, daſs dieſe Lebensfeinde nicht alle öffentlich und bekannt ſind, ſondern zum Theil ganz ins Geheim und unmerklich ihr Weſen treiben, daſs ei - nige derſelben ſogar die Maske der be - ſten Lebensfreunde vornehmen und ſchwehr zu erkennen ſind, ja daſs meh - rere ſogar in uns ſelbſt liegen.

Das Hauptſächliche der Kunſt, lange zu leben, wird alſo vor allen Dingen331 darinne beſtehen, daſs wir Freunde und Feinde in dieſer Abſicht gehörig unter - ſcheiden und leztere vermeiden lernen; oder mit andern Worten, die Kunſt der Lebensverlängerung zerfällt in 2 Theile:

  • 1. Vermeidung der Feinde und Ver - kürzungsmittel des Lebens.
  • 2. Kenntniſs und Gebrauch der Ver - längerungsmittel.
332

I. Abſchnitt. Verkürzungsmittel des Lebens.

Nach den obenbeſtimmten und einzi - gen Prinzipien, worauf Lebensdauer beruht, wird es uns nicht ſchwer ſeyn, hier im Allgemeinen zu beſtimmen, auf wie vielerley Art das Leben verkürzt werden kann.

333

Alles das muſs es nehmlich verkür - zen, was

  • 1. Entweder die Summe der Lebens - kraft an ſich vermindert.
  • 2. Oder was den Organen des Le - bens ihre Dauer und Brauchbarkeit nimmt.
  • 3. Oder was die Lebensconſumtion unſrer ſelbſt beſchleunigt.
  • 4. Oder was die Reſtauration hindert.

Alle Lebensverkürzenden Mittel laſ - ſen ſich unter dieſe vier Klaſſen bringen, und wir haben nun auch einen Maasſtab, ihren mehr oder weniger nachtheiligen Einfluſs zu beurtheilen und zu ſchätzen. Je mehr nehmlich von dieſen vier Ei - genſchaften ſich in einer Sache vereini - gen, deſto gefährlicher und feindſeliger iſt ſie für unſre Lebensdauer, je weni - ger, deſto weniger iſt ſie gefährlich. 334 Ja, es giebt gemiſchte Weſen, welche gleichſam zwey Seiten, eine freund - ſchaftliche und eine feindliche, haben, die z. B. eine von den genannten Eigen - ſchaften beſitzen, aber zugleich über - wiegend gute und wohlthätige. Dieſe könnten eine eigne Claſſe formieren. Aber, wir wollen ſie hier, nach ihrer überwiegenden Qualität, entweder zu den freundſchaftlichen oder den feind - ſeligen Weſen rechnen.

Noch ein wichtiger Unterſchied exiſtirt unter den Lebensverkürzungs - mitteln. Einige wirken langſam, ſuc - ceſſive, oft ſehr unvermerkt. Andere hingegen gewaltſam und ſchnell, und man könnte ſie eher Unterbrechungsmittel des Lebens nennen. Dahin gehören ge - wiſſe Krankheiten, und die eigentlich ſo genannten gewaltſamen Todesarten. Gewöhnlich fürchtet man die leztern weit mehr, weil ſie mehr in die Augen fallend und ſchreckhafter wirken; aber ich verſichere, daſs ſie im Grunde weit335 weniger gefährlich ſind, als jene ſchlei - chenden Feinde, denn ſie ſind ſo offen - bar, daſs man ſich weit eher vor ihnen in Acht nehmen kann, als vor den lez - tern, welche ihr deſtruirendes Geſchäft im Verborgenen treiben, und uns alle Tage etwas von unſerm Leben ſtehlen, wovon wir gar nichts merken, aber deſ - ſen Summe ſich am Ende ſchrecklich hoch belaufen kann.

Auch muſs ich hier im voraus die traurige Bemerkung machen, daſs ſich leider unſre Lebensfeinde in neuern Zei - ten fürchterlich vermehrt haben, und daſs der Grad von Luxus, Cultur, Ver - feinerung und Unnatur, worinne wir jezt leben, der unſer intenſives Leben ſo beträchtlich exaltirt, auch die Dauer dellelben in eben dem Verhältniſs ver - kürzt. Wir werden bey genauer Un - terſuchung finden, daſs man es gleich - ſam darauf angelegt und raſſinirt zu haben ſcheint, ſich gegenſeitig, heim - lich und unvermerkt, und oft auf die336 artigſte Weiſe von der Welt, das Leben zu nehmen. Es gehört eben deswe - gen jezt ungleich mehr Vorſicht und Aufmerkſamkeit dazu, ſich dafür in Si - cherheit zu ſtellen.

I. Die337

I.

Die ſchwächliche Erziehung.

Kein gewiſſeres Mittel giebts, den Le - bensfaden eines Geſchöpfs gleich vom Anfang an recht kurz und vergänglich anzulegen, als wenn man ihm in den erſten Lebensjahren, die noch als eine fortdauernde Generation und Entwick - lung anzuſehen ſind, eine recht warme, zärtliche und weichliche Erziehung giebt, d. h. es vor jedem rauhen Lüft - chen bewahrt, es wenigſtens ein Jahr lang in Federn und Wärmflaſchen be - gräbt, und einem Küchlein gleich, in ei - nem wahren Brütezuſtand erhält, auchY338dabey nichts verſäumt, es übermäſsig mit Nahrungsmitteln auszuſtopfen und durch Kaffee, Chocolade, Wein, Ge - würze und ähnliche Dinge, die für ein Kind nichts anders als Gift ſind, über - mäſsig zu reizen, ſeine ganze Lebens - thätigkeit zu ſtark zu reizen. Dadurch wird nun die innere Conſumtion gleich von Anfang an ſo beſchleunigt, das in - tenſive Leben ſo frühzeitig exaltirt, die Organe ſo ſchwach, zart und empfind - lich gemacht, daſs man mit voller Ge - wiſsheit behaupten kann: durch eine zweyjährige Behandlung von dieſer Art kann eine angeborne Lebensfähigkeit von 60 Jahren, recht gut auf die Hälfte, ja, wie die Erfarung leider zur Gnüge zeigt, auf noch viel weniger herunter gebracht werden, die übeln Zufälle und Krankheiten nicht gerechnet, die noch auſſerdem dadurch hervorgebracht wer - den. Durch nichts wird die zu frühe Entwicklung unſrer Organe und Kräfte ſo ſehr beſchleunigt, als durch eine ſol - che Treibhauserziehung, und wir haben339 oben geſehen, welches genaue Verhält - niſs zwiſchen der ſchnellern oder lang - ſamern Entwicklung und der längern oder kürzern Dauer des ganzen Lebens exiſtirt. Schnelle Reifung zieht immer auch ſchnelle Deſtruction nach ſich. *)Eins der merkwürdigſten Beyſpiele von Ueberei - lung der Natur war König Ludwig II. von Un - garn. Er ward zu frühzeitig geboren, ſo, daſs er noch gar keine Haut hatte, im 2ten Jahre wurde er gekrönt, im 10ten ſuccedirte er, im 14ten hatte er ſchon vollkommnen Bart, im 15ten vermählte er ſich, im 18ten hatte er graue Haare, und im 20ten blieb er bey Mohack.Gewiſs hierinn liegt ein Hauptgrund der ſo entſezlichen Sterblichkeit der Kinder. Aber die Menſchen fallen nie auf die ihnen am nächſten liegenden Urſachen, und nehmen lieber die allerungereimte - ſten an, um ſich nur dabey zu beruhigen und nichts zu thun zu haben.

Y 2340

II.

Ausſchweifungen in der Liebe Ver - ſchwendung der Zeugungskraft Ona - nie, ſowohl phyſiſche als moraliſche.

Von allen Lebensverkürzungsmitteln kenne ich keins, was ſo zerſtöhrend wirkte, und ſo vollkommen alle Eigen - ſchaften der Lebensverkürzung in ſich vereinigte, als dieſes. Kein andres be - greift ſo vollkommen alle vier Requiſi - ten der Lebensverkürzung, die wir oben feſtgeſezt haben, in ſich als dieſes, und man kann dieſe traurige Ausſchweifung, als den concentrirteſten Prozeſs der Le -341 bensverkürzung betrachten. Ich will dieſs ſogleich beweiſen:

Die erſte Verkürzungsart war: Ver - minderung der Lebenskraft ſelbſt. Was kann aber wohl mehr die Summe der Lebenskraft in uns vermindern, als die Verſchwendung desjenigen Saftes, der dieſelbe in der concentrirteſten Geſtalt enthält, der den erſten Lebensfunken für ein neues Geſchöpf, und den gröſs - ten Balſam für unſer eignes Blut in ſich faſst?

Die zweyte Art von Verkürzung be - ſteht in Verminderung der nöthigen Fe - ſtigkeit und Elaſticität der Faſern und Organe. Es iſt bekannt, daſs nichts ſo ſehr ſie ſchlaff, mürbe und vergänglich machen kann, als eben dieſe Ausſchwei - fung.

Das dritte, die ſchnellere Conſum - tion des Lebens, kann wohl durch nichts ſo ſehr befördert werden, als durch eine342 Handlung, welche, wie wir aus den Beyſpielen der ganzen Natur ſehen, der höchſte Grad von Lebensactivität, von intenſivem Leben iſt, und welche, wie oben gezeigt worden, bey manchen Ge - ſchöpfen ſogleich der Beſchluſs ihres ganzen Lebens iſt.

Und endlich die gehörige Reſtaura - tion wird eben dadurch auſſerordentlich gehindert, weil theils dadurch die - thige Ruhe, und das Gleichgewicht, das zur Wiedererſetzung des Verlohrnen ge - hört, gehindert, und den Organen die dazu nöthige Kraft geraubt wird; beſon - ders aber, weil dieſe Debauchen eine ganz eigenthümliche ſchwächende Wir - kung auf den Magen und die Lungen haben, und alſo eben die Hauptquellen unſrer Reſtauration dadurch ganz ſpezi - fiſch austrocknen.

Hierzu kommt nun noch die Gefahr, eins der ſchrecklichſten Gifte, das vene - riſche, bey dieſer Gelegenheit einzuſau -343 gen, wovor niemand ſicher iſt, der auſ - ſer der Ehe Umgang mit dem weiblichen Geſchlecht hat. Eine Vergiftung, die uns nicht nur das Leben verkürzen, ſon - dern es auch peinlich, unglücklich und verabſcheuungswerth machen kann, wo - von ich hernach bey den Giften mehr ſagen werde.

Endlich müſſen wir noch viele Ne - bennachtheile bedenken, die mit dieſen Ausſchweifungen verbunden ſind, und unter welche vorzüglich die Schwächung der Denkkraft gehört. Es ſcheint, daſs dieſe beyden Organe, die Seelenorgane (Gehirn) und Zeugungsorgane, ſo wie die beyden Verrichtungen, des Denkens und der Zeugung (das eine iſt geiſtige, das andre phyſiſche Schöpfung) ſehr ge - nau mit einander verbunden ſind, und beyde den veredeltſten und ſublimirte - ſten Theil der Lebenskraft verbrauchen. Wir finden daher, daſs beyde mit einan - der alterniren, und einander gegenſeitig ableiten. Je mehr wir die Denkkraft an -344 ſtrengen, deſto weniger lebt unſre Zeu - gungskraft; je mehr wir die Zeugungs - kräfte reizen und ihre Säfte verſchwen - den, deſto mehr verliert die Seele an Denkkraft, Energie, Scharfſinn, Ge - dächtniſs. Nichts in der Welt kann ſo ſehr und ſo unwiderbringlich die ſchön - ſten Geiſtesgaben abſtümpfen, als dieſe Ausſchweifung.

Man kann hier vielleicht fragen: was heiſst zu viel in dem Genuſs der phyſiſchen Liebe? Ich antworte, wenn man ſie zu frühzeitig (ehe man noch ſelbſt völlig ausgebildet iſt, beym weib - lichen vor dem 18ten, beym männli - chen vor dem 20ſten Jahre) genieſst, wenn man dieſen Genuſs zu oft und zu ſtark wiederhohlet (welches man daraus erkennen kann, wenn nachher Müdig - keit, Verdroſſenheit, ſchlechter Appe - tit, erfolgt), wenn man durch öftern Wechſel der Gegenſtände, oder gar durch künſtliche Reize von Gewürzen, hitzigen Getränken u. d. gl. immer neue345 Reizung erregt und die Kräfte über - ſpannt, wenn man nach ſtarken Ermü - dungen des Körpers, oder in der Ver - dauung dieſe Kraftanſtrengung macht, und um alles mit einem Worte zu um - faſſen, wenn man die phyſiſche Liebe auſſer der Ehe genieſst, denn nur durch eheliche Verbindung (die den Reiz des Wechſels ausſchlieſst und den phyſi - ſchen Trieb höhern moraliſchen Zwe - cken unterwirft) kann dieſer Trieb auch phyſiſch geheiligt, d. h. unſchädlich und heilſam gemacht werden.

Alles oben geſagte gilt von der Ona - nie in einem ganz vorzüglichen Grade, Denn hier vermehrt das Erzwungene, das Unnatürliche des Laſters, die An - ſtrengung und die damit verbundene Schwächung ganz auſſerordentlich, und es iſt dieſs ein neuer Beleg zu dem oben angeführten Grundſatz, daſs die Natur nichts fürchterlicher rächt, als das, wo man ſich an ihr ſelbſt verſündigt. Wenn es Todſünden giebt, ſo ſind es346 zuverläſſig die Sünden gegen die Natur. Es iſt wirklich höchſt merkwürdig, daſs eine Ausſchweifung, die ſich an und für ſich ganz gleich ſcheint, in ihren Folgen dennoch ſo verſchieden iſt, je nachdem ſie auf eine natürliche oder un - natürliche Art verrichtet wird, und da ich ſelbſt vernünftige Menſchen kenne, die ſich von dieſem Unterſchied nicht recht überzeugen können, ſo iſt es hier wohl ein ſchicklicher Ort, den Unter - ſchied etwas auseinander zu ſetzen, warum Onanie, bey beyden Geſchlech - tern, ſo unendlich mehr ſchadet, als der naturgemäſse Beyſchlaf. Schrecklich iſt das Gepräge, was die Natur einem ſol - chen Sünder aufdrückt! Er iſt eine ver - welkte Roſe, ein in der Blüthe verdorr - ter Baum, eine wandelnde Leiche. Al - les Feuer und Leben wird durch dieſes ſtumme Laſter getödtet, und es bleibt nichts als Kraftloſigkeit, Unthätigkeit, Todtenbläſſe, Verwelken des Körpers und Niedergeſchlagenheit der Seele zu - rück. Das Auge verliert ſeinen Glanz347 und ſeine Stärke, der Augapfel fällt ein, die Geſichtszüge fallen in das Länglichte, das ſchöne jugendliche Anſehen ver - ſchwindet, eine blaſsgelbe bleyartige Farbe bedeckt das Geſicht. Der ganze Körper wird krankhaft, empfindlich, die Muskelkräfte verlieren ſich, der Schlaf bringt keine Erholung, jede Be - wegung wird ſauer, die Füſse wollen den Körper nicht mehr tragen, die Hän - de zittern, es entſtehen Schmerzen in allen Gliedern, die Sinnwerkzeuge ver - lieren ihre Kraft, alle Munterkeit ver - geht. Sie reden wenig, und gleichſam nur gezwungen; alle vorige Lebhaftig - keit des Geiſtes iſt erſtickt. Knaben, die Genie und Witz hatten, werden mittel - mäſsige oder gar Dummköpfe; die Seele verliert den Geſchmack an allen guten und erhabnen Gedanken; die Einbil - dungskraft iſt gänzlich verdorben. Je - der Anblick eines weiblichen Gegenſtan - des erregt in ihnen Begierden, Angſt, Reue, Beſchämung und Verzweiflung348 an der Heilung des Uebels macht den peinlichen Zuſtand vollkommen. Das ganze Leben eines ſolchen Menſchen iſt eine Reihe von geheimen Vorwürfen, peinigenden Gefühlen innerer ſelbſtver - ſchuldeter Schwäche, Unentſchloſſen - heit, Lebensüberdruſs, und es iſt kein Wunder, wenn endlich Anwandlungen zum Selbſtmord entſtehen, zu denen kein Menſch mehr aufgelegt iſt, als der Ona - niſt. Das ſchreckliche Gefühl des le - bendigen Todes macht endlich den völ - ligen Tod wünſchenswerth. Die Ver - ſchwendung deſſen, was Leben giebt, erregt am meiſten den Ekel und Ueber - druſs des Lebens, und die eigne Art von Selbſtmord, par depît, die unſern Zei - ten eigen iſt. Ueberdieſs iſt die Ver - dauungskraft dahin, Flatulenz und Ma - genkrämpfe plagen unaufhörlich, das Blut wird verdorben, die Bruſt ver - ſchleimt, es entſtehen Ausſchläge und Geſchwühre in der Haut, Vertrocknung und Abzehrung des ganzen Körpers,349 Epilepſie, Lungenſucht, ſchleichend Fieber, Ohnmachten und ein früher Tod.

Es giebt noch eine Art Onanie, die ich die moraliſche Onanie nennen möch - te, welche ohne alle körperliche Un - keuſchheit möglich iſt, aber dennoch entſezlich erſchöpft. Ich verſtehe dar - unter die Anfüllung und Erhitzung der Phantaſie mit lauter ſchlüpfrigen und wollüſtigen Bildern, und eine zur Ge - wohnheit gewordene fehlerhafte Rich - tung derſelben. Es kann dieſs Uebel zulezt wahre Gemüthskrankheit werden, die Phantaſie wird völlig verdorben und beherrſcht nun die ganze Seele, nichts intereſſirt einen ſolchen Men - ſchen, als was auf jene Gegenſtände Bezug hat, der geringſte Eindruck aber, dieſer Art, ſezt ihn ſogleich in allge - meine Spannung und Erhitzung, ſeine ganze Exiſtenz wird ein fortdauerndes Reizfieber, was um ſo mehr ſchwächt,350 je mehr es immer Reizung ohne Befrie - digung iſt. Man findet dieſen Zu - ſtand vorzüglich bey Wollüſtlingen, die ſich endlich zwar zur körperlichen Keuſchheit bekehren, aber ſich durch dieſe geiſtige Wolluſt zu entſchädigen ſuchen, ohne zu bedenken, daſs ſie in ihren Folgen nicht viel weniger ſchädlich iſt ferner im religiöſen Coelibat, wo dieſe Geiſtesonanie ſogar den Mantel der brünſtigen Andacht an - nehmen und ſich hinter heilige Entzü - ckungen verſtecken kann, und endlich auch bey ledigen Perſonen des andern Geſchlechts, die durch Romanen und ähnliche Unterhaltungen ihrer Phan - taſie jene Richtung und Verderbniſs ge - geben haben, die ſich bey ihnen oft un - ter den modiſchen Namen Empfindſam - keit verſteckt, und bey aller äuſſern Strenge und Zucht, oft im Innern ge - waltig ausſchweifen.

351

Dieſs ſey genug von den traurigen Folgen dieſer Debauchen, die ſie nicht allein auf Verkürzung, ſondern auch auf Verbitterung des Lebens haben.

352

III.

Uebermäſsige Anſtrengung der Seelen - kräfte.

Aber nicht blos die körperlichen De - bauchen, ſondern auch die geiſtigen haben dieſe Folgen, und es iſt merk - würdig, daſs übertriebne Anſtrengung der Seelenkräfte und alſo Verſchwen - dung der dazu nöthigen Lebenskraft, faſt eben ſolche Wirkungen auf die Ge - ſundheit und Lebensdauer hat, als die Verſchwendung der Generationskräfte: Verluſt der Verdauungskraft, Mismuth, Niedergeſchlagenheit, Nervenſchwäche, Abzehrung, frühzeitiger Tod.

Doch353

Doch kommts auch hierbey gar ſehr auf die Verſchiedenheit der Natur und der Anlage an, und natürlich muſs der, der von Natur eine kräftigere und wirkſamere Seelenorganiſation hat, we - niger von dieſer Anſtrengung leiden, als der, wo dieſe fehlt. Daher werden ſolche am meiſten davon angegriffen, die bey mittelmäſsigen Geiſtesanlagen es mit Gewalt erzwingen wollen; daher ſchwächt diejenige Geiſtesanſtrengung am meiſten, die wir uns wider Willen, und ohne Luſt an der Sache zu haben, geben. Es iſt erzwungene Spannung.

Es fragt ſich nun aber: was heiſst Ex - ceſs in den Geiſtesanſtrengungen? Dieſs iſt eben ſo wenig im allgemeinen zu be - ſtimmen, als das zu viel im Eſſen und Trinken, weil alles von dem verſchied - nen Maas und Anlage der Denkkraft ab - hängt, und dieſe eben ſo verſchieden iſt, als die Verdauungskraft. So kann etwas für dieſen Anſtrengung werden,Z354was es für einen andern, mit mehr Seelen - kraft begabten, gar nicht iſt. Auch ma - chen die Umſtände, unter welchen die - ſes Geſchäft verrichtet wird, einen we - ſentlichen Unterſchied. Hier alſo noch einige nähere Beſtimmungen, was man unter Exceſs oder Debauche im Denk - geſchäft zu verſtehen habe.

1. Wenn man die Uebung des Kör - pers zu ſehr dabey vernachläſſigt. Jede ungleiche Uebung unſrer Kräfte ſchadet, und ſo gewiſs es iſt, daſs man ſich un - endlich mehr ſchwächt, wenn man blos denkend, mit Vernachläſſigung körper - lichen Bewegung, lebt, eben ſo gewiſs iſt es, daſs derjenige viel mehr und mit weniger Nachtheil für ſeine Geſundheit geiſtig arbeiten kann, der immer zwi - ſchen durch dem Körper eine angemeſsne Uebung giebt.

2. Wenn man zu anhaltend über den nehmlichen Gegenſtand nachdenkt. 355Es gilt hier das nehmliche Geſetz, was bey der Muskelbewegung Statt findet. Wenn man den Arm immer in derſelben Richtung bewegt, ſo iſt man in einer Viertelſtunde müder, als wenn man zwey Stunden lang verſchiedene Arten von Bewegung damit gemacht hätte. Eben ſo mit den Geiſtesgeſchäften. Es erſchöpft nichts mehr als das beſtändige Einerley in dem Gegenſtand und der Richtung der Denkkraft, und Boerhaave erzählt von ſich ſelbſt, daſs er, nachdem er einige Tage und Nächte immer über den nehmlichen Gegenſtand nachgedacht hatte, plötzlich in einen ſolchen Zuſtand von Ermattung und Abſpannung verfal - len wäre, daſs er eine geraume Zeit in einem gefühlloſen und todtenähnlichen Zuſtand gelegen habe. Ein ſchicklicher Wechſel der Gegenſtände iſt daher die erſte Regel, um ohne Schaden der Ge - ſundheit zu ſtudiren, ja, um ſelbſt in der Maſse mehr zu arbeiten. Ich kenne groſse und tiefe Denker, Mathemati -Z 2356ker und Philoſophen, die in einem ho - hen Alter noch munter und vergnügt le - ben; aber ich weiſs auch, daſs dieſelben von jeher ſich dieſen Wechſel zum Geſetz gemacht haben, und ihre Zeit immer zwiſchen jenen abſtracten Arbeiten und zwiſchen der Lectüre angenehmer Dich - ter, Reiſebeſchreibungen, hiſtoriſcher und naturgeſchichtlicher Werke theil - ten. Auch iſt es ſelbſt in dieſem Be - tracht ſo gut, wenn man immer das practiſche mit dem ſpeculativen Leben verbindet.

3. Wenn man gar zu abſtracte und ſchwehre Gegenſtände bearbeitet, z. E. Probleme der höhern Mathematik und Metaphyſik. Das Object macht einen gewaltigen Unterſchied. Je abſtracter es iſt, je mehr es den Menſchen nöthigt, ſich ganz von der Sinneswelt loszuzie - hen, und ſein Geiſtiges, abgeſondert vom Körper, gleichſam rein zu iſoliren, (gewiſs einer der unnatürlichſten Zu -357 ſtände, die es geben kann), deſto ſchwä - chender und anſtrengender iſt es. Eine halbe Stunde ſolcher Abſtraction er - ſchöpft mehr, als ein ganzer Tag Ueber - ſetzungsarbeit. Aber auch hier iſt viel relatives. Mancher iſt dazu geboren, er hat die Kraft und die beſondere Gei - ſtesſtimmung, die dieſe Arbeiten erfor - dern, da hingegen manchem beydes fehlt, und er es dennoch erzwingen will. Es ſcheint mir ſehr ſonderbar, daſs man bey Hebung einer körperlichen Laſt immer erſt ſeine Kräfte unterſucht, ob ſie nicht für dieſelben zu ſchwehr iſt, und hingegen bey geiſtigen Laſten nicht auch die Geiſteskräfte zu Rathe zieht, ob ſie ihnen gewachſen ſind. Wie man - chen habe ich dadurch unglücklich und kränklich werden ſehen, daſs er die Tie - fen der Philoſophie ergründen zu müſſen glaubte, ohne einen philoſophiſchen Kopf zu haben! Muſs denn jeder Menſch ein Philoſoph von Profeſſion ſeyn, wie es jezt Mode zu werden358 ſcheint? Mir ſcheint es vielmehr, daſs dazu eine beſondere Anlage der Organi - ſation nöthig iſt, und nur dieſen Auserwählten mag es überlaſſen blei - ben, die Grundtiefen der Philoſo - phie auszuſpüren und zu entwickeln; wir andern wollen uns damit begnü - gen, philoſophiſch zu handeln und zu leben.

4. Auch halte ichs für Exceſs, wenn man immer producirend, und nicht auch mit unter concipirend arbeitet. Man kann alle Geiſtesarbeit in zwey Klaſſen theilen, die ſchaffende, die aus ſich ſelbſt herausſpinnt und neue Ideen erzeugt, und die empfangende oder paſſive, die blos fremde Ideen auf - nimmt und genieſst, z. E. das Leſen oder Anhören andrer. Erſtere iſt ungleich an - ſtrengender und erſchöpfender, und man ſollte ſie daher immer mit der an - dern abwechſeln laſſen.

359

5. Wenn man zu frühzeitig in der Kindheit den Geiſt anzuſtrengen anfängt. Hier iſt ſchon eine kleine Anſtrengung höchſt ſchädlich. Vor dem ſiebenten Jahre iſt alle Kopfarbeit ein unnatürli - cher Zuſtand, und von eben den üblen Folgen fürs Körperliche, als die Onanie.

6. Wenn man invita Minerva ſtudirt, d. h. über Gegenſtände, die man ungern, und nicht con amore treibt. Je mehr Luſt bey der Geiſtesarbeit iſt, deſto we - niger ſchadet die Anſtrengung. Daher iſt bey der Wahl des Studiums ſo viel Vorſicht nöthig, ob es uns auch recht und paſſend iſt, und wehe dem, wo dieſs nicht der Fall iſt.

7. Wenn man die Seelenanſtren - gung durch künſtliche Reize erweckt oder verſtärkt und verlängert. Man be - dient ſich am gewöhnlichſten des Weins, des Kaffees oder des Tabaks dazu, und obgleich dieſe künſtlichen Denkhülfen360 überhaupt nicht zu billigen ſind, weil ſie immer doppelte Erſchöpfung bewir - ken; ſo muſs man doch leider geſtehen, daſs ſie in jetzigen Zeiten, wo die Gei - ſtesarbeit nicht von Laune, ſondern von Zeit und Stunden abhängt, nicht ganz zu entbehren ſind, und dann möchte eine Taſſe Kaffee, oder eine Pfeife oder Priſe Tabak noch am erträglichſten ſeyn. Aber man hüte ſich ja vor dem Mis - brauch, weil ſie dann den Schaden der Geiſtesanſtrengung unglaublich er - höhen.

8. Wenn man in der Verdauungs - zeit den Kopf anſtrengt. Hier ſchadet man doppelt: man ſchwächt ſich mehr, denn es gehört da mehr Anſtrengung zum Denken, und man hindert zu - gleich das wichtige Geſchäfte der Ver - dauung.

9. Wenn man die Zeit des Schlafs damit ausfüllt. Eine der Lebensnach -361 theiligſten Gewohnheiten, wovon beym Schlafe ausführlicher.

10. Wenn man das Studiren mit nachtheiligen äuſſeren Umſtänden ver - bindet; und da ſind zwey die vorzüg - lichſten, die oft mehr Antheil an den üblen Folgen des Nachdenkens haben, als das Denken ſelbſt, das zuſammen gekrümmte Sitzen und die eingeſchloſsne Stubenluft. Man gewöhne ſich daher liegend, oder ſtehend, oder gehend, oder auch auf einem hölzernen Bock reitend, ferner nicht immer in Stuben, ſondern auch im Freyen zu ſtudiren, und man wird weit weniger von den ſogenannten Gelehrtenkrankheiten lei - den. Wahrlich, die alten Philoſophen dachten wohl eben ſo viel, als die neuern Gelehrten, und litten dennoch nicht an Hypochondrien, Hämorrhoiden u. dgl. Die einzige Urſache lag darinn, weil ſie mehr ambulierend oder liegend, und in freyer Luft meditirten, weil ſie362 nicht Kaffee und Tabak dazu brauch - ten, und weil ſie die Uebung und Kultur des Körpers nicht dabey ver - gaſsen.

363

IV.

Krankheiten deren unvernünftige Behandlung gewaltſame Todesarten Trieb zum Selbſtmord.

Fürchterlich iſt dieſes Heer heimlicher und öffentlicher Lebensfeinde in neuern Zeiten angewachſen. Wenn man ſich denkt, wie wenig ein Naturmenſch auf den Südſeeinſeln von Krankheiten weiſs, und dagegen nun ein europäiſches pa - thologiſches Compendium hält, wo ſie Regimenter und Compagnien weiſe auf - marſchiren, und ihre Zahl ſich auf viele Tauſende beläuft, ſo erſchrickt man da -364 vor, was durch Luxus, Sittenverderb - niſs, unnatürliche Lebensart und Aus - ſchweifungen möglich worden iſt. Vie - le, ja wirklich die meiſten dieſer Krank - heiten, ſind unſre eigne Schuld, und immer werden noch neue durch unſre eigne Schuld erzeugt. Andere ſind in die Welt gekommen, man weiſs nicht wie, und waren ebenfalls der alten Welt ganz unbekannt. Dieſs ſind gerade die tödlichſten und hartnäckigſten, Blat - tern, Maſern, die Luſtſeuche. Und auch dieſe ſind in ſo fern unſere Schuld, daſs wir ſie ohne alle Gegenanſtalten fortwirken und würgen laſſen, da es doch erwieſen iſt, daſs wir durch eini - gen Gebrauch unſrer Vernunft und der hierüber geſammleten Erfarungskennt - niſſe ſie recht gut wieder von unſern Grenzen entfernen könnten, ſo wie ſie uns zugeführt worden ſind.

Die meiſten Krankheiten wirken entweder als gewaltſame Todesarten, als Unterbrechungsmittel der Lebens -365 operation, (wie z. E. Schlag - und Stick - fluſs) oder als langſame Verkürzungs - mittel, indem ſie entweder ganz unheil - bar ſind, oder, wenn ſie auch geheilt werden, dennoch einen ſolchen Verluſt von Lebenskraft, oder eine ſolche Schwächung und Deſtruction edler Or - gane hinterlaſſen, daſs der auf dieſe Weiſe angegriffne Körper nicht mehr das Ziel erreichen kann, was ihm eigent - lich beſtimmt war.

Folgende kurze Ueberſicht, die aus einer Menge Mortalitätstabellen zuſam - mengezogen iſt, wird es Ihnen am deut - lichſten machen, wie ungeheuer der Verluſt iſt, den die Menſchheit jezt durch Krankheiten leidet.

Geſezt, es werden jezt 1000 Men - ſchen geboren, ſo ſterben davon 24 gleich in der Geburt ſelbſt; das Geſchaft des Zahnens nimmt ihrer 50 mit; Con - vulſionen und andre Kinderkrankheiten in den erſten 2 Jahren, 277; die Blat -366 tern, die bekanntlich zum allerwenig - ſten den 10ten Menſchen tödten, reiben ihrer 80 bis 90 auf, die Maſern 10. Sind es Weibsperſonen, ſo ſterben da - von 8 im Kindbett. Schwindſucht, Aus - zehrung und Bruſtkrankheiten (in Eng - land wenigſtens) tödten 190. Andere hitzige Fieber 150. Schlagflüſſe 12, die Waſſerſucht 41. Alſo kann man von 1000 Menſchen nur 78 annehmen, wel - che am Alter, oder vielmehr im Alter, ſterben, denn auch da wird der gröſsere Theil noch durch zufällige Urſachen weggerafft. Genug, es ergiebt ſich hier - aus, daſs immer 9 / 10 vor der Zeit und durch Zufall umkommen.

Hier muſs ich noch einer neuen ſchrecklichen und auf unmittelbare De - ſtruction des Lebens abzweckenden Krankheit gedenken: des Triebs zum Selbſtmord. Dieſer unnatürliche, ehe - dem blos durch traurige Nothwendigkeit und heroiſchen Entſchluſs mögliche Zu - ſtand, iſt jezt eine Krankheit geworden,367 die in der Blüthe der Jahre, unter den glücklichſten Umſtänden, blos aus Ekel und Ueberdruſs des Lebens, den entſez - lichen und unwiderſtehlichen Trieb her - vorbringen kann, ſich ſelbſt zu vernich - ten. *)In 75 Jahren Harben in London am Selbſtmord gerade noch einmal ſo viel Menſchen, als am Seitenſtechen.Es giebt jezt wirklich Menſchen, bey denen jede Quelle von Lebensgefühl und Lebensglück ſo vertrocknet, jeder Keim von Thätigkeit und Genuſs ſo ab - geſtorben iſt, daſs ſie nichts ſo abge - ſchmackt, ekel und fade finden, als das Leben, daſs ſie gar keinen Berührungs - punct mehr mit der ſie umgebenden Welt haben, und daſs ihnen endlich das Leben zu einer ſo drückenden Laſt wird, daſs ſie dem Wunſche gar nicht widerſte - hen können, ſich deſſen zu entledigen. Und dieſe Menſchen ſind faſt immer die - jenigen, welche durch zu frühzeitige Ausſchweifung, durch eine zu frühzei - tige Verſchwendung jener balſamiſchen368 Lebensſäfte, die unſer eignes Leben würzen ſollen, ſich erſchöpft und lebens - arm gemacht haben. Iſt es nicht natür - lich, daſs ein ſolcher Unglücklicher den Tod ohne Bewuſstſeyn dem mit Be - wuſstſeyn (und das iſt ſein Leben) vor - zieht?

Aber der Schaden dieſer an ſich ſelbſt ſchon jezt viel häufigern und ge - fährlichern Feinde wird dadurch un - endlich vermehrt, daſs man ſie zum Theil ganz widerſinnig behandelt, und überhaupt die Medizin zu ſehr miſs - braucht.

Zur widerſinnigen Behandlung rechne ich folgendes: Wenn man, troz aller Beweiſe ihres Schadens, dennoch die Urſache der Krankheit immer fort - wirken läſst, z. E. man bemerkt ſichtbar, daſs das Weintrinken, oder eine zu leichte Kleidung, oder das Nachtwa - chen uns die Krankheiten erzeugt, und dennoch ſezt man es fort. Ferner: Wennman369man die Krankheit ganz verkennt, und gar nicht für Krankheit gelten laſſen will, wodurch oft eine unbedeutende Krank - heit in eine ſehr gefährliche verwandelt wird. Und hier kann ich nicht umhin, eine Vernachläſſigung insbeſondere zu erwähnen, die gewiſs unzählichen Men - ſchen das Leben koſtet: die Vernachläſſi - gung der Katarrhe oder des Huſtens. Man hält ſie gewöhnlich für nothwen - dige und zum Theil nützliche Uebel, und man hat Recht, wenn der Katarrh mäſsig iſt und nicht zu lange dauert. Aber man vergeſſe doch nie, daſs jeder Katarrh eine Krankheit iſt, und gar leicht in Lungenentzündung, oder, was noch häufiger geſchieht, in Lungenſucht und Auszehrung übergehen kann; und ich ſage nicht zu viel, wenn ich be - haupte, daſs die Hälfte aller Lungen - ſuchten aus ſolchen vernachläſſigten Ka - tarrhen entſteht. Dieſs geſchieht, wenn er zu lange dauert, oder wenn er widerſinnig behandelt wird, und ichA a370gründe hierauf folgende zwey Regeln, die bey jedem Bruſtkatarrh heilig beobach - tet werden ſollten: Man ſehe keinem Ka - tarrhalhuſten länger als 14 Tage gedul - tig zu; dauert er länger, ſo muſs er als Krankheit betrachtet und durch einen Arzt behandelt werden. Zweytens, man vermeide bey jedem Katarrh heftige Erhitzung, Erkältung und den Genuſs des Weins und andrer hitzigen Getränke und Speiſen.

Auch iſt es eine nur gar zu gewöhn - liche widerſinnige Behandlung der Krankheiten, daſs man gar oft, theils aus Unwiſſenheit und Vorurtheil, theils aus misverſtandener Zärtlichkeit, gera - de das Gegentheil von dem thut, was man eigentlich thun ſollte. Dahin ge - hört, daſs man den Kranken zum Eſſen nöthigt, wenn er keinen Appetit hat, daſs man bey fieberhaften Krankheiten Bier, Wein, Kaffee, Fleiſchbrühen und andre hitzige und nährende Dinge ge -371 nieſsen läſst, wodurch das gelindeſte Fieber in ein hitziges verwandelt wer - den kann, daſs man, ſobald ein Kranker Fieber und den damit verbundenen Froſt klagt, ihn in Betten vergräbt, Fen - ſter und Thüren verſchlieſst, und die Luft des Zimmers möglichſt erhizt, auch daſs man nicht für gehörige Rein - lichkeit in der Krankenſtube ſorgt, die Luft nicht erneuert, die Abſonderungen und Ausleerungen des Kranken nicht genug entfernt. Dieſe unvernünftige diätetiſche Behandlung tödtet weit mehr Menſchen, als die Krankheit ſelbſt, und hauptſächlich iſt ſie die Urſache, war - um auf dem Lande ſo mancher geſunde und ſtarke Menſch ein Raub des Todes wird, warum da die Krankheiten ſo leicht eine bösartige Beſchaffenheit an - nehmen, warum z. E. die Blattern da im Winter meiſt bösartiger ſind, als im Sommer, weil man da die Fenſter und Thüren verſchlieſst, und durch Einhei - zen eine fürchterliche Glut im ZimmerA a 2372erhält, welches im Sommer unter - bleibt.

Und endlich rechne ich dahin, wenn man keinen Arzt oder ihn nicht recht braucht, die Medizin unrichtig anwendet, zu Pfuſchern ſeine Zuflucht nimmt, geheime Mittel und Univerſal - arzneyen gebraucht, u. d. gl. mehr, wo - von ich bey dem vernünftigen Gebrauch der Medizin mehr ſagen werde.

Auch die gewaltſamen Todesarten raffen eine Menge Menſchen weg, und leider haben auch hierinn die neuen Zeiten groſse Progreſſen gemacht. Nicht nur der gröſsre Unternehmungsgeiſt, die häufigern Seereiſen, der ausgebrei - tetere Handel vervielfältigt ſolche Fälle, ſondern man hat auch leider Erfindun - gen gemacht, um den Endzweck der Verkürzung auf eine unglaublich ſchnelle und raffinirte Art zu erreichen. Ich will hier nur an die Erfindung des373 Schieſspulvers, und mehrerer neuen Gifte, der Aqua toffana, der Succeſſions - pulver u. ſ. w. erinnern. Die Kunſt zu tödten iſt ja eine eigne höhere Wiſſen - ſchaft geworden.

374

V.

Unreine Luft das Zuſammenwohnen der Menſchen in groſsen Städten.

Eines der gröſsten Verkürzungsmittel des menſchlichen Lebens iſt: das Zu - ſammenwohnen der Menſchen in groſsen Städten. Fürchterlich iſt das Ueberge - wicht, das die Mortalität derſelben in den Todtenliſten hat. In Wien, Berlin, Paris, London und Amſterdam, ſtirbt der 20ſte bis 23ſte Menſch, während daſs rund herum, auf dem Lande, nur der 30ſte oder 40ſte ſtirbt. Rouſſeau hat vollkommen recht, wenn er ſagt: der Menſch iſt unter allen Thieren am we -375 nigſten dazu gemacht, in groſsen Hau - fen zuſammen zu leben. Sein Athem iſt tödlich für ſeine Mitgeſchöpfe, und dieſs gilt eben ſowohl im eigentlichen als im figürlichen Sinn. Die Feuchtig - keit, oder, wie mans gewöhnlich nennt, die Dickheit der Luft iſts nicht allein, was ſie ſo ſchädlich macht, ſondern die Animaliſation, die ſie durch ſo viele auf einander gehäufte Menſchen bekommt. Man kann höchſtens viermal die nehm - liche Luft einathmen, ſo wird ſie durch den Menſchen ſelbſt aus dem ſchönſten Erhaltungsmittel des Lebens in das töd - lichſte Gift verwandelt. Nun denke man ſich die Luft an einem ſo ungeheu - ren Orte; hier iſt es phyſiſch unmöglich, daſs einer, der in der Mitte wohnt, ei - nen Athemzug von Luft thun ſollte, die nicht ſchon kurz vorher in der Lunge eines andern verweilt hätte. Dieſs giebt eine allgemeine ſchleichende Vergiftung, die nothwendig die Lebensdauer im Ganzen verkürzen muſs. Wer es alſo kann, meide den Aufenthalt in groſsen376 Städten; ſie ſind offne Gräber der Menſch - heit, und zwar nicht allein im phyſi - ſchen, ſondern auch im moraliſchen Sinn. Selbſt in mittlern Städten, wo vielleicht die Straſſen etwas enge ſind, ſuche man immer lieber eine Wohnung an der Auſſenſeite der Stadt, und wenig - ſtens iſt es Pflicht, alle Tage eine halbe oder ganze Stunde lang, die Stadt - atmosphäre ganz zu verlaſſen, in der einzigen Abſicht, um einmal reine Luft zu trinken. Mehr davon in dem Ka - pitel von Vergiftungen.

377

VI.

Unmäſsigkeit im Eſſen und Trinken die raffinirte Kochkunſt die geiſtigen Getränke.

Das erſte, was in Abſicht der Diät le - bensverkürzend wirken kann, iſt: Un - mäſsigkeit. Das zu viel Eſſen und Trin - ken ſchadet auf dreyfache Art dem Le - ben. Es ſtrengt die Verdauungskräfte unmäſsig an, und ſchwächt ſie dadurch. Es hindert die Verdauung, weil bey ei - ner ſolchen Menge nicht alles gehörig verarbeitet werden kann, und es erzeu - gen ſich Kruditäten im Darmkanal und ſchlechte Säfte. Es vermehrt auch un -378 verhältniſsmäſsig die Blutmenge, und beſchleunigt dadurch Circulation und Leben; und überdieſs entſteht dadurch ſo oft Indigeſtion und das Bedürfniſs ausleerende Mittel zu nehmen, welches abermals ſchwächt.

Zu viel eſſen heiſst, wenn man ſo lange iſst, bis man nicht mehr kann, und die nachfolgenden Zeichen ſind, wenn man Schwehre und Vollheit des Ma - gens, Gähnen, Aufſtoſsen, Schläfrigkeit, Dumpfheit des Kopfs verſpürt. Die alte Regel bleibt alſo immer noch wahr: Man höre auf zu eſſen, wenn man noch etwas eſſen könnte.

Die zu raſſinirte Kochkunſt gehört ebenfalls hieher. Leider muſs ich dieſe Freundin unſers Gaumens hier als die gröſste Feindin unſers Lebens, als eine der verderblichſten Erfindungen zu Abkürzung deſſelben, anklagen, und zwar auf folgende Art:

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1. Bekanntlich beſteht der Haupt - kunſtgriff derſelben darinn, alles pi - quant und reizend zu machen. Alle Nahrungsmittel beſtehen alſo, nach die - ſer Zurichtung, zur Hälfte aus reizenden erhitzenden Subſtanzen, und anſtatt alſo durchs Eſſen das, was der natürliche Zweck iſt, Ernährung und Wiedererſe - tzung, zu erreichen, vermehrt man viel mehr durch den Reiz die innre Conſum - tion und thut wirklich gerade das Ge - gentheil. Nach einer ſolchen Mahlzeit hat man immer ein künſtliches Fieber, und bey ſolchen Menſchen heiſst es mit Recht: conſumendo conſumimur.

2. Das ſchlimmſte iſt, daſs man durch dieſe Kochkunſt verleitet wird, immer zu viel zu eſſen. Sie weiſs ſich den Gaumen ſo zum Freunde zu machen, daſs alle Gegenvorſtellungen des Magens umſonſt ſind; und, weil der Gaumen im - mer auf eine neue angenehme Art ge - kitzelt wird, ſo bekommt der Magen wohl drey und viermal mehr zu thun, als er380 eigentlich beſtreiten kann. Denn es iſt ein ſehr gewöhnlicher Fehler, daſs man den Gaumenappetit nicht vom Magen - appetit unterſcheidet, und das für Ma - genappetit hält, was eigentlich nur Gau - menkitzel iſt, und eben dieſe Verwech - ſelung wird durch nichts mehr begün - ſtigt, als durch dieſe raſſinirte Kochkunſt. Der Menſch verliert dadurch am Ende eine der gröſsten Schutzwehren ſeiner. Geſundheit, die Eigenſchaft zu wiſſen, wenn er genug hat.

3. Eine Hauptmaxime dieſer Kunſt beſteht endlich darinne, durch die über - häufteſten und unnatürlichſten Zuſam - menſetzungen ganz neue Schöpfungen und neue Reize hervorzubringen. Und daraus entſteht, daſs Dinge, wel - che, jedes für ſich, äuſſerſt unſchuldig und unſchädlich wären, nun durch die Verbindung ganz neue und nachtheilige Eigenſchaften bekommen. Sauer und ſüſs z. B. ſchadet, jedes einzeln genom - men, nichts; hingegen zugleich genoſ -381 ſen kann es ſchädlich werden. Eyer, Milch, Butter, Mehl, ſind, jedes für ſich genoſſen, ſehr verdauliche Subſtan - zen; aber man ſetze ſie zuſammen, und mache einen recht fetten und feſten Pfannkuchen daraus, und man wird ein ſehr ſchwehr verdauliches Product er - kalten. Man kann es als Grundſatz an - nehmen: je zuſammengeſezter eine Speiſe iſt, deſto ſchwehrer iſt ſie zu ver - dauen, und was noch ſchlimmer iſt, de - ſto ſchlechter werden die Säfte, die dar - aus bereitet werden.

