PRIMS Full-text transcription (HTML)
ÜBER DAS GEDÄCHTNIS.
ÜBER DAS GEDÄCHTNIS.
UNTERSUCHUNGEN ZUR EXPERIMENTELLEN PSYCHOLOGIE
De subjecto vetustissimo novissimam promovemus scientiam.
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LEIPZIG,VERLAG VON DUNCKER & HUMBLOT.1885.
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Vorwort.

Die Bemühungen, für die mächtigen Hebel der exakten Naturforschung, Experiment und Zählung, auch in der Welt der psychischen Vorgänge geeignete Angriffspunkte zu ge - winnen, sind bisher wesentlich auf das groſse Gebiet der Sinnesempfindungen und die psychologische Zeitmessung be - schränkt geblieben. Mit den Untersuchungen, deren Methode und vorläufige Resultate ich im folgenden mitteile, habe ich versucht, einen Schritt weiter in das Innere des psychischen Geschehens zu thun und die Erscheinungen des Gedächtnisses im weitesten Sinne (das Aufnehmen und Behalten, die Asso - ciationen und Reproduktionen von Vorstellungen) einer experi - mentellen und messenden Behandlung zu unterwerfen.

Die hauptsächlichsten Bedenken, welche sich gegen die Möglichkeit einer solchen Behandlung von vornherein erheben, habe ich in der Schrift selbst ausführlich besprochen und teil - weise zum Gegenstande der Untersuchung gemacht. Ich darf daher diejenigen, welchen die Unmöglichkeit des Versuchs nicht bereits a priori feststeht, bitten, ihr Urteil über die Ausführbarkeit eine Weile aufzuschieben.

Die Mitteilung vorläufiger Resultate wird man im Hinblick auf die Schwierigkeit des Gegenstandes und denVI zeitraubenden Charakter der Versuche wohl entschuldigen, und man wird ihnen billigerweise nicht gerade die vielfachen Mängel, welche auf ihrer Unabgeschlossenheit beruhen, als ebensoviele Einwände entgegenhalten. Am meisten bemerkt werden von solchen Mängeln wird vermutlich die individuelle Beschaffenheit der Resultate. Die Versuche sind sämtlich an mir angestellt und die Resultate haben daher zunächst nur für mich Bedeutung. Natürlich werden sie nicht ausschlieſs - lich bloſse Idiosynkrasien meiner Organisation wiederspiegeln; sind auch vielleicht die absoluten Werte der gefundenen Zahlen durchweg nur individuell, so wird in den Beziehungen dieser Zahlen zu einander oder gar in den Beziehungen von Beziehungen doch manches Verhältnis von allgemeinerer Gültigkeit enthalten sein. Aber wo dies der Fall ist und wo nicht, kann ich erst hoffen, nach Beendigung weiterer und vergleichender Versuche zu entscheiden, mit denen ich be - schäftigt bin.

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Inhalt.

  • Seite
  • VorwortV
  • I. Unser Wissen über das Gedächtnis1
  • § 1. Das Gedächtnis in seinen Wirkungen1
  • § 2. Das Gedächtnis in seiner Abhängigkeit3
  • § 3. Mangelhaftigkeit unseres Wissens über das Gedächtnis5
  • II. Möglichkeit der Erweiterung unseres Wissens über das Gedächtnis9
  • § 4. Die naturwissenschaftliche Methode9
  • § 5. Einführung numerischer Bestimmungen für das im Gedächt - nis Aufbewahrte10
  • § 6. Die Möglichkeit der Herstellung konstanter Versuchs - bedingungen15
  • § 7. Konstante Durchschnittszahlen17
  • § 8. Das Fehlergesetz20
  • § 9. Résumé25
  • § 10. Der wahrscheinliche Fehler27
  • III. Methode der Untersuchung30
  • § 11. Sinnlose Silbenreihen30
  • § 12. Vorzüge des Materials31
  • § 13. Herstellung möglichst konstanter Versuchsumstände33
  • § 14. Fehlerquellen36
  • VIII
  • Seite
  • § 15. Messung der gebrauchten Arbeit41
  • § 16. Perioden der Versuche45
  • IV. Die Brauchbarkeit der Durchschnittszahlen47
  • § 17. Gruppierung der Versuchsresultate47
  • § 18. Gruppierung der Resultate für die einzelnen Reihen55
  • V. Die Schnelligkeit des Lernens von Silbenreihen als Funk - tion der Länge derselben62
  • § 19. Versuche der späteren Periode62
  • § 20. Versuche der früheren Periode66
  • § 21. Steigerung der Schnelligkeit des Lernens bei sinnvollem Material68
  • VI. Das Behalten als Funktion der Anzahl der Wieder - holungen70
  • § 22. Stellung der Frage70
  • § 23. Die Versuche und ihre Resultate74
  • § 24. Einfluſs der Erinnerung79
  • § 25. Erhebliche Vermehrung der Anzahl der Wiederholungen81
  • VII. Das Behalten und Vergessen als Funktion der Zeit85
  • § 26. Erklärungen des Behaltens und Vergessens85
  • § 27. Methode der Untersuchung des thatsächlichen Ver - haltens89
  • § 28. Resultate93
  • § 29. Diskussion der Resultate103
  • § 30. Kontrollversuche107
  • VIII. Das Behalten als Funktion wiederholten Erlernens110
  • § 31. Fragestellung und Untersuchung110
  • § 32. Einfluſs der Länge der Reihen114
  • § 33. Einfluſs des wiederholten Erlernens116
  • § 34. Einfluſs der einzelnen Wiederholungen118
  • IX. Das Behalten als Funktion der Aufeinanderfolge der Reihenglieder123
  • § 35. Die Association nach der zeitlichen Folge und ihre Er - klärung123
  • IX
  • Seite
  • § 36. Methode der Untersuchung des thatsächlichen Ver - haltens130
  • § 37. Resultate. Association der mittelbaren Folge136
  • § 38. Versuche mit Ausschluſs des Wissens139
  • § 39. Diskussion der Resultate146
  • § 40. Rückläufige Associationen151
  • § 41. Die Association der mittelbaren Folge in ihrer Abhängig - keit von der Anzahl der Wiederholungen156
  • § 42. Indirekte Verstärkung von Associationen161
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I. Unser Wissen über das Gedächtnis.

§ 1. Das Gedächtnis in seinen Wirkungen.

Indem die Sprache des Lebens sowohl wie der Wissen - schaft der Seele ein Gedächtnis beilegt, will sie einen That - bestand und eine Auffassung desselben bezeichnen, die sich etwa folgendermaſsen beschreiben lassen.

Psychische Zustände jeder Art, Empfindungen, Gefühle, Vorstellungen, die irgendwann einmal vorhanden waren und dann dem Bewuſstsein entschwanden, haben damit nicht ab - solut aufgehört zu existieren. Obschon der nach innen ge - wandte Blick sie auf keine Weise mehr finden mag, sind sie doch nicht schlechterdings vernichtet und annulliert worden, sondern leben in gewisser Weise weiter, aufbewahrt, wie man sagt, im Gedächtnis. Freilich können wir dieses ihr gegen - wärtiges Dasein nicht direkt beobachten, aber mit derselben Sicherheit wie die Fortexistenz der Gestirne unter dem Hori - zont läſst sich auch die ihre erschlieſsen aus den Wirkungen, die davon zu unserer Kenntnis kommen. Diese sind von verschiedener Art.

Erstens können wir in zahlreichen Fällen die anscheinend verlorenen Zustände (oder doch, falls diese z. B. in unmittel -Ebbinghaus, Über das Gedächtnis. 12baren Wahrnehmungen bestanden, ihre getreuen Phantasie - bilder) durch eine darauf gerichtete Anstrengung des Willens ins Bewuſstsein zurückrufen, wir können sie willkürlich reproducieren. Bei den Versuchen dazu, dem Besin - nen, treten zwar nebenher allerlei Gebilde ans Licht, auf die unsere Absicht nicht gerichtet war, oft genug auch verfehlt die letztere ihr Ziel gänzlich, aber im allgemeinen findet sich unter den Resultaten auch dasjenige, welches wir suchten und nun unmittelbar als das früher Dagewesene wieder erkennen. Es wäre absurd, anzunehmen, daſs unser Wille es ganz von neuem und gleichsam aus dem Nichts geschaffen habe, es muſs vielmehr irgendwie und irgendwo noch vorhanden ge - wesen sein; der Wille hat es sozusagen nur aufgefunden und uns wieder vorgeführt.

In einer zweiten Gruppe von Fällen zeigt sich dieses Nachleben fast noch frappanter. Die einmal bewuſst gewesenen Zustände kehren nämlich oft, und oft noch nach Jahren, ohne jedes Zuthun des Willens, scheinbar von selbst ins Bewuſstsein zurück, sie werden unwillkürlich reproduciert. Meist erkennen wir auch hier unmittelbar das Wiedergekehrte als ein früher Dagewesenes, wir erinnern uns seiner; unter Umständen aber fehlt dieses begleitende Bewuſstsein, wir wissen dann nur mittelbar, daſs das Jetzige identisch sein müsse mit einem Früheren, erhalten dadurch aber nicht min - der einen vollgültigen Beweis für seine Fortexistenz in der Zwischenzeit. Wie die genauere Beobachtung dabei lehrt, geschehen diese unwillkürlichen Reproduktionen nicht ganz beliebig und zufällig. Vielmehr werden sie veranlaſst und verursacht durch andere, jetzt gerade gegenwärtige psychische Gebilde, und zwar in gewissen regelmäſsigen Weisen, die in den sogenannten Associations-Gesetzen in allgemeinen Zügen beschrieben werden.

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Endlich kann noch eine dritte reiche Gruppe von Er - scheinungen hierher gerechnet werden. Die entschwundenen Zustände geben auch dann noch zweifellose Beweise ihrer dauernden Nachwirkung, wenn sie selbst gar nicht, oder wenigstens gerade jetzt nicht, ins Bewuſstsein zurückkehren. Die Beschäftigung mit einem gewissen Gedankenkreise er - leichtert unter Umständen die spätere Beschäftigung mit einem ähnlichen Gedankenkreise, auch wenn jene erste weder in ihrer Methode noch in ihren Resultaten direkt vor die Seele tritt. Das unermeſsliche Gebiet der Wirkung angesammelter Erfahrungen gehört hierher. Dieselbe beruht darauf, daſs irgendwelche Zustände oder Vorgänge sehr häufig bewuſst verwirklicht wurden. Sie besteht in der Erleichterung des Eintritts und Ablaufs ähnlicher Vorgänge. Aber diese Wir - kung ist nicht daran gebunden, daſs nun die die Erfahrung konstituierenden Momente sämtlich wieder in das Bewuſstsein zurückkehren. Dies kann mit einem Teil derselben nebenbei auch der Fall sein; in zu groſser Ausdehnung und mit zu groſser Klarheit darf es nicht geschehen, sonst wird der Ab - lauf des gegenwärtigen Vorgangs geradezu gestört. Der gröſsere Teil des Erfahrenen bleibt dem Bewuſstsein verborgen und entfaltet doch eine bedeutende und seine Fortexistenz doku - mentierende Wirkung.

§ 2. Das Gedächtnis in seiner Abhängigkeit.

Den Kenntnissen von dem Dasein des Gedächtnisses und seinen Wirkungen geht zur Seite ein mannigfaltiges Wissen um die Bedingungen, von denen die Intensität des inneren Nachlebens, sowie die Treue und Promptheit der Reproduk - tionen sich abhängig zeigen.

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Wie verschieden verhalten sich die verschiedenen Indivi - duen in dieser Beziehung! Nicht nur verglichen mit anderen behält und reproduciert dieser gut, jener schlecht, sondern auch verglichen mit sich selbst jeder anders in anderen Phasen seines Daseins; verschieden am Morgen und am Abend, in der Jugend und im Alter.

Von erheblichem Einfluſs ist die Verschiedenheit des Inhalts des Reproducierten. Melodien können zur Qual werden durch die unerwünschte Hartnäckigkeit ihrer Wieder - kehr. Formen und Farben pflegen sich nicht gerade aufzu - drängen; und wenn sie sich wieder einstellen, geschieht es mit merklicher Einbuſse an Deutlichkeit und Sicherheit. Der Musiker schreibt für Orchester nieder was die inneren Stim - men ihm zusingen; der Maler verläſst sich selten ohne Nach - teil ganz auf das innerlich Angeschaute, er schafft nach der Natur und kombiniert nach Studien. Vergangene Gefühls - zustände endlich vergegenwärtigt man sich fast mit Mühe, in ziemlich blassen Schemen und oft nur durch die sie beglei - tenden Bewegungen. Gefühlswahrer Gesang ist seltener als korrekter Gesang.

Nimmt man die beiden vorigen Gesichtspunkte zusam - men das Verhalten verschiedener Individuen zu ver - schiedenen Inhalten , so zeigen sich unendliche Diffe - renzen. Der eine strömt über von poetischen Reminiscenzen, der andere dirigiert Symphonien aus dem Kopfe, während Zahlen und Formeln, die dem dritten fast ohne sein Zu - thun anfliegen, von jenen abgleiten wie von poliertem Stein.

Auſserordentlich groſs ist die Abhängigkeit des Behaltens und Reproducierens von der Intensität der Aufmerksam - keit und des Interesses, welche sich bei dem ersten Dasein der psychischen Zustände an diese hefteten. Das ge - brannte Kind scheut das Feuer und der geschlagene Hund5 den Stock nach einer einzigen höchst eindrucksvollen Erfah - rung; Menschen, für die man sich nicht interessiert, kann man täglich sehen, ohne sich gelegentlich einmal auf die Farbe ihrer Haare oder Augen besinnen zu können.

Unter gewöhnlichen Umständen freilich sind häufige Wiederholungen unerläſslich, damit die Reproduktion eines Inhalts möglich sei. Vokabeln, gröſsere Gedichte, Reden ver - mag man bei gröſster Anspannung und Begabung nicht durch einmalige Vorführung sich anzueignen. Durch genügende Re - petition gelingt ihre endliche Beherrschung und durch weitere Steigerung der Wiederholungen gewinnen die späteren Re - produktionen an Sicherheit und Leichtigkeit.

Sich selbst überlassen verliert jeder psychische Inhalt allmählich die Fähigkeit des Wiederauflebens oder erleidet doch Einbuſse an ihr durch den Einfluſs der Zeit. Von der Fülle von Kenntnissen, die man sich für die Bedürfnisse eines Examens einprägt, ist derjenige Teil, der durch die frühere Beschäftigung nicht genügend fundiert war und durch die spätere nicht genügend aufgefrischt wird, bald verflogen. Aber selbst ein so früh und tief Fundiertes wie die Muttersprache wird durch mehrjährigen Nichtgebrauch merklich geschädigt.

§ 3. Mangelhaftigkeit unseres Wissens über das Gedächtnis.

Das vorstehend skizzierte Bild unseres Wissens vom Ge - dächtnis macht keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Die Psychologie kennt noch eine Reihe von Sätzen, die sich ihm einfügen lieſsen: wer schnell lernt, vergiſst auch schnell , relativ lange Vorstellungsreihen haften fester als relativ kurze , der alternde Mensch vergiſst das Spätestgelernte am6 schnellsten u. s. w.; sie pflegt namentlich das Bild reichlich mit Beispielen oder auch Anekdoten auszumalen. Allein worauf es hier ankommt bei der weitestgehenden Detail - lierung unseres Wissens, zu der wir im stande sind, behält alles, was wir sagen können, den unbestimmten, allgemeinen, komparativen Charakter der oben angeführten Sätze. Unsere Kenntnis stammt fast ausschlieſslich aus der Beobachtung ex - tremer, besonders frappanter Fälle. Wir vermögen diese in allgemeiner Weise und in den vagen Ausdrücken des Mehr und Minder ganz zutreffend zu beschreiben und setzen wiederum ganz zutreffend voraus, daſs sich bei dem nicht besonders auffallenden, aber tausendfach häufigeren alltäglichen Wirken des Gedächtnisses dieselben Einflüsse in abgeschwächter Weise geltend machen werden. Aber treibt man die Neu - gier weiter und verlangt speciellere Aufschlüsse über das Detail der aufgezählten und anderer Abhängigkeitsbeziehungen, über ihre innere Struktur sozusagen, so verstummen die Ant - worten. In welcher Weise hängt das Schwinden der Repro - ducierbarkeit, das Vergessen, von der Länge der Zeit ab, innerhalb deren keine Wiederholungen stattfanden? In wel - chem Grade nimmt die Sicherheit der Reproduktionen zu mit der Anzahl jener Wiederholungen? Wie ändern sich diese Beziehungen bei verstärkter oder verminderter Intensität des Interesses an den reproducierbaren Gebilden? Das und der - gleichen vermag niemand zu sagen.

Und zwar besteht dieses Unvermögen nicht etwa deshalb, weil diese Verhältnisse zufällig noch nicht untersucht sind, aber morgen, oder wann man sich die Zeit dazu nähme, unter - sucht werden könnten. Sondern man fühlt unmittelbar aus den Fragen heraus, daſs zwar die in ihnen enthaltenen Vor - stellungen von Graden des Vergessens, der Sicherheit, des Interesses ganz korrekte sind, daſs uns aber die Mittel fehlen,7 in unseren Erfahrungen solche Grade anders als in den gröbsten Extremen und ohne jeden Anspruch auf genaue Be - grenzung festzustellen, daſs wir also zur Vornahme jener Untersuchungen gar nicht im stande sind. Unsere an ge - wissen frappierenden Erfahrungen gebildeten Begriffe ver - mögen wir in der Masse der mit jenen gleichartigen aber minder auffallenden Erfahrungen nicht verwirklicht zu finden; und umgekehrt: manche Begriffe, die uns zum Eindringen in das Detail der Thatsachen und zur theoretischen Beherrschung derselben dienlich und unentbehrlich sein würden, haben wir vermutlich noch nicht gebildet.

Denn diese beiden, die Erkenntnis des Einzelnen und die theoretische Verarbeitung desselben, hängen wechselseitig von einander ab, sie wachsen an und durch einander; und weil unser ganzes Wissen so unbestimmt und wenig specialisiert ist, deshalb ist es auch für ein eigentliches Verständnis, eine Theorie der Gedächtnis -, Reproduktions - und Associations - vorgänge bisher so unfruchtbar geblieben. Bei unseren Vor - stellungen z. B. über ihre körperlichen Grundlagen bedienen wir uns verschiedener Metaphern, von aufgespeicherten Vorstel - lungen, eingegrabenen Bildern, ausgefahrenen Geleisen u. s. w., von denen nur das eine ganz sicher ist, daſs sie nicht zu - treffen.

Natürlich hat das Bestehen aller dieser Mängel seine vollkommen zureichende Begründung in der auſserordentlichen Schwierigkeit und den Verwickelungen der Sache, und es steht dahin, ob wir trotz der klarsten Einsicht in das Unzuläng - liche unseres Wissens jemals wesentlich weiter kommen können. Vielleicht bleiben wir zu dauernder Resignation ge - zwungen. Allein eine etwas gröſsere Zugänglichkeit, als man bisher verwertet hat, läſst sich dem Gebiete, wie ich sogleich darzuthun hoffe, nicht absprechen. Wenn sich aber irgendwie8 ein Weg zu tieferem Eindringen zeigt, dann wird man, bei der Bedeutung des Gedächtnislebens für alles psychische Ge - schehen, auch wünschen müssen, daſs er einmal betreten werde. Denn schlimmsten Falls wird man jene Resignation lieber dem Scheitern ernstgemeinter Untersuchungen als dem dauernden ratlosen Staunen vor ihren Schwierigkeiten ent - springen sehen.

[9]

II. Möglichkeit der Erweiterung unseres Wissens über das Gedächtnis.

§ 4. Die naturwissenschaftliche Methode.

Das seiner Natur nach allgemein gültige Verfahren zur Gewinnung genauer, d. h. numerisch genauer, Einsichten in die innere Struktur von Kausalbeziehungen ist von den experi - mentellen Naturwissenschaften so vorwiegend angewandt und so vollkommen ausgebildet worden, daſs man es in der Regel als etwas ihnen Eigentümliches, als naturwissenschaftliches Verfahren bezeichnet. Es gilt aber, wie gesagt, seiner logi - schen Natur nach allgemein, für alle Gebiete des Seins und Geschehens; und die Möglichkeit, das thatsächliche Verhalten irgendwelcher Vorgänge genau und exakt zu beschreiben und damit der intuitiven Erfassung ihres Zusammenhanges eine zuverlässige Basis zu geben, hängt überall an der Möglich - keit, dieses Verfahren auf sie anzuwenden.

Worin es besteht, ist bekannt: man sucht den Komplex von Bedingungen, die sich für das Zustandekommen eines ge - wissen Effekts als maſsgebend erwiesen haben, konstant zu erhalten, variiert eine dieser Bedingungen isoliert von den10 übrigen und in numerisch fixierbarer Weise, und konstatiert dann auf der Seite des Effekts wiederum in einer Messung oder Zählung die begleitende Veränderung.

Einer Übertragung dieses Verfahrens auf die Unter - suchung psychischer Kausalbeziehungen im allgemeinen und derjenigen des Gedächtnislebens im besondern scheinen frei - lich zwei fundamentale und unüberwindliche Schwierigkeiten entgegenzustehen. Wie wollen wir erstens die verwirrende Fülle maſsgebender Bedingungen, die, soweit sie geistiger Natur sind, sich unserer Herrschaft so gut wie ganz entziehen und dazu noch unerschöpflich und unablässig sich ändern, wie wollen wir diese auch nur einigermaſsen konstant hal - ten? Wie wollen wir es zweitens möglich machen, den psy - chischen Vorgängen, den zeitlich schnell verfliegenden und begrifflich schwer zu analysierenden, mit einer Zählung bei - zukommen?

Ich diskutiere zunächst die zweite Schwierigkeit, und zwar in Beziehung zu dem uns beschäftigenden Gedächtnis - leben.

§ 5. Einführung numerischer Bestimmungen für das im Gedächtnis Aufbewahrte.

Überblickt man noch einmal die oben (§ 2) aufgeführten Bedingungen des Behaltens und Reproducierens, mit Rück - sicht jetzt auf die Möglichkeit einer Zählung, so erkennt man, daſs bei zweien derselben eine numerische Fixierung und ebenso eine numerische Variierung wohl möglich ist: die ver - schiedenen Zeiten, welche verflieſsen zwischen der ersten Er - zeugung und der Reproduktion von Vorstellungsreihen, kann man messen, und die Wiederholungen, welche nötig sind, um11 die Reihen reproducierbar zu machen, kann man zählen. Etwas Ähnliches fehlt zunächst auf der Seite der Wirkungen. Hier giebt es nur eine Alternative: eine Reproduktion ist entweder möglich oder sie ist unmöglich; sie geschieht oder bleibt aus. Wir setzen zwar voraus, daſs sie unter verschiedenen Um - ständen dem wirklichen Eintreten auch mehr oder weniger nahe sein könne, daſs das eigentliche innere Leben der Reihen also graduelle Verschiedenheiten habe. Allein, solange wir unsere Beobachtungen auf das beschränken, was aus der in - neren Welt zufällig, oder auch auf den Ruf unseres Willens, nach auſsen tritt, sind alle diese inneren Verschiedenheiten für uns in gleicher Weise nicht vorhanden.

Bei etwas geringerer Beschaulichkeit können wir sie in - dessen auf einem Umwege auch äuſserlich hervortreten lassen.

Ein Gedicht werde auswendig gelernt und dann nicht wieder repetiert. Wir wollen annehmen, daſs es nach einem halben Jahre vergessen sei: keine Anstrengung des Besinnens vermöge es wieder ins Bewuſstsein zurückzurufen, höchstens vereinzelte Bruchstücke kehren wieder. Gesetzt, es werde jetzt aufs neue auswendig gelernt. Dann zeigt sich, daſs es, obwohl allem Anschein nach total vergessen, doch noch eine kräftige Wirkung entfaltet. Das Auswendiglernen wird merk - lich weniger Zeit oder merklich weniger Wiederholungen in Anspruch nehmen, als das erste Mal; oder auch als jetzt nötig sein würden, um ein ähnliches und gleichlanges Gedicht aus - wendig zu lernen. An der Differenz dieser Zeiten oder Wieder - holungen gewinnen wir offenbar ein gewisses Maſs für die innere Energie, welche dem das Gedicht ausmachenden ge - ordneten Vorstellungskomplex ein halbes Jahr nach seiner ersten Einprägung noch beiwohnt. Nach einer kürzeren Zeit würde die Differenz vermutlich gröſser gefunden werden, nach einer längeren geringer; war das erste Auswendiglernen ein12 sehr sorgfältiges und lange fortgesetztes, so wird sie wiederum gröſser sein, als wenn es flüchtig geschah und bald abge - brochen wurde.

Kurz, wir haben in diesen Differenzen jedenfalls nume - rische Ausdrücke für die inneren Verschiedenheiten nachleben - der Vorstellungsreihen, die wir sonst zwar voraussetzen müssen, aber durch direkte Beobachtung nicht nachzuweisen vermögen. Damit aber haben wir in ihnen auch etwas, was mindestens dem gleicht, was wir suchen, um eine Handhabe für die An - wendung der naturwissenschaftlichen Methode zu gewinnen: wohl konstatierbare, bei Variierung der Umstände ebenfalls variierende, numerisch fixierbare Erscheinungen auf der Seite der Effekte. Ob wir in ihnen richtige Maſszahlen besitzen für jene inneren Verschiedenheiten, und ob wir dementspre - chend durch sie zu richtigen Einsichten in die Kausalver - bindungen gelangen, in welche jenes innerlich Lebende ein - geht, das läſst sich nicht a priori bestimmen. Ganz ebenso wenig wie die Chemie a priori bestimmen konnte, ob es die elektrischen oder thermischen oder andere Begleiterscheinungen der chemischen Verbindungsvorgänge seien, an denen sie ein richtiges Maſs der ins Spiel tretenden Affinitätskräfte habe. Dazu giebt es nur den einen Weg, daſs man zusieht, ob man unter Voraussetzung der Richtigkeit zu wohlgeordneten, widerspruchslosen Resultaten und zu richtigen Anticipationen der Zukunft zu gelangen vermag.

Statt des einfachen Geschehens, Eintreten oder Ausblei - ben einer Reproduktion, welches keine numerischen Unter - schiede zuläſsst, will ich also versuchsweise einen zusammen - gesetzteren Vorgang als den Effekt betrachten, dessen Ver - änderungen bei Variierung der Umstände ich messend beob - achte: nämlich die künstliche Herbeiführung einer nicht von13 selbst eintretenden Reproduktion durch eine entsprechende Anzahl von ihr entgegenkommenden Wiederholungen.

Allein damit diese Verwertung auch nur versuchsweise möglich sei, müssen jedenfalls noch zwei Bedingungen er - füllt sein.

Es muſs einmal möglich sein, den Moment, in dem das Auswendiglernen beendet wird, weil sein Zweck, das Aus - wendigwissen, als erreicht gilt, mit einiger Sicherheit zu präci - sieren. Denn wenn das Auswendiglernen bald länger, bald weniger lange fortgesetzt würde, so würde ein Teil der unter verschiedenen Umständen gefundenen Differenzen auf Rech - nung dieser Ungleichheit kommen und mit Unrecht auf innere Verschiedenheiten von Vorstellungsreihen gedeutet werden. Man muſs also unter den verschiedenen Reproduktionen, die man bei dem Auswendiglernen z. B. eines Gedichts diesem zu teil werden läſst, eine als besonders charakteristisch be - zeichnen und dieselbe zugleich praktisch gut wieder auffinden können.

Man muſs zweitens voraussetzen dürfen, daſs die Anzahl von Wiederholungen, durch welche unter sonst gleichen Umständen diese charakteristische Reproduktion herbei - geführt wird, allemal dieselbe sei. Denn ist diese Zahl auch unter sonst gleichen Umständen bald so bald anders, so ver - lieren natürlich die Differenzen, die sich unter verschiedenen Umständen herausstellen, jede Bedeutung für die Beurteilung dieser Verschiedenheiten.

Was nun die erste Bedingung anbetrifft, so ist sie da, wo man von einem Auswendiglernen überhaupt nur sprechen kann, bei Gedichten, Wortreihen, Tonfolgen u. s. w., wohl erfüllbar. Wir sehen hier überall mit zunehmender Zahl der Wiederholungen die Reproduktionen erst stückweise und stockend möglich werden, weiter an Sicherheit zunehmen und14 schlieſslich glatt und fehlerlos ablaufen. Man kann offenbar die der Zahl nach erste Reproduktion, bei der dieser letzte Erfolg eintritt, als besonders charakteristische nicht nur be - zeichnen, sondern auch praktisch erkennen. Ich bezeichne sie gelegentlich kurz als die erstmögliche Reproduktion.

Es fragt sich also, erfüllt diese die obige zweite Be - dingung? ist die Anzahl der zu ihrer Herbeiführung erforder - lichen Wiederholungen, unter übrigens gleichen Umständen, allemal dieselbe?

Jedoch in dieser Form wird die Frage mit Recht zurück - gewiesen werden, weil sie das eigentlich Fragliche und den wahren Kern der Sache gewissermaſsen als selbstverständliche Voraussetzung oktroyiere und nun nur eine irreleitende Ant - wort zulasse. Daſs jenes Abhängigkeitsverhältnis bei völ - liger Gleichheit der Versuchsbedingungen ein konstantes sei, wird man ohne Bedenken zuzugeben bereit sein. Die vielberufene Freiheit der Seele wenigstens ist schwerlich schon von jemandem so miſsverstanden worden, daſs sie hier Platz griffe. Allein diese theoretische Konstanz ist von geringer Bedeutung; wie soll ich sie finden, wenn die Umstände, unter denen ich thatsächlich zu beobachten ge - zwungen bin, niemals die gleichen sind? Ich muſs also viel - mehr fragen: kann ich die unvermeidlich und immer schwan - kenden Umstände wenigstens soweit in meine Gewalt bekom - men und ausgleichen, daſs die vermutlich in ihnen waltende Konstanz des in Rede stehenden Abhängigkeitsverhältnisses für mich sichtbar und greifbar wird?

Und so hätte uns denn die Erörterung der einen Schwierig - keit, die sich der exakten Untersuchung von Kausalverhält - nissen auf dem psychischen Gebiet entgegenstellt (§ 4), von selbst auf die andere geführt. Eine numerische Fixierung von einander korrespondierenden Änderungen der Ursachen15 und Wirkungen erscheint uns unter Umständen wohl möglich, wenn wir nur bei den Wiederholungen unserer Versuche die an und für sich schon erforderliche Gleichheit der maſsgeben - den Bedingungen verwirklichen können.

§ 6. Möglichkeit der Herstellung konstanter Versuchs - bedingungen.

Wer an die komplicierten Vorgänge des höheren psychi - schen Lebens denkt oder herkommt von der Beschäftigung mit den noch komplicierteren Erscheinungen des Staats - und Gesellschaftslebens, wird im allgemeinen geneigt sein, die Möglichkeit, behufs psychologischer Experimente konstante Versuchsumstände herzustellen, zu verneinen. Nichts ist uns geläufiger als die Willkür, das aller Vorsicht und Berechnung Spottende des geistigen Geschehens. Faktoren, die offenbar höchst maſsgebende sind und ebenso höchst wandelbare, die geistige Frische, das Interesse an dem Gegenstande, die An - spannung der Aufmerksamkeit, die durch plötzliche Einfälle und Entschlüsse bewirkten Veränderungen des Gedankenlaufs, haben wir gar nicht oder nur in ungenügender Weise in un - serer Gewalt.

Indessen man wird sich doch hüten müssen, diesen rich - tigen Einsichten zu viel Wichtigkeit beizulegen auſserhalb der Vorgänge, aus deren Beobachtung sie gewonnen wurden. Alle jene unbotmäſsigen Momente sind von der gröſsten Wichtig - keit für die höheren geistigen Vorgänge, die überhaupt nur bei einer besonders günstigen Konkurrenz der Umstände zu stande kommen. Die niederen, alltäglichen und ohne Unter - laſs geschehenden Prozesse sind ihrem Einfluſs keineswegs entzogen, aber wir haben es allerdings meist in unserer Ge - walt, da, wo es darauf ankommt, denselben praktisch wenig16 störend zu machen. Das sinnliche Wahrnehmen z. B. ge - schieht gewiſs mit gröſserer oder geringerer Genauigkeit je nach dem Grade des Interesses, es wird fortwährend in an - dere Bahnen gelenkt durch den Wechsel der äuſseren Ein - drücke und durch innere Einfälle. Aber trotzdem sind wir im allgemeinen ganz befriedigend im stande, ein Haus eben dann zu sehen, wenn wir es sehen wollen und bei zehnmaliger Wiederholung dieser Betrachtung zehnmal hinter einander praktisch dasselbe Bild von ihm zu empfangen, falls keine objektive Veränderung eingetreten ist.

Daſs es sich mit dem alltäglichen Behalten und Reprodu - cieren, welches man doch mit allseitiger Übereinstimmung dem sinnlichen Wahrnehmen zunächst zu rangieren pflegt, ähnlich verhalten solle, hat von vornherein nichts Ungereimtes. Ob es sich aber thatsächlich so verhält oder nicht, das, sage ich wiederum wie vorhin, können wir uns nicht anmaſsen a priori entscheiden zu wollen. Unser gegenwärtiges Wissen ist viel zu fragmentarisch, zu allgemein, zu sehr von dem Auſsergewöhnlichen abstrahiert, als daſs wir diese Entscheidung bei ihm suchen könnten; sie muſs eigens darauf gerichteten Untersuchungen vorbehalten bleiben. Man muſs diejenigen Umstände, deren Einfluſs auf das Behalten und Reproducieren man kennt oder vermutet, versuchsweise einmal so konstant zu halten suchen wie man eben kann, und zusehen, ob das genügt. Das Material wird man so zu wählen haben, daſs erhebliche Verschiedenheiten der Anteilnahme ausgeschlossen erscheinen; die Gleichheit der Aufmerksamkeit läſst sich be - fördern durch Fernhaltung äuſserer Störungen; plötzliche Ein - fälle hat man nicht in der Gewalt, aber im allgemeinen ist ihre störende Wirkung auf Momente beschränkt und wird verhältnismäſsig weniger ins Gewicht fallen, wenn man das Experiment zeitlich ausdehnt u. s. f.

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Wenn wir aber nun in solcher Weise die uns erreichbare gröſstmögliche Konstanz der Umstände verwirklicht haben, woran wollen wir erkennen, ob dieselbe für unsere Zwecke praktisch hinreicht? Wann sind die Umstände, die ja doch der schärferen Betrachtung immer noch genug Verschieden - heiten darbieten werden, genügend konstant? Man wird antworten: dann, wenn bei Wiederholung der Untersuchungen die Resultate konstant bleiben. Dies letztere scheint einfach genug zu sein, um sich unmittelbar und von selbst zu er - kennen zu geben. Aber der Sache näher tretend stöſst man doch auf eine Schwierigkeit.

§ 7. Konstante Durchschnittszahlen.

Wann sollen die unter möglichst gleichen Umständen aus wiederholten Untersuchungen gewonnenen Resultate als kon - stant oder als genügend konstant gelten? Wenn eines den - selben Wert hat wie das andere, oder doch so wenig davon abweicht, daſs die Differenz im Verhältnis zu seiner eigenen Gröſse und zu unseren Zwecken nicht in Betracht kommt?

