PRIMS Full-text transcription (HTML)
Sozialpädagogik.
Theorie der Willenserziehung auf der Grundlage der Gemeinschaft.
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StuttgartFr. Frommanns Verlag (E. Hauff)1899.
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Sozialpädagogik.
Theorie der Willenserziehung auf der Grundlage der Gemeinschaft.
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StuttgartFr. Frommanns Verlag (E. Hauff)1899.
[II]

Druck der Hoffmannschen Buchdruckerei in Stuttgart.

[III]

Rudolf Stammler dem Freunde und Mitforscher treulich gewidmet.

[IV][V]

Vorwort.

Die vorliegende Schrift versucht auf eine der am meisten zentralen Fragen unsrer Zeit begründete Antwort zu geben, indem sie die Wechselbeziehungen zwischen Erziehung und Gemeinschaft sich zum Problem macht. Sie betrachtet die Erziehung, deren Kern sie in der Erziehung des Willens sieht, als bedingt durch das Leben der Gemeinschaft und wiederum bedingend für dessen Gestaltung. Dadurch fällt eine vielfach neue Beleuchtung gleichzeitig auf die Thatsachen der Erziehung im weitesten Sinne und auf die Thatsachen des sozialen Lebens, das unter diesem Gesichtspunkt als ein grosser Organismus zur Menschenbildung sich darstellt.

Indem also zwei sonst getrennte Wissenschaften, Gesell - schaftslehre und Erziehungslehre, nicht bloss äusserlich aneinander zu bringen, sondern als in der tiefsten Wurzel eins und untrennbar zusammengehörig zu erweisen waren, wurde es notwendig, bis zu den philosophischen Gründen beider zurückzugehen. Ein deduktiver Aufbau musste gewagt werden. Nach dem gegenwärtigen Stande der Philosophie muss ich darauf gefasst sein, dass er manchem in der That nur gewagt erscheinen, dass die zwingende Kraft meiner Beweisführung nicht allen gleichermaassen überzeugend sein wird; ja dass manche, denen es mehr auf fruchtbare Resultate ankommt, die ganze Mühe dieser Deduktion mir gern erlassen, und dafür ein noch konkreteres Eingehen in unmittelbar praktische Fragen lieber gesehen hätten. Diesen kann ich nur antworten, dass ich für meine Aufgabe genau das zu leisten hatte, was ich als Philosoph zu leisten gerüstet war. Uebrigens wird man nicht verkennen, dass Mühe genug daran gewendetVI worden ist, die philosophischen Gründe meiner Aufstellungen durchsichtig, ja gemeinverständlich darzulegen; und dass Anknüpfungspunkte für die Behandlung unmittelbar praktischer Fragen besonders im dritten Buche reichlich geboten sind.

Manche Ergänzung in dieser Hinsicht liefern die folgenden Schriften und Abhandlungen, die ich, da im Buche auf sie öfter zu verweisen war, zu bequemerer Uebersicht zu - sammenstelle:

Religion innerhalb der Grenzen der Humanität. Ein Kapitel zur Grundlegung der Sozialpädagogik. (Freiburg, Mohr, 1894. Dazu eine Auseinandersetzung mit Chr. Schrempf in dessen Zeitschrift Die Wahrheit , III 124.)

Pestalozzis Ideen über Arbeiterbildung und soziale Frage. Eine Rede. (Deutsche Worte XIV 226, und sep. : Heilbronn, Salzer, 1894.)

Platos Staat und die Idee der Sozialpädagogik. (Arch. f. soz. Gesetzg. u. Stat. VIII 140, und sep. : Berlin, Heymann, 1895.)

Ueber volkstümliche Universitätskurse. (Acad. Rev. II 637. Vgl. auch: Zur Frage der Volkshochschulkurse, Comenius - Blätter V 1.)

Dörpfelds Fundamentstück. Eine Kritik. (Deutsche Schule II 9.)

Die im Archiv für systematische Philosophie (Bd. I III, in fünf Stücken) erschienene Abhandlung Grundlinien einer Theorie der Willensbildung ist in das vorliegende Buch ganz hineingearbeitet, hat aber dabei eine grösstenteils sehr be - trächtliche Umarbeitung erfahren.

Eine historisch-kritische Ergänzung der gegenwärtigen Schrift bildet endlich die gleichzeitig erschienene: Herbart, Pestalozzi und die heutigen Aufgaben der Erziehungslehre. Acht Vorträge. (Stuttgart, Frommanns Verlag, 1899.)

Marburg, 1. Oktober 1898.

Der Verfasser.

[VII]

Inhalt.

  • Seite
  • Erstes Buch. Grundlegung. § 1. Erziehung, Bildung, Wille, Idee3
  • § 2. Idee nicht Naturbegriff6
  • § 3. Idee nicht Begriff der Psychologie10
  • § 4. Erkenntniskritik nicht Psychologie15
  • § 5. Das Gebiet des Intellekts: theoretische Erkenntnis oder Erfahrung25
  • § 6. Das Gebiet des Willens: praktische Erkenntnis oder Idee34
  • § 7. Stufen der Aktivität. Erste Stufe: Trieb47
  • § 8. Zweite Stufe der Aktivität: Wille im engern Sinn57
  • § 9. Dritte Stufe der Aktivität: Vernunftwille63
  • § 10. Erziehung und Gemeinschaft. Sozialpädagogik68
  • Zweites Buch. Hauptbegriffe der Ethik und Sozialphilosophie. § 11. Das Sittliche in individualer und sozialer Bedeutung83
  • § 12. System der individuellen Tugenden. 1. Die Tugend der Ver - nunft: Wahrheit91
  • § 13. 2. Die Tugend des Willens: Tapferkeit oder sittliche Thatkraft101
  • § 14. 3. Die Tugend des Trieblebens: Reinheit oder Maass109
  • § 15. 4. Die individuelle Grundlage der sozialen Tugend: Gerechtigkeit119
  • § 16. Parallelismus der Funktionen des individualen und sozialen Lebens131
  • § 17. Grundklassen sozialer Thätigkeiten145
  • § 18. Grundgesetz der sozialen Entwicklung160
  • § 19. Die Tugenden der Gemeinschaft178
  • Drittes Buch. Organisation und Methode der Willenserziehung. § 20. Soziale Organisationen zur Willenserziehung: 1. Das Haus193
  • § 21. 2. Die Schule203
  • § 22. 3. Freie Selbst - erziehung im Gemeinleben der Erwachsenen213
  • VIII
  • Seite
  • § 23. Form der willenbildenden Thätigkeit. Uebung und Lehre224
  • § 24. Autorität und ihre Hülfsmittel229
  • § 25. Sittliche Lehre237
  • § 26. Materie der praktischen Uebung und Lehre. Erste Stufe: Hauserziehung245
  • § 27. Zweite Stufe: Schulerziehung254
  • § 28. Dritte Stufe: Freie Selbsterziehung259
  • § 29. Anteil der Intellektbildung an der Willenserziehung. Grund - lagen und erste Stufe269
  • § 30. Fortsetzung. Zweite Stufe: Erziehender Unterricht , ins - besondere Geschichte als Gesinnungsunterricht 282
  • § 31. Uebergang zur dritten Stufe: Philosophische Bestandteile des Unterrichts, insbesondere Ethik als Lehrfach301
  • § 32. Anteil der ästhetischen Bildung an der Willenserziehung311
  • § 33. Religion und Humanität324
  • § 34. Anteil der Religion an der Willenserziehung342
[1]

Erstes Buch. Grundlegung.

Natorp, Sozialpädagogik. 1[2][3]

§ 1. Erziehung, Bildung, Wille, Idee.

Es ist nur eine Seite der Erziehung, für welche die theo - retischen Grundlagen hier nachgewiesen werden sollen. Doch ist es die, von der schliesslich das Ganze der Erziehung abhängt. Also müssen die nachzuweisenden Grundlagen auch für das Ganze zulangen.

Das Wort Erziehung wird am eigentlichsten von der Bildung des Willens gebraucht. Es hat zwar einen hinlänglich weiten Sinn, um zu gestatten, dass man auch von intellektueller, ästhetischer, religiöser Erziehung spricht. Aber auch dabei denkt man vorzugsweise an die Abhängigkeit der intellektuellen, der ästhetischen, der religiösen Bildung von der Bildung des Willens oder an ihre Rückwirkung auf diese. Andernfalls spricht man von Unterricht oder gebraucht das allgemeine Wort Bildung, Ausbildung.

Dieses scheint in der That am geeignetsten, um das Ganze der pädagogischen Aufgabe zugleich dem Umfang nach er - schöpfend und dem Inhalt nach bezeichnend auszudrücken. Man spricht von wissenschaftlicher, technischer, künstlerischer so gut wie von sittlicher Bildung; der Ausdruck ist anwendbar auf jede Sonderrichtung der pädagogischen Thätigkeit, er ist es erst recht auf ihr Ganzes, auf die Einheit der humanen und beruflichen Erziehung. Und, mag dabei mehr gedacht sein an die plastische Thätigkeit des Künstlers, das absichtliche Formen,4 Gestalten des gegebenen Stoffs zur vorschwebenden Idee, oder an die plastische Kraft der Natur in ihren organischen Hervor - bringungen, das spontane Sichgestalten, so wie so ist das Wort bezeichnend wie kein anderes; es weist hin auf das innere Gesetz, nach dem ein Gebild, sei es als Werk der Kunst ge - staltet wird oder als Werk der Natur sich selbst gestaltet.

Doch behält daneben das Wort Erziehung seinen eigen - tümlichen und hinreichend allgemeinen Sinn. Es ist bezeichnend gerade nach der Seite, die das Wort Bildung unentschieden lässt. Es weist darauf hin, dass die menschliche Bildung, wie sehr auch Sache natürlicher Entwicklung, doch zugleich einer auf Förderung oder wenigstens Schutz dieser Entwicklung planvoll gerichteten Bemühung bedarf. Es liegt darin die Ana - logie des Aufziehens, des absichtlichen Züchtens, der Kultur von Pflanzen und Tieren, im Unterschied vom bloss natürlichen, spontanen Aufwachsen. Das Wort besagt: durch geeignete Behandlung oder Pflege zum gedeihlichen Wachstum bringen. Darin liegen diese zwei Voraussetzungen: erstens, es giebt ein Wachstum, eine stetig wie nach innerem Plan fortschreitende Entwicklung mitgebrachter Anlagen zu einer gewissen Höhe, die unter bestimmten, normalen Bedingungen sicher erreicht wird; zweitens aber, es ist möglich und notwendig, dies Wachs - tum zu unterstützen, mindestens Störungen desselben hintanzu - halten durch eigens darauf gerichtete planmässige Vorsorge, ohne welche die gleiche Höhe der Ausbildung nicht, oder nicht ebenso rasch, oder nur mit sonstigen Nachteilen erreicht wird. Es wird damit nicht geleugnet, dass Bildung innere Entfaltung gegebener Keime ist; auch das Wachstum der Pflanze, des Tiers macht ja nicht die Kultur; aber es wird bestimmter heraus - gehoben, dass die mitwirkende Thätigkeit des andern gleich - wohl unerlässlich ist, ohne die auch des Menschen eigenste Anlage sich nicht gehörig entfalten, sondern verkümmern würde. Auch wenn von Selbsterziehung gesprochen wird, denkt man eigentlich zwei Personen in einer vereint, die, welche erzogen wird, und die andere, welche erzieht. Auch so betont das Wort, dass nicht nur der Wille es ist, welcher gebildet werden soll, sondern auch die bildende Thätigkeit Sache des Willens,5 obgleich in diesem Fall nicht eines fremden, sondern des eignen Willens des Zuerziehenden ist. Uebrigens ist Selbsterziehung erst Resultat der Erziehung durch andre.

Also, dass menschliche Bildung Willenssache ist, das ist das Besondere und Wichtige, was das Wort Erziehung in Erinnerung hält. Und vielleicht ist eben dies der Grund, weshalb es vorzugsweise von der Bildung des Willens gebraucht wird. Denn unmittelbar Sache des Willens ist nur die Er - ziehung des Willens selbst; während auf alle andern Seiten der Bildung der erziehende Wille nur dadurch Einfluss erlangt, dass er den Willen des Zöglings zu gewinnen und auf das gewollte Ziel hinzulenken weiss.

Auf jede Weise aber enthält schon dieser erste Grundbegriff der Pädagogik, der der Erziehung selbst oder der Bildung, ein Problem von eigentlich philosophischer Natur: das Problem des Sollens oder des Zwecks oder, wie wir am liebsten sagen, der Idee. Bilden, sagten wir, heisst Formen, wie aus dem Chaos gestalten; es heisst, ein Ding zu seiner eigentümlichen Vollkommenheit bringen; vollkommen aber heisst, was ist wie es sein soll. Dasselbe besagt nur deutlicher das Wort Idee: es besagt die Gestalt einer Sache, die wir in Gedanken haben als die seinsollende, zu der der gegebene Stoff, sei es gestaltet werden oder sich selbst gestalten soll. Das ist die innere und wesentliche Beziehung der Begriffe Bildung und Idee. Und nicht weniger klar liegt die gleiche Grundvoraussetzung eines anzustrebenden Zieles der Entwicklung in jenem Moment des absichtlichen, planvollen Einwirkens, welches deutlicher in dem Wort Erziehung zum Ausdruck kommt; wie denn diese Vor - aussetzung ganz allgemein im Begriff des Willens enthalten ist; denn Wille heisst zuletzt nichts andres als Zielsetzung, Vorsatz einer Idee, d. i. eines Gesollten.

Wie aber ist dies Sollen zu begründen? Woher schöpfen wir die Erkenntnis, nicht, wie ein Ding thatsächlich ist, sondern wie es sein soll? Warum soll es sein, wie es doch aus bestimmten thatsächlichen Gründen nicht ist, auch vielleicht nie gewesen ist und nie sein wird? Der gewöhnliche Weg der Erkenntnis, die Erfahrung, scheint darauf keine Antwort6 zu geben; sie langt nur zu für das was ist. Sie erstreckt sich auf Natur in ihrem ganzen Umfang und auf nichts mehr; Natur aber weiss nichts von Zwecken, von Ideen; in ihr soll nichts sondern ist nur. Allein der Mensch setzt sich Zwecke, z. B. als Erzieher; er stellt eine Idee dessen auf, was sein soll, obgleich es nicht ist, ja, was sein sollte, auch wenn es nie gewesen ist noch je sein wird. Also, was hat es überhaupt auf sich mit dieser Zwecksetzung, diesem Sollen, dieser Idee? Ohne klare und begründete Antwort auf diese Frage giebt es keinen Zugang zu einer Theorie der Erziehung, die des Namens wert ist; besonders nicht zur Theorie der Willenserziehung, denn dasselbe ist auch der letzte Sinn der Frage: was ist Wille? Die Theorie des Willens und die der Erziehung liegt auf einer Bahn, der der Forschung nach der Idee. In diese haben wir nun einzutreten.

§ 2. Idee nicht Naturbegriff.

Sehr oft hat die Erziehungslehre der bestechenden Analogie der geistigen mit der materiellen Entwicklung nachgegeben. Und doch zeigt sie sich schon in schlicht empirischer Erwägung unstichhaltig, sofern sie etwas mehr bedeuten will als ein bequemes Gleichnis. Bei der materiellen Entwicklung nämlich ist das zu erreichende Ziel, das gesunde, normale Wachstum des Organismus, durchaus nicht zweifelhaft; alle Schwierigkeit beginnt erst bei der Frage nach den Wegen, nach den zu - sammenwirkenden Bedingungen des als normal angenommenen Wachstums. Dagegen ist in der Erziehung nichts so sehr dem Streit unterworfen wie das anzustrebende Ziel. Das liegt nicht bloss an der vielfältigeren Verflechtung der die geistige Ent - wicklung bedingenden Faktoren, sondern es weist zurück auf einen gründlichen Unterschied der Rolle und Bedeutung der Idee, der Zielsetzung überhaupt auf dem einen und anderen Felde.

Es ist allerdings sehr geläufig und kaum vermeidlich, auch das Werden der Naturformen, das Wachstum der Organismen, überhaupt alles, wovon eine Entwicklung ausgesagt wird, unter7 dem Begriff eines Zieles, das erreicht, einer Bestimmung, die erfüllt werden solle, d. i. unter einer Idee zu denken; und so scheint die angenommene Analogie ja immer noch zuzutreffen.

Allein bei der materiellen Entwicklung besagt das Ziel einen wahren, angebbaren Endpunkt, eine nicht zu über - schreitende Grenze, ein nicht zu übertreffendes Maximum. Solche und solche bestimmte Leistungen ist die gegebene materielle Organisation überhaupt zu entwickeln fähig. Darüber hinauszukommen bleibt ihr auch unter den günstigsten Um - ständen versagt; während es wohl ein Zurückbleiben hinter dem Ziel, eben unter der Ungunst der äusseren Bedingungen der Entwicklung, giebt.

Dass das Maximum sich etwa nicht absolut bestimmen lässt, macht keinen grundsätzlichen Unterschied. Unter Vor - aussetzung unwandelbarer Artbegriffe würde es sich bestimmen lassen. Nun strebt die Biologie zwar die Artbegriffe zu ver - flüssigen, die starren Formen möglichst in Prozess und Be - wegung aufzulösen. Allein ein Maximum der Entwicklungs - fähigkeit muss für die gegebene individuelle Organisation doch immer angenommen werden; das liegt schon in der Voraus - setzung einer bestimmten, gegebenen Organisation. Es ist dafür gesorgt, dass die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Wird aber ein Maximum vorausgesetzt, so lässt sich die Zweck - betrachtung ganz ausscheiden und in die rein ursachliche umsetzen.

Für die Biologie stellt sich die Frage eigentlich immer so: Wenn die und die Höhe von Leistungen erreicht werden soll dass sie es soll, steht gar nicht in Frage , welche Bedingungen müssen erfüllt sein? Diese Frage ist aber völlig einerlei mit der andern: Welches sind die Ursachen solcher vorausgedachten Wirkungen? Das Vorausdenken der Wir - kungen ändert nichts an dem kausalen Charakter des Ver - hältnisses. Gewöhnlich sind ja die Wirkungen zuerst bekannt und wird von diesen auf die Ursachen analytisch zurück - gegangen; erst dann lassen sich auch progressiv oder synthetisch aus den voraus bekannten Ursachen die Wirkungen berechnen. Uebersähe man nur das ganze Geflecht der Bedingungen, so8 wäre von andern als ursachlichen Beziehungen zu reden über - haupt kein Anlass.

So erscheint hier der Unterschied ursachlicher und zweck - licher, kausaler und teleologischer Betrachtung nur subjektiv , nur ein Unterschied des Standorts des Beurteilers. Soll aber eins von beiden den objektiven Thatbestand ausdrücken, so kann es nur das Ursachverhältnis sein; kein Wunder, da ein Thatbestand eben nur ist, niemals, als solcher, bloss sein soll.

Also das Sollen scheint in der teleologischen Betrachtung materieller Entwicklung überhaupt ohne Not eingeführt zu werden; jedenfalls nachdem es einmal eingeführt worden, ist alles Weitere nur Erwägung des Verhältnisses von Bedingung und Bedingtem; also, da es sich um zeitliche Bedingtheit handelt, des ursachlichen Verhältnisses. Nur diese Erwägung ist natur - wissenschaftlich, nicht die teleologische.

Zum Beispiel, das einzelne Organ dient so sagt man oder ist bestimmt zu einer gewissen Verrichtung; das heisst im Grunde nur, diese ist durch jenes bedingt. Diese Ver - richtung dient etwa weiter der Erhaltung des individuellen Organismus; diese der Erhaltung der Gattung; und diese etwa der Erhaltung von Leben überhaupt; wenn ein Leben über - haupt unter solchen und solchen Bedingungen bestehen sollte, so musste eine diesen Bedingungen angepasste Organisation sich bilden. Allein weshalb musste überhaupt Leben sein? So lange man im Kreise naturwissenschaftlicher Erwägung bleibt, giebt es auf eine solche Frage keine Antwort mehr. Irgend ein letztes Soll wird also grundlos eingeführt; wenigstens langen die Methoden der Naturwissenschaft nicht zu es zu begründen. Das Hypothese zu nennen wäre Missbrauch des Namens. Naturwissenschaftliche Hypothesen müssen den Be - dingungen naturwissenschaftlicher Bewahrheitung genügen; naturwissenschaftlicher Beweis aber langt zu für Thatsachen und ursachliche Zusammenhänge von Thatsachen, nicht für ein Sollen, das etwas mehr als ein andrer Ausdruck des Ur - sachverhältnisses wäre. Ein ursprüngliches Sollen liegt ganz ausser dem Wege der Naturwissenschaft. Das Sollen, von dem sie etwa spricht, ist kein ursprüngliches, sondern es ist, eigent -9 lich ausgedrückt, blosse Kausalität. Der Vogel hat Flügel, weil er fliegen soll; nein, er hat Flügel und kann daher fliegen. Das Individuum erhält sich, weil die Gattung sich erhalten soll; nein, vielmehr damit, dass die Einzelwesen sich in den Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit erhalten, erhält sich die Gat - tung in der ihrigen. Und schliesslich, indem die Gattungen unter sich ändernden Lebensbedingungen variationsfähig sind, erhält sich das Leben im ganzen, nämlich auf diesem Planeten, oder unter sonstwie begrenzten natürlichen Bedingungen. Dass aber Leben überhaupt, unter allen Bedingungen sich erhalten müsse, d. h. solle, ist keine Erkenntnis der Naturwissenschaft mehr, und keine naturwissenschaftlich mögliche Hypothese.

Wenn dies aber so ist, wie kommt überhaupt die Zweck - betrachtung in die Natur? Sie ist hineingetragen, wird man antworten. Allein woher hineingetragen? Aus uns; sie ist unsere subjektive Zuthat. Es sei; aber damit eröffnet sich eine ganz neue Aussicht. Die Zweckbetrachtung ist subjektiv, sie stammt aus uns; sind also wir nicht Naturwesen? Wie fände sonst bei uns die Zweckbetrachtung Anwendung, da doch bei keinem Naturwesen? Man muss wohl schliessen: da die Zweckbetrachtung ganz ausser der Bahn bloss naturwissen - schaftlicher Erwägung liegt, so kann sie auch aus uns nicht in die Natur hineingetragen sein, ausgenommen, wir selbst unter - liegen noch irgend andrer als naturwissenschaftlicher Erwägung.

Aller Zweck sei der Natur bloss angedichtet; es sei bloss subjektiver Zusatz zur kausalen Auffassung, die allein objektiven Grund hat. Es sei also, wie Spinoza will: Natur hat keine Zwecke, nur wir schreiben sie ihr zu, weil wir uns Zwecke setzen und geneigt sind, Natur nach menschlicher Analogie vorzustellen. Allein, wären wir selbst nichts andres als Natur (wie derselbe Spinoza behauptet), dächten wir uns nicht zum wenigsten anders, als wir Natur denken, so hätte die Idee des Zwecks genau so wenig Sinn für uns wie für die Natur. Dann aber, woher käme uns überhaupt dieser Begriff? Vielleicht wird man nun antworten: er ist überhaupt rechtlos, in Be - ziehung auf uns sowohl als auf die Natur. Allein nach seiner Berechtigung ist hier noch gar nicht die Frage, sondern nach10 der Herkunft des Begriffs. Wir haben ihn: also, woher haben wir ihn?

Es ist aber schon etwas damit gewonnen, dass klar wird: Sinn und Grund des Zweckbegriffs ist nicht, jedenfalls nicht ursprünglich zu suchen in der Art, wie wir die Natur, sondern wie wir uns selbst, in wie immer berechtigter Unterscheidung von der Natur, denken. Das heisst, die Entscheidung muss darin liegen, dass der Mensch ein Selbstbewusstsein hat. Selbstbewusste Entwicklung allein vermag sich zu denken unter der Idee eines Zieles, das sie erreichen solle; wo dagegen ein Selbstbewusstsein nicht in Frage kommt, also in der Be - trachtung der materiellen Natur, bloss als materieller, da ist der Zweckbegriff nur hineingetragen; er lässt sich ausscheiden, und die rein kausale Betrachtung bleibt zurück.

Alle Zweckbetrachtung in der Natur geht, wie wir sahen, zurück auf die letzte Voraussetzung eines Strebens der Selbst - erhaltung. Aber hat Natur überhaupt ein Selbst? Die Selbstheit, die wir ihr zuschreiben, legen nur wir hinein; und wir können es nur, weil wir das Bewusstsein eines Selbst haben. Also brauchten wir gar nicht erst zur Natur zu gehen, wir konnten bei uns selber bleiben, um den Ursprung der Idee zu finden.

Damit tritt unsere Untersuchung auf ein ganz neues Feld über: das der Analyse des Bewusstseins. Doch bedarf es bei einem so vieldeutigen Begriff genauer Unterscheidungen, wenn wir uns nicht alsbald von neuem verwickeln wollen.

§ 3. Idee nicht Begriff der Psychologie.

Im Bewusstsein ist die Idee zu suchen. Am Bewusstsein aber wir verstehen darunter zunächst zeitlich bestimm - tes Bewusstsein unterscheidet sich zweierlei: das, was irgendwem bewusst ist, wir nennen es die Erscheinung, und das Bewusst-sein selbst.

Das erstere lässt sich in allen Fällen so ins Auge fassen, dass vom Bewusst-sein dabei ganz abstrahiert wird. Das Er -11 scheinende, wiewohl wirklich nur im Bewusstsein gegeben (denn Erscheinen heisst: Irgendwem bewusst sein), löst sich doch in der Betrachtung von ihm gleichsam ab. Indem es für jemand Erscheinung (ihm bewusst) ist, steht es allein ihm vor Augen; er hat nicht nötig, sein Augenmerk ausserdem darauf zu richten, dass es ihm bewusst sei. Das Bewusst-sein der Erscheinung oder die auf sie sich richtende Betrachtung ist nicht noch ein fernerer, notwendig von ihm zu betrachten - der Gegenstand. Das würde ja auch ins Unendliche gehen, denn ebenso müsste die Betrachtung der Betrachtung wieder Gegenstand einer neuen Betrachtung sein, und so fort ohne Ende. Sondern, indem die Erscheinung Gegenstand meiner Betrachtung ist, habe ich es nur mit ihr, nicht mit mir zu thun.

So glauben wir es zu verstehen, dass die Gesamtheit des Erscheinenden sich in der Vorstellung zu einer Welt zusammen - schliesst, von der wir reden können, als sei sie an sich ohne uns, die Betrachtenden da, als sei es ein blosser, gleichgültiger Nebenumstand, dass auch wir da sind, sie zu betrachten; ob - gleich wir thatsächlich von ihrem Dasein freilich nur dadurch wissen, dass auch wir als die Betrachtenden da sind.

Die idealistischen Folgerungen, die sich hier nahelegen, sollen uns auf unserem Wege nicht aufhalten. Es genügt, dass Erscheinungen gegeben sind als nächster, vorerst einziger Gegenstand der Erkenntnis. Unter Erkenntnis aber ver - standen wir bisher und verstehen auch jetzt: die Ordnung der Erscheinungen unter Gesetzen, und zwar ihre zeitliche Ordnung, gemäss dem Grundgesetz der Kausalität. Dadurch begrenzt sich das Gebiet der Naturerkenntnis. In ihr ist, wie wir uns überzeugten, die Idee nicht zu suchen.

Nun meint man aber, es müsse doch auch das andre, das Bewusst-sein der Erscheinungen, den Gegenstand einer eigen - tümlichen Erkenntnis bilden. Es ist doch eben auch vorhan - den, wiewohl mit nichts verwandt oder vergleichbar, was uns, als von uns selbst Verschiedenes, erscheint; sollte es nicht auch irgendeiner eigentümlichen Erkenntnis zugänglich sein? Wie verhält es sich damit?

Wir antworten darauf: An dem nackten Bewusst-sein oder12 Gegebensein für ein Ich ist durchaus nichts Eigentümliches zu erkennen; es ist für alles Gegebene unterschiedslos dasselbe, und überhaupt ohne besonderen Inhalt. Wohl aber zeigt sich ein Unterschied in der Art, wie die Erscheinungen sich auf - reihen und gleichsam zusammenstellen: einerseits als unmittel - bar im jeweiligen individuellen Bewusstsein einander folgend oder auch auf einmal vorhanden, in bunter, ungleichmässiger, scheinbar gesetzloser, chaotischer Zusammenwürfelung; ander - seits so, wie sie in jener gesetzlichen Ordnung, welche die Natur als Objekt unsrer Erkenntnis ausmacht, sich dar - stellen, oder vielmehr durch die Arbeit der Erkenntnis erst dargestellt werden. Diese Ordnung der als Natur erkannten Objekte ist zwar immer noch uns Bewusstes; aber es scheint doch, sagen wir, auf verschiedenen Stufen oder Höhen der Be - wusstheit dem Stoff nach dasselbe sich verschieden: zerstreuter, einheitlicher, in loserem, in festerem Zusammenhang, zu ordnen; und wenn in dieser Stufenfolge von Ordnungen das letzte Glied nach der einen, der Objektseite die sogenannte äussere, von uns losgelöst gedachte Wirklichkeit oder Natur ist, so steht dem als Aeusserstes nach der andern, der Subjektseite, unabgelöst von uns und unsrer Bewusstheit, ein letztes, unmittelbar Erscheinendes als gleichsam eine zweite, innere Welt gegenüber, die man die psychische nennt. Und diese muss sich auch irgendwie zur Erkenntnis bringen lassen, da wir sonst überhaupt nicht von ihr wissen würden.

Zwar die gemeinhin geltende Ansicht über das Verhält - nis des Physischen und Psychischen ist eine weit andre. Nach ihr würde es sich um zwei ursprünglich getrennte Er - scheinungsreihen handeln, von denen die zweite, psychisch genannte, nach im ganzen gleicher Methode wie die erste, die physische, zum Gegenstand der Erkenntnis zu machen, d. h. hinsichtlich der Gesetzmässigkeit des Auftretens der bezüg - lichen Erscheinungen in der Zeit zu untersuchen, und ent - weder in einer eigenen, rein aus dem Material des Psychischen konstruierten Kausalordnung, oder in einer und derselben mit den äusseren oder Naturerscheinungen, oder in einem ganz eigenartigen Verhältnis zu diesen, man nennt es Parallelismus,13 darzustellen wäre. Eine solche doppelte Reihe der Erschei - nungen giebt es, wie mir scheint, nicht. *)Zur näheren Begründung vgl. des Verf. Einleitung in die Psy - chologie nach kritischer Methode . (Freiburg, Mohr, 1888.)Denn nichts, was irgend ein Inhalt des Bewusstseins oder Erscheinung für uns ist, ist etwa nicht, hinsichtlich der Gesetzlichkeit seines zeitlichen Auftretens, in die Ordnung der Natur einzubeziehen; andrerseits nichts noch so gegenständlich Gedachtes entbehrt der andern Beziehung auf das Bewusstsein, dem es gegeben ist, und auf das unmittelbar diesem Gegebene, aus dem es ge - staltet worden. Bloss eine ist die Ordnung des ursprünglich Erscheinenden, bloss einzig vorhanden die Gesetzesordnung dieses selben Erscheinenden, welche Natur heisst. Nur erhält das - selbe, was in einer Hinsicht Erscheinung des Gegenstands, nämlich der Natur genannt wird, noch eine eigentümliche Benen - nung in jener andern Beziehung, die es auf das Bewusstsein hat, dem es Erscheinung ist; es fügt sich auf Grund dieser Beziehung in ein andres Begriffssystem ein, etwa als Empfin - dung, Vorstellung, Gedanke. Und diese neue Benennung ist auch nicht ohne eigenen Inhalt; sie weist hin auf eine eigene, gleichsam Innenansicht desselben Materials, dessen Aussen - ansicht die Natur ist. Und somit bleibt, auch wenn man eine besondere psychische Erscheinungsreihe und eine be - sondere psychische Kausalität nicht anerkennen kann, immer - hin eine eigene Art der Erkenntnis eines und desselben Er - scheinenden übrig, welche, als die einzige eigentümliche Er - kenntnis des Psychischen, Psychologie heissen kann.

So wie so aber hat man es in Naturwissenschaft wie Psychologie lediglich mit Erscheinungen in der Zeit zu thun. Diese unterliegen als solche der Ordnung der Ursachen, aber nicht der Zwecke. Ein Ursprung des Zweckbegriffes lässt sich soweit noch gar nicht absehen. Er ergiebt sich nicht aus der naturwissenschaftlichen, er ergiebt sich ebenso wenig aus jener psychologischen Erkenntnis, die nur die Innen - ansicht derselben Erscheinungen darstellt, deren Aussenansicht Naturwissenschaft heisst; er ergäbe sich auch nicht nach der14 sonst üblichen Auffassung der Psychologie, die nur, statt einer, zwei Naturen kennt.

Aber vielleicht giebt es noch einen von diesen allen ver - schiedenen Weg der Forschung. Nämlich wir haben zum mindesten noch Naturwissenschaft selbst nach dem Grunde und Rechte jener ihr eigentümlichen Ordnungsweise der Er - scheinungen, welche die Natur als Objekt unsrer Erkenntnis erst hervorbringt, und nach dem Grunde und Rechte der fun - damentalen Begriffe, Grundsätze und Methoden, mittels deren sie diese Ordnung gewinnt, zu befragen; zu denen als einer der obersten der Begriff der Ursache, der Grundsatz der Kau - salität aller Naturerscheinungen, und die Methoden gehören, nach welchen diese Kausalität erforscht wird. Diese Frage kann nicht wiederum eine Frage der Naturwissenschaft sein; es lässt sich darauf nicht antworten durch die wiederum ur - sachliche Erkenntnis, welche Not etwa oder welcher sonstige Anreiz den Menschen treibt nach Ursachen zu forschen. Da - bei würde ja eben das, wonach gefragt ist, die Verursachung überhaupt, fortwährend vorausgesetzt. Es ist ebensowenig eine Frage der Psychologie, denn diese würde entweder nur Ursachen einer andern Art für das Ursachdenken angeben können, oder gar sich darauf beschränken müssen, es als unser inneres Erlebnis lediglich aufzuweisen, worin überhaupt nichts von Begründung enthalten wäre. Sondern es wird notwendig, von der ganzen, sei es in bloss thatsachlicher Nachweisung oder ursachlicher Erklärung der Erscheinungen sich bewegen - den Erkenntnis welche letztere stets naturwissenschaftlich ist, und es ihrem allgemeinen Charakter nach auch dann bleibt, wenn man sie Psychologie zu nennen vorzieht gleichsam eine Stufe emporzusteigen und sie selbst, alle Erkenntnis von dieser Art, aus einem neuen Gesichtspunkte zu betrachten, den wir den der Methode oder der Kritik nennen. Es ist ein Bewusstsein, welches nicht unmittelbar, sei es auf die Gegenstände der Natur oder auf die Erscheinungen des Be - wusstseins geht; auch nicht auf jenes nackte Bewusst-sein, welches, für alle Erscheinungen unterschiedslos dasselbe und ohne eigenen Inhalt, eigentlich nur die Thatsache des Erschei -15 nens in abstracto aussagt, daher überhaupt keinen Stoff zu irgend welcher besonderen wissenschaftlichen Frage oder Nach - forschung bietet; sondern ein Bewusstsein, ausschliesslich ge - richtet auf die Einheit der Erkenntnis und ihre Be - dingungen. Es ist, in der vorerst einzigen Beziehung auf naturwissenschaftliche und psychologische Erkenntnis, das logische Bewusstsein. In dessen reinen Gesetzen gründet sich erst die Gesetzlichkeit der Zeitordnung der Erscheinungen, d. i. die Kausalität; also können nicht umgekehrt die logischen von kausalen Gesetzen irgend welcher Art abhängen.

Ist aber auf solchem Wege die Begründung sogar für den Ursachbegriff erst zu suchen, so kann man hoffen, im Verfolg desselben Weges etwa auch zum Ursprung des Zweckbegriffes zu gelangen. Denn so viel ist nach allem schon klar, dass dieser auf demselben allgemeinen Boden wie jener, gleichsam an seinen Grenzen gesucht werden muss.

Doch scheint vorerst dieser neue Weg der Forschung selbst noch der Sicherung bedürftig. Denn die hier voraus - gesetzte gänzliche Unabhängigkeit der kritischen Untersuchung nicht nur von der naturwissenschaftlichen, sondern auch von der psychologischen wird fortwährend bestritten. Die Erledi - gung dieser anscheinend bloss methodologischen Vorfrage wird uns unmittelbar an die Schwelle der Lösung unsres eigent - lichen Problems führen.

§ 4. Erkenntniskritik nicht Psychologie.

Gegen die Unterscheidung der Erkenntniskritik von der Psychologie, gegen die Ansicht überhaupt, dass die letzten Gesetze der Erkenntnis nicht Zeitgesetze, weder äusserer noch innerer Erscheinungen seien, pflegt eingewandt zu werden: Gesetze besagen überhaupt nichts andres als allgemeine That - sachen. Auch der Unterschied zwischen logischem, d. i. er - kenntnismässigem, und unlogischem, erkenntniswidrigem Denken kann nur ein thatsächlicher sein, der von thatsächlichen Be - dingungen abhängt. Gesetze von Thatsachen aber sind ursach -16 liche Gesetze; also können auch die logischen Grundgesetze der Erkenntnis nur kausale Gesetze sein.

Welcher Art sollen denn diese die Logik erst begründenden kausalen Gesetze sein? Hier antwortet die eine Partei: es sind Naturgesetze wie alle sonstigen, und zwar biologische Ge - setze (Avenarius und seine Schule); eine andre: es sind eigen - tümlich psychologische Gesetze (so besonders Lipps).

Jene beweisen etwa, es sei im allgemeinen lebenfördern - der, ökonomischer, Uebereinstimmung in seinem Denken und besonders mit den Thatsachen zu suchen als nicht. Sie zeigen, welche relativen Vorteile das dem entsprechende, d. i. logische Denken wenigstens unter gewissen allgemeinen, normalen Umständen bietet. Da nun lebende Wesen im allgemeinen, nämlich soweit sie können, das ihrer Erhaltung unter nor - malen Bedingungen Förderliche suchen, so wird also eine ge - wisse allgemeine Anpassung des unter hinlänglich günstigen Bedingungen sich entwickelnden menschlichen Denkens an die logischen Normen stattfinden. Unter andern Bedingungen findet sich diese Anpassung thatsächlich nicht oder nur un - vollkommen; man denkt eben unlogisch.

Wir wollen die ganze, ziemlich grosse Unbestimmtheit der Behauptung wie der Beweisführung nicht weiter bemängeln; wir fragen nur: ist das, was man so zu begründen glaubt, überhaupt der Sinn der logischen Gesetze? Stossen wir uns auch daran nicht, dass man unterlässt, die fraglichen Gesetze von einem einleuchtenden Anfang in überzeugender Deduktion zu entwickeln, dass man sie vielmehr einfach als gegeben an - zunehmen scheint, was wir nicht zugeben könnten; so besagen doch die Gesetze der Logik gar nicht, wie man im allgemeinen, unter normalen Umständen denkt, sehr oft aber auch nicht, sondern sie erklären ganz ohne einschränkende Bedingung ein solches und solches, bestimmten Forderungen genügendes Denken für richtig, das entgegengesetzte für falsch; d. h. sie erklären, was so und so gedacht ist, das allein ist, was anders, das ist nicht, und zwischen diesem Sic et Non gilt kein Kompromiss, kein unter Umständen und normaler - weise , sondern einzig das Verhältnis reiner Ausschliessung. 17Die Natur biologischer Gesetze lässt es auch nicht zu, dass diesem Mangel je abgeholfen werden, dass Gesetze von der Art der logischen jemals ihre Begründung auf biologischem Wege finden sollten.

Nicht annehmbarer ist für uns die zweite Ansicht. Ihr scheinbarer Vorzug ist, dass sie eine gewisse Selbständigkeit des Psychischen doch anerkennt; die logischen Gesetze sollen doch wenigstens eigentümliche Gesetze des Bewusstseins sein, von denen umgekehrt alles Denken ausserbewusster Dinge ab - hänge. Allein giebt es überhaupt eigentümliche kausale Ge - setze psychischen Geschehens? Wir haben die Frage oben verneint. Wir würden uns, wenn einmal nach ursachlichen Gesetzen des, gleichviel ob wahren oder falschen Denkens ge - fragt wird, eher noch auf die Seite des Biologen schlagen. Kausalität ist es überhaupt, welche den Begriff der Physis schafft, welche den Gegenstand der Naturwissenschaft erst konstituiert; wer das annimmt, wird nicht einräumen können, dass es andere als physische Ursachen gebe.

Aber die Frage der logischen Begründung ist eben wurzel - haft verschieden von der der Verursachung des Denkens. Es ist im Grunde eine ganz einfache Begriffsverwechslung, die hier begegnet. Naturgesetze, sagt man, begründen That - sachen welcher Art immer, also auch die Thatsachen des logischen wie unlogischen Denkens; darunter versteht man: sie geben die zeitlichen Bedingungen unseres So-denkens an. Allein der Inhalt der Naturgesetze setzt den der logischen Gesetze vielmehr voraus, er wird durch sie in einem ganz andern, eben dem logisch genannten Verhältnis, das mit der Zeit nichts zu thun hat, bedingt oder begründet .

Dieselbe Zweideutigkeit kann sich hinter dem Wort That - sache verbergen. Gesetze, sagt man, sind nur Allgemeinaus - drücke für Thatsachen. Gewiss, jedes Gesetz sagt aus, was allgemein stattfindet; sofern man also jedes Stattfinden ohne Unterschied Thatsache nennt, ist jedes Gesetz eine allgemeine Aussage über Thatsachen. Es ist in diesem Sinne Thatsache, dass 2 × 2 = 4, und Thatsache, dass Widersprechendes nicht gleichermassen wahr ist u. s. f. Aber zu dem Schluss:Natorp, Sozialpädagogik. 218also sind alle Gesetze Ursachgesetze, gelangt man nicht durch diesen allgemeinsten Sinn der Thatsache, sondern durch das stillschweigend mitgedachte spezifische Merkmal zeitlicher Bestimmtheit. Ursachgesetze sind Zeitgesetze des Ge - schehens, und nur sofern man unter Thatsache, im auch zulässigen engeren Sinn des Worts, Geschehen versteht, deckt sich Gesetz von Thatsachen und ursachliches Gesetz . Aber dass 2 × 2 = 4, ist kein Geschehen in der Zeit, weder ein einzelnes noch ein allgemeines, sondern ein Stattfinden, das an gar keine Zeitbedingung gebunden ist oder sie irgend - wie einschliesst. Dasselbe gilt von den logischen Gesetzen; sie sind nicht Zeitgesetze, folglich nicht ursachliche Gesetze, weder physische noch psychische, oder in solchen begründet, sondern von einer fundamentaleren Ordnung; denn das ursach - liche Gesetz ist vielmehr dem logischen, ebenso wie dem mathe - matischen, unterworfen, nicht das logische, das mathematische dem ursachlichen.

Hiergegen wird man vielleicht noch einwenden: Sätze wie 2 × 2 = 4, oder das A = A der Logiker, enthalten zwar un - mittelbar keine Aussage über Thatsachen im zeitlichen Sinn, aber, wenn sie sich nicht schliesslich doch auf solche zurückbezögen, wären sie ohne alle Anwendung auf Wirkliches, mithin ohne wahren Erkenntniswert. Denn nur Thatsachen sind wirklich. Der Satz 2 × 2 = 4 besagt, vollständig aus - gedacht: allemal wann etwas in zeitlicher Wirklichkeit 2 × 2 ist, eben dann ist es auch 4. Der Satz gilt unter - schiedslos in aller Zeit, darum braucht keine Zeitbestimmung in seinen allgemeinen Ausdruck aufgenommen zu werden; sie ist aber darum doch hinzuzudenken, nämlich in jedem Fall der Anwendung. Ohne Anwendung aber ist ein Gesetz über - haupt nur eine Formel auf dem Papier.

Darauf ist schlicht zu antworten: dass nach der logischen Abhängigkeit hier allein die Frage ist. Alle Möglichkeit von Zeitbestimmung aber hängt logisch ab von den Gesetzen der Zahl und Grösse; also können nicht umgekehrt die Ge - setze der Zahl und Grösse von Zeitbestimmung, im gleichen logischen Verhältnis, abhängen; das wäre widersinnig. Und19 noch widersinniger wenn es möglich wäre, dass etwas falscher als falsch ist würde es sein, die logischen Grund - gesetze von Zeitbestimmung abhängig zu denken, auch nur von Zeitbestimmung überhaupt. Denn die Möglichkeit der Zeitbestimmung wie jeder andern Bestimmung hängt vielmehr ab von der Möglichkeit, überhaupt etwas zu bestimmen, d. h. A = A, oder richtiger, überhaupt einen Inhalt A als iden - tischen zu setzen, was bekanntlich das erste logische Grund - gesetz ist.

Wird man nun noch entgegnen: diese Setzung, als ein Gedanke, setze doch wenigstens eine zeitliche Thatsache, nämlich die des jedesmaligen Denkens voraus? Also besage z. B. der Satz des Widerspruchs, dass widersprechende Ge - danken sich im thatsächlichen Denken, unter gewissen nor - malen Bedingungen, allemal wirklich ausschliessen, d. i. gegen - seitig totmachen; oder das logische Verhältnis von Grund und Folge, dass ein Gedanke den andern im thatsächlichen Denken, wiederum unter gewissen näher zu bestimmenden Umständen, allemal wirklich nach sich ziehe?

Das hiesse unsere ganze Beweisführung nicht verstanden haben. Dennoch sei darauf noch so viel geantwortet: es hat bisher noch keiner die Bedingungen anders als tautologisch anzugeben vermocht, unter denen im wirklichen Denk - verlauf Widersprüche ausgeschlossen sind, oder gar die Folgen des je Gedachten unfehlbar erkannt werden. Gewiss, unter genau gleichen Bedingungen wird allzeit genau das Gleiche, nämlich entweder logisches oder unlogisches Denken erfolgen. Allein dawider gälte unser erster Einwand: der Inhalt eines logischen Satzes ist nicht, dass unter solchen und solchen Bedingungen Gedanken sich so, unter andern anders verbinden, sondern dass, ohne jede einschränkende Bedingung, gewisse Gedankenverbindungen wahr, davon abweichende falsch sind. Diese Unbedingtheit der logischen Gesetze würde fraglich werden, wenn die überaus bedingte zeitliche Gesetz - lichkeit des Vorstellungslaufs für die logischen Gesetze ein - stehen sollte.

Aber gerade bei diesen Ausdrücken, wahr und falsch ,20 glaubt man vielleicht uns von einer andern Seite zu fassen. Nämlich man meint, das besage: seinsollend und nicht - seinsollend; d. h. die logischen Gesetze würden zu norma - tiven, also teleologischen Gesetzen gemacht. Und indem man allgemein nur diese Ansicht als möglichen Gegensatz der kausalen voraussetzt, glaubt man die letztere zu stützen durch jedes Argument, welches einen Fehler der teleologischen Auf - fassung aufdeckt, oder nachweist, dass diese im Grunde doch kausal sei.

Allein man muss nicht, indem man der Scylla der kausalen Auffassung zu entrinnen sucht, in die Charybdis der teleologischen geraten. Logische Gesetze sagen, nach unserer Behauptung, ebenso wenig, wie man thatsächlich unter solchen und solchen Umständen denkt, als, wie man denken soll; sondern sie sagen: wenn man so und so denkt ob man es thut, oder thun sollte, davon ist gar nicht die Frage so denkt man Wahres, d. h. was ist, andernfalls Falsches, d. h. was nicht ist. Und worin gründet die Gewissheit dieses Seins und Nichtseins? Nicht im thatsächlichen So-denken oder dessen thatsächlichen Bedingungen, noch in der Folgsamkeit gegen ein normatives Gesetz, wie man denken soll; sondern rein am Inhalt des Gedachten muss dies Sein und Nicht - sein eingesehen werden können, überhaupt ohne Rücksicht auf das Denkgeschehen oder den Denkvollzug, sei es den wirklichen oder den geforderten.

Man nennt doch etwas Einsehen. Um aber einen Ge - danken einzusehen, hat man überhaupt nicht ausserhalb seines Inhalts, weder nach den Ursachen des bezüglichen Denk - geschehens oder Denkvollzugs, noch nach einem dabei leitenden bewussten oder unbewussten Zweck, noch etwa nach einem begleitenden Gefühl von Gewissheit oder nach irgend sonst etwas in der Welt auszuspähen, sondern einzig die Sache, um die es sich handelt, d. i. den Inhalt des Gedachten ins Auge zu fassen, um unmittelbar gleichsam zu sehen, es ist so oder ist nicht so. A ist nicht = non-A, d. h. es ist nicht, es findet unter keinen Umständen statt, dass in einem In - halt eines Gedankens Widersprechendes geeint wäre; Wider -21 spruch hebt, nicht das Denkgeschehen, aber die Einheit des Denkinhalts und damit jeden Sinn einer Aussage Es ist auf. Oder, wenn A = B und B = C, so ist A = C; ich kann sehr wohl die Vordersätze denken, ohne dass sich die Folge - rung in meinem Denken thatsächlich daran knüpft; es ist auch nicht der Fall, dass ich sie unter allen Umständen daran knüpfen sollte; ich habe die Folgerung im augenblicklichen Zusammenhang meines Denkens vielleicht nicht nötig, oder ich kann die Gleichheit von A und C auch direkt einsehen, ohne des Umweges über B zu bedürfen; allein, wenn das Eine, so ist auch das Andre, und dies sehe ich ein, indem ich nichts als die zu vergleichenden Termini und deren dadurch zugleich gegebene Relationen vor Augen habe, ohne irgend an den sei es thatsächlichen oder seinsollenden Verlauf oder Vollzug eines entsprechenden Denkens dabei denken zu müssen.

Um das zu leugnen, müsste man schliesslich in Abrede stellen, dass man sich überhaupt einen Denkinhalt zu Be - wusstsein bringen könne, ohne zugleich über das Denkge - schehen etwas voraussetzen zu müssen. Das wäre jedoch eine sehr wunderliche Ansicht, denn das Denkgeschehen wäre dann ja wiederum ein Denkinhalt, und von diesem würde, der These zufolge, dasselbe gelten wie vom ersten, d. h. es müsste wiederum dessen Denken hinzugedacht werden und so ins Un - endliche. Kann ich aber überhaupt einen Inhalt denken, ohne das Denken dieses Inhalts auch mitdenken zu müssen, so ist nicht einzusehen, weshalb ich es nicht von Anfang an könnte. Jene Ansicht macht den Mathematiker, den Physiker, den Forscher jedes Fachs, ja jeden, der überhaupt irgend etwas denkt, zum unbewussten Psychologen. Aber das ist doch eine extravagante Annahme, dass man niemals beim Denken einfach die Sache, um die es sich jedesmal handelt, sollte vor Augen haben können, ohne zugleich das Denken dieser Sache, und folgerecht das Denken dieses Denkens und so in infinitum hinzuzudenken. Selbst wenn das wäre, so ist doch hoffentlich die Sache auch im Gedanken; kann ich nun zeigen, dass sie allein genügt, die logischen Verhältnisse daran einzusehen, so gehen mich, sofern es sich eben um die22 Einsicht dieser Verhältnisse handelt, alle jene neben der Sache hergehenden Gedanken, die nun existieren mögen oder nicht, überhaupt gar nichts an.

Am Inhalt aber sind das, was die logischen Gesetze ins Auge fassen, die allgemeinen Relationen eines jeden Inhalts. Logisches Denken ist Denken unter der Bedingung der Einstimmigkeit oder des durchgängigen Zusammenhanges des Gedachten, d. i. dasjenige Denken, in welchem das einzelne Gedachte zugleich mit seinen Relationen zu allem andern, wozu es eben in Relation steht, gedacht wird. Die möglichen Relationen des Gedachten systematisch zu entwickeln, ist die ganze, dem Begriff nach einfache, in der Ausführung sehr zu - sammengesetzte Aufgabe der Logik, allgemein der Erkenntnis - kritik. Darin sind die Fundamente des mathematischen wie des kausalen Denkens zugleich enthalten. Dagegen das, was man zum Ersten, Allbegründenden hat machen wollen: die Wirklichkeit der Thatsache, ist vielmehr erst das Letzte, worauf, insofern es sich um theoretische Erkenntnis handelt, dies alles schliesslich abzielt; es ist das Bedingteste, Ab - hängigste von allem, also die allerschlechteste Grundlage, die man nur wählen konnte zur Ableitung der logischen oder irgendwelcher andern allgemeinen Gesetzlichkeit der Erkenntnis.

Was ist aber mit diesem allen für unsere Absicht ge - wonnen? Ich denke, ein Grosses; nämlich dass wir einmal für immer befreit sind von der alles verengenden Auffassung, dass man nichts, als was durch die Zeit bedingt ist, zu denken vermöchte. Vielmehr zeigt sich alles Denken, das der Bedingung der Zeit unterliegt, abhängig von dem, welches den Bestand von Relationen unter Inhalten frei von Zeitbedingungen ins Auge fasst, von welcher Art das logische und das mathematische Denken ist. Also das an keine Zeit - bedingung sich bindende Denken ist das ursprüngliche, das Zeitdenken ist das abgeleitete. Der eigene Blickpunkt des denkenden Bewusstseins und nur denkendes Bewusstsein ist Bewusstsein im Vollsinn des Worts ist die Einheit, jene Einheit, in der das zeitlich Mannigfaltige eben dann sich ver -23 einigt, wenn der Gedanke sich nicht länger in die Mannig - faltigkeit des Zeitlichen zerstreut, sondern sich in sich selbst, damit zugleich aber das an sich zerstreute Mannigfaltige seines Inhalts in sich, und so erst in einem wahren Inhalt, sammelt und zusammenfasst.

Das wird vielleicht am unmittelbarsten klar am Zeit - bewusstsein selbst. Succession des Bewusstseins erklärt nicht Bewusstsein der Succession. Könnte ich nicht in einem Momente 2 das Bewusstsein eines vorausgegangenen Moments 1 und eines nachfolgenden 3 haben, so wäre gar kein Bewusstsein eines Nicht-Jetzt möglich; dann aber auch kein Bewusstsein des Jetzt, denn dieses wird überhaupt nur gedacht als die ewig fliessende Grenze der beiden Nicht-Jetzt, des Früher und Später. Also das Bewusstsein zerstreut oder zerteilt sich nicht in die Momente der Zeit auch vom Bewusstsein der Zeit selbst gilt dies , sondern vielmehr die Momente der Zeit, die doch in der Existenz sich ausschliessen sollen, vereinen sich zu der einen, zusammenhängenden Zeit nur im übergreifenden Blick, in der übergreifenden weil ursprünglichen Einheit des Bewusstseins.

Hiermit ist nun ein Begriff des Bewusstseins erreicht, der von dem zuvor erwogenen, psychologischen Begriff grund - verschieden ist. Unter diesem wurde immer noch das Bewusst - sein selbst aus den zeitlich verschiedenen Momenten des Be - wusstseins wie aus Atomen sich zusammensetzend gedacht, also als selbst in der Zeit an sich zerstreut, allenfalls erst hinterher auf unbegreifliche Art sich sammelnd: weil wir dem Empirismus den verkehrten Ausgang vom zeitlichen Geschehen einstweilen zugestanden. Von diesem Ausgang war freilich zum Bewusstsein nur so zu gelangen, dass man sich besann, das zeitlich Vorgestellte setze, als vorgestellt, ein, daher eben - falls zeitlich gedachtes, Vorstellen voraus. So setzt man der Zeitfolge im Inhalt des Gedachten eine Zeitfolge von Bewusst - seinsmomenten gegenüber, und erhält damit jene wahrheits - und zweckwidrige Verdoppelung des Geschehens, als einerseits physischen, andrerseits psychischen, und damit die doppelte Form der Wissenschaft, als Naturwissenschaft und Psychologie. 24Statt dessen kennen wir nur dies Zweierlei: Zeitbewusstsein und überzeitliches Bewusstsein. Bewusstsein ist Einheit des Mannigfaltigen, Identität des zugleich Zu-unterscheidenden. Aber die Einheit, die Identität drückt ursprünglicher das Be - wusstsein selbst, die Mannigfaltigkeit d. i. Mehrheit und Ver - schiedenheit sein Gegenüber, seinen allgemeinen Gegenstand, die Erscheinung aus. Der wahre Ausgang der Erkenntnis ist aber von jenem und nicht von diesem; nur hatten wir auf diesen wahren Ausgang uns erst zu besinnen, und diese Be - sinnung, die noch nicht Erkenntnis war, sondern erst den Zugang zu ihr suchte, ging naturgemäss aus vom Verfolg des Mannigfaltigen, von der Erfahrung. Das sagt zuletzt das Kant - sche Wort: dass Erfahrung der Anfang, aber nicht der Ursprung der Erkenntnis sei.

Nichts weiter als die Besinnung auf diesen Ursprung ist aber erforderlich, um zur Idee zu gelangen. Sie besagt schliess - lich nichts andres als die bloss gedachte letzte Einheit, den letzten, eigensten Blickpunkt der Erkenntnis. So wird verständlich, inwiefern die Idee überzeitlich, über Natur und selbst Mathematik hinaus, nämlich fundamentaler ist als dies alles. Die Bedeutung des Zieles, des Gesollten, also nicht Wirklichen, erhält sie erst im Rückblick auf die Wirklichkeit der Erfahrung; ursprünglich ist sie nicht das Ziel, sondern der Ausgangspunkt, nicht das Ende, sondern der wahrste Anfang, nämlich Ursprung: das Prinzip. Also war die teleologische Auffassung der letzten Gesetze der Erkenntnis doch nicht ganz auf falscher Fährte. Sie irrt zwar darin, dass sie den Zweck, das Sollen, zur Voraussetzung auch des logischen Seins macht. Das letzte Sein, das der Idee, begründet vielmehr erst das Sollen, nämlich in der praktischen Erkenntnis. Aber der In - halt der Idee ist allerdings eins mit dem des Sollens, nämlich Einheit, Einheit unbedingt. Daher begreift sich, weshalb die letzten Erkenntnisgesetze so gern den Ausdruck des Sollens auch da annehmen, wo es sich nicht um praktische Er - kenntnis handelt.

Um von dem nun erreichten Punkte zum Ziele dieser ganzen Betrachtung zu gelangen, ist es nur noch erforderlich.25 diesen in sich einfachen Sinn der Idee in einerseits theoretischer, andrerseits praktischer Richtung zu entwickeln und damit die Grenzen der beiden Welten des Bewusstseins, der Welten der theoretischen und praktischen Erkenntnis, der Welten des Intellekts und des Willens, festzusetzen.

§ 5. Das Gebiet des Intellekts: theoretische Erkenntnis oder Erfahrung.

Das Gebiet der theoretischen Erkenntnis, in psychologischem Ausdruck: des Verstandes, ist bereits im allgemeinen um - schrieben worden; es deckt sich mit dem Gebiete der Natur - erkenntnis, das sich begrenzt durch die Zeitgesetze des Ge - schehens.

Bezeichnen wir dies Gebiet auch als das der Erfahrung, so bedarf die Einführung dieses Terminus besonderer Recht - fertigung. Es kann nämlich nicht das gewöhnlich Gemeinte hier verstanden sein, dass das Geschehen in der Natur, oder doch irgendwelche letzte Elemente dieses Geschehens, durch Erfahrung, d. i. Wahrnehmung und zuletzt Empfindung ge - geben seien, und dass auf diesem Gegebenen, als der letzten Thatsächlichkeit, alle Erkenntnis der Natur beruhe; dass die Gesetze der Natur die Wahrheit, die ihnen mit Recht zu - geschrieben wird, allein diesem Gegebenen verdankten, d. h. nur so weit wahr seien, als sie, was so im einzelnen als That - sache gegeben sei, im allgemeinen Ausdruck wiedergeben. Dieser ganze Begriff einer Erfahrung, welche die Erkenntnis gebe, lässt sich nach dem Ergebnis unsrer letzten Erwägungen nicht mehr festhalten. Die Thatsache der Erfahrung, weit ent - fernt, das Erstgegebene der Erkenntnis zu sein, erwies sich vielmehr als das letzte, das sie erreichen kann, ja eigentlich nie schlechthin erreicht.

Vielmehr stellen sich alle besonderen Bestimmungen, in denen man dies Gegebene zu fassen versucht, bei näherer Be - trachtung als Denkbestimmungen heraus, die als solche nichts Gegebenes, sondern eigene Gestaltungen des Denkens26 sind. Was soll denn durch die Thatsache der Erfahrung ge - geben sein? Doch eben das, was als empirische Erkenntnis ausgesprochen wird, der Inhalt irgend eines Satzes der Wissen - schaft, oder auch der gemeinen Erkenntnis, z. B.: Dies hier ist rot. Dass nun, erstlich, die formale Verknüpfungsweise gedanklicher Elemente, welche den Satz ausmacht, das, was den Sinn von Subjekt, Prädikat, Kopula begründet, nichts in den Wahrnehmungen Gegebenes ist, gesteht am Ende jeder zu; aber nur um desto entschiedener darauf zu bestehen, dass das Material dieser Verknüpfungen, die letzten Elemente wenigstens, die wir, um sie unserm Denken gleichsam mundgerecht zu machen, in solcher Art verknüpfen, durch Wahrnehmung ge - geben sein müssten. Allein die angebbaren Elemente von Be - griffsverbindungen sind notwendig Begriffselemente; Begriffe aber, wie dies und rot , sind nicht gegeben, sondern durch - weg, bis zu ihren letzten Bestandteilen, eigene Erzeugnisse des Denkens. So die Zahl, so die Grösse, durch die auch Zeit - und Raumbestimmungen erst möglich sind; nicht minder die Qualität; vollends Relationsbestimmungen wie Ding, Eigen - schaft, Ursache, Wirkung; Modalitätsbestimmungen wie Mög - lichkeit, Thatsächlichkeit, gesetzliche Notwendigkeit; mit einem Wort die kategorialen Grundbestimmungen, unter die alles erkenntnisgemäss Ausgesagte sich fügen muss, sind, so als begriffliche Bestimmungen, nicht durch Wahrnehmung gegeben; hingegen ist umgekehrt alles, was als durch Wahr - nehmung gegeben nur gedacht werden mag, allein unter diesen und den daraus abzuleitenden Bestimmungen mit Sinn aussag - bar. Anders lässt sich auf verständliche Weise gar nicht an - geben, was, sei es durch Wahrnehmung oder wodurch sonst, gegeben sei.

Hieraus folgt nun schon so viel: dass Wahrnehmung allen - falls nur Antwort giebt auf die Fragen, welche die Erkenntnis zuvor gestellt und in den ihr eigenen Begriffen gleichsam vor - aus formuliert hat. Sie scheint erst dem, was die für sich sprachlose Wahrnehmung uns zu sagen hätte, aber nicht sagen kann, den artikulierten Ausdruck, nämlich den Begriff, zu leihen. Was vor der Erkenntnis, vor dem Begriff durch Wahr -27 nehmung gegeben sei, davon lässt sich überhaupt nur reden, indem man von der bereits gewonnenen Erkenntnis zurück - schliesst auf den Punkt, da sie erst gewonnen werden sollte, mithin nur in den Begriffen der gewonnenen Erkenntnis, nicht in seinem reinen, vor allem Begriff vorhergehend gedachten Gegebensein.

Allein, man muss noch einen Schritt weiter gehen und behaupten: dies Vorausgegebensein eben dessen, was doch allen Inhalt der Begriffe ausmachen soll, vor aller begrifflichen Form ist überhaupt nicht zu verstehen. Der Begriff des Ge - gebenen ist im Grunde nur der Ausdruck der Forderung, dass die Verknüpfung der Denkbestimmungen, und damit das Gedachte, vollständig determiniert sei. Man wird vielleicht einwenden, eben das Gegebensein, jetzt und hier, sei das, was unser Denken determiniere. Allein, das ist bestenfalls Tautologie, denn das Jetzt und das Hier, das So - undsoviel, Soundsogross, Soundsobeschaffen und welche Be - stimmungen immer man nennen mag, das alles besagt nur die Determination der allgemeinen Bestimmungen: Zeit, Ort, Zahl, Grösse, Qualität u. s. f.; man sagt also eigentlich nur, das Determinierende sei die Determination. Das Jetzt und das Hier ist überhaupt nichts, das als etwas für sich gegeben sein könnte; es kann nichts determinieren, denn es wird selbst erst determiniert durch die Determination des Zeit - bezw. Rauminhalts; es existiert für uns nur kraft eben der Ordnung dieses Inhalts, durch die ein jedes an seine gehörige Stelle gesetzt, d. i. in bestimmter Weise vom andern gesondert und zugleich mit ihm verbunden wird. Und ebenso ist das gesuchte Objekt = X hinsichtlich jeder der andern Grundbestimmungen nur determiniert durch den Zusammenhang ihrer aller gemäss den allgemeinen Relationsgesetzen, die man gewöhnlich ab - kürzend zusammenfasst in dem einzigen Gesetze der Kausalität. Die Gesetzlichkeit der Verknüpfung bestimmt also erst die Thatsache, nicht wird sie durch die voraus gegebene Thatsache bestimmt. Das erweist sich in der ganzen oft so verwickelten Feststellung der Thatsachen in den Wissen - schaften. Wie hätte die Naturwissenschaft je dahin kommen28 können, in der reinen Wiedergabe der Thatsachen sogar ihre ganze Aufgabe zu sehen, wenn nicht schon Wissenschaft dazu gehörte, haltbare Thatsachen zu gewinnen? Und dasselbe er - weist sich in der ursprünglichen Bildung unserer alltäglichsten Wahrnehmungen, d. i. primitiven Urteile über Thatsachen. Auch diese kommen, wie durch die grossen sinnesphysiologischen Forschungen des letzten Jahrhunderts mehr und mehr auch im besonderen bekannt geworden ist, nicht zu stande ohne ein dem naturwissenschaftlichen Experimentieren analoges Verfahren, welches durchweg schon unter der Leitung des Grundprinzips gesetzmässiger Uebereinstimmung, unter der Leitung des Ursach - gesetzes steht. Nachdem sie so zu stande gekommen und durch lange Uebung befestigt sind, erscheinen die Thatsachen der Wahrnehmung freilich wie fertig gegeben. Wir brauchen jetzt nur die Augen aufzuschlagen, so steht sogleich eine Welt von Thatsachen wie aus dem Nichts gezaubert vor uns. Und doch ging unser Wahrnehmen aus von einem Stande, da wir nicht einen Punkt fixieren, nicht eine Linie verfolgen konnten; wo war da diese ganze Welt von Thatsachen? Hat die Antwort Sinn: diese Thatsachen alle seien damals schon unsrer Wahr - nehmung gegeben gewesen, nur noch nicht zu Begriff gebracht? Wenn man nicht unter Wahrnehmung etwa Nervenprozesse versteht, wenn darin irgend etwas von Bewusstsein, von Er - kenntnis gedacht wird, so ist das eine gedankenlose Rede.

Aber etwas, wird man sagen, musste doch gegeben sein, wenn es zur Erkenntnis irgendwelcher Thatsache je kommen sollte. Das sagt verständlicherweise nur: die Erkenntnis (Erfahrung) musste von irgend einem Punkte beginnen, um von da aus schrittweis weiter zu kommen. Die bereits ge - wonnene Erkenntnis ist für die erst zu gewinnende, als Vor - aussetzung zu dieser, gegeben; ein vor aller Erkenntnis der Erkenntnis Gegebenes hat dagegen keinen verständlichen Sinn.

Mit allem Recht verlangt man die Bewahrheitung jedes allgemeinen Satzes der Erkenntnis an den Thatsachen; was wird denn aus dieser Bewahrheitung, wenn die Thatsachen nichts unabhängig von der Erkenntnis Gegebenes sind? Wir antworten: es wird daraus die Bewährung der ver -29 suchten Erkenntnis (Hypothese) in ihrer Durchführung; z. B. der Erkenntnis der Zahl in der Zählung, die das Gesetz der Zahl zu Grunde legt, mithin alle Zahlbestimmung, die bei der Zählung herauskommen kann, dem Prinzip nach voraus enthält; der Erkenntnis des Maasses in der Messung, von der das Ent - sprechende gilt; der Qualität in der Vergleichung, die den Gattungsbegriff zu Grunde legt; der zeitlichen Relationen in dem induktiven Aufbau der Gesetzlichkeit der Zeitordnung des Geschehens, der die Gesetzlichkeit überhaupt und auch eine gewisse Grundgestalt dieser Gesetzlichkeit schon voraus - setzt; und so durchweg. Wahrnehmung besagt nur den Einzel - schritt auf dem Wege dieser stetig fortschreitenden Verknüpfung von Denkbestimmungen zur Determination eines denkgemässen Geschehens. Die allgemeine Bedingung aber, die hiefür leitend ist, ist die der ausschliesslichen Einheit der gedank - lichen Verknüpfung, d. i. der Einzigkeit der Existenz, in welche jeder gemachte Ansatz sich fügen soll. Nichts andres unterscheidet eine Wahrnehmung, die als solche die Existenz des Wahrgenommenen einschliesst, von einer leeren Einbildung oder einem flüchtigen Einfall. Diese Einzigkeit ist aber selbst eine Folge des Grundgesetzes der Einheit, welches das Gesetz des Denkens selbst ist.

Aber die Dinge sind doch hoffentlich in einziger Weise bestimmt? Antwort: das war nicht unsere Frage, noch wüssten wir mit dieser Frage irgend etwas anzufangen, da jeder Boden fehlt, um über Dinge, abgesehen von unserer Er - kenntnis, etwas auszumachen. Wir erklären nur: für die Erkenntnis ist nichts bestimmt, was nicht sie selbst be - stimmt hat; und allein von der bereits erreichten Erkenntnis aus lässt sich mit verständlichem Sinn davon reden, dass und wie die Dinge selbst bestimmt seien; welche Rede aber dann auch nur gilt in den Grenzen unserer Erkenntnis und von ihrem Gegenstande.

Die merkwürdige Folge, die sich aus diesem allen ergiebt, ist, dass die Determiniertheit der Thatsache, die man für das erdenklich ursprünglichste Datum hielt, vielmehr zur unendlichen, nie abschliessend lösbaren Aufgabe wird. Nie lässt sich30 schlechthin sagen, dass wir die Thatsache erkannt haben; denn keine einzige der Bestimmungen, nach denen wir sie erkannt zu haben meinen, kann absolut gelten, weder die der Zahl noch der Grösse, der Zeit, des Orts, der Qualität u. s. f. Wieviel auch an ihr bestimmt, nämlich hypothetisch bestimmt ist, immer bleibt noch irgendwelche Unbestimmtheit zurück; die Thatsache bleibt immer das X der Erkenntnis. Und dies X hat man zur bekannten Grösse, dies Letzte zum Ersten gemacht. Warum? Weil freilich die gesetzliche Notwendigkeit dieser Determination der Thatsache a priori erkannt werden kann. Man nimmt im Begriff des Gegebenen der Wahrnehmung eben das voraus, was als letztes Ergebnis der Erkenntnis heraus - kommen soll. Die Wissenschaft fühlt dies, indem sie alle ihre, noch so sehr auf Thatsachen gestützten allgemeinen Sätze, und erst recht alle bloss thatsächlichen Aufstellungen lediglich als Hypothesen giebt. Hat man selbst den euklidischen Raum, den wir so sicher thatsächlich wahrzunehmen glauben, der eine so unleugbare Voraussetzung unserer vermeintlich thatsäch - lichsten Wahrnehmungen ist, für Hypothese erklären können, wie viel mehr alles, was nicht bloss unter dieser, sondern unter zahlreichen weiteren, meist ungeprüften, kaum überhaupt bewussten Voraussetzungen als Thatsache, durch Wahrnehmung gegeben, geglaubt wird. Der sichere Glaube der gemeinen Erkenntnis, die auf Thatsachen bei jedem Schritt zu fussen und sie mit Händen zu packen meint, ist wahrlich nicht ein Beweis grösserer, sondern unvergleichlich geringerer objektiver Sicherheit dieser Erkenntnis. Man ist so bald am Ziel, weil man sich das Ziel so gar nahe gesteckt hat; weil man zufrieden ist mit Thatsachen, die es schon morgen, ja im nächsten Augen - blick nicht mehr sind; während Wissenschaft den Ehrgeiz hat, solche Thatsachen zu erreichen, die es noch morgen und über - morgen, womöglich aber in alle Ewigkeit sein sollen. Dies letztere zwar bleibt ihr unerreichbar. Aber es ist auch etwas, eben dies zu erkennen, sich klar zu machen, dass es ein un - endlicher Prozess der Erkenntnis ist, auf den die Frage nach der Thatsache führt. Thatsachenbestimmungen sind in jedem Fall nur Näherungswerte; absolute Thatsachen gäbe es nur31 für eine absolute Erkenntnis. Der Empirismus ist also im Grunde naiver Absolutismus, sofern er glaubt, in der empirischen Thatsache, ganz gegen den Begriff des Empirischen, Absolutes zu ergreifen. Wahrnehmung nimmt für wahr, was es im ab - soluten Sinne nicht ist noch sein könnte. Sie hat aber volles Recht, das, was sie in bedingter Erkenntnis erreicht, für wahr zu nehmen, insofern dies heisst, es hypothetisch als wahr zu setzen, um nämlich einen Ansatz zu haben, von dem aus der Prozess der Erkenntnis weitergehen kann zu neuen und neuen Ansätzen, und so ohne Ende. In diesem Sinne sind wir berechtigt, gerade unsere Ansicht empiristisch zu nennen. In Wahrheit ist dies der Empirismus der Wissenschaft; sie verfährt danach, wenn auch meist ohne sich darüber klar zu sein.

Dieser ganze geschilderte Prozess der theoretischen Er - kenntnis ist regiert von wenigen einfachen Grundgesetzen, welche darzulegen und systematisch zu entwickeln die eigen - tümliche Aufgabe der Logik ist. Die besonderen Wissen - schaften sind nach dieser Ansicht nicht bloss ebenso viele Anwendungen dieser Gesetze als ihres gemeinsamen Organon (Werkzeugs) je auf ein eigentümliches Gebiet gegebener Gegen - stände; sondern die Herrschaft der Logik erstreckt sich bis auf die Grundbegriffe und Grunderkenntnisse, welche das Objekt einer jeden Wissenschaft für unser Denken erst konstituieren. Das erweist sich am klarsten in den reinen Erkenntnissen der exakt genannten, der mathematischen Wissenschaften. Auch die Einheit der Wissenschaft ist hiernach begründet in der Einheit ihres logischen Fundaments, aus der allein begreiflich wird, weshalb z. B. nicht die Objekte der Mathematik eine Welt für sich bilden, die der Naturwissenschaft eine zweite u. s. f., sondern etwa der Gegenstand der Naturwissenschaft von seinem Ursprung an in mathematischer Gestalt sich wissen - schaftlich aufbauen muss. Und so ist schliesslich alle Wissen - schaft logische Leistung, und erstreckt andrerseits die Logik sich auf die ganze Arbeit der Wissenschaft.

Diese Einsicht ist aber von grösster Wichtigkeit für die theoretische Grundlegung der Pädagogik; sowohl für die Er - kenntnis der Gesetze der Verstandesbildung selbst, als für das,32 was uns hier zunächst angeht, für eine klare Vorstellung des Verhältnisses der Verstandesbildung zur Willensbildung.

Dass die ganze Welt des Verstandes in strenger Einheit aus wenigen Grundelementen, welche die Elemente des Ver - stehens selbst sind, sich aufbauen müsse, diese Einsicht ist es, welche Pestalozzis Idee der Elementarbildung eine tiefe, über seine sicheren ersten Ahnungen unermesslich hinaus - reichende Bedeutung verleiht. Es ist ganz im Sinne der kritischen Philosophie, wenn Pestalozzi erklärt: Jede Linie, jedes Maass, jedes Wort ist ein Resultat des Verstandes .... auch ist aller Unterricht in seinem Wesen nichts andres als dieses , nämlich progressive Verdeutlichung unserer Begriffe ; seine Grundsätze müssen deshalb von der un - wandelbaren Urform der menschlichen Geistesent - wicklung abstrahiert werden . *)Wie Gertrud ihre Kinder lehrt, 6. Abschn. (Reclam S. 82.)Es ist die sichere Ahnung, dass rein erkennbar nur die reinen Elemente der Gesetzlichkeit sind, auf der der Prozess der Erkenntnis überhaupt beruht. Aus diesem ABC, nicht bloss die Anschauung , sondern alle sichere Erkenntnis aufzubauen, muss in der That das Ziel[allen] Verstandesunterrichts sein. Thatsachenerkenntnis dagegen ist bloss empirisch, das heisst, sie ist nur jeweiliger verbesser - licher Ansatz, gültig je für eine gegebene Stufe der Erkenntnis, die in einer unbegrenzbaren Folge solcher Stufen besteht.