4. Noch ein Haupttriumpf der neu - ern Kochkunſt iſt die Kunſt, Nahrungs - ſaft in der concentrirteſten Geſtalt in den Körper zu bringen. Da hat man Con - ſommés, Jus, Coulus. Man hats dahin gebracht, durch Auspreſſen und Einko - chen, die Kraft von mehrern Pfunden Rindfleiſch, Kapaunen und Markskno - chen in den kleinen Raum von einer Gelée oder Suppe zu concentriren. Da glaubt man nun etwas groſses gethan zu382 haben, wenn man auf dieſe Weiſe, ohne den Zähnen die Mühe des Kauens und dem Magen die Mühe des Arbeitens gemacht zu haben, eine ſolche Eſſenz von Nahrungsſaft gleich auf einmal ins Blut ſchickt. Das heiſst, ſtellt man ſich vor, ſich im Gallop reſtauriren, und es iſt das Lieblingsſyſtem derer, die ſich im Gallop conſumiren. Aber man täuſcht ſich gewaltig, denn

Einmal: Man kann die Einrichtun - gen der Natur nie ohne Schaden über - ſpringen. Nicht ohne Urſache iſt die Einrichtung getroffen, daſs der Magen nur eine gewiſſe Menge faſſen kann; ein mehreres würde fürs Ganze zu viel ſeyn. Jeder Körper kann nur eine verhältniſs - mäſsige Menge Nahrung faſſen, und dieſe Kapacität des Ganzen ſteht immer mit der Kapazität des Magens im Ver - hältniſs. Hierbey täuſcht man nun die Natur; man umgeht, wenn ich ſagen darf, die erſte Inſtanz, und führt, durch eine Art von Schleichhandel, drey-vier -383 mal mehr Nahrung in den Körper, als er zu faſſen im Stande iſt. Die Folge davon iſt, daſs eine beſtändige Ueber - füllung aller Gefäſse entſteht, und dieſe ſtört immer das Gleichgewicht und alſo Geſundheit und Leben.

Ferner: Nicht ohne Urſache hat die Natur die Einrichtung gemacht, daſs die Speiſen in etwas gröberer Geſtalt genoſ - ſen werden müſſen. Der Nutzen dieſer Einrichtung iſt, daſs ſie erſt beym Kauen im Munde macerirt und mit Speichel vermiſcht, ferner daſs ſie länger im Ma - gen aufgehalten werden, da durch ih - ren Reiz den Magen zu mehrerer Re - action ermuntern, folglich weit beſſer aſſimilirt und in unſre Natur umgewan - delt werden. Und hierauf beruht ei - gentlich wahre Reſtauration; denn eine Speiſe kann nur alsdenn erſt in unſer Weſen übergehen und uns wirklich nüzlich werden, wenn ſie zuvor durch die Kräfte des Magens unſrer Natur ho -384 mogener und ähnlich gemacht wor - den iſt.

Indem man alſo dieſe erſte Inſtanz übergeht, ſchafft man Säfte in den Kör - per, die, weil ſie nicht hinlänglich aſſi - milirt ſind, auch nicht eine gute Reſtau - ration bewirken können, ſondern viel - mehr als fremde Theile als Reize wirken, und mehr zur Conſumtion als zur Re - ſtauration dienen.

Ich glaube daher, es iſt ſehr ein - leuchtend, daſs eine Kunſt, welche die wahre Reſtauration hindert, uns mit un - verdauten rohen Säften anfüllt, und die innre Conſumtion vermehrt, nicht als eine Freundin unſers Lebens anzuſehen iſt, ſondern unter den weſentlichſten Feinden deſſelben einen Platz verdient. Man ſollte glauben, ſie ſey erfunden, um aus den herrlichſten Gaben Gottes ein ſchleichendes Gift zu bereiten.

Endlich385

Endlich gehören unter dieſe Klaſſe von Verkürzungsmitteln vorzüglich noch die Zubereitungen ſpirituöſer Getränke, die alle, ſie mögen Namen haben wie ſie wollen, Lebensverkürzend ſind. Es iſt flüſſiges Feuer, was hier der Menſch trinkt; ſie beſchleunigen die Lebenscon - ſumtion auf eine fürchterliche Art, und machen das Leben im eigentlichſten Sinn zu einem Verbrennungsprozeſs. Es ſey genug zu bemerken, daſs bey wilden Nationen der Zeitpunct der Einführung des Branntweins immer das Datum ihrer kürzern Lebensdauer war.

B b386

VII.

Lebensverkürzende Seelenſtimmungen und Leidenſchaften üble Laune all - zugroſse Geſchäftigkeit.

Einen vorzüglichen Rang unter den Verkürzungsmitteln des Lebens behau - pten gewiſſe Seelenſtimmungen und Ge - wohnheiten, die feindlich auf das Leben wirken, Traurigkeit, Kummer, Ver - druſs, Furcht, Angſt, Kleinmuth, hauptſächlich Neid und Miſsgunſt.

Sie alle erſchöpfen die feinſten Le - benskräfte, ſtöhren beſonders die Ver - dauung und Aſſimilation, ſchwächen die387 Kraft des Herzens und hindern auf dieſe Art das wichtige Geſchäft der Reſtaura - tion. Die erſten, die traurigen Affecten, wirken indeſs doch nur negativ zur Ver - kürzung. Hingegen dieſe, Neid und Miſsgunſt, haben zugleich poſitive Tod - bringende Eigenſchaften. Nicht blos entziehen ſie dem Körper ſeine Lebens - kräfte, ſondern indem ſie unaufhörlich die Galle ſchärfen, bereiten ſie beſtän - dig ein ſchleichendes Gift, und vermeh - ren durch den allgemeinen Gallenreiz die Selbſtaufreibung entſezlich, daher das Emblem vollkommen paſst: der Neid friſst ſich ſelbſt auf.

Hieher gehört auch jene ſehr böſe Seelenkrankheit, die unter dem Namen der üblen Laune bekannt iſt. Nichts ver - mag ſo ſehr die Blüthe des Lebens zu verwelken, jedem Genuſs und jeder Freude den Eingang zu verſperren, und den ſchönen Lebensſtrom in einen ſte - henden Sumpf zu verwandeln, als dieſe böſe Gewohnheit. Ich rathe jedem,B b 2388dem ſein Leben lieb iſt, ſie als ein tödliches Gift zu fliehen, und nie auf - kommen zu laſſen.

Auch die Furcht verdient hier einen vorzüglichen Platz. Sie gehört ebenfalls unter die böſen Gewohnheiten der Seele, denn man kann ſie ſich nach Belieben an - und abgewöhnen.

Ein Engländer (Walter), der die Reiſe mit Anſon um die Welt gemacht hatte, ſprach einſt mit dem jungen Ber - kenhout, und da dieſer das Wort Furcht erwähnte, ſo fiel Walter mit Heftigkeit ein: Fi, fi donc, c’eſt une paſſion indigne, et au deſſous de la dignite de l’homme. Und gewiſs, ſie iſt eine der allerunanſtändig - ſten Leidenſchaften, die den Menſchen eben ſo ſehr erniedrigt und degradirt, als ihn das Entgegengeſezte, der Muth, exaltiren und über die menſchliche Na - tur erheben kann. Furcht raubt Kraft, Ueberlegung, Verſtand, Entſchl[o]ſſen - heit, genug, alle Vorzüge des menſch -389 lichen Geiſtes, und es ſollte einer der erſten Grundſätze der Erziehung ſeyn, dem Menſchen die Furcht abzugewöh - nen. Und leider thut man gewöhnlich gerade das Gegentheil! Wir wollen nur zwey der gewöhnlichſten Arten von Furcht nehmen; die Furcht vor Gewit - tern und die vor Geſpenſtern. Nun wer dieſe beyden hat, der mag nur auf die Ruhe des Lebens Verzicht thun. Die Zeit der Nacht, welche ſo weiſe durch Dunkelheit zur ſüſsen Ruhezeit geſtem - pelt wurde, iſt für ihn das Signal der peinlichſten Unruhe. Wenn andre ru - higen Schlaf genieſsen, horcht er mit Zittern und Zagen auf jeden Laut, ſchwizt unaufhörlich Angſtſchweiſs, und iſt früh müder, als er ſich niederge - legt hat.

Die erfreuliche Zeit des Sommers iſt für ihn eine Periode der Angſt und des Schreckens, und jeder ſchöne Tag führt bey ihm zugleich die Idee von390 Gewitter und alſo bange Erwartung mit ſich.

Man kann leicht abnehmen, wel - chen nachtheiligen Einfluſs ſolche be - ſtändige Angſt auf die Dauer des Lebens haben muſs. Furcht iſt ein beſtändiger Krampf; ſie ſchnürt alle kleine Gefäſse zuſammen, die ganze Haut wird kalt, blaſs, und die Ausdünſtung völlig ge - hemmt. Alles Blut ſammlet ſich in den innern gröſsern Gefäſsen, der Pulsſchlag ſtockt, das Herz wird überfüllt und kann ſich nicht frey bewegen. Alſo das wichtige Geſchäft der Circulation wird geſtöhrt. Die Verdauung wird eben ſo ſehr unterbrochen, es entſtehen krampf - hafte Durchfälle. Alle Muskelkraft wird gelähmt, er will laufen und kann nicht, allgemeines Zittern entſteht, der Athem iſt kurz und beklommen. Genug, alle Wirkungen, die ein tödliches ſchlei - chendes Gift haben kann, und alſo eben die Folge für Verkürzung des Lebens.

391

Es iſt mir unmöglich, hier eine Ei - genſchaft unſrer Zeiten zu übergehen, die uns gewiſs einen ſchönen Theil un - ſrer Lebenstage raubt, nehmlich jene unglückliche Vielgeſchäftigkeit (Poby - pragmoſyne), die ſich jezt eines groſsen Theils des menſchlichen Geſchlechts be - mächtigt hat, jenes unaufhörliche innre Treiben und Streben nach neuen Unter - nehmungen, Arbeiten, Planen. Der Genius Seculi bringt es mit ſich, daſs Selbſtdenken, Thätigkeit, Speculatio - nen, Reformationen, den Menſchen weit natürlicher ſind, als ſonſt, und alle ihnen beywohnenden Kräfte ſich weit lebhafter regen; der Luxus kommt dazu, der durch ſeine immer vervielfältigten Bedürfniſſe, immer neue Anſtrengungen der Kräfte, immer neue Unternehmun - gen nöthig macht. Daraus entſteht nun jene unaufhörliche Regſamkeit, die endlich alle Empfänglichkeit für innere Ruhe und Seelenfrieden zerſtöhrt, den Menſchen nie zu dem Grade von392 Nachlaſs und Abſpannung kommen läſst, der zu ſeiner Erholung unum - gänglich nöthig iſt, und ſeine Selbſt - conſumtion auf eine ſchreckliche Art be - ſchleunigt.

393

VIII.

Furcht vor dem Tode.

Keine Furcht macht unglücklicher, als die Furcht vor dem Tode. Sie fürchtet etwas, was ganz unvermeidlich iſt, und wovor wir keinen Augenblick ſicher ſeyn können; ſie genieſst jede Freude mit Angſt und Zittern; ſie verbietet ſich al - les, weil alles ein Vehikel des Todes werden kann, und ſo über dieſer ewigen Beſorgniſs, das Leben zu verlieren, ver - liert ſie es wirklich. Keiner, der den Tod fürchtete, hat ein hohes Alter er - reicht.

394

Liebe das Leben und fürchte den Tod nicht, das iſt das Geſez und die Prophe - ten, die einzige wahre Seelenſtimmung, um glücklich und alt zu werden. Denn auch auf das Glück des Lebens mag der nur Verzicht thun, der den Tod fürch - tet. Kein Genuſs iſt bey ihm rein, im - mer miſcht ſich jene Todesidee mit ein, er iſt beſtändig wie einer, der verfolgt wird, der Feind ſizt ihm immer auf den Ferſen. Und dennoch giebt es ſo un - zählige Menſchen, die dieſe Gemüths - krankheit nicht los werden können. Für dieſe will ich hier einige Regeln an - geben, die, wenn ſie auch gleich keine metaphyſiſche Tiefe haben ſollten, ich doch als recht gute Hausmittel gegen die Todesfurcht empfehlen kann, die ich aus Erfarung als ſehr wirkſam kenne:

1. Man mache ſich mit dem Gedan - ken an den Tod recht bekannt. Nur der iſt in meinen Augen glücklich, der die - ſem unentfliehbaren Feinde ſo oft recht nahe und beherzt in die Augen geſehen395 hat, daſs er ihm durch lange Gewohn - heit endlich gleichgültig wird. Wie ſehr täuſchen ſich die, die in der Entfer - nung des Gedankens an den Tod dieſs Mittel gegen die Todesfurcht zu finden glauben! Ehe ſie ſichs verſehen, mitten in der lachendſten Freude wird der Ge - danke ſie überraſchen, und ſie deſto fürchterlicher erſchüttern, je mehr er ihnen fremd iſt. Genug, ich kann nur den für glücklich erklären, der es dahin gebracht hat, mitten im Freudengenuſs ſich den Tod zu denken, ohne dadurch geſtöhrt zu werden, und man glaube mir es auf meine Erfarung, daſs man durch öftere Bekanntmachung mit dieſer Idee und durch Milderung ihre Vorſtel - lungsart darinn zulezt zu einer auſſeror - dentlichen Gleichgültigkeit bringen kann. Man ſehe doch die Soldaten, die Matroſen, die Bergleute an. Wo findet man glücklichere und luſtigere, für jede Freude empfänglichere Menſchen? Und warum? Weil ſie durch die beſtändige Nähe des Todes ihn verachten gelernt396 haben. Wer den Tod nicht mehr fürch - tet, der allein iſt frey, es iſt nichts mehr, was ihn feſſeln, ängſtigen oder unglück - lich machen könnte. Seine Seele füllt ſich mit hohem unerſchütterlichen Mu - the, der ſelbſt die Lebenskraft ſtärkt, und dadurch ſelbſt ein poſitives Mittel wird, ihn zu entfernen.

Noch hat dieſe Gewohnheit einen nicht unwichtigen Nebennutzen. Sie iſt auch ein vortrefliches Hausmittel tu - gendhaft und rechtſchaffen zu bleiben. Bey jedem zweifelhaften Fall, bey jeder Frage, ob etwas recht oder unrecht ſey, denke man ſich nur gleich an die lezte Stunde des Lebens hin, und frage ſich: würdeſt du da ſo oder ſo handeln, wür - deſt du da wünſchen, ſo oder ſo gehan - delt zu haben? Eine Freude, ein Le - bensgenuſs, wobey man ruhig an den Tod denken kann, iſt gewiſs unſchuldig. Iſt man gegen jemand aufgebracht oder misgünſtig, oder bekommt man Luſt ſich wegen einer angethanen Beleidigung zu397 rächen, nur an jene Stunde gedacht, und an das Verhältniſs, was dort entſte - hen wird, und ich ſtehe dafür, daſs jene misgünſtigen oder menſchenfeindlichen Ideen ſogleich verſchwinden werden. Die Urſache iſt, weil durch dieſe Ver - ſetzung des Schauplatzes alle jenen klein - lichen und ſelbſtſüchtigen Rückſichten aufgehoben werden, die uns ſo gewöhn - lich beſtimmen; alles bekommt mit ei - nemmale ſeinen wahren Geſichtspunct, ſein wahres Verhältniſs, die Täuſchung ſchwindet, das Weſentliche bleibt.

2. Mancher fürchtet weit weniger den Tod als die Operation des Sterbens. Da macht man ſich die allerſonderbar - ſten Begriffe von der lezten Todesnoth, der gewaltſamen Trennung der Seele von ihrem Körper u. dgl. mehr. Aber dieſs alles iſt völlig ungegründet. Ge - wiſs hat noch kein Menſch das Sterben ſelbſt empfunden, und eben ſo bewuſst - los, wie wir ins Leben treten, eben ſo treten wir wieder heraus. Anfang und398 Ende flieſsen hier wieder zuſammen. Meine Beweiſe ſind folgende: Zuerſt kann der Menſch keine Empfindung vom Sterben haben, denn Sterben heiſst nichts anders als die Lebenskraft verlie - ren, und dieſe iſts eben, wodurch die Seele ihren Körper empfindet; in dem - ſelben Verhältniſs alſo, als ſich die Le - benskraft verliert, verliert ſich auch die Empfindungskraft und das Bewuſstſeyn; und wir können das Leben nicht verlie - ren, ohne zugleich oder noch eher (denn es gehören dazu zartere Organe) auch das Gefühl des Lebens zu verlieren. Und dann lehrt es auch die Erfarung. Alle die, welche den erſten Grad des Todes erlitten und wieder zum Leben zurückgerufen wurden, verſichern ein - ſtimmig, daſs ſie nichts vom Sterben ge - fühlt haben, ſondern in Ohnmacht, in Bewuſstloſigkeit verſunken ſind. Man laſſe ſich nicht durch die Zuckun - gen, das Röcheln, die ſcheinbare Todes - angſt irre machen, die man bey man - chen Sterbenden ſieht. Dieſe Zufälle ſind399 nur ängſtlich für den Zuſchauer, nicht für den Sterbenden, der davon nichts empfindet. Es wäre eben ſo, als wenn man aus den fürchterlichen Zuckungen eines Epileptiſchen auf ſeine inneren Gefühle ſchlieſsen wollte. Er weiſs nichts von allem dem, was uns ſo viel Angſt machte.

3. Man denke ſich das Leben immer als das, was es iſt, als einen Mittelzu - ſtand, (der noch nicht ſelbſt Zweck, ſon - dern nur Mittel zum Zweck iſt, wie die tauſendfachen Unvollkommenheiten deſ - ſelben hinlänglich beweiſen,) als eine Periode der Entwicklung und Vorberei - tung, als ein Fragment unſrer Exiſtenz, durch das wir blos zu andern Perioden übergehen und reifen ſollen. Kann uns denn der Gedanke wohl ſchrecklich ſeyn, dieſen Uebergang wirklich zu ma - chen, aus dieſem Mittelzuſtand, aus dieſer räthſelhaften, zweifelsvollen, nie ganz befriedigenden Exiſtenz, zu einer andern heraus zu treten? Ganz ruhig400 und furchtlos können wir uns dann wie - der dem höhern Weſen überlaſſen, was uns eben ſo, ohne unſer Zuthun, auf dieſen Schauplatz ſezte, und von ihm die fernere Leitung unſers Schickſals er - warten.

4. Auch wird der Gedanke an die Vorausgegangenen die Todesfurcht ſehr mildern, an den Cirkel der Lieben, die unſerm Herzen nahe waren und es noch immer ſind, und die uns gleichſam aus jenem dunkeln Lande freundlich zu - winken.

IX.401

IX.

Müſſiggang Unthätigkeit Lange Weile.

Aber auch das entgegengeſezte, der Nichtgebrauch unſrer Kräfte, kann Le - bensverkürzend werden, weil dadurch gar leicht Unbrauchbarkeit der Organe, Stockung, mangelnde Reinigung der Säfte, und ſchlechte Reſtauration ent - ſteht. Es iſt die erſte und unwandelbar - ſte Beſtimmung des Menſchen, im Schweiſs ſeines Angeſichts ſein Brod zu eſſen. Und auch phyſiſch beſtätigt die Erfarung dieſen Satz vollkommen: WerC c402iſst ohne zu arbeiten, dem bekommt es nicht. Wenn nicht immer ein gehöri - ges Verhältniſs zwiſchen der Reſtaura - tion und Selbſtaufreibung bleibt, ſo iſt es unmöglich, daſs Geſundheit und lan - ges Leben beſtehen kann. Werfen wir einen Blick auf die Erfarung, ſo finden wir, daſs kein einziger Müſſiggänger ein hohes Alter erreicht hat, ſondern die ausgezeichneten Alten durchaus Men - ſchen von einer auſſerſt thätigen Lebens - art geweſen waren.

Aber nicht blos der körperliche, ſondern auch der Seelenmüſſiggang ſcha - det, und ich komme hier auf ein Le - bensverkürzungsmittel, was man hier wol nicht erwarten ſollte, weil es dem Schein nach uns die Zeit ſo grauſam lang macht, die lange Weile. Laſſen Sie uns die phyſiſchen Wirkungen derſelben etwas genauer durchgehen, und Sie werden ſehen, daſs dieſer unbehagliche Seelenzuſtand keineswegs gleichgültig, ſondern von ſehr wichtigen Folgen für403 unſer Körperliches iſt. Was bemerken wir an einem Menſchen, der lange Weile hat? Er fängt an zu gähnen; dieſs verräth ſchon einen gehinderten Durch - gang des Bluts durch die Lungen. Folg - lich leidet die Kraft des Herzens und der Gefäſse, und iſt zu träg. Dauert das Uebel länger, ſo entſtehen zulezt wol Congeſtionen und Stockungen des Bluts. Die Verdauungswerkzeuge werden eben - falls zur Schwäche und zur Trägheit umgeſtimmt, es entſteht Mattigkeit, Schwehrmuth, Blähungen, hypochon - driſche Stimmung. Genug, alle Fun - ctionen werden dadurch geſchwächt, und in Unordnung gebracht, und ich glaube alſo mit Recht behaupten zu kön - nen, daſs ein Zuſtand, der die wichtig - ſten Geſchäfte des Körpers ſtöhrt, die edelſten Kräfte ſchwächt, Lebensverkür - zend iſt.

Sowol in phyſiſcher als morali - ſcher Rückſicht iſt lange Weile ein ſehrC c 2404gefährlicher Zuſtand. Weikard*)In einem Werke, das gewiſs eine Menge ſeiner Mitbrüder überleben wird, und auch hier die gröſste Empfehlung verdient: Weikards Philo - ſophiſcher Arzt. erzählt das Beyſpiel eines Kindes, welches von ſehr armen Eltern erzeugt war, die ihr Brod mit Tagelohn verdienen muſsten. Das Schickſal dieſes Kindes alſo, von ſeiner Geburt an, war lange Weile. An - fangs lieſsen es die Eltern allein in ſeiner Wiege liegen, wo es ſeine Zeit damit zu - brachte, ſeine Hände und Füſse anzuſe - hen. Da es gröſser wurde, wurde es jederzeit in einen Hühnerſtall einge - ſperrt, wo es nur durch ein Loch ein wenig herausſehen konnte. Was war die Folge? Das Kind blieb bis in ſein erwachſenes Alter dumm und blöde, hatte keinen Verſtand, und konnte kaum ſprechen.

Ja, ihre Wirkungen ſind noch ärger. Bey einem melancholiſchen Tempera -405 ment kann Längeweile allein endlich zum Selbſtmorde führen. Ein trockner Schriftſteller hatte ein ſehr weitläufiges Werk vom Selbſtmord geſchrieben. Er begegnete einſt einem andern Engländer, der alle Zeichen des gröſsten Tiefſinns an ſich trug. Wo wollen Sie hin, mein Freund? ſagte der Autor. Nach der Themſe, um mich zu erſäufen. O, ſo bitte ich Sie, erwiderte der Autor, gehen Sie nur noch dieſsmal wieder nach Hauſe und leſen Sie erſt mein Werk über den Selbſtmord. Gott ſoll mich bewahren, antwortete jener, eben das Durchleſen dieſes verwünſcht langwei - ligen Buchs hat mir einen ſo entſezli - chen Verdruſs erweckt, daſs ich nun feſt entſchloſſen bin, mich zu erſäufen.

Aber, was in aller Welt iſt das Mittel gegen die lange Weile, höre ich fragen; ſie begleitet uns auf den Ball, ins Schau - ſpielhaus, an den Theetiſch, auf die Promenade, genug, nirgends mehr kann man ſich vor ihr retten? Sehr406 wahr, alles dieſs hilft nichts. Es giebt nur ein einziges, aber freylich nicht be - liebtes, Mittel dagegen, und das iſt: Beſtimmte Berufsarbeit.

407

X.

Ueberſpannte Einbildungskraft Krank - heitseinbildung Empfin - deley.

Die Phantaſie ward uns zur Würze des Lebens gegeben, aber, ſo wenig die phyſiſche Würze tägliche Nahrung wer - den darf, eben ſo wenig darf das geiſtige Leben dieſe Seelenwürze misbrauchen. Zwar exaltirt man dadurch ſein Lebens - gefühl, aber man beſchleunigt auch das408 intenſive Leben und die Lebensaufrei - bung, und hindert die Reſtauration, wie das ſchon die Magerkeit ſolcher Leute von feuriger Imagination beweiſt. Ue - berdieſs disponirt man dadurch den Körper zu plözlichen und gewaltſamen Revolutionen, die Lebensgefährlich werden können, weil bey überſpannter Imagination ein kleiner Funken die ge - waltigſte Exploſion bewirken kann. Wer alſo lange zu leben wünſcht, der laſſe dieſe Seelenkraft nie zu ſehr die Oberherrſchaft gewinnen, und nie ei - nen fortdauernd exaltirten Zuſtand be - wirken; ſondern er benutze ſie dazu, wozu ſie uns gegeben ward, den ſchönen Augenblicken des Lebens einen noch höhern Glanz zu geben, die ſchaalen und unſchmackhaften zu würzen und die traurigen zu erheitern.

Beſonders kann ſie dem Leben ſehr nachtheilig werden, wenn ſie gewiſſe Richtungen nimmt, die durch ihre Ne -409 benwirkungen doppelt ſchaden, und da ſcheinen mir zwey vorzüglich gefähr - lich: die Krankheitseinbildung und die Empfindeley.

Die erſtere Imaginationskrankheit iſt hauptſächlich ein Eigenthum der Hy - pochondriſten, kann aber auch bey Nichtärzten dadurch erzeugt werden, wenn ſie zuviel mediziniſche Schriften leſen, die ſie denn, nicht wie der Arzt, auf die Kunſt, ſondern auf ihre eigne Perſon anwenden, und aus Mangel hin - reichender Kenntniſſe ſehr leicht irrig deuten (ein neuer Grund, ſich vor dieſer Lectüre zu hüten). Ich habe erſtaunli - che Beyſpiele davon geſehen; nicht al - lein Leute, die ſich bey völlig geraden Naſen feſtiglich einbildeten, ſchiefe Na - ſen zu haben, die ſich bey einem ſehr ſchmächtigen Bauch nicht von der Idee abbringen lieſsen, die Waſſerſucht im höchſten Grade zu haben u. dgl., ſondern ich habe eine Dame geſehen, die man410 nur mit einiger Aufmerkſamkeit nach einem örtlichen Zufall zu fragen brauch - te, um ihn auch ſogleich zu erregen; ich fragte nach Kopfweh, und es ent - ſtand, nach Krämpfen in dem Arm, nach Schluchſen, und die Krämpfe und der Schluchſen waren auf der Stelle da.

Tulpius erzählt das Beyſpiel eines Menſchen, der durch das Leſen vieler mediziniſchen und chirurgiſchen Bücher wahnſinnig wurde.

Monro ſah einen Menſchen, der un - ter Boerhaave Medizin ſtudirte, und Hy - pochondriſt dabey war. So oft er einer Vorleſung des Boerhaave beygewohnt hatte, bildete er ſich allemal ein, auch die Krankheit zu haben, die vorgetra - gen worden war. Auf dieſe Art war er der beſtändige lebendige Commentar der Krankheitslehre, und er hatte kaum die Hälfte dieſes angreifenden medizini -411 ſchen Curſus durchgemacht, als er im äuſſerſten Grade elend und abgezehrt war, und dieſs Studium ganz aufgeben muſste. Ja man hat ſogar ein Bey - ſpiel, daſs ſich einer einbildete, wirk - lich geſtorben zu ſeyn, und faſt darüber verhungert wäre, wenn ihn nicht ein Freund, der ſich auch tod ſtellte, über - redet hätte, daſs es auch in der andern Welt Sitte wäre, ſich täglich ſatt zu eſſen.

Der Schaden dieſer Krankheitsein - bildungen liegt nicht allein darinn, daſs dadurch ewige Furcht und Angſt unter - halten und manche Krankheit wirklich dadurch erzeugt wird, weil man ſich einbildet, ſie zu haben, ſondern auch, daſs nun das unnütze und widerſinnigſte Mediziniren gar kein Ende nimmt, wel - ches den Körper oft ſchneller aufreibt, als die Krankheit ſelbſt, wenn ſie da wäre.

412

Nicht weniger ſchädlich iſt die zweyte Krankheit der Einbildungskraft, die Empfindeley, die romanhafte Denk - art, die traurige Schwärmerey. Es iſt ganz einerley, ob man die traurigen Be - gebenheiten ſelbſt erlebt, oder durch Romanen und Empfindeley ſich ſo leb - haft macht, daſs man eben das nieder - ſchlagende Gefühl davon hat. Ja es iſt in ſo fern noch nachtheiliger, weil es dort ein natürlicher Zuſtand, hier aber ein erkünſtelter und alſo deſto angrei - fenderer Affect iſt. Wir haben geſehen, wie äuſserſt ſchädlich Traurigkeit für alle Lebenskraft und Bewegung iſt. Man kann alſo leicht denken, wie de - ſtruirend eine ſolche Seelenſtimmung ſeyn muſs, die beſtändigen Trübſinn zum Gefährten des Lebens macht, die ſogar die reinſten Freuden mit Thrä - nen und herzbrechenden Empfindun - gen genieſst. Welche Tödtung al - ler Energie, alles frohen Muths! Ge - wiſs, ein Paar Jahre in einem ſol -413 chen Herzenszwange zugebracht, kön - nen das Leben um ein anſehnliches ver - kürzen.

414

XI.

Gifte ſowohl phyſiſche als contagiöſe.

Wir verſtehen darunter alle die Sub - ſtanzen, die ſchor in geringer Menge ſehr nachtheilige oder zerſtörende Wir - kungen in dem menſchlichen Körper hervorbringen können. Es giebt deren ſehr viele in der Natur, und von man - nichtfaltiger Art; einige wirken heftig, andere ſchleichend, einige ſchnell, andere langſam, einige von auſſen, andere von innen, einige ſichtbar, andere unſichtbar, und es iſt nicht zu leugnen, daſs ſie un - ter die allgemeinſten und gefährlichſten Feinde des Lebens gehören.

415

Ich halte es daher für ſehr noth - wenig und für einen weſentlichen Theil der allgemeinen Bildung und Kultur des Menſchen, daſs ein jeder dieſe Gifte er - kennen und vermeiden lerne, weil man ſonſt durch bloſse Unwiſſenheit und Un - achtſamkeit unzählichen Vergiftungen ausgeſezt iſt. Das Thier hat Inſtinkt, um die Gifte zu erkennen und zu fliehen, der Menſch Vernunft und Erfarung; aber noch wird dieſe bey weitem nicht allgemein genug über dieſen Gegenſtand benuzt. Dieſs iſt hier mein Zweck, ſol - che allgemeine Kenntniſſe und Begriffe mitzutheilen, die jeder Menſch zur Ver - meidung dieſer Lebensfeinde zu wiſſen nöthig hat.

Es iſt ein ſehr nachtheiliges Vorur - theil, daſs man nur das gewöhnlich für Gift hält, was durch den Mund in uns aufgenommen wird. Durch alle, ſowohl äuſſerliche als innerliche Flächen und Theile unſers Körpers können wir vergiftet werden; in ſo fern ſie alle Ner -416 ven und einſaugende Gefäſse haben; alſo durch Mund und Magen, durch den Maſtdarm, durch die ganze Ober - fläche der Haut, die Naſenhöhle, die Ohren, die Geſchlechtstheile, die Lun - ge (durch Hülfe der Luft). Der Unter - ſchied liegt blos darinne, daſs die Wir - kung in manchen Theilen langſamer, in manchen ſchneller erfolgt, auch daſs manche Gifte vorzüglich auf dieſen, an - dre auf jenen Theil wirken.

Ich theile alle Gifte in zwey Klaſſen, die phyſiſchen und die contagiöſen, wel - che leztern ſich dadurch unterſcheiden, daſs ſie ſich immer in einem lebenden Körper erzeugen, und die Kraft beſitzen, in einem andern das nämliche Gift her - vorzubringen.

Unter den phyſiſchen iſt die Kennt - niſs folgender vorzüglich nöthig:

Das Arſenik, Operment, unter dem Namen Rattengift am meiſten bekannt,das417das heftigſte unter allen Giften. Es tödtet in den kleinſten Doſen (5-6 Gran ſind hinreichend) unter den grauſamſten Schmerzen, und ſehr ſchnell. Unzählig ſind die Fälle, wo ſich Menſchen da - durch den grauſamſten Tod gaben, und zwar weit mehr aus Unwiſſenheit und Leichtſinn, als aus Abſicht. Ich glaube daher, es wäre weit beſſer, dieſes ſchreckliche Gift ganz aus der menſchli - chen Geſellſchaft zu verbannen, insbe - ſondere da es von ſo wenig Nutzen iſt, der ſich im Publikum faſt lediglich auf Tödtung der Mäuſe und Ratten ein - ſchränkt. Wenigſtens ſollte es ſchlech - terdings bey keinem Materialiſten und Würzkrämer, in keinem Laden, wo Zucker, Kaffee und andere Conſumtibi - lien vorräthig ſind, verkauft werden. Bis dahin halte ichs wenigſtens für Pflicht, auf einige Arten aufmerkſam zu machen, wodurch Arſenikvergiftung ſehr leicht möglich wird, und ſchon oft geſchehen iſt, und dafür zu warnen. Eine der häufigſten iſt die Abſicht, Mäuſe undD d418andre Thiere damit zu tödten. Wenn man bedenkt, wie viele Menſchen ſchon durch ſolches Gift ums Leben gekom - men ſind, das man Mäuſen beſtimmt hatte, ſo ſollte man doch am Ende dieſe Gewohnheit ganz unterlaſſen. Man glaube nicht, daſs groſse Vorſicht dabey allen Schaden unmöglich mache. Die gröſste Vorſicht iſt dieſs nicht ganz zu verhüten im Stande. So weiſs ich ein Beyſpiel, wo eine im Keller ſtehende friſche Milch durch Mäuſe vergiftet wurde, die vorher Rattengift genoſſen, und hierauf von dieſer Milch geſoffen hatten. Weit beſſer iſts, ſich zu dieſem Behuf der Krähenaugen (Nux Vomica) zu bedienen, die dem Menſchen weit weniger ſchädlich und den Thieren äuſ - ſerſt giftig ſind. Eine andre weniger be - merkte Vergiftungsart mit Arſenik iſt die durch arſenikaliſche Mahlerfarben. Mahler von Profeſſion wiſſen ſich dage - gen ſchon mehr zu ſchützen; aber Dilet - tanten und Kinder ſollten beym Ge - brauch ſolcher Farben ſehr vorſichtig419 ſeyn, und am wenigſten die üble Ge - wohnheit annehmen, die Pinſel durch den Mund zu ziehen. Eben ſo gefähr - lich ſind Spielſachen, mit arſenikaliſchen Farben bemahlt, welches durchaus nicht geſtattet werden ſollte. Noch rathe ich endlich, ſich für einer Arſenikvergiftung zu hüten, welche Quackſalber und her - umziehende Charlatans ausüben. Sie verkaufen häufig Tropfen wider das kalte Fieber, die nichts anders als Arſe - nik enthalten, und die zwar das Fieber oft auf der Stelle heilen, aber hinter - drein Auszehrung und tödliche Folgen erregen. Man hüte ſich ums Himmels willen für ſolchen Arcanen.

Ein nicht weniger furchtbares Gift iſt das Bley. Es iſt in ſo fern vielleicht noch furchtbarer, als Arſenik, weil es langſamer und ſchleichender wirkt, ſich nicht ſogleich durch heftige Wirkungen zu erkennen giebt, und weil man da - durch ſchon völlig vergiftet ſeyn kann, ehe man es noch weiſs, daſs man ver -D d 2420giftet iſt. Hier alſo beſonders ſind ge - wiſſe Vergiftungsarten möglich, die ein groſser Theil des Publikums gar nicht bemerkt, und auf die ich hier aufmerk - ſam machen muſs. Die erſte iſt, wenn man täglich etwas Bley mit Speiſen und Getränken zu ſich nimmt, ſo können zulezt, oft erſt nach Jahren, die fürch - terlichen Zufälle einer unheilbaren Bley - vergiftung ausbrechen. Dieſs geſchieht, wenn man die Speiſen in zinnernen, viel Bley enthaltenden Geſchirren, oder auch in ſolchen, die ſehr ſchlecht gla - ſurt ſind, kochen läſst, oder wenn man mit Bley verfälſchten Wein trinkt (wel - ches durch die Hahnemannſche Wein - probe am beſten zu entdecken iſt). Eine andre Art von ſehr gewöhnlicher Bleyvergiftung iſt das Schminken mit Bleykalchen, bleyiſchen Waſchwaſſern u. dgl. Alle Schminken ſind ſchädlich, aber am meiſten die weiſſen, weil ſie faſt alle Bleykalch enthalten und die Bleytheilchen durch die Haut eben ſo gut wie durch den Magen in uns kom -421 men können. Endlich iſt auch die Bley - vergiftung von friſch mit Bleyweiſs oder Oelfirniſs gemahlten Zimmern nicht zu vergeſſen. Wer dieſe zu bald bewohnt, der kann das Gift vorzüglich ſeiner Lun - ge mittheilen und engbrüſtig auch hectiſch werden. Ueberhaupt ſind die Zeichen und Wirkungen der Bleyvergiſ - tung dieſe: Kolikſchmerzen, Trocken - heit und hartnäckige Verſtopfung des Stuhlgangs, Lähmung der Arme, auch wohl der Füſse, endlich gänzliche Ver - trocknung des Körpers und der Tod durch Abzehrung.

Hieher gehören ferner die Queckſil - ber-Spieſsglas - und Kupferzubereitungen, welche alle als ſchädliche Gifte zu be - trachten ſind, und wobey beſonders für dem Kochen in kupfernen Geſchirren zu warnen iſt. Selbſt die meiſten Mittel - ſalze, wenn ſie in zu ſtarker Menge auf einmal und nicht hinlänglich in Waſſer aufgelöſet genommen werden, können als Gifte wirken. Es ſind mir einige422 Beyſpiele vorgekommen, wo zwey, drey Loth Salpeter oder Alaun, den man ſtatt Glauberſalz auf einmal nahm, alle Zu - fälle einer heftigen Vergiftung erregten, die nur mit Mühe gedämpft werden konnten.

Das Pflanzenreich enthält eine Men - ge Gifte, die theils betäubend tödten (als Opium, Belladonna), theils durch Schärfe, Entzündung und Brand (als Mezereum, Euphorbium). Sehr häufig wird auch hier durch Unwiſſenheit ge - fehlt. Unzählig ſind die Beyſpiele, wo man ſtatt Körbel Cicuta zum Sallat, ſtatt Paſtinakwurzeln Bilſenkrautwurzeln zum Gemüſse, ſtatt eſsbarer Schwämme giftige, oder die Beeren von der Toll - kirſche, vom Seidelbaſt u. dgl. genoſs, und ſich dadurch den Tod zuzog. Es ſollte alſo durchaus in den Schulen ei - nem jeden Menſchen der nöthige Unter - richt über die in ſeiner Gegend wach - ſenden Giftpflanzen mitgetheilt werden, und, da mir hier der Raum verbietet,423 ſie einzeln durchzugehen, ſo will ich hier ein Buch empfehlen, woraus man dieſe Kenntniſs am beſten und vollkom - menſten erhält. *)Halle teutſche Giftpflanzen zur Verhütung trau - riger Vorfälle, mit illum. Kupf, 2 Bände, 3te Auflage.

Die in Teutſchland gefährlichſten Giftpflanzen, deren Kenntniſs und Ver - meidung am nöthigſten iſt, ſind: Toll - kirſche (Belladonna), Schierling (Cicuta), Bilſenkraut (Hyoſcyamus), Eiſenhüt - lein (Aconitum), der rothe Fingerhut (Digitalis), Nachtſchatten (Solanum), Wolfskirſche (Eſula), das Tollkorn (Lo - lium temulentum), Kellerholz (Daphne), mehrere Arten Ranunculus, der giftige Lattich (Lactuca viroſa), der Kirſchlor - beer (Lauroceraſus). Auch die bittern Mandeln gehören hieher, welche nach den neueſten Erfarungen ein äuſſerſt tödliches Gift enthalten, das dem Gift des Kirſchlorbeers nichts nachgiebt.

424

Selbſt die Luft kann vergiftet ſeyn, in der wir leben, und ſo können wir entweder ſchnell oder ſchleichend ge - tödet werden. Ich rechne dahin vor al - len das Gift, was wir ſelbſt der Luft durchs Leben und Athemholen mitthei - len. Lebende Geſchöpfe zehren in ei - ner gewiſſen Quantität Luft den reinen Stoff oder die Lebensluft auf, und thei - len ihr dafür unreine und nicht zum Athmen taugliche Stoffe mit. Iſt eine groſse Menge Menſchen in einen kleinen Raum eingeſchloſſen, ſo kann es bald tödlich werden*)Wie das ſchreckliche Beyſpiel in Calcutta zeigte, wo in der ſchwarzen Höle von 146 Engländern in kaum 12 Stunden, blos durch Vergiftung der Luft, 123 getödet wurden. S. Zimmermann von der Erſarung. Iſt der Raum gröſser, und die Menge kleiner, ſo iſt es zwar nicht tödlich, aber dennoch ſchädlich. Man vermeide daher Oerter, wo ſolche unverhältniſsmäſsige Menſchenmaſſen zuſammengepreſst ſind, vorzüglich wenn ſie nicht genug Höhe oder Luftzugang425 von auſſen haben. Am häufigſten iſt dieſs in Schauſpielhäuſern der Fall. Eins der ſicherſten Kennzeichen dieſer Luft - vergiftung iſt: wenn die Lichter nicht hell mehr brennen wollen, oder wohl gar hie und da von ſelbſt ausgehen. In eben dem Verhältniſs wird ſie auch zum Leben untauglich, denn Feuer und Le - ben brauchen einerley Theile aus der Luft zu ihrer Erhaltung. Wer ſein Wohn - oder Schlafzimmer beſtändig feſt verſchloſſen hält, der übt eine ähnliche langſame Vergiftung an ſich aus. Auf ähnliche Art kann die Luft vergiftet wer - den, wenn eine groſse Menge Lichter zugleich in einem eingeſchloſsnen Zim - mer brennen. Eben ſo, wenn man glü - hende Kohlen in eine eingeſchloſsne Kammer ſezt, und dabey einſchläft, wo - durch ſchon öfter der Tod erfolgte. Auch, wenn man des Nachts ſehr viele Pflanzen und Gewächſe in einem einge - ſchloſsnen Zimmer bey ſich hat, ſo er - leidet die Luft eine ähnliche Art von Ver - giftung, da hingegen dieſelben Pflanzen426 bey Tage und im Sonnenſchein die Luft geſünder machen. Nicht weniger iſt die Ausdünſtung faulichter Subſtanzen das zu thun fähig. Sogar die ſtark rie - chenden Ausdünſtungen der Blumen können der Luft in einem eingeſchloſs - nen Zimmer ſchädliche, ja tödliche Ei - genſchaften mittheilen, daher es nie zu rathen iſt, ſtark riechende Blumen, Oran - gen, Narciſſen, Roſen u. ſ. w. in die Schlafkammer zu ſtellen.

Aber weit wichtiger und furchtba - rer noch ſcheint mir die Klaſſe der con - ragiöſen Gifte, zu der ich nun komme, und ich erbitte mir hierbey die gröſste Aufmerkſamkeit. Von jenen phyſiſchen Giften bekommt man wohl noch allen - falls Unterricht, man hat Bücher dar - über, man kennt und flieht ſie. Ganz anders mit den contagiöſen, man hat ih - nen gleichſam, als unvermeidlichen und nothwendigen Uebeln, das Bürgerrecht geſtattet, man kennt ſie gar nicht als Gifte, ſondern nur von Seiten der Krank -427 heiten, die ſie erregen, man vergiftet und wird vergiftet, und treibt dieſen fürchterlichen Tauſchhandel täglich und ſtündlich, ohne daſs ein Menſch dabey weiſs oder denkt, was er thut. Die phyſiſchen Gifte ſind, wie ſichs gehört, dem Polizeygeſetze unterworfen, der Staat ſorgt für ihre Verwahrung und Einſchränkung, und man betrachtet und behandelt den, der ſie einem andern wiſ - ſentlich beybringt, als einen Verbrecher; um die contagiöſen hingegen bekümmert ſich keine Polizey, kein Geſetz, ſie - then ungeſtöhrt unter uns fort, der Mann vergiftet die Frau, der Sohn den Vater, und kein Menſch fragt darnach. Die phyſiſchen Gifte endlich ſchaden doch nur dem Individuum, das ſie ſich beybringt, hingegen die contagiöſen be - ſitzen die beſondere Kraft, ſich in jedem lebenden Weſen zu reproduzieren und ins Unendliche zu erzeugen, ſie ſchaden alſo nicht blos dem Vergifteten, ſon - dern machen ihn nun wieder zu einer neuen Giftquelle, wodurch ganze Orte428 und Gegenden vergiftet werden kön - nen.

Ich könnte hier die traurigſten Bey - ſpiele anführen, von Menſchen, die blos durch Unwiſſenheit auf ſolche Weiſe vergiftet wurden, von andern, die an - dere, oft ihre nächſten Freunde, vergif - teten, blos weil ſie dieſe Arten der Gifte und ihrer Mittheilung nicht kannten. Ich halte dieſe Kenntniſs für ſo nothwen - dig und für noch ſo ſehr im Publicum mangelnd, daſs ich mit Vergnügen dieſe Gelegenheit ergreife, etwas unterrich - tendes darüber zu ſagen.

Contagiöſe Gifte heiſsen diejenigen, die ſich nie anders als in einem leben - den thieriſchen Körper erzeugen und die Kraft beſitzen, wenn ſie einem an - dern mitgetheilt werden, ſich in dem - ſelben zu reproduziren, und die nehm - liche Verderbniſs und Krankheit hervor - zubringen, die der erſte hatte. Jede Thierklaſſe hat ihre eignen, die auf an -429 dere nicht wirken. So hat das Men - ſchengeſchlecht die ſeinigen, welche den Thieren nichts anhaben, z. E. das veneriſche Gift, das Pockengift etc., die Thiere hingegen die ihrigen, die nicht auf den Menſchen wirken, z. E. das Hornviehſeuchengift, das Rozgift bey Pferden. Nur eins iſt mir bekannt, was Thieren und Menſchen eigen iſt, das Wuthgift. Man nennt ſie auch Anſte - ckungsgifte, Contagien, Miasmen.

