PRIMS Full-text transcription (HTML)
Novellen aus Oesterreich.

Innocens.

Novellen aus Oeſterreich
Innocens. Marianne. Die Steinklopfer. Die Geigerin. Das Haus Reichegg.
Heidelberg. Verlag von G. Weiß.1877.

Seiner Excellenz dem k. k. österreichiſchen Miniſter Leopold Freiherrn von Hofmann

zugeeignet.

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Am ſüdlichen Ende Prags, auf einem gegen die Moldau felſig abſtürzenden Hügel, erhebt ſich ernſt und düſter die Wyſchehrader Citadelle. Es läßt ſich im Umkreiſe einer großen, volk¬ reichen Stadt nichts einſam Abgeſchiedeneres denken, als dieſes alte, ziemlich ausgedehnte Fort. Denn die Beſatzung beſchränkt ſich in Friedenszeiten auf eine Officierswache von geringer Stärke, die nur den allernöthigſten Sicherheitsdienſt an den Thoren und auf den Wällen verſieht. Die Caſematten und Block¬ häuſer im Innern ſtehen leer und verödet, und die ſpärlich gefüllten Pulvermagazine ſcheinen wie die Belagerungsgeſchütze nur da zu ſein, um einem invaliden Unteroffizier der Artillerie zur Sinecure eines Zeugwartes zu verhelfen. Auch die Poſt¬ ſtraße, welche durch die Citadelle über den Rücken des Hügels nach Budweis führt, wird nur wenig benützt. Harmloſe Spa¬ ziergänger nach dem nahen anmuthigen Dorfe Podol, Landleute aus der Umgegend, welche Lebensmittel zum Prager Markt brin¬ gen, und hin und wieder ein beſtäubter Wanderburſche ſind faſtSaar, Novellen aus Oeſterreich. 12die einzigen Paſſanten der Feſtungsthore. So herrſcht innerhalb der Wälle gewöhnlich die tiefſte Stille, die nur ſelten durch das Rollen eines Wagens, regelmäßig aber früh, Mittags und Abends durch den Wachetambour mit raſſelnden Trommelſig¬ nalen unterbrochen wird.

Zumal im Winter iſt es hier oben traurig und ausge¬ ſtorben. Kalt und ſchneidend ſauſ't der Wind um die ver¬ laſſene Höhe, und mißmuthig, dicht in ihre Mäntel gehüllt, gehen die Schildwachen auf den eingeſchneiten, von krächzenden Dohlen beflogenen Wällen auf und nieder. Aber wenn der Schnee in's Schmelzen kommt und die Moldau unten wieder blau und ſchimmernd vorüberwallt, da entfaltet ſich in dieſer Abgeſchiedenheit ein wunderbarer Lenz. Dichter, glänzender Graswuchs überkleidet alle Gräben und Böſchungen, und um die eingeſunkenen Kanonenlafetten ſprießen Veilchen und Pri¬ meln. Immer bunter ſchmückt ſich der Raſen, und manche Schießſcharte wird durch einen wilden, in voller Blüthe ſtehen¬ den Roſenbuſch verdeckt, den ein langjähriger Friede hart am Gemäuer wachſen ließ. Selbſt aus den Kugelpyramiden, die der Zeugwart ſo zierlich zu errichten verſteht, ſprießt und blüht es: denn der Wind hat Erdreich und Samen in den Fugen abgelagert, und nun duften und ſchwanken über den furchtbaren Geſchoſſen die blaßgelbe Reſeda, der dunkelblaue Ritterſporn und die röthliche, langgeſtielte Steinnelke. Bienen und gepanzerte Käfer ſummen und ſchwirren durch die heiße,3 zitternde Luft; zutraulich zwitſchernd laſſen ſich Hänfling und Rothkehlchen auf die wuchtigen Feuerrohre nieder, und an den Mauerabhängen der Wällen klettert und ſonnt ſich die gold¬ grüne, funkelnde Eidechſe.

In ſolcher Zeit war es, als ich in der Citadelle die Wache bezog. Erſt vor Kurzem mit meinem Regimente in Prag eingerückt und mit der Oertlichkeit noch nicht vertraut, betrat ich, neugierig und befangen zugleich, an der Spitze mei¬ ner Abtheilung die weite ſchattige Thorhalle, wo die Mann¬ ſchaft der alten Wache bereits unter Gewehr ſtand. Ihr Commandant, ein mir unbekannter Officier von junkerhaftem Ausſehen, kam, als die Förmlichkeiten der dienſtlichen Begrüßung abgethan waren, nachläſſig auf mich zugeſchritten. Oberlieu¬ tenant Baron Hohenblum, ſagte er, den Schirm ſeines Tſcha¬ kos flüchtig berührend. Er ſchien meinen Namen, den ich nun auch nannte, zu überhören, und fuhr mit leichtem Gähnen fort: die vier und zwanzig Stunden werden Einem rein zur Ewigkeit in dieſer alten, unnützen Kanonenbewahranſtalt. Es kann keine langweiligere Wache mehr geben.

Ich warf hin, daß man eben auf keiner beſondere Unter¬ haltung fände.

Je nun, nach Umſtänden, erwiederte er, indem er den feinen blonden Schnurrbart leicht emporſtrich. Zum Beiſpiel die Hauptwache am Ring iſt ganz amüſant. Man ſetzt ſich mit ſeiner Cigarre vor die Thür und muſtert die Vorüber¬1*4gehenden. Es gibt ganz nette Geſichter unter den hieſigen Mädchen. Auch fehlt es nicht an Beſuch von Cameraden, und nach der Retraite wird gewöhnlich ein kleines Spiel arran¬ girt. Hier oben aber iſt man von aller Welt abgeſchnitten, wie auf einer wüſten Inſel. Du haſt es übrigens, ſetzte er nach kurzem Beſinnen hinzu, doch etwas beſſer getroffen, als ich. Denn morgen iſt Sonntag, und da kommen wenigſtens Leute in die Meſſe herauf.

In die Meſſe? Iſt denn hier eine Kirche? fragte ich überraſcht.

Allerdings. Etwa tauſend Schritte von hier, gegen die Moldau zu, ſagte er, während ich unwillkürlich nach dem Innern des Forts blickte. Aber die Ausſicht war durch eine nahe, ziemlich hohe Schanze benommen, hinter welcher nur die Wetterſtangen und ſpitzen Bedachungen der Pulvermagazine hervorragten. Um ſie zu ſehen, fuhr der Baron fort, müßteſt Du dort auf die Schauze hinauf. Dazu haſt Du ſpäter Muße genug. Ein kleiner Friedhof iſt auch dabei, wo ich mich gleich würde begraben laſſen, wenn ich beſtändig hier oben leben ſollte, wie der Pfaff ', der ganz allein in einer Art Kloſter neben der Kirche wohnt. Ein ſeltſamer Kauz! Man muß lachen, wenn man ihn mit ſeinen langen Beinen und der ſchlenkernden Kutte, beſtändig ein Buch unter dem Arm, ein¬ herſteigen ſieht. Dabei ſchaut er immer in's Blaue, und thut, als bemerke er Einen gar nicht, wenn man an ihm vorüber kommt.

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Ein ſo abgeſchiedenes, ſtilles Leben mag auch ſeinen eigenen Reiz haben, ſagte ich nachdenklich, während wir in das düſtere Officierswachtzimmer traten, wo mich mein Vor¬ gänger mit den üblichen Dienſtvorſchriften bekannt machte. Dann zog er ſich den etwas zerknitterten Uniformrock an den Hüften glatt, ſchnallte die Feldbinde feſter und reichte mir mit kühler Freundlichkeit die Hand zum Abſchied. Ich verließ mit ihm das Zimmer und trat, während er flüchtig ſeine Leute muſterte und unter luſtigem Trommelſchall abmarſchirte, in die ſonnige Stille hinaus, die über dem Fort lagerte. Als ich die Schanze erſtiegen hatte, that ſich hinter den Pulver¬ magazinen ein freier Wieſengrund meinen Blicken auf. Dort erhob ſich, ziemlich zurückgezogen, die Kirche, das blinkende Meſſingkreuz auf dem Giebel von weißen Tauben umflattert. Den Friedhof konnte ich nicht gewahr werden; er mußte durch das angrenzende Prieſterhaus verdeckt ſein, das ziemlich düſter aus einer niederen Lindenumpflanzung hervorſah. In einiger Entfernung ſchräg gegenüber ſtand ein ebenerdiges Häuschen. Die gelb angeſtrichenen Thüren und Fenſterrahmen kennzeich¬ neten es als militäriſches Gebäude; im Uebrigen ſah es ganz wie eine kleine Bauernwirthſchaft aus. Schiebkarren, Hauen und Schaufeln lehnten in der Nähe einer Ciſterne an der Mauer, und rückwärts war, kunſtlos umzäunt, ein Gärtchen angelegt, in welchem roth und weiß die Apfelblüthen ſchim¬ merten. Zwiſchen dieſem Häuschen und der Kirche ſchlängelte6 ſich ein breiter Fußpfad hin. Er ſchien zu den äußerſten Werken des Forts zu führen, über welchen, verhüllend, tief¬ gelber Sonnenduft lag.

Ich verließ die Schanze und ging dem Wieſengrunde zu. Als ich an dem kleinen Hauſe vorüber kam, ſtand ein junges Weib in der offenen Thüre. Sie hielt ein Kind ſäugend an der Bruſt und ſah einem kleinen, etwa ſechsjährigen Mädchen zu, wie es draußen mit einem munteren Zicklein ſpielte, deſſen Sprünge eine ſcharrende Hühnerfamilie in Angſt und Ver¬ wirrung ſetzten. Bei dem Geräuſch meiner Schritte blickte ſie auf und eine dunkle Röthe ſchoß in ihr Antlitz. Dann wandte ſie ſich raſch und ging hinein, wobei ſie mir eine reiche Fülle blonden Haares wies, das ihr in ungekünſtelten Flechten weit über den Nacken hinabhing.

Drüben um das Prieſterhaus wehte eine melancholiſche Ruhe. Das Thor mit dem geiſtlichen Wappen darüber war zu, und man hätte das ziemlich weitläufige Gebäude für gänzlich unbewohnt gehalten, wären nicht einige Fenſter im erſten Stockwerke offen und mit Blumentöpfen beſtellt geweſen.

Als ich um die Kirche bog, die gleichfalls geſchloſſen war, hatte ich den Friedhof voll ſchattender Weiden und Sebenbäume zur Seite. Die Hügel waren dicht gereiht, aber ſorglich ge¬ halten und auf das ſchönſte bepflanzt. Da die Thüre des Eiſengitters halb offen ſtand, ſo trat ich in die duftige Kühle hinein und ſchritt langſam auf dem ſchmalen, mit feinem Sande7 beſtreuten Wege zwiſchen den Gräbern hin. Ein einſamer Falter flatterte mir ſtill über den Blumen voran, während ich hier und dort die Inſchriften und Namen auf den ſchlichten Kreuzen las. Unter den Monumenten, deren es hier nur wenige gab, zog mich eines durch edle und ergreifende Ein¬ fachheit beſonders an. Es war ein kleiner Obelisk von weißem Marmor und ſtand, etwas abſeits von den übrigen, unter einer herrlichen breitäſtigen Thränenweide. Die Inſchrift war in römiſchen Lettern, deren Vergoldung ſchon etwas gelitten hatte, eingehauen und lautete: Friederike Friedheim. geb: 16ten Januar 1829, gest: 30ten Mai 1846. Vor dieſem Grabe ſtand ich lange. Wer war dieſes Mädchen, das der Tod ſo früh gebrochen, das man vor mehr als einem Jahr¬ zehend hier beſtattet hatte? Lebte ihr Andenken fort im Her¬ zen trauernder Eltern, im Geiſte eines Mannes, deſſen Jüng¬ lingsideal ſie geweſen? Oder war ſie verweht, wie ein Duft, ein Klang im Gewühl und im Lärm des raſtlos vorwärts drängenden Lebens, und nannte nurmehr der Marmor ihren Namen?

Solche Gedanken und Empfindungen klangen noch in mir nach, als ich ſchon wieder draußen auf dem Pfade hinſchritt und mich einer Baſtei näherte, die als äußerſter Punkt des Forts in einem ſtumpfen Winkel gegen den Fluß zu ausſprang. Still und verlaſſen lag ſie da, faſt ganz von Schleh - und Hagedorn überwuchert. Ein verfallenes Blockhaus erhob ſich8 darin, an deſſen röthlich-grauem Mauerwerke einige hohe Flie¬ derbüſche in voller Blüthe ſtanden, was ſich ebenſo lieblich als überraſchend ausnahm. Selbſt zwei verkrüppelte Obſt¬ bäume hatten ſich in dieſes entlegene Werk verirrt. Sie wur¬ zelten dicht an der Bruſtwehr und ſtreckten ihre knorrigen Aeſte über eine Kanone, die wie vergeſſen zwiſchen ihnen ſtand und die Mündung harmlos in die ſonnige Gegend hinaus¬ richtete. Tief unten, an den freundlichen Häuſern von Podol und an den bröckelnden Mauerreſten der Libuſſaburg vorüber, zog die Moldau ſchimmernd nach dem braunen, rauchaufwir¬ belnden Häuſermeere der alten böhmiſchen Königsſtadt. Von dort her grüßte mit funkelnden Zinnen der Hradſchin, wäh¬ rend ſtromaufwärts, über die anſteigenden, wohlbebauten Ufer hinweg, ſich eine weite Landſchaft aufthat und endlich in dem fernen Dufte der Königſaaler Berge verſchwamm.

Ich war von dieſer reizenden Einſamkeit zu ſehr ange¬ muthet, als daß ich ſobald daran gedacht hätte, ſie wieder zu verlaſſen; ich ſah mich vielmehr nach einer ſchattigen Stelle um, wo ich mich, bequem hingeſtreckt, ganz in den eigenthüm¬ lichen Zauber des Ortes und der Fernſicht verſenken konnte. Eine ſolche bot ſich mir alsbald in der Nähe des Blockhauſes dar, wo ſich die Zweige zweier nachbarlichen Fliederbüſche zu einer Art Laube wölbten. Auch kam mir dort, als ich mich niederließ, eine muldenförmige Vertiefung im Erdreiche, wel¬ ches mit kurzem, aber dichtem Graſe bewachſen war, vortrefflich9 zu Statten. So lag ich in der ſtillen Kühle, ſog den Duft des Flieders ein und lauſchte dem Zwitſchern eines Vogels über meinem Haupte, als ich plötzlich in einiger Entfernung hinter mir nahende Schritte vernahm, und bald ging eine hohe Geſtalt in geiſtlicher Ordenstracht ohne mich zu bemerken an mir vorüber. Es mußte, wie mein Vorgänger geſagt hatte, der Pfaffe ſein, der neben der Kirche wohnte. Das waren ja die langen Beine und die ſchlenkernde Soutane, welche dem Baron ſo lächerlich erſchienen; ſelbſt das Buch unter dem Arme fehlte nicht.

Der Prieſter war an die Bruſtwehr getreten. Dort nahm er ſein ſchwarzes Sammtkäppchen ab; man wußte nicht, that er es aus Andacht vor der Natur, in die er hinausblickte, oder um ſein Haupt der Luft preiszugeben, die über die Baſtei ſtrich und mit ſeinen leicht ergrauten Haaren ſpielte.

Nach einer Weile wandte er ſich und ſchlug die Richtung gegen das Blockhaus ein. Er ſchien mich noch immer nicht zu bemerken, obgleich er gerade auf die Stelle losging, wo ich lag. Ich erinnerte mich unwillkürlich an die Aeußerung des Barons, daß der Prieſter beſtändig in's Blaue ſähe, ob¬ gleich er gegenwärtig mehr in ſich hineinzublicken ſchien. End¬ lich gewahrte er mich. Er ſchrack leicht zuſammen und eine feine Röthe flog über ſein ſchmales, blaſſes Geſicht. Aber dieſe Verwirrung dauerte nur einen Augenblick. Gleichgültig, ohne mich mehr mit einem Blicke zu ſtreifen, ging er an mir10 vorüber, brach ſich ein Zweiglein vom Flieder und verließ, ſtill wie er gekommen, die Baſtei.

Mich aber überkam jetzt eine eigenthümliche Unruhe. Es war mir, als hätte ich den Prieſter durch meine Anweſenheit von hier vertrieben. Er pflegte gewiß täglich um dieſe Zeit einige Stunden leſend in der Fliederlaube zuzubringen; de߬ halb war er auch ſo unbekümmert und in ſich verſunken dar¬ auf zugegangen. Und nun nahm ich den traulichen Platz ein, der ihm ſchon aus Gewohnheit lieb ſein mußte. Mit einem Male erſchien mir auch alles Bequeme daran, das ich früher für ein Zuſammentreffen günſtiger Umſtände gehalten hatte, als ein Werk anordnender Abſichtlichkeit. Die Laube, das ſah man, war durch Beſchneiden der Zweige hergeſtellt, und der Raſenſitz wäre ohne Nachhilfe eines Spatens gewiß nicht zu Stande gekommen. Raſch ſprang ich auf. Der Pater konnte noch nicht weit ſein; ich wollte ihn einholen, auf daß er ſähe, er könne ungeſtört wieder nach der Baſtei zurückkehren. Bald gewahrte ich ihn auch in einiger Entfernung von mir auf dem Pfade hinſchreiten. Ich fürchtete, er würde, eh 'er mich noch bemerken konnte, ſein Haus erreichen, und verdoppelte meine Schritte. Da kam von drüben das kleine Mädchen mit freu¬ digen Geberden auf ihn zugelaufen. Er ging dem Kinde ent¬ gegen, beugte ſich zu ihm nieder und küßte es auf die Stirn. Hierauf ließ er ſich von der Kleinen zur Mutter führen, die ihm von der Schwelle aus entgegen kam. Ihr folgte ein11 Mann, der eben noch im Gärtchen mußte gearbeitet haben; denn er hatte eine Haue in der Hand, auf welche er ſich, wie es ſchien mehr aus Bedürfniß als aus Bequemlichkeit, im Gehen ſtützte. Drei weiße Tuchſternchen auf den rothen Kragenvorſtößen einer leinenen, über der Bruſt offenen Mi¬ litärjacke ließen in ihm den Zeugwart erkennen, mit welcher Eigenſchaft ſeine noch jugendlich kräftige Geſtalt einigermaßen im Widerſpruche ſtand. Als ich näher kam, gewahrte ich in ſeinem Antlitz eine tiefe Narbe, die von einem Säbelhiebe herrühren mochte und ſich von der Schläfe bis zum Kinn er¬ ſtreckte.

Der Pater ſprach freundlich mit den Leuten und reichte dem Jüngſten auf dem Arme der Mutter, da es mit den kleinen Händchen begehrlich darnach langte, die duftige Flieder¬ blüthe. Er wandte ſich nicht um, als ich vorüberging und der Zeugwart, militäriſch grüßend, die Hand an die Mütze brachte.

Es koſtete mir einige Ueberwindung, wieder in das un¬ erquickliche Wachtzimmer zurückzukehren. Dort ließ ich mich auf das alte, harte Lederſopha nieder und nahm ein Buch zur Hand. Aber meine Gedanken wollten nicht an den Zeilen haften; denn die Eindrücke, die ich auf meiner kleinen Wande¬ rung empfangen, wirkten zu mächtig in mir nach. Vor allem war es das Weſen des Paters, was mich mit tiefer, geheim¬ nißvoller Macht anzog. Wie glücklich erſchien mir ſein ſtilles12 Daſein auf dieſem wallumſchloſſenen Fleck Erde. Abgeſchieden von dem Treiben der Welt, konnte er hier ganz ſich ſelbſt angehören, und war nur den milden Pflichten ſeines Standes unterthänig, die ihm nichts auferlegten, was er nicht gerne er¬ füllte, die ihm nichts verwehrten, was er, das ſah man ihm an, nicht freudig entbehrte. Und die Menſchen in dem kleinen Hauſe! Welch 'ein reizendes Gegenbild boten ſie dar in ihrem heiteren Familienglücke! Dann aber dachte ich wieder an den weißen Obelisk auf dem Friedhof und murmelte unwillkürlich den Namen der Todten vor mich hin.

Ueber ſolchem Denken und Sinnen war der Abend herein¬ gebrochen. Bald erklang draußen der Zapfenſtreich und die wuchtigen Feſtungsthore fielen mit dumpfen Gepolter in's Schloß. Ich aber ging noch einmal auf die Schanze hinaus. Dort ſtand ich, während die Sterne auf den tiefen Frieden niederfunkelten, der ſich über das Fort breitete, und hier und dort, bald näher, bald entfernter, in den dunklen Büſchen eine Nachtigall ſchlug.

Es war noch ziemlich früh am andern Vormittage, als ſchon eine Schaar Landleute im Sonntagsſtaat durch das ſüd¬ liche Thor der Citadelle gegen die Kirche ſtrömte. Nach und nach erſchienen Andächtige aus den nächſten Stadttheilen; meiſt geſetzte Männer und Frauen, in reinlicher, altbürgerlicher Kleidung. Aber auch ſchmucke Mädchengeſtalten waren dar¬ unter, deren roſige Geſichter in der heiterſten Feiertagsſtimmung13 erglänzten. So bewegte ſich, während von der Kirche aus ſchon verſprengte Orgeltöne durch die Luft irrten, eine bunte Menge in den Räumen des Forts, was ihm einen fremdarti¬ gen, feierlichen Anſtrich gab.

Das Verlangen, den Pater in der Ausübung ſeines Am¬ tes wiederzuſehen, trieb auch mich der Kirche zu. Als ich eintrat, verſtummte eben die Orgel, die einen Choral begleitet hatte. Alle Anweſenden wandten jetzt ihre Blicke nach der Kanzel, wo der Prediger erſcheinen ſollte. Ich betrachtete unterdeſſen, an einen Pfeiler gelehnt, den Bau und ſeine freundliche Ausſchmückung, die ſich durch geſchmackvolle Ein¬ fachheit wohlthuend von dem üblichen ſchwerfälligen Prunk und Aufputz unterſchied. Als ich wieder nach der Kanzel ſah, ſtand der Prieſter ſchon oben. Sein Auge begegnete dem meinen und blieb eine Zeit lang auf mir ruhen, ſo daß ich faſt erröthend den Blick ſenkte. Jetzt ſchlug er das Buch auf, das er in der Hand hatte, und begann das Evangelium zu leſen. Bei den erſten Worten, die ich vernahm, war ich faſt unangenehm enttäuſcht; er las in czechiſcher Sprache. Ich hatte ganz vergeſſen, daß ich mich in Prag befand, und den vertrauten Klang der Mutterſprache von ihm zu hören er¬ wartet. Bald aber verſöhnte mich der Wohllaut ſeiner Stimme mit dem fremden Idiome, ſo daß ich ſeinem Vortrage, trotz¬ dem ich nichts davon verſtand, mit regem Intereſſe folgte. Er begann, als er zur Predigt ſelbſt überging, ruhig und ganz14 ohne alles Pathos, das die meiſten Prediger ſo unleidlich macht; es war, als ſpräche er in vernünftig belehrendem Tone zu Kindern. Nach und nach wurde er wärmer. Ohne daß er dabei nach der Schauſpielerart mit den Händen in der Luft gefochten hätte, ſchwoll ſeine Stimme zu einer mächtigen Fülle an und ging endlich, während er ſich liebreich zu den Hörern herabneigte, in den tiefen, zitternden Ton einer weh¬ müthigen Klage über. Es mußten erſchütternde Worte gewe¬ ſen ſein; denn ich ſah in mehr als einem Auge Thränen, und als er jetzt ſchwieg, ſchimmerte auch ſeines in feuchtem Glanze. Ich ſelbſt war bewegt, wie von den Klängen einer räthſel¬ haften Muſik. Nach dem üblichen kurzen Gebete verließ er die Kanzel. Die Orgel ertönte wieder und kurz darauf trat er im Meßgewande an den Hochaltar, wo ſchon früher ein alter, weißhaariger Kirchendiener die Lichter angezündet hatte. Nach beendetem Gottesdienſte ſtrömten die Andächtigen aus der Kirche und bald herrſchte im Fort wieder die gewohnte Einſamkeit und Stille.

Als ich ſpäter abgelöſ't wurde und mich wieder den menſchenvollen Gaſſen der Hauptſtadt näherte, war es mir, als kehrte ich aus einem reineren Elemente zu dem ganzen beengenden Qualm und Dunſt der Erde zurück.

Einige Zeit darauf erſuchte mich ein befreundeter Offizier, für ihn die Wache auf dem Wyſchehrad zu beziehen. Er15 wollte ein Feſt, zu dem er geladen war, nicht gerne verſäumen und verſprach, den Dienſt in meiner Tour nach¬ zutragen. Ich enthob ihn dieſer Verpflichtung und ſagte freudig zu.

Es heimelte mich wohlthuend an, als ich mich wieder innerhalb der Wälle befand. Während der erſten ſchwülen Nachmittagsſtunden verblieb ich im Wachtzimmer; dann aber nahm ich ein Buch und ging in's Freie. Die heißen Strah¬ len der Juniſonne hatten das ſchwellende Grün der Schanzen ſchon etwas ausgetrocknet, und der würzige Geruch des Thy¬ mians, der überall in dichten Büſcheln wucherte, ſchwamm in der Luft. Ohne es eigentlich zu wollen, ſchritt ich der Baſtei zu. Etwas in meinem Innern ſagte mir, ich würde jetzt den Pater dort treffen; und der Wunſch, mit dieſem eigenthüm¬ lichen Manne bekannt zu werden, überwand in mir nach und nach die Bedentlichkeit, ihm durch mein Erſcheinen eine un¬ willkommene Störung zu bereiten. Ich nahm mir ſogar vor, ihn zu grüßen, eine Höflichkeitsbezeugung, die, ſeinem Stande gegenüber, eben nichts Befremdendes oder Auffallendes haben konnte. Vielleicht erwiederte er meinen Gruß mit einigen freundlichen Worten und der erſte Schritt zur gegenſeitigen Annäherung war gethan.

Mein Herz ſchlug erwartungsvoll, als ich die Baſtei be¬ trat. Ich hatte mich nicht getäuſcht; dort lag er, in ein Buch vertieft, unter den abgeblühten Fliederbüſchen. Nun aber16 überkam mich eine Art Blödigkeit, jener eines Verliebten nicht unähnlich, der, mit dem feſten Vorſatze, ſich heute oder nie mehr zu erklären, ſcheu und verwirrt an dem Gegenſtande ſeiner Sehnſucht vorüberſchleicht. Ich trat unwillkürlich ſo leiſe auf, daß mich der Prieſter gar nicht hören konnte, und als er jetzt doch aufſah und mich, wie es ſchien, mit wohl¬ wollender Ueberraſchung betrachtete, hatte ich ſchon den rechten Moment, ihn zu grüßen, verſäumt. Ich trat an die Bruſt¬ wehr, um meine Verlegenheit hinter dem Bewundern der Aus¬ ſicht zu verbergen. Als ich ſo daſtand, wurde es mir immer klarer, wie wenig es mir ziemen mochte, meine Perſon dem ſtillen, in ſich abgeſchloſſenen Manne aufzudringen; und mit dem beſchämenden Gefühle, bald eine Taktloſigkeit begangen zu haben, ſchickte ich mich wieder zum Fortgehen an. Da hörte ich mich plötzlich von dem Pater im reinſten, nur etwas hart klingenden Deutſch angeſprochen. Herr Officier, ſagte er, indem er aufſtand, beliebt es Ihnen nicht, den Platz hier im Schatten einzunehmen. Die Sonne verweilt bis zum Unter¬ gange über dieſem Theil des Forts; Sie würden nirgend eine Stelle finden, die Ihnen, gleich dieſer, den behaglichen Genuß, der Ausſicht auf die Dauer geſtattet.

Sie ſind ſehr gütig, geiſtlicher Herr, erwiederte ich, noch immer befangen, daß Sie meinetwegen auf dieſen Genuß verzichten wollen.

Er ſteht mir ja jederzeit zu Gebote. Ein um ſo größeres17 Vergnügen muß es für mich ſein, Jemandem, der ſich, wie ich ſchon unlängſt zu bemerken Gelegenheit hatte, in dieſer Einſamkeit wohl fühlt, mein gewöhnliches Leſeplätzchen über¬ laſſen zu können.

Von welchem ich Sie ſchon damals, freilich ohne es zu wollen, vertrieben habe, ſagte ich, im Innerſten erfreut, daß er ſich meiner erinnerte.

Oder ich Sie, entgegnete er lächelnd. Sie ſind ja gleich nach mir weggegangen.

Um Ihnen zu zeigen, daß ich meinen Mißgriff ein¬ geſehen.

Ich weiß es; und Sie haben mir Ihres Zartgefühles wegen herzlich leid gethan. Aber ich denke, wir ſollten uns nicht länger mit der Erörterung mühen, wer von uns Beiden eigentlich den Andern aus dieſer Laube vertrieben, ſondern uns vielmehr einträchtig in der unſchuldigen Urheberin unſeres kleinen freundſchaftlichen Streites niederlaſſen, die wohl Raum genug dazu bietet. Zwei Leſende, ſetzte er mit einem Blicke auf das Buch unter meinem Arme hinzu, vertragen ſich ja leicht und ſtören einander nicht. Mit einer Handbewegung, die mich zu folgen einlud, lagerte er ſich wieder in den Schat¬ ten und nahm ſein Buch vor. Ich that ein Gleiches; aber mein Blick ſchweifte beſtändig über die Seiten nach meinem Nachbar hinüber, in deſſen Geſichtsbildung etwas wunderbar Anziehendes lag. Die Stirn war gerade nicht hoch zu nennen,Saar, Novellen aus Oeſterreich. 218trat jedoch über der ſchmalen Naſenwurzel frei und ſchön ge¬ wölbt aus den Haaren hervor. Um den etwas großen, leicht eingekniffenen Mund lag ein feiner Schmerzenszug, der eigen¬ thümlich von der milden Heiterkeit der graublauen Augen ab¬ ſtach. Mit Ausnahme einer tiefen Furche zwiſchen den Brauen, war noch keine Falte in dieſem edlen Antlitze zu ſehen, das den Pater bei näherer Betrachtung jünger erſcheinen ließ, als man ſonſt denken mochte. Er konnte das vierzigſte Lebens¬ jahr noch nicht lange überſchritten haben.

Es war, als ob auch ſein Auge von einem gleichen Beobachtungsdrange gelenkt würde; denn plötzlich begegneten ſich unſere Blicke.

Wir ſtören uns doch, ſagte er mit einem flüchtigen Lächeln. Es iſt aber auch unverantwortlich, daß wir uns an das ge¬ druckte Wort halten und das lebendige, das uns doch eigent¬ lich zunächſt geboten iſt, verſchmähen. Dabei klappte er ſein Buch zu und legte es neben ſich hin. Mein Blick ſtreifte den Titel auf dem Umſchlage; es war eine zu jener Zeit vieler¬ wähnte materialiſtiſche Schrift.

Er mußte in meinen Zügen ein gewiſſes Befremden darüber wahrnehmen, denn er fragte: Kennen Sie dieſes Buch?

Ich bejahte es.

Und Sie ſcheinen ſich zu wundern, daß ich es leſe, fuhr er fort. Es mag ſich allerdings etwas ſeltſam bei mir19 ausnehmen; man müßte denn vorausſetzen, daß ich es mit dem empörten Feuereifer eines Inquiſitors durchſtöbre. Ich geſtehe, dies iſt nicht der Fall. Ich bin vielmehr dieſer Schrift bis jetzt mit vielem Vergnügen gefolgt; denn ich intereſſire mich für jede wiſſenſchaftliche Leiſtung, wiche ſie auch noch ſo ſehr von meinen eigenen Anſichten und Ueberzeugungen ab. Ich habe ſeit jeher dem Satze gehuldigt: Prüfe Alles und behalte von Jedem das Beſte.

Und hiezu, ſagte ich von dem warmen und dabei ſchlichten Ton ſeiner Worte hingeriſſen, hiezu iſt auch die glückliche Einſamkeit, in der Sie leben, wie geſchaffen. Hier iſt es Ihnen vergönnt, in erhabener Ruhe an Alles, was im Lärm des Tages hervorgebracht wird, und daher faſt ohne Ausnahme mehr oder minder von Parteileidenſchaften gefärbt und verfälſcht iſt, den Prüfſtein des reinen Erkennens zu legen, und ſo recht eigentlich die Spreu vom Weizen zu ſondern.

Er ſah mich etwas überraſcht an. Nun, dieſer Vorzug erſcheint mir denn doch kein ſo beſonderer und wünſchens¬ werther. Er iſt das gewöhnliche Attribut müßiger Beſchaulichkeit.

Deren Sie ſich doch nicht ſelbſt anklagen werden? rief ich aus.

Muß es denn nicht Jeder, deſſen Leben ohne beſtimmtes, in irgend einer Richtung förderliches Wirken oder Hervorbrin¬ gen verläuft? fragte er ruhig.

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Wirken Sie denn nicht, indem Sie die Pflichten Ihres Amtes erfüllen?

Ich bin nichts als eine Art Guardian unſerer Kirche auf dem Wyſchehrad, und meines Amtes iſt, jeden Sonntag eine Meſſe zu leſen und dann und wann einen Todten zu begraben.

Und Betrübte aufzurichten, Verirrte zu ermahnen, und Schuldige zu beſſern, ſetzte ich hinzu.

Ich wollte, daß ich es könnte, ſagte er ſtill vor ſich hin.

Sie haben keinen Grund, daran zu zweifeln, verſetzte ich warm. Ich habe letzthin nur zu gut wahrgenommen, wie ſehr Ihre Predigten die Zuhörer ergreifen.

Auf wie lange? Die Luft vor der Kirche bläſ't wieder Alles weg. Und ſo kommt Jeder am nächſten Sonntage ganz als derſelbe herauf, der er vor acht Tagen geweſen. Es iſt dies auch natürlich, denn was ſollen Worte dort ausrichten, wo nur ein thätiges, liebevolles Eingreifen in die Verhältniſſe des Einzelnen Hilfe und ſomit Troſt bringen könnte. Ich habe, ſo lange ich Prieſter bin, blos ein einziges Mal Jemand durch meine Worte wahrhaft getröſtet, und auch das nur, weil ein eigenthümlicher Zufall dabei im Spiele war. Und dann, ſetzte er raſch, wie um eine Erinnerung zu verdrängen, hinzu, was vermögen leere Ermahnungen gegen den nun einmal21 in jeder Menſchenbruſt wurzelnden Hang zum Böſen! Man ſollte dem Verirrten den Weg zum Guten nicht blos weiſen, ſondern ihn auch darauf hinführen und ein ziemliches Stück weit begleiten können. Dies wäre der eigentliche Zweck, die wahre Aufgabe des Prieſters. Wie ſoll er aber dieſer Auf¬ gabe gerecht werden in einer Zeit, wo die Religion faſt ganz zu einer politiſchen Formel herabgeſunken iſt, wo ihre Vertreter in hartnäckiger Abgeſchloſſenheit einen Staat im Staate bilden. Einen wahrhaft ſegensreichen Wirkungskreis kann der Prieſter nur unter patriarchaliſchen Zuſtänden gewinnen. So kommt es, daß noch hier und dort auf dem Lande ſich der Pfarrer einer kleinen Gemeinde mit gerechtem Stolze einen Seelenhirten nennen kann. Die Verhältniſſe der Gemeindemitglieder liegen offen vor ihm da; er hat es nicht erſt nöthig, auf eine zwei¬ deutige Art in ſie eindringen zu müſſen. Er iſt in der Lage, nach und nach jeden Einzelnen mit ſeinen Vorzügen und Fehlern kennen zu lernen. Wie leicht wird es da einem ein¬ ſichtsvollen, von wahrer Menſchenliebe beſeelten Manne einem andern würde freilich eben dadurch Gelegenheit geboten, Unheil zu ſtiften durch milde Werkthätigkeit und durch die Macht des Beiſpieles tröſtend, helfend, belehrend und anregend Aufzutreten, und ſo das Wort Gottes nicht blos zu predigen, ſondern auch darzuleben. Mir fällt bei dieſer Gelegenheit der ehemalige Pfarrer meines heimathlichen Dorfes ein. Es war ein Mann von energiſchem, faſt ſtrengem, aber keineswegs22 bigottem Charakter. Sein Latein reichte nicht weit, auch hatte er nur wenig in den Kirchenvätern geleſen: aber er hielt oft über einem Glaſe Wein den Bauern in der Schenke eindring¬ lichere Reden, als vielleicht jemals auf einer Kanzel geſprochen wurden. Rechtshändel und Streitſachen ließ er ſelten vor die Gerichte kommen, ſondern ſchlichtete das Meiſte ſelbſt auf eine verſtändige und gütige Art. Sein Stück Feld bebaute er mit eigenen Händen und war immer der Erſte bei der Arbeit; denn er wußte, daß die Menſchen eine Ermahnung dazu nicht gerne von Einem annehmen, der ſelbſt müßig geht. Oft er¬ ſchien er unvermuthet in der Schule, unterbrach den Vortrag des Lehrers und ſtellte einige Fragen an die Kinder. War er mit dem Examen zufrieden, ſo holte er Aepfel und Nüſſe aus der Taſche ſeiner groben abgenützten Soutane hervor, be¬ ſchenkte die Kleinen damit und ließ ſie vor der Zeit auf den Spielplatz hinaus. Dort ſah er ihnen eine Weile zu und erhöhte den Jubel noch manchmal dadurch, daß er ſich ſelbſt anordnend und belebend in's Spiel miſchte. So war er bei Alt und Jung beliebt, ein wahrer Vater ſeiner Gemeinde, die ihn nicht als einen Heiligen über ihr, ſondern als den beſten und weiſeſten Menſchen in ihrer Mitte verehrte. Wie ganz anders, wie vereinſamt nimmt ſich dagegen der Prieſter in größeren Städten aus. Von den wahrhaft Gebil¬ deten ob ſeiner falſchen Stellung bemitleidet, von den ſoge¬ nannten Aufgeklärten als Heuchler verſchrieen und an ſeinen23 menſchlichen Schwächen und Fehlern ſchonungslos controllirt, erſcheint er der Mehrzahl der Bevölkerung nur als der zu¬ fällige Träger eines gedankenlos überkommenen und ausgeübten Cultus.

Ich glaubte zu träumen. Dieſe Worte klangen ſo außer¬ ordentlich, ſo überraſchend aus dem Munde eines katholiſchen Prieſters; waren in einem ſo ruhigen Tone tiefer, im Inner¬ ſten wurzelnder Ueberzeugung geſprochen, daß ich in ſchweigende Bewunderung verſank. So trat eine Pauſe ein, während welcher wir Beide nach der Sonne blickten, die uns gegenüber, in einem Meere von Glanz ſchwimmend, langſam hinter den Höhen hinabtauchte.

Ich denke, wir gehen, eh 'es völlig Nacht wird, ſagte endlich der Pater. Wir erhoben uns und ſchritten ſtill neben einander hin. Als wir uns der Kirche näherten, ſuchten meine Augen unwillkürlich den weißen Obelisk im Dämmerdunkel des Friedhofes. Dabei erwähnte ich des tiefen Eindruckes, den dieſer Grabſtein letzthin in mir hervorgebracht.

Etwas wie der Schatten einer Erinnerung legte ſich über das Antlitz meines Begleiters; und als ich fragte, ob er mir vielleicht Näheres über die Todte mittheilen könnte, ſagte er, indem er gedankenvoll vor ſich hinſah: Sie war das einzige Kind eines Großhändlers und die erſte Leiche, die ich hier oben beſtattete.

Wir waren mittlerweile vor dem Prieſterhauſe angelangt. 24Drüben ſaß der Zeugwart zwiſchen Weib und Kind vor der Thür und rauchte ſeine Abendpfeife.

Ich bin daheim, ſagte der Pater. Wenn es Ihnen gefällt, bei mir einzutreten, ſo ſind Sie herzlich willkommen. Da ich mich verbindlich verneigte, öffnete er das Thor und führte mich über den einſamen Flur eine breite, dunkelnde Treppe hinan. Oben ſchloß er eine von den Thüren auf, die in einer Reihe den Corridor hinliefen, und ließ mich in ein ziemlich weitläufiges Gemach treten.

Nehmen Sie indeſſen nur hier Platz, ſagte er und wies auf ein bequemes Sopha. Ich werde ſogleich Licht machen.

Während er an einer großen Kugellampe hanthierte, ſah ich im dämmerigen Raume umher. Die Wände waren zum Theil von oben bis unten durch dichtbeſtellte Bücherrepoſitorien verdeckt; dazwiſchen erhoben ſich hohe Glasſchränke, welche naturwiſſenſchaftliche Sammlungen zu enthalten ſchienen. Auf einem geräumigen Tiſche in der Nähe der Fenſter ſtanden und lagen chemiſche und phyſikaliſche Inſtrumente umher; ein zwei¬ ter Tiſch war ganz mit Papieren und Schriften bedeckt. Trotz¬ dem wehte mir von allen Seiten wohnliches Behagen entgegen und gab ſich, als jetzt das milde Lampenlicht das weite Gemach durchfluthete, immer deutlicher kund. Die Fenſtergardinen, hinter welchen das dunkle Grün tropiſcher Gewächſe hervor¬ lugte, waren von tadelloſer Friſche, und an den Büchereinbänden,25 ſowie auf dem krausgeformten und wunderlich blinkenden Gläſer¬ werk war kein Stäubchen zu ſehen. An der rückwärtigen Wand gewahrte ich ein großes, wohlgebautes Harmonium; eine Copie der ſixtiniſchen Madonna, in Kupfer geſtochen, hing ſchlicht eingerahmt darüber.

Der Pater verſah die Lampe mit einem Schirme, ſtellte ſie auf den Tiſch vor dem Sopha und ließ ſich neben mir nieder. Es iſt eigenthümlich, begann er, wie ſich Menſchen, die unter ganz verſchiedenartigen Verhältniſſen leben, manchmal raſch und unvermuthet zuſammenfinden. Wie hätt 'ich mir's jemals träumen laſſen, einen jungen Offizier in meiner ein¬ ſamen Behauſung zu empfangen.

Auch ich hatte nicht gehofft, als ich das erſte Mal an dieſen ſtillen Mauern vorüberging, daß ich mir ſobald das Wohlwollen des Mannes erwerben würde, der hier ſeine Tage, wie ich jetzt ſehe, in nichts weniger als müßiger Beſchaulichkeit verbringt.

Also in müßiger Thätigkeit, wenn Sie ſchon nicht anders wollen, ſagte er lächelnd. Ich treibe zu meinem Vergnügen etwas Naturwiſſenſchaften; das iſt das Ganze.

Je nun, erwiederte ich, wer weiß, ob Ihre Studien nicht einem ernſteren Antriebe entſpringen, als Sie ſelbſt geſtehen wollen. In den Heften und Convoluten dort, fuhr ich mit einem Blick nach dem Schreibtiſche fort, ſcheint bereits manches Ergebniß einer tieferen Forſchung niedergelegt zu ſein.

26

Es ſind bloße Excerpte, ſagte er haſtig, indem er leicht erröthete. Aufzeichnungen, wichtig für mich, unbedeutend für Andere. Ich fühle mich nicht berufen, die Wiſſenſchaft durch Entdeckungen zu bereichern, oder auch nur die Zahl der ſchwe¬ benden Hypotheſen durch Aufſtellung einer neuen zu vermehren. Ich bin, wie geſagt, ein bloßer Dilettant. Ich nehme Pflanzen in meine Herbarien auf, wegen deren ſich ein Anderer ſchwerlich mehr bücken möchte, und ergötze mich an Experimenten die jeder Quartaner als längſt abgethanen Schulkram verächtlich belächeln würde. Die mikroscopiſche Unterſuchung des Waſſers, das einer in's Glas geſtellten harmloſen Blume einen Tag lang das Leben gefriſtet, erfüllt mich mit derſelben Forſcher¬ freudigkeit und wiſſenſchaftlichen Ueberraſchung, mit welcher irgend ein berühmter Mann die Infuſorienwelt des ſtillen Oceans ergründet; und wenn ich zuweilen, mit Hammer und Botaniſirkapſel ausgerüſtet, einen Ausflug längs der Flußufer oder nach den umliegenden Höhen unternehme, ſo iſt mir dabei zu Muthe, wie es Humboldt geweſen ſein mußte, als er das Gebiet des Orinoco durchſtreifte und die Cordilleren beſtieg. Und ſo wird mir das Stückchen Natur um mich her zum Teiche Bethesda, in dem ich die Seele bade und erfriſche, um ſie vor den Einflüſſen der Langweile zu ſchützen, die ſonſt unfehlbar mein einfaches Leben beſchleichen müßte.

Was um ſo weniger der Fall ſein wird, als Sie, wie ich ſehe, noch ein zweites Gegenmittel in Bereitſchaft haben.

27

Ja, ſagte er, mein Harmonium.

Ich hatte dieſes Inſtrumentes wohl ſchon öfter erwähnen, aber noch nie darauf ſpielen hören, und bemerkte dies dem Prieſter.

Ich ſelbſt beſitze es noch nicht lange, erwiederte er, in¬ dem er den Schirm auf der einen Seite empor ſchob, ſo daß der volle Lichtſtrom gegen die rückwärtige Wand fiel. Ich pflegte früher die Orgel zu ſpielen. Da ich aber dazu immer erſt in die Kirche gehen und die Hilfe eines Zweiten in An¬ ſpruch nehmen mußte, ſo ſchaffte ich mir endlich dieſes Inſtru¬ ment an, das in Hinſicht auf Conſtruction und Klang der Orgel am nächſten kommt und dabei eine größere Bequem¬ lichkeit geſtattet.

Ich hatte inzwiſchen unverwandt nach dem Bilde geſehen, deſſen ewig neuen Zauber ich hier wieder auf das tiefſte empfand. Und je länger ich das Antlitz der Gottesmutter betrachtete, die mit ihren großen, unergründlichen Augen wie verwundert auf den fauſtiſchen Apparat im Zimmer zu blicken ſchien, je mehr fiel mir die Aehnlichkeit deſſelben mit dem einer Perſon auf, deren ich mich aber, wie dies oft der Fall zu ſein pflegt, nicht gleich entſinnen konnte.

Der Prieſter war aufgeſtanden, hatte ſich an das Har¬ monium geſetzt und legte die Spitzen ſeiner langen weißen Finger auf die Taſten. Nicht wahr, ein wunderbares Bild? ſagte er. Man kann ſich nicht ſatt ſchauen daran. Das28 kommt aber daher, weil man ſeine eigentliche Schönheit mit den Blicken gleichſam erſt aus der Tiefe an die Oberfläche ſaugen muß. Beim erſten Hinſehen erſcheint es faſt leer und läßt kalt. Solchen, die kein geiſtiges Auge beſitzen, wird es niemals ein rechtes Wohlgefallen abgewinnen. Ich möchte das Original vor mir haben können.

Der Ausdruck im Geſichte der Madonna iſt einzig in ſeiner Art, erwiderte ich nachdenklich. Und doch findet man zuweilen Köpfe, beſonders bei Frauen im Volke, die mehr oder minder jenen kindlich erhabenen und, wenn ich ſo ſagen darf, rührend unfertigen Zug aufweiſen, der uns hier ſo ſehr entzückt. So iſt es mir, als hätte ich erſt unlängſt ein der¬ artiges Geſicht geſehen; ich weiß nur nicht wo.

Ich weiß es, ſagte er. Hier in der Citadelle.

Nun war ich darauf gebracht. Richtig! rief ich aus, an das junge Weib Ihnen gegenüber hat mich das Bild gemahnt.

Es freut mich, durch Sie meine eigene Anſicht beſtätigt zu finden, die vielleicht eine rein ſubjective hätte ſein können. Denn im Grunde genommen, ſind die Züge doch ganz ver¬ ſchieden, und die Aehnlichkeit liegt wohl nur in dem eigen¬ thümlichen Schnitt und Blick der Augen. Beweis deſſen, daß der Zeugwart, als ich ihn einmal vor das Bild führte, an¬ fangs auch nicht die geringſte Aehnlichkeit mit ſeinem Weibe finden wollte, und erſt nach und nach, und das nur, wie es29 mir ſchien, mehr aus pflichtſchuldiger Höflichkeit, als aus Ueberzeugung miteinſtimmte.

Er hatte ſchon während dieſer letzten Worte zu ſpielen, begonnen. Es waren zuerſt leiſe Töne, die er anſchlug; aber immer voller, immer mächtiger rauſchten ſie unter ſeinen Hän¬ den auf. Er ſchien kein beſtimmtes Muſikſtück vorzutragen, ſondern ganz einer innern Eingebung zu folgen. Sein Haupt war leicht zurückgebogen, den Blick halb durch die geſenkte Wimper verſchleiert; auf ſeiner blaſſen Stirn lag der Reflex des Lampenlichtes wie ein Glorienſchein.

In tiefes Lauſchen verſunken, ſaß ich da. Von draußen drang der Duft der Lindenblüthen in's Gemach herein und quoll mit den feierlichen Schwingungen der Töne zuſammen.

Als jetzt der Pater mit einer lang nachhallenden Cadenz ſchloß, machte ich meinen Gefühlen in den Worten Luft: Wahrlich, Sie ſind beneidenswerth! Welch 'ein herrliches, reiches Daſein führen Sie in ihrer Abgeſchiedenheit. Geſtehen Sie, fuhr ich, mich erhebend, fort, daß Sie glücklich ſind, ſo glücklich, als es nur irgend eine ſtillbegnügte Menſchenſeele ſein kann!

Ja, ſagte er, indem er gleichfalls aufſtand und mich mit leuchtenden Augen anſah, ich bin glücklich. Aber auch ich war es nicht immer. Denn das Kleid, das ich trage, iſt kein dreifaches Erz und wappnet die Bruſt nicht immer gegen die Gewalten des Lebens. Wenn wir, wie ich hoffe, näher mit30 einander bekannt werden, ſetzte er hinzu, da er ſah, daß ich mich zum Fortgehen anſchickte, ſo will ich Ihnen einmal bei Gelegenheit Etwas aus früheren Tagen erzählen, zum Beweiſe, daß auch mein ſtilles, unbeachtetes Daſein nicht ganz ohne Prüfungen, ohne Kampf und Qual geweſen. Er geleitete mich zum Thore hinab. Leben Sie wohl, ſagte er, auf Wiederſehen!

So entſpann ſich zwiſchen mir und dem Pater eine jener Freundſchaften, wie ſie zuweilen unter Männern von ungleichem Alter vorkommen, und welche dann mit zu den edelſten Ver¬ hältniſſen gehören, in denen ein Menſch zum andern ſtehen kann. In gewöhnlichen Lebensbeziehungen durch die Verſchie¬ denheit des Standes auseinander gehalten, wurden wir deſto feſter durch das geiſtige Intereſſe, das wir an einander fanden, verbunden. Ich beſuchte ihn nun wöchentlich in ſeiner einſamen Stube, wo wir den Nachmittag unter anregenden wiſſenſchaft¬ lichen Geſprächen, noch öfter aber über ſeinen Büchern und Sammlungen oder am Experimentirtiſche zubrachten; denn er hatte es unternommen, mich in die Naturwiſſenſchaften, darin er eben ſo tiefe als ausgebreitete Kenntniſſe beſah, einzuführen. Gegen Abend gingen wir gewöhnlich auf eine Stunde in's Freie, und nahmen dann ein beſcheidenes Mahl ein, das uns31 der alte Kirchendiener nebſt einem Kruge leichten Landbieres oder einer Flaſche Melniker auftrug. Der Pater machte dabei mit ſtiller Zuvorkommenheit den Wirth; ihm ſelbſt merkte man es beinahe nicht an, daß er oder trank, ſo flüchtig weg, ſo ganz ohne alles Behagen that er es. Trotz dieſes vertrauten Umganges wurden perſönliche Angelegenheiten oder Verhält¬ niſſe zwiſchen uns faſt niemals berührt. Ich wußte von ihm nicht mehr, als daß er einem in der Stadt befindlichen Stifte angehörte, mit ſeinem Ordensnamen Innocens heiße, und der Sohn armer Landleute ſei, die ſchon lange geſtorben waren. Er hingegen mochte in mir einen Menſchen erkennen, der ſich in einer ihm wenig zuſagenden Lebensſtellung befand; aber er vermied es, mich in dieſer Hinſicht irgendwie auszuforſchen. Auch von dem, was er mir damals zu erzählen verſprochen hatte, that er keine Erwähnung mehr. Vielleicht hatte er ſeine Zuſage vergeſſen: vielleicht erwartete er, ich würde ihn daran erinnern, was ich jedoch, um nicht zudringlich zu erſcheinen, unterließ. Von Zeit zu Zeit traf ich bei ihm mit einem be¬ ſcheidenen, wohlgebildeten Jüngling zuſammen, in dem man beim erſten Blick einen Bruder des jungen Weibes erkennen mußte. Wie aus ſeinen Reden hervorging, hatte er erſt vor kurzen, die ärztlichen Prüfungen abgelegt und ſtand an einer öffentlichen Heilanſtalt in Verwendung. Gegen Innocens legte er eine tiefe und, wie es ſchien, mit Dankbarkeit verbundene Ehrerbietung an den Tag.

32

Inzwiſchen war der Sommer, war der Herbſt vergangen und endlich der Winter gekommen, deſſen Stürme und Schnee¬ geſtöber mich nicht abhielten, nach wie vor das Prieſterhaus auf dem Wyſchehrad aufzuſuchen. Aber der wieder erwachende Lenz ſetzte eine ſchlimme Zeitung in die Welt: die Kriegser¬ klärung Piemonts. Dieſes Ereigniß überfiel mich um ſo un¬ vorbereiteter und gewaltſamer, als ich während der ſchönen Zeit des Verkehrs mit Innocens die Politik ganz und gar ver¬ geſſen hatte, und mein Regiment die Weiſung erhielt, nach Italien abzurücken. Da ſich bei ähnlicher Gelegenheit Befehle und Anordnungen überſtürzen, ſo fand ich im Drange einer haſtigen und verworrenen Dienſtesthätigkeit kaum noch Zeit, meinen geiſtlichen Freund von unſerer ſo bald bevorſtehenden Trennung perſönlich in Kenntniß zu ſetzen und noch einige Stunden bei ihm zuzubringen.

Als ich mit beklommenem Herzen bei ihm eintrat, betrachtete er eben mit erhabener, geiſtvollen Naturfreunden eigenthümlicher Naivetät ein paar Schneeglöckchen, die er in der Hand hielt. Er ſtand auf und ſchwenkte mir, gleichſam im ſtillen Triumphe, dieſe erſten Boten des Frühlings entgegen. Als ich ihm aber jetzt die Vorfallenheiten erzählte, da ſenkte ſich ſeine Hand all¬ mälig und ſein Mund kniff ſich immer tiefer und ſchmerzlicher ein. Das iſt raſch über uns hereingebrochen , ſprach er ton¬ los vor ſich hin.

Wir blieben uns eine Zeit lang ſchweigend gegenüber. 33Endlich ſagte er: Der Nachmittag iſt ſchön. Laſſen Sie uns zum letzten Male miteinander einen Gang nach der Stelle thun, wo wir uns kennen gelernt. So verließen wir das Haus und begaben uns langſam und nachdenklich auf die Baſtei. Kahl und öde lag noch die Gegend da; aber einige frühblühende Obſtbäume ſtanden ſchon in ihrem weißen Schmucke, die Luft roch nach Veilchen und in geheimnißvoller Triebkraft ſchien die Erde leiſe zu beben. Hier und dort ſtieg von den braunen Feldern ſchmetternd eine Lerche empor.

Innocens deutete über die Bruſtwehr hinaus: Welch 'ein tiefer Gottesfriede liegt über der Gegend! ſagte er. Sehen Sie nur dort das läſſig ſchreitende Zwiegeſpann vor dem Pfluge und hintendrein den arbeitsfrohen Landmann! Und hier unten den ſchaukelnden Kahn und den Schiffer darin, der das Ruder weggelegt hat, weil ihn die glatte Fluth ſchnell und ſicher zum Ziele trägt! Wahrlich, wenn man die Welt ſo vor ſich ſieht im Sonnenſchein, und die harmloſen Thier - und Menſchengeſtalten darauf, man ſollte glauben, ſie ſei ein Eden, deſſen heitere Ruhe niemals durch das wüſte Geſchrei kämpfender Schaaren wäre geſtört, deſſen Fluren niemals mit argvergoſſenem Blute wären getränkt worden.

Und unter ſolchen Umſtänden , fuhr ich fort, muß ich Italien kennen lernen! Es war ſeit jeher mein ſchönſter Traum, dieſes Land mit den heiligen Schauern, mit der ge¬ nießenden Freiheit und Ruhe eines fahrenden Schülers be¬Saar, Novellen aus Oeſterreich. 334treten zu können. Und jetzt ſoll ich als ein rauher Kriegs¬ knecht, bereit zu morden und zu verwüſten, über die Alpen ziehen!

