PRIMS Full-text transcription (HTML)
[I]
Die Horen
eine Monatsſchrift
Dritter Band.
Tuͤbingenin derJ. G. Cottaiſchen Buchhandlung1795.
43

VIII Ueber das Naive.

Es giebt Augenblicke in unſerm Leben, wo wir der Na - tur in Pflanzen, Mineralen, Thieren, Landſchaften, ſo wie der menſchlichen Natur in Kindern, in den Sitten des Landvolks und der Urwelt, nicht weil ſie unſern Sin - nen wohlthut, auch nicht weil ſie unſern Verſtand oder Geſchmack befriedigt (von beyden kann oft das gerade Gegentheil ſtatt finden) ſondern bloß weil ſie Natur iſt, eine Art von Liebe und von ruͤhrender Achtung wid - men. Jeder feinere Menſch, dem es nicht ganz und gar an Empfindung fehlt, erfaͤhrt dieſes, wenn er im Freyen wandelt, wenn er auf dem Lande lebt, oder ſich bey den Denkmaͤlern der alten Zeiten verweilet, kurz, wenn er in kuͤnſtlichen Verhaͤltniſſen und Situationen mit dem An - blick der einfaͤltigen Natur uͤberraſcht wird. Dieſes, nicht ſelten zum Beduͤrfniß erhoͤhte Intereſſe iſt es, was vielen unſrer Liebhabereyen fuͤr Blumen und Thiere, fuͤr ein - fache Gaͤrten, fuͤr Spaziergaͤnge, fuͤr das Land und ſeine Bewohner, fuͤr manche Produkte des fernen Alterthums, u. dgl. zum Grund liegt; vorausgeſetzt, daß weder Af - fektation, noch ſonſt ein zufaͤlliges Intereſſe dabey im Spiele ſey. Dieſe Art des Intereſſe an der Natur findet aber nur unter zwey Bedingungen ſtatt. Fuͤrs erſte iſt es durchaus noͤthig, daß der Gegenſtand, der uns daſſelbe einfloͤßt, Natur ſey oder doch von uns dafuͤr gehalten44 werde; zweytens daß er (in weiteſter Bedeutung des Worts) naiv ſey, d. h. daß die Natur mit der Kunſt im Kon - traſte ſtehe und ſie beſchaͤme. Sobald das letzte zu dem erſten hinzukommt, und nicht eher, wird die Natur zum Naiven.

Natur in dieſer Betrachtungsart iſt uns nichts an - ders, als das freiwillige Daſeyn, das Beſtehen der Dinge durch ſich ſelbſt, die Exiſtenz nach eignen und unabaͤnder - lichen Geſetzen.

Dieſe Vorſtellung iſt ſchlechterdings noͤthig, wenn wir an dergleichen Erſcheinungen Intereſſe nehmen ſol - len. Koͤnnte man einer gemachten Blume den Schein der Natur, mit der vollkommenſten Taͤuſchung geben, koͤnnte man die Nachahmung des Naiven in den Sitten bis zur hoͤchſten Illuſion treiben, ſo wuͤrde die Entdeckung daß es Nachahmung ſey, das Gefuͤhl, von dem die Rede iſt, gaͤnzlich vernichten. *Kant, meines Wiſſens der erſte, der uͤber dieſes Phaͤnomen eigends zu reflektiren angefangen, erinnert, daß wenn wir von einem Menſchen den Schlag der Nachtigall bis zur hoͤch - ſten Taͤuſchung nachgeahmt faͤnden, und uns dem Eindruck deſſelben mit ganzer Ruͤhrung uͤberlieſſen, mit der Zerſtoͤ - rung dieſer Illuſion alle unſere Luſt verſchwinden wuͤrde. Man ſehe das Kapitel vom intellektuellen Inter - eſſe am Schoͤnen in der Critik der aͤſthetiſchen Urtheils - kraft. Wer den Verfaſſer nur als einen großen Denker bewundern gelernt hat, wird ſich freuen, hier auf eine Spur ſeines Herzens zu treffen, und ſich durch dieſe Ent -Daraus erhellet, daß dieſe45 Art des Wohlgefallens an der Natur kein aͤſthetiſches, ſondern ein moraliſches iſt; denn es wird durch eine Idee vermittelt, nicht unmittelbar durch Betrachtung erzeugt; auch richtet es ſich ganz und gar nicht nach der Schoͤn - heit der Formen. Was haͤtte auch eine unſcheinbare Blume, eine Quelle, ein bemooßter Stein, das Gezwit - ſcher der Voͤgel, das Summen der Bienen ꝛc. fuͤr ſich ſelbſt ſo gefaͤlliges fuͤr uns? Was koͤnnte ihm gar einen Anſpruch auf unſere Liebe geben? Es ſind nicht dieſe Ge - genſtaͤnde, es iſt eine durch ſie dargeſtellte Idee, was wir in ihnen lieben. Wir lieben in ihnen das ſtille ſchaf - fende Leben, das ruhige Wirken aus ſich ſelbſt, das Da - ſeyn nach eignen Geſetzen, die innere Nothwendigkeit, die ewige Einheit mit ſich ſelbſt.

Sie ſind, was wir waren; ſie ſind, was wir wieder werden ſollen. Wir waren Natur, wie ſie, und unſere Kultur ſoll uns, auf dem Wege der Vernunft und der Freyheit, zur Natur zuruͤckfuͤhren. Sie ſind alſo zugleich Darſtellung unſerer verlorenen Kindheit, die uns ewig das theuerſte bleibt; daher ſie uns mit ei - ner gewiſſen Wehmuth erfuͤllen. Zugleich ſind ſie Dar - ſtellungen unſerer hoͤchſten Vollendung im Ideale, daher ſie uns in eine erhabene Ruͤhrung verſetzen.

Aber ihre Vollkommenheit iſt nicht ihr Verdienſt, weil ſie nicht das Werk ihrer Wahl iſt. Sie gewaͤhren uns alſo die ganz eigene Luſt, daß ſie, ohne uns zu be -*deckung von dem hohen philoſophiſchen Beruf dieſes Man - nes (welcher ſchlechterdings beyde Eigenſchaften verbunden fodert) zu uͤberzeugen.46 ſchaͤmen, unſre Muſter ſind. Eine beſtaͤndige Goͤtterer - ſcheinung umgeben ſie uns, aber mehr erquickend als blendend. Was ihren Character ausmacht, iſt gerade das, was dem unſrigen zu ſeiner Vollendung mangelt; was uns von ihnen unterſcheidet, iſt gerade das, was ihnen ſelbſt zur Goͤttlichkeit fehlt. Wir ſind frey und ſie ſind nothwendig; wir wechſeln, ſie bleiben eins. Aber nur, wenn beydes ſich mit einander verbindet wenn der Wille das Geſetz der Nothwendigkeit frey befolgt und bey allem Wechſel der Phantaſie die Vernunft ihre Regel behauptet, geht das Goͤttliche oder das Ideal her - vor. Wir erblicken in ihnen alſo ewig das, was uns abgeht, aber wornach wir aufgefodert ſind zu ringen, und dem wir uns, wenn wir es gleich niemals errei - chen, doch in einem unendlichen Fortſchritte zu naͤhern hoffen duͤrfen. Wir erblicken in uns einen Vorzug, der ihnen fehlt, aber deſſen ſie entweder uͤberhaupt nie - mals, wie das vernunftloſe, oder nicht anders als in - dem ſie unſern Weg gehen, wie die Kindheit, theil - haftig werden koͤnnen. Sie verſchaffen uns daher den ſuͤſſeſten Genuß unſerer Menſchheit als Idee, ob ſie uns gleich in Ruͤckſicht auf jeden beſtimmten Zuſtand un - ſerer Menſchheit nothwendig demuͤthigen muͤſſen.