Ein ſehr merkwürdiger Unterſchied unter ihnen iſt der, daſs ſich manche nie wieder von neuen, ohne äuſſere Anſte - ckung, erzeugen, wie z. E. das veneri - ſche Gift, das Blattergift, das Maſern - gift, das Peſtgift, das Ausſatzgift, an - dere hingegen können immer noch von neuen, ohne Anſteckung, blos durch gewiſſe im thieriſchen Körper entſtehen - de Veränderungen und Verderbniſſe her - vorgebracht werden, z. B. das Kräzgift, das Fäulniſsgift, das Schwindſuchtsgift u. ſ. w. Man hat daher ſchon oft ge -430 fragt: wie wohl die Gifte der erſtern Klaſſe entſtanden ſeyn mögen? und es iſt ſchwehr dieſe Frage zu beantworten; indeſs erlaubt uns die Analogie der lez - tern Klaſſe anzunehmen, daſs ſie auch zuerſt im menſchlichen Körper erzeugt worden ſind, aber durch eine ſo ſeltne Konkurrenz innrer und äuſsrer Umſtän - de, daſs Jahrtauſende dazu gehören, ehe ſo etwas wieder möglich iſt. Es folgt aber auch hieraus, daſs dieſe Gifte, da ſie immer, um fortzudauern, in einem lebenden Körper reproduzirt werden müſſen, auch wieder aufhören können, ſobald ihnen durch Zufall oder durch abſichtliche Anſtalten dieſe Gelegenheit benommen wird, ſich wieder zu erzeu - gen (ein tröſtlicher Gedanke, auf dem die Ausrottung oder wenigſtens Verwei - ſung derſelben aus manchen Gegenden beruht, und von deſſen Wahrheit uns einige ſolche Gifte überzeugen, welche ſonſt ſehr gewöhnlich unter uns waren, aber jezt durch weiſe Anſtalten unter den cultivirten Nationen ausgerottet431 ſind, z. E. das Peſtgift, das Ausſatzgift). Aber eben ſo gegründet iſt auch die Fol - ge, daſs durch eine neue Konkurrenz ungewöhnlicher Umſtände und Verderb - niſſe im thieriſchen Körper, auch noch ganz neue Gifte der Art hervorgebracht werden können, von denen die Welt bisher nichts wuſste.

Es gehört aber zur Wirkung aller dieſer Giftarten nicht blos (wie bey an - dern) die Mittheilung oder Anſteckung von auſſen, ſondern auch eine gewiſſe Diſpoſition oder Empfänglichkeit des Körpers, ſie aufzunehmen. Daher das merkwürdige Phänomen, daſs manche Menſchen ſehr leicht, manche ſehr ſchwehr, manche gar nicht vergiftet werden können, ja daſs manche dieſer Gifte nur einmal auf uns wirken kön - nen, weil durch eine Vergiftung die ganze fernere Empfänglichkeit dafür auf immer aufgehoben wird, wie wir ſolches bey dem Blattern - und Maſern - gift wahrnehmen.

432

Die Mittheilung ſelbſt kann zwar ſcheinbar auf ſehr mannigfaltige Art ge - ſchehen, aber immer reduzirt ſie ſich auf den einfachen Grundſatz: Es gehört durchaus unmittelbare Berührung des Gifts ſelbſt dazu, wenn es ſich mittheilen ſoll. Nur muſs man dieſs recht verſte - hen. Dieſe unmittelbare Berührung des Gifts kann ſowohl an dem Körper des Kranken, als auch an einem andern Kör - per geſchehen, mit dem ſich das Gift verbunden oder an dem es ſich ange - hängt hat, z. E. abgeſonderte Theile des Kranken, Ausleerungsſäfte, Kleidung, Meubles u. dgl. Nur äuſſerſt wenige Gifte dieſer Art haben die Eigenſchaft, ſich auch in der Luft aufzulöſen, z. E. das Blattergift, Maſerngift, Faulfieber - gift, aber dieſe Luftauflöſung bleibt nur in der Nähe des Kranken giftig, oder, mit andern Worten, nur die nahe At - mosphäre des Kranken iſt anſteckend. Wird ſie aber durch mehr zudringende Luft vermiſcht und verdünnt, ſo geht es ihr wie jeder Giftauflöſung, (z. E. Subli -mat)433mat) ſie hört am Ende auf giftig zu wir - ken, d. h. in die Entfernung kann das Gift durch Luft nicht fortgetragen werden.

Meine Abſicht iſt hier vorzüglich, das nichtmediziniſche Publikum in den Stand zu ſetzen, dieſe Gifte zu vermei - den, oder doch (was gewiſs jedem gut - denkenden nicht gleichgültig ſeyn kann) ſie, wenn man vergiftet iſt, wenigſtens nicht andern mitzutheilen. Ich werde daher zuerſt einige allgemeine Regeln angeben, wie man ſich vor Anſteckung überhaupt ſichern kann, und denn die, bey uns am häufigſten vorkommenden. Gifte der Art einzeln durchgehen, und ihre Erkenntniſs und Verhütung be - ſtimmen.

Die beſten Mittel, wodurch ſich der Menſch überhaupt für Anſteckungen von jeder Art ſchützen kann, beſtehen in folgenden Regeln:

E e434

1. Man beobachte die gröſste Rein - lichkeit, denn durch die äuſſere Ober - fläche werden uns die meiſten Gifte die - ſer Art mitgetheilt, und es iſt erwieſen, daſs ſchon wirklich mitgetheilte Gifte durch Reinigungen wieder entfernt wer - den konnten, ehe ſie noch uns wirklich eigen wurden. Ich rechne dahin, das öftre Waſchen, Baden, Ausſpülen des Mundes, Kämmen, den öftern Wechſel der Wäſche, Kleider, Betten.

2. Man ſorge für reine Luft im Zim - mer, für öftern Genuſs der freyen Luft, und mache ſich fleiſsig körperliche Be - wegung. Dadurch erhält man die Aus - dünſtung und die Lebenskraft der Haut, und je thätiger dieſe iſt, deſto weniger hat man von äuſsrer Anſteckung zu fürchten.

3. Man erhalte guten Muth und Heiterkeit der Seele. Dieſe Gemüths - ſtimmung erhält am beſten die gegen - wirkende Kraft des Körpers, freye Aus -435 dünſtung und den Trieb der Säfte nach auſſen, wodurch gar ſehr die Aufnahme der Contagien gehindert wird. Dieſe Regel iſt beſonders bey herrſchenden Faulfiebergiften zu empfehlen, daher dann auch ein gut Glas Wein ſo nüz - lich iſt.

4. Man vermeide alle nähere Berüh - rung mit Menſchen, die man nicht, auch von Seiten ihres Phyſiſchen, ganz genau kennt; vorzüglich die Berührung mit Theilen, die gar keine oder eine äuſſerſt feine Oberhaut haben, z. E. ver - wundete Stellen, Lippen, Bruſtwarzen, Zeugungstheile, als wodurch die Ein - ſaugung am ſchnellſten geſchehen kann. Aber auch die Berührung ſolcher Sub - ſtanzen gehört hieher, die noch Theile oder Ausleerungen von Menſchen ſeit kurzen erhalten haben können, z. E. der eben von andern gebrauchten Trinkgläſer, Hemden, Unterkleider, Handſchuhe, Tabakspfeifen, Secreto u. dergl.

E e 2436

5. Wenn anſteckende Krankheiten an einem Orte herrſchen, ſo empfehle ich ſehr die Regel, nie nüchtern auszu - gehen, weil man nüchtern am leichte - ſten von auſſen einſaugt, ſondern immer erſt etwas zu genieſſen, auch, wenn man es gewohnt iſt, vorher eine Pfeife Tabak zu rauchen.

Nun zur Betrachtung der bey uns vorkommenden einzelnen Anſteckungs - gifte.

1. Das veneriſche Gift.

Traurig iſt das Loos der neuern Zei - ten, in denen dieſes Gift erſt bekannt und verbreitet worden iſt, und traurig das Gefühl, was den Menſchenfreund bey Betrachtung deſſelben und ſeiner Fortſchritte befällt! Was ſind alle, auch die tödlichſten Gifte, in Abſicht auf die Menſchheit im Ganzen, gegen das veneriſche? Dieſs allein vergiftet die Quellen des Lebens ſelbſt, verbittert den ſüſseſten Genuſs der Liebe, töd -437 tet und verdirbt die Menſchenſaat ſchon im Werden und wirkt alſo ſelbſt auf die künftige Generation, ſchleicht ſich ſelbſt in die Zirkel ſtiller häuslicher Glückſeligkeit ein, trennt Kinder von Eltern, Gatten von Gatten, und löſet die heiligſten Bande der Menſchheit. Dazu kommt noch, daſs es zu den ſchleichenden Giften gehört, und ſich gar nicht immer gleich durch heftige und Aufmerkſamkeit erre - gende Zufälle verräth. Man kann ſchon völlig vergiftet ſeyn, ohne es ſelbſt zu wiſſen, woher die üble Folge entſteht, daſs man es gewöhnlich erſt recht allge - mein und tief einwurzeln läſst, ehe man die nöthigen Mittel dagegen anwendet, und auch wohl noch andere vergiftet, ohne es zu wollen oder zu wiſſen. Eben deswegen kann man auch oft nicht ein - mal ganz gewiſs ſeyn, ob man völlig hergeſtellt iſt oder nicht, und muſs oft ſein ganzes Leben in dieſer tödlichen Ungewiſsheit zubringen. Und iſt es denn zu ſeiner ganzen Höhe gelangt,438 welche abſcheuliche Zerſtöhrungen rich - tet es im menſchlichen Körper an! Die ſcheuslichſten Geſchwühre bedecken den ganzen Körper, die Knochen werden zernagt, ganze Theile ſterben ab, Naſen - und Gaumenknochen gehen verloren, und mit ihnen Wohlgeſtalt und Sprache; die peinlichſten Schmerzen im innern Mark der Knochen foltern den Unglück - lichen, beſonders des Nachts, und ver - wandeln die Zeit der Ruhe in die quaal - vollſte Tortur.

Genug, das veneriſche Gift vereint alles, was nur ein Gift peinliches, ekel - haftes, langwieriges und fürchterliches haben kann, und mit dieſem Gifte trei - ben wir Scherz, belegen es mit dem ar - tigen gefälligen Namen der Galanterie - krankheiten, tändeln damit, wie mit Huſten und Schnupfen, und verſäumen ſogar, ſowohl im Ganzen als im Einzel - nen, die ſchicklichen Hülfsmittel zur rechten Zeit dagegen anzuwenden? Niemand denkt daran, den unaufhörli -439 chen Fortſchritten dieſer ſchleichenden Peſt Einhalt zu thun, und mein Herz blutet mir, wenn ich ſehe, wie das ſonſt ſo blühende und robuſte Landvolk, der eigentliche Kern für die Erhaltung einer kräftigen Menſchheit, auch in unſern Gegenden, wo es bisher noch den Na - men dieſes Giftes nicht kannte, ſchon anfängt, durch die Mittheilung der Städte davon angegriffen zu werden; wenn ich Städte ſehe, wo es noch vor 20 Jahren eine Seltenheit war, und jezt ſchon allgemein geworden iſt, und an - dere, von denen es erwieſen iſt, daſs zwey Drittheil der Einwohner veneriſch ſind; wenn ich in die Zukunft blicke, und bey fernerer ungeſtöhrten Fortwir - kung des Gifts es unvermeidlich finde, daſs nicht zulezt alles, auch die ehrbar - ſten Familien (durch Kindermägde, Am - men etc.), davon angeſteckt werden, wenn ich die traurigſten Beyſpiele vor mir ſehe (wie ich deren noch ganz kürz - lich erlebt habe), wie die ſittlichſten, ehrbarſten und ordentlichſten Menſchen,440 ohne Ausſchweifung und ohne es zu wiſſen, davon angeſteckt, und ſelbſt die Hütten der Unſchuld, ohne Verſchulden, davon heimgeſucht werden können!

Es iſt die höchſte Zeit, dieſem um ſich greifenden Verderben Einhalt zu thun, und ich ſehe dazu kein ander Mit - tel, als Sorgfalt für mehrere Sittlichkeit (beſonders der höhern Stände), eine gute Geſundheitspolizey und allgemei - nere Aufklärung des Volks über die Natur des Gifts, ſeine Gefahren und be - ſonders ſeine Erkenntniſs - und Verhü - tungsmittel. Das erſtere müſſen wir weiſen Obrigkeiten überlaſſen (denen dieſer Gegenſtand gewiſs nicht länger mehr gleichgültig ſeyn wird); das lez - tere will ich durch gegenwärtigen Un - terricht zu bewirken ſuchen.

Zuerſt die Erkenntniſsmittel der Vergiftung:

1. Wenn man kürzlich eine andere Perſon, oder eine Sache, die animaliſche441 Theile enthalten kann, genau berührt hat, und zwar mit zarten, wenig oder keine Oberhaut habenden Theilen.

2. Wenn man nun längere oder kürzere Zeit darnach (gewöhnlich bin - nen 4 Wochen), an dieſem Orte eines oder mehrere von folgenden Uebeln be - merkt: Kleine Geſchwühre, die aber ſpeckigt ausſehen und nicht heilen wol - len, oder Warzen und kleine Fleiſch - auswüchſe, oder Entzündung, oder ein Ausfluſs von Schleim (wenn es ein Schleim abſondernder Theil iſt), auch Anſchwellungen, Schmerzen und Ver - härtungen der Drüſen in der Nähe. Wenn ſolche Erſcheinungen vorkom - men, dann iſt man ſchon vergiftet, ob - wohl nur erſt örtlich, aber es iſt ſehr nöthig, daſs man ſich ſogleich einem geſchickten Arzte (keinem Charlatan oder Barbierer), anvertraue, damit es ge - dämpft werde, ehe es noch in die ganze Saftmaſſe übergehe und allgemeine Ver - giftung werde.

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3. Wenn nun aber auch an entfern - ten Theilen die Drüſen anſchwellen, Ausſchläge von verſchiedner Geſtalt, oder Geſchwühre, oder Fleiſchwarzen entſtehen, insbeſondere, wenn der Gau - men und Zapfen weh zu thun, oder die Augen ſich zu entzünden, oder an der Stirn immer rothe, grindigte, ſchwind - artige Flecken aufzufahren anfangen, dann erkennt man, daſs der ganze Körper ſchon von dem Gifte durchdrungen iſt, oder die allgemeine Anſteckung.

Die Regeln zur Verhütung der ve - neriſchen Vergiftung reduziren ſich auf folgende:

1. Man vermeide den vertrauten Umgang mit einer Weibsperſon, von deren guten Geſundheitszuſtand man nicht die genaueſte Ueberzeugung hat. Und da es nun einen Zuſtand der vene - riſchen Krankheit geben kann, der äuſſerlich durch gar nichts zu erkennen iſt, ſo folgt, daſs man nie ſicher ſeyn443 kann, und daſs das einzige Präſervativ bleibt, den auſſerehelichen Umgang mit dem andern Geſchlecht ganz zu ver - meiden.

2. Man küſſe niemand auf die Lip - pen, von deſſen phyſiſchen Zuſtand man keine genaue Kenntniſs hat. Es iſt da - her ſehr unvorſichtig, das Küſſen, wie es ſo häufig geſchieht, zu einer allge - meinen Höflichkeitsbezeugung zu ma - chen, und ſchrecklich iſt mirs, wenn ich ſehe, wie artige Kinder auf den Straſsen von jedem Vorübergehenden geherzt werden. Dieſs ſollte man durch - aus nicht geſtatten.

3. Man ſchlafe bey niemanden, den man nicht genau kennt.

4. Man ziehe kein Hemd, kein Un - terkleid an, bediene ſich keines Betts, das kurz vorher eine andre Perſon ge - braucht hat, die man nicht genau kennt. Daher muſs man in Gaſthöfen entweder444 unter ſeinen Augen die Betten weiſs überziehen laſſen, oder ſich ganz ange - zogen nur oben darauf legen.

5. Man nehme nichts in den Mund, was kurz vorher ein andrer im Munde hatte, z. E. Tabakspfeifen, Blaſeinſtru - mente; auch Trinkgeſchirre, Löffel u. ſ. w. gehören dazu. *)Man ſollte nie ſchon gebrauchte Tabakspfeifen in den Mund nehmen, beſonders an Orten, wo das veneriſche Uebel häufig iſt. Noch vor kur - zem hatte ich üble veneriſche Geſchwühre in dem Munde zu behandeln, die blos von einer ſolchen Tabakspfeife entſtanden waren.

6. Man vermeide auf Abtritten ſorg - fältig die Berührung der Gegend mit den Zeugungstheilen, wo vielleicht kurz zu - vor ein andrer vergifteter ſaſs. Eben ſo viel Vorſicht iſt bey dem Gebrauch publiker Klyſtierröhren, und andrer In - ſtrumente nöthig.

7. Sehr wichtig und groſser Auf - merkſamkeit werth iſt die Mittheilung445 durch die Brüſte. Eine veneriſche Amme kann das Kind, und eben ſo ein veneri - ſches Kind die Amme vergiften. Wie ſorgfältig ſollte alſo jede Amme, vorzüg - lich in groſsen Städten, erſt unterſucht werden. Stoll fand einſt von vierzig, die ſich zu einem Ammendienſt angebo - ten hatten, nur eine unverdächtig und ſicher. Aber auch die Weiber, die man zum Ausſaugen der Milch an man - chen Orten braucht, ſind nicht gleich - gültig. Sind ſie veneriſch, ſo können ſie dieſs Gift der, welche ſie ausſaugen, mittheilen, und man hat Beyſpiele, daſs eine ſolche Perſon eine Menge recht - ſchaffne Mütter infizirt hat.

8. Bey allen Geſchäften des Accou - chements iſt groſse Vorſicht nöthig, nicht allein für den Accoucheur, der, wenn er eine kleine Wunde an den Hän - den hat, ſehr leicht von einer veneri - ſchen Gebährerin angeſteckt werden kann, ſondern auch für die Gebährende, denn auch ſie kann bey dieſem Geſchäft446 infizirt werden, wenn die Hebamme veneriſche Geſchwühre an den Hän - den hat.

2. Das Blattern - und Maſerngift.

Beyde Gifte zeichnen ſich dadurch aus, daſs ſie allemal eine fieberhafte Krankheit und einen Hautausſchlag, jene von eiternden Puſteln und dieſe von kleinen rothen Flecken, erregen, und nur einmal in dem nehmlichen Subject als Gift wirken können.

Man kann dieſe Gifte ſehr gut ver - meiden, wenn man die Berührung des Gifts vermeidet, alſo entweder die Be - rührung des Kranken und ſeiner abge - ſonderten Theile, oder ſolcher Dinge, die er angerührt hatte, oder ſeiner na - hen Atmosphäre. Denn, daſs das Blat - tergift in die Entfernung durch Luft fortgetragen werden und anſtecken kön - ne, ſind längſt widerlegte Fabeln. Es iſt folglich unwiderleglich gewiſs, daſs beyde Krankheiten nicht den Menſchen447 nothwendig ſind, daſs man ſie vermei - den, und, wenn dieſs allgemein ge - ſchieht, völlig ausrotten kann, (was auch ſchon einzelne Länder ausgeführt haben). Da aber zu dieſer allgemeinen Wohlthat, ſo lange man noch nicht all - gemein davon überzeugt iſt und ſelbſt Aerzte noch hie und da dagegen ſind, noch keine Hofnung iſt, ſo bleibt uns nichts anders übrig, als das Gift, was wir nun leider, unter den jetzigen Um - ſtänden, als ein nothwendiges Uebel be - trachten müſſen, möglichſt milde und unſchädlich zu machen, und dazu giebt es, nach allen Erfarungen, kein anderes Mittel, als die künſtliche Mittheilung, die Inoculation.

3. Das Kräzgift.

Ich verſtehe darunter den Stoff, der ſich von einem Kräzigen auf den Geſun - den fortpflanzen und ihm die Kräze mit - theilen kann; ob er belebt oder unbe - lebt ſey, iſt hier nicht der Ort zu ent - ſcheiden, thut auch nichts zur Sache.

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Dieſes Gift theilt ſich nur durch un - mittelbare und zwar genaue Berührung, nie durch die Atmosphäre, mit. Man kann es alſo ſehr leicht vermeiden, wenn man die Berührung kräziger Per - ſonen, oder ſolcher Dinge, die ſie an ſich getragen haben, vermeidet. Haupt - ſächlich aber kann die gröſste Reinlich - keit in Kleidung und Luft, und öfteres Waſchen und Baden dieſe Krankheit verhüten, daher man ſie bey reinlichen Menſchen und vornehmern Ständen weit ſeltner findet. Iſt man aber genö - thigt, mit ſolchen Patienten zu leben, und alſo nicht ganz ſicher die Berüh - rung zu vermeiden, ſo empfehle ich öfteres Waſchen der Hände und des Geſichts mit Waſſer, worinnen in 2 Pfund 2 Loth Kochſalz und ½ Loth Sal - peter aufgelöſet worden, als ein ſehr kräftiges Präſervativmittel.

4. Das Faulſiebergift.

Es kann ſich bey jedem Faulfieber, wenn es heftig wird, erzeugen, und ſichdann449dann nicht blos durchs Berühren, ſon - dern auch durch die nahe Atmosphäre des Kranken mittheilen. Man vermeide daher die Annäherung ſolcher Kranken, wenn man kann. Iſt das aber nicht möglich, ſo beobachte man folgendes. Man verſchlucke den Speichel nicht, ſo lange man bey dem Kranken iſt, man ſtelle ſich nicht ſo, daſs man den Athem deſſelben auffängt, man berühre ihn nicht, man gehe nicht in Pelzen oder dicken wollnen Kleidern zu ihm (weil darinn das Anſteckungsgift am meiſten haftet), man wechſele die Kleidung, waſche, ſpüle ſich den Mund aus, ſo - bald man von dem Kranken kommt, auch iſt es ſehr zuträglich, ſo lange man da iſt, immer einen Schwamm mit Wein - eſſig vor Mund und Naſe zu halten, oder Tabak zu rauchen.

Dieſes Gift wird aber meiſtentheils erſt durch Unwiſſenheit und Vorurtheil der Menſchen erzeugt, und man kann aus jedem einfachen Fieber ein Faulfie -F f450ber machen, wovon ich hier zur War - nung noch etwas ſagen muſs. Am ge - wöhnlichſten und gewiſſeſten geſchieht dieſs, wenn man recht viele Kranke zu - ſammenlegt (daher in Lazarethen, Ge - fängniſſen und Schiffen werden die un - bedeutendſten Fieber leicht Faulfieber), wenn man die Luft im Krankenzimmer nicht erneuert, wenn man den Kranken recht in Federbetten einſcharrt und das Zimmer recht heizt, wenn man ihn gleich vom Anfang an Kraftbrühen, Wein, Branntwein, Fleiſch zu genieſ - ſen giebt, wenn man den Kranken nicht umkleidet und reinlich hält, und wenn man die innern Reinigungsmittel oder die baldige Hülfe eines vernünftigen Arztes verſäumt. Durch alles dieſs kann ein jedes Fieber zu einem Faulfie - ber gemacht werden, oder, welches eben das iſt, das Fäulniſsgift in einer Krankenſtube erzeugt werden, womit alsdenn oft ganze Städte vergiftet wer - den.

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5. Das Wuthgift.

Dieſs erzeugt ſich bey Menſchen und Thieren, welche die Wuth oder Waſſerſcheue haben. Es iſt vorzüglich dem Speichel beygemiſcht, und kann nie durch die Luft, nicht einmal durch bloſse Berührung mitgetheilt werden, ſondern es gehört immer dazu, daſs es entweder in eine Wunde (z. E. beym Biſs) oder auf Theile mit ſehr zarter Epi - dermis (z. E. Lippen, Genitalien) ge - bracht werde. Man kann es daher durch Vermeidung dieſer Applicationen ſehr gut vermeiden. Vorzüglich aber ſind drey Regeln dabey zu empfehlen. Man halte keine unnützen Hunde, denn, je mehr deren exiſtiren, deſto häufiger kann dieſes Gift erzeugt werden. Man gebe ihnen immer genug zu trinken, laſſe ſie den Geſchlechtstrieb befriedigen, und nicht zu ſchnell aus Hitze in Kälte oder umgekehrt ſich begeben. Man be - obachte und ſeparire jeden Hund wohl, der mit einemmale anfängt nicht zu ſau - fen, ein ganz ungewöhnliches BetragenF f 2452anzunehmen, ſeinen Herrn nicht zu kennen, heiſer zu bellen, und man gehe jedem, der verdächtig ausſieht, aus dem Wege. *)Die auffallendſten Kennzeichen eines tollen Hunds ſind: Er läſst Ohren und Schwanz hängen, hat triefende Augen und läuft gerade vor ſich hin mit geſenktem Haupte. Man findet eine ſehr treffende Abbildung in Hahnemanns Freund der Geſundheit. 2. Stück.

Die Wirkung dieſes furchtbaren Gifts iſt, daſs man nach längerer oder kürzerer Zeit auch die Wuth und Waſ - ſerſcheu bekommt, und daran unter den ſchrecklichſten Convulſionen ſtirbt. Es iſt daher ein groſses Glück, daſs man durch häufige Erfarungen die Entde - ckung gemacht hat, daſs dieſes Gift, wenn es auch ſchon durch einen Biſs mitgetheilt iſt, dennoch lange in der Stelle der Mittheilung liegen bleiben kann, ehe es eingeſaugt und ſo dem ganzen Körper mitgetheilt wird. Man kann ſich alſo ſelbſt nach der Vergiftung davon befreyen, und die Waſſerſcheu453 zuverläſſig verhüten, wenn man nur folgende Mittel braucht: die Wunde muſs gleich mit Salzwaſſer ausgewa - ſchen, ſodann geſchröpft, und das Ein - ſchneiden und Ausſaugen ſo oft wieder - holt werden, bis gar kein Blut mehr herauskommt. Hierauf wird ſie mit dem glühenden Eiſen oder Schieſspulver ausgebrennt, und dann 7 bis 8 Wochen in ſtarker Eiterung erhalten. Innerlich wird die Belladonna, als das bewährte - ſte Mittel, genommen, wozu aber der Rath eines Arztes nöthig iſt.

6. Einige, mehr zufällige Gifte.

Es giebt noch einige Anſteckungs - gifte, die nicht allemal, ſondern nur unter gewiſſen Umſtänden, bey man - chen Krankheiten entſtehen. Dieſe Krankheiten ſind: der Scorbut, der Krebs, das Scharlachfieber, der Kopf - grind, die Ruhr, die Lungenſucht, die Gicht, der fieberhafte Frieſel. Dieſe Krankheiten ſind keineswegs immer an - ſteckend, aber ſie können es werden454 wenn ſie einen hohen Grad von Bösar - tigkeit erreichen, oder ein faulichter Zu - ſtand ſich damit verbindet. Und denn iſt alſo immer Vorſicht zu empfehlen, und wenigſtens der genaue Umgang mit ſolchen Kranken d. h. Zuſammenwohnen, Zuſammenſchlafen, das Tragen ihrer Kleider u. dgl. zu vermeiden.

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XII.

Das Alter Frühzeitige Inoculation deſſelben.

Das unvermeidlichſte aller Lebensver - kürzungsmittel! Jener ſchleichende Dieb, wie es Shakespear nennt, jene un - vermeidliche Folge des Lebens ſelbſt. Denn durch den Lebensprozeſs ſelbſt müſſen nach und nach unſre Faſern trockner und unbrauchbarer, die Säfte ſchärfer und weniger, die Gefäſse ver - ſchrumpft, und die Organe unbrauch - barer werden, und die Erde endlich überhand nehmen, welche unſer ſicher - ſtes Deſtructionsmittel iſt.

Alſo ganz verhütet kann es nicht werden. Die Frage iſt nur: Steht es nicht in unſrer Gewalt, es früher oder456 ſpäter herbey zu rufen? Und dieſs iſt denn leider nur zu gewiſs. Die neue - ſten Zeiten liefern uns erſtaunliche Bey - ſpiele von der Möglichkeit, das Alter frühzeitig zu bewirken, und überhaupt die Perioden des Lebens weit ſchneller auf einander folgen zu laſſen. Wir ſe - hen jezt (in groſsen Städten beſonders) Menſchen, welche im 8ten Jahre mann - bar ſind, im 16ten ohngefähr den höch - ſten Punct ihrer möglichſten Vollkom - menheit erreicht haben, im 20ſten ſchon mit allen den Schwächlichkeiten käm - pfen, die ein Beweiſs ſind, daſs es wie - der Bergein geht, und im 30ſten das vollkommne Bild eines abgelebten Grei - ſes darſtellen, Runzeln, Trockenheit und Steifigkeit der Gelenke, Krümmung des Rückgrads, Mangel an Sehkraft und Gedächtniſs, graue Haare und zitternde Stimme. Ich habe wirklich einen ſol - chen künſtlichen Alten, der noch nicht 40 Jahre alt war, ſecirt, und nicht nur die Haare ganz grau, ſondern auch die Rippenknorpel, die ſonſt nur im höch -457 ſten Alter knöchern werden, ganz ver - knöchert gefunden.

Man kann alſo wirklich die Be - ſchleunigung der Entwicklungsperioden und des Alters, die im heiſsen Clima na - türlich geſchieht, auch in unſerm Clima durch die Kunſt nachmachen.

Hier alſo ein Paar Worte von der Kunſt ſich das Alter in der Jugend zu inoculiren. Es kommt alles blos darauf an, die Lebenskräfte und Säfte recht bald los zu werden, und den Faſern bald möglichſt den Grad von Härte, Steifigkeit und Unbiegſamkeit zu ver - ſchaffen, der das Alter karacteriſirt.

Die zuverläſſigſten Mittel, dieſs aufs vollkommenſte zu erreichen, ſind folgende. Es iſt oft ſehr gut, ſolche Vor - ſchriften zu wiſſen, um das Gegentheil deſto eher thun zu können. Und ſo enthalten ſie zugleich das Rezept zu458 einer recht lange daurenden Jugend. Man braucht ſich nur in allen Stücken ganz entgegengeſezt zu betragen.

Alſo

1. Man ſuche die Mannbarkeit durch alle phyſiſche und moraliſche Künſteleyen bald möglichſt zu entwi - ckeln, und verſchwende die Zeugungs - kräfte ſo profus als möglich.

2. Man fange recht frühzeitig an, ſich die ſtärkſten Strapazen zuzumuthen. Forçirte Courierritte von mehrern Ta - gen, anhaltendes Tanzen, durchwachte Nächte und Abkürzung aller Ruhe wer - den dazu die beſten Dienſte thun. Man erreicht dadurch eine doppelte Abſicht, einmal die Lebenskräfte recht ſchnell zu erſchöpfen, und dann die Faſern recht bald hart und ſpröde zu machen.

3. Man trinke recht fleiſig Wein und Liqueurs. Eins der Hauptmittel459 um den Körper auszutrocknen und zu - ſammen zu runzeln.

4. Alle Arten von heftigen Leiden - ſchaften werden eben die Wirkung thun, und die Kraft der hitzigen Ge - tränke verſtärken.

5. Hauptſächlich ſind Kummer, Sor - gen und Furcht auſſerordentlich ge - ſchickt, den Karacter des Alters recht bald herbey zu führen. Man hat Bey - ſpiele, daſs Menſchen in einer Nacht, welche ſie unter dem höchſten Grad von Furcht und Seelenangſt zugebracht hat - ten, graue Haare bekommen hatten. Nun ſollte man freylich glauben, es gehörten auch wirkliche Veranlaſſungen dazu, ſolche Affecten rege zu machen; aber es giebt Menſchen, welche die Kunſt meiſterhaft verſtehen, wenn ih - nen das Schickſal keinen Kummer macht, ſich ſelbſt welchen zu machen, alles in einem dunkeln Licht zu ſehen, jedem460 Menſchen etwas Uebels zuzutrauen, und in jeder unbedeutenden Begebenheit reichen Stoff zu Sorgen und Aengſtlich - keit zu finden.

6. Und zulezt gehört hieher das zu weit getriebene oder wenigſtens falſch verſtandene Syſtem der Abhärtung durch Kälte, häufige kalte und lange fortgeſezte Bäder in Eiswaſſer u. ſ. w. Es kann nichts geſchickter ſeyn, den Karacter des Alters zu bewirken, als eben dieſs.

Aber nicht genug, daſs man jezt ſchon in einer Zeit zum Alter gelangt, wo unſre Vorfahren noch Jünglinge wa - ren, man iſt leider noch weiter gekom - men. Man hat ſogar die Kunſt erfun - den, die Kinder ſchon als Greiſse auf die Welt kommen zu laſſen. Ich habe einigemal ſolche Erſcheinungen geſe - hen; runzelicht, mit den markirteſten Geſichtszügen des Alters treten ſie auf461 den Schauplatz dieſer Welt, und nach ein Paar Wochen, die ſie unter Wim - mern und Elend zugebracht haben, be - ſchlieſsen ſie ihr Greiſsenleben, oder vielmehr ſie fingen es mit dem Beſchluſs an. Ich ziehe den Vorhang über dieſe ſchrecklichen Producte der ausſchwei - fenden Lebensart der Eltern, die mir gerade ſo vorkommen, als die Sünden der Eltern perſonifizirt.

462

II. Abſchnitt. Verlängerungsmittel des Lebens.

I.

Gute phyſiſche Herkunft.

Wenn wir auf die Grundlagen zurück - blicken, auf denen langes Leben beruht, und auf die Eigenſchaften, welche dazu gehören, ſo ſehen wir leicht ein, daſs es dabey vorzüglich darauf ankommen muſs, aus welcher Maſſe wir formirt wurden, welcher Antheil von Lebens - kraft uns gleich bey der Entſtehung zu Theil wurde, und ob da der Grund zu463 einer dauerhaften oder ſchwächlichen Conſtitution, zu einem geſunden oder kranken Bau der Lebensorgane gelegt wurde. Alles dieſes hängt ab von dem Geſundheitszuſtand unſrer Eltern, und von dem wichtigen Punct der erſten Gründung unſrer Exiſtenz, und in die - ſem Sinne von guter Geburt zu ſeyn, iſt etwas, was man jedem Menſchen wün - ſchen ſollte. Es gehört gewöhnlich zu den unerkannten aber gröſsten Wohl - thaten und iſt ein Lebensverlängerungs - mittel, was zwar nicht in unſrer Gewalt ſteht uns zu geben, was wir aber im Stande und verpflichtet ſind, andern mitzutheilen.

Es kommt hierbey auf drey Puncte an; auf den Geſundheitszuſtand der El - tern, den Augenblick der Zeugung, und den Zeitraum der Schwangerſchaft.

1. Der Geſundheitszuſtand, der Le - bensfond der Eltern. Wie wichtig dieſer iſt, ſieht man ſchon daraus, daſs es ganze Familien gegeben hat, in denen das Altwerden ein Familienprivilegium464 war, z. B. die Familie des oben erwähn - ten Parrs, in welcher nicht nur der aus - gezeichnete, ſondern auch ſein Vater und ſeine Kinder ein ungewöhnliches Alter erreichten. In dem hohen Alter der Eltern liegt ein wichtiger Grund es auch zu erreichen. Schon dieſs ſollte ein kräftiges Motiv ſeyn, für jeden, der einſt Kinder zeugen will, ſeine Lebens - kräfte möglichſt zu ſchonen und zu eon - ſerviren. Wir ſind ja der Abdruck unſ - rer Eltern, nicht blos in Abſicht auf die allgemeine Form und Textur, ſondern auch in Rückſicht beſondrer Schwächen und Fehler einzelner Eingeweyde. Selbſt Anlagen zu Krankheiten, die ihren Grund in der Bildung und Conſtitution haben, können dadurch mitgetheilt wer - den, z. B. Gicht, Steinbeſchwehrden, Schwindſucht, Hämorrhoiden. Insbe - ſondre hat mich häufige Erfarung über - zeugt, daſs groſse Schwächung der Zeu - gungskräfte durch veneriſche Debau - chen (vielleicht ſelbſt ein modifizirtes veneriſches Gift) den Kindern eine ei -gen -465genthümliche Schwäche des Drüſen - und lymphatiſchen Syſtems mittheilt, welche dann in die ſogenannten Skrofeln aus - artet, und Veranlaſſung giebt, daſs dieſe Krankheit oft ſchon in den erſten Mona - ten des Lebens, ja ſelbſt bey der Geburt ſchon erſcheint. Auch iſt ein zu jun - ges oder zu hohes Lebensalter der Eltern, der Lebenslänge und Stärke der Kinder nachtheilig.

2. Der Augenblick der Zeugung. Viel wichtiger, als man gewöhnlich glaubt, und für das ganze Leben eines Geſchöpfs entſcheidend. Sowohl auf das Moraliſche des künftigen Menſchen, (worüber ich auf Freund Triſtrams Wanduhrgeſchichte verweiſe) als auch auf das Phyſiſche, hat dieſer Augenblick gewiſs den gröſsten Einfluſs. Hier wird der erſte Keim des künftigen Weſens ge - weckt, die erſte belebende Kraft ihm mitgetheilt. Wie ſehr muſs hier die Vollkommenheit oder Unvollkommen - heit des Products durch die mehrereG g466oder wenigere Kraft, den vollkommnen oder unvollkommnen, geſunden oder kränklichen Zuſtand der wirkenden Ur - ſachen beſtimmt werden? Wäre es nicht zu wünſchen, daſs Eltern dieſer Bemer - kung einige Aufmerkſamkeit widmeten, und nie vergäſsen, daſs dieſer Augen - blick von der höchſten Wichtigkeit, und der Moment einer Schöpfung ſey, und daſs nicht ohne Urſache die Natur die höchſte Exaltation unſers ganzen Weſens damit verbunden habe? So ſchwehr es iſt, hierüber Erfarungsſätze zu ſamm - len, ſo ſind mir doch einige ganz un - leugbare Beyſpiele bekannt, wo Kinder, die in dem Zeitpunct der Trunkenheit erzeugt wurden, Zeitlebens ſtupid und blödſinnig blieben. Was nun das Ex - trem im hohen Grade bewirken kann, das können die Mittelſtufen im gerin - gern thun, und warum ſollte man nun nicht annehmen können, daſs ein We - ſen, in dem Zeitpunct übler Laune, oder einer körperlichen Indiſpoſition oder467 ſonſt einer Nervenverſtimmung erzeugt, Zeitlebens einige kleine Flecken davon an ſich tragen kann? Daher der ge - wöhnlich ſo auffallende Vorzug der Kin - der der Liebe für den Kindern der Pflicht. Ich ſollte daher glauben, es ſey ſehr wichtig, auch im Eheſtand dieſem Mo - ment immer nur einen ſolchen Zeitpunct zu widmen, wo das Gefühl geſammleter Kräfte, feuriger Liebe und eines frohen ſorgenfreyen Gemüths von beyden Sei - ten dazu aufruft (ein neuer Grund ge - gen den zu häufigen oder erzwungenen oder mechaniſch-pflichtmäſigen Genuſs der ehelichen Liebe).

3. Der Zeitraum der Schwanger - ſchaft. Ohneracht der Vater ohn - ſtreitig die erſte Quelle iſt, aus welcher das künftige Weſen den erſten Lebens - hauch, die erſte Erweckung bekommt, ſo iſt doch nicht zu leugnen, daſs die fernere Entwicklung, die Maſſe und der mehr materielle Antheil, blos von der Mutter herrührt. Dieſs iſt der Acker,G g 2468aus welchem das Saamenkorn ſeine Säfte zieht, und die künftige Konſtitution, der eigentliche Gehalt des Geſchöpfs, muſs hauptſächlich den Karacter des We - ſens erhalten, von dem es ſo lange einen Beſtandtheil ausmachte, aus deſſen Fleiſch und Blut es wirklich zuſammen - geſezt iſt. Ferner nicht blos die Konſti - tution der Mutter, ſondern auch alle andre vortheilhafte oder nachtheilige Einwirkungen während des Zeitraums der Schwangerſchaft, müſſen von groſsem Einfluſs auf die ganze Bildung und das Leben des neuen Geſchöpfs ſeyn. Dieſs iſts nun auch, was die Erfarung lehrt. Der Geſundheitszuſtand des Menſchen, die mehrere oder wenigere Feſtigkeit der Konſtitution, richtet ſich hauptſächlich nach dem Zuſtand der Mutter, weit mehr, als nach dem des Vaters. Von ei - nem ſchwächlichen Vater kann immer noch ein ziemlich robuſtes Kind erzeugt werden, wenn nur die Mutter einen recht geſunden und kräftigen Körper469 hat. Der Stoff des Vaters wird in ihr gleichſam veredelt. Hingegen der ſtärk - ſte Mann wird von einer kränklichen Lebensarmen Frau nie kräftige und ge - ſunde Kinder erhalten.

Was nun ferner die Beſchützung des werdenden Geſchöpfs für allen Ge - fahren und nachtheiligen Einwirkungen betrifft, ſo finden wir hier abermals ei - nen Beweiſs der göttlichſten Weisheit bey der hier getroffnen Einrichtung. Ohneracht der innigſten Verbindung zwiſchen Mutter und Frucht, ohneracht dieſe wirklich faſt ein Jahr lang ein Theil derſelben iſt, und alle Nahrung und Säfte mit ihr theilt, ſo iſt ſie dennoch nicht nur für mechaniſchen Verletzun - gen durch ihre Lage und ihr Schwim - men im Waſſer geſichert, ſondern auch für moraliſchen und Nerveneindrücken dadurch, daſs keine unmittelbare Ner - venverbindung zwiſchen Mutter und Kind iſt. Man hat ſogar häufige Bey - ſpiele, daſs die Mutter ſtarb und das470 Kind blieb am Leben. Selbſt eine ge - wiſſe Immunität von Krankheiten hat die weiſe Natur mit dieſem Zuſtand verbun - den, und es iſt ein Erfarungsſatz, daſs eine ſchwangere Frau weit weniger von anſteckenden und andern Krankheitsur - ſachen leidet, und daſs eine Frau nie gröſsre Wahrſcheinlichkeit zu leben hat, als ſo lange ſie ſchwanger iſt.

Das Gefühl von der Wichtigkeit dieſes Zeitpuncts war nun auch von je - her den Menſchen ſo eingeprägt, daſs bey allen alten Völkern eine Schwangere als eine heilige und unverlezliche Per - ſon betrachtet, und jede Mishandlung und Verletzung derſelben als doppelt ſtrafbar angeſehen wurde. Leider hat unſer Zeitalter, ſowohl in phyſiſcher als politiſcher Hinſicht hier einen Unter - ſchied gemacht. Die nervenſchwache, empfindliche und zärtliche Konſtitution der jetzigen Frauen, hat dieſen Aufent - halt der Frucht im Mutterleibe weit un - ſichrer und gefährlicher gemacht. Der471 Mutterleib iſt nicht mehr eine ſolche Freyſtätte, eine ungeſtöhrte Werkſtatt der Natur. Durch die unnatürliche Empfindlichkeit, die jezt einen groſsen Theil des weiblichen Geſchlechts eigen iſt, ſind auch dieſe Theile weit em - pfänglicher für tauſend nachtheilige Einwirkungen, für eine Menge Mitlei - denſchaften worden, und die Frucht leidet bey allen Leidenſchaften, bey jedem Schrecken, bey Krankheitsurſa - chen und ſelbſt bey den unbedeutend - ſten Veranlaſſungen mit. Daher iſt es unmöglich, daſs ein Kind in einer ſol - chen Werkſtätte, wo ſeine Bildung und Entwicklung jeden Augenblick geſtöhrt und unterbrochen wird, je den Grad von Vollkommenheit und Feſtigkeit er - halten ſollte, zu dem es beſtimmt war. Und eben ſo wenig denkt man jezt in bürgerlicher und politiſcher Rückſicht an die Wichtigkeit dieſes Zuſtandes. Wer denkt jezt an die Heiligkeit einer Schwangern, wer nimmt Rückſicht bey472 ihrer Behandlung darauf, daſs man das Leben, wenigſtens die phyſiſche und moraliſche Bildung eines künftigen Menſchen dadurch in Gefahr ſezt. Ja leider, wie wenig Schwangere ſelbſt haben die Achtung für dieſen Zuſtand, die er verdient? Wie wenige vermögen, ſich Vergnügen, Diätfehler zu verſagen, die ſchaden könnten?

Ich glaube daher mit Recht auf die - ſe Bemerkungen folgende Regeln grün - den zu können:

1. Solche äuſſerſt nervenſchwache und ſenſible Perſonen ſollten gar nicht heyrathen; wo nicht aus Mitleiden ge - gen ſich ſelbſt und gegen die Leiden, de - nen ſie dadurch entgegen gehen, doch wenigſtens aus Mitleiden gegen die un - glückliche Generation, der ſie das Leben geben werden. Ferner, man ſollte bey der Erziehung der Töchter hauptſächlich darauf ſehen, dieſe unglückliche Em - pfindlichkeit zu vermeiden, da oft lei - der aus Rückſicht gegen den Teint, die473 Decenz und eine Menge andre Etiquet - tenverhältniſſe, gerade das Gegentheil geſchieht. Und endlich, es iſt die Pflicht jedes Mannes, bey der Wahl ſei - ner Gattin hauptſächlich darauf zu ſe - hen, daſs ihr Nervenſyſtem nicht zu reizbar ſey. Denn offenbar fällt der Hauptzweck des Eheſtands, die Erzeu - gung geſunder und feſter Kinder, da - durch ganz weg.

2. Die Weiber ſollten mehr Reſpect für dieſem Zeitpunct haben, und da eine gute phyſiſche und moraliſche Diät halten. Denn ſie haben dadurch den Grad von Vollkommenheit und Unvoll - kommenheit, die guten und böſen An - lagen der Seele und des Körpers ihres Kindes in ihrer Gewalt.

3. Aber auch andre Menſchen ſoll - ten eine Schwangere immer aus dieſem Geſichtspunct betrachten, und ihr, als der Werkſtätte eines ſich bildenden Menſchen, alle mögliche Schonung, Aufmerkſamkeit und Vorſorge erzei -474 gen. Beſonders ſollte ſich jeder Ehe - mann dieſe Regel empfohlen ſeyn laſ - ſen, und immer bedenken, daſs er da - durch für das Leben und die Geſund - heit ſeiner Generation ſorgt, und da - durch erſt den vollkommnen Namen, Vater, verdient.

475

II.

Vernünftige phyſiſche Erziehung.

Hauptſächlich die phyſiſche Behand - lung in den erſten zwey Jahren des Le - bens iſt ein äuſſerſt weſentliches Stück zur Verlängerung des Lebens. Man ſollte dieſen Zeitraum eigentlich noch als eine fortgeſezte Generation anſehen. Nur der erſte Theil der Ausbildung und Entwicklung geſchieht im Mutterleibe, der zweyte, nicht weniger wichtige, auſſer demſelben in den erſten zwey Jah - ren des Lebens. Das Kind kommt ja als ein nur halb entwickeltes Weſen zur Welt. Nun folgen erſt die wichtigſten und feinſten Ausbildungen der Nerven - und Seelenorgane, die Entwicklungen der Reſpirationswerkzeuge, der Musku -476 larbewegung, der Zähne, der Knochen, der Sprachorgane und aller übrigen Theile, ſowohl in Abſicht der Form als Structur. Man kann alſo leicht abneh - men, von welchem erſtaunlichen Ein - fluſs auf die Vollkommenheit und Dauer des ganzen Lebens es ſeyn müſſe, unter welchen Umſtänden dieſer fortgeſezte Bildungs - und Entwicklungsprozeſs ge - ſchieht, ob hindernde, ſtöhrende und ſchwächende, oder beſchleunigende Ein - flüſſe darauf wirken. Zuverläſſig kann hier ſchon der Grund zu einer langſa - mern oder geſchwindern Conſumtion, zu einem mehr oder weniger Gefahren ausgeſezten Körper gelegt werden.