Wie einſt unſere Vorfahren unter den Ottonen und Heinrichen, und unter den Hohenſtaufen , erwiederte er. So pflanzen ſich die Wellenkreiſe, die der Sturz des römiſchen Koloſſes hervorgebracht, noch nach einem Jahrtauſende fort, und wir ſind eigentlich auf unſerem Welttheile noch immer Barbaren, ſo ſehr wir uns auch mit den Fortſchritten unſerer Civiliſation brüſten mögen. Aber , ſetzte er nach einem kurzen Beſinnen hinzu, indem er mich raſch anſah, der Zwang der Lehenspflicht und Hörigkeit iſt glücklicher Weiſe, wenn auch nur in ſeiner bindendſten Bedeutung vorüber. Ich weiß, daß Sie ſich ſchon lange im Stillen mit dem Gedanken tragen, den Militärdienſt zu verlaſſen. Thun Sie es jetzt; man kann, glaub 'ich, einem Offizier den Abſchied nicht verweigern, wenn er darum anſucht.

Allerdings nicht. Allein man würde mich für einen Feigling halten, dem um ſein Leben bangt. Gerade jetzt kann und darf ich den Abſchied nicht fordern.

Sie haben Recht, ſagte er mit einem leichten Seufzer; es geht nicht. Man kann ſich über gewiſſe herrſchende Mei¬ nungen und Anſichten, ohne ſich oft ſein ganzes Leben zu ver¬ derben, nicht hinwegſetzen.

Die Sonne war indeſſen tiefer geſunken, und vom Fluß35 herauf wehte es feucht und kühl; ſo kehrten wir wieder nach Hauſe zurück. Die Lampe ward angezündet und wir ließen uns auf das Sopha nieder. Dort ſaßen wir ſchweigend, die Blicke auf einander geheftet, als wollte Jeder ſich noch einmal das Bild des Andern ſo recht tief in's Herz prägen.

Um die gewohnte Stunde kam der Alte mit dem Abend¬ eſſen, an das wir einſylbig und gedankenvoll gingen. Zuletzt ſchenkte Innocens die Gläſer voll und ſagte: So müſſen wir denn ſcheiden. Wer am meiſten dabei verliert, bin ich. Denn, fuhr er, meine Einwendung abſchneidend, fort, ſo unangenehm Ihnen die Ereigniſſe, denen Sie folgen müſſen, auch ſein mögen; das Ungewohnte und Wechſelvolle daran wird Sie doch gewaltſam über das Schmerzliche unſerer Trennung hin¬ wegreißen. Und wenn alles überwunden und abgethan iſt, dann liegt das Leben wieder in einer neuen Bedeutung, mit friſchen Hoffnungen vor Ihnen. Sie ſind noch jung; welche Erlebniſſe, welche Eindrücke harren noch Ihrer, mit was für Menſchen können Sie noch bekannt und befreundet werden! Ich aber bleibe in meiner Einſamkeit zurück. Ich werde Sie jeden Tag, zu jeder Stunde vermiſſen. Selbſt meine gewohnte Thätigkeit wird mir verwaiſ't erſcheinen, da Sie ſchon ſo innig damit verknüpft waren und ſo bleibt mir kein anderer Troſt, als der der Erinnerung. Er hielt mir bei dieſen Worten ſein Glas entgegen, in welchem der flüſſige Rubin des Weines wunderſam funkelte. Wir ſtießen an und tranken, worauf er3*36fortfuhr: Ich habe noch Etwas auf dem Herzen, das ich Ihnen ſchon vor faſt einem Jahre einmal mitzutheilen ver¬ ſprochen. Ich will es jetzt thun, denn mir iſt,[] als ſollt 'ich Ihnen beim Scheiden das Bild ergänzen, welches Sie von mir, ich weiß es, freundlich im Gedächtniſſe bewahren werden. Er ſtützte das Haupt auf die Hand und ſah einen Augenblick nachdenklich vor ſich hin.

Wie Sie wiſſen, begann er, bin ich der Sohn armer Landleute. Meine Kindheit war im Ganzen eine ziemlich freud¬ loſe. Ich mußte ſchon früh meinen Eltern bei der Feldarbeit an die Hand gehen und überdieß fleißig die Schule beſuchen; denn es hieß, ich ſollte einmal ſtudiren. Wirklich wurde ich ſpäter, obwohl man mich zu Hauſe ſchwer entbehrte, nach der Hauptſtadt gethan, um das Gymnaſium zu beſuchen. Dort wurde ich bald das Stichblatt meiner Mitſchüler, die boshaft genug waren, ſich über meine langen Beine, mein ſchüchternes, linkiſches Benehmen, über meinen altväteriſchen Anzug luſtig zu machen und mir allerlei muthwillige Streiche zu ſpielen. Obgleich mir dies auch anfangs viele trübe Stunden bereitete, ſo hatte es doch das Gute, daß ich mich nach und nach ganz von ihrem Umgange zurückzog und ſomit nie in die Verſuchung kam, an dem ſonſtigen Treiben dieſer frühreifen Knaben theil¬ zunehmen. Ich lebte damals in einer ärmlichen Dachſtube auf der Kleinſeite, wo mich ein entfernter Anverwandter bereit¬37 willigſt aufgenommen hatte. Er war ſchon ziemlich bejahrt, weib - und kinderlos und bekleidete die Stelle eines Aufſehers am zoologiſchen Muſeum der Stadt. Er brachte öfter ſeltene Thiere mit nach Hauſe; denn zu ſeinen Obliegenheiten gehörte es, dieſelben auszubälgen oder in Weingeiſt zu ſetzen. Dabei mußt 'ich ihm nun helfen, und auf dieſe Art erwachte in mir der Hang zum Studium der Natur und ſchlug immer tiefer in meinem Gemüthe Wurzel. Da an unſeren Gymnaſien zu jener Zeit ſelbſt die Anfangsgründe der Naturwiſſenſchaften engherziger Rückſichten halber von den Lehrgegenſtänden noch ausgeſchloſſen waren, ſo wendete ich meinen geringen Spar¬ pfennig daran, mir einige einſchlägige und leichtfaßliche Bücher zu erwerben. Oft verweilte ich ſtundenlang in den lautloſen Sälen des Muſeums, zu denen mein Pflegevater die Schlüſſel hatte und wo mich die bunte Thierwelt in den verſchieden¬ artigſten Stellungen und Lagen regungslos, und doch wie lebendig, mit ſeltſam ſtieren Blicken anzuſehen ſchien, ſo daß ich mich anfangs eines leiſen Schauders nicht hatte erwehren können. Bald aber war ich mit ihr ganz vertraut geworden und meine kindliche Phantaſie brachte Athem und Bewegung in die ſtarren Geſtalten. Ich ließ den breitmähnigen Löwen und den ſchön gefleckten Königſtiger aus ihrem gläſernen Ge¬ fängniß heraustreten und majeſtätiſch einen hohen Palmenwald durchſchreiten, wo die Abgottſchlange zwiſchen leuchtenden Blumen den furchtbaren Leib emporringelte, zähnefletſchende Affen an38 den Stämmen auf - und abkletterten, krummſchnäblige Papageien in den Wipfeln kreiſchten und Colibri gleich farbigen Funken die Luft durchſchoſſen. Oder ich tauchte mit den plumpen, abenteuerlichen Fiſchungethümen zu dem zahlloſen Gewimmel in den Abgründen des Meeres hinunter, ſah über mir die Kiele der Schiffe wegfahren, und die Polypen ſtill an den Riffen bauen. An ſchönen Ferientagen aber verließ ich ſchon mit dem Früheſten die Stadt und ging auf's Gerathewohl in's Land hinein, nur gelenkt durch den Flug der Schmetterlinge und Käfer, auf deren Jagd ich auszog. Dabei las ich in der Eile auf, was mir gerade an Pflanzen oder Steinen in die Augen fiel und belud mich damit. Wenn ich mich dann recht warm und müde gelaufen hatte, ruhte ich irgendwo im Schatten aus; am liebſten bei unbewegten, von Erlen und Weiden um¬ düſterten Waſſern, über deren Spiegel blitzende Libellen ſchwirr¬ ten, zartbeinige Spinnen hintanzten, während dann und wann aus der Tiefe ein ſchnappender Froſch ausgluckſte.

So wuchs ich allmälig zum Jüngling heran und trat endlich, da mich meine Eltern zum geiſtlichen Stande beſtimmt hatten, als Noviz in unſeren Orden, der mich nach vollendeten Studien und zurückgelegter Probezeit als Pater aufnahm. Durch beſcheidene Dienſtwilligkeit und eine gewiſſe Unverdroſſenheit des Gemüthes, hatte ich mir bald bei meinen geiſtlichen Vor¬ geſetzten Liebe und Zutrauen erworben; aber plötzlich wurde meinem Anſehen ein ſchwerer Stoß verſetzt: man begann meine39 Frömmigkeit in Zweifel zu ziehen. Neid und Mißgunſt waren, wie überall in der Welt, ſo auch in unſerem Kloſter anzu¬ treffen, und hatten die Gelegenheit wahrgenommen, meine harm¬ loſen Naturſtudien zu verdächtigen und anzuſchwärzen. Es verlautete nämlich, daß ich die Zeit, während welcher die an¬ dern Patres im ſchattigen Garten beſchaulicher Muße oblagen, ein Spielchen machten oder Spaziergänge in der Stadt unternahmen, mit verruchten, allen kirchlichen Dogmen hohnſprechenden Experimenten hinbringe, zu welchem Zwecke ich eine ganze Teufelsküche und die Werke aller alten und modernen Atheiſten in einem Wandſchranke meines Zimmers verborgen halte. Der damalige Abt, eine ängſtliche, etwas beſchränkte Natur, fand ſich durch dieſes Gerede veran¬ laßt, mich eines Tages in Begleitung noch zweier Mitglieder bei meinen einſamen Studien zu überraſchen, alles dazu Ge¬ hörige in Beſchlag zu nehmen und mir nach einem Verweiſe anzurathen, meine Fähigkeiten künftighin einer beſſeren Sache zuzuwenden. Es war ein tiefer Schmerz, den ich empfand, als man mir meine Apparate und Bücher forttrug. Ein bitteres, niederdrückendes Gefühl überkam mich; aber ich er¬ duldete Alles mit chriſtlicher Ergebung, wie es meinem Stande ziemte. Die Unthätigkeit, zu welcher ich mich jetzt verurtheilt ſah, laſtete in den erſten Tagen ſchwer auf mir. Aber ich bedachte, wie Vieles, das mit den Anſchauungen meiner Vorge¬ ſetzten nicht im Widerſpruche ſtand, ich noch zu lernen hatte;40 und ſo fand ich bald in eifrigen philologiſchen Studien Troſt und Beruhigung. Ich ging nach wie vor faſt niemals aus, und meine Erholung war, hie und da eine Stunde auf der Orgel unſerer Hauskapelle zu ſpielen. Ich hatte die erſte An¬ leitung dazu ſchon von meinem Schullehrer im Dorfe erhalten und benützte nun die Gelegenheit, dieſe Vorkenntniſſe zu er¬ weitern und auszubilden. Wenn ich ſo in der verlaſſenen Kapelle ſaß, und die Töne unter meinen Händen aufquollen, da zog ein tiefer Friede, eine lichte Seligkeit in meine Bruſt, und auch nicht ein Schatten dieſer Welt fiel hinein.

So war mir manches Jahr in ſanfter Gleichförmigkeit vorübergegangen, als der Abt plötzlich ſtarb. Sein Nachfolger, ein wohldenkender, vorurtheilsfreier Mann, der mich ſtets mit vieler Nachſicht behandelt und warm vertheidigt hatte, ließ mich eines Tages zu ſich beſcheiden. Wiſſen Sie, ſagte er, als ich bei ihm eintrat, daß der Verweſer unſerer Kirche auf dem Wyſcherad wegen andauernder Kränklichkeit um Amts¬ enthebung nachgeſucht hat? Ich bejahte es, da ich davon ge¬ hört hatte. Möchten Sie wohl, fuhr er fort, indem er mich forſchend anſah, ſeine Stelle übernehmen? Er mußte in meinen Zügen ſogleich eine freudige Zuſtimmung wahrge¬ nommen haben, denn er klopfte mir ſchnell auf die Schulter und ſagte: Nun, ſo gehen Sie mit Gott. Es wird Sie Niemand darum beneiden; der Ort iſt gar zu einſam und abgeſchieden, wenn auch das Amt eine gewiſſe Selbſtſtändig¬41 keit und Freiheit gewährt, die Sie, das weiß ich, nicht mi߬ bauchen werden.

Mit welch 'wohlthuenden Gefühlen ich das ſtille Haus hier oben bezog, können Sie ſich vorſtellen. Ich war der hä¬ miſchen, ſpähenden, ziſchelnden Kloſtercameradſchaft los und konnte wieder unbehelligt meine geliebten, langentbehrten Ar¬ beiten aufnehmen, wozu mir der neue Abt Bücher und Ap¬ parate von ſelbſt hatte zurückſtellen laſſen.

Als ich nach der erſten Nacht, die ich hier oben zuge¬ bracht hatte, am frühen Morgen an's Fenſter trat, fiel mein Blick auf das kleine Haus gegenüber. Mit dem Einrichten meiner neuen Wohnung beſchäftigt, hatte ich es Tags vorher kaum beachtet; jetzt aber zog es meine ganze Aufmerkſamkeit auf ſich. Thür und Fenſter waren geſchloſſen; Alles ſchien drinnen noch im tiefen Schlaf zu liegen. Nur die Hühner und Gänſe trieben ſchon vor der Schwelle ihr Weſen und die Tauben trippelten unruhig auf dem Dachfirſte umher. Wie ich ſo hinſah, überkam mich eine Art Heimweh. Es war mir, als ſäh 'ich das niedere, vom Dorfe etwas abgeſchiedene Häuschen vor mir, in dem ich meine Kindheit verlebt hatte, und als müſſe ſich jetzt und jetzt die Thüre öffnen und meine Mutter ſelig heraustreten. Und die Thüre öffnete ſich auch, aber die heraustrat, war ein junges Mädchen. Sie hatte ein weißes Tüchlein um den Kopf geworfen, und ſtreute aus der aufgenommenen Schürze Futter zu Boden. Ohne ſich wei¬42 ter um das raſch hinzuſtürzende Geflügel zu kümmern, ſchöpfte ſie Waſſer aus der Ciſterne und begab ſich wieder in das Haus zurück, aus deſſen Schornſtein alsbald ein leichter Rauch in die heitere Morgenluft aufſtieg. Mittlerweile war auch ein munter ausſehender Knabe über die Schwelle gehüpft, der nun mit dem Muthwillen ſeines Alters die emſig pickende Schaar von den reichlich zugemeſſenen Körnern zu verſcheuchen begann, wobei er ſich an dem Geſchrei und an der verwor¬ renen Flucht der furchtſamen Thiere weidlich zu ergötzen ſchien. Plötzlich aber wurde er von dem Mädchen, das raſch aus der Thüre eilte, beim Arme gefaßt und hineingezogen.

Drüben hatten ſich die verſprengten Gäſte allmälig wieder eingefunden, als es an meine Thüre klopfte. Es war der Kirchendiener, um mich zur Meſſe abzuholen, mit welcher ich mein Amt einweihen wollte. Bevor wir gingen, fragte ich den Mann, wer dort drüben wohne. Der Zeugwart, er¬ wiederte er, mit Weib und Kindern. Ein alter Knaſterbart, der die Franzoſenkriege mitgemacht und ſich den ruhigen Poſten hier oben durch manche Bleſſur verdient hat.

In der Kirche, welche gewöhnlich nur an Sonn - und Feiertagen offen iſt, war kein Beter anweſend. Als ich mich beim Evangelium umwandte, ſah ich das Mädchen herein¬ treten. Sie trug einen Korb am Arme und kniete in der Nähe des Altares nieder, an welchem ich die Meſſe las. Nach einem kurzen Gebete erhob und bekreuzte ſie ſich und ging wieder.

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Als ich am nächſten Sonntage zum erſten Male die Kanzel beſtieg, gewahrte ich ſie gleich beim erſten Hinſehen auf die Menge unter mir. Sie hatte ein blaues, bis an den Hals hinauf geſchloſſenes Kleid an, das ihr gar wohl zu den goldenen, ſchlichtgeſcheitelten Haaren ließ. Neben ihr im Bet¬ ſtuhle ſaß eine ſchon ziemlich bejahrte Frau, die man ſogleich für die Mutter erkannte. Während ich predigte, fühlte ich beſtändig ihren Blick aus den vielen heraus, die auf mich ge¬ richtet waren, und in dem Beſtreben, ihm auszuweichen, und doch wunderbar davon angezogen, irrte mein Auge ſcheu um die liebliche Geſtalt herum, ohne daß ich den Muth gehabt hätte, ſie anzuſehen. Deſto öfter jedoch blickte ich in den Tagen, die nun folgten, nach dem kleinen Hauſe hinüber, und bald paßte ich ſogar jeden Morgen den Augenblick ab, wo die Jungfrau vor der Thüre erſchien. So trat ihr Bild unver¬ merkt immer tiefer in mein Leben hinein, und verwuchs da¬ mit, eine holde Nothwendigkeit, wie Luft und Licht. Es fachte keinen Wunſch in mir an; aber wie an trüben ſonnenloſen Tagen ein dumpfer Druck auf Einem liegt, ſo überkam mich, wenn ich ſie zur gewohnten Stunde nicht ſah, ein geheimes Mißbehagen, das nicht eher wich, als bis ſich die ſchlanke Ge¬ ſtalt, wenn auch noch ſo flüchtig, vor dem Hauſe, am Fenſter oder im Gärtchen gezeigt hatte. Dann aber war es mir, als ſei es erſt jetzt vollends Tag geworden, deſſen helles Licht mich mit ſanfter Wärme und Heiterkeit durchſtröme.

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Eines Abends ſpät hatte ich eben die Lampe angezündet und mich über ein Buch gebeugt, als die Klingel am Thore ziemlich haſtig gezogen wurde. Ich erhob mich und trat an's Fenſter. Unten im Dunkel der Bäume ſtand das Mädchen Ein jäher, freudiger Schreck durchzuckte mich, und unwillkür¬ lich trat ich einen Schritt zurück.

Inzwiſchen hatte der Kirchendiener das Thor geöffnet und fragte jetzt nach ihrem Begehren.

Um Gottes willen, ſagte ſie mit ängſtlicher Haſt und unterdrücktem Weinen, meine Mutter iſt ſchwer krank; der geiſtliche Herr möchte ſie verſehen kommen.

Ich erbebte im Innerſten bei dem Klang dieſer Stimme, die ich nun zum erſten Male hörte. Ich fühlte das tiefſte Mitleid mit dem armen Kinde; eine fieberhafte Angſt und Sorge um die Kranke überfiel mich, und dennoch hätte ich zugleich aufjubeln können vor Freude. Raſch eilte ich die Treppe hinunter und begab mich mit dem Kirchendiener, der mir im Flure entgegen kam, in die Sakriſtei, um alles Noth¬ wendige zu holen. Als ich damit aus dem Hauſe trat, war das Mädchen am Thore niedergekniet. Ich bewegte mit zit¬ ternden Händen den Kelch ſegnend über ihrem Haupte; dann ſtand ſie auf und eilte mir raſch voran.

In einer ärmlichen, aber rein und ſorgſam gehaltenen Stube kniete der Zeugwart am Krankenbette, eine breitſchul¬ terige alte Soldatengeſtalt mit dem Kanonenkreuze auf der45 Bruſt; ihm gegenüber der Knabe, das große Kindesauge ängſtlich und verſchüchtert auf mich richtend. Ich ſegnete die Anweſenden und trat dann zur Kranken, die, wie es ſchien, bewußtlos, im heftigen Fieber lag. Sie bewegte unruhig Kopf und Arme, und murmelte unverſtändliche Worte vor ſich hin. Es fiel mir auf, daß man faſt gewaltſam eine Menge Bettzeug auf ſie gehäuft hatte, was die verzehrende Fieber¬ gluth des Weibes nur noch ſteigern mußte. Auch waren die Fenſter geſchloſſen und in der Stube lagerte die Luft ſchwül und dunſtig. Ich wandte mich an den Zeugwart mit der Frage, wann und unter welchen Umſtänden die Krankheit ausgebrochen ſei, und ob man keinen Arzt zu Rathe gezogen? Hierauf nahm aber gleich das Mädchen das Wort und ſagte unter leiſem Schluchzen, daß die Mutter ſchon geſtern über Mattigkeit und Kopfſchmerz geklagt und die Nacht ſehr un¬ ruhig zugebracht habe. Sie hätten einen Chirurgen holen laſſen; dieſer habe ſchweißbringende Mittel und Verwahrung vor Luftzug verordnet und ſchon für den nächſten Tag Beſſe¬ rung in Ausſicht geſtellt. Statt deſſen ſei jedoch die Mutter von Stunde zu Stunde kränker geworden, und ſie hätten ſich nicht zu rathen noch zu helfen gewußt.

Da ich in dem Zuſtande der Kranken typhöſe Erſchei¬ nungen erkannte, ſo machte ich Vater und Tochter auf das Verkehrte dieſer Behandlungsweiſe aufmerkſam und erbot mich, falls man mir Vertrauen ſchenkte, der Kranken Erleich¬46 terung zu verſchaffen. Zugleich verſprach ich, morgen mit dem Früheſten aus der Stadt einen Arzt holen zu laſſen. Ein Strahl freudiger Hoffnung flog bei meinen Worten über das düſtere, gebräunte Antlitz des Alten und ſchimmerte um ſo heller hinter den Thränen des Mädchens auf, als ich das Verſehen mit den Sterbeſakramenten für unnöthig erklärte und bat, mich nur als Arzt zu betrachten und alle meine An¬ ordnungen zu befolgen.

Das Mädchen faltete ſtill die Hände vor der Bruſt und ſah mich fragend und erwartungsvoll an. Ich befahl für's Erſte, die ſchweren, dicken Hüllen von dem Körper der Frau zu entfernen, dann Thür und Fenſter zu öffnen, auf daß die reine, friſche Nachtluft durch die Stube ſtreiche. Sie thaten es ſchweigend und eilig; aber ein leiſer Zug ungläubiger Aengſtlichkeit lag dabei in allen Geſichtern. Dieſe Anord¬ nungen waren ja ſo ganz jenen des Chirurgen entgegenge¬ ſetzt und die Menſchen ſind in Allem und Jedem zu ſehr an langſame Uebergänge gewöhnt, als daß ſie zu einem plötzlichen Wechſel unbedingtes Vertrauen faſſen ſollten.

Ich hatte inzwiſchen von dem Knaben ein Becken mit friſchem Waſſer füllen laſſen. Dann begehrte ich Linnen, tauchte es ein und legte es auf die brennende Stirn der Kranken, die dabei, wie neubelebt, tief aufſeufzte. Hierauf entfernte ich mich, um einiges aus meiner kleinen Handapo¬ theke herüberzuholen.

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Als ich wieder in die Stube trat, hörte ich, wie eben der Knabe ſagte: Wie wohl der Mutter die kalten Umſchläge thun! Der dumme Chirurg! Das hätte er auch wiſſen ſollen .

Siehſt du, Ludmilla , ſagte jetzt der Zeugwart, wie gut es war, daß ich darauf beſtand, du ſollteſt den geiſtlichen Herrn rufen.

Ach ja; erwiederte ſie indem ſie mich mit ihren großen nußbraunen Augen tief anſah, aber es that mir ſo weh, daran zu glauben, daß es mit der Mutter ſchon ſo ſchlimm ſtehe.

Ich hatte kühlende Pflanzenſäfte mitgebracht und goß davon in ein Glas Waſſer, das ich an den lechzenden Mund der Kranken brachte. Kaum ſpürte dieſe das Naß an den Lippen, als ſie es, obgleich noch immer bewußtlos, inſtinkt¬ mäßig mit gierigen Zügen einſchluckte.

Mittlerweile hatte der Zeugwart nach der Uhr geſehen, zögernd ſeine Uniform zugeknöpft und den Säbel umgeſchnallt. Der Dienſt ruft mich, ſagte er, als ich ihm einen Blick zuwarf. Ich muß die Nachtrunde um das Fort und die Pulvermagazine machen. Es iſt mir noch nie ſo ſchwer ge¬ fallen wie heute.

Gehen Sie unbeſorgt , erwiederte ich, ich will ihre Zurückkunft hier abwarten. Bis dahin ſoll ſich, wie ich hoffe, Ihre Frau ſchon merklich beſſer befinden.

Der alte Soldat beugte ſich über die Kranke und horchte48 auf ihren Athem. Dann zündete er das Licht einer Laterne an und ging.

Wirklich wurde die Kranke von Minute zu Minute ruhiger. Die Delirien hörten auf; das Bewegen und Zucken der Arme wurde ſeltener, und die wüſte Bewußtloſigkeit ſchien einem tiefen, wohlthätigen Schlummer zu weichen.

Ich hatte mich ihr zu Häupten geſetzt und hielt ihren Puls leicht umfaßt. Ludmilla war hart am Bette niederge¬ kniet und ſchien mit aufgeſtützten Armen und gefalteten Hä¬ den zu einem Heiligenbilde an der Wand zu beten. Der Knabe lag, von dem bleiernen Schlafe der frühen Jugend be¬ wältigt, mit überhangendem Haupte in einem alten Lehnſtuhl. Still quoll die Nachtluft durch das geöffnete Fenſter herein und ſpielte mit der gedämpften Flamme der Lampe, um welche, vom trügeriſchen Schein in die Stube gelockt, ein ſchwerfäl¬ liger Falter in immer engeren Kreiſen ſchwirrte.

Da ward es mir, als neige ſich das Haupt des knieen¬ den Mädchens der Seite zu, wo ich ſaß. Und wie es jetzt tiefer und tiefer ſank, löſten ſich langſam die gefalteten Hände, die Arme fielen ſchlaff an den Hüften hinunter, und eh 'ich mich deſſen verſah, glitt der Oberleib der vom Schlafe Ueber¬ mannten ſanft in meinen Schooß herüber.

Eine nie gekannte Empfindung durchzuckte mich, als die holde Laſt plötzlich auf meinen Knieen lag, All' mein Blut ſchoß zum Herzen; ich fühlte, wie ich erblaßte. Was ſollte49 ich beginnen? Sollte ich ſie wecken? Und wenn ich es that, mußte ſie nicht gewahren, daß ſie in meinem Schooße lag? Ein tiefes Schaamgefühl überkam mich und trieb mir das Blut, heiß zum Verſengen, in die Wangen zurück. Ich wagte mich nicht zu rühren. Ich ſpürte, wie ſich die Bruſt der Jungfrau im feſten Schlummer gleichmäßig hob und ſenkte, und lauſchte auf ihre Athemzüge, die ſich mit den leiſen des Knaben und den ſchnellen, ſtoßweiſen der Kranken vermiſch¬ ten. Mein Herz ſchlug hörbar; der Falter ſchwirrte noch immer um's Licht; draußen zirpten die Grillen.

Plötzlich erloſch kniſternd die Lampe. Der Falter hatte das Flämmchen, endlich hineinflatternd, erſtickt. Ludmilla wachte im Schlafe eine Bewegung. Dabei berührte ihr war¬ mer Hauch meine Hand. Ein heißer Schauer durchrieſelte mich, meine Pulſe flogen, und in der Verwirrung meiner Sinne beugte ich mich nieder und mein Mund ſtreifte zitternd das weiche, duftige Haar der Schläferin. Aber gleichzeitig, wie von einer inneren Angſt getrieben, ſchob ich ſie ſanft von mir und erhob mich.

Ludmilla erwachte und ſchien ſich lange nicht beſinnen zu können, als ſie ſich am Boden und im Dunkeln befand. Ich ſagte mit bebender Stimme, ſie möge die Lampe anzünden, die eben erloſchen ſei. Sie that es ſchämig verwirrt und er¬ wiederte, indem ſie mit den Händen über das roſige Geſicht fuhr: Mein Gott, mir ſcheint, ich habe gar geſchlafen.

Saar, Novellen aus Oeſterreich. 450

Ich ſchwieg und wechſelte den Umſchlag der Kranken. Es that mir wohl, die fiebernden Hände in's Waſſer zu tau¬ chen; doch kühlte es nicht die Gluth, die mich noch immer durchtobte.

Bald darauf trat der Zeugwart ein. Ich wies auf die ruhig ſchlummernde Kranke und unterbrach erröthend die ſchlichten Dankesworte des Mannes, indem ich mich mit dem Bemerken verabſchiedete, daß für heute Nacht nichts mehr zu befürchten ſei. Ludmilla hatte die Lampe ergriffen, um mir hinaus zu leuchten. Ich winkte ihr zu bleiben, zog meine Hand, die ſie ehrerbietig zum Kuſſe ergreifen wollte, zu¬ rück und eilte fort.

Draußen war eine herrliche Nacht. Die Sterne flim¬ merten und zuckten, und der Mond goß ſein feuchtes Licht über die Erde. Ohne zu wiſſen, wie ich dahin gekommen, ſtand ich plötzlich auf der Baſtei, deren Bruſtwehr meinen wahl¬ los ſtürmenden Schritten Einhalt that. Schwüle Fliederdüfte umquollen mein Antlitz; in der Runde ſchmetterten die Nach¬ tigallen.

Horch! ferner Lärm, wie von verworrenen Stimmen, von Scherzen und Gelächter. Ein Kahn kam den glitzernden Strom herabgefahren, voll fröhlicher Menſchen, die gewiß bis jetzt in Podol gezecht hatten und ſich in der ſtillen Mond¬ nacht auf der ſchaukelnden Fluth bis zur Prager Brücke ru¬ dern ließen.

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Immer näher kam der Kahn; immer lauter ſcholl die Luſtbarkeit der Menſchen, deren Geſtalten ich deutlich erkennen konnte, wie ſie, Männer und Frauen, dichtgedrängt in dem kleinen Fahrzeuge ſaßen und ſtanden.

Plötzlich verſtummte Plaudern und Lachen, und eine weiche, ſchmelzende Tenorſtimme begann in die ſchimmernde Nacht hinaus zu ſingen:

Sei in Tönen, weich und linde,
Mir, o Frühlingsnacht, gegrüßt!
Glücklich, wer mit ſeinem Kinde,
Schlummerlos, dich ſtill verküßt!
Wie ein heimliches Gewittern
Geht's durch deine milde Pracht:
Es iſt rings der Herzen Zittern,
Hold bedrängt von Liebesmacht.

Ein ſchneidendes Weh drängte ſich durch meine Seele und athemlos, wie von einem Zauber berührt, lauſchte ich dem Geſange.

Es iſt rings der Herzen Zittern,
Hold bedrängt von Liebesmacht!

ſcholl es, im lauten Chor wiederholt, herauf.

Jetzt glitt der Kahn gerade unterhalb des Forts vorüber und mit kräftiger, raſch empor geſchnellter Stimme fuhr der Sänger fort:

Aber wecken alle Träumer,
Möcht 'ich jetzt mit hellem Sang,
Treiben möcht' ich alle Säumer
Vor mir her mit Becherklang!
4*52
Denn mich wurmet das Genippe.
Wo ein Trunk nur kühlt und ſtillt,
Und mich wurmet jede Lippe,
Die nicht heißverlangend ſchwillt!
Und mich wurmet jede Lippe,
Die nicht heißverlangend ſchwillt '

tönte es im Chor.

Ich beugte mich weit über die Bruſtwehr hinaus; denn immer ferner und ſchwächer klang es:

Und ſo wie der echte Zecher
Keinen Tropfen je vergißt,
So verſchmäh 'ich raſcher Brecher
Keine Blüthe, die da ſprießt

ich hörte nur mehr die immer leiſer tönende Melodie des Liedes; noch einmal den Chor fern aufrauſchen; dann war alles ſtill.

Jetzt überkam mich eine tiefe, wilde Sehnſucht und drohte mir die Bruſt zu zerſprengen. Es war mir, als wäre mein Glück an mir vorübergezogen und rufe und winke durch die Nacht nach mir zurück mit geheimnißvollen Stimmen und leuchtenden Händen. In unſäglichem Drange breitete ich die Arme in der Richtung aus, in welcher der Kahn meinen Blicken entſchwunden war. Dann warf ich mich nieder auf das feuchte Gras, und eine glühende Thräne rann aus meinem Auge mit dem kühlen Thau des Himmels zuſammen.

53

Er ſchwieg einen Augenblick, wie um eine innere Erre¬ gung auszittern zu laſſen und fuhr dann in etwas gedämpftem Tone fort: Am Horizont ſtand ſchon ein blaßgelber Streif, als ich nach Hauſe zurückkehrte. Ich warf mich angekleidet auf's Bett und verſank in einen kurzen, von wüſten Traum¬ bildern geängſtigten Schlummer. Beim Erwachen lag das Daſein fremdartig vor mir, ein einziger großer Schmerz. Der Arzt erſchien und ich ging zögernd mit ihm hinüber. Er er¬ klärte den Zuſtand der Kranken für keinen ſehr gefährlichen und verordnete einiges, während ich mit bebender Seele abſeits ſtand und den Blicken Ludmilla's auswich, die ſie, um die Mutter beſchäftigt, voll innigen Dankes gegen mich aufſchlug. Ich war froh, als ich mich mit dem Arzte wieder entfernen konnte. Es litt mich aber nicht zu Hauſe, ſondern ich irrte zeitvergeſſen in der Citadelle umher, warf mich hier und da erſchöpft auf eine Schanze nieder und brütete vor mich hin. In dieſer dumpfen, ruheloſen Unthätigkeit vergingen die näch¬ ſten Tage. Ein ſchleichendes, markverzehrendes Feuer war in meinem Innern entglommen und lohte oft in ſo wilden, niege¬ kannten Wünſchen auf, daß ich vor mir ſelbſt erſchrack. In meiner Seelenangſt ſchloß ich mich dann oft ſtundenlang in der kühlen, dunklen Kirche ein, um durch reumüthiges Gebet mein Inneres zu läutern und der ſchwülen Traumhaftigkeit meiner Sinne Herr zu werden. Aber umſonſt: auf der Lippe die das peccavi ſprach, zitterte die wonnige Berührung mit54 den blonden Haaren Ludmilla's nach, und wie geiſterhaft fühlte ich mich von Sirenenklängen jenes Liedes umweht. Selbſt an der Orgel, deren Töne mich ſonſt über alles Irdiſche hin¬ ausgehoben, fand ich keine Beruhigung, keinen Troſt. Ihr feierlich-ernſtes, gleichmäßiges Rauſchen ſtimmte nicht zu dem Zwieſpalte meiner Bruſt, der, das fühlte ich, nur auf einer Geige in wildklagenden Accorden, grellen Läufen und ſchnei¬ denden Cadenzen hätte ausklingen können. Ein Opfer dieſes Zwieſpaltes, nannte ich mich ſelbſt einen pflichtvergeſſenen Prieſter, der mit unwürdiger Hand den Kelch erhebe, und deſſen befleckte Lippe das Wort Gottes entheilige. Und dann nahm ich mir vor, nie mehr die Schwelle des Zeugwartes zu betreten, was ich doch ſchon der Kranken halber von Zeit zu Zeit thun mußte, hätte mich auch nicht die Sehnſucht, Ludmilla zu ſehen, hingetrieben. Gleich darauf aber beklagte ich mich wieder als einen unglückſeligen Menſchen, der inmitten der holden Freuden und Genüſſe dieſer Welt an einen düſteren Fels¬ block geſchmiedet ſei, und weinte heiße Thränen darüber, daß ich das unauflösbare Gelübde abgelegt. Faſt eine Woche lang war es mir gelungen, die drängende Sehnſucht zurückzu¬ dämmen; länger aber ertrug ich's nicht. Ich umkreiſte, wie damals der Falter die Lampe, immer enger das kleine Haus und trat endlich hinein.

Ich fand die Kranke ſchon im Gärtchen. Man hatte ihr den alten Lehnſtuhl unter einen breitäſtigen Apfelbaum getra¬55 gen, in deſſen Schatten ſie des herrlichen Nachmittags genoß. Neben ihr auf einer in der Erde feſtgerammten Bank ſaß Ludmilla. Dieſe ſprang, als ich eintrat, haſtig auf, wobei ihrem Schooße ein buntes Chaos von Wieſenblumen entglitt.

Die Frau machte einen Verſuch, ſich zu erheben, ſank aber alsbald wieder kraftlos in den Stuhl zurück. So be¬ gnügte ſie ſich, mir ihre welke, abgemagerte Hand entgegen zu ſtrecken. Wie ſchön, hochwürdiger Herr , ſagte ſie, daß Sie heute herüberkommen, wo ich zum erſten Male wieder die freie Gottesluft athme.

Es freuet mich, Sie ſchon ſo wohl zu ſehen erwiederte ich mit gepreßter Stimme; denn ich bemerkte daß mich Lud¬ milla mit ängſtlicher Freude betrachtete.

Gerade haben wir von Ihnen geſprochen, nicht wahr, Mutter? ſagte ſie. Wir fürchteten ſchon, Sie wären krank. Sie ſahen, als ſie das letzte Mal bei uns waren, gar ſo blaß und leidend aus.

Ich fühlte, wie ich bei dieſen Worten noch bleicher wurde als ich es vieleicht ſchon war.

Und Sie waren auch gewiß krank, fuhr Ludmilla fort, während ſie beſorgt die Hände faltete. Man ſieht es Ihnen an, daß Sie ſich ſelbſt jetzt noch nicht ganz wohl fühlen .

Wahrlich , bekräftigte die Mutter, jetzt merk 'ich es56 erſt, wie übel ſie ausſehen. Was fehlt Ihnen, geiſtlicher Herr? Reden Sie, um Gotteswillen!

Ich drohte umzuſinken. Bei dieſer ängſtlichen Muſterung kam mir in den Sinn, wie verſtört ich ausſehen mußte; ich empfand es deutlich, wie mir das Haar wirr um die Schläfen hing, und meine Augen eine düſtere Fiebergluth ausſtrahlten. Dennoch faßte ich mich und erwiederte, indem ich mich zu lächeln zwang: Mir fehlt nichts; ich fühle mich ganz wohl.

Wirklich? wirklich? forſchten die Frauen, Sie wollen es uns nur verheimlichen , ſetzte Ludmilla hinzu.

Warum ſollt ich das, ſagte ich, das Zittern meiner Stimme gewaltſam unterdrückend. Beruhigen Sie ſich, es iſt nichts. Die Tage ſind jetzt nur ſo unerträglich ſchwül, ſetzte ich hinzu, indem ich unwillkürlich meinen Empfindungen nach¬ gab und mit der Hand über die Stirn fuhr.

So ſetzen Sie ſich doch hierher in den Schatten! rief das Mädchen und zwang mich mit ſanfter Gewalt auf die Bank nieder. Prokop! rief ſie dann dem Knaben zu, der, ohne mein Kommen bemerkt zu haben, weiter rückwärts im Gärtchen herumſprang, Prokop, ſiehſt du denn nicht, daß der geiſtliche Herr da iſt? Alsbald kam der Kleine auf mich zuge¬ laufen. Froh, die Verwirrung meiner Seele hinter einem Geſpräch mit dem Kinde verbergen zu können, ſtreichelte ich ihm das erhitzte Geſicht und das lichtblonde, kurzgeſchnittene Haar, während ich haſtig hintereinander eine Menge Fragen57 an ihn ſtellte, die er alle beſcheiden und aufgeweckt beant¬ wortete.

Ludmilla hatte inzwiſchen langſam die Blumen vom Boden aufgeleſen und machte jetzt Miene, ſich neben mir auf der Bank niederzulaſſen. Ich erhob mich unwillkürlich. Wie Sie wollen ſchon wieder fort? hieß es, Ich muß , ſtam¬ melte ich, obgleich es ſich wie unſichtbare Banden um mich legte.

O, nur einen Augenblick! bat Ludmilla, bis ich den Strauß hier fertig habe. Sie können ſich ihn zu Hauſe in's Waſſer ſtellen.

Ich machte verwirrt eine ablehnende Geberde.

Geh mit dieſen Blumen! ſagte die Mutter. Da gibſt Du dem geiſtlichen Herrn was Rechtes.

Alſo wollen Sie ſie nicht? fragte Ludmilla kleinlaut. Sie duften doch recht lieblich.

Mir wollte das Herz darüber zerſpringen, daß ich ihr weh gethan. So war es nicht gemeint, ſagte ich. Ich liebe ja die Blumen, die draußen frei und ungepflegt ſprießen, gar ſehr. Ich wollte nur nicht, daß Sie ſich meinetwegen mühten.

Mühten? fragte ſie. Mein Gott, wie gerne thät ich's! Aber was iſt es denn, einen Strauß zu binden. Und indem ſie die Blumen auf die Bank legte, und raſch wieder eine nach der andern aufnahm, fuhr ſie fort: Die Schanzen ſehen jetzt gar ſo ſchön aus. Alles ſteht bunt von Stern - und Glocken¬58 blumen, von Gelbveiglein und Hahnenfuß. Da pflück 'ich nun, ſo viel ich kann. Denn hier haben wir auch gar zu wenig Raum, um Blumen zu halten. Mein Roſenbäumchen dort iſt außer den Aepfeln und Bohnen das Einzige, was bei uns blüht. Sie deutete darauf hin. Es war wirklich die alleinige Zierde des Gärtchens, wo jedes Fleckchen Erde mit einem nütz¬ lichen Gewächſe bepflanzt war, und ſtand bis auf eine halb¬ aufgeblühte Roſe noch in Knospen.

Sie hatte den Strauß fertig und hielt ihn in der ge¬ bräunten, aber wohlgeformten Hand prüfend vor ſich hin. Es ſind doch gar zu unſcheinbare Blumen , ſagte ſie nieder¬ geſchlagen, ſie nehmen ſich im Raſen zerſtreut viel beſſer aus als ſo. Aber warten Sie, ich will noch etwas hinzu thun! rief ſie, wie von einem plötzlichen Gedanken erfaßt, und eilte auf das Bäumchen los. Dort pflückte ſie die Roſe und ſteckte dieſelbe in die Mitte des Straußes, wo ſie, von weißzackigen Sternblumen umgeben, gar lieblich ausſah. So , ſagte Lud¬ milla, indem ſie zurückkehrte und mir anmuthig den Strauß überreichte. Es war die Einzige. In ein paar Tagen aber werden alle Knospen aufgegangen ſein, und dann ſollen ſie die ſchönſten Roſen haben.

Ich ſtammelte einige unzuſammenhängende Worte und verabſchiedete mich; Ludmilla ging noch mit mir bis zu dem Pförtchen im Zaune.

Draußen athmete ich tief auf. Ein ſchmerzlichſüßes Weh59 hatte mir drinnen das Herz zuſammengepreßt und eine dumpfe Hitze in's Antlitz getrieben. Nun ſuchte ich Luft, Kühlung. Aber die Sonne ſchien heiß auf meinen Scheitel nieder; kein Blatt, kein Halm regte ſich. Unwillkürlich brachte ich den Strauß, um mich zu erfriſchen, vor's Antlitz. Dadurch wurde ich mir erſt des duftigen Geſchenkes bewußt und eine ſeltſame Verwirrung und Beängſtigung überkam mich. Es war mir, als hefteten ſich rings tauſend Augen auf mich und auf die Blumen in meiner Hand. Und da fingen die Stengel zwiſchen meinen Fingern zu glühen an und aus jedem Kelche ſchien eine Flamme zu ſchlagen. Scheu blickte ich umher; es war Niemand zu ſehen, außer einer Schildwache, die hoch oben auf dem Wall, ohne mich zu beachten, träg auf und nieder ging. Ich nahm den Strauß unter mein Scapulier und eilte zu mir hinüber. Geräuſchlos, mit hochklopfendem Herzen, huſchte ich über den Flur und die Treppe hinauf und ſchloß die Thüre hinter mir ab. Hier im kühlen, einſamen Zimmer drückte ich den Strauß an die Bruſt, an die Augen, an den Mund. Ich gab ihm die zärtlichſten Schmeichelnamen, wühlte mit zitternden Fingern darin und bedeckte die Stengel mit zahlloſen Küſſen. Plötzlich aber zuckte wieder das ganze fürchterliche Bewußtſein meiner Lage in mir auf; entſetzt ſchleuderte ich den Strauß vor mich auf den Tiſch hin, ſchlug mir die Hände vor's Ge¬ ſicht und ſank laut ſtöhnend in einen Stuhl.

Ich weiß nicht, wie lange ich ſo, eine Beute der wider¬60 ſtreitendſten Gefühle, mochte dageſeſſen haben, als es an die Thüre klopfte. Erſchreckt fuhr ich empor, warf ein Tuch über den Strauß und öffnete.

Es war der Kirchendiener in Begleitung eines Mannes, der einige Papiere in der Hand hatte. Der Sakriſtan von Sankt Carl wünſcht Euer Hochwürden im Auftrage ſeines Herrn Pfarrers zu ſprechen , ſagte der Kirchendiener. Wir haben morgen eine Leiche.

Eine Leiche? fragte ich mechaniſch.

Eine vornehme Leiche , bekräftigte der Kirchendiener mit einem gewiſſen Behagen. Die Tochter des reichen Gro߬ händlers Friedheim. Ich habe ſie gut gekannt; denn ſie kam faſt jeden Sonntag in unſere Kirche herauf. Ein ſchönes ſchlankes Fräulein mit blonden Haaren. Sie müſſen ſie ja auch ſchon geſehen haben. Sie ſaß immer im erſten Betſtuhle rechts, wo ich jedesmal für ſie und die alte Dame, die ſie be¬ gleitete, Plätze aufhob.

Ich entſinne mich nicht , ſagte ich, ohne daß ich dabei nur an etwas gedacht hätte, und wandte mich an den Sa¬ kriſtan mit der Frage, warum die Todte nicht bei Sankt Carl, wohin ſie doch eigentlich zu gehören ſcheine, begraben würde.

Damit hat es ein eigenes Bewenden , antwortete der Mann. Die ganze Stadt iſt voll davon. Das Fräulein war mit einem jungen Rechtsgelehrten verlobt und die Trauung61 ſollte ſchon in der nächſten Zeit ſtattfinden. Wie es heißt, hatte man ſich kein ungleicheres Paar denken können, als die Beiden. Er heiter, lebensluſtig, zuweilen ausgelaſſen, wenn auch nicht mehr, als es jungen Leuten eben wohl anſteht. Sie hingegen ſtill, nachdenklich, faſt ſchwermüthig. Dennoch ſollen ſie ſterbensverliebt in einander geweſen ſein. Als das Fräu¬ lein zum letzten Mal die Kirche hier oben beſuchte, war auch der Bräutigam mit. Nach der Meſſe kommt es ihr in den Sinn, in den Friedhof hineinzugehen. Der Bräutigam will anfangs nicht; endlich gibt er nach. Wie ſie ſo Arm in Arm langſam zwiſchen den Hügeln und Kreuzen hingehen, ſagt ſie: wie ſtill, wie ſchön es hier iſt! Wenn ich einmal ſterbe, möcht 'ich hier begraben ſein. Ei, erwiedert der Bräutigam ſcherzend, bis dahin iſt hier kein Platz mehr. Siehſt du denn nicht, wie jetzt ſchon die Gräber dicht aneinander gedrängt ſind. Sie werden bald zu einem einzigen großen Blumen¬ hügel zuſammenwachſen. Aber nach vierzehn Tagen war ſie todt. Eine entzündliche Krankheit, die ſie ſich bei einem Aus¬ fluge geholt haben ſoll, raffte ſie ſo ſchnell dahin. Der junge Rechtsgelehrte iſt aus Schmerz darüber faſt wahnſinnig. Nun will man ſie, wie es ihr Wunſch war, hier oben begraben laſſen. Er hatte mir bei dieſen letzten Worten die Papiere überreicht und ſetzte hinzu, der Pfarrer von Sankt Carl ließe mich bitten, ich möchte Alles Nöthige veranlaſſen und mich morgen Nachmittags zur Begräbnißſtunde im Hauſe des Gro߬62 händlers einfinden. Er ſelbſt würde auch dort ſein, da die Leiche vorher bei Sankt Carl eingeſegnet werden müſſe.

Als ich wieder allein war, legte ich die Hand auf die Stirne. Es war mir, als erwache ich aus einem ſchweren Traum. Wie Schatten löſte es ſich nach und nach von allen Dingen im Zimmer, das mir ſchon ganz fremd geworden war. Jeder Stuhl, jeder Schrank, jedes Buch auf den Geſtellen ſchien mich vertraut anzulächeln, und über dem Tiſche dort am Fenſter lag es wie ein Sonnenſtrahl aus früheren, glücklichen Tagen.

Ich überlas aufmerkſam die Sterbedocumente und dachte, während ich auf - und abſchritt, den Fall in ſeiner Beſonder¬ heit durch. Und je mehr mir die volle Bedeutung deſſelben klar wurde, deſto leichter und freier fühlte ich mich, ich wußte ſelbſt nicht warum. Ich bemühte mich jetzt, mich aus die Ver¬ ſtorbene zu beſinnen, mir nach den Andeutungen des Kirchen¬ dieners ein Bild von ihr zu entwerfen: aber ſeltſam, es floß mir immer mit jenem Ludmilla's zuſammen. Ein leiſer Duft, der ſich im Zimmer verbreitet hatte, mahnte mich endlich wieder an den Strauß. Ich nahm das Tuch davon, füllte ein Glas und ſtellte ihn hinein. Draußen lagerte eine dumpfe Schwüle, die ſich ſtill zu ſchweren Wolken zuſammenballte. Eine ſüße Müdigkeit überkam mich; ich hatte ſo viele Nächte bloß im wüſten, entnervenden Halbſchlummer zugebracht. Nun gab ich der Schläfrigkeit, die ſich wohlthuend auf meine Au¬63 genlider ſenkte, nach und ging zu Bette, während draußen die Donner zu rollen anfingen und ein erquickender Regen über die Erde niederging.

Der folgende Tag ließ ſich recht unfreundlich an und blieb es. Ich aber fühlte mich nach einem langen und tiefen Schlafe wunderbar geſtärkt und ging in den Friedhof hinab, wo ich dem Kirchendiener, der hier zugleich Todtengräber iſt, zuſah, wie er für die Verſtorbene ein Grab aufwarf. Zur beſtimmten Stunde fand ich mich in dem Hauſe des Gro߬ händlers ein. Dort wurde ich in einen ſchwarzausgeſchlagenen Empfangsſaal geführt, wo bereits eine Menge von Leidtragen¬ den verſammelt war. In der Mitte des Saales, vom Scheine leis flackernder Wachskerzen beleuchtet, lag die Todte in einem offenen Sarge, weißgekleidet, den Brautkranz im Haar. Ein junger Mann hatte ſich mit verſtörten Mienen über ſie ge¬ worfen und benetzte ihr bleiches Antlitz und ihre ſtarren Hände mit heißen Thränen und Küſſen. Als man jetzt Anſtalten traf, den Sarg zu ſchließen, wollte er dies durchaus nicht zu¬ geben. Er wehrte die Männer, die mit dem Deckel nahten, ab und rief mit herzzerreißender Stimme: Nein! Ich laſſe ſie nicht forttragen! Ich laſſe ſie nicht in die kalte, finſtere Erde verſenken! Umſonſt beſchworen ihn ſeine Angehörigen und Freunde, ſich zu faſſen; umſonſt ſprach ihm der Pfarrer von Sankt Carl, ein kleiner, wohlbeleibter Herr, in ſalbungs¬ vollen Worten Troſt zu: er wollte nichts hören und mußte64 endlich mit Gewalt von der Leiche entfernt werden. Während dieſer erſchütternden Scene ſtand ich abſeits mit geſenktem Haupte da. War es eine zufällige Aehnlichkeit, war es ein Spiel meiner Phantaſie ich glaubte Ludmilla dort im Sarge zu ſehen. Das waren dieſelben fein geſchnittenen Züge, war daſſelbe blonde, ſchlichtgeſcheitelte Haar, dieſelbe ſchlanke, zart¬ buſige Geſtalt; nur der entſtellende Hauch des Todes lag da¬ rüber und der fremdartige Prunk und Schimmer der koſtbaren Sterbegewänder. Ich verſtand den Schmerz des Jünglings, als wär 'er mein eigener und doch war es wiederum nur eine ſtille, ſüße Wehmuth, was mich durchzitterte.

Jetzt ertönten ſchaurig dumpf die Schläge des Hammers. Die Träger hoben den Sarg und unter den Klängen eines Chorals wurde die Leiche zur Einſegnung in die Carlskirche gebracht. Von dort aus bewegte ſich der Zug, dem eine lange Wagenreihe folgte, gegen den Wyſchehrad. Ein kalter Wind jagte dabei graues, zerriſſenes Gewölk mit flüchtigen Regen¬ ſchauern am Himmel hin und her und löſchte faſt die qual¬ menden Leichenfackeln aus.

Endlich waren wir auf dem Friedhofe angelangt und die nächſten Angehörigen traten laut ſchluchzend an den Rand des Grabes. Nur der Bräutigam ſchien ſchon alle ſeine Thränen verweint zu haben, denn er ſtarrte jetzt mit trockenem Auge in die moderige Grube. Als man aber den Sarg hineinſenkte da machte er eine Bewegung, als wollte er ſich mit den dumpf65 niederpolternden Schollen nachſtürzen, ſo daß ihn ein alter Herr, augenſcheinlich ſein Vater, erſchreckt beim Arm faßte. Er konnte ihn jedoch nicht daran verhindern, daß er ſich, als das Grab geſchloſſen war, auf den friſchen Hügel niederwarf, wo er ſich, ohne auf die Umſtehenden zu achten, ganz einem ſtum¬ men, verzweiflungsvollen Schmerze überließ. So verweilte er lange. Allmälig entfernten ſich die Anweſenden, indem ſie ſich noch öfter mit bedauernden Blicken nach ihm umwandten. Nur ſein Vater und ein junger Mann blieben bei ihm zurück.

Arthur , ſagte endlich der Erſtere, laß es jetzt genug ſein. Bedenke, wie mir beim Anblick eines ſolchen, alles Maaß überſchreitenden Schmerzes zu Muthe ſein muß. Ich bitte dich, mein Kind, ſteh 'auf!

Der Jüngling hörte nicht, oder wollte nicht hören.

Wahrlich, Arthur , nahm jetzt der Andere das Wort, indem er dem alten Herrn einen bedeutungsvollen Blick zu¬ warf, wahrlich, ich hätte nicht gedacht, daß du ſo wenig See¬ lenſtärke beſäßeſt. Du ſchwelgſt in deinem Schmerze wie ein nervöſes Weib. Ich kenne dich gar nicht mehr.

Arthur ſchnellte mit halbem Leibe empor und ſah ihn mit wilden Blicken an. So ſprichſt du, Richard? Du, mein Freund, von dem ich glaubte, er ſei der Einzige, der meinen Verluſt in ſeiner ganzen Größe ermeſſen und mit empfinden könnte!? Ich möchte dich an meiner Stelle ſehen! Aber freilich , fuhr er mit grellem Hohngelächter fort, deine EliſeSaar, Novellen aus Oeſterreich. 566lebt ja noch! O pfui, über den Egoismus, über die Theil¬ nahmsloſigkeit der Welt! Und er warf ſich wieder auf's Antlitz.

Betroffen über das Mißlingen ſeiner Liſt, ſchlug Richard die Augen zu Boden.

Ich bitte Sie, hochwürdiger Herr , wandte ſich der Vater an mich, helfen Sie uns doch den Unſeligen tröſten, auf daß er dieſen Ort verlaſſe, der ſeiner verzweiflungsvollen Stim¬ mung nur immer neue Nahrung gibt.

Arthur erhob abwehrend die Hand. Ich brauche keine leeren Worte. Der geiſtliche Herr ſoll ſich keine Mühe geben. Seine Vertröſtungen auf ein Wiederſehen im Jenſeits erinnern mich nur daran, daß ich hier auf Erden Alles verloren und daß mir nichts anderes übrig bleibt, als auf dieſem Grabe zu ſterben!

Arthur, du verſündigſt dich! rief der alte Herr und warf mir einen Blick zu, der für die Worte des Sohnes um Entſchuldigung bat.

Laſſen Sie ihn , ſagte ich. Ich fühle es ja nur zu gut, daß ihm jeder Troſt leer und ungenügend erſcheinen muß.

Dieſe Worte, die mir aus der tiefſten Seele kamen, ſchien der Jüngling nicht erwartet zu haben. Er hob das Haupt empor und ſah mich lange und ſchweigend an. Das ſagen Sie , ſprach er endlich, Sie, der Sie nie geliebt?

67

Warum verneinen Sie dies ſo beſtimmt? erwiederte ich mit bebender Stimme. Ich bin ein Menſch wie Sie. Aber , fuhr ich fort, indem ich mir mit dieſen Worten gleich¬ ſam ſelber Muth zuſprach, faſſen Sie ſich jetzt. Gedenken Sie der Pflichten, die Ihnen das Leben noch auferlegt und es wird Ihnen freier und leichter zu Muthe werden.

O nichts davon! entgegnete er haſtig. Ich habe jetzt keine Pflichten mehr. Und wenn auch, wie vermöcht 'ich es, ſie zu erfüllen! Die Thatkraft, die noch vor kurzem meine Bruſt geſchwellt, iſt erloſchen, und der Flug meines Geiſtes auf immer gelähmt.

