PRIMS Full-text transcription (HTML)
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Reden an die deutſche Nation
Berlin,1808.In der Realſchulbuchhandlung.
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Vorrede.

Die folgenden Reden ſind zu Berlin im Winter 1807 8, in einer Reihe von Vorleſungen, und als Fortſetzung der im Winter 1804 5, eben daſelbſt vor¬ getragenen Grundzuͤge des gegenwaͤr¬ tigen Zeitalters (in derſelben Ver¬ lagshandlung abgedruckt 1806) gehalten worden. Was bei ihnen und durch ſie dem Publikum zu ſagen war, iſt in ih¬ nen ſelbſt ausgeſprochen, und es bedurfte ſonach keiner Vorrede. Da inzwiſchen, durch die Weiſe des Abdrucks dieſer Re¬A 2[4]den ein auszufuͤllender leerer Raum ſich ergeben hat, ſo fuͤlle ich denſelben mit etwas, zum Theil ſchon anderwaͤrts die Cenſur paßirten und abgedruckten, an welches die Veranlaſſung der entſtandenen Luͤcke erinnert, und das im allgemeinen auch hier Anwendung finden duͤrfte, in¬ dem ich im beſonderen noch an den, den¬ ſelben Gegenſtand betreffenden Schluß der zwoͤlften Rede, verweiſe.

Fichte.

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Aus einer Abhandlung uͤber Machiavell als Schriftſteller, und Stellen aus ſeinen Schriften.

I. Aus dem Beſchluſſe jener Abhandlung.

Zunaͤchſt fallen uns zwei Gattungen von Menſchen ein, gegen die wir uns ver¬ wahren moͤchten, wenn wir es koͤnnten. Zufoͤrderſt ſolche, welche, ſo wie ſie ſelbſt mit ihren Gedanken niemals uͤber die neueſte Zeitung hinaus kommen, annehmen, daß6 dies auch kein andrer koͤnne, daß demnach alles, was geredet oder geſchrieben werde, eine Beziehung auf dieſe Zeitung habe, und derſelben zum Kommentar dienen ſolle. Dieſe bitte ich zu bedenken, daß keiner ſa¬ gen koͤnne: ſiehe, da iſt dieſer gemeint, und dieſer! der nicht vorher bei ſich ſelbſt geurtheilt habe, daß dieſer, und die¬ ſer wirklich und in der That alſo ſei, daß er hier gemeint ſeyn koͤnne; daß daher kei¬ ner einen im Allgemeinen bleibenden Schrift¬ ſteller, der in der, alle Zeit umfaſſenden Regel, jede beſondre Zeit vergißt, der Sa¬ tyre beſchuldigen koͤnne, ohne erſt ſelbſt, als urſpruͤnglicher und ſelbſtſtaͤndiger Urheber, dieſe Satyre gemacht zu haben, und ſo hoͤchſt thoͤrichter Weiſe ſeine eignen geheim¬ ſten Gedanken zu verrathen.

Sodann giebt es ſolche, die vor keinem Dinge Scheu haben, wohl aber vor den Worten zu den Dingen, und vor dieſen eine unmaͤßige. Du magſt ſie unter die7 Fuͤße treten, und alle Welt mag zuſe¬ hen; dabei iſt fuͤr ſie weder Schande noch Uebel: wenn aber darauf ein Geſpraͤch erho¬ ben wuͤrde, vom Treten mit Fuͤßen, ſo waͤre dies ein unleidliches Aergerniß, und nun erſt hoͤbe das Uebel an; da doch auch uͤber¬ dies kein Vernuͤnftiger und Wohlwollender ein ſolches Geſpraͤch erheben wird, aus Scha¬ denfreude, ſondern lediglich, um die Mittel ausfindig zu machen, daß der Fall nicht wieder eintrete. Eben ſo mit den zukuͤnftigen Uebeln; ſie wollen nicht geſtoͤrt ſeyn in ih¬ rem ſuͤßen Traume, und ſchließen drum feſt zu ihr Auge vor der Zukunft. Da aber da¬ durch andre, welche die Augen offen behal¬ ten, nicht verhindert werden, zu ſehen, was herannaht, und in Verſuchung kommen koͤnn¬ ten, zu ſagen, und mit Namen zu benen¬ nen, was ſie ſehen, ſo duͤnkt ihnen gegen dieſe Gefahr das ſicherſte Mittel dieſes, daß ſie den Sehenden dieſes Sagen und Benen¬ nen verkuͤmmern; als ob nun, in umgekehr¬8 ter Ordnung mit der Wirklichkeit, aus dem Nichtſagen das Nichtſehen, und aus dem Nichtſehen das Nichtſeyn, erfolgen wuͤrde. So ſchreitet der Nachtwandler einher am Rande des Abgrundes; aus Barmherzigkeit, ruft ihm nicht zu, jetzt ſichert ihn ſein Zu¬ ſtand, wenn er aber erwacht, ſo ſtuͤrzt er herab. Moͤchten nur auch die Traͤume jener die Gabe, die Vorrechte und die Sicherheit des Nachtwandels mit ſich fuͤhren, damit es ein Mittel gaͤbe, ſie zu retten, ohne ihnen zuzurufen, und ſie zu erwecken. So ſagt man, daß der Strauß die Augen vor dem auf ihn zukommenden Jaͤger verſchließe, eben auch, als ob die Gefahr, die ihm nicht mehr ſichtbar ſei, uͤberhaupt nicht mehr da ſei. Der waͤre kein Feind des Straußen, der ihm zurufte: oͤffne deine Augen, ſiehe, da kommt der Jaͤger, fliehe nach jener Seite hin, damit du ihm entrinneſt.

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II. Große Schreibe - und Preß-Freiheit in Machiavells Zeitalter.

Es duͤrfte auf Veranlaſſung des vorigen Abſchnittes, und indem vielleicht einer oder der andere unſrer Leſer ſich wundert, wie dem Machiavell das ſo eben gemeldete habe hingehen koͤnnen, der Muͤhe werth ſeyn, zu Anfange des 19ten Jahrhunderts, aus den Laͤndern, die ſich der hoͤchſten Denkfreiheit ruͤhmen, einen Blick zu werfen auf die Schreibe - und Preß-Freiheit, die zu An¬ fange des 16ten Jahrhunderts in Italien, und in dem paͤbſtlichen Sitze Rom, ſtatt fand. Ich fuͤhre von tauſenden nur Ein Beiſpiel an. Machiavells Florentiniſche Geſchichte iſt auf die Aufforderung des Pabſtes Cle¬ mens VII. geſchrieben, und an denſelben uͤberſchrieben. In derſelben befindet ſich gleich im erſten Buche folgende Stelle: So wie bis auf dieſe Zeit keine Meldung ge¬ ſchehen iſt von Nepoten oder Verwandten10 irgend eines Pabſtes, ſo wird von nun an von ſolchen die Geſchichte voll ſeyn, bis wir ſodann auch auf die Soͤhne kommen werden; und ſo iſt denn den kuͤnftigen Paͤb¬ ſten keine Steigerung mehr uͤbrig, als daß ſie, ſo wie ſie bisher dieſe ihre Soͤhne in Fuͤrſtenthuͤmer einzuſetzen geſucht haben, denſelben auch den paͤbſtlichen Stuhl erb¬ lich hinterlaſſen.

Dieſer Florentiniſchen Geſchichte, nebſt dem Buche vom Fuͤrſten, und den Diſkurſen, ſtellt derſelbe Clemens, honesto Antonii (ſo hieß der Drucker) desiderio annuere volens, ein Privilegium aus, in welchem allen Chri¬ ſten bei Strafe der Exkommunikation, den paͤbſtlichen Unterthanen noch uͤberdies bei Konfiskation der Exemplare, und 25 Duka¬ ten Strafe, verboten wird, dieſe Schriften nachzudrucken.

Zu erklaͤren iſt dies allerdings. Die Paͤbſte und die Großen der Kirche betrachte¬ ten ſelber ihr ganzes Weſen lediglich als ein11 Blendwerk fuͤr den niedrigſten Poͤbel, und, wenn es ſeyn koͤnnte, fuͤr die Ultramonta¬ ner, und ſie waren liberal genug, jedem fei¬ nen und gebildeten Italiaͤniſchen Manne zu erlauben, daß er uͤber dieſe Dinge eben ſo daͤchte, redete und ſchriebe, wie ſie ſelbſt un¬ ter ſich daruͤber redeten. Den gebildeten Mann wollten ſie nicht betruͤgen, und der Poͤbel las nicht. Eben ſo leicht iſt zu erklaͤ¬ ren, warum ſpaͤterhin andere Maasregeln noͤthig wurden. Die Reformatoren lehrten das dentſche Volk leſen, ſie beriefen ſich auf ſolche Schriftſteller, die unter den Augen der Paͤbſte geſchrieben hatten, das Beiſpiel des Leſens wurde anſteckend fuͤr die andern Laͤn¬ der, und jetzt wurden die Schriftſteller eine furchtbare, und eben darum unter ſtrengere Aufſicht zu nehmende Macht.

Auch dieſe Zeiten ſind voruͤber, und es werden dermalen, zumal in proteſtantiſchen Staaten, manche Zweige der Schrifſtellerei, z. B. philoſophiſche Aufſtellung allgemeiner12 Grundſaͤtze jeder Art, gewiß nur darum der Cenſur unterworfen, weil es ſo hergebracht iſt. Da ſich nun hiebei findet, daß denen, welche nichts zu ſagen wiſſen, als das was jedermann auch ſchon auswendig weiß, in alle Wege erlaubt wird, ſo viel Papier zu verwenden, als ſie irgend wollen; wenn aber einmal wirklich etwas neues geſagt werden ſoll, der Cenſor, der das nicht ſo¬ gleich zu faſſen vermag, und vermeinend, es koͤnne doch ein nur ihm verborgen bleibendes Gift darin liegen, um ganz ſicher zu gehen, es lieber unterdruͤcken moͤchte; ſo waͤre es vielleicht manchem Schriftſteller vom Anfange des 19ten Jahrhunderts in proteſtantiſchen Laͤndern nicht zu verdenken, wenn er ſich einen ſchicklichen und beſcheidenen Theil von derjenigen Preßfreiheit wuͤnſchte, welche die Paͤbſte zu Anfange des 16ten ohne Beden¬ ken allgemein zugeſtanden haben.

III. Aus der Vorrede zu einigen unge¬ druckt gebliebenen Geſpraͤchen uͤber Vaterlandsliebe, und ihr Gegentheil.

Innerhalb dieſer Beſchraͤnkungen nun, welche die Gerechtigkeit und die Billigkeit erfordern, koͤnnten uns, ſollte ich denken, jene ſehr wohl erlauben, daß wir ohne Scheu ſagen, was ſie ſelber ſich nicht ſcheuen in wirklicher That zu thun; indem ja offenbar die That, welche auch ohne unſer Sagen ohne Zweifel in die Augen fallen wird, ein weit groͤßeres Aergerniß anrichtet, als unſer nachheriges Sagen von der That. Und ob¬ gleich durchaus nichts verhindert, daß dieje¬ nigen, welche von Amts wegen die Aufſicht uͤber den oͤffentlichen Buͤcherdruck fuͤhren, fuͤr ihre Perſonen zu einer von den beiden der¬ malen im Streite liegenden Hauptpartheien in der Geiſterwelt gehoͤren, ſo koͤnnen ſie14 doch das Intereſſe dieſer ihrer Parthei nur ſodann wahrnehmen, wenn ſie etwa ſelbſt einmal als Schriftſteller auftreten ſollten; als oͤffentliche Perſonen aber haben ſie gar keine Parthei, und ſie muͤſſen dem Verſtan¬ de, der ohnedies weit ſeltner bei ihnen das Wort nachſucht, denn der Unverſtand, daſ¬ ſelbe eben ſowohl geben, wie ſie dem leztern taͤglich erlauben, nach aller Luſt ſeiner Noth¬ durft zu pflegen; keinesweges aber ſind ſie befugt, irgend einem Tone deswegen zu ver¬ wehren, laut zu werden, weil er an ihre Ohren fremd und paradox anſchlaͤgt

Geſchrieben zu Berlin, im Julius 1806.

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Erſte Rede.

Vorerinnerungen und Ueberſicht des Ganzen.

Als eine Fortſetzung der Vorleſungen, die ich im Winter vor drei Jahren allhier an der¬ ſelben Staͤtte gehalten, und welche unter dem Titel: Grundzuͤge des gegenwaͤrtigen Zeital¬ ters, gedruckt ſind, habe ich die Reden, die ich hiermit beginne, angekuͤndigt. Ich hatte in jenen Vorleſungen gezeigt, daß unſere Zeit in dem dritten Hauptabſchnitte der geſammten Weltzeit ſtehe, welcher Abſchnitt den bloßen ſinnlichen Eigennutz zum Antriebe aller ſeiner lebendigen Regungen und Bewegungen habe; daß dieſe Zeit in der einzigen Moͤglichkeit des16 genannten Antriebes ſich ſelbſt auch vollkom¬ men verſtehe und begreife; und daß ſie durch dieſe klare Einſicht ihres Weſens in dieſem ih¬ ren lebendigen Weſen, tief begruͤndet und un¬ erſchuͤtterlich befeſtiget werde.

Mit uns gehet, mehr als mit irgend einem Zeitalter, ſeitdem es eine Weltgeſchichte gab, die Zeit Rieſenſchritte. Innerhalb der drei Jahre, welche ſeit dieſer meiner Deutung des laufenden Zeitabſchnitts verfloſſen ſind, iſt irgendwo dieſer Abſchnitt vollkommen abgelau¬ fen und beſchloſſen. Irgendwo hat die Selbſt¬ ſucht durch ihre vollſtaͤndige Entwickelung ſich ſelbſt vernichtet, indem ſie daruͤber ihr Selbſt, und deſſen Selbſtſtaͤndigkeit, verloren; und ihr, da ſie gutwillig keinen andern Zwek, denn ſich ſelbſt, ſich ſetzen wollte, durch aͤußerliche Ge¬ walt ein ſolcher anderer und fremder Zwek auf¬ gedrungen worden. Wer es einmal unter¬ nommen hat, ſeine Zeit zu deuten, der muß mit ſeiner Deutung auch ihren Fortgang beglei¬ ten, falls ſie einen ſolchen Fortgang gewinnt; und ſo wird es mir denn zur Pflicht, vor dem¬ ſelben Publikum, vor welchem ich etwasals17als Gegenwart bezeichnete, daſſelbe als ver¬ gangen anzuerkennen, nachdem es aufgehoͤrt hat, die Gegenwart zu ſeyn.

Was ſeine Selbſtſtaͤndigkeit verloren hat, hat zugleich verloren das Vermoͤgen einzugrei¬ fen in den Zeitfluß, und den Inhalt deſſelben frei zu beſtimmen; es wird ihm, wenn es in dieſem Zuſtande verharret, ſeine Zeit, und es ſelber mit dieſer ſeiner Zeit, abgewickelt durch die fremde Gewalt, die uͤber ſein Schikſal ge¬ bietet; es hat von nun an gar keine eigne Zeit mehr, ſondern zaͤhlt ſeine Jahre nach den Be¬ gebenheiten und Abſchnitten fremder Voͤlker¬ ſchaften und Reiche. Es koͤnnte ſich erheben aus dieſem Zuſtande, in welchem die ganze bisherige Welt ſeinem ſelbſtthaͤtigen Eingreifen entruͤckt iſt, und in dieſer ihm nur der Ruhm des Gehorchens uͤbrig bleibt, lediglich unter der Bedingung, daß ihm eine neue Welt auf¬ ginge, mit deren Erſchaffung es einen neuen und ihm eigenen Abſchnitt in der Zeit begoͤnne, und mit ihrer Fortbildung ihn ausfuͤllte; doch muͤßte, da es einmal unterworfen iſt fremder Gewalt, dieſe neue Welt alſo beſchaffen ſeyn,B18daß ſie unvernommen bliebe jener Gewalt, und ihre Eiferſucht auf keine Weiſe erregte, ja, daß dieſe durch ihren eignen Vortheil bewegt wuͤr¬ de, der Geſtaltung einer ſolchen kein Hinder¬ niß in den Weg zu legen. Falls es nun eine alſo beſchaffene Welt, als Erzeugungsmittel eines neuen Selbſt und einer neuen Zeit, geben ſollte, fuͤr ein Geſchlecht, das ſein bisheriges Selbſt, und ſeine bisherige Zeit und Welt ver¬ loren hat, ſo kaͤme es einer allſeitigen Deu¬ tung ſelbſt der moͤglichen Zeit zu, dieſe alſo be¬ ſchaffene Welt anzugeben.

Nun halte ich meines Orts dafuͤr, daß es eine ſolche Welt gebe, und es iſt der Zweck die¬ ſer Reden, Ihnen das Daſeyn und den wah¬ ren Eigenthuͤmer derſelben nachzuweiſen, ein lebendiges Bild derſelben vor Ihre Augen zu bringen, und die Mittel ihrer Erzeugung an¬ zugeben. In dieſer Weiſe demnach werden dieſe Reden eine Fortſetzung der ehemals ge¬ haltenen Vorleſungen uͤber die damals gegen¬ waͤrtige Zeit ſeyn, indem ſie enthuͤllen werden das neue Zeitalter, das der Zerſtoͤrung des19 Reichs der Selbſtſucht durch fremde Gewalt unmittelbar folgen kann und ſoll.

Bevor ich jedoch dieſes Geſchaͤft beginne, muß ich Sie erſuchen vorauszuſetzen, alſo daß es Ihnen niemals entfalle, und einverſtanden zu ſeyn mit mir, wo und inwiefern dies noͤ¬ thig iſt, uͤber die folgenden Punkte:

1) Ich rede fuͤr Deutſche ſchlechtweg, von Deutſchen ſchlechtweg, nicht anerkennend, ſon¬ dern durchaus bei Seite ſetzend und wegwer¬ fend alle die trennenden Unterſcheidungen, wel¬ che unſeelige Eraͤugniſſe ſeit Jahrhunderten in der einen Nation gemacht haben. Sie, E. V., ſind zwar meinem leiblichen Auge die er¬ ſten und unmittelbaren Stellvertreter, welche die geliebten Nationalzuͤge mir vergegenwaͤrti¬ gen, und der ſichtbare Brennpunkt, in wel¬ chem die Flamme meiner Rede ſich entzuͤndet; aber mein Geiſt verſammlet den gebildeten Theil der ganzen deutſchen Nation, aus allen den Laͤndern, uͤber welche er verbreitet iſt, um ſich her, bedenkt und beachtet unſer aller ge¬ meinſame Lage und Verhaͤltniſſe, und wuͤn¬ ſchet, daß ein Theil der lebendigen Kraft, mitB 220welcher dieſe Reden vielleicht Sie ergreifen, auch in dem ſtummen Abdrucke, welcher allein nuter die Augen der Abweſenden kommen wird, verbleibe, und aus ihm athme, und an allen Orten deutſche Gemuͤther zu Entſchluß und That entzuͤnde. Bloß von Deutſchen und fuͤr Deutſche ſchlechtweg ſagte ich. Wir werden zu ſeiner Zeit zeigen, daß jedwede andere Ein¬ heitsbezeichnung oder Nationalband entweder niemals Wahrheit und Bedeutung hatte, oder, falls es ſie gehabt haͤtte, daß dieſe Vereini¬ gungspunkte durch unſre dermalige Lage ver¬ nichtet, und uns entriſſen ſind, und niemals wiederkehren koͤnnen; und daß es lediglich der gemeinſame Grundzug der Deutſchheit iſt, wo¬ durch wir den Untergang unſrer Nation im Zu¬ ſammenfließen derſelben mit dem Auslande, abwehren, und worin wir ein auf ihm ſelber ruhendes, und aller Abhaͤngigkeit durchaus unfaͤhiges Selbſt, wiederum gewinnen koͤnnen. Es wird, ſo wie wir dieſes leztere einſehen werden, zugleich der ſcheinbare Widerſpruch dieſer Behauptung mit anderweitigen Pflichten, und fuͤr heilig gehaltenen Angelegenheiten, den21 vielleicht dermalen mancher fuͤrchtet, vollkom¬ men verſchwinden.

Ich werde darum, da ich ja nur von Deut¬ ſchen uͤberhaupt rede, manches, das von den allhier verſammelten nicht zunaͤchſt gilt, aus¬ ſprechen, als dennoch von uns geltend, ſo wie ich anderes, das zunaͤchſt nur von Uns gilt, ausſprechen werde, als fuͤr alle Deutſche gel¬ tend. Ich erblicke in dem Geiſte, deſſen Aus¬ fluß dieſe Reden ſind, die durch einander ver¬ wachſene Einheit, in der kein Glied irgend ei¬ nes andern Gliedes Schikſal, fuͤr ein ihm frem¬ des Schikſal haͤlt, die da entſtehen ſoll und muß, wenn wir nicht ganz zu Grunde gehen ſollen, ich erblicke dieſe Einheit ſchon als entſtanden, vollendet, und gegenwaͤrtig da¬ ſtehend.

2) Ich ſetze voraus ſolche deutſche Zuhoͤ¬ rer, welche nicht etwa mit allem was ſie ſind, rein aufgehen in dem Gefuͤhle des Schmerzes uͤber den erlittenen Verluſt, und in dieſem Schmerze ſich wohlgefallen, und an ihrer Un¬ troͤſtlichkeit ſich weiden, und durch dieſes Ge¬ fuͤhl ſich abzufinden gedenken mit der an ſie er¬22 gehenden Aufforderung zur That; ſondern ſol¬ che, die ſelbſt uͤber dieſen gerechten Schmerz zu klarer Beſonnenheit und Betrachtung ſich ſchon erhoben haben, oder wenigſtens faͤhig ſind, ſich dazu zu erheben. Ich kenne jenen Schmerz, ich habe ihn gefuͤhlt wie einer, ich ehre ihn; die Dumpfheit, welche zufrieden iſt, wenn ſie Speiſe und Trank findet, und kein koͤrperlicher Schmerz ihr zugefuͤgt wird, und fuͤr welche Ehre, Freiheit, Selbſtſtaͤndigkeit leere Namen ſind, iſt ſeiner unfaͤhig: aber auch er iſt lediglich dazu da, um zu Beſinnung, Entſchluß und That uns anzuſpornen; dieſes Endzweks verfehlend, beraubt er uns der Be¬ ſinnung, und aller uns noch uͤbrig gebliebenen Kraͤfte, und vollendet ſo unſer Elend; indem er noch uͤberdies, als Zeugniß von unſrer Traͤg¬ heit und Feigheit, den ſichtbaren Beweis giebt, daß wir unſer Elend verdienen. Keinesweges aber gedenke ich Sie zu erheben uͤber dieſen Schmerz, durch Vertroͤſtungen auf eine Huͤlfe, die von außen her kommen ſolle, und durch Verweiſungen auf allerlei moͤgliche Ereigniſſe, und Veraͤnderungen, die etwa die Zeit herbei¬23 fuͤhren koͤnne: denn, falls auch nicht dieſe Denk¬ art, die lieber in der wankenden Welt der Moͤglichkeiten ſchweifen, als auf das Noth¬ wendige ſich heften mag, und die ihre Rettung lieber dem blinden Ohngefaͤhr, als ſich ſelber, verdanken will, ſchon an ſich von dem ſtraͤflich¬ ſten Leichtſinne, und der tiefſten Verachtung ſeiner ſelbſt zeugte, ſo wie ſie es thut, ſo ha¬ ben auch noch uͤberdies alle Vertroͤſtungen und Verweiſungen dieſer Art durchaus keine An¬ wendung auf unſre Lage. Es laͤßt ſich der ſtrenge Beweis fuͤhren, und wir werden ihn zu ſeiner Zeit fuͤhren, daß kein Menſch, und kein Gott, und keines von allen im Gebiete der Moͤglichkeit liegenden Eraͤngniſſen uns helfen kann, ſondern daß allein wir ſelber uns helfen muͤſſen, falls uns geholfen werden ſoll. Viel¬ mehr werde ich Sie zu erheben ſuchen uͤber den Schmerz, durch klare Einſicht in unſre Lage, in unſre noch uͤbrig gebliebene Kraft, in die Mittel unſrer Rettung. Ich werde darum allerdings einen gewiſſen Grad der Beſinnung, eine gewiſſe Selbſtthaͤtigkeit, und einige Auf¬ opferung anmuthen, und rechne darum auf24 Zuhoͤrer, denen ſich ſoviel anmuthen laͤßt. Uebrigens ſind die Gegenſtaͤnde dieſer Anmu¬ thung insgeſammt leicht, und ſetzen kein groͤ¬ ßeres Maaß von Kraft voraus, als man, wie ich glaube, unſerm Zeitalter zutrauen kann; was aber die Gefahr betrift, ſo iſt dabei durch¬ aus keine.

3) Indem ich eine klare Einſicht der Deut¬ ſchen, als ſolcher, in ihre gegenwaͤrtige Lage hervorzubringen gedenke; ſetze ich voraus Zu¬ hoͤrer, die da geneigt ſind, mit eignen Augen die Dinge dieſer Art zu ſehen, keinesweges aber ſolche, die es bequemer finden, ein frem¬ des und auslaͤndiſches Seh-Werkzeug, das entweder abſichtlich auf Taͤuſchung berechnet iſt, oder das auch natuͤrlich, durch ſeinen an¬ dern Standpunkt, und durch das geringere Maaß von Schaͤrfe, niemals auf ein deutſches Auge paßt, bei Betrachtung dieſer Gegenſtaͤn¬ de ſich unterſchieden zu laſſen. Ferner ſetze ich voraus, daß dieſe Zuhoͤrer in dieſer Betrach¬ tung mit eigenen Augen den Muth haben, redlich hin zu ſehen, auf das, was da iſt, und redlich ſich zu geſtehen, was ſie ſehen, und25 daß ſie jene haͤufig ſich zeigende Neigung, uͤber die eignen Angelegenheiten ſich zu taͤuſchen, und ein weniger unerfreuliches Bild von den¬ ſelben, als mit der Wahrheit beſtehen kann, ſich vorzuhalten, entweder ſchon beſiegt haben, oder doch faͤhig ſind, ſie zu beſiegen. Jene Neigung iſt ein feiges Entfliehen vor ſeinen eignen Gedanken, und kindiſcher Sinn, der da zu glauben ſcheint, wenn er nur nicht ſehe ſein Elend, oder wenigſtens ſich nicht geſtehe, daß er es ſehe, ſo werde dieſes Elend dadurch auch in der Wirklichkeit aufgehoben, wie es, aufgehoben iſt in ſeinem Denken. Dagegen iſt es mannhafte Kuͤhnheit, das Uebel feſt ins Auge zu faſſen, es zu noͤthigen, Stand zu hal¬ ten, es ruhig, kalt und frei zu durchdringen, und es aufzuloͤſen in ſeine Beſtandtheile. Auch wird man nur durch dieſe klare Einſicht des Uebels Meiſter, und geht in der Bekaͤm¬ pfung deſſelben einher mit ſicherem Schritte, indem man, in jedem Theile das Ganze uͤber¬ ſehend, immer weiß, wo man ſich befinde, und durch die einmal erlangte Klarheit ſeiner Sache gewiß iſt, dagegen der andere, ohne26 feſten Leitfaden, und ohne ſichere Gewißheit, blind und traͤumend herumtappt.

Warum ſollten wir denn auch uns ſcheuen vor dieſer Klarheit? Das Uebel wird durch die Unbekanntſchaft damit nicht kleiner, noch durch die Erkenntniß groͤßer; es wird nur heil¬ bar durch die leztere; die Schuld aber ſoll hier gar nicht vorgeruͤkt werden. Zuͤchtige man durch bittere Straf-Rede, durch beiſſenden Spott, durch ſchneidende Verachtung die Traͤg¬ heit und die Selbſtſucht, und reize ſie, wenn auch zu nichts beſſerem, doch wenigſtens zum Haſſe und zur Erbitterung gegen den Erinnerer ſelbſt, als doch auch einer kraͤftigen Regung, an, ſo lange die nothwendige Folge, das Uebel, noch nicht vollendet iſt, und von der Beſſerung noch Rettung oder Milderung ſich erwarten laͤßt. Nachdem aber dieſes Uebel alſo vollendet iſt, daß es uns auch die Moͤglichkeit auf dieſe Weiſe fortzuſuͤndigen benimmt, wird es zweklos, und ſieht aus wie Schadenfreude, gegen die nicht mehr zu begehende Suͤnde noch ferner zu ſchelten; und die Betrachtung faͤllt ſodann ans dem Gebiete der Sittenlehre in27 das der Geſchichte, fuͤr welche die Freiheit vor¬ uͤber iſt, und die das Geſchehene als nothwen¬ digen Erfolg aus dem Vorhergegangenen an¬ ſieht. Es bleibt fuͤr unſere Reden keine andere Anſicht der Gegenwart uͤbrig, als dieſe lezte, und wir werden darum niemals eine andere nehmen.

Dieſe Denkart alſo, daß man ſich als Deutſchen ſchlechtweg denke, daß man nicht gefeſſelt ſey ſelbſt durch den Schmerz, daß man die Wahrheit ſehen wolle, und den Muth habe ihr ins Auge zu blicken, ſetze ich voraus, und rechne auf ſie bei jedem Worte, das ich ſagen werde, und ſo jemand eine andere in dieſe Verſammlung mitbraͤchte, ſo wuͤrde derſelbe die unangenehmen Empfindungen, die ihm hier gemacht werden koͤnnten, lediglich ſich ſelbſt zuzuſchreiben haben. Dies ſey hiemit geſagt fuͤr immer, und abgethan; und ich gehe nun an das andre Geſchaͤft, Ihnen den Grundinhalt aller folgenden Reden in einer allgemeinen Ueberſicht vorzulegen.

Irgendwo, ſagte ich im Eingange meiner Rede, habe die Selbſtſucht durch ihre vollſtaͤn¬28 dige Entwikelung ſich ſelbſt vernichtet, indem ſie daruͤber ihr Selbſt, und das Vermoͤgen, ſich ſelbſtſtaͤndig ihre Zwecke zu ſetzen, verloren habe. Dieſe nunmehro erfolgte Vernichtung der Selbſtſucht war der von mir angegebne Fortgang der Zeit, und das durchaus neue Eraͤugniß in derſelben, das nach mir eine Fortſetzung meiner ehemaligen Schilderung der Zeit ſo moͤglich wie nothwendig machte; dieſe Vernichtung waͤre ſomit unſre eigentliche Gegenwart, an welche unſer neues Leben in einer neuen Welt, deren Daſeyn ich gleichfalls behauptete, unmittelbar angeknuͤpft werden muͤßte, ſie waͤre daher auch der eigentliche Ausgangspunkt meiner Reden; und ich haͤtte vor allen Dingen zu zeigen, wie und warum eine ſolche Vernichtung der Selbſtſucht aus ihrer hoͤchſten Entwiklung nothwendig erfolge.

Bis zu ihrem hoͤchſten Grade entwickelt iſt die Selbſtſucht, wenn, nachdem ſie erſt mit unbedeutender Ausnahme die Geſammtheit der Regierten ergriffen, ſie von dieſen aus ſich auch der Regierenden bemaͤchtigt, und deren alleiniger Lebenstrieb wird. Es entſteht einer29 ſolchen Regierung zufoͤrderſt nach außen die Vernachlaͤſſigung aller Bande, durch welche ihre eigne Sicherheit an die Sicherheit anderer Staaten geknuͤpft iſt, das Aufgeben des Gan¬ zen, deſſen Glied ſie iſt, lediglich darum, da¬ mit ſie nicht aus ihrer traͤgen Ruhe aufge¬ ſtoͤrt werde, und die traurige Taͤuſchung der Selbſtſucht, daß ſie Frieden habe, ſo lange nur die eignen Graͤnzen nicht angegriffen ſind; ſodann nach innen jene weichliche Fuͤhrung der Zuͤgel des Staats, die mit auslaͤndiſchen Wor¬ ten ſich Humanitaͤt, Liberalitaͤt und Populari¬ taͤt nennt, die aber richtiger in deutſcher Spra¬ che Schlaffheit und ein Betragen ohne Wuͤrde zu nennen iſt.

Wenn ſie auch der Regierenden ſich bemaͤch¬ tigt, habe ich geſagt. Ein Volk kann durchaus verdorben ſeyn, d. i. ſelbſtſuͤchtig, denn die Selbſtſucht iſt die Wurzel aller andern Verderbt¬ heit, und dennoch dabei nicht nur beſtehen, ſondern ſogar aͤußerlich glaͤnzende Thaten ver¬ richten, wenn nur nicht ſeine Regierung eben alſo verdirbt; ja die leztere ſogar kann auch nach außen treulos und pfticht - und ehrvergeſſen han¬30 deln, wenn ſie nur nach innen den Muth hat, die Zuͤgel des Regiments mit ſtraffer Hand an¬ zuhalten, und die groͤßere Furcht fuͤr ſich zu ge¬ winnen. Wo aber alles eben genannte ſich vereiniget, da gehet das gemeine Weſen bei dem erſten ernſtlichen Angriffe, der auf daſſelbe geſchieht, zu Grunde, und ſo, wie es ſelbſt erſt treulos ſich abloͤſte von dem Koͤrper, deſ¬ ſen Glied es war, ſo loͤſen jetzo ſeine Glieder, die keine Furcht vor ihm haͤlt, und die die groͤßere Furcht vor dem Fremden treibt, mit derſelben Treuloſigkeit ſich ab von ihm, und gehen hin, ein jeder in das Seine. Hier er¬ greift die nun vereinzelt ſtehenden abermals die groͤßere Furcht, und ſie geben in reichli¬ cher Spende, und mit erzwungen froͤlichem Geſichte dem Feinde, was ſie kaͤrglich und aͤu¬ ßerſt unwillig dem Vertheidiger des Vaterlan¬ des gaben; bis ſpaͤterhin auch die von allen Seiten verlaſſenen, und verrathenen Regie¬ renden genoͤthigt werden, durch Unterwerfung und Folgſamkeit gegen fremde Plane ihre Fort¬ dauer zu erkaufen; und ſo nun auch diejeni¬ gen, die im Kampfe fuͤr das Vaterland die31 Waffen wegwarfen, unter fremden Panieren lernen, dieſelben gegen das Vaterland tapfer zu fuͤhren. So geſchieht es, daß die Selbſt¬ ſucht durch ihre hoͤchſte Entwiklung vernichtet, und denen, die gutwillig keinen andern Zwek, denn ſich ſelbſt, ſich ſetzen wollten, durch frem¬ de Gewalt ein ſolcher anderer Zwek aufgedrun¬ gen wird.

Keine Nation, die in dieſen Zuſtand der Abhaͤngigkeit herabgeſunken, kann durch die gewoͤhnlichen und bisher gebrauchten Mittel ſich aus demſelben erheben. War ihr Wider¬ ſtand fruchtlos, als ſie noch im Beſitze aller ihrer Kraͤfte war, was kann derſelbe ſodann fruchten, nachdem ſie des groͤßten Theils der¬ ſelben beraubt iſt? Was vorher haͤtte helfen koͤnnen, naͤmlich wenn die Regierung derſel¬ ben die Zuͤgel kraͤftig und ſtraff angehalten haͤtte, iſt nun nicht mehr anwendbar, nachdem dieſe Zuͤgel nur noch zum Scheine in ihrer Hand ruhen, und dieſe ihre Hand ſelbſt durch eine fremde Hand gelenkt und geleitet wird. Auf ſich ſelbſt kann eine ſolche Nation nicht32 laͤnger rechnen; und eben ſo wenig kann ſie auf den Sieger rechnen. Dieſer muͤßte eben ſo unbeſonnen, und eben ſo feige und verzagt ſeyn, als jene Nation ſelbſt erſt war, wenn er die errungenen Vortheile nicht feſt hielte, und ſie nicht auf alle Weiſe verfolgte. Oder wenn er einſt im Verlauf der Zeiten, doch ſo unbe¬ ſonnen und feige wuͤrde, ſo wuͤrde er zwar eben alſo zu Grunde gehen, wie wir, aber nicht zu unſerm Vortheile, ſondern er wuͤrde die Beute eines neuen Siegers, und wir wuͤr¬ den die ſich von ſelbſt verſtehende, wenig be¬ deutende Zugabe zu dieſer Beute. Sollte eine ſo geſunkene Nation dennoch ſich retten koͤn¬ nen, ſo muͤßte dies durch ein ganz neues, bis¬ her noch niemals gebrauchtes Mittel, vermit¬ telſt der Erſchaffung einer ganz neuen Ordnung der Dinge, geſchehen. Laſſen Sie uns alſo ſehen, welches in der bisherigen Ordnung der Dinge der Grund war, warum es mit dieſer Ordnung irgend einmal nothwendig ein Ende nehmen mußte, damit wir an dem Gegentheile dieſes Grundes des Untergangs das neue Glied finden, welches in die Zeit eingefuͤgt werdenmuͤßte,33muͤßte, damit an ihm die geſunkne Nation ſich aufrichte zu einem neuen Leben.

Man wird in Erforſchung jenes Grundes finden, daß in allen bisherigen Verfaſſungen die Theilnahme am Ganzen geknuͤpft war an die Theilnahme des Einzelnen an ſich ſelbſt, vermittelſt ſolcher Bande, die irgendwo ſo gaͤnzlich zerriſſen, daß es gar keine Theilnahme fuͤr das Ganze mehr gab, durch die Bande der Furcht und Hoffnung fuͤr die Angelegenheit des Einzelnen aus dem Schikſale des Ganzen, in einem kuͤnftigen, und in dem gegenwaͤrtigen Leben. Aufklaͤrung des nur ſinnlich berech¬ nenden Verſtandes war die Kraft, welche die Verbindung eines kuͤnftigen Lebens mit dem gegenwaͤrtigen durch Religion, aufhob, zugleich auch andere Ergaͤnzungs - und ſtellvertretende Mittel der ſittlichen Denkart, als da ſind Liebe zum Ruhm, und National-Ehre, als taͤuſchende Trugbilder begriff; die Schwaͤche der Regie¬ gierungen war es, welche die Furcht fuͤr die Angelegenheiten des Einzelnen aus ſeinem Be¬ tragen gegen das Ganze, ſelbſt fuͤr das gegen¬ waͤrtige Leben, durch haͤufige Strafloſigkeit derC34Pflichtvergeſſenheit aufhob, und eben ſo auch die Hoffnung unwirkſam machte, indem ſie dieſelbe gar oft, ohne alle Ruͤkſicht auf Ver¬ dienſte um das Ganze, nach ganz andern Re¬ geln und Bewegungsgruͤnden, befriedigte. Bande ſolcher Art waren es, die irgendwo gaͤnzlich zerriſſen, und durch deren Zerreißung das gemeine Weſen ſich aufloͤſ'te.

Immerhin mag von nun an der Sieger, das, was allein auch er kann, emſiglich thun, naͤmlich den lezten Theil des Bindungsmittels, die Furcht und Hoffnung fuͤr das gegenwaͤrtige Leben, wie¬ derum anknuͤpfen, und verſtaͤrken; damit iſt nur ihm geholfen, keinesweges aber uns, denn ſo gewiß er ſeinen Vortheil verſteht, knuͤpft er an dieſes erneute Band zu allererſt nur ſeine Angelegenheit, die unſrige aber nur in ſo weit, inwiefern die Erhaltung unſrer, als Mittel fuͤr ſeine Zweke, ihm ſelbſt zur Angelegenheit wird. Fuͤr eine ſo verfallne Nation iſt von nun an Furcht und Hoffnung voͤllig aufgehoben, in¬ dem deren Leitung ihrer Hand entfallen iſt, und ſie zwar ſelber zu fuͤrchten hat und zu hof¬ fen, vor ihr aber von nun an kein Menſch ſich35 weiter fuͤrchtet, oder von ihr etwas hofft; und es bleibt ihr nichts uͤbrig, als ein ganz ande¬ res und neues, uͤber Furcht und Hoffnung er¬ habenes Bindungsmittel zu finden, um die Angelegenheit ihrer Geſammtheit an die Theil¬ nahme eines jeden aus ihr fuͤr ſich ſelber an¬ zuknuͤpfen.

Ueber den ſinnlichen Antrieb der Furcht oder Hoffnung hinaus, und zunaͤchſt an ihn angraͤnzend, liegt der geiſtige Antrieb der ſittli¬ chen Billigung, oder Mißbilligung, und der hoͤhere Affekt des Wohlgefallens oder Mißfal¬ lens an unſerer und anderer Zuſtande. So wie das an Reinlichkeit und Ordnung gewoͤhnte aͤußere Auge durch einen Fleken, der ja unmit¬ telbar dem Leibe keinen Schmerz zufuͤgt, oder durch den Anblik verworren durch einander liegender Gegenſtaͤnde dennoch gepeinigt, und geaͤngſtet wird, wie vom unmittelbaren Schmer¬ ze, indeß der des Schmuzes und der Unord¬ nung Gewohnte ſich in denſelben recht wohl be¬ findet; eben alſo kann auch das innere geiſtige Auge des Menſchen ſo gewoͤhnt und gebildet werden, daß der bloße Anblik eines verworre¬C 236nen und unordentlichen, eines unwuͤrdigen und ehreloſen Daſeyns ſeiner ſelbſt und ſeines verbruͤderten Stammes, ohne Ruͤkſicht auf das, was davon fuͤr ſein ſinnliches Wohlſeyn zu fuͤrchten oder zu hoffen ſey, ihm innig wehe thue, und daß dieſer Schmerz dem Beſitzer ei¬ nes ſolchen Auges, abermals ganz unabhaͤngig von ſinnlicher Furcht oder Hoffnung, keine Ruhe laſſe, bis er, ſo viel an ihm iſt, den ihm mi߬ faͤlligen Zuſtand aufgehoben, und den, der ihm allein gefallen kann, an ſeine Stelle geſezt ha¬ be. Im Beſitzer eines ſolchen Auges iſt die Angelegenheit des ihn umgebenden Ganzen, durch das treibende Gefuͤhl der Billigung oder Mißbilligung, an die Angelegenheit ſeines eig¬ nen erweiterten Selbſt, das nur als Theil des Ganzen ſich fuͤhlt, und nur im gefaͤlligen Gan¬ zen ſich ertragen kann, unabtrennbar ange¬ knuͤpft; die Sichbildung zu einem ſolchen Auge waͤre ſomit ein ſicheres und das einzige Mit¬ tel, das einer Nation, die ihre Selbſtſtaͤndig¬ keit, und mit ihr allen Einfluß auf die oͤffent¬ liche Furcht und Hoffnung verloren hat, uͤbrig bliebe, um aus der erduldeten Vernichtung ſich37 wieder ins Daſeyn zu erheben, und dem ent¬ ſtandenen neuen und hoͤheren Gefuͤhle ihre National Angelegenheiten, die ſeit ihrem Un¬ tergange kein Menſch und kein Gott weiter be¬ denkt, ſicher anzuvertrauen. So ergiebt ſich denn alſo, daß das Rettungsmittel, deſſen An¬ zeige ich verſprochen, beſtehe in der Bildung zu einem durchaus neuem, und bisher vielleicht als Ausnahme bei Einzelnen, niemals aber als allgemeines und nationales Selbſt, dagewe¬ ſenem Selbſt, und in der Erziehung der Na¬ tion, deren bisheriges Leben erloſchen, und Zugabe eines fremden Lebens geworden, zu einem ganz neuen Leben, das entweder ihr ausſchließendes Beſitzthum bleibt, oder, falls es auch von ihr aus an andere kommen ſollte, ganz und unverringert bleibt bei unendlicher Thei¬ lung; mit Einem Worte, eine gaͤnzliche Ver¬ aͤnderung des bisherigen Erziehungsweſens iſt es, was ich, als das einzige Mittel die deut¬ ſche Nation im Daſeyn zu erhalten, in Vor¬ ſchlag bringe.

Daß man den Kindern eine gute Erziehung geben muͤſſe, iſt auch in unſerm Zeitalter oft38 genug geſagt, und bis zum Ueberdruſſe wieder¬ holt worden, und es waͤre ein geringes, wenn auch wir unſeres Ortes dies gleichfalls einmal ſagen wollten. Vielmehr wird uns, ſo wir ein anderes zu vermoͤgen glauben, obliegen, genau und beſtimmt zu unterſuchen, was ei¬ gentlich der bisherigen Erziehung gefehlt habe, und anzugeben, welches durchaus neue Glied die veraͤnderte Erziehung der bisherigen Men¬ ſchenbildung hinzufuͤgen muͤſſe.

Man muß, nach einer ſolchen Unterſuchung, der bisherigen Erziehung zugeſtehen, daß ſie nicht ermangelt, irgend ein Bild von religioͤſer, ſittlicher, geſezlicher Denkart, und von aller¬ hand Ordnung und guter Sitte vor das Auge ihrer Zoͤglinge zu bringen, auch daß ſie hier und da dieſelben getreulich ermahnt habe, jenen Bildern in ihrem Leben einen Abdruck zu ge¬ ben; aber mit hoͤchſt ſeltnen Ausnahmen, die ſomit nicht durch dieſe Erziehung begruͤndet waren, indem ſie ſodann an allen durch dieſe Bildung hindurch gegangenen, und als die Re¬ gel, haͤtten eintreten muͤſſen, ſondern die durch andere Urſachen herbeigefuͤhrt worden, mit39 dieſen hoͤchſtſeltenen Ausnahmen, ſage ich, ha¬ ben die Zoͤglinge dieſer Erziehung insgeſammt nicht jenen ſittlichen Vorſtellungen und Ermah¬ nungen, ſondern ſie haben den Antrieben ih¬ rer, ihnen natuͤrlich, und ohne alle Beihuͤlfe der Erziehungskunſt, erwachſenden Selbſtſucht, gefolgt; zum unwiderſprechlichen Beweiſe, daß dieſe Erziehungskunſt zwar wohl das Gedaͤcht¬ niß mit einigen Worten, und Redensarten, und die kalte und theilnehmungsloſe Phantaſie mit einigen matten und blaſſen Bildern anzu¬ fuͤllen vermocht, daß es ihr aber niemals ge¬ lungen, ihr Gemaͤlde einer ſittlichen Weltord¬ nung bis zu der Lebhaftigkeit zu ſteigern, daß ihr Zoͤgling von der heißen Liebe und Sehn¬ ſucht dafuͤr, und von dem gluͤhenden Affekte, der zur Darſtellung im Leben treibt, und vor welchem die Selbſtſucht abfaͤllt, wie welkes Laub, ergriffen worden; daß ſomit dieſe Er¬ ziehung weit davon entfernt geweſen ſey, bis zur Wurzel der wirklichen Lebensregung und Bewegung durchzugreifen, und dieſe zu bilden, indem dieſe vielmehr, unbeachtet von der blin¬ den und ohnmaͤchtigen, allenthalben wild40 aufgewachſen ſey, wie ſie gekonnt habe, zu guter Frucht bei wenigen durch Gott begeiſter¬ ten, zu ſchlechter bei der großen Mehrzahl. Auch iſt es dermalen vollkommen hinlaͤnglich, dieſe Erziehung durch dieſen ihren Erfolg zu zeichnen, und kann man fuͤr unſern Behuf ſich des muͤhſamen Geſchaͤfts uͤberheben, die innern Saͤfte und Adern eines Baumes zu zer¬ gliedern, deſſen Frucht dermalen vollſtaͤndig reif iſt, und abgefallen, und vor aller Welt Augen liegt, und hoͤchſt deutlich und verſtaͤnd¬ lich ausſpricht die innere Natur ihres Erzeu¬ gers. Der Strenge nach waͤre, dieſer Anſicht zu Folge, die bisherige Erziehung auf keine Weiſe die Kunſt der Bildung zum Menſchen geweſen, wie ſie ſich denn deſſen auch eben nicht geruͤhmt, ſondern gar oft ihre Ohnmacht, durch die Federung, ihr ein natuͤrliches Talent, oder Genie, als Bedingung ihres Erfolgs vor¬ aus zu geben, freimuͤthig geſtanden; ſondern es waͤre eine ſolche Kunſt erſt zu erfinden, und die Erfindung derſelben waͤre die eigentliche Aufgabe der neuen Erziehung. Das erman¬ gelnde Durchgreifen bis in die Wurzel der Le¬41 bens Regung und Bewegung haͤtte dieſe neue Erziehung der bisherigen hinzu zu fuͤgen, und wie die bisherige hoͤchſtens etwas am Menſchen, ſo hatte dieſe den Menſchen ſelbſt zu bilden, und ihre Bildung keinesweges, wie bisher, zu einem Beſitzthume, ſondern vielmehr zu einem per¬ ſoͤnlichen Beſtandtheile des Zoͤglings zu ma¬ chen.

Ferner wurde bisher dieſe alſo beſchraͤnkte Bildung nur an die ſehr geringe Minderzahl der eben daher gebildet genannten Staͤnde ge¬ bracht, die große Mehrzahl aber, auf welcher das gemeine Weſen recht eigentlich ruht, das Volk, wurde von der Erziehungskunſt faſt ganz vernachlaͤßigt, und dem blinden Ohnge¬ faͤhr uͤbergeben. Wir wollen durch die neue Erziehung die Deutſchen zu einer Geſamtheit bilden, die in allen ihren einzelnen Gliedern getrieben und belebt ſey durch dieſelbe Eine An¬ gelegenheit; ſo wir aber etwa hierbei abermals einen gebildeten Stand, der etwa durch den neu entwikelten Antrieb der ſittlichen Billigung belebt wuͤrde, abſondern wollten von einem ungebildeten, ſo wuͤrde dieſer lezte, da Hoff¬42 nung und Furcht, durch welche allein noch auf ihn gewirkt werden koͤnnte, nicht mehr fuͤr uns ſondern gegen uns dienen, von uns abfallen, und uns verloren gehen. Es bleibt ſonach uns nichts uͤbrig, als ſchlechthin an alles ohne Ausnahme, was deutſch iſt, die neue Bildung zu bringen, ſo daß dieſelbe nicht Bildung eines beſondern Standes, ſondern daß ſie Bildung der Nation ſchlechthin als ſolcher, und ohne alle Ausnahme einzelner Glieder derſelben, wer¬ de, in welcher, in der Bildung zum innigen Wohlgefallen am Rechten naͤmlich, aller Unter¬ ſchied der Staͤnde, der in andern Zweigen der Entwiklung auch fernerhin ſtatt finden mag, voͤllig aufgehoben ſey, und verſchwinde; und daß auf dieſe Weiſe unter uns, keinesweges Volks-Erziehung, ſondern eigenthuͤmliche deut¬ ſche National-Erziehung entſtehe.

Ich werde Ihnen darthun, daß eine ſolche Erziehungskunſt, wie wir ſie begehren, wirk¬ lich ſchon erfunden iſt, und ausgeuͤbt wird, ſo daß wir nichts mehr zu thun haben, als das ſich uns darbietende anzunehmen, welches, ſo wie ich dies oben von dem vorzuſchlagenden43 Rettungsmittel verſprach, ohne Zweifel kein groͤßeres Maaß von Kraft erfordert, als man bei unſerm Zeialter billig vorausſetzen kann. Ich fuͤgte dieſem Verſprechen noch ein anderes bei, daß naͤmlich, was die Gefahr anbelange, bei unſerm Vorſchlage durchaus keine ſey, in¬ dem es der eigene Vortheil der uͤber uns ge¬ bietenden Gewalt erfordere, die Ausfuͤhrung jenes Vorſchlags eher zu befoͤrdern, als zu hin¬ dern. Ich finde zwekmaͤßig, ſogleich in dieſer erſten Rede uͤber dieſen Punkt mich deutlich auszuſprechen.

Zwar ſind ſo in alter wie in neuer Zeit gar haͤufig die Kuͤnſte der Verfuͤhrung und der ſitt¬ lichen Herabwuͤrdigung der Unterworfenen, als ein Mittel der Herrſchaft mit Erfolg gebraucht worden; man hat durch luͤgenhafte Erdichtun¬ gen, und durch kuͤnſtliche Verwirrung der Be¬ griffe und der Sprache, die Fuͤrſten vor den Voͤlkern, und dieſe vor jenen verlaͤumdet, um die entzweiten ſicherer zu beherrſchen, man hat alle Antriebe der Eitelkeit und des Eigen¬ nutzes liſtig aufgereizt und entwikelt, um die Unterworfenen veraͤchtlich zu machen, und ſo44 mit einer Art von gutem Gewiſſen ſie zu zer¬ treten: aber man wuͤrde einen ſicher zum Ver¬ derben fuͤhrenden Irrthum begehen, wenn man mit uns Deutſchen dieſen Weg einſchlagen woll¬ te. Das Band der Furcht und der Hoffnung abgerechnet beruht der Zuſammenhang desje¬ nigen Theils des Auslandes, mit dem wir der¬ malen in Beruͤhrung gekommen, auf den An¬ trieben der Ehre und des Nationalruhms; aber die deutſche Klarheit hat vorlaͤngſt bis zur un¬ erſchuͤtterlichen Ueberzeugung eingeſehen, daß dieſes leere Trugbilder ſind, und daß keine Wunde, und keine Verſtuͤmmelung des Einzel¬ nen durch den Ruhm der ganzen Nation ge¬ heilt wird; und wir duͤrften wohl, ſo nicht eine hoͤhere Anſicht des Lebens an uns gebracht wird, gefaͤhrliche Prediger dieſer ſehr begreifli¬ chen und manchen Reiz bei ſich fuͤhrenden Lehre werden. Ohne darum noch neues Verderben an uns zu nehmen, ſind wir ſchon in unſrer natuͤrlichen Beſchaffenheit eine unheilbringende Beute; nur durch die Ausfuͤhrung des gemach¬ ten Vorſchlages koͤnnen wir eine heilbringende werden: und ſo wird denn, ſo gewiß das Aus¬45 land ſeinen Vortheil verſteht, daſſelbe durch dieſen ſelbſt bewegt, uns lieber auf die lezte Weiſe haben wollen, denn auf die erſte.

Insbeſondere nun wendet mit dieſem Vor¬ ſchlage meine Rede ſich an die gebildeten Staͤn¬ de Deutſchlands, indem ſie dieſen noch am er¬ ſten verſtaͤndlich zu werden hofft, und traͤgt zu allernaͤchſt ihnen an, ſich zu den Urhebern die¬ ſer neuen Schoͤpfung zu machen, und dadurch theils mit ihrer bisherigen Wirkſamkeit die Welt auszuſoͤhnen, theils ihre Fortdauer in der Zukunft zu verdienen. Wir werden im Fortgange dieſer Reden erſehen, daß bis hie¬ her alle Fortentwiklung der Menſchheit in der deutſchen Nation vom Volke ausgegangen, und daß an dieſes immer zuerſt die großen Na¬ tionalangelegenheiten gebracht, und von ihnen beſorgt, und weiter befoͤrdert worden; daß es ſomit jetzo zum erſtenmale geſchieht, daß den gebildeten Staͤnden die urſpruͤngliche Fortbil¬ dung der Nation angetragen wird, und daß, wenn ſie dieſen Antrag wirklich ergriffen, auch dies das erſtemal geſchehen wuͤrde. Wir wer¬ den erſehen, daß dieſe Staͤnde nicht berechnen46 koͤnnen, auf wie lange Zeit es noch in ihrer Gewalt ſtehen werde, ſich an die Spitze dieſer Angelegenheit zu ſtellen, indem dieſelbe bis zum Vortrage an das Volk ſchon beinahe vor¬ bereitet und reif ſey, und an Gliedern aus dem Volke geuͤbt werde, und dieſes nach kurzer Zeit ohne alle unſere Beihuͤlfe ſich ſelbſt werde helfen koͤnnen, woraus fuͤr uns bloß das er¬ folgen werde, daß die jetzigen Gebildeten und ihre Nachkommen zum Volke werden, aus dem bisherigen Volke aber ein anderer hoͤher gebil¬ deter Stand emporkomme.

Nach allem iſt es der allgemeine Zwek die¬ ſer Reden, Muth und Hoffnung zu bringen in die Zerſchlagenen, Freude zu verkuͤndigen in die tiefe Trauer, uͤber die Stunde der groͤßten Bedraͤngniß leicht und ſanft hinuͤber zu leiten. Die Zeit erſcheint mir wie ein Schatten, der uͤber ſeinem Leichname, aus dem ſo eben ein Heer von Krankheiten ihn heraus getrieben, ſteht, und jammert, und ſeinen Blik nicht loszureiſſen vermag von der ehedem ſo gelieb¬ ten Huͤlle, und verzweifelnd alle Mittel47 verſucht, um wieder hinein zu kommen in die Behauſung der Seuchen. Zwar ha¬ ben ſchon die belebenden Luͤfte der andern Welt, in die die abgeſchiedene eingetreten, ſie aufgenommen in ſich, und umgeben ſie mit warmem Liebeshauche, zwar begruͤßen ſie ſchon freudig heimliche Stimmen der Schwe¬ ſtern, und heißen ſie willkommen, zwar regt es ſich ſchon und dehnt ſich in ihrem Innern nach allen Richtungen hin, um die herrlichere Geſtalt, zu der ſie erwachſen ſoll, zu entwik¬ keln; aber noch hat ſie kein Gefuͤhl fuͤr dieſe Luͤſte, oder Gehoͤr fuͤr dieſe Stimmen, oder wenn ſie es haͤtte, ſo iſt ſie aufgegangen in Schmerz uͤber ihren Verluſt, mit welchem ſie zugleich ſich ſelbſt verloren zu haben glaubt. Was iſt mit ihr zu thun? Auch die Morgen¬ roͤthe der neuen Welt iſt ſchon angebrochen, und vergoldet ſchon die Spitzen der Berge, und bildet vor den Tag, der da kommen ſoll. Ich will, ſo ich es kann, die Strahlen dieſer Morgenroͤthe faſſen, und ſie verdichten zu einem Spiegel, in welchem die troſtloſe Zeit ſich erblicke, damit ſie glaube, daß ſie noch48 da iſt, und in ihm ihr wahrer Kern ſich ihr darſtelle, und die Entfaltungen und Geſtal¬ tungen deſſelben in einem weißagenden Geſichte vor ihr voruͤber gehen. In dieſe Anſchauung hinein wird ihr denn ohne Zweifel auch das Bild ihres bisherigen Lebens verſinken, und verſchwinden, und der Todte wird ohne uͤber¬ maͤßiges Wehklagen zu ſeiner Ruheſtaͤtte ge¬ bracht werden koͤnnen.

Zweite49

Zweite Rede.

Vom Weſen der neuen Erziehung im Allgemeinen.

Das von mir vorgeſchlagene Erhaltungs - Mittel einer deutſchen Nation uͤberhaupt, zu deſſen klarer Einſicht dieſe Reden zunaͤchſt Sie, und nebſt Ihnen, die ganze Nation fuͤhren moͤchten, gehet als ein ſolches Mittel hervor aus der Beſchaffenheit der Zeit, ſo wie der deutſchen National-Eigenthuͤmlichkeiten, ſo wie dieſes Mittel wiederum eingreifen ſoll in Zeit und Bildung der National-Eigen¬ thuͤmlichkeiten. Es iſt ſomit dieſes Mittel nicht eher vollkommen klar und verſtaͤndlich gemacht, als bis es mit dieſen, und dieſe mit ihm zuſammen gehalten, und beide in vollkommner gegenſeitiger Durchdringung dar¬ geſtellt ſind, welche Geſchaͤfte einige Zeit er¬ fordern, und ſo die vollkommne Klarheit nur am Ende unſrer Reden zu erwarten iſt. DaD50wir jedoch bei irgend einem einzelnen Theile an¬ fangen muͤſſen, ſo wird es am zweckmaͤßigſten ſeyn, zufoͤrderſt jenes Mittel ſelbſt, abgeſon¬ dert von ſeinen Umgebungen in Zeit und Raum, fuͤr ſich in ſeinem innern Weſen zu betrachten, und ſo ſoll denn dieſem Geſchaͤfte unſere heutige und naͤchſtfolgende Rede ge¬ widmet ſeyn.

Das angegebene Mittel war eine durch¬ aus neue, und vorher noch nie alſo bei ir¬ gend einer Nation dageweſene National-Er¬ ziehung der Deutſchen. Dieſe neue Erzie¬ hung wnrde ſchon in der vorigen Rede zur Unterſcheidung von der bisher uͤblichen alſo bezeichnet: die bisherige Erziehung habe zu guter Ordnung und Sittlichkeit hoͤchſtens nur ermahnt, aber dieſe Ermahnungen ſeyen un¬ fruchtbar geweſen fuͤr das wirkliche Leben, welches nach ganz andern, dieſer Erziehung durchaus unzugaͤnglichen Gruͤnden ſich gebil¬ det habe. Im Gegenſatze mit dieſer muͤſſe die neue Erziehung die wirkliche Lebens-Re¬ gung und Bewegung ihrer Zoͤglinge, nach Regeln ſicher und ohnfehlbar bilden, und beſtimmen koͤnnen.

51

So nun etwa hierauf jemand alſo geſagt haͤtte, wie denn auch wirklich diejenigen, welche die bisherige Erziehung leiten, faſt ohne Aus¬ nahme alſo ſagen: Wie koͤnnte man denn auch irgend einer Erziehung mehr anmuthen, als daß ſie dem Zoͤglinge das Rechte zeige, und ihn getreulich zu demſelben anmahne; ob er dieſen Ermahnungen folgen wolle, das ſey ſeine eigne Sache, und wenn er es nicht thue, ſeine eigne Schuld; er habe freien Wil¬ len, den keine Erziehung ihm nehmen koͤnne: ſo wuͤrde ich hierauf, um die von mir ge¬ dachte neue Erziehung noch ſchaͤrfer zu be¬ zeichnen, antworten; daß gerade in dieſem Anerkennen, und in dieſem Rechnen auf einen freien Willen des Zoͤglings der erſte Irrthum der bisherigen Erziehung, und das deutliche Bekenntniß ihrer Ohnmacht, und Nichtigkeit liege. Denn indem ſie bekennt, daß nach aller ihrer kraͤftigſten Wirkſamkeit der Wille dennoch frei, d. i. unentſchieden ſchwankend zwiſchen gutem und boͤſem bleibe, bekennt ſie, daß ſie den Willen, und da dieſer die eigentliche Grund-Wurzel des Menſchen ſelbſt iſt, den Menſchen ſelbſt zu bilden durchausD 252weder vermoͤge, noch wolle oder begehre, und daß ſie dies uͤberhaupt fuͤr unmoͤglich halte. Dagegen wuͤrde die neue Erziehung gerade darin beſtehen muͤſſen, daß ſie auf dem Bo¬ den, deſſen Bearbeitung ſie uͤbernaͤhme, die Freiheit des Willens gaͤnzlich vernichtete, und dagegen ſtrenge Nothwendigkeit der Entſchlieſ¬ ſungen, und die Unmoͤglichkeit des entgegen¬ geſezten in dem Willen hervorbraͤchte, auf welchen Willen man nunmehro ſicher rechnen und auf ihn ſich verlaſſen koͤnnte.

Alle Bildung ſtrebt an die Hervorbrin¬ gung eines feſten beſtimmten und beharrli¬ chen Seyns, das nun nicht mehr wird, ſon¬ dern iſt, und nicht anders ſeyn kann, denn ſo wie es iſt. Strebte ſie nicht an ein ſol¬ ches Seyn, ſo waͤre ſie nicht Bildung, ſon¬ dern irgend ein zweckloſes Spiel; haͤtte ſie ein ſolches Seyn nicht hervorgebracht, ſo waͤre ſie eben noch nicht vollendet. Wer ſich noch ermahnen muß, und ermahnt werden, das Gute zu wollen, der hat noch kein beſtimm¬ tes, und ſtets bereit ſtehendes Wollen, ſon¬ dern er will ſich dieſes erſt jedesmal im Falle des Gebrauches machen; wer ein ſolches feſtes53 Wollen hat, der will, was er will, fuͤr alle Ewigkeit, und er kann in keinem moͤglichen Falle anders wollen, denn alſo, wie er eben immer will; fuͤr ihn iſt die Freiheit des Wil¬ lens vernichtet, und aufgegangen in der Nothwendigkeit. Dadurch eben hat die bis¬ herige Zeit gezeigt, daß ſie von Bildung zum Menſchen weder einen rechten Begriff, noch die Kraft hatte, dieſen Begriff darzuſtellen, daß ſie durch ermahnende Predigten die Men¬ ſchen beſſern wollte, und verdrießlich ward, und ſchalt, wenn dieſe Predigten nichts fruch¬ teten. Wie konnten ſie doch fruchten? Der Wille des Menſchen hat ſchon vor der Er¬ mahnung vorher, und unabhaͤngig von ihr, ſeine feſte Richtung; ſtimmt dieſe zuſammen mit deiner Ermahnung, ſo koͤmmt die Er¬ mahnung zu ſpaͤt, und der Menſch haͤtte auch ohne dieſelbe gethan, wozu du ihn ermah¬ neſt, ſteht ſie mit derſelben im Widerſpruche, ſo magſt du ihn hoͤchſtens einige Augenblicke betaͤuben; wie die Gelegenheit kommt, vergißt er ſich ſelbſt und deine Ermahnung, und folgt ſeinem natuͤrlichen Hange. Willſt du etwas uͤber ihn vermoͤgen, ſo mußt du mehr thun,54 als ihn bloß anreden, du mußt ihn machen, ihn alſo machen, daß er gar nicht anders wollen koͤnne, als du willſt, daß er wolle. Es iſt vergebens zu ſagen, fliege dem der keine Fluͤgel hat, und er wird durch alle deine Ermahnungen nie zwei Schritte uͤber den Boden empor kommen; aber entwikle, wenn du kannſt, ſeine geiſtigen Schwungfedern, und laſſe ihn dieſelben uͤben, und kraͤftig machen, und er wird ohne alle dein Ermah¬ nen gar nicht anders mehr wollen, oder koͤn¬ nen, denn fliegen.

Dieſen feſten, und nicht weiter ſchwan¬ kenden Willen muß die neue Erziehung her¬ vorbringen nach einer ſichern, und ohne Aus¬ nahme wirkſamen Regel; ſie muß ſelber mit Nothwendigkeit erzeugen die Nothwendigkeit, die ſie beabſichtiget. Was bisher gut gewor¬ den iſt, iſt gut geworden durch ſeine natuͤr¬ liche Anlage, durch welche die Einwirkung der ſchlechten Umgebung uͤberwogen wurde; kei¬ nesweges aber durch die Erziehung, denn ſonſt haͤtte alles durch dieſelbe hindurch gegan¬ gene gut werden muͤſſen: was da verdarb, verdarb eben ſo wenig, durch die Erziehung,55 denn ſonſt haͤtte alles durch ſie hindurch ge¬ hende verderben muͤſſen, ſondern durch ſich ſelber, und ſeine natuͤrliche Anlage; die Er¬ ziehung war in dieſer Ruͤckſicht nur nichtig, keinesweges verderblich, das eigentliche bil¬ dende Mittel war die geiſtige Natur. Aus den Haͤnden dieſer dunklen, und nicht zu be¬ rechnenden Kraft nun ſoll hinfuͤhro die Bil¬ dung zum Menſchen unter die Bothmaͤßig¬ keit einer beſonnenen Kunſt gebracht werden, die an allem ohne Ausnahme, was ihr an¬ vertraut wird, ihren Zweck ſicher erreiche, oder, wo ſie ihn etwa nicht erreichte, wenig¬ ſtens weiß, daß ſie ihn nicht erreicht hat, und daß ſomit die Erziehung noch nicht ge¬ ſchloſſen iſt. Eine ſichere und beſonnene Kunſt einen feſten, und unfehlbaren guten Willen im Menſchen zu bilden, ſoll alſo die von mir vorgeſchlagene Erziehung ſeyn, und dieſes iſt ihr erſtes Merkmal.

Weiter der Menſch kann nur dasjenige wollen, was er liebt; ſeine Liebe iſt der ein¬ zige, zugleich auch der unfehlbare Antrieb ſeines Wollens, und aller ſeiner Lebens - Regung, und Bewegung. Die bisherige56 Staatskunſt, als ſelbſt Erziehung des geſell¬ ſchaftlichen Menſchen, ſetzte als ſichere, und ohne Ausnahme geltende Regel voraus, daß jedermann ſein eigenes ſinnliches Wohlſeyn liebe, und wolle, und ſie knuͤpfte an dieſe natuͤrliche Liebe durch Furcht und Hofnung kuͤnſtlich den guten Willen, den ſie wollte, das Intereſſe fuͤr das gemeine Weſen. Ab¬ gerechnet, daß bei dieſer Erziehungs-Weiſe der aͤußerlich zum unſchaͤdlichen oder brauch¬ baren Buͤrger gewordene dennoch innerlich ein ſchlechter Menſch bleibt, denn darin eben beſteht die Schlechtigkeit, daß man nur ſein ſinnliches Wohlſeyn liebe, und nur durch Furcht, oder Hofnung fuͤr dieſes, ſey es nun im gegenwaͤrtigen, oder in einem kuͤnftigen Leben, bewegt werden koͤnne; dieſes ab¬ gerechnet, haben wir ſchon oben erſehen, daß dieſe Maaßregel fuͤr uns nicht mehr anwend¬ bar iſt, indem Furcht und Hofnung nicht mehr fuͤr uns, ſondern gegen uns dienen, und die ſinnliche Selbſtliebe auf keine Weiſe in unſern Vortheil gezogen werden kann. Wir ſind daher ſogar durch die Noth gedrun¬ gen, innerlich, und im Grunde gute Menſchen57 bilden zu wollen, indem nur in ſolchen die deutſche Nation noch fortdauern kann, durch ſchlechte aber nothwendig mit dem Auslande zuſammenfließt. Wir muͤſſen darum an die Stelle jener Selbſtliebe, an welche nichts gutes fuͤr uns ſich laͤnger knuͤpfen laͤßt, eine andere Liebe, die unmittelbar auf das Gute, ſchlechtweg als ſolches, und um ſein ſelbſt willen gehe, in den Gemuͤthern aller, die wir zu unſrer Nation rechnen wollen, ſetzen, und begruͤnden.

Die Liebe fuͤr das Gute ſchlechtweg als ſolches, und nicht etwa um ſeiner Nuͤzlichkeit willen fuͤr uns ſelber, traͤgt, wie wir ſchon erſehen haben, die Geſtalt des Wohlgefallens an demſelben: eines ſo innigen Wohlgefal¬ lens, daß man dadurch getrieben werde, es in ſeinem Leben darzuſtellen. Dieſes innige Wohlgefallen alſo waͤre es, was die neue Erziehung als feſtes und unwandelbares Seyn ihres Zoͤglings hervorbringen muͤßte; worauf denn dieſes Wohlgefallen durch ſich ſelbſt den unwandelbar guten Willen deſſelben Zoͤglings als nothwendig begruͤnden wuͤrde.

Ein Wohlgefallen, das da treibet, einen58 gewiſſen Zuſtand der Dinge, der in der Wirk¬ lichkeit nicht vorhanden iſt, hervorzubringen in derſelben, ſezt voraus ein Bild dieſes Zu¬ ſtandes, das vor dem wirklichen Seyn deſſel¬ ben vorher dem Geiſte vorſchwebt, und jenes zur Ausfuͤhrung treibende Wohlgefallen auf ſich ziehet. Somit ſezt dieſes Wohlgefallen in der Perſon, die von ihm ergriffen wer¬ den ſoll, voraus, das Vermoͤgen, ſelbſtthaͤtig dergleichen Bilder, die unabhaͤngig ſeyen von der Wirklichkeit, und keinesweges Nachbilder derſelben, ſondern vielmehr Vorbilder, zu ent¬ werfen. Ich habe jetzt zu allernaͤchſt von dieſem Vermoͤgen zu ſprechen, und ich bitte, waͤhrend dieſer Betrachtung ja nicht zu ver¬ geſſen, daß ein durch dieſes Vermoͤgen her¬ vorgebrachtes Bild eben als bloßes Bild, und als dasjenige, worin wir unſre bildende Kraft fuͤhlen, gefallen koͤnne, ohne doch dar¬ um genommen zu werden als Vorbild einer Wirklichkeit, und ohne in dem Grade zu ge¬ fallen, daß es zur Ausfuͤhrung treibe; daß dies letztere ein ganz anderes, und unſer eigentlicher Zweck iſt, von dem wir ſpaͤter zu reden nicht unterlaſſen werden, jenes naͤchſte59 aber lediglich die vorlaͤufige Bedingung ent¬ haͤlt zu Erreichung des wahren letzten Zwecks der Erziehung.

Jenes Vermoͤgen, Bilder, die keinesweges bloße Nachbilder der Wirklichkeit ſeyen, ſon¬ dern die da faͤhig ſind, Vorbilder derſelben zu werden, ſelbſtthaͤtig zu entwerfen, waͤre das erſte, wovon die Bildung des Geſchlechts durch die neue Erziehung ausgehen muͤßte. Selbſtthaͤtig zu entwerfen, habe ich geſagt, und alſo, daß der Zoͤgling durch eigne Kraft ſie ſich erzeuge, keinesweges etwa, daß er nur faͤhig werde, das durch die Erziehung ihm hingegebne Bild, leidend aufzufaſſen, es hinlaͤnglich zu verſtehen, und es, alſo wie es ihm gegeben iſt, zu wiederholen, als ob es nur um das Vorhandenſeyn eines ſolchen Bildes zu thun waͤre. Der Grund dieſer Forderung der eignen Selbſtthaͤtigkeit in die¬ ſem Bilden iſt folgender: nur unter dieſer Bedingung kann das entworfene Bild das thaͤtige Wohlgefallen des Zoͤglings an ſich ziehen. Es iſt nemlich ganz etwas anderes, ſich etwas nur gefallen zu laſſen, und nichts dagegen zu haben, dergleichen leidendes Ge¬60 fallenlaſſen allein hoͤchſtens aus einem leiden¬ den Hingeben entſtehen kann; wiederum aber etwas anderes, von dem Wohlgefallen an etwas alſo ergriffen werden, daß daſſelbe ſchoͤpferiſch werde, und alle unſre Kraft zum Bilden anrege. Von dem erſten, das in alle¬ wege in der bisherigen Erziehung wohl auch vorkam, ſprechen wir nicht, ſondern von dem lezten. Dieſes lezte Wohlgefallen aber wird allein dadurch angezuͤndet, daß die Selbſt¬ thaͤtigkeit des Zoͤglings zugleich angereizt, und an dem gegebnen Gegenſtande ihm offenbar werde, und ſo dieſer Gegenſtand nicht bloß fuͤr ſich, ſondern zugleich auch als ein Ge¬ genſtand der geiſtigen Kraftaͤußerung gefalle, welche leztere unmittelbar, nothwendig, und ohne alle Ausnahme wohlgefaͤllt.

Dieſe im Zoͤglinge zu entwickelnde Thaͤ¬ tigkeit des geiſtigen Bildens iſt ohne Zweifel eine Thaͤtigkeit nach Regeln, welche Regeln dem Thaͤtigen kund werden, bis zur Einſicht ihrer einzigen Moͤglichkeit in unmittelbarer Erfahrung an ſich ſelber; alſo, dieſe Thaͤtig¬ keit bringt hervor Erkenntniß, und zwar, allgemeiner, und ohne Ausnahme geltender61 Geſetze. Auch in dem von dieſem Punkte aus ſich anhebenden freien Fortbilden iſt un¬ moͤglich, was gegen das Geſetz unternommen wird, und es erfolgt keine That, bis das Geſetz befolgt iſt; wenn daher auch dieſe freie Fortbildung anfangs von blinden Verſuchen ausginge, ſo muͤßte ſie doch enden mit erwei¬ terter Erkenntniß des Geſetzes. Dieſe Bil¬ dung iſt daher in ihrem lezten Erfolge Bil¬ dung des Erkenntnißvermoͤgens des Zoͤglings, und zwar keinesweges die hiſtoriſche an den ſtehenden Beſchaffenheiten der Dinge, ſondern die hoͤhere, und philoſophiſche, an den Ge¬ ſetzen, nach denen eine ſolche ſtehende Be¬ ſchaffenheit der Dinge nothwendig wird. Der Zoͤgling lernt.

Ich ſetze hinzu: der Zoͤgling lernt gern, und mit Luſt, und er mag, ſo lange die Spannung der Kraft vorhaͤlt, gar nichts lie¬ ber thun, denn lernen, denn er iſt ſelbſtthaͤ¬ tig, indem er lernt, nnd dazu hat er unmit¬ telbar die allerhoͤchſte Luſt. Wir haben hier¬ an ein aͤußeres theils unmittelbar ins Auge fallendes theils untruͤgliches Kennzeichen der wahren Erziehung gefunden, dies, daß ohne62 alle Ruͤckſicht auf die Verſchiedenheit der na¬ tuͤrlichen Anlagen und ohne alle Ausnahme jedweder Zoͤgling, an den dieſe Erziehung gebracht wird, rein um des Lernens ſelbſt willen, und aus keinem andern Grunde, mit Luſt und Liebe lerne. Wir haben das Mit¬ tel gefunden, dieſe reine Liebe zum Lernen anzuzuͤnden, dies, die unmittelbare Selbſt¬ thaͤtigkeit des Zoͤglings anzuregen, und dieſe zur Grundlage aller Erkenntniß zu machen, alſo, daß an ihr gelernt werde, was gelernt wird.

Dieſe eigne Thaͤtigkeit des Zoͤglings in irgend einem uns bekannten Punkte nur erſt anzure¬ gen, iſt das erſte Hauptſtuͤck der Kunſt. Iſt die¬ ſes gelungen, ſo kommt es nur noch darauf an, die angeregte von dieſem Punkte aus immer im friſchen Leben zu erhalten, welches allein durch regelmaͤßiges Fortſchreiten moͤglich iſt, und wo jeder Fehlgriff der Erziehung auf der Stelle durch Mißlingen des Beabſichtigten ſich entdeckt. Wir haben alſo auch das Band gefunden, wodurch der beabſichtigte Erfolg unabtrennlich angeknuͤpft wird an die ange¬ gebene Wirkungsweiſe, das ewige und ohne63 alle Ausnahme waltende Grundgeſez der gei¬ ſtigen Natur des Menſchen, daß er geiſtige Thaͤtigkeit unmittelbar anſtrebe.

Sollte jemand, durch die gewoͤhnliche Er¬ fahrung unſerer Tage irre geleitet, ſogar ge¬ gen das Vorhandenſeyn eines ſolchen Grund¬ geſetzes Zweifel hegen, ſo merken wir fuͤr einen ſolchen zum Ueberfluſſe an, daß der Menſch von Natur allerdings bloß ſinnlich und ſelbſtſuͤchtig iſt, ſo lange die unmittel¬ bare Noth, und das gegenwaͤrtige ſinnliche Beduͤrfniß ihn treibt, und daß er durch kein geiſtiges Beduͤrfniß, oder irgend eine ſcho¬ nende Ruͤckſicht ſich abhalten laͤßt, dieſes zu befriedigen; daß er aber, nachdem nur die¬ ſem abgeholfen iſt, wenig Neigung hat, das ſchmerzhafte Bild deſſelben in ſeiner Phantaſie zu bearbeiten, und es ſich gegenwaͤrtig zu erhalten, ſondern daß er es weit mehr liebt, den losgebundenen Gedanken auf die freie Betrachtung deſſen, was die Aufmerkſamkeit ſeiner Sinne reizt, zu richten, ja daß er auch einen dichteriſchen Ausflug in ideale Welten gar nicht verſchmaͤht, indem ihm von Natur ein leichter Sinn beiwohnt fuͤr das Zeitliche,64 damit ſein Sinn fuͤr das Ewige einigen Spiel - Raum zur Entwickelung erhalte. Das letzte wird bewieſen durch die Geſchichte aller alten Voͤlker, und die mancherlei Beobachtungen und Entdeckungen, die von ihnen auf uns gekom¬ men ſind; es wird bewieſen bis auf unſere Tage durch die Beobachtung der noch uͤbri¬ gen wilden Voͤlker, falls nemlich ſie von ih¬ rem Klima nur nicht gar zu ſtiefmuͤtterlich behandelt werden, und durch die unſrer eig¬ nen Kinder; es wird ſogar bewieſen durch das freimuͤthige Geſtaͤndniß unſerer Eiferer gegen Ideale, welche ſich beklagen, daß es ein weit verdrießlicheres Geſchaͤft ſey, Na¬ men und Jahrszahlen zu lernen, denn auf¬ zufliegen in das, wie es ihnen vorkommt, leere Feld der Ideen, welche ſonach ſelber, wie es ſcheint, lieber das zweite thaͤten, wenn ſie ſichs erlauben duͤrften, denn das erſte. Daß an die Stelle dieſes naturgemaͤßen Leicht¬ ſinns der ſchwere Sinn trete, wo auch dem Geſaͤttigten der kuͤnftige Hunger, und die ganzen langen Reihen alles moͤglichen kuͤnf¬ tigen Hungers, als das einzige ſeine Seele fuͤllende, vorſchweben, und ihn immerfort ſta¬cheln65cheln und treiben, wird in unſerm Zeitalter durch Kunſt bewirkt, beim Knaben durch Zuͤch¬ tigung ſeines natuͤrlichen Leichtſinns, beim Manne durch das Beſtreben fuͤr einen klugen Mann zu gelten, welcher Ruhm nur demje¬ nigen zu Theil wird, der jenen Geſichtspunkt keinen Augenblick aus den Augen laͤßt; es iſt daher dies keinesweges Natur, auf die wir zu rechnen haͤtten, ſondern ein der widerſtre¬ benden Natur mit Muͤhe aufgedrungenes Ver¬ derben, das da wegfaͤllt, ſo wie nur jene Muͤhe nicht mehr angewendet wird.

Dieſe unmittelbar die geiſtige Selbſtthaͤtig¬ keit des Zoͤglings anregende Erziehung, erzeugt Erkenntniß, ſagten wir oben; und dies giebt uns Gelegenheit, die neue Erziehung im Ge¬ genſatze mit der bisherigen, noch tiefer zu bezeichnen. Eigentlich nemlich, und unmit¬ telbar geht die neue Erziehung nur auf Anre¬ gung regelmaͤßig fortſchreitender Geiſtesthaͤtig¬ keit. Die Erkenntniß ergiebt ſich, wie wir oben geſehen haben, nur neben bei, und als nicht außenbleibende Folge. Ob es daher, nun zwar wohl dieſe Erkenntniß iſt, in wel¬ cher allein das Bild fuͤr das wirkliche Leben,E66das die kuͤnftige ernſtliche Thaͤtigkeit unſers zum Manne gewordenen Zoͤglings anregen ſoll, erfaßt werden kann; die Erkenntniß da¬ her allerdings ein weſentlicher Beſtandtheil der zn erlangenden Bildung iſt, ſo kann man dennoch nicht ſagen, daß die neue Erziehung dieſe Erkenntniß unmittelbar beabſichtige, ſon¬ dern die Erkenntniß faͤllt derſelben nur zu. Im Gegentheile beabſichtigte die bisherige Er¬ ziehung geradezu Erkenntniß, und ein ge¬ wiſſes Maaß eines Erkenntnißſtoffes. Ferner iſt ein großer Unterſchied zwiſchen der Art der Erkenntniß, welche der neuen Erziehung nebenbei entſteht, und derjenigen, welche die bisherige Erziehung beabſichtigte. Jener entſteht die Erkenntniß der die Moͤglichkeit aller geiſtigen Thaͤtigkeit bedingenden Geſetze dieſer Thaͤtigkeit. Z. B. wenn der Zoͤgling in freier Phantaſie durch gerade Linien einen Raum zu begrenzen verſucht, ſo iſt dies die zuerſt angeregte geiſtige Thaͤtigkeit deſſelben. Wenn er in dieſen Verſuchen findet, daß er mit weniger denn drei geraden Linien keinen Raum begrenzen koͤnne, ſo iſt dieſes letztere die neben bei entſtehende Erkenntniß einer67 zweiten ganz andern Thaͤtigkeit des, das zuerſt angeregte freie Vermoͤgen, beſchraͤnkenden Er¬ kenntnißvermoͤgens. Dieſer Erziehung ent¬ ſteht ſonach gleich bei ihrem Beginnen eine wahrhaft uͤber alle Erfahrung erhabene, uͤber¬ ſinnliche, ſtreng nothwendige, und allgemeine Erkenntniß, die alle nachher moͤgliche Erfah¬ rung ſchon im voraus unter ſich befaßt. Da¬ gegen ging der bisherige Unterricht in der Re¬ gel nur auf die ſtehenden Beſchaffenheiten der Dinge, wie ſie eben ohne daß man dafuͤr einen Grund angeben koͤnne, ſeyen, und geglaubt, und gemerkt werden muͤßten; alſo auf ein bloß leidendes Auffaſſen durch das lediglich im Dienſte der Dinge ſtehende Ver¬ moͤgen des Gedaͤchtniſſes, wodurch es uͤber¬ haupt gar nicht zur Ahndung des Geiſtes, als eines ſelbſtſtaͤndigen, und uranfaͤng¬ lichen Princips der Dinge ſelber, kommen konnte. Es vermeine die neuere Paͤdagogik ja nicht durch die Berufung auf ihren oft bezeugten Abſcheu gegen mechaniſches Aus¬ wendiglernen, und auf ihre bekannten Mei¬ ſterſtuͤcke in ſokratiſcher Manier, gegen dieſen Vorwurf ſich zu decken; denn hierauf hat ſieE 268ſchon laͤngſt wo anders den gruͤndlichen Be¬ ſcheid erhalten, daß dieſe ſokratiſchen Raͤſon¬ nements gleichfals nur mechaniſch auswendig gelernt werden, und daß dies ein um ſo ge¬ faͤhrlicheres Auswendiglernen iſt, da es dem Zoͤglinge, der nicht denkt, dennoch den Schein giebt, daß er denken koͤnne; daß dies bei dem Stoffe, den ſie zur Entwickelung des Selbſtdenkens anwenden wollte, nicht an¬ ders erfolgen konnte, und daß man fuͤr die¬ ſen Zweck mit einem ganz andern Stoffe an¬ heben muͤſſe. Aus dieſer Beſchaffenheit des bisherigen Unterrichts erhellet, theils warum in der Regel der Zoͤgling bisher ungern, und darum langſam und ſpaͤrlich lernte, und in Ermangelung des Reizes aus dem Lernen ſelber, fremdartige Antriebe untergelegt wer¬ den mußten, theils geht daraus hervor der Grund von bisherigen Ausnahmen von der Regel. Das Gedaͤchtniß, wenn es allein, und ohne irgend einem andern geiſtigen Zwecke dienen zu ſollen, in Anſpruch genommen wird, iſt vielmehr ein Leiden des Gemuͤths, als eine Thaͤtigkeit deſſelben, und es laͤßt ſich ein¬ ſehen, daß der Zoͤgling dieſes Leiden hoͤchſt69 ungern uͤbernehmen werde. Auch iſt die Be¬ kanntſchaft mit ganz fremden, und nicht das mindeſte Intereſſe fuͤr ihn habenden Dingen, und mit ihren Eigenſchaften, ein ſchlechter Erſatz fuͤr jenes ihm zugefuͤgte Leiden; des¬ wegen mußte ſeine Abneigung durch die Ver¬ troͤſtung auf die kuͤnftige Nuͤtzlichkeit dieſer Er¬ kenntniſſe, und daß man nur vermittelſt ihrer Brod und Ehre finden koͤnne, und ſogar durch unmittelbar gegenwaͤrtige Strafe und Beloh¬ nung uͤberwunden werden; daß ſomit die Erkenntniß gleich von vorn herein als Diene¬ rin des ſinnlichen Wohlſeyns aufgeſtellt wurde, und dieſe Erziehung, welche in Abſicht ihres Inhalts oben als bloß unkraͤftig fuͤr Ent¬ wicklung einer ſittlichen Denkart aufgeſtellt wurde, um nur an den Zoͤgling zu gelangen, das moraliſche Verderben deſſelben ſogar pflanzen und entwickeln, und ihr Intereſſe an das Intereſſe dieſes Verderbens anknuͤpfen mußte. Man wird ferner finden, daß das natuͤrliche Talent, welches als Ausnahme von der Regel, in der Schule dieſer bisherigen Erziehung gern lernte, und deswegen gut, und durch dieſe in ihm waltende hoͤhere Liebe das moraliſche Verderben der Umgebung70 uͤberwand, und ſeinen Sinn rein erhielt, durch ſeinen natuͤrlichen Hang, jenen Gegen¬ ſtaͤnden ein praktiſches Intereſſe abgewann, und daß es, von ſeinem gluͤcklichen Inſtinkte geleitet, vielmehr darauf ausging, dergleichen Erkenntniſſe ſelbſt hervorzubringen, denn dar¬ auf, ſie bloß aufzufaſſen: ſodann, daß in Ab¬ ſicht der Lehrgegenſtaͤnde, mit denen, als Ausnahme von der Regel, es dieſer Erzie¬ hung noch am allgemeinſten und gluͤcklichſten gelang, dieſes insgeſammt ſolche ſind, die ſie thaͤtig ausuͤben ließ, ſo wie z. B. diejenige gelehrte Sprache, in der bis aufs Schreiben und Reden derſelben ausgegangen wurde, beinah allgemein ziemlich gut, dagegen die¬ jenige andere, in der die Schreibe - und Rede - Uebungen vernachlaͤſſigt wurden, in der Re¬ gel ſehr ſchlecht und oberflaͤchlich gelernt, und in reiferen Jahren vergeſſen worden. Daß daher auch aus der bisherigen Erfahrung hervorgeht, daß es allein die Entwickelung der geiſtigen Thaͤtigkeit durch den Unterricht ſey, die da Luſt an der Erkenntniß, rein als ſolcher, hervorbringe, und ſo auch das Ge¬ muͤth der ſittlichen Bildung offen erhalte, da¬ gegen das bloß leidende Empfangen eben ſo71 die Erkenntniß laͤhme und toͤdte, wie es ihr Beduͤrfniß ſey, den ſittlichen Sinn in Grund und Boden hinein zu verderben.