Alle Regeln und Beſtimmungen bey der phyſiſchen Behandlung dieſer Perio - de laſſen ſich auf folgende Grundſätze reduziren.

1. Alle Organe, vorzüglich die, auf denen Geſundheit und Dauer des phyſi - ſchen ſowohl als geiſtigen Lebens zu - nächſt beruht, müſſen gehörig organi - ſirt, geübt, und zu dem möglichſten477 Grad von Vollkommenheit gebracht werden. Dahin rechne ich den Magen, die Lunge, die Haut, das Herz und Ge - fäſsſyſtem, auch die Sinneswerkzeüge. Eine geſunde Lunge gründet man am beſten durch reine freye Luft, und in der Folge durch Sprechen, Singen, Lau - fen. Ein geſunder Magen durch geſun - de, gut verdauliche, nahrhafte, aber nicht zu ſtarke, reizende oder gewürzte Koſt. Eine geſunde Haut durch Rein - lichkeit, Waſchen, Baden, reine Luft, weder zu warme noch zu kalte Tempe - ratur, und in der Folge Bewegung, die Kraft des Herzens und der Gefäſse durch alle die obigen Mittel, beſonders ge - ſunde Nahrung, und in der Folge kör - perliche Bewegung.

2. Die ſucceſſive Entwicklung der phyſiſchen und geiſtigen Kräfte muſs ge - hörig unterſtüzt, und weder gehindert noch zu ſehr befördert werden. Immer muſs auf gleichförmige Vertheilung der lebendigen Kräfte geſehen werden, denn Harmonie und Ebenmaas der Bewegun -478 gen, iſt die Grundlage der Geſundheit und des Lebens. Hierzu dient im An - fange das Baden und die freye Luft, in der Folge körperliche Bewegung.

3. Das Krankheitsgefühl d. h. die Empfänglichkeit für Krankheitsurſachen muſs abgehärtet und abgeſtumpft wer - den, alſo das Gefühl für Kälte, Hitze und in der Folge für kleine Unordnun - gen und Strapazen. Dadurch erlangt man zweyerley Vortheil, die Lebens - conſumtion wird, durch die gemäſsigte Empfindlichkeit gemindert, und die Stöhrung derſelben durch Krankheiten wird verhütet.

4. Alle Urſachen und Keime zu Krankheiten im Körper ſelbſt müſſen entfernt und vermieden werden, z. B. Schleimanhäufungen, Verſtopfungen des Gekröſses, Erzeugung von Schärfen. Fehler, die durch äuſſerlichen Druck und Verletzungen, zu feſte Binden, Un - reinlichkeit etc. entſtehen könnten.

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5. Die Lebenskraft an ſich muſs im - mer gehörig genährt und geſtärkt wer - den, (dazu das gröſste Mittel, friſche reine Luft,) und beſonders muſs die Heilkraft der Natur gleich von Anfang an unterſtüzt werden, weil ſie das gröſs - te Mittel iſt, was in uns ſelbſt gelegt wurde, um Krankheitsurſachen unwirk - ſam zu machen. Dieſs geſchieht haupt - ſächlich dadurch, daſs man den Körper nicht gleich von Anfang an zu ſehr an künſtliche Hülfen gewöhnt, weil man ſonſt die Natur ſo verwöhnt, daſs ſie ſich immer auf fremde Hülfe verläſst, und am Ende ganz die Kraft verliert, ſich ſelbſt zu helfen.

6. Die ganze Operation des Lebens und der Lebensconſumtion muſs von Anfang an nicht in zu groſse Thätigkeit geſezt, ſondern in einem Mittelton er - halten werden, wodurch fürs ganze Leben der Ton zum langſam und alſo lange leben angegeben werden kann.

480

Zur Erfüllung dieſer Ideen dienen folgende einfache Mittel, welche nach meiner Einſicht das Hauptſächliche der phyſiſchen Erziehung ausmachen.

Wir müſſen hierbey zwey Perioden unterſcheiden.

  • Die erſte Periode, bis zu Ende des zweyten Jahrs. Hier ſind folgen - des die Hauptpuncte:

I. Die Nahrung muſs gut aber dem zarten Alter angemeſſen ſeyn; alſo leicht verdaulich, mehr flüſſig als feſt, friſch und geſund, nahrhaft, aber nicht zu ſtark, reizend oder erhitzend.

Die Natur giebt uns hierinn die beſte Anleitung ſelbſt, indem ſie Milch für den anfangenden Menſchen be - ſtimmte. Milch hat alle die angegebnen Eigenſchaften im vollkommenſten Gra - de, ſie iſt voller Nahrungsſtoff, aber milde, ohne Reiz und Erhitzung näh - rend, ſie hält das Mittel zwiſchen Thier - und Pflanzennahrung, verbindet alſo die Vortheile der leztern (weniger zu rei - zen, als Fleiſch), mit den Vortheilender481der Fleiſchnahrung (durch die Bearbei - tung eines lebenden thieriſchen Körpers uns ſchon verähnlicht zu ſeyn und leich - ter den Karacter unſrer Natur aufzuneh - men), ſie iſt mit einem Worte ganz auf die Beſchaffenheit des kindlichen Kör - pers berechnet.

Der kindliche Körper lebt nehmlich weit ſchneller, als der erwachſene Menſch, und wechſelt die Beſtandtheile öftrer, überdieſs braucht er die Nah - rung nicht blos zur Erhaltung ſondern auch zum beſtändigen Wachsthum, wel - ches im ganzen Leben nicht ſo ſchnell geſchieht, als in dem erſten Jahre, er be - darf folglich viel und concentrirte Nah - rung; aber er hat ſchwache Verdauungs - kräfte und vermag noch nicht feſte oder ſeiner Natur nach heterogene (z. E. ve - getabiliſche) Nahrung zu verarbeiten und in ſeine Natur zu verwandeln; ſei - ne Nahrung muſs daher flüſſig und ſchon animaliſirt, d. h. durch ein anderes le - bendes thieriſches Geſchöpf ihm vorge - arbeitet und ſeiner Natur genähert ſeyn;H h482er hat aber auch einen ſehr hohen Grad von Reizbarkeit und Empfindlichkeit, ſo daſs ein kleiner Reiz, den ein Erwach - ſener kaum empfindet, hier ſchon ein künſtliches Fieber oder gar Krämpfe und Zuckungen hervorbringen kann, die Nahrung des Kindes muſs alſo milde ſeyn und in dem gehörigen Verhältniſs zur Reizbarkeit ſtehen.

Ich halte es daher für eins der erſten Geſetze der Natur, und ein Hauptbe - gründungsmittel eines langen und ge - ſunden Lebens: das Kind trinke das erſte Jahr hindurch ſeiner Mutter, oder einer geſunden Amme Milch.

Man iſt in neuern Zeiten in manche Abweichungen von dieſem wichtigen Naturgeſez gefallen, die gewiſs höchſt nachtheilige Einflüſſe auf die Dauer und Geſundheit des Lebens haben, und die ich deshalb hier rügen muſs.

Man hat Kinder durch bloſse vege - tabiliſche Schleime, Haferſchleim u. dgl. nähren und aufziehen wollen. Dieſs mag zuweilen, bey beſondern Fällen,483 zwiſchen durch nüzlich ſeyn, aber zur alleinigen Nahrung iſt es gewiſs ſchäd - lich, denn es nährt nicht genug, und, was das ſchlimmſte iſt, es animaliſirt ſich nicht genug und behält noch einen Theil des ſauren vegetabiliſchen Kara - cters auch im Körper des Kindes; da - her entſtehen durch ſolche Nahrung ſchwächliche, magere, unaufhörlich mit Säure, Blähungen, Schleim geplagte Kinder, verſtopfte Drüſen, Skrofel - krankheit.

Noch ſchlimmer iſt die Gewohnheit, Kinder durch Mehlbrey zu nähren, denn dieſe Nahrung hat auſſer dem Nachthei - le der blos vegetabiliſchen Koſt (der Ver - ſäurung) auch noch die Folge, die zarten Milchgefäſse und Gekröſsdrüſsen zu ver - ſtopfen, und den gewiſſen Grund zu Skrofeln, Darrſucht oder Lungenſucht zu legen.

Andere wählen nun, um dieſen zu entgehen, auch zum Theil aus Anglo - manie, Fleiſchnahrung für die Kin - der, geben ihnen auch wohl Wein,H h 2484Bier u. dgl. Und dieſes Vorurtheil ver - dient beſonders gerügt zu werden, weil es immer mehr Anhänger gewinnt, mit der jezt beliebten excitirenden Methode zuſammentrifft, und das Nachtheilige ſelbſt von Aerzten nicht immer gehörig eingeſehen wird. Denn, ſagt man, das Fleiſch ſtärkt, und dieſs iſt gerade, was ein Kind braucht. Aber meine Gründe dagegen ſind folgende: Es muſs immer ein gewiſſes Verhältniſs ſeyn zwiſchen dem Nährenden und dem zu nährenden, zwiſchen dem Reiz und der Reizfähig - keit. Je gröſser die Reizfähigkeit iſt, deſto ſtärker kann auch ein kleiner Reiz wirken, je ſchwächer jene, deſto ſchwä - cher iſt die Wirkung des Reizes. Nun verhält ſich aber dieſe Reizfähigkeit im menſchlichen Leben in immer abneh - mender Proportion. In der erſten Pe - riode des Lebens iſt ſie am ſtärkſten, denn von Jahr zu Jahr ſchwächer, bis ſie im Alter gar erlöſcht. Man kann folg - lich ſagen, daſs Milch in Abſicht ihrer reizenden und ſtärkenden Kraft in eben485 dem Verhältniſs zum Kinde ſteht, als Fleiſch zu dem Erwachſenen, und Wein zu dem alten abgelebten Menſchen. Giebt man aber einem Kinde frühzeitig Fleiſchnahrung, ſo giebt man ihm einen Reiz, der dem Reiz des Weins bey Er - wachſenen gleich iſt, der ihm viel zu ſtark, und von der Natur auch gar nicht beſtimmt iſt. Die Folgen ſind: man erregt und unterhält bey dem Kinde ein künſtliches Fieber, beſchleunigt Circu - lation des Bluts, vermehrte Wärme, und bewirkt einen beſtändig zu heſtigen ent - zündlichen Zufällen geneigten Zuſtand. Ein ſolches Kind ſieht zwar blühend und wohlgenährt aus, aber die geringſte Veranlaſſung kann ein heftiges Aufwal - len des Bluts erregen, und kommts nun vollends zur Zahnarbeit oder Blattern und andern Fiebern, wo der Trieb des Bluts ſo ſchon heftig zum Kopfe ſteigt, ſo kann man feſt darauf rechnen, daſs Entzündungsfieber, Zuckungen, Schlag - flüſſe entſtehen. Die meiſten Menſchen glauben, man könne nur an Schwäche486 ſterben, aber man kann auch an zu viel Stärke und Reizung ſterben, und dazu kann ein unvernünftiger Gebrauch rei - zender Mittel führen. Ferner, durch ſolche ſtarke Nahrung der Kinder be - ſchleunigt man von Anfang an ihre Le - bensoperation und Conſumtion, man ſezt alle Syſteme und Organe in eine viel zu ſtarke Thätigkeit, man giebt gleich von Anfang den Ton zu einem regern aber auch geſchwindern Leben an, und in der Meynung recht zu ſtärken, legt man wirklich den Grund zu einem kür - zern Leben. Ueberdieſs muſs man nicht vergeſſen, daſs eine ſolche frühzeitige Fleiſchnahrung die Entwicklungsge - ſchäfte des Zahnens und in der Folge auch der Mannbarkeit viel zu ſehr be - ſchleunigt (ein Hauptverkürzungsmittel des Lebens), und ſelbſt auf den Karacter einen üblen Einfluſs hat. Alle fleiſch - freſſende Menſchen und Thiere ſind hef - tiger, grauſamer, leidenſchaftlicher, da hingegen die vegetabiliſche Koſt immer mehr zur Sanftmuth und Humanität487 führt. Ich habe dieſs in der Erfarung gar oft beſtätigt gefunden. Kinder die zu früh und zu viel Fleiſchkoſt beka - men, wurden immer kräftige, aber lei - denſchaftliche, heftige, brutale Men - ſchen, und ich zweifle, daſs eine ſolche Anlage ſowohl dieſe Menſchen als die Welt beglückt. Es giebt allerdings Fälle, wo Fleiſchkoſt auch ſchon früh - zeitig nüzlich ſeyn kann, nehmlich bey ſchon ſchwachen, ohne Muttermilch er - zognen, an Säure leidenden Subjecten, aber denn iſt ſie Arzney, und muſs vom Arzt erſt beſtimmt und verordnet wer - den. Was ich vom Fleiſch geſagt habe, gilt auch noch mehr vom Wein, Koffee, Chokolade, Gewürze u. dgl. Und es bleibt daher eine ſehr wichtige Regel der phyſiſchen Kinderzucht: Das Kind ſoll im erſten halben Jahre gar kein Fleiſch, keine Fleiſchbrühe, kein Bier, keinen Koffee genieſſen, ſondern blos Mutter - milch. Erſt im zweyten halben Jahre kann leichte Bouillonſuppe verſtattet werden; aber wirkliches Fleiſch in488 Subſtanz nur erſt, wenn die Zähne durch ſind, alſo zu Ende des zweyten Jahres.

Wenn nun aber unüberwindliche Hinderniſſe des Selbſtſtillens eintreten (welche in unſern Zeiten leider nicht ſelten ſind, wie z. B. Kränklichkeit, ſchwindſüchtige Anlage, Nervenſchwä - che der Mutter, wobey das Kind mehr Verluſt als Gewinn für ſeine Lebens - dauer haben würde), und wenn auch keine geſunde Amme zu haben iſt, dann tritt die traurige Nothwendigkeit ein, das Kind künſtlich aufzuziehen, und ob gleich dieſe Methode immer für die Ge - ſundheit und Lebensdauer etwas nach - theiliges hat, ſo kann man ſie doch um vieles unſchädlicher machen, wenn man folgendes beobachtet: Man laſſe er - ſtens, doch wenigſtens wo möglich, das Kind die erſten 14 Tage bis 4 Wochen, an ſeiner Mutter Bruſt trinken. Man glaubt nicht, wie viel Werth dieſs in der erſten Periode hat. Dann gebe man zum Erſatz der Muttermilch am beſten Zie -489 gen - oder Eſelinnenmilch, aber immer unmittelbar nach dem Ausmelken und noch warm von Lebenswärme. Noch ſchöner wäre es, die Milch von dem Kinde unmittelbar aus dem Thiere ſau - gen zu laſſen. Iſt auch dieſs nicht mög - lich, ſo gebe man eine Miſchung von der Hälfte Kuhmilch und Waſſer, immer lauwarm, und wenigſtens einmal täglich friſche Milch. Eine wichtige Bemer - kung iſt hierbey, daſs man nicht die Milch wärmen oder warm ſtellen muſs (denn ſie nimmt ſonſt gleich einen ſäuer - lichen Karacter an), ſondern das Waſſer, das man jedesmal beym Gebrauch erſt dazu miſcht. Bey dieſer künſtlichen Ernährung iſt es nun nöthig, ſchon frü - her Suppen von klein geriebnen Zwie - bak, Gries, klar geſtoſsnen Sago oder Saleb, mit halb Milch und Waſſer ge - kocht, zu geben, auch leichte nicht fette Bouillon, Eyerwaſſer (ein Eydotter in ein Nöſel Waſſer zerrührt und mit etwas Zucker vermiſcht). Auch ſind Kartof - feln in den erſten zwey Jahren ſchädlich. 490So wenig ich ſie überhaupt für ungeſund halte, ſo ſind ſie doch zuverläſſig für ei - nen ſo zarten Magen noch zu ſchwehr zu verdauen, denn ſie enthalten einen ſehr zähen Schleim.

II. Man laſſe das Kind, von der dritten Woche an (im Sommer eher, im Winter ſpäter), täglich freye Luft ge - nieſſen, und ſetze dieſs ununterbrochen, ohne ſich durch Witterung abhalten zu laſſen, fort.

Kinder und Pflanzen ſind ſich dar - inne vollkommen gleich. Man gebe ih - nen die reichlichſte Nahrung, Wärme u. ſ. f. aber man entziehe ihnen Luft und Licht und ſie werden welk und bleich werden, zurückbleiben, und zulezt ganz abſterben. Der Genuſs reiner, freyer Luft und der darinn befindlichen belebenden Beſtandtheile, iſt eine eben ſo nothwendige ja noch unentbehrli - chere Nahrung zu Erhaltung des Lebens, als Eſſen und Trinken. Ich weiſs Kin - der, die bloſs deswegen die Schwäch - lichkeit und die blaſſe Farbe ihr ganzes491 Leben hindurch nicht los wurden, weil ſie in den erſten Jahren als Stubenpflan - zen waren erzogen worden, da hinge - gen dieſer tägliche Genuſs derſelben, das tägliche Luftbad, das einzige Mittel iſt, blühende Farbe, Kraft und Energie dem werdenden Weſen auf ſein ganzes Leben mitzutheilen. Auch iſt der Vor - theil ſehr wichtig, daſs man dadurch einen wichtigen Theil der pathologi - ſchen Abhärtung bewirkt, und in der Folge Veränderungen der Kälte und Wärme, der Witterung u. dgl. recht gut ertragen lernt.

Am nüzlichſten iſts, wenn das Kind die freye Luft in einem mit Gras und Bäumen bewachſenen und von den Wohnungen etwas entfernten Orte genieſst. Der Luftgenuſs in den Straſsen einer Stadt iſt weit weniger heilſam.

III. Man waſche täglich den ganzen Körper des Kindes mit friſch geſchöpften kalten Waſſer. Dieſe Regel iſt unent - behrlich zur Reinigung und Belebung der Haut, zur Stärkung des ganzen Ner -492 venſyſtems und zur Gründung eines ge - ſunden und langen Lebens. Das Wa - ſchen wird von der Geburt an täglich vorgenommen, nur in den erſten Wo - chen mit lauem Waſſer, aber dann mit kaltem, und zwar, welches ein ſehr we - ſentlicher Umſtand iſt, mit friſch aus der Quelle oder dem Brunnen geſchöpf - ten Waſſer. Denn auch das gemeine Waſſer hat geiſtige Beſtandtheile (fixe Luft), die verloren gehen, wenn es eine Zeitlang offen ſteht, und die ihm doch vorzügliche ſtärkende Kraft mittheilen. Doch muſs dieſes Waſchen geſchwind geſchehen und hinterdrein der Körper gleich abgerieben werden. Denn das langſame Benetzen erkaltet, aber das ſchnelle Abreiben erwärmt. Auch darf es nicht gleich geſchehen, wenn das Kind aus dem Bett kommt, und über - haupt nicht, wenn es ausdünſtet.

IV. Man bade das Kind alle Wochen ein - oder zweymal in lauem Waſſer (die Temperatur friſch gemolkener Milch, 24 26 Grad Reaum. Therm.).

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Dieſes herrliche Mittel vereinigt eine ſolche Menge auſſerordentlicher Krafte, und iſt zugleich dem kindlichen Alter ſo angemeſſen, daſs ich es ein wah - res Arcanum zur phyſiſchen Vervoll - kommnung und Ausbildung des werden - den Menſchen nennen möchte. Reini - gung und Belebung der Haut, freye aber doch nicht beſchleunigte Entwick - lung der Kräfte und Organe, gleichför - mige Circulation, harmoniſche Zuſam - menwirkung des Ganzen (die Grundlage der Geſundheit), Stärkung des Nerven - ſyſtems, Mäſsigung der zu groſsen Reiz - fähigkeit der Faſer und der zu ſchnellen Lebensconſumtion, Reinigkeit der Säfte, dieſs ſind ſeine Wirkungen, und ich kann mit Ueberzeugung behaupten, daſs ich kein Hülfsmittel der phyſiſchen Er - ziehung kenne, was ſo vollkommen alle Erforderniſſe zu Gründung eines langen und geſunden Lebens in ſich vereinigte, als dieſes. Das Bad muſs nicht ganz aus gekochtem Waſſer beſtehen, ſondern aus friſch von der Quelle geſchöpften,494 zu dem man noch ſo viel warmes, als zur lauen Temperatur nöthig iſt, hinzu - gieſst. Im Sommer iſt das Waſſer am ſchönſten, was durch die Sonnenſtralen erwärmt iſt. Die Dauer des Bads in dieſer Periode des Lebens iſt ¼ Stunde, in der Folge länger. Nie muſs es in den erſten Stunden nach dem Eſſen geſche - hen.

V. Man vermeide ja ein gar zu war - mes Verhalten; alſo warme Stube, war - me Federbetten, zu warme Kleidung u. ſ. w. Ein zu warmes Verhalten ver - mehrt ausnehmend die Reizfähigkeit und alſo die ſchnellere Lebensconſum - tion, ſchwächt und erſchlafft die Faſer, be - ſchleunigt die Entwicklungen, ſchwächt und lähmt die Haut, diſponirt zu be - ſtändigen Schweiſsen und macht da - durch ewigen Erkältungen ausgeſezt. Insbeſondere halte ichs für ſehr wichtig,*)Ausführlicher findet man die Anwendung dieſer Mittel bey Kindern abgehandelt in meinen Be - merkungen über die Inoculation und verſchiedene Kinderkrankheiten. Leipzig, bey Göſchen.495 die Kinder von Anfang an zu gewöhnen, auf Matrazen von Pferdehaaren, Spreu oder Moos zu ſchlafen. Sie nehmen nie eine zu groſse Wärme an, haben mehr Elaſtizität und verhüten eine zu groſse Weichlichkeit, nöthigen auch das Kind (weil ſie nicht nachgeben) gerade ausge - ſtreckt zu liegen, wodurch ſie das Ver - wachſen verhüten, und ſichern für dem zu frühzeitigen Erwachen des Ge - ſchlechtstriebs.

VI. Die Kleidung ſey weit, nir - gends drückend, von keinem zu war - men und die Ausdünſtung zurückhalten - den Material, (z. E. Pelz), ſondern von einem, was man oft erneuern oder wa - ſchen kann, am beſten baumwollne, im ſtrengen Winter leichte wollne Zeuge. Man entferne alle feſten Binden, ſteife Schnürleiber, enge Schuhe u. dgl., ſie können den Grund zu Krankheiten le - gen, die in der Folge das Leben verkür - zen. Der Kopf muſs von der vierten bis achten Woche an (dieſs beſtimmt496 die Jahreszeit) unbedeckt getragen wer - den.

VII. Man beobachte die äuſſerſte Reinlickeit, d. h. man wechſele täglich das Hemde, wöchentlich die Kleidung, monatlich die Betten, entferne üble Ausdünſtungen (vorzüglich nicht viel Menſchen in der Kinderſtube, kein Trocknen der Wäſche, keine alte - ſche). Reinlichkeit iſt das halbe Leben für Kinder; je reinlicher ſie gehalten werden, deſto beſſer gedeihen und blü - hen ſie. Durch bloſſe Reinlichkeit, bey ſehr mäſsiger Nahrung, können ſie in kurzer Zeit ſtark, friſch und munter ge - macht werden, da ſie hingegen ohne Reinlichkeit, bey der reichlichſten Nah - rung elend und ſchwächlich werden. Dieſs iſt die unerkannte Urſache, war - um manches Kind verdirbt und ver - welkt, man weiſs nicht woher. Unge - bildete Leute glauben dann oft, es müſſe behext ſeyn, oder die Miteſſer haben. Aber die Unreinlichkeit allein iſt der feindſelige Dämon, der es beſizt, undder497der es auch ſicher am Ende verzehren wird.

  • Die zweyte Periode, vom Ende des zweyten bis zum zwölften, vier - zehnden Jahre. Hier empfehle ich folgendes:

I. Man beobachte die Geſetze der Reinlichkeit, des kalten Waſchens, des Badens, der leichten Bekleidung, des Lebens in freyer Luft, eben ſo fort, wie geſagt worden.

II. Die Diät ſey nicht zu ausgeſucht, gekünſtelt oder zu ſtrenge. Man thut am beſten, die Kinder in dieſer Periode eine gehörige Miſchung von Fleiſch und Vege - tabilien genieſsen zu laſſen, und ſie an al - les zu gewöhnen, nur nicht zu viel und nicht zu oft. Man ſey verſichert, wenn man die übrigen Puncte der phyſiſchen Erziehung, körperliche Bewegung, Rein - lichkeit u. ſ. w. nur recht in Ausübung bringt; ſo braucht es gar keine delicate oder ſtrenge Diät, um geſunde Kinder zu haben. Man ſehe doch nur die Bau - ornkinder an, die bey einer eben nichtI i498mediziniſchen Diät geſund und ſtark ſind. Aber freylich darf man es nicht machen, wie man es mit ſo vielen Din - gen gemacht hat; etwa blos Bauernkoſt geben, und dabey weiche Federbetten, Stubenſitzen, Müſſiggang beybehalten (ſo wie man auch wohl das kalte Baden gebraucht hat, aber übrigens die war - men Stuben, warmen Federbetten u. ſ. w. ſorgfältig beybehalten hat). Ich kann nicht genug wiederholen, was ich ſchon irgendwo einmal geſagt habe: Ein Hauptſtück guter Erziehung iſt, einerley Ton zu beobachten, und keine kontra - ſtirende Behandlungsweiſen zu vereini - gen. Sehr gut iſt es, wenn man ihnen viermal, zu beſtimmten Zeiten, zu eſſen reicht, und dieſe Ordnung beſtimmt be - obachtet. Das einzige, was Kinder nicht bekommen dürfen, ſind Gewürze, Kaf - fee, Chokolade, Haut gout, Hefen - Fett - und Z〈…〉〈…〉 ckergebacknes, grobe Mehl - ſpeiſen, Käſe. Zum Getränk iſt nichts beſſer, als reines friſches Waſſer. Nur an ſolchen Orten, wo die Natur reines499 Quellwaſſer verſagt hat, laſſe ichs gelten, Kinder an Bier zu gewöhnen.

III. Körperliche Muskularbewegung tritt nun als ein Hauptſtück der phyſi - ſchen Erziehung ein. Man laſſe das Kind den gröſsten Theil des Tages in körperlichen Bewegungen, in gymna - ſtiſchen Spielen aller Art zubringen, und zwar in freyer Luft, wo ſie am nüzlich - ſten ſind. Dieſs ſtärkt unglaublich, giebt dem Körper eigne Thätigkeit, gleichförmige Vertheilung der Kräfte und Säfte, und verhütet am ſicherſten die Fehler des Wuchſes und der Ausbil - dung.

IV. Man ſtrenge die Seelenkräfte nicht zu frühzeitig zum Lernen an. Es iſt ein groſses Vorurtheil, daſs man da - mit nicht bald genug anfangen könne. Allerdings kann man zu bald anfangen, wenn man den Zeitpunct wählt, wo noch die Natur mit Ausbildung der kör - perlichen Kräfte und Organe beſchäftigt iſt, und alle Kraft dazu nöthig hat, und dieſs iſt bis zum ſiebenten Jahre. -I i 2500thigt man da ſchon Kinder zum Stuben - ſitzen und Lernen, ſo entzieht man ih - rem Körper den edelſten Theil der Kräf - te, der nun zum Denkgeſchäft conſu - mirt wird, und es entſteht unausbleib - lich Zurückbleiben im Wachsthum, un - vollkommne Ausbildung der Glieder, Schwäche der Muskulartheile, ſchlechte Verdauung, ſchlechte Säfte, Skrofeln, ein Uebergewicht des Nervenſyſtems in der ganzen Maſchine, welches Zeitle - bens durch Nervenübel, Hypochondrie u. dgl. läſtig wird. Doch kommt hier - bey auch viel auf die Verſchiedenheit des Subjects und ſeine gröſsere oder ge - ringere Geiſteslebhaftigkeit an, aber ich bitte ſehr, gerade das Gegentheil von dem zu thun, was man gewöhnlich thut. Iſt das Kind ſehr frühzeitig zum Denken und Lernen aufgelegt, ſo ſollte man, an - ſtatt ein ſolches, wie gewöhnlich, deſto mehr anzuſtrengen, es vielmehr ſpäter zum Lernen anhalten, denn jene früh - zeitige Reife iſt mehrentheils ſchon Krankheit, wenigſtens ein unnatürlicher501 Zuſtand, der mehr gehindert als beför - dert werden muſs (es müſste denn ſeyn, daſs man lieber ein Monſtrum eruditionis als einen geſunden lange lebenden Men - ſchen daraus erziehen wollte). Ein Kind hingegen, was mehr Körper als Geiſt iſt, und wo leztrer zu langſam ſich zu ent - wickeln ſcheint, kann ſchon etwas eher und ſtärker zum Denken aufgemuntert und darinne geübt werden.

Noch muſs ich hierbey erinnern, daſs gar viele Nachtheile des frühzeiti - gen Studierens, nicht ſowohl von der Geiſtesanſtrengung, als vielmehr von dem Stubenſitzen, von der eingeſchloſs - nen verdorbnen Schulluft herrühren, worinne man die Kinder dieſs Geſchäft treiben läſst. Wenigſtens wird dadurch die Schwächung verdoppelt. Ich bin völlig überzeugt, daſs es weit weniger ſchaden würde, wenn man die Kinder ihre Denkühungen, bey guter Jahreszeit, im Freyen halten lieſse, und hier hat man zugleich das Buch der Natur bey der Hand, welches gewiſs, vorausgeſezt502 daſs der Lehrer darinn zu leſen ver - ſteht, den Kindern zum erſten Unter - richt weit angemeſsner und unterhal - tender iſt, als alle gedruckte und ge - ſchriebne Bücher.

In dieſe Periode gehört nun auch noch ein für die phyſiſche Erziehung äuſſerſt wichtiger Punct: die Verhütung der Onanie, oder beſſer: die Verhütung des zu frühzeitigen Erwachens des Ge - ſchlechtstriebs. Und da dieſes Uebel un - ter die gewiſſeſten und fürchterlichſten Verkürzungs - und Verkümmerungsmit - tel des Lebens gehört (wie oben gezeigt worden), ſo iſt es meine Pflicht, hier etwas ausführlicher von den Mitteln da - gegen zu reden. Ich bin ſehr feſt überzeugt, daſs dieſs Uebel äuſſerſt häu - fig und eins der wichtigſten Anliegen der Menſchheit iſt, aber auch, daſs, wo es einmal eingeriſſen und zur Gewohn - heit worden, es ſehr ſchwehr zu heben iſt; daſs man alſo ja nicht träumen darf, in einzelnen Specificis und Kurarten die Hülfe dagegen zu finden, die gewöhn -503 lich zu ſpät kommen, ſondern, daſs die Hauptſache darauf ankommt, die Onanie zu verhüten, und daſs dieſe Kunſt, und folglich daſs ganze Geheim - niſs darinn beſteht: die zu frühzeitige Entwicklung und Reizung des Geſchlechts - triebs zu verhindern. Dieſs iſt eigentlich die Krankheit, an welcher gegenwärtig die Menſchheit laborirt, und wovon die Onanie nur erſt eine Folge iſt. Dieſe Krankheit kann ſchon im ſieben - ten, achten Jahre da ſeyn, wenn gleich die Onanie ſelbſt noch fehlt. Aber ſie zu verhüten iſt es freylich nöthig, ſchon von der erſten Kindheit an ſeine Maas - regeln dagegen zu nehmen, und nicht einzelne Puncte, ſondern das Ganze der Erziehung darauf hin zu richten.

Nach meiner Einſicht und Erfarung ſind folgendes (wenn ſie vollkommen angewendet werden) zuverläſſige Mittel gegen dieſe Peſt der Jugend.

1. Man gebe vom Anfange an keine zu reizende, ſtarke, nahrhafte Diät. Freylich denkt mancher nicht, wenn er504 ſeinem Kinde recht bald Fleiſch, Wein, Kaffee u. dgl. giebt, daſs er es dadurch zum Kandidaten der Onanie macht. Aber ſo iſt es. Dieſe zu frühzeitige Rei - zungen beſchleunigen (wie ich ſchon oben gezeigt habe) dieſe Entwicklungen. Insbeſondere iſt es ſchädlich, Abends Fleiſch, harte Eyer, Gewürze oder blä - hende Dinge, z. E. Kartoffeln, welche gar ſehr dahin wirken, genieſsen zu laſ - ſen, desgleichen zu nahe vor Schlafen - gehen.

2. Das ſchon erwähnte tägliche kalte Waſchen, der Genuſs der freyen Luft, die leichte Bekleidung beſonders der Geſchlechtstheile. Warme enge Hoſen waren ſchon oft das Treibhaus dieſer zu frühzeitigen Entwicklung, und ſehr gut iſts daher, in den erſten Jahren einen unten offnen Rock und gar keine Hoſen tragen zu laſſen.

3. Man laſſe nie auf Federn, ſon - dern nur auf Matratzen ſchlafen, Abends, nach einer tüchtigen Bewegung, alſo recht müde, zu Bett gehen und früh,505 ſo wie die Kinder munter werden, ſie aufſtehen. Dieſer Zeitpunct des Faul - lenzens früh im Bette, zwiſchen Schla - fen und Wachen, beſonders unter einer warmen Federdecke, iſt eine der häufig - ſten Verführungen zur Onanie, und darf durchaus nicht geſtattet werden.

4. Man gebe täglich hinlängli - che Muskularbewegung, ſo daſs der natürliche Kraftvorrath durch die Be - wegungsmuskeln verarbeitet und ab - geleitet werde. Denn wenn freylich ein ſolches armes Kind den ganzen Tag ſizt, und in einem körperlich - paſſiven Zuſtande erhalten wird, iſt es da wohl ein Wunder, wenn die Kräfte, die ſich doch äuſſern wollen und müſſen, jene unnatürliche Richtung nehmen? Man laſſe ein Kind, einen jungen Men - ſchen, durch Laufen, Springen u. dgl. täglich ſeine Kräfte bis zur Ermüdung im Freyen ausarbeiten, und ich ſtehe dafür, daſs ihm keine Onanie einfallen wird. Sie iſt das Eigenthum der ſitzen - den Erziehung, der Penſionsanſtalten,506 und Schulklöſter, wo die Bewegung zu halben Stunden zugemeſſen wird.

5. Man ſtrenge die Denk - und Em - pfindungskraft nicht zu früh, nicht zu ſehr an. Je mehr man dieſe Organe ver - feinert und vervollkommt, deſto em - pfänglicher wird auch der Körper für Onanie.

6. Insbeſondere verhüte man alle Reden, Schriften und Gelegenheiten, die dieſe Ideen in Bewegung ſetzen, oder nur auf dieſe Theile aufmerkſam machen können. Ableitung davon auf alle mögliche Weiſe iſt nöthig, aber nicht die von einigen empfohlne Metho - de, ſie durch die Erklärung ihres Nu - tzens und Gebrauchs dem Kinde erſt recht intereſſant und wichtig zu machen. Gewiſs, je mehr man die Aufmerkſam - keit dahin leitet, deſto eher kann man auch einen Reiz daſelbſt erwecken (denn innere Aufmerkſamkeit auf einen Punct [innere Berührung] iſt eben ſo gut Reiz als äuſſere Berührung); und ich halte es daher mit den Alten, einem Kinde vor507 dem vierzehnden Jahre nichts vom Zeu - gungsgeſchäft zu ſagen. Wofür die Na - tur noch kein Organ hat, davon ſoll ſie auch noch keinen Begriff haben, ſonſt kann der Begriff das Organ hervorrufen, ehe es Zeit iſt.

Auch entferne man ja Komödien, Romane, Gedichte, die dergleichen Ge - fühle erregen. Nichts, was die Phanta - ſie erhizt und dahin leitet, ſollte vor - kommen. So iſt z. B. das Leſen man - cher alten Dichter, oder das Studium der Mythologie ſchon manchem ſehr nachtheilig geweſen. Auch in dieſem Sinn wäre es weit beſſer, den Anfang mit dem Studium der Natur, der Kräu - terkunde, Thierkunde, Oekonomie u. ſ. w. zu machen. Dieſe Gegenſtände erregen keine unnatürlichen Triebe der Art, ſondern erhalten den reinen Natur - ſinn, der vielmehr das beſte Gegengift derſelben iſt.

7. Man ſey äuſſerſt aufmerkſam auf Kindermägde, Domeſtiken, Geſellſchaf - ter, daſs dieſe nicht den erſten Keim zu508 dieſer Ausſchweifung legen, welches ſolche Perſonen oft in aller Unwiſſenheit thun. Mir ſind einige Fälle bekannt, wo die Kinder blos dadurch Onaniſten wurden, weil die Kindermagd, wenn ſie ſchrieen und nicht einſchlafen woll - ten, kein beſſeres Mittel wuſste ſie zu be - ſänftigen, als an den Geſchlechtstheilen zu ſpielen. Daher auch das Zuſammen - ſchlafen mehrerer nie zu geſtatten iſt.

8. Wenn aber demohngeachtet je - ner unglückliche Trieb erwacht, ſo un - terſuche man vor allen Dingen, ob es nicht vielmehr Krankheit als Unart iſt, worauf die meiſten Erzieher zu wenig ſehen. Vorzüglich können alle Krank - heiten, die ungewöhnliche Reize im Un - terleibe erregen, wenn ſie mit etwas Em - pfindlichkeit der Nerven zuſammentref - fen, dazu Gelegenheit geben, wie ich aus Erfarung weiſs. Dahin gehören Wurmreiz, Skrofeln oder Gekröſsdrü - ſenverhärtungen, auch Vollblütigkeit des Unterleibes (ſie mag nun Folge einer zu reizenden erhitzenden Diät oder des509 Sitzens ſeyn). Man muſs daher, bey jedem Verdacht der Art, immer erſt die körperliche Urſache entfernen, durch ſtärkende Mittel die widernatürliche Empfindlichkeit der Nerven heben, und man wird, ohne andere Hülfe, auch den Trieb zur Onanie, oder die zu frühzei - tige Reizbarkeit der Geſchlechtstheile, gehoben haben.

510

III.

Thätige und arbeitſame Jugend.

Wir finden, daſs alle die, welche ein ſehr hohes Alter erreichten, ſolche Men - ſchen waren, die in der Jugend Mühe, Arbeit, Strapazen ausgeſtanden hatten. Es waren Matroſen, Soldaten, Tage - löhner. Ich will nur an den 112 jähri - gen Mittelſtädt erinnern, der ſchon im 15ten Jahr Bedienter und im 18ten Jahre Soldat war, und alle Preuſsiſche Kriege ſeit Stiftung der Monarchie mit - machte.

Eine ſolche Jugend wird die Grund - lage zu einem langen und feſten Leben511 auf eine doppelte Art; theils, indem ſie dem Körper jenen Grad von Feſtigkeit und Abhärtung giebt, der zur Dauer nothwendig iſt; theils, indem ſie dasje - nige möglich macht, was hauptſächlich zum Glück und zur Länge des Lebens gehört, das Fortſchreiten zum Beſſern und Angenehmern. Der, der in der Jugend alle Bequemlichkeiten und Ge - nüſſe im Ueberfluſs hatte, hat auch nichts mehr zu hoffen, das groſse Mittel zur Erweckung und Conſervation der Lebenskraft, Hofnung und Ausſicht ins Beſsre, fehlt ihm. Muſs er nun vollends mit zunehmenden Jahren Dürf - tigkeit und Beſchwehrden empfinden, dann wird er doppelt niedergedrückt, und nothwendig ſeine Lebensdauer verkürzt. Aber in dem Uebergang von Beſchwehrlichkeiten zum Beſſern liegt ein beſtändiger Quell von neuer Freude, neuer Kraft und neuen Leben.

So wie der Uebergang mit zuneh - menden, Jahren aus einem rauhen512 ſchlechten Clima in ein milderes ſehr viel zur Verlängerung des Lebens bey - trägt, eben ſo auch der Uebergang aus einem Mühevollen Leben in ein beque - meres und angenehmeres.

IV.513

IV.

Enthaltſamkeit von dem Genuſs der phy - ſiſchen Liebe in der Jugend und auſſer der Ehe.

Wer nie in ſchnöder Wolluſt Schooſs
Die Fülle der Geſundheit goſs,
Dem ſteht ein ſtolzes Wort wohl an,
Das Heldenwort: Ich bin ein Mann!
Denn er gedeiht, und ſproſst empor
Wie auf der Wieſ ein ſchlankes Rohr,
Und lebt und webt, der Gottheit voll,
An Kraft und Schönheit ein Apoll.
Die Götterkraft, die ihn durchfleuſst,
Beflügelt ſeinen Feuergeiſt,
Und treibt aus kalter Dämmerung
Gen Himmel ſeinen Adlerſchwung.
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O ſchaut, wie er voll Majeſtät,
Ein Gott, daher auf Erden geht!
Er geht und ſteht voll Herrlichkeit,
Und fleht um nichts; denn er gebeut.
Sein Auge funkelt dunkelhell,
Wie ein kryſtallner Schattenquell.
Sein Antlitz ſtrahlt wie Morgenroth
Auf Naſ und Stirn herrſcht Machtgebot.
Die edelſten der Jungfraun blühn;
Sie blühn und duften nur für ihn.
O Glückliche, die er erkieſst?
O Glückliche, die ſein genieſst!

Bürger.

Es war eine Zeit, wo der Teutſche Jüngling nicht eher an den Umgang mit dem andern Geſchlecht dachte, als im 24 25ſten Jahre und man wuſste nichts von ſchädlichen Folgen dieſer Enthalt - ſamkeit, nichts von den Verhaltungs - krankheiten und ſo manchem andern Uebel, was man ſich jezt träumt; ſon -515 dern man wuchs, ward ſtark und es wurden Männer, die durch ihre Gröſse ſelbſt die Römer in Verwunderung ſezten.

Jezt hört man um die Zeit auf, wo jene anfingen, man glaubt nicht bald ge - nug ſich der Keuſchheitsbürde entledi - gen zu können, man hat die lächerlich - ſten Einbildungen von dem Schaden, den die Enthaltſamkeit verurſachen könnte, und alſo fängt der Knabe an, noch lange vorher, ehe ſein eigner Kör - per vollendet iſt, die zur Belebung an - drer beſtimmten Kräfte zu verſchwen - den. Die Folgen liegen am Tage. Dieſe Menſchen bleiben unvollendete halbfer - tige Weſen, und um die Zeit, wo unſre Vorfahren erſt anfingen dieſe Kräfte zu brauchen, ſind ſie gewöhnlich ſchon damit zu Ende, fühlen nichts als Ekel und Ueberdruſs an dem Genuſſe, und einer der wichtigſten Reize zur Würzung des Lebens iſt für ſie auf immer ver - lohren.

K k 2516

Es iſt unglaublich, wie weit Vorur - theile in dieſem Puncte gehen können, beſonders wenn ſie unſern Neigungen ſchmeicheln. Ich habe wirklich einen Menſchen gekannt, der in allem Ernſte glaubte, es exiſtire kein ſchädlicheres Gift für den menſchlichen Körper als die Zeugungsſäfte, und die Folge war, daſs er nichts angelegentlicheres zu thun hatte, als ſich immer, ſo ſchnell wie möglich davon zu entledigen. Durch dieſe Bemühungen brachte ers denn dahin, daſs er im 20ſten Jahre ein Greis war, und im 25ſten alt und lebensſatt ſtarb.

Man iſt jezt ſo ganz in den Ge - ſchmack der Ritterzeiten gekommen, daſs ſogar alle Romane dieſe Form an - nehmen müſſen, wenn ſie gefallen ſol - len, und man kann nicht aufhören, die Denk - und Handlungsweiſe, das Edle, Groſse und Entſchloſsne dieſer Teut - ſchen Männer zu bewundern. Und das mit Recht. Es ſcheint je mehr wir füh - len, wie weit wir davon abgekommen517 ſind, deſto mehr zieht uns jene Darſtel - lung an, deſto mehr erregt ſie den Wunſch, ihnen wieder ähnlich zu wer - den. Aber wie gut wäre es, wenn wir nicht blos an die Sache, ſondern viel - mehr an die Mittel dazu dächten! Das, wodurch jene den Muth, die Leibes - und Seelenkraft, den feſten, treuen und entſchloſsnen Karacter, genug, alles das erhielten, was ſie zu wahren Männern im ganzen Sinne des Worts macht, war vorzüglich ihre ſtrenge Enthaltſamkeit und Schonung ihrer phyſiſchen Manns - kraft. Die Jugend dieſer Männer war groſsen Unternehmungen und Thaten, nicht Wohllüſten und Genüſſen geweiht, der phyſiſche Geſchlechtstrieb wurde nicht zum thieriſchen Genuſs erniedrigt, ſondern in eine moraliſche Anreizung zu groſsen und kühnen Unternehmungen veredelt. Ein jeder trug im Herzen das Bild ſeiner Geliebten, ſie mochte nun wirklich oder idealiſch ſeyn, und dieſe romantiſche Liebe, dieſe unverbrüch - liche Treue, war das Schild ſeiner Ent -518 haltſamkeit und Tugend, befeſtigte ſeine Körperkraft und gab ſeiner Seele Muth und ausharrende Dauer, durch die be - ſtändige Ausſicht auf den ihm in der Ferne zuwinkenden Minneſold, der nur erſt durch groſse Thaten errungen wer - den konnte. So romanhaft die Sache ſcheinen mag, ſo finde ich doch bey genauer Unterſuchung groſse Weisheit in dieſer Benutzung des phyſiſchen Triebs, eines der ſtärkſten Motive der menſchlichen Natur. Wie ganz anders iſt es damit bey uns geworden? Dieſer Trieb, der durch kluge Leitung der Keim der erhabenſten Tugend, des gröſsten Heroismus werden kann, iſt zur tändelnden Empfindeley oder zum blos thieriſchen Genuſs herabgeſunken, den man noch vor der Zeit bis zum Ekel befriedigt; der Affect der Liebe, der dort für Ausſchweifungen ſicherte, iſt bey uns die Quelle der allerzügelloſeſten worden; die Tugend der Enthaltſam - keit, gewiſs die gröſste Grundlage mo - raliſcher Feſtigkeit und Mannheit des519 Karacters, iſt lächerlich geworden, und als eine altmodiſche Pedanterey ver - ſchrieen, und das, was die lezte füſſeſte Belohnung überſtandener Arbeiten, Müh - ſeeligkeiten und Gefahren ſeyn ſollte, iſt eine Blume worden, die jeder Knabe am Wege pflückt. Warum legte die Natur dieſes Sehnen zur Vereinigung, dieſen allmächtigen unwiderſtehlichen Trieb der Liebe in unſre Bruſt? Wahr - lich nicht, um Romanen zu ſpielen und in dichteriſchen Exſtaſen herumzu - ſchwärmen, ſondern um dadurch ein feſtes unzertrennliches Band zweyer Herzen zu knüpfen, den Grund einer glücklichen Generation zu legen, und durch dieſs Zauberband unſre Exiſtenz mit der erſten und heiligſten aller Pflich - ten zu verbinden. Wie gut wäre es, wenn wir hierinne der alten Sitte uns wieder näherten, und die Früchte nicht eher brechen wollten, als bis wir gesäet hätten!