Das Verhältnis der Verstandesbildung zur Willensbildung aber wird klar bestimmbar auf Grund der, beiden gemeinsamen, letzten Beziehung auf die Idee.

Welches ist zunächst das Verhältnis der theoretischen oder Erfahrungserkenntnis zur Idee? Aus dem Dargelegten geht hervor, dass diese Erkenntnis eines Abschlusses im Un - bedingten ihrer Natur nach unfähig ist. Die Idee des Un - bedingten gilt zwar auch für den theoretischen Verstand; aber sie hat für ihn zunächst bloss die negative Bedeutung, ihn zu begrenzen durch die Einsicht des stets bedingten Charakters seiner Erkenntnisse. Auch bedarf die Erfahrung bloss ihrer selbst wegen keines positiven Abschlusses. Ist ihr logisches33 Fundament gesichert, sind die Grundbegriffe, Grundsätze und Methoden, auf die sie sich stützt, klar definiert und zulänglich deduziert, so ist sie es zufrieden, zu wahreren und wahreren Ansichten des Gegenstands, ohne Abschluss in einer absolut wahren, aber auch ohne hemmende Schranke, fortzuschreiten; dieser Fortschritt eben, das ist die Erfahrung.

Indessen wir haben die Idee des Unbedingten, und sie ist im letzten Grunde ursprünglicher als alle Erfahrung. Er - fahrung ist selbst nur eine Weise des Bewusstseins; sie bleibt daher immer jenem letzten und höchsten Ausblick des Be - wusstseins, aufs Unbedingte, untergeordnet. Diese Erwägung führt auf eine ganz andere Art der Erkenntnis als Er - fahrung, in der das Unbedingte nicht den bloss negativen Sinn der nie zu erreichenden äussersten Grenze des Erkennens hat, sondern vielmehr zum Centrum genommen wird, von welchem aus die Data der Erfahrung (denn andre haben wir nicht) wie in einem neuen Lichte erblickt werden und eine neue Bedeu - tung, eben durch diese positive Beziehung auf die Idee des Unbedingten, erhalten. Und dies nun, behaupten wir, sei der Ursprung des Sollens im praktischen Sinne.

Durch das Grundgesetz des Bewusstseins ist Einheit alles Mannigfaltigen oder Gesetzlichkeit bedingungs - los gefordert. In dieser Forderung aber ist sie auch schon bedingungslos gesetzt; nicht als seiend im empirischen Sinn, d. i. wirklich oder thatsächlich; oder etwa als möglich im Sinne einer empirischen Hypothese; aber als seinsollend. Das ist jedoch auch Setzung eines Gegenstandes, nämlich Gegenstandes der Forderung. Somit ist die Setzung des Unbedingten als Gegenstands unabweislich begründet im Ur - gesetze des Bewusstseins, ja sie ist der reinste Ausdruck dieses Urgesetzes, an Realität, d. i. Kraft der Geltung in der Erkennt - nis und für sie, jeder bloss empirischen Setzung sogar über - legen. Sie nimmt nicht teil an den Schranken, in die die Gegenständlichkeit der Erfahrung immer eingeschränkt bleibt. Zugleich aber findet diese neue Betrachtungsart, aus dem Zentrum des Unbedingten, vollkommen sichere Anwendung auf alles Empirische; nicht bloss die negative, der Einsicht,Natorp, Sozialpädagogik. 334dass Erfahrung der Forderung des Unbedingten nie genügen kann, sondern auch die ganz positive, dass die Richtung des Fortschritts im Bedingten der Erfahrung durch den Ausblick aufs Unbedingte bestimmt ist.

Der Prozess der Erfahrung selbst lässt sich als Fort - schritt zum Wahreren überhaupt nur denken im Hinblick auf das Ziel im unbedingt Wahren. Ein Fortschritt besagt doch nicht bloss eine Folge von Schritten, sondern eine dabei ein - gehaltene Richtung. Die Erkenntnis dieser Richtung des empirischen Fortschritts, vollends die Erkenntnis, dass der da - durch bestimmte Fortschritt ins Unendliche geht, ist aber nicht mehr empirische Erkenntnis. Sie entspringt vielmehr erst in der Betrachtung alles Empirischen aus dem nicht mehr em - pirischen Gesichtspunkte der Idee. Sie nimmt, insofern sie das Empirische zum Stoff hat, an der Bedingtheit der Erfah - rung zwar teil; an sich aber, hinsichtlich der ihr eigenen Form, nämlich der Richtung aufs Unbedingte als Ziel, ist sie von strenger Gewissheit, allem Schwanken der Erfahrung ent - zogen.

Diese und keine andre Erkenntnisart aber, behaupten wir, ist die praktische, mithin die, in deren Gebiet der Wille in seiner objektiven Gestalt zu suchen ist. Das ist jetzt zu zeigen.

§ 6. Das Gebiet des Willens: praktische Erkenntnis oder Idee.

Nicht aus dem Zusammenhange der Naturbegriffe lässt ein Sollen im praktischen Sinn sich verständlich machen. Natur ist Ordnung des Geschehens unter Zeitgesetzen des Geschehens. Da giebt es nur Thatsachen und Zusammenhänge von That - sachen, durch logische Unterordnung einzelner Folgen von Ereignissen unter allgemeine und allgemeinere, d. i. unter Ge - setze. Auch die so erreichte Einheit der Erkenntnis ruht zwar auf keinem andern letzten Grunde als dem der ursprüng - lichen Einheit des Bewusstseins. Aber die Einheit empirischer Erkenntnisse, vollends der gesamten Erfahrungserkenntnis, ist jederzeit unvollendet und unvollendbar. Man denkt zwar35 Natur als vollkommene Einheit; aber dieser Gedanke geht über die reine Thatsächlichkeit, und über die allein berechtigte Methode der Thatsachenforschung, die Erfahrung, ganz hin - aus. Es ist immer noch Natur, was man so denkt; aber es ist nicht mehr Naturerkenntnis, sondern bloss der ideale Ent - wurf einer Natur, wie sie in Vollständigkeit erkannt sein würde wäre nur diese Vollständigkeit der Erkenntnis metho - disch erreichbar.

Es kann also nicht glücken, Gesetze des Wollens in Natur - gesetzen zu gründen, Naturgesetzen der Lust und Unlust etwa, oder des Begehrens. Denn was man auch immer als Beweg - kraft des Willens ansetzen mag, den Lusttrieb, den Trieb überhaupt, oder was man sonst aufstelle, in jedem Falle denkt man diese Bewegkraft analog einem mechanischen Moment, gegeben im Anfangspunkt einer psychischen Veränderung und diese ursachlich bestimmend; bewirkend, dass aus einer ge - gebenen inneren Lage eine andere wird. Man denkt den Ver - lauf des Geschehens vom gegebenen Anfang bis zu einem ge - dachten Endpunkt, wie in aller Verursachung, determiniert durch die Gesamtheit der Momente, die im Anfangspunkte dieses Geschehens gegeben waren. Der Gedanke des Zwecks ist hiervon seinem ganzen Inhalt nach verschieden. In ihm wird vielmehr der Endpunkt einer Veränderungsreihe gedacht als durch uns voraus in Freiheit bestimmt, und sodann rück - wärts bestimmend für die Reihe der Veränderungen, für den Weg, der vom gegebenen Anfangspunkt zu diesem gedachten Endpunkt zu beschreiben sei. Voraussetzung dazu ist aber, dass der gegebene Anfangspunkt, wenn auch etwa an sich, doch nicht für unser Denken die zureichenden Bestim - mungsgründe für den folgenden Verlauf enthalte. Das Problem des Sollens ist demnach präzis so zu stellen: Wodurch ist der Endpunkt bestimmt, was determiniert meinen Gedanken, das und das solle sein, gerade sofern er mir nicht determiniert ist durch meine Kenntnis oder Präsumtion eines ursachlichen Zu - sammenhanges, gemäss welchem der zweite Moment vom ersten aus voraus erkennbar wäre? Was determiniert meinen Gedan - ken, das heisst aber wiederum nicht: welche psychischen36 Momente, welche im gegebenen Anfangspunkt in mir wirken - den Antriebe stehen als Ursachen dafür ein, dass ich den Endpunkt so und nicht anders mir denke? Diese zum Denk - geschehen und damit nochmals zur Kausalität abbiegende Deutung verschiebt von neuem den Sinn der Frage; man rückt dabei wieder das Eigentümliche des Zwecks oder Sollens nur aus den Augen, statt es zu erklären. Sondern: welche Art von Gesetzlichkeit, die im Inhalt des Gedachten gründet, welche Methode des Denkens, von der sich im Denken selbst Rechenschaft geben lässt, bestimmt den Gedanken, das und das solle sein? Mein Gedanke findet sich nicht be - stimmt durch eine sichere Kenntnis oder wahrscheinliche Hypo - these über einen ursachlichen Zusammenhang, gemäss welchem der Moment B durch den Moment A voraus (im kausalen Sinne) determiniert wäre, sondern es bleibt ihm ein gewisser Spiel - raum, er schwankt in gewissen Grenzen; was also, welcher ein - zusehende Grund, welches gerechtfertigte Verfahren des Denkens lässt ihn nicht in dieser Schwebe, sondern fixiert ihn, d. h. giebt ihm Einheit, so dass er nicht mehr so oder so aussagt, sondern nur so.

Unsere Ableitung giebt hierauf die Antwort: Einzig das formale Gesetz der notwendigen Uebereinstimmung unsrer Gedanken unter sich, je in dem Kreise den wir übersehen oder der unsrer Erwägung vorliegt, bestimmt diesen Gedanken. Der letztbestimmende Grund einer jeden Zwecksetzung, das Endziel, im Hinblick worauf jeder besondere Zweck sich be - stimmt, ist nichts andres als die jeder einzelnen Willensent - scheidung vorgehende weil logisch übergeordnete Einheit, in der alle Zwecksetzung sich vereinige. Das ist das End - ziel , d. h. der letzte Endpunkt, den alle zweckliche Erwägung schliesslich im Auge hat; gemäss diesem letzten Ausblick, dieser letzten Absicht erst bestimmt sich dann auch jedes nähere, empirisch erreichbar gedachte Ziel; während diese letzte Absicht selbst immer unerreicht und unerreichbar bleibt, um so sicherer aber den unverrückbaren Richtpunkt für alle und jede zweckliche Erwägung, das oberste Prinzip für sie abgiebt.

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So wird die Zwecksetzung als eigene, selbständig be - gründete Methode des Denkens in rein objektiver Er - wägung klar und in ihrem unverkürzbaren Recht begreiflich. Die Reflexion hat dabei nicht nötig, auf das Subjektive der Triebe und Motive irgend abzuschweifen. Einheit, Ueberein - stimmung im Inhalt des Gedachten ist Sinn aller Gesetzlich - keit. Darunter ordnen sich: Gesetze von Grössenrelationen (mathematische Gesetze), Gesetze von Zeitrelationen des Ge - schehens (ursachliche oder Naturgesetze), endlich Zweckgesetze. Diese haben ihren einzigen positiven Grund eigentlich in dem Urgesetze der Gesetzlichkeit selbst und überhaupt; die Gesetz - lichkeit der Erfahrung hat für sie zunächst bloss die negative Bedeutung: dass das Gesetz der Idee in seiner Reinheit erst da unmittelbar bestimmend eingreift, wo kausale Gesetzlich - keit uns keine Entscheidung an die Hand giebt. In der That vermag die empirische Kausalität unser Denken niemals un - bedingt zu determinieren, weil sie selbst nicht unbedingt ist; also lässt sie die Frage nach der letzten übergeordneten Ein - heit, den Ausblick auf das Endziel, jederzeit frei.

Allein es fehlt doch auch nicht an einer positiveren Be - ziehung zwischen Erfahrung und Idee. Zunächst die Frage, welcher die Zwecksetzung antwortet, ist allerdings durch den Zusammenhang der Erfahrung gestellt. Auch die Antwort kann daher nicht ausser aller Rücksicht auf diesen Zusammen - hang erfolgen. Was soll, ist nicht, aber soll doch sein, soll wirklich werden; die Gesetzlichkeit aber, nach der allein etwas wirklich wird, ist die ursachliche, oder die Gesetzlichkeit der Natur. Also muss das konkret Gesollte, auch bloss als ge - sollt, mit den ursachlichen Gesetzen des Geschehens doch über - haupt in Zusammenhang bleiben. Und dieser Zusammenhang ist möglich, weil die Erfahrungsgesetzlichkeit selbst zuletzt dem Urgesetze der Bewusstseinseinheit untersteht.

Hieraus versteht sich, dass die Zwecksetzung, wie sehr auch ihrem letzten formalen Grunde nach von Erfahrung unabhängig, doch dem Stoff nach ganz auf Erfahrung an - gewiesen bleibt.

Wird erreicht sein, was ich jetzt bezwecke, so wird es38 damit Natur geworden sein; es musste also auch schon vor - her auf den Naturzusammenhang, als in diesem Zusammen - hange möglich, sich beziehen. Was aus dem Gesetzeszusammen - hang der Natur herausfiele, fiele damit überhaupt aus dem Sein heraus.

Die Verwirklichung des Gewollten ist Sache der Technik, nach ihrem allgemeinsten Begriff: Herrschaft über die Natur durch Erkenntnis ihrer Gesetzlichkeit. Was könnte wohl ein menschliches Wollen zur Materie haben, das nicht diesem Bereiche angehörte? Kausalität beherrscht daher alles menschliche Thun, insofern es sich um die Verwirklichung des Gewollten handelt. Aus dem Gebiete der Technik ent - stammt selbst der gemeine Begriff des Sollens, des Rechten und Verkehrten, Guten und Schlechten; und doch waltet in dem allen nur schlichte Kausalität. Sie beherrscht unumschränkt die Wahl der Mittel zu jedem gewählten Zweck; das Ver - hältnis des Mittels zum Zweck ist überhaupt kein andres, als das der Ursache zur Wirkung (vgl. § 2). Die mancherlei Ge - biete der Technik ordnen sich daher genau nach der Einteilung der Wissensgebiete. Von der physikalisch-chemischen Technik (Technik im engeren Sinn) unterscheidet sich die biologische: Kultur von Pflanzen und Tieren; innerhalb dieser die anthro - pologische: physische Kultur des Menschen, welche nicht bloss Hygiene, Gymnastik, Medizin, sondern schliesslich das ganze Leben und Treiben des Menschen nach seiner physischen Seite umspannt; z. B. gehört dahin jede Frage der geeigneten Rege - lung menschlicher Arbeit aus dem Gesichtspunkt der Erhaltung der physischen Arbeitskräfte; und so die ganze physische Seite der Erziehung. Aber es giebt auch eine psychologische Technik: die Kunst der Seelenbehandlung, an der die Psychiatrie, die individuelle psychische Erziehung, aber auch alle Art Regie - rung in welchem Kreise immer, und so schliesslich jede Thätig - keit teilhat, welche irgend einen Grad und eine Art bewusster und berechneter, psychologischer d. h. das Subjektive des Bewusstseins mitberührender Einwirkung auf den Andern ein - schliesst. Nur die vergrösserte Gestalt dieser psychologischen endlich ist die soziologische Technik, auf der alles Aeussere39 der Gemeinschaftsordnung, sowie der nicht geringe Teil der Erziehung (als Thätigkeit angesehen) beruht, der vom Leben in der Gemeinschaft und der Art ihrer Organisation abhängt. Wie weit das reicht und wie dadurch die Willensbildung, so hoch sie auch ihre Ideale sich stecken mag, doch mit der Naturgrundlage des Menschendaseins immer in festester Verbin - dung bleibt, beginnt man vielleicht in unsrer Zeit erst ganz zu begreifen, und es darf ihr noch nicht voll zu ermessendes Ver - dienst nach dieser Seite, auch um die Erziehung, keineswegs verkannt, es darf selbst der Schein nicht künstlich umgangen werden, als ob so alle, auch die höchste menschliche Bildung in ein Abhängigkeitsverhältnis zur Natur träte. Aus unsern Grundbegriffen folgt in der That eine durchgängige gesetz - mässige Entsprechung; es folgt aber zugleich, dass diese nicht Abhängigkeit bedeutet, sofern man darunter logische Unter - ordnung versteht. Untergeordnet dem Range und der be - dingenden Gesetzlichkeit nach bleibt vielmehr die theoretische der praktischen Erkenntnis, die Erfahrung der Idee, nicht umgekehrt. Aber beide hängen in zentraler Einheit so zu - sammen, dass alle Verwirklichung eines Gewollten nur mit den Mitteln und gemäss den Gesetzen des Verstandes möglich ist; und dies erstreckt sich auf alles, was irgend der Wille sich als praktische Aufgabe d. i. zu verwirklichenden Zweck setzen mag.

Der Verstand giebt aber nur Antwort auf die Frage nach den Mitteln der Verwirklichung, nachdem der Zweck fest - steht. Die radikalere Frage ist erst die nach dem Warum des Zwecks. Es mag nun der nächste Zweck wieder nur gewollt sein als Mittel zu einem ferneren, so richtet sich die Frage auf diesen, und wenn er wieder nur Mittel zu einem andern Zweck ist, auf den dritten u. s. f., und nicht eher kommt die Frage zum Stillstand, als man zu einem Zwecke gelangt, der nicht mehr Mittel zu einem andern, sondern Endzweck ist. Das ist dann erst die ernste Frage nach dem, was sein soll. Denn das Mittel soll nur sein, sofern und weil der Zweck sein soll und der Zweck des Zwecks u. s. f., bis zu dem Zweck, der nicht mehr Mittel zu einem andern Zweck, sondern an40 sich Zweck ist, d. i. sein soll. Ist dieser scheinbar das Letzte, Fernste, nämlich auf dem vor uns liegenden Wege der Er - fahrung, ja in Wahrheit, da Erfahrung kein Letztes kennt, ganz über sie hinaus, so ist er dagegen das allem voraus Ge - wollte. Denn das Mittel wird nur gewollt im Hinblick auf den Zweck, den nächsten und ferneren u. s. f. bis zum letzten. Deshalb hatte Plato recht, die Idee einerseits das Ende oder Ziel (τέλος), andrerseits aber und im letzten Verstande den An - fang, das Prinzip (ἀϱχή) zu nennen, jenes, wo er von der Er - fahrung aus bis zu ihr zurück fragt (so im Gastmahl ), dieses, wo es sich darum handelt, den Ausgangspunkt deduktiver Begründung zu nennen (im Phädo ). Sie ist ihm die Grund - lage (ὑπόϑεσις), die nichts Andres wiederum zur Grundlage hat (ἀνυπόϑετον). Genau zu dieser Auffassung von der Idee hat unsre Ableitung geführt. Und das ist nun unsre These: dass nichts Andres als die formale Einheit der Idee, nämlich des unbedingt Gesetzlichen, der Endzweck ist, den alles Wollen als letztbestimmenden Grund, als Prinzip voraussetzt.

Man hat geglaubt dem Zwange der Folgerung auf die Idee durch die Annahme auszuweichen, dass es irgend einen letzten, alle andern überragenden und begründenden Zweck gebe, der naturnotwendig gewollt werde, sei es nun Lebenserhaltung, oder Lust, Befriedigung. Natur zwinge uns, unsere Selbsterhaltung, oder auch die Erhaltung unseres Geschlechts zu wollen, oder die grösste erreichbare eigene oder allgemeine Befriedigung, das grösste Glück der grössten Zahl u. s. w.

Allein der empirische Beweis, dass wir unter allen Um - ständen mit unserem Wollen und Thun eines dieser Ziele er - strebten, ist nicht geführt und kann nicht geführt werden. Vor allem: Niemand will thatsächlich Existenz überhaupt, oder Lust überhaupt, sondern allemal eine bestimmte Existenz, eine bestimmte Lust. Bei sehr vielen Willensakten aber ist uns überhaupt keine Beziehung bewusst sei es auf Lebens - erhaltung oder auf eine zu erreichende besondere Befriedigung oder zu überwindende bezw. zu vermeidende Unbefriedigung. Zwar das unterliegt keinem Zweifel, dass jedes ungestillte Be -41 gehren einen Grad von Unbefriedigung, jede Stillung eines Be - gehrens etwas von Befriedigung bei sich führt; aber dadurch wird doch nicht diese Befriedigung oder die Beseitigung jener Unbefriedigung zum ganzen Inhalt des Bestrebens. Vielmehr eben, weil die Begleitung mit Lust und Unlust so unterschieds - los allem, auch dem entgegengesetztesten Bestreben gemein ist, ist sie offenbar untauglich, das unterscheidende Ziel des Bestrebens, das Richtunggebende dabei zu definieren. Man zielt also ganz am Problem vorbei, wenn man seine Folge - rung auf dies ganz allgemeine Zusammengehen von Unlust und Begehren, Lust und Stillung des Begehrens stützt. Viel - mehr müsste man zeigen, dass das, woran man seine Lust findet und nicht, immer wiederum Lust bezw. Unlust sei, dass es also gar keine Lust zu oder an einer Sache gebe, sondern allein zu oder an der eignen oder fremden Lust oder Meidung von Unlust; dass z. B. der Forscher sich nicht nur, was nie - mand leugnet, freut, wenn es ihm gelungen ist sein Problem zu lösen, sondern mit allem heissen Bemühen auch gar nichts andres als diese flüchtige Freude, und nicht etwa die Lösung des Problems, die sichere Klarheit der Sache, die Einstimmig - keit und also Wahrheit der Erkenntnis gewollt habe; was schwerlich richtig und am schwersten auf irgend eine mögliche Art zu beweisen ist. Ich wenigstens könnte mich nicht be - stimmen zu glauben, dass etwas so äusserst Bedingtes, das von den unberechenbarsten Umständen vom Barometerstand, von der Verdauung, von den tausend kleinen Störungen des all - täglichen Lebens fort und fort bedroht ist, so unentrinn - bar den ganzen Inhalt meines Bestrebens ausmachen müsste. Besonders nachdem ich einmal erkannt habe, dass Lust und Unlust nur die höchst wetterwendischen Begleiter meines Be - strebens und zwar unterschiedslos jedes, übrigens nur zum kleinsten Teil dies, überwiegend von Dingen bestimmt sind, die mit meinem Wollen und Nichtwollen auch gar nichts zu schaffen haben; dass sie allgemein nur die hinlänglich unsiche - ren immerhin beachtenswerten Zeiger der augenblick - lichen Tendenz der Erhaltung oder Störung meines physischen Organismus, oder vielmehr des augenblicklichen Ausschlags42 einer unübersehbaren Zahl unmerklicher solcher Tendenzen sind: sollte ich, bei dieser Erkenntnis, gleichwohl nichts Festeres und Klareres mir zum Ziel meines Bestrebens setzen können oder vielmehr müssen als immer wieder diese ungewissen Lüste und Meidungen von Unlust? Diese Behauptung schiene mir nicht besser begründet als die andre: weil ich nötig habe zu essen und zu trinken um zu leben, so müsse Essen und Trinken allen Inhalt meines Lebens, meines Denkens, Fühlens und Strebens ausmachen, und alles andre nur eine, man weiss nicht wozu dienliche, Verkleidung dieses allein wahren Lebens - inhalts sein.

Von der Theorie, die alles auf das natürliche Streben der Selbsterhaltung stützen will, gilt dasselbe. Dasein ist Voraus - setzung jeder Zweckverfolgung, aber doch darum nicht Zweck an sich, nicht der einzige letztbestimmende Zweck. Der Trieb zur Lust ist sehr oft dem der Daseinserhaltung entgegen und umgekehrt; Beweis genug, dass keiner von beiden der allein oder zuletzt bestimmende ist. Man kommt bei dieser Annahme überdies in Gefahr, der Natur eine allgemeine, bedingungslose Tendenz zur Erhaltung der lebenden Wesen anzudichten, die eine nüchterne Prüfung durchaus nicht zu erkennen vermag. Natur erhält ihre Geschöpfe eine Zeitlang, und weiht sie dann mit demselben Gleichmut dem Untergang. Wirklich strebt kein lebendes Wesen unter allen Umständen fortzuleben. Warum auch? Blosses Dasein ist kein Zweck, bei dem sich stehen bleiben liesse. Dass man nach dem Zweck des Daseins so lange schon fragt und überhaupt fragen kann, ist ein hin - reichender Beweis, dass wenigstens der Gedanke im blossen Dasein sein Ziel nicht findet. Es ist noch nicht einmal eine sittliche Erwägung, dass es thöricht ist propter vitam vitae perdere causas, um des Lebens willen das daran zu geben, was allein ein Grund zu leben ist. Es kann sehr verschieden sein, worin man einen zureichenden Grund zu leben findet.

Und so bleibt es dabei, dass mindestens von dem Augen - blick an, wo die Zwecksetzung sich zur Freiheit des Denkens erhebt, wo es eine eigene Wahl der Zwecke giebt (und es giebt solche Wahl), der letzte Zweck allein in der Idee, d. h.43 in derjenigen formalen Einheit gesucht werden kann, in der alle besonderen Zwecke sich vereinigen. Dem letzten Sinn des Sollens (wie er oben erklärt worden) genügt auch keine bloss empirische Zusammenstimmung der Zwecke, denn über diese lässt sich immer hinausfragen: wozu? das heisst eben, zu welchem letzten Ende dient, auf welche letzte Einheit oder Uebereinstimmung zielt diese empirisch begrenzte, also bedingte, abschlusslose Uebereinstimmung, die es immer offen lässt, dass der erweiterten und wieder erweiterten Er - fahrung von neuem eine, bloss jetzt nicht bemerkte Nicht - übereinstimmung sich entdeckt. Einzig die Uebereinstimmung selbst und als solche kann, nicht um eines Andern willen, sondern an sich, bedingungslos gewollt werden. Nur über sie kann nicht ferner hinausgefragt werden, worauf sie ziele, denn diese Frage hat gar keinen andern angebbaren Sinn als den der Forschung nach der letzten Einheit der Zwecke.

Dieses letzten Abschlusses aber kann der Wille auch gar nicht entraten. Ohne ihn bleibt nicht, wie im theoretischen Erkennen, bloss eine letzte Neugier ungestillt, sondern es würde an dem allerersten Anfang des Wollens fehlen, da eben alles Bedingte bei zureichender Besinnung nur bedingt gewollt werden kann, d. h. gewollt um eines Andern willen, das zu - vor gewollt sein muss. Der Abschluss ist aber auch eben darum möglich und jederzeit möglich, weil er ein bloss ge - danklicher ist und zu sein braucht. Im Gedanken erreiche ich das Ziel durch die blosse Zurückbesinnung auf das Ur - gesetz der Einheit, der Uebereinstimmung der Zwecke unter sich, welches ja nur der letzte, uneingeschränkteste Ausdruck ist für das Grundgesetz des Bewusstseins überhaupt. Einheit also ist das Endziel des Willens. Habe ich im Gesichtspunkt meines Denkens, in der blossen Idee Einheit unter meinen Zwecken gestiftet, so habe ich den gesuchten Endpunkt er - reicht, so vermag mein Gedanke hierbei stehen zu bleiben und zu sagen: so wäre es endlich gut, d. h. in Richtigkeit. Es giebt nicht nur keine Nötigung, sondern auch gar keine Mög - lichkeit über diese formale, ebendamit aber und insoweit un - bedingte Einheit auch nur fragend hinauszugehen.

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Durch diese Bestimmung, als formale, nicht materiale Einheit, ist die Idee scharf unterschieden von dem eudämoni - stischen Traum eines irgend einmal zu erreichenden Endzu - stands allseitiger Befriedigung und Stillung jedes Verlangens, wie ihn die religiösen Eschatologien und sozialistischen Utopien geträumt haben. Solche zeigen sich bei näherer Prüfung fast immer beherrscht vom zufälligen engen Erfahrungskreise und den je vorwaltenden, mitunter recht beschränkten empi - rischen Wünschen der Erdichter solcher Traumbilder. Die Einheit der Idee bedeutet dagegen die Einheit eines Grund - satzes, einer Methode. Die praktische Aufgabe allerdings, auf die sie uns hinweist, wird immer empirisch sein; sie schreibt vor, auf das absehbar höchste empirische Ziel unser Be - streben zu richten; immer mit dem Vorbehalt, wenn ein er - höhter Ausblick wiederum grössere Zwecke über den erst an - genommenen erkennen lässt, zu diesen grösseren Zwecken uns zu erheben. Insofern kennt auch der Wille, gerade unter der Leitung der Idee, kein Letztes, nämlich keine letzte empirische Aufgabe. Aber die Wahl der empirischen Aufgaben bekommt so allein Einheit und Richtung, und nichts als diese Einheit der Richtung ist das Letzte, was den Willen bestimmt.

Es droht also auch wiederum nicht die Gefahr, dass wir durch die Erhebung zur Idee die Erfahrung etwa ganz über - fliegen und in jenen luftleeren Raum , von dem Kant ein - mal spricht, uns versteigen würden, in dem allerdings, wie jedes gegründete Erkennen, so auch jedes redliche Bestreben für den Menschen aufhört; da sein Wille wie sein Verstand nur in der Lebensluft der Erfahrung zu atmen und sich fort - zubewegen geschaffen ist. Man hat oft befürchtet, wer das Un - bedingte sich zum alleinigen Ziel setze, der werde in der That gar nichts erzielen, weil eben nichts, was man Kon - kretes wollen kann, ein Unbedingtes ist. Darauf antwortet die notwendige Zurückbeziehung der Idee auf die Erfahrung. Wille ist nicht bloss Erkenntnis des Ziels, sondern Streben zum Ziel. Ich will vom Zeitlichen aus das Ewige, richtiger: vom Ewigen aus das Zeitliche. Das ewige Gesetz der Idee45 vermag aber jedes empirische Ziel sich unterzuordnen; denn Er - fahrung erwächst zuletzt auf demselben Grunde; es ist das - selbe Grundgesetz der Bewusstseinseinheit, welches die Objekt - setzung der Erfahrung und die Zielsetzung des Willens regiert. Also werden die materialen Bestimmungsgründe, welche nur Erfahrung bieten kann, sich dem obersten formalen Grundsatz, der Idee, jederzeit willig unterordnen.

Es kann nun auch nicht mehr irre machen, dass der Drang über das Gegebene, Gegenwärtige hinaus zunächst dunkel, seines Zieles völlig unbewusst ist, und, wenn er zuerst zum Bewusstsein erwacht, nur auf Empirisches zu gehen scheint, nur des empirischen Zieles zunächst sich bewusst wird. Auch so erstrebt er doch immer ein Letztes: Einklang, Ueberein - stimmung. Er folgt dem Gesetze der Bewusstseinseinheit, lange bevor er dies Gesetz kennt und seine Tragweite er - misst. Ist die Besinnung aber einmal so weit erwacht, dass man anfängt nach dem Warum zu fragen und nach dem Warum des Warum, so kann auch nicht lange verborgen bleiben, dass sich bei keinem Empirischen als Letztem stehen bleiben lässt. Die Richtung des Bewusstseins bestimme sich zunächst nach einem endlich fernen Punkte, so besteht doch dieselbe Richtung fort ins Unendliche, und sie kann auch so erkannt werden; ja in Wahrheit ist es nicht der endliche sondern der unendlich ferne Punkt, der die Richtung ur - sprünglich bestimmt. Das je Gewollte wird ja alsbald nicht mehr gewollt, wenn erkannt ist, dass es in die geforderte Einheit der Absicht sich nicht fügt; diese war also das von Anfang an vorschwebende Ziel, ja sie war das eigent - lich und ursprünglich Beabsichtigte, wenn auch der nächste Drang auf etwas Andres ging, das diese Absicht vereitelt hätte. Alle Tendenz ist Tendenz zur Einheit; ohne das lässt sich überhaupt nichts von Tendenz verstehen, denn Tendenz heisst Richtung, und eine Richtung geht immer auf Eines, und schliesslich ein Unendliches. Nur irrend kann ich ein Empirisches mir zum (vermeintlich) unbedingten Ziel setzen, so wie ich auch in der Theorie Empirisches für absolut zu nehmen zunächst geneigt bin. Dann ist es nur meine ver -46 diente Strafe, dass ich, im Besitz des Erstrebten, es als trüg - liches, im Grunde gar nicht von mir gewolltes Ziel erkenne. Also entweder, ich nehme fort und fort bloss Empirisches für Unbedingtes, um zu schmerzlicher Enttäuschung immer wieder durch Erfahrung Lügen gestraft zu werden; oder ich mache mir ein für allemal voraus klar, dass man nur Unbedingtes unbedingt wollen, dann aber auch nicht erwarten soll, es in Erfahrung je anzutreffen. Wird dadurch es selbst oder der auf es sich richtende Wille zur Chimäre? Keineswegs: das Unbedingte bestimmt als Richtpunkt unsern Weg, ohne dass dieser darum bis zu ihm hin führen müsste. Das Ziel liegt über aller Erfahrung, aber es ist dennoch, ja eben damit fest und gewiss, denn es ist bestimmt durch das Gesetz der Ein - heit, das ich als Urgesetz meines Bewusstseins erkenne, und auch in der Erfahrung immer befolge und bewährt finde.

Hieraus erklärt sich, was man mit der Freiheit des Willens Richtiges im Sinn hat. Es ist zunächst die Frei - heit des Bewusstseins, die Erhebung des geistigen Blicks, des Gesichtspunktes des praktischen Urteils über den ver - meinten Zwang des Naturgesetzes, das doch nie unbedingt zu zwingen vermag; denn es selbst ist nicht unbedingt; es lässt thatsächlich das Urteil des Willens frei. Das Gesetz der Idee dagegen ist eben dann für ihn richtend, im Doppelsinn des Richtunggebenden und des richterlich Entscheidenden. Diese Freiheit erstreckt sich aber bis auf die Handlung, inso - fern zu deren Begriff gehört, dass sie mit und aus dem prak - tischen Bewusstsein geschieht.

Nicht der kleinste Gewinn unsrer Untersuchung ist, dass nach ihrem Ergebnis zwischen Verstand und Willen keine Kluft mehr besteht, während doch die begriffliche Grenze zwischen beiden fest und unverrückt bleibt. Sie sind für uns nicht mehr zwei an sich selbständige, erst hinterher zusammen - wirkende Vermögen oder seelische Kräfte, sondern als ver - schiedene, doch notwendig zusammengehörende Richtungen eines und desselben Bewusstseins nur in der Abstraktion zu scheiden. Der Mensch versteht nur, indem er will, er will nur, indem er versteht. Auch bedarf es gar keiner psycholo -47 gischen Erwägung, um das zur Klarheit zu bringen. Das Ge - setz der Idee bietet auch für diese Feststellung die voll - kommen sichere und genügende objektive Grundlage; sein Er - weis aber ist Sache der Erkenntniskritik, nicht der Psycho - logie. Im Beweisgang der kritischen Philosophie schliesst sich in ununterbrochenem Zusammenhang an die Logik die Ethik, und auf diese allein hat die Pädagogik des Willens sich zu stützen nötig, so wie die Pädagogik des Verstandes keiner andern wesentlichen Grundlage als der Logik, die der künstle - rischen Phantasie keiner andern als der Aesthetik bedarf. Zwar fällt dies alles dann auch unter psychologische Er - wägung, aber diese ist, hier wie überhaupt, sekundär; sie be - gründet nichts, setzt vielmehr den objektiven Erweis der logischen, der ethischen, der ästhetischen Gesetze zu ihrer eignen Begründung schon voraus.

§ 7. Stufen der Aktivität. Erste Stufe: Trieb.

Die nachgewiesenen Grundlagen zur Zielbestimmung des Willens, also auch der Willenserziehung, sind dem Prinzip nach die nämlichen, auf die Kant die Ethik gegründet hat. Weshalb ist man dabei nicht stehen geblieben? Der Grund liegt nur zum Teil in theoretischen Bedenken hauptsächlich psychologischer Art, auf die Einiges schon geantwortet ist und zu deren Beschwichtigung Weiteres in diesem und den folgenden beiden Paragraphen beigetragen werden soll. Den Ausschlag gab eigentlich die noch immer herrschende Meinung, dass man auf dieser Grundlage überhaupt zu keiner konkreten Bestim - mung der sittlichen Aufgabe gelange. Die Ethik der reinen Idee, meint man, müsse notwendig im Formalen stecken bleiben; schon lange sei unerwiesen, wie sich aus ihr bestimmte, brauch - bare Anweisungen für das Verhalten im wirklichen Leben, für die unmittelbaren Forderungen der Erfahrung, in deren Felde allein der menschliche Wille seine direkten Aufgaben hat, jemals sollten ableiten lassen.

Wir sind auf dem Wege zu zeigen, dass dies Bedenken48 ungegründet ist; dass gerade in der angezeigten Richtung sich zu sehr bestimmten Entscheidungen über die Fragen des prak - tischen Lebens und der Erziehung zu ihm gelangen lässt. Und zwar liegt dieser Erweis in der geraden Fortsetzung des bis - her verfolgten Weges einer rein objektiven Untersuchung. Denn was im Konkreten Objekt des Willens sein muss, wie, nicht gleichsam im luftleeren Raum der blossen Idee, sondern unter empirischen Voraussetzungen wenn auch allgemeinster Art, sich eine Willenswelt gestaltet, das ist die entscheidende Frage; erst in zweiter Linie steht die andre: was der Wille selbst, für den es Objekt ist, seiner subjektiven Beschaffenheit nach, als Moment des psychischen Erlebens ist. Doch soll auch diese psychologische Frage insoweit berücksichtigt werden, dass die von dieser Seite regelmässig erhobenen Einwände dem Prinzip nach ihre Erledigung finden.

Als die gesetzliche Form, die für den Aufbau der Willens - welt massgebend ist, kennen wir bereits die notwendige Rich - tung auf das unbedingt Gesetzliche; den Stoff soll Erfahrung bieten. Wie sie ihn bietet und wie er sich jener Form fügt, ist der nächste Gegenstand unsrer Untersuchung.

Wäre nicht schon im Aufbau der Erfahrung selbst ein Moment enthalten, das sie zum Stoff einer Willenswelt taug - lich macht und gleichsam voraus bestimmt, so wäre schwer zu begreifen, wie das Willensgesetz je zu den Daten der Erfah - rung in die verlangte Beziehung treten sollte. Wir glaubten aber zwischen theoretischem und praktischem Bewusstsein einen bis zur letzten Wurzel zurückreichenden, nicht erst hinterher sich gleichsam künstlich herstellenden Zusammenhang zu er - kennen. Wir lernten Erfahrung als Prozess verstehen. Sie zeigt sich auf keiner Stufe fertig, immer im Werden begriffen. Daher muss ein Verhältnis dessen, was schon in den sicheren Besitz des Bewusstseins, d. h. in Erfahrung, gebracht ist, und dessen, was erst in sie einbezogen zu werden im Begriff steht, noch aber ausser ihr, mithin ausser jedem bestimmten gegen - ständlichen Bewusstsein schwebt, auf jeder Stufe der Erfah - rung stattfinden. So wunderbar es ist, es giebt, und zwar in jedem Momente des Erfahrens, eine Art Bewusstsein des noch49 nicht, bezw. auch des nicht mehr im empirischen Sinne Be - wussten. Es lässt sich fasslich mit Richtung, Strebung, Tendenz oder einem analogen Ausdruck bezeichnen. Am bekanntesten in der deutlichen Gestalt des gewöhnlichen Triebes nach sinnlichem Geniessen oder auch motorischer Bethätigung, ist es in Wahrheit von ganz allgemeiner Be - deutung im bewussten Leben. Es durchdringt auch das ganze Getriebe der Vorstellungen, das ja in mannigfach wechselnden, sich von Moment zu Moment gleichsam verschiebenden Ver - bindungen durchaus besteht, also ein Verhältnis gegebener und erst anzueignender, bezw. auch abzustossender, sich aus dem jeweiligen Zusammenhang des Bewusstseins lösender Momente allzeit in sich schliesst. Wir erkennen in diesem alle Prozesse der Vorstellung begleitenden Momente der Tendenz die Ur - sache, weshalb auch das blosse Vorstellen uns als Thätigkeit, nicht lediglich als etwas, das uns angeschieht, bewusst wird. Es verrät sich in der Wahrnehmung, als Richtung des Inter - esses, gleichsam Fixierung des geistigen Blicks auf das beob - achtete, die Aufmerksamkeit fesselnde Objekt; im Wiederauf - spüren des Entschwundenen in der Erinnerung; im tastenden Vorgriff der gespannten Erwartung; in dem oft fühlbar an - gestrengten Suchen in der Phantasie; vollends in allem höheren Bewusstsein: die Konzentration des Gedankens auf ein be - stimmtes inhaltliches Moment, bei gleichzeitiger, auf Voll - ständigkeit gerichteter Ueberschau der möglichen Fälle; die Möglichkeit, sogar ein Unendliches, z. B. eine ins Unendliche fortzusetzende Reihe in Raum, Zeit, Zahl zu denken, was eine aus dem direkten Bewusstsein ins Nichtgegebene hinüber - greifende Tendenz unmittelbar einschliesst; somit alles, was überhaupt begriffliches Denken vom sinnlichen Vorstellen unter - scheidet; desgleichen alles Urteilen und Erkennen: die Frage, die Aufgabe, der Zweifel, das Erklärungs - oder Begründungs - bedürfnis, das freie Entwerfen von Hypothesen, der gedank - liche Versuch, und wieder das Prüfen und Untersuchen, Folgern, Beweisen; das überzeugte Annehmen, die Behauptung, als willentliche Setzung und Aneignung, Anerkennung des als wahr Begriffenen; das Verwerfen, Verneinen, als ausdrücklichesNatorp, Sozialpädagogik. 450Abweisen des Irrigen; die bei dem allen leitende Richtung auf Einheit und Uebereinstimmung der Vorstellungen, auf Gesetzeserkenntnis, und wiederum auf die möglichst bestimmte Erfassung, Feststellung des Einzelnen, Konkreten nichts von alledem geschieht ohne das, was wir Tendenz nannten. Zwar das Ziel der theoretischen Erkenntnis ist die möglichst tendenzfreie Darstellung dessen was ist ; aber grade die Aus - schliessung jedes Einflusses anderweitiger Tendenzen, zu Gunsten der einen, auf reine Herausarbeitung der Objektivität, fordert strenge geistige Zusammennehmung, die deutlichst den Charakter einer energischen Anspannung der Aktivität des Bewusstseins trägt.

Aus unsrer Ableitung (§ 6) ergiebt sich, dass diesem so weitreichenden Momente der Tendenz nichts andres als jene dem praktischen Bewusstsein ursprünglich eigene Rich - tung auf einen letzten, im Unendlichen liegenden Ziel - oder Vereinigungspunkt alles Mannigfaltigen der Erfahrung schliess - lich zu Grunde liegt, und darin zum erst dämmernden, dann klareren und klareren Bewusstsein sich erhebt. Nur daraus versteht sich das Eigentümliche des praktischen Bewusstseins überhaupt: Richtung auf etwas als Seinsollendes.

Der Empirismus freilich muss eine solche Erklärung grund - sätzlich ablehnen; er gerät dadurch aber in die Verlegenheit, Tendenz als irgendwie ursprüngliches Bewusstseinsmoment eigentlich leugnen zu müssen*)Charakteristisch dafür ist v. Ehrenfels Psychologie des Begehrens (Werttheorie, 1. Band) die eigentlich darauf hinauskommt, dass es kein Begehren giebt., nämlich das sogenannte Be - gehren oder Streben bezw. Widerstreben rein aufzulösen in ein Vorausvorstellen des Erstrebten oder Abgelehnten, und ein mit diesem Vorstellen sich verknüpfendes Lust - oder Un - lustgefühl. Dazu kommt dann zwar in der Willenshandlung selbst noch die Auslösung eines Bewegungsimpulses, die aber nun ganz im Gebiete des Physischen zu verbleiben scheint, oder sich im Bewusstsein wenigstens nicht anders reflektieren soll als wiederum in Vorstellung und Gefühl (Lust Unlust).

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Diese Ansicht, die zuerst überaus paradox erscheinen muss, da sie das jedem wohlbekannte Bewusstsein eines Strebens, als etwas Eigenes, überhaupt wegleugnet, hat dennoch, als Theorie, etwas Ueberredendes; und zwar, weil sie etwas that - sächlich Richtiges einschliesst. Es ist nämlich wirklich der Fall, dass Lust und Unlust einerseits, positives und negatives Streben andrerseits nicht bloss begrifflich eine genaue Analogie aufweisen und in dem gemeinsamen Moment eines annehmenden und ablehnenden, gleichsam bejahenden und verneinenden Ver - haltens zusammentreffen, sondern auch faktisch in der Weise sich entsprechen, dass sie sich, bloss auf verschiedener Stufe, eigentlich auf dieselben Objekte beziehen: dasselbe, was als Gegenwärtiges Gegenstand der Lust bezw. Unlust, wird, wenn nicht gegenwärtig, aber im Bereiche der Möglichkeit und gleichsam in Sicht befindlich, zum Gegenstand positiven oder negativen Strebens, und umgekehrt. Allein es bleibt immer dieser unüberbrückbare Unterschied: dass Lust und Unlust sich schlechterdings auf Gegenwärtiges auf Nichtgegen - wärtiges nur, indem es in der Vorstellung gegenwärtig ist, und als so gegenwärtig bezieht, Begehren und Widerstreben dagegen ebenso wesentlich auf Nichtgegenwärtiges und als Nichtgegenwärtiges (nicht als in der Vorstellung Vergegen - wärtigtes), das aber zum Gegenwärtigen werden (bezw. nicht werden) soll. Nun glaubt man vielleicht diese Seite der Sache durch das zweite Moment, die Vorstellung, gedeckt. Aber dabei wird übersehen, dass die praktische Vorstellung, von etwas als seinsollend oder nichtseinsollend, wurzelhaft ver - schieden ist von der bloss theoretischen Vorstellung, als wirk - lich oder vielleicht einmal wirklich werdend, oder überhaupt, wie wenn es wirklich wäre. Dies Sollen und Nichtsollen in der praktischen Vorstellung lässt sich nicht durch die blosse Vergegenwärtigung dessen, was möglicherweise eintreten wird, in der Vorstellung, auch nicht unter Mitvergegenwärti - gung der Lust oder Unlust, die es, wenn wirklich geworden, mit sich führen würde, erklären. Sondern es liegt in dem Sollen eine ganz eigene Positivität, gleichwertig, vielmehr überlegen der des wirklichen Seins (da es doch sich an dessen52 Stelle zu behaupten, gleichsam zu bejahen wagt); während zugleich ausdrücklich vorausgesetzt wird, dass dies Seinsollende nicht jetzt wirklich ist, ja sogar möglicherweise nie wirklich werden wird. Streben ist mit lust - oder unlustvoller Er - wartung so wenig einerlei, dass vielmehr die Energie des Strebens zur Sicherheit der Erwartung im umgekehrten Ver - hältnis steht und, während die letztere sich bis zur Gewissheit der vollendeten Wirklichkeit steigert, die erstere bis zum Nullpunkt herabsinkt.

Also ist wohl dies eigenartige Bewusstseinsmoment: Setzung eines Objekts als seinsollend, für dermaassen ursprünglich anzu - erkennen, dass vielmehr umgekehrt die Frage aufgeworfen werden muss, ob nicht jenes Eigentümliche der Lust und Unlust, das sie zur Erklärung des Strebens und Widerstrebens tauglich erscheinen liess, nämlich das darin liegende Moment des Bejahens und Verneinens, Annehmens und Ablehnens, auf ein zu Grunde liegendes Streben in jedem Fall zurückweist. Es ist gerade psychologisch sehr einleuchtend, dass Bewegung des Gemüts das Zugrundeliegende, ja die allgemeine Bedingung psychischen Lebens ist (völlige Gleichgültigkeit wäre Tod), und dass in der Lust und Unlust sich dies Moment der Bewegung nur deshalb mehr verbirgt, weil darin unmittelbar nicht die Be - wegung als solche, sondern der jeweilige momentane Ausschlag, gleichsam die momentane Bilanz der Strebungen, nämlich das momentane Uebergewicht der Hemmung oder der Be - hauptung wider sie ins Bewusstsein fällt. In Lust und Unlust also wird der blosse Hoch - und Tiefstand des Gemüts, die blosse Augenblickslage verspürt; während im Streben die Erhebung und Senkung als solche, und zwar als der eignen Tendenz des Bewusstseins (auf Einheit, auf Ueberein - stimmung) entsprechend oder widerstreitend bewusst wird; welches beides übrigens zuletzt derart eins ist, dass im Gefühl der Hemmung oder des nicht gehemmten bezw. die Hemmung überwindenden Sichbehauptens eben jene eigne Tendenz, in verschiedenen Graden der Bestimmtheit, gefühlt wird. Danach läge also ein Moment der Richtung, mithin der Bewegung doch schon dem Gefühl selbst zu Grunde; woraus der Gegensatz53 des positiven und negativen Moments darin (Lust und Unlust) vielleicht in der einzig möglichen Weise begreiflich wird.

Mag man nun diese (etwa mit Brentano sich berührende) psychologische Vorstellungsweise annehmen oder nicht, ganz unabhängig davon bleibt unsere Feststellung, dass eine Be - ziehung des dem Bewusstsein Gegenwärtigen auf ein Nicht - gegenwärtiges (d. i. Tendenz) immer stattfindet und wohl immer auch in irgend welchem Grade zum Bewusstsein kommt. Und das ist nun unsere Behauptung, dass diese Beziehung ihre Grundlage schliesslich nur haben könne in jenem Ursprüng - lichen des Bewusstseins, dem allein auch Nichtgegen - wärtiges gegenwärtig sein kann, sei es nun, in bloss theoretischer Vorstellung, vergegenwärtigt, oder, in prak - tischer, mit der eignen Positivität des Sollens gesetzt. Nur wenn man dies unter Vorstellung mitverstände, und andrerseits in Lust und Unlust das Moment der Tendenz eingeschlossen sein liesse, wäre gegen die These allerdings wenig einzuwen - den, dass das Streben oder Begehren sich auflöse in Vor - stellung und Gefühl. Aber die Absicht dieser Erklärung ging vielmehr dahin, jenes ursprüngliche, über die blosse Gegen - wart der Vorstellung wie des Gefühls zum Nichtgegenwärtigen hinübergreifende Moment des praktischen Bewusstseins, in dem die ganze, unvergleichliche Eigentümlichkeit des Strebens liegt, überhaupt wegzuerklären; weil man, als Empirist, aus dem je im Bewusstsein Gegenwärtigen, Gegebenen, alles er - klären zu müssen meinte.

Man ersieht leicht, wie nach unserer psychologischen Auf - fassung das Streben und Widerstreben und mit ihm das Lust - und Unlustgefühl immer in der innerlichsten Beziehung zum Vorstellen, nämlich zum geschehenden Vollzug der Ver - bindung und beziehentlich Trennung der Vorstellungselemente verbleibt. Herbart, der sowohl das Gefühl als das Begehren in blosse Verhältnisse unter Strebungen seiner einfachen Vor - stellungen auflöst, hatte etwas davon im Sinne, obwohl das Verhältnis zu einwurffreiem Ausdruck bei ihm nicht gekom - men ist und bei seinem grundlosen Operieren mit Vorstellungen als Kräften und eigentlich selbständigen Wesen auch nicht54 kommen konnte. Sein Bestreben, das beziehungslose Ausser - einander der seelischen Vermögen zu überwinden, verdient dennoch Anerkennung und Nachfolge; und auch die allgemeine Richtung, in der er die psychologische Vermittlung zwischen theoretischem und praktischem Bewusstsein suchte, ist unver - werflich. Verfehlt ist erstens, dass dem Vorstellen ein Streben zwar zu Grunde gelegt wird, welches aber als solches in keiner Weise zum Bewusstsein kommen soll, sondern vom Psychologen lediglich erschlossen, ja metaphysisch konstruiert wird, daher, sobald man diese Konstruktion nicht mitmachen kann, erschlichen scheinen muss. Und sodann wird von ihm wohl verkannt, dass eine bestimmte, letzten Grundes ein - stimmige Richtung dem Vorstellen, gerade sofern es Streben sein soll, innewohnen oder doch möglich sein muss. Es ist die ganze unhaltbare Atomisierung der Vorstellungen, welche Herbart diese in der Psychologie vielseitig aufklärende Einsicht verschlossen hat. Dass aber jene Grundrichtung keine andre als die der Einheit, der Uebereinstimmung selbst, im theoretischen wie praktischen Sinne, sein kann und thatsäch - lich ist, darf wohl als das Reinergebnis der ganzen bis hier - her geführten Untersuchung fortan zu Grund gelegt werden.

Aus der nachgewiesenen engen Einheit des theoretischen und praktischen Bewusstseins glauben wir nun auch zu ver - stehen, weshalb der Wille geradezu als Erzeuger der Er - fahrung aufgefasst werden kann; so bei Fichte, und anders bei Schopenhauer oder Wundt. Wir können darin nur eine falsche Objektivierung jenes thatsächlich im Aufbau der Er - fahrung und zwar durchweg wirkenden Momentes der Tendenz erkennen. Ein durchgängiger Zusammenhang zwischen Er - fahrung und Willensthätigkeit oder dem, was den Keim zu dieser in sich trägt, besteht unzweifelhaft; er ist aber zu suchen in einer letzten wurzelhaften Einheit des theoretischen und praktischen Bewusstseins, d. h. er ist zentral, nicht peripherisch zu begründen. Indem wir uns selbst als Mit - arbeiter an der Gestaltung der Erfahrungswelt, mithin das Werk ihres Aufbaues als Ergebnis in uns mächtiger Tendenzen empfinden, erfüllt sich uns zugleich der Inhalt der Erfahrung,55 wie mit flutendem Leben, mit dem, wie auch immer schwachen und dunklen, aber stets in irgendeinem Grade vorhandenen und wirksamen Bewusstsein jener zurück - und vorauswirkenden, nach - und vorgefühlten Tendenzen in uns. Das jeweilig in Erfahrung Gebrachte erscheint dann fast bloss als vorüber - gehender Niederschlag, als an sich indifferentes weil ja immer wieder sich selbst aufhebendes Erzeugnis des ewigen Prozesses der Erfahrung, an dem auch das lebendige Interesse der Er - kenntnisthätigkeit fast ausschliesslich haftet.

Und so dürfen wir auf der Voraussetzung fortan als einer feststehenden fussen: dass Tendenz allenthalben stattfindet, auch und besonders im gesamten Aufbau der Erfahrung. Von einem stofflichen Faktor ist dabei eigentlich nicht zu reden; was ist denn an einer blossen Tendenz oder Richtung, die stets ein Verhältnis des Wirklichen zum Nichtwirklichen einschliesst, überhaupt noch Stoff zu nennen? Als immer wieder verbrauch - ter und sich neu erzeugender Stoff erscheinen jetzt vielmehr die nur vermeintlich festen, thatsächlich überaus flüchtigen Gebilde der Erfahrung, über die die Tendenz immer wieder siegreich hinausdringt. Jedenfalls setzt, wie überhaupt alles Empirische im Bewusstsein das Ursprüngliche, so das Empi - rische der Tendenz jene ursprüngliche Richtung des Bewusst - seins auf unbedingte Einheit und Uebereinstimmung voraus. Nur ist sie nicht auch notwendig uns direkt bewusst.

Nach dem Grade aber, in dem sie bewusst wird, unter - scheidet sich deutlich eine Folge von Stufen der Aktivität, deren unterste, dem Empirischen also nächststehende, wir Trieb nennen.

Sieht man das unterscheidende Merkmal des Sinnlichen in der wesentlichen Beziehung auf das Jetzt und Hier, auf den als bestimmt gesetzten Zeit - und Raumpunkt, so trifft dies Merkmal auf die Tendenz in ihrer Urform zu; nämlich nicht, sofern sie ins Unendliche hinausweist, sondern sofern sie vorerst im nächstgegebenen, gegenwärtigen oder vom gegen - wärtigen Erlebnis aus unmittelbar zu erreichenden, also in unmittelbarer Erfahrung liegenden Objekt ihr Ziel findet, d. h. uns nur bewusst ist als auf dies Nächste gerichtet.

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Das also ist die erste Stufe der Aktivität, dem Range nach die unterste, zugleich aber der notwendige Anfangspunkt einer ins Unendliche emporsteigenden Entwicklungslinie: dass das unmittelbar vor Sinnen schwebende Objekt unser Streben ganz ein - oder gefangen nimmt, ausfüllt, sodass es nicht darüber hinaussieht, sondern dadurch ganz festgehalten, gefesselt , mithin unfrei ist. Dieser Zustand ist noch nicht Wille zu nennen, wenn doch Voraussetzung des Wollens Freiheit der Wahl ist. Auch der Name Begehren ist ungeeignet, schon weil darunter herkömmlich der Wille, als das obere Begehrungsvermögen , mitbegriffen wird. Dagegen steht das Wort Trieb zur Verfügung, welches sich deshalb besonders eignet, weil dadurch die Willenlosigkeit, die diese Stufe der Aktivität kennzeichnet, das passive Getriebenwerden und nur dadurch selber Treiben, in steter Erinnerung gehalten wird. Setzen wir der grösseren Deutlichkeit halber zu Trieb das Beiwort sinnlich , so wollen wir damit nicht ein Sonder - gebiet des Trieblebens, etwa das dem Menschen mit dem Tier gemeine, auf niedere Sinnenlust gerichtete, abgrenzen, sondern nur jene unmittelbare Richtung auf das gegebene, also sinn - liche Objekt, es sei übrigens was es sei, noch besonders aus - drücken.

Der Charakter und die weitreichende Bedeutung des Triebs wird besonders klar am Begriff der Arbeit. Keine mensch - liche Arbeit, auch nicht die edelste geistige, lässt sich ver - richten, ohne dass man sich für die Zeit der Arbeit dem Gegen - stande ganz hingiebt , d. h. ohne kraftvoll darauf gerichteten, für diese Zeit im Objekt aufgehenden Trieb. Auch der Trieb des Künstlers, seinen Gegenstand anschauend zu gestalten, ist in der vollen Bedeutung des Wortes sinnlicher Trieb; und wie nah verwandt ist dem selbst der Trieb des Forschers, seinen Gegenstand erkennend darzustellen. Vergegenwärtigt man sich vollends das psychische Verhalten des Jägers, des Er - werbsmanns, jedes Arbeiters überhaupt, der, wie wir sagen, mit ganzer Seele bei der Sache ist, was ist das anders als energisches und zwar ganz und gar sinnliches Triebleben? Der Trieb ist daher ob seiner Sinnlichkeit nicht zu schelten; er57 ist vielmehr, wie es oft gesagt worden ist, an sich weder löb - lich noch verwerflich, weder sittlich noch widersittlich. Er kann unsittlich werden, bildet aber ebenso gut den Unter - grund auch des höchsten sittlichen Thuns. Die Frische der sinnlichen Energie nimmt mit gesunder Entwicklung der ge - samten Aktivität keineswegs ab, sondern muss sich stets auf ihrer verhältnismässigen, normalen Höhe halten. Sittliche Stärke und sinnliche Kraft des Empfindens und Handelns stehen keineswegs in umgekehrtem, sondern in geradem Verhältnis: der sittlich Schlaffe geht, so ausschliesslich er mit seinem sinn - lichsten Triebleben beschäftigt sein mag, dennoch gerade der gesundesten Energie der Sinnlichkeit verlustig. Wie die Pflanze sich in kraftvollem Wuchs über dem Erdboden nur dann er - hebt, wenn sie zugleich ihre Wurzeln mächtig in ihn hinein ausbreitet, so geht natürliches und sittliches Wachstum nor - malerweise Hand in Hand. Darum kann es auch niemals sittliche Aufgabe sein, das Triebleben zu entwurzeln, sondern nur, es zu reinigen oder zu heiligen, dabei aber, ja eben da - durch soweit nicht notgedrungen, um anderer, höherer Zwecke willen, darauf zu verzichten ist es in seiner ge - sunden Kraft zu erhalten.

Hier besonders stellt sich die ethische Wichtigkeit der physischen Erziehung heraus. Doch darf nie übersehen werden, dass auch dabei auf die Herrschaft des Bewusstseins zuletzt alles ankommt, und das Physische als blosses Mittel dem sittlichen Zweck immer untergeordnet bleiben muss. Wie es sich ihm unterordnet, wird bei der Erörterung der zweiten und dritten Stufe der Aktivität vollends klar werden.

§ 8. Zweite Stufe der Aktivität: Wille im engern Sinn.

Deutlich hebt sich nun schon der Wille in eigentlicher Bedeutung vom blossen Trieb dadurch ab, dass nicht mehr Eines allein unser Streben widerstandslos gefesselt hält, dass wir also nicht mehr unter dem unentrinnbaren Zwange einer einzigen Tendenz stehen oder zu stehen vermeinen, sondern uns58 vergleichend, abwägend darüber stellen, mit Freiheit entscheiden, annehmen oder verwerfen, mithin urteilen; dem Triebe uns nicht mehr blind unterwerfen, sondern uns bewusst sind ihm entgegenhandeln, ja ihn umlenken zu können; nicht mehr uns von ihm die Richtung weisen zu lassen, sondern sie ihm zu diktieren.

So wird klar, wie zwar der Trieb Voraussetzung des Willens, Wille aber darum nicht lediglich Trieb ist. Soll ich wählen, so fragt es sich nach der Norm, wonach ich mich richte, nach der Maxime meines praktischen Urteils, nach Wahrheit und Falschheit; dann tritt die praktische Besinnung in ihr Recht, ist die Aufgabe gestellt für praktische Erkennt - nis; und eine unendliche Entwicklung steht offen.

Daher erschien nicht wenigen und nicht den schlechtesten Philosophen geradezu als Kriterium des Wollens die leitende Einsicht. Völlig richtig, sofern nur nicht ausser acht ge - lassen wird, dass es praktische Einsicht sein muss; dass es nicht auf blossen Scharf - und Weitblick des Verstandes, son - dern auf eine der Einsicht unmittelbar inwohnende Energie ankommt, mit der sie, auch mächtig gegenwirkenden Tenden - zen zum Trotz, die Aktivität in die Richtung zu lenken ver - mag, für die das praktische Urteil entschied. Schon dieses ist ja vom theoretischen scharf unterschieden. Ein Sollen er - giebt sich niemals als einfache logische Folge aus dem er - kannten Sein; das Sollen schliesst bereits die Tendenz in sich und könnte ohne schon zu Grunde liegende Tendenz gar nicht mit innerer Wahrheit ausgesagt, höchstens nachgesprochen werden ohne wirkliche Ueberzeugung.

Aus welchem Quell nun diese aktive Energie ihre Nahrung zieht, welche mit der praktischen Erkenntnis zu - gleich die Thatkraft des Wollens erzeugt, das muss dem, der von empirischen Voraussetzungen ausgeht, wohl als die eigentlich entscheidende Frage der Willensbildung erscheinen. Die gewöhnliche, seit Hume so beliebte Antwort aber: dass nur die Macht anderer Triebe die Gewalt eines bestimmten, augenblicklich herrschenden Triebes brechen könne, da doch blosse, uninteressierte Vernunft keine solche Energie aufzu -59 bringen imstande sei, befriedigt nicht; sie ist sogar geeigneter die wahre Schwierigkeit aus den Augen zu rücken als sie zu lösen. Man ist bei dem Wort Trieb allzu geneigt an die sinnliche Stufe allein zu denken, die ganze weitreichende, ja allumfassende Bedeu - tung, die der Tendenz im höheren Bewusstseinsleben zukommt, zu übersehen oder doch zu unterschätzen, nämlich darin allen - falls verblasste, entkräftete Nachwirkungen, Erinnerungsbilder ehemals sinnlicher Triebe zu sehen, die gegen die frische Ener - gie gegenwärtig lebendiger Triebe natürlich wenig vermöchten. Versteht man dagegen unter Trieb jedwede Tendenz, also auch die der praktischen Einsicht selbst als praktischer schon zu Grunde liegende, so sagt der Satz zwar Richtiges, aber in so dunkler und unbestimmter Weise, dass man über ein Gefühl von Unsicherheit nicht hinauskommt.

Von unseren Voraussetzungen aus ist die Antwort nicht schwer; sie ist eigentlich schon gegeben. Das Rätsel der eige - nen Bedeutung des Wollens löst sich uns darin auf, dass der Wille die praktische Objektsetzung besagt. Die Vor - stellung des Gegenstandes als eines seinsollenden, so verschie - den auch von der des seienden Gegenstandes, hat doch nicht minder als diese die Bedeutung einer für sich gültigen, dem empirischen Subjekt mit unbeugsamem An - spruch gegenübertretenden Setzung. Diesen Sinn des Willens, als des entschiedenen Vorsatzes einer Sache, ignoriert ganz, wer im Willen bloss die Resultante einer ge - gebenen Summe gleichzeitig, jedoch blind wirkender Triebe sieht. Kein Zweifel, dass zur Entschlossenheit des Vorsatzes eine Energie bereits erfordert wird, die nur aus einer voraus vorhandenen, auch wohl schon irgendwie wirksamen Tendenz abgeleitet werden kann. Aber das entschiedene Uebergewicht dieser nunmehr zum Willensinhalt erhobenen Tendenz über jede andere, bloss in Form des willenlosen Triebs vorhandene bleibt auf jene Art ganz unerklärt. Geht man, nach dem Vorurteil des Sensualismus, immer vom Trieb in seiner sinn - lichen oder gar bloss physischen Form aus, in der Meinung, dass sich daraus alles verstehen lassen müsse, so ist die Er - klärung schlechterdings unmöglich. Es würde richtiger sein,60 wenn man auf dieser Voraussetzung einmal zu verharren ent - schlossen ist, die selbständige Bedeutung des Willens ganz zu leugnen. Statt dessen glaubten wir den sinnlichen Trieb als blossen Spezialfall einer ganz allgemeinen Bewusstseins - form zu erkennen. Tendenz ist an allem Bewusstseinsleben innigst beteiligt; sie partizipiert mit besonders starkem Ein - satz an dem Einheitsstreben der Erkenntnis, welches die Wurzel aller Objektsetzung, auch der praktischen ist. Hält man das fest, so kann man nichts Unbegreifliches mehr in der These finden, dass der Wille damit allein, dass er das Gewollte als Objekt setzt, die ihn vom willenlosen Trieb unterscheidende Festigkeit d. i. beharrende Einheit der Bewusstseins - richtung, und damit die ihm eigene, der des willenlosen Triebs unbedingt überlegene Energie erreicht. Wille ist so - mit konzentrierter Trieb, konzentriert durch die einigende Kraft des Bewusstseins, dieselbe, die die Objektsetzung des Willens begründet. So ist die theoretische Objektvorstel - lung immer noch Vorstellung, aber konzentrierte Vorstellung, die sich eben dadurch von der schweifenden, subjektiven scharf abhebt und den unbedingten Vorrang vor ihr behauptet.

So ist es also nicht bloss ein gewagtes Paradoxon des platonischen Sokrates: dass praktische Einsicht (φρόνησις), wo sie im Menschen wirklich vorhanden, notwendig das Herrschende ist und keineswegs (wie man also damals schon verfocht) von Lust, Unlust, Zorn, Begier, Abneigung, kurz den sinnlichen Trieben wie ein Sklave hin und her gezerrt wird. Sie be - hauptet die Herrschaft (so erklärt es Plato), indem sie die Macht des Scheins bewältigt, der uns in die Irre treibt und zu fortwährendem Selbstwiderspruch nötigt, und der Seele Ruhe schafft im Verharren bei dem Wahren; d. i. durch Konzentration im Bewusstsein. Darin liegt nichts Unmögliches oder auch nur Schwieriges, nichts was aus dem sonst bekann - ten Zusammenhang der psychischen Vorgänge herausfiele.

Und so stimmt es vor allem mit den Thatsachen überein. Es ist doch nichts so Unbekanntes oder Unerhörtes, dass dem Menschen, der überhaupt einen Willen hat, die Sache, worin immer er sie sehen mag, mehr gilt als die Person, auch die61 eigene; dass er der Sache, die er zu der seinigen gemacht hat, sich selbst und seine gegenwärtige oder absehbare Befriedigung ohne Bedenken zum Opfer bringt; nicht indem er seine Per - sönlichkeit wegwirft, zu nichte macht, sondern vielmehr sie mit ganzer Kraft für die Sache einsetzt.

Man braucht dabei gar nicht an heroische Thaten zu denken, wie sie von ausserordentlichen Menschen in ausser - ordentlicher Lage vollbracht werden. Sehr hervorstechende Beispiele bietet schon der gemeine Soldat, Lokomotivführer, Feuerwehrmann u. s. w. Er wägt im kritischen Augenblick nicht erst ab, was er einsetzt und was er etwa gewinnen kann, wenn er seine Pflicht thut oder wenn nicht. Er riskiert im einzelnen Fall vielleicht nicht einmal Ehrverlust oder Gewissens - bisse, wenn er vorzieht nur sich selbst in Sicherheit zu bringen. Dennoch wird man die grosse Ueberzahl ohne Wanken den Weg der Pflicht gehen sehen; und man glaubt dabei mit allem Recht, gar nichts mehr als seine Schuldigkeit zu thun. Es gehört dazu in der That keine Heldennatur, sondern nur das Geringe, dass man ein ehrlicher Kerl, d. h. ein Mensch von leidlich gradwüchsigem Charakter ist. Derselbe Mensch unter - liegt vielleicht einer viel weniger ernsten Versuchung, z. B. zu Unwahrheit um vermeinten, geringfügigen Vorteils willen. Es ist, wie mir scheint, ein starker thatsächlicher Irrtum vieler Moralisten, dass dem Menschen das Leben und was es gemein - hin bietet, sonderlich hoch im Preise stände. Auch die andre Meinung irrt augenscheinlich, dass, wenn etwas, allein die Angst vor Ehrverlust oder Gewissenspein über den Lebenstrieb den Sieg behielte. Es genügt dazu vielmehr das Einzige: der feste Glaube an eine Sache, und sei es die thörichtste, ja schlechteste von der Welt. Der gemeine Ehrtrieb ist selbst nur ein Beispiel davon; auch was man gewöhnlich nennt: sich ein Gewissen aus etwas machen, ist nicht viel Anderes als die oft sehr unbestimmte, schwach begründete Vorstellung von etwas, das man unbedingt thun oder lassen und dagegen auch den lebendigen eigenen Trieb (der vielleicht ganz im Recht ist) bezwingen müsse. Die dabei leitende Einsicht mag einen sehr beschränkten Horizont haben, die Konsequenz nur der62 Eigensinn eines ersten Irrtums sein, der unfehlbar die ganze, von da ab richtig geführte Rechnung verfälscht; es ist darum noch immer Wille, der auch in diesem Fall seine Macht über den willenlosen Trieb beweist. Mit Sittlichkeit hat das noch wenig zu thun; der blosse Wille ist sittlich so indifferent wie der blosse Trieb, an sich des Bösen so gut fähig wie des Guten. Es hätten daher ebenso gut Beispiele eines auf ganz unsittliche Ziele gerichteten, wenn nur unerschütterlich ent - schlossenen Wollens angeführt werden können. Auch der Ver - brecher setzt seine ganze verwegene Thatkraft oft weit weniger an die Befriedigung einer Lust oder den Gewinn eines bestimm - ten persönlichen Vorteils als an die Verwirklichung einer schlimmen Einbildung; es ist sehr oft nur perverse Anwendung einer Kraft, die, auf richtigere Ziele gelenkt, Grosses zuwege gebracht hätte. Was sind denn die Grossen der Geschichte oft anders als höchst besonnene und willensstarke Verbrecher!

Hieraus ist denn schon klar, dass die Erhebung von der Stufe des blinden Triebs zu der des zielsichern Wollens keines - wegs notwendig auch die Erhebung zur Höhe des vernünf - tigen d. i. des sittlichen Wollens bedeutet. Der Wille im eigentlichen Sinne gehorcht zwar, nach Kants richtiger An - nahme, jederzeit einer Maxime , aber die Maxime taugt nicht immer zu einer allgemeinen Gesetzgebung . Sie behält zu - nächst ganz den Charakter des Empirischen; der Wille bleibt auf ein bestimmtes empirisches Objekt, einen Gegenstand des Triebs, vorerst ausschliesslich gerichtet. Darum fehlt ihm zwar nicht das Moment der Form. Es tritt deutlich zu Tage in der bewusst festgehaltenen Einheit der Bewusstseinsrichtung, ohne die die bewusste Setzung eines Objekts als eines sein - sollenden nicht möglich wäre. Sogar die unbedingte Setzung schlummert darin, wenngleich irrtümlich ein Empirisches als unbedingtes Ziel aufgestellt wird. So beweist der empirische Forscher, wenn er auch darin irrt, dass er ein bloss empirisches Gesetz für ein unbedingtes nimmt, doch selbst in diesem Irrtum, dass es das Unbedingte ist, das seine Forschung schliesslich sucht und meint. Aber in der bewussten Erhebung zum Standpunkte des Unbedingten, nämlich unbedingt Gesetzlichen,63 tritt erst die Eigentümlichkeit der praktischen Objektsetzung unvermischt zu Tage. Sie muss also, als letzte und höchste Stufe der Aktivität, von der des blossen Willens unter - schieden werden. Wir zeichnen sie aus durch die nähere Bestimmung des Willens zum reinen oder Vernunftwillen.

§ 9. Dritte Stufe der Aktivität: Vernunftwille.

Schon der Name, den wir der dritten Stufe der Aktivität geben, will andeuten, dass diese die zweite, den Willen, eben - so in sich schliesst, wie der Wille den Trieb. Das Verhältnis der drei Stufen ist dieses: Trieb bezeichnet nur das Vorhanden - sein einer Tendenz überhaupt, d. h. Richtung der Aktivität auf irgend ein Ziel, ohne Bewusstsein einer streng festzuhalten - den, jede Ausweichung verbietenden Einheit der Richtung; auf der Stufe des Willens tritt dies Bewusstsein hinzu, es fehlt aber noch die Einsicht, dass, wie wir früher sagten, jede Rich - tung ins Unendliche weist, es fehlt die Messung des einzelnen, empirischen Wollens an dem nicht mehr empirischen Ziel des unbedingt Seinsollenden; die dritte Stufe fügt noch dies hinzu; die Beziehung aufs empirische Objekt bleibt zwar, aber das Bewusstsein des Wollenden haftet nicht mehr an diesem, son - dern erhebt sich darüber zum schlechthin übergeordneten Stand - punkt des unbedingt Gesetzlichen. Das empirische Objekt wird mit ausdrücklichem Bewusstsein nur bedingt gewollt, d. h. um eines ferneren und ferneren Zweckes willen, der, solange er noch im Bereiche der Erfahrung liegt, wieder nur bedingt gewollt, zuletzt aber aufs Unbedingte, als das wahre, obgleich unend - lich ferne Ziel bezogen wird. Praktische Vernunft ist also an sich nicht empirisch, wohl aber findet sie Anwendung aufs empirische Wollen, und hat abgesehen von dieser Anwendung keine Bedeutung, ausser als Abstraktion zum Behufe der blossen Theorie. Es ist der Gewinn unsrer vorausgeschickten Betrachtungen, dass diese Anwendung, in der man so grosse Schwierigkeiten gesucht hat, jetzt kaum mehr einer besonde - ren Erklärung bedarf.

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Für den Vernunftwillen ist also in der That, so wie Kant wollte, das reine Formgesetz des Willens maassgebend. Da dieses über alles Empirische hinausgeht, so kann sich der Ver - nunftwille freilich niemals empirisch beweisen, auch nicht durch eben die That, in der er sich auszuprägen sucht und schein - bar empirische Gestalt annimmt. Wir beurteilen allerdings die Gesinnung nach der Handlung, wissen aber sehr wohl, dass diese nur ein unsicherer Zeuge derselben ist. Nur der Blick des Selbstbewusstseins ist unendlich, d. h. durch keine end - liche Schranke schlechthin eingeschränkt. Vor dem Forum des eigenen Bewusstseins aber erweist sich das Vernunftgesetz mächtig, ja unbedingt herrschend in dem unerbittlichen Ge - richt über unser empirisches Thun. Ob es je die Kraft hat unser thatsächliches Wollen ganz in die Richtung zu zwingen, die es ihm vorschreibt, mag nicht bloss Andern, sondern am allermeisten uns selbst zweifelhaft bleiben; empirisch beweisen lässt es sich, wie gesagt, niemals; so bleibt ihm dennoch die praktische Wirkung, dass nach seinem Ausspruch das, was wir thaten, unbedingt hat sein sollen oder nicht sein sollen, dass es recht war oder verkehrt, gut oder schlimm, dass ich selbst vor mir selber, mein empirisches Subjekt vor der bessern Person in mir, wie Kant sagte, bestehen kann oder nicht. Ich denke aber, dass das eine mächtige praktische Wir - kung ist.

