Das Übersetzungsrecht wie alle anderen Rechte sind vorbehalten.
Die häufig beobachtete Eigentümlichkeit komplizierter Gebilde: daſs das Verhältnis eines Ganzen zu einem andern sich innerhalb der Teile eines dieser Ganzen wiederholt — liegt auch in dem Verhältnis zwischen Theorie und Praxis vor. Wenn man innerhalb der theoretischen Erkenntnis nicht auf den rein ideellen Inhalt, sondern auf das Zustandekommen desselben achtet, auf die psychologischen Motive, die metho - dischen Wege, die systematischen Ziele, so erscheint doch auch die Erkenntnis als ein Gebiet menschlicher Praxis, das nun seinerseits wieder zum Gegenstand des theoretisierenden Erkennens wird. Damit ist zugleich ein Wertmaſs für die erkenntnistheoretische und methodologische Betrachtung der Wissenschaften gegeben; sie verhält sich als Theorie der Theorie zu der auf die Objekte gerichteten Forschung, wie sich eben die Theorie zur Praxis verhält, d. h. von geringerer Bedeutung, unselbständiger, mehr im Charakter des Registrie - rens als des Erwerbens, nur die formalen Seiten eines schon gegebenen Inhaltes auf höherer Bewuſstseinsstufe wiederholend. Im allgemeinen liegt dem Menschen mehr daran, etwas zu machen, als zu wissen, wie er es macht, und die Thatsache des ersteren ist auch stets der Klarheit über das letztere vorausgegangen. Ja, nicht nur das Wie, sondern auch das Wozu des Erkennens pflegt im Unbewuſsten zu bleiben, so - bald es über die nächste Stufe der Zweckreihe hinaus nach den entfernteren oder letzten Zielen desselben fragt; die Ein - ordnung der einzelnen Erkenntnis in ein geschlossenes System von Wahrheiten, ihre Dienstbarkeit als Mittel zu einem höch -Forschungen (42) X 1. — Simmel. 12X 1.sten Erkennen, Empfinden oder Handeln, ihre Zurückführung auf erste Prinzipien — dies alles sind Angelegenheiten, die in einem ideellen Weltbild obenan stehen mögen, bei der that - sächlichen Bildung desselben aber sowohl der Zeit als der Wichtigkeit nach nur Epilog sind.
Diesem geschichtlichen Gang sich entwickelnder Er - kenntnis entspräche es, wenn man insbesondere bei einer erst beginnenden Wissenschaft, wie die Sociologie ist, alle Kraft an die Einzelforschung setzte, um ihr zunächst einen Inhalt, eine gesicherte Bedeutung zu geben, und die Fragen der Methode und der letzten Ziele so lange bei Seite lieſse, bis man hinreichendes thatsächliches Material für ihre Beantwor - tung hat, auch weil man andernfalls in die Gefahr geräth, eine Form zu schaffen, ohne die Sicherheit eines möglichen Inhaltes, ein Gesetzbuch ohne Subjekte, die ihm gehorchen, eine Regel ohne Fälle, aus denen sie gezogen wird und die ihre Richtigkeit gewährleisteten.
Dies im allgemeinen zugegeben, begründet doch der jetzige Zustand der Wissenschaften einen Unterschied gegen die oben charakterisierten früheren Arten, eine solche zustande zu bringen. Wie sich moderne politische Revolutionen dadurch von denen primitiverer Zeiten unterscheiden, daſs man heute schon bekannte, anderwärts verwirklichte und erprobte Zu - stände zu verwirklichen sucht, daſs eine bewuſste Theorie vorangeht, der man die Praxis nachbildet: so wird es auch durch die höhere Bewuſstheit des modernen Geistes gerecht - fertigt, daſs man aus der Fülle vorhandener Wissenschaften und bewährter Theorieen heraus die Umrisse, Formen und Ziele einer Wissenschaft fixiere, bevor man an den thatsäch - lichen Aufbau derselben geht.
Ein besonderes Moment kommt noch für die Sociologie hinzu. Sie ist eine eklektische Wissenschaft, insofern die Produkte anderer Wissenschaften ihr Material bilden. Sie ver - fährt mit den Ergebnissen der Geschichtsforschung, der An - thropologie, der Statistik, der Psychologie wie mit Halb - produkten; sie wendet sich nicht unmittelbar an das primitive Material, das andere Wissenschaften bearbeiten, sondern, als Wissenschaft sozusagen zweiter Potenz, schafft sie neue Syn - thesen aus dem, was für jene schon Synthese ist. In ihrem jetzigen Zustande giebt sie nur einen neuen Standpunkt für die Betrachtung bekannter Thatsachen. Deshalb aber ist es für sie besonders erforderlich, diesen Standpunkt zu fixieren, weil die Wissenschaft allein von ihm ihren specifischen Cha - rakter entlehnt, nicht aber von ihrem, den Thatsachen nach sonst schon bekannten Material. In diesem Fall sind die all - gemeinen Gesichtspunkte, die Einheit des letzten Zwecks, die Art der Forschung mit Recht das Erste, was in das Bewuſst - sein zu heben ist; denn dies muſs thatsächlich in ihm vor -3X 1.handen sein, damit es zu der neuen Wissenschaft komme, während andere mehr von dem Material als von seiner For - mung ausgehen, welche letztere bei ihnen unmittelbarer durch das erstere gegeben wird. Es braucht kaum erwähnt zu werden, daſs es sich dabei nur um graduelle Unterschiede handelt, daſs im letzten Grunde der Inhalt keiner Wissen - schaft aus bloſsen objektiven Thatsachen besteht, sondern immer eine Deutung und Formung derselben nach Kategorieen und Normen enthält, die für die betreffende Wissenschaft a priori sind, d. h. von dem auffassenden Geiste an die an und für sich isolierten Thatsachen herangebracht werden. Bei der Socialwissenschaft findet nur ein quantitatives Ueber - wiegen des kombinatorischen Elementes gegenüber anderen Wissenschaften statt, woher es denn bei ihr besonders gerecht - fertigt erscheint, sich die Gesichtspunkte, nach denen ihre Kombinationen erfolgen, zu theoretischem Bewuſstsein zu bringen.
Damit ist indes natürlich nicht gemeint, daſs es unbe - strittener und festumgrenzter Definitionen für die Grund - begriffe der Sociologie bedürfe, daſs man z. B. von vorn - herein die Fragen beantworten könne: was ist eine Gesell - schaft? was ist ein Individuum? wie sind gegenseitige psychische Wirkungen der Individuen auf einander möglich? u. s. w.; vielmehr wird man sich auch hier mit einer nur un - gefähren Umgrenzung des Gebietes begnügen und die völlige Einsicht in das Wesen der Objekte von, aber nicht vor der Vollendung der Wissenschaft erwarten müssen, wenn man nicht in den Irrtum der älteren Psychologie verfallen will: man müsse zuerst das Wesen der Seele definiert haben, ehe man die seelischen Erscheinungen wissenschaftlich erkennen könne. Noch immer gilt die aristotelische Wahrheit, daſs, was der Sache nach das Erste ist, für unsere Erkenntnis das Späteste ist. Im logisch systematischen Aufbau der Wissenschaft bilden freilich die Definitionen der Grundbegriffe das Erste; allein erst eine fertige Wissenschaft kann sich so vom Einfachsten und Klarsten aufbauen. Wenn eine Wissen - schaft erst zustande gebracht werden soll, muss man von den unmittelbar gegebenen Problemen ausgehen, die immer höchst kompliziert sind und sich erst allmählich in ihre Elemente auflösen lassen. Das einfachste Resultat des Denkens ist eben nicht das Resultat des einfachsten Denkens.
Vielleicht ist das unmittelbar gegebene Problem auch gerade bei der Socialwissenschaft eines der kompliziertesten, die überhaupt denkbar sind. Ist der Mensch das höchste Gebilde, zu dem die natürliche Entwickelung sich aufgipfelt, so ist er dies doch nur dadurch, daſs ein Maximum ver - schiedenartiger Kräfte sich in ihm gehäuft hat, die durch gegenseitige Modifizierung, Ausgleichung und Auslese eben1*4X 1.diesen Mikrokosmos zustande brachten; offenbar ist jede Organisation eine um so höhere, je mannichfaltigere Kräfte sich in ihr im Gleichgewicht befinden. Ist nun schon das menschliche Einzelwesen mit einer fast unübersehbaren Fülle latenter und wirkender Kräfte ausgestattet, so muſs die Kom - plikation da noch eine viel gröſsere werden, wo gegenseitige Wirkungen solcher Wesen auf einander vorliegen und die Kompliziertheit des einen, gewissermaſsen mit der des andern sich multiplizierend, eine Unermeſslichkeit von Kombinationen ermöglicht. Wenn es also die Aufgabe der Sociologie ist, die Formen des Zusammenseins von Menschen zu beschreiben und die Regeln zu finden, nach denen das Individuum, insofern es Mitglied einer Gruppe ist, und die Gruppen untereinander sich verhalten, so hat die Kompliziertheit dieser Objekte eine Folge für unsere Wissenschaft, die sie in einer erkenntnis - theoretischen Beziehung, der ich eine ausführliche Begründung widmen muſs, neben die Metaphysik und die Psychologie stellt. Diese beiden haben nämlich das Eigentümliche, daſs durchaus entgegengesetzte Sätze in ihnen das gleiche Maſs von Wahrscheinlichkeit und Beweisbarkeit aufzeigen. Daſs die Welt im letzten Grunde absolut einheitlich und alle Indivi - dualisierung und aller Unterschied nur ein täuschender Schein sei, kann man ebenso plausibel machen, wie den Glauben an die absolute Individualität jedes Teiles der Welt, in der nicht einmal ein Baumblatt dem andern völlig gleich ist, und daſs alle Vereinheitlichung nur eine subjektive Zuthat unsres Geistes, nur die Folge eines psychologischen Einheitstriebes sei, für den keine objektive Berechtigung nachweisbar wäre; der durch - gehende Mechanismus und Materialismus im Weltgeschehen bildet ebenso einen letzten metaphysischen Zielpunkt, wie im Gegentheil die Hinweisung auf ein Geistiges, das überall durch die Erscheinungen hindurchblickt und den eigentlichen letzten Sinn der Welt ausmacht; wenn ein Philosoph das Gehirn als das Ding-an-sich des Geistes bezeichnet hat, und ein anderer den Geist als das Ding-an-sich des Gehirns, so hat der eine ebenso tiefe und gewichtige Gründe für seine Meinung angeführt, wie der andere. Und Ähnliches be - obachten wir in der Psychologie, wo ihr noch nicht der Zu - sammenhang mit der Physiologie die Isolierung und damit die exaktere Beobachtung der primitiven sinnlichen Grundlagen des Seelenlebens ermöglicht, sondern wo es sich um Kausal - verhältnisse der an der Oberfläche des Bewuſstseins auf - tauchenden Gedanken, Gefühle, Willensakte handelt. Da sehen wir denn, daſs persönliche Glückssteigerung die Ursache von selbstloser Freundlichkeit ist, die den Andern gern ebenso glücklich sehen möchte, wie man selbst ist, — ebenso oft aber von hartherzigem Stolz, dem das Verständnis für das Leiden anderer abhanden gekommen ist; beides läſst sich psycho -5X 1.logisch gleichmäſsig plausibel machen. Und so deduzieren wir mit gleicher Wahrscheinlichkeit, daſs die Entfernung ge - wisse Empfindungen zweier Menschen für einander steigert, wie daſs sie sie schwächt; daſs der Optimismus, aber auch gerade der Pessimismus die Vorbedingung eines kräftigen ethischen Handelns ist; daſs die Liebe zu einem engeren Kreise von Menschen das Herz nun auch für die Interessen weiterer Kreise empfänglich macht, wie daſs sie dasselbe gegen die letzteren abschlieſst und verbaut. Und ebenso wie der Inhalt läſst sich auch die Richtung der psychologischen Ver - knüpfung umkehren, ohne an Richtigkeit einzubüſsen. Daſs Unsittlichkeit die Ursache inneren Unglücks ist, wird uns mit ebenso starken Gründen von dem einen Psychologen be - wiesen, wie von dem andern, daſs das Unglück die Ursache der Demoralisierung ist; daſs der Glaube an gewisse religiöse Dogmen die Ursache geistiger Unselbständigkeit und Ver - dummung wird, ist mit nicht schlechteren Gründen und Bei - spielen bewiesen, wie das umgekehrte, daſs die geistige Un - zulänglichkeit der Menschen eigentlich die Ursache sei, die sie zum Glauben an überirdische Dinge greifen lieſs. Kurz, weder in metaphysischen noch in psychologischen Dingen findet sich die Eindeutigkeit einer wissenschaftlichen Regel, sondern stets die Möglichkeit, jeder Beobachtung oder Wahr - scheinlichkeit die entgegengesetzte entgegenzustellen.
Die Ursache dieser auffallenden Zweideutigkeit ist offenbar die, daſs die Objekte, über deren Beziehungen ausgesagt wird, schon an und für sich nicht eindeutig sind. Das Ganze der Welt, von dem metaphysische Behauptungen sprechen, enthält eine solche Fülle und Mannigfaltigkeit von Einzelheiten, daſs fast jede beliebige Behauptung über dasselbe eine Anzahl von Stützen findet, die oft genug soviel psychologisches Ge - wicht besitzen, um entgegenstehende Erfahrungen und Deu - tungen aus dem Bewuſstsein zu verdrängen, die nun ihrer - seits in andern, gerade für sie disponierten Geistern den Ge - samtcharakter des Weltbildes bestimmen. Das Falsche liegt nur darin, daſs entweder eine partielle Wahrheit zu einer absolut gültigen verallgemeinert, oder aus der Beobachtung gewisser Thatsachen ein Schluſs auf das Ganze gezogen wird, der unmöglich wäre, wenn die Beobachtung noch weiter aus - gedehnt wäre; also sozusagen weniger Irrtümer im Inhalt des Urteils als in dessen Betonung, mehr in der Quantität als in der Qualität. Nahe dabei flieſst die Quelle für die Unzulänglichkeit der psychologischen Urteile. Die Allgemein - begriffe psychischer Funktionen, zwischen denen sie Verbin - dungen stiften, sind so sehr allgemein und schlieſsen eine solche Fülle von Nüancen ein, daſs je nach der Betonung der einen oder der andern ganz verschiedene Folgen aus dem der Bezeichnung nach identischen Affect hervorgehen können;6X 1.ein so weites Gebiet umfaſst z. B. der Begriff des Glücks oder der Religiosität, daſs die von einander abstehendsten Punkte desselben trotz des Enthaltenseins unter dem gleichen Begriff durchaus als Ursachen heterogener Folgen verständlich sind. Ganz Unrecht hat mithin keine jener allgemeinen psycho - logischen Sentenzen; sie irren meistens nur darin, daſs sie die specifische Differenz vernachlässigen, die, die in Rede stehenden Allgemeinbegriffe näher bestimmend, sie bald in diese, bald in jene ganz entgegengesetzte Verbindung bringt. Es ist ganz richtig, daſs Trennung die Liebe steigert; aber nicht Trennung überhaupt und Liebe überhaupt, sondern nur eine bestimmte Art beider steht in diesem Verhältnis; und ebenso ist es richtig, daſs Trennung die Liebe schwächt; aber nicht jede Trennung jede Liebe, sondern eine gewisse Nüance der ersteren schwächt eine gewisse Nüance der letz - teren. Hier ist auch insbesondere der Einfluſs der Quantität des seelischen Affekts im Auge zu behalten. Wir können freilich gewisse Abänderungen einer Empfindung nur unter die Denk - und Sprachkategorie der Quantität bringen und bezeichnen sie deshalb noch immer mit dem gleichen Begriff; thatsächlich aber sind es auch innerliche, qualitative Verän - derungen, die auf diese Weise mit ihr vorgehen. Wie ein groſses Kapital zwar nur quantitativ anders ist, als ein kleines, dennoch aber qualitativ ganz anders geartete wirtschaftliche Wirkungen ausübt, so und noch viel mehr ist der Unterschied zwischen einer groſsen und einer geringen Empfindung in Liebe und Haſs, Stolz und Demut, Lust und Leid ein nur scheinbar quantitativer, thatsächlich aber ein so genereller, daſs, wo über die psychologischen Beziehungen einer Empfin - dung als solcher und im allgemeinen ausgesagt werden soll, je nach dem Quantum derselben, über das man gerade Er - fahrungen gesammelt hat, die heterogensten Verbindungen derselben beweisbar sind. Und nun das, was für die Ana - logie, die ich im Auge habe, das Wichtigste ist. Wo wir von der Verursachung irgend eines psychischen Ereignisses durch ein anderes sprechen, da ist das letztere in der Isolie - rung und Selbständigkeit, die sein sprachlicher Ausdruck an - zeigt, doch nie die an sich zureichende Veranlassung des ersteren; vielmehr gehört der ganze übrige bewuſste und un - bewuſste Seeleninhalt dazu, um, im Verein mit der neu ein - getretenen Bewegung, den weiteren Vorgang zuwege zu bringen. Insofern man psychische Ereignisse wie Liebe, Haſs, Glück, oder Qualitäten wie Klugheit, Reizbarkeit, Demut und ähn - liche als Ursachen bezeichnet, faſst man in ihnen einen ganzen Komplex mannichfaltiger Kräfte zusammen, die nur von jener besonders hervorgehobenen die Färbung oder die Richtung empfangen. Das Bestimmende hierbei ist nicht nur der all - gemeine erkenntnistheoretische Grund, daſs die Wirkung jeder7X 1.Kraft von dem sonstigen Gesamtzustand des Wesens abhängt, an dem sie sich äuſsert, und so gewissermaſsen als die Re - sultante zwischen der hervorgehobenen Kraft und einer An - zahl anderer, im gleichen Augenblick auf den gleichen Punkt wirkender anzusehen ist; sondern speciell die menschliche Seele ist ein so auſserordentlich kompliziertes Gebilde, daſs, wenn man einen Vorgang oder Zustand in ihr unter einen einheitlichen Begriff bringt, dies immer nur eine Benennung a potiori ist; es spielen stets so viele Prozesse zugleich in unserer Seele, so viele Kräfte sind zugleich in ihr wirksam, daſs die Feststellung einer Kausalverbindung zwischen ein - fachen psychologischen Begriffen, wie in den bisherigen Bei - spielen, immer ganz einseitig ist; nicht der eine einheitliche Affekt geht in den andern einheitlichen über, sondern Gesamt - zustände thun dies, in denen jene etwa die Hauptsachen oder besonders hell beleuchtete Punkte sind, deren entscheidende Nüancierung aber von unzähligen gleichzeitigen Seeleninhalten herrührt. Wie ein Ton seine Klangfarbe von den zugleich erklingenden Obertönen erhält, wir also nicht den reinen Ton, sondern eine groſse Anzahl von Tönen hören, von denen einer nur der hervortretendste, keineswegs aber über den ästheti - schen Eindruck allein entscheidende ist: so hat jede Vor - stellung und jedes Gefühl eine groſse Zahl psychischer Be - gleiter, die es individualisieren und über seine weiteren Wirkungen entscheiden. Von der Fülle des gleichzeitigen psychischen Inhaltes treten immer nur wenige führende Vorstellungen in das klare Bewuſstsein, und die Kausalverbin - dung, die man einmal zwischen ihnen beobachtet hat, ist das nächste Mal schon nicht mehr gültig, weil inzwischen der Gesamtzustand der Seele sich geändert hat und anderweitige Vorgänge etwa das erste Mal in der Richtung jener Verbin - dung, das zweite Mal aber ihr entgegenwirkten. Dies ist der Grund, weshalb die Psychologie keine Gesetze im naturwissen - schaftlichen Sinne erreichen kann: weil wegen der Kom - pliziertheit ihrer Erscheinungen keine isolierte einfache Kraft - wirkung in der Seele zu beobachten ist, sondern jede von so vielen Nebenerscheinungen begleitet wird, daſs nie mit voll - kommener Sicherheit festzustellen ist, was denn nun wirklich die Ursache einer gegebenen Folge oder die Folge einer ge - gebenen Ursache ist.
Trotzdem wäre es falsch, den metaphysischen und psycho - logischen Aufstellungen deshalb nun den wissenschaftlichen Wert absprechen zu wollen. Wenn sie auch nicht exakte Erkenntnis sind, so sind sie doch Vorläufer derselben. Sie orientieren doch einigermaſsen über die Erscheinungen und schaffen die Begriffe, durch deren allmähliche Verfeinerung, Wiederauflösung und Zusammenfügung nach anderen Gesichts - punkten eine immer gröſsere Annäherung an die Wahrheit8X 1.erreicht wird; sie stiften unter diesen zwar einseitige Verbin - dungen, deren Einseitigkeit aber durch die entgegengesetzte paralysirt wird; sie stellen wenigstens eine erste Organisierung der Massen dar, wenn sie diese auch noch nicht soweit be - herrschen, um zu den Beziehungen der letzten einfachen Teile vorzudringen, in die die komplexen Erscheinungen aufzulösen das letzte Ziel der Wissenschaft ist.
In einer ähnlichen Verfassung nun befindet sich die Socio - logie. Weil ihr Gegenstand eine solche Fülle von Bewegungen in sich schlieſst, wird je nach den Beobachtungen und Ten - denzen des Forschers bald die eine, bald die andere als typisch und innerlich notwendig erscheinen; das Verhältnis des In - dividuums zur Allgemeinheit, die Ursachen und die Formen der Gruppenbildung, die Gegensätze und Übergänge der Klassen, die Entwickelung des Verhältnisses zwischen Füh - renden und Beherrschten und unzählige andere Angelegen - heiten unserer Wissenschaft zeigen einen solchen Reichtum von verschiedenartigen geschichtlichen Verwirklichungen, daſs jede einheitliche Normierung, jede Feststellung einer durch - gehenden Form dieser Verhältnisse einseitig sein muſs und die entgegengesetztesten Behauptungen darüber sich durch vielfache Beispiele belegen lassen. Der tiefere Grund liegt auch hier in der Kompliziertheit der Objekte, die der Auf - lösung in einfache Teile und deren primitive Kräfte und Ver - hältnisse völlig widerstehen. Jeder gesellschaftliche Vorgang oder Zustand, den wir uns zum Objekt machen, ist die Er - scheinung, bzw. Wirkung unzählig vieler tiefer gelegenen Teilvorgänge. Da nun die gleiche Wirkung von sehr ver - schiedenen Ursachen ausgehen kann, so ist es möglich, daſs die genau gleiche Erscheinung durch ganz verschiedene Kom - plexe von Kräften hervorgebracht werde, die, nachdem sie an einem Punkte zu der gleichen Wirkung zusammengegangen sind, in ihrer weiteren, darüber hinausgehenden Entwickelung wieder völlig verschiedene Formen annehmen. Aus der Gleichheit zweier Zustände oder Perioden in groſsen Ent - wickelungsreihen läſst sich deshalb noch nicht schlieſsen, daſs die Folge dieses Abschnitts in der einen der des gleich er - scheinenden in der andern gleich sein werde; im weiteren Verlaufe kommt dann die Verschiedenheit der Ausgangs - punkte wieder zur Geltung, die nur einer zufälligen und vorübergehenden Gleichheit Platz gemacht hatte. Eine Häufig - keit dieses Verhaltens wird natürlich da am wahrscheinlich - sten sein, wo die Fülle, die Komplikation und die Erkenntnis - schwierigkeit der einzelnen Faktoren und Teilursachen die gröſste ist. Dies aber trifft, wie gesagt, bei den gesellschaft - lichen Erscheinungen im höchsten Maſse zu; die primären Teile und Kräfte, die diese zustande bringen, sind so unüber - sehbar mannichfaltig, daſs hundertfach gleiche Erscheinungen9X 1.eintreten, die im nächsten Augenblicke in ganz verschiedene Weiterentwickelungen auslaufen — gerade wie die Kompli - ziertheit der seelischen Kräfte die ganz gleiche Bewuſstseins - erscheinung bald mit einer, bald mit einer andern, genau ent - gegengesetzten Folge verbindet. Auch in sonstigen Wissen - schaften ist ähnliches zu beobachten. In der Geschichte der Gesundheitslehre, insbesondere in den Theorieen der Ernährung, sehen wir oft die entgegengesetztesten Behauptungen über den Wert eines Nahrungsmittels einander ablösen. Innerhalb des menschlichen Körpers sind aber thatsächlich so viele Kräfte thätig, daſs eine neu eintretende Einwirkung die ver - schiedenartigsten Folgen haben, die eine fördern, die andere hemmen kann. Deshalb irrt vielleicht keine jener Theorieen ganz in dem Kausalverhältnis, das sie zwischen dem Nahrungs - mittel und dem menschlichen Organismus aufstellt, sondern nur darin, daſs sie dieses für das einzige und definitive hält. Sie vergiſst, daſs dasjenige, was in einem sehr komplizierten System nach einer Seite hin entschieden wirkt, nach einer andern eine entschieden entgegengesetzte Nebenwirkung haben kann, und überspringt die zeitlichen und sachlichen Zwischen - glieder, die sich zwischen die unmittelbare Wirkung einer Kraft und den schlieſslichen Gesamtzustand des Ganzen, auf das sie einseitig wirkt, einschieben. Eben diese Unbestimmt - heit in den schlieſslichen Erfolgen eines Vorgangs am socialen Körper, die zu so vielen Entgegengesetztheiten im sociologi - schen Erkennen führt, veranlaſst die gleichen auch in den praktisch socialen Angelegenheiten; die Mannichfaltigkeit und Feindseligkeit der Parteien in diesen, von denen doch jede mit ihren Mitteln das gleiche Ziel eines Glückseligkeitsmaxi - mums für die Gesamtheit zu erreichen glaubt, beweist jenen eigentümlichen, durch seine Kompliziertheit jeder exacten Berechnung widerstrebenden Charakter des socialen Materials. Von Gesetzen der socialen Entwickelung kann man deshalb nicht sprechen. Zweifellos bewegt sich jedes Element einer Gesellschaft nach Naturgesetzen; allein für das Ganze giebt es kein Gesetz; so wenig hier wie sonst in der Natur erhebt sich über die Gesetze, die die Bewegungen der kleinsten Teile regeln, ein höheres Gesetz, das diese Bewegungen nun in immer gleicher Weise und zu dem gleichen Gesamteffect zu - sammenschlösse. Deshalb können wir nicht wissen, ob nicht in jedem von zwei gleich erscheinenden gesellschaftlichen Zuständen Kräfte latent sind, die im nächsten Augenblick völlig verschiedene Erscheinungen aus jenen hervortreiben. So ist auch die Differenzierung, über die im folgenden ge - handelt wird, keine besondere Kraft, kein in das Spiel der primären Mächte der socialen Gestaltung eingreifendes Gesetz, sondern nur der Ausdruck für ein Phänomen, das aus der Wirkung der realen elementaren Kräfte hervorgeht. Und10X 1.ferner: wo wir die Folge eines Komplexes einfacher Erschei - nungen festzustellen suchen, ist es nur durch die schwierig - sten und auf höheren Gebieten oft ganz unanwendbaren Me - thoden möglich, diejenige Erscheinung festzustellen, die die allein oder wesentlich wirksame ist; wo überhaupt Mannich - faltiges mit Mannichfaltigem in eine einheitlich erscheinende Beziehung tritt, da ist überall dem Irrtum über die eigent - lichen Träger der Ursache wie der Wirkung Thür und Thor geöffnet.
Dieser Gesichtspunkt führt auf einen Einwand, den man vom erkenntnistheoretischen Standpunkt gegen die Gesell - schaftswissenschaft überhaupt erheben kann. Der Begriff der Gesellschaft hat offenbar nur dann einen Sinn, wenn er in irgend einem Gegensatz gegen die bloſse Summe der Einzelnen steht. Denn fiele er mit letzterer zusammen, so scheint er nicht anders das Objekt einer Wissenschaft sein zu können, als etwa „ der Sternhimmel “als Gegenstand der Astronomie zu bezeichnen ist; thatsächlich ist dies doch nur ein Kollektiv - ausdruck, und was die Astronomie feststellt, sind nur die Be - wegungen der einzelnen Sterne und die Gesetze, die diese regeln. Ist die Gesellschaft nur eine in unserer Betrachtungs - weise vor sich gehende Zusammenfassung von Einzelnen, die die eigentlichen Realitäten sind, so bilden diese und ihr Ver - halten auch das eigentliche Objekt der Wissenschaft, und der Begriff der Gesellschaft verflüchtigt sich. Und wirklich scheint es sich so zu verhalten. Was greifbar existiert, sind doch nur die einzelnen Menschen und ihre Zustände und Be - wegungen: deshalb könne es sich nur darum handeln diese zu verstehen, während das rein durch ideelle Synthese ent - standene, nirgend zu greifende Gesellschaftswesen keinen Ge - genstand eines auf Erforschung der Wirklichkeit gerichteten Denkens bilden dürfe.
Der Grundgedanke dieses Zweifels an dem Sinn der So - ciologie ist durchaus richtig: wir müssen in der That so scharf wie möglich zwischen den realen Wesen, die wir als objek - tive Einheiten ansehen dürfen und den Zusammenfassungen derselben zu Komplexen, die als solche nur in unserem syn - thetischen Geiste existieren, unterscheiden. Und auf dem Rückgang auf jene beruht freilich alles realistische Wissen; ja, die Erkenntnis der Allgemeinbegriffe, die ein noch immer spukender Platonismus als Realitäten in unsere Weltanschauung einschwärzt, als bloſs subjectiver Gebilde und ihre Auflösung in die Summe der allein realen Einzelerscheinungen ist eines der Hauptziele der modernen Geistesbildung. Allein wenn der Individualismus diese Kritik gegen den Gesellschafts - begriff richtet, so braucht man die Reflexion nur noch eine Stufe zu vertiefen, um zu sehen, daſs er damit zugleich sein eigenes Urteil spricht. Denn auch der einzelne Mensch ist11X 1.nicht die absolute Einheit, die ein nur mit den letzten Reali - täten rechnendes Erkennen fordert. Die Vielheit, die schon der individuelle Mensch in und an sich aufweist, als solche zu durchschauen, ist wie ich glaube eine der wichtigsten Vor - bedingungen für eine rationelle Grundlegung der Gesellschafts - wissenschaft, der ich deshalb hier näher treten möchte.
Solange der Mensch, ebenso wie alle organischen Arten, als ein Schöpfungsgedanke Gottes galt, als ein Wesen, das mit all seinen Eigenschaften fertig ausgestattet in die Welt trat, da lag es nahe und war fast erfordert, den einzelnen Menschen als eine geschlossene Einheit anzusehen, als unteil - bare Persönlichkeit, deren „ einfache “Seele in der einheit - lichen Zusammengehörigkeit ihrer körperlichen Organe Aus - druck und Analogie fand. Die entwicklungsgeschichtliche Weltanschauung macht dies unmöglich. Wenn wir die un - ermeſslichen Wandlungen bedenken, die die Organismen durch - machen muſsten, ehe sie von ihren primitivsten Formen sich zum Menschengeschlecht aufgipfeln konnten, die entsprechende Unermeſslichkeit der Einflüsse und Lebensbedingungen, deren Zufälligkeiten und Entgegengesetztheiten jede Generation aus - gesetzt ist, endlich die organische Bildsamkeit und die Ver - erbung, vermöge deren jeder dieser wechselnden Zustände irgend ein Merkmal, eine Modifikation auf jeden Nachkommen abgelagert hat: so erscheint jene absolute, metaphysische Einheit des Menschen in einem sehr bedenklichen Lichte. Er ist viel - mehr die Summe und das Produkt der allermannichfaltigsten Faktoren, von denen man sowohl der Qualität wie der Funktion nach nur in sehr ungefährem und relativem Sinne sagen kann, daſs sie zu einer Einheit zusammengehen. Auch ist es physio - logisch längst anerkannt, daſs jeder Organismus sozusagen ein Staat aus Staaten ist, daſs seine Teile immer noch eine ge - wisse gegenseitige Unabhängigkeit besitzen und als eigentliche organische Einheit nur die Zelle anzusehen ist; und auch diese letztere ist nur für den Physiologen und nur insofern eine Einheit, als sie, abgesehen von den aus bloſsem Proto - plasma bestehenden Wesen, das einfachste Gebilde ist, an das sich noch Lebenserscheinungen knüpfen, während sie an und für sich eine höchst komplizierte Zusammensetzung chemischer Urbestandteile ist. Wenn man den Individualismus wirklich konsequent verfolgt, so bleiben als reale Wesen nur die punktuellen Atome übrig und alles Zusammengesetzte fällt als solches unter den Gesichtspunkt der Realität geringeren Grades. Und was man sich unter der Einheit der Seele kon - kret zu denken habe, weiſs kein Mensch. Daſs irgendwo in uns ein bestimmtes Wesen säſse, das der alleinige und ein - fache Träger der psychischen Erscheinungen wäre, ist ein völlig unbewiesener und erkenntnistheoretisch unhaltbarer Glaubensartikel. Und nicht nur auf die einheitliche Substanz12X 1.der Seele müssen wir verzichten, sondern auch unter ihren Inhalten ist keine wirkliche Einheit zu entdecken; zwischen den Gedanken des Kindes und denen des Mannes, zwischen unsern theoretischen Überzeugungen und unserm praktischen Handeln, zwischen den Leistungen unserer besten und denen unserer schwächsten Stunden bestehen so viele Gegensätze, daſs es absolut unmöglich ist einen Punkt zu entdecken, von dem aus dies alles als harmonische Entwickelung einer ursprüng - lichen Seeleneinheit erschiene. Nichts als der ganz leere, for - male Gedanke eines Ich bleibt, an dem alle diese Wandlungen und Gegensätze vor sich gingen, der aber eben auch nur ein Gedanke ist und deshalb nicht das sein kann, was, vorgeblich über allen einzelnen Vorstellungen stehend, sie einheitlich umschlieſst.
Daſs wir also eine Summe von Atombewegungen und einzelnen Vorstellungen zu der Geschichte eines „ Individuums “zusammenfassen, ist schon unexakt und subjektiv. Dürfen wir, wie jener Individualismus will, nur das als wahrhaft ob - jective Existenz ansehen, was an und für sich im objectiven Sinne eine Einheit bildet, und ist alle Zusammensetzung solcher Einheiten zu einem höheren Gebilde nur menschliche Synthese, der gegenüber die Wissenschaft die Aufgabe der analysierenden Zurückführung auf jene Einheiten habe: so können wir auch nicht bei dem menschlichen Individuum stehen bleiben, sondern müssen auch dies als eine subjektive Zusammenfassung betrachten, während den Gegenstand der Wissenschaft nur die einheitlichen, atomistischen Bestandteile derselben bildeten.
Ebenso richtig wie diese Forderung in der Theorie des Erkennens ist, ebenso unerfüllbar ist sie in der Praxis des - selben. Statt des Ideales des Wissens, das die Geschichte jedes kleinsten Teiles der Welt schreiben kann, müssen uns die Geschichte und die Regelmäſsigkeiten der Konglomerate genügen, die nach unsern subjektiven Denkkategorieen aus der objektiven Gesamtheit des Seins herausgeschnitten werden; der Vorwurf, der diese Praxis trifft, gilt jedem Operieren mit dem menschlichen Individuum so gut, wie dem mit der mensch - lichen Gesellschaft. Die Frage, wie viele und welche realen Einheiten wir zu einer höheren, aber nur subjektiven Ein - heit zusammenzufassen haben, deren Schicksale den Gegen - stand einer besonderen Wissenschaft bilden sollen — ist nur eine Frage der Praxis. Wir haben also, die bloſse Vorläufig - keit und den blos morphologischen Charakter solcher Erkennt - nisse ein für allemal zugegeben, nach dem Kriterium der - artiger Zusammenfassungen, und wie weit diejenige zu einer Gesellschaft ihm genügt, zu fragen.
