PRIMS Full-text transcription (HTML)
[I]
Theorie der Tonſetzkunſt
Berlin,in Commiſſion bei Wilhelm Logier1822.
[II][III]

Vorwort.

Dieſe Theorie der Tonſetzkunſt; wenn ich ſie ſo nennen darf, iſt zwar die Frucht eines ſchnellen Entſchluſſes und einer raſchen Ausfuͤhrung, jedoch das Reſultat eines mehrjaͤhrigen Nachdenkens und mancher Bemerkungen, die ſich mir bei Anhoͤrung aller Arten von Muſik oft unwillkuͤhrlich aufdraͤngten. Es hat mich dabei weiter keine andre Abſicht geleitet als die: zu nuͤtzen, ich wuͤnſchte daher wohl, daß wenigſtens mein guter Wille dieſen Zweck zu errei - chen, gefaͤllig aufgenommen werden moͤchte. Die mir dazu verbleibende Zeit erlaubte mir nicht, auf irgend eine Eleganz der Schreibart denken und das Ganze hier und da verbeſſern zu koͤnnen; auch geſtattete der Plan des Werks nicht, mehreres ſo ausfuͤhrlich zu behandeln wie ich wohl gewuͤnſcht haͤtte.

Die Idee, die Harmonie zu erklaͤren, gehoͤrt mir urſpruͤnglich nicht, ſon - dern dem achtungswerthen Portmann, ob ich ſchon geſtehen muß, daß mir von der Zeit her, wo ich ſein Syſtem las, nichts weiter im Gedaͤchtniße ver - blieben war als die Grundzuͤge ſeines Planes.

Wenn manches in den Abhandlungen dunkel geblieben iſt, ſo liegt die Schuld nicht an einem fehlerhaften Zuſammenhange der Theorie ſelbſt, ſondern an dem Mangel einer vollkommenen Erklaͤrung, und daher ruͤhrt es auch, daß ich einiges vielleicht wiederholt, und hin und wieder etwas weſentliches weg - gelaſſen habe.

Ich laͤugne es nicht, daß ich mehr die Abſicht gehabt habe, den Grund der Schoͤnheiten in der Muſik aufzuſuchen und wo moͤglich einen Fingerzeig zu Erreichung der Stufe, zu geben, worauf Mozart, Gluck und Haydn ſtanden, als der Welt noch einmal alle Regeln fruͤherer General-Baß-Schu - len und Theorien zu wiederholen, deren Qualitaͤt und Quantitaͤt oft gerade* 2IVdaran Schuld iſt, daß ſich unſre Phantaſie der Ketten nicht entledigen kann. Indem ich jedoch uͤberzeugt bin, daß die außerordentlichſten Faͤhigkeiten eines Menſchen nicht hinreichend ſind ein Intereſſe in der Muſik zu erregen, welches der Cultur derſelben in unſern Zeitalter angemeſſen iſt, ferner, da ich glaube, daß die Kenntniß des Kontrapunkts und der Fuge weſentlich nothwendig ſind, um ſich uͤber das Gemeine und die Regelloſigkeit vieler Componiſten zu erhe - ben und den Arbeiten einen klaſſiſchen Werth zu geben, ſo habe ich die vor - trefflichen Lehren Marpurgs uͤber dieſe Gegenſtaͤnde zuſammengedraͤngt und das Hauptſaͤchlichſte, ſoviel es der Raum geſtattete, faſt woͤrtlich mit aufge - nommen. Die wahre Kunſt ſchließt alles Vorurtheil und ihren Erbfeind: den Neid aus, und nimmt alles Gute wie und wo ſie es findet ohne Neben - abſicht auf, weshalb ich auch hoffe, daß, wenn ich meinen Zweck verfehlt ha - ben ſollte, wenigſtens mein Wunſch ihn zu erreichen, entſchuldigt werden kann.

Wenn man die aͤltern Lehren der muſikaliſchen Compoſition genau be - trachtet, ſo findet man, daß ſich auffallende Meinungen und zweckloſe Regeln in dieſelben eingeſchlichen haben, wahrſcheinlich theils dadurch, daß die Sy - ſteme nicht einfach genug waren, wodurch immer Ausnahmen entſtehen muß - ten; theils daß die Regeln derſelben auf Tonſtuͤcke gegruͤndet wurden, die keine Muſter haͤtten abgeben ſollen, weil ſie nicht immer harmoniſch richtig waren. Was den erſten Fall betrifft, ſo geben faſt alle General-Baß-Schulen aͤlterer Zeit das Beiſpiel einer ungeheuern Ausdehnung und Unfaßlichkeit ab, und das Ganze iſt oft nichts mehr und nichts weniger als eine Compilation einzelner Faͤlle und der daraus entſprungenen Regeln. Der zweite Fall mußte eintreten, weil eben noch kein ganz uͤbereinſtimmendes Syſtem vorhanden war, wonach einzelne falſche Harmonien oft ſchon beruͤhmter Componiſten, gepruͤft werden konnten, und man wußte nicht genau, ob man die Regeln nach den Tonſtuͤcken oder die Tonſtuͤcke nach den Regeln anfertigen ſollte. Das Ohr und Gefuͤhl proteſtirt zwar oft gegen Barbarismen der Muſik, aber das Vorurtheil: daß dergleichen Tonſtuͤcke nur fuͤr Kenner geſchrieben ſein ſollen, benimmt uns allen Muth, eine uns vorgeworfne Unwiſſenheit abzulehnen.

Es giebt aber in der Muſik eben ſo gut eine Wahrheit die ſich auf die Richtigkeit der harmoniſchen Natur der Toͤne gruͤndet, wie in andern KuͤnſtenV und Wiſſenſchaften, und mithin auch eine Beſtaͤtigung des Ausſpruchs Leſ - ſings Nichts iſt ſchoͤn, was nicht wahr iſt . Solche muſikaliſche Unwahr - heiten ſind aber leider haͤufig anzutreffen; um jedoch kein Beiſpiel anfuͤhren zu duͤrfen, will ich nur im Allgemeinen bemerken; daß diejenigen Stellen eines Tonſtuͤcks immer ſolche Unwahrheiten ſind, die einem gebildeten Gehoͤre mißfallen, ſie moͤgen ihren Grund in der Harmonie oder in der Melodie oder im Rhythmus haben. Da nun aber die Genialitaͤt in der Muſik nicht in der Kenntniß einzelner ſondern in der Erfindungsgabe aller weſentli - chen Theile und in der beſondern Zuſammenſtellung der letztern zu einem vollkommenen ſchoͤnen Ganzen beſteht, ſo kann auch in der Muſik etwas rich - tig oder wahr ſein ohne daß es deswegen ſchoͤn iſt. Und dies unterſcheidet den blos guten Arbeiter von dem Genie, denn die Kenntniß iſt Sache des Ver - ſtandes und der Urtheilskraft, die Genialitaͤt aber Eigenſchaft der Erfin - dungsgabe und der Urtheilskraft zugleich.

Man hat haͤufig angenommen, daß die Phantaſie des Tonkuͤnſtlers bei Erfindung ſeiner Tonſtuͤcke ganz allein, (gleich dem Fatum der Alten uͤber die menſchlichen Schickſale) walte, und den techniſchen Theil mit wenigerer Auf - merkſamkeit in Hinſicht auf Erfindung behandelt. Es iſt zwar wahr, daß ein gluͤcklicher und freundlicher Genius den Kuͤnſtler umſchweben muß, allein es iſt auch nicht weniger wahr, daß die Schoͤnheiten der Kunſtwerke groͤßten - theils nur aus der Vervollkommung aller, ſelbſt der kleinſten ma - teriellen Theile entſtehen, und daß die Phantaſie nur die Fackel haͤlt das Ganze zu erleuchten, um ſich mit ungewoͤhnlichen Schwunge uͤber alle Hinderniſſe und Unvollkommenheiten erheben zu koͤnnen. Die Phan - taſie muß mit der Wiſſenſchaft unter Controlle der Urtheilskraft und des gu - ten Geſchmacks, gleichen Schritt gehen, denn faſt alle große Werke ſind, naͤchſt einer lebhaften Phantaſie (die vorauszuſetzen iſt) Fruͤchte der Kenntniß und des Fleißes, und wenn ſo wenig Menſchen bei ſolchen Eigenſchaften einen großen Zweck erreichen, ſo liegt die Urſache groͤßtentheils an dem Mangel einer rich - tigen Anſicht der Kunſt-Produkte und an einem gewiſſen feindlichen Geſchicke der Lebens-Verhaͤltniſſe, die auf das Gelingen und dem Beifall unſerer Ar - beiten einen ſo bedeutenden Einfluß haben.

VI

Wenn der Tonkuͤnſtler ſich nicht im Geiſte den ganzen Effect ſeiner Ar - beit vorſtellen, ſeine Gedanken nicht ohne Inſtrument niederſchreiben, die fol[-]genden Ideen nicht aus den erſtern entwickeln kann und nur der Eingebung mechaniſch folgen muß, ſo kann er nichts großes und ſchoͤnes erwarten. Die ganze Sphaͤre der Toͤne muß klar vor ſeiner Seele ſtehen, um ſich die Melo - dien und Harmonien daraus zu bilden. Iſt ſein Begriff von den Schoͤnhei - ten der Muſik berichtigt, und ſein Sinn dafuͤr gebildet, ſo wird ihm ſeine Phantaſie die Gedanken erfinden und vor das Ohr ſeiner Seele ſtellen; ge - fallen ſie ihm, ſo wird ſeine auf die Kenntniß aller, ſelbſt der kleinſten Theile geſtuͤtzte Urtheilskraft ſie ſondern, und ſchreibt er ſie wieder ſo wahr und rich - tig nieder als er ſie empfunden hat, ſo muͤſſen ſie auch bei andern ein gleiches Gefuͤhl erwecken. Iſt ſein eignes Urtheil aber mit den vorgeſtellten Ideen nicht zufrieden, ſo iſt es ein Beweis, daß die Phantaſie nicht thaͤtig genug ge - weſen iſt, dem Begriffe von wahrer Schoͤnheit zu entſprechen. Ueberhaͤuft im Gegentheil die Phantaſie die Urtheilskraft, ſo faͤllt oft der Stempel der Deut - lichkeit und Klarheit hinweg.

Es haben viel gute Theoretiker uͤber die Lehre der Compoſition geſchrieben, uns aber practiſch keinen Beweis gegeben ob ſie recht hatten oder nicht; und diejenigen, die uns durch ihre Kunſtwerke begeiſtern, haben nichts daruͤber ge - ſagt, entweder weil ihnen eine dergleichen Arbeit zu geringe ſchien oder zu ſchwierig, etwas zu beſchreiben was nicht gut zu beſchreiben iſt.

Ich bin weit entfernt mir einzubilden, daß ich erſetzen koͤnne, was jene Auserwaͤhlten unterlaſſen haben, ich habe mich jedoch auch nicht von dem Verſuche: etwas zum Beſten der Kunſt beizutragen, abſchrecken laſſen. Ich wage es daher, dem Leſer nachſtehende Kapitel vorzulegen und die Entſchei - dung ſeiner gefaͤlligen Pruͤfung anheim zu ſtellen.

Berlin, den 1ſten Mai 1822.

Der Verfaſſer.

[VII]

Inhalt.

Erſte Abtheilung.

  • Erſtes Kapitel. Noten-SyſtemSeite 1
  • Zweites Kapitel. Toͤne 1
  • Drittes Kapitel. Tonleitern 2
  • Viertes Kapitel. Octaven 5
  • Fuͤnftes Kapitel. Ton-Entfernung. Seite 5
  • Sechstes Kapitel. Verwandtſchaft der Tonarten 6

Zweite Abtheilung.

  • Erſtes Kapitel. Harmonie 9
  • Zweites Kapitel. Intervalle einer Tonart und ihre Benennungen nach dem Noten und Zahlen Syſteme 22
  • Drittes Kapitel. Conſonanzen und Dißonanzen der Intervalle einer Tonart 33
  • Viertes Kapitel. Harmoniſche Be - wegung 35
  • Fuͤnftes Kapitel. Fortſchreitung in Quinten und Octaven 38
  • Sechstes Kapitel. Harmoniſche Mehrdeutigkeit eines jeden Tones 42
  • Siebentes Kapitel. Stimmenfuͤhrung 48
  • Achtes Kapitel. Verdoppelung der Intervalle 49
  • Neuntes Kapitel. Auslaßung der Stimmen 51
  • Zehntes Kapitel. Modulation oder harmoniſche Fortſchreitung 52
  • Eilftes Kapitel. Einrichtung der Mo - dulation der Tonſtücke überhaupt 68

Dritte Abtheilung.

  • Erſtes Kapitel. Melodie 69
  • Zweites Kapitel. Accent der Melodie 87
  • Drittes Kapitel. Zerlegung der Har - monie in melodiſche Theile 93
  • Viertes Kapitel. Aufnahme fremder Ideen bei Erfindung der Melodie 101
  • Fuͤnftes Kapitel. Nachahmung bei Erfindung der Melodie 104
  • Sechstes Kapitel. Satz und Gegen - ſatz bei Erfindung der Melodie 106
VIII

Vierte Abtheilung.

  • Erſtes Kapitel. Rhythmus, Metrum und Symetrie in der Muſik 109
  • Zweites Kapitel. Beſondre Hülfsmit - tel des muſikaliſchen AusdrucksSeite 155

Fuͤnfte Abtheilung.

  • Erſtes Kapitel. Contrapunct. 162
  • Zweites Kapitel. Doppelter Contra - punct 166
  • Drittes Kapitel. Dreifacher oder dreiſtimmiger Contrapunct 185
  • Viertes Kapitel. Vierdoppelter oder vierſtimmiger Contrapunct 193
  • Fuͤnftes Kapitel. Doppelt verkehrter Contrapunct 207
  • Sechstes Kapitel. Rückgängiger Con - trapunct 219
  • Siebentes Kapitel. Verſetzung ei - ner Compoſition in verſchiedenen Be - wegungen und deren Auflöſung in verſchiedene Contrapuncte 223
  • Achtes Kapitel. Fuge 223
  • Neuntes Kapitel. Canon 236

Sechste Abtheilung.

  • Erſtes Kapitel. Ideen über den Aus - druck 245
  • Zweites Kapitel. Vom Style oder von der Schreibart der Muſik überhaupt. 249
Erſte
[1]

Erſte Abtheilung.

Erſtes Kapitel. Von dem Notenſyſteme.

Bevor zu der Abhandlung der einzelnen Theile der Tonſetzkunſt geſchritten werden kann, iſt es noͤthig, vorher mit wenig Worten zu bemerken, daß; um andern die Kunſt: die Toͤne nach gewiſſen Regeln zu einem vollkommen Muſikſtuͤcke zu bilden, mittheilen zu koͤnnen, ſchriftliche Zeichen noͤthig wurden, die man nach und nach in ein vollkommenes Syſtem gebracht hat.

Da dieſem Syſteme (Noten Syſtem) weiterhin eine eigene Abhandlung gewidmet worden iſt, ſo kann das Naͤhere hier uͤbergangen werden, da ohnehin vorauszuſetzen iſt, daß dem Leſer die Noten, die Leitern, die Pauſen und andre Zeichen der Muſik - Sprache bekannt ſein werden.

Zweites Kapitel. Von den Toͤnen.

Es iſt wohl mit Gewißheit vorauszuſetzen, daß; wer ſich der Tonkunſt widmen will, wiße, was ein auf eine beſtimmte Tonart ſich beziehender Ton iſt.

Es giebt in der Natur nur 7 Toͤne die ſich unſerm Gehoͤre am ſchaͤrfſten einpraͤgen, als:

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und außer dieſen noch 5 andere, durch deren Dazwiſchentretung ſie die Namen: halbe Toͤne erhalten, als:

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A2

Vergleicht man dieſe Scala mit der erſten, ſo ergiebt ſich, daß zwiſchen dem 3ten und 4ten Ton kein halber tritt, was auch der Fall iſt, wenn man auf den 7ten Ton den 8ten (im Grunde wieder der erſte) folgen laͤßt.

Dieſe Abweichung hat Veranlaßung zu der Vermuthung und ſelbſt zu vielen unnuͤtzen gelehrten Abhandlungen gegeben, daß wir noch kein regelmaͤßiges Tonverhaͤltniß beſaͤßen; allein jedes richtige Gefuͤhl in Betreff der Toͤne widerlegt jede Behauptung dieſer Art, und das beſtehende Tonverhaͤltniß iſt hinreichend, unſern Scharfſinn: aus ihnen eine Sprache unſerer Empfindungen (Muſik) zu bilden, daran uͤben zu koͤnnen.

Vorbemerkte Toͤne ſind die einzigen Elemente der Muſik, aus deren Uebereinan - derſetzung, (Harmonie) und Hintereinanderſetzung (Melodie) die Art und Weiſe entſtanden iſt, die Tonſetzkunſt genannt wird. Welchen Grad der Kultur dieſe Kunſt bis jetzt erreicht hat, iſt bekannt, welchen ſie aber noch erreichen wird, laͤßt ſich nicht beſtimmen.

Nimmt man einen dieſer Toͤne, er ſei welcher er wolle, wieder als Grundton an, und laͤßt darauf die andern in einer gleichen Entfernung folgen, wie in vorher angefuͤhr - ter Tonart C dur geſchehen iſt, ſo entſteht eine andre Tonart.

Drittes Kapitel. Von der Tonleiter.

Eine ſtufenweiſe Fortſchreitung von 7 Toͤnen bis zum 8ten, die auf fuͤnf großen und zwei kleinen Tonſtufen geſchieht und unſer Ohr befriedigt, iſt unter dem Namen der diatoniſchen Tonleiter (Tonart) bekannt. Sie koͤmmt in zweierlei Geſtalten vor und zwar:

Dur und Moll.

Beide unterſcheiden ſich durch die Lage der kleinen Tonſtufen. Folgen nach dem erſten Tone (den man Grundton, Tonika, Prime nennt) zwei große Tonſtufen und darauf eine kleine, ſo heißt die Tonleiter hart (Dur), folgt hingegen nach der erſten großen Tonſtufe eine kleine, ſo heißt die Tonart weich (Moll).

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Das Unterſcheidungszeichen beider Tonleitern beſteht in der großen und kleinen Terz vom Grundton an gerechnet. In die Dur Tonart gehoͤrt die große, und in die Moll Tonart die kleine Terz.

3

In der Dur Tonart geſchieht die Fortſchreitung der Intervalle auf und abwaͤrts auf gleiche Weiſe, oder auf den nehmlichen Tonſtufen. In der Moll Tonart aber veraͤndern ſich die Intervalle, nehmlich abwaͤrts erniedrigt man die der Octave naͤchſten zwei Stu - fen oder Toͤne um einen halben Ton.

Es iſt nicht zu laͤugnen, daß dieſe Abweichung der Moll Tonleiter einigen Irrthum veranlaſſen kann, weil in der Praxis, abwaͤrts wieder eine Abaͤnderung eintritt; ſie gruͤn - det ſich jedoch nur auf die zwei Faͤlle: ob die kleine Septime in der Harmonie oder Melodie vorkoͤmmt. In harmoniſcher Verbindung kommt ſie nicht klein vor, aber in der Melodie, weil ſonſt im letzten Falle der Sprung von der großen Septime auf die kleine Sexte zu groß ſein wuͤrde. Beide Tonleitern ſind folgende:

C Moll.

aufwaͤrtsabwaͤrts

beide melodisch richtig.

aufwaͤrts

melodiſch und harmoniſch anwendbarblos harmoniſch anwendbar.

Der Grund liegt darin, daß nur die Intervalle der letzten Tonleiter in der Haupt - harmonie, naͤmlich: in der zuſammengeſetzten Primen und Dominantenharmonie, liegen.

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Da innerhalb einer Octave der Tonleiter 12 halbe Toͤne (die auch die chromatiſche Tonleiter genannt wird) melodiſch hinter einander folgen koͤnnen, ſo kann auch von je - dem halben Tone an gerechnet, wieder eine andre chromatiſche Tonleiter gebildet wer -A 24den, woraus im Ganzen 24 Tonarten entſtehen, naͤmlich 12 harte (Dur) und 12 weiche (Moll). Eine Harmoniſche Tonleiter iſt in den Dur und Moll Tonarten ganz gleich, nur unterſcheiden ſie ſich durch die Vorzeichnung.

Chromatiſche Tonleiter.

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Bei der diatoniſchen Tonleiter in den Moll Tonarten wird die Vorzeichnung ge - waͤhlt wie ſie abwaͤrts noͤthig iſt z. B.

in C Moll.

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Die Regel, daß der ſiebente Ton der Tonleiter; den man auch den Leiteton (Sub - semitonium modi) nennt, durch ein chromatiſches Zeichen in der harmoniſchen Fortſchrei - tung nicht veraͤndert werden darf, faͤllt von ſelbſt weg, wenn nach obiger Erklaͤrung die Septime nur melodiſch anwendbar iſt.

Unter den ſieben weſentlichen Intervallen einer Tonart ſind in der Fortſchreitung einige dem Gehoͤre annehmbarer und faßlicher als andre. Z. B. Die große und kleine Terz, die reine Quinte, die Octave, die kleine und große Quarte, die kleine und große Sexte nebſt ihren Umkehrungen. Der richtige Gebrauch geht jedoch aus der Art und Weiſe hervor, ob ſie harmoniſch oder melodiſch fortſchreitend vorkommen. Entweder eine harte oder weiche Tonart muß jedem Stuͤcke zu Grunde liegen, ſo wie jede Melo - die und harmoniſche Begleitung ſich auf eine beſtimmte Tonleiter beziehen muß.

Tabelle der Vorzeichnung aller Tonarten.

Dur Tonarten mit

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Dur Tonarten mit B.

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Moll Tonarten mit

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Moll Tonarten mit B.

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Viertes Kapitel. Von den Octaven.

Wenn man den 7 ſogenannten ganzen Toͤnen noch den 8ten hinzufuͤgt, ſo nennt man einen ſolchen Tonumfang eine Octave. Die menſchliche Stimme und der groͤßte Theil der Inſtrumente geht uͤber einen ſolchen Umfang hinaus, und es iſt auch noͤthig, daß ſich die Tonwerkzeuge nicht blos auf einen ſolchen Umfang erſtrecken, weil jedes Muſik - Stuͤck, wenn es auf harmoniſche und melodiſche Schoͤnheiten Anſpruch machen will we - nigſtens eine Sphaͤre von zwei Octaven haben muß.

Fuͤnftes Kapitel. Von der Ton-Entfernung.

Der Raum der zwiſchen zwei Toͤnen ſtatt findet, wird Intervall auch Tonſtufe ge - nannt. Z. B. zwiſchen c und d iſt eine Tonſtufe, zwiſchen c und cis eine halbe.

6

Nach den Stufen werden gewoͤhnlich die Toͤne genannt, die man von einem gewi - ßen Grundton ab gerechnet, bezeichnen will, z. B. wenn C als Grundton angenommen wird und man will den nachfolgenden ganzen Ton benennen, ſo ſagt man die Secunde, und zwar die große Secunde zum Unterſchied der kleinen oder uͤbermaͤßigen.

Auf dieſe Weiſe zaͤhlt man weiter, naͤmlich von C iſt e die Terz, f die Quarte, g die Quinte, a die Sexte, h die Septime. Will man einen dieſer Toͤne um eine halbe Stufe hoͤher oder niedriger bezeichnen, ſo ſagt man die uͤbermaͤßige oder kleine Se - cunde ꝛc.

Ein auf dieſe Weiſe bezeichneter Ton wird im allgemeinen auch ſehr haͤufig Inter - vall genannt.

Da der Zweck, auf dieſe Weiſe zu zaͤhlen und Noten zu beziffern, beſonders die Har - monie angeht, und auch nicht leicht eher eine voͤllige Deutlichkeit zu erlangen iſt als bis man dieſe kennt, ſo iſt die naͤhere Erlaͤuterung erſt in den Kapitel: Von den In - tervallen einer Tonart und ihren Benennungen nach den Noten und Zahlen Syſteme geſchehen.

Sechstes Kapitel. Von der Verwandſchaft der Tonarten.

Man hat ſchon laͤngſt die Bemerkung gemacht, daß jede Tonart mit einer andern entweder eine naͤhere oder entferntere Verwandſchaft hat, und den Umſtand zum Grunde angenommen, daß diejenigen Tonarten mit einander in einer naͤheren Verwandſchaft ſte - hen, die mit einander die mehreſten weſentlichen ſieben ganzen Toͤne gemein haben. Im allgemeinen iſt dieſe Bemerkung richtig und wird auch gewoͤhnlich bei der Compoſition in ſofern beobachtet, daß man mit Verlauf des erſten Theils in die zunaͤchſt verwandte Tonart durch die Dominante uͤbergeht. Ich finde dies Verfahren, ohne damit ſagen zu wollen, daß es als Geſetz gelten ſolle, richtig, doch koͤnnten viele Belege aus den Werken beruͤhmter Componiſten beigebracht werden, die das Gegentheil beweiſen. Wenn ich vorher geſagt habe, daß eine Tonart der anderen naͤher verwandt iſt, wenn ſie mit ihr die mehreſten weſentlichen Toͤne gemein hat, ſo bleibt dabei zu bemerken, daß eine Ton - art immer zwei andern gleich verwandt iſt. Z. B. C dur hat die weſentlichen Toͤne.

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7

G dur, die fuͤr die naͤchſte verwandte Tonart genommen wird, hat außer der großen Septime fis, alle Toͤne mit ihr gemein:

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F dur hat auch alle Toͤne mit C dur gemein außer der kleinen Quarte b:

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Folglich iſt die Tonart C dur, mit F dur eben ſo nahe verwandt als G dur, ja noch naͤher, und zwar aus folgenden Gruͤnden: In der Harmonie C dur.

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liegen von unten herauf bereits alle Toͤne in den Septimen Accorde der Dominanten harmonie F dur, und man braucht derſelben blos die kleine Septime zu zuſetzen um in der Tonart F dur zu ſein:

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Nicht ſo kurz iſt der Uebergang aus C dur in G dur, weil ſtreng genommen, der Weg erſt durch die Dominantenharmonie gehen muß, z. B.

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Die Entfernung liegt nur in der Veraͤnderung der erſten Harmonie.

Man kann dieſe beiden Verwandſchaften ſehr gut als gleich nahe beſtehen laſſen, und ſie mit aufſteigender und abſteigender Linie vergleichen. Die Verwandſchaft durch die Dominante fuͤhrt bis Fis dur auf die hoͤchſte Stufe der Veraͤnderung des Notenſyſtems. Faͤngt man von dieſer Stufe an durch die kleine Septime und die Vorzeichnung die Tonart Fis dur in des zu veraͤndern, ſo koͤmmt man ſtufenweiſe wieder nach C dur zuruͤck.

Außer dieſen zwei Tonarten ſind der Tonart C dur unmittelbar am naͤchſten ver - wandt, E moll und dur, nicht wegen den mit einander gemeinhabenden weſentlichen ſie - ben ganzen Toͤnen, ſondern weil ihr[Grundton] E in der Primenharmonie von C dur be - reits liegt. Aus letzterem Grunde liegt C moll der Dur-Tonart natuͤrlich noch naͤher.

Ferner folgen unmittelbar auf C dur außer den genannten, die Tonarten Amoll und dur, D moll und dur, und H moll und dur.

Die letztern ſind deshalb am entfernteſten von C unmittelbar verwandt, weil ihre Grundtoͤne als Diſſonanzen von C zu betrachten ſind, wodurch eine fehlerhafte Octaven Fortſchreitung erfolgen kann. Sollen die Tonarten nicht bald unmittelbar auf den Drei - klang C dur folgen, ſo giebt es weit entferntere, die doch weit naͤher liegen. Cis dur iſt naͤmlich von C dur unmittelbar gewiß am entfernteſten verwandt, mittelbar aber nicht, wie dies Beiſpiel beweißt:

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Man ſieht daher, daß die Verwandſchaften der Tonarten dem Componiſten keinen Zwang auflegen koͤnnen, denn die Phantaſie muß ohne Feſſeln herrſchen und die Harmonie ſich fuͤgen. Es koͤnnen mithin alle Verwandſchaftstafeln nur als ein Zeitvertreib der Theorie betrachtet werden.

Zweite9

Zweite Abtheilung.

Erſtes Kapitel. Von der Harmonie.

Die Harmonie beſteht aus einer Verbindung von mehrern Toͤnen, die zu gleicher Zeit gehoͤrt werden und einen Wohlklang bilden. Eine Harmonie, die alle 7 weſent - lichen Intervalle einer Tonart durch einen terzenweiſen Bau uͤber einander in - nerhalb zweier Octaven enthaͤlt, heißt die Hauptharmonie, und beſteht aus der Prime, Terz, Quinte, Septime, None, Undecime und Terzdecime, der Grund - ton dieſer Harmonie iſt die Prime.

Beiſpiel.

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Alle dieſe Toͤne koͤnnen moͤglicherweiſe, zu gleicher Zeit gehoͤrt werden. Da nun eine jede Tonart aus 12 halben Toͤnen beſteht, auf deren Primen gleiche Harmonien ge - baut werden koͤnnen, und zwar auf jede halbe eine Dur und Moll Hauptharmonie, ſo entſtehen 24 derſelben, wie ſie hier ſaͤmmtlich angegeben ſind.

B10
Haupt-Harmonien oder Primen Harmonien mit daruͤbergeſetzten Dominanten Harmonien aller Dur Tonarten.
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Haupt-Harmonien oder Primen Harmonien mit daruͤbergeſetzten Dominanten Harmonien aller Moll Tonarten.
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Außer dieſen 24 Haupt Harmonien, die alle unſerm Gehoͤre faßliche Toͤne enthalten, giebt es im Reiche der Muſik weiter keine, die ſich nach den Geſetzen der Tonarten rechtfertigen laſſen, und jeder Harmonieſchritt, der in der Modulation eines Tonſtuͤcks geſchieht, muß eine dieſer Harmonien zum Grunde haben.

Jede dieſer Haupt-Harmonien zerfaͤllt wieder in zwei Theile, wovon der erſte die Primenharmonie heißt, weil ſie auf den Grundton: die Prime gebaut iſt, und der zweite die Dominantenharmonie, weil ſie die Quinte oder Dominante zum Grundtone hat.

Beiſpiel.

Primen Harm. Domin. Harm.

PrimenHarm. Domin. Harm.

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Die Toͤne beider Har - monien koͤnnen ſo viel - mal verdoppelt werden, als zu Erreichung eines Zwecks noͤthig iſt. Z. B.

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11a

1., Jede von der Prime aufwaͤrts aus 3 terzweiſe uͤbereinander geſetzten Toͤnen be - heſtende Harmonie heißt mithin eine Primenharmonie, und

2., Jede von der Quintſtufe oder Dominante aufwaͤrts aus 5 terzweiſe uͤbereinan - der geſetzten Toͤnen beſtehende Harmonie, eine Dominanten Harmonie.

Bei der Dominanten Harmonie, wenn die Toͤne verdoppelt werden, faͤllt die Sexte der Tonort (hier a) aus, weil ſich die Harmonie allemal zwiſchen der Quarte und Quinte der Tonart (hier f und g) ſcheidet, und die Sexte blos zur Baſis des leitereig - nen Dreiklangs, des Terz Dezimen Accords der Primen Harmonie, und des Nonen Ac - cords der Dominanten Harmonie; wie in der weiterhin folgenden Tabelle der Accorde zu erſehen iſt, angewendet wird. Wenn nun gleich aus dieſen zwei Harmonien einer Tonart der groͤßte Theil der Accorde gebildet werden kann, ſo umfaſſen ſie aber doch nicht alle Zuſammenſtimmungen der Accorde die es giebt, ohne durch einen Ton aus der Tonart zu fuͤhren.

Es wird mithin der Haupt Harmonie eine zweite Haupt Harmonie zur Seite geſetzt, und zwar die auf die Quintſtufe oder Dominante ſich gruͤndende, nur mit dem Unter - ſchiede, daß ſie nur 6 Toͤne terzweiſe uͤbereinander gebauet; enthaͤlt, und daß darinnen nicht die große ſondern kleine Septime vorkommt, weil die erſtere aus der Tonart fuͤhren wuͤrde, (ſiehe die zweite Hauptharmonie pag. 10. auf der Prime G.)

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Dieſe Hauptharmonie zerfaͤllt wieder in zwei Theile, wovon der erſte die Wechſel Primen Harmonie heißt, weil die Accorde, die daraus gebildet werden denen der Primen Harmonie der Tonart ganz gleich ſind und nur immer mit einander abwechſeln, um eine Licht und eine Schattenſeite (Melodie) zu bilden, der zweite aber die Wechſel Dominanten Harmonie, weil die Accorde, die daraus gebildet werden, wiederum12 als Schattenſeiten der Accorde aus der eigentlichen Dominanten Harmonie betrachtet werden koͤnnen. Hier folgen die zwei Harmonien:

Beiſpiel,

Wechſel Wechſel Primen Harm. Domin. Harm.

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Die Toͤne beider Harmonien koͤnnen ſo vielmal verdoppelt werden, als zu Erreichung eines Zwecks noͤthig iſt. Z. B.

Wechſel Wechſel PrimenHarm. Domin. Harm.

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12a

Aus dieſen vorhergenannten zweierlei Haupt-Harmonien, die wieder in zweierlei Primen und zweierlei Dominanten Harmonien zerfallen, werden zwar die Harmonien einer Tonart erſchoͤpft, aber es koͤnnen immer noch nicht alle Accorde aus ihnen gebildet werden, die in einer Tonart exiſtiren, weil es außer der Prime und Quinte, worauf ſich dieſe Harmonien gruͤnden noch 5 andere weſentliche oder leitereigne Toͤne giebt, die oft Neben Primen genannt werden und worauf ſich noch Accorde gruͤnden, die nicht aus der Tonart fuͤhren.

Wenn ſpaͤterhin in dem Kapitel: von den Noten - und Zahlenſyſteme, gruͤnd - lich und anſchaulich bewieſen werden ſoll, warum es nicht gleichviel iſt, ob vor einer Note ein oder oder doppel oder oder doppel ſtehen muß, ſo iſt hier zu erin - nern, daß dort eine deutliche Anſicht nicht eher hervorgehen kann, als bis der Leſer die Accorde aller Dur und Moll Tonarten ſo ſpezifiſch ausgearbeitet und dabei die Zahl der Tonſtufen ſo genau beruͤckſicht hat, als es in den hiernaͤchſt folgenben zum Bei - ſpiele angenommenen zwei Tonarten C dur und C moll, geſchehen iſt.

In nachſtehenden Tabellen folgen alle Accorde welche die Sphaͤre einer Dur und einer Moll Tonart erſchoͤpfen.

Tabelle aller in der Tonart C dur vorkommender Accorde mit ihren Umkehrungen, wie ſie ſich auf die Primen, Dominanten, Wechſel Primen und Wechſel Dominanten Harmonie gruͤnden.

Aus der Primen Harmonie.

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Aus der Wechſel Primen Harmonie.

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Aus der Primen Harmonie. Aus der Dominanten Harmonie. auch ſo:

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Aus der Dominanten Harmonie. auch ſo: Aus der Dominanten Harmonie. auch ſo:

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Aus der Primen und Dominanten Harmonie. Aus der Primen und Dominanten Harmonie.

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Aus der Wechſel Dominanten Harmonie. Aus der Wechſel Domin. Harmonie.

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Um alle dieſe Accorde zweckmaͤßig zu benutzen, ſind die Kapitel von der Verdoppe - lung und Auslaſſung einiger Intervalle, zu beruͤckſichtigen.

Tabelle aller Accorde, die ſich noch auf die weſentlichen Toͤne der Tonart C dur gruͤnden oder leitereigen*)Die Dreiklänge, die ſich auf die leitereignen Töne gründen ohne daß ſie aus der Tonart füh - ren, können auch Neben Primen Harmonien genannt werden. Die Primen Harmonie mit ihren dreierlei Accorden auf der Dominante, kommt in vorherge - hender Tabelle unter der Wechſel Primen Harmonie vor, und fällt mithin hier weg. ſind und in ſofern zu ihr gehoͤren als ſie nicht aus der Tonart fuͤhren.

Aus der Primen Harmonie D moll.

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Aus der Primen Harmonie E moll.

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Aus der Primen Harmonie F dur.

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Aus der Primen Harmonie A moll.

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Aus der Dominanten Harmonie der Tonart.

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Dieſe dreierlei Accorde gruͤnden ſich auf keine Primen Harmonie.

Um alle dieſe Accorde zweckmaͤßig zu benutzen, ſind die Kapitel von der Verdoppe - lung und Auslaſſung einiger Intervalle, zu beruͤckſichtigen.

Außer den dreierlei Accorden auf den Neben Primen Harmonien, hat man bisher den jedesmaligen erſten Dreiklange, eine Septime hinzugefuͤgt und mithin noch eben ſo viel Septimen Accorde geſchaffen. Da ſie aber in der harmoniſchen Fortſchreitung nicht alle gleich gute Wirkung machen, ſo bleibt es einem jeden anheimgeſtellt, ob er ſie noch als weſentliche Accorde einer Tonart betrachten will oder nicht. Ich kann ſie als ſolche nicht annehmen, weil ſie groͤßtentheils den reinen Satz verdunkeln.

C moll. Aus der Primen Harmonie.

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Aus17

Aus der Wechſel Primen Harmonie.

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Aus der Primen Harmonie. Aus der Domin. Harm. Aus der Domin. Harm. auch ſo:

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Aus der Dominanten Harmonie. auch ſo: Aus der Domin. Harmonie. auch ſo:

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C18

Aus der Primen und Dominanten Harmonie. Aus der Primen und Dominanten Harmonie.

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Aus der Domin. Harm. Aus der Wechſel Dominanten Harmonie.

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Tabelle aller Accorde, die ſich noch auf die weſentlichen Toͤne der Tonart C moll gruͤnden und in ſolcher leitereigen ſind.

Aus der Dominanten Harmonie der Tonart.

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*)In den Moll Tonarten gründen ſich dieſe Accorde auf keine Primen Harmonie der Tonarten.
*)19

Aus der Primen Harmonie Es dur.

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Aus der Primen Harmonie F moll.

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Die Primen Harmonie mit ihren dreierlei Accorden kommt in vorher - gehender Tabelle unter der Wechſel Primen Harmonie vor.

Aus der Primen Harmonie As dur.

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C 220

Aus der Dominanten Harmonie der Tonart.

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*)Dieſe Accorde gründen ſich auf keine Primen Harmonie.
*)

Diejenigen Accorde, deren Toͤne alle in die Primenharmonie gehoͤren, ſind beruhi - gend und zu einem harmoniſchen Schluſſe geeignet. Sie werden Conſonanzen genannt. Da hingegen diejenigen Accorde, deren Toͤne alle in die Dominantenharmonie gehoͤren, außer dem Grundtone der Dominante, nicht beruhigen, ſondern das Gefuͤhl zur Auf - loͤſung in die zunaͤchſtliegenden Toͤne der Primenharmonie erwecken. Sie werden Diſſo - nanzen genannt. Beſtehen die Accorde aus Toͤnen beiderlei Harmonien, ſo loͤſen ſich blos die Diſſonirenden auf.

Wie die Intervalle einer Tonart ſich aufloͤſen, und warum ſie aufgeloͤßt werden muͤſſen, iſt in dem Kapitel von den Conſonanzen und Diſſonanzen der Intervalle einer Tonart naͤher erlaͤutert worden.

Außer den 20 ſpezifiſch angefuͤhrten Accorden jeder Tonart giebt es noch 15 nebſt ihren Umkehrungen, die noch zu der jedesmaligen Tonart gerechnet werden koͤnnen und andere weſentliche oder leitereigene Intervalle; außer der Prime und Quinte, deren Accorde ſchon angegeben ſind, zu Grundtoͤnen haben. Dieſe Accorde beſtehen blos in den Primenharmonien fremder Tonarten, koͤnnen aber als weſentliche Accorde der Hauptton - art betrachtet werden, weil ſie nicht aus der Tonart durch irgend einen Leiteton herausfuͤhren.

Außer dieſen Harmonien und Akkorden giebt es keine weiter, die ſich auf den Grund eines beſtimmten Syſtems rechtfertigen laſſen, und ſollten die Lehren der Harmonie mehr enthalten, ſo ſind ſie entweder falſch oder einzelne Toͤne derſelben ſind Wechſel oder durchgehende Toͤne, die nicht der Harmonie, ſondern der Melodie angehoͤren.

Wie die Accorde benannt werden, iſt in vorſtehender Tabelle bemerkt worden.

Die Accorde aus der Primenharmonie ſind mit dem Lichte, und die aus der Do - minantenharmonie mit dem Schatten in der Malerei zu vergleichen.

21

Wie die Accorde aus den Harmonien entſtehen und durch Zahlen bezeichnet werden, was man Generalbaß nennt, iſt in dem Kapitel: Von den Intervallen einer Tonart und ihren Benennungen nach dem Noten und Zahlenſyſteme, naͤher eroͤrtert worden.

So oft ein Ton der Primen Harmonie mit einem der Dominanten Harmonie oder einer von dieſen mit einem andern aus den Harmonien einer andern Tonart wechſelt, ſo entſteht eine melodiſche Fortbewegung, was aber nicht der Fall iſt, wenn die Toͤne einer Harmonie hinter einander gehoͤrt werden.

Sowohl die Hauptharmonien, als auch die Primen und Dominantenharmonien und Accorde einer Dur und Moll Tonart ſind denen der andern Tonarten voͤllig gleich.

Die Harmonien und Accorde liegen der Melodie zum Grunde, wie unter dem Ka - pitel von der Melodie das naͤhere eroͤrtert worden iſt.

Es iſt bisher viel daruͤber geſtritten worden, ob die Harmonie der Melodie, oder dieſe der erſtern unterzuordnen ſei; die Entſcheidung iſt aber zweifelhaft geblieben und wird es bleiben. Am beſten iſt es, man betrachtet beide als gleich wichtige Gegenſtaͤnde die einander zur Erreichung eines vollkommenen muſikaliſchen Zwecks die Hand bieten. Wer in beiden nicht gleich ſtark iſt, wird wohl ſchwerlich in die Reihe beruͤhmter Ton - kuͤnſtler geſetzt werden koͤnnen. So gern ich der Harmonie als der Baſis der Melodien den Vorzug einraͤumen moͤchte, ſo ſehe ich mich doch genoͤthigt, ſie der Melodie in ſofern unterzuordnen als ſie, ohne gerade eine große Genialitaͤt vorauszuſetzen, erlernt werden kann (wenn man nicht die Modulation dahin rechnet, die ein beſonderer Gegenſtand iſt und ſtreng genommen zur Melodie gehoͤrt) was bei Erfindung der Melodie nicht der Fall iſt. Beſonders iſt der Umſtand zu bedenken, daß jede harmoniſche Fortſchreitung zugleich eine Melodie bilden muß, wenn ſie richtig ſein ſoll, die man harmoniſche Me - lodie nennen koͤnnte, bei Erfindung der Melodie kann aber die harmoniſche Begleitung verſchieden hinzugefuͤgt werden, und die Melodie wird leider oft genug ohne Ruͤckſicht auf Harmonie erfunden.