Woher kommt nun dem Vernunftwillen diese Obmacht, die ihm erlaubt, auch unser bestes empirisches Thun für un - zureichend zu erklären; von unsrem empirischen Wollen zu verlangen, dass es bei keinem empirischen Ziel jemals verharre?

Unsern Voraussetzungen entsprechend werden wir ant - worten müssen: diese Gewalt kommt der Vernunft einzig und allein aus der Einheit, in der sie gleichsam das ganze prak - tische Vermögen in seinem letzten Grunde, im Selbstbewusst - sein, zusammenfasst. Wie Wille konzentrierter Trieb, so ist Vernunftwille höchste Konzentration des praktischen Vermögens überhaupt; und diese Konzentration ist die Wurzel seiner Kraft.

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Doch ist damit die Frage noch keineswegs aufgelöst, son - dern erst in bestimmterer Form gestellt. Vergeblich fordert man vom Schwächling, dass er sich konzentriere oder, wie unsere Sprache es gut bezeichnet, sich zusammennehme . Genau das ist ja seine Schwäche, dass er das nicht kann. Vielmehr, wie diese Forderung offenbar die höchste, so werden auch die grössten Voraussetzungen dazu gehören; diese haben wir jetzt zu untersuchen. Es fragt sich also: gegeben Trieb und Wille, auf welchem Wege gestaltet sich daraus Vernunft - wille?

Zum sicheren Ausgangspunkt dient uns die bereits ge - wonnene Einsicht, dass die Gestaltung der Willenswelt unter Leitung des Vernunftgesetzes in genauer Verknüpfung stehen muss mit der Gestaltung der empirischen Objektwelt unter Leitung des Erfahrungsgesetzes. Auf der untersten Stufe der Entwicklung ist beides kaum von einander zu scheiden; weiterhin tritt eine gewisse Differenzierung zwar ein, aber die Wechselbeziehung dauert fort, und diese Beziehung ist, bis zu den höchsten Stufen hinauf, mehr als blosse Analogie.

Die drei Stufen: Trieb, Wille, Vernunftwille, entsprechen auf praktischem Gebiet genau drei Stufen der empirischen Vorstellung: erstens Vorstellung schlechtweg, die zwar ihren Gegenstand hat, aber noch nicht das Bewusstsein gegenständ - licher Geltung einschliesst; zweitens bewusst objektivierte Vor - stellung, doch ohne radikale Begründung in den Grundgesetzen des Erkennens; drittens prinzipiell und methodisch begründete, also wissenschaftliche Objektvorstellung, empirische Objekt - erkenntnis. Die fortschreitende Konzentration des Bewusst - seins, die zugleich Erweiterung des Horizonts bedeutet, regiert dort wie hier den Fortschritt. Wie sich Vorstellung durch Vorstellung entwickelt, die Vorstellungen auf dem sich stetig erweiternden Blickfeld des Bewusstseins einander begegnen, in Widerstreit geraten, Ausgleich suchen müssen, und sich so zu immer tieferer, umfassenderer Einheit durchbilden, so begeg - nen sich auf dem Felde des praktischen Bewusstseins Tendenz und Tendenz; mit steigender Höhe des Bewusstseins vertragen sich weniger und weniger die in der Richtung nicht überein -Natorp, Sozialpädagogik. 566stimmenden, also auch nicht sich gegenseitig fördernden Ten - denzen, die anfangs, indem jede nur mehr für sich zur Geltung kam, streitlos neben einander hergehen konnten. Treffen sie aber erst auf einander, so muss ein Ausgleich gesucht werden; und jeder gefundene Ausgleich ist ein neuer Sieg der Bewusst - seinseinheit, festigt die Tendenz zur Einheit überhaupt, erhöht die Energie dieser Tendenz für jeden folgenden Zusammenstoss. Und so entspricht sich auch das letzte Ergebnis der Entwick - lung dort und hier: so wie im Fortgang der Erfahrung jede Antwort neue Fragen hervortreibt, jede gefundene Lösung neue Aufgaben stellt, bis die Erwartung letztgültiger Erklärungen grundsätzlich preisgegeben, der Fortschritt der theoretischen Erkenntnis als notwendigerweise unendlich, in dieser Unend - lichkeit aber streng gesetzmässig erkannt wird, so ist das Endergebnis der praktischen Erfahrung die Einsicht in die Unendlichkeit der Aufgabe der praktischen Erkenntnis, die völlige Zerstörung des anfänglichen naiven Glaubens an ein empirisch erreichbares letztes Ziel, zugleich mit dem sicheren Bewusstsein eines möglichen Fortschritts von fester Richtung, nach einem ewigen Ziele hin.

Nun aber wissen wir schon, dass diese durchgängige Ana - logie eine wurzelhafte Einheit des theoretischen und prakti - schen Bewusstseins zur Voraussetzung hat. Das tritt in voller Klarheit hervor, wenn erst die Grundtendenz zur Einheit in der Entwicklung des gesamten aktiven Vermögens so weit herrschend geworden ist, dass auf den Ausbau einer Welt der Zwecke mit Bewusstsein hingearbeitet wird. Der Na - turboden der Entwicklung menschlichen Wollens kann dann keinen Augenblick mehr verkannt werden. Dadurch wird der Wille nicht etwa auf eine tiefere Stufe herabgesetzt, mate - rialisiert, vielmehr umgekehrt das ganze Gebiet der Er - fahrung, die Natur, zugleich in das Blickfeld des praktischen Bewusstseins, der Idee gerückt, d. i. idealisiert.

Das ist die grosse Bedeutung der Technik, deren Be - griff, wie nach Sokrates*)Vergl. des Verf. Darstellung, Philos. Monatsh. Bd. XXX S. 356 ff. nicht wieder hätte vergessen67 werden sollen, in eine konkrete Ethik unerlässlich hineingehört. Ist die Technik einerseits, als Anwendung von Naturkräften auf naturgegebenen Stoff, zweifellos rein theoretisch, nämlich naturwissenschaftlich zu begründen, so stellt sie nicht minder wesentlich andrerseits die Naturkraft in den Dienst menschlicher Zwecke. Kein menschlicher Zweck aber kann ausser Beziehung bleiben zu dem höchsten menschlichen Zweck: dem Menschen selbst, oder der Menschen bildung; und diese ist, dem regie - renden Prinzip nach, Willensbildung. Zielt nun schliesslich alle Theorie auf Technik, so ist klar, wie alles theoretische Bewusstsein ausnahmslos zugleich eine Beziehung aufs praktische gewinnen und sich ihm schliesslich unterordnen muss. Um - gekehrt bleibt das praktische Bewusstsein aufs theoretische seinem ganzen Stoff nach angewiesen; seine Entwicklung, die successive Durchdringung des Stoffs mit der Form des prak - tischen Bewusstseins ist durchaus gebunden an die Entwick - lung des theoretischen Bewusstseins, da ja dieses allein ihr den Stoff bietet. Die Grenze zwischen beiden wird aber dabei nicht verwischt; blosse theoretische Erkenntnis ist noch nicht Wille, giebt auch nicht den Willensinhalt; aber der Er - kennende ist zugleich der Wollende; er vermöchte nicht Er - kenntnis zu entwickeln als indem er Willen entwickelt und umgekehrt. Es ist hier eine unauflösliche, innerlich oder, wie früher gesagt, zentral begründete Einheit anzuerkennen, wo mit Unrecht eine starre Dualität angenommen wird.

So zeigen sich also die äussersten Enden, Stoff und Form des Willens, derart ursprünglich auf einander bezogen, dass sich, je klarer das Formgesetz des Willens zum Bewusstsein kommt, um so sicherer und vollständiger aller Stoff der Erfahrung ihm unterordnen muss.

Allein damit ist unsere Frage doch erst zu einem Teil aufgelöst. Es erfordert jetzt noch eine besondere Betrachtung, wie denn eben dieser tiefste Quell der Willensbildung sich erschliesst; wie das Selbstbewusstsein im Menschen, und zwar als praktisches, nicht bloss theoretisches, erwacht und zu sicherer Herrschaft gelangt.

Es mag im ersten Augenblick paradox erscheinen, bestätigt68 sich aber bei näherer Untersuchung je mehr und mehr: dass sich ein Selbstbewusstsein im Menschen nur entwickelt im Wechselverhältnis von Bewusstsein und Bewusstsein; folglich nur in und mit der Entwicklung der Beziehungen, die aus dem empirischen Bewusstsein des einzelnen Subjekts hinaus, zur Gemeinschaft hinüberreichen.

Damit scheint ein ganz neuer Faktor in die Rechnung eingeführt, ja ein neuer Grundbegriff aufgestellt zu werden. Es wird sich fragen, wie dieser mit den bisher nachgewiesenen Voraussetzungen zur Theorie der Willenserziehung innerlich zusammenhängt; woraus zugleich sich ergeben muss, ob sein Einfluss sich etwa bloss auf diese höchste Stufe des Willens erstreckt, oder schon von der untersten Stufe des Trieblebens an wirksam ist.

Jedenfalls besteht zwischen den Begriffen Gemeinschaft und Erziehung ein nicht bloss äusseres Verhältnis. Scheint es doch, dass Erziehung, soweit sie nicht bloss Selbsterziehung ist, in dem Elemente der Gemeinschaft ganz und gar lebt; dass sie auf der Gemeinschaft, mindestens der des einzelnen Erziehers und Zöglings, schon ihrem Begriff nach beruht. Und nicht minder sicher ist das Ziel der Erziehung, jedenfalls eins ihrer wichtigsten Ziele, die Tauglichkeit nicht nur zum Leben in der Gemeinschaft, sondern zur eigenen Teilnahme am Auf - bau einer menschlichen Gemeinschaft. Die Untersuchung dieser wichtigen Beziehungen möge denn unsere Grundlegung zum Abschluss bringen.

§ 10. Erziehung und Gemeinschaft. Sozialpädagogik.

Der Mensch wird zum Menschen allein durch mensch - liche Gemeinschaft. Um sich davon auf kürzestem Wege zu überzeugen, vergegenwärtige man sich, was wohl aus ihm würde, wenn er ausser allem Einfluss menschlicher Gemein - schaft aufwüchse. Es ist gewiss, dass er dann zum Tier herabsinken, dass wenigstens die eigentümlich menschliche An - lage sich nur äusserst dürftig, nicht über die Stufe einer aus - gebildeteren Sinnlichkeit hinaus in ihm entwickeln würde.

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Aber der Mensch wächst nun nicht vereinzelt auf, auch nicht bloss der eine neben dem andern unter ungefähr gleichen Bedingungen, sondern jeder zugleich unter vielseitigem Einfluss andrer und in beständiger Rückwirkung auf solchen Einfluss. Der einzelne Mensch ist eigentlich nur eine Abstraktion, gleich dem Atom des Physikers. Der Mensch, hinsichtlich alles dessen, was ihn zum Menschen macht, ist nicht erst als einzelner da, um dann auch mit andern in Gemeinschaft zu treten, sondern er ist ohne diese Gemeinschaft gar nicht Mensch.

So wie die Sozialwissenschaft das vergass, wenn sie die Gesellschaft aus einer bloss äusseren Verbindung zuvor isoliert gedachter Einzelner zu erklären unternahm; wie die Ethik es übersah, so oft sie aus dem Egoismus, als, wenn nicht über - haupt einzigem, doch einzig ursprünglichem und selbstver - ständlichem Trieb im Menschen, dessen sittliches Leben und Denken durch irgend eine Entwicklung hervorgehen liess; so muss auch die Erziehungslehre in wichtigen Hinsichten ihre Aufgabe verfehlen, wenn sie nicht als Grundsatz erkennt und an die Spitze stellt, dass Erziehung ohne Gemeinschaft über - haupt nicht bestände. Selbst ohne das Bedürfnis einer tieferen Ableitung dieses zwingenden Verhältnisses beider Begriffe hätte die Frage als eine der ersten in der Pädagogik aufge - worfen werden müssen: wie unter dieser nun einmal grund - wesentlichen Voraussetzung des Lebens in menschlicher Ge - meinschaft die Bildung des Menschen, insbesondere des menschlichen Willens, sich gestalten müsse. Hier aber ist es um eine reine Ableitung der fundamentalen Begriffe der Willenserziehung zu thun. Daher müssen wir nach der letzten Begründung dieses thatsächlich unzweifelhaft bestehen - den Verhältnisses zwischen Erziehung und Gemeinschaft fragen.

Nicht als wäre nach tief verborgenen metaphysischen Gründen dafür zu forschen, dass überhaupt eine Vielheit be - wusster Existenzen, und unter diesen ein Verkehr stattfindet; eine Frage, die vom kritischen Wege unsrer Untersuchung weit abliegt und überhaupt zur Zeit keine Aussicht irgend einer wissenschaftlichen Beantwortung bietet. Nicht nach Existenz -70 gründen der Gemeinschaft, sondern danach forschen wir, was sie dem Bewusstsein inhaltlich bedeute.

Dem Individualbewusstsein als solchem ist Einzigkeit, Sonderung von jedem andern wesentlich; es kann niemals in ein andres gleichsam hinüberreichen oder auf irgend eine Weise mit ihm eins werden. Aber, wer darauf ausschliesslich den Blick geheftet hielte, würde nicht nur zum ethischen Egois - mus, sondern notwendig zum theoretischen Solipsismus kommen. Nun aber handelt es sich um das Bewusstsein seinem Inhalt und der ihn erzeugenden Gesetzlichkeit nach. Diese ist von Haus aus für alle eine und dieselbe. Folglich giebt es keinen reinen, d. i. gesetzmässig erzeugten Inhalt des Be - wusstseins, der des Einzelnen ausschliessendes Eigentum wäre: Also: aller echte Bildungsinhalt ist an sich Gemeingut. Es ist ein gründlicher Irrtum, man möchte es eine Art Sinnes - täuschung nennen, wenn man irgend einen geistigen Besitz sich als ausschliessliches Eigentum zurechnet. Der ego - zentrische Standpunkt der Kosmologie, welcher die unendlichen Welten um den Beschauer sich drehen lässt, der seinen zu - fälligen Standort zur absoluten Grundlage seines Urteils macht, ist nicht naiver oder irrtümlicher als jener egozentrische Stand - punkt der Bildung, der heute von so manchem als tiefe und wohl gar neue Philosophie angestaunt wird. So sicher der äussere Kosmos in seinem Aufbau und dem Wechsel seiner Erscheinungen einem Gesetze folgt, das nach keinem zufälligen Standpunkt des Beobachters fragt, so sicher unterliegt der Auf - bau und die aufsteigende Entwicklung der inneren Welten der Erkenntnis, der Sittlichkeit und selbst der Kunstgestaltung Gesetzen, die unterschiedslos dieselben für alle sind. Und wenn es je ein eigener Ausschnitt aus diesen Welten ist, der dem Einzelnen sichtbar wird, so besteht die Eigenheit seiner individuellen Ansicht, analog der Eigenheit des Bildes, das ein jeder seinem Standort gemäss vom Universum erhält, nur in einer Einschränkung des unermesslichen Inhalts der mensch - lichen Bildung, der, an sich derselbe, für alle zur Aneignung gleichsam bereit steht, und auf den alle solche zufälligen Ansichten sich wesentlich und unerlässlich zurückbeziehen. 71Ueber diese Beziehung hinwegsehen heisst sich bornieren; sie erkennen und zur Höhe dieser Gemeinschaft des geistigen In - halts sich bewusst erheben heisst sein Selbst erweitern und ihm den höchsten für Menschen erreichbaren Wert zuteilen. Es ist traurig, diese einfachen Wahrheiten nicht bloss aussprechen und von neuem betonen, sondern noch verteidigen zu sollen gegen den Wahn eines Paradoxenjägers, den man, in hartem Widerspruch mit seiner eigensten Absonderlichkeit, jetzt zum Philosophen umzuwerten bemüht scheint.

Erhebung zur Gemeinschaft ist Erweiterung des Selbst. Die Spontaneität, die echte Individualität der Bil - dung streitet damit überhaupt nicht. Sie ist die Errungen - schaft von Sokrates-Plato und Kant, eben den Männern, über die die Zeitphrase des Individualismus sich am hochmütigsten hinwegsetzt. Die Gesetzlichkeiten der Gestaltung alles In - halts unsres Bewusstseins und also unsrer Bildung sind Ge - setzlichkeiten des Bewusstseins selbst: das ist der Individualis - mus echter Bedeutung. Aber dieser schliesst die Gemein - schaft nicht aus, sondern führt zwingend zu ihr hin. Dagegen heisst es die wahre Individualität verkürzen und nicht sie befreien, wenn man ihr diese Beziehung zur Gemeinschaft nimmt. Es ist, wie wenn ich die Freude, aus meinem Fenster ins Weite hinauszublicken, vertauschen sollte gegen den Stolz der Einbildung, das alles, was ich draussen zu sehen vermeinte, seien in Wahrheit Gemälde an den Wänden meines Zimmers.

Der letzte Grund dieser Bedeutung der Gemeinschaft aber ergiebt sich auf gradem Wege aus unsern ersten Voraus - setzungen. Kontinuität ist das Urgesetz des Bewusstseins; dasselbe bewährt sich auch im Wechselverhältnis Mehrerer. Bewusstsein und Bewusstsein schliessen sich nicht aus, sondern schliessen sich vielmehr zusammen kraft der dem Bewusstsein als solchem eigenen Tendenz zur Einheit, nämlich zur Ein - heit der Idee.

Wie es überhaupt die Funktion des Bewusstseins ist, Einheit zu stiften; wie irgendwelcher empirische Stoff, sobald er wahrhaft vom Bewusstsein aufgenommen und durchdrungen72 wird, mit allem dem Bewusstsein gegenwärtigen oder erreich - baren Inhalt Zusammenhang, Verknüpfung in einer Einheit suchen muss; wie allemal die niederen, weniger umfassenden Einheiten, deren jede gleichsam ihren eignen Mittelpunkt hat, unter höheren und höheren Vereinigungspunkten sich wieder - um zusammenfassen, und so eine allgemeine Tendenz entsteht auf eine letzte, allbefassende Einheit; so muss dies nämliche Gesetz sich bewähren gleichsam im Zusammentreffen zweier individuell verschiedenen geistigen Welten, d. i. in jeglichem geistigen Verkehr. Denn diese unterschiedlichen Welten bauen sich aus gleichem Stoff und nach denselben Formgesetzen, vermöge derselben Grundkraft der Vereinigung, der Synthesis des Mannigfaltigen auf. Es mag nun die eine ausgebildeter, weiter ausgedehnt und wiederum konzentrischer geeint sein als die andre, oder in bestimmten Richtungen ausgebildeter, in andern weniger u. s. f.; weil aber doch die Grundkraft der Gestaltung in allen dieselbe, in der unbegrenzten Anwendung auf andre und andre Gebiete immer gleichartig und in der Wurzel zusammenhängend ist, so bleibt keine dieser ver - schiedenen Welten gegen die andre verschlossen, sondern ver - mögen sie wie in eine einzige zusammenzugehen; so können ihre Zentren oder Vereinigungspunkte, die untergeordneten und die übergeordneten bis zu den höchsten hinauf, gleichsam zur Deckung gebracht werden; so kann, was im Einen nur begonnen oder nur überhaupt angelegt war, dadurch, dass er es im Andern vollendet erblickt, auch in ihm sich vollenden; so kann, mit einem Wort, wirkliche Bildung, d. i. spontan gestaltende Bewusstseinsthätigkeit und nicht bloss toter Stoff sich mitteilen; wie nur selbständiges Leben wiederum Leben erzeugt.

Und also folgt aus der Gemeinsamkeit des Bildungs - inhalts zugleich die Möglichkeit einer Gemeinschaft der allen Inhalt gestaltenden, mithin aller bildenden Thätigkeit. Nur deshalb ist zuletzt der sich gestaltende Inhalt derselbe, weil die gestaltende Thätigkeit, weil die Gesetzmässigkeit der Gestaltung für alle dieselbe ist. Und also muss sich die Ge - meinschaft gerade auf das Formale dieser gestaltenden Thätig -73 keit erstrecken. Ja, gerade die selbstthätige Gestaltung des Inhalts in Denken und Gesinnung, die uns im Andern ent - gegentritt, ergreift unmittelbar das eigene Bewusstsein und setzt die eigene Selbstthätigkeit in Bewegung. Wer je vom Andern gelernt hat, wem je etwas klar wurde, indem er sehen lernte mit demselben Blick, mit dem zuvor der Andre sah und zu dem er ihn gleichsam hinaufzuheben wusste, dem muss dieser Sinn der bildenden Gemeinschaft klar sein, und er muss erkennen, wie alle Lehre, alle Erziehung, alle Bildung des In - tellekts wie des Willens gänzlich hierauf beruht. Hier ist nicht die Rede von einem Einpflanzen von aussen und andrer - seits passiver Entgegennahme. Die intensivste Förderung durch den Andern bedeutet vielmehr zugleich intensivste Selbstthätig - keit und umgekehrt. Der Empfangende sogar wird durch die Lebendigkeit seiner Empfängnis auch wieder zum Anregenden; das Geheimnis, dass wir durch Lehren lernen, durch Erziehen auch selber erzogen werden. Vielmehr wenn es nicht diese Gemeinschaft von Bewusstsein und Bewusstsein gäbe, so bliebe allein übrig, dass der Eine dem Andern den toten Stoff zu - schöbe und es ihm überliesse, ob und wie er ihn verarbeitete. Dann freilich würde das Lehren und Lernen notwendig zu dem verächtlichen mechanischen Treiben, zu dem nur beider - seitige Geistesträgheit es leider oft werden lässt.

Doch ist es noch nicht genug gesagt, dass das Lernen geschieht in einem Wechselverhältnis peripherischer Aufnahme und zentral vertiefender Verarbeitung eines dargereichten Stoffs. Denn zuletzt giebt es keinen dargereichten Stoff; in Form und Gesetz muss alles sich auflösen, was eigentlich ein Inhalt des Bewusstseins sein soll. Es ist hier nur ein Unterschied des Grades, von dem noch unfreien Verhalten zum Gegen - stande, in welchem dessen Abhängigkeit vom Formgesetz des Bewusstseins bloss nicht erkannt wird, bis zur Freiheit dieser Erkenntnis und damit vollen geistigen Beherrschung des In - halts. Der Bann der sinnlichen Thatsache, der sinnlichen Lust und Unlust, des sinnlichen Begehrens besteht nur so lange, als man an ihn glaubt; er weicht der Freiheit des Bewusst - seins, das sich über ihn erhebt, indem es auf die Abhängigkeit74 des vermeintlich Gegebenen der Sinnlichkeit vom Gesetz des Geistes sich besinnt.

Und auf diesen ganzen Stufengang der Befreiung des Be - wusstseins erstreckt sich nun jener Einfluss der Gemeinschaft. Er erstreckt sich selbst bis auf die sinnliche Wahrnehmung. Selbst eine menschliche Wahrnehmung würde sich im Men - schen nicht entwickeln abseits menschlicher Gemeinschaft. Denn diese Wahrnehmung schliesst eine ganz bestimmte Weise der Auffassung ein, die nicht von der Natur schlechthin dar - geboten, sondern vom Menschen nach seinen eigentümlichen Bedürfnissen und Fähigkeiten zustande gebracht und im Men - schengeschlecht nicht sowohl physisch vererbt, als vielmehr psychisch überliefert wird. Es wäre undenkbar, dass das Chaos der Eindrücke sich in eine geordnete Objektwelt umschüfe, wie es doch in jedem normalen Kinde in den ersten Lebensjahren vollbracht wird, wenn ein jedes von Anbeginn ausschliesslich auf seine individuellen Wahrnehmungen, Erinnerungen und er - gänzenden Vorstellungen angewiesen wäre; wenn nicht ein Commercium bestände, durch das der Erkenntniserwerb Andrer, zunächst der Umgebung des Kindes, durch deren Vermittlung aber der ganzen Vergangenheit des Menschengeschlechts ihm zugänglich würde. Die Vorstellung der umgebenden sinnlichen Welt ist Gemeinbesitz im inhaltvollsten Sinn; sie ist gemein - schaftlich, nicht bloss sofern jeder für sich sie im allgemeinen auf gleiche Art vollzieht, sondern sofern kein Einzelner sie vollziehen könnte ohne die Mitarbeit der Andern; ja auch nicht die ganze jetzt lebende Menschheit ohne die Errungenschaft der gesamten bisher dagewesenen. Für die Pädagogik ist diese Thatsache von einer so fundamentalen Bedeutung wie wenig andere; denn es gäbe gar keinen Anfang erziehender Thätigkeit ohne sie.

Besonders greifbar aber stellt sich dieser Sachverhalt dar in der menschlichen Sprache und ihrer unermesslichen Bedeutung für die menschliche Erkenntnis, für die Gestaltung eines menschlichen Bewusstseins überhaupt. Bedenkt man, wie unmittelbar und unauslöschlich uns die Dinge unserer Erkenntnis und alles, was wir daran zu erkennen glauben,75 die Farbe der menschlichen Sprache, der menschlichen Wort - begriffe trägt, wie wir selbst in der Absonderung von unsrer Umgebung im stillen einsamen Denken der Worte der Sprache uns fort und fort bedienen, also wenigstens die Fiktion der Mitteilung festhalten, so leuchtet wohl ein, wie unpsycholo - gisch, vollends unpädagogisch es ist, auch nur von der theo - retischen Bildung des Einzelnen zu reden ohne Berücksichti - gung dieser wesentlichen Bedingung, des Lebens in der Ge - meinschaft.

Ist aber das menschliche Bewusstsein schon in seiner sinnlichsten Gestalt durch die Gemeinschaft bedingt, so gilt - das Gleiche nur in erhöhtem Maasse vom menschlichen Selbst - bewusstsein. Es giebt kein Selbstbewusstsein und kann keines geben ohne Entgegensetzung und zugleich positive Be - ziehung zu anderem Bewusstsein; keine Selbstverständigung ohne die Grundlage der Verständigung mit Andern; kein sich selber Gegenübertreten, kein Selbsturteil ohne die vielfältige Erfahrung, wie Bewusstsein und Bewusstsein sich gegenüber - treten, wie der Eine den Andern beurteilt; nicht Frage noch Antwort, nicht Rätsel noch Auflösung, als Auftritte im Selbst - bewusstsein des Einzelnen, wenn nicht das alles zuerst vor - gekommen wäre im Wechselverhältnis der Individuen in der Gemeinschaft. Wie könnte ich mir selbst zum Du werden, wenn nicht erst ein Du mir gegenüberstände, in dem ich ein anderes Ich erkenne?

Das alles aber findet nicht nur ebenso, wie im theoretischen, auch im praktischen Gebiet Anwendung; vielmehr keine dieser Beziehungen ist jemals bloss theoretisch, sondern unmittelbar und unvermeidlich auch praktisch. Jede Gemeinschaft von Bewusstsein und Bewusstsein wirkt notwendig auch auf den Willen; jede menschliche Gemeinschaft ist notwendig in irgend - welchem Grade Willensgemeinschaft.

Gewiss ist das Wollen, und gar das reine Wollen, an sich schlechthin individuell; kein Andrer kann für mich Willen haben, für mich gut sein. Auch wirkt Gemeinschaft nicht in - sofern willenbildend, am wenigsten im sittlichen Sinne, als der Eine nur passiv unter dem Einfluss des Andern steht. Aber76 das ist es in der That nicht, was wir Gemeinschaft nennen. Wir verstehen darunter vielmehr, was ja auch das Wort an - deutet: dass man einen geistigen Besitz gemein hat und zu gleichen Rechten geniesst; nicht also der Eine mit seinem geistigen Inhalt in blosser Abhängigkeit vom Andern verharrt. Diese Abhängigkeit, wie sie wenigstens dem Kinde im Ver - hältnis zum Erwachsenen natürlich ist (auch da übrigens nicht in dem Grade stattfindet, wie Pädagogen gerne möchten), mag immerhin den Ausgangspunkt bilden; aber von Willensgemein - schaft, von Willensbildung durch Gemeinschaft kann eigentlich erst dann und genau so weit geredet werden, als der Eine dem Andern als Gleicher gegenübersteht und in freier Ueberein - stimmung mit ihm dasselbe wollen lernt; denn Wille im Voll - sinn des Worts bedeutet Selbstbewusstsein.

Wie sich aber dies in der Gemeinschaft gestaltet, kann gerade die Analogie der Entwicklung theoretischer Erkennt - nis in der Gemeinschaft, nämlich des Lehrenden und Lernen - den, uns klar machen. Diese besteht ja nach dem Gesagten nicht etwa darin, dass ich mit den Augen des Andern sehe, d. h. mir die Augen verbinde und mich der seinen statt der meinen bediene; das wäre etwa autoritatives Annehmen von Meinungen. Sondern ich muss die eigenen Augen gebrauchen, aber ihren Blick üben und lenken lernen, so wie der Andre ihn üben und lenken musste, um mich mit meinem eigenen Blick in seinen Blickpunkt versetzen zu können und so zu sehen, was er sieht, ich aber zuvor nicht sah. Das hatte Sokrates im Sinn, als er behauptete, es gebe gar kein Lehren und Lernen, sofern darunter verstanden wird ein Hinüberleiten, gleichsam Einschütten der Erkenntnis, die der Eine hat, in die Seele des Andern wie in ein leeres Gefäss; das Einsehen könne jeder nur selber leisten, Erkenntnis sei nur aus dem Selbst - bewusstsein zu schöpfen, und alles, was der Andre dazu bei - trage, sei die Veranlassung zum Suchen durch Frage und Weckung von Zweifeln; gleichsam die Hinweisung auf die Gegend, wo das Gesuchte zu finden sein muss. Dass aber auf diese Art die Gemeinschaft unterrichtend wirkt, ja ein wahrer Unterricht nur so möglich ist, hatte Sokrates, und ihm folgend77 Plato, tief erkannt, der sich die Entwicklung der Erkenntnis schon gar nicht mehr anders als im wechselseitigen Austausch, im Unterreden zu denken vermochte.

Was aber so vom theoretischen Lernen gilt und als An - fang einer gesunden Didaktik nie vergessen werden sollte, dasselbe findet nicht bloss auch Anwendung auf die Willens - bildung, als sei das eben nur eine Art solchen Lernens, son - dern dies theoretische Lernen geschieht wiederum gar nicht ohne Willensentwicklung. Es geschieht, so wurde gesagt, indem man den eigenen Blick üben und lenken lernt: das ist aber schon Willensthat. Das theoretische Lernen kann auch in dem Sinne nur selbsteigene Leistung sein, dass es vom Wollen abhängt; dass man das Lernen selber nur lernt, indem man wollen lernt. Also ist gewiss jeder wahre, nämlich freie Ein - sicht und nicht bloss autoritative Annahme wirkende Unterricht zugleich eine Erziehung, nicht als ob die blosse Verstandes - belehrung von selbst den Willen bewegte, sondern vielmehr umgekehrt, indem die Verstandesbelehrung ohne Willensent - wicklung gar nicht erreicht würde.

Und zwar ist die primäre Wirkung der Gemeinschaft die auf den Willen. Man lernt wollen, indem man die Er - fahrung macht vom Wollen des Andern. Der energische Wille des Andern, sagt man, reisst uns fort, etwa dem starken Strom gleich, der den trägeren Zufluss in sich aufnimmt und so sein Gewässer in die gleiche mächtige Bewegung zwingt. Aber ein solches Bild verdunkelt noch zu sehr, dass gerade die Energie des Selberwollens erhöht, der eigene Wille nicht gezwungen oder in Abhängigkeit gebracht, sondern erst recht auf sich selbst gestellt wird durch die Erfahrung, wie der Wille des Andern selbständig und in dieser Selbständigkeit energisch ist. Analog also wie ich im Falle des theoretischen Lernens das, was der Andre sah und ich zuerst nicht sah, sehen lerne, indem ich mich in seinen Blickpunkt mit Willen selber ver - setze, so besinne ich mich erst auf den letzten Grund des Wollens im Urgesetze des Selbstbewusstseins, indem ich am Andern die Erfahrung mache, wie auf diesen letzten Grund sein Wollen immer zurückweist und aus ihm hervorgeht.

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Gerade das Selbstbewusstsein also, und mithin das selbst - bewusste Wollen, entwickelt sich allein in und mit der Gemein - schaft von Bewusstsein und Bewusstsein, die primärerweise Willensgemeinschaft ist. Gerade in der tiefsten Einigkeit mit dem Andern unterscheide ich mich von ihm und finde mich selbst. In jedem ist ein Unendliches; dessen werde ich in mir selbst erst inne, indem ich die Unendlichkeit im Andern ahne. Je tiefer wir uns gegenseitig kennen (was immer schon eine tiefe Einigkeit voraussetzt), um so sicherer empfinden wir die Grenze, wo wir uns unterscheiden. Das gilt allgemein, und es gilt besonders vom praktischen Bewusstein, dem ja die Beziehung in die Unendlichkeit wesentlich ist.

Also muss vor allem die Theorie der Willenserziehung von der Voraussetzung des Lebens in der Gemeinschaft von Anfang an ausgehen und die Konsequenzen dieser Voraus - setzung auf Schritt und Tritt beachten. Auch darf es sich hierbei nicht bloss handeln um das Verhältnis des Einzelnen zum andern Einzelnen, sondern es fragt sich ferner nach seinem Verhältnis zur konstituierten menschlichen Gemeinschaft in ihren mancherlei Formen von der Familie bis zur Ge - meinde und dem Staat und schliesslich zur Menschheit. Die bildende Gemeinschaft der Einzelnen ist nur der einfachste Fall, nur gleichsam die Zelle oder ein engster Verband von Zellen in dem ganzen Organismus des menschlichen Gemein - schaftslebens, in dem zuletzt kein Einzelner und keine Gruppe Einzelner ihr Dasein und ihre Funktionsweise ganz für sich hat, sondern allein in Gemässheit ihrer Beziehung zum grössern Ganzen, zuletzt zur Menschheit. Der Einzelne und so auch die einzelne Gruppe lebt und wirkt in Kraft dieser Beziehung, auch ohne darum zu wissen; aber das entwickelte Bewusst - sein dieser Beziehung führt erst zu einem solchen Wirken auch des Einzelglieds und der Einzelgruppe, das der Gesund - heit seiner Richtung und damit des erspriesslichen Erfolges gewiss sein darf.

Das ist die Auffassung von der Aufgabe der Erziehungslehre, die wir in dem Titel Sozialpädagogik in Erinnerung halten möchten. Wir verstehen darunter also nicht einen abtrennbaren79 Teil der Erziehungslehre etwa neben der individuellen, sondern die konkrete Fassung der Aufgabe der Pädagogik überhaupt und besonders der Pädagogik des Willens. Die bloss individuale Betrachtung der Erziehung ist eine Abstraktion, die ihren be - grenzten Wert hat, aber schliesslich überwunden werden muss.

Der Begriff der Sozialpädagogik besagt also die grund - sätzliche Anerkennung, dass ebenso die Erziehung des Indi - viduums in jeder wesentlichen Richtung sozial bedingt sei, wie andrerseits eine menschliche Gestaltung sozialen Lebens fundamental bedingt ist durch eine ihm gemässe Erziehung der Individuen, die an ihm teilnehmen sollen. Danach muss dann auch die letzte, umfassendste Aufgabe der Bildung für den Einzelnen und für alle Einzelnen sich bestimmen. Die sozialen Bedingungen der Bildung also und die Bildungs - bedingungen des sozialen Lebens, das ist das Thema dieser Wissenschaft. *)Vgl. Religion S. 86.Und dies betrachten wir nicht als zwei von einander trennbare Aufgaben, sondern als eine einzige. Denn die Gemeinschaft besteht nur im Verein der Individuen, und dieser Verein wiederum nur im Bewusstsein der Einzelglieder. Das letzte Gesetz ist daher für beide, Individuum und Gemein - schaft, notwendig eins und dasselbe.

Diese Einsicht ist aber zugleich von entscheidender Be - deutung für ein wissenschaftliches Verständnis des sozialen Lebens selbst. Die Gemeinschaft ist kein starrer, invariabler Faktor, so wenig wie das Individuum. Sie unter - liegt gleich diesem der Entwicklung, und diese Entwicklung muss schliesslich denselben allgemeinen Gesetzen folgen wie die Entwicklung des Individuums. Die Kenntnis wenigstens ihrer obersten Gesetze ist zugleich die Voraussetzung auch jeder ernsthaften Erwägung des Einflusses, den die Ge - meinschaft auf die Bildung des Einzelnen übt und üben soll. Also darf eine wahre Sozialpädagogik der Frage nach den Grundgesetzen des Gemeinschaftslebens nicht aus - weichen. Auch muss diese Frage aus unsern Prinzipien beant - wortbar sein, eben weil die allgemeinen Bildungsgesetze der80 Gemeinschaft, nach der grossen Einsicht Platos, notwendig zuletzt identisch sind mit den Bildungsgesetzen des Individuums. Es ist also das, jetzt schon in einigen Hauptlinien vor uns stehende und bald näher auszuführende Bild der gesetzmässigen Entwicklung des Einzelnen zu vergrössern zu den Dimensionen der Gemeinschaft. An der Spitze steht das Grundgesetz der Konzentration des Bewusstseins, zugleich mit Erweite - rung seines Horizonts. Das war ja die Grundlage dieser ganzen Betrachtung: dass dasselbe Grundgesetz sich bewähren müsse in den Berührungen der individuell verschiedenen Be - wusstseinswelten wie in jeder für sich. So wie in der innern Welt des Verstandes durch Widerstreit und Ausgleich eine immer tiefere und zugleich umfassendere Einheit des Verständ - nisses sich bildet; wie auf dem Gebiete des Willens das gleiche Spiel sich wiederholt; so, und zwar in eben diesen beiden Hinsichten, primärerweise aber in Hinsicht des Willens, muss sich eine Konzentration von Bewusstsein zu Bewusstsein durch Streit und Vergleich in stetem unbegrenztem Fortschritt vollziehen von bloss äusserer Gesellung zu innerer Gemein - schaft, von Heteronomie zu Autonomie . Und durch die - selben wesentlichen Stufen, welche die Entwicklung des Ein - zelnen durchläuft: durch Arbeit und Willensregelung zum Vernunftgesetz, muss auch die Gemeinschaft fort - schreiten. Die Grundformen des Soziallebens, die Grundarten der sozialen Thätigkeit, schliesslich auch die besonderen sozialen Organisationsformen, die direkt der Bildung der Einzelnen dienen, müssen auf der gleichen Basis sich ableiten lassen.

Damit ist unsre Aufgabe klar vorgezeichnet, Ziel und Weg der Untersuchung bestimmt. Wir zerlegen sie in zwei Hauptteile; der erste ist eigentlich ethisch und zwar individual - und sozial-ethisch; als Voraussetzung zur sozialen Ethik wird er zugleich die Fundamente der Sozialphilosophie überhaupt nachzuweisen haben; der andere, unsrer Absicht gemäss aus - führlicher zu behandelnde Teil ist im engeren Sinne pädagogisch.

[81]

Zweites Buch. Hauptbegriffe der Ethik und Sozialphilosophie.

Natorp, Sozialpädagogik. 6[82][83]

§ 11. Das Sittliche in individualer und sozialer Bedeutung.

Nachdem der tiefliegende Zusammenhang der sittlichen Vernunft des Menschen mit dem Leben in der Gemeinschaft sich enthüllt hat, bedarf es erst der Rechtfertigung, weshalb wir den Aufbau der sittlichen Welt gleichwohl mit der Auf - stellung eines Systems individueller Tugenden beginnen.

Das Bewusstsein des Willensgesetzes kann sich, dem Dar - gelegten zufolge, allein in der Gemeinschaft bilden und zieht aus ihr fort und fort seine Nahrung. Auch seiner Geltung und seinem Inhalt nach bedeutet es ein Gesetz nicht für den Einzelnen allein, oder für eine Vielzahl von Einzelnen bloss aus gleichem Grunde, sondern an und für sich für die Ge - meinschaft. Eine sittliche Welt, eine eigene Objektwelt des Willens existiert überhaupt nur für eine Gemeinschaft der Willen, ebenso wie die Welt des Verstandes nur für den ge - meinen Verstand. Das Gute, schlechthin und ohne Einschrän - kung, kann gar nicht gedacht werden als Aufgabe für den isolierten Einzelnen. Es ist in seinem überindividuellen, un - endlichen Charakter zu gross selbst für eine noch so weit verstandene empirische Gemeinschaft. Sofern aber für die Individuen, besteht die sittliche Aufgabe nur für alle insgesamt; für jeden Einzelnen nur gemäss dem Anteil, der an der ge - meinschaftlichen Aufgabe gerade ihm, nach der Besonderheit seiner Lage und Befähigung, zufällt. Was in concreto das84 Sittliche für den Einzelnen, hängt davon ab, was es für alle, was für die Person überhaupt, davon, was es an sich, sachlich, objektiv ist. Das Ich soll hat, wenn nach dem Inhalt des Sollens die Frage ist, zur Grundlage das Es soll , das Gute der Person das Gute der Sache, nicht umgekehrt.

Darum bleibt doch das Wollen des Guten selbst individuell*)So sagt Pestalozzi richtig in den Nachforschungen (Werke hr. v. Seyffarth X 133; in der Sonderausg. Zürich, Schulthess 1886, S. 134): Die Sittlichkeit ist ganz individuell, sie besteht nicht unter zweien ; näm - lich im Unterschied vom gesellschaftlichen Recht , welches nach seiner (Rousseau’schen) Auffassung auf Vertrag d. h. auf gegenseitiger Verpflich - tung beruht. Dagegen wird das Sittliche seinem Inhalt nach von Pestalozzi wesentlich sozial verstanden. (Vgl. Pestalozzis Ideen etc., und: Herbart, Pestalozzi etc., 8. Vortrag.). Es kann keiner für mich wollen, für mich Vernunft haben, praktische so wenig wie theoretische. Dass ich oder mein Thun gut sei, liegt rein an mir, an der Beschaffenheit meines Wollens, und ist ganz davon unabhängig, ob auch der Andre es dafür erkennt. Sittlichkeit besteht nicht durch einen Vertrag auf Gegenseitigkeit; habe ich bei mir selbst etwas für gut er - kannt, so bleibt es für mich geltend, und ob alle Welt es anders befände. Der sittliche Wille unterwirft sich nur dem Gesetz, das er sich selbst giebt. Allein jetzt ist nach dem Inhalt des Gesetzes, nicht nach dem Gesetzgeber die Frage. Die Gesetzesform selbst aber verleiht diesem Inhalt objektiven und also überindividuellen Charakter. Der Glaube an eine Sache ist (nach § 8) das Merkmal sogar des (eigentlichen) Willens überhaupt, nicht erst des sittlichen Willens. Mag aber einer den Gegenstand seines besonderen Wollens für seine ausschliessliche Sache halten, so ist doch der Wille so lange noch nicht rein sittlich, d. h. erfüllt er nicht rein sein eigenes Gesetz, als man noch die eigene Sache gegensätzlich gegen die des Andern stellt; er ist es erst dann, wenn ich erkenne: meine Sache ist keine andre, soll keine andre sein, als die auch jedes Andern Sache sein sollte und der Wahrheit nach ist.

Also bleibt es dabei, dass das Sittliche an und für sich, seinem Inhalt nach, Gemeinschaftssache und in keiner Weise Privatsache ist. Es ist nicht bloss an sich für alle eins und85 dasselbe, sondern es muss auf der Höhe sittlicher Klarheit auch als gemeinschaftlich bewusst und im Hinblick auf die Gemein - schaft gewollt sein. Sittliches Bewusstsein ist als solches not - wendig Gemeinschaftsbewusstsein.

Nun aber fragt es sich weiter nach der Besonderung der sittlichen Aufgabe, und da ist allerdings zu scheiden zwischen dieser Aufgabe, sofern sie dem Einzelnen, und, sofern sie der Gemeinschaft gestellt ist; und wiederum, sofern sie den Einzelnen oder die Gemeinschaft direkt zum Ziele hat. Insofern ist das Sittliche ein anderes in individualer, ein anderes in sozialer Bedeutung. Zwar der letzte konstituierende Begriff des Sittlichen muss ja einer und derselbe sein, wie für die verschiedenen Individuen, so auch für Individuum und Gemeinschaft, da doch die Gemeinschaft nur im Bewusstsein der Einzelnen besteht. Allein das hindert nicht eine Spezifikation dieser in sich identischen Aufgabe, je nachdem sie bloss in Hinsicht des Individuums oder in Hinsicht der Wechselbezieh - ungen der Individuen in der Gemeinschaft erwogen wird.

Die konkretere Gestalt der sittlichen Aufgabe aber ist die gemeinschaftliche. Denn, wenngleich Gemeinschaft ein Abstraktum und nur die Individuen konkret sind, so ist da - gegen das isoliert gedachte Individuum wiederum eine Ab - straktion. In Wahrheit giebt es kein isoliertes, menschliches Individuum, denn der Mensch ist Mensch nur in menschlicher Gemeinschaft und durch Teilnahme an ihr. Und das gilt doppelt vom wollenden und handelnden; im blossen Erkennen mag man eher noch sich vereinzeln, im ästhetischen Geniessen und Schaffen für sich bleiben und allein sich genügen wollen; dagegen das Handeln des Einzelnen und, sofern es aufs Handeln zielt, schon sein Wollen greift unvermeidlich in die Sphäre der Gemeinschaft ein, muss also, falls es mit Bewusstsein ge - schieht, auch seiner Wirkung in diese Sphäre hinein mit - bewusst sein. Also ist der Einzelne, zugleich in seiner Ge - meinschaftsbeziehung gedacht, konkreter als der bloss für sich gedachte Einzelne.

Aber eben weil dem so ist, kann die Ableitung der kon - kret sittlichen Aufgabe nur vom Individuum ausgehen; denn86 der Gang der Deduktion ist vom Abstrakteren zum Konkreteren. Die Grundverhältnisse des Sittlichen, an sich dieselben für Individuum und Gemeinschaft, werden sich doch am Indivi - duum leichter erkennen lassen. Sie ergeben sich, wie wir erwarten müssen, durch die Spezifikation der in sich einen sittlichen Aufgabe gemäss ihrer Beziehung auf die drei Grund - faktoren der Aktivität, Trieb, Wille und Vernunft; von diesen aber ist unmittelbar klar, was sie beim Individuum, nicht ebenso, was sie in der Gemeinschaft besagen. Zugleich wird eben damit erst der Grund gelegt für die Ableitung des Sitt - lichen auch in seiner sozialen Gestalt. Denn dasselbe, was der Wille auf seinen drei wesentlichen Stufen für den Einzelnen bedeutet, muss er auch für die Gemeinschaft bedeuten; man hat nur die Wechselbeziehungen der Einzelnen in der Gemein - schaft hinsichtlich eben dieser drei Stufen der Aktivität zu - gleich in Betracht zu ziehen. Das ist im wesentlichen der Weg, den Plato eingeschlagen hat. Schon er gelangte so zu einer genau parallelen Bestimmung des konkret Sittlichen für Individuum und Gemeinschaft, die, wie verbesserlich auch im einzelnen, doch dem Prinzip und methodischen Grund - gedanken nach vorbildlich bleibt.

Auf seiten des Individuums ergiebt sich auf diesem Wege ein System von Grundtugenden. Unter Tugend überhaupt verstehen wir die Sittlichkeit des Individuums, unter Tugenden deren einzelne Seiten oder Richtungen, unter Grund - oder Kardinaltugenden die ursprünglich zu unterscheidenden Seiten, die aus irgend einer obersten Einteilung des Begriffs der in - dividuellen Tugend sich ergeben müssen. Zum obersten Ein - teilungsgrund aber dienen uns die wesentlichen Stufen der Aktivität überhaupt; denn Tugend ist nichts Andres als die rechte, ihrem eigenen Gesetz gemässe Beschaffenheit mensch - licher Thätigkeit. Es ist wiederum Plato, der erkannt hat, dass die ihm schon überlieferten Hauptnamen von Tugenden wie Vernünftigkeit, Tapferkeit, Maass einen solchen Einteilungs - grund stillschweigend voraussetzen, nur freilich ohne Bewusst - sein und daher ohne sichere Abgrenzung der Begriffe. Da - durch war seiner Untersuchung in Hinsicht der individuellen87 Tugenden der Weg vorgezeichnet; wir halten diesen Weg inne, nicht aus Vorliebe oder um der Vorteile einer grossen Ueberlieferung willen, sondern weil wir eine sachliche Not - wendigkeit dabei erkennen.

Das Grösste aber, was Plato gelang, war die Uebertragung dieser selben Einteilung[auf] die soziale Tugend. Den Be - griff einer Tugend der Gemeinschaft hat wohl er zuerst (allen - falls nach dem Vorgang des Sokrates) aufzustellen gewagt. Er war ihm nahe gelegt durch den weiten Sinn des griechi - schen und besonders sokratischen Wortes ἀϱετή (Tugend), das jede Art Tüchtigkeit oder Rechtbeschaffenheit (Güte) besagen kann. Und so wagte er die Tugenden der Gemeinschaft nach gleichem Prinzip wie die des Individuums, daher diesen genau parallel, abzuleiten. Noch Weiteres fiel ihm dabei wie von selbst in den Schoss; vor allem der Nachweis der Grundfunk - tionen des sozialen Lebens, die ja den Grundfunktionen des Individuallebens, weil den Grundstufen der Aktivität über - haupt entsprechen mussten. Im einzelnen zwar ist hier recht viel am platonischen Entwurf zu berichtigen. Die Funktionen sind an sich nicht einwandfrei aufgestellt; auch sind sie zu sehr auseinandergerissen und, ganz gegen die ursprüngliche Absicht, weit mehr gegensätzlich als einhellig und zu einander komplementär gedacht. *)Vgl. Platos Staat und die Idee der Sozialpädagogik. Aber in der Verbesserung dieser Fehler bewährt sich nur desto überzeugender der methodische Kerngedanke.

Und so dürfen wir auf demselben schlichten und sicheren Wege zu den wahren Grundfaktoren des sozialen Lebens zu gelangen hoffen. Ja, das gleiche Prinzip wird uns über Plato noch einige wesentliche Schritte hinaus führen. Eines nament - lich, woran Plato in seiner Zeit noch kaum denken konnte, was dagegen dem heutigen Forscher sich besonders nahe legen muss: die Entwicklung des sozialen Lebens muss sich wohl einem letzten Gesetze fügen, das auf der gleichen allgemeinen Grundlage deduktiv zu gewinnen ist. Unserem Zeitalter ist der Gedanke der Entwicklung so in Fleisch und Blut über -88 gegangen, dass man an eine fundamentale Untersuchung über irgend ein Problem der Sozialwissenschaft die Frage immer zuerst richten wird, wieweit ihre Erkenntnis dadurch ge - fördert sei. Die Förderung aber, die hier vor allem notthut, sehen wir in der Erkenntnis, dass eine Entwicklung irgend - welcher Art sich nicht anders zu klarem Begriff bringen und methodisch beherrschen lässt, als auf Grund der Idee. Ein Gesetz der Entwicklung lässt sich nur entwerfen aus dem Standpunkte der Idee, indem man sie, nach Kants Terminus, als regulatives Prinzip in die Erfahrung einführt. Diesen von Kant gewiesenen, aber nur in einzelnen Andeutungen von ihm selbst betretenen Weg gedenken wir zu verfolgen; die Deduktionen des grundlegenden Teils enthalten die Rechtferti - gung dafür.

Nach allem, was über die psychologische Seite unsrer Aufgabe schon bemerkt worden ist, bedarf es nur kurzer Er - innerung, dass diese ganze Ableitung nicht als psychologisch verstanden und beurteilt sein möchte. Es ist ein rein objek - tiver, vor aller Psychologie feststehender Unterschied, ob das menschliche Bestreben, als blosser Trieb, an den Augenblick und das vor Augen Liegende gefesselt bleibt, oder ob es sich mit dem Entschluss Ich will über den Zwang des Augen - blicks erhebt und, selbst wenn es der Gegenstand des augen - blicklichen Triebes wäre, den es bejaht, doch eben wagt, ur - teilend über den Trieb hinauszugehen und ihm das Seinsollende zum Objekt zu setzen; oder ob endlich diese Freiheit des Ur - teilens sich, unter dem Namen der praktischen Vernunft, bis zum Standpunkte der Idee in ihrer Unbedingtheit erhebt. Es sind die wesentlichen Stufen der Durchdringung der Er - fahrung mit der Idee im Bewusstsein, die damit bezeichnet sind; etwas das sich auf bloss psychologischem Wege über - haupt nicht verständlich machen liesse. Diesen Stufen also müssen die Grundtugenden, und so alles Weitere, wovon eben die Rede war, entsprechen.

Will man dies Verhältnis aber psychologisch ausdrücken, so muss man sich dessen vor allem bewusst bleiben, dass die Scheidung jener drei Faktoren auf blosser Abstraktion89 beruht; dass in der konkreten Vorstellung des seelischen Lebens die Voraussetzung ursprünglich getrennter Thätigkeiten oder Funktionen gar nicht statthaft ist. Schon Platos tiefgründige Untersuchungen über das Verhältnis der vielen Tugenden zu der einen, in sich unteilbaren Tugend führen über die psycho - logische Vorstellung von drei gleich selbständigen Personen gegen einander agierenden Seelenteilen eigentlich weit hinaus, zu der einer untrennbaren Einheit bloss begrifflich auseinander - zuhaltender Seiten oder Richtungen der menschlichen Aktivität, deren normales, zuletzt nach dem Grundgesetz der Idee, dem Gesetz der Gesetzlichkeit selbst zu bestimmendes Verhältnis die seelische Tüchtigkeit oder Tugend ausmacht. Heute vollends ist es wohl nachgerade allgemein anerkannt, dass es in der Psychologie auf die Einsicht in die ursprüngliche Verbindung oder vielmehr unteilbare Einheit (Individuität) der nur ab - straktiv zu unterscheidenden Faktoren des Psychischen an - kommt; dass im seelischen Leben die Komplexion ursprüng - lich, die Zerlegung in Einzelakte zum Verständnis der Kom - plexion zwar unerlässlich ist, aber ein höheres Recht als das einer vorläufigen Abstraktion niemals beanspruchen darf. Die Grundlage dieser notwendigen Abstraktionen bieten die mannig - fachen Objektivierungen des seelischen Inhalts. Denn alle Objektivierung beruht auf Abstraktionen; handelt es sich hingegen darum, den seelischen Inhalt möglichst in seiner subjektiven Unmittelbarkeit und das eben heisst psycho - logisch zu erfassen, so muss die Scheidung in Gedanken wieder aufgehoben, die Verbindung allseitig wiederhergestellt werden.

Hiernach hat man auch nicht mehr zu besorgen, dass, wenn von einem Willen und einer Vernunft der Gemeinschaft die Rede ist, diese zu einem mystischen Wesen ausser den Individuen gemacht werde. Es ist allein die Frage: was er - giebt sich daraus, wenn Trieb, Wille und Vernunft der Ein - zelnen in der Gemeinschaft in Berührung treten und ihre Wirkung gleichsam summieren. Daraus folgt eine gewisse Norm, gemäss welcher sich diese drei Faktoren in der Ge - meinschaft, ebenso wie im Einzelnen, in Gleichgewicht setzen90 müssen, wenn nicht die Gemeinschaft zerfallen, sondern das einheitliche Zusammenwirken der Einzelnen sich erhalten und fördern soll.

Uebrigens ist auch schon bei Plato die Ableitung im letzten Grunde nicht psychologisch, sondern objektiv. Seinen psychologischen Einteilungen liegen ethische Unterscheidungen bereits stillschweigend zu Grunde. Der fundamentale Gegen - satz des Sinnlichen und Vernünftigen entstammt dem Kern - gedanken der Ideenlehre; er hat seine klare, objektive Be - gründung in dem inhaltlichen Verhältnis zwischen Erfahrung und Idee. Zwischen diesen beiden äussersten Enden schien ihm dann noch eine Vermittlung nötig. Diese ist mit dem platonischen ϑυμός allerdings nur psychologisch, aber eben auch nicht zutreffend bezeichnet. Uns dagegen ergab sich als Mittelstufe der Wille (im engeren Sinn), als Ausdruck des Bewusstseins der praktischen Regel, der Maxime. Durch diesen rein objektiven Begriff erklärt sich die Tugend der Tapferkeit als entschlossene Unterordnung der Einzelhandlung unter die einmal gewählte Maxime (dass man will, was man will), des - gleichen die entsprechende Funktion im Sozialleben, nämlich die regierende im weitesten Verstand, ungleich besser als durch den platonischen ϑυμός, der an sich ganz dem Gebiete des Triebs angehört, wenn auch gleichsam die dem Willen zu - gekehrte aktive Seite des Triebs darstellt. Plato selbst hat anderwärts die Tapferkeit, wie die Tugend überhaupt, von allem Triebartigen, fast allzuschroff, geschieden. Die Un - zulänglichkeit seines psychologischen Schemas verrät ferner seine vierte Tugend, die der Gerechtigkeit. Sie stellt bei ihm eigentlich nur die Vereinigung der drei andern dar; dann hätte sie aber nicht diesen koordiniert werden dürfen. In der That kommt dieser Tugend eine eigenartige Stellung zu. Sie ist aus der Reihe der individuellen Tugenden nicht zu streichen, aber sie bezeichnet nur die der Gemeinschaft zugewandte Seite der individuellen Tugend, den Sozialcharakter des Sittlichen, sofern er eine Grundlage in der Individualität doch haben muss. Sie liegt somit gleichsam auf dem Punkte des Ueber - gangs von der individualen zur eigentlich sozialen Tugend,91 der Tugend der Gemeinschaft als solcher. Diese hat Plato sonst bei dem Namen Gerechtigkeit hauptsächlich im Sinn, und es ist vielleicht dieser Doppelsinn der Gerechtigkeit als Tugend des Individuums sowohl als der Gemeinschaft gewesen, der ihn auf den Parallelismus der individualen und sozialen Tugend überhaupt führte. So bleibt auch hier die allgemeine Rich - tung seines Gedankens anzuerkennen, nur die Ausführung der Verbesserung bedürftig.

Nachdem so unsre Einteilung der Tugenden vorläufig gerechtfertigt ist, dürfen wir zur Spezialbehandlung zunächst der individuellen Tugenden übergehen.

§ 12. System der individuellen Tugenden.

1. Die Tugend der Vernunft: Wahrheit.

Da im vernünftigen Wollen überhaupt die Sittlichkeit besteht, so ist die erste der individuellen Tugenden die Tugend der Vernunft; die erste nicht bloss dem Range nach, sondern als Voraussetzung aller übrigen. Sie bezeichnet die Sitt - lichkeit der Person in so zentraler, folglich fundamentaler Weise wie keine andre, nämlich nach ihrem letzten Grunde im Bewusstsein. Sittlichkeit ist zu allererst Bewusstseins - sache, darum ist die Tugend des Bewusstseins die erste aller Tugenden.

Wir nennen sie Wahrheit, schon um an die Einheit der praktischen mit der theoretischen Vernunft zu erinnern. Wahrheit ist das oberste Gesetz des Bewusstseins überhaupt, der Sinn und Wille der Wahrheit das oberste Gesetz des praktischen Bewusstseins.

Die Alten haben es nicht gescheut, geradezu ἐπιστήμη, Erkenntnis, oder σοφία. im gleichen Sinne des Wissens, der praktischen Einsicht, als Tugendnamen zu gebrauchen; auch wechselt damit nicht selten der Ausdruck Wahrheit (ἀλήϑεια), der besonders bei Plato unter den zentralen Be -92 griffen seiner Ethik oft sehr bedeutsam hervortritt. *)Z. B. Apol. 29: φϱονήσεως καὶ ἀληϑείας καὶ τῆς ψυχῆς ὅπως ὡς βελτίστη ἔσται .... Protag. 356: δηλώσασα δὲ τὸ ἀληϑὲς ἡσυχίαν ἄν ὲποίησεν ἔχειν τὴν ψυχὴν μένουσαν ἐπὶ τῷ ἀληϑεῖ καὶ ἔσωσεν ἄν τὸν βίον. Phileb. 58: εἳ τις πέφυκε τῆς ψυχῆς ἡμῶν δύναμις ἐϱᾶν τε τοῦ ἀληϑοῦς καὶ πάντα ἕνεκα τούτου πϱάττειν. An allen drei Stellen beachte man die Entsprechung zwischen den Begriffen ἀλήϑεια und ψυχή (Bewusstsein).Es ist aber auch in unserer Sprache ganz zulässig zu sagen, ein Mensch sei wahr, d. h. er habe den Sinn und Willen der Wahrheit. Der gebräuchlichste Ausdruck bei den Alten ist jedoch φϱόνησις, eigentlich das Beisinnensein, die Besinnung oder Besinnlichkeit, d. i. Sinn und Wille, sich vor jeder Willens - entscheidung auf das Rechte zu besinnen. Der Satz des Sokrates**)Plat. Men. 88, mit zahlreichen Parallelstellen., dass für den Menschen alles Andere von der Seele , d. h. vom Bewusstsein abhänge, alles Seelische aber von Be - sinnung oder praktischer Einsicht (φϱόνησις), wofern es zum Guten ausschlagen solle, ist zum Kernsatz der griechischen Ethik geworden und drückt recht eigentlich das aus, was man ihr verdankt. Das war es, was an Sokrates so imponierte: die sichere Herrschaft des Bewusstseins, die nach nichts fragt als nach der Wahrheit des Thuns, nach der Einstimmigkeit des Wollens mit sich selbst und seinem eigenen inneren Gesetz. Was Plato dieser sokratischen Grundbestimmung der Sittlich - keit als Erkenntnis hinzugefügt hat, ist die vollendet deutliche Entwicklung des Begriffs des praktischen Gesetzes zur Idee des Unbedingten, nämlich des unbedingt Ge - setzlichen***)Ueber diesen Sinn der Idee des Guten vgl. Platos Staat und die Idee der Sozialpädagogik .. Auch dies übrigens war bereits in Sokrates an - gelegt, da er die Tugend zwar dem Wissen gleichsetzte, aber zugleich behauptete, dies Wissen stehe nicht dem Menschen zu, dessen Weisheit vielmehr darauf beschränkt sei, zu wissen, dass er nicht weiss.

Der Ausdruck Wahrheit hat den Vorzug, dass er dies alles einschliessen kann, und dabei gerade das Inhaltliche, dessen man sich besinnen soll, das Gesetz der Wahrheit, an93 die Spitze stellt. Dagegen sagt z. B. das sonst vortreffliche Wort Gesinnung (ebenso wie Besinnung ) gar nichts darüber, welche praktische Sinnesrichtung denn, mit Ausschluss jeder andern, die rechte sei. Auch nimmt dies Wort allzu leicht den schwächlichen Sinn eines blossen Gutmeinens an, das mit viel Irrtum und Bequemlichkeit des Irrens verträglich wäre; wogegen die Forderung: Sei wahr! eine unerbittliche Grenz - scheide zwischen der sittlich rechten und verkehrten Gesinnung setzt. Zugleich liegt der Hinweis auf das Thun vernehmlich genug darin, wenn doch vom ganzen Menschen gefordert wird, dass er sich gleichsam zum Ausdruck der Wahrheit mache.

Dem kommt vielleicht etwas näher das Wort Gewissen, das gerade die Unnachgiebigkeit der sittlichen Forderung, die Notwendigkeit der unablässigen Selbstprüfung: bin ich auch auf dem rechten Wege? scharf genug zum Ausdruck bringt. Und da das Wort zugleich eben das Moment des Wissens, des Bewusstseins um das, was man thut und was man soll, der conscientia sui betont, so könnte es den persönlichen Sinn unserer Tugend fast noch besser zu bezeichnen scheinen, als das Wort Wahrheit, das vielleicht zu ausschliesslich objektiv scheint, und in der That erst durch die Verbindung mit einer Person als Subjekt die Bedeutung einer individuellen Tugend indirekt erhält. Indessen in seinem gewöhnlichen Gebrauch ist das Wort Gewissen der an sich darin liegenden Beziehung auf das reine praktische Selbstbewusstsein fast verlustig ge - gangen. Es hat von seiner überwiegend religiösen Anwendung unleugbar einen Beischmack von Heteronomie erhalten, während bei dieser, wenn überhaupt bei irgend einer Tugend, die Auto - nomie des Sittlichen aufs strengste gewahrt bleiben muss. Gewissen besagt nach vorherrschender Auffassung unstreitig etwas wie Autorität, wiewohl innere, nicht äussere. Diese kann auf knechtischer Furcht, sie kann auf Liebe (des Kindes gegen die Eltern, oder in religiöser Wendung, des Menschen gegen den göttlichen Vater) beruhen, in jedem Fall hat sie ihre Wurzel im Gefühl; Gefühl aber ist nicht die höchste Form des Bewusstseins, nicht reine Bewusstheit. In päda - gogischer Hinsicht ist nun zwar das Gewissen der Liebe sicher94 von unersetzlichem Wert und auch die niedere Stufe der Furcht nicht überhaupt abzulehnen. Die Furcht soll über - wunden werden, aber sie darf auch für den sittlich Reifsten, so lange er fehlbarer Mensch ist, nie ganz überwunden sein. Gerade die höchste Erhebung des sittlichen Gedankens zur Idee unendlicher Vollkommenheit kann das Moment der Furcht wegen unserer endlichen Schwachheit, kann das Gefühl der Demut niemals abstreifen; und es ist an sich ein Vorzug, dass das Wort Gewissen dieses Moment deutlich mitbe - zeichnet. Aber doch ist eine solche blosse Gefühlshaltung an sich nicht Tugend. Sie ist mehr ihr Kennzeichen als ihr Grund; dieser kann nur in der reinen Bewusstseinstugend, im aufrichtigen Wollen der Wahrheit gefunden werden. Es würde mindestens noch ein unterscheidender Zusatz nötig sein, wenn man mit Gewissen oder Gewissenhaftigkeit die oberste der Tugenden bezeichnen wollte, und dann wäre ein Ausdruck wie Wahrheit (Gewissen der Wahrheit, im Unterschied vom Gewissen der Furcht oder der Liebe) doch nicht zu umgehen. Das Wort Wahrheit ist aber gehaltreich genug, um das Beste, was in Gewissen ausgedrückt ist, mitzubezeichnen; und so möchte ihm in jeder Beziehung der Vorzug gebühren.

Um nun den Gehalt dieser Tugend mehr im besonderen zu entwickeln, nehmen wir unsern Ausgang von dem soeben Berührten: dass der kritische Sinn des Bewusstseins unserer Grenze von der Tugend der sittlichen Wahrheit allerdings untrennbar ist. Gegenüber der unendlichen Forde - rung des Sittengesetzes kann das Selbstbewusstsein unseres Wollens und Thuns nicht anders als demütigend sein. Und das um so mehr, je mehr es das Individuum ganz mit sich allein zu thun hat. Indessen verrät sich schon hier die Schranke einer einseitig individualistischen Auffassung des Sittlichen. Die sittliche Aufgabe in ihrer Unendlichkeit kann nicht mit Sinn als Aufgabe für das isolierte Individuum gedacht werden. So ratsam es ist, mit der sittlichen Besserung bei sich anzu - fangen, so unfruchtbar, so hinderlich sogar für den eigenen sittlichen Fortschritt ist die unablässige peinliche Beschäftigung mit sich und seinen individuellen Fehlern, die eine starke Er -95 hebung der Seele, ein kraftvolles Aufraffen zur That schliess - lich kaum aufkommen lässt.

Desto stärker ist der echte, positive Sinn der Indi - vidualität des Sittlichen gerade hier zu betonen: dass es gilt in selbsteigener Einsicht das Rechte für recht, das Ver - kehrte für verkehrt zu erkennen, unbeirrt nicht bloss durch die eigene individuelle Gefühlsneigung oder Denkgewöhnung, sondern durch irgendwelche empirische Zufälligkeit überhaupt, die unser praktisches Urteil in einer bestimmten Richtung festzuhalten, ihm den freien Aufblick zur Idee zu verlegen droht; von Sitte und äusserem Gesetz, von bloss überlieferten Normen jeder Art, auch von dem Drucke der persönlichen Autorität überlegener Individuen. Es demütigt zwar, aber ist zugleich auch wieder erhebend, zu wissen, dass nur wir selbst uns dazu verhelfen können, das Gute zu erkennen und zu wollen, und kein Andrer etwas mehr dazu thun kann, als dass er die in uns schlummernde Kraft selbsteigenen Erkennens und Wollens aufruft und in Thätigkeit setzt. Denn die Gemein - schaft erzieht, aber sie erzieht nur dadurch, dass sie das Individuum zur Freiheit des Selbstbewusstseins erweckt.

Daraus folgt: dass die innere Wahrhaftigkeit, die Wahr - heit gegen sich selbst , die Aufrichtigkeit des Herzens der äusseren Aufrichtigkeit vorgeht. Das ist wohl die unbedingteste, unanfechtbarste Tugend, wie ihr Gegenteil, Lüge gegen sich selbst, die unverzeihlichste Schlechtigkeit. Zugleich ist innere Aufrichtigkeit die einzig verlässliche Grundlage der äusseren Wahrhaftigkeit. Wer nicht zu allererst gegen sich selbst lauter und aufrichtig ist, der ist es schwerlich gegen Andre. Zwar lernt es sich leichter im alltäglichen Verkehr, gegen Andre eine gewisse Aufrichtigkeit zu beobachten, weil gröbere Unwahrhaftigkeit gegen die Umgebung sich weit schneller und empfindlicher rächt als selbst die ärgste innere Unwahr - heit, die sich wie eine schleichende Krankheit lange verstecken und scheinbar folgenlos bleiben kann. Aber auch die äussere Wahrhaftigkeit wird, auf ernste Proben gestellt, unrettbar scheitern, wenn sie nicht auf dem sicheren Grunde innerer Lauterkeit ruht.

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Hieraus wird besonders klar, dass der Grund der Tugend der Wahrhaftigkeit unmöglich erst in den äusseren, gesell - schaftlichen Beziehungen zwischen Mensch und Mensch gesucht werden kann; als sei sie von da erst ins Innere übertragen und gleichsam reflektiert; als schäme man sich nur deshalb, sich selber zu belügen, weil man unter dem psychologischen Zwange stände, bei allem, auch dem Innerlichsten, das man erlebt, den äusseren Beurteiler hinzuzudenken, vor dem man sich, wenn er wüsste, was in uns vorgeht, verkriechen müsste. Solche innere Aufrichtigkeit wäre selbst eine so offenbare Lüge, dass schon eine starke theoretische Verirrtheit dazu gehört, auf die gesellschaftliche Begründung sogar dieser individuellsten Tugend zu verfallen. Die Gesellschaft hat so gut wie kein Interesse an der inneren Wahrhaftigkeit, sie hat selbst nur ein begrenztes an der äusseren. Sie kann mit viel Lug und Trug bestehen, sie stirbt nicht sogleich daran. Eine fest - gegründete äussere Redlichkeit würde zwar dazu mithelfen, die Menschen auch zu innerer Aufrichtigkeit zu erziehen, während, wo es mit jener schon schwach bestellt ist, wo gar die ganze äussere Lebensordnung, wo Gesetze und Rechte auf Lüge beruhen, die innere Wahrheit, die weit mehr fordert, vollends schwer gedeiht. Aber darum liegt doch der schliessliche Grund dieser Tugend im Selbstbewusstsein des Individuums, nicht an sich in äusseren, gesellschaftlichen Beziehungen. Daher ist innere Wahrhaftigkeit unbedingte, ausnahmslose Pflicht, während es, auch wenn man von der kasuistischen Frage der Erlaubtheit der Lüge ganz absieht, jedenfalls mancherlei Rück - sichten giebt, welche die Pflicht, die erkannte Wahrheit auch gegen Andere zu äussern, mannigfach einschränken. Gewiss ist Wahrheit das Heiligste, aber vielleicht begründet es eben ihre Heiligkeit, dass nicht jeder Mund rein genug ist sie auszusprechen, noch jedes Ohr sie zu vernehmen, auch nicht jeder Ort und jede Stunde sich gleich gut für sie schicken will. Eine unbedingte und allgemeine Verpflichtung, sein Herz auf der Zunge zu tragen, besteht sicherlich nicht.

Was nun den Herrschaftsbereich dieser Tugend betrifft, so muss er wohl von gleicher Ausdehung sein mit dem der97 praktischen Vernunft. Diese aber soll doch das Ganze des menschlichen Verhaltens regieren. Und so giebt es in der That kein menschliches Thun, keine dem Einfluss des Willens unterliegende menschliche Regung überhaupt, auf die nicht die Forderung der Wahrheit Bezug hätte. Sie besagt im Grunde nichts andres als dass alles Menschliche am sittlichen Maasse, und in jeder praktischen Rücksicht ausschliessend so, zu bemessen ist, dass die Beleuchtung dieser Sonne im über - himmlischen Reich , der Idee der Wahrheit, sich Licht und Schatten verteilend auf das All der praktischen Welt verbreiten muss.

Beweist sich die Tugend der Wahrheit zuerst in der kritischen Reflexion und Willenseinwirkung auf das eigene innere Leben, in der sittlichen Selbstbesinnung und Selbstbestimmung, so beweist sie sich nicht weniger in jeder aufs Objekt ge - richteten Handlung, es sei blosse Erkenntnis oder ausübende That. Im Selbstbewusstsein wurzelt sie immer; aber aufs Selbst bezieht sich eben alles wollende Bewusstsein notwendig zurück. Auch Erkenntnis ist Willensthat, untersteht also dem obersten Gesetz des Willens, dem Gesetz der Wahrheit. Und es ist ja auch kein Zweifel, dass im unbeirrten Wahrheits - streben des Forschers, des seiner Denkkraft mächtigen Menschen überhaupt, in der Energie der Ueberwindung des Sinnentrugs, des Vorurteils, des versteckten Einflusses grober und feiner Interessen auf das Urteil, deren es in aller erkennenden Thätig - keit bedarf, sich hohe Sittlichkeit bethätigen kann. Aber auch in der nach aussen gerichteten That, in jeder, wie man recht sagt, redlichen Arbeit kann sich der Sinn der Wahrheit bekunden, als der Sinn, das Werk oder die Sache, an der oder für die man arbeitet, ihrem Gesetz gemäss zu gestalten, auch trotz jedes sich vordrängenden Anspruchs der eigenen Person oder falscher, nicht aus der Sache fliessender persön - licher Rücksicht überhaupt. Ich möchte es die Tugend der Sachlichkeit nennen, die offenbar einer der kräftigsten Aeste am Stamm unserer ersten Grundtugend, der Wahrheit ist. Sie kommt zur Anwendung in jedem menschlichen Werk, mag es sich um Kleines handeln oder um Grosses, um Arbeit anNatorp, Sozialpädagogik. 798Dingen oder an Menschen, um technische oder Handelsunter - nehmungen, um Kriegspläne, Gesetzentwürfe, Rechtssprüche oder um Werke der Dichtung oder Kunst, denn auch das ist nicht bloss Sache des Genies, sondern auch der redlichen Arbeit; die wahrhaft grossen Genies sind immer auch redliche Arbeiter gewesen.

In dem allen ist Wahrheit Pflicht, auch ganz abge - sehen von jeder Rücksicht auf den Nebenmenschen. Wir wären in Verlegenheit, wenn wir nach der gebräuchlichen Ein - teilung der Pflichten in solche gegen uns selbst und gegen den Nebenmenschen uns entscheiden sollten, in welche von beiden Klassen diese so weitreichende Pflicht der Sachlichkeit zu stellen sei. Jede sittliche Pflicht ohne Ausnahme ist Pflicht, nicht gegen, aber vor uns selbst, sofern das eigene sittliche Bewusstsein sie uns auferlegt; fragt man aber, worauf sie in der Ausübung sich erstrecke, so müsste man am Ende von Pflicht gegen die Sache reden, was denn doch etwas wunder - lich wäre. Diese ganze Einteilung fusst auf der unzulänglichen Vorstellung der sittlichen Verpflichtung als einer Verpflichtung auf Gegenseitigkeit. Ich bin, rein sittlich angesehen, über - haupt keiner Person verpflichtet, sondern allein dem sitt - lichen Gesetz. Erstrecken kann sich aber die Pflicht, der Materie nach, ebenso gut auf Sachen wie auf Personen, sofern irgend sie im Dienst sittlicher Aufgaben stehen.