Es ist mir nun unzweifelhaft, daſs es nur einen Grund giebt, der eine wenigstens relative Objektivität der Verein -13X 1.heitlichung abgiebt: die Wechselwirkung der Teile. Wir be - zeichnen jeden Gegenstand in demselben Maſse als einheitlich, in dem seine Teile in gegenseitigen dynamischen Beziehungen stehen. Darum gewährt ein Lebewesen so besonders die Er - scheinung von Einheit, weil wir in ihm die energischste Wir - kung jedes Teils auf jeden beobachten, während der Zu - sammenhang eines unorganischen Naturgebildes schwach genug ist, um nach Abtrennung eines Teiles die andern in ihren Eigenschaften und Funktionen im wesentlichen unverletzt zu lassen. Innerhalb des persönlichen Seelenlebens ist trotz der vorhin erwähnten Diskrepanz seiner Inhalte doch die funk - tionelle Beziehung höchst eng; jede entlegenste oder noch so lange vergangene Vorstellung kann so sehr auf jede andere wirken, daſs hierfür freilich die Vorstellung einer Einheit von dieser Seite her die gröſste Berechtigung besitzt. Natürlich sind die Unterschiede solcher Berechtigungen nur gradweise; als regulatives Weltprinzip müssen wir annehmen, daſs Alles mit Allem in irgend einer Wechselwirkung steht, daſs zwischen jedem Punkte der Welt und jedem andern Kräfte und hin - und hergehende Beziehungen bestehen; es kann uns deshalb logisch nicht verwehrt werden, beliebige Einheiten herauszu - greifen und sie zu dem Begriff eines Wesens zusammenzu - schlieſsen, dessen Natur und Bewegungen wir nach histori - schen wie gesetzlichen Gesichtspunkten festzustellen hätten. Das Entscheidende hierbei ist nur, welche Zusammenfassung wissenschaftlich zweckmäſsig ist, wo die Wechselwirkung zwischen Wesen kräftig genug ist, um durch ihre isolierte Behandlung gegenüber den Wechselwirkungen jedes derselben mit allen andern Wesen eine hervorragende Aufklärung zu versprechen, wobei es hauptsächlich darauf ankommt, ob die behandelte Kombination eine häufige ist, so daſs die Erkenntnis derselben typisch sein kann und, wenn auch nicht Gesetz - mäſsigkeit, die für die Erkenntnis den Wirkungen der ein - fachen Teile vorbehalten ist, so doch Regelmäſsigkeiten nach - weist. Die Auflösung der Gesellschaftsseele in die Summe der Wechselwirkungen ihrer Teilhaber liegt in der Richtung des modernen Geisteslebens überhaupt: das Feste, sich selbst Gleiche, Substantielle in Funktion, Kraft, Bewegung aufzu - lösen und in allem Sein den historischen Prozeſs seines Wer - dens zu erkennen. Daſs nun eine Wechselwirkung der Teile unter dem statt hat, was wir eine Gesellschaft nennen, wird niemand leugnen. Ein in sich völlig geschlossenes Wesen, eine absolute Einheit ist die Gesellschaft nicht, so wenig wie das menschliche Individuum es ist. Sie ist gegenüber den realen Wechselwirkungen der Teile nur sekundär, nur Re - sultat, und zwar sowohl sachlich wie für die Betrachtung. Wenn wir hier von der morphologischen Erscheinung absehen, in der freilich der Einzelne ganz und gar das Produkt seiner14X 1.socialen Gruppe ist, sondern vielmehr auf den letzten er - kenntnistheoretischen Grund zurückgreifen, so müssen wir sagen: es ist nicht eine Gesellschaftseinheit da, aus deren ein - heitlichem Charakter sich nun Beschaffenheiten, Beziehungen, Wandlungen der Teile ergäben, sondern es finden sich Be - ziehungen und Thätigkeiten von Elementen, auf Grund deren dann erst die Einheit ausgesprochen werden darf. Diese Ele - mente sind nicht etwa an sich wirkliche Einheiten; aber sie sind hier für die höheren Zusammenfassungen so zu behan - deln, weil jedes im Verhältnis zum andern einheitlich wirkt; darum brauchen es auch nicht nur menschliche Personen zu sein, deren Wechselwirkung die Gesellschaft konstituiert, sondern es können auch ganze Gruppen sein, die mit andern zusammen wieder eine Gesellschaft ergeben. Ist doch auch das physikalische und chemische Atom kein einfaches Wesen im Sinne der Metaphysik, sondern absolut genommen immer weiter zerlegbar; aber für die Betrachtung der betreffenden Wissenschaften ist dies gleichgültig, weil es thatsächlich als Einheit wirkt; so kommt es auch für die sociologische Be - trachtung nur sozusagen auf die empirischen Atome an, auf Vorstellungen, Individuen, Gruppen, die als Einheiten wirken, gleichviel ob sie an und für sich noch weiter teilbar sind. In diesem Sinne, der von beiden Seiten her ein relativer ist, kann man sagen, daſs die Gesellschaft eine Einheit aus Ein - heiten ist. Es ist aber nicht etwa eine innerliche, geschlossene Volkseinheit da, welche das Recht, die Sitte, die Religion, die Sprache aus sich hervorgehen lieſse, sondern äuſserlich in Berührung stehende sociale Einheiten bilden durch Zweck - mäſsigkeit, Not und Gewalt bewogen diese Inhalte und Formen unter sich aus, und dieses bewirkt oder vielmehr bedeutet erst ihre Vereinheitlichung. Und so darf man auch für die Erkenntnis nicht etwa mit dem Gesellschaftsbegriff beginnen, aus dessen Bestimmtheit sich nun die Beziehungen und gegen - seitigen Wirkungen der Bestandteile ergäben, sondern diese müssen festgestellt werden, und Gesellschaft ist nur der Name für die Summe dieser Wechselwirkungen, der nur in dem Maſse der Festgestelltheit dieser anwendbar ist. Es ist deshalb kein ein - heitlich feststehender, sondern ein gradueller Begriff, von dem auch ein Mehr oder Weniger anwendbar ist, je nach der gröſseren Zahl und Innigkeit der zwischen den gegebenen Personen bestehenden Wechselwirkungen. Auf diese Weise verliert der Begriff der Gesellschaft ganz das Mystische, das der individualistische Realismus in ihm sehen wollte.
Man scheint freilich nach dieser Definition der Gesell - schaft auch zwei kämpfende Staaten etwa für eine Gesell - schaft erklären zu müssen, da unter ihnen doch zweifellose Wechselwirkung stattfindet. Trotz dieses Konfliktes mit dem Sprachgebrauch würde ich glauben, es methodologisch ver -15X 1.antworten zu können, wenn ich hier einfach eine Ausnahme zugebe, einen Fall, auf den die Definition nicht paſst. Die Dinge und Ereignisse sind viel zu kompliziert und haben viel zu flüssige Grenzen, als daſs man auf eine Erklärung, die für eine Thatsache geeignet ist, verzichten sollte, weil sie auch auf andere und sehr abweichende Thatsachen paſst. Man hat dann eben nur die specifische Differenz zu suchen, die zu dem Begriff der wechselwirkenden Personen oder Gruppen noch hinzugesetzt werden muſs, um den üb - lichen Begriff der Gesellschaft im Gegensatz zu dem der kämpfenden Parteien zu ergeben. Man könnte etwa sagen, er sei eine Wechselwirkung, bei der das Handeln für die eignen Zwecke zugleich die der andern fördert. Allein ganz reicht auch dies nicht zu; denn man wird auch dasjenige Zu - sammen noch immer Gesellschaft nennen, das nur durch den Zwang von einer Seite und zum ausschlieſslichen Nutzen dieser gestiftet und gehalten wird. Ich glaube überhaupt: welche einfache und einheitliche Definition der Gesellschaft man auch aufstellen mag, es wird immer ein Grenzgebiet aufzufinden sein, auf dem sie sich nicht mit dem von unserer Vorstellung der Gesellschaft umschriebenen Gebiete deckt. Auch ist dies das Loos aller Definitionen, die noch etwas mehr wollen, als einen selbstgemachten Begriff beschreiben, und die infolge - dessen ihren Gegenstand völlig decken, weil ihr Gegenstand eben nichts anderes ist, als was sie beschreiben; will man aber eine Definition so geben, daſs zie zugleich in der Ein - heit ihres Inhalts einen gewissen sachlichen, in der Natur der darunter fallenden Dinge selbst liegenden Zusammenhang kenntlich macht, so macht sich in demselben Maſse auch gleich die Inkongruenz zwischen der Abrundung unserer Begriffe und der Fluktuation der Dinge geltend. Es ist aber auch viel wichtiger, statt unsere Begriffe als abgeschlossene Gebilde an - zusehen, deren implizierten Inhalt man sich nur zu explizieren hätte, sie als bloſse Hinweisungen auf Wirklichkeiten zu be - handeln, deren eigentlicher Inhalt erst zu ergründen ist, nicht als Bilder, die nur die helle Beleuchtung brauchen, um einen in sich vollendeten Inhalt zu zeigen, sondern als Umriſs - skizzen, die erst der Erfüllung harren. So scheint mir die Vorstellung der wechselwirkenden Wesen jedenfalls die im Gesellschaftsbegriff liegende Hinweisung auf die Beziehungen zwischen Personen einigermaſsen zu erfüllen.
Allein diese Bestimmung muſs wenigstens quantitativ ver - engert werden, und vielleicht erzielt sich hiermit wenigstens eine nähere Hinweisung auf den Inhalt dessen, was wir Gesell - schaft nennen. Denn auch zwei Menschen, zwischen denen nur eine ephemere Beziehung existirt, würden dem Obigen gemäſs eine Gesellschaft bilden. Prinzipiell muſs das auch zugegeben werden; es ist nur ein Unterschied des Grades zwischen der16X 1.losesten Vereinigung von Menschen zu einem gemeinsamen Werk oder Gespräch, dem flüchtigsten Auftauchen einer Ver - änderung in jedem von ihnen, die durch eine vom andern ausgehende Kraft bewirkt wird — und der umfassendsten Einheit einer Klasse oder eines Volkes in Sitte, Sprache, po - litischer Aktion. Man kann aber die Grenze des eigentlich socialen Wesens vielleicht da erblicken, wo die Wechsel - wirkung der Personen untereinander nicht nur in einem sub - jektiven Zustand oder Handeln derselben besteht, sondern ein objektives Gebilde zustande bringt, das eine gewisse Un - abhängigkeit von den einzelnen daran teilhabenden Persön - lichkeiten besitzt. Wo eine Vereinigung stattgefunden hat, deren Formen beharren, wenngleich einzelne Mitglieder aus - scheiden und neue eintreten; wo ein gemeinsamer äuſserer Besitz existiert, dessen Erwerb und über den die Verfügung nicht Sache eines Einzelnen ist; wo eine Summe von Er - kenntnissen und sittlichen Lebensinhalten vorhanden ist, die durch die Teilnahme der Einzelnen weder vermehrt noch ver - mindert werden, die, gewissermaſsen substantiell geworden, für jeden bereit liegen, der daran teilhaben will; wo Recht, Sitte, Verkehr Formen ausgebildet haben, denen jeder sich fügt und fügen muſs, der in ein gewisses räumliches Zusammen - sein mit andern eintritt — da überall ist Gesellschaft, da hat die Wechselwirkung sich zu einem Körper verdichtet, der sie eben als gesellschaftliche von derjenigen unterscheidet, die mit den unmittelbar ins Spiel kommenden Subjekten und ihrem augenblicklichen Verhalten verschwindet.
Man kann das Allgemeine in doppeltem Sinne verstehen: als dasjenige, was, gewissermaſsen zwischen den Einzelnen stehend, sie dadurch zusammenhält, daſs zwar jeder daran Teil hat, aber keiner es doch ganz und allein besitzt; oder als dasjenige, was jeder besitzt und was nur durch den be - ziehenden oder vergleichenden Geist als Allgemeines kon - statiert wird. Zwischen beiden Bedeutungen aber, die man die reale und die ideelle Allgemeinheit nennen könnte, be - stehen sehr tief gelegene Beziehungen. Obgleich es nämlich sehr wohl möglich ist, daſs die letztere ohne die erstere vor - kommt, so wird man doch wenigstens als heuristischen Grund - satz annehmen können: wo sich gleiche Erscheinungen an äuſserlich in Berührung stehenden Individuen zeigen, ist von vornherein eine gemeinsame Ursache anzunehmen; ent - sprechend deduziert Laplace aus der Thatsache, daſs die Umläufe der Planeten sämtlich in einer Richtung und fast in einer Ebene vor sich gehen, es müsse dem eine ge - meinsame Ursache zu Grunde liegen, weil diese Überein - stimmung bei gegenseitiger Unabhängigkeit ein nicht anzu - nehmender Zufall wäre; so beruht die Entwicklungslehre auf dem Gedanken, daſs die Ahnlichkeiten aller Lebewesen17X 1.untereinander es gar zu unwahrscheinlich machen, daſs die Arten unabhängig von einander entstanden sind. So giebt jede Gleichheit einer gröſseren Anzahl von Gesellschafts - gliedern Anweisung auf eine gemeinsame, sie beeinflussende Ursache, auf eine Einheit, in der die Wirkungen und Wechsel - wirkungen der Gesamtheit Körper gewonnen haben und die nun, ihrerseits auf die Gesamtheit weiterwirkend, dies in für alle gleichem Sinne thut.
Daſs hierin sehr viele erkenntnistheoretische Schwierig - keiten liegen, darf nicht verkannt werden. Jene mystische Einheit des Gesellschaftswesens, die wir oben verwarfen, scheint sich hier auf dem Wege wieder einschleichen zu zu wollen, daſs sein Inhalt nun doch von der Vielheit und Zufälligkeit der Individuen sich ablösen und ihnen gegenüber - stehen soll. Es stellt sich wieder das Bedenken ein, daſs ge - wisse Realitäten jenseits der Einzelnen existieren und doch offenbar, abgesehen von diesen, nichts haben, woran sie exi - stieren könnten. Es ist ungefähr die gleiche Schwierigkeit, wie sie sich in dem Verhältnis zwischen den Naturgesetzen und den Einzeldingen, die ihnen unterworfen sind, aufthut. Denn ich wüſste keine Art von Wirklichkeit, die jenen Ge - setzen zuzuschreiben wäre, wenn es keine Dinge gäbe, auf die sie Anwendung finden; andererseits scheint doch die Kraft des Gesetzes über den Einzelfall seiner Verwirklichung hinaus - zuragen. Wir stellen uns vor, daſs, wenn ein solcher auch bis jetzt nie eingetreten wäre, dennoch das Gesetz als ein allgemeines, sobald er nur einträte, seine Wirkung unweiger - lich üben würde; ja, wenn überhaupt die Kombinationen der Wirklichkeit nie zu den Bedingungen dieser Wirkung führten, so haben wir dennoch die Vorstellung, daſs dieses unrealisierte, bloſs ideelle Naturgesetz noch eine Art von Giltigkeit hätte, die es von einem bloſsen Traume oder einer logisch und physisch unmöglichen Phantasie unterschiede. In diesem zwischen Realität und Idealität schwebenden Zustande steht auch das Allgemeine, das die Individuen zu einer Gesellschaft zusammenbindet, jedem von diesen gegenüber — von ihm ge - tragen und doch von ihm unabhängig. So wenig man zu sagen wüſste, wo denn der Ort der Naturgesetze sei, die wir als wahr anerkennen, wenn sie auch vielleicht nie eine absolut reine Verwirklichung erfahren haben (wie z. B. die geometri - schen Sätze), so wenig ist der Ort dieser ungreifbaren inter - subjektiven Substanz zu nennen, die man als Volksseele oder als deren Inhalt bezeichnen könnte. Sie umgiebt jeden in jedem Augenblick, sie bietet uns den Lebensinhalt dar, in dessen wechselnden Kombinationen die Individualität zu be - stehen pflegt — aber wir wissen niemanden namhaft zu machen, von dem sie entsprungen wäre, keinen einzelnen,Forschungen (42) X 1. Simmel. 218X 1.über den sie nicht hinausragte, und selbst wo wir den Bei - trag einzelner Menschen meinen feststellen zu können, da bleibt noch immer die Frage, ob diese nicht auch ihr We - sentliches von jenem öffentlichen Besitz empfangen haben, der sich in ihnen nur konzentrierte oder originell formte. Die Schwierigkeiten, die sich in dem Verhältnisse zwischen dem Allgemeinen und dem Individuellen in sociologischer Be - ziehung finden, entsprechen ganz denen, die es in rein er - kenntnistheoretischer Hinsicht aufweist, wie sie sich denn auch in den praktischen Schwierigkeiten und Kontroversen über die reale Gestaltung dieses Verhältnisses spiegeln.
Ich glaube nun, daſs die eigentümlichen Widersprüche, die jenes Verhältnis im Theoretischen zeigt und die in dem mittelalterlichen, aber noch immer in andern Formen fort - lebenden Gegensatz von Nominalismus und Realismus auf - fälligste Gestaltung gewonnen haben, eigentlich nur aus mangel - hafter Denkgewohnheit stammen können. Die Formen und Kategorieen unseres Denkens und unserer Ausdrücke für das Gedachte haben sich zu Zeiten gebildet, in denen die primi - tiven Geister von einerseits höchst einfachen, andererseits verworren komplizierten Vorstellungen erfüllt waren, was durch die Einfachheit unkultivierter Lebensinteressen und durch das Vorherrschen der psychologischen Association vor der logischen Abstraktion begreiflich wird. Die Probleme späterer Zeiten drehen sich um Begriffe und Verhältnisse, von denen die früheren keine Ahnung hatten, zu deren Be - wältigung aber nur diejenigen Denk - und Sprechformen da sind, die von den letzteren zu ganz anderen Zwecken ge - prägt sind; diese Formen sind längst erstarrt, wenn es sich darum handelt, einen ganz neuen Inhalt in sie aufzunehmen, der sich nie vollkommen mit ihnen decken wird und der eigentlich ganz andere, jetzt aber nicht mehr herstellbare Denk - bewegungen fordert. Schon für die psychischen Vorgänge haben wir keine besonderen Ausdrücke mehr, sondern müssen uns an die Vorstellungen äuſserer Sinne halten, wenn wir uns ihre Bewegungen, Reibungen, quantitativen Verhältnisse etc. zum Bewuſstsein bringen wollen, weil viel eher die Auſsenwelt als die psychischen Ereignisse als solche Gegen - stände der menschlichen Aufmerksamkeit waren und, als die letzteren diese errangen, die Sprache nicht mehr schöpferisch genug war, um eigenartige Ausdrücke für sie zu formen, sondern zu Analogieen mit den ganz inadäquaten Vorstellun - gen des räumlichen Geschehens greifen muſste. Je allge - meiner und umfassender die Gegenstände unserer Frage - stellung sind, desto weiter liegen sie hinter dem Horizonte, der die Epoche der Sprach - und Denkbildung umgrenzte, desto unhaltbarere, oder nur durch eine Umbildung der Denk -19X 1.formen sich lösende Widersprüche müssen sich ergeben, wenn wir derartige Probleme, also etwa die Frage nach dem Ver - hältnis zwischen Einzelding und Allgemeinbegriff, mit unseren jetzigen Kategorieen behandeln. Es scheint mir, als ob die Erkenntnisschwierigkeiten, die das Verhältnis zwischen dem Individuum und seiner socialen Gruppe umgeben, aus einer entsprechenden Ursache stammten. Die Abhängigkeit von der Gattung und der Gesellschaft nämlich, in der der Ein - zelne in den grundlegenden und wesentlichen Inhalten und Beziehungen seines Lebens steht, ist eine so durchgängige und undurchbrechlich giltige, daſs sie nur schwer ein beson - deres und klares Bewuſstsein für sich erwirbt. Der Mensch ist ein Unterschiedswesen; wie wir nie die absolute Gröſse eines Reizes, sondern nur seinen Unterschied gegen den bis - herigen Empfindungszustand wahrnehmen, so haftet auch unser Interesse nicht an denjenigen Lebensinhalten, die von jeher und überall die verbreiteten und allgemeinen sind, sondern an denen, durch die sich jeder von jedem unter - scheidet. Die gemeinsame Grundlage, auf der sich alles In - dividuelle erst erhebt, ist etwas Selbstverständliches und kann deshalb keine besondere Aufmerksamkeit beanspruchen, die vielmehr ganz von den individuellen Unterschieden verbraucht wird; denn alle praktischen Interessen, alle Bestimmung unserer Stellung in der Welt, alle Benutzung anderer Menschen ruht auf diesen Unterschieden zwischen Mensch und Mensch, wäh - rend der gemeinsame Boden, auf dem alles dies vorgeht, ein konstanter Faktor ist, den unser Bewuſstsein vernachlässigen darf, weil er jeden der allein wichtigen Unterschiede in der gleichen Weise berührt. Wie Licht und Luft keinen ökono - mischen Wert haben, weil sie allen in gleicher Weise zu - gute kommen, so hat der Inhalt der Volksseele als solcher oft insoweit keinen Bewuſstseinswert, als keiner ihn in an - derem Maſse besitzt, als der andere. Auch hier kommt es zur Geltung, daſs, was der Sache nach das Erste ist, für unsere Erkenntnis das Letzte ist; und da findet denn die neu geforderte Erkenntnis nur schwer Kategorieen, in denen die Verhältnisse ihres Inhalts sich widerspruchslos formulieren lieſsen, insbesondere da, wo es sich um weiteste Gebiete han - delt, für die es keine Analogieen giebt.
Das einzige Gebiet, auf dem das Socialgebilde als solches früh in das Bewuſstsein getreten ist, ist das der praktischen Politik, viel später das der kirchlichen Gemeinde. Hier war der zu allem Bewuſstwerden erforderte Unterschied durch den Gegensatz gegen andere Gruppen gegeben, und auſserdem fordert das Verhältnis zwischen dem Einzelnen und der All - gemeinheit nach seiner politischen Seite hin sehr fühlbare Beiträge des ersteren, was denn immer ein stärkeres Bewuſst -2*20X 1.sein erweckt als das Empfangen, wie es in anderen Be - ziehungen zwischen dem Individuum und seiner Gruppe für jenes vorherrscht. Im Gegensatz zu den Bewegungen der ganzen Gruppe, die sich dem sociologischen Denken als nächstes Objekt darboten, sollen die folgenden Überlegungen im wesentlichen die Stellung und die Schicksale des Ein - zelnen zeichnen, wie sie ihm durch diejenige Wechselwirkung mit den andern bereitet werden, die ihn mit diesen zu einem socialen Ganzen zusammenschlieſst.
Rohere Epochen zeigen durchgängig die Tendenz, die schädigende That des Einzelnen als strafbares Verschulden seines socialen Kreises, der ganzen Familie, des Stammes u. s. w. anzusehen. Innerhalb einer politisch einheitlichen Gruppe geschieht, wo eine Centralgewalt die Missethat heim - sucht, dies oft bis ins dritte und vierte Glied, und Strafen jeder Art treffen Familienglieder, die an dem Vergehen völlig unschuldig sind; in noch stärkerem Maſse findet dasselbe bei Privatrache statt, die häufig auf eine Schädigung des Ein - zelnen durch einen Einzelnen hin in einen Krieg der ganzen Familien untereinander ausartet, und zwar sowohl ihrer ganzen Breite nach, wie auf die Folge ganzer Generationen hin. Bei politisch getrennten Gruppen fordert die Gesamtheit der einen von der Gesamtheit der andern Genugthuung für die Be - schädigung, die ihr oder einem ihrer Mitglieder von einem Mitgliede der andern widerfahren ist. Ein Differenzierungs - mangel kann hierin nach zwei Seiten liegen: zunächst ob - jectiv, insofern die Verschmelzung zwischen Individuum und Gesamtheit thatsächlich eine so enge sein kann, daſs die Thaten des Ersteren mit Recht nicht als individuelle im strengen Sinne, sondern aus einer gewissen Solidarität jedes mit jedem hervor - gegangen gelten können; zweitens subjektiv vermöge der Un - fähigkeit des Beurteilenden, das schuldige Individuum von der Gruppe zu sondern, mit der es sich in allen übrigen Be - ziehungen, aber doch gerade nicht in der der vorliegenden Schuld in Verbindung befindet. — Da öfters indes eine und dieselbe Ursache nach beiden Seiten hin wirkt, so scheint es zweckmäſsig, daſs die folgende Begründung dieser Möglich - keiten sie nicht in scharfer Sonderung behandelt.
22X 1.In Bezug auf die reale Zusammengehörigkeit scheint es allerdings, als ob in der primitiven Gruppe das Vererbungs - prinzip, das auf Zusammenhang und Gleichheit der Individuen geht, gegenüber dem Anpassungsprinzip, das auf Verselbstän - digung und Variabilität geht, im Übergewicht wäre. Man hat mit Recht hervorgehoben, daſs der sociale Zusammenschluſs eines der wesentlichsten Mittel der Menschen im Kampfe ums Dasein ist und sich deshalb wahrscheinlich durch natürliche Zuchtwahl zu seiner thatsächlichen Enge und Strenge erhoben hat. Je kleiner aber die Gruppe ist, die dem Einzelnen die Gesamtheit der ihm nötigen Anlehnungen bietet, und je weniger er auſserhalb gerade dieser die Möglichkeit einer Existenz findet, desto mehr muſs er mit ihr verschmelzen. Die Ver - selbständigung und Loslösung des Individuums von dem Boden der Allgemeinheit geschieht durch die Fülle und Verschieden - artigkeit der Vererbungen und Lebensbeziehungen; je mehre davon jeder zu Lehen trägt, desto unwahrscheinlicher ist die Wiederholung der gleichen Kombination, desto gröſser die Möglichkeit, sich von einer Anzahl von Beziehungen zu Gun - sten anderer zu lösen. Wir fühlen uns enger verknüpft und sind es auch thatsächlich, wenn nur wenige Fäden uns binden, die aber doch alle Richtungen unseres Thuns und Empfindens leiten und eben wegen dieser geringen Anzahl stets ganz im Bewuſstsein bleiben; wo viele nach den verschiedensten Rich - tungen verlaufende Bindungen statthaben, erscheint die Ab - hängigkeit von dieser Totalität kleiner, weil sie in Hinsicht jeder einzelnen kleiner ist, und sie ist es auch insofern, als die hervorragende Bedeutung des Einen oder des Andern uns jedenfalls dem Ganzen als Ganzem gegenüber gröſsere Frei - heit giebt. Je einfacher die realen und idealen Kräfte sind, die eine Gemeinschaft zusammenbinden, welche die wesent - lichen Lebensbeziehungen des Einzelnen einschlieſst, desto enger und solidarischer ist der Zusammenhang zwischen diesen und dem Ganzen; aber desto kleiner kann natürlich das letztere nur sein. Die Geschichte der Religionen giebt dafür treffende Analogieen. Die kleinen Gemeinden des Urchristentums hatten einen verhältnismäſsig geringen Besitz an Dogmen; aber sie wurden durch diese in Zusammenhänge gebracht, die, von unzerreiſsbarer Stärke, jeden an jeden unbedingt banden. In demselben Maſse, in dem der Kreis des christ - lichen Glaubens sich äuſserlich erweiterte, wuchs auch der Dogmenbesitz und verminderte sich zugleich die solidarische Zugehörigkeit des Einzelnen zur Gemeinde. Der Entwicke - lungsprozeſs fast aller Parteien zeigt den gleichen Typus: in der ersten Periode des Grundgedankens der Partei, also gleichsam in der primitiven Form der Gruppenbildung, ist die Partei einerseits klein, andererseits aber von einer Ent - schlossenheit und Festigkeit des Zusammenhanges, der ge -23X 1.wöhnlich verloren geht, sowie die Partei sich vergröſsert, was Hand in Hand mit der Erweiterung des Parteiprogramms zu geschehen pflegt.
Das sociale Ganze als solches fordert, um bestehen zu können, ein gewisses Quantum von Ernährung, welches ganz wie beim einzelnen Organismus nicht im gleichen Verhältnis der Gröſse jenes wächst; infolge dessen wird, wo nur ver - hältnismäſsig wenige Mitglieder die Gruppe bilden, jedes der - selben mehr zur Erhaltung der Gruppe beitragen müssen, als wo dies einer gröſseren Anzahl obliegt; so bemerken wir, daſs oft die Kommunallasten in kleinen Städten relativ viel gröſsere sind, als in gröſseren; gewisse Ansprüche der Gesell - schaft bleiben die gleichen, ob diese nun klein oder groſs ist, und fordern deshalb von dem Einzelnen um so stärkere Opfer, auf je wenigere sie sich verteilen. Der Umweg der folgenden Überlegung führt zu dem gleichen Endpunkt.
Der sociale Organismus zeigt denjenigen analoge Erschei - nungen, die für das einzelne Lebewesen zur Annahme einer besonderen Lebenskraft geführt haben. Die wunderbare Zähigkeit, mit der der Körper die Entziehung von Bedingungen erträgt, an die normalerweise seine Ernährung und der Be - stand seiner Form geknüpft ist; der Widerstand, den er po - sitiven Störungen entgegensetzt, indem er von innen heraus Kräfte entfaltet, die gerade in dem Maſse disponibel scheinen, dessen es zur Überwindung des augenblicklichen Angriffs be - darf; endlich darüber noch hinausgehend das Wiederwachsen verletzter oder verlorener Teile, das gewissermaſsen von selbst und durch eine innerliche Triebkraft das wie auch immer be - schädigte Ganze herzustellen vermag oder wenigstens strebt — das alles schien auf eine besondere Kraft hinzuweisen, die, über allen einzelnen Teilen stehend und von ihnen unab - hängig, das Ganze als solches in seinem Bestande erhält. Ohne nun eine mystische Harmonie hinzuzuziehen, bemerken wir doch an dem gesellschaftlichen Ganzen eine ähnliche Widerstandskraft, welche sich proportional den Ansprüchen entfaltet, die äuſsere Angriffe an sie stellen, eine Heilkraft gegenüber zugefügten Beschädigungen, eine Selbsterhaltung, deren äuſsere Quellen scheinbar nicht aufzufinden sind, und die oft das Ganze noch zusammenhält, wenn ihm längst die gesunden Säfte vertrocknet und der Zufluſs neuer Nahrung abgeschnitten ist. Nun hat man sich aber überzeugt, daſs jene Lebenskraft doch kein besonderes, über den Teilen des Organismus schwebendes Agens ist, sondern höchstens als zu - sammenfassender Ausdruck für die Wechselwirkung der Teile gelten kann; kein einziger Teil eines Körpers bewegt, erhält oder ergänzt sich in einer Weise, die nicht auch auſserhalb des Organismus herstellbar wäre, wenn man ihm die gleichen mechanischen und chemischen Reize darböte; und nicht werden24X 1.die einzelnen Organe und Zellen zum Zusammenhalt und Wachstum bewogen durch eine jenseits ihrer, sondern nur durch die in ihnen selbst befindlichen Kräfte, und die Form und Dauer ihres Beisammenseins hängt nur von den Spann - kräften ab, die jedes mitbringt und deren Entwicklung sie gegenseitig hervorrufen. Nur die unermeſsliche Feinheit und Verkettung dieser Wechselwirkungen, die die Einsicht in ihre Einzelheiten und in den Beitrag jedes Teiles verwehrten, schienen auf eine besondere Kraft jenseits der in den Elementen selbst liegenden Anweisung zu geben. Je höher, ausgebildeter und feiner ein Gebilde, desto mehr scheint es von einer ihm eigentümlichen, nur dem Ganzen als Ganzem geltenden Kraft dirigiert zu werden, desto unmerkbarer wird der Anteil der Elemente an dem Bestehen und der Entwicklung des Ganzen. Während in einem rohen und unorganischen oder nur aus wenigen Teilen zusammengesetzten Aggregate die Einwirkung jedes Teiles zu dem Schicksal des Ganzen sich sozusagen makroskopisch feststellen läſst, ist sie in einem feinen und vielgliedrigen nur dem geschärften Blick sichtbar; dieses ge - stattet dem Teile eine solche Fülle von Beziehungen, daſs er, gewissermaſsen zwischen diese gestellt, sich keiner völlig hin - giebt und so eine Selbständigkeit gewinnt, die seine Mit - wirkung am Ganzen objektiv und subjektiv verdeckt. So wichtig für primitive Verhältnisse das Angewiesensein des Einzelnen auf seine Gruppe ist, so werden sie doch noch cha - rakteristischer durch das hohe Maſs bezeichnet, in dem die Gruppe auf den Einzelnen angewiesen ist und das einfach die Folge dieser geringen Mitgliederzahl ist. Trotzdem nun die einfacheren Lebensbedingungen und das Übergewicht körperlicher Thätigkeit über die geistige dem Naturmenschen vielleicht zu einer gesunderen und normaleren Constitution verhelfen, als der Culturmensch sie besitzt, so ist doch infolge des eben genannten Verhältnisses seine Gruppe auſserordentlich viel empfindlicher und angreifbarer und zersplittert auf un - vergleichlich leichtere Anstöſse hin als etwa ein groſser Kultur - staat, dessen Individuen vielleicht, für sich betrachtet, viel schwächlicher sind. Gerade aus diesem Verhältnis wird die wachsende Unabhängigkeit des Ganzen und seiner Kraft von jedem seiner Individualelemente klar; je mehr das Ganze auf diese angewiesen ist, d. h. je gröſsere Beiträge sie ihm leisten müssen, desto zugänglicher muſs es für die von Einzelnen ausgehenden oder irgendwie durch sie hindurchgehenden Er - schütterungen sein; dies ändert sich mit der Zunahme und Kultivierung des öffentlichen Wesens derart, daſs dieses sogar nach gewissen Seiten hin eine Depravierung seiner Mitglieder gegen den früheren Zustand verträgt, ohne daſs die Über - legenheit seiner Selbsterhaltung diesem gegenüber vermindert würde. Wenn aber die sociale Gruppe deshalb den Anschein25X 1.erweckt, als ob eine eigene, von ihren Elementen relativ unabhängige Lebenskraft ihre Selbsterhaltung bewirkte und ihre Störungen ausgliche, so beweist dies nur die hohe Aus - bildung und innerliche Verknüpftheit ihrer Vereinigungsform; und mit dem Steigen dieser Eigenschaften wird auch jene Folge wachsen, das Ganze wird selbständiger den Teilen gegenüber erscheinen und sein, der Teil immer weniger sich dem Ganzen hinzugeben brauchen. So ist die Thatsache der anspruchsvolleren Verpflichtung des Einzelnen durch die klei - nere Gruppe, seine engere Verschmelzung mit ihr als mit der gröſseren nur als ein specieller Fall einer ganz allgemeinen, für den Zusammenhang der Dinge geltenden Norm anzusehen.
Eine etwas einfachere Überlegung stellt das gleiche Ver - hältnis noch von einer andern Seite dar. Da die Differen - zierung auch der individuellen Kräfte und Thätigkeiten bei primitiven socialen Zuständen noch eine unvollkommne ist, so kann auch eine scharfe Sonderung zwischen dem, was des Kaisers ist, und dem, was die privaten oder anderweitigen socialen Interessen des Einzelnen beanspruchen und bean - spruchen dürfen, noch nicht eintreten, und das dem Gemein - wesen gebrachte Opfer ist deshalb leicht umfänglicher, als die Sache es fordert; wegen der noch zu engen Verbindung zwi - schen den einzelnen Willensakten und Interessenkreisen setzt die einzelne Zweckthätigkeit noch viele andere, eigentlich nicht dazu gehörige in Bewegung und verbraucht sie — un - gefähr wie Kinder und ungeschickte Menschen zu einer vor - gesetzten Thätigkeit viel mehr Muskelgruppen innervieren, als für sie erforderlich ist, wie sie oft den ganzen Arm be - wegen, wo sie nur einen Finger, den ganzen Körper, wo sie nur einen Arm zu bewegen brauchten. Wo die Ansprüche der socialen Gruppe an den Einzelnen, wo das Maſs, in dem er sich ihnen hingeben kann, in scharfer Umgrenzung heraus - differenziert ist, da können sie ceteris paribus geringere sein, als wo ein ungefüges Ineinander und Durcheinander der Lebensmomente die einzelne Forderung noch so und so viel Benachbartes gewissermaſsen mit sich fortreiſsen läſst. Ich erinnere daran, wie die Mitgliedschaft in einer Zunft sehr oft eine politische Parteistellung erforderte, die eine höhere Ent - wickelung ganz von dem Zwecke der Zunft ablöste, an die ziemlich unbedingte Notwendigkeit in engeren und primitiven Staatsgruppen auch dem religiösen Bekenntnis derselben an - zugehören, an den Zwang früherer Zeiten bei Zugehörigkeit zu einer gewissen Familie auch den in ihr erblichen Beruf zu ergreifen, z. B. in[Ägypten], Mexico u. s. w. Wie dieser Zustand noch in die höchsten Kulturen hineinragt, lehrt jeder unbefangene Blick; ich nenne nur ein etwas abgelegeneres Beispiel: in England war bis 1865 jeder Arbeiter oder An - gestellte, der durch Gewinnanteil besoldet wurde, eo ipso26X 1.als Teilnehmer (partner) des Geschäftsinhabers angesehen, also solidarisch haftbar für ihn. Ein Gesetz dieses Jahres erst löste diese Verbindung, indem es durch feinere Differen - zierung gerade nur diejenigen bestehen lieſs, auf die es ankam. Der Arbeiter konnte nun Teil am Gewinne haben, ohne in das sachlich ungerechtfertigte Risiko der vollkommenen Teilhaber - schaft hineingerissen zu werden. Es ist für alle diese Ver - hältnisse zu beachten, daſs die mangelhafte Differenzierung nicht nur, im Objektiven stattfindend, die Funktion eines Teils mit der eines andern, die teleologisch nicht dazu er - forderlich wäre, verschmelzen läſst, sondern daſs auch das subjektive Urteil oft die Möglichkeit der Sonderung nicht entdeckt und nun, wenn das Geschehen von bewuſster Er - kenntnis, Plan oder Befehl abhängig ist, die Heraussonderung des allein Erforderlichen deshalb selbst dann nicht stattfindet, wo dies sachlich schon geschehen könnte. Die Differenzierung in unserm Vorstellen der Dinge steht keineswegs in gleichem Verhältnis zu dieser thatsächlichen Differenzierung oder Dif - ferenzierungsmöglichkeit, wenngleich im groſsen und ganzen die erstere von der letzteren bestimmt werden wird; da nun aber auch vielfach die erstere die letztere bestimmt, so wird bei Mangelhaftigkeit derselben sich der Zirkel ergeben, daſs der Glaube, die Personen oder Funktionen gehörten zu - sammen, auch thatsächlich ihre Individualisierung verhindert und dieser reale Mangel wieder jene mangelhafte Erkenntnis stützt. So hat gerade der Glaube an die unlösliche Solidarität der Familie, der einem undifferenzierten Vorstellen entsprang, zu dem Heimsuchen der gegen dritte Personen gerichteten in - dividuellen That an der Familie als Ganzem geführt und dieser Umstand wiederum die Familie genötigt sich zur Ab - wehr des Angriffs wirklich aufs engste zusammenzuschlieſsen, was dann jenem Glauben wieder eine verstärkte Grundlage gab.
Man muſs nun auch im Auge behalten, daſs in demselben Maſse, in dem sich der Einzelne an den Dienst seiner Gruppe hingiebt, er von ihr auch Form und Inhalt seines eigenen Wesens empfängt. Freiwillig oder unfreiwillig amalgamiert der Angehörige einer kleinen Gruppe seine Interessen mit denen der Gesamtheit, und so werden nicht nur ihre In - teressen die seinen, sondern auch seine Interessen die ihren. Und schon dadurch wird seine Natur gewissermaſsen der des Ganzen eingeschmolzen, daſs namentlich im Verlauf vieler Generationen die Eigenschaften sich immer den Interessen anpassen und so die Einheit der Zwecke zur Einheit des geistigen und leiblichen Wesens führt.
