PRIMS Full-text transcription (HTML)
DER TOD DES TIZIAN
EIN DRAMATISCHES FRAGMENT
AUFGEFUEHRT ALS TOTENFEIER FUER ARNOLD BOECKLIN IM KUENSTLERHAUSE ZU MUENCHEN DEN 14. FEBRUAR 1901.
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ERSCHIENEN IM VERLAGE DER INSEL BEI SCHUSTER & LOEFFLER BERLIN SW 46. GEDRUCKT IN DER OFFICIN W. DRUGULIN LEIPZIG.

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DER TOD DES TIZIAN
EIN DRAMATISCHES FRAGMENT
AUFGEFUEHRT ALS TOTENFEIER FUER ARNOLD BOECKLIN IM KUENSTLERHAUSE ZU MUENCHEN DEN 14. FEBRUAR 1901.
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DRAMATIS PERSONAE.

  • Der Prolog.
  • Filippo Pomponio Vecellio, genannt Tizianello, des Meisters Sohn.
  • Giocondo.
  • Desiderio.
  • Gianino, er ist 16 Jahre und sehr schön.
  • Batista.
  • Antonio.
  • Paris.
  • Lavinia, eine Tochter des Meisters.
  • Cassandra.
  • Lisa.

Spielt im Jahre 1576, da Tizian neunundneunzigjährig starb.

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DER Vorhang, ein Gobelin, ist herabgelassen. Im Proscenium steht die Büste Böcklins auf einer Säule; zu deren Fuss ein Korb mit Blumen und blühenden Zweigen. In die letzten Takte der Symphonie tritt der Prolog auf, seine Fackelträger hinter ihm. Der Prolog ist ein Jüngling; er ist venezianisch gekleidet, ganz in schwarz, als ein Trauernder.
Der Prolog:

Nun schweig, Musik! nun ist die Scene mein, Und ich will klagen, denn mir steht es zu! Von dieser Zeiten Jugend fliesst der Saft In mir; und er, dess Standbild auf mich blickt, War meiner Seele so geliebter Freund! Und dieses Guten hab ich sehr bedurft, Denn Finsternis ist viel in dieser Zeit, Und wie der Schwan, ein selig schwimmend Tier, Aus der Najade triefend weissen Händen Sich seine Nahrung küsst, so bog ich mich In dunklen Stunden über seine Hände Um meiner Seele Nahrung: tiefen Traum.

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Schmück ich dein Bild mit Zweig und Blüten nur? Und du hast mir das Bild der Welt geschmückt, Und aller Blütenzweige Lieblichkeit Mit einem solchen Glanze überhöht, Dass ich mich trunken an den Boden warf Und jauchzend fühlte, wie sie ihr Gewand Mir sinken liess, die leuchtende Natur!

Hör mich, mein Freund! ich will nicht Herolde Aussenden, dass sie deinen Namen schrein In die vier Winde, wie wenn Könige sterben: Ein König lässt dem Erben seinen Ruf Und einem Grabstein seines Namens Schall. Doch du warst solch ein grosser Zauberer, Dein Sichtbares ging fort, doch weiss ich nicht Was da und dort nicht alles von dir bleibt, Mit heimlicher fortlebender Gewalt Sich dunklen Auges aus der nächtigen Flut Zum Ufer hebt oder sein haarig Ohr Hinter dem Epheu horchend reckt, drum will ich Nie glauben, dass ich irgendwo allein bin, Wo Bäume oder Blumen sind, ja selbst Nur schweigendes Gestein und kleine Wölkchen Unter dem Himmel sind: leicht dass ein Etwas, Durchsichtiger wie Ariel, mir im Rücken Hingaukelt, denn ich weiss: geheimnisvoll War zwischen dir und mancher Creatur8 Ein Bund geknüpft, ja! und des Frühlings Au Siehe, sie lachte dir so wie ein Weib Den anlacht, dem sie in der Nacht sich gab!

Ich meint um dich zu klagen; und mein Mund Schwillt an von trunkenem und freudigem Wort: Drum ziemt mir nun nicht länger hier zu stehen. Ich will den Stab dreimal zu Boden stossen Und dies Gezelt mit Traumgestalten füllen. Die will ich mit der Last der Traurigkeit So überbürden, dass sie schwankend gehn, Damit ein jeder weinen mag und fühlen: Wie grosse Schwermut allem unsren Thun Ist beigemengt.