Um wieder zuruͤckzukehren zum Zoͤglinge der neuen Erziehung: es iſt klar, daß der¬ ſelbe, von ſeiner Liebe getrieben, viel, und da er alles in ſeinem Zuſammenhange faßt, und das gefaßte unmittelbar durch ein Thun uͤbt, dieſes viele richtig und unvergeßlich ler¬ nen werde. Doch iſt dieſes nur Nebenſache. Bedeutender iſt, daß durch dieſe Liebe ſein Selbſt erhoͤhet, und in eine ganz neue Ord¬ nung der Dinge, in welche bisher nur we¬ nige von Gott beguͤnſtigte von ohngefaͤhr ka¬ men, beſonnen, und nach einer Regel ein¬ gefuͤhrt wird. Ihn treibt eine Liebe, die durchaus nicht auf irgend einen ſinnlichen Genuß ausgeht, indem dieſer, als Antrieb, fuͤr ihn gaͤnzlich ſchweigt, ſondern auf geiſtige Thaͤtigkeit, um der Thaͤtigkeit willen, und auf das Geſetz derſelben, um des Geſetzes willen. Ob nun zwar nicht dieſe geiſtige Thaͤtigkeit uͤberhaupt es iſt, auf welche die Sittlichkeit geht, ſondern dazu noch eine be¬ ſondere Richtung jener Thaͤtigkeit kommen muß, ſo iſt dennoch jene Liebe die allgemeine72 Beſchaffenheit und Form des ſittlichen Wil¬ lens; und ſo iſt denn dieſe Weiſe der geiſti¬ gen Bildung, die unmittelbare Vorbereitung zu der ſittlichen; die Wurzel der Unſittlichkeit aber rottet ſie, indem ſie den ſinnlichen Ge¬ nuß durchaus niemals Antrieb werden laͤßt, gaͤnzlich aus. Bisher war dieſer Antrieb der erſte, der da angeregt, und ausgebildet wurde, weil man außerdem den Zoͤgling gar nicht bearbeiten, und einigen Einfluß auf denſel¬ ben gewinnen zu koͤnnen glaubte; ſollte hin¬ terher der ſittliche Antrieb entwickelt werden, ſo kam derſelbe zu ſpaͤt, und fand das Herz ſchon eingenommen und angefuͤllt von einer andern Liebe. Durch die neue Erziehung ſoll umgekehrt die Bildung zum reinen Wollen das erſte werden, damit, wenn ſpaͤterhin doch die Selbſtſucht innerlich erwachen, oder von außen angeregt werden ſollte, dieſe zu ſpaͤt komme, und in dem ſchon von etwas an¬ derm eingenommenen Gemuͤthe keinen Platz fuͤr ſich finde.

Weſentlich iſt ſchon fuͤr dieſen erſten, ſo wie fuͤr den demnaͤchſt anzugebenden zweiten Zweck, daß der Zoͤgling von Anbeginn an ununterbrochen, und ganz unter dem Einfluſſe73 dieſer Erziehung ſtehe, und daß er von dem Gemeinen gaͤnzlich abgeſondert, und vor aller Beruͤhrung damit verwahrt werde. Daß man um ſeiner Erhaltung und ſeines Wohlſeyns willens im Leben ſich regen und bewegen koͤnne, muß er gar nicht hoͤren, und eben ſo wenig, daß man um deswillen lerne, oder daß das Lernen dazu etwas helfen koͤnne. Es folgt daraus, daß die geiſtige Entwicke¬ lung in der oben angegebenen Weiſe, die ein¬ zige ſeyn muͤſſe, die an ihn gebracht werde, und daß er mit derſelben ohne Unterlaß be¬ ſchaͤftigt werden muͤſſe, daß aber keinesweges dieſe Weiſe des Unterrichts mit demjenigen, der des entgegengeſezten ſinnlichen Antriebs bedarf, abwechſeln duͤrfe.

Ob nun aber wohl dieſe geiſtige Ent¬ wickelung die Selbſtſucht nicht zum Leben kommen laͤßt, und die Form eines ſittlichen Willens giebt, ſo iſt dies doch darum noch nicht der ſittliche Wille ſelbſt; und falls die von uns vorgeſchlagene neue Erziehung nicht weiter ginge, ſo wuͤrde ſie hoͤchſtens trefliche Bearbeiter der Wiſſenſchaften erziehen, deren es auch bisher gegeben hat, und deren es nur wenige bedarf, und die fuͤr unſern eigentlichen74 menſchlichen, und nationalen Zweck, nicht mehr vermoͤgen wuͤrden, als dergleichen Maͤn¬ ner auch bisher vermocht haben; ermahnen, und wieder ermahnen, und ſich anſtaunen und nach Gelegenheit ſchmaͤhen zu laſſen. Aber es iſt klar, und iſt auch ſchon oben geſagt, daß dieſe freie Thaͤtigkeit des Geiſtes in der Abſicht entwickelt worden, damit der Zoͤgling mit derſelben frei das Bild einer ſittlichen Ordnung des wirklich vorhandenen Lebens entwerfe, dieſes Bild mit der in ihm gleichfalls ſchon entwickelten Liebe faſſe, und durch dieſe Liebe getrieben werde, daſſelbe in und durch ſein Leben wirklich darzuſtellen. Es fragt ſich, wie die neue Erziehung ſich den Beweis fuͤhren koͤnne, daß ſie dieſen ihren eigentlichen und letzten Zweck an ihrem Zoͤglinge erreicht habe?

Zufoͤrderſt iſt klar, daß die ſchon fruͤher an andern Gegenſtaͤnden geuͤbte geiſtige Thaͤ¬ tigkeit des Zoͤglings angeregt werden muͤſſe, ein Bild von der geſellſchaftlichen Ordnung der Menſchen, ſo wie dieſelbe nach dem Ver¬ nunftgeſetze ſchlechthin ſeyn ſoll, zu entwerfen. Ob dieſes, vom Zoͤglinge entworfene Bild richtig ſey, iſt von einer Erziehung, die nur75 ſelbſt im Beſitze dieſes richtigen Bildes ſich befindet, am leichteſten zu beurtheilen; ob daſſelbe durch die eigne Selbſtthaͤtigkeit des Zoͤglings entworfen, keinesweges aber nur leidend aufgefaßt, und der Schule glaͤubig nachgeſagt werde, ferner ob es zur gehoͤrigen Klarheit, und Lebhaftigkeit geſteigert ſey, wird die Erziehung auf dieſelbe Weiſe beurtheilen koͤnnen, wie ſie fruͤher in derſelben Ruͤckſicht bei andern Gegenſtaͤnden ein treffendes Ur¬ theil gefaͤllt hat. Alles dies iſt noch Sache der bloßen Erkenntniß, und verbleibt auf dem in dieſer Erziehung ſehr zugaͤnglichen Gebiete dieſer. Eine ganz andere aber und hoͤhere Frage iſt die, ob der Zoͤgling alſo von trennender Liebe fuͤr eine ſolche Ordnung der Dinge ergriffen ſey, daß es ihm, der Leitung der Erziehung entlaſſen, und ſelbſtſtaͤndig hin¬ geſtellt, ſchlechterdings unmoͤglich ſeyn werde, dieſe Ordnung nicht zu wollen, und nicht aus allen ſeinen Kraͤften fuͤr die Befoͤrderung derſelben zu arbeiten; uͤber welche Frage ohne Zweifel nicht Worte, und in Worten anzu¬ ſtellende Pruͤfungen, ſondern allein der An¬ blick von Thaten entſcheiden koͤnnen.

Ich loͤſe die durch dieſe lezte Betrachtung76 uns geſtellte Aufgabe alſo: Ohne Zweifel wer¬ den doch die Zoͤglinge dieſer neuen Erziehung, obwohl abgeſondert von der ſchon erwachſe¬ nen Gemeinheit, dennoch untereinander ſelbſt in Gemeinſchaft leben, und ſo ein abgeſon¬ dertes und fuͤr ſich ſelbſt beſtehendes Gemein - Weſen bilden, das ſeine genau beſtimmte, in der Natur der Dinge gegruͤndete, und von der Vernunft durchaus geforderte Verfaſſung habe. Das allererſte Bild einer geſelligen Ord¬ nung, zu deſſen Entwerfung der Geiſt des Zoͤglings angeregt werde, ſey dieſes der Ge¬ meine, in der er ſelber lebt, alſo, daß er in¬ nerlich gezwungen ſey, dieſe Ordnung Punkt fuͤr Punkt gerade alſo ſich zu bilden, wie ſie wirklich vorgezeichnet iſt, und daß er dieſelbe in allen ihren Theilen, als durchaus noth¬ wendig aus ihren Gruͤnden verſtehe. Dies iſt nun abermals bloßes Werk der Erkennt¬ niß. In dieſer geſellſchaftlichen Ordnung muß nun im wirklichen Leben jeder Einzelne um des Ganzen willen immerfort gar vieles unterlaſſen, was er, wenn er ſich allein be¬ faͤnde, unbedenklich thun koͤnnte; und es wird zweckmaͤßig ſeyn, daß in der Geſezgebung, und in dem darauf zu bauenden Unterrichte77 uͤber die Verfaſſung, jedem Einzelnen alle die uͤb¬ rigen mit einer zum Ideal geſteigerten Ordnungs¬ liebe vorgeſtellt werden, welche alſo vielleicht kein einziger wirklich hat, die aber alle haben ſollten; und daß ſomit dieſe Geſezgebung einen hohen Grad von Strenge erhalte, und der Un¬ terlaſſungen gar viele auflege. Dieſe, als etwas das ſchlechthin ſeyn muß, und auf welchem das Beſtehen der Geſellſchaft beruht, ſind auf den Nothfall ſogar durch Furcht vor gegenwaͤrtiger Strafe zu erzwingen; und muß dieſes Strafge¬ ſez ſchlechthin ohne Schonung oder Ausnahme vollzogen werden. Der Sittlichkeit des Zoͤg¬ lings geſchieht durch dieſe Anwendung der Furcht, als eines Triebes, gar kein Eintrag, in¬ dem hier ja nicht zum Thun des Guten, ſondern nur zu Unterlaſſung des in dieſer Verfaſſung Boͤ¬ ſen getrieben werden ſoll; uͤberdieß muß im Un¬ terrichte uͤber die Verfaſſung vollkommen ver¬ ſtaͤndlich gemacht werden, daß der, welcher der Vorſtellung von der Strafe, oder wohl gar der Anfriſchung dieſer Vorſtellung durch die Erdul¬ dung der Strafe ſelbſt noch beduͤrfe, auf einer ſehr niedrigen Stufe der Bildung ſtehe. Jedennoch iſt bei allem dieſen klar, daß, da man niemals wiſſen kann, ob, da wo gehorcht wird, aus Liebe78 zur Ordnung, oder aus Furcht vor der Strafe gehorcht werde, in dieſem Umkreiſe der Zoͤgling ſeinen guten Willen nicht aͤußerlich darthun, noch die Erziehung ihn ermeſſen koͤnne.

Dagegen iſt der Umkreis, wo ein ſolches Er¬ meſſen moͤglich iſt, der folgende. Die Verfaſſung muß nemlich ferner alſo eingerichtet ſeyn, daß der Einzelne fuͤr das Ganze, nicht bloß unter¬ laſſen muͤſſe, ſondern daß er fuͤr daſſelbe auch thun, und handelnd leiſten koͤnne. Außer der geiſtigen Entwicklung im Lernen finden in die¬ ſem Gemein-Weſen der Zoͤglinge auch noch koͤr¬ perliche Uebungen, und die mechaniſchen aber hier zum Ideale veredelten Arbeiten des Acker¬ baues, und die von mancherlei Handwerken ſtatt. Es ſey Grundregel der Verfaſſung, daß jedem, der in irgend einem dieſer Zweige ſich hervorthut, zugemuthet werde, die andern darin unterrichten zu helfen, und mancherlei Aufſich¬ ten, und Verantwortlichkeiten zu uͤbernehmen; jedem, der irgend eine Verbeſſerung findet, oder die von einem Lehrer vorgeſchlagene zuerſt, und am klaͤrſten begreift, dieſelbe mit eigner Muͤhe auszufuͤhren, ohne daß er doch darum von ſei¬ nen ohnedies ſich verſtehenden perſoͤnlichen Auf¬ gaben des Lernens und Arbeitens losgeſprochen79 ſey; daß jeder dieſer Anmuthung freiwillig ge¬ nuͤge, und nicht aus Zwang, indem es dem Nicht¬ wollenden auch frei ſteht, ſie abzulehnen; daß er dafuͤr keine Belohnung zu erwarten habe, indem in dieſer Verfaſſung alle in Beziehung auf Ar¬ beit und Genuß ganz gleich geſezt ſind, nicht einmal Lob, indem es die herrſchende Denkart iſt in der Gemeine, daß daran jeder eben nur ſeine Schuldigkeit thue, ſondern daß er allein genieße die Freude an ſeinem Thun und Wir¬ ken fuͤr das Ganze, und an dem Gelingen deſ¬ ſelben, falls ihm dieſes zu Theil wird. In dieſer Verfaſſung wird ſonach aus erworbener groͤßerer Geſchiklichkeit, und aus der hierauf verwendeten Muͤhe, nur neue Muͤhe und Ar¬ beit folgen, und gerade der Tuͤchtigere wird oft wachen muͤſſen, wenn andere ſchlafen, und nachdenken muͤſſen, wenn andere ſpielen.

Die Zoͤglinge welche, ohnerachtet ihnen die¬ ſes alles vollkommen klar, und verſtaͤndlich iſt, dennoch fortgeſezt, und alſo, daß man mit Sicherheit auf ſie rechnen koͤnne, jene erſte Muͤhe, und die aus ihr folgenden weiteren Muͤhen, freudig uͤbernehmen, und in dem Ge¬ fuͤhle ihrer Kraft und Thaͤtigkeit ſtark bleiben und ſtaͤrker werden, dieſe kann die Erzie¬80 hung ruhig entlaſſen in die Welt; an ihnen hat ſie dieſen ihren Zweck erreicht; in ihnen iſt die Liebe angezuͤndet, und brennt bis in die Wur¬ zel ihrer lebendigen Regung hinein, und ſie wird von nun an weiter alles ohne Ausnahme ergreifen, was an dieſe Lebens-Regung gelan¬ gen wird; und ſie werden in dem groͤßeren Gemein-Weſen, in das ſie von nun an eintre¬ ten, niemals etwas anderes zu ſeyn vermoͤgen, denn dasjenige, was ſie in dem kleinen Ge¬ mein-Weſen, das ſie jetzo verlaſſen, unverruͤckt, und unwandelbar waren.

Auf dieſe Weiſe iſt der Zoͤgling vollendet fuͤr die naͤchſten, und ohne Ausnahme eintre¬ tenden Anforderungen der Welt an ihn, und es iſt geſchehen, was die Erziehung im Namen dieſer Welt von ihm verlangt. Noch aber iſt er nicht in ſich und fuͤr ſich ſelber vollendet, und es iſt noch nicht geſchehen, was er ſelbſt von der Erziehung fordern kann. So wie auch dieſe Forderung erfuͤllt wird, wird er zugleich tuͤchtig, den Anforderungen, die eine hoͤhere Welt im Namen der gegenwaͤrtigen in beſon¬ dern Faͤllen an ihn machen duͤrfte, zu genuͤgen.

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Dritte Rede.

Fortsetzung der Schilderung der neuen Erziehung.

Das eigentliche Weſen der in Vorſchlag gebrachten neuen Erziehung, inwiefern die¬ ſelbe in der vorigen Rede beſchrieben wor¬ den, beſtand darin, daß ſie die beſonnene und ſichere Kunſt ſey, den Zoͤgling zu reiner Sitt¬ lichkeit zu bilden. Zu reiner Sittlichkeit, ſagte ich; die Sittlichkeit, zu der ſie erziehet, ſtehet als ein erſtes, unabhaͤngiges, und ſelbſtſtaͤndi¬ ges da, das aus ſich ſelber lebet ſein eigenes Leben; keinesweges aber, ſo wie die bisher oft beabſichtigte Geſetzmaͤßigkeit angeknuͤpft iſt, und eingeimpft, einem andern nicht ſittlichen Triebe, deſſen Befriedigung es diene. Sie iſt die beſonnene und ſichere Kunſt dieſer ſittlichen Erziehung, ſagte ich. Sie ſchreitet nichtF82planlos und auf gutes Gluͤck, ſondern nach einer feſten, und ihr wohl bekannten Regel einher, und iſt ihres Erfolges gewiß. Ihr Zoͤgling geht zu rechter Zeit als ein feſtes, und unwandelbares Kunſtwerk dieſer ihrer Kunſt hervor, das nicht etwa auch anders gehen koͤnne, denn alſo, wie es durch ſie geſtellt wor¬ den, und das nicht etwa einer Nachhuͤlfe be¬ duͤrfe, ſondern das durch ſich ſelbſt nach ſei¬ nem eignen Geſetze fortgeht.

Zwar bildet dieſe Erziehung auch den Geiſt ihres Zoͤglings; und dieſe geiſtige Bildung iſt ſogar ihr erſtes, mit welchem ſie ihr Geſchaͤft anhebt. Doch iſt dieſe geiſtige Entwicklung nicht erſter, und ſelbſtſtaͤndiger Zweck, ſondern nur das bedingende Mittel, um ſittliche Bil¬ dung an den Zoͤgling zu bringen. Inzwiſchen bleibt auch dieſe nur gelegentlich erworbene geiſtige Bildung ein aus dem Leben des Zoͤg¬ lings unaustilgbarer Beſitz, und die ewig fort¬ brennende Leuchte ſeiner ſittlichen Liebe. Wie groß auch, oder wie geringfuͤgig die Summe der Erkenntniſſe ſeyn moͤge, die er aus der Erzie¬ hung mitgebracht; einen Geiſt, der ſein gan¬ zes Leben hindurch jedwede Wahrheit, deren83 Erkenntniß ihm nothwendig wird, zu faſſen vermag, und welcher eben ſo der Belehrung durch andere empfaͤnglich, als des eignen Nachdenkens faͤhig ohn 'Unterlaß bleibt, hat er von derſelben ſicherlich mit davon ge¬ bracht.

Soweit waren wir in der Beſchreibung dieſer neuen Erziehung in der vorigen Rede ge¬ kommen. Wir bemerkten am Schluſſe derſel¬ ben, daß durch dieſes alles ſie dennoch noch nicht vollendet ſey, ſondern noch eine andere, von den bis jetzt aufgeſtellten verſchiedene Auf¬ gabe zu loͤſen habe; und wir gehen jetzt an das Geſchaͤft, dieſe Aufgabe naͤher zu bezeichnen.

Der Zoͤgling dieſer Erziehung iſt ja nicht bloß Mitglied der menſchlichen Geſellſchaft hier auf dieſer Erde, und fuͤr die kurze Spanne Le¬ ben, die ihm auf derſelben vergoͤnnt iſt, ſon¬ dern er iſt auch, und wild ohne Zweifel von der Erziehung anerkannt fuͤr ein Glied in der ewigen Kette eines geiſtigen Lebens uͤberhaupt, unter einer hoͤhern geſellſchaftlichen Ordnung. Ohne Zweifel muß auch zur Einſicht in dieſe hoͤhere Ordnung eine Bildung, die ſein ganzes Weſen zu umfaſſen ſich vorgenommen hat, ihnF 284anfuͤhren, und ſo wie ſie ihn leitete, ein Bild jener ſittlichen Welt-Ordnung, die da niemals iſt, ſondern ewig werden ſoll, durch eigne Selbſtthaͤtigkeit ſich vorzuzeichnen, eben ſo muß ſie ihn leiten, ein Bild jener uͤberſinnli¬ chen Welt-Ordnung, in der nichts wird, und die auch niemals geworden iſt, ſondern die da ewig nur iſt, in dem Gedanken, zu entwerfen, mit gleicher Selbſtthaͤtigkeit, und alſo, daß er innigſt verſtehe und einſehe, daß es nicht an¬ ders ſeyn koͤnne. Er wird, richtig geleitet, mit den Verſuchen eines ſolchen Bildes zu Ende kommen, und an dieſem Ende finden, daß da nichts wahrhaftig da ſey, außer das Leben, und zwar das geiſtige Leben, das da lebet in dem Gedanken; und daß alles uͤbrige nicht wahrhaftig da ſey, ſondern nur dazuſeyn ſcheine, welches Scheines aus dem Gedanken hervorgehenden Grund er gleichfalls, ſey es auch nur im allgemeinen, begreifen wird. Er wird ferner einſehen, daß jenes allein wahr¬ haft daſeyende geiſtige Leben, in den mannig¬ faltigen Geſtaltungen, die es nicht durch ein Ohngefaͤhr, ſondern durch ein in Gott ſelber gegruͤndetes Geſetz erhielt, wiederum Eins ſey,85 das goͤttliche Leben ſelber, welches goͤttliche Leben allein in dem lebendigen Gedanken da iſt, und ſich offenbar macht. So wird er ſein Leben, als ein ewiges Glied in der Kette der Offenbarung des goͤttlichen Lebens, und jed¬ wedes andere geiſtige Leben, als eben ein ſol¬ ches Glied, erkennen, und heilig halten ler¬ nen; und nur in der unmittelbaren Be¬ ruͤhrung mit Gott und dem nicht vermittelten Ausſtroͤmen ſeines Lebens aus jenem, Leben, und Licht, und Seeligkeit; in jeder Entfernung aber aus der Unmittelbarkeit, Tod, Finſterniß und Elend finden. Mit Einem Worte: dieſe Entwickelung wird ihn zur Religion bilden; und dieſe Religion des Einwohnens unſers Lebens in Gott ſoll allerdings auch in der neuen Zeit herrſchen, und in derſelben ſorgfaͤltig gebildet werden. Dagegen ſoll die Religion der alten Zeit, die das geiſtige Leben von dem goͤttli¬ chen abtrennte,[und] dem erſtern nur vermit¬ telſt eines Abfalls von dem zweiten das abſo¬ lute Daſeyn zu verſchaffen wußte, das ſie ihm zugedacht hatte, und welche Gott als Faden brauchte, um die Selbſtſucht noch uͤber den Tod des ſterblichen Leibes hinaus in andere Welten86 einzufuͤhren, und durch Furcht und Hofnung in dieſen die fuͤr die gegenwaͤrtige Welt ſchwach gebliebene, zu verſtaͤrken, dieſe Religion, die offenbar eine Dienerin der Selbſtſucht war, ſoll allerdings mit der alten Zeit zugleich zu Grabe getragen werden; denn in der neuen Zeit bricht die Ewigkeit nicht erſt jenſeits des Grabes an, ſondern ſie kommt ihr mitten in ihre Gegenwart hinein, die Selbſtſucht aber iſt ſo¬ wohl des Regiments, als des Dienſtes entlaſ¬ ſen, und zieht demnach auch ihre Dienerſchaft mit ihr ab.

Die Erziehung zur wahren Religion iſt ſo¬ mit das letzte Geſchaͤft der neuen Erziehung. Ob in der Entwerfung eines hiezu erforderli¬ chen Bildes der uͤberſinnlichen Welt-Ordnung der Zoͤgling wahrhaft ſelbſtthaͤtig verfahren ſey; und ob das entworfene Bild allenthalben richtig, und durchaus klar, und verſtaͤndlich ſey, wird die Erziehung leicht, auf dieſelbe Weiſe wie bei den uͤbrigen Gegenſtaͤnden der Erkenntniß, beurtheilen koͤnnen; denn auch dies bleibt auf dem Gebiete der Erkennt¬ niß.

87

Bedeutender aber iſt auch hier die Frage, wie die Erziehung ermeſſen, und ſich die Ge¬ waͤhrſchaft leiſten koͤnne, daß dieſe Religions¬ kenntniſſe nicht tod und kalt bleiben, ſondern daß ſie ſich ausdruͤcken werden im wirklichen Leben ihres Zoͤglings; welcher Frage die Be¬ antwortung einer andern Frage vorauszu¬ ſchicken iſt, der folgenden: wie, und auf welche Weiſe zeigt ſich die Religion uͤberhaupt im Leben.

Unmittelbar, im gewoͤhnlichen Leben, und in einer wohlgeordneten Geſellſchaft, bedarf es der Religion durchaus nicht, um das Leben zu bilden, ſondern es reicht fuͤr dieſe Zwecke die wahre Sittlichkeit vollkommen hin. In die¬ ſer Ruͤckſicht iſt alſo die Religion nicht prak¬ tiſch, und kann und ſoll gar nicht praktiſch wer¬ den, ſondern ſie iſt lediglich Erkenntniß: ſie macht bloß den Menſchen ſich ſelber vollkom¬ men klar, und verſtaͤndlich, beantwortet die hoͤchſte Frage die er aufwerfen kann, loͤſet ihm den letzten Widerſpruch auf, und bringt ſo vollkommne Einigkeit mit ſich ſelbſt, und durchgefuͤhrte Klarheit in ſeinen Verſtand. Sie iſt ſeine vollſtaͤndige Erloͤſung und Be¬88 freiung von allem fremden Bande; und ſo iſt ſie ihm denn die Erziehung, als etwas, das ihm ſchlechtweg, und ohne weitern Zweck gebuͤhrt, ſchuldig. Ein Gebiet, um als Antrieb zu wirken, erhaͤlt die Religion nur entweder in einer hoͤchſt unſittlichen, und verdorbenen Ge¬ ſellſchaft, oder wenn die Wirkungsſphaͤre des Menſchen nicht innerhalb der geſellſchaftlichen Ordnung, ſondern uͤber dieſelbe hinaus liegt, und dieſelbe vielmehr immerfort neu zu erſchaffen, und zu erhalten hat, wie beim Regenten, welcher in vielen Faͤllen ohne Religion ſein Amt gar nicht mit gutem Gewiſſen fuͤhren koͤnnte. Von dem letztern Falle iſt in einer auf alle, und auf die ganze Nation berechneten Erziehung nicht die Rede. Wo in der erſten Ruͤckſicht bei klarer Einſicht des Verſtandes in die Unver¬ beſſerlichkeit des Zeitalters dennoch unablaͤſ¬ ſig fortgearbeitet wird an demſelben; wo muthig der Schweiß des Saͤens erduldet wird, ohne einige Ausſicht auf eine Erndte; wo wohlgethan wird auch den Undankbaren, und geſeegnet werden mit Thaten, und Guͤtern diejenigen, die da fluchen, und in der klaren Vorherſicht, daß ſie abermals fluchen werden;89 wo nach hundertfaͤltigem Mißlingen dennoch ausgeharret wird im Glauben, und in der Liebe: da iſt es nicht die bloße Sittlichkeit, die da treibt, denn dieſe will einen Zweck, ſondern es iſt die Religion, die Ergebung in ein hoͤhe¬ res uns unbekanntes Geſez, das demuͤthige Verſtummen vor Gott, die innige Liebe zu ſei¬ nem in uns ausgebrochnen Leben, welches allein und um ſein ſelbſt willen gerettet wer¬ den ſoll, wo das Auge nichts anderes zu retten ſieht.

Auf dieſe Weiſe kann die erlangte Reli¬ gions-Einſicht der Zoͤglinge der neuen Erzie¬ hung in ihrem kleinen Gemein-Weſen, in dem ſie zunaͤchſt aufwachſen, nicht praktiſch wer¬ den, noch ſoll ſie es auch. Dieſes Gemein - Weſen iſt wohlgeordnet, und in ihm gelingt das geſchickt unternommene immer; auch ſoll das noch zarte Alter des Menſchen erhalten werden in der Unbefangenheit, und im ruhi¬ gen Glauben an ſein Geſchlecht. Die Erkennt¬ niß ſeiner Tuͤcken bleibe vorbehalten der eig¬ nen Erfahrung des gereiften, und befeſtigtern Alters.

90

Nur in dieſem gereifteren Alter ſonach, und in dem ernſtlich gemeinten Leben, nachdem die Erziehung laͤngſt ihn ſich ſelber uͤberlaſſen hat, koͤnnte der Zoͤgling derſelben, falls ſeine geſell¬ ſchaftlichen Verhaͤltniſſe aus der Einfachheit zu hoͤhern Stufen fortſchreiten ſollten, ſeiner Religionskenntniß, als eines Antriebes, be¬ duͤrfen. Wie ſoll nun die Erziehung, welche uͤber dieſen Punkt den Zoͤgling, ſo lange er unter ihren Haͤnden iſt, nicht pruͤfen kann, dennoch ſicher ſeyn koͤnnen, daß, wenn nur dieſes Beduͤrfniß eintreten werde, auch dieſer Antrieb ohnfehlbar wirken werde? Ich ant¬ worte: dadurch, daß ihr Zoͤgling uͤberhaupt ſo gebildet iſt, daß keine Erkenntniß, die er hat, in ihm todt und kalt bleibt, wenn die Moͤglichkeit eintritt, daß ſie ein Leben be¬ komme, ſondern jedwede nothwendig ſogleich eingreift in das Leben, ſo wie das Leben der¬ ſelben bedarf. Ich werde dieſe Behauptung ſogleich noch tiefer begruͤnden, und dadurch den ganzen in dieſer und der vorigen Rede behandelten Begriff erheben, und einfuͤgen in ein groͤßeres Ganzes der Erkenntniß, welchem groͤßeren Ganzen ſelber ich aus dieſem Be¬91 griffe ein neues Licht, und eine hoͤhere Klar¬ heit geben werde, nachdem ich nur vorher das wahre Weſen der neuen Erziehung, deren allgemeine Beſchreibung ich ſo eben geſchloſſen habe, beſtimmt werde angegeben haben.

Dieſe Erziehung erſcheint nun nicht mehr, ſo wie im Anfange unſrer heutigen Rede, bloß als die Kunſt den Zoͤgling zu reiner Sitt¬ lichkeit zu bilden, ſondern ſie leuchtet vielmehr ein, als die Kunſt, den ganzen Menſchen durch¬ aus und vollſtaͤndig zum Menſchen zu bilden. Hierzu gehoͤren zwei Hauptſtuͤcke, zuerſt in Abſicht der Form, daß der wirkliche lebendige Menſch, bis in die Wurzel ſeines Lebens hin¬ ein, keinesweges aber der bloße Schatten und Schemen eines Menſchen gebildet werde, ſo¬ dann in Abſicht des Inhalts, daß alle noth¬ wendige Beſtandtheile des Menſchen ohne Ausnahme und gleichmaͤßig ausgebildet wer¬ den. Dieſe Beſtandtheile ſind Verſtand, und Willen, und die[Erziehung] hat zu beabſichtigen die Klarheit des erſten, und die Reinheit des zweiten. Zur Klarheit des erſten aber ſind zu erheben zwei Hauptfragen: zuerſt was es ſey, das der reine Wille eigentlich wolle, und92 durch welche Mittel dieſes Gewollte zu er¬ reichen ſey, durch welches Hauptſtuͤck die uͤbri¬ gen dem Zoͤglinge beizubringenden Erkennt¬ niſſe befaßt werden; ſodann, was dieſer reine Wille in ſeinem Grunde und Weſen ſelber ſey, wodurch die Religions - Erkenntniß befaßt wird. Die genannten Stuͤcke nun, entwickelt bis zum Eingreifen ins Leben, fordert die Erzie¬ hung ſchlechtweg, und gedenkt keinem das min¬ deſte davon zu erlaſſen, denn jeder ſoll eben ein Menſch ſeyn; was jemand nun noch wei¬ ter werde, und welche beſondre Geſtalt die allgemeine Menſchheit in ihm annehme, oder erhalte, geht der allgemeinen Erziehung nichts an, und liegt außerhalb ihres Kreiſes. Ich gehe jezt fort zu der verſprochenen tiefern Be¬ gruͤndung des Satzes, daß im Zoͤglinge der neuen Erziehung gar keine Erkenntniß todt bleiben koͤnne, und zu dem Zuſammenhange, in den ich alles geſagte erheben will, vermittelſt folgender Saͤtze.

1) Es giebt zufolge des Geſagten zwei durchaus verſchiedene und voͤllig entgegengeſezte Klaſſen unter den Menſchen in Abſicht ihrer Bildung. Gleich zufoͤrderſt iſt alles, was93 Menſch iſt, und ſo auch dieſe beiden Klaſſen, darin, daß den mannigfaltigen Aeußerungen ihres Lebens ein Trieb zum Grunde liegt, der in allem Wechſel unveraͤndert beharret, und ſich ſelbſt gleich bleibt. Im Vorbeigehen; daß Sichverſtehn dieſes Triebes, und die Ue¬ berſetzung deſſelben in Begriffe erzeugt die Welt, und es giebt keine andere Welt, als dieſe auf dieſe Weiſe in dem, jedoch keineswe¬ ges freien, ſondern nothwendigen Gedanken ſich erzeugende Welt. Dieſer, immer in ein Bewußtſeyn zu uͤberſetzende Trieb, worin ſo¬ mit abermals die beiden Klaſſen einander gleich ſind, kann nun auf eine doppelle Weiſe, nach den zwei verſchiedenen Grundarten des Be¬ wußtſeyns, in daſſelbe uͤberſezt werden, und in dieſer Weiſe der Ueberſetzung und des ſich ſelbſt Verſtehens ſind die beiden Klaſſen ver¬ ſchieden.

Die erſte, zu allererſt der Zeit nach ſich entwickelnde Grundart des Bewußtſeyns iſt die des dunklen Gefuͤhls. Mit dieſem Gefuͤhle wird am gewoͤhnlichſten und in der Regel der Grundtrieb erfaßt als Liebe des Einzelnen zu ſich ſelbſt, und zwar giebt das dunkle Gefuͤhl94 dieſes Selbſt zunaͤchſt nur als ein ſolches, das da leben will, und wohl ſeyn. Hieraus ent¬ ſteht die ſinnliche Selbſtſucht, als wirklicher Grundtrieb und entwickelnde Kraft eines ſol¬ chen, in dieſer Ueberſetzung ſeines urſpruͤng¬ lichen Grundtriebes befangenen Lebens. So lange der Menſch fortfaͤhrt, alſo ſich zu ver¬ ſtehen, ſo lange muß er ſelbſtſuͤchtig handeln, und kann nicht anders; und dieſe Selbſtſucht iſt das einige beharrende, ſich gleichbleibende, und ſicher zu erwartende in dem unaufhoͤrlichen Wandel ſeines Lebens. Als außergewoͤhnliche Ausnahme von der Regel kann dieſes dunkle Gefuͤhl auch das perſoͤnliche Selbſt uͤberſprin¬ gen, und den Grundtrieb erfaſſen, als ein Verlangen nach einer dunkel gefuͤhlten andern Ordnung der Dinge. Hieraus entſpringt das, an andern Orten von uns ſattſam beſchrie¬ bene Leben, das da, erhaben uͤber die Selbſt¬ ſucht, durch Ideen, die zwar dunkel ſind, aber dennoch Ideen, getrieben wird, und in welchem die Vernunft als Inſtinkt waltet. Dieſes Erfaſſen des Grundtriebes, uͤberhaupt nur im dunklen Gefuͤhle, iſt der Grundzug der erſten Klaſſe unter den Menſchen, die95 nicht durch die Erziehung, ſondern durch ſich ſelbſt gebildet wird, und welche Klaſſe wie¬ derum zwei Unterarten in ſich faßt, die durch einen unbegreiflichen, der menſchlichen Kunſt durchaus unzugaͤnglichen Grund geſchieden werden.

Die zweite Grundart des Bewußtſeyns, welche in der Regel ſich nicht von ſelbſt ent¬ wikelt, ſondern in der Geſellſchaft ſorgfaͤltig gepflegt werden muß, iſt die klare Erkennt¬ niß. Wuͤrde der Grundtrieb der Menſchheit in dieſem Elemente erfaßt, ſo wuͤrde dies eine zweite, von der erſtern ganz verſchiedene Klaſſe von Menſchen geben. Eine ſolche, die Grundliebe ſelbſt erfaſſende Erkenntniß laͤßt nun nicht, wie eine andere Erkenntniß dies wohl kann, kalt, und untheilnehmend, ſon¬ dern der Gegenſtand derſelben wird geliebt uͤber alles, da dieſer Gegenſtand ja nur die Deutung und Ueberſetzung unſerer urſpruͤng¬ lichen Liebe ſelbſt iſt. Andere Erkenntniß er¬ faßt fremdes, und dieſes bleibt fremd, und laͤßt kalt; dieſe erfaßt den Erkennenden ſelbſt und ſeine Liebe, und dieſe liebt er. Ohner¬ achtet es nun bei beiden Klaſſen dieſelbe96 urſpruͤngliche nur in anderer Geſtalt erſchei¬ nende Liebe iſt, die ſie treibt, ſo kann man dennoch, von jenem Umſtande abſehend, ſa¬ gen, daß dort der Menſch durch dunkle Ge¬ fuͤhle, hier durch klare Erkenntniß getrieben werde.

Daß nun eine ſolche klare Erkenntniß un¬ mittelbar antreibend werde im Leben, und man hierauf ſicher zaͤhlen koͤnne, haͤngt, wie geſagt, davon ab, daß es die wirkliche und wahre Liebe des Menſchen ſey, die durch die¬ ſelbe gedeutet werde, auch daß ihm unmittel¬ bar klar werde, daß es alſo ſey, und mit der Deutung zugleich das Gefuͤhl jener Liebe in ihm angeregt und von ihm empfunden werde, daß daher niemals die Erkenntniß in ihm ent¬ wikelt werde, ohne daß zugleich die Liebe es werde, indem im entgegengeſezten Falle er kalt bleiben wuͤrde, und niemals die Liebe, ohne daß die Erkenntniß zugleich es werde, indem im Gegentheile ſein Antrieb ein dunk¬ les Gefuͤhl werden wuͤrde; daß daher mit jedem Schritte ſeiner Bildung der ganze ver¬ einigte Menſch gebildet werde. Ein von der Erziehung alſo als ein untheilbares Ganzesimmer¬97immerfort behandelter Menſch wird es auch fernerhin bleiben, und jede Erkenntniß wird ihm nothwendig Lebensantrieb werden.

2) Indem auf dieſe Weiſe ſtatt des dun¬ keln Gefuͤhls die klare Erkenntniß zu dem allererſten, und zu der wahren Grundlage, und Ausgangspunkte des Lebens gemacht wird, wird die Selbſtſucht ganz uͤbergangen, und um ihre Entwiklung betrogen. Denn nur das dunkle Gefuͤhl giebt dem Menſchen ſein Selbſt als ein Genußbeduͤrftiges, und Schmerz¬ ſcheuendes; keinesweges aber giebt es ihm alſo der klare Begriff, ſondern dieſer zeigt es als Glied einer ſittlichen Ordnung, und es giebt eine Liebe dieſer Ordnung, welche bei der Entwiklung des Begriffs zugleich mit an¬ gezuͤndet und entwickelt wird. Mit der Selbſt¬ ſucht bekommt dieſe Erziehung gar nichts zu thun, weil ſie die Wurzel derſelben, das dunkle Gefuͤhl, durch Klarheit erſtickt; ſie beſtreitet ſie nicht, eben ſo wenig als ſie dieſelbe entwik¬ kelt, ſie weiß gar nicht von ihr. Waͤre es moͤg¬ lich, daß dieſe Sucht ſpaͤter dennoch ſich regen ſollte, ſo wuͤrde ſie das Herz ſchon angefuͤlltG98finden von einer hoͤhern Liebe, die ihr den Platz verſagt.

3) Dieſer Grundtrieb des Menſchen nun, wenn er in klare Erkenntniß uͤberſezt wird, geht nicht auf eine ſchon gegebene und vorhandene Welt, welche ja nur leidend genommen wer¬ den kann, wie ſie eben iſt, und in der eine zu urſpruͤnglich ſchoͤpferiſcher Thaͤtigkeit trei¬ bende Liebe keinen Wirkungskreis fuͤr ſich faͤnde; ſondern er geht, zur Erkenntniß geſtei¬ gert, auf eine Welt die da werden ſoll, eine aprioriſche, eine ſolche, die da zukuͤnftig iſt, und ewig fort zukuͤnftig bleibt. Das aller Er¬ ſcheinung zu Grunde liegende goͤttliche Leben tritt darum niemals ein als ein ſtehendes, und gegebenes Seyn, ſondern als etwas, das da werden ſoll, und nachdem ein ſolches, das da werden ſollte, geworden iſt, wird es aber¬ mals eintreten als ein werden ſollendes in alle Ewigkeit, daß daher jenes goͤttliche Leben niemals eintritt in den Tod des ſtehenden Seyns, ſondern immerfort bleibet in der Form des fortfließenden Lebens. Die unmittelbare Erſcheinung und Offenbarung Gottes iſt die99 Liebe; erſt die Deutung dieſer Liebe durch die Erkenntniß ſezt ein Seyn, und zwar ein ſol¬ ches, das ewig fort nur werden ſoll, und die¬ ſes, als die einige wahre Welt, in wiefern an einer Welt uͤberhaupt Wahrheit iſt. Dage¬ gen iſt die zweite gegebene und von uns als vorhanden vorgefundene Welt nur der Schat¬ ten, und Schemen, aus welchem die Erkennt¬ niß ihrer Deutung der Liebe eine feſte Ge¬ ſtalt, und einen ſichtbaren Leib erbaut; dieſe zweite Welt das Mittel und die Bedingung der Anſchaulichkeit der fuͤr ſich ſelbſt unſicht¬ baren hoͤhern Welt. Nicht einmal in dieſe letztere hoͤhere Welt tritt Gott unmittelbar ein, ſondern auch hier nur vermittelt durch die Eine, reine, unwandelbare und geſtaltloſe Liebe, in welcher Liebe allein er unmit¬ telbar erſcheint. Zu dieſer Liebe tritt hinzu die anſchauende Erkenntniß, welche aus ſich ſelber ein Bild mitbringt, in das ſie den an ſich unſichtbaren Gegenſtand der Liebe kleidet; widerſprochen jedoch jedesmal von der Liebe, und darum fortgetrieben zu neuer Geſtaltung, welcher abermals eben alſo widerſprochenG 2100wird; wodurch allein nun die Liebe, welche rein fuͤr ſich Eins iſt, des Fortfließens, der Unendlichkeit und der Ewigkeit durchaus un¬ faͤhig, in dieſer Verſchmelzung mit der An¬ ſchauung auch ein ewiges, und unendliches wird, ſo wie dieſe. Das ſo eben erwaͤhnte aus der Erkenntniß ſelbſt hergegebene Bild, fuͤr ſich allein und noch ohne Anwendung auf die deutlich erkannte Liebe daſſelbe genom¬ men, iſt die ſtehende, und gegebene Welt, oder die Natur. Der Wahn, daß in dieſe Natur Gottes Weſen auf irgend eine Weiſe unmit¬ telbar, und anders, als durch die angegebe¬ nen Zwiſchenglieder vermittelt, eintrete, ſtammt aus Finſterniß im Geiſte, und aus Unheiligkeit im Willen.

4) Daß nun das dunkle Gefuͤhl, als Aufloͤ¬ ſungsmittel der Liebe, in der Regel ganz uͤber¬ ſprungen, und an die Stelle deſſelben die klare Erkenntniß als das gewoͤhnliche Aufloͤſungsmit¬ tel geſezt werde, kann, wie ſchon erinnert, nur durch eine beſonnene Kunſt der Erziehung des Menſchen geſchehen, und iſt bisher nicht alſo ge¬ ſchehen. Da nun, wie wir gleichfalls erſehen101 haben, auf die lezte Weiſe eine von den bis¬ herigen gewoͤhnlichen Menſchen durchaus ver¬ ſchiedene Menſchen Art eingefuͤhrt, und als die Regel geſezt wird, ſo wuͤrde durch eine ſolche Erziehung allerdings eine ganz neue Ordnung der Dinge, und eine neue Schoͤpfung begin¬ nen. Zu dieſer neuen Geſtalt wuͤrde nun die Menſchheit ſich ſelber durch ſich ſelbſt, eben in¬ dem ſie als gegenwaͤrtiges Geſchlecht, ſich ſelbſt, als zukuͤnftiges Geſchlecht, erzieht, er¬ ſchaffen; auf die Weiſe, wie ſie allein dies kann, durch die Erkenntniß, als das einzige gemeinſchaftliche, und frei mitzutheilende, und das wahre, die Geiſterwelt zur Einheit ver¬ bindende Licht, und Luft dieſer Welt. Bisher wurde die Menſchheit, was ſie eben wurde, und werden konnte; mit dieſem Werden durch das Ohngefaͤhr iſt es vorbei: denn da, wo ſie am allerweiteſten ſich entwickelt hat, iſt ſie zu Nichts worden. Soll ſie nicht bleiben in die¬ ſem Nichts, ſo muß ſie von nun an zu allem, was ſie noch weiter werden ſoll, ſich ſelbſt machen. Dies ſey die eigentliche Beſtimmung des Menſchengeſchlechts auf der Erde, ſagte102 ich in den Vorleſungen, deren Fortſetzung dieſe ſind, daß es mit Freiheit ſich zu dem mache, was es eigentlich urſpruͤnglich iſt. Dieſes Sichſelbſtmachen, im allgemeinen mit Beſonnenheit, und nach einer Regel, muß nun irgendwo, und irgendwann, im Raum und in der Zeit einmal anheben, wodurch ein zweiter Haupt-Abſchnitt der freien und be¬ ſonnenen Entwiklung des Menſchengeſchlechts an die Stelle des erſten Abſchnitts einer nicht freien Entwiklung treten wuͤrde. Wir ſind der Meinung, daß, in Abſicht der Zeit, dieſe Zeit eben jetzt ſey, und daß dermalen das Geſchlecht in der wahren Mitte ſeines Lebens auf der Erde, zwiſchen ſeinen beiden Haupt - Epochen ſtehe; in Abſicht des Raums aber glauben wir, daß zu allernaͤchſt den Deut¬ ſchen es anzumuthen ſey, die neue Zeit, vor¬ angehend und vorbildend fuͤr die uͤbrigen, zu beginnen.

5) Dennoch wird auch ſogar dieſe ganz neue Schoͤpfung nicht durch einen Sprung er¬ folgen aus dem vorhergehenden, ſondern ſie iſt die wahre natuͤrliche Fortſetzung, und Folge103 der bisherigen Zeit, ganz beſonders unter den Deutſchen. Sichtbar, und wie ich glaube, all¬ gemein zugeſtanden, ging ja alles Regen und Streben der Zeit darauf, die dunklen Gefuͤhle zu verbannen, und allein der Klarheit und der Erkenntniß die Herrſchaft zu verſchaffen. Dieſes Streben iſt auch inſofern vollkommen gelungen, daß das bisherige Nichts vollkom¬ men enthuͤllt iſt. Keinesweges ſoll nun die¬ ſer Trieb nach Klarheit ausgerottet, oder das dumpfe Beruhen beim dunkeln Gefuͤhle wieder herrſchend werden; jener Trieb ſoll nur noch weiter entwikelt, und in hoͤhere Kreiſe einge¬ fuͤhrt werden, alſo, daß nach der Enthuͤllung des Nichts auch das Etwas, die bejahende und wirklich etwas ſetzende Wahrheit, eben¬ falls offenbar werde. Die aus dem dunklen Gefuͤhle ſtammende Welt des gegebnen und ſich durch ſich ſelbſt machenden Seyns iſt ver¬ ſunken, und ſie ſoll verſunken bleiben; dage¬ gen ſoll die aus der urſpruͤnglichen Klarheit ſtammende Welt des ewig fort aus dem Geiſte zu entbindenden Seyns aufſtralen und an¬ brechen in ihrem ganzen Glanze.

104

Zwar duͤrfte die Weiſſagung eines neuen Lebens in ſolchen Formen, der Zeit ſonderbar duͤnken, und es duͤrfte dieſe kaum den Muth haben, dieſe Verheißung ſich zuzueignen; wenn ſie lediglich auf den ungeheuren Abſtand ih¬ rer herrſchenden Meinungen uͤber die ſo eben zur Sprache gebrachten Gegenſtaͤnde von dem, was als Grundſaͤtze der neuen Zeit ausgeſprochen worden, ſehen ſollte. Ich will von der Bildung, welche, jedoch als ein nicht gemein zu machendes Vorrecht, bisher in der Regel nur die hoͤhern Staͤnde erhielten, die von einer uͤberſinnlichen Welt ganz ſchwieg, und lediglich einige Geſchicklichkeit fuͤr die Geſchaͤfte der ſinnlichen zu bewirken ſtrebte, als von der offenbar ſchlechteren, nicht reden; ſondern nur auf diejenige ſehen, welche Volks-Bildung war, und, in einem gewiſſen ſehr beſchraͤnkten Sinne auch National-Erzie¬ hung genannt werden koͤnnte, die uͤber eine uͤberſinnliche Welt nicht durchaus Stillſchwei¬ gen beobachtete. Welches waren die Lehren dieſer Erziehung? Wenn wir, als allererſte Vorausſetzung der neuen Erziehung aufſtel¬105 len, daß in der Wurzel des Menſchen ein reiner Wohlgefallen am Guten ſey, und daß dieſer Wohlgefallen ſo ſehr entwikelt wer¬ den koͤnne, daß es dem Menſchen unmoͤglich werde, das fuͤr gut erkannte zu unterlaſſen, und ſtatt deſſen das fuͤr boͤs erkannte zu thun; ſo hat dagegen die bisherige Erziehung nicht bloß angenommen, ſondern auch ihre Zoͤglinge von fruͤher Jugend an belehrt, theils, daß dem Menſchen eine natuͤrliche Abnei¬ gung gegen Gottes Gebote beiwohne, theils, daß es ihm ſchlechthin unmoͤglich ſey, die¬ ſelben zu erfuͤllen. Was laͤßt von einer ſol¬ chen Belehrung, wenn ſie fuͤr Ernſt genom¬ men wird, und Glauben findet, anderes ſich erwarten, als daß jeder Einzelne ſich in ſeine nun einmal nicht abzuaͤndernde Natur ergebe, nicht verſuche zu leiſten, was ihm nun als einmal unmoͤglich vorgeſtellt iſt, und nicht beſſer zu ſeyn begehre, denn er und alle uͤbrigen zu ſeyn vermoͤgen; ja, daß er ſich ſogar die ihm angemuthete Niedertraͤchtigkeit gefallen laſſe, ſich ſelbſt in ſeiner radikalen Suͤndhaftigkeit, und Schlechtigkeit anzuer¬106 kennen; indem dieſe Niedertraͤchtigkeit vor Gott ihm als das einzige Mittel vorgeſtellt wird, mit demſelben ſich abzufinden: und daß er, falls etwa eine ſolche Behauptung, wie die unſrige, an ſein Ohr trift, nicht anders denken koͤnne, als daß man bloß einen ſchlechten Scherz mit ihm treiben wolle, indem er allgegenwaͤrtig fuͤhlt in ſeinem Innern, und mit den Haͤnden greift, daß dieſes nicht wahr, ſondern das Gegentheil davon allein wahr ſey? Wenn wir eine von allem gegebenen Seyn ganz unabhaͤngige und vielmehr dieſem Seyn ſelbſt das Geſez ge¬ bende Erkenntniß annehmen, und in dieſe gleich vom Anbeginn jedes menſchliche Kind eintauchen, und es von nun an in dem Gebiete derſelben immerfort erhalten wol¬ len, wogegen wir die nur hiſtoriſch zu er¬ lernende Beſchaffenheit der Dinge als eine geringfuͤgige Nebenſache, die von ſelbſt ſich ergiebt, betrachten; ſo treten die reifſten Fruͤchte der bisherigen Bildung uns entge¬ gen, und erinnern uns, daß es ja bekann¬ termaaßen gar keine a prioriſche Erkennt¬107 niß gebe, und daß ſie wohl wiſſen moͤchten, wie man erkennen koͤnne, außer durch Er¬ fahrung. Und damit dieſe uͤberſinnliche, und a prioriſche Welt auch ſogar an derjenigen Stelle ſich nicht verrathe, wo es gar nicht zu vermeiden ſchien an der Moͤglichkeit einer Erkenntniß von Gott, und ſelbſt an Gotte nicht die geiſtige Selbſtthaͤtigkeit ſich erhoͤbe, ſondern das leidende Hingeben alles in allem bliebe, hat gegen dieſe Gefahr die bisherige Menſchenbildung das kuͤhne Mittel gefunden, das Daſeyn Gottes zu einem hiſtoriſchen Fak¬ tum zu machen, deſſen Wahrheit durch ein Zeugenverhoͤr ausgemittelt wird.

So verhaͤlt es ſich wohl freilich; dennoch aber wolle das Zeitalter darum nicht an ſich ſel¬ ber verzagen. Denn dieſe, und alle andere aͤhn¬ liche Erſcheinungen ſind ſelber nichts ſelbſt¬ ſtaͤndiges, ſondern nur Bluͤthen und Fruͤchte der wilden Wurzel der alten Zeit. Gebe nur das Zeitalter ſich ruhig hin der Ein¬ impfung einer neuen edlern und kraͤftigern Wurzel, ſo wird die alte erſticken, und die Bluͤthen und Fruͤchte derſelben, denen aus108 jener keine weitere Nahrung zugefuͤhrt wird, werden von ſelbſt verwelken und abfallen. Jetzt vermag es das Zeitalter noch gar nicht, unſern Worten zu glauben, und es iſt noth¬ wendig, daß ihm dieſelben vorkommen, wie Maͤhrchen. Wir wollen auch dieſen Glau¬ ben nicht; wir wollen nur Raum zum Schaffen und Handeln. Nachmals wird es ſehen, und es wird glauben ſeinen eigenen Augen.

So wird z. B. jedermann, der mit den Erzeugungen der letzten Zeit bekannt iſt, ſchon laͤngſt bemerkt haben, daß hier abermals die Saͤtze und Anſichten ausgeſprochen werden, welche die neuere deutſche Philoſophie ſeit ihrer Entſtehung geprediget hat, und wie¬ derum geprediget, weil ſie eben nichts weiter vermochte, denn zn predigen. Daß dieſe Predigten fruchtlos verhallet ſind in der lee¬ ren Luft, iſt nun hinlaͤnglich klar, auch iſt der Grund klar, warum ſie alſo verhallen mußten. Nur auf Lebendiges wirkt Lebendi¬ ges; in dem wirklichen Leben der Zeit aber iſt gar keine Verwandſchaft zu dieſer Philo¬109 ſophie, indem dieſe Philoſophie ihr Weſen treibet in einem Kreiſe, der fuͤr jene noch gar nicht aufgegangen, und fuͤr Sinnenwerk¬ zeuge, die jener noch nicht erwachſen ſind. Sie iſt gar nicht zu Hauſe in dieſem Zeit¬ alter, ſondern ſie iſt ein Vorgriff der Zeit, und ein ſchon im Voraus fertiges Lebens - Ele¬ ment eines Geſchlechts, das in demſelben erſt zum Lichte erwachen ſoll. Auf das ge¬ gegenwaͤrtige Geſchlecht muß ſie Verzicht thun, damit ſie aber bis dahin nicht muͤßig ſey, ſo uͤbernehme ſie dermalen die Aufgabe, das Geſchlecht, zu welchem ſie gehoͤrt, ſich zu bil¬ den. Erſt wie dies ihr naͤchſtes Geſchaͤft ihr klar geworden, wird ſie friedlich und freund¬ lich zuſammen leben koͤnnen mit einem Ge¬ ſchlechte, das uͤbrigens ihr nicht gefaͤllt. Die Erziehung, die wir bisher beſchrieben haben, iſt zugleich die Erziehung fuͤr ſie; wiederum kann in einem gewiſſen Sinn nur ſie die Er¬ zieherin ſeyn in dieſer Erziehung; und ſo mußte ſie ihrer Verſtaͤndlichkeit und Annehmbarkeit zuvoreilen. Aber es wird die Zeit kommen, in der ſie verſtanden und mit Freuden ange¬110 nommen werden wird; und darum wolle das Zeitalter nicht an ſich ſelbſt verzagen.

Hoͤre dieſes Zeitalter ein Geſicht eines al¬ ten Sehers, das auf eine wohl nicht weni¬ ger beklagenswerthe Lage berechnet war. So ſagt der Seher am Waſſer Chebar, der Troͤ¬ ſter der Gefangenen nicht im eigenen ſondern im fremden Lande: Des Herrn Hand kam uͤber mich, und fuͤhrte mich hinaus im Gei¬ ſte des Herrn, und ſtellte mich auf ein weit Feld, das voller Gebeine lag, und er fuͤhrte mich allenthalben herum, und ſiehe, des Ge¬ beines lag ſehr viel auf dem Felde, und ſiehe, ſie waren ſehr verdorret. Und der Herr ſprach zu mir: du Menſchenkind, mei¬ neſt du wohl, daß dieſe Gebeine werden wie¬ der lebendig werden? Und ich ſprach: Herr das weißeſt nur du wohl. Und er ſprach zu mir: Weiſſage von dieſen Gebeinen, und ſprich zu ihnen: ihr verdorrten Gebeine, hoͤ¬ ret des Herrn Wort. So ſpricht der Herr von euch verdorrten Gebeinen, ich will euch durch Flechſen und Sehnen wieder verbinden, und Fleiſch laſſen uͤber euch wachſen; und111 euch mit Haut uͤberziehen, und will euch Odem geben, daß ihr wieder lebendig wer¬ det, und ihr ſollet erfahren, daß ich der Herr ſey. Und ich weiſſagte, wie mir befoh¬ len war, und ſiehe, da rauſchte es, als ich weiſſagte, und regte ſich, und die Gebeine fuͤgten ſich wieder aneinander, ein jegliches an ſeinen Ort, und es wuchſen darauf Adern und Fleiſch, und er uͤberzog ſie mit Haut; noch aber war kein Odem in ihnen. Und der Herr ſprach zu mir: Weiſſage zum Win¬ de, du Menſchenkind, und ſprich zum Win¬ de: ſo ſpricht der Herr: Wind komm herzu aus den vier Winden, und blaſe an dieſe Getoͤdteten, daß ſie wieder lebendig werden. Und ich weiſſagete, wie er mir befohlen hat¬ te. Da kam Odem in ſie, und ſie wurden wieder lebendig, und richteten ſich auf ihre Fuͤße, und ihrer war ein ſehr großes Heer. Laſſet immer die Beſtandtheile unſres hoͤ¬ hern geiſtigen Lebens eben ſo ausgedorret, und eben darum auch die Bande unſerer Na¬ tional-Einheit eben ſo zerriſſen, und in wil¬ der Unordnung durcheinander zerſtreut herum¬112 liegen, wie die Todtengebeine des Sehers; laſſet unter Stuͤrmen, Regenguͤſſen, und ſen¬ gendem Sonnenſcheine mehrerer Jahrhunderte dieſelben gebleicht und ausgedorrt haben; der belebende Odem der Geiſterwelt hat noch nicht aufgehoͤrt zu wehen. Er wird auch unſers Nationalkoͤrpers erſtorbene Gebeine ergreifen, und ſie aneinanderfuͤgen, daß ſie herrlich daſtehen in neuem und verklaͤrtem Leben.

113

Vierte Rede.

Hauptverſchiedenheit zwiſchen den Deut¬ ſchen und den uͤbrigen Voͤlkern Germa¬ niſcher Abkunft.

Das in dieſen Reden vorgeſchlagene Bil¬ dungsmittel eines neuen Menſchengeſchlechts muͤſſe zu allererſt von Deutſchen an Deutſchen angewendet werden, und es komme daſſelbe ganz eigentlich und zunaͤchſt unſrer Nation zu, iſt geſagt worden. Auch dieſer Satz be¬ darf eines Beweiſes, und wir werden auch hier, ſo wie bisher, anheben von dem hoͤch¬ ſten, und allgemeinſten, zeigend, was der Deutſche an und fuͤr ſich, unabhaͤngig von dem Schickſale, das ihn dermalen betroffen hat, in ſeinem Grundzuge ſey, und von jeher geweſen ſey, ſeitdem er iſt; und darlegend, daß ſchon in dieſem Grundzuge die FaͤhigkeitH114und Empfaͤnglichkeit einer ſolchen Bildung, ausſchließend vor allen andern Europaͤiſchen Nationen, liege.

Der Deutſche iſt zuvoͤrderſt ein Stamm der Germanier uͤberhaupt, uͤber welche leztere hier hinreicht die Beſtimmung anzugeben, daß ſie da waren, die im alten Europa errichtete geſellſchaftliche Ordnung mit der im alten Aſien aufbewahrten wahren Religion zu ver¬ einigen, und ſo an und aus ſich ſelbſt eine neue Zeit, im Gegenſatze des untergegange¬ nen Alterthums, zu entwickeln. Ferner reicht es hin den Deutſchen insbeſondre nur im Gegenſatze mit den andern neben ihm ent¬ ſtandenen Germaniſchen Voͤlkerſtaͤmmen zu bezeichnen; indem andere Neueuropaͤiſche Nationen, als z. B. die von Slaviſcher Ab¬ ſtammung, ſich vor dem uͤbrigen Europa noch nicht ſo klar entwickelt zu haben ſcheinen, daß eine beſtimmte Zeichnung von ihnen moͤg¬ lich ſey, andere aber von der gleichen Germa¬ niſchen Abſtammung, von denen der ſogleich anzufuͤhrende Haupt-Unterſcheidungs-Grund nicht gilt, wie die Skandinavier, hier unbe¬ zweifelt fuͤr Deutſche genommen werden, und115 unter allen den allgemeinen Folgen unſrer Betrachtung mit begriffen ſind.

Vor allem voraus aber iſt der jezt ins¬ beſondre anzuſtellenden Betrachtung folgende Bemerkung voranzuſenden. Ich werde als Grund des erfolgten Unterſchiedes in dem urſpruͤnglich Einen Grundſtamme eine Bege¬ benheit angeben, die bloß als Begebenheit klar und unwiderſprechlich vor aller Augen liegt; ich werde ſodann einzelne Erſcheinun¬ gen dieſes erfolgten Unterſchiedes aufſtellen, welche als bloße Begebenheiten wohl eben ſo einleuchtend duͤrften gemacht werden koͤnnen. Was aber die Verknuͤpfung der letztern, als Folgen, mit dem erſten, als ihrem Grunde, und die Ableitung der Folge aus dem Grunde betrift, kann ich im allgemeinen nicht auf dieſelbe Klarheit und uͤberzeugende Kraft fuͤr alle rechnen. Zwar ſpreche ich auch in dieſer Ruͤckſicht nicht eben ganz neue, und bisher unerhoͤrte Saͤtze aus, ſondern es giebt un¬ ter uns viele einzelne, die fuͤr eine ſolche An¬ ſicht der Sache entweder ſehr gut vorberei¬ tet, oder auch wohl mit derſelben ſchon ver¬ traut ſind. Unter der Mehrheit aber ſindH 2116uͤber den anzuregenden Gegenſtand Begriffe im Umlaufe, die von den unſrigen ſehr ab¬ weichen, und welche zu berichtigen, und alle, von ſolchen, die keinen geuͤbten Sinn fuͤr ein Ganzes haben, aus einzelnen Faͤllen bei¬ zubringenden Einwuͤrfe zu widerlegen, die Grenze unſrer Zeit, und unſers Plans bei weitem uͤberſchreiten wuͤrde. Den leztern muß ich mich begnuͤgen das in dieſer Ruͤckſicht zu ſagende, das in meinem geſammten Denken nicht ſo einzeln und abgeriſſen, und nicht ohne Begruͤndung bis in die Tiefe des Wiſſens, daſtehen duͤrfte, wie es hier ſich giebt, nur als Gegenſtand ihres weitern Nachdenkens hinzulegen. Ganz uͤbergehen durfte ich es, noch abgerechnet die fuͤr das Ganze nicht zu er¬ laſſende Gruͤndlichkeit, auch ſchon nicht in Ruͤckſicht der wichtigen Folgen daraus, die ſich im ſpaͤtern Verlaufe unſrer Reden erge¬ ben werden, und die ganz eigentlich zu un¬ ſerm naͤchſten Vorhaben gehoͤren.

Der zu allererſt, und unmittelbar der Be¬ trachtung ſich darbietende Unterſchied zwiſchen den Schickſalen der Deutſchen und der uͤbri¬ gen aus derſelben Wurzel erzeugten Staͤmme117 iſt der, daß die erſten in den urſpruͤnglichen Wohnſitzen des Stammvolks blieben, die lez¬ ten in andere Sitze auswanderten, die erſten die urſpruͤngliche Sprache des Stammvolks behielten und fortbildeten, die lezten eine fremde Sprache annahmen, und dieſelbe all¬ maͤhlig nach ihrer Weiſe umgeſtalteten. Aus dieſer fruͤheſten Verſchiedenheit muͤſſen erſt die ſpaͤter erfolgten, z. B. daß im urſpruͤnglichen Vaterlande, angemeſſen Germaniſcher Urſitte, ein Staatenbund unter einem beſchraͤnkten Oberhaupte blieb, in den fremden Laͤndern mehr auf bisherige Roͤmiſche Weiſe, die Ver¬ faſſung in Monarchien uͤberging, u. dergl. erklaͤrt werden, keinesweges aber in umgekehr¬ ter Ordnung.

Von den angegebnen Veraͤnderungen iſt nun die erſte, die Veraͤnderung der Heimath, ganz unbedeutend. Der Menſch wird leicht unter jedem Himmelsſtriche einheimiſch, und die Volkseigenthuͤmlichkeit, weit entfernt durch den Wohnort ſehr veraͤndert zu werden, be¬ herrſcht vielmehr dieſen, und veraͤndert ihn nach ſich. Auch iſt die Verſchiedenheit der Natureinfluͤſſe in dem von Germaniern be¬118 wohnten Himmelsſtriche nicht ſehr groß. Eben ſo wenig wolle man auf den Umſtand ein Gewicht legen, daß in den eroberten Laͤn¬ dern die Germaniſche Abſtammung mit den fruͤhern Bewohnern vermiſcht worden; denn Sieger, und Herrſcher, und Bildner des aus der Vermiſchung entſtehenden neuen Volks waren doch nur die Germanen. Ueberdies erfolgte dieſelbe Miſchung, die im Auslande mit Galliern, Kantabriern, u. ſ. w. geſchah, im Mutterlande mit Slaven wohl nicht in geringerer Ausdehnung; ſo daß es keinem der aus Germaniern entſtandenen Voͤlker heut zu Tage leicht fallen duͤrfte, eine groͤßere Reinheit ſeiner Abſtammung vor den uͤbrigen darzuthun.

Bedeutender aber, und wie ich dafuͤr halte, einen vollkommnen Gegenſatz zwiſchen den Deutſchen, und den uͤbrigen Voͤlkern Germa¬ niſcher Abkunft begruͤndend, iſt die zweite Veraͤnderung, die der Sprache; und kommt es dabei, welches ich gleich zu Anfange be¬ ſtimmt ausſprechen will, weder auf die be¬ ſondre Beſchaffenheit derjenigen Sprache an, welche von dieſem Stamme beibehalten, noch119 auf die der andern, welche von jenem andern Stamme angenommen wird, ſondern allein darauf, daß dort eigenes behalten, hier frem¬ des angenommen wird; noch kommt es an auf die vorige Abſtammung derer, die eine ur¬ ſpruͤngliche Sprache fortſprechen, ſondern nur darauf, daß dieſe Sprache ohne Unterbrechung fort geſprochen werde, indem weit mehr die Menſchen von der Sprache gebildet werden, denn die Sprache von den Menſchen.

Um die Folgen eines ſolchen Unterſchiedes in der Voͤlkererzeugung, und die beſtimmte Art des Gegenſatzes in den Nationalzuͤgen, die aus dieſer Verſchiedenheit nothwendig er¬ folgt, klar zu machen, ſo weit es hier moͤg¬ lich, und noͤthig iſt, muß ich Sie zu einer Betrachtung uͤber das Weſen der Sprache uͤberhaupt einladen.

Die Sprache uͤberhaupt, und beſonders die Bezeichnung der Gegenſtaͤnde in derſelben durch das Lautwerden der Sprachwerkzeuge haͤngt keinesweges von willkuͤhrlichen Be¬ ſchluͤſſen, und Verabredungen ab, ſondern es giebt zufoͤrderſt ein Grundgeſez, nach welchem jedweder Begriff in den menſchlichen Sprach¬120 werkzeugen zu dieſem, und keinem andern Laute wird. So wie die Gegenſtaͤnde ſich in den Sinnenwerkzeugen des Einzelnen mit die¬ ſer beſtimmten Figur, Farbe, u. ſ. w. abbil¬ den, ſo bilden ſie ſich im Werkzeuge des ge¬ ſellſchaftlichen Menſchen, in der Sprache, mit dieſem beſtimmten Laute ab. Nicht eigentlich redet der Menſch, ſondern in ihm redet die menſchliche Natur, und verkuͤndiget ſich an¬ dern ſeines Gleichen. Und ſo muͤßte man ſagen: die Sprache iſt eine einzige, und durch¬ aus nothwendige.

Nun mag zwar, welches das zweite iſt, die Sprache in dieſer ihrer Einheit fuͤr den Men¬ ſchen ſchlechtweg, als ſolchen, niemals, und nirgend hervorgebrochen ſeyn, ſondern allent¬ halben weiter geaͤndert und gebildet durch die Wirkungen, welche der Himmelsſtrich, und haͤufigerer, oder ſeltnerer Gebrauch, auf die Sprachwerkzeuge, und die Aufeinanderfolge der beobachteten und bezeichneten Gegenſtaͤnde, auf die Aufeinanderfolge der Bezeichnung hat¬ ten. Jedoch findet auch hierin nicht Will¬ kuͤhr oder Ohngefaͤhr, ſondern ſtrenges Geſez ſtatt; und es iſt nothwendig, daß in einem121 durch die erwaͤhnten Bedingungen alſo be¬ ſtimmten Sprachwerkzeuge, nicht die Eine und reine Menſchenſprache, ſondern daß eine Ab¬ weichung davon, und zwar, daß gerade dieſe beſtimmte Abweichung davon hervorbreche.

Nenne man die unter denſelben aͤußern Einfluͤſſen auf das Sprachwerkzeug ſtehenden, zuſammenlebenden, und in fortgeſezter Mit¬ theilung ihre Sprache fortbildenden Men¬ ſchen ein Volk, ſo muß man ſagen: die Sprache dieſes Volks iſt nothwendig ſo wie ſie iſt, und nicht eigentlich dieſes Volk ſpricht ſeine Erkenntniß aus, ſondern ſeine Erkennt¬ niß ſelbſt ſpricht ſich aus aus demſelben.

Bei allen im Fortgange der Sprache durch dieſelben oben erwaͤhnten Umſtaͤnde er¬ folgten Veraͤnderungen bleibt ununterbrochen dieſe Geſezmaͤßigkeit; und zwar fuͤr alle, die in ununterbrochner Mittheilung bleiben, und wo das von jedem einzelnen ausgeſprochene Neue an das Gehoͤr aller gelangt, dieſelbe Eine Geſezmaͤßigkeit. Nach Jahrtauſenden, und nach allen den Veraͤnderungen, welche in ihnen die aͤußere Erſcheinung der Sprache dieſes Volks erfahren hat, bleibt es immer122 dieſelbe Eine, urſpruͤnglich alſo ausbrechen¬ muͤſſende lebendige Sprachkraft der Natur, die ununterbrochen durch alle Bedingungen herab gefloſſen iſt, und in jeder ſo werden mußte, wie ſie ward, am Ende derſelben ſo ſeyn mußte, wie ſie jezt iſt, und in einiger Zeit alſo ſeyn wird, wie ſie ſodann muͤſſen wird. Die reinmenſchliche Sprache zuſam¬ mengenommen zufoͤrderſt mit dem Organe des Volks, als ſein erſter Laut ertoͤnte; was hieraus ſich ergiebt, ferner zuſammengenom¬ men mit allen Entwiklungen, die dieſer erſte Laut unter den gegebnen Umſtaͤnden gewin¬ nen mußte, giebt als letzte Folge die gegen¬ waͤrtige Sprache des Volks. Darum bleibt auch die Sprache immer dieſelbe Sprache. Laſſet immer nach einigen Jahrhunderten die Nachkommen die damalige Sprache ihrer Vorfahren nicht verſtehen, weil fuͤr ſie die Uebergaͤnge verloren gegangen ſind, dennoch giebt es vom Anbeginn an einen ſtetigen Uebergang, ohne Sprung, immer unmerklich in der Gegenwart, und nur durch Hinzufuͤ¬ gung neuer Uebergaͤnge bemerklich gemacht, und als Sprung erſcheinend. Niemals iſt123 ein Zeitpunkt eingetreten, da die Zeitgenoſſen aufgehoͤrt haͤtten ſich zu verſtehen, indem ihr ewiger Vermittler und Dollmetſcher die aus ihnen allen ſprechende gemeinſame Naturkraft immerfort war und blieb. So verhaͤlt es ſich mit der Sprache als Bezeichnung der Gegenſtaͤnde unmittelbar ſinnlicher Wahrneh¬ mung, und dieſes iſt alle menſchliche Sprache anfangs. Erhebt von dieſer das Volk ſich zu Erfaſſung des uͤberſinnlichen, ſo vermag dieſes uͤberſinnliche zur beliebigen Wieder¬ holung und zur Vermeidung der Verwirrung mit dem ſinnlichen fuͤr den erſten Einzelnen, und zur Mittheilung und zwekmaͤßigen Lei¬ tung fuͤr andere, zufoͤrderſt nicht anders feſt gehalten zu werden, denn alſo, daß ein Selbſt als Werkzeug einer uͤberſinnlichen Welt, be¬ zeichnet, und von demſelben Selbſt, als Werk¬ zeug der ſinnlichen Welt, genau unterſchieden werde eine Seele, Gemuͤth und dergl. einem koͤrperlichen Leibe entgegengeſetzt werde. Ferner koͤnnten die verſchiedenen Gegenſtaͤnde dieſer uͤberſinnlichen Welt, da ſie insgeſammt nur in jenem uͤberſinnlichen Werkzeuge er¬ ſcheinen, und fuͤr daſſelbe da ſind, in der124 Sprache nur dadurch bezeichnet werden, daß geſagt werde, ihr beſonderes Verhaͤltniß zu ihrem Werkzeuge ſey alſo, wie das Verhaͤlt¬ niß der und der beſtimmten ſinnlichen Ge¬ genſtaͤnde zum ſinnlichen Werkzeuge, und daß in dieſem Verhaͤltniß ein beſonderes uͤberſinn¬ liches einem beſondern ſinnlichen gleichgeſezt, und durch dieſe Gleichſetzung ſein Ort im uͤberſinnlichen Werkzeuge durch die Sprache angedeutet werde. Weiter vermag in dieſem Umkreiſe die Sprache nichts; ſie giebt ein ſinnliches Bild des Ueberſinnlichen bloß mit der Bemerkung, daß es ein ſolches Bild ſey; wer zur Sache ſelbſt kommen will, muß nach der durch das Bild ihm angegebenen Regel ſein eigenes geiſtiges Werkzeug in Bewegung ſetzen. Im allgemeinen erhellet, daß dieſe ſinnbildliche Bezeichnung des Ueberſinnlichen jedesmal nach der Stuffe der Entwiklung des ſinnlichen Erkenntnißvermoͤgens unter dem gegebenen Volke ſich richten muͤſſe; daß da¬ her der Anfang und Fortgang dieſer ſinnbild¬ lichen Bezeichnung in verſchiedenen Spra¬ chen ſehr verſchieden ausfallen werde, nach der Verſchiedenheit des Verhaͤltniſſes, das125 zwiſchen der ſinnlichen, und geiſtigen Ausbil¬ dung des Volkes, das eine Sprache redet, ſtatt gefunden, und fortwaͤhrend ſtatt findet.

Wir beleben zufoͤrderſt dieſe in ſich klare Be¬ merkung durch ein Beiſpiel. Etwas, das zufolge der in der vorigen Rede erklaͤrten Erfaſſung des Grundtriebes nicht erſt durch das dunkle Gefuͤhl, ſondern ſogleich durch klare Erkenntniß entſteht, dergleichen jedes¬ mal ein uͤberſinnlicher Gegenſtand iſt, heißt mit einem griechiſchen, auch in der deutſchen Sprache haͤufig gebrauchten Worte, eine Idee, und dieſes Wort giebt genau daſſelbe Sinnbild, was in der deutſchen das Wort Geſicht, wie dieſes in folgenden Wendun¬ gen der lutheriſchen Bibeluͤberſetzung: ihr werdet Geſichte ſehen, ihr werdet Traͤume haben, vorkommt. Idee oder Geſicht in ſinn¬ licher Bedeutung waͤre etwas, das nur durch das Auge des Leibes, keinesweges aber durch einen andern Sinn, etwa der Betaſtung, des Gehoͤrs u. ſ. w. erfaßt werden koͤnnte, ſo wie etwa ein Regenbogen, oder die Geſtal¬ ten, welche im Traume vor uns voruͤber ge¬ hen. Daſſelbe in uͤberſinnlicher Bedeutung126 hieße zufoͤrderſt, zufolge des Umkreiſes in dem das Wort gelten ſoll, etwas, das gar nicht durch den Leib, ſondern nur durch den Geiſt erfaßt wird, ſodann, das auch nicht durch das dunkle Gefuͤhl des Geiſtes, wie manches andere, ſondern allein durch das Auge deſſelben, die klare Erkenntniß, erfaßt werden kann. Wollte man nun etwa ferner annehmen, daß den Griechen bei dieſer ſinn¬ bildlichen Bezeichnung allerdings der Regen¬ bogen, und die Erſcheinungen der Art, zum Grunde gelegen, ſo muͤßte man geſtehen, daß ihre ſinnliche Erkenntniß ſchon vorher ſich zur Bemerkung des Unterſchiedes zwiſchen den Dingen, daß einige ſich allen oder mehrern Sinnen, einige ſich bloß dem Auge offenba¬ ren, erhoben haben muͤſſe, und daß außerdem ſie den entwickelten Begriff, wenn er ihnen klar geworden waͤre, nicht alſo, ſondern an¬ ders haͤtten bezeichnen muͤſſen. Es wuͤrde ſo¬ dann auch ihr Vorzug in geiſtiger Klarheit erhellen etwa vor einem andern Volke, das den Unterſchied zwiſchen ſinnlichem und uͤber¬ ſinnlichem nicht durch ein aus dem beſonne¬ nen Zuſtande des Wachens hergenommenes127 Sinnbild habe bezeichnen koͤnnen, ſondern zum Traume ſeine Zuflucht genommen, um ein Bil d fuͤr eine andere Welt zu finden; zugleich wuͤrde einleuchten, daß dieſer Unterſchied nicht etwa durch die groͤßere oder geringere Staͤrke des Sinns fuͤrs Ueberſinnliche in den beiden Voͤlkern, ſondern daß er lediglich durch die Verſchiede heit ihrer ſinnlichen Klarheit, damals, als ſie Ue¬ berſinnliches bezeichnen wollten, begruͤndet ſey.

So richtet alle Bezeichnung des Ueberſin lichen ſich nach dem Umfange und der Klarheit der ſinnlichen Erkenntniß desjenigen, der da bezeichnet. Das Sinnbild iſt ihm klar, und druͤckt ihm das Verhaͤltniß des Begriffenen zum geiſtigen Werkzeuge vollkommen verſtaͤnd¬ lich aus, denn dieſes Verhaͤltniß wird ihm er¬ klaͤrt durch ein anderes unmittelbar lebendiges Verhaͤltniß zu ſeinem ſinnlichen Werkzeuge. Dieſe alſo entſtandene neue Bezeichnung, mit aller der neuen Klarheit, die durch dieſen er¬ weiterten Gebrauch des Zeichens die ſinnliche Erkenntniß ſelber bekommt, wird nun nieder¬ gelegt in der Sprache; und die moͤgliche kuͤnf¬ tige uͤberſinnliche Erkenntniß wird nun nach ihrem Verhaͤltniſſe zu der ganzen in der ge¬128 ſammten Sprache niedergelegten uͤberſinnlichen und ſinnlichen Erkenntniß bezeichnet; und ſo geht es ununterbrochen fort; und ſo wird denn die unmittelbare Klarheit und Verſtaͤndlichkeit der Sinnbilder niemals abgebrochen, ſondern ſie bleibt ein ſtetiger Fluß. Ferner, da die Sprache nicht durch Willkuͤhr vermittelt, ſon¬ dern als unmittelbare Naturkraft aus dem ver¬ ſtaͤndigen Leben ausbricht, ſo hat eine ohne Abbruch nach dieſem Geſetze fortentwickelte Sprache auch die Kraft, unmittelbar einzu¬ greifen in das Leben, und daſſelbe anzuregen. Wie die unmittelbar gegenwaͤrtigen Dinge den Menſchen bewegen, ſo muͤſſen auch die Worte einer ſolchen Sprache den bewegen, der ſie ver¬ ſteht, denn auch ſie ſind Dinge, keinesweges willkuͤhrliches Machwerk. So zunaͤchſt im Sinn¬ lichen. Nicht anders jedoch auch im Ueberſinn¬ lichen. Denn obwohl in Beziehung auf das leztere der ſtetige Fortgang der Naturbeobach¬ tung durch freie Beſinnung und Nachdenken unterbrochen wird, und hier gleichſam der un¬ bildliche Gott eintritt; ſo verſezt dennoch die Bezeichnung durch die Sprache das unbildliche auf der Stelle in den ſtetigen Zuſammenhangdes129des bildlichen zuruͤck; und ſo bleibt auch in dieſer Ruͤckſicht der ſtetige Fortgang der zuerſt als Naturkraft ausgebrochenen Sprache un¬ unterbrochen, und es tritt in den Fluß der Be¬ zeichnung keine Willkuͤhr ein. Es kann darum auch dem uͤberſinnlichen Theile einer alſo ſtetig fortentwickelten Sprache ſeine Leben anregende Kraft auf den, der nur ſein geiſtiges Werkzeug in Bewegung ſezt, nicht entgehen. Die Worte einer ſolchen Sprache in allen ihren Theilen ſind Leben, und ſchaffen Leben. Machen wir auch in Ruͤckſicht der Entwiklung der Sprache fuͤr das uͤberſinnliche die Vorausſetzung, daß das Volk dieſer Sprache in ununterbrochener Mittheilung geblieben, und daß, was Einer gedacht, und ausgeſprochen, bald an alle ge¬ kommen, ſo gilt, was bisher im allgemeinen geſagt worden, fuͤr Alle, die dieſe Sprache reden. Allen, die nur denken wollen, iſt das in der Sprache niedergelegte Sinnbild klar; allen, die da wirklich denken, iſt es lebendig, und anregend ihr Leben.