Wir sehen, wie die Beziehungen, die den Einzelnen in völliger Einheitlichkeit mit seiner Gruppe erscheinen lassen, zwei Typen aufweisen, welche mit denjenigen Hauptgründen27X 1.zusammenfallen, die im individuellen Geiste die Association der Vorstellungen bewirken: einerseits die Gleichheit, anderer - seits der reale Zusammenhang. Trotzdem die Anpassung schlieſslich, wie eben erwähnt, die erstere aus dem letzteren kann hervorgehen lassen, obgleich ferner die Entwickelung der gesellschaftlichen Gruppe aus der Familie eine gemeinsame Ursache für beiderlei Beziehungen schafft, so sind sie doch in hohem Grade von einander unabhängig; zwei Vorstellungen ebenso wie zwei Individuen können einander im höchsten Maſse ähnlich sein, ohne daſs irgend eine funktionelle Be - rührung zwischen ihnen existiert; nur in dem auffassenden Geiste entsteht der Zusammenhang und die vielfache Ver - schmelzung von Objekten, die nichts Anderes als gewisse Qualitäten gemeinsam haben. Durch diese Eigenschaft des Geistes, daſs das gleich Erscheinende sich in ihm associiert und reproduziert, werden natürlich auch die Gefühle, die sich an einen der gleich qualifizierten Gegenstände oder Personen knüpften, auf den andern übertragen, der sachlich durchaus keine Veranlassung dazu gegeben hat. Kein Mensch wird sich ganz frei davon fühlen, daſs er einem andern eine wenig freundliche und nicht ganz vorurteilslose Stimmung entgegen - bringt, der etwa mit seinem Todfeinde eine täuschende Ähnlichkeit hat. Umgekehrt fesseln uns einzelne Züge an Menschen oft mit einer Stärke, die aus ihren eigentlichen Werten und Reizen nicht verständlich ist, und die sich einem näheren Nachforschen oft so enthüllt, daſs ein anderer uns teurer Mensch eben diese Eigenschaft besessen hat und nun die Gleichheit derselben die Übertragung des Gefühls ver - mittelt, das ehemals mit ihr verknüpft war, auch wenn die sachlichen Gründe, die es in jenem Falle erzeugten, in diesem völlig fehlen; die formale Gleichheit in einem Punkte genügt, um für unser Empfinden ein annäherndes Verhältnis zu dieser wie einst zu jener Person herzustellen. Wie sehr dies unser praktisches Verhalten beeinfluſst, liegt auf der Hand. Freund - schaftliche wie feindselige Gesinnungen gegen eine Gruppe werden unzählige Male dadurch hervorgerufen oder verstärkt, daſs ein einzelnes Mitglied derselben sachliche Veranlassung dazu gegeben hat, und nun die psychologische Association zwischen den gleich charakterisierten Vorstellungen das gleiche Gefühl auch auf alle diejenigen überträgt, die, wie es in einer Familie oder einem Volksstamme der Fall zu sein pflegt, durch Ähnlichkeit oder äuſsere Kennzeichen — sei es auch nur die Führung des gleichen Namens — diese Zusammen - schlieſsung im Geiste des Dritten begünstigen. Und, worauf es für unsere Beweisführung ankommt, dies wird in Zeiten eines unausgebildeteren und roheren Bewuſstseins in erhöhtem Maſse stattfinden, weil ein solches ganz besonders von der Association durch äuſserliche Gleichheit beherrscht wird; so28X 1.wird uns von Naturvölkern berichtet, daſs sie die Vorstellung eines Menschen, die sein Bild hervorruft, nicht von der seiner wirklichen Gegenwart zu unterscheiden wissen. Je unklarer und verworrener das Denken ist, desto unmittelbarer zieht die Association auf Grund irgend einer Äuſserlichkeit die Identi - fizierung der Objekte auch in jeder anderen Beziehung nach sich, und in demselben Maſse, in dem dieses psychologische Verhalten überhaupt statt ruhiger Sachlichkeit eine vorschnelle Subjektivität herrschen läſst, wird es ohne weiteres diejenigen Empfindungen und Handlungsweisen, die einer bestimmten Person aus sachlichen Gründen gelten, auf den ganzen Kreis derjenigen übertragen, die durch irgend welche Gleichheiten die Association hervorrufen.
Andererseits aber bedarf es einer Gleichheit erscheinender Eigenschaften nicht, um die Gesamtheit einer Gruppe für die That eines ihrer Mitglieder verantwortbar zu machen, sobald funktionelle Verbindungen, Einheit der Zwecke, gegenseitige Ergänzung, gemeinsames Verhalten zu einem Oberhaupt u. s. w. stattfinden. Hier liegt, glaube ich, der Haupterklärungsgrund für das Problem, von dem wir ausgingen. Die feindselige Aktion gegen den fremden Stamm, handle es sich nun um Erbeutung von Frauen, Sklaven oder sonstigem Besitz, um Befriedigung eines Rachegefühls oder um was immer, wird kaum je von einem Einzelnen unternommen, sondern immer in Gemeinschaft wenigstens mit einem wesentlichen Teile der Stammesgenossen; schon deshalb ist das nötig, weil, wenn sich der Angriff auch nur gegen ein einzelnes Mitglied eines fremden Stammes richtet, dennoch dieser als ganzer zu dessen Verteidigung herbeieilt; und dies wiederum geschieht nicht nur, weil die angegriffene Persönlichkeit vielleicht dem Gan - zen von Nutzen ist, sondern weil jeder weiſs, daſs das Ge - lingen des ersten Angriffes dem zweiten Thür und Thor öffnet, und daſs der Feind, der heut den Nachbar beraubt hat, sich morgen mit gewachsener Kraft gegen ihn selber wenden wird. Diese Analogisierung des eigenen Schicksals mit dem des Nachbars ist einer der mächtigsten Hebel der Vergesellschaftung überhaupt, indem sie die Beschränkung des Handelns auf das unmittelbare eigene Interesse aufhebt und das letztere durch den Zusammenschluſs gewahrt sieht, der zunächst nur dem anderen zugute kommt. In jedem Fall ist klar, wie die Vereinigung zur Offensive und die zur De - fensive in Wechselwirkung stehen, wie der Angriff nur in der Zusammenwirkung der Vielen erfolgreich ist, weil die Ver - teidigung die Vielen aufruft, und umgekehrt dies nötig ist, weil der Angriff ein kombinierter zu sein pflegt. Die Folge muſs die sein, daſs in allen feindlichen Begegnungen, in denen also jeder einer Gesamtheit gegenübersteht, er auch in jedem Gegner nicht sowohl diese bestimmte Person, als vielmehr ein29X 1.bloſses Mitglied der feindlichen Gruppe erblickt. Feindliche Berührungen sind in viel höherem Maſse kollektivistisch als freundliche, und umgekehrt pflegen kollektivistische Be - ziehungen der Gruppen zu einander überwiegend feindseliger Natur zu sein und zwar bis in die höchsten Kulturen hinein, weil auch in diesen noch jeder Staat absolut egoistisch ist; wo selbst solche freundlicherer Art von Stamm zu Stamm stattfinden, sind sie doch im ganzen nur die Grundlage für individuelle Beziehungen — Handel, Connubium, Gastfreund - schaft u. s. w. —, räumen nur die Hindernisse weg, die diesen sonst von Stammes wegen entgegenstehen; und wo sie positi - veren Inhalt annehmen, wo die Vereinigung ganzer Stämme mit einander anders als durch gewaltsame Unterwerfung und Verschmelzung geschieht, da pflegt doch der Zweck davon kein anderer als ein kriegerischer, eine gemeinsame Offensive oder Defensive zu sein, so daſs auch hier nicht nur dem Dritten gegenüber der Einzelne seine Bedeutung nur als Mit - glied des Stammes und durch die Solidarität mit diesem hat, sondern auch die Verbündeten untereinander nur vom Stand - punkt des Stammesinteresses aus miteinander zu thun haben; was sie aber zusammenführt und verknüpft, ist nur das ge - meinsame Verhältnis zum Feinde, und der Einzelne hat einen Wert nur insofern, als die Gruppe hinter ihm steht. Diese aus praktischen Gründen erforderte Solidarität hat nun man - cherlei Folgen, die sich weit über Dauer und Umfang ihrer ursprünglichen Veranlassung hinaus erstrecken. Es ist mit Recht hervorgehoben worden, daſs gerade bei den Völkern, die sich durch Freiheitssinn auszeichneten, Griechen, Römern, Germanen, die vornehme Geburt einen Wert besaſs, der weit über die reale Macht und Bedeutung der Persönlichkeit hinausreichte. Die edle Abstammung, die Ahnenreihe, die von den Göttern ausgeht, erscheint fast als das höchste dessen, was der griechische Dichter preist; für den Römer drückte die unfreie Abstammung einen durch nichts zu tilgenden Makel auf, und bei den Germanen begründete der Unter - schied der Geburt zugleich einen rechtlichen Gegensatz. Dies ist wohl die Nachwirkung der Zeit der unbedingten Familien - solidarität, in der die ganze Familie zu Schutz und Trutz hinter dem Einzelnen stand, welcher dadurch in demselben Maſse angesehener und bedeutender war, als seine Familie groſs und mächtig war. Wenn etwa bei den Sachsen das Wehrgeld eines Adligen das Sechsfache dessen für einen Ge - meinfreien betrug, so erscheint dies nur als rechtliche Fixierung der Thatsache, daſs eine groſse und mächtige Fa - milie den Mord eines ihrer Mitglieder viel kräftiger und schärfer rächen konnte und rächte als eine unbedeutendere. Die Zugehörigkeit zu einer solchen Familie behielt diese so - ciale Wirkung noch dann, als das eigentlich wirkende und30X 1.verbindende Glied: die Unterstützung durch diese Familie, schon längst weggefallen war. Mit einer starken freiheit - lichen Tendenz der Völker konnte dies zusammentreffen, weil unter Völkern, die tyrannisch regiert wurden und ihre socialen Verhältnisse diesem Regime angepaſst hatten, mäch - tige Familiengruppen nicht bestanden haben können. Eine starke Centralgewalt muſs derartige Staaten im Staate zu be - seitigen und ihrerseits dem Einzelnen die sociale, politische, religiöse Anlehnung und vor allem den persönlichen und Rechtsschutz zu gewähren suchen, den er in politisch freieren Gruppen nur durch den Anschluſs der Familie findet. Des - halb ist für das römische Kaisertum gerade dies so bezeich - nend, daſs es Freigelassene an die höchsten Stellen setzte und so im Gegensatz zu allen Anschauungen der freieren Zeit aus demjenigen, der seitens seiner Familie nichts war, willkürlich alles machte. So löst sich der scheinbar psycho - logische Widerspruch zwischen dem Freiheitssinn der Völker und ihrer Bindung der individuellen Bedeutung an den Zu - fall der Geburt, sobald unsere Hypothese gilt, daſs die letztere dem realen Schutze durch die Familie entstammt, der seiner - seits nur in freieren Staaten möglich ist, in denen die Fa - milie selbständige Macht besitzen darf. Wie sehr übrigens die Solidarität auch der weiteren Familie sich noch in unsre Kultur hineinerstreckt, sieht man recht aus der Ängstlichkeit, mit der die meisten Personen selbst entfernte Verwandte von social niedrigerer Stellung von sich entfernen und manchmal geradezu verleugnen; gerade die Besorgnis, durch sie kom - promittiert zu werden, und die Bemühung, die Zusammen - gehörigkeit mit ihnen abzuweisen, zeigt, welche Bedeutung man dieser Zusammengehörigkeit doch noch zutraut.
Der praktische Zusammenschluſs, in dem der Dritte die Familie erblickt, ist von vornherein kein völlig gegenseitiger, sondern nur der Schutz, den die Eltern den Kindern zu teil werden lassen. Man kann dies wohl als eine Fortsetzung der Selbsterhaltung ansehen und zwar schon von einer ziemlich tiefen Stufe der Organismen an: das Weibchen muſs die Eier oder den Fötus zu sehr als pars viscerum fühlen, vor allem muſs die Ausstoſsung derselben, ebenso wie für das Männ - chen die Ejaculation des Samens, mit einer zu groſsen Er - regung verbunden sein, um nicht dem Wesen, mit dessen Er - scheinung diese Erregungen associiert sind, eine hochgradige Aufmerksamkeit zuzuwenden und es noch als zur Sphäre des eigenen Ich gehörig zu behandeln; das gleiche Interesse, so hat ein Zoologe dies ausgedrückt, das der Erzeuger für die associiert gebliebenen Teile seines Körpers fühlt, bewahrt er eine Zeit lang fast in demselben Maſse für jene Elemente, welche sich von ihm losgelöst haben, ohne ihm schon fremd zu sein. Daher ist bei den Insekten das Männchen gegen31X 1.seine Nachkommenschaft so gleichgiltig, weil die Befruchtung dort eine innere ist und die im Innern des weiblichen Kör - pers vorgehende Entwickelung ihm verborgen bleibt, während umgekehrt der männliche Fisch häufig die Mutterrolle über - nimmt, weil er seine Geschlechtsprodukte zuletzt über die Eier ergieſst, indessen das Weibchen, das von ihnen getrennt ist, sie in dem unbeständigen Elemente, in das sie geworfen wurden, nicht mehr erkennen kann. Indem so zwischen Er - zeuger und Erzeugtem die organische Gemeinschaft fort - besteht, auch wo ihre physische Erscheinung abgeschlossen ist, wird gewissermaſsen eine familienhafte Einheit a priori hergestellt. Der Zusammenschluſs geht hier nicht aus dem Bestreben des Individuums hervor, sich oder andere zu er - halten, sondern umgekehrt folgt dieser Trieb, die Gesamtheit der Familie zu schützen, aus dem Gefühl der Einheit, das den Erzeuger mit dieser zusammenschlieſst. Daſs die wach - sende Intensität dieser Beziehungen, wie wir sie bei den höheren Tieren und schlieſslich beim Menschen beobachten, eine über die unmittelbare Abstammung hinausreichende So - lidarität der Familie bewirkt, ist psychologisch leicht ver - ständlich; ebenso, daſs auch die Jungen schlieſslich aus der Passivität heraustreten, die zunächst ihr Verhalten in der Familieneinheit charakterisiert, und wenigstens dadurch, daſs sie den elterlichen Schutz suchen, sich ihm unterordnen und die Masse der zusammenhaltenden Gruppe vermehren, zum Bestande und Fortschritt dieser beitragen.
Überblicken wir diese Erwägungen, so tritt uns neben dem Seite 26 f. genannten ein weiteres Einteilungsprinzip der Ursachen entgegen, die dem Dritten gegenüber das Mitglied einer Gruppe nur als ein solches, nicht aber als Individualität erscheinen lassen. Zunächst machen sich uns dahin wirkende Beziehungen bemerkbar, die von den Verhältnissen zu dritten Personen relativ unabhängig sind: die organische Zusammen - gehörigkeit von Eltern und Kindern, die Ähnlichkeit der - selben untereinander, die Anpassung der Interessen an gleiche Lebensbedingungen, ihre Verschmelzung auch an solchen Punkten, die abseits von der Beziehung zu anderen Stämmen stehen — alles dies verursacht eine Einheitlichkeit, die es einerseits dem Dritten erschwert, den Einzelnen als Individu - alität zu erkennen und zu behandeln, andererseits die Aktion der Gruppe gegen alle Auſsenstehenden hinreichend zu - sammenschlieſst, um das Verhältnis zu Einem auch mit sach - licher Richtigkeit als ein solches zur Gesamtheit gelten zu lassen, auch gegen diese diejenigen Gefühle und Reaktionen solidarisch zu richten, die ein Einzelner hervorgerufen hat. Während hier also eine ursprüngliche Einheit den Grund bildet, daſs dem Dritten gegenüber einheitlich gehandelt wird, sahen wir zweitens, daſs die Not des Lebens vielfach eine32X 1.Gemeinsamkeit des Vorgehens veranlaſst, und daſs diese, auch ohne daſs eine reale Einheit vorhergeht, nun umgekehrt eine solche bewirkt. Ich halte dies für den tieferen und wich - tigeren, wenngleich verborgeneren Prozeſs. Auch auf ent - wickeltsten Gebieten glauben wir oft, daſs die solidarische Aktion zweier Persönlichkeiten aus einer inneren Zusammen - gehörigkeit derselben hervorginge, während thatsächlich diese erst durch die Notwendigkeit jener vorübergehend, aber oft auch dauernd bewirkt wurde; hier wie sonst bilden sich die Organe nach den Funktionen, die die Umstände von ihnen verlangen, nicht aber sind jene, resp. die Subjekte, immer von vornherein so eingerichtet, daſs sich die geforderte Leist - ung von selbst, wie von innen heraus ergiebt. Auch inner - halb des Individuums ist dasjenige, was man Einheit der Persönlichkeit nennt, keineswegs die Grundlage des Wesens, aus der nun die Einheit des Verhaltens gegenüber Menschen und Aufgaben folgte, sondern umgekehrt hat oft erst die praktische Notwendigkeit für die verschiedenen Seelenkräfte, sich einem Dritten gegenüber gleich zu verhalten, innere Be - ziehungen und Vereinheitlichungen unter ihnen zur Folge. So gewinnt z. B. ein Mensch, der von widersprechenden Neigungen und Leidenschaften erfüllt ist, den etwa sinnliche, intellektuelle, ethische Triebe nach ganz verschiedenen Seiten reiſsen, die Einheitlichkeit seines Wesens dadurch, daſs die religiöse Idee über ihn kommt; indem die verschiedenen Seiten seiner Natur sich gleichmäſsig dem fügen, was als göttlicher Wille für jede derselben offenbart ist, und so in das gleiche Verhältnis zu der Gottesidee treten, entsteht eben hierdurch eine Einheitlichkeit unter ihnen, die ihnen ur - sprünglich vollkommen fremd war. Oder wo etwa dich - terische Phantasie sich mit starkem Verstande zusammenfindet und dadurch das Bewuſstsein in einen steten Zwiespalt zwischen idealistischer und realistischer Anschauung der Dinge versetzt, da wird die Notwendigkeit, ein bestimmtes Lebensziel zu erreichen, oder einer Person gegenüber eine bestimmte Stellung einzunehmen, die zersplitterten Kräfte oft zur Einheit zusammenführen und wird der Phantasie die gleiche Richtung mit dem Denken geben u. s. w. Zu zusammen - gesetzteren Gebilden fortschreitend, erwähne ich als Beispiel, wie das gemeinsame Verhalten zu einem Dritten den kollek - tivistischen Zusammenhalt bewirkt und stärkt, die Sekte der Herrnhuter. Zu Christus, den sie als den unmittelbaren Herrn ihrer Gemeinde ansehen, hat jedes Mitglied ein ganz individuelles, man könnte sagen, ein Herzensverhältnis; und dies führt zu einem so unbedingten Zusammenschluſs der Mitglieder der Gemeinde, wie er in keiner anderen zu finden ist. Dieser Fall ist deshalb so belehrend, weil jenes Verhält - nis des Einzelnen zu dem zusammenhaltenden Prinzip ein33X 1.rein persönliches ist, eine Verbindung zwischen ihm und Christus herstellt, die von keiner anderen gekreuzt wird, und dennoch die bloſse Thatsache, daſs diese Fäden alle in Christus zusammenlaufen, sie gewissermaſsen nachträglich ver - webt. Und im Grunde beruht die unermeſsliche socialisie - rende Wirkung der Religion überhaupt wesentlich auf der Gemeinsamkeit des Verhältnisses zum höchsten Prinzip; ge - rade das specifische Gefühl, aus dem man gern die Religion herleitet, das der Abhängigkeit, ist ganz besonders geeignet, unter den in gleicher Weise von ihm Erfüllten Religion, d. h., nach der alten, wenn auch sprachlich falschen Deutung, Ver - bindung zu stiften. Ich hebe ferner in dieser Hinsicht her - vor, daſs der erste Zusammenhalt der patriarchalischen Fa - milienform sich nicht auf der Erzeugung durch den Vater, sondern auf seiner Herrschaft aufbaute, ihre Einheit im Empfinden und Handeln sich also gleichfalls nicht a priori, sondern nachträglich durch das gleiche Verhältnis zu einem Dritten herstellte; und was die zusammenschlieſsende Wir - kung eines gemeinsamen feindseligen Verhaltens betrifft, so hat schon der Verfasser des Gesetzbuches des Manu betont, der Fürst möge seinen Nachbar stets für seinen Feind, den Nachbar seines Nachbars aber für seinen Freund halten, und es braucht unter vielfachen Beispielen nur daran erinnert zu werden, daſs Frankreich das Bewuſstsein seiner nationalen Zusammengehörigkeit wesentlich erst dem Kampfe gegen die Engländer verdankt, wozu dann die Geschichte der letzten deutschen Reichsbildung das Seitenstück geliefert hat. Kurz, daſs das Nebeneinander zum Miteinander, daſs die lokale, gleichsam anatomische Einheit zur physiologischen werde, ist unzählige mal dem gemeinsamen, freiwilligen oder erzwungenen Verhalten einem Dritten gegenüber zuzuschreiben. Was die Sprache sehr bezeichnend vom Einzelnen sagt, daſs er bei Bethätigung gegen andere „ sich zusammennehmen “muſs, wenn er auch sonst „ zerstreut “oder „ zerfahren “ist, das gilt genau ebenso von ganzen Gruppen.
Aus alledem ist es hinreichend klar, daſs das ethische Verschulden des Einzelnen einem Dritten gegenüber diesen zu Reaktionen gegen die ganze Gruppe anregen muſs, der jener angehört, und daſs eine äuſserst feine Differenzierung sowohl objektiv innerhalb der Gruppe, wie subjektiv im Er - kenntnisvermögen des Verletzten vorgehen muſs, um das re - agierende Empfinden und Handeln genau zu lokalisieren. Die thatsächliche Differenzierung hinkt indes, namentlich wo es sich um strafende Reaktionen handelt, der theoretischen oft bedeutend nach. So sehr jeder kultiviertere Mensch und jede höhere Gesetzgebung es verwerfen mag, die Angehörigen eines Verbrechers für dessen That mit büſsen zu lassen, so geschieht das thatsächlich doch noch in hohem Maſse undForschungen (42) X 1. — Simmel. 334X 1.zwar unmittelbar dadurch, daſs Frau und Kinder eines Straf - gefangenen oft dem hilflosesten Elend preisgegeben sind, mittelbar, indem die Gesellschaft diese und selbst entferntere Verwandte zwar nicht zugestandenermaſsen, aber doch that - sächlich ächtet. — Das Streben zu höherer Differenzierung in dieser Richtung macht nun übrigens bei dem Individuum nicht Halt, sondern setzt sich noch in dem Verhalten gegen dieses fort. Mit verfeinerter Erkenntnis machen wir immer weniger den ganzen Menschen für ein ethisches Verschulden verantwortbar und begreifen vielmehr, daſs Erziehung, Bei - spiel, Naturanlage einen einzelnen Trieb oder Vorstellungs - kreis verdorben haben können, während der übrige Teil der Persönlichkeit sich durchaus sittlich verhalten mag. Die fort - schreitende Differenzierung unter den praktischen Elementen unserer Natur trägt objektiv dazu ebensoviel bei wie subjek - tiv die unter ihren theoretischen Kräften; je feiner die Per - sönlichkeit ausgebildet ist, je gesonderter und selbständiger ihre verschiedenen Triebe, Fähigkeiten und Interessen neben - einander stehen, desto eher kann die Schuld thatsächlich auf einem Teil ihrer haften, ohne ihrer Gesamtheit zurechenbar zu sein; dies ist z. B. auf dem sexuellen Gebiet recht klar, das oft eine ziemlich hochgradige Unsittlichkeit bei völliger Tadellosigkeit des anderweitigen Verhaltens aufweist.
Und nun subjektiv: in dem Maſse, in dem der Beurtei - lende nicht mehr seine ganze Persönlichkeit in die Empfin - dung hineinlegt, die der andere ihm bereitet, und der That desselben keine andere Folge gestattet als die ihr genau ent - sprechende, in diesem Maſse wird er auch jenem gegenüber objektiv, beschränkt seine Reaktion auf den Umfang, in dem die That selbst nur ein Teil der Persönlichkeit jenes ist, lernt er die Sache von der Person, das Einzelne vom Ganzen zu trennen; so erkennt die Gesellschaft den eben angeführten Fall der sexuellen Unsittlichkeit bekanntlich sogar im ex - tremsten Maſse an, indem sie dem männlichen Sünder auf diesem Gebiete kaum ein Minimum derjenigen socialen Strafen zudiktiert, die sie sonst schon auf eine geringere Immoralität setzt — wovon die Ursachen freilich auſser in jener Dif - ferenzierung gerade in einem Rudiment des Barbarismus gegenüber den Frauen liegen. Die Verbindung der subjek - tiven Differenzierung mit der höheren Entwicklung zeigt sich auch an den gegenteiligen Erscheinungen, an dem die ganze Person packenden Jähzorn roher Naturen, an der voll - kommenen Erfülltheit des unkultivierten Menschen durch den augenblicklichen Affekt, an den Urteilen in Bausch und Bogen, zu denen ungebildetere Geister neigen; sie zeigt sich an jener eigentümlichen Empfindung von Solidarität, der ge - mäſs man „ Rache an der Menschheit “oder „ Rache an den Männern, Frauen etc. “fordern hört, und zwar insbesondere35X 1.von unreifen Menschen oder solchen von entweder niedrige - rer Geistesausbildung oder unbeherrschteren Empfindungen. Übrigens ist noch auf unserer augenblicklichen Entwicklungs - stufe kaum jemand ganz frei davon, nach groſsem Leid, das uns namentlich Bosheit und Betrug zugefügt haben, gegen dritte, unschuldige Personen unbarmherziger als sonst zu sein — freilich nicht ohne das Nachgefühl, durch diesen Mangel an Differenzierung im Empfinden uns selbst zu degradieren. Aus jener doppelten Differenzierung ergeben sich z. B. für die Pädagogik wichtige Folgen. Niederen Kulturepochen ist es eigen, mit dem Begriff der Erziehung vor allem den der Züchtigung zu verbinden, deren Ziel die Unterdrückung und Ausrottung der Triebe ist; je mehr die Kultur steigt, desto mehr wird dahin gestrebt, die Kraft, die auch in den unsitt - lichen Trieben liegt, nicht schlechthin durch Züchtigung zu brechen, sondern solche Zustände zu schaffen, in denen sie sich nützlich bethätigen kann, ja in denen die thatsächliche Unsittlichkeit als solche selbst anderweitig nützliches schafft, ungefähr wie die technische Kultur das früher Weggeworfene oder sogar Hinderliche immer mehr auszunutzen versteht. Dies ist nur durch Differenzierung möglich, indem die Arten und Beziehungen des Handelns und Empfindens immer mehr aus der Form umfassender Komplexe gelöst werden, in der sie zunächst auftreten, und in der das Loos des einen Gliedes das des anderen solidarisch mitbestimmt. Erst wenn jede Beziehung, jeder Bestandteil des öffentlichen und persönlichen Lebens sich zu derartiger Selbständigkeit differenziert hat, daſs ihm ein individuelles Leiden und Handeln möglich ist, ohne daſs mechanische Verflechtungen mit sachlich heteroge - nen Elementen diese in das gleiche Schicksal hineinzögen, — erst dann wird es möglich, die schädlichen Elemente in rein - licher Abgrenzung zu entfernen, ohne die angrenzenden nütz - lichen anzugreifen. So erlauben differenziertere medizinische Kenntnisse, erkrankte Körperteile in genau circumscripter Weise zu entfernen, wo früher gleich ein ganzes Glied abge - schnitten wurde; z. B. bei schweren Kniegelenkentzündungen wird jetzt nur Gelenkresektion vorgenommen, während früher der ganze Oberschenkel amputiert wurde, und ähnliches. Nun hat indes die Differenzierung in der Strafe, insbesondere der kriminalistischen, sehr bald eine Grenze. Man nimmt eine so weit einheitliche Seele an, daſs eben da, von wo die That ausging, auch der Schmerz der Strafe empfunden werde, und kann deshalb für eine Ehrenkränkung, einen Betrug, ein Sitt - lichkeitsvergehen auf dieselbe Strafe erkennen. Die Anfänge einer Differenzierung in diesen Punkten sind sehr dürftig: daſs etwa Festungshaft auf solche Vergehen gesetzt ist, die die gesellschaftliche Ehre des Thäters unberührt lassen, und einiges ähnliche. Indessen ist jedenfalls schon die3*36X 1.gröſsere Milde, die fortgeschrittenere Zeiten dem Verbrecher gegenüber zeigen, ein Zeichen davon, daſs man die einzelne That von dem Ganzen der Persönlichkeit differenziert, und daſs die einzelne Unsittlichkeit nicht mehr, wie es einem ver - schwommeneren Vorstellen natürlich ist, als durchgehende Verderbtheit der Seele erscheint — ganz analog der Dif - ferenzierung, die das sociale Ganze von der Verantwortung für die That eines Mitgliedes entlastet. Auch die Besserung bestrafter Personen, die eines der Hauptziele höherer Kultur ist, wird eine Aussicht auf Erfolg wesentlich auf die gleiche psychologische Voraussetzung gründen können, daſs auch die Verbrecherseele differenziert genug ist, um neben den verdor - benen Trieben noch gesunde einzuschlieſsen; denn eine tiefer blickende Psychologie darf nicht von einer direkten Beseiti - gung jener, sondern nur von Stärkung und Hebung dieser eine dauernde Besserung des Sünders hoffen. Man kann übrigens die Milderung der Strafen, die Verjährung, wie die Versuche, den gesellschaftlichen Ruin dessen, der sich einmal ein Vergehen zu Schulden kommen lieſs, zu hindern, auſser auf die Differenzierung des Nebeneinander seiner Seelenteile auf eine solche des Nacheinander seiner seelischen Entwick - lung bauen, indem man spätere Epochen nicht mehr für das büſsen lassen will, was früheren zur Last fällt.
Auf dem Standpunkte der höchsten Kultur zeigt sich in - des eine eigentümliche Form der Rückkehr zu der früheren Anschauung. Gerade in der letzten Zeit ist wieder die Nei - gung hervorgetreten, die Gesellschaft für die Schuld des In - dividuums verantwortlich zu machen. Der äuſseren Stellung, in die sie den Einzelnen hineinsetzt, den entweder atrophi - schen oder hypertrophischen Lebensbedingungen, die sie ihm bietet, den übermächtigen Eindrücken und Einflüssen, denen er seitens ihrer ausgesetzt ist, — all diesem, aber nicht einer „ Freiheit “der Individualität, schreibt man jetzt gern die Verantwortung für die Missethat des Individuums zu. Die transcendentale Erkenntnis von der ausnahmslosen Herrschaft natürlicher Kausalität, die die Schuld im Sinne des liberum arbitrium ausschlieſst, verengt sich zum Glauben an die durchgängige Bestimmtheit durch sociale Einflüsse. In dem Maſse, in dem die alte individualistische Weltanschauung durch die historisch sociologische ersetzt wird, die in dem Individuum nur einen Schnittpunkt socialer Fäden sieht, muſs an die Stelle der Individualschuld wieder die Kollektiv - schuld treten. Ist der Einzelne seinen angeborenen Anlagen nach das Produkt der vorangegangenen Generationen, der Ausbildung derselben nach das Produkt der gegenwärtigen, trägt er den Inhalt seiner Persönlichkeit von der Gesellschaft zu Lehen, so können wir ihn nicht mehr für Thaten verant - wortlich machen, für die er, nicht anders als das Werk -37X 1.zeug, mit dem er sie ausgeführt hat, nur der Durchgangs - punkt ist. Es liegt nun freilich nahe einzuwenden, daſs die den Einzelnen determinierende Verfassung der Gesellschaft doch irgendwo von einzelnen ausgegangen sein müsse, an denen dann die Schuld dieser schlieſslichen Wirkung haften bleibt; folglich könne doch das Individuum als solches schul - dig werden, und einen wie groſsen Teil seiner Verantwortung es auch auf die Gesellschaft abwälze, so gelänge dies nicht vollständig, weil die Gesellschaft doch aus Individuen besteht und deshalb nicht schuldig sein könnte, wenn diese es nicht wären; zu jeder unvollkommenen und ungerechten socialen Einrichtung, die den in sie Hineingeborenen auf die Bahn des Verbrechens drängen mag, muſs doch der Anstoſs von einem einzelnen ausgegangen sein; jede Vererbung, die den Keim eines Lasters in uns legt, ist doch nicht von Ewigkeit her vorhanden, sondern muſs ihren Ursprung in irgend einem primären Verhalten eines Vorfahren haben. Und wenn nun auch die Mehrzahl der Fäden, von denen das Handeln des Individuums geleitet wird, von früheren Generationen her angesponnen sei, so gehen doch auch von ihm wiederum neue aus, die die künftigen Geschlechter mitbestimmen; und die Verantwortung für diese müsse gerade um so schärfer betont werden, je tiefer man davon durchdrungen sei, daſs keine That innerhalb des socialen Kosmos folgenlos bleibe, daſs die Wirkung einer individuellen Unsittlichkeit sich bis ins tau - sendste Glied geltend mache. Wenn also auch die sociale Bestimmtheit, nach der Vergangenheit hin betrachtet, den Einzelnen entlastet, so belastet sie ihn in demselben Maſse schwerer, wenn man nach der Zukunft zu blickt, deren Kausalgewebe eben deshalb ein immer komplizierteres, das Individuum immer vielseitiger bestimmendes werden kann, weil jeder Einzelne zu der Gattungserbschaft ein Teil hinzu - gefügt hat, da es sonst zu einer solchen überhaupt nicht ge - kommen wäre.
Ohne hier in den Streit über die Prinzipien einzutreten, der das Schicksal der Unfruchtbarkeit mit allen Diskussionen über die Freiheit teilen müſste, will ich hier nur auf den fol - genden Gesichtspunkt hinweisen. Die Folgen einer That wechseln leicht ihren Charakter auf das vollkommenste, wenn sie sich von den persönlichen Verhältnissen oder dem kleinen Kreise, auf den sie sich zuerst und in der Absicht des Han - delnden beziehen, auf einen gröſseren Kreis verbreiten. Wenn z. B. die Bestrebungen der Kirche, die Gesamtheit auch der irdischen Lebensinteressen sich unterthänig zu machen, als unrecht verurteilt werden, so kann zunächst, so - bald sich die Anschuldigung gegen bestimmte Personen etwa des Mittelalters richtet, erwidert werden, daſs hier eine Tra - dition von den ältesten Zeiten des Christentums her vorlag,38X 1.die der Einzelne als undurchbrechliche Tendenz, selbstver - ständliches Dogma, vorfand, so daſs auf jenen frühsten Per - sönlichkeiten, die sie ausbildeten, aber nicht auf dem einzel - nen Epigonen, den sie ohne weiteres in ihren Bann zwang, die Schuld haften bleibt. Allein für jene war es eben keine Schuld, weil in den kleinen urchristlichen Gemeinden die voll - kommene Durchdringung des Lebens mit der religiösen Idee, die Hingabe alles Seins und Habens an das christliche Interesse eine durchaus sittliche, für den Bestand jener Gemeinden un - entbehrliche Anforderung war, die auch den Kulturinteressen solange unschädlich blieb, als es noch anderweitige, hinreichend groſse Kreise gab, die sich der Besorgung der irdischen Dinge widmeten. Das änderte sich erst mit der Verbreitung der christlichen Religion; würde diejenige Lebensform, die in der kleinen Gemeinde zu rechte bestand, sich über die Ge - samtheit des Staates erstrecken, so würde damit eine Reihe von Interessen verletzt, die für durchaus unentbehrlich, deren Verdrängung durch die kirchliche Herrschaft für unsittlich gehalten wird. Eben dieselbe Tendenz also, die bei einer ge - ringen Ausdehnung des socialen Kreises verdienstvoll ist, wird durch dessen Erweiterung schuldvoll; und wird nun im letzteren Falle die Schuld vom Einzelnen fortgeschoben, indem sie durch die Tradition erklärt wird, so liegt auf der Hand, daſs sie nicht auf jenen Ersten, von denen die Tradition aus - ging, haften bleibt, sondern ihre Veranlassung ausschlieſslich in der Quantitätsänderung des gesellschaftlichen Kreises hat. Es ist eine der Untersuchung noch sehr bedürftige Frage, in wiefern die blos numerische Vermehrung eines Kreises die sittliche Qualität der auf ihn bezüglichen Handlungen ab - ändert. Da es aber zweifellos der Fall ist, können Schuld und Verdienst, die der Handlung in einem kleineren Kreise zukommen, oft bei Erweiterung desselben in ihr direktes Gegenteil verwandelt werden, ohne daſs die nun geltende sittliche Qualifikation der Handlung einer persönlichen Ver - antwortung unterläge, weil sie dem Inhalt nach blos über - liefert ist, die Abänderung ihres Wertes aber von keinem einzelnen Menschen, sondern nur von dem Zusammen der - selben ausgeht. Wir finden z. B. in dem Berglande von Tibet noch jetzt Polyandrie herrschend, und zwar offenbar, wie selbst Missionäre anerkennen, zum gesellschaftlichen Wohle; denn der Boden ist dort so unfruchtbar, daſs ein rasches Anwachsen der Bevölkerung nur das gröſste allge - meine Elend hervorbringen würde. Um dieses aber zurück - zuhalten, ist die Polyandrie ein vortreffliches Mittel; auch sind die Männer dort oft genötigt, um entfernte Herden zu weiden oder Handel zu treiben, sich lange von der Heimat zu entfernen, und da wird denn der Umstand, daſs von meh - reren Männern einer Frau wenigstens einer immer zu Hause39X 1.bleiben wird, zum Schutze der Frau und zum Zusammenhalt der Familie dienen. Diese mehrfach bestätigten, günstigen Einflüsse auf die Sitten des Landes würden aber sofort um - schlagen, sobald etwa durch Aufschlieſsung neuer Ernährungs - quellen eine Vermehrung der Volkszahl möglich und erfordert würde; gerade die Geschichte der Familienformen zeigt oft genug, wie das einst Sittliche durch die bloſse und oft blos quantitative Änderung äuſserer Verhältnisse zu einem sittlich Verwerflichen wurde. Wenn nun ein Einzelner die jetzt schuldvolle That beginge, also etwa in dem obigen Beispiel ein Weib auch nach geänderten Verhältnissen noch polyan - drischen Neigungen folgte und die Verantwortung dafür von sich weg auf die Generationen schöbe, die durch Vererbung, Rudimente ihrer Zustände und Ähnliches sie auf diesen Weg getrieben, so würde, dies als richtig zugegeben, die Schuld auf keinem Einzelnen haften bleiben, weil sie für ihre Ur - heber eben noch nicht Schuld war. Freilich wird auch die Gesellschaft, deren Modifikationen die Schuld schufen, nicht im Sinne einer moralischen Verantwortung schuldig sein, weil jene Modifikationen sich aus Gründen vollzogen, die mit dem fraglichen moralischen Vorgang an sich gar nichts zu thun haben und ihn nur zufällig zur Folge hatten. Wie gewisse schädliche Maſsregeln, die für einen Teil der socialen Gesamt - heit gelten, diesen Charakter manchmal dann verlieren, wenn sie über das Ganze derselben verbreitet werden [so hat der Socialismus betont, daſs die erfahrungsmäſsigen Nachteile der Regiewirtschaft, die man ihm entgegenhält, nur dadurch ent - standen sind, daſs die Regie bisher überall in eine in allem übrigen individualistische Wirtschaftspolitik hineingesetzt wurde, dagegen verschwinden würden, wenn sie einheitliches ökonomisches Prinzip wäre] — ganz ebenso wird umgekehrt die Erweiterung des Wirkungskreises einer Handlungsweise Vernunft in Unsinn, Wohlthat in Plage umwandeln können und so ermöglichen, daſs die Schuld, die der Einzelne von sich abwälzen kann, dennoch auf keinen anderen Einzelnen falle.