Nachdem alle Harmonien und Accorde einer Tonart, und dadurch auch aller an - dern beſtimmt worden ſind, ſo gehoͤrt zu der Lehre der Harmonie weiter nichts, als die Kenntniß derſelben, denn mehrere andere Kapitel als z. B. die Umgeſtaltung der Harmo - nien durch leiterfremde Toͤne u. ſ. w. gehoͤren nicht hierher. Ich habe nicht fuͤr noͤthig ge - halten die Tabellen uͤber die Accorde aller Dur und Moll Tonarten ſelbſt auszuſchreiben ſondern es dem Leſer zur Uebung uͤberlaſſen, muß jedoch auf den großen Nutzen; es zu thun, aufmerkſam machen, weil mich die Erfahrung gelehrt hat, daß man ſonſt in der Lehre der Harmonie bei der Oberflaͤchlichkeit und den leichten Tonarten ſtehen bleibt. Wenn dies nicht der Fall waͤre, ſo wuͤrden wir nicht ſo viele Harmoniefehler, die auch einen ſo bedeutenden Einfluß auf die Melodie haben, in Tonſtuͤcken antreffen, die an ſich oft nicht ſchlecht gearbeitet ſind. Und wie will man die Zuſammenſtimmung der22 ganzen Harmonieſphaͤre; wo gar keine Ausnahmen ſtatt finden koͤnnen, wenn man ſie nach allen Tonarten und weſentlichen Accorden betrachtet, ohne eine vollſtaͤndige Ueberſicht kennen lernen?

Zweites Kapitel. Von den Intervallen einer Tonart und ihren Benennungen nach dem Noten und Zahlen Syſteme.

Die Intervalle einer Tonart werden auf zweierlei Art benannt und bezeichnet:

  • I. durch Buchſtaben
  • II. durch Zahlen (Bezifferung des General Baſſes)

a) Die Benennung nach Buchſtaben findet ſtatt: wenn man einen beſtimmten Ton; der nach dem Notenſyſteme und der mathematiſchen Eintheilung der Toͤne eines Inſtruments z. B. der Taſtatur des Forte Piano, ſtets unveraͤndert bleibt, benennen will, als c, d, e, f, g, a, h, c. Dieſe Benennung iſt allgemein eingefuͤhrt und leicht zu mer - ken, weil nur einige auf zweierlei Art die Namen erhalten, z. B. c. Cis und d. Des ꝛc. welche doppelte Benennung im Grunde auch nur das Noten Syſtem und nicht die Na - men der Toͤne eines Inſtruments ſelbſt, betrift.

Auf den vollkommenen Inſtrumenten finden naͤmlich 12 Toͤne ſtatt, die eingetheilt werden in 7 ganze und 5 halbe.

Daß dieſe Benennungen falſch ſind, bedarf wohl keines weitern Streits, denn dieje - nigen Toͤne, die in der Tonart C dur, ganze genannt werden, veraͤndern ſich in Cis dur oder moll ꝛc. zum Theil in halbe. Dieſe Verwirrung betrifft daher mehr die Ver - wechſelung des Noten Syſtems mit den Toͤnen des Inſtruments.

Alle 12 Toͤne ſind im allgemeinen als halbe zu betrachten, von welchen immer 7, zu einer Tonart gebildet werden, und man mag die Tonarten betrachten wie man will, ſo findet man, daß dieſe Eintheilung ganz uͤbereinſtimmt.

Bei einer harten Tonart liegen zwiſchen den 7 Toͤnen jedesmal halbe, außer zwi - ſchen den 3ten und 4ten, und zwiſchen den 7ten und 8ten aufwaͤrts, (welcher letztere wieder als der 1ſte der Tonart zu betrachten iſt) nicht.

Bei einer Moll Tonart iſt die Scala aufwaͤrts anders als herunterwaͤrts. Aufwaͤrts naͤmlich, liegen zwiſchen den 7 Toͤnen jedesmal wieder halbe Toͤne, außer zwi - ſchen den 2ten und 3ten und zwiſchen den 7ten und 8ten, (inſofern der 8te wieder als Anfang zu betrachten iſt) nicht. Herunterwaͤrts aͤndert ſich aber die Lage derſelben,23 naͤmlich: wenn man von oben heruntergeht, ſo liegen zwiſchen allen Toͤnen halbe, außer zwiſchen den 3ten und 4ten und zwiſchen den 6ten und 7ten, nicht.

Der letzte Umſtand zeigt von einer Unregelmaͤßigkeit, die weniger die Natur der Toͤne als die mathematiſche Eintheilung betrift. Dieſe ſcheinbare Unregelmaͤßigkeit iſt leicht zu beſeitigen, wenn man die Grundſaͤtze genau beobachtet: bei der Harmonie die Scala aufwaͤrts und bei der Melodie die Scala abwaͤrts zu nehmen. Dieſe Abweichung iſt leicht zu begreifen wenn man bedenkt, daß in der weichen Tonart die Septime oder der 7te Ton nicht ein Ton ſondern zweierlei Toͤne ſind; denn aufwaͤrts heißt der 7te z. B. in C moll, H, abwaͤrts aber heißt er B, und der 6te Ton aufwaͤrts A und ab - waͤrts As. Aufwaͤrts kann aber B nicht genommen werden, weil die Harmonie nicht die kleine Septime ſondern die große als weſentlichen Ton in ihrem Baue hat; ſelbſt wenn eine Stimme ſich melodiſch herunter jedoch nicht weiter als uͤber die Septime bewegt, ſo kann die kleine Septime nicht eintreten, weil eine Aufloͤſung aufwaͤrts noͤthig wird. z. B.

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Es haben ſich einige Lehrer des General Baſſes bemuͤht, die Scala abwaͤrts fuͤr falſch zu erklaͤren und die aufwaͤrts fuͤr beide Faͤlle vorzuſchlagen, allein die Erfahrung ſtimmt dagegen.

Von jedem der 12 halben Toͤne an, kann eine Tonart in Dur und eine in Moll ge - bildet werden. Es giebt mithin 12 Dur und 12 Moll Tonarten. Alle ſind in der Ent - fernung ihrer Toͤne und ihres Klanges genau uͤbereinſtimmend, die Benen - nung der Toͤne iſt aber, wie geſagt, verſchieden.

Die halben Toͤne heißen:

C cisD disE eisF fisG gisA ais
desesgesasb.

Einige haben, wie vorſtehend zu erſehen iſt, eine doppelte Benennung, die bloß 1) aus der Unvollkommenheit des Noten Syſtems, oder vielmehr aus der Nothwendig - keit, die 5 Linien der Scala; worauf und wozwiſchen alle Tonarten bezeichnet ſein muͤſ - ſen, nicht zu vermehren, 2) durch die verſchiedene Bezeichnung, daß ein Tonſtuͤck aus Cisdur oder moll auch aus Des dur oder moll geſetzt werden kann; obſchon die Toͤne,24 die eine doppelte Benennung haben, ein und dieſelben ſind, entſtehen. Nach dem Noten Sy - ſteme und der Vorzeichnung heißen ſie:

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u. ſ. w. durch alle Tonarten.

Man ſieht hieraus, daß die naͤmlichen Toͤne auf oder zwiſchen den Linien durch ein oder oftmals andre Benennungen erhalten. Z. B. in Es dur heißt die Note auf der 1ſten Linie es, in C dur aber e u. ſ. w.

Fuͤnf Linien heißen eine Tonleiter (Scala) in folgender Geſtalt:

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Fuͤr die hoͤhern Toͤne finden noch beſondre ſogenannte Schluͤſſel ſtatt, z. B. fuͤr die Violine ꝛc. der Violinſchluͤſſel

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Fuͤr die Sopran Stimme der Klavierſchluͤſſel

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Fuͤr die Alt Stimme und die Viole der Altſchluͤſſel

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Fuͤr25

Fuͤr die Tenor Stimme der Tenorſchluͤſſel

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Fuͤr die Baͤſſe den Baßſchluͤſſel

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b.) Die Benennung der Toͤne durch Zahlen gruͤndet ſich blos auf die Lehre der Harmonie, beſonders aber auf die Baß oder Grundtoͤne, denn man kann nicht ſagen E ſei die Terz, wenn man nicht vorher C genannt hat, weil E auch eben ſo gut die Sekunde ſein kann, wenn man von D an rechnet.

Da nun die Harmonie-Lehre keine andere Sprache hat als ſich durch Zahlen auszu - druͤcken; die gleichſam das Syſtem vertreten, nach welchen die daruͤber gebaueten Toͤne bezeichnet werden koͤnnen, ſo iſt es noͤthig, ſie als Vorſchriften und Geſetze, nach welchen die Harmonien und Accorde entſtehen, zu betrachten. Man kann ſie nun um ſo zuver - ſichtlicher zum Syſtem annehmen, als die Toͤne, die man damit bezeichnet, in einer Ton - art wie in der andern, einander nicht allein aͤhnlich, ſondern voͤllig gleich ſind, und nur in ſofern in der Vorzeichnung differiren wuͤrden, wenn ſie ſich auf verſchiedene Tonar - ten zu gleicher Zeit gruͤndeten. Z. B. Wenn man den zweiten Accord in dieſem Beiſpiele:

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Der in der Tonart C dur vorkommen kann ſo ſetzen wollte

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D26ſo waͤre nicht allein die Vorzeichnung fehlerhaft, ſondern auch das Zahlen Sy - ſtem, und aus dieſem Fehler koͤnnte ein dritter Betrug entſpringen, der aͤrger ſein wuͤrde als die zwei erſten, indem letzterer nicht blos die Theorie, ſondern die Praxim betreffen und eine fehlerhafte Fortſchreitung der Stimmen herbeifuͤhren koͤnnte; denn in dem er - ſten Beiſpiele im zweiten Accorde iſt Cis ein Ton, der nicht in die Tonart C dur; aus welcher das Beiſpiel zu betrachten iſt, gehoͤrt, ſondern er muß ſeiner Vorzeichnung und des folgenden Tones nach, beſonders aber wegen der zweiten Stimme des letztern, naͤmlich des Tones fis, als Septime von D dur betrachtet und mithin aufwaͤrts aufgeloͤßt wer - den. In den naͤmlichen Accorden[befindet] ſich Es, ein ebenfalls nicht zur Tonart C dur gehoͤrender Ton, und iſt mithin als kleine Terz (die es aber aus nachfolgenden Gruͤnden nicht ſein kann) oder als kleine Sexte von G zu betrachten oder als Rone von der Do - minanten Harmonie G moll (ſiehe das Capitel von der Harmonie) In allen drei Faͤllen muß ſich Es herunterwaͤrts bewegen, wenn nicht das Grundgeſetz des Wohlklanges ver - letzt werden ſoll.

Wuͤrde dieſer Accord nun aber auf dem Noten Syſteme ſo vorgeſchrieben, wie es im zweiten Beiſpiele der Fall iſt, ſo koͤnnte der Ton des mit der unterſten Stimme dis aus keiner Harmonie erklaͤrt, und die unterſte Stimme dis koͤnnte fuͤr die Septime von E dur gehalten, und wiewohl ganz richtig aufwaͤrts aufgekoͤßt werden, allein der nach - folgende Accord wuͤrde gar nicht zu erklaͤren und auch falſch ſein. Wenn indeſſen in den zweiten Accorde, des oben ſtehen bleiben ſollte, ſo muͤßte die unterſte Stimme eine an - dre Vorzeichnung, und der letzte Accord einen andern Schluß in As dur, erhalten, und zwar ſo:

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Dies eine Beiſpiel wird hinreichend ſein zu beweiſen, daß das Syſtem der Zahlen in der Harmonie, ſtrenge beobachtet werden muß.

Nimmt man nun an, daß nach dem Capitel von der Harmonie, alle Accorde beſtimmt ſind, und in keinen einzigen die Rede von verminderten oder uͤbermaͤßigen Se - kunden, Terzen ꝛc. ſein kann, ſo muß auch das Capitel von den verminderten oder uͤber - maͤßigen Toͤnen; die hoͤchſtens nur melodiſch vorkommen koͤnnen, hier wegfallen, was auch um ſo mehr zu wuͤnſchen iſt, als das Daſein dieſes Schein-Syſtems in der Har - monie unendliche Verwirrung angerichtet hat; des Irrthums nicht zu gedenken, der ſich in das Noten oder Tonart-Syſtem eingeſchlichen hat.

27

Ich will aber dem Leſer das Syſtem der Mehrdeutigkeit der Toͤne nicht vorenthal - ten und die Annahme ſeiner eigenen Beurtheilung uͤberlaſſen.

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Alle dieſe Toͤne gehoͤren Tonarten und Harmonien weſentlich an, und exiſtiren mit - hin niemals vermindert und uͤbermaͤßig. Nur in Tonſtuͤcken, beſonders in den Moll Tonarten gis ꝛc. treten Faͤlle ein, wo; um die Richtigkeit des Zahlen Syſtems zu erhal - ten, doppel + und doppel B. vorkommen und mithin nur in das Noten Syſtem gehoͤren.

Die Zahlen vertreten, wie ſchon erwaͤhnt, die Stelle eines Syſtems fuͤr die Harmo - nie, und es iſt zum Grundſatze angenommen (da ſich die ganze Harmonie auf den un - terſten Ton oder den Baß gruͤndet) von unten herauf zu zaͤhlen. So beſteht z. B. ein Dreiklang aus der Prime, Terz und Quinte, wird aber bei der Bezifferung gewoͤhnlichD 228mit 3 oder gar nicht bezeichnet, wenn es nicht der welche Dreiklang iſt, der noch mit 3b verſehen wird

Von den vorhererwaͤhnten 12 chromatiſchen Toͤnen, bilden ſich 7 zu einer Tonart auf die zu Anfange des Capitels erwaͤhnte Art und Weiſe, und aus letztern wieder zwei Harmonien, die innerhalb zweier Octaven alle Toͤne einer Tonart in ſich faſſen die weſentlich harmoniſch noͤthig ſind. Die erſte iſt die Primen-Harmonie und beſteht aus nachſtehenden Toͤnen.

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die aber ſo oft verdoppelt werden koͤnnen als es der Umfang der Inſtrumente verſtattet. z. B.

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Die zweite iſt die Dominanten Harmonie und beſteht aus nachſtehenden Toͤnen.

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29 die außer der None a eben ſo oft verdoppelt werden koͤnnen, als es der Umfang der In - ſtrumente geſtattet. Z. B.

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Von der erſten Harmonie iſt jeder Ton harmoniſch und ſchlußfaͤhig, von der zweiten aber iſt es nur der Grundton (Dominante) die andern alle diſſoniren und muͤſſen auf - geloͤßt werden. Eine Aufloͤſung derſelben iſt aber nicht noͤthig, wenn ſie durch Veraͤn - derung der Tonart zu andern harmoniſchen und ſchlußfaͤhigen Toͤnen, kurz, zu weſent - Toͤnen einer andern Primen Harmonie umgeſchaffen werden. Beide Harmonien haben ihre Namen von den Grundtoͤnen, naͤmlich der Prime und Dominante, die in allen Ton - arten vorherrſchend ſind.

Aus der Dominantenharmonie entſpringt von der Dominante als Grundbaß an ge - rechnet, wieder eine andre terzenweiſe uͤbereinandergeſetzte Hauptharmonie naͤmlich:

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Sie iſt im Grunde weiter nichts als die Hauptharmonie der Tonart G dur, aus - genommen die Abweichung, daß ſtatt fis, f als weſentliches Intervall angenommen wird, um nicht aus der Tonart C dur heraus zu fuͤhren.

Da die Accorde einer Tonart allein, hintereinander gehoͤrt eine Einfoͤrmigkeit her - vorbringen wuͤrden, die den Namen Muſik wohl nicht verdienen moͤchte, eben ſo wenig wie30 eine Melodie, die blos aus den Toͤnen der Primenharmonie beſteht, ſo vollkommen ſie auch ſind dem Namen einer Melodie entſprechen wuͤrde, ſo liegt es in der Natur der Muſik, daß die Toͤne zweier einander verwandter Harmonien mit einander abwechſeln. Dies geſchieht durch die Primen und Dominantenharmonie.

Um jedoch der letztern wieder eine ihr zunaͤchſt verwandte, die noch nicht aus der Tonart fuͤhrt, an die Seite zu ſtellen, und eine neue Mannigfaltigkeit hervorzubringen, wird ihr die in dem letzten Beiſpiele angegebene wiederum an die Seite geſetzt, und dieſe zwei wieder miteinander abwechſelnden Harmonien werden Wechſel Primen und Wechſel Dominanten Harmonieen genannt.

Die Wechſel-Harmonie zerfaͤllt, wie ſchon geſagt in zwei Harmonien als: in die Wechſel Primen Harmonie.

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und in die Wechſel Dominantenharmonie.

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Ihre Toͤne koͤnnen wie die der Primen und Dominantenharmonie ſo oft verdoppelt werden, als es Toͤne auf den Tonwerkzeugen giebt.

Beide Hauptharmonien beſtehen, dem Zahlenſyſteme nach: aus Prime, Terz, Quinte, Septime, Rone, Undecime und Terzdecime, und folglich jede Primenharmonie aus der Prime, Terz und Quinte und jede Dominantenharmonie aus der Quinte, Septime, None, Undecime und Terzdecime, von der Prime der Tonart angerechnet.

Aus dieſen zwei Hauptharmonien, oder wenn man ſie ſich einzeln denken will, aus den zwei Primen und zwei Dominantenharmonien einer Tonart entſtehen 20 Accorde von welchen ſich einige umkehren laſſen (ſiehe Tabellen Pag. 12.) und zwar:

  • a, Aus der Primenharmonie
  • 1, der Dreiklang
  • 2, der Sextenaccord
  • 3, der Sext Quarten Accord
  • 4, der Septimen Accord
  • b, Aus der Wechſel Primenharmonie.
  • 1, der Dreiklang
  • 2, der Sextenaccord
  • 3, der Sext Quarten Accord
31
  • c, Aus der Dominanten Harmonie.
  • 1, der Septimenaccord
  • 2, der Quint Sextenaccord
  • 3, der Terz Quartenaccord
  • 4, der Secundenaccord
  • 5, der Nonenaccord
  • d, Aus der Wechſel Dom. Harmonie.
  • 1, der Dreiklang
  • 2, der Quint Sexten Accord
  • 3, der Terz Quinten Accord
  • 4, der Secunden Accord

Durch den Zuſammentritt zweier Harmonien entſtehen folgende Accorde.

  • e, Aus der Prim. u. Dom. Harmonie.
  • 1, der Sec. Quart Quint Sept. Acc.
  • 2, der Nonen Accord
  • 3, der Undecimen Accord
  • 4, der Terzdecimen Accord

Alle dieſe Accorde haben ihre Ramen von den Intervallen, aus welchen ſie von dem jedesmaligen Grundtone (Baß) an gerechnet beſtehen, und ihre Grundbaͤße werden auch ſo beziffert. Es moͤgen daher Accorde vorkommen, aus welcher Tonart ſie wollen, ſobald uͤber dem Grundbaß die Zahlen ſtehen, ſo nimmt man ſie an, und die Accorde muͤſſen der Abſicht des Componiſten entſprechen.

Natuͤrlich muß aber Ruͤckſicht darauf genommen werden, daß wenn z. B. in einem Tonſtuͤcke aus C dur eine Grundnote vorkoͤmmt, auf welche ein Accord aus einer an - dern Tonart gebaut werden ſoll, wo auch eine andre Vorzeichnung ſtatt findet, ſo muß die Abweichung den Zahlen auch beigefuͤgt werden.

Ich nehme den Fall an, daß der Componiſt den Dreiklang aus Cmoll in einem Ton - ſtuͤck aus C dur gebrauchen will, in welchem die kleine Terz vorkommt, ſo muß der uͤber der Grundnote angegebenen Zahl 3, noch ein beigefuͤgt werden.

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Ein gleiches Verfahren muß auch bei Accorden ſtatt finden, wo die großen oder klei - nen Sexten oder Septimen vorkommen, die aus der Vorzeichnung des Stuͤcks nicht zu errathen ſeyn wuͤrden.

Ich nenne dies Verfahren, die Toͤne der Accorde durch Zahlen zu bezeichnen, das Zahlenſyſtem, und habe die zwei Tabellen der Tonart C dur und C moll, (ſiehe Pag. 12.) welchen alle Accorde anderer Tonarten gleich ſind, als Beiſpiele beziffert.

32

Es wird nicht weiter noͤthig ſein, weitlaͤuftig aus einander zu ſetzen, daß die Be - zeichnung der Baͤſſe in den Moll Tonarten von der in den Dur Tonarten abweicht, weil die Vorzeichnung der erſtern der Gewohnheit nach, nach dem melodiſchen Gange ab - waͤrts die kleine Septime beſtimmt, wo aber nach dem Harmoniegange aufwaͤrts ſtets die große Septime eintreten muß. Das naͤhere iſt in der genannten Tabelle der Tonart C moll unter dem Capitel, von der Harmonie zu erſehen, auf welche ich mich auch, um die Accorde jeder Tonart nicht wiederholen zu muͤſſen, beziehen zu duͤrfen glaube.

Außer dieſen 20 Accorden in jeder Tonart giebt es noch 15, die von den Primen - harmonien der uͤbrigen weſentlichen oder leitereigenen Toͤne der Tonart abgeleitet wer - den. Ihre Harmonien werden Neben Primenharmonien genannt. Von jeder koͤn - nen nur 3 Accorde abgeleitet werden, wenn ſie nicht aus der Tonart fuͤhren ſollen und zwar:

  • a, Auf der Sekunde der Tonart.
  • 1, der Dreiklang
  • 2, der Sexten Accord
  • 3, der Sext Quarten Accord
    • b, Auf der Terz
    • c, Auf der Quarte
    • d, Auf der Sexte
    • e, Auf der Septime
    die naͤmlichen Acc.

Sie werden ebenfalls wie jene erſten, ihren Namen und Intervallen nach, auf den Grund des Zahlenſyſtems beziffert.

Wenn man nun die 24 Dur und Moll Tonarten annimmt, und natuͤrlich auch eben ſo viel Hauptharmonien, von welchen jede die 7 weſentlichen Toͤne enthaͤlt, aus welchen von einer jeden 35 Unterabtheilungen oder Accorde entſpringen, ſo erhaͤlt man 840 Ac - corde, die alle Toͤne in der Sphaͤre der Muſik enthalten muͤſſen.

So wenig nun auch den angefuͤhrten Gruͤnden nach, eine harmoniſche Verbindung weiter ſtatt finden kann, ſo ſcheint es in mancher Betrachtung doch ſo zu ſein, wenn man in Erwaͤgung zieht, daß zu den zwei Grundtoͤnen jeder, Tonart der Prime und Quinte Verbindungen von Toͤnen klingen, die ſonſt nicht zu ihrer Tonart gehoͤren. Dergleichen Toͤne oder auch ſelbſt Accorde aber ſind bei jeder Tonart, in welcher ſich die Modulation aufhaͤlt, entweder als durchgehende Toͤne und Accorde oder als Wechſeltoͤne und Accorde zu betrachten, und koͤnnen; da ſie außer der Tonart liegen, in das Sy - ſtem der Harmonie und Accorde nicht aufgenommen werden.

Drit -33

Drittes Kapitel. Von den Conſonanzen und Diſſonanzen der Intervalle einer Tonleiter oder Tonart.

Bevor etwas uͤber die Conſonanzen und Diſſonanzen der Intervalle geſagt werden kann, iſt zu erwaͤhnen, daß beide Arten von Toͤnen nicht in das Namen, ſondern in das Zahlenſyſtem gehoͤren, und ſich mithin allemal erſt auf eine beſtimmte Tonart gruͤnden. Wenn in der Tonart C dur, h eine Diſſonanz iſt, ſo kann man h nicht immer als ſolche betrachten, denn ſo wie ſich die Tonart z. B. in E dur aͤndert, iſt h als Conſonanz und zwar als vollkommene anzuſehen. Um beide Arten von Intervallen alſo gehoͤrig un - terſcheiden zu koͤnnen, muͤſſen ſie nach Zahlen benannt werden. Welche nun der Zahl nach in einer Tonart als Conſonanzen oder Diſſonanzen zu betrachten ſind, muͤſſen auch in jeder andern als ſolche betrachtet werden, weil alle Tonarten in dur und alle in moll einander gleich ſind.

Unter den ſieben zu einer Tonart gehoͤrenden Intervallen befinden ſich 3 Conſonan - zen und zwar die Prime, die Terz, und die Quinte, und 4 Diſſonanzen: die Sekunde, die Quarte, die Sexte und die Septime. Beide Arten ſind aber nur als ſolche zu be - trachten, als ihnen zwei gewiſſe Toͤne zum Grunde gelegt ſind und zwar den Conſonan - zen die Prime, und den Diſſonanzen die Quinte, wodurch zwei Harmonien entſtehen, die man Licht und Schatten nennen kann. Die zwei Harmonien werden die Primen und Dominantenharmonie genannt und ſind in C dur:

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Die erſten ſind in Hinſicht auf Harmonie dem Gehoͤre beruhigend und zu Bildung eines Schluſſes geeignet. Die zweiten aber, wenn ſie unmittelbar nach den erſten gehoͤrt werden, beruhigen nicht, ſondern verlangen eine Aufloͤſung in die erſten. Dieſe Aufloͤſung iſt beſtimmten Naturgeſetzen unterworfen, die unbedingt befolgt werden muͤſſen. Naͤm - lich die Sekunde, Quarte und Sexte muß abwaͤrts, und die Septime aufwaͤrts auf - geloͤßt werden. In melodiſcher Beziehung tritt dieſe Nothwendigkeit nicht ein.

E34

So oft nun dieſe Toͤne in Accorden vorkommen, die entweder zur Primen oder Do - minantenharmonie oder in beide zugleich gehoͤren, ſo oft muß die Befolgung des Na - turgeſetzes eintreten, kommen welche von dieſen beiden Arten von Intervallen in Accor - den vor, die ſich nicht auf die benannten zwei Harmonien gruͤnden, ſo iſt das Naturge - ſetz ſogleich veraͤndert. Z. B. wenn drei Diſſonanzen in C dur

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ſich ſo aufloͤſen

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ſo werden auf eine andere Art die zwei oberſten nicht als Diſſonanzen betrachtet, wenn ihnen ein Intervall zum Grunde liegt, was ſie in ihrer Verbindung mit ihm zu einem Accorde aus einer andern Harmonie macht z. B.

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Dies iſt der Sext Quarten Accord aus F dur, und folglich ſind alle Intervalle Con - ſonanzen, und beduͤrfen keiner Aufloͤſung. In wiefern die Dreiklaͤnge mit ihren Umkeh - rungen, wenn ſie ſich auf die leitereigenen Intervalle einer Tonart gruͤnden und Neben Primen Harmonien genannt werden, zu der Haupttonart zu rechnen ſind, iſt in dem Ka - pitel von der Harmonie naͤher eroͤrtert worden. Ich widerhole es alſo: Es koͤmmt blos auf den Grundbaß an, von welchen alle Accorde, folglich auch die Diſſonanzen abhaͤngig ſind.

35

Viertes Kapitel. Von der harmoniſchen Bewegung.

Bei der Fortſchreitung der Stimmen oder der ganzen Harmonie eines Stuͤcks hat man von alten Zeiten her bemerkt, daß ſich die Stimmen auf dreierlei Art bewegen, um neue Accorde oder Harmonien zu bilden. Nach dieſer Bemerkung hat man 3 Regeln feſtgeſetzt, um ſich bei der Compoſition eines Stuͤcks darnach zu richten. Die drei Re - geln ſind unter den Namen der drei Bewegungen bekannt:

Die erſte heißt: gerade Bewegung (motus rectus)

Die zweite heißt: Gegenbewegung (motus contrarius)

Die dritte heißt: Seitenbewegung (motus obliquus)

I. Die grade Bewegung.

Die gerade Bewegung findet bei Fortſchreitungen ſtatt, wo zwei oder mehrere Stim - men ohne den Wohlklang zu beleidigen auf oder herunterwaͤrts gehen. Man ſieht leicht ein, in welchen Faͤllen es ſtatt findet, wenn man in Erwaͤgung zieht, daß dies natuͤr - lich uͤberall geſchehen kann, wo nicht zwei Quinten oder zwei Octaven ſich hintereinan - der fortbewegen wie in dieſem Beiſpiele:

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Wo aber dergleichen Quinten oder Octaven weder hintereinander noch ſprungweiſe, eintreten, koͤnnen ſich die Stimmen auch gerade fortbewegen, was bei Terzen, Quarten, Sexten ſelbſt Septimen Verbindungen der Fall iſt. Z. B.

E 236

Zweiſtimmig

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Dreiftimmig.

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Bei vierſtimmigen Saͤtzen hat man ſich ſchon mehr in Acht zu nehmen um keine fehlerhaften Fortſchreitungen zu machen, und entgeht man dieſem Fehler, ſo verfaͤllt man in einem andern, naͤmlich: man iſt entweder genoͤthigt eine Stimme zu verdoppeln, die auf manchen Intervallen nicht verdoppelt werden darf z. B. die Terz u. ſ. w. oder der Gang des Stuͤcks wird ſteif und unbeholfen.

II. Die Gegenbewegung.

Die Gegenbewegung iſt die natuͤrlichſte in der Muſik und die ſicherſte, weil es in der Natur der diſſonirenden Intervalle einer Tonart oder den Intervallen der Dominan - ten Harmonie liegt, daß einige ſich nur abwaͤrts andre aufwaͤrts aufloͤſen. Zu den erſten gehoͤren: die Sekunde, die Quarte, die Sexte (die auch als ſelbſtſtaͤndig betrachtet wer - den kann, und oft nicht aufgeloͤßt zu werden braucht,) zu den andern gehoͤrt blos die Septime. Beobachtet man dieſe Regeln ganz genau, ſo entſtehen die ſchoͤnſten harmo - niſchen Verbindungen. Wer ſich von der Wahrheit dieſer Ermahnung uͤberzeugen will, ſtudire nur die Werke Mozarts, und er wird mit Erſtaunen den Zauber bewundern, den ſeine Harmonien durch ſtrenge Beobachtung dieſer Naturgeſetze erhalten haben. Die37 Gegenbewegung iſt demjenigen, der nicht ganz unerfahren in der Muſik iſt, zu bekannt, als daß es noͤthig ſein duͤrfte mehr Beiſpiele anzufuͤhren, als:

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Wo in den Stimmen uͤberall die Gegenbewegung richtig eintritt, kann weder Quinte noch Octave entſtehen. Auch drei und vierſtimmige Sachen laſſen ſich bei dieſer Bewe - gung gut ſetzen.

III. Die Seitenbewegung.

Die Seitenbewegung iſt genau betrachtet weiter nichts als, entweder die gerade oder Gegenbewegung, denn ihre Ausweichung oder Bewegung zur Seite gehoͤrt der wahren Harmonie nicht an, ſondern gehoͤrt zur Melodie, oder es bleibt eine Stimme ſtehen, um der anderen Gelegenheit zu geben, ſich andere mit ihr harmonirende Intervalle zu waͤhlen, um der Melodie neues Feuer und Leben zu geben.

1
2. Aus der Zauberfloͤte von Mozart.
38

Die ſtehenbleibende Stimme iſt in den erſten Tacten f, und die obern Stimmen machen die Seitenbewegung. In den letzten Tacten iſt c im Discant die ſtehenblei - bende Stimme, und die zwei untern Stimmen machen die Seitenbewegung.

Aus dem Beiſpiele No. 1. wird man ſehen, daß die Gegenbewegung blos der Melo - die angehoͤrt, denn die wahre Fortſchreitung der Harmonie iſt:

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In den erſten zwei Tacten findet ſich eigentlich die gerade Bewegung, und in den letzten die Gegenbewegung.

Da die Bewegungen an ſich nichts weiter als Formen ſind, die von der richtigen Fuͤhrung der Stimmen abhaͤngen, ſo mag es bei der Ermahnung: ihrer zu achten ſein Bewenden haben.

Fuͤnftes Kapitel. Von der Fortſchreitung in Quinten und Octaven.

Ich finde Veranlaſſung genug die Fortſchreitung in Quinten und Octaven mit ei - nigen Worten in einem eigenen Capitel zu erwaͤhnen, weil die Bemerkungen, die in die - ſem Werke daruͤber hin und wieder vorkommen, leicht uͤberſehen werden koͤnnten.

Bei ganz genauer Betrachtung aller harmoniſchen Verhaͤltniſſe bin ich in den Stand geſetzt worden folgendes Reſultat anerkennen zu muͤſſen.

1) Daß blos der Dreiklang der Dominantenharmonie und der Dreiklang, der ſich auf die Neben-Prime, die Quarte gruͤndet, auf den Dreiklang der Primenharmonie fol - gen kann, worinnen eine Fortſchreitung der Quinten richtig iſt, ſonſt aber nicht.

2) Daß eine fehlerhafte Fortſchreitung in Octaven nur immer erſt entſteht, wenn eine Quinten Fortſchreitung geſchieht, ſelbſt die erlaubte aus der Prime in die Domi - nante z. B.

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Richtig iſt die Fortſetzung ſo:

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wenn gleich Quinten in der Harmonie enthalten ſind.

Daß aber obige Vaͤſſe an ſich nicht falſch ſind, beweißt dies Beiſpiel:

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es geht daraus wieder hervor, daß die Urſache 1) an der Quinten Fortſchreitung 2) an der Verdoppelung einiger Intervalle liegt, die nicht verdoppelt werden duͤrfen als: die Secunde, Terz, Septime u. ſ. w. 3) daß die Baͤſſe gegen den melodiſchen Fortgang mit voller Harmonie falſch ſind, denn wer wuͤrde z. B. zu einem ſolchen melodiſchen Fortgange40

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auch die naͤmlichen Toͤne im Baß waͤhlen

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Daher geſchieht es auch oft, daß verſteckte Octaven zum Vorſchein kommen, wenn der Baß mit einer der Mittelſtimmen in gleicher Bewegung fortſchreitet, wodurch In - tervalle verdoppelt werden, die nicht verdoppelt werden ſollten.

Die Octaven werden immer leichter vermieden, weil ſie zu auffallend gegen das Gehoͤr anſtoßen, aber die Quinten Fortſchreitung (worunter ich auch melodiſche rechne) kann leicht eintreten, wenn der Componiſt nicht ganz auf ſeiner Huth iſt, denn es giebt viel Faͤlle, wo ſie entweder ſprungweiſe oder ſo vorkommen, daß ſie keinen widrigen Effect machen.

In dem vorher angegebenen Beiſpiele No. 2. iſt dargethan worden, daß zwei Ac - corde, in welchen Quinten enthalten ſind, einander folgen koͤnnen. Der zweite Fall, wo ein ſolcher Harmonieſchritt folgen kann, findet in nachſtehenden Beiſpiele ſtatt:

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Wenn41

Wenn alſo 5 Toͤne von dem Grundbaß ab, Quinten bilden, ſo machen in dem erſten Accorde c und g aufwaͤrts und im zweiten Accorde f und c aufwaͤrts Quinten. Da, wie ſchon erwaͤhnt, dieſe Quinten; die durch den Wechſel des Dreiklangs der Primen Harmonie mit dem Dreiklange der Dominanten Harmonie und dem auf der Quarte entſtehen, nicht verworfen werden koͤnnen, weil dieſe Dreiklaͤnge die naͤchſten natuͤrlichen Stufen ſind, uͤber welche die Modulation hinwegſchreitet, ſo muß man ſich doch in Acht[nehmen], ſie zu verdoppeln oder gar ohne die uͤbrigen Stimmen zu gebrauchen, denn wie falſch ſie an ſich ſelbſt ſind, wenn ſie hintereinander ohne die andern Stimmen gehoͤrt werden, kann ihr Klang in dieſem Beiſpiele beweiſen.

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Jede andre Art von Quinten aber vermeidet jeder gute Componiſt, und laͤßt oft lieber eine Stimme aus oder verdoppelt eine andre, ehe er ſie in Anwendung bringt. Doch iſt wie geſagt der Fall da, daß ſich dergleichen ſelbſt in Mozarts Werken finden. Ob er ſie bemerkt hat oder nicht, iſt ungewiß. Doch glaube ich, daß auch hin und wieder ein bloßer Schreibfehler ſie verurſacht hat, wie es gewiß in dieſem Beiſpiele der Fall iſt:

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Die mit + bezeichneten Quinten find zu auffallend, als daß Mozart ſie nicht ge - ſtrichen haben ſollte, wenn er ſie bemerkt haͤtte, zumal da der Satz leicht zu aͤndern war; und er ſich keiner Caprice uͤberließ, wo es den reinen Satz galt. So oft Quinten in Harmonie oder Melodie Schritten einander folgen (ausgenommen der Dreiklang aus der Primenharmonie in den Dreiklang der Domin. und Quart. Harmonie) ferner, ſo oft verbo - tene Octaven hintereinander folgen, ſie moͤgen noch ſo wenig einen widrigen Effect ma - chen als ſie wollen, ſo iſt es immer ein Beweis, daß der Satz nicht rein, und ein Feh - ler in der Stimmenfuͤhrung vorgefallen ſein muß. Wenn es auch Fehler ſind, die den groͤßten Meiſtern entgehen koͤnnen, ſo hoͤren ſie demungeachtet nicht auf ſolche zu ſein, und ſind durchaus nicht nachahmungswuͤrdig, weil auch der Unbefangendſte das Widrige dabei empfinden muß.

F42

Sechstes Kapitel. Von der harmoniſchen Mehrdeutigkeit eines jeden Tones.

Wenn zu Ende des zweiten Capitels erwaͤhnt worden iſt, daß zu den zwei Grund - toͤnen der Primen und Dominanten Harmonie: der Prime (oder auch Octave, welches einerlei iſt) und Quinte, Toͤne und Accorde klingen, die nicht in das Syſtem der Har - monie einer Tonart gehoͤren, und entweder als durchgehende Toͤne und Accorde oder als Wechſel Toͤne und Accorde zu betrachten ſind, ſo folgt hier eine naͤhere Erklaͤrung der Mehrdeutigkeit eines jeden Tons, zunaͤchſt aber erſt die erwaͤhnten Verbindungen, die nur auf beſagten zwei Intervallen vorkommen koͤnnen, ſo lange die Modulation in C dur geſchieht, denn ſobald ſich die Tonart aͤndert, ſo treten natuͤrlich andre Primen (oder Octaven) und Quinten an deren Stelle.

Mehrdeutigkeit der Prime in C dur.

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43
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F 244

Es verſteht ſich jedoch, daß nicht alle dieſe Accorde hintereinander und auch ſelbſt oft nicht einzeln ohne Vorbereitung gewaͤhlt werden koͤnnen, weil die Fortſchreitung der Intervalle fremder Tonarten doch eine gewiſſe Melodie bilden muß. Fehler hierin koͤn - nen am beſten vermieden werden, wenn die in den Mittelſtimmen liegenden Terzen und Sekunden ſo mit einander abwechſeln, daß ſie keinen Querſtand bilden wie:

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Außerdem klingen alle Intervalle der Accorde, die in der Tabelle der Harmonien von C dur angegeben ſind, ja es laſſen ſich noch mehr Verbindungen der Art machen, deren ſchickliche Wahl aber dem geſchickten Tonkuͤnſtler anheim geſtellt werden muß.

Alle hier angegebenen Verbindungen, mit wenig Ausnahmen, laſſen ſich nun auch zur Quinte der Tonart C dur benutzen, weshalb ich ſie nicht wiederhohlen zu duͤrfen glaube.

Die nachfolgenden Verbindungen, die alle zu dem Intervall C klingen, ſind aus den 24 Tabellen aller Dur und Moll Tonarten gezogen. Sie haben den Nutzen zu wiſſen, wie vielſeitig ein Ton harmoniſch benutzt werden kann, um dem melodiſchen Fortgange durch geſchickte Wahl einen neuen piquanten Reitz zu geben. Ich brauche wohl nicht zu erinnern, daß die Accorde nicht ſo aufeinander folgen koͤnnen, wie ſie hier angegeben ſind, weil ich eine richtige Modulation vorausſetze.

Mehrdeutigkeit des Tons C ohne Ruͤckſicht auf ſeine Eigenſchaft als Prime.

Die Harmonie von C, abwaͤrts geleitet.

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Die Harmonie von C, aufwaͤrts geleitet.

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Wie ſich die Verbindungen zu dem Tone C verhalten, ſo verhalten ſie ſich aus trans - ponirt zu den 11 uͤbrigen halben Toͤnen cis, d, es, e u. ſ. w. und hat man genaue Kenntniß von ihnen, ſo kann es auch nicht ſchwer halten, eine ſehr große Mannigfaltig - keit in die harmoniſche Melodie zu bringen, wenn man beſonders aus den Tabellen er - lernt hat, in welche Tonart jede dieſer Verbindungen gehoͤrt, und wie die in ihnen diſſonirenden Toͤne aufgeloͤßt werden muͤſſen.

48

Siebentes Kapitel. Von der Stimmenfuͤhrung.

Bei der Stimmenfuͤhrung iſt es Hauptſache: daß jede Stimme beſonders den Aus - druck und Zweck des melodiſchen Gedankens unterſtuͤtze und erheben helfe, wie es ins - beſondere bei Orcheſter und mehrſtimmigen Sachen erforderlich iſt. Um eine Klarheit und Richtigkeit bei der Stimmenfuͤhrung zu erreichen, iſt es noͤthig, den melodiſchen Haupt Gedanken in mehrern Stimmen und andern Toͤnen; jedoch in der naͤmlichen Sphaͤre der Harmonie, worinnen ſich die Modulation aufhaͤlt, ſo wie in anderer rhyth - miſcher Eintheilung, nachzuahmen. Oftmals werden ſogar zwei oder drei Stim - men contrapunctiſch der melodiſchen Haupt-Idee entgegengefetzt, wodurch der ganze Satz eine groͤßere Mannigfaltigkeit und Schoͤnheit erhaͤlt. Die Sphaͤre der Harmonie muß aber genau beobachtet werden, ſonſt bilden die einzelnen Stimmen im Ganzen ei - nen falſchen Ausdruck.

Um dieſe Anſicht etwas deutlicher zu machen, wie ſich die Stimmen an einander knuͤpfen, vergroͤßern und verkleinern, ohne aus den Harmonieſchritten heraus zu gehen, will ich hier nur ein Beiſpiel von Mozart; deſſen Werke davon ſo voll ſind, anfuͤhren: ſiehe Beilage.

Es iſt darinnen kein einzelner Gedanke, keine Luͤcke anzutreffen und alle Inſtru - mente bezwecken den Effeckt des Haupt Gedankens.

Ich glaube aber wohl nicht erinnern zu duͤrfen, daß nicht eine jede Stimme eine beſondere Melodie durchfuͤhren kann, weil dadurch eine Verwirrung und Ueberladung der Haupt Idee eintreten muͤßte, und ſich oft durchgehende Toͤne mit Wechſel Toͤnen beruͤhren, einen Querſtand bilden oder ganz unharmoniſch gegen einander ver - halten wuͤrden. Vorzuͤglich verdient angemerkt zu werden, daß die Baͤße eine kraͤftigere und im Gange eine ganz andre Melodie fuͤhren muͤſſen als die Mittelſtimmen, wenn letztere nicht aus beſonderer Abſicht hervorgehoben werden ſollen, denn außerdem die - nen ſie mehr zur Begleitung und Unterſtuͤtzung der Haupt Melodie.

Der Baß und die hoͤchſte Stimme muͤſſen als Extreme (die in der Natur immer einander beruͤhren) die Modulation beſtimmen; es waͤre denn, daß eine der Mittelſtim - men die Melodie fuͤhrte, und von ihrer klugen Wahl haͤngt gewoͤhnlich das Intereſſe und der Effect des ganzen Tonſtuͤcks ab. Schweigt der Baß, und eine andre Stimme vertritt ſeine Stelle, ſo gilt die naͤmliche Bemerkung auch dieſer Stimme.