Da ſich dieſes Intereſſe fuͤr Natur auf eine Idee gruͤndet, ſo kann es ſich nur in Gemuͤthern zeigen, welche fuͤr Ideen empfaͤnglich ſind, d. h. in moraliſchen. Bey weitem die mehreſten Menſchen affektiren es bloß, und die Allgemeinheit dieſes ſentimentaliſchen Geſchmacks zu unſern Zeiten, welcher ſich beſonders ſeit der Erſcheinung gewiſſer Schriften, in empfindſamen Reiſen, dergleichen Gaͤrten, Spaziergaͤngen, und andere Liebhabereyen dieſer47 Art aͤuſſert, iſt noch ganz und gar kein Beweis fuͤr die Allgemeinheit dieſer Empfindungsweiſe. Doch wird die Natur auch auf den gefuͤhlloſeſten immer etwas von die - ſer Wirkung aͤuſſern, weil ſchon die, allen Menſchen ge - meine, Anlage zum Sittlichen dazu hinreichend iſt, und wir alle ohne Unterſchied, bey noch ſo großer Ent - fernung unſerer Thaten von der Einfalt und Wahrheit der Natur, in der Idee dazu hingetrieben werden. Beſonders ſtark und am allgemeinſten aͤuſſert ſich dieſe Empfindſamkeit fuͤr Natur bey Veranlaſſung ſolcher Ge - genſtaͤnde, welche in einer engern Verbindung mit uns ſtehen, und uns den Ruͤckblick auf uns ſelbſt und die Unnatur in uns naͤher legen, wie z. B. bey Kindern. Man irrt, wenn man glaubt, daß es bloß die Vorſtel - lung der Huͤlfloſigkeit ſey, welche macht, daß wir in ge - wiſſen Augenblicken mit ſoviel Ruͤhrung bey Kindern verweilen. Das mag bey denjenigen vielleicht der Fall ſeyn, welche der Schwaͤche gegenuͤber nie etwas anders als ihre eigene Ueberlegenheit zu empfinden pflegen. Aber das Gefuͤhl, von dem ich rede, (es findet nur in ganz eigenen moraliſchen Stimmungen ſtatt, und iſt nicht mit demjenigen zu verwechſeln, welches die froͤhliche Thaͤtig - keit der Kinder in uns erreget) iſt eher demuͤthigend als beguͤnſtigend fuͤr die Eigenliebe; und wenn ja ein Vor - zug dabey in Betrachtung kommt, ſo iſt dieſer wenigſtens nicht auf unſerer Seite. Nicht weil wir von der Hoͤhe unſerer Kraft und Vollkommenheit auf das Kind herab - ſehen, ſondern weil wir aus der Beſchraͤnktheit unſers Zuſtands, welche von der Beſtimmung, die wir ein - mal erlangt haben, unzertrennlich iſt, zu der graͤnzen - loſen Beſtimmbarkeit in dem Kinde und zu ſeiner reinen Unſchuld hinauf ſehen, gerathen wir in Ruͤhrung,48 und unſer Gefuͤhl in einem ſolchen Augenblick iſt zu ſichtbar mit einer gewißen Wehmuth gemiſcht, als daß ſich dieſe Quelle deſſelben verkennen lieſſe. In dem Kinde iſt die Anlage und Beſtimmung, in uns iſt die Erfuͤllung dargeſtellt, welche immer unendlich weit hinter jener zuruͤckbleibt. Das Kind iſt uns daher eine Vergegenwaͤrtigung des Ideals, nicht zwar des erfuͤll - ten, aber des aufgegebenen, und es iſt alſo keinesweges die Vorſtellung ſeiner Beduͤrftigkeit und Schranken, es iſt ganz im Gegentheil die Vorſtellung ſeiner reinen und freyen Kraft, ſeiner Integritaͤt, ſeiner Unendlichkeit, was uns ruͤhrt. Dem Menſchen von Sittlichkeit und Em - pfindung wird ein Kind deswegen ein heiliger Gegen - ſtand ſeyn, ein Gegenſtand nehmlich, der durch die Groͤße einer Idee jede Groͤße der Erfahrung vernichtet; und der, was er auch in der Beurtheilung des Verſtandes verlieren mag; in der Beurtheilung der Vernunft wie - der in reichem Maaße gewinnt.

Eben aus dieſem Widerſpruch zwiſchen dem Urtheile der Vernunft und des Verſtandes geht die ganze eigene Erſcheinung des gemiſchten Gefuͤhls hervor, welches das Naive der Denkart in uns erreget. Es verbindet die kindliche Einfalt mit der kindiſchen; durch die letztere giebt es dem Verſtand eine Bloͤße und bewirkt jenes Laͤcheln, wodurch wir unſre (theoretiſche) Ueberlegenheit zu erkennen geben. Sobald wir aber Urſache haben zu glauben, daß die kindiſche Einfalt zu - gleich eine kindliche ſey, daß folglich nicht Unverſtand, nicht theoretiſches Unvermoͤgen, ſondern eine hoͤhere praktiſche Staͤrke, ein Herz voll Unſchuld und Wahr - heit, die Quelle davon ſey, welches die Huͤlfe der Kunſt49 aus innrer Groͤße verſchmaͤhte, ſo iſt jener Triumph des Verſtandes vorbey, und der Spott uͤber die Einfaͤltigkeit geht in Bewunderung der hohen Einfachheit uͤber. Wir fuͤhlen uns genoͤthigt, den Gegenſtand zu achten, uͤber den wir vorher gelaͤchelt haben, und, indem wir zugleich einen Blick in uns ſelbſt werfen, uns zu beklagen, daß wir demſelben nicht aͤhnlich ſind. So entſteht die ganz eigene Erſcheinung eines Gefuͤhls, in welchem froͤh - licher Spott, Ehrfurcht und Wehmuth zuſammenflieſſen. *Kant in einer Anmerkung zu der Analytik des Erhabe - nen (Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft. S. 225. der erſten Auflage) unterſcheidet gleichfalls dieſe dreyerley In - gredienzien in dem Gefuͤhl des Naiven, aber er giebt davon eine andre Erklaͤrung. Etwas aus beidem (dem animali - ſchen Gefuͤhl des Vergnuͤgens und dem geiſtigen Gefuͤhl der Achtung) zuſammengeſetztes findet ſich in der Naivi - taͤt, die der Ausbruch der der Menſchheit urſpruͤnglich na - tuͤrlichen Aufrichtigkeit wider die zur andern Natur ge - wordene Verſtellungskunſt iſt. Man lacht uͤber die Ein - falt, die es noch nicht verſteht ſich zu verſtellen und er - freut ſich doch auch uͤber die Einfalt der Natur, die jener Kunſt hier einen Querſtrich ſpielt. Man erwartete die alltaͤgliche Sitte der gekuͤnſtelten und den ſchoͤnen Schein vorſichtig angelegten Aeuſſerung und ſiehe es iſt die unverdorbene ſchuldloſe Natur, die man anzutreffen gar nicht gewaͤrtig und der, ſo ſie bliken ließ, zu ent - bloͤßen auch nicht gemeynet war. Daß der ſchoͤne, aber falſche Schein, der gewoͤhnlich in unſerm Urtheile ſehr viel bedeutet, hier ploͤtzlich in Nichts verwandelt, daßDie Horen. 1795. 11tes St. 450Zum Naiven wird erfodert daß die Natur uͤber die* gleichſam der Schalk in uns ſelbſt bloß geſtellt wird, bringt die Bewegung des Gemuͤths nach zwey entgegen - geſetzten Richtungen nach einander hervor, die zugleich den Koͤrper heilſam ſchuͤttelt. Daß aber etwas, was un - endlich beſſer als alle angenommene Sitte iſt, die Lauter - keit der Denkungsart, (wenigſtens die Anlage dazu) doch nicht ganz in der menſchlichen Natur erloſchen iſt, miſcht Ernſt und Hochſchaͤtzung in dieſes Spiel der Urtheilskraft. Weil es aber nur eine kurze Zeit Erſcheinung iſt und die Deke der Verſtellungskunſt bald wieder vorgezogen wird, ſo mengt ſich zugleich ein Bedauren darunter, welches eine Ruͤhrung der Zaͤrtlichkeit iſt, die ſich als Spiel mit einem ſolchen gutherzigen Lachen ſehr wohl verbinden laͤßt, und auch wirklich damit gewoͤhnlich verbindet, zugleich auch die Verlegenheit deſſen, der den Stoff dazu hergiebt, daruͤber daß er noch nicht nach Menſchenweiſe gewitzigt iſt, zu verguͤten pflegt. Ich geſtehe, daß dieſe Erklaͤ - rungsart mich nicht ganz befriedigt, und zwar vorzuͤglich deswegen nicht, weil ſie von dem Naiven uͤberhaupt etwas behauptet, was hoͤchſtens von einer Species deſſelben, dem Naiven der Ueberraſchung, von welchem ich nachher reden werde, wahr iſt. Allerdings erregt es Lachen, wenn ſich jemand durch Naivheit bloß giebt, und in manchen Faͤllen mag dieſes Lachen aus einer vorhergegangenen Erwartung, die in Nichts aufgeloͤßt wird, flieſſen. Aber auch die Naiv - heit der edelſten Art, das Naive der Geſinnung erregt im - mer ein Laͤcheln, welches doch ſchwerlich eine in Nichts51 Kunſt den Sieg davon trage*Ich ſollte vielleicht ganz kurz ſagen: die Wahrheit uͤber die Verſtellung, aber der Begriff des Naiven ſcheint mir noch etwas mehr einzuſchließen, indem die Ein - fachheit uͤberhaupt, welche uͤber die Kuͤnſteley, und die natuͤrliche Freyheit, welche uͤber Steifheit und Zwang ſiegt, ein aͤhnliches Gefuͤhl in uns erregen. es geſchehe dieß nun wider Wiſſen und Willen der Perſon, oder mit voͤlligem Be - wußtſeyn derſelben. In dem erſten Fall iſt es das Naive der Ueberraſchung und beluſtigt; in dem andern iſt es das Naive der Geſinnung und ruͤhrt.