Es weise euch ein Spiel Das Spiegelbild der bangen, dunklen Stunde Und grossen Meisters trauervollen Preis Vernehmet nun aus schattenhaftem Munde!

Er geht ab, die Fackelträger hinter ihm. Das Proscenium liegt in Dunkel. Die Symphonie fällt wieder ein. Das Standbild ver - schwindet. Darauf ertönt das dreimalige Niederstossen eines Stabes. Der Gobelin teilt sich und enthüllt die Scene.
Die Scene ist auf der Terrasse von Tizians Villa, nahe bei Venedig. Die Terrasse ist nach rückwärts durch eine steinerne, durchbrochene Rampe abgeschlossen, über die in der Ferne die9 Wipfel von Pinien und Pappeln schauen. Links rückwärts läuft eine (unsichtbare) Treppe in den Garten; ihr Ausgang vor der Rampe ist durch zwei Marmorvasen markiert. Die linke Seite der Terrasse fällt steil gegen den Garten ab. Hier überklettern Epheu - und Rosenranken die Rampe und bilden mit hohem Ge - büsch des Gartens und hereinhangenden Zweigen ein undurch - dringliches Dickicht. Rechts füllen Stufen fächerförmig die rückwärtige Ecke aus und führen zu einem offenen Altan. Von diesem tritt man durch eine Thür, die ein Vorhang schliesst, ins Haus. Die Wand des Hauses, von Reben und Rosen umsponnen, mit Büsten geziert, Vasen an den Fenstersimsen, aus denen Schlingpflanzen quellen, schliesst die Bühne nach rechts ab.
Spätsommermittag. Auf Polstern und Teppichen lagern auf den Stufen, die rings zur Rampe führen, Desiderio, Antonio, Ba - tista und Paris. Alle schweigen. Der Wind bewegt leise den Vorhang der Thür. Tizianello und Gianino kommen nach einer Weile aus der Thür rechts. Desiderio, Antonio, Batista und Paris treten ihnen besorgt und fragend entgegen und drängen sich an sie. Nach einer kleinen Pause:
Paris:

Nicht gut?

Gianino,
mit erstickter Stimme:

Sehr schlecht.

Zu Tizianello, der in Thränen ausbricht:

Mein armer, lieber Pippo!

Batista:

Er schläft?

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Gianino:

Nein. Er ist wach und phantasiert Und hat die Staffelei begehrt.

Antonio:

Allein Man darf sie ihm nicht geben, nicht wahr, nein?

Gianino:

Ja, sagt der Arzt. Wir wollen ihn nicht quälen Und geben, was er will, in seine Hände.

Tizianello,
ausbrechend:

Heut oder morgen ist’s ja doch zu Ende!

Gianino:

Er darf uns länger, sagt er, nicht verhehlen

Paris:

Nein, sterben, sterben kann der Meister nicht! Da lügt der Arzt, er weiss nicht, was er spricht.

Desiderio:

Der Tizian sterben, der das Leben schafft! Wer hätte dann zum Leben Recht und Kraft?

Batista:

Doch weiss er selbst nicht, wie es um ihn steht?

Tizianello:

Im Fieber malt er an dem neuen Bild, In atemloser Hast, unheimlich wild: Die Mädchen sind bei ihm und müssen stehn, Uns aber hiess er aus dem Zimmer gehn.

Antonio:

Kann er denn malen, hat er denn die Kraft?

Tizianello:

Mit einer rätselhaften Leidenschaft, Die ich beim Malen nie an ihm gekannt, Von einem martervollen Zwang gebannt

Ein Page kommt aus der Thür rechts, hinter ihm Diener. Alle erschrecken.
Tizianello: Gianino: Paris:

Was ist?

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Page:

Nichts, nichts. Der Meister hat befohlen, Dass wir vom Gartensaal die Bilder holen.

Tizianello:

Was will er denn?

Page:

Er sagt, er muss sie sehen Die alten, die erbärmlichen, die bleichen, Mit seinem neuen, das er malt, vergleichen Sehr schwere Dinge seien ihm jetzt klar, Es komme ihm ein unerhört Verstehen, Dass er bis jetzt ein matter Stümper war Soll man ihm folgen?