Allerdings aber gilt nun eben dies in besonderer Weise von jeder willensfähigen Person, da jede auf eine solche sich erstreckende Handlung die Person zugleich als Sub - jekt und nicht bloss als Objekt des sittlichen Willens berührt. Und so gilt gewiss auch die Verpflichtung zur Wahrheit in besonderem Sinne gegenüber der andern Person und gegen - über der Gemeinschaft. Hier verdoppelt sich gleichsam die Verantwortlichkeit, die das Gebot der Wahrheit auferlegt; denn jede Verletzung beleidigt zweimal den heiligen Geist der Wahrheit, in der Person des Handelnden und dessen, auf den sich die Handlung erstreckt. Der Grund dieser Tugend wird dadurch zwar nicht berührt; die Unsittlichkeit der Lüge, das Verdienst der Wahrhaftigkeit wird nicht grösser dadurch, dass99 beides sich in den Folgen auf den Andern miterstreckt, nicht geringer dadurch, dass sie sich in den Tiefen des eignen Be - wusstseins verbirgt; doch kommt das neue Unrecht hinzu: die Schädigung der sittlichen Gemeinschaft, die mit Unwahr - heit durchaus nicht bestehen kann. Genauer kommt dabei zweierlei in Frage, erstens die Aufrichtigkeit, die direkt die Beziehung zum Andern betrifft: Aufrichtigkeit in Freundschaft und Liebe gegen die Nächststehenden, Menschlichkeit gegen jedermann, in allen öffentlichen und gemeinmenschlichen Be - ziehungen; zweitens die Aufrichtigkeit jedweder Thätigkeit, sofern sie innerhalb solcher Wechselbeziehungen stattfindet und den Andern irgendwie in Mitleidenschaft zieht. Im ersteren Fall wird ganz direkt das Interesse der Gemeinschaft be - troffen, er gehört daher eigentlicher zu unserer vierten Tugend; im andern steht obenan die Forderung der Wahrheit selbst und kommt die Pflicht der Gemeinschaft nur ausserdem auch ins Spiel.

Um von den manchen hierher gehörenden Fragen wenig - stens eine auch im besonderen zu behandeln: wie weit reicht wohl die Verpflichtung an öffentlichen Zuständen öffentlich Kritik zu üben? Es ist wahr, dass Feigheit tausend Gründe findet, die Grenzen dieser Verpflichtung möglichst eng zu ziehen; aber es giebt allerdings Grenzen. Wer schweren Tadel gegen Zustände, die den Schutz der öffentlichen Mächte und Autoritäten geniessen, unter eigener Gefahr wagt, hat im allgemeinen das günstige Vorurteil für sich, rein der Wahr - heit zu dienen, wenigstens ernster, wohlgeprüfter Ueber - zeugung Ausdruck zu geben. Aber leider hat Eitelkeit des Besserwissens, die kleinliche Freude eine Rolle zu spielen, ja die Lust am Streit daran oft so viel und mehr Anteil als der lautere Wahrheitssinn und die ernste Sorge ums gemeine Beste. Schwerwiegende Urteile über öffentliche, d. h. in den Folgen weittragende Verhältnisse soll man gewiss nicht ohne die sorglichste Prüfung, zumal öffentlich, aussprechen. Ist man aber seiner Sache gewiss, glaubt man auch die Folgen, die es haben kann, als im ganzen heilsame zu erkennen, handelt es sich zudem um Fragen von einschneidender Be -100 deutung für das Gemeinwesen, so hat man nicht bloss das Recht, sondern die dringendste Pflicht, seine Ueberzeugung mit allem Nachdruck auszusprechen auf jede eigene oder selbst fremde bloss persönliche Gefahr. Sogar eine Gefahr fürs Vaterland selbst dürfte in solchem Fall nicht in Erwägung kommen. Soll uns das Vaterland über alles in der Welt gelten, so heisst das sicher nicht: auch über die Wahrheit; als ob ein Vaterland ohne Wahrheit bestehen könnte. Dem Vaterland gerade schulden wir über alles und vor allem Wahrheit; wir haben, als sittliche Menschen, kein Vaterland, wenn es die Wahrheit nicht verträgt. Und wenn die Wahr - heit bitter ist, so ist es wahrscheinlich umso nötiger, dass sie gesagt wird. Im allgemeinen ist es notwendig, dass, was wahr ist, nicht ungesagt bleibe; nur folgt daraus nicht, dass es gleichgültig wäre, wer es sagt, und wie, und unter welchen Umständen.

Viel weitergehenden Einschränkungen unterliegt im per - sönlichen Verkehr die Verpflichtung, die Wahrheit nicht bloss zu denken, sondern auch zu sagen. Als allgemeines Gesetz lässt sich aufstellen: dass überall da, wo eine feste innere Ge - meinschaft besteht und erhalten bleiben soll, gegenseitige Wahrhaftigkeit nicht nur, sondern offene Aussprache Pflicht ist. Wer den Andern mit Unwahrheit behandelt, gesteht da - durch, dass er keine Gemeinschaft mit ihm haben will; aber auch, seine Herzensmeinung über Dinge, die den Andern gleichermaassen angehen, zurückzuhalten, bedeutet zum wenig - sten Ausschluss aus der innersten Gemeinschaft. Doch man ist nicht verpflichtet mit jedem die innerste Gemeinschaft zu suchen; Pflicht der Menschlichkeit ist nur, sie nicht von Grund aus unmöglich zu machen; das geschieht durch Lüge, aber im allgemeinen nicht durch Zurückhaltung.

Ueberblickt man so das weite Gebiet dieser Tugend, so kann es fast scheinen, als ob in ihr schon das Ganze der per - sönlichen Sittlichkeit enthalten wäre. In gewissem Sinne ist es auch so und muss so sein nach dem, was über das allge - meine Verhältnis der sämtlichen Grundtugenden festgestellt wurde: jede von ihnen muss sich auf das Ganze des mensch -101 lichen Willensbereichs erstrecken, da sie sich nicht sowohl durch das Gebiet des Handelns, das sie regieren, als durch den Anteil unterscheiden sollen, der jedem der Grundbestandteile des Wollens an der Sittlichkeit überhaupt zufällt. Der be - herrschende Faktor aber ist die Vernunft; daher versteht sich, dass man die Tugend der Vernunft und nicht etwa die der Tapferkeit oder des Maasses als einzige, alle andern einschlies - sende Tugend hat aufstellen können, wie von Sokrates und mehreren seiner Schüler bekannt ist. Dass indessen die blosse Einsicht doch nicht das Ganze der Sittlichkeit ausmacht, wird klar, sobald man sich an die andern beiden Bestandteile menschlicher Aktivität, Trieb und Willen (im engern Sinn) erinnert. Es wird sich also fragen: welche Seiten der indivi - duellen Tugend sind es, die in analoger Weise auf diese Mo - mente der menschlichen Aktivität sich beziehen, wie die Tugend der Wahrheit auf die praktische Vernunft. Und da ergiebt sich unschwer als die eigentümliche Tugend des Willens die, welcher die Alten den Namen der Tapferkeit gaben; als Tugend des Trieblebens aber die antike Sophrosyne, die Tugend des Maasses.

§ 13. 2. Die Tugend des Willens: Tapferkeit oder sittliche Thatkraft.

Der Begriff dieser zweiten Tugend ist, der Ableitung zu - folge, eigentlich der der Selbstzucht, der strengen Unterord - nung des Triebs unter die Regel des Willens, und dadurch be - dingten Energie und Festigkeit der sittlichen Entschliessung; also der Thatkraft der Sittlichkeit. Sie bildet das ge - naue Gegenstück der ersten Tugend; bezieht diese sich un - mittelbar auf den letzten Quell der persönlichen Tugend im Bewusstsein, die sittliche Einsicht, so betrifft jene die Aus - prägung der sittlichen Einsicht zur sittlichen That; oder den sittlichen Willen, sofern er nicht im blossen Bewusstsein ver - bleibt, sondern sich wirksam beweist, die verfügbaren Kräfte zusammengenommen in den Dienst der sittlichen Aufgaben zu stellen.

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Das ist aber offenbar der eigentliche Sinn der antiken Tugend der ἀνδϱεία oder virtus, wörtlich Mannhaftigkeit. Das muss man freilich prägnant verstehen, schiene es doch sonst das Geschlecht zu beleidigen, das sich oft genug als das sittlich stärkere erweist. Sei wie ein Mann sein soll , das will sagen: Habe einen Willen! Die gewöhnliche deutsche Wiedergabe durch Tapferkeit erinnert vielleicht etwas zu einseitig an die Behauptung im Streit, die doch nicht bedingungs - los sittlich ist. An sich aber ist das darin liegende Moment der Gegensätzlichkeit, des Kampfes wohl von Bedeutung, nur dass es sich auch handelt um die Besiegung der inneren Schwierigkeiten der Sache, vor allem der Schwierigkeiten, die sich in der eigenen Seele, von seiten des Trieblebens zunächst, gegen die kraftvolle Verwirklichung des erkannten Guten er - heben. Man spricht doch von tapferer Arbeit, tapferem Forschen, von Tapferkeit im Ertragen von Leid und Widerwärtigkeit, Tapferkeit der Selbstüberwindung.

Aber das alles unterschiede noch nicht die sittliche That - kraft von der Thatkraft überhaupt. Wie die Einsicht, kann nämlich auch die Thatkraft an sich sowohl dem Schlechten wie dem Guten dienen; beide sind an sich indifferent, ohne Tendenz in guter oder schlechter Richtung. Aber das gilt nur von der Einsicht, die bloss zum gegebenen Zweck die tauglichen Mittel findet. Handelt es sich dagegen um die Zwecksetzung selbst, so kommt man, wenn der gesetzte Zweck nicht immer wieder nur Mittel zu einem ferneren Zweck sein soll (und so ins Unendliche), notwendig auf den unbedingten Endzweck des Sittlichen. So verhält es sich auch mit der Thatkraft des Willens: sofern sie bloss für einen beliebigen schon vorausgesetzten Zweck die bereit liegenden Kräfte des Willens ins Spiel setzt, kann sie ebensowohl böse wie gut sein; als die eigentümliche Kraft hingegen, die auf ein un - verrückbares Ziel den ganzen Willen konzentriert und so seine ganze Energie zur Einheit zusammennimmt, tendiert sie notwendig zum Sittlichen.

Dadurch vollendet sich also erst der Begriff der sittlichen Tapferkeit: als des unbedingten Einsatzes aller Kräfte für103 das unbedingt Gute, als welches allein eines solchen Einsatzes wert ist. Das hatte Sokrates im Sinn, wenn er meinte, dass die sittliche Einsicht an und für sich auch stark genug sei jeden Widerstand von seiten des Trieblebens zu brechen. Sie hat diese Kraft freilich nicht als blosse Einsicht, sondern sofern die das Bewusstsein ganz einnehmende Erkenntnis des einen Endziels zugleich dem Willen Einheit und damit konzen - trierteste Kraft giebt. Die so zusammengenommene Energie des Wollens vereint seine Kräfte zu einer Wirkung, die be - greiflich jeder Gegenwirkung vereinzelter Triebe überlegen ist. Wir verlangen daher vom Menschen, der der Gewalt seiner Triebe schlaff und ohne Gegenwehr hingegeben ist, dass er sich zusammennehme ; genau dies ist das Eigentümliche der sittlichen Thatkraft. Dies Sich-zusammennehmen aber vollbringt schliesslich allein die konzentrierende Kraft der Einheit der Zielsetzung in der Idee des unbedingt Gesetzlichen, d. i. des Guten.

In ganzer Schärfe hat wiederum Plato dies Unterschei - dungsmerkmal der echten Tapferkeit erkannt. Was man ge - meinhin so nenne, der Einsatz der Person für ein beliebiges, bedingtes, empirisches Gut, wenn nicht gar für etwas in Wahr - heit Schlechtes, sei eigentlich Tapferkeit aus Furcht: man setze seine Person ein für irgend ein Nichtiges, das man zu verlieren fürchte, während in Wahrheit, nach sittlichem Urteil, sein Verlust gar nicht zu fürchten sei, wie Reichtum, Macht, äussere Ehre. Tapferkeit im echten, sittlichen Sinne sei nur der unbedingte Einsatz der Person für das unbedingt Gute, das, wie er sagt, die einzige Münze ist, gegen die man alles eintauschen sollte.

Nicht ohne Grund also sieht man die Probe der Tapfer - keit darin, jeder Gefahr, jedem Schmerz, namentlich aber dem Tode fest ins Auge zu sehen. Zwar kann auch die Festig - keit gegen Todesfurcht unsittliche Gründe haben; der elendeste Verbrecher dürfte in dieser vermeinten Tugend es mit dem sittlichen Heros aufnehmen. Je kleiner ein Mensch ist, desto kleiner ist auch der Heldenmut, sein Nichts wegzuwerfen, oft sozusagen für ein Butterbrot. Ein Edler wird vielleicht weniger104 rasch damit bei der Hand sein, sein Leben zu wagen; ist er darum weniger tapfer? Dennoch ist die jedem so natürliche Meinung, die in der Todesbereitschaft die Probe der Tapfer - keit sieht, nicht ganz im Unrecht; nur bleibt dabei die wesent - liche Bedingung unausgesprochen: dass es ein Edler ist, der sich opfert, und für eine edle Sache. Das schliesst ferner ein, dass das Selbstopfer mit Besinnung, in voller Klarheit des Bewusstseins gebracht wird. Dies alles vorausgesetzt, ist ge - wiss die Fähigkeit, sein ganzes empirisches Dasein daranzu - geben allein für sittlichen Gewinn, die Probe höchster Sittlichkeit, allein begreiflich aus dem sicheren Bewusstsein, dass alles Empirische von bloss bedingtem, das Gute der Idee allein von unbedingtem Werte ist.

Diese Möglichkeit der Selbstopferung aus rein sittlichem Motiv, die Möglichkeit, sich eine solche Selbstopferung auch nur zu denken, verdient in der Ethik besondere Beachtung als einer der stärksten Gegengründe gegen jede bloss empirische Begründung der Moral. Man versucht sie zu stützen auf eine Berechnung der Gewinn - und Verlust-Chancen: verliere ich mehr, wenn ich mein ganzes übriges Leben darangebe, oder wenn ich mein Leben erkaufe z. B. mit Schande oder sonstiger schwerer äusserer oder innerer Strafe oder Schädigung, oder auch nur mit dem Verzicht auf Güter, die mir höher gelten als was das Leben mir sonst bieten kann? Soll man solche Berechnung gelten lassen? Es widerstrebt schon dem un - befangenen Gefühl, selbst aus der Tapferkeit eine Berechnung zu machen. Bedeutet sie den unbedingten Einsatz der em - pirischen Person für das unbedingte Gute, so ist nichts zu berechnen, da gegen den unbedingten Wert des Guten kein endlicher, empirischer Wert überhaupt in Frage kommen kann. Die Konsequenz jener Berechnung dagegen wäre, dass auch der sittliche Schaden sein empirisches Maass und die Tugend ihren Preis hätte, um den sie verkäuflich wäre, was man doch wohl nicht hat sagen wollen. Nach solcher Berechnung möchte wohl oft der Verbrecher, der an seine verruchte That den Kopf wagt, so viel und mehr Recht haben als der sittliche Held, der der Folgen seiner Aufopferung niemals völlig sicher105 sein kann, und auch wirklich nicht danach fragt, was die Folgen thatsächlich sein werden, sondern allenfalls, was, so viel an ihm liegt, sie sein würden.

Ebenso wenig verfängt hier die Berufung auf den gesell - schaftlichen Instinkt als die Wurzel der Sittlichkeit. Die in - stinktive Rücksicht auf die gesellschaftliche Ehre und Schande, der in dunklen aber mächtigen Gefühlen uns beherrschende Einfluss des sozialen Lebens überhaupt ist gewiss sehr oft das wirklich treibende Motiv bei Thaten, die man als solche der höchsten Tapferkeit preist. Und doch macht das an sich die That nicht zur sittlichen. Der gesellschaftliche Instinkt kann an sich zum Verkehrten leiten so gut wie zum Rechten; sich ihm urteilslos überlassen ist keineswegs sittlich, allen - falls eine unverächtliche Stufe der Erziehung zum Sittlichen. Als solche wollen wir auch den Ehrtrieb gerne gelten lassen. Es giebt ohne Zweifel einen sittlichen Ehrtrieb. Unfraglich sieht gerade der sittliche Mensch es für ehrlos an, im ge - gebenen Falle sein Leben nicht zu wagen. Aber warum hält er es dafür? Weil Andere es dafür halten? Welche Anderen? Wahrscheinlich denkt die kleinste Zahl darüber so streng, wie man im sittlichen Interesse denken soll. Gerade die Ehrvor - stellungen der Menschen sind so himmelweit verschieden, dass es vor allem dafür eines Kriteriums bedarf. Welche Ehre ist denn nun für das sittliche Urteil maassgebend? Natürlich nur die sittliche. Aber dann stützt man Ehre auf Sittlichkeit, nicht Sittlichkeit auf Ehre; wie es auch allein zulässig ist.

Es verhält sich mit diesen abgeleiteteren Begriffen nicht anders als mit den allgemeinen der Lust, der Glückseligkeit, oder des Nutzens. Immer wird sich fragen: welche Lust, welche Glückseligkeit, welcher Nutzen entscheidet? Bestimmt die an irgend einem anderweitigen, aussersittlichen Maasse ge - messene Lust, Glückseligkeit oder Nützlichkeit, was sittlich, oder bestimmt vielmehr das eigene Gesetz der Sittlichkeit, was wahre Lust, Glückseligkeit, Nützlichkeit ist? Unter dem Gesetz der Lust und Unlust steht jede Handlung, jede Willensrichtung; der Edle findet am Edlen seine Lust, der Unedle am Unedlen. Aber eben darum bedarf es eines andern106 Maasses für unser Wollen und Handeln als der Lust. Sobald aber nur ein Unterschied der Wahrheit einer Lust, eines Nutzens von dem andern anerkannt wird, ist damit schon ein selbständiger Grund des Sittlichen zugegeben. Desgleichen lässt sich ein Vorrang des Nützlichen vor dem bloss Ange - nehmen ohne ein von der Lust verschiedenes Prinzip nicht be - gründen. Er ist darin begründet, dass der Mensch kein Augenblicksgeschöpf ist; aber eben diese Erwägung führt, in ihrer vollen Tragweite verstanden, über jede bloss empirische Begründung hinaus. Die sittliche Tugend der Tapferkeit, so - fern sie die Fähigkeit einschliesst, seine ganze empirische Exi - stenz für ein bloss ideelles Gut zu opfern, macht das nur be - sonders deutlich. Es ist nur einer der manchen Punkte, wo die empiristische Moralbegründung entweder sittlich oder logisch unverständlich wird: sittlich, wenn sie die Konse - quenzen des einmal gewählten Prinzips zieht, logisch, wenn sie sie zu ziehen unterlässt.

So wichtig übrigens für Theorie und Praxis der Sittlich - keit die negative Seite unserer Tugend, die Fähigkeit der Selbstopferung ist, an sich muss wohl diese Tugend, wenn irgend eine, nicht bloss negativ und passiv, sondern positiv und aktiv verstanden werden. Der Einsatz aller Kräfte für das erkannte Gute zieht als Folge nach sich, dass man, wenn nötig, auch das Leben dafür einsetzt; an sich aber fordert es wohl grössere Tapferkeit für das Gute zu leben als dafür zu sterben. Das Letztere ist meist Sache einer einzigen, raschen Entschliessung, die dem sittlich klaren Menschen in klarer Lage nicht sonderlich schwer fallen kann. Weit schwerer ist es dagegen, die Festigkeit des sittlichen Wollens in seiner positiven Bethätigung unter zahllosen lähmenden Einflüssen von aussen und von innen stündlich neu zu bewähren. Plato bemerkt irgendwo (Lach. 191), Tapferkeit habe sich zu be - weisen nicht nur gegen Schmerz und Furcht, sondern auch gegen Lust und Begier, und nicht nur im Standhalten, sondern auch im Fliehen. Er hätte hinzufügen dürfen, dass es nicht allein eine Tapferkeit gegen, sondern auch für etwas giebt, für das Gute und alles was zum Guten dient. Uebrigens kommt107 die aktive Natur dieser Tugend in anderer Weise bei ihm zur Geltung, in ihrer Beziehung auf die aktive Energie des Trieb - lebens, auf den ϑυμός. Er beschreibt darin nicht unrichtig die Wirkung der sittlichen Erhebung auf das Triebleben selbst, und zwar als aktiven Zustand, als edle Aufwallung für das Gute. Untriftig wäre es freilich, dieser Tugend geradezu ihren Sitz in einer so ganz dem Triebleben zugehörigen Ge - mütskraft anzuweisen; Plato selbst führt sie sonst, mit sokra - tischer Schroffheit, auf die Einsicht zurück. Wir vermeiden beide Abwege, indem wir sie dem Willen zuweisen, der zwischen Trieb und Einsicht in der Mitte steht, durch dessen Vermittlung sich der Einfluss der sittlichen Erkenntnis bis auf das Triebleben erstreckt. Denn dieses bietet überhaupt den Stoff, den der Wille, von der Vernunft geleitet, sittlich zu gestalten hat. Wollen heisst wesentlich: seinem sonst blinden Streben ein Objekt setzen, seine Triebkräfte auf eine Sache richten und dadurch einer festen, unausweichlichen Regel unterwerfen. Das ist nicht mehr ϑυμός, es steht ungleich näher der sokratischen φϱόνησις, die doch immer praktische Ver - nunft sein soll; aber es ist auch nicht an sich schon das sitt - lich Vernünftige, denn die Sache könnte schlecht, oder doch sittlich geringwertig sein. Doch bleibt diese strenge Unter - ordnung unter die Sache an sich ein wesentliches Moment der Tugend; und sie wird zur Tugend eben dann, wenn die Sache, für die ich mich einsetze, nicht bloss eine gute Sache, son - dern schlechthin das Gute ist. So wird die eigenartige Stellung der Tapferkeit im System der sittlichen Tugenden klar, während sie bei Plato bald nach der φϱόνησις, bald (so auch in der angeführten Stelle) nach der σωφϱοσύνη hinüber - schwankt. Richtig bleibt dennoch das Motiv, dass diese Tugend eine höchst positive und konkrete Beziehung auf die Aktivität auch in der unmittelbaren Form des Triebes hat; dass sie den Trieb selbst unmittelbar in den Dienst des sitt - lichen Willens stellt.

Diese Erwägung begründet zugleich, was übrigens nur kurzer Ausführung bedarf: dass auch diese Tugend sich, gleich der der Wahrheit, auf das Ganze der menschlichen Thätigkeit108 erstrecken muss. Denn alles eigentliche Thun des Menschen ist eben Willenssache. Wo kein Wille, da reden wir nicht eigentlich von Thun. Dagegen gehört nicht ebenso notwendig zum Begriff einer That die Darstellung des Willens in einem äusseren Stoff. Zur blossen Erforschung der Wahrheit, selbst wenn sie im reinen Erkennen ihr Ziel fände, gehört ein tapferer nicht minder als streng aufrichtiger Sinn; vollends zur Er - haltung sittlicher Gesinnung im Menschen, zur inneren, sitt - lichen Wahrhaftigkeit gehört gewiss ein hoher sittlicher Mut; nicht minder zur äussern Wahrhaftigkeit, zur Wahrhaftigkeit des Worts. Dann aber auch zu jeder unmittelbar an den Stoff gewendeten Arbeit ist nicht bloss die Tugend der Sachlich - keit, sondern auch entschlossene, rein für die Sache sich ein - setzende Thatkraft vonnöten. Man spricht also mit gutem Recht von tapfrer Arbeit. Treu ausharrender, unverdrossener Fleiss ist gewiss keiner Tugend verwandter als der Tapferkeit; ja was man zumeist darunter versteht, ist am Ende nur ein Ausfluss des erstern. Endlich erstreckt sich auch diese Tugend ganz besonders auf die Gemeinschaftsbeziehungen unter den Menschen. Untreue gegen Pflichten des Gemeinschaftslebens aus persönlicher Schwäche, Mattheit in sittlich begründeten Gemeinschaftsbeziehungen, in Liebe und Freundschaft, Untreue gegen das Vaterland hat gewiss am meisten ihren Grund in Mattherzigkeit überhaupt, bis zur deutlichen Feigheit, also im Gegenteil unsrer Tugend. Sie ist schecht, nicht allein oder hauptsächlich wegen der sich auf den Andern miterstreckenden Folgen, sondern an und für sich als Schädigung des eigenen sittlichen Charakters wie des der Gemeinschaft.

Besonders klar ergiebt sich aus allem Gesagten die ge - naue Wechselbeziehung zwischen den beiden ersten Tugenden. Wahr zu sein in der umfassenden Bedeutung des Worts, die wir kennen lernten, fordert ebenso gewiss Tapferkeit, wie umgekehrt tapfer im sittlichen Sinne keiner ist, es sei denn in unbeugsamer Treue gegen Wahrheit. Dieses schon einigemal gebrauchte Wort Treue drückt überhaupt un - übertrefflich die Einheit der beiden Grundtugenden aus; es besagt: Wahrhaftigkeit, die sich in standhaftem Ausharren109 bewährt, Standhaftigkeit, die aus dem Sinn der Wahrheit fliesst.

Die Analogie führt aber darauf hin, neben den Tugenden der Vernunft und des Willens noch eine solche anzu - nehmen, die sich unmittelbar auf den dritten Faktor der Akti - vität, das Triebleben bezieht. Auch das klassische System der Kardinaltugenden, dessen tiefe Anlage sich bis dahin be - währte, weist eine solche auf: die Tugend des Maasses, σωφϱοσύνη.

§ 14. 3. Die Tugend des Trieblebens: Reinheit oder Maass.

Es ist ein empfindlicher Mangel unsrer ethischen Kunst - sprache, dass ihr ein Wort fehlt, das dem griechischen σωφϱοσύνη recht entspräche. Die seit Schleiermacher gebräuchliche Ueber - setzung Besonnenheit trifft nur eine, bei Plato vorzüglich wichtige Seite dieser Tugend, aber unterscheidet sie kaum von der φϱόνησις, die wir mit Besinnung wiedergaben. Im griechi - schen ist das Unterscheidende im ersten Bestandteil des Worts, welcher heil, gesund heisst, wenigstens angedeutet; bestimmter giebt es sich kund in dem synonymen Wort κόσμιον. Das be - sagt nicht nur das äusserlich Anständige; der Grundbegriff ist vielmehr der der innern Wohlordnung, der geregelten, harmo - nischen Verfassung der Seele; den Gegensatz bildet die Maass - und Gesetzlosigkeit der Triebe, ὕβϱις. Auf denselben Begriff führt die oft gebrauchte, im Wort σωφϱοσύνη anklingende Ver - gleichung mit der leiblichen Gesundheit. Den Punkt der Ver - gleichung bildet das normale Verhältnis der Funktionen, in dem sie sich gegenseitig nicht stören, sondern unterstützen oder wenigstens streitlos mit einander bestehen. Das setzt voraus, dass jede für sich das rechte Maass innehält. Und so wird diese Tugend auch geradezu als die des Maasses, des μέτϱιον bezeichnet. Das führt dann wieder hinüber zu der Vergleichung mit dem ästhetisch Schönen, Symmetrischen , besonders aber mit dem Musikalischen, der Harmonie in eigent - licher Bedeutung oder Symphonie, oder auch der Eurhythmie. 110Vornehmlich im Sinne dieser Tugend gilt den Griechen das Sittliche als das Schöne (καλόν) der Seele. Bei den Lateinern, denen die Schönheit weniger im Gemüte liegt, verblasst das zum honestum; als ob die äussere Rücksicht auf den ehr - lichen Namen, auf das decorum beim Sittlichen die Haupt - sache sei. Auch unser Wort sittlich , das am öftesten von dieser Tugend im besondern gebraucht wird, erinnert zunächst an die äussere Sitte, die aber dann sich vertieft zum innerlich Gesetzlichen, Wohlgeordneten.

Stets aber wird diese Tugend von den Griechen auf das Triebleben bezogen, das, sich selbst überlassen, ohne Gesetz, Ordnung und Maass, ohne innere Zusammenstimmung bliebe. Dass das Ordnende die Vernunft, der vernünftige Wille ist, dass Besonnenheit oder das ordnende Walten der Vernunft über das Triebleben der eigentliche Grund dieser Tugend ist, aber auch die Energie des sittlichen Willens, die Tapferkeit der Selbstbezwingung dazu gehört, ist die wesentliche Errungen - schaft der Philosophie, vorzugsweise der sokratisch-platonischen. Damit ist in der That das notwendige Zusammenwirken der drei Faktoren der Aktivität in dieser Tugend richtig erkannt; die Beziehung auf das Triebleben aber bleibt vorwaltend.

Demnach lässt sich diese Tugend zutreffend als die des Maasses oder der sittlichen Ordnung des Trieb - lebens bezeichnen. Mit einem Wort kann man sie als Reinheit benennen; wobei man nicht so sehr an das Nega - tive: die Freiheit von Sündenschmutz, von Befleckung der Seele, als an das Positive: die ungetrübte Klarheit der inneren Gesetzesordnung denke. So spricht man in ästhetischer An - wendung von reiner Harmonie, reinen Farben, Reinheit der künstlerischen Form, der Sprache, aber auch von Reinheit des wissenschaftlichen Verfahrens, endlich und besonders von Rein - heit gemütlicher und sonstiger Verhältnisse unter Menschen. Das Gemeinsame in dem allen ist die gesetzmässig überein - stimmende und durch solchen Einklang befriedigende innere Verfassung, und zwar nicht als bloss gedacht oder angestrebt, sondern unmittelbar im Stoff dargestellt; das ist genau der Begriff, den wir brauchen.

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Somit stellt diese Tugend, auf der Grundlage der beiden andern, die Vollendung der persönlichen Sittlichkeit dar. Sie ist die konkreteste der drei Tugenden; es ist darin das Ideal gedacht, dass die Triebe selbst dem Befehle der Vernunft so völlig gehorchen, vielmehr von Anfang an einerlei Richtung mit ihr nehmen, dass eine gefahrdrohende Anwandlung von Schlechtigkeit nicht mehr möglich ist. Der religiöse Name der Heiligung liegt nahe und lässt sich in einzelnen An - wendungen kaum umgehen; nur möchten wir die religiösen Assoziationen fernhalten, um den rein ethischen Charakter der Untersuchung in keiner Weise zu verwischen.

Auch diese Tugend hat eine negative und eine positive Seite, und bei ihr wie bei der Tapferkeit drängt sich die ne - gative oder kritische Bedeutung Abwehr der ὕβϱις zunächst auf; aber auch bei ihr ist vor der einseitig negativen Auf - fassung zu warnen. Die ἐγκϱάτεια der Griechen, die Selbst - beherrschung, die Eigenschaft sich in der Gewalt zu haben, d. h. seiner Triebe Herr, nicht ihr Sklave zu sein, sie mässigen oder zügeln zu können, gilt wohl den Meisten als der eigentliche und ganze Sinn dieser Tugend. Das steigert man dann leicht zu der Forderung der Enthaltung, der Ent - äusserung, der Ertötung oder doch möglichsten Abschwächung der Triebe. Es ist die Tugend der Kyniker und ihrer christ - lichen Nachfolger, der Asketen aller Art: die Begehrungen möglichst klein zu halten; bei den erstern mit der ausgesprochen hedonistischen Begründung, damit man sie desto sicherer be - friedigen könne; so dass als das eigentliche Ideal völlige Be - dürfnislosigkeit erscheint. Aber gesunde Befriedigung des Triebs ist an sich so sittlich, so rein, so heilig wie die Ent - haltung von ungesunder Befriedigung. Die Gesundheit des Trieblebens ist so wenig davon abhängig, dass man die Triebe selbst möglichst knapp hält, also das Triebleben überhaupt möglichst ertöte, dass vielmehr eben die Gesundheit des Trieb - lebens die Bedingung seiner kraftvollsten und lebensfähigsten Entfaltung ist. Die Asketik ist ein unfehlbarer Arzt nur dass sie mit der Krankheit zugleich dem Patienten den Garaus macht. Gewiss ist Selbstbeherrschung , d. i. Beherr -112 schung der Triebe unerlässlich. Aber es ist die Weise schlechter Herrscher, die Unterthanen möglichst schwach zu wollen, da - mit sie sich desto leichter regieren lassen. Man übersieht, dass die Herrschaft über kleine und schwache Triebe auch kleine und schwache Herrschaft ist. Die Gewalt über den Trieb ist erst die negative Vorbedingung, nicht das Ganze und Positive dieser Tugend; das Positive ist vielmehr: Ge - brauch des Triebes nach seiner wirklichen, natürlichen und sittlichen Bestimmung, nicht ausserhalb dieser Bestimmung.

Man hat sich das Verständnis dieser Tugend am meisten dadurch erschwert, dass man fast ausschliesslich an die gröbsten, auf das bloss physische Dasein bezüglichen Triebe gedacht hat, an den Ernährungs - und Fortpflanzungstrieb, und etwa noch an die abgeleiteteren, aber zuletzt auch lediglich auf Selbst - behauptung im Kampf ums Dasein gerichteten Triebe der Habsucht, Ehrsucht, Herrschsucht . Nun liegt allen diesen doch auch etwas Gesundes zu Grunde. Weshalb läge auf Verschwendung und Schädigung des physischen Lebens und der Mittel und Bedingnisse der Lebenserhaltung ein schwerer sittlicher Tadel, wenn nicht das Leben selbst und was seiner Erhaltung dient, an sich etwas Fördernswertes wäre? Weshalb ist uns das Verhältnis von Mutter und Kind rein und ehrwürdig, weshalb konnte der Vatername sogar heilig genug erachtet werden, um der Gottheit beigelegt zu werden, wenn Vater - und Mutterschaft an sich unrein wäre? Und so ist doch auch nicht aller Besitz, alle äussere Ehre, alle Macht und Herrschaft über Dinge und auch über mensch - liche Arbeitskräfte an sich verwerflich. Verfügbare Energie des Triebs ist zu aller und jeder menschlichen Thätigkeit, sie ist vor allem auch zur Arbeit an der eigenen geistigen und sittlichen Entwicklung erforderlich; wie sollte es also nicht auch sittlich gefordert sein, sie zu erhalten und zu stärken?

Am ärgsten ist wohl die Verwirrung über einen Begriff, der ganz besonders hierher gehört, nämlich den der Keusch - heit. Man denkt dabei entweder bloss an das gesellschaftlich Anständige oder wozu einer sich ungescheut bekennen darf; wo denn wohl der bekannte Unterschied zwischen keuschen113 Ohren und keuschen Herzen zu Recht bestände. Oder wenn man denn diese Tugend bis ins Herz wurzeln lässt, so verfällt man dann leicht ins Asketische (wie in unserer Zeit wieder zwei so ehrliche Naturen wie Kierkegaard und Tolstoj), und gerät dahin, selbst jeden Gedanken an die natürliche Bestim - mung der Geschlechter, jeden Wunsch ihrer Erfüllung für un - keusch zu erklären. Da käme aber diese angebliche Tugend in schwierige Kollision mit der allerursprünglichsten, unver - letzlichsten Tugend der Wahrheit. Es könnte dann am Ende wahrhafter und also sittlicher scheinen, sie ganz und gar als thörichte Menschensatzung über Bord zu werfen und das Natur - gebot der Begierde zum unumschränkten Gesetz des Handelns und Denkens zu erheben. Oder endlich, man versteht unter der Keuschheit des Herzens sogenannte Unschuld, d. h. Un - wissenheit über das Natürliche, wenigstens Ahnungslosigkeit über die furchtbare Gewalt des Naturtriebs, mit eigener Be - gehrungslosigkeit, also das Verharren im Kindesstande, auf den man selbst wie auf ein verlorenes Paradies zurückblickt, den man aber dem heranwachsenden, ja dem erwachsenen Weibe zumutet. Denn dem Manne kann man sie nicht wohl zumuten; er soll doch den Wirklichkeiten des Menschen - daseins ins Auge sehen lernen. Das heisst aber das Weib mit einer sehr zweifelhaften Tugend schmücken, um ihm zwei so zweifellose, unerlässliche Tugenden wie Wahrheit und Tapfer - keit des sittlichen Willens zu nehmen. Es ist eine unbedingt höhere Auffassung der weiblichen wie der männlichen Tugend, welche diese Unterscheidung und damit diesen ganzen Begriff der Keuschheit als Unschuld verwirft. Wahre Unschuld ist nur die, die das Schuldlose auch schuldlos nimmt, um so sicherer, je fremder ihr die wahre Schuld der Unkeuschheit ist.

Was ist denn nun der echte Begriff dieser so schwierigen Tugend? Er ist so einfach wie alle Tugend, und dem sittlich Gesunden fast selbstverständlich. Sie besagt erstens, als Vor - bedingung: sichere Herrschaft über den Naturtrieb; sodann aber: Gebrauch des Triebes nach seiner wirklichen, natürlichen wie sittlichen Bestimmung, nicht ausserhalb dieser Bestim - mung. Die natürliche Bestimmung ist die Fortpflanzung. Natorp, Sozialpädagogik. 8114Schon dadurch ist für den Gebrauch des Triebes eine uner - bittliche Grenze gezogen, die Grenze, die die Unkeuschheit besonders nicht anerkennen mag; sie zieht vielmehr haupt - sächlich daraus ihre Nahrung, dass sie den Trieb gebrauchen, aber seinen Zweck, die Fortpflanzung, umgehen will, weil seine Anerkennung dem Gebrauch des Triebes offenbar Schranken auferlegt. Es ist hier, wie bei der Trunksucht, der Habsucht u. s. f. auffällig (was man Kant nicht hat glauben wollen), dass alle Unsittlichkeit auf einen Selbstwiderspruch des Willens hinauskommt. Dann aber und vornehmlich kommt im Geschlechtsverhältnis die seelische Beziehung in Frage, und da erst recht zeigt sich der hohe, ganz positive Sinn der Herzensreinheit in der Tugend der Keuschheit. Es ist die Reinheit, der das Reine rein ist, indem es bezogen wird auf das Heiligtum der Seele; der das physische Leben, und so auch seine Weitergabe, geheiligt ist durch seine Beziehung auf das seelische Leben, dem es dient; für die daher die Höhe des physischen Lebens die Höhe, da es sich verewigt, in - dem es sich verschenkt zugleich zu einer Höhe des seelischen Lebens zu werden vermag. Und das um so mehr, als zugleich das Verhältnis von Seele zu Seele in solcher Gesinnung sich zur ganzen Wahrheit reinigt: der Eine traut dem Andern eine Seele zu, erkennt in ihm wie in sich selber die sittliche und nicht bloss die sinnliche Person, und diese als unverletzliches Heiligtum an, um auf dies Heiligste, wie sein ganzes Sein und Leben, so auch alles, was er gegen uns ist und thut, uns giebt oder von uns empfängt, zuletzt zurückzubeziehen. Das ist freilich sinnlos, wenn man das Ziel des Naturtriebs im Genuss des Augenblicks sieht; aber es erhält klaren Sinn, wenn man sich besinnt, dass es dem Menschen verliehen ist, dem Augenblick Dauer zu verleihen , ja in eine Ewigkeit hinauszublicken. Diese stellt sich ihm menschlich und irdisch dar in der Folge der Geschlechter, wodurch der Einzelne sein beschränktes Dasein an das Leben der ganzen Menschheit kettet. Die Ueberlieferung des Menschentums von Geschlecht zu Geschlecht ist demnach das wahre, sittliche Ziel der Fort - pflanzung. So hat selbst Plato, der sonst einigermaassen zur115 Asketik neigt, die leibliche Fortpflanzung darstellen können als die Art wie das Sterbliche an Unsterblichkeit, an Ewigkeit teilhat. Dieser Sinn der Keuschheit ist völlig derselbe für Mann und Weib; der Mann und das Weib, das nicht in diesem hohen Sinne keusch ist, ist gemein, oder bestenfalls ein ge - sundes unwissendes Tier. Wiederum aber ist solche Keuschheit weit verschieden von blöder Scham: sie hält es für reiner, die Scham in Liebe untergehen zu lassen als sie festhalten zu wollen. Keusche Liebe hat sich nie ihrer selbst zu schämen, sondern allein der Unkeuschheit. Dem Weibe wird also nicht mehr Unwissenheit um das Natürliche und kindisches Grauen davor als Tugend angerechnet; und der Mann nicht von seinem redlichen Anteil an dieser edlen Tugend entbunden, ja wohl der schwerere Teil der Verpflichtung und Verantwort - lichkeit dabei ihm auferlegt. Endlich kommt so erst die positive Seite der Reinheit zu voller Anerkennung. Es ist begreiflich, dass gegenüber dem gewaltigsten aller natürlichen Triebe der negative Sinn der σωφροσύνη sich vorzugsweise aufdrängte, im letzten Grunde aber erschöpft sie sich auch hier nicht im Unterlassen oder passiven Geschehenlassen, sondern entfaltet ihre ganze Tiefe erst in der Position, in der Energie des Thuns. Sie verneint nicht das Triebleben, sondern bringt es vielmehr erst zu seiner gesunden und damit kraftvollen Ent - faltung. Die Fortpflanzung der Menschheit in leiblicher und seelischer Gesundheit ist der keuschen, nicht der unkeuschen Liebe anvertraut. Auch diese Tugend ist eine der mächtigsten Beweisungen der Lebensenergie der Menschheit. *)Vgl. zu der Frage auch den Aufsatz Ueber Sinnenglück und Seelenfrieden , in der Zeitschrift Die Wahrheit , Bd. 8 S. 65 ff.

Und so will allgemein unsere dritte Tugend das Triebleben nicht ausrotten oder entkräften oder bloss bändigen wie ein wildes Tier, sondern es möglichst unversehrt in den Dienst unserer sittlichen Bestimmung stellen, die, nach ihrer wesent - lichen, inneren Beziehung zur Natur, nicht auf einen vergeb - lichen Krieg mit dieser, sondern nur auf ihre gesunde und reine d. i. ihrem innern Gesetz gemässe Entfaltung im Menschen zielen kann.

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So tritt denn durch diese Tugend die menschliche Sitt - lichkeit in die unmittelbarste überhaupt zulässige Beziehung zur Natur. Sie vertritt, in konkreterem Sinne als eine der vorigen Tugenden, die Erhebung alles Natürlichen, soweit irgend es dessen fähig ist, zu sittlicher Bedeutung. Alles menschliche Thun und Streben hat aber eine der Sinnlichkeit zugekehrte Seite, es beruht nicht auf Vernunft und Willen allein, sondern hat noch einen Naturgrund, den wir allgemein mit Trieb bezeichnet haben; auf diesen, und zwar in allen seinen Gestaltungen, bezieht sich unsere dritte Tugend. Auf den Begriff des Triebs führten wir den der Arbeit zurück; und so gehört alle eigentlich so benannte, unmittelbar auf den Stoff gerichtete, auf Sinnes - und Muskelkraft beruhende Arbeit unter die Herrschaft dieser Tugend. Der grosse Satz, der mit steigender Kultur zu immer höherer Bedeutung gelangt, von der Heiligkeit der Arbeit, ordnet sich ganz ihr unter und ist einer ihrer deutlichsten und positivsten Ausdrücke; an ihr besonders zeigt sich, dass diese wie jede andere ur - sprüngliche Tugend nicht allein oder zuerst in dem besteht, was man lässt, sondern in dem, was man thut und wie man es thut. Luther, demselben, der nach der Zeit des Mönch - tums wieder die Reinheit der Ehe betont hat, danken wir es, dass er die Heiligkeit der Arbeit und damit des weltlichen Berufs zu Ehren gebracht und so das Verständnis dieser hohen Tugend unserer Nation besonders tief eingeprägt hat. Die mächtige sozial-ethische Bedeutung, die darin liegt und die mit der Verschärfung der sozialen Frage sich nur er - höhen kann, leuchtet ein; fast die ganze Ethisierung der sozialen Frage hängt daran; sie bezieht sich, ethisch angesehen, durchaus auf die Versittlichung des sozialen Trieblebens in Arbeit und Genuss.

Ueberhaupt drängt sich in fast allen Bethätigungen dieser Tugend ihre zugleich soziale Bedeutung besonders stark auf. Begreiflich, denn je näher wir den realen Bedingungen des menschlichen Daseins kommen, je konkreter wir seine Tugend zu erfassen suchen, um so weniger lässt sich von den sozialen Beziehungen überhaupt absehen, um so dringlicher zeigt es117 sich, auch und vor allem diese durch und durch sittlich zu gestalten. Das darf nun wiederum nicht verleiten, den Grund und Wert dieser Tugend etwa ausschliesslich in ihrer sozialen Bedeutung zu suchen. Sie ist an sich selbst gefordert, auch mit gänzlicher Abstraktion davon, welchen Dienst sie dem Andern oder selbst dem Ganzen leiste. Aber freilich besteht das Gebot der Reinheit, wie jedes sittliche Gebot, aus gleichem Grunde wie für den Einzelnen auch für alle und erhält durch die gleichzeitige Beziehung auf die Gemeinschaft noch ver - tieften Sinn; ja es könnte überhaupt nicht davon die Rede sein, den Adel der Menschheit in der eigenen Person zu er - halten, wenn es keine Menschheit, keine menschliche Gemein - schaft gäbe. Auch ist diese höchste sittliche Beziehung für diese Tugend so unerlässlich wie für jede andre. Sie lässt sich, auf der Höhe ihrer Bedeutung, nicht lediglich auf den Naturtrieb zur Glückseligkeit (auch wenn er als zugleich sozialer Trieb verstanden wird), mit Umgehung eines Vernunft - grundes stützen.

Und so bestätigt sich auch wieder der unauflösliche Zu - sammenhang sämtlicher Grundtugenden, demzufolge keine ohne die andern bestehen kann, jede, je nachdem man es ansieht, jede der andern zur Voraussetzung hat. Die sittliche Ordnung des Trieblebens, wie sie sich uns darstellte, ist offenbar nicht zu erreichen ohne eine grosse Klarheit der sittlichen Einsicht und ohne voll entwickelte Kraft und Festigkeit des sittlichen Willens. Umgekehrt ist Regellosigkeit und Ungesundheit des Trieblebens das Haupthindernis, zu fester sittlicher Energie und unbeirrter sittlicher Einsicht und Wahrhaftigkeit jemals zu gelangen. Die Erziehung beginnt naturgemäss von unten auf, bei der Disziplinierung des Trieblebens; höhere Forderun - gen an die sittliche Energie und Erkenntnis lassen sich über - haupt erst stellen, nachdem der Hauptwiderstand gebrochen ist, der sich von dorther gegen beide erhebt. An der Ver - sittlichung des Trieblebens erstarkt die Kraft des sittlichen Wollens und der sittlichen Einsicht, die dann wieder zur feste - sten Stütze für jene wird. So helfen sich alle Tugenden und fördert jede die andere, indem sie zugleich aus jeder selbst118 neue Kraft zieht. Aber nicht minder helfen sich in verhäng - nisvollem Bunde alle Untugenden: Lüge und sittliche Schwäche der Unordnung des Trieblebens und umgekehrt. Der wilde, regellose Trieb ist der gefährlichste Sophist und erbärmlichste Schwächling; um so sophistischer und erbärmlicher, je mehr er sich in das Gewand der rechten Wahrheit und rechten Forschheit zu kleiden liebt.

In dieser Tugend vollendet sich, wie es scheint, die Sitt - lichkeit des Individuums zur konkretesten Gestalt, deren sie fähig ist. Allein die bloss individuelle Sittlichkeit ist über - haupt nur Abstraktion. Der Einzelne lebt nun einmal nicht vereinzelt, sondern jederzeit in Gemeinschaftsbeziehungen; es ist also eine blosse Fiktion, vom Individuum wie von einem Ding für sich zu reden. Andrerseits wurzeln die Gemeinschafts - beziehungen doch in den Individuen selbst; sie existieren über - haupt nur im Bewusstsein der Einzelnen. Soll es also eine Tugend der Gemeinschaft geben, so muss sie, da doch Tugend Sittlichkeit heisst und Sittlichkeit in Individuen allein Leben und Ursprung hat, auch in ihnen, also in Gestalt einer indi - viduellen Tugend sich ausprägen. Es ist nun schon bei der Behandlung der drei im engeren Sinne individualen Tu - genden fortwährend auch die Beziehung auf die Gemeinschaft berücksichtigt worden. Doch ist es zum wenigsten noch eine eigene und wichtige Seite an aller individuellen Tugend, dass sie das Bewusstsein der Beziehung auf die sittliche Gemein - schaft wesentlich einschliesst. Auch genügt es nicht, bei jeder jener drei Tugenden neben der individuellen die soziale Seite hervorzuheben, sondern man hat Grund, die soziale Tugend des Individuums auch als ein eigentümliches Ganze ins Auge zu fassen.

Deswegen stellen wir als vierte individuelle Tugend eben die soziale Tugend, sofern sie Tugend des Individuums ist, auf. Wir bezeichnen sie, wiederum im Anschluss an die Alten und besonders an Plato, mit dem Namen der Gerechtigkeit.

In der Anordnung unsrer vier Tugenden aber wird man die zwingende Notwendigkeit nicht verkennen, mit der die Betrachtung von den abstrakteren zu immer konkrete -119 ren Gestaltungen des Sittlichen, wie bisher, so auch jetzt wieder, fortschreitet.

§ 15. 4. Die individuelle Grundlage der sozialen Tugend: Gerechtigkeit.

Unter Gerechtigkeit als individueller Tugend verstehen wir, dem Gesagten zufolge, die auf die Gemeinschaft bezügliche Seite an aller Tugend des Individuums. Daher muss jede der andern individuellen Tugenden, sofern die Gemeinschaftbezie - hung in Frage kommt, etwas von dem Charakter der Gerech - tigkeit annehmen. So zeigt es sich in der That: sofern die Regelung des Trieblebens in Arbeit und Genuss im Interesse der Gemeinschaft gefordert ist, wird sie zu einer der haupt - sächlichsten Forderungen der Gerechtigkeit; ebenso Tapferkeit, sofern sie der Gemeinschaft dient, sofern sie besagt, dass jeder an seinem Posten, in seiner um der Gemeinschaft willen nötigen Bethätigung aushalten und seine Sache nicht im Stiche lassen soll, ist eine Pflicht der Gerechtigkeit; endlich Wahrhaftigkeit im Verhalten zum Andern, Ehrlichkeit, Redlichkeit, wechsel - seitige Treue hat man von jeher zur Gerechtigkeit gerechnet; ihre Verletzung ist nicht nur persönliches, sondern soziales Unrecht.

Und zwar ist das Wesen dieser Tugend darin schon voll - ständig enthalten, dass alles, was an sich sittlich gefordert ist, gleichsam noch einmal, in der That in neuem, erweitertem Sinne gefordert wird im Interesse der Gemeinschaft. Eine eigene Materie hat diese Tugend also nicht aufzuweisen. Alle Erklärungen, die man von ihr zu geben versucht hat, sind denn auch rein formal; so die alte Formel, nach der sie Jedem das Seine , was ihm zukommt oder gebührt, zu teil werden lässt, sein Recht und seine Pflicht. Was dies Gebührende sei, lässt sich gar nicht anders als in Hinsicht der drei Grund - elemente der Aktivität, mithin gemäss den drei ersten Tugen - den bestimmen. Die Erhebung der Gemeinschaftsbeziehung der sittlichen Forderung ins ausdrückliche Bewusstsein unsres120 Thuns ist das einzige Neue, was hinzukommt; darin ist die Eigentümlichkeit dieser Tugend erschöpft.

Soll man sie darum etwa überhaupt nicht zur Tugend des Individuums rechnen? Wir schieden individuale und soziale Tugend nach dem Subjekt, von dem sie ausgesagt wird, und nach dem Ziele, worauf sie sich richtet. Individual also ist sie, wenn sie das Individuum, sozial, wenn sie die Gemein - schaft zum Subjekt hat; und die sittliche Ordnung des Indi - viduallebens ist im ersteren Fall, die des sozialen Lebens im letzteren ihr Ziel. Beides ist nun zwar untrennbar; aber die Beziehung ist darum doch eine zweifache. Zur sittlichen Ord - nung des Individuallebens gehört aber auch die Ordnung der Beziehungen des Individuums zur Gemeinschaft, soweit sie von den Eigenschaften und Willenshandlungen des Individuums abhängt. Dass das einen Unterschied macht, tritt darin klar zu Tage, dass ein gerechtes Verhalten vom Individuum auch dann gefordert wird, wenn die Gemeinschaft, der es zugehört, einer gerechten Regelung entbehrt und vielleicht dem Einzelnen auch gar kein Mittel übrig gelassen ist, auf eine gerechtere Gemeinschaftsordnung direkt hinzuwirken.

Auch lässt sich nicht behaupten, dass die Tugend der Gerechtigkeit ihr Ziel schlechthin nur im Gemeinschaftsleben hätte, dass man gerecht sein sollte bloss um der Gemeinschaft, nicht auch um seiner selbst willen. Zwar für den, der durch irgend ein Verhängnis von aller menschlichen Gemeinschaft für immer abgeschnitten wäre, würde diese Tugend ihre unmittel - bare Anwendbarkeit verlieren. Allein schon in jedem Gedanken an die übrige Menschheit würde sie ihre Bedeutung auch für ihn behalten; es wäre für ihn selbst nicht gleichgültig, ob er sie auch da wegwürfe oder nicht. Aber auch wer in mensch - licher Gemeinschaft lebt, muss Gerechtigkeit üben nicht nur im sittlichen Interesse der Gesamtheit, sondern ebenso sehr im höchsten eigenen sittlichen Interesse. Es hat also guten Grund, wenn Plato die Gerechtigkeit als ebensowohl indivi - duale wie soziale Tugend behandelt; nur tritt in seiner Ab - leitung der Gerechtigkeit als individualer Tugend die unerläss - liche Beziehung auf die Gemeinschaft allzu sehr zurück. Die121 Gerechtigkeit als individuelle Tugend wird ihm, wenigstens im Staat , zum blossen Ausdruck des normalen Verhältnisses der seelischen Grundkräfte, also nur zu einem andern Namen für die Tugend überhaupt und als Ganzes, die ja eben in diesem normalen Verhältnis besteht. Zugleich weiss er sie von der Sophrosyne, die auch die innere Harmonie der Gemüts - kräfte bedeuten soll, nicht überzeugend zu scheiden. Diesen Verwicklungen entgeht man, indem man sich besinnt, dass die Gemeinschaftsbeziehungen in den Individuen doch wurzeln, also auch die Tugend der Gemeinschaft auf der individuellen Tugend und zwar auf einer bestimmten, eben der Gemeinschaft zugewandten Seite der individuellen Tugend beruhen muss. So hat man es eigentlich sonst immer aufgefasst; auch Plato selbst an andern Stellen.

Der Grund dieser Tugend ist kein anderer, als der die Allgemeingültigkeit des Sittlichen überhaupt, d. h. seine Gül - tigkeit nicht bloss für alle Subjekte, sondern auch in Rück - sicht aller, begründet. Es ist der Satz der reinen Ethik, den Kant so formuliert hat: dass in der Person eines jeden die Menschheit d. i. die sittliche, die vernünftige Person, und diese unbedingt, zu achten sei; denn es gebe nichts, das ohne Ein - schränkung gut genannt werden könne, als allein den guten Willen, folglich nichts, das würdig wäre, den letzten Zweck des Sittlichen auszumachen als die Erhaltung des sittlichen Willens in jedem, der dessen überhaupt fähig ist, d. h. in jedem sittlicher Vernunft fähigen Subjekt, jeder Person .

Das Moment der Gleichheit, das im Begriffe der Ge - rechtigkeit unfraglich liegt, ist nur hieraus klar zu verstehen. Denn von Natur sind die Menschen nicht gleich und werden es nicht sein, auch wenn man sich die weitgehendsten Forde - rungen an Gleichheit der äusseren Lebensbedingungen und vor - züglich der äusseren Bedingungen geistiger Entwicklung er - füllt denkt. Der thatsächlichen Beschaffenheit der Menschen gegenüber ist die Gleichheit eine Fiktion, allenfalls ein Wunsch. Als sittliche Forderung aber hat sie den klaren Sinn: dass jeder, auch wer thatsächlich auf der niedrigsten Stufe der Menschheit steht, des Sittlichen doch fähig ist oder befähigt122 werden kann, mindestens hätte befähigt werden können. Auch noch dem unheilbar Schlechten gegenüber (wenn es einen solchen giebt) bedeutet die Gerechtigkeit, die wir ihm schulden: dass er für seine Schlechtigkeit nicht durchaus als Einzelner ver - antwortlich zu machen ist; dass auch jeder, der sich besser glaubt, sich seiner Mitschuld an aller in der Gemeinschaft, der er zugehört, vorhandenen Schlechtigkeit bewusst wird. Auch der entartete Mensch darf im Sinne sittlicher Gerechtigkeit nicht der Bestie gleichgeachtet werden, auch der reinste sich nicht vor sittlichem Schaden sicher wähnen. Insofern gilt die Forderung der Gleichheit in unnachgiebiger Strenge. In jedem ohne Unterschied ist sittlich nichts zu achten als allein der sittliche Wille, dieser aber auch in seinem verborgensten Keim, auch als blosse, durch Nichtgebrauch vielleicht verkümmerte, aber an sich doch als vorhanden anzunehmende Anlage; und zwar unbedingt, ohne Vergleichung mit irgend einem bloss empirischen Wert.

Das ist nun aber sehr gewöhnlich und begreiflich, dass die Beurteilung eben auf die Vergleichung empirischer Werte abirrt. Daraus entspringt dann ein ganz anderer, von Gleich - heit sich weit entfernender Sinn der Gerechtigkeit, nämlich dass jedem zu teil werden solle, was er wert ist, dem Besseren Besseres, dem Schlechteren Schlechteres; das Gute, nein der Gute müsse belohnt, der Schlechte bestraft werden. Das hält man vielleicht für die von Plato empfohlene geo - metrische d. i. proportionale Gleichheit. Es giebt aber eine seltsame Proportion, wenn gut und schlecht dabei so ganz Verschiedenes bedeuten: das eine Mal das Maass des Gutseins, der persönlichen Tugend, das andere Mal das Maass des Guten, das man geniesst, nämlich des Anteils an äusseren Gütern und Vorteilen, an Besitz, Macht, Ansehen, öffentlicher Auszeichnung und allem was von dieser Ordnung ist. Aber das hat wenig - stens Plato nicht gemeint, dass Tugend käuflich sein sollte um solche Münze, dass äussere Ehre und klingender Lohn für Tugend der Sinn der Gerechtigkeit sei; er hat das genaue Gegenteil davon mit schneidender Schärfe betont: dass das Gerechte gerecht ist auch verborgen vor Göttern und Menschen,123 und es bliebe, auch wenn man das Schlimmste darum leiden müsste. Sein Satz von der porportionalen Gleichheit meinte etwas ganz Anderes. Plato war allerdings der Ansicht, dass der Tüchtige den Befehl haben, der Untüchtige gehorchen müsse; aber nicht, weil jener grössere Ansprüche an Gutes erheben dürfe, sondern aus dem ungefähr entgegengesetzten Grunde: weil grössere Leistungen von ihm zu verlangen seien. Nicht als der persönlich Tüchtigere soll er grössere persön - liche Vorteile geniessen; das würde in kurzem seine Tüchtig - keit zerstören; sondern damit das Werk gedeihe, soll der Sachverständige befehlen. Der Vorteil, der dabei zu suchen, ist nicht seiner, sondern derer, denen er befiehlt. Er hat den Befehl, sofern er die Sache versteht; aber die Sache ist gemeinsam. Eine Sache, welche es auch sei, aus - schliesslich sein eigen nennen, ist ihm der Inbegriff des sozialen Unrechts, ein auf diesen Begriff des Eigentums gebauter Staat das Gegenteil des sittlich geforderten. Viel - mehr sind beide, der Befehlende und der Gehorchende, Eigen - tum der Gemeinschaft, ihr Befehlen und ihr Gehorchen Dienst der Gemeinschaft. Das ist der Aristokratismus Platos, der am Ende auch Demokratismus heissen könnte, sofern darunter die Verneinung jedes Befehlsrechts einer Klasse als solcher und nicht lediglich des Tüchtigeren verstanden wird. Dieser Aristokratismus ist mit der sittlichen Gleichheit wohl im Einklang; denn diese besagt die für alle an sich gleiche Ver - pflichtung, seine Kräfte in den Dienst des Guten und, sofern das Gute Gemeinschaftssache ist, in den Dienst der Gemein - schaft zu stellen; welche an sich gleiche Pflicht sich empirisch modifiziert nach dem Maasse der Fähigkeit der Einzelnen. Da übrigens die menschlichen Fähigkeiten bildsam sind, so be - steht auch wiederum die Verpflichtung, allen an sich gleiche Möglichkeit zur Ausbildung ihrer Fähigkeiten zu schaffen. Dabei aber stellt sich nun, merkwürdig genug, eine Art um - gekehrter Proportion heraus: wie der Kranke mehr leibliche Pflege für sich fordern darf als der Gesunde, so hat der weniger Begabte Anspruch auf desto grössere Sorgfalt für seine Bildung. Die Formel, dass dem Bessern Besseres gebühre,124 dem Schlechtern Schlechteres, versagt hier völlig; diese Pro - portion wäre hier schreiendste Ungerechtigkeit, sie würde sagen: Wer hat, dem wird gegeben, und wer nicht hat, dem wird auch noch genommen, was er hat. So kann die Gleich - heit, die der Begriff der Gerechtigkeit vorschreibt, sich empi - risch äusserst verschieden ausnehmen; Beweis genug, dass dieser Begriff nicht aus der Erfahrung geschöpft ist. Wir folgern ihn ganz schlicht aus dem Gemeinschaftscharakter des Sittlichen. Die Idee der sittlichen Gleichheit ist mit dem ent - schiedenen Willen sittlicher Gemeinschaft[unzertrennlich] ver - bunden. Sie kann nicht auftauchen, wo nicht eine gewisse Gemeinschaft schon besteht. Mit deren blossem Bestande ist aber auch ihre sittliche Gestaltung gefordert; und das schliesst in sich, die sittliche Gleichheit, die zuerst nur in der Idee existierte, so viel als möglich zur That und Wahrheit zu machen; denn die höchste, d. h. eben die sittliche Gemein - schaft kann nur auf dem Grunde der Gleichheit bestehen. Das Individuum wird dabei aber nicht geopfert. Mit der höchsten Tugend des Individuums, die eins ist mit der Ent - faltung seiner höchsten Kraft und Tüchtigkeit, folglich (auch nach Plato) mit seiner wahren Glückseligkeit, ist in der That nur diese Haltung gegen die Gemeinschaft, welche Gerechtig - keit heisst, vereinbar. Nur die Schlechtigkeit des Individuums wird geopfert, alles Gute an ihr kommt bei dem (im ange - gebenen Sinn) gerechten Verhältnis des Einzelnen zur Gemein - schaft vielmehr erst zur freien Entfaltung. Auch bedarf es, um das festhalten zu dürfen, nicht der gewagten Annahme einer prästabilierten Harmonie zwischen Individual - und Ge - meinschaftsleben, sondern es ergiebt sich mit Notwendigkeit so aus der Einsicht, die wir vornehmlich Plato verdanken: dass die Gestaltung des Individuallebens, gerade in sittlicher Hinsicht, von der des Gemeinschaftslebens ganz so streng ab - hängt wie umgekehrt; dass nur das eine mit dem andern, keines für sich allein einer rein sittlichen Gestaltung fähig ist.

Gerechtigkeit wird daher vom Einzelnen gefordert schon im Interesse der sittlichen Gestaltung seines individuellen Lebens, nämlich hinsichtlich seiner (thatsächlich von ihm un -125 abtrennbaren) Beziehung zur Gemeinschaft. Der Einzelne erreicht die Höhe seiner menschlich-sittlichen Bestimmung nicht ohne die menschlich-sittliche Gestaltung seiner Beziehungen zur Gemeinschaft.

Es folgt ebenfalls aus unserer Ableitung, dass diese Be - ziehungen alle Seiten der menschlichen Aktivität: Trieb, Wille und Vernunft, zugleich umspannen müssen. Dadurch bestimmt sich das Verhältnis der Gerechtigkeit zu den drei ersten Grundtugenden.

Aus der praktischen Vernunft, die die unbedingte All - gemeinverbindlichkeit des sittlichen Gesetzes besagt, ist unsere Tugend direkt abgeleitet, der Vernunftwille regiert also auch sie. Insofern rückt sie der Tugend der Wahrheit sehr nahe; sie ist die Wahrheit des Gemeinschaftslebens. In Aus - drücken wie Ehrlichkeit, Redlichkeit, Treue (gegen den Andern) kommt dies Moment deutlich zur Geltung. Ungerechtigkeit ist immer etwas wie Lüge, Untreue, Verrat; umgekehrt, Lüge hebt die sittliche Gleichheit und folglich die Gemeinschaft auf; der gleiche Boden, auf dem man sich gegenüberstehen soll, kann nur der der Wahrheit sein.

Deshalb ist die erste Lebensbedingung der Gerechtigkeit die sittliche Einsicht. Neigung zu Gewaltthat oder Ueber - listung, zum Vordrängen blinder selbstischer Interessen auch in jeder verfeinerten Gestalt ist immer ein Zeichen sittlicher Verworrenheit. Wo irgend ein blinder Instinkt die klaren Forderungen der Gerechtigkeit vergewaltigen oder in Ver - gessenheit bringen kann, geschieht jeder Ungerechtigkeit und damit der Zerstörung der Gemeinschaft Vorschub, auch in Dingen, die mit diesem besonderen Instinkt nicht zusammen - hängen; denn jeder beliebige andere (persönliche oder Klassen -) Instinkt fordert dann mit gleichem Recht mit dem Rechte seiner Macht in dem Grade als er (im Einzelnen oder einer Klasse) stark ist, sich durchzusetzen. Gerechtig - keit, Gleichheit werden zu leeren Namen, wo nicht mehr An - erkennung findet, dass in keinem Falle blinde Sympathieen und Antipathieen, oder allgemein die Stärke nun einmal vor - handener Strebungen und Gegenstrebungen das gegenseitige126 Verhalten ausserhalb sittlicher Rücksicht bestimmen dürfen. In der Leidenschaft des Rassen - und Nationalhasses, nicht minder des Klassenhasses ist gerade dies das Gefährliche, die wie systematische Untergrabung jedes Gerechtigkeits - sinnes und damit jeder Möglichkeit sittlicher Gemeinschaft.

So genau hängt die Tugend der Gerechtigkeit mit der Klarheit der sittlichen Einsicht, also mit der Tugend der Wahrheit zusammen. Dass sie nicht minder die Energie des sittlichen Willens d. i. Tapferkeit fordert, folgt schon aus dem eben Gesagten, nämlich dass sich die Idee des sittlich Rechten nur in fortwährendem Kampf mit der Gewalt natürlicher Strebungen und Gegenstrebungen, Sympathieen und Anti - pathieen zu behaupten vermag. Sympathie und Antipathie ist nicht Sache des Willens; ich fühle sie oder fühle sie nicht und kann nichts dafür oder dawider. Aber Gerechtigkeit un - verletzt zu behaupten auch gegen die unwillkürlichen Sym - pathieen und Antipathieen ist in den Willen des Menschen ge - stellt. Aus der Unwillkürlichkeit und angeblichen Unwider - stehlichkeit triebartiger Strebungen und Gegenstrebungen einen Rechtsgrund und gar einen sittlichen Grund des Verhaltens gegen den Andern machen zu wollen, bedeutet nicht bloss die Preisgebung der ersten Grundlage des sittlichen Urteilens, es bedeutet nicht minder die Gefangengebung des Willens an die Obmacht des blinden Triebs, den Verlust der sittlichen Frei - heit, des hohen Vorrechtes sich selber Gesetz sein zu dürfen. Das gilt in Bezug auf den Einzelnen, es gilt in verstärktem Maasse gegenüber gesellschaftlich mächtigen Sympathieen und Antipathieen, gegen die die Sache der Gerechtigkeit zu be - haupten eine um so gestähltere Energie des sittlichen Wollens erfordert, je mehr das gesellschaftlich Mächtige die Tendenz hat, sich geradezu an die Stelle des Sittlichen zu setzen und für die wahre, konkrete Sittlichkeit auszugeben.

Und wieder aus dem gleichen Zusammenhang der Begriffe versteht sich das Verhältnis der Gerechtigkeit zu unserer dritten Tugend. Sympathie und Antipathie gehört unverkenn - bar zum Gebiete des Trieblebens; also, nach den Anschauungen aller bis zur Höhe sittlicher Reflexion entwickelten Völker,127 zum Gebiete dessen, was der Herrschaft sittlicher Vernunft und sittlichen Willens unterworfen werden muss, nicht sie be - stimmen darf. Sympathie und Antipathie ist, so unüberwind - lich vielleicht im Moment, doch an sich wandelbar, also lenk - bar. Man kann vielleicht nicht umhin sie augenblicklich zu haben oder nicht zu haben, aber wohl haben Einsicht und Wille Einfluss darauf sie zu behalten oder davon frei zu werden, sie zu stärken oder zu mässigen, sie zum Guten zu lenken und nicht zum Bösen. Jeder Naturtrieb hat zuletzt irgend etwas Gutes oder wenigstens Unschuldiges zum Ziel: ein guter Mensch in seinem dunklen Drange ist sich des rechten Weges wohl bewusst; allein so lange nur der dunkle Drang zu Worte kommt, kann man nicht wissen, ob er eines guten Menschen ist oder nicht, ob er also instinktiv auf den rechten Weg leiten wird oder auf den verkehrten. Er bedarf also jedenfalls der Regelung, der Ordnung, der Reinigung. Ge - rechtigkeit zielt auf Reinheit unseres Verhältnisses der Sym - pathie und Antipathie zum Andern. Leidenschaftlicher, über - haupt blinder Hass, nicht minder blinde Liebe verfällt unrett - bar in Ungerechtigkeit; und dasselbe gilt von jedem nicht oder verkehrt geregelten Zustand des Trieblebens.

Hierher gehört auch die ethisch interessante Frage nach dem Verhältnis zwischen Gerechtigkeit und Liebe. Spricht man von blinder Liebe, so setzt man voraus, dass es auch eine sehende giebt; diese kann wohl nicht allzu weit abliegen von der Gerechtigkeit. So nennt Leibniz die Gerechtigkeit die Liebe des Weisen. Das kann sagen, dass für den Weisen die Gerechtigkeit die Stelle der Liebe (die eigentlich unweise sei) vertreten müsse; aber es schliesst doch wohl ein, dass die höchste Gerechtigkeit auch Liebe, und die höchste Liebe Ge - rechtigkeit sei. Soll Liebe der höchste Ausdruck gegenseitiger Sittlichkeit sein, so muss sie offenbar besagen den unerschütter - lichen Willen zur Gemeinschaft. Dann ist die höchste Liebe die, welche die Gemeinschaft im höchsten, d. i. im sitt - lichen Sinne will; die sittliche Tugend der Gemeinschaft aber ist die Gerechtigkeit.

Aber damit erhielten wir eben nur einen neuen Namen128 für dieselbe Sache. Das Wort Liebe schliesst aber noch etwas Eigentümliches ein, nämlich einen starken Beisatz von Gefühl, der der Gerechtigkeit an sich fremd ist. Gerechtigkeit wird auch blind vorgestellt, aber in ganz anderm Sinne als die Liebe; die Blindheit besagt hier die strenge Unparteilichkeit, die persönliche Unbeteiligtheit des Urteilenden bei dem Gegen - stande des Urteils. Allein muss man denn fühllos sein, um nicht parteiisch zu werden? Sollte nicht Liebe, eben dadurch, dass sie sich auf das Höchste im Menschen, auf die sittliche Person richtet, geläutert werden können, ohne an Kraft und Innigkeit des Gefühls darum zu verlieren? Und würde sie eben dann nicht aufhören, mit der Gerechtigkeit zu streiten, während sie zugleich ein neues, dieser an sich fremdes, doch unverwerfliches Moment hinzuthut?

Es ist besonders die christliche Ethik, die den Begriff der Liebe an die Spitze gestellt hat. Und vielleicht ist es nur scheinbar so, dass sie dadurch mit der Gerechtigkeit in Streit geriete. Die Forderung z. B., nicht bloss den Feind, sondern den Sünder zu lieben, kann verständlich nur besagen, dass man auch in ihm die sittliche Person anerkennen, dass man um des noch so verkümmerten Keimes des Guten willen, der in ihm schlummert, ihn nie ganz verloren geben, ja selbst wenn er verloren wäre, doch bedenken soll, dass es ein Mensch ist, der verloren ist, d. h. ein Wesen, das an sich des Guten fähig war und unter andern Bedingungen hätte gerettet werden können, also auch sollen. Das ist aber ebenso wohl Forderung der Ge - rechtigkeit. Desgleichen kann die vergebende Liebe nicht be - sagen, dass man aufhören sollte, das Schlechte zu verwerfen (dann wäre nichts zu vergeben), sondern nur den Schlechten; nämlich nicht, sofern er schlecht, sondern sofern er an sich des Guten fähig ist. In solchem Sinne ist aber die Vergebung ebenso sehr eine Forderung der Gerechtigkeit wie der Liebe.

Allerdings kann nun die erbarmende, die vergebende Liebe sehr leicht einen Beischmack entweder von sittlicher Schwäche oder von selbstgerechter Herablassung annehmen. Der Begriff Liebe bedarf also erst sehr der Klärung, ehe er verwendet werden kann, das rein sittliche Verhalten zum Andern un -129 missverständlich zu bezeichnen; während der Name Gerechtig - keit nicht in gleichem Maasse dem Missverstand ausgesetzt ist. Sonst aber behält das Wort Liebe den Wert, in Erinnerung zu halten, dass Menschlichkeit gegen jedermann, um denn der Gerechtigkeit diesen freundlicheren Namen zu geben, nicht bloss Sache kühler Besinnung und eines unbeugsamen Willens - entschlusses, sondern auch eines lebenswarmen, persönlichen Gefühls sein kann und sittlicherweise sein darf. Nur lässt sich diese Gefühlswärme nicht positiv anbefehlen. Es hat etwas Widersprechendes, ja zur Lüge und Heuchelei Verleitendes, persönliche Wärme zum Gegenstand einer Vorschrift zu machen; sondern nur die natürlich vorhandene, aus der Ge - meinschaft von selbst fliessende Wärme und Innigkeit des Gefühls soll zu dieser sittlichen Gestalt gereinigt werden. In wem sie dagegen unglücklicherweise nicht natürlich er - wachsen, oder vollends ohne eigene Schuld durch Mangel an wahrer Gemeinschaft gewaltsam ertötet wäre, von dem kann sie offenbar nicht sittlich gefordert sein; während ein menschliches Verhalten, gegründet auf reine Achtung der sittlichen Natur im Menschen (und zwar in jedem Menschen) immer gefordert bleibt. Insofern wäre es gewiss unzulässig, die Liebe etwa ganz die Stelle der Gerechtigkeit einnehmen zu lassen. Wenn die heute nicht seltene Abneigung gegen die Forderung all - gemeiner Menschenliebe nur das besagen wollte, dass Liebe nicht anbefohlen werden dürfe, weil sie ein Moment von Ge - fühlswärme gegen den Andern einschliesst, das man sich nicht willkürlich geben kann, so würde die Abneigung berechtigt sein. Sonst freilich ist es sehr verkehrt, die im sittlichen Sinne geforderte allgemeine Menschenliebe nach Art der ge - meinen Sympathie zu verstehen, von der man nicht erst aus Hume zu lernen braucht, dass sie wie die physikalische Anziehung mit der Entfernung abnimmt, oder wie ein chemischer Stoff mit der Ausbreitung sich verdünnt. Das rührt nicht von weitem an den Sinn, in dem allgemeine Menschenliebe verständlicherweise gefordert werden kann und von Verständigen je gefordert worden ist; auch wird von dieser Forderung der Menschlichkeit gegen jedermann nicht das Geringste abgelassen,Natorp, Sozialpädagogik. 9130auch wenn man vorzieht, sie im Namen der Gerechtigkeit, statt in dem der Liebe, zu stellen.

In wesentlich anderem Sinne lässt Plato in einer seiner tiefsten Betrachtungen das rein Sittliche sich zur Liebe steigern. Das ist nicht die christliche Agape, die obgleich die besten Christen diesen Schein nicht anerkennen wollen den - noch leicht allzu passiv, bloss duldend und aufopfernd, ja asketisch erscheint; sondern es ist der altgriechische, schöpferische Eros, der vielmehr ganz und gar aktiv, lebensvoll und mit Notwendigkeit Leben zeugend gedacht ist. In jener schon ein - mal zitierten grossartigen Vergleichung mit dem Fortpflanzungs - trieb, der das leibliche Leben nicht für sich behalten mag, sondern weitergeben muss, um das eigene Leben zum Leben der Menschheit zu erweitern und so zu verewigen, wird der geistige Eros dargestellt als nur mächtigerer und edlerer Trieb, das geistige Leben weiterzugeben, es von bloss indi - vidualer zu gemeinschaftlicher, zuletzt menschheitlicher Be - deutung zu erhöhen und so fortpflanzend zu verewigen. Dieser Trieb erstreckt sich nach Platos Darstellung zwar keineswegs unterschiedslos auf alle, er sucht im Gegenteil die edelsten Naturen auf; aber er kann, in seiner höchsten Energie gedacht, nicht nur nicht auf den Einzelnen, sondern auch nicht auf Wenige beschränkt bleiben, da er doch zur Höhe der Mensch - heit hinanstrebt. Sein Ziel ist eben das Gute selbst und an sich, nicht die einzelne, noch so edle Person; die bloss persönliche Liebe soll zuletzt ganz aufgehen in die stärkste, ewigste Liebe, die nur das an sich Schöne, das Schöne der sittlichen Idee in uns zu entzünden fähig und würdig ist. Dieser platonische Eros ist eigentlich nichts andres als der Trieb der Gemeinschaft, in allen Gestalten, bis zur höchsten, der rein sittlichen Gemeinschaft. Er bedeutet Streben des Einswerdens mit dem Andern, zuletzt auf dem Grunde des Guten, das in der That den stärksten, den allein unerschütter - lichen Grund der inneren Einigkeit giebt. Genau dies fanden wir als den höchsten Begriff der Gerechtigkeit; aber in un - nachahmlicher Weise drückt der platonische Eros das aus, was hier besonders zu zeigen war: dass das Sittliche, als Quell131 der Gemeinschaft, das ganze menschliche Leben bis zu seiner sinnlichsten Wurzel herab durchdringen, dass es sich bis auf das Triebleben, und nicht auf Willen und Vernunft allein er - strecken kann und soll.