Man hört jezt ſehr viel von Kraft und Kraftmenſchen ſprechen. Ich glaube520 nichts davon, ſo lange ich nicht ſehe, daſs ſie Kraft genug haben, Leidenſchaf - ten zu bekämpfen und enthaltſam zu ſeyn; denn dieſs iſt der Triumpf, aber auch das einzige Zeichen der wahren Geiſteskraft, und dieſs die Schule, in der ſich der Jüngling üben und zum ſtar - ken Mann bilden ſollte.

Durchgehends finden wir in der al - ten Welt, daſs alle diejenigen, von de - nen man etwas auſſerordentliches und ausgezeichnetes erwartete, ſich der phy - ſiſchen Liebe enthalten muſsten. So ſehr war man überzeugt, daſs Venus die ganze Mannskraft nehme, und daſs Men - ſchen, dieſen Ausſchweifungen ergeben, nie etwas groſses und auſſerordentliches leiſten würden.

Ich gründe hierauf eine der wich - tigſten Lebensregeln: Ein jeder, dem Dauer und Blüthe ſeines Lebens am Her - zen liegt, vermeide den auſſerehelichen Um - gang mit dem andern Geſchlecht, und ver -521 ſpare dieſen Genuſs bis zur Ehe. Meine Gründe ſind folgende:

1. Der auſſereheliche Umgang führt, wegen des immer wechſelnden, immer neuen Reizes, weit leichter zur Un - mäſsigkeit im Genuſs, die hingegen der eheliche verhütet.

2. Er verleitet uns zum zu frühzeiti - gen Genuſs der phyſiſchen Liebe, alſo ei - nem der gröſsten Verkürzungsmittel des Lebens, da hingegen der eheliche Genuſs nur erſt dann möglich iſt, wenn wir phyſiſch und moraliſch gehörig vorbe - reitet ſind.

3. Der auſſereheliche Umgang ſezt uns unausbleiblich der Gefahr einer ve - neriſchen Vergiftung aus, denn alle Vor - ſicht, alle Präſervative ſind, wie ich in der Folge zeige, vergebens.

4. Wir verlieren dadurch die Nei - gung, auch wohl die Kraft zur ordent - lichen ehelichen Verbindung, und folg - lich zu einem ſehr weſentlichen Erhal - tungsmittel des Lebens.

522

Aber, wird mancher fragen, wie iſt es möglich, bey einem geſunden und wohl genährten Körper, bey unſrer Denk - und Lebensweiſe, Enthaltſamkeit bis zum vier oder fünf und zwanzigſten Jahre, genug, bis zur Zeit der Ehe, zu beobachten?*)Noch immer träumt ſich mancher die ſchlimm - ſten phyſiſche Folgen, die die Enthaltſamkeit haben müſste. Aber ich kann nicht oft genug daran erinnern, daſs dieſe Säfte nicht blos zur Ausleerung ſondern am meiſten zur Wiederein - faugung ins Blut und zu unſrer eignen Stärkung beſtimmt ſind. Und hier kann ich nicht unter - laſſen auf eine Einrichtung aufmerkſam zu ma - chen, die auch in dieſem Stück unſre moraliſche Freyheit ſichert und daher ein ausſchlieſsliches Eigenthum des Menſchen iſt. Ich meyne die von Zeit zu Zeit erfolgenden natürlichen Entle - digungen derer Säfte, die theils zur Hervorbrin - gung, theils zur Ernährung der Frucht beſtimmt ſind (Pollutiones nocturnae beym männlichen, Menſtrua beym weiblichen Geſchlechte). Der Menſch ſollte zwar beſtändig fähig zur Fortpflan - zung, aber nie dazu thieriſch gezwungen ſeyn, und dieſs bewirken dieſe nur bey Menſchen exi - ſtirenden natürlichen Ableitungen, ſie entziehen den Menſchen der Sklaverey des blos thieriſchen Daſs es möglich iſt,523 weiſs ich aus Erfarung, und könnte hier mehrere brave Männer anführen, die ihren jungfräulichen Bräuten auch ihre männliche Jungfrauſchaft zur Mitgabe brachten. Aber es gehört dazu ein fe - ſter Vorſatz, feſter Karacter und eine gewiſſe Richtung und Stimmung der Denk - und Lebensweiſe, die freylich*)Geſchlechtstriebs, ſetzen ihn in Stand denſelben ſelbſt moraliſchen Geſetzen und Rückſichten un - terzuordnen, und retten auch in dieſem Verhält - niſs ſeine moraliſche Freyheit. Der Menſch bey - derley Geſchlechts iſt dadurch für den phyſiſchen Schaden, den die Nichtbefriedigung des Ge - ſchlechtstriebs erregen könnte, geſichert, es exiſtirt nun keine unwiderſtehliche blos thieri - ſche Nothwendigkeit deſſelben, und der Menſch behält auch hier (wenn er ſich nicht ſelbſt ſchon durch zu groſse Reizung des Triebs dieſes Vor - zugs verluſtig gemacht hat), ſeinen freyen Wil - len ihn zu erfüllen oder nicht, je nachdem es höhere moraliſche Rückſichten erfordern. Ein neuer groſser Beweiſs, daſs ſchon die phyſiſche Natur des Menſchen auf ſeine höhere moraliſche Vollkommenheit berechnet war, und daſs dieſer Zweck eine ſeiner unzertrennlichſten und we - ſentlichſten Eigenſchaften iſt!524 nicht die gewöhnliche iſt. Man erlaube mir hier, zum Beſten meiner jüngern Mitbürger, einige der bewährteſten Mittel zur Enthaltſamkeit und zur Ver - meidung der unehelichen Liebe aufzu - führen, deren Kraft, Keuſchheit durch die gefährlichſten Jugendzeiten hindurch zu erhalten, ich aus Erfarung kenne:

1. Man lebe mäſsig und vermeide den Genuſs nahrhafter viel Blut machen - der oder reizender Dinge; z. E. viel Fleiſchkoſt, Eyer, Chokolade, Wein, Gewürze.

2. Man mache ſich täglich ſtarke körperliche Bewegung, bis zur Ermü - dung, damit die Kräfte und Säfte ver - arbeitet, und die Reize von den Ge - ſchlechtstheilen abgeleitet werden. Ge - nug, in den zwey Worten: Faſte und Arbeite, liegt ein groſser Talismann ge - gen die Anfechtungen dieſes Dämons.

3. Man beſchäftige den Geiſt, und zwar mit mehr ernſthaften abſtracten Gegenſtänden, die ihn von der Sinnlich - keit ableiten.

525

4. Man vermeide alles, was die Phantaſie erhitzen, und ihr die Rich - tung auf Wolluſt geben könnte, z. E. ſchlüpfriche Unterhaltungen, das Leſen Liebevoller und wollüſtiger Gedichte und Romane (wie wir denn leider ſo viele haben, die blos gemacht zu ſeyn ſcheinen, die Phantaſie junger Leute zu erhitzen, und deren Verfaſſer blos auf den äſthetiſchen auch wohl numerären Werth zu ſehen ſcheinen, ohne den un - erſezlichen Schaden zu berechnen, den ſie der Moralität und der Unſchuld da - durch zufügen), auch den Umgang mit verführeriſchen Weibsperſonen, manche Arten von Tänzen u. dgl.

5. Man denke ſich immer die Gefah - ren und Folgen der Ausſchweifung recht lebhaft. Erſt die moraliſchen. Wel - cher Menſch von nur einigem Gefühl und Gewiſſen wird es über ſich erhal - ten können, der Verführer der erſten Unſchuld oder der ehelichen Treue zu ſeyn? Wird ihn nicht Zeitlebens der peinigende Vorwurf foltern, im erſten526 Falle die Blume im Aufblühen gebro - chen, und ein noch unſchuldiges Ge - ſchöpf auf ihr ganzes Leben phyſiſch und moraliſch unglücklich gemacht zu haben, deſſen nun folgende Vergehun - gen, Liederlichkeit und Verworfenheit ganz auf ihn, als den erſten Urheber, reſultiren; oder im zweyten Falle die eheliche und häusliche Glückſeeligkeit einer ganzen Familie geſtöhrt und ver - giftet zu haben, ein Verbrechen, das nach ſeinem moraliſchen Gewicht ab - ſcheulicher iſt, als Raub und Mordbren - nerey? Denn was iſt bürgerliches Ei - genthum gegen das Herzenseigenthum der Ehe, was iſt Raub der Güter gegen den Raub der Tugend, der moraliſchen Glückſeeligkeit? Es bleibt alſo nichts übrig, als ſich mit feilen und der Wol - luſt geweiheten Dirnen abzugeben; aber welche Erniedrigung des Karacters, wel - cher Verluſt des wahren Ehrgefühls iſt damit verbunden? Auch iſts erwieſen, daſs nichts ſo ſehr den Sinn für hohe und edle Gefühle abſtumpft, Kraft und527 Feſtigkeit des Geiſtes nimmt, und das ganze Weſen erſchlafft, als dieſe Aus - ſchweifungen der Wolluſt. Betrach - ten wir nun die phyſiſchen Folgen des auſſerehelichen Genuſſes, ſo ſind die nicht weniger traurig, denn hier iſt man niemals für veneriſcher Anſteckung ſicher. Kein Stand, kein Alter, keine ſcheinbare Geſundheit ſchüzt uns dafür. Nur gar zu leichtſinnig geht man jezt gewöhnlich über dieſen Punct weg, ſeit - dem die gröſsre Allgemeinheit des Uebels und der Einfluſs unwiſſender Aerzte dieſe Vergiftung ſo gleichgültig gemacht haben, als Huſten und Schnupfen.

Aber wir wollen es einmal in ſeiner wahren Geſtalt betrachten, was es heiſst, veneriſch vergiftet zu ſeyn, und ich glaube, jeder vernünftige und wohlden - kende Menſch wird es mir zugeben, daſs es unter die gröſsten Unglücksfälle ge - hört, die einen Menſchen betreffen kön - nen. Denn erſtens ſind die Wirkungen dieſes Giftes in dem Körper immer ſehr ſchwächend und angreifend, oft auch528 fürchterlich zerſtöhrend, ſo daſs tödli - che Folgen entſtehen, oder auch Gau - men und Naſenbeine verloren gehen, und ein ſolcher Menſch auf immer ſeine Schmach zur Schau trägt. Ferner, die ganze Medizin hat kein völlig entſchei - dendes Zeichen, ob die veneriſche Krankheit völlig gehoben und das vene - riſche Gift gänzlich in einem Körper ge - dämpft ſey, oder nicht. Hierinn ſtim - men die gröſsten Aerzte überein. Das Gift kann ſich wirklich einige Zeitlang ſo verſtecken und modifiziren, daſs man glaubt völlig geheilt zu ſeyn, ohne daſs es iſt. Daraus entſtehen nun zweyerley üble Folgen, einmal, daſs man gar leicht etwas veneriſches im Körper be - hält, welches denn unter verſchiedenen Geſtalten bis ins Alter hin beläſtigt, und einen ſiechen Körper bewirkt, oder daſs man, welches faſt eben ſo ſchlimm iſt, ſich immer einbildet noch veneriſch zu ſeyn, jeden kleinen Zufall davon herlei - tet, und mit dieſer fürchterlichen Unge - wiſsheit ſein Leben hinquält. Ich habevon529von dieſer leztern Art die traurigſten Beyſpiele geſehen. Es braucht nur noch etwas Hypochondrie hinzuzukommen, ſo wird dieſer Gedanke ein ſchrecklicher Plagegeiſt, der Ruhe, Zufriedenheit, gute Entſchlüſſe auf immer von uns wegſcheucht. Ueberdieſs liegt ſelbſt in der Kur dieſer Krankheit etwas ſehr ab - ſchreckendes. Das einzige Gegengift des veneriſchen Giftes iſt Queckſilber, alſo ein Gift von einer andern Art, und eine recht durchdringende Queckſilber - kur (ſo wie ſie bey einem hohen Grade der Krankheit nöthig iſt) iſt nichts an - ders als eine künſtliche Queckſilbervergif - tung, um dadurch die veneriſche Vergif - tung aufzuheben. Aber gar oft bleiben nun ſtatt der veneriſchen Uebel die Fol - gen des Queckſilbergifts. Die Haare fallen aus, die Zähne verderben, die Nerven bleiben ſchwach, die Lunge wird angegriffen u. dergl. mehr. Aber noch eine Folge, die gewiſs für einen fühlenden Menſchen das gröſste Gewicht hat, iſt die, daſs ein jeder, der ſich ve -L l530neriſch anſtecken läſst, dieſes Gift nicht blos für ſich aufnimmt, ſondern es in ſich auch wieder reproducirt, und alſo auch für andre, ja für die Menſchheit eine Giftquelle wird. Er giebt ſeinen Körper zum Reſervoir, zum Treibhaus dieſes ſcheuslichen Gifts her, und wird dadurch ein Erhalter deſſelben für die ganze Welt, denn es iſt erwieſen, daſs ſich dieſes Gift nur im Menſchen von neuen erzeugt, und daſs es ſogleich aus - gerottet ſeyn würde, wenn ſich keine Menſchen mehr dazu hergäben, um es zu reproduziren.

6. Noch ein Motiv, deſſen Kraft, wie ich weiſs, bey gutgearteten Men - ſchen ſehr groſs iſt: Man denke an ſeine künftige Geliebte und Gattin, und an die Pflichten, die man ihr ſchuldig iſt. Kennt man ſie ſchon, deſto beſſer. Aber auch ohne ſie zu kennen, kann der Ge - danke an die, der wir einſt unſre Hand geben wollen, von der wir Treue, Tu - gend und feſte Anhänglichkeit erwarten, ein groſser Beweggrund zur eignen Ent -531 haltſamkeit und Reinheit ſeyn. Wir müſſen, wenn wir einſt ganz glücklich ſeyn wollen, für ſie, ſey ſie auch nur noch Ideal, ſchon im voraus Achtung empfinden, ihr Treue und Liebe gelo - ben und halten, und uns ihrer würdig machen. Wie kann der eine tugend - hafte und rechtſchaffne Gattin verlan - gen, der ſich vorher in allen Wollüſten herumgewälzt und dadurch entehrt hat? Wie kann er einſt mit reinem und wah - rem Herzen lieben, wie kann er Treue geloben und halten, wenn er ſich nicht vom Anfang an an dieſe reinen und er - habenen Empfindungen gewöhnt, ſon - dern ſie zur thieriſchen Wolluſt ernie - drigt hat?

7. Noch kann ich eine Regel nicht übergehen, die von groſser Wichtigkeit iſt: Man vermeide die erſte Ausſchwei - fung der Art. Keine Ausſchweifung zieht ſo gewiſs die folgenden nach ſich, als dieſe. Wer noch nie bis zu dem höch - ſten Grad der Vertraulichkeit mit dem andern Geſchlecht kam, der hat ſchonL l 2532darinn einen groſsen Schild der Tugend. Schamhaftigkeit, Schüchternheit, ein gewiſſes innres Gefühl von Unrechtthun, genug, alle die zarten Empfindungen, die den Begriff der Jungfräulichkeit aus - machen, werden ihn immer noch, auch bey ſehr groſser Verführung, zurück - ſchrecken. Aber eine einzige Uebertre - tung vernichtet ſie alle unwiderbring - lich. Dazu kommt noch, daſs der erſte Genuſs oft erſt das Bedürfniſs dazu er - regt, und den erſten Keim jenes noch ſchlafenden Triebs erweckt, ſo wie jeder Sinn erſt durch Kultur zum vollkomm - nen Sinn wird. Es iſt in dieſem Betracht nicht blos die phyſiſche ſondern auch die moraliſche Jungfrauſchaft etwas ſehr Reelles, und ein heiliges Gut, das beyde Geſchlechter ſorgfältig bewahren ſollten. Aber eben ſo gewiſs iſt es, daſs ein ein - ziger Fall hinreicht, um uns dieſelbe, nicht blos phyſiſch ſondern auch mora - liſch zu rauben, und wer einmal gefal - len iſt, der wird zuverläſſig öftrer fallen.

533

Genug, um auf unſern Hauptſatz zurück zu kommen:

  • Multa tulit, fecitque puer, ſudanit et alſit Abſtinuit venere et vino.

In dieſen Worten liegt wirklich das Weſentliche der Kunſt, ſich in der Jugend Kraft und Lebensdauer zu verſchaffen. Arbeit, Anſtrengung und Vermeidung der phyſiſchen Liebe und des Weins ſind die Hauptſtücke.

Ich brauche nur an das vorherge - ſagte zu erinnern. Glücklich alſo der, der die Kunſt beſizt, dieſe Kräfte zu ſcho - nen. Er beſizt darinne nicht nur das Geheimniſs, ſeinem eignen Leben mehr Länge und Energie zu geben, ſondern auch, wenn nun der rechte Zeitpunct kommt, Leben andern Geſchöpfen mit - zutheilen, das Glück ehelicher Liebe ganz zu genieſſen, und ſeine geſpaarte Kraft und Geſundheit in glücklichen Kindern verdoppelt zu ſehen; da hinge - gen der Entnervte, auſſer der Verkürzung534 ſeines eignen Lebens, auch noch die bittre Kränkung erlebt, in ſeinen elen - den Kindern ſeine eigne Schmach immer reproduzirt zu finden. Solch ein über - ſchwenglicher Lohn wartet deſſen, der Kraft genug hat, ein Paar Jahre enthalt - ſam zu ſeyn. Ich kenne wenig Tugen - den, die ſchon hier auf Erden ſo reich - lich und ausgezeichnet belohnt würden.

Ueberdieſs hat ſie noch den Vorzug, daſs ſie, indem ſie zu einem glücklichen Eheſtand geſchickt macht, zu einem neuen Erhaltungsmittel des Lebens ver - hilft.

535

V.

Glücklicher Eheſtand.

Es iſt eins der ſchädlichſten und fal - ſcheſten Vorurtheile, daſs die Ehe eine blos politiſche und conventionelle Er - findung ſey. Sie iſt vielmehr eine der weſentlichſten Beſtimmungen des Men - ſchen, ſowohl fürs Einzelne, als fürs Ganze, und ein unentbehrlicher Theil der Erziehung des Menſchengeſchlechts. Ich verſtehe unter Ehe eine feſte, heilige Verbindung zweyer Perſonen von ver - ſchiedenem Geſchlecht zur gegenſeitigen Unterſtützung, zur Kindererzeugung und Erziehung. Und in dieſer innigen, auf ſo wichtige Zwecke gegründeten Verbindung liegt, nach meiner Mey - nung, der Hauptgrund häuslicher und536 öffentlicher Glückſeligkeit. Denn ein - mal iſt ſie unentbehrlich zur morali - ſchen Vervollkommnung des Menſchen; durch dieſe innige Verkettung ſeines Weſens mit einem andern, ſeines In - tereſſes mit einem andern wird der Egoismus, der gefährlichſte Feind aller Tugend, am beſten überwunden, der Menſch immer mehr zur Humanität, und zum Mitgefühl für andere geführt, und ſeiner wahren moraliſchen Vered - lung genähert. Sein Weib, ſeine Kin - der knüpfen ihn an die übrige Menſch - heit und an das Wohl des Ganzen mit unauflöslichen Banden, ſein Herz wird durch die ſüſſen Gefühle ehelicher und kindlicher Zärtlichkeit immer genährt und erwärmt, und für jener alles tödten - den Kälte geſchüzt, die ſich ſo leicht ei - nes iſolirt lebenden Menſchen bemäch - tigt, und eben dieſe ſüſsen Vaterſorgen legen ihm Pflichten auf, die ſeinen Ver - ſtand an Ordnung, Arbeit und vernünf - tige Lebensweiſe gewöhnen. Der Ge - ſchlechtstrieb wird dadurch veredelt,537 und aus einem thieriſchen Inſtinet in eins der edelſten moraliſchen Motive umgeſchaffen, die heftigen Leidenſchaf - ten, böſen Launen, üble Gewohnheiten werden dadurch am beſten getilgt. Hieraus entſpringt nun aber ein äuſſerſt beglückender Einfluſs aufs Ganze und auf das öffentliche Wohl, ſo daſs ich mit völliger Ueberzeugung behaupte: Glück - liche Ehen ſind die wichtigſten Grundfeſten des Staats und der öffentlichen Ruhe und Glückſeligkeit. Ein Unvereheligter bleibt immer mehr Egoiſt, unabhängig, unſtät, von ſelbſtſüchtigen Launen und Leiden - ſchaften beherrſcht, weniger für Menſch - heit, für Vaterland und Staat als für ſich ſelbſt intereſſirt; das falſche Gefühl der Freyheit hat ſich ſeiner bemächtigt, denn eben dieſs hielt ihn vom Heyra - then ab, und wird durch den eheloſen Stand noch genährt. Was kann wohl mehr zu Neuerungen, Volksbewegun - gen, Revolutionen disponiren, als die Zunahme der eheloſen Staatsbürger? Wie ganz anders iſt dieſs mit dem Ver -538 heyratheten? Die in der Ehe nothwen - dige Abhängigkeit von der andern Hälfte gewöhnt unaufhörlich auch an die Ab - hängigkeit vom Geſez, die Sorgen für Frau und Kind binden an Arbeitſamkeit und Ordnung im Leben, durch ſeine Kinder iſt der Mann an den Staat feſt geknüpft, das Wohl, das Intereſſe des Staats wird dadurch ſein eignes, oder, wie es Baco ausdrückt, wer verheyrathet iſt und Kinder hat, der hat dem Staate Geiſseln gegeben, er iſt obligat, nur er iſt wahrer Staatsbürger, wahrer Patriot. Aber was noch mehr iſt, nicht blos das Glück der gegenwärtigen ſondern auch der zukünftigen Generation wird da - durch gegründet, denn nur die eheliche Verbindung erzieht dem Staate gute, ſittliche, an Ordnung und Bürgerpflicht von Jugend an gewöhnte Bürger. Man glaube doch ja nicht, daſs der Staat dieſe Bildung, dieſe Erziehung erſetzen kann, die die weiſe Natur mit dem Vater - und Mutterherzen verknüpft hat! Ach der Staat iſt eine ſchlechte Mutter! Ich habe539 ſchon oben gezeigt, was die unſeelige Operation, das Propagationsgeſchäft ſporadiſch (nach der bey Hunden und andern Vieh beliebten Weiſe) zu treiben, und dann die Kinder auf öffentliche Ko - ſten in Findelhäuſern zu erziehen, für traurige Folgen aufs Phyſiſche hat, und eben ſo iſt es mit dem Sittlichen, Es iſt eine ausgemachte Wahrheit, je mehr ein Staat uneheliche Kinder hat, deſto mehr hat er Keime der Korruption, deſto mehr Saat zu künftigen Unruhen und Revolutionen. Und doch kann es Regenten geben, die, durch falſche Fi - nanzvorſpiegelungen verführt, glauben können, die eheliche Verbindung könne dem Staate ſchädlich werden, der ehe - loſe Stand mache treue Diener, gute Bürger und dergleichen mehr. O ihr Groſsen dieſer Welt, wollt ihr die Ruhe eurer Staaten ſichern, wollt ihr wahres Glück im Einzelnen und im Ganzen ver - breiten, ſo befördert, ehrt und unter - ſtüzt die Ehen; betrachtet jede Ehe als eine Pflanzſchule guter Staatsbürger,540 jede gute häuslich glückliche Familie als ein Unterpfand der öffentlichen Ruhe und eurer Thronen!

Man verzeihe dieſe Digreſſion mei - nem Herzen, das keine Gelegenheit vor - bey laſſen kann, das Göttliche und Wohlthätige einer Einrichtung zu zei - gen, die offenbar in der ſittlichen und phyſiſchen Natur des Menſchen gegrün - det iſt, und die noch von ſo vielen jezt verkannt und falſch beurtheilt wird. Ich kehre jezt zu meinem Hauptzweck zurück, den wohlthätigen Einfluſs des Eheſtands auf das phyſiſche Wohl des Menſchen zu zeigen. Mit Recht ver - dient er unter den Verlängerungsmitteln des Lebens einen Plaz. Meine Grün - de ſind folgende:

1. Der Eheſtand iſt das einzige Mit - tel, um dem Geſchlechtstrieb Ordnung und Beſtimmung zu geben. Er ſchüzt eben ſo ſehr für ſchwächender Ver - ſchwendung, als für unnatürlicher und kältender Zurückhaltung. So ſehr ich der Enthaltſamkeit in der Jugend das541 Wort geredet habe, und überzeugt bin, daſs ſie unentbehrlich zum glücklichen und langen Leben iſt, ſo bin ich doch eben ſo ſehr überzeugt, daſs männliche Jahre kommen, wo es eben ſo nachthei - lig wäre, jenen natürlichen Trieb ge - waltſam zu unterdrücken, als ihn da zu befriedigen, wo es noch nicht Zeit iſt. Es bleibt doch zum Theil, wenigſtens in Abſicht auf die gröbern Theile, eine Excretion, und, was das wichtigſte iſt, durch völlig unterlaſsnen Gebrauch die - ſer Organe veranlaſſen wir natürlich, daſs immer weniger Generationsſäfte da abgeſondert und präparirt, folglich auch immer weniger ins Blut reſorbirt wer - den, und wir erleiden am Ende dadurch ſelbſt einen Verluſt. Und ſchon das all - gemeine Geſez der Harmonie erfodert es. Keine Kraft in uns darf ganz unent - wickelt bleiben; jede muſs angemeſſen geübt werden. Coitus modicus excitat, nimius debilitat.

2. Er mäſsigt und regulirt den Ge - nuſs. Eben das, was den Wollüſtling542 vom Eheſtand abſchreckt, das Einerley, iſt ſehr heilſam und nothwendig; denn es verhütet die durch ewige Abwechſe - lung der Gegenſtände immer erneuerte und deſto ſchwächendere Reizung. Es verhält ſich wie die einfache Nahrung zur componirten und ſchwelgeriſchen; nur jene giebt Mäſsigkeit und langes Leben.

3. Die Erfarung ſagt uns: Alle, die ein ausgezeichnet hohes Alter erreichten, waren verheyrathet.

4. Der Eheſtand gewährt die rein - ſte, gleichförmigſte, am wenigſten auf - reibende Freude, die häusliche. Sie iſt zuverläſſig diejenige, die der phyſiſchen und moraliſchen Geſundheit am ange - meſſenſten iſt, und das Gemüth am ge - wiſſeſten in jenem glücklichen Mittelton erhalten kann, der zur Verlängerung des Lebens der vortheilhafteſte iſt. Er temperirt ſowohl die überſpannten und ſchwärmeriſchen Hofnungen und Plane, als die eben ſo übertriebnen Beſorgniſſe. Alles wird durch die Mittheilung eines543 zweyten Weſens, durch die innige Ver - bindung unſrer Exiſtenz mit einer an - dern gemildert und gemäſsigt. Dazu nun die zarte Wartung und Pflege, die kein andres Verhältniſs in der Welt für die Dauer ſo verſichern kann, als das ehe - liche Band, der Himmel auf Erden, der in dem Beſitz geſunder und wohlerzoge - ner Kinder liegt, die wirkliche Verjün - gung, die ihr Umgang uns gewährt, wo - von der 80jährige Cornaro uns ein ſo rührendes Bild gemacht hat, und man wird nicht mehr daran zweifeln.

Wir gehen faſt durch eben die Ver - änderungen aus der Welt, als wir hinein - kommen; die beyden Extremen des Le - bens berühren ſich wieder. Als Kinder fangen wir an, als Kinder hören wir auf. Wir kehren zulezt in den nehmlichen ſchwachen und hülfloſen Zuſtand zurück, wie im Anfange. Man muſs uns heben, tragen, Nahrung verſchaffen und rei - chen. Wir bedürfen nun ſelbſt wieder Eltern, und welche weiſe Einrich - tung? wir finden ſie wieder in un -544 ſern Kindern, die ſich nun freuen, einen Theil der Wohlthaten erwiedern zu kön - nen, die wir ihnen erzeigten. Die Kin - der treten nun gleichſam in die Stelle der Eltern, ſo wie unſre Schwäche uns in den Stand der Kinder verſezt. Der Hageſtolz hingegen macht ſich dieſer weiſen Einrichtung ſelbſt verluſtig. Wie ein ausgeſtorbner Stamm ſteht er einſam und verlaſſen da, und ſucht vergebens durch gedungene Hülfe ſich die Stütze und Sorgfalt zu verſchaffen, die nur das Werk des Naturtriebs und Naturbands ſeyn kann.

Wirke ſo viel du willſt, du wirſt doch ewig allein ſtehen. Bis an das All die Natur dich, die Gewaltige, knüpft. (Schiller. )
VI.545

VI.

Der Schlaf.

Ich habe gezeigt, daſs der Schlaf eine der weiſeſten Veranſtaltungen der Natur iſt, den beſtändigen reiſsenden Strom der Lebensconſumtion zu beſtimmten Zeiten aufzuhalten und zu mäſsigen. Er giebt gleichſam die Stationen für unſre phyſiſche und moraliſche Exiſtenz, und wir erhalten dadurch die Glückſe - ligkeit, alle Tage von neuem gebohren zu werden, und jeden Morgen durch einen Zuſtand von Nichtſeyn in ein neues erfriſchtes Leben überzugehen. Ohne dieſen beſtändigen Wechſel, ohne dieſe beſtändige Erneuerung, wie ekel und unſchmackhaft würde uns nicht bald das Leben, und wie abgetragen un -M m546ſer geiſtiges und phyſiſches Gefühl ſeyn! Mit Recht ſagt daher der gröſste Philo - ſoph unſrer Zeiten: Nehmt dem Menſchen Hofnung und Schlaf, und er iſt das un - glücklichſte Geſchöpf auf Erden.

Wie unweiſe handelt alſo derjenige, der dadurch, daſs er ſich den Schlaf übermäſsig abbricht, ſeine Exiſtenz zu verlängern glaubt! Er wird ſeinen Zweck weder in - noch extenſiv erreichen. Zwar mehr Stunden wird er mit ofnen Augen zubringen, aber nie wird er das Leben im eigentlichen Sinn des Worts, nie jene Friſchheit und Energie des Gei - ſtes genieſsen, die die unausbleibliche Folge jedes geſunden und hinreichenden Schlafs iſt, und die allem, was wir trei - ben und thun, ein ähnliches Gepräge aufdrückt.

Aber nicht blos fürs intenſive Leben, ſondern auch fürs extenſive, für die Dauer und Erhaltung deſſelben iſt gehö - riger Schlaf ein hauptſächliches Mittel. Nichts beſchleunigt unſre Conſumtion ſo ſehr, nichts reibt ſo vor der Zeit auf547 und macht alt, als Mangel deſſelben. Die phyſiſchen Wirkungen des Schlafs ſind: Retardation aller Lebensbewegun - gen, Sammlung der Kraft und Wieder - erſetzung des den Tag über verlohren gegangnen, (hier geſchieht hauptſäch - lich die Reſtauration und Ernährung) und Abſonderung des unnützen und ſchädlichen. Es iſt gleichſam die tägli - che Criſis, wo alle Secretionen am ruhigſten und vollkommenſten geſche - hen.

Fortgeſeztes Wachen verbindet alſo alle Lebensdeſtruirenden Eigenſchaften, unaufhörliche Verſchwendung der Le - benskraft, Abreibung der Organe, Be - ſchleunigung der Conſumtion und Ver - hinderung der Reſtauration.

Aber man glaube nicht, daſs deswe - gen ein zu lange fortgeſezter Schlaf das beſte Erhaltungsmittel des Lebens ſey. Zu langes Schlafen häuft zu viel über - flüſſige und ſchädliche Säfte an, macht die Organe zu ſchlaff und unbrauchbar,M m 2548und kann auf dieſe Art ebenfalls das Le - ben verkürzen.

Genug, niemand ſollte unter 6 und niemand über 8 Stunden ſchlafen. Dieſs kann als eine allgemeine Regel gelten.

Um ferner geſund und ruhig zu ſchlafen, und die ganze Abſicht des Schlafs zu erreichen, empfehle ich fol - gende Puncte:

1. Der Ort des Schlafens muſs ſtill und dunkel ſeyn. Je weniger äuſsre ſinnliche Reize auf uns wirken, deſto vollkommner kann die Seele ruhen. Man ſieht hieraus, wie zweckwidrig die Gewohnheit iſt, ein Nachtlicht zu brennen.

2. Man muſs immer bedenken, daſs das Schlafzimmer der Ort iſt, in dem man den gröſsten Theil ſeines Lebens zubringt; wenigſtens bleibt man gewiſs an keinem Ort in einer Situation ſo lan - ge. Aeuſserſt wichtig iſt es daher, an dieſem Orte eine geſunde und reine Luft zu erhalten. Das Schlafzimmer muſs alſo geräumig und hoch, am Tage nicht549 bewohnt, auch nicht geheizt ſeyn, und die Fenſter beſtändig offen erhalten wer - den auſſer des Nachts.

3. Man eſſe Abends nur wenig, und nur kalte Speiſen, und immer einige Stunden vor Schlafen. Ein Hauptmit - tel, um ruhig zu ſchlafen, und froh zu erwachen.

4. Man liege ohne allen Zwang und Druck faſt ganz horizontal im Bett, nur den Kopf ausgenommen, der etwas er - höht ſeyn muſs. Nichts iſt ſchädlicher, als halb ſitzend im Bett zu liegen, der Körper macht da immer einen Winkel, die Circulation im Unterleibe wird er - ſchwehrt, auch das Rückgrad immer fort gedrückt, daher ein Hauptzweck des Schlafs, freyer und ungehinderter Blutumlauf, dadurch verfehlt, ja in der Kindheit und Jugend Verwachſung und Buckel oft durch dieſe Gewohnheit er - zeugt wird.

5. Alle Sorgen und Tageslaſten müſ - ſen mit den Kleidern abgelegt werden; keine darf mit zu Bette gehen. Man550 kann hierinn durch Gewohnheit er - ſtaunlich viel über ſich erhalten. Ich kenne keine üblere Gewohnheit als die, im Bett zu ſtudiren und mit dem Buche einzuſchlafen. Man ſezt dadurch die Seele in Thätigkeit, ge - rade in dem Zeitpunct, wo alles darauf ankommt, ſie völlig ruhen zu laſſen, und es iſt natürlich, daſs nun dieſe aufge - weckten Ideen die ganze Nacht hindurch im Kopfe herumſpuken, und immer fortbearbeitet werden. Es iſt nicht ge - nug, phyſiſch zu ſchlafen, auch der gei - ſtige Menſch muſs ſchlafen. Ein ſolcher Schlaf iſt eben ſo unzureichend, als der entgegengeſezte Fall, wenn blos unſer Geiſtiges aber nicht unſer Körperliches ſchläft; z. E. das Schlafen in einem er - ſchütternden Wagen, auf Reiſen.

6. Hierbey muſs ich noch eines be - ſondern Umſtandes erwähnen. Es glaubt nehmlich mancher, es ſey völlig einer - ley, wenn man dieſe 7 Stunden ſchliefe, ob des Tags oder des Nachts. Man über - läſst ſich alſo Abends ſo lange wie mög -551 lich ſeiner Luſt zum Studiren oder zum Vergnügen, und glaubt es völlig beyzu - bringen, wenn man die Stunden in den Vormittag hinein ſchläft, die man der Mitternacht nahm. Aber ich muſs je - den, dem ſeine Geſundheit lieb iſt, bit - ten, ſich für dieſem verführeriſchen Irr - thum zu hüten. Es iſt zuverläſſig nicht einerley, 7 Stunden am Tage oder 7 Stunden des Nachts zu ſchlafen, und 2 Stunden Abends vor Mitternacht durch - ſchlafen, ſind für den Körper mehr werth, als 4 Stunden am Tage. Meine Gründe ſind folgende:

Die 24ſtündige Periode, welche durch die regelmäſsige Umdrehung un - ſers Erdkörpers auch allen ſeinen Be - wohnern mitgetheilt wird, zeichnet ſich beſonders in der phyſiſchen Oeconomie des Menſchen aus. In allen Krankhei - ten äuſſert ſich dieſe regelmäſsige Perio - de, und alle andre ſo wunderbar pünct - lichen Termine in unſrer phyſiſchen Ge - ſchichte, werden im Grunde durch dieſe einzelne 24ſtündige Periode beſtimmt. 552Sie iſt gleichſam die Einheit unſrer natür - lichen Chronologie. Nun bemerken wir, je mehr ſich dieſe Periode mit dem Schluſs des Tages ihrem Ende nähert, deſto mehr beſchleunigt ſich der Puls - ſchlag, und es entſteht ein wirklich fie - berhafter Zuſtand, das ſogenannte Abend - fieber, welches jeder Menſch hat. Höchſt - wahrſcheinlich trägt der Zutritt des neuen Chylus ins Blut etwas dazu bey. Doch iſts nicht die einzige Urſache, denn wir findens auch bey Kranken, die nichts genieſsen. Mehr noch hat ſicher die Abweſenheit der Sonne, und die da - mit verbundene Revolution in der At - mosphäre Antheil. Eben dieſes kleine Fieber iſt die Urſache, warum Nerven - ſchwache Menſchen ſich Abends ge - ſchickter zur Arbeit fühlen, als am Tage. Sie müſſen erſt einen künſtlichen Reiz haben, um thätig zu werden, das Abend - fieber erſezt hier die Stelle des Weins. Aber man ſieht leicht, daſs dieſs ſchon ein unnatürlicher Zuſtand iſt. Die Folge deſſelben iſt, wie bey jedem einfachen553 Fieber, Müdigkeit, Schlaf und Criſis durch die Ausdünſtung, welche im Schlafe geſchieht. Man kann daher mit Recht ſagen: Jeder Menſch hat alle Nacht ſeine critiſche Ausdünſtung, bey manchen mehr, bey manchen weniger merklich, wodurch das, was den Tag über unnützes oder ſchädliches einge - ſchluckt oder in uns erzeugt wurde, ab - geſchieden und entfernt wird. Dieſe tägliche Criſis iſt jedem Menſchen nöthig und zu ſeiner Erhaltung äuſſerſt unentbehrlich; der rechte Zeitpunct der - ſelben iſt der, wo das Fieber ſeinen höchſten Grad erreicht hat, das iſt, der Zeitpunct, wo die Sonne gerade in Ze - nith unter uns ſteht, alſo die Mitter - nacht. Was thut nun der, der dieſer Stimme der Natur, die in dieſem Zeit - punct zur Ruhe ruft, nicht gehorcht, der vielmehr dieſes Fieber, welches das Mittel zur Abſonderung und Reinigung unſrer Säfte werden ſollte, zu vermehr - ter Thätigkeit und Anſtrengung benuzt? 554Er ſtöhrt die ganze wichtige Criſe, ver - ſäumt den critiſchen Zeitpunct, und, geſezt er legt ſich nun auch gegen Mor - gen nieder, ſo kann er doch nun ſchlech erdings nicht die ganze wohlthä - tige Wirkung des Schlafs in dieſer Ab - ſicht erhalten, denn der critiſche Zeit - punct iſt vorbey. Er wird nie eine voll - kommne Criſe, ſondern immer nur un - vollkommene haben, und Aerzte wiſſen, was dieſes ſagen will. Sein Körper wird alſo nie vollkommen gereinigt. Wie deutlich zeigen uns dieſs die Kränklich - keiten, die rhevmatiſchen Beſchwehr - den, die geſchwollnen Füſse, die un - ausbleiblich Folgen ſolcher Lucubra - tionen ſind!

Ferner, die Augen werden bey die - ſer Gewohnheit weit ſtärker angegrif - fen, denn man arbeitet da den gan - zen Sommer bey Lichte, welches der, der den Morgen benuzt, gar nicht - thig hat.

555

Und endlich verlieren die, welche die Nacht zur Arbeit und den Morgen zum Schlaf anwenden, gerade die ſchön - ſte und ſchicklichſte Zeit zur Arbeit. Nach jedem Schlafe ſind wir, im eigent - lichſten Verſtande des Worts, verjüngt, wir ſind früh allemal gröſser, als Abends, wir haben früh weit mehr Weichheit, Biegſamkeit, Kräfte und Säfte, genug, mehr den Karacter der Jugend, ſo wie hingegen Abends mehr Trockenheit, Sprödigkeit, Erſchöpfung, alſo der Karacter des Alters herrſcht. Man kann daher jeden Tag als einen kleinen Abriſs des menſchlichen Lebens anſehen, der Morgen die Jugend, der Mittag das männliche Alter, der Abend das Alter. Wer wollte nun nicht lieber die Jugend des Tags zu ſeiner Arbeit benutzen, anſtatt erſt Abends, im Zeit - punct des Alters und der Erſchö - pfung, ſeine Arbeiten anzufangen? Früh ſieht die ganze Natur am reizend - ſten und friſcheſten aus, auch der556 menſchliche Geiſt iſt früh in ſeiner gröſsten Reinheit, Energie und Friſch - heit; noch iſt er nicht, wie des Abends, durch die mancherley Eindrücke des Tags, durch Geſchäfte und Verdrieſs - lichkeiten getrübt und ſich unähn - lich gemacht, noch iſt er es mehr ſelbſt, originell, und in ſeiner ur - ſprünglichen Kraft. Dieſs iſt der Zeit - punct neuer Geiſtesſchöpfungen, reiner Begriffe Anſchauungen und groſser Ge - danken. Nie genieſst der Menſch das Gefühl ſeines eignen Daſeyns ſo rein und vollkommen, als an einem ſchönen Morgen; wer dieſen Zeitpunct ver - ſäumt, der verſäumt die Jugend ſeines Lebens!

Alle, die ein hohes Alter erreichten, liebten das Frühaufſtehen, und J. Wes - ley, der Stifter einer eignen methodi - ſtiſchen Secte, ein origineller und merk - würdiger Mann, war ſo ſehr von der Nothwendigkeit dieſer Gewohnheit überzeugt, daſs ers zu einem Religions -557 punct machte früh aufzuſtehen, und wurde dabey 88 Jahr alt. Sein Motto, was ich hier als eine ächte Lebensmaxi - me empfehlen will, war: Early to bed, and early ariſe Makes the man healthy wealthy and wiſe. (Früh zu Bett und früh wieder auf, macht den Menſchen ge - ſund, weiſe und reich.)

558

VII.

Körperliche Bewegung.

Wenn ich das Phyſiſche des Menſchen betrachte, ſagt der groſse Friedrich, ſo kommt es mir vor, als hätte uns die Na - tur mehr zu Poſtillions, als zu ſitzenden Gelehrten geſchaffen. Und gewiſs, ohn - eracht der Ausdruck etwas ſtark iſt, ſo hat er doch viel Wahres. Der Menſch iſt und bleibt ein Mittelgeſchöpf, das immer zwiſchen Thier und Engel ſchwankt, und ſo ſehr er ſeiner höhern Beſtimmung untreu werden würde, wenn er blos Thier bliebe, eben ſo ſehr verſündigt er ſich an ſeiner jetzigen, wenn er blos Geiſt ſeyn, blos denken und empfinden will. Er muſs durchaus die thieriſchen und geiſtigen Kräfte in559 gleichem Grade üben, wenn er ſeine Be - ſtimmung vollkommen erreichen will, und beſonders iſt dieſs in Abſicht der Dauer ſeines Lebens von der äuſſerſten Wichtigkeit. Harmonie der Bewegun - gen iſt die Hauptgrundlage, worauf Ge - ſundheit, gleichförmige Reſtauration und Dauer des Körpers beruht, und dieſe kann ſchlechterdings nicht ſtatt fin - den, wenn wir blos denken und ſitzen. Der Trieb zur körperlichen Bewegung iſt dem Menſchen eben ſo natürlich, wie der Trieb zum Eſſen und Trinken. Man ſehe ein Kind an: Stille ſitzen iſt ihm die gröſste Pein. Und gewiſs die Gabe, Tage lang zu ſitzen und nicht mehr den geringſten Trieb zur Bewegung zu füh - len, iſt ſchon ein wahrhaft unnatürli - cher und kranker Zuſtand. Die Erfa - rung lehrt, daſs diejenigen Menſchen am älteſten wurden, welche anhaltende und ſtarke Bewegung und zwar in freyer Luft hatten.

Ich halte es daher für eine unum - gänglich nöthige Bedingung zum langen560 Leben; ſich täglich wenigſtens eine Stunde Bewegung im Freyen zu machen. Die geſundeſte Zeit iſt vor dem Eſſen, oder 3 4 Stunden nachher.

Eben in dieſer Abſicht ſind mit un - ter angeſtellte kleine Reiſen und Excur - ſionen, Reiten, mäſsiges Tanzen und andre gymnaſtiſche Uebungen ſo ſehr nüzlich,*)Es iſt hierüber ein claſſiſches und unſrer Nation Ehre machendes Buch nachzuleſen: Guthsmuth Gymnaſtic, auch deſſen nächſtens herauskom - mende Spiele zur Uebung und Erholung des Kör - pers und Geiſtes für die Jugend. und es wäre ſehr zu wün - ſchen, daſs wir hierinn den Alten mehr nachahmten, welche dieſe ſo wichtigen Hülfen der Geſundheit kunſtmäſig be - handelten, und ſich durch keine äuſſern Verhältniſſe abhalten lieſſen, ſie zu be - nutzen. Am nüzlichſten ſind ſie, wenn nicht blos der Leib, ſondern auch die Seele zugleich mit bewegt und erweckt wird. Daher muſs auch eine Prome -nade,561nade, welche ihrer Abſicht ganz ent - ſprechen ſoll, nicht allein, wo möglich in einer unterhaltenden ſchönen Gegend und nach einem gewiſſen Ziel, angeſtellt werden.

N n562

VIII.

Genuſs der freyen Luft mäſsige Tem - peratur der Wärme.

Man muſs ſich durchaus den Genuſs einer reinen freyen Luft als eine eben ſo nothwendige Nahrung unſeres Weſens denken, wie Eſſen und Trinken. Reine Luft iſt eben ſo gewiſs das gröſste Erhaltungs - und Stärkungsmittel un - ſers Lebens, als eingeſchloſsne ver - dorbne Luft das feinſte und tödlichſte Gift iſt.

Hieraus flieſsen folgende practiſche Lebensregeln:

1. Man laſſe keinen Tag hingehen, ohne auſſerhalb der Stadt freye reine Luft genoſſen zu haben. Man ſehe das Spazierengehen ja nicht blos als Bewe - gung an, ſondern vorzüglich als den Ge - nuſs der reinſten Lebensnahrung, wel -563 cher beſonders Menſchen, die in Zim - mern zu wohnen pflegen, ganz unent - behrlich iſt. Auſſer dieſem Nutzen wird man auch noch den haben, daſs man ſich durch dieſen täglichen Luftgenuſs beſtändig in Bekanntſchaft und Familia - rität mit der freyen Luft erhält. Und dadurch ſichert man ſich für einem der gröſsten Uebel der jetzigen Menſchheit, der zu groſsen Empfindlichkeit gegen alle Eindrücke und Veränderungen der Witte - rung. Es iſt eine der ergiebigſten Quel - len von Krankheiten, und dafür iſt kein anderes Mittel, als ſich durch täglichen Umgang mit der freyen Luft vertraut zu erhalten.