Offenbar nicht. Das wäre zu viel verlangt und wird auch von den Naturwissenschaften nicht überall geleistet. Also wohl dann, wenn die Durchschnittszahlen aus gröſseren Grup - pen von Versuchen jenes Verhalten zeigen?

Offenbar auch nicht. Das wäre zu wenig verlangt. Denn wenn Beobachtungen von Vorgängen, die nur unter irgend einem Gesichtspunkt eine Ähnlichkeit zeigen, in genügend groſser Zahl zusammengeworfen werden, so kommt man fast überall zu leidlich konstanten Durchschnittszahlen, die doch für solche weiteren Zwecke, wie wir sie hier im Auge haben, keine oder nur geringe Bedeutung besitzen. Die genaue Ent -Ebbinghaus, Über das Gedächtnis. 218fernung zweier Signalstangen, die Position eines Sterns zu bestimmter Stunde, die Ausdehnung eines Metalls für eine bestimmte Temperaturzunahme, alle die zahlreichen Expo - nenten, Koefficienten und sonstigen Konstanten der Physik und Chemie werden uns immer nur gegeben als sehr an - nähernd konstante Durchschnittswerte aus differierenden Einzel - beobachtungen. Andrerseits sind die Anzahl der Selbstmörder in einem bestimmten Monat, die mittlere Lebensdauer an einem Orte, die Zahl der Wagen und Passanten pro Tag an einer bestimmten Straſsenecke u. s. w. ebenfalls je im Durchschnitt aus gröſseren Gruppen von Beobachtungen merklich konstant. Allein beide Arten von Zahlen, die ich vorübergehend als naturwissenschaftliche und statistische Konstanten bezeichnen will, sind, wie jedermann weiſs, konstant aus verschiedenen Gründen und mit ganz verschiedenem Nutzen für die Er - kenntnis von Kausalverhältnissen.

Man kann die Unterschiede etwa folgendermaſsen for - mulieren.

Bei der Hervorbringung der naturwissenschaftlichen Kon - stanten wird jeder einzelne Effekt erzeugt durch eine Kom - bination von ganz denselben Ursachen. Die Einzelwerte fallen dabei etwas verschieden aus, weil eine gewisse Anzahl jener Ursachen nicht immer mit genau denselben Werten in die Kombination eingeht (kleine Fehler bei der Einstellung und dem Ablesen der Instrumente, Unregelmäſsigkeiten in der Textur und Zusammensetzung der untersuchten oder benutzten Körper u. s. w.). Dieses Schwanken einzelner Ursachen je - doch geschieht erfahrungsmäſsig nicht absolut regellos, sondern pflegt begrenzte, verhältnismäſsigkleine Kreise von Werten symmetrisch um einen Mittelwert zu durchlaufen, oder besser durchzuprobieren. Bei Zusammen - fassung mehrerer Fälle müssen sich dadurch die Effekte der19 einzelnen Schwankungen mehr und mehr kompensieren zu dem Effekt des mittleren Wertes, um den herum sie stattfinden. Und das schlieſsliche Resultat der Zusammenfassung wird an - nähernd dasselbe sein, als ob die thatsächlich veränderlichen Ursachen nicht nur begrifflich sondern auch numerisch ganz dieselben geblieben wären. Der Durchschnittswert ist also in diesen Fällen der adäquate zahlenmäſsige Repräsentant eines begrifflich bestimmten, wohlumschriebenen Zusammen - wirkens; wird ein Glied der Konfiguration variiert, so geben wiederum die begleitenden Veränderungen dieses Durchschnitts - wertes die richtigen Maſse für den Effekt jener Variierungen auf den gesamten Komplex.

Bei den statistischen Konstanten dagegen kann man unter keinem möglichen Gesichtspunkt mehr sagen, daſs jeder Einzel - wert durch das Zusammenwirken von denselben Ursachen erzeugt worden sei, die teilweise, innerhalb mäſsiger Grenzen und im ganzen in symmetrischer Weise schwankende Werte gehabt hätten. Die Einzeleffekte entspringen vielmehr einer oft unentwirrbaren Fülle von ganz verschiedenartigen Ursachen - kombinationen, die zwar zahlreiche Momente mit einander teilen mögen, aber im ganzen keine begriffliche Ge - meinschaft haben und wesentlich nur in irgend einem Merkmal der Effekte übereinstimmen. Daſs die Werte der einzelnen Effekte dabei sehr verschieden werden müssen, ist sozusagen selbstverständlich. Daſs nichtsdestoweniger auch hier bei Zusammenfassung groſser Gruppen annähernd kon - stante Zahlen zu Tage treten, bringen wir uns dadurch näher, daſs wir sagen, in gleichen und ziemlich groſsen Zeitstrecken oder Raumgebieten werden die einzelnen Ursachenkombina - tionen annähernd gleich häufig verwirklicht; ohne daſs wir freilich damit mehr thun, als eine eigenartige und wunder - bare Veranstaltung der Natur als solche zu konstatieren. 2*20Diese konstanten Durchschnittszahlen repräsentieren demnach nicht bestimmte und einzelne Ursachensysteme, sondern Zu - sammenfassungen von solchen, die ohne weitere Hülfsmittel nicht durchsichtig sind. Ihre Veränderungen bei Variierung der Umstände geben daher auch keine eigentlichen Maſszahlen für die Effekte dieser Variierungen, sondern nur Fingerzeige für dieselben. Sie sind nicht direkt zu verwerten für die Aufstellung numerisch genauer Abhängigkeitsbeziehungen, aber sie arbeiten dieser vor.

Kehren wir hiernach zurück zu der am Anfang dieses Paragraphen gestellten Frage: wann ist die von uns nach bestem Können versuchsweise verwirklichte Gleichheit der Umstände als genügend zu betrachten? so lautet die Ant - wort: dann, wenn die Durchschnittswerte aus mehreren Be - obachtungen annähernd konstant sind, und wenn wir gleich - zeitig annehmen können, daſs die einzelnen Fälle stets dem - selben System von Ursachen entsprungen sind, dessen Glieder dabei nur nicht auf durchaus konstante Werte beschränkt waren, sondern kleine Kreise numerischer Möglichkeiten sym - metrisch um einen Mittelwert durchlaufen durften.

§ 8. Das Fehlergesetz.

Indessen abschlieſsend wird durch die eben gefundene Auskunft unsere Frage doch noch nicht beantwortet. Gesetzt, wir hätten für irgend ein psychisches Geschehen auf irgend eine Weise befriedigend konstante Durchschnittszahlen gefun - den, wie denken wir nun zu erfahren, ob wir die zu ihrer weiteren Verwertung erforderliche Annahme einer gleichartigen Verursachung machen dürfen oder nicht? Der Physiker weiſs im allgemeinen voraus, daſs er es mit einer einzigen Ursachen -21 kombination, der Statistiker, daſs er es mit einer, trotz aller Zerlegungen immer noch unentwirrbaren Fülle derselben zu thun haben wird; beide aus der gröberen Kenntnis der Vor - gänge heraus, die sie bereits besitzen, ehe sie an die feinere Untersuchung herantreten. Wenn uns aber vorhin das gegen - wärtige Wissen der Psychologie zu unbestimmt und zu un - zuverlässig erschien, um daraufhin über die Möglichkeit der Herstellung konstanter Versuchsbedingungen zu entscheiden, so wird dasselbe jetzt wohl auch nicht zureichen, um befriedigend auszumachen, ob wir es in einer gegebenen Gruppe von Fällen mit einer überall gleichartigen Ursachenkombination zu thun haben oder mit einer zufällig einmal zusammenwirkenden Mehrheit von solchen. Es fragt sich daher, können wir viel - leicht noch durch die Hülfe eines sonstigen Kriteriums über die Art der Verursachung der Resultate ins klare kommen, die wir bei der uns möglichen Gleichhaltung der Umstände gewinnen?

Man muſs antworten: nicht mit absoluter Sicherheit, aber allerdings mit groſser Wahrscheinlichkeit. Ausgehend näm - lich von Voraussetzungen, welche denjenigen möglichst nahe - kommen, die bei der Gewinnung physikalischer Durchschnitts - zahlen verwirklicht werden, hat man die Konsequenzen unter - sucht, welche sich aus denselben ganz unabhängig von der sachlichen Beschaffenheit der Ursachen lediglich für die Lage - rung der differierenden Einzelwerte um den resultierenden Mittelwert ergeben. Wiederholte Vergleiche mit thatsächlich ge - machten Beobachtungen haben gezeigt, daſs die Ähnlichkeit der Voraussetzungen in der That groſs genug ist, um zu einer Übereinstimmung der Folgen zu führen: das Resultat jener Spekulationen trifft mit groſser Annäherung die Wirklichkeit. Es besteht darin, daſs die Gruppierung einer gröſseren Zahl von Einzelwerten, die durch gleichartige Verursachung unter22 den mehrbesprochenen Modifikationen zu stande gekommen sind, zutreffend beschrieben werden kann durch eine mathematische Formel, das sogenannte Fehlergesetz, welche besonders da - durch charakteristisch ist, daſs sie nur eine einzige Unbekannte enthält. Diese Unbekannte miſst die relative Dichtigkeit der Scharung der Einzelwerte um ihren Mittelwert, sie wechselt demnach mit der Art der Beobachtungen und wird im übrigen aus diesen selbst durch Rechnung bestimmt.

Anmerkung. Für das nähere in Bezug auf diese Formel, auf das es hier nicht ankommt, muſs ich auf die Lehrbücher der Wahrscheinlich - keitsrechnung und Fehlertheorie verweisen. Für Leser, welche mit der

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23 letzteren nicht vertraut sind, wird eine graphische Erläuterung ver - ständlicher sein als die Mitteilung und Diskussion der Formel. Man denke sich eine bestimmte Beobachtung 1000mal wiederholt. Jede Be - obachtung als solche werde repräsentiert durch den Raum eines Qua - dratmillimeters, ihr numerischer Wert aber, oder vielmehr ihre Ab - weichung von dem Mittelwert der sämtlichen 1000 Beobachtungen durch ihre Anordnung längs einer der Horizontallinien p q der nebenstehen - den Fig. 1. Für jede Beobachtung, die mit dem Mittelwert gerade übereinstimmt, werde 1 mm auf die Vertikallinie m n gelegt, für jede Beobachtung, die um eine Einheit nach oben abweicht, 1 mm auf eine Vertikallinie rechts von m n, die um 1 mm entfernt ist u. s. w.; für jede Beobachtung, die um x Einheiten nach oben (resp. unten) von dem Mittel abweicht, komme 1 mm auf eine um x mm rechts (resp. links) von m n entfernte Vertikale. Sind alle Beobachtungen in dieser Weise angeordnet, so denke man sich die äuſsere Kontur der belegten Fläche so weit zusammengedrückt, daſs die vorspringenden Ecken der einzelnen Quadrate sich in eine gleichmäſsig verlaufende Kurve ver - wandeln. Waren nun die differierenden Einzelwerte so entstanden, daſs ihr Mittel betrachtet werden kann als eine Konstante im naturwissen - schaftlichen Sinne, so ist die Gestalt der resultierenden Kurve von der Art der in Fig. 1 mit a und b bezeichneten; ist der Mittelwert eine statistische Konstante, so hat die Kurve irgend eine anders - artige Form. (Die Kurven a und b schlieſsen mit den Linien p q ge - rade je 1000 mm ein. Genau ist das nur bei unendlicher Verlänge - rung der Kurven und der Linien p q der Fall, aber dieselben nähern sich einander schlieſslich so sehr, daſs da wo die Zeichnung abbricht, für jeden Kurvenzweig nur noch 2 3 mm an der vollen Zahl fehlen.) Ob für eine bestimmte Gruppe von Beobachtungen die Kurve mehr eine steile oder mehr eine flache Form hat, hängt von der Natur dieser Beobachtungen ab. Je genauer sie sind, desto mehr häufen sie sich um den Mittel - wert an, desto seltener sind grobe Fehler, desto steiler ist also die Kurve, und umgekehrt. Im übrigen ist das Bildungsgesetz der Kurve allemal dasselbe. Entnimmt man also einem bestimmten Beobachtungs - komplex irgend einen Maſsstab für die Dichtigkeit der Scharung der Beobachtungen, so übersieht man die Gruppierung der ganzen Masse. Man könnte z. B. angeben, wie oft eine Abweichung von bestimmter Gröſse vorkommt, oder wie viel Beobachtungen zwischen bestimmten Abweichungen gezählt werden. Oder aber wie ich im folgenden thun werde man giebt an, welche Abweichung zwischen sich und dem Mittelwert einen bestimmten Prozentsatz aller Beobachtungen ein -24 schlieſst. Die Linien + w und w unserer Figur schneiden z. B. aus der ganzen, die Beobachtungen repräsentierenden Fläche gerade die centrale Hälfte heraus. Aber bei den genaueren Beobachtungen von 1b sind sie nur halb so weit von m n entfernt, wie bei 1a. Die Angabe ihrer verhältnismäſsigen Entfernung giebt also ebenfalls einen Maſsstab für die Sicherheit der Beobachtungen.

Man kann demnach sagen: überall, wo eine Gruppe von Wirkungen betrachtet werden kann als hervorgegangen jedesmal aus derselben Ursachenkombination, die sich allerdings jedes - mal nur unter sogenannten zufälligen Störungen verwirklichte, da gruppieren sich diese Werte entsprechend dem Fehler - gesetz.

Nun gilt freilich nicht ohne weiteres auch die Umkeh - rung dieses Satzes, daſs nämlich überall, wo eine Gruppierung von Werten gemäſs dem Fehlergesetz angetroffen wird, auf jene Art der Verursachung derselben zurückgeschlossen wer - den darf. Warum sollte die Natur nicht gelegentlich auf kompliciertere Weise eine analoge Gruppierung herbeiführen können? Thatsächlich nur scheint das ein auſserordentlich seltenes Vorkommnis zu sein. Denn unter allen den Zahlen - gruppen, welche die Statistik zu Durchschnittszahlen zusammen - zuziehen pflegt, ist bisher nicht eine einzige gefunden worden, welche zweifellos einer Vielheit von Ursachensystemen ent - stammte und dabei die durch das Fehlergesetz beschriebene Anordnung zeigte*Die Zahlen, welche das Vorkommen von Knaben - resp. Mädchen - geburten unter je einer gröſseren Anzahl von Gesamtgeburten angeben, sollen sich sehr genau gemäſs dem Fehlergesetz gruppieren. Aber bei diesen wird es ebendarum sehr wahrscheinlich, daſs sie einer gleichartigen, auf die Erzeugung eines ganz bestimmten Verhältnisses sozusagen hin - zielenden Kombination physiologischer Ursachen entspringen (s. Lexis, Zur Theorie der Massenerscheinungen in der menschlichen Gesellschaft u. a. S. 64)..

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Man wird sich daher dieses Gesetzes, wenn nicht als eines unbedingt sicheren, so doch als eines mit groſser Wahr - scheinlichkeit orientierenden Kriteriums bedienen können, um zu erkennen, ob die annähernd konstanten Mittelwerte, die man durch irgend ein Verfahren erhält, als wahre naturwissen - schaftliche Konstanten versuchsweise weiter verwertet werden dürfen oder nicht. Dasselbe giebt nicht die hinreichenden, aber eine der notwendigen Bedingungen für diese Verwertbarkeit, und die endliche Aufklärung muſs man von dem Fortgange eben der Untersuchungen erwarten, denen es eine gewisse Sicherheit der Unterlage geben hilft. Den von ihm gebotenen Maſsstab habe ich daher auch zur Beantwortung unserer im - mer noch schwebenden Frage angelegt: ist die durchschnitt - liche Anzahl von Wiederholungen, die erforderlich sind, um unter möglichst gleichen Umständen gleichartige Reihen bis zur erstmöglichen Reproduktion zu lernen, eine konstante Durchschnittszahl im naturwissenschaftlichen Sinne? Und wie ich gleich vorwegnehmend bemerke, ist die Antwort hierauf in den untersuchten Fällen bejahend ausgefallen.

§ 9. Résumé.

Gegen die Übertragung der sogenannten naturwissen - schaftlichen Methode auf die Untersuchung psychischer Vor - gänge erheben sich zwei, wie es scheint, fundamentale Schwierig - keiten: 1) der stete Fluſs und die Unbotmäſsigkeit des psychischen Geschehens erlauben nicht die Herstellung kon - stanter Versuchsbedingungen; 2) die psychischen Vorgänge bieten keine direkte Handhabe für eine Messung oder Zählung.

Für das specielle Gebiet des Gedächtnislebens (Lernen, Behalten, Reproducieren) läſst sich die zweite Schwierigkeit26 einigermaſsen überwinden. Unter den äuſseren Bedingungen dieser Vorgänge sind einige der Messung direkt zugänglich (Zeit, Zahl der Wiederholungen). Dieselben lassen sich verwerten, um auch da indirekt ein numerisches Element zu gewinnen, wo dies direkt nicht mehr möglich ist. Man muſs nicht ab - warten, bis die dem Gedächtnis anvertrauten Vorstellungs - reihen von selbst wieder ins Bewuſstsein treten, sondern man muſs ihnen entgegenkommen und sie so weit auffrischen, bis sie gerade fehlerlos reproduciert werden können. Die dazu unter bestimmten Umständen erforderliche Arbeit betrachte ich versuchsweise als ein Maſs für den Einfluſs dieser Um - stände; die bei Abänderung der Umstände hervortretenden Arbeitsdifferenzen als Maſse für den Einfluss eben jener Ab - änderungen.

Ob sich auch die erste Schwierigkeit, die der Herstel - lung konstanter Versuchsumstände, befriedigend überwinden lasse, kann a priori nicht entschieden werden. Man muſs einmal Versuche unter möglichst gleichen Umständen anstellen und zusehen, ob die, im einzelnen voraussichtlich immer von einander abweichenden Resultate bei Zusammenfassung gröſse - rer Gruppen konstante Durchschnittswerte liefern. Indes an und für sich ist das noch nicht hinreichend, um die gefun - denen Zahlen zur Aufstellung numerischer Abhängigkeits - beziehungen im naturwissenschaftlichen Sinne zu verwerten. Die Statistik operiert mit einer groſsen Menge konstanter Durchschnittszahlen, die gar nicht der häufigen Wiederholung eines begrifflich gleichartigen Geschehens entspringen und also auch nicht zu weiteren Einsichten in ein solches ver - helfen können. Bei der groſsen Kompliciertheit des psychi - schen Lebens läſst sich die Möglichkeit nicht abweisen, daſs etwa gefundene konstante Mittelwerte von der Art solcher statistischen Konstanten sind. Um darüber zu orientieren,27 untersuche ich die Gruppierung der einzelnen, zu einem Durchschnittswert zusammengefaſsten Zahlen. Entspricht die - selbe derjenigen Verteilung, die in den Naturwissenschaften überall gefunden wird, wo die wiederholte Beobachtung eines gleichartigen Geschehens differierende Einzelwerte giebt, so nehme ich wiederum versuchsweise an, daſs auch der betreffende wiederholt untersuchte psychische Vorgang allemal unter genügend gleichen Umständen für unsere Zwecke von statten gegangen sei. Zwingend ist diese Annahme nicht, aber sehr wahrscheinlich. Ist sie falsch, so wird der Fort - gang der Untersuchungen dies voraussichtlich von selbst leh - ren: die von verschiedenen Gesichtspunkten gestellten Fragen werden zu widersprechenden Resultaten führen.

§ 10. Der wahrscheinliche Fehler.

Die Gröſse, welche die Dichtigkeit der gewonnenen Be - obachtungen miſst und die ihre Verteilung darstellende For - mel für jeden Fall zu einer bestimmten macht, kann man, wie schon erwähnt, verschieden wählen. Ich benutze den sogenannten wahrscheinlichen Fehler (w), d. h. diejenige Abweichung von dem Mittelwert nach oben und nach unten, welche von den Einzelwerten ebenso oft überschritten wie nicht erreicht wird, welche also zwischen ihrem positiven und negativen Betrag gerade die Hälfte aller Beobachtungsresul - tate, symmetrisch um den Mittelwert gelagert, einschlieſst. Man kann sie, wie aus ihrem Begriff ersichtlich, aus diesen Resultaten durch einfaches Abzählen herausfinden, genauer geschieht dies durch eine theoretisch begründete Berechnung.

Hat man nun für irgend eine Gruppe von Beobachtungs - werten diese Berechnung versuchsweise angestellt, dann erkennt28 man eine dem Fehlergesetz entsprechende Gruppierung jener Werte daran, daſs innerhalb der Teile und Multipla des ver - suchsweise berechneten wahrscheinlichen Fehlers annähernd so viel Einzelwerte in symmetrischer Verteilung um den Mittelwert gezählt werden, wie die Theorie jenes Gesetzes verlangt.

Nach dieser sollen beispielweise fallen von je 1000 Be - obachtungen:

Besteht diese Übereinstimmung in genügender Weise, dann reicht die einzige Angabe des wahrscheinlichen Fehlers hin, um die Lagerung sämtlicher Beobachtungen zu charak - terisieren, und gleichzeitig giebt seine Gröſse einen brauch - baren Maſsstab für die Dichtigkeit ihrer Scharung um den Mittelwert, d. h. für ihre Genauigkeit und Vertrauenswürdigkeit.

Und wie in solcher Weise von einem wahrscheinlichen Fehler der einzelnen Beobachtungen (wb), so kann man auch sprechen von einem wahrscheinlichen Fehler der Mittelwerte (wm). Derselbe beschreibt ganz entsprechend die Gruppierung, welche sich für verschiedene Mittelwerte herausstellen würde, wenn man die Beobachtung desselben Phänomens noch sehr oft29 wiederholte und jedesmal ebenso viele Beobachtungen wie gegenwärtig zu einem Mittelwert zusammenfaſste; er giebt eine kurze aber zureichende Charakteristik der Schwankungen der aus Wiederholung der Beobachtungen resultierenden Mittelwerte und damit ebenfalls ein Maſs für die Sicherheit und Vertrauenswürdigkeit des gegenwärtig gefundenen. Er ist daher im folgenden überall beigefügt worden. Wie er be - rechnet wird, kann wiederum hier nicht auseinandergesetzt werden, wenn nur klar ist, was er bedeutet. Er sagt also, daſs man auf Grund des Charakters der sämtlichen Beobach - tungen, aus denen man gegenwärtig einen Mittelwert gewon - nen hat, mit der Wahrscheinlichkeit 1 zu 1 hoffen darf, dieser Wert weiche höchstens um die Breite seines wahr - scheinlichen Fehlers von demjenigen Mittelwert ab, der aus unendlich oft wiederholten Beobachtungen als der präsumtiv richtige resultieren würde. Eine gröſsere Abweichung fängt gerade an, unwahrscheinlich im mathematischen Sinne zu werden, d. h. eine gröſsere Wahrscheinlichkeit gegen sich als für sich zu haben. Und, wie ein Blick auf die eben mit - geteilte Tabelle lehrt, wächst die Unwahrscheinlichkeit gröſse - rer Abweichungen auſserordentlich schnell mit zunehmender Gröſse der letzteren. Dafür z. B., daſs die Abweichung des gefundenen Mittelwertes von dem präsumtiv richtigen die fache Breite des gleichzeitig gefundenen wahrscheinlichen Fehlers übersteige, besteht nur die Wahrscheinlichkeit 92: 908, also etwa 1: 10, für Überschreitung der vierfachen Breite die geringe Wahrscheinlichkeit 7: 993 (d. h. 1: 142).

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III. Methode der Untersuchung.

§ 11. Sinnlose Silbenreihen.

Um den Weg zu tieferem Eindringen in die Gedächtnis - vorgänge, auf den die vorangegangenen Überlegungen hin - weisen, einmal praktisch allerdings nur für ein sehr be - schränktes Gebiet zu erproben, habe ich folgendes Ver - fahren eingeschlagen.

Aus den einfachen Konsonanten des Alphabets und un - seren elf Vokalen und Diphthongen wurden alle überhaupt möglichen Silben einer bestimmten Art gebildet, und zwar alle in der Weise, dass ein Vokallaut in der Mitte steht und zwei Konsonanten ihn umgeben*Die benutzten Vokallaute waren, a, e, i, o, u, ä, ö, ü, au, ei, eu. Am Anfang der Silben wurden verwandt die Konsonanten b, d, f, g, h, j, k, l, m, n, p, r, s (= sz), t, w, auſserdem ch, sch, weiches s und das französische j (zusammen 19); am Ende f, k, l, m, n, p, r, s (= sz), t, ch, sch (zusammen 11). Für den Auslaut wurden weniger Konsonanten. Diese Silben, ca. 2300 an der Zahl, wurden durcheinander gemengt und dann, wie der Zu - fall sie in die Hand führte, zu Reihen von verschiedener Länge zusammengesetzt, deren mehrere jedesmal das Objekt31 eines Versuchs bildeten*Ich werde die hier angedeuteten Bezeichnungen im folgenden bei - behalten und nenne also Versuch eine Gruppe von mehreren Silben - reihen oder Einzelreihen . Eine Mehrheit von Versuchen nenne ich Versuchsreihe oder Versuchsgruppe .. Bei der Zusammensetzung der Silben wurden ursprünglich, übrigens nicht gerade peinlich, einige Regeln beobachtet, die eine allzu rasche Wiederkehr ähnlich klingender Elemente verhindern sollten; später wurde von diesen abgesehen und nur der Zufall walten gelassen. Die jedesmal benutzten Silben wurden besonders aufbewahrt, bis die ganze Masse durchgebraucht war, dann aufs neue gemischt und wieder verwendet.

Alle mit diesen Silbenreihen angestellten Versuche liefen schlieſslich darauf hinaus, die einzelnen Reihen durch wieder - holtes lautes Durchlesen soweit einzuprägen, daſs sie gerade eben willkürlich reproduciert werden konnten. Dieses Ziel galt als erreicht, wenn eine Reihe zum erstenmale, nach ge - gebenem Anfangsglied, ohne Stocken, in einem bestimmten Tempo und mit dem Bewuſstsein der Fehlerlosigkeit auswendig hergesagt werden konnte.

§ 12. Vorzüge des Materials.

Das beschriebene, völlig sinnlose Material bietet, zum Teil wegen seiner Sinnlosigkeit, mannigfache Vorteile. Es ist zuvörderst verhältnismäſsig einfach und verhältnismäſsig*benutzt als für den Anlaut, weil eine deutsche Zunge, selbst nach mehr - jähriger Übung in fremden Sprachen, sich mit der korrekten Aussprache der mediae am Ende nicht recht befreundet. Aus demselben Grunde wurde von der Verwendung anderer fremdsprachiger Laute, die ich zur gröſseren Bereicherung des Materials zuerst versuchte, wieder Abstand genommen.32 gleichartig. Bei den zunächst sich darbietenden Stoffen, Ge - dichten oder Prosastücken, muſs der bald erzählende, bald beschreibende, bald reflektierende Inhalt, hier eine pathetische, dort eine lächerliche Wendung, die Schönheit oder Härte der Metaphern, die Glätte oder Eckigkeit von Rhythmus und Reim eine Fülle von unregelmäſsig wechselnden und deshalb stören - den Einflüssen ins Spiel bringen: hin - und herspielende Asso - ciationen, verschiedene Grade der Anteilnahme, Rückerinne - rungen an besonders treffende oder schöne Verse u. s. w. Alles dies wird bei unseren Silben vermieden. Unter vielen tausend Kombinationen begegnen kaum einige Dutzend, die einen Sinn ergeben, und unter diesen wiederum nur einige wenige, bei denen während des Lernens auch der Gedanke an diesen Sinn geweckt wurde.

Freilich darf man die Einfachheit und Gleichartigkeit des Materials nicht überschätzen; sie bleiben weit von dem ent - fernt, was man zu erreichen wünschen möchte. Das Lernen der Silben zieht immer noch drei Sinnesgebiete in Mitleiden - schaft, das Auge, das Ohr und den Muskelsinn der Sprach - organe. Und wenn auch diese in wohlumschriebener und immer sehr ähnlicher Weise beteiligt werden, so wird man doch wegen ihrer zusammengesetzten Beteiligung auch eine gewisse Kompliciertheit der Resultate voraussehen müssen. Namentlich aber bleibt die Gleichartigkeit der Silbenreihen erheblich hinter dem zurück, was man in Betreff ihrer er - warten würde; sie zeigen sehr bedeutende und fast unver - ständliche Differenzen der Leichtigkeit und Schwierigkeit. Ja es scheint beinahe, als ob unter diesem Gesichtspunkt die Unterschiede zwischen sinnvollem und sinnlosem Material praktisch bei weitem nicht so groſs seien, als man a priori geneigt ist, sich vorzustellen. Wenigstens fand ich bei dem Auswendiglernen einiger Cantos von Byrons Don Juan ver -33 hältnismäſsig keine gröſsere Streuung der Zahlen als bei Silbenreihen, auf deren Erlernen eine annähernd gleich lange Zeit verwendet worden war. Dort scheinen die vorhin an - gedeuteten zahllosen störenden Einflüsse sich doch bald zu einem gewissen mittleren Effekt zu kompensieren; während hier die Prädisposition für verschiedene Buchstaben - und Sil - benkombinationen, durch den Einfluſs der Muttersprache, eine sehr ungleichartige sein muſs.

Unzweifelhafter sind die Vorzüge unseres Materials in zwei anderen Hinsichten. Einmal erlaubt es eine unerschöpf - liche Fülle neuer Kombinationen von ganz gleichartigem Cha - rakter, während verschiedene Gedichte, verschiedene Prosa - stücke immer etwas Unvergleichbares haben. Sodann gestattet es eine sichere und bequeme quantitative Variierung; wogegen ein Abbrechen vor dem Ende, ein Anfangen in der Mitte einer Strophe oder eines Satzes durch die verschiedenartigen Störungen des Sinnes, die es mit sich bringt, auch wieder zu neuen Komplikationen führt.

Zahlenreihen, die ich ebenfalls versuchte, schienen mir für gröſsere Untersuchungen sich zu schnell zu erschöpfen wegen der geringeren Anzahl ihrer Grundelemente.

§ 13. Herstellung möglichst konstanter Versuchsumstände.

Für das Auswendiglernen waren folgende Bestimmungen getroffen:

1. Die einzelnen Reihen wurden immer vollständig von Anfang bis zu Ende durchgelesen; sie wurden nicht in ein - zelnen Teilen gelernt, die dann zusammengeschweiſst worden wären; auch wurden nicht einzelne, besonders schwierige Stellen herausgegriffen und häufiger memoriert. Mit demEbbinghaus, Über das Gedächtnis. 334Durchlesen und den ab und zu notwendigen Versuchen des Auswendighersagens wurde zwanglos abgewechselt. Auch für die letzteren aber galt als Regel, daſs bei einer eintreten - den Stockung erst der Rest der Reihe zu Ende gelesen und dann auf ihren Anfang zurückgegriffen wurde.

2. Durchlesen und Hersagen geschahen stets mit gleich - förmiger Geschwindigkeit, nämlich im Takt von 150 Schlägen auf die Minute. Zur Regelung derselben wurde ursprünglich ein entfernt aufgestelltes Metronom mit Schlagwerk benutzt; sehr bald aber, viel einfacher und weniger störend für die Aufmerksamkeit, das Ticken einer Taschenuhr. Die Echappe - mentsvorrichtung der meisten Taschenuhren pendelt nämlich 300 mal in der Minute.

3. Da es fast unmöglich ist, andauernd ohne Unterschiede der Betonung zu sprechen, so wurden, damit diese Unter - schiede stets dieselben seien, entweder je drei oder je vier Sil - ben sozusagen zu einem Takt zusammengefaſst, und also ent - weder die 1ste, 4te, 7te, oder die 1ste, 5te, 9te u. s. w. Silbe mit einem mäſsigen Iktus versehen. Sonstige Erhebungen der Stimme wurden möglichst vermieden.

4. Nach Erlernung jeder Einzelreihe wurde eine Pause von 15 Sekunden gemacht und zur Aufzeichnung des Resul - tats benutzt. Dann wurde unmittelbar zu einer folgenden Reihe desselben Versuchs fortgeschritten.

5. Soweit es anging, wurde während des Lernens stets die Absicht festgehalten, das erstrebte Ziel so schnell als möglich zu erreichen. Es wurde also, in dem begrenzten Maſse, in dem der bewuſste Wille hier von Einfluſs ist, be - ständig versucht, die Aufmerksamkeit auf die ermüdende Arbeit und ihren Zweck möglichst koncentriert zu halten. Selbstverständlich wurde zur Ermöglichung dieser Absicht auf die gänzliche Fernhaltung äusserer Störungen Bedacht35 genommen; auch die geringeren Zerstreuungen, die durch An - stellung der Versuche in verschiedener Umgebung herbei - geführt werden, wurden thunlichst vermieden.

6. Es wurde niemals versucht, die sinnlosen Silben durch irgendwelche hineingedachte Beziehungen, z. B. nach den Regeln der Mnemotechniker, zu verbinden; das Lernen er - folgte rein durch die Einwirkung der blossen Wiederholungen auf das natürliche Gedächtnis. Da ich nicht die mindeste prak - tische Kenntnis der mnemotechnischen Künste besitze, hatte die Erfüllung dieser Bedingung für mich keine Schwierigkeit.

7. Endlich und hauptsächlich wurde darauf geachtet, daſs die äuſseren Lebensumstände, während der Perioden der Ver - suche, wenigstens vor allzu groſsen Veränderungen und Un - regelmäſsigkeiten bewahrt blieben. Natürlich ist dies im Ver - lauf vieler Monate nur mit erheblichen Einschränkungen mög - lich. Allein es wurde dann wenigstens Sorge getragen, daſs diejenigen Versuche, deren Resultate direkt mit einander ver - glichen werden sollten, unter möglichst gleichen Bedingungen der Lebensweise angestellt wurden. Namentlich war die den Versuchen unmittelbar vorausgehende Beschäftigung immer möglichst gleichartig. Da das geistige Leben des Menschen, nicht minder wie das körperliche, einer deutlich hervortreten - den 24 stündigen Periodicität unterworfen ist, so wurde be - stimmt, daſs gleiche Versuchsumstände nur zu gleichen Tages - zeiten vorausgesetzt werden sollten. Indes wurden, um einen Tag zu mehr als einem Versuche auszunutzen, gelegentlich verschiedene Untersuchungen zu verschiedenen Tageszeiten gleichzeitig betrieben. Bei allzu groſsen Änderungen des äuſseren oder inneren Lebens wurden die Versuche vorüber - gehend ausgesetzt. Ihrer Wiederaufnahme gingen dann, ver - schieden je nach der Dauer der Unterbrechungen, einige Tage erneuter Einübung voraus.

3*36

§ 14. Fehlerquellen.