Das ſcheint Ihnen jetzt ſo , ſagte ich ruhig. Ich bin überzeugt, daß Alles, was an edlen Kräften in Ihrem Weſen liegt, ſich über kurz oder lang wieder regen und ſich reiner und herrlicher entfalten wird, als dies vielleicht bei dem Be¬ ſitze Ihrer Geliebten der Fall geweſen wäre. Denn , ſetzte ich hinzu und fühlte mich durch die Zuverſicht meiner Rede ſelbſt wunderbar getröſtet und erhoben, ein großer Schmerz läutert, indem er die Seele zwingt, ihr Tiefſtes zu ſammeln. Er reift in uns die Erkenntniß, daß nur jenes Glück, welches wir ganz in uns ſelbſt finden, Dauer verſpricht und jedes andere, ſo ſchön es auch ſei, vor einem Hauche in Nichts zer¬ ſtieben kann.

Arthur blickte vor ſich hin. Aus Ihnen ſpricht der Geiſt der Entſagung , erwiederte er endlich. Es ward Ihnen ſchon5*68von jeher nahegelegt, ſo zu denken und den Blick auf die Kehr¬ ſeiten aller irdiſchen Freuden zu richten. Wie hätten Sie auch ſonſt ſtark genug ſein können, Ihr Gelübde zu tragen. Er bemerkte nicht, wie ich im Innerſten zuſammenzuckte und fuhr fort: Ich aber war ſtets ein Kind des Lebens. Ich freute mich der Blüthen, ohne zu bedenken, wie raſch ſie welken ſollen, und genoß in vollen Zügen die Gaben der Stunde, ohne mich darum zu kümmern, was die nächſte mir rauben könne. Und dann , ſetzte er hinzu, indem er wieder haſtig nach ſeinem Schmerze griff, mich hatte, was auch finſtere Asceten dawider ſagen mögen, ſchon die höchſte Erdenſeligkeit verheißend geſtreift! O, Sie wiſſen nicht, was es iſt, eine geliebte Braut an's Herz zu drücken! Er ſprang, von der Erinnerung geſtachelt, auf. Dieſen Boden, in dem ſie jetzt modern ſoll, betrat ich noch vor kurzem an ihrer Seite. Wie reizend erſchien ſie mir damals in ihrer milden Schönheit und ſtill aufknospenden Lebensfülle! Wie weich lag ihr Arm in dem meinen, wie lind ſchmiegte ſich ihr Haupt an meine Schul¬ ter, als ſie die verhängnißvollen, ahnungsreichen Worte ſprach! Sie werden vielleicht davon gehört haben?

Ich bejahte es ſchweigend.

Wie hätt 'ich mir träumen laſſen, daß dieſe Worte ſich ſo bald erfüllen würden! Und wild um ſich blickend, fragte er plötzlich: Von wo aus ſieht man hier auf die Moldau hinab?

69

Gleich von jener Baſtei aus, erwiederte ich. Aber warum fragen Sie? fuhr ich fort, da ich bemerkte, daß der alte Herr und Richard einander ängſtlich anſahen.

Sie ſollen es erfahren. Kommen Sie! Und er ergriff mich, da ich zögerte, beim Arme und eilte mit mir, während die Andern uns auf dem Fuße folgten, nach der Baſtei. Dort ſtützte er ſich mit beiden Händen auf die Bruſtwehr und ſah ſchweigend hinab. Wie trüb und ſchlammig heute der Fluß vorüberzieht, als verſchmäh 'er es, den grauen, unfreundlichen Himmel zu ſpiegeln, ſagte er endlich tonlos. Es iſt noch nicht lange her, daß dort unten in einer duftigen Mondnacht ein Kahn voll heiterer, lebensfroher Menſchen vorüber fuhr. Mein Vater, mein Freund waren darunter und ich und meine Braut.

Wozu dieſes beſtändige Wühlen in deiner Wunde, fiel ihm der Vater in's Wort, während ich athemlos auf¬ horchte.

Arthur warf ihm einen beſchwichtigenden Blick zu und fuhr fort: Wir kehrten von Podol zurück, wo wir uns unter Scherzen, anmuthigen Spielen und frohen Wechſelgeſängen bis tief in die Nacht hinein aufgehalten hatten. Alles war vom Geiſte der Laune und des Weines hold angeregt; ſelbſt meine ſonſt ſo ſtille Friedrike war heiter, beinahe übermüthig. Als wir in dieſe Nähe kamen und das alte Fort mit düſteren Umriſſen ſtill im Mondlichte aufragen ſahen, rief Einer von70 der Geſellſchaft: laßt uns doch den alten Wyſchehrad mit einem Lied begrüßen! Dieſer Vorſchlag fand lebhaften Anklang und man drängte mich von allen Seiten, einen Geſang anzu¬ ſtimmen. Gut, erwiederte ich, wir wollen die Schläfer hinter den Wällen wach ſingen. Und raſch mich beſinnend, hob ich mit einem Lied an, deſſen Worte mir der Augenblick eingab, und welche ich einer bekannten Melodie unterſchob.

Sie ſangen das Lied? fragte ich.

Ja, ich; erwiederte er, mein Erſtaunen nicht in ſeiner eigentlichen Bedeutung faſſend. Jetzt iſt es mir, ich hätte mich damit verſündigt. Es war ein echtes Lebenslied, begann weich und ſchmelzend, ſchwoll aber raſch zum Ausdrucke des froheſten Uebermuthes an. In welchem Vollgefühle des Glückes, wie zukunftstrunken ſang ich es! Mir war, es müſſe durch die Stille der Nacht über die ganze Erde erklingen und in jeder Bruſt einen Wiederhall meiner Seligkeit wachrufen.

Ich habe Sie ſingen hören und den Kahn vorüberfahren ſehen, ſagte ich.

Arthur ſah mich überraſcht an.

Erinnerſt du dich nicht mehr, bemerkte Richard, daß uns Jemand auf eine dunkle Geſtalt aufmerkſam machte, die er hinter dem äußerſten Mauervorſprung der Citadelle zu er¬ kennen glaubte. Vielleicht war es der geiſtliche Herr.

Ich war es, entgegnete ich. Und vielleicht, fuhr ich gegen Arthur fort, kann es etwas zu Ihrem Troſte bei¬71 tragen, wenn ich Ihnen bekenne, daß mir damals Ihr Lied ſehr weh gethan. Während Sie dort unten an der Seite Ihrer Geliebten und von froher Geſellſchaft umringt, vorüberfuhren, ſtand ich hier oben allein, einſam, die Bruſt voll namenloſer Sehnſucht nach den Freuden, davon Sie ſangen, und die mir verwehrt waren, ewig verwehrt bleiben müſſen. Wenn Sie der Schmerz über Ihren Verluſt wieder mit ſeiner ganzen Wucht befällt und Sie zu überwältigen droht, dann denken Sie derer, die an den ſchönſten Verheißungen, an den holde¬ ſten Genüſſen dieſer Welt bebenden Herzens und mit dem Entſagungsworte auf den Lippen vorübergehen müſſen. Ich hatte bei dieſen Worten die Hand des Jünglings ergriffen, der ſich willig und fügſam von mir fortführen ließ. Als wir an dem Friedhofe vorbei kamen, wollte er nochmals hineingehen. Nicht doch, bat der alte Herr, der ſchon froh war, ſeinen Sohn gefaßter zu ſehen, und ſtellte ſich ihm in den Weg. Nur noch den letzten Abſchied, Vater, ſagte Arthur, indem er ihn ſanft bei Seite ſchob und durch das Gitter trat. Wir Andern folgten. Er blickte eine Zeit lang mit geſenktem Haupte ſchweigend auf den Hügel nieder, dann nahm er den Arm ſeines Vaters und ging. Ich begleitete ſie noch bis an ihren Wagen, der in der Nähe hielt. Beim Abſchiede ſagte der Jüngling: Leben Sie wohl, ich werde Sie und Ihre Worte niemals vergeſſen. Die beiden Andern drückten mir mit ſtummem Danke die Hand.

72

Ich ſah eine Weile dem fortrollenden Wagen nach; dann kehrte ich langſam zurück. Eine geheimnißvolle Macht trieb mich noch einmal in den Friedhof. Da ſtand ich nun allein inmitten der Gräber. Wie ſtill war es um mich her! Nur manchmal rauſchte ein kühler, feuchter Windſtoß in den Trauer¬ weiden und Cypreſſen und ſtrich mit leiſem Klingen durch die metallenen Kreuze. Die Schauer der Vergänglichkeit quollen und rieſelten durch die Luft und aus allen Hügeln ſchwieg mich das große Räthſel des Todes an. Ein tiefes, wohl¬ thuendes Gefühl von der Nichtigkeit des Daſeins überkam mich und eine hehre Freude zitterte in meiner Bruſt auf. Ja, rief ich und breitete die Arme aus: Zweifach wird die Welt überwunden: entweder grauſam durch den Tod, der alles Irdiſche des gleißenden Schimmers entkleidet und Moder und Verweſung bloßlegt, oder ſchön und herrlich durch den Muth der Entſagung, den Chriſtus gepredigt und auf Golgatha be¬ ſiegelt. Und immer freier, immer leichter wurde mir; wie ſtückweis fiel es von mir ab, und gleich Flügeln fühlt 'ich es an den Schultern. Als ich mich ſpäter, einem innern Drange folgend, an die Orgel ſetzte, da ſtimmten die rauſchenden, langgezogenen Töne wieder ganz zu dem feierlichen Ernſte, zu der tiefen Ruhe meiner Seele.

Und ſo, fuhr er fort, während ſich noch der Nach¬ glanz jener erhabenen Stunde in ſeinen Augen ſpiegelte, ſo lebte ich wieder, mit dem ſtärkenden Bewußtſein meiner Pflicht73 mein ſtilles Leben fort; mehr und mehr verblaßte und ver¬ flüchtigte in mir die Erinnerung an jene Nacht, und immer ſeltener und ſchwächer zuckte mein Herz beim Anblicke des Mädchens, deſſen blondes Haar ich einſt mit brennender Lippe geſtreift.

Und welches nun ſchon lange eine glückliche Gattin und Mutter iſt, ſagte ich leiſe.

Ja, erwiederte er; ich habe ſie getraut und ihre Kin¬ der getauft. Und da fällt mir ein, daß es gerade die Schrecken des Krieges waren, was ihr Glück begründete oder doch be¬ ſchleunigte. Sie hatte ihr Herz einem jungen Soldaten ge¬ ſchenkt. Jedoch konnte, wie dies meiſtens unter ähnlichen Umſtänden der Fall iſt, an eine Verbindung kaum gedacht wer¬ den. Beide waren arm, und der Geliebte hatte keine Ausſicht, ſobald vom Militär loszukommen und ſich eine andere Lebens¬ ſtellung zu erwerben. Da geſchah es noch, daß er plötzlich verſetzt wurde, und ſo brach nun auch über Ludmilla das Leid des Lebens herein. Man ſah es, wie ſie ſich ſtill härmte und die Tage ihrer ſchönſten Jugend in öder, hoffnungsloſer Sehn¬ ſucht verlebte. Ich hatte inzwiſchen angefangen, von meinen geringen Ordensbezügen das Möglichſte zurückzulegen, um den liebenden doch wenigſtens nach Jahren eine gewiſſe Summe zur erſten Beſchaffung eines einfachen Hausweſens übergeben zu können. Da kam das Jahr achtundvierzig mit ſeinen Re¬ volutionsſtürmen, und der Entfernte zeichnete ſich auf dem74 italieniſchen Schlachtfelde derart aus, daß er dekorirt und zu einer Beförderung in Vorſchlag gebracht wurde. Da er aber auch einige ſchwere Verwundungen erlitten hatte, die ihn, wie ſich ſpäter erwies, zum activen Dienſte untauglich machten, ſo willigte man um ſo eher in ſeine Bitte, ihn als Zeugwart auf dem Wyſchehrad anzuſtellen, als der Vater Ludmilla's mit zunehmenden Jahren zu kränkeln begonnen hatte. So be¬ durften die Beiden meiner Hilfe nicht mehr, und meine kleinen Erſparniſſe kamen Prokop zu Gute, dem ſich damit unter meiner Anleitung eine wiſſenſchaftliche Laufbahn erſchloß. Die Alten lebten noch ein paar Jahre ſtill und zufrieden bei den Neuvermählten; endlich ſtarb der Vater und bald darauf folgte die Mutter in's Grab.

Und was iſt aus Arthur geworden? fragte ich.

Errathen Sie es nicht? antwortete er lächelnd. Er iſt wieder im Beſitze einer vortrefflichen Gattin und einer gan¬ zen Reihe von allerliebſten Kindern. Und ſo bin nur ich, weil ich es eben mußte, einſam geblieben und werde es ſein bis an mein Ende. Er hatte bei dieſen Worten, in deren ſtiller Heiterkeit ein leiſer, feiner Schmerzenston wunderbar vibrirte, die Gläſer gefüllt. Auf Ihr Glück! ſagte er und trank. Dann legte er mir die Hand wie zum Segen auf's Haupt: Der Himmel ſchütze Sie vor den feindlichen Kugeln.

Es war ſpät geworden und ich mußte fort. Er geleitete mich zum Doppelthore der Citadelle, das mir der verſchlafene75 Wachegefreite aufſchloß. Wir umarmten uns und drückten ein¬ ander zum letzten Male die Hand. Dann riß ich mich los, eilte durch die Halle und auf der Straße fort, die in einer ſcharfen Krümmung die Höhe hinab und der Stadt zuführt. Am Buge hielt ich an und blickte nach der Citadelle zurück. Hoch oben auf der Plattform über dem Thore ſtand Innocens und winkte noch einmal zum Abſchiede. Sein Antlitz ſchim¬ merte im Strahl des Mondes, der durch das leichte Gewölk der Frühlingsnacht brach, wie verklärt.

[76][77]

Marianne.

[78][79]

Die folgenden Mittheilungen rühren von einem Poeten her, welcher ſeinerzeit Einiges von ſich reden gemacht, nun¬ mehr aber, wie ſo mancher Andere, verſchollen und vergeſſen iſt. Das Wenige, das er geſchrieben, mag noch hie und da im Bücherſchranke eines Literaturfreundes oder in dem beſtäub¬ teſten Fache einer Leihbibliothek zu finden ſein, und der Zukunft bleibt es anheim geſtellt, ob ſein Name noch einmal genannt werden wird oder nicht.

Am 15. April ....

Oſtern iſt vorüber, theuerſter Fritz, und allmälig ſchließen ſich die Salons der Reſidenz. Ach, wie oft hab 'ich im Laufe dieſes Winters Deiner und der ſtillen Univerſitätsſtadt gedacht, wo Du mit einer kleinen Schaar begeiſterter Hörer ganz Deiner Wiſſenſchaft lebteſt, während ich hier von Einladungen und geſellſchaftlichen Verpflichtungen aller Art im Kreiſe herum¬ gejagt, zu keiner Ruhe und Sammlung des Geiſtes, zu keiner80 gleichmäßigen Thätigkeit gelangen konnte. Und dabei noch das hohle äſthetiſche Gewäſch, die anſpruchsvolle Aufgeblaſen¬ heit der Mitſtrebenden und das drückende Gefühl, daß man all' den Leuten, die Einem ihre ſchimmernden Prunkgemächer öffnen, doch eigentlich nichts iſt und auch nichts ſein kann! Wenn ich ſo in ſpäter Nacht mißmuthig und abgeſpannt aus irgend einer glänzenden Geſellſchaft in meine entlegene Vorſtadt zurückkehrte, da fiel mir dieſer leidige Müßiggang ſtets ſchwer auf's Herz, und mehr als einmal nahm ich mir vor, alle Be¬ ziehungen abzubrechen, in welche ich durch meine erſten Erfolge ſo plötzlich hineingerathen war. Aber um dieſen Ent¬ ſchluß auszuführen, hätt' ich geradezu rückſichtslos ſein müſſen, und da dies nicht in meinem Weſen liegt, ſo blieb mir nichts übrig, als wohl oder übel bis an's Ende auszuharren. Doch nun will ich mit doppeltem Behagen wieder ganz mir ſelbſt angehören und mich gleich einer Raupe in dem kleinen Hauſe der guten Frau Heidrich einſpinnen, deren Sohn noch immer als Ingenieur an der fernen Bahnſtrecke weilt, wohin er ſich im vorigen Sommer mit ſeiner Gattin, der Tochter eines hieſigen Kaufmannes, gleich nach der Hochzeit begeben hatte. Alles um mich her ſieht mich wieder ſo bekannt und vertraut an: die Bilder an den Wänden, die vergilbten Schiller - und Göthe-Büſten, das alle treue Tintenfaß auf dem Schreibtiſche und es weht durch meine Stube wie ein Hauch aus jenen Tagen, wo ich noch in ſeliger Verborgenheit über meinen81 Arbeiten ſaß. So hell und freundlich wie damals iſt es nun allerdings bei mir nicht mehr. Denn man hat meinen Fen¬ ſtern gegenüber, an der Stelle des Holzplatzes mit den präch¬ tigen Nußbäumen, ein hohes palaſtähnliches Gebäude aufge¬ führt, das mir Luft und Sonne nimmt; wie denn überhaupt die weitläufige Gaſſe, in der es, wie Du weißt, vor einigen Jahren noch ganz ländlich ausſah, mehr und mehr durch gro߬ ſtädtiſche Wohnkaſernen verengt und verdüſtert wird. Doch dafür entſchädigt mich ja unſer Hausgarten, welcher bis jetzt dem Himmel ſei Dank! der allgemeinen Bauwuth ent¬ gangen iſt. Ich habe dort ſtets meine glücklichſten Schaffens¬ ſtunden gehabt, und ſchon beginnt der Lenz in dem kleinen Stückchen Natur ſeine erſten Reize zu entfalten. In hellem Grün ſchimmert der Raſen; das Aprikoſenſpalier iſt mit weißen Blüthen bedeckt ſelbſt der alte Apfelbaum, auf deſſen Stamm ich heute einen goldbraunen Schmetterling ſitzen ſah, treibt breite Knoſpen. Den Dir wohlbekannten verwit¬ terten Pavillon mit dem ſchmalen Rohrſopha und den gebrech¬ lichen Stühlen will ich auch diesmal wieder in Beſchlag nehmen, und ſo hoff 'ich bald alles Verſäumte nachholen und ſo man¬ chem mißgünſtigen Zweifler und Kopfſchüttler erweiſen zu können, daß ich mein Tiefſtes und Beſtes noch lange nicht gebracht!

Saar, Novellen aus Oeſterreich. 682

Anfang Mai.

Nun bin ich wieder ſo recht in meinem Elemente! Rings um mich her blühen Flieder und Goldregen, und faſt kein Laut menſchlicher Nähe dringt in den Garten, der friſch und duftig gleich einer weltvergeſſenen Oaſe zwiſchen ſtauberfüllten Gaſſen und Gäßchen mitten inne liegt. Einige Baumwipfel ſind während der letzten Jahre ſo mächtig geworden, daß ſie den Horizont an vielen Stellen ganz abſchließen; nur die allernächſten Dächer kommen hie und da zum Vorſchein, und wie meilenweit entfernt ragt die Thurmſpitze des Stephans¬ domes in den blauen Himmel hinein. Zuweilen tönt das dumpfe Rollen eines Wagens an mein Ohr, der helle Ruf einer Kinderſtimme dann wieder ſtundenlang nichts, als das Summen wühlender Bienen und das Gezwitſcher der Sperlinge, auf welche die Hauskatze in ihrer verſteckten Weiſe Jagd macht. Wie wohl thut mir dieſe Ruhe, dieſe Ab¬ geſchiedenheit!

Einem Traume gleich verdämmert in mir die Er¬ innerung an all' die ungewohnten Zerſtreuungen und Feſtlichkeiten, und ſchaffensfroh, in holder Gleichmäßig¬ keit fließen meine Tage dahin. Das unſelige Werk, das mir ſchon ſo viele fruchtloſe Mühe, ſo viele herbe Qualen und Zweifel bereitet, wächſt allmälig ſeiner Vollendung ent¬83 gegen; alte, längſt aufgegebene Entwürfe treten wieder mit friſchem Reiz an mich heran und neue Ideen leuchten in mir auf. Was brauch 'ich mehr, um glücklich zu ſein?! Nur Du fehlſt mir, Theuerſter, und ich möchte, wie einſt, die Abend¬ ſtunden mit Dir in der traulichen Weinlaube verplaudern können. Statt deſſen unternehme ich nun hin und wieder nach gethaner Arbeit einen einſamen Spaziergang; zumeiſt vor den nahen Linienwall hinaus, wo die ſchweigenden Friedhöfe liegen und das Arſenal in ernſter, düſterer Pracht aufragt. Dort ſchreit' ich hinan zu dem alten Wahrzeichen, zur Spinnerin am Kreuz , laſſe die Blicke über die weithin ausgedehnte Stadt bis zu den grünen Höhen an der Donau ſchweifen; ſehe die Sonne verſinken und vom Bahnhof aus lange Züge dem ſchönen Süden zubrauſen. Wenn ich dann in der Däm¬ merung heimkehre und wieder die menſchenvollen Gaſſen be¬ trete; wenn ich die Kinder gewahre, die vor den Thüren ſpielen oder mit ängſtlicher Vorſicht das Abendbrod aus den nächſten Schenken und Kramläden nach Hauſe tragen, und vorüberkomme an den dicht belagerten Brunnen, wo Burſche und Mägde mit einander ſchäckern, während die Arbeiter aus den Fabriken ſtrömen, Taglöhner mit Geſang den Bau ver¬ laſſen und von Zeit zu Zeit eine ſtolze Caroſſe mit geputzten Herren und Frauen durch das abendliche Gewühl rollt: da durchſchauert es mich wunderſam. Ich fühle mich mit Allem, was da lebt und athmet, ſo innig verwachſen und Eins 6*84und doch wieder ſo erdenfremd, ſo emporgehoben über das Treiben und Trachten, über die Sorgen und Hoffnungen, über die Leiden und Freuden dieſer Welt!

Ende Mai.

Wer ſich der Einſamkeit ergiebt, iſt bald allein, ſingt Göthe's Harfner. In gewiſſem Sinne iſt es wahr; aber eigentlich hab 'ich mein Leben lang gerade das Gegentheil er¬ fahren. Denn ſo oft ich jeden Verkehr abgebrochen hatte und mich durch die Umſtände wohl verſchanzt und geborgen glaubte, traten auch bald wieder Ereigniſſe ein, die mich, entweder raſch und gewaltſam, oder leiſe und unmerklich zur Geſellig¬ keit zurückführten. So iſt auch jetzt mein ſtill vergnügtes Daſein nicht mehr ganz ſo einſam und abgeſchieden, wie ich es mir für dieſen Sommer erwarten durfte. Der Sohn des Hauſes iſt nämlich mit ſeiner Frau, die eben erſt Mutter ge¬ worden, und dem ſechsjährigen Töchterchen eines verſtorbenen Amtscollegen hier eingetroffen. Er hat ſeine Aufgabe an der Strecke gelöſ't und wird nun wieder im Bureau verwendet. Da ging es ſogleich lebhaft und geräuſchvoll in meiner Nähe zu. Kiſten und Kaſten waren abgeladen worden; man brachte a llerlei Möbel und Geräthſchaften zum Lüften und Scheuern85 in den Hof, und in den Garten kam die Kleine gelaufen, wo ſie alsbald daran ging, den letzten Fliederſchmuck zu verwüſten. Ich räumte ihr das Feld und begab mich hinauf in meine Stube. Und je länger ich dort alle muthmaßlichen Folgen dieſes Zwiſchenfalles erwog, deſto gewiſſer ſchien es mir, daß nun meine ungeſtörten Tage gezählt ſeien. Aber meine Phan¬ taſie hatte wieder einmal zu ſchwarz geſehen. Denn ſobald Alles unter Dach und Fach gebracht war, kehrte auch die frü¬ here Ruhe in's Haus zurück und man bemerkt jetzt kaum, daß es einen Zuwachs an Bewohnern erhalten. Heidrich, deſſen heiteres, offenes Weſen Dir noch in guter Erinnerung ſein wird, geht ſchon des Morgens ſeinen Berufsgeſchäften nach, und Frau Louiſe, eine hochgewachſene ſchmächtige Brünette, wird ganz von der Wartung und Pflege ihres Knäbleins in Anſpruch genommen, das ſeit ſeiner Geburt hoffnungslos dahin kränkelt. Zuweilen bringt ſie den armen Wurm auf eine Stunde in den Garten herab, damit er etwas Luft und Son¬ nenſchein genieße. Dann iſt es gar rührend mit anzuſehen, wie die junge Mutter ſeinen Schlaf überwacht und ihm, wenn er die Augen aufſchlägt, ein Zweiglein oder eine Blume ent¬ gegenhält, damit er nur ein wenig lächle und mit den abge¬ zehrten Händchen danach lange. Auch die kleine Erni, welche im Hauſe erzogen wird, ſtört mich nicht. Sie beſucht eine nahe Schule, und da ich die Kinder ſeit jeher geliebt, ſo mag ich es gerne leiden, daß das muntere pausbäckige Geſchöpfchen86 in den Erholungsſtunden um mich herumſpringt und zutrau¬ lich in meinen Büchern und Schriften kramt. Des Abends pflegt ſich die ganze Familie unter dem Vorſitze der alten Frau, welche früher nur ſelten das Zimmer verlaſſen hatte, in der Weinlaube zum Vesperbrode zu verſammeln. Manchmal ge¬ ſelle auch ich mich dem kleinen Kreiſe und erfreue mich am Anblick eines Glückes, das ich ſo oft für mich ſelbſt erſehnt. Unlängſt erſchien auch eine jüngere Schweſter der Frau Louiſe; ein hübſches, ſchlankes, kaum den Kinderſchuhen entwachſenes Mädchen. Ein ſtattlicher Jüngling, begleitete ſie; er ſoll be¬ reits ihr Verlobter und der Sohn eines wohlhabenden Fabrikherrn aus der Umgegend ſein. Eine andere Schweſter iſt, wie ich höre, in der Provinz verheirathet. Und ſo bin ich, ſiehſt Du, wieder ſchlichten Menſchen nahegerückt worden, wie ſie mich ſtets am meiſten angezogen und bei denen mir das Herz auf¬ geht, während ich der literariſchen ſowohl, als auch der vor¬ nehmen Welt gegenüber, eine gewiſſe Scheu niemals habe los werden können.

Am 18. Juni.

Ich wollte, Du könnteſt jetzt den Garten ſehen! Die beiden alten Roſenbüſche am Eingang, die in den letzten Jah¬ ren nicht mehr hatten treiben wollen, ſcheinen plötzlich wieder87 jung geworden zu ſein: denn ſie ſtehen über und über in Blüthen und Knoſpen und ſenden, von einem Heer goldgrüner Käfer umſchwärmt, ganze Wolken von Wohlgeruch in die heiße zitternde Luft. In den Beeten blüht es gelb, blau und roth; Lilien haben ihre weißen Kelche erſchloſſen, und dabei blitzt und funkelt der goldene Sonnenſchein mit den wunderbarſten Lichtern und Reflexen auf dem Raſen und in dem üppigen Grün der Wipfel, daß Einem vor ſeliger Sommerfreude das Herz im Leibe lacht. Was aber dem Allem den letzten, ab¬ ſchließenden Zauber verleiht: das iſt ein holdes Weſen, das nun, halb Frau, halb Jungfrau, faſt täglich im Garten er¬ ſcheint und ſich inmitten des traumhaften Blühens und Leuch¬ tens wie eine Märchengeſtalt ausnimmt. Du lächelſt, Lieber? Ach, lies nur weiter und ſieh, welch 'ein ſeltſamer Zuſtand die Seele Deines Freundes überkommen hat.

Pfingſten, das Weihefeſt des Sommers, war herangerückt. Tags zuvor hatte ich mich nach Tiſch länger als ſonſt in mei¬ ner Stube verweilt; um es nur zu geſtehen: ich war über dem Werke eines neu aufgetauchten Poeten ein wenig einge¬ dämmert. Als ich ſpäter hinabging und den Hof durchſchritt, klang mir aus dem Garten eine fremde weibliche Stimme ent¬ gegen. Behutſam näherte ich mich dem Gitter und blickte durch das dichte Laubwerk hinein. Welch 'ein lieblicher Anblick bot ſich mir dar! Auf dem mittleren Raſenplatze, unter dem alten Apfelbaume, ſtand ein ſchlankes jugendliches Frauenbild und wiegte88 das Knäblein der Gattin Heidrichs, welche mit Erni auf einer nahen Bank ſaß, in den Armen. Der Sonnenſtrahl, der durch die Zweige brach, umſchimmerte ihr dunkelblondes Haar und ihr roſiges Antlitz, das ſie mit ſchalkhafter Zärtlichkeit zu dem blaſſen, verfallenen Geſichtchen des Kleinen hinabneigte. Sie gab ihm die wunderlichſten Schmeichelnamen, küßte ihn, und fing endlich, indem ſie ihn mit reizender Geberde gegen die Bruſt drückte, ein leichtes Getänzel an, wobei zwei ſchmale, längliche Füßchen unter dem Saume ihres hellfarbigen Kleides zum Vorſchein kamen. Plötzlich blieb ſie wie angewurzelt ſtehen und eine dunkle Röthe ſchoß ihr in's Geſicht. Sie mußte offenbar den Späher bemerkt haben, und ſchon im näch¬ ſten Augenblick war ſie auf Frau Louiſe zugeeilt und hatte ihr das Kind in den Schooß gelegt. Nun überkam mich eine ſonderbare Verlegenheit; ich wußte nicht, ob ich mich zurückziehen, ob ich eintreten ſollte. Endlich entſchloß ich mich zu letzterem und ging raſch, wie um etwas zu holen, an den Frauen vor¬ über. Als ich mich gleich darauf mit einem Buche unter dem Arme wieder entfernen wollte, hielt mich Frau Louiſe mit den Worten an: Wohin ſo eilig? Bleiben Sie doch ein wenig bei uns. Und mit einer Handbewegung fügte ſie hinzu: Herr A. meine Schweſter Marianne. Dieſe aber, nach¬ dem ſie ſich, noch immer flammend und verwirrt, ohne mich anzuſehen, leicht verneigt hatte, langte ein rundes Hütlein herab, das an einem Baumzweige hing, ſtülpte es auf den89 Kopf und zog die Handſchuhe an. Wie, Du willſt ſchon wieder fort? fragte Frau Louiſe erſtaunt. Ja, mein Mann erwartet mich und ſchon hatte das anmuthige Geſchöpf den Sonnenſchirm ergriffen und die Schweſter und die Kinder zum Abſchied geküßt. Alſo morgen, wie verabredet, rief noch Frau Louiſe, während die Andere mit einem haſtigen Zeichen des Einverſtändniſſes aus dem Garten eilte. Ich ſah ihr nach wie im Traum. Frau Louiſe aber wandte ſich lächelnd zu mir und ſagte: Wie Sie meine Schweſter er¬ ſchreckt haben! Seltſam, ſie war doch ſonſt nicht ſo menſchen¬ ſcheu. Sollte ſie es in der Provinz geworden ſein?

Das iſt alſo die Schweſter, von der Sie mir ſagten, daß ſie in der Provinz verheirathet ſei? fragte ich, noch immer ganz verloren.

Allerdings, dieſelbe. Ihr Mann will ſich jetzt, einer induſtriellen Unternehmung wegen, hier anſäßig machen. Sie ſind geſtern eingetroffen und im Gaſthof abgeſtiegen; ſpäter werden ſie in unſerer Nähe eine Wohnung beziehen.

Und wie lange iſt Ihre Schweſter ſchon verheirathet?

Seit fünf Jahren. Aber ſie ſieht noch immer ſo jugend¬ lich und mädchenhaft aus, wie an dem Tage, wo ſie mit Kranz und Schleier an den Altar trat. Wer würde denken, daß ſie älter iſt als ich? Freilich hat ſie keine Kinder; und dabei ſah Frau Louiſe mit leichtem Erröthen auf das Knäblein nieder, das inzwiſchen in ihrem Schooße eingeſchlummert war.

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Ich erwiederte nichts und ſpielte ſinnend mit den krauſen Locken Erni's, die ſich an mich geſchmiegt hatte.

Wir haben uns beide, wie jetzt Emilie, raſch zur Ehe entſchloſſen, fuhr Frau Louiſe fort; denn wir bekamen eine Stiefmutter in's Haus, die uns Mädchen das Leben recht ſauer machte. Namentlich hatte Marianne viel von ihr zu leiden, weil ſie durch ihr liebenswürdiges Weſen alle Herzen anzog. Sie glauben gar nicht, wie heiter, wie erluſtigend ſie ſein kann! Ich bin glücklich, ſie wieder hier zu haben, und wir beabſichtigen, uns gleich morgen zur Feier ihrer Ankunft einen fröhlichen Pfingſtſonntag zu machen. Wir wollen im Garten zu Mittag eſſen und uns dann vergnügen, wie wir können und mögen. Emilie und ihr Verlobter nehmen auch Theil; wenn es Ihnen angenehm iſt, unſer Gaſt zu ſein, ſo werden Sie uns Alle ſehr erfreuen und wie ich hoffe meine Schweſter nicht mehr ſo verlegen und zurückhaltend finden.

Ich war immer nachdenklicher geworden und ein dumpfer Schmerz hatte ſich um mein Herz gelegt. Aber bei dem Ge¬ danken, die junge Frau morgen wieder zu ſehen, drängte ſich ein ſtiller Jubel durch die Beklommenheit meines Inneren. Ich nahm die Einladung freudig an und verbrachte den Reſt des Tages voll ſüßer Unruhe, die mich auch des Nachts in halbwachen Träumen verfolgte, ſo daß ich erſt gegen Morgen feſt einſchlief. Als ich erwachte und an's Fenſter trat, ſtand91 die Sonne ſchon hoch. Es war ein prachtvoller Pfingſttag. Hell und blau ſpannte ſich der Himmel über den funkelnden Dächern aus und luſtig zwitſchernd ſchoſſen die Schwalben hin und her. In den Gaſſen herrſchte feierliche Stille; hier und dort traten ſchmuck gekleidete Frauen und Mädchen mit Gebetbüchern in der Hand aus den Häuſern, während wohl ein großer Theil der Bevölkerung ſchon mit dem Früheſten das Weichbild der Reſidenz hinter ſich gelaſſen und die grünen Fluren und Höhen, die rauſchenden Wälder der Umgegend aufgeſucht hatte. Auch ich nahm Hut und Stock und verließ das Haus. Die Aquarelle und Zeichnungen Genelli's waren eben zur öffentlichen Ausſtellung gelangt; ihnen wollt 'ich den langen Vormittag widmen. Aber die Geſtalten und Intentio¬ nen des genialen Künſtlers, welcher ſo eigenthümlich nach Schönheit gerungen hatte, waren nicht im Stande, meinen Geiſt zu feſſeln. Das Bild Mariannens ſtieg beſtändig vor mir auf und verknüpfte ſich mit einer unſicheren Vorſtellung von ihrem Gatten, welchen kennen zu lernen ich eine geheime Scheu trug. So verließ ich, zerſtreut, wie ich gekommen, das Ausſtellungsgebäude und ſchritt, da es noch immer nicht Mit¬ tag war, eine Zeit lang in der Ringſtraße auf und nieder. Ich hatte die Stadt ſchon lange nicht mehr betreten, und fremd und kalt mutheten mich die ſtolzen Palaſtreihen an; fremd und kalt wie die Menſchen, die heute ſtiller und weni¬ ger zahlreich als ſonſt an mir vorüber kamen.

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Als ich endlich wieder nach Hauſe zurückgekehrt war, fand ich die kleine Geſellſchaft bereits im Garten verſammelt. Erni ſprang mir ſogleich entgegen und ich näherte mich grüßend der Mutter Heidrichs, welche unter den blühenden Alazien an der Feuermauer des Nachbarhauſes ſaß, während die beiden jungen Frauen in einiger Entfernung den Tiſch deckten. Frau Louiſe lächelte mir freundlich zu; Marianne aber fuhr, ohne aufzublicken, in ihrer Beſchäftigung fort. Nun trat das Lie¬ bespaar Hand in Hand aus der Laube und auch Heidrich kam mit ſeinem Schwager heran, den er Dorner nannte. Es war ein großer, hagerer Mann in den erſten Dreißigen mit regel¬ mäßigen, aber harten Geſichtszügen, bei deren Anblick ich eine wohlthuende Erleichterung empfand. Ich wechſelte mit ihm einige Worte und dann irrte mein Blick unwillkürlich nach ſeiner Frau, die ſich jetzt, halb von uns abgewandt, mit einem großen Blumenſtrauße zu ſchaffen machte, der für die Tafel beſtimmt ſchien. Sie trug diesmal ein weißes, bis an den Hals hinauf geſchloſſenes Kleid, das die jungfräuliche Zartheit ihrer Formen reizvoll hervortreten ließ. Ein breites, hellgrünes Seidenband umgürtete, nach rückwärts geknüpft, ihren ſchlanken Leib; ein ſchmäleres von gleicher Farbe hielt die Fülle des Haares zuſammen, das ihr, tief in die kleine Stirne hinein geſcheitelt, amnuthig Haupt und Nacken umquoll. Als wir zu Tiſch gingen, ſollte ich neben ihr meinen Platz erhalten; aber Erni verlangte durchaus bei Tante Marianne zu ſitzen,93 und da ſich Heidrich bereits dieſer zur Linken niedergelaſſen hatte, ſo kam ich dem Wunſche des Kindes entgegen, indem ich mich raſch auf die andere Seite neben Frau Louiſe begab. Nun hatte ich ſie mir gegenüber und ihr Antlitz vor Augen, in welchen mir erſt jetzt die Aehnlichkeit mit dem ihrer Schwe¬ ſter Emilie auffiel. Aber die Züge dieſes jungen Mädchens erſchienen in unangenehmer Deutlichkeit neben jenen Marian¬ nens, welche von einem weichen, vermittelnden Schmelz über¬ haucht waren, wie er die Frauenköpfe Greuze's kennzeichnet, hier jedoch von einer faſt kindlichen Friſche des Colorits durch¬ leuchtet wurde. Ihr Blick wich dem meinen aus; ſchweigend, aber mit inniger Sorgfalt legte ſie der Kleinen an ihrer Seite von den Speiſen vor und lächelte, während ſie ſelbſt zierlich und flüchtig , ſtill zu den heiteren Bemerkungen, welche ihr Nachbar zur linken aufmunternd an ſie richtete. Nach und nach wurde ſie geſprächiger, wozu wohl der feurige Ungarwein, der in kleinen Gläſern gereicht worden war und von dem ſie mehrmals genippt hatte, mochte beigetragen haben. Eine ſüße Selbſtvergeſſenheit ſchien ſie allmälig zu überkommen; ihre großen dunklen Augen begannen zu funkeln und mit heller Stimme und fröhlichem Lachen erwiederte ſie die Scherze Heid¬ richs, deſſen Munterkeit ebenfalls mehr und mehr zunahm. Und als der junge Mann nach beendeter Mahlzeit ſich plötz¬ lich erhob und ein gemeinſames Spiel vorſchlug, da ſprang auch ſie auf und blickte, indem ſie zuſtimmend in die Hände94 klatſchte, erwartungsvoll vor ſich hin. Die Andern, ſelbſt die alte Frau, folgten ihrem Beiſpiele; nur Dorner, der über Tiſch ein faſt verletzendes Schweigen beobachtet hatte, blieb ſitzen. Ich bin kein Freund von ſolchen Dingen , ſagte er und blies den Rauch ſeiner Cigarre in die Luft. Ich will den Zuſchauer machen. Indeſſen war ſchon allerlei in Vorſchlag gebracht worden; allein die erregte Geſellſchaft fand nichts lebhaft, nichts erluſtigend genug. Endlich nannte Jemand blinde Kuh , und unter allſeitigem Beifall entſchloß man ſich raſch zu dieſem tollen Spiele. Ein Tuch wurde gebracht; man verband den Verlobten Emilien's, als dem Erſten, den das Loos getroffen, die Augen und das gegenſeitige Fliehen und Haſchen begann. Mir war dabei ganz eigenthümlich zu Muthe; Erinnerungen aus längſtvergangenen Zeiten tauchten in mir auf, und während ich mich im Ganzen mehr betrachtend, als theilnehmend verhielt, erfreute ich mich an den Bewegun¬ gen der jugendlichen Geſtalten, an dem Jubel des Kindes und der erzwungenen Rührigkeit der Matrone. Ueberaus lieblich aber war Marianne anzuſehen, wie ſie in ihrem weißen Ge¬ wande mit glühenden Wangen umherflatterte und die Geblen¬ deten mit holder Ausgelaſſenheit neckte, bis ſie endlich ſelbſt gefangen wurde. Nachdem man ihr die Binde um die Augen gelegt hatte, blieb ſie noch eine Weile, tief aufathmend, mit ausgebreiteten Armen ſtehen; dann aber ſchoß ſie pfeilſchnell gleich einer Libelle im Zick-Zack bald hiehin, bald dorthin. 95Bei dieſen anmuthigen Haſchverſuchen war ſie endlich auch mir nahe gekommen; ſchon fühlte ich die Berührung ihrer Hände als ſie plötzlich, unter dem Tuche bis zum dunkeln Carmin des Pfirſichs erröthend, von mir abließ und mit einer raſchen Wendung ihren Schwager zu faſſen bekam, der ihr wohl nicht ganz ohne Abſicht in die Arme lief. Während ihm die Augen verbunden wurden, ſagte er, die Frauenzimmer möchten ſich jetzt in Acht nehmen; denn er wäre geſonnen, keine von ihnen ohne herzhaften Kuß wieder loszulaſſen. Marianne ſchien ſogleich verſtanden zu haben, auf wen dieſe Rede eigentlich gemünzt war; denn ſie legte bedeutſam den Finger an den Mund und huſchte lautlos an das äußerſte Ende des Gartens. Der Schalk aber, dem die Binde nicht allzu feſt ſitzen mochte, bewegte ſich zum Schein noch ein wenig zwiſchen den Uebrigen hin und her; dann eilte er ihr nach, und da er, wie man bemerken konnte, recht wohl ſah, ſo hatte die junge Frau Mühe, ſeinen Nachſtellungen zu entkommen. Aber es gelang ihr doch, im entſcheidenden Momente auszubiegen und, indem ſie ein paar Blumenbeete und eine niedere Hecke von Stachelbeerſtau¬ den überſprang, in den Kreis zurückzulaufen. Dort angelangt, erblaßte ſie plötzlich, griff mit beiden Händen zum Herzen, wankte und fiel wie leblos zu Boden. Alles ſtürzte erſchrocken auf ſie zu; man löſte ihr den Gürtel und benetzte ihre Schlä¬ fen mit Waſſer. Sie kam auch alsbald wieder zu ſich, fuhr mit der Hand über die Stirne und ließ ſich, matt und kraft¬96 los wie ſie war, nach dem Pavillon bringen, der ſich hinter den Frauen und Dorner ſchloß; ſo daß nur ich, die beiden jungen Männer und das vor Entſetzen noch immer ganz ſprachloſe Kind draußen zurückblieben, Heidrich, der ſich als Urheber dieſes peinlichen Vorfalles anſah, zeigte ſich ſehr ängſt¬ lich und aufgeregt; nach einer Weile jedoch trat ſeine Frau mit beruhigendem Lächeln aus dem Pavillon. Sie fühlt ſich wieder ganz wohl , ſagte ſie mit leiſer Stimme, und will jetzt nur ein Bischen ſchlummern. Auch die Anderen kamen mit heiterer Miene heraus; nur Dorner, deſſen erſte Beſtür¬ zung ſich ſchon früher raſch in Aerger und Verdruß aufgelöſt zu haben ſchien, zog ein finſteres Geſicht und murmelte unver¬ ſtändliche Worte in den Bart. Eine langſame, erwartungs¬ volle Stunde verſtrich. Endlich öffnete ſich die Thüre des Pavillons und Marianne erſchien auf der Schwelle. Sie ſah zwar noch immer etwas blaß aus; aber ſie verſicherte, daß Alles vorüber ſei und ſchnitt jede beſorgte Frage, ſowie die Entſchuldigungen ihres Schwagers mit ſcherzenden Worten ab. Trotzdem wollte ſich die frühere Behaglichkeit nicht mehr in dem kleinen Kreiſe einſtellen, und nachdem man bei heran¬ nahender Dämmerung einige Erfriſchungen genommen hatte, ſah Dorner nach der Uhr und mahnte zum Aufbruch, da es ſpät ſei und Emilie noch nach Hauſe gebracht werden müſſe. Marianne ſtand auf, umarmte ihre Schweſter und nahm den Arm ihres Gatten, worauf auch die Verlobten ſich empfahlen97 und beide Paare den Garten verließen. Wir Hausgenoſſen verweilten noch kurze Zeit beiſammen; dann gingen die Frauen mit Erni hinauf, Heidrich folgte ihnen bald und ich blieb allein zurück. Eine laue, mondloſe Nacht breitete ſich allmälig über die Wipfel. Geheimnißvoll ſchimmerten die Akazienblüthen; eine Fledermaus huſchte mit leiſem Fluge durch den Garten; von draußen herein ſcholl der Geſang fröhlich heimkehrender Menſchen. Ich erhob mich und ſchritt langſam die verſchlun¬ genen Pfade auf und nieder. Die Eindrücke des durchlebten Tages wirkten mit ſtiller Macht in mir nach, und es war mir, als ſäh 'ich das weiße Kleid Mariannen's durch die Büſche leuchten und über den dunklen Raſen hinflattern. Endlich ging ich in den Pavillon, deſſen Thüre nur wenig offen ſtand. Ein leichter Duft war im Raume verbreitet. Ich trat an das Sopha, wo die junge Frau geſchlummert haben mußte; als ich mich darauf niederließ, faßte meine Hand etwas Glattes, Kniſterndes: es war das Band, das ſie in den Haaren ge¬ tragen. Eine ſüße Müdigkeit überkam mich; ich ſtreckte mich aus und eh' ich mich deſſen verſehen hatte, war ich, die kühle, duftende Seide zwiſchen Hand und Wange, eingeſchlafen.

Am anderen Vormittage ſaß ich im Schatten der Laube. Ich hatte ein Buch vor mir; aber ich las nicht, ſondern blickte hinaus in den goldenen Sonnenſchein. Weiße Falter flatter¬ ten um die Blumen; ferne Glockenklänge zitterten durch die Luft; in den Zweigen des Apfelbaumes ſang eine Meiſe, dieSaar, Novellen aus Oeſterreich. 798ſich vom Belvedere herüber verirrt haben mochte. Plötzlich war es mir, als vernähme ich leichte, zögernde Tritte und das Rauſchen eines Kleides. Ich erhob mich und ſtand Mariannen gegenüber, die am Eingange der Laube erſchien und ihre rei¬ zende Verlegenheit bei meinem Anblick hinter dem aufgeſpannten Sonnenſchirm zu verbergen trachtete. Entſchuldigen Sie, ſagte ſie mit unſicherer Stimme, ich dachte ich ſuche meine Schweſter

Ihre Schweſter iſt heute noch nicht herabgekommen. Aber es ſcheint, Frau Dorner, ich habe Sie wieder erſchreckt , fuhr ich fort, da ich ſah, daß ſie noch immer nach Faſſung rang.

Wieder? fragte ſie und ſah mich an.

Das Wort war mir unwillkürlich entſchlüpft. Ich glaube wenigſtens, es ſchon einmal gethan zu haben; vorgeſtern, als Sie unter jenem Baume ſtanden

Ein Lächeln kräuſelte flüchtig ihre Lippen. Ach ja! ſagte ſie leichthin. Wie thöricht von mir, ſo plötzlich davon zu laufen! Louiſe hatte mir ja ſchon von Ihnen geſprochen. Doch dafür hab 'ich Sie geſtern auch erſchreckt.

Mehr als das. Sie glauben gar nicht, wie uns Allen zu Muthe war, als Sie ſo plötzlich zu Boden ſtürzten. Aber ich ſehe, dieſer Unfall hat keine weiteren Folgen gehabt; und dabei blickte ich ihr in's Antlitz, das wieder ganz friſch und roſig ausſah.

Es war ja nichts von Bedeutung, Ich hatte gegen meine Gewohnheit Wein getrunken. Auch war ich recht ausgelaſſen, ſetzte ſie etwas kleinlaut hinzu.

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Vielleicht; aber nur wie es Kinder zu ſein pflegen. Wahrlich, Frau Dorner, wenn man nicht wüßte, daß Sie verheirathet ſind

So würde man mich nicht dafür halten, vollendete ſie ganz unbefangen, da ich mitten in der Rede abbrach. Mir iſt oft ſelbſt ſo zu Muthe! Und es klang wie ein leiſer Seufzer durch dieſe Worte, die ſcherzhaft geſprochen waren. Aber, fuhr ſie mit plötzlichem Ernſte fort, ich muß jetzt meine Schweſter aufſuchen. Und mit einer Verneigung wollte ſie ſich entfernen.

Noch einen Augenblick! bat ich. Sie haben geſtern im Pavillon Etwas vergeſſen. Und ich reichte ihr das grüne Band, das ich bei mir trug. Sie warf erröthend einen Blick darauf, nahm es mit einem dankenden Kopfnicken an ſich und verließ, raſch und anmuthig ſchreitend, den Garten.

Und nun kommt ſie, wie geſagt, faſt täglich; zumeiſt in den frühen Nachmittagsſtunden. Dann ſitzt ſie arbeitend in der Laube oder ſpielt mit Erni, welche mit der Leidenſchaftlich¬ keit der Kinder an ihr hängt. Auch hilft ſie ihrer Schweſter das Knäblein betreuen, wobei ſie faſt noch mehr Zärtlichkeit und Sorgfalt an den Tag legt, als die Mutter ſelbſt. Eine wahre Freude aber iſt es, wenn ſie auch beim Abendeſſen bleibt; denn ſie weiß dann durch allerlei Scherz und eine köſt¬ liche Plaudergabe ſtets die heiterſte Stimmung hervorzurufen. Nur in Gegenwart ihres Gatten, der meiſtens, um ſie abzu¬7 *100holen, ziemlich ſpät erſcheint, iſt ſie ſtiller und ſchweigſamer. Denn man kann deutlich merken, daß er nach Art trockener und halbgebildeter Menſchen, ihr munteres und offenes Weſen als etwas Unziemliches empfindet und dasſelbe, ſowie die holde, echt weibliche Beſchränktheit, welche Marianne in ge¬ wiſſen Dingen verräth, für Thorheit und Mangel an Verſtand anſieht. So hatte er unlängſt ein Kartenſpiel (die einzige Unterhaltung nach ſeinem Geſchmacke) in Vorſchlag gebracht, bei welchem Jeder die Augen ſeiner Karten zu zählen hatte. Marianne konnte damit nie raſch genug zu Stande kommen und mußte oft die Spitze ihres Zeigefingers zu Hilfe nehmen, bis ihr endlich Dorner mit der Bemerkung: ſie ſolle doch we¬ nigſtens zählen lernen, die bemalten Blätter ziemlich unſanft aus der Hand nahm und auf den Tiſch warf. Ich zuckte zu¬ ſammen; Marianne ſchwieg; nach und nach aber kam eine glühende Schaamröthe in ihrem Antlitz zum Vorſchein. Auch die Anderen waren betroffen und eine peinliche, unerquickliche Stimmung blieb zurück. Ueberhaupt wirkt die Anweſenheit Dorners ſtets lähmend und niederdrückend auf Alle: es wagt ſich Niemand mit einem freien, fröhlichen Worte hervor. Selbſt die Hauskatze, welche jeden Abend, um ein paar Biſſen zu erhaſchen, ſchnurrend den Tiſch umkreiſt, ergreift bei ſeinem Erſcheinen augenblicklich die Flucht, weil er gleich das erſte Mal mit dem Stocke nach ihr geſchlagen hatte. Wenn die lebensfrohe junge Frau beim Abſchied den Arm des harten,101 finſteren Mannes nimmt und dabei manchmal mit ihren wun¬ derbaren Augen nach mir zurückblickt: da, Theuerſter, zieht ſich mein Herz immer ſchmerzlich zuſammen und es iſt mir oft, als ſollt 'ich aufſpringen und ihm das ſüße Geſchöpf von der Seite reißen, für deſſen Zauber ſeine ſchwungloſe Seele ſo wenig Verſtändniß hat!

Ende Juni.

Du meinſt, ich ſei im beſten Zuge eine Thorheit zu begehen und mich ernſtlich in die junge Frau zu verlieben. Und wenn dies der Fall wäre? Wenn ich aber fürchte nichts, Guter! Du ſollteſt doch wiſſen, daß ich an Entſagung gewöhnt bin; ja noch mehr: ich habe ſo ſeltſam dies auch klingen mag bereits gelernt, ent¬ ſagend zu genießen. Und es iſt gut, daß es ſo iſt; denn ſonſt Höre nur, was ſich zwiſchen uns Beiden ereignet hat.

Als ich geſtern nach Tiſch wie gewöhnlich in den Garten kam, fand ich Marianne mit den Kindern allein. Sie hatte ſich, da über der Laube noch die volle Juniſonne brannte, auf der Bank bei dem dichten Hollundergebüſch niedergelaſſen, welches mit dem nahen Pavillon im Schatten lag. Ihr zu Füßen ſaß Erni, in eifrige Betrachtung einer zierlichen Stickerei der Tante verſunken; auf der andern Seite ſchlummerte das Knäblein im Wiegenkorbe, mit einem Fliegenſchleier bedeckt. Marianne las in einem Büchlein, das ſie, kaum meiner an¬102 ſichtig geworden, bei Seite brachte und unter ein Tuch ſchob, in welchem ich aber mit dem Scharfblicke des Autors ſogleich eine kleine Erzählung erkannte, die ich vor Jahren geſchrieben. Als ich grüßend an die junge Frau herantrat, ſagte ſie, daß die Andern eines dringenden Beſuches wegen das Haus ver¬ laſſen und ſie gebeten hätten, einſtweilen über den Kindern zu wachen. Ich thu 'es gern , fuhr ſie fort, indem ſie die Hand ſchmeichelnd auf das Haupt Erni's legte, Erni iſt mein gutes, braves Mädchen, und den armen Kleinen dort lieb' ich, als wär 'er mein eigenes Kind. Sie erröthete bei dieſen Worten und hob vorſichtig ein Ende des grünen Schleiers empor. Sehen Sie nur, wie ſanft, wie ruhig er heute ſchläft, wie lieblich er trotz ſeiner Bläſſe ausſieht! Aber ich fürchte, Louiſe wird ihn nicht aufbringen. Und dabei ließ ſie traurig wieder den Flor ſinken.

Ich hatte mich neben ihr auf die Bank geſetzt und wir ſahen eine Zeit lang ſchweigend in das ſonnige Weben und Wallen hinein.

Ich habe bis jetzt geleſen, ſagte ſie endlich und zog in holder Verſchämtheit das ſchlichte Bändchen hervor.

Was blieb mir übrig, als mich überraſcht zu ſtellen. Wie, Sie leſen mein Buch? fragte ich alſo.

Ja, und nicht zum erſten Male. Es zieht mich immer von Neuem an, Sie verwundern ſich? Sie hätten mir nicht zugetraut

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O nicht doch nicht ſo, Frau Dorner! Ich meinte nur es iſt eine gar zu ſtille, traurige Geſchichte.

Eben deßhalb gefällt ſie mir. Ich bin nicht immer ſo fröhlich, wie Sie mich zu ſehen pflegen. Ich habe auch meine trüben Stunden, und mir iſt eigentlich ſtets am wohlſten, wenn ich ſtill für mich allein ſein und meinen Gedanken nachhängen kann. Nur unter Menſchen überkommt es mich.

Dann iſt es doch nur die Heiterkeit Ihrer innerſten Natur, was ſich da Bahn bricht.

Meinen Sie? ſagte ſie nachdenklich.

Gewiß. Und die Menſchen ſollten ſich glücklich ſchätzen, daß ſie ſo ſprühende Lebensfunken in Ihnen zu wecken ver¬ mögen.

Sie ſchüttelte leicht das Haupt. Nun, ich habe meiſtens nur Tadel und Verweiſe zu hören bekommen. Von meinen Eltern und Lehrern, von ſie unterbrach ſich. Ich glaube, man hat mich ſeit jeher für leichtſinnig und einfältig gehalten , ſetzte ſie mit gedämpfter Stimme hinzu.

O wer könnte, wer dürfte ſo urtheilen , ſagte ich warm.

Sie ſchien dieſen Einwurf nicht zu beachten und fuhr, an ihre letzten Worte anknüpfend, mit geſenktem Haupte fort. Vielleicht bin ich's auch. Kinder - und Mädchenjahre ſind mir wie im Traume vergangen; ſelbſt der Tod unſerer Mut¬ ter, die uns freilich ſchon ſehr früh entriſſen wurde, hat mich nicht beſonders ſchmerzlich ergriffen; es war mehr ein geheimes104 Grauen, was ich dabei empfand. Jedes Spielzeug, das ich erhielt, jedes neue Kleid, jeder Ausflug auf's Land, ein jedes Feſt, bei welchem ich getanzt hatte, ließ mich noch lange nachher alles Andere vergeſſen, ſo daß ich gar nicht darauf achtete, was um mich her in der Welt vorging. Und auch jetzt iſt es noch ſo. Wenn ich oft andere Frauen von Dingen reden höre, die mir ganz fremd ſind, da fühle ich immer, wie weit ich zurückgeblieben bin und ſchäme mich meiner Unwiſſenheit,

Mit Unrecht , rief ich aus, überwältigt von der ſchlich¬ ten Erhabenheit dieſes Geſtändniſſes, mit Unrecht, Frau Dor¬ ner! Denn es iſt Ihnen dafür jene Urſprünglichkeit bewahrt geblieben, die an Ihrem Geſchlechte mehr entzückt als alle Kenntniſſe der Erde.