Indessen ist die rein quantitative Erweiterung der Gruppe nur der deutlichste Fall der moralischen Entlastung der In - dividuen; andere Modifikationen der Gruppe können zu dem gleichen Resultat für den Einzelnen führen, indem sie die Schuld, die der unmittelbare Thäter von sich wegschiebt, auf keinem anderen Einzelnen brauchen haften zu lassen. Wie die chemische Mischung zweier Stoffe einen dritten zustande - bringen kann, dessen Eigenschaften völlig andere sind als die seiner Elemente, so kann eine Schuld dadurch entstehen, daſs eine bestimmte Naturanlage mit bestimmten socialen Verhält - nissen zusammentrifft, während keiner dieser Faktoren an sich Unsittliches enthält. Von dieser Möglichkeit aus läſst sich40X 1.die von neuesten anthropologischen Forschungen bestätigte Behauptung aufstellen, daſs Laster sehr häufig gar nichts an - deres sind als Atavismen.
Wir wissen, daſs Raub und Mord, Lüge und Gewaltthat jeder Art in früheren Zuständen unseres Geschlechtes eine ganz andere Beurteilung erfuhren als jetzt; sie waren, gegen den fremden Stamm gerichtet, teils gleichgiltige Privatsache, teils gepriesene Heldenthaten, innerhalb des eigenen Stammes aber unentbehrliche Mittel der Kultursteigerung, indem sie einerseits eine Zuchtwahl zu gunsten der Kräftigen und Klugen einleiteten, andererseits die Mittel der Tyrannis und der Versklavung wurden, von denen die erste Disziplinierung und Arbeitsteilung unter den Massen ausging. Eben dieselben Handlungsweisen aber sind unter späteren Verhältnissen laster - haft, und so ist gewiſs das Laster oft ein Vererbungsrück - schlag in jene frühere Entwicklungsstufe unseres Geschlechts, in der es eben noch nicht Laster war. Ein hervorragender Anatom hat die Bemerkung gemacht, die ich für höchst fol - genreich halte: es lasse sich nachweisen, daſs alles das, was wir als körperliche Häſslichkeit beurteilen, eine Ähnlichkeit mit dem Typus der niederen Tiere, einen Rückfall in ihn aufweise. So ist vielleicht seelische Häſslichkeit ein Rück fall in die Naturstufe, der durch das disharmonische und destruk - tive Verhältnis, das aus seinem Hineingesetztsein in ganz ver - änderte Umstände hervorgeht, als Laster erscheint. Damit stimmt zusammen, daſs mit specifischen Lastern sehr häufig Rohheit und Wildheit des ganzen Wesens, also offenbar ein allgemeiner Atavismus verbunden ist; und ferner: sehr viele Laster finden in den kindlichen Ungezogenheiten ihre Par - allele, wie die Neigung zur Lüge, die Grausamkeit, die Zer - störungslust, die rücksichtslose Selbstsucht, ungefähr wie man nachgewiesen hat, daſs alle Sprachstörungen Erwachsener ihr genaues Gegenbild in den Unvollkommenheiten des kindlichen Sprechens haben. Und da nun aller Wahrscheinlichkeit nach überhaupt die Kindheit des Individuums die Kindheit seiner Gattung wenigstens in den Hauptzügen wiederholt, so ist an - zunehmen, daſs die moralischen Unzulänglichkeiten jener die durchgehenden Eigenschaften dieser abspiegeln; und wenn wir nun das Kind von eigentlicher Schuld für solche Fehler entlasten, weil wir wissen, daſs es eben in stärkstem Maſse das Produkt der Gattungsvererbungen ist, so wird das Gleiche für denjenigen gelten, der durch atavistischen Rück - schlag auf jener moralischen Stufe der Gattungsentwicklung stehen geblieben ist, die der normale Mensch als Kind in ab - gekürzter Form durchläuft und überwindet, die aber nur da - durch einstmals in der Gattung fixiert werden konnte, daſs sie zulässig und nützlich war. In diesem Fall aber lastet die moralische Schuld der Handlung, die der Thäter seinem Erb -41X 1.lasser, der Gattung, zuschiebt, überhaupt nirgends als auf den veränderten Verhältnissen, die dem ehemals Guten und Nütz - lichen jetzt die entgegengesetzte Folge geben.
Nun ist nicht zu verkennen, daſs in vielen Fällen die fortschreitende Socialisierung umgekehrt den schlechten und unsittlichen Trieben die Möglichkeit eines sittlichen Erfolges giebt. Ich habe schon oben erwähnt, daſs vermöge ge - steigerter Differenzierungen auch die im Unsittlichen liegende Kraft noch den Zwecken der Kultur dienstbar gemacht wer - den kann. Dann fällt der Gesellschaft mindestens in dem - selben Sinne ein Verdienst an der Sittlichkeit des Einzelnen zu, wie sie in obigen Fällen Schuld an seiner Unsittlichkeit trägt. Mir wurde von einer Barmherzigen Schwester in einem Krankenhause erzählt, die sich durch einen unersättlichen Blutdurst auszeichnete und sich zu den allergrausigsten und abschreckendsten Operationen drängte; aber gerade durch diese Kaltblütigkeit und Unerschrockenheit leistete sie die allerwertvollsten Dienste, zu denen die erforderliche Ruhe einer mitfühlenden Person abgegangen wäre. Dieselbe Natur - anlage also, die in roheren Zeiten wahrscheinlich ein ver - brecherisches Scheusal gestaltet hätte, lenken die vorge - schrittenen gesellschaftlichen Verhältnisse in die Bahn sitt - licher Bethätigung. Schon das rein numerische Anwachsen der Gruppe, wie es nach den obigen Ausführungen die rich - tige Handlungsweise des Individuums zur falschen machen kann, vermag umgekehrt die angeborene oder sonst über - lieferte unsittliche Neigung zu einer social nützlichen zu machen. Denn die Vermehrung der Gruppe fordert in dem - selben Maſse auch Differenzierung; je gröſser das Ganze ist, desto nötiger ist es ihm, bei der stets vorhandenen Knappheit der Lebensbedingungen, daſs — innerhalb gewisser selbst - verständlicher Schranken — jeder sich andere Ziele setze als der andere und, wo er sich die gleichen setzt, wenigstens an - dere Wege zu ihnen einschlägt als der andere. Dies muſs zur Folge haben, daſs Einseitigkeiten, Bizarrerieen, individu - ellste Neigungen in einem groſsen Kreise geeignete Stellen und Möglichkeiten, sich in social nützlicher Weise auszuleben, finden werden, während ebendieselben für diejenigen allge - meineren Ansprüche untauglich machen, die der engere Kreis an den Einzelnen stellt, und sich deshalb in diesem dem Wesen der Unsittlichkeit nähern.
Noch durch die folgende Beziehung wirkt die Vergröſse - rung des socialen Kreises derart auf die Handlungsweise des Individuums versittlichend, daſs das Verdienst davon dennoch nicht diesem Kreise selbst, sondern, wie oben die Schuld, dem Zusammentreffen zweier Faktoren zuzuschreiben ist, von denen keiner es für sich allein in Anspruch nehmen kann. In den einfachen Verhältnissen einer kleinen Gruppe wird42X 1.der Einzelne seine egoistischen oder altruistischen Zwecke, soweit er sie überhaupt durchsetzen kann, mit relativ ein - fachen Mitteln erreichen. Je gröſser sein socialer Kreis wird, desto mehr Umwege braucht er dazu, weil die komplizierteren Verhältnisse uns vielerlei Dinge wünschenswert machen, die von unserer augenblicklichen Machtsphäre weit entfernt sind, weil sie ferner an unsere Ziele manche Nebenerfolge knüpfen, die vermieden werden müssen, weil endlich das einzelne von so vielen Bewerbern gesucht wird, daſs der direkte Weg auf jenes zu oft das Letzte ist, und die Hauptsache in dem oft sehr komplizierten Unschädlichmachen der Konkurrenten und in der Gewinnung von Beiständen besteht, die ihrerseits wieder nur indirekt erlangbar und verwendbar sind. Die Folge von alledem ist, daſs zum Erreichen des eigentlichen egoistischen Zieles wir in gröſseren Kreisen vielerlei thun müssen, was nicht unmittelbar egoistisch ist, vielerlei Kräfte in Bewegung setzen, die ihren eigenen Gesetzen und Zwecken folgen, wenn sie auch schlieſslich die unseren fördern. In je weiteren Ver - hältnissen wir leben, desto weniger pflegt die Arbeit für das eigene Glück dieses unmittelbar zu bereiten, sondern besteht in der Bearbeitung äuſserer und hauptsächlich menschlicher Objekte, welche dann erst lusterweckend auf uns zurück - wirken. Mag der Endzweck noch so sehr ein persönlicher sein — zu den Mitteln müssen wir uns aus uns selbst entfernen. Abgesehen nun davon, daſs dies die Sittlichkeit der subjek - tiven Gesinnung insofern fördert, als das so erforderliche Kennenlernen objektiver Verhältnisse sehr oft auch ein In - teresse für sie hervorruft und die Hingabe an andere Men - schen und Dinge um selbstischer Endzwecke willen häufig in einer selbstlosen Hingabe an sie gemündet hat — abgesehen hiervon, sind die Umwege zu jenem Endzwecke oft durchaus sittlicher Natur; je gröſser der sociale Kreis ist, je ent - wickelter namentlich die wirtschaftlichen Beziehungen, desto häufiger muſs ich den Interessen anderer dienen, wenn ich will, daſs sie den meinen dienen sollen. Dies bringt eine Versittlichung der gesamten socialen Lebensatmosphäre mit sich, die nur deshalb im Unbewuſsten zu bleiben pflegt, weil die Endzwecke, um derentwillen sie entsteht, egoistische sind. Die innere Sittlichkeit des Individuums wird darum zunächst noch keine höhere, weil über diese nicht die That zu gunsten der anderen, sondern die Gesinnung entscheidet, aus der heraus sie geschieht; dennoch müssen die thatsäch - lichen Erfolge sittlich genannt werden, insofern sie die För - derung anderer mit sich bringen; und da dies mit der Aus - dehnung unserer Beziehungen immer notwendigeres Vehikel zu unsern Zwecken wird, so läſst die Vergröſserung des Kreises uns thatsächlich sittlicher handeln, ohne daſs wir eigentlich ein Verdienst daran hätten. Auch liegt die Ur -43X 1.sache davon nicht etwa in einer Kollektivsittlichkeit, sondern in dem Zusammentreffen egoistischer Ziele mit einer der - artigen Gröſse des socialen Kreises, daſs jene nur durch eine Reihe von Umwegen altruistischer Natur zu erreichen sind.
In etwas höherem Grade läſst eine andere Station des gleichen Umweges die Sittlichkeit im Handeln des Einzelnen als Resultat einer Kollektivsittlichkeit erscheinen. Nicht nur Menschen brauchen wir zu unsern Zwecken, sondern auch objektive Einrichtungen. Die Festsetzungen des Rechts, der Sitte, der Verkehrsformen jeder Art, die die Allgemeinheit zu ihrem Nutzen, d. h. im sittlichen Interesse, geprägt hat, erstrecken sich schlieſslich soweit in alle Lebensverhältnisse des Einzelnen hinein, daſs er in jedem Augenblick von ihnen Gebrauch machen muſs. Auch die egoistischsten Absichten können, abgesehen von unmittelbarer Gewaltthat, nicht anders verwirklicht werden als in den social vorgeschriebenen Formen. Mit jedem Male aber, wo man sich dieser Formen bedient, werden sie gestärkt, und dadurch muſs die unsitt - lichste Absicht gewissermaſsen der Sittlichkeit ihre Steuer entrichten, indem sie die Formen anwendet, in denen die öffentliche Moral objektiv geworden ist. Es ist die Aufgabe der fortschreitenden Socialisierung, diese Steuer immer zu er - höhen, so daſs der Weg zur Unsittlichkeit, der freilich nie ganz verlegt werden kann, wenigstens durch möglichst viele Gebiete des Sittlichen hindurchgehen muſs und so den Weg durch sie verbreitern und festigen hilft. Der Gauner, der eine betrügerische Transaktion in streng rechtlichen Formen voll - zieht, der Schurke, der die Regeln der gesellschaftlichen Höf - lichkeit genau beobachtet, der Sybarit, dessen unsittlich ver - schwenderische Ausgaben sich wenigstens in den ökonomischen Formen vollziehen, die seine Gruppe als die zweckmäſsigsten konstituiert hat, der Heuchler, der um irgend welcher per - sönlichen Zwecke willen sein Leben nach religiösen Normen einrichtet, — sie alle leisten der Sittlichkeit, der Förderung des Allgemeinen sozusagen im Vorbeigehen einen Beitrag, an dem das Verdienst freilich nicht ihrem Willen, sondern der socialen Verfassung zuzuschreiben ist, die den Einzelnen in seinen unsittlichen Bestrebungen auf Wege zwingt, auf denen er den öffentlichen Institutionen und damit dem öffentlichen Wohle steuerpflichtig wird.
Die besprochene Abwälzung der individuellen Schuld auf die Gesellschaft gehört im übrigen zu denjenigen Erkennt - nissen, deren Verbreitung der Socialpädagogik bedenklich er - scheinen könnte. Denn sie möchte leicht zu einer Art Ablaſs für die persönliche Schuld werden, und in dem Maſse, in dem das Gewissen sich erleichtert fühlt, dürfte die Verführung zur That wachsen. Der Gewinn der Unsittlichkeit bleibt dem Individuum, während sozusagen die moralischen Unkosten der44X 1.Allgemeinheit zur Last fallen. Für dieses Verhältnis haben wir ein Symbol, das auch an sich für die Frage der Kollek - tivverantwortlichkeit wichtig ist, an den Aktiengesellschaften. Wo persönliche Haftbarkeit stattfindet, da wird schon das eigene Interesse die Tendenz haben, vor allzu gewagter Spe - kulation, vor Überschuldung, Überproduktion u. s. w. zu be - wahren. Für den Vorstand einer Aktiengesellschaft dagegen, der mit fremdem Gelde operiert, fehlt dieser Regulator; er kann in ein Risiko eintreten, von dessen Gelingen er mit pro - fitiert, dessen Miſslingen aber weiter keine Konsequenzen für ihn hat, als daſs er einfach herausgeht, wenn die Sache zu - sammengebrochen ist, während die Gläubiger das Nachsehen haben. Wie in jenem moralischen Falle die Schuld, lasten im ökonomischen die Schulden auf einem Wesen, dessen Unper - sönlichkeit diese Überwälzung duldet und zu ihr verlockt. Hier ist jedoch recht zu beobachten, wie ein fortschreitender, in sehr verwickelte Verhältnisse eingreifender Gedanke dif - ferenzierend wirkt, d. h. Förderung und Zuspitzung ganz ent - gegengesetzter Tendenzen in gleichem Maſse bringt. Denn während einerseits die Erkenntnis unserer socialen Abhängig - keit das individuelle Gewissen abstumpfen kann, muſs sie dasselbe andererseits schärfen, weil sie lehrt, daſs jeder Mensch im Schnittpunkt unzähliger socialer Fäden steht, so daſs jede seiner Handlungen die mannichfachsten socialen Wirkungen haben muſs; innerhalb der socialen Gruppe fällt sozusagen kein Samenkorn auf den Felsen, wofür die an keinem Punkt unterbrochenen Wechselwirkungen mit der lebenden Gene - ration in Hinsicht der Gegenwart, der Einfluſs jedes Thuns auf das Vererbungsmaterial aber in Hinsicht der Zukunft sorgen. Die Beschränkung des Individuums auf sich selbst hört sowohl a parte ante wie a parte post auf, so daſs die sociologische Betrachtung sowohl seine Entlastung wie seine Belastung steigert und sich so als echtes Kulturprinzip er - weist, das von der Einheit einer Idee aus differenteste In - halte des Lebens zu weiterer Ausgeprägtheit und Vertiefung differenziert.
Bei1Dieses Kapitel erschien in verkürzter Form vor mehreren Jahren in der Zeitschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. XII, Heft 1. dem Verhältnis zwischen der Ausbildung der Indi - vidualität und dem socialen Interesse ist vielfach zu beobachten, daſs die Höhe der ersteren Schritt hält mit der Erweiterung des Kreises, auf den sich das letztere erstreckt. Haben wir zwei sociale Gruppen, M und N, die sich scharf von einander unterscheiden, sowohl nach den charakteristischen Eigen - schaften wie nach den gegenseitigen Gesinnungen, deren jede aber in sich aus homogenen und eng zusammenhängenden Elementen besteht: so bringt die gewöhnliche Entwicklung unter den letzteren eine steigende Differenzierung hervor; die ursprünglich minimalen Unterschiede unter den Individuen nach äuſserlichen und innerlichen Anlagen und deren Bethä - tigung verschärfen sich durch die Notwendigkeit, den um - kämpften Lebensunterhalt durch immer eigenartigere Mittel zu gewinnen; die Konkurrenz bildet bekanntlich die Specia - lität des Individuums aus. Wie verschieden nun auch der Ausgangspunkt dieses Prozesses in M und N gewesen sei, so muſs er diese doch allmählich einander verähnlichen. Es ist von vornherein wahrscheinlich, daſs, je gröſser die Unähnlich - keit der Bestandteile von M unter sich und derer von N unter sich wird, sich eine immer wachsende Anzahl von Bildungen im einen finden werden, die solchen im andern ähnlich sind; die nach allen Seiten gehende Abweichung von der bis dahin für jeden Complex für sich giltigen Norm muſs notwendig eine Annäherung der Glieder des einen an die des andern46X 1.erzeugen. Schon deshalb wird dies geschehen, weil unter noch so verschiedenen socialen Gruppen die Formen der Differenzierung gleich oder ähnlich sind: die Verhältnisse der einfachen Konkurrenz, die Vereinigung vieler Schwacher gegen einen Starken, die Pleonexie Einzelner, die Progression, in der einmal angelegte individuelle Verhältnisse sich steigern u. s. w. Die Wirkung dieses Prozesses — von der blos for - malen Seite — kann man häufig in der internationalen Sym - pathie beobachten, die Aristokraten unter einander hegen und die von dem specifischen Inhalt des Wesens, der sonst über Anziehung und Abstoſsung entscheidet, in wunderlicher Weise unabhängig ist. Nachdem der sociale Differenzierungsprozeſs zu der Scheidung zwischen Hoch und Niedrig geführt hat, bringt die blos formale Thatsache einer bestimmten socialen Stellung die durch sie charakterisierten Mitglieder der ver - schiedenartigsten Gruppen in innerliche, oft auch äuſserliche Beziehung.
Dazu kommt, daſs mit einer solchen Differenzierung der socialen Gruppe die Nötigung und Neigung wachsen wird, über ihre ursprünglichen Grenzen in räumlicher, ökonomischer und geistiger Beziehung hinauszugreifen und neben die an - fängliche Centripetalität der einzelnen Gruppe bei wachsender Individualisierung und dadurch eintretender Repulsion ihrer Elemente eine centrifugale Tendenz als Brücke zu andern Gruppen zu setzen. Wenige Beispiele werden für diesen an sich einleuchtenden Vorgang genügen. Während ursprünglich in den Zünften der Geist strenger Gleichheit herrschte, der den Einzelnen einerseits auf diejenige Quantität und Qualität der Produktion einschränkte, die alle andern gleichfalls leisteten, andererseits ihn durch Normen des Verkaufs und Umsatzes vor Überflügelung durch den andern zu schützen suchte, — war es doch auf die Dauer nicht möglich, diesen Zustand der Undifferenziertheit aufrecht zu halten. Der durch irgend - welche Umstände reich gewordene Meister wollte sich nicht mehr in die Schranken fügen, nur das eigene Fabrikat zu ver - kaufen, nicht mehr als eine Verkaufsstelle und eine sehr be - schränkte Anzahl von Gehülfen zu halten, und Ähnliches. Indem er aber das Recht dazu, zum Teil unter schweren Kämpfen, gewann, muſste ein Doppeltes eintreten: einmal muſste sich die ursprünglich homogene Masse der Zunft - genossen mit wachsender Entschiedenheit in Reiche und Arme, Kapitalisten und Arbeiter differenzieren; nachdem das Gleich - heitsprinzip einmal so weit durchbrochen war, daſs Einer den Andern für sich arbeiten lassen und seinen Absatzmarkt frei nach seiner persönlichen Fähigkeit und Energie, auf seine Kenntnis der Verhältnisse und seine Chancenberechnung hin, wählen durfte, so muſsten eben jene persönlichen Eigen - schaften mit der Möglichkeit, sich zu entfalten, sich auch stei -47X 1.gern und zu immer schärferen Specialisierungen und Indivi - dualisierungen innerhalb der Genossenschaft und schlieſslich zur Sprengung derselben führen. Andererseits aber wurde durch diese Umgestaltung ein weiteres Hinausgreifen über das bisherige Absatzgebiet gegeben; dadurch, daſs der Pro - ducent und der Händler, früher in einer Person vereinigt, sich von einander differenzierten, gewann der letztere eine unvergleichlich freiere Beweglichkeit und wurden früher un - mögliche kommerzielle Anknüpfungen erzielt. Die individuelle Freiheit und die Vergröſserung des Betriebes stehen in Wechselwirkung. So zeigte sich bei dem Zusammenbestehen zünftiger Beschränkungen und groſser fabrikmäſsiger Betriebe, wie es etwa anfangs dieses Jahrhunderts in Deutschland statt - fand, stets die Notwendigkeit, den letzteren die Produktions - und Handelsfreiheit zu lassen, die man den Kreisen kleinerer und engerer Betriebe kollektivistisch einschränken konnte oder wollte. Es war also eine zwiefache Richtung, in der die Ent - wicklung von dem engen homogenen Zunftkreise aus führte und die in ihrer Doppelheit die Auflösung desselben vorbe - reiten sollte: einmal die individualisierende Differenzierung und dann die an das Ferne anknüpfende Ausbreitung. Die Geschichte der Bauernbefreiung zeigt z. B. in Preuſsen einen in dieser Beziehung ähnlichen Prozeſs. Der erbunterthänige Bauer, wie er in Preuſsen bis etwa 1810 existierte, befand sich sowohl dem Lande wie dem Herrn gegenüber in einer eigentümlichen Mittelstellung; das Land gehörte zwar dem letzteren, aber doch nicht so, daſs der Bauer nicht gewisse Rechte auf dasselbe gehabt hätte. Andererseits muſste er zwar dem Herrn auf dessen Acker frohnden, bearbeitete aber da - neben das ihm zugewiesene Land für seine eigene Rechnung. Bei der Aufhebung der Leibeigenschaft wurde nun dem Bauer ein gewisser Teil seines bisherigen, zu beschränkten Rechten besessenen Landes zu vollem und freiem Eigentum übermacht, und der Gutsherr war auf Lohnarbeiter angewiesen, die sich jetzt zumeist aus den Besitzern kleinerer, ihnen abgekaufter Stellen rekrutierten. Während also der Bauer in den frühe - ren Verhältnissen die teilweisen Qualitäten des Eigentümers und des Arbeiters für fremde Rechnung in sich vereinigte, trat nun scharfe Differenzierung ein: der eine Teil wurde zu reinen Eigentümern, der andere zu reinen Arbeitern. Wie aber hierdurch die freie Bewegung der Person, das Anknüpfen entfernterer Beziehungen hervorgerufen wurde, liegt auf der Hand; nicht nur die Aufhebung der äuſserlichen Bindung an die Scholle kam dafür in Betracht, sondern auch die Stellung des Arbeiters als solchen, der bald hier, bald dort angestellt wird, andererseits der freie Besitz, der Veräuſserlichungen und damit kommerzielle Beziehungen, Umsiedlungen u. s. w. er - möglicht. So begründet sich die im ersten Satz ausgesprochene48X 1.Beobachtung: die Differenzierung und Individualisierung lockert das Band mit den Nächsten, um dafür ein neues — reales und ideales — zu den Entfernteren zu spinnen.
Ein ganz entsprechendes Verhältnis findet sich in der Tier - und Pflanzenwelt. Bei unsern Haustierrassen (und das - selbe gilt für die Kulturpflanzen) ist zu bemerken, daſs die Individuen derselben Unterabteilung sich schärfer voneinander unterscheiden, als es mit den Individuen einer entsprechenden im Naturzustande der Fall ist; dagegen stehen die Unter - abteilungen einer Art als Ganze einander näher, als es bei unkultivierten Species der Fall ist. Die wachsende Ausbil - dung durch Kultivierung bewirkt also einerseits ein schär - feres Hervortreten der Individualität innerhalb der eigenen Abteilung, andererseits eine Annäherung an die fremden, ein Hervortreten der über die ursprünglich homogene Gruppe hinausgehenden Gleichheit mit einer gröſseren Allgemeinheit. Und es stimmt damit vollkommen überein, wenn uns ver - sichert wird, daſs die Haustierrassen unzivilisierter Völker viel mehr den Charakter gesonderter Species tragen, als die bei Kulturvölkern gehaltenen Varietäten; denn jene sind eben noch nicht auf den Standpunkt der Ausbildung gekommen, der bei längerer Zähmung die Verschiedenheiten der Ab - teilungen vermindert, weil er die der Individuen vermehrt. Und hierin ist die Entwicklung der Tiere der ihrer Herren proportional: in roheren Zeiten sind die Individuen eines Stammes so einheitlich und einander so gleich als möglich; dagegen stehen die Stämme als Ganze einander fremd und feindlich gegenüber: je enger die Synthese innerhalb des eigenen Stammes, desto strenger die Antithese gegenüber dem fremden; mit fortschreitender Kultur wächst die Differenzie - rung unter den Individuen und steigt die Annäherung an den fremden Stamm. Dem entspricht es durchaus, daſs die breiten ungebildeten Massen eines Kulturvolkes unter sich homogener, dagegen von denen eines andern Volkes durch schärfere Cha - rakteristiken geschieden sind, als Beides unter den Gebildeten beider Völker statthat. Und in Bezug auf die Reflexe, die dieses Verhältnis in den beobachtenden Geist wirft, muſs Gleiches stattfinden, und zwar auf Grund der wichtigen psycho - logischen Regel, daſs differente, aber zu dem gleichen Genus gehörige und in einer gewissen Einheit zusammengefaſste Eindrücke miteinander verschmelzen und sich dadurch gegen - seitig derart paralysieren, daſs ein mittlerer Eindruck heraus - kommt; eine der extremen Qualitäten wird durch die andere ausgeglichen, und wie die äuſserst verschiedenen Farben das farblose weiſse Licht zusammensetzen, so bewirkt eine Mannich - faltigkeit sehr verschieden veranlagter und bethätigter Persön - lichkeiten, daſs das Ganze, in dem die Vorstellung sie zu - sammenfaſst, einen indifferenteren, der scharfkantigen Ein -49X 1.seitigkeit entbehrenden Charakter trägt. Die Reibung zwi - schen scharf ausgebildeten Individualitäten, die in der Wirk - lichkeit zu Ausgleichungen oder Konflikten führt, findet auch im subjektiven Geiste statt. Je differenzierter ein Kreis seinen Bestandteilen nach ist, desto weniger wird er als ganzer einen individuellen Eindruck machen, weil jene sich sozusagen gegen - seitig nicht zu Worte kommen lassen, sich gegenseitig zu einem Durchschnittseindruck aufheben, der um so unbestimmter sein wird, je mehre und je verschiedenere Faktoren zu ihm zusammenwirken.
Dieser Gedanke läſst sich auch verallgemeinernd so wenden, daſs in jedem Menschen ceteris paribus gleichsam eine unveränderliche Proportion zwischen dem Individuellen und dem Socialen besteht, die nur die Form wechselt: je enger der Kreis ist, an den wir uns hingeben, desto weniger Freiheit der Individualität besitzen wir; dafür aber ist dieser Kreis selbst etwas Individuelles, scheidet sich, eben weil er ein kleiner ist, mit scharfer Begrenzung gegen die übrigen ab. Die sociale Ordnung des Quäkertums zeigt dies recht klar. Als Ganzes, als Religionsprinzip von dem extremsten Individualismus und Subjektivismus, bindet es die Gemeinde - glieder in höchst gleichförmige, demokratische, alle indivi - duellen Unterschiede möglichst ausschlieſsende Lebens - und Wesensart; dafür mangelt ihm aber jedes Verständnis für die höhere staatliche Einheit und ihre Zwecke, sodaſs die Indi - vidualität der kleineren Gruppe einerseits die der Einzelnen, andererseits die Hingabe an die groſse Gruppe ausschlieſst. Und nun stellt sich dies im einzelnen darin dar: in dem, was Gemeindesache ist, in den gottesdienstlichen Versammlungen, darf jeder als Prediger auftreten und reden, was und wann es ihm beliebt; dagegen wacht die Gemeinde über die persön - lichen Angelegenheiten, z. B. die Eheschlieſsung, sodaſs diese ohne Einwilligung eines zur Untersuchung des Falles ein - gesetzten Komitees nicht stattfindet. Sie sind also individuell nur im Gemeinsamen, aber social gebunden im Individuellen. Und nun entsprechend: erweitert sich der Kreis, in dem wir uns bethätigen und dem unsere Interessen gelten, so ist darin mehr Spielraum für die Entwicklung unserer Individualität; aber als Teile dieses Ganzen haben wir weniger Eigenart, dieses letztere ist als sociale Gruppe weniger individuell.
Wenn so die Tendenzen zur Individualisierung einerseits, zur Undifferenziertheit andererseits sich derart gleich bleiben, daſs es relativ gleichgiltig ist, ob sie sich auf dem rein per - sönlichen oder auf dem Gebiet der socialen Gemeinschaft, der die Person angehört, zur Geltung bringen, — so wird das Plus an Individualisierung oder ihrem Gegenteil auf dem einen Gebiet ein Minus auf dem andern fordern. Auf diese Weise kommen wir zu einer allgemeinsten Norm, welcher dieForschungen (42) X 1. — Simmel. 450X 1.Gröſsen unterschiede der socialen Gruppen nur die häufigste Gelegenheit zum Hervortreten bieten, die sich indes auch aus andern Veranlassungen zeigt. So bemerken wir z. B. bei gewissen Völkern, wo das Extravagante, Überspannte, launen - haft Impulsive sehr vorherrscht, doch eine sklavische Fesse - lung an die Mode. Die Verrücktheit, die Einer begeht, wird automatenhaft von allen andern nachgeäfft. Andere dagegen mit mehr nüchterner und soldatisch zugeschnittener Form des Lebens, die als Ganzes lange nicht so bunt ist, haben doch einen viel stärkeren Individualitätstrieb, unterscheiden sich innerhalb ihres gleichförmigen und einfachen Lebens - stiles viel schärfer und prägnanter voneinander, als jene in ihrer bunten und wechselnden Art. So hat also einerseits das Ganze sehr individuellen Charakter, aber seine Teile sind untereinander sehr gleich; andererseits ist das Ganze farbloser, weniger nach einem Extrem zu gebildet, aber seine Teile sind untereinander stark differenziert. Im Augenblick indessen kommt es uns hauptsächlich auf das Korrelationsverhältnis an, das sich an den Umfang der socialen Kreise knüpft und die Freiheit der Gruppe mit der Gebundenheit des Indivi - duums zu verbinden pflegt; ein gutes Beispiel davon zeigt das Zusammenbestehen kommunaler Gebundenheit mit politi - scher Freiheit, wie wir es in der russischen Verfassung der vorzarischen Zeit finden. Besonders in der Epoche der Mongolenkämpfe gab es in Ruſsland eine groſse Anzahl terri - torialer Einheiten, Fürstentümer, Städte, Dorfgemeinden, welche untereinander von keinem einheitlichen staatlichen Bande zu - sammengehalten wurden und also als Ganze groſser politi - scher Freiheit genossen; dafür aber war die Gebundenheit des Individuums an die kommunale Gemeinschaft die denkbar engste, so sehr, daſs überhaupt kein Privateigentum an Grund und Boden bestand, sondern allein die Kommune diesen besaſs. Der engen Eingeschlossenheit in den Kreis der Ge - meinde, die dem Individuum den persönlichen Besitz und gewiſs auch oft die persönliche Beweglichkeit versagte, ent - sprach der Mangel an bindenden Beziehungen zu einem wei - teren politischen Kreise. Die Kreise der socialen Interessen liegen konzentrisch um uns: je enger sie uns umschlieſsen, desto kleiner müssen sie sein. Nun ist aber der Mensch nie bloſses Kollektivwesen, wie er nie bloſses Individualwesen ist; darum handelt es sich hier natürlich nur um ein Mehr oder Minder und nur um einzelne Seiten und Bestimmungen der Existenz, an denen sich die Entwicklung vom Übergewicht des Einen zu dem des Andern zeigt. Und diese Entwicklung wird Stadien haben können, in denen die Zugehörigkeiten zu dem kleinen wie zu dem gröſseren socialen Kreise neben - einander in charakteristischen Folgen hervortreten. Während also die Hingabe an einen engeren Kreis im allgemeinen dem51X 1.Bestande der Individualität als solcher weniger günstig ist als ihre Existenz in einer möglichst groſsen Allgemeinheit, ist psychologisch doch zu bemerken, daſs innerhalb einer sehr groſsen Kulturgemeinschaft die Zugehörigkeit zu einer Familie die Individualisierung befördert. Der Einzelne vermag sich gegen die Gesamtheit nicht zu retten; nur indem er einen Teil seines absoluten Ich an ein paar andere aufgiebt, sich mit ihnen zusammenschlieſst, kann er noch das Gefühl der Individualität und zwar ohne übertriebenes Abschlieſsen, ohne Bitterkeit und Absonderlichkeit wahren. Auch indem er seine Persönlichkeit und seine Interessen um die einer Reihe an - derer Personen erweitert, setzt er sich dem übrigen Ganzen sozusagen in breiterer Masse entgegen. Zwar der Individua - lität im Sinne des Sonderlingtums und der Innormalität jeder Art wird durch ein familienloses Leben in einem weiten Kreise weiter Spielraum gelassen; aber für die Differenzierung, die dann auch dem gröſsten Ganzen zugute kommt, die aus der Kraft, aber nicht aus der Widerstandslosigkeit gegenüber ein - seitigen Trieben hervorgeht — für diese ist die Zugehörigkeit zu einem engeren Kreise innerhalb des weitesten oft von Nutzen, vielfach freilich nur als Vorbereitung und Übergang. Die Familie, deren Bedeutung zuerst eine politisch reale, mit wachsender Kultur mehr und mehr eine psychologisch ideale ist, bietet als Kollektivindividuum ihrem Mitglied einerseits eine vorläufige Differenzierung, die es auf diejenige im Sinne der absoluten Individualität wenigstens vorbereitet, andererseits einen Schutz, unter dem die letztere sich entwickeln kann, bis sie der weitesten Allgemeinheit gegenüber bestandsfähig ist. Die Zugehörigkeit zu einer Familie stellt in höheren Kulturen, wo doch zugleich die Rechte der Individualität und der weitesten Kreise sich geltend machen, eine Mischung der charakteristischen Bedeutung der engen und der erweiterten socialen Gruppe dar.
Wenn ich oben andeutete, daſs die gröſste Gruppe den extremen Bildungen und Verbildungen des Individualismus, der misanthropischen Vereinzelung, den barocken und launen - haften Lebensformen, der krassen Selbstsucht gröſseren Spiel - raum gewährt, so ist dies doch nur die Folge davon, daſs die weitere Gruppe geringere Ansprüche an uns stellt, sich weniger um den Einzelnen kümmert und deshalb das volle Auswachsen auch der perversesten Triebe weniger hindert als die engere. Die Gröſse des Kreises trägt also nur die negative Schuld, und es handelt sich mehr um Entwicklungen auſserhalb als innerhalb der Gruppe, zu welch’ ersteren die gröſsere ihren Mitgliedern mehr Möglichkeit giebt, als die kleinere. Wäh - rend dies einseitige Hypertrophieen sind, deren Ursache oder deren Folge eine Schwäche des Individuums ist, sehen wir doch auch, wie gerade in der Einseitigkeit, die die Stellung4*52X 1.in einer groſsen Gruppe mit sich bringt, eine unvergleichlich starke Kraftquelle flieſst und zwar nicht nur für die Gesamt - heit, sondern auch für den Einzelnen. Durch nichts wird dies klarer dargelegt, als durch die unzählige Male beobachtete Thatsache, daſs Personen, die in einem bestimmten Wirkungs - kreise alt geworden sind, unmittelbar nach dem Ausscheiden aus demselben die Kräfte verlieren, durch die sie bisher ihren Beruf ganz zureichend erfüllt haben; nicht nur, daſs dieses Kraftquantum, nicht mehr längs der gewohnten Bahnen ver - laufend, sich nicht in neu gebotene hineinfinden kann und deshalb modert, sondern die gesamte Persönlichkeit in allen ihren, auch auſserhalb des Berufes liegenden Bethätigungen klappt in der Mehrzahl solcher Fälle zusammen, sodaſs es uns nachträglich scheinen mag, als habe der Organismus an und für sich schon lange nicht mehr die zu seiner Bethäti - gung erforderlichen Kräfte besessen und habe gerade nur in dieser bestimmten Form derselben ein in ihm selbst eigentlich nicht mehr liegendes Vermögen entfalten können — ungefähr wie man sich von der Lebenskraft vorstellte, daſs sie, über die bloſs natürlichen, in den Bestandteilen des Körpers woh - nenden Kräfte hinaus, den chemischen und physikalischen Wirkungen in demselben noch eine besondere, der specifischen Form des Organischen eigene Kraft hinzufügte. So gut man nun diese dem Leben abgesprochen und die scheinbar durch dasselbe erzeugte Kraftsumme auf eine besondere Zusammen - stellung der sonst bekannten, im natürlichen Kreislauf befind - lichen Kräfte zurückgeführt hat, so gut wird man den ener - gischen Zusammenhalt der Persönlichkeit und den Kraft - zuschuſs, den der Beruf uns zu verleihen und den die Folgen des Verlassens desselben zu beweisen scheinen, nur als eine besonders günstige Anpassung und Anordnung der auch sonst in der Persönlichkeit vorhandenen Kräfte erkennen; die Form erzeugt eben keine Kraft. Wie nun aber dennoch das Leben thatsächlich eben diese besondere, mit nichts anderem ver - gleichbare Kombination und Konzentration der Naturkräfte ist, so bewirkt auch der Beruf durch die Art, wie er die Kräfte des Individuums anordnet, eben doch Entfaltungen und zweckmäſsige Zusammenfassungen derselben, die sonst unmöglich wären. Und da nur innerhalb einer groſsen und sehr arbeitsteilig gegliederten Gruppe diese specifische Form - gebung für den Einzelnen stattfinden kann, so wird auch auf diesem Wege wieder durchsichtig, in wie engem Zusammen - hange die Kräftigung und Durchbildung der Persönlichkeit mit dem Leben innerhalb eines gröſsten Kreises steht.