Der leitende Gesichtspunkt bei der Wahl des Materials sowie bei den Bestimmungen für seine Verwendung war, wie man erkennt, überall das Streben, die Bedingungen, unter denen die zu beobachtende Gedächtnisthätigkeit ins Spiel trat, möglichst zu vereinfachen und möglichst konstant zu erhalten. Natürlich entfernt man sich, je besser dies gelingt, nur desto mehr von den komplicierten und wechselnden Verhält - nissen, unter denen diese Thätigkeit im gewöhnlichen Leben funktioniert und für uns von Bedeutung ist. Aber das ist kein Einwand gegen die Notwendigkeit jenes Verfahrens. Der freie Fall, die reibungslosen Maschinen u. s. w., mit denen sich die Physik beschäftigt, sind auch im Vergleich mit dem, was im wirklichen Geschehen der Natur vorkommt und für uns wichtig ist, nur Abstraktionen. Ein annäherndes Ver - ständnis des Komplicierten und Wirklichen ermöglichen wir uns fast nirgendwo direkt, sondern auf Umwegen, durch suc - cessive Zusammensetzung von Erfahrungen, deren jede an künstlich zurechtgemachten und von der Natur selbst in dieser Weise selten oder nie erzeugten Fällen gewonnen wurde.

Einstweilen ist es nicht sowohl von Bedeutung, daſs der Anschluſs an die Bethätigung des Gedächtnisses im gewöhn - lichen Leben vorläufig verloren geht, sondern vielmehr um - gekehrt, daſs dieser Anschluſs an die Verwickelungen und Schwankungen des Lebens notgedrungen immer noch ein zu enger ist. Jenes Streben nach möglichst einfachen und gleich - artigen Bedingungen stöſst natürlich in zahlreichen Punkten auf Schwierigkeiten, die in der Natur der Sache wurzeln und es vereiteln. Die unvermeidliche Ungleichartigkeit des37 Materials und die ebenso unvermeidlichen Unregelmäſsigkeiten der äuſseren Lebensbedingungen habe ich bereits berührt. Ich weise noch auf zwei andere solcher unumgänglichen Fehlerquellen hin.

Die Reihen werden durch die successiven Wiederholungen sozusagen auf ein immer höheres Niveau gehoben. In dem Moment, wo sie zuerst hergesagt werden können, ist das er - reichte Niveau, wie man annehmen sollte, allemal ein gleiches; und nur wenn das der Fall ist, wenn das charakteristische erstmalige Hersagen überall ein äuſserlich gleiches Zeichen einer innerlich gleichen Festigkeit der Reihen ist, hat es ja für uns eigentlich einen Wert. Thatsächlich nun ist das doch nicht der Fall; die inneren Zustände verschiedener Reihen in dem Moment der erstmöglichen Reproduktion sind nicht immer dieselben, sondern höchstens kann man annehmen, daſs sie bei verschiedenen Reihen immer um denselben Zustand innerer Festigkeit herum oscillieren. Man erkennt dies deutlich, wenn man nach Erreichung jenes ersten spontanen Hersagens mit dem Wiederholen und Lernen der Reihen weiter fortfährt. In der Regel bleibt dann die gewonnene Möglichkeit willkür - licher Reproduktion bestehen; in zahlreichen Fällen dagegen ist sie unmittelbar nach ihrem ersten Auftreten wieder ver - schwunden und wird erst durch mehrmaliges Wiederholen aufs neue erworben. Dies beweist, daſs die Prädisposition für die Aufnahme der Reihen, abgesehen von ihren Unterschieden im groſsen, je nach den Tageszeiten, den äuſseren und inneren Umständen u. s. w., kleinen, kurzdauernden Schwankungen unterliegt, mag man diese nun als Schwankungen der Auf - merksamkeit oder sonstwie bezeichnen. Nähert sich die Festig - keit des Gelernten dem gewünschten Punkt, und es tritt ein vorübergehender Moment besonderer Lucidität ein, so erhascht man die Reihe gewissermaſsen im Fluge, oft zur eigenen38 Verwunderung, aber man kann sie nicht lange festhalten. Durch das Dazwischentreten eines Moments besonderer Schwer - fälligkeit wird umgekehrt die fehlerlose Reproduktion eine Weile hinausgeschoben, obgleich man wohl fühlt, daſs man die Reihe eigentlich beherrscht und sich ebenfalls wundert über die immer wieder auftretenden Stockungen. Im ersten Falle bleibt die Reihe trotz der Gleichheit des äuſserlich Er - scheinenden etwas unter dem Niveau der durchschnittlich hiermit verbundenen inneren Festigkeit, im zweiten geht sie etwas darüber hinaus, und man kann, wie gesagt, höchstens die plausible Vermutung aufstellen, daſs diese Abweichungen sich bei gröſseren Gruppen von Reihen kompensieren werden.

Die andere Fehlerquelle kann ich nur als eine möglicher - weise vorhandene, dann aber als eine sehr gefährliche be - zeichnen. Das ist der geheime Einfluſs von sich bildenden Theorien und Ansichten. Eine Untersuchung pflegt auszu - gehen von bestimmten Voraussetzungen in Betreff der Resul - tate. Ist das aber auch von vornherein nicht der Fall, so bilden sich diese allmählich, falls man gezwungen ist, alleine zu experimentieren. Denn es ist unmöglich, die Untersuchung längere Zeit fortzuführen, ohne von den Resultaten Kenntnis zu nehmen. Man muſs wissen, ob die Fragestellung eine richtige war, oder ob sie vielleicht einer Ergänzung oder Kor - rektur bedarf; man muſs die Schwankungen der Resultate kontrollieren, um die Einzelbeobachtungen so lange fortzusetzen, daſs der Mittelwert die für den jeweiligen Zweck erforderliche Sicherheit erhält. Dabei ist es unvermeidlich, daſs sich nun hinterher an der Anschauung der Zahlen Vermutungen ent - wickeln über die Gesetzmäſsigkeit, die in ihnen verborgen sein könnte und einstweilen noch unvollkommen zur Erscheinung kommt. Bei der Fortsetzung der Untersuchungen bilden dann diese Vermutungen ebenso wie die anfänglich39 schon vorhandenen ein komplicierendes Moment, welches auf den ferneren Ausfall der Resultate wahrscheinlich einen ge - wissen Einfluſs übt. Selbstverständlich meine ich keine irgend - wie bewuſste Beeinflussung, sondern ein ähnliches Geschehen, wie wenn man sich Mühe giebt, recht unbefangen zu sein oder sich eines Gedankens zu entschlagen und eben dadurch Gedanken und Befangenheit erst recht nährt. Man geht den Resultaten mit einer halbwegs anticipierenden Kenntnis, mit einer Art von Erwartung entgegen. Dadurch, daſs man sich immer wieder sagt, dieselbe dürfe natürlich die Unbefangen - heit der Untersuchung nicht alterieren, geschieht dies doch nicht ohne weiteres, vielmehr bleibt sie und spielt in der inneren Gesamtattitüde ihre Rolle. Jenachdem man merkt (und im allgemeinen merkt man dies ja während des Lernens), daſs sie sich bestätigt oder nicht bestätigt, wird man, wenn auch in noch so geringem Grade, eine Art Vergnügen oder Überraschung empfinden. Und sollte nicht, trotz der gröſsten Gewissenhaftigkeit, die Überraschung über besonders auf - fallende Abweichungen nach oben oder nach unten ganz un - willkürlich dahin führen, daſs man sich dort etwas mehr zu - sammennimmt, hier etwas mehr gehen läſst, als ohne jede Kenntnis oder Voraussetzung von der präsumtiven Gröſse des Resultats geschehen wäre? Ich kann nicht behaupten, daſs dies immer oder auch nur häufig der Fall sei, da es sich nicht um direkt zu Beobachtendes handelt, und da zahlreiche Re - sultate, bei denen man eine solche geheime Beugung der Wahrheit am ehesten erwarten sollte, eine evidente Unab - hängigkeit zeigen. Ich muſs nur sagen: nach unserer sonstigen Kenntnis von der menschlichen Natur müssen wir auf solche Machinationen, sozusagen, gefaſst sein, und bei Untersuchungen, bei denen die jeweilige innere Haltung von viel gröſserer Be - deutung ist, als z. B. bei Experimenten über Sinnesempfin -40 dungen, müssen wir ihren möglichen täuschenden Einfluſs besonders aufmerksam im Auge behalten.

Man erkennt, wie sich dieser Einfluſs im allgemeinen äuſsern würde. Bei mittleren Werten würde er auf die Be - schneidung der Extreme hinzielen, bei solchen, bei denen man eine erhebliche Gröſse oder eine erhebliche Kleinheit voraussieht, auf eine weitere Erhöhung resp. Herabdrückung der Zahlen. Eine sichere Vermeidung des Einflusses ist nur da zu hoffen, wo die Versuche von zwei Personen gemeinsam angestellt wer - den, von denen eine für geraume Zeit das Lernen über sich ergehen lieſse, ohne nach Zweck und Resultaten desselben zu fragen. Anderenfalls kann man sich auf Umwegen, und dann vermutlich nur teilweise, helfen. Man kann die genauen Re - sultate, wie ich immer gethan habe, wenigstens möglichst lange vor sich selbst verbergen; man kann die Untersuchung ausdehnen auf möglichst extreme Werte der Veränderlichen, sodaſs die eventuelle Beugung der Wahrheit immer schwieriger wird und relativ immer belangloser; und man kann endlich möglichst vielfache und für unsere Einsicht von einander un - abhängige Fragen stellen, in der Erwartung, daſs dadurch das wahre Verhalten des innerlich Zusammenhängenden sich doch schlieſslich Bahn brechen werde.

Wie weit nun bei den im folgenden mitgeteilten Resul - taten die besprochene Fehlerquelle eine Trübung herbeigeführt hat, entzieht sich natürlich genauerer Schätzung. Die abso - lute Gröſse der Zahlen wird durch sie zweifellos vielfach tangiert sein, allein da die Absicht der Untersuchungen einst - weilen nirgendwo auf die genaue Bestimmung absoluter Zahlen gerichtet sein konnte, sondern auf die Gewinnung kompara - tiver (allerdings numerisch komparativer) und verhältnismäſsig immer noch allgemeiner Resultate, so ist kein Grund zu allzu ängstlichem Miſstrauen gegeben. In einem wichtigen Falle (§ 38)41 konnte ich mich direkt vergewissern, daſs durch Ausschluſs jedes Wissens der Charakter der Resultate keine Verände - rung erlitt; wo, in einem anderen Falle, ich selbst einen Zweifel nicht ausschlieſsen konnte, habe ich ihn ausdrücklich hervor - gehoben. Jedenfalls wird derjenige, der a priori geneigt ist, den unwillkürlichen Einfluſs geheimer Wünsche auf die geistige Gesamthaltung sehr hoch zu veranschlagen, billigerweise auch berücksichtigen müssen, daſs der geheime Wunsch, sachliche Wahrheiten zu finden und nicht mit unverhältnismäſsiger Mühe Geschöpfe der eigenen Phantasie auf thönerne Füſse zu setzen, in dem verwickelten Getriebe jener möglichen Beein - flussungen ebenfalls eine Stelle beanspruchen darf.

§ 15. Messung der gebrauchten Arbeit.

Die Anzahl der Wiederholungen, welche für das Aus - wendiglernen einer Reihe bis zur erstmöglichen Repro - duktion erforderlich war, bestimmte ich ursprünglich nicht direkt durch Nachzählen derselben, sondern indirekt durch Messung der Zeit in Sekunden, welche für das Lernen ge - braucht wurde. Ich wollte so die mit dem Nachzählen even - tuell verbundene Zerstreuung vermeiden und konnte ja andrer - seits voraussetzen, daſs Proportionalität bestehen würde zwi - schen den Zeiten und der jedesmaligen Anzahl der in be - stimmtem Rhythmus geschehenden Wiederholungen. Als eine ganz genaue kann man diese Proportionalität freilich von vorn - herein nicht erwarten, da bei der Messung der Zeit die Momente des Stockens und Besinnens mitgemessen werden, bei dem Zählen der Wiederholungen nicht. Schwierige Reihen, bei denen ja die Stockungen relativ häufiger sein werden,42 bekommen dadurch bei der Messung der Zeiten verhältnis - mäſsig gröſsere, leichte Reihen verhältnismäſsig kleinere Zahlen als bei Bestimmung der Wiederholungen. Allein bei gröſseren Gruppen von Reihen darf man offenbar ein leidlich gleich - artiges Vorkommen der schwierigen und leichten Reihen vor - aussetzen, sodaſs sich für jede Gruppe die Abweichungen von der Proportionalität in derselben Weise kompensieren würden.

Als für bestimmte Versuche das direkte Abzählen der Wiederholungen dennoch notwendig wurde, habe ich mich folgenden Verfahrens bedient. Kleine hölzerne Kugelkappen von ca. 14 mm Durchmesser und 4 mm gröſster Dicke, die in der Mitte durchbohrt waren (sogenannte Knopfformen), wurden auf eine so starke Schnur gezogen, daſs sie sich an derselben noch bequem verschieben lieſsen, aber nicht von selbst hin - und hergleiten konnten. Jedes zehnte Holzstückchen war schwarz, die übrigen hatten ihre Naturfarbe. Während des Lernens wurde die Schnur in den Händen gehalten und bei jeder neuen Wiederholung ein Holzstückchen um einige Centi - meter von links nach rechts verschoben. Konnte die Reihe hergesagt werden, so genügte, bei der dekadischen Einteilung der Holzstückchen, ein Blick auf die Schnur, um die Anzahl der erforderlich gewesenen Wiederholungen zu erfassen. Die Manipulation erforderte so wenig Aufmerksamkeit, daſs an den Mittelwerten der (immer gleichzeitig notierten) gebrauchten Zeiten keine Verlängerung gegen früher wahrzunehmen war.

Durch diese gleichzeitige Messung der Zeit und der Wiederholungen wurde beiläufig Gelegenheit gegeben, das, was über das Verhältnis der beiden zu einander vorauszusehen war und soeben angedeutet wurde, zu bestätigen und genauer zu präcisieren. Bei genauer Innehaltung des vorgeschriebenen Rhythmus von 150 Schlägen auf die Minute müſste auf jede Silbe eine Zeit von 0,4 Sekunden entfallen, und bei Unter -43 brechung des einfachen Lesens der Reihen durch Versuche, sie auswendig herzusagen, müſste diese Zeit wegen der un - vermeidlichen Stockungen eine mäſsige und durchschnittlich gleiche Verlängerung erfahren. Dies zeigte sich im allgemeinen aber nicht ganz genau bestätigt, vielmehr ergaben sich fol - gende Modifikationen.

Bei vorwiegendem Durchlesen der Reihen fand leicht ein gewisses Drängen, eine Beschleunigung des Rhythmus statt, die, ohne zum Bewuſstsein zu kommen, doch im ganzen den Durchschnitt der auf jede Silbe fallenden Zeit noch unter den Normalwert 0,4 herabdrückte. Bei Abwechslung von Durch - lesen und Hersagen dagegen war die eintretende Verlänge - rung nicht überall annähernd gleich, sondern bei gröſserer Länge der Reihen wesentlich gröſser. Es trat in diesem Falle, da die Schwierigkeit mit wachsender Länge sehr rasch zunimmt, wiederum unwillkürlich und direkt nicht bemerkbar, eine Verlangsamung des Tempos ein. Beides wird durch folgende Zusammenstellung einiger Zahlen illustriert.

44

Sobald übrigens die Richtung dieser Abweichungen von genauer Proportionalität bemerkt wurde, trat bei dem Lernen eine gewisse bewuſste Reaktion gegen sie ein.

Endlich zeigte sich noch, daſs die wahrscheinlichen Fehler der Zeitbestimmungen verhältnismäſsig etwas gröſser aus - fielen als diejenigen der Wiederholungen. Dieses Verhalten ist wohl verständlich, wenn man sich des vorhin Auseinander - gesetzten erinnert. Bei der Messung der Zeiten müssen die gröſseren Werte, die natürlich an den schwierigeren Reihen gewonnen wurden, relativ noch etwas gröſser ausfallen als bei Zählung der Wiederholungen, weil sie relativ am meisten durch Stockungen verlängert werden; die kleineren Zeiten umgekehrt werden relativ etwas kleiner sein als die kleineren Anzahlen von Wiederholungen, weil sie im allgemeinen den leichteren Reihen entsprechen werden. Die Streuung der Werte für die Zeiten ist also gröſser als die der Werte für die Wiederholungen.

Die Differenzen der beiden Bestimmungsweisen sind, wie man sieht, erheblich genug, um unter Umständen, bei sehr genauen Untersuchungen, zu verschiedenen Resultaten zu führen. Bei den bisher gewonnenen Ergebnissen ist das nicht der Fall; es ist also für das folgende einerlei, ob man sich an die Zahl der Sekunden oder die der Wiederholungen hält.

Welche Art des Messens die richtigere sei, d. h. ein adäquateres Maſs der aufgewandten psychischen Arbeit, läſst sich a priori nicht ausmachen. Man kann sagen, die Ein - prägung finde lediglich durch die Wiederholungen statt; sie seien also das, worauf es ankomme; eine stockende Wieder - holung sei ebenso gut wie eine glatt verlaufende nur eine einmalige Vorführung der Reihe, und beide müſsten gleich gezählt werden. Allein andererseits kann man doch bezwei - feln, daſs die Momente des Besinnens reiner Verlust seien. 45Es findet in ihnen jedenfalls meist eine gewisse Energieent - faltung statt: einerseits eine sehr rapide nochmalige Zusammen - fassung des unmittelbar Zurückliegenden, ein neuer Anlauf sozusagen, um über den Punkt des Anstoſses hinwegzukommen, andererseits eine erhöhte Anspannung der Aufmerksamkeit für das Folgende. Wenn hiermit, wie doch wahrscheinlich, eine festere Einprägung der Reihen an den betreffenden Stellen verbunden ist, so haben diese Momente auch Anspruch auf Berücksichtigung, die ihnen nur durch Messung der Zeiten zu teil wird.

Erst wenn einmal irgendwo eine erhebliche Verschieden - heit der durch die beiden Messungsweisen erhaltenen Resul - tate zu Tage tritt, wird man die eine Art vor der anderen bevorzugen können. Man wird dann diejenige wählen, welche die einfachere Formulierung der betreffenden Resultate ge - stattet.

§ 16. Perioden der Versuche.

Die Versuche sind in zwei Perioden, nämlich in den Jahren 1879 / 80 und 1883 / 84 angestellt worden und erstreckten sich jedesmal reichlich über ein Jahr. Den definitiven Ver - suchen der ersten Periode waren während geraumer Zeit tastende Versuche ähnlicher Art vorangegangen, sodaſs für alle mitgeteilten Resultate die Zeit der wachsenden Übung wesent - lich als überwunden angesehen werden darf. Zu Beginn der zweiten Periode wurde auf eine erneute Einübung Bedacht genommen. Diese zeitliche Verteilung der Versuche, mit einer trennenden Zwischenzeit von über drei Jahren, giebt die er - wünschte Möglichkeit einer gewissen gegenseitigen Kontrolle mancher Resultate. Freilich sind dieselben nicht vollkommen46 vergleichbar. Bei den Versuchen der ersten Periode war nämlich, um das oben (§ 14) erwähnte flüchtige Erhaschen der Reihen in Momenten besonderer Koncentration einzuschränken, die Be - stimmung getroffen, dass die Reihen gelernt würden, bis zwei fehlerfreie Reproduktionen nach einander möglich seien. In der späteren Zeit habe ich diese Bestimmung, die ihren Zweck doch nur unvollkommen erreicht, wieder fallen gelassen und an der ersten glatten Reproduktion festgehalten. Durch die ältere Bestimmung wird offenbar in manchen Fällen ein etwas längeres Lernen bedingt. Auſserdem bestand ein Unter - schied der Tagesstunden für die Versuche. Die der späteren Periode fallen alle in die Nachmittagsstunden von 1 3 Uhr, die der früheren verteilen sich ungleich auf die Stunden 10 11 Vorm., 11 12 Vorm., 6 8 Nachm., die ich der Kürze halber gelegentlich mit A, B, C bezeichne.

[47]

IV. Die Brauchbarkeit der Durchschnittszahlen.

§ 17. Gruppierung der Versuchsresultate.

Die erste Frage, welche aus den in der beschriebenen Weise angestellten Untersuchungen eine Antwort erwartet, ist nach den Erörterungen von §§ 7 und 8 die nach der Natur der gewonnenen Durchschnittszahlen. Sind die immer - hin schwankenden Zeiten, welche erforderlich waren, um Reihen von bestimmter Länge unter möglichst gleichen Umständen gerade auswendig zu lernen, so gruppiert, daſs man ihre Mittelwerte mit Wahrscheinlichkeit als Maſszahlen im physikalischen Sinne ansehen darf oder nicht?

Geschehen die Versuche in der oben auseinandergesetzten Art, sodaſs nämlich immer mehrere Reihen unmittelbar hinter - einander gelernt werden, so wird man bei den Zeiten, die für das Lernen der einzelnen Reihen erforderlich waren, eine solche Gruppierung von vornherein nicht wohl erwarten dürfen. Denn bei längerer Dauer des Lernens treten bei den einzelnen Reihen variable Bedingungen ins Spiel, deren Schwan - kungen wir, nach unserer Kenntnis von ihnen, nicht als sym - metrisch um einen Mittelwert voraussetzen können. Die48 Gruppierung der Resultate muſs dadurch ebenfalls eine un - symmetrische werden und kann also dem Fehlergesetz nicht entsprechen. Solche Bedingungen sind z. B. die ab - nehmende geistige Frische, die zuerst sehr schnell, dann im - mer langsamer einer gewissen Ermüdung Platz macht, sodann die Schwankungen der Aufmerksamkeit. Die Verlangsamung des Lernens durch eine auſsergewöhnliche Zerstreuung kennt sozusagen keine Grenzen; die Lernzeit einer Reihe kann durch sie gelegentlich auf das doppelte und mehr ihres mittleren Betrages gesteigert werden. Der entgegengesetzte Effekt einer auſsergewöhnlichen Anspannung dagegen kann, der Natur der Sache nach, ein gewisses Maſs nie überschreiten; er kann nie etwa einmal die Lernzeit auf Null reducieren.

Nimmt man dagegen Gruppen von jedesmal gleich viel unmittelbar hinter einander gelernten Reihen, so können für diese jene störenden Schwankungen als wegfallend oder bei - nahe wegfallend betrachtet werden. Die allmähliche Abnahme der geistigen Frische wird bei einer Gruppe ungefähr in derselben Weise geschehen wie bei einer anderen. Die Schwankungen der Aufmerksamkeit nach oben und nach unten, die während einer Viertel - oder halben Stunde unter sonst gleichen Umständen vorkommen, werden zusammengerechnet heute ungefähr denselben mittleren Effekt haben wie morgen. Man wird also nur fragen können: zeigen die Zeiten, welche für das Lernen gleicher Gruppen von Reihen erforderlich waren, die gewünschte Verteilung?

Diese Frage kann ich mit befriedigender Sicherheit be - jahen. Die beiden gröſsten Reihen von unter gleichen Um - ständen gewonnenen Zahlen, die ich besitze, sind zwar noch nicht groſs, in dem Sinne, in dem die Theorie dies voraus - setzt; sie leiden ferner an dem Übelstand, daſs sie aus ver - hältnismäſsig langen Zeitperioden stammen, in denen natür -49 lich gröſsere Ungleichheiten der Umstände unvermeidlich sind, allein ihre Gruppierung kommt trotzdem der von der Theorie verlangten so nahe wie man nur erwarten kann.

Die erste Versuchsreihe aus den Jahren 1879 / 80 umfaſst 92 Versuche. Jeder Versuch bestand in dem Lernen von acht Reihen zu 13 Silben, welches fortgesetzt wurde bis ein zwei - maliges Hersagen jeder Reihe möglich war. Die dazu er - forderliche Zeit betrug für alle acht Reihen zusammen, ein - gerechnet die Zeit des Hersagens selbst (aber natürlich nicht die Pausen s. S. 34, 4), im Mittel 1112 Sekunden mit dem wahrscheinlichen Beobachtungsfehler ± 76. Die Schwankungen der Resultate waren also verhältnismäſsig sehr bedeutend: in das Intervall 1036 bis 1188 fiel nur die Hälfte der erhaltenen Zahlen, die andere Hälfte nach oben und unten darüber hin - aus. Im einzelnen ist die Gruppierung der Zahlen folgende:

In dem Intervall ¼ w bis ½ w findet eine kleine An - häufung der Werte statt, die durch eine gröſsere Leere in dem nächstfolgenden Intervall ½ w bis w kompensiert wird; abgesehen hiervon ist die Übereinstimmung befriedigend. Zu wünschen läſst die Symmetrie der Verteilung. Die unterhalb des Durchschnitts liegenden Werte überwiegen etwas an Zahl,Ebbinghaus, Über das Gedächtnis. 450die oberhalb liegenden dafür etwas an Gröſse der Abweichung: von den acht gröſsten Abweichungen liegen nur zwei von dem Mittelwert nach unten. Der soeben angedeutete Einfluſs der Aufmerksamkeit, deren Schwankungen bei den Einzelreihen gröſsere Abweichungen nach oben als nach unten bewirken, ist also hier durch die Zusammenfassung mehrerer Reihen noch nicht ganz kompensiert worden.

Erheblich verbessert zeigt sich die Sicherheit der Beob - achtungen und die Übereinstimmung ihrer Verteilung mit der theoretisch geforderten bei der zweiten gröſseren Versuchs - reihe. Dieselbe umfaſst die Resultate von 84 Versuchen aus den Jahren 1883 / 84. Jeder Versuch bestand in dem Lernen von je sechs Reihen zu 16 Silben, jedesmal bis zum ersten fehlerfreien Hersagen. Die hierzu erforderliche Gesamtzeit betrug im Mittel 1261 Sekunden mit dem wahrscheinlichen Beobachtungsfehler ± 48,4; d. h. die Hälfte aller 84 Zahlen fällt in das Intervall 1213 bis 1309. Die Genauigkeit der Beobachtungen war also gegen früher erheblich gesteigert*Die hier erreichte Genauigkeit vermag natürlich keinen Vergleich mit physikalischen, wohl aber mit physiologischen Messungen auszuhalten, an die man naturgemäſs auch zunächst denken wird. Zu den genauesten Messungen der Physiologie gehören die letzten Bestimmungen der Ge - schwindigkeit der Nervenleitung durch v. Helmholtz und Baxt. Eine als Beispiel für ihre Genauigkeit mitgeteilte Versuchsreihe dieser Unter - suchungen (Mon. Ber. d. Berl. Akad. 1870, S. 191) giebt nach entsprechen - der Berechnung einen Mittelwert 4,268 mit dem wahrscheinlichen Beob - achtungsfehler 0,101. Das von diesem eingeschlossene Intervall beträgt also 5 % des Mittelwertes. Alle früheren Bestimmungen sind bei wei - tem ungenauer. Bei der sichersten Versuchsreihe der ersten durch v. Helmholtz angestellten Messungen berechnet sich jenes Intervall auf ca. 50 % des Mittelwertes (Arch. f. Anat. u. Physiol. 1850, S. 340). Auch die Physik muſs sich übrigens, bei erstmaligen Untersuchungen, oft mit einer geringen Sicherheit ihrer Zahlen begnügen. Bei den ersten Be - stimmungen des mechanischen Äquivalents der Wärme fand Joule die Zahl 838 m. d. wahrsch. Beobachtungsfehler 97. (Phil. Mag. 1843, S. 435 ff.):51 das von dem wahrscheinlichen Fehler eingeschlossene Intervall beträgt nur mehr % des Mittelwertes, gegen 14 % bei den älteren Versuchen. Im einzelnen verteilen sich die Zahlen so:

Auch die Symmetrie der Verteilung ist hier, wenn man absieht von den Zahlen, die wegen ihrer Kleinheit nicht ins Gewicht fallen, befriedigend gewahrt.

Die absolut gröſste Abweichung ist eine solche nach unten.

Wurden also mehrere unserer Silbenreihen zu Gruppen vereinigt und dann einzeln gelernt, so fielen zwar bei wieder - holten Versuchen die Zeiten, welche für das Lernen einer ganzen Gruppe erforderlich waren, sehr verschieden von4*52einander aus, aber trotzdem gruppierte sich ihre ganze Masse in eben derselben Weise wie die, untereinander ebenfalls differierenden, Werte, welche man bei Beobachtung begrifflich gleichartiger naturwissenschaftlicher Vorgänge erhält. Es darf also, mindestens versuchsweise, als erlaubt gelten, die aus mehreren jener Versuchszahlen gewonnenen Durchschnitts - werte für die Feststellung ursächlicher Beziehungen ganz ebenso zu verwerten wie die Naturwissenschaft dies mit ihren Mittelwerten thut.

Die Anzahl von Silbenreihen, welche dabei zu einer Gruppe, zu einem Versuch, zusammenzufassen sind, ist natürlich durch nichts bestimmt. Man wird nur erwarten, daſs mit wachsen - der Anzahl auch die Übereinstimmung zwischen der Gruppie - rung der gefundenen Zeiten und dem Fehlergesetz eine gröſsere werde, und man wird praktisch diese Anzahl so groſs zu nehmen suchen, daſs eine noch weitere Steigerung derselben und die dadurch erzielte noch gröſsere Übereinstimmung nicht mehr für den Mehraufwand von Zeit entschädigt, den sie er - fordert. Verringert man die Zahl der Reihen jedes Versuchs, so wird voraussichtlich auch die gewünschte Übereinstimmung unvollkommener. Man wird indes verlangen, daſs auch dann die Annäherung an die theoretisch geforderte Verteilung der Zahlen immer noch erkenntlich bleibe.

Auch dieser Forderung aber wird durch die gefundenen Zahlen Genüge geleistet. Bei den beiden eben beschriebenen gröſsten Versuchsreihen habe ich die Zeiten untersucht, welche für das Lernen der ersten Hälfte jedes Versuchs erforderlich waren. Bei der älteren Reihe sind dies also die Lernzeiten für jedesmal 4, bei der jüngeren für jedesmal 3 Silbenreihen zusammengenommen. Es fand sich:

1. bei der älteren Reihe: Mittelwert (m) 533, wahr - scheinlicher Beobac〈…〉〈…〉 hler (wb) 51,

53

Verteilung der Einzelwerte

2. bei der jüngeren Reihe: m = 620, wb = ± 44;

Verteilung der Einzelwerte

Durch beide Tabellen wird die eben gemachte Voraus - setzung einer minder vollkommenen aber immer noch ersicht - lichen Übereinstimmung zwischen der beobachteten und be - rechneten Gruppierung der Zahlen wohl bestätigt.

Ganz dieselbe annähernde Übereinstimmung nun wird auch vorausgesetzt werden müssen, wenn zwar nicht weniger54 Reihen zu einem Versuch zusammengenommen werden, wohl aber die Gesamtzahl der Versuche eine geringere ist. Auch hierfür füge ich noch einige bestätigende Übersichten bei.

Aus der Zeit der älteren Versuche besitze ich zwei gröſsere Versuchsreihen, die im übrigen unter gleichen Um - ständen wie die oben erwähnte Reihe, aber zu den späteren Tageszeiten B und C gewonnen worden sind.

Die eine (B) umfaſst 39 Versuche mit je sechs, die an - dere (C) 38 Versuche mit je acht Einzelreihen, jede Einzel - reihe zu 13 Silben. Es fand sich:

1. für die Versuche der Zeit B: m = 871, wb = ± 63.

Verteilung der Einzelwerte

2. für die Versuche der Zeit C: m = 1258, wb = ± 60.

Verteilung der Einzelwerte

55

Auſserdem erwähne ich noch eine Reihe von nur 20 Ver - suchen, mit der ich diese Übersichten abschlieſse. Jeder Ver - such bestand in dem Lernen von acht dreizehnsilbigen Einzel - reihen, welche gerade einen Monat vorher schon einmal gelernt worden waren. Das Mittel betrug in diesem Falle 892 Se - kunden mit dem wahrscheinlichen Beobachtungsfehler 54. Die Einzelwerte gruppieren sich folgendermaſsen:

Die Übereinstimmung zwischen der theoretischen Berech - nung und der Zählung der Abweichungen ist in allen diesen Fällen noch eine so gute, daſs man auch bei einer noch ge - ringeren Anzahl von Versuchen den Mittelwerten selbst - verständlich immer nur mit Berücksichtigung der weiten Fehlergrenzen eine Verwertbarkeit in dem oben mehrfach besprochenen Sinne zugestehen wird.

§ 18. Gruppierung der Resultate für die einzelnen Reihen.

Die vorhin ausgesprochenen Vermutungen über die Grup - pierung der für das Lernen der einzelnen Reihen erforder - lichen Zeiten waren natürlich nicht bloſs theoretische Voraus - setzungen, sondern bereits bestätigt durch die Betrachtung56 thatsächlich gefundener Gruppierungen. Die beiden erwähnten gröſseren Versuchsreihen von 92 Versuchen zu acht und 84 Versuchen zu sechs Einzelreihen, also mit 736 und 504 Einzel - werten, geben dabei der Beurteilung eine genügend breite Unterlage. Beide Zahlengruppen zeigen nun und zwar beide in ganz analoger Weise, folgende Eigentümlichkeiten:

1. Die Streuung der Werte von ihrem arithmetischen Mittel nach oben ist merklich lockerer und reicht namentlich bedeutend weiter als nach unten. Die entferntesten Werte nach oben liegen 2 -, resp. 1,8 mal soweit von dem Mittel wie die entferntesten nach unten.

2. Durch dieses Überwiegen hoher Zahlen wird das Mittel aus der Gegend der dichtesten Scharung etwas nach oben abgelenkt, und dadurch wiederum bekommen die Ab - weichungen nach unten an Zahl das Übergewicht. Es ent - fallen 404 resp. 266 Abweichungen nach unten auf 329 resp. 230 nach oben.

3. Die Anzahl der Abweichungen von der Stelle gröſster Dichtigkeit aus nach beiden Seiten nimmt nicht gleichmäſsig ab wie man doch bei verhältnismäſsig so hohen Gesamt - zahlen sehr annähernd erwarten sollte , sondern es zeigen sich deutlich noch mehrere Maxima und Minima der An - häufung. Es waren demnach bei der Erzeugung der Einzel - werte, d. h. also bei dem Lernen der einzelnen Reihen, konstante Fehlerursachen im Spiel, welche teils eine unsym - metrische Streuung der Zahlen bewirkten, teils eine Anhäufung derselben in gewissen Gegenden begünstigten, und man kann nach den vorangegangenen Untersuchungen dieses Abschnitts nur voraussetzen, daſs sich diese Einflüsse bei Zusammen - fassung der Werte für mehrere hintereinander gelernte Reihen allmählich kompensierten.

Als wahrscheinliche Ursache der unsymmetrischen Verteilung57 machte ich schon die eigentümliche Verschiedenheit der Wir - kung groſser Aufmerksamkeits - und groſser Zerstreuungsgrade geltend (S. 48). Die Ursache der mehrfachen Anhäufung von Werten zu beiden Seiten des Mittels wird man unschwer in der Stellung der einzelnen Reihen innerhalb jedes Versuchs vermuten. Summiert man bei einer gröſseren Versuchsreihe die Werte für die sämtlichen ersten, die sämtlichen zweiten, dritten u. s. w. Reihen und nimmt aus diesen Summen jedes - mal das Mittel, so fallen, wie man voraussieht, diese Mittel merklich verschieden aus. Die Einzelwerte jeder Summe gruppieren sich nun zwar nur mit mäſsiger Annäherung nach dem Fehlergesetz um ihr Mittel, allein sie liegen doch un - gefähr in seiner Gegend am dichtesten zusammen, und diese einzelnen Anhäufungen müssen sich nachher auch in der Ge - samtmasse noch wieder zeigen.