So verhaͤlt es ſich, ſage ich, mit einer Spra¬ che, die von dem erſten Laute an, der in dem¬ ſelben Volke ausbrach, ununterbrochen aus dem wirklichen gemeinſamen Leben dieſes VolksI130ſich entwickelt hat, und in die niemals ein Be¬ ſtandtheil gekommen, der nicht eine wirklich er¬ lebte Anſchauung dieſes Volks, und eine mit allen uͤbrigen Anſchauungen deſſelben Volks im allſeitig eingreifenden Zuſammenhange ſtehende Anſchauung ausdruͤckte. Laſſet dem Stamm¬ volke dieſer Sprache noch ſo viel Einzelne an¬ dern Stammes, und anderer Sprache einver¬ leibt werden; wenn es dieſen nur nicht verſtat¬ tet wird, den Umkreis ihrer Anſchauungen zu dem Standpunkte, von welchem von nun an die Sprache ſich fortentwickle, zu erheben, ſo bleiben dieſe ſtumm in der Gemeine, und ohne Einfluß auf die Sprache, ſo lange, bis ſie ſelbſt in den Umkreis der Anſchauungen des Stamm¬ volkes hineingekommen ſind, und ſo bilden nicht ſie die Sprache, ſondern die Sprache bil¬ det ſie.

Ganz das Gegentheil aber von allem bis¬ her geſagten erfolgt alsdann, wenn ein Volk, mit Aufgebung ſeiner eignen Sprache eine fremde, fuͤr uͤberſinnliche Bezeichnung ſchon ſehr gebildete, annimmt; und zwar nicht alſo, daß es ſich der Einwirkung dieſer fremden Sprache ganz frei hingebe, und ſich beſcheide ſprachlos zu bleiben, ſo lange, bis es in den131 Kreis der Anſchauungen dieſer fremden Sprache hineingekommen; ſondern alſo, daß es ſeinen eignen Anſchauungskreis der Sprache aufdrin¬ ge, und dieſe, von dem Standpunkte aus, wo ſie dieſelbe fanden, von nun an in dieſem An¬ ſchauungskreiſe ſich fortbewegen muͤſſe. In Abſicht des ſinnlichen Theils der Sprache zwar iſt dieſe Begebenheit ohne Folgen. In jedem Volke muͤſſen ja ohnedies die Kinder dieſen Theil der Sprache, gleich als ob die Zeichen willkuͤhrlich waͤren, lernen, und ſo die ganze fruͤhere Sprachentwiklung der Nation hierin nachholen; jedes Zeichen aber in dieſem ſinn¬ lichen Umkreiſe kann durch die unmittelbare Anſicht, oder Beruͤhrung des Bezeichneten voll¬ kommen klar gemacht werden. Hoͤchſtens wuͤrde daraus folgen, daß das erſte Geſchlecht eines ſolchen ſeine Sprache aͤndernden Volks als Maͤnner wieder in die Kinderjahre zuruͤckzuge¬ hen genoͤthigt geweſen; mit den nachgebornen aber und an den kuͤnftigen Geſchlechtern war alles wieder in der alten Ordnung. Dagegen iſt dieſe Veraͤnderung von den bedeutendſten Folgen in Ruͤckſicht des uͤberſinnlichen Theils der Sprache. Dieſer hat zwar fuͤr die erſten Eigenthuͤmer der Sprache ſich gemacht auf dieI 2132bisher beſchriebene Weiſe; fuͤr die ſpaͤtern Er¬ oberer derſelben aber enthaͤlt das Sinnbild eine Vergleichung mit einer ſinnlichen Anſchau¬ ung, die ſie entweder ſchon laͤngſt, ohne die beiliegende geiſtige Ausbildung, uͤberſprungen haben, oder die ſie dermalen noch nicht gehabt haben, auch wohl niemals haben koͤnnen. Das hoͤchſte, was ſie hiebei thun koͤnnen, iſt, daß ſie das Sinnbild und die geiſtige Bedeutung deſ¬ ſelben ſich erklaͤren laſſen, wodurch ſie die flache und todte Geſchichte einer fremden Bildung, keinesweges aber eigene Bildung erhalten, und Bilder bekommen, die fuͤr ſie weder unmittel¬ bar klar, noch auch Lebenanregend ſind, ſon¬ dern voͤllig alſo willkuͤhrlich erſcheinen muͤſſen, wie der ſinnliche Theil der Sprache. Fuͤr ſie iſt nun, durch dieſen Eintritt der bloßen Ge¬ ſchichte, als Erklaͤrerin, die Sprache in Abſicht des ganzen Umkreiſes ihrer Sinnbildlichkeit tod, abgeſchloſſen, und ihr ſtetiger Fortfluß abgebrochen; und obwohl uͤber dieſen Umkreis hinaus ſie nach ihrer Weiſe, und in wiefern dies von einem ſolchen Ausgangspunkte aus moͤglich iſt, dieſe Sprache wieder lebendig fort¬ bilden moͤgen; ſo bleibt doch jener Beſtandtheil die Scheidewand an welcher der urſpruͤngliche133 Ausgang der Sprache, als eine Naturkraft, aus dem Leben, und die Ruͤckkehr der wirkli¬ chen Sprache in das Leben, ohne Ausnahme ſich bricht. Obwohl eine ſolche Sprache auf der Oberflaͤche durch den Wind des Lebens be¬ wegt werden, und ſo den Schein eines Lebens von ſich geben mag, ſo hat ſie doch tiefer einen todten Beſtandtheil, und iſt, durch den Ein¬ tritt des neuen Anſchauungskreiſes, und die Abbrechung des alten, abgeſchnitten von der lebendigen Wurzel.

Wir beleben das ſo eben geſagte durch ein Beiſpiel; indem wir zum Behuf dieſes Bei¬ ſpiels noch beilaͤufig die Bemerkung machen, daß eine ſolche im Grunde todte und unver¬ ſtaͤndliche Sprache ſich auch ſehr leicht verdre¬ hen, und zu allen Beſchoͤnigungen des menſch¬ lichen Verderbens mißbrauchen laͤßt, was in einer niemals erſtorbenen nicht alſo moͤglich iſt. Ich bediene mich als ſolchen Beiſpiels der drei beruͤchtigten Worte, Humanitaͤt, Popula¬ ritaͤt, Liberalitaͤt. Dieſe Worte, vor dem Deut¬ ſchen, der keine andere Sprache gelernt hat, ausgeſprochen, ſind ihm ein voͤllig leerer Schall, der an nichts ihm ſchon bekanntes durch Ver¬ wandſchaft des Lautes erinnert, und ſo aus134 dem Kreiſe ſeiner Anſchauung, und aller moͤg¬ lichen Anſchauung ihn vollkommen herausreißt. Reizt nun doch etwa das unbekannte Wort durch ſeinen fremden, vornehmen, und wohl¬ toͤnenden Klang ſeine Aufmerkſamkeit, und denkt er, was ſo hoch toͤne, muͤſſe auch etwas hohes bedeuten; ſo muß er ſich dieſe Bedeutung ganz von vorn herein, und als etwas ihm ganz neues, erklaͤren laſſen, und kann dieſer Erklaͤ¬ rung eben nur blind glauben, und wird ſo ſtill¬ ſchweigend gewoͤhnt, etwas fuͤr wirklich da¬ ſeyend, und wuͤrdig anzuerkennen, das er, ſich ſelbſt uͤberlaſſen, vielleicht niemals des Erwaͤh¬ nens werth gefunden haͤtte. Man glaube nicht, daß es ſich mit den neulateiniſchen Voͤlkern, welche jene Worte, vermeintlich als Worte ih¬ rer Mutterſprache ausſprechen, viel anders verhalte. Ohne gelehrte Ergruͤndung des Al¬ terthums, und ſeiner wirklichen Sprache, ver¬ ſtehen ſie die Wurzeln dieſer Woͤrter eben ſo wenig, als der Deutſche. Haͤtte man nun etwa dem Deutſchen ſtatt des Worts Humanitaͤt das Wort Menſchlichkeit, wie jenes woͤrtlich uͤber¬ ſezt werden muß, ausgeſprochen, ſo haͤtte er uns ohne weitere hiſtoriſche Erklaͤrung verſtan¬ den; aber er haͤtte geſagt: da iſt man nicht135 eben viel, wenn man ein Menſch iſt, und kein wildes Thier. Alſo aber, wie wohl nie ein Roͤmer geſagt haͤtte, wuͤrde der Deutſche ſagen, deswegen, weil die Menſchheit uͤberhaupt in ſeiner Sprache nur ein ſinnlicher Begriff ge¬ blieben, niemals aber wie bei den Roͤmern zum Sinnbilde eines uͤberſinnlichen geworden; in¬ dem unſere Vorfahren vielleicht lange vorher die einzelnen menſchlichen Tugenden bemerkt, und ſinnbildlich in der Sprache bezeichnet, ehe ſie darauf gefallen, dieſelben in einem Einheits¬ begriffe, und zwar als Gegenſatz mit der thie¬ riſchen Natur, zuſammenzufaſſen, welches denn auch unſern Vorfahren den Roͤmern gegenuͤber zu gar keinem Tadel gereicht. Wer nun den Deutſchen dennoch dieſes fremde und roͤmiſche Sinnbild kuͤnſtlich in die Sprache ſpielen wollte, der wuͤrde ihre ſittliche Denkart offenbar her¬ unterſtimmen, indem er ihnen als etwas vor¬ zuͤgliches und lobenswuͤrdiges hingaͤbe, was in der fremden Sprache auch wohl ein ſolches ſeyn mag, was er aber, nach der unaustilgbaren Natur ſeiner National - Einbildungskraft nur faßt, als das bekannte, das gar nicht zu erlaſ¬ ſen iſt. Es ließe ſich vielleicht durch eine naͤhere Unterſuchung darthun, daß dergleichen Herab¬136 ſtimmungen der fruͤhern ſittlichen Denkart durch unpaſſende und fremde Sinnbilder den germa¬ niſchen Staͤmmen, die die Roͤmiſche Sprache an¬ nahmen, ſchon zu Anfange begegnet; doch wird hier auf dieſen Umſtand nicht gerade das groͤßte Gewicht gelegt.

Wuͤrde ich ferner dem Deutſchen ſtatt der Woͤrter Popularitaͤt, und Liberalitaͤt, die Aus¬ druͤcke Haſchen nach Gunſt beim großen Hau¬ fen, und, Entfernung vom Sklavenſinn, wie jene woͤrtlich uͤberſezt werden muͤſſen, ſagen, ſo bekaͤme derſelbe zufoͤrderſt nicht einmal ein klares und lebhaftes ſinnliches Bild, derglei¬ chen der fruͤhere Roͤmer allerdings bekam. Dieſer ſahe alle Tage die ſchmiegſame Hoͤflich¬ keit des ehrgeizigen Kandidaten gegen alle Welt, ſo wie die Ausbruͤche des Sklavenſinns vor Augen, und jene Worte bildeten ſie ihm wieder lebendig vor. Durch die Veraͤnderung der Regierungsform und die Einfuͤhrung des Chriſtenthums waren ſchon dem ſpaͤtern Roͤ¬ mer dieſe Schauſpiele entriſſen; wie denn uͤber¬ haupt dieſem, beſonders durch das fremdartige Chriſtenthum, das er weder abzuwehren, noch ſich einzuverleiben vermochte, die eigne Sprache guten Theils abzuſterben anfing im eignen137 Munde. Wie haͤtte dieſe, ſchon in der eignen Heimath halbtodte Sprache, lebendig uͤberlie¬ fert werden koͤnnen an ein fremdes Volk? Wie ſollte ſie es jezt koͤnnen an uns Deutſche? Was ferner das in jenen beiden Ausdruͤcken liegende Sinnbild eines geiſtigen betrift, ſo liegt in der Popularitaͤt ſchon urſpruͤnglich eine Schlechtigkeit, die durch das Verderben der Nation und ihrer Verfaſſung in ihrem Munde zur Tugend verdreht wurde. Der Deutſche geht in dieſe Verdrehung, ſo wie ſie ihm nur in ſeiner eignen Sprache dargeboten wird, nimmer ein. Zur Ueberſetzung der Liberalitaͤt aber dadurch, daß ein Menſch keine Sklaven - Seele, oder, wenn es in die neue Sitte ein¬ gefuͤhrt wird, keine Lakayen-Denkart habe, antwortet er abermals, daß auch dies ſehr we¬ nig geſagt heiße.

Nun hat man aber noch ferner in dieſe, ſchon in ihrer reinen Geſtalt bei den Roͤmern auf einer tiefen Stufe der ſittlichen Bildung entſtandene, oder geradezu eine Schlechtigkeit bezeichnenden Sinnbilder in der Fortentwiklung der neulateiniſchen Sprachen den Begriff von Mangel an Ernſt uͤber die geſellſchaftlichen Verhaͤltniſſe, den des ſich Wegwerfens, den der138 gemuͤthloſen Lockerheit, hineingeſpielt, und die¬ ſelben auch in die Deutſche Sprache gebracht, um durch das Anſehen des Alterthums und des Auslandes, ganz in der Stille, und ohne daß jemand ſo recht deutlich merke, wovon die Rede ſey, die leztgenannten Dinge auch unter uns in Anſehen zu bringen. Dies iſt von jeher der Zweck und der Erfolg aller Einmiſchung gewe¬ ſen; zufoͤrderſt aus der unmittelbaren Verſtaͤnd¬ lichkeit und Beſtimmtheit, die jede urſpruͤngliche Sprache bei ſich fuͤhrt, den Hoͤrer in Dunkel und Unverſtaͤndlichkeit einzuhuͤllen; darauf an den dadurch erregten blinden Glauben deſſelben ſich mit der nun noͤthig gewordenen Erklaͤrung zu wenden, in dieſer endlich Laſter und Tugend alſo durcheinander zu ruͤhren, daß es kein leich¬ tes Geſchaͤft iſt, dieſelben wieder zu ſondern. Haͤtte man das, was jene drei auslaͤndiſchen Worte eigentlich wollen muͤſſen, wenn ſie uͤber¬ haupt etwas wollen, dem Deutſchen in ſeinen Worten, und in ſeinem ſinnbildlichen Kreiſe alſo ausgeſprochen: Menſchenfreundlichkeit, Leutſeeligkeit, Edelmuth, ſo haͤtte er uns ver¬ ſtanden; die genannten Schlechtigkeiten aber haͤtten ſich niemals in jene Bezeichnungen einſchieben laſſen. Im Umfange Deutſcher139 Rede entſteht eine ſolche Einhuͤllung in Un¬ verſtaͤndlichkeit, und Dunkel, entweder aus Ungeſchicktheit, oder aus boͤſer Tuͤcke, ſie iſt zu vermeiden, und die Ueberſetzung in rechtes wahres Deutſch liegt als ſtets fertiges Huͤlfsmittel bereit. In den neulateiniſchen Sprachen aber iſt dieſe Unverſtaͤndlichkeit na¬ tuͤrlich und urſpruͤnglich, und ſie iſt durch gar kein Mittel zu vermeiden, indem dieſe uͤberhaupt nicht im Beſitze irgend einer lebendigen Spra¬ che, woran ſie die todte pruͤfen koͤnnten, ſich be¬ finden, und, die Sache genau genommen, eine Mutterſprache gar nicht haben.

Das an dieſem einzelnen Beiſpiele darge¬ legte, was gar leicht durch den ganzen Umkreis der Sprache ſich wuͤrde hindurch fuͤhren laſſen, und allenthalben alſo ſich wieder finden wuͤrde, ſoll Ihnen das bis hieher geſagte ſo klar ma¬ chen, als es hier werden kann. Es iſt vom uͤberſinnlichen Theile der Sprache die Rede, vom ſinnlichen zunaͤchſt und unmittelbar gar nicht. Dieſer uͤberſinnliche Theil iſt in einer immerfort lebendig gebliebenen Sprache ſinn¬ bildlich, zuſammenfaſſend bei jedem Schritte das ganze des ſinnlichen und geiſtigen, in der Sprache niedergelegten Lebens der Nation in140 vollendeter Einheit, um einen, ebenfalls nicht willkuͤhrlichen, ſondern aus dem ganzen bishe¬ rigen Leben der Nation nothwendig hervorge¬ henden Begriff zu bezeichnen, aus welchem, und ſeiner Bezeichnung, ein ſcharfes Auge die ganze Bildungsgeſchichte der Nation ruͤckwaͤrts¬ ſchreitend wieder muͤßte herſtellen koͤnnen. In einer todten Sprache aber, in der dieſer Theil, als ſie noch lebte, daſſelbige war, wird er durch die Ertoͤdtung zu einer zerriſſenen Sammlung willkuͤhrlicher, und durchaus nicht weiter zu erklaͤrender Zeichen eben ſo willkuͤhrlicher Be¬ griffe, wo mit beiden ſich nichts weiter anfan¬ gen laͤßt, als daß man ſie eben lerne.

Somit iſt unſre naͤchſte Aufgabe, den unter¬ ſcheidenden Grundzug des Deutſchen vor den andern Voͤlkern Germaniſcher Abkunft zu fin¬ den, geloͤſt. Die Verſchiedenheit iſt ſogleich bei der erſten Trennung des gemeinſchaftlichen Stamms entſtanden, und beſteht darin, daß der Deutſche eine bis zu ihrem erſten Ausſtroͤmen aus der Naturkraft lebendige Sprache redet, die uͤbrigen Germaniſchen Staͤmme eine nur auf der Oberflaͤche ſich regende, in der Wurzel aber todte Sprache. Allein in dieſen Umſtand, in die Lebendigkeit, und in den Tod, ſetzen wir141 den Unterſchied; keinesweges aber laſſen wir uns ein auf den uͤbrigen innern Werth der Deutſchen Sprache. Zwiſchen Leben und Tod findet gar keine Vergleichung ſtatt, und das erſte hat vor dem lezten unendlichen Werth; darum ſind alle unmittelbare Vergleichungen der Deutſchen und der Neulateiniſchen Spra¬ chen durchaus nichtig, und ſind gezwungen von Dingen zu reden, die der Rede nicht werth ſind. Sollte vom innern Werthe der Deutſchen Sprache die Rede entſtehen, ſo muͤſte wenig¬ ſtens eine von gleichem Range, eine ebenfalls urſpruͤngliche, als etwa die Griechiſche, den Kampfplatz betreten; unſer gegenwaͤrtiger Zweck aber liegt tief unter einer ſolchen Vergleichung.

Welchen unermeßlichen Einfluß auf die ganze menſchliche Entwicklung eines Volks die Beſchaffenheit ſeiner Sprache haben moͤge, der Sprache, welche den Einzelnen bis in die ge¬ heimſte Tiefe ſeines Gemuͤths bei Denken, und Wollen begleitet, und beſchraͤnkt oder befluͤgelt, welche die geſammte Menſchenmenge, die die¬ ſelbe redet, auf ihrem Gebiete zu einem einzi¬ gen gemeinſamen Verſtande verknuͤpft, welche der wahre gegenſeitige Durchſtroͤmungspunkt der Sinnenwelt, und der der Geiſter iſt, und die Enden dieſer beiden alſo in einander ver¬142 ſchmilzt, daß gar nicht zu ſagen iſt, zu welcher von beiden ſie ſelber gehoͤre; wie verſchieden die Folge dieſes Einfluſſes ausfallen moͤge, da, wo das Verhaͤltniß iſt, wie Leben, und Tod, laͤßt ſich im Allgemeinen errathen. Zu¬ naͤchſt bietet ſich dar, daß der Deutſche ein Mittel hat ſeine lebendige Sprache durch Ver¬ gleichung mit der abgeſchloßnen Roͤmiſchen Sprache, die von der ſeinigen im Fortgange der Sinnbildlichkeit gar ſehr abweicht, noch tiefer zu ergruͤnden, wie hinwiederum jene auf demſelben Wege klarer zu verſtehen, welches dem Neulateiner, der im Grunde in dem Um¬ kreiſe derſelben Einen Sprache gefangen bleibt, nicht alſo moͤglich iſt; daß der Deutſche, in¬ dem er die Roͤmiſche Stammſprache lernt, die abgeſtammten gewiſſermaßen zugleich mit er¬ haͤlt, und falls er etwa die erſte gruͤndlicher lernen ſollte, denn der Auslaͤnder, welches er aus dem angefuͤhrten Grunde gar wohl ver¬ mag, er zugleich auch dieſes Auslaͤnders eigene Sprachen weit gruͤndlicher verſtehen und weit eigenthuͤmlicher beſitzen lernt, denn jener ſelbſt, der ſie redet; daß daher, der Deutſche, wenn er ſich nur aller ſeiner Vortheile bedient, den Auslaͤnder immerfort uͤberſehen, und ihn voll¬ kommen, ſogar beſſer, denn er ſich ſelbſt, ver¬143 ſtehen, und ihn, nach ſeiner ganzen Ausdeh¬ nung uͤberſetzen kann; dagegen der Auslaͤn¬ der, ohne eine hoͤchſt muͤhſame Erlernung der Deutſchen Sprache, den wahren Deutſchen niemals verſtehen kann, und das aͤcht Deut¬ ſche ohne Zweifel unuͤberſetzt laſſen wird. Was in dieſen Sprachen man nur vom Aus¬ laͤnder ſelbſt lernen kann, ſind meiſtens aus Langeweile und Grille entſtandene neue Mo¬ den des Sprechens, und man iſt ſehr beſchei¬ den, wenn man auf dieſe Belehrungen ein¬ geht. Meiſtens wuͤrde man ſtatt deſſen ihnen zeigen koͤnnen, wie ſie der Stammſprache und ihrem Verwandlungsgeſetze gemaͤß, ſprechen ſollten, und daß die neue Mode nichts tauge, und gegen die althergebrachte gute Sitte ver¬ ſtoße. Jener Reichthum an Folgen uͤber¬ haupt, ſo wie die beſondere zulezt erwaͤhnte Folge ergeben ſich, wie geſagt, von ſelbſt.

Unſere Abſicht aber iſt es dieſe Folgen ins¬ geſammt im Ganzen, nach ihrem Einheits¬ bande, und aus der Tiefe zu erfaſſen, um da¬ durch eine gruͤndliche Schilderung des Deut¬ ſchen im Gegenſatze mit den uͤbrigen Germa¬ niſchen Staͤmmen zu geben. Ich gebe dieſe Fol¬ gen vorlaͤufig in der Kuͤrze alſo an: 1) Beim Volke der lebendigen Sprache greift die Gei¬144 ſtesbildung ein ins Leben; beim Gegentheile geht geiſtige Bildung, und Leben jedes ſeinen Gang fuͤr ſich fort. 2) Aus demſelben Grunde iſt es einem Volke der erſten Art mit aller Gei¬ ſtesbildung rechter eigentlicher Ernſt, und es will, daß dieſelbe ins Leben eingreife; dage¬ gen einem von der letztern Art dieſe vielmehr ein genialiſches Spiel iſt, mit dem ſie nichts weiter wollen. Die leztern haben Geiſt; die erſtern haben zum Geiſte auch noch Gemuͤth. 3) Was aus dem zweiten folgt; die erſtern haben redlichen Fleiß und Ernſt in allen Din¬ gen, und ſind muͤhſam, dagegen die leztern ſich im Geleite ihrer gluͤcklichen Natur gehen laſſen. 4) Was aus allem zuſammen folgt: In einer Nation von der erſten Art iſt das große Volk bildſam, und die Bildner einer ſolchen erproben ihre Entdeckungen an dem Volke, und wollen auf dieſes einfließen; da¬ gegen in einer Nation von der zweiten Art die gebildeten Staͤnde vom Volke ſich ſcheiden, und des leztern nicht weiter, denn als eines blinden Werkzeugs ihrer Plaͤne achten. Die weitere Eroͤrterung dieſer angegebnen Merk¬ male behalte ich der folgenden Stunde vor.

145

Fuͤnfte Rede.

Folgen aus der aufgeſtellten Verſchie¬ denheit.

Zum Behuf einer Schilderung der Eigen¬ thuͤmlichkeit der Deutſchen iſt der Grund-Un¬ terſchied zwiſchen dieſen und den andern Voͤl¬ kern Germaniſcher Abkunft angegeben worden, daß die erſtern in dem ununterbrochenen Fort¬ fluſſe einer aus wirklichem Leben ſich fortent¬ wickelnden Urſprache geblieben, die letztern aber eine ihnen fremde Sprache angenommen, die unter ihrem Einfluſſe ertoͤdtet worden. Wir haben zu Ende der vorigen Stunde andre Er¬ ſcheinungen an dieſen alſo verſchiedenen Volks¬ ſtaͤmmen angegeben, welche aus jenem Grund - Unterſchiede nothwendig erfolgen mußten; und werden heute dieſe Erſcheinungen weiter ent¬ wickeln, und feſter auf ihrem gemeinſamen Boden begruͤnden.

K146

Eine Unterſuchung, die ſich der Gruͤndlich¬ keit befleißiget, kann manches Streites, und der Erregung von mancherlei Scheelſucht ſich uͤberheben. Wie wir ehemals, in der Unter¬ ſuchung, von der die gegenwaͤrtige die Fort¬ ſetzung iſt, thaten, ſo werden wir auch hier thun. Wir werden Schritt vor Schritt ablei¬ ten, was aus dem aufgeſtellten Grund Unter¬ ſchiede folgt, und nur darauf ſehen, daß dieſe Ableitung richtig ſey. Ob nun die Verſchie¬ denheit der Erſcheinungen, die dieſer Ableitung zufolge ſeyn ſollte, in der wirklichen Erfahrung eintrete oder nicht, dies zu entſcheiden, will ich lediglich Ihnen, und jedem Beobachter uͤber¬ laſſen. Zwar werde ich, was insbeſondere den Deutſchen betrift, zu ſeiner Zeit darlegen, daß er ſich wirklich alſo gezeigt habe, wie er unſrer Ableitung zufolge ſeyn mußte. Was aber den Germaniſchen Auslaͤnder betrift, ſo werde ich nichts dagegen haben, wenn einer unter ihnen wirklich verſteht, wovon eigentlich hier die Rede ſey, und wenn dieſem hernach auch der Beweis gelingt, daß ſeine Landsleute eben auch daſſelbe geweſen ſeyen, was die Deut¬ ſchen, und wenn er ſie von den entgegengeſetz¬147 ten Zuͤgen, voͤllig loszuſprechen vermag. Im allgemeinen wird unſre Beſchreibung auch in dieſen gegentheiligen Zuͤgen keinesweges in das nachtheilige und grelle hin zeichnen, was den Sieg leichter macht denn ehrenvoll, ſondern nur das nothwendig erfolgende angeben, und dieſes ſo ehrbar ausdruͤcken, als es mit der Wahrheit beſtehen kann.

Die erſte Folge von dem aufgeſtellten Grund - Unterſchiede, die ich angab, war die: beim Volke der lebendigen Sprache greife die Gei¬ ſtesbildung ein in das Leben: beim Gegen¬ theile gehe geiſtige Bildung und Leben jedes fuͤr ſich ſeinen Gang fort. Es wird nuͤz¬ lich ſeyn, zufoͤrderſt den Sinn des aufgeſtellten Satzes tiefer zu erklaͤren. Zufoͤrderſt, indem hier vom Leben, und von dem Eingreifen der geiſtigen Bildung in daſſelbe geredet wird, ſo iſt darunter zu verſtehen das urſpruͤngliche Le¬ ben, und ſein Fortfluß aus dem Quell alles geiſtigen Lebens, aus Gott, die Fortbildung der menſchlichen Verhaͤltniſſe nach ihrem Urbilde, und ſo die Erſchaffung eines neuen, und vorher nie dageweſenen; keinesweges aber iſt die Rede von der bloßen Erhaltung jener VerhaͤltniſſeK 2148auf der Stufe, wo ſie ſchon ſtehen, gegen Her¬ abſinken, und noch weniger, vom Nachhelfen einzelner Glieder, die hinter der allgemeinen Ausbildung zuruͤckgeblieben. Sodann, wenn von geiſtiger Bildung die Rede iſt, ſo iſt dar¬ unter zu allererſt die Philoſophie, wie wir dies mit dem auslaͤndiſchen Namen bezeichnen muͤſ¬ ſen, da die Deutſchen ſich den vorlaͤngſt vorge¬ ſchlagenen Deutſchen Namen nicht haben ge¬ fallen laſſen, die Philoſophie, ſage ich, iſt zu allererſt darunter zu verſtehen; denn dieſe iſt es, welche das ewige Urbild alles geiſtigen Lebens wiſſenſchaftlich erfaſſet. Von dieſer und von aller auf ſie gegruͤndeten Wiſſenſchaft wird nun geruͤhmt, daß beim Volke der lebendigen Sprache ſie einfließe in das Leben. Nun aber iſt, in ſcheinbarem Widerſpruche mit dieſer Behaup¬ tung oftmals und auch von den unſern, geſagt worden, daß Philoſophie, Wiſſenſchaft, ſchoͤne Kunſt, und dergleichen, Selbſtzwecke ſeyen, und dem Leben nicht dienten, und daß es Herabwuͤrdigung derſelben ſey, ſie nach ihrer Nuͤzlichkeit in dieſem Dienſte zu ſchaͤtzen. Es iſt hier der Ort dieſe Ausdruͤcke naͤher zu beſtimmen, und vor aller Mißdeutung149 zu verwahren. Sie ſind wahr in folgendem doppelten aber beſchraͤnkten Sinne; zufoͤrderſt, daß Wiſſenſchaft oder Kunſt dem Leben auf einer gewiſſen niedern Stufe, z. B. dem irrdiſchen und ſinnlichen Leben, oder der gemeinen Erbaulich¬ keit, wie einige gedacht haben, nicht muͤſſe die¬ nen wollen; ſodann, daß ein Einzelner, zufolge ſeiner perſoͤnlichen Abgeſchiedenheit vom Gan¬ zen einer Geiſterwelt, in dieſen beſondern Zwei¬ gen des allgemeinen goͤttlichen Lebens, voͤllig aufgehen koͤnne, ohne eines außer ihnen lie¬ genden Antriebes zu beduͤrfen, und volle Be¬ friedigung in ihnen finden koͤnne. Keines¬ weges aber ſind ſie wahr in ſtrenger Bedeutung, denn es iſt eben ſo unmoͤglich, daß es mehrere Selbſtzwecke gebe, als es unmoͤglich iſt, daß es mehrere Abſolute gebe. Der einige Selbſt¬ zweck, außer welchem es keinen andern geben kann, iſt das geiſtige Leben. Dieſes aͤußert ſich nun zum Theil und erſcheint als ein ewiger Fortfluß aus ihm ſelber, als Quell, d. i. als ewige Thaͤtigkeit. Dieſe Thaͤtigkeit erhaͤlt ewig fort ihr Muſterbild von der Wiſſenſchaft, die Geſchicklichkeit, nach dieſem Bilde ſich zu geſtalten, von der Kunſt, und in ſoweit koͤnnte150 es ſcheinen, daß Wiſſenſchaft und Kunſt da ſeyen, als Mittel fuͤr das thaͤtige Leben, als Zweck. Nun aber iſt in dieſer Form der Thaͤ¬ tigkeit das Leben ſelber niemals vollendet, und zur Einheit geſchloſſen, ſondern es geht fort ins Unendliche. Soll nun doch das Leben als eine ſolche geſchloßne Einheit da ſeyn, ſo muß es alſo da ſeyn in einer andern Form. Dieſe Form iſt nun die des reinen Gedankens, der die in der dritten Rede beſchriebene Religions-Ein¬ ſicht giebt; eine Form, die als geſchloßne Ein¬ heit mit der Unendlichkeit des Thuns ſchlecht¬ hin auseinander faͤllt, und in dem leztern, dem Thun, niemals vollſtaͤndig ausgedruͤckt werden kann. Beide demnach, der Gedanke, ſo wie die Thaͤtigkeit, ſind nur in der Erſcheinung aus¬ einanderfaltende Formen, jenſeit der Erſchei¬ nung aber ſind ſie, eine wie die andere, daſ¬ ſelbe Eine abſolute Leben; und man kann gar nicht ſagen, daß der Gedanke um des Thuns, oder das Thun um des Gedankens willen ſey, und alſo ſey, ſondern daß beides ſchlechthin ſeyn ſolle, indem auch in der Erſcheinung das Leben ein vollendetes Ganzes ſeyn ſolle, alſo, wie es dies iſt jenſeit aller Erſcheinung. In¬151 nerhalb dieſes Umkreiſes demnach und zufolge dieſer Betrachtung, iſt es noch viel zu wenig geſagt, daß die Wiſſenſchaft einfließe aufs Le¬ ben; ſie iſt vielmehr ſelber, und in ſich ſelbſt¬ beſtaͤndiges Leben. Oder, um daſſelbe an eine bekannte Wendung anzuknuͤpfen. Was hilft alles Wiſſen, hoͤrt man zuweilen ſagen, wenn nicht darnach gehandelt wird? In dieſem Aus¬ ſpruche wird das Wiſſen als Mittel fuͤr das Handeln, und dieſes leztere als der eigentliche Zweck angeſehen. Man koͤnnte umgekehrt ſa¬ gen; wie kann man doch gut handeln, ohne das Gute zu kennen? und es wuͤrde in dieſem Ausſpruche das Wiſſen, als das bedingende des Handelns betrachtet. Beide Ausſpruͤche aber ſind einſeitig; und das wahre iſt, daß beides, Wiſſen ſo wie Handeln, auf dieſelbe Weiſe unabtrennliche Beſtandtheile des ver¬ nuͤnftigen Lebens ſind.

In ſich ſelbſt beſtaͤndiges Leben aber, wie wir ſo eben uns ausdruͤckten, iſt die Wiſſenſchaft nur alsdann, wenn der Gedanke der wirkliche Sinn, und die Geſinnung des Denkenden iſt, alſo daß er, ohne beſondere Muͤhe, und ſogar ohne deſſen ſich klar bewußt zu ſeyn, alles an¬152 dre was er denkt, anſieht, beurtheilt, zufolge jenes Grundgedankens anſieht, und beurtheilt, und falls derſelbe aufs handeln einfließt, nach ihm eben ſo nothwendig handelt. Keineswe¬ ges aber iſt der Gedanke Leben und Geſinnung, wenn er nur als Gedanke eines fremden Le¬ bens gedacht wird; ſo klar und vollſtaͤndig er auch als ein ſolcher bloß moͤglicher Gedanke be¬ griffen ſeyn mag; und ſo hell man ſich auch denken moͤge, wie etwa jemand alſo denken koͤnne. In dieſem leztern Falle liegt zwiſchen unſerm gedachten Denken, und zwiſchen unſerm wirklichen Denken ein großes Feld von Zufall, und Freiheit, welche lezte wir nicht vollziehen moͤgen; und ſo bleibt jenes gedachte Denken von uns abſtehend, und ein bloß moͤgliches, und ein von uns frei gemachtes, und immer¬ fort frei zu wiederholendes Denken: In jenem erſten Falle hat der Gedanke unmittelbar durch ſich ſelbſt unſer Selbſt ergriffen, und es zu ſich ſelbſt gemacht, und durch dieſe alſo entſtandene Wirklichkeit des Gedankens fuͤr uns geht unſre Einſicht hindurch zu deſſen Nothwendigkeit. Daß nun das leztere alſo erfolge, kann, wie eben geſagt, keine Freiheit erzwingen, ſondern153 es muß eben ſich ſelbſt machen, und der Ge¬ danke ſelber muß uns ergreifen, und uns nach ſich bilden.

Dieſe lebendige Wirkſamkeit des Gedan¬ kens wird nun ſehr befoͤrdert, ja, wenn das Denken nur von der gehoͤrigen Tiefe und Staͤrke iſt, ſogar nothwendig gemacht, durch Denken, und Bezeichnen in einer lebendigen Sprache. Das Zeichen in der lezten iſt ſelbſt unmittelbar lebendig, und ſinnlich, und wie¬ der darſtellend das ganze eigene Leben, und ſo daſſelbe ergreifend, und eingreifend in daſſelbe; mit dem Beſitzer einer ſolchen Sprache ſpricht unmittelbar der Geiſt, und offenbart ſich ihm, wie ein Mann dem Manne. Dagegen regt das Zeichen einer todten Sprache unmittel¬ bar nichts an; um in den lebendigen Fluß deſſelben hineinzukommen, muß man erſt hiſtoriſch erlernte Kenntniſſe aus einer abge¬ ſtorbenen Welt ſich wiederholen, und ſich in eine fremde Denkart hineinverſetzen. Wie uͤberſchwenglich wohl muͤßte der Trieb des eignen Denkens ſeyn, wenn er in dieſem langen und breiten Gebiete der Hiſtorie nicht ermattete, und nicht zulezt auf dem Felde154 dieſer beſcheiden ſich begnuͤgte. So eines Be¬ ſitzers der lebendigen Sprache Denken nicht lebendig wird, ſo kann man einen ſolchen ohne Bedenken beſchuldigen, daß er gar nicht ge¬ dacht, ſondern nur geſchwaͤrmt habe. Den Beſitzer einer todten Sprache kann man in demſelben Falle deſſen nicht ſofort beſchuldi¬ gen; gedacht mag er allerdings haben nach ſeiner Weiſe, die in ſeiner Sprache niederge¬ legten Begriffe ſorgfaͤltig entwikelt; er hat nur das nicht gethan, was, falls es ihm gelaͤnge, einem Wunder gleich zu achten waͤre.

Es erhellet im Vorbeigehen, daß beim Volke einer todten Sprache im Anfange, wie die Sprache noch nicht allſeitig klar genug iſt, der Trieb des Denkens noch am kraͤftigſten wal¬ ten, und die ſcheinbarſten Erzeugniſſe hervor¬ bringen werde; daß aber dieſer, ſo wie die Sprache klarer und beſtimmter wird, in den Feſſeln derſelben immermehr erſterben; und daß zulezt die Philoſophie eines ſolchen Volks mit eignem Bewußtſeyn ſich beſcheiden wird, daß ſie nur eine Erklaͤrung des Woͤrterbuchs, oder wie undeutſcher Geiſt unter uns dies hochtoͤ¬ nender ausgedruͤckt hat, eine Metakritik der155 Sprache ſey; zu allerlezt, daß ein ſolches Volk etwa ein mittelmaͤßiges Lehrgedicht uͤber die Heuchelei in Komoͤdien-Form fuͤr ihr groͤßtes philoſophiſches Werk anerkennen wird.

In dieſer Weiſe, ſage ich, fließt die geiſtige Bil¬ dung, und hier insbeſondre das Denken in einer Urſprache nicht ein in das Leben, ſondern es iſt ſelbſt Leben des alſo Denkenden. Doch ſtrebt es nothwendig aus dieſem alſo denkenden Leben einzufließen auf anderes Leben außer ihm, und ſo auf das vorhandene allgemeine Leben, und dieſes nach ſich zu geſtalten. Denn eben weil jenes Denken Leben iſt, wird es gefuͤhlt von ſeinem Beſitzer mit innigem Wohlgefallen, in ſeiner belebenden, verklaͤrenden, und befreien¬ den Kraft. Aber jeder, dem Heil aufgegangen iſt in ſeinem Innern, will nothwendig, daß allen andern daſſelbe Heil wiederfahre, und er iſt ſo getrieben, und muß arbeiten, daß die Quelle, aus der ihm ſein Wohlſeyn aufging, auch uͤber andre ſich verbreite. Anders derje¬ nige, der bloß ein fremdes Denken, als ein moͤgliches begriffen hat. So wie ihm ſelber deſſen Inhalt weder Wohl noch Wehe giebt, ſondern es nur ſeine Muße angenehm beſchaͤf¬156 tigt, und unterhaͤlt, ſo kann er auch nicht glau¬ ben, daß es einem andern Wohl oder Wehe machen koͤnne, und haͤlt es zulezt fuͤr einerlei, woran jemand ſeinen Scharfſinn uͤbe, und womit er ſeine muͤßigen Stunden ausfuͤlle.

Unter den Mitteln, das Denken, das im einzelnen Leben begonnen, in das allgemeine Leben einzufuͤhren, iſt das vorzuͤglichſte die Dichtung, und ſo iſt denn dieſe der zweite Hauptzweig der geiſtigen Bildung eines Vol¬ kes. Schon unmittelbar der Denker, wie er ſeinen Gedanken in der Sprache bezeichnet, welches nach obigem nicht anders denn ſinn¬ bildlich geſchehen kann, und zwar uͤber den bisherigen Umkreis der Sinnbildlichkeit hinaus neu erſchaffend, iſt Dichter; und falls er dies nicht iſt, wird ihm ſchon beim erſten Gedanken die Sprache, und beim Verſuche des zweiten das Denken ſelber ausgehen. Dieſe durch den Denker begonnene Erweiterung und Ergaͤnzung des ſinnbildlichen Kreiſes der Sprache durch dieſes ganze Gebiet der Sinnbilder zu ver¬ floͤßen, alſo daß jedwedes an ſeiner Stelle den ihm gebuͤhrenden Antheil von der neuen geiſti¬ gen Veredlung erhalte, und ſo das ganze Le¬157 ben bis auf ſeinen letzten ſinnlichen Boden her¬ ab in den neuen Lichtſtral getaucht erſcheine, wohlgefalle, und in bewußtloſer Taͤuſchung wie von ſelbſt ſich veredle, dieſes iſt das Geſchaͤft der eigentlichen Dichtung. Nur eine lebendige Sprache kann eine ſolche Dichtung haben, denn nur in ihr iſt der ſinnbildliche Kreis durch erſchaffendes Denken zu erweitern, und nur in ihr bleibt das ſchon Geſchaffne lebendig, und dem Einſtroͤmen verſchwiſterten Lebens offen. Eine ſolche Sprache fuͤhrt in ſich Vermoͤgen un¬ endlicher, ewig zu erfriſchender, und zu ver¬ juͤngender Dichtung, denn jede Regung des le¬ bendigen Denkens in ihr eroͤfnet eine neue Ader dichteriſcher Begeiſterung; und ſo iſt ihr denn dieſe Dichtung das vorzuͤglichſte Verfloͤßungs¬ mittel der erlangten geiſtigen Ausbildung in das allgemeine Leben. Eine todte Sprache kann in dieſem hoͤhern Sinne gar keine Dich¬ tung haben, indem alle die angezeigten Bedin¬ gungen der Dichtung in ihr nicht vorhanden ſind. Dagegen kann eine ſolche auf eine Zeit¬ lang einen Stellvertreter der Dichtung haben auf folgende Weiſe. Die in der Stammſprache vorhandenen Ausfluͤſſe der Dichtkunſt werden158 die Aufmerkſamkeit reizen. Zwar kann das neu entſtandene Volk nicht fortdichten auf der angehobnen Bahn, denn dieſe iſt ihrem Leben fremd; aber ſie kann ihr eignes Leben, und die neuen Verhaͤltniſſe deſſelben in den ſinnbildlichen und dichteriſchen Kreis, in welchem ihre Vor¬ welt ihr eignes Leben ausſprach, einfuͤhren, und z. B. ihren Ritter ankleiden, als Heros und umgekehrt, und die alten Goͤtter mit den neuen das Gewand tauſchen laſſen. Gerade durch dieſe fremde Einhuͤllung des gewoͤhnli¬ chen wird daſſelbe einen dem idealiſirten aͤhnli¬ chen Reiz erhalten, und es werden ganz wohl¬ gefaͤllige Geſtalten hervorgehen. Aber beides, ſowohl der ſinnbildliche und dichteriſche Kreis der Stammſprache, als die neuen Lebens - Verhaͤltniſſe, ſind endliche und beſchraͤnkte Groͤ¬ ßen, ihre gegenſeitige Durchdringung iſt ir¬ gendwo vollendet; da aber wo ſie vollendet iſt, feyert das Volk ſein goldnes Zeitalter, und der Quell ſeiner Dichtung iſt verſiegt. Irgendwo giebt es nothwendig einen hoͤchſten Punkt des Anpaſſens der geſchloßnen Woͤrter an die ge¬ ſchloßnen Begriffe, und der geſchloßnen Sinn¬ bilder an die geſchloßnen Lebens-Verhaͤltniſſe. 159Nachdem dieſer Punkt erreicht iſt, kann das Volk nicht mehr, denn entweder ſeine gelun¬ genſten Meiſterſtuͤcke veraͤndert wiederholen, alſo, daß ſie ausſaͤhen, als ob ſie etwas neues ſeyen, da ſie doch nur das wohlbekannte alte ſind; oder, wenn ſie durchaus neu ſeyn wol¬ len, zum unpaſſenden und unſchicklichen ihre Zuflucht nehmen, und eben ſo in der Dichtkunſt das Haͤßliche mit dem Schoͤnen zuſammenmi¬ ſchen, und ſich auf die Karrikatur, und das Humoriſtiſche legen, wie ſie in der Proſa genoͤ¬ thigt ſind, die Begriffe zu verwirren, und La¬ ſter und Tugend mit einander zu vermengen, wenn ſie in neuen Weiſen reden wollen.

Indem auf dieſe Weiſe in einem Volke gei¬ ſtige Bildung und Leben jedes fuͤr ſich ſeinen beſondern Gang fortgehen, ſo erfolgt von ſelbſt, daß die Staͤnde, die zu der erſten keinen Zu¬ gang haben; und an die auch nicht einmal, wie in einem lebendigen Volke, die Folgen die¬ ſer Bildung kommen ſollen, gegen die gebil¬ deten Staͤnde zuruͤckgeſetzt, und gleichſam fuͤr eine andere Menſchenart gehalten werden, die an Geiſteskraͤften urſpruͤnglich, und durch die bloße Geburt den erſten nicht gleich ſeyen; daß160 darum die gebildeten Staͤnde gar keine wahr¬ haft liebende Theilnahme an ihnen, und keinen Trieb haben, ihnen gruͤndlich zu helfen, indem ſie eben glauben, daß ihnen, wegen urſpruͤng¬ licher Ungleichheit, gar nicht zu helfen ſey, und daß die Gebildeten vielmehr gereizt werden, dieſelben zu brauchen, wie ſie ſind, und ſie alſo brauchen zu laſſen. Auch dieſe Folge der Er¬ toͤdtung der Sprache kann beim Beginnen des neuen Volkes durch eine menſchenfreundliche Religion, und durch den Mangel an eigner Gewandheit der hoͤhern Staͤnde gemildert wer¬ den, im Fortgange aber wird dieſe Verach¬ tung des Volkes immer unverholner und grau¬ ſamer. Mit dieſem allgemeinen Grunde des Sicherhebens und Vornehmthuns der gebilde¬ ten Staͤnde hat noch ein beſonderer ſich verei¬ nigt, welcher, da er auch ſelbſt auf die Deut¬ ſchen einen ſehr verbreiteten Einfluß gehabt, hier nicht uͤbergangen werden darf. Nemlich die Roͤmer, welche anfangs den Griechen ge¬ genuͤber, ſehr unbefangen jenen nachſprechend, ſich ſelbſt Barbaren, und ihre eigne Sprache barbariſch nannten, gaben nachher die auf ſich geladene Benennung weiter, und fanden beiden161den Germaniern dieſelbe glaͤubige Treuherzig¬ keit, die erſt ſie ſelbſt den Griechen gezeigt hat¬ ten. Die Germanier glaubten der Barbarei nicht anders los werden zu koͤnnen, als wenn ſie Roͤmer wuͤrden. Die auf ehemaligem roͤmi¬ ſchen Boden Eingewanderten wurden es nach allem ihren Vermoͤgen. In ihrer Einbildungs¬ kraft bekam aber barbariſch gar bald die Ne¬ benbedeutung gemein, poͤbelhaft, toͤlpiſch, und ſo ward das Roͤmiſche im Gegentheil gleichgel¬ tend mit vornehm. Bis in das allgemeine und beſondere ihrer Sprachen geht dieſes hinein, in¬ dem, wo Anſtalten zur beſonnenen und bewu߬ ten Bildung der Sprache getroffen wurden, dieſe darauf gingen, die germaniſchen Wur¬ zeln auszuwerfen, und aus roͤmiſchen Wurzeln die Woͤrter zu bilden, und ſo die Romance, als die Hof - und gebildete Sprache zu erzeu¬ gen; im beſondern aber, indem faſt ohne Aus¬ nahme bei gleicher Bedeutung zweier Worte das aus germaniſcher Wurzel das unedle und ſchlechte, das aus roͤmiſcher Wurzel aber das edlere und vornehmere bedeutet.

Dieſes, gleich als ob es eine Grundſeuche des ganzen germaniſchen Stammes waͤre, faͤlltL162auch im Mutterlande den Deutſchen an, falls er nicht durch hohen Ernſt dagegen geruͤſtet iſt. Auch unſern Ohren toͤnt gar leicht Roͤmiſcher Laut vornehm, auch unſern Augen erſcheint Roͤmiſche Sitte edler, dagegen das Deutſche gemein; und da wir nicht ſo gluͤcklich waren, dieſes alles aus der erſten Hand zu erhalten, ſo laſſen wir es uns auch aus der zweiten, und durch den Zwiſchenhandel der neuen Roͤmer, recht wohl gefallen. So lange wir deutſch ſind, erſcheinen wir uns als Maͤnner, wie an¬ dre auch; wenn wir halb oder auch uͤber die Haͤlfte undeutſch reden, und abſtechende Sit¬ ten, und Kleidung an uns tragen, die gar weit herzukommen ſcheinen, ſo duͤnken wir uns vornehm; der Gipfel aber unſers Triumphs iſt es, wenn man uns gar nicht mehr fuͤr Deutſche, ſondern etwa fuͤr Spanier oder Englaͤnder haͤlt, je nachdem nun einer von dieſen gerade am meiſten Mode iſt. Wir ha¬ ben recht. Naturgemaͤßheit von Deutſcher Seite, Willkuͤhrlichkeit und Kuͤnſtelei von der Seite des Auslandes ſind die Grund-Unter¬ ſchiede; bleiben wir bei der erſten, ſo ſind wir eben, wie unſer ganzes Volk, dieſes begreift163 uns, und nimmt uns als ſeines Gleichen; nur wie wir zur lezten unſre Zuflucht nehmen, wer¬ den wir ihm unverſtaͤndlich, und es haͤlt uns fuͤr andere Naturen. Dem Auslande kommt dieſe Unnatur von ſelbſt in ſein Leben, weil es urſpruͤnglich und in einer Hauptſache von der Natur abgewichen; wir muͤſſen ſie erſt auf¬ ſuchen, und an den Glauben, daß etwas ſchoͤn, ſchiklich, und bequem ſey, das natuͤrlicherweiſe uns nicht alſo erſcheint, uns erſt gewoͤhnen. Von dieſem allen iſt nun beim Deutſchen der Hauptgrund ſein Glaube an die groͤßere Vor¬ nehmigkeit des romaniſirten Auslandes, nebſt der Sucht, eben ſo vornehm zu thun, und auch in Deutſchland die Kluft zwiſchen den hoͤhern Staͤnden, und dem Volke, die im Auslande natuͤrlich erwuchs, kuͤnſtlich aufzubauen. Es ſey genug, hier den Grundquell dieſer Auslaͤn¬ derei unter den Deutſchen angegeben zu ha¬ ben; wie ausgebreitet dieſe gewirkt, und daß alle die Uebel, an denen wir jezt zu Grunde gegangen, auslaͤndiſchen Urſprungs ſind, welche freilich nur in der Vereinigung mit Deutſchem Ernſte, und Einfluß aufs Leben,L 2164das Verderben nach ſich ziehen mußten, wer¬ den wir zu einer andern Zeit zeigen.

Außer dieſen beiden aus dem Grund-Unter¬ ſchiede erfolgenden Erſcheinungen, daß geiſtige Bildung ins Leben eingreife, oder nicht, und daß zwiſchen den gebildeten Staͤnden und dem Volke eine Scheidewand beſtehe, oder nicht, fuͤhrte ich noch die folgende an, daß das Volk der lebendigen Sprache Fleiß und Ernſt haben, und Muͤhe anwenden werde, in allen Dingen, dagegen das der todten Sprache die geiſtige Beſchaͤftigung mehr fuͤr ein genialiſches Spiel halte, und im Geleite ſeiner gluͤcklichen Natur ſich gehen laſſe. Dieſer Umſtand ergiebt aus dem oben Geſagten ſich von ſelbſt. Beim Volke der lebendigen Sprache geht die Unterſuchung aus von einem Beduͤrfniſſe des Lebens, welches durch ſie befriedigt werden ſoll, und erhaͤlt ſo alle die noͤthigenden Antriebe, die das Leben ſelbſt bei ſich fuͤhrt. Bei dem der todten will ſie weiter nichts, denn die Zeit auf eine ange¬ nehme, und dem Sinne fuͤrs Schoͤne angemeſ¬ ſene Weiſe hinbringen, und ſie hat ihren Zweck vollſtaͤndig erreicht, wenn ſie dies gethan hat. 165Bei den Auslaͤndern iſt das lezte faſt nothwen¬ dig; beim Deutſchen, wo dieſe Erſcheinung ſich einſtellt, iſt das Pochen auf Genie, und gluͤck¬ liche Natur, eine ſeiner unwuͤrdige Auslaͤnderei, die, ſo wie alle Auslaͤnderei, aus der Sucht vornehm zu thun, entſteht. Zwar wird in kei¬ nem Volke der Welt ohne einen urſpruͤnglichen Antrieb im Menſchen, der, als ein uͤberſinnli¬ ches, mit dem auslaͤndiſchen Namen mit Recht Genius genannt wird, irgend etwas trefliches entſtehen. Aber dieſer Antrieb fuͤr ſich allein regt nur die Einbildungskraft an, und entwirft in ihr uͤber dem Boden ſchwebende, niemals vollkommen beſtimmte Geſtalten. Daß dieſe bis auf den Boden des wirklichen Lebens her¬ ab vollendet, und bis zur Haltbarkeit in dieſem beſtimmt werden, dazu bedarf es des fleißigen, beſonnenen, und nach einer feſten Regel ein¬ hergehenden Denkens. Genialitaͤt liefert dem Fleiße den Stoff zur Bearbeitung, und der lezte wuͤrde ohne die erſte entweder nur das ſchon bearbeitete, oder nichts, zu bearbeiten haben. Der Fleiß aber fuͤhret dieſen Stoff, der ohne ihn ein leeres Spiel bleiben wuͤrde, ins Leben ein; und ſo vermoͤgen beide nur in ihrer Ver¬166 einigung etwas, getrennt aber ſind ſie nichtig. Nun kann uͤberdies im Volke einer todten Sprache gar keine wahrhaft erſchaffende Ge¬ nialitaͤt zum Ausbruche kommen, weil es ihnen am urſpruͤnglichen Bezeichnungsvermoͤgen fehlt, ſondern ſie koͤnnen nur ſchon angehobnes fort¬ bilden, und in die ganze ſchon vorhandene und vollendete Bezeichnung verfloͤßen.

Was insbeſondere die groͤßere Muͤhe anbe¬ langt, ſo iſt natuͤrlich, daß dieſe auf das Volk der lebendigen Sprache falle. Eine lebendige Sprache kann in Vergleichung mit einer an¬ dern auf einer hohen Stufe der Bildung ſte¬ hen, aber ſie kann niemals in ſich ſelber die¬ jenige Vollendung und Ausbildung erhalten, die eine todte Sprache gar leichtlich erhaͤlt. In der lezten iſt der Umfang der Woͤrter ge¬ ſchloſſen, die moͤglichen ſchicklichen Zuſammen¬ ſtellungen derſelben werden allmaͤhlich auch er¬ ſchoͤpft, und ſo muß der, der dieſe Sprache reden will, ſie eben reden, ſo wie ſie iſt; nach¬ dem er dieſes aber einmal gelernt hat, redet die Sprache in ſeinem Munde ſich ſelbſt, und denkt, und dichtet fuͤr ihn. In einer lebendi¬ gen Sprache aber, wenn nur in ihr wirklich167 gelebt wird, vermehren und veraͤndern die Worte, und ihre Bedeutungen ſich immerfort, und eben dadurch werden neue Zuſammenſtel¬ lungen moͤglich, und die Sprache, die niemals iſt, ſondern ewig fort wird, redet ſich nicht ſelbſt, ſondern wer ſie gebrauchen will, muß eben ſelber nach ſeiner Weiſe, und ſchoͤpferiſch fuͤr ſein Beduͤrfniß, ſie reden. Ohne Zweifel erfordert das lezte weit mehr Fleiß und Uebun¬ gen, denn das erſte. Eben ſo gehen, wie ſchon oben geſagt, die Unterſuchungen des Volks einer lebendigen Sprache bis auf die Wurzel der Ausſtroͤmung der Begriffe aus der geiſtigen Natur ſelbſt; dagegen die einer tod¬ ten Sprache nur einen fremden Begriff zu durchdringen, und ſich begreiflich zu machen ſuchen, und ſo in der That nur geſchichtlich, und auslegend, jene erſten aber wahrhaft phi¬ loſophiſch ſind. Es begreift ſich, daß eine Unterſuchung von der lezten Art eher, und leichter abgeſchloſſen werden moͤge, denn eine von der erſten.

Nach allem wird der auslaͤndiſche Genius die betretenen Heerbahnen des Alterthums mit Blumen beſtreuen, und der Lebensweisheit,168 die leicht ihm fuͤr Philoſophie gelten wird, ein zierliches Gewand weben; dagegen wird der deutſche Geiſt neue Schachten eroͤfnen, und Licht und Tag einfuͤhren in ihre Abgruͤnde, und Felsmaſſen von Gedanken ſchleudern, aus denen die kuͤnftigen Zeitalter ſich Wohnungen erbauen. Der auslaͤndiſche Genius wird ſeyn ein lieblicher Sylphe, der mit leichtem Fluge uͤber den ſeinem Boden von ſelbſt entkeimten Blumen hinſchwebt, und ſich niederlaͤßt auf dieſelben, ohne ſie zu beugen, und ihren er¬ quikenden Thau in ſich zieht; oder eine Biene, die aus denſelben Blumen mit geſchaͤftiger Kunſt den Honig ſammlet, und ihn in regel¬ maͤßig gebauten Zellen zierlich geordnet nieder¬ legt; der deutſche Geiſt ein Adler, der mit Ge¬ walt ſeinen gewichtigen Leib emporreißt, und mit ſtarkem, und vielgeuͤbten Fluͤgel viel Luft unter ſich bringt, um ſich naͤher zu heben der Sonne, deren Anſchauung ihn entzuͤkt.

Um alles bisher Geſagte in Einen Haupt¬ geſichtspunkt zuſammenzufaſſen. In Bezie¬ hung auf die Bildungsgeſchichte uͤberhaupt eines Menſchengeſchlechts, das hiſtoriſch in ein Alterthum und in eine neue Welt zerfallen iſt,169 werden zur urſpruͤnglichen Fortbildung dieſer neuen Welt im großen und ganzen die beiden beſchriebenen Hauptſtaͤmme ſich alſo verhalten. Der auslaͤndiſch gewordene Theil der friſchen Nation hat durch ſeine Annahme der Sprache des Alterthums eine weit groͤßere Verwand¬ ſchaft zu dieſem erhalten. Es wird dieſem Theile anfangs weit leichter werden, die Sprache deſſelben auch in ihrer erſten und un¬ veraͤnderten Geſtalt zu erfaſſen, in die Denkmale ihrer Bildung einzudringen, und in dieſelben ohngefaͤhr ſo viel friſches Leben zu bringen, daß ſie ſich an das entſtandene neue Leben anfuͤ¬ gen koͤnnen. Kurz es wird von ihnen das Studium des klaſſiſchen Alterthums uͤber das neuere Europa ausgegangen ſeyn. Von den ungeloͤßt gebliebenen Aufgaben deſſelben begei¬ ſiert, wird es dieſelben fortbearbeiten, aber freilich nur alſo, wie man eine, keinesweges durch ein Beduͤrfniß des Lebens, ſondern durch bloße Wißbegier gegebene Aufgabe bearbeitet, leicht ſie nehmend, nicht mit ganzem Gemuͤthe ſondern nur mit der Einbildungskraft ſie er¬ faſſend, und lediglich in dieſer zu einem lufti¬ gen Leibe ſie geſtaltend. Bei dem Reichthume170 des Stoffs, den das Alterthum hinterlaſſen, bei der Leichtigkeit, mit der in dieſer Weiſe ſich arbeiten laͤßt, werden ſie eine Fuͤlle ſolcher Bilder in den Geſichtskreis der neuen Welt einfuͤhren. Dieſe ſchon in die neue Form ge¬ ſtalteten Bilder der alten Welt, angekommen bei demjenigen Theile des Urſtamms, der durch beibehaltne Sprache im Fluſſe urſpruͤnglicher Bildung blieb, werden auch deſſen Aufmerk¬ ſamkeit, und Selbſtthaͤtigkeit reizen, ſie, welche vielleicht, wenn ſie in der alten Form geblieben waͤren, unbeachtet, und unvernommen vor ihm voruͤbergegangen waͤren. Aber er wird, ſo gewiß er ſie nur wirklich erfaßt, und nicht etwa nur ſie weiter giebt von Hand in Hand, die¬ ſelben erfaſſen gemaͤß ſeiner Natur, nicht im bloßen Wiſſen eines fremden, ſondern als Beſtandtheil eines Lebens; und ſo ſie aus dem Leben der neuen Welt nicht nur ableiten, ſon¬ dern ſie auch in daſſelbe wiederum einfuͤhren, verkoͤrpernd die vorher bloß luftigen Geſtalten zu gediegenen, und im wirklichen Lebens - Elemente haltbaren Leibern.

In dieſer Verwandlung, die das Ausland ſelbſt ihm zu geben niemals vermocht haͤtte,171 erhaͤlt nun dieſes es von ihnen zuruͤck, und ver¬ mittelſt dieſes Durchganges allein wird eine Fortbildung des Menſchengeſchlechts auf der Bahn des Alterthums, eine Vereinigung der beiden Haupthaͤlften, und ein regelmaͤßiger Fortfluß der menſchlichen Entwiklung moͤglich. In dieſer neuen Ordnung der Dinge wird das Mutterland nicht eigentlich erfinden, ſon¬ dern im kleinſten, wie im groͤßten, wird es immer bekennen muͤſſen, daß es durch irgend einen Wink des Auslandes angeregt worden, welches Ausland ſelbſt wieder angeregt wurde durch die Alten; aber das Mutterland wird ernſthaft nehmen, und ins Leben einfuͤhren, was dort nur obenhin, und fluͤchtig entwor¬ fen wurde. An treffenden und tiefgreifenden Beiſpielen dieſes Verhaͤltniß darzulegen, iſt, wie ſchon oben geſagt, hier nicht der Ort, und wir behalten es uns vor auf die kuͤnf¬ tige Rede.

Beide Theile der gemeinſamen Nation blieben auf dieſe Weiſe Eins, und nur in dieſer Trennung und Einheit zugleich ſind ſie ein Pfropf-Reis auf dem Stamme der al¬ terthuͤmlichen Bildung, welche leztere außer¬172 dem durch die neue Zeit abgebrochen ſeyn, und die Menſchheit ihren Weg von vorn wie¬ der angefangen haben wuͤrde. In dieſen ih¬ ren, beim Ausgangspunkte verſchiedenen, am Ziele zuſammenlaufenden Beſtimmungen muͤſſen nun beide Theile, jeder ſich ſelbſt, und den andern, erkennen, und denſelben gemaͤß ein¬ ander benutzen; beſonders aber jeder den an¬ deren zu erhalten, und in ſeiner Eigenthuͤm¬ lichkeit unverfaͤlſcht zu laſſen, ſich bequemen: wenn es mit allſeitiger, und vollſtaͤndiger Bildung des Ganzen einen guten Fortgang haben ſoll. Was dieſe Erkenntniß anbelangt, ſo duͤrfte dieſelbe wohl vom Mutterlande, als welchem zunaͤchſt der Sinn fuͤr die Tiefe ver¬ liehen iſt, ausgehen muͤſſen. Wenn aber in ſeiner Blindheit fuͤr ſolche Verhaͤltniſſe, und fortgeriſſen von oberflaͤchlichem Scheine, das Ausland jemals darauf ausgehen ſollte, ſein Mutterland der Selbſtſtaͤndigkeit zu berauben, und es dadurch zu vernichten und aufzuneh¬ men in ſich, ſo wuͤrde daſſelbe, wenn ihm dieſer Vorſatz gelaͤnge, dadurch fuͤr ſich ſelbſt die lezte Ader zerſchneiden, durch die es bisher noch zuſammenhing mit der Natur und dem173 Leben, und es wuͤrde gaͤnzlich anheim fallen, dem geiſtigen Tode, der ohne dies im Fort¬ gange der Zeiten immer ſichtbarer als ſein Weſen ſich offenbart hat; ſodann waͤre der bisher noch ſtetig fortgegangene Fluß der Bildung unſers Geſchlechts in der That be¬ ſchloſſen, und die Barbarei muͤßte wieder be¬ ginnen, und ohne Rettung fortſchreiten, ſo lange, bis wir insgeſammt wieder in Hoͤhlen lebten, wie die wilden Thiere, und gleich ih¬ nen uns untereinander aufzehrten. Daß dies wirklich alſo ſey, und nothwendig alſo erfol¬ gen muͤſſe, kann freilich nur der Deutſche einſehen, und er allein ſoll es auch: Dem Auslaͤnder, der, da er keine fremde Bildung kennt, unbegraͤnztes Feld hat ſich in der ſei¬ nigen zu bewundern, muß es, und mag es immer erſcheinen als eine abgeſchmakte Laͤſte¬ rung der ſchlecht unterrichteten Unwiſſenheit.

Das Ausland iſt die Erde, aus welcher fruchtbare Duͤnſte ſich abſondern, und ſich em¬ porheben zu den Wolken, und durch welche auch noch die in den Tartarus verwieſenen alten Goͤtter zuſammenhaͤngen mit dem Umkreiſe des Lebens. Das Mutterland iſt der jene umge¬174 bende ewige Himmel, an welchem die leich¬ ten Duͤnſte ſich verdichten zu Wolken, die, durch des Donnerers aus andrer Welt ſtam¬ menden Blitzſtrahl geſchwaͤngert, herabfallen als befruchtender Regen, der Himmel und Erde vereinigt, und die im erſten einheimi¬ ſchen Gaben auch dem Schooße der letztern entkeimen laͤßt. Wollen neue Titanen aber¬ mals den Himmel erſtuͤrmen? Er wird fuͤr ſie nicht Himmel ſeyn, denn ſie ſind Erdge¬ borne; es wird ihnen bloß der Anblick und die Einwirkung des Himmels entruͤckt wer¬ den, und nur ihre Erde als eine kalte fin¬ ſtere und unfruchtbare Behauſung ihnen zu¬ ruͤckbleiben. Aber was vermochte, ſagt ein roͤmiſcher Dichter, was vermoͤchte ein Ty¬ phoͤus, oder der gewaltige Mimas, oder Por¬ phyrion in drohender Stellung, oder Rhoͤ¬ tus, oder der kuͤhne Schleuderer ausgeriſſe¬ ner Baumſtaͤmme, Enceladus, wenn ſie ſich ſtuͤrzen gegen Pallas toͤnenden Schild. Die¬ ſer ſelbige Schild iſt es, der ohne Zweifel auch uns decken wird, wenn wir es verſte¬ hen, uns unter ſeinen Schutz zu begeben.

175

Anmerkung zu S. 162.

Auch uͤber den groͤßern oder geringern Wohllaut einer Sprache, ſollte, unſers Erachtens, nicht nach dem unmittelbaren Eindrucke, der von ſo vielen Zu¬ faͤlligkeiten abhaͤngt, entſchieden werden, ſondern es muͤßte ſich auch ein ſolches Urtheil auf feſte Grundſaͤtze zuruͤckfuͤhren laſſen. Das Verdienſt einer Sprache in dieſer Ruͤckſicht wuͤrde ohne Zweifel darein zu ſetzen ſeyn, daß ſie zufoͤrderſt das Vermoͤgen des menſchli¬ chen Sprachwerkzeugs erſchoͤpfte, und umfaſſend dar¬ ſtellte, ſodann, daß ſie die einzelnen Laute deſſelben zu einer naturgemaͤßen, und ſchiklichen Verfließung in einander verbaͤnde. Es geht ſchon hieraus hervor, daß Nationen, die ihre Sprachwerkzeuge nur halb und einſeitig ausbilden, und gewiſſe Laute, oder Zu¬ ſammenſetzungen, unter Vorwand der Schwierigkeit oder des Uebelklanges vermeiden, und denen leicht¬ lich nur das, was ſie zu hoͤren gewohnt ſind, und her¬ vorbringen koͤnnen, wohl klingen duͤrfte, bei einer ſolchen Unterſuchung keine Stimme haben.

Wie nun, jene hoͤheren Grundſaͤtze vorausgeſetzt, das Urtheil uͤber die Deutſche Sprache in dieſer Ruͤk¬ ſicht ausfallen werde, mag hier unentſchieden bleiben. Die Roͤmiſche Stammſprache ſelbſt wird von jeder Neu-Europaͤiſchen Nation ausgeſprochen nach derſel¬ ben eignen Mundart, und ihre wahre Ausſprache duͤrfte ſich nicht leicht wieder herſtellen laſſen. Es bliebe demnach nur die Frage uͤbrig, ob denn, den Neulatei¬176 niſchen Sprachen gegen uͤber, die Deutſche ſo uͤbel, hart, und rauh toͤne, wie einige zu glauben geneigt ſind?

Bis einmal dieſe Frage gruͤndlich entſchieden wer¬ de, mag wenigſtens vorlaͤufig erklaͤrt werden, wie es komme, daß Auslaͤndern, und ſelbſt Deutſchen, auch wenn ſie unbefangen ſind, und ohne Vorliebe oder Haß, dieſes alſo ſcheine. Ein noch ungebildetes Volk von ſehr regſamer Einbildungskraft, bei großer Kind¬ lichkeit des Sinnes, und Freiheit von National-Eitel¬ keit (die Germanier ſcheinen dieſes alles geweſen zu ſeyn) wird angezogen durch die Ferne, und verſetzt gern in dieſe, in entlegene Laͤnder, und ferne Inſeln, die Gegenſtaͤnde ſeiner Wuͤnſche, und die Herrlichkei¬ ten, die es ahnet. Es entwickelt ſich in ihm ein Ro¬ mantiſcher Sinn (das Wort erklaͤrt ſich ſelbſt, und koͤnnte nicht paſſender gebildet ſeyn). Laute und Toͤne aus jenen Gegenden treffen nun auf dieſen Sinn, und regen ſeine ganze Wunderwelt auf, und darum gefallen ſie.

Daher mag es kommen, daß unſre ausgewander¬ ten Landsleute ſo leicht die eigne Sprache fuͤr die fremde aufgaben, und daß noch bis jetzt uns, ihren ſehr entfernten Anverwandten, jene Toͤne ſo wunder¬ bar gefallen.

177

Sechſte Rede.

Darlegung der deutſchen Grundzuͤge in der Geſchichte.

Welche Haupt-Unterſchiede ſeyn wuͤrden zwi¬ ſchen einem Volke, das in ſeiner urſpruͤngli¬ chen Sprache ſich fortgebildet, und einem ſol¬ chen, das eine fremde Sprache angenommen, iſt in der vorigen Rede auseinander geſezt. Wir ſagten bei dieſer Gelegenheit: was das Ausland betreffe, ſo wollten wir dem eignen Urtheile jedweden Beobachters die Entſchei¬ dung uͤberlaſſen, ob in demſelben diejenigen Erſcheinungen wirklich eintraͤten, die zufolge unſrer Behauptungen darin eintreten muͤßten;M178was aber die Deutſchen betrift, machten wir uns anheiſchig darzulegen, daß dieſe ſich wirk¬ lich alſo geaͤußert, wie unſern Behauptungen zufolge das Volk einer Urſprache ſich aͤußern muͤſſe. Wir gehen heute an die Erfuͤllung un¬ ſers Verſprechens, und zwar legen wir das zu erweiſende zunaͤchſt dar an der lezten gro¬ ßen, und in gewiſſem Sinne, vollendeten Welt - That des deutſchen Volkes, an der kirchlichen Reformation.

Das aus Aſien ſtammende, und durch ſeine Verderbung erſt recht aſiatiſch gewordene, nur ſtumme Ergebung und blinden Glauben pre¬ digende Chriſtenthum war ſchon fuͤr die Roͤ¬ mer etwas fremdartiges, und auslaͤndiſches; es wurde niemals von ihnen wahrhaft durchdrun¬ gen, und angeeignet, und theilte ihr Weſen in zwei nicht an einander paſſende Haͤlften; wobei jedoch die Anfuͤgung des fremden Theils durch den angeſtammten ſchwermuͤthigen Aber¬ glauben vermittelt wurde. An den eingewan¬ derten Germaniern erhielt dieſe Religion Zoͤg¬ linge, in denen keine fruͤhere Verſtandesbil¬ dung ihr hinderlich war, aber auch kein ange¬179 ſtammter Aberglaube ſie beguͤnſtigte, und ſo wurde ſie denn an dieſelben gebracht, als ein zum Roͤmer, das ſie nun einmal ſeyn wollten, eben auch gehoͤriges Stuͤk, ohne ſonderlichen Einfluß auf ihr Leben. Daß dieſe chriſtlichen Erzieher von der alt Roͤmiſchen Bildung, und dem Sprachverſtaͤndniſſe, als dem Behaͤlter derſelben, nicht mehr an dieſe Neubekehrten kommen ließen, als mit ihren Abſichten ſich vertrug, verſteht ſich von ſelbſt; und auch hierin liegt ein Grund des Verfalls und der Ertoͤdtung der Roͤmiſchen Sprache in ihrem Munde. Als ſpaͤterhin die aͤchten und unverfaͤlſchten Denk¬ male der alten Bildung in die Haͤnde dieſer Voͤlker fielen, und dadurch der Trieb, ſelbſt¬ thaͤtig zu denken, und zu begreifen, in ihnen angeregt wurde, ſo mußte, da ihnen theils die¬ ſer Trieb neu und friſch war, theils kein ange¬ ſtammtes Erſchrecken vor den Goͤttern ihm das Gegengewicht hielt, der Widerſpruch eines blinden Glaubens, und der ſonderbaren Dinge, welche im Verlaufe der Zeiten zu Gegenſtaͤnden deſſelben geworden waren, dieſelben weit haͤr¬ ter treffen, denn ſogar die Roͤmer, als an dieſeM 2180zuerſt das Chriſtenthum kam. Einleuchten des vollkommnen Widerſpruchs aus demjeni¬ gen, woran man bisher treuherzig geglaubt hat, erregt Lachen; die welche das Raͤthſel ge¬ loͤßt hatten, lachten, und ſpotteten, und die Prieſter ſelbſt, die es ebenfalls geloͤſt hatten, lachten mit, geſichert dadurch, daß nur ſehr wenigen der Zugang zur alterthuͤmlichen Bil¬ dung, als dem Loͤſungsmittel des Zaubers, offen ſtehe. Ich deute hiemit vorzuͤglich auf Italien, als den damaligen Hauptſiz der neu - Roͤmiſchen Bildung, hinter welchem die uͤbri¬ gen neu Roͤmiſchen Staͤmme in jeder Ruͤkſicht noch ſehr weit zuruͤk waren.

Sie lachten des Truges, denn es war kein Ernſt in ihnen, den er erbittert haͤtte; ſie wur¬ den durch dieſen ausſchließenden Beſitz einer ungemeinen Erkenntniß um ſo ſicherer ein vor¬ nehmer und gebildeter Stand, und mochten es wohl leiden, daß der große Haufe, fuͤr den ſie kein Gemuͤth hatten, dem Truge ferner Preiß gegeben, und ſo auch fuͤr ihre Zwecke folgſamer erhalten bliebe. Alſo nun, daß das Volk be¬ trogen werde, der Vornehmere den Betrug181 nuͤtze, und ſein lache, konnte es fortbeſtehen: und es wuͤrde wahrſcheinlich, wenn in der neuen Zeit nichts vorhanden geweſen waͤre, außer Neu-Roͤmer, alſo fortbeſtanden haben bis ans Ende der Tage.

Sie ſehen hier einen klaren Beleg zu dem, was fruͤher uͤber die Fortſetzung der alten Bil¬ dung durch die neue, und uͤber den Antheil, den die Neu-Roͤmer daran zu haben vermoͤgen, geſagt wurde. Die neue Klarheit gieng aus von den Alten, ſie fiel zuerſt in den Mittelpunkt der neu Roͤmiſchen Bildung, ſie wurde daſelbſt nur zu einer Verſtandes-Einſicht ausgebildet, ohne das Leben zu ergreifen, und anders zu geſtalten.

Nicht laͤnger aber konnte der bisherige Zuſtand der Dinge beſtehen, ſobald dieſes Licht in ein in wahrem Ernſte und bis auf das Leben herab religioͤſes Gemuͤth fiel, und, wenn die¬ ſes Gemuͤth von einem Volke umgeben war, dem es ſeine ernſtere Anſicht der Sache leicht mittheilen konnte, und dieſes Volk Haͤupter fand, welche auf ſein entſchiedenes Beduͤrfniß etwas gaben. So tief auch das Chriſtenthum182 herabſinken mochte, ſo bleibt doch immer in ihm ein Grundbeſtandtheil, in dem Wahrheit iſt, und der ein Leben, das nur wirkliches und ſelbſtſtaͤndiges Leben iſt, ſicher anregt; die Frage: was ſollen wir thun, damit wir ſeelig werden. War dieſe Frage auf einen erſtorbe¬ nen Boden gefallen, wo es entweder uͤberhaupt an ſeinen Ort geſtellt blieb, ob wohl ſo etwas, wie Seeligkeit im Ernſte moͤglich ſey, oder, wenn auch das erſte angenommen worden waͤre, dennoch gar kein feſter und entſchiedener Wille, ſelbſt auch ſeelig zu werden, vorhanden war, ſo hatte auf dieſen, Boden die Religion gleich anfangs nicht eingegriffen in Leben, und Willen, ſondern ſie war nur als ein ſchwan¬ kender und blaſſer Schatten im Gedaͤchtniſſe, und in der Einbildungskraft behangen geblie¬ ben; und ſo mußten natuͤrlich auch alle fernere Aufklaͤrungen uͤber den Zuſtand der vorhande¬ nen Religionsbegriffe gleichfalls ohne Einfluß auf das Leben bleiben. War hingegen jene Frage in einen urſpruͤnglich lebendigen Boden gefallen, ſo daß im Ernſte geglaubt wurde, es gebe eine Seeligkeit, und der feſte Wille da183 war, ſeelig zu werden, und die von der bishe¬ rigen Religion angegebnen Mittel zur Seelig¬ keit mit innigem Glauben, und redlichem Ern¬ ſte in dieſer Abſicht gebraucht worden waren, ſo mußte, wenn in dieſen Boden, der gerade durch ſein Ernſtnehmen dem Lichte uͤber die Be¬ ſchaffenheit dieſer Mittel ſich laͤnger verſchloß, dieſes Licht zulezt dennoch fiel, ein graͤßliches Entſetzen ſich erzeugen vor dem Betruge um das Heil der Seele, und die treibende Unruhe, dieſes Heil auf andere Weiſe zu retten, und was als in ewiges Verderben ſtuͤrzend erſchien, konnte nicht ſcherzhaft genommen werden. Ferner konnte der Einzelne, den zuerſt dieſe Anſicht ergriffen, keinesweges zufrieden ſeyn, etwa nur ſeine eigne Seele zu retten, gleich¬ guͤltig uͤber das Wohl aller uͤbrigen unſterbli¬ chen Seelen, indem er, ſeiner tiefern Religion zufolge, dadurch auch nicht einmal die eigne Seele gerettet haͤtte; ſondern mit der gleichen Angſt, die er um dieſe fuͤhlte, mußte er rin¬ gen, ſchlechthin allen Menſchen in der Welt das Auge zu oͤffnen uͤber die verdammliche Taͤuſchung.

184

Auf dieſe Weiſe nun fiel die Einſicht, die lange vor ihm ſehr viele Auslaͤnder wohl in groͤßerer Verſtandesklarheit gehabt hatten, in das Gemuͤth des Deutſchen Mannes, Luther. An alterthuͤmlicher, und feiner Bildung, an Ge¬ lehrſamkeit, an andern Vorzuͤgen uͤbertrafen ihn nicht nur Auslaͤnder, ſondern ſogar viele in ſeiner Nation. Aber ihn ergriff ein all¬ maͤchtiger Antrieb, die Angſt um das ewige Heil, und dieſer ward das Leben in ſeinem Leben, und ſezte immerfort das lezte in die Waage, und gab ihm die Kraft und die Ga¬ ben, die die Nachwelt bewundert. Moͤgen an¬ dere bei der Reformation irdiſche Zwecke ge¬ habt haben, ſie haͤtten nie geſiegt, haͤtte nicht an ihrer Spitze ein Anfuͤhrer geſtanden, der durch das Ewige begeiſtert wurde; daß dieſer, der immerfort das Heil aller unſterblichen See¬ len auf dem Spiel ſtehen ſah, allen Ernſtes allen Teufeln in der Hoͤlle furchtlos entgegen gieng, iſt natuͤrlich, und durchaus kein Wun¬ der. Dies nun iſt ein Beleg von Deutſchem Ernſt und Gemuͤth.

185

Daß Luther mit dieſem rein menſchlichen, und nur durch jeden ſelbſt zu beſorgenden, An¬ liegen an alle, und zunaͤchſt an die Geſammt¬ heit ſeiner Nation ſich wendete, lag, wie ge¬ ſagt, in der Sache. Wie nahm nun ſein Volk dieſen Antrag auf? Blieb es in ſeiner dumpfen Ruhe, gefeſſelt an den Boden durch irdiſche Geſchaͤfte, und ungeſtoͤrt fortgehend den ge¬ wohnten Gang, oder erregte die nicht alltaͤg¬ liche Erſcheinung gewaltiger Begeiſterung bloß ſein Gelaͤchter? Keinesweges, ſondern es wurde wie durch ein fortlaufendes Feuer ergriffen von derſelben Sorge fuͤr das Heil der Seele, und dieſe Sorge eroͤfnete ſchnell auch ihr Auge der vollkommnen Klarheit, und ſie nahmen auf im Fluge das ihnen Dargebotene. War dieſe Be¬ geiſterung nur eine augenblickliche Erhebung der Einbildungskraft, die im Leben, und gegen deſſen ernſthafte Kaͤmpfe und Gefahren nicht Stand hielt? Keinesweges, ſie entbehrten al¬ les, und trugen alle Martern, und kaͤmpften in blutigen zweifelhaften Kriegen, lediglich damit ſie nicht wieder unter die Gewalt des verdammlichen Papſtthums geriethen, ſondern186 ihnen und ihren Kindern fort das allein ſeelig¬ machende Licht des Evangeliums ſchiene; und es erneuten ſich an ihnen in ſpaͤter Zeit alle Wunder, die das Chriſtenthum bei ſeinem Be¬ ginnen an ſeinen Bekennern darlegte. Alle Aeußerungen jener Zeit ſind erfuͤllt von dieſer allgemein verbreiteten Beſorgtheit um die See¬ ligkeit. Sehen Sie hier einen Beleg von der Eigenthuͤmlichkeit des Deutſchen Volkes. Es iſt durch Begeiſterung zu jedweder Begeiſte¬ rung, und jedweder Klarheit, leicht zu erheben, und ſeine Begeiſterung haͤlt aus fuͤr das Leben, und geſtaltet daſſelbe um.

Auch fruͤher, und anderwaͤrts hatten Re¬ formatoren Haufen des Volks begeiſtert, und ſie zu Gemeinen verſammelt, und gebildet; dennoch erhielten dieſe Gemeinen keinen feſten, und auf dem Boden der bisherigen Ver¬ faſſung gegruͤndeten Beſtand, weil die Volks¬ haͤupter und Fuͤrſten der bisherigen Ver¬ faſſung nicht auf ihre Seite traten. Auch der Reformation durch Luther ſchien Anfangs kein guͤnſtigeres Schickſal beſtimmt. Der weiſe Churfuͤrſt, unter deſſen Augen ſie be¬187 gann, ſchien mehr im Sinne des Auslandes als in dem deutſchen weiſe zu ſeyn; er ſchien die eigentliche Streitfrage nicht ſonderlich ge¬ faßt zu haben, einem Streite zwiſchen zwei Moͤnchsorden, wie ihm es ſchien, nicht viel Gewicht beizulegen, und hoͤchſtens bloß um den guten Ruf ſeiner neu errichteten Uni¬ verſitaͤt beſorgt zu ſeyn. Aber er hatte Nach¬ folger, die, weit weniger weiſe, denn er, von derſelben ernſtlichen Sorge fuͤr ihre Seelig¬ keit ergriffen wurden, die in ihren Voͤlkern lebte, und vermittelſt dieſer Gleichheit mit ihnen verſchmolzen bis zu gemeinſamen Le¬ ben oder Tod, Sieg oder Untergange.

Sehen Sie hieran einen Beleg zu dem oben angegebnen Grundzuge der Deutſchen, als einer Geſammtheit, und zu ihrer durch die Natur begruͤndeten Verfaſſung. Die großen National - und Welt-Angelegenheiten ſind bisher durch freiwillig auftretende Red¬ ner an das Volk gebracht worden, und bei dieſem durchgegangen. Mochten auch ihre Fuͤrſten anfangs aus Auslaͤnderei, und aus Sucht vornehm zu thun und zu glaͤnzen, wie188 jene, ſich abſondern von der Nation, und dieſe verlaſſen oder verrathen, ſo wurden ſie doch ſpaͤter leicht wieder fortgeriſſen zur Ein¬ ſtimmigkeit mit derſelben, und erbarmten ſich ihrer Voͤlker. Daß das erſte ſtets der Fall geweſen ſey, werden wir tiefer unten noch an andern Belegen darthun; daß das leztere fortdauernd der Fall bleiben moͤge, koͤnnen wir nur mit heißer Sehnſucht wuͤnſchen.

Ohnerachtet man nun bekennen muß, daß in der Angſt jenes Zeitalters um das Heil der Seelen, eine Dunkelheit und Unklarheit blieb, indem es nicht darum zu thun war, den aͤußeren Vermittler zwiſchen Gott und den Menſchen nur zu veraͤndern, ſondern gar keines aͤußern Mittlers zu beduͤrfen, und das Band des Zuſammenhanges in ſich ſel¬ ber zu finden; ſo war es doch vielleicht nothwendig, daß die religioͤſe Ausbildung der Menſchen im Ganzen durch dieſen Mittel¬ zuſtand hindurch ginge. Luthern ſelbſt hat ſein redlicher Eifer noch mehr gegeben, denn er ſuchte, und ihn weit hinausgefuͤhrt uͤber ſein Lehrgebaͤude. Nachdem er nur die erſten189 Kaͤmpfe der Gewiſſensangſt, die ihm ſein kuͤhnes Losreißen von dem ganzen bisherigen Glauben verurſachte, beſtanden hatte, ſind alle ſeine Aeußerungen voll eines Jubels und Triumphs uͤber die erlangte Freiheit der Kinder Gottes, welche die Seeligkeit gewiß nicht mehr außer ſich und jenſeit des Gra¬ bes ſuchten, ſondern der Ausbruch des un¬ mittelbaren Gefuͤhls derſelben waren. Er iſt hierin das Vorbild aller kuͤnftigen Zeitalter geworden, und hat fuͤr uns alle vollendet. Sehen Sie auch hier einen Grundzug des deutſchen Geiſtes. Wenn er nur ſucht, ſo findet er mehr, als er ſuchte; denn er geraͤth hinein in den Strom lebendigen Lebens, das durch ſich ſelbſt fortrinnt, und ihn mit ſich fortreißt.