Bey dem Naiven der Ueberraſchung muß die Per - ſon moraliſch faͤhig ſeyn, die Natur zu verlaͤugnen; bey dem Naiven der Geſinnung darf ſie es nicht ſeyn,*aufgeloͤßte Erwartung zum Grunde hat, ſondern uͤberhaupt nur aus dem Kontraſt eines gewißen Betragens mit den einmal angenommenen und erwarteten Formen zu erklaͤren iſt. Auch zweifle ich, ob die Bedauerniß, welche ſich bey dem Naiven der letztern Art in unſre Empfindung miſcht, der naiven Perſon und nicht vielmehr uns ſelbſt oder viel - mehr der Menſchheit uͤberhaupt gilt, an deren Verfall wir bey einem ſolchen Anlaß erinnert werden. Es iſt zu offen - bar eine moraliſche Trauer, die einen edlern Gegenſtand haben muß, als die phyſiſchen Uebel, von denen die Auf - richtigkeit in dem gewoͤhnlichen Weltlauf bedrohet wird, und dieſer Gegenſtand kann nicht wohl ein anderer ſeyn, als der Verluſt der Wahrheit und Simplicitaͤt in der Menſchheit.52 doch duͤrfen wir ſie uns nicht als phyſiſch unfaͤhig dazu denken, wenn es als naiv auf uns wirken ſoll. Die Hand - lungen und Reden der Kinder geben uns daher auch nur ſolange den reinen Eindruk des Naiven, als wir uns ih - res Unvermoͤgens zur Kunſt nicht erinnern, und uͤber - haupt nur auf den Kontraſt ihrer Natuͤrlichkeit mit der Kuͤnſtlichkeit in uns Ruͤkſicht nehmen. Das Naive iſt eine Kindlichkeit, wo ſie nicht mehr erwartet wird, und kann eben deßwegen der wirklichen Kindheit in ſtrengſter Bedeutung nicht zugeſchrieben werden.

In beyden Faͤllen aber, beym Naiven der Ueberra - ſchung wie bey dem der Geſinnung muß die Natur Recht, die Kunſt aber Unrecht haben.

Erſt durch dieſe letztere Beſtimmung wird der Be - griff des Naiven vollendet. Der Affekt iſt auch Natur und die Regel der Anſtaͤndigkeit iſt etwas Kuͤnſtliches, dennoch iſt der Sieg des Affekts uͤber die Anſtaͤndigkeit nichts weniger als naiv. Siegt hingegen derſelbe Affekt uͤber die Kuͤnſteley, uͤber die falſche Anſtaͤndigkeit, uͤber die Verſtellung, ſo tragen wir kein Bedenken, es naiv zu nennen. *Ein Kind iſt ungezogen, wenn es aus Begierde, Leichtſinn, Ungeſtuͤm den Vorſchriften einer guten Erziehung entgegen - handelt, aber es iſt naiv, wenn es ſich von dem Manierier - ten einer unvernuͤnftigen Erziehung, von den ſteifen Stel - lungen des Tanzmeiſters u. dgl. aus freyer und geſunder Natur diſpenſiert. Daſſelbe findet auch bey dem Naiven in ganz uneigentlicher Bedeutung ſtatt, welches durch Ue -Es wird alſo erfodert, daß die Natur53 nicht durch ihre blinde Gewalt als dynamiſche, fon - dern daß ſie durch ihre Form als moraliſche Groͤße, kurz daß ſie nicht als Nothdurft, ſondern als innre Nothwendigkeit uͤber die Kunſt triumphiere. Nicht die Unzulaͤnglichkeit ſondern die Unſtatthaftigkeit der letztern muß der erſtern den Sieg verſchaft haben; denn jene iſt Mangel, und nichts, was aus Mangel ent - ſpringt, kann Achtung erzeugen. Zwar iſt es bey dem Naiven der Ueberraſchung immer die Uebermacht des Af - fekts und ein Mangel an Beſinnung, was die Natur bekennen macht; aber dieſer Mangel und jene Ueber - macht machen das Naive noch gar nicht aus, ſondern geben bloß Gelegenheit, daß die Natur ihrer mora - liſchen Beſchaffenheit, d. h. dem Geſetze der Uebereinſtimmung ungehindert folgt.

Das Naive der Ueberraſchung kann nur dem Men - ſchen und zwar dem Menſchen nur, inſofern er in dieſem Augenblicke nicht mehr reine und unſchuldige Natur iſt, zukommen. Es ſetzt einen Willen voraus, der mit dem was*bertragung von dem Menſchen auf das Vernunftloſe ent - ſtehet. Niemand wird den Anblick naiv finden, wenn in einem Garten, der ſchlecht gewartet wird, das Unkraut uͤberhand nimmt, aber es hat allerdings etwas naives, wenn der freye Wuchs hervorſtrebender Aeſte das muͤhſelige Werk der Scheere in einem franzoͤſiſchen Garten vernichtet. So iſt es ganz und gar nicht naiv, wenn ein geſchultes Pferd aus natuͤrlicher Plumpheit ſeine Lection ſchlecht macht, aber es hat etwas vom Naiven, wenn es dieſelbe aus na - tuͤrlicher Freyheit vergißt.54 die Natur auf ihre eigene Hand thut, nicht uͤbereinſtimmt. Eine ſolche Perſon wird, wenn man ſie zur Beſinnung bringt, uͤber ſich ſelbſt erſchrecken; die naiv geſinnte hingegen wird ſich uͤber die Menſchen und uͤber ihr Er - ſtaunen verwundern. Da alſo hier nicht der perſoͤnliche und moraliſche Charakter, ſondern bloß der, durch den Affekt freygelaſſene natuͤrliche Charakter die Wahrheit be - kennt, ſo machen wir dem Menſchen aus dieſer Aufrich - tigkeit kein Verdienſt und unſer Lachen iſt verdienter Spott, der durch keine perſoͤnliche Hochſchaͤtzung deſſelben zuruͤck - gehalten wird. Weil es aber doch auch hier die Auf - richtigkeit der Natur iſt, die durch den Schleier der Falſch - heit hindurch bricht, ſo verbindet ſich eine Zufriedenheit hoͤherer Art, mit der Schadenfreude, einen Menſchen er - tappt zu haben; denn die Natur im Gegenſatz gegen die Kuͤnſteley und die Wahrheit im Gegenſatz gegen den Be - trug muß jederzeit Achtung erregen. Wir empfinden alſo auch uͤber das Naive der Ueberraſchung ein wirklich mo - raliſches Vergnuͤgen, obgleich nicht uͤber einen morali - ſchen Gegenſtand. *Da das Naive bloß auf der Form beruht, wie etwas ge - than oder geſagt wird, ſo verſchwindet uns dieſe Eigenſchaft aus den Augen, ſobald die Sache ſelbſt entweder durch ihre Urſachen oder durch ihre Folgen einen uͤberwiegenden oder gar widerſprechenden Eindruck macht. Durch eine Naivheit dieſer Art kann auch ein Verbrechen entdeckt werden, aber denn haben wir weder die Ruhe noch die Zeit, unſre Aufmerkſamkeit auf die Form der Entdeckung zu richten, und der Abſcheu uͤber den perſoͤnlichen Charak - ter verſchlingt das Wohlgefallen an dem natuͤrlichen. So

55

Bey dem Naiven der Ueberraſchung achten wir zwar immer die Natur, weil wir die Wahrheit achten muͤſ - ſen; bey dem Naiven der Geſinnung achten wir hingegen die Perſon, und genieſſen alſo nicht bloß ein morali - ſches Vergnuͤgen ſondern auch uͤber einen moraliſchen Ge - genſtand. In dem einen wie in dem andern Falle hat die Natur Recht, daß ſie die Wahrheit ſagt; aber in dem letztern Fall hat die Natur nicht bloß Recht, ſondern die Perſon hat auch Ehre. In dem erſten Falle ge - reicht die Aufrichtigkeit der Natur der Perſon immer zur Schande, weil ſie unfreywillig iſt; in dem zweyten ge - reicht ſie ihr immer zum Verdienſt, geſetzt auch, daß das - jenige, was ſie ausſagt, ihr Schande braͤchte.

Wir ſchreiben einem Menſchen eine naive Geſinnung zu, wenn er in ſeinen Urtheilen von den Dingen ihre gekuͤnſtelten und geſuchten Verhaͤltniße uͤberſieht und ſich bloß an die einfache Natur haͤlt. Alles was innerhalb der geſunden Natur davon geurtheilt werden kann, fo - dern wir von ihm, und erlaſſen ihm ſchlechterdings nur das, was eine Entfernung von der Natur, es ſey nun im Denken oder im Empfinden, wenigſtens Bekanntſchaft derſelben vorausſetzt.

Wenn ein Vater ſeinem Kinde erzaͤhlt, daß dieſer oder*wie uns das empoͤrte Gefuͤhl die moraliſche Freude an der Aufrichtigkeit der Natur raubt, ſobald wir durch eine Naivheit ein Verbrechen erfahren; eben ſo erſtickt das erregte Mitleiden unſere Schadenfreude ſobald wir jemand durch ſeine Naivheit in Gefahr geſetzt ſehen.56 jener Mann fuͤr Armuth verſchmachte, und das Kind hingeht, und dem armen Mann ſeines Vaters Geldboͤrſe zutraͤgt, ſo iſt dieſe Handlung naiv; denn die geſunde Natur handelte aus dem Kinde, und in einer Welt, wo die geſunde Natur herrſchte, wuͤrde es vollkommen recht gehabt haben, ſo zu verfahren. Es ſieht bloß auf das Beduͤrfniß, und auf das naͤchſte Mittel es zu befriedigen; eine ſolche Ausdehnung des Eigenthumsrechtes, wobey ein Theil der Menſchen zu Grunde gehen kann, iſt in der bloßen Natur nicht gegruͤndet. Die Handlung des Kindes iſt alſo eine Beſchaͤmung der wirklichen Welt, und das geſteht auch unſer Herz durch das Wohlgefallen, wel - ches es uͤber jene Handlung empfindet.