Aus weiterer Entwicklung dieses Zusammenhanges ver - stehen wir, daſs eine starke Ausbildung der Individualität und eine starke Wertschätzung derselben sich häufig mit kosmopolitischer Gesinnung paart, daſs umgekehrt die Hingabe53X 1.an eine engbegrenzte sociale Gruppe beides verhindert. Und die äuſseren Formen, in denen die Gesinnung sich ausspricht, folgen dem gleichen Schema. Die Renaissancezeit bildete in Italien einerseits die vollkommene Individualität aus, anderer - seits die weit über die Grenzen der engeren socialen Um - gebung hinausgehende Gesinnung und Gesittung; dies spricht sich direkt z. B. im Worte Dantes aus, daſs — bei all seiner leidenschaftlichen Liebe zu Florenz — ihm und seinesgleichen die Welt das Vaterland sei, wie das Meer den Fischen; in - direkt und gleichsam a posteriori beweist es sich dadurch, daſs die Lebensformen, die die italienische Renaissance schuf, von der ganzen gebildeten Welt angenommen worden sind und zwar gerade, weil sie der Individualität, welcher Art sie auch immer sei, einen vorher ungeahnten Spielraum gaben. Als Symptom dieser Entwicklung nenne ich nur die Gering - schätzung des Adels in dieser Epoche. Der Adel ist nur so lange von eigentlicher Bedeutung, als er einen socialen Kreis bezeichnet, der, in sich eng zusammengehörend, sich um so energischer von der Masse aller anderen und zwar nach unten und nach oben abhebt; seinen Wert zu leugnen bedeutet das Durchbrechen beider Kennzeichen, bedeutet einerseits die Erkenntnis vom Werte der Persönlichkeit, gleichviel welchem Geburtskreise sie angehört, andererseits eine Nivellierung gegenüber denjenigen, über die man sich sonst erhoben hat. Und beides findet sich thatsächlich in der Litteratur jener Zeit deutlich ausgesprochen.
Aus solchen Zusammenhängen erklärt sich übrigens der Verdacht der Herzlosigkeit und des Egoismus, der so häufig auf groſsen Männern lastet, — weil die objektiven Ideale, von denen sie entflammt sind, nach ihren Ursachen und Folgen weit über den engeren sie umgebenden Kreis hinausreichen und die Möglichkeit dazu eben in dem starken Herausragen ihrer Individualität über den socialen Durchschnitt gegeben ist; um so weit sehen zu können, muſs man über die Nächst - stehenden hinwegblicken.
Die bekannteste Analogie dieses Verhältnisses bietet der Zusammenhang, den Republikanismus und Tyrannis, Nivelle - ment und Despotismus und zwar sowohl im Nacheinander wie im Zugleich aufweisen. Alle Verfassung, die ihren Cha - rakter von der Aristokratie oder der Bourgeoisie entlehnt, kurz, die dem socialen und politischen Bewuſstsein eine Mehr - zahl aneinander grenzender engerer Kreise bietet, drängt, so - bald sie überhaupt über sich hinauswill, einerseits nach der Vereinheitlichung in einer persönlichen führenden Gewalt, andererseits zum Socialismus mit anarchischem Anstrich, der mit dem Auslöschen aller Unterschiede das absolute Recht der freien Persönlichkeit herstellen will. So führte der Poly - theismus des Altertums mit seinen lokal geschiedenen und in54X 1.vielfachen Verhältnissen der Über - und Nebenordnung stehenden Bezirken göttlicher Wirksamkeiten gegen Beginn unserer Zeit - rechnung aufwärts zum Monotheismus, abwärts zum Atheismus; so hat der Jesuitismus im Gegensatz zu der aristokratischen Kirchenverfassung einerseits eine gleichmachende Demagogie, andererseits einen päpstlichen Absolutismus zu Zielpunkten. Deshalb ist das Nivellement der Massen in der Regel das Korrelat des Despotismus, und deshalb läſst gerade diejenige Kirche, die am energischsten in einer persönlichen Spitze gipfelt, die Individualität ihrer Bekenner am wenigsten auf - kommen und hat den meisten Erfolg im Aufbau eines welt - umspannenden, die Persönlichkeiten als solche möglichst nivellie - renden Reiches gehabt.
In diesen Beispielen nimmt unsere Korrelation zwischen individualistischer und kollektivistischer Tendenz also eine andere Form an: die Erweiterung des Kreises steht mit der Ausbildung der Persönlichkeit nicht für die Angehörigen des Kreises selbst in Zusammenhang, wohl aber mit der Idee einer höchsten Persönlichkeit, an die gleichsam der individuelle Wille abgegeben wird, die dafür, wie in anderer Beziehung die Heiligen, Stellvertretung übernimmt.
Die Entwicklung, die von der engeren Gruppe aus gleichzeitig zur Individualisierung und zur gesteigerten Sociali - sierung führt, braucht freilich nicht immer beides in gleichem Maſse zu realisieren, sondern das eine Element kann unter Umständen das andere sehr überwiegen, da es sich ja nicht um eine metaphysische Harmonie oder um ein Naturgesetz handelt, das mit innerer Notwendigkeit jedes Quantum des einen mit dem gleichen des andern verbände, sondern das ganze Verhältnis nur als ein sehr allgemeiner zusammen - fassender Ausdruck für das Resultat sehr komplizierter und modifizierbarer historischer Bedingungen gelten darf. Wie oben schon angedeutet, begegnen wir auch dem Fall, daſs die Entwicklung nicht nach beiden Seiten zugleich, sondern vor die Alternative zwischen beiden führt und doch auch so die Korrelation zwischen ihnen beweist. In sehr bewuſster Weise zeigt dies eine Phase in der Geschichte der Allmend, des Kollektivbesitzes der schweizerischen Gemeinden. Inso - weit die Allmenden in den Besitz von Teilgemeinden, Orts - und Dorfkorporationen übergegangen sind, werden sie jetzt in einigen Kantonen (Zürich, St. Gallen u. a.) von der Gesetz - gebung mit der Tendenz behandelt, dieselben entweder an die einzelnen Genossen aufzuteilen, oder an gröſsere Land - gemeinden übergehen zu lassen, weil jene kleinsten Verbände eine zu geringe personale und territoriale Basis besäſsen, um ihren Besitz für das öffentliche Wesen recht fruchtbar werden zu lassen.
55X 1.Man könnte vielleicht das ganze Verhältnis, das wir hier meinen und das in den mannichfachsten Modis des Zugleich, des Nacheinander, des Entweder-Oder Gestalt gewinnt, sym - bolisch so ausdrücken, daſs die engere Gruppe gewissermaſsen eine mittlere Proportionale zwischen der erweiterten und der Individualität bildet, so daſs jene, in sich geschlossen und keines weiteren Faktors bedürfend, das gleiche Resultat der Lebensmöglichkeit ergiebt, das aus dem Zusammen der beiden letzteren hervorgeht. So hatte z. B. die Allgewalt des römi - schen Staatsbegriffes zum Korrelat, daſs es neben dem ius publicum ein ius privatum gab; die für sich ausgeprägte Ver - haltungsnorm jenes allumfassenden Ganzen forderte eine ent - sprechende für die Individuen, die es in sich schloſs. Es gab nur die Gemeinschaft im gröſsten Sinne einerseits und die einzelne Person andererseits; das älteste römische Recht kennt keine Korporationen, und dieser Geist bleibt ihm im allge - meinen. Umgekehrt giebt es im deutschen Recht keine andern Rechtsgrundsätze für die Gemeinschaft wie für die Einzelnen; aber diese Allgemeinheiten sind nun auch nicht die allumfassenden des römischen Staates, sondern kleinere, durch die wechselnden und mannichfaltigen Bedürfnisse der Einzelnen hervorgerufene. In kleineren Gemeinwesen bedarf es nicht jener Abtrennung des öffentlichen Rechts vom pri - vaten, weil das Individuum in ihnen inniger mit dem Ganzen verbunden ist.
Es ist nur eine Folge des Gedankens einer solchen Be - ziehung zwischen Individuellem und Socialem, wenn wir sagen: je mehr statt des Menschen als Socialelementes der Mensch als Individuum und damit diejenigen Eigenschaften, die ihm bloſs als Menschen zukommen, in den Vordergrund des Interesses treten, desto enger muſs die Verbindung sein, die ihn gleichsam über den Kopf seiner socialen Gruppe hinweg zu allem, was überhaupt Mensch ist, hinzieht und ihm den Gedanken einer idealen Einheit der Menschenwelt nahe legt. Für diese Korrelation liefert die stoische Lehre ein deutliches Beispiel. Während der politisch-sociale Zusammenhang, in dem der Einzelne steht, noch bei Aristoteles den Quellpunkt der ethischen Bestimmungen bildet, heftet sich das stoische Interesse, was das Praktische betrifft, eigentlich nur an die Einzelperson, und die Heranbildung des Individuums zu dem Ideale, welches das System vorschrieb, wurde so ausschlieſslich zur Aegide der stoischen Praxis, daſs der Zusammenhang der Individuen untereinander nur als Mittel zu jenem idealen in - dividualistischen Zweck erscheint. Aber dieser freilich wird seinem Inhalt nach von der Idee einer allgemeinen, durch alles Einzelne hindurchgehenden Vernunft bestimmt. Und an dieser Vernunft, deren Realisierung im Individuum das stoische Ideal bildet, hat jeder Mensch Teil; sie schlingt, über alle Schranken56X 1.der Nationalität und der socialen Abgrenzung hinweg, ein Band der Gleichheit und Brüderlichkeit um alles, was Mensch heiſst. Und so hat denn der Individualismus der Stoiker ihren Kosmopolitismus zum Komplement; die Sprengung der engeren socialen Bande, in jener Epoche nicht weniger durch die politischen Verhältnisse wie durch theoretische Überlegung begünstigt, schob, unserm vorangestellten Prinzip zufolge, den Schwerpunkt des ethischen Interesses einerseits nach dem Individuum hin, andererseits nach jenem weitesten Kreise, dem jedes menschliche Individuum als solches angehört. Daſs die Lehre von der Gleichheit aller Menschen häufige Verbindungen mit einem extremen Individualismus eingeht, verstehen wir aus diesem und den folgenden Gründen. Es liegt psycholo - gisch nahe genug, daſs die furchtbare Ungleichheit, in welche der Einzelne in gewissen Epochen der Socialgeschichte hinein - geboren wurde, die Reaktion nach zwei Seiten hin entfesselte: sowohl nach der Seite des Rechts der Individualität, wie nach der der allgemeinen Gleichheit; denn beides pflegt im gleichen Grade den gröſseren Massen zu kurz zu kommen. Nur aus diesem zweiseitigen Zusammenhange heraus ist eine Erscheinung wie Rousseau zu verstehen; und die steigende Entwicklung der allgemeinen Schulbildung zeigt dieselbe Tendenz: sie will einerseits die schroffen Unterschiede der geistigen Niveaus beseitigen und gerade durch die Herstellung einer gewissen Gleichheit jedem Einzelnen die früher versagte Möglichkeit zur Geltendmachung seiner individuellen Be - fähigungen gewähren. Ich glaube sogar, daſs die Vorstellung der allgemeinen Gleichheit psychologisch durch nichts mehr gefördert werden kann, als durch ein scharfes Bewuſstsein von dem Wesen und dem Werte der Individualität, von der Thatsache, daſs jeder Mensch doch ein Individuum mit cha - rakteristischen, in genau dieser Zusammensetzung nicht zum zweiten Male auffindbaren Eigenschaften ist; gleichviel wie diese Eigenschaften inhaltlich beschaffen seien: die Form der Individualität kommt doch jedem Menschen zu und bestimmt seinen Wert gemäſs dem Seltenheitsmoment. Hierdurch wird eine formale Gleichheit geschaffen; gerade wenn jeder etwas Besonderes ist, ist er insoweit jedem andern gleich. Und das Dogma vom absoluten Ich, von der persönlichen unsterblichen Seele, die jedem Menschen eigen sei, muſste mehr als alles andere zu der Vorstellung der allgemeinen Gleichheit bei - tragen, weil die empirischen Unterschiede, die man im Inhalte der Seelen vorfindet, gegenüber ihren ewigen und absoluten Qualitäten, in denen sie gleich sind, nicht in Betracht kommen. Wenn man von dem socialistischen Charakter des Urchristen - tums gesprochen hat, so geht dieser vielleicht weniger aus positiven Gründen, als aus den negativen der vollständigen Gleichgiltigkeit hervor, die die ersten Christen alledem57X 1.gegenüber empfanden, was sonst Unterschiede unter den Men - schen ausmacht — und zwar gerade wegen des absoluten Wertes der Einzelseele. Hört die absolute Individualität auf, so werden die Einzelnen nur als Summe ihrer Eigenschaften gerechnet und sind natürlich so verschieden, wie diese es sind; sind diese Eigenschaften aber etwas Nebensächliches gegen - über der Hauptsache, nämlich der Persönlichkeit, Freiheit und Unsterblichkeit der Seele, die etwa noch dazu wie bei Rousseau von vornherein sich einer vollkommenen, erst durch Erziehung und Gesellschaft verdorbenen Güte erfreut, so ist die Gleich - heit alles Menschenwesens die natürliche Folge. Übrigens führt, wie ersichtlich, dieser metaphysische Sinn der Persön - lichkeit zur Vernachlässigung ihres empirischen und eigentlich bedeutungsvollen Inhalts. Da nun aber die weitergehende Socialisierung in einer natürlichen und innerlich notwendigen Beziehung zu einer weitergehenden Individualisierung steht, so ist das eben charakterisierte Verhältnis, wo es praktisch wird, allemal verderblich. Revolutionäre Bewegungen, wie die der Wiedertäufer oder die von 1789, kommen zu ihren logischen und ethischen Unmöglichkeiten dadurch, daſs sie zwar die niedere Allgemeinheit zu gunsten einer höheren auf - heben, aber ohne zugleich das Recht der Individualität zu wahren. Besonders die französische Revolution zeigt durch ihre Beziehung zu Rousseau, wie leicht die metaphysische Bedeutung der Persönlichkeit zur Vernachlässigung ihrer realen Bedeutung führt und wie durch diese nun auch die Socialisierung leidet, die von jener ausging. Wenden wir uns nun wieder zu dem Verhältnis des Individualismus zum Kos - mopolitismus zurück, so stellt sich in ethischer Beziehung der erstere oft als Egoismus dar, wie es da sehr nahe liegt, wo das Band der patriotischen Gesinnung zerfallen ist, das den Einzelnen zwar an einen kleineren Kreis fesselt, als der Kosmopolitismus es thut, aber dafür dem Egoismus ein kräf - tigeres Gegengewicht bietet. Schon die Cyniker zeigen die gleiche Korrelation zwischen Kosmopolitismus und Egoismus, indem sie das Zwischenglied des Patriotismus ausschalten, dessen es für die meisten Menschen bedarf, um den Egoismus im altruistischen Sinne zu beugen. Wenn andererseits die klassische Philosophie vielfach noch über Aristoteles hinaus es zu keiner scharfen begrifflichen Fassung der Persönlich - keit gebracht hat, wenn der Begriff der Vernunft für sie oft genug zwischen allgemeinster Weltvernunft und rein persön - licher Denkkraft schwankt, so ist dies doch die Folge der an den engeren staatlichen Kreis als an ein gewisses Mittleres zwischen Allgemeinstem und Persönlichstem gebundenen Denk - gewohnheit. Die Anwendbarheit dieser Formel von der Kor - relation zwischen Steigerung des Individuellen und Anwachsen der Socialgruppe auf ethische Verhältnisse läſst sich ferner in58X 1.folgender Wendung darstellen. Solange das wirtschaftliche oder sonstige Produzieren innerhalb eines engeren Kreises vorgeht, so daſs dem Schaffenden sein Publikum mehr oder weniger bekannt ist, wird die unvermeidliche psychologische Association zwischen der Arbeit und den Personen, für die sie bestimmt ist, oft zweierlei verhindern: einerseits das rege Interesse an der Sache selbst und ihrer objektiven Vollkommen - heit, gleichgiltig dagegen, welchen zufälligen und subjektiv bestimmten Bedürfnissen sie gerade dienen wird, andererseits aber auch den reinen Egoismus, dem nur an dem Preise seiner Arbeit liegt, aber gar nicht daran, von wem er gezahlt wird. Beides aber wird durch die Vergröſserung des Kreises, an den die Arbeit sich wendet, begünstigt. Wie im Theoreti - schen dasjenige als objektive Wahrheit erscheint, was Wahr - heit für die Gattung ist, wovon sich die Gattung, von vorüber - gehenden psychologischen Hindernissen abgesehen, muſs über - zeugen lassen: so erscheinen uns Ideale und Interessen in demselben Maſse objektiv, als sie einem gröſsten Interessenten - kreise gelten; alles Subjektive, Einseitige, wird aus ihnen da - durch herausgeläutert, daſs sie sich an eine möglichst groſse Anzahl von Subjekten wenden, in der der Einzelne als solcher verschwindet und die das Bewuſstsein an die Sache zurück - weist. Ich halte es nicht für zu kühn, wenn ich das soge - nannte sachliche, unpersönliche, ideale Interesse ausdeute als entstanden aus einem Maximum in ihm zusammenströmender Interessen; dadurch erhält es seinen verklärten, scheinbar über allem Persönlichen stehenden Charakter. Deshalb läſst es sich auch nachweisen, daſs diejenigen Bethätigungen, die am häufigsten und gründlichsten die selbstlose Vertiefung in die Aufgabe, die reine Hingebung für die Sache aufweisen, also die wissenschaftlichen, künstlerischen, die groſsen sitt - lichen und praktischen Probleme, sich ihren Wirkungen nach immer an das weiteste Publikum wenden. Wenn man z. B. sagt, daſs die Wissenschaft nicht um ihrer Nützlichkeit oder überhaupt nur um irgendwelcher „ Zwecke “, sondern um ihrer selbst willen betrieben werden müsse, so kann dies nur ein ungenauer Ausdruck sein, weil ein Handeln, dessen Erfolg nicht von Menschen als nützlich und förderlich empfunden würde, nicht ideal, sondern sinnlos wäre; die Bedeutung davon kann nur jene psychologische Verdichtung und gegenseitige Paralysierung unzähliger Einzelinteressen sein, im Gegensatz gegen welche die Verfolgung der im Einzelnen erkannten und bewuſsten Interessen eines engeren Kreises als Nützlich - keit oder Zweckmäſsigkeit κατ̕ ἐξοχήν erscheint. Wir sehen hier also, wie die Beziehung zum allergröſsten Kreise zwar auch über den individuellen Egoismus hinaustragen kann, aber doch das Bewuſstsein eigentlicher socialer Zweckmäſsig - keit aufhebt, das vielmehr den Bethätigungen für eine kleinere59X 1.Gruppe eigen ist; andererseits aber führt die bei Vergröſse - rung des socialen Kreises eintretende Schwächung des so - cialen Bewuſstseins gerade auf dem Gebiete der wirtschaft - lichen Produktion zum vollständigen Egoismus. Je weniger der Produzent seine Konsumenten kennt, desto ausschlieſs - licher richtet sich sein Interesse nur auf die Höhe des Preises, den er von diesen erzielen kann; je unpersönlicher und qualitätloser ihm sein Publikum gegenübersteht, um so mehr entspricht dem die ausschlieſsliche Richtung auf das qualitätlose Resultat der Arbeit, auf das Geld; von jenen höchsten Gebieten abgesehen, auf denen die Energie der Arbeit aus dem abstrakten Idealismus stammt, wird der Ar - beiter um so mehr von seiner Person und seinem ethischen Interesse in die Arbeit hineinlegen, je mehr ihm sein Ab - nehmerkreis auch persönlich bekannt ist und nahe steht, wie es eben nur in kleineren Verhältnissen statthat. Mit der wachsenden Gröſse der Gruppe, für die er arbeitet, mit der wachsenden Gleichgiltigkeit, mit der er dieser nur gegenüber - stehen kann, fallen vielerlei Momente dahin, die den wirt - schaftlichen Egoismus einschränkten. Nach vielen Seiten ist die menschliche Natur und sind die menschlichen Verhältnisse so angelegt, daſs, wenn die Beziehungen des Individuums eine gewisse Gröſse des Umfanges überschreiten, es um so mehr auf sich selbst zurückgewiesen wird.
Und nun zeigt eine noch weiter in das Gebiet des Indi - viduellen und Socialen vorschreitende ethische Betrachtung, wie auch für die äuſsersten Punkte beider noch unsere Kor - relation gilt. Was man als Pflichten gegen sich selbst im gebietenden wie verbietenden Sinne bezeichnet, ist gerade das, was andererseits auch als Würde und Pflicht des „ Men - schen überhaupt “zu gelten pflegt. Die Selbsterhaltung, Selbstbeherrschung, das rechte Selbstgefühl, die Vervoll - kommnung der eigenen Persönlichkeit — das alles sind Pflichten, die wenigstens in dieser abstrakten Form alle spe - cielle Beziehung zu dem engeren socialen Kreise ablehnen, der uns sonst, hier anders als dort, seine besonders charak - terisierten Verpflichtungen auferlegt. Sie gelten nicht nur unter allen möglichen Verhältnissen, sondern ihre teleologische Bestimmung geht auch auf die weitesten und allgemeinsten Kreise, mit denen wir überhaupt in Berührung kommen und kommen können. Nicht als Angehörige dieses und jenes Kreises sollen wir solche Selbstpflichten erfüllen, sondern als Menschen überhaupt; und es ist gar kein Zweifel, daſs das all - gemeine Menschentum, das uns dieselben auferlegt, nur der weitere sociale Kreis im Gegensatz zu dem engeren ist, der unmittelbarere und in ihrer Beziehung auf dritte Personen deutlichere Leistungen von uns fordert. Gerade weil man gewohnt ist, daſs Pflicht nur Pflicht gegen Jemand sei, wird sie als Pflicht gegen sich selbst vorgestellt, sobald man sie60X 1.empfindet, ohne daſs sie sich in greifbarer Weise auf andere Menschen bezöge. Die erweiterte und verdichtete Gattungs - erfahrung hat diesen Pflichten volle sittliche Würde verliehen, indem sie zugleich wegen der Weite des Kreises und der Fülle der Interessen und Zwecke, die sich in ihnen zu - sammenfanden, alle einzelne teleologische Beziehung derselben hinter den Horizont des Bewuſstseins rückte und dieses, das doch einen Zweck, ein Objekt des Pflichtgefühls suchte, nur an sich selbst zurückzuweisen wuſste, sodaſs gerade die Pflicht gegen die gröſste Allgemeinheit uns als Pflicht gegen das eigenste Ich erscheint.
Mit einer etwas anderen Wendung, die statt des Wohin mehr das Woher der Sittlichkeit ins Auge faſst, stellt sich dies so dar. Wir unterscheiden nach Kants Vorgang sittliche Heteronomie, d. h. sittliches Handeln auf Grund äuſseren Gebotes, von sittlicher Autonomie, die von innen heraus und nur um dem eigenen Pflichtgefühl zu genügen Gleiches thut. Wie nun aber alle Pflicht ihrem Zwecke nach Pflicht gegen Jemand und dieser Jemand ursprünglich eine äuſsere Person ist, so ist sie auch ihrem Ursprung nach ein äuſseres Gebot, das erst durch einen langwierigen, durch die ganze Gattungs - geschichte sich hindurchziehenden Prozeſs in das Gefühl eines rein innerlichen Sollens übergeht. Nun gehörte aber offen - bar die umfassende Fülle einzelner äuſserer Impulse dazu, um den Ursprung des einzelnen sittlichen Gebotes für das Be - wuſstsein zu verlöschen; denn überall bemerken wir, wie einer einzelnen Erscheinung ihre Genesis psychologisch an - klebt, solange sie nur aus dieser einen hervorgegangen ist, daſs sie aber psychologische Selbständigkeit erlangt, sobald das Hervorgehen des Gleichen aus einer groſsen Anzahl und Mannichfaltigkeit von Vorbedingungen beobachtet wird. Die psychologische Verbindung mit jeder einzelnen derselben löst sich in dem Maſse, als die Erscheinung anderweitige eingeht. Tausendfach können wir es schon im individuellen Leben be - obachten, wie ein gewisser Zwang nur oft genug, nur von genügend vielen Seiten, ausgeübt zu werden braucht, um eine Gewohnheit und schlieſslich einen selbständigen, des Zwanges gar nicht mehr brauchenden Trieb zu der betreffenden Handlung zu erzeugen. Und das Gleiche wird vermöge der Vererbung stattfinden. Je öfter und aus je mannichfaltigeren Verhältnissen heraus innerhalb der Gattung die Nötigung zu social nützlichen Handlungen erfolgt ist, desto eher werden diese als an sich notwendig empfunden und aus einem auto - nom erscheinenden Triebe des Individuums heraus ausgeführt werden, — sodaſs auch hier die gröſste Fülle, der weiteste Umkreis der Impulse sich unter Ausschaltung der dazwischen liegenden Sphären als das Allerindividuellste darstellt. Ein Blick auf den Inhalt der sittlichen Autonomie bestätigt61X 1.diesen Zusammenhang. Engere und speciellere Pflichten pflegen nicht unmittelbar an diese Autonomie zu appellieren; in demselben Maſse, in dem unsere Pflichten inhaltlich weiteren Charakter tragen, hängen sie dagegen nur von persönlichem Pflichtgefühl ab. Untersuchen wir, wodurch sich denn das „ aus bloſser Sittlichkeit “zu Vollbringende von den äuſser - lichen Geboten des Staates, der Kirche, der Sitte unter - scheidet, so finden wir immer, daſs es ein allgemein Mensch - liches ist, — mag das Allgemeine nun qualitativen Sinn wie bei den Pflichten der Familie gegenüber oder quantitativen wie bei der Pflicht der allgemeinen Menschenliebe haben. Die Specialzwecke haben eine Specialexekutive; das allgemein Menschliche liegt dem Einzelnen aus sich selbst auszuführen ob. Die autonome Sittlichkeit enthält das, was „ an sich “gut ist; das ist aber nur das, was für den Menschen überhaupt, d. h. für die maximale Allgemeinheit, gut ist. Es läſst sich, wie ich glaube, behaupten, daſs, um wieder Kantische Aus - drücke zu brauchen, zwischen dem Statutarischen und dem autonom Gebotenen ein gradueller Übergang, parallel dem zwischen dem kleineren und dem gröſseren socialen Kreise, stattfindet. Man muſs im Auge haben, daſs dies ein kon - tinuierlicher Prozeſs ist, daſs nicht etwa nur die Extreme des Individualismus und des Kosmopolitismus sich psychologisch und ethisch berühren, sondern daſs schon auf den Wegen zu diesen von der socialen Gruppe aus die zurückgelegten Strecken beider Richtungen sich zu entsprechen pflegen. Und zwar gilt dies nicht nur für Einzel -, sondern auch Kol - lektivindividuen. Die Entwicklungsgeschichte der Familien - formen bietet uns dafür manchen Beleg, z. B. den folgenden. Als die Mutterfamilie (wie Bachofen und Lippert sie rekon - struiert haben) durch die Geltung der männlichen Macht ver - drängt war, war es zunächst nicht sowohl die Thatsache der Erzeugung durch den Vater, die die Familie als eine dar - stellte, als vielmehr die Herrschaft, die er über eine be - stimmte Anzahl von Menschen ausübte, unter denen sich nicht nur seine Leibesnachkommen, sondern Zugelaufene, Zu - gekaufte, Angeheiratete und deren ganze Familien u. s. w. befanden und unter einheitlichem Regimente zusammenge - halten wurden. Aus dieser ursprünglichen patriarchalischen Familie heraus differenziert sich erst später die jüngere der bloſsen Blutsverwandtschaft, in der Eltern und Kinder ein selbständiges Haus ausmachen. Diese war natürlich bei weitem kleiner und individuelleren Charakters als jene um - fassende patriarchalische; allein eben dadurch ermöglichte sich ihr Zusammenschluſs zu einem nun viel gröſseren staat - lichen Ganzen. Jene ältere Gruppe konnte allenfalls sich selbst genügen, sowohl zur Beschaffung des Lebensunterhaltes wie zur kriegerischen Aktion; hatte sie sich aber erst in62X 1.kleine Familien individualisiert, so war aus naheliegenden Gründen der Zusammenschluſs der letzteren zu einer nun er - weiterten Gruppe möglich und erfordert, und Plato hat diesen Prozeſs nur in der gleichen Richtung fortgesetzt, wenn er die Familie überhaupt aufhob, um die staatliche Gemeinschaft als solche auf ein Maximum von Zusammenschluſs und Kraft zu bringen.
Es ist schon für die Tierwelt die ganz gleiche Beobach - tung gemacht worden, daſs die Neigung zur Familienbildung in umgekehrtem Verhältnis zur Bildung gröſserer Gruppen steht; das monogame und selbst polygame Verhältnis hat etwas so Exklusives, die Sorge für die Nachkommenschaft beansprucht die Eltern in so hohem Maſse, daſs die weiter - gehende Socialisierung bei derartigen Tieren darunter leidet. Darum sind die organisierten Gruppen unter den Vögeln verhältnismäſsig selten, während z. B. die wilden Hunde, bei denen völlige Promiskuität der Geschlechter und gegenseitige Fremdheit nach dem Akt herrscht, meistens in eng zusammen - haltenden Meuten leben, und bei den Säugetieren, bei denen sowohl familienhafte wie sociale Triebe herrschen, bemerken wir stets, daſs in Zeiten des Vorherrschens jener, also wäh - rend der Paarungs - und Erzeugungszeit, die letzteren bedeu - tend abnehmen. Auch ist die Vereinigung der Eltern und der Jungen zu einer Familie eine um so engere, je geringer die Zahl der Jungen ist; ich erwähne nur das bezeichnende Beispiel, daſs innerhalb der Klasse der Fische diejenigen, deren Nachkommenschaft völlig sich selbst überlassen ist, ihre Eier zu ungezählten Millionen ablegen, während die brütenden und bauenden Fische, bei denen sich also die Anfänge eines familienhaften Zusammenhaltes finden, nur wenige Eier pro - duzieren. Man hat in diesem Sinne behauptet, daſs die so - cialen Verhältnisse unter den Tieren nicht von den ehelichen oder elterlichen, sondern nur von den geschwisterlichen Be - ziehungen ausgingen, da diese dem Individuum viel gröſsere Freiheit lieſsen als jene und es deshalb geneigter machen, sich eng an den gröſseren Kreis anzuschlieſsen, der sich ihm eben zunächst in den Geschwistern bietet, sodaſs man das Eingeschlossensein in eine tierische Familie als das gröſste Hemmnis für den Anschluſs an eine gröſsere tierische Gesell - schaft angesehen hat.
Wie sehr übrigens die Sprengung der kleineren Gruppe in Wechselwirkung steht mit Erweiterung der Socialisierung einerseits, der Durchsetzung des Individuums andererseits, zeigt auf dem Gebiete der Familienformen weiterhin etwa die Sprengung der patriarchalischen Gruppierung im alten Rom. Wenn die bürgerlichen Rechte und Pflichten in Krieg und Frieden ebenso den Söhnen zukommen wie dem Vater, wenn die ersteren persönliche Bedeutung, Einfluſs, Kriegsbeute63X 1.u. s. w. erwerben konnten, so war damit in die patria po - testas ein Riſs gekommen, der das patriarchalische Verhältnis immer weiter spalten muſste und zwar zu gunsten der erwei - terten staatlichen Zweckmäſsigkeit, des Rechtes des groſsen Ganzen über jedes seiner Mitglieder, aber auch zu gunsten der Persönlichkeit, die nun aus dem Verhältnis zu diesem Ganzen eine Geltung gewinnen konnte, die das patriarcha - lische Verhältnis unvergleichlich eingeschränkt hatte. Und nach der subjektiven Seite, auf das Gefühl der Individuali - tät hin angesehen, zeigt eine nicht sehr schwierige psycholo - gische Überlegung, in wie viel höherem Maſse das Leben in und die Wechselwirkung mit einem weiteren als mit einem beschränkten Kreise das Persönlichkeitsbewuſstsein entwickelt. Dasjenige nämlich, wodurch und woran die Persönlichkeit sich dokumentiert, ist der Wechsel der einzelnen Gefühle, Gedanken, Bethätigungen; je gleichmäſsiger und unbewegter das Leben fortschreitet, je weniger sich die Extreme des Em - pfindungslebens von seinem Durchschnittsniveau entfernen, desto weniger stark tritt das Gefühl der Persönlichkeit auf; je wilder aber jene schwanken, desto kräftiger fühlt sich der Mensch als Persönlichkeit. Wie sich überall die Dauer nur am Wechselnden feststellen, wie erst der Wechsel der Accidenzen die Beharrlichkeit der Substanz hervortreten läſst, so wird offenbar das Ich dann besonders als das Bleibende in allem Wechsel der psychologischen Inhalte empfunden, wenn eben dieser letztere besonders reiche Gelegenheit dazu giebt. Solange die psychischen Anregungen, insbesondere der Gefühle, nur in geringer Zahl stattfinden, ist das Ich mit ihnen verschmolzen, bleibt latent in ihnen stecken; es erhebt sich über sie erst in dem Maſse, in dem gerade durch die Fülle des Verschieden - artigen unserem Bewuſstsein deutlich wird, was doch allem diesem gemeinsam ist, gerade wie sich uns der höhere Begriff über Einzelerscheinungen nicht dann erhebt, wenn wir erst eine oder wenige Ausgestaltungen desselben kennen, sondern erst durch Kenntnis sehr vieler derselben, und um so höher und reiner, je deutlicher sich das Verschiedenartige an diesen gegenseitig abhebt. Dieser Wechsel der Inhalte des Ich, der dieses letztere als den ruhenden Pol in der Flucht der psy - chischen Erscheinungen eigentlich erst für das Bewuſstsein markiert, wird aber innerhalb eines groſsen Kreises auſser - ordentlich viel lebhafter sein, als bei dem Leben in einer en - geren Gruppe. Man wird zwar einwenden können, daſs doch gerade die Differenzierung und Specialisierung in jenem den Einzelnen in eine viel einseitiger gleichmäſsige Atmosphäre bannt als es bei geringerer Arbeitsteilung stattfindet; allein dies als negative Instanz selbst zugegeben, gilt es doch wesentlich vom Denken und Wollen der Individuen; die An - regungen des Gefühls, auf die es für das subjektive Ichbe -64X 1.wuſstsein besonders ankommt, finden gerade da statt, wo der sehr differenzierte Einzelne inmitten sehr differenzierter anderer Einzelnen darin steht und nun Vergleiche, Rei - bungen, specialisierte Beziehungen eine Fülle von Reak - tionen auslösen, die im engeren undifferenzierten Kreise latent bleiben, hier aber gerade durch ihre Fülle und Verschieden - artigkeit das Gefühl der eigenen Person steigern oder viel - leicht erst hervorbringen.
Es bedarf sogar durchaus der Differenzierung der Teile, wenn bei gegebenem Raum und beschränkten Lebensbedin - gungen ein Wachsen der Gruppe stattfinden soll, — eine Not - wendigkeit, die auch auf Gebieten stattfindet, denen der Zwang wirtschaftlicher Verhältnisse ganz fern liegt. Nach - dem z. B. in der frühesten christlichen Gemeinde eine voll - kommene Durchdringung des Lebens mit der religiösen Idee, eine Erhebung jeder Funktion in die Sphäre derselben ge - herrscht hatte, konnte bei der Verbreitung auf die Massen eine gewisse Verflachung und Profanierung nicht ausbleiben; das Weltliche, mit dem sich das Religiöse mischte, überwog jetzt quantitativ zu sehr, als daſs der hinzugesetzte religiöse Bestandteil ihm sofort und ganz hätte sein Gepräge auf - drücken können. Zugleich aber bildete sich der Mönchsstand, für den das Weltliche vollkommen zurücktrat, um das Leben ausschlieſslich sich mit religiösem Inhalt erfüllen zu lassen. Das Einssein von Religion und Leben zerfiel in weltlichen und religiösen Stand, — eine Differenzierung innerhalb des Kreises der christlichen Religion, die zu ihrem Weiterbestande durchaus erforderlich war, wenn sie die ursprünglichen engen Grenzen überschreiten sollte. Wenn Dante den schärfsten Dualismus zwischen weltlichem und kirchlichem Regime, die völlige gegenseitige Unabhängigkeit zwischen den Normen der Religion und denen des Staates predigt, so setzt er dies in un - mittelbaren und sachlichen Zusammenhang mit dem Gedanken des Weltkaiserreichs, der völligen Vereinheitlichung des ganzen Menschengeschlechts zu einem organischen Ganzen.