Und endlich wird man durch dieſe Gewohnheit unendlichen Vortheil für die Augen erhalten, denn es iſt gewiſs, daſs eine Haupturſache unſrer Augen - ſchwäche und Kurzſichtigkeit die vier Wände ſind, in denen wir von Kindheit auf wohnen und leben, und wodurch endlich das Auge ganz die Kraft verliert, den Focus entfernter Gegenſtände gehö -N n 2564rig zu formiren. Der beſte Beweiſs iſt, daſs dieſe Augenſchwäche nur in Städ - ten, und nicht auf dem Lande gefunden wird.

2. Man ſuche immer wo möglich hoch zu wohnen. Wer ſeine Geſundheit lieb hat, ſollte, in Städten wenigſtens, nicht par terre wohnen. Man öfne fleiſig die Fenſter. Windöfen oder Ka - mine ſind die beſten Reinigungsmittel der Stubenatmosphäre. Man ſchlafe nicht da, wo man den ganzen Tag wohnt, und die Fenſter der Schlaf - kammer müſſen den ganzen Tag offen ſtehen.

Noch muſs ich eine für die Le - bensverlängerung wichtige Erinnerung beyfügen, die Luft, in der man lebt, immer in einer nur mäſsigen Tem - peratur der Wärme zu erhalten. Es iſt weit beſſer, in einer zu kühlen, als zu heiſſen Luft zu leben, denn Hitze beſchleunigt den Lebensſtrom auſſerordentlich, wie dieſs ſchon das kürzere Leben der Bewohner heiſſer565 Gegenden beweiſst, und viele Men - ſchen erkünſteln ſich ein ſolches Clima durch ihre heiſſen Stuben. Die Tem - peratur der Luft im Zimmer ſollte nie über 15 Grad Reaum. ſteigen.

566

IX.

Das Land - und Gartenleben.

Glücklich iſt der, dem das Loos fiel, der mütterlichen Erde nahe und treu zu bleiben, und in dem unmittelbaren Um - gang mit der Natur ſeine Freude, ſeine Arbeit und ſeine Beſtimmung zu finden! Er iſt an der wahren Quelle der ewigen Jugend, Geſundheit und Glückſeeligkeit, Leib und Seele bleiben in der ſchönſten Harmonie und in dem beſten Wohlſeyn; Einfachheit, Frohſinn, Unſchuld, Zu - friedenheit begleiten ihn durchs Leben, und er erreicht das höchſte Ziel des Le - bens, deſſen es in dieſer Organiſation fähig iſt. Ich kann mich nicht enthal -567 ten, das, was Herder ſo ſchön davon ſagt, hier einzuſchalten.

Mir gefället des Freundes Entſchluſs, der, dem Ker -
ker der Mauern
Entronnen, ſich ſein Tusculum erwählt.
Warum thürmten Unſinnige wir die gehauenen
Felſen?
Zu fürchten etwa ihren ſchnellen Sturz?
Oder uns zu verbaun des Himmels glänzenden An -
blick?
Zu rauben uns einander ſelbſt die Luft?
Anders lebte voreinſt in freyer und fröhlicher Un -
ſchuld,
Von ſolcher Thorheit fern, die junge Welt
Auf dem Lande. Da blühen unſchuldige Freuden.
Sie füllen
Mit immer neuer Wohlluſt unſre Bruſt.
Da ſchaut man den Himmel. Da raubt kein Nachbar
den Tag uns.
Apoll aus friſchen klaren Quellen beut
Trank des Genius uns. O kennten die Menſchen ihr
Glück nur!
Gewiſs in finſtre Städte barg es nicht
Unſre Mutter Natur, nicht hinter Schlöſſer und
Riegel;
Für alle blühts auf offner freyer Flur.
Wers nicht ſuchte, fands Wer reich iſt ohne Pro -
cente,
Genieſst. Sein Schatz iſt, was die Erde beut
568
Hier der rinnende Bach, ſein Silber. Es ſteiget in
Aehren
Sein Gold empor, und lacht an Bäumen ihm.
Dunkel im Laube verhüllt ſingt ſeine Kapelle. Da
klaget,
Frohlockt und ſtreitet ſeiner Sänger Chor.
Anders klagt in der Stadt der gefangene traurige
Vogel;
Ein Sklave, der ihm ſeine Körnchen ſtreut,
Glaubt, er ſinge dem Herrn. Mit jedem Tone ver -
wünſcht er
Den Wüterich, der ihm ſeine Freyheit ſtahl.
Auf dem Lande beglückt die Natur; ihr Affe, die
Kunſt, darf
Nur furchtſam dort und züchtig ſich ihr nahn.
Schau hier dieſen Pallaſt, die grüne Laube. Ge -
wölbet
Von wenig dichten Zweigen birgt ſie dich,
Wie den Perſermonarch ſein Haus von Zedern, und
ſchenkt dir,
Was jenen flieht, geſunden ſüſsen Schlaf.
Groſse Städte ſind groſse Laſten. Der eignen Freuden
Beraubet, haſcht nach fremden Freuden man.
Alles in ihnen iſt gemahlt, Geſichter und Wände,
Gebehrden, Worte, ſelbſt das arme Herz.
Alles in ihnen iſt von koſtbaren Holz und von
Marmor,
Von Holz und Marmor ſelbſt auch Herr und
Frau.
O Landesarmuth, o wie biſt du reich!
569
Wenn man hungert, ſo iſst man dort, was jegliche
Jahrzeit
An mannichfaltiger Erquickung dir
Froh gewährt. Der Pflug wird Tafel, das grünende
Blatt wird
Ein reiner Teller für die ſchöne Frucht,
Reinliches Holz dein Krug, dein Wein die erfri -
ſchende Quelle,
Die frey von Giften dir Geſundheit ſtrömt,
Und mit ſanftem Geräuſch zum Schlaf dich ladet.
Indeſſen
Hoch über dir die Lerch in Wolken ſingt,
Steigend auf und hernieder, und ſchieſst dir nah an
den Füſsen
In ihr geliebtes kleines Furchenneſt.

In der That, wenn man das Ideal eines zur Geſundheit und Longävität führenden Lebens nach theoretiſchen Grundſätzen entwerfen wollte, man würde auf das nehmliche zurückkom - men, was uns das Bild des Landlebens darſtellt. Nirgends vereinigen ſich alle Erforderniſſe ſo vollkommen als hier, nirgends wirkt alles um und in dem Menſchen auf den Zweck, Erhaltung der Geſundheit und des Lebens, hin, als hier. Der Genuſs einer reinen geſun -570 den Luft, einfacher und frugaler Koſt, tägliche ſtarke Bewegung im Freyen, eine beſtimmte Ordnung in allen Le - bensgeſchäften, der ſchöne Blick in die reine Natur, und die Stimmung von innrer Ruhe, Heiterkeit und Frohſinn, die ſich dadurch über unſern Geiſt ver - breitet, welche Quellen von Lebens - reſtauration! Dazu kommt noch, daſs das Landleben ganz vorzüglich dem Ge - müthe denjenigen Ton zu geben vermag, welcher dem Leidenſchaftlichen, Ueber - ſpannten und Excentriſchen entgegen iſt, um ſo mehr, da es uns auch dem Gewühl, den Frictionen und Korruptio - nen der Städte entzieht, die jenen Lei - denſchaften Nahrung geben könnten. Es erhält folglich von innen und von auſſen Gemüthsruhe und Gleichmuth, der ſo ſehr Lebenserhaltend iſt; es giebt zwar Freuden, Hofnungen, Genüſſe in Menge, aber alle ohne Heftigkeit, ohne Leiden - ſchaft, temperirt durch den ſanften Ton der Natur. Kein Wunder folglich, daſs uns die Erfarung die Beyſpiele des571 höchſten Alters nur in dieſer Lebens - weiſe finden läſst.

Es iſt traurig, daſs dieſe Lebensart, die urſprünglichſte und natürlichſte des Menſchen, jezt von ſo vielen gering ge - ſchäzt wird, ſo daſs ſelbſt der glückliche Landmann es kaum erwarten kann, bis ſein Sohn ein ſtudirter Taugenichts iſt, und das Misverhältniſs zwiſchen Städter und Landmann immer gröſser zu wer - den ſcheint. Gewiſs, es ſtünde beſſer um die Glückſeeligkeit der einzelnen In - dividuen und des Ganzen, wenn ſich ein groſser Theil der jezt gangbaren Fe - dermeſſer und Papierſcheeren in Sicheln und Pflugſchaare, und der jezt mit ſchreibender Handarbeit beſchäftigten Finger in pflügende und ackernde Hände verwandelte. Es iſt ja das erſte bey ſo vielen auch nur Handarbeit, aber die leztre iſt nüzlicher. Und wenn ich nicht ſehr irre, ſo werden wir endlich, auch durch politiſche Verhältniſſe genö - thigt, wieder dahin zurückkommen. Der Menſch wird ſich der Mutter Natur572 und Erde wieder mehr nähern müſſen, von der er ſich in allem Sinn zu ſehr entfernt hat.

Freylich können wir nicht alle Landleute von Profeſſion ſeyn. Aber, wie ſchön wäre es, wenn auch Gelehrte, Geſchäftsmänner, Kopfarbeiter, ihre Exiſtenz in beyderley Arten von Beſchäf - tigung theilten, wenn ſie den Alten dar - inne nachahmten, die, troz ihrer philo - ſophiſchen oder Staatsgeſchäfte, es nicht unter ihrer Würde hielten, zwiſchen durch ſich ganz dem Landleben zu wid - men, und im eigentlichſten Verſtande zu ruſtiziren. Gewiſs, alle die ſo trau - rigen Folgen des ſitzenden Lebens und der Kopfanſtrengung würden wegfallen, wenn ein ſolcher Mann täglich einige Stunden, oder alle Jahre einige Monate den Spaten und die Hacke zur Hand nähme, und ſein Feld oder ſeinen Gar - ten bearbeitete (denn freylich nicht die gewöhnliche Art auf dem Lande zu le - ben, die meiſtentheils nichts weiter heiſst, als Bücher und Sorgen mit hin -573 aus zu nehmen, und, anſtatt im Zim - mer, nun im Freyen zu leſen, zu den - ken und zu ſchreiben, kann jenen Zweck erfüllen). Solche Ruſticationen würden das Gleichgewicht zwiſchen Geiſt und Körper wieder herſtellen, was der Schreibtiſch ſo oft aufhebt, ſie würden durch Verbindung der drey groſsen Panazeen, körperlicher Bewe - gung, freyer Luft und Gemüthsaufhei - terung, alle Jahre eine Verjüngung und Reſtauration bewirken, die der Lebens - dauer und dem Lebensglück von un - glaublichen Nutzen ſeyn würde. Ja, ich glaube nicht zu viel zu ſagen, wenn ich von dieſer Gewohnheit auſſer dem phy - ſiſchen Nutzen auch manchen geiſtigen und moraliſchen verſpreche. Der Hirn - geſpinnſte und Hypotheſen der Studir - ſtuben würden zuverläſſig weniger wer - den, man würde nicht mehr ſo häufig die ganze Welt blos in ſeiner Perſon oder in ſeinen vier Wänden zu haben glauben und ſie auf dieſem Fuſse behan - deln, und der ganze Geiſt würde mehr574 Wahrheit, Geſundheit, Wärme und Naturſinn bekommen, Eigenſchaften, die die Griechiſchen und Römiſchen Philoſophen ſo ſehr auszeichnen, und die ſie, nach meiner Meynung, gröſs - tentheils dieſer Gewohnheit und dem fortdauernden Umgang mit der Natur zu danken haben. Aber deswegen ſollte man die gröſste Sorge tragen, den Sinn für die Natur in ſich nicht vergehen zu laſſen. Er verliert ſich ſo leicht durch anhaltendes Leben in abſtracto, durch angreifende Geſchäfte, durch den Dunſt der Studirſtuben, und hat man ihn ein - mal verloren, ſo hat die ſchönſte Na - tur keine Wirkung auf uns, man kann in der lieblichſten Gegend unter dem ſchönſten Himmel lebendig tod blei - ben. Dieſs verhütet man am beſten, wenn man ſich nie zu ſehr und nie zu lange von der Natur entfernt, ſich, ſo oft es ſeyn kann, der künſtlichen und abſtracten Welt entzieht, und alle Sinne den wohlthätigen Einflüſſen der Natur öfnet, wenn man von Jugend auf Freude575 und Geſchmack an dem Studium der Naturwiſſenſchaft zu erlangen ſucht (ſchon bey der Erziehung ſollte darauf Rückſicht genommen werden), und ſei - ne Phantaſie durch die ſchönen Nach - ahmungen der Mahlerey und durch die Herzerhebenden Darſtellungen der Dichter der Natur, eines Zachariae, Thompſon, Gesner, Matthiſon u. ſ. w. dafür erwärmt.

576

X.

Reiſen.

Ich kann unmöglich unterlaſſen, dieſem herrlichen Genuſs des Lebens eine eigne Stelle zu widmen, und ihn auch zur Verlängerung deſſelben zu empfehlen. Die fortgeſezte Bewegung, die Verän - derung der Gegenſtände, die damit ver - bundene Aufheiterung des Gemüths, der Genuſs einer freyen immer veränderten Luft, wirken zauberiſch auf den Men - ſchen, und vermögen unglaublich viel zu Erneuerung und Verjüngung des Le - bens. Es iſt wahr, die Lebensconſum - tion kann dabey etwas vermehrt werden, aber dieſs wird reichlich durch die ver - mehrte Reſtauration erſezt, die theils in Abſicht des Körperlichen durch die er -mun -577munterte und geſtärkte Verdauung, theils geiſtig durch den Wechſel ange - nehmer Eindrücke und die Vergeſſenheit ſeiner ſelbſt bewirkt wird. Denen vor - züglich, welche ihr Beruf zum Sitzen nöthigt, die anhaltend mit abſtracten Gegenſtänden oder drückenden Berufs - arbeiten beſchäftigt ſind; deren Gemüth in Gefühlloſigkeit, Trübſinn oder hypo - chondriſche Verſtimmung verſunken iſt, oder denen, was wohl das ſchlimmſte von allen iſt, keine häusliche Glückſee - ligkeit zu Theil wurde, dieſen em - pfehle ich dieſes groſse Hülfsmittel.

Aber gar viele benutzen es nicht ſo, daſs es dieſe heilſamen Wirkungen hat, und es wird hier nicht undienlich ſeyn, einige der wichtigſten Regeln mitzu - theilen, wie man reiſen muſs, um es für Geſundheit und Leben heilſam zu machen.

1. Am geſundeſten und zweckmäſig - ſten ſind die Reiſen zu Fuſs und noch beſſer zu Pferde. Nur wenn manO o578ſchwächlich iſt, oder zu ſtarke Touren macht, iſt das Fahren rathſam.

2. Beym Fahren iſt es ſehr heilſam, im Wagen immer die Lage zu verändern, bald zu ſitzen, bald zu liegen u. ſ. f., da - durch verhütet man am beſten die Nach - theile des anhaltenden Fahrens, die am meiſten daher entſtehen, wenn die Er - ſchütterung immer einerley Richtung nimmt.

3. Die Natur verträgt keine ſchnel - len Sprünge. Es iſt deshalb niemand, der anhaltendes ſitzendes Leben ge - wohnt war, anzurathen, ſich davon ſchnell auf eine raſche ſtark erſchüttern - de Reiſe zu begeben. Es würde unge - fähr daſſelbe ſeyn, als wenn jemand, der Waſſer zu trinken gewohnt iſt, plözlich anfangen wollte, Wein zu trinken. Man mache daher den Uebergang lang - ſam, und fange mit mäſsigen Bewegun - gen an.

4. Ueberhaupt dürfen Reiſen, die Verlängerung des Lebens und der Ge - ſundheit zum Zweck haben, nie Stra -579 paze werden, welches aber nur nach der Verſchiedenheit der Naturen und Kon - ſtitutionen beſtimmt werden kann. Drey bis vier Meilen des Tags, und alle drey vier Tage einen oder einige Raſttage, möchten etwa der allgemeinſte Maasſtab ſeyn. Vorzüglich vermeide man das Reiſen bey Nacht, das durch Stöhrung der nöthigen Erholung, durch Unter - drückung der Ausdünſtung, und durch ungeſunde Luft immer ſehr nachtheilig iſt. Man kann ſich am Tage doppelt ſo viel zumuthen, wenn man nur die Nachtruhe reſpectirt.

5. Man glaube ja nicht, daſs man auf Reiſen deſto unmäſsiger ſeyn könne. Zwar in der Wahl der Speiſen und Ge - tränke braucht man nicht ängſtlich zu ſeyn, und es iſt am beſten, in jedem Lande die da gewöhnliche Diät zu füh - ren. Aber nie überlade man ſich. Denn während der Bewegung iſt die Kraft des Körpers zu ſehr getheilt, als daſs man dem Magen zu viel bieten dürfte, und die Bewegung ſelbſt wird dadurch müh -O o 2580ſamer. Insbeſondere darf man in hitzi - gen Speiſen und Getränken (was doch auf Reiſen ſo gewöhnlich iſt) nicht zu viel thun. Denn das Reiſen an ſich wirkt ſchon als Reiz, und wir brauchen daher eigentlich weniger reizende Spei - ſen und Getränke, als im ruhigen Zu - ſtande. Sonſt entſtehen gar leicht Ue - berreizungen, Erhitzungen, Blutkonge - ſtionen u. dgl. Am beſten iſt es, auf Reiſen lieber oft aber wenig auf einmal zu genieſsen, mehr zu trinken als zu eſſen, und Nahrungsmittel zu wählen, die leicht verdaulich, und dennoch ſtark nährend, nicht erhitzend, und nicht leicht zu verfälſchen ſind. Daher es auf dem Lande und in ſchlechten Wirths - häuſern am ſicherſten iſt, Milch, Eyer, gut ausgebacknes Brod, friſch gekochtes oder gebratenes Fleiſch und Obſt zu ge - nieſsen. Am meiſten warne ich für den Weinen, die man in ſolchen Häuſern bekommt. Beſſer iſt Waſſer, zu deſſen Verbeſſerung man Citrone, oder Citro - nenzucker (Paſtilles au Citron) oder ei -581 nen guten Liquor bey ſich führen kann, wovon man etwas zum Waſſer miſcht. Iſt es faulichtriechend, ſo dient das Koh - lenpulver. *)Dieſs iſt eine der gröſsten und wohlthätigſten Er - findungen der neuern Zeit, die wir Hrn. Lowiz in Petersburg verdanken. Alles noch ſo faulrie - chende und ſchmeckende Waſſer kann man auf folgende Weiſe in wenig Minuten völlig von ſei - nem faulichten Geruch und Geſchmack befreyen, und zu guten Trinkwaſſer machen: Man nimmt Kohlen, die eben geglüht haben, pülvert ſie ſein, und miſcht unter ein Nöſel Waſſer etwa einen Eſslöffel dieſes Pulvers, rührt es um, und läſst es einige Minuten ſtehen. Hierauf läſst man es durch Flieſspapier langſam in ein anderes Glaſs laufen, in welchem es ſich ohne Farbe, Geruch und Geſchmack, alſo völlig rein und zum Trin - ken tauglich, ſammlen wird. Man kann auch die Kohlen, gleich nach dem Glühen gepülvert und in wohl verſtopfte Gläſer gefüllt, mit auf die Reiſe nehmen, und lange conſerviren.

6. Man vermeide die übermäſsige Anſtrengung und Verſchwendung der Kräfte. Es iſt zwar im allgemeinen eben ſo ſchwehr das rechte Maas der Bewe - gung anzugeben, als das rechte Maas im582 Eſſen und Trinken. Aber die Natur hat uns da einen ſehr guten Wegweiſer ge - geben, das Gefühl der Ermüdung, wel - ches hier eben ſo bedeutend iſt, als das Gefühl der Sättigung beym Eſſen und Trinken. Müdigkeit iſt nichts anders, als der Zuruf der Natur, daſs unſer Vor - rath von Kräften erſchöpft iſt, und, wer müde iſt, der ſoll ruhen. Aber freylich kann auch hier die Natur verwöhnt wer - den, und wir fühlen endlich eben ſo wenig das Müdeſeyn, als der beſtändige Schlemmer das Sattſeyn, beſonders wenn man durch reizende und erhitzen - de Speiſen und Getränke die Nerven ſpannt. Doch giebt es dann andre An - zeigen, die uns ſagen, daſs wir das Maas überſchritten haben, und auf dieſe bitte ich genau zu merken. Wenn man anfängt mismuthig und verdroſſen zu werden, wenn man ſchläfrig iſt und oft gähnt, und dennoch der Schlaf, auch bey einiger Ruhe, nicht kommen will, wenn der Appetit ſich verliert, wenn bey der geringſten Bewegung ein Klo -583 pfen der Adern, Erhitzung, auch wohl Zittern entſteht, wenn der Mund trocken oder gar bitter wird, dann iſt es hohe Zeit, Ruhe und Erholung zu ſu - chen, wenn man eine Krankheit vermei - den will, die denn ſchon im Entſte - hen iſt.

7. Auf Reiſen kann die unmerkliche Ausdünſtung leicht geſtöhrt werden, und Erkältung iſt eine Hauptquelle der Krankheiten, die da vorkommen. Es iſt daher rathſam allen ſchnellen Uebergang aus Hitze und Kälte, und umgekehrt, zu meiden, und, wer eine ſchon em - pfindliche Haut hat, thut am beſten, auf Reiſen ein Hemde von dünnen Flanell zu tragen.

8. Reinlichkeit iſt auf Reiſen dop - pelt nöthig, und daher das öftre Waſchen des ganzen Körpers mit friſchen Waſſer ſehr zu empfehlen, welches auch zur Verminderung der Müdigkeit viel bey - trägt.

9. Im Winter oder im feuchten kal - ten Clima wird man ſich immer eher584 ſtarke Bewegung zumuthen können, als im Sommer oder in heiſſen Ländern, wo uns ſchon der Schweiſs die Hälfte der Kraft entzieht. So auch früh morgens mehr als des Nachmittags.

10. Perſonen, die ſehr vollblütig oder zu Bluthuſten und andern Blutflüſ - ſen geneigt ſind, müſſen erſt ihren Arzt befragen, ehe ſie ſich auf eine Reiſe be - geben.

585

XI.

Reinlichkeit und Hautkultur.

Beydes halte ich für Hauptmittel zur Verlängerung des Lebens.

Die Reinlichkeit entfernt alles, was unſere Natur als unnüz oder verdorben von ſich abgeſondert hat, ſo wie alles der Art, was von auſſen unſrer Oberflä - che mitgetheilt werden könnte.

Die Hautkultur iſt ein weſentlicher Theil davon, und beſteht in einer ſol - chen Behandlung der Haut von Jugend auf, wodurch dieſelbe lebendig, thätig und gangbar erhalten wird.

Wir müſſen nehmlich unſre Haut nicht blos als einen gleichgültigen Man - tel gegen Regen und Sonnenſchein be - trachten; ſondern als eins der wichtig -586 ſten Organe unſers Körpers, ohne deſſen unaufhörliche Thätigkeit und Gangbar - keit weder Geſundheit noch langes Le - ben beſtehen kann, und deſſen Vernach - läſſigung in neuern Zeiten eine uner - kannte Quelle unzähliger Kränklichkei - ten und Lebensabkürzungen worden iſt. Könnte ich doch nachfolgendes recht eindrücklich ſagen, um mehr Achtung für dieſes Organ und deſſen beſſere Be - handlung zu erregen!

Die Haut iſt das gröſste Reinigungs - mittel unſers Körpers. Unaufhörlich, jeden Augenblick, verdünſtet dadurch, durch Millionen kleiner Gefäſse, auf eine unbemerkbare Weiſe eine Menge verdorbner, abgenuzter und verbrauch - ter Theile. Dieſe Abſonderung iſt mit unſerm Leben und Blutumlauf unzer - trennlich verbunden, und durch ſie wird unſerm Körper bey weitem der gröſste Theil alles Verdorbenen entzo - gen. Iſt ſie alſo ſchlaff, verſtopft oder unthätig, ſo wird Verdorbenheit und Schärfe unſrer Säfte unausbleibliche587 Folge ſeyn. Insbeſondere entſtehen die übelſten Hautkrankheiten daher.

Die Haut iſt ferner der Sitz des all - gemeinſten Sinns, des Gefühls, desjeni - gen Sinns, der uns vorzüglich mit der uns umgebenden Natur, insbeſondere der Atmosphäre, in Verbindung ſezt, von deſſen Zuſtand alſo gröſstentheils das Gefühl unſrer eignen Exiſtenz und unſers Verhältniſſes zu dem, was um uns iſt, beſtimmt wird. Die gröſsere oder geringere Empfänglichkeit für Krankheiten hängt daher gar ſehr von der Haut ab, und weſſen Haut zu ge - ſchwächt oder erſchlafft iſt, der hat ge - wöhnlich eine zu feine und unnatürli - che Empfindlichkeit derſelben, wodurch es denn kommt, daſs er jede kleine Ver - änderung der Witterung, jedes Zuglüft - gen auf eine höchſt unangenehme Weiſe in ſeinem Innern bemerkt, und zulezt ein wahres Barometer wird. Man nennt dieſs die rhevmatiſche Conſtitu - tion, die hauptſächlich in der mangeln - den Hautſtärke ihren Grund hat. Auch588 entſteht daher die Neigung zum Schwi - tzen, die ebenfalls ein ganz unnatürli - cher Zuſtand iſt, und uns beſtändigen Erkältungen und Kränklichkeiten aus - ſezt.

Ueberdieſs iſt ſie ein Hauptmittel, um das Gleichgewicht in den Kräften und Bewegungen unſers Körpers in Ord - nung zu halten. Je thätiger und offner die Haut iſt, deſto ſicherer iſt der Menſch für Anhäufungen und Krankheiten in den Lungen, Darmkanal und ganzen Un - terleib, deſto weniger Neigung zu den gaſtriſchen (gallichten und ſchleimich - ten) Fiebern, zur Hypochondrie, Gicht, Lungenſucht, Katharrhen und Hämor - rhoiden. Eine Haupturſache, daſs dieſe Krankheiten jezt bey uns ſo eingeriſſen ſind, liegt darinne, daſs wir unſre Haut nicht mehr durch Bäder und andre Mit - tel reinigen und ſtärken.

Die Haut iſt ferner eins der wich - tigſten Reſtaurationsmittel unſers Kör - pers, wodurch uns aus der Luft eine Menge feiner und geiſtiger Beſtandtheile589 zugeführt werden ſollen. Ohne geſunde Haut iſt daher keine völlige Reſtaura - tion, ein Hauptprinzip des langen Le - bens, möglich. Unreinlichkeit deterio - rirt den Menſchen phyſiſch und mora - liſch.

Auch iſt nicht zu vergeſſen, daſs die Haut das Hauptorgan der Criſen, d. h. der Naturhülfe in Krankheiten, iſt, und daſs ein Menſch mit einer offnen und gehörig belebten Haut weit ſichrer ſeyn kann, bey vorkommenden Krankheiten leichter und vollkommner geheilt zu werden, ja ſich oft, ohne Arzney, ſelbſt durch zu helfen.

Daſs ein ſolches Organ ein Grund - pfeiler der Geſundheit und des Lebens ſey, wird nun wohl niemand leugnen, und es iſt daher in der That unbegreif - lich, wie man in den neuern Zeiten, und gerade bey den vernünftigern und aufgeklärtern Völkern, daſſelbe und ſei - ne gehörige Kultur ſo ganz hat vernach - läſſigen können. Ja, anſtatt das minde - ſte dafür zu thun, finden wir vielmehr,590 daſs man von Kindheit auf alles gleich - ſam darauf anlegt, die Haut zu verſto - pfen, zu erſchlaffen und zu lähmen. Bey weiten die mehreſten Menſchen em - pfinden auſſer dem Bade der heiligen Taufe in ihrem ganzen Leben die Wohl - that des Badens nicht wieder, die Haut wird durch den täglichen Schweiſs und Schmuz immer mehr verſtopft, durch warme Bekleidungen, Pelzwerk, Feder - betten u. ſ. w. erſchlafft und geſchwächt, durch eingeſchloſsne Luft und ſitzendes Leben gelähmt, und ich glaube ohne alle Uebertreibung behaupten zu können, daſs bey den meiſten Menſchen unſrer Gegenden die Haut zur Hälfte verſtopft und unthätig ſey.

Man erlaube mir, hier auf eine In - conſequenz aufmerkſam zu machen, die nur das vor ſich hat, daſs ſie nicht die einzige der Art im menſchlichen Le - ben iſt. Bey Pferden und andern Thie - ren iſt der gemeinſte Mann überzeugt, daſs gehörige Hautkultur ganz unent - behrlich zu ihrem Wohlſeyn und Leben591 ſey. Der Knecht verſäumt Schlaf und alles, um ſein Pferd gehörig ſtriegeln, ſchwemmen und reinigen zu können. Wird das Thier mager und ſchwach, ſo iſt es der erſte Gedanke, ob man viel - leicht in der Hautbeſorgung etwas ver - ſäumt und vernachläſſigt habe. Bey ſei - nem Kinde aber und bey ſich ſelbſt, fällt ihm dieſer einfache Gedanke nie ein. Wird dieſs ſchwach und elend, zehrt es ſich ab, bekommt es die ſogenannten Miteſſer (alles Folge der Unreinlichkeit), ſo denkt er eher an Behexung und an - dern Unſinn, als an die wahre Urſache, unterlaſsne Hautreinigung. So ver - nünftig, ſo aufgeklärt ſind wir bey Thieren; warum nun nicht auch bey Menſchen?

Die Regeln, die ich zur Erhaltung der Reinigkeit und eines geſunden le - bendigen Zuſtandes der Haut zu geben habe, ſind ſehr leicht und einfach, und können, insbeſondere wenn ſie von Ju - gend auf befolgt werden, als groſse Ver -592 längerungsmittel des Lebens betrachtet werden:

1. Man entferne ſorgfältig alles, was unſer Körper als ſchädlich und ver - dorben von ſich abgeſondert hat. Dieſs geſchieht, wenn man öfters (wers haben kann täglich) die Wäſche wechſelt, die Betten, wenigſtens die Ueberzüge oft umändert, und ſich daher lieber der Ma - trazen bedient, die weniger Unreinig - keit annehmen, und die Luft des Wohn - zimmers hauptſächlich des Schlafzim - mers immer erneuert.

2. Man waſche ſich täglich mit fri - ſchem Waſſer den ganzen Körper, und reibe zugleich die Haut ſtark, wodurch ſie auſſerordentlich viel Leben und Gang - barkeit erhält.

3. Man bade Jahr aus Jahr ein alle Wochen wenigſtens einmal in lauen Waſſer, wozu ſehr nüzlich noch eine Abkochung von 5 6 Loth Seife ge - miſcht werden kann. Wollte Gott, daſs die Badehäuſer an allen Orten wieder in Gang geſezt würden, damit auch derunbe -593unbegüterte Theil des Volks dieſe Wohl - that genieſsen könnte, ſo wie er ſie in den vorigen Jahrhunderten überall ge - noſs, und dadurch geſund und ſtark wurde! *)Wir haben noch überall Badehäuſer und Bader, aber blos als Rudera jener löblichen Gewohnheit. Ihre Benutzung iſt durch eine unbegreifliche In - dolenz der Menſchen ganz abgekommen. Ehe - mahls gingen alle Sonnabende Baderprozeſſionen mit klingenden Becken durch die Straſsen, um ans Baden zu erinnern, und der im Schmuz ar - beitende Handwerker wuſch nun im Bade jene Unreinigkeiten von ſich, die er jezt gewöhnlich Zeitlebens mit ſich trägt. Es ſollte jeder Ort ein Badehaus oder Floſs im Fluſſe für den Sommer, und ein andres für den Winter haben. Nur be - obachte man bey jedem Bade die Regel, nie bey vollem Magen, alſo nüchtern oder 4 Stunden nach dem Eſſen, auch nie mit erhiztem Körper ins Bad zu gehen, im kühlen Fluſswaſſer nie über eine Viertelſtunde, im lauen Waſſer nie über drey Viertelſtunden zu bleiben, die Erkältung beym Herausgehen zu verhüten (welches am be - ſten dadurch geſchieht, wenn man gleich beym Herausſteigen einen flanellnen Schlafrock über -

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Ich kann hier nicht umhin, des See - bads zu erwähnen, das durch ſeine rei - zende und eindringende Kraft unter den Mitteln zur Hautkultur oben an ſteht, und gewiſs eins der erſten Bedürfniſſe der jetzigen Generation erfüllt, die Haut zu öfnen, und das ganze Organ und da - durch das ganze Nervenſyſtem neu zu beleben. Es hat dieſes Bad zwey groſse Vorzüge, einmal daſs es (ohngeachtet ſeiner groſsen Heilkräfte in Krankheiten) dennoch als das naturgemäſseſte Hülfs - mittel, auch blos zur Erhaltung und Be - feſtigung der Geſundheit, von Geſunden benuzt werden kann, was bey einer Menge andern Bädern nicht der Fall iſt, die einem Geſunden ſchaden. Es iſt da -*)zieht), und nach dem Bade bey trockner war - mer Witterung eine mäſsige Bewegung zu ma - chen, bey kühler und feuchter Witterung aber eine Stunde lang im warmen Zimmer zu bleiben. Mehr davon findet man in Meinen gemeinnützi - gen Aufſätzen, Leipzig bey Göſchen, unter dem Kapitel: Erinnerung an die Bäder.595 mit wie mit der Leibesbewegung, ſie kann unheilbare Krankheiten kuriren, und dennoch kann ſie auch der Geſünde - ſte zu Erhaltung ſeiner Geſundheit brau - chen. Der andre Vorzug aber iſt der ganz unbeſchreibliche groſse und herr - liche Anblick der See, der damit ver - bunden iſt, und der auf einen nicht daran gewöhnten eine Wirkung thut, welche eine gänzliche Umſtimmung und wohlthätige Exaltation des Nervenſy - ſtems und Gemüths hervorbringen kann. Ich bin überzeugt, daſs die phyſiſchen Wirkungen des Mittels durch dieſen Seeleneindruck auſſerordentlich unter - ſtüzt werden müſſen, und daſs z. B. eine hypochondriſche oder an Nerven lei - dende Perſon ſchon das Wohnen an der See und die damit verbundnen herrli - chen Schauſpiele des Auf - und Unterge - hens der Sonne, des Sturms u. ſ. w. halb kuriren können. Ich würde in gleicher Abſicht einen Kontinentsbewohner die Reiſe ins Seebad, und einem Küſtenbe -P p 2596wohner die Reiſe in die Alpen rathen; denn beydes ſind, dünkt mich, die gröſsten Standpuncte der Natur. Dank daher dem erhabenen und Menſchen be - glückenden Fürſten, der in Dobrahn bey Roſtock Teuſchland das erſte Seebad ſchenkte, und dem würdigen Arzt Vogel, der daſſelbe ſo trefflich und zweckmäſsig einrichtete, und durch ſeine Gegenwart die Heilſamkeit deſſel - ben erhöht.

4. Man trage Kleidungen, die die Haut nicht ſchwächen, und die ausdün - ſtenden Materien leicht durchgehen laſ - ſen. Ich kenne nichts verderblicheres in dieſem Sinne, als das Tragen der Pelze. Es ſchwächt durch die übergroſse Wärme ausnehmend die Haut, befördert nicht Ausdünſtung, ſondern Schweiſs, und läſst doch die verdunſtenden Theile, we - gen des Leders, nicht hindurch gehen. Die Folge iſt, daſs ſich ein beſtändiges Dunſtbad zwiſchen der Haut und dem Pelze erzeugt, und daſs ein groſser597 Theil der unreinen Materien uns wieder zurückgegeben und wieder eingeſogen wird. Weit beſſer iſt das Engliſche Pelzzeug, welches die Vortheile des Pel - zes und doch nicht (weil es kein Leder hat) die Nachtheile der Unreinlichkeit und der eingeſchloſsnen Hitze hat. Aber alle dieſe zu warmen wollnen Bedeckungen auf bloſser Haut, ſind nur bey ſehr groſser Kälte, oder bey ſchon ſchwächlichen und zu Rheuma - tismen geneigten Naturen zu empfeh - len. In der Kindheit und Jugend und bey übrigens geſunden Körper iſt es am beſten, unmittelbar auf der Haut eine Bekleidung von Leinwand oder Baumwolle zu tragen, und darüber im Sommer ein eben ſolches, im Winter ein wollnes, Ueberkleid.

5. Man mache ſich fleiſsig körper - liche Bewegung, denn dieſs iſt das gröſs - te Beförderungsmittel der unmerklichen Ausdünſtung.

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6. Man vermeide ſolche Speiſen, die die Ausdünſtung hemmen, und nicht gut perſpiriren. Dahin gehö - ren alles Fett, Schweinefleiſch, Gänſe - fleiſch, grobe unausgebackne Mehlſpei - ſen, Käſe.

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XII.

Gute Diät und Mäſsigkeit im Eſſen und Trinken Erhaltung der Zähne.

Der Begriff der guten Diät iſt etwas re - latif; wir ſehen, daſs gerade die Men - ſchen die älteſten wurden, die gewiſs keine ausgeſuchte ängſtliche Diät hiel - ten, aber die ſparſam lebten, und es iſt eben ein Vorzug der menſchlichen Na - tur, daſs ſie alle, auch die heterogen - ſten, Nahrungsmittel verarbeiten und ſich verähnlichen kann, nicht, wie die thieriſche, auf eine gewiſſe Klaſſe ein - geſchränkt iſt. Es iſt ausgemacht, daſs ein Menſch, der natürlich, mehr im Freyen und in Bewegung lebt, ſehr we - nig Diätregeln braucht. Unſre künſtli - che Diät wird erſt durch unſer künſtli - ches Leben nothwendig.

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So viel iſt gewiſs, daſs es nicht ſo wohl auf die Qualität aber gar ſehr auf die Quantität der Nahrungsmittel an - kommt, wenn wir auf Verlängerung des Lebens ſehen, und Cornaros Beyſpiel giebt uns davon einen erſtaunlichen Be - weiſs, wie weit ein ſonſt ſchwächlicher Menſch dadurch ſeine Exiſtenz verlän - gern kann.

Man kann mit Wahrheit behaupten, daſs der gröſste Theil der Menſchen viel mehr iſst, als er nöthig hat, und ſchon in der Kindheit wird uns durch das ge - waltſame Hinunterſtopfen und Ueber - füttern der natürliche Sinn genommen, zu wiſſen, wenn wir ſatt ſind.

Ich werde alſo hier nur ſolche all - gemeine Regeln in Abſicht aufs Eſſen und Trinken geben, die allgemein gül - tig ſind, und von denen ich überzeugt bin, daſs ſie weſentlichen Einfluſs auf Verlängerung des Lebens haben.

1. Nicht das, was wir eſſen, ſon - dern das, was wir verdauen, kommt uns zu gute und gereicht uns zur Nah -601 rung. Folglich, wer alt werden will, der eſſe langſam, denn ſchon im Munde müſſen die Speiſen den erſten Grad von Verarbeitung und Verähnlichung erlei - den. Dieſs geſchieht durch das gehörige Zerkauen und die Vermiſchung mit Speichel, welches beydes ich als ein Hauptſtück des ganzen Reſtaurationsge - ſchäfts betrachte, und daher einen groſsen Werth zur Verlängerung des Le - bens darauf lege, um ſo mehr, da nach meinen Unterſuchungen, alle ſehr alt gewordene die Gewohnheit an ſich hat - ten, langſam zu eſſen.

2. Es kommt hierbey alſo ſehr viel auf gute Zähne an, daher ich die Erhal - tung der Zähne mit Recht unter die Le - bensverlängernden Mittel zähle. Hier einige Regeln, die gewiſs, wenn ſie von Anfang an gebraucht werden, die Zähne bis ins hohe Alter feſt und unver - dorben erhalten können:

Man verbinde immer einen gehöri - gen Genuſs der Vegetabilien oder des Brodes mit dem Fleiſche, denn das602 Fleiſch bleibt weit leichter zwiſchen den Zähnen hängen, fault und greift die Zähne an. Man wird daher durchgän - gig finden, daſs die Klaſſen von Men - ſchen, die wenig oder gar kein Fleiſch genieſsen, Bauern, Landbewohner, im - mer die beſten Zähne haben, ohneracht ſie ſie faſt nie putzen. Aber es kann kein beſsres Zahnpulver geben, als das Kauen eines Stücks ſchwarzen trocknen Brodes. Es iſt daher für die Zähne eine ſehr heilſame Gewohnheit, nach jeder Mahlzeit ein Brodrindgen langſam zu verkauen.

Man vermeide jeden plözlichen Ue - bergang der Zähne aus einer heiſſen in eine kalte Temperatur und umgekehrt. Denn der Ueberzug jedes Zahns iſt Glas - oder Emailartig, und kann bey jedem ſolchen ſchnellen Wechſel leicht einen Sprung bekommen, in den ſich die ver - dorbnen Theile hineinſetzen, und ſo den erſten Grund zur Corruption des Innern legen. Es iſt daher am beſten, nie zu heiſſe oder zu kalte Dinge in den603 Mund zu nehmen, am allerwenigſten während des Genuſſes von etwas heiſſen, z. E. der warmen Suppe, kalt zu trinken.

Man kaue keinen Zucker, und ver - meide auch Zuckergebacknes, was mit viel zähen leimichten Theilen ver - miſcht iſt.

Sobald man den erſten angefreſsnen Zahn bemerkt, ſo laſſe man ihn gleich heraus nehmen, denn ſonſt ſteckt dieſer die übrigen an.

Man ſpüle alle Morgen, insbeſon - dere aber nach jeder Mahlzeit die Zähne mit Waſſer aus, denn dadurch werden die Ueberreſte der Speiſen weggenom - men, die ſo gewöhnlich zwiſchen den Zähnen ſitzen bleiben und den Grund zu ihrem Verderben legen.

Man wird bey gehöriger Beobach - tung dieſer Regeln ſelten ein Zahnpul - ver nöthig haben, Sollten aber die Zähne (wie dieſs in der Natur manches Menſchen liegt), geneigt ſeyn, immer mehr Schmuz (den ſogenannten Wein - ſtein) anzuſetzen, ſo empfehle ich fol -604 gendes ganz unſchuldige Mittel: 1 Loth roth Sandelholz, ein halbes Loth China, werden äuſſerſt fein gepülvert und durch ein Haarſieb geſtäubt, ſodann 6 Tro - pfen Nelken - und eben ſo viel Berga - mottöhl zugemiſcht, und damit die Zäh - ne des Morgens abgerieben. Iſt das Zahnfleiſch ſchwammicht, blutend, ſcor - butiſch, ſo ſezt man noch ein halbes Quent Alaun hinzu.

3. Man hüte ſich ja, bey Tiſch nicht zu ſtudiren, zu leſen oder den Kopf an - zuſtrengen. Dieſer Zeitpunct muſs ſchlechterdings dem Magen heilig ſeyn. Es iſt die Zeit ſeines Regiments, und die Seele darf nur in ſo fern mit ins Spiel kommen, als nöthig iſt, ihn zu unter - ſtützen. So iſt z. B. das Lachen eins der gröſsten Verdauungsmittel, das ich ken - ne, und die Gewohnheit unſrer Vorfah - ren, daſſelbe durch Leberreime und Lu - ſtigmacher bey Tiſche zu erregen, war auf ſehr richtige mediziniſche Grund - ſätze gebaut. Genug, man ſuche frohe und muntere Geſellſchaft bey605 Tiſch zu haben. Was in Freuden und Scherz genoſſen wird, das giebt gewiſs auch gutes und leichtes Blut.

4. Man mache ſich nie unmittelbar nach der Mahlzeit ſehr ſtarke Bewegung, denn dieſes ſtöhrt die Verdauung und Aſſimilation der Nahrungsmittel ganz erſtaunlich. Am beſten Stehen oder langſames Herumgehen. Die beſte Zeit zur Bewegung iſt vor Tiſch, oder drey Stunden nach dem Eſſen.

5. Man eſſe nie ſo viel, daſs man den Magen fühlt. Am beſten man höre auf, ehe man noch überſättigt iſt. Und immer muſs die Quantität der Nahrung mit der körperlichen Arbeit in Verhält - niſs ſtehen; je weniger Arbeit, deſto weniger Nahrung.

6. Man halte ſich bey der Wahl der Speifen immer mehr an die Vegetabilien. Fleiſchſpeiſen haben immer mehr Nei - gung zur Fäulniſs, die Vegetabilien hin - gegen zur Säure und zur Verbeſſerung der Fäulniſs, die unſer beſtändiger näch - ſter Feind iſt. Ferner animaliſche Spei -606 ſen haben immer mehr reizendes und erhitzendes, hingegen Vegetabilien ge - ben ein kühles mildes Blut, vermindern die innern Bewegungen, die Leibes - und Seelenreizbarkeit, und retardiren alſo wirklich die Lebensconſumtion. Und endlich geben animaliſche Speiſen viel mehr Blut und Nahrung, und erfo - dern alſo, wenn ſie gut bekommen ſol - len, weit mehr Arbeit und körperliche Bewegung; auſſerdem wird man voll - blütig. Sie ſind alſo in dieſer Rückſicht gar keine Nahrung für Gelehrte und Leute, die viel ſitzen, denn ſolche Men - ſchen brauchen keine ſo ſtarke Reſtaura - tion, wenig Erſatz von Subſtanz, ſon - dern nur von den feinern Nahrungsſäf - ten, die zu den Geiſtesbeſchäftigungen dienen. Am meiſten vermeide man Fleiſch im Sommer und wenn Faulfieber graſſiren. Auch finden wir, daſs nicht die Fleiſcheſſer, ſondern die, die von Vegetabilien (Gemüſse, Obſt, Kör - ner und Milch) lebten, das höchſte Al - ter erreichten. Baco erzählt von ei -607 nem 120jährigen Manne, der zeitlebens nichts anders als Milch genoſſen hatte. Die Bramanen eſſen, vermöge ihrer Re - ligion, nie etwas anders als Vegetabilien und erreichen meiſt ein 100jähriges Al - ter. J. Wesley fing in der Mitte ſeines Lebens an, gar kein Fleiſch, ſondern blos Vegetabilien zu genieſſen, und ward 88 Jahr alt.

7. Man eſſe Abends nie viel, wenig oder gar kein Fleiſch, am beſten kalt, und einige Stunden vor Schlafengehen.

8. Man verſäume nicht das nöthige Trinken. Es geſchieht häufig, daſs man durch Unachtſamkeit auf die Erinnerun - gen der Natur zulezt das Trinken ganz verlernt, und nun gar nicht mehr von der Natur erinnert wird, welches eine Haupturſache der Trockenheit, Verſto - pfung des Unterleibes, und einer Menge von Krankheiten iſt, die man ſo häufig bey Gelehrten und ſitzenden Frauenzim - mern findet. Aber man merke: Nicht unter dem Eſſen iſt die beſte Zeit zum Trinken, denn dadurch wird der Ma -608 genſaft zu ſehr verdünnt und die Kraft des Magens geſchwächt, ſondern nach Tiſche etwa eine Stunde nachher.