Und so werden wir zusammenfassend sagen: dass diese vierte Tugend die drei andern in sich begreift, nur ihnen die neue Beziehung auf die Gemeinschaft giebt. Sie bedeutet zu - gleich Wahrheit, Kraft und Reinheit der Sittlichkeit im Verhalten zur Gemeinschaft.

Zugleich ergiebt sich, dass auch auf diese Tugend An - wendung findet, was von den drei andern in ihrem wechsel - seitigen Verhältnis gezeigt wurde: dass jede mit jeder andern nicht bloss harmoniert, sondern derart eins ist, dass keine sich ohne die andre vollenden kann, während doch der begriffliche Unterschied fest bleibt. Das ist der platonische Satz von der Einheit der Tugenden, der eben dies besagt, dass sie alle in der letzten Wurzel eins und derart unter einander verbunden sind, dass jede der andern hilft und selber ohne sie nicht sein kann, doch aber jede von der andern dem Begriff nach ver - schieden bleibt. Aus dem Verhältnis der drei Stufen der Aktivität einerseits und dem unauflöslichen Zusammenhang von Individuum und Gemeinschaft andrerseits folgt dies Ver - hältnis der Tugenden mit zwingender Notwendigkeit; wie denn auch Plato wesentlich dies im Sinne zu haben scheint.

In der Reihenfolge unsrer vier Tugenden aber liess sich ein stetiger Fortgang von mehr abstrakten zu immer kon - kreteren Gestaltungen des Sittlichen beobachten. Es gilt nun den letzten Schritt in dieser Richtung zu thun, indem wir von der bloss individualen zur Tugend oder sittlichen Ordnung des Soziallebens fortschreiten.

§ 16. Parallelismus der Funktionen des individualen und sozialen Lebens.

Der Begriff der individuellen Tugend, wie er bis dahin entwickelt worden ist, erschöpft nicht den Gehalt der sittlichen Verfassung auch nur des Individuallebens. Er reicht nicht132 hin zur Bestimmung der konkreten sittlichen Aufgabe selbst des Einzelnen; sondern diese ergiebt sich vollständig erst unter Mitberücksichtigung des Verhältnisses der Individuen in der Gemeinschaft. Auch die individuelle Tugend entfaltet sich erst recht in der Arbeit an den sittlichen Aufgaben, die der Gemeinschaft zuerst, und nur durch sie den Einzelnen ge - stellt sind.

Aber die sittliche Verfassung des Gemeinschaftslebens selbst muss der des Individuallebens genau entsprechen. Hat doch die Gemeinschaft kein Leben anders als im Leben der Einzelnen, so wie es umgekehrt ein menschliches Leben des Einzelnen nicht anders giebt als in menschlicher Gemeinschaft und durch Teilnahme an ihr. Weder die Grundformen der Aktivität noch deren Tugenden können daher andre sein für die Gemeinschaft als für den Einzelnen. Nur, während bisher der Einzelne für sich und im Verhältnis zum andern ebenso isoliert gedachten Einzelnen, wiewohl immer unter stillschwei - gender Voraussetzung der Teilnahme an der Gemeinschaft er - wogen wurde, ist jetzt das menschliche Leben, das zwar immer Leben der Einzelnen bleibt, ins Auge zu fassen als Leben der Gemeinschaft, nicht isolierter Einzelner. Und da es auf die Gemeinschaft jetzt gerade ankommt, so darf die Erwägung auch bei irgend welchen zufälligen und begrenzten Beziehungen unter Einzelnen nicht stehen bleiben, sondern muss ihren Horizont erweitern durch Beachtung der im Grund - gesetz des Bewusstseinslebens eingeschlossenen Tendenz zur Gemeinschaft überhaupt, die keine andre Grenze ihrer Erwei - terung anerkennt als das Ganze der Menschheit.

Die Gemeinschaftsbeziehung muss sich nun gleichmässig auf alle drei Grundfaktoren der menschlichen Aktivität er - strecken. Das folgt schon aus dem Verhältnis, das unter diesen überhaupt obwaltet. Die Gemeinschaft würde sich auf die Thätigkeit der Vernunft nicht beziehen können, wenn sie sich nicht zuvor auf den Willen erstreckte, und nicht auf diesen, wenn sie nicht bis zum Triebleben herabreichte. Denn die praktische Vernunft ist nur die allgemeine Gesetzgebung des Willens, und dieser nur die bewusste Regelung der Arbeits -133 triebe. So aber giebt es notwendig ein Triebleben der Ge - meinschaft, einen Willen der Gemeinschaft und eine Vernunft der Gemeinschaft; nicht als ob die Gemeinschaft ein selbstän - diges Wesen wäre, was keinen klar ausdenkbaren Sinn hat, sondern indem man erwägt, welche Gestalt das Triebleben der Einzelnen in der Gemeinschaft, unter der Bedingung des Lebens in ihr, gesetzmässigerweise annehmen, und wie der Wille, wie die Vernunft unter der gleichen Bedingung sich gestalten muss. Daraus müssen die wesentlichen Elemente sich ergeben, aus denen ein soziales Leben sich zusammensetzt, ebenso wie aus Trieb, Willen und Vernunft das Leben des Indivi - duums in praktischer Hinsicht überhaupt besteht und durch das gesetzliche Verhältnis dieser drei Faktoren seinem Be - griff nach bestimmt ist.

Als Trieb nun bezeichneten wir die sinnliche Urform der Ten - denz, sofern sie unmittelbar auf die Sache, auf Verwirklichung eines Erstrebten, also auf Hervorbringung eines Werks gerichtet ist. Als den grundlegenden Faktor des Triebs betrachten wir also den Thätigkeits - oder noch bestimmter den Arbeitstrieb, nicht den Genusstrieb. Ein gewisses Maass von Befriedigung ist zwar zur Erhaltung der Energie der Arbeitstriebe selbst unerlässlich, wie es denn mit deren gesunder Bethätigung über - haupt von selbst sich einstellt. An sich aber hat der Trieb im Genuss nicht sein Leben, er erstirbt vielmehr in ihm. Leben heisst thätig sein, und Thätigkeit verlangt, ihrer eigenen Gesundheit wegen, ein Werk, an dem sie sich darstelle; das giebt ihr die Einheit der Richtung, deren sie zu ihrer Gesund - heit auch dann bedarf, wenn sie nicht als bewusst gewollter Zweck vor Augen steht, sondern nur an sich ihr immanent ist. Das Bewusstsein der Einheit des Zwecks, mit der Folge der ebenso bewussten Unterordnung der Mittel unter den Zweck, ist es dagegen, was den eigentlichen Willen ausmacht; also die Regelung der Arbeit; eine Thätigkeit, die sich unmittelbar nicht auf das Werk und dessen Hervorbringung, sondern auf die es hervorbringende Arbeit und die Triebkräfte dieser Arbeit richtet. Ebenso hat drittens die Vernunftthätig - keit zu ihrem unmittelbaren Objekt die Willensregelung als134 solche, der sie, als ständig begleitende Kritik, durchgängige Einheit zu geben bemüht ist, und bezieht sich erst mittelbar durch diese auf die am Werke selbst zu leistende Arbeit, und dadurch schliesslich auf das Werk selbst.

Ganz so muss es sich aber im sozialen Leben verhalten; es wird demnach zu reden sein von einem sozialen Triebleben, als gerichtet auf ein soziales Werk, eine soziale Arbeit; zweitens von der sozialen Regelung dieses Trieblebens durch einen sozialen Willen, endlich von einer, auf diese Regelung sich beziehenden, für sie wegweisenden, ihre letzte, gesetz - mässige Einheit anstrebenden sozialen Thätigkeit der kritischen Vernunft. Aus diesen drei wesentlichen Stücken wird ein soziales Leben im vollentfalteten Sinne des Worts sich auf - bauen. Es ist, diesem Begriff zufolge: Arbeitsgemeinschaft, unter gemeinschaftlicher Willensregelung, hinsichtlich dieser unterstehend gemeinschaftlicher vernünftiger Kritik.

Im sozialen wie individualen Leben hat nun der allemal höhere Faktor zum niederen das Verhältnis der Form zur Materie. Die Materie der Willensregelung also sind die Arbeitstriebe, der sozialen Regelung die sozialen Arbeitstriebe; Materie der vernünftigen Kritik die Willensregelungen der Arbeitstriebe, der sozialen Kritik die sozialen Willensregelungen.

Damit ist nun die Frage schon dem Prinzip nach beant - wortet, die vor kurzem von befreundeter und gleichgesinnter Seite, durch Rudolf Stammler*)R. Stammler, Wirtschaft und Recht. Leipzig 1896. Die im Text folgende Kritik findet man etwas mehr im Einzelnen ausgeführt im Arch. f. syst. Philos. II S. 318 ff. in Präzision gestellt worden ist: die Frage nach der letzten Materie des sozialen Lebens. Es ist kein ernster Streitpunkt zwischen uns, ob man den Terminus Wirtschaft , der nun einmal seine feste Verwendung seit lange besitzt, nicht dieser seiner bisherigen Verwendung gemäss in einer weniger weiten Bedeutung, als der der Materie des sozialen Lebens überhaupt, gebrauchen sollte (s. § 17). Mit grösstem Rechte jedenfalls fordert Stammler zur sozialen Regelung als einheitlicher Form des sozialen Lebens eine in gleicher Einheitlichkeit zu definierende Materie; gegen135 welche unabweisliche logische Rücksicht auch die der Eignung des gewählten Terminus allenfalls zurückstehen durfte. Seiner Definition nach aber soll unter Wirtschaft verstanden werden: menschliches Zusammenwirken zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse. Das berührt sich nahe mit dem oben aufgestellten Begriff der Triebform des sozialen Lebens; immerhin bleiben Unterschiede, die eine Rechtfertigung der Abweichung not - wendig machen. Unsere Erklärung betont erstens, statt der Bedürfnisbefriedigung, die Hervorbringung eines Werks, als unmittelbares Objekt wie des Triebes überhaupt, so auch des Triebes, sofern er sozialer Regelung untersteht. Gewiss ist jedes hervorzubringende Werk auch bestimmt ein (wirk - liches oder vermeintes) Bedürfnis zu befriedigen. Aber weder könnten wir diese Befriedigung als den wesentlichen Zweck der Thätigkeit anerkennen; noch käme dieser subjektive Zweck in sozialer Hinsicht eigentlich in Frage. Dagegen gehört der Begriff der Arbeit, d. i. Bethätigung in Richtung auf irgend eine Hervorbringung, Verwirklichung einer Idee oder Gestaltung eines Stoffs nach einer solchen, hier wesentlich zur Sache. Man kann also den ganzen Zusatz zur Befriedigung mensch - licher Bedürfnisse aus der gegebenen Definition ohne Verlust und wie ich glaube, mit wahrem Gewinn, weil dadurch eine vom Wege abführende Nebenvorstellung erweckt wird weg - lassen; so bleibt das Zusammenwirken . Versteht man hierbei das Wirken prägnant, so kann das, was soeben betont wurde: die Beziehung der Thätigkeit auf ein zu vollbringendes Werk, d. i. der Begriff der Arbeit, darin ganz wohl gefunden werden. Das Zusammen weist dann genügend auf die Gemeinschaft - lichkeit der zu vollbringenden Arbeit, die in der That die Materie des menschlichen Thuns überhaupt erst zur Materie sozialen Thuns, und damit des sozialen Lebens macht.

Was nun zweitens dies betrifft, so möchte ich nur ver - schärfend oder ausdrücklicher hervorhebend hinzusetzen, dass nicht die (etwa auch ohnedies) zusammenwirkende, sondern die zusammenwirken sollende Thätigkeit die reine Materie sei. Denn das thatsächliche Zusammenwirken schlösse eine gemeinsam befolgte Regel, d. h. eben das, was doch die Form136 der sozialen Thätigkeit erst hinzubringen soll, offenbar schon in sich. So richtig es aber auch ist, dass die Materie in concreto ohne die Form nicht sein kann, so muss doch die Sonderung der Begriffe in abstracto in völliger Reinheit durchgeführt werden, widrigenfalls die ganze Unterscheidung bedeutungslos würde.

Also Eignung zu gemeinschaftlicher Vollführung ist die materiale Bedingung des Sozialcharakters menschlicher Thätig - keit. Dies führt nun auf die weitere, in unserem gegen - wärtigen Zusammenhang unerlässliche, überhaupt aber in der Sozialphilosophie nicht zu umgehende Frage: von welchen Vor - aussetzungen es allgemein abhängt, ob eine Arbeit gemein - schaftlich zu vollbringen, mithin zu sozialer Regelung überhaupt tauglich sei oder nicht.

Hier gehen wir nun von unserer fundamentalen Ansetzung (§ 6) aus: dass der Wille des Menschen überhaupt zur letzten Materie die Natur, das Objekt der Erfahrung hat. Dies notwendige Verhältnis der praktischen zur theoretischen Ver - nunft zu präzisem Ausdruck zu bringen, diente uns der Begriff der Technik. Hat man nach einer technischen Begründung der sozialen Thätigkeit, ihrer Materie nach, immer gefragt und sie grundsätzlich vorausgesetzt, so war diese Voraussetzung so im allgemeinen keineswegs unrichtig, wenn auch die Art der Beziehung zwischen Natur und sozialem Leben nicht klar genug gedacht wurde. Am wenigsten könnte hier der Einwand*)Stammlers; vgl. Arch. a. a. O. S. 323. entscheiden, dass die Gesetze der Technik unterschiedslos für individuale und soziale Thätigkeit bestimmend seien, während es auf das unterscheidende Merkmal der letztern gerade an - komme. Vielmehr war eine wesentlich gleichartige Bedingt - heit des sozialen und individualen Lebens in dieser wie jeder andern fundamentalen Hinsicht voraus zu erwarten. Sie zeigt sich in der That ebenso in Hinsicht der beiden andern Faktoren: auch der Begriff der Willensregelung gilt an sich unterschiedslos für individuale und soziale Thätigkeit; und vollends ist ein und dasselbe Grundgesetz der Vernunft maassgebend für diese wie für jene; was gleichwohl nicht hindert, eine soziale von137 einer individualen Form der Vernunft und des Willens, und so auch des Trieblebens, zu unterscheiden. Ist aber mensch - liche Arbeit überhaupt, der Materie nach, technisch bedingt, so ist sie es sogar ganz besonders eben in Hinsicht ihres sozialen Charakters: menschliche Thätigkeit wird dann und nur dann soziale Gestalt annehmen, wenn sie, technisch erwogen, zu gemeinschaftlicher Gestaltung tauglich ist und zu ihr auf - fordert. Gemeinschaft der Arbeit besagt, technisch beurteilt, dass die Arbeitskräfte der Einzelnen sich in solcher Art am gemeinschaftlichen Werk verbinden, dass das Werk überhaupt vollbracht und besser vollbracht wird als ohne diese Verbindung; besser, d. h. mit technischem Vorteil. Dieser technische Vor - teil ist also der entscheidende Grund der Vergemeinschaf - tung der Arbeit, in letzter materialer Hinsicht; jeder fernere Grund, den man für sie geltend machen kann, ist nicht mehr rein material, sondern berührt bereits irgendwie auch die Form der Thätigkeit, das Eigentümliche des Wollens, wo nicht gar der Vernunft.

Aber die Technik, wird eingewandt, gehorcht allein den Gesetzen der Naturkausalität; es handelt sich aber um menschliche Thätigkeit, die, als solche von blossem Natur - wirken grundverschieden, ausschliesslich der Gesetzlichkeit der Zwecke untersteht.

Hierauf ist zu antworten: in materialer Hinsicht unter - liegt thatsächlich das menschliche Arbeiten der Naturkausalität. In der That nicht anders als sich an einer Maschine eine Reihe einzelner Naturwirkungen zu einer beabsichtigten Gesamt - leistung verbinden, treten die menschlichen Arbeitskräfte, selbst bis zu den höchsten hinauf, zu vereinter Wirkung zusammen: des technischen Vorteils halber. Dies betrifft eben den Menschen, insofern er bestimmbar ist; bloss als solcher ist er eben Natur und nichts andres, d. h. untersteht er den Gesetzen der Kau - salität und keinen andern. Dagegen, als sich zur Thätigkeit selber bestimmend, gehorcht er der eignen Gesetzlichkeit der Zwecke; aber auch die Technik selbst zielt ja darauf, das in sich ledig - lich kausale Zusammenwirken toter Naturkräfte gleichwohl in den Dienst menschlicher Zwecke zu zwingen. Nun war138 jetzt die Frage eben nach der letzten materialen Bedingtheit menschlicher Thätigkeit, sozialer oder individualer; also ist bis zu diesem Punkte notwendig zurückzugehen; alles was darüber hinausführt, ist schon nicht mehr rein material.

Uebrigens ist, unterhalb der im allgemeinsten Sinne tech - nischen Bedingtheit der menschlichen Thätigkeit eine wichtige Unterscheidung zu treffen. Soziale Technik, wie jede psycho - logische (s. § 6), fasst den Menschen allerdings nicht bloss als bestimmbar, sondern immerhin auch als sich selbst zur Thätigkeit bestimmend ins Auge; sie strebt ihren eignen Zweck auch durch menschliche Selbstbestimmung, auf diese rech - nend, zu erreichen. Das fällt immer noch unter den Begriff der Technik, denn auch dabei wird der Mensch, sogar seine Selbstbestimmung, lediglich als Mittel erwogen. Aber es grenzt sich innerhalb seines weiten Umfangs scharf ab gegen alle solche Technik, die ein eigenes Wollen nicht in Rechnung zu ziehen hat.

Hiernach möchte die Frage nach der Materie des sozialen Lebens genauer so zu beantworten sein. Materiale Bedingung sozialer Thätigkeit überhaupt ist: die Möglichkeit, das Thun von Menschen, als bestimmbaren obgleich willensfähigen Wesen, auf Grund kausaler Erkenntnis zu beherrschen, und so, als Mittel zu voraus feststehendem und zwar gemeinschaftlichem Zweck, mit technischem Vorteil zu vereinen. Ueberall und nur, wo diese Bedingung erfüllt ist, ist die Voraussetzung zu sozialer Regelung, also zu sozialem Leben (welches ausser jenem materialen noch diesen formalen Faktor einschliesst) gegeben. Diese technische Bedingtheit sozialer Thätigkeit schliesst aber zwei ungleichartige Bestandteile ein. Von diesen bezieht sich der eine ausschliesslich auf das hervorzubringende Werk, der andere betrifft dagegen direkt die gemeinschaftliche und zwar zum Teil auch willentliche Richtung der menschlichen Arbeitstriebe auf dies Werk. In ersterer Hinsicht werden auch die menschlichen Arbeitskräfte bloss als physisch er - wogen; es fragt sich einfach, ob und welches bestimmte Zu - sammenwirken der als verfügbar vorausgesetzten Kräfte, unter denen auch menschliche Arbeitskräfte sind, zur fraglichen Ar -139 beit erforderlich oder mit technischem Vorteil für sie in An - spruch zu nehmen ist. Diese Erwägung ist rein naturtech - nisch und kann also aus sozialer Erwägung ausgeschlossen werden; obwohl es mindestens notwendig ist, auf sie als anderweitig gegebene und zu begründende Voraus - setzung, auf der die Sozialwissenschaft in concreto zu fussen gar nicht umhin kann, hinzuweisen. Dagegen betrifft die andere, im weiteren Sinne auch technische Erwägung ganz unmittelbar die Zusammenbringung der menschlichen Arbeits - kräfte und zwar als menschlicher, d. h. nicht bloss mecha - nisch, sondern auch mit Willen, und vielleicht nie ganz ohne Willen, in einheitlicher Richtung sich verbindender. Dieser Faktor geht daher die Sozialphilosophie ganz unmittelbar an, während der erste gleichsam nur auf ihrer Grenze liegt. Es würde der sozialen Regelung gleichsam an jedem Angriffs - punkte fehlen, wenn es nicht diese Grundlage zur sozialen Vereinigung der Arbeitskräfte gäbe. Es ist eine grundwesent - liche Bedingung sozialen Lebens überhaupt, dass vorhandene menschliche Arbeitstriebe eine, gleichviel ob als ursprünglich angenommene oder erst erworbene Richtung auf gemeinschaft - liche Thätigkeit schon an sich haben. Durch sie findet die bewusste Regelung immer schon den Boden zubereitet, so dass sie die Gemeinschaft der Arbeit nicht erst ursprünglich hervor - zubringen, sondern bloss in festere Bahnen zu leiten und gegen Störungen zu sichern hat. Es wäre schlimm bestellt um die menschliche Gemeinschaft, wenn Gesetze und Zwangsmittel, oder aber blosse Vernunft, das, was ihr positives Ziel ist, eben die Gemeinschaft der Arbeit, überhaupt erst schaffen müssten. Sie setzen vielmehr eigentlich immer voraus, sie sei schon da und bedürfe nur der planmässigeren Gestaltung und des Schutzes. Aber nicht diese empirische Erwägung, die immerhin auf den zu Grunde liegenden Verhalt hinlenken kann, ist für unsere Ansetzung entscheidend; sondern die andere, dass die soziale Regelung selbst alle Wirkung, die sie auf die Arbeitsgemeinschaft übt, nur kraft des besagten materialen Faktors zu üben vermag. Sie selbst fasst das Thun der Einzelnen und die Vergemeinschaftung dieses Thuns als Mittel140 zum gemeinschaftlichen Zweck ins Auge, und das kann sie nur, indem sie den Menschen als bestimmbar und zwar in der Richtung der Vergemeinschaftung bestimmbar ansieht, un - beschadet seiner Selbstbestimmung; denn er kann auch sogar bestimmt werden sich selber zu bestimmen.

Deswegen war diese Bestimmbarkeit als grundwesent - licher materialer Faktor des sozialen Lebens allerdings zu be - tonen. Der Einfluss der Gemeinschaft auf den Einzelnen, ge - rade durch das Mittel der sozialen Regelung, ist heteronom. Der Begriff der sozialen Regelung als äusserer Regelung, wie Stammler ihn in dankenswerter Schärfe bestimmt hat, setzt diese Heteronomie, also die kausale Bestimmbarkeit des Menschen, mithin den Menschen als Natur, voraus. Und wenn die kausale Beherrschung der toten Natur Technik ist, so ist die kausale Beherrschung der lebendigen Triebkräfte des Menschen, insofern sie eben diese als Natur voraussetzt, nicht minder Technik zu nennen. Und dieser Zusammenhang des menschlichen Lebens, auch und gerade des sozialen Lebens, mit der Natur ist von einer ganz prinzipiellen Bedeutung. Denn dem menschlichen Willen ist das Ziel gesteckt, Natur selbst, soweit möglich, in den Dienst der Idee zu zwingen. Aber nur durch Gehorchen wird man der Natur Herr, wie Bacon sagt; gerade um sie zu besiegen und in den Gehor - sam des Willens zu zwingen, hat der Mensch seine eigenen Kräfte als Naturkräfte und gemäss der erkannten Gesetzlich - keit der Natur ins Spiel zu setzen. Deshalb, und nicht bloss um der Strenge des logischen Aufbaus willen, die uns aller - dings auch ein wesentliches Anliegen ist, schien es nötig, zu betonen und so eingehend zu begründen, dass die materiale Bedingtheit des sozialen Lebens mit unentrinnbarem Zwange auf Naturgesetzlichkeit zurückführt; woraus wichtige Folgen in Betreff der Gesetzmässigkeit der sozialen Entwicklung ab - zuleiten sein werden (§ 18).

Ganz unmittelbar ergiebt sich die Entsprechung zwischen individualer und sozialer Thätigkeit hinsichtlich ihres zweiten Faktors, der Willensform. Als gemeinsamer Begriff ist bereits der der Regelung bezeichnet worden, welche offen -141 bar eins ist mit der praktischen Objektsetzung, der bewussten Stellung einer praktischen Aufgabe. Das letzt - bestimmende Merkmal ist das der Einheit und zwar be - wussten Einheit der Thätigkeitsrichtung, durch Festsetzung des Zwecks, dem alles, was zur fraglichen Thätig - keit gehört und nicht der Zweck selbst ist, sich als Mittel unterordnen muss. Wie nun eine menschliche Handlung über - haupt, ihrem formalen Charakter nach, durch Regelung erst konstituiert wird, so eine soziale Handlung, also soziales Leben als ein System sozialer Handlungen, durch soziale Regelung.

Soziales Leben nämlich bedeutet nach der entschei - denden Feststellung Stammlers ein menschliches Zusammen - leben, das heisst nicht bloss, in Zeit und Raum zugleich vor - handenes Dasein von Menschen, sondern geregeltes Zusammen - wirken. Und zwar durch äussere Regelung wird soziales Leben gegründet, d. i. durch solche Regel, die ausserhalb des ihr Unterstellten steht und ihm gegenüber selbständig ist; die absieht von der Triebfeder, sie zu befolgen, die dem Ein - zelnen für sich eigen sein mag. *)Stammler, S. 83 ff., 89, 91, 105.Dies besagt aber eben die praktische Objektsetzung: wie der Einzelne sich mit sich selber gleichsam verständigen und schlüssig werden muss, was er will, d. i. worauf seine Triebkräfte fortan in einheitlicher Weise sich wenden sollen; und wie er eben damit, dass er sich darüber schlüssig wird und darüber bei sich selbst gleich - sam eine Festsetzung trifft, ein Objekt seines Wollens erst - mals aufstellt, es fortan für ihn eine Sache giebt, der er sich widmet, die mit eigenem, unabhängigem Anspruch seinem blossen, jeweiligen Belieben, den in sich regellosen oder doch der Regel unbewussten Trieben fortan gegenübersteht, ganz so besagt der Wille der Gemeinschaft, dass sie sich ein ein - heitliches Objekt und damit eine Regel setzt, die das, ohne - dies in sozialer Hinsicht regellose oder doch keiner verbind - lichen Regel bewusste Thun der Einzelnen, und zwar aller, die als der Gemeinschaft zugehörig betrachtet werden, in eine bestimmte, ausschliessliche Richtung weist. Wie im Einzel -142 leben der Wille im Unterschied vom Trieb eine neue Einheit der Bestimmungsgründe besagt, und dadurch zuerst der Gegenstand einer neuen, nämlich der praktischen Er - kenntnis konstituiert wird (vgl. § 8), so begründet sich im sozialen Leben auf die erklärte Art die Möglichkeit einer neuen Einheit unter den Bestimmungsgründen menschlichen Verhaltens gegen einander, und dadurch eines besonderen und eigenen Gegenstandes unserer Erkenntnis *)Stammler S. 106., nämlich des Gegenstands der sozialen Erkenntnis. Fortan bleibt es nicht dem blossen Augenblickstriebe überlassen , wie man sich gegen einander verhalte, sondern man will über die nicht übersehbaren Einfälle des natürlichen tierischen Trieblebens des Einzelnen hinaus eine Garantie einsetzen und bestimmen, wie es von nun ab gehalten werden soll . **)Stammler S. 113.Zwar ist ein bloss triebartiges Zusammenwirken (wie in den sogenannten Tierstaaten) auch denkbar, und nichts würde grundsätzlich verbieten, in solchem etwa die genetische Vorstufe mensch - lichen Soziallebens zu sehen. Aber ein menschliches Zu - sammenleben wird erst konstituiert durch einen erklärten Willen der Gemeinschaft, im eben umschriebenen Sinn.

Inwiefern ist man denn berechtigt von einem Willen der Gemeinschaft hier zu reden, da es doch der Wille aller (einzeln genommen) kaum jemals ist, der darin zum Ausspruch kommt? Darauf ist zu antworten: es genügt, dass er für die Gemeinschaft, d. i. mit allgemeiner und gleicher Ver - bindlichkeit für jedes ihr angehörende Glied zu gelten be - ansprucht, oder vielmehr, seinem formulierten Inhalt nach, gilt. Zum Begriff eines Willens der Gemeinschaft ist ausreichend, dass eine bestimmte Verhaltungsweise maassgeblich festgesetzt sei; erforderlich ist keineswegs, dass auf keiner Seite ein Widerspruch der blossen Triebrichtung oder auch vereinzelten Wollens dagegen obwalte. Der formale Charakter des Wollens liegt präzis nur darin, dass man weiss, was man will, d. h. dass, was zu thun oder zu lassen sei, in einziger Weise bestimmt sei. Die Festsetzung kann material sehr verfehlt sein und auch von Einzelnen als verfehlt erkannt werden, so143 hat sie doch, lediglich vermöge dieses formalen Charakters, eine Verhaltungsweise mit Ausschluss jeder andern als maass - geblich aufzustellen, einen Vorzug, der ihr unter normalen Umständen auch die thatsächliche Geltung so lange sichert, bis sie durch eine bessere, nämlich zugleich material zu - länglichere, aber von dem gleichen formalen Charakter, ersetzt ist. Stammler hat sich um die Klärung der Fundamentbegriffe des sozialen Lebens ein sehr wesentliches Verdienst erworben durch die zweifellose Festsetzung dieser Bedeutung der sozialen, insbesondere rechtlichen Regelung.

Aus dem allgemeinen Verhältnis des Willens zum Trieb scheint zwar zu folgen, dass, wenigstens auf die Dauer, auch die Triebrichtung der Einzelnen mit dem Gesetz muss über - einstimmen oder sich wenigstens nach und nach überwiegend mit ihm in Einklang setzen können, oder andernfalls die Festsetzung material wird geändert werden müssen. Aber da - durch wird das eben Gesagte keineswegs berührt; denn die Bedingung dieser Aenderung bleibt eben immer, dass die neue Festsetzung den gleichen Formalcharakter wie die abgeschaffte trage. Nur dann nämlich wird sie maassgeblich, und somit Ausdruck eines Willens der Gemeinschaft sein.

Da aber die soziale Regelung solchergestalt wandelbar ist, und auch das Triebleben ohne weiteres keine Richtschnur für ihre Wandlung hergiebt, so bedarf sie des höheren Richtmaasses der praktischen Vernunft, und zwar als sozialer Vernunft. Der jeweilige soziale Willensbeschluss, ebenso wie der jeweilige Willensbeschluss des Individuums, ist empirisch bedingt und also verbesserlich. Er bleibt in Geltung, so lange er der formalen Bedingung, das Thun ein - heitlich, also mit objektivem Charakter zu bestimmen, genügt. Allein, wenn es sich nun darum handelt, ob so oder anders zu beschliessen sei, so fragt es sich nach dem Maassstabe, wonach die Richtigkeit des Beschlusses zu beurteilen sei. Dieser kann nur wiederum in einer neuen Einheit der Be - stimmungsgründe gefunden werden, aber nicht in irgendwelcher bloss empirischen Einheit, die ja immer wieder demselben Zweifel hinsichtlich ihrer Richtigkeit unterläge, sondern allein144 in derjenigen letzten, freilich erst recht bloss formalen Ein - heit, in die alles Wollen und dadurch auch die ganze zu regelnde Materie der menschlichen Triebe in strenger Gesetz - lichkeit sich fügen soll. Die reine Form der Gesetzlichkeit also, als ausschliessender, in letzter Instanz maassgeblicher Be - stimmungsgrund, ist es, die das Gebot der praktischen Ver - nunft von der blossen empirischen Regel einzelnen beschränkten Wollens unterscheidet. Ihr Gesetz gilt unterschiedslos für soziale wie individuale Willensregelung. Denn es erstreckt sich, seinem Begriff zufolge, auf das menschliche Leben in seiner Totalität, also muss es auch das Gemeinschaftsleben nach seinem ganzen Umfang umspannen. Zwar das sittliche Wollen selbst bleibt immer individual, weil autonom; es ruht in seiner verpflichtenden Kraft nicht, wie die äussere, hetero - nome Regel des Rechts, auf gegenseitiger Bindung, auf der Bedingung eines entsprechenden Verhaltens des Andern*)Stammler, S. 107.; aber es erstreckt sich darum nicht minder, seinem Inhalt nach, auf das soziale Leben und stellt auch seine letztbeherrschende Gesetzgebung dar.

Nun geht das Vernunftgesetz aber, seinem Inhalt nach, ganz über Erfahrung hinaus; inwiefern vermag es gleichwohl sich in gegebener Gemeinschaft thatsächlich Ausdruck zu ver - schaffen? Nur insofern im Leben der Gemeinschaft und infolge der Gemeinschaft sich eine Tendenz bildet und mit steigender Bewusstheit des sozialen Lebens steigert, das soziale Leben bewusst in der Richtung jener formalen Einheit zu gestalten; das Vernünftigere, das in der Richtung des absolut Vernünf - tigen Liegende nach Möglichkeit auch zum positiven Gesetz zu erheben. Also, wie die sittliche Vernunft im Einzelnen lebendig ist als immer wachendes praktisches Selbstbe - wusstsein und zwar kritisches Selbstbewusstsein, als sittliches Gewissen , so hat die Vernunft im sozialen Leben den gleichen Sinn der selbstprüfenden, ja auf sittliche Ge - staltung eines sozialen Selbst bewusst gerichteten Kritik. Man will, auf dem Standpunkt der Vernunft, gemeinschaftlich,145 nicht mehr bloss, dass das und das Werk gedeihe, oder auch dass die Gemeinschaft überhaupt, nach ihrem formalen Cha - rakter, sich erhalte, sondern dass die Gemeinschaft und im besondern die Gesetzgebung des sozialen Willens sich so ge - stalte, wie sie nach dem Ausspruch des Vernunftgebots sich gestalten muss. Grundbedingung dafür ist die Durchdringung des Gemeinschaftslebens, in Wirtschaft und Recht, vorzüglich aber in der sozialen Organisation der Erziehung, mit dem Geiste der Sittlichkeit, d. i. reinen Gesetzlichkeit; eine sowohl mögliche als unerlässlich notwendige Aufgabe eines Gemein - schaftslebens, das den Namen eines menschlichen ganz und dauernd verdienen soll.

Indem wir diesen Standpunkt der sozialen Teleo - logie *)Stammler, 4. u. 5. Buch. nachdrücklich einnehmen, vertreten wir zugleich den Monismus des sozialen Lebens **)Derselbe, 3. Buch., d. i. die Auffassung, dass die nachgewiesenen drei Grundfaktoren des sozialen, gleich denen des individualen Lebens (§ 11), denen sie genau ent - sprechen, nicht äusserlich neben einander stehen, sondern als bloss begrifflich auseinanderzuhaltende Seiten oder Richtungen desselben in seiner normalen Gestaltung untrennbar verbunden sein müssen; d. i. die Tendenz zur Vernunfteinheit muss der sozialen Regelung und diese der Gemeinschaft der Arbeit un - mittelbar innewohnen, so wie in der sittlichen Vollendung des Individuums die Herrschaft der Vernunft sich durch das Mittel des Willens bis auf das Triebleben erstrecken und es ganz und gar durchdringen würde.

Damit ist der Grundbegriff der Tugend der Gemein - schaft dem Fundament nach schon gewonnen. Um sie jedoch in noch konkreterer Gestalt zeichnen zu können, haben wir zuvor das soziale Leben selbst noch einige Stufen weiter ins Konkrete zu verfolgen.

§ 17. Grundklassen sozialer Thätigkeiten.

Das soziale Leben, wie es sich aus den nachgewiesenen drei Grundbestandteilen gemäss deren notwendigem inneremNatorp, Sozialpädagogik. 10146Verhältnis aufbaut, ist in sich eine vollkommen geschlossene Einheit. Die drei Momente: Arbeit, Willensregelung und ver - nünftige Kritik, sind gar nicht ausser einander, sondern nur als ebenso viele Momente einer und derselben sozialen Thätig - keit zu denken. Die soziale Vernunft hat gar keine andre Existenz als in der thatsächlichen Gestaltung und Umgestaltung der sozialen Willensregelung; diese wiederum ist nur die Regelung der sozialen Arbeit, und existiert gar nicht ausser - halb dieser. Denn dass sie etwa in abgesonderter Formulierung als geschriebenes Gesetz da ist, wird man nicht eine abge - sonderte Existenz nennen wollen. Ein geschriebenes Gesetz ist nichts mehr als ein beschriebenes oder bedrucktes Papier, wofern nicht das, was darin geschrieben steht, auch mit der That befolgt wird; befolgt aber wird es in der Konkretion des Arbeitslebens der Gemeinschaft, in Handel und Wandel der Menschen. Die thatsächliche soziale Regelung, das Anordnen und Verbieten, Aufsichtführen, Strafen und Wiederzurecht - bringen ist ein unablöslicher Bestandteil der sozialen Arbeit selbst; es verhält sich zur so beaufsichtigten und kontrollierten, unmittelbar auf ihren Gegenstand gerichteten Arbeit allgemein nicht anders wie etwa das Kommando des Offiziers zur aus - führenden Thätigkeit des Soldaten, oder der anordnende oder berichtigende Befehl des Meisters in irgend einem Handwerk zur Ausführung des Befehles durch den unmittelbaren Ar - beiter. Dies Ganze: Anordnung und Befolgung des Angeord - neten, Befehl und Ausführung des Befohlenen ist zuletzt ein gemeinschaftliches Werk, an dem die einzelnen Funktionen sich zwar nach dem Gesetz der Arbeitsteilung von einander sondern mögen, aber dabei immer genau auf einander hinge - wiesen bleiben.

Eine gewisse Sonderung der Funktionen ist nun aber, unbeschadet dieser wesentlichen und unaufheblichen Einheit des sozialen Thuns, an sich möglich und schon in technischer Rücksicht erforderlich, damit nach dem divide et impera die grösste Gesamtwirkung durch zweckmässigstes Ineinander - greifen richtig berechneter Einzelwirkungen erzielt wird. Und es liegt der Gedanke nicht fern, dass zur obersten Einteilung147 der so entstehenden gesonderten Thätigkeiten dasselbe drei - gliedrige Schema, das uns bisher geleitet hat, geeignet sein möchte, d. h. dass in den verschiedenen doch zu einander ge - hörigen sozialen Thätigkeiten, die das soziale Leben im ganzen ausmachen, die ursprünglichen drei Grundbeding - ungen der sozialen Thätigkeit überhaupt eigene Provinzen in der Art abgrenzen, dass eine jede in einem beson - deren Kreise von Thätigkeiten die Herrschaft führt.

Die Analogie dieses Gedankens mit dem, welchem Plato folgte, als er aus den drei Seelenteilen seiner Psychologie die drei Stände des Staats ableitete, drängt sich unmittelbar auf; umso nötiger ist es, auf den Unterschied unsrer Auf - stellung von der seinigen ausdrücklich hinzuweisen. Es han - delt sich für uns nicht, wie für Plato, um getrennte Stände oder vielmehr Kasten, sondern vorerst nur um Grundklassen von Funktionen, wobei noch ganz offen bleibt, ob diesen auch ebenso viele Klassen von Funktionären entsprechen müssen. An sich sind es nicht notwendig verschiedene Per - sonen, welche die verschiedenen (etwa auch örtlich und zeit - lich getrennten) Arbeiten verrichten. Das Gesetz der Arbeits - teilung, von unanfechtbarer Allgemeingültigkeit in dem objek - tiven Sinne der Zerlegung der Arbeit selbst in ihre notwendi - gen Bestandteile, unterliegt dagegen sehr bestimmten Grenzen in der subjektiven Bedeutung der Zuweisung der verschiedenen Arbeitsteile an ebenso viele verschiedene Klassen von Arbeitern. Zumal wenn es sich um die wesentlichen Bestandteile sozialer Thätigkeit überhaupt handelt, erscheint es von Anfang an ein - leuchtender, dass an diesen normalerweise alle irgendwie teil - haben müssen; so wie im körperlichen Organismus zwar eigen - tümliche Organe für eigentümliche Verrichtungen vorhanden sind, aber doch sie alle teilhaben am Stoffwechsel, und alle auch in einigem Maasse an motorischen und sensorischen Leistungen.

Die sozialen Funktionen greifen eben in ganz andrer, or - ganischerer Weise in einander, als es bei Plato erscheint. Es ist, nach unsrer dargelegten Grundauffassung, eine völlig un -148 ausdenkbare Vorstellung der Teilung der Arbeit selbst ge - setzt auch dass dieselben Personen an mehreren Arbeitsarten beteiligt sein sollten, was Plato ebenfalls ausschliesst dass je in einer besonderen sozialen Thätigkeit oder Klasse von Thätigkeiten eine der Grundbedingungen der sozialen Thätig - keit überhaupt mit Ausschluss der übrigen sich dar - stellen sollte. Plato dachte die menschliche Psyche gewalt - sam zusammengeschweisst aus drei, nicht Grundkräften, sondern sozusagen selbständigen Wesen, die nur teilweise mit, fast mehr gegen einander wirkten. Daraus folgten dann drei Berufsklassen, Stände oder eigentlich Kasten, deren niederste nur durch die absolute geistige und militärische Obergewalt der beiden andern niedergehalten wurde. Die Stelle dieser psychologischen Teile der Seele, die sich nur sehr künstlich auf den sozialen Organismus übertragen liessen, vertreten bei uns die rein objektiv definierten Begriffe des sozialen Trieb - einsatzes, der sozialen Willensregel und des sozialen Vernunft - gesetzes. An diesen ist die notwendige Wechselbeziehung so - fort klar; denn was ist die Willensregel, wenn nicht Regel für Arbeit, was das Vernunftgesetz, wenn nicht Gesetz der Willensregelung, und durch diese wiederum der Arbeit?

Inwiefern werden nun gleichwohl diesen so untrennbaren Bestandteilen der sozialen Thätigkeit irgendwie gesonderte Funktionen entsprechen? Nur so, dass jede Funktion alle drei Grundteile zwar einschliesst, aber je eine von ihnen zum bestimmenden Zweck hat, während die andern als blosse Mittel diesem einzigen Zwecke untergeordnet bleiben. So lassen sich im körperlichen Organismus sehr wohl nutritive, motorische, sensorische Organe unterscheiden, auch wenn etwa jedes von ihnen an mehreren dieser Funktionen, vielleicht an allen dreien, teilhat; wofern nur eine sichere Unterordnung nach dem Verhältnis von Mittel und Zweck möglich ist.

Dass nun in dieser Weise jedem der drei Grundfaktoren sozialer Thätigkeit eine eigentümliche soziale Funktion oder Klasse von Funktionen wirklich entsprechen muss, wird be - sonders klar durch die ferner hier eingreifende Erwägung, dass das soziale Leben in eben diesen seinen drei Grundteilen149 sich fort und fort wiedererzeugen muss. Die Gemein - schaft der Arbeit, durch gemeinschaftlichen Willen geregelt nach gemeinschaftlicher Vernunft ist ja nicht ein Geschenk der Natur noch ein ein für allemal fertiges Ergebnis menschlicher That, sondern verlangt immer erst wieder ge - staltet, in Bewusstsein und That der Menschheit wieder - und wiedergeboren, als ihr ewiges Werk in unablässigem Ringen neu und neu hervorgebracht zu werden. Dadurch rechtfertigt sich erst ganz der Ausdruck soziales Leben . In der That nicht anders als die beständige und notwendige Arbeit des lebenden Organismus die Reproduktion des Orga - nismus selbst in seinen wesentlichen Funktionen ist, so ist das beständige und notwendige Werk der Gemeinschaft die Reproduktion der Gemeinschaft selbst in ihren bezüglichen Grundfunktionen. Und besonders in Hinsicht dieser beständi - gen Reproduktion müssen denn wohl irgendwie die Thätig - keiten sich scheiden, die gerichtet sind auf die beständige Re - produktion der sozialen Triebthätigkeit, des sozialen Willens, der sozialen Vernunft. Zwar müssen die bezüglichen Thätig - keiten darum nicht weniger ineinandergreifen; aber sie bleiben durch die Richtung, die sie je auf ihren eigentümlichen Zweck innehalten, dem Begriff und beherrschenden Prinzip nach immer von einander geschieden.

Und so würden wir, auch wenn nicht die Jahrtausende der Menschengeschichte uns Zeugnis gäben, rein aus unserm Prinzip ebenso viele selbständige, in sich geschlossene Grundklassen sozialer Thätigkeiten aufzustellen haben, in denen sich je einer der Grundbestandteile sozialer Thätigkeit überhaupt in bestimmender Weise ausprägt. Wir bezeichnen sie als die Klassen der wirtschaftlichen, der regierenden und der bildenden Thätigkeiten.

Die wirtschaftliche Thätigkeit muss, unsrer Aufstellung zufolge, der eigentümlichen Funktion des Trieblebens, der ge - meinschaftlichen Arbeit, nämlich unmittelbaren Arbeit, in dem Sinne entsprechen, dass sie zugleich und besonders die be - ständige Reproduktion dieser Arbeit vertritt.

Das objektive Korrelat des Triebes ist überhaupt die150 Arbeit, d. i. der Einsatz von Triebkraft zu irgend welcher Hervorbringung oder Verwirklichung eines menschlichen Zwecks. Soll aber, für welchen Zweck immer, Kraft eingesetzt werden können, soll Energie des Triebs dem Gebote des Willens und der Vernunft zur Verfügung stehen, so muss sie in un - ermüdeter, wohlgeregelter, eigens auf diesen Zweck gerichteter Thätigkeit fort und fort neu beschafft werden. Die wirtschaft - liche Thätigkeit dient also der Erhaltung der Energie des Trieblebens und damit der Frische und Leistungsfähig - keit menschlicher Arbeit, zur Verfügung für jeglichen Zweck, den immer Wille und Vernunft ihr bestimmen mögen.

An logischer Schärfe mangelt dem so begründeten Begriff der Wirtschaft nichts. Man sieht ihn nirgends überfliessen in den der auf die formale Regelung als solche gerichteten, oder vollends in den der bildenden Thätigkeit. Wohl fallen diese beiden, abgesehen von ihrem je eigentümlichen Zweck, auch unter wirtschaftliche Erwägung, sofern sie, als Thätigkeiten überhaupt, als Arten von Arbeit, einen Einsatz von Trieb - kräften erfordern; aber ihr eigentümlicher Zweck ist nicht die Erhaltung der Triebkräfte, die sie vielmehr bloss als Mittel zu anderweitigem Zweck verwenden; also sind es nicht wirtschaftliche Thätigkeiten. Umgekehrt bedarf die wirt - schaftliche Thätigkeit sowohl der Regierung als gebildeter Einsicht und gebildeten Wollens. Aber ihr eigentümlicher Zweck ist nicht Regierung und nicht Bildung, sondern sie ge - braucht diese beiden nur als Mittel zu ihrem besonderen Zweck, der Erhaltung der Triebkräfte. Die Grenze der Begriffe bleibt also immer unverwischt.

Es ist allerdings keine hinlänglich genaue, aber doch auch keine wesentlich unrichtige Bestimmung des Begriffs Wirt - schaft , nach der sie besteht in der Beobachtung des Gleich - gewichts zwischen Ausgabe und Einnahme, d. h. zuletzt, zwischen Verbrauch und Zufuhr von Kräften. Die Not - wendigkeit dieser Bilanz geht schliesslich auf das biologische Grundgesetz zurück, wonach Leben überhaupt in einem mit gewisser Regelmässigkeit sich vollziehenden Umsatz d. i. Ver - brauch und entsprechenden Ersatz von Kräften beruht. Doch151 ist das Gesetz der Wirtschaft nicht etwa identisch mit diesem biologischen Gesetz oder eine reine Ableitung aus ihm; es ist überhaupt kein blosses Naturgesetz, sondern ein Gesetz der Technik, welche den sonst bloss natürlich sich vollziehenden Umsatz der Kräfte zum Werk menschlicher, d. i. zweck - bewusster Arbeit umwandelt. Aller Verbrauch und Ersatz von Kräften, auch und besonders der eigenen Kräfte des Menschen, soll zweckgemäss d. h. so eingerichtet werden, dass mit dem geringsten Aufwand an Kraft das grösste Maass vorrätiger Kraft wiedererzeugt wird. Kräfte zu jedweder menschlicher Thätigkeit bereitzustellen, ist der eigentümliche Zweck der Wirtschaft; also darf keine Kraft verschwendet, d. h. ohne entsprechenden Ersatz aufgebraucht werden. Das ist es denn auch, was man unter wirtschaftlichem Verhalten vorzugsweise versteht. Zu welchen Zwecken die so immerfort sich er - neuernde Triebenergie weiterhin zu verwenden sei, ist dagegen durch den Begriff der Wirtschaft nicht bestimmt. Nur ein Zweck ihrer Verwendung folgt aus ihm, nämlich es muss jeden - falls die wirtschaftliche Thätigkeit selbst reproduziert werden, d. h. es muss immer wenigstens so viel an verfügbarer Energie herauskommen, als erforderlich ist, um die Wirtschaft selbst, d. h. die planmässige Erneuerung jeder verbrauchten Energie, in Gang zu halten, und nicht nur überhaupt in Gang, sondern in gutem, geregeltem, sich selbst erhaltendem Stande zu halten und womöglich zu steigern. Da es aber, ausser der Erhaltung des Betriebes des menschlichen Lebens selbst, doch noch sehr viele andre und darunter nicht minder wesentliche Zwecke giebt Zwecke, deren ordentliche Verfolgung einerseits wirtschaft - licher Kräfte bedarf, und die andrerseits der Wirtschaft selbst nicht gleichgültig sein können, weil keiner der wesentlichen mensch - lichen Zwecke ohne Beziehung zu den andern bleiben kann , so folgt, dass über den zur Erhaltung des Betriebs erforder - lichen Bestand verfügbarer Kräfte stets noch ein Ueberschuss produziert werden muss, damit jederzeit ohne Schaden für die Erhaltung der Gesamtkraft ein gewisses Quantum Energie andern als wirtschaftlichen Zwecken zugeführt werden kann. Auf dieser Grundlage dürften wohl die allgemeinsten That -152 sachen des wirtschaftlichen Lebens sich verständlich machen lassen.

Man hat auch wohl als Zweck der Wirtschaft bezeichnet die Erhaltung der Existenz oder die Ernährung. Das kann leicht in zu engem oder aber in zu weitem Sinne ver - standen werden. Wäre die Ernährung streng nur in physischer Bedeutung gemeint, so wäre der Begriff der Wirtschaft damit viel zu eng bestimmt; denn der Zweck der Wirtschaft geht unermesslich weit hinaus über die Produktion dessen, was zum Leben im physischen Sinne notwendig ist, ja auch über das, was, sei’s auch zum Genuss und Ueberfluss, konsumiert wird. Würde hingegen unter der menschlichen Existenz die Be - friedigung jedwedes menschlichen Bedürfnisses mitverstanden, und sollte also diese, so schlechthin, als Zweck der Wirtschaft gelten, so ist die Bestimmung viel zu weit. Denn auch die regierende, auch die bildende, überhaupt jede menschliche Thätigkeit befriedigt irgend welche menschlichen Bedürfnisse, aber es wäre darum doch unzulässig, jede menschliche Thätig - keit wirtschaftlich zu nennen; sie fällt vielmehr nur, neben und ausser ihrem je eigentümlichen Zweck, auch unter wirt - schaftliche Erwägung, nämlich insofern sie einen geregelten Ersatz der je verbrauchten Triebkräfte erfordert. Dies freilich gilt beinahe von jeder menschlichen Thätigkeit, aber eben nur in dieser einzigen Hinsicht. Nicht also, dass man lebt, oder dass man irgend welche menschlichen Zwecke verfolgt, sondern dass man, um zu leben und in Verfolgung irgend welcher Zwecke, arbeiten, d. i. Triebkraft einsetzen, mithin auch für deren Ersatz Vorsorge treffen muss, das allein ist es, was den Begriff Wirtschaft begründet.

Andrerseits gehört zur wirtschaftlichen Thätigkeit, ihrer technischen Begründung zufolge, ohne Zweifel Willensregelung, und unterliegt sie damit auch dem Urteil sittlicher Vernunft; zumal es sich nicht bloss um Verwendung toter Naturkraft, sondern der eigenen Kräfte des Menschen handelt. Insbesondere, sofern die wirtschaftliche Arbeit soziale Arbeit ist, bedarf sie der sozialen Regelung. So erhält der Begriff der Wirtschaft, der an sich zwar dasselbe in Hinsicht der individualen wie153 der sozialen Thätigkeit bedeutet und bedeuten muss, doch noch eine nähere Bestimmung, sofern er eine Seite des sozialen Lebens bezeichnen soll: soziale Wirtschaft allerdings setzt soziale Regelung voraus*)Nach Stammlers zweifellos richtiger Bestimmung; dem ich nur nicht beistimmen kann in der Ablehnung jedes gemeinsamen Begriffs individualer und sozialer Wirtschaft, und ferner nicht in der Gleichsetzung der Wirtschaft mit der Materie des sozialen Lebens. Wirtschaft überhaupt verhält sich zu sozialer Wirtschaft nicht anders als Willensregelung über - haupt zu sozialer Willensregelung, Menschenvernunft überhaupt zu sozialer Vernunft. Materie der sozialen Regelung aber, und also des sozialen Lebens, ist nicht die wirtschaftliche Thätigkeit allein, sondern jede soziale Thätigkeit, auch die regierende und die bildende. Vgl. weiter unten im Text, und Arch. II 329 ff.. Indessen ist der Begriff der Regelung bezw. sozialen Regelung von weiterem Umfang als der der zu regelnden bezw. sozial zu regelnden Wirtschaft. Denn wenn auch jede menschliche Thätigkeit unter wirtschaft - liche, jede soziale Thätigkeit unter sozialwirtschaftliche Er - wägung fällt, so berührt diese doch nur eine einzige Seite an dieser, den Verbrauch und Ersatz der aufzuwendenden Kraft. Nun geht in der Beschaffung von Kräften der Zweck mensch - licher Thätigkeit doch nicht auf; die Regelung der Thätigkeit aber, und so auch die soziale Regelung, erstreckt sich auf den ganzen Zweck der zu regelnden Thätigkeit, nicht auf diese Seite allein. Sozialer Regelung bedarf auch diejenige soziale Thätigkeit, die zur Durchführung und beständigen Aufrecht - erhaltung wie auch Abänderung der sozialen Regelung selbst erforderlich ist: die Rechtspflege, die Gesetzgebung. Das fällt nicht unter den Begriff Wirtschaft. Sozialer Rege - lung bedarf ebenfalls eine jede gemeinschaftliche Pflege der Bildung in Wissenschaft, Sittlichkeit, Kunst, Religion. Das alles lässt sich füglich nicht unter den Begriff Wirtschaft zwin - gen, sofern nämlich nicht von dabei vorkommenden Ausgaben und Einnahmen, Unterhalt der beamteten Personen, Sorge für Baulichkeiten und sonstigen äusseren Bedarf, oder auch der äusseren Oekonomie der dazu nötigen Arbeit, Bestimmung der Arbeitszeit nach Rücksichten der Kraftsparung u. dergl., sondern von dem eigentümlichen Zweck dieser Thätigkeiten154 (was an der Kunst Kunst, an der Religion Religion ist u. s. f.) die Rede ist. Das fällt weder ausserhalb sozialer Regelung, noch ist es durch den Begriff Wirtschaft irgend zu decken. Der Beruf des Juristen und Staatsmannes, des Gelehrten und Erziehers, des Künstlers, des Geistlichen ist kein wirtschaft - licher, er untersteht aber ohne Zweifel, nicht bloss sofern er auch eine wirtschaftliche Seite hat, sondern nach seinem eigen - tümlichen Zweck, sozialer Regelung. Also ist Wirtschaft zwar eine, und eine vorzüglich wichtige Materie sozialer Regelung, aber nicht die Materie derselben, mithin nicht gleichzusetzen mit der Materie des sozialen Lebens.

Die gleiche relative Selbständigkeit zeigt zweitens die Klasse der regierenden Thätigkeiten. So wie an jeder menschlichen, insbesondere sozialen Thätigkeit der erforderliche Krafteinsatz und die um deswillen nötige Sorge für verfügbare Kraft unter eine eigene Erwägung fällt, so ist an jeder Thätig - keit ferner die Regelung, insbesondere die soziale Regelung als Gegenstand einer eigenen vorsorgenden Thätigkeit ins Auge zu fassen, wobei sowohl die einzusetzenden Kräfte wie der sonstige, besondere Zweck der Thätigkeit als gegeben genommen wird, also für diese eigentümliche Erwägung nicht in Frage steht. Dies findet schon auf das isolierte Leben des Einzelnen Anwendung. Auch für ihn ist ein Eigenes gegenüber der direkt auf den jeweiligen Zweck gerichteten Arbeit die Entwerfung und genaue Innehaltung eines festen Arbeits - planes. Aber eine unvergleichlich grössere Bedeutung und zugleich einen ganz bestimmten neuen Sinn gewinnt diese Aufgabe, sofern es sich um soziale Thätigkeit, d. h. nicht bloss um den Willen des Einzelnen und dessen Gewalt über den Trieb, sondern um Willensbeziehungen unter Mehreren, bald unabsehbar Vielen handelt. Doch ist die Aufgabe darum in letzter Betrachtung ganz dieselbe: Unter - werfung der einzelnen, ohne das bloss triebartigen Thätigkeit unter den voraus aufgestellten Gesamtplan auf bestimmten Zweck gerichteten Thuns.

Wieder kann in der Abgrenzung dieses zweiten Gebietes sozialer Berufe die Erwägung nicht irre machen, dass Regelung155 doch bei aller menschlichen Thätigkeit, soziale Regelung bei aller sozialen Thätigkeit vorkommt. Gewiss ist auch in einer Fabrik oder einem komplizierten Bildungsorganismus sogar viel Regierung nötig. Umgekehrt lebt Regierung allein von Wirt - schaft und Bildung, denn sie braucht Kräfte und braucht Verstand, welches beides das Amt nicht giebt, sondern von jenen borgen muss. Darum ist aber wirtschaftliche oder bildende Thätigkeit als solche nicht regierende, noch umgekehrt. Auch giebt es regierende Thätigkeit, die unmittelbar weder auf wirtschaftliche noch auf Bildungszwecke gerichtet ist, sondern ganz in sich abgeschlossen erscheint. Es giebt Recht, welches keine andere Thätigkeit normiert, als wiederum recht - liche, Regierung, die nichts anders anordnet als wiederum Regierung, ebenso wie wir sahen, dass es wirtschaftliche Thätig - keit giebt, die die produzierten Kräfte zu keinen andern als wiederum wirtschaftlichen Zwecken verwendet. Welche grössere Selbständigkeit kann man denn verlangen? Sogar Materie rechtlicher Regelung vermag die rechtliche Regelung selbst zu werden, die doch die Form des sozialen Lebens vertreten soll und mit Fug vertritt. Aber die soziale Form - gebung ist Gegenstand einer eigenen, bloss hierauf bezüglichen Technik, eigener Wissenschaft und so auch einer eigens charak - terisierten Thätigkeit, eines eigenen Berufs, vielmehr eines weiten Komplexes zusammengehörender Berufe. Auch hier ist, bei der denkbar engsten Wechselbeziehung zu den beiden andern Klassen sozialer Thätigkeiten, von einem Verfliessen der be - grifflichen Grenzen nichts zu bemerken. Vielmehr tritt im einigermaassen entwickelten sozialen Leben die Absonderung der regierenden Funktionen auch thatsächlich meist sehr deut - lich, nicht selten in einer sachlich kaum gerechtfertigten Schroff - heit zu Tage. Das begreift sich besonders daraus, dass ebenso, wie die wirtschaftliche Thätigkeit neben ihren sonstigen sehr mannigfaltigen Zwecken immer die eine wesentliche Auf - gabe hat, sich selbst in beständiger Reproduktion zu erhalten, so auch die regierende Thätigkeit bei der Erfüllung ihrer eigentlichen und letzten Absichten, die niemals in ihr selbst, sondern im Gebiete der wirtschaftlichen und der bildenden156 Thätigkeiten liegen, immer auch noch die Aufgabe hat, für ihre eigene Erhaltung zu sorgen. Daher stellt das Recht nicht bloss Normen für wirtschaftliche und bildende Thätigkeit auf, sondern auch Normen darüber, wie Recht gemacht und durch - geführt und, wenn verletzt, wiederhergestellt wird; wie der ganze, der Erhaltung und auch Fortbildung des Rechtszustands dienende Betrieb in Gang zu erhalten, die abgehenden Kräfte zu ersetzen sind u. s. f. Kurz, das Recht, und so alle Regie - rung, muss in weitem Umfang für sich selber, d. h. für seine beständige Reproduktion sorgen; und dieser Zwang der Selbst - sorge erklärt die oft auffallende Einseitigkeit, in der die regie - renden Thätigkeiten, bis zur Vergewaltigung andrer, vielleicht wesentlicherer Zwecke, nur ihre eigene Bedeutung und Autorität um jeden Preis behaupten zu wollen scheinen; während sie doch unmöglich Zweck ihrer selbst, sondern nur ein zu sonstigen menschlichen Zwecken dienendes Mittel sein können. Es soll damit die Einseitigkeit der Ansprüche, welche die regierenden Funktionen im sozialen Leben erheben, keineswegs gutgeheissen werden; aber sie ist hier von Interesse als ein auffallender Beweis der relativen Selbständigkeit dieser Funktionen. Es würde sogar voreilig sein, aus dieser etwa zu schliessen, dass die regierenden Funktionen notwendig einer abgesonderten regierenden Klasse zufielen. Es würde an unsren Aufstellungen nichts geändert, auch wenn man sich eine so vollendete Selbstregierung dächte, dass es einer eigenen regierenden Klasse überhaupt nicht mehr bedürfte. Das wäre etwa der verständliche Sinn des Anarchismus : nicht dass es keine Regierung, sondern keinen regierenden Stand, d. h. bloss Selbstregierung gäbe. Die Funktionen der Regierung selbst könnten dabei immer noch ganz die gleiche Selbständigkeit bewahren, wie da, wo sie ausschliesslich oder doch der Hauptsache nach in der Hand einer eigenen Klasse sind.

Ebenso wenig aber lässt sich verkennen, dass auch der dritte Grundfaktor menschlicher Thätigkeit, die Vernunft, eine eigene, von beiden andern begrifflich scharf zu sondernde Klasse von Thätigkeiten und zwar auch sozialen Thätigkeiten begründet. Wir nennen sie bildende Thätigkeiten, indem wir157 unter Bilden allgemein verstehen: von der Heteronomie zur Autonomie führen, gleichviel ob sich selbst oder andre. Die Erfahrung der Macht des Willens, unsre Arbeitskräfte auf be - stimmte Zwecke zu lenken und damit unserem Thun Regel und Einheit zu verschaffen, führt endlich zu der Einsicht, dass auch die Zwecke uns nicht schlechthin zudiktiert sind, sondern von uns selber gesetzt werden können. In jedem geregelten Thun ordnet sich ein Zweck dem andern unter; so enthüllt sich endlich, dass überhaupt kein empirischer Zweck sich je anmaassen darf, souverän zu sein, vielmehr alle der Kritik einer praktischen Beurteilung unterliegen, die keinen engeren Maass - stab anlegen darf als den der absoluten Einheit der Zwecke. Es entsteht also die neue Aufgabe einer Ordnung der Zwecke selbst, nicht bloss der verfügbaren Mittel zu gegebenen Zwecken. Es ist nichts andres als die volle Herrschaft des Bewusstseins, was die praktische Erwägung zu dieser höchsten Stufe erhebt. Sie immer neu zu erringen ist all - gemein Aufgabe der bildenden Thätigkeit; sie der Gemeinschaft zu gewinnen und in ihr zur letztentscheidenden Instanz zu erheben, Aufgabe der sozialen Bildungsthätigkeit: der sozialen Pädagogik. Diese hat gewiss sowohl die wirtschaftliche als die regierende Thätigkeit zur Voraussetzung und wirkt andrer - seits auf beide und also auf das soziale Leben in allen Be - ziehungen zurück. Allein sie geht in ihrem eigentümlichen Zweck doch über beide hinaus; er ist ihr nicht vorgezeichnet durch die Bedürfnisse der Wirtschaft oder der Regierung, so berechtigte Ansprüche diese auch haben, von ihr gleichfalls gemäss ihrer Eigenart berücksichtigt zu werden. Ja ihr Zweck ist denen der Wirtschaft und des Rechts schlechthin über - geordnet. Denn weder in der blossen Beschaffung verfügbarer Kräfte noch in der sozialen Organisation bloss als solcher kann der schliessliche Zweck des sozialen Lebens gefunden werden; allzu deutlich tragen beide den Charakter blosser Mittel. Man lebt nicht um zu leben, man regiert nicht und lässt sich regieren, bloss um zu regieren oder regiert zu sein; der schliessliche Zweck kann nur im Bewusstsein liegen, denn es giebt keinen Zweck ausserhalb des Bewusstseins. 158Also nur ein Leben, in dem das Bewusstsein, in dem die Ver - nunft herrscht und nicht bloss dient, kann als Endzweck gedacht werden. Folglich müssen die wirtschaftliche wie die regierende Thätigkeit sich als blosse Mittel dem höheren Zweck der Menschenbildung unterordnen. Bildung durch Arbeit und zur Arbeit, durch soziale Organisation und zur Teilnahme an ihr, ebenso wie durch und zu eigener bildender Thätigkeit, an sich selbst wie an Andern, diese drei müssen sich in harmo - nische Einheit fügen; es sind für den eigentümlichen Gesichts - punkt der bildenden Thätigkeit nur die notwendig zusammen - gehörenden Glieder eines Organismus, des Organismus der Menschenbildung. Im Ideal würden die wirtschaftliche Arbeit wie die soziale Organisation unmittelbar Faktoren der Bildung werden; d. h. sie müssten durchweg so geordnet sein, dass sie, nicht etwa bloss neben, sondern in der Erfüllung ihrer besonderen Aufgabe, dem einen letzten Zwecke der Menschenbildung gehorchen und an seiner Verwirklichung mitarbeiten müssten. Bis zu dieser Höhe hatte sich die Idee der menschlichen Bildung auf der Grundlage der Vernunft (unter dem Namen der Philosophie ) bereits in Plato erhoben, und von seiner daraus entsprungenen sozialpädagogischen Idee des Staats lässt sich, was die Grundidee betrifft, nichts ab - dingen. Nur begründet gerade die richtige Konsequenz dieser Idee eine andere, positivere Würdigung der wirtschaftlichen wie der politischen Thätigkeit, als Plato sie beiden gönnt. Ihm ist die wirtschaftliche Arbeit wie die soziale Organisation nur leidige Notsache, oberhalb deren erst das wahrhafte mensch - liche Leben beginnt. Nun erkennen auch wir an, dass beide zuletzt dem einzigen Zwecke der Höherbildung der Menschheit sich unterordnen müssen, aber eben diesem höchsten Zwecke dienstbar gemacht, gewinnen beide einen unangreifbaren Wert. Das ist es, was infolge der zu schroffen Auffassung des Rang - unterschieds der verschiedenen Grundthätigkeiten und der über - triebenen Schätzung der Arbeitsteilung (die ganz der schroffen Auseinanderreissung der seelischen Grundfunktionen im Indi - viduum entspricht) von Plato verkannt worden ist. Das ist das wirklich Utopische seines Entwurfs, der an sich durchaus159 nicht als blosse Zeichnung eines abstrakten Ideals gemeint war, sondern volle Durchführbarkeit für sich in Anspruch nahm. *)Vgl. Platos Staat und die Idee der Sozialpädagogik. Auf diese Weise wird die Aufgabe der Menschen - bildung in unhaltbarer Weise vom Naturgrunde des mensch - lichen Daseins losgerissen; wovon die unvermeidliche Folge ist, dass sie selbst nun nicht mehr recht gedeihen kann, be - sonders nicht auch bis zu den niederen Stufen der Gemein - schaft herabreicht, wie sie doch müsste, wenn die so stark betonte Einheit des Staats nicht zerfallen soll. So bleibt denn der gross gedachte Erziehungsplan des platonischen Staats auf die regierende Klasse beschränkt, kommt also nicht, wie es der Anlage des Systems nach gefordert wäre, dem ganzen Staat zu gute. Statt dessen müssen wir die Aufgabe gerade darin sehen, das ganze menschliche Dasein bis zu seiner letzten triebartigen Wurzel herab zu versittlichen. Das kann aber nur geschehen, indem die Vernunftidee zwar an die Spitze tritt, ihre Realisierung aber allein angestrebt wird auf dem Boden der wirtschaftlichen und der politischen Thätigkeit, die dadurch selbst zu einem edlen sittlichen Range emporgehoben werden. Der Mensch ist allerdings nicht um der Arbeit oder des Regiments willen da, sondern Arbeit und Regiment um des Menschen willen; allein er ist darum nicht weniger auf Arbeit angewiesen, und bedarf nicht weniger, der Arbeit und ihrer sittlichen Ordnung wegen, des Regiments. Es gilt nur beide auch diesem ihrem höchsten Zweck gemäss zu gestalten; so erreichen sie gerade in dieser Unterordnung unter einen edleren Zweck, als sie für sich selbst aufweisen könnten, die höchste ihnen zustehende Würde. Was könnten sie denn Höheres wollen als zum Menschentum an ihrem Teil beitragen?

Nur der Andeutung bedarf, dass, wie die wirtschaftliche und regierende, so auch die bildende Thätigkeit im sozialen Leben auch und besonders deswegen in einem eigenen Kreise von Thätigkeiten und zwar sozial geordneten Thätigkeiten sich abzusondern nötig hat, weil sie neben ihren weiteren Zwecken auch für ihre eigene Reproduktion fort und fort160 einzustehen und also geregelte Fürsorge dafür zu treffen hat. Daraus folgt die Notwendigkeit eines eigenen und zwar sozialen Lehrberufs; obwohl nicht ebenso zwingend die eines abgeson - derten Lehrstandes.

Auf der hiermit gegebenen Grundlage würde es nun wohl möglich sein, das, worauf wir eigentlich ausgehen: die Güte oder Tüchtigkeit des sozialen Lebens, im antiken Sinne seine Tugend zu definieren. Sie wird offenbar bestehen müssen in dem normalen Verhältnis der nachgewiesenen drei Grund - funktionen, wie es soeben noch als unabweisliche Forderung sich ergab. Nur ist hierbei noch ein Faktor zu berücksichtigen, den wir bisher nicht ausdrücklich in Rechnung gezogen haben: Das Gemeinschaftsleben ist auf keiner gegebenen Stufe ab - geschlossen, es ist beständig im Werden begriffen. So wird die sittliche Ordnung des Gemeinschaftslebens zur ewigen Auf - gabe, ihre Tugend zur Idee, d. h. zum blossen Richtpunkt einer unendlichen Entwicklung. Ist es nun vielleicht möglich, auch das Grundgesetz dieser Entwicklung aus unseren Prinzipien abzuleiten? Wenn, so würde damit die letzte Konkretion der sittlichen Aufgabe für die Gemein - schaft und durch sie auch für den Einzelnen erreicht sein. Das ist nun zu untersuchen.

§. 18. Grundgesetz der sozialen Entwicklung.

Der Gang unserer sozialphilosophischen Untersuchung ist dieser. Wir fragten zuerst, welches sind die Elemente, aus denen soziales Leben überhaupt besteht; wir untersuchten so - dann, wie in eben diesen Elementen es sich fort und fort erneuert, woraus die wesentlichen Funktionen und Organe des sozialen Körpers sich ergaben; das dritte, was übrig bleibt, ist die Fest - stellung der Grundrichtung der Entwicklung des Ge - meinschaftslebens. Damit erst wird der Begriff eines sozialen Lebens vollinhaltlich bestimmt, und die zureichende Grund - lage gewonnen für die Beantwortung der letzten Frage, auf die dies alles abzielt: worin die Güte des sozialen Lebens besteht.

161

Eine gewisse Tendenz, sich ins Gleichgewicht zu setzen, muss den ursprünglichen drei Faktoren des sozialen Lebens nach ihrem nachgewiesenen inneren Verhältnis zu ein - ander überhaupt innewohnen und also auf jeder gegebenen Stufe des Gemeinschaftslebens sich in gewissem Maasse wirk - sam erweisen. Allein dies thatsächlich immer vorhandene, sozusagen mechanische Gleichgewicht ist nur ein labiles, da die Faktoren selbst und so auch ihr wechelseitiges Verhältnis stetiger Veränderlichkeit unterliegt. Jetzt aber ist die Frage nach dem Gesetz, wonach das seinsollende Verhältnis der drei Faktoren in unwandelbarer Einheit, für jeden gegebenen Zeitpunkt gültig, also als ein stabiles sich bestimme. Die Richtung von dem gegebenen Stande des Gemeinschaftslebens auf dies sein ideales Ziel hin wird dann seine fernere, nämlich sittlich geforderte Entwicklung, und damit die soziale Pflicht eines jeden ihrer Glieder für den gegebenen Zeitpunkt vor - zeichnen.

Das ist freilich nicht der gewöhnliche Weg, zu einem sozialen Entwicklungsgesetz zu gelangen. Man sucht einem solchen vielmehr dadurch auf die Spur zu kommen, dass man der thatsächlichen Tendenz der bisherigen sozialen Entwick - lung empirisch nachgeht und sie auf einen einheitlichen Aus - druck zu bringen sucht, der etwa auch mehr oder minder sichere Schlüsse auf die kommende Entwicklung gestatte. In solchem Sinne pflegt man von Gesetzen der sozialen Ent - wicklung im Sinne von Naturgesetzen zu sprechen, in - dem der Werdegang des sozialen Organismus nach der nahe - liegenden Analogie des pflanzlichen oder tierischen Wachstums vorgestellt wird. Allein diese Analogie ist trüglich. Das Wachstum der Organismen ist in festem Kreislauf begrenzt; es hat ein angebbares Maximum, über das die Möglichkeit der Entwicklung für die gegebene Art nicht hinausreicht; wenig - stens würde sich nur unter Voraussetzung eines solchen Maxi - mums der Gang der organischen Entwicklung auf naturgesetz - lichen, d. i. empirisch-kausalen Ausdruck bringen lassen (§ 2). Nun aber handelt es sich um die Entwicklung des Bewusst - seins. Diese lässt sich in keine empirischen Schranken ein -Natorp, Sozialpädagogik. 11162schliessen, sie führt vielmehr nach jeder Richtung ins Unend - liche. Ihre Grenze liegt allein in dem letzten Gesetze des Be - wusstseins selbst, welches an Erfahrungsbedingungen nicht ge - bunden, dagegen für alle Möglichkeit der Erfahrung seinerseits bestimmend ist: im Gesetze der Idee.