Dem Pabſtthume, dieſes nach ſeiner eig¬ nen Geſinnung genommen, und beurtheilt, geſchahe durch die Weiſe, wie die Reforma¬ tion daſſelbe nahm, ohne Zweifel unrecht. Die Aeußerungen deſſelben waren wohl groͤ߬ tentheils aus der vorliegenden Sprache blind herausgeriſſen, aſiatiſch redneriſch uͤbertrei¬190 bend, gelten ſollend, was ſie koͤnnten, und rechnend, daß mehr als der gebuͤhrende Ab¬ zug wohl ohne dies werde gemacht werden, niemals aber ernſtlich ermeſſen, erwogen, oder gemeint. Die Reformation nahm mit deut¬ ſchem Ernſte ſie nach ihrem vollen Gewichte; und ſie hatte recht, daß man Alles alſo neh¬ men ſolle, unrecht, wenn ſie glaubte, jene haͤtten es alſo genommen, und ſie noch an¬ derer Dinge, denn ihrer natuͤrlichen Flachheit und Ungruͤndlichkeit, bezuͤchtigte. Ueberhaupt iſt dies die ſtets ſich gleich bleibende Erſchei¬ nung in jedem Streite des deutſchen Ernſtes gegen das Ausland, ob dieſes ſich nun außer Landes oder im Lande befinde, daß das lez¬ tere gar nicht begreifen kann, wie man uͤber ſo gleichguͤltige Dinge, als Worte und Re¬ densarten ſind, ein ſo großes Weſen erheben moͤge, und daß ſie, aus deutſchem Munde es wieder hoͤrend, nicht geſagt haben wollen, was ſie doch geſagt haben, und ſagen, und immerfort ſagen werden, und uͤber Verlaͤum¬ dung, die ſie Konſequenzmacherei nennen, klagen, wenn man ihre Aeußerungen in ih¬191 rem buchſtaͤblichen Sinne, und als ernſtlich gemeint, nimmt, und dieſelben betrachtet als Beſtandtheile einer folgebeſtaͤndigen Denk - Reihe, die man nun ruͤkwaͤrts nach ihren Grundſaͤtzen, und vorwaͤrts nach ihren Fol¬ gen herſtellt; indeß man doch vielleicht ſehr entfernt iſt, ihnen fuͤr die Perſon klares Be¬ wußtſeyn deſſen, was ſie reden, und Folge¬ beſtaͤndigkeit, beizumeſſen. In jener Anmu¬ thung, man muͤſſe eben jedwedes Ding neh¬ men, wie es gemeint ſey, nicht aber etwa noch daruͤber hinaus das Recht zu meinen, und laut zu meinen, in Frage ziehen, ver¬ raͤth ſich immer die noch ſo tief verſteckte Auslaͤnderei.

Dieſer Ernſt, mit welchem das alte Reli¬ gionslehrgebaͤude genommen wurde, noͤthigte dieſes ſelbſt zu einem groͤßeren Ernſte, als es bisher gehabt hatte, und zu neuer Pruͤ¬ fung, Umdeutung, Befeſtigung der alten Lehre, ſo wie zu groͤßerer Behutſamkeit in Lehre und Leben fuͤr die Zukunft: und die¬ ſes, ſo wie das zunaͤchſtfolgende, ſey Ihnen ein Beleg von der Weiſe, wie Deutſchland192 auf das uͤbrige Europa immer zuruͤkgewirkt hat. Hierdurch erhielt fuͤr das allgemeine die alte Lehre wenigſtens diejenige unſchaͤd¬ liche Wirkſamkeit, die ſie, nachdem ſie nun einmal nicht aufgegeben werden ſollte, haben konnte; insbeſondere aber ward ſie fuͤr die Vertheidiger derſelben Gelegenheit und Auf¬ forderung zu einem gruͤndlicheren und folge¬ gemaͤßeren Nachdenken, als bisher ſtatt gehabt hatte. Davon, daß die in Deutſch¬ land verbeſſerte Lehre auch in das neulatei¬ niſche Ausland ſich verbreitet, und daſelbſt denſelben Erfolg hoͤherer Begeiſterung her¬ vorgebracht, wollen wir hier, als von einer voruͤbergehenden Erſcheinung ſchweigen: wie¬ wohl es immer merkwuͤrdig iſt, daß die neue Lehre in keinem eigentlich neulateiniſchen Lande zu einem vom Staate anerkannten Beſtande gekommen; indem es ſcheint, daß es deutſcher Gruͤndlichkeit bei den Regieren¬ den, und deutſcher Gutmuͤthigkeit beim Volke, bedurft habe, um dieſe Lehre vertraͤglich mit der Obergewalt zu finden, und ſie alſo zu machen.

In193

In einer andern Ruͤkſicht aber, und zwar nicht auf das Volk, ſondern auf die gebilde¬ ten Staͤnde, hat Deutſchland durch ſeine Kirchen-Verbeſſerung einen allgemeinen und dauernden Einfluß auf das Ausland gehabt; und durch dieſen Einfluß dieſes Ausland wieder zum Vorgaͤnger fuͤr ſich ſelbſt, und zu ſeinem eignen Anreger zu neuen Schoͤpfun¬ gen ſich zubereitet. Das freie und ſelbſtthaͤ¬ tige Denken, oder die Philoſophie, war ſchon in den vorhergehenden Jahrhunderten unter der Herrſchaft der alten Lehre haͤufig ange¬ regt und geuͤbt worden, keinesweges aber, um aus ſich ſelbſt Wahrheit hervorzubringen, ſondern nur, um zu zeigen, daß und auf welche Weiſe die Lehre der Kirche wahr ſey. Daſſelbe Geſchaͤft in Beziehung auf ihre Lehre erhielt zunaͤchſt die Philoſophie auch bei den deutſchen Proteſtanten, und ward bei dieſen Dienerin des Evangeliums, ſo wie ſie bei den Scholaſtikern die der Kirche geweſen war. Im Auslande, das entweder kein Evangelium hatte, oder daß daſſelbe nicht mit unvermiſcht deutſcher Andacht und TiefeN194des Gemuͤths gefaßt hatte, erhob das durch den erhaltenen glaͤnzenden Triumph ange¬ feuerte freie Denken ſich leichter, und hoͤher, ohne die Feſſel eines Glaubens an Ueber¬ ſinnliches; aber es blieb in der ſinnlichen Feſſel des Glaubens an den natuͤrlichen, ohne Bildung und Sitte aufgewachſenen Verſtand; und weit entfernt, daß es in der Vernunft die Quelle auf ſich ſelbſt beruhender Wahr¬ heit entdeckt haͤtte, wurden fuͤr daſſelbe die Ausſpruͤche dieſes rohen Verſtandes dasje¬ nige, was fuͤr die Scholaſtiker die Kirche, fuͤr die erſten proteſtantiſchen Theologen das Evangelium war; ob ſie wahr ſeyen, dar¬ uͤber regte ſich kein Zweifel, die Frage war bloß, wie ſie dieſe Wahrheit gegen beſtrei¬ tende Anſpruͤche behaupten koͤnnten.

Indem nun dieſes Denken in das Gebiet der Vernunft, deren Gegenſtreit bedeutender geweſen ſeyn wuͤrde, gar nicht hineinkam, ſo fand es keinen Gegner, außer der hiſtoriſch vorhandenen Religion, und wurde mit dieſer leicht fertig, indem es ſie an den Maaßſtab des vorausgeſezten geſunden Verſtandes hielt,195 und ſich dabei klar zeigte, daß ſie demſelben eben widerſpraͤche; und ſo kam es denn, daß, ſo wie dieſes alles vollkommen ins Reine gebracht wurde, im Auslande die Be¬ nennung des Philoſophen und die des Ir¬ religioͤſen und Gotteslaͤugners, gleichbedeu¬ tend wurden, und zu gleicher ehrenvoller Auszeichnung gereichten.

Die verſuchte gaͤnzliche Erhebung uͤber allen Glauben an fremdes Anſehen, welche in dieſen Beſtrebungen des Auslandes das richtige war, wurde den Deutſchen, von de¬ nen ſie vermittelſt der Kirchen-Verbeſſerung erſt ausgegangen war, zu neuer Anregung. Zwar ſagten untergeordnete und unſelbſtſtaͤn¬ dige Koͤpfe unter uns dieſe Lehre des Aus¬ landes eben nach lieber die des Aus¬ landes, wie es ſcheint, als die eben ſo leicht zu habende ihrer Landsleute, darum, weil ihnen das erſte vornehmer duͤnkte und dieſe Koͤpfe ſuchten, ſo gut es gehen wollte, ſich ſelber davon zu uͤberzeugen; wo aber ſelbſtſtaͤndiger deutſcher Geiſt ſich regte, da genuͤgte das ſinnliche nicht, ſondern es ent¬N 2196ſtand die Ausgabe das, freilich nicht auf fremdes Anſehen zu glaubende, Ueberſinn¬ liche in der Vernunft ſelbſt aufzuſuchen, und ſo erſt eigentliche Philoſophie zu erſchaffen, indem man, wie es ſeyn ſollte, das freie Denken zur Quelle unabhaͤngiger Wahrheit machte. Dahin ſtrebte Leibniz, im Kampfe mit jener auslaͤndiſchen Philoſophie; dies erreichte der eigentliche Stifter der neuen deutſchen Philoſophie, nicht ohne das Geſtaͤndniß, durch eine Aeußerung des Auslandes, die inzwi¬ ſchen tiefer genommen worden, als ſie ge¬ meint geweſen, angeregt worden zu ſeyn. Seitdem iſt unter uns die Aufgabe vollſtaͤn¬ dig geloͤßt, und die Philoſophie vollendet wor¬ den, welches man indeſſen ſich begnuͤgen muß, zu ſagen, bis ein Zeitalter kommt, das es begreift. Dies vorausgeſezt, ſo waͤre abermals durch Anregung des durch das Neuroͤmiſche Ausland hindurch gegangenen Alterthums im Deutſchen Mutterlande die Schoͤpfung eines vorher durchaus nicht dage¬ weſenen neuen erfolgt.

Unter den Augen der Zeitgenoſſen hat197 das Ausland eine andere Aufgabe der Ver¬ nunft und der Philoſophie an die neue Welt, die Errichtung des vollkommnen Staats, leicht, und mit feuriger Kuͤhnheit ergriffen, und kurz darauf dieſelbe alſo fallen laſſen, daß es durch ſeinen jetzigen Zuſtand genoͤ¬ thiget iſt, den bloßen Gedanken der Aufgabe als ein Verbrechen zu verdammen, und alles anwenden muͤßte, um, wenn es koͤnnte, jene Beſtrebungen aus den Jahrbuͤchern ſeiner Geſchichte auszutilgen. Der Grund dieſes Erfolgs liegt am Tage: Der vernunftge¬ maͤße Staat laͤßt ſich nicht durch kuͤnſtliche Vorkehrungen aus jedem vorhandenen Stoffe aufbauen, ſondern die Nation muß zu dem¬ ſelben erſt gebildet, und herauferzogen wer¬ den. Nur diejenige Nation, welche zufoͤr¬ derſt die Aufgabe der Erziehung zum voll¬ kommnen Menſchen, durch die wirkliche Aus¬ uͤbung, geloͤßt haben wird, wird ſodann auch jene des vollkommnen Staats loͤſen.

Auch die zulezt genannte Aufgabe der Er¬ ziehung iſt ſeit unſrer Kirchen-Verbeſſerung vom Auslande geiſtvoll, aber im Sinne198 ſeiner Philoſophie, mehrmals in Anregung gebracht worden, und dieſe Anregungen ha¬ ben unter uns fuͤrs erſte Nachtreter und Uebertreiber gefunden. Bis zu welchem Punkte endlich in unſern Tagen abermals deutſches Gemuͤth dieſe Sache gebracht, werden wir zu ſeiner Zeit ausfuͤhrlicher berichten.

Sie haben an dem Geſagten eine klare Ueberſicht der geſammten Bildungsgeſchichte der neuen Welt, und des ſich immer gleich bleibenden Verhaͤltniſſes der verſchiedenen Beſtandtheile der lezten zur erſten. Wahre Religion, in der Form des Chriſtenthums, war der Keim der neuen Welt, und ihre Geſammt-Aufgabe die, dieſe Religion in die vorhandene Bildung des Alterthums zu verfloͤßen, und die lezte dadurch zu vergei¬ ſtigen, und zu heiligen. Der erſte Schritt auf dieſem Wege war, das die Freiheit rau¬ bende aͤußere Anſehen der Form dieſer Re¬ ligion von ihr abzuſcheiden, und auch in ſie das freie Denken des Alterthums ein¬ zufuͤhren. Es regte an zu dieſem Schritte199 das Ausland, der Deutſche that ihn. Der zweite, der eigentlich die Fortſetzung und Vollendung des erſten iſt, der, dieſe Reli¬ gion, und mit ihr alle Weisheit in uns ſel¬ ber aufzufinden. Auch ihn vorbereitete das Ausland, und vollzog der Deutſche. Der dermalen in der ewigen Zeit an der Tages - Ordnung ſich befindende Fortſchritt iſt die vollkommne Erziehung der Nation zum Men¬ ſchen. Ohnedies wird die gewonnene Philo¬ ſophie nie ausgedehnte Verſtaͤndlichkeit, viel¬ weniger noch allgemeine Anwendbarkeit im Leben finden; ſo wie hinwiederum ohne Philoſophie die Erziehungskunſt niemals zu vollſtaͤndiger Klarheit in ſich ſelbſt gelangen wird. Beide greifen daher in einander, und ſind, eins ohne das andere, unvollſtaͤndig und unbrauchbar. Schon allein darum, weil der Deutſche bisher alle Schritte der Bil¬ dung zur Vollendung gebracht, und er eigent¬ lich dazu aufbewahrt worden iſt in der neuen Welt, kommt ihm daſſelbe auch mit der Erziehung zu; wie aber dieſe einmal in Ordnung gebracht iſt, wird es ſich mit den200 uͤbrigen Angelegenheiten der Menſchheit leicht ergeben.

In dieſem Verhaͤltniſſe alſo hat wirklich die Deutſche Nation zur Fortbildung des menſchlichen Geſchlechts in der neuen Zeit bisher geſtanden. Noch iſt uͤber eine ſchon zweimal fallen gelaſſene Bemerkung uͤber den naturgemaͤßen Hergang, den dieſe Nation hiebei genommen, daß nemlich in Deutſchland alle Bildung vom Volke ausgegangen, mehr Licht zu verbreiten. Daß die Angelegenheit der Kirchen-Verbeſſerung zuerſt an das Volk gebracht worden, und allein dadurch, daß es deſſelben Angelegenheit geworden, gelungen ſey, haben wir ſchon erſehen. Aber es iſt ferner darzuthun, daß dieſer einzelne Fall nicht Ausnahme, ſondern daß er die Regel geweſen.

Die im Mutterlande zuruͤckgebliebenen Deutſchen hatten alle Tugenden, die ehemals auf ihrem Boden zu Hauſe waren, beibe¬ halten, Treue, Biederkeit, Ehre, Einfalt; aber ſie hatten von Bildung zu einem hoͤhern201 und geiſtigen Leben nicht mehr erhalten, als das damalige Chriſtenthum, und ſeine Leh¬ rer, an zerſtreut wohnende Menſchen bringen konnten. Dies war wenig, und ſie ſtanden ſo gegen ihre ausgewanderten Stammver¬ wandten zuruͤk, und waren in der That zwar brav und bieder, aber dennoch halb Barba¬ ren. Es entſtanden unter ihnen indeſſen Staͤdte, die durch Glieder aus dem Volke errichtet wurden. In dieſen entwickelte ſich ſchnell jeder Zweig des gebildeten Lebens zur ſchoͤnſten Bluͤthe. In ihnen entſtanden, zwar auf Kleines berechnete, dennoch aber trefliche buͤrgerliche Verfaſſungen, und Ein¬ richtungen, und von ihnen aus verbreitete ſich ein Bild von Ordnung und eine Liebe derſelben erſt uͤber das uͤbrige Land. Ihr ausgebreiteter Handel half die Welt ent¬ decken. Ihren Bund fuͤrchteten Koͤnige. Die Denkmaͤler ihrer Baukunſt dauern noch, haben der Zerſtoͤrung von Jahrhunderten ge¬ trozt, die Nachwelt ſteht bewundernd vor ihnen, und bekennt ihre eigene Ohnmacht.

202

Ich will dieſe Buͤrger der deutſchen Reichsſtaͤdte des Mittelalters nicht verglei¬ chen mit den andern ihnen gleichzeitigen Staͤnden, und nicht fragen, was indeſſen der Adel that, und die Fuͤrſten; aber in Vergleich mit den uͤbrigen Germaniſchen Nationen, einige Striche Italiens abgerech¬ net, hinter welchen ſelbſt jedoch in den ſchoͤnen Kuͤnſten die Deutſchen nicht zuruͤck¬ blieben, in den nuͤzlichen ſie uͤbertrafen, und ihre Lehrer wurden, dieſe abgerechnet waren nun dieſe deutſchen Buͤrger die gebil¬ deten, und jene die Barbaren. Die Ge¬ ſchichte Deutſchlands, deutſcher Macht, deut¬ ſcher Unternehmungen, Erfindungen, Denk¬ male, Geiſtes, iſt in dieſem Zeitraume ledig¬ lich die Geſchichte dieſer Staͤdte, und alles uͤbrige, als da ſind Laͤnderverpfaͤndun¬ gen, und Wiedereinloͤſungen, und derglei¬ chen, iſt nicht des Erwaͤhnens werth. Auch iſt dieſer Zeitpunkt der einzige in der Deutſchen Geſchichte, in der dieſe Nation glaͤnzend und ruhmvoll, und mit dem Range, der ihr als Stammvolk gebuͤhrt, daſteht;203 ſo wie ihre Bluͤthe durch die Habſucht und Herrſucht der Fuͤrſten zerſtoͤrt, und ihre Frei¬ heit zertreten wird, ſinkt das Ganze allmaͤh¬ lich immer tiefer herab, und geht entge¬ gen dem gegenwaͤrtigen Zuſtande; wie aber Deutſchland herabſinkt, ſieht man das uͤbrige Europa eben alſo ſinken, in Ruͤkſicht deſſen, was das Weſen betrifft, und nicht den blo¬ ßen aͤußern Schein.

Der entſcheidende Einfluß dieſes in der That herrſchenden Standes auf die Entwik¬ lung der deutſchen Reichsverfaſſung, auf die Kirchen-Verbeſſerung, und auf alles, was je¬ mals die deutſche Nation bezeichnete, und von ihr ausgieng in das Ausland, iſt al¬ lenthalben unverkennbar, und es laͤßt ſich nachweiſen, daß alles, was noch jezt ehrwuͤr¬ diges iſt unter den Deutſchen, in ſeiner Mitte entſtanden iſt.

Und mit welchem Geiſte brachte hervor, und genoß dieſer Deutſche Stand dieſe Bluͤ¬ the? Mit dem Geiſte der Froͤmmigkeit, der Ehrbarkeit, der Beſcheidenheit, des Gemein¬204 ſinnes. Fuͤr ſich ſelbſt bedurften ſie wenig, fuͤr oͤffentliche Unternehmungen machten ſie unermeßlichen Aufwand. Selten ſteht irgend¬ wo ein einzelner Name hervor, und zeichnet ſich aus, weil alle gleichen Sinnes waren, und gleicher Aufopferung fuͤr das Gemein¬ ſame. Ganz unter denſelben aͤußern Bedin¬ gungen, wie in Deutſchland, waren auch in Italien freie Staͤdte entſtanden. Man ver¬ gleiche die Geſchichten beider; man halte die fortwaͤhrenden Unruhen, die innern Zwiſte, ja Kriege, den beſtaͤndigen Wechſel der Ver¬ faſſungen, und der Herrſcher, in den erſten, gegen die friedliche Ruhe, und Eintracht in den leztern. Wie konnte klaͤrer ſich ausſpre¬ chen, daß ein innerlicher Unterſchied in den Gemuͤthern der beiden Nationen geweſen ſeyn muͤſſe? Die Deutſche Nation iſt die einzige unter den Neu-Europaͤiſchen Nationen, die es an ihrem Buͤrgerſtande ſchon ſeit Jahr¬ hunderten durch die That gezeigt hat, daß ſie die Republikaniſche Verfaſſung zu ertra¬ gen vermoͤge.

205

Unter den einzelnen, und beſondern Mit¬ teln den Deutſchen Geiſt wieder zu heben, wuͤrde es ein ſehr kraͤftiges ſeyn, wenn wir eine begeiſternde Geſchichte der Deutſchen aus dieſem Zeitraume haͤtten, die da National - und Volks-Buch wuͤrde, ſo wie Bibel, oder Geſangbuch es ſind, ſo lange, bis wir ſelbſt wiederum etwas des Aufzeichnens werthes hervorbraͤchten. Nur muͤßte eine ſolche Ge¬ ſchichte nicht etwa chronikenmaͤßig die Tha¬ ten und Ereigniſſe aufzaͤhlen, ſondern ſie muͤßte uns, wunderbar ergreifend, und ohne unſer eigenes Zuthun oder klares Bewußtſeyn, mitten hinein verſetzen in das Leben jener Zeit, ſo daß wir ſelbſt mit ihnen zu gehen, zu ſtehen, zu beſchließen, zu handeln ſchie¬ nen, und dies nicht durch kindiſche und taͤn¬ delnde Erdichtung, wie es ſo viele hiſtoriſche Romane gethan haben, ſondern durch Wahr¬ heit; und aus dieſem ihren Leben muͤßte ſie die Thaten und Ereigniſſe, als Belege deſ¬ ſelben, hervorbluͤhen laſſen. Ein ſolches Werk koͤnnte zwar nur die Frucht von aus¬ gebreiteten Kenntniſſen ſeyn, und von For¬206 ſchungen, die vielleicht noch niemals ange¬ ſtellt ſind, aber die Ausſtellung dieſer Kennt¬ niſſe und Forſchungen muͤßte uns der Ver¬ faſſer erſparen, und nur lediglich die gereifte Frucht uns vorlegen in der gegenwaͤrtigen Sprache, auf eine jedwedem Deutſchen ohne Ausnahme verſtaͤndliche Weiſe. Außer jenen hiſtoriſchen Kenntniſſen wuͤrde ein ſolches Werk auch noch ein hohes Maaß philoſophi¬ ſchen Geiſtes erfordern, der eben ſo wenig ſich zur Schau ausſtellte; und vor allem ein treues, und liebendes Gemuͤth.

Jene Zeit war der jugendliche Traum der Nation in beſchraͤnkten Kreiſen von kuͤnfti¬ gen Thaten, Kaͤmpfen, und Siegen: und die Weißagung, was ſie einſt bei vollendeter Kraft ſeyn wuͤrde. Verfuͤhreriſche Geſell¬ ſchaft, und die Lokkung der Eitelkeit hat die heranwachſende fortgeriſſen in Kreiſe die nicht die ihrigen find, und indem ſie auch da glaͤn¬ zen wollte, ſteht ſie da mit Schmach bedeckt, und ringend ſogar um ihre Fortdauer. Aber iſt ſie denn wirklich veraltet, und entkraͤftet? Hat ihr nicht auch ſeitdem immerfort, und207 bis auf dieſen Tag, die Quelle des urſpruͤng¬ lichen Lebens fortgequollen, wie keiner andern Nation? Koͤnnen jene Weißagungen ihres ju¬ gendlichen Lebens, die durch die Beſchaffen¬ heit der uͤbrigen Voͤlker, und durch den Bil¬ dungsplan der ganzen Menſchheit beſtaͤtigt werden, koͤnnen ſie unerfuͤllt bleiben? Nimmermehr. Bringe man dieſe Nation nur zufoͤrderſt zuruͤk von der falſchen Richtung, die ſie ergriffen, zeige man ihr in dem Spie¬ gel jener ihrer Jugendtraͤume, ihren wahren Hang, und ihre wahre Beſtimmung, bis un¬ ter dieſen Betrachtungen ſich ihr die Kraft entfalte, dieſe ihre Beſtimmung maͤchtig zu ergreifen. Moͤchte dieſe Aufforderung etwas dazu beitragen, daß recht bald ein dazu aus¬ geruͤſteter deutſcher Mann dieſe vorlaͤufige Aufgabe loͤſe!

208

Siebente Rede.

Noch tiefere Erfaſſung der Urſpruͤnglich¬ keit, und Deutſchheit eines Volkes.

Es ſind in den vorigen Reden angegeben, und in der Geſchichte nachgewieſen die Grundzuͤge der Deutſchen, als eines Urvolks, und als ei¬ nes ſolchen, das das Recht hat, ſich das Volk ſchlechtweg, im Gegenſatze mit andern von ihm abgeriſſenen Staͤmmen zu nennen, wie denn auch das Wort Deutſch in ſeiner eigentlichen Wortbedeutung das ſo eben geſagte bezeichnet. Es iſt zweckmaͤßig, daß wir bei dieſem Gegen¬ ſtande noch eine Stunde verweilen, und uns auf den moͤglichen Einwurf einlaſſen, daß, wenn dies deutſche Eigenthuͤmlichkeit ſey, man werde bekennen muͤſſen, daß dermalen unter den Deut¬ ſchen ſelber wenig Deutſches mehr uͤbrig ſey. In¬ dem auch wir dieſe Erſcheinung keinesweges laͤugnen koͤnnen, ſondern ſie vielmehr anzuerken¬ nen, und in ihren einzelnen Theilen ſie zu uͤberſe¬ hen gedenken, wollen wir mit einer Erklaͤrung derſelben anheben.

209

Das war im ganzen das Verhaͤltniß des Urvolks der neuen Welt zum Fortgange der Bildung dieſer Welt, daß das erſtere durch unvollſtaͤndige und auf der Oberflaͤche verblei¬ bende Beſtrebungen des Auslandes erſt ange¬ regt werde zu tiefern aus ſeiner eignen Mitte heraus zu entwikelnden Schoͤpfungen. Da von der Anregung bis zur Schoͤpfung es ohne Zweifel ſeine Zeit dauert, ſo iſt klar, daß ein ſolches Verhaͤltniß Zeitraͤume herbei fuͤhren werde, in welchem das Urvolk faſt ganz mit dem Auslande verfloſſen, und demſelben gleich erſcheinen muͤſſe, weil es nemlich gerade im Zuſtande des bloßen Angeregtſeyns ſich befin¬ det, und die dabei beabſichtigte Schoͤpfung noch nicht zum Durchbruche gekommen iſt. In einem ſolchen Zeitraume befindet ſich nun ge¬ rade jezt Deutſchland in Abſicht der großen Mehrzahl ſeiner gebildeten Bewohner, und daher ruͤhren die durch das ganze innere We¬ ſen und Leben dieſer Mehrzahl verfloſſenen Er¬ ſcheinungen der Auslaͤnderei. Die Philoſophie, als freies, von allen Feſſeln des Glaubens an fremdes Anſehen erledigtes Denken, ſey es, wo¬ durch dermalen das Ausland ſein MutterlandO210anrege, haben wir in der vorigen Rede erſehen. Wo es nun von dieſer Anregung aus nicht zur neuen Schoͤpfung gekommen, welches, da die lezte von der großen Mehrzahl unvernommen geblieben, bei aͤußerſt wenigen der Fall iſt: da geſtaltet ſich theils noch jene, ſchon fruͤher be¬ zeichnete Philoſophie des Auslandes ſelber zu andern und andern Formen; theils bemaͤchtiget ſich der Geiſt derſelben auch der uͤbrigen an die Philoſophie zunaͤchſt graͤnzenden Wiſſenſchaf¬ ten, und ſieht an dieſelben aus ſeinem Geſichts¬ punkte; endlich, da der Deutſche ſeinen Ernſt, und ſein unmittelbares Eingreifen in das Le¬ ben doch niemals ablegen kann, ſo fließt dieſe Philoſophie ein auf die oͤffentliche Lebensweiſe, und auf die Grundſaͤtze und Regeln derſelben. Wir werden dies Stuͤck fuͤr Stuͤck darthun.

Zufoͤrderſt und vor allen Dingen: der Menſch bildet ſeine wiſſenſchaftliche Anſicht nicht etwa mit Freiheit und Willkuͤhr, ſo oder ſo, ſondern ſie wird ihm gebildet durch ſein Le¬ ben, und iſt eigentlich die zur Anſchauung ge¬ wordene innere, und uͤbrigens ihm unbekannte Wurzel ſeines Lebens ſelbſt. Was du ſo recht innerlich eigentlich biſt, das tritt heraus vor211 dein aͤußeres Auge, und du vermoͤchteſt niemals etwas anderes zu ſehen. Sollteſt du anders ſehen, ſo muͤßteſt du erſt anders werden. Nun iſt das innere Weſen des Auslandes, oder der Nichturſpruͤnglichkeit, der Glaube an irgend ein leztes, feſtes, unveraͤnderlich ſtehendes, an eine Grenze, dieſſeit welcher zwar das freie Leben ſein Spiel treibe, welche ſelbſt aber es niemals zu durchbrechen, und durch ſich fluͤßig zu machen, und ſich in dieſelbe zu verfloͤßen vermoͤge. Dieſe undurchdringliche Grenze tritt ihm darum irgendwo nothwendig auch vor die Augen, und es kann nicht anders denken oder glauben, außer unter Vorausſetzung einer ſol¬ chen, wenn nicht ſein ganzes Weſen umgewan¬ delt, und ſein Herz ihm aus dem Leibe geriſſen werden ſoll. Es glaubt nothwendig an den Tod, als das urſpruͤngliche, und lezte, den Grundquell aller Dinge, und mit ihnen des Lebens.

Wir haben hier nur zunaͤchſt anzugeben, wie dieſer Grundglaube des Auslandes unter den Deutſchen dermalen ſich ausſpreche.

Er ſpricht ſich aus zufoͤrderſt in der eigent¬ lichen Philoſophie. Die dermalige deutſcheO 2212Philoſophie, in wiefern dieſelbe hier der Er¬ waͤhnung werth iſt, will Gruͤndlichkeit und wiſ¬ ſenſchaftliche Form, ohnerachtet ſie dieſelbe nicht zu erſchwingen vermag, ſie will Einheit, auch nicht ohne fruͤhern Vorgang des Auslandes, ſie will Realitaͤt, und Weſen nicht bloße Er¬ ſcheinung, ſondern eine in der Erſcheinung er¬ ſcheinende Grundlage dieſer Erſcheinung, und hat in allen dieſen Stuͤcken recht, und uͤbertrift ſehr weit die herrſchenden Philoſophien des der¬ maligen auswaͤrtigen Auslandes, indem ſie in der Auslaͤnderei weit gruͤndlicher, und folge¬ beſtaͤndiger iſt, denn jenes. Dieſe der bloßen Erſcheinung unterzulegende Grundlage iſt ih¬ nen nun, wie ſie ſie auch etwa noch fehlerhafter weiter beſtimmen moͤgen, immer ein feſtes Seyn, das da iſt, was es eben iſt, und nichts weiter, in ſich gefeſſelt, und an ſein eigenes Weſen ge¬ bunden; und ſo tritt denn der Tod, und die Entfremdung von der Urſpruͤnglichkeit, die in ihnen ſelbſt ſind, auch heraus vor ihre Augen. Weil ſie ſelbſt nicht zum Leben ſchlechtweg, aus ſich ſelber heraus, ſich aufzuſchwingen vermoͤ¬ gen, ſondern fuͤr freien Aufflug ſtets eines Traͤ¬ gers und einer Stuͤtze beduͤrfen, darum kom¬213 men ſie auch mit ihrem Denken, als dem Ab¬ bilde ihres Lebens, nicht uͤber dieſen Traͤger hinaus: das, was nicht Etwas iſt, iſt ihnen nothwendig Nichts, weil, zwiſchen jenem in ſich verwachſenen Seyn, und dem Nichts, ihr Auge nichts weiter ſieht, da ihr Leben da nichts wei¬ ter hat. Ihr Gefuͤhl, worauf auch allein ſie ſich berufen koͤnnen, erſcheint ihnen als un¬ truͤglich; und ſo jemand dieſen Traͤger nicht zugiebt, ſo ſind ſie weit entfernt von der Vor¬ ausſetzung, daß er mit dem Leben allein ſich begnuͤge, ſondern ſie glauben, daß es ihm nur an Scharfſinn fehle, den Traͤger, der ohne Zweifel auch ihn trage, zu bemerken, und daß er der Faͤhigkeit, ſich zu ihren hohen Anſichten aufzuſchwingen, ermangle. Es iſt darum ver¬ geblich, und unmoͤglich, ſie zu belehren; machen muͤßte man ſie, und anders machen, wenn man koͤnnte. In dieſem Theile iſt nun die derma¬ lige deutſche Philoſophie nicht deutſch, ſondern Auslaͤnderei.

Die wahre in ſich ſelbſt zu Ende gekommene und uͤber die Erſcheinung hinweg wahrhaft zum Kerne derſelben durchgedrungene Philoſophie hingegen geht aus von dem Einen, reinen, goͤttli¬214 chen Leben, als Leben ſchlechtweg, welches es auch in alle Ewigkeit, und darin immer Eines bleibt, nicht aber als von dieſem oder jenem Leben; und ſie ſieht, wie lediglich in der Erſchei¬ nung dieſes Leben unendlich fort ſich ſchließe und wiederum oͤfne, und erſt dieſem Geſetze zufolge es zu einem Seyn und zu einem Etwas uͤberhaupt komme. Ihr entſteht das Seyn, was jene ſich vorausgeben laͤßt. Und ſo iſt denn dieſe Philoſophie recht eigentlich nur deutſch, d. i. urſpruͤnglich; und umgekehrt, ſo jemand nur ein wahrer Deutſcher wuͤrde, ſo wuͤrde er nicht anders denn alſo philoſophiren koͤnnen.

Jenes, obwohl bei der Mehrzahl der deutſch philoſophirenden herrſchende, dennoch nicht eigentlich deutſche Denkſyſtem greift, ob es nun mit Bewußtſeyn als eigentliches philoſo¬ phiſches Lehrgebaͤude aufgeſtellt ſey, oder ob es nur unbewußt unſerm uͤbrigen Denken zum Grunde liege, es greift, ſage ich, ein, in die uͤbrigen wiſſenſchaftlichen Anſichten der Zeit; wie denn dies ein Hauptbeſtreben unſrer durch das Ausland angeregten Zeit iſt, den wiſſen¬ ſchaftlichen Stoff nicht mehr bloß, wie wohl215 unſere Vorfahren thaten, in das Gedaͤchtniß zn faſſen, ſondern denſelben auch ſelbſtdenkend und philoſophirend zu bearbeiten. In Abſicht des Beſtrebens uͤberhaupt hat die Zeit recht; wenn ſie aber, wie dies zu erwarten iſt, in der Ausfuͤhrung dieſes Philoſophirens von der tod¬ glaͤubigen Philoſophie des Auslandes ausgeht, wird ſie unrecht haben. Wir wollen hier nur auf die unſerm ganzen Vorhaben am naͤchſten liegenden Wiſſenſchaften einen Blick werfen, und die in ihnen verbreiteten auslaͤndiſchen Begriffe und Anſichten aufſuchen.

Daß die Errichtung und Regierung der Staaten als eine freie Kunſt angeſehen werde, die ihre feſten Regeln habe, darin hat ohne Zweifel das Ausland, es ſelbſt nach dem Mu¬ ſter des Alterthums, uns zum Vorgaͤnger ge¬ dient. Worein wird nun ein ſolches Ausland, das ſchon an dem Elemente ſeines Denkens und Wollens, ſeiner Sprache, einen feſten ge¬ ſchloſſenen, und todten Traͤger hat, und alle, die ihm hierin folgen, dieſe Staatskunſt ſetzen? Ohne Zweifel in die Kunſt, eine, gleichfalls feſte und todte Ordnung der Dinge, zu finden, aus welchem Tode das lebendige Regen der Geſell¬216 ſchaft hervorgehe, und alſo hervorgehe, wie ſie es beabſichtigt; alles Leben in der Geſellſchaft zu einem großen und kuͤnſtlichen Druck und Raͤder¬ werke zuſammen zu fuͤgen, in welchem jedes einzelne durch das Ganze immerfort genoͤthigt werde, dem Ganzen zu dienen; ein Rechen - Exempel zu loͤſen aus endlichen und benannten Groͤßen zu einer nennbaren Summe, aus der Vorausſetzung, jeder wolle ſein Wohl, zu dem Zwekke, eben dadurch jeden wider ſeinen Dank und Willen zu zwingen, das allgemeine Wohl zu befoͤrdern. Das Ausland hat vielfaͤltig die¬ ſen Grundſatz ausgeſprochen, und Kunſtwerke jener geſellſchaftlichen Maſchinen-Kunſt gelie¬ fert; das Mutterland hat die Lehre angenom¬ men, und die Anwendung derſelben zu Hervor¬ bringung geſellſchaftlicher Maſchinen weiter bearbeitet, auch hier, wie immer, umfaſſender, tiefer, wahrer, ſeine Muſter bei weitem uͤber¬ treffend. Solche Staatskuͤnſtler wiſſen, falls es etwa mit dem bisherigen Gange der Geſell¬ ſchaft ſtokt, dies nicht anders zu erklaͤren, als daß etwa eines der Raͤder derſelben ausgelau¬ fen ſeyn moͤge, und kennen kein anderes Hei¬ lungsmittel, denn dies, die ſchadhaften Raͤder217 heraus zu heben, und neue einzuſetzen. Je eingewurzelter Jemand in dieſe mechaniſche An¬ ſicht der Geſellſchaft iſt, je mehr er es verſteht, die¬ ſen Mechanismus zu vereinfachen, indem er alle Theile der Maſchine ſo gleich als moͤglich macht, und alle als gleichmaͤßigen Stoff behan¬ delt, fuͤr einen deſto groͤßern Staatskuͤnſtler gilt er, mit Recht in dieſer unſrer Zeit; denn mit den unentſchieden ſchwankenden, und gar keiner feſten Anſicht faͤhigen iſt man noch uͤbler daran.

Dieſe Anſicht der Staatskunſt praͤgt durch ihre eiſerne Folgegemaͤßheit, und durch einen Anſchein von Erhabenheit, der auf ſie faͤllt, Achtung ein; auch leiſtet ſie, beſonders wo alles nach monarchiſcher, und immer reiner werden¬ der monarchiſcher Verfaſſung draͤngt, bis auf einen gewiſſen Punkt gute Dienſte. Angekom¬ men aber bei dieſem Punkte, ſpringt ihre Ohn¬ macht in die Augen. Ich will nemlich anneh¬ men, daß ihr eurer Maſchine die von euch be¬ abſichtigte Vollkommenheit durchaus verſchafft haͤttet, und daß in 'ihr jedwedes niedere Glied unausbleiblich, und unwiderſtehlich gezwungen werde durch ein hoͤheres, zum Zwingen gezwun¬218 genes Glied, und ſofort dis an den Gipfel; wodurch wird denn nun euer leztes Glied, von dem aller in der Maſchine vorhandene Zwang ausgeht, zu ſeinem Zwingen gezwungen? Ihr ſollt ſchlechthin allen Widerſtand, der aus der Reibung der Stoffe gegen jene lezte Triebfeder entſtehen koͤnnte, uͤberwunden, und ihr eine Kraft gegeben haben, gegen welche alle andere Kraft in Nichts verſchwinde, was allein ihr auch durch Mechanismus koͤnnt, und ſollt alſo die allerkraͤftigſte monarchiſche Verfaſſung er¬ ſchaffen haben; wie wollt ihr denn nun dieſe Triebfeder ſelbſt in Bewegung bringen, und ſie zwingen, ohne Ausnahme das Rechte zu ſehen, und zu wollen? Wie wollt ihr denn in euer zwar richtig berechnetes und gefuͤgtes, aber ſtillſtehendes Raͤderwerk das ewig bewegliche einſetzen? Soll etwa, wie ihr dies auch zuwei¬ len in eurer Verlegenheit aͤußert, das ganze Werk ſelbſt zuruͤkwirken, und ſeine erſte Trieb¬ feder anregen? Entweder geſchieht dies durch eine ſelbſt aus der Anregung der Triebfeder ſtammende Kraft, oder es geſchieht durch eine ſolche Kraft, die nicht aus ihr ſtammt, ſondern die in dem Ganzen ſelbſt, unabhaͤngig von der219 Triebfeder, ſtatt findet; und ein Drittes iſt nicht moͤglich. Nehmet ihr das erſte an, ſo befindet ihr euch in einem alles Denken, und allen Mechanismus aufhebenden Zirkel; das ganze Werk kann die Triebfeder zwingen, nur, in wiefern es ſelbſt von jener gezwungen iſt, ſie zu zwingen, alſo, in wiefern die Triebfeder, nur mittelbar, ſich ſelbſt zwingt; zwingt ſie aber ſich ſelbſt nicht, welchem Mangel wir ja eben abhelfen wollten, ſo erfolgt uͤberhaupt keine Bewegung. Nehmt ihr das zweite an, ſo be¬ kennt ihr, daß der Urſprung aller Bewegung in eurem Werke von einer in eurer Berechnung, und Anordnung gar nicht eingetretenen und durch euren Mechanismus gar nicht gebunde¬ nen Kraft ausgehe, die ohne Zweifel, ohne euer Zuthun, nach ihren eignen euch unbekannten Geſetzen, wirkt, wie ſie kann. In jedem der beiden Faͤlle muͤßt ihr euch als Stuͤmper, und ohnmaͤchtige Praler bekennen.

Dies hat man denn auch gefuͤhlt, und in dieſem Lehrgebaͤude, das, auf ſeinen Zwang rechnend, um die uͤbrigen Buͤrger unbeſorgt ſeyn kann, wenigſtens den Fuͤrſten, von welchem alle geſellſchaftliche Bewegung ausgeht, durch al¬220 lerlei gute Lehre und Unterweiſung erziehen wollen. Aber, wie will man ſich denn ver¬ ſichern, daß man auf eine der Erziehung zum Fuͤrſten uͤberhaupt faͤhige Natur treffen werde; oder, falls man auch dieſes Gluͤk haͤtte, daß dieſer, den kein Menſch noͤthigen kann, gefaͤl¬ lig, und geneigt ſeyn werde, Zucht annehmen zu wollen? Eine ſolche Anſicht der Staats¬ kunſt iſt nun, ob ſie auf auslaͤndiſchem oder deutſchem Boden angetroffen werde, immer Aus¬ laͤnderei. Es iſt jedoch hiebei zur Ehre deut¬ ſchen Gebluͤts, und Gemuͤths anzumerken, daß, ſo gute Kuͤnſtler wir auch in der bloßen Lehre dieſer Zwangsberechnungen ſeyn mochten, wir dennoch, wenn es zur Ausuͤbung kam, durch das dunkle Gefuͤhl, es muͤſſe nicht alſo ſeyn, gar ſehr gehemmt wurden, und in dieſem Stuͤcke gegen das Ausland zuruͤkblieben. Sollten wir alſo auch genoͤthigt werden, die uns zugedachte Wohlthat fremder Formen, und Geſetze anzunehmen, ſo wollen wir uns dabei wenigſtens nicht uͤber die Gebuͤhr ſchaͤmen, als ob unſer Witz unfaͤhig geweſen waͤre, dieſe Hoͤ¬ hen der Geſezgebung auch zu erſchwingen. Da, wenn wir bloß die Feder in der Hand ha¬221 ben, wir auch hierin keiner Nation nachſtehen, ſo moͤchten fuͤr das Leben wir wohl gefuͤhlt ha¬ ben, daß auch dies noch nicht das Rechte ſey, und ſo lieber das Alte haben ſtehen laſſen wol¬ len, bis das Vollkommne an uns kaͤme, anſtatt bloß die alte Mode mit einer neuen eben ſo hinfaͤlligen Mode zu vertauſchen.

Anders die aͤcht deutſche Staatskunſt. Auch ſie will Feſtigkeit, Sicherheit, und Unab¬ haͤngigkeit von der blinden und ſchwankenden Natur, und iſt hierin mit dem Auslande ganz einverſtanden. Nur will ſie nicht, wie dieſe, ein feſtes und gewiſſes Ding, als das erſte, durch welches der Geiſt, als das zweite Glied, erſt gewiß gemacht werde, ſondern ſie will gleich von vorn herein, und als das allererſte und einige Glied, einen feſten und gewiſſen Geiſt. Dieſer iſt fuͤr ſie die aus ſich ſelbſt lebende, und ewig bewegliche Triebfeder, die das Leben der Geſellſchaft ordnen und fortbewegen wird. Sie begreift, daß ſie dieſen Geiſt nicht durch Straf¬ reden an die ſchon verwahrloſte Erwachſenheit, ſondern nur durch Erziehung des noch unver¬ dorbenen Jugend-Alters hervorbringen koͤnne; und zwar will ſie mit dieſer Erziehung ſich nicht,222 wie das Ausland, an die ſchroffe Spitze, den Fuͤrſten, ſondern ſie will ſich mit derſelben an die breite Flaͤche, an die Nation wenden, indem ja ohne Zweifel auch der Fuͤrſt zu dieſer gehoͤ¬ ren wird. So wie der Staat an den Perſo¬ nen ſeiner erwachſenen Buͤrger die fortgeſezte Erziehung des Menſchengeſchlechts iſt, ſo muͤſſe, meint dieſe Staatskunſt, der kuͤnftige Buͤrger ſelbſt erſt zur Empfaͤnglichkeit jener hoͤher Erziehung herauferzogen werden. Hierdurch wird nun dieſe deutſche, und allerneueſte Staatskunſt wiederum die alleraͤlteſte; denn auch dieſe bei den Griechen gruͤndete das Buͤr¬ gerthum auf die Erziehung, und bildete Buͤr¬ ger, wie die folgenden Zeitalter ſie nicht wie¬ der geſehen haben. In der Form daſſelbe, in dem Gehalte mit nicht engherzigem, und aus¬ ſchließendem, ſondern allgemeinem und welt¬ buͤrgerlichem Geiſte, wird hinfuͤhro der Deut¬ ſche thun.

Derſelbe Geiſt des Auslandes herrſcht bei der großen Mehrzahl der unſrigen auch in ih¬ rer Anſicht des geſammten Lebens eines Men¬ ſchengeſchlechts, und der Geſchichte, als dem Bilde jenes Lebens. Eine Nation, die eine223 geſchloſſene und erſtorbene Grundlage ihrer Sprache hat, kann es, wie wir zu einer an¬ dern Zeit gezeigt haben, in allen Rede-Kuͤnſten nur bis zu einer gewiſſen von jener Grundlage verſtatteten Stuffe der Ausbildung bringen, und ſie wird ein goldenes Zeitalter erleben. Ohne die groͤßte Beſcheidenheit und Selbſtver¬ leugnung kann eine ſolche Nation von dem gan¬ zen Geſchlechte nicht fuͤglich hoͤher denken, denn ſie ſelbſt ſich kennt; ſie muß daher vorausſetzen, daß es auch fuͤr dieſes ein leztes, hoͤchſtes, und niemals zu uͤbertreffendes Ziel der Ausbildung geben werde. So wie das Thiergeſchlecht der Biber, oder Bienen noch jetzo alſo baut, wie es vor Jahrtauſenden gebaut hat, und in die¬ ſem langen Zeitraume in der Kunſt keine Fort¬ ſchritte gemacht hat, eben ſo wird es nach die¬ ſen ſich mit dem Thiergeſchlechte, Menſch ge¬ nannt, in allen Zweigen ſeiner Ausbildung verhalten. Dieſe Zweige, Triebe, und Faͤhig¬ keiten werden ſich erſchoͤpfend uͤberſehen, ja vielleicht an ein paar Gliedmaaßen ſogar dem Auge darlegen laſſen, und die hoͤchſte Entwik¬ lung einer jeden wird angegeben werden koͤn¬ nen. Vielleicht wird das Menſchengeſchlecht224 darin noch weit uͤbler daran ſeyn, als das Bi¬ ber - oder Bienengeſchlecht, daß das leztere, wie es zwar nichts zulernt, dennoch auch in ſeiner Kunſt nicht zuruͤkkommt, der Menſch aber, wenn er auch einmal den Gipfel erreichte, wiederum zuruͤkgeſchleudert wird, und nun Jahrhunderte oder Tauſende ſich anſtrengen mag, um wiederum in den Punkt hinein zn gerathen, in welchem man ihn lieber gleich haͤtte laſſen ſollen. Dergleichen Scheitel - Punkte ſeiner Bildung und goldene Zeitalter wird, dieſen zu Folge, das Menſchengeſchlecht ohne Zweifel auch ſchon erreicht haben; dieſe in der Geſchichte aufzuſuchen, und nach ihnen alle Beſtrebungen der Menſchheit zu beurthei¬ len, und auf ſie ſie zuruͤkzufuͤhren, wird ihr eif¬ rigſtes Beſtreben ſeyn. Nach ihnen iſt die Ge¬ ſchichte laͤngſt fertig, und iſt ſchon mehrmals fertig geweſen; nach ihnen geſchieht nichts neues unter der Sonne, denn ſie haben unter und uͤber der Sonne den Quell des ewigen Fortlebens ausgetilgt, und laſſen nur den im¬ mer wiederkehrenden Tod ſich wiederholen und mehrere male ſetzen.

Es iſt bekannt, daß dieſe Philoſophie derGe¬225Geſchichte vom Auslande aus an uns gekom¬ men iſt, wiewohl ſie dermalen auch in dieſem verhallet, und faſt ausſchließend deutſches Eigenthum geworden iſt. Aus dieſer tiefern Verwandſchaft erfolgt es denn auch, daß dieſe unſre Geſchichtsphiloſophie die Beſtrebungen des Auslandes, welches, wenn es auch dieſe Anſicht der Geſchichte nicht mehr haͤufig aus¬ ſpricht, noch mehr thut, indem es in derſelben handelt, und abermals ein goldnes Zeitalter verfertigt, ſo durch und durch zu verſtehen, und ihnen ſogar weiſſagend den fernern Weg vor¬ zuzeichnen, und ſie ſo aufrichtig zu bewundern vermag, wie es der deutſch denkende nicht eben alſo von ſich ruͤhmen kann. Wie koͤnnte er auch? Goldene Zeitalter in jeder Ruͤkſicht ſind ihm eine Beſchraͤnktheit der Erſtorbenheit. Das Gold moͤge zwar das edelſte ſeyn im Schooße der erſtorbenen Erde, meint er, aber des lebendigen Geiſtes Stoff ſey jenſeit der Sonne, und jenſeit aller Sonnen, und ſey ihre Quelle. Ihm wikelt ſich die Geſchichte, und mit ihr das Menſchengeſchlecht, nicht ab nach dem verborgenen und wunderlichen Ge¬ ſetze eines Kreistanzes, ſondern nach ihm macht der eigentliche und rechte Menſch ſie ſelbſt, nichtP226etwa nur wiederholend das ſchon dageweſene, ſondern in die Zeit hinein erſchaffend das durchaus neue. Er erwartet darum niemals bloße Wiederholung, und wenn ſie doch erfol¬ gen ſollte, Wort fuͤr Wort, wie es im alten Buche ſteht, ſo bewundert er wenigſtens nicht.

Auf aͤhnliche Weiſe nun verbreitet der er¬ toͤdtende Geiſt des Auslandes, ohne unſer deutliches Bewußtſeyn, ſich uͤber unſre uͤbrigen wiſſenſchaftlichen Anſichten, von denen es hin¬ reichen moͤge, die angefuͤhrten Beiſpiele beige¬ bracht zu haben; und zwar erfolgt dies deswegen alſo, weil wir gerade jezt die vom Auslande fruͤ¬ her erhaltenen Anregungen nach unſrer Weiſe bearbeiten, und durch einen ſolchen Mittelzu¬ ſtand hindurch gehen. Weil dies zur Sache gehoͤrte, habe ich dieſe Beiſpiele beigebracht; nebenbei auch noch darum, damit niemand glaube, durch Folgeſaͤtze aus den angefuͤhrten Grundſaͤtzen den hier geaͤußerten Behauptun¬ gen widerſprechen zu koͤnnen. Weit entfernt, daß etwa jene Grundſaͤtze uns unbekannt ge¬ blieben waͤren, oder daß wir zu der Hoͤhe der¬ ſelben uns nicht aufzuſchwingen vermocht haͤt¬ ten, kennen wir ſie vielmehr recht gut, und duͤrften vielleicht, wenn wir uͤberfluͤſſige Zeit227 haͤtten, faͤhig ſeyn, dieſelben in ihrer ganzen Folgemaͤßigkeit ruͤkwaͤrts und vorwaͤrts zu ent¬ wikeln; wir werfen ſie nur eben gleich von vorn herein weg, und ſo auch alles, was aus ihnen folgt, deſſen mehreres iſt in unſerm hergebrach¬ ten Denken, als der oberflaͤchliche Beobachter leicht glauben duͤrfte.

Wie in unſre wiſſenſchaftliche Anſicht, eben ſo fließt dieſer Geiſt des Auslandes auch ein in unſer gewoͤhnliches Leben, und die Regeln deſſelben; damit aber dieſes klar, und das vorhergehende noch klaͤrer werde, iſt es noͤthig, zufoͤrderſt das Weſen des urſpruͤnglichen Le¬ bens, oder der Freiheit, mit tieferm Blicke zu durchdringen.

Die Freiheit im Sinne des unentſchiedenen Schwankens zwiſchen mehreren gleich moͤgli¬ chen genommen, iſt nicht Leben, ſondern nur Vorhof und Eingang zu wirklichem Leben. Endlich muß es doch einmal aus dieſem Schwanken heraus zum Entſchluſſe, und zum Handeln kommen, und erſt jezt beginnt das Leben.

Nun erſcheint unmittelbar und auf den er¬ ſten Blik jedweder Willensentſchluß als erſtes, keinesweges als zweites, und Folge aus einemP 2228erſten, als ſeinem Grunde als ſchlechthin durch ſich daſeyend, und ſo daſeyend, wie er es iſt; welche Bedeutung, als die einzig moͤg¬ liche verſtaͤndige des Worts Freiheit, wir feſt¬ ſetzen wollen. Aber es ſind, in Abſicht auf den innern Gehalt eines ſolchen Willensentſchluſ¬ ſes, zwei Faͤlle moͤglich; entweder nemlich er¬ ſcheint in ihm nur die Erſcheinung abgetrennt vom Weſen, und ohne daß das Weſen auf ir¬ gend eine Weiſe in ihrem Erſcheinen eintrete, oder das Weſen tritt ſelbſt erſcheinend ein in dieſer Erſcheinung eines Willensentſchluſſes: und zwar iſt hiebei ſogleich mit anzumerken, daß das Weſen nur in einem Willensentſchluſſe, und durchaus in nichts anderem, zur Erſchei¬ nung werden kann, wiewohl umgekehrt es Wil¬ lensentſchluͤſſe geben kann, in denen keineswe¬ ges das Weſen, ſondern nur die bloße Erſchei¬ nung heraustritt. Wir reden zunaͤchſt von dem letzten Falle.

Die bloße Erſcheinung, bloß als ſolche, iſt durch ihre Abtrennung, und durch ihren Gegen¬ ſatz mit dem Weſen, ſodann dadurch, daß ſie faͤhig iſt, ſelbſt auch zu erſcheinen und ſich darzu¬ ſtellen, unabaͤnderlich beſtimmt, und ſie iſt darum nothwendig alſo, wie ſie eben iſt und ausfaͤllt. 229Iſt daher, wie wir vorausſetzen, irgend ein gegebener Willensentſchluß in ſeinem Inhalte bloße Erſcheinung, ſo iſt er inſofern in der That nicht frei, erſtes und urſpruͤngliches, ſondern er iſt nothwendig, und ein zweites, aus einem hoͤhern Erſten, dem Geſetze der Erſcheinung uͤberhaupt, alſo wie es iſt, hervorgehendes Glied. Da nun, wie auch hier mehrmals erinnert wor¬ den, das Denken des Menſchen denſelben alſo vor ihn ſelber hinſtellt, wie er wirklich iſt, und im¬ merfort der treue Abdruk und Spiegel ſeines Innern bleibt, ſo kann ein ſolcher Willens¬ entſchluß, obwohl er auf den erſten Blik, da er ja ein Willensentſchluß iſt, als frei erſcheint, dennoch dem wiederholten, und tiefern Denken keinesweges alſo erſcheinen, ſondern er muß in dieſem als nothwendig gedacht werden, wie er es denn wirklich und in der That iſt. Fuͤr ſolche, deren Willen ſich noch in keinen hoͤhern Kreis aufgeſchwungen hat, als in den, daß an ihnen ein Wille bloß erſcheine, iſt der Glaube an Freiheit allerdings Wahn und Taͤuſchung eines fluͤchtigen, und auf der Oberflaͤche behan¬ gen bleibenden Anſchauens; im Denken allein, das ihnen allenthalben nur die Feſſel der ſtren¬ gen Nothwendigkeit zeigt, iſt fuͤr ſie Wahrheit.

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Das erſte Grundgeſez der Erſcheinung, ſchlechthin als ſolcher, (den Grund anzugeben unterlaſſen wir um ſo fuͤglicher, da es ander¬ waͤrts zur Gnuͤge geſchehen iſt) iſt dieſes, daß ſie zerfalle in ein Mannigfaltiges, das in einer gewiſſen Ruͤkſicht ein unendliches, in einer ge¬ wiſſen andern Ruͤkſicht ein geſchloſſenes Gan¬ zes iſt, in welchem geſchloſſenen Ganzen des Mannigfaltigen jedes einzelne beſtimmt iſt, durch alle uͤbrige, und wiederum alle uͤbrige beſtimmt ſind durch dieſes einzelne. Falls daher in dem Willensentſchluſſe des Einzelnen nichts weiter herausbricht in die Erſcheinung, als die Erſcheinbarkeit, Darſtellbarkeit, und Sichtbarkeit uͤberhaupt, die in der That die Sichtbarkeit von Nichts iſt; ſo iſt der Inhalt eines ſolchen Willensentſchluſſes beſtimmt durch das geſchloßne Ganze aller moͤglichen Willens¬ entſchluͤſſe dieſes, und aller moͤglichen uͤbrigen einzelnen Willen, und er enthaͤlt nichts weiter, und kann nichts weiter enthalten, denn dasje¬ nige, was nach Abziehung aller jener moͤglichen Willensentſchluͤſſe zu wollen uͤbrig bleibt. Es iſt darum in der That in ihm nichts ſelbſtſtaͤn¬ diges, urſpruͤngliches, und eigenes, ſondern er iſt die bloße Folge, als zweites, aus dem all¬ gemeinen Zuſammenhange der ganzen Erſchei¬231 nung in ihren einzelnen Theilen, wie er denn dafuͤr auch ſtets von allen, die auf dieſer Stuffe der Bildung ſich befanden, dabei aber gruͤnd¬ lich dachten, erkannt worden, und dieſe ihre Erkenntniß auch mit denſelben Worten, deren wir uns ſo eben bedienten, ausgeſprochen wor¬ den iſt; alles dieſes aber darum, weil in ihnen nicht das Weſen, ſondern nur die bloße Erſchei¬ nung eintritt in die Erſcheinung.

Wo dagegen das Weſen ſelber, unmittelbar, und gleichſam in eigner Perſon, keinesweges durch einen Stellvertreter, eintritt in der Er¬ ſcheinung eines Willensentſchluſſes, da iſt zwar alles das oben erwaͤhnte, aus der Erſcheinung, als einem geſchloſſenen Ganzen erfolgende, gleichfalls vorhanden, denn die Erſcheinung er¬ ſcheint ja auch hier; aber eine ſolche Erſchei¬ nung geht in dieſem Beſtandtheile nicht auf, und iſt durch denſelben nicht erſchoͤpft, ſondern es findet ſich in ihr noch ein Mehreres, ein anderer, aus jenem Zuſammenhange nicht zu erklaͤrender, ſondern nach Abzug des erklaͤrba¬ ren uͤbrig bleibender Beſtandtheil. Jener erſte Beſtandtheil findet auch hier ſtatt, ſagte ich; jenes Mehr wird ſichtbar, und vermittelſt dieſer ſeiner Sichtbarkeit, keinesweges vermittelſt ſei¬ nes innern Weſens, tritt es unter das Geſez232 und die Bedingungen der Erſichtlichkeit uͤber¬ haupt; aber es iſt noch mehr denn dieſes aus irgend einem Geſetze hervorgehendes, und darum nothwendiges, und zweites, und es iſt in Abſicht dieſes Mehr durch ſich ſelbſt was es iſt, ein wahrhaftig erſtes, urſpruͤngliches, und freies, und da es dieſes iſt, erſcheint es auch alſo dem tiefſten, und in ſich ſelber zu Ende gekommenen Denken. Das hoͤchſte Ge¬ ſez der Erſichtlichkeit iſt wie geſagt dies, daß das erſcheinende ſich ſpalte in ein unendliches Mannigfaltiges. Jenes Mehr wird ſichtbar, jedesmal als Mehr, denn das nun und eben jezt aus dem Zuſammenhange der Erſcheinung hervorgehende, und ſo ins unendliche fort; und ſo erſcheint denn dieſes Mehr ſelber als ein un¬ endliches. Aber es iſt ja ſonnenklar, daß es dieſe Unendlichkeit nur dadurch erhaͤlt, daß es jedesmal ſichtbar, und denkbar, und zu entdek¬ ken iſt, allein durch ſeinen Gegenſaz mit dem ins Unendliche fort aus dem Zuſammenhange erfolgenden, und durch ſein Mehrſeyn denn dies. Abgeſehen aber von dieſem Beduͤrfniſſe des Denkens deſſelben iſt es ja dieſes Mehr, denn alles ins unendliche fort ſich darſtellen moͤgende unendliche, von Anbeginn in reiner Einfachheit und Unveraͤnderlichkeit, und es233 wird in aller Unendlichkeit nicht Mehr, denn dieſes Mehr, noch wird es minder; und nur ſeine Erſichtlichkeit, als Mehr denn das Un¬ endliche, und auf andere Weiſe kann es in ſei¬ ner hoͤchſten Reinheit nicht ſichtbar werden, er¬ ſchafft das Unendliche, und alles, was in ihm zu erſcheinen ſcheint. Wo nun dieſes Mehr wirklich, als ein ſolches erſichtliches Mehr ein¬ tritt, aber es vermag nur in einem Wollen ein¬ zutreten, da tritt das Weſen ſelbſt, das allein iſt, und allein zu ſeyn vermag, und das da iſt von ſich und durch ſich, das goͤttliche Weſen, ein in die Erſcheinung, und macht ſich ſelbſt un¬ mittelbar ſichtbar; und daſelbſt iſt eben darum wahre Urſpruͤnglichkeit und Freiheit, und ſo wird denn auch an ſie geglaubt.

Und ſo findet denn auf die allgemeine Frage, ob der Menſch frei ſey oder nicht, keine allge¬ meine Antwort ſtatt; denn eben weil der Menſch frei iſt, in niederm Sinne, weil er bei unentſchiedenem Schwanken, und Wanken an¬ hebt, kann er frei ſeyn, oder auch nicht frei, im hoͤhern Sinne des Worts. In der Wirk¬ lichkeit iſt die Weiſe, wie jemand dieſe Frage beantwortet, der klare Spiegel ſeines wahren inwendigen Seyns. Wer in der That nicht mehr iſt, als ein Glied in der Kette der Erſchei¬234 nungen, der kann wohl einen Augenblik ſich frei waͤhnen, aber ſeinem ſtrengern Denken haͤlt dieſer Wahn nicht Stand; wie er aber ſich ſelbſt findet, eben alſo denkt er nothwendig ſein gan¬ zes Geſchlecht. Weſſen Leben dagegen ergrif¬ fen iſt von dem wahrhaftigen, und Leben un¬ mittelbar aus Gott geworden iſt, der iſt frei, und glaubt an Freiheit in ſich und andern.

Wer an ein feſtes beharrliches, und todtes Seyn glaubt, der glaubt nur darum daran, weil er in ſich ſelbſt tod iſt; und, nachdem er einmal tod iſt, kann er nicht anders, denn alſo glauben, ſobald er nur in ſich ſelbſt klar wird. Er ſelbſt und ſeine ganze Gattung von Anbe¬ ginn bis ans Ende wird ihm ein zweites, und eine nothwendige Folge aus irgend einem vor¬ auszuſetzenden erſten Gliede. Dieſe Voraus¬ ſetzung iſt ſein wirkliches, keinesweges ein bloß gedachtes Denken, ſein wahrer Sinn, der Punkt, wo ſein Denken unmittelbar ſelbſt Leben iſt; und iſt ſo die Quelle alles ſeines uͤbrigen Denkens, und Beurtheilens ſeines Geſchlechts, in ſeiner Ver¬ gangenheit, der Geſchichte, ſeiner Zukunft, den Erwartungen von ihm, und ſeiner Gegenwart, im wirklichen Leben an ihm ſelber, und andern. Wir haben dieſen Glauben an den Tod, im Ge¬ genſatze mit einem urſpruͤnglich lebendigen Volke235 Auslaͤnderei genannt. Dieſe Auslaͤnderei wird ſomit, wenn ſie einmal unter den Deutſchen iſt, ſich auch im wirklichen Leben derſelben zeigen, als ruhige Ergebung in die nun einmal unab¬ aͤnderliche Nothwendigkeit ihres Seyns, als Aufgeben aller Verbeſſerung unſrer ſelbſt oder andrer durch Freiheit, als Geneigtheit ſich ſelbſt, und alle, ſo zu verbrauchen, wie ſie ſind, und aus ihrem Seyn den moͤglichſt groͤßten Vortheil fuͤr uns ſelbſt zu ziehen; kurz, als das in allen Lebensregungen immerfort ſich abſpiegelnde Be¬ kenntniß des Glaubens an die allgemeine und gleichmaͤßige Suͤndhaftigkeit aller, den ich an einem andern Orte hinlaͤnglich geſchildert habe,*)M. ſ. die Anweiſung zum ſeeligen Leben; 11te Vorleſung. welche Schilderung ſelbſt nachzuleſen, auch zu beurtheilen, in wiefern dieſelbe auf die Gegen¬ wart paſſe, ich Ihnen uͤberlaſſe. Dieſe Denk - und Handelsweiſe entſteht der inwendigen Er¬ ſtorbenheit, wie oft erinnert worden, nur da¬ durch, daß ſie uͤber ſich ſelbſt klar wird, dage¬ gen ſie, ſo lange ſie im Dunkeln bleibt, den Glauben an Freiheit, der an ſich wahr, und nur in Anwendung auf ihr dermaliges Seyn236 Wahn iſt, beibehaͤlt. Es erhellet hier deutlich der Nachtheil der Klarheit bei innerer Schlech¬ tigkeit. So lange dieſe Schlechtigkeit dunkel bleibt, wird ſie durch die fortdauernde Anfor¬ derung an Freiheit immerfort beunruhigt, ge¬ ſtachelt, und getrieben, und bietet den Verſu¬ chen ſie zu verbeſſern, einen Angriffspunkt dar. Die Klarheit aber vollendet ſie, und rundet ſie in ſich ſelbſt ab; ſie fuͤgt ihr die freudige Erge¬ bung, die Ruhe eines guten Gewiſſens, das Wohlgefallen an ſich ſelber hinzu; es geſchieht ihnen, wie ſie glauben, ſie ſind von nun an in der That unverbeſſerlich, und hoͤchſtens, um bei den Beſſeren den unbarmherzigen Abſcheu gegen das Schlechte, oder die Ergebung in den Willen Gottes rege zu erhalten, und außerdem zu keinem Dinge in der Welt nuͤtze.

Und ſo trete denn endlich in ſeiner vollen¬ deten Klarheit heraus, was wir in unſrer bis¬ herigen Schilderung unter Deutſchen verſtan¬ den haben. Der eigentliche Unterſcheidungs¬ grund liegt darin, ob man an ein abſolut erſtes und urſpruͤngliches im Menſchen ſelber, an Freiheit, an unendliche Verbeſſerlichkeit, an ewiges Fortſchreiten unſers Geſchlechts glaube, oder ob man an alles dieſes nicht glaube, ja wohl deutlich einzuſehen, und zu begreifen ver¬237 meine, daß das Gegentheil von dieſem allen ſtatt finde. Alle, die entweder ſelbſt, ſchoͤpfe¬ riſch, und hervorbringend das neue, leben, oder, die, falls ihnen dies nicht zu Theil geworden waͤre, das nichtige wenigſtens entſchieden fallen laſſen, und aufmerkend da ſtehen, ob irgendwo der Fluß urſpruͤnglichen Lebens ſie ergreifen werde, oder die, falls ſie auch nicht ſo weit waren, die Freiheit wenigſtens ahnden, und ſie nicht haſſen, oder vor ihr erſchrecken, ſondern ſie lieben: alle dieſe ſind urſpruͤngliche Men¬ ſchen, ſie ſind, wenn ſie als ein Volk betrachtet werden, ein Urvolk, das Volk ſchlechtweg, Deut¬ ſche. Alle, die ſich darein ergeben ein zweites zu ſeyn, und abgeſtammtes, und die deutlich ſich alſo kennen und begreifen, ſind es in der That, und werden es immer mehr durch dieſen ihren Glauben, ſie ſind ein Anhang zum Leben, das vor ihnen, oder neben ihnen, aus eignem Triebe ſich regte, ein vom Felſen zuruͤktoͤnender Nachhall einer ſchon verſtummten Stimme, ſie ſind, als Volk betrachtet, außerhalb des Urvolks, und fuͤr daſſelbe Fremde, und Auslaͤnder. In der Nation, die bis auf dieſen Tag ſich das Volk ſchlechtweg, oder Deutſche nennt, iſt in der neuen Zeit wenigſtens bis jezt urſpruͤngliches, an den Tag hervorgebrochen, und Schoͤpferkraft238 des neuen hat ſich gezeigt; jezt wird endlich die¬ ſer Nation durch eine in ſich ſelbſt klar gewordene Philoſophie der Spiegel vorgehalten, in welchem ſie mit klarem Begriffe erkenne, was ſie bisher ohne deutliches Bewußtſeyn durch die Natur ward, und wozu ſie von derſelben beſtimmt iſt; und es wird ihr der Antrag gemacht, nach die¬ ſem klaren Begriffe, und mit beſonnener und freier Kunſt, vollendet und ganz, ſich ſelbſt zu dem zu machen, was ſie ſeyn ſoll, den Bund zu erneuern, und ihren Kreis zu ſchließen. Der Grundſaz, nach dem ſie dieſen zu ſchließen hat, iſt ihr vorgelegt; was an Geiſtigkeit, und Frei¬ heit dieſer Geiſtigkeit glaubt, und die ewige Fortbildung dieſer Geiſtigkeit durch Freiheit will, das, wo es auch geboren ſey, und in wel¬ cher Sprache es rede, iſt unſers Geſchlechts, es gehoͤrt uns an und es wird ſich zu uns thun. Was an Stillſtand, Ruͤkgang, und Zirkeltanz glaubt, oder gar eine todte Natur an das Ruder der Weltregierung ſezt, dieſes, wo auch es ge¬ boren ſey, und welche Sprache es rede, iſt un¬ deutſch, und fremd fuͤr uns, und es iſt zu wuͤn¬ ſchen, daß es je eher je lieber ſich gaͤnzlich von uns abtrenne.

Und ſo trete denn bei dieſer Gelegenheit, geſtuͤzt auf das oben uͤber die Freiheit geſagte,239 endlich auch einmahl vernehmlich heraus, und wer noch Ohren hat zu hoͤren, der hoͤre, was diejenige Philoſophie, die mit gutem Fuge ſich die deutſche nennt, eigentlich wolle, und worin ſie jeder auslaͤndiſchen, und todglaͤubigen Phi¬ loſophie mit ernſter, und unerbittlicher Strenge ſich entgegenſetze; und zwar trete dieſes heraus keinesweges darum, damit auch das todte es verſtehe, was unmoͤglich iſt, ſondern damit es dieſem ſchwerer werde, ihr die Worte zu ver¬ drehen, und ſich das Anſehn zu geben, als ob es ſelbſt eben auch ohngefaͤhr daſſelbe wolle und im Grunde meine. Dieſe deutſche Philoſophie erhebt ſich wirklich und durch die That ihres Denkens, keinesweges prahlt ſie es bloß, zu¬ folge einer dunklen Ahndung, daß es ſo ſeyn muͤſſe, ohne es jedoch bewerkſtelligen zu koͤn¬ nen, ſie erhebt ſich zu dem unwandelbaren Mehr denn alle Unendlichkeit, und findet allem in dieſem das wahrhafte Seyn. Zeit, und Ewigkeit, und Unendlichkeit erblikt ſie in ihrer Entſtehung aus dem Erſcheinen und Sichtbar¬ werden jenes Einen, das an ſich ſchlechthin un¬ ſichtbar iſt, und nur in dieſer ſeiner Unſichtbarkeit erfaßt, richtig erfaßt wird. Schon die Unend¬ lichkeit iſt, nach dieſer Philoſophie, nichts an ſich, und es kommt ihr durchaus kein wahrhaf¬240 tes Seyn zu: ſie iſt lediglich das Mittel, woran das einzige, das da iſt, und das nur in ſeiner Unſichtbarkeit iſt, ſichtbar wird, und woraus ihm ein Bild, ein Schemen und Schatten ſei¬ ner ſelbſt, im Umkreiſe der Bildlichkeit erbaut wird. Alles, was innerhalb dieſer Unendlich¬ keit der Bilderwelt noch weiter ſichtbar werden mag, iſt nun vollends ein Nichts des Nichts, ein Schatten des Schatten, und lediglich das Mittel, woran jenes erſte Nichts der Unendlich¬ keit und der Zeit ſelber ſichtbar werde, und dem Gedanken der Aufflug zu dem unbildlichen, und unſichtbaren Seyn ſich eroͤfne.

Innerhalb dieſes einzig moͤglichen Bildes der Unendlichkeit tritt nun das unſichtbare unmittel¬ bar heraus nur als freies und urſpruͤngliches Leben des Sehens; oder als Willens-Entſchluß eines vernuͤnftigen Weſens, und kann durch¬ aus nicht anders heraustreten und erſcheinen. Alles als nicht geiſtiges Leben erſcheinende be¬ harrliche Daſeyn iſt nur ein aus dem Sehen hingeworfener, vielfach durch das Nichts ver¬ mittelter, leerer Schatten, im Gegenſatze mit welchem, und durch deſſen Erkenntniß als viel¬ fach vermitteltes Nichts, das Sehen ſelbſt ſich eben erheben ſoll zum Erkennen ſeines eignenNichts241Nichts und zur Anerkennung des unſichtbaren, als des einzigen wahren.

In dieſen Schatten von den Schatten der Schatten bleibt nun jene todtglaͤubige Seyns - Philoſophie, die wohl gar Natur-Philoſophie wird, die erſtorbenſte von allen Philoſophien, behangen, und fuͤrchtet, und betet an ihr eige¬ nes Geſchoͤpf.

Dieſes Beharren nun iſt der Ausdruk ihres wahren Lebens, und ihrer Liebe, und in dieſem iſt dieſer Philoſophie zu glauben. Wenn ſie aber noch weiter ſagt, daß dieſes von ihr als wirklich ſey¬ endes vorausgeſezte Seyn, und das Abſolute, Eins ſey, und eben daſſelbe, ſo iſt ihr hierin, ſo vielmal ſie es auch betheuern mag, und wenn ſie auch manchen Eidſchwur hinzufuͤgte, nicht zu glauben; ſie weiß dies nicht, ſondern ſie ſagt es nur auf gutes Gluͤk hin, einer andern Philoſophie, der ſie dies nicht abzuſtreiten wagt, es nachbetend. Sollte ſie es wiſſen, ſo muͤßte ſie nicht von der Zweiheit, die ſie durch jenen Machtſpruch nur aufhebt, und dennoch ſtehen laͤßt, als einer unbezweifelten Thatſache ausge¬ hen, ſondern ſie muͤßte von der Einheit ausge¬ hen,[und] aus dieſer die Zweiheit, und mit ihr alle Mannigfaltigkeit verſtaͤndlich und einleuch¬Q242tend abzuleiten vermoͤgen. Hierzu bedarf es aber des Denkens, der durchgefuͤhrten, und mit ſich ſelbſt zu Ende gekommene Reflexion. Die Kunſt dieſes Denkens hat ſie theils nicht gelernt, und iſt derſelben uͤberhaupt unfaͤhig, ſie ver¬ mag nur zu ſchwaͤrmen, theils iſt ſie dieſem Den¬ ken feind, und mag es gar nicht verſuchen, weil ſie dadurch in der geliebten Taͤuſchung ge¬ ſtoͤrt werden wuͤrde.

Dies iſt es nun, worin unſere Philoſophie ſich jener Philoſophie ernſtlich entgegen ſezt, und dies haben wir bei dieſer Veranlaſſung einmal ſo veruehmlich als moͤglich, ausſprechen, und bezeugen wollen.

243

Achte Rede.

Was ein Volk ſei, in der hoͤhern Bedeutung des Worts, und was Vaterlandsliebe.

Die vier lezten Reden haben die Frage be¬ antwortet: was iſt der Deutſche im Gegen¬ ſatze mit andern Voͤlkern Germaniſcher Ab¬ kunft? Der Beweiß, der durch dieſes alles fuͤr das Ganze unſrer Unterſuchung gefuͤhrt werden ſoll, wird vollendet, wenn wir noch die Unterſuchung der Frage hinzufuͤgen: was iſt ein Volk: welche leztere Frage gleich iſt einer andern, und zugleich mit beantwortet dieſe andere, oft aufgeworfene, und auf ſehr verſchiedene Weiſen beantwortete Frage, dieſe: was iſt Vaterlandsliebe, oder, wie man ſichO 2244richtiger ausdruͤcken wuͤrde, was iſt Liebe des Einzelnen zu ſeiner Nation?

Sind wir bisher im Gange unſrer Unter¬ ſuchung richtig verfahren, ſo muß hiebei zu¬ gleich erhellen, daß nur der Deutſche der ur¬ ſpruͤngliche, und nicht in einer willkuͤhrlichen Satzung erſtorbene Menſch, wahrhaft ein Volk hat, und auf eins zu rechnen befugt iſt, und daß nur er der eigentlichen und vernunftgemaͤßen Liebe zu ſeiner Nation faͤhig iſt.

Wir bahnen uns den Weg zur Loͤſung der geſtellten Aufgabe durch folgende, fuͤrs erſte außer dem Zuſammenhange des bisherigen zu liegen ſcheinende Bemerkung.

Die Religion, wie wir dies ſchon in unſrer dritten Rede angemerkt haben, vermag durch¬ aus hinweg zu verſetzen uͤber alle Zeit, und uͤber das ganze gegenwaͤrtige, und ſinnliche Leben, ohne darum der Rechtlichkeit, Sittlich¬ keit, und Heiligkeit des von dieſem Glauben ergriffenen Lebens den mindeſten Abbruch zu thun. Man kann, auch bei der ſichern Ueber¬ zeugung, daß alles unſer Wirken auf dieſer Erde nicht die mindeſte Spur hinter ſich laſſen, und nicht die mindeſte Frucht bringen werde,245 ja, daß das goͤttliche ſogar verkehrt, und zu einem Werkzeuge des Boͤſen und noch tieferer ſittlicher Verderbniß werde gebraucht werden, dennoch fortfahren in dieſem Wirken, lediglich, um das in uns ausgebrochene goͤttliche Leben aufrecht zu erhalten, und in Beziehung auf eine hoͤhere Ordnung der Dinge in einer kuͤnf¬ tigen Welt, in welcher nichts in Gott geſchehe¬ nes zu Grunde geht. So waren z. B. die Apoſtel, und uͤberhaupt die erſten Chriſten, durch ihren Glauben an den Himmel, ſchon im Leben gaͤnzlich uͤber die Erde hinweggeſezt, und die Angelegenheiten derſelben, der Staat, irdiſches Vaterland, und Nation, waren von ihnen ſo gaͤnzlich aufgegeben, daß ſie dieſelben auch ſogar ihrer Beachtung nicht mehr wuͤrdigten. So moͤglich dieſes nun auch iſt, und ſo leicht auch, dem Glauben, und ſo freudig auch man ſich darein ergeben muß, wenn es einmal unabaͤn¬ derlich der Wille Gottes iſt, daß wir kein irdi¬ ſches Vaterland mehr haben, und hienieden ausgeſtoßne, und Knechte ſeyen: ſo iſt dies dennoch nicht der natuͤrliche Zuſtand, und die Regel des Weltganges, ſondern es iſt eine ſeltne Ausnahme; auch iſt es ein ſehr verkehr¬246 ter Gebrauch der Religion, der unter andern auch ſehr haͤufig vom Chriſtenthume gemacht wor¬ den, wenn dieſelbe gleich von vorn herein, und ohne Ruͤkſicht auf die vorhandenen Umſtaͤnde, darauf ausgeht, dieſe Zuruͤkziehung von den Angelegenheiten des Staates, und der Nation, als wahre religioͤſe Geſinnung zu empfehlen. In einer ſolchen Lage, wenn ſie wahr und wirk¬ lich iſt, und nicht etwa bloß durch religioͤſe Schwaͤrmerei herbeigefuͤhrt, verliert das zeit¬ liche Leben alle Selbſtbeſtaͤndigkeit, und es wird lediglich zu einem Vorhofe des wahren Lebens, und zu einer ſchweren Pruͤfung, die man bloß aus Gehorſam, und Ergebung in den Willen Gottes ertraͤgt, und dann iſt es wahr, daß, wie es von vielen vorgeſtellt worden, un¬ ſterbliche Geiſter nur zu ihrer Strafe in irdiſche Leiber, als in Gefaͤngniſſe, eingetaucht ſind. In der regelmaͤßigen Ordnung der Dinge hin¬ gegen ſoll das irdiſche Leben ſelber wahrhaftig Leben ſeyn, deſſen man ſich erfreuen, und das man, freilich in Erwartung eines hoͤhern, dank¬ bar genießen koͤnne; und obwohl es wahr iſt, daß die Religion auch der Troſt iſt des wider¬ rechtlich zerdruͤckten Sklaven, ſo iſt dennoch247 vor allen Dingen dies religioͤſer Sinn, daß man ſich gegen die Sklaverei ſtemme, und, ſo man es verhindern kann, die Religion nicht bis zum bloßen Troſte der Gefangenen herab¬ ſinken laſſe. Dem Tyrannen ſieht es wohl an, religioͤſe Ergebung zu predigen, und die, de¬ nen er auf Erden kein Plaͤzgen verſtatten will, an den Himmel zu verweiſen; wir andern muͤſſen weniger eilen, dieſe von ihm empfohlne Anſicht der Religion uns anzueignen, und, falls wir koͤnnen, verhindern, daß man die Erde zur Hoͤlle mache, um eine deſto groͤßere Sehnſucht nach dem Himmel zu erregen.

Der natuͤrliche, nur im wahren Falle der Noth aufzugebende Trieb des Menſchen iſt der, den Himmel ſchon auf dieſer Erde zu finden, und ewig dauerndes zu verſtoͤßen in ſein irdi¬ ſches Tagewerk; das unvergaͤngliche im zeitli¬ chen ſelbſt zu pflanzen, und zu erziehen, nicht bloß auf eine unbegreifliche Weiſe, und allein durch die, ſterblichen Augen undurch¬ dringbare Kluft mit dem ewigen zuſammen¬ haͤngend, ſondern auf eine dem ſterblichen Auge ſelbſt ſichtbare Weiſe.

248

Daß ich bei dieſem gemeinfaßlichen Bei¬ ſpiele anhebe: Welcher edeldenkeude will nicht, und wuͤnſcht nicht, in ſeinen Kindern und wie¬ derum in den Kindern dieſer, ſein eigenes Leben von neuem, auf eine verbeſſerte Weiſe, zu wie¬ derholen, und in dem Leben derſelben veredelt, und vervollkommnet, auch auf dieſer Erde, noch fortzuleben, nachdem er laͤngſt geſtorben iſt; den Geiſt, den Sinn, und die Sitte, mit denen er vielleicht in ſeinen Tagen abſchreckend war fuͤr die Verkehrtheit, und das Verderben, be¬ feſtigend die Rechtſchaffenheit, aufmunternd die Traͤgheit, erhebend die Niedergeſchlagen¬ heit, der Sterblichkeit zu entreißen, und ſie, als ſein beſtes Vermaͤchtniß an die Nachwelt, niederzulegen in den Gemuͤthern ſeiner Hinter¬ laſſenen, damit auch dieſe ſie einſt eben alſo, verſchoͤnert und vermehrt, wieder niederlegen? Welcher Edeldenkende will nicht durch Thun oder Denken, ein Saamenkorn ſtreuen zu unend¬ licher immerfortgehender Vollkommnung ſeines Geſchlechts, etwas neues, und vorher nie da geweſenes hineinwerfen in die Zeit, das in ihr bleibe, und nie verſiegende Quelle werde neuer Schoͤpfungen; ſeinen Plaz auf dieſer Erde, und249 die ihm verliehene kurze Spanne Zeit bezahlen mit einem auch hienieden ewig dauernden, ſo, daß er, als dieſer Einzelne, wenn auch nicht ge¬ nannt durch die Geſchichte, (denn Durſt nach Nachruhm iſt eine veraͤchtliche Eitelkeit) den¬ noch in ſeinem eignen Bewußtſeyn und ſeinem Glauben offenbare, Denkmale hinterlaſſe, daß auch Er da geweſen ſey? Welcher Edeldenkende will das nicht, ſagte ich; aber nur nach den Beduͤrfniſſen der alſo denkenden, als der Re¬ gel, wie alle ſeyn ſollten, iſt die Welt zu be¬ trachten und einzurichten, und um ihrer willen allein iſt eine Welt da. Sie ſind der Kern der¬ ſelben, und die anders denkenden ſind, als ſelbſt nur ein Theil der vergaͤnglichen Welt, ſo lange ſie alſo denken, auch nur um ihrer wil¬ len da, und muͤſſen ſich nach ihnen bequemen, ſo lange, bis ſie geworden ſind, wie ſie.