Man wird ergänzend hinzufügen: wegen der, im Laufe eines Versuchs allmählich zunehmenden geistigen Ermüdung müſsten jene Mittelwerte mit wachsender Ordnungszahl der Reihen immer gröſser werden; man trifft aber damit nicht den eigentümlichen Sachverhalt.

[figure]
58

Nur in einem Falle nämlich habe ich etwas dieser Vor - aussetzung Entsprechendes konstatieren können, bei der groſsen und deshalb allerdings gewichtigen Versuchsreihe von 92 Ver - suchen mit acht dreizehnsilbigen Reihen. Bei dieser fanden sich für das Lernen der sämtlichen 92 ersten, zweiten u. s. w. Reihen die Mittelwerte 105, 140, 142, 146, 146, 148, 144, 140 Sekunden, deren relative Lage Fig. 2 veranschaulicht. Für alle übrigen Fälle, die ich untersuchte, ist dagegen viel - mehr ein Gang der Zahlen typisch, wie er sich bei den 84 Versuchen mit sechs sechzehnsilbigen Reihen herausstellte und wie ihn Fig. 3 wiedergiebt.

[figure]

Die Mittel waren hier 191, 224, 206, 218, 210, 213 Se - kunden. Dieselben setzen, wie man sieht, ziemlich tief unter dem Gesamtmittel ein, erheben sich aber sofort zu einer Höhe über demselben, die im weiteren Verlauf des Versuchs nicht wieder erreicht wird, und oscillieren dann in ziemlich be - trächtlichen Schwankungen auf und nieder. Einen ganz ana - logen Gang zeigen z. B. die Zahlen bei 7 Versuchen mit je neun zwölfsilbigen Reihen, nämlich:

71, 90, 98, 87, 98, 90, 101, 86, 69 (Fig. 4),

59
[figure]

ferner die Werte für 39 Versuche mit sechs dreizehn - silbigen Reihen, die zur Zeit B gewonnen wurden

(118, 150, 158, 147, 155, 144 Fig. 5 untere Kurve),

[figure]

diejenigen für 38 Versuche mit acht 13silbigen Reihen der Zeit C (139, 159, 167, 168, 160, 150, 162, 153 Fig. 5 oben),

sowie endlich die aus 7 Versuchen mit je sechs Stanzen des Byronschen Don Juan erhaltenen Zahlen (189, 219, 171, 204, 183, 229) u. s. w.

Ja, auch bei der ersterwähnten widersprechenden Gruppe von Versuchen zeigt sich eine übereinstimmende Gruppierung der Einzelmittel mit der sonst allgemein gefundenen, wenn60 man die je 92 Reihen nicht alle zugleich in Rechnung zieht, sondern in einige Fraktionen teilt, d. h. also, wenn man Versuche zusammenfaſst, die sich zeitlich näher stehen und bei denen eine gröſsere Ähnlichkeit der Versuchsumstände voraus - gesetzt werden kann.

Man darf natürlich aus diesen Zahlen nicht schlieſsen, daſs ein Einfluſs der allmählich zunehmenden geistigen Ab - spannung während der je etwa 20 Minuten dauernden Versuche nicht stattgefunden habe.

Man muſs nur sagen, daſs der vorauszusetzende Einfluſs der letzteren auf die Zahlen bei weitem übertroffen wird durch eine andere Tendenz, auf die man a priori nicht so leicht gekommen wäre, nämlich durch eine Tendenz, auf ver - hältnismäſsig niedrige Werte verhältnismäſsig hohe folgen zu zu lassen und umgekehrt. Es scheint eine Art periodischer Oscillation der geistigen Empfänglichkeit oder der Aufmerk - samkeit zu bestehen, bei der dann die zunehmende Ermüdung sich so äuſsern würde, daſs die Schwankungen um eine all - mählich sich verschiebende Mittellage geschehen*Wenn es einmal von Interesse werden sollte, könnte man auch noch versuchen, die verschiedenen Effekte jener Tendenz in verschiedenen Fällen numerisch näher zu präcisieren. Ein Maſs nämlich für den Ein - fluſs der zahlreichen zufälligen Störungen, denen das Auswendiglernen von einem Tag zum anderen ausgesetzt ist, hat man in den wahrschein - lichen Beobachtungsfehlern der für Reihengruppen erhaltenen Zahlen. Wäre nun das Lernen der einzelnen Reihen im allgemeinen nur den - selben oder ähnlichen Schwankungen der Umstände ausgesetzt, wie sie von Versuch zu Versuch stattfinden, so müſste, nach den Grundsätzen der Fehlertheorie, ein aus den Einzelwerten direkt berechneter wahrschein - licher Beobachtungsfehler sich zu dem eben erwähnten verhalten wie 1: 〈…〉 wo n die Anzahl der zu einem Versuch zusammengenommenen Einzelreihen bezeichnet. Machen sich aber bei dem Lernen dieser Einzel - reihen, wie es in unserem Falle scheint, noch besondere Einflüsse geltend, welche die Werte stärker von einander treiben als es die sonstigen Schwan -.

61

Nach diesen Orientierungen über die Art und die Ver - wendbarkeit der durch das Auswendiglernen gewonnenen Zahlen wenden wir uns nunmehr zu dem eigentlichen Zweck der Untersuchung, der numerischen Beschreibung von Kausal - verhältnissen.

*kungen der Umstände thun würden, so muſs das aus den Einzelwerten berechnete wb etwas zu groſs ausfallen, das eben genannte Verhältnis also zu klein, und zwar beides um so mehr, je stärker solche Tendenzen wirken. Eine Prüfung des thatsächlichen Verhaltens ist zwar etwas mühsam, bestätigt das Gesagte aber vollkommen. Bei den 84 Versuchen mit sechs sechzehnsilbigen Reihen ist 〈…〉 = 2,45. Als wahrscheinlichen Beobach - tungsfehler der 84 Versuchszahlen fanden wir 48,4. Der wahrscheinliche Beobachtungsfehler der 504 Einzelwerte ist 31,6. Der Quotient 31,6: 48,4 ist 1,53; also nicht einmal des Wertes von 〈…〉
*
[62]

V. Die Schnelligkeit des Lernens von Silbenreihen als Funktion der Länge derselben.

§ 19. Versuche der späteren Periode.

Es ist hinreichend bekannt, daſs die Einprägung von Vor - stellungsreihen, die zu einer bestimmten späteren Zeit repro - duciert werden sollen, um so schwieriger ist, je länger die Reihen sind. Das heiſst, diese Einprägung erfordert nicht nur absolut genommen mehr Zeit bei gröſserer Länge der Reihen, weil eben jede Wiederholung länger dauert, sondern sie beansprucht auch verhältnismäſsig mehr Zeit, weil eine wachsende Anzahl von Wiederholungen nötig wird. Sechs Verse eines Gedichtes kosten, um gelernt zu werden, nicht nur dreimal soviel Zeit wie zwei, sondern erheblich mehr.

Ich habe dieses Abhängigkeitsverhältnis, welches sich natür - lich auch bei der ebenmöglichen Reproduktion sinnloser Silben - reihen geltend macht, nicht eigens untersucht, aber beiläufig dafür einige Zahlen gewonnen, die, ohne besonders inter - essante Beziehungen darzubieten, immerhin der Mitteilung wert sind.

63

Die in Betracht gezogenen Reihen umfaſsten (bei den Versuchen der Jahre 1883 / 84)

je 12, 16, 24 oder 36 Silben, und zwar waren hierbei je 9, 6, 3 oder 2 Reihen jedesmal zu einem Ver - such zusammengefaſst.

Für die Anzahl von Wiederholungen, welche in diesen Fällen nötig waren, um die Reihen bis zur ersten fehlerfreien Reproduktion (diese mitgerechnet) zu lernen, fanden sich folgende Zahlen:

Um die Anzahl der Wiederholungen vergleichbarer zu machen, muſs man sie, sozusagen, auf einen Generalnenner bringen und jedesmal durch die Zahl der Reihen dividieren. Man erfährt so, wieviel Wiederholungen verhältnismäſsig nötig waren, um einzelne Reihen gerade auswendig zu lernen, die sich nur durch die Zahl der Silben von einander unter - schieden und jedesmal mit soviel anderen derselben Art zu - sammengenommen waren, daſs die Dauer des ganzen Ver - suchs 15 30 Minuten betrug*Man könnte einwenden, daſs durch diese Division auf die Durch - schnittswerte für das Lernen der einzelnen Reihen zurückgegriffen und daſs damit das Resultat des vierten Abschnittes auſser Acht gelassen würde. Denn nach diesem durften zur Ermittelung von Abhängigkeits - beziehungen zwar die Mittelwerte aus den für Reihengruppen aber nicht aus den für einzelne Reihen erhaltenen Zahlen verwandt wer -.

64

Auſserdem aber kann man den Zahlen nach der Seite der abnehmenden Silben einen Abschluſs geben. Man kann fragen: wie groſs ist diejenige Zahl von Silben, welche un - mittelbar nach einmaligem Durchlesen derselben gerade noch fehlerlos hergesagt werden kann? Für mich beträgt diese Anzahl ziemlich genau 7 Silben. Es gelingt zwar auch oft, 8 Silben wiederzugeben, aber nur zu Anfang der betreffenden Versuche und im ganzen in der groſsen Minorität der Fälle. Bei 6 Silben andererseits kommt sozusagen nie ein Fehler vor; bei ihnen ist also ein aufmerksames einmaliges Durch - lesen schon zuviel Energieentfaltung für eine unmittelbar darauf folgende Reproduktion.

Fügt man also dieses letztere Gröſsenpaar hinzu, vollzieht die eben geforderte Division und bringt endlich die Wieder - holung, die in dem letzten fehlerfreien Hersagen besteht, also nicht mehr auf das Lernen verwandt wurde, in Abzug, so ergiebt sich folgende Tabelle.

*den. Allein es wird gar nicht behauptet, daſs die oben durch Division zu gewinnenden Zahlen richtige Durchschnittswerte für die den einzelnen Reihen zukommenden Zahlen bildeten, d. h. daſs letztere sich gemäſs dem Fehlergesetz um sie gruppieren. Sondern die Zahlen sind als Durch - schnittszahlen für Reihengruppen zu betrachten, bei denen nur zur bes - seren Vergleichung mit anderen ein Umstand, der der Natur der Sache nach nicht überall derselbe sein konnte, durch Division ausgeglichen ist -
*65

Den regelmäſsigen Gang dieser für die geringe Zahl der Versuche ziemlich sicheren Zahlen veranschaulicht die gröſsere der nebenstehenden beiden Kurven. Wie sie zeigt, wuchs in den untersuchten Fällen die Anzahl der Wiederho -

[figure]

lungen, die für das Lernen von Reihen mit zuneh - mend gröſserer Silbenzahl nötig waren, auſserordent - lich schnell mit der Zu - nahme der Silben. Na - mentlich zuerst ist der An - stieg der Kurve ein sehr steiler, weiterhin scheint er sich allmählich zu ver - flachen. Zur Bewältigung des Fünffachen von der - jenigen Silbenzahl, die ge - rade noch nach einmaligem Durchlesen (d. h. etwa nach 3 Sekunden) reproduciert werden konnte, waren über 50 Wiederholungen notwendig, welche die ununterbrochene und anstrengende Arbeit einer Viertelstunde in Anspruch nahmen.

Die Kurve hat ihren natürlichen Ausgangspunkt im Null - punkt der Koordinaten. Das kurze Anfangsstückchen bis zu dem Punkt x = 7, y = 1 kann man so deuten: um Reihen von 6, 5, 4 u. s. w. Silben auswendig hersagen zu können, ist natürlich immer ein einmaliges Durchlesen derselben er - forderlich, aber dasselbe braucht (für mich) nicht, wie bei*Der ihre Sicherheit messende wahrscheinliche Fehler ist nicht aus den Zahlen für die Einzelreihen, sondern aus denen für die Reihengruppen berechnet.Ebbinghaus, Über das Gedächtnis. 5667 Silben, mit möglichst gespannter Aufmerksamkeit zu ge - schehen, sondern kann immer flüchtiger sein, um je weniger Silben es sich handelt.

§ 20. Versuche der früheren Periode.

Selbstverständlich haben die mitgeteilten an einem einzigen Individuum gewonnenen Zahlen auch nur für dieses eine Individuum Bedeutung. Es fragt sich, ob sie nun auch wenigstens für dieses Individuum von genereller Be - deutung sind, also bei Wiederholung der Versuche zu anderen Zeiten in annähernd ähnlicher Gröſse und Gruppierung wieder erwartet werden dürfen oder nicht.

Eine Reihe von Versuchsresultaten der älteren Periode giebt die erwünschte Möglichkeit einer Kontrolle in dieser Richtung. Dieselben sind wiederum beiläufig gewonnen (also unbeeinfluſst durch Erwartungen und Voraussetzungen), und zwar aus Versuchen, die unter etwas anderen Umständen an - gestellt sind als die eben mitgeteilten. Die Tageszeit war eine frühere, auſserdem wurde das Lernen fortgesetzt, bis die ein - zelne Reihe zwei Mal hintereinander ohne Fehler hergesagt werden konnte. Ein Versuch umfaſste

  • 15 Reihen von je 10 Silben
  • oder 8 13
  • 6 16
  • 4 19

Es sind also wiederum 4 verschiedene Reihenlängen in Betracht gezogen, dieselben liegen aber auf einer viel kürzeren Strecke zusammengedrängt.

Da die Wiederholungen auf die es hier ankommt in der älteren Periode überhaupt nicht gezählt wurden, so67 muſste ihre Anzahl aus den Zeiten berechnet werden. Dazu ist die oben (S. 43) mitgeteilte Tabelle, nach entsprechender Interpolation, benutzt worden. Werden die gefundenen Zahlen gleich auf je eine Reihe reduciert und dabei die beiden Wieder - holungen, welche das Hersagen ausmachen, wie oben, abge - zogen, so ergiebt sich:

*Die wahrscheinlichen Fehler beruhen ebenfalls auf Umrechnung und haben nur einen ungefähr orientierenden Wert.
*

Die kleinere Kurve der obigen Fig. 6 veranschaulicht graphisch die Lage dieser Zahlen. Wie man sieht, war für gleichlange Reihen die Anzahl der für das Auswendig - lernen nötigen Wiederholungen in der älteren Zeit überall etwas gröſser als in der späteren. Eben wegen seiner Gleich - förmigkeit wird dieses Verhalten in der Verschiedenheit der Versuchsumstände, in den Ungenauigkeiten der Umrechnung, vielleicht auch in der gesteigerten Übung der späteren Periode seinen Grund haben. Immerhin fallen die älteren Zahlen sehr annähernd in die Gegend der jüngeren, und was die Hauptsache ist die beiden sie darstellenden Kurven schmie - gen sich, auf der allerdings kurzen Strecke ihres gemein - samen Verlaufs, so vollkommen aneinander an, wie man es für Versuche, die durch ca. Jahre voneinander getrennt sind und ganz sicher keiner Trübung durch irgend welche Erwartung unterlagen (§ 14), nur immer wünschen kann. Man5*68wird also mit erheblicher Wahrscheinlichkeit behaupten dürfen, daſs das durch jene Kurven dargestellte Abhängigkeitsverhält - nis zwar nur individuell ist, aber für das eine Individuum, an dem es gefunden wurde, über gröſsere Zeiten hinweg konstant bleibt und deshalb für dieses charakteristische Be - deutung besitzt.

§ 21. Steigerung der Schnelligkeit des Lernens bei sinn - vollem Material.

Um auf die Gleichförmigkeiten und Verschiedenheiten zwischen sinnlosem und sinnvollem Material aufmerksam zu werden, habe ich gelegentlich, wie schon erwähnt, Lernver - suche mit Byrons Don Juan (mit dem englischen Original) angestellt. Dieselben gehören insofern nicht eigentlich hierher, als ich bei ihnen die Länge des jedesmal zusammengefaſsten Quantums nicht variiert habe, sondern immer nur einzelne Stanzen auswendig lernte. Indes die Angabe der hierzu er - forderlich gewesenen Anzahl von Wiederholungen ist durch ihren Kontrast mit den eben mitgeteilten Zahlen auch an und für sich interessant.

In Betracht kommen nur 7 Versuche (1884), deren jeder 6 Stanzen umfaſste. Wurden diese, jede für sich, bis zur erstmöglichen Reproduktion gelernt, so waren für alle 6 zu - sammen durchschnittlich 52 Wiederholungen (wm = ± 0,6) nötig. Für jede Stanze ergiebt das knapp 9, oder, nach Abzug der Wiederholung für das Hersagen, knapp 8 Wieder - holungen*Zur richtigen Würdigung der Zahlen und zum richtigen Anschluſs an etwaige eigene Beobachtungen wolle man das S. 33, 1 Gesagte beachten. Die Stanzen wurden, der Gleichförmigkeit des Verfahrens halber, immer. Erwägt man, daſs jede Stanze 80 Silben umfaſst,69 (die allerdings durchschnittlich etwas weniger als 3 Buch - staben zählen dürften), so gewinnt man durch Vergleichung der jetzt gefundenen Zahl von Wiederholungen mit den obigen einen wenigstens ungefähren numerischen Ausdruck für die auſserordentliche Begünstigung, welche der Einprägung von Reihen durch die vereinigten Bande des Sinnes, des Rhythmus, des Reims und der Zugehörigkeit zu einer ein - zigen Sprache zu Teil wird. Denkt man sich unsere obige Kurve in der Krümmung, die sie einzuschlagen scheint, noch eine Strecke fortgeführt, so muſs man voraussetzen, daſs ich sinnlose Reihen von 70 80 Silben nach 70 80maliger Wieder - holung auswendig hersagen könnte. Waren die Silben durch die eben erwähnten Fäden äuſserlich und innerlich aneinander gekettet, so reducierte sich also dieses Erfordernis für mich auf etwa 1 / 10 seines Betrages.

*von Anfang bis zu Ende durchgelesen; schwierigere Stellen wurden also nicht etwa besonders gelernt und dann eingefügt. Geschah das letztere, so fielen die Zeiten erheblich geringer aus; von der Anzahl von Wieder - holungen kann man dann nicht mehr sprechen. Natürlich geschah das Lesen zwar möglichst mit gleichförmiger Schnelligkeit, aber nicht in dem langsamen und mechanisch geregelten Tempo, welches für die Silben - reihen festgesetzt war. Die Regelung der Geschwindigkeit war der freien Schätzung überlassen; einmaliges Durchlesen einer Stanze erforderte 20 23 Sekunden.
*
[70]

VI. Das Behalten als Funktion der Anzahl der Wiederholungen.

§ 22. Stellung der Frage.

Das Resultat des vierten Abschnittes war das folgende: wenn ich in wiederholten Fällen Silbenreihen von bestimmter Länge so oft einprägte, daſs sie gerade auswendig hergesagt werden konnten, so fielen zwar die dazu nötigen Zeiten (oder Anzahlen von Wiederholungen) erheblich verschieden von ein - ander aus, gleichwohl aber hatten die aus ihnen gewonnenen Mittelwerte den Charakter echter naturwissenschaftlicher Kon - stanten. Ich pflege also gleichartige Silbenreihen unter gleich - artigen Umständen je nach einer durchschnittlich gleichen Anzahl von Wiederholungen gerade auswendig zu wissen. Die grossen Abweichungen der Einzelwerte von einander ändern daran nichts; sie bewirken nur, daſs eine genauere Ermitte - lung der für bestimmte Umstände erforderlichen Anzahl ziemlich zeitraubend wird.

Was wird nun geschehen, kann man fragen, wenn die Anzahl von Wiederholungen einer bestimmten Reihe hinter der für das Auswendiglernen derselben erforderlichen Anzahl71 zurückbleibt? oder wenn sie über das erforderliche Minimum hinaus noch gesteigert wird?

Was im allgemeinen geschieht wurde früher bereits an - gedeutet. Natürlich sind in dem zweiten Falle die über - schieſsenden Wiederholungen nicht verloren. Wenn auch der gegenwärtige Effekt, das fehlerfreie glatte Hersagen, durch sie nicht geändert wird, so kommen sie doch zur Geltung, indem sie seine Möglichkeit für eine mehr oder minder ent - fernte Zukunft sicherstellen. Je länger man lernt, desto länger behält man. Und auch in dem ersten Falle geschieht offenbar etwas, wenn auch die Wiederholungen für die Ermöglichung einer freien Reproduktion noch nicht zureichen. Es wird durch sie die erstmögliche Reproduktion doch wenigstens angebahnt, und die einstweilen stückweise, stockend und fehlerhaft ge - schehenden Reproduktionen nähern sich ihr mehr und mehr.

Man kann diese Verhältnisse auch durch Vermittelung der zunächst bildlichen Vorstellung einer inneren Festig - keit der Reihen beschreiben. Mit Benutzung derselben würde man sagen: durch eine zunehmende Zahl von Wiederholungen werden Vorstellungsreihen immer fester und unvertilgbarer eingegraben; ist die Zahl gering, so ist auch die Festigkeit gering, nur hie und da haften flüchtige Spuren der Reihe auf kurze Augenblicke; bei einer gewissen gröſseren Anzahl sitzt die Reihe so fest, daſs sie in ihrer ganzen Ausdehnung wenigstens für kurze Zeit reproducierbar ist; werden die Wiederholungen auch darüber hinaus fortgesetzt, so verbleicht das sehr gefestigte Bild der Reihe erst nach immer längeren Zeiträumen.

Wenn man nun nicht zufrieden wäre mit dieser allge - meinen Statuierung eines Abhängigkeitsverhältnisses zwischen der Anzahl von Wiederholungen und der durch sie erreichten inneren Festigkeit, wenn man dasselbe näher und im einzelnen72 präcisieren wollte, wie müſste man sagen? Das Thermometer steigt mit steigender Temperatur, die Magnetnadel wird um wachsende Winkel abgelenkt mit wachsender Intensität des sie umkreisenden elektrischen Stromes. Aber während dort für gleiche Temperaturzunahmen die Quecksilbersäule immer um gleiche Strecken steigt, werden hier für gleiche Zuwüchse der Stromintensität die Zuwüchse der Ablenkungswinkel immer kleiner. Was gilt nun nach dieser Analogie von der inneren Festigkeit mehrfach wiederholter Reihen? Soll man sie ohne weiteres proportional setzen der Anzahl der Wiederholungen und sie demnach als doppelt oder dreimal so groſs bezeichnen, wenn gleichartige Reihen bei gleicher Aufmerksamkeit dop - pelt oder dreimal so oft wiederholt wurden als andere? Oder wächst sie bei gleicher Zunahme der Wiederholungen um immer geringere Bruchteile? oder wie sonst?

Offenbar hat diese Frage ihren guten Sinn; ihre Beant - wortung wäre theoretisch sowohl wie praktisch von Interesse und Wichtigkeit. Mit den bisherigen Hülfsmitteln kann man sie indes weder entscheiden noch auch untersuchen; ja nicht einmal ihre einfache Auffassung ist ganz sichergestellt, solange die Worte innere Festigkeit , Eingegrabensein , mehr etwas Unbestimmtes und Bildliches als etwas klar und anschaulich Definiertes bezeichnen.

In Anwendung der oben (§ 5) entwickelten Principien definiere ich die innere Festigkeit einer Vorstellungsreihe, den Grad ihres Haftens, durch die gröſsere oder geringere Bereit - willigkeit, mit der sie zu einer bestimmten Zeit nach ihrer ersten Einprägung ihrer Reproduktion entgegenkommt. Diese Bereitwilligkeit messe ich an der Arbeitsersparnis, welche bei dem Auswendiglernen der irgendwie haftenden Reihe statt - findet, gegenüber derjenigen Arbeit, welche für eine gleich - artige aber noch nicht eingeprägte Reihe nötig sein würde. 73Die Zeit nach der ersten Einprägung, zu der die Konstatie - rung der Arbeitsersparnis vorgenommen wird, kann man zu - nächst natürlich beliebig bestimmen; ich habe dafür den Zeit - raum von 24 Stunden gewählt.

Da es sich bei dieser Definition nicht um Fixierung eines allgemeinen Sprachgebrauchs handelt, so kann man nicht eigentlich fragen, ob sie richtig, sondern nur, ob sie zweck - mäſsig sei, allenfalls noch, ob sie die ganz unbestimmten Vor - stellungen treffe, die sich mit dem Gedanken an ein ver - schieden starkes psychisches Festsitzen verbinden. Das letz - tere wird man vielleicht zugestehen. Ueber die Zweckmäſssig - keit aber läſst sich von vornherein nichts sagen; man wird sie erst beurteilen können nach Gewinnung umfassenderer Resultate. Und zwar wird der Ausfall des Urteils wesentlich davon abhängen, ob die mit Hülfe des definierten Maſses ge - wonnenen Ergebnisse die Grundforderung erfüllen, die wir an ein zweckmäſsiges Maſs zu stellen pflegen. Diese besteht da - rin, daſs bei beliebiger Aenderung der willkürlichen Bestim - mungen, welche jedes Maſs enthält, die mit dem geänderten Maſs gewonnenen Resultate durch Multiplikation mit ein und derselben Konstanten auf die alten Maſszahlen zurückgeführt werden können. Man müſste in unserem Falle also z. B. wissen, ob der Charakter der Resultate derselbe bleibt, wenn statt der willkürlich festgesetzten Zeit von 24 Stunden für die Bestimmung der Nachwirkung der Wiederholungen irgend ein anderes Intervall eingeführt würde, oder ob dadurch die ganze Gesetzmäſsigkeit der Resultate ebensowohl eine andere würde, wie dies natürlich mit ihren absoluten Werten der Fall ist. Darüber aber kann man selbstverständlich a priori nicht diskutieren.

Für die Ermittelung des Abhängigkeitsverhältnisses zwi - schen der zunehmenden Anzahl von Wiederholungen einer74 Reihe und der dadurch gewonnenen immer festeren Einprä - gung derselben habe ich demnach die Frage so gestellt: wenn gleichartige Reihen durch verschieden häufige Wieder - holungen verschieden fest eingeprägt und dann 24 Stunden später bis zur erstmöglichen Reproduktion auswendig gelernt werden, wie verhalten sich die hierbei hervortretenden Ar - beitsersparnisse zu einander und zu den jedesmal voran - gegangenen einprägenden Wiederholungen?

§ 23. Die Versuche und ihre Resultate.

Um über die eben formulierte Frage zu orientieren, habe ich 70 Doppelversuche, je mit sechs 16 silbigen Reihen, an - gestellt. Jeder Doppelversuch bestand darin, daſs die ein - zelnen Reihen jede für sich erst eine bestimmte An - zahl von Malen aufmerksam gelesen (resp. nach häufig wieder - holtem Lesen auch auswendig hergesagt) wurden, und daſs ich dann 24 Stunden später die so eingeprägten und halbwegs wieder vergessenen Reihen bis zur erstmöglichen Reproduktion auswendig lernte. Das erstmalige Lesen der Reihen geschah entweder 8 oder 16, 24, 32, 42, 53, 64 mal.

Eine Steigerung der einprägenden Wiederholungen über 64 hinaus erwies sich, wenigstens für sechs Reihen dieser Länge, als schwer thunlich. Denn bei dieser Zahl nimmt jeder Ver - such eine Dauer von etwa ¾ Stunden in Anspruch und gegen das Ende dieser Zeit stellten sich manchmal Abspannung, Eingenommenheit des Kopfes u. s. w. ein, welche bei weiterer Steigerung die Versuchsumstände kompliciert hätten.

Die Versuche waren regelmäſsig auf die untersuchten sieben Anzahlen von Wiederholungen verteilt, sodaſs also auf jede derselben 10 Doppelversuche kommen. Die Resultate75 waren, jedesmal für die sechs Reihen eines Versuchs zusammen und ohne Abzug der Zeit für das Hersagen, die folgenden.

Nach voraufgegangener Einprägung der Reihen durch x Wiederholungen wurden dieselben 24 Stunden später ge - lernt mit einem Aufwand von y Sekunden.

76

Die vorstehend mitgeteilten Zahlen bedeuten die Zeiten, welche gebraucht wurden, um die 24 Stunden vorher ein - geprägten Reihen grade auswendig zu lernen. Da es uns aber nicht sowohl auf die gebrauchten als vielmehr auf die ersparten Zeiten ankommt, so müſsten wir wissen, in wie viel Zeit dieselben Reihen auswendig gelernt worden wären, wenn keine vorherige Einprägung stattgefunden hätte. Für die - jenigen Reihen, welche 42, 53 und 64 mal wiederholt wurden, kann man diese Zeit aus den Versuchen selbst kennen lernen. Denn bei ihnen ist die Anzahl der Wiederholungen gröſser als das durchschnittlich für die erstmögliche Reproduktion er - forderliche Minimum, welches bei einer 16silbigen Reihe (nach S. 63) 31 Wiederholungen beträgt. Man kann hier also konsta - tieren, bei der wievielten der nachher weiter fortgesetzten Wieder - holungen eben diese erste fehlerfreie Reproduktion jeder Reihe eintrat. Allein durch die nachherige Fortsetzung der Wiederho - lungen und die damit zusammenhängende Ausdehnung der Ver - suche über eine längere Zeit werden die Umstände etwas andere als bei dem gewöhnlichen Auswendiglernen nicht eingeprägter Reihen. Für die durch eine geringere Anzahl von Wieder - holungen eingeprägten Reihen kann man ohnedies jene zur Vergleichung nötige Zahl nicht an ihnen selbst gewinnen, da sie ja eben im Interesse des Experiments nicht vollständig auswendig gelernt werden sollen. Ich habe daher überall vorgezogen, die gesuchten Arbeitsersparnisse zu ermitteln durch Vergleichung mit der Zeit, welche das Auswendiglernen nicht derselben, sondern gleichartiger, aber bis dahin un - bekannter Reihen erforderte. Hierfür besitze ich aus eben der Zeit, aus der die gegenwärtig besprochenen Versuche stammen, eine ziemlich sichere Zahl: je sechs 16silbige Reihen wurden im Durchschnitt aus 53 Versuchen gelernt in 1270 Sek., mit dem geringen wahrscheinlichen Fehler ± 7.

77

Stellt man, unter Zuziehung dieses letzteren Wertes, sämt - liche Mittelwerte zusammen, so resultiert folgende Tabelle:

Die in diesen Zahlen annähernd verwirklichte einfache Beziehung liegt auf der Hand: die Anzahl der die Reihen einprägenden Wiederholungen (Kol. I) und die 24 Stunden später als Folge der Einprägungen noch konstatierbaren Ar - beitsersparnisse bei dem Lernen der Reihen (Kol. III) schreiten in ganz derselben Weise fort. Division der jedesmaligen Ar - beitsersparnisse durch die zu ihrer Hervorbringung erforder - lichen Wiederholungen führt überall fast zu derselben Zahl (Kol. IV).

Die Resultate der Versuche lassen sich also zusammen - fassend so formulieren: wurden 16silbige sinnlose Silbenreihen durch aufmerksame Wiederholung dem Gedächtnis mehr und mehr eingeprägt, so wuchs die ihnen dadurch zu teil wer - dende innere Festigkeit, gemessen an der gröſseren Bereit - willigkeit, die sie nach 24 Stunden ihrer Reproduktion ent - gegenbrachten, innerhalb gewisser Grenzen annähernd pro -78 portional der Anzahl jener Wiederholungen. Die Grenzen, innerhalb deren dieses Verhalten konstatiert wurde, waren einerseits Null, andererseits etwa das Doppelte derjenigen Anzahl von Wiederholungen, die für das Auswendiglernen der Reihen durchschnittlich gerade zureichte.

Für 6 Reihen zusammen betrug die Nachwirkung jeder Wiederholung, die durch sie ermöglichte Ersparnis, im Mittel 12,7 Sekunden, für jede einzelne Reihe demnach 2,1 Sekun - den. Da die Wiederholung selbst, bei einer 16silbigen Reihe, 6,6 6,8 Sekunden dauert, so betrug also die nach 24 Stunden von ihr noch verbliebene Nachwirkung ein knappes Drittel ihrer eigenen Dauer. Mit anderen Worten: für je drei Wie - derholungen, die ich heute auf die Einprägung einer Reihe mehr verwandte, ersparte ich nach 24 Stunden beim Wieder - lernen derselben Reihe durchschnittlich und ungefähr eine Wiederholung, und dabei war es innerhalb der bezeichneten Grenzen einerlei, wie viele Wiederholungen im ganzen auf die Einprägung der Reihe verwandt waren.

Ob den gefundenen Resultaten eine irgendwie allgemeinere Bedeutung zukommt, oder ob sie bloſs für das einmalige Ge - schehen gelten, an dem sie ermittelt wurden und hier nur aus zufälligen Gründen eine sonst nicht vorhandene Regel - mäſsigkeit vorspiegeln, kann ich vorläufig nicht ausmachen. Direkte Kontrolversuche besitze ich nicht; eine indirekte Be - stätigung kann ich allerdings weiterhin (Abschn. VIII § 34) noch mitteilen, indem Antworten, die beim Ausgehen von einer ganz anderen Fragestellung gefunden wurden, sehr gut mit den gegenwärtigen Resultaten zusammenstimmen. Ich würde daher geneigt sein, den letzteren wenigstens für meine eigene Individualität eine allgemeinere Gültigkeit zuzuschreiben.

Anmerkung. Den Versuchen haftet eine innere Ungleichheit an, die ich weder vermeiden, noch durch eine Korrektion beseitigen, son -79 dern eben nur bezeichnen kann. Nämlich eine geringe Anzahl von Wiederholungen der Reihen nimmt nur wenige Minuten in Anspruch; ihre ganze Wirkung fällt also in eine Zeit groſser geistiger Frische. Bei 64 Wiederholungen dauert die ganze Thätigkeit etwa ¾ Stunde; die Mehrzahl der Reihen wird daher in einem Zustand minderer Frische oder sogar einer gewissen Abspannung eingeprägt, und die Wieder - holungen werden also verhältnismäſsig minder wirksam sein. Umgekehrt ist es bei der Reproduktion der Reihen am nächsten Tage. Die vor - her durch 8malige Wiederholung eingeprägten Reihen erfordern fast die dreifache Zeit, um gelernt zu werden, wie die durch 64malige Wiederholung eingeprägten. Letztere werden daher, ganz abgesehen von der gröſseren Festigkeit, die sie haben, schon deshalb verhältnis - mäſsig etwas rascher gelernt werden, weil sie in eine Zeit von durch - schnittlich etwas besserer Prädisponierung fallen. Beide Unregelmäſsig - keiten wirken gegen einander, wie man sieht, und heben sich dadurch zum Teil auf: das unter den verhältnismäſsig ungünstigeren Umständen Eingeprägte wird unter verhältnismäſsig günstigeren Umständen wieder gelernt und umgekehrt. Inwieweit aber diese Kompensation stattfindet und inwieweit noch ein Rest der Ungleichheit der Bedingungen die Resultate trübt, vermag ich nicht zu bestimmen.

§ 24. Einfluſs der Erinnerung.