Tizianello:

Gehet, gehet, eilt! Ihn martert jeder Pulsschlag, den ihr weilt.

Die Diener sind indessen über die Bühne gegangen. An der Treppe holt sie der Page ein. Tizianello geht auf den Fuss - spitzen, leise den Vorhang aufhebend, hinein. Die Andern gehen unruhig auf und nieder.
Antonio,
halblaut:

Wie fürchterlich, das Letzte, wie unsäglich Der Göttliche, der Meister, lallend, kläglich

Tizianello,
zurückkommend:

Jetzt ist er wieder ruhig. Und es strahlt Aus seiner Blässe, und er malt und malt. In seinen Augen ist ein guter Schimmer, Und mit den Mädchen plaudert er wie immer.

Antonio:

So legen wir uns auf die Stufen nieder Und hoffen bis zum nächsten Schlimmern wieder.

Sie lagern sich auf den Stufen. Tizianello spielt mit Gianinos Haar, die Augen halb geschlossen.
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Batista,
halb für sich:

Das Schlimmre dann das Schlimmste endlich nein. Das Schlimmste kommt, wenn gar nichts Schlimmres mehr. Das tote, taube, dürre Weitersein Heut ist es noch, als ob’s undenkbar wär Und wird doch morgen sein.

Pause.
Gianino:

Ich bin so müd.

Paris:

Das macht die Luft, die schwüle und der Süd.

Tizianello,
lächelnd:

Der Arme hat die ganze Nacht gewacht!

Gianino,
auf den Arm gestützt:

Ja, du die erste, die ich ganz durchwacht. Doch woher weisst denn du’s?

Tizianello:

Ich fühlt es ja, Erst war dein stilles Atem meinem nah, Dann standst du auf und sassest auf den Stufen

Gianino:

Mir war, als ginge durch die blaue Nacht, Die atmende, ein rätselhaftes Rufen. Und nirgends war ein Schlaf in der Natur. Mit Atemholen tief und feuchten Lippen, So lag sie, horchend in das grosse Dunkel, Und lauschte auf geheimer Dinge Spur. Und sickernd, rieselnd kam das Sterngefunkel13 Hernieder auf die weiche, wache Flur. Und alle Früchte schweren Blutes schwollen Im gelben Mond und seinem Glanz, dem vollen, Und alle Brunnen glänzten seinem Ziehn, Und es erwachten schwere Harmonien. Und wo die Wolkenschatten hastig glitten, War wie ein Laut von weichen, nackten Tritten Leis stand ich auf ich war an dich geschmiegt

Er steht erzählend auf, zu Tizianello geneigt:

Da schwebte durch die Nacht ein süssen Tönen, Als hörte man die Flöte leise stöhnen, Die in der Hand aus Marmor sinnend wiegt Der Faun, der da im schwarzen Lorbeer steht, Gleich nebenan, beim Nachtviolenbeet. Ich sah ihn stehen still und marmorn leuchten; Und um ihn her im silbrig Blauen, Feuchten, Wo sich die offenen Granaten wiegen, Da sah ich deutlich viele Bienen fliegen, Und viele saugen, auf das Rot gesunken, Von nächtgem Duft und reifem Safte trunken. Und wie des Dunkels leiser Atemzug Den Duft des Gartens um die Stirn mir trug, Da schien es mir, wie das Vorüberschweifen Von einem weichen, wogenden Gewand Und die Berührung einer warmen Hand. In weissen, seidig weissen Mondesstreifen War liebestoller Mücken dichter Tanz, Und auf dem Teiche lag ein weicher Glanz14 Und plätscherte und blinkte auf und nieder. Ich weiss es heut nicht, ob’s die Schwäne waren, Ob badender Najaden weisse Glieder, Und wie ein süsser Duft von Frauenhaaren Vermischte sich dem Duft der Aloë Und was da war, ist mir in eins verflossen: In eine überstarke, schwere Pracht, Die Sinne stumm und Worte sinnlos macht.

Antonio:

Beneidenswerter, der das noch erlebt Und solche Dinge in das Dunkel webt!