Was koͤnnte es nun ſeyn, das dieſer Auf¬ forderung und dieſem Glauben des Edlen an die Ewigkeit und Unvergaͤnglichkeit ſeines Wer¬ kes, die Gewaͤhr zu leiſten vermoͤchte? Offenbar nur eine Ordnung der Dinge, die er fuͤr ſelbſt ewig, und fuͤr faͤhig, ewiges in ſich aufzuneh¬ men, anzuerkennen vermoͤchte. Eine ſolche250 Ordnung aber iſt die, freilich in keinem Be¬ griffe zu erfaſſende, aber dennoch wahrhaft vor¬ handne, beſondere geiſtige Natur der menſchli¬ chen Umgebung, aus welcher er ſelbſt mit allem ſeinen Denken, und Thun und mit ſeinem Glauben an die Ewigkeit deſſelben hervorge¬ gangen iſt, das Volk, von welchem er ab¬ ſtammt, und unter welchem er gebildet wurde, und zu dem, was er jezt iſt, heraufwuchs. Denn ſo unbezweifelt es auch wahr iſt, daß ſein Werk, wenn er mit Recht Anſpruch macht auf deſſen Ewigkeit, keinesweges der bloße Er¬ folg des geiſtigen Naturgeſetzes ſeiner Nation iſt, und mit dieſem Erfolge rein aufgeht, ſon¬ dern daß es ein Mehreres iſt, denn das, und inſofern unmittelbar ausſtroͤmt aus dem ur¬ ſpruͤnglichen und goͤttlichen Leben; ſo iſt es dennoch eben ſo wahr, daß jenes mehrere, ſo¬ gleich bei ſeiner erſten Geſtaltung zu einer ſicht¬ baren Erſcheinung, unter jenes beſondere gei¬ ſtige Naturgeſez ſich gefuͤgt, und nur nach dem¬ ſelben ſich einen ſinnlichen Ausdruk gebildet hat. Unter daſſelbe Naturgeſetz nun werden, ſo lange dieſes Volk beſteht, auch alle fernere Offenbarungen des goͤttlichen in demſelben ein¬251 treten, und in ihm ſich geſtalten. Dadurch aber, daß auch er da war, und ſo wirkte, iſt ſelbſt dieſes Geſez weiter beſtimmt, und ſeine Wirkſamkeit iſt ein ſtehender Beſtandtheil deſ¬ ſelben geworden. Auch hiernach wird alles folgende ſich fuͤgen, und an daſſelbe ſich an¬ ſchließen muͤſſen. Und ſo iſt er denn ſicher, daß die durch ihn errungene Ausbildung bleibt in ſeinem Volke, ſo lange dieſes ſelbſt bleibt, und fortdauernder Beſtimmungsgrund wird aller fernern Entwiklung deſſelben.

Dies nun iſt in hoͤherer vom Standpunkte der Anſicht einer geiſtigen Welt uͤberhaupt ge¬ nommener Bedeutung des Worts, ein Volk: das Ganze der in Geſellſchaft mit einander fortlebenden, und ſich aus ſich ſelbſt immerfort natuͤrlich und geiſtig erzeugenden Menſchen, das insgeſammt unter einem gewiſſen beſon¬ dern Geſetze der Entwiklung des goͤttlichen aus ihm ſteht. Die Gemeinſamkeit dieſes beſon¬ dern Geſetzes iſt es, was in der ewigen Welt, und eben darum auch in der zeitlichen, dieſe Menge zu einem natuͤrlichen, und von ſich ſelbſt durchdrungenen Ganzen verbindet. Dieſes Ge¬ ſez ſelbſt ſeinem Inhalte nach, kann wohl im252 Ganzen erfaßt werden, ſo wie wir es an den Deutſchen, als einem Urvolke, erfaßt haben; es kann ſogar durch Erwaͤgung der Erſcheinun¬ gen eines ſolchen Volkes noch naͤher in man¬ chen ſeiner weitern Beſtimmungen begriffen werden; aber es kann niemals von irgend einem, der ja ſelbſt immerfort unter deſſelben ihm unbewußten Einfluſſe bleibt, ganz mit dem Begriffe durchdrungen werden; obwohl im All¬ gemeinen klar eingeſehen werden kann, daß es ein ſolches Geſez gebe. Es iſt dieſes Geſez ein Mehr der Bildlichkeit, daß mit dem Mehr der unbildlichen Urſpruͤnglichkeit, in der Erſcheinung unmittelbar verſchmilzt; und ſo ſind denn, in der Erſcheinung eben, beide nicht wieder zu trennen. Jenes Geſez beſtimmt durchaus und vollendet das, was man den National-Cha¬ rakter eines Volks genannt hat; jenes Geſez der Entwiklung des urſpruͤnglichen, und goͤtt¬ lichen. Es iſt aus dem leztern klar, daß Men¬ ſchen, welche ſo wie wir bisher die Auslaͤnderei beſchrieben haben, an ein urſpruͤngliches, und an eine Fortentwiklung deſſelben gar nicht glauben, ſondern bloß an einen ewigen Kreis¬ lauf des ſcheinbaren Lebens, und welche durch253 ihren Glauben werden, wie ſie glauben, im hoͤhern Sinne gar kein Volk ſind, und da ſie in der That eigentlich auch nicht da ſind, eben ſo wenig einen Nationalcharakter zu haben vermoͤgen.

Der Glaube des edlen Menſchen an die ewige Fortdauer ſeiner Wirkſamkeit auch auf dieſer Erde gruͤndet ſich demnach auf die Hof¬ nung der ewigen Fortdauer des Volks, aus dem er ſelber ſich entwickelt hat, und der Eigen¬ thuͤmlichkeit deſſelben, nach jenem verborgenen Geſetze; ohne Einmiſchung und Verderbung durch irgend ein fremdes, und in das Ganze dieſer Geſezgebung nicht gehoͤriges. Dieſe Eigenthuͤmlichkeit iſt das ewige, dem er die Ewigkeit ſeiner ſelbſt und ſeines Fortwirkens anvertraut, die ewige Ordnung der Dinge, in die er ſein ewiges legt; ihre Fortdauer muß er wollen, denn ſie allein iſt ihm das entbin¬ dende Mittel, wodurch die kurze Spanne ſeines Lebens hienieden zu fortdauerndem Leben hie¬ nieden ausgedehnt wird. Sein Glaube, und ſein Streben, unvergaͤngliches zu pflanzen, ſein Begriff, in welchem er ſein eignes Leben als ein ewiges Leben erfaßt, iſt das Band,254 welches zunaͤchſt ſeine Nation, und vermittelſt ihrer das ganze Menſchengeſchlecht, innigſt mit ihm ſelber verknuͤpft, und ihrer aller Beduͤrf¬ niſſe, bis ans Ende der Tage, einfuͤhrt in ſein erweitertes Herz. Dies iſt ſeine Liebe zu ſei¬ nem Volke, zuvoͤrderſt achtend, vertrauend, deſſelben ſich freuend, mit der Abſtammung daraus ſich ehrend. Es iſt goͤttliches in ihm erſchienen, und das urſpruͤngliche hat daſſelbe gewuͤrdigt, es zu ſeiner Huͤlle, und zu ſeinem unmittelbaren Verfloͤßungsmittel in die Welt zu machen; es wird darum auch ferner goͤttliches aus ihm hervorbrechen. Sodann thaͤtig, wirk¬ ſam, ſich aufopfernd fuͤr daſſelbe. Das Leben, bloß als Leben, als Fortſetzen des wechſelnden Daſeyns, hat fuͤr ihn ja ohne dies nie Werth gehabt, er hat es nur gewollt als Quelle des dauernden; aber dieſe Dauer, verſpricht ihm allein die ſelbſtſtaͤndige Fortdauer ſeiner Na¬ tion; um dieſe zu retten, muß er ſogar ſterben wollen, damit dieſe lebe, und er in ihr lebe das einzige Leben, das er von je gemocht hat.

So iſt es. Die Liebe, die wahrhaftig Liebe ſey, und nicht bloß eine voruͤbergehende Be¬ gehrlichkeit, haftet nie auf vergaͤnglichem, ſon¬255 dern ſie erwacht, und entzuͤndet ſich, und ruht allein in dem ewigen. Nicht einmal ſich ſelbſt vermag der Menſch zu lieben, es ſey denn, daß er ſich als ewiges erfaſſe: außerdem vermag er ſich ſogar nicht zu achten, noch zu billigen. Noch weniger vermag er etwas außer ſich zu lieben, außer alſo, daß er es aufnehme in die Ewigkeit ſeines Glaubens und ſeines Gemuͤths, und es anknuͤpfe an dieſe. Wer nicht zufoͤr¬ derſt ſich als ewig erblikt, der hat uͤberhaupt keine Liebe, und kann auch nicht lieben ein Vaterland, dergleichen es fuͤr ihn nicht giebt. Wer zwar vielleicht ſein unſichtbares Leben, nicht aber eben alſo ſein ſichtbares Leben, als ewig erblikt, der mag wohl einen Himmel ha¬ ben, und in dieſem ſein Vaterland, aber hie¬ nieden hat er kein Vaterland, denn auch die¬ ſes wird nur unter dem Bilde der Ewigkeit, und zwar der ſichtbaren, und verſinnlichten Ewigkeit erblikt, und er vermag daher auch nicht ſein Vaterland zu lieben. Iſt einem ſol¬ chen keins uͤberliefert worden, ſo iſt er zu be¬ klagen; wem Eins uͤberliefert worden iſt, und in weſſen Gemuͤthe Himmel und Erde, unſicht¬ bares, und ſichtbares ſich durchdringen, und256 ſo erſt einen wahren und gediegenen Himmel erſchaffen, der kaͤmpft bis auf den lezten Blutstropfen, um den theuren Beſitz unge¬ ſchmaͤlert wiederum zu uͤberliefern an die Folgezeit.

So iſt es auch von jeher geweſen, ohnerachtet es nicht von jeher mit dieſer Allgemeinheit, und mit dieſer Klarheit[ausgeſprochen] worden. Was begeiſterte die edlen unter den Roͤmern, deren Geſinnungen und Denkweiſe noch in ih¬ ren Denkmalen unter uns leben, und athmen, zu Muͤhen und Aufopferungen, zum Dulden und Tragen fuͤrs Vaterland? Sie ſprechen es ſelbſt oft und deutlich aus. Ihr feſter Glaube war es an die ewige Fortdaner ihrer Roma, und ihre zuverſichtliche Ausſicht, in dieſer Ewigkeit ſelber ewig mit fortzuleben im Strome der Zeit. Inwiefern dieſer Glaube Grund hatte, und ſie ſelbſt, wenn ſie in ſich ſelber vollkommen klar geweſen waͤren, denſelben gefaßt haben wuͤrden, hat er ſie auch nicht getaͤuſcht. Bis auf dieſen Tag lebet das, was wirklich ewig war in ihrer ewigen Roma, und ſie mit dem¬ ſelben, in unſrer Mitte fort, und wird in ſei¬ nen Folgen fortleben bis ans Ende der Tage.

Volk257

Volk und Vaterland in dieſer Bedeutung, als Traͤger, und Unterpfand der irdiſchen Ewig¬ keit, und als dasjenige, was hienieden ewig ſeyn kann, liegt weit hinaus uͤber den Staat, im gewoͤhnlichen Sinne des Worts, uͤber die geſellſchaftliche Ordnung, wie dieſelbe im blo¬ ßen klaren Begriffe erfaßt, und nach Anleitung dieſes Begriffs errichtet und erhalten wird. Dieſer will gewiſſes Recht, innerlichen Frie¬ den, und daß jeder durch Fleiß ſeinen Unter¬ halt, und die Friſtung ſeines ſinnlichen Daſeyns finde, ſo lange Gott ſie ihm gewaͤhren will. Dieſes alles iſt nur Mittel, Bedingung, und Geruͤſt deſſen, was die Vaterlandsliebe eigent¬ lich will, des Ausbluͤhens des ewigen, und goͤttlichen in der Welt, immer reiner, voll¬ kommner und getroffener im unendlichen Fort¬ gange. Eben darum muß dieſe Vaterlands¬ liebe den Staat ſelbſt regieren, als durchaus oberſte, lezte, und unabhaͤngige Behoͤrde, zu¬ foͤrderſt, indem ſie ihn beſchraͤnkt in der Wahl der Mittel fuͤr ſeinen naͤchſten Zwek, den inner¬ lichen Frieden. Fuͤr dieſen Zwek muß freilich die natuͤrliche Freiheit des Einzelnen auf man¬R258cherlei Weiſe beſchraͤnkt werden, und wenn man gar keine andere Ruͤkſicht und Abſicht mit ihnen haͤtte, denn dieſe, ſo wuͤrde man wohl thun, dieſelbe ſo eng, als immer moͤglich, zu be¬ ſchraͤnken, alle ihre Regungen unter eine ein¬ foͤrmige Regel zu bringen, und ſie unter im¬ merwaͤhrender Aufſicht zu erhalten. Geſezt dieſe Strenge waͤre nicht noͤthig, ſo koͤnnte ſie wenigſtens fuͤr dieſen alleinigen Zwek nicht ſchaden. Nur die hoͤhere Anſicht des Men¬ ſchengeſchlechts, und der Voͤlker, erweitert dieſe beſchraͤnkte Berechnung. Freiheit, auch in den Regungen des aͤußerlichen Lebens, iſt der Bo¬ den, in welchem die hoͤhere Bildung keimt; eine Geſezgebung, welche dieſe leztere im Auge be¬ haͤlt, wird der erſteren einen moͤglichſt ausge¬ breiteten Kreis laſſen, ſelber auf die Gefahr hin, daß ein geringerer Grad der einfoͤrmigen Ruhe und Stille erfolge, und daß das Regie¬ ren ein wenig ſchwerer, und muͤhſamer werde.

Um dies an einem Beiſpiele zu erlaͤutern: man hat erlebt, daß Nationen ins Angeſicht geſagt worden, ſie beduͤrften nicht ſo vieler Frei¬ heit, als etwa manche andere Nation. Dieſe259 Rede kann ſogar eine Schonung und Milde¬ rung enthalten, indem man eigentlich ſagen wollte, ſie koͤnnte ſo viele Freiheit gar nicht er¬ tragen, und nur eine hohe Strenge koͤnne ver¬ hindern, daß ſie ſich nicht unter einander ſelber aufrieben. Wenn aber die Worte alſo genom¬ men werden, wie ſie geſagt ſind, ſo ſind ſie wahr unter der Vorausſetzung, daß eine ſolche Nation des urſpruͤnglichen Lebens, und des Triebes nach ſolchem, durchaus unfaͤhig ſey. Eine ſolche Nation, falls eine ſolche, in der auch nicht wenige edlere eine Ausnahme von der allgemeinen Regel machten, moͤglich ſeyn ſollte, beduͤrfte in der That gar keiner Freiheit, denn dieſe iſt nur fuͤr die hoͤhere uͤber den Staat hinaus liegenden Zweke; ſie bedarf bloß der Bezaͤhmung, und Abrichtung, damit die Ein¬ zelnen friedlich neben einander beſtehen, und damit das Ganze zu einem tuͤchtigen Mittel fuͤr willkuͤhrlich zu ſetzende außer ihr liegende Zweke zubereitet werde. Wir koͤnnen unent¬ ſchieden laſſen, ob man irgend einer Nation dies mit Wahrheit ſagen koͤnne; ſo viel iſt klar, daß ein urſpruͤngliches Volk der Freiheit be¬R 2260darf, daß dieſe das Unterpfand iſt ſeines Be¬ harrens als urſpruͤnglich, und daß es in ſeiner Fortdauer einen immer hoͤher ſteigenden Grad derſelben ohne alle Gefahr ertraͤgt. Und dies iſt das erſte Stuͤk, in Ruͤkſicht deſſen die Vater¬ landsliebe den Staat ſelbſt regieren muß.

Sodann muß ſie es ſeyn, die den Staat darin regiert, daß ſie ihm ſelbſt einen hoͤhern Zwek ſezt, denn den gewoͤhnlichen der Erhal¬ tung des innern Friedens, des Eigenthums, der perſoͤnlichen Freiheit, des Lebens, und des Wohlſeyns aller. Fuͤr dieſen hoͤhern Zwek allein, und in keiner andern Abſicht bringt der Staat eine bewafnete Macht zuſammen. Wenn von der Anwendung dieſer die Rede entſteht, wenn es gilt, alle Zweke des Staats im bloßen Begriffe, Eigenthum, perſoͤnliche Freiheit, Leben, und Wohlſeyn, ja die Fortdauer des Staats ſelbſt, auf das Spiel zu ſetzen; ohne einen klaren Verſtandesbegriff von der ſichern Erreichung des beabſichtigten, dergleichen in Dingen dieſer Art nie moͤglich iſt, urſpruͤnglich und Gott allein verantwortlich, zu entſcheiden: dann lebt am Ruder des Staates erſt ein261 wahrhaft urſpruͤngliches und erſtes Leben, und an dieſer Stelle erſt treten ein die wahren Ma¬ jeſtaͤtsrechte der Regierung, gleich Gott um hoͤhern Lebens willen das niedere Leben daran zu wagen. In der Erhaltung der hergebrachten Verfaſſung, der Geſetze, des buͤrgerlichen Wohlſtandes, iſt gar kein rechtes eigentliches Leben, und kein urſpruͤnglicher Entſchluß. Umſtaͤnde, und Lage, laͤngſt vielleicht verſtor¬ bene Geſezgeber, haben dieſe erſchaffen; die fol¬ genden Zeitalter gehen glaͤubig fort auf der an¬ getretenen Bahn, und leben ſo in der That nicht ein eignes oͤffentliches Leben, ſondern ſie wiederholen nur ein ehemaliges Leben. Es be¬ darf in ſolchen Zeiten keiner eigentlichen Re¬ gierung. Wenn aber dieſer gleichmaͤßige Fort¬ gang in Gefahr geraͤth, und es nun gilt, uͤber neue, nie alſo da geweſene Faͤlle zu entſchei¬ den; dann bedarf es eines Lebens, das aus ſich ſelber lebe. Welcher Geiſt nun iſt es, der in ſolchen Faͤllen ſich an das Ruder ſtellen duͤrfe, der mit eigner Sicherheit und Gewißheit, und ohne unruhiges Hin - und Herſchwanken zu entſcheiden vermoͤge, der ein unbezweifeltes262 Recht habe, jedem, den es treffen mag, ob er nun ſelbſt es wolle oder nicht, gebietend an¬ zumuthen, und den Widerſtrebenden zu zwin¬ gen, daß er alles, bis auf ſein Leben, in Ge¬ fahr ſetze? Nicht der Geiſt der ruhigen buͤr¬ gerlichen Liebe der Verfaſſung, und der Geſetze, ſondern die verzehrende Flamme der hoͤheren Vaterlandsliebe, die die Nation als Huͤlle des ewigen umfaßt, fuͤr welche der Edle mit Freu¬ den ſich opfert, und der Unedle, der nur um des erſten willen da iſt, ſich eben opfern ſoll. Nicht jene buͤrgerliche Liebe der Verfaſſung iſt es; dieſe vermag dies gar nicht, wenn ſie bei Verſtande bleibt. Wie es auch ergehen moͤge, da nicht umſonſt regiert wird, ſo wird ſich im¬ mer ein Regent fuͤr ſie finden. Laſſet den neuen Regenten ſogar die Sklaverei wollen (und wo iſt Sklaverei, außer in der Nichtachtung, und Unterdruͤckung der Eigenthuͤmlichkeit eines ur¬ ſpruͤnglichen Volkes, dergleichen fuͤr jenen Sinn nicht vorhanden iſt?) Laſſet ihn auch die Sklaverei wollen, da aus dem Leben der Sklaven, ihrer Menge, ſogar ihrem Wohl¬ ſtande ſich Nutzung ziehen laͤßt, ſo wird, wenn265 er nur einigermaßen ein Rechner iſt, die Skla¬ verei unter ihm ertraͤglich ausfallen. Leben und Unterhalt wenigſtens werden ſie immer fin¬ den. Wofuͤr ſollten ſie denn alſo kaͤmpfen? Nach jenen beiden iſt es die Ruhe, die ihnen uͤber alles geht. Dieſe wird durch die Fort¬ dauer des Kampfes nur geſtoͤrt. Sie werden darum alles anwenden, daß dieſer nur recht bald ein Ende nehme, ſie werden ſich fuͤgen, ſie werden nachgeben, und warum ſollten ſie nicht? Es iſt ihnen ja nie um mehr zu thun geweſen, und ſie haben vom Leben nie etwas weiteres gehofft, denn die Fortſetzung der Gewohn¬ heit dazuſeyn unter erleidlichen Bedingungen. Die Verheißung eines Lebens auch hienieden uͤber die Dauer des Lebens hienieden hinaus, allein dieſe iſt es, die bis zum Tode fuͤrs Vaterland begeiſtern kann.

So iſt es auch bisher geweſen. Wo da wirklich regiert worden iſt, wo beſtanden wor¬ den ſind ernſthafte Kaͤmpfe, wo der Sieg er¬ rungen worden iſt gegen gewaltigen Wider¬ ſtand, da iſt es jene Verheißung ewigen Lebens geweſen, die da regierte, und kaͤmpfte, und264 ſiegte. Im Glauben an dieſe Verheißung kaͤmpften die in dieſen Reden fruͤher erwaͤhn¬ ten deutſchen Proteſtanten. Wußten ſie etwa nicht, daß auch mit dem alten Glauben Voͤlker regiert, und in rechtlicher Ordnung zuſammen¬ gehalten werden koͤnnten, und daß man auch bei dieſem Glauben ſeinen guten Lebensunter¬ halt finden koͤnne? Warum beſchloſſen denn alſo ihre Fuͤrſten bewafneten Widerſtand, und warum leiſteten ihn mit Begeiſterung die Voͤl¬ ker? Der Himmel war es, und die ewige See¬ ligkeit, fuͤr welche ſie willig ihr Blut vergoſſen. Aber welche irdiſche Gewalt haͤtte denn auch in das innere Heiligthum ihres Gemuͤths eindrin¬ gen, und den Glauben, der ihnen ja nun ein¬ mal aufgegangen war, und auf welchen allein ſie ihrer Seeligkeit Hofnung gruͤndeten, darin austilgen koͤnnen? Alſo, auch ihre eigne See¬ ligkeit war es nicht, fuͤr die ſie kaͤmpften; dieſer waren ſie ſchon verſichert: die Seeligkeit ihrer Kinder, ihrer noch ungebornen Enkel, und aller noch ungebornen Nachkommenſchaft war es; auch dieſe ſollten auferzogen werden in derſel¬ ben Lehre, die ihnen als allein heilbringend er¬265 ſchienen war, auch dieſe ſollten theilhaftig wer¬ den des Heiles, das fuͤr ſie angebrochen war; dieſe Hofnung allein war es, die durch den Feind bedroht wurde, fuͤr ſie, fuͤr eine Ord¬ nung der Dinge, die lange nach ihrem Tode uͤber ihren Graͤbern bluͤhen ſollte, verſprizten ſie mit dieſer Freudigkeit ihr Blut. Geben wir zu, daß ſie ſich ſelbſt nicht ganz klar wa¬ ren, daß ſie in der Bezeichnung des edelſten, was in ihnen war, mit Worten ſich vergriffen, und mit dem Munde ihrem Gemuͤthe unrecht thaten; bekennen wir gern, daß ihr Glaubens¬ bekenntniß nicht das einige, und ausſchließende Mittel war, des Himmels jenſeits des Grabes theilhaftig zu werden: ſo iſt doch dies ewig wahr, daß mehr Himmel dieſſeits des Grabes, ein muthigeres und froͤhlicheres Emporblicken von der Erde, und eine freiere Regung des Geiſtes, durch ihre Aufopferung, in alles Leben der Folgezeit gekommen iſt, und die Nachkom¬ men ihrer Gegner eben ſo wohl, als wir ſelbſt, ihre Nachkommen, die Fruͤchte ihrer Muͤhen bis auf dieſen Tag genießen.

In dieſem Glauben ſezten unſre aͤlteſten266 gemeinſamen Vorfahren, das Stammvolk der neuen Bildung, die von den Roͤmern Germa¬ nier genannten Deutſchen, ſich der herandrin¬ genden Weltherrſchaft der Roͤmer muthig ent¬ gegen. Sahen ſie denn nicht vor Augen den hoͤhern Flor der Roͤmiſchen Provinzen neben ſich, die feinern Genuͤſſe in denſelben, dabei Geſetze, Richterſtuͤhle, Ruthenbuͤndel, und Beile in Ueberfluß? Waren die Roͤmer nicht bereit¬ willig genug, ſie an allen dieſen Seegnungen Theil nehmen zu laſſen? Erlebten ſie nicht an mehrern ihrer eigenen Fuͤrſten, die ſich nur bedeuten ließen, daß der Krieg gegen ſolche Wohlthaͤter der Menſchheit Rebellion ſei, Be¬ weiſe der geprieſenen Roͤmiſchen Klemenz, in¬ dem ſie die Nachgiebigen mit Koͤnigstiteln, mit Anfuͤhrerſtellen in ihren Heeren, mit Roͤ¬ miſchen Opferbinden auszierten, ihnen, wenn ſie etwa von ihren Landsleuten ausgetrieben wurden, einen Zufluchtsort, und Unterhalt in ihren Pflanzſtaͤdten gaben? Hatten ſie keinen Sinn fuͤr die Vorzuͤge Roͤmiſcher Bildung, z. B. fuͤr die beſſere Einrichtung ihrer Heere, in denen ſogar ein Arminius das Kriegshandwerk zu267 erlernen nicht verſchmaͤhte? Keine von allen dieſen Unwiſſenheiten, oder Nichtbeachtungen iſt ihnen aufzuruͤkken. Ihre Nachkommen ha¬ ben ſogar, ſobald ſie es ohne Verluſt fuͤr ihre Freiheit konnten, die Bildung derſelben ſich angeeignet, in wie weit es ohne Verluſt ihrer Eigenthuͤmlichkeit moͤglich war. Wofuͤr haben ſie denn alſo mehrere Menſchenalter hindurch gekaͤmpft im blutigen, immer mit derſelben Kraft ſich wieder erneuernden Kriege? Ein Roͤmiſcher Schriftſteller laͤßt es ihre Anfuͤhrer alſo ausſprechen: ob ihnen denn etwas ande¬ res uͤbrig bleibe, als entweder die Freiheit zu behaupten, oder zu ſterben, bevor ſie Skla¬ ven wuͤrden. Freiheit war ihnen, daß ſie eben Deutſche blieben, daß ſie fortfuͤhren ihre Angelegenheiten ſelbſtſtaͤndig, und urſpruͤng¬ lich, ihrem eignen Geiſte gemaͤß, zu entſcheiden, und dieſem gleichfalls gemaͤß auch in ihrer Fortbildung vorwaͤrts zu ruͤkken, und daß ſie dieſe Selbſtſtaͤndigkeit auch auf ihre Nachkom¬ menſchaft fortpflanzten: Sklaverei hießen ih¬ nen alle jene Segnungen, die ihnen die Roͤ¬ mer antrugen, weil ſie dabei etwas anderes,268 denn Deutſche, weil ſie halbe Roͤmer werden muͤßten. Es verſtehe ſich von ſelbſt, ſezten ſie voraus, daß jeder, ehe er dies werde, lieber ſterbe, und daß ein wahrhafter Deutſcher nur koͤnne leben wollen, um eben Deutſcher zu ſeyn, und zu bleiben, und die ſeinigen zu eben ſolchen zu bilden.

Sie ſind nicht alle geſtorben, ſie haben die Sklaverei nicht geſehen, ſie haben die Freiheit hinterlaſſen ihren Kindern. Ihrem beharr¬ lichen Widerſtande verdankt es die ganze neue Welt, daß ſie da iſt, ſo wie ſie da iſt. Waͤre es den Roͤmern gelungen, auch ſie zu unter¬ jochen, und, wie dies der Roͤmer allenthalben that, ſie als Nation auszurotten, ſo haͤtte die ganze Fortentwiklung der Menſchheit eine an¬ dere, und man kann nicht glauben erfreulichere Richtung genommen. Ihnen verdanken wir, die naͤchſten Erben ihres Bodens, ihrer Sprache, und ihrer Geſinnung, daß wir noch Deutſche ſind, daß der Strom urſpruͤnglichen und ſelbſt¬ ſtaͤndigen Lebens uns noch traͤgt, ihnen verdan¬ ken wir alles, was wir ſeitdem als Nation ge¬ weſen ſind, ihnen, falls es nicht etwa jetzo mit269 uns zu Ende iſt, und der lezte von ihnen ab¬ geſtammte Blutstropfen in unſern Adern ver¬ ſiegt iſt, ihnen werden wir verdanken, alles, was wir noch ferner ſeyn werden. Ihnen verdanken ſelbſt die uͤbrigen, uns jezt zum Auslande gewordenen Staͤmme, in ihnen unſre Bruͤder, ihr Daſeyn; als jene die ewige Roma beſiegten, war noch keins aller die¬ ſer Voͤlker vorhanden; damals wurde zugleich auch ihnen die Moͤglichkeit ihrer kuͤnftigen Ent¬ ſtehung mit erkaͤmpft.

Dieſe, und alle andere in der Weltge¬ ſchichte, die ihres Sinnes waren, haben ge¬ ſiegt, weil das Ewige ſie begeiſterte, und ſo ſiegt immer und nothwendig dieſe Begeiſterung uͤber den, der nicht begeiſtert iſt. Nicht die Gewalt der Arme, noch die Tuͤchtigkeit der Waffen, ſondern die Kraft des Gemuͤths iſt es, welche Siege erkaͤmpft. Wer ein begrenztes Ziel ſich ſezt ſeiner Aufopferungen, und ſich nicht weiter wagen mag, als bis zu einem gewiſſen Punkte, der giebt den Widerſtand auf, ſobald die Gefahr ihm an dieſen durchaus nicht aufzugebenden noch zu entbehrenden270 Punkt kommt. Wer gar kein Ziel ſich geſezt hat, ſondern alles, und das hoͤchſte, was man hienieden verlieren kann, das Leben, daran ſezt, giebt den Widerſtand nie auf, und ſiegt, ſo der Gegner ein begrenzteres Ziel hat, ohne Zweifel. Ein Volk, das da faͤhig iſt, ſey es auch nur in ſeinen hoͤchſten Stellvertretern, und Anfuͤhrern, das Geſicht aus der Geiſter¬ welt, Selbſtſtaͤndigkeit, feſt ins Auge zu faſſen, und von der Liebe dafuͤr ergriffen zu werden, wie unſre aͤlteſten Vorfahren, ſiegt gewiß uͤber ein ſolches, das nur zum Werkzeuge fremder Herrſchſucht, und zu Unterjochung ſelbſtſtaͤndiger Voͤlker gebraucht wird, wie die Roͤmiſchen Heere; denn die erſtern haben alles zu verlie¬ ren, die leztern bloß einiges zu gewinnen. Ueber die Denkart aber, die den Krieg als ein Gluͤksſpiel anſieht, um zeitlichen Gewinn oder Verluſt, und bei der ſchon, ehe ſie das Spiel anfaͤngt, feſt ſteht, bis zu welcher Summe ſie auf die Charten ſetzen wolle, ſiegt ſogar eine Grille. Denken ſie ſich z. B. einen Maho¬ met, nicht den wirklichen der Geſchichte, uͤber welchen ich kein Urtheil zu haben bekenne,271 ſondern den eines bekannten franzoͤſiſchen Dich¬ ters, der ſich einmal feſt in den Kopf ge¬ ſezt habe, er ſey eine der ungemeinen Natu¬ ren, die da berufen ſind, das dunkle, das ge¬ meine Erdenvolk zu leiten, und dem, zufolge dieſer erſten Vorausſetzung, alle ſeine Einfaͤlle, ſo duͤrftig und ſo beſchraͤnkt ſie auch in der That ſeyn moͤgen, dieweil es die ſeinigen ſind, nothwendig erſcheinen muͤſſen, als große und erhabene und beſeeligende Ideen, und alles, was denſelben ſich widerſezt, als dunkles ge¬ meines Volk, Feinde ihres eignen Wohls, uͤbelgeſinnte, und haſſenswuͤrdige; der nun, um dieſen ſeinen Eigenduͤnkel vor ſich ſelbſt als goͤttlichen Ruf zu rechtfertigen, und ganz aufgegangen in dieſem Gedanken mit all ſei¬ nem Leben, alles daran ſetzen muß, und nicht ruhen kann, bis er alles, das nicht eben ſo groß von ihm denken will, denn er ſelbſt, zer¬ treten hat, und bis aus der ganzen Mitwelt ſein eigner Glaube an ſeine goͤttliche Sendung ihm zuruͤckſtrale; ich will nicht ſagen, wie es ihm ergehen wuͤrde, falls wirklich ein geiſtiges Geſicht, das da wahr iſt und klar in ſich ſelbſt,272 gegen ihn in die Kampfbahn traͤte, aber jenen beſchraͤnkten Gluͤksſpielern gewinnt er es ſicher ab, denn er ſezt alles, gegen ſie, die nicht alles ſezen; ſie treibt kein Geiſt, ihn aber treibt allerdings ein ſchwaͤrmeriſcher Geiſt, der ſei¬ nes gewaltigen und kraͤftigen Eigenduͤnkels.

Aus allem gehet hervor, daß der Staat, als bloßes Regiment des im gewoͤhnlichen fried¬ lichen Gange fortſchreitenden menſchlichen Le¬ bens, nichts erſtes, und fuͤr ſich ſelbſt ſeyendes, ſondern daß er bloß das Mittel iſt fuͤr den hoͤhern Zweck der ewig gleichmaͤßig fortgehen¬ den Ausbildung des rein menſchlichen in dieſer Nation; daß es allein das Geſicht, und die Liebe dieſer ewigen Fortbildung iſt, welche im¬ merfort auch in ruhigen Zeitlaͤuften die hoͤhere Aufſicht uͤber die Staatsverwaltung fuͤhren ſoll, und welche, wo die Selbſtſtaͤndigkeit des Volks in Gefahr iſt, allein dieſelbe zu retten vermag. Bei den Deutſchen, unter denen, als einem urſpruͤnglichen Volke, dieſe Vaterlands¬ liebe moͤglich, und, wie wir feſt zu wiſſen glau¬ ben, bis jezt auch wirklich war, konnte dieſelbe bis jezt mit einer hohen Zuverſicht auf dieSicher¬273Sicherheit ihrer wichtigſten Angelegenheit rech¬ nen. Wie nur noch bei den Griechen in der alten Zeit, war bei ihnen der Staat und die Nation ſogar von einander geſondert, und jedes fuͤr ſich dargeſtellt, der erſte in den be¬ ſondern deutſchen Reichen, und Fuͤrſtenthuͤ¬ mern, die lezte ſichtbar im Reichsverbande, unſichtbar, nicht zufolge eines niedergeſchrie¬ benen aber eines in aller Gemuͤther lebenden Rechtes geltend, und in ihren Folgen allent¬ halben in das Auge ſpringend, in einer Menge von Gewohnheiten, und Einrichtungen. So weit die deutſche Zunge reichte, konnte jeder, dem im Bezirke derſelben das Licht anbrach, ſich doppelt betrachten als Buͤrger, theils ſei¬ nes Geburtsſtaates, deſſen Fuͤrſorge er zunaͤchſt empfohlen war, theils des ganzen gemeinſa¬ men Vaterlandes Deutſcher Nation. Jedem war es verſtattet, uͤber die ganze Oberflaͤche dieſes Vaterlandes hin ſich diejenige Bildung, die am meiſten Verwandſchaft zu ſeinem Geiſte hatte, oder den demſelben angemeſſenſten Wir¬ kungskreis aufzuſuchen, und das Talent wuchs nicht hinein in ſeine Stelle, wie ein BaumS274ſondern es war ihm erlaubt, dieſelbe zu ſuchen. Wer durch die Richtung, die ſeine Bildung nahm, mit ſeiner naͤchſten Umgebung entzweit wurde, fand leicht anderwaͤrts willige Auf¬ nahme, fand neue Freunde ſtatt der verlohr¬ nen, fand Zeit und Ruhe, um ſich naͤher zu erklaͤren, vielleicht die erzuͤrnten ſelbſt zu ge¬ winnen und zu verſoͤhnen, und ſo das Ganze zu einigen. Kein deutſchgebohrner Fuͤrſt hat es je uͤber ſich vermocht, ſeinen Unterthanen das Vaterland innerhalb der Berge, oder Fluͤſſe, wo er regierte, abzuſtekken, und dieſel¬ ben zu betrachten, als gebunden an die Erd¬ ſcholle. Eine Wahrheit, die an einem Orte nicht laut werden durfte, durfte es an einem andern, an welchem vielleicht im Gegentheile diejenigen verboten waren, die dort erlaubt wurden; und ſo fand denn, bei manchen Ein¬ ſeitigkeiten und Engherzigkeiten der beſondern Staaten, dennoch in Deutſchland, dieſes als ein Ganzes genommen, die hoͤchſte Freiheit der Erforſchung und der Mittheilung ſtatt, die jemals ein Volk beſeſſen; und die hoͤhere Bil¬ dung war und blieb allenthalben der Erfolg275 aus der Wechſelwirkung der Buͤrger aller deut¬ ſchen Staaten, und dieſe hoͤhere Bildung kam denn in dieſer Geſtalt auch allmaͤhlig herab zum groͤßern Volke, das ſomit immer fortfuhr ſich ſelber durch ſich ſelbſt im Großen, und Ganzen zu erziehen. Dieſes weſentliche Un¬ terpfand der Fortdauer einer deutſchen Nation, ſchmaͤlerte, wie geſagt, kein am Ruder der Regierung ſitzendes deutſches Gemuͤth; und wenn auch in Abſicht andrer urſpruͤnglichen Entſcheidungen nicht immer geſchehen ſeyn ſollte, was die hoͤhere deutſche Vaterlandsliebe wuͤnſchen mußte, ſo iſt wenigſtens der Angele¬ genheit deſſelben nicht geradezu entgegen ge¬ handelt worden, man hat nicht geſucht, jene Liebe zu untergraben, ſie auszurotten, und eine entgegengeſezte Liebe an ihre Stelle zu bringen.

Wenn nun aber etwa die urſpruͤngliche Lei¬ tung ſowohl jener hoͤhern Bildung, als der Nationalmacht, die allein fuͤr jene und ihre Fortdauer als Zwek gebraucht werden darf, die Verwendung deutſchen Gutes, und deut¬ ſchen Blutes, aus der Botmaͤßigkeit deutſchenS 2276Gemuͤths in eine andere kommen ſollte, was wuͤrde ſodann nothwendig erfolgen muͤſſen?

Hier iſt der Ort, wo es der in unſrer erſten Rede in Anſpruch genommenen Geneigtheit, ſich uͤber die eignen Angelegenheiten nicht taͤu¬ ſchen zu wollen, und des Muthes, die Wahr¬ heit ſehen zu wollen, und ſie ſich zu geſtehen, vorzuͤglich bedarf; auch iſt es, ſo viel mir be¬ kannt, noch immer erlaubt, in deutſcher Sprache mit einander vom Vaterlande zu re¬ den, wenigſtens zu ſeufzen, und wir wuͤrden, glaube ich, nicht wohl thun, wenn wir aus unſrer eignen Mitte heraus ein ſolches Verbot verfruͤhten, und dem Muthe, der ohne Zwei¬ fel uͤber das Wagniß ſchon vorher mit ſich zu Rathe gegangen ſeyn wird, die Feſſel der Zag¬ haftigkeit Einzelner anlegen wollten.

Mahlen Sie ſich alſo die vorausgeſezte neue Gewalt ſo guͤtig, und ſo wohlwollend vor, als Sie irgend wollen, machen Sie ſie gut, wie Gott; werden Sie ihr auch goͤttlichen Ver¬ ſtand einſetzen koͤnnen? Mag ſie alles Ernſtes das hoͤchſte Gluͤck und Wohlſein aller wollen, wird das hoͤchſte Wohlſeyn, das ſie zu faſſen277 vermag, wohl auch deutſches Wolſeyn ſeyn? So hoffe ich uͤber den Hauptpunkt, den ich Ihnen heute vorgetragen, von Ihnen recht wohl verſtanden worden zu ſeyn, ich hoffe, daß meh¬ rere hiebei gedacht und gefuͤhlt haben: ich druͤkke nur deutlich aus und ſpreche aus mit Worten, wie es ihnen von jeher im Gemuͤthe gelegen; ich hoffe, daß es auch mit den uͤbri¬ gen Deutſchen, die einſt dieſes leſen werden, ſich alſo verhalten werde; auch haben vor mir mehrere Deutſche ohngefaͤhr daſſelbe geſagt; und dem immerfort bezeugten Widerſtreben ge¬ gen eine bloß mechaniſche Einrichtung und Be¬ rechnung des Staats, hat dunkel jene Geſin¬ nung zum Grunde gelegen. Und nun fordre ich alle, die mit der neuen Literatur des Aus¬ landes bekannt ſind, auf, mir nachzuweiſen, welcher neuere Weiſe, Dichter, Geſezgeber der¬ ſelben eine dieſem aͤhnliche Ahndung, die das Menſchengeſchlecht als ein ewig fortſchreiten¬ des betrachte, und alles ſein Regen in der Zeit nur auf dieſen Fortſchritt beziehe, jemals verrathen habe; ob irgend einer, ſelbſt in dem Zeitpunkte, als ſie am kuͤhnſten zu politiſcher278 Schoͤpfung ſich emporſchwangen, mehr, als nur nicht Ungleichheit, inneren Frieden, aͤußern Nationalruhm, und, wo es aufs hoͤchſte getrie¬ ben wurde, haͤusliche Gluͤkſeeligkeit vom Staate gefordert habe? Iſt, wie man aus allen dieſen Anzeigen ſchließen muß, dieſes ihr hoͤchſtes, ſo werden ſie auch uns keine hoͤ¬ heren Beduͤrfniſſe, und keine hoͤheren Forderun¬ gen an das Leben beimeſſen, und, immer jene wohlthaͤtigen Geſinnungen gegen uns und die Abweſenheit alles Eigennutzes, und aller Sucht mehr ſeyn zu wollen denn wir, vorausgeſezt, treflich fuͤr uns geſorgt zu haben glauben, wenn wir alles das finden, was ſie allein als begeh¬ rungswuͤrdig kennen; dasjenige aber, warum der edlere unter uns allein leben mag, iſt ſodann ausgetilgt aus dem oͤffentlichen Leben, und das Volk, das fuͤr die Anregungen des Edleren ſich ſtets empfaͤnglich gezeigt hat, und welches man ſogar nach ſeiner Mehrheit zu jenem Adel em¬ porzuheben hoffen durfte, iſt, ſo wie es behan¬ delt wird, wie jene behandelt ſeyn wollen, her¬ abgeſezt unter ſeinen Rang, entwuͤrdigt, aus¬ getilgt aus der Reihe der Dinge, indem es zu¬ ſammenfließt mit dem von niederer Art.

279

In wem nun jene hoͤheren Anforderungen an das Leben, nebſt dem Gefuͤhle ihres goͤtt¬ lichen Rechts, dennoch lebendig und kraͤftig bleiben, der fuͤhlt mit tiefem Unwillen ſich zu¬ ruͤkgedraͤngt in jene erſten Zeiten des Chriſten¬ thums, zu denen geſagt iſt: Ihr ſollt nicht widerſtreben dem Uebel, ſondern, ſo dir je¬ mand einen Streich giebt auf den rechten Bakken, dem biete den andern auch dar, und ſo jemand deinen Rok nehmen will, dem laß auch den Mantel; mit Recht das lezte, denn ſo lange er noch einen Mantel an dir ſieht, ſucht er einen Handel an dich, um dir auch dieſen zu nehmen, erſt wie du ganz nakkend biſt, entgehſt du ſeiner Aufmerkſamkeit und haſt vor ihm Ruhe. Eben ſein hoͤherer Sinn, der ihn ehrt, macht ihm die Erde zur Hoͤlle, und zum Ekel, er wuͤnſcht, nicht geboren zu ſeyn, er wuͤnſcht, daß ſein Auge je eher je lieber ſich dem Anblicke des Tages verſchließe, unverſiegbare Trauer bis an das Grab erfaßt ſeine Tage; dem, was ihm lieb iſt, kann er keine beſſere Gabe wuͤn¬ ſchen, denn einen dumpfen, und genuͤgſamen Sinn, damit es mit weniger Schmerz einem280 ewigen Leben jenſeits des Grabes entgegen lebe.

Dieſe Vernichtung jeder etwa ins kuͤnftige unter uns ausbrechenden edlern Regung, und dieſe Herunterſetzung unſrer ganzen Nation, durch das einzige, nachdem die andern vergeb¬ lich angewendet worden ſind, noch uͤbrig blei¬ bende Mittel zu verhindern, tragen Ihnen dieſe Reden an. Sie tragen Ihnen an die wahre und allmaͤchtige Vaterlandsliebe, in der Er¬ faſſung unſers Volks als eines ewigen, und als Buͤrgen unſrer eignen Ewigkeit, durch die Erziehung in aller Gemuͤther recht tief, und unausloͤſchlich zu begruͤnden. Welche Erzie¬ hung dies vermoͤge, und auf welche Weiſe, werden wir in den folgenden Reden erſehen.

281

Neunte Rede.

An welchen in der Wirklichkeit vorhande¬ nen Punkt die neue National-Erziehung der Deutſchen anzuknuͤpfen ſey.

Durch unſere lezte Rede ſind mehrere ſchon in der erſten verſprochene Beweiſe gefuͤhrt, und vollendet worden. Es ſey dermalen nur davon die Rede, ſagten wir, und dies ſey die erſte Aufgabe, das Daſeyn und die Fortdauer des Deutſchen ſchlechtweg zu retten; alle andere Unterſchiede ſeyen dem hoͤhern Ueberblicke ver¬ ſchwunden; und es wuͤrde durch jenes den be¬ ſondern Verbindlichkeiten, die etwa jemand zu haben glaube, kein Eintrag geſchehen. Es iſt, wenn uns nur der gemachte Unterſchied zwi¬ ſchen Staat, und Nation gegenwaͤrtig bleibt, klar, daß auch ſchon fruͤher die Angelegenheiten282 dieſer beiden niemals in Widerſtreit gerathen konnten. Die hoͤhere Vaterlandsliebe fuͤr das gemeinſame Volk der deutſchen Nation mußte und ſollte ja ohnedies die oberſte Leitung in jedem beſondern deutſchen Staate fuͤhren; keiner von ihnen durfte ja dieſe hoͤhere Angele¬ genheit aus den Augen verlieren, ohne alles edle und tuͤchtige von ſich abwendig zu machen, und ſo ſeinen eignen Untergang zu beſchleuni¬ gen: je mehr daher jemand von jener hoͤheren Angelegenheit ergriffen, und belebt war, ein deſto beſſerer Buͤrger war er auch fuͤr den be¬ ſondern deutſchen Staat, in den ſein unmittel¬ barer Wirkungskreis fiel. Deutſche Staaten konnten mit deutſchen Staaten in Streit gera¬ then, uͤber beſondere hergebrachte Gerechtſame. Wer die Fortdauer des hergebrachten Zuſtandes wollte, und jeder verſtaͤndige ohne Zweifel mußte um der ferneren Folgen willen dieſe wol¬ len, der mußte wuͤnſchen, daß die gerechte Sache ſiege, in weſſen Haͤnden ſie auch ſeyn moͤchte. Hoͤchſtens haͤtte ein beſonderer deutſcher Staat darauf ausgehen koͤnnen, die ganze deutſche Nation unter ſeiner Regierung zu vereinigen,283 und ſtatt der hergebrachten Voͤlker-Republik Alleinherrſchaft einzufuͤhren. Wenn es wahr iſt, wie ich z. B. es allerdings dafuͤr halte, daß gerade dieſe republikaniſche Verfaſſung bisher die vorzuͤglichſte Quelle deutſcher Bildung, und das erſte Sicherungsmittel ihrer Eigenthuͤm¬ lichkeit geweſen, ſo waͤre, falls die vorausge¬ ſezte Einheit der Regierung nicht etwa ſelbſt die republikaniſche, ſondern die monarchiſche Form getragen haͤtte, in der es dem Gewalt¬ haber doch moͤglich geweſen waͤre, irgend einen Sproß urſpruͤnglicher Bildung uͤber den gan¬ zen deutſchen Boden hinweg fuͤr ſeine Lebens¬ zeit zu zerdruͤcken; wenn dieſes wahr iſt, ſage ich, ſo waͤre in dieſem Falle es allerdings ein großes Mißgeſchik fuͤr die Angelegenheit deut¬ ſcher Vaterlandsliebe geweſen, wenn dieſer Vorſatz gelungen waͤre, und jeder edle uͤber die ganze Oberflaͤche des gemeinſamen Bodens hinweg haͤtte dagegen ſich ſtemmen muͤſſen. Dennoch auch in dieſem ſchlimmſten Falle waͤ¬ ren es doch immer Deutſche geblieben, die uͤber Deutſche regiert, und ihre Angelegenheiten ur¬ ſpruͤnglich geleitet haͤtten, und wenn auch auf284 eine voruͤbergehende Zeit der eigenthuͤmliche deutſche Geiſt vermißt worden waͤre, ſo waͤre doch die Hofnung geblieben, daß er wieder er¬ wachen werde, und jedes kraͤftigere Gemuͤth uͤber den ganzen Boden hinweg haͤtte ſich ver¬ ſprechen koͤnnen, Gehoͤr zu finden, und ſich ver¬ ſtaͤndlich zu machen; es waͤre doch immer eine deutſche Nation im Daſeyn verblieben, und haͤtte ſich ſelbſt regiert, und ſie waͤre nicht un¬ tergegangen in einem andern von niederer Ordnung. Immer bleibt hier das weſentliche in unſerer Berechnung, daß die deutſche Natio¬ nal-Liebe ſelbſt an dem Ruder des deutſchen Staats entweder ſitze, oder doch mit ihrem Einfluſſe dahin gelangen koͤnne. Wenn aber, zufolge unſrer fruͤhern Vorausſetzung, dieſer deutſche Staat, ob er nun als einer oder meh¬ rere erſcheine, thut nichts zur Sache, in der That iſt es dennoch Einer, uͤberhaupt aus deutſcher Leitung in fremde fiele, ſo iſt ſicher, und das Gegentheil davon waͤre gegen alle Natur, und ſchlechterdings unmoͤglich, es iſt ſicher, ſage ich, daß von nun an nicht mehr deutſche Angelegenheit, ſondern eine fremde285 entſcheiden wuͤrde. Wo die geſammte Natio¬ nal-Angelegenheit der Deutſchen bisher ihren Sitz hatte, und dargeſtellt wurde, am Ruder des Staats, da waͤre ſie verwieſen. Soll ſie nun hiemit nicht ganz ausgetilgt ſeyn von der Erde, ſo muß ihr ein anderer Zufluchtsort be¬ reitet werden, und zwar in dem, was allein uͤbrig bleibt, bei den Regierten, in den Buͤr¬ gern. Waͤre ſie aber bei dieſen, und ihrer Mehr¬ heit ſchon, ſo waͤren wir in den Fall, uͤber wel¬ chen wir uns dermals berathſchlagen, gar nicht gekommen; ſie iſt daher nicht bei ihnen, und muß erſt in ſie hineingebracht werden: das heißt mit andern Worten, die Mehrheit der Buͤrger muß zu dieſem vaterlaͤndiſchen Sinne erzogen werden, und, damit man der Mehr¬ heit ſicher ſey, dieſe Erziehung muß an der All¬ heit verſucht werden. Und ſo iſt denn zugleich, unumwunden und klar, der gleichfalls ehemals verſprochene Beweiß gefuͤhrt worden, daß es ſchlechthin nur die Erziehung, und kein ande¬ res moͤgliches Mittel ſey, das die deutſche Selbſtſtaͤndigkeit zu retten vermoͤge; und es waͤre ohne Zweifel nicht unſre Schuld, wenn286 man ſelbſt bis jezt noch nicht den eigentlichen Inhalt, und die Abſicht dieſer unſrer Reden, und den Sinn, in welchem alle unſere Aeuße¬ rungen zu nehmen ſind, zu faſſen vermoͤchte.

Um es noch kuͤrzer zu faſſen: immer unter unſrer Vorausſetzung, ſind den unmuͤndigen ihre vaͤterlichen, und blutsverwandten Vor¬ muͤnder abgegangen, und Herren an ihre Stelle getreten; ſollen jene unmuͤndige nicht gar Sklaven werden, ſo muͤſſen ſie eben der Vormundſchaft entlaſſen, und, damit ſie dieſes koͤnnen, zu allererſt zur Muͤndigkeit erzogen werden. Die deutſche Vaterlandsliebe hat ihren Sitz verloren; ſie ſoll einen andern brei¬ tern, und tiefern erhalten, in welcher ſie in ru¬ higer Verborgenheit ſich begruͤnde und ſtaͤhle, und zu rechter Zeit in jugendlicher Kraft hervor¬ breche, und auch dem Staate die verlorne Selbſtſtaͤndigkeit wieder gebe. Wegen des lez¬ tern koͤnnen nun, ſowohl das Ausland als die kleinlichen und engherzigen Truͤbſeeligkeiten unter uns ſelbſt, in Ruhe verbleiben; man kann zu ihrer aller Troſte ſie verſichern, daß ſie es insgeſammt nicht erleben werden, und daß die287 Zeit, die es erleben wird, anders denken wird, denn ſie.

Ob nun, ſo ſtreng auch die Glieder dieſes Beweiſes an einander ſchließen moͤgen, der¬ ſelbe auch andere ergreifen, und ſie zur Thaͤ¬ tigkeit aufregen werde, haͤngt zu allererſt davon ab, ob es ſo etwas, wie wir deutſche Eigen¬ thuͤmlichkeit, und deutſche Vaterlandsliebe geſchildert haben, uͤberhaupt gebe, und ob dieſe der Erhaltung und des Strebens dafuͤr werth ſey, oder nicht. Daß der auswaͤrtige oder einheimiſche Auslaͤnder dieſe Frage mit Nein beantwortet, verſteht ſich; aber dieſer iſt auch nicht mit zur Berathſchlagung berufen. Uebrigens iſt hiebei anzumerken, daß die Ent¬ ſcheidung uͤber dieſe Frage keinesweges auf einer Beweisfuͤhrung durch Begriffe beruht, welche hierin zwar klar machen, keinesweges aber uͤber wirkliches Daſeyn oder Werth Auskunft zu geben vermoͤgen, ſondern daß die leztern lediglich durch eines jeglichen unmittelbare Erfahrung an ihm ſelber bewaͤhrt werden koͤnnen. In einem ſol¬ chen Falle moͤgen Millionen ſagen: es ſey nicht, ſo kann dadurch niemals mehr geſagt288 ſeyn, denn daß es nur in ihnen nicht ſey, kei¬ nesweges, daß es uͤberhaupt nicht ſey, und wenn ein einziger gegen dieſe Millionen auf¬ tritt und verſichert, daß es ſey, ſo behaͤlt er gegen ſie alle recht. Nichts verhindert, daß, da ich nun gerade rede, ich in dem angegebe¬ nen Falle dieſer einzige ſey, der da verſichert, daß er aus unmittelbarer Erfahrung an ſich ſelbſt wiſſe, daß es ſo etwas, wie deutſche Va¬ terlandsliebe gebe, daß er den unendlichen Werth des Gegenſtandes derſelben kenne, daß dieſe Liebe allein ihn getrieben habe, auf jede Gefahr zu ſagen, was er geſagt hat, und noch ſagen wird, indem uns dermalen gar nichts uͤbrig geblieben iſt, denn das Sagen, und ſo¬ gar dieſes auf alle Weiſe gehemmt und ver¬ kuͤmmert wird. Wer daſſelbe in ſich fuͤhlt, der wird uͤberzeugt werden; wer es nicht fuͤhlt, kann nicht uͤberzeugt werden, denn allein auf jene Vorausſetzung ſtuͤtzt ſich mein Beweis; an ihm habe ich meine Worte verloren, aber wer wollte nicht ſo etwas ſo geringfuͤgiges, als Worte ſind, auf das Spiel ſetzen?

Diejenige beſtimmte Erziehung, von derwir289wir uns die Rettung der deutſchen Nation ver¬ ſprechen, iſt in unſrer zweiten und dritten Rede im allgemeinen beſchrieben worden. Wir haben ſie als eine gaͤnzliche Umſchaffung des Men¬ ſchengeſchlechts bezeichnet, und es wird paſ¬ ſend ſeyn, an dieſe Bezeichnung eine wiederholte Ueberſicht des Ganzen anzuknuͤpfen.

In der Regel galt bisher die Sinnenwelt fuͤr die rechte eigentliche, wahre, und wirklich beſtehende Welt, ſie war die erſte, die dem Zoͤglinge der Erziehung vorgefuͤhrt wurde; von ihr erſt wurde er zum Denken, und zwar meiſt zu einem Denken uͤber dieſe, und im Dienſte derſelben angefuͤhrt. Die neue Erziehung kehrt dieſe Ordnung geradezu um. Ihr iſt nur die Welt, die durch das Denken erfaßt wird, die wahre, und wirklich beſtehende Welt; in dieſe will ſie ihren Zoͤgling, ſogleich wie ſie mit dem¬ ſelben beginnt, einfuͤhren. An dieſe Welt allein will ſie ſeine ganze Liebe, und ſein ganzes Wohlgefallen binden; ſo daß ein Leben allein in dieſer Welt des Geiſtes bei ihm nothwendig entſtehe, und hervorkomme. Bisher lebte in der Mehrheit allein das Fleiſch, die Materie, die Natur; durch die neue Erziehung ſoll inT290der Mehrheit, ja gar bald in der Allheit, allein der Geiſt leben, und dieſelbe treiben; der feſte und gewiſſe Geiſt, von welchem fruͤher, als von der einzigmoͤglichen Grundlage eines wohlein¬ gerichteten Staats geſprochen worden, ſoll im allgemeinen erzeugt werden.

Durch eine ſolche Erziehung wird ohne Zweifel der Zwek, den wir zunaͤchſt uns vor¬ geſezt haben, und von dem unſre Reden aus¬ gegangen ſind, erreicht. Jener zu erzeugende Geiſt fuͤhrt die hoͤhere Vaterlandsliebe, das Erfaſſen ſeines irdiſchen Lebens als eines ewi¬ gen, und des Vaterlandes, als des Traͤgers dieſer Ewigkeit, und, falls er in den Deutſchen aufgebauet wird, die Liebe fuͤr das deutſche Vaterland, als einen ſeiner nothwendigen Be¬ ſtandtheile unmittelbar in ſich ſelber; und aus dieſer Liebe folgt der muthige Vaterlandsver¬ theidiger, und der ruhige und rechtliche Buͤrger von ſelbſt. Es wird durch eine ſolche Erziehung ſogar noch mehr erreicht, als dieſer naͤchſte Zwek; wie das allemal der Fall iſt, wo ein großes Ziel durch ein durchgreifendes Mittel gewollt wird; der ganze Menſch wird nach allen ſeinen Theilen vollendet, in ſich ſelbſt abgerun¬291 det, nach außen zu allen ſeinen Zweken in Zeit und Ewigkeit mit vollkommner Tuͤchtigkeit aus¬ geſtattet. Mit unſrer Geneſung fuͤr Nation und Vaterland hat die geiſtige Natur unſre vollkommene Heilung von allen Uebeln, die uns druͤken, unzertrennlich verknuͤpft.

Mit der ſtumpfen Verwunderung, daß eine ſolche Welt des bloßen Gedankens behauptet, und ſogar als die einzig moͤgliche Welt behaupt¬ tet, dagegen die Sinnenwelt ganz weggewor¬ fen werde, ſo wie mit der Ablaͤugnung der erſtern entweder uͤberhaupt, oder nur der Moͤg¬ lichkeit, daß ſelbſt die Mehrheit des großen Volks in dieſelbe eingefuͤhrt werden koͤnne, haben wir es hier nicht mehr zu thun, ſondern haben dieſelben ſchon fruͤher gaͤnzlich von uns weggewieſen. Wer noch nicht weiß, daß es eine Welt des Gedankens gebe, der mag in¬ deſſen anderwaͤrts durch die vorhandenen Mit¬ tel ſich davon belehren, wir haben hier zu dieſer Belehrung nicht Zeit; wie aber ſogar die Mehrheit des großen Volks zu derſelben emporgehoben werden koͤnne, dies wollen wir eben zeigen.

Indem nun, unſerm eignen wohlbedachtenT 2292Sinne nach, der Gedanke einer ſolchen neuen Erziehung keinesweges als ein bloßes zur Ue¬ bung des Scharfſinns oder der Streitfertigkeit aufgeſtelltes Bild zu betrachten iſt, ſondern der¬ ſelbe vielmehr zur Stunde ausgeuͤbt, und ins Leben eingefuͤhrt werden ſoll, ſo kommt uns zufoͤrderſt zu, anzugeben, an welches in der wirklichen Welt ſchon vorliegende Glied dieſe Ausfuͤhrung ſich anknuͤpfen ſolle.

Wir geben auf dieſe Frage zur Antwort: an den von Johann Heinrich Peſtalozzi er¬ fundenen, vorgeſchlagenen, und unter deſſen Augen ſchon in gluͤklicher Ausuͤbung befind¬ lichen Unterrichtsgang ſoll ſie ſich anſchließen. Wir wollen dieſe unſre Entſcheidung tiefer be¬ gruͤnden und naͤher beſtimmen.

Zufoͤrderſt, wir haben die eignen Schriften des Mannes geleſen, und durchdacht, und aus dieſen unſern Begriff ſeiner Unterrichts - und Erziehungskunſt uns gebildet; gar keine Kunde aber haben wir genommen von dem, was die ge¬ lehrten Neuigkeitsblaͤtter daruͤber berichtet, und gemeint, und uͤber die Meinungen wieder ge¬ meint haben. Wir merken dies darum an, um jedem, der uͤber dieſen Gegenſtand gleich¬293 falls einen Begriff zu haben begehrt, denſelben Weg, und die durchgaͤngige Vermeidung des entgegengeſezten, zu empfehlen. Eben ſo wenig haben wir bis jezt etwas von der wirklichen Ausuͤbung ſehen wollen, keinesweges aus Nichtachtung, ſondern weil wir uns erſt einen feſten und ſichern Begriff von der wahren Ab¬ ſicht des Erfinders, hinter welcher die Aus¬ uͤbung oft zuruͤckbleiben kann, verſchaffen woll¬ ten, aus dieſem Begriffe aber der Begriff von der Ausuͤbung und dem nothwendigen Erfolge, ohne alles Probiren, ſich von ſelbſt ergiebt, und man, nur mit dieſem ausgeſtattet, die Ausuͤbung wahrhaftig verſtehen, und richtig beurtheilen kann. Sollte, wie einige glauben, auch dieſer Unterrichtsgang ſchon hier und da in ein blindes empiriſches Zutappen, und in leere Spielerei, und Schauauslegerei aus¬ geartet ſeyn, ſo iſt meines Erachtens der Grund¬ begriff des Erfinders wenigſtens daran ganz unſchuldig.

Fuͤr dieſen Grundbegriff nun buͤrgt mir zu¬ erſt die Eigenthuͤmlichkeit des Mannes ſelber, wie er dieſe in ſeinen Schriften mit der treu¬ ſten und gemuͤthvollſten Offenheit darlegt. An294 ihm haͤtte ich eben ſo gut, wie an Luther, oder falls es noch andere dieſen gleichende gegeben hat, an irgend einem andern, die Grundzuͤge des deutſchen Gemuͤths darlegen, und den er¬ freuenden Beweis fuͤhren koͤnnen, daß dieſes Gemuͤth in ſeiner ganzen wunderwirkenden Kraft in dem Umkreiſe der deutſchen Zunge noch bis auf dieſen Tag walte. Auch er hat ein muͤhvolles Leben hindurch, im Kampfe mit allen moͤglichen Hinderniſſen, von innen mit eigner hartnaͤkiger Unklarheit und Unbehol¬ fenheit, und ſelbſt hoͤchſt ſpaͤrlich ausgeſtattet mit den gewoͤhnlichſten Huͤlfsmitteln der ge¬ lehrten Erziehung, aͤußerlich mit anhalten¬ der Verkennung, gerungen nach einem bloß geahndeten ihm ſelbſt durchaus unbewu߬ ten Ziele, aufrecht gehalten und getrieben durch einen unverſiegbaren, und allmaͤch¬ tigen und deutſchen Trieb, die Liebe zu dem armen verwahrloſten Volke. Dieſe all¬ maͤchtige Liebe hatte ihn, eben ſo wie Luthern, nur in einer andern und ſeiner Zeit angemeßne¬ ren Beziehung, zu ihrem Werkzeuge gemacht, und war das Leben geworden in ſeinem Leben, ſie war der ihm ſelbſt unbekannte feſte und unwan¬295 delbare Leitfaden dieſes ſeines Lebens, der es hindurchfuͤhrte durch alle ihn umgebende Nacht, und der den Abend deſſelben denn es war unmoͤglich daß eine ſolche Liebe unbelohnt von der Erde abtrete kroͤnte mit ſeiner wahrhaft geiſtigen Erfindung, die weit mehr leiſtete, denn er je mit ſeinen kuͤhnſten Wuͤnſchen be¬ gehrt hatte. Er wollte bloß dem Volke helfen; aber ſeine Erfindung, in ihrer ganzen Ausdeh¬ nung genommen, hebt das Volk, hebt allen Unterſchied zwiſchen dieſem und einem gebilde¬ ten Stande, auf, giebt, ſtatt der geſuchten Volks - Erziehung, National-Erziehung, und haͤtte wohl das Vermoͤgen den Voͤlkern, und dem ganzen Menſchengeſchlechte, aus der Tiefe ſei¬ nes dermaligen Elendes emporzuhelfen.

Dieſer ſein Grundbegriff ſieht in ſeinen Schriften mit vollkommener Klarheit, und un¬ verkennbarer Beſtimmtheit da. Zufoͤrderſt will er in Abſicht der Form nicht die bisherige Will¬ kuͤhr und das blinde Herumtappen, ſondern er will eine feſte und ſicher berechnete Kunſt der Erziehung, wie auch wir es wollen, und wie deutſche Gruͤndlichkeit es nothwendig wollen muß; und er erzaͤhlt ſehr unbefangen, wie296 eine franzoͤſiſche Phraſe, daß er nemlich die Erziehung mechaniſiren wolle, ihm uͤber dieſen ſeinen Zwek aus dem Traume geholfen habe. In Abſicht des Inhalts iſt es der erſte Schritt der von mir beſchriebenen neuen Erziehung, daß ſie die freie Geiſtesthaͤtigkeit des Zoͤglings, ſein Denken, in welchem ſpaͤterhin die Welt ſeiner Liebe ihm aufgehen ſoll, anrege, und bilde; mit dieſem erſten Schritte beſchaͤftigen ſich Peſtalozzis Schriften vorzuͤglich, und auf dieſen Gegenſtand geht unſre Pruͤfung ſeines Grundbegriffs zu allererſt. In dieſer Ruͤkſicht iſt nun deſſelben Tadel des bisherigen Unter¬ richts, daß derſelbe den Schuͤler nur in Nebel und Schatten eingetaucht, und denſelben nie¬ mals zur wirklichen Wahrheit und Realitaͤt habe gelangen laſſen, gleichbedeutend mit dem unſrigen, daß dieſer Unterricht nicht vermocht habe, in das Leben einzugreifen, noch die Wur¬ zel deſſelben zu bilden; und Peſtalozzis dage¬ gen vorgeſchlagenes Huͤlfsmittel, den Zoͤgling in die unmittelbare Anſchauung einzufuͤhren, iſt gleichbedeutend mit dem unſrigen, die Gei¬ ſtesthaͤtigkeit deſſelben zum Entwerfen von Bil¬ dern anzuregen, und nur an dieſem freien297 Bilden ihn lernen zu laſſen, alles, was er lernt: denn nur von dem freientworfenen iſt An¬ ſchauung moͤglich. Daß der Erfinder es wirk¬ lich alſo meint, und keinesweges unter An¬ ſchauung jene blindtappende und betaſtende Wahrnehmung verſteht, beweiſt die nachher angegebene Ausuͤbung. Gleichfalls ganz rich¬ tig wird dieſer Anregung der Anſchauung des Zoͤglings durch die Erziehung das allgemeine, und ſehr tief eingreifende Geſez gegeben, hier¬ in mit dem Anfange und Fortſchritte der zu entwikelnden Kraͤfte des Kindes genau Schritt zu halten.

Dagegen haben die geſammten Mißgriffe dieſes Peſtalozziſchen Unterrichts-Plans in Ausdruͤken und Vorſchlaͤgen die Eine gemein¬ ſchaftliche Quelle, daß der duͤrftige und be¬ grenzte Zwek, auf welchen anfangs ausgegan¬ gen wurde, aͤußerſt vernachlaͤſſigten Kindern aus dem Volke, unter der Vorausſetzung, daß das Ganze bliebe, ſo wie es iſt, die nothduͤrf¬ tigſte Huͤlfe zu leiſten, von einer Seite, und von der andern, das zu einem weit hoͤhern Zweke fuͤhrende Mittel, in Vermengung und Widerſtreit mit einander gerathen; und man298 wird vor allem Irthume geſichert, und erhaͤlt einen mit ſich vollkommen uͤbereinſtimmenden Begriff, wenn man das erſtere, und alles, was aus deſſen Beachtung gefolgt iſt, fallen laͤßt, und ſich bloß an das leztere haͤlt, und es fol¬ gegemaͤß durchfuͤhrt. Ohne Zweifel entſtand lediglich aus dem Wunſche, jene Kinder der aͤußerſten Armuth ſobald als moͤglich aus der Schule zum Broderwerb zu entlaſſen, und den¬ noch ſie mit einem Mittel zu verſehen, wodurch ſie den abgebrochenen Unterricht nachholen koͤnnten, in Peſtalozzis liebendem Gemuͤthe die Ueberſchaͤtzung des Leſens und Schreibens, die Aufſtellung dieſer beinahe als Ziel und Gipfel des Volksunterrichts, ſein unbefangener Glaube an die Ausſage der abgelaufenen Jahrtauſende, daß dieſes die beſten Huͤlfsmittel der Belehrung ſeyen; da er ja außerdem gefunden haben wuͤrde, daß gerade dieſes Leſen und Schreiben bisher die eigentlichen Werkzeuge geweſen, um die Menſchen in Nebel und Schatten einzuhuͤl¬ len, und ſie uͤberklug zu machen: daher auch ruͤhren ohne Zweifel mehrere andere mit ſeinem Grundſatze der unmittelbaren Anſchauung im Widerſpruche ſtehende Vorſchlaͤge, und beſon¬299 ders ſeine durchaus irrige Anſicht der Sprache, als eines Mittels unſer Geſchlecht von dunkler Anſchauung zu deutlichen Begriffen zu erheben. Wir unſres Orts haben nicht von Erziehung des Volks im Gegenſatze hoͤherer Staͤnde ge¬ redet, indem wir Volk in dieſem Sinne, nie¬ dern und gemeinen Poͤbel, gar nicht laͤnger ha¬ ben wollen, noch er fuͤr die deutſchen Natio¬ nalangelegenheiten ferner ertragen werden kann, ſondern wir haben von Nationalerzie¬ hung geredet. Soll es jemals zu dieſer kom¬ men, ſo muß der armſeelige Wunſch, daß die Erziehung doch ja recht bald vollendet ſeyn, und das Kind wieder hinter die Arbeit geſtellt werden moͤge, gar nicht mehr zu Odem kom¬ men, ſondern ſogleich an der Schwelle der Be¬ rathung uͤber dieſe Angelegenheit abgelegt wer¬ den. Zwar wird meines Erachtens dieſe Er¬ ziehung nicht koſtſpielig ſeyn, die Anſtalten werden guten Theils ſich ſelbſt erhalten koͤn¬ nen, und es wird der Arbeit kein Eintrag ge¬ ſchehen; und ich werde meine Gedanken hier¬ uͤber zu ſeiner Zeit darlegen: aber wenn dies auch nicht ſo waͤre, ſo muß unbedingt und auf jede Gefahr der Zoͤgling in der Erziehung ſo300 lange bleiben, bis ſie vollendet iſt, und vollen¬ det ſeyn kann; jene halbe Erziehung iſt um nichts beſſer, denn gar keine; ſie laͤßt es eben beim Alten, und wenn man dies will, ſo er¬ ſpare man ſich lieber auch das Halbe, und er¬ klaͤre gleich von vorn herein geradezu, daß man nicht wolle, daß der Menſchheit geholfen werde. Unter jener Vorausſetzung nun kann in der bloßen National-Erziehung, ſo lange dieſelbe dauert, Leſen und Schreiben zu nichts nuͤtzen, wohl aber kann es ſehr ſchaͤdlich werden, in¬ dem es von der unmittelbaren Anſchauung zum bloßen Zeichen, und von der Aufmerkſamkeit, die da weiß, daß ſie nichts faſſe, wenn ſie es nicht jezt und zur Stelle faßt, zur Zerſtreutheit, die ſich ihres Niederſchreibens troͤſtet, und ir¬ gend einmal vom Papiere lernen will, was ſie wahrſcheinlich nie lernen wird, und uͤberhaupt zu der den Umgang mit Buchſtaben ſo oft be¬ gleitenden Traͤumerei leichtlich verleiten koͤnnte, ſo wie es dieſes auch bisher gethan hat. Erſt am voͤlligen Schluſſe der Erziehung, und als das lezte Geſchenk derſelben mit auf den Weg, koͤnnten dieſe Kuͤnſte mitgetheilt, und der Zoͤg¬ ling geleitet werden durch Zergliederung der301 Sprache, die er ſchon laͤngſt vollkommen be¬ ſizt, die Buchſtaben zu erfinden und zu ge¬ brauchen; welches ihm bei der uͤbrigen Bil¬ dung, die er ſchon erlangt hat, ein Spiel ſeyn wuͤrde.

So in der bloßen, und allgemeinen Na¬ tional-Erziehung. Etwas anderes iſt es mit dem kuͤnftigen Gelehrten. Dieſer ſoll einſt nicht bloß uͤber das allgemeingeltende ſich aus¬ ſprechen, wie es ihm ums Herz iſt, ſondern er ſoll auch in einſamen Nachdenken die verbor¬ gene, und ihm ſelber unbewußte eigenthuͤmliche Tiefe ſeines Gemuͤths in das Licht der Sprache er¬ heben, und er muß darum fruͤher an der Schrift das Werkzeug dieſes einſamen und dennoch lauten Denkens in die Haͤnde bekommen, und bilden lernen; doch wird auch mit ihm weniger zu eilen ſeyn, als es bisher geſchehen. Es wird dies zu ſeiner Zeit bei der Unterſcheidung der bloßen National-Erziehung von der ge¬ lehrten deutlicher erhellen.

In Gemaͤßheit dieſer Anſicht iſt alles, was der Erfinder uͤber Schall und Wort, als Ent¬ wiklungsmittel der geiſtigen Kraft ſpricht, zu berichtigen, und zu beſchraͤnken. In das Ein¬302 zelne zu gehen, erlaubt mir nicht der Plan die¬ ſer Reden. Nur noch die folgende tief in das Ganze greifende Bemerkung. Die Grundlage ſeiner Entwiklung aller Erkenntniß enthaͤlt ſein Buch fuͤr Muͤtter; indem er unter andern gar ſehr auf haͤusliche Erziehung rechnet. Was zufoͤrderſt dieſe, die haͤusliche Erziehung, ſelbſt anbelangt, ſo wollen wir zwar mit ihm keines¬ weges uͤber die Hofnungen, die er ſich von den Muͤttern macht, ſtreiten; was aber unſern hoͤ¬ hern Begriff einer National-Erziehung anbe¬ langt, ſo ſind wir feſt uͤberzeugt, daß dieſe, be¬ ſonders bei den arbeitenden Staͤnden, im Hauſe der Eltern, und uͤberhaupt ohne gaͤnzliche Ab¬ ſonderung der Kinder von ihnen, durchaus weder angefangen, noch fortgeſetzt, oder voll¬ endet werden kann. Der Druk, die Angſt um das taͤgliche Auskommen, die kleinliche Ge¬ nauigkeit, und Gewinnſucht, die ſich hierzu¬ fuͤgt, wuͤrde die Kinder nothwendig anſtecken, herabziehen, und ſie verhindern, einen freien Aufflug in die Welt des Gedankens zu nehmen. Dies iſt auch eine der Vorausſetzungen, die bei der Ausfuͤhrung unſers Plans unbedingt iſt, und auf keine Weiſe zu erlaſſen. Was daraus303 wird, wenn die Menſchheit im Ganzen in jedem folgenden Zeitalter ſich alſo wiederholt, wie ſie im vorhergehenden war, haben wir nun zur Genuͤge erſehen; ſoll eine gaͤnzliche Umbildung mit derſelben vorgenommen werden, ſo muß ſie einmal ganz losgeriſſen werden von ſich ſel¬ ber, und ein trennender Einſchnitt gemacht werden in ihr hergebrachtes Fortleben. Erſt nachdem ein Geſchlecht durch die neue Erziehung hindurch gegangen ſeyn wird, wird ſich berath¬ ſchlagen laſſen, welchen Theil von der National - Erziehung man dem Hauſe anvertrauen wolle. Dies nun abgerechnet, und das Peſtaloz¬ ziſche Buch fuͤr die Muͤtter lediglich als erſte Grundlage des Unterrichts betrachtet, iſt auch der Inhalt deſſelben, der Koͤrper des Kindes, ein vollkommner Mißgriff. Er geht von dem ſehr richtigen Satze aus, der erſte Gegenſtand der Erkenntniß des Kindes muͤſſe das Kind ſelbſt ſeyn, aber iſt denn der Koͤrper des Kindes das Kind ſelbſt? waͤre, wenn es doch ein menſch¬ licher Koͤrper ſeyn ſollte, der Koͤrper der Mut¬ ter ihm nicht weit naͤher, und ſichtbarer? und wie kann doch das Kind eine anſchauliche Er¬ kenntnis von ſeinem Koͤrper bekommen, ohne304 zuerſt gelernt zu haben, denſelben zu gebrau¬ chen? Jene Kenntniß iſt keine Erkenntniß, ſon¬ dern ein bloßes Auswendiglernen von willkuͤhr¬ lichen Wortzeichen, das durch die Ueberſchaͤz¬ zung des Redens herbei gefuͤhrt wird. Die wahre Grundlage des Unterrichts und der Er¬ kenntniß waͤre, um es in der Peſtalozziſchen Sprache zu bezeichnen, ein ABC der Empfin¬ dungen. Wie das Kind anfaͤngt, Sprachtoͤne zu vernehmen, und ſelbſt nothduͤrftig zu bilden, muͤßte es geleitet werden, ſich vollkommen deut¬ lich zu machen, ob es hungere, oder ſchlaͤfrig ſey, ob es die mit dem oder dem Ausdrucke bezeichnete ihm gegenwaͤrtige Empfindung ſehe, oder ob es vielmehr dieſelbe hoͤre, u. ſ. f. oder ob es wohl gar etwas bloß hinzudenke; wie die verſchiedenen durch beſondere Woͤrter bezeich¬ neten Eindruͤcke auf denſelben Sinn, z. B die Farben, die Schalle der verſchiedenen Koͤrper u. ſ. f. verſchieden ſeyen, und in welchen Ab¬ ſtufungen; alles dies in richtiger, und das Em¬ pfindungsvermoͤgen ſelbſt regelmaͤßig entwik¬ kelnder Folge. Hiedurch erhaͤlt das Kind erſt ein Ich, das es im freien, und beſonnenen Begriffe abſondert, und mit demſelben durch¬dringt,305dringt, und gleich bei ſeinem Erwachen ins Le¬ ben wird dem Leben ein geiſtiges Auge einge¬ ſetzt, das von nun an wohl nicht wieder von demſelben laſſen wird. Hiedurch erhalten auch fuͤr die nachfolgenden Uebungen der Anſchau¬ ung die an ſich leeren Formen des Maaßes und der Zahl ihren deutlich erkannten innern Ge¬ halt, der bei der Peſtalozziſchen Verfahrungs¬ weiſe doch nur durch dunklen Hang und Zwang ihnen hinzugeſetzt werden kann. Es kommt in den Peſtalozziſchen Schriften ein in dieſer Ruͤk¬ ſicht merkwuͤrdiges Geſtaͤndniß eines ſeiner Leh¬ rer vor, der in dieſes Verfahren eingeweiht, anfing nur noch ausgeleerte geometriſche Koͤr¬ per zu erblicken. So muͤßte es allen Zoͤglingen dieſes Verfahrens ergehen, wenn nicht unver¬ merkt die geiſtige Natur dagegen ſicherte. Hier auch, bei dieſem deutlichen Erfaſſen deſſen, was eigentlich empfunden wird, iſt der Ort, wo, zwar nicht das Sprachzeichen, aber das Reden ſelbſt, und das Beduͤrfniß ſich fuͤr andere aus¬ zuſprechen, den Menſchen bildet, und ihn aus der Dunkelheit und Verworrenheit zur Klar¬ heit und Beſtimmtheit erhebt. Auf das zuerſt zum Bewußtſeyn erwachende Kind dringen alleU306Eindruͤcke der daſſelbe umgebenden Natur zu¬ gleich ein, und vermiſchen ſich zu einem dum¬ pfen Chaos, in welchem nichts einzelnes aus dem allgemeinen Gewuͤhl hervorſteht. Wie ſoll es jemals herauskommen aus dieſer Dumpf¬ heit? Es bedarf der Huͤlfe anderer; es kann dieſe Huͤlfe auf keine andere Weiſe an ſich brin¬ gen, denn dadurch, daß es ſein Beduͤrfniß be¬ ſtimmt ausſpreche, mit den Unterſcheidungen von aͤhnlichen Beduͤrfniſſen, die ſchon in der Sprache niedergelegt ſind. Es wird genoͤthigt, nach Anleitung jener Unterſcheidungen, mit Zu¬ ruͤckziehung und Sammlung auf ſich zu mer¬ ken, das, was es wirklich fuͤhlt, zu vergleichen, und zu unterſcheiden von anderem, das es wohl auch kennt, aber gegenwaͤrtig nicht fuͤhlt. Hier¬ durch ſondert ſich erſt ab in ihm ein beſonne¬ nes, und freies Ich. Dieſen Weg nun, den Noth, und Natur mit uns anhebt, ſoll die Er¬ ziehung mit beſonnener und freier Kunſt fort¬ ſetzen.

Im Felde der objektiven Erkenntniß, die auf aͤußere Gegenſtaͤnde geht, fuͤgt die Be¬ kanntſchaft mit dem Wortzeichen der Deutlich¬ keit und Beſtimmtheit der innern Erkenntniß307 fuͤr den Erkennenden ſelbſt durchaus nichts hin¬ zu, ſondern ſie erhebt dieſelbe bloß in den voͤl¬ lig verſchiedenen Kreis der Mittheilbarkeit fuͤr andere. Die Klarheit jener Erkenntniß beruht gaͤnzlich auf der Anſchauung, und dasjenige, was man nach Belieben in allen ſeinen Thei¬ len, gerade ſo wie es wirklich iſt, in der Ein¬ bildungskraft wieder erzeugen kann, iſt voll¬ kommen erkannt, ob man nun dazu ein Wort habe, oder nicht. Wir ſind ſogar der Ueberzeu¬ gung, daß jene Vollendung der Anſchauung, der Bekanntſchaft mit dem Wortzeichen, vorausge¬ hen muͤſſe, und daß der umgekehrte Weg gerade in jene Schatten - und Nebel-Welt, und zu dem fruͤhen Maulbrauchen, welche beide Peſtaloz¬ zi'n mit Recht ſo verhaßt ſind, fuͤhre, ja, daß der, der nur je eher je lieber das Wort wiſſen will, und der ſeine Erkenntniſſe fuͤr vermehrt haͤlt, ſo bald er es weiß, eben in jener Nebel¬ welt lebt, und bloß um deren Erweiterung be¬ kuͤmmert iſt. Des Erfinders Denkgebaͤude im Ganzen erfaſſend, glaube ich, daß es gerade dieſes ABC der Empfindung war, was er, als erſte Grundlage der geiſtigen Entwiklung, und als Inhalt ſeines Buchs der Muͤtter, anſtrebte,U 2308und was ihm dunkel, bei allen ſeinen Aeuße¬ rungen uͤber die Sprache, vorſchwebte, und daß allein der Mangel an philoſophiſchen Studien ihn verhinderte, in dieſem Punkte ſich ſelber vollkommen klar zu werden.

Dieſe Entwiklung nun des erkennenden Subjekts ſelbſt, an der Empfindung, vorausge¬ ſezt, und der National-Erziehung, die wir be¬ abſichtigen, als allererſte Grundlage unterge¬ legt, iſt das Peſtalozziſche A B C der Anſchauung, die Lehre von den Zahl - und Maaß-Verhaͤlt¬ niſſen, die vollkommen zwekmaͤßige, und vor¬ trefliche Folge. An dieſe Anſchauung kann ein beliebiger Theil der Sinnenwelt geknuͤpft werden, ſie kann eingefuͤhrt werden in das Ge¬ biet der Mathematik, ſo lange, bis an dieſen Voruͤbungen der Zoͤgling hinlaͤnglich gebildet ſey, um zur Entwerfung einer geſellſchaftlichen Ordnung der Menſchen, und zur Liebe dieſer Ordnung, als dem zweiten und weſentlichen Schritte ſeiner Bildung, angefuͤhrt zu werden.