Wenn ein Menſch ohne Weltkenntniß, ſonſt aber von gutem Verſtande, einem andern, der ihn betruͤgt, ſich aber geſchickt zu verſtellen weiß, ſeine Geheimniſſe beich - tet, und ihm durch ſeine Aufrichtigkeit ſelbſt die Mit - tel leyht ihm zu ſchaden, ſo finden wir das naiv. Wir lachen ihn aus, aber koͤnnen uns doch nicht erwehren, ihn deßwegen hochzuſchaͤtzen. Denn ſein Vertrauen auf den andern quillt aus der Redlichkeit ſeiner eigenen Geſin - nungen; wenigſtens iſt er nur in ſo fern naiv, als dieſes der Fall iſt.

Das Naive der Denkart kann daher niemals eine Ei - genſchaft verdorbener Menſchen ſeyn, ſondern nur Kin - dern und kindlich geſinnten Menſchen zukommen. Dieſe letztern handeln und denken oft mitten unter den gekuͤn - ſtelten Verhaͤltniſſen der großen Welt naiv; ſie vergeſſen aus eigener ſchoͤner Menſchlichkeit, daß ſie es mit einer verderbten Welt zu thun haben, und betragen ſich ſelbſt57 an den Hoͤfen der Koͤnige mit einer Ingenuitaͤt und Un - ſchuld, wie man ſie nur in einer Schaͤferwelt findet.

Es iſt uͤbrigens gar nicht ſo leicht, die kindiſche Un - ſchuld von der kindlichen immer richtig zu unterſcheiden, indem es Handlungen giebt, welche auf der aͤuſerſten Grenze zwiſchen beyden ſchweben, und bey denen wir ſchlechterdings im Zweifel gelaſſen werden, ob wir die Ein - faͤltigkeit belachen oder die edle Einfalt hochſchaͤtzen ſollen. Ein ſehr merkwuͤrdiges Beyſpiel dieſer Art findet man in der Regierungsgeſchichte des Pabſtes Adrian des Sechſten, die uns Herr Schroͤckh mit der ihm eigenen Gruͤndlichkeit und pragmatiſchen Wahrheit beſchrieben hat. Dieſer Pabſt, ein Niederlaͤnder von Geburt, ver - waltete das Pontifikat in einem der[kritiſchſten] Augenblicke fuͤr die Hierarchie, wo eine erbitterte Parthey die Bloͤßen der roͤmiſchen Kirche ohne alle Schonung aufdeckte, und die Gegenparthey im hoͤchſten Grad intereſſiert war, ſie zuzudecken. Was der wahrhaft naive Charakter, wenn ja ein ſolcher ſich auf den Stuhl des heiligen Peters ver - irrte, in dieſem Falle zu thun hatte iſt keine Frage; wohl aber wie weit eine ſolche Naivitaͤt der Geſinnung mit der Rolle eines Pabſtes vertraͤglich ſeyn moͤchte. Dieß war es uͤbrigens, was die Vorgaͤnger und die Nachfolger Adri - ans in die geringſte Verlegenheit ſetzte. Mit Gleichfoͤrmig - keit befolgten ſie das einmal angenommene roͤmiſche Syſtem, uͤberall nichts einzuraͤumen. Aber Adrian hatte wirklich den geraden Charakter ſeiner Nation, und die Unſchuld ſeines ehemaligen Standes. Aus der engen Sphaͤre des Gelehrten war er zu ſeinem erhabenen Poſten emporge - ſtiegen, und ſelbſt auf der Hoͤhe ſeiner neuen Wuͤrde je - nem einfachen Charakter nicht untreu geworden. Die58 Mißbraͤuche in der Kirche ruͤhrten ihn, und er war viel zu redlich, oͤffentlich zu dißimulieren, was er im ſtillen ſich eingeſtand. Dieſer Denkart gemaͤß ließ er ſich in der In - ſtruktion, die er ſeinem Legaten nach Deutſchland mit - gab, zu Geſtaͤndnißen verleiten, die noch bey keinem Pab - ſte erhoͤrt geweſen waren, und den Grundſaͤtzen dieſes Hofes ſchnurgerade zuwiderliefen. Wir wiſſen es wohl, hieß es unter andern, daß an dieſem heiligen Stuhl ſchon ſeit mehrern Jahren viel Abſcheuliches vorgegan - gen; kein Wunder, wenn ſich der kranke Zuſtand von dem Haupt auf die Glieder, von dem Pabſt auf die Praͤlaten fortgeerbt hat. Wir alle ſind abgewichen, und ſchon ſeit lange iſt keiner unter uns geweſen, der et - was Gutes gethan haͤtte auch nicht Einer. Wieder anderswo befiehlt er dem Legaten in Seinem Nahmen zu erklaͤren, daß er, Adrian, wegen deſſen, was vor ihm von den Paͤbſten geſchehen, nicht duͤrfe getadelt werden, und daß dergleichen Ausſchweifungen, auch da er noch in einem geringen Stande gelebt, ihm immer mißfal - len haͤtten u. ſ. f. Man kann leicht denken, wie eine ſolche Naivitaͤt des Pabſtes von der roͤmiſchen Kleriſey mag aufgenommen worden ſeyn; das wenigſte, was man ihm Schuld gab war, daß er die Kirche an die Ketzer verrathen habe. Dieſer hoͤchſt unkluge Schritt des Pabſtes wuͤrde indeſſen unſerer ganzen Achtung und Bewunderung werth ſeyn, wenn wir uns nur uͤberzeugen koͤnnten, daß er wirklich naiv geweſen d. h. daß er ihm bloß durch die natuͤrliche Wahrheit ſeines Charakters ohne alle Ruͤck - ſicht auf die moͤglichen Folgen abgenoͤthiget worden ſey, und daß er ihn nicht weniger gethan haben wuͤrde, wenn er die begangene Sottiſe in ihrem ganzen Umfang einge - ſehen haͤtte. Aber wir haben vielmehr Urſache zu glau -59 ben, daß er dieſen Schritt fuͤr gar nicht ſo unpolitiſch hielt, und in ſeiner Unſchuld ſo weit gieng zu hoffen, durch ſeine Nachgiebigkeit gegen die Gegner etwas ſehr wichtiges fuͤr den Vortheil ſeiner Kirche gewonnen zu ha - ben. Er bildete ſich nicht bloß ein, dieſen Schritt als redlicher Mann thun zu muͤſſen, ſondern ihn auch als Pabſt verantworten zu koͤnnen, und indem er vergaß, daß das kuͤnſtlichſte aller Gebaͤude ſchlechterdings nur durch eine fortgeſetzte Verlaͤugnung der Wahrheit erhalten wer - den koͤnnte, begieng er den unverzeyhlichen Fehler, Ver - haltungsregeln, die in natuͤrlichen Verhaͤltniſſen ſich be - waͤhrt haben mochten, in einer ganz entgegengeſetzten La - ge zu befolgen. Dieß veraͤndert allerdings unſer Urtheil ſehr; und ob wir gleich der Redlichkeit des Herzens, aus dem jene Handlung floß, unſere Achtung nicht verſagen koͤnnen, ſo wird dieſe letztere nicht wenig durch die Be - trachtung geſchwaͤcht, daß die Natur an der Kunſt und das Herz an dem Kopf einen zu ſchwachen Gegner gehabt habe.

Naiv muß jedes wahre Genie ſeyn, oder es iſt keines. Seine Naivheit allein macht es zum Genie, und was es im Intellektuellen und Aeſthetiſchen iſt, kann es im Moraliſchen nicht verlaͤugnen. Unbekannt mit den Re - geln, den Kruͤcken der Schwachheit und den Zuchtmei - ſtern der Verkehrtheit, bloß von der Natur oder dem In - ſtinkt, ſeinem ſchuͤtzenden Engel, geleitet, geht es ruhig und ſicher durch alle Schlingen des falſchen Geſchmackes, in welchen, wenn es nicht ſo klug iſt, ſie ſchon von weitem zu vermeiden, das Nichtgenie unausbleiblich verſtrickt wird. Nur dem Genie iſt es gegeben, auſſerhalb des Be - kannten noch immer zu Hauſe zu ſeyn, und die Natur zu er -60 weitern, ohne uͤber ſie hinauszugehen. Zwar be - gegnet letzteres zuweilen auch den groͤßten Genies, aber nur, weil auch dieſe ihre phantaſtiſchen Augenblicke ha - ben, wo die ſchuͤtzende Natur ſie verlaͤßt, weil die Macht des Beyſpiels ſie hinreißt, oder der verderbte Geſchmack ihrer Zeit ſie verleitet.

Die verwickeltſten Aufgaben muß das Genie mit an - ſpruchloſer Simplicitaͤt und Leichtigkeit loͤſen; das Ey des Columbus gilt von jeder genialiſchen Entſcheidung. Dadurch allein legitimiert es ſich als Genie, daß es durch Einfalt uͤber die verwickelte Kunſt triumphiert. Es ver - faͤhrt nicht nach erkannten Prinzipien ſondern nach Ein - faͤllen und Gefuͤhlen; aber ſeine Einfaͤlle ſind Eingebun - gen eines Gottes (alles was die geſunde Natur thut iſt goͤttlich) ſeine Gefuͤhle ſind Geſetze fuͤr alle Zeiten und fuͤr alle Geſchlechter der Menſchen.