Wem
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Wem iſt nicht ſchon der herrliche Satz der Baͤſſe in den Opern des Spontini, Gluck und Cherubini bemerklich geworden?

Schluͤßlich moͤchte ich Anfaͤngern den wohlgemeinten Rath geben, ſich erſt lange mit den reinen Satze zweier Stimmen und mit den einfachen Contrapuncte; wo Note gegen Note geſetzt wird, zu beſchaͤftigen, ehe ſie ſich an mehrſtimmige und doppelt contrapunctiſche wagen, denn nur in ſolchen Arbeiten kann man etwas Ausge - zeichnetes leiſten, in welchen man Meiſter ihrer Elemente iſt. Die Stimmenfuͤhrung ſetzt den reinen Satz, folglich die Kenntniß faſt aller in dieſen Werke beruͤhrten Capitel voraus, weshalb ich glaube, den Leſer nur auf genaue Befolgung derſelben verweiſen zu duͤrfen, um gewiß zu ſein, daß ſich eine richtige Stimmenfuͤhrung daraus ergeben werde.

Achtes Kapitel. Von der Verdoppelung der Intervalle.

Wenn hier von Verdoppelung einiger Intervalle die Rede iſt, ſo ſind allemal die mit Zahlen benannten Toͤne einer Tonart zu verſtehen, in welche der Accord oder die Harmonie gehoͤrt. Wenn z. B. geſagt wird, daß die Terz nicht verdoppelt werden darf, ſo iſt e darunter zu verſtehen, wenn der Accord in C dur gehoͤrt; gehoͤrt er aber in D dur, ſo iſt fis zu verſtehen. Man hat die Erfahrung, daß gewiſſe Inter - valle ein Mißfallen erregen, wenn ſie verdoppelt werden, und dieſe Erfahrung hat einen richtigen Grund. Es erfolgen naͤmlich gewoͤhnlich fehlerhafte Fortſchreitungen der Stimmen, wodurch Octaven entſtehen; jedoch nicht immer, wenn man den Gang der Stimmen genau beobachtet. So verdoppelt man z. B. die Terz nur ungern, und doch kann es geſchehen ohne daß die Wirkung widrig iſt, wie nachſtehende Fortſchreitung der Accorde beweißt:

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G50

Das naͤmliche gilt auch von der Sekunde und Sexte der Tonart, wie wohl ſie auch ebenfalls verdoppelt werden koͤnnen z. B.

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Der Grund davon, daß ſie demohngeachtet hart klingen, liegt darin, daß der Baß gegen eine der Stimmen gewoͤhnlich nicht contrapunctiſch richtig iſt, was man gleich findet, wenn man bei dem gezeigten Beiſpiele die Probe anſtellt, in welcher die darin enthaltenen Stimmen ſo klingen:

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Wenn es nicht unumgaͤnglich noͤthig ſein ſollte ſie zu verdoppeln, ſo iſt es beſſer entweder die Stimmen pauſiren zu laſſen oder ihnen durch Verdoppelung eines anderen Intervalls als der Prime, Quarte, Quinte eine andere Richtung zu geben. Die Septime der Primen - harmonie darf aber gar nicht verdoppelt werden, und wenn ſie auch als Terz der Do - minantenharmonie vorkoͤmmt. Sie iſt im Tone zu durchſchneidend, obſchon ihre Fort - ſchreitung manchesmal gebilligt werden koͤnnte, wie es in den nachfolgenden Accorden der Fall iſt:51

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In octavenweiſer Verbindung koͤnnen die genannten Intervalle verdoppelt werden.

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Neuntes Kapitel. Von der Auslaſſung der Stimmen.

Ueber die Weglaſſung der Stimmen in allen Faͤllen, koͤnnen keine beſtimmten Re - geln gegeben werden, weil die Weglaſſung theils davon abhaͤngt, eine fehlerhafte Fort - ſchreitung zu vermeiden, theils um den melodiſchen Gange; der durch gleiche Fortſchrei - tung aller Stimmen eine große Unbeholfenheit erhalten wuͤrde, ein beſſern Schwung zu geben. Daß die Weglaſſung noͤthig iſt, beweißt der Umſtand, welche ſchlechte Wirkung ein Stuͤck machen wuͤrde, wenn jeder Ton der Hauptmelodie, die aus viel Zergliederun -G 252gen des Rythmus beſteht harmoniſch begleitet werden ſollte. Die Auslaſſung muß demnach dem Urtheile des Componiſten uͤberlaſſen bleiben. Einige Faͤlle ſind aber zu be - ſtimmen. In der Dreiklangsharmonie kann die Terz nicht gut wegbleiben, aber die Quinte. In dem Sexten Accorde kann die Terz von dem Grundton ab gerechnet weg - bleiben, aber nicht die Sexte weil der Accord ſonſt nicht mehr als Sexten Accord zu betrachten ſein wuͤrde. Im Sext Quinten Accorde kann die Terz eher weggelaſſen werden, als die Quinte. In dieſen drei Accorden beſtimmt die unterſte Note jederzeit ihre Namen, und wenn nur ein dem Accorde angehoͤriges Intervall dabei iſt, ſo iſt es ſchon[genug], wenigſtens kein Fehler, obſchon eins beſſer als das andere dazu klingt. Welche Stimmen bei dem uͤbrigen Accorden wegbleiben koͤnnen iſt willkuͤrlich, nur duͤr - fen diejenigen Intervalle, von welchen ſie die Namen haben, nicht wegbleiben, z. B. beim Septimen Accorde das 7te, beim Quint-Sexten Accord das 5te und 6te Intervall (das 6te eher als das fuͤnfte, obſchon der Accord dadurch zweideutig wird und fuͤr den Dreiklang auf der Septime der Tonart gehalten werden koͤnnte) beim Terz-Quarten Accord kann das dritte und vierte Intervall nicht wegbleiben, wenigſtens das dritte nicht, weil der Grundbaß blos in Verbindung mit dem vierten die Vermuthung erregen koͤnn - te, als ſei der Sext-Quarten Accord der Dominantenharmonie damit gemeint. Beim Secunden Accorde muß wenigſtens der Grundton und deſſen Sekunde genommen wer - den, alle uͤbrigen Intervalle koͤnnen wegbleiben. Ein gleiches gilt von dem Nonen und Undezimen Accorden, bei welchen außer dem Grundtone wenigſtens das 9te und 11te In - tervalle gehoͤrt werden muß. Die Auslaſſung der Intervalle iſt inſofern wichtig, als da - durch beurkundet wird, ob der Componiſt den reinen Satz verſteht und ein gutes harmo - niſches Gefuͤhl hat. In Terzen, Quarten und Sexten Fortſchreitungen kann natuͤrlich keines der Intervalle wegbleiben. Uebrigens fuͤhle ich mich zum beſten des Leſers ver - pflichtet, ihn auf die aͤußerſt ſchoͤnen Bemerkungen des Herrn Kapellmeiſters Friedrich Schneider zu Deßau in ſeinem Elementarbuche der Harmonie und Tonſetzkunſt §. 203 und 204 aufmerkſam zu machen.

Zehntes Kapitel. Von der Modulation oder der harmoniſchen Fortſchreitung.

Grundſaͤtze der Modulation.

Die Hauptgrundſaͤtze der Modulation oder der Fortſchreitung der harmoniſchen Me - lodie ſind folgende:

53
  • 1) Wenn die Accorde der Primen Harmonie mit einander abwechſeln, ſo muß wenigſtens ein Ton des liegenden Accords, zu einen des neu eintretenden Accords genommen werden. Dieſe Regel erſtreckt ſich auch auf die Fortſchreitung eines Accords in einen andern Accord der Primen Harmonie einer andern wenn auch noch ſo ſehr entferntern Tonart,
  • 2) koͤnnen die drei Accorde der Primen Harmonie, mit einem der Dominanten Har - monie der naͤmlichen Tonart abwechſeln,
  • 3) kann dieſer Wechſel in eine andre Tonart nicht geſchehen, wenn nicht wenig - ſtens ein Ton in den nachfolgenden Accord mit aufgenommen werden kann und alle Stimmen ihren Platz verlaſſen muͤſſen.
  • 4) Geht aus dieſen 3 Grundſaͤtzen hervor, daß zwei Accorde, von gleicher Lage in welchen Quinten enthalten ſind, nicht mit einander abwechſern koͤnnen und
  • 5) um ſo weniger, wenn zwei Grundtoͤne (Baͤſſe) in die daneben liegenden mit zwei andern der obern Stimmen in gerader Bewegung (Octavenweis) fortſchrei - ten. z. B.
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Um folglich dem ganz natuͤrlichen Verbote der Quinten und Octaven auszuweichen muß man vermeiden, daß zwei Accorde, in welchen die Stimmen um 5 Toͤne von einan - der entfernt liegen, und wo der Baß mit einer der Stimmen octavenweiſe fortſchreitet, hinter einander folgen. Dieſes Verbot erſtreckt ſich jedoch nicht auf den Fortgang zweier oder mehrerer Stimmen in der Octave oder Uniſono,

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54 oder des Dreiklangs der Tonart in der Dreiklang der Dominante, z. B.

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oder des Dreiklangs der Tonart in den der Quarte, z. B.

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weil die Fortſchreitung dieſer Dreiklaͤnge, wo zwar offenbare Quinten vorkommen, ſogar eine Vorſchrift der Natur der Muſik iſt.

Man mag die harmoniſche Fortſchreitung betrachten von welcher Seite man will, ſo findet man immer, daß ſie groͤßtentheils von der melodiſchen Fort - ſchreitung abhaͤngig iſt, weil alle Stimmen blos zur Unterſtuͤtzung der Melodie ge - braucht werden, um einen gewiſſen Zweck zu erreichen. Aus der Vereinigung aller Stim - men geht erſt die Modulation hervor. Es wuͤrde unnuͤtz ſein, alle Faͤlle zu beſtimmen, welche Accorde auf einander folgen koͤnnen und welche nicht, wenn man bedenkt, daß ſie nothwendig alle auf einander folgen duͤrfen, ſobald die gegen die Natur der Tonarten ſtreitende fehlerhafte Quinten und Octaven Fortſchreitung vermieden wird. Auf die me - lodiſche Fortſchreitung kommt es daher an, die richtige Modulation zu beſtimmen, und um dies deutlicher zu machen, iſt es noͤthig, vorher etwas von der melodiſchen Fort - ſchreitung anzufuͤhren.

Wenn ſich eine einzelne Stimme fortbewegt, ſo wird es eine Melodie genannt, de - ren hinter einander gewaͤhlten Toͤne ſich auf eine Harmonie oder auf Accorde gruͤnden,55 die in irgend eine Tonart gehoͤren und richtig ſind, denn man kann nicht jede Reihe von Toͤnen hintereinander eine Melodie nennen. Z. B.

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Von dieſen Toͤnen gruͤnden ſich wenige auf eine Harmoniſche Verbindung und zu - ſammengenommen koͤnnen ſie gar keine Melodie ausmachen.

Sind aber wenigſtens zwei Toͤne in einer Melodie enthalten, die ſich auf eine Har - monie oder einen Accord gruͤnden, und der dritte Ton kann aus einer Harmonie (oder einen Accorde) genommen werden, die auf die erſte folgen kann. Z. B.

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ſo kann daraus ſchon eine Melodie entwickelt werden, und zwar ohngefehr folgende:

Beiſpiel:

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*)A iſt Wechſel Note, ſiehe das Capitel ron der Melodie.
*)

Die erſten zwei Toͤne koͤnnen uͤbereinander geſetzt werden, wodurch ſie eine Quart - Verbindung machen. Dieſe Verbindung giebt Anzeige, daß ſie in C dur gehoͤren. Will ihnen aber der Componift eine andere melodiſche Bedeutung geben, ſo darf er nur noch eine andre Stimme dazu ſetzen, z. B.

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56

Wollte man nun den zweiten Ton (ſiehe Beiſpiel) wieder mit den dritten zuſammenſetzen ſo wuͤrden die zwei Toͤne

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wieder eine Terzverbindung bilden, die zu mehrern Tonarten gehoͤren kann, als: zu F dur und A moll ꝛc. Die zweite hinzukommende Stimme muß daher entſcheiden, in welcher Harmoniefolge der dritte Ton eintreten ſoll. Die Harmoniſche Begleitung des dritten Tones kann daher verſchieden gewaͤhlt werden. Z. B.

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Es kommt nun auf den vierten Ton (ſiehe Beiſpiel) an, welche Stimme ihn har - moniſch begleiten kann. Da er mit dem dritten eine Secunden Verbindung:

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ausmacht, die nur in E dur oder moll vorkommen kann, der 5te und letzte Ton C aber einen Schluß noͤthig macht, ſo kann der begleitende Ton aus E dur oder moll nicht ge - waͤhlt werden, ſondern einer aus der Dominanten Harmonie von C dur, worinnen die Secunden Verbindung (deren Toͤne hier mit × bezeichnet ſind) auch vorkommt.

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Soll57

Soll aber der Schluß nicht in C dur, ſondern A moll geſchehen, ſo kann ein Ton aus der Haupt Harmonie von A moll ihn begleiten, weil in derſelben die Secunden Verbindung ebenfalls enthalten iſt, wie die mit × bezeichneten Toͤne beweiſen.

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Auf dieſe Weiſe iſt der Grund leicht aufzufinden, warum ein Ton den andern be - gleiten kann. Zufolge dieſer Erklaͤrung wird hier das Beiſpiel mit dem vierten Tone, wie er zu begleiten iſt, angegeben.

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Der letzte Ton C als der Schlußton, der hier zum Beiſpiel aufgeſtellten Melodie, kann auf verſchiedene Art begleitet werden, weil er in viel Accorden und Harmonien enthal - ten iſt. Z. B. in C dur als Prime, in A moll als Prime, in C moll als Septime von der Dominantenharmonie G dur, als Terz in As dur. Aus dieſen Accorden kann folg - lich ein Ton gewaͤhlt werden um den Ton C zu begleiten, als:

H58
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Durch den Gang der Stimmen in fremde Tonarten bei kurzen Melodien, wird na - tuͤrlich die harmoniſche Begleitung oft gezwungen und unfreundlich; und dieſes kurze Beiſpiel ſoll nur beweiſen, welcher verſchiedener Begleitung oder harmoniſcher Veraͤn - derungen eine Melodie faͤhig iſt, und wie durch ſolche Veraͤnderung; wenn ſie oͤcono - miſch angewendet wird, die unbedeutendſte Melodie gewinnen kann, wenn zumal noch die rhythmiſchen Schoͤnheiten und andre Huͤlfsmittel des Ausdrucks, hinzukommen.

Man hat ſich bisher viele Muͤhe gegeben, alle Faͤlle der Modulation zu beſtimmen, und Regeln auf Regeln gehaͤuft, welche Accorde moͤglicherwelſe auf einander folgen koͤnnen, und doch den Zweck: ein untruͤgliches Syſtem daruͤber aufzuſtellen, nicht erreicht. Viel ſicherer erreicht man den Zweck, wenn ein Harmonieſchritt; das heißt: die Fort - ſchreitung von einem Accorde zum andern, ſo behandelt wird, daß man entweder die zwei oberſten Toͤne, oder auch zwei der mittlern Stimmen, hintereinander als eine melo - diſche Fortſchreitung betrachtet. Gruͤnden ſie ſich auf eine Harmonie, ſo muͤſſen ſie auch Anzeige geben, zu welcher Harmonie ſie gehoͤren, oder gehoͤren koͤnnen. Wird ein Ton davon zu einem gewißen Accorde beſtimmt, ſo muͤſſen auch alle ſeine Stimmen zu ihm gehoͤren. Unterſucht man nun die Fortſchreitung aller Stimmen, und findet, daß nicht Quinten und Octaven hintereinander folgen, die unter allen Umſtaͤnden verwerf - lich, wenigſtens nicht zu recommandiren ſind, ſo muß der Harmonie Schritt oder die Mo - dulation richtig ſein.

Folgten aber zwei Toͤne hintereinander, die ſich auf keine Harmonie gruͤndeten (was aber gar nicht denkbar iſt, weil wenigſtens ein Ton davon als Wechſel Note wird be - trachtet werden koͤnnen) ſo wuͤrde auch keine richtige Modulation moͤglich ſein. Wenn dieſer Fall aber nicht eintritt, und man vermeidet die falſche Quinten und Octaven Folge, ſo kann man mit voͤlliger Gewißheit den Schluß machen, daß in allen Faͤllen die Harmonie ſich der Herrſchaft der Melodie unterwerfen muß.

59

Es koͤnnen daher der Phantaſie des Componiſten durch die Modulation keine Graͤn - zen geſetzt werden, wenn er ſonſt die Pag. 10 ꝛc. feſtgeſtellten Harmonien und Accorde ge - nau kennt.

Da eine richtige Modulation zu Erlernung der Tonſetzkunſt hoͤchſt noͤthig iſt, ſo wird es nicht ſchaden, noch etwas weitlaͤuftiger daruͤber zu werden und noch einige Re - geln und Beiſpiele anzufuͤhren.

  • 1) Iſt erforderlich, daß man die Harmonien und Accorde aller Dur - und Moll Ton - arten genau kenne.
  • 2) Daß die Melodie der Harmonie richtig ſei.
  • 3) Daß kein Ton hoͤrbar werde, der nicht zum Accorde gehoͤrt, (Wechſel und durch - gehende Toͤne vertreten zwar oft die Stellen der Harmoniceignen, weshalb ſie als ſolche zu beruͤckſichtigen ſind.)
  • 4) Daß jede einzelne Stimme den Zweck der Haupt Stimme (Melodie) in ihrer har - moniſchen Sphaͤre unterſtuͤtze, das heißt: daß ſie contrapunctiſch richtig ſie begleite.

Der erſte Punkt bedarf keine Erklaͤrung, ſondern nur ſtrenge Befo[lg]ung. Was den zweiten Punkt betrift, ſo nennt man das Folgen einer Harmonie auf die andre: einen Harmonieſchritt. Ein ſolcher Schritt kann auf zweierlei Art geſchehen.

  • a) Von einem Accorde in den andern, welche beide in die Tonart, woraus das Stuͤck geſetzt iſt, gehoͤren und nicht aus der Tonart fuͤhren. Dieſe Modulation wird die Lei - tereigne, genannt.
  • b) Von einem Accorde in den andern, von welchen der letzte in eine andre Tonart gefuͤhrt wird. Man nennt dies eine ausweichende Modulation.

Sind ſolche ausweichende Harmonieſchritte nicht ſo lange von Dauer, als ſich die Hauptmelodie darinnen begruͤnden kann und das Gehoͤr ganz darein geſtimmt wird, ſo iſt die Ausweichung unvollkommen und man kann ſie nur zum Schmuck der har - moniſchen Melodie rechnen.

Hier folgt ein Beiſpiel aus Mozarts Zauberfloͤte, was beide Arten von Modula - tion und auch die unvollkommene, mehr zum melodiſchen Schmuck gehoͤrende, deutlich macht.

H 260
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Bis zum × gehoͤren die Accorde alle in die Tonart des Stuͤcks und ſind folglich leitereigne Harmonie Schritte.

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Von den × an bis zu den ×× weichen die Accorde in A moll aus, ſelbſt der letzte Accord iſt wieder eine Ausweichung in C dur. Dies iſt alſo eine ausweichende Modu - lation oder fremde Harmoniefolge.

Der letzte Accord in C dur (ſiehe ××) iſt auch eine Ausweichung, da aber das Gehoͤr gleich wieder in G dur geſtimmt wird ſo iſt ſie mehr zum Schmuck der melodi - ſchen Harmonie zu rechnen.

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Wie die Accorde auf einander folgen koͤnnen, lehren gar viel General Baß Schulen, aber eine voͤllige Gewißheit mangelt ihnen. Sie ſtellen unzaͤhlige, ſelbſt fehlerhafte Bei - ſpiele auf und ſetzen nach ſolchen, Regeln feſt, die immer wieder der Ausnahmen beduͤr - fen; und wollte man ſie bei Compoſitionen zum Grunde legen, ſo wuͤrden die wahren Schoͤnheiten eines Muſik Stuͤcks gar ſehr eingeſchnuͤrt und bizarr werden. Was fuͤhrt man nicht fuͤr ſonderbare Einfaͤlle, die aus der Laune dieſes oder jenes Componiſten hervorgegangen ſind, als Muſter an, und welche traurige Nachahmungen haben nicht die natuͤrlichen Anlagen manches angehenden Componiſten gaͤnzlich zerſtoͤrt! muß man nicht erſchrecken, wenn man ließt, daß es nur nach einem Syſteme, welches von 7 Grund Harmonien ausgeht, 6888 moͤgliche Harmoniefolgen giebt, und nach andern Syſtemen noch mehr geben koͤnne!

Wenn nun in einem Muſik Stuͤcke moͤglicherweiſe die Accorde aller Tonarten vor - kommen koͤnnten, und der Phantaſie des Componiſten, wenn er ſeine Melodieen richtig erfindet, von Seiten der Harmonie durchaus kein Hinderniß in den Weg gelegt werden darf, ſo entſteht die Frage: iſt die bisherige Lehre der Modulation, wenn ſie mit vieler Muͤhe in allen ihren Theilen erlernt wird, hinreichend, jede kuͤhne Idee des Componi - ſten untruͤglich zu unterſtuͤtzen, oder giebt es einen kuͤrzern, der Phantaſie ſchnellerer und ſicherer entſprechenden Weg, die Harmoniſche Fortſchreitung gleich bei Erfindung der Gedanken zu bewirken?

Was die erſte Frage betrift ſo kommt es auf eine große Uebung an, ſich durch das Heer der Beiſpiele von moͤglichen Faͤllen zu winden und feſte Grundſaͤtze zu erlangen, ſonſt moͤchte manche Regel zu Mißgriſſen verleiten, von welchen nur ein Beiſpiel hier folgt.

Es hat bisher die Regel gegolten: daß nach einer Dreiklangs Harmonie eine andre Dreiklangs Harmonie derſelben Tonart folgen koͤnne.

Man ſieht leicht ein, zu welchen Irrthum dieſe Regel verleiten kann, wenn man zwei Dreiklaͤnge auf einander folgen laͤßt, wo die fehlerhafte Quinten Folge nicht zu vermeiden iſt. Z. B.

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Dieſe Dreiklaͤnge gehoͤren nach den Lehren, woraus die Regel entnommen iſt, zu ein und derſelben Tonart, und koͤnnen, wenn ſie nicht umgekehrt werden, ohne uͤble Wirkung einander nicht folgen ꝛc.

62

Was die zweite Frage betrift, ſo ſtehe ich nicht an, meine Anſichten hieruͤber naͤher zu eroͤrtern.

Wenn man annimmt, daß in jeder Harmoniefolge auch eine Melodie ſein muͤße und die erſte von der letzten groͤßtentheils abhaͤngig iſt, auch eine Mehrdeutigkeit, wie ſie Pag. 44 ꝛc. angegeben iſt, nur von dem Zwecke abhaͤngt den ihr der Componiſt geben will; wenn ferner die Melodie als geiſtiger und die Harmonie als materieller Theil betrachtet wird, ſo muß der harmoniſche Fortgang durch den melodiſchen beſtimmt werden.

Ich habe vorher bemerkt, daß eine richtige melodiſche Folge die Harmonie be - ſtimmt und dies muß hier wiederholt werden. Das Gegentheil wuͤrde freilich zu Miß - verſtaͤndnißen fuͤhren. Wenn z. B. eine Melodie, die in C dur bis zu dem Accorde

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gefuͤhrt worden iſt, mit dem naͤchſten Tone in Fis dur

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ſchließen ſollte, ſo hieße dies die Natur der Harmonie mißbrauchen, weil alle Stimmen ſich unharmoniſch zu ihren neuen Plaͤtzen bewegen muͤßten. Dergleichen Harmoniefolgen koͤnnen ohne Vorbereitung nicht bewirkt werden. Wird aber nur ein einziger Ton ſo wie in den nachfolgenden zweiten Accorde durch cis geſchieht

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vorbereitet, ſo kann der Schluß entweder in D dur oder Fis dur

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wie er im zweiten Beiſpiele angegeben iſt, folgen.

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Der Grund liegt darinnen. Tritt eine Stimme aus der Sphaͤre einer Harmonie in eine andre, ſo muͤſſen alle andre Stimmen ihre neuen Plaͤtze entweder durch die Toͤne der neuen Dominanten Harmonie, (ohne Quinten - und OctavenFolgen,) ſuchen, oder wenn welche von ihnen bereits ihre kuͤnftigen Plaͤtze haben, ſtehen bleiben. Der Uebergang mag daher ſo auffallend und uͤberraſchend ſein als er nur im - mer wolle, ſo muß die Harmonie ſich doch darnach fuͤgen, wenn den Stimmen nur ſo viel Zeit gelaſſen wird, ſich in die Sphaͤre der neuen Harmonie melodiſch richtig be - wegen zu koͤnnen.

Man kann daher zwei Regeln feſtſetzen:

  • 1) muͤſſen eine oder mehr Stimmen entweder liegen bleiben, um Toͤne des folgen - den Accords, in welchen ſie auch ſtimmfaͤhig ſind, auszumachen.
  • 2) Muͤſſen ſie ſich der Tonart gemaͤß, in welche der folgende Accord ge - hoͤren ſoll auf ihre Plaͤtze bewegen.

Folgende Beiſpiele koͤnnen dieſe Regeln etwas deutlicher machen.

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In den erſten Beiſpiele bleibt die oberſte und unterſte Stimme liegen, und die zwei Mittelſtimmen bewegen ſich nach den beabſichtigten Accorde. Im zweiten Beiſpiele, in welchen die zwei erſten Accorde die naͤmlichen ſind, bleiben bei den Fortgange des zwei - ten Accords zum dritten, die untern Stimmen liegen, und nur die obere Stimme bewegt ſich nach den ihr im letzten Accorde zukommenden Platz. In den erſten Beiſpiele ſind die Accorde 1) der Dreiklang aus C dur und der Sext Quarten Accord aus F moll. In den zweiten Beiſpiele gehen die naͤmlichen Accorde in den Sexten Accord von Des dur uͤber.

In beiden Beiſpielen finden auch melodiſche Bewegungen ſtatt, indem in den erſten die unterſten Stimmen auf Intervalle uͤbergehen, die in d n vorhergehenden Accorde nicht enthalten ſind; was auch in den zweiten Beiſpiele der Fall iſt.

64

Schreiten die Accorde aber ſo fort:

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ſo geſchieht im Grunde keine melodiſche Fortſchreitung, ſondern die Stimmen nehmen nur andre Stellen der Primen Harmonie ein, obſchon andre Accorde entſtanden ſind, naͤmlich: der erſte iſt der Sexten Accord aus C dur, der andre der Sext Quarten Accord, der dritte wieder der Sexten Accord, und der vierte der Dreiklang aus C dur.

So lange daher die Stimmen einer Harmonie nur unter einander wechſeln, kann man nicht ſagen, daß dadurch nur die geringſte Melodie entſtehe; ſobald aber nur ein Ton eintritt der nicht in die Harmonie gehoͤrt, ſo iſt gleich die Entſtehung der Melodie bewirkt. Z. B.

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Hier bewegen ſich außer G, was durch

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bezeichnet iſt, alle Stimmen aus der Primen Harmonie von C dur in die Primen Harmonie G dur und werden alle melo - diſch. Selbſt wenn ſich die Stimmen einer Primen Harmonie aus dur, in eine der - gleichen aus moll bewegen, entſteht eine Melodie. Z. B.

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Die Stimmen in dieſen Sexten Accorden bleiben alle in ihrer Lage, außer daß ſich die große Terz in die kleine begiebt und dadurch einen melodiſchen Satz bildet.

Ich65

Ich will bei dieſer Gelegenheit noch ein Beiſpiel erlaͤutern, in welchem die Stim - men zweier Dominanten Harmonien zuſammentreten, um in die Primen Harmonie uͤberzugehen, die entweder Dur oder Moll werden kann, je nachdem die Abſicht iſt.

der Schluß kann in einen dieſer Accorde geſchehen

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Aus dem erſten Accorde geht die oberſte Stimme in Cis; was die Septime von D dur anzeigt, in D dur uͤber. Der Ton Cis gehoͤrt in folgende Harmonie, und iſt mit × be - zeichnet.

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Genannter Ton iſt entweder als Septime der Primen Harmonie zu betrachten, oder als Terz der Dominanten Harmonie von D dur, die ſo heißt:

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Auf beiderlei Weiſe, ſowohl als Septime der Primen Harmonie, oder als Terz der Dominantenharmonie, wird die Tonart D entweder Dur oder Moll beſtimmt, und auf beiderlei Art bewegt ſich der Ton Cis, in D. Nun geht in obigen Beiſpiele des erſten Accords, die Stimme e, in es uͤber, wo ſie nicht ſtehen bleiben kann, weil ſie; ſowie der oberſte Ton cis, diſſoniren und aufgeloͤßt ſein wollen. Es iſt mithin als ein Inter - vall von einer Dominanten Harmonie zu betrachten, die in D leitet und zwar in eineJ66Primen Harmonie (was auch ſchon das Gefuͤhl andeutet) dieſer Ton kommt nun vor in der Primen Harmonie 1) G dur und moll 2) Dur und moll 3) B dur und moll. Im erſten Falle und zwar in G moll

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iſt die Dominanten Harmonie:

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Die mit × bezeichnete Note iſt mithin der in dem Beiſpiele angegebne Ton, der in D moll leitet; da nun aber eine Dominanten Harmonie der Moll Tonart auch in eine Dur Tonart leitet, ſo koͤnnte auch die Primen Harmonie von G dur darauf folgen.

Im zweiten Falle naͤmlich in D dur und moll, iſt in der Dominanten Harmonie derſelben Es nicht enthalten weil ſie ſo heißen

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folglich kann ſie auch nicht fuͤr diejenige Harmonie betrachtet werden, aus welcher die Stimme genommen iſt. Aber der Schluß in Dur kann doch geſchehen, und geſchieht auch hier in dieſem Beiſpiele ganz unerwartet, weil ſich die uͤbrigen Stimmen des Accords

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bewegen. Es iſt daher ein Trug - oder unerwarteter Schluß von guter Wirkung.

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Im dritten Falle, naͤmlich in B dur, iſt in der Dominanten Harmonie Es enthal - ten, weil die Harmonie ſo heißt:

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der Ton Es in derſelben leitet wieder in D, und zwar in die Primen Harmonie B dur Es ſteht mithin in der Willkuͤhr des Componiſten, in welche Harmonie er gehen will, wie das erſte Beiſpiel beweißt, daß man ſowohl in Dur als auch in G moll, G dur, B dur, gehen kann.

Im vierten Falle kann man auch in B moll uͤbergehen, weil der Ton Es, auch in der Dominanten Harmonie derſelben enthalten iſt, naͤmlich:

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Der Uebergang der Stimmen iſt hier anders, weil Cis nicht mehr als Septime von D dur erſcheinen kann, die Eigenſchaft, ſich aufwaͤrts zu bewegen, aufhoͤrt, und mithin die Ueberraſchung nicht ſo auffallend iſt. Das Beiſpiel wuͤrde ſo heißen:

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Ich habe fuͤr noͤthig erachtet, dies Beiſpiel anzufuͤhren, weil es mehr Faͤlle giebt, wo verſchiedene Harmonien zuſammen treten, und eine uͤberraſchend ſchoͤne Wirkung machen.

So koͤnnten gar noch viele Faͤlle angefuͤhrt werden, wo man entweder mit einem mal oder doch nur durch Veraͤnderung einer oder zweier Stimmen in die entfernteſten Tonarten moduliren kann.

J 268

Sobald man alſo vergleicht, ob die Toͤne eines niedergeſchriebenen Accords auch als Toͤne des beabſichtigten nachfolgenden Accords liegen bleiben, oder ob ſie, ohne eine falſche Quinten und Octavenfolge, melodiſch in die Sphaͤre des neuen Accords bewegt werden koͤnnen, ſo kann man das große Raͤthſel von der muſterhaften Stimmenfuͤhrung in den Werken des unſterblichen Mozart, loͤſen.

Da nun uͤberhaupt bei Compoſitionen ſelten der Fall eintritt, daß man die hetero - genſten Accorde unmittelbar auf einander folgen laͤßt, und die Kunſt nicht zur Haupt Sache macht, weil keine Muſik an ſich gut iſt, die nichts weiter als die Conſtruction der General-Baßlehren enthaͤlt, ſo kann ich mit guten Gewißen unter Anrathung ei - nes fleißigen Studiums guter Werke, dieſes Kapitel beſchließen.

Eilftes Kapitel. Von der Einrichtung der Modulation der Tonſtuͤcke uͤberhaupt.

Ich ſehe mich genoͤthigt, dieſes Capitel blos darum in Erwaͤhnung zu bringen, weil es in vielen General Baß Schulen als ein wichtiger Gegenſtand, und zwar weitlaͤuftig genug abgehandelt iſt.

Im allgemeinen laͤßt ſich hieruͤber wenig beſtimmtes ſagen, weil es in dieſer Lehre faſt keinen Fall giebt, wo man nicht auch einmal das Gegentheil beweiſen koͤnnte. Es ſind eine Menge Vorſchriften vorhanden, wie lange man in der Haupt Tonart verwei - len und wenn man in andre ausweichen ſoll, worunter gewiß die wichtigſte mit iſt, daß man kein Tonſtuͤck ohne einen vollkommnen Schluß in die Tonika oder Prime, endigen koͤnne, und doch faͤllt auch dieſe Regel hinweg, wenn wir die Ouvertuͤre aus Don Juan anfuͤhren, die im erſten Theile in D moll anhebt, und zweifelhaft in dieſem Theile en - digt; im zweiten Theile in D dur anfaͤngt und in C dur mit einem ſogenannten unvoll - kommenen Schluße endigt.

Was wuͤrden wohl die Herren Recenſenten dazu ſagen, wenn ein weniger beruͤhmter Componiſt oder gar ein Anfaͤnger dieſes Wagſtuͤck unternommen haͤtte!

Ferner war es bisher allgemeine Regel, daß ein Tonſtuͤck ſich gleich Anfangs in der Haupt Tonart ankuͤndigen muͤße, und doch hat Beethoven ſeine Simphonie aus C moll ſo zweifelhaft angefangen, daß man erſt im 7ten Tacte den Dreiklang C moll hoͤrt. Und ſo koͤnnten eine Menge Faͤlle angefuͤhrt werden, die zum Beweiſe dienen wuͤrden, daß ſich hieruͤber keine beſtimmten Vorſchriften geben laſſen.

69

Der verſtaͤndige Kuͤnſiler, welcher von jeder Art der Tonſtuͤcke, als: der Simpho - nien, Sonaten, Concerte, Arien, Finalen in Opern, Duverturen ꝛc. einen richtigen Be - griff hat, wird ſeinem Zwecke gemaͤß, auch den rechten Ausdruck, die rechte Modulation zu waͤhlen wißen, ohne ſich vorſchreiben zu laſſen, welchen Flug ſeine Phantaſie nehmen ſoll; und ich kann nichts beſſeres thun, als den Anfaͤngern der Compoſition das Stu - dium aller dieſer beſondern Tonſtuͤcke beruͤhmter Kuͤnſtler anzuempfehlen, denn es herrſcht in jedem allerdings ein beſonderer Charakter der mit andern nicht gut verwechſelt werden kann.

Die Warnung, ein Tonſtuͤck oder gar einen einzelnen Gedanken in einfacher Har - monie oder durch alle Tonarten hindurch, ins Unendliche auszudehnen und ſich, wie man zu ſagen pflegt, darinnen uͤber die Dauer eines gebildeten Gefuͤhls, zu gefallen, kann ich hier nicht unberuͤhrt laſſen, weil leider! taͤglich noch ſolche unaͤſithetiſche Pro - ducte unſre Geduld auf die Probe ſtellen.

Dritte Abtheilung.

Erſtes Kapitel. Von der Melodie.

Die Melodie iſt eine Verbindung mehrerer Toͤne hintereinander, die ſich auf eine beſtimmte Tonart und auf eine von den Grundharmonien, die Pag. 10 ſpezifiſch ange - geben ſind, gruͤnden. Unter zwei hintereinander folgenden Toͤnen, wovon einer zu ei - ner Primenharmonie, der andere zu einer Dominantenharmonie gehoͤren muß, iſt keine Harmonie denkbar. Sobald aber zwei dergleichen hintereinander folgen, ſo iſt eine Me - lodie entſtanden. Dies Geſetz iſt auch auf mehrere Toͤne hintereinander auszudehnen. Eine ſolche melodiſche Fortſchreitung kann in einfachen Toͤnen beſtehen, die man melodiſche Fortſchreitung nennt, und auch in der Fortſchreitung mehrerer Stimmen der aus der Hauptharmonie beſtehenden ſpeciellen, naͤmlich: der Primen und Dominantenharmonie,*)Der Hauptfaden der Melodie beſteht in den Ha[r]monie Schritten (Modulation).70 die man harmoniſche Fortſchreitung nennt. Dieſe Melodie, die aus der letzten Fort - ſchreitung entſteht, liegt allen uͤbrigen Stimmen zum Grunde, denn es giebt keinen Ac - cordwechſel wo nicht die zwei Toͤne, die Prime und die Quinte dazu klingen ſollten z. B.

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u. ſ. w. ſiehe Kapitel von der harmoniſchen Mehrdeutigkeit eines jeden Intervalls.

Daß die zwei Grundtoͤne einer Tonart zu allen ſelbſt chromatiſchen Accorden gehoͤrt werden koͤnnen, kann mit vielen Beiſpielen aus den Werken beruͤhmter Componiſten bewieſen werden.

Sie werden daher am ſchicklichſten den Inſtrumenten zugeſchrieben, die den tiefſten Baß haben, oftmals aber auch den hohen Blasinſtrumenten, wenn ſie dieſe Toͤne lange aushalten ſollen, wie es in Mozarts Zauberfloͤte im Finale: Zum Ziele fuͤhrt dich dieſe Bahn u. ſ. w. der Fall iſt.

Dieſe beiden Toͤne koͤnnen alſo, als die erſte Hauptmelodie betrachtet werden, ob ſie ſchon groͤßtentheils im Baß liegt. Daß die Quinte oder Dominante davon die Schat - tenſeite, naͤhmlich die Dominantenharmonie mit ihren Accorden; die Prime aber die Lichtſeite, die Primenharmonie mit ihren Accorden regiert, iſt ſchon auf das Gefuͤhl begruͤndet, und darf alſo hier nur noch in Erinnerung gebracht werden.

Jede Melodie, iſt auf den Grund der Harmonie der ſtrengen Regel unterworfen, daß zwei Quinten nicht aufeinander folgen duͤrfen, es mag ſtufen oder ſprungweiſe ge - ſchehen z. B. wenn die Toͤne der Grundmelodie oder auch einer andern geweſen ſind

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ſo duͤrfen nicht dieſe Toͤne darauf folgen

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71

Es wechſeln daher mit dieſen Toͤnen die andern aus der Primen und Dominanten - harmonie ab. Bevor wir aber ein Beiſpiel davon anfuͤhren, ſo iſt es noͤthig, von den erſten zwei Toͤnen, die eine Melodie bilden ein Beiſpiel anzufuͤhren:

Melodiſche Fortſchreitung.

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Die erſte harmoniſche Fortſchreitung dazu geſchieht durch die erwaͤhnten Grundtoͤne beider Harmonien, die Prime und die Quinte.

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Die Harmoniſche Fortſchreitung iſt im Grunde ebenfalls weiter nichts, als eine me - lodiſche, denn wie viele Beiſpiele giebt es nicht, wo die Hauptmelodie im Baſſe liegt.

Wir wollen nun die harmoniſche Melodie, die bisher den Namen Modulation gefuͤhrt hat, weiter verfolgen. Nimmt man nun zu einer andern Melodie zwei andre Toͤne und zwar wieder einen aus der Primenharmonie und einen aus der Dominantenharmonie, ſo bilden dieſe zwei Toͤne wieder eine Gegenmelodie

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72 die wieder mit zwei Toͤnen aus dieſen Harmonien begleitet werden kann z. B.

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Die letzte Melodie ſchattirt die erſtere dadurch, daß ihre Toͤne durch die Begleitung in zwei andere Accorde der Primen und Dominantenharmonie verwandelt werden.

Faͤhrt man wieder mit zwei andern Toͤnen der erwaͤhnten Harmonien fort z. B.

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und giebt ihnen wieder andere Toͤne der zwei Harmonien zur Begleitung, ſo entſteht wieder ein andres Colorit durch andre Accorde

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Durch die Toͤne, welche die erſten jeder dieſer Melodien*)Die erſten Toͤne der Melodien ſind mit × und die zweiten mit bezeichnet. begleiten ſind die Accorde entſtanden, 1) der Dreiklang 2) der Sexten Accord 3) der Sext Quarten Accord. Durch die Toͤne, welche die zweiten Toͤne der Melodie begleiten, ſind die Accorde entſtanden 1) derDrei -73Dreiklang aus G dur, oder zur Dominanten Harmonie gehoͤrig 2) der Dreiklang auf der Septime der Tonart, aber zur Dominantenharmonie gehoͤrig, der Sext Quarten Accord aus G dur zur Dominantenharmonie gehoͤrig, ſiehe Tabelle aller Accorde Pag. 12. ꝛc.

Wenn mehrere Toͤne aus der Primenharmonie oder Dominantenharmonie hinterein - ander gehoͤrt werden, entweder ohne Begleitung z. B.

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ſo kann man ſie keine Melodie nennen; auch nicht, wenn nur ein Ton aus der Harmo - nie ſie begleitet, als:

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So lang dieſe Strophe iſt, ſo iſt ſie in Hinſicht auf melodiſche Natur doch nur ein Ton, wenn aber der Gegenſatz hinzu kommt als:

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K74obſchon dieſe Strophe auch nur als ein Ton betrachtet werden kann, ſo iſt beides zu - ſammen eine Melodie von zwei Toͤnen in vergroͤßerten Maaßſtabe. Es giebt nun zwar ganze Stuͤcke, die in Hinſicht der Melodie und der Begleitung weiter aus keinen andern Toͤnen, als aus denen der Primen und Dominantenharmonie beſtehn, weswegen ſie aber auch nicht immer auf Schoͤnheit und Intereſſe Anſpruch machen koͤnnen.

Eine Periode kann nicht fuͤr beendigt angeſehen werden, wenn nicht der letzte Ton durch die Prime der Tonart begleitet iſt. Die erſten drei Tacte ſind Beiſpiele davon. Fuͤr beendigt kann nur der letzte Tact angeſehen werden.

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Sobald ein Ton aus der Dominantenharmonie auf einen der Primenharmonie folgt, (ausgenommen die Dominante ſelbſt) ſo kann keine Melodie fuͤr geſchloſſen angeſehen und eine neue angefangen werden, z. B.

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Wenn man aber die Toͤne aus der Dominantenharmonie durch andere begleitende Toͤne einer fremden Primenharmonie umwandelt, was Modulation genannt wird, ſo ent - ſtehen Schluͤſſe z. B.