Noch iſt, gleich beim erſten Theile der Erzie¬ hung ein anderer von Peſtalozzi gleichfalls in Anregung gebrachter Gegenſtand nicht zu uͤber¬ gehen; die Entwiklung der koͤrperlichen Fertig¬309 keit des Zoͤglings, die mit der geiſtigen noth¬ wendig Hand in Hand gehend fortſchreiten muß. Erfordert ein ABC der Kunſt, d.h. des koͤrperlichen Koͤnnens. Seine hervor¬ ſtechendſten Aeußerungen hieruͤber ſind fol¬ gende: Schlagen, Tragen, Werfen, Stoßen, Ziehen, Drehen, Ringen, Schwingen u. ſ. f. ſeien die einfachſten Uebungen der Kraft. Es gebe eine naturgemaͤße Stuffenfolge von den Anfaͤngen in dieſen Uebungen bis zu ihrer vollendeten Kunſt, d.i. bis zum hoͤchſten Grade des Nerventaktes, der Schlag und Stoß, Schwung und Wurf, in hundertfachen Ab¬ wechſelungen ſichere, und Hand und Fuß gewiß mache. Alles kommt hiebei auf die naturgemaͤße Stuffenfolge an, und es reicht nicht hin, daß man mit blinder Willkuͤhr hin¬ eingreife, und irgend eine Uebung einfuͤhre, da¬ mit doch von uns geſagt werden koͤnne, wir haͤtten auch, etwa wie die Griechen, koͤrperliche Erziehung. In dieſer Ruͤckſicht iſt nun noch alles zu thun, denn Peſtalozzi hat kein ABC der Kunſt geliefert. Dieſes muͤßte erſt geliefert werden, und zwar bedarf es dazu eines Man¬ nes, der, in der Anatomie des menſchlichen Koͤrpers, und in der wiſſenſchaftlichen Mecha¬310 nik auf gleiche Weiſe zu Hauſe, mit dieſen Kenntniſſen ein hohes Maaß philoſophiſchen Geiſtes verbaͤnde, und der auf dieſe Weiſe faͤhig waͤre, in allſeitiger Vollendung diejenige Ma¬ ſchine zu finden, zu der der menſchliche Koͤrper angelegt iſt, und anzugeben, wie dieſe Ma¬ ſchine allmaͤhlig, alſo daß jeder Schritt in der einzig moͤglichen richtigen Folge geſchaͤhe, durch jeden alle kuͤnftigen vorbereitet, und erleichtert, und dabei die Geſundheit, und Schoͤnheit des Koͤrpers, und die Kraft des Geiſtes nicht nur nicht gefaͤhrdet, ſondern ſogar geſtaͤrkt und erhoͤht wuͤrde, wie, ſage ich, auf dieſe Weiſe dieſe Maſchine aus jedem geſunden menſchlichen Koͤrper entwikelt werden koͤnne. Die Unerla߬ lichkeit dieſes Beſtandtheils fuͤr eine Erziehung, die den ganzen Menſchen zu bilden verſpricht, und die beſonders fuͤr eine Nation ſich be¬ ſtimmt, welche ihre Selbſtſtaͤndigkeit, wieder her¬ ſtellen, und fernerhin erhalten ſoll, faͤllt ohne weitere Erinnerung in die Augen.

Was fuͤr naͤhere Beſtimmung unſers Be¬ griffs von deutſcher National-Erziehung noch ferner zu ſagen iſt, behalten wir vor der naͤchſt¬ kuͤnftigen Rede.

311

Zehnte Rede.

Zur naͤhern Beſtimmung der deutſchen National-Erziehung.

Die Anfuͤhrung des Zoͤglings, zuerſt ſeine Empfindungen, ſodann ſeine Anſchauungen ſich klar zu machen, mit welcher eine folgegemaͤße Kunſtbildung ſeines Koͤrpers Hand in Hand gehen muß, iſt der erſte Haupttheil der neuen deutſchen National-Erziehung. Was die Bil¬ dung der Anſchauung betrift, haben wir eine zwekmaͤßige Anleitung von Peſtalozzi; die noch ermangelnde zur Bildung des Empfindungs - Vermoͤgens wird derſelbe Mann, und ſeine Mitarbeiter, die zur Loͤſung dieſer Aufgabe zu¬ naͤchſt berufen ſind, leicht geben koͤnnen. Eine Anweiſung zur folgegemaͤßen Ausbildung der koͤrperlichen Kraft fehlt noch: es iſt angegeben, was zu Loͤſung dieſer Aufgabe erfordert werde,312 und es iſt zu hoffen, daß, wenn die Nation Begierde nach dieſer Loͤſung bezeugen ſollte, dieſelbe ſich finden werde. Dieſer ganze Theil der Erziehung iſt nur Mittel und Voruͤbung zu dem zweiten weſentlichen Theile derſelben, der buͤrgerlichen und religioͤſen Erziehung. Was hier¬ uͤber im allgemeinen zu ſagen dermalen Noth thut, iſt in unſrer zweiten, und dritten Rede ſchon beigebracht, und wir haben in dieſer Ruͤkſicht nichts hinzuzuſetzen. Eine beſtimmte Anwei¬ ſung zur Kunſt dieſer Erziehung zu geben iſt, immer wie ſich verſteht in Berathung und Ruͤk¬ ſprache mit der Peſtalozziſchen eigentlichen Er¬ ziehungskunſt die Sache derſelben Philo¬ ſophie, die eine deutſche National-Erziehung uͤberhaupt in Vorſchlag bringt; und dieſe Phi¬ loſophie wird, wenn nur erſt das Beduͤrfniß einer ſolchen Anweiſung durch vollendete Aus¬ uͤbung des erſten Theils eintritt, nicht ſaͤumen, dieſelbe zu liefern. Wie es moͤglich ſeyn werde, daß jedweder Zoͤgling, auch aus dem niedrig¬ ſten Stande gebohren, indem der Stand der Geburt wahrhaftig keinen Unterſchied in den Anlagen macht, den Unterricht uͤber dieſe Ge¬ genſtaͤnde, der allerdings, wenn man ſo will,313 die allertiefſte Metaphyſik enthaͤlt, und die Ausbeute der abgezogenſten Spekulation iſt, und welche zu faſſen dermalen ſogar Ge¬ lehrten und ſelbſt ſpekulirenden Koͤpfen ſo unmoͤglich faͤllt, faſſen, und ſogar leicht faſſen werde; daruͤber ermuͤde man ſich nur vor¬ laͤufig nicht im Hin - und Herzweifeln: wenn man nur in Abſicht der erſten Schritte folgen will, ſo wird dies ſpaͤterhin die Erfahrung leh¬ ren. Nur darum, weil unſre Zeit uͤberhaupt in der Welt der leeren Begriffe gefeſſelt, und an keiner Stelle in die Welt der wahrhaftigen Realitaͤt, und Anſchauung hineingekommen iſt, iſt es ihr nicht anzumuthen, daß ſie gerade bei der allerhoͤchſten und geiſtigſten Anſchauung, und nachdem ſie ſchon uͤber alles Maaß klug iſt, das Anſchauen anfange. Ihr muß die Philoſophie anmuthen ihre bisherige Welt auf¬ zugeben, und eine ganz andere ſich zu verſchaf¬ fen, und es iſt kein Wunder, wenn eine ſolche Anmuthung ohne Erfolg bleibt. Der Zoͤgling unſrer Erziehung aber iſt gleich von Anbeginn an einheimiſch geworden in der Welt der An¬ ſchauung, und hat niemals eine andere geſe¬ hen; er ſoll ſeine Welt nicht veraͤndern, ſon¬314 dern ſie nur ſteigern, und dieſes ergiebt ſich von ſelbſt. Jene Erziehung iſt zugleich, wie wir ſchon oben darauf deuteten, die einzig moͤgliche Erziehung fuͤr Philoſophie, und das einige Mittel, dieſe leztere allgemein zu machen.

Mit dieſer buͤrgerlichen, und religioͤſen Er¬ ziehung nun iſt die Erziehung beſchloſſen, und der Zoͤgling zu entlaſſen, und ſo waͤren wir denn fuͤrs erſte in Abſicht des Inhalts der vorgeſchlagenen Erziehung im Reinen.

Es muͤſſe niemals das Erkenntnißvermoͤgen des Zoͤglings angeregt werden, ohne daß die Liebe fuͤr den erkannten Gegenſtand es zugleich werde, indem außerdem die Erkenntniß todt, und eben ſo niemals die Liebe, ohne daß ſie der Erkenntniß klar werde, indem außerdem die Liebe blind bleibe: iſt einer der Hauptgrund¬ ſaͤtze der von uns vorgeſchlagnen Erziehung, mit welchem auch Peſtalozzi ſeinem ganzen Denk¬ gebaͤude zufolge einverſtanden ſeyn muß. Die Anregung und Entwiklung dieſer Liebe nun knuͤpft ſich an den folgegemaͤßen Lehrgang am Faden der Empfindung, und der Anſchauung, von ſelbſt, und kommt, ohne allen unſern Vor¬ ſatz, oder Zuthun. Das Kind hat einen na¬315 tuͤrlichen Trieb nach Klarheit, und Ordnung; dieſer wird in jenem Lehrgange immerfort be¬ friedigt, und erfuͤllt ſo das Kind mit Freude und Luſt; mitten in der Befriedigung aber wird er, durch die neuen Dunkelheiten, die nun zum Vorſchein kommen, wiederum ange¬ regt, und ſo ferner befriediget, und ſo geht das Leben hin in Liebe, und Luſt am Lernen. Dies iſt die Liebe, wodurch jeder einzelne an die Welt des Gedankens geknuͤpft wird, das Band der Sinnen - und Geiſterwelt uͤberhaupt. Durch dieſe Liebe entſteht, in dieſer Erziehung ſicher und berechnet, ſo wie bisher durch das Ohn¬ gefaͤhr, bei wenigen vorzuͤglich beguͤnſtigten Koͤpfen, die leichte Entwiklung des Erkennt¬ nißvermoͤgens, und die gluͤckliche Bearbeitung der Felder der Wiſſenſchaft.

Noch aber giebt es eine andere Liebe, die¬ jenige, welche den Menſchen an den Menſchen bindet, und alle Einzelne zu einer einigen Ver¬ nunftgemeine der gleichen Geſinnung verbindet. Wie jene die Erkenntniß, ſo bildet dieſe das handelnde Leben, und treibt an, das erkannte in ſich und andern darzuſtellen. Da es fuͤr unſern eigentlichen Zwek wenig helfen wuͤrde,316 bloß die Gelehrten-Erziehung zu verbeſſern, und die von uns beabſichtigte National-Erzie¬ hung zunaͤchſt nicht darauf ausgeht, Gelehrte, ſondern eben Menſchen zu bilden, ſo iſt klar, daß neben jener erſten auch die Entwiklung der zweiten Liebe unerlaͤßliche Pflicht dieſer Er¬ ziehung iſt.

Peſtalozzi redet*)Anſichten, Erfahrungen und Mittel zur Befoͤrderung einer der Menſchen¬ natur angemeſſenen Erziehungsweiſe. Leipzig 1807, bei Graͤff. von dieſem Gegenſtande mit herzerhebender Begeiſterung; dennoch aber muͤſſen wir bekennen, daß alles dieſes uns nicht im mindeſten klar geſchienen hat, und am allerwenigſten ſo klar, daß es einer kunſt¬ maͤßigen Entwiklung jener Liebe zur Grundlage dienen koͤnne. Es iſt darum noͤthig, daß wir unſre eigenen Gedanken zu einer ſolchen Grund¬ lage mittheilen.

Die gewoͤhnliche Annahme, daß der Menſch von Natur ſelbſtſuͤchtig ſey, und auch das Kind mit dieſer Selbſtſucht gebohren werde, und daß es allein die Erziehung ſey, die dem¬317 ſelben eine ſittliche Triebfeder einpflanze, gruͤn¬ det ſich auf eine ſehr oberflaͤchliche Beobach¬ tung, und iſt durchaus falſch. Da aus nichts ſich nicht etwas machen laͤßt, die noch ſo weit fortgeſezte Entwiklung eines Grundtriebes aber ihn doch niemals zu dem Gegentheile von ſich ſelbſt machen kann; wie ſollte doch die Erzie¬ hung vermoͤgen, jemals Sittlichkeit in das Kind hineinzubringen, wenn dieſe nicht urſpruͤng¬ lich, und vor aller Erziehung vorher in dem¬ ſelben waͤre? So iſt ſie es denn auch wirklich, in allen menſchlichen Kindern, die zur Welt ge¬ bohren werden; die Aufgabe iſt bloß die ur¬ ſpruͤnglichſte, und reinſte Geſtalt, in der ſie zum Vorſchein kommt, zu ergruͤnden.

Durchgefuͤhrte Spekulation ſowohl, als die geſammte Beobachtung ſtimmen uͤberein, daß dieſe urſpruͤnglichſte, und reinſte Geſtalt der Trieb nach Achtung ſey, und daß dieſem Triebe erſt das ſittliche, als einzig moͤglicher Gegen¬ ſtand der Achtung, das Rechte, und Gute, die Wahrhaftigkeit, die Kraft der Selbſtbeherr¬ ſchung, in der Erkenntniß aufgehe. Beim Kinde zeigt ſich dieſer Trieb zuerſt als Trieb auch geachtet zu werden, von dem, was ihm318 die hoͤchſte Achtung einſtoͤßt; und es richtet ſich dieſer Trieb, zum ſichern Beweiſe, daß keines¬ weges aus der Selbſtſucht die Liebe ſtamme, in der Regel weit ſtaͤrker, und entſchiedener auf den ernſteren, oͤfter abweſenden, und nicht un¬ mittelbar als Wohlthaͤter erſcheinenden Vater, denn auf die mit ihrer Wohlthaͤtigkeit ſtets gegenwaͤrtige Mutter. Von dieſem will das Kind bemerkt ſeyn, es will ſeinen Beifall ha¬ ben; nur inwiefern dieſer mit ihm zufrieden iſt, iſt es ſelbſt mit ſich zufrieden: dies iſt die natuͤrliche Liebe des Kindes zum Vater; keines¬ weges als zum Pfleger ſeines ſinnlichen Wohl¬ ſeyns, ſondern als zu dem Spiegel, aus wel¬ chem ihm ſein eigner Werth oder Unwerth ent¬ gegenſtralt; an dieſe Liebe kann nun der Va¬ ter ſelbſt ſchweren Gehorſam, und jede Selbſt¬ verlaͤugnung leicht anknuͤpfen; fuͤr den Lohn ſeines herzlichen Beifalls gehorcht es mit Freu¬ den. Wiederum iſt dies die Liebe, die es vom Vater begehrt, daß dieſer bemerke ſein Beſtre¬ ben, gut zu ſeyn, und es anerkenne, daß er ſich merken laſſe, es mache ihm Freude, wenn er bil¬ ligen koͤnne, und thue ihm herzlich wehe, wenn er mißbilligen muͤſſe, er wuͤnſche nichts mehr,319 als immer mit demſelben zufrieden ſeyn zu koͤnnen, und alle ſeine Forderungen an daſſelbe haben nur die Abſicht, das Kind ſelbſt immer beſſer und achtungswuͤrdiger zu machen; deren Anblik wiederum die Liebe des Kindes fort¬ dauernd belebt, und verſtaͤrkt, und ihm zu allen ſeinen fernern Beſtrebungen neue Kraft giebt. Dagegen wird dieſe Liebe ertoͤdtet durch Nicht¬ beachtung, oder anhaltendes unbilliges Verken¬ nen, ganz beſonders aber erzeugt ſogar Haß, wenn man in der Behandlung deſſelben Eigen¬ nuͤzigkeit blicken laͤßt, und z. B. einen durch die Unvorſichtigkeit deſſelben verurſachten Ver¬ luſt als ein Hauptverbrechen behandelt. Es ſieht ſich ſodann als ein bloßes Werkzeug be¬ trachtet, und dies empoͤrt ſein zwar dunkles, aber dennoch nicht abweſendes Gefuͤhl, daß es durch ſich ſelbſt einen Werth haben muͤſſe.

Um dies an einem Beiſpiele zu belegen. Was iſt es doch, daß dem Schmerze der Zuͤch¬ tigung beim Kinde noch die Schaam hinzufuͤgt, und was iſt dieſe Schaam? Offenbar iſt ſie das Gefuͤhl der Selbſtverachtung, die es ſich zufuͤgen muß, da ihm das Mißfallen ſeiner Eltern, und Erzieher bezeugt wird. Daher320 denn auch in einem Zuſammenhange, wo die Beſtrafung von keiner Schaam begleitet wird, es mit der Erziehung zu Ende iſt, und die Be¬ ſtrafung erſcheint als eine Gewaltthaͤtigkeit, uͤber die der Zoͤgling mit hohem Sinne ſich hin¬ wegſezt, und ihrer ſpottet.

Dies alſo iſt das Band, was die Menſchen zur Einheit des Sinnes verknuͤpft, und deſſen Entwiklung ein Hauptbeſtandtheil der Erzie¬ hung zum Menſchen iſt, keinesweges ſinnliche Liebe, ſondern Trieb zu gegenſeitiger Achtung. Dieſer Trieb geſtaltet ſich auf eine doppelte Weiſe: im Kinde, ausgehend von unbedingter Achtung fuͤr die erwachſene Menſchheit außer ſich, zu dem Triebe, von dieſer geachtet zu werden, und an ihrer wirklichen Achtung, als ſeinem Maaßſtabe, abzunehmen, inwiefern es auch ſelbſt ſich achten duͤrfe. Dieſes ſich Ver¬ trauen auf einen fremden, und außer uns be¬ findlichen Maaßſtab der Selbſtachtung iſt auch der eigenthuͤmliche Grundzug der Kindheit, und Unmuͤndigkeit, auf deſſen Vorhandenſeyn ganz allein die Moͤglichkeit aller Belehrung, und aller Erziehung der nachwachſenden Jugend zu vollendeten Menſchen ſich gruͤndet. Der321 muͤndige Menſch hat den Maaßſtab ſeiner Selbſtſchaͤtzung in ihm ſelber, und will von andern geachtet ſeyn, nur inwiefern ſie ſelbſt erſt ſeiner Achtung ſich wuͤrdig gemacht haben; und bei ihm nimmt dieſer Trieb die Geſtalt des Verlangens an, andere achten zu koͤnnen, und achtungswuͤrdiges außer ſich hervorzubringen. Wenn es nicht einen ſolchen Grundtrieb im Menſchen gaͤbe, woher kaͤme doch die Erſchei¬ nung, daß es dem auch nur ertraͤglich guten Menſchen wehe thut, die Menſchen ſchlechter zu finden, als er ſie ſich dachte, und daß es ihn tief ſchmerzt, ſie verachten zu muͤſſen; da es ja der Selbſtſucht im Gegentheile wohl thun muͤßte, uͤber andere ſich hochmuͤthig erheben zu koͤnnen? Dieſen lezten Grundzug der Muͤn¬ digkeit nun ſoll der Erzieher darſtellen, ſo wie auf den erſten bei dem Zoͤglinge ſicher zu rech¬ nen iſt. Der Zweck der Erziehung in dieſer Ruͤkſicht iſt es eben, die Muͤndigkeit, in dem von uns angegebenen Sinne, hervorzubringen, und nur, nachdem dieſer Zwek erreicht iſt, iſt die Erziehung wirklich vollendet, und zu Ende ge¬ bracht. Bisher ſind viele Menſchen ihr gan¬ zes Leben hindurch Kinder geblieben; diejeni¬X322gen, welche zu ihrer Zufriedenheit des Beifalls der Umgebung bedurften, und nichts rechtes geleiſtet zu haben glaubten, als wenn ſie dieſer gefielen. Ihnen hat man entgegengeſezt, als ſtarke und kraͤftige Charaktere, die wenigen, die uͤber fremdes Urtheil ſich zu erheben, und ſich ſelbſt zu genuͤgen vermochten, und hat dieſe in der Regel gehaßt, indeß man jene zwar nicht achtete, aber dennoch ſie liebenswuͤrdig fand.

Die Grundlage aller ſittlichen Erziehung iſt es, daß man wiſſe, es ſey ein ſolcher Trieb im Kinde, und ihn feſtiglich vorausſetze, ſo¬ dann, daß man ihn in ſeiner Erſcheinung er¬ kenne, und ihn durch zwekmaͤßige Aufregung, und durch Darreichung eines Stoffs, woran er ſich befriedige, allmaͤhlich immer mehr entwikle. Die allererſte Regel, daß man ihn auf den ihm allein angemeſſenen Gegenſtand richte, auf das ſittliche, keinesweges aber etwa in einem ihm fremdartigen Stoffe ihn abfinde. Das Lernen z. B. fuͤhrt ſeinen Reiz, und ſeine Belohnung in ſich ſelber; hoͤchſtens koͤnnte angeſtrengter Fleiß, als eine Uebung der Selbſtuͤberwindung, Bei¬ fall verdienen; aber dieſer freie, und uͤber die323 Forderung hinaus gehende Fleiß wird wenig¬ ſtens in der bloßen, allgemeinen National-Er¬ ziehung kaum eine Stelle finden. Daß da¬ her der Zoͤgling lerne, was er ſoll, muß be¬ trachtet werden, als etwas, das ſich eben von ſelbſt verſteht, und wovon nicht weiter geredet wird; ſelbſt das ſchnellere, und beſſere Lernen des faͤhigern Kopfs muß betrachtet werden eben als ein bloßes Naturereigniß, das ihm ſelber zu keinem Lobe oder Auszeichnung dient, am allerwenigſten aber andere Maͤngel verdekt. Nur im ſittlichen ſoll dieſem Triebe ſein Wir¬ kungskreis angewieſen werden; aber die Wur¬ zel aller Sittlichkeit iſt die Selbſtbeherrſchung, die Selbſtuͤberwindung, die Unterordnung ſei¬ ner ſelbſtſuͤchtigen Triebe unter den Begriff des Ganzen. Nur durch dieſe, und ſchlechthin durch nichts anderes, ſey es dem Zoͤglinge moͤglich, den Beifall des Erziehers zu erhalten, deſſen fuͤr ſeine eigne Zufriedenheit zu beduͤr¬ fen er von ſeiner geiſtigen Natur angewieſen, und durch die Erziehung gewoͤhnt iſt. Es giebt, wie wir ſchon in unſrer zweiten Rede er¬ innert haben, zwei ſehr verſchiedene Weiſen jener Unterordnung des perſoͤnlichen Selbſt un¬X 2324ter das Ganze. Zufoͤrderſt diejenige, die ſchlechthin ſeyn muß, und keinem in keinem Stuͤcke erlaſſen werden kann, die Unterwerfung unter das, um der bloßen Ordnung des Gan¬ zen willen entworfene, Geſez der Verfaſſung. Wer gegen dieſes ſich nicht vergeht, den trift nur nicht Mißfallen, keinesweges aber wird ihm Beifall zu Theil; ſo wie den, der ſich dagegen verginge, wirkliches Mißfallen und Tadel treffen wuͤrde, der, da wo oͤffentlich ge¬ fehlt worden, auch oͤffentlich ergehen muͤßte, und, wo er fruchtlos bliebe, ſogar durch hin¬ zugefuͤgte Strafe geſchaͤrft werden koͤnnte. Sodann giebt es eine Unterordnung des Ein¬ zelnen unter das Ganze, die nicht gefordert, ſondern nur freiwillig geleiſtet werden kann: daß man durch eigne Aufopferung den Wohl¬ ſtand deſſelben ſteigere, und vermehre. Um das Verhaͤltniß der bloßen Geſezmaͤßigkeit, und dieſer hoͤhern Tugend, zu einander den Zoͤglin¬ gen gleich von Jugend auf recht einzupraͤgen, wird es zwekmaͤßig ſeyn, nur demjenigen, ge¬ gen den einen gewiſſen Zeitraum hindurch in der erſten Ruͤkſicht keine Klage geweſen, ſolche freiwillige Aufopferungen, gleichſam als den325 Lohn der Geſezmaͤßigkeit, zu geſtatten, dem aber, der in Regelmaͤßigkeit und Ordnung ſeiner ſelbſt noch nicht ganz ſicher iſt, die Erlaubniß dazu zu verſagen. Die Gegenſtaͤnde ſolcher freiwilligen Leiſtungen ſind im allgemeinen ſchon oben angezeigt, und werden tiefer unten ſich noch naͤher ergeben. Dieſer Art der Auf¬ opferung werde zu Theil thaͤtige Billigung, wirkliche Anerkennung ihrer Verdienſtlichkeit, keinesweges zwar oͤffentlich, als Lob, was das Gemuͤth verderben, und eitel machen, und es von der Selbſtſtaͤndigkeit ableiten koͤnnte, ſon¬ dern in geheim und mit dem Zoͤglinge allein. Dieſe Anerkennung ſoll nichts mehr ſeyn, als das eigne, dem Zoͤglinge auch aͤußerlich darge¬ ſtellte, gute Gewiſſen deſſelben, und die Beſtaͤ¬ tigung ſeiner Zufriedenheit mit ſich ſelbſt, ſei¬ ner Selbſtachtung, und die Ermunterung, ſich auch ferner zu vertrauen. Die hiebei beabſich¬ tigten Vortheile wuͤrde folgende Einrichtung vortreflich befoͤrdern. Wo mehrere Erzieher und Erzieherinnen ſind, wie wir denn dies als die Regel vorausſetzen, da waͤhle jedes Kind, frei, und ſo wie ſein Vertrauen und ſein Gefuͤhl daſſelbe treibt, einen darunter zum beſondern326 Freunde, und gleichſam Gewiſſens-Rathe. Bei dieſem ſuche es Rath, in allen Faͤllen, wo es ihm ſchwer wird, recht zu thun; er helfe ihm durch freundliche Zuſprache nach; er ſey der Vertraute der freiwilligen Leiſtungen, die es uͤbernimmt; und er ſey endlich derjenige, der das trefliche mit ſeinem Beifalle kroͤnt. In den Perſonen dieſer Gewiſſensraͤthe nun muͤßte die Erziehung, jedem einzelnen nach ſeiner Weiſe, folgegemaͤß zu immer groͤßerer Staͤrke in der Selbſtuͤberwindung, und Selbſtbeherr¬ ſchung, emporhelfen; und ſo wird allmaͤhlig Feſtigkeit, und Selbſtſtaͤndigkeit entſtehen, durch deren Erzeugung die Erziehung ſich ſelbſt abſchließt, und fuͤr die Zukunft aufhebt. Durch eignes Thun und Handeln ſchließt ſich uns am klaͤrſten der Umfang der ſittlichen Welt auf, und wem ſie alſo aufgegangen iſt, dem iſt ſie wahrhaftig aufgegangen. Ein ſolcher weiß nun ſelbſt, was in ihr enthalten iſt, und be¬ darf keines fremden Zeugniſſes mehr uͤber ſich, ſondern vermag es, ſelbſt ein richtiges Ge¬ richt uͤber ſich zu halten, und iſt von nun an muͤndig.

Wir haben durch das ſo eben geſagte, eine327 Luͤcke, die in unſerm bisherigen Vortrage blieb, geſchloſſen, und unſern Vorſchlag erſt wahr¬ haftig ausfuͤhrbar gemacht. Das Wohlgefal¬ len am Rechten und Guten um ſein ſelbſt wil¬ len, ſoll durch die neue Erziehung an die Stelle der bisher gebrauchten ſinnlichen Hofnung oder Furcht geſezt werden, und dieſes Wohlgefallen ſoll, als einzig vorhandene Triebfeder, alles kuͤnftige Leben in Bewegung ſetzen: Dies iſt die Hauptſache unſers Vorſchlags. Die erſte hie¬ bei ſich aufdringende Frage iſt: aber, wie ſoll denn nun jenes Wohlgefallen ſelbſt erzeugt wer¬ den? Erzeugt werden, im eigentlichen Sinne des Worts, kann es nun wohl nicht; denn der Menſch vermag nicht aus Nichts Etwas zu machen. Es muß, wenn unſer Vorſchlag irgend ausfuͤhrbar ſeyn ſoll, dieſes Wohlgefallen ur¬ ſpruͤnglich vorhanden ſeyn, und ſchlechthin in allen Menſchen ohne Ausnahme vorhanden ſeyn, und ihnen angebohren werden. So ver¬ haͤlt es ſich denn auch wirklich. Das Kind ohne alle Ausnahme will recht, und gut ſeyn, keinesweges will es, ſo wie ein junges Thier, bloß wohl ſeyn. Die Liebe iſt der Grundbe¬ ſtandtheil des Menſchen; dieſe iſt da, ſo wie328 der Menſch da iſt, ganz und vollendet, und es kann ihr nichts hinzugefuͤgt werden; denn dieſe liegt hinaus uͤber die fortwachſende Er¬ ſcheinung des ſinnlichen Lebens, und iſt unabhaͤn¬ gig von ihm. Nur die Erkenntniß iſt es, woran ſich dieſes ſinnliche Leben knuͤpft, und welche mit demſelben entſteht, und fortwaͤchſt. Dieſe entwikelt ſich nur langſam, und allmaͤhlig, im Fortlaufe der Zeit. Wie ſoll nun, ſo lange, bis ein geordnetes Ganzes von Begriffen des Rechten und Guten entſtehe, an welches das treibende Wohlgefallen ſich knuͤpfen koͤnne, jene angebohrne Liebe uͤber die Zeiten der Unwiſſen¬ heit hinwegkommen, ſich entwikeln, und uͤben? Die vernuͤnftige Natur hat ohne alles unſer Zuthun der Schwierigkeit abgeholfen. Das dem Kinde in ſeinem Innern abgehende Be¬ wußtſeyn ſtellt ſich ihm aͤußerlich und verkoͤr¬ pert dar an dem Urtheile der erwachſenen Welt. Bis in ihm ſelbſt ein verſtaͤndiger Richter ſich entwikle, wird es durch einen Naturtrieb an dieſe verwieſen, und ſo ihm ein Gewiſſen außer ihm gegeben, bis in ihm ſelber ſich eins erzeuge. Dieſe bis jetzt wenig bekannte Wahr¬ heit ſoll die neue Erziehung anerkennen, und329 ſie ſoll die ohne ihr Zuthun vorhandene Liebe auf das Rechte leiten. Bis jezt iſt in der Re¬ gel dieſe Unbefangenheit und dieſe kindliche Glaͤubigkeit der Unmuͤndigen an die hoͤhere Vollkommenheit der Erwachſenen zum Verder¬ ben derſelben gebraucht worden; ihre Unſchuld gerade, und ihr natuͤrlicher Glauben an uns, machte es uns moͤglich, ihnen ſtatt des Guten, das ſie innerlich wollten, unſer Verderbniß, das ſie verabſcheut haben wuͤrden, wenn ſie es zu erkennen vermocht haͤtten, einzupflanzen, noch ehe ſie Gutes, und Boͤſes unterſcheiden konnten.

Dies iſt eben die allergroͤßte Vergehung, die unſrer Zeit zur Laſt faͤllt; und es wird hier¬ durch auch die taͤglich ſich darbietende Erſchei¬ nung erklaͤrt, daß in der Regel der Menſch um ſo ſchlechter, ſelbſtſuͤchtiger, fuͤr alle guten Re¬ gungen erſtorbener, und zu jedem rechten Werke untauglicher wird, je mehrere Jahre er zaͤhlt, und um je weiter daher er ſich von den erſten Tagen ſeiner Unſchuld, die fuͤrs erſte noch im¬ mer in einigen Ahnungen des Guten leiſe nach¬ klingen, entfernt hat; es wird dadurch ferner bewieſen, daß das gegenwaͤrtige Geſchlecht,330 wenn es nicht einen durchaus trennenden Ab¬ ſchnitt in ſein Fortleben macht, eine noch ver¬ dorbnere Nachkommenſchaft, und dieſe eine abermals verdorbnere, nothwendig hinterlaſſen werde. Von ſolchen ſagt ein verehrungswuͤr¬ diger Lehrer des Menſchengeſchlechts mit tref¬ fender Wahrheit, daß es beſſer ſey, wenn ihnen bei Zeiten ein Muͤhlſtein an den Hals ge¬ haͤngt wuͤrde, und ſie erſaͤuft wuͤrden im Meere, da wo es am tiefſten iſt. Es iſt eine abge¬ ſchmakte Verlaͤumdung der menſchlichen Natur, daß der Menſch als Suͤnder gebohren werde; waͤre dies wahr, wie koͤnnte doch jemals an ihn auch nur ein Begriff von Suͤnde kommen, der ja nur im Gegenſatze mit einer Nichtſuͤnde moͤglich iſt? Er lebt ſich zum Suͤnder; und das bisherige menſchliche Leben war in der Re¬ gel eine im ſteigenden Fortſchritte begriffene Entwiklung der Suͤndhaftigkeit.

Das Geſagte zeigt in einem neuen Lichte die Nothwendigkeit, ohne Verzug Anſtalt zu einer wirklichen Erziehung zu machen. Koͤnnte nur die nachwachſende Jugend ohne alle Be¬ ruͤhrung mit den Erwachſenen und voͤllig ohne Erziehung aufwachſen, ſo moͤchte man ja im¬331 mer den Verſuch machen, was ſich hieraus er¬ geben wuͤrde. Aber, wenn wir ſie auch nur in unſrer Geſellſchaft laſſen, macht ihre Erzie¬ hung, ohne allen unſern Wunſch oder Willen, ſich von ſelbſt; ſie ſelbſt erziehen ſich an uns: unſre Weiſe zu ſeyn dringt ſich ihnen auf, als ihr Muſter, ſie eifern uns nach, auch ohne daß wir es verlangen, und ſie begehren nichts anderes, denn alſo zu werden, wie wir ſind. Nun aber ſind wir in der Regel und nach der großen Mehrheit genommen, durchaus verkehrt, theils ohne es zu wiſſen, und indem wir ſelbſt, eben ſo unbefangen wie unſre Kinder, unſere Verkehrtheit fuͤr das rechte halten; oder, wenn wir es auch wuͤßten, wie vermoͤchten wir doch in der Geſellſchaft unſrer Kinder ploͤzlich das, was ein langes Leben uns zur zweiten Natur gemacht hat, abzulegen, und unſern ganzen alten Sinn und Geiſt mit einem neuen zu ver¬ tauſchen? In der Beruͤhrung mit uns muͤſſen ſie verderben, dies iſt unvermeidlich; haben wir einen Funken Liebe fuͤr ſie, ſo muͤſſen wir ſie entfernen aus unſerm verpeſtenden Dunſt¬ kreiſe, und einen reinern Aufenthalt fuͤr ſie er¬ richten. Wir muͤſſen ſie in die Geſellſchaft von332 Maͤnnern bringen, welche, wie es auch uͤbri¬ gens um ſie ſtehen moͤge, dennoch durch anhal¬ tende Uebung, und Gewoͤhnung wenigſtens die Fertigkeit ſich erworben haben, ſich zu beſinnen, daß Kinder ſie beobachten, und das Vermoͤgen, wenigſtens ſo lange ſich zuſammenzunehmen, und die Kenntniß, wie man vor Kindern er¬ ſcheinen muß; wir muͤſſen aus dieſer Geſell¬ ſchaft in die unſrige ſie nicht eher wieder zuruͤk¬ laſſen, bis ſie unſer ganzes Verderben gehoͤrig verabſcheuen gelernt haben, und vor aller An¬ ſtekung dadurch voͤllig geſichert ſind.

So viel haben wir uͤber die Erziehung zur Sittlichkeit im allgemeinen hier beizubringen fuͤr noͤthig erachtet.

Daß die Kinder in gaͤnzlicher Abſonderung von den Erwachſenen mit ihren Lehrern und Vorſtehern allein zuſammenleben ſollen, iſt mehrmals erinnert. Es verſteht ſich ohne un¬ ſer beſonderes Bemerken, daß beiden Geſchlech¬ tern dieſe Erziehung auf dieſelbe Weiſe zu Theil werden muͤſſe. Eine Abſonderung dieſer Ge¬ ſchlechter in beſondere Anſtalten fuͤr Knaben, und Maͤdchen, wuͤrde zwekwidrig ſeyn, und mehrere Hauptſtuͤke der Erziehung zum voll¬333 kommnen Menſchen aufheben. Die Gegen¬ ſtaͤnde des Unterrichts ſind fuͤr beide Geſchlech¬ ter gleich; der in den Arbeiten ſtatt findende Unterſchied kann, auch bei Gemeinſchaftlichkeit der uͤbrigen Erziehung, leicht beobachtet werden. Die kleinere Geſellſchaft, in der ſie zu Menſchen gebildet werden, muß, eben ſo wie die groͤßere, in die ſie einſt als vollendete Menſchen eintreten ſollen, aus einer Vereinigung beider Geſchlechter beſtehen; beide muͤſſen erſt gegenſeitig in ein¬ ander die gemeinſame Menſchheit anerkennen, und lieben lernen, und Freunde haben, und Freundinnen, ehe ſich ihre Aufmerkſamkeit auf den Geſchlechtsunterſchied richtet, und ſie Gat¬ ten, und Gattinnen werden. Auch muß das Verhaͤltniß der beiden Geſchlechter zu einander im Ganzen, ſtarkmuͤthiger Schutz von der einen, liebevoller Beiſtand von der andern Seite, in der Erziehungsanſtalt dargeſtellt, und in den Zoͤglingen gebildet werden.

Wenn es zur Ausfuͤhrung unſers Vorſchlags kommen ſollte, wuͤrde das erſte Geſchaͤft ſeyn, ein Geſez fuͤr die innere Verfaſſung dieſer Erziehungsanſtalten zu entwerfen. Wenn der von uns aufgeſtellte Grundbegriff nur gehoͤrig334 durchdrungen iſt, ſo iſt dies eine ſehr leichte Arbeit, und wir wollen uns hier dabei nicht aufhalten.

Ein Haupt Erforderniß dieſer neuen Natio¬ nal-Erziehung iſt es, daß in ihr Lernen, und Ar¬ beiten vereinigt ſey, daß die Anſtalt durch ſich ſelbſt ſich zu erhalten den Zoͤglingen wenigſtens ſcheine, und daß jeder in dem Bewußtſeyn erhal¬ ten werde, zu dieſem Zweke nach aller ſeiner Kraft beizutragen. Dies wird, durchaus noch ohne alle Beziehung auf den Zwek der aͤußern Aus¬ fuͤhrbarkeit, und der Sparſamkeit hiebei, die man unſerm Vorſchlage ohne Zweifel anmu¬ then wird, ſchon unmittelbar durch die Auf¬ gabe der Erziehung ſelbſt gefordert; theils darum, weil alle, die bloß durch die allgemeine National-Erziehung hindurch gehen, zu den ar¬ beitenden Staͤnden beſtimmt ſind, und zu deren Erziehung die Bildung zum tuͤchtigen Arbeiter ohne Zweifel gehoͤrt; beſonders aber darum, weil das gegruͤndete Vertrauen, daß man ſich ſtets durch eigne Kraft werde durch die Welt bringen koͤnnen, und fuͤr ſeinen Unterhalt kei¬ ner fremden Wohlthaͤtigkeit beduͤrfe, zur per¬ ſoͤnlichen Selbſtſtaͤndigkeit des Menſchen ge¬335 hoͤrt, und die ſittliche, weit mehr als man bis jetzt zu glauben ſcheint, bedingt. Dieſe Bil¬ dung wuͤrde einen andern, bis jetzt auch in der Regel dem blinden Ohngefaͤhr Preis gegebenen Theil der Erziehung abgeben, den man die wirthſchaftliche Erziehung nennen koͤnnte, und der keinesweges aus der duͤrftigen, und be¬ ſchraͤnkten Anſicht, uͤber welche einige unter Benennung der Oekonomie ſpotten, ſondern aus dem hoͤhern ſittlichen Standpunkte ange¬ ſehen werden muß. Unſere Zeit ſtellt es oft als einen uͤber alle Gegenrede erhabenen Grund¬ ſatz auf, daß man eben ſchmeicheln, kriechen, ſich zu allem gebrauchen laſſen muͤſſe, wenn man leben wolle, und daß es auf keine andere Weiſe angehe. Sie beſinnt ſich nicht, daß, wenn man ſie auch mit dem heroiſchen, aber durchaus wahren Gegenſpruche verſchonen wollte, daß wenn es ſo iſt, ſie eben nicht leben, ſondern ſterben ſolle, noch die Bemerkung uͤbrig bleibt, daß ſie haͤtte lernen ſollen, mit Eh¬ ren leben zu koͤnnen. Man erkundige ſich nur naͤher nach den Perſonen, die durch ehrloſes Betragen ſich auszeichnen; immer wird man finden, daß ſie nicht arbeiten gelernt haben,336 oder die Arbeit ſcheuen, und daß ſie noch uͤber¬ dies uͤble Wirthſchafter ſind. Darum ſoll der Zoͤgling unſrer Erziehung an Arbeitſamkeit ge¬ woͤhnt werden, damit er der Verſuchung zur Unrechtlichkeit durch Nahrungsſorgen uͤberho¬ ben ſey, und tief, und als allererſter Grundſatz der Ehre, ſoll es in ſein Gemuͤth gepraͤgt wer¬ den, daß es ſchaͤndlich ſey, ſeinen Lebensunter¬ halt einem andern, denn ſeiner Arbeit ver¬ danken zu wollen.

Peſtalozzi will waͤhrend des Lernens zugleich allerlei Handarbeiten treiben laſſen. Indem wir die Moͤglichkeit dieſer Vereinigung unter der von ihm angegebenen Bedingung, daß das Kind die Handarbeit ſchon vollkommen fertig koͤnne, nicht leugnen wollen, ſcheint uns den¬ noch dieſer Vorſchlag aus der Duͤrftigkeit des erſten Zweks hervorzugehen. Der Unterricht muß meines Erachtens, als ſo heilig und ehrwuͤrdig dargeſtellt werden, daß er der ganzen Aufmerkſamkeit und Sammlung beduͤrfe, und nicht neben einem andern Geſchaͤfte empfangen werden koͤnne. Sollen in Jahreszeiten, welche die Zoͤglinge ohnedies ins Zimmer einſchließen, in den Arbeitsſtunden dergleichen Arbeiten, alsda337da iſt Stricken, Spinnen u. dergl. getrieben werden, ſo wird es, damit der Geiſt in Thaͤ¬ tigkeit bleibe, ſehr zwekmaͤßig ſeyn, gemein¬ ſchaftliche Geiſtesuͤbungen unter Aufſicht damit zu verknuͤpfen; dennoch iſt jetzt die Arbeit die Hauptſache, und dieſe Uebungen ſind nicht zu betrachten als Unterricht, ſondern bloß als ein erheiterndes Spiel.

Alle Arbeiten dieſer niedern Art muͤſſen uͤberhaupt nur als Nebenſache, keinesweges als die Hauptarbeit, vorgeſtellt werden. Dieſe Hauptarbeit iſt die Ausuͤbung des Acker - und Gartenbau's, der Viehzucht, und derjenigen Handwerke, deren ſie in ihrem kleinen Staate beduͤrfen. Es verſteht ſich, daß der Antheil hieran, der einem zugemuthet wird, mit der koͤrperlichen Kraft ſeines Alters in Gleichge¬ wicht zu bringen, und die abgehende Kraft durch neu zu erfindende Maſchinen, und Werk¬ zeuge zu erſetzen iſt. Die Hauptruͤkſicht hiebei iſt die, daß ſie, ſo weit moͤglich, in ſeinen Gruͤnden verſtehen muͤſſen, was ſie treiben, daß ſie die zu ihren Geſchaͤften noͤthigen Kennt¬ niſſe von der Erzeugung der Pflanzen, von den Eigenſchaften, und Beduͤrfniſſen des thieriſchenY338Koͤrpers, von den Geſetzen der Mechanik, ſchon erhalten haben. Auf dieſe Art wird theils ihre Erziehung ſchon ein folgegemaͤßer Unterricht uͤber die Gewerbe, die ſie kuͤnftig zu treiben haben, und es wird der denkende und verſtaͤn¬ dige Landwirth in unmittelbarer Anſchauung gebildet, theils wird ſchon jetzt ihre mechaniſche Arbeit veredelt, und vergeiſtiget, ſie iſt in eben dem Grade Beleg in der freien Anſchauung deſſen, was ſie begriffen haben, als ſie Arbeit um den Unterhalt iſt, und auch in Geſellſchaft mit dem Thiere und der Erdſcholle bleiben ſie dennoch im Umkreiſe der geiſtigen Welt, und ſinken nicht herab zu den leztern.

Das Grundgeſez dieſes kleinen Wirth¬ ſchaftsſtaates ſey dieſes, daß in ihm kein Arti¬ kel zu Speiſe, Kleidung, u. ſ.w. noch, ſo weit dies moͤglich iſt, irgend ein Werkzeug, gebraucht werden duͤrfe, das nicht in ihm ſelbſt erzeugt, und verfertiget ſey. Bedarf dieſe Haushaltung einer Unterſtuͤtzung von außen, ſo werden ihr die Gegenſtaͤnde in Natur, aber keine anderer Art, als die ſie auch ſelbſt hat, gereicht, und zwar, ohne daß die Zoͤglinge erfahren, daß ihre eigne Ausbeute vermehrt worden, oder,339 daß ſie, wo das leztere zwekmaͤßig iſt, es nur als Darlehn erhalten, und es zu beſtimmter Zeit wieder zuruͤk erſtatten. Fuͤr dieſe Selbſt¬ ſtaͤndigkeit, und Selbſtgenuͤgſamkeit des Gan¬ zen arbeite nun jeder einzelne aus aller ſeiner Kraft, ohne daß er doch mit demſelben ab¬ rechne, oder fuͤr ſich auf irgend ein Eigenthum Anſpruch mache. Jeder wiſſe, daß er ſich dem Ganzen ganz ſchuldig iſt, und genieße nur, oder darbe, wenn es ſich ſo fuͤgt, mit dem Ganzen. Dadurch wird die ehrgemaͤße Selbſt¬ ſtaͤndigkeit des Staats, und der Familie, in die er einſt treten ſoll, und das Verhaͤltniß ih¬ rer einzelnen Glieder zu ihnen, der lebendigen Anſchauung dargeſtellt, und wurzelt unaus¬ tilgbar ein in ſein Gemuͤth.

Hier, bei dieſer Anfuͤhrung zur mechaniſchen Arbeit iſt der Ort, wo die in der allgemeinen National-Erziehung liegende und auf ſie ge¬ ſtuͤzte Gelehrten-Erziehung von der erſtern ſich abſondert, und wo von derſelben zu ſprechen iſt. Die in der allgemeinen National-Erzie¬ hung liegende Gelehrten-Erziehung, habe ich geſagt. Ob es nicht auch fernerhin jedem, der eigenes Vermoͤgen genug zu haben glaubt, umY 2340zu ſtudiren, oder der ſich aus irgend einem Grunde zu den bisherigen hoͤhern Staͤnden rechnet, frei ſtehen werde, den bisher uͤblichen Weg der Gelehrten-Erziehung zu beſchreiten, laſſe ich dahin geſtellt ſeyn: wie, wenn es nur einmal zur National-Erziehung kommen ſollte, die Mehrheit dieſer Gelehrten, ich will nicht ſagen gegen den in der neuen Schule gebilde¬ ten Gelehrten, ſondern ſogar gegen den aus ihr hervorgehenden gemeinen Mann, mit ihrer erkauften Gelehrſamkeit, beſtehen werde, wird die Erfahrung lehren: ich aber will jetzt nicht davon, ſondern von der Gelehrten-Erziehung in der neuen Weiſe reden.

In den Grundſaͤtzen derſelben muß auch der kuͤnftige Gelehrte durch die allgemeine Na¬ tional-Erziehung hindurch gegangen ſeyn, und den erſten Theil derſelben, die Entwiklung der Erkenntniß an Empfindung, Anſchauung, und dem, was an die leztere geknuͤpft wird, voll¬ ſtaͤndig, und klar erhalten haben. Nur dem Knaben, der eine vorzuͤgliche Gabe zum Ler¬ nen, und eine hervorſtechende Hinneigung nach der Welt der Begriffe zeigt, kann die neue Na¬ tional-Erziehung erlauben, dieſen Stand zu er¬341 greifen; jedem aber, der dieſe Eigenſchaften zeigt, wird ſie es ohne Ausnahme, und ohne Ruͤkſicht auf einen vorgeblichen Unterſchied der Geburt, erlauben muͤſſen; denn der Gelehrte iſt es keinesweges zu ſeiner eignen Bequemlichkeit, und jedes Talent dazu iſt ein ſchaͤzbares Eigen¬ thum der Nation, das ihr nicht entriſſen wer¬ den darf.

Der Ungelehrte iſt beſtimmt, das Menſchen¬ geſchlecht auf dem Standpunkte der Ausbil¬ dung, die es errungen hat, durch ſich ſelbſt zu erhalten, der Gelehrte, nach einem klaren Be¬ griffe, und mit beſonnener Kunſt, daſſelbe wei¬ ter zu bringen. Der leztere muß mit ſeinem Begriffe der Gegenwart immer voraus ſeyn, die Zukunft erfaſſen, und dieſelbe in die Gegen¬ wart zu kuͤnftiger Entwiklung hinein zu pflan¬ zen vermoͤgen. Dazu bedarf es einer kla¬ ren Ueberſicht des bisherigen Weltzuſtandes, einer freien Fertigkeit im reinen und von der Erſcheinung unabhaͤngigen Denken, und, damit er ſich mittheilen koͤnne, des Beſitzes der Sprache bis in ihre lebendige und ſchoͤpfe¬ riſche Wurzel hinein. Alles dieſes erfordert geiſtige Selbſtthaͤtigkeit ohne alle fremde Lei¬342 tung, und einſames Nachdenken, in welchem darum der kuͤnftige Gelehrte, von der Stunde an, da ſein Beruf entſchieden iſt, geuͤbt werden muß, keinesweges bloß, wie beim Ungelehrten, ein Denken unter dem Auge des ſtets gegen¬ waͤrtigen Lehrers; es erfordert eine Menge Huͤlfskenntniſſe, die dem Ungelehrten fuͤr ſeine Beſtimmung durchaus unbrauchbar ſind. Die Arbeit des Gelehrten, und das Tagwerk ſeines Lebens, wird eben jenes einſame Nachdenken ſeyn; zu dieſer Arbeit iſt er nun ſogleich anzu¬ fuͤhren, die andere mechaniſche Arbeit ihm da¬ gegen zu erlaſſen. Indeß alſo die Erziehung des kuͤnftigen Gelehrten zum Menſchen uͤber¬ haupt mit der allgemeinen National-Erziehung wie bisher fortginge, und er dem dahin ein¬ ſchlagenden Unterrichte mit allen uͤbrigen bei¬ wohnte, wuͤrden ihm nur diejenigen Stunden, die fuͤr die andern Arbeitsſtunden ſind, gleich¬ falls zu Lehrſtunden gemacht werden muͤſſen in demjenigen, was ſein einſtiger Beruf eigen¬ thuͤmlich erfordert; und dieſes waͤre der ganze Unterſchied. Die allgemeinen Kenntniſſe des Akerbaues, andrer mechaniſchen Kuͤnſte, und der Handgriffe dabei, die ſchon dem bloßen343 Menſchen anzumuthen ſind, wird er ohne Zwei¬ fel ſchon bei ſeinem Durchgange durch die erſte Klaſſe gelernt haben, oder dieſe Kenntniſſe waͤ¬ ren, falls dies nicht der Fall ſeyn ſollte, nach¬ zuholen. Daß er, weit weniger denn irgend ein anderer, von den eingefuͤhrten koͤrperlichen Uebungen losgeſprochen werden koͤnne, verſteht ſich von ſelbſt. Die beſondern Lehrgegenſtaͤnde aber, die in den gelehrten Unterricht fallen wuͤrden, ſo wie den dabei zu beobachtenden Lehrgang noch anzugeben, liegt außerhalb des Planes dieſer Reden.

344

Eilfte Rede.

Wem die Ausfuͤhrung dieſes Erziehungs - Planes anheim fallen werde.

Der Plan der neuen deutſchen National-Er¬ ziehung iſt fuͤr unſern Zwek hinreichend dar¬ gelegt. Die naͤchſte Frage, die ſich nun auf¬ dringt, iſt die: wer ſoll ſich an die Spitze der Ausfuͤhrung dieſes Plans ſtellen, auf wen iſt dabei zu rechnen, und auf wen haben wir ge¬ gerechnet?

Wir haben dieſe Erziehung als die hoͤchſte, und dermalen ſich einzig aufdringende Angele¬ genheit der deutſchen Vaterlandsliebe aufge¬ ſtellt, und wollen an dieſem Bande die Ver¬ beſſerung und Umſchaffung des geſammten Menſchengeſchlechts zuerſt in die Welt einfuͤh¬ ren. Jene Vaterlandsliebe aber ſoll zunaͤchſt den deutſchen Staat, allenthalben wo Deutſche345 regiert werden, begeiſtern, und den Vorſitz haben, und die treibende Kraft ſeyn bei allen ſeinen Beſchluͤſſen. Der Staat alſo waͤre es, auf welchen wir zuerſt unſere erwartenden Blicke zu richten haͤtten.

Wird dieſer unſere Hoffnungen erfuͤllen? Welches ſind die Erwartungen, die wir, immer wie ſich verſteht, auf keinen beſondern Staat, ſondern auf ganz Deutſchland ſehend, nach dem bisherigen von ihm faſſen koͤnnen.

Im neuern Europa iſt die Erziehung ausge¬ gangen nicht eigentlich vom Staate, ſondern von derjenigen Gewalt, von der die Staaten meiſtens auch die ihrige hatten, von dem himm¬ liſchgeiſtigen Reiche der Kirche. Dieſe betrachtete ſich nicht ſowohl als ein Beſtandtheil des irdi¬ ſchen Gemein-Weſens, ſondern vielmehr als eine demſelben ganz fremde Pflanzſtatt aus dem Himmel, die abgeſandt ſey, dieſem auswaͤrti¬ gen Staate allenthalben, wo ſie Wurzel faſſen konnte, Buͤrger anzuwerben; ihre Erziehung ging auf nichts anders, denn daß die Menſchen in der andern Welt keinesweges verdammt, ſondern ſeelig wuͤrden. Durch die Reforma¬ tion wurde dieſe kirchliche Gewalt, die uͤbrigens346 fortfuhr ſich eben ſo anzuſehen, wie bisher, mit der weltlichen Macht, mit der ſie bisher gar oft ſogar im Widerſtreite gelegen hatte, nur vereinigt; dies war der ganze Unterſchied, der in dieſer Ruͤckſicht aus jener Begebenheit erfolgte. Es blieb daher auch die alte Anſicht des Erziehungsweſens. Auch in den neue¬ ſten Zeiten, und bis auf dieſen Tag, iſt die Bildung der vermoͤgendern Staͤnde betrach¬ tet worden, als eine Privat-Angelegenheit der Eltern, die ſie nach eignem Gefallen ein¬ richten moͤchten, und die Kinder dieſer wurden in der Regel nur dazu angefuͤhrt, daß ſie ſich ſelbſt einſt nuͤzlich wuͤrden; die einzige oͤffent¬ liche Erziehung aber, die des Volks, war ledig¬ lich Erziehung zur Seeligkeit im Himmel; die Hauptſache war ein wenig Chriſtenthum, und Leſen, und falls es zu erſchwingen war, Schreiben, alles um des Chriſtenthums willen. Alle andere Entwicklung der Menſchen wurde dem ohngefaͤhren und blind wirkenden Ein¬ fluſſe der Geſellſchaft, in welcher ſie aufwuch¬ ſen, und dem wirklichen Leben ſelbſt, uͤberlaſſen Sogar die Anſtalten zur gelehrten Erziehung, waren vorzuͤglich auf die Bildung von Geiſtli¬347 chen berechnet; dies war die Haupt-Fakultaͤt, zu der die uͤbrigen nur den Anhang bildeten, und meiſtens auch nur den Abgang von jener abgetreten erhielten.

So lange diejenigen, die an der Spitze des Regiments ſtanden, uͤber den eigentlichen Zweck deſſelben im Dunkeln blieben, und ſelbſt fuͤr ihre eigne Perſon ergriffen waren von jener ge¬ wiſſenhaften Sorge fuͤr ihre und anderer See¬ ligkeit, konnte man auf ihren Eifer fuͤr dieſe Art der oͤffentlichen Erziehung, und auf ihre ernſtlichen Bemuͤhungen dafuͤr, ſicher rechnen. Sobald ſie aber uͤber den erſten ins Klare ka¬ men, und begriffen, daß der Wirkungskreis des Staates innerhalb der ſichtbaren Welt liege, ſo mußte ihnen einleuchten, daß jene Sorge fuͤr die ewige Seeligkeit ihrer Untertha¬ nen ihnen nicht zur Laſt fallen koͤnne, und daß, wer da ſeelig werden wolle, ſelbſt ſehen moͤge, wie er es mache. Sie glaubten von nun an genug zu thun, wenn ſie nur die aus gottſeli¬ gern Zeiten herruͤhrenden Stiftungen und An¬ ſtalten ihrer erſten Beſtimmung fernerhin uͤberließen; ſo wenig angemeſſen und ausrei¬ reichend dieſelben auch fuͤr die ganz veraͤnder¬348 ten Zeiten ſeyn mochten, ihnen mit Erſparung an ihren anderweitigen Zwecken ſelbſt zuzule¬ gen, hielten ſie ſich nicht fuͤr verbunden, thaͤ¬ tig einzugreifen, und das zweckmaͤßige neue an die Stelle des veralteten, und unbrauch¬ baren zu ſetzen, nicht fuͤr berechtigt, und auf alle Vorſchlaͤge dieſer Art war die ſtets fertige Antwort: hierzu habe der Staat kein Geld. Wurde ja einmal eine Ausnahme von dieſer Regel gemacht, ſo geſchah es zum Vortheile der hoͤhern Lehranſtalten, die einen Glanz weit umher verbreiten, und ihren Befoͤrderern Ruhm bereiten; die Bildung derjenigen Klaſ¬ ſe aber, die der eigentliche Boden des Men¬ ſchengeſchlechts iſt, aus welcher die hoͤhere Bildung ſich immerfort ergaͤnzt, und auf wel¬ che die leztere fortdauernd zuruͤckwirken muß, die des Volks, blieb unbeachtet, und befindet ſich, ſeit der Reformation, bis auf dieſen Tag, im Zuſtande des ſteigenden Verfalles.

Sollen wir nun fuͤr die Zukunft, und von Stund an, fuͤr unſre Angelegenheit vom Staa¬ te eine beſſere Hoffnung faßen koͤnnen, ſo waͤre noͤthig, daß derſelbe den Grundbegriff vom Zwecke der Erziehung, den er bisher gehabt349 zu haben ſcheint, mit einem ganz andern ver¬ tauſchte; daß er einſehe, er habe mit ſeiner bisherigen Ablehnung der Sorge fuͤr die ewige Seeligkeit ſeiner Mitbuͤrger vollkommen recht, indem es fuͤr dieſe Seeligkeit gar keiner beſon¬ dern Bildung beduͤrfe, und eine ſolche Pflanz¬ ſchule fuͤr den Himmel, wie die Kirche, deren Gewalt zulezt ihm uͤbertragen worden, gar nicht ſtatt finde, aller tuͤchtigen Bildung nur im Wege ſtehe, und des Dienſtes entlaſſen werden muͤße; daß es dagegen gar ſehr beduͤr¬ fe der Bildung fuͤr das Leben auf der Erde, und daß aus der gruͤndlichen Erziehung fuͤr dieſes, ſich die fuͤr den Himmel, als eine leichte Zugabe, von ſelbſt ergebe. Der Staat ſcheint bisher, je aufgeklaͤrter er zu ſeyn meinte, deſto feſter geglaubt zu haben, daß er, auch ohne alle Religion und Sittlichkeit ſeiner Buͤrger, durch die bloße Zwangsanſtalt, ſeinen eigent¬ lichen Zweck erreichen koͤnne, und daß in Ab¬ ſicht jener, dieſe es halten moͤchten, wie ſie koͤnnten. Moͤchte er aus den neuen Erfahrun¬ gen wenigſtens dies gelernt haben, daß er das nicht vermag, und daß er gerade durch den Mangel der Religion und der Sittlichkeit da¬350 hin gekommen iſt, wo er ſich dermalen befin¬ det.

Moͤchte man ihn, in Abſicht ſeines Zwei¬ fels, ob er auch wohl das Vermoͤgen habe, den Aufwand einer National-Erziehung zu beſtreiten, uͤberzeugen koͤnnen, daß er durch dieſe einzige Ausgabe, ſeine meiſten uͤbrigen auf die wirthſchaftlichſte Weiſe beſorgen, und daß, wenn er dieſe nur uͤbernimmt, er bald nur dieſe einzige Hauptausgabe haben werde. Bis jetzt iſt der bei weitem groͤßte Theil der Einkuͤnfte des Staats auf die Unterhaltung ſtehender Heere gewendet worden. Den Er¬ folg dieſer Verwendung haben wir geſehen; dies reicht hin; denn tiefer in die beſondern Gruͤnde dieſes Erfolgs, aus der Einrichtung dieſer Heere, hinein zu gehen, liegt außerhalb unſers Plans. Dagegen wuͤrde der Staat, der die von uns vorgeſchlagene National-Er¬ ziehung allgemein einfuͤhrte, von dem Augen¬ blicke an, da ein Geſchlecht der nachgewachſe¬ nen Jugend durch ſie hindurch gegangen waͤre, gar keines beſondern Heeres beduͤrfen, ſon¬ dern er haͤtte an ihnen ein Heer, wie es noch keine Zeit geſehen. Jeder einzelne iſt zu je¬351 dem moͤglichen Gebrauche ſeiner koͤrperlichen Kraft vollkommen geuͤbt, und begreift ſie auf der Stelle, zu Ertragung jeder Anſtrengung, und Muͤhſeeligkeit gewoͤhnt, ſein in unmittel¬ barer Anſchauung aufgewachſener Geiſt iſt immer gegenwaͤrtig, und bei ſich ſelbſt, in ſei¬ nem Gemuͤthe lebt die Liebe des Ganzen, deſſen Mitglied er iſt, des Staats, und des Vater¬ landes, und vernichtet jede andere ſelbſtiſche Regung. Der Staat kann ſie rufen, und ſie unter die Waffen ſtellen, ſo bald er will, und kann ſicher ſeyn, daß kein Feind ſie ſchlaͤgt. Ein andrer Theil der Sorgfalt und der Ausgaben in weiſe regierten Staaten, ging bisher auf die Verbeſſerung der Staatswirthſchaft, im ausgedehnteſten Sinne, und in allen ihren Zweigen, und es iſt hierbei, durch die Unge¬ lehrigkeit, und Unbehuͤlflichkeit der niedern Staͤnde, manche Sorgfalt und mancher Auf¬ wand vergebens gemacht worden, und die Sache hat allenthalben nur geringen Fortgang gehabt. Durch unſere Erziehung erhaͤlt der Staat arbeitende Staͤnde, die des Nachden¬ kens uͤber ihr Geſchaͤft von Jugend auf gewohnt ſind, und die ſchon ſich ſelbſt durch ſich ſelbſt352 zu helfen Vermoͤgen und Neigung haben; ver¬ mag nun noch uͤberdies der Staat ihnen auf eine zweckmaͤßige Weiſe unter die Arme zu greifen, ſo werden ſie ihn auf das halbe Wort verſtehen, und ſeine Belehrung ſehr dankbar aufnehmen. Alle Zweige der Haushaltung werden, ohne viele Muͤhe in kurzer Zeit einen Flor gewinnen, den auch noch keine Zeit ge¬ ſehen hat, und dem Staate wird, wenn er ja rechnen will, und wenn er etwa bis dahin nebenbei auch noch den wahren Grundwerth der Dinge kennen lernen ſollte, ſeine erſte Aus¬ lage tauſendfaͤltige Zinſen tragen. Bisher hat der Staat fuͤr Gerichts - und Policey-Anſtal¬ ten vieles thun muͤßen, und doch niemals ge¬ nug fuͤr ſie thun koͤnnen; Zucht - und Verbeſſe¬ rungs-Haͤuſer haben ihm Ausgaben gemacht, die Armenanſtalten endlich erforderten, je mehr auf ſie gewendet wurde, einen um ſo groͤßern Aufwand, und erſchienen, in der ganzen bisherigen Lage, eigentlich als Anſtal¬ ten Arme zu machen. Die erſtern werden in einem Staate, der die neue Erziehung allge¬ mein macht, ſehr verringert werden, die lez¬ tern gaͤnzlich wegfallen. Fruͤhe Zucht ſichertvor353vor der ſpaͤtern ſehr mißlichen Zucht und Ver¬ beſſerung; Arme aber giebt es unter einem alſo erzognen Volke gar nicht.

Moͤchte der Staat, und alle, die denſel¬ ben berathen, es wagen, ſeine eigentliche der¬ malige Lage ins Auge zu faſſen, und ſie ſich zu geſtehen; moͤchte er lebendig einſehen, daß ihm durchaus kein anderer Wirkungskreis uͤbrig gelaſſen iſt, in welchem er als ein wirk¬ licher Staat, urſpruͤnglich und ſelbſtſtaͤndig, ſich bewegen, und etwas beſchließen koͤnne, außer dieſem, der Erziehung der kommenden Geſchlechter; daß, wenn er nicht uͤberhaupt nichts thun will, er nur noch dieſes thun kann; daß man aber auch dieſes Verdienſt ihm un¬ geſchmaͤlert und unbeneidet uͤberlaſſen werde. Daß wir es nicht mehr vermoͤgen, thaͤtigen Widerſtand zu leiſten, iſt, als in die Augen ſpringend, und von jedermann zugeſtanden, ſchon fruͤher von uns vorausgeſezt worden. Wie koͤnnen wir nun die Fortdauer unſers da¬ durch verwirkten Daſeyns, gegen den Vor¬ wurf der Feigheit, und einer unwuͤrdigen Lie¬ be zum Leben, rechtfertigen? Auf keine an¬Z354dere Weiſe, als wenn wir uns entſchließen, nicht fuͤr uns ſelbſt zu leben, und dieſes durch die That darthun; wenn wir uns zum Saa¬ menkorne einer wuͤrdigern Nachkommenſchaft machen, und lediglich um dieſerwillen uns ſo lange erhalten wollen, bis wir ſie hingeſtellt haben. Jenes erſten Lebenszweks verluſtig, was koͤnnten wir denn noch anderes thun? Un¬ ſere Verfaſſungen wird man uns machen, un¬ ſere Buͤndniſſe, und die Anwendung unſerer Streitkraͤfte wird man uns anzeigen, ein Ge¬ ſezbuch wird man uns leihen, ſelbſt Gericht, und Urtheilsſpruch, und die Ausuͤbung derſel¬ ben, wird man uns zuweilen abnehmen; mit dieſen Sorgen werden wir auf die naͤchſte Zu¬ kunft verſchont bleiben. Bloß an die Erzie¬ hung hat man nicht gedacht; ſuchen wir ein Geſchaͤft, ſo laßt uns dieſes ergreifen! Es iſt zu erwarten, daß man in demſelben uns un¬ geſtoͤrt laſſen werde. Ich hoffe, vielleicht taͤuſche ich mich ſelbſt darin, aber da ich nur um dieſer Hoffnung willen noch leben mag, ſo kann ich es nicht laſſen, zu hoffen; ich hof¬ fe, daß ich einige Deutſche uͤberzeugen, und355 ſie zur Einſicht bringen werde, daß es allein die Erziehung ſey, die uns retten koͤnne von allen Uebeln, die uns druͤcken. Ich rechne beſonders darauf, daß die Noth uns zum Aufmerken, und zum ernſten Nachdenken ge¬ neigter gemacht habe. Das Ausland hat an¬ dern Troſt, und andere Mittel; es iſt nicht zu erwarten, daß es dieſem Gedanken, falls er je an daſſelbe kommen ſollte, einige Aufmerk¬ ſamkeit ſchenken, oder einigen Glauben bei¬ meſſen werde; ich hoffe vielmehr, daß es zu einer reichen Quelle von Beluſtigung, fuͤr die Leſer ihrer Journale gedeihen werde, wenn ſie je erfahren, daß ſich jemand von der Erzie¬ hung ſo große Dinge verſpreche.

Moͤge der Staat und diejenigen, die den¬ ſelben berathen, ſich nicht laͤßiger machen laſ¬ ſen, in Ergreifung dieſer Aufgabe, durch die Betrachtung, daß der gehoffte Erfolg in der Entfernung liege. Wollte man unter den man¬ nigfaltigen, und hoͤchſt verwickelten Gruͤnden, die unſer dermaliges Schickſal zur Folge ge¬ habt haben, das, was allein und eigenthuͤm¬ lich den Regierungen zur Laſt faͤllt, abſondern,Z 2356ſo wuͤrde ſich finden, daß dieſe, die vor allen andern verbunden ſind, die Zukunft ins Auge zu faſſen, und zu beherrſchen, beim Andrange der großen Zeitbegebenheiten auf ſie immer nur geſucht, ſich aus der unmittelbar gegenwaͤrti¬ gen Verlegenheit zu ziehen, ſo gut ſie es ver¬ mocht; in Abſicht der Zukunft aber nicht auf ihre Gegenwart, ſondern auf irgend einen Gluͤckszufall, der den ſtetigen Faden der Urſa¬ chen und Wirkungen abſchneiden ſollte, gerech¬ net haben. Aber dergleichen Hofnungen ſind betruͤglich. Eine treibende Kraft, die man einmal in die Zeit hinein kommen laſſen, treibt fort, und vollendet ihren Weg, und, nach¬ dem einmal die erſte Nachlaͤſſigkeit begangen worden, kann die zu ſpaͤt kommende Beſin¬ nung ſie nicht aufhalten. Des erſten Falles, bloß die Gegenwart zu bedenken, hat fuͤrs naͤchſte unſer Schickſal uns uͤberhoben; die Gegenwart iſt nicht mehr unſer. Moͤgen wir nur nicht den zweiten beibehalten, eine beſſere Zukunft von irgend etwas anderem zu hoffen, denn von uns ſelber. Zwar kann keinen unter uns, der zum Leben noch etwas mehr bedarf,357 denn Nahrung, die Gegenwart uͤber die Pflicht zu leben troͤſten; die Hoffnung einer beſſern Zukunft allein iſt das Element, in dem wir noch athmen koͤnnen. Aber nur der Traͤumer kann dieſe Hoffnung auf etwas anderes gruͤn¬ den, denn auf ein ſolches, das er ſelbſt fuͤr die Entwicklung einer Zukunft, in die Gegen¬ wart zulegen vermag. Vergoͤnnen diejenigen, die uͤber uns regieren, daß wir eben ſo gut auch von ihnen denken, als wir unter uns von einander denken, und als der Beſſere ſich fuͤhlt; ſtellen ſie ſich an die Spitze des, auch uns ganz klaren Geſchaͤfts, damit wir noch vor un¬ ſern Augen dasjenige entſtehen ſehen, was die, dem deutſchen Namen vor unſern Augen zu¬ gefuͤgte Schmach, einſt von unſerm Andenken abwaſchen wird!

Uebernimmt der Staat die ihm angetra¬ gene Aufgabe, ſo wird er dieſe Erziehung all¬ gemein machen, uͤber die ganze Oberflaͤche ſei¬ nes Gebiets, fuͤr jeden ſeiner nachgebornen Buͤrger, ohne alle Ausnahme; auch iſt es allein dieſe Allgemeinheit, zu der wir des Staats beduͤrfen, indem zu einzelnen Anfaͤn¬358 gen und Verſuchen, hier und da, auch wohl das Vermoͤgen von wohlgeſinnten Privatper¬ ſonen hinreichen wuͤrde. Nun iſt allerdings nicht zu erwarten, daß die Eltern allgemein willig ſeyn werden, ſich von ihren Kindern zu trennen, und ſie dieſer neuen Erziehung, von der es ſchwer ſeyn wird ihnen einen Begriff beizubringen, zu uͤberlaſſen; ſondern es iſt nach der bisherigen Erfahrung darauf zu rech¬ nen, daß jeder, der noch etwa das Vermoͤgen zu haben glaubt, ſeine Kinder im Hauſe zu naͤhren, gegen die oͤffentliche Erziehung, und beſonders gegen eine ſo ſcharf trennende, und ſo lange dauernde oͤffentliche Erziehung, ſich ſetzen wird. In ſolchen Faͤllen iſt man nun, bei zu erwartender Widerſezlichkeit, von den Staats¬ maͤnnern bisher gewohnt, daß ſie den Vor¬ ſchlag mit der Antwort abweiſen: der Staat habe nicht das Recht, fuͤr dieſen Zwek Zwang anzuwenden. Indem ſie nun warten wollen, bis die Menſchen im allgemeinen den guten Willen haben, ohne Erziehung aber es niemals zu allgemeinem guten Willen kommen kann, ſo ſind ſie dadurch gegen alle Verbeſſerung ge¬359 ſchuͤzt, und koͤnnen hoffen, daß es beim Alten bleiben wird, bis an das Ende der Tage. In¬ wiefern dies nun etwa ſolche ſind, welche ent¬ weder uͤberhaupt die Erziehung fuͤr einen ent¬ behrlichen Luxus halten, in Ruͤckſicht deſſen man ſich ſo ſpaͤrlich einrichten muͤſſe, als moͤg¬ lich, oder, die in unſerm Vorſchlage nur ei¬ nen neuen wagenden Verſuch mit der Menſch¬ heit erblicken, der da gelingen koͤnne, oder auch nicht, iſt ihre Gewiſſenhaftigkeit zu loben; ſol¬ chen, die von der Bewunderung des bisherigen Zuſtandes der oͤffentlichen Bildung, und von dem Entzuͤcken, zu welcher Vollkommenheit dieſelbe unter ihrer Leitung emporgewachſen ſey, eingenommen ſind, laͤßt ſich nun vollends gar nicht anmuthen, daß ſie auf etwas, das ſie nicht auch ſchon wiſſen, eingehen ſollten; mit dieſen insgeſammt iſt fuͤr unſern Zweck nichts zu thun, und es waͤre zu beklagen, wenn die Entſcheidung uͤber dieſe Angelegen¬ heit ihnen anheim fallen ſollte. Moͤchten ſich aber Staatsmaͤnner finden, und hiebei zu Ra¬ the gezogen werden, welche vor allen Dingen, durch ein tiefes und gruͤndliches Studium der360 Philoſophie und der Wiſſenſchaft uͤberhaupt, ſich ſelbſt Erziehung gegeben haben, denen es ein rechter Ernſt iſt mit ihrem Geſchaͤfte, die ei¬ nen feſten Begriff vom Menſchen und ſeiner Beſtimmung beſitzen, die da faͤhig ſind, die Gegenwart zu verſtehen, und zu begreifen, was eigentlich der Menſchheit dermalen unausbleib¬ lich Noth thut; haͤtten dieſe aus jenen Vorbe¬ griffen etwa ſelbſt eingeſehen, daß nur Erzie¬ hung vor der, außerdem unaufhaltſam uͤber uns hereinbrechenden, Barbarei und Verwilde¬ rung uns retten koͤnne, ſchwebte ihnen ein Bild vor von dem neuen Menſchengeſchlechte, das durch dieſe Erziehung entſtehen wuͤrde, waͤren ſie ſelbſt innig uͤberzeugt von der Unfehlbarkeit und Untruͤglichkeit der vorgeſchlagenen Mittel; ſo ließe von ſolchen ſich auch erwarten, daß ſie zugleich begriffen, der Staat, als hoͤchſter Verweſer der[menſchlichen] Angelegenheiten, und als der Gott und ſeinem Gewiſſen allein verantwortliche Vormund der Unmuͤndigen, habe das vollkommene Recht, die lezteren zu ihrem Heile auch zu zwingen. Wo giebt es denn dermalen einen Staat, der da zweifle,361 ob er auch wohl das Recht habe, ſeine Unter¬ thanen zu Kriegsdienſten zu zwingen, und den Eltern fuͤr dieſen Behuf die Kinder wegzuneh¬ men, ob nun eins von beiden, oder beide, wol¬ len, oder nicht wollen? Und dennoch iſt dieſer Zwang, zu Ergreifung einer dauernden Le¬ bensart wider den eignen Willen, weit bedenk¬ licher, und haͤufig von den nachtheiligſten Fol¬ gen fuͤr den ſittlichen Zuſtand, und fuͤr Ge¬ ſundheit und Leben der Gezwungenen; da hin¬ gegen derjenige Zwang, von dem wir reden, nach vollendeter Erziehung, die ganze perſoͤn¬ liche Freiheit zuruͤck giebt, und gar keine an¬ dern, denn die heilbringendſten Folgen haben kann. Wohl hat man fruͤher auch die Ergrei¬ fung der Kriegsdienſte dem freien Willen uͤber¬ laſſen; nachdem ſich aber gefunden, daß dieſer fuͤr den beabſichtigten Zweck nicht ausreichend war, hat man kein Bedenken getragen, ihm durch Zwang nachzuhelfen; darum, weil die Sache uns wichtig genug war, und die Noth den Zwang gebot. Moͤchten nur euch in dieſer Ruͤckſicht uns die Augen aufgehen uͤber unſere Noth, und der Gegenſtand uns gleichfalls362 wichtig werden, ſo wuͤrde jene Bedenklichkeit von ſelbſt wegfallen; da zumal es nur in dem erſten Geſchlechte des Zwanges beduͤrfen, und derſelbe in den folgenden, ſelber durch dieſe Erziehung hindurch gegangenen, hinweg faͤllt, auch jener erſte Zwang zum Kriegsdienſte da¬ durch aufgehoben wird, indem die alſo erzoge¬ nen alle gleich willig ſind, die Waffen fuͤr das Vaterland zu fuͤhren. Will man ja, um An¬ fangs des Geſchreies nicht zu viel zu haben, dieſen Zwang zur oͤffentlichen National-Erzie¬ hung, auf dieſelbe Weiſe beſchraͤnken, wie bis¬ her der Zwang zum Kriegsdienſte beſchraͤnkt ge¬ weſen, und die von den leztern befreiten Staͤn¬ de auch von jenem ausnehmen, ſo iſt dies von keinen bedeutenden nachtheiligen Folgen. Die verſtaͤndigen Eltern unter den ausgenom¬ menen werden freiwillig ihre Kinder dieſer Erziehung uͤbergeben; die, gegen das ganze unbedeutende Anzahl der Kinder unverſtaͤndi¬ ger Eltern aus dieſen Staͤnden, mag immer auf die bisherige Weiſe aufwachſen, und in das zu erzeugende beſſere Zeitalter hineinrei¬ chen, brauchbar, lediglich als ein merkwuͤrdi¬363 ges Andenken der alten Zeit, und um die neue zur lebhaften Erkenntniß ihres hoͤheren Gluͤcks anzufeuern.

Soll nun dieſe Erziehung National-Er¬ ziehung der Deutſchen ſchlechtweg ſeyn, und ſoll die große Mehrheit aller, die die deutſche Sprache reden, keinesweges aber etwa nur die Buͤrgerſchaft, dieſes oder jenes beſonderen deutſchen Staates, daſtehen, als ein neues Menſchengeſchlecht, ſo muͤſſen alle deutſche Staaten, jeder fuͤr ſich, und unabhaͤngig von allen andern, dieſe Aufgabe ergreifen. Die Sprache, in der dieſe Angelegenheit zuerſt in Anregung gebracht worden, in der die Huͤlfs¬ mittel verfaßt ſind, und ferner werden verfaßt werden, in der die Lehrer geuͤbt werden, der durch alles dieſes hindurchgehende Eine Gang der Sinnbildlichkeit, iſt allen Deutſchen ge¬ meinſam. Ich kann mir kaum denken, wie, und mit welchen Umwandlungen, dieſe Bil¬ dungsmittel insgeſammt, beſonders in derje¬ nigen Ausdehnung, die wir dem Plane gege¬ ben haben, in irgend eine Sprache des Aus¬ landes uͤbertragen werden koͤnnten, alſo, daß364 es nicht als fremdes und uͤberſeztes Ding, ſon¬ dern als einheimiſch, und aus dem eignen Le¬ ben ihrer Sprache hervorgehend, erſchiene. Fuͤr alle Deutſchen iſt dieſe Schwierigkeit auf die gleiche Weiſe gehoben; fuͤr ſie iſt die Sache fertig, und ſie duͤrfen nur dieſelbe ergreifen.

Wohl uns hiebei, daß es noch verſchie¬ dene und von einander abgetrennte deutſche Staaten giebt! Was ſo oft zn unſerem Nach¬ theile gereicht iſt, kann bei dieſer wichtigen Na¬ tionalangelegenheit vielleicht zu unſerm Vor¬ theile dienen. Vielleicht kann Nacheiferung der mehreren, und die Begirde, einander zuvor zu kommen, bewirken, was die ru¬ hige Selbſtgenuͤgſamkeit des Einzelnen nicht hervorgebracht haͤtte; denn es iſt klar, daß derjenige unter allen deutſchen Staaten, der in dieſer Sache den Anfang machen wird, an Achtung, an Liebe, an Dankbarkeit des Ganzen fuͤr ihn, den Vorrang gewinnen wird, daß er daſtehen wird als der hoͤchſte Wohlthaͤ¬ ter, und der eigentliche Stifter der Nation. Er wird den uͤbrigen Muth machen, ihnen ein belehrendes Beiſpiel geben, und ihr Muſter365 werden; er wird Bedenklichkeiten, in denen die andern haͤngen blieben, beſeitigen; aus ſeinem Schooße werden die Lehrbuͤcher, und die erſten Lehrer ausgehen, und den andern geliehen werden; und wer nach ihm der zweite ſeyn wird, wird den zweiten Ruhm erwerben. Zum erfreulichen Zeugniſſe, daß unter den Deutſchen ein Sinn fuͤr das hoͤhere noch nie ganz ausgeſtorben, haben bisher mehrere deut¬ ſche Staͤmme und Staaten mit einander um den Ruhm groͤßerer Bildung geſtritten; dieſe haben ausgedehntere Preßfreiheit, freiere Hin¬ wegſetzung uͤber die hergebrachte Meinung, andere beſſer eingerichtete Schulen und Univer¬ ſitaͤten, andere ehemaligen Ruhm, und Ver¬ dienſte, andere etwas anders fuͤr ſich ange¬ fuͤhrt, und der Streit hat nicht entſchieden werden koͤnnen. Bei der gegenwaͤrtigen Ver¬ anlaſſung wird er es werden. Diejenige Bil¬ dung allein, die da ſtrebt, und die es wagt, ſich allgemein zu machen, und alle Menſchen ohne Unterſchied zu erfaſſen, iſt ein wirkliches Beſtandtheil des Lebens; und iſt ihrer ſelbſt ſicher. Jede andere iſt eine fremde Zuthat,366 die man bloß zum Prunk anlegt, und die man nicht einmal mit recht gutem Gewiſſen an ſich traͤgt. Es wird ſich bei dieſer Gelegenheit verrathen muͤſſen, wo etwa die Bildung, de¬ ren man ſich ruͤhmt, nur bei wenigen Perſonen des Mittelſtandes ſtatt findet, die dieſelbe in Schriften darlegen, dergleichen Maͤnner alle deutſche Staaten aufzuweiſen haben; und wo hingegen dieſelbe auch zu den hoͤhern Staͤnden, welche den Staat berathen, hinaufgeſtiegen ſey. Es wird ſich ſodann auch zeigen, wie man den hier und da gezeigten Eifer fuͤr die Errich¬ tung und den Flor hoͤherer Lehranſtalten zu beurtheilen habe, und ob demſelben reine Liebe zur Menſchenbildung, die ja wohl jedweden Zweig, und beſonders die allererſte Grundlage derſelben, mit dem gleichen Eifer ergreifen wuͤrde, oder ob ihm bloß Sucht zu glaͤnzen, und vielleicht duͤrftige Finanzſpekulationen, zu Grunde gelegen haben.

Welcher deutſche Staat in Ausfuͤhrung dieſes Vorſchlags der erſte ſeyn wird, der wird den groͤßten Ruhm davon haben, ſagte ich. 367Aber ferner, es wird dieſer deutſche Staat nicht lange allein ſtehen, ſondern ohne allen Zweifel bald Nachfolger und Nacheiferer fin¬ den. Daß nur der Anfang gemacht werde, iſt die Hauptſache. Waͤre es auch nichts an¬ deres, ſo wird Ehrgefuͤhl, Eiferſucht, die Be¬ gierde, auch zu haben, was ein Anderer hat, und, wo moͤglich, es noch beſſer zu haben, ei¬ nen nach dem andern treiben, dem Beiſpiele zu folgen. Auch werden ſodann die oben von uns beigebrachten Betrachtungen uͤber den eig¬ nen Vortheil des Staats, die vielleicht derma¬ len manchem zweifelhaft vorkommen duͤrften, in der lebendigen Anſchauung bewaͤhrt, ein¬ leuchtender werden.

Waͤre zu erwarten, daß ſogleich jezt und von Stund an alle deutſche Staaten ernſtliche Anſtalt machten, jenen Plan auszufuͤhren, ſo koͤnnte ſchon nach fuͤnf und zwanzig Jahren das beſſere Geſchlecht, deſſen wir beduͤrfen, da¬ ſtehen, und wer hoffen duͤrfte, noch ſo lange zu leben, koͤnnte hoffen, es mit ſeinen Augen zu ſehen.