Den kindlichen Charakter, den das Genie in ſeinen Werken abdruͤckt, zeigt es auch in ſeinem Privat-Leben und in ſeinen Sitten. Es iſt ſchaamhaft, weil die Natur dieſes immer iſt; aber es iſt nicht decent, weil nur die Verderbniß decent iſt. Es iſt verſtaͤndig, denn die Natur kann nie das Gegentheil ſeyn; aber es iſt nicht liſtig, denn das kann nur die Kunſt ſeyn. Es iſt ſei - nem Charakter und ſeinen Neigungen treu, aber nicht ſowohl weil es Grundſaͤtze hat, als weil die Natur bey allem Schwanken immer wieder in die vorige Stelle ruͤckt, immer das alte Beduͤrfniß zuruͤckbringt. Es iſt beſcheiden, ja bloͤde, weil das Genie immer ſich ſelbſt ein Geheimniß bleibt, aber es iſt nicht aͤngſtlich, weil es die Gefahren des Weges nicht kennt, den es wandelt. Wir61 wiſſen wenig von dem Privatleben der groͤßten Genies, aber auch das wenige, was uns z. B. von Sophokles, von Archimed, von Hippokrates, und aus neue - ren Zeiten von Arioſt, Dante und Taſſo, von Ra - phael, von Albrecht, Duͤrer, Zervantes, Sha - keſpear, von Fielding, Sterne u. a. aufbewahrt worden iſt, beſtaͤtigt dieſe Behauptung.

Ja, was noch weit mehr Schwuͤrigkeit zu haben ſcheint, ſelbſt der große Staatsmann und Feldherr, wer - den ſobald ſie durch ihr Genie groß ſind einen naiven Cha - rakter zeigen. Ich will hier unter den Alten nur an Epa - minondas und Julius Caͤſar, unter den Neuern nur an Heinrich IV von Frankreich, Guſtav Adolph von Schweden und den Czar Peter den Großen er - innern. Der Herzog von Marlborough, Tuͤren - ne, Vendome zeigen uns alle dieſen Charakter. Dem andern Geſchlecht hat die Natur in dem naiven Charak - ter ſeine hoͤchſte Vollkommenheit angewieſen. Nach nichts ringt die weibliche Gefallſucht ſo ſehr als nach dem Schein des Naiven; Beweis genug, wenn man auch ſonſt keinen haͤtte, daß die groͤßte Macht des Geſchlechts auf dieſer Eigenſchaft beruhet. Weil aber die herrſchen - den Grundſaͤtze bey der weiblichen Erziehung mit dieſem Charakter in ewigem Streit liegen, ſo iſt es dem Weibe im moraliſchen eben ſo ſchwer als dem Mann im intellek - tuellen mit den Vortheilen der guten Erziehung jenes herr - liche Geſchenk der Natur unverloren zu behalten; und die Frau, die mit einem geſchickten Betragen fuͤr die große Welt dieſe Naivheit der Sitten verknuͤpft, iſt eben ſo hoch - achtungswuͤrdig als der Gelehrte, der mit der ganzen Stren - ge der Schule Genialiſche Freyheit des Denkens verbindet.

62

Aus der naiven Denkart fließt nothwendiger weiſe auch ein naiver Ausdruck ſowohl in Worten als Bewe - gungen, und er iſt das wichtigſte Beſtandſtuͤck der Grazie. Mit dieſer naiven Anmuth druͤckt das Genie ſeine erha - benſten und tiefſten Gedanken aus; es ſind Goͤtterſpruͤ - che aus dem Mund eines Kindes. Wenn der Schul - verſtand, immer vor Irrthum bange, ſeine Worte wie ſeine Begriffe an das Kreuz der Grammatik und Logik ſchlaͤgt, hart und ſteif iſt, um ja nicht unbeſtimmt zu ſeyn, viele Worte macht, um ja nicht zu viel zu ſagen, und dem Gedanken, damit er ja den Unvorſichtigen nicht ſchneide, lieber die Kraft und die Schaͤrfe nimmt, ſo giebt das Genie dem ſeinigen mit einem einzigen gluͤcklichen Pinſel - ſtrich einen ewig beſtimmten, feſten und dennoch ganz freyen Umriß. Wenn dort das Zeichen dem Bezeichne - ten ewig heterogen und fremd bleibt, ſo ſpringt hier wie durch innere Nothwendigkeit die Sprache aus dem Gedan - ken hervor, und iſt ſo ſehr eins mit demſelben, daß ſelbſt unter der koͤrperlichen Huͤlle der Geiſt wie entbloͤßet er - ſcheint. Eine ſolche Art des Ausdrucks, wo das Zeichen ganz in dem Bezeichneten verſchwindet, und wo die Spra - che den Gedanken, den ſie ausdruͤckt, noch gleichſam na - ckend laͤßt, da ihn die andre nie darſtellen kann, ohne ihn zugleich zu verhuͤllen, iſt es, was man in der Schreibart vorzugsweiſe genialiſch und geiſtreich nennt.

Frey und natuͤrlich, wie das Genie in ſeinen Geiſtes - werken, druͤckt ſich die Unſchuld des Herzens im lebendigen Umgang aus. Bekanntlich iſt man im geſellſchaftlichen Leben von der Simplicitaͤt und ſtrengen Wahrheit des Aus - drucks in demſelben Verhaͤltniß, wie von der Einfalt der Geſinnungen abgekommen, und die leicht zu verwundende63 Schuld ſo wie die leicht zu verfuͤhrende Einbildungskraft haben einen aͤngſtlichen Anſtand nothwendig gemacht. Oh - ne falſch zu ſeyn redet man oͤfters anders, als man denkt; man muß Umſchweife nehmen, um Dinge zu ſagen, die nur einer kranken Eigenliebe Schmerz bereiten, nur einer verderbten Phantaſie Gefahr bringen koͤnnen. Eine Un - kunde dieſer konventionellen Geſetze, verbunden mit natuͤr - licher Aufrichtigkeit, welche jede Kruͤmme und jeden Schein von Falſchheit verachtet, (nicht Roheit, welche ſich dar - uͤber, weil ſie ihr laͤſtig ſind, hinwegſetzt) erzeugen eine Naivheit des Ausdrucks im Umgang, welche darinn be - ſteht, Dinge, die man entweder gar nicht oder nur kuͤnſt - lich bezeichnen darf, mit ihrem rechten Nahmen und auf dem kuͤrzeſten Wege zu benennen. Von der Art ſind die ge - woͤhnlichen Ausdruͤcke der Kinder. Sie erregen Lachen durch ihren Kontraſt mit den Sitten, doch wird man ſich immer im Herzen geſtehen, daß das Kind recht habe.

Das Naive der Geſinnung kann zwar, eigentlich ge - nommen, auch nur dem Menſchen als einem der Natur nicht ſchlechterdings unterworfenen Weſen beygelegt wer - den, obgleich nur inſofern als wirklich noch die reine Na - tur aus ihm handelt; aber durch einen Effekt der poetiſie - renden Einbildungskraft wird es oͤfters von dem Vernuͤnf - tigen auf das Vernunftloſe uͤbergetragen. So legen wir oͤfters einem Thiere, einer Landſchaft, einem Gebaͤude, ja der Natur uͤberhaupt, im Gegenſatz gegen die Willkuͤhr und die phantaſtiſchen Begriffe des Menſchen einen nai - ven Charakter bey. Dieß erfodert aber immer, daß wir dem Willenloſen in unſern Gedanken einen Willen leyhen, und auf die ſtrenge Richtung deſſelben nach dem Geſetz der Nothwendigkeit merken. Die Unzufriedenheit uͤber64 unſere eigene ſchlecht gebrauchte moraliſche Freyheit und uͤber die in unſerm Handeln vermißte ſittliche Harmonie fuͤhrt leicht eine ſolche Stimmung herbey, in der wir das Vernunftloſe wie eine Perſon anreden, und demſel - ben, als wenn es wirklich mit einer Verſuchung zum Gegentheil zu kaͤmpfen gehabt haͤtte, ſe[i]ne ewige Gleichfoͤrmigkeit zum Verdienſt machen, ſeine ruhige Haltung beneiden. Es ſteht uns in einem ſolchen Augen - blicke wohl an, daß wir das Praͤrogativ unſerer Vernunft fuͤr einen Fluch und fuͤr ein Uebel halten, und uͤber dem lebhaften Gefuͤhl der Unvollkommenheit unſeres wirklichen Leiſtens die Gerechtigkeit gegen unſre Anlage und Be - ſtimmung aus den Augen ſetzen.