Man muss, um sich hier nicht zu verwirren, streng aus - einanderhalten, einmal die empirische Verursachung des Be - wusstseins als zeitlichen Geschehens; diese steht unter Natur - gesetzen von freilich fast hoffnungsloser Komplikation; sodann aber die notwendige Beziehung, die alles je und dann auf - tretende empirische Bewusstsein, in seinem Inhalt erwogen, auf eine, diesen in Einheitlichkeit bestimmende letzte Ge - setzlichkeit hat, welche allein die des Bewusstseins selbst sein kann. Auf ersterem Wege mag es einer fernen Zukunft viel - leicht beschieden sein einige Schritte vorwärts zu thun; zur Zeit wäre es verwegen Naturgesetze auch nur der individuellen, geschweige der sozialen Entwicklung selbst nur hypothetisch aufstellen zu wollen, weil es bisher auch an den notwendigsten Vorbedingungen dazu fehlt. Hingegen ist es methodisch zu - lässig, zu forschen, ob die successiven Stadien des empirischen Bewusstseins, ihrem historisch bekannten Inhalt nach an dem Grundgesetze des Bewusstseins gemessen, einen Fortschritt in einheitlicher Richtung, eine stufenmässige Erhebung zu dem Ziele einer gesetzmässigen Einheit der praktischen Erkenntnis, etwa auch eine entscheidende Rückwirkung der wachsenden Klarheit über das, was ihrem Gesetze gemäss sein sollte, auf die thatsächliche Gestaltung des sozialen Lebens erkennen lassen. Daraus würde sich freilich kein Naturgesetz ergeben, aus dem sich die kommende Entwicklung gleich dem Laufe der Gestirne oder der Entfaltung pflanzlicher oder tierischer Organisation mit wissenschaftlicher Gewissheit oder selbst nur objektiv begründeter Wahrscheinlichkeit voraussagen liesse. Es lässt sich immer nur behaupten: Wenn die bisher beob - achtete, im ganzen fortschreitende Entwicklung sich auch ferner bewährt, so müssen dies und dies die zunächst zu er - reichenden Stufen sein. Entspricht dem dann der thatsäch - liche Lauf der Dinge, so waren gewiss auch bestimmende Ur -163 sachen vorhanden, die eine fortschreitende Entwicklung bis zu diesem Punkte notwendig machten. Aber ein allgemeines Naturgesetz, nach welchem eine im gleichen Sinne fort - schreitende Entwicklung nun auch ferner und gar in alle Zu - kunft notwendig wäre, zu behaupten, dazu reicht die Basis, auf die wir unsern Schluss gestellt haben, offenbar nicht aus. Dem Willen hingegen ist gerade durch ein derartiges Gesetz seine Bahn bestimmt. Sein Gesetz ist eben das jenes über die gegebene Erfahrung, ja über die Möglichkeit des Erfahrungs - beweises überhaupt hinausgehenden Bewusstseins; seine eigen - tümliche Methode ist es, an den Grenzen der Erfahrung, ob - wohl im beständigen Rückblick auf sie, das eigene Gesetz der Idee aufzurichten.

Allein auf die Zurückbeziehung der Idee auf die Er - fahrung kommt nun hier nicht weniger als alles an. Und diese erschöpft sich nicht darin, dass an die einzelnen empi - rischen Daten der Maasstab der Idee angelegt wird. Auch daraus würde noch gar kein Gesetz folgen, nach dem der Gang der Entwicklung sich (im erklärten Sinne) allgemeingültig be - stimmen liesse. Sondern es muss noch eine Verbindung nachgewiesen werden zwischen dem Gesetze der Idee und den allgemeinen Gesetzen der Erfahrung. Eine innere Beziehung zwischen beiden haben wir von Anfang an voraus - gesetzt. Das ist in der That die einzige Voraussetzung, unter der eine konkrete Erfassung der sittlichen Aufgabe in gesetz - mässiger Form möglich ist. In welcher Art aber die ver - langte Verbindung insbesondere für das soziale Leben besteht, ergiebt sich aus den Darlegungen der beiden letzten Para - graphen. Die vernunftmässige Gestaltung des sozialen Lebens kann nur geschehen durch das Mittel der sozialen Regelung, die die Willensform des sozialen Lebens darstellt; diese aber hat ihre letzte materiale Grundlage in der Technik; der Fort - schritt der Technik endlich ruht unmittelbar auf dem Fort - schritt der Naturerkenntnis. Damit ist der Zusammen - hang im Prinzip gegeben, und zwar, wie wir erwarten mussten, durch eine notwendige, innerlich begründete Beziehung der Grundgesetzlichkeit des praktischen auf die des theoretischen164 Bewusstseins; nicht indem dies erstere sich in dies letztere auf - löst, wie es nach der materialistischen Ansicht nicht bloss der Marxisten, sondern der Evolutionisten jeder Färbung er - scheint, sondern unter voller Wahrung der inneren Verschieden - heit beider Gesetzlichkeiten, die gleichwohl darin eins und verbunden sind, dass sie beide Gesetzlichkeiten des Bewusst - seins, ja zuletzt nur verschiedene Ausdrücke eines und des - selben Grundgesetzes der Einheit des Mannigfaltigen sind.

Es ist sehr bemerkenswert, dass die neuere Forschung über die Gesetzlichkeit der sozialen Entwicklung genau auf diesen Punkt hindrängt. Wie nämlich auch das endgültige Urteil über die materialistische Geschichtsauffassung fallen mag, darin ist sie sicher nicht auf falscher Fährte, dass sie die Gesetzlichkeit der sozialen, d. i. zunächst der wirtschaft - lich-rechtlichen Entwicklung an den gesetzmässigen Fortschritt der Technik, also zuletzt der Naturwissenschaft knüpft; dass sie die Veränderungen des sozialen Lebens allgemein aus den Bewegungen der Materie des sozialen Lebens *)Stammler, S. 325. (Genaueres über dessen Stellung zu unsrer Frage, Arch. II, 340 f.) zu begreifen sucht. Das ist es genau, worauf unsere Prämissen führen; nur gestatten sie uns nicht hierbei nun stehen zu bleiben, sondern nötigen vielmehr, diesen einen Faktor der Entwicklung in genauen, innerlich vermittelten Connex zu setzen mit dem andern, den die materialistische Geschichts - auffassung abzulehnen mindestens scheinen kann: mit der Idee, und zwar der sittlichen Idee. Die materialistische Geschichts - auffassung ist im Irrtum genau so weit, als sie materialistisch sein will und zu sein glaubt; eine andre Frage ist, ob sie es, dem letzten treibenden Motiv nach, nicht vielleicht weniger ist als ihr selber bewusst ist.

Was wir an ihr unumwunden anerkennen, ist dies: In den weiter und weiter gehenden Möglichkeiten technischer Be - herrschung der toten Naturkraft ergeben sich zugleich nicht bloss neue Möglichkeiten, sondern die entscheidendsten An - triebe zu sozialen Gestaltungen, die auf mehr vereinte Arbeit165 zielen. Beides wirkt in voller Uebereinstimmung mit immer unentrinnbarerem Zwang in der Richtung fortschreitender so - zialer Konzentration zunächst der wirtschaftlichen Thätig - keit. Dadurch aber erhöht sich nicht nur der technische Er - folg jeder gemeinschaftlich und im Sinne erhöhter Gemein - schaftlichkeit geregelten Arbeit, und befestigt sich damit um so mehr die Tendenz zur Gemeinschaft, sondern es muss sich zugleich das Bewusstsein der Beteiligten über den blinden Drang der täglichen Notdurft und augenblicklichen Behaup - tung im Kriege aller gegen alle um die soziale Existenz mehr und mehr erheben; es muss immer klarer werden, dass von der Herrschaft des Bewusstseins für den Menschen schliesslich nicht weniger als alles abhängt, und es muss so das Verlangen entstehen und allgemein werden nach durchgängig vernunftgemässer Regelung der sozialen Thätigkeit auf Grund sicherer wissenschaftlicher Erkenntnis der technischen (naturtechnischen wie sozialtechnischen) Bedingungen eines menschlichen Daseins auf Erden; dazu aber werden die drei Grundformen sozialer Thätigkeit, die wirtschaftliche, regierende und bildende, in der Art zusammenwirken müssen, dass der letztbestimmende Faktor der des Bewusstseins, mithin die bil - dende Thätigkeit ist. *)So erwartet Stammler (im Schluss, S. 634 ff. ) den Anbruch einer Aera des objektiv Richtigen im praktischen Erkennen, wie sie für das theoretische längst angebrochen sei. Wo sich nur von neuem die Frage aufdrängt, ob nicht zwischen beiden ein zwingender Zusammenhang obwalten muss?

Dies letztere hat sich die materialistische Geschichtsauf - fassung bisher anzuerkennen gesträubt. Vergeblich, wie mir scheint, denn die Konsequenz der Sache treibt mit unwider - stehlichem Zwange dahin, und in vereinzelter richtigerer Ein - sicht wird es auch oft genug, stillschweigend oder ausdrück - lich, anerkannt. Das ausschliessliche Bauen auf die materialen Faktoren zeigt sich in der Durchführung sofort unhaltbar. Möchte immerhin der Anstoss zur sozialen Entwicklung stets von veränderten technischen Bedingungen gemeinschaftlicher Arbeit ausgehen, so beruht doch erstens der Fortschritt der166 Technik selbst auf dem Fortschritt der Naturerkenntnis, also doch einem Fortschritt des Bewusstseins. Sodann aber, dass die neue Erkenntnis thatsächlich in den Dienst mensch - licher, und zwar in Gemeinschaft verfolgter Zwecke gestellt wird, setzt voraus, dass auch die sozialen Ordnungen sich den neuen Bedingungen anpassen. Dazu aber gehört erstlich wieder - um ein Fortschritt technischer, nämlich sozialtechnischer Ein - sicht, dann aber und hauptsächlich die Umwandlung des Willens derer, von denen die Gestaltung der sozialen Ord - nung abhängt. Diese aber beruht nicht allein auf der tech - nischen Erwägung des für einen gegebenen Zweck tauglichsten Mittels, sondern gerade, wo es sich um tiefgreifende Aende - rungen handelt, wird es sich vor allem fragen, ob der Zweck selbst wünschenswert sei, eine Frage, die sich allein entscheidet aus dem Gesichtspunkte der bestmöglichen Ordnung der Zwecke selbst. Das aber fällt schon gar nicht mehr unter technische, sondern unmittelbar unter sittliche Erwägung. Es wäre die wunderlichste Selbsttäuschung, wenn der Sozialis - mus, der sich selbst den wissenschaftlichen nennt, glauben würde, in der Erwägung der zu erwartenden und zu befördernden sozialen Entwicklung vom sittlichen Gesichtspunkt überhaupt absehen zu können. Man wird sich auf die Dauer der ganz prinzipiellen Ueberlegung nicht entziehen können: dass erstens jeder einzelne hier in Betracht kommende Fortschritt, heisse er material oder geistig, doch eben Fortschritt des Be - wusstseins ist; und zweitens, was dieser bloss erkenntniskriti - schen Besinnung erst volles Gewicht in der Entscheidung der hier gestellten Frage giebt: dass, was überhaupt von irgend einer Seite her das Bewusstsein berührt, kraft des Grund - gesetzes der Einheit, der Kontinuität des Bewusstseins, in innerem, methodisch zu begründendem, mithin gesetzmässigem Zusammenhang gedacht und dargestellt werden kann und muss; dass von den untersten materialen Bedingungen bis zum höchsten Gesetze der Bewusstseinsform, dem Gesetze der Idee, ein durchgehender, ununterbrochener Zusammenhang besteht. Dies folgt deduktiv aus den Prinzi - pien des Idealismus, während es aus denen des Materialismus167 auf induktivem Wege freilich niemals herauskommen könnte. Unter dieser Betrachtung schlichtet sich aber der ganze öde Streit um das Vorrecht des materialen oder geistigen Faktors. Es giebt kein Materiales ausser den materialen Be - dingungen des Bewusstseins, auf die andrerseits auch die höchste, geistigste Form des Bewusstseins, nämlich die Idee, sich zurückbeziehen muss, wenn sie nicht zum leeren Wort, zur inhaltlosen Phrase herabsinken soll. Dieser Einsicht hat die materialistische Geschichtsauffassung sogar erheblich vor - gearbeitet; denn sie setzt doch einen durchgehenden gesetz - lichen Zusammenhang von der untersten Grundlage bis zur obersten Spitze des sozialen Lebens voraus; nur mit dem Irr - tum, dass diese Gesetzlichkeit, die ganz und gar, bis in die letzten materialen Verzweigungen hinein, Gesetzlichkeit des Bewusstseins ist, vielmehr aus den Gesetzen der Materie sich soll ableiten lassen. Der wesentliche Fehler des sozialwissen - schaftlichen wie des naturwissenschaftlichen Materialismus ist der Fehler oder vielmehr der gänzliche Mangel der Er - kenntniskritik; ein Mangel, der dem entgegengesetzten, spiri - tualistischen Standpunkt übrigens nicht weniger zur Last fällt. Wird dies Eine berichtigt, so ist dagegen die Behauptung eines bis zu den letzten materialen Bedingungen zurück - reichenden Gesetzeszusammenhanges gerade im Sinne derjenigen Philosophie, die in dem Einheitsgesetze des Be - wusstseins die letztentscheidende Instanz alles theoretischen wie praktischen Urteilens sieht; wogegen ein Spiritualismus, der sich gegen die Würdigung des materialen Faktors hart - näckig sträubt, in hoffnungsloser Unklarheit befangen und den wahren Problemen gegenüber hilflos bleibt.

Lässt sich nun etwa eine einfache Formel finden für diesen durchgehenden Gesetzeszusammenhang der sozialen, ja der menschlichen Entwicklung, der Entwicklung des Menschentums überhaupt? Ich glaube, dass es möglich ist, wenigstens ein Prinzip aufzustellen, welches darum nicht weniger ein richtiges Prinzip ist, weil es für sich allein, ohne fernere Prämissen, noch keine genügende Antwort auf die konkreten Fragen des gegenwär - tigen Stadiums der wirtschaftlich-rechtlichen Entwicklung giebt.

168

Die Aufstellung des Prinzips stützt sich auf die einzige Voraussetzung: dass die Gesetzlichkeit der Entwicklung im letzten Grunde eine und dieselbe sein muss für alles, was irgend eine Gestaltung des Bewusstseins ist; weil sie eben ihre Wurzel haben muss im Grundgesetze des Bewusstseins selbst.

Wäre nun für ein einzelnes Gebiet des Bewusstseins, wo - möglich für das, welches für alle andern die Grundlage bietet, das fundamentale Entwicklungsgesetz gefunden, so würde die Uebertragung auf die übrigen Gebiete sich leicht vollziehen lassen, und man dürfte voraus erwarten, dass sie zu richtigen Ergebnissen führt.

Nun pflegt allgemein zugestanden, ja für selbstverständ - lich gehalten zu werden, dass es jedenfalls im Naturerken - nen einen Fortschritt von festbestimmter Richtung gebe. Und doch ist das an sich nicht selbstverständlicher als der Fortschritt auf irgend einem andern Gebiet des Geistes. Das hätte längst auf die Frage führen müssen, ob nicht ein analoges, ja dasselbe letzte Gesetz in allen andern Gebieten geistigen Lebens walte. Aber man hielt die Gesetzlichkeit der Natur für etwas, das ausser uns da sei, in dessen Er - kenntnis wir also nur von aussen eindrängen. Allein, wenn nicht diese Gesetzlichkeit, dem letzten regierenden Prinzip nach, vielmehr Gesetzlichkeit des Bewusstseins wäre, so wäre es widersinnig, den allein möglichen Fortgang ihrer Erkennt - nis vor der Erfahrung voraus auf einen allgemeinen Ausdruck bringen zu wollen, wie man es, nur ohne gehörige Besinnung, gleichwohl immer thut.

Dagegen bot der erkenntniskritische Weg, den Kant der Philosophie eröffnet hat, von Anfang an die Möglichkeit, ja musste direkt auffordern, ein Prinzip der verlangten Art auf deduktivem Wege aufzustellen. Kant selbst hat es aufgestellt, indem sich ihm als letztes Resultat seiner neuen Grundlegung der Erfahrung gewisse regulative Prinzipien ergaben, nach denen die Naturerkenntnis sich ihrem unendlich fernen Ziele asymptotisch , d. h. ohne es je zu erreichen, doch an - nähern müsse. Seine drei regulativen Prinzipien sind die der Homogeneïtät, der Spezifikation, und der Kontinuität oder169 Affinität; wofür wir die geläufigeren Ausdrücke setzen: der Generalisation, der Individualisation und des steti - gen Uebergangs. Dies besagt: Naturerkenntnis strebt erstens zur höchsten erreichbaren Allgemeinheit und damit ge - schlossensten Einheit der Prinzipien, auf denen alle Natur - erkenntnis im letzten Grunde ruhen müsse. Sie strebt zweitens, gleichwohl die Einzelerscheinungen, und zwar je mehr und mehr in ihrer unverkürzten Individualität zu er - fassen; d. h. sie will die verlangte Einheit des Prinzips nicht etwa erschleichen durch irgendwelche Vergewaltigung oder be - queme Vernachlässigung der vollen Konkretion der Erfahrung; der gesunde Sinn des Empirismus, den der Idealismus, wie wir sehen, vollinhaltlich in sich aufzunehmen vermag. Diese beiden Forderungen, die leicht einander entgegengesetzt scheinen können, sind aber vereinbar, wenn drittens die scheinbar grenzenlose, daher unbestimmbare Mannigfaltigkeit der Er - scheinungen einen stetigen Uebergang erkennen, oder vielmehr sich a priori in solchem darstellen lässt, so dass nirgends Lücken bleiben, sondern sich voraussehen lässt, dass auch der erst vermisste Zusammenhang von einem Erschei - nungsgebiet zum andern sich genauerer Forschung endlich entdecken muss, zum mindesten in zulässiger Hypothese, einhellig mit aller bekannten Gesetzlichkeit der Natur sich wird konstruieren lassen. Es müsste lehreich sein, diese Prinzipien an der Geschichte der Wissenschaften in strenger Durchfüh - rung zu bewähren; dass sie sich aber bewähren, wird jeder, der mit einem beliebigen Forschungsgebiet historisch vertraut ist, ohne weiteres bejahen. Diese Prinzipien haben eine innere Notwendigkeit, die sich dem Prüfenden sofort fühlbar macht und mehr und mehr bestätigt. Ihre (hier nur anzu - deutende) zwingende Ableitung aber aus der Natur des Be - wusstseins überhaupt als Einheit des Mannigfaltigen und zwar durch Kontinuität, d. i. aus der Urfunktion des Den - kens, wie sie sich ebenso in den Kategorien, vorzüglich deut - lich in denen der Qualität ausspricht giebt der Ueberzeu - gung Gewicht, dass in der That dieselbe Gesetzlichkeit sich durchgehend auf allen Gebieten des Bewusstseins bewähren170 muss, also nicht in der engeren Naturwissenschaft allein, son - dern in aller theoretischen Wissenschaft, folglich auch in aller Technik, Naturtechnik wie sozialer Technik, und so endlich im Gebiet der konkreten, individualen wie sozialen Sittlichkeit, mithin in der Entwicklung des Menschen - tums überhaupt. Dies soll nun, und sei es in noch so flüch - tigem Umriss, für die hier in Betracht kommenden Haupt - gebiete näher durchgeführt werden.

In engster Verbindung mit der Entwicklung der Natur - forschung steht die Entwicklung der Technik, zunächst im engern Sinne der Naturtechnik. Man kann nicht verwundert sein hier dieselben Grundzüge der Entwicklung wiederzufinden. Worin bestehen die grossen, die umwälzenden Fortschritte der Technik? Erstlich darin, dass eine Fülle technischer Auf - gaben, die vordem einzeln bearbeitet wurden, eine einheitliche, generelle Lösung finden. In primitiven Stadien der Technik wird an tausend Stellen je auf besondere Art, weil unter be - sonderen Schwierigkeiten oder begünstigenden Umständen, die Lösung derselben technischen Aufgabe in Angriff genommen, vielleicht in irgend welchem Grade auch erreicht; wogegen auf entwickelterer Stufe an einer einzigen Stelle das Problem zugleich für alle gelöst, und das Prinzip seiner Lösung alsbald auf eine Menge gleichartiger Probleme ausgedehnt wird. Die konkreten Beispiele liegen nicht fern. Man denke an das Verhältnis der Maschine zur Handarbeit. Was tausend Hände, jede von der andern individuell verschieden, unter tausendfach verschiedenen Bedingungen mühsam und ungleich vollbrachten, leistet eine einzige Maschine, und bald tausend gleiche, und tausende ähnlicher Aufgaben vereinfachen sich auf dieselbe Weise, durch Anwendung wesentlich desselben technischen Vorteils, dessen Bedeutung sich an einem einzelnen Punkte einmal herausgestellt hat. Von der maschinellen Technik vor - zugsweise bedingt ist ihre natürliche Ergänzung, der Fernver - kehr, dessen im erklärten Sinne generalisierende Rolle sofort auffällt. Er bringt technische Errungenschaften fernster Zonen in rascheste Verbindung und führt sie, der Entfernung trotzend, wie auf einem Platz zusammen, statt dass sie sich sonst an171 vielen getrennten Plätzen isolieren, daher ohne Einfluss auf einander bleiben mussten, oder doch erst in langer Zeit ein allmählicher Austausch sich anbahnte. Dass diese generali - sierende Tendenz, einmal eingeleitet, unaufhaltsam vorwärts drängt, diese Einsicht ist es zumeist, die wegen ihres greif - baren Einflusses auf Wirtschaft und Recht gegenwärtig mehr und mehr in die sozialwissenschaftliche Forschung eindringt und für sie wegweisend wird. Aber mit ihr geht eine schein - bar entgegengesetzte, nämlich individualisierende Tendenz Hand in Hand. Nämlich gerade die immer generellere Bewältigung der technischen Aufgaben ermöglicht zugleich die genaueste Anpassung an das jeweilige individuellste Bedürfnis, also eine Spezifikation der technischen Leistungen; die Lücken des bis dahin Geleisteten schliessen sich mehr und mehr, es entsteht eine Tendenz sie gleichsam kontinuierlich auszufüllen. Die Aufgaben vervielfältigen sich, in dem Maasse wie die Lösungen sich vereinfachen. So gestattet und fordert der durch Ma - schinentechnik und Verkehrserleichterung naturgemäss sich steigernde und seiner unermesslichen, in die Augen springen - den Vorteile wegen sich immer mehr ausdehnende Gross - betrieb selbst ein sehr umfassendes Beispiel der Generali - sation der Technik zugleich eine umso weitergehende Tei - lung der Arbeiten und dadurch planmässigere Erschöpfung weit mehrerer, womöglich aller einem bestimmten Gebiet an - gehörenden und verwandten Probleme (also Spezifikation), bis zur kontinuierlichen Ausfüllung jeder Lücke. Jeder neue Fund eröffnet eben wieder neue technische Möglichkeiten, und er - laubt damit Aufgaben zu stellen, an die man zuvor nicht ge - dacht hatte, weil man nicht daran denken konnte. Auch diese Entwicklung ist zwingend, und wird es mehr und mehr, je weiter sie vorrückt.

Unschwer ergiebt sich nun schon, dass auch die sozialen Ordnungen, zunächst also die Ordnung der Wirtschaft sich nach demselben streng notwendigen Entwicklungsgang in gesetzmässiger Weise gestalten muss. Der Fortschritt der Technik hat sich als mächtigen Schöpfer sozialer Ein - heiten, auch der nationalen Einheiten modernen Sinnes,172 und schliesslich internationaler Beziehungen, unwidersprechlich bewiesen, und es lässt sich mit zweifelloser Bestimmtheit vor - hersagen, dass er sich ferner und mit wachsendem Zwange so beweisen wird. Der vergrösserte Maasstab der Beschaffung der Lebensbedingungen erzwingt einen entsprechend grösseren Maasstab der sozialen Ordnungen. Diese haben ja keine andre letzte Materie als die soziale Arbeit; wird diese nun infolge der Entwicklung der Technik auf einen neuen, immer breiteren Boden gestellt, so können die sozialen Ordnungen nicht dauernd auf den alten Grundlagen stehen bleiben; der neue Gehalt muss die alten Formen endlich sprengen, um sich angemessenere zu schaffen. Auch hier ist zwingender Zusammenhang, und er zeigt sich umso zwingender, nicht je weniger, sondern je mehr man den Anteil von Bewusstsein und Willen dabei in Rechnung zieht; wie sollten sie ein Gesetz, das seinen letzten Ursprung im Bewusstsein hat, nicht auch als ihr eigenes Ge - setz erkennen und nur desto nachdrücklicher zur Geltung bringen?

Somit drängt dieselbe Entwicklung, die zur immer ein - heitlicheren Erfassung der naturwissenschaftlichen und tech - nischen Probleme trieb, auch zur immer einheitlicheren Lösung der Probleme sozialer Organisation. Organisation, das ist eigentlich nur der kurz zusammenfassende Ausdruck jener Dreieinheit der Grundgesetze der Entwicklung in sozialtech - nicher Hinsicht: fortschreitende Vereinheitlichung, doch ohne Unterdrückung, vielmehr erst zur vollen Befreiung der Indi - vidualitäten, durch Herstellung eines möglichst stetigen Ueber - gangs von Glied zu Glied, in allmählicher Ausmerzung der schroffen sozialen Diskontinuitäten, die eine so sichtliche Quelle gefährlichster Erschütterungen des Gemeinschaftslebens sind. Wie die Natur sich der unaufhaltsam vordringenden Forschung in mehr und mehr organischer Einheit enthüllt, wie die Technik sich zusehends organisiert, so drängen erst recht die sozialen Ordnungen, die mehr und mehr den Charakter willent - licher Regelung annehmen, eben deshalb zu immer organi - scheren Formen. Im Ideal des Sozialismus wird nur meist zu einseitig der Faktor der Generalisation (Zentralisation) der173 sozialen Funktionen allein betont; das wird dann von der einen Seite leicht über Gebühr gepriesen, und von der andern gescholten als Ertötung aller Individualität. In Wahrheit würde (wie auch oft genug schon gesagt worden ist) gerade die einheitlichere Lösung der nächsten, dringlichsten Aufgaben sozialer Organisation eine desto weitergehende Individualisierung auf der andern Seite möglich machen, ja zu ihrer eigenen Durchsetzung und Aufrechthaltung erfordern; an der dagegen bei der bis jetzt überwiegenden Desorganisation der Wirt - schaft wahrlich kein Ueberfluss, sondern empfindlichster Mangel ist. Die durch bessere Organisation erleichterte Befriedigung der nächsten rohesten Bedürfnisse würde gerade Raum schaffen für eine individuell freiere Bethätigung in allem, was über die unmittelbare Notdurft hinausgeht. Gerade der unbegrenzte ökonomische Individualismus müsste auf die Länge den Men - schen uniformieren, den Arbeiter nicht bloss, sondern auch den Unternehmer zum Sklaven seiner Arbeit machen; wäh - rend eine organischere soziale Ordnung eine bis jetzt unmög - liche Entfaltung der Individualität erst möglich machen würde. *)S. die Vergleichung von Morus (Utopia) mit Fr. Engels, bei Stammler S. 663.Hier haben wir Generalisation und Individualisation; und die Vermittlung, die man vermisste, liegt auch hier in der Kon - tinuität: je reicher die Individualitäten sich entwickeln, umso mehr wird die eine neben der andern Raum haben, umso voll - ständiger die Lücken und Klüfte sich schliessen, die jetzt die verschiedenen sozialen Klassen und Unterklassen und wieder Unterklassen der Unterklassen innerlich oft mehr auseinander - halten als wenn turmhohe Mauern zwischen ihnen errichtet wären. Diese Diskontinuität ist das auffallendste Krankheits - symptom des gegenwärtigen, schwierigen Uebergangsstadiums. Aber auch Platos Entwurf verfehlte es durch auffällige Ver - nachlässigung der sozialen Kontinuität. Ihm sind die sozialen Funktionen ganz unsozial wie mit dem Beil auseinanderge - schlagen, ohne Uebergänge, ohne wirklichen, inneren Zusam - menhalt, starr und unbiegsam; daher die kastenartige Sonde -174 rung seiner drei Stände, die mit der verlangten Einheit des Staats so schlecht harmoniert; und daher die fernere, noch verwunderlichere Folge, dass er überhaupt keine aufsteigende Entwicklung anerkennen kann, jede Veränderung vielmehr nur Verschlechterung ist und also, da es sich auch unmöglich zeigt, die Veränderlichkeit ganz auszuschliessen, folgerecht eine lediglich absteigende Entwicklung vorausgesagt werden muss. Das Prinzip der Kontinuität verbietet aber vor allem diese starre Verteilung der Grundfunktionen an gänzlich ge - trennte Klassen. Es ist bei Plato, als ob nicht derselbe Mensch mit einem Organ diese, mit einem andern eine andre Funktion verrichten, sondern der eine ganz und nur Hirn, der andre nur Arm, ein dritter gar bloss Magen sein sollte. So schliesst Plato die Klasse der produktiven Arbeiter gänz - lich von jeder politischen Funktion (wenn man nicht etwa das blosse Gehorchen für eine solche ausgeben will), und gar auch von jeder geregelten geistigen Ausbildung aus, während um - gekehrt die regierende Klasse, lediglich der sozialen Arbeits - teilung halber, von jeder wirtschaftlichen Sorge entbunden sein soll. Statt dessen wäre die Folge des Kontinuitätsprinzips, dass von jeder sozialen Funktion zu jeder ein stetiger Ueber - gang und zwar grundsätzlich für jedes Glied der Gemeinschaft möglich wäre. Die sozialen Unterschiede würden dabei keines - wegs überhaupt nivelliert, wie es durch das Prinzip des Sozia - lismus in der That auch nicht gefordert wird. Man will doch Gemeinschaft; Gemeinschaft aber bedeutet weder Aufhebung der Individualität in einer starren, undifferenzierten Einheit, noch umgekehrt ein blosses Nebeneinanderstehen Einzelner unter einer nur äusserlich verbindenden Ordnung, sondern eine innerlich in Willen und Bewusstsein jedes Einzelnen gegrün - dete, also die Autonomie des Indidividuums keineswegs auf - hebende Einheit. Die heutige Freiheit des Individuums ver - zichtet dagegen auf diese innere Einheit und wird dadurch zur Desorganisation. In dieser entfaltet sich aber die echte geistige Individualität eben nicht, sondern das Leben mecha - nisiert sich und mechanisiert damit die Menschen; die gemein - schaftslose, bloss formal-rechtliche Freiheit gerade hat den175 Menschen zur Maschine gemacht; echte Gemeinschaft würde im Gegenteil die Individualität entbinden. Indessen kann man versuchen diesen augenblicklichen Zustand daraus zu verstehen, dass unter der zu schnellen Erweiterung des tech - nischen, wirtschaftlichen und sozialen Gesichtskreises die bis - herigen Organisationen von ihrer bindenden Kraft schon viel eingebüsst haben, während nicht ebenso schnell neue Organi - sationen (die jedoch überall im Werden begriffen sind) sich klar herausbilden und in den Gemütern der Menschen fest - wurzeln konnten.

Endlich waltet dasselbe Gesetz höchst erkennbar in der sittlichen Entwicklung. Hier ist völlig klar, wie das sitt - liche Gesetz alles menschliche Bestreben mit schlechthin all - gemeingültiger Norm umspannt, gerade durch die allgemeine Ordnung der Zwecke aber wiederum jedem sittlich möglichen Zwecke das Recht seiner Besonderheit gesichert, ja in weiter und weiter gehender Besonderung eine allseitige Entfaltung des Menschenwesens im lückenlosen Zusammenhang seiner verschiedenen Grundrichtungen ermöglicht wird. Ja ganz allgemein darf dies als das Grundgesetz der mensch - lichen Bildung ausgesprochen werden, die ja in der sitt - lichen Ordnung der Zwecke ihr letztes Fundament hat: das menschliche Wesen in dem ganzen Reichtum seines Gehalts doch zugleich in Einheit und stetigem Zusammenhang darzu - stellen und im gegebenen Subjekt nach dessen Vermögen der Vollendung zu nähern. Mit wahrem philosophischem Tiefblick hat unter den grossen Pädagogen Pestalozzi genau hierauf seine Theorie gegründet. Seine obersten Grundsätze sind wie wenn er sie aus Kant abgeleitet hätte (was doch erweis - lich nicht der Fall ist) : die unteilbare Einheit und wesent - liche Identität der menschlichen Grundkräfte; andrerseits deren notwendig harmonische Entfaltung nach allen wesent - lichen Richtungen, so dass keine einzelne Seite vergewaltigt oder ungerecht bevorzugt wird; endlich der stetige, lücken - lose Fortschritt von den elementarsten Anfängen bis zu den höchsten Höhen des Menschentums. Und dem entspricht in genauer Konsequenz, dass an solcher wahrhaft menschlichen176 Bildung jeder ohne Unterschied des Standes und Geschlechts, lediglich nach dem Maasse seiner Befähigung, in gleichheitlicher und stetig übergehender Weise teilhaben soll, im Gegensatz zu der Diskontinuität, in der bis dahin und noch heute, nach dem berühmten Gleichnis Pestalozzis, die Stockwerke der Bildung, nach den sozialen Klassen ge - schieden, gleichsam ohne verbindende Treppen dastehen.

Fasst man alles Gesagte zusammen, so ergiebt sich die Idee eines allgemeingültigen funktionalen Zusammen - hanges unter den notwendigen Grundfaktoren des sozialen Lebens, begründet in einem Verhältnis von Methoden, die zuletzt darauf zielen, zwischen dem eigenen Gesetze der Idee und der allgemeinen Gesetzlichkeit der Natur, die von Haus aus in zentral begründetem, wurzel - haftem Zusammenhang stehen, auch im Bewusstsein der Menschen durchgreifende Verbindung zu stiften; was geschieht durch systematische Unterordnung der Naturtechnik unter die Zwecke der sozialen Technik, mithin der wirtschaftlichen unter die regierende Thätigkeit, und beider unter die Leitung der prak - tischen Vernunft, also die bildende Thätigkeit; alles dieses aber in steter bewusster Rücksichtnahme auf den gesetzmässigen Fortschritt in der eben durch die Oberhoheit der Vernunft diktierten Richtung der Vereinheitlichung, zugleich Indi - vidualisierung und kontinuierlichen Verbindung, in Hinsicht der zu einander in Verhältnis zu setzenden Funk - tionen sowohl als der an der Gemeinschaft beteiligten Sub - jekte.

Das Grundgesetz des Bewusstseins ist es, das diese so merkwürdig durchgehende Analogie, in der die gleichen Prinzipien in gleicher Stellung zu einander auf allen Gebieten des sozialen Lebens wiederkehren, erklärt, und durch welches alle diese Gebiete wiederum unter sich, ohne Aufhebung ihrer Besonderung, in kontinuierlicher Verbindung stehen und so zur generellsten Einheit, im Begriff einer Entwicklung des Men - schentums, sich zusammenfassen. Im Bewusstsein ist alles Menschliche begriffen, mithin auch seinem letzten Gesetze mit Notwendigkeit unterworfen. So wird ebenfalls klar, weshalb177 für die Gemeinschaft wie für das Individuum jenes Grund - gesetz die Bedeutung eines Entwicklungsgesetzes annehmen muss; es lässt sich, auch für die Gemeinschaft, geradezu als pädagogisches Gesetz aussprechen, als das Gesetz jener Selbsterziehung, in der das Kind Mensch zur Reife eines Vernunftwesens allmählich emporsteigen soll.

Bei diesem pädagogischen und zwar sozialpädagogischen Ideal aber wird unsre Betrachtung nun auch Halt machen müssen. Darüber hinaus bliebe nur eins noch möglich: die Entdeckungsfahrt nach einem höchst moralischen Utopien . Allein wir stimmen dem wissenschaftlichen Sozialismus auch darin bei, dass der Erdichtung sozialer Schlaraffenländer, über die dichterische Fassung hinaus, ein eigener, methodischer Wert nicht innewohnt. Die berauschende Vorstellung eines Endzustands der Menschheit, in dem alle Probleme glatt gelöst, also auch gar keine zu lösende Aufgabe mehr einem mensch - lichen Streben übrig gelassen wäre, steht auf einer Stufe mit den metaphysischen Träumen einer kindlichen Stufe der Wissen - schaft, die sich mit endgültigen Lösungen aller Rätselfragen des theoretischen Verstandes schmeicheln konnten. Eine zur Reife kritischer Besinnung gediehene Forschung weiss, dass der Arbeit der Menschheit Vollendung nie beschieden ist; sie begnügt sich, mit Lessing, an der tieferen, unerschöpflicheren Freude des ewigen Fortschritts. Der Weise nach menschlichem Zu - schnitt ist, wie bereits Sokrates einsah, nicht der Wissende, sondern wer, sein notwendiges Nichtwissen wissend, um besseres und besseres Wissen methodisch bemüht ist. Nicht anders steht es mit dem praktischen Ideal, sei es für den Einzelnen oder für die Gemeinschaft. Eine um möglichste Näherung zur systematischen Einheit ihrer Zwecke methodisch bemühte menschliche Gemeinschaft: ein darüber hinausgehendes Ideal mag sich ausdenken, wer nach etwas Anderem als den Bedingungen eines menschlich-irdischen Soziallebens fragt.

Dass darin aber auch die den individuellen Tugenden entsprechenden Grundeigenschaften eines sittlich geordneten Gemeinlebens eingeschlossen sind, dafür lässt sich der Beweis, wie ich denke, überzeugender führen, als ihn Plato für seinenNatorp, Sozialpädagogik. 12178 Staat zu liefern imstande war. Als letzte Probe auf das erhaltene Ergebnis sei denn noch dies ausgeführt.

§ 19. Die Tugenden der Gemeinschaft.

Das System der individuellen Tugenden ergab sich aus dem normalen Verhältnis der Grundfaktoren menschlicher Aktivität überhaupt. Nachdem nachgewiesen ist, was diese selben Grundfaktoren im sozialen Leben bedeuten, ergiebt sich nunmehr leicht die Uebertragung jenes ganzen Systems auf die Tugend der Gemeinschaft.

Erstlich die Tugend der Wahrhaftigkeit, d. i. der Herr - schaft des Bewusstseins ist in der gedachten Ordnung des Gemeinschaftslebens dargestellt, so wie sie es in einem mensch - lichen Dasein auf Erden nur sein kann. Das war ja der Leit - faden dieser ganzen Deduktion: dass das soziale Leben in allen seinen Funktionen dem Gesetze des Bewusstseins unterstellt werden und sich mehr und mehr nach ihm gestalten müsse. In Hinsicht der untersten Funktion hat man es richtig dahin ausgedrückt: dass der Mensch die Produktion beherrschen müsse, nicht die Produktion den Menschen. Ganz das Gleiche trifft auf die Rechtsordnung zu. Und aus eben diesem Gesichts - punkt haben wir die beherrschende Stellung der bildenden Thätigkeiten im sozialen Leben bereits oben gefordert. Die Philosophen müssten Könige sein oder die Könige philosophieren, meinte Plato. Wir geben ihm recht, bis auf das Eine, dass an Stelle der Philosophen (zu denen ich ein so gutes Zutrauen leider nicht zu fassen vermöchte) die Philosophie zu setzen ist, die Philosophie ganz im platonischen Sinne des unbedingten Bestrebens auf vernunftgemässe Gestaltung aller menschlichen Dinge. Eben diese kann nicht Sache einer abgesonderten Klasse Philosophierender sein, sie fordert Durchdringung des ganzen sozialen Organismus mit dem Sinn und den Kräften der Wahrheitserkenntnis in praktischer wie theoretischer Be - deutung. Wahrheit ist nun einmal erste Bedingung mensch - licher Gemeinschaft, die mit Unwahrheit dauernd nicht be -179 stehen kann. Vollends den Mächten der toten Natur lässt sich nur mit dem aufrichtigen Willen zur Wahrheit beikommen; sie entlarvt und straft jede Unwahrheit noch pünktlicher als das soziale Leben, das sich auf Zeiten wenigstens und in engem Bereich mit ihr nur allzu gut einzurichten versteht. Eine Durchdringung des ganzen Gemeinschaftslebens mit dem Sinn der Wahrheit hat aber zur Voraussetzung die gleich - heitliche Teilnahme aller an jener menschlichen Bildung, die erst im klaren und sicheren Bewusstsein des sittlichen Gesetzes der Gemeinschaft selbst ihren Gipfel wie ihre inner - lichste Begründung erreicht. Ohne thätliche Anerkennung des gleichen Bildungsanspruchs aller bleibt die Erhebung sittlicher Forderungen im sozialen Leben selber eine innere Unwahrheit. Verlangt man vom Menschen in jeder sozialen Stellung, dass er dem Sittengesetz als höchster Norm sein ganzes Verhalten bedingungslos unterordne, nun so schaffe man auch, dass er zur selbstgewissen Einsicht, zum unverlierbaren thatkräftigen Bewusstsein des sittlichen Gesetzes auf dem ein - zigen dahin führenden Wege, dem Wege freier und harmonischer, wahrhaft menschlicher Bildung in einer nach Möglichkeit sitt - lich geordneten Gemeinschaft und durch unmittelbare Teilnahme an ihr geführt wird. Der Glaube, dass der Wille des Guten ohne diese Bedingungen als Gnade des Himmels auf ihn herab - kommen könne, oder dass er aus irgend einem Katechismus zu lernen sei wie das kleine Einmaleins bis zehn , ist durch die Thatsachen nachgerade gründlich genug widerlegt. Die Organisationen zur menschlichen Bildung, die zum gedachten Ziele zu führen geeignet wären, werden in den nächsten Para - graphen erwogen werden. Das Allgemeine aber darf hier schon vorausgesetzt werden, dass im letzten Grunde die Ge - meinschaft allein erzieht, dass Menschenbildung in jedem Betracht ebenso sehr Gemeinschaftssache wie andrerseits letzte Basis der Gemeinschaft ist; woraus die soziale Bedeutung unsrer ersten Tugend klar genug folgt.

Jedes Bestreben aber, irgendwelche konkreten Forderungen der sittlichen Vernunft in der Gemeinschaft und für sie zu thatsächlicher Anerkennung zu bringen, führt auf den Weg180 der sozialen Organisation, als der Willensform des Ge - meinschaftslebens. Auf diese wird also die zweite, der indi - viduellen Tapferkeit entsprechende Tugend der Gemeinschaft sich beziehen. Es ist das Einstehen für Gesetzlichkeit; für Gesetzlichkeit, man möchte fast sagen, um jeden Preis, nur nicht um den Preis der sittlichen Wahrheit.

Das Gesetz, die soziale Regelung überhaupt, ist der einzig fassbare Ausdruck des Willens der Gemeinschaft. Sie bleibt es selbst dann, wenn sie thatsächlich keineswegs den Willen aller oder auch nur der Mehrheit zutreffend zum Aus - druck bringt. Wäre das selbst der Fall, so wäre sie doch nicht deshalb sittlicher Achtung würdig, weil es die Vielen sind, die in ihr ihren Willen kundgeben. Der Wille der Vielen kann irren, so gut wie der jedes Einzelnen; sind es doch nur viele Einzelne. Sittliche Achtung verdient die soziale Ordnung an sich, ihrem Inhalt nach, nur, soweit sie die Oberhoheit der sittlichen Vernunft wenigstens im Grundsatz anerkennt und einen ernstlichen Versuch darstellt ihr Gebot in der gegebenen Gemeinschaft zur Herrschaft zu bringen. Kann also die so - ziale Regelung überhaupt mit dem Anspruch auf unverbrüch - liche Beobachtung, welches auch ihr Inhalt sei, be - rechtigter Weise auftreten? Giebt es ein ursprüngliches sittliches Recht des Rechts? Wir beantworten die Frage*)Vgl. Stammler, S. 551 ff. dahin: Eine soziale Regelung überhaupt und zwar in verbindlicher Form, d. i. ein Recht, ist unumgäng - liche Voraussetzung einer verlässlichen Gemeinschaftsordnung, wir dürfen dafür auch sagen: eines Willens der Ge - meinschaft überhaupt, also auch einer solchen Ordnung, eines solchen sozialen Willens, der den Forderungen sittlicher Vernunft auch nur in irgendeinem Maasse soll angenähert werden können. Die Bedeutung einer formalen Bedingung verlässlicher sozialer Ordnung überhaupt sichert dem Recht eine Verbindlichkeit, die, in abstracto auch vom sittlichen Ge - setz nicht abhängend, angesichts der Forderung der sittlichen Gestaltung des sozialen Lebens ihr volles Gewicht behält, ja181 zu der ihr eigenen noch eine sittliche Sanktion erhält. Zu - letzt übrigens vereinigen sich beide Erwägungen. Denn wozu braucht der Mensch einen Willen, wenn nicht, um des sitt - lichen Willens fähig zu sein? Anders ausgedrückt: die Form, die überhaupt eine Gesetzmässigkeit sozialen Lebens garantiert, ist auch die einzige, die seine Gestaltung nach sittlichem Gesetz möglich macht. Somit muss aller - dings die rechtliche Ordnung bloss als solche, welches auch ihr Inhalt sei, zugleich im sittlichen Interesse respektiert werden, jedoch mit dem Beding, dass auf ihre Aenderung im Sinne der sittlichen Forderung, überall wo sie mit dieser nicht im Einklang steht, hingearbeitet wird mit den Mitteln, welche die Rechtsordnung selbst gestattet. Mehr und mehr wird aber auch, von der Stufe an, wo ein sittliches Bewusstsein über - haupt in der Gemeinschaft geweckt ist, das sittliche Ziel der Gemeinschaftsordnung wenigstens im Grundsatz anerkannt werden. So wie auch das schlechte Individuum innerhalb einer Gemeinschaft, die ein Sittliches überhaupt anerkennt, nicht um - hin kann Achtung gegen das sittliche Gebot wenigstens zu heucheln, so kann auch eine schlechte Gemeinschaftsordnung gar nicht umhin, wenigstens die Fiktion aufrechtzuhalten, dass sie sittlich begründet sei. Diese, wenn noch so erzwungene Anerkennung des Sittlichen aber giebt dem solcher Ordnung Unterworfenen das Recht, an seinem Teil darauf hinzuarbeiten, dass die soziale Ordnung sich diesem ihrem angeblichen sitt - lichen Charakter auch thatsächlich nähere. Und dies Recht steigert sich zur dringlichsten Pflicht, in dem Maasse wie die soziale Ordnung die höheren Gerechtsame der Vernunft damit thatsächlich anerkennt, dass sie, ihrer Fehlbarkeit sich be - wusst, für ihre mögliche Abänderung auf gesetzlichem Wege selber Fürsorge trifft. Wo immer ein solcher gesetz - licher Weg existiert, da darf, allein um deswillen, eine solche Ordnung, mag sie material noch so verkehrt sein, nicht schlechthin verworfen werden; ja da giebt es keinen Weg mehr, sich ihr sittlicher Weise zu entziehen. Viel - mehr besteht für den einer solchen Ordnung Unterworfenen eine zweifache Pflicht: die negative, die bestehende Ordnung,182 sofern und solange sie legal besteht und nicht auf legalem Wege geändert ist, an seinem Teile zu stützen, sie sowohl selber einzuhalten als für ihre Befolgung durch Andre einzu - stehen, soweit dies möglich und erforderlich ist; und die posi - tive, auf ihre bessere Gestaltung mit allen gesetzlich zu - lässigen Mitteln hinzuarbeiten. Das Erste, weil sonst auch die schon erreichte, wenn noch so geringe Näherung zu einer sittlichen Ordnung und damit die Voraussetzung jedes Fort - schritts zum Bessern in Frage gestellt würde; das Zweite, weil an der Besserung des sozialen Zustandes zu arbeiten um so mehr Pflicht ist, je mehr die Möglichkeit gegeben ist, diese Besserung ohne Erschütterung des gesetzlichen Zustands über - haupt, ohne Umsturz zu erreichen. Wo diese Haltung in einem Gemeinwesen vorherrschend wäre, wo insbesondere seine Regierung von diesem Geiste durchdrungen wäre, da bewiese es damit die Tugend sittlicher Tapferkeit, als der echten sitt - lichen Selbstbehauptung, nämlich Behauptung und Stär - kung seines sittlichen Standes.

Eine anders begründete soziale Tapferkeit, eine andre Treue gegen die Gemeinschaft, der man angehört, eine andre Vaterlandsliebe als diese kann sittlich nicht gefordert werden. Das Einstehen für die gegebene empirische Gemein - schaft, gegen jede andre, bloss weil es gerade die unsre ist, weil wir in sie und nicht in eine benachbarte, mit der sie etwa im erklärten oder unerklärten Kriege lebt, hineingeboren oder durch irgend ein zwingendes Geschick verpflanzt sind, ist überhaupt nicht, am wenigsten als sittliche Pflicht zu ver - stehen. Aber unter Voraussetzung jenes sittlichen Grun - des unterliege ich allerdings der Verpflichtung, für die soziale Ordnung an eben der Stelle, an die ich durch Geburt oder andre zwingende Umstände einmal gestellt bin, einzutreten; ich darf diese Stelle nicht aus blosser Willkür mit einer andern vertauschen, oder den Verpflichtungen, die sie aufer - legt, mich entziehen. Selbst Krieg zu führen an sich eine schlechte Sache kann in gegebener Lage unausweichliche Pflicht sein; so wie aus der Unsittlichkeit von Gewaltthat überhaupt nicht richtig gefolgert würde, dass man nicht den,183 der nur der Gewalt weicht, mit Gewalt zwingen dürfte, seiner - seits von Gewaltthat abzustehen. Dagegen darf niemals die blosse Selbstbehauptung der gegebenen Gemeinschaft, ausser - halb sittlicher Rücksicht, als etwas Gutes oder auch nur sitt - lich Indifferentes ausgegeben werden. Sie ist zu verwerfen, einfach nach dem kategorischen Imperativ : weil dann jede thatsächlich bestehende Gemeinschaft gleiches Recht hätte sich gegen die andre zu behaupten, es also gleichermaassen sittlich begründet sein würde, dass das Gemeinwesen A das Gemein - wesen B schädige und verderbe wie umgekehrt. So hat ein ernstes religiöses Gewissen sich allzeit dagegen empört, dass derselbe angeblich einige Gott heute den Dank der Nation A entgegennehmen solle für ihren Sieg über B, und morgen den der Nation B für ihren Sieg über A. Das heisst thatsächlich Polytheismus treiben und den Monotheismus zur heuchlerischen Phrase machen. So geht die Einheit des Sittlichen verloren, wenn Selbstbehauptung einer Nation gegen die andre ausser - halb sittlicher Rücksicht zugelassen und gar als sittliche Pflicht proklamiert wird.

Ebenso sicher giebt es eine Grenze der sittlichen Ver - pflichtung gegen das positive Gesetz. Keine bloss äussere Satzung kann jemals eine unbedingte Verpflichtung auferlegen. Eine empirische Gemeinschaft kann gebieten, entweder so zu han - deln oder die Strafe auf sich zu nehmen, die sie für den Gegenfall festsetzt; aber niemals schlechthin, so zu handeln. Dem Ge - setz seiner Stadt zu gehorchen, entfloh Sokrates nicht aus dem Kerker, sondern nahm den Giftbecher, nachdem er ihn zu nehmen verurteilt war; verurteilt aber war er, weil er nicht, nach dem Gebote seiner Obrigkeit, auf seine philosophischen Unterredungen verzichten wollte, die eine sehr ernste, sittliche Kritik der gesetzlichen Zustände seiner Stadt einschlossen. Er fasste also die Pflicht gegen seine Vaterstadt, die er aufs nachdrücklichste betont, nicht dahin auf, dass er jedem Ge - bote des Staats schlechthin Folge leisten, geschweige es für gut erklären, oder auch nur von der sittlichen Kritik, in der er seinen Beruf sah, ausnehmen müsse; wohl aber, dass er im Konfliktsfall die festgesetzte Strafe auf sich nahm. Er würde184 auf Befragen wohl erklärt haben, gerade diese sittliche Kri - tik, das Beste, das er habe und das Einzige, dem Vaterlande schuldig zu sein. In der That schliesst die volle sittliche Ver - pflichtung des Bürgers gegen den Staat in sich seine eigene Mitarbeit an der Besserung der öffentlichen Zustände auf den Wegen und mit den Kräften, die ihm zu Gebote stehen. Und diese Verpflichtung darf dauernd und grundsätzlich nicht auf eine abgesonderte Klasse Regierender beschränkt ge - dacht werden. Gemeinschaft, Willensgemeinschaft kann nicht gedacht werden zwischen zwei Klassen, von denen die eine allein den Willen, die andre die Willenlosigkeit der Ge - meinschaft darstellen würde. Willenloses Gehorchen und Dienen ist nicht Tugend von Menschen sondern von Sachen, und gar eine ganze Volksklasse wohl gar die überwältigende Mehr - heit zu einer Klasse willenlos Gehorchender herabsetzen wollen, heisst sie des sittlichen Charakters überhaupt ent - kleiden und damit auf die Sittlichkeit der Gemeinschaft als solcher Verzicht thun. Die unabweisbare Folgerung ist, dass auch die regierenden Funktionen vom Standpunkt der Gleichheit und Gemeinschaft geordnet sein müssten. Eine Abstufung (vollends eine Teilung) der Funk - tionen überhaupt wird dadurch keineswegs ausgeschlossen; ge - fordert wird nur, dass zu jeder sozialen Funktion an sich jedem unter gleichheitlichen Bedingungen der Zutritt möglich sei, und allein die Tüchtigkeit, nicht irgend ein sonstiger, ausser - sachlicher Maassstab über den Anteil daran entscheide.

Uebrigens ist die Entwicklung auch in dieser Hinsicht bereits auf den Punkt gekommen, dass die Anerkennung wenig - stens des allgemeinen Grundsatzes kaum mehr auf ernsten Widerstand zu rechnen hat. Besonders mit der thatsächlichen und strengen Durchführung des Prinzips der allgemeinen Wehrpflicht ist eine sehr aktive Beteiligung an einer der wesentlichsten sozialen Funktionen thatsächlich allen unter ziemlich gleichen Bedingungen zugestanden. Diese einzige Maassregel zieht aber eine weitergehende Durchführung der sozialen Gleichheit unentrinnbar nach sich; eine, wenn auch noch so eingeschränkte Beteiligung an Funktionen der Ge -185 setzgebung und der Rechtsprechung hat sich noch stets in ihrem Gefolge auf so entscheidende Weise durchgesetzt, dass daran hinfort wohl nicht mehr zu rütteln sein wird. In sich schon widerspricht es, von irgend einem Gliede der Ge - meinschaft zu verlangen, dass es im gegebenen Fall für sie sterbe, ohne dass man ihm gestattet, für sie auch zu leben. Es ist nur viel leichter das Erstere zu erzwingen als zum Letztern dem Menschen auch nur die Fähigkeit mitzuteilen. Das Wirken für die Gemeinschaft will allerdings auch gelernt sein, und es ist Sache einer ungleich tiefer gehenden Erziehung, als etwa der Kasernenhof sie in bestimmter technischer Rück - sicht bieten kann und wirklich bietet. Es ist richtig, dass Bildung, sogar recht viel Bildung dazu gehört, in einem so komplizierten öffentlichen Leben, wie das heutige aller ent - wickelten Nationen ist, das Stimmrecht mit Verstand auszu - üben. Aber daraus kann allein gefolgert werden, dass man alles daran setzen sollte, eine gründliche Bildung selbst bis zur Stufe der Wissenschaft möglichst allgemein zu machen. Die Gebildeten und Erzogenen sollten auch die Regierenden sein; ich folgere: also muss allen eine solche Bildung und Er - ziehung gegeben werden, wie sie sie brauchen, um an der Re - gierung den Anteil nehmen zu dürfen, den das Gesetz des sozialen Lebens für alle fordert. Alles Andre sind blosse Be - schwichtigungsmittel, die als solche unverwerflich sein mögen, aber das Uebel nicht heilen, auch nicht verhindern können, dass es unter der Oberfläche fortwuchert, um im gegebenen Augenblick mit verdoppelter Stärke, vielleicht verhängnisvoll, wieder hervorzubrechen. Somit führt unsere zweite Tugend auf dieselbe Forderung wie die erste: gründliche Bildung für alle. Es muss ja auch wohl so sein, dass die Grund - tugenden des sozialen Lebens sich alle gegenseitig fordern, keine ohne die andere bestehen kann; so wie es an den indi - vidualen Tugenden früher dargethan worden ist.

Die dritte Forderung ist die einer durchgängigen harmo - nischen Ordnung des Trieblebens der Gemeinschaft, worunter zu verstehen ist: eine solche Verteilung von Arbeit und Genuss des Arbeitsertrags, die eine verhältnis -186 mässige Entwicklung aller gesunden, d. h. unter sich harmo - nierenden Triebe für alle ermöglicht und mehr und mehr zur Wahrheit macht. Es ist dabei, wie allgemein bei den Be - griffen Trieb und Arbeit , nicht allein an Befriedigung des physischen Lebens - und Genusstriebs zu denken. Um die wirtschaftliche Funktion handelt es sich allerdings; aber diese erstreckt sich, wie wir sahen, auf alle menschliche Thätig - keit, sofern sie auf der materialen Bedingung verfügbarer Trieb - kräfte beruht. Die wesentliche Bedingung einer verhältnis - mässigen Entfaltung aller harmonierenden Triebe in allen ist aber, dass die Thätigkeiten aller in jeder Richtung sich fördernd (oder wenigstens nicht hemmend) ineinandergreifen, also die durchgängige Organisation der Arbeit auf dem Boden der Gleichheit und Gemeinschaftlichkeit. Wie das Prinzip des technischen Fortschritts, gleichsehr im Sinne der Naturtechnik wie der sozialen Technik, genau hier - auf führt, ist bereits oben dargelegt worden; auch, dass gerade jene durchgängige Organisation eine natürliche Gliederung in kontinuierlichen Uebergängen, und damit jede gegründete Rücksichtnahme auf Fähigkeit und Neigung der Einzelnen mög - lich machen, also die Entwicklung der Individualität nicht nur nicht unterdrücken, sondern erst recht ermöglichen würde. Nur jene Diskontinuität in der Gliederung muss und wird verschwinden, deren Extrem (in der hier fraglichen Rücksicht) schon Plato dahin ausgedrückt hat, dass die Ar - beitenden der Mittel zur Arbeit beraubt, die Inhaber der Ar - beitsmittel dagegen in Person von der Pflicht der Arbeit ent - bunden sind. Eine gesonderte Klasse wirtschaftlich Arbeitender gestattet das sittliche Grundgesetz des so - zialen Lebens so wenig, wie es eine Klasse Regierender oder eine Klasse im Alleinbesitz der Bildung erlaubt. Es ist aber vielleicht keine Bedingung von so grundlegender Be - deutung für wahres Gemeinschaftsleben, als die der Ar - beitsgemeinschaft. Auch scheint man sich langsam der Ein - sicht zu nähern, dass eine Volksgemeinschaft auf anderem als diesem Grunde in Wahrheit nicht möglich; dass, wenn sich gegenwärtig noch, wie in Platos Zeit, zwei Völker inner -187 halb jeder der am Kulturfortschritt meistbeteiligten Nationen in Todfeindschaft gegenüberstehen, der letzte Grund nirgendwo anders als in jener uralten sozialen Diskontinuität, in dem Zerfall der Nationen in Arbeitende und Besitzende zu suchen ist. In dem immer dringenderen Verlangen, dass es da - mit anders werde, erkennen wir das Erwachen des Bewusst - seins einer möglichen und notwendigen, zur Zeit aber nicht vorhandenen Volksgemeinschaft. Allgemein aber sehen wir in dem entscheidenden Hervortreten der wirtschaftlichen Fragen nicht die Wirkung eines zu fürchtenden oder zu bekämpfenden Materialismus , sondern vielmehr das günstigste Vorzeichen des Sieges der Vernunft. Denn, wo sie nicht mit ihrem Lichte auch bis in das Innerste des Trieblebens hineinleuchtet, wo nicht das ganze menschliche Leben auch bis zu seinen letzten materialen Bedingungen zurück unter ihre sichere Herr - schaft tritt, da kann von einem Siege der Vernunft nicht im Ernst geredet werden, im sozialen so wenig wie im individu - alen Leben, wo bisher niemand ein ungeregeltes Triebleben mit sittlicher Vernunft vereinbar geglaubt hat.

Bei der Gerechtigkeit endlich, als der vierten Kar - dinaltugend des Soziallebens, ist es kaum mehr nötig zu ver - weilen. Denn sie ist bei der Behandlung der drei andern Tugen - den schon fortwährend mitberücksichtigt worden. Als indivi - duale Tugend bedeutete sie das Verhalten gemäss den Gesetzen der drei andern Tugenden in Hinsicht der Gemeinschaft; als soziale Tugend besagt sie umgekehrt die gleichheitliche Geltung der übrigen Tugenden, eben als Tugenden des Ge - meinschaftslebens, für alle einzelnen Glieder der Gemein - schaft. Während also die Gerechtigkeit als individuale Tugend besagt, dass ein jeder die Tugenden der Wahrheit, der Tapfer - keit und des Maasses nicht bloss als Einzelner und um seinet - willen, sondern auch gegen den Andern, insbesondere als Glied der Gemeinschaft gegen andre Glieder derselben Gemeinschaft und in gleichheitlicher Rücksicht gegen sie beweisen solle; so besagt die Gerechtigkeit als Tugend der Gemeinschaft, sie müsse so geordnet sein, dass ihre entsprechenden Tugenden sich auf alle ihre Glieder in gleichheitlicher Weise erstrecken. 188Somit fasst diese Tugend in ihrer sozialen wie in ihrer indi - vidualen Bedeutung die drei andern in sich zusammen, giebt ihnen aber die besondere Beziehung, dort auf die Gemein - schaft, nämlich sofern sie aus Individuen besteht, hier umge - kehrt auf die Individuen, sofern sie der Gemeinschaft angehören. Sie besagt somit, in sozialer Hinsicht: dass an allen drei Grundfunktionen der Gemeinschaft, nicht bloss jeder für sich, sondern auch allen im Verhältnis zu einander, jedes Glied der Gemeinschaft grundsätzlich gleiches Recht hat, dass jedem sein rechtmässiges Teil, suum cuique, zukommen soll an Bil - dung, an Regierung und an Arbeit zugleich und nach ihrem innerlich begründeten, gesetzmässigen Verhältnis zu einander; was ja nur das Facit aus allem Gesagten ist.

Und so braucht auch das Letzte nur eben angemerkt zu werden: dass die dargelegte Gesetzmässigkeit des sozialen Lebens sich auf menschliche Gemeinschaft überhaupt, ohne Einschränkung auf irgendwelche besonderen Bedingungen bezieht*)Wie es, bezüglich des rechtlichen Faktors im besondern, auch Stammler (S. 552) mit gutem Grunde aufstellt.. Unser System bietet einen Rahmen, ausreichend für jede denkbare Erweiterung der Gemeinschaft, bis äussersten - falls zum Ganzen des Menschengeschlechts. Das letzte Prinzip unserer Betrachtung aber weist auch in dieser Beziehung unwidersprechlich auf möglichst umfassende Einheit, wiewohl auf eine solche, die die Spezifikation , unter der Bedingung der Kontinuität , nicht ausschliesst.

Hiermit beschliessen wir den ethischen Teil unsrer Unter - suchung; was übrig bleibt, gehört der eigentlichen Pädagogik an. Das Ziel ist gezeigt; auch, dass eine Entwicklung nach diesem Ziele hin innerlich begründet und thatsächlich ange - bahnt ist, dürfte dargethan sein. Allein damit ist diese Ent - wicklung noch nicht notwendig im Sinne eines Naturgesetzes. Es ist allein gezeigt, in welcher Richtung die Menschheit fort - schreitet, wenn sie fortschreitet. Dass sie thatsächlich fort - schreiten müsse, folgt aus unsern Prinzipien nicht und würde sich auch empirisch keineswegs begründen lassen. Am wenig -189 sten kann davon die Rede sein, dass die Erkenntnis der Not - wendigkeit einer bestimmten Entwicklung es nun überflüssig machte, nach ihr mit allen Kräften zu ringen. Die innerlich notwendige d. i. geforderte Entwicklung wird vielmehr dann allein eintreten, wenn alle Kräfte dafür eingesetzt werden. Dann aber genügt es nicht, das Ziel zu wissen und damit die allgemeine Richtung des einzuschlagenden Weges, sondern es fragt sich, was haben wir unmittelbar zu thun, um uns gleich - sam aus der Stelle zu bringen; wie haben wir zu marschieren, um die nächsten Hindernisse zu besiegen, die sich uns auf diesem Wege, so klar auch seine Grundrichtung bestimmt ist, doch immer wieder entgegentürmen. Soweit die Antwort dar - auf im Bereiche der Erziehungslehre liegt, soll sie im dritten Teil gegeben werden.

[190][191]

Drittes Buch. Organisation und Methode der Willenserziehung.

[192][193]

§ 20. Soziale Organisationen zur Willenserziehung: 1. Das Haus.

Das wesentliche Mittel zur Willenserziehung ist die Or - ganisation der Gemeinschaft. Darin ist alles zusammen - gefasst: die Organisation der Arbeit, die rechtliche Organisation, die Organisation der Bildung. Jeder Fortschritt in einer dieser Richtungen ist zugleich bedingt durch und bedingend für den Fortschritt in allen. Der zuletzt entscheidende Fortschritt aber ist der des Bewusstseins. Auch der wirtschaftliche Fort - schritt ist zuletzt Fortschritt in der Beherrschung der Natur - kräfte, einschliessend die Naturkräfte des Menschen, durch Menschenwillen und Menschenverstand; und dasselbe gilt vom Fortschritt der gesellschaftlichen Organisation, einer zweiten Technik, die noch unmittelbarer und greifbarer der Herrschaft menschlicher Einsicht und Willensthat unterstellt ist. Dass diese sich in der rechten Weise entwickeln, ist daher sozu - sagen die einzige grosse Sorge der Menschheit. Und zwar liegt der Schwerpunkt der Menschenbildung in der Erziehung des Willens, von der die des Intellekts, ja auch der Phantasie und des Gefühls, untrennbar und wesentlich abhängig ist.

Nun kennen wir die natürliche Stufenfolge der Willensentwicklung: durch Trieb und Entschliessung zum Einheitsbewusstsein praktischer Vernunft. Es ist eine klare Notwendigkeit, dass die Folge dieser drei Stufen auch im Erziehungsgange des Willens zu Tage tritt. Zwar mussNatorp, Sozialpädagogik. 13194wohl Antrieb und Möglichkeit zu bewusster Regelung des Handelns, selbst zur einheitlichen Regelung gemäss der Idee der Vernunft, schon auf der Stufe des Triebs vorausgesetzt werden; wie für das Individuum im Kindesalter, so für die Völker und die Menschheit in deren Kindheitsstadium. Sonst würde das Kind auch dem Einfluss von Willen und Vernunft des Erziehers nicht zugänglich sein, vollends ein Volk kind - licher Menschen sich niemals durch eigene Kraft zu den höheren Stufen emporzuarbeiten vermocht haben. Aber doch giebt es eine Stufe, wo wenigstens ein Bewusstsein der Willensregel noch nicht oder kaum vorhanden ist; und dann ist es nochmals eine schwere Errungenschaft, dass auch die bewusste Richtung auf durchgängige Einheit der Regelung sich bilde, die wir Vernunft nennen. Mögen also auch jene drei Bestandteile der menschlichen Aktivität so innig zusammengehören, dass die Erziehung des Willens auf jeder Stufe alle drei zu berück - sichtigen haben wird, so wird sie es doch auf einer ersten Stufe vornehmlich mit der einer gesunden Willensentwicklung zuträglichsten Gestaltung des Trieblebens, und nur hülfsweise mit den Anfängen eigentlicher Willensleistung und den ersten schwachen Regungen sittlicher Vernunft, auf einer zweiten vorzugsweise mit dem Formalen der Willensregelung zu thun haben, und erst auf der dritten zur Ausbildung des sittlichen Bewusstseins in seiner ganzen Tiefe und Weite sich erheben können.

Wie aber demnach die Art der willenbildenden Thätigkeit sich dreifach gliedert, so muss auch die Organisation dieser Thätigkeit für dieselben drei Stufen entsprechend verschieden sein. Und diese Stufenfolge der Organisationen zur Erziehung der Einzelnen muss in gewisser Beziehung stehen zu dem Unter - schied in der Art und Organisation der entsprechenden sozialen Thätigkeiten: der wirtschaftlichen, der regierenden und der bildenden; nämlich diese drei werden, je in ihrer Eigenart und gemäss ihrem wechselseitigen Verhältnis, daher auch in ent - sprechender Folge, zur Erziehung des Willens im Individuum derart mithelfen müssen, dass die Entfaltung der Arbeitstriebe im Individuum von Anfang an Zusammenhang sucht und findet195 mit dem Arbeitsleben der Gemeinschaft, die Ausbildung der regelnden Kraft des Willens im Einzelnen mit der Bethätigung der gleichen Kraft in der Gemeinschaft, also mit den bestehenden sozialen Organisationen; während die Reife der eigenen Ver - nunft des Einzelnen zusammenfallen wird mit seiner thätigen Anteilnahme an der vernunftgemässen Gestaltung des Gemein - schaftslebens durch gemeinsame Bildungspflege. Je reiner die Organisation der Gemeinschaft ihrem eigenen Gesetze und da - mit ihrem wahren und letzten Zweck der Menschenbildung entspricht, um so klarer wird sich diese Beziehung im Gange der Willenserziehung erkennen lassen; so zwar, dass jedes Glied der Gemeinschaft auf geregelte Weise diese drei Stufen durchläuft.

Hiermit ist ein Prinzip für die soziale Organisation der Willenserziehung gewonnen. Wir untersuchen weiter, wo etwa in der Erfahrung sich eine Grundlage zu solcher Organisation erkennen lässt. Wir gehen aus von dem Altbekannten: dass zur Erziehung des Menschen, insbesondere des menschlichen Willens in entwickelter Gemeinschaft naturgemäss drei Faktoren zusammenwirken: das Haus, die Schule und ein Drittes, das man nicht recht zu nennen weiss; offenbar viel zu un - bestimmt bezeichnet man es als das Leben, nämlich das Leben ausser dem Hause und der Schule. Es scheint doch nicht, dass das Leben in diesem weiten Sinne unter allen Umständen die Menschen erzieht und gar recht erzieht. Es muss zum wenigsten etwas Bestimmteres an dem so allgemeinen Leben sein, das eine erziehende Wirkung gleich dem Hause und der Schule übt; vermutlich etwas diesen beiden Aehnliches. Nun wissen wir schon, dass es wesentlich die organisierte Gemeinschaft ist, welche erzieht. Das trifft zu auf das Haus und die Schule: beide erziehen als Formen organisierter Gemeinschaft. Nur unter der gleichen Bedingung wird also auch das Leben ausserhalb beider erziehend wirken. In ur - sprünglichen, patriarchalischen Formen des Gemeinschaftslebens lässt sich das auch unmittelbar erkennen; es verbirgt sich etwas mehr in entwickelteren, aber noch zu keinem Abschluss der Entwicklung gelangten Gesellschaftsstadien, so dem heutigen. 196Da fehlt es offenbar an festgegründeten Organisationen des Gemeinschaftslebens der Erwachsenen; die alten sind in Auf - lösung begriffen, neue haben noch nicht feste Gestalt ge - wonnen. Aber zum wenigsten liegen die beiden andern Faktoren, Haus und Schule, deutlich vor. An ihnen muss daher zunächst unser Prinzip sich erproben.

Da stossen wir, was zuerst das Haus betrifft, auf ernste Fragen. Das Haus oder die Familie , wenn wir so die Ge - meinschaft selbst benennen, welche das Haus zu ihrer materiellen Unterlage, gleichsam ihrem körperlichen Organ hat, unterliegt starken Wandlungen; sie ist eben jetzt in einer Umbildung begriffen, die es erschwert, ihren Begriff fest und sicher zu erfassen. Es fehlt nicht an solchen, die behaupten, dass die Familie zu den organisatorischen Schöpfungen einer fernen Vergangenheit gehöre, die heute in heller Auflösung gerade bei den Völkern und Volksschichten begriffen seien, denen mehr und mehr eine führende Rolle in der Kulturentwicklung zugefallen sei oder in absehbarer Zeit zufallen müsse. Man betrachtet den Verfall der Familie, ohne ihn eigentlich gut zu heissen, als unabwendliches Verhängnis, als unausbleibliche Folge der wirtschaftlichen Umwälzung vom Kleinbetrieb zum Grossbetrieb, von der Handarbeit zur Maschinenarbeit, vom Nahverkehr zum Fernverkehr, und sieht ihm gleichsam mit verschränkten Armen zu. Oder aber man träumt von der Wiederherstellung eines grossenteils schon entschwundenen und weiter im Rückgang begriffenen, weil eben mit vorwaltendem landwirtschaftlichen und industriellen Kleinbetrieb zusammen - hängenden Zustands, oder doch möglichster Behütung dessen, was davon noch übrig ist, vor weiterem Verfall. Es ist letzten Grundes ein Zustand gleich dem des Mittelalters, den man zurückführen möchte; ein Zustand, für den neben und im Zu - sammenhang mit dem vorherrschenden Kleinbetrieb die Son - derung der wirtschaftlichen Klasse von der regierenden sowie einer dritten, der die Pflege der geistigen Interessen ausschliess - lich anvertraut ist, einem (etwa auch weltlich zu denkenden) Klerus charakteristisch ist.

Die Annahme einer solchen Rückwärtsbewegung wider -197 streitet allem, was wir über die Gesetzmässigkeit der sozialen Entwicklung zu wissen behaupten dürfen. Allein die erstere Ansicht scheint vollends trostlos. Unsere Grundsätze führen zu keinem von beiden Extremen. Zwar erkannten wir fort - schreitende Konzentration als Grundzug der wirtschaftlichen Entwicklung an; aber nur in Verbindung mit gleichzeitig zu - nehmender Individualisierung. Daraus folgt, dass das Haus, als Zelle des wirtschaftlichen Organismus, zwar unter dem zeitweiligen Vorwalten der generalisierenden über die individualisierende Tendenz verkümmern, aber dauernd nicht untergehen kann, es sei denn mit dem Untergang des ganzen Organismus. Es ist nicht Fortschritt sondern Rückschritt der Wirtschaft, wenn die Arbeit ihres Individualcharakters ganz verlustig geht, d. h. wenn der Arbeiter durch die Art des Arbeitsbetriebs zur Maschine, ja zum Maschinenteil herab - gedrückt wird. Vollends unvereinbar ist solche Mechanisierung der Arbeit mit dem, durch die Gesetze der sozialen Entwick - lung doch gleichfalls geforderten, Anteil des wirtschaftlichen Arbeiters an der regierenden wie an der bildenden Thätigkeit. Die Wiederherstellung individualisierter Arbeit, vollends die geistige und rechtliche Emanzipation des Maschinensklaven, fordert eine mehr und mehr individualisierte Erziehung auch und zu allererst zur Arbeit selbst, und darum ein individuali - siertes, nicht kasernenmässig roh und mechanisch zentralisiertes Leben des Arbeiters; welches doch wohl nur ein Hausleben, ein Familienleben, wenn auch vielleicht anderen Stiles als bisher wird sein können. Es ist einer der Punkte, wo der landläufige Sozialismus in auffälligster und schädlichster Weise sich selber missverstanden und, statt von seinen grossen und sicheren Prinzipien, von der so leicht irreführenden Lehre augenblicklicher Erfahrung sich hat bestimmen lassen.

Wir verkennen darum nicht die ernsten Schwierigkeiten der heutigen Lage. Schon Pestalozzi, der auch in dieser Frage von grossen und richtigen Ahnungen geleitet wurde, sah sie herannahen; vollends Fichte liess sich dadurch, wie schon vor ihm einige Theoretiker der Revolution, zu der schroffen Forde - rung ausschliesslich gemeinschaftlicher Erziehung in staatlich198 organisierten Erziehungshäusern von möglichst frühem Alter an verleiten. Vielleicht ist bei dem gegenwärtigen Zustand etwas Andres als ein Surrogat der an sich geforderten Organi - sation der Erziehung für das frühe Kindesalter nicht möglich. Ein solches Surrogat dürfte gefunden sein in dem Fröbelschen Kindergarten. Fröbel war einer der wenigen unter Pesta - lozzis Nachfolgern, der von seinen Ideen etwas nach der eigent - lich wichtigsten, der sozialen Seite begriffen hatte, und die seitherige Entwicklung des Zustands der arbeitenden Klassen ist es, die, zwar mehr ausserhalb Deutschlands als bei uns, seiner Idee eine nicht zu unterschätzende thatsächliche Be - deutung gegeben hat. In Frankreich und Nordamerika sind die Grundzüge einer nationalen Gestaltung des Kindergarten - wesens bereits klar zu erkennen. Bei uns besteht ein bisher wenig erfolgreiches Bestreben, für die Erziehung der Kleinen besonders in den ärmeren Volksklassen die Thätigkeit der Frauen, nicht der Mütter allein, allgemein und in organisierter Weise heranzuziehen. Sollte das als endgültige Lösung ge - meint sein, so müsste man sagen, dass dabei zwei wichtige Dinge übersehen sind. Erstens würde dem Manne noch mehr als schon jetzt die Erziehung aus der Hand genommen, die Abschüttelung der Erziehungspflicht, zu der bereits so vieles verlockt, allzusehr erleichtert werden, zum gleich grossen Schaden seiner selbst und des Kindes, das, wie hoch man auch die mütterliche Erziehung anschlagen mag, doch der männ - lichen Leitung nie sollte entbehren müssen. Zweitens wird vorausgesetzt, dass dauernd und allgemein dem Manne allein die Erwerbspflicht obliege. Das ist schon jetzt nicht der Fall, und eine rückläufige Entwicklung ist auch in dieser Hinsicht weder anzunehmen noch selbst zu wünschen.