Wo ein groſses Ganzes sich bildet, da finden sich soviele Tendenzen, Triebe, Interessen zusammen, daſs die Einheit des Ganzen, sein Bestand als solcher, verloren gehen würde, wenn nicht die Differenzierung das sachlich Verschiedene auch auf verschiedene Personen, Institutionen oder Gruppen verteilte. Das undifferenzierte Zusammensein erzeugt feindselig wer - dende Ansprüche auf das gleiche Objekt, während bei völliger Getrenntheit ein Nebeneinanderhergehen und Befaſstsein in dem gleichen Rahmen viel eher möglich ist. Gerade das Verhältnis der Kirche zu anderen Elementen des Gesamt - lebens, nicht nur zum Staat, läſst dies häufig hervortreten. Solange z. B. die Kirche zugleich als Quelle und Behüterin von Erkenntnis galt und gilt, hat die in ihr erstandene65X 1.Wissenschaft sich schlieſslich doch immer in irgendwelche Opposition zu ihr gesetzt; es kam zu den entgegengesetztesten Ansprüchen, die Wahrheit über ein bestimmtes Objekt aus - zumachen, und zu den „ zweierlei Wahrheiten “, die immerhin den Anfang einer Differenzierung vorstellten, aber in dem - selben Maſse umgekehrt zu um so schlimmeren Konflikten führten, je einheitlicher im Ganzen noch Kirche und Wissen - schaft aufgefaſst wurden. Erst wenn beide sich vollkommen sondern, können sie sich vollkommen vertragen. Erst die differenzierende Übertragung der Erkenntnisfunktion an an - dere Organe als die der religiösen Funktionen ermöglicht ihr Nebeneinanderbestehen bei jenem Angewachsensein beider, das in einer umfänglichen Gruppeneinheit besteht.
Auch eine auf den ersten Blick entgegengesetzte Er - scheinung führt doch in gleicher Weise auf unseren Grund - gedanken. Wo nämlich schon differenzierte und zur Dif - ferenzierung angelegte Elemente in eine umfassende Einheit zusammengezwungen werden, da ist gerade oft gesteigerte Unverträglichkeit, stärkere gegenseitige Repulsion die Folge davon; der groſse gemeinsame Rahmen, der doch einerseits Differenzierung fordert, um als solcher bestehen zu können, bewirkt andererseits eine gegenseitige Reibung der Elemente, eine Geltendmachung der Gegensätze, die ohne dies Anein - anderdrücken innerhalb der Einheit nicht entstanden wäre, und die leicht zur Sprengung dieser letzteren führt. Allein auch in diesem Fall ist die Vereinheitlichung in einem groſsen Gemeinsamen das wenngleich vorübergehende Mittel zur In - dividualisierung und ihrem Bewuſstwerden. So hat gerade die weltherrschaftliche Politik des mittelalterlichen Kaisertums den Partikularismus der Völker, Stämme und Fürsten erst entfesselt, ja ins Leben gerufen; die beabsichtigte und teil - weise durchgeführte Einheitlichkeit und Zusammenfassung in einem groſsen Ganzen hat dasjenige, was sie freilich dann zu sprengen berufen war: die Individualität der Teile, erst er - schaffen, gesteigert, bewuſst gemacht.
Für dieses Reziprozitätsverhältnis von Individualisierung und Verallgemeinerung finden wir Beispiele auf äuſserlichen Gebieten. Wenn statt der Geltung von Amts - und Standes - tracht jeder sich kleidet, wie es ihm gefällt, so erscheint dies einerseits individueller, andererseits aber menschlich allgemeiner, insofern jene doch etwas Auszeichnendes hat, eine engere, besonders charakterisierte Gruppe zusammenschlieſst, deren Auflösung gleichzeitig eine weite Socialisierung und Indivi - dualisierung bedeutet. Noch entschiedener zeigt der folgende Fall, daſs nicht nur im realen Verhalten, sondern auch in der psychologischen Vorstellungsart die Korrelation zwischen dem Hervortreten der Individualität und der Erweiterung der Gruppe statthat. Wir vernehmen von Reisenden undForschungen (42) X 1. — Simmel. 566X 1.können es auch in gewissem Maſse leicht selbst beobachten, daſs bei der ersten Bekanntschaft mit einem fremden Volks - stamme alle Individuen desselben ununterscheidbar ähnlich erscheinen, und zwar in um so höherem Maſse, je verschie - dener von uns dieser Stamm ist; bei Negern, Chinesen u. A. nimmt diese Differenz das Bewuſstsein so sehr gefangen, daſs die individuellen Verschiedenheiten unter jenen völlig davor verschwinden. Mehr und mehr aber treten sie hervor, je länger man diese, zunächst gleichförmig erscheinenden Men - schen kennt; und entsprechend verschwindet das stete Be - wuſstsein des generellen und fundamentalen Unterschiedes zwischen uns und ihnen; sobald sie uns nicht mehr als ge - schlossene, in sich homogene Einheit entgegentreten, ge - wöhnen wir uns an sie; die Beobachtung zeigt, daſs sie in demselben Maſse als uns homogener erscheinen, in dem sie als unter sich heterogener erkannt werden: die allgemeine Gleichheit, die sie mit uns verbindet, wächst in dem Verhält - nis, in dem die Individualität unter ihnen erkannt wird.
Auch unsere Begriffsbildung nimmt den Weg, daſs zu - nächst eine gewisse Anzahl von Objekten nach sehr hervor - stechenden Merkmalen in eine Kategorie einheitlich zu - sammengefaſst und einem andern ebenso entstandenen Begriff schroff entgegengestellt wird. In demselben Maſse nun, in dem man neben jenen, zunächst auffallenden und bestimmen - den Qualitäten andere entdeckt, welche die unter dem zuerst konzipierten Begriff enthaltenen Objekte individualisieren, — in demselben müssen die scharfen begrifflichen Grenzen fallen. Die Geschichte des menschlichen Geistes ist voll von Beispielen für diesen Prozeſs, von denen eines der hervor - ragendsten die Umwandlung der alten Artlehre in die De - scendenztheorie ist. Die frühere Anschauung glaubte zwischen den organischen Arten so scharfe Grenzen, eine so geringe Wesengleichheit zu erblicken, daſs sie an keine gemeinsame Abstammung, sondern nur an gesonderte Schöpfungsakte glauben konnte; das Doppelbedürfnis unseres Geistes, einer - seits nach Zusammenfassung, andererseits nach Unterscheidung, befriedigte sie so, daſs sie in einen einheitlichen Begriff eine groſse Summe von gleichen Einzelnen einschloſs, diesen Be - griff aber um so schärfer von allen andern abschloſs und, wie es entsprechend der Ausgangspunkt der oben entwickelten Formel ist, die geringe Beachtung der Individualität innerhalb der Gruppe durch um so schärfere Individualisierung dieser den andern gegenüber und durch Ausschluſs einer allgemeinen Gleichheit groſser Klassen oder der gesamten organischen Welt ausglich. Dieses Verhalten verschiebt die neuere Er - kenntnis nach beiden Seiten hin; sie befriedigt den Trieb nach Zusammenfassung durch den Gedanken einer allgemeinen Einheit alles Lebenden, welche die Fülle der Erscheinungen67X 1.als blutsverwandte aus einem ursprünglichen Keime hervor - treibt; der Neigung zur Differenzierung und Specifikation kommt sie dadurch entgegen, daſs ihr jedes Individuum gleichsam eine besondere, für sich zu betrachtende Stufe jenes Entwick - lungsprozesses alles Lebenden ist; indem sie die starren Art - grenzen flüssig macht, zerstört sie zugleich den eingebildeten wesentlichen Unterschied zwischen den rein individuellen und den Arteigenschaften; so faſst sie das Allgemeine allgemeiner und das Individuelle individueller, als die frühere Theorie es konnte. Und dies eben ist das Komplementärverhältnis, das sich auch in den realen socialen Entwicklungen geltend macht.
Die psychologische Entwicklung unseres Erkennens zeigt auch ganz im allgemeinen diese zwiefache Richtung. Ein roher Zustand des Denkens ist einerseits unfähig, zu den höchsten Verallgemeinerungen aufzusteigen, die überall giltigen Gesetze zu ergreifen, aus deren Kreuzung das einzelne Individuelle hervorgeht. Und andererseits fehlt ihm die Schärfe der Auf - fassung und die liebevolle Hingabe, durch die die Individua - lität als solche verstanden oder auch nur wahrgenommen wird. Je höher ein Geist steht, desto vollkommener differenziert er sich nach diesen beiden Seiten; die Erscheinungen der Welt lassen ihm keine Ruhe, bis er sie auf so allgemeine Gesetze zurückgeführt hat, daſs alle Besonderheit vollkommen ver - schwunden ist und keine noch so entlegene Kombination der Erscheinungen der Auflösung in jene widerstrebt. Allein wie zufällig und flüchtig diese Kombinationen auch sein mögen, sie sind doch nun einmal da, und wer die allgemeinen und ewigen Elemente des Seins sich zum Bewuſstsein zu bringen vermag, muſs auch die Form des Individuellen, in der sie sich zu - sammenfinden, scharf percipieren, weil gerade nur der ge - naueste Einblick in die einzelne Erscheinung die allgemeinen Gesetze und Bedingungen erkennen läſst, die sich in ihr kreuzen. Die Verschwommenheit des Denkens setzt sich bei - dem entgegen, da die Bestandteile der Erscheinung sich ihr weder klar genug sondern, um ihre individuelle Eigenart, noch um die höheren Gesetzmäſsigkeiten zu erkennen, die ihnen mit andern gemeinsam sind. Es steht damit in tieferem Zu - sammenhange, daſs der Anthropomorphismus der Weltanschau - ung in demselben Maſse zurückweicht, in dem die naturgesetz - liche Gleichheit der Menschen mit allen anderen Wesen für die Erkenntnis hervortritt; denn wenn wir das Höhere er - kennen, dem wir selbst und alles andere untergeordnet sind, so verzichten wir darauf, nach den speciellen Normen dieser zu - fälligen Komplikation, die wir selbst ausmachen, auch die übrigen Weltwesen vorzustellen und zu beurteilen. Die für sich bestehende Bedeutung und Berechtigung der anderwei - tigen Erscheinungen und Vorgänge in der Natur geht in der anthropozentrischen Betrachtungsart verloren und färbt ganz5*68X 1.und gar von dem Kolorit des Menschentums ab. Erst die Erhebung zu dem, was auch über diesem steht, zu der allge - meinsten Naturgesetzlichkeit, schafft jene Gerechtigkeit der Weltanschauung, die jedes Ding in seinem Fürsichsein, seiner Individualität erkennt und anerkennt. Ich bin überzeugt: wenn alle Bewegungen der Welt auf die allbeherrschende Gesetzmäſsigkeit der Mechanik der Atome zurückgeführt wären, so würden wir schärfer als je vorher erkennen, worin sich jedes Wesen von jedem andern unterscheidet.
Dieses erkenntnistheoretische und psychologische Verhält - nis erweitert sich, wenngleich dieselbe Entwicklungsform bei - behaltend, sobald es sich statt um Naturgesetze um metaphy - sische Allgemeinheiten handelt. Neben der Abstraktionskraft des Verstandes ist es hier die Wärme des Gemütes, die aus seinem Innersten die metaphysische Blüte hervortreibt, die Innigkeit des Mitlebens mit den Erscheinungen der Welt, die uns die allgemeinsten, überempirischen Triebkräfte ahnen läſst, von denen sie im Innersten zusammengehalten wird. Und ebendieselbe Tiefe und Sammlung des Empfindens flöſst uns oft eine heilige Scheu vor dem Individuellen der innern und äuſseren Erscheinungen ein, die uns nun gerade hindert, in transcendenten Begriffen und Bildern gleichsam ein Asyl für die Not oder auch nur für die Unerklärlichkeit des augen - blicklichen Erlebens zu suchen. Nicht woher dieses Schicksal kommt und wohin es geht, macht das aus, worauf es uns ankommt, sondern daſs es gerade dieses Eigenartige, in dieser bestimmten Kombination mit nichts anderem Vergleichbare ist. Während die höchsten metaphysischen Verallgemeine - rungen dem verfeinerten Gefühlsleben entspringen, ist gerade ein solches oft genug von dem Aufnehmen und Betrachten der empirischen Welt der Einzelheiten zu sehr ergriffen, ist zart genug organisiert, um alle die Schwankungen, Gegen - sätze, Wunderlichkeiten in dem Verhältnis des Individuellen zu bemerken, an denen der Stumpfsinnigere vorüberempfindet, und begnügt sich mit dem bloſsen Anschauen und Anstaunen dieses wechselvollen Spieles der Einzelheiten. Ich brauche es kaum auszusprechen, daſs es die ästhetische Naturanlage ist, die diese Differenzierung am vollendetsten darstellt; sie sucht einerseits die Ergänzung des Irdisch-Unvollkommenen im Bau einer Idealwelt, in der die reinen typischen Formen wohnen, andererseits die Versenkung in das Allereigenste, Allerindividu - ellste der Erscheinungen und ihrer Schicksale. Und im Praktisch-Ethischen knüpft sich das Interesse des Herzens am wärmsten gerade an die engsten und dann wieder an die weitesten Kreise der Pflichterfüllung: einerseits an die engste Familie, andererseits an das Vaterland, einerseits an die Indi - vidualität, andererseits an das Weltbürgertum; die Verpflich - tungen für die dazwischen liegenden Kreise, so enge und69X 1.strenge sie sein mögen, entbehren doch der Wärme und In - nigkeit der Empfindung, die an jene Pole des socialen Lebens sich heftend auch von dieser Seite deren innere Zusammen - gehörigkeit zeigt. Und wie die hingebend optimistische Stim - mung pflegt sich auch die skeptisch-pessimistische zu ver - halten: sie verbindet gern die Verzweiflung am eigenen Ich mit der an der weitesten Allgemeinheit, projiciert das Gefühl innerer Wertlosigkeit, das aus rein subjektiven Momenten quillt, gar zu oft auf die Welt als Ganzes. Was dazwischen liegt, einzelne Seiten und Bezirke der Welt können dabei objektiv und selbst optimistisch beurteilt werden. Und um - gekehrt kann ein Pessimismus, der nur diese Einzelheiten trifft, sowohl das Ich wie das Ganze der Welt unberührt lassen.
Es ist allgemein zu beobachten, daſs das Seltene, Indivi - duelle, von der Norm sich Abhebende, eine Wertschätzung genieſst, die sich an seine Form als solches knüpft und inner - halb weiter Grenzen von seinem specifischen Inhalt unab - hängig ist. Schon die Sprache läſst die „ Seltenheit “zugleich als Vorzüglichkeit und etwas „ ganz Besonderes “ohne weiteren Zusatz, als etwas ganz besonders Gutes gelten, während das Gemeine, d. h. das dem weitesten Kreise Eigene, Unindivi - duelle, zugleich das Niedrige und Wertlose bezeichnet. Es liegt nahe, zur Erklärung dieser Vorstellungsart darauf hin - zuweisen, daſs alles Gute, alles was ein bewuſstes Glücks - gefühl erregt, selten ist; denn die Lust stumpft sich auſser - ordentlich schnell ab, und in dem Maſse ihrer Häufigkeit tritt eine Gewöhnung an sie ein, die dann wieder das Niveau bildet, über das ein neuer Reiz hinausgehen muſs, um als solcher bewuſst zu werden. Versteht man deshalb unter dem Guten die Ursache bewuſster Lebensreize, so bedarf es keines besonderen Pessimismus, um ihm die Seltenheit als notwen - diges Prädikat zuzusprechen. Ist man sich aber hierüber klar, so liegt psychologisch die Umkehrung sehr nahe: daſs auch alles Seltene gut sei; so völlig falsch es logischerweise ist, daſs, weil alle a = b sind, nun auch alle b = a sein sollen, so begeht doch das thatsächliche Denken und Fühlen unzähligemal diesen Fehlschluſs: ein gewisser Styl in künst - lerischen oder realen Dingen gefällt uns, und ehe wir es uns versehen, wird er uns zum Maſsstabe alles Gefallens über - haupt. Der Satz: der Styl M ist gut, wandelt sich uns für die Praxis in den: alles Gute muſs den Styl M zeigen; ein Parteiprogramm erscheint uns richtig — und gar zu bald71X 1.halten wir nichts anderes für richtig, als was in diesem ent - halten ist u. s. w. Einer solchen Umkehrung des Satzes, daſs alles Gute selten ist, mag die durchgehende Schätzung des Selteneren entstammen.
Ein praktisches Moment kommt hinzu. Die Gleichheit mit Anderen ist zwar als Thatsache wie als Tendenz von nicht geringerer Wichtigkeit als die Unterscheidung gegen sie, und beide sind in den mannichfaltigsten Formen die groſsen Prinzipien für alle äuſsere und innere Entwicklung, sodaſs die Kulturgeschichte der Menschheit schlechthin als die Ge - schichte des Kampfes und der Versöhnungsversuche zwischen ihnen aufgefaſst werden kann; allein für das Handeln inner - halb der Verhältnisse des Einzelnen ist doch der Unterschied gegen die Anderen von weit gröſserem Interesse, als die Gleich - heit mit ihnen. Die Differenzierung gegen andere Wesen ist es, was unsere Thätigkeit groſsenteils herausfordert und be - stimmt; auf die Beobachtung ihrer Verschiedenheiten sind wir angewiesen, wenn wir sie benutzen und die richtige Stellung unter ihnen einnehmen wollen. Der Gegenstand des prakti - schen Interesses ist das, was uns ihnen gegenüber Vorteil oder Nachteil verschafft, aber nicht das, worin wir mit ihnen übereinstimmen, das vielmehr die selbstverständliche Grund - lage vorschreitenden Handelns bildet. Darwin erzählt, er habe bei seinem vielfachen Verkehr mit Tierzüchtern nie einen getroffen, der an die gemeinsame Abstammung der Arten ge - glaubt habe; das Interesse an derjenigen Abweichung, die die von ihm gezüchtete Spielart charakterisiere und ihr den prak - tischen Wert für ihn verleihe, fülle das Bewuſstsein so aus, daſs für die Gleichheit in allen Hauptsachen mit den übrigen Rassen oder Gattungen kein Raum darin mehr vorhanden sei. Dieses Interesse an der Differenziertheit des Besitzes erstreckt sich begreiflich auch auf alle anderen Beziehungen des Ich. Man wird im allgemeinen sagen können, daſs bei objektiv gleicher Wichtigkeit der Gleichheit mit einer Allgemeinheit und der Individualisierung ihr gegenüber für den subjektiven Geist die erstere mehr in der Form von Unbewuſstheit, die letztere mehr in der der Bewuſstheit existieren wird. Die organische Zweckmäſsigkeit spart das Bewuſstsein in jenem Fall, weil es in diesem für die praktischen Lebenszwecke nötiger ist. Bis zu welchem Grade aber die Vorstellung der Verschiedenheit die der Gleichheit verdunkeln kann, zeigt vielleicht kein Beispiel lehrreicher, als die konfessionalisti - schen Streitigkeiten zwischen Lutheranern und Reformierten, namentlich im 17. Jahrhundert. Kaum war die groſse Ab - sonderung gegen den Katholicismus geschehen, so spaltet sich das Ganze um der nichtigsten Dinge willen in Parteien, die man oft genug äuſsern hört: man könnte eher mit den Papisten Gemeinschaft halten, als mit denen von der andern Konfession! 72X 1.So weit kann über der Differenzierung die Hauptsache, über dem Trennenden das Zusammenschlieſsende vergessen werden! Daſs dies Interesse an der Differenziertheit, das also die Grundlage des eigenen Wertbewuſstseins und des praktischen Handelns bildet, zu einer Wertschätzung derselben psycholo - gisch emporwächst, ist leicht verständlich, und ebenso, daſs dies Interesse hinreichend praktisch wird, um eine Differen - zierung auch da zu erzeugen, wo eigentlich kein sachlicher Grund dazu vorliegt. So bemerkt man, daſs Vereinigungen — von gesetzgebenden Körperschaften bis zu Vergnügungs - komitees —, die durchaus einheitliche Gesichtspunkte und Ziele haben, nach einiger Zeit in Parteien auseinandergehen, die sich zu einander verhalten, wie die ganze sie einschlieſsende Vereinigung etwa zu einer von radikal andern Tendenzen be - wegten. Es ist, als ob jeder Einzelne seine Bedeutung so sehr nur im Gegensatz gegen andere fühlte, daſs dieser Gegen - satz künstlich geschaffen wird, wo er von vornherein nicht da ist, ja wo die ganze Gemeinsamkeit, innerhalb deren nun der Gegensatz gesucht wird, auf Einheitlichkeit anderen Gegen - sätzen gegenüber gegründet ist.
War die zuerst genannte Ursache für die Schätzung der Differenzierung eine individuell psychologische, die zweite aus individuellen und sociologischen Motiven gemischt, so läſst sich nun eine dritte von rein entwicklungsgeschichtlichem Charakter auffinden. Wenn nämlich die Organismenwelt eine allmähliche Entwicklung durch die niedrigsten Formen hin - durch zu den höheren durchmacht, so sind die niedrigeren und primitiveren Eigenschaften jedenfalls die älteren; sind es aber die älteren, so sind es auch die verbreiteteren, weil die Gattungserbschaft um so sicherer jedem Individuum vererbt wird, je länger sie sich schon erhalten und gefestigt hat. Kürzlich erworbene Organe, wie die höheren und kompli - cierteren es in relativem Grade immer sind, erscheinen stets variabler, und man kann nicht mit Bestimmtheit sagen, daſs jedes Exemplar der Gattung schon an ihnen teilhaben wird. Das Alter der Vererbung einer Eigenschaft ist also das Band, das zwischen der Niedrigkeit und der Verbreitung derselben eine reale und synthetische Verbindung knüpft. Wenn es uns deshalb scheint, als ob die individuelle und seltenere Qualität die vorzüglichere wäre, so ist dies freilich auch von diesem Gesichtspunkte aus ein oft irrender, aber oft auch treffender Induktionsschluſs. Die Differenzierung kann freilich auch nach der Seite des Häſslichen und Bösen stattfinden. Allein eine tiefere Analyse zeigt hier häufig, daſs bei hoch - differenziertem Charakter sowohl des ethisch wie des ästhetisch Schlechten die Differenzierung mehr die Mittel und Ausdrucks - weise betrifft, also etwas an sich Gutes und Zweckmäſsiges, das nur durch einen bösen Endzweck, zu dem es gebraucht73X 1.wird und der an sich kein differenziertes Wesen zeigt, das negative Werturteil rechtfertigt; dies ist bei allen Raffine - ments des Sybaritentums und der Unsittlichkeit der Fall. Andererseits sehen wir auch gerade, wie entschieden häſsliche, also auf primitive Entwickelungsstufen zurückschlagende Er - scheinungen, die uns dennoch fesseln, dies durch Beimischung sehr individueller Züge zustande bringen; die sogenannte beauté du diable ist dafür ein häufig angetroffenes Beispiel.
Noch mehr Werturteilen dieser Art begegnen wir, wenn wir, statt nach der Schätzung des Seltenen, nach der des Neuen fragen. Jedes Neue ist ein Seltenes, wenn auch nicht immer im Verhältnis zu dem aktuellen Inhalt des Bewuſstseins, so doch zu der Totalität der Erfahrungen überhaupt, nicht immer im Verhältnis zu dem, was neben ihm ist, so doch jedenfalls im Verhältnis zu dem, was vor ihm war und in irgend einer psychischen Form doch noch gegenwärtig sein muſs, um jenes sich eben als Neues abheben zu lassen. Das Neue ist das aus der Masse des Gewohnten Herausdifferenzierte, es ist in der Form der Zeit dasjenige, was dem Inhalt nach als Seltenes erscheint. Welche Schätzung aber das Neue rein als solches und ohne Rücksicht auf seinen specifischen Inhalt genieſst, bedarf nur der Erwähnung. Verdankt es dieselbe nun auch wesentlich unserer Unterschiedsempfindlichkeit, die einen Reiz nur an dasjenige knüpft, was sich vom bisherigen Empfin - dungsniveau abhebt, so wirkt doch zweifellos die Erfahrung mit, daſs das Alte — welches das durch die Zeitreihe Ver - breitete ist, wie das bisher als verbreitet Angesprochene durch die Raumreihe — die primitive Gestaltung gegenüber dem Späteren, erst einen beschränkteren Zeitteil hindurch Existie - renden bedeutet. So finden wir, daſs in Indien die sociale Stufenordnung der Gewerbe von ihrem Alter abhängig ist: die jüngeren sind in der Regel die höher geachteten — wie mir scheint, aus dem Grunde, daſs sie die komplicierteren, feineren, difficileren sein müssen. Wenn wir dem entgegen auch vielfach einer Schätzung des Alten, Gefesteten, lange Bewährten begegnen, so ruht dieses seinerseits auf sehr realen und durchsichtigen Gründen, die die Kraft jener wohl für die einzelne Erscheinung einschränken, aber nicht zunichte machen können. — Was in diesen Fragen so leicht irre führt, ist dies, daſs so allgemeine Tendenzen, wie die Schätzung des Neuen und Seltenen oder des Alten und allgemein Verbrei - teten, als Ursachen der einzelnen Erscheinung, als Kräfte oder psychologische Naturgesetze aufgefaſst werden und dann freilich in den Widerspruch verwickeln, daſs ein Naturgesetz das genaue Gegenteil des andern auszusagen scheint. Der - artige allgemeine Prinzipien sind vielmehr die Folgen des Zusammentreffens primärer Kräfte, nichts als ein zusammen - fassender Ausdruck für Erscheinungen, deren jede aus besonders74X 1.zu untersuchenden Ursachen hervorgeht. Aus der unermeſs - lichen Kombinationsmöglichkeit jener primären Ursachen er - klärt sich die Verschiedenheit der allgemeinen Tendenzen, die als Widerspruch nur dann erscheint, wenn sie als allge - meine Ursachen, allgemein gültige Gesetze gefaſst werden und also gleichzeitige und gleichmäſsige Anwendung auf jede Er - scheinung fordern. Daſs sie freilich, nachdem sie lange genug als bloſse Folgeerscheinung im Bewuſstsein waren, dann auch im Verlauf des Seelenlebens zu Ursachen weiterer psycholo - gischer Geschehnisse werden, ist sicher. In keinem Fall aber kann die Herleitung des notwendigen Eintretens einer derartigen Tendenz dadurch widerlegt werden, daſs auch eine entgegen - gesetzte Geltung hat. Der Nachweis der Notwendigkeit, daſs das Neue und Seltene geschätzt wird, leidet nicht unter der Thatsache, daſs auch das Alte und Überlieferte geschätzt wird.
Die Niedrigkeit des letzteren nun in der hier betrach - teten evolutionistischen Beziehung hat gegenüber dem Jün - geren und Individuelleren die gröſsere Sicherheit der Ver - erbung, die gröſsere Gewiſsheit, jedem Einzelnen überliefert zu werden, zum Korrelat. Daher ist es klar, daſs groſsen Massen als Ganzen nur die niedrigeren Bestandteile der bisher erreichten Kultur eigen sein werden.
Von dieser Grundlage aus wird uns z. B. die auffallende Diskrepanz verständlich, die zwischen den theoretischen Über - zeugungen und der ethischen Handlungsweise so vieler Men - schen herrscht und zwar meistens im Sinne eines Zurückbleibens dieser hinter jenen. Es ist nämlich richtig bemerkt worden, daſs ein Einfluſs des Wissens auf die Charakterbildung nur insoweit stattfinden könne, als er von den Wissensinhalten der socialen Gruppe ausginge: denn zu der Zeit, wo der Ein - zelne dazu käme, sich ein wirklich individuelles, über seine Umgebung durch differenzierte Qualitäten hinausgehendes Wissen zu erwerben, — zu dieser Zeit sei sein Charakter und die Richtung seiner Sittlichkeit längst abgeschlossen. In der Periode der Bildung dieser ist er ausschlieſslich den Ein - flüssen des in der socialen Gruppe objektivierten Geistes, des in ihr allgemein verbreiteten Wissens ausgesetzt, die freilich je nach der angebornen Eigenart des Individuums zu sehr verschiedenen Resultaten führen werden — man denke z. B. daran, wie verschieden die den Individuen social entgegen - gebrachte Überzeugung einer jenseitigen Vergeltung auf starke oder schwache, heuchlerische oder aufrichtige, leichtsinnige oder ängstliche Naturanlagen ethisch einwirken muſs. Ist nun aber das Wissensniveau der Gruppe als solches ein niedriges, so verstehen wir aus seiner Wirkung auf die ethische For - mierung, daſs diese oft so wenig mit derjenigen theoretischen Bildung übereinstimmt, die wir dann an dem fertigen, mit individuellem Inhalt erfüllten Geiste wahrnehmen. Wir mögen75X 1.überzeugt sein, daſs das selbstlose Handeln unvergleichlich höheren Wert hat als das egoistische, — und handeln doch egoistisch; wir sind davon durchdrungen, daſs die geistigen Freuden viel dauerndere, reuelosere, tiefere sind als die sinn - lichen, — und jagen doch wie blind und toll hinter diesen her; wir sagen uns tausendmal vor, daſs der Beifall der Menge weitaus durch den von ein paar Einsichtigen aufgewogen wird, — und wieviele, die dies nicht nur sagen, sondern aufrichtig glauben, lassen nicht hundertmal diesen im Stich um jenes willen! Das kann wohl nur daher stammen, daſs solche höheren und vornehmeren Erkenntnisse uns erst kommen, wenn unser sittliches Wesen schon fertig ist und in der Zeit, wo es sich bildet, nur die allgemeineren, d. h. niedrigeren theoreti - schen Auffassungen uns umgeben.
Wenn nun aber auch jeder Einzelne aus der Masse höhere und feinere Eigenschaften besitzt, so sind diese doch individuellere, d. h. er unterscheidet sich in der Art und Rich - tung derselben von jedem andern, der qualitativ ebenso hoch - stehende Eigenschaften aufweist. Die gemeinsame Grundlage, von der sie sich abzweigen müssen, um höher zu kommen, wird von den niedrigeren Qualitäten gebildet, deren Ver - erbung allein eine unbedingte ist. Von hier aus wird uns das Schillersche Epigramm verständlich: „ Jeder, sieht man ihn einzeln, ist leidlich klug und verständig, Sind sie in cor - pore, gleich wird euch ein Dummkopf daraus. “ Und ebenso der Heinesche Vers: „ Selten habt ihr mich verstanden, Selten auch verstand ich euch, Nur wenn wir im Kot uns fanden, Dann verstanden wir uns gleich. “ Von hier aus die That - sache, daſs Essen und Trinken, also die ältesten Funktionen, das gesellige Vereinigungsmittel oft sogar sehr heterogener Personen und Kreise bilden, von hier aus auch die eigen - artige Tendenz selbst gebildeter Herrengesellschaften, sich in der Erzählung niedriger Zoten zu ergehen; je niedriger ein Ge - biet ist, desto sicherer kann man darauf rechnen, von allen verstanden zu werden; das wird um so zweifelhafter, je höher man kommt, weil es in demselben Verhältnis differenzierter, individueller wird. Die Handlungen von Massen werden hier - durch in entsprechender Weise charakterisiert. Der Kardinal Retz bemerkt in seinen Memoiren, wo er das Verfahren des Pariser Parlaments zur Zeit der Fronde beschreibt, daſs zahl - reiche Körperschaften, wenn sie auch noch so viel hoch - stehende und gebildete Personen einschlieſsen, doch bei ge - meinschaftlichem Beraten und Vorgehen immer wie der Pöbel handeln, d. h. durch solche Vorstellungen und Leidenschaften wie das gemeine Volk regiert werden, — nur diese sind eben allen gemeinsam, während die höheren differenziert, also bei den Verschiedenen verschieden sind. Wenn eine Masse ein - heitlich handelt, so geschieht es immer auf Grund möglichst76X 1.einfacher Vorstellungen; die Wahrscheinlichkeit ist zu gering, daſs jedes Mitglied einer gröſseren Masse einen mannichfalti - geren Gedankenkomplex in Bewuſstsein und Überzeugung trägt. Da nun aber angesichts der Kompliciertheit unserer Verhältnisse jede einfache Idee eine radikale, vielerlei andere Ansprüche negierende sein muſs, so begreifen wir daraus die Macht der radikalen Parteien in Zeiten, wo die groſsen Massen in Bewegung gesetzt sind, und die Schwäche der vermittelnden, für beide Seiten des Gegensatzes Recht fordernden, und ver - stehen auch, weshalb gerade diejenigen Religionen, die alle Vermittelung, alle Aufnahme andersartiger Bestandteile am schroffsten und einseitigsten von sich abweisen, die gröſste Herrschaft über die Gemüter der Masse erlangten.
Dem stellt sich scheinbar die manchmal gehörte Behaup - tung entgegen, daſs religiöse Gemeinschaften um so kleiner seien, je geringer ihr dogmatischer Besitz, und dass der Um - fang des Glaubens im geraden Verhältnis zu der Zahl der Bekenner stehe. Da ein differenzierterer Geist dazu gehört, um eine groſse Anzahl von Vorstellungen, als um wenige zu beherbergen, so würde hiernach gerade die gröſsere Gruppe, falls ihr als solcher die mannichfaltigere Glaubensmasse zu - käme, sich in der gröſseren geistigen Differenziertheit zu - sammenfinden. Allein die Thatsache selbst zugegeben, be - stätigt sie doch die Regel, statt eine Ausnahme von ihr zu bilden. Denn auf religiösem Gebiet stellt gerade Einheit und Einfachheit sehr viel gröſsere Ansprüche an Vertiefung des Denkens und Fühlens als bunte Fülle, wie denn auch die scheinbare Differenziertheit des Polytheismus dem Monotheis - mus gegenüber als die primitive Stufe auftritt.
Steht nun ein Angehöriger einer Gruppe sehr niedrig, so ist das Gebiet, das ihm mit dieser gemeinsam ist, relativ groſs. Dieses Gemeinsame selbst muſs aber, absolut genommen, um so niedriger und roher sein, je mehr solcher Einzelnen es giebt, da ein höheres Gemeinsames natürlich nur da möglich ist, wo die einzelnen Bestandteile der Gruppe ein solches auf - weisen; die relative Niedrigkeit der Ausbildung, die die Mit - glieder einer Gruppe zeigen — relativ in ihrem Verhältnis zum Gruppenbesitz — bedeutet zugleich die absolute Niedrigkeit des letzteren und umgekehrt. Es wäre ein wenngleich be - stechender, so doch oberflächlicher Schluſs, daſs bei hoher Differenziertheit der Einzelnen von einander das gemeinsame Gebiet mehr und mehr verkleinert und auf die unentbehrlich - sten und also niedrigsten Eigenschaften und Funktionen ein - geschränkt würde. Unsere vorige Abhandlung beruht zwar auf dem Gedanken, daſs, je ausgedehnter ein socialer Kreis ist, desto Wenigeres nur ihm gemeinsam sein kann, und daſs die Aus - dehnung nur durch gesteigerte Differenzierung möglich sei, sodaſs diese letztere der Gröſse des gemeinsamen Inhalts um -77X 1.gekehrt proportional sei. Wir können uns, um diesen schein - baren Widerspruch gegen die obige Behauptung zu lösen, das Verhältnis schematisch so denken, daſs der früheste Zustand ein sehr niedriges Socialniveau mit gleichzeitiger Gering - fügigkeit individueller Differenziertheiten dargestellt habe. Die Entwicklung habe nun beides gesteigert, aber so, daſs die Vermehrung des gemeinsamen Inhalts nicht in dem gleichen Verhältnis wie die der Differenzierungen stattgefunden habe. Die Folge davon wird sein, daſs der Abstand zwischen beiden sich immer vergröſsert, daſs das sociale Niveau im Verhältnis zu den darüber sich erhebenden Differenzierungen immer niedriger und ärmer wird, an sich betrachtet aber doch in fortwährender Steigerung begriffen ist. Die drei Bestimmungen: erhebliche absolute Höhe des gemeinsamen Besitzes der Gruppe, ebensolche der Individualisierungen, Armut des ersteren im Verhältnis zum letzteren, sind also durchaus zu vereinigen. Vielerlei analoge Entwicklungen finden nach diesem Schema statt. Dem Proletarier sind heut vielerlei Komforts und Kultur - vorteile zugänglich, die er in früheren Jahrhunderten ent - behrte, und doch ist die Kluft zwischen seiner Lebenshaltung und der der oberen Stände auſserordentlich viel weiter ge - worden. Bei hoher Kultur sind schon die Kinder geweckter und gewitzter, als in roheren Epochen, und doch ist zweifellos der Weg, den sie zur höchsten Ausbildung durchmachen müssen, ein gröſserer, als in den überhaupt „ kindlicheren “Zeiten des Menschengeschlechts. Auch innerhalb des Indivi - duums stehen sich in der Jugend etwa die sinnlichen und die intellektuellen Funktionen nahe; mit vorschreitender Entwick - lung werden nun zwar die ersteren reicher und stärker aus - gebildet, aber wenigstens bei vielen Naturen lange nicht in gleichem Verhältnis mit den letzteren, sodaſs erhebliche ab - solute Höhen beider sich mit relativer Armut der ersteren gegenüber den letzteren sehr wohl vertragen. Und so sehen wir in unserm Falle: der geistige Unterschied zwischen Ge - bildeten und Ungebildeten ist in solchen Zeiten der gröſste, wo auch die letzteren schon ein höheres Maſs von Bildung besitzen, als bei gröſserer allgemeiner Gleichheit des geistigen Inhalts. Und im Sittlichen verhält es sich wenigstens ähnlich; gewiſs ist die sociale Sittlichkeit, wie sie einerseits in der Rechtsver - fassung, den Verkehrsformen etc. objektiviert ist, anderer - seits im Durchschnitt der bewuſsten Gesinnungen an den Tag tritt, eine höhere geworden; ebenso gewiſs aber ist die Schwingungsweite zwischen den tugendhaften und den laster - haften Handlungen vergröſsert; die absolute Höhe der Diffe - renzierungen kann sich also über die des socialen Niveaus beliebig erheben, wenigstens gleichgültig gegen die absolute Höhe des letzteren. In den meisten Fällen aber ist sogar, wie wir sahen, eine gewisse absolute Höhe des gemeinsamen78X 1.Inhalts die Bedingung für seine relative Niedrigkeit gegenüber der Höhe der Differenzierungen, wozu dann das Korrelat der obige Satz ist, daſs bei unausgebildetem socialem Niveau auch ein Mangel an individueller Differenziertheit herrschen muſs.