Wir ſehen alsdann in der unvernuͤnftigen Natur nur eine gluͤcklichere Schweſter, die in dem muͤtterlichen Hauſe zuruͤckblieb, aus welchem wir im Uebermuth unſerer Frey - heit heraus in die Fremde ſtuͤrmten. Mit ſchmerzlichem Verlangen ſehnen wir uns dahin zuruͤck, ſobald wir an - gefangen, die Drangſale der Kultur zu erfahren und hoͤ - ren im fernen Auslande der Kunſt der Mutter ruͤhrende Stimme. Solange wir bloße Naturkinder waren, wa - ren wir gluͤcklich und vollkommen; wir ſind frey gewor - den, und haben beydes verloren. Daraus entſpringt eine doppelte und ſehr ungleiche Sehnſucht nach der Natur; eine Sehnſucht nach ihrer Gluͤckſeligkeit, eine Sehn - ſucht nach ihrer Vollkommenheit. Den Verluſt der erſten beklagt nur der ſinnliche Menſch; um den Verluſt der andern kann nur der moraliſche trauren.

Frage dich alſo wohl, empfindſamer Freund der Na - tur, ob deine Traͤgheit nach ihrer Ruhe, ob deine be - leidigte Sittlichkeit nach ihrer Uebereinſtimmung ſchmach -65 tet? Frage dich wohl, wenn die Kunſt dich aneckelt und die Mißbraͤuche in der Geſellſchaft dich zu der lebloſen Natur in die Einſamkeit treiben, ob es ihre Beraubun - gen, ihre Laſten, ihre Muͤhſeligkeiten, oder ob es ihre moraliſche Anarchie, ihre Willkuͤr, ihre Unordnungen ſind, die du an ihr verabſcheuſt? In jene muß dein Muth ſich mit Freuden ſtuͤrzen und dein Erſatz muß die Freyheit ſelbſt ſeyn, aus der ſie flieſſen. Wohl darfſt du dir das ruhige Naturgluͤck zum Ziel in der Ferne auſſtecken, aber nur jenes, welches der Preiß deiner Wuͤr - digkeit iſt. Alſo nichts von Klagen uͤber die Erſchwerung des Lebens, uͤber die Ungleichheit der Konditionen, uͤber den Druck der Verhaͤltniſſe, uͤber die Unſicherheit des Beſitzes, uͤber Undank, Unterdruͤckung, Verfolgung; allen Uebeln der Kultur mußt du mit freyer Reſigna - tion dich unterwerfen, mußt ſie als die Naturbedingun - gen des Einzig guten reſpektieren; nur das Boͤſe derſel - ben mußt du, aber nicht bloß mit ſchlaffen Thraͤnen, be - klagen. Sorge vielmehr dafuͤr; daß du ſelbſt unter jenen Befleckungen rein, unter jener Knechtſchaft frey, unter jenem launiſchen Wechſel beſtaͤndig, unter jener Anarchie geſetzmaͤßig handelſt. Fuͤrchte dich nicht vor der Verwir - rung auſſer dir, aber vor der Verwirrung in dir; ſtrebe nach Einheit, aber ſuche ſie nicht in der Einfoͤrmigkeit; ſtrebe nach Ruhe, aber durch das Gleichgewicht, nicht durch den Stillſtand deiner Thaͤtigkeit. Jene Natur, die du dem Vernunftloſen beneideſt, iſt keiner Achtung, keiner Sehnſucht werth. Sie liegt hinter dir, ſie muß ewig hinter dir liegen. Verlaſſen von der Leiter, die dich trug, bleibt dir jetzt keine andere Wahl mehr, als mit freyem Bewußtſeyn und Willen das Geſetz zu ergrei - fen, oder rettungslos in eine bodenloſe Tiefe zu fallen.

Die Horen. 1795. 11tes St. 566

Aber wenn du uͤber das verlorene Gluͤck der Natur getroͤſtet biſt, ſo laß ihre Vollkommenheit deinem Herzen zum Muſter dienen. Trittſt du heraus zu ihr aus deinem kuͤnſtlichen Kreis, ſteht ſie vor dir in ihrer großen Ruhe, in ihrer naiven Schoͤnheit, in ihrer kind - lichen Unſchuld und Einfalt; dann verweile bey dieſem Bilde, pflege dieſes Gefuͤhl, es iſt deiner herrlichſten Menſchheit wuͤrdig. Laß dir nicht mehr einfallen, mit ihr tauſchen zu wollen, aber nimm ſie in dich auf und ſtrebe, ihren unendlichen Vorzug mit deinem eigenen unendlichen Praͤrogativ zu vermaͤhlen, und aus beydem das Goͤttliche zu erzeugen. Sie umgebe dich wie eine liebliche Idylle, in der du dich ſelbſt immer wieder - findeſt, aus den Verirrungen der Kunſt, bey der du Muth und neues Vertrauen ſammelſt zum Laufe und die Flamme des Ideals, die in den Stuͤrmen des Lebens ſo leicht erliſcht, in deinem Herzen von neuem entzuͤndeſt.

Wenn man ſich der ſchoͤnen Natur erinnert, welche die alten Griechen umgab, wenn man nachdenkt, wie vertraut dieſes Volk unter ſeinem gluͤcklichen Himmel mit der freyen Natur leben konnte, wie ſehr viel naͤher ſeine Vorſtellungsart, ſeine Empfindungsweiſe, ſeine Sitten der einfaͤltigen Natur lagen, und welch ein treuer Ab - druck derſelben ſeine Dichterwerke ſind, ſo muß die Be - merkung befremden, daß man ſo wenige Spuren von dem ſentimentaliſchen Intereſſe, mit welchem wir Neuere an Naturſcenen und an Naturcharaktere hangen koͤnnen, bey demſelben antrift. Der Grieche iſt zwar im hoͤchſten Grade genau, treu, umſtaͤndlich in Beſchreibung derſel - ben, aber doch gerade nicht mehr und mit keinem vor - zuͤglicheren Herzensantheil, als er es auch in Beſchrei -67 bung eines Anzuges, eines Schildes, einer Ruͤſtung, eines Hausgeraͤthes oder irgend eines mechaniſchen Pro - duktes iſt. Er ſcheint, in ſeiner Liebe fuͤr das Objekt, keinen Unterſchied zwiſchen demjenigen zu machen, was durch ſich ſelbſt und dem was durch die Kunſt und durch den menſchlichen Willen iſt. Die Natur ſcheint mehr ſeinen Verſtand und ſeine Wißbegierde, als ſein mora - liſches Gefuͤhl zu intereſſieren; er haͤngt nicht mit Innig - keit, mit Empfindſamkeit, mit ſuͤſſer Wehmuth an derſel - ben, wie wir Neuern. Ja, indem er ſie in ihren ein - zelnen Erſcheinungen perſonifiziert und vergoͤttert, und ihre Wirkungen als Handlungen freyer Weſen darſtellt, hebt er die ruhige Nothwendigkeit in ihr auf, durch welche ſie fuͤr uns gerade ſo anziehend iſt. Seine ungedultige Phantaſie fuͤhrt ihn uͤber ſie hinweg zum Drama des menſchlichen Lebens. Nur das Lebendige und Freye, nur Charaktere, Handlungen, Schickſale, und Sitten befrie - digen ihn, und wenn wir in gewiſſen moraliſchen Stim - mungen des Gemuͤths wuͤnſchen koͤnnen, den Vorzug unſerer Willensfreyheit, der uns ſo vielem Streit mit uns ſelbſt, ſo vielen Unruhen und Verirrungen ausſetzt, gegen die wahlloſe aber ruhige Nothwendigkeit des Ver - nunftloſen hinzugeben, ſo iſt, gerade umgekehrt, die Phantaſie des Griechen geſchaͤftig, die menſchliche Natur ſchon in der unbeſeelten Welt anzufangen, und da, wo eine blinde Nothwendigkeit herrſcht, dem Willen Einfluß zu geben.

Woher wohl dieſer verſchiedene Geiſt? Wie kommt es, daß wir, die in allem was Natur iſt, von den Alten ſo unendlich weit uͤbertroffen werden, gerade hier der Natur in einem hoͤheren Grade huldigen, mit Innigkeit68 an ihr hangen, und ſelbſt die lebloſe Welt mit der waͤrm - ſten Empfindung umfaſſen koͤnnen? Daher kommt es, weil die Natur bey uns aus der Menſchheit verſchwun - den iſt, und wir ſie nur auſſerhalb dieſer, in der unbe - ſeelten Welt, in ihrer Wahrheit wieder antreffen. Nicht unſere groͤßere Naturmaͤßigkeit, ganz im Gegentheil die Naturwidrigkeit unſrer Verhaͤltniſſe, Zuſtaͤnde und Sitten treibt uns an, dem erwachenden Triebe nach Wahrheit und Simplicitaͤt, der, wie die moraliſche An - lage, aus welcher er flieſſet, unbeſtechlich und unaus - tilgbar in allen menſchlichen Herzen liegt, in der phy - ſiſchen Welt eine Befriedigung zu verſchaffen, die in der moraliſchen nicht zu hoffen iſt. Deßwegen iſt das Gefuͤhl, womit wir an der Natur hangen, dem Gefuͤhle ſo nahe verwandt, womit wir das entflohene Alter der Kindheit und der kindiſchen Unſchuld beklagen. Unſre Kindheit iſt die einzige unverſtuͤmmelte Natur, die wir in der kul - tivirten Menſchheit noch antreffen, daher es kein Wun - der iſt, wenn uns jede Fußſtapfe der Natur auſſer uns auf unſre Kindheit zuruͤckfuͤhrt.