An dem regelmäſsigen Gange der gefundenen Resultate scheint mir ein Moment noch besondere Beachtung zu ver - dienen. Bei den Äuſserungen des Gedächtnisses im gewöhn - lichen Leben ist der Unterschied von gröſster Bedeutung, ob die Reproduktionen mit Erinnerung geschehen oder nicht, ob also die wiederkehrenden Vorstellungen bloſs einfach wieder - kehren, oder ob sich mit ihnen gleichzeitig ein Wissen davon verbindet, daſs sie früher schon einmal vorhanden waren, und eine Vorstellung der Umstände, von denen sie damals be - gleitet waren. In diesem zweiten Falle nämlich gewinnen sie für die praktischen Zwecke, die wir verfolgen, und für die Bethätigung höheren geistigen Lebens einen höheren und80 besonderen Wert. Es fragt sich nun, in welchem Zusammen - hange steht dieses komplicierte Phänomen Erinnerung, welches das Hervortreten von Vorstellungen aus dem Gedächtnis unter Umständen begleitet, unter Umständen nicht begleitet, zu dem sonstigen inneren Leben dieser Vorstellungen. Zur Beant - wortung dieser Frage liefern unsere Resultate einen gewissen Beitrag.

Wurden die Reihen durch 8 oder 16 Wiederholungen eingeprägt, so waren sie mir am nächsten Tage fremd ge - worden. Ich wuſste natürlich indirekt sehr genau, daſs es dieselben sein muſsten, die am Tage vorher eingeprägt waren, aber ich wuſste dies eben nur indirekt, ihnen selbst merkte ich es nicht an, ich erkannte sie nicht wieder. Bei 53 oder 64 Wiederholungen dagegen begrüſste ich sie meist, wenn nicht sofort, doch sehr bald als alte Bekannte, ich erinnerte mich ihrer mit voller Bestimmtheit. An den Zeiten für das Auswendiglernen der Reihen, resp. an den dabei hervor - tretenden Arbeitsersparnissen, findet sich nichts diesem Unter - schied Entsprechendes. Sie sind verhältnismäſsig nicht kleiner, da wo von Erinnerung keine Rede ist, und verhältnismäſsig nicht gröſser, da wo diese sehr sicher und lebendig auftritt. Die Gesetzmäſsigkeit der Nachwirkung bei vielen Wieder - holungen tritt nicht merklich heraus aus der Linie, die durch den Effekt einer geringen Anzahl von Wiederholungen gleich - sam vorgezeichnet wird, obwohl die Konstatierung dieser Nach - wirkung im ersten Falle ebenso unzweifelhaft von Erinnerung begleitet ist, wie sie im zweiten derselben entbehrt.

Ich begnüge mich, auf dieses bemerkenswerte Verhalten hinzuweisen. Allgemeine Folgerungen daraus würden in der Luft schweben, solange die Allgemeinheit der Unterlage nicht genügender dargethan werden kann.

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§ 25. Erhebliche Vermehrung der Anzahl der Wieder - holungen.

Es wäre von Interesse zu wissen, ob die annähernde Proportionalität zwischen der Anzahl der Wiederholungen einer Reihe und der dadurch ermöglichten Arbeitsersparnis bei dem Wiedererlernen der letzteren, die für meine Individualität innerhalb gewisser Grenzen stattzufinden scheint, auch noch jenseit dieser Grenzen fortbesteht. Wenn auch weiterhin durch jede Wiederholung für die Reproduktion nach 24 Stun - den ein knappes Drittel ihres eigenen Wertes gespart wird, so müſste ich eine 16silbige Reihe nach 24 Stunden bei ge - gebenem Anfangsglied gerade noch spontan reproducieren können, falls ich sie heute reichlich dreimal so lange memo - rierte, als zu ihrem Auswendiglernen gerade erforderlich ist. Da dieses letztere Erfordernis etwa 31 32 Wiederholungen beträgt, so wären zur Erreichung des erstgenannten Zieles ungefähr 100 Wiederholungen nötig. Überhaupt könnte man dann bei allgemeinerer Geltung der gefundenen Bezie - hung für eine beliebige Art von Reihen, für die man erst sozusagen den Nachwirkungskoefficienten der Wiederholungen ermittelt hätte, direkt berechnen, wie oft sie jetzt wiederholt werden müſsten, damit sie nach 24 Stunden noch gerade her - gesagt werden könnten.

Ich habe diese Frage nicht durch weitere Steigerung der Wiederholungen von bis dahin unbekannten 16silbigen Reihen untersucht, weil, wie oben schon gesagt, bei erheblicher Aus - dehnung der Versuche die zunehmende Ermüdung und eine gewisse Schläfrigkeit Komplikationen herbeiführen. Vielmehr habe ich probeweise einige Versuche teils mit kürzeren, teilsEbbinghaus, Über das Gedächtnis. 682mit schon bekannten Reihen angestellt, die übereinstimmend ergeben, daſs die in Frage stehende Proportionalität bei wei - terer Vermehrung der Wiederholungen allmählich aufhört. Der Effekt der späteren Wiederholungen, gemessen wie oben an der nach 24 Stunden noch konstatierbaren Arbeitserspar - nis, wird nach und nach geringer.

Zwölfsilbige Reihen (deren je 6 zu einem Versuch zu - sammengefaſst waren) wurden bis zur erstmöglichen Repro - duktion gelernt und jede Reihe, unmittelbar nach dem fehler - freien Hersagen, noch dreimal (im ganzen also viermal) so oft wiederholt, als das Auswendiglernen (excl. Hersagen) be - ansprucht hatte. Nach 24 Stunden wurden dann dieselben Reihen bis zur erstmöglichen Reproduktion wiedergelernt. Vier Versuche ergaben dabei folgende Resultate (die Zahlen bedeuten Wiederholungen):

Innerhalb mäſsiger Grenzen ist für mich bei 12 sil - bigen Reihen die Nachwirkung der Wiederholungen nach 24 Stunden etwas geringer als bei 16silbigen; man muſs sie aber mindestens auf 3 / 10 des Betrages der Wiederholungen veranschlagen. Wenn nun dieses Verhältnis auch bei sehr zahlreichen Wiederholungen annähernd fortbestände, so sollte man erwarten, daſs Reihen, auf deren Einprägung viermal so83 viel Wiederholungen verwandt wurden als für das Lernen bis zur erstmaligen Reproduktion nötig waren, nach 24 Stunden ohne jeden neuen Arbeitsaufwand hergesagt werden könnten. Statt dessen erforderte in den untersuchten Fällen das Wieder - lernen noch etwa 35 % des Aufwandes für das erstmalige Lernen; der Effekt von durchschnittlich 410 Wiederholungen war eine Ersparnis von nur dieser Summe. Waren nun hierbei die ersten Wiederholungen mit etwa 3 / 10 ihres Be - trages beteiligt, so muſs umsomehr der Effekt der späteren ein verhältnismäſsig sehr geringer gewesen sein.

Zu demselben Ergebnis führten Untersuchungen der fol - genden Art, die ich nicht weiter detailliert mitteile. Silben - reihen verschiedener Länge wurden durch häufige Wieder - holungen, die aber nicht an demselben Tage stattfanden, son - dern über mehrere aufeinanderfolgende Tage verteilt waren, successive fester eingeprägt (Abschn. VIII). Waren dann, nach mehreren Tagen, nur noch wenige Wiederholungen erforder - lich, um die Reihen auswendigzulernen, so wurden sie drei - bis viermal so oft wiederholt, als für das erste fehlerfreie Hersagen in diesem Stadium der Festigkeit nötig war. Aber in keinem einzigen Falle gelang nun 24 Stunden später die fehlerfreie Reproduktion der Reihen, wenn sie nicht wiederum noch ein oder einigemale durchgelesen wurden. Der Einfluſs der mehrfachen Wiederholungen zeigte sich zwar immer noch in einer gewissen Arbeitsersparnis, aber diese wurde verhält - nismäſsig immer geringer, je weniger noch zu ersparen übrig blieb. Die Beseitigung des letzten Restes von Arbeit bei dem Wiederlernen der Reihen durch Wiederholungen, die dem - selben 24 Stunden voraufgingen, war eine sehr schwierige.

Die Wirkung zunehmender Wiederholungen von Silben - reihen auf die innere Befestigung derselben in dem oben de - finierten Sinne wuchs also, um alles zusammen zu fassen, zu -6*84nächst annähernd proportional der Anzahl der Wiederholungen, wurde dann allmählich schwächer und war schlieſslich sehr gering, wenn die Reihen so festsaſsen, daſs sie nach 24 Stun - den noch beinahe spontan repetiert werden konnten. Da diese Abnahme der Wirkung als eine allmähliche und kon - tinuierliche aufzufassen sein wird, würde sich für genauere Untersuchungen vermutlich ein Beginn derselben auch schon innerhalb der Grenzen gezeigt haben, innerhalb deren wir oben noch Proportionalität fanden, während derselbe jetzt bei seinem geringen Betrage und den weiten Fehlergrenzen ver - deckt wird.

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VII. Das Behalten und Vergessen als Funktion der Zeit.

§ 26. Erklärungen des Behaltens und Vergessens.

Alle Arten von Vorstellungen, die sich selbst überlassen bleiben, werden allmählich vergessen. Der Thatbestand, den dieser Satz bezeichnet, ist allgemein bekannt. Gruppen oder Reihen von Vorstellungen, die wir zuerst leicht und lückenlos ins Bewuſstsein zurückzurufen vermochten, oder die von selbst häufig und in lebhaften Farben wiederkehrten, stellen sich allmählich seltener und in abgeblaſsterer Färbung ein, können durch willkürliche Anstrengung nur mühsam und bruchstück - weise reproduciert werden. Nach längeren Zeiten pflegt beides ganz aufzuhören, freilich nicht ohne seltsame Ausnahmen. Namen, Gesichter, Kenntnisse und Erlebnisse, die seit Jahren vollständig verloren schienen, stehen plötzlich, namentlich in Träumen, wieder vor der Seele, mit allen Details und in groſser Lebhaftigkeit, ohne daſs man auch nur vermutet, woher sie kommen, und wie sie es anfingen, sich in der Zwischen - zeit so gut verborgen zu halten.

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Die Psychologen pflegen diese Thatsachen je nach dem Ganzen ihrer Ansichten unter verschiedenen Gesichtspunkten aufzufassen, die sich nicht vollkommen ausschlieſsen, aber auch nicht vollkommen mit einander harmonieren.

Die einen halten sich, wie es scheint, vorwiegend an die auffallende Wiederkehr lebhafter Erinnerungsbilder selbst nach gröſseren Zeiträumen. Sie nehmen an, daſs von den Empfin - dungen, die durch Eindrücke der Auſsenwelt erregt werden, abgeblaſste Bilder, Spuren , zurückbleiben, die zwar in jeder Beziehung schwächer, luftiger seien als ihre Empfindungs - vorbilder, aber in der Intensität, die sie nun einmal haben, ziemlich unverändert und dauernd fortbestehen. Gegen die viel intensiveren und derberen Empfindungskomplexe des wachen Lebens haben jene Phantasiebilder einen schweren Stand; aber wo die ersteren ganz oder gröſstenteils fehlen, z. B. im Schlaf, da herrschen sie um so unumschränkter. Dabei werden die früher erworbenen Bilder mehr und mehr überlagert sozusagen und überschüttet durch die späteren. Die Möglichkeit des Wiederhervortretens bietet sich für jene also seltener und schwieriger. Wenn aber durch eine zufäl - lige und günstige Fügung der Umstände die angesammelten Schichten einmal bei Seite geschoben werden, dann muſs natür - lich noch nach beliebig langer Zeit das darunter Verborgene auch in seiner ursprünglichen, ihm immer noch beiwohnenden Frische wieder erscheinen*Diese Auffassung ist die, immer noch vielfach maſsgebende, des Aristoteles. Neuerdings hat z. B. Delboeuf sie wieder aufgenommen und zu einer Ergänzung seiner théorie générale de la sensibilité benutzt. In seiner Abhandlung Le sommeil et les rêves (Rev. philos. IX S. 153 f.) sagt er: Nous voyons maintenant que tout acte de sentiment, de pen - sée ou de volition en vertu d’une loi universelle imprime en nous une trace plus ou moins profonde, mais indélébile, généralement gravée sur.

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Für andere*Herbart und seine Anhänger. Siehe z. B. Waitz, Lehrbuch der Psychologie § 16. erleiden die Vorstellungen, die zurückblei - benden Phantasiebilder, allerdings eine ihr Wesen mehr und mehr tangierende Veränderung; der Begriff der Verdunkelung ist hier maſsgebend. Ältere Vorstellungen werden durch jüngere gewissermaſsen zurückgedrängt und zum Sinken ge - bracht; sie erleiden mit zunehmender Zeit immer gröſseren Schaden an einer allen gemeinsamen Eigenschaft, nämlich an innerer Klarheit und Bewuſstseinsintensität. Verbindungen und Reihen von Vorstellungen unterliegen demselben Prozeſs wachsender Schwächung; unterstützt wird derselbe bei ihnen noch durch eine Auflösung in ihre Teile; dadurch nämlich, daſs die nur noch locker zusammengehaltenen Glieder even - tuell gleichzeitig in neue Verbindungen eingefügt werden. Das völlige Entschwinden des mehr und mehr Zurück - gedrängten tritt erst nach langer Zeit ein. Während der allmählich zunehmenden Verdunkelung aber sind die zurück - gedrängten Vorstellungen nicht eigentlich als abgeblaſste Bilder vorhanden zu denken, sondern als Strebungen, als Disposi - tionen zur Wiedererzeugung eben der Vorstellungsinhalte,*une infinité de traits antérieurs, surchargée plus tard d’une autre infinité de linéaments de toute nature, mais dont l’écriture est néanmoins indé - finiment susceptible de reparaître vive et nette au jour. Er fährt zwar weiterhin fort: néanmoins .. il y a quelque vérité dans l’opinion qui veut que la mémoire non seulement se fatigue mais s’oblitère , erklärt dies aber daraus, daſs eine Erinnerung die andere an ihrem Wieder - hervortreten verhindern könne. Si un souvenir ne chasse pas l’autre on peut du moins prétendre qu’un souvenir empêche l’autre et qu’ainsi pour la substance cérébrale, chez l’individu, il y a un maximum de saturation. Auch die merkwürdige und weder physiologisch noch psychologisch auszudenkende Hypothese Bains und anderer von der Besetzung einzelner Ganglienzellen durch einzelne Vorstellungen wurzelt in gewisser Hinsicht in der aristotelischen Auffassung.88 welche die Nötigung des Sinkens traf. Erfahren diese Dis positionen irgendwoher eine Unterstützung und Stärkung, so kann es jederzeit kommen, daſs die unterdrückenden und hemmenden Vorstellungen ihrerseits zu unterdrückten werden und das scheinbar Vergessene in voller Klarheit wieder ersteht.

Nach einer dritten Ansicht endlich ist es statt einer gradweisen Verdunkelung vielmehr ein Zerbröckeln in Teile und der Verlust einzelner Teile, in denen wenigstens bei zu - sammengesetzten Vorstellungen das Vergessen besteht. Die vorhin aushülfsweise herangezogene Vorstellung der Auflösung bestreitet hier alleine die Erklärung. Das Bild eines zu - sammengesetzten Gegenstandes ist in unserer Erinnerung nicht darum dunkel, weil es mit der geordneten Gesamtheit aller seiner Teile vorhanden und nur im ganzen von einem schwä - cheren Lichte des Bewuſstseins bestrahlt wäre; sondern es ist lückenhaft geworden; einzelne Teile fehlen ihm ganz; vor allem aber pflegt die genaue Verbindungsweise der noch vor - handenen zu mangeln und wird nur durch den Gedanken ersetzt, daſs irgend eine Art der Verknüpfung zwischen ihnen stattgefunden habe; die Weite des Spielraums, innerhalb dessen wir, ohne uns entscheiden zu können, diese oder jene Verknüpfung gleich wahrscheinlich finden, bestimmt den Grad der Dunkelheit, den wir dieser Vorstellung zuschreiben*Lotze, Metaphysik (1879) S. 521; auch Mikrokosmus3 I S. 231 ff..

Jede dieser Auffassungen empfängt eine gewisse, aber keine eine ausschlieſsliche Unterstützung durch die thatsäch - lichen, oder doch für thatsächlich gehaltenen, inneren Erfah - rungen, die sich uns gelegentlich darbieten. Und woran liegt das? Daran, daſs diese gelegentlich und direkt gewonnenen inneren Erfahrungen viel zu vage, oberflächlich und vieldeutig sind, um in ihrer Gesamtheit nur eine einzige Interpretation89 zu gestatten oder auch nur als überwiegend wahrscheinlich er - scheinen zu lassen. Wer vermöchte denn das vorausgesetzte all - mähliche Überschüttetwerden oder Sinken oder Zerbröckeln der Vorstellungen in dem thatsächlichen Verlaufe dieser Allmählichkeit auch nur einigermaſsen exakt zu beschreiben? Wer weiſs etwas Befriedigendes zu sagen über die von Vor - stellungsmassen verschiedenen Umfangs ausgehenden Hem - mungen, oder über die Auflockerungen, die ein irgendwie festgefügter Komplex erleidet durch Verwendung seiner Be - standteile in neuen Kombinationen? Mit einer Erklärung dieser Vorgänge ist jeder für sich längst im reinen, aber das thatsächliche Verhalten der Dinge, welches doch schlieſs - lich erklärt werden sollte, ist uns allen in gleicher Weise unbekannt.

Und bei der Beschränkung auf die direkte Beobachtung und die ihr gelegentlich sich bietenden brauchbaren Erfah - rungen scheint kaum eine Aussicht vorhanden, daſs es hiermit besser werden könnte. Wie will man etwa den zu einer bestimmten Zeit erreichten Grad der Verdunkelung oder die noch übrige Zahl von Fragmenten bestimmen? Oder wie den vermutlichen Fortgang der inneren Prozesse verfolgen, wenn die fast ganz vergessenen Vorstellungen gar nicht mehr zum Bewuſstsein zurückkehren?

§ 27. Untersuchung des thatsächlichen Verhaltens.

Mit Hülfe unserer Methode ist eine Möglichkeit geboten, der Beantwortung der eben aufgeworfenen Fragen auf einem bestimmt umgrenzten kleinen Gebiet indirekt näher zu treten und unter vorläufiger Fernhaltung jeder Theorie eine solche vielleicht anzubahnen.

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Die von der Einprägung einer Silbenreihe nach bestimmter Zeit etwa noch vorhandenen verborgenen Dispositionen kann man unterstützen durch abermaliges Auswendiglernen der Reihe, die übrig gebliebenen Fragmente eben dadurch aufs neue zu einem Ganzen verbinden. Die hierzu erforderliche Arbeit, verglichen mit derjenigen, die bei Abwesenheit von Dispositionen und Fragmenten nötig war, giebt ein Maſs für das Verlorengegangene und das noch Vorhandene. Die von verschiedenartigen und verschieden umfangreichen Vorstel - lungsmassen auf andere ausgeübten Hemmungen müssen sich verraten, nach der Einschiebung verschiedener wohldefinierter Vorstellungskomplexe zwischen Lernen und Wiederlernen, da - durch, daſs die Arbeit des Wiederlernens eine mehr oder minder erschwerte wird. Die Auflockerung eines Verbandes durch anderweitige Verwendung seiner Bestandteile läſst sich in ähnlicher Weise untersuchen, indem man nach Einprägung gewisser Reihen neue Kombinationen derselben Silben ein - prägt und immer zusieht, welche Änderungen dadurch die Arbeit des Wiederlernens der ursprünglichen Kombination erleidet.

Ich habe von diesen Beziehungen zunächst die an erster Stelle erwähnte einer Untersuchung unterworfen und die Frage gestellt: wenn Silbenreihen einer bestimmten Art aus - wendig gelernt und dann sich selbst überlassen werden, in welcher Weise werden sie, lediglich unter dem Einfluſs der Zeit, respektive des diese erfüllenden alltäglichen Lebens, all - mählich vergessen? Die Konstatierung der erlittenen Verluste geschah in der eben angedeuteten Weise, dadurch nämlich, daſs die auswendig gelernten Reihen nach bestimmten zeit - lichen Intervallen abermals auswendig gelernt und die in beiden Fällen erforderlichen Zeiten mit einander verglichen wurden.

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Die bezüglichen Untersuchungen fallen in die Jahre 1879 / 80 und umfassen 163 Doppelversuche. Jeder Doppel - versuch besteht in dem Lernen und dem nach einer bestimm - ten Zeit erfolgten Wiederlernen von acht 13silbigen Reihen; mit Ausnahme von 38 Doppelversuchen aus der Zeit von 11 12 U. Vorm., die nur je sechs Reihen umfassen. Das Lernen wurde fortgesetzt, bis ein zweimaliges fehlerfreies Hersagen der betreffenden Reihe möglich war. Das Wieder - lernen geschah ebensolange; es wurde vorgenommen zu einer der folgenden 7 Zeiten, nämlich nach ca. Stunde, ca. 1 Stunde, ca. 9 Stunden, 1 Tag, 2 Tagen, 6 Tagen oder 31 Tagen.

Die Zeiten wurden gemessen von Beendigung der ersten Reihe des erstmaligen Lernens ab, wobei für die gröſseren Intervalle natürlich keine ängstliche Genauig - keit nötig war. Der Einfluſs der letzten vier Zeiten wurde zu drei verschiedenen (nämlich zu den S. 46 erwähnten) drei Tageszeiten untersucht.

Der Mitteilung der gefundenen Resultate müssen noch einige Bemerkungen vorangehen.

Für die nach ganzen Vielfachen von Tagen wiederholten Reihen kann man im allgemeinen das Bestehen gleicher Ver - suchsumstände voraussetzen. Jedenfalls hat man kein Mittel, den thatsächlichen Schwankungen derselben, auch nach Her - stellung möglichster äuſserer Gleichheit, anders zu begegnen als durch Vervielfältigung der Versuche. Wo daher die innere Ungleichheit mutmaſslich am gröſsten ist, für den Zeit - raum eines vollen Monats, habe ich die Zahl der Versuche etwa verdoppelt.

Bei einem Intervall von 9 Stunden dagegen und auch noch von einer Stunde zwischen Lernen und Wiederlernen besteht für beide eine merkliche konstante Differenz in den92 Versuchsumständen. Mit den vorrückenden Tagesstunden nimmt die geistige Frische und Empfänglichkeit mehr und mehr ab. Die am Vormittag gelernten und zu einer späteren Stunde wiedergelernten Reihen erfordern also, abgesehen von allem anderen, für dieses Wiederlernen mehr Arbeit, d. h. mehr Zeit, als wenn es in einem Zeitpunkt ebensolcher Frische geschehen wäre wie das erste Lernen. Die für das Wieder - lernen gefundenen Zahlen müssen daher, um vergleichbar zu werden, einen Abzug erleiden, der, wenigstens bei 8 Stun - den, so bedeutend ist, daſs man ihn nicht mehr vernachläs - sigen kann. Man muſs ermitteln, um wieviel länger es dauert, Reihen, die zur Zeit A in a Sekunden gelernt wurden, zur Zeit B zu lernen. Die genaue Bestimmung dieser Gröſse aber setzt mehr Versuche voraus, als ich bisher besitze. Durch die Anbringung einer notwendigen aber ungenauen Korrektion werden daher die für 1 und 8 Stunden gefundenen Zahlen noch etwas unsicherer als sie an sich schon sind.

Bei dem kleinsten Intervall von Stunde kehrt derselbe Übelstand in abgeschwächter Form wieder, wird aber ver - mutlich ausgeglichen durch einen anderen Umstand. Bei der Kürze des ganzen Intervalls schloſs sich hier das Wieder - lernen der ersten Reihe eines Versuchs ziemlich unmittel - bar, nach Einschiebung einer Pause von 1 2 Minuten, an das Lernen der letzten Reihe desselben Versuchs. Das Ganze bildet dadurch gewissermaſsen einen zusammenhängenden Versuch, bei dem also das Wiederlernen der Reihen unter allmählich ungünstigere Bedingungen der geistigen Frische fiel. Andrerseits aber geschah das Wiederlernen nach so kurzer Zeit noch ziemlich schnell; es beanspruchte kaum die halbe Zeit des Lernens. Dadurch wurde das Intervall zwi - schen dem Lernen und Wiederlernen bestimmter Reihen all - mählich etwas kleiner; die späteren Reihen traten also unter93 immer günstigere Bedingungen des zeitlichen Intervalls. Bei der Schwierigkeit genauerer Bestimmungen habe ich an - genommen, daſs sich diese beiden zu vermutenden aber sich entgegenwirkenden Einflüsse annähend kompensieren.

§ 28. Resultate.

In den folgenden Tabellen bezeichnet L die Zeit für das erstmalige Lernen der Reihen in Se - kunden, so wie sie gefunden wurde, also einschlieſs - lich der Zeit für zweimaliges Hersagen. WL die Zeit für das Wiederlernen der Reihen, ebenfalls einschlieſslich derjenigen für das Hersagen. WLk die erforderlichen Falls durch eine Korrektion redu - cierte Zeit für das Wiederlernen. Δ die Differenz L WL, resp. L WLk, also die bei dem Wiederlernen gefundene Arbeitsersparnis. Q das Verhältnis dieser Arbeitsersparnis zu der für das erstmalige Lernen nötigen Zeit in Prozenten. Bei Berechnung dieses Quotienten wurde nur die für das bloſse Lernen gebrauchte Zeit berücksichtigt, also die Zeit für das Hersagen in Abzug gebracht*Eine theoretisch korrekte Berechnung der wahrscheinlichen Fehler der ermittelten Differenzen und Quotienten würde sehr schwierig und um - ständlich sein. Bei derselben wären die direkt beobachteten Werte L und WL zu Grunde zu legen. Die gewöhnlichen Regeln der Fehler - theorie können aber auf deren Verwertung keine Anwendung finden, weil letztere nur für Beobachtungen gelten, die von einander unabhängig sind, L und WL aber dadurch, daſs sie je an denselben Reihen gewonnen werden, innerlich zusammenhängen. Die Fehlerquelle Schwierigkeit der Reihen variiert nicht beliebig, sondern für jedes Wertepaar in derselben Weise. Ich habe daher hier Lernen und Wiederlernen derselben Reihe. Dieselbe94 wurde für zweimaliges Hersagen von 8 dreizehnsilbigen Reihen mit 85 Sekunden berechnet, was für jede Silbe einer Dauer von 0,41 Sek. entspricht (s. S. 43). Es ist also 〈…〉 . Endlich bedeuten A, B, C die mehrerwähnten Stunden: 10 11 V., 11 12 V. ,6 8 N.

I. 19 Minuten. 12 Versuche. Lernen und Wiederlernen zur Zeit A.

II. 63 Minuten. 16 Versuche. Das Lernen zur Zeit A, das Wiederlernen zur Zeit B. Zur Ermittelung des Einflusses dieser Verschiedenheit der Tageszeiten habe ich folgende Daten. Sechs 13silbige Reihen wurden zur Zeit B gelernt (also ohne Berücksichtigung der Zeit des Hersagens), im Mittel*als einen einzigen Versuch aufgefaſst und das resultierende Δ resp. Q als dessen numerischen Ausdruck. Aus den verschiedenen berechneten Δ und Q sind dann die wahrscheinlichen Fehler wie aus unmittelbaren Beobachtungszahlen abgeleitet. Zur ungefähren Beurteilung der Ver - trauenswürdigkeit der Zahlen reicht das vollkommen aus.95 aus 39 Versuchen, in 807 Sekunden (Wm = 10). Ebenso - viele Reihen derselben Art zur Zeit A, im Mittel aus 92 Ver - suchen, in 763 Sekunden (Wm = 7). Die später gewonnenen Zahlen sind also um ca. 5 % ihres eigenen Betrages zu groſs gegen die früher gewonnenen. Man wird demnach die zur Zeit B durch Wiederlernen gefundenen Zahlen ebenfalls um 5 % ihres Wertes verkleinern müssen, um sie den für das Lernen gefundenen vergleichbar zu machen.

III. 525 Minuten. 12 Versuche. Das Lernen zur Zeit A, das Wiederlernen zur Zeit C. Der verschiedene Einfluſs der beiden Tageszeiten berechnet sich so: acht 13 silbige Reihen erforderten bei 38 Versuchen zur Zeit C 1173 Sek. (Wm = 10); gleichartige Reihen bei 92 Versuchen zur Zeit A 1027 Sek. (Wm = 8). Die erste Zahl ist um 12 % ihres Wertes gröſser als die zweite; soviel habe ich daher auch von den zur Zeit96 C für das Wiederlernen gefundenen Zahlen in Abzug ge - bracht.

IV. Ein Tag. 26 Versuche, davon 10 zur Zeit A, 8 zur Zeit B (hier wie überall mit nur je 6 Reihen), 8 zur Zeit C.

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Die zu den verschiedenen Tageszeiten gefundenen mitt - leren Differenzen zwischen den Zeiten für das Lernen und denen für das Wiederlernen sind den absoluten Werten nach ziemlich verschieden (natürlich muſs man bei B die Zahl 254 erst mit 4 / 3 multiplicieren, weil sie sich nur auf 6 Reihen be - zieht). Die Verhältnisse aber dieser Differenzen zu den Zeiten für das erste Lernen (die Q) stimmen mit befriedigen -Ebbinghaus, Über das Gedächtnis. 798der Annäherung überein. Vereinigt man daher sämtliche Q zu einem Gesamtmittel, so ergiebt sich Q = 33,7 (Wm = 1,2).

V. Zwei Tage. 26 Versuche, und zwar 11 zur Zeit A, 7 zur Zeit B, 8 zur Zeit C.

99

Zusammenziehung der drei wiederum sehr nahe anein - ander fallenden prozentischen Mittelwerte ergiebt für sämt - liche 26 Versuche Q = 27,8 (Wm = 1,4).

VI. Sechs Tage. 26 Versuche, und zwar in der Vertei - lung 10, 8, 8 auf die drei mehrgenannten Zeiten.

7*100

Der Durchschnitt der sämtlichen 26 prozentischen Arbeits - ersparnisse beträgt 25,4 (Wm = 1,3).

VII. 31 Tage. 45 Versuche, in der Verteilung 20, 15, 10 auf die Zeiten A, B, C.

101
102

Durchschnitt der sämtlichen 45 prozentischen Arbeits - ersparnisse = 21,1 (Wm = 0,8).

Wie ein flüchtiger Blick über die vorstehenden Zahlen lehrt, haben für jedes Zeitintervall die bei dem Wiederlernen der Reihen hervortretenden Arbeitsersparnisse (die also je ein Maſs sein sollen für das nach Ablauf der betreffenden Zeit noch Behaltene) sehr schwankende Werte. Dies gilt namentlich von ihren absoluten Beträgen (Δ), aber auch von den Verhältniszahlen (Q). Die Ergebnisse stammen eben aus der früheren Periode der Untersuchungen und leiden unter allerlei störenden Einflüssen, auf die ich erst durch die Ver - suche selbst aufmerksam wurde.

Trotz aller Unregelmäſsigkeiten im einzelnen aber grup - pieren sie sich im ganzen mit befriedigender Sicherheit zu einem in sich wohl zusammenstimmenden Bilde. Um das - selbe zu erkennen, sind die absoluten Gröſsen der ersparten Arbeiten weniger brauchbar. Dieselben hängen offenbar von den Tageszeiten ab, d. h. von den durch diese bewirkten103 Veränderungen in der Zeit für das erste Lernen. Wo letztere am gröſsten ist (Zeit C), sind auch die Δ am gröſsten, für die Zeit B sind sie (nach Multiplikation mit 4 / 3) dreimal unter vier Fällen gröſser als für die Zeit A. Dagegen sind die für das Verhältnis der jedesmaligen Arbeitsersparnis zu der ursprünglich aufgewandten Zeit gefundenen Zahlen (Q), wie es scheint, annähernd unabhängig von diesem Einfluſs. Ihre Mittelwerte liegen für alle drei Tageszeiten stets dicht bei - sammen und lassen keinen bestimmten Charakter der Zu - oder Abnahme mit den späteren Stunden erkennen. Ich stelle daher letztere zusammen:

§ 29. Diskussion der Resultate.

1. Daſs das Vergessen anfänglich sehr schnell und weiter - hin langsamer geschehe, wird man vermutlich behaupten, im allgemeinen vorausgesehen zu haben. Indes dürfte sowohl die anfängliche Schnelligkeit als die spätere Langsamkeit, so wie sich diese hier unter den bestimmten Bedingungen unserer104 Experimente für eine bestimmte Individualität und bei 13 sil - bigen Reihen herausstellten, überraschen. Eine Stunde nach Aufhören des Lernens war das Vergessen bereits soweit vor - geschritten, daſs über die Hälfte der ursprünglich aufgewandten Arbeit erneuert werden muſste, ehe die Reihen wieder repro - duciert werden konnten; nach 8 Stunden betrug das zu Er - setzende fast des ersten Aufwandes. Allmählich aber ver - langsamte sich der Prozeſs, so daſs selbst für gröſsere Zeit - räume die Verluste nur eben noch sicher konstatierbar waren. Nach 24 Stunden haftete immer noch etwa ein Drittel, nach 6 Tagen ein Viertel und nach Ablauf eines vollen Monats noch ein reichliches Fünftel der erstverwandten Arbeit in seinen Nachwirkungen. Die Abnahme dieser Nachwirkung während der letzten Zeitintervalle ist augenscheinlich eine so langsame, daſs sich unschwer voraussagen läſst, eine völlige Verflüchtigung der Effekte des ersten Auswendiglernens würde bei diesen Reihen, falls sie sich selbst überlassen geblieben wären, erst nach sozusagen unendlich langer Zeit zu konsta - tieren gewesen sein.

2. Am mindesten befriedigend an den gefundenen Re - sultaten ist die geringe Differenz zwischen der 3ten und 4ten Zahl, im Verhältnis namentlich zu der gröſseren zwischen der 4ten und 5ten. In dem Zeitraum von 9 24 Stunden müſste darnach die Abnahme der Nachwirkung 2,1 % betragen haben, in der Zeit von 24 bis zu 48 Stunden 6,1 %; in späteren 24 Stunden daher etwa 3 mal so viel als in früheren 15. Da nach allen übrigen Zahlen die Abnahme der Nachwirkung mit zunehmender Zeit eine erhebliche Verzögerung erleidet, ist ein solches Verhält - nis nicht glaublich. Selbst nicht unter Zuziehung der übri - gens plausibeln Annahme, daſs Nacht und Schlaf, die den gröſseren Teil jener 15, aber den kleineren der 24 Stunden ausmachen, die Abnahme der Nachwirkung ganz besonders105 verlangsamen. Man wird daher annehmen müssen, daſs durch zufällige Störungen einer dieser drei Werte besonders stark beeinfluſst ist. Mit Rücksicht auf andere Beobachtungen würde es gut passen, die Zahl 33,7 % für das Wiederlernen nach 24 Stunden als etwas zu groſs anzusehen und zu ver - muten, daſs sie bei genauerer Wiederholung der Versuche um 1 2 Einheiten kleiner ausfallen würde. Indes wird sie durch gleich mitzuteilende Beobachtungen doch auch wieder gestützt, so daſs ich eine Entscheidung nicht geben kann.