Gianino:

Ich war in halbem Traum bis dort gegangen, Wo man die Stadt sieht, wie sie drunten ruht, Sich flüsternd schmieget in das Kleid von Prangen, Das Mond um ihren Schlaf gemacht und Flut. Ihr Lispeln weht manchmal der Nachtwind her, So geisterhaft, verlöschend leisen Klang. Beklemmend seltsam und verlockend bang. Ich hört es oft, doch niemals dacht ich mehr Da aber hab ich plötzlich viel gefühlt: Ich ahnt in ihrem steinern stillen Schweigen, Vom blauen Strom der Nacht emporgespült, Des roten Bluts bacchantisch wilden Reigen, Um ihre Dächer sah ich Phosphor glimmen, Den Widerschein geheimer Dinge schwimmen. Und schwindelnd überkam’s mich auf einmal: Wohl schlief die Stadt: es wacht der Rausch, die Qual,15 Der Hass, der Geist, das Blut: das Leben wacht. Das Leben, das lebendige, allmächtge Man kann es haben und doch sein vergessen!

Er hält einen Augenblick inne.

Und alles das hat mich so müd gemacht: Es war so viel in dieser einen Nacht.

Desiderio,
an der Rampe, zu Gianino:

Siehst du die Stadt, wie jetzt sie drunten ruht? Gehüllt in Duft und goldne Abendglut Und rosig helles Gelb und helles Grau, Zu ihren Füssen schwarzer Schatten Blau, In Schönheit lockend, feuchtverklärter Reinheit. Allein in diesem Duft, dem ahnungsvollen, Da wohnt die Hässlichkeit und die Gemeinheit, Und bei den Tieren wohnen dort die Tollen; Und was die Ferne weise dir verhüllt, Ist ekelhaft und trüb und schaal erfüllt Von Wesen, die die Schönheit nicht erkennen Und ihre Welt mit unsren Worten nennen Denn unsre Wonne oder unsre Pein Hat mit der ihren nur das Wort gemein Und liegen wir in tiefem Schlaf befangen, So gleicht der unsre ihrem Schlafe nicht: Da schlafen Purpurblüten, goldne Schlangen, Da schläft ein Berg, in dem Titanen hämmern Sie aber schlafen, wie die Austern dämmern.

Antonio,
halb aufgerichtet:

Darum umgeben Gitter, hohe schlanke,16 Den Garten, den der Meister liess erbauen, Darum durch üppig blumendes Geranke Soll man das Aussen ahnen mehr als schauen.

Paris,
ebenso:

Das ist die Lehre der verschlungnen Gänge.

Batista,
ebenso:

Das ist die grosse Kunst des Hintergrundes Und das Geheimnis zweifelhafter Lichter.

Tizianello,
mit geschlossenen Augen:

Das macht so schön die halbverwehten Klänge, So schön die dunklen Worte toter Dichter Und alle Dinge, denen wir entsagen.

Paris:

Das ist der Zauber auf versunknen Tagen Und ist der Quell des grenzenlosen Schönen, Denn wir ersticken, wo wir uns gewöhnen.

Alle verstummen. Pause. Tizianello weint leise vor sich hin.
Gianino,
schmeichelnd:

Du darfst dich nicht so trostlos drein versenken, Nicht unaufhörlich an das Eine denken.

Tizianello,
traurig lächelnd:

Als ob der Schmerz denn etwas andres wär Als dieses ewige dran-denken-müssen, Bis es am Ende farblos wird und leer So lass mich nur in den Gedanken wühlen, Denn von den Leiden und von den Genüssen Hab längst ich abgestreift das bunte Kleid,17 Das um sie webt die Unbefangenheit, Und einfach hab ich schon verlernt zu fühlen.

Pause. Gianino ist seitwärts auf den Stufen, den Kopf auf den Arm geschmiegt, eingeschlummert.
Paris:

Wo nur Giocondo bleibt?

Tizianello:

Lang vor dem Morgen Ihr schlieft noch schlich er leise durch die Pforte, Auf blasser Stirn den Kuss der Liebessorgen Und auf den Lippen eifersüchtge Worte

Pagen tragen zwei Bilder über die Bühne (die Venus mit den Blumen und das grosse Bacchanal). Die Schüler erheben sich und stehen, solange die Bilder vorübergetragen werden, mit ge - senktem Kopf, das Barett in der Hand.
Nach einer Pause (Alle stehen):
Desiderio:

Wer lebt nach ihm, ein Künstler und Lebendiger, Im Geiste herrlich und der Dinge Bändiger Und in der Einfalt weise wie das Kind?