368

Sollte aber, wie wir denn freilich auch auf dieſen Fall rechnen muͤſſen, unter allen dermalen beſtehenden deutſchen Staaten, kein einziger ſeyn, der unter ſeinen hoͤchſten Bera¬ thern einen Mann haͤtte, der da faͤhig waͤre, alles, das oben vorausgeſezte, einzuſehen, und davon ergriffen zu werden, und in wel¬ chem die Mehrheit der Berather, dieſem einen ſich wenigſtens nicht widerſetzte; ſo wuͤrde frei¬ lich dieſe Angelegenheit wohlgeſinnten Privat¬ perſonen anheim fallen, und es waͤre nun von dieſen zu wuͤnſchen, daß ſie einen Anfang mit der vorgeſchlagenen neuen Erziehung machten. Zufoͤrderſt haben wir hiebei im Auge große Gutsbeſitzer, die auf ihren Landguͤtern derglei¬ chen Erziehungsanſtalten fuͤr die Kinder ihrer Unterthanen errichten koͤnnten. Es gereicht Deutſchland zum Ruhme, und zur ſehr ehren¬ vollen Auszeichnung vor den uͤbrigen Nationen des neuern Europa, daß es unter dem genann¬ ten Stande, immerfort hier und da mehrere gegeben hat, die ſichs zum ernſtlichen Geſchaͤfte machten, fuͤr den Unterricht und die Bildung der Kinder auf ihren Beſitzungen zu ſorgen,und369und die gern das Beſte, was ſie wußten, dafuͤr thun wollten. Es iſt von dieſen zu hoffen, daß ſie auch jezt geneigt ſeyn werden, uͤber das vollkommene, das ihnen angetragen wird, ſich zu belehren, und das groͤßere, und durch¬ greifende eben ſo gern zu thun, als ſie bisher das kleinere und unvollſtaͤndige thaten. Wohl mag hier und da die Einſicht dazu beigetragen haben, daß es vortheilhafter fuͤr ſie ſelbſt ſey, gebildete Unterthanen zu haben, denn unge¬ bildete. Wo etwa der Staat durch Aufhebung des Verhaͤltniſſes der Unterthaͤnigkeit, dieſen lezten Antrieb weggenommen hat, moͤge er da deſto ernſtlicher ſeine unerlaßliche Pflicht bedenken, nicht zugleich das einzige Gute, das bei wohldenkenden an dieſes Verhaͤltniß geknuͤpft wurde, mit aufzuheben, und moͤge er in dieſem Falle ja nicht verſaͤumen, zu thun, was ohnedies ſeine Schuldigkeit iſt, nachdem er diejenigen, die es freiwillig ſtatt ſeiner tha¬ ten, deſſen erledigt hat. Wir richten ferner in Abſicht der Staͤdte, hiebei unſre Augen auf freiwillige Verbindungen gutgeſinnter Buͤrger fuͤr dieſen Zweck. Der Hang zur Wohlthaͤtig¬ keit iſt noch immer, ſo weit ich habe blikenA a370koͤnnen, unter keinem Druke der Noth, in deutſchen Gemuͤthern erloſchen. Durch eine Anzahl von Maͤngeln in unſern Einrichtungen, die ſich insgeſammt unter der Einheit der ver¬ nachlaͤßigten Erziehung wuͤrden zuſammenfaſ¬ ſen laſſen, hilft dieſe Wohlthaͤtigkeit der Noth dennoch ſelten ab, ſondern ſcheint oft ſie noch zu vermehren. Moͤchte man jenen treflichen Hang endlich vorzuͤglich auf diejenige Wohl¬ that richten, die aller Noth, und aller fernern Wohlthaͤtigkeit ein Ende macht, auf die Wohl¬ that der Erziehung. Noch aber beduͤrfen wir, und rechnen wir auf eine Wohlthat, und Aufopferung anderer Art, die nicht in Geben, ſondern in Thun und Leiſten beſteht. Moͤchten angehende Gelehrte, denen es ihre Lage ver¬ ſtattet, den Zeitraum, der ihnen zwiſchen der Univerſitaͤt, und ihrer Anſtellung in einem oͤf¬ fentlichen Amte, uͤbrig bleibt, dem Geſchaͤfte, uͤber dieſe Lehrweiſe an dieſen Anſtalten ſich zu belehren, und an denſelben ſelbſt zu lehren, widmen! Abgerechnet, daß ſie ſich hierdurch hoͤchſt verdient um das Ganze machen werden, kann man ihnen noch uͤberdies verſichern, daß ſie ſelbſt den allerhoͤchſten Gewinn davon tra¬371 gen werden. Ihre geſammten Kenntniſſe, die ſie aus dem gewoͤhnlichen Univerſitaͤts-Unter¬ richte oft ſo erſtorben mit hinweg tragen, wer¬ den im Elemente der allgemeinen Anſchaung, in welches ſie hier hinein kommen, Klarheit und Lebendigkeit erhalten, ſie werden lernen, dieſelben mit Fertigkeit wiederzugeben, und zu gebrauchen, ſie werden ſich, da im Kinde die ganze Fuͤlle der Menſchheit unſchuldig und of¬ fen da liegt, einen Schatz von der wahren Menſchenkenntniß, die allein dieſen Namen verdient, erwerben, ſie werden zu der großen Kunſt des Lebens und Wirkens angeleitet wer¬ den, zu welcher in der Regel die hohe Schule keine Anweiſung giebt.

Laͤßt der Staat die ihm angetragene Auf¬ gabe liegen, ſo iſt es fuͤr die Privatperſonen, welche dieſelbe aufnehmen, ein deſto groͤßerer Ruhm. Fern ſey es von uns, der Zukunft durch Muthmaaßungen vorzugreifen, oder den Ton des Zweifels und des Mangels an Ver¬ trauen ſelber anzuheben; worauf unſere Wuͤn¬ ſche zunaͤchſt gehen, haben wir deutlich ausge¬ ſprochen; nur dies ſey uns erlaubt anzumer¬ ken, daß, wenn es wirklich alſo kommen ſoll¬A a 2372te, daß der Staat und die Fuͤrſten die Sache Privatperſonen uͤberließen, dies dem bisheri¬ gen, ſchon oben angemerkten, und mit Bei¬ ſpielen belegten Gange der deutſchen Entwik¬ lung und Bildung gemaͤß ſeyn, und dieſer bis ans Ende ſich gleich bleiben wuͤrde. Auch in dieſem Falle wuͤrde der Staat zu ſeiner Zeit nachfolgen, fuͤrs erſte wie ein Einzelner, der den auf ſeinen Theil fallenden Beitrag eben auch leiſten will, bis er ſich etwa ſpaͤter be¬ ſinnt, daß er kein Theil, ſondern das Ganze ſey, und daß das Ganze zu beſorgen er ſo Pflicht als Recht habe. Von Stund an fallen alle ſelbſtſtaͤndige Bemuͤhungen der Privatper¬ ſonen weg, und unterordnen ſich dem allgemei¬ nen Plane des Staats.

Sollte die Angelegenheit dieſen Gang neh¬ men, ſo wird es mit der beabſichtigten Verbeſ¬ ſerung unſers Geſchlechts freilich nur lang¬ ſam, und ohne eine ſichere und feſte Ueber¬ ſicht und moͤgliche Berechnung des Ganzen, vorwaͤrts ſchreiten. Aber laſſe man ſich ja da¬ durch nicht abhalten, einen Anfang zu machen! Es liegt in der Natur der Sache ſelbſt, daß ſie niemals untergehen koͤnne, ſondern, nur ein¬375 mal ins Werk geſezt, durch ſich ſelbſt fortlebe, und immer weiter um ſich greifend ſich verbrei¬ te. Jeder, der durch dieſe Bildung hindurch¬ gegangen iſt, wird ein Zeuge fuͤr ſie, und ein eifriger Verbreiter; jeder wird den Lohn der erhaltnen Lehre dadurch abtragen, daß er ſelbſt wieder Lehrer wird, und ſo viele Schuͤler, die einſt auch wieder Lehrer werden, macht, als er kann; und dies geht nothwendig ſo lange fort, bis das Ganze ohne alle Ausnahme er¬ griffen ſey.

Im Falle der Staat ſich mit der Sache nicht befaſſen ſollte, ſo haben Privatunterneh¬ mungen zu befuͤrchten, daß alle nur irgend vermoͤgende Eltern, ihre Kinder dieſer Erzie¬ hung nicht uͤberlaſſen werden. Wende man ſich ſodann in Gottes Namen und mit voller Zuverſicht an die armen Verwaiſten, an die im Elende auf den Straßen herumliegenden, an Alles, was die erwachſene Menſchheit aus¬ geſtoßen und weggeworfen hat! So wie bis¬ her, beſonders in denjenigen deutſchen Staa¬ ten, in denen die Froͤmmigkeit der Vorfahren, die oͤffentlichen Erziehungsanſtalten ſehr ver¬ mehrt und reichlich ausgeſtattet hatte, eine374 Menge von Eltern den ihrigen den Unterricht angedeihen ließen, weil ſie dabei zugleich, wie bei keinem andern Gewerbe, den Unterhalt fanden; ſo laßt es uns, nothgedrungen, um¬ kehren, und Brod geben, denen, denen kein anderer es giebt, damit ſie mit dem Brode zu¬ gleich auch Geiſtesbildung annehmen. Be¬ fuͤchten wir nicht, daß die Armſeeligkeit, und die Verwilderung ihres vorigen Zuſtandes un¬ ſerer Abſicht hinderlich ſeyn werde! Reißen wir ſie nur ploͤzlich und gaͤnzlich heraus aus dem¬ ſelben, und bringen ſie in eine durchaus neue Welt; laſſen wir nichts an ihnen, das ſie an das alte erinnern koͤnnte, ſo werden ſie ihrer ſelbſt vergeſſen, und daſtehen, als neue ſo eben erſt erſchaffene Weſen. Daß in dieſe friſche und reine Tafel nur das Gute eingegraben werde, dafuͤr muß unſer Unterrichtsgang buͤrgen, und unſre Hausordnung. Es wird ein fuͤr alle Nachwelt warnendes Zeugniß ſeyn, uͤber unſre Zeit, wenn gerade diejenigen, die ſie ausgeſto¬ ßen hat, durch dieſe Ausſtoßung allein das Vorrecht erhalten, ein beſſeres Geſchlecht an¬ zuheben; wenn dieſe den Kindern derer, die mit ihnen nicht zuſammen ſeyn mochten, die375 beſeeligende Bildung bringen, und wenn ſie die Stammvaͤter werden unſrer kuͤnftigen Helden, Weiſen, Geſezgeber, Heilande der Menſchheit.

Fuͤr die erſte Errichtung bedarf es zufoͤrderſt tauglicher Lehrer und Erzieher. Dergleichen hat die Peſtalozziſche Schule gebildet, und iſt ſtets erboͤtig, mehrere zu bilden. Ein Haupt¬ augenmerk wird anfangs ſeyn, daß jede An¬ ſtalt der Art ſich zugleich betrachte als eine Pflanzſchule fuͤr Lehrer, und daß außer den ſchon fertigen Lehrern um dieſe herum ſich eine Menge junger Maͤnner verſammle, die das Lehren lernen, und ausuͤben zu gleicher Zeit, und in der Ausuͤbung es immer beſſer lernen. Dies wird auch, falls dieſe Anſtalten anfangs mit der Duͤrftigkeit zu ringen haben ſollten, die Erhaltung der Lehrer ſehr erleichtern. Die meiſten ſind doch in der Abſicht gegenwaͤrtig, um ſelbſt zu lernen; dafuͤr moͤgen ſie denn auch ohne anderweitige Entſchaͤdigung das Gelernte eine Zeitlang zum Vortheil der Anſtalt, wo ſie es lernten, anwenden.

Ferner bedarf eine ſolche Anſtalt Dach und Fach, die erſte Ausſtattung, und ein hinlaͤng¬376 liches Stuͤk Land. Daß im weitern Fortgange dieſer Einrichtungen, wenn die verhaͤltnißmaͤßige Menge von ſchon herangewachſener Jugend in den Jahren, wo ſie nach der bisherigen Einrich¬ tung als Dienſtboten nicht bloß ihren Unterhalt, ſondern zugleich auch ein Jahrlohn erwerben, ſich in dieſen Anſtalten befinden wird, dieſe die ſchwaͤchere Jugend uͤbertragen, und bei der ohnedies nothwendigen Arbeitſamkeit, und weiſen Wirthſchaft, dieſe Anſtalten ſich groͤßten¬ theils ſelbſt werden erhalten koͤnnen, ſcheint einzuleuchten. Fuͤrs erſte, ſo lange die erſtge¬ nannte Art der Zoͤglinge noch nicht vorhanden iſt, duͤrften dieſelben groͤßerer Zuſchuͤſſe beduͤr¬ fen. Es iſt zu hoffen, daß man ſich zu Beitraͤ¬ gen, deren Ende man abſieht, williger finden werde. Sparſamkeit, die dem Zwecke Eintrag thut, bleibe fern von uns; und ehe wir dieſe uns erlauben, iſt es weit beſſer, daß wir gar nichts thun.

Und ſo halte ich denn dafuͤr, daß, bloß guten Willen vorausgeſezt, bei der Ausfuͤhrung dieſes Plans keine Schwierigkeit iſt, die nicht durch Vereinigung mehrerer, und durch die Richtung aller ihrer Kraͤfte auf dieſen einigen Zwek, leichtlich ſollte uͤberwunden werden koͤnnen.

377

Zwoͤlfte Rede.

Ueber die Mittel, uns bis zur Erreichung unſers Hauptzweks aufrecht zu erhalten.

Diejenige Erziehung, die wir den Deutſchen zu ihrer kuͤnftigen National-Erziehung vor¬ ſchlagen, iſt nun ſattſam beſchrieben. Wird das Geſchlecht, das durch dieſelbe gebildet iſt, nur einmal daſtehen, dieſes lediglich durch ſeinen Geſchmak am rechten und guten, und ſchlechthin durch nichts anderes, getriebene, dieſes mit einem Verſtande, der fuͤr ſeinen Standpunkt ausreichend, das rechte allemal ſicher erkennt, verſehene, dieſes mit jeder gei¬ ſtigen und koͤrperlichen Kraft, das gewollte alle¬ mal durchzuſetzen, ausgeruͤſtete Geſchlecht, ſo wird alles, was wir mit unſern kuͤhnſten Wuͤn¬ ſchen begehren koͤnnen, aus dem Daſeyn deſ¬378 ſelben von ſelbſt ſich ergeben, und aus ihm natuͤrlich hervorwachſen. Dieſe Zeit bedarf unſerer Vorſchriften ſo wenig, daß wir viel¬ mehr von derſelben zu lernen haben wuͤrden.

Da inzwiſchen dieſes Geſchlecht noch nicht gegenwaͤrtig iſt, ſondern erſt herauferzogen werden ſoll, und, wenn auch alles uͤber unſer Erwarten trefflich gehen ſollte, wir dennoch eines betraͤchtlichen Zwiſchenraums beduͤrfen werden, um in jene Zeit hinuͤber zu kommen, ſo entſteht die naͤherliegende Frage, wie ſollen wir uns auch nur durch dieſen Zwiſchenraum hindurch bringen? Wie ſollen wir, da wir nichts beſſeres koͤnnen, uns erhalten, wenig¬ ſtens als den Boden, auf dem die Verbeſſe¬ rung vorgehen, und als den Ausgangspunkt an welchen dieſelbe ſich anknuͤpfen koͤnne? Wie ſollen wir verhindern, daß, wenn einſt das alſo gebildete Geſchlecht aus ſeiner Abſonderung hervor unter uns traͤte, es nicht an uns eine Wirklichkeit vor ſich finde, die nicht die min¬ deſte Verwandſchaft habe zu der Ordnung der Dinge, welche es als das rechte begriffen, und in welcher niemand daſſelbe verſtehe, oder den mindeſten Wunſch und Beduͤrfniß einer379 ſolchen Ordnung der Dinge hege, ſondern das vorhandene als das ganz natuͤrliche, und das einzig moͤgliche anſehe? Wuͤrden nicht dieſe eine andere Welt in Buſen tragenden gar bald irre werden, und wuͤrde ſo nicht die neue Bil¬ dung eben ſo unnuͤtz fuͤr die Verbeſſerung des wirklichen Lebens verhallen, wie die bisherige Bildung verhallt iſt?

Geht die Mehrheit in ihrer bisherigen Un¬ achtſamkeit, Gedankenloſigkeit und Zerſtreut¬ heit ſo ferner hin, ſo iſt gerade dieſes, als das nothwendig ſich ergebende, zu erwarten. Wer ſich, ohne Aufmerkſamkeit auf ſich ſelbſt, gehen laͤßt, und von den Umſtaͤnden ſich ge¬ ſtalten, wie ſie wollen, der gewoͤhnt ſich bald an jede moͤgliche Ordnung der Dinge. So ſehr auch ſein Auge durch etwas beleidiget werden mochte, als er es das erſtemal erblikte, laßt es nur taͤglich auf dieſelbe Weiſe wiederkehren, ſo gewoͤhnt er ſich daran, und findet es ſpaͤter¬ hin natuͤrlich, und als eben ſo ſeyn muͤſſend, gewinnt es zulezt gar lieb, und es wuͤrde ihm mit der Herſtellung des erſtern beſſern Zuſtan¬ des wenig gedient ſeyn, weil dieſer ihn aus ſeiner nun einmal gewohnten Weiſe zu ſeyn380 herausriſſe. Auf dieſe Weiſe gewoͤhnt man ſich ſogar an Sklaverei, wenn nur unſre ſinn¬ liche Fortdauer dabei ungekraͤnkt bleibt, und gewinnt ſie mit der Zeit lieb; und dies iſt eben das gefaͤhrlichſte an der Unterworfenheit, daß ſie fuͤr alle wahre Ehre abſtumpft, und ſodann ihre ſehr erfreuliche Seite hat fuͤr den Traͤgen, indem ſie ihn mancher Sorge und manches Selbſtdenkens uͤberhebt.

Laßt uns auf der Hut ſeyn gegen dieſe Ueberraſchung der Suͤßigkeit des Dienens, denn dieſe raubt ſogar unſern Nachkommen die Hoffnung kuͤnftiger Befreiung. Wird unſer aͤußeres Wirken in hemmende Feſſeln geſchla¬ gen, laßt uns deſto kuͤhner unſern Geiſt erhe¬ ben zum Gedanken der Freiheit, zum Leben in dieſem Gedanken, zum Wuͤnſchen und Begehren nur dieſes einigen. Laßt die Freiheit auf eini¬ ge Zeit verſchwinden aus der ſichtbaren Welt; geben wir ihr eine Zuflucht im innerſten unſrer Gedanken, ſo lange, bis um uns herum die neue Welt emporwachſe, die da Kraft habe, dieſe Gedanken auch aͤußerlich darzuſtellen. Machen wir uns mit demjenigen, was ohne Zweifel unſerm Ermeſſen frei bleiben muß, mit381 unſerm Gemuͤthe, zum Vorbilde, zur Weiſſa¬ gung, zum Buͤrgen desjenigen, was nach uns Wirklichkeit werden wird. Laſſen wir nur nicht mit unſerm Koͤrper zugleich auch unſern Geiſt niedergebeugt und unterworfen, und in die Gefangenſchaft gebracht werden!

Fragt man mich, wie dies zu erreichen ſey, ſo iſt darauf die einzige alles in ſich faſſende Antwort dieſe: wir muͤſſen eben zur Stelle werden, was wir ohnedies ſeyn ſollten, Deut¬ ſche. Wir ſollen unſern Geiſt nicht unterwer¬ fen: ſo muͤſſen wir eben vor allen Dingen ei¬ nen Geiſt uns anſchaffen, und einen feſten und gewiſſen Geiſt; wir muͤſſen ernſt werden in allen Dingen, und nicht fortfahren bloß leichtſinni¬ ger Weiſe und nur zum Scherze dazuſeyn; wir muͤſſen uns haltbare und unerſchuͤtterliche Grundſaͤtze bilden, die allem unſern uͤbrigen Denken, und unſerm Handeln zur feſten Richtſchnur dienen, Leben und Denken muß bei uns aus einem Stuͤcke ſeyn, und ein ſich durchdringendes und gediegenes Ganzes; wir muͤſſen in beiden der Natur und der Wahrheit gemaͤß werden, und die fremden Kunſtſtuͤcke von uns werfen; wir muͤſſen, um es mit ei¬382 nem Worte zu ſagen, uns Charakter anſchaf¬ fen; denn Charakter haben, und deutſch ſeyn, iſt ohne Zweifel gleichbedeutend, und die Sache hat in unſrer Sprache keinen beſon¬ dern Namen, weil ſie eben, ohne alle unſer Wiſſen und Beſinnung, aus unſerm Seyn un¬ mittelbar hervorgehen ſoll.

Wir muͤſſen zufoͤrderſt uͤber die großen Er¬ eigniſſe unſrer Tage, ihre Beziehung auf uns, und das, was wir von ihnen zu erwarten ha¬ ben, mit eigner Bewegung unſrer Gedanken nachdenken, und uns eine klare, und feſte An¬ ſicht von allen dieſen Gegenſtaͤnden, und ein entſchiednes und unwandelbares Ja oder Nein uͤber die hieherfallenden Fragen, verſchaffen; jeder, der den mindeſten Anſpruch auf Bil¬ dung macht, ſoll das. Das thieriſche Leben des Menſchen laͤuft in allen Zeitaltern ab nach denſelben Geſetzen, und hierin iſt alle Zeit ſich gleich. Verſchiedene Zeiten ſind da nur fuͤr den Verſtand, und nur derjenige, der ſie mit den Begriffe durchdringt, lebt ſie mit, und iſt da zu dieſer ſeiner Zeit; ein andres Leben iſt nur ein Thier - und Pflanzenleben. Alles, was da geſchieht, unvernommen an ſich vor¬383 uͤbergehen zu laſſen, gegen deſſen Andrang wohl gar gefliſſentlich Auge und Ohr zu ver¬ ſtopfen, ſich dieſer Gedankenloſigkeit wohl gar noch als großer Weisheit zu ruͤhmen, mag an¬ ſtaͤndig ſeyn einem Felſen, an den die Meeres¬ wellen ſchlagen, ohne daß er es fuͤhlt, oder einem Baumſtamme, den Stuͤrme hin und her reiſſen, ohne daß er es bemerkt, keinesweges aber einem denkenden Weſen. Selbſt das Schweben in hoͤhern Kreiſen des Denkens ſpricht nicht los von dieſer allgemeinen Ver¬ bindlichkeit, ſeine Zeit zu verſtehen. Alles hoͤhere muß eingreifen wollen auf ſeine Weiſe in die unmittelbare Gegenwart, und wer wahr¬ haftig in jenem lebt, lebt zugleich auch in der leztern; lebte er nicht auch in dieſer, ſo waͤre dies der Beweis, daß er auch in jenem nicht lebte, ſondern in ihm nur traͤumte. Jene Achtloſigkeit auf das, was unter unſern Au¬ gen vorgeht, und die kuͤnſtliche Ableitung der allenfalls entſtandenen Aufmerkſamkeit auf an¬ dere Gegenſtaͤnde, waͤre das erwuͤnſchteſte, was einem Feinde unſrer Selbſtſtaͤndigkeit begegnen koͤnnte. Iſt er ſicher, daß wir uns bei keinem Dinge etwas denken, ſo kann er eben, wie384 mit lebloſen Werkzeugen, alles mit uns vor¬ nehmen, was er will; die Gedankenloſigkeit eben iſt es, die ſich an Alles gewoͤhnt, wo aber der klare, und umfaſſende Gedanke, und in dieſem, das Bild deſſen, was da ſeyn ſollte, immerfort wachſam bleibt, da kommt es zu keiner Gewoͤhnung.

Dieſe Reden haben zunaͤchſt Sie eingela¬ den, und ſie werden einladen die ganze deut¬ ſche Nation, in wie weit es dermalen moͤglich iſt, dieſelbe durch den Buͤcherdruck um ſich zu verſammlen, bei ſich ſelbſt eine feſte Entſchei¬ dung zu faſſen, und innerlich mit ſich einig zu werden uͤber folgende Fragen: 1) ob es wahr ſey, oder nicht wahr, daß es eine deutſche Nation gebe, und daß deren Fortdauer in ih¬ rem eigenthuͤmlichen und ſelbſtſtaͤndigen Weſen dermalen in Gefahr ſey. 2) ob es der Muͤhe werth ſey, oder nicht werth ſey, dieſelbe zu erhalten. 3) ob es irgend ein ſicheres und durchgreifendes Mittel dieſer Erhaltung gebe, und welches dieſes Mittel ſey.

Vorher war die hergebrachte Sitte unter uns dieſe, daß, wenn irgend ein ernſthaftes Wort, muͤndlich, oder im Drucke, ſich verneh¬men385men ließ, das taͤgliche Geſchwaͤz ſich deſſelben bemaͤchtigte, und es in einen ſpaßhaften Un¬ terhaltungsſtoff ſeiner druͤkenden Langeweile verwandelte. Zunaͤchſt um mich herum habe ich dermalen nicht, ſo wie ehemals, bemerkt, daß man von meinen gegenwaͤrtigen Vortraͤ¬ gen denſelben Gebrauch gemacht haͤtte; von dem zeitigen Tone aber der geſelligen Zuſam¬ menkuͤnfte auf dem Boden des Buͤcherdrucks, ich meine die Litteraturzeitungen, und anderes Journalweſen, habe ich keine Kunde genom¬ men, und weiß nicht, ob von dieſem ſich Scherz oder Ernſt erwarten laſſen. Wie dies ſich verhalten moͤge, meine Abſicht wenigſtens iſt es nicht geweſen, zu ſcherzen, und den be¬ kannten Witz, den unſer Zeitalter beſizt, wie¬ der in den Gang zu bringen.

Tiefer unter uns eingewurzelt, faſt zur andern Natur geworden, und das Gegentheil beinahe unerhoͤrt, war unter den Deutſchen die Sitte, daß man alles, was auf die Bahn gebracht wurde, betrachtete, als eine Auffor¬ derung an jeden, der einen Mund haͤtte, nur geſchwind und auf der Stelle ſein Wort auch dazu zu geben, und uns zu berichten, ob erB b386auch derſelben Meinung ſey, oder nicht; nach welcher Abſtimmung denn die ganze Sache vorbei ſey, und das oͤffentliche Geſpraͤch zu einem neuen Gegenſtande eilen muͤſſe. Auf dieſe Weiſe hatte ſich aller literariſche Verkehr unter den Deutſchen verwandelt, ſo wie die Echo der alten Fabel, in einen bloßen reinen Laut, ohne allen Leib, und koͤrperlichen Ge¬ halt. Wie in den bekannten ſchlechten Geſell¬ ſchaften des perſoͤnlichen Verkehrs, ſo kam es auch in dieſer nur darauf an, daß die Men¬ ſchenſtimme fort halle, und daß jeder ohne Stocken ſie aufnehme, und ſie dem Nachbar zuwerfe, keinesweges aber darauf, was da ertoͤnte. Was iſt Charakterloſigkeit und Un¬ deutſchheit, wenn es das nicht iſt? Auch dies iſt nicht meine Abſicht geweſen, dieſer Sitte zu huldigen, und nur das oͤffentliche Geſpraͤch rege zu erhalten. Ich habe, eben auch, indem ich etwas anderes wollte, meinen perſoͤnlichen Antheil zu dieſer oͤffentlichen Unterhaltung ſchon vorlaͤngſt hinlaͤnglich abgetragen, und man koͤnnte mich endlich davon losſprechen. Ich will nicht gerade auf der Stelle wiſſen, wie dieſer oder jener uͤber die in Anregung ge¬387 brachten Fragen denke, d. h. wie er bisher daruͤber gedacht, oder auch nicht gedacht habe. Er ſoll es bei ſich ſelbſt uͤberlegen, und durch¬ denken, ſo lange bis ſein Urtheil fertig iſt, und vollkommen klar, und ſoll ſich die noͤthige Zeit dazu nehmen, und gehen ihm etwa die gehoͤri¬ gen Vorkenntniſſe, und der ganze Grad der Bildung, der zu einem Urtheile in dieſen Ange¬ legenheiten erfordert wird, noch ab, ſo ſoll er ſich auch dazu die Zeit nehmen, ſich dieſelben zu erwerben Hat nun einer auf dieſe Weiſe ſein Urtheil fertig, und klar, ſo wird nicht ge¬ rade verlangt, daß er es auch oͤffentlich ab¬ gebe; ſollte daſſelbe mit dem hier geſagten uͤbereinſtimmen, ſo iſt dieſes eben ſchon ge¬ ſagt, und es bedarf nicht eines zweiten Sa¬ gens, nur wer etwas anderes, und beſſeres ſagen kann, iſt aufgefordert zu reden; dage¬ gen aber ſoll es jeder in jedem Falle nach ſeiner Weiſe und Lage wirklich leben und treiben.

Am allerwenigſten endlich iſt es meine Ab¬ ſicht geweſen, an dieſen Reden unſern deutſchen Meiſtern in Lehre und Schrift eine Schreibe¬ uͤbung vorzulegen, damit ſie dieſelbe verbeſ¬ ſern, und ich bei dieſer Gelegenheit erfahre,B b 2388was ſich etwa von mir hoffen laͤßt. Auch in dieſer Ruͤckſicht iſt guter Lehre und Rathes ſchon ſattſam an mich gewendet worden, und es muͤßte ſich ſchon jezt gezeigt haben, wenn Beſſerung zu erwarten waͤre.

Nein, das war zunaͤchſt meine Abſicht, aus dem Schwarme von Fragen und Unter¬ ſuchungen, und aus dem Heere widerſprechen¬ der Meinungen uͤber dieſelben, in welchem die gebildeten unter uns bisher herumgeworfen worden ſind, ſo viele derſelben ich koͤnnte, auf einen Punkt zu fuͤhren, bei welchem ſie ſich ſelbſt Stand hielten, und zwar auf denjeni¬ gen, der uns am allernaͤchſten liegt, den unſerer eignen gemeinſchaftlichen Angelegenheiten; in dieſem einigen Punkte ſie zu einer feſten Mei¬ nung, bei der es nun unverruͤckt bleibe, und zu einer Klahrheit, in der ſie wirklich ſich zu¬ recht finden, zu bringen; ſo viel anderes auch zwiſchen ihnen ſtreitig ſeyn moͤge, wenigſtens uͤber dieſes Eine ſie zur Einmuͤthigkeit des Sin¬ nes zu verbinden; auf dieſe Weiſe endlich ei¬ nen feſten Grundzug des Deutſchen hervorzu¬ bringen, den, daß er es gewuͤrdigt habe, ſich uͤber die Angelegenheit der Deutſchen eine Mei¬389[nung] zu bilden; dagegen derjenige, der uͤber dieſen Gegenſtand nichts hoͤren, und nichts denken moͤchte, von nun an mit Recht angeſehen werden koͤnnte, als nicht zu uns gehoͤrend.

Die Erzeugung einer ſolchen feſten Mei¬ nung, und die Vereinigung, und das gegen¬ ſeitige ſich Verſtehen mehrerer, uͤber dieſen Ge¬ genſtand, wird, ſo wie es unmittelbar die Ret¬ tung iſt unſers Charakters aus der unſerer un¬ wuͤrdigen Zerfloſſenheit, zugleich auch ein kraͤf¬ tiges Mittel werden, unſern Hauptzwek, die Einfuͤhrung der neuen National-Erziehung, zu erreichen. Beſonders darum, weil wir ſel¬ ber, ſo wohl jeder mit ſich, als alle unterein¬ ander, niemals einig waren, heute dieſes, und morgen etwas anderes wollten, und jeder an¬ ders hineinſchrie in das dumpfe Geraͤuſch, ſind auch unſre Regierungen, die allerdings, und oft mehr als rathſam war, auf uns hoͤrten, irre gemacht worden, und haben hin und her ge¬ ſchwankt, eben ſo wie unſre Meinung. Soll endlich einmal ein feſter und gewiſſer Gang in die gemeinſamen Angelegenheiten kommen; was verhindert, daß wir zunaͤchſt bei uns ſelbſt anfangen, und das Beiſpiel der Entſchieden¬390 heit und Feſtigkeit geben? Laſſe ſich nur ein¬ mal eine uͤbereinſtimmende und ſich gleichblei¬ bende Meinung hoͤren, laſſe ein entſchiedenes und als allgemein ſich ankuͤndigendes Beduͤrfniß ſich vernehmen, das der National-Erziehung, wie wir vorausſetzen; ich halte dafuͤr, unſre Regie¬ rungen werden uns hoͤren, ſie werden uns helfen, wenn wir die Neigung zeigen, uns helfen zu laſſen. Wenigſtens wuͤrden wir im entgegengeſezten Falle ſodann erſt das Recht haben, uns uͤber ſie zu beklagen; dermalen, da unſre Regierungen ohngefaͤhr alſo ſind, wie wir ſie wollen, ſteht uns das Klagen uͤbel an.

Ob es ein ſicheres und durchgreifendes Mittel gebe zur Erhaltung der deutſchen Na¬ tion, und welches dieſes Mittel ſey, iſt die bedeutendſte unter den Fragen, die ich dieſer Nation zur Entſcheidung vorgelegt habe. Ich habe dieſe Frage beantwortet, und die Gruͤn¬ de meiner Art der Beantwortung dargelegt, keinesweges um das Endurtheil vorzuſchreiben, was zu nichts helfen koͤnnte, indem jeder der in dieſer Sache Hand anlegen ſoll, in ſeinem eignen Innern durch eigne Thaͤtigkeit ſich uͤber¬ zeugt haben muß, ſondern nur, um zum eig¬391 nen Nachdenken und Urtheilen anzuregen. Ich muß von nun an jeden ſich ſelbſt uͤberlaſſen. Nur warnen kann ich noch, daß man durch ſeichte und oberflaͤchliche Gedanken, die auch uͤber dieſen Gegenſtand ſich im Umlaufe befin¬ den, ſich nicht taͤuſchen, vom tiefern Nachden¬ ken ſich nicht abhalten, und durch nichtige Vertroͤſtungen ſich nicht abfinden laſſe.

Wir haben z. B. ſchon lange vor den lezten Ereigniſſen, gleichſam auf den Vorrath, hoͤ¬ ren muͤſſen, und es iſt uns ſeitdem haͤufig wie¬ derholt worden, daß, wenn auch unſre poli¬ tiſche Selbſtaͤndigkeit verloren ſey, wir dennoch unſre Sprache behielten, und unſre Litteratur, und in dieſen immer eine Nation blieben, und damit uͤber alles andere uns leichtlich troͤſten koͤnnten.

Worauf gruͤndet ſich denn zufoͤrderſt die Hoffnung, daß wir auch ohne politiſche Selbſt¬ ſtaͤndigkeit dennoch unſre Sprache behalten werden? Jene, die alſo ſagen, ſchreiben doch wohl nicht ihrem Zureden und ihren Ermahnun¬ gen, auf Kind und Kindeskind hinaus, und auf alle kuͤnftigen Jahrhunderte, dieſe wun¬ derwirkende Kraft zu? Was von den jeztle¬392 benden und gemachten Maͤnnern ſich gewoͤhnt hat, in deutſcher Sprache zu reden, zu ſchrei¬ ben, zu leſen, wird ohne Zweifel alſo fortfah¬ ren; aber was wird das naͤchſtkuͤnftige Ge¬ ſchlecht thun, und was erſt das dritte? Wel¬ ches Gegengewicht gedenken wir denn in dieſe Geſchlechter hineinzulegen, das ihrer Begierde, demjenigen, bei welchem aller Glanz iſt, und das alle Beguͤnſtigungen austheilt, auch durch Sprache und Schrift zu gefallen, die Waage halte? Haben wir denn niemals von einer Sprache gehoͤrt, welche die erſte der Welt iſt, ohnerachtet bekannt wird, daß die erſten Wer¬ ke in derſelben noch zu ſchreiben ſind, und ſe¬ hen wir nicht ſchon jezt unter unſern Augen, daß Schriften, durch deren Inhalt man zu ge¬ fallen hofft, in ihr erſcheinen? Man beruft ſich auf das Beiſpiel zweier andern Sprachen, eine der alten, eine der neuen Welt, welche, ohnerachtet des politiſchen Unterganges der Voͤlker, die ſie redeten, dennoch als lebendige Sprachen fortgedauert. Ich will in die Weiſe dieſer Fortdauer nicht einmal hineingehen; ſo viel aber iſt auf den erſten Blik klar, daß bei¬ de Sprachen etwas in ſich hatten, das die393 unſrige nicht hat, wodurch ſie vor den Ueber¬ windern Gnade fanden, welche die unſrige niemals finden kann. Haͤtten dieſe Vertroͤſter beſſer um ſich geſchaut, ſo wuͤrden ſie ein an¬ deres, unſeres Erachtens hier durchaus paſſen¬ des Beiſpiel gefunden haben, das der wendi¬ ſchen Sprache. Auch dieſe dauert ſeit der Rei¬ he von Jahrhunderten, daß das Volk derſel¬ ben ſeine Freiheit verloren hat, noch immer fort, in den aͤrmlichen Huͤtten des an die Scholle gebundenen Leibeignen naͤmlich, da¬ mit er in ihr, unverſtanden von ſeinem Be¬ druͤcker, ſein Schikſal beklagen koͤnne.

Oder ſetze man den Fall, daß unſre Spra¬ che lebendig und eine Schriftſtellerſprache blei¬ be, und ſo ihre Litteratur behalte; was kann denn das fuͤr eine Litteratur ſeyn, die Litte¬ ratur eines Volkes ohne politiſche Selbſtſtaͤn¬ digkeit? Was will denn der vernuͤnftige Schriftſteller, und was kann er wollen? Nichts anderes, denn eingreifen in das allge¬ meine und oͤffentliche Leben, und daſſelbe nach ſeinem Bilde geſtalten und umſchaffen; und wenn er dies nicht will, ſo iſt alles ſein Reden394 leerer Laut, zum Kitzel muͤßiger Ohren. Er will urſpruͤnglich und aus der Wurzel des gei¬ ſtigen Lebens heraus denken, fuͤr diejenigen, die eben ſo urſpruͤnglich wirken, d. i. regieren. Er kann deswegen nur in einer ſolchen Spra¬ che ſchreiben, in der auch die Regierenden den¬ ken, in einer Sprache, in der regiert wird, in der eines Volkes, das einen ſelbſtſtaͤndigen Staat ausmacht. Was wollen denn zulezt alle unſre Bemuͤhungen ſelbſt um die abgezo¬ genſten Wiſſenſchaften? Laſſet ſeyn, der naͤch¬ ſte Zwek dieſer Bemuͤhungen ſei der, die Wiſſen¬ ſchaft fortzupflanzen von Geſchlecht zu Ge¬ ſchlecht, und in der Welt zu erhalten; warum ſoll ſie denn auch erhalten werden? Offenbar nur, um zu rechter Zeit das allgemeine Leben, und die ganze menſchliche Ordnung der Dinge zu geſtalten. Dies iſt ihr lezter Zwek; mit¬ telbar dient ſonach, ſey es auch erſt in einer ſpaͤtern Zukunft, jede wiſſenſchaftliche Beſtre¬ bung dem Staate. Giebt ſie dieſen Zwek auf, ſo iſt auch ihre Wuͤrde, und ihre Selbſtſtaͤndig¬ keit verloren. Wer aber dieſen Zwek hat, der muß ſchreiben in der Sprache des herrſchenden Volkes.

395

Wie es ohne Zweifel wahr iſt, daß allent¬ halben, wo eine beſondere Sprache angetroffen wird, auch eine beſondere Nation vorhanden iſt, die das Recht hat, ſelbſtſtaͤndig ihre Ange¬ legenheiten zu beſorgen, und ſich ſelber zu re¬ gieren; ſo kann man umgekehrt ſagen, daß, wie ein Volk aufgehoͤrt hat, ſich ſelbſt zu re¬ gieren, es eben auch ſchuldig ſey, ſeine Spra¬ che aufzugeben, und mit den Ueberwindern zu¬ ſammen zu fließen, damit Einheit, innerer Friede, und die gaͤnzliche Vergeſſenheit der Verhaͤltniſſe, die nicht mehr ſind, entſtehe. Ein nur halbverſtaͤndiger Anfuͤhrer einer ſol¬ chen Miſchung muß hierauf dringen, und wir koͤnnen uns ſicher darauf verlaſſen, daß in un¬ ſerm Falle darauf gedrungen werden wird. Bis dieſe Verſchmelzung erfolgt ſey, wird es Ueber¬ ſetzungen der verſtatteten Schulbuͤcher in die Sprache der Barbaren geben, d. i. derjenigen, die zu ungeſchikt ſind, die Sprache des herr¬ ſchenden Volkes zu lernen, und die eben da¬ durch von allem Einfluſſe auf die oͤffentlichen Angelegenheiten ſich ausſchließen, und ſich zur lebenslaͤnglichen Unterwuͤrfigkeit verdammen; auch wird es dieſen, die zur Stummheit uͤber396 die wirkichen Begebenheiten ſich ſelbſt verur¬ theilt haben, verſtattet werden, an erdichte¬ ten Welthaͤndeln ihre Redefertigkeit zu uͤben, oder ehemalige und alte Formen ſich ſelber nachzuahmen, wo man fuͤr das erſte an der zum Beiſpiel angefuͤhrten alten, fuͤr das lezte¬ re an der neuen Sprache, die Belege aufſuchen mag. Eine ſolche Litteratur moͤchten wir viel¬ leicht noch auf einige Zeit behalten, und mit derſelben mag ſich troͤſten der, der keinen beſ¬ ſern Troſt hat; daß aber auch ſolche, die wohl faͤhig waͤren, ſich zu ermannen, die Wahrheit zu ſehen, und aufgeſchrekt zu werden durch ih¬ ren Anblik zu Entſchluß und That, durch ſol¬ chen nichtigen Troſt, mit welchem einem Fein¬ de unſrer Selbſtſtaͤndigkeit recht eigentlich ge¬ dient ſeyn wuͤrde, in dem traͤgen Schlummer erhalten werden, dieſes moͤchte ich verhindern, wenn ich es koͤnnte.

Man verheißt uns alſo die Fortdauer einer deutſchen Litteratur auf die kuͤnftigen Geſchlech¬ ter. Um die Hoffnungen die wir hieruͤber faſ¬ ſen koͤnnen, naͤher zu beurtheilen, wuͤrde es ſehr zutraͤglich ſeyn, ſich umzuſehen, ob wir denn auch nur bis auf dieſen Augenblik eine397 deutſche Litteratur im wahren Sinne des Wor¬ tes noch haben. Das edelſte Vorrecht und das heiligſte Amt des Schriftſtellers iſt dies, ſeine Nation zu verſammlen, und mit ihr uͤber ihre wichtigſten Angelegenheiten zu berathſchla¬ gen; ganz beſonders aber iſt dies von jeher das ausſchlieſſende Amt des Schriftſtellers ge¬ weſen in Deutſchland, indem dieſes in meh¬ rere abgeſonderte Staaten zertrennt war, und als gemeinſames Ganzes faſt nur durch das Werkzeug des Schriftſtellers, durch Sprache und Schrift, zuſammen gehalten wurde; am eigentlichſten und dringendſten wird es ſein Amt in dieſer Zeit, nachdem das lezte aͤuſſere Band, das die Deutſchen vereinigte, die Reichsverfaſſung, auch zerriſſen iſt. Sollte es ſich nun etwa zeigen wir ſprechen hieran nicht etwa aus, was wir wuͤßten, oder be¬ fuͤrchteten, ſondern nur einen moͤglichen Fall, auf den wir jedoch ebenfalls im voraus Be¬ dacht nehmen muͤſſen ſollte es ſich, ſage ich, etwa zeigen, daß ſchon jetzo Diener beſonderer Staaten von Angſt, Furcht, und Schreken ſo eingenommen waͤren, daß ſie ſolchen, eine Nation eben noch als daſeyend vorausſetzenden, und an398 dieſelbe ſich wendenden Stimmen, zuerſt das Lautwerden, oder durch Verbote die Verbrei¬ tung verſagten; ſo waͤre dies ein Beweis, daß wir ſchon jezt keine deutſche Schriftſtellerei mehr haͤtten, und wir wuͤßten, wie wir mit den Ausſichten auf eine kuͤnftige Litteratur da¬ ran waͤren.

Was koͤnnte es doch ſeyn, daß dieſe fuͤrch¬ teten? Etwa, daß dieſer und jener derglei¬ chen Stimmen nicht gern hoͤren werde? Sie wuͤrden fuͤr ihre zarte Beſorgtheit wenigſtens die Zeit uͤbel gewaͤhlt haben. Schmaͤhungen und Herabwuͤrdigungen des Vaterlaͤndiſchen, abgeſchmackte Lobpreiſungen des Auslaͤndiſchen, koͤnnen ſie ja doch nicht verhindern; ſeyn ſie doch nicht ſo ſtrenge gegen ein dazwiſchen toͤ¬ nendes vaterlaͤndiſches Wort! Es iſt wohl moͤglich, daß nicht alle alles gleich gern hoͤren; aber dafuͤr koͤnnen wir zur Zeit nicht ſorgen, uns treibt die Noth, und wir muͤſſen eben ſa¬ gen, was dieſe zu ſagen gebietet. Wir ringen ums Leben; wollen ſie, daß wir unſre Schritte abmeſſen, damit nicht etwa durch den erregten Staub irgend ein Staatskleid beſtaͤubt werde? Wir gehen unter in den Fluthen; ſollen wir399 nicht um Huͤlfe rufen, damit nicht irgend ein ſchwachnerviger Nachbar erſchrekt werde?

Wer ſind denn diejenigen, die es nicht gern hoͤren koͤnnten, und unter welcher Bedingung koͤnnten ſie es denn nicht gern hoͤren? Allent¬ halben iſt es nur die Unklarheit und die Fin¬ ſterniß, die da ſchrekt. Jedes Schrekbild ver¬ ſchwindet, wenn man es feſt ins Auge faßt Laſſet uns mit derſelben Unbefangenheit und Unumwundenheit, mit der wir bisher jeden in dieſe Vortraͤge fallenden Gegenſtand zerlegt haben, auch dieſem Schrekniſſe unter die Au¬ gen treten.

Man nimmt an, entweder, daß das We¬ ſen, dem dermalen die Leitung eines großen Theils der Weltangelegenheiten anheim gefal¬ len iſt, ein wahrhaft großes Gemuͤth ſey, oder man nimmt das Gegentheil an, und ein drit¬ tes iſt nicht moͤglich. Im erſten Falle, worauf beruht denn alle menſchliche Groͤße, auſſer auf der Selbſtſtaͤndigkeit und Urſpruͤnglichkeit der Porſon, und daß ſie nicht ſey ein erkuͤnſteltes Gemaͤchte ihres Zeitalters, ſondern ein Ge¬ waͤchs aus der ewigen und urſpruͤnglichen Gei¬ ſterwelt, ganz ſo wie es iſt, hervorgewachſen,400 daß ihr eine neue und eigenthuͤmliche Anſicht des Weltganzen aufgegangen ſey, und daß ſie feſten Willen habe, und eiſerne Kraft, dieſe ihre Anſicht einzufuͤhren in die Wirklichkeit? Aber es iſt ſchlechthin unmoͤglich, daß ein ſol¬ ches Gemuͤth nicht auch außer ſich, an Voͤl¬ kern und Einzelnen, ehre, was in ſeinem In¬ nern ſeine eigne Groͤße ausmacht, die Selbſt¬ ſtaͤndigkeit, die Feſtigkeit, die Eigenthuͤmlich¬ keil des Daſeyns. So gewiß es ſich in ſeiner Groͤße fuͤhlt, und derſelben vertraut, ver¬ ſchmaͤht es uͤber armſeeligen Knechtsſinn zu herrſchen, und groß zu ſeyn unter Zwergen; es verſchmaͤht den Gedanken, daß es die Menſchen erſt herabwuͤrdigen muͤſſe, um uͤber ſie zu gebieten: es iſt gedruͤckt durch den Anblik des daſſelbe umgebenden Verderbens, es thut ihm weh, die Menſchen nicht achten zu koͤnnen; Alles aber, was ſein verbruͤdertes Geſchlecht erhebt, veredelt, in ein wuͤrdigeres Licht ſezt, thut wohl ſeinem ſelbſt edlen Geiſte, und iſt ſein hoͤchſter Genuß. Ein ſolches Gemuͤth ſoll¬ te ungern vernehmen, daß die Erſchuͤtterungen, die die Zeiten herbei gefuͤhrt haben, benuzt werden, um eine alte ehrwuͤrdige Nation, denStamm401Stamm der mehreſten Voͤlker des neuen Euro¬ pa, und die Bildnerin aller, aus dem tiefen Schlummer aufzuregen, und dieſelbe zu bewe¬ gen, daß ſie ein ſicheres Verwahrungsmittel ergreifen, um ſich zu erheben aus dem Verder¬ ben, welches dieſelbe zugleich ſichert, nie wieder herabzuſinken, und mit ſich ſelbſt zugleich alle uͤbrige Voͤlker zu erheben? Es wird hier nicht angeregt zu ruheſtoͤrenden Auf¬ tritten; es wird vielmehr vor dieſen, als ſicher zum Verderben fuͤhrend, gewarnt, es wird eine feſte unwandelbare Grundlage an¬ gegeben, worauf endlich in einem Volke der Welt die hoͤchſte, reinſte, und noch niemals alſo unter den Menſchen geweſene Sittlichkeit aufgebaut, fuͤr alle folgende Zeiten geſichert, und von da aus uͤber alle andere Voͤlker ver¬ breitet werde; es wird eine Umſchaffung des Menſchengeſchlechts angegeben aus irdiſchen und ſinnlichen Geſchoͤpfen, zu reinen und ed¬ len Geiſtern. Durch einen ſolchen Vorſchlag, meint man, koͤnne ein Geiſt, der ſelbſt rein iſt, und edel und groß, oder irgend jemand, der nach ihm ſich bildet, beleidiget werden?

C c402

Was wuͤrden dagegen diejenigen, welche dieſe Furcht hegten, und dieſelbe durch ihr Han¬ deln zugeſtaͤnden, annehmen, und laut vor aller Welt bekennen, daß ſie es annehmen? Sie wuͤrden bekennen, daß ſie glaubten, daß ein menſchenfeindliches, und ein ſehr kleines und niedriges Princip uͤber uns herrſche, dem jede Regung ſelbſtſtaͤndiger Kraft bange mache, der von Sittlichkeit, Religion, Veredlung der Gemuͤther nicht ohne Angſt hoͤren koͤnne, in¬ dem allein in der Herabwuͤrdigung der Men¬ ſchen, in ihrer Dumpfheit, und ihren Laſtern, fuͤr ihn Heil ſey,[und] Hoffnung, ſich zu erhalten. Mit dieſem ihren Glauben, der unſern andern Uebeln noch die druͤckende Schmach hinzufuͤgen wuͤrde, von einem ſolchen beherſcht zu ſeyn, ſollen wir nun ohne weiteres, und ohne die vorhergegangene einleuchtende Beweißfuͤhrung, einverſtanden ſeyn, und in demſelben handeln?

Den ſchlimmſten Fall geſezt, daß ſie recht haͤtten, keinesweges aber wir, die wir das erſtere durch unſere That annehmen, ſoll denn nun wirklich, einem zu gefal¬ len, dem damit gedient iſt, und ihnen zu ge¬403 fallen, die ſich fuͤrchten, das Menſchenge¬ ſchlecht herabgewuͤrdiget werden, und verſin¬ ken, und ſoll keinem, dem ſein Herz es gebie¬ tet, erlaubt ſeyn, ſie vor dem Verfalle zu warnen! Geſezt, daß ſie nicht bloß recht haͤt¬ ten, ſondern daß man ſich auch noch entſchlieſ¬ ſen ſollte, im Angeſichte der Mitwelt und der Nachwelt ihnen recht zu geben, und das eben hingelegte Urtheil uͤber ſich ſelbſt laut auszu¬ ſprechen, was waͤre denn nun das hoͤchſte und lezte, das fuͤr den unwillkommnen Warner dar¬ aus erfolgen koͤnnte? Kennen ſie etwas hoͤhe¬ res, denn den Tod? Dieſer erwartet uns oh¬ ne dies alle, und es haben vom Anbeginn der Menſchheit an edle um geringerer Angelegen¬ heiten willen denn wo gab es jemals eine hoͤhere, als die gegenwaͤrtige? der Gefahr deſſelben getrozt. Wer hat das Recht zwiſchen ein Unternehmen, das auf dieſe Gefahr begon¬ nen iſt, zu treten?

Sollte es, wie ich nicht hoffe, ſolche unter uns Deutſchen geben, ſo wuͤrden dieſe unge¬ beten, ohne Dank, und, wie ich hoffe, zuruͤck¬ gewieſen, ihren Hals dem Joche der geiſtigenC c 2404Knechtſchaft darbieten; ſie wuͤrden, bitter ſchmaͤhend, indem ſie ſtaatsklug zu ſchmeicheln glauben, weil ſie nicht wiſſen, wie wahrer Groͤße zu Muthe iſt, und die Gedanken der¬ ſelben nach denen ihrer eignen Kleinheit meſſen, ſie wuͤrden die Litteratur, mit der ſie nichts anderes anzufangen wiſſen, gebrauchen, um durch die Abſchlachtung derſelben als Opfer¬ thier ihren Hof zu machen. Wir dagegen prei¬ ſen durch die That unſers Vertrauens und un¬ ſers Muthes, weit mehr, denn Worte es je vermoͤchten, die Groͤße des Gemuͤthes, bei dem die Gewalt iſt. Ueber das ganze Gebiet der ganzen deutſchen Zunge hinweg, wo irgend hin unſere Stimme frei und unaufgehalten er¬ toͤnt, ruft ſie durch ihr bloßes Daſeyn den Deutſchen zu: niemand will eure Unterdruͤk¬ kung, euren Knechtsſinn, eure ſklaviſche Un¬ terwuͤrfigkeit, ſondern eure Selbſtſtaͤndigkeit, eure wahre Freiheit, eure Erhebung und Ver¬ edlung will man, denn man hindert nicht, daß man ſich oͤffentlich mit euch daruͤber berath¬ ſchlage, und euch das unfehlbare Mittel dazu zeige. Findet dieſe Stimme Gehoͤr, und den405 beabſichtigten Erfolg, ſo ſezt ſie ein Denkmal dieſer Groͤße, und unſers Glaubens an dieſel¬ be, ein in den Fortlauf der Jahrhunderte, welches keine Zeit zu zerſtoͤren vermag, ſondern das mit jedem neuen Geſchlechte hoͤher waͤchſt, und ſich weiterverbreitet. Wer darf ſich gegen den Verſuch ſetzen ein ſolches Denkmal zu errichten?

Anſtatt alſo mit der zukuͤnftigen Bluͤthe unſrer Litteratur uͤber unſre verlorne Selbſt¬ ſtaͤndigkeit uns zu troͤſten, und von der Aufſu¬ chung eines Mittels, dieſelbe wieder herzu¬ ſtellen, uns durch dergleichen Troſt abhalten zu laſſen, wollen wir lieber wiſſen, ob dieje¬ nigen Deutſchen, denen eine Art von Bevor¬ mundung der Litteratur zugefallen iſt, den uͤbrigen ſelbſt ſchreibenden oder leſenden Deut¬ ſchen, eine Litteratur im wahren Sinne des Wors noch bis dieſen Tag erlauben, und ob ſie dafuͤr halten, daß eine ſolche Litteratur der¬ malen in Deutſchlaud noch erlaubt ſey, oder nicht; wie ſie aber wirklich daruͤber denken, das wird ſich demnaͤchſt entſcheiden muͤſſen.

Nach allem iſt das naͤchſte, was wir zu thun haben, um bis zur voͤlligen und gruͤndlichen406 Verbeſſerung unſers Stammes uns auch nur aufzubehalten, dies, daß wir uns Charakter anſchaffen, und dieſen zunaͤchſt dadurch bewaͤh¬ ren, daß wir uns durch eignes Nachdenken eine feſte Meinung bilden uͤber unſere wahre Lage, und uͤber das ſichere Mittel dieſelbe zu verbeſſern. Die Richtigkeit des Troſtes aus der Fortdauer unſrer Sprache, und Litteratur iſt gezeigt. Noch aber giebt es andere, in dieſen Reden noch nicht erwaͤhnte Vorſpiege¬ lungen, welche die Bildung einer ſolchen fe¬ ſten Meinung verhindern. Es iſt zwekmaͤßig, daß wir auch auf dieſe Ruͤkſicht nehmen; je¬ doch behalten wir dieſes Geſchaͤft vor der naͤch¬ ſten Stunde.

407

Inhaltsanzeige der dreizehnten Rede*)Warum von dieſer Rede nur die Inhaltsanzeige, nicht aber die Rede ſelbſt geliefert werde, dar¬ uͤber ſehe man die am Ende dieſer Anzeige be¬ findliche Anmerkung. .

Fortſetzung der angefangenen Betrachtung.

Es ſeye noch ein mehreres von nichtigen Ge¬ danken, und taͤuſchenden Lehrgebaͤuden uͤber die Angelegenheiten der Voͤlker unter uns im Umlaufe, welches die Deutſchen verhindere, eine ihrer Eigenthuͤmlichkeit gemaͤße feſte An¬ ſicht uͤber ihre gegenwaͤrtige Lage zu faſſen, aͤußerten wir am Ende unſerer vorigen Rede. Da dieſe Traumbilder gerade jezt mit groͤßerem Eifer zur oͤffentlichen Verehrung herumgeboten werden, und, nachdem ſo vieles andere wan¬ kend geworden, von manchem lediglich zur408 Ausfuͤllung der entſtandenen leeren Stellen aufgefaßt werden koͤnnten, ſo ſcheint es zur Sache zu gehoͤren, dieſelben mit groͤßerem Ernſte, als außerdem ihre Wichtigkeit verdie¬ nen duͤrfte, einer Pruͤfung zu unterwerfen.

Zufoͤrderſt und vor allen Dingen Die erſten, urſpruͤnglichen, und wahrhaft natuͤr¬ lichen Grenzen der Staaten ſind ohne Zweifel ihre innern Grenzen. Was dieſelbe Sprache redet, das iſt ſchon vor aller menſchlichen Kunſt vorher durch die bloße Natur mit einer Menge von unſichtbaren Banden an einander geknuͤpft; es verſteht ſich unter einander, und iſt faͤhig, ſich immerfort klaͤrer zu verſtaͤndigen, es gehoͤrt zuſammen, und iſt natuͤrlich Eins, und ein unzertrennliches Ganzes. Ein ſolches kann kein Volk anderer Abkunft und Sprache in ſich aufnehmen und mit ſich vermiſchen wollen, ohne wenigſtens fuͤrs erſte ſich zu verwirren, und den gleichmaͤßigen Fortgang ſeiner Bil¬ dung maͤchtig zu ſtoͤren. Aus dieſer innern, durch die geiſtige Natur des Menſchen ſelbſt gezogenen Grenze ergiebt ſich erſt die aͤußere Be¬ grenzung der Wohnſitze, als die Folge von409 jener, und in der natuͤrlichen Anſicht der Dinge ſind keinesweges die Menſchen, welche inner¬ halb gewiſſer Berge und Fluͤſſe wohnen, um deswillen Ein Volk, ſondern umgekehrt wohnen die Menſchen beiſammen, und wenn ihr Gluͤk es ſo gefuͤgt hat, durch Fluͤſſe und Berge ge¬ dekt, weil ſie ſchon fruͤher durch ein weit hoͤhe¬ res Naturgeſez Ein Volk waren.

So ſaß die deutſche Nation, durch gemein¬ ſchaftliche Sprache und Denkart ſattſam unter ſich vereinigt, und ſcharf genug abgeſchnitten von den andern Voͤlkern, in der Mitte von Europa da, als ſcheidender Wall nicht ver¬ wandter Staͤmme, zahlreich und tapfer genug, um ihre Grenzen gegen jeden fremden Anfall zu ſchuͤtzen, ſich ſelbſt uͤberlaſſen durch ihre ganze Denkart wenig geneigt, Kunde von den be¬ nachbarten Voͤlkerſchaften zu nehmen, in der¬ ſelben Angelegenheiten ſich zu miſchen, und durch Beunruhigungen ſie zur Feindſeligkeit aufzureizen. Im Verlaufe der Zeiten bewahrte ſie ihr guͤnſtiges Geſchik vor dem unmittelba¬ ren Antheile am Raube der andern Welten; dieſer Begebenheit, durch welche vor allen410 andern die Weiſe der Fortentwiklung der neuern Weltgeſchichte, die Schikſale der Voͤl¬ ker, und der groͤßte Theil ihrer Begriffe und Meinungen, begruͤndet worden ſind. Seit die¬ ſer Begebenheit erſt zertheilte ſich das chriſt¬ liche Europa, das vorher, auch ohne ſein eige¬ nes deutliches Bewußtſeyn, Eins geweſen war, und als ſolches in gemeinſchaftlichen Unterneh¬ mungen ſich gezeigt hatte, in mehrere abgeſon¬ derte Theile; ſeit jener Begebenheit erſt war eine gemeinſchaftliche Beute aufgeſtellt, nach der jeder auf die gleiche Weiſe begehrte, weil alle ſie auf die gleiche Weiſe brauchen konnten, und die jeder mit Eiferſucht in den Haͤnden des andern erblikte; erſt nun war ein Grund vorhanden zu geheimer Feindſchaft und Kriegs¬ luſt Aller gegen Alle. Auch wurde es nun erſt zum Gewinne fuͤr Voͤlker, Voͤlker auch anderer Abkunft und Sprachen durch Eroberung, oder, wenn dies nicht moͤglich waͤre, durch Buͤnd¬ niſſe, ſich einzuverleiben, und ihre Kraͤfte ſich zuzueignen. Ein der Natur treu gebliebnes Volk kann, wenn ſeine Wohnſitze ihm zu enge werden, dieſelben durch Eroberung des benach¬411 barten Bodens erweitern wollen, um mehr Raum zu gewinnen, und es wird ſodann die fruͤhern Bewohner vertreiben; es kann einen rauhen und unfruchtbaren Himmelsſtrich gegen einen mildern und geſegnetern vertauſchen wollen, und es wird in dieſem Falle abermals die fruͤhern Beſitzer austreiben; es kann, wenn es auch ausartet, bloße Raubzuͤge unterneh¬ men, auf denen es, ohne des Bodens oder der Bewohner zu begehren, bloß alles Brauchba¬ ren ſich bemaͤchtigt, und die ausgeleerten Laͤn¬ der wieder verlaͤßt; es kann endlich die fruͤhern Bewohner des eroberten Bodens, als eine gleichfalls brauchbare Sache, wie Sklaven der Einzelnen unter ſich vertheilen: aber daß es die fremde Voͤlkerſchaft, ſo wie dieſelbe beſteht, als Beſtandtheile des Staats ſich anfuͤge, da¬ bei hat es nicht den geringſten Gewinn, und es wird niemals in Verſuchung kommen, dies zu thun. Iſt aber der Fall der, daß einem gleich ſtarken, oder wohl noch ſtaͤrkern Neben¬ buhler eine reizende gemeinſchaftliche Beute abgekaͤmpft werden ſoll, ſo ſteht die Rechnung anders. Wie auch uͤbrigens ſonſt das uͤber¬412 wundne Volk zu uns paſſen moͤge, ſo ſind we¬ nigſtens ſeine Faͤuſte zur Bekaͤmpfung des von uns zu beraubenden Gegners brauchbar, und jederman iſt uns, als eine Vermehrung der oͤffentlichen Steitkraft, willkommen. So nun irgend einem Weiſen, der Friede und Ruhe ge¬ wuͤnſcht haͤtte, uͤber dieſe Lage der Dinge die Augen klar aufgegangen waͤren, wovon haͤtte derſelbe Ruhe erwarten koͤnnen? Offenbar nicht von der natuͤrlichen Beſchraͤnkung der menſchlichen Habſucht dadurch, das das Ueber¬ fluͤſſige keinem nuͤtze; denn eine Beute, wodurch alle verſucht werden, war vorhanden: und eben ſo wenig haͤtte er ſie erwarten koͤnnen von dem ſich ſelbſt eine Grenze ſetzenden Willen, denn unter ſolchen, von denen jedweder alles an ſich reißt, was er vermag, muß der ſich ſelbſt Beſchraͤnkende nothwendig zu Grunde gehen. Keiner will mit dem andern theilen, was er dermalen zu eigen beſizt; jeder will dem andern das ſeinige rauben, wenn er irgend kann. Ruht einer, ſo geſchieht dies nur dar¬ um, weil er ſich nicht fuͤr ſtark genug haͤlt, Streit anzufangen; er wird ihn ſicher anfan¬413 gen, ſobald er die erforderliche Staͤrke in ſich verſpuͤrt. Somit iſt das einzige Mittel die Ruhe zu erhalten dieſes, daß niemals einer zu der Macht gelange, dieſelbe ſtoͤren zu koͤnnen, und daß jedweder wiſſe, es ſey auf der andern Seite gerade ſo viel Kraft zum Widerſtande, als auf ſeiner Seite ſey zum Angriffe; daß alſo ein Gleichgewicht, und Gegengewicht der geſammten Macht entſtehe, wodurch allein, nachdem alle andere Mittel verſchwunden ſind, jeder in ſeinem gegenwaͤrtigen Beſizſtande, und alle in Ruhe, erhalten werden. Dieſe beiden Stuͤke demnach: einen Raub, auf den kein ein¬ ziger einiges Recht habe, alle aber nach ihm die gleiche Begierde, ſodann die allgemeine, immerfort thaͤtig ſich regende wirkliche Raub¬ ſucht, ſezt jenes bekannte Syſtem eines Gleich¬ gewichts der Macht in Europa voraus; und unter dieſen Vorausſetzungen wuͤrde dieſes Gleichgewicht freilich das einzige Mittel ſeyn die Ruhe zu erhalten, wenn nur erſt das zweite Mittel gefunden waͤre, jenes Gleichgewicht hervorzubringen, und es aus einem leeren Gedanken in ein wirkliches Ding zu ver¬ wandeln.

414

Aber waren denn auch jene Vorausſetzun¬ gen allgemein, und ohne alle Ausnahme, zu machen. War nicht im Mittelpunkte von Eu¬ ropa die uͤbermaͤchtige deutſche Nation rein geblieben von dieſer Beute, und von der An¬ ſteckung mit der Luſt darnach, und faſt ohne Vermoͤgen, Anſpruch auf dieſelbe zu machen? Waͤre nur dieſe zu Einem gemeinſchaftlichen Willen, und Einer gemeinſchaftlichen Kraft vereinigt geblieben; haͤtten doch dann die uͤbri¬ gen Europaͤer ſich morden moͤgen in allen Mee¬ ren, und auf allen Inſeln und Kuͤſten: in der Mitte von Europa haͤtte der feſte Wall der Deutſchen ſie verhindert an einander zu kom¬ men, hier waͤre Friede geblieben, und die Deutſchen haͤtten ſich, und mit ſich zugleich einen Theil der uͤbrigen Europaͤiſchen Voͤlker, in Ruhe und Wohlſtand erhalten.

Es war dem nur den naͤchſten Augenblik berechnenden Eigennutze des Auslandes nicht gemaͤß, daß es alſo bliebe. Sie fanden die deutſche Tapferkeit brauchbar, um durch ſie ihre Kriege zu fuͤhren, und die Haͤnde derſelben, um mit ihnen ihren Nebenbuhlern die Beute zu415 entreißen; es mußte ein Mittel gefunden wer¬ den, um dieſen Zwek zu erreichen, und die auslaͤndiſche Schlauheit ſiegte leicht uͤber die deutſche Unbefangenheit und Verdachtloſigkeit. Das Ausland war es, welches zuerſt der uͤber Religionsſtreitigkeiten entſtandenen Entzweiung der Gemuͤther in Deutſchland ſich bediente, um dieſen Inbegrif des geſammten chriſtlichen Europa im Kleinen aus der innig verwachſe¬ nen Einheit eben ſo in abgeſonderte und fuͤr ſich beſtehende Theile kuͤnſtlich zu zertrennen, wie erſt jenes, uͤber einen gemeinſamen Raub, ſich na¬ tuͤrlich zertrennt hatte; das Ausland wußte dieſe alſo entſtandenen beſondern Staaten im Schooße der Einen Nation, die keinen Feind hatte, denn das Ausland ſelbſt, und keine Angelegenheit, denn die gemeinſame, gegen die Verfuͤhrungen und die Hinterliſt dieſes mit vereinigter Kraft ſich zu ſetzen, es wußte dieſe einander gegen¬ ſeitig vorzuſtellen, als natuͤrliche Feinde, gegen die jeder immerfort auf der Hut ſeyn muͤſſe, ſich ſelbſt dagegen darzuſtellen als die natuͤrlichen Verbuͤndeten gegen dieſe von den eignen Lands¬ leuten drohende Gefahr; als die Verbuͤndeten,416 mit denen allein ſie ſelbſt ſtaͤnden, oder fielen, und die ſie daher gleichfalls in ihren Unterneh¬ mungen mit aller ihrer Macht unterſtuͤtzen muͤßten. Nur durch dieſes kuͤnſtliche Bin¬ dungsmittel wurden alle Zwiſte, die uͤber ir¬ gend einen Gegenſtand in der alten oder neuen Welt ſich entſpinnen mochten, zu eignen Zwi¬ ſten der deutſchen Staͤmme unter einander; jeder aus irgend einem Grunde entſtandene Krieg mußte auf deutſchem Boden und mit deutſchem Blute ausgefochten werden, jede Verruͤkung des Gleichgewichts in derjenigen Nation, der der ganze Urquell dieſer Verhaͤlt¬ niſſe fremd war, ausgeglichen werden, und die deutſchen Staaten, deren abgeſondertes Da¬ ſeyn ſchon gegen alle Natur und Vernunft ſtritt, mußten, damit ſie doch etwas waͤren, zu Zu¬ lagen gemacht werden zu den Hauptgewichten in der Wage des Europaͤiſchen Gleichgewichts, deren Zuge ſie blind und willenlos folgten. So wie man in manchem auslaͤndiſchen Staate die Buͤrger bezeichnet dadurch, daß ſie von dieſer oder einer andern fremden Parthey ſeyen, und fuͤr dieſes oder jenes auswaͤrtige Buͤndnißſtim¬417ſtimmten, ſolche aber, die von der vaterlaͤn¬ diſchen Parthey ſeyen, nicht nahmhaft zu machen weiß; ſo waren die Deutſchen ſchon laͤngſt nur fuͤr irgend eine fremde Parthey, und man traf ſelten auf einen, der die Partey der Deutſchen gehalten, und gemeint haͤtte, daß dieſes Land ſich mit ſich ſelbſt verbuͤnden ſollte.

Dies alſo iſt der wahre Urſprung und die Bedeutung, dies der Erfolg fuͤr Deutſchland und fuͤr die Welt von dem beruͤchtigten Lehrgebaͤude eines kuͤnſtlich zu erhaltenden Gleichgewichts der Macht unter den Europaͤiſchen Staaten. Waͤre das chriſtliche Europa Eins geblieben, wie es ſollte, und wie es urſpruͤnglich war, ſo haͤtte man nie Veranlaſſung gehabt, einen ſol¬ chen Gedanken zu erzeugen; das Eine ruht auf ſich ſelbſt, und traͤgt ſich ſelbſt, und zertheilt ſich nicht in ſtreitende Kraͤfte, die mit einander in ein Gleichgewicht gebracht werden muͤßten; nur fuͤr das unrechtlich gewordene, und zertheilte Europa erhielt jener Gedanke eine nothduͤrftige Bedeutung. Zu dieſem unrechtlich gewordenen, und zer¬D d418theilten Europa gehoͤrte Deutſchland nicht. Waͤre nur wenigſtens dieſes Eins geblieben, ſo haͤtte es auf ſich ſelbſt geruht im Mittel¬ punkte der gebildeten Erde, ſo wie die Sonne im Mittelpunkte der Welt; es haͤtte ſich in Ruhe erhalten, und durch ſich ſeine naͤchſte Umge¬ bung, und haͤtte, ohne alle kuͤnſtliche Vorkeh¬ rung, durch ſein bloßes natuͤrliches Daſeyn, allem das Gleichgewicht gegeben. Nur der Trug des Auslandes miſchte daſſelbe in ſeine Unrechtlichkeit und ſeine Zwiſte, und brachte ihm jenen hinterliſtigen Begriff bei, als eins der wirkſamſten Mittel, daſſelbe uͤber ſeinen wahren Vortheil zu taͤuſchen, und es in der Taͤuſchung zu erhalten. Dieſer Zweck iſt nun hinlaͤnglich erreicht, und der beabſichtigte Er¬ folg liegt vollendet da vor unſern Augen. Koͤn¬ nen wir nun auch dieſen nicht aufheben; warum ſollen wir nicht wenigſtens die Quelle deſſelben in unſerm eignen Verſtande, der faſt noch das einzige iſt, das unſrer Botmaͤßigkeit uͤberlaſſen geblieben, austilgen? Warum ſoll das alte Traumbild noch immer uns vor die Augen geſtellt werden, nachdem das Uebel uns aus419 dem Schlafe gewekt hat? Warum ſollen wir nicht wenigſtens jezt die Wahrheit ſehen, und das einzige Mittel, das uns haͤtte retten koͤn¬ nen, erblicken ob vielleicht unſre Nachkommen thun moͤchten, was wir einſehen; ſo wie wir jezo leiden, weil unſre Vaͤter traͤumten. Laſ¬ ſet uns begreifen, daß der Gedanke eines kuͤnſt¬ lich zu erhaltenden Gleichgewichts zwar fuͤr das Ausland ein troͤſtender Traum ſeyn konnte bei der Schuld und dem Uebel, welche daſſelbe druͤkten; daß er aber, als ein durchaus auslaͤn¬ diſches Erzeugniß, niemals in dem Gemuͤthe eines Deutſchen haͤtte Wurzel faſſen, und die Deutſchen niemals in die Lage haͤtten kommen ſollen, daß er bei ihnen Wurzel faſſen gekonnt haͤtte; daß wir wenigſtens jezt in ſeiner Nich¬ tigkeit ihn durchdringen, und daß wir einſehen muͤſſen, daß nicht bei ihm, ſondern allein bei der Einigkeit der Deutſchen unter ſich ſelber, das allgemeine Heil zu finden ſey.

Eben ſo fremd iſt dem Deutſchen die in unſern Tagen ſo haͤufig gepredigte Freiheit der Meere; ob nun wirklich dieſe Freiheit, oder ob bloß das Vermoͤgen, daß man ſelbſt alleD d 2420anderen von derſelben ausſchließen koͤnne, be¬ abſichtiget werde. Jahrhunderte hindurch, waͤhrend des Wetteifers aller andern Nationen, hat der Deutſche wenig Begierde gezeigt, an derſelben in einem ausgedehnten Maaße Theil zu nehmen, und er wird es nie. Auch bedarf er derſelben nicht. Sein reichlich ausgeſtatte¬ tes Land, und ſein Fleiß gewaͤhrt ihm alles, deſſen der gebildete Menſch zum Leben bedarf; an Kunſtfertigkeit, daſſelbe fuͤr den Zwek zu verarbeiten, gebricht es ihm auch nicht: und um den einigen wahrhaften Gewinn, den der Welthandel mit ſich fuͤhrt, die Erweiterung der wiſſenſchaftlichen Kenntniß der Erde und ihrer Bewohner, an ſich zu bringen, wird es ſein eigner wiſſenſchaftlicher Geiſt ihm nicht an einem Tauſchmittel fehlen laſſen. O moͤchte doch nur den Deutſchen ſein guͤnſtiges Geſchik eben ſo vor dem mittelbaren Antheile an der Beute der andern Welten bewahrt haben, wie es ihm vor dem unmittelbaren bewahrte! Moͤchte Leichtglaͤubigkeit, und die Sucht, auch fein und vornehm zu leben, wie die andern Voͤlker, uns nicht die entbehrlichen Waaren, die in421 fremden Welten erzeugt werden, zum Beduͤrf¬ niſſe gemacht haben; moͤchten wir in Abſicht der weniger entbehrlichen lieber unſerm freien Mitbuͤrger ertraͤgliche Bedingungen haben machen, als von dem Schweiße und Blute eines armen Sklaven jenſeit der Meere Ge¬ winn ziehen wollen; ſo haͤtten wir wenigſtens nicht ſelbſt den Vorwand geliefert zu unſerm dermaligen Schikſale, und wuͤrden nicht be¬ kriegt, als Abkaͤufer, und zu Grunde gerichtet, als ein Marktplaz. Faſt vor einem Jahr¬ zehend, ehe irgend jemand vorausſehen konnte, was ſeitdem ſich ereignet, iſt den Deutſchen gerathen worden, vom Welthandel ſich unab¬ haͤngig zu machen, nnd als Handelsſtaat ſich zu ſchließen. Dieſer Vorſchlag verſtieß gegen unſere Gewoͤhnungen, beſonders aber gegen unſre abgoͤttiſche Verehrung der ausgepraͤgten Metalle, und wurde leidenſchaftlich angefein¬ det, und bei Seite geſchoben. Seitdem lernen wir, durch fremde Gewalt genoͤthigt, und mit Unehre, das, und noch weit mehr, entbehren, was wir damals mit Freiheit, und zu unſerer hoͤchſten Ehre nicht entbehren zu koͤnnen ver¬422 ſicherten. Moͤchten wir dieſe Gelegenheit, da der Genuß wenigſtens uns nicht beſticht, ergrei¬ fen, um auf immer unſre Begriffe zu berichti¬ gen! Moͤchten wir endlich einſehen, daß alle jene ſchwindelnden Lehrgebaͤude uͤber Welt¬ handel, und Fabrikation fuͤr die Welt, zwar fuͤr den Auslaͤnder paſſen, und gerade unter die Waffen deſſelben gehoͤren, womit er von jeher uns bekriegt hat, daß ſie aber bei den Deut¬ ſchen keine Anwendung haben, und daß, naͤchſt der Einigkeit dieſer unter ſich ſelber, ihre innere Selbſtſtaͤndigkeit und Handels-Unabhaͤngigkeit das zweite Mittel iſt ihres Heils, und durch ſie, des Heils von Europa.

Wage man es endlich auch noch das Traum¬ bild einer Univerſal-Monarchie, das an die Stelle des ſeit einiger Zeit immer unglaublicher werdenden Gleichgewichts der oͤffentlichen Ver¬ ehrung dargeboten zu werden anfaͤngt, in ſei¬ ner Haſſenswuͤrdigkeit und Vernunftloſigkeit zu erblicken! Die geiſtige Natur vermochte das Weſen der Menſchheit nur in hoͤchſt mannigfal¬ tigen Abſtufungen an Einzelnen, und an der Einzelnheit im Großen, und Ganzen, an Voͤl¬423 kern, darzuſtellen. Nur wie jedes dieſer lez¬ ten, ſich ſelbſt uͤberlaſſen, ſeiner Eigenheit ge¬ maͤß, und in jedem derſelben, jeder Einzelne jener gemeinſamen, ſo wie ſeiner beſondern Eigenheit gemaͤß, ſich entwickelt, und geſtaltet, tritt die Erſcheinung der Gottheit in ihrem eigentlichen Spiegel heraus, ſo wie ſie ſoll; und nur der, der entweder ohne alle Ahnung fuͤr Geſezmaͤßigkeit, und goͤttliche Ordnung, oder ein verſtockter Feind derſelben waͤre, koͤnnte einen Eingriff in jenes hoͤchſte Geſez der Gei¬ ſterwelt wagen wollen. Nur in den unſicht¬ baren, und den eignen Augen verborgenen Ei¬ genthuͤmlichkeiten der Nationen, als demjeni¬ gen, wodurch ſie mit der Quelle urſpruͤnglichen Lebens zuſammen haͤngen, liegt die Buͤrgſchaft ihrer gegenwaͤrtigen und zukuͤnftigen Wuͤrde, Tugend, Verdienſtes; werden dieſe durch Ver¬ miſchung und Verreibung abgeſtumpft, ſo ent¬ ſteht Abtrennung von der geiſtigen Natur, aus dieſer Flachheit, aus dieſer die Verſchmelzung al¬ ler zu dem gleichmaͤßigen und an einander han¬ genden Verderben. Sollen wir es den Schrift¬ ſtellern, die uͤber alle unſre Uebel uns mit der424 Ausſicht troͤſten, daß wir dafuͤr auch Unter¬ thanen der beginnenden neuen Univerſal-Mo¬ narchie ſeyn werden, glauben, daß irgend je¬ mand eine ſolche Zerreibung aller Keime des Menſchlichen in der Menſchheit beſchloſſen ha¬ be, um den zerfließenden Teig in irgend eine Form zu druͤcken; und daß eine ſo ungeheure Rohheit oder Feindſeligkeit gegen das menſch¬ liche Geſchlecht in unſerm Zeitalter moͤglich ſey. Oder wenn wir uns auch entſchließen wollten, dieſes durchaus unglaubliche fuͤrs erſte zu glau¬ ben, durch welches Werkzeug ſoll denn ferner ein ſolcher Plan ausgefuͤhrt werden; welche Art von Volk ſoll es denn ſeyn, die bei dem gegenwaͤrtigen Bildungszuſtande von Europa fuͤr irgend einen neuen Univerſal-Monarchen die Welt erobere? Schon ſeit einer Reihe von Jahrhunderten haben die Voͤlker Europens aufgehoͤrt, Wilde zu ſeyn, und einer zerſtoͤ¬ renden Thaͤtigkeit um ihrer ſelbſt willen ſich zu freuen. Alle ſuchen hinter dem Kriege einen endlichen Frieden; hinter der Anſtrengung die Ruhe, hinter der Verwirrung die Ordnung; und alle wollen ihre Laufbahn mit dem Frieden425 eines haͤuslichen und ſtillen Lebens gekroͤnt ſehen. Auf eine Zeitlang mag ſelbſt ein nur vorgebildeter National-Vortheil ſie zum Kriege begeiſtern; wenn die Aufforderung immer auf dieſelbe Weiſe zuruͤkkehrt, verſchwindet das Traumbild, und die Fieberkraft, die daſſelbe gegeben hat; die Sehnſucht nach ruhiger Ord¬ nung kehrt zuruͤk, und die Frage: fuͤr welchen Zwek thue und trage ich denn nun dies alles, erhebt ſich. Dieſe Gefuͤhle alle muͤßte zuvoͤr¬ derſt ein Welt-Eroberer unſrer Zeit austilgen, und in dieſes Zeitalter, das durch ſeine Natur ein Volk von Wilden nicht giebt, mit beſonne¬ ner Kunſt eins hineinbilden. Aber noch mehr. Dem von Jugend auf an einen gebildeten An¬ bau der Laͤnder, an Wohlſtand, und Ordnung gewoͤhnten Auge, thut, wenn man den Men¬ ſchen nur ein wenig zur Ruhe kommen laͤßt, der Anblik derſelben allenthalben, wo er ihn an¬ trift, wohl, indem er ihm den Hintergrund ſei¬ ner eignen, doch niemals ganz auszurottenden Sehnſucht, darſtellt, und es ſchmerzt ihn ſelbſt, denſelben zerſtoͤren zu muͤſſen. Auch gegen die¬ ſes dem geſellſchaftlichen Menſchen tief einge¬426 praͤgte Wohlwollen, und gegen die Wehmuth uͤber die Uebel, die der Krieger uͤber die erober¬ ten Laͤnder bringt, muß ein Gegengewicht ge¬ funden werden. Es giebt kein anderes, denn die Raubſucht. Wird es zum herrſchenden An¬ triebe des Kriegers, ſich einen Schaz zu machen, und wird er gewoͤhnt, bei Verheerung bluͤhen¬ der Laͤnder an nichts anderes mehr zu denken, denn daran, was er fuͤr ſeine Perſon bei dem all¬ gemeinen Elende gewinnen koͤnne, ſo iſt zu er¬ warten, daß die Gefuͤhle des Mitleids, und des Erbarmens in ihm verſtummen. Außer je¬ ner barbariſchen Rohheit muͤßte demnach ein Welt-Eroberer unſrer Zeit die Seinigen auch noch zur kuͤhlen und beſonnenen Raubſucht bil¬ den; er muͤßte Erpreſſungen nicht beſtrafen, ſondern vielmehr aufmuntern. Auch muͤßte die Schande, die natuͤrlich auf der Sache ruht, erſt wegfallen, und Rauben muͤßte fuͤr ein eh¬ renvolles Zeichen eines feinen Verſtandes gel¬ ten, zu den Grosthaten gezaͤhlt werden, und den Weg zu allen Ehren und Wuͤrden bahnen. Wo iſt eine Nation im neuern Europa alſo ehr¬ los, daß man ſie auf dieſe Weiſe abrichten.427 koͤnnte? Oder ſetzet, daß ihm ſelbſt dieſe Umbil¬ dung gelaͤnge, ſo wird nun gerade durch ſein Mittel die Erreichung ſeines Zweks vereitelt werden. Ein ſolches Volk erblikt von nun an in eroberten Menſchen, Laͤndern, und Kunſter¬ zeugungen nichts mehr, denn ein Mittel, in hoͤchſter Eil Geld zu machen, um weiter zu ge¬ hen, und abermals Geld zu machen; es er¬ preßt ſchnell, und wirft das Ausgeſogene weg auf jedes moͤgliche Schikſal; es haut ab den Baum, zu deſſen Fruͤchten es gelangen will: wer mit ſolchen Werkzeugen handelt, dem werden alle Kuͤnſte der Verfuͤhrung, der Ueberredung, und des Truges vereitelt; nur aus der Entfer¬ nung koͤnnen ſie taͤuſchen, wie man ſie in der Naͤhe erblikt, faͤllt die thieriſche Rohheit, und die ſchamloſe und freche Raubſucht ſelbſt dem Bloͤdſinnigſten in die Augen, und der Abſcheu des ganzen menſchlichen Geſchlechts erklaͤrt ſich laut. Mit ſolchen kann man die Erde zwar auspluͤndern und wuͤſte machen, und ſie zu einem dumpfen Chaos zerreiben, nimmer¬ mehr aber ſie zu einer Univerſal-Monarchie ordnen.

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Die genannten Gedanken, und alle Gedan¬ ken dieſer Art ſind Erzengniſſe eines bloß mit ſich ſelber ſpielenden, und in ſeinem Geſpinnſte zuweilen auch haͤngen bleibenden Denkens, un¬ werth deutſcher Gruͤndlichkeit und Ernſtes. Hoͤchſtens ſind einige dieſer Bilder, wie z. B. das eines politiſchen Gleichgewichts, taugliche Huͤlfslinien, um in einem ausgedehnten und verworrenen Mannigfaltigen der Erſcheinung ſich zurecht zu finden, und es zu ordnen; aber an das natuͤrliche Vorhandenſeyn dieſer Dinge zu glauben, oder ihre Verwirklichung anzuſtre¬ ben, iſt eben ſo, als ob jemand die Pole, die Mittagslinie, die Wendekreiſe, durch die ſeine Betrachtung auf der Erde ſich zurecht findet, an der wirklichen Erdkugel ausgedruͤkt und be¬ zeichnet aufſuchte. Moͤchte es Sitte werden in unſerer Nation, nicht bloß zum Scherze und gleichſam verſuchend, was dabei herauskom¬ men werde, zu denken, ſondern alſo, als ob wahr ſeyn ſolle, und wirklich gelten im Leben, was wir denken, ſo wird es uͤberfluͤßig werden, vor ſolchen Truggeſtalten einer urſpruͤglich aus¬ laͤndiſchen, und die Deutſchen bloß beruͤckenden Staatsklugheit, zu warnen.

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Dieſe Gruͤndlichkeit, Ernſt und Gewicht unſrer Denkweiſe wird, wenn wir ſie einmal beſitzen, auch hervorbrechen in unſerm Leben. Beſiegt ſind wir; ob wir nun zugleich auch ver¬ achtet, und mit Recht verachtet ſeyn wollen, ob wir zu allem andern Verluſte auch noch die Ehre verlieren wollen, das wird noch immer von uns abhaͤngen. Der Kampf mit den Waf¬ fen iſt beſchloſſen; es erbebt ſich, ſo wir es wollen, der neue Kampf der Grundſaͤtze, der Sitten, des Charakters.