Sie ſah mich zweifelnd an Wie? das ſagen Sie, ein Gelehrter ein Dichter?

Warum nicht? Gerade wir, deren Daſein ganz in gei¬ ſtiger Thätigkeit aufgeht, werden von den Kundgebungen einer unbewußten Natur im Tiefſten erquickt. Glauben Sie mir, alles Wiſſen iſt werthlos, wenn es nicht von einer mächtigen, eigenthümlichen Empfindungsweiſe getragen und durchdrungen wird, während ein tiefes Gemüth, ein warmes Herz jeder Formel entrathen kann: denn es überzeugt und gewinnt, indem es ſich einfach im Thun und Laſſen ausſpricht. Und Sie beſitzen ein ſolches Gemüth, ein ſolches Herz, Frau Ma¬ rianne!

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Sie erwiederte nichts und brachte nur langſam die Hand vor die Bruſt.

Und auch Gefühl und Verſtändniß für ſo Manches, das unbeachtet und ungekannt an Ihnen vorüber zieht, liegt in Ihrem Weſen , fuhr ich fort. Aber es hat noch Niemand das löſende Wort zu ſprechen gewußt, und ſo blieb Ihrem Sinne bis jetzt die Bedeutung des Lebens verſchloſſen und all Ihr innerer Reichthum Ihnen ſelbſt ein Geheimniß.

Es iſt wahr , ſagte ſie, kaum vernehmlich, ich fühle mich oft ſo beengt und ringe nach Etwas, das ich nicht nennen kann Ach Freund, es war wunderbar, wie ſie da¬ ſaß, die ſchmale Hand am Herzen, den Blick zu Boden ge¬ richtet. Sie war ganz bleich geworden und ihr zarter Buſen hob und ſenkte ſich leiſe. Und mich überkam's, ihr zu ſagen, daß es die Liebe ſei, nach der ſie ringe und die allein dem Weibe die Welt in ihrer Unendlichkeit erſchließt aber ein Blick auf das lauſchende Kind zu ihren Füßen dämmte meine wogende Seele zurück und ich ſchwieg. So entſtand eine tiefe Stille; Erni ſah mit klugen braunen Augen forſchend zu uns empor und man konnte das Summen einer Wespe vernehmen, die uns in immer engeren Kreiſen umflog. Plötzlich ſtieß Marianne einen leichten Schrei aus und fuhr mit der Hand nach der Wange. Das geflügelte Thierchen war ihr nahe ge¬ kommen und hatte ſie unterhalb des rechten Auges geſtochen; ein kleines, rothumrändertes Bläschen zeigte ſich. Ich eilte106 an das nächſte Blumenbeet und grub etwas Erde auf. Ma¬ rianne wollte damit die ſchmerzende Stelle bedecken; aber die feuchte Maſſe zerbröckelte unter ihren bebenden Fingern und fiel zu Boden.

Laſſen Sie es mich verſuchen , ſagte ich und holte friſche Erde herbei. Sie zog den ſchlanken Leib ſchaamhaft zurück und ich drückte ihr, während ſie in holder Verwirrung die Augen ſchloß, das kühlende Element ſanft gegen die Wange. Sie athmete tief auf und ſchien eine wohlthuende Linderung zu empfinden. So weilten wir; Beide, das fühlt 'ich, ſüß und leiſe durchſchauert. Da regte ſich das Knäblein unter dem Schleier und fing nach Art erwachender Kinder laut zu weinen an. Marianne wurde immer unruhiger; endlich machte ſie ſich von mir los, ſprang auf und nahm den Kleinen in die Arme, wo er auch alsbald ſtill ward und zu lächeln begann. Nun ſchickte ſie, von mir abgewendet, Erni um Waſſer. Das Kind, welches Allem beſorgt zugeſehen hatte, eilte fort; wir aber ſprachen nichts mehr; unſere Blicke mieden ſich, und als Erni mit dem gefüllten Becken erſchien, zog ich mich in den Pavillon zurück. Ich hörte, wie ſich Marianne draußen wuſch, dann einige Male durch den Garten ging und ſich endlich wieder bei den Hollunderbüſchen niederließ, wo ſie von Zeit zu Zeit ſanfte Worte an die Kinder richtete. So wurde es Abend und die Andern kamen nach Hauſe. Erni lief ihnen entgegen, und erzählte ſogleich mit lauter Stimme den ganzen107 Vorfall. Ich vernahm, wie man darüber ſcherzte und lachte; als ich jedoch ſpäter hinaustrat, fand ich Marianne nicht mehr unter den Anweſenden. Es hieß, ſie ſei nach Hauſe ge¬ gangen, weil ſie noch immer heftige Schmerzen empfunden habe.

20. Juli.

Erſpare Dir doch Deine langen Epiſteln, Theuerſter, voll von Zweifeln an meiner gerühmten Entſagungskraft und ſon¬ ſtigen Beſorgniſſen! Die Gefahr, von der Du mich und die junge Frau bedroht ſiehſt, iſt im Vorüberziehen. Und zwar hat das Schickſal ſelbſt Deine Rolle übernommen und, immer mächtiger als wir armen Menſchenkinder, ſich nicht bloß auf Ermahnungen und weiſe Rathſchläge beſchränkt, ſondern gleich nicht etwa mit rauher, nein: mit liebender Hand einge¬ griffen.

Du erinnerſt Dich, daß ich vor zwei Jahren den Sommer im ſüdlichen Böhmen bei meinem Jugendfreunde Robert zu¬ gebracht habe, der ſeit dem letzten Feldzuge mit durchſchoſſener Bruſt in fremder Erde vermodert. Wenn Du Dir die Mühe nehmen und meine Briefe aus jener Zeit hervorſuchen willſt, ſo wird Dir daraus das grüne, freundliche Moldauthal, die herrliche Birken - und Tannenpracht des Böhmerwaldes ent¬ gegentreten und das alte Stammſchloß der Roſenberge, auf108 ſtolzer Höhe gelegen, mit weit ausblickenden Zinnen vor Dir aufſteigen. Auch eines Mannes wirſt Du erwähnt finden, der in dieſem einſamen, jetzt dem Fürſten S .... gehörenden Prachtbau der Vergangenheit als Archivar lebt. Ich hatte ihn eines Tages mit der Bitte aufgeſucht, mich in dem hiſto¬ riſch merkwürdigen Archive und in der reichhaltigen Bibliothek ein wenig umſehen zu dürfen, und entſinne mich deutlich, daß ich Dir damals geſchrieben habe, wie ſehr ich ihn um ſein ſtilles, abgeſchiedenes Daſein beneide. Als ich aber näher mit ihm bekannt wurde, da merkte ich bald, daß ihm, was mir wünſchenswerth erſchien, Unmuth und Unzufriedenheit bereite. Er hatte früher ein öffentliches Lehramt bekleidet; war aber, mißliebiger Anſchauungen wegen, von der Regierung entfernt und durch die Noth gezwungen worden, dieſe Stelle anzuneh¬ men, welche ſeinem lebhaften, auf erfolgreiches Wirken gerich¬ teten Geiſt ebenſo wenig zuſagen konnte, als ſie ihm in ihrer geringen Anſehnlichkeit ſeiner Kenntniſſe und Fähigkeiten wür¬ dig erſchien. Er geſtand mir offen, daß er Alles aufbiete, wieder los zu kommen; und da ich ihm hingegen meine Nei¬ gung zu einem ſolchen Poſten mittheilte, ſo verſprach er mir, mich dem Fürſten vorzuſchlagen, ſobald er eine paſſende Lebensſtel¬ lung würde gefunden haben. Nun bekam ich dieſer Tage (ich hatte ſeiner Zuſage längſt nicht mehr gedacht) von ihm einen Brief, worin er mir ſchreibt, daß er endlich einen ehrenvollen Ruf in's Ausland erhalten, und mich fragt, ob ich noch ge¬109 ſonnen wäre, ſein Nachfolger zu werden. Er habe mit dem Fürſten bereits geſprochen; dieſer ſei ganz einverſtanden und ſo hinge jetzt Alles nur von meinem raſchen Entſchluſſe ab. Daß ich mit beiden Händen zugriff, kannſt Du Dir denken! Wollte ſich doch jetzt erfüllen, wonach ich mich ſo lange ge¬ ſehnt: unbekümmert um literariſchen Erwerb in gänzlicher Zurückgezogenheit meiner Kunſt leben zu können. Gewiſſe Leute werden freilich die Köpfe ſchütteln. Wie man nur daran denken könne, fern von aller Welt in einem alten Schloſſe zu verſauern , hör 'ich ſie ſagen; daß der Dichter Anregung brauche und was ſonſt noch an ähnlichen Gemeinplätzen vorzubringen ſein wird. Als ob ich bis jetzt nicht gelebt hätte! An meinen Schläfen ſchimmern ſchon die erſten grauen Haare und ich müßte wirklich unſterblich ſein, um auch nur die Hälfte meiner Erfahrungen künſtleriſch zu verwerthen. Und ſo will ich nur noch meine Angelegenheiten ordnen, mich von einigen guten und edlen Menſchen, denen ich ſo Manches zu danken habe, verabſchieden und dann der Reſidenz Lebewohl ſagen. Jetzt aber kann ich Dir auch geſtehen: es iſt hohe Zeit, daß ich fortkomme. Aus Folgendem magſt Du es ent¬ nehmen.

Seit jenem denkwürdigen Nachmittage war Marianne nicht mehr ſo oft, wie ſonſt, und zumeiſt nur auf kürzere Zeit in den Garten gekommen. Dabei hatte es mir geſchienen, als wiche ſie einer Begegnung mit mir aus, ſo daß ich ſelbſt ver¬110 mied, mit ihr zuſammen zu treffen und wieder häufiger meine Spaziergänge vor dem Linienwall aufnahm. Eines Tages war ich aber doch in dem unbeſtimmten Drange, die junge Frau wieder zu ſehen, daheim geblieben. Es wurde Abend, ſie er¬ ſchien nicht. Endlich geſellte ich mich zu meinen Hausgenoſſen, die ich ziemlich einſylbig in der Laube verſammelt fand. Nach einer Weile ſagte Heidrich: Warum doch Marianne gar nicht mehr kommt! Es iſt heute ſchon der vierte Tag, daß wir ſie nicht geſehen haben.

Du weißt doch, erwiederte ſeine Frau mit einer gewiſſen Haſt, daß das Unternehmen Dorners bereits in vollem Gang iſt; das macht auch ihr im Hausweſen viel zu ſchaffen.

Allerdings; das weiß ich. Aber ſie iſt auch ſonſt ſelt¬ ſam verändert.

Findeſt Du? warf ſie nachläſſig hin, während mich ihr Blick unſicher ſtreifte.

Ja; und ich glaube, ſie iſt nicht glücklich.

Und warum ſoll ſie nicht glücklich ſein? fragte Louiſe ſcharf und bedeutungsvoll.

Ach laß das! entgegnete er, offen und unbefangen wie immer. Vor unſerem Freunde kenn 'ich keine Geheimniſſe. Er wird ſich ſchon ſelber ſeine Gedanken gemacht haben. Ich ſage: Dorner iſt kein Mann für Marianne.

Und weßhalb nicht? fuhr ſie gereizt fort. Er iſt ein Ehrenmann, wenn auch ein wenig trocken und barſch im Um¬111 gange. Aber gerade ſein ſtrenger Ernſt paſſt für ſie; denn er hält ihrem doch oft allzu kindiſchen Weſen das Gleichgewicht. Aber ich bin überzeugt, daß ſie ihn nicht liebt! ſtieß Heidrich hervor.

Ei was! rief die alte Frau in ihrer reſoluten Weiſe dazwiſchen. Ihr Männer habt es beſtändig nur mit der Liebe! Die entſteht und vergeht. Was den Beiden fehlt iſt ein Kind; eine kinderloſe Ehe iſt keine Ehe!

Ich ſchwieg; aber was in meinem Innern vorging, kannſt Du Dir denken.

Um dieſe Zeit ſtarb das Knäblein. Heftige, ſich raſch wiederholende Krämpfe, hatten ſeinem kurzen Daſein ein Ende gemacht. Man nahm dieſes traurige Ereigniß im Hauſe mit ſtiller Ergebung auf. War es doch längſt vorauszuſehen, ja bei dem hoffnungsloſen Zuſtande des Kindes herbeizuwünſchen geweſen; auch trägt Frau Louiſe ſchon ein neues Leben unter dem Herzen. So ſtanden die jungen Eltern zwar bleich, aber ohne Klage an dem Särglein, in welchem der Kleine lag, von ſeinen Leiden befreit, wie lächelnd im Tode. Deſto faſſungs¬ loſer klang das Schluchzen Mariannens, die ſich mit noch anderen Verwandten eingefunden hatte. Ich ſah zum erſten Male den Vater der Schweſtern, einen bejahrten Mann mit einem ſcheuen kummervollen Zug im Antlitz; dann die Stief¬ mutter, eine ſtattliche, geputzte Frau im beſten Alter. Auch die beiden Liebenden, deren Vermählung nahe bevorſtand, waren112 zugegen. Man merkte, wie ſie ihrem Glücke Gewalt anthun mußten, um die Trauer der Andern mitempfinden zu können. Dorner war nicht erſchienen. Als man die Leiche forttrug, folgte ich auch zur Kirche. Nach der Einſegnung ſtiegen die Eltern mit dem Manne, der den Sarg trug, in einen bereit ſtehenden Wagen; Marianne leiſe in ihr Tuch weinend, ſetzte ſich zu ihnen; die Uebrigen entfernten ſich. Ich aber kehrte wieder nach Hauſe zurück und ſchritt einſam im Garten auf und nieder. Ein leichter Strichregen war gefallen und an den Blättern funkelten helle Tropfen im Strahl der ſpäten Nachmittagsſonne. Ein Nelkenbeet duftete ſcharf; am Himmel ſtanden dunkle, feurig umſäumte Wolken; von Zeit zu Zeit ging ein leiſes Rauſchen durch die Wipfel. Ueber eine Stunde mochte ich ſo in weh¬ müthigen Empfindungen verſunken geweſen ſein und hatte mich endlich im Pavillon niedergelaſſen, als der Wagen am Thore hielt, der die Leidtragenden vom Friedhof brachte. Ich ver¬ muthete, ſie würden in den Garten kommen; aber ſie gingen alle miteinander hinauf. Nach einer Weile jedoch wurde das Gitter geöffnet; Marianne trat ein, Erni an der Hand führend, und bewegte ſich mit dem Kinde, das während des Begräbniſſes oben bei der alten Frau geblieben war, langſam auf dem mittleren Pfade fort. Sie blickte nicht nach dem Pavillon; aber Erni that es und hatte mich auch gleich be¬ merkt. Tante Marianne, Herr A. iſt hier! rief ſie und wiederholte dieſe Worte, da die junge Frau nicht darauf zu113 achten ſchien, ſondern mit geſenktem Haupte vorwärts ſchritt, mehrere Male nach einander; ſo daß mir alſo nichts er¬ übrigte, als hinauszutreten und mich ihnen zu nähern. Das Kind wollte, um mich zu erwarten, ſtehen bleiben; aber Mari¬ anne ließ ſeine Hand los und ging immer weiter; erſt als ich dicht hinter ihr war, hielt ſie an und wandte mir ihr Antlitz zu. Ich habe ſie oben allein gelaſſen, begann ſie langſam; ich glaube, ſie fühlen jetzt das Bedürfniß, ſich un¬ geſtört auszuweinen. Sie ſah nach einer kleinen Uhr, die ſie im Gürtel trug, Es iſt ſchon ſpät; mein Mann ſoll noch kommen. Er war heute Nachmittag ſehr beſchäftigt.

Wie ich höre, werden auch Sie jetzt von häuslichen Geſchäften ſehr in Anſpruch genommen, Frau Dorner, ſagte ich, um etwas zu ſagen.

Sie erröthete flüchtig. Allerdings; und ich kann mich noch nicht ganz zurecht finden. Aber es iſt gut; man vergißt ſo Manches darüber.

Ich ſchwieg, und ſo gingen wir eine Zeit lang, ohne zu ſprechen, neben einander hin. Es war ſchon dunkel geworden und durch die Bäume wehte es feucht und kühl.

Welch 'eine rauhe Abendluft , ſagte ſie endlich und zog ihr Tuch fröſtelnd um die Schultern. Man merkt, daß der Herbſt bereits im Anzug iſt. Das arme Kind; heute liegt es in der kalten Erde.

Saar, Novellen aus Oeſterreich. 8114

Gönnen Sie dem Kinde die ſelige Ruhe, Frau Dorner , ſagte ich bewegt. Sein Tod war ſeine Erlöſung.

Sie ſchauderte leicht. Es iſt wahr, ſagte ſie tonlos; das Leben iſt für die Glücklichen.

Erni war indeſſen ſtill hinter uns hergegangen; jetzt rief ſie: Tante, Du hätteſt Herrn A. heirathen ſollen; dann wäreſt Du auch glücklich geworden.

Ich ſah wie ſie erbleichend zuſammenzuckte. Aber ſie zwang ſich zu einem Lächeln und ſagte: was doch das thörichte Mädchen ſpricht.

Ich konnte nichts erwiedern; es lag mir wie Blei auf der Zunge, auf dem Herzen. So gingen wir wieder ſchweigend neben einander. Als wir uns dem Eingänge näherten, erblickten wir Dorner, der über das Gitter ſah und ein befremdetes Geſicht machte, als er uns gewahr wurde. Er trat ein, und nachdem wir einige Worte getauſcht, begab er ſich mit ſeiner Frau und dem Kinde hinauf. Ich aber blieb zurück in der ſinkenden Nacht, allein mit meinen Gefühlen, in welchen ſich Schmerz und Seligkeit wunderbar verwoben.

Schloß K .... in Böhmen, Mitte September.

Warum ich ſo lange ſchweige, fragſt Du? Und ob ich mich ſchon an den Ufern der Moldau befände? Ja, Theuerſter,115 ſeit vier Wochen bin ich hier doch in welchem Zuſtande! Ach Freund, was ſind die Entſchlüſſe des Menſchen! Vorüber¬ gehen wollt 'ich an dem geliebten Weibe, das mir beſtimmt ſchien, zugefallen durch einen holden Ausgleich der Natur und nun! Aber ich will mich faſſen, will Dir Alles niederſchreiben und dieſe Blätter wie ein letztes Vermächtniß in deine Hände legen.

Der Tag, den ich mir zur Abreiſe feſtgeſetzt, war immer näher gekommen. Ich hatte es, ohne zu wiſſen warum, ſtets hinausgeſchoben, meinen Hausgenoſſen unſere bevorſtehende Trennung mitzutheilen, und nun zeigte ſich die alte Frau, die mir im Laufe der Jahre eine faſt mütterliche Theilnahme und Fürſorge erwieſen, ſehr ergriffen. Sie wiſchte ſich die Augen, und ſagte, ſie wolle meine Stube gar nicht weiter vermiethen; denn ſie würde keinen Fremden darin ſehen können. Ihr Sohn bekräftigte dies, indem er mir wiederholt die Hände ſchüttelte und hinzufügte, ſie hätten gehofft, mich nicht früher zu verlieren, als bis ich einmal des Hageſtolzenlebens müde und Willens geworden ſei, einen eigenen Heerd zu gründen. Und das ſollt 'ich auch: denn ich ſei ganz der Mann, ein Weib glücklich zu machen. Nur Frau Louiſe, die gegen mich in letzter Zeit etwas zurückhaltend geweſen, ſchien wie erleich¬ tert aufzuathmen. Sie ward mit einem Male wieder herzlich und freundlich, und ermunterte mich ſogar, die Hochzeit Emi¬ liens abzuwarten, zu deren Feier, wie ich nun hörte, der fünf¬8*116zehnte Auguſt beſtimmt war. Ich ließ mich bereit finden, von dem Gedanken verlockt, bei dieſer feſtlichen Gelegenheit mit Mariannen zuſammenzutreffen, welche ich ſeit jenem traurigen Abend nicht wieder geſehen hatte. Denn es war inzwiſchen trübes, regneriſches Wetter eingefallen, das den Garten verö¬ dete; auch hatte ich im Drange meiner Geſchäfte und Abſchieds¬ beſuche, die meiſte Zeit außer Hauſe zugebracht. Dadurch war ſie mir etwas ferner gerückt worden, und wenn ich an ſie dachte, geſchah es mit einer Art ſüß-ſchmerzlicher Genugthuung und mit dem Gefühl, daß die Erinnerung an ſie mein ganzes künftiges Daſein begleiten und verſchönen würde. Ihre Zu¬ kunft ſo eigenſüchtig iſt das menſchliche Herz erwog ich nicht; vielleicht war es eine geheime Angſt, was mich davon abhielt. Nun aber wollte ich noch einmal den Zauber ihres Weſens ganz und voll in mich aufnehmen und dann ſchei¬ den für immer.

Der fünfzehnte Auguſt war da und mit ihm hatte ſich der Himmel wieder aufgehellt. In den erſten Stunden des Nachmittags erſchien ein Wagen, um mich zur Trauung zu fahren; die Andern hatten ſich ſchon früher nach dem Hauſe der Braut begeben. Als ich vor der Kirche hielt, war dieſe bereits von vielen Neugierigen belagert und gleich darauf kam eine lange Reihe offener Wagen in Sicht, die auf raſchen Rädern Brautleute und Hochzeitsgäſte heranbrachten. Alles ſtrahlte in Freude und Heiterkeit; beim Ausſteigen gab es ein117 helles Gewirr von ſchimmernden Gewändern, wehenden Schleiern und duftenden Blumen; ſelbſt die eintönige ſchwarze Tracht der Männer war durch farbige Sträußchen belebt. Das ganze hatte einen kräftigen, altbürgerlichen Anſtrich, und mahnte an jene Zeit, wo man noch keine ſtillen, verſchwiegenen Hochzeiten kannte, ſondern ſein Glück in ſeligem Uebermuthe offen zur Schau trug. Mein Blick ſuchte Marianne, die eigenthümlich bleich ausſah und zu fröſteln ſchien, trotz des kurzen, mit Schwan beſetzten Mäntelchens, das ſie um die entblößten Schultern ge¬ worfen hatte. Sie trug ein Kleid von perlgrauer Seide; ihr Haar war mit weißen Roſen geſchmückt; in der Hand hielt ſie einen Strauß von denſelben Blumen. So ſchritt ſie, meinen Gruß ſtumm erwiedernd, an mir vorüber in die Kirche. Während der Trauung, als der Prieſter über die Bedeutung und vom Glücke der Ehe ſprach, arbeitete es heftig in ihrer Bruſt, und ich ſah zwei große Thränen unter ihren Wimpern hervortreten und langſam über die Wangen hinabrollen. Nach beendeter Feierlichkeit ſtieg Alles wieder in die Gefährte, und im Fluge ging es, von den Blicken der Vorübergehenden ge¬ folgt, durch die belebten Straßen dem nahen, am Fuße des Kahlenberges gelegenen Orte G ... zu. Ich fuhr mit Hei¬ drich und Dorner; im Wagen vor uns ſaßen die beiden jungen Frauen. Marianne wandte kein einziges Mal den Kopf, nur ihr goldig angehauchtes Haar und die weißen Ro¬ ſen leuchteten vor meinen Augen. Endlich hatten wir das118 ſtattliche Fabriksgebäude erreicht, in welchem, wie es der Va¬ ter des Bräutigams gewünſcht, das eigentliche Hochzeitsfeſt ſtattfinden ſollte. Eine fröhliche Arbeiterſchaar empfing uns, dann traten wir in einen großen, mit Laub - und Blumenge¬ winden reich ausgeſchmückten Saal, wo uns ein wohlbeſetztes Orcheſter mit einem lebhaften Tuſch bewillkommte. Hierauf gingen wir zur Tafel, welche für die zahlreichen Gäſte in einem weitläufigen Nebenraume gedeckt war. Ich hatte meinen Platz zwiſchen zwei jungen Frauenzimmern erhalten, welchen ich mich nun artig erweiſen mußte; aber ich ſah doch beſtändig zu Mariannen hinüber, die in ſich verſunken an der Seite Dorners neben der Braut ſaß. Sie berührte faſt nichts und nippte nur manchmal von dem perlenden Schaumweine, den man credenzt hatte. Als auf das Wohl der Vermählten ein Toaſt ausgebracht wurde, fiel ſie Emilien convulſiviſch weinend an die Bruſt, und ſie hörte es nicht, daß man nun auch das Ehepaar Dorner leben ließ. Darauf aufmerkſam gemacht, ſchrack ſie empor und es war, als durchbebe ſie ein leiſer Schauder, als ſie ihr Glas mit dem ihres Gatten zuſammen¬ klingen ließ. Inzwiſchen war es bereits ziemlich dunkel geworden. Im Saale wurden die Lichter angezündet und plötzlich erließ das Orcheſter mit einigen raſchen Takten die Aufforderung zum Tanze. Dieſe Klänge wirkten elektriſch; Stühle wurden ge¬ rückt, Gewänder rauſchten und im Nu tanzte ein Paar nach dem andern in den Saal hinaus, wo ſchon ein beſchwin¬119 gender Walzer ertönte. Auch Dorner hatte zu meinem Erſtau¬ nen den ſchlanken Leib ſeiner Frau umfaßt und die halb Wider¬ ſtrebende mit ſich fortgezogen. Ich folgte langſam nach und ſetzte mich in eine Fenſterniſche. Und wie ich ſo daſaß, vor mir das bunte, ſchimmernde Gewühl der Tanzenden; hinter mir die ſchweigende, dunkelnde Landſchaft: da wurde mir eigen¬ thümlich traumhaft zu Muth. Ein Heer von Erinnerungen ſtieg vor mir auf; die ſchönen leuchteten immer reiner und verklärter; die böſen vergingen und zerrannen und die ganze Wehmuth des Scheidens zog in mein Herz. Und es war mir, als könnt 'ich nun nicht mehr die Stadt verlaſſen, in der ich gelebt, geſtrebt, gerungen mit allen Leiden und Freuden einer Menſchenſeele; als könnt' ich mich nicht trennen von dem klei¬ nen Hauſe und ſeinen Bewohnern, von dem traulichen Garten und von der jungen Frau, welche dort, ſchon mit andern Tänzern, zwiſchen den hin und her wogenden Paaren auf¬ tauchte und wieder verſchwand. Aber der Würfel war ge¬ fallen, und ich mußte fort.

Dem Walzer folgten raſch nach einander neue Tänze. Der ſüße Taumel des Vergeſſens, welcher im Tanze liegt und dieſen für ihr Geſchlecht ſo verlockend macht, ſchien dabei Ma¬ rianne mehr und mehr zu überkommen. Ihre Wangen glühten, ihr Haar hatte ſich gelöſt, ihre dunkel leuchtenden Augen ſchienen mich aus der Ferne zu ſuchen. Endlich trat eine Pauſe ein und die Paare machten Arm in Arm plaudernd120 und ſcherzend die Runde durch den Saal. Marianne jedoch hatte ſich mit allen Zeichen der Ermüdung auf einen Stuhl niedergelaſſen; vor ihr, ſichtlich bemüht, ſie für ſich einzunehmen, ſtand ein junger Mann mit lebhaften Blicken und Geberden, welchen ich mehrmals mit ihr hatte durch den Saal fliegen ſehen. Sie aber achtete nicht auf das, was er ſprach, ſondern blickte, während ſie manchmal gezwungen lächelte, mit wogen¬ der Bruſt zerſtreut vor ſich hin und nach der Fenſterniſche, in der ich noch immer ſaß. Endlich zog ſich der Enttäuſchte zurück. Ich ſtand auf und trat vor ſie hin. Ich muß noch von Ihnen Abſchied nehmen, Frau Dorner , ſprach ich mit zitternder Stimme. Ich verlaſſe morgen die Reſidenz.

Sie athmete ſchwer und brachte, wie um ſich zu erquicken, ihren Strauß vor's Antlitz. Ich weiß es; meine Schweſter hat es mir mitgetheilt. Und Sie kehren nie wieder? fragte ſie nach einer Pauſe kaum hörbar.

Nein, Frau Dorner.

Sie erwiederte nichts. Leben Sie wohl , ſagte ſie end¬ lich und reichte mir langſam die Hand.

Im ſelben Augenblick begann die Muſik wieder, einen Galopp intonirend. Ich war des Tanzens längſt entwöhnt; aber dieſe Klänge durchzuckten mich ſeltſam. Frau Marianne , ſagte ich, von einem plötzlichen Verlangen unwiderſtehlich er¬ griffen, und hielt ihre bebende Hand feſt, Frau Marianne, laſſen Sie uns, bevor ich ſcheide, noch mit einander tanzen 121 zum erſten und letzten Male! Sie ſah mich wie erſchreckt an; dann aber ſtand ſie auf und ſank mir in die Arme. Ach, welche Wonne war es, mit ihr in dem beginnenden Wirbel hinzutreiben, der uns immer raſcher, immer ſtürmiſcher mit ſich fortriß! Wie ein Kind lag ſie an meiner Bruſt: weich, hingebend, die Lippen leicht geöffnet, die Augen halb durch die geſenkten Wimpern verſchleiert. Ihr Herz pochte neben meinem; die Roſen in ihrem Haar umdufteten mein Antlitz. Und es war mir, als müſſe es ewig ſo dauern ewig! Aber die Muſik verſtummte. Ich reichte dem ſüßen Weibe den Arm. Sie nahm ihn und lehnte ſich innig an mich. Marianne! rief ich leiſe und bebend. Sie verſtand mich; denn ſie ſchwieg und blickte zu Boden. Inzwiſchen hatten mehrere Ungenüg¬ ſame mit lautem Rufen und Händeklatſchen eine Wiederholung des Galopps verlangt und das Orcheſter fiel von neuem ein. Noch einmal! flüſterte ich und umfaßte ſie. Und als wir uns jetzt bei den raſenden Klängen zum zweiten Mal in den Armen lagen, da brach in mir die lang niedergehaltene Leiden¬ ſchaft gleich einer entfeſſelten Naturgewalt hervor. Ich zog Marianne an mich; ich beugte mein Haupt zu ihr nieder; mein Mund ſtreifte ihre Haare, ihre Stirn. Sie ließ es ge¬ ſchehen und ſah mich lächelnd an. Und feſter und feſter um¬ ſchlangen wir uns; unſere Wangen, unſere Lippen berührten ſich; unſer Odem floß in einen Hauch zuſammen. So flogen wir hin, in ſeliger Trunkenheit, weltentrückt, zwiſchen Himmel122 und Erde! Plötzlich war es mir, als ſtrauchelte ſie; mein Arm wollte ſie halten; aber ich ſchwankte ſelbſt und ſchon ſank ſie mit nach rückwärts überhangendem Haupte und ſtierem Blick ſchwer an mir nieder. Ein jähes Entſetzen riß an mei¬ nem Herzen; ich hörte noch, wie man rings aufſchrie, wie die Muſik mit einem grellen Mißklang abbrach; ſah, wie man von allen Seiten auf uns zuſtürzte dann drehte ſich Alles um mich und meine Sinne vergingen.

Als ich wieder zu mir ſelber kam, lag ich auf einem Sopha in dem matt erhellten Nebenzimmer. Ein alter Herr, die Uhr in der Hand, ſaß vor mir. Sie waren ziemlich lange bewußtlos , ſagte er.

Ich ſtarrte ihn an.

Ich bin der Arzt des Ortes , ſetzte er leiſe hinzu.

Ich ſah um mich wie im Traum. Draußen ſtrahlte der Saal in vollem Lichterglanz; aber es war Alles ſtill, ganz ſtill.

Er merkte, daß ich mich nicht zurecht fand und nahm meine Frage vorweg. Die Geſellſchaft hat ſich bereits nach der Stadt begeben. Der Dame, mit der Sie getanzt haben, iſt ein ſchwerer Unfall zugeſtoßen.

Ich wollte aufſpringen; aber meine Glieder waren erſtarrt und das Herz lag mir wie Eis in der Bruſt.

Er faßte meinen Arm. Sie kommen zu ſpät. Ich weiß nicht, ob ich es Ihnen ſagen ſoll Die Dame iſt

123

Todt , ſagte ich; denn ich wußte es längſt.

Eine plötzliche Herzlähmung

Eine plötzliche Herzlähmung , wiederholte ich dumpf, und erhob mich.

Er trat mir in den Weg. Faſſen Sie ſich, mein Herr. Sie können ſich ja keine Schuld beimeſſen; es war ein bekla¬ genswerther Zufall. Wie ich höre, haben Sie vor, abzureiſen; thun Sie es, ohne zu zögern. Erſparen Sie ſich und An¬ dern

Ich verſtand ihn. Ich werde reiſen , ſagte ich und wandte mich, um zu gehen.

Er zuckte wie rathlos die Achſeln und hielt mich nicht länger zurück. Draußen im Saal lag eine weiſe Roſe auf dem Eſtrich; ich nahm ſie auf, ohne etwas dabei zu denken, aber ich wußte, daß ſie von Marianne war. Dann ſchritt ich hinaus in die Nacht. Der Mond war aufgegangen; über Buſch und Wieſen ſchimmerten feine Nebel; die Gebäude auf dem Kahlen - und Leopoldsberge waren wie taghell beleuch¬ tet. Ich ſchritt immer weiter, ohne zu wiſſen wohin, die Roſe in der Hand. Der Pfad führte mich an Gärten und dichten Weinpflanzungen vorüber; nach und nach wurde er ſteiler und endlich hatte ich ein freies Plateau erreicht, das eine weite Fernſicht über einen Theil des Marchfeldes, über die Auen der Donau und das Häuſermeer der Stadt eröff¬ nete. Dort hielt ich an, ſetzte mich unter einen Baum, und124 blickte, die Bruſt noch immer leer und ſtumm, hinaus in die ſchweigende Unendlichkeit. Unten zog der glitzernde Strom mit leiſem Rauſchen durch die Nacht; von der Stadt her glänzten und flimmerten unzählige Lichter. Eine Grille zirpte in meiner Nähe; von Zeit zu Zeit ſchoß am Himmel eine Sternſchnuppe vorüber. Die Stunden verrannen; ich merkte es nicht. Der Mond ging unter; die Lichter erloſchen allmä¬ lig, und eine fahle, trübe Dämmerung hüllte Alles ein. Plötzlich ward ich durch einen gräßlichen Schrei aufgeſchreckt, den ich ſelbſt ausgeſtoßen; das volle Bewußtſein des Geſchehe¬ nen hatte mich angefallen. In wildem Schmerz eilte ich den Abhang hinunter und der Stadt zu. Eine Stunde ſpäter fuhr ich hinter der brauſenden Locomotive durch graue Morgennebel in's Land hinein.

Ich bin zu Ende. Du ſiehſt, das Verhängniß hat uns erreicht. Leb 'wohl! Leb' wohl!

[125]

Die Steinklopfer.

[126][127]

Eine der merkwürdigſten Eiſenbahnbauten iſt der Schienen¬ weg über den Semmering, einen Theil der noriſchen Alpen, welcher die Grenzſcheide zwiſchen dem Erzherzogthum Oeſter¬ reich und der grünen Steiermark bildet. Wer in früherer Zeit heutzutage iſt der Eindruck nicht mehr ſo gewaltig dieſe Bahn, die ſich längs gähnender Abgründe und ſchroffer Felswände empor windet, zum erſten Male befahren hat: der wird, wenn der Zug über ſchwindelerregende Viaducte donnerte oder plötzlich mit ſchrillem Pfeifen in die Nacht endlos ſchei¬ nender Tunnels hinein brauſ'te, jene mit erhabenem Grauen gemiſchte Bewunderung empfunden haben, welche uns ſtets überkommt, wenn wir Etwas, das wir bisher für unmöglich gehalten, verwirklicht vor uns ſehen. Und wenn dann die gekoppelte Wagenreihe, allmälig ebenen Boden erreichend, wie¬ der gefahrlos zwiſchen lachenden Triften forteilte, dann wird er ſich voll Stolz, der Sohn eines Jahrhunderts zu ſein, das ſolche Wunderwerke hervorbringt, in ſeinen Sitz zurückgelehnt und ſich mit halb geſchloſſenen Augen hinüber geträumt haben in die Errungenſchaften der Zukunft, welche in der Eröffnung128 des Suezcanals und dem Durchſtich des Mont Cenis noch immer nicht ihre kühnſte Bethätigung gefunden. An Eines aber, das kann man zuverſichtlich annehmen, werden die We¬ nigſten gedacht haben: an die Tauſende und aber Tauſende von Menſchen, welche im Schweiße ihres Angeſichtes, allen Fährlichkeiten preisgegeben, Felſen geſprengt, Steinblöcke ge¬ wälzt, Abgründe überbrückt und ſo recht eigentlich jene geprie¬ ſene Verkehrsſtraße geſchaffen, auf welcher Du, freundlicher Leſer, wenn Du gleich mir in der unruhvollen, ſtaubdurch¬ wirbelten Hauptſtadt an der Donau lebſt, faſt ſo raſch wie Dein Gedanke an den Strand der blauen Adria verſetzt wer¬ den kannſt. Von zweien ſolcher armer Menſchen, welche ſeit jeher, ohne daß ihnen ſelbſt bis jetzt die Segnungen des Fort¬ ſchrittes zu Theil geworden wären, treulich mitgeholfen bei der großen Culturarbeit der Völker, will ich nun eine kleine Ge¬ ſchichte erzählen. Nicht etwa, um das harte Loos dieſer Parias der Geſellſchaft, die unſere Dome und Paläſte, unſere Unter¬ richtsanſtalten und Kunſtinſtitute bauen, in grellen Farben zu ſchildern oder darzuthun, welche Rolle der ſogenannte fünfte Stand dereinſt noch im Laufe der Begebenheiten zu ſpielen berufen ſein dürfte; ein Unternehmen, das der Dichter, wie billig, dem Socialpolitiker überläßt: ſondern nur, um ein ſchlichtes Lebensbild aus der großen Maſſe Derjenigen feſtzu¬ halten, deren Daſein, von ſchweren körperlichen Mühen über¬ bürdet, im Kampfe um das tägliche Stück Brod meiſt ungekannt129 und unbeachtet dahingeht, bis es zuletzt in irgend einem dum¬ pfen Winkel der Erde ſpurlos endet; nur um zu zeigen, wie Leid und Luſt jedes Menſchenherz bewegen und daß ſich überall im Kleinen abſpielt die große Tragödie der Welt.

Die Bahn über den Semmering war hergeſtellt. Der cyklopiſche Lärm der Arbeit, das Donnern der Sprengſchüſſe war verhallt, und das zahl - und raſtloſe Menſchengewirr, das ſich aus dem entlegenen Böhmen, den mähriſch-ungariſchen Niederungen, aus dem ſteinigen Karſt und dem geſegneten Friaul hier zuſammen gefunden hatte, war weiter ſüdwärts gezogen, um dort ſein mühevolles Tagwerk fortzuſetzen. Das tief in die Wälder hinein verſcheuchte Wild kehrte allmälig wieder zurück und wagte ſich, wie neugierig, auf den rieſigen Höhenpfad, der, noch unbefahren, gleich einer vergeſſenen Spur menſchlicher Thatkraft in dem ſtillen Frieden des Hochgebirges lag. Nur hier und dort, etwa zwei Wegſtunden von einander entfernt, ſtand noch eine jener geräumigen Bretterhütten, welche die Nomaden der Arbeit in Schaaren bewohnt und bei ihrem Aufbruche wieder niedergeriſſen hatten. Sie beherbergten eine Anzahl von Zurückgebliebenen und ſpäteren Nachzüglern, welche beſtimmt waren, den Oberbau gänzlich zu vollenden. Denn noch galt es, an mancher Stelle Schienen zu legen, Geleiſe zu beſchottern, Telegraphenſtangen aufzurichten und Wächter¬ häuschen auszumauern, an deren Geſimſe die zierlichen Schwalben, welche ſich tagüber oft in langen Reihen aufSaar, Novellen aus Oeſterreich. 9130den elektriſchen Drähten niederließen, bereits ihre Neſter ge¬ klebt hatten.

Eines Nachmittags, es war Sonntag, ſaß vor einer ſol¬ chen Hütte, welche ſich, etwas abſeits von der Bahn, mit ihrer Rückwand an ſchroffe Felſen lehnte, eine weibliche Geſtalt auf der Schwelle. Sie war baarfuß, hatte um das Hinter¬ haupt ein grobes dunkles Tuch gebunden, und das Antlitz, das daraus hervorſah, war welk und von jener bräunlich fah¬ len Hautfarbe, welche der Sonnenbrand in blaſſen Geſichtern zu erzeugen pflegt. Die Stirne wies tiefe Furchen auf, und um den Mund lag ein Zug öder Traurigkeit, was die Sitzende älter erſcheinen ließ, als ſie ſein mochte, und die verkümmerte Mädchenhaftigkeit ihres Leibes ſeltſam hervor hob. Die Sonne ſtand nicht mehr hoch; über die meiſten Kuppen und Abhänge hatten ſich bereits dunkle, ſchweigende Schatten gelagert. Aber auf dem Wieſengrunde vor der Hütte und in den Wipfeln des ſeitwärts anſteigenden Waldes blitzte und funkelte noch der helle Strahl, in welchem ſich eine Schaar von Faltern, Bienen und Libellen über bunten Blumenkelchen tummelte. Die Ein¬ ſame jedoch achtete nicht der lieblichen Sommerpracht, die ſich vor ihr ausbreitete, ſondern hielt den Blick unverwandt auf eine ſchadhafte Männerjacke gerichtet, mit deren Wiederherſtel¬ lung ſie eifrig beſchäftigt war. Dieſe Arbeit ſchien ihr recht ſauer zu werden; denn ihre rauhe, ſchwielige Hand, welche die Nadel mühſam und ungelenk führte, hatte wohl ſonſt nur131 Haue und Schaufel anzufaſſen. Jetzt wurde ſie durch nahende Schritte aufgeſtört, und als ſie das Haupt hob, gewahrte ſie, wie vom Bahngeleiſe her ein Mann auf die Hütte zuſchritt, deſſen Erſcheinung einen kläglichen Anblick darbot. Klein und unanſehnlich von Wuchs, trug er einen alten, zerſchliſſenen Soldatenkittel, welcher, zu lang und zu weit, ſeinen Körper wunderlich umſchlotterte, während ihm eine blaue, abgegriffene Feldmütze tief über die Stirne herabfiel. Er wankte im Gehen, obgleich er ſich auf einen knorrigen Baumaſt ſtützte und der kleine Sack von fadenſcheinigem Zwillich, den er über die Schultern gehängt trug, ziemlich inhaltslos ausſah. So nä¬ herte er ſich, ſcheu und verlegen aus matten, farbloſen Augen blickend, der Erwartungsvollen. Iſt das die Hütte Nummer ſieben? fragte er mit unſicherer Stimme.

Ja, das iſt ſie; erwiederte die Andere in jenem eigen¬ thümlichen, hart klingenden Deutſch, wie es im ſüdlichen Böh¬ men geſprochen wird, Was willſt Du?

Man hat mich zur Arbeit heraufgeſchickt. Und dabei wies er einen Zettel vor, den er in der Hand hielt.

Sie betrachtete noch immer ſeinen ſeltſamen Aufzug und ſein dünnbärtiges Antlitz, das jämmerlich bleich und abgemagert ausſah. Der Aufſeher iſt nicht zu Hauſe , ſagte ſie endlich. Er iſt mit den Andern nach Schottwien hinunter gegangen zum Wein. Setz 'Dich einſtweilen dort nieder, wenn Du müd biſt. Und mit einem letzten Blick auf ſein hinfälliges Weſen,9*132nahm ſie, ihrer unterbrochenen Arbeit ſich beſinnend, raſch wieder Nadel und Faden auf.

Der Ankömmling erwiederte nichts, ſondern ſchleppte ſich blos ein paar Schritte ſeitwärts, wo er ſich mit allen Zeichen der Erſchöpfung im Graſe niederließ. Dort lag er, während die Sonne tiefer und tiefer ſank, ihr letztes Gold verſchüttend. Lautloſe Stille herrſchte ringsum; nur hoch im lichten Azur des Abendhimmels kreiſ'te mit lang gedehntem Schrei ein Geier.

Plötzlich erklang in der Ferne ein wüſter Männerchor. Die Emſige ſchrack auf. Jeſus, da ſind ſie ſchon , ſagte ſie halblaut zu ſich ſelbſt, und ich habe die Jacke noch nicht fertig.

Immer näher, immer ſtärker ſcholl der Geſang, und es dauerte nicht lange, ſo kam eine Schaar verwildert ausſehender Geſellen heran, aus deren Mitte, beſſer als die Andern geklei¬ det, ein Mann von herkuliſchem Wuchſe empor ragte. Er mochte ungefähr fünfzig Jahre zählen; ſein breites, aufgedun¬ ſenes Geſicht war vom Weine geröthet und der Strohhut, der ihm tief im kurzen Genick ſaß, ließ graue, verworrene Haare ſehen. Er hatte ſeinen Rock ausgezogen und über die linke Achſel geworfen; in der rechten Hand, die feiſt und ſtämmig aus dem loſen Hemdärmel hervorſah, trug er einen großen Korb, welcher Lebensmittel aller Art enthielt. Zwei von den Uebrigen trugen ſchwere, mit Kartoffeln gefüllte Säcke auf133 dem Rücken. Tertſchka! rief der Mann mit dem Korbe in heiſerem Tone, mach 'Licht drinnen, daß wir den Proviant in den Keller ſchaffen können! Und da er jetzt vor ihr ſtand und ihm die Jacke, die ſie ängſtlich an ſich drückte, in die Augen fiel, fragte er barſch: nun, iſt ſie fertig?

Noch nicht ganz; war die zaghafte Antwort.

Was? Nicht? kreiſchte er und ſein Geſicht wurde blau¬ roth. Hab 'ich Dir nicht geſagt, daß ich ſie morgen brauche?

Ich hab 'mich den ganzen Nachmittag damit geplagt. Aber ich kann's nicht ſo ſchnell machen, wie Eine, die das Nähen gelernt hat.

Der ſtille Vorwurf, der in dieſen Worten lag, ſchien ihn noch mehr zu reizen. Du weißt immer etwas zu erwiedern! ſchrie er. Aber ich ſage Dir nur, wenn ich die Jacke morgen früh nicht habe, ſo gieb Acht, was Dir geſchieht! Und er drang, den Korb zu Boden ſtellend, auf die Zurückweichende ein, als wollte er ſchon jetzt ſeine Drohung zur Wahrheit werden laſſen. Dabei fiel ſein Blick auf die Geſtalt im Sol¬ datenkittel, die ſich inzwiſchen furchtſam genähert hatte. Wer iſt der da? fragte der Wüthende, indem er die erhobene Hand ſinken ließ.

Er iſt zur Arbeit her gewieſen , ſagte Tertſchka, ſchwer athmend.

Der Aufſeher denn er war es trat mit der gan¬ zen Wucht ſeines vierſchrötigen Weſens vor den Kleinen hin134 und muſterte ihn von oben bis unten. Zur Arbeit? Der Kerl kann ja kaum auf den Füßen ſtehen!

Ich hab 'einen weiten Weg gemacht , ſagte der Andere ſchüchtern. Vom Otterthal herüber.

Das iſt auch was! höhnte der Aufſeher, indem er beim Schein des Zwielichtes in den Zettel ſah, der ihm mit beben¬ der Hand überreicht wurde. Huber nennſt Du Dich? fragte er nach einer Pauſe, aufblickend.

Ja; Georg Huber.

Wie kommſt Du zu dem Soldatengewand?

Ich bin Urlauber.

Was? Du haſt beim Militär gedient?

Sieben Jahre; im zwölften Regiment. Jetzt aber haben ſie mich heimgeſchickt, weil ich das böſe Fieber nicht loskriegen kann, das ich mir bei der Belagerung von Venedig geholt.

So, das Fieber haſt Du auch? Was die in der Bau¬ kanzlei für Leute aufnehmen! Lauter Krüppel, die man nur zum Steineklopfen verwenden kann; und da wundern ſie ſich, daß es nicht vorwärts geht. Aber merk 'Dir's, Du , fügte er mit einer drohenden Handbewegung bei, wenn Du nicht täglich Deine zwei Fuhren Schotter zu Wege bringſt, ſo jag' ich Dich fort! Hier iſt kein Spital. Und damit langte er wieder nach dem Korbe, und ging, während die Andern folg¬ ten, in die Hütte, wo er an der Hinterwand eine mit Eiſen135 beſchlagene Thüre aufſchloß. Dieſe führte in eine Höhlung, welche mehrere Stufen tief in den Felſen geſprengt war und als Keller benützt wurde. Tertſchka leuchtete mit dem Kien¬ ſpane, den ſie von einem weitläufigen Herde genommen und angezündet hatte, voran und die Lebensmittel wurden unter¬ gebracht. Hierauf ſchloß der Aufſeher die Thüre wieder hinter ſich ab und zog ſich in eine Art Verſchlag zurück; die Uebri¬ gen aber ſtreckten ſich, unter einander kauderwälſchend und ohne ihren neuen Kameraden zu beachten, längs der Seiten¬ wand auf eine Schütte alten Strohes zur Nachtruhe hin. Georg ſtand noch immer ſcheu und verlegen unweit des Ein¬ ganges; endlich trat Tertſchka an ihn heran. Geh 'ſchlafen , ſagte ſie und deutete mit der Hand nach einer leeren Stelle des gemeinſchaftlichen Lagers. Er folgte ihrem Winke, ängſt¬ lich bedacht, ſo wenig Raum als möglich einzunehmen; ſchob er ſeinen Querſack unter den Kopf, breitete den abgelegten Kittel gleich einer Decke über ſich und ſchlief mit einem tiefen Seuf¬ zer ein. Tertſchka aber zündete noch eine kleine Oellampe an und begann, am Herde niedergekauert, wieder emſig zu nähen. Endlich ließ ſie die Nadel ſinken und unterzog die Jacke einer genauen Prüfung. Dann blies ſie, mit der vollbrachten Arbeit zufrieden, das qualmende Flämmchen aus und legte ſich, an¬ gekleidet, wie ſie war, in einem Winkel neben dem Herde nieder.

136

Draußen duftete die blaue Sommernacht, und zur Dach¬ lucke der Hütte herein in den dunklen, vom Athemgeräuſch der Schlafenden durchzogenen Raum ſahen die zitternden Sterne.

Der Morgen dämmerte kaum, als es in der Hütte leben¬ dig wurde und Georg aus dem Schlafe erwachte. Er ſah, wie die Männer nach und nach das dürflige Lager verließen, allerlei Werkzeug ergriffen, das rings an den Wänden lehnte, und damit aus der Thüre gingen. Er hatte ſich gleichfalls erhoben, war in ſeinen Kittel geſchlüpft und ſtand unſchlüſſig und erwartungsvoll da, als ſich Tertſchka, einen ſchweren Hammer mit langem Stiel auf der Schulter, ihm näherte. Der Aufſeher ſchläft noch , ſagte ſie. Aber ich weiß, was Du zu thun haſt. Nimm den Hammer dort; wenn Du willſt, kannſt Du mit mir an die Arbeit gehen. Er that, wie ſie ihn hieß und trat mit ihr hinaus in die Frühe. Draußen war es kühl und ſtill; nur hier und dort zwitſcherte ein Vogel und auf der Wieſe lag der helle Thau. Sie gingen ſchwei¬ gend an das Bahngeleiſe und längs deſſelben noch eine Strecke hinauf bis zu einem verödeten Steinbruch, wo ſich bereits einige andere Arbeiter eingefunden hatten, während die Uebri¬ gen, mit Karren und Schaufeln ausgerüſtet, an der Bahn ver¬ theilt waren. Tertſchka ſchritt mit Georg an den Männern137 vorüber zu einer höher gelegenen flachen Mulde hinan. Das iſt mein Platz, ſagte ſie, indem ſie ſich mitten unter Bruch¬ ſteinen und Geröll auf den Boden niederließ. Ich bin nicht gern bei denen dort. Sie ſind ein wüſtes, hämiſches Volk. Aber Du kannſt bei mir bleiben, wenn es Dir recht iſt. Er erwiederte nichts und ſetzte ſich ſtill neben ſie. Siehſt Du, dieſe Trümmer müſſen in kleine Stücke zerſchlagen werden. Das dort, ſetzte ſie hinzu und deutete mit der Hand auf einen kleinen Berg von angehäuftem Schotter, das hab 'ich in dieſer Woche zu Stande gebracht. Er zog einen größeren Kalkſtein an ſich heran und ſchlug mit dem Hammer darauf. Der Stein blieb ganz. Stärker! rief Tertſchka und führte nun ſelbſt einen Streich, daß die Stücke umherflogen. Er ſah ſie verwundert an und erprobte noch einmal ſeine Kraft. Diesmal mit beſſerem Erfolg, und ſo begannen die Beiden, ohne mehr ein Wort zu wechſeln, ihr Tagwerk. Der Ort, wo ſie ſaßen, erſchloß eine prachtvolle Fernſicht über die mäch¬ tigen Hebungen und Senkungen der weithin ausgebreiteten Gebirgsnatur. Hart an der Bahn und in gleicher Höhe mit ihr klebte die Burgruine Klamm wie ein Geierneſt an einer bewaldeten Felſenzacke; tief unten in einer engen Thalſchlucht, lang geſtreckt und mit röthlichen Dächern, lag der Markt Schottwien. Dahinter ragte dunkel der Sonnwendſtein auf und von den grünen Matten an ſeinem Fuße herüber ſchim¬ merte, mit Bäumen umpflanzt, die freundliche Kirche,138 Maria Schutz genannt. Aber die Emſigen hatten kein Auge für das herrliche Bild; ſie hämmerten und klopften, in dum¬ pfem Eifer tief zur Erde hinab gebeugt. Höher und höher ſtieg die Sonne und brannte ſchon heiß und ſengend auf ihre Scheitel nieder. Die Schläge Georgs wurden immer ſchwächer, immer langſamer; endlich ließ er den Hammer ſinken, lüftete die Mütze und trocknete ſich den Schweiß ab, der in hellen Tropfen über ſein Antlitz rann. Auch Tertſchka hielt inne. Biſt Du ſchon müd? fragte ſie, indem ſie ihn theilnehmend anſah.

Weiß Gott, das bin ich , antwortete er mit tonloſer Stimme. Jetzt ſpür 'ich erſt, wie arg mich das Fieber herunter gebracht hat.

Wie haſt Du auch da herauf kommen können, krank und hinfällig, wie Du biſt? fuhr ſie fort.

Was hätt 'ich Anderes thun ſollen? Betteln vielleicht? Das vermag ich nicht. Handwerk hab' ich kein's gelernt. Vater und Mutter ſind nur früh geſtorben, und da hab 'ich im Ort die Gänſe hüten müſſen und ſpäter die Kühe bis in mein achtzehntes Jahr. Denn ich war immer an Kraft zurück und kein Bauer hat mich als Knecht nehmen mögen. Aber den Herren von der Aſſentirung war ich doch recht. Im zweiten Glied kann er mitlaufen , meinten ſie und haben mir den weißen Rock angezogen. Und nun hat man mich krank und elend nach Hauſe geſchickt. Eine Zeit lang wurd'139 ich von der Gemeinde erhalten; dann hieß es; ich ſolle gehen und Steine klopfen. Nun und jetzt klopf 'ich ſie, ſchloß er mit bitterem Lächeln, während er wieder nach dem Ham¬ mer griff.

Sie hatte ſchweigend das Haupt geſenkt. Aber Du wirſt es nicht aushalten , ſagte ſie ſtill.

Vielleicht doch; wenn ich nur wieder zu eſſen habe. Es iſt mir recht ſchlecht gegangen in den letzten Tagen, und ſeit geſtern früh hab 'ich nicht einen Biſſen über die Lippen ge¬ bracht.

Sie antwortete nichts und zog langſam ein Stück ſchwar¬ zen Brodes hervor, das in ihre Schürze gewickelt war, brach es in zwei ungleiche Theile und reichte ihm den größeren hin. , ſagte ſie.

Er warf einen ſcheuen Blick auf das Gebotene. Das iſt Dein Brod , erwiederte er leiſe und ablehnend.

Das thut nichts; ich hab 'an dem da genug. Und da er noch immer keine Miene machte, es zu nehmen, ſo legte ſie es dicht an ſeiner Seite auf den Boden nieder. Du wirſt auch durſtig ſein , fuhr ſie fort. Ich will Dir einen Trunk Waſſer holen; dort oben fließt eine Quelle. Und damit ſtand ſie auf, bückte ſich nach einem Krüglein, das halb zer¬ ſcherbt zwiſchen dem Geröll lag, und ſtieg bis zum Tannicht oberhalb des Steinbruchs hinauf, wo ein dünner Waſſerſtrahl unter dunklem Mooſe hervorrieſelte. Sie füllte das Krüglein,140 trank, füllte es wieder und kehrte zurück. Das Brod lag noch immer unberührt neben Georg. Aber das Waſſer nahm er. Ich danke Dir , ſagte er innig, nachdem er getrunken hatte.