Sehr viel anders war es mit den alten Griechen. *Aber auch nur bey den Griechen; denn es gehoͤrte gerade eine ſolche rege Bewegung und eine ſolche reiche Fuͤlle des menſchlichen Lebens dazu, als den Griechen umgab, um Le - ben auch in das Lebloſe zu legen, und das Bild der Menſch - heit mit dieſem Eifer zu verfolgen. Oſſians Menſchen - welt z. B. war duͤrftig und einfoͤrmig; das Lebloſe um ihn her hingegen war groß, koloſſaliſch, maͤchtig, drang ſich alſo auf, und behauptete ſelbſt uͤber den Menſchen ſeine Rechte.69Bey dieſen artete die Kultur nicht ſo weit aus, daß die Natur daruͤber verlaſſen wurde. Der ganze Bau ihres geſellſchaftlichen Lebens war auf Empfindungen, nicht auf einem Machwerk der Kunſt errichtet; ihre Goͤtterlehre ſelbſt war die Eingebung eines naiven Gefuͤhls, die Ge - burt einer froͤhlichen Einbildungskraft, nicht der gruͤbeln - den Vernunft, wie der Kirchenglaube der neuern Natio - nen; da alſo der Grieche die Natur in der Menſchheit nicht verlohren hatte, ſo konnte er, auſſerhalb dieſer, auch nicht von ihr uͤberraſcht werden, und kein ſo drin - gendes Beduͤrfniß nach Gegenſtaͤnden haben, in denen er ſie wieder fand. Einig mit ſich ſelbſt, und gluͤcklich im Gefuͤhl ſeiner Menſchheit mußte er bey dieſer als ſeinem Maximum ſtille ſtehen, und alles andre derſelben zu naͤhern bemuͤht ſeyn; wenn wir, uneinig mit uns ſelbſt, und ungluͤcklich in unſern Erfahrungen von Menſchheit, kein dringenderes Intereſſe haben, als aus derſelben heraus - zufliehen, und eine ſo mislungene Form aus unſern Au - gen zu ruͤcken.

*In den Geſaͤngen dieſes Dichters tritt daher die lebloſe Natur (im Gegenſatz gegen den Menſchen) noch weit mehr, als Gegenſtand der Empfindung hervor. Indeſſen klagt auch ſchon Oſſian uͤber einen Verfall der Menſchheit, und ſo klein auch bey ſeinem Volke der Kreis der Kultur und ihrer Verderbniſſe war, ſo war die Erfahrung davon doch gerade lebhaft und eindringlich genug, um den gefuͤhlvollen mora - liſchen Saͤnger zu dem Lebloſen zuruͤckzuſcheuchen, und uͤber ſeine Geſaͤnge jenen elegiſchen Ton auszugießen, der ſie fuͤr uns ſo ruͤhrend und anziehend macht.

70

Das Gefuͤhl, von dem hier die Rede iſt, iſt alſo nicht das, was die Alten hatten; es iſt vielmehr einerley mit demjenigen, welches wir fuͤr die Alten haben. Sie empfanden natuͤrlich; wir empfinden das natuͤrliche. Es war ohne Zweifel ein ganz anderes Gefuͤhl, was Ho - mers Seele fuͤllte, als er ſeinen goͤttlichen Sauhirt den Ulyſſes bewirthen ließ, als was die Seele des jungen Werthers bewegte, da er nach einer laͤſtigen Geſellſchaft dieſen Geſang las. Unſer Gefuͤhl fuͤr Natur gleicht der Empfindung des Kranken fuͤr die Geſundheit.

So wie nach und nach die Natur anfieng, aus dem menſchlichen Leben als Erfahrung und als das (han - delnde und empfindende) Subjekt zu verſchwinden, ſo ſehen wir ſie in der Dichterwelt als Idee und als Ge - genſtand aufgehen. Diejenige Nation, welche es zu - gleich in der Unnatur und in der Reflexion daruͤber am weiteſten gebracht hatte, mußte zuerſt von dem Phaͤnomen des Naiven am ſtaͤrkſten geruͤhrt werden, und demſel - ben einen Nahmen geben. Dieſe Nation waren, ſo viel ich weiß die Franzoſen. Aber die Empfindung des Naiven und das Intereſſe an demſelben iſt natuͤrlicher - weiſe viel aͤlter, und datirt ſich ſchon von dem Anfang der moraliſchen und aͤſthetiſchen Verderbniß. Dieſe Ver - aͤnderung in der Empfindungsweiſe iſt zum Beyſpiel ſchon aͤuſſerſt auffallend im Euripides, wenn man dieſen mit ſeinen Vorgaͤngern beſonders dem Aeſchylus ver - gleicht, und doch war jener Dichter der Guͤnſtling ſeiner Zeit. Die nehmliche Revolution laͤßt ſich auch unter den alten Hiſtorikern nachweiſen. Horatz, der Dich - ter eines kultivirten und verdorbenen Weltalters preißt die ruhige Gluͤckſeligkeit in ſeinem Tibur, und ihn koͤnnte71 man als den wahren Stifter dieſer ſentimentaliſchen Dich - tungsart nennen, ſo wie er auch in derſelben ein noch nicht uͤbertroffenes Muſter iſt. Auch im Properz, Virgil u. a. findet man Spuren dieſer Empfindungs - weiſe, weniger beym Ovid, dem es dazu an Fuͤlle des Herzens fehlte, und der in ſeinem Exil zu Tomi die Gluͤck - ſeligkeit ſchmerzlich vermißt, die Horaz in ſeinem Tibur ſo gern entbehrte.

Die Dichter ſind uͤberall, ſchon ihrem Begriffe nach, die Bewahrer der Natur. Wo ſie dieſes nicht ganz mehr ſeyn koͤnnen, und ſchon in ſich ſelbſt den zerſtoͤrenden Einfluß willkuͤrlicher und kuͤnſtlicher Formen erfahren oder doch mit denſelben zu kaͤmpfen gehabt haben, da werden ſie als die Zeugen und als die Raͤcher der Natur auftreten. Sie werden alſo entweder Natur ſeyn, oder ſie werden die verlorene ſuchen. Daraus entſpringen zwey ganz verſchiedene Dichtungsweiſen, durch welche das ganze Gebiet der Poeſie erſchoͤpft und ausgemeſſen wird. Alle Dichter, die es wirklich ſind, werden, je nachdem die Zeit beſchaffen iſt, in der ſie bluͤ - hen, oder zufaͤllige Umſtaͤnde auf ihre allgemeine Bildung und auf ihre voruͤbergehende[Gemuͤthsſtimmung] Einfluß haben, entweder zu den naiven oder zu den ſenti - mentaliſchen gehoͤren.

Der Dichter einer naiven und geiſtreichen Jugend - welt, ſo wie derjenige, der in den Zeitaltern kuͤnſtlicher Kultur ihm am naͤchſten kommt, iſt kalt, gleichguͤltig, verſchloſſen, ohne alle Vertraulichkeit. Streng und ſproͤde, wie die jungfraͤuliche Diana in ihren Waͤldern, ent - flieht er dem Herzen, das ihn ſucht, dem Verlangen, das72 ihn umfaſſen will. Nichts erwiedert er, nichts kann ihn ſchmelzen, oder den ſtrengen Guͤrtel ſeiner Nuͤchternheit loͤſen. Die trockene Wahrheit, womit er den Gegenſtand behandelt, erſcheint nicht ſelten als Unempfindlichkeit. Das Objekt beſitzt ihn gaͤnzlich, ſein Herz liegt nicht wie ein ſchlechtes Metall gleich unter der Oberflaͤche, ſon - dern will wie das Gold in der Tiefe geſucht ſeyn. Wie die Gottheit hinter dem Weltgebaͤude, ſo ſteht er hinter ſeinem Werk; Er iſt das Werk und das Werk iſt Er; man muß des erſtern ſchon nicht werth oder nicht maͤchtig oder ſchon ſatt ſeyn, um nach Ihm nur zu fragen.

So zeigt ſich z. B. Homer unter den Alten und Shakeſpeare unter den Neuern; zwey hoͤchſt ver - ſchiedene, durch den unermeßlichen Abſtand der Zeitalter getrennte Naturen, aber gerade in dieſem Charakterzuge voͤllig eins. Als ich in einem ſehr fruͤhen Alter den letz - tern Dichter zuerſt kennen lernte, empoͤrte mich ſeine Kaͤlte, ſeine Unempfindlichkeit, die ihm erlaubte, im hoͤch - ſten Pathos zu ſcherzen, die Herzzerſchneidenden Auftritte im Hamlet, im Koͤnig Lear, im Makbeth u. ſ. f. durch einen Narren zu ſtoͤren, die ihn bald da feſt hielt, wo meine Empfindung forteilte, bald da kaltherzig fort - riß, wo das Herz ſo gern ſtill geſtanden waͤre. Durch die Bekanntſchaft mit neuern Poeten verleitet, in dem Werke den Dichter zuerſt aufzuſuchen, ſeinem Herzen zu begegnen, mit ihm gemeinſchaftlich uͤber ſeinen Ge - genſtand zu reflektieren; kurz das Objekt in dem Subjekt anzuſchauen, war es mir unertraͤglich, daß der Poet ſich hier gar nirgends faſſen ließ und mir nirgends Rede ſtehen wollte. Mehrere Jahre hatte er ſchon meine ganze Ver - ehrung und war mein Studium, ehe ich ſein Individuum73 lieb gewinnen lernte. Ich war noch nicht faͤhig, die Natur aus der erſten Hand zu verſtehen. Nur ihr durch den Verſtand reflektiertes und durch die Regel zurecht gelegtes Bild konnte ich ertragen, und dazu waren die ſentimentaliſchen Dichter der Franzoſen und auch der Deutſchen, von den Jahren 1750 bis etwa 1780, gerade die rechten Subjekte. Uebrigens ſchaͤme ich mich dieſes Kinderurtheils nicht, da die bejahrte Kritik ein aͤhnliches faͤllte, und naiv genug war, es in die Welt hineinzuſchreiben.