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75

Wenn der Schluß einer Melodie geſchehen iſt, und man hebt in der naͤmlichen Har - monie eine neue an; wenn auch mit Veraͤnderung der Accorde, ſo kann ſie in metriſcher Hinſicht fuͤr keine neue angeſehen werden, ſondern immer nur fuͤr eine Fortſetzung, ſelbſt wenn der Rhythmus veraͤndert wird, wie:

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Wenn dieſe Melodie gleich zwei Ruhepunkte oder Abſchnitte, durch die Veraͤnderung der rhythmiſchen Formen erhaͤlt, ſo iſt ſie doch nur fuͤr eine anzuſehen, und es kann nach dem erſten Abſchnitte keine neue angefangen werden. So oft eine rhythmiſche Form in einem andern Tone der Harmonie oder Octave wiederkehrt, ſo nennt man es eine Imitation, kehrt ſie aber in einem Tone einer andern Harmonie wieder, ſo wird ſie zu - gleich mit zum Gegenſatze.

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K 276
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Die Haupttoͤne einer Tonart, die der Hauptmelodie und mithin auch den ihr unter - geordneten zum Grunde liegen, ſind 1) die aus den Primenharmonien, 2) aus den Do - minantenharmonien. Beiderlei werden auch von den Toͤnen der Harmonie, wozu ſie gehoͤren, harmoniſch begleitet und zwar mit Ruͤckſicht auf die aus der Erfahrung be - kannten Accorde. Wenn aber ein Ton aus einer dieſer Harmonien mit einem aus ei - ner fremden Harmonie begleitet wird, ſo tritt der Arcord ſogleich aus der Tonart, und macht wegen der melodiſchen und harmoniſchen Fortſchreitung beſondere Ruͤckſicht auf die neue Harmonie noͤthig.

Außer den Toͤnen der zwei Harmonien, worinnen die Melodie vorzuͤglich herrſcht, giebt es in jeder Tonart noch fuͤnf Grundtoͤne, auf welche Primenharmonien mit ihren Um - kehrungen gebaut ſind, wie das naͤhere in dem Kapitel von der Harmonie angezeigt iſt.

Die Grundtoͤne dieſer Harmonien ſind bei Erfindung der Melodie zu betrachten 1) als durchgehende, 2) als Wechſeltoͤne, und ſo iſt auch jede Harmonie nur als ein ſolcher Ton zu beruͤckſichtigen. Durch dieſe Nebenharmonien erhaͤlt die harmoniſche Melodie ein groͤßeres Colorit.

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Die mit × bezeichneten Accorde ſind die vorhererwaͤhnten Nebenprimenharmonien, aus welchen; wie ſchon bei der Lehre der Harmonie erklaͤrt iſt, wieder Sexten u. Sext - Quarten-Accorde mit ihren Umkehrungen abgeleitet, und die auch zur Bildung der Me -77 lodie mit angewendet werden. Da alle dieſe Accorde; wenn einige gleich melodiſch zer - gliedert, die leitereignen Toͤne der Tonart, in welche ſie urſpruͤnglich gehoͤren zum Grunde haben, z. B. der dritte Accord des vorſtehenden Beiſpiels,

melodiſch zergliedert.

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nicht aus der Tonart fuͤhren, ſo ſind ihre Toͤne doch natuͤrlich auch geſchickt ſie zu Zuſam - menſetzung ſolcher Melodien zu gebrauchen, die mit den erſten abwechſeln und wodurch ein groͤßerer Reichthum entſteht.

Wenn die weſentlichen Toͤne einer Tonart nunmehr angegeben ſind, die als Haupt - toͤne der Melodie und der Begleitung (Harmonie) angenommen werden muͤſſen, ſo iſt noch ein Umſtand beſonders einzuſchaͤrfen, der gewoͤhnlich Veranlaſſung zu Irthuͤmern und zur Undeutlichkeit vieler Muſickſtuͤcke gegeben hat, und noch giebt. Es iſt folgender:

Erfindet man eine Melodie und merkt nicht genau, in welcher Gegend der weſent - lichen Toͤne eines Accordes man ſich befindet, ſo nimmt man oft, um eine Paſſage nicht zu unterbrechen, Toͤne eines andern nahe verwandten Accords zu Huͤlfe, und ſtellt ſie auf die guten Tacttheile in der Meinung, daß ſie als durchgehende Toͤne paſſiren koͤnnen. Solche Fehler begeht man aber nicht ungeſtraft, beſonders in mehrſtimmigen Sachen. Die ſchoͤnſte Idee verliert dadurch gleich alles Licht und Leben, und nicht ſelten tritt die folgende darauf verkehrt ein. Zu ſolcher Verwirrung koͤnnen am leichteſten die Accorde der vorher erwaͤhnten Nebenharmonien Veranlaſſung geben, weil ſie beſon - dern Einfluß auf die harmoniſche Melodie haben. Um nun einem ſolchen Verſehen zu - vorzukommen, bedarf es einer naͤheren Auseinanderſetzung der weſentlichen und zu - faͤlligen Toͤne einer Melodie.

Die weſentlichen Toͤne einer Melodie ſind die beſtimmten einer Harmonie oder ei - Accords, ſelbſt wenn die Begleitung aus Wechſel - oder durchgehenden Toͤnen beſteht, was haͤufig der Fall iſt.

Die Melodie wird mithin gebildet entweder aus Toͤnen, die einer gewiſſen Har - monie oder einem Accorde zum Grunde liegen, und aus Toͤnen, die dem Accorde nicht zum Grunde liegen, die entweder Wechſel - oder durchgehende Toͤne ſind.

Die Wechſeltoͤne ſind fuͤr die Melodie von der hoͤchſten Wichtigkeit, weil ſie ihr die wahre Schoͤnheit, den hoͤchſten Schmuck ertheilen, wenn ſie mit Einſicht und Gefuͤhl gewaͤhlt und angebracht werden. Sie betreffen, wenn ſie einen hohen Grad von Schoͤn -78 heit erregen ſollen, oft nicht nur eine Stimme, ſondern mehrere, ja ganze Accorde, denn ſie verbreiten ſich von den kleinſten Theilen der Melodie bis zur Primen - und Do - minantenharmonie. Ob ihrer zwar ſchon einmal an einem andern Orte gedacht worden iſt, ſo folgt doch ein kleines Beiſpiel, wo ſie durch alle Stimmen mit einen Kreuz be - zeichnet ſind.

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Ein Wechſel-Accord iſt der folgende mit × bezeichnet:

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Die Wechſeltoͤne gehoͤren entweder Accorden aus der Tonart, oder ganz fremden an, wie aus obigen Beiſpiele zu erſehen iſt. Groͤßtentheils werden ſie den harmonieeignen Toͤnen um einen halben Ton vorgeſetzt, oftmals auch ſprungweiſe wie:

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Die zweite Klaſſe der zu Ausbildung der Melodie gehoͤrenden Toͤne ſind die durch - gehenden. Sie ſind von der naͤmlichen Wichtigkeit, wenn die Melodie eine richtige Schattirung erhalten ſoll. Sie beſtehen aus den Toͤnen, nicht des naͤmlichen Accords der vorliegt, aber der Tonart in welche der Accord gehoͤrt. Sie kommen auch haͤufig chromatiſch vor, z. B. in nachſtehenden Fall, wo ſie durch o bemerkt ſind.

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Ihr Gebrauch beſchraͤnkt ſich auch nicht allein auf eine, ſondern oft auf mehrere Stimmen. Sie ſind, wie die Wechſeltoͤne, harmoniefremd und kommen zur Verbin - dung der Harmonieeignen am haͤufigſten vor. Selbſt durchgehende Accorde kommen vor z. B. Wenn die Prime oder Dominante die Grundmelodie haͤlt, wie:

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Obſchon auch dieſer Klaſſe melodiſcher Toͤne anderwaͤrts gedacht worden iſt, ſo habe ich doch fuͤr noͤthig geachtet, ihrer noch einmal hier am rechten Orte zu erwaͤhnen.

Ich muß endlich zu der Lehre von dem Gebrauche der Toͤne zu Bildung der Melo - dieen noch einmal auf die harmonieeignen zuruͤckkommen, wie ſie zu Anknuͤpfung der andern melodiſchen Toͤne zweckmaͤßig benutzt werden. Mozart, Gluck, Spontini u. ſ. w. haben ihren Melodien immer durch Beobachtung der Art und Weiſe, die ich hier deutlich zu machen bemuͤht bin, einen groͤßeren Zuſammenhang und Reitz gegeben, den man bei dem groͤßten Theile andrer Werke vergeblich ſucht, wo die Melodien ſo unvor - bereitet und abgeriſſen eintreten. Die Bemerkung mag fuͤr ſo geringe angeſehen werden, als man will, ſo iſt die Beobachtung derſelben gewiß von nicht geringem Einfluß auf die vollendete Natur der Melodie.

Sowohl erwaͤhnte, als jeder gute Tonkuͤnſtler bereiten eine nachfolgende Melodie durch Harmonie oder Accordeigne, ſelten harmoniefremde Toͤne im Niederſchlage vor, z. B.

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ferner

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Die Nachſchlaͤge ſind durch ein × bemerkt und ſtehen der neuen Melodie nicht im - mer um einen ganzen oder halben Ton (im letzten Falle wird der Ton harmoniefremd, wie in vorſtehenden Beiſpiele, des 4ten Tacts die letzte Note beweißt) ſondern auch ſprungweiſe vor, wie in nachſtehenden Beiſpiele:

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Dieſe Beiſpiele uͤber die harmonieeignen Toͤne, in ſofern ſie zur Ausbildung einer ſchoͤnen Melodie anzuwenden ſind, werden hinreichend ſein, einen Begriff bei eignen Verſuchen zu gewaͤhren. Wenn ſolche einzelne Toͤne zu beſſerer Verbindung der Me - lodien gebraucht werden, ſo giebt es auch Faͤlle, wo mehrere erforderlich ſind. Dieſe Nothwendigkeit tritt ein, wenn der Gegenſatz einer Melodie zeitiger endigt, als eine neue angefangen werden kann, z. B.

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Außer der erſten Note, iſt der ganze 4te Tact zur Verbindung der nachfolgenden Melodie da. Dergleichen Durchgehende oder Wechſelnoten, wenn ſie in der Verbindung ſowohl diatoniſch als chromatiſch vorkommen, werden auch oft umgeſtaltete Harmonien durch leiterfremde Toͤne, auch zufaͤllig veraͤnderte Intervalle genannt. Die Formen, die durch die Bildung der Melodie entweder hervorgehn oder auch oft zu Erreichung eines Zwecks gebraucht werden, ſind in dem Kapitel vom Rhythmus und den beſondern Huͤlfs - mitteln des muſikailſchen Ausdrucks, kuͤrzlich angegeben. Nachdem mehrere weſentliche Eigenſchaften der Melodie in Erwaͤhnung gebracht ſind, bleibt noch uͤbrig, der Zuſam - menſetzung mehrerer einzelner Melodien zu einem ganzen Stuͤcke, zu gedenken.

Es iſt zwar nicht moͤglich genau zu beſchreiben, wie alle einzelne Melodien erfun - den werden muͤſſen, daß ſie dem eigenthuͤmlichen Charakter eines Stuͤcks gemaͤß ſind, denn es giebt nicht nur viele Arten von Muſicken, als: Kirchen, Opern, Concert, Militair und Tanzmuſick, ſondern wieder ſo viel Unterabtheilungen. daß es hier der Raum nicht geſtattet, ſie alle genau beſchreiben zu koͤnnen.

Ich ſetze die Kenntniß einer jeden Gattung und deren Hauptcharakter voraus, und fuͤge nur noch hinzu, daß die Urtheilskraft eines Componiſten ſo cultivirt ſein muß, be - urtheilen zu koͤnnen, ob ſeine eigenen Ideen ſchoͤn genug, und ob ſie den beſten Mu - ſtern der Zeit zur Seite zu ſtellen ſind.

Die Warnung wird hier nicht am unrechten Orte ſein: nicht alles fuͤr ſchoͤn zu halten, was neu und kuͤnſtlich iſt, weil leider die Schoͤnheiten in der Kuͤnſtlichkeit ge - ſucht und die große Kunſt: durch Einfachheit ſchoͤn nnd unnachahmlich zu werden, uͤber - ſehen wird.

Ehe ich zur Beſchreibung der einzelnen Melodien zu einem Ganzen uͤbergehe, muß ich den Leſer aufmerkſam machen: daß eine Hauptmelodie nach einem gewiſſen Thema, was den Charakter und den Rhythmus des ganzen Stuͤcks beſtimmt, und ihm das Le - ben ertheilt, vom Anfang bis zu Ende zuſammenhaͤngend (wenn auch durch meh - rere Stimmen abwechſelnd) herrſchen muß, inſofern nicht beſondere Umſtaͤnde eine Un - terbrechung noͤthig machen. Der Charakter wird erhalten, wenn blos das Thema durch rhythmiſche Formen, aber nicht die Hauptbewegung des Stuͤcks unterbrochen wird.

Die Hauptbewegung wird unterbrochen, wenn z. B. eine Strophe lebhaft angefan - gen hat, und auf einmal Melodien eintreten, die ein andres Gefuͤhl erregen, ob ſie ſchon an ſich richtig und nicht ohne Schoͤnheit ſind. Sie zeigen immer von einem Stillſtande der Phantaſie und einer momentanen Armuth der Ideen, ob uns ſchon manche Componiſten uͤberreden moͤchten, daß es Originalitaͤt ſei.

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Von den × an, wird der Gang der Hauptmelodie unterbrochen und nimmt einen monotoniſchen und ſchleppenden Charakter an.

Die Hauptmelodie eines Stuͤcks iſt von der harmoniſche Melodie in ſofern unter - ſchieden, als ſie voͤllig ausgebildet entweder in einer oder abwechſelnd in mehreren Stimmen fortſchreitet. In der gluͤcklichen Wahl ihrer Toͤne und des zweckmaͤßigen Aus - drucks durch die rhythmiſchen Formen aͤußert ſich die hoͤchſte Genialitaͤt des Componiſten. Erſt dann, wenn die Phantaſie die Hauptmelodie geſchaffen und geordnet hat, bleibt die Schattirung derſelben durch die andern Stimmen, beſonders durch den Baß hinzu zu fuͤgen, und die harmoniſche Melodie zu beſtimmen, obſchon beides bei der Erfindung ſelten zu trennen iſt, beſonders wenn die Modulation mit fremden Harmonien abwech - ſelt. Die harmoniſche Melodie beſteht ohne rhpthmiſche Formen und blos aus der Fort - ſchreitung der Harmonien und Accorde. Die Richtigkeit und Schoͤnheit von jenen gruͤn - det ſich auf die Richtigkeit dieſer. Sie iſt mit dem Grundriſſe eines Gebaͤudes zu ver - gleichen und inſofern auch aͤhnlich, daß ſie zwar die Schoͤnheit ſelbſt nicht erregen, ſon - dern nur der abweichenden Hauptmelodie Grenzen ſetzen kann. Vergleicht man dieſe zwei Melodien nach bekannten guten Muſtern, ſo wird man erſtaunen, daß alle Wunder der Muſik faſt nur allein in den Accorden der Primen und Dominantenharmonie ver - richtet werden, und daß gerade durch die haͤufigen Ausweichungen in fremde Tonarten und Accorde das Gefuͤhl zu ſehr hin und her geworfen und der Haupteindruck zerſtoͤrt wird.

Die große Kunſt beſteht beſonders mit in der Oekonomie der Harmonien und Accorde. Um meine Behauptung mit einem Beiſpiele zu belegen, darf ich nur nachſtehendes Duett aus der Zauberfloͤte von Mozart waͤhlen, worin gewiß die groͤßte Oekonomie der Ac - corde herrſcht und doch eine gewiſſe Schoͤnheit nicht zu verkennen iſt.

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Der Grund, warum ein mit Oekonomie gut behandeltes Stuͤck mehr Effect machen muß, beſteht darinnen: daß waͤhrend dem Verlaufe deſſelben, das Ohr die groͤßeren For - men, in welchen ſich nur eine Harmonie bewegt, leichter faßt als die Abweichungen, die ſich in den kleinſten Theilen der Melodieen kuͤnſtlich auf einander haͤufen.

Wenn daher bei Entwurf der Hauptmelodie, Sparſamkeit der harmoniſchen Melodie beobachtet wird, ſo iſt es moͤglich, groͤßere imponirendere Maſſen oder Strophen zu erfinden in welchen ſich intereſſante Schattirungen durch Accorde fremder Harmonien oder nur harmoniefremden Toͤnen, deſto mehr hervorheben laſſen. Und man kann mit Gewisheit den Schluß machen, daß derjenige kein großer Componiſt genannt werden kann, der nicht im Stande iſt, aus den Accorden der Primen und Dominantenharmonie einer Ton - art, wie ich ſie in dem Syſtem pag. 10 ꝛc. aufgeſtellt habe, ein vollkommenes und ſchoͤnes Muſikſtuͤck machen zu koͤnnen. Man kann ſich um ſo mehr von der Wahrheit dieſes Schluſſes uͤberzeugen, wenn man ſich ins Gedaͤchtniß zuruͤckruft, in wie vielerlei Ver - bindungen die wenigen Accorde ſchon vorgekommen ſind, und wie oft ſie noch vorkommen werden, ohne ſie erſchoͤpfen zu koͤnnen, und ehe man ſagen kann, daß ſie als Mittel der Schoͤnheit in der Muſik, unbrauchbar geworden ſind.

Zweites Kapitel. Von dem Accent der Melodie.

Der Accent der Melodie beſtimmt 1) die Modulation (Harmonie Schritte) 2) die neuen Wendungen bei Erfindung der Melodie.

Was den erſten Punkt betrifft, ſo wird jedem Erfahrnen bekannt ſein, wie viel dar - auf ankommt den Accent zu beſtimmen, um die gehoͤrige Begleitung, den richtigen Ac - cord waͤhlen zu koͤnnen; denn nicht alle Accorde ſind dazu geeignet eine Melodie zu ſchattiren, ob ſie ſchon einerlei Grund Harmonie haben, woraus die melodiſchen Inter - valle genommen ſind.

Wenn man ſich davon naͤher uͤberzeugen will, ſo darf man nur den ſtufenweiſen Fortgang der 7 weſentlichen oder leitereignen Toͤne zur Melodie nehmen und verſchieden accentuiren, ſo wird man finden, daß die Begleitung ſich von ſelbſt darnach abaͤndern muͤſſe.

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Waͤhlt man nur die zwei erſten Toͤne zu einer Melodie

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ſo findet man, daß der Accent beſonders auf die zweite Note faͤllt und der natuͤr - liche Baß muß ſein:

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Setzt man nun die dritte Note dazu, ſo faͤllt der Accent dem Gefuͤhle nach vor - zuͤglich auf die dritte, und die natuͤrlichen Baͤße ſind:

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Setzt man noch einen Ton hinzu, ſo wird die Melodie ſchon vieldeutiger, und die Begleitung (Modulation) anders, je nachdem der weitere Fortgang es beſtimmt.

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Betrachtet man die oberſten Toͤne als Melodie eines zergliederten Accords, auf welchen ein Gegenſatz oder Gegenmelodie folgen ſoll, ſo aͤndert ſich gleich die ganze Modulation. z. B.

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und der Accent (Harmonieſchritt) faͤllt auf die 1ſte 5te und 6te Note. Veraͤndert man die zwei erſten Toͤne wieder zu einer andern Melodie, ſo tritt auch gleich eine andre Modulation ein. Z. B.

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M90

Wie mannigfaltig wechſeln hier ſchon die Accorde ab 1) der Dreiklang in C dur 2) der Secunden Accord 3) der Sexten Accord 4) der Dreiklang von F dur oder auf der Quarte von C dur als leitereigner Dreiklang betrachtet. (ſiehe Tabelle der Accorde von C dur.) Auf dieſe Weiſe kann eine vielfache Veraͤnderung vorgenommen werden, die immer auch eine Abwechſelung der Modulation zur Folge hat.

Betrachtet man dieſe innige Uebereinſtimmung der Toͤne zu einem vollkommen Ganzen, ſo findet man, daß die Modulation ſtets von dem Fortgange der Melodie ab - haͤngt; und daher ruͤhrt es auch, daß ein richtiger Gang der Melodie nicht geſtattet, daß außer den zwei Dreiklaͤngen der Prime und Quinte, und Prime und Quarte, andre Dreiklaͤnge auf einander folgen koͤnnen. Der Accent kann auf vielerlei Art verlegt wer - den und mithin muß auch die Begleitung verſchieden ſein.

Jeder Ton hat mehrere Schattirungen oder eine harmoniſche Mehrdeutigkeit, je nach - dem er in einer oder der andern melodiſchen Verbindung vorkommt. Was beſagte Mehr - deutigkeit betrifft, ſo verweiſe ich den Leſer auf das Kapitel unter dieſer Benennung ſelbſt, was aber

2) der Accent zu Erfindung neuer melodiſcher Wendungen beitraͤgt, ſoll hier noch mit wenig Worten beruͤhrt werden.

Der Accent traͤgt zu Erfindung neuer Melodien bei: wenn man ihn entweder fruͤher oder ſpaͤter eintreten laͤßt und auf einen Ton verlegt, der ſonſt noch mehrere Toͤne zu einer Melodie hinter ſich folgen laſſen koͤnnte; und wenn man bei dieſem Tone eine an dre Melodie anknuͤpft. Z. B.

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Dieſe Toͤne gehoͤren alle zu einer Melodie; legt man aber auf den dritten einen Anfangs Accent oder deutlicher: faͤngt man da eine neue Melodie an, ſo erhaͤlt die Phantaſie neues Leben und Gelegenheit, ihr eine andre Wendung zu geben. Z. B.

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ſo wie man auch gleich fuͤhlt, daß ſich die Begleitung aͤndern muß.

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Der Eintritt dieſes Anfangs Accents (den ich noch mit keinem andern Namen bele - gen kann) geht nicht immer aus einer Stimme hervor, ſondern auch aus den Har - monie Schritten, denn in folgenden Toͤnen iſt nur ein Accent.

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weil es im Grunde nur ein ſchattirter Ton iſt, den man hoͤrt.

Giebt man aber dieſen Toͤnen eine andre Begleitung oder Modulation, ſo entſtehen auch ſo viel Accente als es Harmonie Schritte giebt. Z. B.

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Strenge genommen, gehoͤrt die Erklaͤrung dieſes Kapitels noch zur Abhandlung der Melodie, da aber Modulation zu gleicher Zeit davon abhaͤngig iſt, ſo habe ich fuͤr noͤ - thig erachtet, den Leſer durch ein eignes Kapitel auf die Wichtigkeit des Accents auf - merkſam zu machen.

In nachſtehenden Beiſpiele habe ich anſchaulich zu machen geſucht, wie einzelne Toͤne durch Verlegung des Accents und einer andern rhythmiſchen Eintheilung des Ge - halts der Noten zu Hervorbringung verſchiedener Melodien faͤhig ſind. Wie leicht zu erachten, iſt der Verſuch nicht hinreichend und kann auf beliebige Art, durch den Ge - brauch groͤßerer und kleinerer Noten, Punkte, Pauſen und allen Huͤlfsmitteln, die unter dem Kapitel vom Rhythmus vorkommen, weiter ausgefuͤhrt werden.

M 292

Beiſpiele.

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Drittes Kapitel. Von der Zerlegung der Harmonie in melodiſche Theile.

Unter Zerlegung der harmoniſchen Theile in melodiſche, kann man fuͤglich die Lehre der Variation verſtehen. Sie erſtreckt ſich faſt auf alle Muſikſtuͤcke, weil es kaum denk - bar iſt, daß eine Melodie ihr Daſeyn erhalten kann, ohne auf die Harmonie begruͤndet und aus ihren Beſtandtheilen zerlegt zu ſeyn. Wenn die Melodie, wie ſchon mehrmal beruͤhrt worden iſt, blos eine zerlegte Harmonie iſt, oder deutlicher: wenn ſie blos aus einer Reihe von Toͤnen beſteht, die; wenn ſie zu gleicher Zeit (coexsistirend) gehoͤrt wuͤrden, richtige auf die Tonart ſich gruͤndende Harmonien bilden muͤßten, ſo geht daraus hervor, daß die weſentlichen Toͤne einer Melodie aus den weſentlichen Toͤnen der Harmonien beſtehen muͤſſen. Z. B.

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Setzt man nun Harmonie und Melodie zuſammen, ſo muͤſſen beide zuſammenſtim - men. Z. B.

zerlegte Harmonie, die Melodie genannt wird.

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Da nun die Harmonie nicht anders als in kleinere Theile zerlegt werden kann, ſo folgt hieraus, daß ſich auch dadurch die rhythmiſchen Theile aͤndern, und daß die Erfin - dung der Melodie ſich auch auf die Kenntniß des Rhythmus, beſonders auf die Diffi - denz deſſelben gruͤndet. Die Zerlegung kann durch verſchieden geordnete rhythmiſche Theile geſchehen, wie obiges Beiſpiel hier andersgeordnet zeigt:

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Bilden nun die Harmonie Schritte wieder fuͤr ſich eine Melodie (was in allen gu - ten Muſikſtuͤcken unerlaͤßlich iſt) ſo kann die Zerlegung der zweiten Harmonie oder des zweiten Accords entweder wieder in der naͤmlichen rhythmiſchen Eintheilung oder in ei - ner andern geſchehen. Z. B.

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So richtig nun der Umſtand iſt, bei Zerlegung der Harmonie (Melodie oder Va - riation) auf die weſentlichen Toͤne der Harmonie zu ſehen, ſo noͤthig iſt es auch, auf die zweckgemaͤße und richtige rhythmiſche Diffidenz zu achten; woruͤber das Naͤhere in dem Kapitel: Vom Rhythmus, beruͤhrt werden wird. Eine Melodie aber, wenn ſie blos aus den Toͤnen der Harmonie beſteht, kann eigentlich keine Melodie, wenigſtens keine intereſſante genannt werden, ſondern ſie iſt blos eine Variation der Harmonie Theile; und es wuͤrde ein Stuͤck, was auf dieſe Weiſe ausgefuͤhrt wuͤrde, keinen An - ſpruch auf ein ſchoͤnes melodiſches Colorit machen koͤnnen. Um nun dieſem Erforderniße abzuhelfen, werden bei Zerlegung der Harmonie, den weſentlichen harmoniſchen Toͤnen noch andere beigefuͤgt, jedoch nur zwei Arten, naͤmlich: durchgehende Toͤne und Wechſel Toͤne.

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Die durchgehenden Toͤne liegen zwar nicht in den Harmonien oder Accorden, das heißt: ſie ſind keine weſentlichen Toͤne des Accords, allein ſie muͤſſen immer leiter - eigne Toͤne derjenigen Tonart ſein, in welche die Harmonie oder der Accord gehoͤrt. Beiſpiele werden es deutlicher machen, weshalb ich hier eine Melodie annehmen will, worinnen durchgehende Toͤne vorkommen:

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Die mit × bezeichneten Toͤne gehoͤren alle der Tonart C dur weſentlich an, und es finden ſich keine, die in einer fremden Tonart leitereigen ſind. Das kleine Reich der Toͤne, was jeder Accord jede Harmonie beherrſcht, kann von den durchgehenden Toͤnen durchaus nicht falſch betreten werden ohne die Natur der Harmonie und Melodie zu ver - letzen. Um dies zu beweiſen, will ich obigem Beiſpiele andre durchgehende Toͤne ein - verleiben, die ſogleich verrathen werden wie falſch ſie ſind:

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Sobald aber in einem Stuͤcke aus der naͤmlichen Tonart, Harmonien oder Accorde in der Modulation vorkommen, die urſpruͤnglich in eine andere Tonart gehoͤren, ſo muͤſ - ſen die durchgehenden Toͤne auch gleich die Geſetze ihrer Vorzeichnung reſpectiren. Z. B.

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Die erſten mit bezeichneten Toͤne gehoͤren alle den zwei Accorden aus der Ton - art G dur an, naͤmlich: dem Sexten Accorde und dem Dreiklange, denn; wenn dies nicht der Fall waͤre, ſo muͤßte ſtatt fis, f ſtehen. Die andern mit bezeichneten Toͤne gehoͤren zwei Accorden aus der Tonart D moll an.

So oft alſo in der Modulation Accorde vorkommen, die in andre Tonarten gehoͤren, ſo muͤßen die Zerlegungen derſelben auch in der Sphaͤre der leitereignen Toͤne der Ton - arten geſchehen.

Man kann nun aber nicht allein diejenigen Toͤne, die zwiſchen den harmonieeignen liegen als durchgehende Toͤne betrachten, ſondern auch eine groͤßere Reihe derſelben, die an ſich entweder aus leitereignen oder durchgehenden oder Wechſel Toͤnen beſtehen, und zwar ſolche, die zwiſchen den Harmonie Schritten gehoͤrt werden, als:

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Die mit Bogen bezeichneten Stellen enthalten die durchgehenden Toͤne.

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Es iſt ſchon anderwaͤrts erwaͤhnt worden, daß es nicht nur durchgehende Toͤne ſon - dern auch durchgehende Accorde giebt, wie nachſtehendes Beiſpiel zeigt:

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Ob dergleichen durchgehende Accorde ſchon nach jedem andern Accorde folgen koͤn - nen, wie es auch geſchieht, ſo folgen ſie doch groͤßtentheils mehr nach dem Dreiklange und den Sext Quarten Accorden und deren Umkehrungen, naͤmlich nach ſolchen, wo die Prime und die Dominante als Grundbaͤße dominiren.

Es folgt hierauf die Erklaͤrung der letzten Art der Toͤne einer Melodie, naͤmlich: die Wechſel Toͤne.

Die Wechſel Toͤne gehoͤren eben ſo wenig wie die durchgehenden zu den Accorden auf welche ſich die Melodien gruͤnden. Sie machen aber die groͤßte Zierde aus, und ge - ben denſelben das hoͤchſte Intereße. Es wird ein doppelter Zweck durch ſie erreicht, wenn ſie mit den durchgehenden Toͤnen vereint eine Verbindung der Harmonie-Schritte machen. Z. B.

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Die mit Punkten bezeichneten Toͤne ſind Wechſel Toͤne und der mit × bezeichnete ein durchgehender Ton.

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Der zweite Zweck, ſie zu gebrauchen, iſt: der Melodie Annehmlichkeit und Reitz zu zu geben. Groͤßtentheils erhalten ſie ihre Lage um eineu halben Ton niedriger, als die weſentliche Toͤne des Accords. Erhalten ſie ihre Lage aber hoͤher als derſelbe, ſo ge - ſchieht es in der Regel um einen ganzen Ton. Da Mozart den Zauber ſeiner mehreſten Stuͤcke mehr als jeder andre Camponiſt auf ſie gegruͤndet hat, ſo erlaube ich mir auch, hiernaͤchſt nur ein Beiſpiel aus ſeinen Werken anfuͤhren zu duͤrfen, ohne die uͤbrigen zu erwaͤhnen, die alle von dem Gebrauche dieſer Toͤne zeugen.

Abgebrochene Saͤtze aus einer Sonate von Mozart.

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N 2100
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Alle mit × bezeichnete Toͤne ſind Wechſeltoͤne und deren Menge giebt den Beweiß, wie weſentlich noͤthig ſie ſind, in Verbindung mit den durchgehenden Toͤnen den Me - lodien die Haupt Eigenſchaft: die Sangbarkeit, zu geben.

Ich glaube durch die Wichtigkeit des Gegenſtandes entſchuldigt zu ſein, wenn ich dem Leſer nochmals in Erinnerung bringe, daß es auch Wechſel-Accorde giebt, die den Harmonie Schritten den naͤmlichen Reitz geben, wie die Toͤne den ſpeziellen Melo - dien. Hier ein kleines Beiſpiel:

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Viertes Kapitel. Von der Aufnahme fremder Ideen bei Erfindung der Melodie.

Melodiſche Aehnlichkeiten mit andern ſind nicht zu vermeiden, weil eine gewiße Anzahl Toͤne hintereinander zufaͤllig mit einer Zuſammenſtellung der Melodiſchen Saͤtze andrer Meiſter zuſammen treffen koͤnnen, und kurze Saͤtze einer Melodie oder einige Har - monie Schritte wie die Worte in der Sprache zu betrachten ſind, deren ſich alle Schriftſteller bedienen muͤſſen. Wenn daher die Rede vom Aufnehmen fremder Ideen iſt, ſo kann darunter nur eine gewoͤhnliche Uebereinſtimmung aller Toͤne und der ganzen Harmonie Folge eines Satzes verſtanden werden, der wie ein ganzer Gedanke eines Gedichts betrachtet werden kann.

Der Componiſt und beſonders der angehende, hat allerdings ſcharf zu pruͤfen, ob ſeine Ideen auch wirklich ſein eigen und nicht Reminiszenzen anderer irgend einmal gehoͤrter Muſiken ſind, die einen Eindruck auf ihn gemacht haben, ob er ſich ſchon ih - rer nicht mehr mit Klarheit erinnert. Man hat Urſache, am meiſten mißtrauiſch gegen ſolche Ideen zu ſein die ſich uns ſogleich ganz klar und ausgedehnt vorſtellen und uns deshalb beſonders gefallen, denn; es gehoͤrt ſchon eine ſtarke Einbildungskraft dazu ei -102 nen ganzen Satz mit der harmoniſchen Schattirung ohne Zuziehung der Urtheilskraft und ohne etwas abzuaͤndern, zu erfinden.

Um einer Taͤuſchung dieſer Art auszuweichen iſt es am beſten, etwas daran abzuaͤndern; entweder ſchon in der Folge der melodiſchen Toͤne eines Gedankens, oder wenn er letztern wegen beſondern Intereſſe beibehalten will, wenigſtens dem Gegenſatze eine andere Wen - dung zu geben. Iſt der Componiſt ernſtlich bemuͤht dies zu thun, ſo entgeht er gewiß dem Vorwurfe der Entlehnung fremder Ideen; iſt er aber Egoiſt und von ſich einge - nommen, daß alles, was ſich ſeiner Phantaſie vorſtellt, natuͤrlich Producte ſeiner Ge - nialitaͤt ſein muͤſſen, ſo widerfaͤhrt ihm ſein Recht, naͤmlich: er behauptet ſeine Eigen - heiten, das Publicum aber ſteht auch wie ein unerſchuͤtterlicher Fels und ohne nachzu - geben da, weil es nicht noͤthig hat, ſich ſeine Hartnaͤckigkeit aufzwingen zu laſſen.

Nichts ſteht mithin der Vervollkommnung eines Componiſten mehr im Wege als Eigenduͤnkel. Um diejenigen, die frei von dieſem ſind, meine fernern Anſichten nicht vor[zu]enthalten, erlaube ich mir, etwas mehr hinzuzufuͤgen und durch Beiſpiele deutli - cher zu machen. Geſetzt man fuͤhlte ſich geneigt bei dem Entwurfe eines Muſikſtuͤcks, das eine religioͤſe Empfindung erwecken ſollte, einen Gedanken ſo auszudruͤcken, wie er unſerer Phantaſie aus dem Marſche der Prieſter in der Zauberfloͤte vorſchwebt (weil die Phantaſie doch immer an etwas Empfundenes appellirt)

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ſo wuͤrde bis zu dem Zeichen × Jedermann ſogleich die Entlehnung des Gedankens er - kennen, und darum eine Ungeduld empfinden, wenn nur die Haͤlfte des darauf folgen - den Satzes hoͤrbar wuͤrde. Gaͤbe man aber dem darauf folgenden Satze ſowohl in rhythmiſcher als melodiſcher Hinſicht eine Abaͤnderung, wodurch ſich vielleicht auch die Modulation veraͤnderte, ohngefaͤhr auf dieſe Weiſe:103

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ſo koͤnnte von einem Plagiate nicht mehr die Rede ſein. Wenn man dasjenige, was in dem Kapitel von den Accente der Melodie geſagt iſt, zu Huͤlfe nimmt, ſo wird ſich die Armuth verlieren und eigne Erfindung an die Stelle treten.

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Fuͤnftes Kapitel. Von der Nachahmung bei Erfindung der Melodie.

Die Nachahmung iſt eins der wichtigſten Huͤlfsmittel bei der Erfindung eines Mu - ſikſtuͤcks. Sie beſteht nicht in der Nachahmung der rhythmiſchen Formen allein, ſondern auch in der Nachahmung derſelben durch andre Toͤne; denn waͤre dies nicht der Fall, ſo koͤnnte man ſie nicht Nachahmung, ſondern man muͤßte ſie Wieder - holung nennen. Leider wird uns von vielen Componiſten die Wiederholung (eine ſaͤt - tigende Speiſe) ſtatt der Nachahmung oft aufgetragen.

Erſtere iſt urſpruͤnglich ein weſentlicher Theil der Fuge und des Contrapunkts, und fehlt ſelten in einem guten Muſikſtuͤcke, denn wo mehr als eine Stimme hoͤrbar wird ſo iſt es ſehr natuͤrlich, daß nicht jede eine andre Idee abſingt, ſondern daß ſie vereint nach einem Haupt-Zwecke ſtreben und ſich gleichſam wechſelsweiſe zu uͤbertreffen trach - ten, was am natuͤrlichſten durch die Nachahmung geſchieht.

Geſchehen die Wiederholungen in einer und derſelben Stimme, jedoch durch andre Toͤne, ſo nennt man ſie in der Lehre der Fuge: Verſetzungen; geſchehen ſie aber in verſchiedenen Stimmen und durch andre Toͤne, ſo werden ſie Nachahmungen ge - nannt; und wird ein und derſelbe Satz durch eben und dieſelben Toͤne hervorgebracht, ſo ſind es blos Wiederholungen.

Ich habe nicht ohne Grund die Erklaͤrung der dreierlei Huͤlfsmittel hier angefuͤhrt, weil ſie einen bedeutenden Einfluß auf Erfindung der Melodie haben; die Art und Weiſe aber wie die Wiederholungen Verſetzungen und Nachahmungen geſchehen, ſoll hier nur mit ein paar Beiſpielen erlaͤutert werden, weil ſie erſtens ſchon aus der Erklaͤrung hervorgeht, und zweitens in der Lehre: von der Fuge: weitlaͤuftiger abgehandelt wer - den wird.

Beiſpiel einer Wiederholung.

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Bei -105

Beiſpiel einer Verſetzung.

Beiſpiel einer Nachahmung.

O106

Es giebt außer der Fuge; in welcher die Nachahmung den wichtigſten Theil der Melodie ausmacht, einen großen Theil Muſikſtuͤcke, deren Melodien einzig und allein aus Nachahmungen beſtehen.

Die Nachahmungen koͤnnen in allen Toͤnen einer Tonart geſchehen, als in der Secunde, Terz, Quarte ꝛc. das heißt: wenn eine Melodie auf der Prime angefangen hat, ſo kann die Nachahmung auf der Sekunde geſchehen. So faͤngt z. B. die vorher - gehende Melodie auf der Terz der Tonart C dur an, und der Anfang der Nachahmung geſchieht auf der Quarte. Die Nachahmung iſt von der Verſetzung dadurch unterſchie - den, daß ſie in einer andern Stimme geſchieht.

Fuͤnftes Kapitel. Ueber den Satz und Gegenſatz bei Erfindung der Melodie.

So wie in vorhergehenden Capitel die Nachahmung und nebenbei die Wiederholung und Verſetzung kuͤrzlich erklaͤrt worden iſt, ſo wird hier noch zweier Theile der Melodie ge - dacht, die bei der Erfindung derſelben nicht weniger wichtig ſind, naͤmlich des Satzes und Gegenſatzes. Beide Theile verhalten ſich zu einem Muſikſtuͤcke, wie zwei Stro - phen eines Gedichts zu einander. Ein Satz fuͤr ſich allein gewaͤhrt dem Ohre keine Be - friedigung; kommt aber ein ſchicklicher Gegenſatz dazu, ſo kann man eine Idee ſchon ſchließen. Z. B.

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Bis zum + iſt ein kleiner Satz, und bis zum ++ der darauf gehoͤrige Gegenſatz.

Da es nun Gedichte giebt, deren Verſe aus mehr als zwei Strophen beſtehen, ſo giebt es in der Muſik natuͤrlich auch Stuͤcke, die aus mehr als Satz und Gegenſatz be - ſtehen, weil die regelmaͤßige Muſik der Poeſie ganz aͤhnlich iſt.

Die Merkmale ob ſich eine Idee endigt, liegen vornaͤmlich in den Schluͤſſen, ganz beſonders aber in den Baͤßen der 3 Accorde der Primen Harmonie, als: des Dreiklangs des Sexten und Quart Sexten Accords. Die Schluͤße die in den zwei letzten Accorden geſchehen, ſind nur als Commata zu betrachten. Ganz genaue Vorſchriften uͤber das metriſche Verfahren bei der Compoſition eines Stuͤcks laßen ſich nicht geben, indem al - les darauf ankommt, auf welchen Theil einer Melodie der Componiſt den ſogenannten Accent legen will oder legen muß, beſonders wenn ein zum Grunde liegendes Gedicht ſeine Abſicht leitet.

O 2108

In nachſtehender Sonate findet man nicht allein einen Satz und Gegenſatz, ſon - dern auch den Satz und Gegenſatz veraͤndert oder verſetzt, und hierauf noch einen Nach - ſatz, der in Satz und Gegenſatz veraͤndert erſcheint:

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Von einem + bis zum andern + findet ſich immer wieder ein verkleinerter Satz und Gegenſatz, und ſelbſt dieſe ſind wieder durch Nachahmungen verlaͤngert und ver - ſchoͤnert.

Alle dieſe melodiſchen Abweichungen hier zu beſchreiben iſt nicht moͤglich, weil der Raum dieſer Blaͤtter es nicht zulaͤßt, und jeder Componiſt vielleicht beſſer wie ich fuͤh - len wird, welch einen wichtigen Antheil die melodiſche Anordnung der Saͤtze, Zwiſchen - ſaͤtze, Gegenſaͤtze und Nachſaͤtze, bei Erfindung der Haupt Melodie hat.

Vierte Abtheilung.

Erſtes Kapitel. Ueber den Rhythmus, das Metrum und die Symetrie der Muſik.