Geben wir unſern Gaͤſten ein Bild treuer Anhaͤnglichkeit an Vaterland und Freunde, un¬ beſtechlicher Rechtſchaffenheit, und Pflichtliebe, aller buͤrgerlichen, und haͤuslichen Tugenden, als freundliches Gaſtgeſchenk mit in ihre Hei¬ math, zu der ſie doch wohl endlich einmal zu¬ ruͤkkehren werden. Huͤten wir uns, ſie zur Verachtung gegen uns einzuladen; durch nichts aber wuͤrden wir es ſicherer, als wenn wir ſie entweder uͤbermaͤßig fuͤrchteten, oder unſre Weiſe dazuſeyn aufzugeben, und in der ihri¬ gen ihnen aͤhnlich zu werden ſtrebten. Fern zwar ſey von uns die Ungebuͤhr, daß der Ein¬430 zelne die Einzelnen herausfordere, und reize; uͤbrigens aber wird es die ſicherſte Maaßregel ſeyn, allenthalben Unſern Weg alſo fortzuge¬ hen, als ob wir mit uns ſelber allein waͤren, und durchaus kein Verhaͤltniß anzuknuͤpfen, das uns die Nothwendigkeit nicht ſchlechthin auflegt; Und das ſicherſte Mittel hierzu wird ſeyn, daß jeder ſich mit dem begnuͤge, was die alten vaterlaͤndiſchen Verhaͤltniſſe ihm zu leiſten vermoͤgen, die gemeinſchaftliche Laſt nach ſei¬ nen Kraͤften mit trage, jede Beguͤnſtigung aber durch das Ausland fuͤr eine entehrende Schmach halte. Leider iſt es beinahe allge¬ meine europaͤiſche, und ſo auch deutſche Sitte geworden, daß man im Falle der Wahl lieber ſich wegwerfen, denn als das erſcheinen wolle, was man imponirend nennt, und es duͤrfte viel¬ leicht das ganze Lehrgebaͤude der angenomme¬ nen guten Lebensart auf die Einheit jenes Grundſatzes ſich zuruͤckfuͤhren laſſen. Moͤchten wir Deutſche bei der gegenwaͤrtigen Veran¬ laſſung lieber gegen dieſe Lebensart, denn ge¬ gen etwas hoͤheres verſtoßen! Moͤchten wir, obwohl dies ein ſolcher Verſtoß ſeyn duͤrfte,431 bleiben, ſo wie wir ſind, ja, wenn wir es ver¬ moͤchten, noch ſtaͤrker und entſchiedener werden, alſo wie wir ſeyn ſollen! Moͤchten wir der Ausſtellungen, die man uns zu machen pflegt, daß es uns gar ſehr an Schnelligkeit und leich¬ ter Fertigkeit gebreche, und daß wir uͤber allem zu ernſt, zu ſchwer, und zu gewichtig werden, uns ſo wenig ſchaͤmen, daß wir uns vielmehr beſtrebten, ſie immer mit groͤßerem Rechte, und in weiterer Ausdehnung zu verdienen. Es be¬ feſtige uns in dieſem Entſchluße die leicht zu er¬ langende Ueberzeugung, daß wir mit aller unſrer Muͤhe dennoch niemals jenen recht ſeyn werden, wenn wir nicht ganz aufhoͤren wir ſel¬ ber zu ſeyn, was dem uͤberhaupt gar nicht mehr da ſeyn gleich gilt. Es giebt nemlich Voͤlker, welche, indem ſie ſelbſt ihre Eigen¬ thuͤmlichkeit beibehalten, und dieſelbe geehrt wiſſen wollen, auch den andern Voͤlkern die ihrigen zugeſtehen, und ſie ihnen goͤnnen, und verſtatten; zu dieſen gehoͤren ohne Zweifel die Deutſchen, und es iſt dieſer Zug in ihrem gan¬ zen vergangenen, und gegenwaͤrtigen Weltleben ſo tief begruͤndet, daß ſie ſehr oft, um gerecht432 zu ſeyn ſowohl gegen das gleichzeitige Ausland als gegen das Alterthum, ungerecht geweſen ſind gegen ſich ſelbſt. Wiederum giebt es an¬ dere Voͤlker, denen ihr eng in ſich ſelbſt ver¬ wachſenes Selbſt niemals die Freiheit geſtat¬ tet, ſich zu kalter und ruhiger Betrachtung des fremden abzuſondern, und die daher zu glauben genoͤthigt ſind, es gebe nur eine einzige moͤgliche Weiſe als gebildeter Menſch zu beſtehen, und dies ſey jedesmal die, welche in dieſem Zeit¬ punkte gerade ihnen irgend ein Zufall angewor¬ fen; alle uͤbrige Menſchen in der Welt haͤtten keine andere Beſtimmung, denn alſo zu wer¬ den, wie ſie ſind, und ſie haͤtten ihnen den groͤßten Dank abzuſtatten, wenn ſie die Muͤhe uͤber ſich nehmen wollten, ſie alſo zu bilden. Zwiſchen Voͤlkern der erſten Art findet eine der Ausbildung zum Menſchen uͤberhaupt hoͤchſt wohlthaͤtige Wechſelwirkung der gegenſeitigen Bildung und Erziehung ſtatt, und eine Durch¬ dringung, bei welcher dennoch jeder, mit dem guten Willen des andern, ſich ſelbſt gleich bleibt. Voͤlker von der zweiten Art vermoͤgen nichts zu bilden, denn ſie vermoͤgen nichts in ſeinemvor¬433vorhandenen Seyn anzufaſſen; ſie wollen nur alles Beſtehende vernichten, und außer ſich al¬ lenthalben eine leere Staͤtte hervorbringen, in der ſie nur immer die eigne Geſtalt wiederholen koͤnnen; ſelbſt ihr anfaͤngliches ſcheinbares Hin¬ eingehen in fremde Sitte, iſt nur die gutmuͤ¬ thige Herablaſſung des Erziehers zum jezt noch ſchwachen, aber gute Hofnung gebenden Lehr¬ linge; ſelbſt die Geſtalten der vollendeten Vor¬ welt gefallen ihnen nicht, bis ſie dieſelben in ihr Gewand gehuͤllt haben, und ſie wuͤrden, wenn ſie koͤnnten, dieſelben aus den Graͤbern aufwecken, um ſie nach ihrer Weiſe zu erziehen. Fern zwar bleibe von mir die Vermeſſenheit, irgend eine vorhandene Nation im Ganzen und ohne Ausnahme, jener Beſchraͤnktheit zu be¬ ſchuldigen. Laßt uns vielmehr annehmen, daß auch hier diejenigen, die ſich nicht aͤußern, die beſſern ſind. Soll man aber die, die unter uns erſchienen ſind, und ſich geaͤußert haben, nach dieſen ihren Aeußerungen beurtheilen, ſo ſcheint zu folgen, daß ſie in die geſchilderte Klaſſe zu ſetzen ſind. Eine ſolche Aeußerung ſcheint eines Beleges zu beduͤrfen, und ich fuͤhre, von denEe434uͤbrigen Ausfluͤſſen dieſes Geiſtes, die vor den Augen von Europa liegen, ſchweigend, nur den einigen Umſtand an, den folgenden: Wir haben mit einander Krieg gefuͤhrt; wir unſers Theils ſind die Ueberwundenen, jene die Sieger; dies iſt wahr, und wird zugeſtanden. Damit nun koͤnnten jene ohne Zweifel ſich be¬ gnuͤgen. Ob nun etwa jemand unter uns fort¬ fuͤhre, dafuͤr zu halten, wir haͤtten dennoch die gerechte Sache fuͤr uns gehabt, und den Sieg verdient, und es ſey zu beklagen, daß er nicht uns zu Theile geworden; waͤre denn dies ſo uͤbel, und koͤnnten es uns denn jene, die ja von ihrer Seite gleichfalls denken moͤgen, was ſie wollen, ſo ſehr verargen? Aber nein, jenes zu denken, ſollen wir uns nicht unterſtehen. Wir ſollen zugleich erkennen, welch 'ein Unrecht es ſey, jemals anders zu wollen, denn ſie, und ihnen zu widerſtehen; wir ſollen unſre Nieder¬ lagen als das heilſamſte Ereigniß fuͤr uns ſelbſt, und ſie, als unſre groͤßten Wohlthaͤter, ſegnen. Anders kann es ja nicht ſeyn, und man hat dieſe Hofnung zu unſerm guten Verſtande. Doch was ſpreche ich laͤnger aus, was beinahe435 vor zweitauſend Jahren mit vieler Genauig¬ keit z. B. in den Geſchichtsbuͤchern des Tacitus, ausgeſprochen worden iſt? Jene Anſicht der Roͤmer von dem Verhaͤltniſſe der bekriegten Barbaren gegen ſie, welche Anſicht bei dieſen denn doch auf einen einige Entſchuldigung verdie¬ nenden Schein ſich gruͤndete, daß es verbreche¬ riſche Rebellion, und Auflehnung gegen goͤtt¬ liche und menſchliche Geſetze ſey, ihnen Wi¬ derſtand zu leiſten, und daß ihre Waffen den Voͤlkern nichts anders zu bringen vermoͤchten, denn Seegen, und ihre Ketten nichts anders, denn Ehre dieſe Anſicht iſt es, die man in dieſen Tagen von uns genommen, und mit ſehr vieler Gutmuͤthigkeit uns ſelbſt angemuthet, und bei uns vorausgeſezt hat. Ich gebe der¬ gleichen Aeußerungen nicht fuͤr uͤbermuͤthigen Hohn aus; ich kann begreifen, wie man bei großem Eigenduͤnkel und Beſchraͤnktheit im Ernſte alſo glauben, und dem Gegentheile ehr¬ lich denſelben Glauben zutrauen koͤnne, wie ich denn z. B. dafuͤr halte, daß die Roͤmer wirklich ſo glaubten; aber ich gebe nur zu bedenken, ob diejenigen unter uns, denen es unmoͤglichEe 2436faͤllt, jemals zu jenem Glauben ſich zu be¬ kehren, auf irgend eine Ausgleichung rechnen koͤnnen.

Tief veraͤchtlich machen wir uns dem Aus¬ lande, wenn wir vor den Ohren deſſelben uns, einer den andern, deutſche Staͤmme, Staͤnde, Perſonen, uͤber unſer gemeinſchaftliches Schik¬ ſal anklagen, und einander gegenſeitige bittere, und leidenſchaftliche Vorwuͤrfe machen. Zu¬ foͤrderſt ſind alle Anklagen dieſer Art groͤßten¬ theils unbillig, ungerecht, ungegruͤndet. Welche Urſachen es ſind, die Deutſchlands leztes Schik¬ ſal herbeigefuͤhrt haben, haben wir oben ange¬ geben; dieſe ſind ſeit Jahrhunderten bei allen deutſchen Staͤmmen ohne Ausnahme auf die gleiche Weiſe einheimiſch geweſen; die lezten Ereigniſſe ſind nicht die Folgen irgend eines beſondern Fehltrittes eines einzelnen Stammes, oder ſeiner Regierung, ſie haben ſich lange ge¬ nug vorbereitet, und haͤtten, wenn es bloß auf die in uns ſelbſt liegenden Gruͤnde angekommen waͤre, ſchon vor langem uns eben ſowohl tref¬ fen koͤnnen. Hierin iſt die Schuld oder Un¬ ſchuld aller wohl gleich groß, und die Berech¬437 nung iſt nicht wohl mehr moͤglich. Bei der Herbeieilung des endlichen Erfolgs hat ſich gefunden, daß die einzelnen deutſchen Staaten nicht einmal ſich ſelbſt, ihre Kraͤfte, und ihre wahre Lage, kannten; wie koͤnnte denn irgend einer ſich anmaaßen, aus ſich ſelbſt herauszu¬ treten, und uͤber fremde Schuld ein auf gruͤnd¬ liche Kenntniß ſich ſtuͤtzendes Endurtheil zu faͤllen?

Mag es ſeyn, daß uͤber alle Staͤmme des deutſchen Vaterlandes hinweg einen gewiſſen Stand ein gegruͤndeterer Vorwurf trift, nicht, weil er eben auch nicht mehr eingeſehen oder vermocht, als die andern alle, was eine ge¬ meinſchaftliche Schuld iſt, ſondern weil er ſich das Anſehen gegeben, als ob er mehr einſaͤhe, und vermoͤchte, und alle uͤbrigen von der Ver¬ waltung der Staaten verdraͤngt. Waͤre nun auch ein ſolcher Vorwurf gegruͤndet; wer ſoll ihn ausſprechen, und wozu iſt es noͤthig, daß er gerade jezt lauter, und bitterer denn je, aus¬ geſprochen, und verhandelt werde? Wir ſe¬ hen, daß Schriftſteller es thun. Haben dieſe nun ehemals, als bei jenem Stande noch alle438 Macht und alles Anſehen, mit der ſtillſchwei¬ genden Einwilligung der entſchiedenen Mehr¬ heit des uͤbrigen Menſchengeſchlechts, ſich be¬ fand, eben alſo geredet, wie ſie jetzo reden; wer kann es ihnen verdenken, daß ſie an ihre durch die Erfahrung ſehr beſtaͤtigte ehemalige Rede erinnern? Wir hoͤren auch, daß ſie ein¬ zelne genannte Perſonen, die ehemals an der Spitze der Geſchaͤfte ſtanden, vor das Volks¬ gericht fuͤhren, ihre Untauglichkeit, ihre Traͤg¬ heit, ihren boͤſen Willen darlegen, und klar darthun, daß aus ſolchen Urſachen nothwendig ſolche Wirkungen hervorgehen mußten. Ha¬ ben ſie ſchon ehemals, als bei den Angeklag¬ ten noch die Gewalt war, und die aus ihrer Verwaltung nothwendig erfolgen muͤſſenden Uebel noch abzuwenden waren, eben daſſelbe eingeſehen, was ſie jezt einſehen, und es eben ſo laut ausgeſprochen; haben ſie ſchon damals ihre Schuldigen mit derſelben Kraft angeklagt, und kein Mittel unverſucht gelaſſen, das Va¬ terland aus ihren Haͤnden zu erretten, und ſind ſie bloß nicht gehoͤrt worden; ſo thun ſie ſehr recht, an ihre damals verſchmaͤhte Warnung zu439 erinnern. Haben ſie aber etwa ihre dermalige Weisheit nur aus dem Erfolge gezogen, aus welchem ſeitdem alles Volk mit ihnen eben dieſelbe gezogen hat, warum ſagen jezt eben ſie, was alle andern nun eben ſowohl wiſſen? Oder haben ſie vielleicht gar damals aus Ge¬ winnſucht geſchmeichelt, oder aus Furcht ge¬ ſchwiegen, vor dem Stande, und den Perſonen, uͤber die jezt, nachdem ſie die Gewalt verlohren haben, ungemaͤßigt ihre Strafrede hereinbricht; o ſo vergeſſen ſie kuͤnftig nicht unter den Quel¬ len unſrer Uebel neben dem Adel, und den un¬ tauglichen Miniſtern und Feldherren, auch noch die politiſchen Schriftſteller anzufuͤhren, die erſt nach gegebnem Erfolge wiſſen, was da haͤtte geſchehen ſollen, ſo wie der Poͤbel auch; und die den Gewalthabern ſchmeicheln, die Gefallenen aber ſchadenfroh verhoͤhnen!

Oder ruͤgen ſie etwa die Irrthuͤmer der Vergangenheit, die freilich durch alle ihre Ruͤge nicht vernichtet werden kann, nur darum, damit man ſie in der Zukunft nicht wieder be¬ gehe; und iſt es bloß ihr Eifer, eine gruͤndliche Verbeſſerung der menſchlichen Verhaͤltniſſe zu440 bewirken, der ſie uͤber die Ruͤkſichten der Klug¬ heit und des Anſtandes ſo kuͤhn hinweg ſezt? Gern moͤchten wir ihnen dieſen guten Willen zutrauen, wenn nur die Gruͤndlichkeit der Ein¬ ſicht, und des Verſtandes ſie berechtigte, in dieſem Fache guten Willen zu haben. Nicht ſowohl die einzelnen Perſonen, die von ohnge¬ faͤhr auf den hoͤchſten Plaͤtzen ſich befunden ha¬ ben, ſondern die Verbindung und Verwikkelung des Ganzen der ganze Geiſt der Zeit, die Irr¬ thuͤmer, die Unwiſſenheit, Seichtigkeit, Ver¬ zagtheit, und der von dieſen unabtrennliche unſichere Schritt, die geſammten Sitten der Zeit ſind es, die unſere Uebel herbei gefuͤhrt haben; und ſo ſind es denn weit weniger die Perſonen, welche gehandelt haben, denn die Plaͤtze, und jederman, und die heftigen Tad¬ ler ſelbſt, koͤnnen mit hoher Wahrſcheinlichkeit annehmen, daß ſie, an demſelben Platze ſich be¬ findend, durch die Umgebungen ohngefaͤhr zu demſelben Ziele wuͤrden hingedraͤngt worden ſeyn. Traͤume man weniger von uͤberlegter Bosheit und Verrath! Unverſtand und Traͤg¬ heit reichen faſt allenthalben aus, um die Bege¬441 benheiten zu erklaͤren; und dies iſt eine Schuld, von der keiner ohne tiefe Selbſtpruͤfung ſich ganz losſprechen ſollte; da zumal, wo in der ganzen Maſſe ſich ein ſehr hohes Maaß von Kraft der Traͤgheit befindet, dem Einzelnen, der da durchdringen ſollte, ein ſehr hoher Grad von Kraft der Thaͤtigkeit beiwohnen muͤßte. Werden daher auch die Fehler der Einzelnen noch ſo ſcharf ausgezeichnet, ſo iſt dadurch der Grund des Uebels noch keinesweges entdekt, noch wird er dadurch, daß dieſe Fehler in der Zukunft vermieden werden, gehoben. Blei¬ ben die Menſchen fehlerhaft, ſo koͤnnen ſie nicht anders, denn Fehler machen, und wenn ſie auch die ihrer Vorgaͤnger fliehen, ſo werden in dem unendlichen Raume der Fehlerhaftigkeit gar leicht ſich neue finden. Nur eine gaͤnzliche Umſchaffung, nur das Beginnen eines ganz neuen Geiſtes, kann uns helfen. Werden ſie auf deſſelben Entwiklung mit hinarbeiten, dann wollen wir ihnen neben dem Ruhme des guten Willens auch noch den des rechten und heil¬ bringenden Verſtandes gern zugeſtehen.

442

Dieſe gegenſeitigen Vorwuͤrfe ſind, ſo wie ſie ungerecht ſind, und unnuͤz, zugleich aͤußerſt un¬ klug, und muͤſſen uns tief herabſetzen in den Augen des Auslandes, dem wir zum Ueberfluſſe die Kunde derſelben auf alle Weiſe erleichtern, und aufdringen. Wenn wir nicht muͤde wer¬ den, ihnen vorzuerzaͤhlen, wie verworren und abgeſchmakt alle Dinge bei uns geweſen ſeyen, und in welchem hohen Grade wir elend regiert worden; muͤſſen ſie nicht glauben, daß, wie auch irgend ſie ſich gegen uns betragen moͤchten, ſie doch noch immer viel zu gut fuͤr uns ſeyen, und niemals uns zu ſchlecht werden koͤnnten? Muͤſ¬ ſen ſie nicht glauben, daß wir, bei unſrer gro¬ ßen Ungeſchiktheit und Unbeholfenheit, mit dem demuͤthigſten Danke jedwedes Ding aufzuneh¬ men haben, das ſie aus dem reichen Schatze ihrer Regierungs-Verwaltungs - und Geſezge¬ bungs-Kunſt uns ſchon dargereicht haben, oder noch fuͤr die Zukunft uns zudenken? Bedarf es von unſrer Seite dieſer Unterſtuͤtzung ihrer ohne dies nicht unvortheilhaften Meinung von ſich ſelbſt, und der geringfuͤgigen von uns? Werden nicht dadurch gewiſſe Aeußerungen, die man443 außerdem fuͤr bittern Hohn halten muͤßte, als, daß ſie erſt deutſchen Laͤndern, die vorher kein Vaterland gehabt haͤtten, eins braͤchten, oder, daß ſie eine ſklaviſche Abhaͤngigkeit der Perſo¬ nen als ſolcher von andern Perſonen, die bei uns geſezlich geweſen waͤre, abſchafften, zur Wiederholung unſrer eignen Ausſpruͤche, und zum Nachhalle unſrer eignen Schmeichelworte? Es iſt eine Schmach, die wir Deutſchen mit keinem der andern Europaͤiſchen Voͤlker, die in den uͤbrigen Schikſalen uns gleich geworden ſind, theilen, daß wir, ſobald nur fremde Waf¬ fen unter uns geboten, gleich als ob wir ſchon lange auf dieſen Augenblik gewartet haͤtten, und uns ſchnell, ehe die Zeit voruͤber ginge, eine Guͤte thun wollten, in Schmaͤhungen uns er¬ goſſen uͤber unſre Regierungen, unſre Gewalt¬ haber, denen wir vorher auf eine geſchmakloſe Weiſe geſchmeichelt hatten, und uͤber alles Va¬ terlaͤndiſche.

Wie wenden wir andern, die wir unſchul¬ dig ſind, die Schmach ab von unſerm Haupte, und laſſen die Schuldigen allein ſtehen? Es giebt ein Mittel. Es werden von dem Augen¬444 blike an keine Schmaͤhſchriften mehr gedrukt werden, ſobald man ſicher iſt, daß keine mehr gekauft werden, und ſobald die Verfaſſer und Verleger derſelben nicht mehr auf Leſer rechnen koͤnnen, die durch Muͤßiggang, leere Neugier, und Schwazſucht, oder durch die Schaden¬ freude, gedemuͤthigt zu ſehen, was ihnen einſt das ſchmerzhafte Gefuͤhl der Achtung einfloͤßte, angelokt werden. Gebe jeder, der die Schmach fuͤhlt, eine ihm zum Leſen dargebotene Schmaͤh¬ ſchrift mit der gebuͤhrenden Verachtung zuruͤk; thue er es, obwohl er glaubt, er ſey der einzige, der alſo handelt, bis es Sitte unter uns wird, daß jeder Ehrenmann alſo thut; und wir wer¬ den, ohne gewaltſame Buͤcherverbote, gar bald dieſes ſchmachvollen Theils unſrer Literatur erledigt werden.

Am allertiefſten endlich erniedriget es uns vor dem Auslande, wenn wir uns darauf le¬ gen, demſelben zu ſchmeicheln. Ein Theil von uns hat ſchon fruͤher ſich ſattſam veraͤchtlich, laͤcherlich und ekelhaft gemacht, indem ſie den vaterlaͤndiſchen Gewalthabern bei jeder Gele¬ genheit groben Weihrauch darbrachten, und445 weder Vernunft, noch Anſtand, gute Sitte und Geſchmak, verſchonten, wo ſie glaubten, eine Schmeichelrede anbringen zu koͤnnen. Dieſe Sitte iſt binnen der Zeit abgekommen, und dieſe Lobeserhebungen haben ſich zum Theil in Scheltworte verwandelt. Wir gaben indeſſen unſern Weihrauchwolken, gleichſam damit wir nicht aus der Uebung kaͤmen, eine andere Rich¬ tung, nach der Seite hin, wo jezt die Gewalt iſt. Schon das erſte, ſowohl die Schmeichelei ſelbſt, als daß ſie nicht verbeten wurde, mußte jeden ernſthaft denkenden Deutſchen ſchmerzen; doch blieb die Sache unter uns. Wollen wir jezt auch das Ausland zum Zeugen machen die¬ ſer unſrer niedrigen Sucht, ſo wie zugleich der großen Ungeſchiklichkeit, mit welcher wir uns derſelben entledigen, und ſo der Verachtung un¬ ſrer Niedrigkeit auch noch den laͤcherlichen An¬ blik unſrer Ungelenkigkeit hinzufuͤgen? Es fehlt nns nemlich in dieſer Verrichtung an aller dem Auslaͤnder eignen Feinheit; um doch ja nicht uͤberhoͤrt zu werden, werden wir plump und uͤbertreibend, und heben mit Vergoͤtterungen, und Verſetzungen unter die Geſtirne gleich an. 446Dazu kommt, daß es bei uns das Anſehen hat, als ob es vorzuͤglich das Schrecken und die Furcht ſeye, die unſre Lobeserhebungen uns auspreſſen; aber es iſt kein Gegenſtand laͤcher¬ licher, denn ein Furchtſamer, der die Schoͤnheit und Anmuth desjenigen lobpreiſt, was er in der That fuͤr ein Ungeheuer haͤlt, das er durch dieſe Schmeichelei nur beſtechen will, ihn nicht zu verſchlingen.

Oder ſind vielleicht dieſe Lobpreiſungen nicht Schmeichelei, ſondern der wahrhafte Ausdruk der Verehrung und Bewunderung, die ſie dem großen Genie, das nach ihnen die Angelegen¬ heiten der Menſchen leitet, zu zollen genoͤthigt ſind? Wie wenig kennen ſie auch hier das Gepraͤge der wahren Groͤße! Darin iſt dieſelbe in allen Zeitaltern und unter allen Voͤlkern ſich gleich geweſen, daß ſie nicht eitel war, ſo wie umgekehrt von jeher ſicherlich klein war, und niedrig, was Eitelkeit zeigte. Der wahrhaften auf ſich ſelber ruhenden Groͤße gefallen nicht Bildſaͤulen von der Mitwelt errichtet, oder der Beiname des Großen, und der ſchreiende Bei¬ fall und die Lobreiſungen der Menge; vielmehr447 weiſet ſie dieſe Dinge mit gebuͤhrender Verach¬ tung von ſich weg, und erwartet ihr Urtheil uͤber ſich, zunaͤchſt von dem eignen Richter in ihrem Innern, und das laute von der richten¬ den Nachwelt. Auch hat mit derſelben immer der Zug ſich beiſammen gefunden, daß ſie das dunkle, und raͤthſelhafte Verhaͤngniß ehrt, und ſcheut, des ſtets rollenden Rades des Geſchiks eingedenk bleibt, und ſich nicht groß oder ſeelig preiſen laͤßt vor ihrem Ende. Alſo ſind jene Lobredner im Widerſpruche mit ſich ſelbſt, und machen durch die That ihrer Worte den Inhalt derſelben zur Luͤge. Hielten ſie den Gegenſtand ihrer vorgegebenen Verehrung wirklich fuͤr groß; ſo wuͤrden ſie ſich beſcheiden, daß er uͤber ihren Beifall und ihr Lob erhaben ſey, und ihn durch ehrfurchtsvolles Stillſchweigen ehren. Indem ſie ſich ein Geſchaͤft daraus machen, ihn zu lo¬ ben; ſo zeigen ſie dadurch, daß ſie ihn in der That fuͤr klein und niedrig halten, und fuͤr ſo eitel, daß ihre Lobpreiſungen ihm gefallen koͤnn¬ ten, und daß ſie dadurch irgend ein Uebel von ſich zu wenden, oder irgend ein Gut ſich zu ver¬ ſchaffen vermoͤchten.

448

Jener begeiſterte Ausruf: welch 'ein erhabe¬ nes Genie, welch' eine tiefe Weisheit, welch 'ein umfaſſender Plan! was ſagt er denn nun zulezt aus, wenn man ihn recht ins Auge faßt? Er ſagt aus, daß das Genie ſo groß ſey, daß auch wir es vollkommen begreifen, die Weisheit ſo tief, daß auch wir ſie durchſchauen, der Plan ſo umfaſſend, daß auch wir ihn voll¬ ſtaͤndig nachzubilden vermoͤgen. Er ſagt dem¬ nach aus, daß der Gelobte ohngefaͤhr von dem¬ ſelben Maaße der Groͤße ſey, wie der Lobende, jedoch nicht ganz, indem ja der lezte den erſten vollkommen verſteht, und uͤberſieht, und ſonach uͤber demſelben ſteht, und, falls er ſich nur recht anſtrengte, wohl noch etwas groͤßeres lei¬ ſten koͤnnte. Man muß eine ſehr gute Mei¬ nung von ſich ſelbſt haben, wenn man glaubt, daß man alſo auf eine gefaͤllige Weiſe ſeinen Hof machen koͤnne; und der Gelobte muß eine ſehr geringe von ſich haben, wenn er ſolche Huldigungen mit Wohlgefallen aufnimmt.

Nein, biedere, ernſte, geſezte, deutſche Maͤn¬ ner und Landsleute, fern bleibe ein ſolcher Un¬449 verſtand von unſerm Geiſte, und eine ſolche Be¬ ſudelung von unſrer zum Ausdrucke des Wah¬ ren, gebildeten Sprache! Ueberlaſſen wir es dem Auslande, bei jeder neuen Erscheinung mit Erſtau¬ nen aufzujauchzen; in jedem Jahrzehende ſich ei¬ nen neuen Maaßſtab der Groͤße zu erzeugen, und neue Goͤtter zu erſchaffen; und Gotteslaͤſterun¬ gen zu reden, um Menſchen zu preiſen. Unſer Maaßſtab der Groͤße bleibe der alte: daß groß ſey nur dasjenige, was der Ideen, die immer nur Heil uͤber die Voͤlker bringen, faͤhig ſey, und von ihnen begeiſtert; uͤber die lebenden Menſchen aber laßt uns das Urtheil der richten¬ den Nachwelt uͤberlaſſen!

F f450

Anmerkung zu S. 407.

Nachdem ich eine Reihe von Wochen die Hand¬ ſchrift dieſer dreizehnten Rede, die bei meiner Cen¬ ſurbehoͤrde eingereicht war, zuruͤkerwartet hatte, er¬ halte ich endlich ſtatt derſelben das folgende Schrei¬ ben:

Das Manuſcript der dreizehnten Rede des Herrn Profeſſor Fichte iſt, nachdem derſelben ſchon das Imprimatur ertheilt worden, durch ir¬ gend einen Zufall verlohren gegangen, und hat aller Bemuͤhungen ohnerachtet nicht wieder auf¬ gefunden werden koͤnnen.

Um nun den Verleger ꝛc. Reimer beim Abdruck nicht aufzuhalten, erſuche ich des Herrn Profeſſor Fichte Wohlgebohrn dieſe Rede aus Ihren Hef¬ ten zu ergaͤnzen, und mir zum Imprimatur zuzu¬ ſchicken.

v. Scheve.

Das, was dieſes Schreiben unter Heften verſte¬ hen mag, halte ich nicht, und was etwa bei der Aus¬ arbeitung des Textes auf Nebenblaͤttern angelegt und vorbereitet war, wurde bei einer in dieſer Zeit vor¬ gefallenen Veraͤnderung der Wohnung den Flam¬ men uͤbergeben. Ich war darum genoͤthiget, darauf zu beſtehen, daß die Handſchrift, die verlohren ſeyn 451 nicht ſollte, wieder herbeigeſchafft wuͤrde. Dieſes iſt, wie man verſichert hat, auch durch das ſorgfaͤltig¬ ſte Nachſuchen nicht moͤglich geweſen; es iſt wenig¬ ſtens nicht geſchehen, und ich habe die Luͤke ausfuͤl¬ len muͤſſen, wie ich gekonnt.

Indem ich zu meiner eigenen Rechtfertigung ge¬ noͤthigt bin, dieſen Vorfall zur Kunde des auswaͤr¬ tigen Publikums zu bringen, bitte ich jedoch daſſelbe, zu glauben, daß die Erſcheinungen, die man ſowohl in dem Vorfalle ſelbſt, als in dem obenſtehenden Schrei¬ ben daruͤber, finden duͤrfte, allhier bei uns keineswe¬ ges allgemeine Sitte ſind, ſondern daß dieſer Vorfall nur eine hoͤchſt ſeltene, und vielleicht nie alſo da ge¬ weſene Ausnahme macht, und daß ſich erwarten laͤßt, es werden Vorkehrungen getroffen werden, damit ein ſolcher Fall nicht wieder eintreten koͤnne.

Ff 2452

Vierzehnte Rede.

Beſchluß des Ganzen.

Die Reden, welche ich hierdurch beſchließe, haben freilich ihre laute Stimme zunaͤchſt an Sie gerichtet, aber ſie haben im Auge gehabt die ganze deutſche Nation, und ſie haben in ihrer Abſicht alles, was, ſo weit die deutſche Zunge reicht, faͤhig waͤre, dieſelben zu ver¬ ſtehen, um ſich herum verſammlet, in den Raum, in dem Sie ſichtbarlich athmen. Waͤre es mir gelungen, in irgend eine Bruſt, die hier unter meinem Auge geſchlagen hat, einen Funken zu werfen, der da fortglimme, und das Leben ergreife, ſo iſt es nicht meine Abſicht,453 daß dieſe allein und einſam bleiben, ſondern ich moͤchte, uͤber den ganzen gemeinſamen Bo¬ den hinweg, aͤhnliche Geſinnungen und Ent¬ ſchluͤſſe zu ihnen ſammlen, und an die ihrigen anknuͤpfen, ſo daß uͤber den vaterlaͤndiſchen Boden hinweg, bis an deſſen ferneſte Graͤnzen, aus dieſem Mittelpunkte heraus, eine einzige fortfließende und zuſammenhaͤngende Flamme vaterlaͤndiſcher Denkart ſich verbreite und ent¬ zuͤnde. Nicht zum Zeitvertreibe muͤßiger Oh¬ ren und Augen haben ſie ſich dieſem Zeitalter beſtimmt, ſondern ich will endlich einmal wiſ¬ ſen, und jeder Gleichgeſinnte ſoll es mit mir wiſſen, ob auch außer uns etwas iſt, daß unſe¬ rer Denkart verwandt iſt. Jeder Deutſche, der noch glaubt, Glied einer Nation zu ſeyn, der groß und edel von ihr denkt, auf ſie hofft, fuͤr ſie wagt, duldet und traͤgt, ſoll endlich herausgeriſſen werden aus der Unſicher¬ heit ſeines Glaubens; er ſoll klar ſehen, ob er recht habe, oder nur ein Thor und Schwaͤr¬ mer ſey, er ſoll von nun an, entweder mit ſicherem und freudigen Bewußtſeyn ſeinen Weg fortſetzen, oder mit ruͤſtiger Entſchloſſenheit454 Verzicht thun auf ein Vaterland hienieden, und ſich allein mit dem himmliſchen troͤſten. Ihnen, nicht als dieſen und dieſen Perſonen in unſerm taͤglichen und beſchraͤnkten Leben, ſondern als Stellvertretern der Nation, und hindurch durch Ihre Gehoͤrswerkzeuge, der gan¬ zen Nation, rufen dieſe Reden alſo zu:

Es ſind Jahrhunderte herabgeſunken, ſeit¬ dem ihr nicht alſo zuſammen berufen worden ſeyd, wie heute; in ſolcher Anzahl; in einer ſo großen, ſo dringenden, ſo gemeinſchaftli¬ chen Angelegenheit; ſo durchaus als Nation, und Deutſche. Auch wird es euch niemals wiederum alſo geboten werden. Merket ihr jetzo nicht auf, und gehet in euch, laſſet ihr auch dieſe Reden wieder als einen leeren Kuͤtzel der Ohren, oder als ein wunderliches Unge¬ thuͤm an euch voruͤber gehen, ſo wird kein Menſch mehr auf euch rechnen. Endlich ein¬ mal hoͤret, endlich einmal beſinnt euch. Geht nur dieſes mal nicht von der Stelle, ohne ei¬ nen feſten Entſchluß gefaßt zu haben; und jed¬ weder, der dieſe Stimme vernimmt, faſſe die¬ ſen Entſchluß bei ſich ſelbſt, und fuͤr ſich ſelbſt,455 gleich als ob er allein da ſey, und alles allein thun muͤſſe. Wenn recht viele einzelne ſo denken, ſo wird bald ein großes Ganzes da¬ ſtehen, das in eine einige eng verbundene Kraft zuſammenfließe. Wenn dagegen jedwe¬ der, ſich ſelbſt ausſchließend, auf die uͤbrigen hofft, und den andern die Sache uͤberlaͤßt; ſo giebt es gar keine anderen, und alle zuſam¬ men bleiben, ſo wie ſie vorher waren. Faſ¬ ſet ihn auf der Stelle, dieſen Entſchluß. Sa¬ get nicht, laß uns noch ein wenig ruhen, noch ein wenig ſchlafen und traͤumen, bis etwa die Beſſerung von ſelber komme. Sie wird nie¬ mals von ſelbſt kommen. Wer, nachdem er einmal das Geſtern verſaͤumt hat, das noch bequemer geweſen waͤre zur Beſinnung, ſelbſt heute noch nicht wollen kann, der wird es morgen noch weniger koͤnnen. Jeder Verzug macht uns nur noch traͤger, und wiegt uns nur noch tiefer ein in die freundliche Gewoͤhnung an unſern elenden Zuſtand. Auch koͤnnen die aͤußern Antriebe zur Beſinnung niemals ſtaͤr¬ ker und dringender werden. Wen dieſe Ge¬ genwart nicht aufregt, der hat ſicher alles Ge¬456 fuͤhl verloren. Ihr ſeyd zuſammen beru¬ fen, einen lezten und feſten Entſchluß, und Beſchluß, zu faſſen; keinesweges etwa zu ei¬ nem Befehle, einem Auftrage, einer Anmu¬ thung, an Andere, ſondern zu einer Anmuthung an euch ſelber. Eine Entſchließung ſollt ihr faſſen, die jedweder nur durch ſich ſelbſt und in ſeiner eignen Perſon ausfuͤhren kann Es reicht hiebei nicht hin jenes muͤßige Vorſatz¬ nehmen, jenes Wollen, irgend einmal zu wol¬ len, jenes traͤge Sichbeſcheiden, daß man ſich darein ergeben wolle, wenn man etwa einmal von ſelber beſſer wuͤrde; ſondern es wird von euch gefordert ein ſolcher Entſchluß, der zu¬ gleich unmittelbar Leben ſey, und inwendige That, und der da ohne Wanken oder Erkaͤl¬ tung fortdaure und fortwalte, bis er am Ziele ſey.

Oder iſt vielleicht in euch die Wurzel, aus der ein ſolcher in das Leben eingreifender Ent¬ ſchluß allein hervorwachſen kann, voͤllig aus¬ gerottet und verſchwunden? Iſt wirklich und in der That euer ganzes Weſen verduͤnnet, und zerfloſſen zu einem hohlen Schatten, ohne457 Saft und Blut, und eigene Bewegkraft; und zu einem Traume, in welchem zwar bunte Geſichter ſich erzeugen, und geſchaͤftig einander durchkreuzen, der Leib aber todtaͤhnlich und erſtarrt daliegen bleibt? Es iſt dem Zeitalter ſeit langem unter die Augen geſagt, und in jeder Einkleidung ihm wiederholt worden, daß man ohngefaͤhr alſo von ihm denke. Seine Wortfuͤhrer haben geglaubt, daß man dadurch nur ſchmaͤhen wolle, und haben ſich fuͤr aufge¬ fordert gehalten, auch von ihrer Seite wieder¬ um zuruͤck zu ſchmaͤhen, wodurch die Sache wieder in ihre natuͤrliche Ordnung komme. Im uͤbrigen hat nicht die mindeſte Aenderung oder Beſſerung ſich ſpuͤren laſſen. Habt ihr es vernommen, iſt es faͤhig geweſen, euch zu entruͤſten; nun, ſo ſtrafet doch diejenigen, die ſo von euch denken und reden, geradezu durch eure That der Luͤge: zeiget euch anders vor aller Welt Augen, und jene ſind vor aller Welt Augen der Unwahrheit uͤberwieſen. Vielleicht, daß ſie gerade in der Abſicht, von euch alſo widerlegt zu werden, und weil ſie an jedem andern Mittel, euch aufzuregen, verzweifelten,458 alſo hart von euch geredet haben. Wie viel beſſer haͤtten ſie es ſodann mit euch gemeint, als diejenigen, die euch ſchmeicheln, damit ihr erhalten werdet in der traͤgen Ruhe, und in der nichts achtenden Gedankenloſigkeit!

So ſchwach und ſo kraftlos ihr auch immer ſeyn moͤget, man hat in dieſer Zeit euch die klare und ruhige Beſinnung ſo leicht gemacht, als ſie vorher niemals war. Das, was eigent¬ lich in die Verworrenheit uͤber unſre Lage, in unſre Gedankenloſigkeit, in unſer blindes Gehenlaſſen, uns ſtuͤrzte, wir die ſuͤße Selbſt¬ zufriedenheit mit uns, und unſrer Weiſe da zu ſeyn. Es war bisher gegangen, und ging eben ſo fort; wer uns zum Nachdenken auffor¬ derte, dem zeigten wir, ſtatt einer andern Widerlegung, triumphirend unſer Daſeyn und Fortbeſtehen, das ſich ohne alles unſer Nach¬ denken ergab. Es ging aber nur darum, weil wir nicht auf die Probe geſtellt wurden. Wir ſind ſeitdem durch ſie hindurch gegangen. Seit dieſer Zeit ſollten doch wohl die Taͤuſchungen, die Blendwerke, der falſche Troſt, durch die wir alle uns gegenſeitig verwirrten, zuſam¬459 men geſtuͤrzt ſeyn? Die angebornen Vor¬ urtheile, welche, ohne von hier oder da aus¬ zugehen, wie ein natuͤrlicher Nebel uͤber alle ſich verbreiteten, und alle in dieſelbe Daͤmme¬ rung einhuͤllen, ſollten doch wohl nun ver¬ ſchwunden ſeyn? Jene Daͤmmerung haͤlt nicht mehr unſre Augen; ſie kann uns aber auch nicht ferner zur Entſchuldigung dienen. Jezt ſtehen wir da, rein, leer, ausgezogen von allen fremden Huͤllen und Umhaͤngen, bloß als das, was wir ſelbſt ſind. Jezt muß es ſich zeigen, was dieſes Selbſt iſt, oder nicht iſt.

Es duͤrfte Jemand unter euch hervortreten, und mich fragen: was giebt gerade Dir, dem einzigen unter allen deutſchen Maͤnnern und Schriftſtellern, den beſondern Auftrag, Beruf, und das Vorrecht, uns zu verſammeln und auf uns einzudringen? haͤtte nicht jeder unter den tauſenden der Schriftſteller Deutſchlands, eben daſſelbe Recht dazu, wie du; von denen keiner es thut, ſondern du allein dich hervor¬ draͤngſt? Ich antworte, daß allerdings jeder daſſelbe Recht gehabt haͤtte, wie ich, und daß ich gerade darum es thue, weil keiner unter ih¬460 nen es vor mir gethan hat; und daß ich ſchwei¬ gen wuͤrde, wenn ein anderer es fruͤher gethan haͤtte. Dies war der erſte Schritt zu dem Ziele einer durchgreifenden Verbeſſerung; irgend ei¬ ner mußte ihn thun. Ich war der, der es zu¬ erſt lebendig einſah; darum wurde ich der, der es zuerſt that. Es wird nach dieſem irgend ein anderer Schritt der zweite ſeyn; dieſen zu thun haben jezt alle daſſelbe Recht; wirklich thun aber wird ihn abermals nur ein einzelner. Einer muß immer der erſte ſeyn, und wer es ſeyn kann, der ſey es eben!

Ohne Sorge uͤber dieſen Umſtand verweilet ein wenig mit eurem Blicke bei der Betrach¬ tung, auf die wir ſchon fruͤher euch gefuͤhrt haben, in welchem beneidenswuͤrdigen Zu¬ ſtande Deutſchland ſeyn wuͤrde, und in wel¬ chem die Welt, wenn das erſtere das Gluͤck ſeiner Lage zu benutzen, und ſeinen Vortheil zu erkennen gewußt haͤtte. Heftet darauf euer Auge auf das, was beide nunmehro ſind; und laſſet euch durchdringen von dem Schmerz und dem Unwillen, der jeden Edlen hiebei erfaſſen muß. Kehret dann zuruͤck zu euch ſelbſt, und461 ſehet, daß Ihr es ſeyd, die die Zeit von den Irrthuͤmern der Vorwelt losſprechen, von de¬ ren Augen ſie den Nebel hinweg nehmen will, wenn ihr es zulaßt; daß es Euch verliehen iſt, wie keinem Geſchlechte vor Euch, das Geſche¬ hene ungeſchehen zu machen, und den nicht ehrenvollen Zwiſchenraum auszutilgen aus dem Geſchichtsbuche der Deutſchen.

Laſſet vor euch voruͤbergehen die verſchie¬ denen Zuſtaͤnde, zwiſchen denen ihr eine Wahl zu treffen habt. Gehet ihr ferner ſo hin in eurer Dumpfheit und Achtloſigkeit, ſo erwar¬ ten euch zunaͤchſt alle Uebel der Knechtſchaft, Entbehrungen, Demuͤthigungen, der Hohn und Uebermuth des Ueberwinders; ihr werdet herumgeſtoßen werden in allen Winkeln, weil ihr allenthalben nicht recht, und im Wege ſeyd, ſo lange, bis ihr, durch Aufopferung eurer Nationalitaͤt und Sprache, euch irgend ein un¬ tergeordnetes Plaͤtzchen erkauft, und bis auf dieſe Weiſe allmaͤhlich euer Volk ausloͤſcht. Wenn ihr euch dagegen ermannt zum Aufmer¬ ken, ſo findet ihr zufoͤrderſt eine ertraͤgliche und ehrenvolle Fortdauer, und ſehet noch, un¬462 ter euch, und um euch herum, ein Geſchlecht aufbluͤhen, das euch und den Deutſchen das ruͤhmlichſte Andenken verſpricht. Ihr ſehet im Geiſte durch dieſes Geſchlecht den deutſchen Namen zum glorreichſten unter allen Voͤlkern erheben, ihr ſehet dieſe Nation als Wieder¬ gebaͤhrerin und Wiederherſtellerin der Welt.

Es haͤngt von euch ab, ob ihr das Ende ſeyn wollt, und die lezten, eines nicht achtungs¬ wuͤrdigen, und bei der Nachwelt gewiß ſogar uͤber die Gebuͤhr verachteten Geſchlechtes, bei deſſen Geſchichte die Nachkommen, falls es naͤmlich in der Barbarei, die da beginnen wird, zu einer Geſchichte kommen kann, ſich freuen werden, wenn es mit ihnen zu Ende iſt, und das Schickſal preiſen werden, daß es gerecht ſey; oder, ob ihr der Anfang ſeyn wollt, und der Entwiklungspunkt einer neuen, uͤber alle eure Vorſtellungen herrlichen Zeit, und dieje¬ nigen, von denen an die Nachkommenſchaft die Jahre ihres Heils zaͤhle. Bedenket, daß ihr die lezten ſeyd, in deren Gewalt dieſe große Veraͤnderung ſieht. Ihr habt doch noch die Deutſchen als Eins nennen hoͤren, ihr habt463 ein ſichtbares Zeichen ihrer Einheit, ein Reich, und einen Reichsverband, geſehen, oder da¬ von vernommen, unter euch haben noch von Zeit zu Zeit Stimmen ſich hoͤren laſſen, die von dieſer hoͤhern Vaterlandsliebe begeiſtert waren. Was nach euch kommt, wird ſich an andere Vorſtellungen gewoͤhnen, es wird fremde Formen, und einen andern Geſchaͤfts - und Lebensgang, annehmen; und wie lange wird es noch dauern, daß keiner mehr lebe, der Deutſche geſehen, oder von ihnen gehoͤrt habe?

Was von euch gefordert wird, iſt nicht viel. Ihr ſollt es nur uͤber euch erhalten, euch auf kurze Zeit zuſammen zu nehmen, und zu denken, uͤber das, was euch unmittelbar und offenbar vor den Augen liegt. Daruͤber nur ſollt ihr euch eine feſte Meinung bilden, derſelben treu bleiben, und ſie in eurer naͤch¬ ſten Umgebung auch aͤußern und ausſprechen. Es iſt die Vorausſetzung, es iſt unſre ſichere Ueberzeugung, daß der Erfolg dieſes Denkens bei euch allen auf die gleiche Weiſe ausfallen wer¬ de; und daß, wenn ihr nur wirklich denket, und464 nicht hingeht in der bisherigen Achtloſigkeit, ihr uͤbereinſtimmend denken werdet, daß, wenn ihr nur uͤberhaupt Geiſt euch anſchaffet, und nicht in dem bloßen Pflanzenleben verharren bleibt, die Einmuͤthigkeit, und Eintracht des Geiſtes, von ſelbſt kommen werde. Iſt es aber einmal dazu gekommen, ſo wird alles uͤbrige, was uns noͤthig iſt, ſich von ſelbſt ergeben.

Dieſes Denken aber wird denn auch in der That gefordert, von jedem unter euch, der da noch denken kann, uͤber etwas, offen vor ſeinen Augen liegendes, in ſeiner eignen Perſon. Ihr habt Zeit dazu; der Augenblick will euch nicht uͤbertaͤuben, und uͤberraſchen; die Akten der mit euch gepflogenen Unterhandlungen bleiben unter euren Augen liegen. Legt ſie nicht aus den Haͤnden, bis ihr einig geworden ſeyd mit euch ſelbſt. Laſſet, o laſſet euch ja nicht laͤſ¬ ſig machen durch das Verlaſſen auf andere, oder auf irgend etwas, das außerhalb eurer ſelbſt liegt; noch durch die unverſtaͤndige Weis¬ heit der Zeit, daß die Zeitalter ſich ſelbſt ma¬ chen, ohne alles menſchliche Zuthun, vermit¬ telſt irgend einer unbekannten Kraft. DieſeReden465Reden ſind nicht muͤde geworden, euch einzu¬ ſchaͤrfen, daß euch durchaus nichts helfen kann, denn ihr euch ſelber, und ſie finden noͤthig, es bis auf den lezten Augenblik zu wiederholen. Wohl moͤgen Regen, und Than, und unfrucht¬ bare oder fruchtbare Jahre, gemacht werden, durch eine uns unbekannte, und nicht unter unſrer Gewalt ſtehende Macht; aber die ganz eigenthuͤmliche Zeit der Menſchen, die menſch¬ lichen Verhaͤltniſſe, machen nur die Menſchen ſich ſelber, und ſchlechthin keine außer ihnen befindliche Macht. Nur wenn ſie alle insge¬ ſammt gleich blind und unwiſſend ſind, fallen ſie dieſer verborgenen Macht anheim: aber es ſteht bei ihnen, nicht blind und unwiſſend zu ſeyn. Zwar in welchem hoͤhern oder niedern Grade es uns uͤbel gehen wird, dies mag abhaͤngen theils von jener unbekannten Macht, ganz beſonders aber von dem Verſtande, und dem guten Willen derer, denen wir unterwor¬ fen ſind. Ob aber jemals es uns wieder wohl gehen ſoll, dies haͤngt ganz allein von uns ab, und es wird ſicherlich nie wieder irgend ein Wohlſeyn an uns kommen, wenn wir nichtG g466ſelbſt es uns verſchaffen: und insbeſondre, wenn nicht jeder Einzelne unter uns in ſeiner Weiſe thut und wirket, als ob er allein ſey, und als ob lediglich auf ihm das Heil der kuͤnf¬ tigen Geſchlechter beruhe.

Dies iſts, was ihr zu thun habt; dies ohne Saͤumen zu thun, beſchwoͤren euch dieſe Reden.

Sie beſchwoͤren euch Juͤnglinge. Ich, der ich ſchon ſeit geraumer Zeit aufgehoͤrt habe, zu euch zu gehoͤren, halte dafuͤr, und habe es auch in dieſen Reden ausgeſprochen, daß ihr noch faͤhiger ſeyd eines jeglichen uͤber das ge¬ meine hinausliegenden Gedankens, und erreg¬ barer fuͤr jedes gute, und tuͤchtige, weil euer Alter noch naͤher liegt den Jahren der kindli¬ chen Unſchuld, und der Natur. Ganz anders ſieht dieſen Grundzug an euch an die Mehrheit der aͤltern Welt. Dieſe klaget euch an der Anmaßung, des vorſchnellen, vermeſſenen, und eure Kraͤfte uͤberfliegenden Urtheils, der Recht¬ haberei, der Neuerungsſucht. Jedoch laͤchelt ſie nur gutmuͤthig dieſer eurer Fehler. Alles dieſes, meint ſie, ſey begruͤndet lediglich durch467 euren Mangel an Kenntniß der Welt, d. h. des allgemeinen menſchlichen Verderbens, denn fuͤr etwas anders an der Welt haben ſie nicht Au¬ gen. Jezt nur, weil ihr gleichgeſinnte Gehuͤl¬ fen zu finden hoſtet, und den grimmigen und hartnaͤckigen Widerſtand, den man euren Ent¬ wuͤrfen des Beſſern entgegen ſetzen werde, nicht kenntet, haͤttet ihr Muth. Wenn nur das jugendliche Feuer eurer Einbildungskraft ein¬ mal verflogen ſeyn werde, wenn ihr nur die allgemeine Selbſtſucht, Traͤgheit und Arbeits¬ ſcheu, wahrnehmen wuͤrdet, wenn ihr nur die Suͤßigkeit des Fortgehens in dem gewohnten Geleiſe ſelbſt einmal recht wuͤrdet geſchmeckt haben, ſo werde euch die Luſt, beſſer und kluͤ¬ ger ſeyn zu wollen, denn die andern alle, ſchon vergehen. Sie greifen dieſe gute Hofnung von euch nicht etwa aus der Luft; ſie haben dieſelbe an ihrer eigenen Perſon beſtaͤtigt gefun¬ den. Sie muͤſſen bekennen, daß ſie in den Tagen ihrer unverſtaͤndigen Jugend eben ſo von Weltverbeſſerung getraͤumet haben, wie ihr jetzt; dennoch ſeyen ſie bei zunehmender Reife ſo zahm, und ruhig geworden, wie ihrG g 2468ſie jezo ſaͤhet. Ich glaube ihnen; ich habe ſelbſt ſchon in meiner nicht ſehr langwierigen Erfahrung erlebt, daß Juͤnglinge, die erſt an¬ dere Hofnung erregten, dennoch ſpaͤterhin jenen wohlmeinenden Erwartungen dieſes reifen Alters vollkommen entſprachen. Thut dies nicht laͤnger, Juͤnglinge, denn wie koͤnnte ſonſt jemals ein beſſeres Geſchlecht beginnen? Der Schmelz der Jugend zwar wird von euch ab¬ fallen, und die Flamme eurer Einbildungskraft wird aufhoͤren, ſich aus ſich ſelber zu ernaͤhren; aber faſſet dieſe Flamme, und verdichtet ſie durch klares Denken, macht euch zu eigen die Kunſt dieſes Denkens, und ihr werdet die ſchoͤnſte Ausſtattung des Menſchen, den Cha¬ rakter, noch zur Zugabe bekommen. An jenem klaren Denken erhaltet ihr die Quelle der ewi¬ gen Jugendbluͤthe; wie auch euer Koͤrper al¬ tere, oder eure Knie wanken, euer Geiſt wird in ſtets erneuerter Friſchheit ſich wiedergebaͤh¬ ren, und euer Charakter feſt ſtehen, und ohne Wandel. Ergreift ſogleich die ſich hier euch dar¬ bietende Gelegenheit; denkt klar, uͤber den euch zur Berathung vorgelegten Gegenſtand;469 die Klarheit, die in Einem Punkte fuͤr euch an¬ gebrochen iſt, wird ſich allmaͤhlig auch uͤber alle uͤbrige verbreiten.

Dieſe Reden beſchwoͤren euch Alte. So wie ihr eben gehoͤrt habt, denkt man von euch, und ſagt es euch unter die Augen; und der Redner ſezt in ſeiner eignen Perſon freimuͤthig hinzu, daß, die freilich auch nicht ſelten vor¬ kommenden, und um ſo verehrungswuͤrdigern Ausnahmen abgerechnet, in Abſicht der großen Mehrheit unter euch man vollkommen recht hat. Gehe man durch die Geſchichte der lez¬ ten zwei oder drei Jahrzehende; alles außer ihr ſelbſt ſtimmt uͤberein, ſogar ihr ſelbſt, jeder in dem Fache, das ihn nicht unmittelbar trift, ſtimmt mit uͤberein, daß, immer die Ausnah¬ men abgerechnet, und nur auf die Mehrheit geſehen, in allen Zweigen, in der Wiſſenſchaft, ſo wie in den Geſchaͤften des Lebens, die groͤ¬ ßere Untauglichkeit und Selbſtſucht ſich bei dem hoͤheren Alter gefunden habe. Die ganze Mitwelt hat es mit angeſehen, daß jeder, der das beſſere und vollkommnere wollte, außer dem Kampfe mit ſeiner eigenen Unklarheit, und470 den uͤbrigen Umgebungen, noch den ſchwerſten Kampf mit euch zu fuͤhren hatte; daß ihr des feſten Vorſatzes waret, es muͤſſe nichts auf¬ kommen, was ihr nicht eben ſo gemacht und gewußt haͤttet; daß ihr jede Regung des Den¬ kens fuͤr eine Beſchimpfung eures Verſtandes anſahet; und daß ihr keine Kraft ungebraucht ließet, um in dieſer Bekaͤmpfung des Beſſeren zu ſiegen, wie ihr denn gewoͤhnlich auch wirk¬ lich ſiegtet. So waret ihr die aufhaltende Kraft aller Verbeſſerungen, welche die guͤtige Natur aus ihrem ſtets jugendlichen Schooße uns darbot, ſo lange, bis ihr verſammelt wur¬ det zu dem Staube, der ihr ſchon vorher waret, und das folgende Geſchlecht, im Kriege mit euch, euch gleich geworden war, und eure bisherige Verrichtung uͤbernahm. Ihr duͤrft nur auch jezt handeln, wie ihr bisher bei allen Antraͤgen zur Verbeſſerung gehandelt habt, ihr duͤrft nur wiederum eure eitle Ehre, daß zwiſchen Himmel und Erde nichts ſeyn ſolle, das ihr nicht ſchon erforſcht haͤttet, dem ge¬ meinſamen Wohle vorziehen, ſo ſeyd ihr durch dieſen lezten Kampf alles fernern Kaͤmpfens471 uͤberhoben, es wird keine Verbeſſerung erfol¬ gen, ſondern Verſchlimmerung auf Verſchlim¬ merung, ſo daß ihr noch manche Freude erle¬ ben koͤnnt.

Man wolle nicht glauben, daß ich das Al¬ ter als Alter verachte, und herabſetze. Wird nur durch Freiheit die Quelle des urſpruͤngli¬ chen Lebens und ſeiner Fortbewegung aufge¬ nommen in das Leben, ſo waͤchſt die Klarheit, und mit ihr die Kraft, ſo lange das Leben dau¬ ert. Ein ſolches Leben lebt ſich beſſer, die Schlacken der irdiſchen Abkunft fallen immer mehr ab, und es veredelt ſich herauf zum ewi¬ gen Leben, und bluͤht ihm entgegen. Die Er¬ fahrung eines ſolchen Alters ſoͤhnt nicht aus mit dem Boͤſen, ſondern ſie macht nur die Mittel klarer, und die Kunſt gewandter, um daſſelbe ſiegreich zu bekaͤmpfen. Die Ver¬ ſchlimmerung durch zunehmendes Alter iſt le¬ diglich die Schuld unſrer Zeit, und allenthal¬ ben, wo die Geſellſchaft ſehr verdorben iſt, muß daſſelbe erfolgen. Nicht die Natur iſt es, die uns verdirbt, dieſe erzeugt uns in Unſchuld, die Geſellſchaft iſts. Wer nun472 der Einwirkung derſelben einmal ſich uͤber¬ giebt, der muß natuͤrlich immer ſchlechter werden, je laͤnger er dieſem Einfluſſe ausge¬ ſetzt iſt. Es waͤre der Muͤhe werth, die Ge¬ ſchichte anderer ſehr verdorbener Zeitalter in dieſer Ruͤckſicht zu unterſuchen, und zu ſehen ob nicht z. B. auch unter der Regierung der roͤmiſchen Imperatoren, das, was einmal ſchlecht war, mit zunehmendem Alter immer ſchlechter geworden.

Euch Alte ſonach und Erfahrne, die ihr die Ausnahme macht, euch zufoͤrderſt beſchwoͤ¬ ren dieſe Reden, beſtaͤtigt, beſtaͤrkt, berathet in dieſer Angelegenheit die juͤngere Welt, die ehrfurchtsvoll ihre Blicke nach euch richtet. Euch andere aber, die ihr in der Regel ſeyd, beſchwoͤren ſie: helfen ſollt ihr nicht, ſtoͤret nur dieſes einzigemal nicht, ſtellt euch nicht wieder, wie bisher immer, in den Weg mit eurer Weisheit und euren tauſend Bedenklich¬ keiten. Dieſe Sache, ſo wie jede vernuͤnftige Sache in der Welt, iſt nicht tauſendfach, ſon¬ dern einfach, welches auch unter die tauſend Dinge gehoͤrt, die ihr nicht wißt. Wenn eure473 Weisheit retten koͤnnte, ſo wuͤrde ſie uns ja fruͤher gerettet haben, denn ihr ſeyd es ja, die uns bisher berathen haben. Dies iſt nun, ſo wie alles andere, vergeben, und ſoll euch nicht weiter vorgeruͤckt werden. Lernt nur endlich einmal euch ſelbſt erkennen, und ſchwei¬ get.

Dieſe Reden beſchwoͤren euch Geſchaͤfts¬ maͤnner. Mit wenigen Ausnahmen waret ihr bisher dem abgezogenen Denken und aller Wiſſenſchaft, die fuͤr ſich ſelbſt etwas zu ſeyn begehrte, von Herzen feind, obwohl ihr euch die Miene gabet, als ob ihr dieſes alles nur vor¬ nehm verachtetet; ihr hieltet die Maͤnner, die dergleichen trieben, und ihre Vorſchlaͤge, ſo weit von euch weg, als ihr irgend konntet; und der Vorwurf des Wahnſinnes, oder der Rath, ſie ins Tollhaus zu ſchiken, war der Dank, auf den ſie bei euch am gewoͤhnlichſten rechnen konnten. Dieſe hinwiederum getrauten ſich zwar nicht uͤber euch mit derſelben Freimuͤ¬ thigkeit ſich zu aͤuſſern, weil ſie von euch ab¬ hingen, aber ihres innern Herzens wahrhafte Meinung war die, daß ihr mit wenigen Aus¬474 nahmen ſeichte Schwaͤzer ſeyet und aufgebla¬ ſene Prahler, Halbgelehrte, die durch die Schule nur hindurch gelaufen, blinde Zutap¬ per, und Fortſchleicher im alten Geleiſe, und die ſonſt nichts wollten oder koͤnnten. Straft ſie durch die That der Luͤge, und ergreifet hierzu die jetzt euch dargebotene Gelegenheit; legt ab jene Verachtung fuͤr gruͤndliches Den¬ ken und Wiſſenſchaft, laßt euch bedeuten, und hoͤret und lernet, was ihr nicht wißt; außer¬ dem behalten eure Anklaͤger Recht.

Dieſe Reden beſchwoͤren euch Denker, Ge¬ lehrte, Schriftſteller, die ihr dieſes Namens noch werth ſeyd. Jener Tadel der Geſchaͤfts¬ maͤnner an euch war in gewiſſem Sinne nicht ungerecht. Ihr ginget oft zu unbeſorgt im Gebiete des bloßen Denkens fort, ohne euch um die wirkliche Welt zu bekuͤmmern, und nachzuſehen, wie jenes an dieſe angeknuͤpft werden koͤnne; ihr beſchriebet euch eure eigene Welt, und ließet die wirkliche zu verachtet und verſchmaͤhet auf der Seite liegen. Zwar muß alle Anordnung und Geſtaltung des wirklichen Lebens ausgehen vom hoͤheren ordnenden Be¬475 griffe, und das Fortgehen im gewohnten Geleiſe thuts ihm nicht; dies iſt eine ewige Wahrheit, und druͤckt in Gottes Namen mit unverhohl¬ ner Verachtung jeglichen nieder, der es wagt, ſich mit den Geſchaͤften zu befaſſen, ohne die¬ ſes zu wiſſen. Zwiſchen dem Begriffe jedoch, und der Einfuͤhrung deſſelben in jedwedes be¬ ſondere Leben, liegt eine große Kluft. Dieſe Kluft auszufuͤllen iſt ſowohl das Werk des Geſchaͤftsmanns, der freilich ſchon vorher ſo viel gelernt haben ſoll, um euch zu verſtehen, als auch das eurige, die ihr uͤber der Gedan¬ kenwelt das Leben nicht vergeſſen ſollt. Hier treft ihr beide zuſammen. Statt uͤber die Kluft hinuͤber einander ſcheel anzuſehen, und herabzuwuͤrdigen, beeifere ſich vielmehr jeder Theil von ſeiner Seite dieſelbe auszufuͤllen, und ſo den Weg zur Vereinigung zu bahnen. Begreift es doch endlich, daß ihr Beide unter¬ einander euch alſo nothwendig ſeyd, wie Kopf und Arm ſich nothwendig ſind.

Dieſe Reden beſchwoͤren noch in andern Ruͤckſichten euch Denker, Gelehrte, Schrift¬ ſteller, die ihr dieſes Namens noch werth ſeyd. 476Eure Klagen uͤber die allgemeine Seichtigkeit, Gedankenloſigkeit, und Verfloſſenheit, uͤber den Klugduͤnkel, und das unverſiegbare Geſchwaͤz, uͤber die Verachtung des Ernſtes und der Gruͤndlichkeit in allen Staͤnden moͤgen wahr ſeyn, wie ſie es denn ſind. Aber welcher Stand iſt es denn, der dieſe Staͤnde insge¬ ſammt erzogen hat, der ihnen alles wiſſen¬ ſchaftliche in ein Spiel verwandelt, und von der fruͤhſten Jugend an zu jenem Klug¬ duͤnkel und jenem Geſchwaͤze ſie angefuͤhrt hat? Wer iſt es denn, der auch die der Schule entwachſenen Geſchlechter noch immer¬ fort erzieht? Der in die Augen fallendſte Grund der Dumpfheit des Zeitalters iſt der, daß es ſich dumpf geleſen hat, an den Schrif¬ ten, die ihr geſchrieben habt. Warum laßt ihr dennoch immerforr euch ſo angelegen ſeyn, dieſes muͤßige Volk zu unterhalten, ohnerach¬ tet ihr wißt, daß es nichts gelernt hat, und nichts lernen will; nennt es Publikum, ſchmei¬ chelt ihm als eurem Richter, hezt es auf gegen eure Mitbewerber, und ſucht dieſen blinden und verworrnen Haufen durch jedes Mittel477 auf eure Seite zu bringen; gebt endlich ſelbſt in euren Recenſier Anſtalten[und] Journalen ihm ſo Stoff wie Beiſpiel ſeiner vorſchnellen Urtheilerei, indem ihr da eben ſo ohne Zuſam¬ menhang, und ſo aus freier Hand in den Tag hinein urtheilt, meiſt eben ſo abgeſchmackt, wie es auch der lezte eurer Leſer koͤnnte? Denkt ihr nicht alle ſo, giebt es unter euch noch beſſer geſinnte, warum vereinigen ſich denn nicht dieſe beſſergeſinnten, um dem Un¬ heile ein Ende zu machen? Was ins beſon¬ dere jene Geſchaͤftsmaͤnner anbelangt; dieſe ſind bei euch durch die Schule gelaufen, ihr ſagt es ſelbſt. Warum habt ihr denn dieſen ihren Durchgang nicht wenigſtens dazu be¬ nuzt, um ihnen einige ſtumme Achtung fuͤr die Wiſſenſchaften einzufloͤßen, und beſonders dem hochgebornen Juͤnglinge den Eigenduͤnkel bei Zeiten zu brechen, und ihm zu zeigen, daß Stand und Geburt, in Sachen des Den¬ kens, nichts foͤrdert? Habt ihr ihm vielleicht ſchon damals geſchmeichelt, und ihn ungebuͤhr¬ lich hervorgehoben, ſo traget nun, was ihr ſelbſt veranlaßt habt!

478

Sie wollen euch entſchuldigen, dieſe Reden, mit der Vorausſetzung, daß ihr die Wichtig¬ keit eures Geſchaͤfts nicht begriffen haͤttet; ſie beſchwoͤren euch, daß ihr euch von Stund an bekannt macht mit dieſer Wichtigkeit, und es nicht laͤnger, als ein bloßes Gewerbe treibt. Lernt euch ſelbſt achten, und zeigt in eurem Handeln, daß ihr es thut, und die Welt wird euch achten. Die erſte Probe davon werdet ihr ablegen durch den Einfluß, den ihr auf die angetragene Entſchließung euch geben, und durch die Weiſe, wie ihr euch dabei benehmen werdet.

Dieſe Reden beſchwoͤren euch Fuͤrſten Deutſch¬ lands. Diejenigen, die euch gegenuͤber ſo thun, als ob man euch gar nichts ſagen duͤrfte, oder zu ſagen haͤtte, ſind veraͤchtliche Schmeichler, ſie ſind arge Verlaͤumder eurer ſelbſt; weiſet ſie weit weg von euch. Die Wahrheit iſt, daß ihr eben ſo unwiſſend geboren werdet, als wir andern alle, und daß ihr hoͤren muͤßt, und lernen, gleichwie auch wir, wenn ihr heraus¬ kommen ſollt aus dieſer natuͤrlichen Unwiſſen¬ heit. Euer Antheil an der Herbeifuͤhrung des479 Schikſals, das euch zugleich mit euren Voͤl¬ kern betroffen hat, iſt hier auf die mildeſte, und wie wir glauben, auf die allein gerechte, und billige Weiſe, dargelegt worden, und ihr koͤnnt euch, falls ihr nicht etwa nur Schmei¬ chelei, niemals aber Wahrheit hoͤren wollt, uͤber dieſe Reden nicht beklagen. Dies alles ſey vergeſſen, ſo wie wir andern alle auch wuͤn¬ ſchen, daß unſer Antheil an der Schuld ver¬ geſſen werde. Jezt beginnt, ſo wie fuͤr uns alle, alſo auch fuͤr euch, ein neues Leben. Moͤchte doch dieſe Stimme durch alle die Um¬ gebungen hindurch, die euch unzugaͤnglich zu machen pflegen, bis zu euch dringen! Mit ſtol¬ zem Selbſtgefuͤhl darf ſie euch ſagen: ihr be¬ herrſchet Voͤlker, treu, bildſam, des Gluͤks wuͤrdig, wie keiner Zeit, und keiner Nation Fuͤrſten ſie beherrſcht haben. Sie haben Sinn fuͤr die Freiheit und ſind derſelben faͤhig; aber ſie ſind euch gefolgt in den blutigen Krieg ge¬ gen das, was ihnen Freiheit ſchien, weil ihr es ſo wolltet. Einige unter euch haben ſpaͤterhin anders gewollt, und ſie ſind euch gefolgt in das, was ihnen ein Ausrottungskrieg ſcheinen480 mußte gegen einen der lezten Reſte deutſcher Unabhaͤngigkeit, und Selbſtſtaͤndigkeit; auch weil ihr es ſo wolltet. Sie dulden und tragen ſeitdem die druͤckende Laſt gemeinſamer Uebel; und ſie hoͤren nicht auf, euch treu zu ſeyn, mit inniger Ergebung an euch zu hangen, und euch zu lieben, als ihre ihnen von Gott verliehene Vormuͤnder. Moͤchtet ihr ſie doch, unbemerkt von ihnen, beobachten koͤnnen; moͤchtet ihr doch, frei von den Umgebungen, die nicht im¬ mer die ſchoͤnſte Seite der Menſchheit euch darbieten, herabſteigen koͤnnen in die Haͤuſer des Buͤrgers, in die Huͤtten des Landmanns, und dem ſtillen, und verborgenen Leben dieſer Staͤnde, zu denen die in den hoͤhern Staͤnden ſeltner gewordene Treue und Biederkeit ihre Zuflucht genommen zu haben ſcheint, betrach¬ tend folgen koͤnnen; gewiß, o gewiß wuͤrde euch der Entſchluß ergreifen, ernſtlicher denn jemals nachzudenken, wie ihnen geholfen werden koͤnne. Dieſe Reden haben euch ein Mittel der Huͤlfe vorgeſchlagen, das ſie fuͤr ſicher, durchgreifend, und entſcheidend halten. Laſſet eure Raͤthe ſich berathſchlagen, ob ſie es auchſo481ſo finden, oder ob ſie ein beſſeres wiſſen, nur, daß es eben ſo entſcheidend ſey. Die Ueberzeu¬ gung aber, daß etwas geſchehen muͤſſe, und auf der Stelle geſchehen muͤſſe, und etwas durch¬ greifendes und entſcheidendes geſchehen muͤſſe, und daß die Zeit der halben Maßregeln, und der Hinhaltungsmittel, voruͤber ſey; dieſe Ueber¬ zeugung moͤchten ſie gern, wenn ſie koͤnnten, bei euch ſelbſt hervorbringen, indem ſie zu eurem Biederſinne noch das meiſte Vertrauen hegen.

Euch Deutſche insgeſammt, welchen Plaz in der Geſellſchaft ihr einnehmen moͤget, be¬ ſchwoͤren dieſe Reden, daß jeder unter euch, der da denken kann, zuvoͤrderſt denke uͤber den angeregten Gegenſtand, und daß jeder dafuͤr thue, was gerade ihm an ſeinem Platze am naͤchſten liegt.

Es vereinigen ſich mit dieſen Reden, und beſchwoͤren euch eure Vorfahren. Denket, daß in meine Stimme ſich miſchen die Stimmen eurer Ahnen aus der grauen Vorwelt, die mitH h482ihren Leibern ſich entgegen geſtemmt haben der heranſtroͤmenden Roͤmiſchen Weltherrſchaft, die mit ihrem Blute erkaͤmpft haben die Unabhaͤn¬ gigkeit der Berge, Ebenen, und Stroͤme, welche unter euch den Fremden zur Beute geworden ſind. Sie rufen euch zu: vertretet uns, uͤber¬ liefert unſer Andenken eben ſo ehrenvoll und unbeſcholten der Nachwelt, wie es auf euch ge¬ kommen iſt, und wie ihr euch deſſen, und der Abſtammung von uns, geruͤhmt habt. Bis jezt galt unſer Widerſtand fuͤr edel, und groß, und weiſe, wir ſchienen die Eingeweihten zu ſeyn, und die Begeiſterten, des goͤttlichen Weltplans. Gehet mit euch unſer Geſchlecht aus, ſo ver¬ wandelt ſich unſre Ehre in Schimpf, und un¬ ſre Weisheit in Thorheit. Denn ſollte der deut¬ ſche Stamm einmal untergehen in das Roͤmer¬ thum, ſo war es beſſer, daß es in das alte ge¬ ſchaͤhe, denn in ein neues. Wir ſtanden je¬ nem, und beſiegten es; ihr ſeyd verſtaͤubt wor¬ den vor dieſem. Auch ſollt ihr nun, nachdem einmal die Sachen alſo ſtehen, ſie nicht beſie¬ gen mit leiblichen Waffen; nur euer Geiſt ſoll483 ſich ihnen gegen uͤber erheben, und aufrecht ſtehen. Euch iſt das groͤßere Geſchik zu Theil worden, uͤberhaupt das Reich des Geiſtes und der Vernunft, zu begruͤnden, und die rohe koͤr¬ perliche Gewalt insgeſammt, als beherrſchen¬ des der Welt, zu vernichten. Werdet ihr dies thun, dann ſeyd ihr wuͤrdig der Abkunft von uns.

Auch miſchen in dieſe Stimmen ſich die Geiſter eurer ſpaͤtern Vorfahren, die da fielen im heiligen Kampfe fuͤr Religions - und Glau¬ bens-Freiheit. Rettet auch unſere Ehre, rufen ſie euch zu. Uns war nicht ganz klar, wofuͤr wir ſtritten; außer dem rechtmaͤßigen Ent¬ ſchluſſe, in Sachen des Gewiſſens durch aͤußere Gewalt uns nicht gebieten zu laſſen, trieb uns noch ein hoͤherer Geiſt, der uns niemals ſich ganz enthuͤllte. Euch iſt er enthuͤllt, dieſer Geiſt, falls ihr eine Sehkraft habt fuͤr die Geiſterwelt, und blikt euch an mit hohen klaren Augen. Das bunte und verworrene Gemiſch der ſinnlichen und geiſtigen Antriebe durch ein¬H 2484ander ſoll uͤberhaupt der Weltherrſchaft entſezt werden, und der Geiſt allein, rein, und aus¬ gezogen von allen ſinnlichen Antrieben, ſoll an das Ruder der menſchlichen Angelegenheiten treten. Damit dieſem Geiſte die Freiheit werde, ſich zu entwickeln, und zu einem ſelbſt¬ ſtaͤndigen Daſeyn empor zu wachſen, dafuͤr floß unſer Blut. An euch iſts, dieſem Opfer ſeine Bedeutung und ſeine Rechtfertigung zu geben, indem ihr dieſen Geiſt einſezt in die ihm beſtimmte Weltherrſchaft. Erfolgt nicht dieſes, als das lezte, worauf alle bisherige Entwickelung unſrer Nation zielte, ſo werden auch unſre Kaͤmpfe zum voruͤberrauſchenden leeren Poſſenſpiele, und die von uns erfochtene Geiſtes - und Gewiſſensfreiheit iſt ein leeres Wort, wenn es von nun an uͤberhaupt nicht laͤnger Geiſt oder Gewiſſen geben ſoll.

Es beſchwoͤren euch eure noch ungebohrne Nachkommen. Ihr ruͤhmt euch eurer Vorfah¬ ren, rufen ſie euch zu, und ſchließt mit Stolz euch an an eine edle Reihe. Sorget, daß bei euch485 die Kette nicht abreiße: machet, daß auch wir uns eurer ruͤhmen koͤnnen, und durch euch, als untadeliches Mittelglied hindurch, uns anſchlieſ¬ ſen an dieſelbe glorreiche Reihe. Veranlaſſet nicht, daß wir uns der Abkunft von euch ſchaͤ¬ men muͤſſen, als einer niedern, barbariſchen, ſklaviſchen, daß wir unſre Abſtammung verber¬ gen, oder einen fremden Namen, und eine fremde Abkunft erluͤgen muͤſſen, um nicht ſogleich, ohne weitere Pruͤfung, weggeworfen und zertre¬ ten zu werden. Wie das naͤchſte Geſchlecht, das von euch ausgehen wird, ſeyn wird, alſo wird euer Andenken ausfallen in der Geſchichte; ehrenvoll, wenn dieſes ehrenvoll fuͤr euch zeugt: ſogar uͤber die Gebuͤhr ſchmaͤhlich, wenn ihr keine laute Nachkommenſchaft habt, und der Sieger eure Geſchichte macht. Noch niemals hat ein Sieger Neigung, oder Kunde genug gehabt, um die Ueberwundenen gerecht zu be¬ urtheilen. Je mehr er ſie herabwuͤrdigt, deſto gerechter ſteht er ſelbſt da. Wer kann wiſſen, welche Grosthaten, welche trefliche Einrichtun¬ gen, welche edle Sitten, manches Volkes der486 Vorwelt, in Vergeſſenheit gerathen ſind, weil die Nachkommen unterjocht wurden, und der Ueberwinder, ſeinen Zwecken gemaͤß, unwider¬ ſprochen, Bericht uͤber ſie erſtattete.

Es beſchwoͤret euch ſelbſt das Ausland, in wiefern daſſelbe nur noch im mindeſten ſich ſelbſt verſteht, und noch ein Auge hat fuͤr ſei¬ nen wahren Vortheil. Ja, es giebt noch unter allen Voͤlkern Gemuͤther, die noch im¬ mer nicht glauben koͤnnen, daß die großen Verheißungen eines Reichs des Rechts, der Vernunft, und der Wahrheit, an das Menſchen¬ geſchlecht, eitel und ein leeres Trugbild ſeyen, und die daher annehmen, daß die gegenwaͤr¬ tige eiſerne Zeit nur ein Durchgang ſey zu ei¬ nem beſſern Zuſtande. Dieſe, und in ihnen die geſammte neuere Menſchheit, rechnet auf euch. Ein großer Theil derſelben ſtammt ab von uns, die uͤbrigen haben von uns Religion und jedwede Bildung erhalten. Jene beſchwoͤ¬ ren uns bei dem gemeinſamen vaterlaͤndiſchen Boden, auch ihrer Wiege, den ſie uns frei487 hinterlaſſen haben; dieſe bei der Bildung, die ſie von uns, als Unterpfand eines hoͤhern Gluͤcks, bekommen haben, uns ſelbſt auch fuͤr ſie, und um ihrer willen zu erhalten, ſo wie wir immer geweſen ſind, aus dem Zuſammen¬ hange des neu entſproſſenen Geſchlechts nicht dieſes ihm ſo wichtige Glied herausreißen zu laſſen, damit, wenn ſie einſt unſers Rathes, unſers Beiſpiels, unſrer Mitwirkung gegen das wahre Ziel des Erdenlebens hin beduͤrfen, ſie uns nicht ſchmerzlich vermiſſen.

Alle Zeitalter, alle Weiſe und Gute, die jemals auf dieſer Erde geathmet haben, alle ihre Gedanken und Ahnungen eines hoͤhern, miſchen ſich in dieſe Stimmen, und umringen euch, und heben flehende Haͤnde zu euch auf; ſelbſt, wenn man ſo ſagen darf, die Vorſeh¬ ung, und der goͤttliche Weltplan bei Erſchaffung eines Menſchengeſchlechts, der ja nur da iſt, um von Menſchen gedacht, und durch Menſchen in die Wirklichkeit eingefuͤhrt zu werden, be¬ ſchwoͤret euch, ſeine Ehre und ſein Daſeyn zu488 retten. Ob jene, die da glaubten, es muͤſſe immer beſſer werden mit der Menſchheit, und die Gedanken einer Ordnung und einer Wuͤrde derſelben ſeyen kein leere Traͤume, ſondern die Weiſſagung und das Unterpfand der einſtigen Wirklichkeit, Recht behalten ſollen, oder dieje¬ nigen, die in ihrem Thier - und Pflanzen-Le¬ ben hinſchlummern, und jedes Auffluges in hoͤhere Welten ſpotten daruͤber ein leztes Endurtheil zu begruͤnden, iſt euch anheim ge¬ fallen. Die alte Welt mit ihrer Herrlichkeit und Groͤße, ſo wie mit ihren Maͤngeln, iſt ver¬ ſunken, durch die eigne Unwuͤrde, und durch die Gewalt eurer Vaͤter. Iſt in dem, was in dieſen Reden dargelegt worden, Wahrheit, ſo ſeyd unter allen neuren Voͤlkern ihr es, in denen der Keim der menſchlichen Vervollkomm¬ nung am entſchiedenſten liegt, und denen der Vorſchritt in der Entwiklung derſelben aufgetragen iſt. Gehet ihr in dieſer eu¬ rer Weſenheit zu Grunde, ſo gehet mit euch zugleich alle Hofnung des geſammten Men¬ ſchengeſchlechts, auf Rettung aus der Tiefe489 ſeiner Uebel zu Grunde. Hoffet nicht, und troͤſtet euch nicht, mit der aus der Luft gegrif¬ fenen, auf bloße Wiederholung der ſchon ein¬ getretenen Faͤlle rechnenden Meinung, daß ein zweitesmal, nach Untergang der alten Bildung, eine neue, auf den Truͤmmern der erſten, aus einer halb barbariſchen Nation, hervorgehen werde. In der alten Zeit war ein ſolches Volk, mit allen Erforderniſſen zu dieſer Beſtim¬ mung ausgeſtattet, vorhanden, und war dem Volke der Bildung recht wohl bekannt, nnd iſt von ihnen beſchrieben; und dieſe ſelbſt, wenn ſie den Fall ihres Unterganges zu ſetzen ver¬ mocht haͤtten, wuͤrden an dieſem Volke das Mittel der Wiederherſtellung haben entdeken koͤnnen. Auch uns iſt die geſammte Oberflaͤche der Erde recht wohl bekannt, und alle die Voͤl¬ ker, die auf derſelben leben. Kennen wir denn nun ein ſolches, dem Stammvolke der neuen Welt aͤhnliches Volk, von welchem die gleichen Erwartungen ſich faſſen ließen? Ich denke, jeder, der nur nicht bloß ſchwaͤrmeriſch meint und hofft, ſondern gruͤndlich unterſuchend denkt,490 werde dieſe Frage mit Nein beantworten muͤſ¬ ſen. Es iſt daher kein Ausweg: wenn ihr verſinkt, ſo verſinkt die ganze Menſchheit mit, ohne Hofnung einer einſtigen Wiederherſtel¬ lung.

Dies war es, E. V. was ich Ihnen, als meinen Stellvertretern der Nation, und durch Sie der geſammten Nation, am Schluſſe die¬ ſer Reden noch einſchaͤrfen wollte, und ſollte.

Folgende den Sinn ſtoͤrende Druckfehler bittet man zu verbeſſern:

S. 81. Z. 5. von unten, nach Geſezmaͤßigkeit, ein Komma.

S. 129. Z. 3. v. u. ſt demſelben l. m. derſelben.

S. 161. Z. 5. ſt. wurden l. m. wuͤrden, und ſt. ehe¬ maligen l m ehemaligem.

S. 222 Z. 9. ſt. hoͤher l. m. hoͤheren.

S. 231. lezte Z. nach Weſens ein Komma.

S. 242. Z. 3. ſt. gekommene l. m. gekommenen.

S. 315. Z. 12. faͤllt nach Ohngefaͤhr, das Komma weg.

S. 320. Z. 8. v. u. faͤllt vor Vertrauen, ſich weg.

S. 374. Z. 8. l. m. befuͤrchten.

Die uͤbrigen weniger bedeutenden Fehler moͤge der Leſer guͤtigſt entſchuldigen.

About this transcription

TextReden an die deutsche Nation
Author Johann Gottlieb Fichte
Extent503 images; 76808 tokens; 10069 types; 552061 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationReden an die deutsche Nation Johann Gottlieb Fichte. . 490 S., [1] Bl. RealschulbuchhandlungBerlin1808.

Identification

Zentral- und Landesbibliothek Berlin Berlin ZLB, KucRg 364 (Hist. Sammlungen)

Physical description

Fraktur

LanguageGerman
ClassificationFachtext; Philosophie; Wissenschaft; Philosophie; Gebrauchsliteratur; core; ready; ocr

Editorial statement

Editorial principles

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  • dta@bbaw.de
  • Deutsches Textarchiv
  • Berlin-Brandenburg Academy of Sciences and Humanities (BBAW)
  • Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW)
  • Jägerstr. 22/23, 10117 BerlinGermany
ImprintBerlin 2019-12-10T09:32:15Z
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Holding LibraryZentral- und Landesbibliothek Berlin
ShelfmarkBerlin ZLB, KucRg 364 (Hist. Sammlungen)
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