Daſſelbe iſt mir auch mit dem Homer begegnet, den ich in einer noch ſpaͤtern Periode kennen lernte. Ich er - innere mich jetzt der merkwuͤrdigen Stelle im VI Buch der Ilias, wo Glaukus und Diomed im Gefecht auf einander ſtoſſen, und nachdem ſie ſich als Gaſtfreunde erkannt, einander Geſchenke geben. Dieſem ruͤhrenden Gemaͤhlde der Pietaͤt, mit der die Geſetze des Gaſt - rechts ſelbſt im Kriege beobachtet wurden, kann eine Schilderung des ritterlichen Edelmuths im Arioſt an die Seite geſtellt werden, wo zwey Ritter und Neben - buler, Ferrau und Rinald, dieſer ein Chriſt, jener ein Saracene, nach einem heftigen Kampf und mit Wun - den bedeckt, Friede machen, und um die fluͤchtige Ange - lika einzuhohlen, das nehmliche Pferd beſteigen. Beyde Beyſpiele, ſo verſchieden ſie uͤbrigens ſeyn moͤgen, kom - men einander in der Wirkung auf unſer Herz beynahe gleich, weil beyde den ſchoͤnen Sieg der Sitten uͤber die Leidenſchaft mahlen, und uns durch Naivheit der Geſinnungen ruͤhren. Aber wie ganz verſchieden nehmen ſich die Dichter bey Beſchreibung dieſer aͤhnlichen Hand - lung. Arioſt, der Buͤrger einer ſpaͤteren und von der Einfalt der Sitten abgekommenen Welt kann bey der Er -74 zaͤhlung dieſes Vorfalls, ſeine eigene Verwunderung, ſeine Ruͤhrung nicht verbergen. Das Gefuͤhl des Ab - ſtandes jener Sitten von denjenigen, die Sein Zeitalter charakteriſieren, uͤberwaͤltigt ihn. Er verlaͤßt auf einmal das Gemaͤhlde des Gegenſtandes und erſcheint in eigener Perſon: Man kennt die ſchoͤne Stanze und hat ſie immer vorzuͤglich bewundert:

O Edelmuth der alten Ritterſitten!
Die Nebenbuler waren, die entzweyt
Im Glauben waren, bittern Schmerz noch litten
Am ganzen Leib von feindlich wilden Streit,
Frey von Verdacht und in Gemeinſchaft ritten
Sie durch des krummen Pfades Dunkelheit.
Das Roß, getrieben von vier Sporen, eilte
Biß wo der Weg ſich in zwey Straßen theilte.
*Der raſende Roland. Erſter Geſang. Stanze 32.
*

Und nun der alte Homer! Kaum erfaͤhrt Diomed aus Glaukus ſeines Gegners Erzaͤhlung, daß dieſer von Vaͤ - terzeiten her ein Gaſtfreund ſeines Geſchlechts iſt, ſo ſteckt er die Lanze in die Erde, redet freundlich mit ihm, und macht mit ihm aus, daß ſie einander im Gefechte kuͤnftig ausweichen wollen. Doch man hoͤre den Homer ſelbſt:

Alſo bin ich nunmehr dein Gaſtfreund mitten in Argos,
Du in Lykia mir, wenn jenes Land ich beſuche.
Drum mit unſeren Lanzen vermeiden wir uns im Ge -
tuͤmmel.
Viel ja ſind der Troer mir ſelbſt und der ruͤhmlichen
Helfer,
75
Daß ich toͤdte, wen Gott mir gewaͤhrt, und die Schen -
kel erreichen;
Viel auch dir der Achaier, daß, welchen du kannſt, du
erlegeſt.
Aber die Ruͤſtungen beide vertauſchen wir, daß auch die
andern
Schaun, wie wir Gaͤſte zu ſeyn aus Vaͤterzeiten uns
ruͤhmen.
Alſo redeten jene, herab von den Wagen ſich ſchwingend
Faßten ſie beide einander die Haͤnd und gelobten ſich
Freundſchaft.

Schwerlich duͤrfte ein moderner Dichter (wenigſtens ſchwerlich einer, der es in der moraliſchen Bedeutung die - ſes Worts iſt) auch nur biß hieher gewartet haben um ſei - ne Freude an dieſer Handlung zu bezeugen. Wir wuͤrden es ihm um ſo leichter verzeyhen, da auch unſer Herz beym Leſen einen Stillſtand macht, und ſich von dem Objekte gern entfernt, um in ſich ſelbſt zu ſchauen. Aber von al - lem dieſem keine Spur im Homer; als ob er etwas all - taͤgliches berichtet haͤtte, ja als ob er ſelbſt kein Herz in dem Buſen truͤge, faͤhrt er in ſeiner trockenen Wahrhaf - tigkeit fort:

Doch den Glaukus erregete Zevs, daß er ohne Beſin -
nung
Gegen den Held Diomedes die Ruͤſtungen, goldne mit
ehrnen
Wechſelte, hundert Farren werth, neun Farren die an -
dern
*Ilias. Voßiſche Ueberſetzung. I Band. Seite 153.
*
76

Dichter von dieſer naiven Gattung ſind in einem kuͤnſt - lichen Weltalter nicht ſo recht mehr an ihrer Stelle. Auch ſind ſie in demſelben kaum mehr moͤglich, wenigſtens auf keine andere Weiſe moͤglich als daß ſie in ihrem Zeitalter wild laufen, und durch ein guͤnſtiges Geſchick vor dem verſtuͤmmelnden Einfluß deſſelben geborgen werden. Aus der Societaͤt ſelbſt koͤnnen ſie nie und nimmer hervorgehen; aber auſſerhalb derſelben erſcheinen ſie noch zuweilen, doch mehr als Fremdlinge die man anſtaunt, und als ungezogene Soͤhne der Natur, an denen man ſich aͤrgert. So wohlthaͤtige Erſcheinungen ſie fuͤr den Kuͤnſtler ſind, der ſie ſtudiert, und fuͤr den aͤchten Kenner, der ſie zu wuͤr - digen verſteht, ſo wenig Gluͤck machen ſie im Ganzen und bey ihrem Jahrhundert. Das Siegel des Herrſchers ruht auf ihrer Stirne; wir hingegen wollen von den Muſen gewiegt und getragen werden. Von den Kritikern, den eigentlichen Zaunhuͤtern des Geſchmacks, werden ſie als Grenzſtoͤrer gehaßt, die man lieber unterdruͤcken moͤch - te; denn ſelbſt Homer duͤrfte es bloß der Kraft eines mehr als tauſendjaͤhrigen Zeugniſſes zu verdanken haben, daß ihn dieſe Geſchmacksrichter gelten laſſen; auch wird es ihnen ſauer genug, ihre Regeln gegen ſein Beyſpiel, und ſein Anſehen gegen ihre Regeln zu behaupten.

Im naͤchſten Stuͤck einige Worte uͤber die ſentimen - taliſchen Dichter.

About this transcription

TextÜber naive und sentimentalische Dichtung
Author Friedrich Schiller
Extent47 images; 8166 tokens; 2462 types; 57244 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic information Über naive und sentimentalische Dichtung. Ueber das Naive. Friedrich Schiller. . S. 43-76 CottaTübingen1795. Die Horen. Eine Monatsschrift 1 (11) pp. S. 43-76.

Identification

Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz SBB-PK, Ac 6670<a>-3/4 Rhttp://stabikat.de/DB=1/SET=12/TTL=1/CMD?ACT=SRCHA&IKT=1016&SRT=YOP&TRM=418278393

Physical description

Fraktur

LanguageGerman
ClassificationFachtext; Philologie; Wissenschaft; Philologie; core; ready; china

Editorial statement

Editorial principles

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.

Publication information

Publisher
  • dta@bbaw.de
  • Deutsches Textarchiv
  • Berlin-Brandenburg Academy of Sciences and Humanities (BBAW)
  • Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW)
  • Jägerstr. 22/23, 10117 BerlinGermany
ImprintBerlin 2019-12-09T17:34:31Z
Identifiers
Availability

Distributed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial 3.0 Unported License.

Holding LibraryStaatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz
ShelfmarkSBB-PK, Ac 6670<a>-3/4 R
Bibliographic Record Catalogue link
Terms of use Images served by Deutsches Textarchiv. Access to digitized documents is granted strictly for non-commercial, educational, research, and private purposes only. Please contact the holding library for reproduction requests and other copy-specific information.