Die Lehre des Rhythmus in der Muſik iſt, ſo viel mir bekannt iſt, noch nirgends als ein weſentlicher Theil der Schoͤnheiten in der Tonkunſt gehoͤrig gewuͤrdigt worden. Es herrſcht hieruͤber noch nicht hinlaͤnglich Licht in der Art, ihn zweckmaͤßig anzuwen - den. Er wird gewoͤhnlich fuͤr nichts weiter gehalten, als fuͤr eine taktgemaͤße Bewe - gung aller Stimmen, oder fuͤr eine arithmetiſche Eintheilung der Noten, (als Zeichen der Muſik) deren mehrere zuſammen, Figuren oder Paſſagen u. ſ. w. genannt werden, und110 man ſcheint der Meinung zu ſein, daß er bei Erfindung der Melodien von ſelbſt ent - ſtehe, und keinen weſentlichen Einfluß auf die Schoͤnheiten eines Stuͤcks habe. Allein mit Bedauern muß dieſer Irrthum erkannt werden, denn wie viele Meiſterwerke wuͤrden wir mehr haben, wenn mancher Componiſt; der ſonſt nicht gewoͤhnliche Einſichten in die Lehre der Harmonie und Melodie zeigt, von ihm einen deutlichern Begriff haͤtte. Es iſt zwar wahr, daß unſere Phantaſie die rhythmiſchen Schoͤnheiten oft ohne unſer Zuthun mit hervorbringt, und daß das Gefuͤhl gewoͤhnlich den Ausdruck richtiger bezeichnet, als die Kunſt; allein es gehoͤrt auch ein hoher Grad von Ausbildung unſerer Ideen dazu, uns ſo auszudruͤcken, daß der Eindruck das Gefuͤhl anderer ſo anſpricht, wie es die Kultur der Kunſt und der Sinn fuͤr Schoͤnheit verklangt. Die Vollkommen - heit iſt von der Mittelmaͤßigkeit weit entfernt, und wenige erheben ſich uͤber die Sphaͤre der Gemeinheit. Wer Sinn fuͤr Muſik hat, wird ſeine Empfindungen auch allenfalls in Toͤnen ausdruͤcken koͤnnen; wenn man aber den Ausdruck einer Leidenſchaft von Tau - ſenden niederſchreiben laſſen wollte, ſo wuͤrde man die Verſchiedenheit der Kultur und der Schreibart der Muſik, ſo wie des Effects erſt recht zu bemerken Gelegenheit haben. Der Grund liegt unſtreitig darin: daß uns noch die Kunſt und die Kenntniß der Mittel fehlt, die, unſerer Seele vorſchwebenden Gedanken, ausdruͤcken und verſchoͤnern zu koͤn - nen; So wenig ſonſt in den Kuͤnſten die Schoͤnheiten nach Regeln erfunden werden koͤnnen, ſo wenig muß es jedoch an dem techniſchen Theile und an der Kenntniß der Ele - mente derſelben fehlen, um die feinſten Nuancen tief zu empfinden und richtig wieder niederſchreiben zu koͤnnen; denn, im Gegentheil iſt immer zweierlei Mangel vorhanden, entweder der des klaren Bewußtſeins, oder der des richtigen Ausdrucks. Die Mittel des Ausdrucks der Gefuͤhle in der Muſik, beſtehen weſentlich in der Anordnung der Toͤne hintereinander (Melodie) und zugleich uͤbereinander (Harmonie) und in der Art und Weiſe, wie ſie hintereinander nach einem beſtimmten Zeitmaaße (Tact) in ver - ſchiedener Dauer (rhythmiſch), den Versmaaßen aͤhnlich (metriſch) und poetiſch (ſymetriſch) zuſammengeſteht werden. Die letzten Theile deutlich zu machen, ſei alſo hiernaͤchſt der Zweck meines Verſuchs.

Ich muß vorher erinnern, daß der Tact nicht der Rhythmus, ſondern nur das Maaß eines Zeitraums iſt, nach welchem gewiße Zeichen (Noten) mit einander abwechſeln und gehoͤrt werden. Auf ein dergleichen Maaß, was auf dem Notenſyſteme:

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durch Tactſtriche angedeutet wird, gehen theils $$\frac{2}{4}$$ tel ¾tel 4 / 4tel; welche letztere ein ganzer Tact genannt und mit den Buchſtaben bezeichnet wird, ⅜tel 6 / 8tel 12 / 8tel.

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Die Schnelligkeit, in welcher Zeit dieſe Zeichen (Noten) nach gleicher Dauer gehoͤrt werden, nennt man Tempo, was beſonders bezeichnet werden muß, z. B. Ada - gio, Allegro, Preſto u. ſ. w. der Tact und das Tempo gehoͤren mithin nicht hierher.

Der Rhythmus*)Ich will die muſikaliſche Poeſie; wie dieſes Kapitel uͤberſchrieben ſein ſollte, überhaupt Rhyth - mus nennen, worunter ich auch die andern weſentlichen Theile als: das Metrum und die Symetrie hiermit verſtanden wißen möchte. aber iſt eine Zuſammenſtellung der Zeichen (Noten, wozu auch die Pauſen gehoͤren) nach verſchiedenen Arten oder Eintheilungen, ſowohl einzelner Ge - danken als ganzer Perioden, um einen beabſichtigten Effect hervorzubringen. Er iſt in ſeinen ganzen als einzelnen Theilen gewiſſen Regeln unterworfen, die ſich auf die Dif - fidenz oder Vergroͤßerung der Dauer der Noten gruͤnden. Betrachtet man die Noten als Silbenfuͤße und die Perioden als Strophen von Gedichten die als ſolche ein ſyme - triſches Ganze ausmachen, ſo wird man einigermaßen einen Begriff von der Wichtigkeit des Rhythmus erlangen. Er iſt es vornehmlich, der den Charakter eines Stuͤcks ausdruͤckt, wenn er durch die Bewegung (Tempo) unterſtuͤtzt wird. Die ſchoͤnſten Melodien und Harmonien koͤnnen ohne ſeinen zweckmaͤßigen Beitritt nichts effectuiren, und wer - den bald mehr bald weniger matt, ſchlaͤfrig, platt ſowie ohne Feuer und Leben ſein. Wem dies nicht einleuchtet, verſuche es, die Harmonien der einzelnen Stuͤcke im Don Juan von Mozart, von Gluck in ſeiner Alceſte ꝛc. in der naͤmlichen Folge melo - diſch anders zu ordnen, ohne den bisherigen Rhythmus beizubehalten, und man wird bald mit Erſtaunen die Feder niederlegen und finden, welchen tiefen Blick Mozart und Gluck in den dem Anſcheine nach materiellen Theil des Rhythmus gethan haben. Es iſt gewiß nicht am unrechten Orte, hier die allgemeine Meinung: als habe die Phantaſie alles ohne ihre Urtheilskraft ſo geordnet und ſo vorgezaubert wie es iſt, zu widerlegen, nur muß ich von mir ablehnen, die Art und Weiſe zu beſchreiben, auf welchen Grund ſie die Toͤne gerade ſo geordnet haben, weil dies Sache der Genialitaͤt iſt, die ihnen bei - gewohnt hat.

Um ein paar Beiſpiele anfuͤhren zu koͤnnen, worinnen der Rhythmus in der Muſik beſteht, muß vorerſt der Silbenfuͤße in der Dichtkunſt (da die Poeſie einmal den Hauptbegriff des Rhythmus erhellen ſoll) gedacht werden.

Die Silben in der Poeſie ſind entweder lang oder kurz oder willkuͤhrlich

Aus dieſen Silbenfuͤßen ſind die Worte zuſammengeſetzt, die oft aus ein, zwei, drei und mehr Silben beſtehen, und verſchieden benannt werden, als:

einſilbige:

  • Licht
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zweiſilbige:

  • Geduld Jambe.
  • Liebe Trochaͤe.
  • Sanftmuth Spondaͤe.

dreiſilbige:

  • Gluͤcklicher Daktyl.
  • offenbar Anapaͤſt.
  • Gedanke Amphibrachis.
  • Seligkeit Amphimazer.
  • Umarmung Bakchius.
  • Allvater Antibakchius.

vierſilbige:

  • Wonnegeſild Choriambe.
  • ruͤhrendere Paͤan.

Aus dieſen Wortfiguren entſpringt wieder das Silben - und Versmaas (Metrum) ſo bald die Silben verſchieden zuſammengeſetzt werden. Das Versmaas iſt mithin verſchieden und es kann ein Vers (der aus einer Zeile beſteht) aus wenig Silben beſtehen, als:

Ich rühme mir
Mein Dörfchen hier,
Denn ſchönre Auen,
Als rings umher
Die Blicke ſchauen,
Blühn nirgends mehr.

und auch aus mehrern, als:

In dieſen heiligen Hallen
Kennt man die Rache nicht,
Und iſt der Menſch gefallen
Führt Liebe ihn zur Pflicht.
Dann wandelt er an Freundes Hand
Vergnügt und froh ins beſſre Land.
Meh -113

Mehrere dieſer Verſe (eigentlich Zeilen oder Strophen) machen ein Gedicht aus, was oft aus mehrern in dem Versmaaße ſich gleichbleibenden Abtheilungen beſteht, die man (zwar mit Unrecht) auch Verſe nennt. Eine ſolche Abtheilung oder Vers wuͤrde folgender ſein:

In dieſen heiligen Mauern
Wo Menſch den Menſchen liebt,
Kann kein Verraͤther lauern
Weil man den Feind vergiebt.
Wem dieſe Lehren nicht erfreun
Verdienet nicht ein Menſch zu ſein.

Außer dieſen Verſen, woraus nach einem gewiſſen Metrum und einer gewiſſen Wahl der erſtern zu einem ſymetriſchen Ganzen, Gedichte gebildet werden, giebt es eine Art von Proſa in der dramatiſchen Dichtkunſt, von welcher die Muſik in der Oper, Gebrauch machen muß, naͤmlich die Recitative. Sie gehoͤren bald der Gat - tung des Monologs, bald des Dialogs, bald der Erzaͤhlung an, und ſtimmen inſofern mit der Muſik uͤberein, indem letztere eben ſo wenig eine ſymetriſche Zuſammenſetzung der Gedanken beobachtet als die Dichtkunſt, welche vermeidet, die Verſe oder Strophen zu Abtheilungen zu ordnen.

Jede Muſik ſoll ſo gut eine Empfindung erregen als die Sprache, und deshalb muß ſie die Kunſt, deren ſich der Schriftſteller, beſonders der Dichter bedient, zum Mu - ſter waͤhlen, denn wenn die Toͤne gleich nicht mit Worten begleitet werden, wie in der Sonate, Symphonie, dem Conzert, ſo iſt doch kein Gedanke in einem ſolchen Stuͤcke, der nicht irgend eine Leidenſchaft, ein Gefuͤhl in uns erregte, ſelbſt wenn er ohne Intereße oder Schoͤnheit iſt. Daher ruͤhrt es auch, daß wir eine Menge Muſikſtuͤcke haben, die aus weiter nichts als grammatikaliſch geordneten Toͤnen ohne beſtimmten Sinn und Cha - rakter beſtehen, und die uns mithin kalt laßen und kalt laſſen muͤſſen, weil unſer Ge - fuͤhl weder beſonders aufgeregt noch befriedigt wird. Und warum kehren wir immer wieder zu denjenigen Stuͤcken zuruͤck, die auf unſre Gefuͤhle einen ſo lebhaften Eindruck gemacht haben und in welchen eine Sprache unſers Herzens herrſcht? Iſt es denn eine groͤßere Kunſt, vielerlei Paſſagen und Tiraden hintereinander bunt abwechſeln zu laßen, was man oft Originalitaͤt, Neuheit, nennt; vielerlei Stimmen untereinander in Bewe - gung zu ſetzen, wo jede nach einem andern Ziele, ja groͤßtentheils nach gar keinem laͤuft; oder iſt es eine groͤßere, wenn alle Theile ſo geordnet werden, daß ſie einen To - tal Eindruck effectuiren? Sapienti sat.

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Das, was vorher uͤber die Dichtkunſt geſagt iſt, wird hinreichend ſein, den Begriff der Aehnlichkeit zwiſchen der Poeſie und der Muſik in ein helleres Licht zu ſetzen, und ich glaube mit guten Gewißen in dem Verſuche*)Es waͤre ſehr wuͤnſchenswerth, der Tonſetzkunſt ſolche beſtimmte Regeln zu geben, wie die Dicht - kunſt hat, denn nur alsdann wuͤrde man die Hoffnung haben, von den Componiſten Muſter von Idea - litaͤt verlangen zu koͤnnen, die man jetzt nicht verlangen kann weil weder ſie (die unſterblichen Maͤn - ner; Gluck, Mozart, Haydu ꝛc. ausgenommen) noch die richtende Kunſtwelt einen andern Maaßſtab als das Gefuͤhl und die Phantaſie, haben. die muſikaliſche Poeſie, (was das Recitativ ausgenommen, jede regelmaͤßige Muſik iſt) anſchaulich zu machen, fortfah - ren zu koͤnnen.

Die langen Silbenfuͤße ſind in der Muſik die, worauf der Ausdruck, den man auch ſchweren Tacttheil nennt, gelegt wird. Im nachſtehenden[Beiſpiele] ſind ſie mit einem Striche bezeichnet.

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Die Noten die mit einer bezeichnet und durchgehende Noten oder leichte Tact - theile genannt werden, bedeuten die kurzen Silbenfuͤße. Ferner

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Hier kommt die lange Silbe im erſten Tacte auf die zweite Note, und im zweiten Tacte auf die zweite und fuͤnfte Note.

In der Poeſie giebt es nun Woͤrter von einer Silbe, die ſowohl fuͤr kurz als lang genommen werden koͤnnen und gleiche Dauer haben, als: kennt man die Rache nicht.

In der Muſik ſind es ohngefaͤhr ſolche:

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Die Aehnlichkeit mit dieſen Silbenfuͤßen entſteht dadurch, daß die Harmonie (oder hier der Baß) gleichen Schritt mit der Melodie geht*)ſowie die Harmonieſchritte uͤberhaupt die Conſtruction der muſikaliſchen Poeſie beſtimmen. die Silbenfuͤße wuͤrden ſich aber gleich veraͤndern, wenn man den Baß aͤnderte z. B.

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Nach dieſem Beiſpiele liegen die langen Silbenfuͤße ſogleich wieder auf der erſten und dritten Note, und die kurzen, außer dem Aufſchlag, auf der zweiten und vierten Note des Diskants, Will man die Silben noch mehr ausdehnen (was in der Muſik, ein Vers oder Strophe genannt werden kann) ſo kann man die Idee ſo ſetzen:

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Die zwei erſten Klammern im Diskant und Baß zeigen an, wie weit die zwei lan - gen Silbenfuͤße gehen, und die letzte bezeichnet die kurzen.

Dieſe an ſich unbedeutende Idee kann ſchon als Strophe (Periode) betrachtet wer - den. Wir wollen ferner die zweite Strophe oder den zweiten Vers, um bei der Sprache der Dichtkunſt zu bleiben, hinzu ſetzen.

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Dies kann man eine Periode nennen, beſteht aber eigentlich aus nichts mehr als vier Silbenfuͤßen, nehmlich aus zwei langen und zwei kurzen, wie ſie darunter angege - ben ſind Als etwas ganzes koͤnnte aber die bis hierher ausgefuͤhrte Idee nicht gelten, weil das Gefuͤhl durch eine Strophe oder Periode noch keine Befriedigung er - haͤlt, es muß daher erſt eine Gegenſtrophe oder ein Schluß folgen, naͤmlich:

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Von der Schoͤnheit des Rhythmus in dieſen Beiſpielen kann die Rede nicht ſein, ſondern nur von einer ohngefaͤhren Erklaͤrung: in wiefern er mit dem Rhythmus der Dichtkunſt uͤbereinſtimmt. Sobald ein rhythmiſcher Satz oder Periode nicht ſeinen Ge - genſatz hat, kann man keinen neuen anfangen (es muͤßten denn beſondere Umſtaͤnde es noͤthig machen, wenn es z. B. eine Unterbrechung ausdruͤcken ſollte) weil eine einzelne Zeile in einem Gedichte auch keinen Ruhepunkt gewaͤhrt. Wenn man die paar Worte: Gute Nacht betrachtet, ſo ſind ſie nichts poetiſches Ganzes, ſetzt man aber hinzu: Es iſt vollbracht, ſo findet unſer Gefuͤhl eine Beruhigung und einen Schluß. (Symetrie) Eine Theorie des Rhythmus, in wiefern die Perioden gleich den Theilen eines poetiſchen Ganzen zu ordnen ſind, laͤßt ſich nicht gut anſchaulich machen, weil ſich hierin gerade oft die Originalitaͤt eines Componiſten zeigt. Im allgemeinen herrſcht aber eine gewiße Art von Uebereinſtimmung in den Formen des Ausdrucks, die jeder Componiſt dem Charakter des Stuͤcks und der Melodie gemaͤß zu waͤhlen und zu ordnen hat. Es iſt nicht zu laͤugnen, daß jeder Tonſetzer ſich in der Wahl dieſer Formen cha - rakteriſirt, denn die Verſchiedenheit der Zuſammenſetzungen iſt nicht ſo groß, als daß die erſten nicht immer wiederkehren ſollten, beſonders in Stuͤcken, die einen eigentthuͤm - lichen Charakter haben, als die Polonaiſe, Menuet u. ſ. w. (der eigenthuͤmliche Cha - rakter dieſer Stuͤcke iſt in der Muſik das, was die Dichtungs Gattungen in der Poeſie118 ſind.) Dieſe Formen im allgemeinen beizubehalten, kann und darf der Componiſt nicht verſchmaͤhen, wenn er nicht durch Eigenthuͤmlichkeit bizarr und undeutlich werden will. Eine Hauptregel in Anwendung dieſer Formen beſteht darin, daß ſie nach Abſicht der Ausdehnung und des Charakters der Melodie gewaͤhlt werden muͤſſen, wenn ſie keine unnuͤtzen Variationen werden ſollen. Wollte man z. B. durch die weſentlichen Toͤne ei - ner Tonart bis zur Octave in 16 Theilen ſo gehen:

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ſo ſieht man leicht ein, daß zwiſchen dem 8ten und 9ten Tone eine Monotonie eintritt, und daß die Paſſage mehr Kraft und Applicatur erhaͤlt, wenn man die Toͤne oͤkonomi - ſcher alſo eintheilt:

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und ſo giebt es viele Faͤlle, wo unnuͤtze Coloraturen und Toͤne vermieden werden muͤſſen. Beſonders muß ein ſehr uͤblicher Fehler erwaͤhnt werden, der darin beſteht, daß in Gaͤngen, wo mehrere Stimmen zugleich fortgehen, gewoͤhnlich eine große Zerſplitterung der einzelnen Stimmen ſtatt findet, die der Deutlichkeit ungemein ſchadet. Dergleichen Sub-Divisionen der Hauptidee fuͤhren auch gewoͤhnlich zu unharmoniſchen und gezwun - genen Perioden, und nicht ſelten zu einem gaͤnzlichen Stillſtande der Phantaſie und Ur - theilskraft. Man findet ſich nicht eher wieder mit neuer Kraft belebt, als bis man die Werke beruͤhmter Componiſten als: Gluck, Haydn, Spontini, Mozart, Cherubini zu Ge - ſicht bekoͤmmt. Ihre Klarheit der Schreibart thut dem Auge, und ihre Einfachheit der Harmonien dem Ohre wohl, und eben darum ſind ſie Meiſter unſeres Gefuͤhls. Ob nun ſchon nicht alle ihre Formen, wenigſtens in der von ihnen gemachten Zuſammen - ſetzung wieder zu benutzen ſein moͤchten, ſo ſind es doch die einzelnen Theile, die gleich - ſam nur als Worte betrachtet, zu neuen Ideen angewendet werden koͤnnen; und ich glaube, es duͤrfte nicht ohne Nutzen ſein, von den einzelnen Formen, ſoviel als moͤglich zuſam - men zu ſtellen.

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So ſehr die Muſik ſich ſonſt von andern Kuͤnſten dadurch unterſcheidet, daß ſie nicht nachahmen darf, ſo wenig trage ich Bedenken, die weſentlichen einzelnen Formen großer Meiſter zum Studium zu empfehlen, um ihrer Schreibart nahe zu kommen. Es folgen hier ſo weit es der Raum erlaubt: 1) Die Formen, die aus der verſchiedenen Eintheilung der Noten, Pauſen und Punkte entſtehen.

  • 2) Die Formen, die dadurch hervorgehen, wenn man harmoniegemaͤße Toͤne um eine oder mehrere Stufen zuruͤckhaͤlt (Anticipation.)
  • 3) Die Formen, die aus der Anwendung durchgehender Noten und Nachſchlaͤge entſtehen.
  • 4) Die Formen, die dur[ch]Benutzung der Wechſelnoten (die man auch harmonie - fremde nennen koͤnnte) hervorgehen.
  • 5) Die Formen, die aus der Zergliederung der Harmonien und Accorde entſtehen.
  • 6) Die rhythmiſchen Formen neben einander in Perioden, als groͤßere Theile eines Stuͤcks (Symetrie).
  • 7) Die rhythmiſchen Formen uͤbereinander.
  • 8) Ein Auszug verſchiedener Formen bekannter Muſikſtuͤcke von Gluck und Mozart.

I. Die Pauſen ſind Zeichen, welche andeuten, daß das Spiel unterbrochen werden ſoll, und gelten in ihrer Dauer eben ſo viel als die Noten, weshalb es auch eben ſo vielerlei Pauſen giebt.

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Wenn eine Pauſe mehrere Tacte umfaßt, ſo bedient man ſich ſonſt nachſtehender Zeichen. In neueren Zeiten aber wird die Anzahl Tacte, wie lange pauſirt werden ſoll, oft mit Zahlen angegeben:

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Außerdem giebt es noch ein Zeichen, um einer Note noch eine halbe Dauer mehr zu geben. Es iſt ein Punkt, der hinter ſie geſetzt wird z. B.

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Die verſchiedenen Noten ſind oben bei den Pauſen angegeben worden.

A. Gerade Tactarten.

Eintheilung der Noten nach ganzen Tact.

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Eintheilung der Noten mit ungerader Unterabtheilung.

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Von den unterſten Noten werden allemal drei Viertel eine Viertelstriole genannt. oder ſo:

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Die unterſte Abtheilung der Noten beſteht aus Triolen. Ferner:

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Die unterſten Gruppen jede von ſechs Achteln, werden Sextolen genannt.

Beiſpiele.

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Es giebt außerdem noch mehrere Arten, wo die Unterabtheilungen ungerade ſind. z. B.

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Um manchen Muſikſtuͤcken auch einen beſondern Charakter zu geben, und eine Eile auszudruͤcken, waͤhlt man auch den 12 / 8 Tact.

Beiſpiel aus Idomeneus von Mozart.

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Eintheilung der Noten nach zweiviertel Tact.

Hier wird die Gattung eines ganzen Tactes durch eine halbe Note vorgeſtellt:

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Dieſe Art von Tact iſt verſchiedenen Stuͤcken eigenthuͤmlich z. B. der Ecoßaiſe.

B. Ungerade Tactarten.

Eintheilung der Noten nach drei Vierteln (¾ Takt.)

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oder:

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Dieſe Art Tact muß in verſchiedenen Stuͤcken angewendet werden, als in der Me - nuet u. ſ. w. Sehr gewoͤhnlich iſt auch der drei Achtel und ſechs Achtel Tact, deren Eintheilung aus der Benennung hervorgeht.

Bei dieſen Eintheilungen findet noch eine andre Eintheilung ſtatt, die den Vortrag betrifft, welche man wieder in zwei Theile theilt und mit dem Namen des ſchweren und leichten Tacttheils oder des Niederſchlags und Aufſchlags belegt. Sie geben dem Rhythmus noch mehr Symetrie und Leben und fordern unſer Gefuͤhl unwillkuͤhrlich zu einer Abwechſelung von Staͤrke und Schwaͤche auf. In jedem Tacte iſt alſo der erſte Tacttheil der ſchwerſte. Jeder zweitheilige Tact hat einen ſchweren und leichten Tacttheil. Jeder dreitheilige Tact aber hat einen ſchweren und zwei leichte Tacttheile. Auf den erſten wird gewoͤhnlich ein groͤßerer Nachdruck gelegt, was aber nicht immer als Geſetz gilt, weil es auch Faͤlle giebt, wo der erſte Tacttheil leicht, der zweite ſchwer und der dritte wieder leicht iſt u. ſ. w. z. B.

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Der Niederſchlag oder ſchwere Tacttheil vertritt die Stelle der langen, und der Aufſchlag die der kurzen Silben.

Bei vier Tacttheilen iſt gewoͤhnlich der erſte und dritte ſchwer, und der zweite und vierte kurz, außer bei der Anticipation. Dies iſt ein inneres Gewicht, was ſich beſſer fuͤhlen, als beſchreiben laͤßt. Es iſt der Accent um anzudeuten, welche Theile des Tac - tes mit mehr Nachdruck geſpielt werden ſollen, was bei groͤßern Gruppen, die man Perioden nennt, gewoͤhnlich durch Forte und piano geſchieht.

II. Folgen nun einige Beiſpiele, in welchen harmoniegemaͤße Toͤne, oder ſolche, die zu dem Accorde, in welchen die Melodie modulirt, um eine Stufe zuruͤckgehalten wer - den (Wechſelnoten.)

Sie werden deshalb mit erwaͤhnt, weil ſie genau genommen auch in das Kapitel vom Rhythmus und zwar deswegen gehoͤren, um die Formen kennen zu lernen, denn ei - gentlich gehoͤrt die Zuruͤckhaltung ſolcher Toͤne zur Verſchoͤnerung der Melodie. Eine ſolche Zuruͤckhaltung kann in allen Stimmen vorkommen, als im Discant, Alt, Tenor und Baß und zwar auf vielerlei Weiſe als:

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Ouverture aus Iphigenia von Gluck.

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In dieſem Beiſpiele ſind die Toͤne oft zuruͤckgehalten, wodurch die an ſich ſonſt einfachen rhythmiſchen Formen ſehr an Intereſſe gewinnen.

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Viel weiter dehnt Mozart dieſes Verfahren aus, er beſchraͤnkt ſich nicht allein auf das Vorhalten einer Tonſtufe, ſondern haͤlt oft ganze Accorde, ja eine ganze Reihe von Harmonien mehrere Tacte hindurch auf, wie nachſtehendes Beiſpiel aus der Ouvertuͤre des Idemeneus beweißt.

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Dergleichen Vorhalten unterſcheiden ſich von dem ſogenannten gebundenen Style in nichts weiter, als daß die Melodie in letztern einen ernſthaftern Gang behauptet und ſich aller Verzierungen enthaͤlt, weil derſelbe beſonders in Kirchenmuſiken gebraucht wird. Er wird deswegen auch ſtrenge und gebunden genannt. Seine Form iſt dem erſten Beiſpiel aͤhnlich.

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Es giebt Faͤlle, wo die Note blos um eine Stufe zuruͤckgehalten wird:

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Oft auch um mehrere Noten:

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Die in dieſen Beiſpielen diſſonirenden Toͤne werden gewoͤhnlich auch harmonie - fremde oder Wechſel-Toͤne genannt.

III. Die Formen, welche in Folge der durchgehenden Noten entſtehen, ſind zwar nicht alle anzuzeigen, doch ſoviel namhaft zu machen, um eine richtige Anſicht derſelben zu gewaͤhren. Die durchgehenden Noten gehoͤren zur Verſchoͤnerung der Melodie, und binden ſich nicht an die Tonart des Stuͤcks, denn ſie gehoͤren oft der entfernteſten an, wie:

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Sie ſind ſonſt entweder nur da, die Haupttoͤne der Melodie naͤher zu verbinden welche Verbindung 1) durch die dazwiſchen liegenden halben oder ganzen Toͤne geſchieht, 2) durch entfernte, um eine Melodie von der folgenden mehr zu trennen, oder ihr mehr Zeit zum Eintritt zu verſchaffen, wie in dem Beiſpiele, wo die durchgehenden Noten mit 1 bezeichnet ſind.

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Man ſieht, daß hier eine genaue Verbindung der Zweck iſt, denn die neue Melodie hebt von der letzten durchgehenden Note weit entfernt genug an. Es iſt hierbei eine große Behutſamkeit noͤthig, um nicht Toͤne zu durchgehenden Noten zu gebrauchen, die nicht in der Tonart des zergliederten Accordes liegen, und auch mit den darauf fol - genden in keiner Verbindung ſtehen. In obigem Beiſpiele ſind nicht alle Noten durch - gehende; die ſich dadurch kenntlich machen, daß ſie nicht zu den weſentlichen Toͤnen des Accordes gehoͤren, ſondern auch ſogenannte Wechſelnoten, die mit bezeichnet ſind.

Ehe der letztern aber erwaͤhnt werden kann, wird es noͤthig ſein, noch ein Beiſpiel der erſtern anzufuͤhren.

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Die mit | bezeichneten Noten, die nicht in der Harmonie liegen, ſind durchgehende. Gegen die Toͤne des Accords koͤnnen ſie ganz diſſoniren, in dieſem Falle aber nicht ge - gen die nachfolgenden, von welchen ſie Toͤne aus ſeiner Dominantenharmonie ſein muͤſſen.

IV. Die Formen, die ſich bei dem Gebrauche der Wechſelnoten bilden, unterſchei - den ſich von den durchgehenden in nichts weiter, als daß ſie ſtatt der harmoniſchen zu - erſt genommen werden, und die harmoniſchen ihnen folgen. Es iſt alſo ein reiner Wech - ſel, von welchen hier ein Beiſpiel folgt:

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Die mit + bezeichneten ſind die Wechſelnoten und die mit die durchgehenden. Sie kommen faſt immer mit den durchgehenden vermengt vor, weil ſie beide gewoͤhnlich die Paſſagen bilden, die einen Zuſammenhang mit den melodiſchen Hauptnoten bewir - ken. Die Wechſelnoten koͤnnen wie jene; die durchgehenden, auch ſprungweiſe angewandt werden. Beide kommen ohne harmoniſche Begleitung und oft chromatiſch vor, jedoch auch in Terzen, Quarten und Sexten Verbindungen:

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Die Wichtigkeit beider Arten von Noten zur Verſchoͤnerung der Melodien, iſt in den Werken der beruͤhmteſten Componiſten hinlaͤnglich zu erſehen.

Wie ſolche Wechſelnoten ſprungweiſe zweckmaͤßig angewendet werden, erhellet aus nachſtehendem Beiſpiele, worin die Wechſelnote mit + bemerkt iſt.

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Bei den Wechſelnoten iſt zu bemerken, daß ſie ganz das ſind, was man in den Accorden die harmoniefremden Toͤne nennt, und wie man gleich hoͤren kann, wenn ein ſolcher Accord melodiſch zergliedert wird.

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V. Die Formen, die aus der Zergliederung der Harmonien oder Accorde entſtehen, wo keine Wechſel und durchgehenden Noten vorkommen, ſind ſehr vielfaͤltig, weil die Zergliederung auf vielerlei Weiſe geſchehen kann. Sie machen einen Haupttheil der rhythmiſchen Schoͤnheiten aus, und gehoͤren genau genommen nicht zu der Melodie ſon - dern zur Harmonie. Die Toͤne derſelben duͤrfen keinem andern Accorde, keiner andern Harmonie angehoͤren, es muͤßte denn Abſicht des Componiſten ſein, diſſonirende Stimmen zu benutzen, wie es oft beim Zuſammentritt der Primen und Dominantenharmonie der Fall iſt. Die Zergliederung iſt ein Mittel, der ſonſt ſchleppenden melodiſchen Fortſchrei - tung der Harmonie, mehr Lebhaftigkeit und Verbindung zu geben. Hierher gehoͤrt er - ſtens die Brechung der Accorde oder Harmonien, als:

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Zweitens, die Zergliederung einer groͤßern Note der Harmonie.

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Drittens, die Zergliederung mehrerer Stimmen des Accords:

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ſo koͤnnten noch ſehr viel Beiſpiele angefuͤhrt werden, auf welche Weiſe die Harmonie melodiſch zergliedert werden kann, wenn es der Raum geſtattete.

Es muß uͤberhaupt der Einſicht des Componiſten uͤberlaſſen bleiben, auf welche Weiſe er ſeine Melodie rhythmiſch zuſammenſetzen will; eine gute Symetrie wird er aber doch beobachten muͤſſen, denn heterogene Formen koͤnnen nur bizarre Wirkung thun.

VI. Da ich die Symetrie der rhythmiſchen Formen erwaͤhnt habe, die mit dem Versbau der Poeſie zu vergleichen iſt, ſo wage ich es, ſie ſo viel wie moͤglich deutlich zu machen.

Mehrere rhythmiſche Formen machen einen Satz aus, den man mit der erſten Zeile eines Gedichts vergleichen kann, woruͤber ſchon zu Anfange dieſes Kapitel etwas er - waͤhnt iſt. Es wird ihm darauf ein aͤhnlicher, gewoͤhnlich von gleicher Laͤnge entgegen - geſetzt. Beide Saͤtze machen eine Periode oder einen Vers von zwei Zeilen aus, der ei - nen vollſtaͤndigen Sinn hat und metriſch richtig iſt. Nachſtehendes Beiſpiel wird dies deutlicher machen:

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So wie es aber Gedichte giebt, wo 3 Zeilen eine Periode ausmachen, ſo giebt es auch Muſikſtuͤcke, wo dies der Fall iſt, z. B.

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Wenn hierauf die Regel feſtgeſetzt wird, daß kein Rhythmus und keine Periode einzeln daſtehe, ſondern immer Symetrie beobachtet werde, ſo iſt es zugleich hoͤchſt noͤ - thig, vor den entgegengeſetzten Fehler: die rhythmiſchen Formen und ganzen Perioden nach einem gleichen Maaßſtabe zu meſſen, warnen zu muͤſſen. Die Einfoͤrmigkeit wuͤrde nicht allein fuͤhlbar genug werden, ſondern auch der Zwang duͤrfte ſowohl die Harmo - nie als Melodie vieler Schoͤnheiten verluſtig machen.

Bisher iſt nur von der Symetrie einzelner rhythmiſchen Formen zu einer Periode (unter welcher ich Satz und Gegenſatz verſtehe, und mit zwei auch drei und vier Zeilen vergleiche, die aufeinander paſſen und einen Sinn bilden) die Rede geweſen, aber nicht von dem weiteren Fortgange, woruͤber ich noch kuͤrzlich folgendes bemerke: Es koͤnnen in dieſem Falle keine beſtimmten Regeln feſtgeſtellt werden, weil es auf den Zweck des Componiſten und des Stuͤcks ſelbſt ankommt. In der Regel zeichnen ſich dieſe Abſchnitte dadurch aus, daß die zweite Periode in der naͤchſt verwandten Tonart anfaͤngt, auch oft nur mit einem andern Accorde auf den Dreiklang; ja der Anfang der Melodie der neuen Periode kann ſogar durch den nemlichen Accord geſchehen, in welchem die vorige Periode geendet hat, wie es in den Mozartſchen Werken oft der Fall iſt, nur die rhythmiſchen Formen veraͤndern ſich nach Verhaͤltniß des Zweckes. Es iſt da -S 2140her zu ſchließen, wie wenig rhythmiſche Schoͤnheiten ein Stuͤck erhalten kann, wenn ein Componiſt ſein Thema blos durch große und kleine Noten paſſiren laͤßt und um und umkehrt, auch die frappanteſten Harmonien auf einander haͤuft, ihm aber keine poetiſche Symetrie giebt. Es kann wenigſtens unſer Gefuͤhl nicht erregen, wenn es auch ſonſt an ſich nicht ſchlecht iſt. Ich habe in dieſen Kapitel uͤber den Rhythmus nur fluͤchtig angedeutet, welchen Nutzen ein genaues Studium deſſelben auf die Compoſition hat; und es ſollte mir leid thun, wenn ſich niemand finden ſollte, der noch tiefer ein - draͤnge, den Zauber der Muſik, der naͤchſt der Harmonie und Melodie in ihm liegt oder durch ihn hervorgeht, zu enthuͤllen. So weit ich es vermochte, habe ich in der Lehre von der Melodie ſchon einiges daruͤber beigebracht.

VII. Ueber die Zuſammenſetzung mehrerer rhythmiſcher Formen uͤbereinander habe ich bisher einen ohngefaͤhren Wink gegeben, wie mehrere rhythmiſche Formen hintereinander eine Melodie und eine Periode, und von letzteren wieder mehrere ſymetriſch geordnet, ein ganzes Stuͤck ausmachen koͤnnen; es bleibt nun hierauf noch uͤbrig etwas zu erwaͤhnen, wie die rhythmiſchen Formen zu Melodien gebildet, uͤbereinan - der im Verhaͤltniſſe ſtehen muͤſſen, daß ſie einander entgegen, die Wirkung nicht zerſtoͤ - ren, ſondern vielmehr erhoͤhen.

Die rhythmiſchen Formen uͤbereinander haͤngen von der Fortſchreitung der melodiſchen Harmonie ab, deren Tondauer ſich wieder auf die Unterabtheilung gruͤndet. Die Toͤne, worinen ſie ſich bewegen, ſind entweder 1) harmoniſche oder 2) durchgehende (ſogenannte leitereigne) oder 3) Wechſelnoten (harmoniefremde) die Dauer der Zeit ih - rer Bewegung haͤngt von der Fortſchreitung der Accorde oder Harmonien ab. Haͤlt ein Ton einen ganzen Tact aus, und die Harmonie aͤndert ſich auch nicht eher, ſo kann jede Stimme waͤhrend der Zeit eine andere rhythmiſche Bewegung machen, doch duͤrfen ſelbſt in den kleinſten Theilen, keine Toͤne hoͤrbar werden, die gegen die einer andern Stimme diſſoniren.

oder:

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In dem vorletzten Beiſpielen bewegen ſich zwar alle Stimmen in dem Kreiſe des Dreiklangs von C dur, allein in der zweiten Stimme tritt die durchgehende Note a und die Wechſelnote h gegen den Baß in contraire Harmonie. Es iſt aus den nur geringen Beiſpielen zu erſehen, welche Verwirrung noch dadurch entſtehen kann, wenn die Noten noch verkleinertere Formen, Punkte, Anticipationen u. ſ. w. erhalten, und man wird ſich daher nicht wundern, ſchon gute Muſiken in Choͤren und bei ſtarker Inſtrumentirung, oft ohne Praͤciſion und Klarheit zu finden.

VIII. Folgt hier ein kurzer Auszug verſchiedener rhythmiſcher Formen aus den Werken Glucks und Mozarts, womit ich dieſes Kapitel beſchließe, und nur noch bemerke: daß noch gar nicht daran zu denken iſt, die rhythmiſchen Veraͤnderungen alle nur ange - deutet zu haben, wozu eine groͤßere Genialitaͤt gehoͤrt, als ihre Wichtigkeit zu fuͤhlen.

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Beiſpiele einiger Figuren, Paſſagen ꝛc. wie ſie durch verſchiedene Zuſammenſtellung und nach Abſicht des Zwecks, rhythmiſche Formen erhalten. *)Es iſt zu bemerken, daß in dieſen Beiſpielen die Tacte nicht als zuſammenhängend zu nehmen ſind.

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So ſind nach und nach eine Menge rhythmiſcher Figuren entſtanden, die unſerer Phantaſie bei Erfindung der Ideen und bei dem Streben, ſie durch Toͤne nach ei - nem gewiſſen Rhythmus auszudruͤcken, vorſchweben; und es iſt nicht zu leugnen, daß die Schreibart durch die Gegenwart vieler ſolcher Formen eine große Abwechſelung erhaͤlt. Alle dergleichen Formen ſind natuͤrlich nicht anzugeben, weil ſie ſich bei Erfin - dung des Ausdrucks unſerer Gefuͤhle immer wieder anders geſtalten, und es der Genia - litaͤt des Componiſten uͤberlaßen bleiben muß, wie er ſich auszudruͤcken fuͤr gut befin - det, und wie es die Inſtrumente zulaͤßig machen.

Zweites Kapitel. Beondere Huͤlfsmittel des muſikaliſchen Ausdrucks.

Außer den Noten als Huͤlfsmittel des Ausdrucks muſikaliſcher Ideen, ſind noch manche andere Zeichen erfunden worden, um einen außergewoͤhnlichen Effect bewirken zu koͤnnen. Die gewoͤhnlichſten ſind:

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1) Das Harpeggio, indem man die Noten welche einen Accord bilden, nach einan - der anſchlaͤgt, jedoch in dem Maaße, daß der volle Werth des Tactes erfuͤllt wird. Ge - woͤhnlich wird der zu harpeggirende Accord mit dieſem Zeichen bezeichnet:

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2) Das Tremendo, iſt eine Art rhythmiſcher Form, die eine ſchoͤne Wirkung macht, aber nur auf einigen Inſtrumenten ausgeuͤbt wird. Auf dem Fortepiano wird es mit der Schnelligkeit eines Trillers geſpielt:

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Auf der Violine iſt dieſe Art von Ausdruck ſehr uͤblich und von ſchoͤner Wirkung, und wird ſo bezeichnet:

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3) Legato. Man nennt dies Verbindungszeichen ͡ auch einen Accent. Dieſes Zeichen bedeutet, daß die Toͤne, uͤber welches es ſich erſtreckt, zuſammengezogen werden ſollen: oder:

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Durch den Ausdruck dieſer Paſſagen wird die Benennung Accent, gerechtfertigt.

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4) Syncopirte Noten. Die syncopirten Noten ſind ſolche, wenn der nicht accen - tuirte Theil eines Tactes mit dem accentuirten des folgenden Tactes verbunden wird, in welchem Falle der Accent einen andern Platz erhaͤlt:

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Die erſte Note des naͤchſten Tactes wird nicht wieder angeſchlagen, ſondern bis zur zweiten gehalten.

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5) Das Crescendo oder Sforzando oder Rinforzando iſt eine ſtufenweiſe Verſtaͤr - kung der Toͤne, die durch das Zeichen ausgedruͤckt wird.

6) Decrescendo oder Minuendo. Perdendosi, Smorzando iſt eine ſtufenweiſe Abnahme der Toͤne, die durch das Zeichen ausgedruͤckt wird.

7) Staccato oder Sciolto, heißt abgeſtoßen, und wird uͤber den Noten mit Strichen (1) bezeichnet.

8, Werden in Passagen die Noten durch Punkte bezeichnet, welche andeuten, daß die Toͤne nicht gehalten, ſondern ſanft abgeſtoßen werden ſollen z. B.

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9, Giebt es ein Zeichen welches man Doppelſchlag nennt. Er beſteht aus 4 Noten, und wird ſo ausgedruͤckt.

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Oftmals ſteht er hinter der Hauptnote wie bei No. 2.

10) Giebt es ein Zeichen ��� was in der Ausfuͤhrung einem kurzen Triller gleicht, und Mordent genannt wird z. B.

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Hat dieſes Zeichen keinen Strich (��), ſo heißt es der Pralltriller. Er unterſcheidet ſich von jenem dadurch, daß er von unten herauf geht.

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Sowohl das erſte Zeichen ��� als auch das zweite �� muͤſſen ſo vorgetragen werden, daß die drei erſten Noten eher hoͤrbar werden, als die Zeit des wahren Anſchlags der Hauptnote, woruͤber das Zeichen ſteht, eintritt. Man koͤnnte ſie daher ſo ausdruͤcken:

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11) Giebt es Noten, die man Vorſchlaͤge, Portamento oder kleine Appoggiatura, Acciacatura nennt. Sie beſtehen theils aus einzelnen, theils aus mehreren Noten, ne - beneinander und ſprungweiſe.

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Sind ſie durchſtrichen, ſo werden ſie prallender angeſchlagen.

12) Steht das Zeichen uͤber einer Note oder Pauſe, ſo zeigt es einen Ruhe - punkt an, der nach Verhaͤltniß des Gefuͤhls und des Ausdrucks dauert.

13) Wenn eine groͤßere Note unter andern von geringern Werthe ſteht, ſo wird ſie ſo lange ausgehalten bis die geringern alle geſpielt ſind z. B.

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14) Der Triller (trillo) iſt ein Zeichen () welches eine Art Cadenz ausdruͤckt. Er hebt eine Note fruͤher an, und wird oft noch mit einem Nachſchlage verſehen. Er muß ſehr beſtimmt und egal vorgetragen werden z. B.