Weßhalb? Ich thu's ja gern. Aber jetzt , fuhr ſie, ſich wieder ſetzend, mit ſanftem Drängen fort. Von mir kannſt Du's ſchon nehmen.

Er langte verſchämt nach dem Brode. Du haſt gewiß im Leben auch ſchon viel Noth gelitten, weil Du ſo gut biſt , ſagte er, indem er, ohne ſie anzuſehen, ein Stückchen weg¬ brach.

Ja, das hab 'ich. Und ich ſpür' auch jetzt noch oft genug, wie weh der Hunger thut.

Es war, als blieb 'ihm der Biſſen im Halſe ſtecken. Auch jetzt noch? fragte er endlich. Wird denn die Arbeit gar ſo ſchlecht bezahlt?

Mir wird ſie gar nicht bezahlt.

Was? Du bekommſt keinen Taglohn?

Nein; den behält der Aufſeher.

Der Aufſeher?

Er iſt mein Stiefvater.

Dein Stiefvater wiederholte er, noch immer ganz gedankenlos vor Erſtaunen.

Ja; mein rechter iſt bei der Arbeit verunglückt, als ich noch ganz klein war; abſtürzende Erde hat ihn verſchüttet. 141Dann iſt die Mutter bei dem Aufſeher geblieben, der damals, wie mein Vater, Teichgräber war und mit ihm in Böhmen umherzog.

Alſo aus Böhmen biſt Du? Darum red'ſt Du auch ſo fremd und haſt einen ſo ſeltſamen Namen. Ter ich kann ihn gar nicht nachſagen.

Tertſchka , ergänzte ſie. Deutſch heißt es Thereſe.

Hier zu Lande würden ſie Dich Reſi nennen. Aber , fuhr er fort, wenn Dein Stiefvater Deinen Lohn behält, ſo muß er Dir doch zu eſſen geben.

Gerade ſo viel, daß ich nicht verhungere. Du glaubſt nicht, wie geizig er iſt. Sich ſelber läßt er's freilich wohl geſchehen, und es vergeht faſt kein Tag, an dem er ſich nicht betrinkt. Aber den Andern gönnt er das Waſſer nicht, wenn ſie es ihm nicht bezahlen, und um ihn her könnt 'Alles ver¬ hungern, eh' er aus freien Stücken die Hand aufthät '. So muß ich mich mit dem begnügen, was am Herd abfällt, und dabei behält er, wie geſagt, meinen Lohn und obendrein die vierzig Gulden in Silberſtücken, die mir meine Mutter hinter¬ laſſen hat. Das wäre jedoch Alles das Schlimmſte nicht. Aber er iſt auch ein boshafter Menſch, der mich oft ſchlägt. Du haſt geſtern geſehen, wie er mich wegen der Jacke anließ.

Ja, das hab 'ich geſehen.

Und ſo war er auch ſtets mit meiner armen Mutter. 142Ich laß 'mir's nicht nehmen, daß ſie die Schwindſucht, an der ſie geſtorben iſt, von einem Schlage bekam, den er ihr einſt im Zorn und Rauſch vor die Bruſt verſetzt hat.

Sie ſchwieg, in traurige Erinnerungen verloren. Endlich ſagte Georg: Wenn Dich Dein Stiefvater gar ſo übel be¬ handelt, warum bleibſt Du bei ihm?

Weil ich weiß, daß er mich nicht fort ließe , antwortete ſie nach einer Pauſe. Er braucht ein ſo armes, hilfloſes Ding um ſich, das er ungeſtraft quälen und martern kann. Denn er iſt im Innerſten feig, wenn er auch oft grimmig und wüthend wird. Und wohin ſollt 'ich gehen? ſetzte ſie mit einem Seufzer hinzu. Es iſt überall nicht gut in der Welt. Sie hatte bei dieſen Worten wieder ihren Hammer ergriffen; Georg, etwas geſtärkt, that desgleichen, und bald waren ſie neuerdings in ihre harte Arbeit vertieft.

So verrann Stunde um Stunde und die Mittagshitze lagerte ſich glühend über Berg und Thal. Weithin regte ſich nichts; nur der eintönige Fall der Hämmer war in der Stille zu hören und der Ruf des Spechtes. Von Zeit zu Zeit ſtimmten die Männer längs der Bahn einen kurzen rauhen Geſang an.

Plötzlich ertönte der ſchrille Laut einer Glocke. Was iſt das? fragte Georg, der ſah, daß die Andern ihre Werk¬ zeuge hinlegten und auf die Hütte zuſchritten.

Der Aufſeher hat zum Eſſen geläutet, erwiderte Tertſchka.

143

Zum Eſſen wiederholte er matt. Und was giebt es denn bei Euch?

Heidegrütze und Kartoffeln. Heute wird auch Schweine¬ fleiſch ſein; denn das haben ſie geſtern mitgebracht.

Es iſt ſchon lange, daß ich kein Fleiſch mehr gegeſſen habe , ſagte er nachdenklich.

auch heute keins, Du haſt das Fieber; es könnte Dir ſchaden. Denn der Aufſeher hat kein Gewiſſen und nimmt dem Metzger in Schottwien die ſchlechte, verdorbene Waare ab, und da er's bei der Bauleitung durchgeſetzt hat, daß Jeder, was er zum Leben braucht, bei ihm kaufen muß, ſo ſchlägt er Alles theuer genug los und hat ſeinen ſündhaf¬ ten Gewinn dabei. Drum kocht er auch ſelbſt; denn er traut Keinem von uns.

Er kocht?

Ja. Um die Arbeit kümmert er ſich wenig und läßt es gehen, wie's geht. Nur zuweilen einmal kommt er nach¬ ſehen, und dann flucht und wettert er; freilich am meiſten mit Solchen, die nicht den Muth haben, etwas zu erwiedern.

Seltſam; aber mit dem Fleiſch hat es mir keine Ge¬ fahr , ſagte Georg bitter. Denn da ich kein Geld habe, kann ich mir auch keines kaufen.

Je nun, er würde Dir ſchon borgen bis Samſtag, wo der Lohn ausbezahlt wird. Aber weh 'Dir, wenn er Dich einmal auf der Kreide hat! Nicht allein, daß er Dir Alles144 doppelt anrechnet: er zwingt Dich auch, mit ihm zu zechen und Karten zu ſpielen, damit er Dich ganz in die Klauen bekommt. Dann ſiehſt Du von dem Deinigen keinen Kreuzer mehr und bleibſt ihm verfallen wie die arme Seele dem Teufel.

Er hatte ängſtlich zugehört. Aber wie ſtell 'ich es an, bis Samſtag zu leben , ſagte er kleinlaut. Heut' iſt erſt Mittwoch. Wenn ich nichts von ihm auf Borg nehmen darf, ſo muß ich verhungern.

Sie hatte ſich ſchon früher am Saume ihres Rockes zu ſchaffen gemacht und einen kleinen Theil der Naht aufgetrennt. Jetzt zog ſie ein zuſammengewickeltes Stückchen Papier daraus hervor und entfaltete daſſelbe. Es war eines jener Bank¬ notenfragmente, welche damals in Oeſterreich unter dem Namen Viertel im Umlaufe waren und die mangelnde Scheidemünze erſetzen mußten. Sie reichte es Georg hin. Nimm , ſagte ſie; das langt bis Samſtag, wenn Du recht ſparſam biſt. Du kannſt es mir allwöchentlich kleinweiſe von Deinem Lohn zurückgeben.

Er blickte ſprachlos auf das abgegriffene Zettelchen in ihrer Hand. Überraſchung, Rührung und verſchämte Freude malten ſich wunderſam in ſeinem Antlitz. Er war wie betäubt und regte ſich nicht.

Es iſt mein Einziges , fuhr ſie treuherzig fort. Unſer Ingenieur hat mir's geſchenkt, als er im vorigen Monate hier145 war. Er hatte ſeinen Mantel in der nächſten Hütte liegen laſſen, und den mußt 'ich ihm holen. Aber Du thuſt mir einen Gefallen, wenn Du das Geld nimmſt. Ich fürcht' im¬ mer, ich könnt 'es verlieren; deshalb hab' ich's auch in meinen Rock eingenäht. Wenn der Aufſeher darum wüßte, hätt 'er mir's längſt abgefordert. Und damit legte ſie es in ſeine Hand. Aber jetzt komm', und laß uns zum Eſſen gehen. Vergiß nicht, was ich Dir wegen des Fleiſches geſagt habe, und begnüg 'Dich mit dem Uebrigen. Das Mehl iſt zwar auch meiſtens dumpfig; aber geſtern haben ſie friſche Kartoffeln gebracht. Und Abends kannſt Du Dir ein Glas Branntwein gönnen; das wird Dir gut thun. Er ſtand auf und folgte ihr ſchweigend. Nach einigen Schritten blieb er ſtehen und blickte ihr tief in die ſanften braunen Augen. Wie ſoll ich Dir's vergelten, Tertſchka , ſprach er mit zitternder Stimme. So gut und lieb, wie Du, war noch kein Menſch mit mir.

Ach was , erwiederte ſie; man muß ſich gegenſeitig helfen in der Welt. Und dann Du biſt ja auch gut. Das hab 'ich Dir gleich geſtern angeſehen, als Du kamſt.

Sie hatten die Hütte erreicht. Drinnen umlagerten die Andern, aus ſchadhaften Näpfen eſſend, bereits den Herd, an welchem der Aufſeher ſtand, die Aermel aufgekrämpelt und mit vorgebundener Schürze. Er war eben im Begriffe, ein mächtiges Bratenſtück anzuſchneiden, deſſen brenzlicher Duft den Eintretenden entgegenſchlug und Georg einen unwillkürlichenSaar, Novellen aus Oeſterreich. 10146Seufzer entlockte. Auch die Uebrigen blickten gierig nach dem fetttriefenden Fleiſche und nahmen der Reihe nach ein Stück davon in Empfang, das ſie von der Fauſt weg verzehrten. Einige legten Geld dafür nieder; bei den Meiſten jedoch machte der Aufſeher ein Zeichen in ein kleines Büchlein. Georg hatte von Tertſchka einen Napf erhalten; damit näherte er ſich nun dem Herde. Der Aufſeher ſah ihn befremdet an. Endlich entſann er ſich. Aha, der Knirps von geſtern! rief er. Nun, haſt Du etwas gearbeitet?

Ja; Steine hab 'ich zerſchlagen.

Und nun haſt Du Luſt, zu eſſen. Was willſt Du?

Ich möcht 'Euch um Grütze und Kartoffeln bitten.

Der Aufſeher that ihm das Verlangte in den Napf und nahm das Papier in Empfang, das ihm Georg hinreichte. Du wirſt doch auch ein Stück Braten wollen , ſagte er dann.

Das war nun eine gewaltige Verſuchung für den Armen. Aber er gedachte der Warnung Tertſchka's und erwiederte, während der Andere ſchon das Meſſer anſetzte: Nein; ich eſſe kein Fleiſch.

Was? Biſt Du ein Knicker? Bei Deinem verhungerten Ausſehen ſollteſt Du froh ſein, etwas Ordentliches in den Leib zu kriegen.

Er hat das Fieber; das fette Fleiſch könnt 'ihm übel bekommen , ſagte Tertſchka hinzutretend; denn ſie fühlte, daß147 es dieſer barſchen Aufdringlichkeit gegenüber die Willenskraft Georgs zu ſtützen galt.

Halt Dein Maul! ſchrie der Mann. Wer hat Dir geſagt, was ihm wohl oder übel bekommt? Miſch 'Dich nicht in Dinge, die Dich nichts angehen! Und zu Georg gewen¬ det, fuhr er fort: Alſo willſt Du, oder willſt Du nicht?

Dieſe Worte klangen wie ein Befehl, das lockende Ge¬ richt nicht zurückzuweiſen. Aber der Schüchterne nahm all' ſeinen Muth zuſammen und erwiederte: Sie hat Recht; ich darf das Fleiſch nicht eſſen.

Nun, ſo laß es ſein! ſchrie der Andere giftig, indem er das Meſſer bei Seite warf. Bitten werd 'ich Dich nicht. Und da Georg vor ihm ſtehen blieb, fragte er: Auf was warteſt Du noch?

Ihr ſollt mir herausgeben , antwortete Jener ſtockend.

Ja, ja, ja! rief der Aufſeher. Glaubſt Du, ich werde die lumpigen paar Kreuzer behalten? Und damit warf er ihm den Reſt in Kupfermünze hin und drehte ihm verächtlich den Rücken. Georg, den Napf in der einen Hand, las mit der anderen mühſam die umher rollenden Geldſtücke auf; dann ſetzte er ſich in einen Winkel und begann ſein karges Mahl zu verzehren, das mittlerweile ſchon ziemlich kalt geworden war. Er ſah dabei, wie der Aufſeher eine grünliche Flaſche ergriff und einigen Verlangenden Branntwein in ein kleines Glas goß, welches, geleert und wieder gefüllt, von Mund zu10*148Mund wanderte. Er aber vertröſtete ſich auf den Abend, den Worten Tertſchka's gemäß, welche inzwiſchen, dürftig genug, ebenfalls Mittag gehalten hatte und nun auf einen Wink des Stiefvaters daran ging, das Kochgeſchirr zu ſcheuern. Die Andern lagerten ſich draußen im Schatten der Hütte, um den Reſt der Ruheſtunde zu verſchlafen. Der Aufſeher jedoch nahm eine kleine Pfanne vom Herde, in welcher ſich ein lecker zubereitetes Huhn befand, und ſtellte ſie nebſt Teller und Eßzeug und einer Flaſche Wein auf den nahen Tiſch. Als er ſich eben anſchicken wollte, behaglich zu ſchmauſen, fiel ſein Blick auf Georg, welcher, den leeren Napf zwiſchen den Knieen, ſtill überlegte, ob er nicht Tertſchka beim Scheuern helfen ſollte, wovon ihn aber eine geheime Scheu vor dem grimmigen Manne abhielt. Was ſitz'ſt Du da und gaffſt? ſchrie jetzt dieſer. Pack 'Dich hinaus zu den Andern! Ich brauch hier keinen Spion, der mir den Biſſen vom Maul wegguckt! Georg ſchrack empor, ſchlich aus der Hütte und legte ſich draußen auf den ſonnigen Boden nieder, da er im Schatten keinen Platz mehr fand. Nach einer Weile ließ der Aufſeher wieder die Glocke zur Arbeit erſchallen; er ſelbſt begab ſich in ſeinen Verſchlag, um nun auch Sieſta zu halten. Die Männer reckten und dehnten ſich und folgten nur zögernd dem Rufe; einige drehten ſich ſogar auf die andere Seite und ſchliefen fort. Georg aber ſchritt mit Tertſchka wieder zum Steinbruch hinan, wo ſie, bis der Abend ſank, ihrer harten Pflicht oblagen. 149Und auch in den Tagen, die nun folgten, ſaßen ſie nebenein¬ ander. Denn die Kräfte Georgs hoben ſich wirklich; die bitterſte Noth war ja vorüber, zudem ſchien der friſche Hauch der Ge¬ birgsluft heilend auf ſeinen fieberſiechen Körper zu wirken. Er ſchwang den Hammer ſchon ganz rüſtig und erzählte dabei der armen Genoſſin allerlei aus ſeinen Militärjahren. Es waren freilich keine munteren Abenteuer und kecken Soldaten¬ ſtreiche, was er vorbrachte; bei ſeinem ſcheuen und in ſich ſelbſt gedrückten Weſen hatte er ja nur die Schattenſeiten eines Standes kennen gelernt, der ſo manchem Anderen den heiterſten Genuß des Daſeins eröffnet. So konnte er nur berichten von den Leiden der Rekrutenzeit, welche ihm die un¬ erbittliche Corporalsfauſt zur Hölle gemacht; von langem Schildwachſtehen im Schnee; von beſchwerlichen Märſchen und nächtlichen Campirungen im Regen und Sturm und vor Allem, wie er bei der Belagerung Venedigs mit ſeinem Regimente vor dem Fort Malghera geſtanden und dort ihrer Hunderte in der faulen Sumpfluft vom Typhus und von der Cholera hinweg gerafft wurden. Tertſchka hörte ſtill zu. Vieles faßte ſie nur halb oder gar nicht; denn die Dinge, von denen er ſprach, hatten ja ſtets ſo fremd, ſo fern ab von ihr gelegen, und vollends von einer Stadt, die mitten im Waſſer erbaut ſei, konnte ſie ſich keinen Begriff machen; wie ihr denn auch bei dem Worte Meer nichts als eine undeutlich ſchimmernde Wolke vorſchwebte. Aber ſie fühlte heraus, wie ſchlecht es150 Georg all' ſeiner Tage ergangen ſei, und erzählte hinwieder auch, was ihr Trübes und Trauriges aus ihrem trüben, ein¬ förmigen Daſein in der Erinnerung geblieben war. So trö¬ ſteten ſie ſich unbewußt gegenſeitig und es that ihnen wohl, daß ſie jeden Morgen, die Hämmer auf der Schulter, zum Steinbruch hinanſteigen und die langen ſonnigen Tage neben einander verbringen konnten, wobei ſie oft den Ruf der Glocke überhörten oder darob erſchracken, weil er ſie aus ihrer weh¬ müthig trauten Einſamkeit in die wüſte Gemeinſchaft der Hütte zurück trieb.

Aber nicht lange ſollte die Zeit dauern, wo ſich die Bei¬ den in lang erduldeter Noth und ſtill entſagendem Kummer, wie Andere in Luſt und Fröhlichkeit und drängender Lebens¬ fülle, immer inniger zuſammenfanden. Sei es, daß der Auf¬ ſeher durch die anderen Arbeiter von ihrem Einvernehmen übelwollende Kunde erhalten; ſei es, daß er es mit dem In¬ ſtinkte der Bosheit von ſelbſt errathen hatte genug: er ſtand eines Tages hinter ihnen. Was hockt Ihr da bei einander wie die Kröten? ſchrie er, während ſie erſchrocken aufſahen. Marſch, Du Hungerleider, zu Deinen Kameraden, wo Du hingehörſt! Und damit ſtreckte er gebieteriſch die Hand gegen den unteren Theil des Steinbruches aus. Und Du, heimtückiſches Aas , wandte er ſich zu Tertſchka, während Georg betroffen und ſprachlos dem Befehl Folge leiſtete, mir ſcheint, Du hältſt es mit dem elenden Krüppel da? Wart ',151 das will ich Dir austreiben! Wenn ich Euch noch einmal beiſammen ſeh', ſo iſt der Kerl die längſte Zeit hier geweſen, und Du erblickſt mir kein Tageslicht mehr!

So wurden ſie rauh und plötzlich aus einander geriſſen. Georg mußte in den nächſten Tagen unten am Bahngeleiſe arbeiten, und wenn ſie um die Mittagsſtunde oder nach Son¬ nenuntergang in der Hütte zuſammen trafen, ſo wagten ſie kaum ſich anzuſehen, geſchweige nur ein Wort mit einander zu reden. Denn der Aufſeher behielt ſie ſcharf im Auge und auch die Andern ſchienen mit ſtumpfer Schadenfreude über ihnen zu wachen.

Eines Abends jedoch es war Samſtag hatte ſich der Aufſeher mit einigen Zechgenoſſen in die Schenke einer nahen Ortſchaft begeben, indeß die Zurückgebliebenen, wie ge¬ wöhnlich, den eben erhaltenen Wochenlohn an ein Spiel Kar¬ ten wagten, deſſen beſchmutzte Blätter in ihren Händen die Runde machten. Während es dabei immer wüſter und lär¬ mender herging, faßte Georg Muth, ſich verſtohlen Tertſchka zu nähern, die in ihrem Schlafwinkel auf einer alten Kiſte ſaß, das Haupt auf die Hände geſtützt. Tertſchka , ſagte er leiſe, indem er ein kleines ledernes Beutelchen aus der Taſche zog, hier iſt das Letzte von dem Gelde, das ich Dir ſchuldig bin. Und dabei legte er ſachte einige Kreuzer in ihren Schooß.

Ach, laß 'es , erwiederte ſie; Du wirſt es noch brauchen.

152

Wozu ſollt 'ich's brauchen? fuhr er niedergeſchlagen fort. Ich habe keine Freude mehr auf der Welt, ſeit ich nicht mehr mit Dir arbeiten kann.

Ich auch nicht , ſagte ſie leiſe.

Weßhalb er uns nur auseinander gejagt hat? begann er nach einer Weile. Ihm könnt 'es doch Eins ſein, ob wir beiſammen ſitzen oder nicht; wenn wir nur unſer Tagwerk ordentlich verrichten.

Sie blickte vor ſich hin. Er iſt ein böſer Menſch , ſagte ſie endlich, der nicht ſehen kann, daß es einem Anderen wohl iſt, und Jeden gern um ſein Liebſtes bringt.

Tertſchka war bei dieſen Worten aufgeſtanden, hatte den Deckel der Kiſte zurückgeſchlagen und holte jetzt langſam eine wollene Jacke, einen Rock von Kattun und ein Paar ſchwerer Schuhe hervor. Dann noch ein verſchoſſenes rothes Halstuch und einen alten Roſenkranz mit einem Kreuzlein von Meſſing daran, welche Gegenſtände ſie ſammt und ſonders auf dem wieder herabgelaſſenen Deckel der Kiſte ſorglich zurecht legte.

Was thuſt Du denn da? fragte Georg, der ihr zuſah.

Ich will morgen nach Schottwien hinunter in die Kirche gehen , erwiederte ſie. Er kann's freilich nicht leiden, denn er kennt keinen Herrgott, und hat ſchon die Mutter immer geſcholten, weil ſie Sonntags niemals die Meſſe verſäumen wollte und mich immer mit ſich nahm. Er weiß mir immer etwas in den Weg zu legen, und ich bin ſchon zwei Monate153 nicht mehr von der Hütte weggekommen. Aber morgen geh 'ich; er ſoll ſich anſtellen, wie er will. Ich mag nicht das Beten ganz verlernen unter dem Volk, das nur an's Trinken und Kartenſpielen denkt.

Georg ſah vor ſich hin. Ich bin auch ſchon lang 'in keiner Kirche mehr geweſen , ſagte er. Wie ſchön wär' es, wenn ich morgen mit Dir gehen könnte.

Ja, es wär 'ſchön; aber es kann nicht ſein.

Je nun , fuhr er fort, der Aufſeher müßt 'es gerade nicht merken. Wir gingen ein Jedes für ſich allein fort und wir fänden uns erſt unten wo zuſammen.

Sie dachte nach. Du haſt Recht; ſo wär 'es möglich. Aber Du müßteſt lange vor mir aufbrechen. Gleich links von der Hütte führt ein ſchmaler verſteckter Steig in's Thal hinab; unten ſteht ein hölzernes Kreuz dort könnteſt Du mich er¬ warten. Aber jetzt geh', ſetzte ſie ängſtlich drängend hinzu, damit die Andern nicht merken, daß wir mit einander ge¬ ſprochen haben.

Und ſo ging er und ſuchte das harte Lager auf, wo er mitten unter dem lauten Gezänk der Spielenden in froher Erwartung des kommenden Tages ſanft einſchlief.

Am andern Morgen funkelte die Welt in hellem Sonnen¬ glanze, als Georg den ſteilen Fußpfad hinabſtieg, welchen ihm Tertſchka bezeichnet hatte. Er lugte dabei nach dem Kreuz im Thale aus und gewahrte bald, wie es morſch und windſchief154 aus jungen Fichtenſchößlingen hervorſah. Nun hatte er es erreicht und ſetzte ſich, da es noch früh war, auf den be¬ mooſ'ten Steinblock, der gleichſam als Betſchemel davor lag. Tiefes, ſonntägliches Schweigen umgab ihn; ſelbſt die Bienen über den Gentianen, die hier in reicher Zahl ihre dunkelblauen Kelche erſchloſſen, ſchienen nicht zu ſummen. Georg kam ein unwillkürliches Lauſchen an, und wie er ſo recht in die Stille hinein horchte, da ward es ihm, als vernähm 'er ein leiſes, feierliches Gewoge von Glockentönen in der Luft. Nach und nach aber ſtellte ſich die Ungeduld des Erwartens ein. Er erhob ſich, ſchritt auf und nieder und pflückte einige Gentianen; auch weiße und gelbe Blumen, die hier und dort wucherten. Die will ich der Tertſchka geben, wenn ſie kommt , ſagte er zu ſich ſelbſt, indem er auf den unbeabſichtigten Strauß ſah, den er nun in der Hand hielt. Dann brach er noch ein lan¬ ges Farrenkraut ab und ſteckte es an ſeine Mütze, wo es ſich, hin - und herſchwankend, gleich einer Schwungfeder ausnahm. Endlich gewahrte er auf der Höhe ein flatterndes Gewand und bald war Tertſchka bei ihm, welcher er bis zur Hälfte des Steiges hinauf entgegen geeilt war. Da bin ich , ſagte ſie raſch athmend. Er hat mich diesmal ohne viel Worte gehen laſſen. Georg ſtand vor ihr und ſah ſie an. Sie hatte heute ihr Kopftuch abgelegt, trug das ſchlichte Haar frei ge¬ ſcheitelt und ihr Antlitz wurde von dem verblichenen Roth des Halstuches ſanft umleuchtet. Auch die dunkle Jacke, die freilich155 viel zu weit war, und der helle Kattunrock ließen ihr ſo übel nicht. Wie ſchön Du heut' ausſiehſt! ſagte er endlich. Sie ſchlug erglühend die Augen nieder. Ich hab 'das Alles noch von meiner ſeligen Mutter , erwiederte ſie, indem ſie den bauſchenden Rock zurecht drückte. Ich trag' es ſo ſelten und da hält es ſich. Da haſt Du Blumen , fuhr Georg fort; ich hab 'ſie unterdeſſen gepflückt. Sie nahm den Strauß, den er früher halb hinter ſich verborgen hatte, und wollte ihn vor die Bruſt ſtecken. Aber er war zu groß und ſie behielt ihn in der Hand, um welche ſie den Roſenkranz gewunden hatte. So ſchritten die Beiden durch die grünen Gefilde und an ſchmalen Aeckern vorüber, wo das Korn be¬ reits geſchnitten und aufgehäuft lag, bis ſie den Markt Schott¬ wien erreicht hatten. Dort trafen ſie Alles in Bewegung. Denn es war eben Kirchtag, und die lange breite Gaſſe, aus welcher der Ort beſteht, wimmelte von feſtlich gekleideten Menſchen und leichtem Fuhrwerk. Vor der Kirche aber hatte man Bretterbuden aufgeſchlagen und dort war eine Menge der verſchiedenartigſten Dinge bunt neben einander zum Ver¬ kauf ausgelegt. Tücher, Tabakpfeifen, Meſſer, Glasperlen und Wachskorallen; allerlei Kochgeſchirr, Pfefferkuchen und Spiel¬ zeug für Kinder. Sie blieben eine Weile bewundernd vor all dieſen Herrlichkeiten ſtehen und Georg bekam Luſt, eine Pfeife zu kaufen. Als er noch Soldat war, hatte er geraucht; ſpä¬ ter, in ſeinem Elend, hatte er's aufgeben müſſen: nun aber,156 da er ſein Brod erwarb und weder trank noch ſpielte, wie die Andern, konnte er ſich dieſen Genuß wohl wieder gönnen. Er theilte ſeine Abſicht Tertſchka mit und dieſe ſprach ihm zu, er möge nur Handel eins werden; ſie ſelbſt würde unterdeſſen langſam vorausgehen. In der Ortskirche ſind zu viele Men¬ ſchen , ſagte ſie. Eine halbe Wegſtunde außerhalb des Mark¬ tes liegt eine einſame Kirche; in der bin ich ſchon ein¬ mal geweſen, und will auch heute wieder hineingehen. Sie meinte damit Maria Schutz am Fuße des Sonnwendſteins. Georg drängte ſich durch eine Gruppe von Gaffern und Feil¬ ſchenden und erſtand eine hübſche Porcellanpfeife mit bunten Troddeln. Dabei fiel ihm ein funkelnder Schmuck von gelben Glasperlen in die Augen, und er dachte, wie ſchön ſich der am Halſe Tertſchka's ausnehmen würde. Da der Preis, wel¬ chen der Händler forderte, nicht allzu hoch war, ſo ließ er ſich das Geſchmeide in Papier wickeln und ſteckte es zu ſich. Mit den paar Kreuzern, die er auf eine Guldennote herausbekam, kaufte er in der anſtoßenden Bude ein großes Herz aus Pfefferkuchen; dann ſprang er noch um ein bischen Tabak in den nächſten Kramladen und eilte mit ſeinen Schätzen der Vorangegangenen nach. Er zeigte ihr zuerſt die Pfeife, die ihr wohl gefiel. Das iſt für Dich , ſagte er hierauf und gab ihr das Herz. Es war mit einem farbigen Bildchen ge¬ ſchmückt, das ein zweites kleines Herz vorſtellte, von einem Pfeile durchbohrt; ein Blumengewinde faßte das Ganze ein. 157Sie betrachtete es ſtill und ſchob es mit dankendem Lächeln zwiſchen den Strauß und den Roſenkranz ein. Ich habe noch etwas für Dich gekauft , fuhr er nach einer Weile fort, indem er das kleine Päckchen langſam aus der Taſche zog und die Perlen durch die geöffnete Papierhülle blitzen ließ. Sie warf einen Blick darauf. Wie kannſt Du nur ſo viel Geld für mich ausgeben! ſagte ſie; aber ihre Miene ſtrahlte von froher Ueberraſchung und reinſter Freude. Für Dich möcht' ich Alles hingeben , erwiederte er innig. Aber nimm es gleich um; es wird Dir gut ſtehen! Sie reichte ihm, was ſie in der Hand hatte, und legte dann den Schmuck um ihren Hals. Da er aber etwas eng und rückwärts feſt zu machen war, ſo konnte ſie damit nicht recht zu Stande kommen. Laß das mich thun! rief er, gab ihr wieder Alles zurück, drückte, nachdem ſie ſich umgewendet, ihre braunen Haarflechten ſanft empor und ſchob die beiden Theile der kleinen Schließe in einander. So! ſagte er, indem er mit zufrieden prüfendem Blick vor ſie hin trat. Dann gingen ſie fröhlich weiter und hatten bald die Kirche erreicht, die aus ſchattigen Linden her¬ vorſah. Sie trafen nur ſehr wenige Beter an; ein alter Prie¬ ſter mit grämlichen Geſichtszügen war eben zum Altar getreten und begann gleichgültig die Meſſe zu leſen. Tertſchka kniete in der letzten Reihe der Bänke nieder, legte den Strauß und das Herz vor ſich hin und faltete die Hände. Georg blieb hinter ihr ſtehen. Es wurde ihm ganz eigenthümlich zu Muth158 in dem ſtillen Raume. Durch die hohen ſchmalen Bogenfen¬ ſter fiel das Licht ſanft und mild herein; er hörte das Ge¬ murmel des Prieſters, das Klingen des Miniſtrantenglöckleins und Andacht durchſchauerte ihn. Aber beten konnte er nicht: er blickte nur unverwandt auf Tertſchka, die vor ihm kniete und mit geſenktem Haupte leicht die Lippen bewegte. Die Meſſe war bald zu Ende; der Prieſter gab den Segen und die Anweſenden entfernten ſich. Nur Tertſchka verweilte noch. Endlich bekreuzte ſie ſich, ſtand auf und ſchritt, während Georg folgte, nach der Thür, wo der Küſter bereits ungeduldig die Schlüſſel klirren ließ. Draußen leuchtete der goldene Vor¬ mittag und nicht weit von der Kirche entfernt, ſtreckte ein ſtattliches Wirthshaus einen Buſch von Tannenreiſern gar ein¬ ladend aus. Willſt Du Dich ſchon auf den Heimweg machen? ſagte Georg, da Tertſchka wieder ſchweigend den Weg nach dem Markte einſchlug.

Wohin ſollten wir denn? erwiederte ſie und ſah empor.

Dort drüben iſt ein Wirthshaus. Ich glaube, wir könn¬ ten uns heut 'etwas zu Gute thun, Tertſchka. Wer weiß, ob wir wieder einmal mit einander gehen.

Nun, wenn Du Luſt haſt , ſagte ſie und blieb ſtehen. Der Aufſeher wird freilich ſchelten, wenn ich ſo ſpät zurück¬ komme. Aber Du haſt Recht: wer weiß, ob wir wieder ein¬ mal mit einander gehen.

159

Sie ſchritten alſo auf das Haus zu, vor welchem ſich ein ſanfter Hügel erhob. Dort wurzelte eine alte, rieſige Buche und breitete ihre Aeſte über einer Anzahl roh behauener Tiſche und Bänke aus. Aber Niemand ſaß daran. Es war ganz ſtill und einſam hier; nur drinnen ſchien ſich geſchäftiges Leben zu regen. Endlich ſah der Wirth aus der Thüre, in ſchneeweißen Hemdärmeln, ein grünes Sammtmützchen auf dem Kopfe. Er trat, die ungewohnten Gäſte von der Seite an¬ blickend, heraus und brachte auf das Begehren Georgs Wein in einem großen Henkelglaſe, Brod und Fleiſch. Das ſetzte er ihnen auf den Tiſch, an welchem ſie ſich niedergelaſſen hatten, verlangte gleich die Bezahlung und eilte wieder in's Haus zurück. Georg ſchob Tertſchka den Teller zu und dieſe zerlegte nun das Fleiſch in kleine Stücke. Dann brachen ſie das Brod und begannen gemeinſchaftlich zu eſſen, wobei ſich Tertſchka, da der Wirth nur für Einen geſorgt hatte, des Meſſers als Gabel bediente. Auch den Wein genoſſen ſie zu¬ ſammen, nach einander das Glas zum Munde führend. Nach beendetem Mahle brannte Georg ſeine Pfeife an und ſah wohlgemuth dem Rauche nach, der ſich leicht und bläulich in die ſonnige Luft hinein kräuſelte. Schau, Tertſchka , ſagte er, indem er ſeine Hand auf die ihre legte, das hätten wir uns geſtern früh nicht träumen laſſen, daß wir heute ſo fröh¬ lich bei einander ſitzen würden.

Ja , erwiederte ſie; ich hätt 'es nicht verhofft.

160

Inzwiſchen war der Mittag heran gerückt und mit einem Male ertönten in der Ferne luſtige Klänge von Hörnern und Clarinetten. Gleich darauf ſtürzte der Wirth aus der Thüre. Die Hochzeiter ſind da! rief er dem nachfolgenden Geſinde zu. Sputet euch! die Tiſche ſollten ſchon gedeckt ſein. Der Befehl wurde raſch ausgeführt, und es war auch hohe Zeit; denn ſchon kam, von der lärmenden Ortsjugend umſprungen, ein ſtattlicher Zug in Sicht. Spielleute voran; dann ein jugendliches Brautpaar; hintendrein die ganze Sippſchaft, zahl¬ reiche Hochzeitsgäſte und ein Rudel Neugieriger. Im Nu waren die Tiſche beſetzt und umlagert, und nun ging es an ein Schmauſen, Trinken und Jubiliren, und die Muſikanten, die auch Streichinſtrumente mitgebracht hatten, fiedelten und blieſen dazu, daß ihnen faſt der Odem ausging. Es waren ſeltſam wechſelnde Empfindungen, die unſer Paar inmitten die¬ ſer lauten Luſtbarkeit überkamen. Zuerſt hatten ſie erſtaunt in das bunte Gewirr hineingeblickt; dann aber konnte Tertſchka das Auge nicht mehr von der Braut abwenden. Die ſah auch gar ſchön aus und mußte eine reiche Bauerstochter geweſen ſein. Sie trug ein knappes Mieder von ſchwarzem Sammt, das ihren ſchlanken Wuchs deutlich hervortreten ließ; ein Kett¬ lein von eitel Gold war fünf - oder ſechsmal um ihren Hals geſchlungen und das hohe Myrtenkränzlein in dem blonden, hinten in zwei langen Zöpfen herabfallenden Haar ſtand ihr zu dem etwas ſtolzen und ſtrengen Geſichte wie eine kleine Krone. 161Auch der Bräutigam war ein ſtattlicher Junge, dem gegen Bauernſitte ein Bärtchen auf der Oberlippe dunkelte und deſſen ſchmucker, mit Gemsbart und Feder gezierter Jägerhut wohl im Stande war, die Bewunderung Georgs auf ſich zu lenken. Nach und nach aber beſchlich die Beiden ein banges, drücken¬ des Gefühl der Verlaſſenheit unter den vielen Menſchen, davon gar Manche ſie mit ſcheelen Blicken muſterten, als wollten ſie fragen: was haben die hier zu ſchaffen?

Endlich wandte ſich Tertſchka an Georg. Komm, laß uns fortgehen. Wir taugen nicht unter die Leute. Wir wollen uns drüben am Waldrand niederſetzen. Dort können wir Alles von Weitem mit anſehen und der Muſik zuhören.

Er war es zufrieden und ſo ſchritten ſie dem dunklen Fichtenwald entgegen, deſſen Saum die helle Wieſe begrenzte. Auf einem kleinen Abhange ließen ſie ſich nieder und lauſchten den Klängen, die, lieblich gedämpft, zu ihnen hinüberzogen. Mit einem Male ward es ſtill; ſie ſahen, wie drüben Alles von den Tiſchen aufſtand und einen Halbkreis bildete. Gleich darauf begannen wieder die Geigen zu ſchwirren.

Die Brautleute tanzen! rief Tertſchka. Und wirklich war es ſo. In gehaltenem Tempo und mit zierlichen Wen¬ dungen bewegten ſich die hohen ſchlanken Geſtalten auf dem grünen Plan. Wie luſtig ſie ſich dreh'n! fuhr Tertſchka fort, indem ſie ſich unbewußt an die Schulter Georgs lehnte. Schau nur!

Saar, Novellen aus Oeſterreich. 11162

Ja, es ſind glückliche Leute , ſprach er, ohne hin zu ſehen, wie im Traum. Wenn wir nur auch einmal Hoch¬ zeit haben könnten.

Ach geh ', ſagte ſie leiſe und langte nach einer rothen Blume, die zu ihren Füßen blühte.

Reſi , fuhr er fort es war das erſte Mal, daß er ſie ſo nannte und legte ſeinen Arm ſcheu und bebend um ihren Leib, Reſi ich hab 'Dich ſo lieb!

Sie erwiederte nichts; aber in dem Blicke, den ſie zu ihm aufſchlug, lag es für ihn wie ein wogendes Meer von Glück. Und als jetzt drüben die Geigen lauter jubelten und das Brautpaar, durch allſeitiges Rufen und Händeklatſchen angefeuert, ſich im ſtürmiſchen Wirbel dahin ſchwang: da zog er ſie feſt an's Herz und ihre Lippen ſchloſſen ſich zu einem langen, tiefen Kuſſe zuſammen.

Soll ich, der ich dieſe einfache Geſchichte wahrheitsgetreu zu erzählen mir vorgeſetzt, nun auch die Seligkeit zu ſchildern verſuchen, welche die Beiden von jetzt an überkommen hatte? Ich glaube, daß ich darauf verzichten darf; und zwar nicht blos deshalb, weil keine Worte zu dem Gefühl hinanreichen, das ihnen mit einem Male den vollen Lichtglanz, den über¬ ſchwänglichen Reichthum des Daſeins erſchloſſen hatte; ſondern163 auch, weil wohl Jeder den Zauber der Liebe an ſich ſelbſt erfahren hat und ſo im Stande iſt, ſich das Glück Georgs und Tertſchkas nach ſeinem eigenen Herzen auszumalen. Frei¬ lich mußten ſie dieſes Glück ſcheu und ängſtlich geheim halten wie ein Verbrechen; aber es lebte und blühte deſto ſchöner in der Tiefe ihres Inneren fort und bei der angeborenen und lang geübten Begnügſamkeit ihres Weſens waren ſie zufrieden, wenn ſie ſich des Morgens, Mittags und Abends verſtohlen entgegen lächeln oder zu einem flüchtigen Händedruck an einander vor¬ überſtreifen konnten. Auch ſchien es, als ob der Aufſeher immer weniger auf ſie achte, daher ſich ihre Beſorgniß, er könnte vielleicht doch von ihrem gemeinſamen Gange nach Schottwien Kenntniß oder Vermuthung haben, mehr und mehr verlor. Ja, Georg wagte ſich ſogar, wenn er, um Schotter zu holen, mit ſeinem Schiebkarren nach dem Steinbruch mußte, manchmal raſch zu Tertſchka hinauf, wo dann den Liebenden in einer kurzen Umarmung die Welt verſank. In einem ſol¬ chen Augenblick jedoch erſchallten plötzlich nahende Tritte und als ſie erſchrocken aus einander fuhren, ſahen ſie den Aufſeher, der mit hohn - und wuthverzerrtem Antlitz hinter ihnen ſtand. Hab 'ich Euch, Ihr Racker! ſchrie er. So befolgt Ihr mein Gebot und meint, ich merke Euer Treiben nicht! Ich wußte recht gut, daß Ihr letzthin den ganzen Sonntag mit einander herumgezogen ſeid; aber ich wollt' Euch auf friſcher That ertappen, und jetzt ſollt Ihr mir's büßen! Und damit11*164ergriff er Georg rückwärts beim Halſe und ſchleuderte ihn ein paar Schritte weit zu Boden, daß Sand und Geröll auf¬ ſtob. Fahr 'Deinen Schotter hinab, Du Galgenſtrick, und dann ſchnürſt Du Deinen Bündel und gehſt! Wenn Du mir noch einmal unter die Augen kommſt, ſo ſchlag' ich Dich krumm und lahm! Bei dieſen Worten ſtieß er den mühſam ſich Aufrichtenden zu dem Schiebkarren und trieb ihn mit drohend geſchwungener Fauſt den Abhang hinunter. Hierauf kehrte er zu Tertſchka zurück und betrachtete ſie lange mit einem böſen, grauſamen Blicke. Mit Dir , ſagte er endlich, werd 'ich ſpäter reden. Und er ging, unverſtändliche Worte in ſich hinein murmelnd.

Betäubt, ſeiner Sinne beraubt, war Georg bei ſeinen Genoſſen angelangt. Er hatte mechaniſch den Schiebkarren ausgeleert; dann ſetzte er ſich auf einen Stein und blickte ge¬ dankenlos in's Weite hinaus. Der Himmel war am Morgen ſchon leicht umwölkt geweſen; nun hatte ſich ein trüber, grauer Tag zu¬ ſammen gezogen. Herbſtlicher Windhauch ſtrich leiſe durch die Wipfel der Tannen und ein feiner kalter Regen fiel auf die Erde. Aber Georg empfand die Tropfen nicht, die ſcharf in ſein Antlitz ſchlugen. Feurige Funken tanzten vor ſeinen Augen und ein heißer Schauer durchrieſelte die Leere ſeiner Bruſt. Nach und nach jedoch drängte ſich das Bewußtſein der erlitte¬ nen Schmach immer mächtiger in ihm hervor und miſchte ſich mit dem brennenden Gefühl des Unrechtes, das man an ihm165 und Tertſchka zu begehrn im Begriffe ſtand. Fortjagen wollte man ihn und ſie auseinander reißen, die ſo tief und innig verbunden waren? Wer durfte das? Niemand! Und je länger er darüber nachdachte, deſto mehr empörte ſich ſeine ſonſt ſo verſchüchterte und duldende Seele und eine hehre Kraft, ein heiliger Muth loh'ten darin auf, jeder Macht der Erde entgegen zu treten, die ſich ſolcher Gewaltthat unterfinge. Seine unſcheinbaren Züge nahmen allmälig den Ausdruck feſter Entſchloſſenheit an und ſeine lichten Augen funkelten wunder¬ ſam. Endlich erhob er ſich und ſchritt, während ihm die An¬ dern verwundert nachſahen, zu Tertſchka empor. Die ſaß da und weinte.

Weine nicht, Reſi , ſagte er und ſeine Stimme klang ernſt und tief.

Sie antwortete nicht.

Er hob ihr ſanft das Haupt empor. Sie ſchluchzte noch lauter.

Weine nicht , wiederholte er. Es hat Alles ſo kom¬ men müſſen. Aber es iſt gut; wir wiſſen nun, was wir zu thun haben.

Sie ſah vor ſich hin.

Er hat mich fortgejagt; ich muß gehen und Du gehſt mit mir.

Es war, als hörte ſie ihn nicht.

166

Unten in Krain bauen ſie die Eiſenbahn weiter , fuhr er fort. Dort finden wir Arbeit.

Sie ſchüttelte langſam das Haupt.

Du willſt nicht Reſi? Und ſieh ', noch Eins. Ich hab' einmal gehört, daß ausgediente Soldaten, die im Krieg waren, Bahnwächter werden können. Ich laß 'mir ein Geſuch ſchrei¬ ben; vielleicht glückt es mir und wir bekommen dann eines von den kleinen Häuſern, wie ſie unten am Geleiſe ſtehen, und können darin leben als Mann und Frau. Und wenn es damit nichts iſt , ſetzte er raſch hinzu, da ſie noch immer kein Zeichen der Beiſtimmung gab, ſondern nur heftiger weinte, wenn es damit nichts iſt, ſo muß es auch recht ſein. Wir wollen ein paar Jahre fleißig arbeiten und ſparen, ſo viel wir können Aber ſo ſprich doch ein Wort, Reſi!

Ach , jammerte ſie, was Du da ſagſt, iſt Alles ſchön und gut; aber Du bedenkſt Ein's nicht: daß mich der Auf¬ ſeher nicht fortläßt.

Er muß Dich fortlaſſen. Du biſt kein Kind mehr. Auch hat er ſonſt nichts mit Dir zu ſchaffen. Du biſt eine Arbeiterin, wie jede andere, und kannſt gehen, wann und wo¬ hin Du willſt.

Glaub 'mir, er läßt mich nicht gehen und mit Dir ſchon gar nicht! Ich hab' Dir's bis jetzt verſchwie¬ gen , fuhr ſie nach einer Pauſe fort, während ſich ihr Antlitz mit dunkler Röthe überzog, aber nun muß ich Dir's ſagen. 167Schon zur Zeit, da die Mutter noch lebte, wollte er oft zärt¬ lich mit mir thun; aber ich wich ihm aus und drohte, ich würd 'es der Mutter klagen. Im vorigen Somrner jedoch kam er eines Abends allein aus dem Wirthshaus zurück und fing wieder an und ſagte, er würde mich heirathen. Und da ich ihm kein Gehör gab, wollt' er Gewalt brauchen. Ich aber hab 'mich ſeiner erwehrt und hab' ihm geſagt, was ich von ihm denke. Seitdem haßt er mich bis auf's Blut und rächt ſich, wie er kann.

Georg war bis in die Lippen hinein bleich geworden und ſeine Bruſt rang mühſam nach Athem. Der Elende! ſtieß er endlich hervor. Und bei dem ſollteſt Du bleiben? Jetzt, da ich das weiß, noch weniger! Du ziehſt mit mir, und er ſoll ſehen, wie er's verhindern kann.

Trau 'ihm nicht , rief ſie ängſtlich. Er iſt im Stande Einen zu morden, der ſchwächer iſt, als er,

Ich fürcht 'ihn nicht , erwiederte Georg und ſeine kleine Geſtalt reckte ſich ſcheinbar weit über ihr Maaß hinaus. Er hat mich früher von hinten angefallen und ich war nicht dar¬ auf gefaßt. Aber er ſoll mir noch einmal kommen!

Jeſus! klagte ſie und rang die Hände; ich könnt 'es nicht ſehen, daß Ihr aneinander geriethet.

Nun, es wird ſo arg nicht werden , verſetzte er, ſeine Erregung niederkämpfend. Wir wollen zu ihm jetzt gleich und ihm ruhig und gemeſſen unſeren Entſchluß mittheilen. 168Du wirſt ſehen, daß er nichts erwiedert. Denn ſo ſchlecht, ſo niederträchtig er auch iſt: erkennen muß er, daß er kein Recht und keine Macht hat, Dich zu halten.

Sie rang noch immer verzweifelt die Hände.

Faſſe Muth, Reſi , ſagte er ernſt. Willſt Du mich allein ziehen laſſen?

Sie flog ihm an die Bruſt und klammerte ſich an ſeinem Halſe feſt.

Nun alſo fuhr er fort und ſtrich ihr ſanft das Haar aus der Stirne, gehen wir. Und ſie ſchritten langſam auf die Hütte zu: ſie die Bruſt voll Bangen und Zagen vor den Dingen, die ſie kommen ſah; er unerſchütterliche Kraft und Zuverſicht im Herzen.

Als ſie über die Schwelle traten, ſaß der Aufſeher mit einem Meſſer in der Hand am Tiſche und ſchälte Kartoffeln. Er blickte etwas betroffen auf das Paar; aber ſeine Ueber¬ raſchung ſchlug allſogleich in Zorn und Wuth um. Was wollt Ihr Zwei da? ſchrie er, indem er ſich halb erhob und den Griff des Meſſers wie kampfbereit auf den Tiſch ſtützte.

Ihr habt mir die Arbeit gekündigt , erwiederte Georg in ruhigem Tone. Ich komme, um meine Sachen zu holen und Euch zu ſagen, daß die Tertſchka mit mir geht.

Der Aufſeher machte eine Bewegung, als wollte er auf ihn zuſtürzen; jedoch er fühlte ſich durch die ernſte, ſichere Miene, mit welcher Georg vor ihm ſtand, wider Willen eingeſchüchtert.

169

Darauf geb 'ich gar keine Antwort , knirſchte er endlich.

Ihr braucht auch keine zu geben. Tertſchka iſt frei und ledig, und kann thun was ſie will.

Der Aufſeher keuchte.

Nimm, was Dir gehört, Reſi; fuhr Georg fort, indem er ſich wandte, um ſeinen Querſack zu ſuchen, und dann komm '.

In der Bruſt des Anderen arbeitete es heftig. Er wußte augenſcheinlich nicht, was er beginnen ſollte. Aber in dieſer Unentſchloſſenheit warf er einen Blick nach Tertſchka, welche ihre Seelenangſt nicht verbergen konnte. Und als ſie jetzt auf die Kiſte zuſchritt, ſprang er auf ſie los und ſtieß die Ent¬ ſetzte in den Keller hinab, deſſen Thüre halb offen ſtand. Dann ſchloß er dieſelbe und ſteckte den Schlüſſel in die Taſche. So, das iſt meine Antwort , ſtammelte er, vor Aufregung am ganzen Leibe zitternd, während er ſich wieder am Tiſche niederließ und mit erzwungener Ruhe ſeine Beſchäftigung fort¬ zuſetzen begann.

Das war ſo raſch, ſo unvermuthet geſchehen, daß es Georg nicht hatte verhindern können. Er faßte ſich daher, hängte ohne jedes Zeichen der Eile ſeinen Sack über die Schulter und näherte ſich mit langſamen Schritten dem Aufſeher. Laßt die Tertſchka heraus , ſagte er ruhig.

Der Aufſeher ſchälte Kartoffeln.

170

Laßt die Tertſchka heraus.

Die Hände des Aufſehers zitterten. Und als Georg zum dritten Male, jedoch eindringlicher, ſeine Forderung wie¬ derholte, ſprang er auf und ballte die Fauſt. Geh 'jetzt geh'! rief er, ſonſt

Was ſonſt? erwiederte Georg gelaſſen. Ich fürcht 'Euch nicht, wenn Ihr auch ſtärker ſeid. Vorhin hattet Ihr leichtes Spiel mit mir; denn ich war wehrlos, wie jetzt die Tertſchka. Aber Aug' in Aug 'ſteh' ich Euch! Das Antlitz des Aufſehers war gräßlich anzuſehen. Haß, Rachſucht und lähmende Feigheit wogten darin auf und nieder. Er rang nach Luft und ſeine Hände griffen unſicher vor ſich hin. Georg gewahrte das Alles und ſeine Bruſt ſtählte ſich mehr und mehr. Drum rath 'ich Euch , fuhr er fort, gebt gutwillig heraus, was mein iſt; ſonſt nehm' ich mir's mit Gewalt.

Während dieſer Worte hatten ſich einige Männer in der Hütte eingefunden; denn die Mittagsſtunde nahte heran. Viel¬ leicht wollten ſie auch, getrieben von dem Inſtinkte der Men¬ ſchen, derlei Vorgänge zu ahnen, Zeugen dieſes Auftrittes ſein. Ihre Anweſenheit wirkte ſtachelnd auf den Aufſeher. Er fühlte ſich ſicherer, und ſeine Feigheit, die er ſelbſt mit Wuth empfand, bäumte ſich aus Furcht, von Anderen bemerkt zu werden, zu frecher Verwegenheit empor. Habt Ihr gehört? rief er, gegen die Männer gewendet, der Kerl wagt es, mir171 zu drohen, weil ich das ſchlechte Weibsbild, die Tertſchka, ein¬ geſperrt hab ', daß ſie nicht mit ihm davon läuft.

Beſchimpft uns nicht! rief Georg, deſſen Blut unwill¬ kürlich höher aufwallte. Wir ſind zwei ehrliche Leute. Ihr habt kein Recht, die Tertſchka einzuſperren, wenn ſie auch ſchlecht wär '.

Was? kein Recht hätt 'ich?! Sie iſt mein Stiefkind und bei mir aufgewachſen!

Leider Gottes! Mehr ſag 'ich nicht; ich will Euch ſchonen vor dieſen da. Und dabei deutete er nach den Män¬ nern, die mit ſtumpfem Behagen dem wachſenden Streite zuſahen.

Hört ihr den Hund? Schonen will er mich! Packt ihn und werft ihn hinaus!

Die Männer blickten einander unſchlüſſig an; aber ſie regten ſich nicht. Hinter der Kellerthüre war lautes Aechzen vernehmbar.

Seht Ihr? fuhr Georg in ſteigender Erregung fort; es fällt Keinem ein, mich anzurühren. Drum ſag 'ich Euch zum letzten Male: gebt die Tertſchka frei, oder ich nehm' den Hammer dort. Zwei Schläge damit, und die Thür 'geht in Trümmer!

Was? die Thür 'willſt Du mir einſchlagen? Du Räu¬ ber! Du Dieb! Hinaus! Sonſt laß' ich die Gendarmen holen!

172

Laßt ſie holen! rief Georg flammend. Dann wird ſich zeigen, wer im Recht iſt! Dann wird ſich zeigen, warum Ihr die Tertſchka eingeſchloſſen habt! Dann wird zu Tage kommen, wie Ihr ſie von klein auf mißhandelt, wie Ihr der Armen ſchändlich nachgeſtellt und ihr den ſauer verdienten Taglohn und das Erbtheil der Mutter, deren Tod Euch auf dem Gewiſſen brennt, vorenthalten habt! Dann wird zu Tage kommen, wie Ihr hier oben mit den Schwachen und Wehr¬ loſen umgeht und wie Ihr Euch mäſtet mit dem Schweiß und Blut der Arbeiter, die man Euch anvertraut! Georg hielt unwillkürlich inne. Die Wucht und die Wahrheit dieſer An¬ klagen hatten bei dem Aufſeher das Maaß zu Rande und ihn ſelbſt um alle Beſinnung gebracht. Sein Antlitz war bläulich fahl geworden; aufbrüllend wie ein verwundeter Stier, ſchäu¬ menden Mundes, die Augen weit vorgequollen ſo ſtürzte er ſich mit hochgeſchwungenem Meſſer auf Georg. Dieſer aber hatte den Hammer erfaßt und ſchwang ihn gegen den Angreifer. Ein dumpfer Schlag erdröhnte; der Aufſeher, vor die Bruſt getroffen, wankte und taumelte, während ſich ein Schwall dunklen Blutes aus ſeinem Munde ergoß, röchelnd zu Boden.

Einen Augenblick herrſchte lautloſe Stille; ſtummes, ödes Grauſen hatte die Anweſenden ergriffen, Georg aber ſtand da, wie David an der Leiche Goliaths. Reſi! Reſi! rief er jetzt, indem er mit raſchen Schlägen das Thürſchloß auf¬173 ſprengte, komm heraus, Reſi! Du biſt frei; unſer Peiniger liegt zu Boden!

Jeſus Maria! ſchrie ſie, hervoreilend, und ſchlug mit einem Blick auf den Getroffenen die Hände zuſammen. Er iſt todt! Georg! Georg! Was haſt Du gethan! Jetzt wird man Dich fortführen und als Mörder vor's Gericht ſtellen!

Das ſoll man! Ich werde Red 'und Antwort geben. Die dort müſſen es bezeugen, daß er mir mit dem Meſſer an's Leben wollte. Geht hinunter , wandte er ſich an die Männer, und meldet, daß der Arbeiter Georg Huber den Aufſeher erſchlagen hat.