3. Bei dem speciellen, individuellen und noch dazu un - sicheren Charakter unserer Zahlen wird man nicht gleich das Gesetz zu wissen verlangen, welches in ihnen zur Erschei - nung kommt. Immerhin ist es merkwürdig, daſs sich alle 7 Werte, welche eine Zeit von Stunde bis zu 31 Tagen (also vom ein fachen bis zum 2000fachen) umfassen, mit leid - licher Annäherung einer ziemlich einfachen mathematischen Formel einfügen lassen. Ich nenne

t die Zeit in Minuten, gerechnet von 1 Minute vor Be - endigung des Lernens,

b die bei dem Wiederlernen hervortretende Arbeitserspar - nis, das Äquivalent des von dem ersten Lernen her Behal - tenen, ausgedrückt in Prozenten der für dieses erste Lernen nötig gewesenen Zeit,

c und k zwei gleich zu bestimmende Konstanten.

Dann kann man schreiben 〈…〉

Setzt man für gemeine Logarithmen nach ungefährer Schätzung und ohne genauere Berechnung durch kleinste Quadrate 〈…〉 so ergiebt sich:106

Die Abweichungen der berechneten von den beobachteten Zahlen gehen nur bei dem 2ten und 4ten Wert nennenswert über die wahrscheinlichen Fehlergrenzen hinaus. Für den vierten Wert sprach ich schon vorhin die Vermutung aus, daſs die Versuche ihn vielleicht etwas zu groſs ergeben haben könnten; der zweite leidet durch die Unsicherheit der an - gebrachten Korrektion. Durch die für t getroffene Bestim - mung hat die Formel den Vorteil, daſs sie auch für den Mo - ment gilt, in dem das Lernen gerade aufhört (t = 1) und hier richtig b = 100 giebt. In dem Moment, in dem die Reihen gerade hergesagt werden können, bedarf es natürlich für das Wiederlernen gar keiner Zeit mehr, die Ersparnis ist also eben so groſs wie die aufgewandte Arbeit.

Löst man die Formel nach k auf, so hat man 〈…〉 In diesem Ausdruck ist 100 b, das Komplement der er - sparten Arbeit, nichts anderes als die bei dem Wieder - lernen gebrauchte Arbeit, das Äquivalent des von dem Lernen her schon Vergessenen. Nennt man dasselbe v, so resultiert folgende einfache Beziehung: 〈…〉 107In Worten: wurden dreizehnsilbige sinnlose Reihen auswendig gelernt und nachher nach verschiedenen zeitlichen Intervallen wieder gelernt, so waren die Quotienten aus den hierbei er - sparten und den hierbei gebrauchten Arbeitszeiten annähernd umgekehrt proportional einer kleinen Potenz der Logarithmen jener zeitlichen Intervalle. Oder kürzer und ungenauer: die Quotienten aus Behaltenem und Vergessenem verhielten sich umgekehrt wie die Logarithmen der Zeiten.

Natürlich hat dieser Satz und die ihm zu Grunde liegende Formel hier keinen anderen Wert, als den einer kurzen Notierung der obigen, unter den beschriebenen Um - ständen gefundenen, einmaligen Resultate. Ob sie darüber hinaus eine allgemeinere Bedeutung besitzen, wo dann die Verschiedenheiten anderer Umstände oder anderer Individuali - täten in anderen Konstanten ihren Ausdruck finden würden, kann ich einstweilen nicht ausmachen.

§ 30. Kontrollversuche.

Immerhin kann ich, allerdings immer nur für meine eigene Individualität, zwei der mitgeteilten Werte einiger - maſsen stützen durch Versuche, die zu anderen Zeitperioden angestellt waren.

Aus einer noch älteren Periode als der der bisher mit - geteilten Untersuchungen besitze ich einige Versuche mit zehnsilbigen Reihen, deren je 15 zu einem Versuch zusammen - gefaſst waren. Die Reihen wurden erst gelernt und dann, jede Reihe durchschnittlich 18 Minuten nach der Beendigung des Lernens, wieder gelernt. Sechs Versuche ergaben dabei folgende Resultate:108

Bei dem Wiederlernen zehnsilbiger Reihen 18 Minuten nach dem vorangegangenen ersten Auswendiglernen derselben wurden also 56 % der zuerst erforderlichen Arbeit gespart. Diese Zahl stimmt befriedigend genug mit derjenigen, die sich oben (S. 94) für das Wiederlernen dreizehnsilbiger Reihen nach 19 Minuten herausgestellt hatte, nämlich 58 %. Auch daſs letztere, trotz der etwas längeren Zwischenzeit, doch noch etwas gröſser ist, harmoniert, wie wir sehen werden, voll - kommen mit den Ergebnissen des nächsten Abschnitts, nach denen auswendig gelernte kürzere Reihen etwas schneller vergessen werden als längere.

Aus der Versuchsperiode 1883 / 84 besitze ich 7 Versuche mit je neun 12silbigen Reihen, die 24 Stunden nach dem ersten Auswendiglernen wiedergelernt wurden. Dieselben er - gaben folgende Zahlen: (Tabelle siehe folgende Seite.) 109

Die von dem ersten Auswendiglernen nach 24 Stunden noch konstatierbare Nachwirkung war also hier äquivalent einer Arbeitsersparnis von 33,4 % des ersten Aufwandes. Auch diese Zahl stimmt sehr befriedigend mit derjenigen überein, die oben für das Wiederlernen nach 24 Stunden bei 13 sil - bigen Reihen mitgeteilt wurde (33,7), obwohl beide in sehr weit auseinanderliegenden Zeitperioden und im Verfolg ganz verschiedener Untersuchungen erhalten wurden.

[110]

VIII. Das Behalten als Funktion wiederholten Erlernens.

§ 31. Fragestellung und Untersuchung.

Auswendig gelernte, dann sich selbst überlassene und später aufs neue gelernte Silbenreihen befinden sich, wie man annehmen muſs, in den Momenten, in denen sie gerade her - gesagt werden können, in gleichen inneren Zuständen. Die Energie der auf sie gerichteten und sie abbildenden Vorstel - lungsthätigkeit ist in beiden Fällen gerade so weit gesteigert, daſs bestimmte gleiche Bewegungskombinationen sich an sie anschlieſsen. Für die Zeiten nach dem Hersagen hört jene innere Gleichheit bald auf. Die Reihen werden allmählich vergessen, aber wie man im allgemeinen genügend sicher weiſs die zweimal gelernten erheblich langsamer als die einmal gelernten. Geschieht das Wiederlernen nach einiger Zeit zum zweiten, dann zum dritten Male u. s. f., so graben sich die Reihen immer fester ein, sie weichen immer schwerer und könnten schlieſslich, wie man voraussieht, ganz ebenso zu einem stets bereiten Besitz der Seele gemacht werden wie andere, sinnvolle und nützliche, Vorstellungsreihen.

111

Für dieses Abhängigkeitsverhältnis zwischen der zuneh - menden Festigkeit der Reihen und der Anzahl von Malen, die sie durch erneutes Lernen wieder zur erstmöglichen Re - produktion gebracht worden sind, habe ich ebenfalls versucht, einige numerische Daten zu gewinnen. Die Beziehung ist eine ganz ähnliche wie die im VIten Abschnitt besprochene zwischen der zunehmenden Festigkeit und der Anzahl von Wiederholungen der Reihen. Aber in dem gegenwärtigen Falle geschehen die Wiederholungen nicht auf einmal, sondern zu verschiedenen Zeiten und in immer abnehmender Häufig - keit. Bei unserer beschränkten Einsicht in den inneren Zu - sammenhang dieser Vorgänge würde man gewiſs nicht wagen, aus der Kenntnis des einen Verhältnisses etwas über das andere vorauszusagen.

Für die zeitlichen Intervalle zwischen den einzelnen Malen, zu denen das Wiederlernen stattfand, habe ich nur eine einzige Gröſse gewählt, nämlich 24 Stunden. Dafür habe ich diesmal Reihen von verschiedener Länge in Untersuchung gezogen und zwar solche von 12, 24 und 36 Silben. Von den ersten waren jedesmal 9, von den zweiten 3 und von den dritten 2 zu einem Versuch vereinigt. Auſserdem habe ich mehrere Versuche mit je sechs Stanzen des Byronschen Don Juan angestellt.

Die Versuche bestanden also darin, daſs die betreffende Anzahl von Reihen erst gelernt und dann an mehreren auf - einanderfolgenden Tagen immer zur selben Stunde wiedergelernt wurde, jedesmal bis zur erstmöglichen Reproduktion. Bei den Silbenreihen betrug die Zahl dieser Tage sechs, bei den Byron - schen Stanzen nur vier. Am 5ten Tage nämlich konnten die Stanzen im allgemeinen ohne erneute Wiederholung noch fehlerfrei hergesagt werden, sodaſs die aufgeworfene Frage von hier ab ihren Sinn verlor. Für jede Art von Reihen habe112 ich 7 Versuche angestellt. Die Gesamtzahl der Einzelversuche beträgt demnach 154, von denen einige allerdings nur wenige Minuten in Anspruch nahmen.

Die Zahlen der folgenden Tabellen bedeuten die Wieder - holungen, welche nötig waren, um die betreffenden Reihen gerade bis zur erstmöglichen Reproduktion (diese incl.) zu lernen; die römischen Ziffern bezeichnen die aufeinanderfol - genden Tage.

1. Neun Reihen zu zwölf Silben.

2. Drei Reihen zu 24 Silben.

113

3. Zwei Reihen zu 36 Silben.

4. Sechs Stanzen aus Byrons Don Juan (Canto X).

Um die verschiedenen Beziehungen zwischen den resul - tierenden Mittelwerten anschaulicher hervortreten zu lassen, ist es nötig, sämtliche Zahlen auf dieselbe Einheit zu redu - cieren, d. h. sie durch die jedesmalige Anzahl der zu einem Versuch zusammengefaſsten Reihen zu dividieren. Geschieht dies (s. oben S. 63) und wird gleichzeitig die für das Her - sagen erforderliche Wiederholung in Abzug gebracht, so er - giebt sich folgende Tabelle (die Zahlen sind auf halbe, resp. viertel Einheiten abgerundet):

Ebbinghaus, Über das Gedächtnis. 8114

Diese Zahlen geben unter mehreren Gesichtspunkten Anlaſs zu näherer Besprechung.

§ 32. Einfluſs der Länge der Reihen.

Wenn wir zunächst bloſs die Resultate für den ersten und zweiten Tag des Lernens berücksichtigen, so erhalten wir eine zwar vorauszusehende aber immerhin willkommene Ergänzung der im Vten Abschnitt mitgeteilten Abhängigkeits - beziehung. Dort zeigte sich, daſs bei wachsender Länge der Reihen in sehr schneller Zunahme wachsende Anzahlen von Wiederholungen nötig waren, um sie gerade zu lernen. Hier ergiebt sich, daſs der Effekt dieses Mehrbedarfs an Wieder - holungen in den untersuchten Fällen nicht bloſs darin bestand, die Reihen eben reproducierbar zu machen, sondern daſs durch die zahlreicheren Wiederholungen die längeren Reihen auch fester eingeprägt wurden. Nach 24 Stunden konnten sie mit einer absolut und relativ gröſseren Ersparnis an Wiederholungen bis zur abermaligen erstmöglichen Reproduk - tion wieder gelernt werden.

Die nachfolgende Tabelle läſst dieses Verhältnis deutlich erkennen.

115

Bei den kürzesten der untersuchten Reihen betrug die Ersparnis bei dem zweiten Lernen des ersten Aufwandes, bei den längsten etwa 6 / 10. Man könnte also sagen, die Reihen von 36 Silben seien durch das Lernen bis zur erst - möglichen Reproduktion verhältnismäſsig beinahe dop - pelt so fest eingeprägt worden als die von 12 Silben.

Hierin liegt nun nicht gerade etwas besonders Neues. Auf Grund der bekannten Erfahrung, daſs das mit gröſseren Schwierigkeiten Gelernte dafür desto fester zu haften pflegt, hätte man sich wohl getraut, einen solchen Effekt der gröſseren Anzahl von Wiederholungen vorher zu sagen.

Was man vielleicht nicht vorausgesagt hätte und was doch auch Beachtung verdient, ist die nähere Bestimmung dieses allgemeinen Verhältnisses. Soweit die Zahlen nämlich gehen, scheinen sie darzuthun, daſs zwischen der Zunahme der für das erste Lernen nötigen Wiederholungen und der Zunahme der durch sie jedesmal bewirkten inneren Festigkeit der Reihen nicht etwa Proportionalität besteht. Weder die absoluten noch die relativen Arbeitsersparnisse schreiten in derselben Weise fort wie die Anzahlen der Wiederholungen; jene vielmehr merklich schneller, diese merklich langsamer. Man darf also nicht im genauen Sinn der Worte sagen: je häufiger eine Reihe heute wiederholt werden muſste, um aus - wendig hergesagt werden zu können, desto mehr Wieder - holungen werden bei ihrer Repetition nach 24 Stunden ge -8*116spart. Die obwaltende Gesetzmäſsigkeit scheint vielmehr ver - wickelterer Art zu sein, und ihre genauere Feststellung bedürfte umfassenderer Untersuchungen.

Das Verhältnis der Wiederholungen für das Lernen und das Repetieren der englischen Stanzen bedarf keiner Erläute - rung. Dieselben wurden am ersten Tage auswendig gelernt mit weniger als der Hälfte der Wiederholungen, die für die kürzesten der untersuchten Silbenreihen nötig waren. Sie erlangten aber dadurch eine so groſse Festigkeit, daſs für ihre Repetition am nächsten Tage verhältnismäſsig nicht mehr Arbeit erfordert wurde als für Silbenreihen von 24 Silben, nämlich etwa die Hälfte des ersten Aufwandes.

§ 33. Einfluſs des wiederholten Erlernens.

Wir fassen jetzt die Resultate für die sämtlichen auf - einanderfolgenden Tage ins Auge. An jedem folgenden Tage ist die durchschnittliche Anzahl von Wiederholungen für das Auswendiglernen einer bestimmten Reihe geringer als an dem vorangegangenen. Diese Abnahme der für die Herbeiführung der erstmöglichen Reproduktion jedesmal erforderlichen Ar - beitsleistungen ist bei den längeren Reihen, bei denen der erste Aufwand groſs ist, eine verhältnismäſsig schnellere, bei den kürzeren, bei denen der erste Aufwand kleiner ist, eine verhältnismäſsig langsamere. Dadurch nähern sich die für die verschiedenen Reihen erforderlichen Anzahlen von Wieder - holungen mehr und mehr. Bei den Reihen von 24 und 36 Silben springt das schon vom zweiten Tage ab in die Augen; vom vierten Tage ab fallen die Zahlen für beide Reihenlängen geradezu zusammen. Und am fünften Tage sind sie auch den nach minder schneller Abnahme noch erforderlichen An -117 zahlen von Wiederholungen für das Lernen 12silbiger Reihen sehr nahe gerückt.

Eine einfache Gesetzmäſsigkeit läſst sich in diesen suc - cessiv abnehmenden Arbeitserfordernissen nicht erkennen. Die Quotienten der an zwei aufeinanderfolgenden Tagen nötigen Wiederholungen nähern sich allmählich der Einheit. Werden die Wiederholungen für das Hersagen nicht, wie in der Schluſs - tabelle des § 31 geschehen ist, abgezogen, sondern hinzu - gerechnet, so geschieht diese Annäherung noch etwas rascher. (Bei den englischen Stanzen findet sie überhaupt nur in diesem Falle statt.) Indes der Gang der Zahlen läſst sich nicht durch eine einfache Formel beschreiben.

Eher ist dies der Fall, wenn man nicht die allmählich abnehmenden Arbeitserfordernisse, sondern die ebenfalls all - mählich abnehmenden Arbeitsersparnisse in Betracht zieht.

Von diesen Zahlenfolgen bilden zwei, nämlich die zweite und vierte Reihe, mit groſser Annäherung abnehmende geo - metrische Progressionen mit dem Exponenten 0,5. Sehr geringe Änderungen der Zahlen würden genügen, um die Übereinstimmung vollständig herzustellen. Auch die Reihe No. 1 würde noch durch mäſsige Änderungen in eine geo - metrische Progression mit dem Exponenten 0,6 verwandelt werden können. Dagegen würde man, um aus No. 3 eben -118 falls eine geometrische Progression zu gewinnen (deren Ex - ponent dann etwa ein Drittel sein würde), schon einen groben Fehler in den Untersuchungsresultaten annehmen müssen.

Wenn nicht für alle, so kann man also doch für die Mehrzahl der gefundenen Resultate den Zusammenhang, in dem sie stehen, so formulieren: wurden sinnlose Silbenreihen oder Strophen eines Gedichtes an mehreren aufeinanderfol - genden Tagen jedesmal bis zur erstmöglichen Reproduktion auswendig gelernt, so bildeten annähernd die successiven Diffe - renzen der dazu erforderlichen Wiederholungen abnehmende geometrische Progressionen. Bei Silbenreihen verschiedener Länge waren die Exponenten dieser Progressionen kleiner für die längeren, gröſser für die kürzeren Reihen.

Da gerade die hier besprochenen Versuche, wenn sie auch im einzelnen nicht zeitraubender sind als die anderen, doch verhältnismäſsig sehr viele Versuchstage beanspruchen, so sind die einzelnen Zahlen Mittelwerte aus je einer ziemlich gerin - gen Anzahl von Beobachtungen. Ob also die in den bisheri - gen Resultaten annähernd verwirklichte einfache Gesetz - mäſsigkeit bei einer Wiederholung oder weiteren Ausdehnung der Versuche Stich halten würde, kann ich hier noch weniger sicher sagen, als anderswo. Ich begnüge mich, auf sie auf - merksam zu machen, ohne sie irgendwie besonders accen - tuieren zu wollen.

§ 34. Einfluſs der einzelnen Wiederholungen.

Die Fragestellung des gegenwärtigen Abschnitts ist, wie schon gesagt wurde, nahe verwandt derjenigen des VIten Ab - schnitts. In beiden Fällen wird der Einfluſs zunehmender Anzahlen von Wiederholungen auf die dadurch erzielte immer119 festere Einprägung von Silbenreihen untersucht. Nur wur - den dort die sämtlichen Wiederholungen unmittelbar hinter einander vorgenommen, ohne Rücksicht darauf, ob und wie das spontane Hersagen der Reihen durch sie erreicht wurde; hier waren sie über mehrere aufeinanderfolgende Tage ver - teilt, und für ihre Zumessung an die einzelnen Tage war die jedesmalige Erreichung der erstmöglichen Reproduktion maſsgebend. Haben nun die in beiden Fällen gefundenen Resultate, wenigstens für meine eigene Individualität, eine allgemeinere Gültigkeit, so wird man erwarten, daſs sie, so - weit eine Vergleichung möglich ist, auch mit einander har - monieren. D. h. man wird erwarten, daſs auch hier, so wie es oben gefunden wurde, die Wirkung der späteren Wieder - holungen (also derjenigen des IIten, IIIten u. s. w. Tages) zuerst ungefähr eben so groſs ist wie diejenige der früheren, um weiterhin mehr und mehr abzunehmen.

Eine genauere Vergleichung ist nun allerdings nicht möglich. Zunächst haben die Reihen des VIten Abschnitts und die jetzt besprochenen verschiedene Länge. Dann aber wäre das, worauf es ankommt, die abgesonderte Ermittelung des reinen Einflusses der an den einzelnen Tagen stattfindenden Wiederholungen, nur durch Annahmen möglich, die an sich plausibel sein möchten auf Grund der vorliegenden Daten, aber wegen der Unsicherheit dieser Daten allzu anfechtbar bleiben würden.

Wir fanden z. B., dass neun 12silbige Reihen an sechs aufeinanderfolgenden Tagen gelernt wurden mit 158, 109, 75, 56, 37, 31 Wiederholungen. Der Effekt der ersten 158 Wieder - holungen ist hier unmittelbar gegeben in den 109 Wieder - holungen des zweiten Tages, resp. in der Differenz 158 109. Aber wenn wir nun weiter den reinen Effekt dieser hinzu - getretenen 109 Wiederholungen wissen wollen, die durch sie120 allein bewirkte Ersparnis am dritten Tage, so dürfen wir diese nicht einfach in der Differenz 109 75 erblicken. Wir müſsten vielmehr wissen, mit wieviel Wiederholungen (x) die Reihen am dritten Tage gelernt worden wären, wenn am zweiten Tage gar keine Wiederholungen stattgefunden hätten, und hätten dann in der Differenz x 75 die abgesonderte Wirkung der thatsächlich vorgenommenen 109 Wiederholungen. Da das Vergessen vom zweiten zum dritten Tage etwas fort - schreitet, so würde x etwas gröſser sein als 109. Ebenso müſsten wir zur Ermittelung des weiteren Einflusses der 75 Wiederholungen des dritten Tages irgendwoher erfahren können, mit wieviel Wiederholungen (y) Reihen, die am ersten Tage 158 mal, dann am zweiten Tage 109 mal wiederholt wurden, am vierten Tage auswendig gelernt worden wären. Die Differenz y 56 ergäbe dann das Maſs jenes Einflusses u. s. f. Für die Ermittelung von x würden die Untersuchungen des VIIten Abschnitts einen gewissen Anhalt liefern. Dort ergab sich, daſs bei 13silbigen Reihen das nach 24 Stunden Ver - gessene zu dem nach 2 × 24 Stunden Vergessenen sich etwa verhält wie 66: 72. Aber die Benutzung dieses noch dazu unsicheren Verhältnisses würde nur für die 12silbigen Reihen angehen und für die Berechnung von y u. s. f. wäre damit auch nicht geholfen. Man könnte höchstens annehmen, daſs die dafür in Betracht kommenden Quotienten der Einheit noch näher kämen.

Ich verzichte daher auf diese unsicheren Annahmen ganz und teile einfach die Verhältnisse der successive vorgenommenen Wiederholungen zu den successive hervortretenden Arbeits - ersparnissen mit, indem ich darauf aufmerksam mache, daſs die vorauszusetzende reine Wirkung der einzelnen Wieder - holungen durch etwas gröſsere und vermutlich weniger diver - gierende Zahlen repräsentiert werden würde.

121

Obwohl der Gang dieser (in ihren absoluten Werten, wie gesagt, ungenauen) Zahlen nur bei den 24silbigen Reihen ein leidlich regelmäſsiger ist, paſst sein allgemeiner Charakter doch überall ganz wohl zu dem, was man nach den Ergeb - nissen des vierten Abschnittes erwarten sollte. Der Effekt der Wiederholungen ist zuerst (für Tag I u. II) annähernd konstant, die durch sie erzielten Arbeitsersparnisse wachsen also ziemlich lange proportional ihrer Anzahl; allmählich wird die Wirkung eine geringere; und endlich, wenn die Reihen so fest sitzen, daſs sie nach 24 Stunden noch beinahe spontan hergesagt werden können, zeigt sie sich sehr abgeschwächt. Die Resul - tate des vierten und die des gegenwärtigen Abschnittes stützen sich also, soviel man erkennen kann, gegenseitig.

Indes mache ich noch auf einen bemerkenswerten Unter - schied aufmerksam. Wir fanden oben (S. 82), daſs sechs 12silbige Reihen, die zu einer bestimmten Zeit durchschnitt - lich 410 mal wiederholt worden waren, 24 Stunden später nach durchschnittlich 41 maliger Wiederholung wieder auswendig hergesagt werden konnten. Für eine einzelne 12silbige Reihe hatten demnach 68 unmittelbar aufeinanderfolgende Wieder - holungen den Effekt, daſs am nächsten Tage das erste fehler - freie Hersagen nach 7 Wiederholungen möglich wurde. Bei den gegenwärtigen Versuchen mit Verteilung der Wieder - holungen auf mehrere Tage trat derselbe Effekt etwa am vierten Tage ein: neun 12silbige Reihen wurden mit 56 Wieder -122 holungen auswendig gelernt, jede Reihe also mit etwa 6 Wieder - holungen. Aber die zur Erzielung dieser Wirkung vorher nötig gewesene Anzahl von Wiederholungen betrug für neun Reihen nur 158 + 109 + 75 = 342, für eine einzelne Reihe also 38. Auf das Wiederlernen einer 12silbigen Reihe zu einer bestimmten Zeit hatten demnach 38 Wiederholungen, in gewisser Weise auf die drei vorangegangenen Tage ver - teilt, einen ebenso günstigen Einfluſs wie 68 Wiederholungen, die unmittelbar nacheinander am Tage vorher vorgenommen wurden. Macht man hier der Unsicherheit der nur auf wenige Versuche basierten Zahlen selbst die gröſsten Konzessionen, so bleibt ihre Differenz immer noch erheblich genug. Sie macht die Annahme wahrscheinlich, daſs bei einer gröſse - ren Anzahl von Wiederholungen eine angemessene Verteilung derselben über einen gewissen Zeitraum bedeutend vorteilhafter ist als ihre Kumulierung auf eine bestimmte Zeit. Das instinktive Verfahren der Praxis stimmt mit diesem, hier nur für sehr beschränkte Bedingungen gewonnenen Resultat überein: ein Schulknabe pflegt das Auswendiglernen seiner Vokabeln und Regeln nicht auf einmal am Abend erzwin - gen zu wollen, er weiſs, daſs er sie am nächsten Morgen nochmal einprägen muſs; ein Lehrer verteilt das Klassen - pensum nicht gleichmäſsig über die ganze dafür zur Verfügung stehende Zeit, sondern reserviert von vornherein einen Teil derselben für ein - oder mehrmalige Repetition.

[123]

IX. Das Behalten als Funktion der Aufeinanderfolge der Reihenglieder.

How odd are the connections Of human thoughts which jostle in their flight.

§ 35. Die Association nach der zeitlichen Folge und ihre Erklärung.

Ich wende mich zu einer zusammengehörigen Gruppe von Untersuchungen über Associationsverhältnisse, deren Resultate, wie mir scheint, theoretisch von besonderem Interesse sind.

Das unwillkürliche Wiederauftauchen psychischer Gebilde aus dem Dunkel des Gedächtnisses an das Licht des Bewuſst - seins geschieht, wie man weiſs und wie schon erwähnt wurde, nicht beliebig und zufällig, sondern in gewissen regelmäſsigen Formen, gemäſs den sogenannten Associationsgesetzen. Das allgemeine Wissen um diese ist eben so alt wie die Psycho - logie selbst, seine genauere Fassung dagegen ist charak - teristisch genug bis in die Gegenwart hinein streitig ge - blieben. Jede neue Darstellung setzt sich aufs neue aus - einander mit dem Inhalt einiger Zeilen des Aristoteles, und nach dem Stande unseres Wissens hat sie allerdings auch die Verpflichtung dazu.

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Von diesen Gesetzen nun wenn man sich mit dem Sprachgebrauch und hoffentlich in Anticipation der Zukunft die Anwendung eines hohen Wortes auf Formeln von ziem - lich vagem Charakter gestattet von diesen Gesetzen ist eines niemals bestritten und angezweifelt worden. Es pflegt etwa so formuliert zu werden: Vorstellungen, welche gleich - zeitig oder in unmittelbarer Aufeinanderfolge in demselben Bewuſstsein erzeugt wurden, reproducieren sich gegenseitig, und zwar mit gröſserer Leichtigkeit in der Richtung der ur - sprünglichen Folge, und mit um so gröſserer Sicherheit, je häufiger sie beisammen waren.

Diese Art der unwillkürlichen Reproduktion ist eine der best beglaubigten und häufigst verwirklichten Thatsachen des ganzen psychischen Geschehens; sie durchsetzt in unabtrenn - barer Weise jede, auch die sogenannte willkürliche, Repro - duktion. Der bewuſste Wille z. B. in allen den zahlreichen Reproduktionen von Silbenreihen, die wir kennen lernten, be - schränkte sich auf die allgemeine Absicht des Reproducierens und auf die Ergreifung des Anfangsgliedes. Das Übrige schloſs sich daran sozusagen von selbst und eben in Erfüllung jenes Gesetzes, daſs reihenförmig Zusammengewesenes sich in derselben Reihenform reproduciert.

Indessen man hat sich, wie natürlich, nicht begnügt mit der Anerkennung dieser evidenten Thatsache, sondern man hat versucht, sie zu verstehen, einzudringen in das innere Getriebe, dem sie als Wirkung entspringt. Geht man diesen Spekulationen über das Warum einen Augenblick nach, so stöſst man nach zwei Schritten auf Unklarheiten und auf die Grenze unseres Wissens über das Wie.

Gewöhnlich beruft man sich zur Erklärung dieser Form der Association auf die Natur der Seele. Die psychischen Vor - gänge, sagt man, sind nicht ein passives Geschehen, sondern125 Thätigkeiten eines Subjekts. Was ist nun natürlicher, als daſs dieses einheitliche Wesen die Inhalte seiner ebenfalls einheitlichen Akte in gewisser Weise zusammenschnürt? Das was gleichzeitig oder unmittelbar nacheinander vorgestellt wird, wird in einem Akt des Bewuſstseins erfaſst und eben - dadurch innerlich aneinander gekettet, natürlich um so fester, je häufiger dieses Band einer Bewuſstseinseinheit darum ge - schlungen wurde. Wird nun einmal durch irgend einen Zu - fall nur ein Teil eines so zusammengehörigen Komplexes er - zeugt, wie kann er anders, als die übrigen Teile an jenem alle zusammenhaltenden Bande nach sich ziehen?

Zunächst erklärt diese Vorstellung nicht ganz was sie wollte. Denn die übrigen Teile des Komplexes werden nicht nur ein - fach herbeigezogen, sondern sie folgen dem Zuge in einer ganz bestimmten Ordnung. Werden die Teilinhalte lediglich durch ihre Zugehörigkeit zu einem Bewuſstseinsakt, und demnach doch alle in gleicher Weise, zusammengefaſst, wie kommt es, daſs eine Folge von Teilinhalten gerade in der - selben Folge und nicht in einer beliebigen Permutation wiederkehrt? Um auch dies verständlich zu machen, kann man in zwiefacher Weise weitergehen.

Entweder man kann sagen: eine Zusammenfassung des in einem Bewuſstseinsakt gleichzeitig Gegenwärtigen ge - schieht nur von Glied zu Folgeglied, aber nicht über andere Glieder hinweg; sie wird aus irgendwelchen Gründen durch Zwischenglieder inhibiert, aber nicht durch das Dazwischen - treten von Pausen, wofern nur Anfang und Ende der Pause noch in einem Bewuſstseinsakt erfaſst werden können. Da - mit ist man zu den Thatsachen wieder zurückgekehrt, aber der Vorteil, den die ganz plausible Berufung auf die ein - heitlichen Bewuſstseinsakte bot, ist stillschweigend wieder preisgegeben. Denn wie sehr man auch über die Zahl von126 Vorstellungen streiten möge, welche ein Bewuſstseinsakt zu umfassen vermag, es ist ganz sicher, daſs wir, wenn nicht immer, so doch zumeist mehr als zwei Glieder einer Folge noch in einem solchen Akte ergreifen. Benutzt man aber die eine Seite des Erklärungsgrundes, die Einheitlichkeit, als willkommenes Moment, so muſs man sich auch mit der an - deren Seite, der Vielheit von Gliedern, abzufinden wissen und ihr nicht, auf vermutete aber unangebbare Gründe hin, das Dreinreden verbieten. Sonst hat man im Grunde doch nur gesagt, wobei man ja möglicherweise stehen bleiben muſs: es ist so, weil es Gründe giebt, daſs es so ist.

Man wird also vielmehr versucht sein, so zu sagen. Die in einem Bewuſstseinsakt aufgefaſsten Vorstellungen werden allerdings alle mit einander verknüpft, aber nicht alle in der - selben Weise. Die Stärke der Verbindung ist vielmehr eine abnehmende Funktion der Zeit oder auch der Anzahl der Zwischenglieder; sie ist um so geringer, je gröſser das Inter - vall ist, welches die einzelnen Glieder trennt. Sei a, b, c, d eine Reihe, die gerade noch in einem Akt vorgestellt wird, so wird die Verknüpfung des a mit b stärker sein als die mit dem späteren c, und diese wiederum stärker als die mit d. Wird a irgendwoher wiedererzeugt, so bringt es zwar so - wohl b wie c und d mit sich, aber das ihm enger verknüpfte b muſs sich leichter und eher einstellen, dann das diesem eng verbundene c u. s. f. Die Reihe muſs also, obwohl alle ihre Glieder unter einander verknüpft sind, doch gerade in der ursprünglichen Folge wieder ins Bewuſstsein treten.

Eine solche Vorstellung ist in folgerichtiger Weise von Herbart ausgesponnen worden. Den Grund der Verknüpfung der unmittelbar aufeinanderfolgenden Vorstellungen sieht er nicht direkt in der Einheitlichkeit der Bewuſstseinsakte, aber in etwas Ähnlichem: gegensätzliche Vorstellungen, die in der127 einheitlichen Seele zusammen zu sein gezwungen sind, können dies nur dadurch, daſs sie sich teilweise hemmen und dann in ihren Resten mit einander verschmelzen, sich verknüpfen. Doch dies ist für unseren Zweck nebensächlich; er fährt dann fort:

Eine Reihe a, b, c, d ... sei in der Wahrnehmung ge - geben worden, so ist durch andere, im Bewusstsein vorhan - dene, Vorstellungen schon a, von dem ersten Augenblicke der Wahrnehmung an, und während deren Dauer, einer Hem - mung ausgesetzt gewesen. Indessen nun a, schon zum Teil im Bewusstsein gesunken, mehr und mehr gehemmt wurde, kam b dazu. Dieses, Anfangs ungehemmt, verschmolz mit dem sinkenden a. Es folgte c, und verband sich, selbst un - gehemmt, mit dem sich verdunkelnden b und dem mehr ver - dunkelten a. Desgleichen folgte d, um sich in verschiedenen Abstufungen mit a, b, c zu verknüpfen. Hieraus entspringt für jede von diesen Vorstellungen ein Gesetz, wie sie, nach - dem die ganze Reihe eine Zeitlang aus dem Bewusstsein ver - drängt war, auf eigne Weise beim erneuerten Hervortreten jede andre Vorstellung der nämlichen Reihe aufzurufen be - müht ist. Angenommen, a erhebe sich zuerst, so ist es mehr mit b, minder mit c, noch minder mit d u. s. w. verknüpft; rückwärts aber sind b, c, d sämmtlich im ungehemmten Zu - stande den Resten von a verschmolzen; folglich sucht a sie alle völlig wiederum bis zum ungehemmten Vorstellen zu bringen; aber es wirkt am schnellsten und stärksten auf b, langsamer auf c, noch langsamer auf d u. s. w. (wobei die feinere Untersuchung ergibt, dass b wieder sinkt, indem c noch steigt; ebenso c sich senkt, während d steigt u. s. w.); kurz, die Reihe läuft ab, wie sie gegeben war. Nehmen wir dagegen an, c werde ursprünglich reproduciert, so wirkt es zwar auf d und die nachfolgenden gerade, wie eben von128 a gezeigt, das heisst, die Reihe c, d ... läuft ihrer Ordnung gemäss allmählich ab. Hingegen b und a erfahren einen ganz anderen Einfluſs; mit ihren verschiedenen Resten war das ungehemmte c verschmolzen; es wirkt also auch auf sie mit seiner ganzen Stärke und ohne Zögerung, aber nur, um den mit ihm verbundenen Rest von a und von b zurückzu - rufen, also um einen Theil von b und einen kleineren Theil von a ins Bewusstsein zu bringen. So geschieht es, wenn wir an irgend etwas aus der Mitte einer uns bekannten Reihe erinnert werden; das Vorhergehende stellt sich auf einmal, in abgestufter Klarheit dar; das Nachfolgende hingegen läuft in unsern Gedanken ab, wie die Reihenfolge es mit sich bringt. Aber niemals läuft die Reihe rückwärts, niemals ent - steht, ohne geflissentliches Bemühen, ein Anagramm aus einem wohlaufgefassten Worte*Herbart, Lehrb. z. Psychol. § 29 (W. W.1 V S. 26 f.). Eine ähnliche ansprechende Ansicht, wie er sie nennt, entwickelt Lotze, Metaphysik (1879) S. 527, mit der Modifikation, daſs er die verschiedene Stärke der Vorstellungen, die er verwarf, zu eliminieren sucht. Er hängt freilich nicht sehr daran. Den eigentlichen Grund der getreuen Reproduktion von Reihen sieht er, übereinstimmend mit der oben zuerst besprochenen Ansicht, darin, daſs sich die Association nur von Glied zu Folgeglied knüpft. Dementsprechend lehrt er in den Vorlesungsdiktaten über Psycho - logie (S. 22): Jede zwei Vorstellungen, gleichviel, welches ihr Inhalt sein mag, associieren sich, wenn sie entweder gleichzeitig oder unmittel - bar, d. h. ohne ein Zwischenglied, aufeinander folgend erzeugt werden. Und hierauf würde auch ohne weitere Künste die besondere Leichtigkeit zu gründen sein, mit der wir eine Anzahl Vorstellungen ihrer Reihe nach, aber nicht ausser der Reihe wiederholen. Mit den weiteren Künsten ist doch wohl der Herbartsche Versuch einer Zurechtlegung gemeint..