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Es giebt noch außer dieſen Zeichen eine Menge Woͤrter, wodurch der Ausdruck ei - nes Muſikſtuͤcks genauer beſtimmt wird, von welchen aber oft mehrere einerlei Bedeu - tung haben, je nachdem die Com[pon]iſten ſie gewaͤhlt haben. Der groͤßte Theil folgt hier:

  • A Tempo, dieſelbe Bewegung, wie im Anfange.
  • A Due, fuͤr zwei Stimmen. A tre, fuͤr drei Stimmen.
  • Adagio, langſame und ausdrucksvolle Be - wegung.
  • Ad libitum, nach Willkuͤhr.
  • Affettuoso, ruͤhrend, gefuͤhlvoll.
160
  • Agitato, leidenſchaftlich, mit Feuer.
  • Allegro, eine raſche Bewegung.
  • Allegretto, weniger raſch als Allegro.
  • Al segno, Vom Zeichen.
  • Amoroso, zaͤrtlich.
  • Andantino, etwas raſcher als Andante.
  • Andante, etwas raſcher als Adagio.
  • Aria, Arie. Arietta, eine kleine Arie.
  • Arioso, im Styl einer Arie.
  • Assai, ſehr - Allegro assai, ſehr raſch.
  • Bis, man ſoll die Passage, die man eben ſpielte, noch einmal ſpielen.
  • Brioso oder con brio, froͤhlich.
  • Brillante. in einem glaͤnzenden Style.
  • Cadenza, Orgelpunkt.
  • Calando, in dem der Ton nach und nach abnimmt.
  • Cantabile, in einem ſingenden Style.
  • Capriccio, ein unregelmaͤßiges Muſikſtuͤck.
  • Coda, eine muſikaliſche Phraſe, welche am Schluße eines Stuͤcks angebracht wird.
  • Con mit, con violini, mit Violinen.
  • Con anima, ſeelenvoll.
  • Concerto, ein Stuͤck fuͤr ein Inſtrument allein, mit Begleitung des Orcheſters.
  • Concertante, ein Stuͤck fuͤr zwei oder mehrere Inſtrumente mit Begleitung.
  • Crescendo, eine ſtufenweiſe Verſtaͤrkung des Tons, welche durch das Zeichen ausgedruͤckt wird.
  • Da capo, von vorne.
  • Decrescendo oder Diminuendo, ſtufenweiſe Abnahme des Tons, wird ſo abgekuͤrzt
  • Dolce, ſanft.
  • Duo, Duetto, ein Stuͤck fuͤr zwei Stim - men oder 2 Inſtrumente.
  • Espressivo, mit Ausdruck.
  • Forte, ſtark. Fortissimo, ſehr ſtark.
  • Fine, der Schluß eines Stuͤcks.
  • Finale, der Schlußſatz.
  • Forzando, Verſtaͤrkung des Tons, wird ſo abgekuͤrzt
  • Fuoco oder con Fuoco, mit Feuer.
  • Furiosa, Con furia, mit Feuer und Energie.
  • Grave, langſame feierliche Bewegung.
  • Grazioso. auf eine gefaͤllige Weiſe.
  • Giusto oder Tempo giusto, richtige Be - wegung.
  • Gustoso oder Con gusto, mit Geſchmack.
  • Largo, langſame Bewegung.
  • Larghetto, etwas weniger als raſch, als Largo.
  • Legato, gebunden, geſchleift.
  • Loco, die Noten ſo ſpielen, wie ſie ge - ſchrieben ſind.
  • Maestoso, majeſtaͤtiſch.
  • Ma non troppo, nicht zu ſehr.
  • Mancando, abnehmend
  • Men forte, weniger ſtark.
  • Mezzo, halb.
  • Mezza voce, mit halber Stimme.
  • Mezzo piano, zur Haͤlfte ſanft.
  • Mezzo forte, halb ſtark.
  • [Minuetto], Menuet.
  • Molto, ſehr. Allegro molto, ſehr ſchnell.
  • Moderato, maͤßig geſchwind.
  • Morendo, ſterbend.
  • Moto, oder con moto, raſch.
  • Non, nicht. Non troppo, nicht ſehr.
  • Obligato, ein dazu gehoͤriger Theil.
  • Octava alla, oder 8va bedeutet, daß man eine Octave hoͤher ſpielen ſoll, bis das Wort Loco eintritt
Presto161
  • Presto, ſchnell. Prestissimo, ſehr ſchnell.
  • Pomposo, praͤchtig.
  • Perdendosi, ſtufenweiſe abnehmend.
  • Piano, ſanft. Pianissimo, ſehr ſanft.
  • Più, mehr, più presto, mehr raſch (raſcher)
  • Più tosto, vielmehr.
  • Poco, wenig. Poco più lento, ein wenig langſamer.
  • Poi, dann. Poi segue, dann folgt.
  • Rallentando oder Ritardando, zoͤgernd.
  • Resoluto, entſchloſſene Bewegung.
  • Rinforzando, verſtaͤrkend.
  • Scherzando, ſcherzend.
  • Sciolto, abgeſtoßen.
  • Sempre, immer, sempre piano, immer ſanft.
  • Sotto voce[,] ſo[ſanft] als moͤglich.
  • Sforzando, indem man eine Note ver - ſtaͤrkt
  • Siciliano, ſicilianiſch, idylliſche Bewegung.
  • Spiritoso, oder Con Spirita, mit Geiſt.
  • Staccato, abgeſtoßen.
    • Slentando,
    • Smorzando,
    abnehmend.
  • Senza, ohne.
  • Sonata, Sonate, ein aus zwei oder meh - reren Saͤtzen beſtehendes Muſikſtuͤck.
  • Sonatina, kleine, leichte Sonate.
  • Soave, lieblich, angenehm.
  • Sostenuto, gehalten.
  • Solo, ein Inſtrument od. eine Stimme allein.
  • Tasto solo, ſpiele den Baß.
  • Tempo di ballo, Bewegung des Tanzes.
  • Tempo primo, man ſpielt die erſte Be - wegung vor dem Worte ad libitum.
  • Tenuto, ausgehalten.
  • Trio, Stuͤck fuͤr drei Stimmen oder In - ſtrumente.
  • Tutti, alle Inſtrumente, außer der Solo - ſtimme.
  • Vigoroso, ſtark, kraͤftig.
  • Volta 1 ma, das erſtemal.
  • Volti, wendet um. Volti subito, wendet ſchnell um.
  • Un poco, ein wenig.
  • Unisoni, vereinigend.

Abbreviaturen.

  • Ad. Adagio.
  • Ad lib. Ad libitum.
  • Allº Allegro.
  • Arpº Arpeggio.
  • Calº Calando.
  • Cres. Crescendo.
  • D. C. Da Capo.
  • Dim. Diminuendo.
  • Dol, Dolce.
  • F. Forte.
  • F F. Fortissimo.
  • Fz. Forzando.
  • Mez. Mezzo.
  • P. Piano.
  • P P. Pianissimo.
  • Perd. Perdendosi.
  • Seg. Segue.
  • Smorz. Smorzando.
  • sF. Sforzando.
  • Stac. Staccato.
  • Semp. Sempre.
  • Scher. Scherzando.
  • T. Tutti.
  • Ten. Tenuto.
  • Var. Variatione.
  • V. S. Volti Subito.
X[162]

Fuͤnfte Abtheilung.

Erſtes Kapitel. Vom Contrapunkte und der Fuge.

Ich ſehe mich aus mehrern Gruͤnden genoͤthigt, die Lehre vom Contrapunkte und der Fuge, zu welcher auch der Canon zu rechnen iſt, wenn auch nicht ganz zu tren - nen, doch wenigſtens bei Erklaͤrung des Begriffs welchen man ſich von beiden zu ma - chen hat, den Contrapunkt zuerſt vorzunehmen.

Der Hauptgrund dieſes Verfahrens iſt aus der Bemerkung hervorgegangen, daß beide in der Regel mit einander verwechſelt werden, daß ſelten ein Anfaͤnger der Muſik zu finden iſt, der einen ganz richtigen Begriff dieſer zwei uns ſtets als Muſter vorge - ſtellt werdenden Gegenſtaͤnde hat, und der nicht vor dem Umfange der Abhandlungen und der Anzahl der Regeln derſelben erſchrecken ſollte, endlich daß man gewiß nicht eher eine Fuge wird machen koͤnnen als bis man den doppelten Contrapunkt kennt.

Dieſer fuͤr uns faſt unuͤberſteigliche Berg der Regeln des Contrapunkts und der Fuge hat ſich nach und nach waͤhrend der Kultur der Muſik ſo gigantiſch aufgehaͤuft und iſt eins von jenen Wundern geworden, welche uns das 17te und 18te Jahrhundert foliantenreichen Andenkens hinterlaſſen hat.

Die Wichtigkeit beider Gegenſtaͤnde iſt außer allen Zweifel, nur die Art und Weiſe ſich eine genaue Kenntniß und einen richtigen Begriff zu verſchaffen, der alles in ſich enthaͤlt, und in wiefern ſie zur Vollendung der Muſik und ihrer Schoͤnheit beitragen ja faſt die einzigen Urſachen der ſchoͤnen Wirkungen derſelben ſind, iſt bisher immer noch zu ausgedehnt geweſen, als daß von Hundert Menſchen es einer wagt, ſich durch das Heer von Regeln durchzuarbeiten, die wahren von den falſchen, und die zweckmaͤßigen von den zweckloſen zu ſondern. Um Schoͤnheit der Muſik ſcheint es der Kunſt damali - ger Zeit uͤberhaupt weniger zu thun geweſen zu ſein, als um den Ruf unbegraͤnzter Ge - lehrſamkeit, was die Muſik Stuͤcke jener Jahrhunderte; wenige ausgenommen, auch be - urkunden, wenn wir nur ſonſt aufrichtig genug ſein und unſer Gefuͤhl nicht verlaͤug - nen wollen.

163

Da jedoch die Bemuͤhungen unſerer Vorfahren, ob ſie ſchon groͤßtentheils den Zweck verfehlten, ſehr lobenswerth und mit Dank zu erkennen ſind, weil ſie uns einen uner - ſchoͤpflichen Vorrath materieller Theile der Muſik hinterlaſſen haben, die auch in dem jetzigen Zuſtande der Kultur, noch den Grund aller wahren und klaßiſchen Schoͤnheiten ausmachen, ſo iſt es wichtig genug, ſich einen richtigen Begriff von der Na - tur des Contrapunktes, der Fuge und des Canons als die Haupt Gegenſtaͤnde jener Leh - ren, zu verſchaffen und zu eroͤrtern, inwiefern ſie noch zu Erfindung der modernen klaſſi - ſchen Muſik eines Gluck, Mozart Haydn ꝛc. beigetragen haben, und aus welchen Gruͤnden in neurer Zeit wieder eine Ruͤckgaͤngigkeit derſelben zu befuͤrchten ſteht, wenn man ſich nicht die Muͤhe giebt, die Schoͤnheit der Muſik in der Gruͤndlichkeit dieſer Lehren zu ſuchen.

Bevor ich aber zu der beabſichtigten kurzen Erklaͤrung uͤbergehe, ſehe ich mich genoͤ - thigt zu bemerken: daß die Regeln und Ausnahmen, einen der nachfolgenden Contra - punkte zu verfertigen zu zahlreich ſind, als daß ſie hier alle mit aufgenommen werden koͤnnten, weshalb ich diejenigen, die einen ganz genauen Begriff von allen Arten des Contrapunkts, der Fuge, und des Canons zu erhalten wuͤnſchen, auf die ſchaͤtzenswerthe Abhandlung von der Fuge von F. W. Marpurg. Leipzig (Bureau de Musique) 1806. verweiſe.

Der Contrapunkt iſt die Lehre, wie einem melodiſchen Satze, er ſei kurz oder lang in einer andern Stimme ein andrer melodiſcher Satz, eben ſo lang, kuͤrzer oder groͤ - ßer, in eben der Noten Geltung, in verkleinerten oder vergroͤßerten Noten, mit oder ohne Pauſen, ruͤckenden oder gebundenen Noten wie ſie der Rhythmus und die Ton - art zulaͤßt, entgegen, das heißt: daruͤber oder darunter geſetzt werden kann.

Die Kenntnis des Contrapunkts dient nicht allein zur harmoniſchen Fuͤhrung der Stimmen gegen die Haupt Melodie, ſondern auch und beſonders zu Erwerbung eines unerſchoͤpflichen Vorraths der Formen, die ſich zur Schreibart oder zum Ausdrucke in der Muſik verhalten wie die Worte zur Sprache.

Die Benennung Contrapunkt ruͤhrt daher, daß in fruͤhern Zeiten auf die Linien oder Notenleitern nur Punkte ſtatt der jetzigen Noten geſetzt wurden. Erfand nun Je - mand eine Melodie, ſo bezeichnete er die Toͤne auf und zwiſchen den Stufen durch Punkte z. B.

[figure]

X 2164wollte man aber eine andre Stimme hinzufuͤgen die nicht die naͤmlichen Noten ab - ſingen ſollte, ſo war es noͤthig, entweder uͤber oder unter die erſte Stimme eine andre Melodie zu ſetzen, deren Toͤne mit den Toͤnen der erſten, Schritt vor Schritt, aus Accorden genommen werden mußten, die ſich entweder auf die Primen oder Dominan - ten Harmonie der Tonart (oder auch aus Accorden fremder Tonarten je nachdem oft die Schattirung eines Tones der erſten Melodie ſein ſollte) in welcher ſich der veſte Geſang bewegte, gruͤndeten.

Dieſe Kunſt, die Noten der zweiten Stimme nach ſolchen Regeln, die wir jetzt Mo - dulation nennen, der erſten entgegen zu ſetzen, wurde contrapunktiren genannt und vor - ſtehendes Beiſpiel wurde ohngefaͤhr ſo, wenn die zweite Stimme eine Baßſtimme war:

[figure]

Es iſt vorauszuſetzen, daß ſie eine Lehre der Harmonie und deren Accorde in jeder Tonart kennen mußten, ehe ſie dieſes contrapunkiren unternehmen konnten. Setzte man noch eine Stimme dazu ſo wurde ein ſolcher Satz ein dreiſtimmiger Contrapunkt ge - nannt und ſo fort bis zu fuͤnf, ſechs und noch mehrern Stimmen. Da nun aber jeder vielſtimmige Geſang oder Muſikſtuͤck nur aus 4 Stimmen, naͤmlich: Discant, Alt, Tenor und Baß; die ſich von einander in Anſehung der Hoͤhe und Tiefe unterſcheiden, beſteht und beſtehen muß, weil die Accorde nicht mehrere auf einander gebaute Toͤne enthalten, ſo mußte bei einem 5 ſtimmigen Contrapunkte eine Stimme, und bei einem 6 ſtimmigen, zwei Stimmen verdoppelt werden. Eine Ausnahme konnte man nur bei einigen einzel - nen Accorden machen, die mehr als 4 Toͤne enthalten.

Gehen alle dieſe Stimmen ſo gleichmaͤßig fort, daß keine ſich uͤber die andre erhebt oder darunter geht, ſo wird ein ſolcher Satz ein einfacher Contrapunkt genannt.

Werden die Stimmen untereinander aber ſo verkehrt oder verwechſelt, daß eine die andre uͤberſteigt oder darunter geht, oder daß die obere Stimme eines Satzes unter die untere geſetzt werden kann und der Satz harmoniſch richtig bleibt, Z. B. Wenn der Discant tiefer geht als der Alt ꝛc. ſo nennt man einen ſolchen Satz einen doppelten Contrapunkt.

165

Beſteht ein ſolcher Satz in welchen ſich die Stimmen verkehren, aus drei Stimmen, ſo wird er ein dreidoppelter, aus vier Stimmen, ein vierdoppelter ꝛc. Con - trapunkt genannt.

Da nun durch die Stimmen Verſetzung die wahren Toͤne der Accorde (Harmonie Schritte, Modulation) nicht veraͤndert werden, ſondern nur hoͤher oder tiefer klingen; je nachdem die Stimmen ſind, die mit einander abwechſeln, ſo kann eine ſolche Verſez - zung vor dem einfachen Contrapunkte weiter keinen Vorzug haben als denjenigen: daß ſich die Melodien freier bewegen koͤnnen, und daß durch die Verſetzung der Stimmen die Toͤne dem erhoͤhetern oder erniedrigtern Klange nach, beſonders in Inſtrumental Stuͤcken, mehr Annehmlichkeit und Reitz erhalten.

Dieſe zweierlei Contrapunkte liegen allen uͤbrigen, deren es noch eine große Menge giebt, zum Grunde und ihre Lehre iſt; was wohl zu beachten ſteht, im eigentlich - ſten Verſtande die wahre muſikaliſche Setzkunſt. Sie ſetzen die Kenntnis der Harmonie, der Melodie, des Rhythmus, kurz aller techniſchen Theile der Muſik voraus.

Aus der Kultur der Muſik mußten nun eine Menge Abaͤnderungen hervorgehen, wodurch ebenfalls viele Arten und Namen der Contrapunkte entſtehen mußten, die ich zu Erſparung des Raums nicht alle namentlich anfuͤhren kann.

Da es aber ſelten ein Muſikſtuͤck giebt, wo nicht der einfache oder doppelte Con - trapunkt vorkommen ſollte, ſo iſt es hoͤchſt noͤthig, wenigſtens beide Arten zu kennen, und wenn ein Muſikſtuͤck nur einigermaßen Anſpruch auf Schoͤnheit machen ſoll, ſo muß es ſich nicht allein auf beide Hauptarten ſondern auch auf die Untergattungen wie ſie vorher den Namen nach angegeben ſind und hiernaͤchſt kurz abgehandelt werden ſollen, gruͤnden.

Der feſte Geſang (cantus firmus) oder der melodiſche Satz, gegen welchen man contrapunktirt, iſt der wichtigſte Theil eines Muſikſtuͤcks. Er befindet ſich bald im Baße, bald im Diskante, bald im Alt, bald im Tenor. Er iſt eigentlich die Melodie der Harmonie, oder der Faden der Modulation.

Der Raum dieſer Blaͤtter, die nur einen kurzen Umriß von jedem Theile der Mu - ſik enthalten ſollen, geſtattet es zwar nicht, ganz ausfuͤhrlich, ſowohl uͤber beide Haupt - gattungen als auch uͤber die ſpeciellen Arten des Contrapunkts zu ſprechen, allein um dem Leſer eine richtige Anſicht der Compoſitions Lehre zu verſchaffen, iſt es noͤthig, jede Art mit einigen Worten zu eroͤrtern. Ich will hierbei der Anordnung Marpurgs des in dieſer Art ſo vortreflichen Lehrers der Fuge und des Contrapunkts folgen und die von ihm geſammelten Beiſpiele beibehalten, mit der Ausnahme, die Erklaͤrung des Con - trapunkts der Fuge vorangehen zu laſſen, weil ich der Meinung bin, daß man, wie ich ſchon geſagt habe, nur erſt dann eine Fuge zu machen im Stande ſein wird, wenn man vorher den Contrapunkt in allen ſeinen Theilen kennt.

166

Zweites Kapitel. Vom doppelten Contrapunkte.

Da die Lehre des einfachen Contrapunkts bereits aus der kurzen Erklaͤrung hervorgegangen iſt und keiner Beiſpiele beduͤrfen wird, ſo folgt hier die Eroͤrterung des doppelten Contrapunkts, der in der Kunſt beſteht: einer Melodie eine an - dre oder mehrere daruͤber oder darunter entgegen zu ſetzen, je nachdem die Anzahl der Stimmen es erfordert.

1) Contrapunctus hyperbatus oder Contrapunctus sopra il soggetto, in welchem der Contrapunkt uͤber der Melodie oder den Hauptſatze verfertigt iſt.

[figure]
*)Dieſe und alle nachfolgende Veiſpiele ſind aus Marpurgs Abhandlung: von der Fuge ꝛc. genommen.
*)167
[figure]

2) Contrapunctus hyperbatus oder Contrapunctus sotto il sogetto, in welchem der Contrapunkt unter der Melodie ſteht.

[figure]
168
[figure]

3) Contrapunto falso bordone, oder franzoͤſiſch: faux bourdon, in welchen die Melodie in der Mitte ſteht und daruͤber und darunter contrapunktirt wird.

[figure]
*)Pedal.
*)169
[figure]
Y170

4) Der gleiche Contrapunkt (gemein, ſchlechte, veſte. ) in welchem dieStimmen in gleicher Notengeltung fort gehen.

[figure]

5) Der ungleiche Contrapunkt.

Iſt ein ſolcher, in welchem die Stimmen eine ungleiche Notengeltung haben. Er wird auch der ungleich vermiſchte, gebrochene, figurirte, bunte, gebluͤmte, verzierte ge - nannt, und in zwei Theile eingetheilt 1) in einen ſolchen, wo uͤber oder unter ei - nem Choral contrapunktirt wird. 2) in einen, wo der Contrapunkt ſich von der nicht choralmaͤßigen Melodie oder dem Satze, in Anſehung der Notengeltung und der rhyth - miſchen Figuren, gar nicht unterſcheidet. Eine ſolche Compoſition wird auch ein zu - ſammengeſetzter Contrapunkt genannt.

171

a) Beiſpiel eines unter einem Choral verfertigten Contrapunkts. *)Ein Beiſpiel eines uͤber einen Choral verfertigten Contrapunkts ſiehe unter dem Titel: 1) Contrapunctus hyperbatus.

[figure]
Y 2172

b) Beiſpiel eines zuſammengeſetzten Contrapunkts.

[figure]

Alle dieſe Contrapunkte, in welchen die Melodien ſo erfunden ſind daß man nicht weiß, gegen welche contrapunktirt iſt, gehoͤren zu dieſer Klaſſe.

6) Der gerade Contrapunkt.

Iſt ein ſolcher, deſſen Noten ſtufenweiſe fortgehen und ganz der naͤmliche No. 2. (Con - trapunctus hyperbatus)

173

7) Der ungerade oder ſpringende Contrapunkt.

Iſt derjenige in welchem die Noten ſprungweiſe fortgehen.

[figure]
*)Dieſe Art von Contrapunkt wird in Anſehung der Tacttheile wohl niemand leicht nachahmen
*)
174

8) Der huͤpfende Contrapunkt.

Iſt ein ſolcher, in welchen die Noten gegen die Melodie huͤpfend fortgehn.

[figure]

9) Der Contrapunkt in der gedritten Bewegung.

Iſt derjenige, in welchem eine einfache und eine zuſammengeſetzte Tactart verbunden iſt. Das Beiſpiel No. 8. gilt auch hieruͤber.

10) Der ruͤckende, (ſynkopirte) Contrapunkt.

Iſt ein ſolcher, wo der Gegenſatz oder eigentliche Contrapunkt gegen die Melodie in be - ſtaͤndiger Ruͤckung fortgeht, die Ruͤckung mag von Bindungen, von Verlaͤnge - rungen der Noten durch Punkte, oder von der Groͤße der Noten herruͤh - ren. Die Schreibart iſt mithin hier die Grund-Urſache dieſes und mehrerer davon ab - geleiteter, nachfolgender Contrapunkte.

a) Der gebundene Contrapunkt.

[figure]
175
[figure]

b) Der punktirte Contrapunkt.

In demſelben ruͤhrt die Ruͤckung von den Punkten her.

[figure]
176
[figure]

oder:

[figure]
In177

In nachſtehender Gattung iſt keine Bindung vorhanden, ſondern nur die Punkte dienen zur Ungleichheit der Noten.

[figure]

So vielerlei Figuren der Noten es giebt, ſo vielerlei Gattungen des Contrapunkts giebt es.

c) Der hinkende Contrapunkt.

beſteht darinnen, daß zwiſchen zwei Viertels-Noten eine halbe Tartnote, oder zwiſchen zwei Achtels-Noten eine Viertel Note zu ſtehen kommt. Die Ruͤckung geſchieht nicht durch Punkte, ſondern ruͤhrt von der eignen Groͤße der Noten her:

[figure]
3178
[figure]
[figure]

Bisher von den verſchiedenen Arten des Contrapunkts.

Wir kommen nunmehr zu dem andern weſentlichen Theile (der erſte war die Haupt Melodie, Cantus firmus) des Contrapunkts naͤmlich: Der Gegen Melodie oder der contrapunktirenden Stimme. (oder auch den Gegen Melodien oder den con - trapunktirenden Stimmen, wenn der Haupt Melodie in andern Stimmen verſchie - dene Gegen Melodien entgegengeſetzt werden.)

Wenn die Gegen Melodie aus willkuͤhrlichen melodiſchen Paſſagen beſteht, wie ſie ſich unſerer Phantaſie nach den Regeln eines guten Geſanges vorſtellen, ſo nennt man ihn ei - nen freien, ungebundenen, phantaſtiſchen, vermiſchten Contrapunkt.

Legt man aber bei Erfindung der Gegen Melodie einen Theil der Haupt Melodie oder auch ſonſt einen homogenen Satz zum Grunde und fuͤhrt ihn ſo ſtrenge als moͤglich durch, ſo wird dieſer Contrapunkt ein verbundener (Contrapunctus obligatus) genannt.

179

Beiſpiel der erſten Art, ſiehe No. 5. wo der Contrapunkt unter einem Choral ver - fertigt iſt.

Ein andres Beiſpiel in welchen zwei Stimmen gegen den feſten Geſang contrapune - tiren ſiehe No. 1.

Die zweite Art des Contrapunkts, naͤmlich in welchen man bei Erfindung der Ge - gen-Melodie einen Theil der Haupt Melodie oder des feſten Geſanges oder ſonſt einen homogenen Satz (Thema) zum Grunde legt und durchfuͤhrt, wird wieder auf zweier - lei Weiſe bearbeitet:

  • a. fugenmaͤßig.
  • b. vermittelſt der engen Nachahmung und zwar ſo, daß im ganzen Con - trapunkte nichts als die naͤmliche Paſſage vorkommt. Er wird der Contra - punkt von einer einzigen Clauſel, der dichte oder ſtrenge genannt.

a) Beiſpiel des fugenmäßigen Contrapunkts.

[figure]
Z 2180
[figure]

b) Beiſpiel des Contrapunkts von einer einzigen Klauſel oder des dichten, ſtrengen, Contrapunkts.

[figure]
181
[figure]

Nachdem ſowohl der einfache als doppelte Contrapunkt als die Haupt Arten in Betracht auf Harmonie und Melodie erklaͤrt worden iſt, folgt die Abhandlung des dop - pelten Contrapunkts in ſofern es auf Verſetzung einer Stimme in andre In - tervalle ankommt. Da es nun 7 Intervalle in einer Tonart giebt, ſo giebt es auch ſie - bernerlei doppelte Contrapunkte, als: der Contrapunkt in der Octave oder, welches einerlei iſt, in der Decima Quinta; der Contrapunkt in der Sekunde oder None ꝛc. Ehe ich jedoch zu den Beiſpielen uͤbergehe, ſehe ich mich genoͤthigt zu bemerken, daß man ſelten in einer Lehre dieſer Contrapunkte einen richtigen Begriff davon bekommt, weil gerade der Haupt Umſtand: wie es moͤglich iſt, daß in Hinſicht des Rhythmus zwar ein und dieſelbe Melodie aber auf zweierlei Intervallen ausgedruͤckt und gegen eine Melodie geſetzt, die ſich im Betreff der Intervalle nicht veraͤndert, harmoniſch richtig ſein kann, uͤber - gangen wird. Es wird Jedermann leicht einſehen, daß ein ſolcher contrapunktiſcher Satz aus Accorden (Harmonie Schritten) beſtehen muß, woraus die dem feſten Geſange entgegen zu ſetzenden Toͤne genommen ſind, oder daß die Contra-Melodie; wenn ich mich ſo ausdruͤcken darf, außer den harmonieeignen ſolche durchgehende oder Wech - ſel Toͤne enthalten muß, wie ſie zu einem Satze erforderlich ſind, worinnen die Stim - men nicht verwechſelt werden (einfachen Contrapunkt), und daß mithin nicht von ei - nem langen Satze die Rede ſein kann, weil es nicht moͤglich iſt, alle Accorde hinter -182 einander ſo folgen laſſen zu koͤnnen, daß es einerlei waͤre, ob alle Intervalle der Con - tra-Melodie entweder um eine Secunde, Terz oder Quarte hoͤher oder tiefer geſetzt werden. Die Anwendung dieſer Lehre wenn ſie mit Nutzen geſchehen ſoll, kann daher nur in einzelnen Saͤtzen eines Muſikſtuͤcks ſtatt finden, und die Lehre des reinen Satzes muß durchaus beruͤckſichtigt werden, beſonders wenn mehrere Stimmen gegen einander verwechſelt werden, wie es der Fall in den dreydoppelten, vierdoppelten, dop - pelt verkehrten ꝛc. Contrapunkt der Fall iſt.

1) Der doppelte Contrapunkt in der Octave.

Wenn in einer Compoſition von zwei Stimmen die unterſte eine Octave hoͤher, oder die oberſte eine Octave tiefer, gegen die andre verkehrt werden kann, ſo nennt man dieſelbe einen doppelten Contrapunkt in der Octave.

Beiſpiel:

[figure]
183

um eine Octave verſetzt:

[figure]

Evolutio*)Verkehrung und Evolutio iſt einerlei.

[figure]

Ein ſolcher Contrapunkt kann leicht drei und vierſtimmig gemacht werden, und zwar:

  • Dreiſtimmig, wenn entweder der hoͤchſten oder tiefſten Stimme eine Terz ober - waͤrts, und
  • Vierſtimmig, wenn ſowohl der hoͤchſten als der tiefſten Stimme eine Terz ober - waͤrts zugeſetzt wird.

2) Der Contrapunkt in der Secunde oder None.

Wenn in einer Compoſition die Oberſtimme gegen die unterſte eine Secunde oder None tiefer oder die Unterſtimme gegen die oberſte eine Secunde oder None hoͤher ver - kehrt werden kann, ſo wird ſie ein doppelter Contrapunkt in der Secunde oder None genannt.

184
Beiſpiel:
Evolutio in der Secunde.
Evo185

Evolution in der None.

[figure]

So wie nun dieſe zwei Contrapunkte in der Octave und in der Secunde oder None beſchaffen ſind, ſo werden auch die in der Terz oder Decime, Quarte oder Unde - cime, Quinte oder Duodecime, Sexte oder Decima Tertia, und Septime oder Decima Quarta bearbeitet.

Zweites Kapitel. Vom dreifachen oder dreiſtimmigen Contrapunkte.

Ein Satz von drei Stimmen nach den Regeln des doppelten ausgearbeitet, wird ein dreifacher insgemein aber auch ein dreidoppelter Contrapunkt genannt. Es werden in denſelben die verſchiedenen Stimmen ſo unter einander verwechſelt, daß jede zur erſten, andern oder dritten, naͤmlich: zum Diskant, zur Mittelſtimme oder zum Baß werden kann. Es giebt zweierlei Arten dieſes Contrapunkts.

A a186

1) Der dreifache Contrapunkt in der Octave.

Derſelbe wird nach eben den Regeln wie der vorhererwaͤhnte zweiſtimmige doppelte in der Octave ausgearbeitet, und unterſcheidet ſich durch weiter nichts als daß hier zwei Stimmen gegen den feſten Geſang contrapunktiren, ſtatt daß es in jenem nur mit einer Stimme geſchieht. In einem ſolchen ſtrenge ausgearbeiteten Satze finden Sechs Verſetzungen ſtatt, und zwar: drei Hauptverſetzungen und drei Ne - benverſetzungen. Die Hauptverſetzungen koͤnnen auf folgende Weiſe geſchehen.

  • Erſte Hauptverſetzung.
    • 1. Diskant.
      *)Die Zahlen zeigen die Stimmen an.
      *)
    • 2. Mittelſtimme
    • 3. Baß
  • Zweite Hauptverſetzung.
    • 3. Baß.
    • 1. Discant
    • 2. Mittelſtimme
  • Dritte Hauptverſetzung.
    • 2. Mittelſtimme
    • 3. Baß
    • 1. Discant

Und die drei Nebenverſetzungen auf nachſtehende Art.

a) Wenn der Baß ſtehen bleibt, und die hoͤchſte und mittelſte Stimme un - ter ſich verwechſelt werden, als:

  • 2. Mittelſtimme
  • 1. Discant
  • 3. Baß

b) Wenn die Mittelſtimme ſtehen bleibt, und die hoͤchſte und die tiefſte un - ter ſich verwechſelt werden.

  • 1. Discant
  • 3. Baß
  • 2. Mittelſtimme

c) Wenn der Diskant ſtehen bleibt, und die mittelſte und tiefſte Stimme unter ſich verwechſelt werden.

  • 3. Baß
  • 2. Mittelſtimme
  • 1. Discant
187

Es folgt hierauf ein Thema und zwei Beiſpiele in welchen letztern die Hauptver - ſetzungen deutlich zu erſehen ſind.

[figure]
A a 2188

Verwechſelung der Stimmen, ſo daß der Discant zur Mittelſtimme, die Mittelſtimme zum Baße und der Baß zum Discant wird.

[figure]
189

Verwechſelung der Stimmen, ſo daß der Discant zum Baße, die Mittelſtimme zum Discant und der Baß zur Mittelſtimme wird.

[figure]
190

Die Neben-Verſetzungen ſind woͤrtlich erklaͤrt worden, und koͤnnen nach den Beiſpielen der Haupt-Verſetzungen ſelbſt gemacht werden.

Dieſen dreiſtimmigen Contrapunkt ſetzt man auch oft noch mit einer tiefen Neben - ſtimme; die aber als Fundament unverruͤckt ſtehen bleibt und mit Basſus conti - nuus bezeichnet wird. Ein ſolcher Satz kann mithin auch als ein vierſtimmiger betrachtet werden.

2) Der vermiſchte dreiſtimmige oder dreidoppelte Contrapunkt.

So wie es außer dem zweiſtimmigen oder doppelten Contrapuncte in der Oc - tave noch ſechs andre Gattungen giebt, worinnen die Stimmen verkehrt werden koͤn - nen, ſo giebt es auch in dem dreiſtimmigen eigentlich noch ſechs Arten in welchen eine ſolche Verwechſelung der Stimmen geſchehen kann. Daß dadurch vielerlei Vermi - ſchungen der Contrapunctiſchen Saͤtze ſtatt finden koͤnnen, iſt außer Zweifel, nur legt ſo - wohl die Harmonie als auch die Melodie, wenn beide nicht einem der Schoͤnheit nach - theiligen Zwange unterworfen werden ſollen, manche Schwierigkeiten in den Weg. Es kommt hierbei viel auf das Thema und die Geſchicklichkeit des Componiſten an, wie weit er es mit den andern dreiſtimmigen Contrapunkten in der Secunde, Terz ꝛc. brin - gen kann. Die zwei bequemſten Arten ſind: 1) Wenn man einen zweiſtimmigen conſonirenden Satz componirt und die Stimmen entweder nach dem Contrapunkte der Octave, Secunde, Terz ꝛc. unter einander verwechſelt und entweder der hoͤchſten oder niedrigſten Stimme eine Terz beifuͤgt. Dieſe hinzugefuͤgte Stimme kann in Anſe - hung der Figuren von den andern ganz abweichen und eine beſondere Melodie bilden, nur muß ſie ſich auf die Geſetze gruͤnden, worauf der Contrapunkt beruht, naͤmlich auf die richtige Zuſammenſtimmung der harmonieeignen Toͤne, und die Diffidenz der zerlegten Accorde. Folgendes Beiſpiel wird die Erklaͤrung deutlicher machen.

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191

Die unterſte und mittelſte Stimme machen hier einen Satz aus, der der Verkeh - rung in der Octave faͤhig iſt. Die oberſte Stimme geht terzweiſe mit der mittelſten fort. Die obere und mittlere Stimme eignen ſich zur Verkehrung in die Quinte oder Octave. Die mittlere und untere, ingleichen die obere und untere, laßen eine Verwech - ſelung in die Terz und ferner die untere eine Verwechslung in die Quinte unter ſich zu. Es ſind mithin in dieſem Satze drei Contrapuncte enthalten. Hieraus entſteht nachſtehender doppelte Satz, der in einer vierfachen Verſetzung erſcheint. In der Haupt - Compoſition ſteht der erſte Satz unten, der zweite oben und der dritte in der Mitte.

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192
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2) Die zweite Art gruͤndet ſich ſo wie die vorige auf die Contrapuncte in der Octave ꝛc., nur wird ſie auf eine andere Art ausgearbeitet. Je conſonirender die Saͤtze ſind, deſto bequemer und oͤfterer koͤnnen ſie verkehrt werden. Jede Stimme muß ge - gen die andere in der Octave ausgearbeitet werden, zwei Stimmen davon aber muͤßen beſonders unter ſich der Verkehrung in die Quinte und nach Abſicht auch in die Terz faͤhig ſein.

Bei -193

Beiſpiel.

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In dieſem Beiſpiele ſind alle Stimmen in der Octave gegen einander geſetzt, das heißt: es kann jede gegen eine andere entweder eine Octave hoͤher oder tiefer geſetzt werden, nur verſteht ſich von ſelbſt, daß die verſetzt werdende Stimme nicht die naͤmli - chen Intervalle einer andern ſtehenbleibenden einnehmen kann. Dieſer dreidoppelte Satz kann nun nach beiden Contrapuncten verkehrt werden, naͤmlich:

B b194
No. 1.
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ferner:

No. 2.
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In den Saͤtzen No. 1. und 2. werden die Stimmen in der Octave verkehrt.

195
No. 3.
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*)Der Zuſatz iſt willkuͤhrlich.
*)

In dieſem Satze wird die dritte Stimme in die hoͤhere Decime oder Terz verkehrt.

B b 2196
No. 4.
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In dieſem Beiſpiele No. 4. wird der erſte Satz in die tiefere Duodecime oder Quinte verkehrt, die andern Saͤtze aber bleiben, ob ſie ſchon in andere Stimmen ver - ſetzt werden.

197
No. 5.
198

In dieſem Beiſpiele No. 5. ſind zwei Saͤtze zugleich in die Duodecime oder Quinte verkehrt worden, naͤmlich der erſte und zweite, der dritte aber bleibt, ob er gleich in eine andere Stimme verſetzt iſt.

Aus allen dieſen Beiſpielen geht hervor, daß in dieſer zweiten Art des Contra - punkts die Terz und die Octave die geſchickteſten Intervalle ſind, deren man ſich bei der Umkehrung bedienen kann, nur in gewißen Stimmen kann die Quinte und Sexte auch bequem gebraucht werden.

Gegen dieſe Bemerkung Marpurgs, daß einige Intervalle zur Umkehrung vorzuͤg - lich geeignet ſind, erlaube ich mir anzufuͤhren: daß uns die Wahl der Intervalle keinen Zwang auflegen kann, (außer wenn in einem Satze zwei Quarten hinter einander fol - gen, die in der Umkehrung natuͤrlich zu Quinten werden) wenn man weiß, daß ſich alle Accorde, folglich auch alle Intervalle derſelben umkehren laßen, wenn man nur ſonſt die Lehren der Harmonie und Melodie in ſeiner Gewalt hat, und die Geſetze des Contrapunkts nicht gerade ſolche ſind, daß in Betreff der Entfernung der Inter - valle und der Form nichts geaͤndert werden darf.

Viertes Kapitel. Vom vierſtimmigen, vierfachen oder vierdoppelten Contrapunkte.

Der vierdoppelte Contrapunkt iſt ein Satz aus 4 Stimmen, die unter einander ver - kehrt werden koͤnnen, und zwar ſo, daß jede zur erſten, zweiten, dritten und vierten, d. i. zum Discant, Alt, Tenor und Baße werden kann.

Die Ausarbeitung deſſelben kann entweder nach den Regeln des doppelten Contrapunkts in der Octave allein, oder zugleich nach andern Arten des doppelten Contrapunkts, alſo vermiſcht, geſchehen.

1) Der vierfache Contrapunkt in der Octave.

Der vierſtimmige, (vierfache oder vierdoppelte) Contrapunkt unterſcheidet ſich von dem dreifachen in weiter nichts als daß ſich vier Stimmen gegen einander ver - kehren, und daß er einer 24fachen Verkehrung faͤhig iſt. Es giebt in demſel - ben nur 4 Hauptverſetzungen und 20 Nebenverſetzungen. Die vier Hauptverſetzungen geſchehen durch die 4 Stimmen, naͤmlich: den Discant, Alt, Tenor und Baß, und koͤn - nen auf nachſtehende Weiſe zuſammengeſetzt werden.

199
die erſte.die zweite.die dritte.die vierte.
1
*)Die Zahlen zeigen die Stimmen aber nicht die Themata an.
*) Discant
4 Baß3 Tenor2 Alt
2 Alt1 Discant4 Baß3 Tenor
3 Tenor2 Alt1 Discant4 Baß
4 Baß3 Tenor2 Alt1 Discant

Jede dieſer vier Hauptverſetzungen hat fuͤnf Nebenverſetzungen, als:

a) Wenn bei bleibendem Baße die drei uͤbrigen, wie folgt, unter einander verſetzt werden.

erſte Nebenv.zweite Nebenv.dritte Nebenv.vierte Nebenv.fuͤnfte Nebenv.
3 Tenor2 Alt3 Tenor2 Alt1 Discant
1 Discant3 Tenor2 Alt1 Discant3 Tenor
2 Alt1 Discant1 Discant3 Tenor2 Alt
4 Baß4 Baß4 Baß4 Baß4 Baß

b) Wenn bei bleibendem Tenore die drei uͤbrigen Stimmen untereinander verwechſelt werden.

erſte Nebenv.zweite nebenv.dritte Nebenv.vierte Nebenv.fuͤnfte Nebenv.
1 Discant1 Discant2 Alt4 Baß2 Alt
2 Alt4 Baß4 Baß2 Alt1 Discant
4 Baß2 Alt1 Discant1 Discant4 Baß
3 Tenor3 Tenor3 Tenor3 Tenor3 Tenor

c) Wenn bei bleibendem Alte die drei uͤbrigen untereinander verwechſelt werden.

erſte Nebenv.zweite Nebenv.dritte Nebenv.vierte Nebenv.fuͤnfte Nebenv.
3 Tenor1 Discant1 Discant4 Baß4 Baß
1 Discant4 Baß3 Tenor1 Discant3 Tenor
4 Baß3 Tenor4 Baß3 Tenor1 Discant
2 Alt2 Alt2 Alt2 Alt2 Alt

d) Wenn bei bleibendem Discante die drei uͤbrigen Stimmen unter ſich verwechſelt werden.

erſte Nebenv.zweite Nebenv.dritte Nebenv.vierte Nebenv.fuͤnfte Nebenv.
2 Alt4 Baß4 Baß3 Tenor3 Tenor
4 Baß3 Tenor2 Alt4 Baß2 Alt
3 Tenor2 Alt3 Tenor2 Alt4 Baß
1 Discant1 Discant1 Discant1 Discant1 Discant

Es iſt zwar nicht noͤthig, daß ein vierſtimmiger Satz alle vier Haupt-Verſetzungen zulaße, und es iſt hinreichend, wenn er nur zwei Verkehrungen hat. Es iſt indeßen zur200 Uebung gut, wenn man die Intervalle ſo ſtellt, daß alle vier Verkehrungen herauskom - men, weil man zugleich den Vortheil hat, alle zwanzig Nebenverſetzungen hervorbringen zu koͤnnen. Mehrere Verſetzungen ſind von einem Satze in der Octave nicht zu ver - langen.

Beiſpiel.

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201
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C c202

Die Melodie und Bewegung, wodurch ſich ein Satz von dem andern unterſcheidet, faͤllt nebſt den verſchiedenen Eintritten der Stimmen ſogleich in die Augen.

Man kann auch einen ſolchen vierſtimmigen Satz mit einer tiefen Nebenſtimme, die unverruͤckt ſtehen bleibt, begleiten und ihn fuͤnfſtimmig machen. Es muͤßen darin - nen jedoch zwei Quarten hintereinander, die durch die Umkehrung zu Quinten werden wuͤrden, vermieden werden.