Dies ist ein sehr wichtiges Verhältnis, da es uns ver - stehen lehrt, wie wenig dazu gehört, um sich in einer rohen und tiefstehenden Horde zum Führer und Herrn aufzu - schwingen. Dies ist auch an den rudelweise lebenden Tieren charakteristisch, bei denen das führende Tier sich keineswegs immer durch so besondere Eigenschaften auszeichnet, daſs sie diese ganz besondere Stellung rechtfertigten; auch unter Kin - dern in Schulklassen ist es häufig zu beobachten, daſs ein Kind zu einer Art führender Stellung unter seinen Kameraden gelangt, ohne durch besondere körperliche oder geistige Kräfte dazu prädestiniert zu sein. Ein sehr geringes oder sehr ein - seitiges Herausragen über den Durchschnitt bringt da schon ein Überwiegen über sehr viele mit sich, wo die Schwan - kungen um den Durchschnitt herum äuſserst geringe sind; über eine stark differenzierte Gesellschaft sich zu erheben ist deshalb um so viel schwerer, weil, wenn man auch in ge - wissen Hinsichten den Durchschnitt überragt, immer andere nach anderen Seiten Ausgebildete da sind, die es in Hinsicht dieser thun. Es ist deshalb besonders charakteristisch, wenn von den Küstennegern berichtet wird, daſs der geschickteste Mann im Dorfe gewöhnlich Schmied, Tischler, Baumeister und Weber in einer Person ist, und wenn bei den niedrig - sten Stämmen die klugen Männer immer zugleich Priester, Ärzte, Zauberer, Jugendlehrer u. s. w. sind. Eine Vereinigung wirklicher specifischer Begabungen für alle diese verschie - denen Funktionen ist kaum anzunehmen, sondern nur ein Hervorragen nach irgend einer Seite, das sich aber bei der Niedrigkeit des umgebenden allgemeinen Niveaus zu einer überhaupt ausgezeichneten Stellung ausbildet. Das gleiche Verhalten liegt der psychologischen Thatsache zu Grunde, daſs ungebildete Menschen von demjenigen, der auf irgend einem Gebiete Ungewöhnliches und ihnen Imponierendes leistet, nun auch gleich in jeder sonstigen Hinsicht Auſserordentliches voraussetzen und fordern. Bei der Fesselung des Individuums an das gemeinsame und deshalb niedrigere Niveau genügt schon ein geringes Maſs von differenzierender Erhebung darüber, um nach allen Seiten die Situation zu beherrschen. Man möchte es für eine der Zweckmäſsigkeiten der socialen Evolution halten, daſs gerade auf den Stufen, wo Herrschaft und Unterordnung den ersten und wichtigsten Grund der Kultur zu legen haben, der durchgehende Mangel an Diffe - renziertheit das Aufkommen herrschender Persönlichkeiten erleichtert. Ein analoges Verhalten zeigen auch die Vor - stellungen des Individuums. Je weniger differenziert, je un -79X 1.ausgebildeter die Vorstellungsmasse ist, um so leichter wird eine abweichende Vorstellung eine führende Stellung gewinnen und mit Leidenschaft ergriffen werden, gleichviel, ob sie dazu sachlich berechtigt ist oder nicht; die Impulsivität und eigen - sinnige Leidenschaftlichkeit roher und dummer Menschen ist eine häufig beobachtete Erscheinung in diesem Sinne. Allent - halben sehen wir so, daſs das Differenzierte und Aparte einen Wert erhält, der zu seiner sachlichen Bedeutung nur ein sehr unstetiges Verhältnis aufweist; je niedriger eine Gruppe, desto bemerkbarer wird jede Differenzierung, weil Niedrigkeit durchgehende Gleichheit der Individuen bedeutet und jede Besonderheit deshalb gleich sehr vielen gegenüber eine Ausnahmestellung bewirkt.
Soll nun in einer schon differenzierteren Masse dasjenige Nivellement, das zur Einheitlichkeit ihres Handelns gehört, erzielt werden, so kann es nicht so geschehen, daſs der Nie - dere zum Höheren, der auf primitiver Entwicklungsstufe Stehengebliebene zu dem Differenzierteren aufsteige, sondern nur so, daſs der Höchste zu jener von ihm schon überwun - denen Stufe herabsteige; was Allen gemeinsam ist, kann nur der Besitz des am wenigsten Besitzenden sein. Wo sich über Klassen, von denen eine bisher die herrschende, die andere die beherrschte war, ein Regiment erhebt, pflegt es sich des - halb auf die letztere zu stützen. Denn um sich gleich - mäſsig über alle Schichten erheben zu können, muſs es diese nivellieren. Nivellement aber ist nur so möglich, daſs die Höheren weiter herabgedrückt, als die Tieferen empor - gezogen werden. Deshalb findet der Usurpator in letzteren bereitwilligere Stützen. Damit hängt es zusammen, daſs, wer auf die Massen wirken will, dies nicht durch theoretische Überzeugungen, sondern wesentlich nur durch Appell an ihre Gefühle durchsetzen wird. Denn das Gefühl ist zweifellos gegenüber dem Denken phylogenetisch die niedere Stufe; Lust und Schmerz, sowie gewisse triebhafte Gefühle zur Er - haltung des Ich und der Gattung haben sich jedenfalls vor allem Operieren mit Begriffen, Urteilen und Schlüssen ent - wickelt; und deshalb wird sich eine Menge viel eher in pri - mitiven Gefühlen und durch dieselben zusammenfinden, als durch abstraktere Verstandesfunktionen. Hat man den Ein - zelnen vor sich, so darf man hinreichende Differenzierung seiner Seelenkräfte voraussetzen, die den Versuch rechtfertigt, durch Erweckung theoretischer Überzeugungen auf seine Ge - fühle zu wirken. Beiderlei Seelenenergieen müssen erst eine gewisse Selbständigkeit erlangt haben, um eine durch den sachlichen Inhalt bestimmte Gegenseitigkeit der Wirkung aus - zuüben. Wo die Differenzierung noch nicht so weit vor - geschritten ist, wird die Beeinflussung nur in derjenigen Rich - tung stattfinden, die die natürliche, psychologische Entwick -80X 1.lung innehält; da nun die Masse als solche nicht differenziert ist, so wird der Weg zu ihren Überzeugungen im allgemeinen durch ihre Gefühle hindurchgehen; man wird also umgekehrt wie beim Einzelnen auf diese wirken müssen, um jene zu gestalten.
Hierzu mag eine Erscheinung beitragen, die sich beson - ders deutlich an einer aktuell zusammenbefindlichen Menge beobachten läſst: die Verstärkung eines Eindrucks oder Im - pulses dadurch, daſs er zugleich eine groſse Anzahl von Ein - zelnen trifft. Ebenderselbe Eindruck, der uns, wenn er sich nur auf uns richtet, ziemlich kühl lassen würde, kann eine sehr starke Reaktion hervorrufen, sobald wir uns unter einer gröſseren Menge befinden, wenngleich jedes einzelne Mitglied derselben im genau gleichen Falle ist; hundertfach lachen wir im Theater oder in Versammlungen über Scherze, über die wir im Zimmer nur die Achseln zucken würden, irgend ein Impuls, dem jeder Einzelne nur sehr bedingt folgen würde, bewegt ihn, sobald er sich in einer groſsen Menge befindet, zum Mitmachen der enthusiastischsten, lobens - oder tadelns - werten Handlungsweisen. Das Mitgerissenwerden des Ein - zelnen bei den Empfindungsäuſserungen einer Menge bedeutet keineswegs, daſs jener an sich vollkommen passiv wäre und zu seinem Verhalten nur durch die anderen, anders Gestimmten angeregt würde; ihm mag es von seinem subjektiven Stand - punkt aus so erscheinen; allein thatsächlich besteht die Masse doch aus lauter Einzelnen, deren jedem es ebenso geht. Es findet hier die reinste Wechselwirkung statt; jeder Einzelne leistet seinen Beitrag zu der Gesamtstimmung, die auf ihn freilich mit einem Quantum wirkt, in dem sein eigener Bei - trag sich ihm verbirgt. Wenn man auch durchaus kein Ge - setz aufstellen kann, das die Wirkung eines Reizes und die Zahl der gleichzeitig von ihm Getroffenen in durchgängige funktionelle Beziehung brächte, so ist doch im Ganzen kein Zweifel, daſs jene sich zugleich mit dieser erhöht. Daher die oft ungeheure Wirkung flüchtiger Anregungen, die einer Masse gegeben werden, das lawinenartige Anschwellen, das den leisesten Impulsen von Liebe und Haſs oft zu teil wird. Schon an den heerdeweise lebenden Tieren ist dies festzustellen: der leiseste Flügelschlag, der kleinste Sprung eines einzelnen artet oft in einen panischen Schrecken der ganzen Heerde aus. Eine der eigentümlichsten und durchsichtigsten Steigerungen des Gefühls vermöge des gesellschaftlichen Zusammenseins zeigen die Quäker. Obgleich die Innerlichkeit und der Sub - jektivismus ihres religiösen Prinzips eigentlich jeder Gemein - samkeit des Gottesdienstes widerstreitet, findet diese dennoch statt, indessen oft so, daſs sie stundenlang schweigend zu - sammensitzen; und nun rechtfertigen sie diese Gemeinsam - keit dadurch, daſs sie uns dienen könne, uns dem Geiste81X 1.Gottes näher zu bringen: da dies aber für sie nur in einer Inspiration und nervösen Exaltation besteht, so muſs offenbar das bloſse, auch schweigende Beieinandersein die letztere be - günstigen. Ein englischer Quäker am Ende des 17. Jahr - hunderts beschreibt ekstatische Erscheinungen, die an einem Mitglied der Versammlung vorgehen, und fährt fort: In Kraft der Verbindung aller Glieder einer Gemeinde zu einem Leibe teile sich häufig ein solcher Zustand eines Einzelnen allen mit, sodaſs eine ergreifende fruchtbare Erscheinung zu Tage ge - fördert werde, die schon viele dem Vereine unwiderstehlich gewonnen habe. Man kann geradezu von einer Nervosität grosser Massen sprechen; eine Empfindlichkeit, eine Leiden - schaft, eine Excentricität ist ihnen oft zu eigen, die an keinem einzigen ihrer Mitglieder oder vielleicht nur an äusserst wenigen, für sich allein betrachtet, zu konstatieren wäre.
Alle diese Erscheinungen weisen auf diejenige psycho - logische Stufe hin, auf der das Seelenleben noch überwiegend von der Association bestimmt wird. Höhere geistige Ent - wicklung unterbricht die associativen Zusammenhänge, die die Elemente des Seelenlebens so mechanisch untereinander verknüpfen, daſs sich an die Erregung irgendeines Punktes oft die weitgehendste Erschütterung in einer Stärke und durch Gebiete hindurch heftet, die in gar keinem sachlichen Ver - hältnis zu jenem Ausgangspunkte stehen; steigende Differen - zierung verselbständigt die einzelnen Bewuſstseinselemente derart, daſs sie mehr und mehr nur logisch gerechtfertigte Verbindungen eingehen und sich aus den Verwandtschaften lösen, die aus der verschwimmenden Unklarheit und dem Mangel scharfer Umgrenzung bei primitiven Vorstellungen hervorgehen. Solange aber diese noch herrschen, ist auch ein Überwiegen der Gefühle über die Verstandesfunktionen zu beobachten. Denn wie viel oder wenig Wahrheit jene Lehre haben mag, daſs die Gefühle nur undeutliche Gedanken sind, in jedem Falle bewirkt Verschwommenheit, unklares Durch - einandergehen der Vorstellungsinhalte eine relativ lebhafte Anregung des Gefühlsvermögens. Je niedriger also das in - tellektuelle Niveau ist, je mehr unsichere Begrenzung der Vorstellungsinhalte jeden derselben mit jedem irgendwie ver - knüpft, desto erregbarer sind die Gefühle und desto weniger werden namentlich Willensäuſserungen durch scharf um - grenzte und logisch gegliederte Vorstellungsreihen hervor - gerufen werden, sondern durch jene Gesamterregung des Geistes, die aus der Fortpflanzung eines gegebenen Anstoſses erfolgt und ebenso Ursache wie Folge von Fluktuierungen des Gefühls ist. Indem also die Aufnahme eines Gedankens oder Impulses durch eine gröſsere Menge ihm die begriffliche Schärfe nimmt — schon weil die Auffassung jedes Einzelnen durch die seiner Genossen beeinfluſst wird —, ist die psycho -Forschungen (42) X 1. — Simmel. 682X 1.logische Grundlage für die Stimmung und Bestimmung der Menge durch den Appell an ihre Gefühle geschaffen; wo die Unklarheit der Begriffe dem Gefühlsleben einen weiten Spiel - raum giebt, da wird auch in Wechselwirkung das Gefühl einen gröſseren Einfluſs auf die anderen und höheren Funk - tionen ausüben, und Entschlüsse, die sonst aus einem deutlich gegliederten teleologischen Bewuſstseinsprozeſs hervorgehen, werden aus jenen viel unklareren Überlegungen und Impulsen entspringen, die der Erregung der Gefühle folgen. Wesentlich ist auch die Widerstandslosigkeit, die aus dieser psychischen Verfassung folgt und so das oben charakterisierte Mitgerissen - werden erklären hilft; je primitiver und undifferenzierter der Bewuſstseinszustand ist, desto weniger findet ein auftauchender Impuls sofort die nötigen Gegengewichte. Das beschränkte geistige Niveau hat nur für eine einzige Vorstellungsgruppe Raum, die sich vermöge der Grenzverschwommenheit seiner Elemente widerstandslos fortpflanzt. Daher erklärt sich aber auch das ebenso rasche Umschlagen der Stimmungen und Entschlüsse einer Volksmenge, das nun dem früheren Inhalte so wenig Raum giebt, wie sie damals für den jetzigen übrig hatte; Schnelligkeit und Schroffheit im Nacheinander der Vorstellungen und Entschlüsse ist das begreifliche Korrelat zu dem Mangel ihres Nebeneinander.
Die weiteren psychologischen Gründe dessen, was ich als Kollektivnervosität bezeichnete, gehören wohl hauptsächlich in das weite Gebiet der Erscheinungen der „ Sympathie “. Es ist zunächst anzunehmen, daſs durch das enge Zusammensein mit vielerlei Menschen eine groſse Anzahl dunkler Empfin - dungen sympathischer und antipathischer Art ausgelöst wird, daſs sich vielerlei Reize, Triebe und Associationen an die Mannichfaltigkeit der Eindrücke knüpfen, die wir etwa in einer Volksversammlung, in einer Zuhörerschaft u. s. w. erfahren; und wenn auch keiner derselben zu klarem Bewuſstsein kommt, so wirken sie doch gerade in ihrer Gesamtheit anregend und bewirken eine innere nervöse Bewegung, die jeden sich darbietenden Inhalt mit Leidenschaft ergreift und ihn weit über das Maſs hinaus steigert, das ihm ohne diesen subjek - tiven Reizzustand zukäme; wir begreifen hieraus ganz im allgemeinen die Steigerung des Nervenlebens, die die Ver - gesellschaftung mit sich bringt, und daſs sie um so gröſser sein muſs, je verschiedenartiger die von dieser ausgehenden Eindrücke und Anregungen sind, d. h. je weiter und differen - zierter unser Kulturkreis ist. Eine andere Form der Sym - pathie ist hier indes noch wichtiger. Unwillkürlich ahmen wir Bewegungen nach, die wir um uns herum vorgehen sehen; wie wir häufig beim Anhören eines Musikstücks dieses ganz oder halb unbewuſst mitsingen, beim Anblick einer lebhaften Aktion dieselbe mit unserm Körper oft in der seltsamsten83X 1.Weise akkompagnieren, so machen wir zunächst rein physisch die Bewegungen, Änderungen der Gesichtszüge u. s. w. mit, in denen sich eine Gemütserregung neben uns befindlicher Per - sonen offenbart. Vermöge der Association aber, die auch in uns zwischen einem Gefühl und seiner Äuſserung gebildet ist und auch in rückläufiger Richtung wirksam wird, erregt jene rein äuſserliche Mitbewegung auch wenigstens ein Teilchen des ihr entsprechenden inneren Ereignisses. Alle höhere Schauspielkunst ruht auf diesem psychologischen Vorgang. Indem der Schauspieler zunächst äuſserlich die geforderte Lage und Bewegung nachahmt, lebt er sich schlieſslich in das innere Sein derselben ein, versetzt sich über die Brücke der äuſsern Nachahmung ganz in dieses, sodaſs er dann völlig aus der psychologischen Beschaffenheit der betreffenden Person heraus spielt. Auch ist längst festgestellt, daſs die rein mecha - nische Nachahmung der Geberden eines Zornigen in der Seele selbst einen Anklang von zornigem Affekt hervorruft. Durch die Mittelglieder also der sinnlichen Äuſserung des Affekts und der sympathisch reflektorischen Nachahmung derselben zieht eine in unserm Gesichtskreise befindliche Erregung uns mehr oder weniger in ihren Bann. Das findet natürlich um so ausgedehnter und sicherer statt, je vielfacher der gleiche Affekt um uns herum zur Äuſserung kommt. Und geschieht das schon, wenn wir unbefangen in eine Menge hineintreten, so wird es da, wo die eigene Stimmung die gleiche ist, zur erheblichsten Steigerung derselben, zu jenem gegenseitigen Sichhinreiſsen, zur Überwucherung aller verstandesmäſsigen und individuellen Momente durch dasjenige Gefühl führen, das uns mit dieser Zahl gemeinsam ist; die Wechselwirkung der Individuen untereinander strebt dahin, jede gegebene Stärke der Empfindung über sich hinauszutreiben.
Hiermit aber scheinen wir unserm bisherigen Resultat zu widersprechen, daſs die Vereinigung einer Menge auf dem gleichen Niveau immer eine relative Niedrigkeit des letzteren und ein Herabsteigen der Einzelnen voraussetze. Allein wenn auch das Individuelle eine relative Höhe gegenüber dem so - cialen Niveau einnimmt, so muſs doch das letztere immer eine gewisse absolute Höhe haben, und diese wird eben durch die wechselseitige Steigerung der Empfindungen und Energieen erreicht. Auch ist es nur das voll ausgebildete Individuum, das, um auf das sociale Niveau zu kommen, herabsteigen muſs; so lange und so weit sich seine Anlagen noch im Zu - stande der bloſsen Potenz befinden, kann es sehr wohl zu jenem noch heraufsteigen müssen. Auch ist die Nachahmung, die die Gleichheit des Niveaus herstellt, eine der niedrigeren geistigen Funktionen, wenngleich sie in socialer Beziehung von der gröſsten und noch keineswegs genügend hervorge - hobenen Bedeutung ist. Ich erwähne in dieser Hinsicht nur6*84X 1.daſs die Nachahmung eines der hauptsächlichen Mittel gegen - seitigen Verständnisses ist; vermöge der vorhin betonten Asso - ciation zwischen der äuſseren Handlung und dem ihr zu grunde liegenden Bewuſstseinsvorgang giebt uns die Nachahmung der Handlung eines andern oft erst den Schlüssel zu ihrem inner - lichen Verständnis, indem die Gefühle, die früher auch bei uns die Handlung hervorriefen, erst durch jene psychologi - sche Hülfe ihre Reproduktion erfahren. Dem volkstümlichen Ausdruck, daſs man, um irgendeine Handlungsweise eines anderen recht zu begreifen, erst in seiner Haut stecken müsse, liegt eine tiefe psychologische Wahrheit zu Grunde, und die Nachahmung des anderen läſst uns wenigstens soweit in seiner Haut stecken, als sie eine partielle Gleichheit mit ihm bedeutet; wie sehr aber das gegenseitige Verständnis die Schranken zwischen Mensch und Mensch niederreiſst, wieviel es zur Her - stellung eines gemeinsamen geistigen Besitzes beiträgt, bedarf keiner Ausführung. Auch ist kein Zweifel, daſs wir für die ungeheure Mehrzahl unserer Thätigkeiten auf Nachahmung vorgefundener Formen angewiesen sind, was uns nur nicht ins Bewuſstsein tritt, weil das uns und andere Interessierende eben nicht dies, sondern das Eigene und Originelle an uns ist. Ebenso sicher ist freilich die Niedrigkeit des Geistes, dessen Bewegungen in der Form der Nachahmung befangen bleiben, weil, bei der durchgehenden Tendenz auf diese, das am häufigsten Geschehende, am häufigsten zur Nachahmung Auffordernde die Norm des Handelns abgeben wird, das sich demnach mit dem trivialsten Inhalt füllen wird. Wenn nun auch diese Art des geistigen Lebens ihrem Begriffe nach die weit überwiegende sein muſs, so hat doch das wachsende Streben nach Differenzierung eine Form geschaffen, die alle Vorteile der Nachahmung und socialen Anlehnung, zugleich aber auch den Reiz einer wechselvollen Differenzierung be - sitzt: die Mode. Im Mitmachen der Mode auf jeglichem Ge - biet ist der Einzelne sociales Wesen κατ᾽ ἐξοχήν. Die Qual der Wahl, die Verantwortung derselben anderen gegenüber ist ihm erspart; mit der Bequemlichkeit des Thuns verbindet sich die Sicherheit der allgemeinen Billigung. Indem aber die Mode nun ihrem Inhalte nach in stetem Wechsel begriffen ist, befriedigt sie zugleich das Bedürfnis der Verschiedenheit und stellt eine Differenzierung im Nacheinander dar; der Un - terschied der heutigen Mode gegen die von gestern und vor - gestern, die Zusammendrängung des auf sie gerichteten Be - wuſstseins an einem Punkt, der sich gegen das Vorher und das Nachher oft aufs schärfste abscheidet, die Abwechselungen und Übergänge in ihr, die an die Verhältnisse, Streitigkeiten, Kompromisse zwischen Individualitäten erinnern, — alles dieses ersetzt vielen Geistern in der Mode die Reize eines85X 1.individuell differenzierten Verhaltens und täuscht sie über die Niedrigkeit des Niveaus, an das sie sich binden.
Aus dieser Verfassung der Masse, insofern sie einheitlich auftritt, erklärt sich ungezwungen eine Erscheinung, die zu den abenteuerlichsten sociologischen Ideen Veranlassung ge - geben hat. Die Handlungen einer Gesellschaft haben gegen - über denen des Individuums eine schwankungslose Treffsicher - heit und Zweckmäſsigkeit. Der Einzelne wird von wider - sprechenden Empfindungen, Antrieben und Gedanken hin - und hergezogen, und seinem Geiste bieten sich in jedem Augen - blick vielfache Handlungsmöglichkeiten dar, zwischen denen er nicht immer mit objektiver Richtigkeit oder auch nur mit subjektiver Gewiſsheit zu wählen weiſs; die sociale Gruppe dagegen ist sich stets darüber klar, wen sie für ihren Freund und wen für ihren Feind hält, und zwar nicht so sehr in theoretischem Sinne, als wenn es aufs Handeln ankommt. Zwischen dem Wollen und dem Thun, dem Erstreben und dem Erreichen, den Mitteln und den Zwecken der Allgemein - heit ist eine geringere Diskrepanz, als zwischen denselben Momenten im Individuellen. Dies hat man so zu erklären gesucht, daſs die Bewegungen der Masse im Gegensatz zu dem freien Individuum naturgesetzlich bestimmt werden, daſs sie schlechthin dem Zuge ihrer Interessen folgen, dem gegenüber sie so wenig wählen und schwanken können, wie die Materienmassen gegenüber dem Zuge der Gravitation. Eine ganze Anzahl fundamentaler erkenntnistheoretischer Un - klarheiten steckt in dieser Erklärungsweise. Gäben wir selbst zu, daſs die Handlungen der Masse als solche in besonderem Maſse naturgesetzlich sind gegenüber den Handlungen der Einzelnen, so bliebe es noch immer ein Wunder, wenn hier Naturgesetz und Zweckmäſsigkeit immer zusammenfielen. Die Natur kennt Zweckmäſsigkeit nur in der Form, daſs sie eine groſse Anzahl von Produkten mechanisch hervorbringt, von denen dann zufällig eines besser als die andern sich den Um - ständen anpassen kann und sich dadurch als zweckmäſsiges erweist. Aber sie hat kein Gebiet, auf dem jede Hervor - bringung von vornherein und unbedingt gewissen teleologi - schen Forderungen genügte. Den alten Satz, daſs die Natur immer den kürzesten Weg zu ihren Zwecken einschlage, können wir in keiner Weise mehr anerkennen; da die Natur überhaupt keine Zwecke hat, so können auch ihre Wege nicht durch eine Beziehung zu einem solchen als lange oder kurze charakterisiert werden; deshalb wird auch die Übertragung dieses Prinzips auf das Verhältnis zwischen den socialen Zwecken und ihren Mitteln nicht zutreffen. Im Ernst wird doch auch diese Meinung nicht behaupten wollen, daſs das Wählen und Irren des Einzelnen eine Ausnahme von der all - gemeinen Naturkausalität darstelle; aber selbst wenn das so86X 1.wäre und das Handeln der Masse sich dem gegenüber streng natürlich verhielte, so wären noch immer die beiden Fragen zu erledigen, ob denn nicht auch innerhalb der reinen Natur - kausalität ein Wählen und Schwanken stattfinden könne, und ferner, durch welche prästabilierte Harmonie gerade in den socialen Bestrebungen der Erfolg sich immer mit der Absicht decken müſste. Wenn auch beide Momente, das Wollen und das Handeln, naturgesetzlich bestimmt sind, ja gerade weil sie es sind, bliebe es doch ein Wunder, wenn der Erfolg des letzteren genau die Umrisse ausfüllte, die das erstere doch nur ideell gezeichnet hat.
Diese Erscheinungen indes, insoweit sie überhaupt fest - zustellen sind, erklären sich leicht unter der Voraussetzung, daſs die Ziele des öffentlichen Geistes viel primitivere und einfachere sind als die des Individuums; worin eine groſse Anzahl von Menschen übereinstimmt, das muſs, wie oben ausgeführt, im allgemeinen dem Niveau des Niedrigsten unter ihnen adäquat sein. Es kann nur die primären Grundlagen der einzelnen Existenzen betreffen, über die sich erst das höher Ausgebildete, feiner Differenzierte derselben zu erheben hat. Daraus verstehen wir die Sicherheit sowohl des Wollens wie des Gelingens der socialen Zwecke. In demselben Maſse, in dem der Einzelne in seinen primitivsten Zwecken schwan - kungslos und irrtumslos ist, in ebendem Maſse ist es die so - ciale Gruppe überhaupt. Die Sicherung der Existenz, der Gewinn neuen Besitzes, der Schutz des Erworbenen, die Lust an der Behauptung und Erweiterung der eigenen Machtsphäre — dies sind grundlegende Triebe für den Einzelnen, in denen er sich mit beliebig vielen anderen zweckmäſsigerweise zu - sammenschlieſsen kann. Weil der Einzelne in diesen prin - zipiellen Strebungen nicht wählt noch schwankt, kennt auch die sociale Strebung, die jene zusammenschlieſst, keine Wahl oder Schwankung. Es kommt hinzu, daſs, wie der Einzelne bei rein egoistischen Handlungen klar bestimmt und zielsicher handelt, die Masse es bei allen ihren Zielsetzungen thut; sie kennt nicht den Dualismus zwischen selbstischen und selbst - losen Trieben, in dem der Einzelne rathlos schwankend steht, und der ihn so oft zwischen beiden hindurch ins Leere greifen läſst. Daſs aber auch die Erreichung der Ziele irrtumsloser und gelingender ist als beim Einzelnen, folgt zunächst aus der Thatsache — die unseren augenblick - lichen Erörterungen ferner liegt —, daſs innerhalb eines Ganzen Reibungen und Hemmungen der Teile stattfinden, von denen das Ganze als solches frei ist, dann aber daraus, daſs der primitive Charakter der socialen Zwecke sich auſser in der einfacheren Qualität ihres Inhalts auch in ihrem Näher - liegen bekundet; d. h. die Allgemeinheit bedarf für ihre Zwecke nicht der Umwege und Schleichwege, auf die der Einzelne87X 1.so oft angewiesen ist. Das liegt aber nicht an irgendeinem mystischen Charakter besonderer Natürlichkeit, sondern nur daran, daſs erst höhere Differenzierung der Ziele und Wege es nötig macht, mehr und mehr Mittelglieder in die teleolo - gische Kette einzuschieben. Worin sich aber viele differen - zierte Wesen zusammenschlieſsen, das kann selbst nicht in gleichem Maſse differenziert sein; und wie sich der Einzelne über diejenigen Zweckverbindungen nicht zu irren pflegt, in denen Ausgangs - und Zielpunkt nahe aneinander liegen, und wie eben die Zwecke am sichersten von ihm erreicht werden, bei denen die erste Initiative am unmittelbarsten dazu hin - reicht, so wird natürlich auch der sociale Kreis, insofern der einfachere Inhalt seiner Ziele den eben bezeichneten formalen Charakter derselben zur Folge hat, weniger Irrtümern und Miſserfolgen ausgesetzt sein.
Bei gröſseren Gruppen, die den Verlauf ihrer Entwick - lungen nicht mehr durch augenblickliche Impulse, sondern durch umfassende und feste, allmählich herangewachsene In - stitutionen bestimmen, müssen die letzteren eine gewisse Weite, einen objektiven Charakter tragen, um der ganzen Fülle verschiedenartiger Bethätigungen den gleichen Raum, die gleiche Sicherung und Förderung zu gewähren. Sie müssen nicht nur irrtumsloser sein, weil jeder Irrtum sich bei der ungeheuren Anzahl davon abhängender Verhältnisse aufs schwerste rächen würde und deshalb mit der gröſsten Vorsicht vermieden werden muſs, sondern sie werden von vornherein und abgesehen von diesem Zweckmäſsigkeitsgesichtspunkt schon deshalb als besonders richtig, erhaben über Schwankungen und Einseitigkeiten auftreten, weil sie aus dem Zusammen - prall der Gegensätze, aus dem Streite der Interessen, aus dem gegenseitigen Sichabschleifen der in einer Gruppe enthaltenen Verschiedenheiten überhaupt entstanden sind. Für den Ein - zelnen entsteht die Wahrheit und Sicherheit in der Theorie wie in der Praxis dadurch, daſs die zunächst einseitige sub - jektive Maxime zu einer groſsen Anzahl von Verhältnissen in Beziehung tritt; die Richtigkeit eines allgemeineren Vor - stellens besteht überhaupt nur darin, daſs es durch vielerlei und möglichst verschiedene Fälle durchführbar ist; alle Ob - jektivität erhebt sich nur aus der Kreuzung und gegenseitigen Einschränkung einzelner Vorstellungen, deren keiner man es an und für sich ansehen kann, ob sie nicht etwa bloſs sub - jektiv ist; sowohl in realer wie in erkenntnistheoretischer Be - ziehung läutert sich die Übertriebenheit, die falsche Subjek - tivität, die Einseitigkeit nicht durch das plötzliche Hinein - greifen eines absolut anders gearteten Objektiven, sondern nur durch das Zusammenströmen einer gröſsten Zahl subjektiver Vorstellungen, die ihre Einseitigkeiten gegenseitig korrigieren und paralysieren und so das Objektive gewissermaſsen als88X 1.Verdichtung des Subjektiven herstellen. Offenbar bildet sich nun der öffentliche Geist von vornherein auf dem Wege, der den Einzelgeist relativ spät zur Richtigkeit und Sicherheit seiner Inhalte führt. Gerade weil so äuſserst verschieden - artige Interessen in gleichem Maſse an den öffentlichen Ein - richtungen und Maſsregeln beteiligt sind, müssen diese sozu - sagen im Indifferenzpunkt aller jener Entgegengesetztheiten stehen; sie müssen den Charakter der Objektivität tragen, weil die Subjektivität jedes Einzelnen schon dafür sorgt, daſs nicht der eines anderen ein zu groſser Einfluſs auf sie ein - geräumt werde. Als gemeinsame Grundlage, aber, worauf es für die jetzige Betrachtung ankommt, auch als gemeinsames Resultat der Bewährung aller möglichen Tendenzen und Be - anlagungen muſs das Handeln der Gruppe eine umfassende Objektivität zeigen und den Durchschnitt bilden, der selbst von der Excentricität seiner Faktoren frei ist. Dieser Sicher - heit und Möglichkeit entspricht nun freilich ein gewisser For - malismus und Mangel an konkreten Inhalten in groſsen Be - zirken des öffentlichen Wesens. Je gröſser der sociale Kreis ist, desto mehr Interessen kreuzen sich in ihm und desto farbloser müssen die Bestimmungen sein, die ihn als ganzen treffen und die nun ihre specielle und konkrete Erfüllung von engeren Kreisen und von Individuen erwarten müssen. Wenn es also auch genetisch eine höhere und spätere Stufe ist, die das Niveau der Allgemeinheit objektiv sicher und zweckmäſsig bestimmt erscheinen läſst, so sehen wir doch auch in dieser Beziehung, daſs mit jenen Vorzügen eine gewisse Niedrigkeit seines Inhalts in bedingender Verbindung steht.
Die anscheinende Irrtumslosigkeit der Allgemeinheit dem Einzelnen gegenüber mag aber auch so zusammenhängen, daſs ihr Vorstellen und Handeln die Norm bildet, an der sich für den Einzelnen Richtigkeit oder Irrtum messen. Wir haben schlieſslich kein anderes Kriterium für die Wahrheit als die Möglichkeit, jeden hinreichend ausgebildeten Geist von ihr zu überzeugen. Die Formen, in denen dies möglich ist, haben allerdings allmählich eine solche Festigkeit und Selbständig - keit erlangt, daſs sie, als logische und erkenntnistheoreti - sche Gesetze, auch da zu der subjektiven Überzeugung von Wahrheit führen, wo im einzelnen Fall die Allgemeinheit noch anderer Überzeugung ist; aber immer muſs auch dann der Glaube vorhanden sein, daſs irgendwann auch diese sich wird davon durchdringen lassen; ein Satz, von dem es fest - stände, daſs die Allgemeinheit ihn nie annehmen wird, würde auch für den Einzelnen nicht den Stempel der Wahrheit tragen. Und das Gleiche gilt für die Richtigkeit des Han - delns; wo wir gegen den Widerspruch einer ganzen Welt überzeugt sind, recht und sittlich zu handeln, muſs doch der Glaube zu grunde liegen, daſs eine vorgeschrittenere Gesell -89X 1.schaft, eine solche, die eine tiefere Einsicht in das ihr wahr - haft Nützliche haben wird, unsere Handlungsweise billigen wird. Aus dieser, wenn auch unbewuſsten Anlehnung an eine ideale Gesamtheit, auf deren Niveau die jetzt vorhandene nur relativ zufällig noch nicht steht, schöpfen wir die Stärke und Siegessicherheit für unsere theoretischen und praktischen Überzeugungen, die augenblicklich noch völlig individuelle sind. In der Gewiſsheit eben dieser anticipiert das Indivi - duum ein Niveau der Allgemeinheit, auf dem das jetzt Diffe - renzierte zum Gemeingut geworden ist.
Die Begründung dieser Annahmen liegt wesentlich auf praktischem Gebiet. Der Einzelne kann seine Zwecke so sehr nur im Anschluſs an eine Allgemeinheit und durch ihre Mit - wirkung erreichen, daſs die Isolierung von ihr ihm zugleich auch in jeder andern Beziehung alles das nehmen würde, was er als Norm, als Gesolltes empfindet, und daſs, wo er sich ihr dennoch entgegensetzt, dies nur durch eine individuelle Kombination der von der Gesamtheit dennoch ausgehenden Normen geschieht, die in ihr selbst zwar noch nicht realisiert ist, aber ohne die Möglichkeit einer solchen Realisierung über - haupt wertlos wäre. Welches nun aber auch die gattungs - psychologischen Motive seien, es scheint mir unbezweifelbar, daſs das subjektive Gefühl der Sicherheit in theoretischer und ethischer Beziehung zusammenfalle mit dem mehr oder minder klaren Bewuſstsein der Übereinstimmung mit einer Gesamt - heit; bei der durchgängigen Wechselwirkung dieser Be - ziehungen ist dann die ruhevolle Befriedigung, die Meeres - stille der Seele, wie sie aus der Unerschütterlichkeit von Überzeugungen quillt, eben daraus zu erklären, daſs diese letztere nur einen Ausdruck für die Übereinstimmung mit einer Gesamtheit und für das Getragensein durch sie bildet. Hierdurch verstehen wir den eigenartigen Reiz des Dogmati - schen als solchen; was sich uns als Bestimmtes, Unanzweifel - bares und zugleich als allgemein Geltendes giebt, gewährt an und für sich eine Befriedigung und einen inneren Halt, dem gegenüber der Inhalt des Dogmas relativ gleichgültig ist. In dieser Form der absoluten Sicherheit, die nur ein Korrelat der Übereinstimmung mit der Gesamtheit ist, liegt eine der hauptsächlichen Anziehungskräfte der katholischen Kirche; indem sie dem Individuum eine Lehre bietet, welche καϑ̕ ὅλου gilt, und von der jede Abweichung eigentlich unmöglich, jedenfalls völlig ketzerisch ist — wie es denn Pius IX. direkt aussprach, daſs jeder Mensch in irgendeinem Sinne der ka - tholischen Kirche zugehöre —, appelliert sie in stärkstem Maſs an das sociale Element im Menschen und läſst den Einzelnen in der sachlichen Bestimmtheit des Glaubens zugleich alle Sicherheit gewinnen, die in der Übereinstimmung mit der Gesamtheit liegt; und umgekehrt, weil sich Objektivität und90X 1.Wahrheit mit der Annahme durch die Gesamtheit deckt, ge - gewährt die Lehre, von der die letztere gilt, allen Rückhalt und alle Befriedigung der ersteren. Eine durchaus zuver - lässige Persönlichkeit erzählte mir von einer Unterredung mit einem der höchsten Würdenträger der katholischen Kirche, in deren Verlauf dieser äuſserte: Die innigsten und nützlich - sten Anhänger der katholischen Kirche seien immer Menschen gewesen, die eine schwere Sünde oder einen groſsen Irrtum hinter sich hatten. Das ist psychologisch durchaus begreiflich. Wer sehr geirrt hat, sei es im Sittlichen oder im Theoreti - schen, wirft sich allem, was sich ihm als unfehlbare Wahr - heit darbietet, in die Arme; d. h. das subjektive individuali - stische Prinzip hat sich ihm als so unzulänglich erwiesen, daſs er nun das Niveau sucht, auf dem ihm die Übereinstimmung mit der Gesamtheit Sicherheit und Ruhe gewährt.