Nach dieser Auffassung also sind die associativen Fäden, welche eine innerlich behaltene Reihe zusammenhalten, nicht nur einfach zwischen Glied und Folgeglied gesponnen, son - dern es bestehen solche Fäden zwischen jedem einzelnen129 Glied und allen zeitlich benachbarten, über die Zwischen - glieder hinweg. Die Stärke der Fäden variiert mit der Di - stanz der Glieder, aber selbst die schwächeren von ihnen müſsten immer noch als relativ erhebliche angesehen werden.

Für unsere Vorstellungen von dem inneren Zusammen - hang des geistigen Geschehens, von der Reichhaltigkeit und Kompliciertheit seiner Gruppen und seiner Gliederung ist die Annahme oder Verwerfung dieser Auffassung offenbar von groſser Bedeutung. Aber ebenso offenbar ist es ziemlich müſsig, über sie zu streiten, wenn man sich auf die Beobach - tung des bewuſsten geistigen Lebens beschränkt, auf die Re - gistrierung dessen, was das Meer dieses Lebens zufällig und gelegentlich einmal gerade bis an die Oberfläche wirbelt. Denn da, der Voraussetzung nach, die von Glied zu Folge - glied gesponnenen Fäden zwar nicht die einzigen, aber doch die stärkeren sein sollen, so werden sie für das dem Bewuſst - sein Erscheinende im allgemeinen die maſsgebenden und also die einzig zu beobachtenden sein.

Dagegen erlaubt die den bisher mitgeteilten Untersuchun - gen zu Grunde gelegte Methode, bestehende Verbindungen selbst von geringer Stärke aufzudecken, dadurch, daſs sie künstlich verstärkt werden, bis sie ein bestimmtes gleiches Niveau der Reproducierbarkeit erreichen. Ich habe daher nach dieser Methode noch eine gröſsere Anzahl von Versuchen angestellt, um die in Frage stehende Auffassung auf dem Ge - biet unserer Silbenreihen experimentell zu prüfen und einer etwaigen Abhängigkeit der Stärke der Association von der Folge der nach einander ins Bewuſstsein tretenden Glieder der Reihe auf die Spur zu kommen.

Ebbinghaus, Über das Gedächtnis. 9
130

§ 36. Methode der Untersuchung des thatsächlichen Verhaltens.

Die Versuche wurden wiederum mit 6 Reihen zu je 16 Silben angestellt. Zu gröſserer Klarheit bezeichne ich vorübergehend die Reihen mit römischen, die einzelnen Silben mit arabischen Ziffern. Den Gegenstand eines Versuchs bil - dete dann also jedesmal eine Silbengruppe folgender Form:

  • I1I2I3 ...... I15 I16
  • II1II2II3 ...... II15 II16
  • ..
  • ..
  • ..
  • VI1 ........... VI16

Wenn ich eine solche Gruppe jede Reihe für sich bis zur ersten fehlerfreien Reproduktion auswendig lerne und 24 Stunden später in ganz derselben Reihenfolge der Silben bis zur Erreichung desselben Zieles repetiere, so ist diese Repetition in etwa der zuerst erforderlichen Zeit möglich*Ich habe einige Versuche für 16silbige Reihen, aus denen diese Zahl sich ergiebt, oben nicht weiter mitgeteilt, weil die Resultate des sechsten Abschnitts sie mit genügender Annäherung belegen. Dort fand sich (S. 75), daſs sechs 16silbige Reihen, die je 32mal wiederholt wur - den, nach 24 Stunden in durchschnittlich 863 Sekunden auswendig ge - lernt werden konnten. 32 Wiederholungen sind aber durchschnitt - lich gerade erforderlich zur Herbeiführung der erstmöglichen Reproduktion für 16silbige Reihen; bei der bestehenden Proportionalität zwischen der Zahl der Wiederholungen und der Arbeitsersparnis am nächsten Tage kann es daher nicht viel Unterschied machen, ob die Reihen je 32mal wiederholt oder je bis zur erstmöglichen Reproduktion auswendig gelernt werden. Da das letztere ca. 1270 Sekunden erfordert, so beträgt die Arbeit für die Repetition am nächsten Tage, wie oben angegeben, ca. dieser Zeit. Die verhältnismäſsige Ersparnis bei dem Wiederlernen. Die resultierende Arbeitsersparnis von miſst131 dabei offenbar die Stärke der Associationen von Glied zu Folgeglied, welche sich durch das erstmalige Lernen bei mir bilden.

Man nehme nun an, die Reihen würden nicht in ganz derselben Reihenfolge der Silben repetiert, in der sie zuerst gelernt wurden. Die in der Anordnung I1 I2 I3 .... I15 I16 gelernten Silben mögen z. B. in der Anordnung I1 I3 I5 ... I15 I2 I4 I6 .... I16 repetiert werden und die übrigen Reihen in derselben Umformung. Es werden also erst die sämtlichen Silben, die ursprünglich an ungeraden, dann die sämtlichen, die an geraden Stellen standen, unmittel - bar hinter einander gesetzt und die so erhaltenen neuen, aber ebenfalls 16silbigen Reihen auswendig gelernt. Was wird geschehen? Jede Silbe der umgeformten Reihen war von den ihr jetzt unmittelbar benachbarten Silben bei der ursprüng - lichen Anordnung durch ein Zwischenglied getrennt, abgesehen von der Mitte, wo ein Bruch stattfindet. Sind diese Zwischen - glieder wesentliche Hindernisse der associativen Ver - knüpfung, so sind die abgeleiteten Reihen so gut wie ganz unbekannte. Trotz des vorangegangenen Lernens der Silben in der ursprünglichen Reihenfolge kann man für die Repe - tition der Umformungen keine wesentliche Arbeitsersparnis erwarten. Spannen sich hingegen bei dem ersten Lernen Associationsfäden nicht nur von Glied zu Folgeglied, sondern auch über die Zwischenglieder hinweg zu entfernteren Silben, so bestehen für die neuen Reihen schon gewisse Prädispo - sitionen. Die jetzt aufeinanderfolgenden Silben sind insgeheim schon mit einer gewissen Stärke aneinander geknüpft. Bei dem Lernen der Reihen wird sich dies dadurch verraten*16silbiger Reihen nach 24 Stunden ist also kaum verschieden von der für 12 - und 13silbige Reihen gefundenen (Abschnitt VII und VIII), wäh - rend sie bei noch gröſserer Länge der Reihen allmählich zunimmt.9*132müssen, daſs es einen merklich geringeren Arbeitsaufwand erfordert als das Lernen ganz neuer Reihen, obschon immer - hin einen gröſseren als das Repetieren von vorher gelernten Reihen bei ungeänderter Reihenfolge der Silben. Und dabei würde dann wiederum die etwa gefundene Arbeitsersparnis ein Maſs bilden für die Stärke der über ein Zwischenglied hinweg stattfindenden Associationen.

Leitet man aus der ursprünglichen Anordnung der Silben neue Reihen ab durch Überspringen von 2, 3 und mehr Zwischengliedern, so ergeben sich analoge Betrachtungen. Die abgeleiteten Reihen werden entweder unverändert ohne jede merkliche Ersparnis von Arbeit gelernt werden, oder aber es werden jedesmal gewisse Arbeitsersparnisse resultieren, und diese werden dann bei wachsender Anzahl der Zwischen - glieder immer kleiner werden.

Auf Grund dieser Erwägungen habe ich nun folgendes Verfahren eingeschlagen. Ich bildete Gruppen von 6 Reihen zu je 16 Silben in beliebiger Zusammensetzung der letzteren. Aus jeder Gruppe wurde dann eine neue abgeleitet, wiederum zu 6 Reihen von 16 Silben, und zwar so, daſs die unmittel - bar benachbarten Silben der neuen Formation in der ursprüng - lichen durch entweder 1 oder 2 oder 3 oder 7 Zwi - schensilben getrennt waren.

Bezeichnet man die einzelnen Silben durch die Stellen, welche sie in der ursprünglichen Anordnung innehaben, so erhält diese selbst, wie eben angegeben, das Schema

  • I1I2I3 ...... I15 I16
  • II1II2II3 ...... II15 II16
  • ..
  • ..
  • ..
  • VI1 .......... VI16

Bei Beibehaltung dieser Bezeichnung sehen dann die ab - geleiteten Gruppen so aus:

133

Beim Überspringen von 1 Silbe:

  • I1I3I5 ..... I15 I2 I4 I6 ..... I16
  • II1II3II5 ..... II15 II2 II4 II6 ..... II16
  • .
  • .
  • .
  • VI1VI3 ....... VI15 VI2 VI4 ....... VI16

Beim Überspringen von 2 Silben:

  • I 1 I 4 I 7 I 10 I 13 I 16 I 2 I 5 I 8 I 11 I 14 I 3 I 6 I 9 I 12 I 15
  • II1II4II7 ..... II16 II2 II5 .... II14 II3 II6 .... II15
  • ...
  • ...
  • ...
  • VI1VI4 ....... VI16VI2VI5 .... VI14 VI3 VI6 .... VI15

Beim Überspringen von 3 Silben:

  • I 1 I 5 I 9 I 13 I 2 I 6 I 10 I 14 I 3 I 7 I 11 I 15 I 4 I 8 I 12 I 16
  • II1II5 .... II2 II6 ..... II3 II7 .... II4 II8 .. II16
  • ...
  • ...
  • ...
  • VI1VI5 .... VI2 VI6 ..... VI3 VI7 .... VI4 VI8 .. VI16

Beim Überspringen von 7 Silben:

  • I 1 I 9 II 1 II 9 III 1 III 9 IV 1 IV 9 V 1 V 9 VI 1 VI 9 I 2 I 10 II 2 II 10
  • III 2 III 10 IV 2 IV 10 V 2 V 10 VI 2 VI 10 I 3 I 11 II 3 II 11 III 3 III 11 IV 3 IV 11
  • ...
  • ...
  • ...
  • V 7 V 15 VI 7 VI 15 I 8 I 16 II 8 II 16 III 8 III 16 IV 8 IV 16 V 8 V 16 VI 8 VI 16

Wie ein Blick auf diese Schemata lehrt, waren nicht alle benachbarten Silben der abgeleiteten Reihen ursprüng - lich durch die jedesmal angegebene Zahl von Silben getrennt. An einzelnen Stellen sind, um wieder Reihen von 16 Silben zu erhalten, gröſsere Sprünge gemacht worden, nirgendwo aber kleinere. Solche Stellen sind z. B. beim Überspringen von 2 Silben die Übergänge von I16 zu I2 und von I14 zu I3. Bei dem Überspringen von 7 Silben hat sogar an den 7 Stellen jeder Reihe, wo Silben aus ursprünglich verschiedenen Reihen aufeinander folgen (I9 II1, II9 III1 u. s. w.), gar keine vorherige Verknüpfung der Silben stattgefunden, da die Reihen, wie oft erwähnt, jede für sich gelernt wurden. Die Anzahl solcher134 Bruchstellen, sozusagen, ist verschieden je nach der Art der Ableitung, und zwar jedesmal ebenso groſs wie die der über - sprungenen Silben. Wegen dieser Verschiedenheit leiden die abgeleiteten Reihen an einer gewissen, durch die Natur des Verfahrens ihnen anhaftenden Ungleichheit.

Im Verlauf der Untersuchung erwies sich ein Über - springen von noch mehr als 7 Zwischengliedern als wün - schenswert, jedoch nahm ich davon Abstand. Die Unter - suchungen waren mit sechs 16 silbigen Reihen schon ziemlich weit vorgeschritten, und wenn aus diesen durch Einführung gröſserer Intervalle ebensolche Gruppen hergeleitet werden sollen, so erlangen dabei die eben erwähnten Bruchstellen zu sehr das Übergewicht. Die abgeleiteten Reihen enthalten dann schlieſslich immer weniger Silbenfolgen, für welche durch das Lernen der ursprünglichen Anordnung eine etwaige Ver - knüpfung möglich gewesen wäre; sie werden also immer un - vergleichbarer.

Die Untersuchungen selbst bestanden nun darin, daſs jedesmal die sechs Reihen erst in der ursprünglichen, dann 24 Stunden später in der hieraus abgeleiteten Anordnung der Silben gerade eben auswendig gelernt und die dazu nötigen Zeiten verglichen wurden. Bei Beschränkung indessen auf die bisher beschriebenen Ableitungen würden die Resultate unter Umständen einem triftigen Einwande ausgesetzt sein. Gesetzt nämlich, es stellte sich heraus, daſs wirklich die ab - geleiteten Reihen mit einer mäſsigen Zeitersparnis gelernt würden, so brauchte diese doch nicht der vermuteten Quelle, nämlich einer Association von Silben über Zwischenglieder hinweg, zu entspringen. Man kann vielmehr auch so argu - mentieren. Die zuerst gelernten und nach 24 Stunden in anderer Anordnung wieder gelernten Silben sind eben in beiden Fällen dieselben Silben. Durch das erste Lernen135 werden sie nicht nur in ihrer bestimmten Anordnung, son - dern auch abgesehen davon, rein als einzelne Silben eingeprägt; bei der Wiederholung sind sie daher noch einigermaſsen be - kannt, wenigstens bekannter als andere kurz vorher nicht ge - lernte Silben. Auſserdem haben die aus ihnen gebildeten neuen Reihen zum Teil dieselben Anfangs - und Endglieder wie die alten. Werden sie also in etwas geringerer Zeit wiederholt als zuerst gelernt, so ist das nicht wunderbar. Der Grund davon braucht gar nicht in der künstlichen und syste - matischen Abänderung der Anordnung zu liegen, sondern er beruht möglicherweise lediglich auf der Identität der Silben. Würden diese am 2ten Tage in einer ganz beliebigen neuen Anordnung wiederholt, so würde sich vermutlich ebenfalls eine Arbeitsersparnis herausstellen.

In Berücksichtigung dieses Einwandes und zur Kontrolle der übrigen Resultate habe ich daher noch eine weitere, fünfte Art abgeleiteter Reihen eingeführt. Anfangs - und Endsilben der ursprünglichen Reihen wurden an ihrer Stelle belassen, die sämtlichen zwischen ihnen befindlichen 84 Silben aber wurden ganz beliebig durcheinander gewürfelt und dann, wie der Zufall sie in die Hand führte, zur Herstellung neuer Reihen zwischen den ursprünglichen Anfangs - und Endsilben verwendet. Durch das Lernen der ursprünglichen und der abgeleiteten Reihen auch in diesem Falle muſste sich un - mittelbar ergeben, ein wie groſser Teil der etwaigen Arbeits - ersparnis lediglich der Identität der Silbenmasse, sowie der Identität der Anfangs - und Endglieder der einzelnen Reihen zuzuschreiben sei.

136

§ 37. Resultate. Association der mittelbaren Folge.

Für jede Gruppe ursprünglicher und abgeleiteter Reihen wurden zunächst 11 Doppelversuche, im ganzen also 55, an - gestellt, die unregelmäſsig über ca. 9 Monate verteilt sind.

Die Resultate waren die folgenden.

1) Bei Ableitung der Reihen durch Überspringen von 1 Zwischensilbe

2) Bei Ableitung der Reihen durch Überspringen von 2 Zwischensilben

137

3) Bei Ableitung der Reihen durch Überspringen von 3 Zwischensilben

4) Bei Ableitung der Reihen durch Überspringen von 7 Zwischensilben

138

5) Bei Ableitung der Reihen durch Beibehaltung der Anfangs - und Endsilben und beliebige Permutierung der übrigen Silben

Es wurden also, um die Resultate zusammenzufassen, bei Ableitung der neuen Reihen durch Überspringen von 1, 2, 3, 7 Zwischengliedern die abgeleiteten Reihen gelernt mit einer mittleren Erspar - nis von 152, 94, 78, 42 Sekunden.

Bei Ableitung der neuen Reihen durch bloſse Permutierung der Silben ergab sich nur eine mittlere Ersparnis von 12 Se - kunden.

Um die Bedeutung dieser Zahlen zu würdigen, muſs man sie vergleichen mit derjenigen Arbeitsersparnis, welche bei dem Wiedererlernen von ganz unveränderten Reihen nach 24 Stunden bei mir stattfindet. Dieselbe betrug bei 16silbigen Reihen etwa der für das erste Lernen erforderlichen Zeit, also ungefähr 420 Sekunden. Diese Zahl miſst die Stärke der von Glied zu Folgeglied stattfindenden Verknüpfung, also139 der unter den festgesetzten Bedingungen überhaupt möglichen Maximalwirkung der Association. Betrachtet man sie als Einheit, so ist die Stärke der Verknüpfung jedes Gliedes mit dem zweitfolgenden mit reichlich und der Verknüpfung jedes Gliedes mit dem drittfolgenden mit knapp ¼ zu be - zeichnen u. s. w.

Der Gang der gewonnenen Resultate bestätigt demnach für mich und für die untersuchten Fälle die oben an zweiter Stelle und mit Heranziehung Herbarts erörterte Auf - fassung: bei wiederholter Erzeugung von Silbenreihen asso - ciierten sich nicht nur die einzelnen Glieder mit ihren un - mittelbaren Folgegliedern, sondern es bildeten sich Ver - knüpfungen zwischen jedem Glied und mehreren ihm zunächst folgenden, über die Zwischenglieder hinweg. Es scheint, wie man sich ausdrücken kann, um eine kurze Bezeichnung zu haben, nicht nur eine Association der unmittelbaren, sondern auch eine solche der mittelbaren Folge zu bestehen. Die Stärke jener Verknüpfungen nahm ab mit der Zahl der Zwischenglieder; bei einer geringen Anzahl war sie, wie man zugeben wird, von überraschender und nicht vorauszusehender Erheblichkeit.

Eine wesentliche Erleichterung des Wiederlernens der Reihen dagegen durch die Identität der Silbenmasse und durch die Identität der Anfangs - und Endsilben der Reihen hat in den untersuchten Fällen nicht stattgefunden.

§ 38. Versuche mit Ausschluſs des Wissens.

Ich habe vorläufig die wahrscheinlichen Fehler der Re - sultate nicht mitgeteilt, um jetzt die Vertrauenswürdigkeit der letzteren ausführlicher zu besprechen.

140

Als ich an die Versuche herantrat, hatte ich keine ent - schiedene Meinung zu gunsten des schlieſslichen Resultats. Eine Arbeitserleichterung für das Lernen der abgeleiteten Reihen fand ich nicht wesentlich plausibler als das Gegenteil. Erst allmählich, nachdem mehr und mehr Zahlen für das Bestehen einer solchen Arbeitserleichterung sprachen, erschien mir diese auch als das Richtigere und Naturgemäſse. Man könnte nun denken, nach dem oben (S. 38 f.) Auseinander - gesetzten, diese Vorstellung habe bei den noch übrigen Ver - suchen möglicherweise ein aufmerksameres und deshalb schnel - leres Lernen der abgeleiteten Reihen begünstigt und so die resultierenden Arbeitsersparnisse, wenn nicht überhaupt ver - anlaſst, so doch mindestens sehr verstärkt.

Für die drei gröſsten der gefundenen Zahlen, also für die Arbeitserleichterungen, die sich beim Überspringen von 1, 2 und 3 Zwischengliedern herausstellten, ist dieser Einwand von geringer Erheblichkeit. Denn diese sind verhältnismäſsig so bedeutend, daſs man einer unwillkürlichen Anspannung der willkürlich ohnedies möglichst koncentrierten Aufmerksamkeit (S. 34, 5) zuviel beimessen würde, wenn man ihr hier einen wesentlichen Einfluſs zuschriebe. Auſserdem aber und nament - lich würde dadurch die aus den hin - und herfallenden Einzel - werten schlieſslich hervorgehende Abstufung der Zahlen, par - allel der Anzahl der übersprungenen Zwischenglieder, geradezu unbegreiflich werden. Denn die vorausgesetzte gröſsere An - spannung der Aufmerksamkeit könnte offenbar nur ganz im allgemeinen wirken. Wie sollte sie es vermögen, noch dazu für Versuche, die durch Wochen und Monate von einander getrennt waren, eine so regelmäſsige Stufenfolge der Zahlen hervorzubringen?

Einigermaſsen zweifelhaft durch das angeführte Bedenken wird nur allerdings das vierte Resultat, die verhältnismäſsig141 kleine Arbeitserleichterung für das Lernen von Reihen, die durch Überspringen von 7 Zwischengliedern aus anderen ab - geleitet sind. Offenbar aber hat gerade in diesem Falle die sichere Konstatierung der Differenz ein besonderes Interesse, wegen der bedeutenden Gröſse des Intervalls, über welches hinweg doch noch eine Association stattfände.

Bei den gegenwärtigen Untersuchungen besteht nun die Möglichkeit, sie so anzustellen, daſs das Mitwissen um den Ausfall der allmählich sich ansammelnden Resultate aus - geschlossen ist, sodaſs also auch der etwaige trübende Einfluſs von geheimen Ansichten und Wünschen in Wegfall kommt. Ich habe daher, zur Kontrolle der obigen Resultate und namentlich des mindest sicheren von ihnen, eine weitere Gruppe von 30 Doppelversuchen in folgender Weise angestellt.

Je sechs beliebig zusammengesetzte 16silbige Reihen wur - den auf die Vorderseite eines Blattes geschrieben und auf die Rückseite desselben Blattes 6 Reihen, die aus jenen durch eine der oben (S. 132) beschriebenen Ableitungsarten gewon - nen waren. Für jede der 5 Umformungen wurden in dieser Weise 6 Blätter hergestellt, deren Vorderseiten wohl von den Rückseiten, die aber nicht untereinander durch irgend ein Abzeichen zu unterscheiden waren. Sämtliche 30 Blätter wurden gemischt und solange beiseite gelegt, bis jede etwaige Erinnerung an das Vorkommen einzelner Silben in bestimmten Umformungen als erloschen gelten durfte. Dann wurde die Vorderseite und 24 Stunden später die Rückseite eines be - liebigen Blattes auswendig gelernt. Die für das Lernen der einzelnen Reihen erforderlichen Zeiten wurden notiert, aber nicht eher zusammengerechnet und weiter verarbeitet, als bis alle 30 Blätter durchgebraucht waren. Darnach fanden sich folgende Zahlen:

142

1) Bei Ableitung der umgeformten Reihen durch Über - springen von 1 Zwischensilbe

2) Bei Ableitung der Reihen durch Überspringen von 2 Zwischensilben

3) Bei Ableitung der Reihen durch Überspringen von 3 Zwischensilben

143

4) Bei Ableitung der Reihen durch Überspringen von 7 Zwischensilben

5) Bei Ableitung der Reihen durch Beibehaltung der Anfangs - und Endsilben und beliebige Permutierung der übri - gen Silben

Bei Ableitung der umgeformten Reihen durch Über - springen von 1, 2, 3, 7 Zwischensilben wurden also die abgeleiteten Reihen gelernt mit einer mitt - leren Ersparnis von 110, 79, 64, 40 Sekunden.

Dagegen bei Ableitung durch Permutierung der Silben erfor - derte das Lernen der umgeformten Reihen einen mittleren Mehraufwand von 5 Sekunden.

144

Der allgemeine Gang dieser Resultate bestätigt, wie man sieht, genau das erstgefundene Ergebnis. Trotz der verhältnis - mäſsig geringen Anzahl der Versuche und bei völligem Aus - schluſs des Mitwissens um das jedesmal angestellte Experi - ment und seinen Ausfall gruppieren sich die im einzelnen ganz unregelmäſsig und scheinbar regellos fallenden Zahlen im ganzen zu einer einfachen Gesetzmäſsigkeit. Je weniger Zwischenglieder zwei Silben einer auswendig gelernten Reihe von einander trennten, desto geringeren Widerstand setzten nachher die jetzt getrennten Silben der Einprägung ihrer Aufeinanderfolge entgegen, desto stärker also muſsten sie sich bei dem Lernen der Reihe, über die Zwischenglieder hinweg, schon mit einander verbunden haben.

Wie in ihrem allgemeinen Gange, so stimmen die Zahlen der beiden Versuchsgruppen auch noch darin überein, daſs die Differenz zwischen der ersten und zweiten Zahl den gröſs - ten und die zwischen der zweiten und dritten den kleinsten Wert hat. Dagegen muſs es auffallen, daſs der absoluten Gröſse nach die Zahlen der zweiten Gruppe durchweg kleiner sind als die der ersten. Zur Erklärung dieses, bei seiner Gleichförmigkeit kaum zufälligen, Verhaltens könnte man an zwei Ursachen denken. Entweder offenbart sich hier in der That der vorhin berührte Einfluſs der Erwartung. Die Zahlen der ersten Gruppe sind etwas zu groſs ausgefallen, weil im Laufe der Untersuchung das Bestehen einer Arbeitsersparnis für die abgeleiteten Reihen als wahrscheinlich vorausgesetzt wurde und dadurch das Lernen dieser Reihen unwillkürlich mit etwas gröſserer Anspannung geschah.

Oder aber, es hat bei den Zahlen der zweiten Gruppe, gerade in Folge des ausgeschlossenen Mitwissens, ein stören - des Moment mitgewirkt, welches sie verkleinert hat. Es machte sich nämlich allerdings in diesem Falle während des Lernens145 der abgeleiteten Reihen vielfach eine sehr lebhafte Neugier geltend, herauszubekommen, welcher Kategorie von Umfor - mungen die gerade gelernten Reihen angehörten. Daſs diese zerstreuend und dadurch verlangsamend eingewirkt haben muſs, ist nicht nur an sich wahrscheinlich, sondern auch noch durch das Resultat bei den durch Silbenpermutation abgeleiteten Reihen. Man erwartet, daſs die Identität der Silbenmasse sowie der Anfangs - und Endsilben sich bei diesen durch eine, wenn auch noch so geringe, Arbeitsersparnis geltend mache. Dies zeigt sich auch bei den Versuchen der ersten Gruppe. Bei denen der zweiten Gruppe dagegen wird an ihrer Stelle ein geringer Mehraufwand an Zeit bemerklich, der, wenn er nicht bloſs zufällig ist, kaum anders als durch jene zer - streuende Neugier erklärt werden kann.

Möglicherweise haben beide Ursachen gleichzeitig ein - gewirkt, sodaſs also die ersten Versuche etwas zu hohe, die zweiten etwas zu kleine Zahlen ergeben haben. Erlaubt man sich unter dieser Voraussetzung, die beiden Zahlenreihen zu - sammenzuwerfen, um die entgegengesetzten Fehler in etwa zu kompensieren, so gewinnt man schlieſslich aus sämtlichen 85 Doppelversuchen folgende Tabelle. (Die Zahlen der vier mittleren Kolumnen bedeuten Sekunden.)

*Die wahrscheinlichen Fehler sind berechnet aus den einzelnen
*Ebbinghaus, Über das Gedächtnis. 10
146

§ 39. Diskussion der Resultate.

Ein besonderes Interesse, wie mir scheint, knüpft sich bei der eben mitgeteilten Tabelle an die letzte und nament - lich an die vorletzte Zahlenreihe. Bei völliger Identität der gesamten Silben und bei Belassung der Anfangs - und End - silben an ihren Plätzen war eine Zeitersparnis bei dem Lernen der abgeleiteten Reihen im Durchschnitt aus 17 Versuchen kaum konstatierbar. Dieselbe fiel innerhalb der Hälfte ihres wahrscheinlichen Fehlers. Die Silben an sich, auſser dem Zusammenhang, waren also für mich so bekannt, daſs sie durch eine etwa 32malige Wiederholung nicht merklich be - kannter wurden. Dagegen wurde, bei ebenso häufiger Wieder - holung einer zusammenhängenden Reihe, jede Silbe mit der ihr an achter Stelle folgenden noch so fest verknüpft, daſs 24 Stunden später eine Nachwirkung dieser Verknüpfung in ganz zweifelloser Weise konstatiert werden konnte. Dieselbe erreicht den sechsfachen Wert ihres wahrscheinlichen Fehlers; sie darf demnach, natürlich nicht gerade in ihrer oben gefun - denen Gröſse, aber doch in ihrer Existenz überhaupt, als voll - kommen gesichert betrachtet werden. Ist sie auch, dem ab - soluten Betrage nach, gering, so beträgt sie doch immerhin den zehnten Teil von der Nachwirkung derjenigen Verknüpfung, welche jedes Glied an das ihm unmittelbar folgende bindet. Sie ist noch so bedeutend und gleichzeitig ist die Abnahme der Nachwirkungen für die Verknüpfungen, welche sich über 2, 3, 7 Zwischenglieder hinweg bilden, eine so allmähliche,*Arbeitsersparnissen, indem diese, die thatsächlich durch Subtraktion er - mittelt sind, als direkt gefundene Beobachtungsresultate betrachtet wur - den (s. S. 93 Anm.).147 daſs man ohne weiteres behaupten kann, auch die noch weiter von einander abstehenden Glieder seien bei dem Lernen der Reihe durch Fäden von merklicher Stärke innerlich an einander gebunden worden.

Ich fasse die bisherigen Ergebnisse in hypothetischer Ver - allgemeinerung zusammen. Bei der Wiederholung von Silben - reihen bilden sich gewisse Verknüpfungen zwischen jedem Gliede und allen darauf folgenden. Dieselben äuſsern sich darin, daſs fernerhin die so verknüpften Silbenpaare in der Seele leichter, mit Überwindung eines geringeren Widerstandes wieder hervorgerufen werden können als andere, bisher nicht verknüpfte, aber sonst gleichartige Paare. Die Stärke der Verknüpfung, also die Gröſse der eventuell ersparten Arbeit, ist eine abnehmende Funktion der Zeit oder der Anzahl der Zwischenglieder, welche die betreffenden Silben in der ur - sprünglichen Reihe von einander trennten. Sie ist ein Maxi - mum für die unmittelbar aufeinander folgenden Glieder. Die nähere Beschaffenheit der Funktion ist unbekannt, nur nimmt sie für wachsende Entfernungen der Glieder zuerst sehr schnell und allmählich sehr langsam ab.

Setzt man an die Stelle der konkreten Vorstellungen von Arbeitsersparnis, leichterer Wiedererzeugung, die abstrak - ten aber geläufigen Vorstellungen von Kraft, Disposition, so kann man auch folgendermaſsen sagen: durch das Lernen einer Reihe erhält jedes Glied eine Tendenz, eine latente Disposition, bei seiner eigenen Wiederkehr ins Bewuſstsein die sämtlichen folgenden Glieder der Reihe nach sich zu ziehen. Diese Tendenzen sind indes von verschiedener Stärke; am stärksten für die unmittelbar folgenden Glieder. Im allgemeinen wer - den daher diese am leichtesten wirklich in das Bewuſstsein gezogen werden; ohne Intervention anderer Einflüsse wird die Reihe in der ursprünglichen Ordnung wiederkehren, wäh -10*148rend die auf Herbeiziehung der übrigen Glieder gerichteten Kräfte nur durch Hinzutreten anderer Umstände auch äuſser - lich erkennbar werden.

Es ist natürlich nicht glaublich, daſs durch eine Caprice der Natur die Gültigkeit der gefundenen Sätze ausschlieſslich an das begrenzte Material gebunden sei, an dem sie gewonnen wurden, an sinnlose Silbenreihen; sie werden in analoger Weise von jeder Art von Vorstellungsreihen und deren Glie - dern behauptet werden dürfen. Selbstverständlich werden sie da, wo zwischen den einzelnen Vorstellungen noch andere Beziehungen bestehen als die der Zeitfolge und der Trennung durch Zwischenglieder, das associative Geschehen nicht aus - schlieſslich beherrschen, sondern nur mit Berücksichtigung aller der Modifikationen und Komplikationen, welche durch Ver - hältnisse verschiedenartiger Verwandtschaft, des Zusammen - hangs, Sinns u. s. w. herbeigeführt werden.

Jedenfalls aber, wie man nicht leugnen wird, würde durch eine allgemeinere Gültigkeit dieser Resultate die Lehre von der Association eine wesentliche Abrundung und sozusagen eine gröſsere Vernünftigkeit gewinnen. Die gewöhnliche Formu - lierung: Vorstellungen associieren sich, wenn sie wiederholt gleichzeitig oder unmittelbar aufeinander folgend erzeugt wer - den hat etwas Irrationales. Nimmt man es mit der Un - mittelbarkeit der Folge genau, so widerspricht der Satz den gewöhnlichsten Erfahrungen. Nimmt man es nicht genau, so wird es schwer, klar anzugeben, welche Art der Folge man eigentlich meint. Gleichzeitig sieht man nicht ein, weshalb das nicht ganz unvermittelte Folgen einen Vorzug haben soll, der bei dem etwas mehr vermittelten plötzlich wegfällt. Wie wir jetzt erkennen, ist die Unmittelbarkeit oder Mittelbarkeit der Folge auf die allgemeine Art des Geschehens zwischen den sich folgenden Vorstellungen ohne Einfluſs. In beiden149 Fällen bilden sich Verknüpfungen, die man, bei ihrer völligen Gleichartigkeit nicht anders als mit dem gemeinsamen Namen Associationen bezeichnen kann. Nur sind dieselben von ver - schiedener Stärke. Je mehr die Aufeinanderfolge der verknüpften Vorstellungen sich der idealen Unmittelbarkeit nähert, desto stärker, je weiter sie sich davon entfernt, desto schwächer sind die zusammenhaltenden Fäden. Die Associationen der entfernteren Glieder, obwohl thatsächlich vorhanden und durch geeignete Mittel nachweisbar, haben doch, wegen ihrer gerin - gen Stärke, praktisch keine Bedeutung mehr; die der näheren dagegen sind von relativer Erheblichkeit und werden darum ihren Einfluſs wohl vielfach geltend machen. Wären freilich die Reihen ganz sich selbst überlassen, und würden sie immer nur in derselben Ordnung erzeugt, so würde für jedes Glied immer nur eine Association zum Vorschein kommen, die relativ stärkste, die Association mit dem unmittelbar folgenden Gliede. Aber Vorstellungsreihen sind eben nie sich selbst überlassen. Reiche und rasch wechselnde Schicksale bringen sie in die vielfältigsten Beziehungen; sie kehren wieder in den verschie - densten Kombinationen ihrer Glieder. Und da müssen unter Umständen auch die stärkeren der minder starken Associa - tionen zwischen entfernteren Gliedern Gelegenheit finden, ihr Vorhandensein zu dokumentieren und modificierend in das innere Getriebe einzugreifen. Man erkennt leicht, wie sie ein schnelleres Wachstum der von der Seele beherrschten Vor - stellungsmassen, eine reichere Gliederung und eine vielsei - tigere Verzweigung derselben begünstigen müssen; freilich auch eine gröſsere Mannigfaltigkeit und damit scheinbar eine gröſsere Willkür und Unregelmäſssigkeit des geistigen Ge - schehens.