Es folgt hier das Beiſpiel eines ſolchen fuͤnfſtimmigen Satzes.

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203
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2) der vermiſchte vierſtimmige oder vierdoppelte Contrapunkt.

Dieſer Contrapunkt wird auf eben die Weiſe wie der dreiſtimmige auf zweier - lei Art verfertigt. Man komponirt naͤmlich einen conſonirenden zweiſtimmigen Satz und unterſucht, ob eine Verkehrung der Stimmen geſchehen kann, wenn annoch zwei Stimmen terzenweiſe hinzugefuͤgt werden. Nachſtehendes Beiſpiel wird die erſte Art deutlicher machen.

C c 2204
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Es iſt hieraus zu erſehen, daß die oberſte und unterſte Stimme den Satz enthalten, und die mittelſten die beiden terzenweiſe zugeſetzten Stimmen ſind. Da die hoͤchſte Stimme ihre Terz unterwaͤrts und die unterſte ihre Terz oberwaͤrts hat, ſo ſieht man, daß die Haupt-Compoſition ad Duodecim oder eine in der Quinte iſt.

Die zweite Art iſt am bequemſten und leichteſten, wenn die verſchiedenen Saͤtze ſo uͤbereinander gebaut werden

  • a) daß der Baß gegen alle Stimmen, und umgekehrt alle Stimmen gegen den Baß nach den doppelten Contrapunkt in der Octave, gegen einander verſetzt werden koͤnnen.
  • b) daß der Diskant gegen den Alt, und umgekehrt der Alt gegen den Diskant der Verſetzung in der Quinte oder ad Duodecimam faͤhig ſei.

Beobachtet man beide Regeln genau, ſo kann man den beſten vierdoppelten Contra - punkt verfertigen. Nachſtehendes Beiſpiel zeigt, daß ohnerachtet der haͤufigen Verkeh - rungen der Satz doch biegſam und fließend iſt.

205
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206
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Dieſer Satz laͤßt noch mehr Verkehrungen zu, die ſich, wenn man die Stimmen auf alle moͤgliche Art zuſammenſetzt, auf 44 ausdehnen laßen.

Anmerkung.

Aus allen bisher angefuͤhrten Beiſpielen geht hervor, daß es bei Verfertigung ei - nes vermiſchten vierdoppelten Contrapunkts darauf ankommt, daß

  • 1) alle Stimmen ſoviel als moͤglich unter ſich ad Octavam oder in der Octave geſetzt werden.
  • 2) daß zwei andre Stimmen darunter zugleich einer Verſetzung ad Duodecimam oder der Quinte oder nach einem andern Contrapunkte zugleich faͤhig ſind.
  • 3) daß man alle 7 Arten des doppelten Contrapunkts, beſonders aber den in der Quinte und Terz wohl inne haben muß. Einer von dieſen allein iſt nicht hinreichend, ſondern alle muͤßen ſich die Hand bieten.
  • 4) daß man bei der Vermiſchung darauf ſehe, die Stimmen in ſolchen Inter - vallen fortgehen zu laßen, die in allen drei Contrapunkten auf eine gewiße Weiſe zugleich ſtatt finden koͤnnen.
207

Fuͤnftes Kapitel. Vom doppelt verkehrten Contrapunkte.

Eine Compoſition, die außer der Verkehrung der Stimmen zugleich die Gegenbewe - gung zulaͤßt, heißt ein doppelt verkehrter Contrapunkt oder ein doppelter Contrapunkt in der Gegenbewegung.

Die Gegenbewegung iſt ſtrenge und frei. Die Strenge beruht auf Beobachtung der Regel, wie ſie bei der Nachahmung ſtatt findet, naͤmlich: wenn die ganzen und halben Toͤne der erſten Stimme in der andern in eben der Folge nachgeahmt werden. Z. B.

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Die Freie bindet ſich nicht ſo ſtrenge an die Beobachtung der Folge oder der rhythmiſchen Form des Satzes. Z. B.

208
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Bei der ſtrengen Gegenbewegung iſt es noͤthig zu wiſſen, mit was fuͤr einem Tone aus der Tonleiter die Gegenbewegung angefangen werden muß. Das Naͤhere iſt bereits in der Abhandlung von der Nachahmung erwaͤhnt worden.

Die beiden gewoͤhnlichſten Arten, wie die Toͤne einander entgegengeſetzt werden, um erſehen zu koͤnnen, welchen Ton man zum Eintritte der Nachahmung in der Gegenbe - wegung zu waͤhlen hat, ſind:

1) Wenn der Hauptton des Satzes wieder zum Haupt-Tone, oder was einerlei iſt, wenn die Prime zur Octave, die Secunde zur Septime ꝛc. wird, indem eine Stimme herauf und die andere herunter geht; z. B. in C dur Aufſteigende Octave c, d, e, f, g, a, h, c. Abſteigende Octave c, h, a, g, f, e, d, c. Hier wird das c wieder zum c, das d zum h, das e zum a ꝛc.

2) Wenn die Octave des Haupttons, und die Octgve der Dominante gegen einan - der geſtellt werden, ſo daß eine Stimme herauf und die andre herunter geht. Z. B. in C dur Aufſteigende Octave c, d, e, f, g, a, h, c. Abſteigende Octave der Dominante g, f, e, d, c, h, a, g. Hier wird das c zum g, das d zum f ꝛc.

Der209

Der Satz dieſes Contrapunkts erlaubt in der Regel keine andere Intervalle als die Terz, Quinte, Sexte und Octave, weil ſich zu den andern Intervallen die Gegenbewe - gung nicht immer ſchickt.

Beiſpiel zu No. 1.

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Kehrt man beide Scalen und auch die Vorzeichnung und Noten um, ſo erſieht man die Gegenbewegung deutlich und der Satz kommt ſo zu ſtehen:

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D d210
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Beiſpiel zu No. 2.

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Die hier vor den gewoͤhnlichen Schluͤßeln ſtehenden andern ruͤhren aus aͤlterer Zeit her, wo man die Gewohnheit hatte, ſie beim Canon zu gebrauchen. Da nun der Fall eintreten kann, daß man eine dergleichen Compoſition einmal zu Geſichte bekommt, ſo ſcheint es nicht unnuͤtz zu ſein, die Erklaͤrung hieruͤ[ber zu]wiſſen. Die unmittelbar vor der Compoſition ſtehenden Schluͤßel beduͤrfen keiner Erklaͤrung. Die beiden vorherge - henden aber; die jedoch auf verſchiedene Art verkehrt worden ſind, haben folgenden Zweck: naͤmlich, der erſte Schluͤßel dieſen, daß man nicht erſt lange den Ton, worin - nen die Verkehrung geſchehen ſoll, ſuchen duͤrfe. Man braucht nur das Blatt umzukeh -211 ren, d. i. das Oberſte zum Unterſten zu machen und dann von der rechten Hand nach der linken zu den Satz anzuſehen, ſo iſt die Verkehrung da. Der andre verkehrte Schluͤßel, d. i. derjenige, der in der Mitte ſteht, dient dazu, daß, wenn man den Satz nicht auf vorige Art von der rechten Hand nach der linken zu bequem leſen kann, man denſelben gegen einen Spiegel halte, wo der Schluͤßel alsdenn nicht verkehrt, ſondern in ſeiner ordentlichen Geſtalt erſcheint, und wo man alsdann von der linken Hand nach der rechten zu leſen kann.

2) der dreiſtimmige Contrapunkt in der Gegenbewegung.

Es giebt zweierlei Arten deßelben. Die erſte Art iſt dieſe: Wenn die zwei aͤußer - ſten Stimmen unter einander verwechſelt werden und die mittelſte unveraͤndert bleibt. Die Regeln bei der Verwechſelung der zwei aͤußerſten Stimmen ſind die naͤmlichen, wie ſie im zweiſtimmigen Contrapunkte ſtatt finden. Die Noten der Mittelſtimme werden durch die Verkehrung gegen die tiefſte Stimme zu Terzen und Sexten, ſtatt daß ſie es in jenem gegen die oberſte Stimme werden.

Die Quarte muß in der Mittelſtimme entweder vermieden oder in der Oberſtimme vorbereitet und in die Sexte reſolvirt werden; hingegen kann ſie zwiſchen der mittelſten und tiefſten in der Regel gebraucht werden.

Beiſpiel.

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D d 2212
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Beiſpiel der Verkehrung des vorſtehenden Satzes.

213
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Die zweite Art beſteht darinnen: daß bei Verſetzung der Saͤtze in der Gegenbe - wegung, die Stimmen ſo untereinander geſtellt werden, daß der Diskant zum Alte, der Alt zum Baße, und der Baß zum Diskante wird. Daß durch dieſes Verfahren die zwei oberſten Saͤtze der Haupt-Compoſition zu den zwei unterſten werden und zwar ſo, wie in der Haupt-Compoſition, gerade uͤber einander ſtehen bleiben und alſo unter ſich nicht verwechſelt werden, geſchieht deswegen, weil die Intervalle nicht einerlei bleiben, ſon - dern die Terz zur Sexte und die Sexte zur Terz wird ꝛc., wie bei dem zweiſtimmigen verkehrten Contrapunkte. Zwiſchen der hoͤchſten und mittelſten Stimme muß man zwei Quarten hintereinander vermeiden, weil ſie durch die Umkehrung zu Quinten werden.

Nachſtehender Satz, fugenartig gearbeitet; was aber eine Sache fuͤr ſich iſt, wird dieſe Art von Contrapunkt deutlicher machen.

214
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215
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216

Verkehrung des vorherigen Satzes.

217
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E e218
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3) Der vierſtimmige Contrapunkt in der Gegenbewegung.

Wie man einen vierſtimmigen Contrapunkt in der Gegenbewegung macht, geht aus der Lehre des zweiſtimmigen hervor; man ſetzt naͤmlich die dritte Stimme eine Terz unter dem Discante, und die vierte eine Terz uͤber dem Baße. Man bedient ſich da - bei lauter conſonirender Intervalle, als der Terz, Sexte, Octave und Quinte. Die Quarte kann zwiſchen beiden Mittelſtimmen gebraucht werden, desgleichen zwi - ſchen dem Tenor und Baße, und dem Alt und Baße jedoch vorbereitet und aufgeloͤßt. Zwiſchen dem Diskant und Baße laͤßt man ſie aber lieber weg.

Beiſpiel.

219
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Sechstes Kapitel. Vom ruͤckgaͤngigen Contrapunkte.

Derſelbe wird ſo genannt, wenn man eine Compoſition auch vom Ende nach dem Anfange zu ſetzen kann. In einem ſolchen Satze koͤnnen auch die Stimmen entweder umgekehrt werden oder nicht. Koͤnnen ſie nicht umgekehrt werden, ſo heißt er ein ein - facher ruͤckgaͤngiger, koͤnnen ſie aber umgekehrt werden, ein doppelt ruͤckgaͤn - giger Contrapunkt. Wenn der ruͤckgaͤngige Contrapunkt umgekehrt wird, ſo ge - ſchieht es entweder in der geraden oder in der Gegenbewegung. Es entſtehen daher wieder zwei Gattungen des doppelt ruͤckgaͤngigen Contrapunkts, naͤmlich der in der aͤhnlichen oder geraden, und der in der Gegenbewegung. Man hat bisher feſtge - ſetzt, daß in jeder dieſer Gattungen keine andern als conſonirende Toͤne vorkommen duͤrfen, und von diſſonirenden nur die falſche Quinte, die kleine Septime auf der Dominante, die verminderte Septime, die uͤbermaͤßige Quarte und die uͤbermaͤßige Secunde, jedoch nur unter der Bedingung: daß die Gaͤnge mit den - ſelben in Anſehung der vorangehenden und auf ſie folgenden Conſonanzen ſo eingerichtet werden, daß ſie auf eben die Art wieder ruͤckwaͤrts zum Vorſchein kommen. Mit Pauſen, Punlten und Bindungen, ob ſie gleich nicht anders als conſonirend ſein koͤnnen, hat man ſich in Acht zu nehmen, daß ſie nicht an einen Ort kommen, wo ſie ſich zum Ruͤckgange nicht ſchicken.

E e 2220

Beiſpiele.

a) Vom einfachen rückgängigen Contrapunkte.

Worinnen derſelbe beſteht, iſt vorher geſagt worden. Er kann ſich auf vier, auch noch mehr Stimmen erſtrecken.

Beiſpiel eines Zweiſtimmigen.

ruͤckwaͤrts.

Die drei - und vierſtimmigen Saͤtze dieſer Gattung werden auf eben dieſe Art verfertigt.

221

b) Vom doppelt rückgängigen Contrapunkte.

Was er iſt, beſagt die vorherige Erklaͤrung. Er kann aber in zweierlei Bewegungen verfertigt werden, naͤmlich in der aͤhnlichen und in der Gegen-Bewegung. Beide Arten koͤnnen ebenfalls zwei -, drei - und vierſtimmig geſetzt werden. Da es hier jedoch nur auf die Bewegung und nicht auf die Stimmenfuͤhrung ankommt, ſo folgt hier nur das Beiſpiel eines zweiſtimmigen und eines dreiſtimmigen.

Beiſpiel eines ruͤckgaͤngigen Contrapunkts in der Gegenbewegung.

ruͤckwaͤrts.

222

Beiſpiel eines ruͤckgaͤngigen Contrapunkts in der aͤhnlichen Bewegung.

ruͤckwaͤrts.

Sowohl in der Lehre dieſes Contrapunkts als auch der vorhergegangenen ließt man bei den aͤltern Contrapunktiſten immer, daß die Quarte oder ſonſt ein andres Intervall der Umkehrung oder der Form wegen zu vermeiden ſei, allein ich moͤchte lieber den Rath geben, die Umkehrung und die Wiederholung der Form, als die Toͤne; wenn ſie der Wohlklang und Zweck erfordert, zu vermeiden, denn ein contrapunktiſcher Satz, der auf Unkoſten der Harmonie und Melodie ſein klaßiſches Anſehn behaupten muß, verdient mehr aus der Reihe der Muſter ausgeſtrichen als nachgeahmt zu werden. Es ſind da - mit nicht gerade die hier vorſtehenden ruͤckgaͤngigen, ſondern alle Contra - punkte, die ein ſolches Opfer verlangen, gemeint, und kein guter Componiſt, wenn er223 nicht ein Lehrbuch ſchreibt, worinnen wenigſtens alle Arten des Contrapunkts aufge - nommen werden muͤßen, wird in den Feſſeln ſolcher Regeln arbeiten. Daß uͤbrigens, wie mehrere vorſtehende Beiſpiele beweiſen, die Saͤtze nicht immer eine wahre gram - maticaliſche Richtigkeit haben, brauche ich wohl demjenigen nicht erſt in Erinnerung zu bringen, der die Lehre der Harmonie und Melodie genau kennt; denn wenn auch die Harmoie-Schritte nicht geradezu falſch ſind, ſo iſt es doch die harmoniſche Me - lodie; was ein richtiges Gefuͤhl leicht beſtaͤtigen wird.

Siebentes Kapitel. Von der Verſetzung einer Compoſition in verſchiedenen Bewegungen und deren Aufloͤſung in verſchiedene Contrapunkte.

Der Raum dieſer Blaͤtter erlaubt es durchaus nicht dieſes Kapitel ausfuͤhrlich be - handeln zu koͤnnen, weil nur viele Beiſpiele die woͤrtliche Erklaͤrung deutlich machen koͤnnen. Der Haupt-Begriff, den man ſich von dieſem Contrapunkte zu machen hat, iſt: daß man darinnen alles vereinigt findet, worinnen alle Contrapunkte uͤberein - kommen und alles dasjenige weglaͤßt, was den einen von dem andern unterſcheidet. Das naͤhere ſiehe Marpurgs Abhandlung von der Fuge, pag. 30 ꝛc.

Achtes Kapitel. Von der Fuge.

Wenn in den vorherigen ſieben Kapiteln der Contrapunkt ausfuͤhrlicher behandelt worden iſt als es hier mit der Fuge geſchieht, ſo liegt der Grund in der Abſicht, die Vermuthung an den[Tag] zu legen, daß die verſchiedenen Contrapunkte dem Componiſten mehr materielle Theile anbieten, ſeiner Phantaſie eine Regelmaͤßigkeit zu geben, die zu Erreichung einer klaſſiſchen Schreibart erforderlich iſt, als die Fuge; ob ſie ſchon ihrem Haupt-Charakter nach hoͤchſt wichtig iſt und den Grund zu vielen, wenn auch nicht zu allen Schoͤnheiten einer Muſik abgiebt. Es kommt bei der Fuge blos darauf an, ſich einen richtigen Begriff von ihren weſentlichen Theilen zu verſchaffen und die verſchiede - nen Arten kennen und ſelbſt verfertigen zu lernen. Ich habe, wie ich zu Anfange dieſer Abtheilung erwaͤhnte, den Contrapunkt deswegen zuerſt abgehandett, weil die Fuge nur224 contrapunktiſche Saͤtze enthaͤlt, die mit ihren Regeln eine beſondere Gattung von Muſik bilden, waͤhrend der Contrapunkt nur die beſondern Arten der Setzkunſt betrifft.

Die Fuge wird entweder als eine beſondere Gattung betrachtet oder ihre Saͤtze wer - den nur einzeln in jedem andern Muſikſtuͤcke angewandt. Sie iſt ein aus 2 und meh - rern Stimmen beſtehendes Tonſtuͤck, in welchem die Stimmen den Vorſatz, (Thema, Hauptſatz, Fuͤhrer, Lat. Dux,) und den Nachſatz, (Antwort, Lat. Comes,) wechſelsweiſe durch mehrere abwechſelte Accorde und Tonarten, gleichſam abſingen oder ſich durch Nachahmung verfolgen. Der Name Fuge iſt daher wahrſcheinlich von dem lateiniſchen Worte fugare entſtanden.

Da in derſelben keine Stimmen wegbleiben und auch weiter keine mehr hinzutreten koͤnnen als zu Anfange beſtimmt ſind, ſo muß es auch bei den einmal feſtgeſetzten ver - bleiben. Es iſt indeßen ſelten eine Regel ohne Ausnahme, und ſo iſt es auch in die - ſem Falle. Es koͤnnen naͤmlich, wenn es der Zweck erfordert, Stimmen eintreten und abtreten.

Es giebt zwei -, drei -, vier - und mehrſtimmige Fugen. Wenn mehr als vier Stimmen in denſelben vorkommen, ſo kann nicht jede eine Haupt-Stimme genannt werden, weil es nur viere derſelben giebt, als: Baß, Tenor, Alt und Diskant. Von dieſen 4 Stimmen muͤßen mithin welche verdoppelt werden. Wenn z. B. der Diskant verdoppelt wird, ſo wird die Haupt-Stimme erſter Diskant und die Nebenſtimme zweiter Diskant ꝛc. genannt. Eine eigentliche Verdoppelung iſt es nicht, weil jede Stimme andre Toͤne hoͤren laͤßt, nur werden ſie unter eine Klaſſe deßhalb gebracht, weil ſie in Anſehung der Hoͤhe und Tiefe, kurz des Ton-Umfangs immer den menſchli - chen Stimmen, einander gleichen. Sie muͤſſen daher auch einerlei Schluͤſſel und Vor - zeichnung erhalten.

Wie vorher erwaͤhnt worden, iſt die Fuge ein Satz und Gegenſatz, die in ver - ſchiedenen Stimmen nach einander wiederholt, nachgeahmt oder verſetzt werden, und dieſe Art und Weiſe der techniſchen Behandlung eines Satzes erzeugt den Haupt-Charakter einer Fuge.

1) Die Wiederholung nennt man einen Satz, der in den naͤmlichen Toͤnen und der naͤmlichen rhythmiſchen Figur noch einmal wiederholt wird.

2) Eine Wiederbolung in den naͤmlichen Toͤnen aber in einer andern Stimme wird auch Nachahmung genannt. Wird ein Satz noch einmal in der naͤmlichen rhythmiſchen Figur, aber in einer andern Stimme und in andern Toͤnen wiederholt, ſo heißt es ebenfalls eine Nachahmung.

Die Nachahmung iſt ein weſentlicher Theil des Charakters der Fuge, und ge - ſchieht entweder 1) in der Prime, 2) Secunde, 3) Terz, 4) Quarte, 5) Quinte, 6) Sex -te,225te, 7) Septime, 8) Octave, 9) None ꝛc. Sie wird in freie und ſtrenge eingetheilt. Frei heißt ſie, wenn die nachfolgende Stimme die Intervalle der vorherge - henden nicht mit eben den ganzen und halben Toͤnen nachahmt. Streng heißt ſie: wenn die ganzen und halben Toͤne der erſten Stimme in der andern zn eben der Folge nachgeahmt werden. (Wenn es in der Muſik nicht ungluͤckliche. - weiſe 7, ſondern 6 oder 8 ganze Toͤne gaͤbe, ſo wuͤrde eine ſtrenge Fuge zu machen nicht ſchwer ſein.)

Ferner wird die Nachahmung in aͤhnliche oder unaͤhnliche oder verkehrte eingetheilt. Die aͤhnliche iſt: wenn die andre Stimme der erſten mit eben der Be - wegung entweder in der Hoͤhe oder Tiefe antwortet; die unaͤhnliche und verkehrte aber, wenn die andre Stimme der erſten entgegengeſetzt antwortet.

Auch geſchieht die Nachahmung oft ſo, daß die andre Stimme den Geſang oder die Melodie der erſten von dem Ende nach dem Anfange zu wiederholt, und heißt daher die ruͤckgaͤngige Nachahmung. Wird dieſe ruͤckgaͤngige Nachahmung noch dahin abgeaͤndert, daß die Bewegung nach der Hoͤhe oder Tiefe der erſten entgegen geſetzt iſt, ſo heißt ſie eine verkehrte ruͤckgaͤngige Nachahmung.

Wenn die andre Stimme der erſten in veraͤnderter Geltung der Noten nach - folgt, ſo daß eine Note um die Haͤlfte verlaͤngert wird, z. B. aus einem Viertel eine halbe Note, ſo heißt dies die vergroͤßerte Nachahmung. Werden im Gegentheil die Noten der andern Stimme gegen die der erſten Stimme verkleinert, z. B. aus ei - nem Viertel ein Achtel gemacht, ſo heißt dies: die verkleinerte Nachahmung.

Wird die Nachahmung durch Pauſen unterbrochen und aufgehalten, ſo heißt ſie die unterbrochene Nachahmung.

Wenn die erſte Stimme in einem guten Tacttheile (Niederſchlag) anhebt, und die Nachahmung der andern Stimme geſchieht in einem boͤſen (Aufſchlag) und umgekehrt, ſo nennt man dies eine Nachahmung im widrigen oder vermiſchten Tact - theile. Geſchieht die Nachahmung ſo: daß die Stimmen unter ſich verkehrt werden, das heißt, daß die oberſte Stimme zur unterſten, und die unterſte zur oberſten gemacht wird, ſo heißt ſie: eine contrapunctiſche oder verkehrungsfaͤhige Nachahmung.

Alle dieſe Nachahmungen werden auf zweierlei Art ausgefuͤhrt, entweder perio - diſch oder canoniſch. Die erſte Art beſteht darinnen, daß die nachfolgende Stimme die den Nachſatz oder die ſogenannte Antwort fuͤhrt, nur einen kurzen Satz und auf eine nur aͤhnliche Art der erſten Stimme wiederholt.

Die zweite Art beſteht aber in einer ſolchen Nachahmung wenn die zweite Stimme den Geſang (Melodie) der erſten Stimme vom Anfange bis zu Ende von Note zu Note wiederholt.

F f226

Die letzte Gattung wird auch als ein beſondres Muſik Stuͤck betrachtet und Ca - non genannt

3) Wird ein Satz noch einmal in der naͤmlichen rhythmiſchen Figur und in der naͤmlichen Stimme, jedoch in andern Toͤnen wiederholt, ſo nennt man es eine Verſetzung.

Die Wiederholung bedarf keines Beiſpiels denn ſie iſt bekannt genug; die Verſez - zung iſt ſchon in der Lehre des Contrapunkts ausfuͤhrlich genug abgehandelt worden, und die Nachahmung wird außer der vorhergegangenen Erklaͤrung noch in ein paar Beiſpielen anſchaulich gemacht werden.

Die Einrichtung der Fuge beſteht außer dieſen Theilen, die ihren Charakter beſtim - men, noch aus 5 andern weſentlichen Stuͤcken, und zwar: 1) aus den Fuͤhrer (Dux) 2) den Gefaͤhrten (Comes) 3) dem Wiederſchlage 4) der Gegen-Harmonie und 5) der Zwiſchen-Harmonie.

Erklaͤrung derſelben.

1) Der Fuͤhrer iſt in Bezug auf Erfindung, ein Satz, der allen Wiederholungen, Nachahmungen und Verſetzungen zum Grunde liegt, entweder in gleichen oder verklei - nerten oder vergroͤßerten Maaßſtabe oder ruͤckenden Noten ꝛc. je nachdem die Fuge ſtrenge iſt.

2) Der Gefaͤhrte, iſt der Nachſatz oder gleichſam die Antwort des Satzes oder Fuͤhrers, ganz den Fuͤhrer aͤhnlich ſowohl in Anſehung der Figur, der Geltung der No - ten, der Tonart, der Pauſen, als auch der Proportion des Ganges, daß heißt der Ent - fernung der Noten, in der Tonleiter der Dominante nachgeahmt. Z. B. Wenn der Satz oder Fuͤhrer in den Intervallen der Tonari C dur enthalten iſt und man ſetzt die Intervalle der Tonleiter der Dominante darunter, ſo ſieht man welche Toͤne des Gefaͤhrten den Toͤnen des Fuͤhrers antworten koͤnnen als:

oder

Man ſieht hieraus, daß die Secunde und Sexte, Terz und Septime, und die Quarte und Quinte der Octave einander antworten koͤnnen. Es geſchieht auch, daß die Sexte mit der Terz, und die Quinte mit der Secunde ꝛc. beantwortet werden kann.

227

3) Der Wiederſchlag beſteht in der Anordnung, wie der Fuͤhrer und Gefaͤhrte durch das ganze Stuͤck hindurch eintreten, und in welcher Ordnung beide in verſchiedenen Stimmen mit einander abwechſeln. Z. B. Wenn der Discant mit dem Fuͤhrer eingetreten iſt und der Gefaͤhrte im Alt geantwortet hat, fer - ner wenn der Fuͤhrer wieder im Tenor eingetreten iſt, und der Gefaͤhrte mit dem Baße geantwortet hat, ſo muß dieſe Anordnung durchgefuͤhrt werden. Es kommt dabei dar - auf an fuͤr wie viel und fuͤr welche Stimmen die Fuge geſchrieben werden ſoll.

4) Die Gegen Harmonie iſt ganz die naͤmliche wie die im Contrapunkte die dem feſten Geſange entgegengeſetzt wird, nur mit dem Unterſchiede, daß ſie als Begleitung betrachtet, in groͤßern Noten als der Fuͤhrer oder Gefaͤhrte hat, beſtehen muß, wenn nicht ein beſondrer Zweck es verlangt.

Dieſe Gegenharmonie nimmt ihren Anfang, ſobald der Gefaͤhrte eintritt.

Iſt die Fuge dreiſtimmig, und die zweite Stimme hat ihren Satz vollbracht, ſo muß ſie ſich mit der erſten vereinigen, wenn die dritte den Satz anhebt. Iſt ſie vier - ſtimmig, und die dritte Stimme hat ihren Satz ausgefuͤhrt, ſo muß ſie ſich mit der zweiten vereinigen, wenn die vierte ihren Satz anfaͤngt.

5) Die Zwiſchen Harmonie faͤngt da an, wo die Gegen Harmonie aufhoͤrt, und iſt mithin eine Fortſetzung derſelben, die ſo lange dauert, bis der Fagenſatz wieder eintritt. Sie muß ebenfalls, wie die Gegenharmonie, aus der Natur des Hauptſatzes fließen und mit der Harmonie uͤbereinſtimmen, die dem Hauptſatze entgegengeſetzt wird.

Die Zwiſchenſaͤtze brauchen nicht ſtets vollſtimmig zu ſein, ſondern es koͤnnen eine oder zwei Stimmen die Gegen Harmonie fortſetzen oder zuſammen ſpielen oder nach und nach verſchwinden, ſo daß der Hauptſatz recht uͤberraſchend eintreten kann. Die Zwiſchen-Harmonie ſoll nicht lang ſein. Man nimmt ſie am ſchicklichſten aus dem Hauptſatze.

Wie ſchon erwaͤhnt iſt, koͤnnen die Fugenſaͤtze in allen Toͤnen der Tonart anfan - gen und ihre Nachahmungen in den beantwortungsfaͤhigen Toͤnen nachfolgen, und das Verfahren iſt im allgemeinen ganz ſo, wie es bei den Contrapunkten in der Octave, in der Secunde ꝛc ſtatt findet. Ferner koͤnnen ſie in den alten Tonarten, als: der do - riſchen, phrygiſchen, lydiſchen, mixolydiſchen, aeoliſchen und joni - ſchen durchgefuͤhrt werden. Endlich koͤnnen ſie chromatiſch und auch vermiſcht ver - fertigt werden. Alle dieſe Arten Fugenſaͤtze ſcheinen keines Beiſpiels zu beduͤrfen, weil ihre woͤrtlichen Benennungen ſchon einen deutlichen Begriff gewaͤhren. Eine Bemer - kung, die bei Verfertigung der Fuge von großem Nutzen ſein kann, iſt dieſe: daß das Thema oder der Satz immer ſo ſtrenge als moͤglich durchgefuͤhrt werde und daß es nicht ſchadet, wenn der Fugenſatz in einer Stimme unterbrochen und in eine andere verſetzt wird, wenn man das Thema nur immer hoͤrt.

F f 2228

Alle bisher genannte weſentliche Theile ſollen in nachſtehender Fuge bemerkt und am Ende derſelben mit Marpurgs eignen Worten erklaͤrt werden.

Dreiſtimmige chromatiſche Fuge. *)Das × zeigt an, wie die Stimmen eintreten, welche Anordnung man auch Wiederſchlas nennt. Die Zahlen 1 und 2 zeigen den erſten und zweiten Satz (Subject) an.

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Dieſe dreiſtimmige Fuge enthaͤlt zwei Subjekte, (Saͤtze) die nach dem doppelten Contrapunkte in der Octave unter ſich verkehrt werden. Der andre Satz hebt in eben der Stimme an, worinnen der Haupt-Satz angefangen hat, und zwar in der Mitte der Wiederholung deßelben in der oberſten Stimme, wie man in dem Tacte (c) ſehen kann. Nachdem beide Saͤtze zu Ende gefuͤhrt ſind, wird im Tacte (e) ein Zwiſchenſatz gemacht, der aus einem aus dem Hauptſatze entlehnten und in die Gegenbewegung verſetzten Gange beſteht. Dieſer erſcheint zuerſt in der Unterſtimme, wird aber gleich darauf in ebendem - ſelben Tacte von der oberſten nachgemacht, worauf in dem folgenden bei (f) die beiden Saͤtze, jedoch umgekehrt, wieder eintreten, indem der Hauptſatz unten, und der Gegen - ſatz oben zu ſtehen kommt.

Nach dieſem wird wieder ein Zwiſchenſatz gemacht, der von der letzten Haͤlfte des Tacts (g) anhebt und in den zwei darauf folgenden fortgeſetzt wird. Die Klauſel, die vermittelſt der Rachahmung in dieſem Zwiſchenſatze durchgearbeitet wird, iſt mit Zeichen (×) bemerkt und man kann die chromatiſchen Gaͤnge dagegen zugleich beobachten.

Bei der Cadenz (k) hebt der Baß den erſten Hauptſatz und ein Viertheil ſpaͤter, folglich in Arſi in der Gegenbewegung, der Diskant denſelben an. Beide aber ver - kuͤrzen ihn: worauf aber am Ende des Tacts (k) der Diskant den Hauptſatz in der ei - gentlichen Bewegung jedoch in Arſi faßt, und nachdem er ihn in dem folgenden geen - digt, die letzte Haͤlfte des Hauptſatzes, naͤmlich den chromatiſchen Theil deſſelben in dem Tacte (m) geſchwind darauf ergreift, waͤhrend die Mittelſtimme die ſchon bekannte und hier wieder mit Zeichen (×) bemerkte Clauſel anhebt, aus welcher dann wieder ein neuer Zwiſchenſatz erwaͤchſt.

G g234

Bei dem Tacte (o) hebt die Mittelſtimme aufs neue das Hauptthema an, und der Diskant folgt in enger canoniſcher Nachahmung in Arſi ſogleich eine Quinte hoͤher mit demſelben nach. Da tritt denn am Ende dieſes Tacts im Baße der zweite Hauptſatz dagegen hervor, worauf wieder ein Zwiſchenſatz folgt, der aber durch den im Tacte (r) eintretenden Hauptſatz wieder aufgehoben wird. Der Alt hebt denſelben darinnen in der Gegenbewegung an, und ein Viertheil ſpaͤter, alſo in Arſi, folgt der Baß vermittelſt der engen Nachahmung in eben dieſer Bewegung mit ihm nach. Der Diskant ſcheint ſich auch in dieſen Streit miſchen zu wollen, thut aber nichts weiter, als daß er mit dem Satze in verſchiedener Bewegung ſpielt, bis das Haupt-Thema in der eigentlichen Be - wegung, in der letzten Haͤlfte des Tacts (s) im Baße wieder eingefuͤhrt, und kurz dar - auf zu Ende dieſes Tacts auf deßen letzten Viertel, alſo in Arſi, vermittelſt der Nachah - mung in der Octave von der Oberſtimme nachgemacht wird. An beiden Orten aber iſt das Thema verkuͤrzt. Darauf hebt die Mittelſtimme in dem Tacte (t) nach der Viertel - pauſe eine aus dem Hauptſatze entſtandene kleine Form an, welche vermittelſt der Nach - ahmung in den uͤbrigen beiden Stimmen, von der unterſten in Theſi und von der ober - ſten in Arſi ſogleich wiederholt, und eine Zeitlang zwiſchen allen drei Stimmen, wie durch Zeichen (×) bemerkt iſt, durchgefuͤhrt und durch andre dazukommende geſchickte Gaͤnge und Nachahmungen bis auf den Tact (z) fortgeſetzt wird, wo die Mittelſtimme den Hauptſatz wieder anhebt aber nicht vollfuͤhrt; und der Baß in Arſi darauf ein Vier - tel ſpaͤter eben denſelben in der Gegenbewegung faßt und ebenfalls verkuͤrzt; wo aber endlich der Diskant den Hauptſatz ordentlich ergreift und damit die Fuge ſchließt, nach - dem ſich im Tacte (aa) zuvor der zweite Satz noch einmal dagegen hat hoͤren laßen.

Aus dieſer Fuge ſelbſt und aus deren Erklaͤrung hofferich, laͤßt ſich ſchon ſo viel ent - nehmen, um ſich ſelbſt an eine dergleichen Arbeit wagen zu koͤnnen, denn aufrichtig wird wohl jeder geſtehen, daß die mehrſten Regeln nur erſt bei eignen Arbeiten deutlich und klar hervortreten, und daß man ſich an einige auch nicht ſo ganz ſtrenge binden kann, wenn man um ihrentwillen nicht auch die Schoͤnheiten der Muſik mit entbehren will.

Bevor ich die Abhandlung der Fuge verlaße, erlaube ich mir nur noch etwas uͤber zwei Gegenſtaͤnde zu ſagen, die gewoͤhnlich unter dem Titel der Fuge mit abgehandelt werden. Sie ſind: das Thema und die Tonſchluͤße.

a) Das Thema.

Die aͤltern Componiſten ſetzten bei jedem Stuͤcke ein Thema feſt, dies heißt: ſie nahmen den Anfang eines Stuͤcks, und zwar den rhythmiſchen Karacter des erſten Saz - zes und des darauf folgenden Gegenſatzes als Norm an und fuͤhrten ihn durch das ganze Stuͤck hindurch. Die Fuge beſonders wurde ſtrenge darnach gebildet. In derſel - ben nannte man den Satz: Dux, (Fuͤhrer) und den Gegenſatz Comes, (Antwort), und235 fand, daß; wenn man dieſe rhythmiſchen Normen durch alle Stimmen, und zwar theils in vergroͤßerten theils in verkleinerten, theils in ruͤckenden, theils in gebundenen Noten ꝛc. hindurch fuͤhrte, man nicht Gefahr lief, aus dem Karacter des Stuͤcks zu fallen. Die Fuge wurde mithin nach und nach in alle andre Gattungen von Muſik - ſtuͤcken, die einigermaßen Anſpruch auf Vollkommenheit machten, uͤbertragen. Die neu - ern Componiſten beobachten zwar dieſes Verfahren auch, aber mehr aus Gefuͤhl als aus Grundſatz, weil ſie ſich fuͤr den Zwang, den ihnen dieſe Beobachtung auflegt, nicht entſchaͤ - digen zu koͤnnen glauben und befuͤrchten, die ſchoͤnſten Ideen aufgeben zu muͤßen. Wie vor - theilhaft die Beobachtung des Hauptcharakters iſt, kann aus den Werken Glucks, Haͤndels ꝛc., deren Muſik allen Nationen und zu allen Zeiten gefallen wird, bewieſen werden. Und worinnen beſtehen die uns ſo ſehr ergreifenden Schoͤnheiten der Gluckſchen Opern an - ders als in der Kunſt: den Ausdruck der Leidenſchaften, der Gefuͤhle, in fugirten Saͤtzen nach einem zweckmaͤßigen Thema zu bewirken und den Toͤnen der Stimmen; ſie moͤgen Vocal - oder Inſtrumental-Stimmen ſein, Leben und einen Drang zu geben um ſich wechſelſeitig im Ausdrucke zu uͤbertreffen, indem ſie einander uͤberſteigen oder nachahmen.

Wie weit die Vorſchrift: das Thema durch ein ganzes Stuͤck durchzufuͤhren, zulaͤßig iſt, kann nicht genau beſtimmt werden, weil alles darauf ankommt, zu welchem Zwecke das Muſikſtuͤck beſtimmt iſt. Es giebt Faͤlle, wo das Thema nur in wenig Stellen hoͤr - bar werden kann. Z. B. in der Oper, wo der Rhythmus einer Arie oft ſo ſchnell ab - wechſelt, daß der Componiſt nicht im Stande iſt, den Verſen das Thema anpaßen zu koͤnnen. Es muß daher dem Urtheile, der Erfahrung und dem Geſchmacke des Compo - niſten uͤberlaßen bleiben, wie weit er ſich von dem feſtgeſetzten Thema entfernen kann und will.

b) die Tonſchluͤße.

Es iſt zwar ſchon unter dem Titel: Von der Melodie verſchiedenes beruͤhrt wor - den, was auch Bezug auf die Tonſchluͤße hat, weil ſie zur Diſtinction der rhythmiſchen Abſchnitte und der Accente gebraucht werden.

Sie beſtehen in dem Gebrauche einiger Intervalle, vermittelſt welcher eine Harmo - nie oder vielmehr der Abſchnitt einer Melodie oder ein ganzes Muſikſtuͤck geendet wer - den kann. Jeder Tonſchluß iſt entweder vollkommen oder unvollkommen. Sie ſind leicht zu unterſcheiden, weil es dabei durchaus auf den Grundton ankommt.

Ein vollkommener Tonſchluß iſt nur derjenige zu nennen, der durch den Dreiklang geſchieht, in welcher Tonart oder Harmonie es auch ſei; auch iſt es gleich - viel, ob ſich die Melodie in der Octave oder Quinte oder Terz oder Prime ſchließt.

Ein unvollkommener Tonſchluß iſt derjenige, wenn der Abſchnitt einer Me - lodie durch den Grundbaß des Sexten oder Sext-Quarten-Accords bezeichnet wird, derG g 2236oberſte Ton mag ſich in den Intervallen der Octave oder der Quinte oder der Terz oder der Prime befinden, und die Harmonie entweder eine Primen oder Dominanten-Har - monie, oder auch Quarten-Harmonie ſein.

Zu den Tonſchluͤſſen wurden ſonſt noch einige Intervalle gerechnet, die zur Beglei - tung oder Vorbereitung dienten und zufaͤllige oder willkuͤhrliche genannt wurden, ſie gehoͤren aber weder zu einem vollkommenen noch zu einem unvollkommenen Tonſchluße.

Bei dieſer Gelegenheit finde ich Veranlaſſung, ein paar Worte uͤber die Vorberei tung mancher Intervalle zu einem Harmonieſchritte, zu ſagen. Ich leugne nicht, daß ch nicht begreifen kann, wie man jemals auf die Idee kommen konnte, Toͤne vorzube - reiten daß ſie unſerm Gehoͤre nicht zu hart fallen ſollten, weil ich nicht einſehe, wie man Toͤne waͤhlen konnte die nicht zur Harmonie gehoͤrten oder warum man ſie vorbereitete wenn ſie dazu gehoͤrten. Dieſe Vorbereitungen koͤnnen hoͤchſtens nur die Melodie einer Stimme betreffen, um zwei unzuſammenhaͤngenden Toͤnen eine ſanftere Verbindung zu geben.

Endlich wage ich auch noch eine alte Gewohnheit anzugreifen, die weder durch un - ſer Gefuͤhl noch ſonſt einen Grund gerechtfertigt werden kann. Ich habe naͤmlich oft, beſonders in Leipzig von den Thomas Schuͤlern, Choraͤle in Moll Tonarten ſingen hoͤren, die durch den herrlichen Ausdruck jedes Gemuͤth ergreifen mußten, aber jedes - mal mit einem Schluße in der Dur Tonart geendigt wurden. Warum dieſer das er - regte wehmuͤthige Gefuͤhl ſo ſehr beleidigende Schluß? Welche Regeln koͤnnen wohl hinlaͤnglich ſein, eine ſolche widernatuͤrliche Stoͤrung unſerer Gefuͤhle, zu entſchuldigen?. Ich will indeßen auch dieſen Fall der geneigten Entſcheidung des Leſers uͤberlaſſen und gern eine uͤberzeugende Belehrung hieruͤber annehmen.

Neuntes Kapitel. Vom Canon.

Der Canon iſt ſo wie die Fuge eine Gattung der Setzkunſt. Die canoniſche Schreibart, wenn man in einem Muſikſtuͤcke nur die Form und einzelne Theile des Canons benutzt, iſt wie die fugenartige; die ſich durch einen intereßanten Wettſtreit der Stimme vor jeder andern Schreibart auszeichnet, wichtig genug daß man ſie kennen lernt, und wo es der Zweck erfordert, benutzt.

Wenn etwas in einem langen Zeitraume Bewunderung erregt, ſo ſuchen viele ihren Scharfſinn daran zu uͤben und die Sache von allen Seiten zu betrachten. Einen ſolchen Gegenſtand hat auch der Canon abgegeben und es ſind aus der urſpruͤnglichen Erfin -237 dung eine Menge Kunſtſtuͤcke entſtanden, die in fruͤhern Zeiten jeder wiſſen mußte, der irgend einen Anſpruch auf Verſorgung oder Ehre machen wollte. Jetzt ſieht man weni - ger darauf, weil dergleichen Muſikſtuͤcke nur noch ſelten vorkommen und man ihnen we - nig Geſchmack abgewinnen kann. Daß ſie aber mit Nutzen angewendet werden koͤnnen hat Mozart in Belmonte und Conſtanze und Kunze im Feſt der Winzer hinlaͤnglich dar - gethan. Da uns nun der Canon noch Vergnuͤgen gewaͤhren kann wenn er gut iſt, ſo iſt es auch noͤthig, ihn, wenn auch nur kurz, doch aber mit zu erklaͤren.