Die Grundidee des Kindergartens ist vielmehr in genaue Verbindung zu setzen mit dem Postulate der Wiederherstel - lung eines häuslichen Lebens des Arbeiters selbst, in einer solchen Form, die mit der bisher erreichten und weiter fortschreitenden Konzentration der Wirtschaft vereinbar ist. Wenn irgendwo, so kann hier die den heute gedrückten Klassen zu leistende Hülfe nur Hülfe zur Selbsthülfe sein. Der klare Weg199 zu dem gedachten Ziel ist: dass unter dem Einfluss erhöhter Arbeitsgemeinschaft Familienverbände sich bilden, zu deren vornehmsten Aufgaben die gemeinschaftliche Sorge um die Er - ziehung der Kinder gehört. So wäre eine Garantie geboten, die einzig mögliche, wie mir scheint, dass die vor allem um der Erziehung willen zu verlangende grössere Freiheit vom Arbeitszwang (durch gesetzliche Beschränkung der Arbeitszeit bei gleichzeitiger Sicherung eines angemessenen Arbeitsein - kommens) auch wirklich der Erziehung zugute kommt; was weder bei der starr individualistisch gedachten Familie noch vollends bei gänzlicher Abwälzung der Erziehungspflicht auf Andre der Fall wäre. So entstände etwas dem Fröbelschen Kindergarten Aehnliches; aber es wäre eine ungleich organischere Form der Hauserziehung, eine bloss erweiterte, von individua - listischer Absperrung befreite Familienerziehung. Der Kinder - garten, wie er heute möglich ist, bleibt dahinter notwendig zurück, aber er liesse sich schrittweis dahin überführen, durch Verbindung mit sämtlichen, irgendwie planmässig zu ver - einigenden Anstalten zur Hebung der Lebenshaltung der Arbeiter möglichst auf dem Wege der Selbsthülfe, und successiv stärkere Heranziehung der Arbeiter und Arbeiterfrauen selbst, je nach ihrer relativen Befreiung vom Arbeitszwange, zur Erziehungs - arbeit in den an die Familienverbände der Arbeiter anzu - gliedernden Kindergärten.

Einen andern Weg sehe ich nicht, bin aber jedem dank - bar, der ihn zeigt. Man würde einer Verständigung vielleicht geneigter sein, wenn man sich erst den Ernst der Frage ein - mal ganz klar machte; wenn man sich bewusst wäre, was für die Erziehung des Menschen gerade die ersten Lebensjahre bedeuten. Die theoretische Pädagogik sieht darüber noch immer in unbegreiflicher Leichtfertigkeit hinweg. Sie redet meist so, als ob das Eigentliche der Erziehung erst mit dem schul - pflichtigen Alter begänne, als ob das, was vorhergeht, nichts mehr als eine geringfügige, spielende Vorarbeit für das Werk wäre, das ernsthaft erst die Schule in ihre geschickte Hand nehme. Und doch hat es schon Pestalozzi so ganz anders gewusst. Es ist nicht zu viel gesagt, dass ebenso, wie das200 Wachstum des pflanzlichen und tierischen Organismus, auch das geistige Wachstum des Menschen im frühesten Alter am mächtig - sten und gestaltreichsten und die schaffende Kraft am grössten ist. Das Kind und zwar sozusagen jedes Kind vollbringt in den ersten Lebensjahren oft unter den schwierigsten Bedingungen geistige Leistungen, denen sich nichts von dem, was der durch - schnittlich Begabte später zustande bringt, auch nur entfernt vergleichen lässt. Das Erste ist der Aufbau dieser ganzen Welt unsrer Wahrnehmungen, die dem Erwachsenen bei jedem Augenaufschlag fertig dasteht wie vom Himmel gefallen, die aber das Kind förmlich aus dem Nichts erst schaffen muss. Denn am Anfangspunkte seiner Entwicklung vermag es that - sächlich nicht auch nur einen Punkt zu fixieren, eine Linie zu verfolgen, geschweige dass diese unbegreifliche Fülle von Gestaltungen, die wir einfach als gegeben hinnehmen, für es schon da wäre. Eine weitere wundervolle Schöpfung ist die der Sprache; eine zweite Welt gleichsam, welche jene erste abbildet, nämlich sie in dem eigenen Material des Sprachlauts gleichsam kopiert. Auch hier geht das Kind vom völligen Nichts aus. Es muss nicht bloss die Lautkomplexe selbst erst auffassen und selber bilden lernen, was zur Bildung der Wahrnehmungen einerseits, der willkürlichen Bewegungen andrerseits gehört und einen bedeutenden Teil der Willens - bildung schon einschliesst; sondern das Grösste ist erst das Verständnis dessen, was das Wort sagen will. Da ist oft die gemeinte Sache für das Kind noch gar nicht da, sondern es hat die Vorstellung selbst erst zu fassen, indem es das Wort verstehen lernt. Aber selbst dass überhaupt das Wort etwas sagen, d. h. zu verstehen geben will, muss das Kind erst er - raten. Versucht man einmal sich psychologisch klar zu machen, was das alles voraussetzt, so muss man erkennen, dass es, alles in allem, eine ganz erstaunliche Leistung ist, gar nicht vergleichbar etwa mit unserm Erlernen einer fremden Sprache, geschähe es auch ohne Hülfe eines Buches oder Lehrers, allein durch den Umgang mit solchen, die sie sprechen. Aehnlich ist es aber mit allem geistigen Erwerb des Kindes bewandt. Es erringt ja in derselben Zeit noch so grosse Dinge wie den be -201 wussten und willentlichen Gebrauch seiner Glieder, mensch - lichen Gang und Handgeschicklichkeit, menschliches Gehaben und Sichgeberden, überdies das Verständnis und die eigene, selbstbewusste Teilnahme an all den gemütlichen Beziehungen, in die es mit seiner kleinen Seele so bald schon warm und kraftvoll, in der That mit einer Wahrheit, Energie und Rein - heit, wie ein Erwachsener sie selten aufbringt, hineinwächst und selbstthätig eingreift. Es bedarf keiner näheren Ausfüh - rung, dass jede einzelne dieser Leistungen den Willen ebenso - wohl wie den Intellekt unausgesetzt in Anspruch nimmt und also entwickeln hilft. Auch genügt der blosse Hinweis, dass diese Entwicklung, wie sehr immer Sache der Natur , auf die Gemeinschaft mit den Erwachsenen und den zugleich Heran - wachsenden (Geschwistern, Kameraden) gänzlich angewiesen und durch die Art und Tiefe dieser Gemeinschaft, durch Ge - sinnung und Verhaltungsweise der Umgebung gegen das Kind durchaus bedingt ist, mithin unter pädagogische Erwägung selbst dann fiele, wenn man so seltsam wäre, davon alles aus - schliessen zu wollen, was Sache der Natur , d. i. selbstthätiger, nicht von Andern (absichtlich und unabsichtlich) beeinflusster Entwicklung ist.

Vorzüglich aber gehört hierher eine Erwägung, die sich in entscheidender Weise dem Tiefblick Pestalozzis erschlossen hat. Von der Bedeutung der kindlichen Entwicklung ganz durchdrungen, unternahm er es, man muss wohl sagen, zum ersten Mal, ihren Grundgesetzen ernstlich nachzugehen. Da er mit seiner Analyse zunächst bei der Intellektbildung ein - setzte, geriet er auf seine bekannten drei Elementarpunkte : die Zahl, die Form, d. i. die vom Punkt durch Linie und Fläche bis zum Raumgebild sich aufbauende körperliche Ge - stalt der sinnlichen Objekte, und die Sprache. Er fand weiter, dass dies alles sich hauptsächlich an die kombinierte Uebung der Sinne und der Hand anknüpft. Hier griff nun die sozio - logische Erwägung ein, dass alle Güter des gesellten Menschen auf Arbeit, zuletzt auf der schlichtesten Arbeit, auf dem Hände - werk beruhen und notwendig beruhen müssen. So wurde ihm die Arbeitsbildung, die Bildung durch Arbeit zur Arbeit,202 zum eigentlichen Fundament der menschlichen Bildung über - haupt. Nicht bloss sah er aus ihr beinahe das Ganze der Verstandesbildung hervorgehen, sondern in dem Zwange zur Wahrhaftigkeit, in der Erziehung des reinen Sachensinns, welche die Arbeit bedeutet, kurz in den Ansprüchen, die sie an den Willen stellt, zumal aber in der Gemeinschaft der Arbeit, die im Hausleben sich so rein wie nirgends sonst dar - stellt, erkannte er zugleich die allerwesentlichsten Grundlagen zur Erziehung des Willens. Hierin ist eigentlich seine ganze Theorie der Willensbildung enthalten; auch seine tief wahren Beobachtungen über die religiöse Erziehung, die er wesentlich als sittliche versteht, führen zuletzt darauf zurück. Wir stehen jetzt auf der Höhe, den Gehalt dieser Gedanken zu würdigen. Fröbel hat dann gleichfalls und in mehr systematischer Aus - führung die Handübung in Verbindung mit der Muskelübung über - haupt und andrerseits der Uebung der Sinne in den Mittelpunkt der frühsten kindlichen Erziehung gestellt. Die industrielle Not - arbeit, an die Pestalozzi praktisch anzuknüpfen durch die zu - fälligen äusseren Bedingungen, an die sein erstes pädagogisches Wirken sich gebunden fand, veranlasst worden war, deren er - ziehende Kraft aber eine ungemein dürftige und einseitige ist, ersetzt Fröbel durch eine frei spielende, aber eben im Spiel plan - volle, möglichst alle im Kinde schlummernden Kräfte aufrufende und somit übende Thätigkeit, bei der besonders der sittliche und ästhetische Faktor ganz anders in Wirksamkeit treten kann, ohne dass die Vorbereitung zur später zu leistenden nützlichen Arbeit Schaden zu leiden braucht.

Denkt man sich die kindliche Erziehung so gestaltet, wie sie allen diesen ineinandergreifenden Erwägungen zufolge sich gestalten würde, so lässt sich wohl sagen, dass die Be - fassung damit schon wegen des unerschöpflichen Studiums, zu dem sie Stoff bietet, und der grenzenlosen Anregung zu eigener Erfindung keine zu niedrige oder geistlose Sache auch für den gereiften Mann, dass sie zugleich für den sonst schwer Arbeitenden die köstlichste Erholung sein würde. Auch giebt es keine Freundschaft, keine Kameradschaft von gleicher Süs - sigkeit und Echtheit, wie ein unverdorbenes Kind sie zu bieten203 imstande und gerade dem reifen Manne am hingebendsten zu bieten bereit ist. Wir sind nur in der Regel bei weitem nicht reif genug dazu. Ich möchte den Satz wagen, dass die Reife der Bildung des Erwachsenen sich misst an dem Verständnis der Kindheit und dem Respekt vor ihr, der in ihm lebt.

Unsere Grundvoraussetzungen haben sich bis dahin be - währt. Was ihnen in der thatsächlichen Lage bisher nicht entspricht, erklärt sich aus dem Charakter der gegenwärtigen Zeit als einer überaus schwierigen Uebergangsperiode, deren wandelbare, von heut auf morgen ungewisse Zustände für eine Theorie, die nicht bloss heute richtig sein möchte, keine brauch - bare Unterlage bieten. Selbst diese wirre Lage aber bestätigt unsre Voraussetzungen in dem Sinne, dass sie verständlich wird als ein bestimmtes Stadium des Uebergangs von dem, was war, zu dem, was kommen muss.

§ 21. Soziale Organisationen zur Willenserziehung: 2. Die Schule.

Im Unterschied von der unfertigen Gestalt der häuslichen Erziehung lässt sich von der Schulerziehung sagen, dass sie in den Grundzügen fertig dasteht. Sie bietet daher die sicherste Grundlage einer empirischen Erprobung unserer Theorie. Und nirgends bewährt sie sich so rein und deutlich wie eben hier.

Wodurch ist unter allen Veranstaltungen zur Erziehung die Schule so auffallend bevorzugt? Sichtlich dadurch, dass sie in ausgeprägtester Weise Organisation und zwar aus - schliesslich dem Erziehungswerk dienende Organisation ist. So entspricht es der Natur der Erziehungsstufe, deren Zentrum in der Willensregelung als solcher liegt. Willentliche Regelung des Thuns ist der Grundcharakter aller Organisation; deswegen muss auf dieser Stufe die Organisation so merklich hervortreten, und zwar in einer Form, die ausdrücklich als solche auf den zu Erziehenden wirken will, die überhaupt keinen anderen Zweck hat als den, zu erziehen. Daraus ver -204 steht sich die ganze Eigentümlichkeit der Erziehung, welche die Schule leistet. Die Fügung des ganzen äusseren und selbst inneren Verhaltens in eine feste Gesetzesordnung, die den in die Schule Eintretenden gleich von der Schwelle an umfängt, genau so lange, als er ihr zugehört, festhält und während dieser Zeit fast unausgesetzt überwacht, findet in der That sonst nirgends ihresgleichen. Man mag den Waffendienst an - führen, der eine selbst noch straffere, bis ins Einzelste ausge - arbeitete Regelung aufweist, wo sozusagen kein Muskel zucken darf ausser auf Kommando. Aber teils fällt das ganz unter den Begriff Schule; es wird doch da jedes Einzelne gelehrt und gelernt, eingeschult, exerziert ; teils ist es im Vergleich zu der hier gemeinten eine höchst einseitige Art der Schulung. Dem leicht übertriebenen Drill in der einzigen Richtung der körperlichen und zwar nur in bestimmten Beziehungen ver - standenen körperlichen Ausbildung steht gegenüber eine fast gänzliche Abwesenheit positiver Disziplin nach andern z. B. moralischen Seiten; wogegen die eigentliche Schule die köst - liche Aufgabe hat, alle Seiten der menschlichen Ausbildung systematisch zu umspannen und in normale Beziehungen zu setzen.

Aus unserm Prinzip versteht sich die Notwendigkeit einer solchen Organisation, und zwar für eine bestimmte mittlere Stufe zwischen Kindheit und gereiftem Menschentum. Offen - bar reicht die allgemeine Erwägung dazu nicht aus, dass über - haupt ein geregeltes Thun des Erfolges sicherer ist. Dem stände gegenüber, dass Freiheit gerade in der Erziehung wahrlich auch ihr Recht hat; ein Bedenken, das mehrere grosse Theo - retiker sogar dahin geführt hat, den Schulbetrieb der Bildung, eben jene gepriesene äussere Regelung der Bildungsthätigkeit, überhaupt zu verwerfen oder doch auf ein kleinstes Maass zurückführen zu wollen. Die Rechtfertigung für die Schule liegt vielmehr eben darin, dass die Einlebung in einen der - artigen Organismus an sich pädagogisch wertvoll, ja not - wendig ist. Sie hat, auch ganz abgesehen von den besonderen Zwecken des Unterrichts, die möglicherweise auch anders er - reicht werden könnten, den erziehenden Wert, den Geist der205 Regel und der Ordnung überhaupt dem werdenden Menschen einzuprägen und gleichsam zur andern Natur werden zu lassen.

Darin liegt aber zugleich die Beziehung der Schule zur sozialen Organisation, die wir unsern Prinzipien gemäss erwarten müssen. Eine überraschende Analogie thut sich auf zwischen der Schule und den sozialen Ordnungen, vorzüglich dem Recht. Der diktatorische Ausspruch von Geboten oder Vorschriften , denen nachzuhandeln jedem in die fragliche Organisation (die Rechtsordnung) Eintretenden zur Pflicht ge - macht wird, die schon Protagoras klug den Vorschriften des Schreiblehrers verglich; die Strafbestimmung für den Zu - widerhandelnden, die Belohnung durch öffentliche Auszeich - nung, durch Aufrücken zu einem höheren Platz z. B. und gar durch lächerliche äussere Abzeichen, was zwar in den Schulen glücklich abgekommen ist; überhaupt dieser ganze bis auf Wort und Geberde, vorschriftsmässiges Material u. s. w. sich erstreckende Formalismus des öffentlichen Lebens bietet zu den Gesetzen und Gebräuchen der Schule eine schlagende Analogie, die sich den ältesten Sozialforschern aufdrängen musste und deren Grund nur in irgend einem koinzidierenden Momente gesucht werden kann. Man vergleiche etwa in der - selben Hinsicht mit dem Recht die Wirtschaft. Sie fordert im Gegenteil möglichste Bewegungsfreiheit; denn sie muss sich der jeweiligen Lage bis ins Individuellste anschmiegen können. Dennoch kann sie der Form des Rechtes nicht entbehren, denn jede soziale Thätigkeit bedarf ihrer, doch ohne darin aufzu - gehen. So muss sich zu dem Materialen der Bildungsthätig - keit, der Entfaltung der Thätigkeitstriebe, das formale Ele - ment der äusseren Willensregelung in der Erziehung verhalten, und zwar muss die Form, wie dort, als etwas Eigenes, in sich Gegründetes zum Bewusstsein kommen. Das leistet die Schule, und sie hat darin ihre ganz eigentümliche, in sich abge - schlossene Aufgabe.

Auch erstreckt sich dies formale Element thatsächlich auf alle Seiten oder Richtungen menschlicher Bildung. So gehorcht zwar schon die ungeschulte Sprache des Kindes der Sprachregel; sie ist ihm praktisch so wohl bewusst, dass es206 sie sogar weit strenger beobachtet als die Sprache der Er - wachsenen, die weit mehr Ausnahmen kennt. Aber diese Regelmässigkeit ist grösstenteils nur mechanische Wirkung des Gesetzes der Sparsamkeit oder richtiger des Trägheits - gesetzes. Etwas ganz Anderes ist es, die Regel als solche auffassen, sie in eigenem abgesondertem Bewusstsein haben und sein Sprechen ihrer Herrschaft systematisch unterstellen, wie es die Schule lehrt. So walten schon im Aufbau der menschlichen Wahrnehmungen die schlichtesten Gesetze der Mathematik, Mechanik, Optik u. s. w. Der Blick, die Füh - rung der Hand, fast jede Bewegung der Glieder folgt dem Gesetze des kürzesten Weges. Auch kann man nicht sagen, dass diese Gesetzmässigkeit dem Kinde gänzlich unbewusst bliebe. Das zweijährige Kind z. B., das seinen Baukasten einräumt (was das intelligenteste Tier ihm schwerlich nach - thut) oder seine kleinen Bauten aufführt, beweist mit der That die praktische Kenntnis einfachster geometrischer, mecha - nischer, optischer Verhältnisse. Aber etwas ganz Anderes ist es, das Gesetz als solches abzusondern und in einem eigens darauf gerichteten Bewusstsein festzuhalten. Das ist der eigent - liche Unterschied zwischen Schulerziehung und Hauserziehung. Der Ort und die sonstigen äusseren Umstände, die Person des Lehrenden, das alles macht ihn nicht aus. Ein sonst durchaus schulmässiger Unterricht kann daheim von den Eltern, ein ganz hausmässiger in eigenem Lokal von angestellten Personen, getrennt von der Familie, unter öffentlicher Leitung und Auf - sicht erteilt werden. Auch der Umfang des zu Leistenden entscheidet nicht. Wir erkannten es schon als eine Art op - tischer Täuschung, dass der geistige Fortschritt in den ersten Lebensjahren geringer sei als in der Schulzeit. Der Unter - schied ist vielmehr qualitativ; er liegt in dem ausdrücklichen Bewusstwerden der Form der menschlichen Bildung und darum in der absichtsvollen Leitung der Bildungsthätigkeit. Regel und Ordnung soll gewiss auch in der häuslichen Erziehung walten, aber sie soll nicht zu ausdrücklichem Bewusstsein kommen. Das Kind soll in ihr als in seinem Elemente leben, aber sie so wenig spüren, wie die Lebensluft, die es allent -207 halben umgiebt. Etwas völlig Neues ist dem gegenüber die bewusste und willentliche Fügung in eine nicht selbstverständ - liche noch auf den Einzelnen zugeschnittene Ordnung, wie die Schule sie fordert. Und diese beschränkt sich nicht etwa auf die äussere Haltung und Zucht, sie erstreckt sich ebenso auf Gedanken und Gedankenausdruck des Schülers.

So ergiebt sich ein durchaus einheitlicher Begriff dessen, was die Schule in intellektueller wie moralischer Hinsicht zu vollbringen hat. Es ergiebt sich zugleich, dass in der Schul - erziehung, gegenüber der noch ungeschiedenen Einheit von Intellekt - und Willensbildung auf der ersten Stufe, eine be - stimmte Scheidung beider nötig wird. Es soll bei ihr nicht bleiben, aber sie ist für diese Stufe unerlässlich, gerade damit die eigentümlichen Gesetze einerseits des Verstehens, andrer - seits des Wollens sich zu Begriff und Erkenntnis abklären können.

Und zwar fällt das Hauptgewicht sachgemäss auf die Seite der Intellektbildung; d. h. die zentrale Aufgabe der Schule ist der Unterricht. Auch was sie zur Erziehung beiträgt, vermag sie nur dadurch, dass sie den Unterricht in die Mitte stellt und die Erziehung, scheinbar wenigstens und äusserlich, ihm unterordnet. Die Erhebung vom Trieb zum Willen beruht ja auf der Konzentration des Bewusst - seins (§ 8). Diese giebt erst der anfangs bloss vorhandenen blinden Tendenz die sichere Richtung auf ihr Objekt, die den Willen vom willenlosen Trieb unterscheidet. Das ist an sich logische, noch nicht ethische Leistung. Dass darin gleich - wohl auch ein Faktor der Willensbildung unmittelbar liegt, begreift sich: das logische Gesetz zwar ist an sich nicht Ge - setz des Willens, aber das Denken nach dem Gesetz, das Denken des Gesetzes selbst, dies Thun steht unter der Bot - mässigkeit des Willens. Der Unterricht lehrt nicht bloss richtig denken, er lehrt richtig denken wollen; er lehrt es, indem er in der Kraft des logischen Bewusstseins selbst, der Gedankenkonzentration, die Kraft zu wollen, nicht bloss blinden Antrieben zu folgen, entwickelt. So mag man von erziehendem Unterricht reden. Oefter freilich hat das allzu208 bequeme Schlagwort gedient zu verschleiern, dass das Zentrum der Schulerziehung notwendig im Unterricht des Verstandes liegt. Dieser schliesst ein wesentliches Stück der Willens - bildung zwar ein, aber enthält nicht das Ganze und Eigen - tümlichste der letzteren. Das verbleibt dem Leben ; dem Leben vor, neben und nach der Schule; auch dem Leben in der Schule, denn auch sie ist ja ein Leben, d. i. eine Form organisierter Gemeinschaft, aber nur eine neben andern; ein Staat im kleinen, wie man richtig gesagt hat; damit zugleich das vorzüglichste Mittel der Einlebung in die weiteren sozialen Ordnungen, die den aus der Schule Austretenden dann mit ernsterem Zwang umschliessen.

Indem wir so den Beitrag der Schule zur Willensbildung genau umgrenzen, verkürzen wir ihn wahrlich nicht. Er reicht ganz so weit wie der Anteil des Intellekts an der Willens - entwicklung und wie die Bedeutung der sozialen Ordnungen für sie. Daraus folgt aber, dass die Schule ihre erziehende Wirkung ganz nur als Nationalschule zu entfalten ver - mag. Ihre Grundidee ist, dass an dem Segen der Schulung nicht bloss alle teilhaben, sondern in gewissem Sinne alle gleichen Teil haben sollen. Dieser gewisse Sinn bedarf aber erst sorgfältiger Feststellung. Alle menschliche Bildung ist in der Wurzel eine, die zu entwickelnden Grundfähigkeiten sind in allen nicht geistig Verstümmelten vorhanden und in allen dieselben. Aber das begründet noch nicht die Forderung gleicher Schulung, denn es gilt nur von den generellen Grund - fähigkeiten; im besonderen sind die Anlagen vielmehr äusserst verschieden. Der Sinn der gleichen Bildung aller kann also keinesfalls der sein, dass die Bildung aller bei ihrem Ab - schluss nach Umfang und Inhalt dieselbe sein müsste. Son - dern es ist die Meinung, erstens, es habe an sich jeder An - spruch auf gleiche Sorgfalt für seine Bildung, der schwächer Begabte sogar mehr als der von der Natur Bevorzugte; weil die grösstmögliche Entfaltung aller vorhandenen geistigen Keime in aller Interesse liegt. Dabei kann und muss wohl das Maass und die Richtung der Ausbildung für die Einzelnen verschieden sein. Nichts wäre den Grundgesetzen der Bildung209 mehr entgegen als eine künstliche Beschränkung auf der einen und eine ebenso künstliche Hinauftreibung auf der andern Seite, in quantitativer oder qualitativer Richtung. Die Forde - rung der Gleichheit besagt aber noch ein Zweites, nämlich dass durch die Art der Schulung das Bewusstsein der Gemein - schaft der Bildung, der Einheit des letzten Bildungsziels für alle auf jede Weise geweckt und lebendig erhalten werden muss; dass ein jeder lernen soll seinen Anteil an Bildung, ob gross oder klein, als Bestandteil des geistigen Gemeineigen - tums, nicht als sein Sonderrecht anzusehen; als ein anver - trautes Gut, das er nur im Sinne des Ganzen zu verwalten, möglichst für alle nutzbar zu machen, zu erhalten und zu mehren verpflichtet ist.

Das also muss der Sinn und Geist sein, in dem die Schule im ganzen organisiert und im besondern und einzelnen geführt wird. So kann sie erst ganz die erziehende Wirkung üben, die an sich in ihrer Macht steht. Und wenn etwas an der Sache der Menschheit noch nicht verzweifeln lässt, so ist es die Beobachtung, dass die Idee der Nationalschule doch feste Wurzeln schon gefasst, dass sie mit wunderbarem logischem Zwang von den fortschreitenden Nationen eine nach der andern ergriffen und sich in grossen organisatorischen Schöpfungen durchgesetzt hat. Sie muss wohl sich durch - setzen, sogar der Selbsterhaltungstrieb der Völker erzwingt es; denn zu augenfällig ist, wie eine geschulte Nation um ein Unermessliches jeder ungeschulten überlegen ist, möchte sie auch sonst intelligent genug, an Sinnesschärfe und Gewandt - heit vielleicht hervorragend, auch sozial friedsam und ruhig, gemeinsinnig und tapfer sein, wie es ja manchen wilden Völker - schaften nachgesagt wird. Auch ein solches Volk kann wohl in seinem engen Kreise ein zufriedenes Dasein führen, aber es wird weder fortschreiten noch, was fast dasselbe ist, sich ver - änderten Lebensbedingungen leicht anpassen können. Es ver - bleibt im Stande der Kindheit, einer glücklichen, so lange es nicht gestört wird, einer ganz hilflosen, wo die männlich ge - reifte Kraft des geschulten Geistes ihm feindlich entgegentritt. Natorp, Sozialpädagogik. 14210Selbst die Klassen einer einzigen Nation müssen sich in ähn - lichem Verhältnis gegenüberstehen, so lange und in dem Maasse wie die Schulbildung oder auch nur gewisse höhere Grade derselben das Privileg einer Klasse sind. Nur wird sich innerhalb eines Volkes die Kluft nicht leicht bis dahin erweitern, dass sie nicht bei entschiedenem Willen wieder ge - schlossen werden könnte. Die Idee der Nationalschule ist un - trennbar von der demokratischen Entwicklung der modernen Völker; durch sie ist ein Volk im modernen Sinne überhaupt erst möglich; und es lässt sich mit Bestimmtheit vorhersagen: die Völker werden fortan die führenden sein auf Erden, welche diese Idee am reinsten verwirklichen.

Welche Organisation des Schulwesens nun würde dieser Idee etwa entsprechen? Zuerst, es dürften nicht von Anfang an nach Rang, Lehrplan und Berechtigungen ver - schiedene Schulen neben einander bestehen, sondern eine einzige Schulgattung müsste zunächst alle Kinder aufnehmen, und es müsste an der vollen Gemeinsamkeit der Schulerziehung so lange festgehalten werden, als irgend die notwendige Rücksicht auf die besonderen Forderungen der Berufsbildung es gestattet. Denn die Sonderung ist allein durch die verschiedenen Er - fordernisse der einzelnen Berufe bedingt; die Berufsbildung aber ist nach Pestalozzi’s Grundsatz unbedingt unterzuordnen der humanen Bildung d. i. der möglichst gleichmässigen, harmonischen Entfaltung der menschlichen Grundkräfte. Die Berufspflicht selbst erwächst erst aus dem sittlichen Verhält - nis des Einzelnen zur Gemeinschaft. Sie kann im eigenen Bewusstsein des Menschen nur lebendig sein, wo das Bewusst - sein der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft bis zu unerschütter - licher Festigkeit erstarkt ist. Das ist aber allgemein nur zu erreichen, wenn jedem bis zum geringsten herab ein voll - gewichtiger Anteil an menschlicher Grundbildung, es koste was es wolle, gewährt wird; wenn aller Unterschied der Stände und Klassen hinsichtlich des Anspruchs auf allgemeine Menschenbildung verschwindet. Das haben Pestalozzi, Fichte, Schleiermacher gefordert, das der Frh. vom Stein und alle Führer der damaligen Neugründung der Schule Preussens zur211 Wahrheit zu machen gestrebt: dem verderblichen inneren Kriege der Stände und Klassen gedachten sie vorzubauen durch die einheitliche Grundlegung eines nationalen , d. h. die ganze Nation umfassenden Bildungswesens. Das ist leider sehr in Vergessenheit geraten; heute ist es nicht selten ausgesprochener Grundsatz, und weit häufiger wird still - schweigend danach gehandelt, dass die höhere Schule das Vorrecht der höheren d. i. zahlungsfähigeren Klassen sei; dass in Rücksicht gerade auf die sozialen Unterschiede mög - lichst von Anfang an getrennte Schulen existieren müssen. Das ist ebenso naiv wie der Anspruch, weil man hat, desto mehr zu erhalten, desto grössere Vorteile sogar aus den ge - meinen Gütern der Nation ziehen zu dürfen. Die Volks - schule , die ihrer Bestimmung nach die Nationalschule hatte sein sollen, ist dadurch herabgedrückt zur Schule der untern Volksschichten, zur Proletarierschule, nicht selten geradezu zur Armenschule. Eine Aenderung darin ist nicht zu er - warten, so lange das Interesse eben derer, durch die sie zu bewirken wäre, sich der Volksschule nicht nur nicht zu - wendet, sondern gar ein entgegengesetztes Interesse an der geistigen Kurzhaltung der Massen sich unverhüllt ausspricht. Die Folge ist, dass das Kind sogar durch die Schule selbst darauf hingewiesen wird, sich als Angehörigen der bevor - rechteten weil besitzenden, oder aber der benachteiligten weil nichtbesitzenden Klasse zu fühlen, m. a. W., dass die Schule selbst jenen zerstörenden inneren Krieg , den sie hatte aus - rotten sollen, nur schüren und von Geschlecht zu Geschlecht in wachsender Progression fortpflanzen hilft.

Soll das vermieden werden, so muss die Volksschule zu dem thatsächlich werden, was sie dem Prinzip nach doch hat sein sollen, zur allgemeinen obligatorischen Schule für alle. Und zwar dürfte und sollte sich der pflichtmässige Besuch der all - gemeinen Volksschule auf einen vollen, in sich abgeschlossenen Kursus von (sage) sechs Jahren erstrecken. Man träte dann normal mit zwölf Jahren in eine oder die andere höhere Schule über; nicht beliebig in die eine oder andre, sondern streng nach den Leistungen in der Primärschule. Für alle höheren212 Schulgattungen ohne Unterschied würde das unberechenbare Vorteile einschliessen.

Eine Mehrheit von Schulgattungen für die zweite Stufe dagegen, etwa für eine zweite Schulperiode vom 12. bis 18. Jahr, ist um der Berufsteilung willen unerlässlich. Namentlich wird eine Scheidung auf lange hin notwendig bleiben zwischen der Vorbereitung zu solchen Berufen, die einer tiefgehenden spezial - wissenschaftlichen Ausbildung bedürfen, und denen, die ihrer entraten können, dagegen gewisse, möglichst früh zu erwerbende Fertigkeiten beanspruchen; im allgemeinen also zwischen der Vorbildung zu studierten Berufen einerseits, gewerblichen andrerseits. Für jene ist die heutige höhere Schule, oder sind vielmehr die verschiedenen Gattungen solcher im all - gemeinen wohl geeignet; normal als Vorstufen zur Universität einerseits, den technischen Hochschulen andrerseits. Die Schule höchster Gattung hätte nur die nach theoretischer Seite Be - fähigtsten aufzunehmen, dann aber auch entsprechend hohe An - forderungen zu stellen. Es ist mir nicht zweifelhaft, dass diese höchste Gattung an dem Ideal des neuhumanistischen Gym - nasiums festzuhalten hätte; ich meine an der Verbindung einer breiten Grundlage zu tiefdringendem Kulturstudium nicht ohne die klassischen Sprachen, besonders das Griechische, und eines nicht minder ernsten mathematischen und mathematisch-physi - kalischen Studiums. Hingegen ist das gegenwärtige numerische Uebergewicht des humanistischen Gymnasiums durchaus un - gesund, es drückt das Niveau des Gymnasiums selbst tiefer und tiefer, während es zugleich sämtliche Parallelanstalten in ihrer sachgemässen Entwicklung empfindlich hemmt. Es sollten also die Anforderungen des humanistischen Gymnasiums auf ihrer vollen Höhe erhalten, ja gesteigert, aber dann auch der Zugang zu dieser Anstalt Unfähigen aufs strengste versperrt werden. Wie das anders als auf Grundlage der allgemeinen Volksschule ausführbar ist, vermag ich nicht einzusehen. Beim zwölfjährigen, sechs Jahre gemeinsam mit den andern geschulten Kinde liesse sich ein Urteil über die Befähigung mit ausreichender Sicherheit abgeben, während jetzt über das sechsjährige Kind eine nur schwer rückgängig zu machende Entscheidung betreffs213 der ganzen Schullaufbahn voraus getroffen wird, bei der der ausschlaggebende Faktor lediglich das Geld oder die ehrgeizige Absicht der Eltern zu sein pflegt. Für die gewerblichen Berufe gehörte dagegen eine eigentliche Gewerbe - oder Realschule, die mit einem Grundstock allgemeinbildender, für alle gemein - samer und obligatorischer Fächer eine möglichst reiche Fülle von Fachkursen verbände, zwischen denen die Wahl freistände, oder vielmehr durch den Beruf, für den man sich entscheidet, bestimmt wäre. Und zwar nehme ich für diese ebenfalls einen sechsjährigen Kursus an. Sie würde dann über die Leistungen der heutigen Volksschule, auch wenn man die Fortbildungs - schule (etwa nach süddeutscher Art) hinzunimmt, um ein nam - haftes hinausgehen. Dass die Fortbildungsschule, auch bei der besten bisher erreichten Organisation, nichts mehr als ein Notbehelf ist, ist ja fast allgemein anerkannt. Sie wird irgend einmal abgelöst werden müssen durch die Vollschule für alle bis zum 18. Jahr. Diese müsste dann nur eine sehr freie Organisation in der beschriebenen Art erhalten, so dass die Anfänge der beruflichen Ausbildung ( Lehrjahre ) sich teils in Gestalt von Fachkursen unmittelbar anschlössen, teils, sofern das nicht angeht, daneben Platz behielten. Als Ueber - gang dazu ist vorerst anzustreben, dass der Fortbildungsunter - richt inhaltlich erweitert und vertieft, und in solche Stunden (die Frühstunden des Tages) verlegt wird, wo die Kräfte noch frisch und die Empfänglichkeit lebendig ist.

An diesen wenigen allgemeinen Sätzen in Betreff der Schule dürfen wir es nach der Absicht dieser Grundlinien genug sein lassen. Denn noch bleibt die dritte Art der Or - ganisation zur Willensbildung zu behandeln übrig, von der bisher nicht einmal der Name feststeht.

§ 22. Soziale Organisationen zur Willenserziehung: 3. Freie Selbsterziehung im Gemeinleben der Erwachsenen.

Die Willensbildung verblieb auf der ersten Stufe ganz im Gebiete des Sinnlich-Praktischen; sie erhob sich auf der zweiten214 zum Verständig-Praktischen; erst die dritte führt auf die Höhe der praktischen Vernunft oder der freien Sittlichkeit. Das wesentliche Mittel dazu ist Vertiefung des Selbstbewusstseins. Diese aber ist einerseits durch Gemeinschaft bedingt, andrer - seits führt sie zur Gemeinschaft (§§ 9, 10). Denn dasselbe Gesetz des Menschentums, das für den Einzelnen den Grund der Einheit seines Selbstbewusstseins ausmacht, begründet zu - gleich die Einheit des Bewusstseins unter Vielen, ja unter allen des Selbstbewusstseins Fähigen, d. h. der Idee nach unter allen Menschen. So wurzelt im praktischen Selbstbewusstsein das sittliche Bewusstsein, als identisch mit dem Gemeinschafts - bewusstsein auf der Stufe der Vernunft.

Nun ist zwar die sittliche Gemeinschaft eine rein innere. Sie geht nicht auf in der Gemeinsamkeit der Arbeit und der um ihretwillen notwendigen äusseren Organisation; sie hat ihr Leben und die Wurzel ihrer Kraft ganz in der inneren Ge - sinnung der sich Verbindenden. Es fragt sich, wie eine solche Gemeinschaft dennoch einer Organisation fähig, ja mit ihr auch nur verträglich ist.

Man könnte sich denken, dass die äussere Ordnung selbst die der Wirtschaft, wenn wir sie der Materie, oder des Rechts, wenn wir sie der Form nach bezeichnen sich mit sittlichem Geiste so durchdränge, dass sie gleichsam als ein getreuer Abdruck der sittlichen Ordnung erschiene. Allein wir wissen, dass das unbedingte, unendliche Ziel des Sittlichen in den bedingten und endlichen Ordnungen der Wirtschaft und des Rechts nie adäquat dargestellt sein kann. Andrerseits ist die sittliche Ordnung eines eigenen und zwar sinnlichen Aus - drucks zwar fähig, aber nur eines symbolischen. Es lässt sich eine äussere Darstellung der seinsollenden sittlichen Ordnung und damit Gemeinschaft denken, die nicht wie Wirtschaft und Recht aus dem Zwange der Lebensnot erwächst und ihre Spuren allenthalben sichtbar trägt, sondern in Freiheit, rein aus dem Ausdrucksbedürfnis, gleichsam der poetischen Kraft der sittlichen Vernunft hervorbricht. Eine allgemeine Festfeier etwa, die ganz ihren Sinn erfüllte, die aus wahrer Einheit der Gesinnung flösse, würde davon einen Begriff geben. Sie215 würde sich, auch bei allem Verzicht auf religiöse Bedeutung, wohl unwillkürlich dem Vorbild einer religiösen Feier an - schliessen, oder einzelne Züge wenigstens, die auf religiösem Grunde ursprünglich erwachsen sind, gleichsam rudimentär be - wahren. Nur, während das religiöse Symbol als heilig, d. i. für alle und in alle Zeit verbindlich gelten will, würde jene freie Symbolik sich ihrer Willkürlichkeit und Wandelbarkeit bewusst bleiben; unverletzlich gälte ihr allein der Sinn, den sie darstellen will, nicht die Darstellung.

Indem wir auf die Existenz und gute Begründung einer solchen Symbolik der sittlichen Gemeinschaft ausdrücklich hin - weisen, sind wir uns doch darüber klar, dass sie zum gegen - wärtigen Zweck nichts oder nur Nebensächliches beiträgt. Nicht nach dem äusseren Ausdruck einer vorhandenen inneren Gemeinschaft ist jetzt die Frage, sondern nach einer Organi - sation, die geeignet ist sie allererst herbeizuführen. Wirtschaft und Recht und die ihnen entsprechenden Bildungsorganisationen bereiten für sie den Boden, aber reichen noch nicht bis zu ihr hin. Jenes ästhetische Mittel aber mag zwar im Zusammen - hang mit anderen, tiefer eingreifenden Erziehungsmitteln eine gewisse pädagogische Kraft entfalten, aber keinesfalls kann es das erste und entscheidende Mittel der sittlichen Erziehung der dem Haus und der Schule Entwachsenen sein. Es kann Einheit der Gesinnung nicht ursprünglich bewirken, sondern setzt sie schon voraus.

Nun handelt es sich hier um nichts Andres als die Voll - endung menschlicher Bildung. Es handelt sich darum, dass als Zweck des Menschendaseins, und zwar jedes, auch des geringsten, nicht Wirtschaft und Recht, nicht das Leben der Arbeit allein und das öffentliche Leben, sondern die Höhe des Menschentums selbst thatsächlich und nicht bloss theoretisch zur Anerkennung gebracht werden muss. Diese Vollendung des Menschentums ist aber nicht zu denken als eine angebbare Summe oder ein geschlossener Inbegriff von wissenschaftlichen Einsichten und technischen Fähigkeiten, Willensbestimmtheiten und Handlungsweisen, ästhetischen Auffassungen und Leistungen, und was man sonst noch aufzählen mag; sondern sie schliesst216 das Bewusstsein des unbegrenzt möglichen Fortschritts in jeder einzelnen Richtung humaner Bildung wie in ihrer zentralen Vereinigung ein. Der Gipfel der Menschenbildung ist m. a. W. nicht ein definiter höchster Grad des Gebildet - seins, sondern freieste Bildungsfähigkeit, unbeschränktestes Vermögen der Selbstbildung; womit zugleich erst die volle Befähigung, an der Bildung Andrer mitzuarbeiten, errungen wird.

Also wir sollen immer Lernende bleiben. Und so finden wir uns zunächst auf bekanntem Boden: auf dem Boden der Lehre, des Unterrichts. Nur wird, nachdem durch Haus und Schule ein fester Grund bereits gelegt ist, das Weitere Sache freier Bildungsthätigkeit sein. Diese braucht aber einer Organisation nicht zu entbehren. Von der Möglichkeit einer Organisation freier, nicht autoritativer Bildungsthätigkeit giebt das beweisende Exempel die Hochschule. Sie ist auch seit Plato schon als ein notwendiges, vielmehr als das eigentlich zentrale Organ der sozialpädagogischen Organisation erkannt.

Aber sie ist nur in einseitiger Form bisher verwirklicht. Eine Hochschule, die des Namens wert ist, existiert bisher nur für eine enge, hoch bevorzugte Klasse sich wissenschaftlich Bildender. Es ist eine noch junge, aber siegreich vordringende Erkenntnis, dass etwas Entsprechendes für alle, die der gleichen bevorzugten äusseren Lage und besonderen Vorbildung nicht teilhaft sind, erst recht notwendig ist: die Idee der Volks - hochschule ; in weitestgehender Fassung, der Hochschule für alle. Man spricht auch von Erweiterung des Hoch - schulunterrichts (Extension of University Teaching), indem an - genommen wird, dass die Bewegung auf das genannte Ziel hin von den vorhandenen Hochschulen ausgehen müsse; wie es mit vielverheissendem Erfolg in England und Nordamerika geschehen ist. Man denkt sich, dass die alte Universitas litte - rarum zur wahren universitas, zu einem Mittelpunkt freier Bildungsarbeit für die Gesamtheit zu werden bestimmt sei. Auch wird nicht verkannt, in wie enger Beziehung diese recht eigentlich sozialpädagogische Bewegung zur konzentrativen Entwicklung der Wirtschaft und zur demokratischen Entwick - lung des öffentlichen Lebens steht. Die Zusammengehörigkeit217 und genaue Wechselbeziehung dieser drei Faktoren ergiebt sich klar aus unseren Grundsätzen, nämlich aus der notwendig parallelen Anwendung derselben drei regulativen Prinzipien (§ 18) auf die drei Grundrichtungen des sozialen Lebens und der sozialen Thätigkeit. Auf dieser Grundlage forderten wir bereits eine allgemeine, gleichheitliche Organisation des Haus - lebens in bildender Absicht, und einen nicht minder allgemeinen, nationalen Ausbau des Schulwesens. Die Analogie führt zwingend auf eine im gleichen Sinne nationale Gestaltung freier Bildungsorganisationen für die Erwachsenen, wie die Universitätsausdehnung in England und den Vereinigten Staaten sie deutlich anstrebt. Ein scharfsichtiger Soziologe*)F. Tönnies, Eth. Kultur 1894, Nr. 36, 37. Vgl. des Verf. Aufsatz Ueber volkstümliche Universitätskurse (Universitäts-Ausdehnung) , Acad. Revue, Jahrg. II, H. 23 / 24, Aug. -Sept. 1896, wo diese ganze Frage ein - gehend behandelt ist. sieht den Kern der merkwürdigen Bewegung in der Entstehung eines neuen weltlichen Klerus . Damit ist eben die Bedeutung der Sache treffend bezeichnet, auf die unsere allgemeinen Er - wägungen hinführen. Was anders hat der alte Klerus denn darstellen wollen als eine schlechthin universale Organisation der Fürsorge für das geistige Bedürfen aller, so wie man dies Bedürfen und diese Fürsorge auf der damaligen Stufe sozialer Entwicklung verstand und vielleicht nur verstehen konnte? Das unterscheidende Kennzeichen eines weltlichen Klerus aber läge, nicht eigentlich und ursprünglich in der Ablehnung des Uebersinnlichen, sondern in der Ueberwindung des Au - toritätscharakters der geistigen Fürsorge. Dieser folgt keineswegs aus der Voraussetzung des Uebersinnlichen an und für sich, sondern aus dem Anspruch einer bevorrechteten Klasse Geistlicher , im Besitz der allein wahren Erkenntnis des Uebersinnlichen und der nächsten, unmittelbarsten Beziehung zu ihm zu sein, was ja freilich, sofern man damit Glauben findet, die unüberwindlichste Autorität schaffen muss. Genau das ist es nun aber, was die moderne Entwicklung schlechter - dings ablehnt; was sie ablehnen muss, sogar vom religiösen Standpunkt selbst; denn gerade das Göttliche für den Menschen218 gestattet sie nicht mehr zu denken als Offenbarung an eine selbst bei der Gottheit privilegierte Klasse, sondern allein an den Menschen oder an die Menschheit. So lange allerdings die Religion selbst nicht mit Entschiedenheit diesen Standpunkt einnimmt, ist die freie Bildungsarbeit an den Erwachsenen schon gezwungen, sich völlig abseits der Religion auf den Boden der blossen Sittlichkeit zu stellen, d. h. die Religion zwar nicht abzulehnen, aber rein dem Gewissen des Einzelnen zu überlassen.

Und zwar nicht, um nun etwa irgend eine andre Auto - rität an deren Stelle zu setzen. Sie wird vielmehr demo - kratisch sein oder sie wird nicht sein. Sie wird sich in den wirtschaftlichen und politischen Kampf der gesellschaftlichen Klassen nicht mischen, aber das Befreiungsstreben der bisher am Leitbande der Autorität und des augenblicklichen rohen Interesses geführten Massen auch darin rein anerkennen. Welches auch die heutigen, vorübergehenden Formen jenes Kampfes sein mögen und welches seine Aussichten für eine nähere oder fernere Zukunft, unzweifelhaft bedeutet er für die unteren Klassen eine mächtige Aufraffung zu dem Mute eigener Besinnung und selbstthätigen Ringens um ein edleres, mensch - licheres Dasein. Keiner, der selbst in seiner Seele frei ist, kann darin je eine Gefahr erblicken. Wäre es aber eine, nun so gäbe es doch offenbar kein andres Mittel dawider, als dass man der geistigen Macht die stärkere geistige Macht, über die man zu verfügen meint, entgegenwirft. Man fasse immerhin die brennend notwendige geistige Erziehung der Völker als Kampf wider ihre gefährlichen Tendenzen auf; wird nur der Kampf mit Waffen des Geistes ausgefochten, so muss er zum guten Ende führen, gleichviel wer den Sieg behält. Trägt doch im geistigen Streit der Besiegte nicht kleineren Gewinn davon als der Sieger. So muss man denken wenn man die Wahrheit will und nicht die Macht um jeden Preis, auch um den Preis der Wahrheit.

Vielleicht werden Gutmeinende immer noch einwenden, dass wir in den alten Fehler fallen, von der Aufklärung des Verstandes allein alles zu erwarten; was doch durch viel -219 fältige Erfahrung als hoffnungslos erwiesen sei. Auch der Universitätsausdehnung ist das oftmals zum Vorwurf ge - macht worden, dass sie nichts als einseitige Verstandesbildung anzubieten habe.

Dem gegenüber wäre zuerst an den schon geführten Nach - weis zu erinnern, dass und weshalb die Schule und ihr wesent - liches Mittel, der Unterricht, sich unmittelbar nur an den Ver - stand wenden kann. Soweit die freie Bildung an dem Cha - rakter des Unterrichts teilnimmt, gilt das also auch von ihr. Aber, wenn überhaupt im Unterricht selbst ein Stück Er - ziehung liegt, so ist zumal jene Befreiung des Gedankens, auf die wir zielen, wahrlich auch eine sittliche Leistung. Sie be - deutet die Erziehung zur ersten aller Tugenden, der Tugend der Wahrheit.

Sodann aber ist es in der That nicht unsre Meinung, dass im blossen Unterricht die Erziehung der Erwachsenen sich erschöpfe. Was darüber hinaus notwendig und möglich und zwar in organisierter Art möglich ist, zeigt das Beispiel der nordischen Volkshochschule , die ihre Zöglinge für einige Wintermonate nicht zu blossem Studium, sondern zu einem vielseitig erziehenden, geordneten Zusammenleben in länd - licher Stille vereint. Ganz das Gleiche ist nun zwar für die grossen und beständig wachsenden städtischen Arbeitermassen, um die es sich heute und bei uns an erster Stelle handelt, nicht unmittelbar zu erreichen; auch darf man nicht darauf warten, dass die Bedingungen dafür etwa künftig einmal gün - stiger liegen. Aber etwas ganz Analoges ist denkbar, nämlich eine enge, geregelte Verbindung der freien Bildungsarbeit unter den Massen mit aller sonstigen Sorge für ihr leibliches und sittliches Wohl, und zwar unter möglichst starker Heran - ziehung zu eigener Mitthätigkeit. Auch diesen Weg hat man hier und da (z. B. in Ostlondon), wenn auch erst unsicheren Schritts, betreten. Man erkennt, dass gleichzeitig gesorgt werden muss für gesunde Wohnung, Ernährung, Krankenpflege, Spiel und edle Unterhaltung, geistige Fortbildung und Kunst - pflege unter den arbeitenden Klassen. Indem man sie so, nicht etwa zu gängeln, sondern gerade zur Selbständigkeit zu220 erziehen bestrebt ist, wird man von selbst dahin geführt werden, auch ihre wirtschaftlichen und politischen Bestrebungen unbefangener zu beurteilen. Man wird ja durch die Praxis selbst fort und fort darauf gestossen, wie dies alles unlöslich zusammenhängt. Und damit wird denn auch das gegenseitige Misstrauen, das bis jetzt für alles proletarische Bildungs - bestreben ein so schweres Hemmnis bildet, mehr und mehr überwunden werden. In solcher Verbindung aber wirkt dann der Unterricht nicht als blosse äussere Mitteilung von allerlei Kenntnissen und Fertigkeiten , sondern er wird (wie ich schon anderwärts gesagt habe) dem Arbeiter einen Lebens - inhalt geben, eine Philosophie der Arbeit, oder, wenn man will, eine Religion.

Also auch hier ist nichts von Grund aus Neues erst auf die Bahn zu bringen, sondern ein überall keimhaft schon vor - handenes Bestreben nur anzuerkennen und zu kräftiger Ent - wicklung zu bringen. Auch darf es nicht irre machen, dass das von heut auf morgen Erreichbare allerdings nur ein ärm - licher Notbehelf sein kann. Es verhält sich damit nicht anders als mit dem Kindergarten im Vergleich mit der an sich zu fordernden Gestaltung des Hauslebens und der Haus - erziehung: man darf das einstweilen Erreichbare um so weniger verachten, je sicherer eine allmähliche Ueberführung zu dem an sich zu erstrebenden Zustand sich als möglich erkennen lässt.

Das ferne Ziel aber, das uns vor Augen steht, ist: Ver - gemeinschaftung und damit Versittlichung des ganzen Lebens eines Volks. Das wirtschaftliche und politische Leben ist darin miteinbegriffen, doch so, dass es sich als bloss dienendes Mittel dem edleren Zweck einer reinen Entfaltung des Men - schentums unterordnet. Die gemeinschaftliche Bildungsarbeit würde dann zum natürlichen Ausfluss, zur selbstverständlichen Folge der Gemeinschaft des ganzen Lebens werden; es würde nicht, wie jetzt, eine trennende Kluft erst künstlich zu über - brücken sein, weil man sich von Anfang an auf gemeinsamem Boden fände.

Das Ziel ist also, mit andern Worten, das von Plato längst gezeigte: dass die Erziehung sich in den Dienst der221 Gemeinschaft stellt, das Leben der Gemeinschaft in seinen mancherlei Richtungen ganz der Erziehung dienstbar wird; dass alles zugleich, die wirtschaftlich-rechtliche Verfassung, eine sehr systematische Pflege der Wissenschaft, eine an wohler - kannte, zugleich sittlich zuträgliche Gesetze gebundene, nicht minder das ganze Leben der Gemeinschaft durchdringende, selbst zum Leben gewordene Kunst, und als Folge aus dem allen eine einstimmige Ordnung auch des häuslichen Lebens bis selbst zum Verkehr der Geschlechter und der Aufzucht der Kinder, zu einem und demselben Ende: der reinen Ge - meinschaft im Erkennen und Wollen des einen, ewigen Guten zusammenwirkt; so dass auch, wer nicht bis zur höchsten Stufe (der Philosophie , wie Plato sagt) durchdringt, doch durch den ganzen Zug des Lebens in solcher Gemeinschaft gleichsam mitfortgetragen und durch Sitte und richtigen In - stinkt zu einer Lebensführung geleitet wird, wie sie den höch - sten Zwecken der Gesamtheit entspricht oder doch nicht wider - spricht.

Was am Ideale Platos der Korrektur bedarf, ist schon gesagt: er hat die Bedeutung des wirtschaftlichen sowohl als des politischen Faktors des sozialen Lebens, namentlich an - fangs, nicht in vollem Umfang erkennen können. Zwar be - richtigt sich der Fehler zum Teil schon bei ihm selbst wieder; und Morus hat die nötige Korrektur mit sicherer Hand voll - zogen. Aber doch bleibt es nötig, auf diesen Fehler ausdrück - lich hinzuweisen, da das mittelalterliche Christentum, das unter uns ja immer noch über eine ungeheure Macht gebietet, ihn wiederholt und noch verschärft hat.

Ueberhaupt wird eine Auseinandersetzung mit der Reli - gion*)Vgl. Religion innerhalb der Grenzen der Humanität , bes. Kap. 5; und unten § 34. an dieser Stelle um so dringlicher, je sichtlicher sich unser Ideal mit ihren uralten Forderungen berührt. Die neue Bedeutung, die die Religion in den sozialen Kämpfen unsrer Tage unleugbar gewonnen hat, beruht vielleicht gar nicht auf einer wirklichen religiösen Erneuerung, von der man doch222 sonst so wenig spürt, sondern auf der wachsenden Erkennt - nis eben der sozialen Bedeutung dieses zeitweilig allzu sehr vernachlässigten Faktors. Diese Bedeutung glauben wir aus dem Zusammenhang unsrer Grundanschauungen vom sozialen Leben klar zu verstehen. Jene vollendete Gemein - schaft, die wir als Ziel aufstellen, ist ein so unendliches Ideal wie die ewige Wahrheit. Und weil sie nun hienieden stets unerreicht bleibt, so hat sie die suchende Phantasie der Völker wie einzelner tief angelegter Menschen stets wieder, sei es in ein überweltliches Jenseits geflüchtet, oder in einen unmessbar fernen idealen Endzustand des Menschengeschlechts hier auf Erden hinausgeschoben. Die Wissenschaft bescheidet sich, dass sie vom Jenseits nichts zu sagen hat, und auch ein Ziel unsres Erdenwallens, im Sinne eines mit Sicherheit ein - treffenden herrlichen Endes der menschheitlichen Entwicklung nicht zu errechnen vermag. Aber die Richtung des vom ge - gebenen Punkte an einzuschlagenden Weges getraut sie sich wohl anzugeben. Auch das Ziel ist sie imstande zu bestimmen, obwohl nur in einer allgemeinen Formel, nur als Idee , d. i. als bloss gedanklichen Richtpunkt zur Orientierung auf der unendlichen Bahn endlicher Erfahrung. Sie begreift, dass dies Ziel auf keiner gegebenen Stufe menschlicher Entwicklung schlechthin erreicht auch nur gedacht werden darf. Und so besteht die Aufgabe der Erziehung immer fort, wie für den einzelnen Menschen, so für die Menschheit im Ganzen. Auch mit allen jenen ineinandergreifenden Mitteln sozialer Erziehung, die wir der Reihe nach erwogen haben, kann nichts Andres erreicht werden als ein ungehemmtes Fortschreiten; nie ein Stillstand beim erreichten Ziel. Das ist aber dem Sinne der Religion ganz entgegen; sie lechzt nach etwas, wobei man sich, wenigstens im Gedanken, beruhigen könne; was nicht immer wieder unser sehnsüchtiges Verlangen täuscht. Sie möchte dem tausendfältig in die Irre getriebenen Menschen - geist ein seliges Genügen verschaffen, einmal für ewig; nicht ihn rastlos immer wieder aufs neue hinaustreiben zu fernerem und fernerem Suchen nach etwas, das, so scheint es, doch ewig unfindbar bleibt.

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Von diesem sehr bestimmten Unterschied abgesehen, der den alten Gegensatz von Wissen und Glauben , wie wir meinen, aufzuhellen imstande ist, muss man doch anerkennen, dass in der Geschichte des Menschengeschlechts die reli - giösen Gemeinschaften allein dem, was wir fordern, einigermaassen nahe gekommen sind; näher zwar in dem, was sie sein wollten, als in dem, was sie thatsächlich waren. Religion hat doch das hohe Ideal einer wahrhaften, auf den innersten Grund der Gesinnung zu bauenden Gemeinschaft, einer wah - ren geistigen Einheit sogar des ganzen Menschengeschlechts, einer teleologischen Einheit auch der Menschheitsgeschichte von An - beginn an, in kühnem Glauben aufgestellt. Sie hat fest darauf ge - traut, dass jenes überirdische Reich einer durch nichts mehr zu trübenden seelischen Gemeinschaft kommen müsse, und dass jeder ohne irgendwelche Ausnahme zum Bürger dieses Reiches berufen sei. Sie hat das in grossen Zügen sogar zu verwirk - lichen unternommen; aber freilich in jener unhaltbaren Los - lösung des höchsten geistigen Seins des Menschen von den sinnlichen Triebkräften seines Daseins hienieden, folglich vom wirtschaftlichen, vom staatlichen Leben, von freier Natur - erforschung und selbständig, human begründeter Sittlichkeit. Sie hat deshalb am modernen, freier entfalteten Kulturleben scheitern müssen, oder doch sich nur durch offenbares Preis - geben ihres eigentlichen Kerngedankens damit äusserlich ab - zufinden vermocht. Jeder Versuch, den neuen Most in diese alten Schläuche zu füllen, führt, so fürchte ich, vom klaren Wege ab.

Somit ist es allerdings nicht mehr als allein die letzte Idee, in der wir mit ihr noch zusammenhängen; das sei, um auch nicht den Schatten des Verdachts einer unlauteren Ac - commodation aufkommen zu lassen*)Wie sie in meiner früheren Schrift, zu meiner Verwunderung, von Julius Baumann gefunden werden konnte (Göttinger Gel. Anz. 1894, S. 689 f.). Dagegen ist einem anderen Kritiker, Jul. Duboc, (Zukunft, Bd. VIII, S. 270) als das Merkwürdigste an der Schrift gerade die Rück - haltlosigkeit erschienen, mit der sie von der Kirche selbst den Verzicht auf das Dogma zu fordern wagt., ausdrücklich gesagt. 224Vielmehr mitten aus diesem weltlichen Leben, aus Wirt - schaft und Staat, kurz aus dem befreiten Menschheits - gefühl soll, unter dem wachsenden Einfluss menschlicher Wissen - schaft und menschlicher Arbeit, das vertiefte Bewusstsein und die energische Bethätigung der Gemeinschaft erstehen; soll ein Gemeinleben sich gestalten, das in wirtschaftlich-rechtlicher Gemeinsamkeit nicht aufgeht, sondern auf ihrer Grundlage das ganze geistige Dasein des Menschen umspannt. Aber vielleicht wird eben damit das Leben der Gemeinschaft von selbst einen religiösen oder dem religiösen nächstverwandten Zug annehmen. Es braucht der Glut und Tiefe des Gefühls, nämlich des Menschheitsgefühls, des Unendlichkeitsgefühls, keines - wegs zu entbehren; es mag darin selbst einen neuen Mittel - punkt finden, in dem es geborgen ruht sofern dem Menschen ein Ruhen gestattet ist. Denn der Mensch lebt nicht von der Vernunft allein; das unmittelbarere Leben des Gefühls fordert auch sein Recht und wird es sich immer zu schaffen wissen. Nur muss der Vernunft die Leitung und gleichsam die oberste gesetzgebende Gewalt im Menschenleben unbedingt verbleiben. Dafür wäre aber unter den gedachten Voraussetzungen die Gewähr gegeben.

Es ist keine Botschaft vom Himmel, die wir zu verkünden kommen; weder die alte noch etwa eine neue. Sondern es ist, was aus der Entwicklung der Menschheit hier auf Erden als Idee längst geboren, was von vielen der besten unsres Ge - schlechts als Ziel bereits genannt und herbeigesehnt worden ist. Und so bedarf es auch keiner Wunder und Zeichen aus einer andern Welt, um das Ziel in dieser Welt verwirklicht darzustellen. Sondern es bedarf nur des einzigen mutigen Entschlusses der Menschheit, rein ihrer Menschenvernunft zu folgen: Sapere aude!

§ 23. Form der willenbildenden Thätigkeit. Uebung und Lehre.

Wir haben die Organisationsformen dargelegt, in welche alle Arbeit an der Erziehung des Willens sich einfügen muss. Es bleibt übrig, das Besondere der Erziehungs -225 arbeit, wie sie innerhalb jener Organisationen und unter ihrer fortwährenden Einwirkung, aber unmittelbar durch Einzelne an Einzelnen vollbracht wird, zu erforschen und unter allgemeine Gesetze zu bringen. Und zwar fordert zuerst die Form der willenbildenden Thätigkeit eine eigene Untersuchung. Es fragt sich, in welcher allgemeinen Art vollzieht sich die Erziehung des Willens, was ist das Allgemeine des Thuns hierbei, von seiten des Erziehers und von seiten des Zöglings?

Auf diese Frage hat man seit alter Zeit geantwortet mit der Aufstellung der drei Grundfaktoren der Erziehung: erstlich der Natur oder Anlage des Zöglings; diese nimmt man als gegeben an; zweitens der Uebung, und drittens der Lehre. Dass von den letzteren beiden die Uebung, das unmittelbare Thun, vorangehen muss und durch die nachfolgende Lehre nur zum Bewusstsein ihrer selbst und damit zu grösserer Sicher - heit und geregelterem Fortschritt gebracht wird, ist längst erkannt und mit allem bis hierher Bewiesenen in klarem Ein - klang. Soll das Thun, ja das Wollen gelernt werden, so muss der Wille und die That erst einmal wagen sich einzu - setzen, dann erst kann die Lehre wirksam eingreifen; nur so ist es praktische Lehre, Lehre des Thuns, des Wollens selber. Sie wird selbst nur wollend begriffen, also muss man zu diesem Wollen schon vorbereitet sein; nur so kann sie dann umgekehrt das Wollen befestigen und vertiefen. Andernfalls mehrt sie nur den unnützen Ballast eines Wissens, das man mitschleppt, ohne es in Fleisch und Blut zu wandeln. Umgekehrt kann das Thun, und zwar von Anfang an, des Lichtes der Einsicht nicht entbehren, wenn es nicht auf Schritt und Tritt ins Un - sichere tappen und sein Ziel verfehlen soll.

Beide aber, Uebung und Lehre, müssen sich, wenn sie er - ziehend wirken sollen, in einem und demselben Elemente der Gemeinschaft verbinden. Nur in ihr wird das erziehende Thun und Ueben eingeleitet, und geht dann die Lehre daraus zwingend hervor. Das Zusammenthun fordert gegenseitige Ver - ständigung des Voranschreitenden und Nachfolgenden, die durch die gute Gewohnheit, über den zu gehenden Weg voraus Klarheit zu suchen, schrittweis zur Verständigung mit sich selbst undNatorp, Sozialpädagogik. 15226damit zum eigentlichen Ursprung eines gebildeten Willens führt. Gemeinschaft ist das Element der erziehenden Uebung und Lehre in formaler Hinsicht, ebenso wie sie material das Werk darstellt, das durch die erziehende Uebung und Lehre schrittweis der Vollendung entgegengeführt wird.

Hieraus lässt nun das, worauf wir ausgehen, die Form der willenbildenden Thätigkeit, also der erziehenden Uebung und Lehre, sich ableiten. Uebung im praktischen Sinne ist jedes erziehende, gemeinschaftliche Thun, praktische Lehre die er - ziehende Verständigung der so Thätigen über dieses ihr Thun. Dass aber beides erziehend, d. h. willenbildend sei, dazu sind die bekannten drei Stücke erforderlich: es muss zunächst das Interesse angeregt, die erst dämmernd sich entwickelnden Trieb - kräfte durch Aufforderung, Reizung, Angebot geeigneter Ob - jekte in Bewegung gesetzt, wie durch Anruf aus dem Schlummer geweckt; zweitens dem erwachten, zur Bethätigung drängenden Trieb die Einheit der Richtung, die Zielsicherheit, Sinn und Bedürfnis nach Regel und Gesetz eingeprägt werden; und eben damit drittens dem nunmehr bewussten Thun auch die Richtung auf durchgängige Einheit des Zieles, das Selbst - bewusstsein der Idee aufgehen. Damit wäre das Werk der Erziehung vollendet, indem fortan der zur Freiheit entlassene, selbstbewusste Wille die rechten Wege sich selber vorzeichnen würde, ohne des Führers zu bedürfen. Das Lernen und Fort - schreiten hört zwar nie auf, aber die Belehrung und Leitung durch Andre wird Selbstbelehrung, Selbstleitung.

Dies Dreifache nun gestaltet sich in der Gemeinschaft des Lehrenden und Lernenden, indem diese ganz in derselben Stufenfolge sich entwickelt und successiv vertieft. Die erste Stufe ist die der sinnlichen Abhängigkeit, in der sich die leicht bewegten, ihrer selbst kaum bewussten Triebe in enger An - schmiegung an den Willen des Führenden noch wie weiches Wachs biegen und formen lassen. Hier geht die Gemeinschaft noch völlig auf im unmittelbarsten, zartesten gegenseitigen Mitempfinden, wie zwischen Mutter und Säugling. Im Momente ihrer reinen Gegenwart ist ihr Einfluss fast allmächtig; sie würde sich dagegen zu einer nachhaltigen, auch in die Ferne227 wirkenden erzieherischen Kraft nicht emporbilden, wenn nicht mit wachsender Bewusstheit eine neue, anders geartete Be - ziehung sich bildete, die erst zu einem eigentlichen Mit - einanderwollen führt. Hier ist schon ein freieres Verhält - nis auf sich gestellter Personen, und anfangs überwiegt weit der Drang der Selbständigkeit. Das ist nun die eigentliche Krisis der Erziehung, dass jetzt der erstarkende Wille, ohne seiner Eigenheit verlustig zu gehen, ja gerade im vollberechtigten Drang nach Selbständigkeit, doch festen Halt findet an einem überlegenen Willen, dessen sicherer Führung er sich in freier Zuversicht und nicht mehr blosser sinnlicher Gebundenheit ver - trauen kann; der, in dem Maasse, wie die nächsten, sinnlichen Bande sich lockern, scheinbar durch das lose luftige Wort die jugendliche Kraft zu zügeln und in die rechten Bahnen zu lenken weiss. Die Aufgabe ist indessen nicht so schwer, wie sie in abstrakter Betrachtung erscheinen kann. Die sinnliche Abhängigkeit reisst doch nicht plötzlich ab, sie hört in der That nie ganz auf, sie lockert sich nur, indem schrittweise die Kraft des Selberwollens erstarkt. Und dann bildet sich, zu - gleich mit dem Bewusstsein der Selbständigkeit des eigenen Wollens, normalerweise das Verständnis für ein ebenso selb - ständiges Wollen des Andern; das Selberwollen erstarkt am Mitwollen des Andern und mit dem Andern, und so entsteht, während die erste Art der Gemeinschaft zurücktritt, aber keineswegs verschwindet, zugleich eine neue, freiere und weitere, aber desto gesetzmässigere, gesetzbewusstere Gemeinschaft. Es ist jener natürliche Gemeingeist, wie ihn jede Schule oder Schulklasse, die in gutem Zuge ist, deutlich erkennen lässt. Und damit ist dann auch der beste Grund gelegt für das dritte: für eine solche Gemeinschaft der Willen, die auf reiner gegenseitiger Verständigung, also nicht auf Mitempfindung allein und dem Formalen des Mitwollens, sondern auf Mit - vernunft, auf der gewinnenden Kraft der Ueberzeugung ruht. Das aber ist die eigentlich erziehende Kraft des selbst - bewussten, sittlichen Wollens. Die Macht der Vernunft über den Willen erscheint nur dann, und ist in der That, schwach, wenn sie losgerissen von den beiden ursprünglicheren Trieb -228 kräften der Willenserziehung, Mitempfinden und Mitwollen, ins Spiel gesetzt werden sollte; findet sie dagegen durch diese den Boden schon bereitet, so kommt keine der andern Kräfte an nachhaltiger Wirkung ihr gleich. Diese Stufe muss erreicht werden, wenn die Wirkung der Erziehung nicht bloss für die Zeit ihrer eigenen Dauer, sondern fürs Leben vorhalten soll. Jene beiden ersten Stufen reichen allenfalls nur fürs Haus und die Schule aus. Und auch da wird die Kraft der Ver - nunft leicht unterschätzt; weil der erwachende Freiheitssinn des Heranwachsenden sich gerade gegen den aufdringlichen Einfluss des Erziehers leicht auch da sperrt, wo er vernünftigen Gründen Gehör geben sollte. Der gleichstehende und sich gleichstellende Kamerad, aber auch der Vater, der Lehrer, der es versteht, dem Heranreifenden ein solcher Kamerad zu werden, wird durch überlegene Vernunft leicht eine fast unbestrittene Herrschaft üben.

So gestaltet sich der formale Gang der Erziehung in der ganzen Uebersicht. Aber auch wiederum jeder Einzelakt des erzieherischen Zusammenwirkens lässt sich in dieselben drei Schritte zerlegen; wir nennen sie: Vorthun, Mitthun, Nach - thun. Das erste, was dem Erzieher obliegt, ist auch im einzelnen überall das Interesse-wecken, das zur Nachahmung reizende Beispiel oder Vorbild, das Zeigen und Vormachen. Es folgt das Wachen über das eigene Thun des Lernenden und unmittelbar eingreifende Nachhelfen; endlich das Nach - prüfen und Nachthun des Zurückgebliebenen; ein neues Zeigen, aber unter veränderten Bedingungen, daher mit andrer Wir - kung. Durch den eigenen Versuch, auch wenn er missglückte, ist die Aufmerksamkeit ganz anders rege geworden, als zu Anfang, und die Kräfte vorbereiteter, nunmehr in der rechten Art einzugreifen. So stellen diese drei Stufen des Zusammen - thuns einen natürlichen Kreislauf dar, der sich auf immer höherer Stufe wiederholt und so einen andauernden, streng gesetzmässigen Fortschritt ermöglicht. In denselben drei Stufen gliedert sich denn auch die Mitthätigkeit des Lernenden. Sie beginnt mit dem noch fast passiven Merken auf das Vorgethane. Es ist allerdings nicht ein blosses uninteressiertes Beobachten,229 sondern ein mehr und mehr interessiertes, endlich bis zum Willensentschluss sich interessierendes. Auf zweiter Stufe ver - knüpft sich mit dem Wagnis des Selberthuns vielleicht anfangs noch ein ängstliches Ausschauen nach Hülfe, dann, indem vom ersten kleinen Erfolg an der Mut wächst, wird die Hülfe und das Ausschauen nach ihr mehr und mehr verworfen, bis es schliesslich Ueberwindung kostet, sie überhaupt anzunehmen. Umso mehr will auch das dritte gelernt sein: dass man sich geduldig der Kritik unterzieht und zum Bessermachen des Verfehlten willig ist. Das Ziel ist, dass man selbst an der eigenen Leistung Kritik üben, sich selber unbefangen beurteilen und berichtigen lernt. Es sind die wesentlichen Momente der Lehrfähigkeit von seiten des Erziehenden, der Gelehrig - keit von seiten des Zöglings, nämlich insofern beides, das Lehren wie das Lernen, am Willen liegt. Durch sie werden die drei Grundfaktoren des Wollens: Trieb, Zielsetzung und praktische Selbsterkenntnis, im geregelten Fortgang der Er - ziehungsarbeit fortwährend in Uebung gesetzt und also entwickelt.

So also vollzieht sich in fortschreitender Vertiefung und Erweiterung der praktischen Aufgaben der sichere Fortschritt von der Heteronomie zur Autonomie. Besonders im beurteilenden Rückblick auf das Gethane weitet und klärt sich schrittweis die Absicht selbst; die Unzufriedenheit mit dem Geleisteten wird zum immer schärferen Sporn des Fort - schreitens. Daraus allenfalls erklärt sich das oft übertriebene Gewicht, das man in der Willenserziehung aufs Bereuen ge - legt hat. Der positive Sinn dieser Unzufriedenheit ist aber, dass man sich der Unendlichkeit der Aufgabe des Sitt - lichen bewusst wird. Dies Bewusstsein aber ist auch wieder erhebend: es wächst der Mensch mit seinen grössern Zwecken ; und es giebt kein höheres Menschenglück, als solches Wachs - tum zu spüren.

§ 24. Autorität und ihre Hülfsmittel.

Der dargelegte formale Stufengang der Erziehung des Willens bietet die Grundlage der Verständigung über einige230 Begriffe, deren Behandlung man in einer irgend vollständigen Theorie der Willensbildung jedenfalls erwartet, da sie in der bisherigen Pädagogik des Willens eine fast unbestrittene Führerrolle gespielt haben: der Begriffe von Befehl und Gehorsam, geübter und empfundener Autorität, als Helfern der Willenserziehung, und ihren Helfershelfern Lob und Tadel, Lohn und Strafe. Oft genug hat man darin fast das Ganze der Willensbildung in formaler Hinsicht gesehen. Die Geschicklichkeit zu befehlen und Gehorsam zu finden, Autorität zu gewinnen und zu behaupten, Lob und Lohn, Rüge und Strafe wirksam auszuteilen, gilt als die eigentliche Haupttugend des Erziehers, und ein gefügiges Verhalten des Zög - lings dagegen als seine Haupttugend, als sicherstes Kennzeichen des Wohlerzogenen. Und doch ist offenbar, dass das Leben des Erzogenen im Gehorchen, im blossen Wollen dessen, was ein Andrer vorgewollt hat, nicht aufgehen kann, sondern vor allem die Fähigkeit erfordert, selbst zu wollen und recht zu wollen, ohne dass einer es vorgemacht hat. Vielleicht erklärt sich diese übertriebene Schätzung der Autorität aus der schon bemerkten Eigenheit der zweiten, für die Thätigkeit des Er - ziehers, besonders in der Schule, wichtigsten Erziehungsstufe: dass, nachdem das eigene Wollen einmal erwacht ist, zunächst naturgemäss der Trieb vorwaltet, sich vom Willen des Andern, zumeist von dem so anspruchsvollen Willen des bestellten Erziehers loszumachen, während doch dem eignen Wollen noch die Kraft fehlt, auf sichere Leitung verzichten zu können. Da sieht denn der Erzieher leicht nur das Eine: dass er die Zügel der Regierung fest in den Händen halten muss, und er - kennt darin seine nächste, wenn nicht seine einzige Aufgabe, was die Leitung des Willens betrifft.

Seine Aufgabe ist es ohne Zweifel. Der Wille des Zög - lings muss geleitet werden, so lange er nicht sich selber leiten kann. Es muss der Begriff einer Verpflichtung gewonnen werden, der man unterliegt auch ohne eignes Wollen und Verstehen. Aeussere Regelung ist unerlässlich notwendig in jedem menschlichen Zusammenwirken; und es ist notwendig sich in den Zwang äusserer Ordnungen frühzeitig zu gewöhnen. 231Diese Eingewöhnung ist, wie wir durchweg anerkannt haben, sogar ein wesentlicher Faktor der Willenserziehung, und zwar der beherrschende auf einer bestimmten mittleren Stufe zwischen sinnlicher Abhängigkeit und sittlicher Freiheit, reiner Hetero - nomie und reiner Autonomie.