Ehe ich weiter gehe, noch einige Worte über die oben (S. 124) berührte Ableitung der Association von aufeinander150 folgenden Vorstellungen aus den einheitlichen Bewuſstseins - akten der einheitlichen Seele. Derselben droht nämlich eine gewisse Gefahr aus der Zusammenhaltung eines jetzt gefun - denen Ergebnisses mit einem früher gefundenen. Ich erwähnte oben (S. 64), daſs die Anzahl der Silben, die ich gerade noch im stande bin, nach einmaligem Lesen fehlerfrei herzusagen, etwa sieben beträgt. Man kann mit einem gewissen Recht diese Zahl als ein Maſs dessen ansehen, was ich von Vor - stellungen solcher Art eben noch in einem einheitlichen Be - wuſstseinsakt zusammenzufassen vermag. Wie wir nun jetzt sahen, bilden sich, ebenfalls bei mir, noch Associationen von merklicher Stärke über sieben Zwischenglieder hinweg, also zwischen Anfang und Ende einer aus neun Silben bestehenden Reihe. Und wegen der Gröſse der gefundenen Zahlen und der Art ihrer Abstufung erschien es wahrscheinlich, daſs selbst bei einer noch gröſseren Anzahl von Zwischensilben Verknüpf - ungen zwischen den am weitesten von einander abstehenden Gliedern stattfinden. Bilden sich aber Associationen über ebensoviele oder mehr Glieder hinweg, als das Bewuſstsein in ein und demselben Akt zu umfassen im stande ist, so ist es nicht mehr möglich, das Zustandekommen jener Associationen aus der gleichzeitigen Anwesenheit der ver - knüpften Glieder im Bewuſstsein zu erklären.

Indes ich bemerke gleich, daſs sich diejenigen, welchen eine solche Ableitung am Herzen liegt, welche die einheit - lichen Akte der einheitlichen Seele für ursprünglichere, durch - sichtigere oder besser beglaubigte Thatsachen halten als die oben beschriebenen einfachen Fakta der Association, sodaſs mit der Zurückführung der letzteren auf die ersteren etwas Erhebliches gewonnen würde, daſs sich diese also durch die obige Argumentation doch nicht auſser Fassung bringen zu lassen brauchen. Man braucht nur zu sagen, daſs zwar bei151 einer bis dahin ganz unbekannten Folge von Silben das Bewuſstsein nur etwa 7 Glieder in einem Akte zu umspan - nen vermöge, daſs aber bei häufigerer Wiederholung und all - mählichem Bekanntwerden der Reihe auch diese Capacität des Bewuſstseins eine Steigerung erfahre, und daſs z. B. eine Reihe von 16 Silben, die vollständig auswendig gewuſst werde, auch in einem Akt des Bewuſstseins gegenwärtig sei. Dann ist die Erklärung ohne Zwang wieder herstellbar; diejenigen, denen sie etwas wert war für die Association der Gleich - zeitigkeit und der unmittelbaren Folge, können sie ganz ebenso verwerten für unsere Associationen der mittelbaren Folge. Und bei den mäſsigen Ansprüchen, welche man in der Psychologie an Erklärungen zu stellen sich vielfach be - scheidet, wird sie zweifellos noch lange fortfahren, den Blick für die unbefangene Anerkennung eines der wunderbarsten Rätsel alles Geschehens als eines solchen zu trüben und dem Suchen nach seinem wahrhaften Verständnis hinderlich zu sein.

§ 40. Rückläufige Associationen.

Von den mannigfachen Fragen, welche sich an die bis - herigen Ergebnisse anschlieſsen, habe ich einstweilen nur wenige untersuchen können und auch diese nur mit einer geringen Zahl von Experimenten.

Durch häufige Wiederholung einer Reihe a b c d .. bilden sich gewisse Verknüpfungen ab, ac, ad, bd u. s. w. Die Vorstellung a bekommt gewisse, verschieden starke Ten - denzen, bei ihrem irgendwie veranlaſsten Wiedereintritt ins Bewuſstsein auch die Vorstellungen b, c, d wieder zu be - wuſsten zu machen. Beruhen nun diese Verknüpfungen und Tendenzen auf Gegenseitigkeit? Das heiſst, wenn einmal c152 und nicht a die zufällig wiedererzeugte Vorstellung ist, hat diese auſser dem Bestreben, d und e nach sich zu ziehen, ein ebensolches Bestreben rückwärts für b und a? Oder in anderer Ausdrucksweise: werden durch das vorangegangene Lernen von a b c d .. hinterher nicht nur die Aufein - anderfolgen a b c .., a c e .. leichter gelernt als irgend - welche gleichlange Gruppierung der vorher gar nicht berührten p, q, r .., sondern auch die Folgen ... c b a, .. e c a? Bilden sich durch mehrfache Wiederholung einer Reihe Asso - ciationen der Glieder auch nach rückwärts?

Die Ansichten der Psychologen hierüber scheinen sich entgegenzustehen. Die einen machen auf das unzweifelhafte Faktum aufmerksam, daſs man trotz völliger Beherrschung z. B. des griechischen Alphabets schlechterdings nicht im stande sei, dasselbe geläufig rückwärts herzusagen, wenn man es nicht in dieser Form noch besonders gelernt und geübt habe.

Die anderen machen von rückläufigen Associationen, als von etwas Selbstverständlichem, ausgiebigen Gebrauch bei der Erklärung des Ursprungs willkürlicher und zweckmäſsiger Bewegungen. Die Bewegungen des Kindes sind nach ihnen zu - nächst unwillkürlich und zufällig. An gewisse Kombinationen derselben schlieſsen sich lebhafte Lustgefühle. Von Bewegungen wie Gefühlen hinterbleiben Gedächtnisvorstellungen, die sich durch Wiederholung dieses Geschehens immer fester mit ein - ander associieren. Hat diese Verbindung eine gewisse Stärke erlangt, so schlieſst sich dann rückwärts an die bloſse Vor - stellung des Lustgefühls die Vorstellung der es erzeugenden Bewegung, an diese die wirkliche Bewegung und damit auch das sinnlich reale Gefühl.

Die Auffassung Herbarts, die wir kennen lernten (S. 128), hält zwischen diesen beiden Ansichten sozusagen die Mitte. Die Vorstellung c, die im Verlauf einer Reihe auftritt, ver -153 schmilzt mit den noch vorhandenen, aber schon verdunkelten Vorstellungen b und a, die ihr vorangegangen waren. Wird später c wiedererzeugt, so bringt es zwar b und a mit sich, aber nur als verdunkelte, nicht als völlig ungehemmte und klar bewuſste. Wir überschauen beim plötzlichen Auftauchen eines Gliedes aus der Mitte einer Reihe das Vorangegangene auf einmal in abgestufter Klarheit ; niemals aber kommt es dazu, daſs die Reihe etwa rückwärts abläuft. Sondern an das auftauchende Glied schlieſsen sich als voll bewuſste suc - cessive diejenigen, die in der früher dagewesenen Reihe darauf folgten.

Zur Prüfung des thatsächlichen Verhaltens habe ich ein ganz ähnliches Verfahren eingeschlagen wie bei den vorhin besprochenen Untersuchungen. Aus Gruppen von je sechs 16 sil - bigen Silbenreihen, die durch beliebige Zusammenstellung entstanden waren, wurden neue Gruppen abgeleitet, und zwar entweder durch bloſse Umkehrung der Silbenfolge oder durch Umkehrung der Silbenfolge und gleichzeitiges Überspringen einer Zwischensilbe. Dann wurden je zwei zusammengehörige Gruppen auswendig gelernt, die abgeleitete Form 24 Stunden später als die ursprüngliche.

Entspricht einer der ursprünglichen Reihen das Schema I1I2I3 ...... I15 I16, so muſs demnach die entsprechende abgeleitete Reihe be - zeichnet werden: bei bloſser Umkehrung der Silbenfolge mit I16I15I14 ...... I2 I1, bei Umkehrung der Silbenfolge und gleichzeitigem Über - springen einer Zwischensilbe mit I16I14I12 .... I4 I2 I15 I13 .... I3 I1. Für die erste Art der Ableitung habe ich zehn Versuche an - gestellt, für die zweite nur vier.

154

Die Resultate sind diese:

1) Bei Ableitung der umgeformten Reihen durch bloſse Umkehrung der Silbenfolge

Im Verhältnis zu der Lernzeit für die ursprünglichen Reihen beträgt die Ersparnis 12,4 %.

2) Bei der Ableitung der umgeformten Reihen durch Um - kehrung der Silbenfolge und gleichzeitiges Überspringen einer Zwischensilbe

Im Verhältnis zu der Lernzeit für die ursprünglichen Reihen beträgt die Ersparnis 5 %.

Es bildeten sich also in der That durch das Lernen einer Reihe gewisse Verknüpfungen der Glieder unter einan -155 der nach rückwärts ganz ebenso wie nach vorwärts. Die - selben äuſserten sich dadurch, daſs Reihen, welche aus der - artig verknüpften Gliedern zusammengesetzt waren, leichter gelernt wurden als gleichlange Reihen, deren Glieder an sich ebenso bekannt waren, aber vorher nicht in dieser Weise mit einander verknüpft wurden. Die Stärke der so ge - schaffenen Prädispositionen war wiederum eine abnehmende Funktion der Entfernung der Glieder von einander in der ursprünglichen Reihe. Nur war sie bei gleichen Entfernungen für die Verknüpfungen rückwärts erheblich geringer als für diejenigen vorwärts. Bei durchschnittlich gleich häufiger Wie - derholung einer Reihe wurde jedem Glied das ihm unmittel - bar vorangegangene nicht sehr viel fester verbunden als das zweitfolgende, das zweitvorangegangene soviel sich aus den wenigen Versuchen überhaupt schlieſsen läſst kaum so fest als das drittfolgende.

Könnte man für dieses, hier zunächst bei Silbenreihen gefundene Verhalten eine allgemeinere Geltung voraussetzen, so würden, wie ich glaube, die soeben angeführten, sich ent - gegenstehenden Erfahrungen ganz wohl verständlich. Wo eine Reihe nur aus zwei Gliedern besteht wie bei der Verbindung einer einfachen Bewegungsvorstellung mit der Vorstellung eines Lustgefühls da wird allerdings durch häufige Wiederholung das Endglied eine so starke Tendenz erlangen können, das Anfangsglied nach sich zu ziehen, daſs dieses thatsächlich eintritt. Denn hier ist für das zweite Glied die Herbeiführung des ihm vorangegangenen ersten das ein - zige, wofür es durch die häufigen Wiederholungen überhaupt eine Disposition hat empfangen können. Niemals aber wird, nach noch so häufiger Wiederholung einer längeren Reihe, bei Erzeugung eines mittleren Gliedes die Reihe nach rück - wärts ablaufen können. Denn wie leicht auch an das wieder -156 gekehrte Glied das unmittelbar vorangegangene sich knüpfen möge, das unmittelbar folgende tritt jedenfalls noch bei weitem leichter ein und muſs also beim Fernbleiben anderer Ein - flüsse den Sieg davon tragen. Wer daher das griechische Alphabet noch so lange auswendig lernt, wird nie dahin kommen, es ohne weiteres rückwärts hersagen zu können. Wohl aber wird er, falls er sich einfallen läſst, es eigens auch rückwärts zu lernen, dies jetzt voraussichtlich in merklich kürzerer Zeit bewerkstelligen, als vorher das Lernen in der gewöhnlichen Folge. Man wird nicht einwerfen, daſs man doch ein Gedicht oder eine Rede, die man auswendig weiſs, rückwärts nicht schneller lerne, als zuerst vorwärts. Denn hier werden bei dem Lernen der Umkehrung die zahllosen Bande des inneren Zusammenhangs vernichtet, auf deren Be - stehen das schnelle Lernen der sinnvollen Folge zu allermeist beruhte.

§ 41. Die Associationen der mittelbaren Folge in ihrer Ab - hängigkeit von der Anzahl der Wiederholungen.

Die durch häufige Wiederholungen geknüpfte Verbindung zwischen den unmittelbar auf einander folgenden Gliedern einer Vorstellungs - oder Silbenreihe ist eine Funktion der Anzahl jener Wiederholungen. Bei den eigens auf Ermitt - lung dieses Verhältnisses gerichteten Untersuchungen des VIten Abschnitts hatte sich innerhalb ziemlich weiter Grenzen annähernde Proportionalität herausgestellt zwischen der An - zahl der Wiederholungen und der durch sie bewirkten Stärke der Verknüpfung. Die letztere war dabei gemessen worden, ganz wie bei den Untersuchungen des gegenwärtigen Ab - schnitts, an der Gröſse der Arbeitsersparnis bei dem Wieder - lernen der verknüpften Reihen nach 24 Stunden.

157

Wenn nun durch die Wiederholungen auch zwischen den nicht unmittelbar auf einander folgenden Gliedern der Reihe Verknüpfungen geschaffen werden, so ist die Stärke dieser letzteren natürlich ebenfalls irgendwie abhängig von der An - zahl der Wiederholungen. Es fragt sich, in welcher Weise in diesem Falle die Abhängigkeit stattfindet. Wird hier eben - falls Proportionalität bestehen? Werden also die verschieden starken Fäden, welche die sämtlichen Glieder einer auswendig gelernten Reihe unter einander verbinden, doch alle in gleichem Verhältnis an Stärke zunehmen, wenn die Zahl der Wiederholungen gesteigert wird? Oder ist, ganz ebenso wie die Stärke der Fäden selbst, so auch die Art und Schnellig - keit ihrer Verstärkung eine verschiedene? Für selbstverständ - lich wird man bei dem Stande unseres Wissens weder die eine noch die andere dieser Möglichkeiten erklären können.

Zur Anbahnung einer Einsicht in das thatsächliche Ver - halten habe ich einige vorläufige Untersuchungen in folgender Weise angestellt. Je sechs 16 silbige Reihen wurden durch entweder 16 - oder 64 malige aufmerksame Wiederholung dem Gedächtnis eingeprägt. Nach 24 Stunden wurden gleich viele und gleich lange abgeleitete Reihen, die aus den jedesmal eingeprägten durch Überspringen von 1 Zwischensilbe ge - wonnen waren, bis zur erstmaligen Reproduktion auswendig gelernt. Die Methode der Ableitung war in diesem Falle, um die Untersuchungen noch anderweitig nutzbar zu machen, etwas verschieden von der oben (S. 133) beschriebenen. Es wurden nicht wie dort an die sämtlichen Silben, die in einer ursprünglichen Reihe an ungeraden Stellen standen, diejenigen unmittelbar angeschlossen, welche in derselben Reihe an den geraden Stellen gestanden hatten. Sondern erst wurden die sämtlichen Silben der ungeraden Stellen von zwei ursprüng - lichen Reihen zu einer neuen 16silbigen Reihe zusammen -158 gefaſst, dann die Silben der geraden Stellen derselben ur - sprünglichen Reihen zu einer 2ten neuen Reihe. Das Schema der abgeleiteten Reihen war also nicht, wie oben.

  • I1I3I5 .... I15 I2 I4 .... I16
  • II1II3II5 .... II15 II2 II4 .... II16

sondern vielmehr

  • I1I3I5 .... I15 I1 I3 .... I15
  • I2I4I6 .... I16 II2 II4 .... II16

Der Effekt der Ableitung resp. des Lernens der abge - leiteten Reihen kann, wie es scheint, durch diese geringe Än - derung nicht wesentlich tangiert werden. Hier wie bei der oben beschriebenen Ableitungsart werden Silben, die bei einer ersten Einprägung je durch eine Zwischensilbe von einander getrennt waren, 24 Stunden später in unmittelbarer Auf - einanderfolge auswendig gelernt.

Für jede Anzahl von einprägenden Wiederholungen habe ich 8 Doppelversuche angestellt, welche folgende Resultate ergaben:

Anzahl der Wiederholungen für das Einprägen jeder ein - zelnen der ursprünglichen Reihen

16 64

Anzahl der Sekunden für das Lernen der sechs abge - leiteten Reihen nach 24 Stunden (incl. Hersagen):

Bei der geringen Zahl der Versuche sind die resultieren - den Mittelwerte leider noch sehr ungenau; allein der159 allgemeine Charakter des Resultats würde derselbe bleiben, wenn man selbst jeden Wert um die ganze Breite seines wahrscheinlichen Fehlers für falsch hielte. Man erkennt diesen Charakter nach Zuziehung des oben (S. 76) mitgeteilten Wertes für das Auswendiglernen von sechs vorher nicht eingeprägten 16silbigen Reihen. Dasselbe fand statt in 1270 Sekunden. Nach vorausgegangener 16maliger Wiederholung der ursprüng - lichen Reihen wurden demnach die abgeleiteten Reihen ge - lernt mit einer Ersparnis von 100 Sekunden, nach voraus - gegangener 64maliger Wiederholung mit einer solchen von 161 Sekunden. Die vierfache Zahl von Wiederholungen be - wirkte nur wenig mehr als die anderthalbfache Ersparnis. Die Verstärkung der über ein Zwischenglied hinweg statt - findenden Associationen geschah also in den untersuchten Fällen keineswegs proportional der Anzahl der Wiederholungen, selbst nicht innerhalb der Grenzen, in denen dies für die Associationen von Glied zu Folgeglied merklich der Fall war. Vielmehr nahm die Wirkung der Wiederholungen für die Asso - ciationen der mittelbaren Folge erheblich früher und erheblich schneller ab als für diejenigen der unmittelbaren Folge.

Sehr gut paſst zu dem gefundenen Wertepaar die oben (S. 136,1) wie hier ohne Ausschluſs des Wissens ermittelte Zahl für das Lernen von abgeleiteten Reihen, die Tags vor - her in ihrer ursprünglichen Form bis zur erstmöglichen Re - produktion eingeprägt worden waren. Dieselbe ist allerdings unter etwas anderen Bedingungen erhalten worden. Erstens wurde auf die Einprägung nicht immer dieselbe Anzahl von Wiederholungen verwandt, sondern jedesmal so viele, wie für die Erzielung der erstmöglichen Reproduktion nötig waren, d. h. nicht genau, sondern durchschnittlich 32. Auſserdem war die Art der Ableitung der Reihen eine etwas andere, wie soeben auseinandergesetzt wurde. Allein diese Verschie -160 denheiten fallen bei Zahlen, die ohnedies nicht auf groſse Ge - nauigkeit Anspruch machen können, nicht sehr ins Gewicht. Ich ziehe diesen Wert also zur Vergleichung heran und auſser - dem die im VIten Abschnitt mitgeteilten Zahlen für den Ein - fluſs einprägender Wiederholungen auf das Wiederlernen der - selben, nicht umgeformten Reihen. Es ergiebt sich dann fol - gende Tabelle:

(Die Zahlen der vier mittleren Kolumnen bedeuten Se - kunden.)

Ich mache wiederholt darauf aufmerksam, daſs die vor - stehenden Zahlen zum Teil ziemlich unsicher sind und unter sehr eingeschränkten Bedingungen gewonnen wurden. Immer - hin wird es gestattet sein, das Bild, welches sie für eine wichtige Gruppe innerer Vorgänge nun doch als das wahr - scheinlichste erscheinen lassen, und welches eine bis dahin leere Stelle unseres Wissens mit einer ansprechenden und in sich geschlossenen Anschauung füllt, zusammenfassend und in hypothetischer Erweiterung zu skizzieren:

Bei der Einprägung und inneren Befestigung von Vor - stellungsreihen durch mehrfache Wiederholung derselben bil -161 den sich innere Verknüpfungen, Associationen, zwischen allen einzelnen Gliedern der Reihe. Das Wesen derselben besteht darin, daſs fernerhin Reihen aus derartig verknüpften Gliedern leichter, unter Überwindung eines geringeren Widerstandes, aufgenommen und reproduciert werden, als gleichartige Reihen aus bis dahin nicht verknüpften Gliedern, oder wie man auch sagen kann darin, daſs jedes Glied der Reihe gewisse Tendenzen erhält, bei seiner Wiederkehr ins Bewuſstsein auch die anderen herbeizuführen. Diese Verknüpfungen resp. Ten - denzen sind unter mehrfachen Gesichtspunkten von verschie - dener Stärke. Für entferntere Glieder der ursprünglichen Reihe sind sie schwächer als für nähere; für bestimmte Ent - fernungen nach rückwärts schwächer als für dieselben Ent - fernungen nach vorwärts. Bei zunehmender Anzahl der Wie - derholungen wächst die Stärke sämtlicher Verknüpfungen. Aber die von vornherein schon stärkeren Fäden zwischen den näheren Gliedern werden hierbei noch erheblich schneller verstärkt als die schwächeren Fäden zwischen entfernteren Gliedern. Je mehr die Zahl der Wiederholungen also steigt, desto stärker werden, absolut und relativ, die Verknüpfungen der unmittelbar auf einander folgenden Glieder, desto aus - schlieſslicher und maſsgebender wird die Tendenz jedes Glie - des, bei seiner eigenen Wiederkehr ins Bewuſstsein dasjenige nach sich zu ziehen, welches ihm bei den Wiederholungen immer zunächst gefolgt war.

§ 42. Indirekte Verstärkung von Associationen.

Ich schlieſse ab mit der Erwähnung eines merkwürdigen Verhaltens, welches sich bei den im vorigen Paragraphen mit - geteilten Untersuchungen nebenbei noch herausstellte. BeiEbbinghaus, Über das Gedächtnis. 11162der Unsicherheit der in Betracht kommenden Zahlen kann ich nur mit groſser Reserve darauf aufmerksam machen. Aber ganz übergehen möchte ich es nicht, weil es in sich wahrscheinlich ist und weil es, bei fernerer Bestätigung, ein charakteristisches Licht auf thatsächlich vorhandene, aber un - bewuſst bleibende innere Vorgänge werfen würde und auf die relative Unabhängigkeit derselben von bewuſsten Begleiterschei - nungen, auf die ich schon oben einmal hinwies (§ 24).

Die Ableitung der umgeformten Silbenreihen geschah, wie erwähnt, bei den zuletzt besprochenen Untersuchungen in der Weise, daſs aus zwei beliebig zusammengesetzten 16silbigen Reihen erst die sämtlichen Silben der ungeraden Stellen zu einer neuen Reihe vereinigt wurden, dann die sämtlichen Silben der geraden Stellen zu einer zweiten, un - mittelbar folgenden Reihe. Bei einer aus sechs Reihen dieser Art bestehenden Gruppe enthielt also die abgeleitete Reihe II lauter Silben, welche bei der vorangegangenen ersten Einprä - gung auf die entsprechenden Silben von Reihe I unmittelbar gefolgt waren, ebenso die abgeleitete Reihe IV im Verhältnis zu III, VI im Verhältnis zu V. Es zeigte sich nun und darin besteht eben das zu erwähnende eigentümliche Verhalten , daſs bei dem Auswendiglernen von derartig abgeleiteten Reihengruppen für die Reihen II, IV, VI im Durchschnitt etwas weniger Zeit erforderlich war als für die Reihen I, III, V, während bei allen anderen daraufhin untersuchten Reihen - gruppen (abgeleiteten oder nicht abgeleiteten) gerade das Um - gekehrte stattfand.

Ich belege zunächst das letztere Verhältnis mit einigen Zahlen.

Aus den Versuchen mit sechs 16silbigen Reihen, die zum erstenmal auswendig gelernt wurden, greife ich ganz beliebig je 10 auf einander folgende Versuche aus zwei verschiedenen163 Zeitperioden heraus, indem ich jedesmal die Zeiten für das Auswendiglernen der Reihen I, III, V und diejenigen für das Lernen von II, IV, VI zusammenrechne.

11*164

Die Summe der IIten, IVten und VIten Reihe ist hier, wie man sieht, im Durchschnitt der 10 Versuche beide Male erheblich gröſser als die Summe der Reihen I, III, V. Bei den einzelnen Versuchen sind die Differenzen allerdings von sehr verschiedenem Betrage; in je einem Falle haben sie so - gar erhebliche negative Werte; aber diese Schwankungen werden repräsentiert durch die groſsen wahrscheinlichen Fehler der Durchschnittsdifferenzen, und trotz der Gröſse dieser Fehler darf der positive Charakter der Differenzen als ziem - lich gesichert gelten.

In allen anderen untersuchten Fällen zeigte sich dasselbe: groſse Schwankungen der Differenzen bei den einzelnen Ver - suchen, aber bei Zusammenfassung mehrerer Versuche ein entschiedenes Überwiegen der Σ (II, IV, VI), meist allerdings von geringerem Betrage als bei den mitgeteilten beiden Ver - suchsreihen. So fand sich z. B. bei den 11 älteren Versuchen, in denen Reihen auswendig gelernt wurden, die durch Über - springen von 1 Zwischensilbe abgeleitet und Tags zuvor in ihrer ursprünglichen Form gelernt waren (S. 136, 1), 〈…〉 Bei den 6 späteren Versuchen derselben Art (S. 142, 1), 〈…〉 Bei den 10 Versuchen mit Reihen, die Tags vorher je 16 mal wiederholt worden waren (S. 75), 〈…〉 u. s. f. Eine einzelne der letztgenannten Zahlen hätte bei der Gröſse der wahrscheinlichen Fehler kaum irgendwelche Beweiskraft, durch ihre Üebereinstimmung hinsichtlich der Art der Diffe - renz gewinnen sie an Wahrscheinlichkeit, zumal dieses Ver - halten nach den Ergebnissen des § 18 ganz wohl verständlich ist. Dort hatte sich besonders deutlich bei 16silbigen Reihen gezeigt, daſs das Lernen der einzelnen Reihen in165 ziemlich regelmäſsigen Oscillationen geschieht, der Art, daſs auf eine verhältnismäſsig schnell gelernte Reihe eine verhält - nismäſsig langsam gelernte folgt und umgekehrt (S. 58 Fig. 3). Da nun die erste Reihe durchschnittlich die am schnellsten gelernte, die zweite fast die langsamst gelernte jedes Ver - suchs ist, so werden durch Zusammenfassung von I, III, V die durchschnittlichen Minima, durch Zusammenfassung von II, IV, VI die durchschnittlichen Maxima der gebrauchten Zei - ten vereinigt. Die Differenz Σ (II, IV, VI) Σ (I, III, V) wird also im allgemeinen positiv sein.

Hiernach muſs es in der That auffallen, daſs bei den beiden im vorigen Paragraphen besprochenen Versuchsreihen diese Differenz vielmehr ein negatives Vorzeichen hat.

1) Bei dem Lernen der abgeleiteten Reihen, die in der ursprünglichen Form Tags vorher 16mal wiederholt worden waren, fand sich:

2) Bei dem Lernen der abgeleiteten Reihen, die in der ursprünglichen Form Tags vorher 64mal wiederholt worden waren, fand sich:166

Die Schwankungen der Zahlen bei den einzelnen Ver - suchen sind auch hier sehr groſs, indes erkennt man auf den ersten Blick, ohne weitere Zusammenfassung, daſs eine starke Verschiebung der Differenzen in das Negative stattgefunden hat, die denn auch in den Durchschnittswerten zum Ausdruck kommt. Die Reihen II, IV, VI zusammengenommen, sind, entgegen dem sonst hervortretenden Verhalten, in etwas kür - zerer Zeit gelernt worden als die Reihen I, III, V.

Daſs diese Abweichung auf bloſsem Zufall beruhe, ist möglich, aber nicht sehr wahrscheinlich. Dazu sind die wahr - scheinlichen Fehler, obschon groſs, doch nicht groſs genug.

Viel eher würde ich fürchten, daſs hier eine Trübung der Resultate durch die mehrerwähnte Fehlerquelle anticipieren - der Erwartung vorliege (S. 38 ff. u. S. 140). Während der fortschreitenden Versuche glaubte ich allerdings mit wachsen - der Sicherheit den geringeren Zeitaufwand für das Lernen der Reihen II, IV, VI voraussehen zu können, und nur weil ich etwas Derartiges vermutete, hatte ich überhaupt die Ab - leitungsweise der umgeformten Reihen geändert. Ich kann sonach die Möglichkeit durchaus nicht ausschlieſsen, daſs ledig - lich auf Grund dieser geheimen Voraussetzung, in einer für167 das Bewuſstsein ganz unmerklichen Weise, bei dem Lernen von II, IV, VI eine gröſsere und bei dem Lernen von I, III, V eine geringere Anspannung der Aufmerksamkeit stattgefunden habe. Indes positiv als richtig behaupten läſst sich diese Vermutung auch nicht, und durch die Annahme, daſs der ganze gefundene Unterschied auf den Einfluſs dieser Fehler - quelle zurückzuführen sei, wird jedenfalls den unwillkür - lichen und unbemerkt bleibenden Akkomodationen der Auf - merksamkeit an eine geheime Erwartung eine ziemlich er - hebliche Leistung zugeschrieben.

Es bleibt demnach immerhin eine gewisse Wahrschein - lichkeit für die dritte Möglichkeit, daſs nämlich die gefundene Verschiedenheit in dem Charakter der Durchschnittsdifferenz wenigstens teilweise sachlich begründet sei, daſs das schnel - lere Lernen der abgeleiteten Reihen II, IV, VI eben durch die Art ihrer Ableitung verursacht werde.

Wie man sich diese Verursachung eigentlich zu den - ken habe, würde wohl nur durch Heranziehung physiologischer Vorstellungen, die noch erst der Bildung oder mindestens der Durchbildung bedürfen, deutlich zu machen sein. Bedient man sich der Sprache der Psychologie, so kann man sich, wie bei allem unbewuſsten Geschehen, nur uneigentlich und bildlich ausdrücken.

Durch das Auswendiglernen einer Reihe in der ursprüng - lichen Anordnung, so muſs man sagen, erhalten die einzelnen Silben ziemlich starke Tendenzen, bei ihrer eigenen Wieder - kehr ins Bewuſstsein die zunächst folgenden Silben nach sich zu ziehen. Werden also die Silben 1, 3, 5 u. s. w. wieder - erzeugt, so erhalten 2, 4, 6 u. s. w. gewisse Antriebe, eben - falls wieder hervor zu treten. Diese Antriebe sind bei weitem nicht stark genug, um ein bewuſst bemerkbares Geschehen, ein wirkliches Eintreten von 2, 4, 6 zuwege zu bringen. 168Letztere geraten nur in einen gewissen inneren Erregungszustand, es geschieht irgend etwas mit ihnen, was unterbleiben würde, wenn 1, 3, 5 nicht wiederholt wären. Sie verhalten sich ähn - lich wie ein vergessener Name, den man durch Besinnen wieder zu beleben sucht. Bewuſst ist dieser nicht vorhanden, man sucht ihn ja eben. In gewisser Weise aber, auf dem Wege zum Bewuſstsein sozusagen, ist er doch auch unleug - bar vorhanden. Denn wenn allerlei Vorstellungen wachgerufen werden, die mit früher dagewesenen Namen in Verbindung stehen, so vermag man meist anzugeben, ob sie mit dem jetzt gerade gesuchten und noch nicht gefundenen zusammenstim - men oder nicht. In einen ähnlichen wenig intensiven Er - regungszustand zwischen dem bewuſsten Hervortreten einer - seits und dem einfachen Nichtvorhandensein andrerseits werden also auch die Silben 2, 4, 6 versetzt durch die häufige Wie - derholung der mit ihnen vorher verbunden gewesenen 1, 3, 5. Und diese Erregung hat nun, so scheint es nach unseren Ver - suchen, eine ganz ähnliche Wirkung wie das wirkliche Be - wuſstwerden. Es bilden sich innere Verbindungen zwischen successive innerlich erregten Silben gerade wie zwischen successive bewuſst gemachten Silben, nur natürlich von geringerer Stärke; es spinnen sich geheime Fäden, welche die gar nicht bewuſst werdenden 2, 4, 6 aneinanderfesseln und der bewuſsten Erzeugung ihrer Aufeinanderfolge vor - arbeiten. Solche Fäden bestanden freilich schon in gröſserer Stärke von dem Lernen der ursprünglichen Reihe her; die gegenwärtige Wirkung wird sich also so äuſsern, daſs sie die bestehenden Verknüpfungen etwas verstärkt. Und das ist nichts-anderes als das oben Gefundene: sind zwei Silben - kombinationen 1, 3, 5 .. und 2, 4, 6 .. häufig zusammen bewuſst gemacht worden (Lernen der ursprünglichen Reihen), so hat hinterher das Lernen der zweiten Kombination (ab -169 geleitete Reihen II, IV, VI) bald nach dem Lernen der ersten (abgeleitete Reihen I, III, V) einen etwas geringeren Wider - stand zu überwinden als das letztere. Es findet eine gewisse Verstärkung von Associationen statt, nicht nur direkt, durch bewuſste Wiederholung der associierten Glieder, sondern auch indirekt, durch bewuſste Wiederholung anderer Glieder, mit denen jene ersten lediglich häufiger zusammen waren.

Diese Vorstellungsweise der Sache liegt ganz in der Konsequenz der oben (S. 150) erforderlich gewordenen An - nahme von der Bildung associativer Verknüpfungen über mehr Zwischenglieder hinweg, als sich in einem deutlichen Bewuſst - seinsakt auf einmal umfassen lassen. Sie würde sich frucht - bar machen lassen für die Erklärung mancher auffallenden Erscheinungen des Gedächtnis - und Erinnerungslebens, aber bei der Unsicherheit der Erfahrungsgrundlagen, die ich ihr gegenwärtig geben kann, nehme ich einstweilen davon Ab - stand, ihr weiter nachzugehen.

Pierer’sche Hofbuchdruckerei Stephan Geibel & Co. in Altenburg.

About this transcription

TextÜber das Gedächtnis
Author Hermann Ebbinghaus
Extent189 images; 34017 tokens; 5700 types; 250190 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationÜber das Gedächtnis Untersuchungen zur experimentellen Psychologie Hermann Ebbinghaus. . X, 169 S. Duncker & HumblotLeipzig1885.

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