Der Canon iſt ein Wechſelgeſang von wenigſtens zwei Stimmen, in welchen eine den Satz der andern wiederholen kann.

a) Von den verſchiedenenen Arten des Canons.

Er wird in zwei Arten eingetheilt und zwar, in den offenen oder aufgeloͤßten und in den geſchloßenen.

Ein offener iſt derjenige, wo man ſowohl den Satz der Hauptſtimme als auch den der Folgeſtimme uͤber einander (in Partitur) aufſchreibt. Der geſchloßene aber iſt ein ſolcher, wenn man nur den Satz der Hauptſtimme niederſchreibt und die Saͤtze der andern Stimmen ſuchen oder errathen laͤßt. Der letzte wird daher auch Raͤth - ſel-Canon genannt. Unter die zwei Arten gehoͤren alle nachſtehende Gattungen.

    • 1. Der Canon im Einklange
    • 2. Der Canon in der Octave
    mit verſchiedenen Saͤtzen und Gliedern.
  • 3. Der Canon im Einklange in der Secunde, Terz, Quarte, Quinte, Sexte und Septime mit einem Satze.
  • 4. Der Cirkel Canon durch die Toͤne.
  • 5. Der vergroͤßerte und verkleinerte Canon.
  • 6. Der ruͤckgaͤngige Canon.
  • 7. Der doppelte Canon.
  • 8. Der Canon, der durch den Zuſatz einer Terz drei und vierſtimmig gemacht werden kann.
  • 9. Der Canon uͤber oder unter einen feſten Geſang.
  • 10. Der Canon mit einer Begleitungsſtimme.

Da die vorzuͤglichſte Eigenſchaft eines Canons immer nur in der Nachahmung beſteht, und dieſe theils in Anſehung der Intervalle in welcher die Folgeſtimme anfan - gen kann, theils in Anſehung des Tacttheils, der Bewegung, der Groͤße der Noten ꝛc. verſchieden ſind, ſo giebt es auch verſchiedene Arten und Gattungen deſſelben.

Da ferner ein Canon nicht allein aus zwei, ſondern aus drei, vier und meh - rern Stimmen beſtehen kann, ſo giebt es auch zwei, drei, vier und mehrſtim - mige.

238

Treten die Folgeſtimmen nach Vorſchrift einer einzigen Hauptſtimme nach - einander ein, ſo wird ein ſolcher Canon ein einfacher genannt. Treten die Folge - ſtimmen nach Vorſchrift zweier Hauptſtimmen ein, ſo nennt man ihn einen dop - pelten Canon.

Giebt es drei Hauptſtimmen, ſo erhaͤlt er den Namen eines dreifachen ꝛc.

Wenn mehr als eine Hauptſtimme vorhanden iſt, ſo verſteht es ſich von ſelbſt, daß man ſie alle in verſchiedenen Syſtemen uͤber oder untereinander ausſetzen muß.

Die canoniſche Nachahmung kann mit allen Intervallen einer Tonart geſchehen, daraus entſtehen 8 Haupt-Gattungen, als:

der Canon im Einklange, in der Ober und Unter-Secunde, Ober und Unter-Terz, Ober und Unter-Quarte, Ober und Unter-Quinte, Ober und Unter-Sexte, Ober und Unter-Septime, Ober und Unter-Octave.

Ein Canon iſt entweder ſo beſchaffen, daß er vermittelſt eines Anhanges zum Schluße gebracht wird, oder ohne Ende ausgeuͤbt werden kann. Da bei einem Ca - non der letztern Art die Stimmen immer wieder nacheinander in den Anfang eintreten, folglich wie im Kreiſe oder Zirkel zuſammenlaufen (weshalb ein ſolcher Canon auch ein Zirkel-Canon genannt wird) ſo ſieht man leicht ein, daß er ohne Ende iſt.

Bei einem Zirkel Canon kann man, wenn die Stimme wieder in den Anfang ein - tritt, entweder mit eben und denſelben Intervallen, oder mit andern, entweder eine Se - cunde, Terz, Quarte, Quinte, Sexte oder Septime tiefer oder hoͤher anfangen, und da derſelbe alle 12 halbe Toͤne ſeiner Tonart durchlaͤuft, ſo wird er auch ein Zirkel - Canon durch die Toͤne, oder canon circularis per tonos, genannt.

Man pflegt die Canons auch in eigentliche oder gebundene, und in unei - gentliche oder ungebundene einzutheilen. Ein eigentlicher oder gebundener iſt der - jenige, wo die Folgeſtimme der vorhergehenden alles auf aͤhnliche Art nachahmt; ein uneigentlicher aber iſt ein ſolcher, worinnen dies nicht geſchieht, wo z. B. die Folgeſtimme die Quarte in die Quinte, oder die Quinte in die Quarte veraͤn - dert, ſo wie es mit den Gefaͤhrten in der Fuge geſchieht. Gewißermaßen gehoͤren alle endliche Canons zu den uneigentlichen oder ungebundenen. Ahmt die Folgeſtimme den Satz der vorhergehenden vergroͤßert oder vermindert nach, ſo heißt ein ſolcher Canon im erſten Falle ein Canon per augmentationem, im zweiten Falle ein canon per diminutionem.

Wenn in einem Canon die Folgeſtimme die vorhergehende in einer unaͤhnlichen Bewegung, als: in der verkehrten, ruͤckgaͤngigen oder in der ruͤckgaͤngigen Gegenbe - wegung nachahmt, ſo nennt man ihn einen Canon in der widrigen, ruͤckgaͤn - gigen oder ruͤckgaͤngig verkehrten Bewegung.

Es war ſonſt, und iſt auch noch Gebrauch, daß man uͤber einen zum Grunde239 liegenden feſten Geſang einen Canon macht. Dieſer feſte Geſang kann nicht al - lein im Baße, ſondern auch oben, in der Mitte, oder wo man will, zum Grunde ge - legt werden.

Es giebt auch Canons, in welchen die Hauptſtimme oder die Folgeſtimme, oder beide zugleich eine terzweiſe mitlaufende Nebenſtimme zulaͤßig machen.

Ein Canon, in welchen die Folgeſtimmen mit verſchiedenen Intervallen eintreten, heißt ein vermiſchter oder ein Canon mit ungleichen Intervallen.

Ein Canon endlich, welcher verſchiedener Aufloͤſungen faͤhig iſt, wird ein Canon polymorphus (von πολὺς viel, und μορφὴ die Geſtalt) genannt. Man ſieht aus dieſen verſchiedenen Arten von Canons, welch ein weites Feld der Componiſt, der darin - nen arbeiten will, hat, um ſeinen Scharfſinn zu uͤben, und daß nur eigne Verſuche ihn die Ausuͤbung dieſer Vorſchriften erleichtern und einen ganz deutlichen Begriff gewaͤh - ren koͤnnen. Es iſt nicht wahrſcheinlich, daß heutigen Tages jemand ſein Gluͤck in der ſtrengen Ausfuͤhrung eines jeden dieſer genannten Canons verſuchen wird, ſondern es iſt mehr zu vermuthen, daß er die Quinteſſenz daraus ziehen und ſolche Canons verfertigen wird, worinnen wieder andre Regeln zuſammentreten und Ausnahmen bilden werden.

Um jedoch die verſchiedenen Arten nicht nur genannt zu haben, ſehe ich mich ver - pflichtet, auch eine kurze Anweiſung, wie ſie verfertigt werden, zu geben.

1) Der Canon im Einklange mit verſchiedenen Saͤtzen oder Gliedern.

Es iſt vorlaͤufig zu bemerken, daß man; wenigſtens ehe man der canoniſchen Schreibart ganz gewachſen iſt, ſich aller kuͤnſtlichen Melodien enthalte. Wenn der Canon im Einklange aus verſchiedenen Saͤtzen und Gliedern beſteht, ſo iſt die leich - teſte Art ihn anzufertigen dieſe: daß man nach Anzahl der feſtgeſetzten Stimmen, eine Compoſition von etlichen Tacten, worinnen eine Stimme von der andern in der Fort - bewegung der Noten ſo viel als moͤglich unterſchieden ſein muß, erſinnt und ſie in Partitur bringt. In Anſehung der Harmonie koͤnnen alle Arten der Intervalle ange - bracht werden, weil ſie durchgaͤngig einerlei bleiben. Wenn man damit fertig iſt, ſo bringt man alle dieſe verſchiedenen Stimmen, wovon jede einen Satz (Thema oder Glied) ausmacht, nacheinander auf ein Linien-Syſtem, bei welchen Verfahren es einer - lei iſt, ob dieſe oder jene Stimme den Canon anhebt. Doch muß man ſie ſo hinterein - ander ſetzen, daß die Geſetze eines Duo nicht dabei leiden, das heißt: daß, wenn die zweite Stimme eintritt, man die erſte mit der dazu bequemſten Stimme den Canon fortſetzen laße, daß keine leeren oder ungeſchickten Gaͤnge zum Vorſchein kommen. Denn was vielſtimmig wohl klingt, kann einzeln ſchlecht klingen. Iſt dies geſchehen, ſo zeigt man den Eintritt der Folgeſtimmen durch gewoͤhnliche Zeichen bei den gehoͤri -240 gen Noten an, und damit iſt der Canon fertig Uebrigens ſind alle Compoſitionen die - ſer Art, Zirkel-Canons.

Ein Beiſpiel wird die Erklaͤrung deutlicher machen.

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Dies iſt die Compoſition oder der Satz zu einem Canon von 3 Stimmen. Aus nachſtehender Ausfuͤhrung wird man nun erſehen, wie die Stimmen eintreten und ein - ander nachfolgen. Dabei iſt zu bemerken, daß man gewoͤhnlich mit dem unterſten Sy - ſteme anfaͤngt; doch iſt dies gerade kein Geſetz.

Ausfuͤhrung.

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241
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Man wird hierbei bemerken, daß ſich die Stimmen zwar wechſelweiſe uͤberſteigen und bald dieſe, bald jene den hoͤchſten, mittelſten und tiefſten Satz hat, daß die Inter - valle aber immer einerlei bleiben und bei jeder Wiederholung die Harmonie in keinen andern Geſtalten zum Vorſchein kommt, als in der Partitur des zuerſt aufgefuͤhrten Satzes angegeben iſt. Dieſer Canon iſt ohne Ende wenn man immer wieder von vorn anfaͤngt, ſoll er aber zu Ende gebracht werden, was doch einmal geſchehen muß, ſo kann man dies bei einer bequemen ſchlußartigen Harmonie thun, nur muß dies, wenn es ein Geſang Canon iſt, vorher ausgemacht werden, damit alle Stimmen zugleich auf - hoͤren und nicht etwa eine weiter ſingt und das Stuͤck laͤcherlich macht.

H h242

2) Der Canon in der Octave allein mit verſchiedenen Saͤtzen oder Gliedern.

Da in einem Canon dieſer Art die verſchiedenen Saͤtze ad Octavam unter ſich zu ſtehen kommen, ſo muß derſelbe auch nach den doppelten Contrapunkte in der Octave verfertigt werden. Man erſinnt naͤmlich einen zwei, drei oder vierſtimmigen contrapunctiſchen Satz dieſer Art, ſchreibt ihn in Partitur, und wenn alle Stimmen gegeneinander ihre Richtigkeit haben, ſo bringt man die verſchiedenen Saͤtze, wie es ſich am beſten ſchickt, nacheinander auf ein Linienſyſtem, macht die Zeichen der Eintritte der Stimmen oben oder unten dabei, je nachdem die folgenden Stimmen der anfan - genden eine Octave oder eine Decima Quinta hoͤher oder tiefer folgen ſollen, und da - mit iſt der Canon fertig. Er iſt wie der vorhergehende ebenfalls wieder ohne Ende und der Schluß muß bei einer ſchicklichen Harmonie geſchehen.

Beiſpiel.

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Ausfuͤhrung.

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243
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H h 2244
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Es iſt nicht moͤglich in dieſen Blaͤttern auch die uͤbrigen 8 Arten von Canons wie ſie vorher namentlich angegeben ſind, ſpeziſiſch zu erklaͤren und mit Beiſpielen zu bele - gen, ich ſehe mich daher genoͤthigt den geneigten Leſer, falls er ſie ebenfalls genau ken - nen lernen will, auf die mehrmals allegirte Abhandlung Marpurgs von der Fuge zu verweiſen.

Schluß der fuͤnften Abtheilung.

Nach Abhandlung aller Contrapunkte, der Fuge und des Canons wird ſich der Le - ſer fragen, zu was deren Kenntniß nuͤtze? Ich vermag nicht, ihm eine beßre Antwort zu geben, als die der Verleger der Marpurgſchen Abhandlung von der Fuge, als Vorwort gegeben hat, und die woͤrtlich ſo lautet: Das Studium des einfachen und doppelten Contrapunkts, der[Fuge] und des Canons iſt dem aͤchten Freunde und Ken - ner der Muſik ein unentbehrliches Mittel, ſeiner Kunſt in ihrem ganzen Umfange Meiſter zu werden. Alle große neuere Tonkuͤnſtler, z. B. Mozart, J. Haydn*)Am mehreſten offenbart ſich der Zauber der auf die contrapunktiſche und ſugirte Schreib - art ſich gruͤndenden Muſik, bei Gluck in ſeinen Opern Iphigenia, Armide ꝛc. be - weiſen an ſich ſelbſt, daß das Genie in vertrauter Bekanntſchaft mit dem Syſtem der Harmonie, wie es ſich in den Werken der fugirten und canoniſchen Schreibart offenba - ret, ihren Schoͤpfungen die Kraft und Wuͤrde zu geben vermag, womit ſie den Zeit - wechſel trotzen. Unter talentvollen Tonſetzern ſtehen nur dem Meiſter im Contrapunkte alle Mittel der Tonkunſt zu Gebote. Unter der ſtrengen Regel hat ſich ſeine Freiheit gebildet, und er folgt den Geſetzen der Harmonie, ohne in ihren Feſſeln zu gehen.

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Sechste Abtheilung. vermiſchten Inhalts.

Erſtes Kapitel. Ideen uͤber den Ausdruck.

Die Ueberſchrift dieſes Kapitels giebt zwar ſchon zu erkennen, daß hier nicht die Rede von demjenigen Ausdrucke iſt, der den Spieler angeht, ſondern von dem, welchen der Componiſt zu beobachten hat. Es iſt darunter die Faͤhigkeit oder Kunſt zu verſtehen, die Gedanken; (von welchen wir glauben, daß ſie von uns durch Noten oder andere zur muſikallſchen Schreibart gehoͤrende Huͤlfsmittel ausgedruͤckt, andern ein angeneh - mes Gefuͤhl erwecken,) ſo zu ordnen, wie es unſer Gefuͤhl, die Cultur und die Gat - tung der Muſik ſtreng erfordert. Es geht aus dieſer Explication hervor, daß; wenn die Gedanken urſpruͤnglich gemein oder nur gewoͤhnlich von unſern innern Sinne fuͤr Mu - ſik erzeugt werden, die Kunſt ſie zwar verbeſſern und verſchoͤnern, ihnen jedoch keinen andern Effect mittheilen kann als denjenigen, der ſich auf die Wahl der Toͤne hinterein - ander (melodiſch) und uͤbereinander (harmoniſch) rhythmiſch geordnet, gruͤndet. So wie nun nicht alle Gedanken, die unſere Phantaſie aufbringt, geſchickt und homogen ſind, in einem Gedichte oder einer andern guten Schrift aufgenommen werden zu koͤn - nen, ſelbſt wenn ſie von ausgezeichneter Schoͤnheit ſind, ſo koͤnnen auch nicht alle Ge - danken in der Muſik geradehin ergriffen und einem Muſikſtuͤcke einverleibt werden, wenn ſie alle vereint den Total Eindruck irgend einer[Empfindung] bewirken ſollen. Und daher entſteht der Unterſchied zwiſchen einem großen und mittelmaͤßigen Componiſten und die Verwunderung der letztern, wenn ihre Werke kalt aufgenommen werden und bald nach ihrer Geburt kraͤnkeln und vergehen. Wenn wird wohl eine Zeit kommen, wo die Muſik des Don Juan verſchwinden wird? und wenn wird wohl das zweite Fi - nale deßelben ein andres Gefuͤhl als ein Grauſen erregen? und wem werden in der246 Scene des ſteinernen Gaſtes mit den D. Juan, (wie ſich Leſing uͤber das erhabene und furchtbare des Shackespeare ausdruͤckt) nicht die Haare zu Berge ſtehen, ſie moͤgen ein glaͤubiges oder unglaͤubiges Haupt bedecken? Es iſt die Macht des Gefuͤhls und die Wahl des Ausdrucks, was dieſen großen Mann, deſſen Grab man nicht einmal mehr kennt, vor allen andern ſo ſehr auszeichnet. Wie man zu einem ſolchen tiefen Gefuͤhle gelangt was uns nicht angebohren iſt, weiß ich nicht, aber wie ein von Natur gutes Gefuͤhl fuͤr Muſik veredelt und verfeinert werden kann, dazu iſt eine Moͤglich - keit vorhanden, wenn wir uns nur ſonſt nicht durch National-Manieren und der Ver - gaͤnglichkeit unterworfene Lieblings-Effecte verleiten laßen, von der wahren Bahn des richtigen Ausdrucks abzuweichen, und vor den Muſtern die uns dieſer große Mann hinterlaſſen hat, erſchrecken; denn es iſt gewis, daß nicht tiefes Gefuͤhl und eine uͤber - aus lebhafte Phantaſie die Wunder die wir anſtaunen allein bewirkt haben, ſondern auch und zwar vorzuͤglich die große Kenntniß und Umſicht der techniſchen Theile die er ganz in ſeiner Gewalt hatte, wie dies bei jedem großen Genie: wenn man nicht die blos natuͤrlichen Anlagen darunter verſtehen will, der Fall ſein muß. Um wieder auf den Ausdruck zuruͤckzukommen, ſo iſt zu bemerken, daß er ein ſehr wichtiger Gegenſtand in der Muſik iſt und in zwei Hauptverrichtungen beſteht, 1) in den Beſtreben, ſolche Ge - danken zu erfinden wie ſie zu den beabſichtigten Zwecke und Effecte noͤthig ſind 2) in der Kenntniß, die Gedanken durch Noten ſo auszudruͤcken um ihnen die intereßanteſte Seite abzugewinnen. Beides nennt man im Allgemeinen immer: die Schreibart, den Styl eines Componiſten. Den erſten Punkt deutlich zu machen, erlaubt der Raum die - ſer Blaͤtter nicht, und der zweite ſetzt eine genaue Kenntniß aller bisher abgehandelten Abtheilungen und Kapitel, ſo wie eine klare Vorſtellung, welchen Effect die Ideen auf dieſe oder jene Art ausgedruͤckt machen koͤnnen, voraus. Ob ich nun ſchon das ganze Werk hindurch nicht nur die grammatikaliſche Richtigkeit, die ſchon von vielen gelehrt worden iſt, ſondern auch ſo viel als moͤglich die Schoͤnheit der Muſik vor Augen gehabt, und hin und wieder auf den guten Ausdruck hingedeutet habe, ſo wird man doch wohl noch ſchwerlich im Stande ſein, eher zu einem intereßanten Ausdrucke zu gelangen und einer gewoͤhnlichen Idee beſonders Feuer und Leben geben zu koͤnnen, als bis man den wahren Sinn des Contrapuncts und der ihm untergeordneten Fuge, (deren Abhandlung ſchon vorangegangen iſt) gefaßt hat, um ihn auf das Intereße des Ausdrucks vorzuͤglich mit anwenden zu koͤnnen; und zwar aus dem Grunde, als uns der Contrapunct lehrt, eine Melodie der andern harmoniſch richtig, und rhythmiſch zweckmaͤßig entgegen (ent - weder daruͤber oder darunter) ſetzen zu koͤnnen. Findet man nach allen bisherigen Ab - handlungen und des hierauf folgenden Contrapuncts, als den Inbegriffe der ganzen Setz - kunſt der wie der Riß eines Gebaͤudes zu betrachten iſt, die Mittel des Ausdrucks noch nicht, ſo iſt es eine vergebliche Muͤhe, ſie in etwas andern zu ſuchen. Bei dem247 groͤßten Scharfſinne aber kann ſich uns doch die Frage aufdraͤngen, durch welche tech - niſche Theile der Ausdruck bewirkt wird und wie er beſchaffen ſein muß, wenn er Anſpruch auf die hoͤchſte Idealitaͤt machen will.

Schon im Kapitel: vom Rhythmus iſt bemerkt worden, daß vor allen andern die Gattung des Muſikſtuͤcks und der Charakter deßelben feſtgeſtellt ſein muß, ob der Hauptcharacter ſich uͤber das ganze Stuͤck verbreiten ſoll, oder ob der Zweck oder der Inhalt eines Textes ſo beſchaffen iſt, daß verſchiedene von einander abweichende Ge - fuͤhle es erfordern, auf den Ausdruck beſondrer Stellen das Augenmerk zu richten; denn es iſt nicht gleichviel, eine Muſik zu ſchaffen, der eben ſo gut der Inhalt einer co - miſchen Oper als der Text einer Paßionsgeſchichte untergelegt werden kann. Sind dieſe Fragen feſtgeſtellt, ſo iſt es noͤthig nunmehro ſeine Zuflucht zu den Huͤlfsmitteln der Muſik, die ſehr mannigfaltig ſind, zu nehmen. Das erſte iſt: das Thema in Betreff der Melodie, Harmonie und Rhythmus ſo zu erfinden, daß es dem Zwecke angemeſſen iſt. Die Erfahrung muß die Wahl der Tonart, der Harmonieſchritte, der Melodie und des Rhythmus leiten, denn wir wißen daß die Traurigkeit durch die Moll-Tonarten, eine einfache Melodie, ein langſames Tempo und einen einfachen Rhythmus; die Freude aber durch ein lebhaftes Tempo, in Dur-Tonerten, durch ungezwungene Harmonie-Schritte, leichte gefaͤllige Melodie und lebhaften Rhythmus auszudruͤcken iſt, wir erinnern uns der Eindruͤcke, die ſich unſerm Gefuͤhle irgend einmal durch gewiße Toͤne eingepraͤgt haben, als des Geſanges bei einem Begraͤbniſſe oder einer religioͤſen Gelegenheit, der Toͤne des Sturmes, des Geſanges eines in Gram verſunkenen Menſchen ꝛc., und fuͤhlen genau, wie ſich auch ein erzuͤrnter, ein in Zaͤrtlichkeit ſchmachtender entzuͤckter Menſch ausdruͤck - ken wuͤrde, wenn er ſaͤnge, wir haben eine Ahnung des Ausdrucks der Geiſter, de - ren hohle dumpfe Toͤne uns in der Ballade oder dem Romane geſchildert worden ſind, kurz, wir haben keinen Fall, wo ſich eine Lage des menſchlichen Lebens nicht ausdruͤcken ließe; aber in welchen Grade wir dies empfinden und mit welcher moͤglichen Klarheit wir dieſen unkoͤrperlichen Vorſtellungen ihr Daſein geben, daß ſie bei andern ein noch nicht gehabtes Gefuͤhl erregen, dies iſt die große Aufgabe, die unſre Urtheils - kraft noch nicht ganz geloͤßt hat; denn vor Erſchaffung des Hamlet, des Macbeth, der Leonore, waren dieſe Vorſtellungen von ihnen noch nicht da, und ſie erhielten ihr Da - ſein erſt durch die Art und Weiſe, wie Shakespeare und Buͤrger ſie in ſo außeror - dentlichen Situationen entſtehen ließen. Lebloſe Gegenſtaͤnde laßen keinen Ausdruck ihrer Vorſtellung zu, auch nicht alle die ſich durch Toͤne bemerkbar machen, die Thiere z. B. das Pferd durch das Wiehern ꝛc .. Dergleichen Ausdruͤcke gehoͤren zur muſikaliſchen Ma - lerei, von welchen zu wuͤnſchen waͤre, daß ſie vom Ausdruck in der Muſik ausgeſchloßen bleiben moͤchten. Der Geſchmack, das Gefuͤhl, und die Urtheilskraft muͤßen hierinnen Richter ſein. Welche Harmonien, welche Melodien und welche rhythmiſche Formen an -248 zuwenden ſind, den ſo verſchiedenen dunkeln Vorſtellungen die Sprache zu geben, iſt ſpe - zifiſch anzufuͤhren hier nicht moͤglich und wird auch wohl niemals ganz moͤglich werden, weil alle dieſe Vorſchriften nur in einem Falle guͤltig ſein, in den andern aber gar nicht nuͤtzen koͤnnten.

Wenn unſer Gefuͤhl und die Leidenſchaften aufgeregt ſind, wie es oft im Recitatiy und manchen andern Muſikſtuͤcken der Fall iſt, ſo muß, um dem Ausdrucke Leben und Feuer zu geben, zwar das ganze Gebiet der Toͤne, der Tonarten und Accorde benutzt werden; ſo vielfach aber auch die einzelnen Toͤne und Harmonien zu Melodien und gan - zen Stuͤcken zuſammengeſetzt werden koͤnnen und ſo unendlich auch die Mittel ſind, die uns dazu zu Gebote ſtehen, ſo muͤſſen ſie doch vielen Tonſetzern nicht hinlaͤnglich ſein wenn wir in Betrachtung ziehen, wie heterogen manche Melodien und Harmonien zuſam - mengeſetzt ſind und welchen Aufwand von Accord und Harmonie-Veraͤnderung und ſchwe - ren rhythmiſchen Perisden ſie anwenden um einen ungewoͤhnlichen Effect hervorzubringen. Dieſer ganzer Aufwand bewirkt aber ſelten den Effect welchen wir von ihm erwarten zu koͤnnen glauben, im Gegentheil wird unſere Empfindung ohne Befriedigung hin und her - geworfen. Eine ſolche Schreibart in der Muſik iſt mit der Schreibart der Schrift - ſteller zu vergleichen. Welche unnatuͤrliche Situationen, auffallende Begebenheiten und Ideen ſtellen nicht viele Schriftſteller zuſammen um die Aufmerkſamkeit des Leſers zu feßeln und wie ſehr verfehlen ſie nicht ihren Zweck? Es mangelt ihnen die Einfachheit und Deutlichkeit, auf welche in allen Wiſſenſchaften und Kuͤnſten ſo viel ankommt. Um dieſe weſentlichen Eigenſchaften in der Muſik aber zu erreichen, muß eine beſondere Oe - konomie der Harmonie und des Rhythmus beobachtet werden.

Die Oekonomie der Harmonie beſteht darinnen, daß die Accorde und Harmonien nicht ohne Urſache ſo oft verwechſelt werden ſondern nur dann, wenn die Melodie ent - weder die andern Stimmen erſchoͤpft hat oder einen auffallendern Ausdruck erhalten ſoll.

Die rhyhtmiſche Oekonomie beſteht darinnen, daß die Melodie der Stimmen nicht ohne Noth zerſtuͤckelt und verkleinert oder die Dauer der einzelnen Toͤne gar ins laͤcher - liche eingetheilt werden.

Wenn es bei dem Ausdrucke auf eine lebhafte Phantaſie, eine richtige Urtheilskraft, auf die Kenntniſt des reineu Satzes, die Faͤhigkeit ſich richtig auszudruͤcken (Schreibart) und auf die Oekonomie der Toͤne und rhythmiſchen Formen vorzuͤglich ankommt, ſo ſehe ich mich veranlaßt, eine irrige Meinung zu widerlegen, die darinnen beſteht: die guten Tonſtuͤcke nur als Fruͤchte einer guten Einbildung, und eines ſich ſelbſt unbewußten Zu - ſtandes gluͤcklicher Momente zu betrachten. Dieſe Meinung hat die Kunſt bisher mehr aufgehalten als befoͤrdert, denn die Erwartung gluͤcklicher Momente; die ſo ſchnell ent - fliehen, wird ſo oft getaͤuſcht und die Phantaſie verliert alle Productionskraft wenn ihr die Kunſt nicht zu Huͤlfe kommt.

Es249

Zweites Kapitel. Vom Style oder von der Schreibart der verſchiedenen Muſikſtuͤcke.

Die Kunſt, die Gedanken in der Muſik durch Noten auszudruͤcken gleicht der in der Sprache ſich durch Worte verſtaͤndlich zu machen. Von beiden verlangt man eine gram - matikaliſche Richtigkeit. In der Sprache nennt man ſie Conſtruction; in der Muſik wird ſie reiner Satz genannt und immer unter den Namen Styl mitbegriffen, was aber ganz falſch iſt, denn die wahre Conſtruction der Muſik iſt blos die Art und Weiſe, einzelne Gedanken durch rhythmiſche Formen und Toͤne auszudruͤcken. Der Styl aber iſt 1) eine gewiße Uebereinſtimmung dieſer Formen, durch welche ſich faſt jeder Ton - kuͤnſtler von dem andern in etwas unterſcheidet. 2) der Karakter einer jeden Gattung von Muſik, als der Kirchen, Opern, Concert Muſit ꝛc.

Eine Abhandlung uͤber die Schreibart eines jeden uns als groß bekannten Compo - niſten hier beizubringen, wird man mir gern erlaßen, wenn man bedenkt wie viel dazu gehoͤrt, die Eigenthuͤmlichkeiten nur eines einzigen Componiſten mit Worten zu beſchrei - ben, und daß die beſte Art ihre Schreibart zu benutzen, in dem Studium ihrer Werke ſelbſt, beſteht. Was aber den Styl der verſchiedenen Muſikſtuͤcke in Abſicht auf mate - rielle Behandlung betrifft, ſo laͤßt ſich ſchon eher etwas beſtimmtes daruͤber ſagen.

Alle Tonſtuͤcke, ſie moͤgen Namen haben wie ſie wollen, gehoͤren ihrem Zwecke oder Karacter nach entweder

    • 1) zur Kirchen
    • 2) Opern
    • 3) Concert
    • 4) Kammer
    • 5) Militair
    • 6) Tanz
    Muſik.

Jede dieſer Muſikarten hebt ſich nun durch einen beſondern Karakter hervor, der ſich theils auf die rhythmiſchen Formen, theils auf die Melodien; die wir jeder dieſer Gattung zu geben gewohnt ſind, gruͤndet. Es iſt hier die Gelegenheit zu bemerken, daß die verſchiedene Schreibart eine Folge der Cultur und der Freiheit der Voͤlker iſt, denn wenn ſie Folge unſers Gefuͤhls waͤre, was in ſeiner Unverdorbenheit ſich ſtets gleich bleibt, ſo muͤßten die Voͤlker des Suͤdens nicht von den des Morgenlandes in Hinſicht des Ausdrucks ihrer Leidenſchaften abweichen. Die orientaliſchen Voͤlker ſind gewohnt ihre luſtigſten Lieder und Taͤnze in den Moll-Tonarten und in einer Art rhythmiſchen Form, unſerer Kirchen-Muſik aͤhnlich, zu ſingen und zu ſpielen und ihren Eindruck mit den laͤrmenden Inſtrumenten der Janitſcharen Muſik ꝛc. zu unterſtuͤtzen. Die VoͤlkerJ i250des Suͤdens ſind uͤber dieſe Einfachheit hinweggegangen und haben die Gewohnheit angenommen, ihre verſchiedenen Leidenſchaften in den zwei verſchiedenen Tonarten (der harten und weichen) und durch eigenthuͤmliche rhythmiſche Formen auszudruͤcken. Die Froͤhlichkeit, der Scherz ꝛc. wird bei ihnen ſelten in den Moll-Tonarten und im gebundenen langſamen Style ausgedruͤckt. Auch die Melodien dieſer unterſcheiden ſich von jenem dadurch, daß ihre Toͤne in den Dur und Moll-Tonarten abwechſeln, welche Verſchiedenheit auch gewiß die Haupt-Urſache des Karackters eines Stuͤcks abgiebt. Die Cultur der Muſik hat uns gelehrt, welche Verbindung von Toͤnen zu einer Melodie und welche rhythmiſche Formen dieſe oder jene Empfindung hervorbringen, und derjenige der die Kunſt verſteht, alle Melodien und rhythmiſche Formen eines Tonſtuͤcks nach einem be - ſtimmten Zwecke ſo anzuhaͤufen und kunſtgemaͤß zu ordnen, daß ſie unſerm Gefuͤhle in einen hohen Grade entſprechen, der traͤgt die Palme des Sieges davon.

Wie arm iſt noch die Lehre der techniſchen Theile der Tonſtuͤcke, die unter die ange - zeigten 6 Klaßen gehoͤren! Nur dadurch, daß einige vorzuͤgliche Kuͤnſtler der Muſik neue Bahnen brachen und ihre Stuͤcke uns zu Muſtern hinterließen, iſt die verſchiedene Schreibart erweitert worden. Es iſt zu bewundern, daß die Muſik bei ihrem ungeheuer großen Publikum noch ſo wenig gruͤndlich erkannt wird, und daß ſelbſt geuͤbte Kuͤnſtler die Schreibart als den weſentlichſten techniſchen Theil, der alle Lehren der Compoſi - tion vorausſetzt, noch ſo wenig richtig erkennen.

Wenn auch die Muſik eine Kunſt iſt, die ſich von den Wißenſchaften ſehr unterſchei - det, ſo iſt es doch nicht zu begreifen, daß bis jetzt ihre Natur nicht mehr analyſirt wor - den iſt, weil die Schoͤnheiten der Kunſt doch nur von einem hohen Grade der Verfeine - rung der weſentlichen Theile eines Ganzen, eines hoͤhern Fluges der Ideen oder einer gewißen Leichtigkeit des plaſtiſchen Ausdrucks der Natur-Gegenſtaͤnde abhaͤngen. Der - jenige Kuͤnſtler, der nicht mit dem Gehoͤre ſeiner Seele arbeitet, der die Wirkung ſeiner Gedanken nicht bei der Entſtehung pruͤfen kann und deßen Geiſt ſich nicht uͤber das Gewoͤhnliche erhebt, wird ſchwerlich im Stande ſein, ſeiner Zeit genug zu thun.

Man hat ſich bisher begnuͤgt, alle bereits genannte 6 Klaßen von Muſik zweierlei Stylen in Hinſicht auf techniſche Behandlung unterzuordnen, und zwar dem ſtrengen oder gebundenen und dem freien oder ungebundenen.

Der ſtrenge oder gebundene Styl; in welchen die Melodie einen ernſthaften Gang nimmt, und durch keine Verzierungen von Toͤnen und rhythmiſchen Formen da - von abgezogen wird, und der ſelbſt in der Wahl der Toͤne eine gewiße Einſchraͤnkung vorausſetzt, wird vorzuͤglich in der Kirchen Muſik oder nach Abſicht auch in der Opern Muſik angewendet.

Der Charakter dieſes Styls iſt aus aͤltern Zeiten auf uns gekommen und kann nicht beſſer aufgefaßt werden als wenn man die vorzuͤglichſten Tonlehrer fruͤherer Zeiten als Bach, Haͤndel ꝛc. in ihren Kirchen Muſiken ſtudirt.

Daß ein großer Theil davon ſtrenge und gebunden erſcheinen muß, und in melodi - diſcher Hinſicht unſern Gefuͤhle nicht entſprechen kann, ruͤhrt daher, daß ſich die Mo - dulation faſt bei jedem Tone aͤndert und einen freien melodiſchen Gang in mehrern Stimmen nicht geſtattet, daß die rhythmiſchen Formen ſich gewoͤhnlich nur auf wenige beſchraͤnken, die nur in verkleinerter, vergroͤßerter, umgekehrter Form ꝛc. nachahmen. Die Stimmen haben daher keine groͤßere Freiheit, als nur die weſentlichen harmoniſchen Toͤne der fremdartigſten Accorde aufſuchen zu koͤnnen, wodurch natuͤrlich ſelten an ei - nen melodiſchen Haupt-Zuſammenhang zu denken iſt. Auf der andern Seite ſind aber auch die Schoͤnheiten mehrerer dieſer Stuͤcke nicht zu verkennen, wo jede Stimme melo - diſch und harmoniſch ſchoͤn durchgefuͤhrt iſt, wie in Haͤndels Meſſias, Mozarts Requiem ꝛc. die Beweiſe am Tage liegen. Und aus dieſem Grunde muͤſſen ſie als vorzuͤgliche Werke der Tonkunſt betrachtet werden.

251

Dieſe Art von Styl macht ſelbſt in Opern und Kammer-Muſiken, periodenweiſe und zweckmaͤßig angewendet, oft einen nicht geringen Effect, denn wem faͤllt nicht der kurze kirchlich ſchauerliche Satz des ſteinernen Gaſtes im Don Juan ein, wo der Ge - ſang und die Begleitung ganz choralmaͤßig geſetzt ſind; anderer Beiſpiele zu geſchweigen.

Unter die Schreibart des ſtrengen Styls gehoͤrt die Fuge, der Canon, die Praͤlu - dien und einige andere Stuͤcke der aͤlteru Componiſten als Toccata, Gigue ꝛc. die aber außer der erſtern, jetzt nicht mehr in Anwendung kommen.

Im allgemeinen finden bei der Bearbeitung der Tonſtuͤcke im ſtrengen Style folgende Haupt Regeln ſtatt.

  • 1) daß die Melodie einfach, das heißt: ohne viel Verzierung ſei.
  • 2) daß nicht verſchiedene Melodien mit einander abwechſeln.
  • 3) daß das Tonſtuͤck dadurch intereßant gemacht werde, indem man eine oder zwei Melodien
    *)Es wird zwar immer gelehrt, daß man eine Haupt-Melodie durchfuͤhren muͤße, es ſind je - doch genau genommen immer zwei, die mit einander abwechſeln, was bei der Fuge und allen andern Tonſtuͤcken zu erſehen iſt
    *) in allen Stimmen einander nachahmen laͤßt, was im Einklange, der Se - kunde, der Terz, der Quarte. der Quinte, der Sexte, der Septime und der Octave ge - ſchehen kann.

Es giebt viererlei Nachahmungen wie ſchon beim Contrapuncte erwaͤhnt iſt, als:

  • a) die Nachahmung der naͤmlichen Noten nach ihrer Zeit Geltung in einer oder mehrern Stimmen. (Imitatio)
  • b) die Nachahmung des melodiſchen Satzes in umgekehrter Bewegung, naͤmlich wenn in einer Stimme die Toͤne der Melodie ſteigen und in der andern Stimme in fal - lende veraͤndert werden (imitatio inaequalis motus).
  • c) die Nachahmung des melodiſchen Satzes in vergroͤßerten Noten (vergroͤ - ßerte Nachahmung (imitatio per augmentationem)
  • d) die Nachahmung des melodiſchen Satzes in verkleinerten Noten (verklei - nerte Nachahmung (imitatio per diminutionem).

Die Setzkunſt der Tonſtuͤcke, in welchen die vier vorhergenannten Regeln in meh - rern Stimmen beobachtet ſind, nennt man den doppelten Contrapunkt, wo aber ein melodiſcher Satz ohne Nachahmung und ohne daß die Stimmen einander uͤber - ſteigen durchgefuͤhrt iſt, nennt man den einfachen Contrapunkt.

Durch die bisher genannten Eigenſchaften gewinnt ein Tonſtuͤck nur die Benen - nung: ſtrenger Styl.

Der gebundene Styl beſteht in einer andern Eigenſchaft, naͤmlich darinnen: 1) daß eine oder mehr Stimmen in ihrer Lage ſtehen bleiben, waͤhrend eine oder meh - rere, in Intervalle neuer Accorde fortſchreiten; oder 2) daß eine Stimme gleich beim intoniren eines Accords ein nicht zum Accorde gehoͤrendes Intervall erhaͤlt. Im erſten Falle ſind die fremden ſpaͤter eintretenden zum Accorde nicht gehoͤrenden Intervalle ganz die naͤmlichen, welche man durchgehende Noten nennt. Im zweiten Falle ſind die beim Intoniren des Accords eintretenden fremden Noten im Grunde weiter nichts als Wechſel Noten, was ſchon anderwaͤrts angemerkt worden iſt. Durch die - ſes Verfahren werden die Accorde mehr mit einander verbunden und die Diſſonanzen gemildert und vorbereitet.

Die Nachahmungen in den freien Style ſind aber andrer Art. Sie ahmen ein - ander nur in ſoweit nach, als der Schoͤnheit der Melodie kein Zwang auferlegt wird und dies iſt genau genommen der große Zweck, den der Componiſt zu erreichen hat, weil Harmonie und Wohlklang das Haupt-Argument ſeines Strebens iſt. Denn esJ i 2252kann die Rede nicht davon ſein, welche Schwierigkeit er zu uͤberwinden hat, heterogene Toͤne in Harmonien zu zwingen, die er bei Erfindung der Haupt Melodie anders haͤtte waͤhlen koͤnnen, ſondern nur davon, auf welche Weiſe es ihm gelungen iſt, die Haupt - Melodie durch alle Stimmen hindurch ungezwungen auszufuͤhren und mit Schoͤnheit aus - zuſtatten. Welche ſchoͤne Nachahmungen finden wir nicht in Glucks, Mozarts und Haydns ꝛc. Werken.

Ich muß mich, was dieſes Kapitel betrifft, des Raumes wegen leider damit begnuͤ - gen im allgemeinen etwas geſagt und die verſchiedenen Haupt Gattungen der Mu - ſiken nur genannt zu haben. Sollte ich ſo gluͤcklich ſein, gegenwaͤrtiges Werkchen wohl aufgenommen zu ſehen, ſo wuͤrde es mir viel Vergnuͤgen machen, nicht allein dieſen Abſchnitt; uͤber deſſen Inhalt ſich noch ſehr viel ſagen laͤßt, ſondern auch manches zur Compoſition weſentlich noͤthige, als die Kenntniß der Tonwerk - zeuge, des reinen Satzes (der im allgemeinen zwar nichts anders als die gram - matikaliſche Richtigkeit der Compoſitionen iſt) ꝛc. in einem zweiten Baͤndchen ausfuͤhr - licher abzuhandeln. Fuͤr jetzt glaube ich nichts beſſres thun zu koͤnnen als den geneigten Leſer auf die Sechste und Siebente Abtheilung des Elementar-Buchs der Har - monie und Tonſetzkunſt pag. 100. von Friedrich Schneider, Herzoglich De - ßauiſchen Kapellmeiſters zu verweiſen, wo ſowohl die verſchiedenen Gattungen der Mu - ſik als auch alle Tonwerkzeuge vortrefflich und zweckmaͤßig beſchrieben ſind.

Gedruckt bei Johann Friedrich Starcke.

About this transcription

TextTheorie der Tonsetzkunst
Author Johann G. Siegmeyer
Extent273 images; 40792 tokens; 4985 types; 287322 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationTheorie der Tonsetzkunst Johann G. Siegmeyer. . VIII, 252 S. LogierBerlin1822.

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Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz SBB-PK, Mus. Gs 605http://stabikat.de/DB=1/SET=12/TTL=1/CMD?ACT=SRCHA&IKT=1016&SRT=YOP&TRM=438231317

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Fraktur

LanguageGerman
ClassificationFachtext; Musik; Wissenschaft; Musikwissenschaft; core; ready; china

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.

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  • Deutsches Textarchiv
  • Berlin-Brandenburg Academy of Sciences and Humanities (BBAW)
  • Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW)
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ImprintBerlin 2019-12-09T17:34:51Z
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