Es dauerte lange, bis ſich Einer dazu entſchloß. Georg aber ſetzte ſich mit Tertſchka draußen vor der Hütte nieder. Sie weinte in einem fort; er, noch immer gehoben von dem Vollgefühle ſeiner That, die ihm ein vollſtrecktes Richteramt erſchien, ſtreichelte ihr von Zeit zu Zeit ſanft tröſtend die Wangen. Endlich erſchienen zwei Herren von der Bauleitung und ein Gendarm. Sie ließen ſich Alles erzählen und ſprachen dann eifrig unter einander. Eingeliefert muß er werden , ſagte der Gendarm. Er iſt Urlauber und gehört vor das Militärgericht in Wiener-Neuſtadt. Da ſich Georg willig und fügſam erwies, ſo wurde ihm mitgetheilt, daß man ihm keine Feſſeln anlegen wolle; zu der jammernden Tertſchka aber ſprach der Gendarm, ſie möge ſich tröſten; nach Allem, was er gehört, dürfte es ſo ſchlimm nicht werden. Ja, er geſtattete174 ihr ſogar, ſich mit auf den Vorſpannswagen zu ſetzen, der ihn und Georg ſpäter nach Wiener-Neuſtadt brachte und ſo fuhren ſie in den ſinkenden Abend hinein und in die dunkelnde Nacht, während man oben die Leiche fortſchaffte und ein end¬ loſer Regen vom Himmel niederſtrömte.

Ein ſogenanntes Garniſons-Stockhaus, freundlicher Leſer, iſt ein Gefängniß wie jedes andere, nur mit dem Unterſchiede, daß Diejenigen, welche ſich darin befinden, alte, ſchadhafte Uniformen auf dem Leibe tragen. Man findet dort Soldaten von allen Farben und Abzeichen, und da ſie ſich ſammt und ſonders als Glieder eines Standes fühlen, ſo herrſcht unter ihnen mehr Eintracht, als dies anders wo der Fall zu ſein pflegt; wie denn auch bei dem Völklein eine gewiſſe, durch Aufrechthaltung der verſchiedenen Rangsunterſchiede bedingte Zucht und Ordnung nicht zu verkennen iſt. Trotzdem bleibt ein ſolches Stockhaus immerhin ein gar wüſter, trübſeliger Ort, und es darf uns nicht Wunder nehmen, daß es Georg in jenem zu Wiener-Neuſtadt nicht allzu wohl um's Herz ward. Ein mürriſcher Profoß, von einer Wache begleitet, hatte ihn bei ſpäter Nacht in dem dunklen, ſtark bevölkerten Raum ein¬ geſchloſſen, wo er ſich, da für ihn noch kein Strohſack in Bereitſchaft war, neben geräuſchvoll athmenden Schläfern auf175 das blanke Holzlager hinſtreckte. Aber ſchlafen konnte er nicht. Der gehobene Muth, die beſchwingende Zuverſicht, welche ihn erfüllt hatten, waren ſchon während der langen traurigen Fahrt einigermaßen in's Sinken gerathen; nun ſchlichen bange Zwei¬ fel und ſcheue Vorwürfe an ihn heran. Und als endlich ein bleicher Lichtſchein durch die verſchalten Fenſter dämmerte, nach und nach die kahlen, ſchmutzigen Wände und die unerfreulichen Geſichter ſeiner Mitgefangenen beleuchtend: da fiel ihm die Erkenntniß ſeiner Lage immer deutlicher, immer ſchwerer auf die Seele. Nicht, daß er etwa die Folgen ſeiner That allzuſehr gefürchtet hätte; war er doch angegriffen worden und hatte ſich ſeines Lebens wehren müſſen; aber er ſah im Geiſte das Bild des Erſchlagenen vor ſich, ſah ihn bleich und regungslos im Blute liegen, und in ſeinem weichen, wohlempfindenden Gemüthe miſchten ſich jetzt mit dem ſchaudernden Bewußtſein, einen Menſchen getödtet zu haben, Reue und Mitleid und ließen ihn tief beklagen, das Alles ſo habe kommen müſſen. Dieſer unfreie und gedankenvolle Zuſtand wurde noch dadurch geſteigert, daß Tage um Tage, Wochen um Wochen vergingen, ohne daß man Georg in's Verhör genommen oder ſonſt ſich um ihn gekümmert hätte. Denn nun ſtellte ſich auch die Sorge ein, wie ſich die nächſte Zukunft geſtalten würde, und quälte ihn umſomehr, als er über das Schickſal Tertſchka's, nach welcher er eine ſchmerzliche Sehnſucht empfand, in völliger Ungewißheit war. Das arme Geſchöpf hatte wohl durch176 Vermittlung des wackeren Gendarmen ein Nachtlager und gleich in den nächſten Tagen beim Neubau eines Hauſes Ar¬ beit gefunden; aber in ihrem Inneren ſah es troſtlos aus. Keiner von Denen, die an dem Baugerüſte vorübergingen, und zufällig bemerkten, wie ſie Backſteine oder mit Mörtel gefüllte Kübel hinanſchleppte, hätte gedacht, mit welch 'tiefem Gram und Herzeleid ſie das Alles verrichtete. Abends jedoch, wenn die Arbeit eingeſtellt wurde, und an Sonn - und Feier¬ tagen umkreiſ'te ſie ſcheu die Kaſerne, in welcher ſich das Stockhaus befand, und ſpähte zu jedem vergitterten und ge¬ blendeten Fenſter empor, ob ſie nicht irgendwo das Antlitz Georgs entdecken könne; ſo zwar, daß ſie mehrmals von den Schildwachen hart angelaſſen und fortgeſcheucht wurde. In ihrer Noth wandte ſie ſich endlich an die Soldaten der Thor¬ wache, und bat ſie, ihr zu ſagen, wo ſich der Gefangene Georg Huber befände; ſie möchte gern mit ihm reden. Da bekam ſie denn freilich nur rohes Gelächter und unziemliche Späße zu hören, bis ſich endlich ein gutmüthig ausſehender Unteroffizier ihrer erbarmte, indem er ſich bereit erklärte, be¬ ſagten Gefangenen ausfindig zu machen und demſelben ihre Grüße zu beſtellen; ihn zu ſehen und mit ihm zu reden, könne ihr jedoch nicht verſtattet werden; es wäre denn, daß ſie vom Au¬ ditor hiezu die Erlaubniß bekäme. Den ſolle ſie aufſuchen; aber ſie müſſe ſchon am Morgen zu ihm gehen; denn tagüber ſei der Herr ſelten zu Hauſe anzutreffen. So ſuchte ſie denn177 früh am nächſten Sonntage ihre wollene Jacke und den Kattun¬ rock hervor und begab ſich, damit angethan, nach dem Hauſe, welches ihr der Unteroffizier bezeichnet hatte. Dort mußte ſie eine lange Zeit im Flur warten; denn ſie erhielt den Beſcheid, der Herr Auditor ſchlafe noch. Endlich trat dieſer, bereits völlig angekleidet, aus der Thüre und fragte ſehr eilig, was ſie wolle. Er ließ ſie nicht ausreden und ſagte, die Erlaubniß, mit den Arreſtanten zu ſprechen, könne nur in den ſeltenſten Ausnahmsfällen ertheilt werden; ſie ſolle ſich übrigens beru¬ higen, denn die ganze Angelegenheit würde in Bälde ausge¬ tragen ſein. Wenig getröſtet ging ſie wieder; und wirklich verſtrich abermals Woche um Woche, ohne daß über Georg irgend eine Entſcheidung erfolgt wäre. Denn, um es nur zu ſagen, der Auditor war ein lebensluſtiger junger Mann, dem die Schönen der Stadt näher am Herzen lagen, als ſeine Gerichts¬ acten, zumal Verhandlungen, welche beurlaubte Soldaten be¬ trafen und alſo in dienſtlicher Hinſicht nicht ſo dringend waren, ſchob er gerne auf die lange Bank. In ihrer nunmehr ge¬ ſteigerten Sorge trachtete Tertſchka wieder ihren Vertrauten aufzufinden, und dieſer meinte, daß ihr jetzt nichts Anderes übrig bliebe, als ſich an den Oberſten des Platzkommandos zu wenden. Der ſei zwar ein etwas ernſter und ſtrenger Herr; aber er habe ſchon vielen Menſchen geholfen. Sie ent¬ ſchloß ſich alſo auch dazu und mußte, ehe ſie vorkam, wieder lange warten. Jedoch diesmal nicht im Flur, ſondern in einemSaar, Novellen aus Oeſterreich. 12178warmen Vorgemach; was ihr um ſo wohler that, als der Winter bereits in's Land gerückt war, Endlich hörte ſie ein Geklirr von Säbeln; einige Offiziere traten aus den Ge¬ mächern des Oberſten und gingen, wie es ſchien, etwas nieder¬ geſchlagen fort. Nach einer Weile öffnete ſich wieder die Thüre; ein ſtattlicher Herr mit leicht ergrautem Schnurrbart blickte heraus und fragte ziemlich barſch nach ihrem Begehren. Da ſie aber gleich zu weinen anfing, wurde ſein Antlitz mil¬ der; er hieß ſie eintreten und hörte, nachdem er ſich geſetzt hatte, ſchweigend an, was ſie vorbrachte. Dann ſtellte er einige Fragen an ſie und forderte ſie endlich auf, den ganzen Hergang zu erzählen. Das that ſie nun; freilich gar ſchlicht und unbeholfen; aber dabei ſo wahr, warm und innig, daß der Oberſt, der dabei öfter ſeinen Schnurrbart leicht empor ſtrich, ſichtlich ergriffen wurde. Nachdem ſie geendet hatte, ſtand er auf, legte ihr ſanft die Hand auf die Schulter und ſagte, ſie möge getroſt von hinnen gehen. Er gäbe ihr ſein Wort, daß nunmehr die ganze Angelegenheit in kürzeſter Friſt und, wie er hoffe, zu Georgs Gunſten erledigt ſein werde. Freien und gehobenen Herzens entfernte ſie ſich; der Oberſt jedoch ging noch eine Weile ſinnend im Gemache auf und nie¬ der, wobei er von Zeit zu Zeit die Sporen leiſe an einander ſchlug. Endlich ließ er durch eine Ordonnanz den Auditor zu ſich beſcheiden. Er mußte ziemlich lange warten, bis der junge Mann, ganz erhitzt, mit einer raſchen Verbeugung herein trat.

179

Herr Auditor , begann der Oberſt, es iſt vor ungefähr vier Monaten ein Urlauber, Namens Georg Huber, behufs kriegsrechtlicher Unterſuchung hier eingeliefert worden.

Der Auditor fuhr unwillkürlich mit der Hand nach der Stirne. Georg Huber ja, ja, ganz recht. Es handelt ſich, wie ich glaube, um einen Todtſchlag

Allerdings; darum handelt es ſich. Und ich wünſchte, die Unterſuchung beendet zu ſehen.

O nichts leichter, als das , fuhr der Andere aufath¬ mend fort. Es iſt eine ganz gewöhnliche Geſchichte, wie ſie unter ſolchen Leuten nur zu oft vorkommt. Man läßt den Mann ein paarmal durch die Gaſſe laufen, und die Sache iſt abgethan.

Nicht doch, Verehrteſter , erwiederte der Oberſt. Das wäre ein höchſt oberflächliches, gewaltſames Verfahren. Es liegt mir im Gegentheile daran, daß dieſe Angelegenheit, wenn gleich möglichſt raſch, ſo doch ohne jede Ueberſtürzung mit größter Umſicht und Sorgfalt geprüft und verhandelt werde. Denn ich erlaube mir, ohne damit Ihrer richterlichen Einſicht vor¬ greifen zu wollen, die Bemerkung, daß hier, wie ich mich über¬ zeugt habe, ſehr eigenthümliche Verhältniſſe mit im Spiele ſind. Der Oberſt hatte bei dieſen Worten ernſt die Brauen zuſam¬ men gezogen; der Auditor wußte, was das zu bedeuten habe, machte eine ſtramme Verbeugung und ging. Dann eilte er geraden Wegs in ſeine Kanzlei, und da es ihm keineswegs12*180an Scharfblick und Fertigkeit gebrach, ſo dauerte es wirklich nicht allzu lange, daß Georg und die Zeugen, unter welch 'letzteren ſich auch Tertſchka befand, vernommen waren, und vor einem verſammelten Kriegsrathe folgendes Urtheil geſchöpft wurde: Georg Huber, Urlauber des zwölften Regimentes, ſei des verübten Todtſchlages ſchuldig erkannt und zu einem Jahre ſchweren Kerker verurtheilt; in Erwägung des Umſtan¬ des jedoch, daß er ſich theilweiſe im Falle der Nothwehr be¬ funden, ſo wie anderer erheblicher Milderungsgründe und mit Hinblick auf ſeine tadelloſe Dienſtzeit: ſei ihm die ausgeſtan¬ dene längere Unterſuchungshaft als Strafe anzurechnen. Der Auditor erröthete ein wenig vor ſich ſelbſt, als er dieſe letzten Zeilen niederſchrieb; aber weit höher färbte ſich ſein Antlitz am nächſten Tage, als er dem Oberſten das Urtheil zur Be¬ ſtätigung überbracht hatte, und dieſer, nachdem er das Blatt geleſen, ihm lächelnd auf die Achſel klopfte und ſagte: Da ſieht man, daß eine kleine Saumſeligkeit im Dienſte auch hin und wieder ihr Gutes haben kann. Aber er reichte ihm die Hand und verabſchiedete ihn freundlich.

Zwei Tage darauf ließ der Oberſt Georg und Tertſchka zu ſich rufen. Er betrachtete ſie lange und ſchweigend; dann fragte er nach dieſem und jenem und ſchloß damit, daß er ihnen den Rath ertheilte, vor der Hand in der Stadt zu bleiben. Für ihren Unterhalt durch angemeſſene Arbeit wolle er Sorge tragen und ſie würden noch ſpäter von ihm hören. 181Nachdem die Beiden mit ſcheuen Dankesworten das Zimmer verlaſſen hatten, ging der Oberſt wieder mit leiſem Sporen¬ geklirr auf und ab. Es waren ſeltſame Gedanken, die ihn bewegten. Er hatte vor vielen Jahren ein ſchlankes blondes Fräulein geliebt, und war ſehr unglücklich geweſen. Nicht etwa, daß die Schöne ſeine Neigung zurückgewieſen hätte; darüber würde ſich ſeine ſtolze, kräftige Jünglingsſeele wohl bald getröſtet haben: aber er war in ſeinen reinſten Empfin¬ dungen betrogen und mißbraucht worden, und das hatte ihn mit dauernder Bitterkeit und einer krankhaften Verachtung des weiblichen Geſchlechtes erfüllt, die er gern offen zur Schau trug; wie er denn auch das Weſen der Liebe überhaupt an¬ griff und behauptete, dieſelbe wäre zwar in den Romanen hirnverbrannter Poeten, niemals aber im wirklichen Leben zu finden. Und nun, nachdem er dieſe Meinung, einem leiſen Widerſpruche ſeines Innern zu Trotz, ſo lange und leiden¬ ſchaftlich vor ſich ſelbſt und Anderen aufrecht erhalten hatte: nun war ihm mit einem Male in dieſem armen, verkümmer¬ ten Menſchenpaare die Liebe mit all' ihrer Tiefe, Hingebung, Treue und Zärtlichkeit, in ihrer ganzen heiligen Kraft ent¬ gegengetreten und ſtille Beſchämung und unſägliche Rührung zogen in ſeine Bruſt. Auch ein klein wenig Neid miſchte ſich mit hinein; aber er beſchloß, ſo weit dies von ihm abhinge, die Beiden glücklich zu machen für's ganze Leben.

182

Dort, wo die ſchwärzlichen Schienen längs der rauſchen¬ den Mur, an grünen Wieſen und anmuthigen Auen vorüber, ſich hinziehen; im Umkreiſe des Schloſſes Ehrenhauſen, das von einem bewaldeten Hügel freundlich auf den Ort gleichen Namens hinab ſchaut: ſteht ein einſames Bahnwächterhaus. Ein winziges Stückchen Feld, mit Mais und Gemüſe bepflanzt, liegt dahinter, und vor der Thüre, umfriedet von einer dichten Bohnenhecke, blühen röthliche Malven und großhäuptige Son¬ nenblumen. In dieſem Häuschen, das den Vorüberfahrenden gar ſtill und friedlich anmuthet, leben, wie ſie es einſt kaum zu hoffen gewagt, Georg und Tertſchka ſeit mehr als fünfzehn Jahren als Mann und Frau, und es braucht wohl nicht eigens bemerkt zu werden, daß ihnen der gute Oberſt zu dem kleinen Anweſen verholfen hatte. Man merkt kaum, daß ſie älter geworden, und ſie verrichten gemeinſam den Dienſt, der ihnen bei Tag und Nacht ſchwere Verantwortlichkeit auf¬ erlegt. Aber ſie finden dennoch nebenher Zeit und Gelegen¬ heit, ihr Streifchen Feld zu bebauen, eine Ziege ſammt einigen gackernden Hühnern zu halten und zwei flachshaarige Kin¬ der aufzuziehen, die ſich als willkommene Spätlinge eingeſtellt haben und ganz munter hinter dem Bohnenzaune heranwachſen. Auch trauliche Abendſtunden ſind ihnen vergönnt, wo ſie Hand in Hand vor der Thüre ſitzen, der untergehenden Sonne nach¬ ſchauen und noch immer den Tag preiſen, an welchem ſie ſich zum erſten Male auf der Höhe des Semmerings begegnet. 183Und dann zieht die Vergangenheit mit allen Leiden und Freu¬ den an ihnen vorüber bis zu jenem Augenblicke, wo das Verhängniß ſchwer und furchtbar über ſie hereingebrochen war und doch ihr Glück begründet hatte. Und wenn dann in die Helle ihrer Bruſt ein trüber, dunkler Schatten fallen will dann ziehen ſie raſch die Kleinen heran, die ſich liebkoſend in die Arme der Eltern ſchmiegen und mit den großen Kinder¬ augen ſo harmlos in die Welt hinein blicken, als lebten ſie nicht den wechſelvollen Schickſalen entgegen, die ſich forterben von Geſchlecht zu Geſchlecht, ſo lange noch Menſchen athmen auf der alternden Erde.

[184][185]

Die Geigerin.

[186][187]

Ich bin ein Freund der Vergangenheit. Nicht daß ich etwa romantiſche Neigungen hätte und für das Ritter - und Minneweſen ſchwärmte oder für die ſogenannte gute alte Zeit, die es niemals gegeben hat: nur jene Vergangenheit will ich gemeint wiſſen, die mit ihren Ausläufern in die Gegen¬ wart hineinreicht und welcher ich, da der Menſch nun einmal ſeine Jugendeindrücke nicht loswerden kann, noch dem Herzen nach angehöre. So kann ich niemals die prachtvolle Wiener - Ringſtraße betreten, ohne die alten Baſteien, den lauſchigen Stadtgraben und das mit Kindern bevölkert geweſene Glacis zu vermiſſen, und es ergreift mich immer ganz ſeltſam, wenn irgend eine alte Baulichkeit, die ſich hier und dort als Merk¬ zeichen meiner Knaben - und Jünglingszeit erhalten hat, nieder¬ geriſſen wird. Daher bin ich noch zuweilen in jenen öffent¬ lichen Gärten zu finden, die in Folge neuerer Anlagen ihr Publikum verloren haben und nur mehr von verblühten Gou¬ vernanten, brodloſen Schreibern und ähnlichen Jammergeſtalten in lichtſcheuer Kleidung tagüber als Verſteck benützt werden;188 wie ich denn auch mit einer gewiſſen Vorliebe Gaſt - und Kaffeehäuſer beſuche, welche ſich einſt eines beſonderen Rufes erfreuten, jetzt aber durch moderne Reſtaurationen in den Schatten geſtellt und bloß von einer kleinen Schaar treuer Anhänger in Ehren gehalten werden. Mit den Menſchen er¬ geht es mir ebenſo. Ich fühle mich zu allen Denen hinge¬ zogen, deren eigentliches Leben und Wirken in frühere Tage fällt und die ſich nun nicht mehr in neue Verhältniſſe zu ſchicken wiſſen. Ich rede gern mit Handwerkern und Kauf¬ leuten, welche der Gewerbefreiheit und dem haſtenden Wett¬ kampfe der Induſtrie zum Opfer gefallen; mit Beamten und Militärs, die unter den Trümmern geſtürzter Syſteme begra¬ ben wurden; mit Ariſtokraten, welche, kümmerlich genug, von dem letzten Schimmer eines erlauchten Namens zehren: durch¬ weg typiſche Perſönlichkeiten, denen ich eine gewiſſe Theilnahme nicht verſagen kann. Denn alles Das, was ſie zurückwünſchen oder mühſam aufrecht erhalten wollen, hat doch einmal beſtan¬ den und war eine Macht des Lebens, wie ſo Manches, was heutzutage beſteht, wirkt und trägt. Auch allerlei ſeltſame Ingenia und ruheloſe Feuerſeelen, in denen es vulkaniſch gährt und zuckt, finden ſich darunter. Wiſſenſchaftliche Forſcher, Er¬ finder, Philoſophen und Künſtler, die um ein halbes Jahr¬ hundert zu ſpät geboren wurden und der Welt ein Lächeln des Mitleids entlocken: tragikomiſche Widerſpiele jener hohen, ſeltenen Menſchen, die in der Gegenwart keinen Platz finden,189 weil ſie bereits der Zukunft angehören und Vorläufer Derer ſind, die da kommen werden.

Einen ſolchen, der aber jetzt nicht mehr unter den Leben¬ den weilt, hatte ich vor Jahren kennen gelernt; und zwar in einem Speiſehauſe der inneren Stadt, das inzwiſchen ebenfalls verſchwunden iſt, und wo er, gleich mir, zu ziemlich ſpäter Stunde ſein Mahl einzunehmen pflegte. Es war ein Mann in mittleren Jahren und von ſtattlichem Wuchſe. Leicht zu körperlicher Fülle neigend, das Haar über der hohen, ſchim¬ mernden Stirne bereits gelichtet, ſaß er gewöhnlich in einer Ecke des Zimmers am Tiſche, und blickte dann, nachdem er mechaniſch ein Zeitungsblatt zur Hand genommen, dem Rauche ſeiner Cigarre nach, wobei ſeine grauen Augen oft wunderſam aufleuchteten, während um den fein geſchnittenen Mund ein ſelbſtvergeſſenes Lächeln ſpielte. Wochen um Wochen hatten wir uns ſo in einiger Entfernung ſchweigend gegenüber geſeſſen und nur beim Kommen und Gehen den üblichen kur¬ zen Gruß getauſcht. Eines Tages jedoch waren wir plötzlich in ein Geſpräch verwickelt, ohne daß Einer von uns hätte be¬ ſtimmen können, wer eigentlich den erſten Anſtoß dazu gegeben. Nun wurden wir raſch mit einander bekannt, und es zeigte ſich, daß er mir eigentlich nicht mehr ganz fremd geweſen. Es waren nämlich damals, unter offenbar fingirtem Namen, in einem großen Blatte mehrere Aufſätze erſchienen, die mich durch die philoſophiſche Tiefe ihres Inhaltes ſehr überraſchten. 190Ein reifer, außerordentlicher Geiſt hatte es hier unternommen, politiſche und ſociale Verhältniſſe in einer Weiſe zu beleuchten, welche mit den allgemeinen Anſchauungen in directem Wider¬ ſpruche ſtanden, und hatte Perſpectiven in die Zukunft eröff¬ net, deren paradoxe Faſſung das Befremden, ja den Unwillen der meiſten Leſer erregen mußte; ſo zwar, daß ich mich wun¬ derte, wie ein den augenblicklichen Tagesintereſſen dienendes Organ derlei in ſeine Spalten habe aufnehmen können. In der That brachen auch jene Artikel plötzlich ab; tauchten noch hin und wieder in anderen Journalen auf, bis ſie endlich ganz verſchwanden. Es ging hervor, daß er der Verfaſſer ſei, und ich fand durch ihn ſelbſt meine Vermuthung beſtätigt, daß ſich die Zeitungen nicht länger mit ihm hatten compro¬ mittiren wollen. Ich bin übrigens froh , ſetzte er hinzu, daß man mich der Mühe des Schreibens überhoben hat. Denn es bleibt doch immer eine Qual, ſeine Gedanken zu Papier zu bringen. Und wozu den Leuten Wahrheiten ſagen, die ſie doch nicht hören wollen und an welchen ſich dereinſt ihre Enkel die Stirne blutig ſtoßen werden. Ich erfuhr auch, daß er ſeiner Zeit eine nicht unbedeutende öffentliche Stellung innegehabt. Leitende Perſönlichkeiten waren auf ſeine Kennt¬ niſſe und Fähigkeiten aufmerkſam geworden und hatten dieſel¬ ben in der redlichſten Abſicht für ihre Zwecke ausnützen wollen. Aber es erwies ſich gar bald, daß dieſe eigenthümliche Natur nicht geſchaffen war, ſich fremden Abſichten unterzuordnen, und191 man ließ es ſich gerne gefallen, daß er, nachgerade erſt ſelbſt zu dieſer Erkenntniß gelangend, ſeine Entlaſſung nahm. In der großen Welt war er ebenfalls nicht fremd geblieben. Er hatte ſich in den hervorragendſten Kreiſen bewegt, wo er eine Zeit lang als liebenswürdiger Sonderling geſucht und wohl aufgenommen war; endlich aber, da ſich weder innere noch äußere Anknüpfungspunkte ergeben wollten, überſah man, daß er wegblieb. Nun war er ganz in ſich ſelbſt zurückgeſunken und hatte erreicht, was ſein tief innerſtes Weſen verlangte: Freiheit und Muße zu einſamen Studien und beſchaulichem Denken, eine Beſtimmung, welcher er ſich um ſo getroſter hin¬ geben konnte, als ihm eine kleine Rente beſcheidene Unabhän¬ gigkeit ſicherte. Und wie ſo ganz, wie erhaben erfüllte er dieſe Beſtimmung! Scheinbar unthätig, war er vom Morgen bis tief in die Nacht hinein bemüht, alles Gewordene und Werdende in ſich aufzunehmen. Kein Zweig der Wiſſenſchaft, der Kunſt und des öffentlichen Lebens lag ihm zu ferne; all überall ſuchte und fand er Material zu einem großen Werke, deſſen Vorarbeiten ihn, wie er mir geſtand, ſchon ſeit Jahren in Anſpruch nahmen, und deſſen Ausführung er den Reſt ſei¬ nes Lebens zu widmen gedachte. Er hatte nämlich im Sinne, eine Geſchichte der Menſchheit vom Standpunkte der Ethik aus zu ſchreiben, welche gewiſſermaßen die Kehrſeite des be¬ rühmten Buches von Thomas Buckle werden ſollte. Von einer glühenden Wahrheitsliebe beſeelt, mit einem Blicke begabt,192 welcher bis zum geheimſten Innerſten der Menſchen und zum tiefſten Kernpunkte alles Beſtehenden drang, haßte er nichts ſo ſehr, wie die Lüge, den Schein und die Halbheit, und er konnte ſich in dieſer Hinſicht über Perſonen und Dinge mit einer zerſchmetternden Rückhaltsloſigkeit äußern, welche ſelbſt Jene, die im Allgemeinen ſeine Anſicht theilten, befrem¬ den mußte und mit der man ſich nur verſöhnen konnte, wenn man vernahm, mit welcher Begeiſterung er von allem Aechten, Guten und Schönen ſprach und wie ſo ganz ohne Schonung er gegen ſeine eigenen Fehler und Schwächen zu Felde zog. Dabei war er harmlos wie ein Kind, nur fähig, in der Idee zu haſſen und zu ver¬ folgen; in Wirklichkeit jedoch konnte es jeder menſchlichen Ver¬ irrung gegenüber keinen einſichtsvolleren Beurtheiler, keinen milderen Richter geben, als ihn. Am deutlichſten trat dieſe Eigenthümlichkeit hervor, wenn er auf das andere Geſchlecht zu ſprechen kam. Ich habe Niemanden gekannt, der die weib¬ liche Natur tief, gleich ihm, erfaßt hätte. Wie er ein Auge beſaß, das für die feinſten Reize und Abſtufungen der Schön¬ heit empfänglich war, ſo entging ihm auch nicht der verbor¬ genſte Zug des Herzens und der Seele, und wenn er ſich auch hin und wieder über die Frauen im Allgemeinen zu einem Worte hinreißen ließ, das an die Ausſprüche des Frankfurter Weltweiſen erinnerte, ſo war er hinterher doch gleich bemüht, alles, was er an ihnen zu tadeln fand, auf die ſociale Stellung193 zuſchieben, welche ſie ſeit jeher eingenommen. Wahrlich, wenn man ihn ſo von ihren Vorzügen und Tugenden, von ihren Kräften und Fähigkeiten reden hörte, man hätte glauben ſollen, daß ihm die Herzen Aller zufliegen müßten. Aber ſeltſam, er war, wie er mit ſchmerzlichem Humor geſtand, niemals geliebt wor¬ den, obgleich er ſeiner Zeit viel mit Frauen verkehrt hatte. Um dieſe, ſo weit dies überhaupt möglich iſt, kennen zu ler¬ nen , pflegte er zu ſagen, darf man von ihnen nicht geliebt werden; denn man iſt dann leicht geneigt, ihre Gunſt als etwas Selbſtverſtändliches hinzunehmen, und in Folge deſſen geringer anzuſchlagen. Man muß vielmehr durch ſie ſchmerz¬ lich gelitten und geſehen haben, welchen Schatz von Treue, Hingebung und Opferwilligkeit ſie anderen Männern, ja ſogar ſolchen, die wir tief unter uns erblicken, entgegenbringen, um zu erkennen, welch 'ein Geſchenk des Himmels es ſei, das Herz eines Weibes ganz und voll zu beſitzen. Trotz dieſes lebhaften und unumwundenen Austauſches von Gedanken und Empfindungen kam es zwiſchen mir und Walberg wie ich den eigenthümlichen Mann, deſſen Name in Wirklichkeit viel weniger ſtolz und anſpruchsvoll klang, hier nennen will zu keiner Freundſchaft im eigentlichen Sinne des Wortes. Wir hatten hiezu Beide bereits die Geſchmeidigkeit und Spannkraft der Jugend verloren, welche allein im Stande iſt, ſolche Bünd¬ niſſe für's Leben zu ſchließen. Unſer Verkehr beſchränkte ſich auf anregende Tiſchgeſpräche und auf kürzere oder längereSaar, Novellen aus Oeſterreich. 13194Beſuche, die wir uns hin und wieder abſtatteten, Zuweilen machten wir auch einen kleinen Ausflug in's Freie, wo ihm dann, von der Natur angeregt, das Herz vollends aufging und ſein Geiſt geradezu Offenbarungen ausſtrahlte.

So hatten wir auch einmal nach Tiſch einen Gang in den Prater unternommen. Es war ein milder, ſonniger Oc¬ tobertag und in der endloſen Hauptallee mit ihren alten, ſich eben leiſe entblätternden Kaſtanienbäumen wogte ein mächtiger Menſchenſtrom. Eine Zeitlang ſchlenderten wir ſo im Ge¬ wühle hin und ließen die ſchönen ſtolzen Frauen zu Roß und Wagen an uns vorüberfliegen. Nach und nach aber fühlten wir uns beengt und gedrückt und ſchlugen, quer über die Wieſen ſchreitend, den Weg nach den einſameren Partien der ſtimmungs¬ vollen Aulandſchaft ein. Man hatte damals bereits begonnen, hier und dort einige jener herrlichen Baumgruppen zu fällen, welche in der nächſten Nähe einer großen Reſidenz ihres Glei¬ chen ſuchen dürften, und hatte ſo den Anfang zu den Verwü¬ ſtungen gemacht, die ſpäter zur Zeit der Weltausſtellung ſo große Ausdehnung gewannen. Vor zwei rieſigen Buchen, welche mit ihren herbſtlich gefärbten Wipfeln auf dem Boden lagen, blieben wir ſtehen. Wie ſchade um die prachtvollen Bäume , ſagte ich.

Eine wahre Sünde , erwiederte er, das friſche, blühende Leben zu verwüſten. Ich ſehe ſchon im Geiſte die ganze lieb¬ liche Wildniß ausgerodet, das letzte Stückchen Grün vertilgt195 und auf der troſtloſen Ebene eine Maſſe nüchterner Häuſer ſtehen, zwiſchen welchen ein qualmender Eiſenbahnzug dahin¬ brauſt. Aber , fuhr er nach einer Weile fort, das iſt im Grunde doch nur Sentimentalität. Alles vollzieht ſich nach dem eiſernen Geſetze der Nothwendigkeit. Der Prater wird ſo lange erhalten bleiben, als er ein Bedürfniß iſt. Eine Reit - und Fahrbahn wird ſich überall finden laſſen und das Volk kann ſich auch anderswo beim Biere vergnügen!

Wir waren wieder ſchweigend weiter geſchritten. Rings¬ um herrſchte tiefe Stille; nur ein kühler Windhauch ſchauerte leiſe durch die Zeitloſen, mit welchen der Grund wie überſät war. Endlich ſtanden wir vor einem weitläufigen Sumpfe, aus deſſen Schilf, von unſeren Schritten aufgeſchreckt, ein ſpäter Reiher in die ſinkende Dämmerung emporrauſchte. Wir machten uns auf den Heimweg. Als wir die Brücke über den Donaukanal betraten, gewahrte ich, wie unter den Jochen hervor ein dunkler Gegenſtand auf den Fluthen trieb, in welchem ich die Umriſſe einer weiblichen Geſtalt zu erkennen glaubte. Gleichzeitig mit mir mußten ihn Andere bemerkt ha¬ ben; es entſtand ein Zuſammenlauf am Geländer; Rufe nach Rettung wurden laut, und wirklich ſtieß in einiger Entfernung ein Kahn ab, deſſen Bemannung die Verunglückte mittelſt langer Enterhaken an's Ufer zog und am Fuße eines Gas¬ candelabers niederlegte. Dorthin ſtrömte jetzt eine zahlreiche Menſchenmenge; ich und mein Begleiter wurden unwillkürlich13*196mit fortgeriſſen. Kaum aber hatte Walberg einen Blick in das bleiche Antlitz des Weibes gethan, als er mich mit einem unterdrückten Aufſchrei beim Arm ergriff und fortziehen wollte. Er faßte ſich aber gleich wieder, trat auf die Sicherheitswache zu, die ſich eingefunden hatte und wechſelte mit dem Manne einige Worte. Mittlerweile hatte man Vorkehrungen getrof¬ fen, die, wie es ſchien, bereits Entſeelte in die nächſte Ret¬ tungsanſtalt zu bringen. Wir ſchloßen uns dem traurigen Zuge an und traten, indeß die Menge draußen zurückgehalten wurde, bei dem Wundarzte ein. Während dieſer mit ſeinen Gehilfen im Nebenzimmer Belebungsverſuche anſtellte, ſank Walberg erſchöpft in einen Stuhl und ſchrieb einige Worte auf ein Blatt Papier, welches er aus ſeinem Notizbuche los¬ getrennt hatte. Der Arzt erſchien bald und erklärte achſel¬ zuckend, daß Alles vergebens und das Frauenzimmer todt ſei. Walberg erhob ſich und trat, während ich folgte, noch einmal an die Leiche, welche im grellen Lichte einer von der Decke niederhängenden Lampe auf dem Sopha des Zimmers lag. Es war eine ſchlanke, zartbuſige Geſtalt; bereits über die eigentliche Jugend hinaus, aber ſelbſt noch im Tode von jener Anmuth umfloſſen, welche nie altert. Die naſſen, an den Formen klebenden Gewänder erſchienen ziemlich abgetragen und auch die Handſchuhe, ſowie die knappen Stiefelchen wieſen leicht erkennbare Schäden auf. Der Arzt hatte das Hütchen, welches früher noch unter dem Kinne der Todten feſtgeknüpft197 war, entfernt, und ſo hing ihr lichtbraunes Haar in feuchten Locken und Strähnen gelöſt, über die Schultern hinab. Die bläulichen Lippen waren weit geöffnet und große dunkle Au¬ gen ſtarrten gebrochen unter den Wimpern hervor. Der An¬ blick war zu ergreifend, als daß wir ihn hätten ertragen können. Die Unſelige! murmelte Walberg, indem er ſich, gleich mir, ſchaudernd abwandte; ſo weit iſt es mit ihr ge¬ kommen. Dann übergab er dem Wachmanne das beſchriebene Blatt und wir traten auf die Gaſſe hinaus, wo wir ſtumm neben einander hergingen. Walberg ſchien ein Vorhaben zu überlegen; endlich winkte er einen Miethwagen heran und er¬ ſuchte mich, ihn zu begleiten. Wir fuhren in eine der nächſten und belebteſten Vorſtädte. Bei einem ſtattlichen, hell erleuch¬ teten Kaufmannsladen ließ er halten und trat hinein. Ge¬ raume Zeit verſtrich, bis er zurückkam. Es iſt Alles ſo, wie ich es mir gedacht habe , ſagte er beim Einſteigen mehr zu ſich ſelbſt, nachdem er dem Kutſcher ſeine Wohnung bezeichnet hatte. Wir legten eine ſchweigſame Fahrt zurück und als der Wagen hielt, ſchrak Walberg aus trübem Sinnen empor. Kommen Sie mit mir hinauf , bat er; ich will jetzt nicht allein ſein. In ſeinem einfachen Zimmer machte er Licht, zündete die Spirituslampe unter dem Theekeſſel an und reichte mir ſchweigend ein Kiſtchen mit Cigarren. Dann ſetzte er ſich in einen Lehnſtuhl und blickte nachdenklich vor ſich hin. Es war mir, als hätte ich eine Mittheilung zu erwarten; aber198 ich wollte nicht drängen und nahm eines der vielen Bücher zur Hand, die überall umher lagen. Es wurde ganz ſtill im Gemache; nur das Waſſer im Keſſel begann leiſe zu ſummen. Endlich wandte ſich Walberg zu mir: Soll ich Ihnen die Geſchichte des armen Weibes erzählen, das ſich heute in den Wellen der Donau den Tod gegeben? Und meine Zuſtim¬ mung vorweg nehmend, fuhr er fort: Es iſt eine traurige, ja vielleicht eine häßliche Geſchichte. Es kommt auf den Ge¬ ſichtspunkt an, von welchem aus man ſie betrachtet. Sie ken¬ nen meine Art und Weiſe, die Dinge aufzufaſſen; ſie ſtimmt mit der Ihrigen überein und ſo bin ich überzeugt, daß ſie dem unglücklichen Geſchöpfe, trotz Allem, was Ihnen jetzt zu hören bevorſteht, eine ſtille Thräne in Ihrem Herzen nicht werden verſagen können. Er war aufgeſtanden, hatte mir eine Taſſe gefüllt und ſich dann wieder geſetzt.

Sie wiſſen, begann er, wie zurückgezogen, wie einförmig ich lebe. Seit einer Reihe von Jahren verzichte ich auf Freu¬ den und Vergnügungen, welche Männern in unſerem Alter, in unſeren Verhältniſſen, natürlich und angemeſſen ſind. Ich ſage abſichtlich: daß ich verzichte; denn von Natur bin ich eigentlich volllebig und eher zur Ausſchreitung, als zur Be¬ ſchränkung geneigt. Aber das geiſtige Bewußtſein iſt in mir199 doch zu vorherrſchend, als daß ich dieſen Hang nicht als etwas Störendes, ja geradezu Feindſeliges empfinden und nicht in jeder Weiſe bemüht ſein ſollte, ihn abzulenken und zu erſticken. Und ſo kann ich mich mit weit mehr Recht einen Asketen nennen, als die Meiſten, welche vor der Welt die Abzeichen der Entſagung zur Schau tragen. Von Zeit zu Zeit jedoch bricht dieſes niedergehaltene Element plötzlich mit aller Macht hervor und ich werde dann, wie ich überhaupt zu Extremen neige, unaufhaltſam getrieben, mich aus meiner ſtillen Einſam¬ keit heraus in den vollſten Strom, ja vielleicht auch ein wenig in den Pfuhl des Lebens zu ſtürzen; freilich nur, um allſo¬ gleich wieder, ernüchtert und vor mir ſelbſt beſchämt, in den reinen Aether meiner Arbeiten zurückzukehren. So geſchah es auch einmal im Carneval. Ich hatte mich an einigen halb¬ wahren Büchern, die eben großes Aufſehen erregten, müd und ärgerlich geleſen. Ich war geiſtig verſtimmt und ſehnte mich ordentlich nach Menſchen, die nichts Höheres in's Auge faſſen und, nur auf das Nächſte beſchränkt, gedankenlos in den Tag hineinleben. Es waren damals gerade die Maskenbälle bei uns in Schwung gekommen und ich hatte Manches von dem tollen Treiben gehört, das dabei herrſche. Namentlich ſollten jene, die in einem großen, außerhalb der Linie gelegenen Ver¬ gnügungslocale ſtattfanden, in dieſer Hinſicht alles Dageweſene überbieten. Dorthin wollte ich nun wollte mich unter die ausgelaſſene Menge miſchen und, wenn es ſich fügte, auch ein200 bischen ausgelaſſen ſein. In einer ſternhellen Februarnacht machte ich mich auf den Weg. Kaum aber hatte ich die er¬ leuchteten Säle einige Male durchſchritten, als ich mich voll¬ ſtändig enttäuſcht fühlte. Sprudelnde, entfeſſelte Lebensfreu¬ digkeit hatte ich erwartet und fand nichts als öde Stumpfheit, die ſich zur Aufmunterung bisweilen ſelbſt mit den Fäuſten der Gemeinheit in die Rippen ſtieß. Nicht einmal die Strauß'¬ ſchen Walzer waren im Stande, die Tanzenden zu befeuern, deren größtentheils plumpe und ungelenke Bewegungen Lächeln und Mitleid erregten. Reizloſe Weiber in verſchoſſenen Mas¬ kenanzügen zwangen ſich zu lahmen Späſſen und wenn hier und dort ein feinerer Wuchs, ein geſchmackvolleres Coſtüm im Gewühl auftauchte, ſo gehörten ſie Frauen an, die ſich, in männlicher Begleitung, mehr zuſehend, als theilnehmend ver¬ hielten. Zudem war es unerträglich heiß und ſo ſuchte ich bald jene Nebenräume auf, welche theils als Speiſezimmer, theils als Schauplätze für kleine dramatiſche Vorſtellungen und ſonſtige Erluſtigungen benutzt wurden. In einem derſelben ließ ſich vor nicht ſehr zahlreichem, aber gewählterem Publicum ohne Maske ein ſogenanntes Damentrio hören. Ich ſetzte mich an einen der Tiſche, die vor der niederen Bühne ange¬ bracht waren, beſtellte eine Erfriſchung und ließ mich, mi߬ muthig wie ich war, von den Klängen umrauſchen, ohne ihnen Aufmerkſamkeit zu ſchenken. Nach und nach aber wurde ich unwillkürlich gefeſſelt. Es waren Muſikſtücke edlerer Art, die201 hier mit ſo viel Ausdruck und Präciſion vorgetragen wurden, daß ſich der allgemeine Beifall oft und laut kundgab. Auch die Spielenden waren ganz geeignet, die Blicke auf ſich zu ziehen. Sie trugen alle drei weiße Kleider mit Gürteln und Achſelbändern von ſchwarzem Taft, welche einfache Tracht ihre jugendlichen Erſcheinungen anmuthig hervorhob. Obgleich ſie einander gar nicht ähnlich ſahen, ſo konnte man ſich doch des Eindruckes nicht erwehren, man habe drei Schweſtern vor ſich. Die Jüngſte, welche am Claviere ſaß, war faſt noch ein Kind. Aber die Kraft und Sicherheit, mit welcher ſie trotz der zucken¬ den Unruhe ihres ſchmächtigen, halbwüchſigen Körpers ſpielte; die herausfordernde Art und Weiſe, wie ſie, die krauſen, blon¬ den Locken ſchüttelnd, ihr mehr reizendes als ſchönes Geſicht dem Publikum zukehrte, gab ihr etwas Frühreifes und Be¬ wußtes, das gleichzeitig anzog und abſtieß. Die Mittlere mit dem Cello war ihr gerader Gegenſatz. In voll entwickelter Jugendblüthe, die Wangen roſig, das glänzende ſchwarze Haar ſchlicht aus der Stirne geſtrichen, ſaß ſie gelaſſen da und wandte ihre ganze Aufmerkſamkeit dem ungelenken Inſtrumente zu, das ſie handhabte. Einen wunderbaren Anblick aber bot die Aelteſte dar, welche mit der Geige im Vordergrund der Bühne ſtand. Sie mochte ungefähr fünfundzwanzig Jahre zählen und war bereits von jenem ſchwermüthigem Reiz des Verblühens umhaucht, welcher manche Frauen ſo anziehend macht. Die zarte Wange leicht an das bräunliche Holz ge¬202 ſchmiegt, das matt ſchimmernde Haar nachläſſig gelockt, und mit dem ſchlanken, biegſamen Leibe den Bogenſtrichen folgend, glich ſie einer Camöne. Es entging mir nicht, daß ſie bei ausdrucksvollen Stellen, zarten ſowohl als leidenſchaftlichen, ihre großen, etwas umſchatteten Augen auf einen jungen Mann heftete, der in einiger Entfernung von mir ſaß, und den ich früher nicht beachtet hatte. Von hohem und ſchlankem Wuchſe, ſorgfältig, aber ohne Ziererei gekleidet, war er in ſeinen Stuhl zurückgeſunken und ſchien die Aufmerkſamkeit, welche ihm die Geigerin ſchenkte, gänzlich zu überſehen. Seine Blicke ſchweif¬ ten vielmehr, während er langſam ein Glas Punſch trank, nach dem Kinde am Claviere hin, welches ihm auch von Zeit zu Zeit wie verſtohlen zulächelte. Sein Antlitz wies ein kühn geſchnittenes, fremdländiſches Profil, und die hohe, gerade Stirn leuchtete aus dunklen Haaren hervor; eine längliche Narbe auf der rechten Wange zierte ihn mehr, als ſie ihn entſtellte. Er war im eigentlichen Sinne des Wortes ſchön zu nennen. Das Geiſtige herrſchte in ſeinen Zügen nicht vor; aber Alles war voll Leben und Ausdruck, und die hellen braunen Augen blickten ſtolz und einnehmend zugleich, wie die des Hirſches. Die Geigerin hatte inzwiſchen begonnen, ein Solo vorzutragen, das nur hin und wieder von dem Clavier begleitet wurde. Sie ſpielte mit ſo zartem Schmelze, mit ſo hinreißendem Feuer, daß, als ſie geendet hatte, ſtürmiſcher Beifall losbrach. Sie verneigte ſich leicht, aber ihr Blick ruhte, während die Töne203 noch immer in ihr nachzuzittern ſchienen, auf dem jungen Manne, der nun auch, wie aus einem Traume aufgeſchreckt, durch leichtes Kopfnicken ſeine Anerkennung kund gab. Es ſchien jetzt eine längere Pauſe eintreten zu wollen; denn die Spielenden verließen ihre Plätze und zogen ſich in den Hin¬ tergrund der Bühne zurück. Mein Nachbar war gleichfalls aufgeſtanden und begab ſich mit vertraulichen Geberden zu den Frauen. Die Geigerin ging ihm mit erwartungsvollem Lächeln entgegen; er aber ſah zerſtreut über ſie hinweg und reichte dem Kinde die Hand, welches, wiederum das Haar ſchüttelnd, auf ihn zuſprang. Ich ſah das Alles und fühlte mein Herz von einem ſeltſamen Schmerze zuſammengepreßt. Ich beſitze die unglückſelige Gabe, ohne es eigentlich zu wollen, aus ge¬ ringfügigen Anzeichen, aus einem Blicke, einem Worte ganze Verhältniſſe zu errathen und mir dieſelben zurecht zu legen. So brachte ich denn gleich auch dieſe vier Perſonen in eine eigenthümliche Stellung zu einander, die mich bedrückte. Ich verlor alle Luſt, weiter zuzuhören und entfernte mich, während die Celliſtin langſam die Noten zu einem neuen Stücke auf¬ legte. Zu Hauſe angekommen, lag ich noch eine Zeitlang wach im Bette; endlich ſchlief ich ein und die drei Geſtalten in weißen Kleidern und der junge Mann mit der Narbe auf der Wange zogen, wirr und phantaſtiſch verſchlungen, durch meine Träume. Auch in den folgenden Tagen wirkten dieſe Eindrücke nach, dann aber war Alles vergeſſen.

204

So kam der Frühling heran. An einem herrlichen April¬ morgen hatte ich ein entlegenes Maleratelier beſucht und mich dort mehrere Stunden verweilt. Da ich den weiten Weg nach der Stadt zurück nicht zu Fuße machen wollte, ſtieg ich in einen gemeinſchaftlichen Wagen und befand mich der Geigerin gegenüber. Ich hatte ſie auf den erſten Blick wieder erkannt, obgleich ihr das Licht des Tages und die veränderte Kleidung viel von dem idealen Schimmer jener Nacht nahm. Eine etwas fahle Geſichtsfarbe und leichte Fältchen um den blaſſen Mund traten deutlich hervor, aber ſie ſah noch immer ſchön und einnehmend genug aus, und ein Frühlingshütchen von weißem Mull, das friſch wie der gefallene Schnee von der übrigen, noch etwas winterlichen Tracht abſtach, ſtand ihr reizend zu Geſicht. Mit aufrechtem Oberkörper ſaß ſie da und hatte die ſchmalen Hände über einem Päckchen gekreuzt, das in ihrem Schooße lag. Zuweilen rückte ſie unruhig auf ihrem Sitze hin und her und blickte durch die Scheiben, als dauerte ihr die Fahrt zu lange. Als wir endlich bei der Stadt angelangt waren, ließ ſie halten und ſprang aus dem Wagen. Ich that unwillkürlich daſſelbe, aber ich konnte ihr nicht folgen; denn ſie ging ſo raſch, daß ich, um nicht aufzu¬ fallen, nur mit den Blicken hinter ihr her bleiben konnte. Jetzt bog ſie in die Gaſſe ein, in welcher ſich die öffentliche Pfand¬ leihanſtalt befindet, und als ich meinen Schritt beſchleunigte, konnte ich noch gewahren, wie ſie in dem Thore dieſes Ge¬205 bäudes verſchwand. Ein tiefes Weh fiel mir auf's Herz. Alſo auch ſie hatte mit der Noth des Lebens zu kämpfen, die mir hier wieder einmal als unzertrennliche Begleiterin der Kunſt erſchien, und mußte vielleicht irgend ein theures Ange¬ denken, einen liebgewordenen Schmuck verpfänden, um nicht unterzugehen! In ſolch 'trübe Gedanken verſunken, war ich halb unbewußt ebenfalls vor der Anſtalt eingetroffen, als ſie plötzlich, das Päckchen krampfhaft umklammernd, mit dem Aus¬ drucke tiefſter Verzweiflung im Antlitz, wieder unter dem Thore erſchien. Sie war offenbar zu ſpät gekommen oder man hatte ſie auf morgen vertröſtet; und nun ſtand ſie da und blickte ſtumpfſinnig in das goldene Sonnenlicht hinein, das die gegen¬ über liegenden Häuſer umfunkelte. Fröhliche Menſchen ſchritten an ihr vorüber; ein kleines Mädchen bot ihr Veilchen zum Kaufe, aber ſie ſah und hörte nichts. Endlich ging ſie und irrte, wie es mir ſchien, ohne Wahl und Ziel in den nächſten Gaſſen umher. Ich konnte es nicht länger mit anſehen und trat an ihre Seite. Erlauben Sie, mein Fräulein , ſagte ich, indem ich höflich den Hut abzog.

Sie ſah mich ausdruckslos an und eilte weiter.

Ich hielt mich neben ihr. Bemühen Sie ſich nicht, mein Herr , ſagte ſie endlich. Ich wünſche keine Begleitung ich muß Sie bitten

Halten Sie mich für keinen Unverſchämten, keinen Zu¬ dringlichen , erwiederte ich feſt. Ich habe Ihnen eine wich¬ tige Mittheilung zu machen.

206

Sie zuckte zuſammen. Eine wichtige Mittheilung wiederholte ſie tonlos und mußte ſich, um nicht zu ſinken, an die nächſte Mauer lehnen.

Ich war auf's Aeußerſte beſtürzt. Erſchrecken Sie nicht , fuhr ich fort, es handelt ſich um etwas ſehr Angenehmes ſehr Erfreuliches.

Sie athmete auf. Und was könnte das ſein? fragte ſie ungläubig.

Folgen Sie mir in jenes Durchhaus, wir können dort ungeſtörter ſprechen.

Sie betrachtete mich zögernd und mißtrauiſch; aber ſie folgte mir.

Mein Fräulein , begann ich, Sie befinden ſich in die¬ ſem Augenblicke in einer höchſt peinlichen Verlegenheit.

Woher wiſſen Sie ? ſtammelte ſie überraſcht.

Ich ſah Sie vorhin doch das thut jetzt nichts zur Sache; genug, daß ich es weiß.

Sie blickte zu Boden. Nun, es iſt wahr , ſagte ſie und fuhr mit zitternder Hand über die Stirne, ich bin in der größten Verzweiflung. Es gilt, eine mir ſehr werthe und naheſtehende Perſönlichkeit aus einer drohenden Gefahr zu retten. Seit geſtern müh 'ich mich in jeder Weiſe, zu dieſem Zwecke ein Darlehen aufzutreiben. Endlich habe ich von einer ehemaligen Freundin nach vielem Bitten und Flehen nach vielfachen Erniedrigungen dieſe Diamanten erhalten, aber nur gegen das207 heilige Verſprechen, dieſelben blos in der öffentlichen Anſtalt, um keinen Preis jedoch in einem jener Winkelämter zu ver¬ pfänden, die nicht genug Sicherheit bieten. Und nun

Kamen Sie nicht mehr zur rechten Zeit

Kam um fünf Minuten zu ſpät! das Bureau wird erſt morgen wieder geöffnet und wenn bis drei Uhr das Geld nicht beſchafft wird, ſo iſt Alles verloren!

Beruhigen Sie ſich. Es ſoll Alles gut werden. Ich bin bereit, Ihnen das Nöthige ohne Pfand vorzuſtrecken.

O mein Herr , ſagte ſie in einem Kampfe zwiſchen Freude und Schaam wie kann ich wie darf ich von einem ganz Unbekannten

Hier iſt meine Karte. Und wenn auch ich Ihnen unbe¬ kannt bin Sie ſind es mir nicht. Ich habe Sie ſpielen hören. Und während ſie erröthend auf die Karte niederſah, fuhr ich dringend fort: Beſinnen Sie ſich nicht länger! Wei¬ ſen Sie die Hülfe nicht zurück, die ich Ihnen aus vollem Herzen anbiete. Nennen Sie mir den Betrag

O , ſagte ſie, wieder hoffnungslos, es iſt viel Geld. Und ſie nannte eine Summe, über deren Höhe ich allerdings erſchrak. Aber ich beſaß dieſe Summe und konnte nicht zurück. Sie begreifen , ſagte ich, daß ich ſo viel nicht bei mir trage. Erwarten Sie mich in zehn Minuten vor dem Ste¬ phansdome; ich werde Ihnen das Gewünſchte einhändigen. 208Und nach einem raſchen Gruße eilte ich in meine Wohnung, das Geld zu holen.

Als ich mich ſpäter am bezeichneten Orte einfand, ging ſie unruhig auf und nieder. Sie mußte ſchwere Zweifel in die Wahrheit meiner Verſprechung geſetzt haben; denn bei meinem Anblick ſchien es ihr wie eine Laſt von der Seele zu fallen. Ich lenkte ſie in die dunkle, menſchenleere Kirche hin¬ ein und überreichte ihr die erforderliche Summe. Sie zögerte noch einen Augenblick, dieſelbe anzunehmen. Dann aber drückte ſie mit ihren beiden Händen warm die meine. O, mein Herr , ſagte ſie, wie ſoll ich Ihnen danken! Sie wiſſen nicht, welchen Dienſt Sie mir erweiſen. Sie ſollen alsbald wieder im Beſitze des Ihrigen ſein gleich morgen will ich den Schmuck verpfänden.

Thun Sie das nicht , ſagte ich. Sie haben mir ja geſtanden, daß Sie ihn nur gegen ſchwere Demüthigungen er¬ halten. Sie kämen vielleicht in eine unwürdige Abhängigkeit zu der Perſon, die Ihnen denſelben anvertraut. Geben Sie die Juwelen ſogleich wieder zurück. Mit meinem Gelde hat es keine Eile. Ich will zufrieden ſein, wenn ich in Folge dieſes Darlehens das Glück habe, Sie einmal wiederzuſehen.

Sie war durch dieſe letzten Worte offenbar peinlich be¬ rührt worden und hatte Mühe, eine ablehnende Geberde zu unterdrücken. Aber wie von einem plötzlichen Gedanken durch¬ zuckt, ſagte ſie raſch: Allerdings; es wird mich unendlich209 freuen, meinen Retter näher kennen zu lernen. Hier iſt meine Adreſſe, damit Sie mich zu finden wiſſen. Sie ſollen übri¬ gens ſchon in den nächſten Tagen von mir hören. Und da ich ſie nun ſelbſt aufforderte, ſich auf den Weg zu machen, ſo eilte ſie, flüchtig wie ein Vogel, von dannen und verſchwand im Menſchengewühle.