Antonio:

Wer ist, der seiner Weihe freudig traut?

Batista:

Wer ist, dem nicht vor seinem Wissen graut?

Paris:

Wer will uns sagen, ob wir Künstler sind?

Tizianello:

Er hat den regungslosen Wald belebt: Und wo die braunen Weiher murmelnd liegen Und Epheuranken sich an Buchen schmiegen, Da hat er Götter in das Nichts gewebt: Den Satyr, der die Syrinx tönend hebt,18 Bis alle Dinge in Verlangen schwellen Und Hirten sich den Hirtinnen gesellen

Batista:

Er hat den Wolken, die vorüberschweben, Den wesenlosen, einen Sinn gegeben: Der blassen weissen schleierhaftes Dehnen Gedeutet in ein blasses, süsses Sehnen; Der mächt’gen goldumrundet schwarzes Wallen Und runde, graue, die sich lachend ballen, Und rosig silberne, die abends ziehn: Sie haben Seele, haben Sinn durch ihn. Er hat aus Klippen, nackten, fahlen, bleichen, Aus grüner Wogen brandend weissem Schäumen, Aus schwarzer Haine regungslosen Träumen Und aus der Trauer blitzgetroffner Eichen Ein Menschliches gemacht, das wir verstehen, Und uns gelehrt, den Geist der Nacht zu sehen.

Paris:

Er hat uns aufgeweckt aus halber Nacht Und unsre Seelen licht und reich gemacht: Und uns gewiesen, jedes Tages Fliessen Und Fluten als ein Schauspiel zu geniessen, Die Schönheit aller Formen zu verstehen Und unsrem eignen Leben zuzusehen. Die Frauen und die Blumen und die Wellen Und Seide, Gold und bunter Steine Strahl Und hohe Brücken und das Frühlingsthal Mit blonden Nymphen an krystallnen Quellen, Und was ein Jeder nur zu träumen liebt, Und was uns wachend Herrliches umgiebt:19 Hat seine grosse Schönheit erst empfangen, Seit es durch Seine Seele durchgegangen.

Antonio:

Was für die schlanke Schönheit Reigentanz, Was Fackelschein für bunten Maskenkranz, Was für die Seele, die im Schlafe liegt, Musik, die wogend sie in Rhythmen wiegt, Und was der Spiegel für die junge Frau Und für die Blüten Sonne licht und lau: Ein Auge, ein harmonisch Element, In dem die Schönheit erst sich selbst erkennt Das fand Natur in seines Wesens Strahl. Erweck uns, mach aus uns ein Bacchanal! Rief alles Lebende, das ihn ersehnte Und seinem Blick sich stumm entgegendehnte.

Während Antonio spricht, sind die drei Mädchen leise aus der Thür getreten und zuhörend stehen geblieben. Nur Tizianello, der zerstreut und teilnahmslos etwas abseits rechts steht, scheint sie zu bemerken. Lavinia trägt das blonde Haar im Goldnetz und das reiche Kleid einer venezianischen Patrizierin. Cassandra und Lisa, etwa 19 - und 17jährig, tragen Beide ein einfaches Gewand aus weissem, anschmiegendem, flutendem Stoff; nackte Arme mit goldenen Schlangenreifen am Oberarm; Sandalen, Gürtel aus Goldstoff. Cassandra ist aschblond, Lisa hat eine gelbe Rosenknospe im schwarzen Haar. Irgend etwas an ihr erinnert ans Knabenhafte, wie irgend etwas an Gianino ans Mädchenhafte erinnert. Hinter ihnen tritt ein Page aus der Thür, der einen getriebenen, silbernen Weinkrug und Becher trägt.
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Antonio:

Dass uns die fernen Bäume lieblich sind, Die träumerischen, dort im Abendwind

Paris:

Und dass wir Schönheit sehen in der Flucht Der weissen Segel in der blauen Bucht

Tizianello,
zu den Mädchen, die er mit einem leichten Nicken begrüsst hat. Alle Andern drehen sich um:

Und dass wir eures Haares Duft und Schein Und eurer Formen mattes Elfenbein Und goldne Gürtel, die euch weich umwinden, So wie Musik und wie ein Glück empfinden Das macht: Er lehrte uns die Dinge sehen

Bitter:

Und das wird man da drunten nie verstehen!