Das beſte Getränk iſt Waſſer, dieſes gewöhnlich ſo verachtete, ja von man - chen für ſchädlich gehaltene Getränk. Ich trage kein Bedenken, es für ein groſses Mittel zur Verlängerung des Le - bens zu erklären. Man höre, was der verehrungswürdige Greis, der Hr. Ge - neral-Chirurgus Theden ſagt,*)S. Thedens neue Bemerkungen. der ſein nun mehr als 80jähriges Leben, hauptſächlich dem täglichen Genuſs von 7 8 Quart (20 24 Pfund) friſchen Waſſer zuſchreibt, den er nun ſeit mehr als 40 Jahren macht. Er war zwiſchen dem 30ſten und 40ſten Jahre der ärgſte Hypochondriſt, bisweilen bis zur tief - ſten Melancholie, litt an Herzklopfen, Unverdaulichkeiten, und glaubte, nicht noch ein halbes Jahr leben zu können. Aber von der Zeit an, daſs er dieſeWaſſer -609Waſſerdiät anfing, verloren ſich alle die Zufälle, und er iſt in der ſpätern Hälfte ſeines Lebens weit geſunder, als in der frühen, und völlig frey von Hypochon - drie. Aber die Hauptſache iſt, es muſs friſch (d. h. aus Quellen, nicht aus offnen Brunnen, friſch geſchöpft und gehörig verſtopft) ſeyn, denn jedes Brun - nenwaſſer hat ſo gut, wie die minerali - ſchen, ſeinen Brunnengeiſt (fixe Luft) wodurch es eben verdaulich und ſtär - kend wird. Reines und friſches Waſſer hat folgende weſentliche Vorzü - ge, die uns gewiſs Reſpect dafür ein - flöſsen können:

Das Element des Waſſers iſt das gröſste, ja einzige Verdünnungsmittel in der Natur. Es iſt durch ſeine Kälte und fixe Luft ein fürtreffliches Stärkungs - und Belebungsmittel für den Magen und die Nerven. Es iſt ein herrliches Galle - und Fäulniſstilgendes Mittel, wegen der vielen fixen Luft und der ſalzigten Beſtandtheile, die es enthält. Es be -Q q610fördert die Verdauung und alle Abſon - derungen des Körpers. Ohne Waſſer exi - ſtirt keine Excretion. Da nach den neuern Erfarungen Sauerſtoff ein Be - ſtandtheil des Waſſers iſt, ſo trinken wir wirklich neuen Lebensreiz, indem wir Waſſer trinken.

Auch kann ich hier unmöglich unter - laſſen, wieder einmal etwas zum Be - ſten der Suppen (der flüſſigen Nahrung) zu ſagen, nachdem es ſeit einiger Zeit Mode worden iſt, ihnen nichts als Böſes nachzuſagen.

Ein mäſiger Genuſs von Suppen ſchadet zuverläſſig nicht; es iſt ſonder - bar, ſich davon ſo groſse Erſchlaffung des Magens zu träumen. Wird denn nicht alles Getränk, wenn wirs auch kalt zu uns nehmen, in wenig Minuten warme Suppe im Magen, und befindet ſich denn der Magen nicht den ganzen Tag in der natürlichen Temperatur einer warmen Suppe? Nur hüte man ſich, ſie heiſs oder in zu groſser Menge auf611 einmal, oder zu wäſſerigt zu genieſſen. Aber ſie hat auch groſse Vortheile: Sie erſezt das Getränk, beſonders bey Ge - lehrten, Frauenzimmern und allen de - nen, welche auſſer Tiſch wenig oder gar nicht trinken, und die, wenn ſie nun auch das Suppeneſſen unterlaſſen, viel zu wenig Feuchtigkeit ins Blut bekom - men; wobey noch das zu bemerken iſt, daſs das Flüſſige, in Suppengeſtalt ge - noſſen, ſich weit beſſer und ſchneller unſern Säften beymiſcht, als wenn es kalt und roh getrunken wird. Eben deswegen iſt nun auch Suppe ein groſses Verhütungsmittel der Trockenheit und Rigidität des Körpers, und daher für trockne Naturen und im Alter die beſte Art der Nahrung. Je älter der Menſch wird, deſto mehr muſs er von Suppe leben. Ja ſelbſt die Dienſte eines Arz - neymittels vertritt ſie. Nach Erkältun - gen, bey nervigten oder Magenkopf - weh, bey Koliken und manchen Arten von Magenkrämpfen, iſt warme SuppeQ q 2612das beſte Mittel. Auch wird es zum Be - weiſs des Nutzens und wenigſtens der Unſchädlichkeit der Suppen dienen, wenn ich ſage, daſs unſre Vorfahren, die gewiſs ſtarker waren, als wir, und die Bauern, die es noch ſind, viel Suppe genieſſen, und daſs alle alte Leute, die ich kennen gelernt habe, groſse Freunde der Suppe waren.

Der Wein erfreut des Menſchen Herz, aber er iſt keineswegs eine Noth - wendigkeit zum langen Leben; denn diejenigen ſind am älteſten geworden, die ihn nicht tranken. Ja er kann, als ein reizendes, die Lebensconſumtion beſchleunigendes, Mittel, das Leben ſehr verkürzen, wenn er zu häufig und in zu groſser Menge getrunken wird. Wenn er daher nicht ſchaden und ein Freund des Lebens werden ſoll, ſo muſs man ihn nicht täglich, und nie im Ue - bermaas trinken, je jünger man iſt, deſto weniger, je älter, deſto mehr. Am beſten, wenn man den Wein als613 Würze des Lebens betrachtet und be - nutz, und ihn nur auf die Tage der Freude und Erholung, auf die Bele - bung eines freundſchaftlichen Zirkels verſpart.

614

XIII.

Ruhe der Seele Zufriedenheit Le - bensverlängernde Seelenſtimmungen und Beſchäftigungen.

Seelenruhe, Heiterkeit und Zufrieden - heit ſind die Grundlage alles Glücks, aller Geſundheit und des langen Lebens! Frey - lich wird man ſagen: dieſs ſind keine Mit - tel, welche wir uns ſelbſt geben können, ſie hängen von äuſſern Umſtänden ab. Aber mir ſcheint dieſs gar nicht ſo; denn ſonſt müſsten ja die Groſsen und Rei - chen die zufriedenſten und glücklichſten und die Armen die unglücklichſten ſeyn, wovon doch die Erfahrung das Gegentheil zeigt, und es exiſtirt zuverläſſig weit mehr Zufriedenheit in der Dürftig -615 keit, als in der reichen und begüterten Klaſſe.

Es giebt alſo Quellen der Zufrieden - heit und Glückſeeligkeit, die in uns ſelbſt liegen, und die wir ſorgfältig auf - ſuchen und benutzen müſſen. Man er - laube mir, einige ſolcher Hülfsmittel hier anzugeben, die mir eine ganz ein - fache Lebensphiloſophie empfohlen hat, und die ich blos als Diätregeln, als den guten Rath eines Arztes zur Verlänge - rung des Lebens anzunehmen bitte.

1. Vor allen Dingen bekämpfe man ſeine Leidenſchaften. Ein Menſch, der durch Leidenſchaften immer hin und her getrieben wird, befindet ſich immer in einem Extrem, in einem exaltirten Zuſtand, und kann nie zu der ruhigen Stimmung gelangen, die zur Erhaltung des Lebens ſo nöthig iſt. Er vermehrt dadurch ſeine innre Lebensconſumtion fürchterlich, und er wird bald aufgerie - ben ſeyn.

2. Man gewöhne ſich, dieſs Leben, nicht als Zweck ſondern als Mittel zu616 immer höherer Vervollkommnung, und unſere Exiſtenz und Schickſale immer, als einer höhern Macht und gröſsern Zwecken untergeordnet zu betrachten, und man halte dieſen Geſichtspunct (den die Alten Vertrauen auf die Vorſehung nannten) in allen Zufällen und Lagen unerſchütterlich feſt. Man wird da - durch immer den beſten Schlüſſel haben, ſich aus dem Labyrinth des Lebens her - auszufinden, und die gröſste Schuzwehr gegen alle Angriffe auf unſre Seelen - ruhe.

3. Man lebe, aber im rechten Sinne, immer nur für den Tag, d. h. man be - nutze jeden Tag ſo, als wenn er der ein - zige wäre, ohne ſich um den morgen - den Tag zu bekümmern. Unglückliche Menſchen, die ihr immer nur an das Folgende, Mögliche denkt, und über den Planen und Projecten des Künftigen die Gegenwart verliert! Die Gegenwart iſt ja die Mutter der Zukunft, und wer jeden Tag, jede Stunde ganz und voll - kommen, ſeiner Beſtimmung gemäſs,617 benuzt, der kann ſich jeden Abend mit dem unausſprechlich beruhigenden Ge - fühl niederlegen, daſs er nicht allein die - ſen Tag wirklich gelebt und ſeinen Standpunct ausgefüllt, ſondern auch ſicher die beſte Zukunft gegründet habe.

4. Man ſuche ſich über alles ſo rich - tige Begriffe als möglich zu verſchaffen, und man wird finden, daſs die meiſten Uebel in der Welt nur durch Misver - ſtand, falſches Intereſſe oder Ueberei - lung entſtehen, und daſs es nicht ſowohl darauf ankommt, was uns geſchieht, ſondern wie wirs nehmen. Wer dieſen Glücksfond in ſich hat, der iſt von äuſ - ſern Umſtänden unabhängig. Wie ſchön ſagt hiervon Weishaupt: Es bleibt alſo immer wahr, daſs die Weisheit allein die Quelle des Vergnügens, die Thor - heit die Quelle des Misvergnügens iſt. Es bleibt wahr, daſs auſſer der gänzli - chen Ergebung in den Willen der Vor - ſicht, auſſer der Ueberzeugung, daſs alles zu unſerm Beſten geordnet ſey,618 auſſer der Zufriedenheit mit der Welt und der Stelle, die man darinne hat, Alles Thorheit ſey, welche zum Misver - gnügen führt. *)S. Apologis des Misvergnügens.

5. Man ſtärke und befeſtige ſich im - mer mehr im Glauben und Vertrauen auf die Menſchheit, und in allen den ſchönen daraus ſproſſenden Tugenden, Wohlwollen, Menſchenliebe, Freund - ſchaft, Humanität. Man halte jeden Menſchen für gut, bis man durch un - widerſprechliche Beweiſe vom Gegen - theil überzeugt iſt, und auch dann müſ - ſen wir ihn nur als einen irrenden be - trachten, der mehr unſer Mitleid, als unſern Haſs verdient. Er würde eben - falls gut ſeyn, wenn ihn nicht Misver - ſtand, Mangel an Erkenntniſs oder fal - ſches Intereſſe verführte. Wehe dem Menſchen, deſſen Lebensphiloſophie darinne beſteht, niemand zu trauen! Sein Leben iſt ein ewiger Of - und De - fenſivkrieg, und um ſeine Zufriedenheit619 und Heiterkeit iſt es geſchehen. Je mehr man allen um ſich herum wohl will, je mehr man andere glücklich macht, deſto glücklicher wird man ſelbſt.

6. Zur Zufriedenheit und See - lenruhe iſt ein unentbehrliches Erfor - derniſs: Hofnung. Wer hoffen kann, der verlängert ſeine Exiſtenz nicht blos idealiſch ſondern wirklich phyſiſch, durch die Ruhe und Gleichmüthigkeit, welche ſie gewährt. Aber nicht blos Hofnung innerhalb der engen Grenzen unſrer jetzigen Exiſtenz, ſondern Hof - nung übers Grab hinaus! Nach mei - ner Ueberzeugung iſt der Glaube an Un - ſterblichkeit das einzige, was uns dieſs Leben werth und die Beſchwehrden deſ - ſelben erträglich und leicht machen kann. Hofnung und Glaube, ihr groſ - ſen göttlichen Tugenden! Wer vermag ohne euch ein Leben zu durch wandeln, das voll von Trug und Täuſchung iſt, deſſen Anfang ſowohl als Ende dicke Finſterniſs umhüllt, und wo die Gegen - wart ſelbſt nur ein Augenblick iſt, der620 kaum der Zukunft entrann, als ihn auch ſchon die Vergangenheit verſchlingt. Ihr ſeyd die einzigen Stützen des Wan - kenden, die gröſste Erquickung des müden Wanderers; wer euch auch nicht als höhere Tugenden verehrt, der muſs euch doch als unentbehrliche Bedürfniſſe dieſes Erdenlebens umfaſſen, und aus Liebe zu ſich ſelbſt in euch ſtark zu werden ſuchen, wenn ers nicht aus Liebe zum Unſichtbaren thut. In dieſer Abſicht kann man ſagen, daſs ſelbſt die Religion ein Mittel zur Verlängerung des Lebens werden kann. Je mehr ſie Bekämpfung der Lei - denſchaften, Selbſtverleugnung und innre Seelenruhe geben und jene ſtär - kenden Wahrheiten lebendig machen kann, deſto mehr iſt ſie Lebensverlän - gernd.

Auch Freude iſt eine der gröſsten Lebenspanaceen. Man glaube doch nicht, daſs immer ganz ausgeſuchte Ge - legenheiten und Glückszufälle dazu - thig wären, ſie zu erwecken; durch die621〈…〉〈…〉 ben geſchilderte Seelenſtimmung macht man ſich dafür empfänglich, und dem wird es an Gelegenheit ſich zu freuen nie fehlen, der jenen Sinn hat; das Le - ben ſelbſt iſt ihm Freude. Doch ver - ſäume man nicht, jede Gelegenheit zur Freude aufzuſuchen und zu benutzen, die rein und nicht zu heftig iſt. Keine geſündere und Lebensverlängernde Freu - de giebt es wohl, als die, die wir im häuslichen Glück, im Umgang froher und guter Menſchen, und im Genuſs der ſchönen Natur finden. Ein Tag auf dem Lande, in heiterer Luft, in einem heitern Freundeszirkel zugebracht, iſt zuverläſſig ein poſitiveres Lebensverlän - gerungsmittel, als alle Lebenselixire in der Welt. Hier darf auch der körper - liche Ausbruch der Freude, das Lachen, nicht unerwähnt bleiben. Es iſt die ge - ſündeſte aller Leibesbewegungen (denn es erſchüttert Seele und Körper zugleich), befördert Verdauung, Blutumlauf, Aus - dünſtung, und ermuntert die Lebens - kraft in allen Organen.

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Aber auch höhere Geiſtesbeſchäfti - gungen und Unterhaltungen verdienen hier ihren Platz, vorausgeſezt, daſs man die Vorſichtsregeln dabey beobachtet, die ich oben bey der Warnung für ihrem Misbrauch gegeben habe. Es ſind dieſs höhere Genüſſe und Freuden, dem Men - ſchen allein eigen, und eine ſeiner würdige Quelle der Lebensreſtauration. Ich rechne vorzüglich dahin angenehme und den Geiſt füllende Lectüre, das Stu - dium intereſſanter Wiſſenſchaften, die Betrachtung und Erforſchung der Natur und ihrer Geheimniſſe, die Entdeckung neuer Wahrheiten durch Ideencombina - tion, geiſtreiche Geſpräche u. dgl.

623

XIV.

Wahrheit des Karacters.

Wir wiſſen, wie äuſſerſt nachtheilig für die Länge des Lebens jenes Metier iſt, welches dem Menſchen zum Beruf macht, täglich einige Stunden in einem ſich nicht ähnlichen, angenommnen Zu - ſtand zu exiſtiren das Metier der Schauſpieler.

Wie muſs es nun wohl denen Menſchen gehen, die dieſes Metier beſtändig treiben, die beſtändig die oder jene angenommne Rolle auf dem groſsen Theater der Welt ſpielen, die nie das ſind, was ſie ſcheinen? Genug, die Menſchen, welche nicht wahr ſind, immer in der Verſtellung, im Zwang,624 in der Lüge leben. Man findet ſie vor - züglich unter den raffinirten und über - cultivirten Menſchenarten. Ich kenne keinen unnatürlichern Zuſtand.

Schlimm genug iſts ſchon, ein Kleid tragen zu müſſen, was nicht für uns ge - macht iſt, was an allen Orten preſst und drückt, und uns jede Bewegung er - ſchwehrt, aber was iſt dieſs gegen das Tragen eines fremden Karacters, gegen einen ſolchen moraliſchen Zwang, wo Worte, Betragen, Aeuſſerungen und Handlungen in beſtändigem Wider - ſpruch mit unſerm innern Gefühle und Willen ſtehen, wo wir unſre ſtärkſten natürlichſten Triebe unterdrücken und fremde heucheln, und wo wir jeden Nerven, jede Faſer beſtändig in Span - nung erhalten müſſen, um die Lüge, denn das iſt hier unſre ganze Exiſtenz, vollſtändig zu machen. Ein ſolcher unwahrer Zuſtand iſt nichts anders, als ein beſtändiger krampfigter Zuſtand, und die Folge zeigt es. Eine anhaltende innre Unruhe, Aengſtlichkeit, unor -dent -625dentliche Circulation und Verdauung, ewige Widerſprüche auch im Phyſiſchen, ſo gut wie im Moraliſchen, ſind die un - ausbleiblichen Wirkungen. Und am Ende kommen dieſe unglücklichen Men - ſchen dahin, daſs ſie dieſen unnatürli - chen Zuſtand nicht einmal wieder able - gen können, ſondern daſs er ihnen zur andern Natur wird. Sie verlieren ſich endlich ſelbſt, und können ſich nicht wieder finden. Genug, dieſer un - wahre Zuſtand unterhält zulezt ein be - ſtändiges ſchleichendes Nervenfieber innerlicher Reiz und äuſsrer Krampf ſind die beyden Beſtandtheile deſſelben und ſo führt er zur Deſtruction und zum Grabe, dem einzigen Orte, wo dieſe Unglücklichen hoffen können die Maske los zu werden.

R r626

XV.

Angenehme und mäſig genoſsne Sinnes - und Gefühlsreize.

Sie wirken auf doppelte Art zur Verlän - gerung des Lebens; Einmal, indem ſie unmittelbar auf die Lebenskraft influi - ren, ſie erwecken, erhöhen, verſtärken, und dann indem ſie die Wirkſamkeit der ganzen Maſchine vermehren, und ſo die wichtigſten Organe der Reſtauration, die Verdauungs - Circulations - und Abſon - derungswerkzeuge in regere Thätigkeit ſetzen. Es iſt daher eine gewiſſe Kultur und Verfeinerung unſrer Sinnlichkeit heilſam und nöthig, weil ſie uns für dieſe Genüſſe empfänglicher macht, nur darf ſie nicht zu weit getrieben werden, weil ſonſt kränkliche Empfindlichkeit daraus entſtehet. Auch muſs bey der627 Sinnesreizung ſelbſt ſehr darauf geſehen werden, daſs ſie ein gewiſſes Maas nicht überſteige, denn die nehmlichen Ge - nüſſe, die, im mäſigen Grade angewen - det, reſtauriren, können, ſtärker ge - braucht, auch conſumiren und erſchö - pfen.

Alle angenehme Reize, die durch Geſicht, Gehör, Geruch, Geſchmack und Gefühl auf uns wirken können, ge - hören hieher, und alſo die Freuden der Muſik, Mahlerey, und andrer bilden - den Künſte, auch der Dichtkunſt und der Phantaſie, indem ſie dieſe Genüſſe erhöhen und wieder erneuern kann. Vor allen aber ſcheint mir in gegenwär - tiger Rückſicht die Muſik den Vorzug zu verdienen, denn durch keinen Sin - neseindruck kann ſo ſchnell und ſo un - mittelbar auf Stimmung, Ermunterung und Regulirung der Lebensoperation ge - wirkt werden, als dadurch. Unwillkühr - lich nimmt unſer ganzes Weſen den Ton und Tact an, den die Muſik angiebt, der Puls wird lebhafter oder ruhiger, dieR r 2628Leidenſchaft geweckt, oder beſänftigt, je nachdem es dieſe Seelenſprache haben will, die ohne Worte, blos durch die Macht des Tons und der Harmonie, un - mittelbar auf unſer Innerſtes ſelbſt wirkt, und dadurch oft unwiderſtehlicher hin - reiſst, als alle Beredſamkeit. Es wäre zu wünſchen, daſs man einen ſolchen zweckmäſigen, den Umſtänden ange - meſsnen Gebrauch der Muſik mehr ſtu - dirte und in Ausübung brächte.

629

XVI.

Verhütung und vernünftige Behandlung der Krankheiten gehöriger Gebrauch der Medizin und des Arztes.

Krankheiten gehören, wie oben ge - zeigt worden, gröſstentheils zu den Le - bensverkürzenden Urſachen und können ſelbſt den Lebensfaden plötzlich abreiſ - ſen. Die Medizin beſchäftigt ſich mit Verhütung und Heilung derſelben, und in ſo fern iſt allerdings die Medizin als ein Hülfsmittel zur Verlängerung des Lebens zu betrachten und zu benutzen.

Aber nur gar zu gewöhnlich wird hier gefehlt. Bald glaubt man, dieſe wohlthätige Kunſt nicht genug benutzen zu können, und medizinirt zu viel, bald ſcheut man ſie zu ſehr, als etwas unna -630 türliches, und medizinirt zu wenig, bald hat man irrige Begriffe von Arzt und Arzney und benuzt beyde auf die un - rechte Weiſe. Dazu ſind nun in neuern Zeiten eine Menge Populairſchriften ge - kommen, welche einen Haufen unver - dauter mediziniſcher Begriffe und Noti - zen im Publikum verbreitet, und da - durch noch mehr Misbrauch der Medi - zin und groſsen Schaden für die allge - meine Geſundheit verurſacht haben.

Wir können nicht alle Aerzte ſeyn. Die Arzneykunde iſt eine ſo weitläuftige und ſchwehre Wiſſenſchaft, daſs ſie durchaus ein tiefes und anhaltendes Stu - dium, ja eine ganz eigne Ausbildung der Sinne und der höhern Seelenkräfte erfo - dert. Einzelne Kurregeln und Mittel wiſſen, heiſst noch nicht Arzt ſeyn, wie ſich mancher einbildet. Dieſe Kurre - geln und Mittel ſind ja nur die Reſultate der Medizin, und nur der, der die Ver - bindung dieſer Mittel mit den Urſachen der Krankheit, die ganze Reihe von Schlüſſen und Gründen überſieht, wor -631 aus endlich ganz zulezt die Idee dieſes Mittels entſteht, genug, nur der, der dieſe Mittel ſelbſt erfinden kann, ver - dient den Namen eines Arztes. Hier - aus erhellt, daſs die Medizin ſelbſt nie ein Eigenthum des gröſsern Publikums werden kann.

Blos der Theil der Arzneywiſſen - ſchaft, der die Kenntniſs des menſchli - chen Körpers, in ſo fern ſie jedem Men - ſchen zu wiſſen nüzlich iſt, und die Art und Weiſe, Krankheiten zu verhüten und Geſundheit, ſowohl im einzelnen als im Ganzen zu erhalten, lehrt, kann und ſoll ein Theil des allgemeinen Unterrichts und der allgemeinen Aufklärung werden. Aber nie der Theil, welcher ſich mit Heilung wirklich ausgebrochner Krank - heiten und Anwendung der Mittel be - ſchäftigt. Es erhellt dieſs ſchon aus dem einfachſten Begriff von Krankheit und Hülfe. Was heiſst denn, ein Arzney - mittel anwenden und dadurch Krankheit heilen? Nichts anders, als durch einen ungewohnten Eindruck eine ungewöhn -632 liche Veränderung im menſchlichen Kör - per hervorbringen, wodurch ein ande - rer unnatürlicher Zuſtand, den wir Krankheit nennen, aufgehoben wird. Alſo Krankheit und Wirkung der Mittel, beydes ſind unnatürliche Zuſtände, und die Anwendung eines Arzneymittels iſt nichts anders, als die Erregung einer künſtlichen Krankheit, um die natürli - che zu heben. Dieſs ſieht man, wenn ein Geſunder Arzney nimmt, er wird al - lemal dadurch mehr oder weniger krank gemacht. Die Anwendung eines Arz - neymittels iſt alſo an und für ſich alle - mal ſchädlich, und kann blos dadurch entſchuldigt und heilſam gemacht wer - den, wenn dadurch ein im Körper exiſti - render krankhafter Zuſtand gehoben wird. Dieſes Recht, ſich oder andere durch Kunſt krank zu machen, darf alſo durchaus niemand anders haben, als wer das Verhältniſs der Krankheit zum Mittel recht genau kennt, folglich der Arzt. Auſſerdem wird die Folge ſeyn, entweder daſs vielleicht das Mittel ganz633 unnöthig war, und man folglich jemand erſt krank macht, der es noch nicht war, oder daſs das Mittel nicht auf die Krank - heit paſst, und folglich der arme Patient nun an zwey Krankheiten leidet, da er vorher nur eine hatte, oder daſs das Mittel wohl gar den krankhaften Zu - ſtand ſelbſt, der ſchon da iſt, befördert und erhöhet. Es iſt unendlich beſſer, in Krankheiten gar keine Arzney nehmen, als ſolche, die nicht paſſend iſt.

Da nun alſo ein Laye nie die Medi - zin wirklich ausüben darf, ſo entſteht die wichtige Frage: Wie kann und muſs Medizin benuzt werden, wenn wir ſie als Verlängerungsmittel des Lebens brau - chen wollen? Ich werde mich bemühen, hierüber einige allgemeine Regeln und Beſtimmungen anzugeben.

Vorerſt aber erlaube man mir, nur ein Paar Worte über einen Theil dieſer Unterſuchung zu ſagen, der zwar mehr den Arzt intereſſirt, aber dennoch zu wichtig iſt, um hier übergangen zu werden, nehmlich: Wie verhält ſich634 überhaupt die practiſche Medizin zur Ver - längerung des Lebens? Kann man ſie unbedingt ein Verlängerungsmittel des Lebens nennen? Allerdings, in ſo fern ſie Krankheiten heilt, die uns tödten könnten. Aber nicht immer in andrer Rückſicht, und ich will einige Bemer - kungen zur Beherzigung meiner Herrn Amtsbrüder beyfügen, die uns aufmerk - ſam machen können, daſs Herſtellung der Geſundheit und Verlängerung des Lebens nicht immer eins ſind und daſs es nicht blos darauf ankommt, eine Krankheit zu heilen, ſondern auch gar ſehr, wie ſie geheilt wird. Einmal iſt es aus dem obigen gewiſs, daſs die Arz - neymittel durch eine künſtliche Krank - heit wirken. Jede Krankheit iſt mit Reizung, mit Kraftverluſt verbunden. Iſt nun das Arzneymittel angreifender, als die Krankheit, ſo hat man den Kran - ken zwar geſund gemacht, aber man hat ihn durch den Prozeſs des Geſund - machens mehr geſchwächt, und alſo ſei - ner Lebenslänge mehr entzogen, als die635 Krankheit für ſich gethan haben würde. Dieſs iſt der Fall, wenn man bey den geringſten Vorfällen gleich die heftigſten und heroiſchſten Mittel anwendet. Zweytens, man kann eine Krankheit durch verſchiedene Methoden und Wege kuriren. Der Unterſchied liegt entwe - der darinn, daſs man die Kriſe bald auf dieſen bald auf jenen Theil leitet, oder daſs die Krankheit bey der einen Metho - de ſchneller, bey der andern langſamer vergeht. Dieſe verſchiedenen Kurarten können zwar alle zur Geſundheit führen, aber in Abſicht auf Verlängerung des Le - bens von ſehr verſchiedenen Werth ſeyn. Je mehr nehmlich eine Kur der Krankheit Zeit verſtattet fort zu dauern, und Kräfte oder Organe zu ſchwächen, oder je mehr eine Kur Lebensnöthige Organe angreift, oder die Krankheit da - hin leitet, folglich die Lebensreſtaura - tion in der Folge hindert (z. E. wenn das ſo wichtige Verdauungsſyſtem zum Sitz der Krankheit gemacht, und durch an - greifende Mittel geſchwächt wird), oder636 endlich je mehr die Kur ohne Noth die Lebenskraft im Ganzen verſchwendet, z. E. durch zu verſchwenderiſche Ader - läſſe, zu anhaltende Entziehung der Nahrung etc. deſto mehr wird ſie den Grund zum langen Leben ſchwä - chen, wenn ſie auch gleich die gegen - wärtige Krankheit hebt. Drittens darf man ja nie vergeſſen, daſs die Krankheit ſelbſt nüzlich und nöthig ſeyn konnte zur Verlängerung des Lebens. Es giebt ſehr viele Krankheiten, welche nichts anders ſind, als ein Beſtreben der Natur, das aufgehobne Gleichgewicht wieder herzuſtellen, oder fehlerhafte Materien auszuleeren, oder Stockungen zu zertheilen. Wenn da nun der Arzt (auf gut Brawniſch) weiter nichts thut, als blos die gegenwärtige Krankheits - äuſſerung dämpfen, ohne Rückſicht auf dieſe entferntern Urſachen und Folgen; ſo thut er weiter nichts, als er nimmt die thätige Gegenwirkung der Natur - kraft weg, wodurch ſie die wahre Krankheit zu heben ſuchte, er dämpft637 von auſſen das Feuer, läſst es aber von innen deſto heftiger fortbrennen, er nährt den Keim, die materielle Urſache des Uebels, der vielleicht durch dieſe völlig ausgeführte Bearbeitung der Na - turkräfte gehoben worden wäre, und macht ihn feſter und unheilbarer. Die Beyſpiele ſind nur gar zu häufig, daſs Kranke, die ſich nun von ihrem Fieber, ihrer Ruhr u. ſ. w. völlig geheilt glaub - ten, hinter drein hectiſch wurden, oder in Hypochondrie, Nervenübel u. dgl. verfielen. Niemand wird leugnen, daſs eine ſolche Kur, wenn ſie auch für jezt den Kranken geſund zu machen ſcheint, dennoch das Leben ſelbſt ſehr verkürzen muſs.

Ich gehe nun zur Beantwortung deſſen über, was blos für den Nichtarzt gehört: Was kann man thun, um Krank - heiten zu verhüten, und wie ſoll man die ſchon ausgebrochnen behandeln, wie insbe - ſondre Arzt und Arzneykunſt benutzen, um möglichſt für Erhaltung und Verlän - gerung des Lebens dabey zu ſorgen?

638

Zuerſt von der Verhütung der Krankheiten.

Da zur Entſtehung jeder Krankheit zweyerley gehört: die Urſache, die ſie erregt, und dann die Fähigkeit des Kör - pers, durch dieſe Urſache affizirt zu wer - den, ſo giebt es nur zwey Wege, auf denen wir Krankheiten verhüten kön - nen; entweder jene Urſachen zu entfer - nen, oder dem Körper dieſe Empfäng - lichkeit zu benehmen. Hierauf beruht die ganze mediziniſche Diätetic und alle Präſervativmethoden. Der erſtere Weg. der ſonſt der gewöhnliche war, iſt der unſicherſte, denn ſo lange wir uns nicht aus dem bürgerlichen Leben und ſeinen Verhältniſſen herausſetzen können, iſt es unmöglich, alle Krankheitsurſachen zu vermeiden, und je mehr man ſich ihnen entzieht, deſto mehr wirken ſie, wenn ſie uns einmal treffen, auf uns, (z. E. Erkältung ſchadet niemanden ſo ſehr, als dem, der ſich gewöhnlich recht warm hält). Weit beſſer alſo der zweyte Weg: Man ſuche zwar die Krankheits -639 urſachen, die ſich vermeiden laſſen, zu vermeiden, aber an die andern ſuche man ſich vielmehr zu gewöhnen, und ſeinen Körper dagegen unempfindlich zu machen.

Die vorzüglichſten Krankheitsurſa - chen, die man ſo viel als möglich ver - meiden muſs, ſind: Unmäſsigkeit im Eſſen und Trinken, übermäſsiger Genuſs der phyſiſchen Liebe, groſse Erhitzung und Erkältung oder ſchneller Uebergang von einem ins andre, Leidenſchaften, heftige Anſtrengung des Geiſtes, zu viel oder zu wenig Schlaf, gehemmte Aus - leerungen, Gifte.

Dabey aber ſuche man den Körper gegen dieſe Urſachen weniger empfind - lich zu machen, oder ihn pathologiſch abzuhärten, wozu ich folgendes em - pfehle: Zuerſt der tägliche Genuſs der freyen Luft. Bey guten und böſen Ta - gen, bey Regen, Wind oder Schnee, muſs dieſe vortrefliche Gewohnheit fort - geſezt werden, alle Tage, ohne Ausnah - me, einige Stunden in der freyen Luft640 herum zu gehen oder zu reiten. Es trägt unglaublich viel zur Abhärtung und lan - gen Leben bey, und, wenn es täglich geſchieht, ſo ſchadet kein Sturm, kein Schneegeſtöber mehr; daher es beſon - ders denen, die der Gicht und Rheuma - tismen unterworfen ſind, zu empfehlen iſt. Ferner, das tägliche Waſchen über den ganzen Leib mit kaltem Waſſer. Ein nicht zu warmes Verhalten. Ein thätiger Zuſtand des Körpers. Man laſſe nie einen zu paſſiven Zuſtand ein - reiſſen, ſondern erhalte ſich durch Mus - kelbewegung, Reiben, gymnaſtiſche Uebung immer in einer gewiſſen Gegen - wirkung. Je mehr der Körper paſſiv wird, deſto empfänglicher iſt er für Krankheit. Endlich eine gewiſſe Frey - heit und Zwangloſigkeit in der Lebens - art, das heiſst, man binde ſich nicht zu ängſtlich an gewiſſe Gewohnheiten und Geſetze, ſondern laſſe einen mäſsigen Spielraum. Wer ſich zu ängſtlich an eine gewiſſe Ordnung und Lebensnorm bindet, ſey ſie auch noch ſo gut, dermacht641macht ſich ſchon dadurch Krankheits - empfänglich, denn er braucht nur ein - mal davon abzuweichen, was ſeine an - dere Natur worden iſt, ſo kann er krank werden. Auch kann ſelbſt eine kleine Unordnung, durch die kleine Revolu - tion, die ſie im Körper erregt, viel Nu - tzen zur Reinigung, Eröfnung, Zerthei - lung haben. Und ſelbſt ſchädliche Din - ge verlieren ja viel von ihrer Schädlich - keit, wenn man ſich daran gewöhnt. Folglich zuweilen weniger ſchlafen als gewöhnlich, zuweilen ein Gläschen Wein mehr trinken, etwas mehr oder unverdaulichere Dinge genieſſen, ſich einer kleinen Erkältung oder Erhitzung, z. B. durch Tanzen, Reiten u. dgl. aus - ſetzen, ſich mit unter einmal recht tüch - tig, bis zur Ermüdung, bewegen, auch wohl zuweilen einen Tag faſten, alles dieſs ſind Dinge, die zur Abhärtung des Körpers beytragen, und der Geſundheit gleichſam mehr Weite geben, indem ſie ſie einer zu ſklaviſchen Abhängigkeit von der einförmigen Gewohnheit entzie -S s642hen, die wir doch nicht allemal ſo genau zu beobachten im Stande ſind.

Ein Hauptpunct der Krankheitsver - hütung beſteht darinn, daſs ein jeder die Krankheitsanlage, die ihm beſonders eigen iſt, wohl zu erkennen ſuche, um ſie entweder auszulöſchen, oder ihr we - nigſtens die Gelegenheiten zu entziehen, wodurch ſie in Krankheit übergehen könnte. Und hierauf gründet ſich die individuelle Diätetik; jeder Menſch hat in ſo fern ſeine beſondern Diätregeln zu beobachten, in ſo fern jeder ſeine beſon - dern Anlagen zu der oder jener Krank - heit hat. Dieſe ſpezielle Unterſuchung und Beſtimmung iſt freylich mehr Sache des Arztes, und ich wollte daher den allgemeinen guten Rath geben, es ſolle ein jeder ſich von einem vernünftigen Arzte darüber prüfen und beſtimmen laſſen, welchen Krankheiten er am mei - ſten ausgeſezt, und welche Diät ihm am paſſendſten ſey. Hierinne waren die Al - ten vernünftiger, als wir. Sie benutzen die Medizin und die Aerzte weit mehr643 zur Beſtimmung ihrer diätetiſchen Le - bensart, und ſelbſt ihre aſtrologiſchen, chiromantiſchen und ähnliche Forſchun - gen bezogen ſich im Grunde hauptſäch - lich darauf, den moraliſchen und phy - ſiſchen Karacter eines Menſchen zu be - ſtimmen, und ihm dem gemäſs eine paſ - ſende Einrichtung ſeiner Lebensart und Diät vorzuſchreiben. Gewiſs! Es thä - ten viele beſſer, ihren Arzt dazu zu ge - brauchen, als alle 8 Tage zu ihm zu lau - fen und ſich ein Brech - oder Purgier - mittel von ihm verſchreiben zu laſſen. Aber freylich würde dazu ein vernünfti - ger, einſichtsvoller und denkender Arzt erforderlich ſeyn, da hingegen zum Re - zeptſchreiben jeder Empiriker taugt. Man hätte aber auch zugleich ein ſiche - res Mittel, den wahren von dem fal - ſchen Propheten zu unterſcheiden.

Doch ich muſs auch den Nichtarzt, ſo viel als es möglich iſt, in Stand ſetzen, ſein Phyſiſches und ſeine Krankheitsan - lagen zu beurtheilen; dazu giebt es fol - gende Mittel.

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1. Man unterſuche die erbliche An - lage. Es giebt gewiſſe Krankheitsanla - gen, die uns durch die Zeugung mitge - theilt werden können, z. E. Gicht, - morrhoiden, Steinbeſchwehrden, Ner - venſchwäche, Lungenſucht. Waren dieſe Uebel bey den Eltern eingewurzelt, und zwar ſchon damals, als ſie uns zeug - ten, ſo iſt immer auch die Anlage dazu in uns zu vermuthen. Sie kann jedoch durch eine paſſende Diät gehindert werden, nicht zum Ausbruch zu kom - men.

2. Die erſte Erziehung kann Krank - heitsanlagen erzeugt haben, hauptſäch - lich eine zu warme, wodurch die Anlage zum Schwitzen und eine ſchlaffe Haut erzeugt wird, die uns allemal zu rhev - matiſchen Krankheiten disponirt. Zu frühzeitiges Anhalten zum Lernen oder Onanie, giebt Anlage zu Nervenſchwä - che und Nervenkrankheiten.

3. Gewiſſe Arten vom Bau und Architectur des Körpers führen ge - wiſſe Krankheitsanlagen mit ſich. Wer645 einen langen ſchmächtigen Körper, ei - nen langen ſchmalen Hals, platte Bruſt, flügelförmig ausſtehende Schultern hat, wer ſchnell in die Höhe geſchoſſen iſt, der muſs ſich am meiſten für der Lun - genſucht hüten, hauptſächlich ſo lange er noch unter 30 Jahren iſt. Wer ei - nen kurzen unterſezten Körper, und ei - nen groſsen dicken Kopf mit kurzen Hals hat, ſo daſs der Kopf recht zwiſchen den Schultern zu ſtecken ſcheint, der hat Anlage zum Schlagfluſs, und muſs alles meiden, was dazu Gelegenheit ge - ben kann. Ueberhaupt haben alle ſtark verwachſene Leute mehr oder we - niger Anlage zur Lungenſucht und Bruſt - krankheiten.

4. Man unterſuche das Tempera - ment. Iſt es ſanguiniſch oder choleriſch, ſo hat man mehr Anlage zu entzündli - chen, iſt es phlegmatiſch oder melan - choliſch, denn mehr zu langwierigen oder Nervenkrankheiten.

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5. Auch das Clima, die Wohnung, worinn man lebt, kann die Krankheits - anlage enthalten. Sind ſie feucht und kühl, ſo kann man immer ſicher ſeyn, daſs dieſs Anlage zu Nerven - und Schleimfiebern, zu Wechſelfiebern, zu Gicht und Revmatismen giebt.

6. Vorzüglich aber iſt die Rückſicht auf den ſchwächern Theil wichtig. Es hat nehmlich jeder Menſch auch phy - ſiſch ſeine ſchwache Seite, und alle Krankheitsurſachen pflegen ſich am lieb - ſten in dieſem, von Natur ſchwächern, Theil zu fixiren. Z. B. Wer eine ſchwa - che Lunge hat, bey dem wird alles da - hin wirken, und er wird bey jeder Ge - legenheit Katharrhe und Bruſtzufälle be - kommen. Iſt der Magen ſchwach, ſo werden alle Urſachen auf ihn wirken, und Magenbeſchwehrden, Unverdau - lichkeiten, auch Unreinigkeiten erre - gen. Kennt man nun dieſen Theil, ſo kann man ungemein viel zur Verhütung von Krankheiten und Lebensverlänge -647 rung beytragen, wenn man ihn theils für Krankheitsurſachen ſchüzt, theils durch Stärkung jene Empfindlichkeit raubt. Es kommt daher alles darauf an, den ſchwächſten Theil ſeines Körpers kennen zu lernen, und ich will hier ei - nige Anzeigen geben, die auch dem Nichtarzt verſtändlich ſind: Man beob - achte, wo Gemüthserſchütterungen oder heftige Affecten am meiſten hin wirken, da iſt auch der ſchwächſte Theil. Erre - gen ſie gleich Huſten, Stechen der Bruſt, ſo iſts die Lunge, erregen ſie gleich Druck im Magen, Ueblichkeit, Erbre - chen u. dgl. ſo iſts der Magen. Man be - obachte ferner, wohin die Wirkung an - derer krankmachender Eindrücke re - flectirt wird, z. E. die Wirkung einer Ueberladung, einer Erkältung, einer Erhitzung, ſtarker Bewegung u. dgl. Wird da immer die Bruſt angegriffen, ſo iſt ſie der ſchwächere Theil. Eben ſo wichtig iſt die Beobachtung, wohin ge - wöhnlich der ſtärkſte Trieb des Blutes und der Säfte geht. Welcher Theil am648 rötheſten und heiſſeſten zu ſeyn pflegt, wo ſich am häufigſten Schweiſs zeigt, auch wenn der übrige Körper nicht ſchwizt, da wird ſich am leichteſten die Krankheit figiren. Auch kann man im - mer ſchlieſſen, daſs der Theil, den man übermäſsig heftig gebraucht und ange - ſtrengt hat, der ſchwächere ſeyn werde, z. E. bey einem tiefdenkenden Gelehr - ten das Gehirn, bey einem Sänger die Bruſt, bey einem Schlemmer der Magen u. ſ. w.

Ich bin es nun noch ſchuldig, auch die vorzüglichſten und gefährlichſten Krankheitsanlagen durchzugehen, um auch dem Nichtarzt ihre Kennzeichen, und die Diät, welche jede erfodert, be - kannt zu machen.

Die Anlage zur Schwindſucht, eine der traurigſten, wird daran erkannt, wenn man den eben beſchriebnen Bau der Bruſt und des Körpers hat, ferner, wenn man noch nicht 30 Jahr alt iſt (denn nachher entſteht ſie bey weitem nicht ſo leicht), wenn die Eltern649 ſchwindſüchtig waren; wenn man oft plözliche Heiſerkeit, ohne katharrhali - ſche Urſache, bekommt, ſo daſs oft beym Sprechen die Stimme vergeht; wenn man beym Sprechen, Laufen, Berg - und Treppenſteigen, ſehr leicht auſſer Athem kommt; wenn man nicht recht tief einathmen und die Luft an ſich halten kann, ohne einen Schmerz in der Bruſt oder einen Reiz zum Huſten zu verſpüren; wenn man ſehr rothe, gleich - ſam mit Farbe bemahlte Wangen hat, oder oft plözlich eine ſolche hohe Röthe, zuweilen nur einer Wange, bekommt; wenn man nach dem Eſſen rothe und heiſſe Backen und heiſſe Hände be - kommt; wenn man oft plözlich fliegen - de Stiche in der Bruſt empfindet; wenn man früh Morgens kleine Klümpgen, wie Hirſenkörner oder kleine Graupen, aushuſtet, welche wie Käſe oder Talg ausſehen, und beym Zerdrücken einen üblen Geruch von ſich geben, wenn man bey jedem Schrecken, Zorn oder andern Affect Schmerzen in der Bruſt650 oder Huſten bekommt; wenn jede Er - hitzung oder Erkältung, jeder Diätfehler dergleichen erregt; wenn man häufig Bruſtkatharrhe bekommt, oder dieſel - ben, wenn ſie einmal entſtanden ſind, gar nicht wieder aufhören wollen. Be - merkt man nun gar noch blutigen Aus - wurf aus der Lunge, dann iſt die Gefahr der Lungenſucht ſchon ſehr nahe. Wer dieſe Anzeigen verſpürt, der hüte ſich ja für hitzigen Getränken, Wein, Branntwein, Liqueurs, für Gewürtzen, ſtarken Bewegungen, z. E. heftigen Tan - zen, Laufen u. dgl., Ausſchweifungen in der Liebe, für dem Sitzen mit zuſam - men gedrückter Bruſt, oder dem Andrü - cken der Bruſt wider den Tiſch beym Arbeiten, auch für zu ſtarken und an - haltenden Singen oder Sprechen.

Eine andere Anlage iſt die zu - morrhoiden (güldnen Ader). Man erkennt ſie daran, wenn ſie die Eltern hatten, wenn man zuweilen Rückenſchmerzen tief unten im Kreuze ſpürt oder fliegen - de Stiche queer durch das Becken oder651 zuweilen ein ſchmerzhaftes Zwängen beym Stuhlgang, wenn man immer an Hartleibigkeit leidet, wenn man ein öftres Jucken am After, oder ſtarken Schweiſs in der Gegend, auch wohl öf - teres Kopfweh und Vollblütigkeit des Kopfs empfindet. Solche Perſonen haben nöthig, nicht allein alles hitzige Getränk ſondern auch warme Getränke zu meiden, beſonders Kaffee, Thee und Chokolade, mehr von ſaftigen friſchen Gemüſsen und Obſt, in Verbindung mäſi - ger Fleiſchnahrung zu leben, Mehlſpei - ſen, Kuchen, Backwerk, blähende Speiſen zu meiden, nie anhaltend zu ſitzen, und ſich täglich Bewegung zu machen, das zu lange und ſtarke Drängen beym Stuhlgang zu unterlaſſen, den Unterleib nicht zu binden oder zu ſchnüren, ſon - dern ihn vielmehr täglich eine Viertel - ſtunde lang gelinde zu reiben.