Ich hatte ihr eine Weile nachgeſehen; dann ſenkte ich den Blick auf die Adreſſe und las: Ludovica Mensfeld. Und wie ich jetzt ſo da ſtand, das kleine Kärtchen in der Hand, fühlte ich mich fremd und kühl berührt. Es war mir, als hätt 'ich eine Thorheit begangen. Ich hatte mich nahezu von Allem entblößt, was ich augenblicklich beſaß und war nun ſelbſt für die nächſte Zukunft der Sorge preisgegeben. Und für wen hatte ich Alles geopfert? Für ein Weib, das mir ferne ſtand. Und nicht einmal für ſie ſelbſt; ſie wollte ja mit dem Gelde einen Anderen retten, und dieſer Andere, darüber konnte kein Zweifel ſein, war der junge Mann, welchen ich damals in ihrer Nähe geſehen und den ſie liebte! Aber kümmerte mich das? War es nicht ein beglückendes, erheben¬ des Gefühl, eine arme, zitternde Menſchenſeele aus der Nacht der Verzweiflung zu befreien? Hatte ich nicht Hilfsquellen genug? Konnte ich nicht arbeiten? So trat ich meinen Egoismus ſiegreich mit Füßen und bald ſtand es bei mir feſt, daß ich Recht gethan und keine weiteren Anſprüche mehr er¬ heben würde; ſelbſt der Wunſch, die Geigerin wiederzuſehen,Saar, Novellen aus Oeſterreich. 14210war erloſchen. So ging ich, mit mir ſelbſt im Reinen, freien und fröhlichen Herzens zu Tiſche.

Nach kurzer Zeit erhielt ich durch die Poſt einen Brief mit gefälligen, etwas flüchtigen Schriftzügen. Er lautete:

Verehrter Herr! Wenn Sie morgen Abend nichts Beſſe¬ res vorhaben, ſo ſchenken Sie uns das Vergnügen Ihres Be¬ ſuches. Sie werden blos in einem Familienkreiſe ſein. Ihre dankſchuldigſte Ludovica.

Ich legte das Schreiben ruhig bei Seite, denn ich dachte gar nicht daran, der Einladung nachzukommen. Am andern Morgen jedoch fiel mir ein, daß es doch geradezu unartig wäre, dieſelbe gänzlich zu ignoriren. Ich mußte mich mit einigen Zeilen entſchuldigen und ſetzte mich an den Schreibtiſch. Wie ich nun ſo nach einer landläufigen Ausflucht ſuchte, kam mir meine Wahrheitsliebe in die Quere, die es mir ſelbſt in unbedeutenden Dingen ſchwer macht, eine Lüge zu erſinnen, und ich entſchloß mich kurz und gut, hinzugehen. So ſuchte ich denn gegen Abend den Stadttheil auf, in welchem die Gei¬ gerin wohnte. Im dritten Stockwerk eines dichtbevölkerten Hauſes ſchellte ich an der bezeichneten Thüre. Eine Magd öffnete und wies mich nach dem Empfangszimmer, wo mir Ludovica in ſchwarzem Seidenkleide, eine dunkelrothe Blume in's Haar geſteckt, mit graziöſem Anſtand entgegen kam und mich mit der verſammelten Geſellſchaft bekannt machte. Ich211 ſah die zwei andern Spielerinnen und fand meine Vermuthung von damals beſtätigt; denn Ludovica ſagte: Meine Schwe¬ ſtern Anna und Mimi. Dann vor einem jungen Manne mit klugen, offenen Geſichtszügen: Herr Berger, Kaufmann. Zuletzt warf ſie einen Blick auf den, welchen ich hier zu fin¬ den gewiß war, und fügte etwas undeutlich hinzu: Herr Alexis. Dieſer hatte ſich bei meinem Eintritt vom Sitze er¬ hoben und kam jetzt, während er mir die Hand entgegen ſtreckte, mit großer Freundlichkeit auf mich zu, wobei er jedoch eine gewiſſe Befangenheit nicht verbergen konnte. Man wies mir neben ihm einen Platz auf dem Sopha an und ich blickte nun, wie man dies an fremden Orten unwillkürlich zu thun pflegt, im Gemache umher. Es ſah ziemlich kahl aus und in der Einrichtung gab ſich eine gewiſſe Sorgloſigkeit kund. Ein älteres, aber wohlgebautes Clavier, auf welchem die Geigen Ludovica's ruhten, fiel zuerſt in die Augen, und an den Wän¬ den hingen die Bildniſſe Mozart's und Beethoven's, ſowie verſchiedener anderer Tonkünſtler und Virtuoſen. In einem kleinem Nebenzimmer jedoch, deſſen Thüre offen ſtand, ſchien eine bürgerliche, arbeitſame Hand zu walten, und den größten Raum nahm ein ausgedehnter Tiſch ein, der mit angefangenen weiblichen Kleidungsſtücken bedeckt war. Mimi, welche, wie ich bemerkte, meinen Blicken folgte, rief lachend: Der Herr verwundert ſich über Anna's Zimmer. Es ſieht auch darin aus, wie in einer Schneiderwerkſtätte.

14*212

Anna erröthete.

Nicht doch , ſagte ich; es iſt ein anſprechendes Bild häuslichen Fleißes.

Ja, fleißig iſt ſie, das muß man ihr laſſen , fuhr Mimi fort. Sie iſt unſere Mama; beſorgt den Haushalt, fertigt uns Kleider und Hüte an

Und ihr dankt es mir nicht , ſagte Anna ernſt.

Nicht böſe werden! lachte die Kleine, indem ſie auf¬ ſprang und die Schweſter mehr muthwillig als herzlich umfing. Du Grauſame verläſſeſt uns ohnehin bald um Herrn Berger zu heirathen.

Anna und der junge Kaufmann errötheten jetzt gemeinſam.

Nun, ſchämt euch nicht! Ich gebe euch meinen Segen! rief Mimi mit komiſchem Pathos und ausgebreiteten Armen. Aber bedenkt, was wir und das Damentrio verlieren.

Ich bedenke nur, was ich gewinne , ſagte Berger, in¬ dem er die etwas große Hand ſeiner Verlobten zart an die Lippen führte.

Das Geſpräch nahm nun eine allgemeinere Wendung und gab Alexis Gelegenheit, ſich als gebildeten und geiſtvollen Mann darzuſtellen. Obgleich er kaum über dreißig Jahre zählen konnte, ſchien er bereits doch ſo manche Lebenserfahrung hin¬ ter ſich zu haben und viel in der Welt herumgekommen zu ſein. Wie aus ſeinen Reden hervorging, hatte er ſich in den verſchiedenartigſten Berufszweigen, zuletzt auch in der Kunſt213 verſucht, und ſomit würde man ganz angenehm mit ihm haben verkehren können, wenn nicht einige cyniſche Bemerkungen, die er hin und wieder that, auf eine gewiſſe ſittliche Verwilderung ſeines Charakters gedeutet hätten, welche neben den übrigen glänzenden Eigenſchaften doppelt bedauerlich erſchien. Man zog natürlich auch die Tonkunſt in's Geſpräch und ich ließ die Hoffnung auf einen muſikaliſchen Genuß durchblicken. Ich bin mit Vergnügen bereit, zu ſpielen , ſagte Ludovica zuvor¬ kommend, indem ſie aufſtand und ſich ihren Geigen näherte. Mimi wird mich begleiten.

Ludovica kann ſich ſpäter hören laſſen , ſagte Alexis abwehrend. Jetzt ſoll uns Mimi ein paar ihrer reizenden Lieder zum Beſten geben. Sie glauben gar nicht, mein Herr , wandte er ſich an mich, welch 'ein Genie in der klei¬ nen Perſon ſteckt! Sie dichtet und componirt allerliebſte Strophen, wie man ſie ſonſt nur in Paris zu hören bekommt, Laß Dich nicht bitten, Mimchen, und ſinge! fuhr er fort, in¬ dem er ihre beiden Hände ergriff.

Die Kleine warf einen lauernden Blick auf Ludovica. Dieſe war etwas bleich geworden; aber ſie ſtreichelte die Wange der Schweſter und ſagte: Singe nur, mein Engel, Du machſt Alexis eine Freude und gewiß auch Herrn Walberg.

Mimi hatte ſich, wie gewöhnlich die Locken ſchüttelnd, an das Clavier geſetzt und begann, indem ſie dazu leicht die214 Taſten berührte, mit biegſamer Stimme eine Reihe kleiner Couplets zu ſingen, welche zwar eben nichts Anſtößiges ent¬ hielten, aber doch mit ihrem parodirenden Inhalt und ſarkaſti¬ ſchen Witz in dem Munde eines ſo jungen Geſchöpfes um ſo befremdender klangen, als ſie nebenher von allerlei vielſagenden Kopf - und Körperbewegungen begleitet waren. Alexis ſchwamm in Entzücken. Herrlich! Göttlich! rief er ein über das an¬ dere Mal. Nun, was ſagen Sie, mein Herr? Hatt 'ich nicht Recht? Durch dieſen Beifall angefeuert, geberdete ſich die Kleine immer toller und begann endlich, ihren Geſang abbrechend, einen Walzer zu ſpielen, ſo rauſchend, ſo mächtig, mit einer ſolchen Fülle von Tönen, daß man ein ganzes Orcheſter zu hören meinte und ſelbſt mir Tanzluſt in die Glie¬ der ſchoß. Der junge Kaufmann aber konnte ſich nicht halten. Er umfaßte ſeine Braut und walzte mit ihr durch das Zimmer.

Wie ſchade, daß man nicht zugleich ſpielen und tanzen kann! rief Mimi aus dem Gewoge heraus.

Das geht allerdings nicht , ſagte Alexis, indem er aufſprang. Aber nicht wahr und er legte dabei ſeine Hand ſchmeichelnd auf die Schulter Ludovica's Deine Schweſter wird für Dich ſpielen? Und ich will mit Dir tanzen.

Ludovica zuckte zuſammen; aber ſie ſetzte ſich an den Platz Mimi's. Ihr Spiel klang nach dem früheren lahm und farblos. Schneller! Stärker! ſchrie Alexis, der mit der215 Kleinen wie raſend im Zimmer umherflog. Ludovica preßte die Lippen zuſammen und ſchlug mit aller Macht in die Taſten. Plötzlich jedoch hielt ſie inne und drückte, in ein lautes Schluch¬ zen ausbrechend, die Hände vor das Antlitz. Alexis ſtampfte den Boden und blickte mit ſchlecht verhehltem Aerger nach ihr hin. Die Kleine zog die Brauen empor; Anna ging hinaus. Es war ein peinlicher, häßlicher Moment und ich hätte am liebſten nach meinem Hute gegriffen und mich ſtill entfernt. Ludovica ſchien es zu bemerken. Sie ſtand auf und trat mir entgegen. Stoßen Sie ſich nicht daran, ich bitte , ſagte ſie. Es iſt nichts; ein plötzlicher Weinkrampf. Das Geigenſpielen greift die Nerven fürchterlich an. Ich habe oft ſolche Zufälle.

Inzwiſchen war unter der Obſorge Anna's ein einfaches Mahl aufgetragen worden, an das wir verſtimmt und einſilbig gingen. Berger und Alexis verſuchten hin und wieder ein ſcherzhaftes Wort; aber es ſchlug nicht durch. Endlich war es Zeit, mich zu empfehlen. Ludovica zeigte ſich beim Abſchied zurückhaltend und zerſtreut; Alexis jedoch überbot ſich an Herz¬ lichkeit. Es freut mich außerordentlich, Sie kennen gelernt zu haben , ſagte er. Ich hoffe , fuhr er mit einem raſchen Blicke auf Ludovica fort, Sie recht oft hier zu treffen. Un¬ ten am Thore athmete ich auf und trank in langen Zügen die klare Frühlingsnachtluft ein. Es ſtand bei mir feſt, dieſe Schwelle nie mehr zu betreten.

Aber der Menſch iſt ein ſeltſames Geſchöpf. Nachdem216 eine gewiſſe Zeit verfloſſen war, erſchien es mir unwürdig, ſo geradezu wegzubleiben. Mußte Ludovica nicht denken, ich ſei verletzt, beleidigt, oder es geſchähe in Folge jener Scene, bei welcher ſie eine ſo ergreifende Rolle geſpielt? War es nun wirklich dieſe Rückſicht oder eine geheime Sehnſucht, ſie wiederzuſehen genug: ich ging an einem Vormittage zu ihr. Ich traf ſie eben im Begriffe auszugehen, das Hütchen auf dem Kopfe. Ah, Sie, mein Herr? ſagte ſie, ſichtlich über¬ raſcht und befremdet. Gut, daß Sie kommen. Ich habe ſoeben einen Brief für Sie zur Poſt geben wollen. Nehmen Sie Platz! Ich bin nämlich , fuhr ſie fort, in der angeneh¬ men Lage, Ihnen jene Summe, die Sie mir ſo großmüthig vorgeſtreckt, zurück zu erſtatten. Hier iſt ſie. Und ſie öffnete eine Lade und reichte mir die bereits zurechtgelegten Banknoten. Ich nahm das Päckchen und ſteckte es in die Taſche. Sehen Sie doch nach , ſagte ſie.

O ich bin überzeugt. Aber , ſetzte ich hinzu, da ich ſah, daß ſie ſich unruhig hin und her bewegte, ich ſtöre vielleicht. Sie waren eben im Begriffe, das Haus zu ver¬ laſſen.

Allerdings; ein wichtiger Gang allein

Ich bitte , ſagte ich und ſtand auf.

Nun denn , erwiederte ſie, ſo leben Sie wohl. Noch einmal meinen innigſten Dank! Aber es klang wie ein un¬ geduldiges Drängen. Kein Wort, keine Andeutung, ich möchte217 wieder kommen. Mein Herz zog ſich zuſammen: ich war ent¬ lohnt. Als ich diesmal beim Thore anlangte, durchſchauerte es mich heiß und ſchmerzlich; ich glaube ſogar, daß meine Augen feucht geworden waren.

Er ſchwieg, in Erinnerungen verloren. Nach einer Weile fuhr er fort: Faſt ein halbes Jahr war darüber hingegan¬ gen und alle dieſe Erlebniſſe lagen bereits vergeſſen hinter mir. Nur zuweilen dämmerte noch wie im Traum die ſchlanke Geſtalt der Geigerin vor mir auf, um alsbald wieder in Nichts zu zerfließen. Da wurde eines Tages ziemlich früh die Klingel meines Vorzimmers gezogen. Ich halte keinen Bedienten, und ſomit mußte ich ſelbſt öffnen gehen. Nachdem ich es gethan, ſtand Ludovica vor mir. Ich war über ihren Anblick derart betroffen, daß ich alle Geiſtesgegenwart einbüßte und die Verlegene eine Zeit lang zwiſchen Thür und Angel ſtehen ließ. Endlich hatte ich mich gefaßt und führte ſie raſch herein nach jenem Sopha, auf welchem Sie jetzt ſitzen.

Verzeihen Sie , ſagte ſie mit einiger Anſtrengung, daß ich Sie ſtöre. Sie haben mir einſt einen ſolchen Beweis von Theilnahme gegeben, daß ich den Muth finde, noch einmal um ihre Hilfe zu bitten.

Verfügen Sie ganz über mich , entgegnete ich erwar¬ tungsvoll.

218

Es handelt ſich diesmal um etwas ganz Anderes , fuhr ſie raſch fort. Es iſt eine Angelegenheit, bei welcher mein ganzes Lebensglück auf dem Spiele ſteht.

Sie erſchrecken mich

Um Ihnen meine Bitte vorzutragen, bin ich gezwun¬ gen, weiter auszuholen und erſuche Sie um freundliches Gehör.

Ich nahm einen Stuhl und ſetzte mich ihr gegenüber.

Sie that einen langen Athemzug, dann begann ſie: Wir ſind die hinterlaſſenen Töchter eines Muſiklehrers, der ſich ſeiner Zeit eines beſonderen Rufes erfreute und eine große Anzahl von Schülern aus den hervorragendſten Kreiſen bei ſich verſammelte. Unter dieſen befand ſich auch ein junger Mann, Namens Alexis, der eine tiefe, wohlklingende Stimme beſaß und zu ſeinem Vergnügen Unterricht im Singen nahm. Seine Familie, eigentlich ruſſiſchen Urſprungs und in den Donaufürſtenthümern zu Reichthum und Anſehen gelangt, war ſchon ſeit einigen Generationen hier anſäſſig, wo ſie eine der bedeutendſten Großhandlungsfirmen vertrat. Als Jüngling, nach Paris geſchickt, um ſich dort unter der Aufſicht eines Geſchäftsfreundes dem Handelsſtande zu widmen, war er vor Kurzem zurückberufen worden; denn es hatte ſich herausgeſtellt, daß er zu jenem Berufe durchaus keine Neigung beſaß und ſich vielmehr ſorglos den Vergnügungen der Weltſtadt über¬ laſſen habe. Es ſollte ihm nun eine andere Bahn eröffnet219 werden und in dieſer Zwiſchenzeit kam er in unſer Haus. Ich zählte damals kaum ſechszehn Jahre; meine Schweſter Anna war bedeutend jünger; Mimi noch ganz klein. Seine außer¬ ordentliche Schönheit, ſein ſtolzes und doch geſchmeidiges Weſen, das Feuer ſeiner Blicke und Worte, mit welchen er mir als¬ bald eine lebhafte Neigung verrieth, nahmen mein eben auf¬ keimendes Herz derart gefangen, daß ich in kürzeſter Zeit mit Leib und Seele ſein eigen war. Weit entfernt, das Verderb¬ liche eines ſolchen Verhältniſſes damals auch nur zu ahnen, konnte ich mich um ſo mehr ganz dieſem ſüßen Rauſche über¬ laſſen, als unſere Mutter früh geſtorben war und mein Vater, welcher in ſolchen Dingen, wie ich jetzt erkenne, eine unglaub¬ liche Kurzſichtigkeit beſaß, mich gar nicht überwachte. Eines Tages erſchien Alexis plötzlich in glänzender Uniform und theilte mir mit, daß ihn ſeine Eltern beſtimmt hätten, in den Militärſtand zu treten. Er habe denn auch gleich eine Offi¬ ziersſtelle in der Kavallerie erhalten und müſſe nun zu ſeinem Regimente nach Ungarn abgehen. Das war unſere erſte Trennung. Da wir aber täglich die glühendſten Briefe wech¬ ſelten und mein Geliebter, ſo oft es nur anging, hieher kam, ſo empfand ich dieſelbe keineswegs ſchmerzlich; ja ſie erhöhte vielleicht noch den Reiz unſerer Liebe. Sogar als die Briefe, die ich von Alexis erhielt, kürzer und ſeltener wurden und er ſelbſt nicht mehr ſo oft erſchien, wurde das Gleichgewicht mei¬ ner Seele nicht erſchüttert. Ich war gewiß, daß nur äußere220 Umſtände daran Schuld trügen und erwartete ruhig den Tag, an welchem er wieder bei uns eintreten würde. Und das ge¬ ſchah auch. Er war wieder in bürgerlicher Kleidung gekommen und ſagte, er ſei des Militärdienſtes ſatt und nunmehr geſon¬ nen, ſich der Künſtlerlaufbahn zu widmen. Der wirkliche Sachverhalt war, daß er bei ſeinem Hange zur Verſchwendung, den ich wohl an ihm bemerkt, aber auch nicht zu tadeln ge¬ funden, eine Schuldenlaſt aufgehäuft hatte, welche ſeine Ent¬ laſſung nach ſich zog. Ich wußte das nicht; aber wenn ich es auch gewußt hätte: es würde doch nichts an meiner Nei¬ gung zu ihm geändert haben. In der That bildete er ſich nun unter der Leitung meines Vaters, welchem gegenüber er ſich ohne weiteres als mein Verlobter benahm, für die Oper aus. Es gelang ihm bald, an einer kleineren Bühne Engage¬ ment zu finden, nach und nach auch in bedeutenderen Städten mit Glück aufzutreten; ja er wurde ſogar einmal nach London berufen. Inzwiſchen hatte ich von mehreren Seiten Winke er¬ halten, mein Verhältniß zu Alexis abzubrechen. Er ſei ein leichtſinniger, gewiſſenloſer Menſch, hieß es, der ſeine Familie an den Bettelſtab bringe, an jedem Orte Beziehungen zu Mädchen und Frauen unterhalte und überhaupt ein Leben führe, welches für ſeine Zukunft das Schlimmſte befürchten laſſe. Ich erkannte in all' dieſen Warnungen bloße Verläum¬ dungen und niedrige Umtriebe einiger Bewerber um meine Hand, welche ich zwar nicht übermüthig, aber mit ruhigem221 Stolze abgewieſen hatte. Ich war von der Liebe des Ent¬ fernten, welcher zuweilen ſelbſt in ſcherzhaften Briefen ſeiner Erfolge beim weiblichen Geſchlechte erwähnte, um ſo mehr überzeugt, als er ſtets durchblicken ließ, wie er nur den Zeit¬ punkt einer ſicheren und dauernden Stellung erwarte, um mich zu ſich zu rufen. Da trat er, nachdem ich lange nichts von ihm gehört, plötzlich bei uns ein. Aber in welchem Zuſtande! Krank, gebrochen, herabgekommen ein Bild männlichen Elends. Er hatte ſeine Stimme verloren, Gläubiger verfolg¬ ten ihn und da ſeine Eltern, welche ihm ihr ganzes Vermögen zum Opfer gebracht, geſtorben waren, wußte er nicht, wohin er ſein Haupt legen ſollte. Ich liebte und liebe ihn ſo , ſetzte ſie mit zitternder Stimme hinzu, daß ich auf all' das kein Gewicht legte und ſelig war, ihn wieder bei mir zu haben. Auch mein Vater hatte inzwiſchen das Zeitliche geſegnet und Jeder von uns Einiges hinterlaſſen. So wenig es war, mein Theil genügte, ihn von den drückendſten Sorgen zu befreien. Er bezog eine Wohnung in unſerer Nähe; ich pflegte ihn, ich ſorgte für ſeine Bedürfniſſe und legte auf ſeine abenteuerlichen Pläne, ſich eine neue Exiſtenz zu gründen, gar kein Gewicht. Durch meine Kunſt, die ich nun mit den Schweſtern öffentlich auszuüben begann, erſchloſſen ſich mir neue Einnahmsquellen, und ſomit wäre Alles gut geweſen, wenn nicht, nachdem er geneſen war, ſein unvertilgbarer Leichtſinn wieder die Ober¬ hand gewonnen hätte. Er ſtürzte ſich neuerdings in Schulden¬222 die er mir anfänglich geheim hielt, welche ich aber im entſchei¬ denden Augenblicke ſo lange bezahlte, bis ich es nicht mehr im Stande und er auf dem Punkte war, vor Gericht gezogen zu werden. In dieſen entſetzlichen Tagen , ſchloß ſie aufathmend, waren es Sie, mein Herr, der ihn gerettet.

Es entſtand eine Pauſe; dann fuhr ſie in ſchmerzlich ge¬ dämpftem Tone fort: Schon früher glaubte ich zu bemerken, daß ſich zwiſchen Alexis und meiner jüngſten Schweſter eine Neigung entſpinne. Aber ich wollte es mir nicht eingeſtehen, und in meiner gewaltſamen Selbſtverblendung begünſtigte ich dieſe Umwandlung noch inſofern, als ich Vieles abſichtlich überſah, um dem Vorwurfe thörichter Eiferſucht zu entgehen. Es wäre auch vielleicht nicht zum Aeußerſten gekommen, wenn ſich Alexis 'Verhältniſſe nicht plötzlich wie mit einem Schlage verändert hätten. Er war nämlich in Folge früherer Bekannt¬ ſchaften wieder in die Geſellſchaft vornehmer junger Leute gerathen, die ihn nun als Vermittler hoher Darlehen zu be¬ nützen ſuchten. Da er mit der Zahlungsfähigkeit jedes Ein¬ zelnen ſo ziemlich vertraut war, fiel es ihm nicht ſchwer, Geld¬ ſpeculanten zu finden, die ſich gegen rieſigen Gewinn auf derlei Unternehmungen einließen. Einige ſolcher Geſchäfte hatten ſich bald glänzend abgewickelt und ſeit dieſer Zeit iſt Alexis ein von beiden Seiten geſuchter Mann. Sein Zim¬ mer wird nicht leer von Beſuchern, die zu Roß und Wagen vor dem Hauſe anlangen; überraſchend hohe Summen fliegen223 ihm zu, und wenn ſein Hang zur Verſchwendung nicht wäre, ſo müßte er ſich bereits jetzt ein Vermögen erworben haben. Das Erſte, was er that, war jedoch, ſich in einem vornehmen Stadtviertel einzumiethen; im Intereſſe ſeiner Wirkſamkeit, wie er ſagte. Dabei vernachläſſigte er mich auffallend, zog aber im Geheimen Mimi, mit welcher ich nun, da meine an¬ dere Schweſter mittlerweile geheirathet hatte, allein lebte, mehr und mehr an ſich. Eines Tages erklärte ſie mir, ſie werde mich verlaſſen; Alexis habe die Sorge für ihren Unterhalt übernommen. Vernichtet, außer mir vor Schmerz und Ver¬ zweiflung, eile ich zu ihm. Er empfängt mich kalt und ge¬ meſſen, erklärt mir, daß er mich nicht mehr liebe, mich längſt nicht mehr geliebt habe und daß von einem innigeren Ver¬ hältniſſe zwiſchen uns Beiden keine Rede mehr ſein könne. Mein Freund wolle er bleiben und Alles für mich thun, was ich ſonſt von ihm verlangen würde. Und als ich mich, gelöſt in Schmerz und Thränen, zu ſeinen Füßen werfe, ſeine Kniee umklammere und ihn beſchwöre, mir ſein Herz wieder zuzu¬ wenden und jenen ſchmählichen Erwerb, der ihn unfehlbar in's Verderben führen müſſe, aufzugeben : ſtößt er mich rauh von ſich und droht endlich, mir die Thüre weiſen zu laſſen! Sie brach in ein faſt ſchreiendes Weinen aus und ſank in das Sopha zurück.

Das iſt ſehr traurig , ſagte ich nach einer Pauſe. Aber was ſoll was kann ich dabei thun?

224

O, Alles! rief ſie, indem ſie ſich mit ihrem Tuche haſtig Augen und Wangen trocknete, Alles, wenn Sie nur wollen! Und da ich ungläubig vor mich hinblickte, fuhr ſie warm fort: Sehen Sie, trotz ſeiner ſcheinbaren Härte iſt er doch eine weiche, lenkſame Natur; trotz ſeines Leichtſinnes, ſeiner Verirrungen einer edleren Regung fähig, und ich bin überzeugt, daß ihn nur das Berauſchende ſeiner neuen Lage und fügte ſie leiſer hinzu die Verführungskünſte meiner Schweſter ſo weit gebracht. Wenn ſich ein Mann findet, den er achtet, auf deſſen Stimme er Gewicht legt, und dieſer ihm das Unwürdige ſeiner Stellung, das Grauſame ſei¬ nes Handelns vorhält: ſo zweifle ich nicht, daß er in ſich geht und zu mir zurückkehrt.

Glauben Sie? Und wenn dem ſo wäre: woraus ſchließen Sie, daß ich der Mann ſei, der ſo viel Gewalt über ihn hätte?

O ich weiß es! Ich habe ihn noch von Niemand mit ſo viel Wärme, Anerkennung ja Bewunderung reden hören, wie von Ihnen. Er hat , fuhr ſie erröthend fort, bei Ihnen ſogleich Eigenſchaften wahrgenommen, die ich damals in der Verwirrung meiner Seele nicht zu erkennen nicht völlig zu würdigen im Stande war. Und jetzt bin ich gezwungen, Ihnen ein Bekenntniß abzulegen, das für mich beſchämend iſt, welches ich aber in dieſem Augenblicke nicht zurückhalten kann. Sie werden ſich erinnern, daß ich damals, als Sie ich225 will nicht ſagen den Wunſch, ſo doch die Andeutung aus¬ ſprachen, mich wieder ſehen zu wollen, einigermaßen betroffen war. Ich durfte keine Hoffnungen erregen, die ich nicht er¬ füllen konnte. Aber im ſelben Momente zuckte in mir der Gedanke auf, Alexis durch Sie meinen Werth fühlen zu laſſen, ihn um es gerade heraus zu ſagen, eiferſüchtig zu machen. Als ich aber erkannte, daß gerade das Gegentheil eintrat, ver¬ wünſchte ich im tiefſten Herzen dieſen Winkelzug und faßte eine Art Abneigung gegen Sie, die um ſo ſtärker wurde, je aufrichtiger, je unberechneter ſeine Verehrung für Sie hervor¬ brach. Sie hatte, innehaltend, Haupt und Blick geſenkt, als erwartete ſie das Urtheil eines Richters.

Ich ſchwieg.

Sie verachten mich jetzt , ſagte ſie kaum hörbar.

Nein , erwiederte ich. Im Gegentheile: ich achte Sie höher, als ich je vermocht. Es war keine bloße Phraſe, was ich da ausſprach. Man iſt bei den Frauen im Allgemeinen ſo wenig Aufrichtigkeit zu finden gewohnt, daß ich mich durch die Wahrheit ihres Geſtändniſſes, ſo unerfreulich daſſelbe für meine Perſon war, im Tiefſten überraſcht und ergriffen fühlte. Ja, Ludovica , fuhr ich fort, ich achte Sie hoch und damit ich es Ihnen beweiſe, will ich mit Alexis reden.

Sie machte eine Bewegung, als wollte ſie mir dankend zu Füßen fallen.

Ich ſprang auf. Erwarten Sie nicht zu viel! SieSaar, Novellen aus Oeſterreich. 15226begreifen, daß ich mich nicht ohne weiteres in fremde Verhält¬ niſſe einmiſchen, daß ich nicht den Liebesvermittler ſpielen kann. Aber nach dem, was Sie mir geſagt haben, wird es mir mög¬ lich, Alexis als ernſter Mahner und Warner zu nahen. Und das will ich thun.

O, jetzt iſt Alles gut! rief ſie in überquellender Freude, jetzt bin ich gerettet! Aber noch Eins. Ich ſagte vorhin, daß Alexis den Verführungskünſten meiner Schweſter erlegen ſei. Wenn ich gewiß wäre, daß ſie ihn liebt, ihn treu, wahr und aufrichtig liebt vielleicht aber auch nur vielleicht wäre ich im Stande, zurückzutreten. Ich ſage Ihnen jedoch: ſie liebt ihn nicht!

Ich glaub 'es , erwiederte ich.

Es wird mir ſchwer, es auszuſprechen aber ſo jung ſie iſt ſo gefallſüchtig und herzlos, ſo falſch und tückiſch iſt ſie auch. Sie wird ihn unglücklich machen, wird ihn auf der gefährlichen Bahn weiter und weiter treiben

Ich bin davon überzeugt. Aber wird er ſich überzeugen laſſen?

Ich hab 'es verſucht; doch es hat ihn noch mehr gegen mich gereizt.

Das war unklug von Ihnen und deßhalb darf ich dieſen Punkt nur mit äußerſter Vorſicht berühren.

Reden Sie, handeln Sie, wie es Ihnen gut dünkt. Ich weiß, Sie werden Alles zum Beſten lenken. Und 227 nicht wahr Sie gehen gleich morgen zu ihm? Nicht zu ſpät, daß Sie ihn ſicher zu Hauſe treffen und dann geben Sie mir ſogleich Nachricht. Sie hatte ſich bei dieſen Worten erhoben.

Ich werde es; aber noch einmal: erwarten Sie nicht zu viel! Und damit geleitete ich ſie hinaus.

Als ich wieder allein war, trat allmälig die Reaction bei mir ein. Ich ſah mich da in einen Handel verſtrickt, bei dem ich möglicher Weiſe in zweideutigem Lichte erſcheinen konnte und welcher, das erkannte ich mehr und mehr, zu keinem guten Ende zu bringen war. Angenommen ſelbſt, daß die früheren Verhältniſſe wieder hergeſtellt wurden: wie lange konnten ſie zwiſchen dieſen Menſchen vorhalten? Aber ich hatte dem armen, verzweifelten Weibe meine Hilfe zugeſagt und ging am nächſten Morgen zu Alexis.

Ich traf ihn, nachdem mich ein Diener angekündigt hatte, eben am Frühſtückstiſche, eine türkiſche Pfeife mit langem Rohr in der Hand. Er ſprang auf und kam mir, flammend vor Verlegenheit, entgegen. Ah, mein Herr , rief er, was ver¬ ſchafft mir das Vergnügen, die beſondere Ehre Ihres Beſuches? Sie ſehen mich noch beim Frühſtück kann ich Ihnen eine Taſſe Kaffee anbieten? Oder Thee Chocolade

Ich dankte.

Alſo doch wenigſtens eine Cigarre , und er öffnete eine15*228prächtige Ledercaſſette. Directer Bezug von Havannah , fuhr er fort, mehr aus Faſſungsloſigkeit, als um zu prahlen.

Ich wollte ihn nicht verletzen und nahm von dem koſt¬ baren Kraute, während er mir dienſtbefliſſen Feuer reichte.

Mein Herr , begann ich, nachdem wir uns Beide geſetzt hatten, ich glaube, mich nicht zu irren, wenn ich annehme, daß Sie über den Grund meines Erſcheinens ſo ziemlich im Klaren ſind.

Nun allerdings ; erwiederte er unruhig. Ich ver¬ muthe, Sie kommen als Abgeſandter

Ja denn, wenn Sie es ſo nennen wollen. Doch beſſer geſagt: ich komme über Erſuchen des Fräuleins Ludovica Mens¬ feld. Sie iſt ſehr unglücklich.

Durch ihre eigene Schuld , fuhr er auf. Ich habe ihr Alles ruhig auseinander geſetzt, habe ihr die vernünftigſten Vorſchläge gemacht. Aber ſie will nichts hören, will nicht be¬ greifen, daß Gefühle vergänglich ſind, daß neue Eindrücke ebenfalls ihre Rechte fordern

Mein Herr , warf ich ein, Sie gehen zu weit. Einem liebenden Weibe zumuthen, daß es natürlich und begreiflich finden ſoll, was Ihnen und vielleicht auch mir ſo erſcheint, heißt Uebermenſchliches verlangen. Und Ludovica liebt Sie.

Ja, ja , ſagte er unwillig, ſie liebt mich, ich weiß es und ich habe ſie auch geliebt, heiß und glühend geliebt. O , fuhr er, in Erinnerungen verſinkend, fort, Sie können229 ſich gar nicht vorſtellen, wie ſchön, wie bezaubernd ſie war. Ihre Augen, ihr Wuchs, ihre Hände und Füße und ſie iſt jetzt noch ſchön und dabei ein gutes, vortreffliches Weſen keine ihrer Schweſtern kann eigentlich nur im entfernteſten mit ihr verglichen werden

Nun alſo ſagte ich.

Und dennoch dennoch liebe ich ſie nicht mehr, kann ſie nicht mehr lieben! Sie iſt immer dieſelbe; immer die gleiche Hingebung, die gleiche Zärtlichkeit; immer die näm¬ lichen ſanften Anſprüche. Dieſe Monotonie wirkt nachgerade erdrückend. Sehen Sie, da iſt ihre Schweſter Mimi ein launenhaftes, bizarres Geſchöpf. Aber voll Geiſt, voll Witz, voll Leben ein reizender kleiner Teufel.

Dieſe Bezeichnung iſt vielleicht nicht übel gewählt , er¬ wiederte ich ruhig. Aber gibt Ihnen das ein Recht, ein Weib zu verlaſſen, das mit inniger Liebe und Treue an Ihnen hängt das Ihnen Alles geopfert?

Er ſchnellte, wie an einer Wunde berührt, vom Sitze empor. Ja , rief er, im Zimmer auf und ab eilend, ja, ſie hat mir viel, hat mir Alles geopfert. Ich weiß, was Sie meinen. Aber warum that ſie es?! Ich hab 'es nicht gefor¬ dert. Sie hätte mich meinem Schickſale überlaſſen ſollen. Und dann ich habe Alles geordnet, Alles beglichen, was ſie von jener Zeit her noch bedrücken, noch beunruhigen könnte. Ich habe ihr die glänzendſten Anerbietungen gemacht. Aber230 ſie weiſt Alles zurück und zieht es vor, von Muſikſtunden zu leben. Was ſie fordert, iſt Liebe und wieder Liebe und die kann ich ihr nicht geben.

Nun, dann wäre es Ihre Pflicht, Ludovica zart und ſchonungsvoll nach und nach mit ihrer Lage vertraut zu machen, in welcher ſie ſich, von Schmerz und Leidenſchaft verwirrt, nicht allſogleich zurecht finden kann. Keineswegs aber durften Sie die Aermſte ungeduldig und grauſam von ſich ſtoßen und ihr auf's unwürdigſte drohen.

Das that ich, weil ſie nach unwürdigen Mitteln griff, mich wieder zu gewinnen. Sie hat ihre Schweſter vor mir herabgeſetzt, hat den Verdacht in mir erwecken wollen, daß mich Mimi nicht liebt.

Und wenn ſie Recht hätte , ſagte ich ernſt.

Er zuckte zuſammen und blieb ſtehen. Sie ſprechen in Ludovica's Intereſſe! rief er.

Mein Herr , ſagte ich, indem ich mich jetzt gleichfalls erhob und auf ihn zutrat, es mag ſein, daß der Schritt, den ich unternommen, Sie einigermaßen berechtigt, Zweifel in die völlige Aufrichtigkeit meiner Worte zu ſetzen. Allein, wenn Sie in meiner Seele leſen könnten, ſo würden Sie die Ueber¬ zeugung gewinnen, wie ehrlich, wie wahr ich es, nicht blos mit Ludovica, ſondern auch mit Ihnen meine. Ich wieder¬ hole es: Marie Mensfeld liebt Sie nicht. Und da er ſchmerzlich betroffen zu Boden ſah, fuhr ich raſch fort: Nicht231 Sie und auch keinen Anderen. Mimi gehört zu den Frauen, die erſt dann lieben, wenn ſie ſelbſt nicht mehr fähig ſind, Liebe zu erwecken.

Er ſchritt langſam zu ſeinem Stuhl und ſetzte ſich wieder. Schweigend, mit geſenktem Haupte ſchien er einem geheimni߬ vollen Echo zu lauſchen, das meine Worte in ſeinem Innern wachgerufen. Er mußte bereits ſelbſt ſchwer und oft gezwei¬ felt haben und kämpfte jetzt mit ſeinen Gedanken.

Ich bin nicht in der Abſicht hiehergekommen , fuhr ich, mich ihm nähernd, fort, Gluthen anzufachen, die erloſchen ſind: das vermag keine Macht der Erde. Aber laſſen Sie uns offen mit einander reden. Was Sie an Mimi feſſelt, iſt die Macht ihrer jugendlichen Reize. Sie finden bei ihr Freu¬ den und Genüſſe, die Ihnen Ludovica nicht mehr zu bieten vermag. Allein bedenken Sie, daß das Daſein nicht blos im Genießen beſteht, daß wir auch zu entbehren und ſo manches Opfer uns ſelbſt und Anderen zu bringen haben. Bedenken Sie, daß es Pflichten gibt, die, ſofern ſie nicht mit unſerem beſſeren Ich im Widerſpruche ſtehen, unter allen Umſtänden erfüllt werden müſſen. Erkennen Sie, daß man eine Ver¬ gangenheit nicht ſo leicht abſchüttelt wie ein Kleid, das man wechſelt. Und welchen Tauſch wollen Sie treffen? Hier ein Weib, ſanft und zärtlich, voll Hingebung und Treue; zu¬ frieden, mit Ihnen in ein und derſelben Luft athmen zu kön¬ nen; dort ein Geſchöpf, mehr ſtachelnd als anziehend; zwar232 voll Witz und Beweglichkeit, aber auch ohne Herz und Seele. Ein Geſchöpf, das nur zur Maitreſſe geſchaffen iſt und Sie mit kaltem Blute verlaſſen wird, wenn Sie nicht mehr im Stande ſind, jede ihrer Launen zu befriedigen. Wie lange aber und um welchen Preis wird Ihnen dies möglich ſein? Es ſteht mir vielleicht nicht zu, Sie auf das zum min¬ deſten Unpaſſende Ihrer gegenwärtigen Verhältniſſe aufmerk¬ ſam zu machen, und ich maße mir nicht an, mit unerbetenen Rathſchlägen in Ihr Leben eingreifen zu wollen aber ſagen Sie ſelbſt: wohin ſoll das führen?

Er hatte den Blick geſenkt; er war beſchämt; aber auch bewegt und ergriffen. Ja, es iſt wahr , rief er aus und faßte meine Hand, Sie haben Recht! Allein, was ſoll ich thun? Der Ertrinkende greift nach Allem, was ſich ihm dar¬ bietet. Mein Leben iſt nun einmal ein verfehltes

Nicht doch! Sie ſtehen in der Blüthe Ihrer Jahre. Einem Manne von Ihren Anlagen und Fähigkeiten wird und muß es bei redlichem Wollen gelingen, ſich eine geſicherte, wohlanſtändige Stellung zu ſchaffen. Und gerade hiezu bietet Ihnen eine Vereinigung mit Ludovica die beſte Ausſicht. Sie ſelbſt hat bereits erwerben gelernt; Sie werden ſich gegenſeitig ſtützen und fördern und nach allen Stürmen und Kämpfen in einer beſcheidenen Häuslichkeit die höchſten Güter der Erde: Ruhe und Zufriedenheit finden.

Er blickte vor ſich hin. Rührung und Unentſchloſſenheit233 malten ſich in ſeinen Zügen; es war, als wollte ſich in ſeiner Bruſt ein Umſchwung vorbereiten. Und was ſollte mit Mimi geſchehen? fragte er dumpf.

Ueberlaſſen Sie ſie ihrem Schickſale! Sie wird ihren Weg zu finden wiſſen!

Kaum hatte ich dieſe Worte geſprochen, als draußen hef¬ tig an der Klingel geriſſen wurde und faſt gleichzeitig, mit Sammt und Seide angethan, ein ſchmuckes Federhütlein unter¬ nehmend auf die krauſen Locken geſtülpt, Mimi zur Thüre herein rauſchte. Sie ſtand bei meinem Anblick betroffen ſtill und ihre Oberlippe zog ſich gehäſſig empor. Ihr Aeußeres hatte ſich, ſeitdem ich ſie nicht mehr geſehen, bedeutend verän¬ dert. Sie war mächtig aufgeſchoſſen und ihre Geſichtszüge hatten eine ſcharfe Deutlichkeit angenommen.

Alexis flog ihr wie verwandelt entgegen und ich erkannte, daß nun Alles verloren ſei. Du ſiehſt, mein Engel , ſtam¬ melte er, ich habe Beſuch; tritt einſtweilen hier in's Neben¬ zimmer. Er geleitete ſie und ich vernahm, wie ſie drinnen miteinander flüſterten. Nach einer Weile kam er zurück. Sie verzeihen , ſagte er mit einiger Verlegenheit, daß ich nicht länger das Vergnügen haben kann eine wichtige Angelegen¬ heit Und während ich nach meinem Hute griff, fuhr er fort: Seien Sie überzeugt, daß ich Ihre Bemerkungen, Ihre Rathſchläge zu würdigen weiß daß ich ſie auch zum Theile vollkommen anerkenne und Ihnen gewiß dankbar bin es234 läßt ſich jedoch in dieſer Hinſicht ſo raſch kein Entſchluß faſſen. Was nun Ludovica betrifft, ſo bitte ich, ihr zu ſagen, daß ich ſchon früher Alles wohl erwogen und überlegt habe, daß ich begreife, wie ſchmerzlich es für ſie ſein muß aber ich kann nichts an den Beziehungen ändern, in welchen wir gegenwärtig zu einander ſtehen. Durchaus nichts! fügte er, die verletzende Hartnäckigkeit ſchwacher Naturen hervorkehrend, hinzu.

Ich betrachtete ihn ſchweigend. Ich werde es ihr ſagen , ſprach ich endlich und ging.

Ich begab mich geraden Weges zu Ludovica, die, ſeit ſie von ihren Schweſtern getrennt lebte, eine einfache Miethſtube bewohnte und mir in höchſter Spannung entgegenkam. Nun, nun? fragte ſie mit erwartungsvollen Blicken.

Es iſt gekommen, wie ich es vorhergeſehen. Und ich erzählte ihr Alles.

Mir blutete das Herz, wie ſie ſo vor mir ſaß und athem¬ los an meinem Munde hing, während jedes Wort wie ge¬ ſchmolzenes Blei in ihre Seele fiel. Wie ſie ſchmerzlich auf¬ zuckte, wie ſie nach Faſſung rang, wie ſich allmälig Rührung, Freude und Hoffnung in ihren Zügen malten bis ſie end¬ lich enttäuſcht und verzweifelt unter einem Strome von Thränen zuſammenbrach. Und doch, wenn es ein Mittel gab, ſie aus dieſen Wirrſalen zu befreien, ihr den Frieden der Seele wieder¬ zugeben: ſo konnte es nur geſchehen, indem man ſie zum kla¬ ren Bewußtſein ihrer Lage und zur Ueberzeugung brachte, daß235 ſie nichts mehr erwarten, nichts mehr hoffen dürfe. Aber ſie hoffte noch. Denn nachdem ſie eine Zeitlang, von ihren wo¬ genden Gedanken und Gefühlen umbrauſt, geſchwiegen hatte, verſuchte ſie es inſtinktmäßig, ſich an den erfreulicheren Theil meiner Mittheilungen zu klammern. Alſo er hat doch lieb und gut von mir geſprochen , begann ſie leiſe. Sie ſahen ihn gerührt, ergriffen. Er war auf dem Punkte

Sich aus einer Schwachheit in die andere zu ſtürzen! fiel ich ihr in's Wort. Er war auf dem Punkte einen Ent¬ ſchluß zu faſſen, den er morgen oder übermorgen wieder bereut und rückgängig gemacht hätte. Er iſt nicht der Mann, nach Grundſätzen zu handeln und ich habe geſehen, wie das bloße Erſcheinen Ihrer Schweſter auf ihn gewirkt hat. Mit einem Worte: Er liebt Sie nicht mehr und iſt für Sie verloren!

O! o! jammerte ſie und rang die Hände.

Faſſen Sie ſich, Ludovica , fuhr ich fort. Blicken Sie den Ereigniſſen feſt und klar in's Auge und vergeſſen Sie einen Menſchen, der nicht würdig iſt, von Ihnen geliebt zu werden.

Nie! Nie! rief ſie, ſich verzweifelt hin und her wer¬ fend. Ich kann ich will ihn nicht vergeſſen; ich kann und will ihn nicht verlieren. Er iſt mir Alles!

Alles?! Haben Sie nicht ſich ſelbſt? Haben Sie nicht Ihre Kunſt?

O, ſprechen Sie mir nicht von meiner Kunſt! Dort236 liegen meine Geigen verſtimmt und beſtäubt; ſeit Monden ſpiel 'ich nicht mehr. Ja früher da gab es keine größere Seligkeit für mich, als die ſtille Sehnſucht, die jubelnde Freude, die ſüßen Schmerzen meiner Bruſt in den mitempfindenden Saiten austönen zu laſſen. Aber jetzt haſſ' ich ſie, und nur manchmal überkommt es mich, darin zu wüthen, daß ſie zer¬ ſpringen wie mein Herz!

Freveln Sie nicht , ſagte ich ernſt und ſtreng. Wer¬ fen Sie nicht thöricht das göttliche Geſchenk von ſich, womit Sie das Schickſal vor Tauſenden begnadet hat! Erwägen Sie, wie viele Menſchen um Sie her unter der Laſt des Elends, des Kummers und der Verzweiflung ſeufzen und nichts beſitzen, woran ſie ſich aufrecht halten, woran ſie ſich in eine freiere Atmoſphäre emporringen könnten. Erwägen Sie, wie viele berechtigte Hoffnungen in dieſem Leben ſcheitern, und ver¬ zichten Sie auf das, was Sie verloren haben.

O, Sie ſind ein Mann! rief ſie, und wiſſen nicht, was dem Weibe die Liebe iſt!

Ich weiß es. Die Liebe iſt der Lebensinhalt des Wei¬ bes. Allein die ewigen Ideen, der Fortſchritt im Ganzen und Großen, die Sorge für das allgemeine Wohl ſind und waren bis jetzt der Lebensinhalt des Mannes. Und wie oft muß er, woran er den Schweiß und die ganze Kraft ſeines Daſeins gewandt, über Nacht zuſammenbrechen und ſich mit Undank, Hohn und Spott, mit der öffentlichen Verachtung belohnt ſehen. 237Und in dieſer Welt der Enttäuſchung und des Schmerzes, in dieſer Welt, wo Nichts Beſtand hat: will das Weib allein ſein Glück dauernd und ungefährdet erhalten wiſſen?!

Und da ſie nachdenklich vor ſich hin ſah, fuhr ich fort: Und iſt denn auch Ihr Loos ein ſo entſetzliches? Haben Sie nicht geliebt? Sind Sie nicht wieder geliebt worden? Können Sie nicht ſagen: ich habe gelebt und genoſſen, wäh¬ rend andere Frauen niemals die Knoſpe ihres Herzens ſpren¬ gen durften und mit verhaltenen Gluthen zu Grabe gingen!

Sie war in ein ſanftes Weinen ausgebrochen. Ich erhob mich und trat vor ſie hin. Ludovica, laſſen Sie mich Ihr Freund ſein! Und da ſie mir raſch abwehrend beide Hände entgegen ſtreckte, ſagte ich eindringlich: Mißverſtehen Sie mich nicht! Ich bin nicht der Mann, Ihnen in dieſem Augenblicke mit Liebesanträgen zu nahen. Noch einmal: laſſen Sie mich Ihr Freund ſein! Ich bin es gewohnt, den einſamen Pfad der Entſagung zu ſchreiten. Ich will Sie ſtützen, führen und lenken; ich will über Ihnen wachen, wie über einem kranken Kinde bis Sie endlich, mit Ihrem Geſchicke und Ihrer Kunſt wieder verſöhnt, jene Höhe des Daſeins erreicht haben, von welcher aus Sie lächelnd auf die Vergangenheit zurück und vielleicht einer ſchöneren Zukunft entgegenblicken können.

Sie ſchien die Macht meiner Worte in tiefſter Seele zu empfinden und darüber nachzuſinnen. Plötzlich aber ſchauderte238 ſie auf und rief, die Hände vor das Antlitz ſchlagend: Nein! Nein! Ich kann ihm nicht entſagen! Und wenn er mich auch nicht mehr liebt ich laſſe ihn nicht! Seine Leiden¬ ſchaft für Mimi kann nicht dauern; er wird und muß wieder zu mir zurückkehren. Ich will Alles dulden, Alles ertragen. Er ſoll mich ſchelten, ſoll mir drohen, ſoll mich von ſich ſtoßen: ich will ſelig ſein, von ſeinen Füßen getreten zu werden, denn ich kann nicht leben ohne ihn!

Ich trat einen Schritt zurück. Dieſer wilde, raſende Ausbruch, dieſer blinde Drang, auf dem kein Strahl der Er¬ kenntniß haften wollte, erkältete mich bis in's Herz hinein. Nun denn , ſagte ich endlich, ſo leben Sie wohl! Der Himmel ſei Ihnen Allen gnädig!

Was nun die Ereigniſſe ſpäter mit ſich brachten, kann ich Ihnen raſch und kurz erzählen. Ich habe es erfahren, wie man nachgerade Alles über Menſchen erfährt, die man kennt. Alexis 'glänzende Verhältniſſe waren, wie vorauszuſehen, unhaltbar. Nach kurzer Zeit ſchon ſtockten einige bedeutende Zahlungen. Die Speculanten wurden mißtrauiſch und ſchwie¬ rig und forderten die unglaublichſten Erſtreckungsſummen. Neue Termine wurden nicht eingehalten, Wucheranzeigen er¬ ſtattet und ſo kam das ganze Unternehmen, bei welchem ſich auch einige arge Unredlichkeiten nachweiſen ließen, in's Schwan¬ ken und Stürzen und brach endlich zuſammen. Nur der Um¬ ſtand, daß ſelbſt Perſönlichkeiten höchſten Ranges mit verwickelt239 waren, rettete Alexis, der nun wieder in's tiefſte Elend zurück¬ ſank, vor gerichtlicher Verfolgung. In der Aufregung dieſer Tage Mimi war inzwiſchen mit einem Attaché der fran¬ zöſiſchen Geſandtſchaft nach Paris gereiſt zog ſich der Un¬ glückliche eine raſche Krankheit zu, die ihn auf's Todtenbett warf. Ludovica hat ihn in ihrer ärmlichen Stube gepflegt und mit dem Erlöſe ihrer letzten Habſeligteiten begraben laſſen. Er iſt in ihren Armen geſtorben.

Es war wieder ganz ſtill im Gemache; mir von der Straße herauf klang das dumpfe Rollen[eines] verſpäteten Wagens.

Die Geſchichte iſt noch nicht zu Ende , ſagte ich.

Nein; aber was jetzt folgt, iſt nur ein kurzes Nachſpiel oder vielmehr ein häßliches Seitenſtück zu dem, was Sie bis jetzt gehört haben. Es müßte unbegreiflich erſcheinen, wenn nicht gerade das Unbegreifliche die Natur des Weibes wäre. Und dennoch werden Sie darin das unerbittlich und gleich¬ mäßig waltende Geſchick erkennen, welches Ludovica dem Ab¬ grunde zutrieb.

Drei Jahre waren vergangen und ich hatte ſie nicht wieder geſehen. Da begegnete ich ihr eines Tages auf der Straße, wie ſie am Arme eines Mannes einherſchritt. Es240 war wohl nur gegenſeitige Faſſungsloſigkeit, daß wir mit einem Gruße vor einander ſtehen blieben. Wir ſtammelten einige Worte, die freudig klingen ſollten; endlich wies ſie auf ihren Begleiter und ſagte: Mein Mann, Baron ſie nannte einen Namen, der nichts zur Sache thut. Ich warf, während er ſich nachläſſig verbeugte, einen Blick auf ihn. Er war nicht mehr jung, von hohem Wuchſe und wohlbeleibt. Sein Antlitz mußte einſt ſchön geweſen ſein, jetzt aber zeigte es ſich aufgedunſen und der Ausdruck niedriger Leidenſchaften lag darin. Sein Anzug war eine Miſchung von Sorgfalt und Verlotterung; auch Ludovica ſah in ihrem Aeußern ziem¬ lich herabgekommen aus. Ich ſchützte Eile vor und empfahl mich. Freut mich ſehr, einen alten Freund meiner Frau kennen gelernt zu haben , ſagte der Baron in einem ſingenden mitteldeutſchen Dialekte; machen Sie uns einmal das Ver¬ gnügen wir wohnen Das Weitere vernahm ich nicht mehr. Ich konnte mich nicht enthalten, in einiger Entfernung ſtehen zu bleiben und dem Paare nachzublicken. Ein eigen¬ thümliches Gefühl überkam mich, als ich das Weib, das ich zwar nicht geliebt hatte, welches ich aber, wie ich noch jetzt fühlte, unſäglich hätte lieben können, mit dieſem Manne vereint, dahin gehen ſah.

Nach Verlauf einiger Wochen trat ich Abends in ein Kaffeehaus, um die Zeitungen zu durchblättern. Da gewahrte ich den Baron, der in einer Fenſterniſche ſaß und mich offenbar241 nicht wieder erkannte. Er hatte ein geleertes Liqueurglas vor ſich ſtehen und blickte von Zeit zu Zeit, wie Jemanden er¬ wartend, durch die Scheiben auf die Straße. Endlich zeigten ſich vor dem Fenſter die Umriſſe einer weiblichen Geſtalt. Der Baron erhob ſich raſch, warf kleine Münze auf die Un¬ tertaſſe und eilte hinaus. Es trieb mich, ihm zu folgen und ich konnte noch gewahren, wie ihm Ludovica denn ſie war es Etwas überreichte, womit er nicht zufrieden zu ſein ſchien. Er geſticulirte heftig und ſeine Stimme klang laut und drohend. Endlich mußte ſie ihn beſchwichtigt haben, denn er gab ihr den Arm. Zuletzt bogen ſie in eine Seitengaſſe ein, wo ich ſie aus den Augen verlor.