Desiderio,
zu den Mädchen:

Ist er allein? Soll Niemand zu ihm gehen?

Lavinia:

Bleibt Alle hier. Er will jetzt Niemand sehen.

Tizianello:

O, käm ihm jetzt der Tod, mit sanftem Neigen, In dieser schönen Trunkenheit, im Schweigen!

Alle schweigen. Gianino ist erwacht und hat sich während der letzten Worte aufgerichtet. Er ist nun sehr blass. Er blickt angstvoll von einem zum andern. Alle schweigen. Gianino thut einen Schritt auf Tizianello zu. Dann hält er inne, zusammenschaudernd; plötzlich wirft er sich vor Lavinia hin, die vorne allein steht und drückt den Kopf an ihr Knie.
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Gianino:

Der Tod! Lavinia, mich fasst ein Grausen! Ich war ihm nie so nah! Ich werde nie, Nie mehr vergessen können, dass wir sterben! Ich werde immer stumm daneben stehn Wo Menschen lachen, und mit starrem Blick Dies denken: dass wir alle sterben müssen! Ich sah einmal: sie brachten mit Gesang Einen geführt, dem war bestimmt zu sterben. Er schwankte hin und sah die Menschen alle Und sah die Bäume, die im leisen Wind Die süssen Schattenzweige schaukelten. Lavinia, wir gehen solchen Weg!

Lavinia, ich schlief nur eine Weile Dort auf den Stufen, und das erste Wort, Da ich die Augen aufschlug, war der Tod!

Schaudernd:

Ein solches Dunkel senkt sich aus der Luft!

Lavinia steht hochaufgerichtet, den Blick auf den völlig hellen Himmel geheftet. Sie streift mit der Hand über Gianinos Haar.
Lavinia:

Ich seh kein Dunkel. Ich seh einen Falter Dort schwirren, dort entzündet sich ein Stern Und drinnen geht ein alter Mann zur Ruh. Der letzte Schritt schafft nicht die Müdigkeit, Er lässt sie fühlen.

Indem sie spricht, und der Thür des Hauses den Rücken wendet, hat dort eine unsichtbare Hand den Vorhang lautlos aber heftig22 zur Seite gezogen. Und alle, Tizianello voran, drängen lautlos und atemlos die Stufen empor, hinein.
Lavinia,
ruhig weitersprechend, immer gehobener:

Grüsse du das Leben! Wohl dem der von des Daseins Netz gefangen Tief atmend und nicht grübelnd, wie ihm sei, Hingiebt dem schönen Strom die freien Glieder, Und schönen Ufern trägt es ihn

Sie hält plötzlich inne und sieht sich um. Sie begreift was ge - schehen ist und folgt den andern.
Gianino,
noch auf den Knieen, schaudernd vor sich hin:

Vorbei!

Er richtet sich auf und folgt den andern.
Der Vorhang fällt.

About this transcription

TextTod des Tizian
Author Hugo von Hofmannsthal
Extent37 images; 3075 tokens; 1313 types; 19655 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationTod des Tizian Ein dramatisches Fragment Aufgeführt als Totenfeier für Arnold Böcklin im Künstlerhause zu München den 14. Februar 1901 Hugo von Hofmannsthal. . 22 S. InselBerlin1892.

Identification

Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz SBB-PK, Ys 27520<a> (RARA)http://stabikat.de/DB=1/SET=12/TTL=1/CMD?ACT=SRCHA&IKT=1016&SRT=YOP&TRM=448289717

Physical description

Antiqua

LanguageGerman
ClassificationBelletristik; Drama; Belletristik; Drama; core; ready; china

Editorial statement

Editorial principles

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.

Publication information

Publisher
  • dta@bbaw.de
  • Deutsches Textarchiv
  • Berlin-Brandenburg Academy of Sciences and Humanities (BBAW)
  • Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW)
  • Jägerstr. 22/23, 10117 BerlinGermany
ImprintBerlin 2019-12-09T17:31:40Z
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Holding LibraryStaatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz
ShelfmarkSBB-PK, Ys 27520<a> (RARA)
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