Anlage zur Hypochondrie oder Hy - ſterie und andern Nervenkrankheiten merkt man an folgenden: wenn man von Nervenſchwachen Eltern gezeugt652 wurde, wenn man frühzeitig zum Ler - nen und Sitzen angehalten wurde, wenn man in der Jugend Onanie getrieben hat, wenn man viel ſitzend, in der Stube, einſam gelebt, und viel warme Getränke genoſſen, auch wohl viel ſchmelzende und empfindſame Bücher geleſen hat, wenn man eine ſehr veränderliche Ge - inüthsſtimmung hat, ſo daſs man plöz - lich ohne Urſache ſtill und traurig, und eben ſo plözlich ohne Urſache ausgelaſ - ſen luſtig werden kann, wenn man öf - ters mit Magen - und Verdauungsbe - ſchwehrden, auch Blähungen geplagt wird, öfters Beängſtigungen, Klopfen im Unterleibe, Drücken, Spannen und dergleichen ungewohnte Gefühle daſelbſt empfindet, wenn man früh und nüch - tern ſehr müde, verdroſſen und un - brauchbar iſt, welches ſich ſogleich nach dem Genuſs einiger ſtärkenden Nah - rung, oder einer Taſſe Kaffee, oder et - was Geiſtigen verliert, wenn man groſse Neigung zur Einſamkeit und zum Nicht - reden, oder eine Schüchternheit, ein653 gewiſſes Mistrauen gegen Menſchen ver - ſpürt, wenn Zwiebeln, Hülſenfrüchte, Hefengebacknes, immer groſse Be - ſchwehrden und Beängſtigungen erre - gen, wenn die Ausleerungen durch den Stuhl träge, ſelten, oder ungleich und trocken ſind. Ein ſolcher meide ganz vorzüglich das ſitzende Leben, und wenn dieſs nicht möglich iſt, ſo muſs er wenigſtens ſtehend an einem Pulte, oder noch beſſer (weil man das Stehen in die Länge nicht aushält) auf einem hölzernen Bock reitend, arbeiten, und dabey das Geſetz unverbrüchlich beob - achten, ſich alle Tage 1, 2 Stunden in freyer Luft Bewegung zu machen. Auch das Reiten iſt ſolchen Leuten ſehr heil - ſam. Man muſs ferner immer menſch - liche Geſellſchaft beſuchen, insbeſon - dere einen Freund, auf den man Ver - trauen hat, ſich zu erhalten ſuchen, und nie dem Hange zur Einſamkeit zu ſehr nachgeben. Reiſen, Veränderung der Gegenſtände, und vor allem der Genuſs der Landluft, ſind hauptſächliche Prä -654 ſervative der Hypochondrie. Es war oft hinreichend, die ſchon im heftigſten Grade ausgebrochne Krankheit zu heben, wenn es der Kranke über ſich erhalten konnte, ein halbes Jahr auf dem Lande zuzubringen, und ſich mit lauter länd - licher und körperlicher Handarbeit zu beſchäftigen, genug, auch wie ein Land - mann zu leben, (denn, wenn man den Luxus der Städte mit aufs Land nimmt, denn hilft es freylich nicht viel). Ue - berhaupt wäre jedem, der dieſe Anlage verſpürt, zu rathen, lieber ein Oeko - nom, oder auch wohl ein Jäger oder Soldat zu werden, als ein Gelehrter. Sehr nüzlich iſt bey dieſer Anlage das Reiben des Unterleibs. Es kann täglich früh noch im Bette eine Viertelſtunde lang mit der flachen Hand oder einem wollenen Tuche geſchehen, es befördert Verdauung und Circulation im Unter - leibe, zertheilt Stockungen und Blähun - gen und ſtärkt zugleich. Man wieder - ſtehe ſorgfältig dem mit dieſer Anlage immer verbundenen Hange zu medizi -655 niren, beſonders immer zu purgiren, wodurch man die Verdauungsſchwäche immer noch ſchlimmer macht. Man vertraue ſich lieber einem einzelnen ver - nünftigen Arzt an, und laſſe ſich von dieſem mehr diätetiſche Kur als Arzney - mittel verſchreiben. Man vermeide vorzüglich Kuchen, Käſe, Mehlſpeiſen, Hülſenfrüchte, Fett, ſchwehres Bier.

Auch von der Anlage zum Schlag - fluſſe muſs ich etwas ſagen, ohneracht dieſelbe erſt ſpäter einzutreten pflegt. Man bemerkt ſie an einem kurzen, di - cken unterſezten Körper, und kurzem Halſe, ſo daſs der Kopf recht zwiſchen den Schultern ſteckt, an einem gewöhn - lich rothen und aufgetriebnen Angeſicht, öftern Ohrenklingen und Sauſen, Schwindel, auch Uebligkeiten im nüch - ternen Zuſtand. Solche Leute müſſen nie den Magen überladen (denn ſie kön - nen ſonſt bey Tiſche ſterben), beſonders Abends nie viel eſſen oder trinken, ſich nicht gleich nachher zu Bette legen, im Bett mit dem Kopf nicht tief liegen, und656 alle heftige Erhitzungen und Erkältun - gen, insbeſondere der Füſse, vermei - den.

Ich komme nun auf Beantwortung der Frage: Wie ſoll man eine ſchon aus - gebrochne Krankheit behandeln, und wie den Arzt und die Arzneykunſt benutzen? Das wichtigſte läſst ſich in folgende Re - geln bringen:

1. Man brauche nie Arzneymittel, ohne hinreichenden Grund dazu zu ha - ben, denn wer wollte ſich ohne Noth krank machen? Daher die Gewohnhei - ten, zu beſtimmten Zeiten zu purgiren, Ader zu laſſen u. dgl., blos um mögliche Uebel zu verhüten, äuſſerſt nachtheilig ſind. Gar oft werden die Uebel dadurch erſt bewirkt, die man zu vermeiden ſuchte.

2. Es iſt weit beſſer, Krankheiten verhüten, als Krankheiten heilen, denn das leztre iſt immer mit mehr Kraftver - luſt und folglich Lebensverkürzung ver - bunden. Man beobachte daher vorzüg -lich657lich die oben angegebnen Mittel zur Ver - hütung derſelben.

3. Sobald man aber wirkliche Krank - heit ſpürt, ſo ſey man aufmerkſam. Der unbedeutendſte Anfang kann eine ſehr wichtige Krankheit im Hinterhalt haben. Vorzüglich gilt dieſs von fieber - haften Krankeiten. Ihr erſter Anfang zeichnet ſich dadurch aus: Man fühlt ungewöhnliche Mattigkeit, die Eſsluſt fehlt, aber deſto gröſser iſt die Neigung zum Trinken, der Schlaf iſt unterbro - chen oder mit vielen Träumen unter - miſcht, die gewöhnlichen Ausleerungen bleiben aus, oder ſind widernatürlich vermehrt, man hat keine Luſt zur Ar - beit, auch wohl Kopfwehe, und es ſtellt ſich ein Fröſteln, ſtärker oder ſchwächer ein, worauf Hitze folgt.

4. Sobald man dieſe Anzeigen be - merkt, ſo iſt nichts nöthiger, als dem Feinde, der Krankheit, die Nahrung zu entziehen, und dem wohlthätigen natürlichen Inſtinct zu folgen, den jedes Thier in dieſem Fall zu ſeinem groſsenT t658Vortheil befolgt. Man eſſe nicht, denn die Natur zeigt uns durch ihre Abnei - gung, daſs ſie jezt nicht verdauen kann; man trinke deſto mehr, aber Waſſer und verdünnende Getränke. Man halte ſich ruhig, und am beſten liegend, denn die Mattigkeit zeigt uns zur Gnüge, daſs die Natur jezt ihre Kraft zu Bearbeitung der Krankheit braucht, und man ver - meide ſowohl Erhitzung, als Erkältung, folglich ſowohl das Ausgehen in freye Luft, als auch das Einſchlieſſen in er - hizte Zimmer. Dieſe einfachen Mittel, die uns die Natur ſelbſt ſo deutlich vor - ſchreibt, wenn wir nur ihre Stimme - ren wollen, ſind es, wodurch unzählige Krankheiten gleich in der Entſtehung gehoben werden können. Der alte 90jährige Maclin, der Veteran der Lond - ner Bühne, ſagt von ſich ſelbſt, ſo oft er ſich während des Laufs ſeines langen Lebens übel befunden habe, ſey er zu Bette gegangen, und habe nichts als Brod und Waſſer zu ſich genommen, und dieſe Diät habe ihn gemeiniglich659 von jeder leichten Unpäſslichkeit be - freyt. Ich habe einen würdigen 80jäh - rigen Oberſten gekannt, der ſein ganzes Leben hindurch, bey jeder Unpäſslich - keit nichts weiter gethan hatte, als fa - ſten, Tabakrauchen und obige Regeln beobachten, und nie Arzney nöthig hatte.

5. Hat man Gelegenheit, einen Arzt zu fragen, ſo conſultire man den dar - über, nicht ſowohl um gleich zu medi - ziniren, als vielmehr um zu wiſſen, in welchem Zuſtande man ſey. Fehlt aber dieſe Gelegenheit, ſo iſt es weit beſſer, blos auf die angegebne negative Weiſe die Zunahme der Krankheit zu verhin - dern, als etwas poſitives zu thun oder zu brauchen, was vielleicht ſehr ſchaden kann. Man halte doch ja kein Arzney - mittel für gleichgültig. Selbſt Purgir - und Brechmittel können, zur Unzeit gebraucht, ſehr ſchädlich werden. Will man ja noch das unſchuldigſte in ſolchen Fällen wiſſen, ſo iſt es 1 Theelöffel Gre - mor Tartari, in ein Glas Waſſer gerührt,T t 2660oder folgendes Kryſtallwaſſer, welches gewiſs eins der allgemeinſten Mittel in heberhaften Krankheiten iſt: 1 Loth Cremor Tartari wird mit 6 Pfund Waſſer in einem neuen Topfe ſo lange gekocht, bis das Pulver ganz zergangen, und nun, nachdem es vom Feuer genommen, eine Citrone hineingeſchnitten, ſodann, nach Verſchiedenheit des Geſchmacks, 3 bis 6 Loth Zucker hinzugethan, und auf Bou - teillen gefüllt. Dieſs dient zum beſtän - digen Getränk.

6. Gegen den Arzt ſey man völlig aufrichtig, erzähle ihm auch die Ge - ſchichte vergangner Zeiten, in ſo fern ſie auf die Krankheit Bezug haben kann, und vergeſſe keinen gegenwärtigen Um - ſtand, vorzüglich in ſchriftlichen Rela - tionen. Beſonders hüte man ſich (was ein ſehr gewöhnlicher Fehler iſt) kein Raiſonnement in die Erzählung zu mi - ſchen, oder ihr nach einer vorgefaſsten Meynung die oder jene Stellung zu ge - ben, ſondern man erzähle nur das, was661 ſinnlich bemerkt worden iſt, ſo unbe - fangen wie möglich.

7. Man wähle nur einen Arzt, zu dem man Zutrauen hat; keinen, der mit Arcanen handelt; keinen, der zu ge - ſchwätzig oder neugierig iſt; keinen, der über ſeine Kollegen oder andre Aerzte loszieht, und ihre Handlungen in ein zweydeutiges Licht zu ſtellen ſucht, (denn dieſs zeigt immer eingeſchränkte Kenntniſſe, oder ein bös Gewiſſen, oder ein böſes Herz); keinen, der blos durch groſse entſcheidende Mittel zu wirken liebt, oder, wie man ſagt, auf Leben und Tod kurirt.

8. Insbeſondere meide man den Arzt, für den Geldgeiz oder Ehrgeiz das höchſte Intereſſe bey der Praxis haben. Der wahre Arzt ſoll kein anderes In - tereſſe haben, als Geſundheit und Leben ſeines Kranken, Jedes andere führt ihn vom wahren Wege ab, und kann für den Kranken die nachtheiligſten Folgen haben. Er braucht nur in irgend einen Colliſionsfall zu gerathen, wobey ſeine662 Reputation oder ſein Beutel in Gefahr kommt, wenn er etwas zur Erhaltung ſeines Kranken wagt, und er wird zu - verläſſig lieber den Kranken ſterben laſ - ſen, als ſeine Reputation verlieren. Eben ſo gewiſs werden ihn die Kranken nur in dem Verhältniſs intereſſiren, als ſie vornehm oder reich ſind.

9. Der beſte Arzt iſt der, der zu - gleich Freund iſt. Gegen ihn iſt es am leichteſten vertraulich und offenherzig zu ſeyn. Er kennt und beobachtet uns auch in geſunden Tagen, welches zur richtigen Behandlung in kranken unge - mein viel beyträgt. Er nimmt endlich innigen Antheil an unſerm Zuſtand, und wird mit ungleich höherer Thätigkeit und Aufopferung an Verbeſſerung deſſel - ben arbeiten, als der, der blos kalter Arzt iſt. Man thue alſo alles, ein ſol - ches zartes auf Freundſchaftsgefühl be - ruhendes Band zwiſchen ſich und dem Arzte zu knüpfen und zu erhalten, und ſtöre es ja nicht durch Mishandlung, Mistrauen, Härte, Stolz und andre Aeuſ -663 ſerungen, die man ſich ſo oft, aber alle - mal mehr zu ſeinem eignen Schaden, ge - gen den Arzt erlaubt.

10. Sorgfältig vermeide man den Arzt, der geheime Mittel verfertigt, und damit Handel treibt. Denn er iſt ent - weder ein Ignorant, oder ein Betrüger, oder Eigennütziger, dem ſein Profit weit über Leben und Geſundheit andrer geht. Denn iſt an dem Geheimniſs nichts, ſo iſt wohl kein Betrüger ſo ſchändlich, als dieſer, der die Menſchen nicht blos um Geld, ſondern um Geſundheit und Geld zugleich betrügt; und iſt das Geheimniſs wirklich von Werth und Nutzen für die Menſchheit, ſo iſt es ein Eigenthum der Wahrheit und der Menſchheit im Gan - zen, und es iſt eine äuſſerſt immorali - ſche Handlung, es derſelben zu entzie - hen; auch verſündigt man ſich zugleich an den vielen Tauſenden, die das Mittel deswegen gar nicht, oder nicht ver - nunftmäſsig, brauchen können, weil es nicht bekannt, nicht allgemein zu ha -664 ben, und von einem vernünftigen Arzt gar nicht anzuwenden iſt.

11. Ueberhaupt ſehe man nirgends ſo ſehr auf Moralität, als bey der Wahl des Arztes. Wo iſt ſie wohl nöthiger, als hier? Der Menſch, dem man blindlings ſein Leben anvertraut, der ſchlechter - dings kein Tribunal zur Beurtheilung ſeiner Handlungen über ſich hat, als ſein Gewiſſen, der zur vollkommnen Erfül - lung ſeines Berufs, alles, Vergnügen, Ruhe, ja eigne Geſundheit und Leben aufopfern muſs, wenn dieſer Menſch nicht blos nach reinen moraliſchen Grundſätzen handelt, wenn er eine ſo - genannte Politik zum Motiv ſeiner Hand - lungen macht, dann iſt er einer der furchtbarſten und gefährlichſten Men - ſchen, und man ſollte ihn ärger fliehen, als die Krankheit. Ein Arzt, ohne Mo - ralität, iſt nicht blos ein Unding, er iſt ein Ungeheuer!

12. Hat man aber einen geſchickten und rechtſchaffnen Arzt gefunden, ſo665 traue man ihm ganz. Dieſs beruhigt den Kranken, und erleichtert dem Arzt ſein Heilgeſchäft unendlich. Manche glauben, je mehr ſie Aerzte um ſich ver - ſammlen, deſto ſichrer müſſe ihnen ge - holfen werden. Aber dieſs iſt ein ge - waltiger Irrthum. Ich ſpreche hier aus Erfarung. Ein Arzt iſt beſſer, als zwey, zwey beſſer als drey, und ſo fort; in dem Verhältniſs der Menge der Aerzte, nimmt die Wahrſcheinlichkeit der Wie - derherſtellung immer mehr ab, und ich glaube, es giebt einen Punct der ärztli - chen Ueberladung, wo die Kur phyſiſch unmöglich iſt. Kommen ja Fälle vor, die aber in der That ſelten ſind, wo ein gar zu verborgenes oder verwickeltes Uebel das Urtheil mehrerer erfodert, ſo rufe man mehrere zuſammen, aber nur ſolche, von denen man weiſs, daſs ſie harmoniren und billige Menſchen ſind, aber auch dann benutze man ei - nen ſolchen Convent nur zur Erkennt - niſs und Beurtheilung der Krankheit und Gründung des Kurplans. Die Aus -666 führung ſelbſt überlaſſe man immer nur einem, zu dem man das meiſte Zu - trauen hat.

13. Man beobachte die Criſen, die Hülfen und Wege, die unſre Natur am meiſten liebt, und die ſie etwa ſchon in vorhergehenden Zufällen benuzt hat; ob ſie mehr durch Schwitzen, oder durch Diarrhoe, oder durch Naſenbluten, oder durch den Urin ſich zu helfen pflegt. Dieſen Weg muſs man auch bey der ge - genwärtigen Krankheit vorzüglich zu befördern ſuchen, und eine ſolche Notiz iſt für den Arzt ſehr wichtig.

14. Reinlichkeit iſt bey allen Krank - heiten eine unentbehrliche Bedingung; denn durch Unreinlichkeit kann jede Krankheit in eine faulichte und weit ge - fährlichere verwandelt werden, auch verſündigt man ſich dadurch an den Sei - nigen und dem Arzte, die blos dadurch auch krank werden können. Man wechſele daher täglich (nur mit Vorſicht) die Wäſche, erneuere die Luft, ſchaffe alle Ausleerungen bald möglichſt aus667 dem Krankenzimmer, und entferne zu viel Menſchen, Thiere, Blumen, Ue - berreſte von Speiſen, alte Kleider u. ſ. w., genug alles, was ausdünſten kann.

668

XVII.

Rettung in ſchnellen Todtesgefahren.

Es giebt Urſachen, die bey der voll - kommenſten Geſundheit, bey der beſten Fähigkeit noch lange fort zu leben, plözlich die Lebensoperation unterbre - chen und aufheben können, die ge - waltſamen Todesurſachen. Sie vermin - dern oder unſchädlich machen zu kön - nen, iſt ein wichtiger Theil der Lebens - erhaltenden und verlängernden Kunſt, und ich werde hier noch das nöthige darüber mittheilen.

Es gehören dahin alle gewaltſame Todesarten, die alle, entweder durch mechaniſche Verletzungen, oder durch organiſche Zerſtöhrungen, bewirkt wer -669 den. Sie laſſen ſich alle unter drey Klaſſen bringen. Entweder ſie machen die Lebensorgane unbrauchbar zu ihren Verrichtungen, oder ſie deſtruiren plöz - lich die Lebenskraft, (z. E. der Blitz, ein heftiger Gemüthsaffect, die meiſten Gifte), oder ſie nehmen plözlich die Le - bensreize weg, ohne deren beſtändige Einwirkung keine Lebensäuſſerung ge - ſchehen kann, (z. E. das Blut, die reine Luft).

Die Hülfe dagegen iſt zweyfach, wir können ſie verhüten, oder ſie un - ſchädlich machen, wenn ſie ſchon ge - wirkt haben.

Zuerſt die Verhütung. Dieſe kann ſich unmöglich darauf beziehen, die Ur - ſachen alle von uns abzuhalten, denn ſie ſind ſo mit unſerm Leben und beſonders mit manchen Lebensberuf verwebt, daſs man das Leben ſelbſt verlaſſen müſste, um ſie zu vermeiden. Aber wir können unſerm Körper ſelbſt einen hohen Grad von Immunität dagegen verſchaffen, und ihm gewiſſe Eigenſchaften geben, wo -670 durch er in den Stand geſezt wird, von jenen Urſachen, wenn ſie auch ihm nahe kommen, nicht oder nur wenig zu lei - den. Es giebt alſo eine objective und ſubjective Kunſt, Todesgefahren zu ver - hüten, und die leztere iſt es, in der ſich jeder Menſch eine gewiſſe Vollkommen - heit zu verſchaffen ſuchen ſollte. Sie gehört nach meiner Meynung nothwen - dig zur Bildung und Erziehung des Men - ſchen. Die Mittel ſind ſehr einfach:

1. Man ſuche ſeinem Körper die möglichſte Fertigkeit und Geſchicklich - keit in allen körperlichen Uebungen zu verſchaffen. Gehörige Kultur der kör - perlichen Kräfte in Laufen, Klettern, Voltigiren, Schwimmen, Gehen auf ſchmalen Flächen u. dgl. ſchüzt ausneh - mend für den körperlichen Gefahren dieſer Art, und es würden unendlich weniger Menſchen ertrinken, ſtürzen oder andern Schaden leiden, wenn dieſe Ausbildung gewöhnlicher wäre.

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2. Man bilde ſeinen Verſtand aus, und berichtige die Erkenntniſs über jene ſchädlichen Potenzen, durch populäre Phyſik und Naturwiſſenſchaft. Dahin gehört die Erkenntniſs der Gifte (S. oben), der Eigenſchaften des Blitzes und ſeiner Vermeidung, des Nachtheils und der Eigenſchaften mephitiſcher Luftarten, des Froſts u. ſ. w. Ich müſste ein eignes Buch ſchreiben, wenn ich dieſs gehörig ausführen wollte, aber ich wünſchte ſehr, daſs es geſchrieben und in Schu - len benuzt würde.

3. Man gebe ſeinem Geiſt Furcht - loſigkeit, Stärke und philoſophiſchen Gleichmuth, und übe ihn in ſchneller Faſſung bey unerwarteten Ereigniſſen. Dieſs wird doppelten Nutzen haben. Es wird den phyſiſchen Schaden plözli - cher und erſchütternder Eindrücke ver - hüten, und uns bey plözlichen Gefah - ren rettende Entſchlieſſung geben.

4. Man verſchaffe dem Körper einen gehörigen Grad von pathologiſcher Ab - härtung, gegen Froſt und Hitze, Wech -672 ſel derſelben u. dgl. Wer mit dieſen Ei - genſchaften ausgerüſtet iſt, der wird in unzähligen Fällen dem Tode trotzen können, wo ein andrer unterliegt.

Nun aber die Rettung bey ſchon wirklich exiſtirender Todesgefahr! Was iſt zu thun, wenn jemand ertrunken, erhängt, erſtickt, vom Blitz getroffen, vergiftet u. ſ. w. iſt? Hier giebt es Mit - tel, wodurch man ſchon oft den ganz tod ſcheinenden glücklich gerettet hat, und dieſs iſt ein Theil der Medizin, den jeder Menſch verſtehen ſollte, denn jedem kann ein ſolcher Fall aufſtoſſen, und alles kommt auf die Geſchwindig - keit der Hülfe an. Bey einer ſo gefähr - lichen Lage iſt jeder Augenblick koſtbar; das einfachſte Mittel, gleich angewendet, kann mehr ausrichten, als eine halbe Stunde nachher, die ganze Weisheit ei - nes Aeskulaps. Jeder Menſch, der zuerſt hinzu kommt, ſollte es als Pflicht anſehen, ſogleich Hülfe anzuwenden, und wohl bedenken, daſs das Leben desVer -673Verunglückten von einer Minute früher oder ſpäter abhangen kann. *)Es war daher ein ſehr glücklicher Gedanke des Herrn D. Struve zu Görliz, dieſe Rettungsmittel zur bequemen Ueberſicht in Tabellen zu bringen, die in jeder Schule, Bauernſchenke und ähnlichen öffentlichen Orten aufgehängt ſeyn ſollten. Es ſind bis jezt drey Noth - und Hülfstafeln erſchienen: 1. für Ertrunkene etc. 2. für Vergiftete, vom tollen Hund gebiſsne etc. 3. Hebammentafel. Jede ko - ſtet 1 gl. 40 Stück 1 thlr.

Es laſſen ſich die gewaltſamen To - desarten, nach ihrer Behandlung, in drey Klaſſen theilen.

Die erſte Klaſſe: Erſtickte (erhängte, ertrunkene, in unreiner Luft umge - kommene), vom Blitz erſchlagene, in todengleiche Ohnmacht verſezte, und ihre Behandlung. Hier ſind folgendes die erſten und wirkſamſten Hülfen:

1. Man beſchleunige ſo ſchnell wie möglich das Herausnehmen aus dem Waſſer, das Abſchneiden vom Strick, genug die Entfernung der Todesurſa - che. Dieſs iſt allein ſchon hinreichend,U u674den Unglücklichen zu retten, wenn es bald geſchieht, aber darinn wird es am meiſten verſehen. Rettungsanſtalten hat man nun endlich wohl an den meiſten Orten, aber man geht gewöhnlich ſo langſam dabey zu Werke, daſs man mehr glauben ſollte, es gehörten dieſe Anſtalten zur lezten Ehre eines Verun - glückten, als zu Rettung ſeines Lebens. Daher bin ich überzeugt, daſs bey Er - trunkenen beſſere Findanſtalten oft mehr werth wären, als alle Rettungsanſtal - ten,*)Hamburg, das ſchon in ſo manchen patriotiſchen Einrichtungen zum Muſter gedient hat, giebt uns auch hierinn ein nachahmungswürdiges Bey - ſpiel, indem daſelbſt dieſer Theil der Hülſe zu einer auſſerordentlichen Vollkommenheit gebracht iſt. Ich empfehle, als das vollkommenſte, was wir in der Art haben, jedem Arzt, jeder Poli - zey, jedem Menſchenfreund, nachfolgendes Buch: Günther Geſchichte und jetzige Einrichtung der Hamburger Rettungsanſtalten, m. Kupfern, Ham - burg bey Bohn. 1796. und wenn man ſieht, wie unge - ſchickt und unwillig ſich die Menſchen dabey benehmen, was für abſcheuliche675 Vorurtheile noch dabey herrſchen, ſo wundert es einen nicht mehr, daſs in Teutſchland ſo wenig Verunglückte ge - rettet werden, und ich beſchwöre hier alle Obrigkeiten, dieſem wichtigſten Theil der Rettungsanſtalt mehr Vollkom - menheit zu geben, wohin ich auch die Ausrottung der Vorurtheile,*)Dahin gehört die ſchändliche Furcht für dem ſchimpflichen und unehrlichen, was das Behand - len eines ſolchen Verunglückten mit ſich führe, der teufliſche Aberglauben mancher Fiſcher, man dürfe vor Sonnenuntergang einen Ertrunke - nen nicht ausfiſchen, um dem Fiſchfang keinen Schaden zu thun, oder, es müſſe mancher Fluſs jährlich ſein Opfer haben, und dergleichen Mey - nungen mehr, die unter dem gemeinen Haufen noch immer mehr, als man denkt, herrſchen. der Streitigkeiten über Jurisdiction, die Be - lohnungen des Findens, und die Beſtra - fung jeder muthwilligen Verzögerung rechne.

2. Man entkleide ſogleich den Ver - unglückten, und ſuche ſo geſchwindU u 2676und ſo allgemein wie möglich Wärme zu erwecken. Wärme iſt der erſte und allgemeinſte Lebensreiz. Das nehmliche Mittel, was die Natur benuzt, um alles Leben zuerſt zu wecken, iſt auch das gröſste um eine zweyte Wiederbelebung zu bewirken. Das beſte dazu iſt ein lau - warmes Bad; fehlt dieſs, dann das Be - decken mit warmen Sand, Aſche, oder dicken Decken und Betten, mit warmen Steinen an verſchiedenen Orten des Kör - pers applizirt. Ohne dieſs Mittel wer - den alle andere wenig ausrichten, und es wäre beſſer, den Scheintodten blos durchdringend zu erwärmen, als ihn, wie ſo oft geſchieht, mit Schröpfen, Bürſten, Klyſtiren u. ſ. w. herum zu zie - hen, und ihn zugleich vor Kälte erſtar - ren zu laſſen.

3. Das Einblaſen der Luft in die Lungen folgt zunächſt in Abſicht der Wichtigkeit, und kann ſo ſchön mit der Wärme verbunden werden. Beſſer iſt es freylich, wenn es mit reiner dephlo - giſtiſirter Luft, und durch Röhre und677 Blaſebalg geſchieht. Aber in der Ge - ſchwindigkeit und um die koſtbare Zeit nicht zu verlieren, iſt es genug, wenn der erſte beſte ſeinen Athem in den Mund des Unglücklichen bläſt, ſo daſs er die Naſe deſſelben dabey zuhält, und, wenn er bemerkt daſs die Rippen davon ausgedehnt werden, ein wenig inne hält, und durch einen Gegendruck auf die Gegend des Zwerchfells, auch durch das gelinde Anziehen eines um den Leib gezogenen Handtuches, die Luft wieder austreibt, dann von neuem einbläſet, und dieſes künſtliche Athemholen einige Zeit fortſezt.

4. Man laſſe von Zeit zu Zeit aus einer gewiſſen Höhe Tropfen von eiskal - ten Waſſer oder Wein auf die Herzgrube fallen; dieſs hat zuweilen den erſten Anſtoſs zur Wiederbewegung des Her - zens gegeben.

5. Man reibe und bürſte Hände und Fuſsſohlen, Unterleib, Rücken, man reize empfindliche Theile des Körpers, Fuſsſohlen und Handflächen, durch Ste -678 chen, Schneiden und Auftröpfeln von geſchmolzenen Siegellak, Naſe und Schlund durch eine hineingebrachte Fe - der, oder durch Vorhalten und auf die Zunge tröpfeln des flüchtigen Salmiak - geiſts, die Augen durch vorgehaltenes Licht, das Gehör (ein am längſten em - pfindlich bleibender Sinn), durch ſtar - kes Schreyen, oder den Schall einer Trompete, Piſtole u. dgl.

6. Man blaſe Luft oder Tabaks - rauch (wozu zwey auf einander geſezte hörnerne Tabakspfeifen dienen können) in den Maſtdarm, oder, wenn ein In - ſtrument bey der Hand iſt, ſo ſpritze man eine Abkochung von Tabak, Senf, auch Waſſer, mit Eſſig und Wein ver - miſcht, ein.

7. Sobald man einige Lebenszeichen bemerkt, ſo flöſse man einen Löffel gu - ten Wein ein, und wenn der Kranke ſchluckt, ſo widerhole man dieſs öfter. Im Nothfall dient auch Branntwein, mit zwey Drittheil Waſſer vermiſcht.

679

8. Bey denen vom Blitz getroffnen iſt auch noch das Erdbad zu empfehlen. Man legt ſie entweder mit dem offnen Munde auf ein friſch aufgegrabenes Fleck Erde, oder man ſcharrt ſie bis an den Hals in friſch aufgegrabne Erde.

Werden dieſe einfachen Mittel, die ein jeder Menſch anwenden kann, und ſeinem in Todesgefahr ſchwebenden Mitmenſchen anwenden muſs, bald an - gewendet, ſo werden ſie mehr helfen, als eine halbe Stunde ſpäter der vollſtän - digſte Kunſtapparat, und wenigſtens wird dadurch die Zwiſchenzeit nicht unbenuzt gelaſſen, und das ſchwache Lebensfünkgen am völligen Verlöſchen gehindert.

Zur zweyten Klaſſe der Verunglück - ten gehören die Erfrornen. Sie verlan - gen eine ganz andere Behandlungsart. Durch Wärme würde man ſie tödten. Hier iſt weiter gar nichts zu thun, als dieſs: Man ſcharre ſie entweder in Schnee bis an den Kopf ein, oder ſetze ſie in ein Bad von dem kälteſten Waſſer680 was man haben kann, und das nur eben nicht gefroren iſt. Hierinn erholt ſich das Leben von ſelbſt, und ſobald ſich wieder Lebensäuſſerung zeigt, ſo flöſse man warmen Thee mit Wein ein, und bringe den Kranken in ein Bett.

Die dritte Klaſſe: Vergiftete. Hier beſitzen wir zwey unſchäzbare Mittel, die auf jedes Gift paſſen, die überall, ohne alle Apotheke, zu haben ſind, und die gar keine mediziniſche Kenntniſs vorausſetzen: Milch und Oel. Durch dieſe beyden Mittel allein hat man ſogar die fürchterlichſte aller Vergiftungen, die Arſenikvergiftung, heilen können. Sie erfüllen die beyden Hauptzwecke der Kur, Ausleerung und Umwicklung oder Entkräftung des Gifts. Man laſſe alſo in groſser Menge, ſo viel als nur der Kranke vermag, Milch trinken (bricht er ſie zum Theil wieder weg, deſto beſſer), und alle Viertelſtunden eine halbe Taſſe Oel (es iſt einerley, ob es Lein - Mandel - Mohn - oder Baum - öhl iſt) nehmen. Weiſs man gewiſs,681 daſs es Arſenik, Sublimat oder ein anderes Metallſalz war, ſo löſe man Seife in Waſſer auf, und laſſe dieſe trin - ken. Dieſs iſt hinreichend, bis der Arzt kommt, und wird ihn gar oft unnöthig machen.

682

XVIII.

Das Alter und ſeine gehörige Behandlung.

Das Alter, ohneracht es an ſich die na - türliche Folge des Lebens und der An - fang des Todes iſt, kann doch ſelbſt wie - der ein Mittel werden, unſere Tage zu verlängern. Es vermehrt zwar nicht die Kraft zu leben, aber es verzögert ihre Verſchwendung, und ſo kann man be - haupten, der Menſch würde in der lez - ten Periode ſeines Lebens, in dem Zeit - raum der ſchon verminderten Kraft, ſei - ne Laufbahn eher beſchlieſſen, wenn er nicht alt würde.

683

Dieſer etwas paradox ſcheinende Satz wird durch folgende Erläuterungen ſeine Beſtätigung erhalten. Der Menſch hat im Alter einen weit geringern Vor - rath von Lebenskraft, und weniger - higkeit ſich zu reſtauriren. Lebte er nun noch mit eben der Thätigkeit und Lebhaftigkeit fort, als vorher, ſo würde dieſer Vorrath weit ſchneller erſchöpft ſeyn, und der Tod bald erfolgen. Nun vermindert aber der Karacter des Alters die natürliche Reizbarkeit und Empfind - lichkeit, dadurch wird die Wirkung der innern und äuſſern Reize, und folglich die Kraftäuſſerung und Kraftverſchwen - dung auch vermindert, und ſo kann er bey der geringern Conſumtion mit die - ſem Kraftvorrath weit länger auskom - men. Die Abnahme der Intenſion des Lebensprozeſſes mit dem Alter verlän - gert alſo ſeine Dauer.

Eben dieſe verminderte Reizfähig - keit vermindert aber auch die Wirkung ſchädlicher Eindrücke und krankma - chender Urſachen, z. E. der Gemüths -684 affecten, der Erhitzung u. ſ. w., ſie er - hält eine weit gröſsere Gleichförmigkeit und Ruhe in der innern Oeconomie, und ſchüzt auf dieſe Weiſe den Körper für manchen Krankheiten. Man be - merkt ſogar, daſs aus eben dieſer Urſa - che alte Leute weniger leicht von anſte - ckenden Krankheiten befallen werden, als junge.

Dazu kommt nun noch ſelbſt die Gewohnheit zu leben, die unſtreitig in den lezten Tagen mit zur Erhaltung des Lebens beyträgt. Eine animaliſche Ope - ration, die man ſo lange immer in der - ſelben Ordnung und Succeſſion fortge - ſezt hat, wird zulezt ſo gewöhnlich, daſs ſie noch durch Habitus fortdauert, wenn auch andere Urſachen zu wirken aufhö - ren. Zum Erſtaunen iſt es oft, wie ſich die gröſste Altersſchwäche noch immer einige Zeit erhält, wenn nur alles in ſei - ner gewohnten Ordnung und Folge bleibt. Der geiſtige Menſch iſt wirklich zuweilen ſchon geſtorben, aber der ve - getative, die Menſchenpflanze, lebt685 noch einige Zeit fort, wozu freylich we[i]〈…〉〈…〉weniger gehört. Dieſe Lebensge - wohnheit verurſacht auch, daſs der Menſch, je älter er wird, deſto lieber lebt.

Wird nun vollends das Alter gehö - rig behandelt und unterſtüzt, ſo kann es noch mehr zum Verlängerungsmittel des Lebens benuzt werden, und da dieſs einige Abweichungen von den allgemei - nen Geſetzen erfodert, ſo halte ichs für nothwendig, hier die dazu gehörigen Regeln mitzutheilen.

Die Hauptideen der Behandlung müſſen dieſe ſeyn: Man muſs die immer zunehmende Trockenheit und Steifigkeit der Faſern (die zulezt den Stilleſtand verurſacht) vermindern und erweichen. Man muſs die Reſtauration des Verlohr - nen, und die Ernährung möglichſt er - leichtern. Man muſs dem Körper etwas ſtärkere Reize geben, weil die natürliche Reizfähigkeit ſo ſehr vermindert iſt; und man muſs die Abſonderungen der verdorbenen Theilchen unterſtützen, die686 im Alter ſo unvollkommen iſt, und jene Unreinigkeit der Säfte nach ſich zieht, welche auch den Tod beſchleunigt.

Hierauf gründen ſich folgende Re - geln:

1. Im Alter fehlt die natürliche Wärme. Man ſuche ſie daher von auſſen möglichſt zu unterhalten und zu ver - mehren; daher warme Kleidung, warme Stuben, warme Betten, erwärmende Nahrung, auch, wenn es thunlich iſt, der Uebergang in ein wärmeres Clima, ſehr Lebensverlängernd ſind.

2. Die Nahrung ſey leichtverdau - lich, mehr flüſſig als feſt, concentrirt nahrhaft, und dabey ſtärker reizend, als in den frühern Perioden rathſam war. Daher ſind warme und gewürzte Kraft - ſuppen den Alten ſo heilſam, auch zarte, recht mürbe gebratene Fleiſch - ſpeiſen, nahrhafte Vegetabilien, ein gu - tes nahrhaftes Bier, und vor allen ein öhligter edler Wein, ohne Säure, ohne erdigte und phlegmatiſche Theile, z. E. alter Spaniſcher Wein, Tokayer, Cyper,687 Kapwein. Ein ſolcher Wein iſt einer der ſchönſten und paſſendſten Lebensreize für Alte, er erhizt nicht, ſondern nährt und ſtärkt ſie, er iſt die Milch der Alten.

3. Laue Bäder ſind äuſſerſt paſſend, als eins der ſchönſten Mittel, die natür - liche Wärme zu mehren, die Abſonde - rungen, beſonders der Haut, zu beför - dern, und die Trockenheit und Steifig - keit des Ganzen zu vermindern. Sie entſprechen alſo faſt allen Bedürfniſſen dieſer Periode.

4. Man vermeide alle ſtarke Auslee - rungen, z. E. Aderläſſe (wenn ſie nicht durch beſondere Umſtände angezeigt werden), ſtarke Purganzen, Erhitzung bis zum Schweiſse, den Beyſchlaf u. ſ. w. Sie erſchöpfen die wenige Kraft, und vermehren die Trockenheit.

5. Man gewöhne ſich mit zuneh - mendem Alter immer mehr an eine ge - wiſſe Ordnung in allen Lebensverrich - tungen. Das Eſſen und Trinken, der Schlaf, die Bewegung und Ruhe, die Ausleerungen, die Beſchäftigungen müſ -688 ſen ihre beſtimmte Zeit und Succeſſion haben und behalten. Eine ſolche me - chaniſche Ordnung und Gewohnheit des Lebens vermag ausnehmend zur Ver - längerung deſſelben in dieſer Periode beyzutragen.

6. Der Körper muſs zwar auch Be - wegung haben, aber ja keine angreifen - de oder erſchöpfende, am beſten eine mehr paſſive, z. E. das Fahren, und das öftere Reiben der ganzen Haut, wozu man ſich mit vielem Nutzen wohlrie - chender und ſtärkender Salben bedienen kann, um die Steifigkeit zu mindern, und die Haut weich zu erhalten. Vor - züglich müſſen heftige körperliche Er - ſchütterungen vermieden werden. Sie legen gewöhnlich den erſten Grund zum Tode.

7. Angenehme Stimmungen und Beſchäftigungen der Seele ſind hier von ungemeinem Nutzen. Nur keine ſtar - ken oder erſchütternden Leidenſchaften, welche im Alter auf der Stelle tödlich ſeyn können. Am heilſamſten iſt dieHei -689Heiterkeit und Zufriedenheit des Ge - müths, welche durch den Genuſs häus - licher Glückſeligkeit, durch einen fro - hen Rückblick in ein nicht umſonſt ver - lebtes Leben, und durch eine heitere Ausſicht in die Zukunft, auch jenſeits des Grabes, erzeugt wird. Auch iſt die Gemüthsſtimmung für Alte ſehr paſſend und heilſam, die der Umgang mit Kin - dern und jungen Leuten hervorbringt; ihre unſchuldigen Spiele, ihre jugend - lichen Einfälle, haben gleichſam etwas Verjüngendes. Insbeſondere iſt Hof - nung und Verlängerung der Ausſichten ins Leben ein herrliches Hülfsmittel. Neue Vorſätze, neue Plane und Unter - nehmungen (die freylich nichts gefähr - liches oder beunruhigendes haben müſ - ſen), genug, die Mittel, das Leben in der Phantaſie weiter hinaus zu ſetzen, können ſelbſt zur phyſiſchen Verlänge - rung deſſelben etwas beytragen. Auch finden wir, daſs die Alten gleichſam durch einen innern Inſtinkt dazu getrie - ben werden. Sie fangen an Häuſer zuX x690bauen, Gärten anzulegen u. dgl., und ſcheinen in dieſer kleinen Selbſttäu - ſchung, wodurch ſie ſich das Leben gleichſam zu aſſecuriren meynen, unge - mein viel Wohlbehagen zu finden.

691

XIX.

Kultur der geiſtigen und körperlichen Kräfte.

Nur durch Kultur wird der Menſch vollkommen. Sowohl die geiſtige als phyſiſche Natur deſſelben muſs einen gewiſſen Grad von Entwicklung, Verfei - nerung und Veredlung erhalten, wenn er die Vorzüge der Menſchennatur ge - nieſſen ſoll. Ein roher unkultivirter Menſch iſt noch gar kein Menſch, er iſt nur ein Menſchenthier, welches zwar die Anlage hat, Menſch zu werden, aber, ſo lange dieſe Anlage durch Kultur nicht entwickelt iſt, weder im Phyſiſchen noch Moraliſchen ſich über die Klaſſe der ihm gleich ſtehenden Thiere erhebt. X x 2692Das ganze Weſentliche des Menſchen iſt ſeine Vervollkommungsfähigkeit, und alles iſt in ſeiner Organiſation darauf be - rechnet, nichts zu ſeyn, und alles zu werden.

Höchſtmerkwürdig iſt der Einfluſs, den die Kultur auch auf die Vervollkom - mung des Phyſiſchen und eben auf Ver - längerung des Lebens hat. Gewöhnlich glaubt man, alle Kultur ſchwäche und verkürze das phyſiſche Leben. Aber dieſs gilt nur von dem Extrem, der Hyper - kultur (die den Menſchen zu ſehr verfei - nert und verzärtelt), dieſe iſt eben ſo ſchädlich und unnatürlich, als das an - dere Extrem, die Unkultur (wenn die An - lagen des Menſchen nicht oder zu wenig entwickelt werden); beydes verkürzt das Leben. Sowohl der verzärtelte, zu ſinnlich oder geiſtig lebende, Menſch, als auch der rohe Wilde, erreichen bey - de nicht das Ziel des Lebens, deſſen der Menſch fähig iſt. Hingegen ein gehöri - ger und zweckmäſiger Grad von geiſti - ger und körperlicher Kultur, hauptſäch -693 lich die harmoniſche Ausbildung al - ler Kräfte, iſt, wie ſchon oben gezeigt worden, durchaus erfoderlich, wenn der Menſch auch im Phyſiſchen und in der Lebensdauer die Vorzüge für dem Thier erhalten ſoll, deren er - hig iſt.

Es iſt wohl der Mühe werth, den Einfluſs der wahren Kultur auf Verlän - gerung des Lebens etwas genauer zu entwickeln, und ſie dadurch von der falſchen deſto mehr zu unterſcheiden. Sie wirkt folgendergeſtalt zum langen Leben:

Sie entwickelt die Organe vollkom - men, und bewirkt folglich ein reicheres, genuſsvolleres Leben und eine reichere Reſtauration. Wie viele Reſtaurations - mittel hat ein Menſch mit gebildetem Geiſte, welche dem rohen fehlen!

Sie macht die ganze Textur des Kör - pers etwas zarter und weicher, und ver -694 mindert alſo die zu groſse Härte, welche der Länge des Lebens hinder - lich iſt.

Sie ſchüzt uns für zerſtörenden und Lebensverkürzenden Urſachen, die dem Wilden viel von ſeinem Leben rauben, z. E. Froſt, Hitze, Witterungseinflüſſe, Hunger, giftige und ſchädliche Subſtan - zen u. dgl.

Sie lehrt uns, Krankheiten und Ge - brechen heilen, und die Kräfte der Na - tur zur Verbeſſerung der Geſundheit an - wenden.

Sie mäſigt und regulirt das Leiden - ſchaftliche, das blos Thieriſche in uns durch Vernunft und moraliſche Bildung, lehrt uns Unglück, Beleidigungen u. dgl. gelaſſen ertragen, und maſigt dadurch die zu gewaltſame und heftige Lebens - conſumtion, die uns bald aufreiben würde.

695

Sie bildet geſellſchaftliche und Staa - tenverbindungen, wodurch gegenſeitige Hülfe, Polizey, Geſetze, möglich wer - den, die mittelbar auch auf Erhaltung des Lebens wirken.

Sie lehrt endlich eine Menge Be - quemlichkeiten und Erleichterungsmit - tel des Lebens, die zwar in der Jugend weniger nöthig ſind, aber deſto mehr im Alter zu gute kommen. Die durch Kochkunſt verfeinerte Nahrung, die durch künſtliche Hülfen erleichterte Be - wegung, die vollkommnere Erholung und Ruhe u. ſ. w., ſind alles Vortheile, wodurch ein kultivirter Menſch ſein Le - ben im Alter weit länger erhalten kann, als ein Menſch im rohen Naturzu - ſtande.

Hieraus erhellt auch ſchon, welcher Grad und welche Art der Kultur nöthig iſt, wenn ſie Lebensverlängernd ſeyn ſoll. Nur die iſt es, die zwar im Phyſi - ſchen ſowohl, als Geiſtigen, die mög -696 lichſte Ausbildung unſrer Kräfte zum Zweck, aber dabey immer das höhere moraliſche Geſez zur Regel hat, worauf im Menſchen alles bezogen werden muſs, wenn es gut, zweckmäſig und wahrhaft wohlthätig ſeyn ſoll.

Jena., gedruckt bey Gotthold Ludwig Fiedler.

About this transcription

TextDie Kunst das menschliche Leben zu verlängern
Author Christoph Wilhelm von Hufeland
Extent727 images; 86276 tokens; 12436 types; 619267 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationDie Kunst das menschliche Leben zu verlängern Christoph Wilhelm von Hufeland. . XVI, 20-342 S. Akademische BuchhandlungJena1797.

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Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz SBB-PK, Bibl. Diez 7481 Rhttp://stabikat.de/DB=1/SET=12/TTL=1/CMD?ACT=SRCHA&IKT=1016&SRT=YOP&TRM=874547490

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ClassificationFachtext; Medizin; Wissenschaft; Medizin; core; ready; china

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.

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