Ich habe Ludovica erſt heute wieder geſehen. Ich ahnte ſogleich, wie Alles gekommen ſei; denn ſeit jenem Abend hegte ich die traurigſten Vorſtellungen. Aber ich wollte Gewißheit und fuhr mit Ihnen nach dem Laden des Kaufmanns Berger. Dort wurde mir Alles beſtätigt. Sie hatte, weiß Gott, wie und wo, den Baron kennen gelernt, der ſich unter dem Vor¬ wande, einen Erbſchaftsprozeß durchzuführen, hier herumtrieb. Er drang in Ludovica, ihn zu heirathen und ſie that es, wie ich überzeugt bin, nicht aus Neigung ſondern nur von jenem beklagenswerthen Drang beſtimmt, der endlich faſt jedes Weib überkommt, wohl oder übel einem Manne dauernd an¬ zugehören. Sie unterhielt einſtweilen ſich und ihn durchSaar, Novellen aus Oeſterreich. 16242Muſiklectionen, deren ſie viele hatte; an die Ausübung ihrer Kunſt dachte ſie nicht mehr. Aber die Erbſchaftshoffnungen zerfloſſen in nichts und der Baron, der dem Laſter des Trunkes und des Spieles ergeben iſt, brauchte Geld. Ludovica mußte es ſchaffen: durch Darlehen, die ſie auftrieb, durch Geſchenke, die ſie erbettelte, und als es ihr nicht immer gelingen wollte, mißhandelte er ſie ja ging in ſeiner Niederträchtigkeit ſo weit, ſie zwingen zu wollen, die letzten Reſte ihrer Schönheit zu verkaufen. Das ertrug ſie nicht. Heute morgens hatte er ſie wieder fortgeſchickt, eine Summe herbei zu ſchaffen eine verſchwindend kleine Summe: aber ſelbſt ihre Schweſter und ihr Schwager, welche der Unglücklichen bis jetzt, zwar ungern und mit Vorwürfen aller Art, aber dennoch in den äußerſten Fällen ſtets geholfen hatten verweigerten ſie ihr diesmal. Sie mußte ſich nicht nach Hauſe gewagt haben, mußte lange umhergeirrt ſein und das Uebrige wiſſen Sie.

Wir ſchwiegen Beide.

Und nun ſagen Sie mir , fuhr er fort, wie es kam, daß dieſes holde Geſchöpf, ausgeſtattet mit allen Vorzügen ihres Geſchlechtes, welche Andere ſo vortrefflich zu verwerthen wiſſen, ſich an Unwürdige weggeworfen; wie es kam, daß ſie in thö¬ richter Umkehrung der Verhältniſſe für Diejenigen zu ſorgen bemüht war, welche für ſie zu ſorgen die Verpflichtung hatten bis ſie, noch in jungen Jahren, ein ſo trauriges Ende nahm? 243Warum war ſie nicht ſo klug und brav wie ihre Schweſter Anna, die nun eine glückliche Gattin und Mutter iſt? Warum war ſie nicht ſo klug und ſchlecht wie ihre Schweſter Mimi, die gegenwärtig als Chanſonettenſängerin die Welt durchreiſt und mit Gold und Diamanten überſchüttet wird? Warum! Das iſt die große Frage, auf welche weder unſere Philoſophen und Moraliſten, noch die ſtelzbeinigen Theaterfiguren unſerer modernen Dramatiker eine Antwort zu geben wiſſen und die ſelbſt dann nicht gelöſt ſein wird, wenn die Phyſiologen jeden Gedanken, jedes Wort, jede That auf die entſprechende Faſer des Gehirns, auf dieſen oder jenen zuckenden Nerv und auf die mehr oder minder vollkommene Funktion eines beſtimm¬ ten Organs zurückzuführen im Stande ſein werden. Dann aber, wenn man erkennen wird, daß der Menſch nichts anderes iſt, als eine Miſchung geheimnißvoll wirkender Atome, die ihm ſchon im Keime ſein Schickſal vorausbeſtimmen: dann wird man, glaube ich, auch dahinter gekommen ſein, daß es, trotz aller geiſtigen Errungenſchaften, beſſer iſt, nicht zu leben!

Er war bei dieſen Worten aufgeſtanden und reichte mir jetzt die Hand zum Abſchied. Ich ging. Draußen ſchwieg die ausge¬ dehnte Reſidenz in tiefem Schlafe. Die Gasflammen waren ſchon zur Hälfte ausgelöſcht; düſtere Schatten umhüllten die Häuſer und nur hier und dort ſchimmerte durch ein Fenſter mattes Licht. Wie viele Herzen mochten in dieſer Stille voll Kummer und Ver¬16*244zweiflung ſchlagen! Wie vieles Elend lag unter der flüchtigen Hülle des Schlummers verborgen! Ich ſchauderte. Das ganze Weh der Erde ſtieg vor mir empor; es wogte wie ein dunkles Meer und obenauf ſchwamm mit blaſſem Antlitz und feuchten Locken die Leiche der Geigerin.

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Das Haus Reichegg.

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I.

Es war um die Mitte der Fünfziger-Jahre, im Hoch¬ ſommer, als ich, damals noch in Militärdienſten ſtehend, mit einer Abtheilung meines Regimentes in dem mähriſchen Städt¬ chen K ... einrückte. Wir waren ſchon vor Tag aufgebrochen; hatten, während die Sonne immer heißer niederbrannte, über vier Meilen auf der ſtaubigen Heerſtraße zurückgelegt, und ſo begrüßten wir den freundlichen Ort, wo uns nach mehrtägigen Eilmärſchen ein Ruhetag geſtattet war, auf's freudigſte. Ein Theil der Einwohnerſchaft war uns ſchon ein gutes Stück entgegen gekommen und ſchritt uns jetzt bei den luſtigen Klän¬ gen unſerer Muſik voran. Reinlich und einladend lagen die Gaſſen da, viele Häuſer von Bäumen beſchattet oder mit netten Vorgärtchen verſehen. Hier und dort lugte noch, halb verſteckt, ein roſiges Mädchenantlitz hinter weißen Fenſtergardinen her¬ vor, und auf dem Marktplatze, wo wir hielten, zeigten ſich ſtattliche Gaſtwirthſchaften, unſeren ermatteten Leibern und verlechzten Kehlen Stärkung und Erquickung verheißend. Ich fühlte mich daher nicht ſehr angenehm überraſcht, als ich be¬ deutet wurde, daß mir und meiner Mannſchaft zur Unterkunft248 ein Dorf angewieſen ſei, welches noch eine Wegſtunde entfernt lag. Selbſt der Beiſatz, der verheißend klingen ſollte: daß ich für meine Perſon in einem freiherrlichen Schloſſe Aufnahme finden würde, hatte eben nichts Tröſtliches. War ich doch ge¬ wohnt, die Marſchtage als ein willkommenes Aufathmen aus der Zwangsjacke des Garniſonsdienſtes zu betrachten, wo ich mich in fröhlicher Ungebundenheit meinen Neigungen überlaſſen konnte und nun drohte mir eine vornehme Gaſtfreundſchaft, die mich vielleicht zu einem ſteifen geſellſchaftlichen Verkehr mit unbekannten, mir gänzlich ferne ſtehenden Menſchen ver¬ pflichtete. Indeſſen galt es, ſich in das Unvermeidliche zu fügen, und ſo befahl ich meine Leute, die gleich mir verdroſſen vor ſich hinſahen, zum Abmarſch, indem ich die Trommel rühren ließ. Eine ziemlich breite Seitenſtraße führte uns an¬ fänglich in einen ſcharf abgegrenzten Fichtenbeſtand, und nach¬ dem wir denſelben durchſchritten hatten, zog ſie ſich in mehr¬ fachen Krümmungen zwiſchen weit ausgebreiteten Kornfeldern hin. Still brütete die Mittagshitze über der ſchnittreifen Frucht, und am Ende der ſonnigen Fläche ragte aus verfallenen Stroh¬ dächern der Kirchthurm des Dorfes empor, während uns das Schloß, auf einer mäßigen, dicht bewaldeten Höhe gelegen, hell und glänzend entgegenſchimmerte.

Endlich hatten wir das Dorf erreicht und ich war eben daran, einige letzte Befehle zu ertheilen und die Mannſchaft in ihre Quartiere zu entlaſſen, als ein wohl gekleideter, behäbig249 ausſehender Mann auf mich zu kam. Er gab ſich, höflich grüßend, als Verwalter des Schloſſes zu erkennen und hatte ein leichtes, mit kräftigen Braunen beſpanntes Gefährt mitge¬ bracht, welches ich auf ſeine Einladung mit ihm und meinem Diener beſtieg. Während er nun, an meiner Seite ſitzend, den Pferden die Zügel ſchießen ließ, und wir auf einem be¬ quemen Parkwege die Höhe hinanrollten, fragte ich ihn, wer denn eigentlich der Herr des Schloſſes ſei.

Seine Excellenz, der Freiherr von Reichegg , antwortete er mit einer gewiſſen beſcheidenen Wichtigkeit.

Der Staatsrath Reichegg? fuhr ich überraſcht fort.

Ja wohl. Seine Excellenz ſind auch gegenwärtig mit Gemahlin und Tochter hier anweſend.

Ich verſank in ein eigenthümlich bewegtes Schweigen; auf eine ſolche Begegnung war ich nicht vorbereitet geweſen. Der Freiherr gehörte zu den bekannteſten und genannteſten politiſchen Perſönlichkeiten jener Zeit. Im Staatsdienſte und in der Schule Metternich's ergraut, ſtand er mit an der Spitze aller rückläufigen Beſtrebungen, welche in Oeſterreich nach dem Jahre Achtundvierzig mehr und mehr Platz griffen. Seine ſtreng ariſtokratiſchen und feudalen Grundſätze, ſo wie ſeine unter¬ würfige Hinneigung zu den Gewalten der Kirche waren ſprich¬ wörtlich geworden und er wurde allgemein als einer der Haupturheber des Concordates bezeichnet, das man vor Kurzem250 mit dem päpſtlichen Stuhle abgeſchloſſen hatte. Dabei war er ob ſeines verletzend ſtolzen und finſteren Weſens, das er wie abſichtlich zur Schau trug, auch perſönlich ſehr unbeliebt; ſelbſt bei Solchen, die ſeine Anſchauungen theilten, und wenn er ſich bei gewiſſen feierlichen Gelegenheiten öffentlich zeigte, ſo rief ſein Erſcheinen, da man ſich damals nicht laut zu äußern wagte, ſtets das dumpfe Schweigen des Grolles und Mi߬ muthes hervor. Nicht minder als er freilich in ganz an¬ derer Weiſe war ſeine Gemahlin bekannt und berüchtigt. Einem alten Grafengeſchlechte entſtammend und von einer Schönheit, die in Folge höchſt eigenthümlicher Verſchmelzung des Hoheitsvollen mit dem Reizenden geradezu einzig genannt werden konnte: ſtand ſie in dem Ruf, eine Art Meſſalina zu ſein. Das Tagesgeſpräch wurde nicht müde, von ihren Aben¬ teuern das Unglaublichſte in Umlauf zu bringen; ja man be¬ zeichnete ſogar die Männer, welche ſich, allen Schichten der Geſellſchaft angehörend, ihrer Gunſt ſollten erfreut haben. Trotzdem war ſie nicht etwa der Gegenſtand ſittlicher Ent¬ rüſtung; ſie zählte vielmehr zu den bewundertſten Frauen der Reſidenz. Wenn ſie, und zwar in der Regel allein, oder doch nur an der Seite ihres Gatten, der ſich mit ſeinen weißen Haaren und den harten, unfreundlichen Zügen ſeltſam genug neben ihr ausnahm, im offenen Wagen durch die Alleen des Praters fuhr: da bildeten die Fußgänger, wie gebannt, nur eine dichtgedrängte Reihe, um ſich an dem unvergleichlichen Adel251 und Liebreiz ihrer Erſcheinung, an ihrer ebenſo geſchmackvollen als koſtbaren Kleiderpracht zu entzücken, und vorwiegend war es gerade das weibliche Geſchlecht, das mit ihr einen faſt ſchwärmeriſchen Cultus betrieb. Auch in der Oper und im Schauſpiel waren Aller Augen auf ſie gerichtet, und ein deut¬ lich vernehmbares Ah! befriedigter Erwartung ging durch das Haus, wenn ſie, nachdem ihre Loge länger als ſonſt leer ge¬ blieben war, plötzlich an der Brüſtung erſchien. Und dieſer Frau, dieſem Manne ſollte ich nun als junger, kaum flügge gewordener Offizier, der ſich niemals in der großen Welt bewegt hatte, entgegen treten! Es war ein in jeder Hinſicht beklemmender Gedanke, und ich ſchöpfte noch einigen Troſt aus der naheliegenden Annahme, daß man mich vielleicht bloß der Sorge des Schloßverwalters überantworten und gar nicht an ſich heranziehen würde.

Inzwiſchen hatten wir die Avenue erreicht, wo ein mäch¬ tiger Springbrunnen im Sonnenſchein ſtäubte und glitzerte. Der Verwalter lenkte den Wagen rückwärts um das Schloß herum, hielt vor einem niederen Seitenthore und geleitete mich über eine vereinſamte Treppe in den Halbſtock empor. Dort ſchloß er ein kühles, weitläufiges Gemach auf, wo ich ſchon Alles zu meinem Empfange vorgerichtet fand. Ich bitte, es ſich hier bequem zu machen , ſagte er. Wenn Etwas fehlen ſollte dieſe Klingelſchnur geht nach meiner Wohnung. Um fünf Uhr wird geſpeiſt. Die Herrſchaften erwarten Sie zu252 Tiſche. Dürfte ich einſtweilen um Ihre Karte bitten, um die¬ ſelbe Seiner Excellenz überbringen zu laſſen. Ich war alſo dem Geſchicke verfallen. Widerſtandslos übergab ich dem Manne die Karte und ſchritt, nachdem er ſich entfernt hatte, im Zimmer auf und nieder, wobei ich gedankenlos die Land¬ ſchafts - und Schlachtenbilder im Geſchmacke Salvator Roſa's betrachtete, die an den Wänden hingen. Dann trat ich an's nächſte Fenſter. Es ging auf das wohlgepflegte Parterre des Schloßparkes hinaus, in deſſen Mitte ein hochſtämmiger Roſen¬ flor ſeine duftige Pracht entfaltete. Nachdem ich eine Zeit lang in das funkelnde Farbengemiſch von Blumen und Raſen, von Himmel und Baumwipfeln hinein geblickt hatte, nahm ich etwas von den bereitſtehenden Erfriſchungen und ſtreckte mich endlich auf ein bequemes Sopha hin, zuvor noch meinem Die¬ ner auftragend, ſich in einer Stunde wieder bei mir einzufin¬ den. Ich gedachte, ein wenig zu ſchlummern; aber war es nun Uebermüdung oder innere Erregung es wollte mir nicht gelingen. Während ich mich ſo eine Weile unruhig hin und her bewegte, vernahm ich, wie über mir ein Flügel ange¬ ſchlagen wurde. Nach einem kurzen, ernſten Präludium begann eine klangvolle Altſtimme ein Lied zu ſingen, in welchem ich alsbald, der Melodie und dem deutlich vernehmbaren lateini¬ ſchen Texte nach, ein geiſtliches erkannte. Mit jener tiefen, leidenſchaftlichen Inbrunſt, welche die katholiſche Kirchenmuſik kennzeichnet, drangen die Töne in den Park hinaus und253 verzitterten mit leiſem Wiederhall in der lautloſen Luft des Nachmittags. Das Lied war zu Ende; noch einige Accorde auf dem Clavier, dann wie ein nachzuckendes Gefühl die Wiederholung des Schluſſes und es herrſchte wieder die frühere Ruhe. Seltſam ergriffen lag ich da und lauſchte noch immer. Endlich ſah ich nach der Uhr; die Stunde war faſt abgelaufen. Ich ſprang auf, und als ich einen Blick durch das Fenſter that, gewahrte ich, wie unten eine hochgewachſene ſchlanke Mädchengeſtalt langſam um den kleinen Roſenwald herum ſchritt. Sie trug ein weißes Kleid, dem ein dunkles Band als Gürtel diente; ihre Geſichtszüge konnte ich nicht erſpähen; aber ihr blondes Haar ſchimmerte mir wie helles Gold entgegen. Jetzt blieb ſie vor einem Bäumchen mit weißen Roſen ſtehen, und nachdem ſie eine davon gepflückt hatte, ſchlug ſie langſam, das Haupt zur Blume in ihrer Hand niederneigend, einen Seitenpfad ein, der ſie bald meinen Blicken entzog. Während ſie verſchwand, war es mir, als hätte ſie die Roſe an die Lippen gedrückt.

Mittlerweile hatte ſich mein Diener eingefunden und da bereits die vierte Stunde heranrückte, ſo galt es, mit raſchem Entſchluſſe den Dingen entgegen zu gehen, die da kommen ſollten. Ich kleidete mich um und ließ anfragen, ob mich Seine Excellenz empfangen wolle. Eine bejahende Antwort erfolgte bald, und ſo begab ich mich, von einem Diener des Hauſes geführt, in das obere Stockwerk und über einen langen,254 mit Jagdtrophäen geſchmückten Gang nach dem Zimmer des Freiherrn. Dieſer erhob ſich bei meinem Eintritt am Schreib¬ tiſche, wo er gearbeitet zu haben ſchien, und trat mir in auf¬ rechter Haltung einen Schritt, aber nicht mehr entgegen. Es freut mich , ſagte er mit feſter, jedoch etwas bedeckter Stimme, nachdem ich einige paſſende Worte geſprochen und mich auf einen Wink von ihm niedergelaſſen hatte, es freut mich immer, wenn ich einen kaiſerlichen Offizier in meinem Schloſſe beher¬ bergen kann. Umſomehr aber heute, als mir er warf dabei einen Blick auf meine Karte, die neben zerſtreuten Pa¬ pieren auf dem Tiſche lag der Name, den Sie führen, ſeit Langem bekannt iſt. Ich entſinne mich nämlich , fuhr er fort, indem er mich aufmerkſam und forſchend anſah, aus der Zeit, wo ich als ganz junger Mann unter der Regierung des Kaiſers Franz in Staatsdienſte trat, mit Vergnügen eines höheren Vorgeſetzten gleichen Namens.

Das dürfte mein Großvater geweſen ſein.

Gewiß; und ich gebe mich wohl keiner Täuſchung hin, wenn ich in Ihren Zügen eine gewiſſe Aehnlichkeit mit den ſeinen zu erblicken glaube. Der lebhafte alte Herr ſteht mir noch ganz deutlich vor Augen. Ein wahres Muſter eines loyalen, pflichtgetreuen Staatsdieners, wenn auch ſein Wirken über ein bloß bureaukratiſches nicht weit hinaus ging. Es war damals , ſetzte er nach kurzem Schweigen nachdenklich hinzu, eine Zeit voll unerhörter, erſchütternder Bewegungen. 255Die franzöſiſche Revolution hatte die ganze Weltordnung um¬ zukehren gedroht, und nun machte der Corſe Europa zittern. Vor Allem war es Oeſterreich, auf deſſen Erniedrigung, auf deſſen Untergang er es abgeſehen hatte. Aber im Rathe der Vorſehung war es anders beſchloſſen. Dynaſtie und Staat ſind aus all dieſen äußeren Gefahren nicht minder ſiegreich und glänzend hervorgegangen, als aus den fluchwürdigen Um¬ ſturzbeſtrebungen, die man jüngſter Zeit im Inneren zu be¬ kämpfen und zu vernichten hatte. Und ſo wird ſich der Spruch bewahrheiten: Austria erit in orbe ultima durch den Schutz des Allmächtigen, ſeiner heiligen Kirche und kraft unſerer ruhmvollen Armee!

Mir wurde ganz unheimlich zu Muthe. In das eherne Antlitz des Freiherrn war bei dieſen Worten ein erſchreckend finſterer und grauſamer Zug getreten, und es ſchien, als wollte er jetzt und jetzt ſeine hagere, aber kräftig gebaute Ge¬ ſtalt wie zum Angriff emporrichten. Unwillkürlich kehrte ſich mein Blick von ihm ab und den Gegenſtänden zu, womit das Gemach ſchlicht und bezeichnend ausgeſtattet war. Zwiſchen zahlreichen Bücherſchränken ſtand ein einfacher Betſchemel mit einem kleinen Cruzifix aus Ebenholz. An den Wänden ſah man, ſorgfältig gruppirt, in Lithographien die Bildniſſe des Herrſcherpaares, der Marſchälle Windiſch-Grätz und Radetzky; dann der Fürſten Metternich und Schwarzenberg, ſo wie an¬ derer hervorragender weltlicher und geiſtlicher Würdenträger. 256Auf dem Schreibtiſche aber, ſeltſam genug, hatte der Freiherr neben einem Miniaturportrait ſeiner Gemahlin und dem etwas verblaßten eines helllockigen Kindes den Büſten Schiller's und Göthe's einen Platz eingeräumt. Er bemerkte es, daß ich jetzt nach meiner flüchtigen Rundſchau das Auge auf ihnen haften ließ, und ſagte etwas milder; Das waren zwei große, gewal¬ tige Geiſter, und ich bin ſtets in Geſellſchaft ihrer Werke. Dabei wies er auf einen der Bücherſchränke, die ihm zunächſt ſtanden. Aber man darf ſich von ihren Ideen nicht fortreißen laſſen; denn Phantaſie und Wirklichkeit ſind zweierlei.

Er hatte ſeine Rede noch nicht beendet, als ſich leiſe eine Seitenthüre öffnete und jene hohe Mädchengeſtalt, die ich früher vom Fenſter aus geſehen, auf der Schwelle erſchien. Sie blieb, als ſie meiner anſichtig ward, einen Augenblick betroffen ſtehen, faßte ſich jedoch allſogleich und ſchritt mit würdiger Haltung auf den Freiherrn zu, deſſen Antlitz ſich plötzlich wunderſam erhellte und den Ausdruck tiefſter Zärtlichkeit annahm. Ich hatte mich erhoben. Meine Tochter Raphaela , ſagte der Freiherr, indem er mit ſeiner vertrockneten Hand koſend über das Haar der Eingetretenen ſtrich, das jetzt in ſeiner reichen, blendenden Fülle fremdartig von den ernſten, faſt ſchroffen Geſichtszügen abſtach. Sie ſah ganz ihrem Vater ähnlich. Das war dieſelbe eckige Stirne, dieſelbe weit und ſcharf ge¬ ſchwungene Naſe; auch ihr Kinn war ſtark vorgeſchoben; nur257 der Mund erſchien voller und weicher, und die Augen ſtrahlten im reinſten Blau des Himmels.

Wo iſt Mama, mein Kind? fuhr der Freiherr ſchmei¬ chelnd fort.

Ich glaube, ſie iſt mit Egon im Salon , antwortete ſie mit tiefer, wohlklingender Stimme, die mich überzeugte, daß ich auch die Sängerin des Liedes vor mir hatte.

Die Brauen des Freiherrn zogen ſich leicht zuſammen. Dann wandte er ſich an mich und ſagte förmlich: Wenn es Ihnen gefällig iſt, will ich Sie jetzt meiner Gemahlin vor¬ ſtellen.

Er öffnete eine zweite Seitenthüre, und während ſeine Tochter voranging, durchſchritten wir eine Flucht von reich ausgeſtatteten Gemächern, bis wir endlich in den Salon ge¬ langten. Mein Athem ſtockte ein wenig, als ich den weiten, dämmerigen Raum betrat, hinter deſſen herabgelaſſenen Por¬ tièren der Altan des Schloſſes lag. Auf einer niederen Otto¬ mane, weit zurückgelehnt und in leichte, ſchimmernde Gewänder gehüllt, ſaß die Dame des Hauſes; neben ihr, in einem Fau¬ teuil, ein junger Mann, der ſich bei unſerem Erſcheinen erhob und dabei durch ſeinen auffallend hohen Wuchs überraſchte. Die Freifrau empfing mich, ohne ihre Lage zu verändern, freundlich vornehm, und half mir ſogleich mit einigen aufmun¬ ternden Worten über die erſte Befangenheit hinweg. DannSaar, Novellen aus Oſterreich. 17258wies ſie flüchtig auf den jungen Mann und ſagte: Unſer Vetter, Graf Rödern.

Attaché einſtweilen noch ohne Attachement , ſetzte der Freiherr, während der Erwähnte und ich uns gegenſeitig verneigten, wie ſcherzend hinzu; aber ſeine Stimme klang ſcharf.

Deſto beſſer! lachte der Graf, indem er eine zierliche Reitgerte, die er in der Hand hielt, nachläſſig hin und her¬ ſchwenkte. Man kommt noch immer früh genug in's Joch und ich liebe die Ungebundenheit.

Die Freifrau warf einen raſchen Blick auf ihn; dann zog ſie mich angelegentlich in ein Geſpräch, Dieſes und Jenes, das eben nahe lag, ergreifend und eine Zeit lang feſthaltend. Dabei hatte ich nun Gelegenheit, mich mehr und mehr in den Zauber ihrer Schönheit zu verſenken. Was ich ſchon einſt aus der Ferne an ihr hatte bewundern können: der volle und doch geſchmeidige Wuchs; das lichte, von dunklen Haaren, wie von einer nächtigen Wolke umfloſſene Antlitz; die großen, langbewimperten Sammetaugen das Alles trat mir jetzt in ſeiner ganzen Pracht entgegen, während zugleich die feinſten und individuellſten Reize ſichtbar wurden. Um den zarten, roſigen Mund ſpielte, während ſie ſprach, ein berauſchendes Lächeln, und dabei zuckten und zitterten ihre weiten Naſen¬ flügel manchmal ganz eigenthümlich, was ihren Zügen bei aller Weichheit einen höchſt energiſchen Ausdruck verlieh. Wie ſie ſo in nachläſſiger Haltung vor mir ſaß und mit der perl¬259 mutterartig ſchimmernden Hand den Fächer gegen den wogenden Schnee ihrer Bruſt bewegte: da fühlte ich, welch 'verführeriſche, bezwingende Macht in dem Weſen dieſer Frau lag, die über die eigentliche Jugend längſt hinaus war und, wie ich bemer¬ ken konnte, ſchon zu allerlei kleinen Verſchönerungskünſten griff. Im Vergleich mit ihrer von farbigſter Lebensfülle ge¬ ſättigten und durchleuchteten Erſcheinung, wie ſie nur Rubens und Murillo vereint hätten darſtellen können, erſchien die aufgeſchoſſene, ſchmalſchulterige Raphaela mit ihrem herben eintönigen Antlitz wie eine Geſtalt von Lukas Cranach.

Dieſe aber war inzwiſchen an ihren Vetter herangetreten und ſtand jetzt mit ihm in leiſer Unterredung begriffen, wobei ſich jedoch der junge Mann ſehr zerſtreut und innerlich ab¬ weſend zeigte. Endlich überreichte ſie ihm mit einem vollen, innigen Blick die Roſe, die ſie im Parke gepflückt und ſpäter im Gürtel getragen hatte. Er nahm die weiße Blüthe gleich¬ giltig in Empfang, beroch ſie flüchtig und befeſtigte ſie dann an der Bruſtſeite ſeines Rockes.

Ein Kammerdiener trat leiſen Schrittes ein und meldete, daß das Diner ſervirt ſei. Ich bot der Freifrau den Arm; Rödern führte Raphaela und wir gingen zu Tiſche, wo auch eine franzöſiſche Gouvernante mit blutloſen Zügen und geſenk¬ ten Augen erſchien. Das Mahl ging raſch von ſtatten. Rö¬ dern war ſehr heiter und geſprächig, faſt ausgelaſſen. Er neigte ſich oft und vertraulich zur Freifrau, ſcherzte in unge¬17*260zwungener, gleichſam überlegener Weiſe mit ihrem Gatten, der dabei ernſt vor ſich hinſah, wohl auch manchmal die Brauen runzelte, wenn der junge Mann mit leichtfertiger Ironie öffentliche Perſönlichkeiten oder politiſche Ereigniſſe berührte. Selbſt an die Gouvernante richtete Egon in nicht allzu reinem Franzöſiſch einige Stichelreden, die mit leicht abwehrendem Schweigen hingenommen wurden. Nur Raphaela beachtete er wenig, obgleich ihm dieſe ihre volle Aufmerkſamkeit zuwandte und ſogar zweimal ſein Glas mit Bordeaux füllte, davon er reichlich und mit Behagen trank, ſo zwar, daß ſich ſein hüb¬ ſches, faſt mädchenhaftes Geſicht höher und höher färbte.

Die Tafel war aufgehoben; die Franzöſin hatte ſich laut¬ los entfernt, und man nahm nun den Kaffee auf dem Altane, wo ſich eine prachtvolle Fernſicht über die weite Ebene bis zu den duftverſchwommenen Höhen der Sudeten aufthat. Nach einer Weile ſagte Rödern, man ſolle doch jetzt einen Gang durch den Park unternehmen. Dieſer Vorſchlag fand allge¬ meinen Beifall; wir ſchritten alſo die breite Freitreppe hin¬ unter und immer tiefer in die ſtillen, wechſelvollen Anlagen hinein. Die Sonne war bereits im Sinken. Goldig lagen ihre letzten Streiflichter über den Wipfeln; große Amſeln flo¬ gen vor uns auf und durch die Luft quoll der ſüße Geruch des Jasmins. Nach und nach wurden die Pfade ſteiler und endlich ſtanden wir vor einem großen Teiche, hinter welchem ſchweigend und dunkel der Wald aufragte. Zahlloſe Waſſer¬261 pflanzen ſchwammen auf der blaugrünen Fläche; zwei Schwäne zogen dazwiſchen ihre ſtillen Kreiſe; am Ufer war ein wohl¬ gebauter Kahn befeſtigt.

Wer hat Luſt, mit mir auf dem Teiche zu fahren? rief Rödern, der mit der Freifrau Arm in Arm vorausgegan¬ gen war.

Ich nicht; ſagte dieſe, indem ſie ſich von ihm los machte. Sie treiben es zu toll, lieber Vetter. Es hat das letzte Mal wenig gefehlt, ſo wären wir Beide in's Waſſer gefallen.

Kann ich nicht ſchwimmen? erwiederte er übermüthig. Ich hätte Sie auf meinen Armen an's Land getragen.

Schön; aber ich pflege um dieſe Zeit nicht zu baden.

Inzwiſchen hatte ſich ihm Raphaela leiſe genähert.

Wenn es Dir recht iſt, Egon , ſagte ſie, ſo will ich mit Dir fahren.

Was? Du? rief er halb erſtaunt, halb ſpöttiſch. Du änderſt Dich ja gewaltig und wirſt zuletzt Deinem Thomas a Kempis noch ganz und gar untreu werden. Nun, wenn Du willſt ich bin bereit.

Die Freifrau hatte ihre Tochter mit einem eigenthümlichen Blicke betrachtet. Wenn Raphaela mit Ihnen fährt , warf ſie jetzt raſch ein, kann ich nicht zurückbleiben; hoffe aber, Sie werden vernünftig ſein, Egon.

So begaben ſich die Drei in das zierliche Fahrzeug,262 welches alsbald, von Rödern kräftig gerudert, auf der Mitte des Teiches trieb.

Da ſehen Sie unſere ländlichen Vergnügungen , ſagte der Freiherr, mit dem ich jetzt langſam am Rande hinging. Wir führen hier ein ſehr zurückgezogenes, gleichförmiges Da¬ ſein; Graf Rödern allein bringt etwas Leben und Bewegung in unſeren kleinen Kreis. Denn meine Tochter iſt trotz ihrer Jugend ſehr ernſt und ſtill, und ſitzt am liebſten bei ihren Büchern oder am Clavier.

Ich bemerkte hierauf, daß ich, allem Anſcheine nach, die Baroneſſe kurz nach meinem Eintreffen ſingen gehört.

Haben Sie? erwiederte er mit väterlichem Stolz. Nicht wahr, eine prachtvolle Stimme, wenn auch noch nicht völlig entwickelt. Sie iſt überhaupt ein einziges Kind! fuhr er fort, indem er mit jenem Ausdruck tiefſter Zärtlichkeit, der mich früher ſo überraſcht hatte, nach dem Kahne blickte. Der Himmel hat mir einen Sohn verſagt, aber mit dieſer Toch¬ ter reichen Erſatz gewährt. Sie war bis jetzt , wandte er ſich mit herablaſſender Vertraulichkeit an mich, in dem Er¬ ziehungsinſtitute für adelige Fräulein in L .... Eine ausge¬ zeichnete Anſtalt, die ſie als vorzüglichſte Schülerin verlaſſen hat. Es iſt erſtaunlich, welche ausgebreiteten Kenntniſſe ſie beſitzt; offen geſtanden: ich fühle mich ihr gegenüber oft un¬ wiſſend. Freilich verdankt ſie Vieles, ja das Meiſte nur ſich ſelbſt und ihrem unermüdlichen Fleiße. Und dabei welch '263ein Gemüth! Die Hingebung und Zärtlichkeit, die Güte und Frömmigkeit ſelbſt! Wie geſagt: ein einziges Kind! Möge ſie glücklich werden! fügte er, vor ſich hinblickend, mit einem leiſen Seufzer bei. Doch ſo, als hätte er mich zu tief in ſein Herz blicken laſſen, rückte er ſich plötzlich in ſeiner ſtolzen Haltung zurecht und der gewöhnliche harte, finſtere Zug trat allmälig wieder in ſein Antlitz.

Inzwiſchen aber hatte es Rödern nicht über ſich gebracht, vernünftig zu bleiben. Nachdem er eine Zeit lang den Kahn zu Aller Zufriedenheit gelenkt, dann eine Waſſerlilie gepflückt und den ſchimmernden Kelch in das dunkle Haar der Freifrau geſteckt hatte, begann er allerlei gewagte Ruderkünſte zu verſuchen, wobei das Schifflein mehr als einmal in ein höchſt bedenkliches Schwanken gerieth. Und als er endlich ſei¬ ner Ausgelaſſenheit völlig die Zügel ſchießen ließ und, trotz der Bitten und Abmahnungen Raphaela's, trotz der Angſtrufe ihrer Mutter, in raſchen, immer engeren Kreiſen einen Schwan verfolgte, der mit zornigen Flügelſchlägen pfauchend vor dem Kiele herſchoß: da war es in der That Zeit, daß ſich der Freiherr in's Mittel legte und mit herriſchem Tone befahl, an's Land zu ſtoßen. So erreichte man zuletzt doch wohlbe¬ halten das Ufer und trat nun vereint, jedoch ziemlich einſylbig beim röthlichen Scheine des Abends den Rückweg an.

Vor dem Schloſſe kehrte ſich der Freiherr zu mir und ſagte gemeſſen: Sie dürften ſich ermüdet fühlen und es264 vielleicht vorziehen, den Thee in Ihrem Zimmer zu nehmen. Wir wollen Sie nicht länger halten.

Ich verneigte mich ſchweigend. Dann nahm ich von den Uebrigen Abſchied und zog mich zurück. Obgleich ich in der That der Ruhe bedürftig war und auch alsbald zu Bette ging, ſann ich doch unwillkürlich den Erlebniſſen des Tages nach, und ſo hielten mich fragende Gedanken und leiſe Schauer der Seele noch lange wach. Endlich ſchlief ich ein.

Die Sonne ſtand ſchon hoch am Himmel, als ich er¬ wachte. Friſch und würzig drang der Duft des Morgens mit dem Gezwitſcher der Vögel durch die geöffneten Fenſter herein, und ich machte mich fertig, meinen dienſtlichen Verrich¬ tungen im Dorfe nachzukommen. Ueber dieſen ging ein Theil des Vormittages hin; nunmehr aber ſollte ich mich nach dem Städtchen begeben, wo ich weitere Befehle und Anordnungen für morgen entgegen zu nehmen hatte. Da ich vorausſah, daß man mich dort an den Offizierſtiſch ziehen und ſo bald nicht wieder loslaſſen würde, ſo erſchien es mir gerathen, mich ſchon jetzt bei dem Herrn des Schloſſes zu verabſchieden. Ich fand ihn diesmal ſichtlich zerſtreut und verſtimmt; vielleicht durch den Inhalt mehrerer Briefe, die eben mit der Poſt ge¬ kommen zu ſein ſchienen und erbrochen auf dem Schreibtiſche265 lagen. Ich bedauere , ſagte er obenhin, daß Sie heute nicht mehr unſer Gaſt ſein können. Setzen Sie Ihren Marſch glücklich und wohlbehalten fort. Es wird auch den Andern leid thun, Sie nicht mehr zu ſehen. Meine Frau iſt mit dem Grafen Rödern ausgeritten und meine Tochter weilt jetzt bei ihren Studien. Dabei machte er eine leichte Bewegung, als wollte er ſagen: Sie ſind entlaſſen. Aber nach kurzem Bedenken blickte er mich freundlicher an und fuhr mit einer gewiſſen Wärme fort: Es war mir in der That eine Freude, Sie kennen gelernt zu haben. Leben Sie wohl! Und er reichte mir die Hand, die ich, unwillkürlich zögernd, mit der meinen berührte.

Es war mir eine Erleichterung, als ich die Thüre hinter mir hatte, und wohlgemuth wanderte ich dem Städtchen zu, wo ich Alles in fröhlicher Bewegung fand. Denn man hatte uns zu Ehren die Anſtalten zu einem Feſte getroffen, welches ſchon früh am Nachmittage mit einem lärmenden Preisſchießen begann und ſpäter in einen ländlichen Ball überging.

Auch ich hatte mit allen Offizieren daran Theil genommen, hatte mit mancher Schönen des Ortes getanzt, und ſchon ſank die Nacht ſchwül und dunkel auf die Gefilde nieder, als ich den Saal der Schießſtätte verließ und mit pochenden Schläfen den Rückweg antrat. Kein Laut regte ſich in den Fichten; ſchwer und betäubend ſchlug mir der Duft des Kornes ent¬ gegen, das jetzt die aufgeſogene Gluth des Tages ausſtrahlte;266 am Horizont zuckte von Zeit zu Zeit ein fahles Wetter¬ leuchten.

Schweigend, in nächtlicher Ruhe lag endlich das Schloß vor mir; nur einige wenige Fenſter waren noch erleuchtet. Ich fand das kleine Thor unverſchloſſen und begab mich in mein Zimmer. Da der Abmarſch um drei Uhr Morgens ſtattfinden ſollte, ſo warf ich mich halb entkleidet auf das Sopha, wo ich mich einem leichten Schlummer überließ. Plötz¬ lich erwachte ich; es war wie taghell im Zimmer. Erſchreckt richtete ich mich empor; ich glaubte ſchon weit in den Morgen hinein geſchlafen zu haben. Aber es war nur der Mond, der ſich inzwiſchen am Himmel erhoben hatte und mit ſeinem mil¬ den Lichte das Gemach durchfluthete. Ich blickte nach der Uhr; ſie wies eine Stunde nach Mitternacht. Was ſollte ich nun beginnen? An Schlaf und Ruhe war nicht mehr zu den¬ ken; ich beſchloß daher, die Zeit bis zum Aufbruche im Parke zu verbringen, deſſen mondbeglänzte Wipfel mich wunderſam anlockten. Raſch kleidete ich mich völlig an, warf einen leichten Mantel über und bald kniſterte der feine Kies der Wege unter meinen Tritten. In hellem Thau ſchimmerte der Raſen, geiſterhaft leuchteten die Blumen auf, und eh 'ich es dachte, war ich bei dem Teiche angelangt, der mir glitzernd und flimmernd entgegenſah. Mit weitgeöffneten Kelchen lagen die Waſſer¬ lilien im feuchten Glanze, kaum unterſcheidbar von dem Ge¬ fieder der Schwäne, die auf einer kleinen Inſel ſchliefen und267 träumeriſch die Flügel regten, während hin und wieder aus der Tiefe kurze, geheimnißvolle Laute heraufdrangen.

Nachdem ich das ſchlummernde Waſſerreich langſam um¬ ſchritten hatte, trat ich in ein nahes Bosquet, in welchem ich eine Bank vermuthete und auch wirklich am Sockel einer Na¬ jade aus Sandſtein antraf. Und wie ich jetzt unter den ſchweigenden Wipfeln ſaß und dem leiſen Weben der Nacht lauſchte, da wurde, was ich vorgeſtern hier erlebt, wieder in meinem Geiſte lebendig. Ich ſah die Geſtalten der Schlo߬ bewohner vor mir bis auf den kleinſten, feinſten Zug: den ſtolzen, finſteren Freiherrn; das ſchöne, blühende Weib mit den dunklen Sammetaugen; das ernſte blonde Mädchen und den jungen Grafen, der den Kahn dort auf der ſtillen Waſſerfläche gelenkt hatte .....

Da glaubte ich mit einmal ferne Tritte zu hören. Ich hatte mich nicht getäuſcht; ſie kamen näher und näher und ſchon klangen bekannte Stimmen an mein Ohr, zwar gedämpft, doch deutlich vernehmbar in der Stille der Nacht.

Ich ſage Dir nur, daß ſie Dich liebt!

Wenn auch. Meine Schuld iſt es nicht; Du weißt doch, daß ich ſie ſtets mit der größten Gleichgiltigkeit behan¬ delt habe.

Das iſt wahr; aber mich dauert das arme Kind. Sie hat viel von ihrem Vater, nimmt Alles ernſt und ſchwer;268 ſelbſt kleine, unbedeutende Dinge. Sie kann nicht vergeſſen; ich fürchte, dieſer Eindruck wird ihr für's Leben bleiben.

Ah pah! Mädchenträume! Sie wird ſich ſchon zurecht finden; ihr Sinn iſt ohnedies mehr auf's Ueberirdiſche gerich¬ tet. Ich jedoch halte mich an die volle, blühende Wirk¬ lichkeit!

Du liebſt mich alſo? Und die Stimme der Freifrau klang weich und zärtlich.

Es erfolgte keine Antwort; aber eine Stille trat ein, durchweht von den ſtürmiſchen Hauchen und Küſſen einer lan¬ gen, leidenſchaftlichen Umarmung.

Zitternden Herzens preßte ich die Lippen zuſammen. Ich hatte den günſtigen Augenblick, mich zu entfernen verſäumt und nun ſtand die Freifrau mit Rödern in der Nähe des Bosquets; die leiſeſte Bewegung, ein Odemzug mußte meine Anweſenheit verrathen.

Und wie lange wirſt Du mich lieben, Flatterſinn? klang es endlich.

So lange ich athme! klang es berauſcht entgegen.

Gedenke Deiner Worte! ſtieß jetzt die Freifrau mit wildem, faſt unheimlichem Flüſtern hervor. Ich laſſe Dich auch nicht mehr: Du biſt mir verfallen mit Leib und Seele!

Es war zu vernehmen, wie ſie ihn umſchlang; dann ſetzten ſich die Schritte der Beiden wieder in Bewegung. Ich269 erſtarrte. Wenn ſie jetzt in das ſilberberieſelte Dunkel traten die Folgen waren undenkbar! Aber ſie lenkten rechts ab und kehrten in einem Bogen langſam und ſchweigend nach dem Schloſſe zurück. Je ferner, je ſchwächer ihre Tritte klangen, deſto leichter, deſto freier fühlte ich mich; als es jedoch wieder ganz ſtill geworden war, da griff mir ein ſcharfes, eiſiges Weh an's Herz. Was ich ſchon vordem über den Wandel der Freifrau vernommen, das floß jetzt mit den Eindrücken dieſer Stunde zuſammen, und obgleich ich, was jetzt plötzlich enthüllt vor mir lag, ſchon halb errathen hatte, ſo war es mir doch, als hätte ich in einen Abgrund geblickt.

Endlich entriß ich mich der Stelle, ſuchte meinen ſchlafen¬ den Diener auf und begab mich in das Dorf hinunter, wo ich noch vor der Zeit Reveille ſchlagen ließ. Und fort zog ich in den grauenden Tag hinein, das Schloß, ſeine Menſchen und ihre Schickſale hinter mir zurücklaſſend.

II.

Jahre waren dahin gegangen. Das Leben, immer ern¬ ſter und vielgeſtaltiger mit ſtrengen Forderungen an mich herantretend, hatte alle dieſe Eindrücke verwiſcht, und ich dachte kaum mehr meines kurzen Aufenthaltes im Schloſſe Reichegg. In den öffentlichen Blättern hatte ich zwar geleſen,270 daß der Freiherr mit dem Tode abgegangen ſei. Durch die Zeitereigniſſe geſtürzt; den Untergang alles deſſen erlebend, was er begründen half: war ihm bei dem großen Wandel der Dinge nichts übrig geblieben, als zu ſterben. Von ſeiner Gemahlin und Raphaela jedoch vernahm ich nichts mehr. Neue Verhältniſſe hatten neue Erſcheinungen in den Vorder¬ grund geſtellt; die ſchöne, einſt ſo gefeierte Frau war ver¬ geſſen und blieb mit ihrer Tochter verſchollen für Die¬ jenigen wenigſtens, die mit ihren Kreiſen nicht in Berührung kamen.

Da traf es ſich, daß ich bei einem kurzen Aufenthalte in der Lagunenſtadt vor einem Kaffeehauſe des Marcusplatzes ſaß. Es war noch ziemlich früh am Tage und nur wenige Menſchen beſchritten die prächtigen Quadern, auf welche die Sonne hell und glänzend niederſchien. Plötzlich zeigten ſich, von der Stadtſeite kommend, zwei hohe vornehme Geſtalten in Reiſekleidern; ein Herr und eine Dame, die Arm in Arm einher gingen und, da ſie mich bekannt anmutheten, meine Aufmerk¬ ſamkeit feſſelten. Als ſie mir näher gekommen waren, trat ein Blumenmädchen mit erhobenem Korbe auf ſie zu. Die Dame blieb ſtehen, hielt ihren Begleiter, der vorbeiſchreiten wollte, am Arme feſt und nun zuckte ich faſt erſchreckt zu¬ ſammen: ich hatte endlich in dem Paare Rödern und die Freifrau erkannt! Die Letztere hatte ſich zwar in ihrem271 Aeußeren nicht ſonderlich verändert. Der tadelloſe Wuchs, die eigenthümlich ſtolzen und doch geſchmeidigen Gliederbewe¬ gungen waren ihr geblieben; aber aus ihrem Antlitz, das trotz der weißen Schminke noch immer ſchön genannt werden konnte, war alles Milde und Liebliche verſchwunden, und ein herrſch¬ ſüchtiger, rückſichtsloſer, durch das herannahende Alter gereizter und erbitterter Wille hatte ſich mit faſt verletzender Schärfe in jedem einzelnen Theile ausgeprägt. Einen noch traurigern Anblick bot Rödern. Er war vor der Zeit grau geworden; ſeine Haltung erſchien nachläſſig und gebückt, während in ſeinen ſchlaffen Zügen ein unſäglich öder, troſtloſer Ausdruck von ſtummer Duldung und verbiſſenen Qualen lag, den der ſorgfältig gepflegte dünne Bart und das kunſtvoll geſcheitelte Haar nur noch deutlicher hervorhoben. Mit ſcheuer, ver¬ droſſener Lüſternheit blickte er von der Seite nach dem jungen großäugigen Geſchöpfe, das, ein dünnes Korallenſchnürchen um den bräunlichen Hals, vor ſeiner Begleiterin ſtand. Er ſchien froh zu ſein, als dieſe endlich eine Anzahl kleiner Sträuße ausgewählt und mit unangenehmem Lächeln mehrere Silbermünzen in den Korb des Mädchens geworfen hatte.

Der Ausſpruch von damals hatte ſich alſo erfüllt: er war ihr verfallen mit Leib und Seele! Wie ernſt, wie furchtbar ſind doch die Verkettungen des Lebens! So dacht 'ich, während die Erinnerungen jener Mondnacht in mir auf¬ leuchteten, und konnte mich nicht enthalten, den Beiden bis272 auf die Riva zu folgen, wo ſie eine Gondel heran winkten. Sie ſtiegen ein und ließen ſich hinaus rudern in die blaue, ſchimmernde Waſſerfläche, wie von einem dunklen Sarge um¬ ſchloſſen. Es waren zwei Todte.

Langſam kehrte ich über die Piazzetta wieder zurück. Düſter und ſchweigend lagen die alten Paläſte da und wehten mich in ihrer verfallenden Pracht mit den Schauern der Ver¬ gänglichkeit an. Wie lange war es her, da umflatterte noch das ſchwarzgelbe Banner Oeſterreichs den weit aus¬ blickenden Thurm, und unter den mächtigen Säulenhallen wogte das bewegte, glänzende Leben verhaßter Fremdherrſchaft auf und nieder. Nun war Venedig frei aber auch ſtiller, einſamer, öder geworden. Und wie hatte ſich dieſer Wandel vollzogen! Langſam, ſchrittweiſe; doch unaufhaltſam, trotz aller Gegenbeſtrebungen. Erſchien es nicht wie tragiſche Ironie des Schickſals, als man zuletzt rathlos die Erfüllung in die Hand des Mannes legte, der damals an der Seine über das Loos der Völker entſchied!? Unwillkürlich mußte ich des todten Freiherrn und ſeiner ſtolzen Ueberzeugungen gedenken; es war mir, als ginge ſein Schatten neben mir her, ſcheu und finſter. Und ſeine Tochter? Wo weilte ſie? Hatte ſie ſich, wie Rödern damals vorausgeſetzt, zurechtgefunden, oder war ſie ein einſamer Fremdling geblieben in dieſer Welt voll Irr¬ thum und Schuld; in dieſer Welt, wo nichts Beſtand hat, als273 der Schmerz, und wo ſelbſt das Höchſte und Bedeutſamſte allmälig vergeht und verweht, als wäre es nie geweſen!?

Auch dieſe Frage ſollte mir endlich die Zeit, die Alles enthüllt und das Getrennteſte nach und nach zuſammenführt, beantworten. Es war erſt vor Kurzem, daß ich mich in eine größere, ob ihrer landſchaftlichen Umgebung viel¬ gerühmte Provinzſtadt begab, um eine ſchmerzliche Pflicht zu erfüllen. Einer meiner vertrauteſten Freunde, welcher dort ſeinem wiſſenſchaftlichen Berufe nachlebte, war nämlich von einem körperlichen Leiden befallen worden, das, anfänglich nicht beachtet, immer heftiger und gefährlicher hervortrat. Jeder häuslichen Pflege und Fürſorge entbehrend, ſah er ſich endlich gezwungen, in dem öffentlichen Krankenhauſe der Stadt Aufnahme zu ſuchen, wo man ihm ein abgeſondertes, für ſolche Fälle bereit gehaltenes Zimmer zur Verfügung ſtellte. Auf die Nachricht hievon war ich alſo herbeigeeilt, um dem Einſamen in dieſen ſchweren Tagen tröſtend und vielleicht auch hilfreich zur Seite zu ſtehen; verweilte daher oft und lange in dem düſteren, ſchwermüthigen Gebäude, das, wie faſt alle ähnlichen Anſtalten, auf einem großen, verödeten Platze liegt, wo eine Kirche, eine Kaſerne und ein altes, wüſt ausſehendes Gefangenhaus ſeine nächſte Umgebung bilden. Das Zimmer des Kranken war klein und ſchmal und ging mit ſeinem einzigen Fenſter auf einen ſtillen Nebenhof hinaus, in welchem ein bemooster Steinbrunnen leiſe plätſcherte. InSaar, Novellen aus Oeſterreich. 18274den Nachmittagsſtunden vergoldete auf kurze Zeit ein herein¬ fallender Sonnenſtrahl die kahlen Wände und umſchimmerte einige Blumen, die in ſchlichten Töpfen auf dem Fenſterbrette ſtanden. Außer mir kamen nur wenige Beſuche. Deſto häu¬ figer aber fand ſich der Arzt ein, der meinen Freund behan¬ delte. Es war ein älterer, behaglicher Junggeſelle. Seine vollen Wangen zeigten das Roth der Geſundheit, und um die Lippen ſpielte ein feinſinnlicher Zug; aber ſeine Stirne war frei und hoch, und aus ſeinen hellen Augen ſtrahlten Geiſt und Erkenntniß. Auf der Höhe des heutigen Wiſſens ſtehend und in ſeinem Fache ſelbſt ein leidenſchaftlicher Forſcher, hatte er ſich doch jene tieferen Gemüthslaute bewahrt, die bei einem Arzte dem Kranken gegenüber ſo wohlthuend wirken. Vor Allem aber war es ſein köſtlicher Humor, der ein Geſpräch mit ihm als wahren Genuß empfinden ließ; wie denn auch mein armer Freund während ſeiner Anweſenheit ſtets ganz und gar des quälenden Leidens vergaß freilich nur, um es ſpäter deſto ſchmerzlicher zu empfinden.

So hatte ich denn eines Morgens wieder Himmel und Sonnenſchein draußen zurückgelaſſen, um die düſtere Treppe des Krankenhauſes hinanzuſteigen, in welchem ich ein außergewöhn¬ liches, ſtillbewegtes Treiben wahrnahm. In das bekannte. Zimmer tretend, fand ich den Doctor am Bette; jedoch eben im Begriffe, ſich zu verabſchieden.

275

Eilen Sie doch nicht ſo, beſter Doctor , ſagte mein Freund; bleiben Sie noch ein wenig bei uns.

Geht nicht. Wir haben heute große Viſite. Die Oberin der Schweſtern, die hier im Hauſe den Dienſt der Kranken¬ pflege verſehen und zwar ganz tüchtig, wie ich bekennen muß. Denn dazu iſt vor Allem Disciplin nothwendig, und dieſe läßt ſich dem geiſtlichen Völklein nicht abſprechen. Schwei¬ gen und gehorchen, das heißt, ſeinen Vorgeſetzten gegenüber, hat es gelernt. Zudem iſt die Oberin eine vortreffliche, ja geradezu wundervolle Perſönlichkeit; ſie hat ſich ſchon im Directionszimmer eingefunden und ich laſſe mir das Vergnü¬ gen nicht rauben, mich ihr als Begleiter durch die Krankenſäle anzuſchließen. Wiſſen Sie , fuhr der Doctor nach einer klei¬ nen Pauſe fort, wer ſie eigentlich iſt? Eine Tochter des alten Erzariſtokraten und Finſterlings Reichegg, der ein ſo trauriges Andenken hinterlaſſen hat. Aber auf ſie iſt das Sprichwort nicht anwendbar, daß der Apfel nahe zum Stamme fällt. Keine Spur von Bigotterie oder Unduldſamkeit; eine ächte Frauenſeele, voll Nachſicht und Menſchenliebe und jener Frömmigkeit, die Einen bedauern läßt, daß man ſie ſelbſt nicht mehr beſitzen kann. Und auch da oben er deutete mit dem Finger nach der Stirn ſieht es ſehr reſpectabel aus. So Mancher, der ſich auf den Gelehrten hinaus ſpielt und Bücher ſchreibt, müßte ſich vor ihr verkrie¬ chen. Schade, ewig ſchade, daß ſie Nonne geworden. Es18*276heißt zwar, ihr Vater habe ſie von Kind auf dazu erzogen; aber ich glaub's nicht. Wenn die Weiber in's Kloſter gehen, ſteckt immer eine unglückliche Herzensgeſchichte dahinter. Na, warten Sie: ſobald der Cölibat aufgehoben iſt, mach 'ich es wett und halte um ihre Hand an. Vielleicht nimmt ſie mich noch! Und damit eilte er lachend zur Thüre hinaus.

Was ich bei den Worten des Doctors empfunden hatte, läßt ſich denken. Aber meine Ueberraſchung ging ſogleich in das wohlthuende Gefühl innerſter Befriedigung über. Das war ja der nothwendige Ausgleich, der verſöhnende Abſchluß in dem Leben des ernſten blonden Mädchens, das ich einſt in ſeiner ahnungsloſen Hoheit ſo tief beklagt hatte. Und ſo war es auch mehr als bloße Neugierde, wenn mich ein unwider¬ ſtehliches Verlangen faßte, die Oberin zu ſehen. In Folge deſſen trat ich nach einiger Zeit aus dem Zimmer, um Er¬ kundigungen einzuziehen, wann ſie die Anſtalt verlaſſen würde; ich wollte ſie unten in dem großen, mit Bäumen bepflanzten Hofe erwarten, den ſie beim Weggehen durchſchreiten mußte. Als ich mich ſpäter dorthin begab, traf ich viele Kranke und Geneſende, die ſich wohl in gleicher Abſicht eingefunden hatten. Wir mußten lange warten. Endlich kam ſie, von einer jün¬ geren Schweſter, dem Director der Anſtalt und unſerem Doc¬ tor begleitet, langſam die Treppe herunter. Ruhig und wür¬ devoll, die ernſten blauen Augen vor ſich hin gerichtet, durch¬ ſchritt ſie den Hof, hier und dort mit leiſem Senken des277 Hauptes dargebrachte Grüße erwiedernd. Die Flucht der Jahre hatte ihrem Antlitz, bis auf einige feine Fältchen um den Mund, keinerlei Spuren aufgedrückt; vielmehr erſchien ſie jetzt in erhabener, vergeiſtigter Schönheit, mit welcher die weiße Beguine, der dunkle Faltenwurf der Gewänder und das goldene Kreuz vor der Bruſt in ergreifendem Ein¬ klange ſtanden. Draußen am Thore harrte eine große ſchwer¬ fällige Kutſche; der ſchwarz gekleidete Diener öffnete den Schlag und die Oberin fuhr an der Seite der Schweſter in das fröhliche Menſchengewühl belebter Gaſſen hinein ihrem Kloſter zu, das, wie ich ſpäter ſehen konnte, am äußerſten Ende der Stadt auf einer ſanften, wipfelbeſchatteten An¬ höhe lag.

Inhalts-Verzeichniß.

Seite
Innocens1.
Marianne77.
Die Steinklopfer125.
Die Geigerin185.
Das Haus Reichegg245.

About this transcription

TextNovellen aus Österreich
Author Ferdinand von Saar
Extent301 images; 56848 tokens; 10829 types; 387876 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

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Bibliographic informationNovellen aus Österreich Ferdinand von Saar. . VII, 279 S. WeißHeidelberg1877.

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