Das dürfte das Zutreffendste sein, was zu Gunsten der Notwendigkeit äusserer Autorität, also auch wohl der äusseren Mittel, die man zu ihrer Aufrechthaltung ins Spiel setzt, ge - sagt werden kann: dass ein Bewusstsein der Verantwortlichkeit nicht nur gegen sich selbst, gegen das Gesetz in der eignen Brust, sondern auch nach aussen, gegen den Andern, gegen das Gesetz der Gemeinschaft, in der man lebt, dadurch geweckt wird. Das ist in der That so wichtig, dass man voraus - gesetzt es sei durch die gedachten Mittel und nur durch sie zu erreichen selbst einigen Schaden in andrer Absicht da - gegen in den Kauf nehmen müsste. Der Erzieher darf vom Zögling verlangen, dass er das und das thut, er ist es schuldig, nicht bloss sich selbst; es geht nicht ihn allein, sondern auch den Andern an, wenn er es unterlässt oder Gegenteiliges thut; es bleibt ihm alsdann etwas gutzumachen. Auch genügt dazu nicht irgend eine aus freiem Ermessen etwa übernommene Leistung, geschweige gute Worte und gute Miene zum bösen Spiel, wie das Kind so gern glaubt, sondern der, dem es ver - antwortlich ist, hat zu bestimmen, was zum Gutmachen hin - reiche, er hat nach dem Grundsatz des Gleich um Gleich über den Schuldigen auch gegen seinen Willen zu verfügen. Das alles hat Sinn und Wert, und wenn es dem hartnäckig Widerstrebenden oder auch nur Schwerfälligen hin und wieder etwas derb zu Gemüte geführt werden muss, so ist das viel - leicht zu bedauern, aber nicht zu ändern, und dient schliess - lich zu seinem eignen Besten. Aus solchen Gründen ist die Strafjustiz in der häuslichen und Schulerziehung ebenso wie in der grösseren Erziehung der bürgerlichen Gemeinschaft un - entbehrlich und heilsam.

Aber zum wenigsten muss man sich klar machen, dass die rohen sinnlichen Mittel, die dem Erzieher so be - quem sind, die beabsichtigte Wirkung fast sicher ver -232 fehlen, und dass sie dabei das ganze Verhältnis zwischen Erzieher und Zögling zu trüben und auf ein niederes Niveau herabzudrücken drohen. Alles kommt doch darauf an, dass der Begriff gewonnen wird: ich habe eine Forderung an dich, die irgendwie eingelöst werden muss. Wo das nicht er - reicht wird, sind alle drastischen Mittel der Zucht vergeblich; gerade die drastischen Mittel aber verfehlen diese Wirkung am sichersten, weil sie allem Begriff gar zu fern stehen. Ihr Sinn wird nicht verstanden, die Strafe wird ganz anders ge - nommen, als sie gemeint ist. Das Kind versteht am Ende nur: man ärgert sich gegenseitig, und der Stärkere behält die Oberhand. Das wird im Eifer, das Haus - oder Schul - regiment aufrechtzuhalten, leicht übersehen. Man nimmt den sichtlichen Erfolg der augenblicklichen Bändigung der Wider - spänstigkeit für einen Sieg der Erziehung, zu dem so viel ge - hört und der sich so schwer beurteilt; während thatsächlich die Gemeinschaft zwischen Erzieher und Zögling einen Riss bekommt, dessen Fortbestand alle weitere Mühe der Erziehung vereiteln kann.

Der Hauptfehler liegt darin, dass man, zufrieden mit dem augenblicklichen Erfolg, den Widerstand des Zöglings zu brechen und sein äusseres Thun in die Richtung zu zwingen, die man für notwendig hält, das Wesentlichste von allem, wodurch allein auch das Thun dauernd gesichert wird, näm - lich das eigene Wollen und Einsehen, nicht nur zu wecken versäumt, sondern durch sein blindes Dreinfahren geradezu verhindert. Verpflichtung besteht auch ohne Einsicht und Willen des Verpflichteten. Aber dennoch hat man, wo es sich um Erziehung handelt und nicht um blosse Regierung, die aufs Erziehen verzichten zu können meint, durchaus Unrecht nicht auf Einsicht und Willen, sondern lediglich auf Durch - setzung der Forderung hinzuwirken. Gerade der echte Sinn von Autorität und Gehorsam wird damit verkannt. Ge - horsam ist allerdings notwendig, aber er ist auf keiner, auch nicht auf der untersten Stufe der Erziehung identisch mit Willenlosigkeit, mit Verzicht auf eignen Willen. Er bedeutet im Gegenteil den allgemeinen Willen, seinen Willen im233 Besondern dem des Führenden, weil Besserwissenden, unterzuordnen. Das ist der allein achtbare Grund der Auto - rität: die Anerkennung, dass der Führer besser bekannt sein muss mit dem Weg, den man zu gehen hat. Dies Zutrauen ist vom Geführten, so lange er selbst des Weges unkundig ist, allerdings zu verlangen, anders könnte er auch nicht zu der Höhe geführt werden, von der er den Weg überschauen und so lernen kann, sich künftig selber zu führen. Wie aber ist diese Autorität zu gewinnen? Dadurch allein, dass der Geführte in der Führung selbst deren Richtigkeit verspürt, nämlich am Erfolg, am eigenen Fortschreiten sie unwider - sprechlich erfährt. Ohne das ist keine Autorität rechtmässig begründet oder zu erzwingen. Das aber gelingt nur im ge - meinsamen, von Anfang an als gemeinsam bewussten Thun, wie es oben geschildert wurde. Durch abstrakte Lehre kann die Ueberzeugung, dass man Gehorsam schulde, nicht ein - gepflanzt werden, oder höchstens eine solche abstrakte Ueber - zeugung, die neben dem Thun hergeht, eine Ueberzeugung in thesi, aber nicht in praxi.

Dasselbe gilt von den besonderen Mitteln der Autorität, Lob und Tadel, Lohn und Strafe. Die einzig klare Grundlage dafür ist das, sei es begleitende oder nachfolgende, Urteil: dies ist recht gethan, das verkehrt. Aber schon dies Urteil, im Munde des Erziehers, ist ohne Wert und Wirkung, wenn es nicht eben das ausspricht, was der Zögling, erst einmal auf - merksam gemacht, sich selber sagen muss; wenn nicht das Urteil in seinem eigenen Gefühl so vorbereitet ist, dass eben bloss die Bestätigung des Führenden hinzuzukommen braucht, um es zur ganzen Festigkeit der Ueberzeugung in ihm zu bringen. Das ist zugleich der Weg, das Selbsturteil im Zög - ling so zu entwickeln, dass es endlich ganz an die Stelle des fremden Urteils treten kann. Die blosse autoritative Erklärung dagegen, der die eigene Einsicht des Zöglings gar nicht ent - gegenkommt, wirkt in erzieherischer Hinsicht nichts oder Ver - kehrtes. Vollends der ganze Gefühlsbeisatz, Scham und Stolz, Erhebung und Erniedrigung ist, wenn auch kaum ganz vermeid - lich, doch wahrlich nicht zu suchen und gar durch künstliche234 Mittel zu verstärken; er stört weit mehr als er fördern kann. Man sollte dabei nie verweilen, sondern sogleich zum Berichtigen des Verfehlten, oder andernfalls zu neuen, grösseren Aufgaben übergehen. Dann würde bald erreicht sein, dass Lob und Erhebung genug das einfache Fortschreiten, Tadel und Er - niedrigung die Notwendigkeit des Nocheinmalmachens ist. So wäre dem Ueber - und Untermut zugleich gewehrt; der Wille übernimmt das Steuer, und der Gefühlssturm hat zu schweigen. Jedes Lob also und jeder Tadel ist vom Uebel, ist ein un - gerechtes Spiel mit der Seele des Kindes, dessen klares, von ihm selbst anerkanntes Ziel nicht das Bessermachen ist. Die Sache teilt Lob und Lohn, Tadel und Strafe aus mit einer unerbittlichen Gerechtigkeit, wie der gerechteste Erzieher es nicht vermag; er bescheide sich also, allein die Sache reden zu lassen.

Insbesondere ist jedes neben der Sache hergehende Be - lohnen und Strafen verfehlt. Die unerbittliche Klarstellung: das ist recht gethan, das verkehrt, und die daraus folgende Pflicht, das Verfehlte zu bessern, im Rechten fortzuschreiten, muss an sich genügen. Entweder das Kind begreift das und hört nur ausgesprochen, was sein eigenes Bewusstsein ihm bestätigt; dann bleibt für Lob und Lohn, Tadel und Strafe eigentlich nichts Ernsthaftes mehr zu erreichen übrig. Auch nicht, was man so gern vorwendet, das tiefere Haften im Gemüt. Das wird nur in künstlicher, äusserlicher, in der That sehr unsicherer Weise erreicht. Die Eindrücke augen - blicklicher Gefühlsstürme haften weit weniger als man denkt; während die Erprobung der gewonnenen Erkenntnis im ent - schlossenen neuen Thun sie bald zu unverlierbarer Festigkeit erstarken lässt. Oder aber, der Sinn und Grund der Strafe oder Rüge wird nicht begriffen, ja vielleicht bäumt sich das Gefühl des Gestraften oder Getadelten mit mehr oder weniger Recht dawider auf; und das ist ja der Fall, wo man Rüge und Strafe ins Ungemessene zu steigern pflegt. Aber nur desto mehr verfehlt sie dann ihren Zweck. Man bricht viel - leicht den Trotz, aber pflanzt keinen besseren Willen. Und wahrscheinlich bricht man auch den Trotz nicht, sondern er -235 höht ihn vielmehr und drängt nur seine offene augenblickliche Aeusserung zurück, untergräbt seine Ehrlichkeit, was wahrlich nicht einen Sieg, sondern eine vielleicht nicht wieder zu verwindende Niederlage der Erziehung bedeutet; denn nun findet die weitere Erziehung erst recht jeden Zugang zum Gemüt des Zöglings versperrt.

Ueber die besondere Frage der körperlichen Züchtigung habe ich mich anderwärts*)In der Monatsschrift Die deutsche Schule , her. v. Rob. Rissmann, Berlin, Leipzig u. Wien, Klinkhardt, 1. Jahrg., 5. u. 6. H., S. 271, 344; wo auch allgemeinere, die Schulstrafen betreffende Fragen berührt werden. ausführlich geäussert; hier genüge es, die Leitsätze zu wiederholen. Die körperliche Züchtigung ist unter den gegebenen Verhältnissen, besonders in den Schulen, schwerlich ganz zu entbehren; auch wäre es zu viel gesagt, dass sie unter allen Umständen verwerflich sei. Aber sie hat an sich keinerlei erziehenden Wert; sie kann bestenfalls im gegebenen Augenblick der kürzeste und bequemste Weg sein, Ordnung und Frieden, die unerlässlichen Voraussetzungen jeder unterrichtlichen und erziehenden Thätigkeit, rasch und durch - greifend wiederherzustellen. Schon bei der geringsten Ueber - schreitung der feinen Grenzen ihrer Zulässigkeit aber wirkt sie in erzieherischer Hinsicht überaus schädlich; daher sollte man stets dahin streben, sie ganz entbehren zu können. Es ist hier nicht die Rede von den einfachen Mitteln eines gelinden, auf die Aufmerksamkeit geübten physischen Zwanges, welche das Gemüt des Zöglings kaum berühren und das herzliche Verhältnis zum Erzieher keinen Augenblick zu trüben brauchen. Das fällt überhaupt nicht unter den Begriff der Züchtigung. Ohne Einschränkung zu verwerfen ist dagegen die gewöhnlichste aller Wirkungen der körperlichen Züchtigung, die durch die einfache Furcht vor dem sinnlichen Schmerz. Das Kind soll den Schmerz nicht fürchten; ist es abgehärtet, so darf diese Wirkung gar nicht eintreten. Aber man erwartet, man verlangt sie von ihm; damit erzieht man es zur Feigheit. Nachdem dies von der Theorie seit Jahrhunderten gepredigt worden ist, ziehen sich neuere Verteidiger der körperlichen Strafen meist dahin zurück, ausschliesslich die feinere Wirkung236 durch das Ehrgefühl geltend zu machen. Aber, wo ein einigermaassen empfindliches Ehrgefühl überhaupt vorhanden ist, da giebt es andere Mittel darauf zu wirken, und ist diese Wirkung wahrscheinlich schon zu scharf; sie erniedrigt den Zögling vor sich selbst in einer Weise, die es ihm schwer macht, sich wieder zu erheben. Wo dagegen das Ehrgefühl nicht vorhanden oder nicht genügend empfindlich ist, da ver - fehlt die Strafe nicht bloss ihren Zweck, sondern sie trägt zur weiteren Abstumpfung des Gefühls bei. Man gewöhnt sich an die Beschämung, und es bleibt nur die jedenfalls schädliche Wirkung durch die Furcht. Beide Arten der Wirkung körper - licher Strafen haben das gemein, dass sie das herzliche Ver - hältnis zwischen Erzieher und Zögling, wenn es je vorhanden war, empfindlich stören, vielleicht ganz zunichte machen. Ein - schüchterung durch Gewaltthat und Beschämung sind einmal nicht die tauglichsten Mittel, das Herz eines Menschen zu ge - winnen. Alle repressiven Mittel der Erziehung müssten doch vor allem dahin streben, die günstigsten Voraussetzungen für eine nachfolgende positive Einwirkung herzustellen; durch Ein - schüchterung aber und Beschämung zieht man dieser nach - folgenden positiven Wirkung gerade allen Boden unter den Füssen weg. Man giebt damit das Kind aus der Hand, man weist es geradezu an, sich in sich zu verschliessen, der Leitung des Erziehers vielleicht äusserlich bis zur Vermeidung groben Kon - flikts zu folgen, aber innerlich sich ihr desto mehr zu entziehen.

Es giebt, bei dieser wie jeder andern Art der Züchtigung, nur einen Weg, der die letztere, vielleicht ernsteste Gefahr sicher vermeidet: die Züchtigung muss als reiner Ausfluss der Liebe und des sittlichen Ernstes des Erziehers vom Zögling verstanden werden. Das ist an sich möglich; und wo es so ist, da mag im gegebenen Fall die körperliche Züchtigung immerhin gewagt werden. Aber man muss wissen, dass sie selbst dann noch ein gewagtes Mittel bleibt. Die Voraussetzung ihrer Zulässigkeit ist, dass durch das ganze bisherige Verhalten des Erziehers die Ueberzeugung von seiner Liebe und das Zu - trauen zu seiner Führung im ganzen zu unerschütterlicher Festigkeit bereits gebracht ist. Das ist möglich und an sich237 zu fordern in der häuslichen Erziehung, aber es ist sehr schwer in der Schulerziehung, und allgemein gewiss nicht zu ver - langen. Wen Gott lieb hat, den züchtigt er , das hat man unzählige Male angeführt zur Rechtfertigung der körperlichen Züchtigung. Aber man nehme das Wort nur ganz beim Wort; so sagt es, dass, wer sich nicht eine göttliche Reinheit der Liebe und des sittlichen Eifers zutraut, besser thäte, auf dieses, unter jeder andern Voraussetzung bedenkliche Zuchtmittel ganz zu verzichten; wir sind eben keine Götter. Es giebt auch genug andre Mittel der Zucht; es ist nicht zuzugeben, dass in irgend einem denkbaren Fall die körperliche Strafe das einzige Mittel erzieherischer Einwirkung sei; dass es für irgendwelche Fälle dem Schullehrer wohl gar zur Pflicht gemacht werden dürfte, zu diesem letzten und gewagtesten Mittel zu greifen. Viel - mehr wird man stets den als den bessern Pädagogen anerkennen, der die körperlichen Strafen ganz entbehren kann.

Und so ist allgemein der Beitrag, den die Strafjustiz zur Erziehung leistet, sehr mittelbar und im ganzen unsicher genug. Sie kann zwar, zumal in dem regelmässigen Betrieb einer Schule und unter so manchen erschwerenden Umständen, deren die Organisation der Volksbildung bisher nicht Herr geworden ist, nicht völlig entbehrt werden. Aber wenigstens wäre zu wünschen, dass sie so wenig als möglich thatsächlich zur An - wendung käme. Das Strafgesetz sollte mehr nur theoretisch, als freilich notwendiger Begriff, dastehen, während man beider - seitig bemüht ist, seine faktische Anwendung so viel als nur möglich entbehrlich zu machen. Sie ist entbehrlich, wo von frühester Stufe an der Sinn der Gesetzlichkeit geweckt ist. Ein normales Kind ist dafür von früh auf empfänglich. Es fühlt die Ueberlegenheit und Notwendigkeit des Gesetzes, lange bevor es den Begriff davon hat; wie sollte es nicht auch den Begriff fassen, sobald es die Reife dazu hat?

§ 25. Sittliche Lehre.

Das bisher Gesagte galt von der Uebung und Lehre ge - meinsam, als Mitteln der Willenserziehung; mehr aber von238 der ersteren. Es soll denn jetzt noch das Eigentümliche der Lehre in formaler Hinsicht erwogen, und damit zugleich der Uebergang zur materialen Betrachtung der Erziehungsarbeit gemacht werden. Das Materiale der Willensbildung findet seinen natürlichen Ausdruck im Inhalt der praktischen Lehre, obwohl es sich ebenso auf die Uebung bezieht. Denn in der Materie müssen beide sich decken.

Im Zusammenthun, im Zeigen, Helfen und vornehmlich Berichtigen geht aus der Uebung die Lehre unmittelbar her - vor. Sie ist daher anfangs nur die wörtliche Erklärung dessen, was vorgethan wird, um nachgethan zu werden. Nun aber ist es der Lehre eigen, sich aus dieser unmittelbaren Verbin - dung mit dem Thun in dem Maasse zu lösen, als die Ziele des Thuns weiter und weiter hinausrücken und so eine kom - plexere Erwägung der Zusammenhänge von Mitteln und Zwecken notwendig wird, während gleichzeitig die unmittel - bare Uebung den Grad von Festigkeit erreicht haben muss, dass sie für sich selbst der wörtlichen Lehre kaum mehr be - darf. Eben damit kann nun die Gefahr entstehen, dass die Lehre sich von der Uebung überhaupt loslöst. Sie scheint leicht in dieser Loslösung sich als Theorie erst zu vollenden. Aber desto unwirksamer wird sie für die Praxis. Vor dieser Gefahr ist nachdrücklich zu warnen.

Soll die Lehre im rechten Sinne praktisch sein, d. i. von der Uebung ausgehen und zu ihr zurückkehren, so muss sie der logischen Form nach Induktion sein. Nun genügt als Grundlage einer zulänglichen Induktion freilich nicht die eigene Uebung und unmittelbare Erfahrung des Zög - lings; sie ist vielmehr, nach Herbarts richtiger Vorschrift und der guten Praxis aller Zeiten, zu erweitern durch Unter - richt. Aber um so wichtiger ist es, dass im Unterricht selbst die Anknüpfung an die eigene Erfahrung und schliesslich an die Uebung nicht verloren geht; dass auch das Fernste, das die Lehre bloss mitteilend in den Gesichtskreis des Lernenden rückt, mit dem Nahen in kontinuierliche Verbindung tritt. So greift hier der Unterricht, auch nach der Intellektseite, in die Willenserziehung tief ein; insoweit bleibt Herbart im Recht;239 aber doch eigentlich nicht nach dieser Seite geht er uns hier an. Sondern darauf kommt vielmehr alles an, dass die Lehre praktisch werden, dass sie den Willen bewegen muss. Und dazu genügt nicht, wie Herbart zu glauben scheint, eine blosse, thunlichst systematische, nach Einheit und Ganzheit strebende Darstellung der vielgestaltigen Materie, auf die dann die Abstraktionsarbeit sich stützen kann. Aus solcher Darstellung und der dadurch bewirkten Bildung des Gedankenkreises folgt eine Wirkung auf den Willen ohne weiteres noch nicht. Sondern diese Wirkung ist ganz und gar dadurch bedingt, dass, was der Zögling aus eigner Erfahrung und Uebung kennt, in die Mitte tritt, alles Andre aber sich damit in stetigem lückenlosem Fortschritt verbindet, und so zum Be - wusstsein kommt als etwas, das künftig einmal auch in Uebung kommen wird, wenigstens kommen könnte.

Das hat, klarer als alle, Pestalozzi begriffen, und er ist davon ganz durchdrungen. Ihm danken wir denn auch belehrende Muster einer dieser Forderung genügenden Dar - stellung. Denn genau die eben beschriebene Aufgabe ist es, die er als Menschenmaler *)S. die erste seiner Fabeln . in Lienhard und Gertrud sich gestellt und, vorzüglich im ersten Teil, überaus glücklich ge - löst hat. Er schreibt mit vollem Bewusstsein für einen ganz bestimmten Lebenskreis, für scharf begrenzte, gegebene Be - dingungen. In dieser Begrenzung allerdings strebt er nach einer in gewissem Maasse erschöpfenden Lösung seiner Auf - gabe, die denn freilich nicht durchweg erreicht ist, und ihn aus dem anfangs so glücklich innegehaltenen Ton der reinen Erzählung mehr und mehr in den der abstrakten Lehre fallen lässt. Im Schlusswort seiner Fabeln , die in andrer Rich - tung ein nicht minder merkwürdiges Muster bieten, hat Pesta - lozzi das schlichte Geheimnis seiner Darstellungsart klar aus - gesprochen. Er sei nichts weniger als ein unbedingter Feind und Verächter einseitiger Ansichten, er glaube im Gegen - teil, Glück und Segen von Millionen Menschen hänge wesent - lich von der stillen Reifung und inneren Vollendung einseitiger240 Ansichten ab. Einseitige, aber von vieler Anschauungs - wahrheit unterstützte und belebte Darstellung sei nämlich gerade geeignet ein tiefgreifendes Fundament einer richtigen und soliden Ansicht des menschlichen Lebens zu gewähren. So schimmere aus der einseitigen Her - vorkehrung des Schlechten, Tierischen im Menschen (in seinen Tierfabeln) das Edle und Erhabene der Menschennatur mit desto lebendigerer Kraft hervor. Also die Einseitigkeit bezieht sich nur auf den Ausgangspunkt; die rechte Durch - dringung einer Einzelansicht führt aber gerade auf das Funda - ment in einer vertieften Anschauung der Menschennatur , die die Einseitigkeit überwindet.

Im Grunde ist es das Geheimnis aller Darstellung, die je in der Erziehung eine tiefe und allgemeine Wirkung gethan hat. Ein neuerer Pädagog (Felix Adler) will, in freiem An - schluss an Herbart, die sittliche Unterweisung ganz auf drei klassische Darstellungen gründen: Märchen und Fabeln auf kindlichster Stufe, dann eine kleine Zahl biblischer Historien, endlich Homer. Die Auswahl im einzelnen und die Anord - nung im ganzen ist anfechtbar, aber hingewiesen ist damit allerdings auf höchst bedeutende, vielleicht die bedeutendsten Typen einer solchen Darstellung, wie wir sie fordern. Nur sind wir der Meinung, dass jedes neue Menschenalter die Auf - gabe wie von vorn an zu lösen hat. Es kann das Ueber - kommene mitverwerten, aber darf nie glauben damit auszu - reichen. Gewiss bleibt jenen klassischen Mustern, gerade in ihrer Abweichung von der nächsten Erfahrung, ein vorzüglicher idealisierender Wert; und sie tragen das Ihre dazu bei, die Anschauung zu erweitern und damit die Induktion auf eine breitere Grundlage zu stellen. Aber ohne geeignete Vermittlung können sie für unser Leben nicht volle Realität gewinnen, und diese Anknüpfung an das Leben selbst ist nicht nur auch eine Auf - gabe, sondern die erste von allen, wie Pestalozzi erkannt hat; es fehlt sonst die in Pestalozzis Sinn elementare Grundlage, auf der erst jenes Andre alles sich aufbauen kann. Das Ziel allerdings ist ein noch grösseres: Geschichte. Geschichten aber müssen den Anfang machen, und zwar die kindlichsten.

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Was ist denn eine Geschichte , und was Geschichte ? Eine Geschichte nennen wir die Wiedergabe, nicht irgend einer beliebigen menschlichen Erfahrung, sondern einer solchen, die etwas Typisches hat, die ein charakteristisches Erlebnis darstellt, und durch Konflikt und Lösung sich zum geschlossenen Ganzen abrundet; eine Handlung, der Form nach von über - sehbarem Umfang übersehbar je für den bisher erreichten Standpunkt des Lernenden und von strenger teleologischer Einheit, die in ihrem Inhalt irgend ein wesentliches Stück praktischer Lehre zur Anschauung bringt. Das Moment des Konflikts hat dabei nicht bloss die Bedeutung, die Aufmerk - samkeit mehr zu fesseln, sondern auch, die begriffliche Lehre vorzubereiten. Die nie bestrittene Wahrheit kommt weniger zum Bewusstsein. Wie ein Leben ohne Kampf keiner Lehre bedürfte, so würde es auch keine erteilen; der Streit ist, wie der Vater der Dinge, so der Lehrmeister ihrer Erkenntnis. Es ist somit eine nicht bloss ästhetische, sondern allgemein er - zieherische Notwendigkeit, die ihm in der belehrenden Er - zählung seinen Platz anweist. Geschichte aber ist dasselbe im grossen, was Geschichten im kleinen. Zu der grossen Fundament - Ansicht, dass man kein Einzelner ist, sondern der Gemeinschaft, zuletzt keiner kleineren als der der Mensch - heit angehört, soll der Heranwachsende geführt werden. Von allem, was hierüber an anderer Stelle*)Religion innerhalb der Grenzen der Humanität; bes. S. 11 ff. 93 f. gesagt ist, finde ich nichts zurückzunehmen; auch der Verfolg gegenwärtiger Be - trachtung wird darauf wiederum führen.

Die Lehre selbst aber aus der Geschichte und den Ge - schichten herauszuholen, ist Abstraktionsarbeit wie jede andre, und so sei darüber nur bemerkt, dass man die Geschäfte teilen und nicht die Lehre sich in die Geschichtserzählung selbst voreilig eindrängen oder als langweiliges Nachwort dazu sie um ihre unmittelbare Wirkung bringen lassen soll; sondern die Aufgabe dieser Abstraktion ist von der Erzählung ganz ab - zutrennen. Und zwar lasse man den Lernenden selbst sie vollführen.

Natorp, Sozialpädagogik. 16242

Die Grundrichtungen der Abstraktion aber müssen voraus gegeben sein; man muss sich auf ein schon bekanntes Grundgerüst sittlicher Lehre beziehen können. Ein solches kann auch, nachdem einige gut ausgewählte praktische Grund - wahrheiten gewonnen und die notwendigsten Vorbegriffe an diesen klar gemacht sind, mit Leichtigkeit aus solchen ent - wickelt werden.

Damit treten wir der materialen Betrachtung der praktischen Lehre schon einen Schritt näher. Wir unter - scheiden Gestaltung des Werks und Gestaltung der Persön - lichkeit. Das Erstere entspricht am nächsten dem, was man sonst Güterlehre genannt hat, wobei man nur unter Gütern nicht Genussobjekte, sondern Hervorzubringendes verstehe. Im höheren Sinne ist es die ideelle Gestaltung einer Willenswelt (Welt der Zwecke), und zwar in der Gemeinschaft, also identisch mit dem Inbegriff der sittlichen Aufgaben. Dann ist aber das Andre, der Aufbau der sittlichen Persönlichkeit, eigentlich nur ein Teil davon; jedoch der Teil, der den Ein - zelnen zu allernächst angeht und in seiner sittlichen Arbeit naturgemäss obenan steht. Denn erst muss man ein ordent - licher Mensch sein, ehe man es wagen darf, sich, als wäre man mit sich schon im Reinen, um allerlei Fernerliegendes zu kümmern. Die erziehende Uebung vor allem hat jedenfalls dies nächste Ziel, die Persönlichkeit zu entfalten und ihr Ge - stalt zu geben.

Deswegen ist für die sittliche Unterweisung der Gesichts - punkt der Tugendlehre allerdings der erste. Dann aber muss doch die Frage nach der Sache, die der sich ihr wid - menden Person erst Wert giebt, an Gewicht und Bedeutung mehr und mehr vorantreten. Es ist nicht gut, wenn das zurückgeschoben und die sittliche Lehre ausschliesslich auf ein System von Tugenden gegründet wird (wie z. B. bei Adler). Soll z. B. das Kind zu der Erkenntnis geführt werden, dass es seine Eltern ehren, seinen Geschwistern sich liebreich er - weisen soll, so bedarf es dazu freilich vorerst keiner weither geholten Begründung, denn der Grund dazu ist normalerweise im Kinde schon gelegt, und es ist nur nötig, was ihm in243 eigener Seele lebendig ist, durch ausdrückliche Lehre auch zu hellem Bewusstsein zu bringen. Aber weiterhin wird wenig - stens der Heranwachsende doch wohl auch nach der Begrün - dung fragen. Dann zeige man den Aufbau des sittlichen Ver - eins der Familie und dessen Notwendigkeit im Zusammenhang der Organisationen menschlicher Gemeinschaft überhaupt; und so durchweg. Man sollte daher auch die zu Grunde gelegten Stoffe, seien es biblische Geschichten oder Gesänge des Homer oder was sonst, für die sittliche Lehre nicht allein unter dem Gesichtspunkt der Tugendlehre fruchtbar machen, da es so nahe liegt, auch die Lebenskreise, die Gemeinschaftsformen, und die daraus erwachsenden sachlichen Pflichten daran auf - zuzeigen. Ist aber diese Betrachtung einmal eingeführt, so ordnet sich die bloss individuelle Ansicht des Sittlichen ihr notwendig unter. Die Sache tritt beherrschend voran, und die Aufgabe der reifenden Persönlichkeit wird es, sich zur Höhe der Sache zu erheben.

Aus ähnlichen Erwägungen können wir auch von der be - quemen Einteilung der Pflichten in solche gegen sich selbst und gegen Andre keinen Gebrauch machen. Pflicht gegen Gott, das wäre noch das Zulässigste; es erhebt wenigstens über das Ich und Du, und zwar ohne die Persönlichkeit über - haupt aufzuheben. An sich aber besteht sittliche Verpflichtung einzig gegen das sittliche Gesetz oder, will man etwas Kon - kreteres, gegen die Menschheit in der eigenen Person und in der Person jedes Andern . Damit ist aber schon auf das sachliche Fundament, auf die ewige Aufgabe, Menschheit an seinem Teile auferbauen zu helfen, hingewiesen und über die blosse Personalbeziehung, die allenfalls nur eine rechtliche, keine sittliche Verpflichtung begründen würde, hinwegge - schritten.

Aber man soll doch Individuen, individuelle Charaktere, nicht allgemeine Menschen bilden? Es sind doch werdende Individuen, die der Erzieher vor sich hat, mit bestimmten, in - dividuellen Anlagen, begrenzten Entwicklungsmöglichkeiten, oft überaus früh ausgeprägter Eigenart? Ohne Zweifel ist selbst der Säugling schon eine kleine, oft sehr geschlossene244 Individualität, und das Kind in dem Alter, wo ein eigentlicher geistiger Verkehr erst anhebt, in vieler Beziehung ein schon ganz fertiger, kaum mehr zu wandelnder Charakter. Allein eben das bestätigt ja nur, dass Individualität durchaus auf eigenem Boden erwächst, also nicht Erziehungszweck sein kann. Was an ihr Gutes ist, bedarf gerade umso weniger der besondern Pflege, je mehr es individuell ist. Uebrigens ist auch ihr Bestes nur einseitig gut, sonst wäre es eben nicht individuell. Nun ist diese Einseitigkeit allerdings zulässig, denn es ist dem Menschen einmal nicht gegeben, alles gleich gut zu vermögen, und es ist besser, dass das, wozu einer vor - zugsweise taugt, auch vorzugsweise in ihm zur Entwicklung kommt, als dass er sich fruchtlos müht an Aufgaben, die im Bereiche seiner Natur nun einmal nicht liegen. Aber selbst die berechtigte Eigenart wird fast mehr dadurch entwickelt, dass sie bestritten wird, als dass man ihr allzu sehr entgegen - kommt; gerade gegen Widerspruch wird sie sich desto ener - gischer in sich zu befestigen streben. Schliesslich aber bleibt Individualität immer auch Schranke, und es ist sittlich notwendig, dass sie als Schranke zum Bewusstsein kommt; dadurch wird nicht die Eigenart selbst zerstört, aber dem Dünkel der Eigen - art gesteuert. Das kann aber nicht wirksamer geschehen als durch unbedingte Voranstellung der Sache, d. i. der Ge - meinschaft, die jede gute Eigenart gelten lässt und in ihren Dienst nimmt, jeder unrechten Prätention der Individualität aber mit unwidersprechlich höherem Ansehen gegenübertritt, ihr zu Diensten zu sein sich unbedingt weigert.

Zur Zielbestimmung der pädagogischen Thätigkeit also taugt die Individualität nicht; sie ist für sie durchaus nur verfügbares Material. Allerdings muss der Erzieher sie kennen und seine Einwirkung danach einrichten. Bildet diese sich, so wie wir angenommen haben, in ständiger sich gegenseitig verstehender Gemeinschaft des Erziehers und Zöglings, so ist keine Gefahr, dass es daran mangle, sondern es bedarf weit mehr der Warnung, der Individualität nicht zu viel nachzu - geben und nie die Sache dagegen zurückstehen zu lassen.

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§ 26. Materie der praktischen Uebung und Lehre. Erste Stufe: Hauserziehung.

Auf Grund alles Vorausgeschickten versuchen wir nun auch in materialer Hinsicht zu zeigen, wie in konkreter Ge - meinschaft von Stufe zu Stufe der Mensch sich bildet zur Ge - meinschaft, zur Teilnahme an dem endlichen Prozess, in dem die Gemeinschaft der Menschen und mit ihr ein menschliches Leben sich gestaltet.

Der untersten Stufe, der der Hauserziehung, gehört vor - zugsweise das Gebiet der dritten der individuellen Tugenden und die dieser entsprechende Seite der Tugend der Gemein - schaft zu. Es ist das Gebiet der Reinheit , oder der sitt - lichen Regelung des Trieblebens in Arbeit und Genuss, damit aber der ökonomischen Thätigkeit im früher bestimmten, um - fassenden Sinn. Die natürliche Stätte der Erziehung nach dieser Richtung ist das Haus, in dem allein auch die ent - sprechende Art der willenbildenden Thätigkeit sich rein in ihrer Eigenart entfalten kann.

Es ist zwar eigentlich noch nicht Wille, was auf dieser Stufe entwickelt wird, sondern erst die rechte Disposition zur Willensbildung, die dafür geeignete Triebrichtung. Aber ge - rade dass hier der rechte Grund gelegt wird, ist von der grössten Wichtigkeit. Die seelische Entwicklung steht hier noch im unmittelbarsten Zusammenhang mit der physischen. Die leibliche Fürsorge für das Kind und das so früh sich ent - wickelnde Verständnis dieser Fürsorge in ihm selbst, in der wortlosen Zwiesprache zwischen Mutter und Säugling, das ist, wie Pestalozzi gesehen, das erste, grundlegende Bildungs - element des Willens, wenn auch grundlegend nur im Sinne der günstigen Bereitung des Bodens. Indem das zarte, so ganz physische und doch so ganz seelische junge Menschlein dies mit oft schon sehr bestimmtem und starkem Gefühl er - greift und sich fest der mütterlichen, bald auch der väterlichen und geschwisterlichen Sorge und Zärtlichkeit anschmiegt, tritt246 es in jene sinnliche Führung ein, die wir als erste Stufe er - ziehender Gemeinschaft erkannten. Ausschliesslich hierauf be - ruht die erste Gestaltung der Liebesbeziehungen zur Umgebung, welche die wesentlichste Vorbedingung für die ganze psy - chische Weiterentwicklung besonders in ethischer Richtung, d. h. eben in der Richtung der Gemeinschaft ist. Auch die Ordnung des Affektlebens liegt für diese Stufe fast allein hierin. Wo es an Verständnis und liebender Fürsorge nicht fehlt, wird selbst ein schwierig angelegtes Kind sich von Hülfe gegen die hier drohenden ernsten Gefahren nie verlassen finden. Das gilt freilich nicht bloss vom zarten Alter, es gilt, nur nicht mehr als Einziges, sondern neben den neu hinzu - tretenden Faktoren, durch die ganze Kindheit hindurch. Ja noch Jungfrau und Jüngling wahrt sich wohl in keuscher Heim - lichkeit einen Rest davon, den kaum die Mutter wissen oder ahnen darf, noch weniger der Vater, am wenigsten die Ge - schwister, denn freilich würde es als fehlerhafte Weichheit empfunden, sobald es sich vordrängen und irgend ein Recht für sich in Anspruch nehmen wollte.

Dem mehr passiven Verhalten in allen genannten Bezieh - ungen tritt dann bald ein entschieden selbstthätiges Moment zur Seite in der, nach dem ersten schweren Anfang rasch fort - schreitenden Uebung der Sinnes - und Muskelthätigkeit, an deren Ausbildung der werdende Wille aufs stärkste beteiligt ist und also seine Kräfte daran stählt und vielseitiger ent - faltet. Der grosse Fortschritt liegt hier in der bestimmten, mehr und mehr bewussten Richtung der sinnlichen wie moto - rischen Bethätigung aufs Objekt, während in den zuvor er - wogenen Beziehungen alles in der Subjektivität des Fühlens beschlossen bleibt, allenfalls, als Mitfühlen, sich auf die fremde Subjektivität zugleich erstreckt. Mit jener Objektbeziehung ist aber schon der entscheidende erste Schritt vom Trieb zum Willen gethan, dessen Eigentümlichkeit ganz in der bewussten Objektivierung liegt. Dem Umfang nach ist es ein sehr mäch - tiger Teil der kindlichen Entwicklung, der hierher gehört. Die ganze, so viel umfassende Uebung des Blicks, des Gehörs, des Getasts, der Körperbewegungen im Greifen und Gehen,247 die Kombination der Sinnes - und Muskelübung in dem allen und besonders im Sprechenlernen liegt auf diesem Gebiet. Ueberall geht hier mit der Bildung des Verständnisses die des Willens Hand in Hand.

Das alles ist nun zunächst freies Spiel der zur Bethäti - gung drängenden Kräfte, ohne (wenigstens bewusste) Zweck - bestimmung. Ja hier wurzelt überhaupt der Begriff des Spiels und seine Bedeutung für die kindliche Entwicklung, die man namentlich seit Fröbel ernstlicher, wenn auch immer noch nicht ernst genug würdigt. Hier entfalten sich die unschätzbaren erziehenden Kräfte des Bilderbuchs, der Puppe, des Baukastens, der mannigfachen Bewegungsspiele, wobei, wie gleichzeitig in der Märchenerzählung*)Gute Bemerkungen darüber (obschon nicht ohne Einseitigkeit) bei dem schon genannten F. Adler, The Moral Instruction of Children, New York 1895, p. 66. und in den ersten Ahnungen des Religiösen, bald eine überaus rege Thätigkeit der Phantasie sich entwickelt, aber doch alles in der naiven Unbefangenheit sinnlichster Beziehung zu den Dingen und namentlich zu den Mitlebenden beschlossen bleibt, in dieser durchgehenden Eigen - tümlichkeit aber sich zu einer eigenen kindlichen Welt ab - rundet, die schon ein gutes Teil Idealisierung einschliesst.

Gegen alle Gefahr eines einseitigen Ueberwucherns der Phantasie bietet dann das heilsame Gegengewicht die allmäh - liche Ueberführung des Spiels in zweckmässige, mehr und mehr auch zweckbewusste Arbeit. Für das Kind selbst ist der Uebergang ganz unmerklich. Nur deswegen kann das Spielen des Kindes an erziehender Wirkung selbst der eigentlichen Arbeit den Rang streitig machen, weil es ihm durchaus etwas wie Arbeit ist. Es ist mit seiner ganzen Seele dabei, wie nur der treuste Arbeiter bei seinem Werk, es ist ihm eine ernst - hafte Aufgabe, es sind Wirklichkeiten, womit es zu thun hat. Seine spielende Thätigkeit nimmt daher auch, wenn sie nur einigermaassen dahin geleitet wird, wie von selbst den geregelten Gang an, der der eigentlichen Arbeit vorzugsweise zukommt und notwendig ist. Es fehlt nur das wirklich Zweckvolle des Thuns; aber dieser Mangel kommt für das kindliche Bewusst -248 sein kaum in Betracht, da ihm eben der Begriff dieses Unter - schieds abgeht; das Nächste, Unmittelbare ist ihm Zweck ge - nug und darf es noch sein. Indem aber dann seine Thätigkeit, ohne dass sie übrigens ihren Charakter ändert, mehr und mehr auf wirklich zweckvolle Aufgaben gelenkt wird, und zwar auf solche, deren Zweck ihm nah genug liegt, wird das Kind unvermerkt vom Spiel zur eigentlichen Arbeit hinübergelenkt. Es begreift bald, dass ein geordnetes Leben Arbeit nach dem einfachen Grundtypus der Wirtschaft verlangt: dass jeder Ver - brauch von Material und Kräften Ersatz fordert, geregelter Verbrauch entsprechend geregelten Ersatz. Es fasst sehr rasch den Sinn der Raumordnung, der Zeiteinteilung, der Erhaltung seiner eigenen Spielsachen oder Gebrauchsgegenstände wie aller zum Haushalt gehörigen, der Sparsamkeit im Kräfte - und Materialverbrauch jeder Art. Es fühlt zugleich, wenn auch ohne Begriff, dass in der Regelung seines Thuns, seines Sach - gebrauchs, der Mensch selbst, sein ganzes Leben und Sich - fühlen, sich in Regel und Einklang fügt und so seine gesunde Befriedigung und sicher fortschreitende leibliche und geistige Entwicklung findet; dass in gemeinschaftlich, in gegenseitiger Rücksichtnahme geregelter Arbeit zugleich die seelische Ge - meinschaft der Zusammenarbeitenden sich in das gleiche, heil - same Element der Ordnung und Harmonie eingewöhnt, und indem eben damit wiederum die Arbeit und Arbeitsordnung desto harmonischer wird, ein glücklicher Kreislauf einer in gesunder Bahn sich selbst erhaltenden Thätigkeit entsteht.

Auf den mächtigen, ja beherrschenden Einfluss der Ge - meinschaft in diesem ganzen Bildungsgang noch besonders hinzuweisen, erscheint fast unnötig. Es ist ja unvermeidlich, dass die Umgebung des Kindes an der Gestaltung seines Ge - müts auch ungewollt und unbewusst mitarbeitet. Selbst Wahr - nehmung und Willkürbewegung ist anfangs weit überwiegend auf die Mitlebenden gerichtet: das Auge des Kindes sucht zu - erst das Auge der Mutter, der Geschwister; es überträgt einen Teil des Glücksgefühls, das ihm aus jenem einzigen Quell (so muss es wohl glauben) zufliesst, in seinem Ausdruck auf jedes menschliche Antlitz, das ihm nur irgend freundlich begegnet. 249Und Mund und Hand lernt zuerst fassen und halten an der Mutterbrust. Aber auch wenn sich diese erste, engste Abhängigkeit löst, ist doch im nächsten Wechselverkehr mit den alltäglichen lieben Gefährten vorerst seine Welt beschlossen, und muss alles, was sonst noch in sein Bewusstsein tritt, sich erst gleichsam Heimatsrechte in dieser noch so engen und doch so vielbedeutenden Welt erwerben. In dieser Welt aber ist das Kind fortwährend der unbewusste Schüler und Zögling seiner kaum mehr ihrer Rolle bewussten Lehrer und Erzieher; worauf es in diesem Kreise, oft ganz ohne Willen und Wissen, aufmerksam gemacht wird, das vornehmlich nimmt es wahr; wohin es durch seine Umgebung gelenkt wird, dahin richtet es sein Thun und Bewegen. Vorzüglich stark und beherrschend aber ist der Einfluss der schon bewussteren Gemeinschaft im Sprechenlernen. Ist doch die Sprache der unmittelbare Aus - druck jeder geistigen Gemeinschaft; erschliesst sich doch darin dem Kinde der Schatz von Erkenntnissen, den die Gemeinschaft für jedes geringste ihrer Glieder gleichsam in Verwahrung hält, und den sie in einem natürlichen Kommunismus allen zu gleichen Rechten, kostenlos wie Luft und Licht, austeilt.

Gemeinschaft ist nicht minder das Element alles Spiels; auch im Alleinsein erdichtet sich das Kind seine Genossen. Sie mögen etwa, als Puppen, lebende Wesen vortäuschen; aber schliesslich genügt jeder Klotz, jedes Glasperlchen zum gut kameradschaftlichen Verkehr. So lernt es Menschlichkeit gleich - sam am Phantom; wieviel mehr im wirklichen Verkehr mensch - licher Gefährten. Das Zartgefühl für Leben, auch im Tier, ist daher im einigermaassen normal aufwachsenden Kinde mit Sicher - heit anzutreffen; was man auch von seiner natürlichen Grausam - keit oft gefabelt hat. Richtig ist daran höchstens, dass das Kind vom Tode keinen Begriff hat, oder vielmehr nur den natürlichen: dass Sterben nicht lange, Totsein gar nicht weh thut. Deshalb und überhaupt in der Unbefangenheit, mit der es sich dem Spiel seiner Phantasie überlässt und am Phanta - sieren selbst seine Lust hat, hört es so manchen Sterbefall im Märchen oder Struwelpeter in vollkommener Gelassenheit an, während es doch den thatsächlichen, sich unmittelbar250 äussernden Schmerz nicht bloss des Angehörigen sondern jedes Lebendigen (oder nur lebendig Geglaubten) gar sehr mitempfindet, so herzlich wie das physische Wohlsein des kleinen Geschwisters oder des geliebten Haustiers. Ueberhaupt ist Rücksichtnahme und Zartsinn jedem Kinde natürlich, das sie selbst in der rechten Weise, d. h. ohne die verderbliche Schwäche gegen seine Fehler, an sich und in seiner ganzen Umgebung erfährt.

Besondere Aufmerksamkeit erfordert das Affektleben des Kindes. Seine Reizbarkeit, die gerade in den ersten Lebens - jahren am stärksten ist, hat fast ganz nur physische Gründe; das schliesst aber eine moralische Behandlung keineswegs aus. Sie führt die meisten jener kleinen und grossen Konflikte her - bei, die auch unter den günstigsten Bedingungen nicht aus - bleiben. Aber gerade diese können zur sittlichen Entwicklung des Kindes von einer weisen Erziehung aufs heilsamste benutzt werden, während die unweise gerade da am augenfälligsten scheitert und sehr leicht schon im frühesten Stadium kaum wieder gut zu machenden Schaden anrichtet. Richtig behandelt, verhelfen gerade diese Konflikte dem Kinde zu der sicheren, unmittelbaren Empfindung, und bald auch zu dem bestimmten Begriff, dass jede Disharmonie der Gemeinschaft auch die Harmonie seines eigenen Gemütes trüben muss, und zwar um so empfindlicher, je tiefer die Gemeinschaft schon gegründet ist. Darum ist es so sehr zu beklagen, wenn in solchem Fall die Eltern oder Erzieher blind dreinfahren, selbst in Hitze geraten, und so die gestörte Harmonie recht disharmonisch wiederherzustellen bestrebt sind. Aber das ist leider allzu - menschlich und in der Not des Augenblicks verzeihlich. Möchte nur nachher die Stunde der stillen Besinnung nicht aus - bleiben, wo man sich, wenn auch nicht in Worten sagt, doch mit allem Liebeserweis wechselseitig zu verstehen giebt: es hätte nicht sein sollen, es war nicht unser Wille; möchten wir stark genug sein, es künftig zu meiden. Die sicherste und reinste Hülfe und Versöhnung aber liegt gerade dann im gemein - samen förderlichen Thun, das die scheinbar zerrissene Gemein - schaft am schnellsten wiederaufbaut oder vielmehr zum Bewusst - sein bringt, dass sie trotz allem besteht und bestehen wird.

251

So mag eine rechte sittliche Hauserziehung sich gestalten. Die gleichen Kräfte wirken aber weit über die früheste Kind - heit, ja über die Familie im engsten Sinn hinaus; sie bleiben grundlegend für die ganze Erziehung des Willens, deren sonstige Faktoren ohne diesen ersten niemals ihre volle Wirksamkeit entfalten könnten. In keinem menschlichen Verhältnis darf dies Element ganz fehlen, und in seiner Kräftigung liegt, wie wir mit Pestalozzi überzeugt sind, zuletzt alle Hoffnung einer Versittlichung menschlicher Gemeinschaft überhaupt. Ich möchte dem Irrglauben zwar nicht Vorschub thun, dass Un - sittlichkeit nur Krankheit sei, aber das Wahre ist daran, dass die sittliche Gesundung von unten auf, von der Grundlage des Trieblebens, folglich von der Sorge um Kraft und Reinheit familienhafter Gemeinschaft ihren Ausgang nehmen muss; dass alle Sittenpredigt verschwendet ist, ja dem sittlichen Tadel jedes Erntenwollens, wo man nicht gesät hat, unterliegt, welche für diese allererste Bedingung sittlicher Bildung zu sorgen vergisst. Von der Wiederherstellung des Bewusstseins der Arbeitsgemeinschaft, von der Heiligung der Arbeit und des Genusses durch die Gemeinschaft, durch ihre Aufnahme in den Plan der Erziehung zum Menschentum, erwarten wir die Heilung unsrer privaten und öffentlichen Zustände. Vor allem, man kümmere sich darum, wie Menschen leben, welche Be - dingungen ihnen gewährt sind, um ein Leben führen zu können, wie man es von ihnen fordert und erwartet. Man fasse das Problem sozialer Ökonomie einmal ernsthaft in diesem sitt - lichen, oder sagen wir pädagogischen Sinn: dass von der Öko - nomie der Lebensfunktionen in der Gemeinschaft alle sozialen Funktionen bis zu den höchsten hinauf schliesslich abhängen, und dass diese Ökonomie nur auf Grund der Gemeinschaft, nach dem allgemeinen Typus einer sittlich geordneten Familie, sich wirksam und rein gestalten kann. Das führt auf organi - satorische Forderungen, wie sie an früherer Stelle angedeutet wurden. Ich vermeine nicht darüber irgend Abschliessendes aufgestellt zu haben; wenn es am Willen nicht fehlte, würden auch die Wege sich wohl erschliessen. Keinesfalls darf man uns hier auf eine voraus erwartete, wie mechanische Lösung252 der sozialen Frage vertrösten. Die gesittete Menschheit wird zu Grunde gehen, bevor zu deren Lösung auch nur ein ernster Schritt gethan ist, wenn nicht für diese allererste Basis der Gesundung in der Weise, wie es auch gegenwärtig mög - lich ist, gesorgt wird, und dann desto mehr, je nachdem die im allgemeinen Zustand der Gesellschaft liegenden Bedingungen dafür sich nach und nach günstiger gestalten.

In solchem Sinne lässt sich übrigens das, was not thut, leicht angeben. Es muss, wo die Bedingungen eines gesunden Familienlebens nicht gegeben sind, Ersatz dafür geschaffen werden in einem ausgebildeten Kindergartenwesen, in Familien - verbänden, Nachbarschaftsgilden , oder welche andre, den je - weiligen Bedingungen noch besser angepasste Form sich finden mag. Es muss ermöglicht werden, dass die Kindheit, aber auch die heranreifende Jugend, nicht mit plötzlichem Riss aus jeder familienartigen Gemeinschaft herausgenommen wird; es muss also, über die Familie im engern Sinn hinaus, in einem weiteren, aber immer übersehbaren Kreise persönlicher Beziehungen eine familienhafte Gemeinschaft sich organisieren, so dass man auch bei weitester und freister Gestaltung der Lebensziele solchen heilsamen Einflüssen, wie sie jetzt allein in der eigentlichen Familie (und auch da wie selten!) sich recht entfalten, nie ganz entzogen wird; dass zum wenigsten ein Verständnis solcher Gemeinschaft sich immer erhält, und die Roheit des Empfindens mit irgend einem Grade von Bildung und gesellschaftlicher Achtung unverträglich wird, die jetzt z. B. in dem Gebrauch, den unsere zahlungsfähige Jugend von der Prostitution macht, ihre ekelhafte Grimasse kaum auch nur zu verbergen nötig hat. Wie die ganze Regelung des Affektlebens, ruht ganz besonders die Erziehung zur Keuschheit fast allein auf diesem Grunde. Unregelmässigkeit der Begierden ist grossenteils Wirkung einer unökonomischen Verwaltung des Körpers; ge - regelte und straffe Thätigkeit, insbesondere sofern sie zugleich als gesunde Leibesübung wirkt oder durch solche ergänzt wird, ist dagegen eine wichtige, aber keineswegs ausreichende Hülfe. Denn der innerste Grund des Schadens liegt in der nicht ge - zügelten Phantasie und in der Schlaffheit des Wollens, mit253 einem Wort in mangelnder Selbstzucht. Auch die sinnlose Geheimniskrämerei, welche die einfachen Thatsachen des Ge - schlechtslebens gleichsam aus der Welt lügt, die unzeitige Trennung und dann wieder die verkehrte Art der Zusammen - bringung der Geschlechter, trägt wohl einen Teil der Schuld. Aber auch das könnte geändert sein und die Hauptquelle des Uebels bliebe dennoch unverstopft. Denn schliesslich hängt doch alles an der rechten Grundlage in der Gesinnung; sonst schützt der Gesunde seine Gesundheit vor, der Kranke seine Krankheit, der Unwissende seine Unwissenheit und der Wissende seine Wissenschaft, der Freie die zu grosse Freiheit und der klösterlich Abgesperrte die Einsamkeit, während sie alle gleicher - maassen von ihrer unbeherrschten Leidenschaft sich blenden und entnerven lassen. Wer in einem harmonischen Familien - leben, besonders unter im Alter nicht zu fernstehenden Ge - schwistern des andern Geschlechts oder in einfachem, natur - wüchsigem Freundschaftsverkehr mit ihm aufgewachsen und sonst leidlich normal gebildet und erzogen ist, wird nicht leicht dem an sich einfachen und verständlichen Sinn der Keuschheitsgesetze sich widersetzen oder sich von Gegen - kräften gegen den Ansturm eines an sich ja nur normalen Begehrens verlassen finden. Am besten aber hilft ihm jede hinlänglich kräftige Fort - und Nachwirkung derselben erziehen - den Kräfte, die seine Kindheit behüteten, um ihn auch im gefährlichen Alter gegen die Versuchung fest, ja unverwundbar zu machen; zumal wenn zugleich durch eine ausreichende ästhetische Erziehung dafür gesorgt ist, ihm die gemeine Form, in der das Laster sich anbietet, von Anfang an so zuwider zu machen, wie sie es dem etwas feinfühligeren Menschen überhaupt nur sein kann. Eine recht wertvolle Hülfe sehe auch ich in einem für beide Geschlechter gemeinsamen Schul - unterricht, worüber ein Erfahrener in der Ethischen Kultur (1897, N. 12 und 13) ansprechenden Bericht giebt. Ein natür - licherer Verkehr auch jenseits der Schule würde daraus von selbst folgen, wie er jetzt wenigstens in Bewegungsspielen und sonstigem Sport sich langsam anzubahnen scheint. Ich kann auch das Widerstreben gegen die Zulassung weiblicher254 Studierenden zur Universität, insoweit es sich auf sittliche Besorgnisse zu stützen vorgiebt, nur lächerlich finden. Man tanzt und spielt zusammen, und es ist meist unschuldig; sollte man weniger unschuldig zusammen studieren? Ist man un - schuldiger, weil sich die Sitte bis jetzt noch dagegen sträubt?

Soviel über die Triebgrundlagen der sittlichen Erziehung; wir kommen zu ihrem zweiten Faktor, dem der Organisation, der seine Stätte vornehmlich in der Schulerziehung findet.

§ 27. Zweite Stufe: Schulerziehung.

Diese Erziehungsstufe bezeichnet den entscheidendsten Fort - schritt auf der Bahn, deren Ziel die Befreiung des Willens von der Knechtschaft der Sinnlichkeit, vom Gesetz in den eigenen Gliedern, die Bindung allein an das selbstgegebene Gesetz des Willens ist. Es ist daher weniger das Stoffliche, was die zweite Stufe von der ersten scheidet, als das Formale: dass das Thun des Menschen mehr und mehr Willenssache wird. Doch grenzt eben dies, wie einen neuen Kreis sittlicher Er - wägungen, so ein eigenes Gebiet der Willenserziehung ab, dem eine eigentümliche Organisationsform der Erziehung und eine eigene Weise der erziehenden Thätigkeit entspricht. Am deutlichsten prägt sich der besondere Charakter dieser Stufe aus in dem stark hervortretenden Momente der Gegensätz - lichkeit, des zu überwindenden, weniger äusseren als inneren Widerstands. Das unmittelbare Leben des Triebs wird für die sich bewusster entfaltende Thatkraft des Willens mehr und mehr zum blossen, zu gestaltenden Material; indem die eigene, formende Thätigkeit in den Vordergrund des Bewusst - seins tritt, wird der Trieb mehr als Hemmnis empfunden, ob - wohl der Wille sich seiner positiven Kräfte zu bedienen doch gar nicht umhin kann. Daher gehört zur Grundstimmung der jugendlichen Entwicklung auf dieser Stufe etwas von Trotz auch gegen den eigenen Trieb, dessen unbeherrschte Gewalt von dem sich freier entfaltenden, zur Selbstthätigkeit drängenden Willen als Fessel empfunden wird. Das ist das eigentliche Metall255 der Tugend, die echte Mannhaftigkeit, die in wenngleich zärterer Mischung auch dem heranwachsenden Mädchen nicht fehlen darf, die man ihm nur mehr einprägen und in ihrer strengen Schönheit lieb machen sollte, als es in unserer Erziehung noch im ganzen geschieht.

So wird es zunächst für den Einzelnen jetzt erstes Gebot: Sei selbständig! welche Regel sich aber sofort durch die andre ergänzt: Hast du dein Selbst gewonnen, so verliere es fröhlich wieder, d. h. setze es ohne zu viel Besinnen ein für das erkannte Gute. Dies Moment der Lebensverneinung ist als Nerv einer echten Tugend nicht zu entbehren. Man will gewiss das Leben, aber will nicht propter vitam vitae perdere causas, um des Lebens willen das preisgeben, was allein ein Grund zu leben ist; wer sein Leben verliert, der gerade behält es. Das ist auch der edle Sinn der Ehrliebe, auf die Plato, sonst allem bloss Triebartigen so feindlich gesinnt, die Tugend der Tapferkeit ganz zu stützen gewagt hat. Dafür gerade ist das heranwachsende Alter so empfänglich, dass der Erziehung fast nichts zu thun übrig bleibt als diese Empfänglichkeit da - durch wach zu erhalten und zu üben, dass sie sie voraussetzt und in Anspruch zu nehmen wagt. Dies giebt eigentlich den Grundton dieser Entwicklungsstufe; die tiefe Ernsthaftigkeit besonders des reiferen Knabenalters beruht ganz hierauf. Was nicht dem neuen hohen Ideal der Mannheit entspricht, sinkt jetzt zum verachteten kindlichen Spiel herab, das doch auf der vorigen Stufe so wichtig, ja die eigentliche Welt des Kindes war. Das beweist sich auch in allen besonderen Rich - tungen der Entwicklung. Die leibliche Ausbildung wird Selbst - werk; besonders strebt man im Kampf und Wetteifer sie gegensätzlich zu erproben, an den Gleichaltrigen und, wenn es sein kann, den wenig Älteren sich zu messen, nicht mehr in der Weichheit des zarteren Alters sich ihnen anzuschmiegen. Die Regelung der Affekte wird jetzt bewusste, leicht etwas zu tyrannische Beherrschung. Man strebt instinktiv darin, wie in der vielseitigen Sinnes - und Muskelübung durch planmässige Steigerung der Kräfte sich zum ernsten Kampf des Lebens zu rüsten. Im Intellektuellen tritt an die Stelle des blossen256 interessierten Schauens oder gläubigen Hinnehmens des Ueber - lieferten oder auch des blossen Spielens der Phantasie das bewusst vorwärtsstrebende, an der Bewältigung grosser, weit - ausblickender Aufgaben sich stählende Lernen. Man vertraut nicht mehr dem sinnlichen Schein, man fragt nach Begriff und Grund; die straffere Disziplin des Denkens wird gesucht und gern angenommen. Man will Wahrheit; zunächst die Wahr - heit der Thatsache, die dann aber auch sich feststellen will im Gesetz. Der kräftige Sachsinn dieses Alters passt zu seiner ganzen Nichtempfindsamkeit, seiner scheinbar trockenen Ver - nunftliebe. Es gehört schon Scharfblick oder genauerer Um - gang dazu, um auf dem Boden dieses kühl erscheinenden Realis - mus und Rationalismus doch etwas schon von dem Feuer jenes Idealismus zu erkennen, der im Knaben gleichwohl nur schlum - mert und nur des mächtigen Weckrufs bedarf, um im Jünglings - alter sich in seiner ganzen Kraft zu entfalten, und dann nur zu leicht alle sorglich errichteten Schranken des schlichten Sachsinns zu durchbrechen.

Uebrigens fehlt auch diesem Alter nicht die phantastische Zuthat; nur nimmt auch die Phantasie einen andern Charakter an. Das Märchen und was auf gleicher Stufe steht, genügt dem erwachten Wirklichkeitssinn nicht mehr, und der Idealismus eigentlicher Kunst und Dichtung liegt noch ausser dem Ge - sichtskreis. Man ist Prosaiker; vielleicht eifriger Mathematiker, Physiker, Geograph, oder regelfester Grammatiker, thatsachen - fester Geschichtsfreund. Aber doch kann die Phantasie es nicht lassen, eine zweite Wirklichkeit, so recht nach eigenem Bedarf, neben der nächstgegebenen und durch Unterricht er - weiterten zu entwerfen; sei es, dass man auf Robinsons un - sterblicher Insel sich heimisch macht oder auf Kriegspfaden der Rothäute; das gefährliche Abenteuer ist die Leibspeise der Phantasie für diese Stufe. Deshalb passt ihm so die wie für dies Alter geschaffene Welt des Homer, Ilias wie Odyssee, deren Helden fast wie unsterbliche Knaben handeln und reden. Es ist ein richtiger Instinkt, der nun seit so langer Zeit für diese Stufe der Bildung gerade diesen Lehrmeister gewählt hat.

Auch das Spiel des heranwachsenden Knaben (und Mädchens)257 sucht ähnliche Bahnen. Es geht desto leichter und williger in eigentliche, zweckbewusste Arbeit über; sie wird am wenigsten in diesem Alter als Frohndienst empfunden, sondern als will - kommene Uebung der Kraft, als fröhlicher Krieg gegen den widerstrebenden Stoff. Der Sinn für Regel und Ordnung ist dem normal entwickelten Kinde dieses Alters natürlich, ebenso wie jener dem Bürgersinn vorarbeitende Gemeinsinn, wie er in den festen Organisationen des Hauses, mehr aber der Schule, dem verkleinerten Abbild einer bürgerlichen Gemeinschaft, sich jetzt bestimmter herauszubilden Gelegenheit hat. Mit dem Sinn des trotzigen Sichbehauptens und Insichverschliessens als Knabe verschlossen und trutzig , sagt Goethe vereint sich ganz wohl die freudige Anerkennung des gleich tüchtigen, gleich selbständigen Andern. Das Verhältnis zum Andern ist jetzt vorzugsweise das einer auf Anerkennung persönlicher Tüchtigkeit ruhenden Achtung. Man ist ritterlich gesinnt ge - gen die Kleinen, denen gegenüber am ehesten etwas von ver - haltener Zärtlichkeit im unbeobachteten Augenblick sich her - vorwagt; ritterlich auch gegen den gleichstrebenden Altersgenossen. Der Wetteifer, von den Pädagogen oft über Gebühr gepriesen, oft ebenso ungebührlich gescholten, hat auf dieser Stufe der Erziehung seinen rechtmässigen Platz; man sollte ihm den Spielraum nicht gar zu eng ziehen, denn er ist diesem Alter natürlich und vermag die schönsten Kräfte aus dem Schlummer zu wecken. Seine Grenze aber und seinen Halt findet er an dem Sinn für Recht und Gesetz und für etwas wie ritterliche Sitten, die jeden unredlichen, zumal feiger, hinterlistiger Mittel sich bedienenden Wettbewerb scharf verurteilen. Das alles ist wertvoll als Schule, wie es denn auch in der Schule und aller schulmässigen Organisation, so im Waffendienst, vor - nehmlich seine Stätte findet.

In diesem allen ist aber wiederum der Einfluss der Ge - meinschaft vorzüglich wichtig, ja entscheidend. Die straffe Organisation der Schule ist deshalb für diese Stufe eine Not - wendigkeit und durch nichts Andres zu ersetzen. Nur eine etwas zu einseitige Fortsetzung davon, ein bisher nicht organisch genug sich anfügendes, seinem ganzen Charakter nach aberNatorp, Sozialpädagogik. 17258gleichartiges Anhängsel ist die weitere Schule des Waffen - dienstes. Sogar nirgends ist der erziehende Einfluss organisierter Gemeinschaft so greifbar, daher auch thatsächlich so hoch, selbst bis zum Uebermaass entwickelt. Von welcher Bedeutung gerade dies Formale des schulartigen Betriebs der Bildungs - thätigkeit für die Erziehung ist, ist an seinem Orte gezeigt worden; hier sei noch besonders darauf aufmerksam gemacht, wie das auch auf die ganze Behandlung des Stofflichen der Bildung, in intellektueller wie sittlicher Hinsicht, Einfluss hat. Die Konzentration, die aus dem Trieb den Willen erzeugt, kann freilich nur von einem jeden selbst vollbracht werden; aber sie findet die kräftigste Unterstützung in straffer äusserer Organisation, und umso mehr, je mehr sie dabei doch den Charakter wirklicher Gemeinschaft behält. Es ist das Element, in dem der Bürgersinn natürlich erwächst. Ueberwog viel - leicht anfangs der Trieb der individuellen Selbstbehauptung, so mässigt und begrenzt er sich bald in dem gleichzeitig er - starkenden Sinn für gemeinsame Behauptung. Man lernt, was man für sich will, gleichsam für alle wollen, für den Verein als solchen. Das Beste, was die Schule, und so auch der Waffendienst, in erzieherischer Hinsicht wirken kann, wirken beide als Verein; man sollte darum auch trachten sie möglichst zum Verein Gleichwollender, statt zur blossen Zwangs - und Dressuranstalt, zu machen. So würden desto mehr die an ihnen Teilnehmenden herangebildet zum grösseren Verein des Bürgertums, des Staats, in den beide sich, als nationale Ver - anstaltungen, sachgemäss einfügen. Es entwickelt sich aus dem natürlichen Kameradschaftstrieb der in gemeinsamer Schu - lung Heranwachsenden der Vaterlandssinn, als Bürgersinn und nur in und mit diesem zugleich militärischer Sinn, dessen ge - rechte Ansprüche wir nicht verkennen, wenn auch der Ueber - spannung seiner Bedeutung entgegenzutreten Anlass genug ist. Der organisierte Militärdienst hat jedenfalls das Verdienst, zu zeigen, was Organisation vermag.

Auch in allen diesen Beziehungen sind die Stoffe des klassischen Altertums von unschätzbarem Wert. Die ernsten Bilder von Bürger - und Kriegertugend, welche die historischen259 Schriftsteller des Altertums vorführen, sind dem Sinn des heranwachsenden Knaben durchaus homogen, sie müssen ihn packen, wenn sie nur in der rechten Weise ihm vorgestellt werden und nicht etwa die sonstige Erziehung das natürlich sich entwickelnde Verständnis dafür künstlich erstickt. Es ist oft und richtig bemerkt worden, dass die Geschichtschreibung der Alten schlichtere, durchsichtigere Verhältnisse zeigt als jedes moderne oder gar mittelalterliche Gemeinwesen, da sie, ohne des grösseren, nationalen Ausblicks zu entbehren, sich doch zunächst im Rahmen der natürlichen, d. h. der Stadt - gemeinde hält.

Es bedarf nur des einfachen Hinweises, wie alles auf dieser Stufe Gewonnene auch in der ganzen weiteren Entwicklung erhalten bleibt; wie auch damit ein Grund gelegt ist, der nicht wieder verlassen wird. Man lernt nach dem alten Spruch nicht für die Schule, sondern fürs Leben, und das Leben bleibt, ganz im gleichen Sinne, immerfort eine Schule, wiewohl nicht nur das. Damit aber, dass dieser grössere Sinn der Schule aufgeht, wird bereits die Schwelle zur dritten Erziehungsstufe überschritten, auf der das Leben selbst der Erzieher wird, Haus und Schule nur noch als mitwirkende, in der That sekun - däre Faktoren in Betracht kommen.

§ 28. Dritte Stufe: Freie Selbsterziehung.

Was bedeutet eigentlich der Schritt von der Schule zum Leben? Denn als das eigentliche Leben, für das das Haus und die Schule erziehe, betrachtet man ja erst das Leben jenseits beider. Was ist die erziehende Kraft dieses Lebens, was unter - scheidet sie von den erziehenden Kräften des Hauses und der Schule, die doch auch zugleich ein Leben sind? Ein erhöhtes Ziel der Bildung muss es sein, das über die enge Organisations - weise der Haus - und Schulerziehung hinaustreibt; eine neue Welt thut sich auf, neue grössere Formen der Gemeinschaft. Nur scheint die Erweiterung ein Schritt ins Unendliche und damit ziel - los zu sein. Denn gerade das Bewusstsein der Unendlichkeit260 der Aufgabe der Bildung ist es, worin der entscheidende Schritt zum Leben sich vollzieht. Kein endliches Ziel mehr will dem wie zur Selbstverewigung drängenden Streben genügen. Nicht bloss umfassendere Einheiten werden gesucht, sondern die letzte Einheit der Einheiten; nicht bloss höhere Zwecke aufgestellt, sondern nach dem Zweck aller Zwecke gefragt. So ist denn alles nichts, wenn das Eine fehlt, das dem Menschen alles Andre wert ist : so ist die Grundstimmung dieses Alters der Sehnsucht. Das Wort, aus Goethes pädagogischem Roman, hat zunächst die Liebessehnsucht im Sinn; aber der Philosoph wird sich dabei der Liebeslehre der Diotima in Platos Gast - mahl erinnern, diesem philosophischen Hymnus auf die Jugend. Da ist der Zusammenhang des unbegrenzten, aufs hohe Meer gelangenden Bildungsdranges in Wissenschaft, in sittlichen Be - ziehungen und in Kunstgestaltung mit dem erwachenden Liebes - verlangen in einer Klarheit und Tiefe enthüllt, an die auch Goethe kaum heranreicht. Sich selber, den Menschen in sich zu bilden, sein eigenes tiefstes Leben anzuknüpfen an die Kette des grossen, ewigen Lebens der Menschheit, von ihr es zu empfangen und in sie weiterzugeben, das ist der unerschöpf - liche Sinn des ganzen, unverstümmelten Jugenddranges. Das so erwachte Selbstbewusstsein sucht und erzwingt dann frei - lich auch die Objektivierung im andern Selbst; die Ahnung des Unendlichen in der eigenen Seele will sich reinigen und sichern in dem Glauben an das Unendliche in der Seele des Andern, darum einzig und grenzenlos Geliebten. Allein, ebenso wie man am Ich nicht haften will das wäre viel zu eng und eingeschlossen so ist auch das einzelne Du nur begrenzender Ausdruck eines Dranges, der an sich keine Grenze anerkennt. Aufs Persönliche zwar ist er ganz gerichtet, aber nicht auf die einzelne Person, weder die eigene noch die fremde, sondern auf die Menschheit sowohl in der eigenen Person als in der Person eines jeden Andern . Und so findet das Eine, das dem Menschen alles Andre wert ist , seinen reineren Aus - druck als Sache, als Idee, als das Wahre, Gute, Schöne, das in der letzten Idee, in der Idee der Idee Eins ist.

Also scheinen wir weit entfernt von einer neuen, beson -261 deren Form organisierter Gemeinschaft. Der jugend - liche Drang in seiner Unbedingtheit scheint fast über jede irgendwie konkrete Gemeinschaft hinauszutreiben. Aber vielleicht führt er doch auf einem Umweg zu ihr zurück. Lassen wir ihn denn sich rein seinem eigenen Gesetze gemäss entwickeln.

Er ist, schon dem Gesagten zufolge, zu allererst Er - kenntnisdrang. Auf keiner andern Stufe tritt das Streben nach Erkenntnis so unbedingt voran, ist Erkenntnis so sehr Selbstzweck. Wahrheit um jeden Preis, ganze Wahrheit wird verlangt; nicht dem Umfang nach, der dürfte der kleinste sein, hätte man nur im begrenzten Umfang die Gewissheit reiner, unverkleideter und ungeschminkter Wahrheit. Ja dem Ob - jekte nach möchte die Erkenntnis ganz zunichte werden: das was sie zunichte macht, die Kritik der Erkenntnis aus der ideellen Forderung ganzer, fehlloser Wahrheit, trüge doch ein Moment von Wahrheit, ja die höchste Wahrheit in sich, die des Selbstbewusstseins der Erkenntnis. Daher soll man den Geist furchtlosester Kritik zu wecken und zu nähren nicht scheuen; es ist nichts dabei zu besorgen, am wenigsten für die Sittlichkeit. Auf Jugend zwar reimt sich keine Tugend . Aber das sollte man so verstehen, dass kein äusseres, hetero - nomes Tugendgebot ihr mehr genügt. Sie verlangt nicht bloss das Gute selber zu thun, sondern, um ihr ganzes Selbst dafür einsetzen zu können, begehrt sie auch selber, autonom, zu bestimmen, was das Gute sei, und von keinem Andern darüber eine Belehrung annehmen zu müssen, die nicht das eigene Bewusstsein frei zu bejahen imstande ist. Nicht Rück - sichten des äussern Lebens, nicht blosse Sitte oder äussere Ehre oder Menschenfurcht soll mehr bestimmend sein, sondern unbedingte innere Aufrichtigkeit walten, die dann auch wohl nicht umhin kann in Aufrichtigkeit gegen alles Aeussere auch bis zur Rücksichtslosigkeit sich auszusprechen. Das ist die edle Tugendlosigkeit der Jugend. Wer nicht in solchem Sinn in seiner Jugend über die Stränge schlüge, wäre wohl nicht jung, sondern einer jener Altgebornen, wie ihrer freilich viele einher - gehen. Die schlagen auch über die Stränge, aber anders; ihre262 Untugend ist bestenfalls Ausbruch überschüssiger blinder Kraft, und leicht sinnlose Kraftvergeudung, die sich nur allzu bald rächt und aus den scheinbar jugendstrotzenden Menschen früh - alte macht, denen man nicht ansieht, dass sie je eine Jugend gehabt haben. Selbst dabei kann irgendwo noch eine edlere Anlage sich verstecken, die nur etwa nicht freien Raum fand, sich ihrer Eigenart gemäss zu entfalten. Darum ist es, wenn die Jugend über die Stränge schlägt, so schwer zu beurteilen, ob das nur der Most ist, der sich absurd gebärdet, oder Schlim - meres. Bedenklich ist nicht an sich das Durchbrechen der äusseren Sitte; bedenklich ist nur, wenn es nicht aus Kritik geschieht, sondern aus Verachtung jedes kritischen Maasstabs. Wenn das Erstere, so ist noch nichts verloren; denn dieselbe Kritik, die das bloss Ueberlieferte verwarf, wird das für echt Erkannte festhalten und besser sichern, als es in der blossen Folgsamkeit gegen Sitte und öffentliche Meinung gesichert war. Man soll also die Kritik nicht beirren, sondern sie selber wecken, nur ihr auch kräftige Nahrung geben, indem man sie vor die echten Probleme stellt. Das aber führt unaus - weichlich zur Philosophie. Die Schule der Sokratik thut diesem Alter not; die in Plato sich aufs schönste ver - bindet mit der sicheren Hinleitung auf das ewige Endziel, die Idee. Wenigstens ein Vorschmack von Philosophie sollte keinem vorenthalten bleiben. Für die, denen zum tieferen Eindringen die Voraussetzungen fehlen, sollte man ein philo - sophisches Lesebuch zusammenstellen, das auf jeden Fall einige grosse Stücke aus Plato, das Fasslichste aus der Ethik Kants, Auszüge etwa aus Fichtes freier gehaltenen Schriften, aus Pestalozzi mit manchem Gleichartigen oder dazu Vorbe - reitenden in wohlbedachter Anordnung, nicht ohne die not - wendigen Erläuterungen, enthielte. Oder es sollte der Lehrer des Deutschen oder Griechischen in Prima (denn leider nur an