Indessen ist der Nachteil eines solchen Vorteils nicht nur der, daſs nach den obigen Ausführungen ein sociologisches Niveau, um allen zugänglich zu sein, so niedrig liegen muſs, daſs es den Höheren viel tiefer hinabzusteigen nötigt, als es den Niedrigen hinaufzieht, sondern die Entlastung von indi - vidueller Verantwortung und Initiative läſst die zu dieser er - forderlichen Kräfte rosten und giebt dem Individuum eine sorglose Sicherheit, die die Schärfung und Ausbildung seiner Anlagen verhindert. In der Vogelwelt finden wir auffallende Beispiele dafür; von den australischen Lorikets, von den Tukans, von den amerikanischen Tauben wird uns berichtet, daſs sie sich auſserordentlich dumm und unvorsichtig benehmen, sobald sie in groſsen Zügen auftreten, dagegen scheu und ge - witzt, wenn sie sich allein halten. Indem der einzelne Vogel sich auf seine Gefährten verläſst, erspart er gewisse höhere individuelle Funktionen, wodurch indes dann schlieſslich auch das Niveau der Gesamtheit leidet.
Doch wird im groſsen und ganzen ein sociales Niveau um so mehr Chancen zu seiner Erhöhung haben, je mehr Mitglieder es zählt; denn erstens ist der Kampf um die Exi - stenz und um die bevorzugte Stellung ein schärferer unter vielen, als unter wenigen, und die Auslese eine um so stren - gere. Auf dem hohen Kulturniveau der oberen Zehntausend, deren Lage behaglich genug ist, um schon auf einen viel ge - ringeren Kampf den Preis des Lebenkönnens zu setzen, auf dem auch die Specialität des Einzelnen früh genug ausge - bildet wird, um ihn für relativ weniger umkämpfte Stellungen zu befähigen, machen sich die Nachteile der weniger strengen Auslese hier und da bemerklich. Schon in äuſserer Beziehung glaube ich, daſs die zunehmende körperliche Schwächlichkeit unserer höheren Stände zum groſsen Teil daher rührt, daſs sie elende, an sich kaum lebensfähige Kinder vermöge aus - gezeichneter Pflege und Hygiene aufbringen, natürlich aber91X 1.ohne sie auf die Dauer zu normalen und kräftigen Menschen machen zu können. In roheren Zeiten und in niedrigeren Ständen, in die die nur wenigen zugänglichen hygienischen Mittel noch nicht gedrungen sind, rafft die natürliche Auslese die schwächlichen Existenzen weg und läſst nur die kräftigen groſs werden. Auſserdem ist aber von vornherein die Wahr - scheinlichkeit vorhanden, daſs unter der gröſseren Anzahl von Teilnehmern auch eine gröſsere Anzahl hervorragender Na - turen vorhanden sei, sodaſs jener Kampf ein günstiges Material vorfindet und durch energische Verdrängung des Schwächeren ein immer günstigerer Durchschnitt für die Ge - samtheit erreicht wird. Durch die ganze Natur geht dieser Nutzen der gröſseren Zahl. Über die Schafe in einem Teile von Yorkshire sagt ein Kenner, daſs, weil sie gewöhnlich armen Leuten gehören, welche nur wenige besitzen, sie nie veredelt werden können; andererseits haben Handelsgärtner, welche dieselben Pflanzen in groſsen Massen ziehen, gewöhn - lich mehr Erfolg als die bloſsen Liebhaber in Bildung neuer und wertvoller Varietäten, wie Darwin bemerkt, unter dem Hinzufügen, daſs die verbreiteten und gemeinen Arten gröſsere Wahrscheinlichkeit als die selteneren haben, in einer gege - benen Zeit vorteilhafte Anderungen hervorzubringen. Dieser Vorgang scheint mir ein bedeutsames Licht auf die organische Entwicklung überhaupt zu werfen. Nachdem einmal eine gewisse Art verbreitet und herrschend geworden ist, sondert sich durch besondere Bedingungen eine Unterart ab, welche, in weniger Exemplaren vorhanden, eine gewisse Stabilität zeigt. Treten nun neue Lebensumstände ein, die veränderte Anpassungen fordern, so wird die auf der früheren Stufe zurückgebliebene und zahlreichere Art auf Grund der oben angeführten Vorteile der groſsen Zahl eine gröſsere Wahr - scheinlichkeit haben, wenigstens teilweise den neuen Anforde - rungen gemäſs zu variieren, als jene schon ausgesonderte, welche früher vielleicht die besser angepaſste war. Wir ver - stehen daraus, wieso aristokratische Differenzierungen über das allgemeine Niveau, nachdem sie eine Zeit lang ein höheres Niveau für sich gebildet, später so oft ihre Lebensfähigkeit gegenüber jenem tieferen verlieren. Denn dieses hat zunächst vermöge der überwiegenden Zahl seiner Teilnehmer die gröſsere Wahrscheinlichkeit, bei geänderten Verhältnissen führende Persönlichkeiten hervorzubringen, die jenen besonders gut angepaſst sind; dann aber ist die niedrige Entwicklung, in der die schärferen Differenzierungen erst im Keime vorhanden sind, überhaupt für manche Anforderungen die günstigere Bedingung, weil sie ein weiches, der Formung sich leicht schmiegendes Material bietet, während scharf umrissene und individualisierte Formen zwar ihren ursprünglichen Lebens - bedingungen besser entsprechen, geänderten und entgegen -92X 1.gesetzten aber oft schlechter. Daher erklärt es sich auch, daſs Klassen mit einseitig ausgeprägtem socialem Besitz in lebhaft bewegten und wechselvollen Zeiten weniger Vorteile haben als solche, die nur geringere Gemeinsamkeiten besitzen; so treten in den Bewegungen der modernsten Kultur die Chancen des Bauernstandes wie der Aristokratie zurück vor denen des industriellen und handeltreibenden Mittelstandes, der keine so festen und bestimmt differenzierten socialen Palla - dien besitzt wie jene.
Wenn man von dem socialen Niveau und seinem Ver - hältnis zur Individualität spricht, ist der zweierlei Bedeutungen desselben zu gedenken, die in den vorhergehenden Betrach - tungen nicht immer gesondert werden konnten. Der gemein - same geistige Besitz einer Anzahl von Menschen kann den Sinn desjenigen Teils des individuellen Besitzes haben, der gleichmäſsig in jedem derselben vorhanden ist; dann kann er aber auch den Kollektivbesitz bedeuten, der keinem Einzelnen als solchem eigen ist. Man könnte die letztere Gemeinsam - keit als eine reale, die erstere als eine ideale im erkenntnis - theoretischen Sinne bezeichnen, insofern diese nur durch den gegenseitigen Vergleich, durch die beziehende Erkenntnis als Gemeinsamkeit erkannt werden kann; an und für sich brauchte es den Einzelnen nicht im Sinne eines einheitlichen Zusammen - gehörens zu berühren, daſs so und so viele Andere noch die gleichen Eigenschaften besitzen wie er selbst. Zwischen den Höhen dieser beiden socialen Niveaus bestehen nun die man - nichfaltigsten Verhältnisse. Man wird die aufsteigende Ent - wicklung zunächst von der einen Seite in die Formel bringen können, daſs der Umfang des socialen Niveaus im Sinne der Gleichheit abnimmt zu gunsten des socialen Niveaus im Sinne des Kollektivbesitzes; die Grenze für diese Entwicklung wird dadurch gezogen, daſs die Individuen einen gewissen Grad von Gleichheit bewahren müssen, um noch von einem einheit - lichen gemeinsamen Besitz profitieren zu können; freilich muſs mit der Ausdehnung dieses letzteren seine Einheitlichkeit im strengeren Sinne leiden und sich in vielspältige Teile zer - legen, deren Einheit statt der substantiellen mehr und mehr eine bloſs dynamische wird, d. h. sich nur noch in einem funktionellen Ineinandergreifen von inhaltlich sehr getrennten Bestandteilen zeigt, welche nun auch entsprechend verschieden - artigen Individualitäten die Teilnahme an dem gemeinsamen öffentlichen Besitz ermöglichen. So wird z. B. ein durch - greifendes und vielgliedriges Rechtssystem da heranwachsen, wo eine starke Differenzierung der Persönlichkeiten nach Stellung, Beruf und Vermögen eintritt und die möglichen Kombinationen unter diesen eine Fülle von Fragen schaffen, denen primitive Rechtsbestimmungen nicht mehr genügen können; trotzdem wird immer noch eine gewisse Einheitlich -93X 1.keit aller dieser Personen vorhanden sein müssen, damit dieses Recht wirklich allseitig befriedige und dem moralischen Be - wuſstsein der Einzelnen entspreche. Die Ausdehnungen des socialen Niveaus im Sinne der Gleichheit und im Sinne des gemeinsamen Besitzes werden also auf ein Kompromiſs selbst da angewiesen sein, wo die fortschreitende Differenzierung solche Formen des öffentlichen Geistes schafft oder vorfindet, die die Möglichkeit eines rechtlich sittlichen Zusammenbe - stehens der mannichfaltigsten Bestrebungen und Lebensfüh - rungen gewähren. Umgekehrt muſs die irgendwie herbei - geführte Verbreiterung des Kollektivbesitzes auch eine solche der persönlichen Ähnlichkeiten zur Folge haben. Dies liegt am augenfälligsten da vor, wo eine Nation gewonnene Pro - vinzen durch gewaltsame Einführung ihrer Sprache, ihres Rechts, ihrer Religion auch innerlich sich anzugliedern sucht; im Verlauf mehrerer Generationen werden dann die scharfen Differenzen zwischen den alten und den neuen Provinzen aus - geglichen sein, die Gleichheit des objektiven Geistes zu gröſserer Gleichheit der subjektiven Geister geführt haben. Als ein der Substanz nach hiervon sehr entferntes Beispiel nenne ich die merkwürdige Anähnlichung des Wesens, des Charakters und schlieſslich der Gesichtszüge, die manchmal unter alten Ehegatten zu beobachten ist. Die Schicksale, Interessen und Sorgen des Lebens haben ein sehr umfassendes gemeinsames Niveau für sie geschaffen, das keineswegs ursprünglich in dem Sinne gemeinsam ist, daſs persönliche Eigenschaften in jedem von beiden in gleicher Weise vorhanden wären, sondern es entsteht und besteht gewissermaſsen zwischen ihnen als ein Kollektivbesitz, aus dem der Anteil des Einzelnen nicht herauszulösen ist, weil er überhaupt als solcher gar nicht existiert; so wenig bei der Gravitation zwischen zwei Materien die Schwere dem einen oder dem andern im Sinne einer in - dividuellen Qualität zukäme, weil der eine immer nur im Ver - hältnis zum andern schwer ist, so wenig kann man bei den Erlebnissen und inneren Erwerbungen, bei der Konstituierung des objektiven Geistes innerhalb eines Ehelebens immer dem einen und dem andern einen, wenn auch gleichen Teil des - selben zuschreiben, weil er ja nur in der Gemeinsamkeit und durch sie zustande kommt. Aber diese Gemeinsamkeit wirkt nun zurück auf dasjenige, was jeder für sich ist, und schafft eine Gleichheit des persönlichen Denkens, Fühlens und Wollens, die sich, wie gesagt, schlieſslich auch in der äuſseren Erscheinung ausprägt. Die Voraussetzung dazu ist freilich, daſs die individuellen Unterschiede schon von vornherein keine übermäſsig groſsen gewesen seien, weil sonst die Bildung jenes objektiv gemeinsamen Niveaus Schwierigkeiten finden würde. Auch hat die absolute Gröſse dieses letzteren eine Grenze, wenn sie zu dem in Rede stehenden Erfolge führen soll; bei94X 1.einer gewissen Ausdehnung nämlich gestattet sie wieder, daſs je nach der Verschiedenheit der persönlichen Anlagen der eine mehr von dem einen Teil, von der einen Beziehung des Kollektivbesitzes beeinfluſst wird, der andere von der anderen; es kann darum noch immer ein gemeinsamer Besitz sein; aber während seine Gröſse relativ zum individuellen Besitz der Teilhaber in geradem Verhältnis zu seiner verähnlichenden Wirkung steht, giebt sie, absolut betrachtet, mit ihrem eignen Wachstum auch wachsende Möglichkeit ungleicher Wir - kungen. Deshalb findet man jenes allmähliche Gleichwerden besonders an Ehepaaren in ruhigen und einfachen Verhält - nissen, und wenn man es besonders an kinderlosen Ehepaaren bemerken wollte, so ist das ganz in diesem Sinne; denn so sehr jenes gemeinsame Niveau gerade durch den Besitz von Kindern vergröſsert wird, so erlebt es doch dadurch eine Mannichfaltigkeit und Differenzierung, die die Gleichheit seiner Wirkungen auf die Individuen fraglich macht.
Eine andere Kombination zwischen den beiden Bedeu - tungen des socialen Niveaus und der Differenzierung zeigt sich auf wirtschaftlichem Gebiet. Das vielfache Angebot der gleichen Leistung bei beschränkter Nachfrage erzeugt die Kon - kurrenz, welche in viel weiterem Umfange, als man es sich gewöhnlich klar macht, schon unmittelbar Differenzierung ist. Denn wenn auch die angebotene Ware die genau gleiche ist, so muſs doch jeder versuchen, sich wenigstens in der Art des Angebots von dem andern zu unterscheiden, weil der Konsument sich sonst in der Buridanischen Lage befinden würde. In der Formung oder wenigstens im Arrangement der Ware, in der Anpreisung oder wenigstens in der Miene, mit der man die Leistung anpreist, muſs jeder sich von jedem zu unterscheiden suchen. Je gleichartiger das Angebot dem Inhalt nach ist, desto gröſsere Verschiedenheiten werden die Anbietenden in den persönlichen Seiten desselben ausbilden, wozu noch beiträgt, daſs die unmittelbare Konkurrenz gegen - seitig antagonistische Gesinnungen hervorruft, die die Persön - lichkeiten auch ihrem Denken und Fühlen nach von einander entfernen. Die persönlichen Gemeinsamkeiten, die in der Gleichheit der Beschäftigung und in der des Absatzkreises liegen, erzeugen eine um so schärfere Differenzierung nach anderen Seiten der Persönlichkeit hin. Jene Gleichheit aber drängt doch wieder zur Schaffung eines socialen Niveaus in dem anderen Sinne, insofern der Beruf oder Geschäftszweig als Ganzes gewisse Interessen hat, zu deren Wahrnehmung sich alle Beteiligten zusammenschlieſsen müssen, sei es in Kartellen, die die Konkurrenz zeitweilig beschränken oder auf - heben, sei es in Vereinigungen, die sich auf auſserhalb der Konkurrenz liegende Zwecke beziehen, wie Repräsentation, Rechtsschutz, Entscheidung in Ehrensachen, Verhalten gegen95X 1.andere in sich geschlossene Kreise u. s. w., die in manchen Fällen zur Bildung eines entschiedenen Standesbewuſstseins führen. Eine bedeutende Höhe des socialen Niveaus im Sinne der Gleichheit ermöglicht eine entsprechende auch im letzteren Sinne, wofür die Zunft das entscheidende Beispiel giebt. Dem gegenüber erscheint die durch den Wettbewerb und die kom - plizierteren Verhältnisse ausgebildete Differenzierung als die höhere Stufe, während wiederum eben diese Differenzierung einen gemeinsamen Besitz von neuen Gesichtspunkten aus schafft. Denn einerseits ist das sehr specialisierte Individuum zur Erreichung der obengenannten Zwecke dringender auf andere angewiesen, als eines, welches mehr die Totalität eines Zweiges in sich darstellt; andererseits bringt gerade erst die feinere Differenzierung Bedürfnisse und Zuspitzungen der ein - zelnen Wesensseiten zustande, die die Grundlage für kollek - tive Bildungen abgeben. Wenn also Konkurrenten, die das - selbe Bedürfnis mit verschiedenartigen Mitteln decken wollen, wie etwa in der Leibwäschenbranche Leinen, Baumwolle und Wolle mit einander konkurrieren, sich vereinigen, um ein Preisausschreiben über die beste Art der Befriedigung jenes Bedürfnisses zu erlassen, so hofft zwar jeder, daſs die Ent - scheidung gerade für ihn günstig sein werde; allein es ist doch von einem Punkte aus ein gemeinsames Vorgehen zustande ge - kommen, zu dem zwar ohne die vorangegangene Differenzie - rung keine Veranlassung gewesen wäre, das aber nun der Ausgangspunkt weiterer Socialisierungen werden kann. Ich werde noch in anderem Zusammenhange zu erwähnen haben, daſs gerade die Mannichfaltigkeit und Differenzierung der Beschäf - tigungszweige den Begriff des Arbeiters überhaupt, den Ar - beiterstand als selbstbewuſstes Ganzes geschaffen hat. Die Gleichheit der Funktion tritt erst recht hervor, wenn sie sich mit sehr verschiedenartigem Inhalt füllt; erst dann löst sie sich aus der psychologischen Association mit ihrem Inhalt, die bei gröſserer Gleichförmigkeit desselben statthat, und kann socialisierende Macht zeigen.
Bewirkt die Differenzierung der Individuen hier eine Vermehrung des socialen Niveaus, so wird einem oben ange - deuteten Momente zufolge auch die umgekehrte Wirkung statt - finden. Je mehr geistige Produkte nämlich aufgehäuft und allen zugänglich sind, desto eher werden schwächliche Be - anlagungen, die der Anregung und des Beispiels bedürfen, zur Bethätigung gelangen. Unzählige Fähigkeiten, eine in - dividuellere Ausbildung und Stellung zu gewinnen, bleiben latent, wenn kein hinreichend weites, jedem sich darbietendes sociales Niveau da ist, dessen mannichfaltige Inhalte aus jedem hervorlocken, was nur in ihm ist, wenn dieses auch nicht stark genug ist, um sich ganz originell und ohne solchen Anreiz zu entfalten. Daher sehen wir allenthalben,96X 1.wie der Epoche der Genies die der Talente folgt: in der griechisch-römischen Philosophie, in der Kunst der Renaissance, in der zweiten Blüteperiode der deutschen Dichtung, in der Musikgeschichte dieses Jahrhunderts. Unzählige Male wird uns berichtet, wie Personen, die sich in untergeordneter, un - differenzierter Stellung befanden, bei der Anschauung eines künstlerischen oder technischen Produkts plötzlich die Augen über ihre Fähigkeiten und ihren eigentlichen Beruf aufgingen, und wie sie nun von da aus zu einer individuellen Ausbildung vorgedrungen wären. Je mehr Muster schon vorliegen, desto gröſser ist die Wahrscheinlichkeit, daſs jede nur einiger - maſsen besondere Anlage ihre Entfaltung und also eine diffe - renzierte Lebensstellung gewönne. Das sociale Niveau im Sinne des Kollektivbesitzes verringert von diesem Gesichts - punkt aus eben dasselbe im Sinne der Gleichheit des Besitzes.
Diese Ungleichmäſsigkeiten im Verhältnis der socialen Niveaus in beiderlei Sinne scheinen indes nur so lange herr - schen zu können, als beide unter ihren höchsten erreichbaren Graden bleiben und als es neben der Steigerung derselben noch andere Zwecke des Individuums und der Allgemeinheit giebt, die die Entwicklung jener modifizieren und zwar na - türlich nicht so, daſs beide stets in gleichem Maſse davon getroffen würden. Das absolute Maximum des einen wird indes mit dem des andern zusammenfallen. Um nämlich erstens ein Maximum individueller Gleichheit innerhalb einer Gruppe herzustellen und namentlich zu erhalten, ist das sicherste Mittel, daſs ihr Kollektivbesitz ein möglichst groſser ist; wenn jeder Einzelne einen möglichst gleichen Teil seines innern und äuſsern Besitzes an die Gesamtheit abgiebt und der Besitz dieser dafür groſs genug ist, um ihm ein Maxi - mum von Formen und Inhalten zu liefern, so ist dies jeden - falls die gröſste Garantie dafür, daſs der eine im wesentlichen dasselbe hat und ist wie der andere; und umgekehrt, wenn eine maximale Gleichheit der Individuen herrscht und über - haupt Socialisierung stattfindet, wird auch der sociale Besitz deshalb im Verhältnis zum individuellen ein maximaler werden, weil das Prinzip der Kraftersparnis dahin drängt, möglichst viele Thätigkeiten an die Allgemeinheit abzugeben — mit Ausnahmen, die wir in unserm letzten Kapitel zu behandeln haben — und möglichst vielen Anhalt von ihr zu entlehnen, während die Verschiedenheit der Individuen, die dieser Ten - denz sonst Schranken setzte, der Voraussetzung nach auf - gehoben ist. Der Socialismus hat deshalb die Maximisierung beider Niveaus gleichmäſsig im Auge; die Gleichheit der Indi - viduen ist eben nur durch Konkurrenzlosigkeit, diese aber nur bei Centralisierung aller Wirtschaft durch den Staat zu erreichen.
Psychologisch ist es mir indessen noch zweifelhaft, ob die Forderung der Ausgleichung der Niveaus dem Triebe der97X 1.Differenzierung wirklich so absolut entgegengesetzt ist, wie es scheint. Durch die ganze Natur hindurch sehen wir das Streben der Lebewesen, höher zu kommen, über ihre augen - blickliche Stellung hinweg eine günstigere zu erwerben; in der Menschenwelt steigert sich dies zu dem lebhaftesten bewuſste Wunsch, mehr zu haben und zu genieſsen, als jeder gegebene Augenblick es darbietet, und die Differenzierung ist nichts als das Mittel dazu oder die Folge davon. Nie - mand begnügt sich mit der Stellung, die er seinen Mit - geschöpfen gegenüber einnimmt, sondern jeder will eine in irgendeinem Sinne günstigere erobern, und da die Kräfte und Glücksfälle verschieden sind, so gelingt es Einem, sich über die groſse Mehrzahl der andern mehr oder weniger hoch zu erheben. Wenn nun die unterdrückte Majorität den Wunsch nach erhöhter Lebenshaltung weiter empfindet, so wird der nächstliegende Ausdruck dafür sein, daſs sie dasselbe haben und sein will, wie die obern Zehntausend. Die Gleichheit mit den Höheren ist der erste sich darbietende Inhalt, mit dem sich der Trieb eigener Erhöhung erfüllt, wie es sich in jedem beliebigen engeren Kreise zeigt, mag es eine Schul - klasse, ein Kaufmannsstand, eine Beamtenhierarchie sein. Das gehört zu den Gründen der Thatsache, daſs der Groll des Proletariers sich meistens nicht gegen die höchsten Stände, sondern gegen den Bourgeois wendet; denn diesen sieht er unmittelbar über sich, er bezeichnet für ihn diejenige Staffel der Glücksleiter, die er zunächst zu ersteigen hat, und auf die sich deshalb für den Augenblick sein Bewuſstsein und sein Wunsch nach Erhöhung konzentriert. Der Niedere will zunächst dem Höheren gleich sein; ist er ihm aber gleich, so zeigt tausendfache Erfahrung, daſs dieser Zustand, früher der Inbegriff seines Strebens, nichts weiter als der Ausgangs - punkt für weiteres ist, nur die erste Station des ins Unend - liche gehenden Weges zur begünstigtsten Stellung. Überall, wo man die Gleichmachung zu verwirklichen suchte, hat sich von diesem neuen Boden aus das Streben des Einzelnen, die Andern zu überflügeln, in jeder möglichen Weise geltend ge - macht; so z. B. in der häufigen Thatsache, daſs sich über dem vollzogenen socialen Nivellement die Tyrannis erhebt. In Frankreich, wo von der groſsen Revolution her die Gleich - heitsideen noch am energischsten wirkten, und wo die Juli - revolution diese Traditionen wieder aufgefrischt hatte, tauchte doch kurz nach der letzteren neben der schamlosen Pleonexie Einzelner eine allgemeine Ordenssucht auf, ein unstillbares Verlangen, sich durch ein Bändchen im Knopfloch vor der groſsen Menge auszuzeichnen. Und es giebt vielleicht keinen treffenderen Beweis für unsere Vermutung über den psycho - logischen Ursprung der Gleichheitsidee, als die Äuſserung einer Kohlenträgerin aus dem Jahre 1848 zu einer vornehmenForschungen (42) X. 1. — Simmel. 798X 1.Dame: „ Ja, gnädige Frau, jetzt wird alles gleich werden: ich werde in Seide gehen und Sie werden Kohlen tragen “— eine Äuſserung, deren historische Zuverlässigkeit gleichgültig ist gegenüber ihrer innern psychologischen Wahrheit.
Diese Genesis des Socialismus bedeutete freilich den denkbar schärfsten Gegensatz gegen die meisten theoretischen Begründungen desselben. Für diese ist die Gleichheit der Menschen ein durch sich selbst gerechtfertigtes, für sich be - stehendes und befriedigendes Ideal, eine ethische causa sui, ein Zustand, dessen Wert unmittelbar einleuchtet. Ist er statt dessen nur ein Durchgangspunkt, nur das zunächst erreich - bare Ziel der Pleonexie der Massen, so verliert er den kate - gorischen und idealen Charakter, den er nur deshalb ange - nommen hat, weil den meisten Menschen derjenige Punkt ihres Weges, den sie zunächst erreichen müssen, so lange er noch nicht erreicht ist, als ihr definitives Ziel vorschwebt. Es ist durchaus kein anderes Interesse, aus dem der Niedrig - stehende die Gleichheit durchsetzen will, als es der Höhere an der Erhaltung der Ungleichheit hat; wenn diese Forderung indes durch langen Bestand ihren relativen Charakter ver - loren und sich verselbständigt hat, so kann sie auch zum Ideal solcher Personen werden, bei denen sie jene Genesis subjektiv nicht durchgemacht hat. Die Behauptung eines logi - schen Rechtes der Gleichheitsforderung — als folgte es ana - lytisch aus der Wesensgleichheit der Menschen, daſs auch ihre Rechte, Pflichten und Güter jeder Art gleich sein müſsten — hat nur den alleroberflächlichsten Schein für sich; denn erstens geht aus einem wirklichen Verhalten nie vermöge der bloſsen Logik ein bloſs Gesolltes, nie vermöge dieser aus einer Realität ein Ideal hervor, sondern es bedarf dazu stets eines Willens, der sich aus dem bloſsen logisch theoretischen Denken nie ergiebt; zweitens giebt es insbesondere keine logische Regel, nach der die substantielle Gleichheit von Wesen ihre funk - tionelle Gleichheit zur Folge haben müſste. Drittens ist aber auch die Gleichheit der Menschen als solcher eine sehr be - dingte, und es ist völlig willkürlich, über demjenigen, worin sie gleich sind, ihre vielfachen Verschiedenheiten zu vernach - lässigen und an den bloſsen Begriff Mensch, unter dem wir so verschiedenartige Erscheinungen zusammenfassen, der - artig reale Folgen knüpfen zu wollen — ein Überbleibsel des Begriffsrealismus der Naturauffassung, der statt des spezifischen Inhalts der einzelnen Erscheinung nur den All - gemeinbegriff, dem sie zugehörte, ihr Wesen ausmachen lieſs. Die ganze Vorstellung von dem selbstverständlichen Rechte der Gleichheitsforderung ist nur ein Beispiel für die Neigung des menschlichen Geistes, die Resultate historischer Prozesse, wenn sie nur hinreichend lange bestanden haben, als logische Notwendigkeiten anzusehen. Suchen wir aber nach dem99X 1.psychischen Triebe, dem die Gleichheitsforderung der unteren Stände entspricht, so finden wir ihn nur in demjenigen, der gerade auch der Ursprung aller Ungleichheit ist, in dem Triebe nach Glückserhöhung. Und da dieser ins Unendliche geht, so ist durchaus keine Gewähr dafür gegeben, daſs die Herstellung eines gröſsten socialen Niveaus im Sinne der Gleichheit nicht zum bloſsen Durchgangspunkt für weiter wir - kende Differenzierung werde. Deshalb muſs der Socialismus zugleich auf ein gröſstes sociales Niveau im Sinne des Kollektiv - besitzes halten, weil hierdurch den Individuen mehr und mehr die Gelegenheit und der Gegenstand individueller Auszeich - nung und Differenzierung entzogen wird.
Es ist indes noch immer die Frage, ob nicht die gering - fügigen Unterschiede des Seins und Habens, die selbst die gesteigertste Socialisierung nicht beseitigen kann, dieselben psychologischen und also auch äuſseren Folgen haben würden, wie jetzt die viel gröſseren. Denn da es nicht die absolute Gröſse eines Eindrucks oder eines Objekts ist, die unsere Reaction darauf bestimmt, sondern sein Unterschied gegen anderweitige Eindrücke, so kann eine gewachsene Unter - schiedsempfindlichkeit an die verringerten Differenzen unver - ringerte Folgen knüpfen. Allenthalben findet dieser Prozeſs statt. Das Auge paſst sich an geringe Helligkeitsgrade derart an, daſs es schlieſslich die Farbenunterschiede ebenso empfindet wie früher nur in viel hellerer Beleuchtung; die geringen Differenzen in Stellung und Lebensgenuſs, die sich innerhalb des gleichen socialen Kreises finden, erregen einerseits Neid und Nacheiferung, andererseits Hochmut, kurz alle Folgen der Differenzierung in demselben Grade, wie die zwischen sehr getrennten Schichten bestehenden Unterschiede u. s. w. Ja, es ist sogar vielfach zu beobachten, daſs die Empfindung des Unterschiedes gegen andere Personen um so schärfer ist, je mehr wir im übrigen mit ihnen gemeinsam haben. Deshalb sind einerseits diejenigen Folgen der Differenzierung, die dem Socialismus als schädliche und zu beseitigende erscheinen, noch keineswegs durch ihn aufgehoben; andererseits aber sind die Kulturwerte der Differenzierung nicht in dem Maſse von ihm bedroht, wie seine Gegner es wollen; die Anpassung unserer Unterschiedsempfindlichkeit kann eben den geringeren persönlichen Differenzen eines socialisierten Zustandes die gleiche Macht nach der guten wie nach der schlechten Seite verschaffen, wie die jetzigen sie besitzen.
Der Unterschied des vorgeschrittenen vor dem roheren Denken zeigt sich am Unterschied der Motive, welche die Associationen der Vorstellungen bestimmen. Das zufällige Zusammensein in Raum und Zeit reicht zunächst hin, um die Vorstellungen psychologisch zu verknüpfen; die Vereinigung von Eigenschaften, die einen konkreten Gegenstand bildet, erscheint zunächst als ein einheitliches Ganzes, und jede der - selben steht mit den andern, in deren Umgebung allein man sie kennen gelernt hat, in engem associativem Zusammenhang. Als ein für sich bestehender Vorstellungsinhalt wird sie erst bewuſst, wenn sie in noch mehreren und andersartigen Ver - bindungen auftritt; das Gleiche in allen diesen tritt in helle Beleuchtung und zugleich in gegenseitige Verbindung, indem es sich von den Verknüpfungen mit dem sachlich Andern, nur im zufälligen Zusammensein am gleichen Gegenstand mit ihm Verbundenen mehr und mehr frei macht. So erhebt sich die Association über die Anregung durch das aktuell Wahr - nehmbare zu der auf dem Inhalt der Vorstellungen ruhenden, auf der die höhere Begriffsbildung sich aufbaut, und die das Gleiche auch aus seinen Verschlingungen mit den verschieden - artigsten Wirklichkeiten herausgewinnt.
Die Entwicklung, die hier unter den Vorstellungen vor sich geht, findet in dem Verhältnis der Individuen unter - einander eine Analogie. Der Einzelne sieht sich zunächst in einer Umgebung, die, gegen seine Individualität relativ gleich - gültig, ihn an ihr Schicksal fesselt und ihm ein enges Zu - sammensein mit denjenigen auferlegt, neben die der Zufall der Geburt ihn gestellt hat; und zwar bedeutet dies Zunächst sowohl die Anfangszustände phylogenetischer wie ontogeneti -101X 1.scher Entwicklung. Der Fortgang derselben aber zielt nun auf associative Verhältnisse homogener Bestandteile aus hete - rogenen Kreisen. So umschlieſst die Familie eine Anzahl ver - schiedenartiger Individualitäten, die zunächst auf diese Ver - bindung im engsten Maſse angewiesen sind. Mit fortschrei - tender Entwicklung aber spinnt jeder Einzelne derselben ein Band zu Persönlichkeiten, welche auſserhalb dieses ursprüng - lichen Associationskreises liegen und statt dessen durch sach - liche Gleichheit der Anlagen, Neigungen und Thätigkeiten u. s. w. eine Beziehung zu ihm besitzen; die Association durch äuſserliches Zusammensein wird mehr und mehr durch eine solche nach inhaltlichen Beziehungen ersetzt. Wie der höhere Begriff das zusammenbindet, was einer groſsen Anzahl sehr verschiedenartiger Anschauungskomplexe gemeinsam ist, so schlieſsen die höheren praktischen Gesichtspunkte die gleichen Individuen aus durchaus fremden und unverbundenen Gruppen zusammen; es stellen sich neue Berührungskreise her, welche die früheren, relativ mehr naturgegebenen, mehr durch sinn - lichere Beziehungen zusammengehaltenen, in den mannichfal - tigsten Winkeln durchsetzen.
Eins der einfachsten Beispiele ist das angeführte, daſs der ursprüngliche Zusammenhang des Familienkreises dadurch modifiziert wird, daſs die Individualität des Einzelnen diesen in anderweitige Kreise einreiht; eins der höchsten die „ Ge - lehrtenrepublik “, jene halb ideelle, halb reale Verbindung aller in einem so höchst allgemeinen Ziel wie Erkenntnis überhaupt sich zusammenfindenden Persönlichkeiten, die im übrigen den allerverschiedensten Gruppen in Bezug auf Nationalität, per - sönliche und specielle Interessen, sociale Stellung u. s. w. an - gehören. Noch stärker und charakteristischer als in der Gegen - wart zeigte sich die Kraft des geistigen und Bildungsinteresses, das Zusammengehörige aus höchst verschiedenen Kreisen heraus zu differenzieren und zu einer neuen Gemeinschaft zusammenzuschlieſsen, in der Renaissancezeit Das humani - stische Interesse durchbrach die mittelalterliche Absonderung der Kreise und Stände und gab Leuten, die von den ver - schiedensten Ausgangspunkten hergekommen, und die oft noch den verschiedensten Berufen treu blieben, eine gemeinsame aktive oder passive Teilnahme an Gedanken und Erkennt - nissen, welche die bisherigen Formen und Einteilungen des Lebens auf das mannichfaltigste kreuzten. Die Vorstellung herrschte, daſs das Bedeutende zusammengehöre; das zeigen die im XIV. Jahrhundert auftauchenden Sammlungen von Lebensbeschreibungen, die eben ausgezeichnete Leute als solche in einem einheitlichen Werke zusammen schildern, mochten sie nun Theologen oder Künstler, Staatsmänner oder Philologen sein. Nur so ist es möglich, daſs ein mächtiger König, Robert von Neapel, mit dem Dichter Petrarka Freund -102X 1.schaft schlieſst und ihm seinen eignen Purpurmantel schenkt; nur so war die Sonderung der rein geistigen Bedeutung von alledem möglich, was sonst als wertvoll galt, infolge deren der venetianische Senat bei der Auslieferung Giordano Bruno’s an die Kurie schreiben konnte: Bruno sei einer der schlimm - sten Ketzer, habe die verwerflichsten Dinge gethan, ein lockeres und geradezu teuflisches Leben geführt — im übrigen sei er aber einer der ausgezeichnetsten Geister, die man sich denken könne, von der seltensten Gelehrsamkeit und Geistesgröſse. Der Wandertrieb und die Abenteuerlust der Humanisten, ja ihr teilweise schwankungsreicher und unzuverlässiger Cha - rakter entsprach dieser Unabhängigkeit des Geistigen, das ihr Lebenszentrum bildete, von allen sonstigen Anforderungen an den Menschen; sie muſste eben gegen diese gleichgültig machen. Der einzelne Humanist wiederholte, indem er sich in der bunten Mannichfaltigkeit der Lebensverhältnisse be - wegte, das Los des Humanismus, der den armen Scholaren und Mönch ebenso wie den mächtigen Feldherrn und die glanzvolle Fürstin in einem Rahmen geistigen Interesses umfaſste.
Die Zahl der verschiedenen Kreise nun, in denen der Einzelne darin steht, ist einer der Gradmesser der Kultur. Wenn der moderne Mensch zunächst der elterlichen Familie angehört, dann der von ihm selbst gegründeten und damit auch der seiner Frau, dann seinem Berufe, der ihn schon für sich oft in mehrere Interessenkreise eingliedern wird (z. B. in jedem Beruf, der über - und untergeordnete Personen ent - hält, steht jeder in dem Kreise seines besonderen Geschäfts, Amtes, Büreaus etc. darin, der jedesmal Hohe und Niedere zusammenschlieſst, und auſserdem in dem Kreise, der sich aus den Gleichgestellten in den verschiedenen Geschäften etc. bildet); wenn er sich seines Staatsbürgertums und der Zu - gehörigkeit zu einem bestimmten socialen Stande bewuſst ist, auſserdem Reserveoffizier ist, ein paar Vereinen angehört und einen die verschiedensten Kreise berührenden geselligen Ver - kehr besitzt: so ist dies schon eine sehr groſse Mannichfaltig - keit von Gruppen, von denen manche zwar koordiniert sind, andere aber sich so anordnen lassen, daſs die eine als die ursprünglichere Verbindung erscheint, von der aus das Indi - viduum auf Grund seiner besondern Qualitäten, durch die es sich von den übrigen Mitgliedern des ersten Kreises ab - scheidet, sich einem entfernteren Kreise zuwendet. Der Zu - sammenhang mit jenem kann dabei weiter bestehen bleiben, wie eine Seite einer komplexen Vorstellung, wenn sie psycho - logisch auch längst rein sachliche Associationen gewonnen hat, doch die zu dem Komplex, mit dem sie nun einmal in räumlich-zeitlicher Verbindung existiert, keineswegs zu ver - lieren braucht.
103X 1.Hieraus ergeben sich nun vielerlei Folgen. Die Gruppen, zu denen der Einzelne gehört, bilden gleichsam ein Koordinaten - system, derart, daſs jede neu hinzukommende ihn genauer und unzweideutiger bestimmt. Die Zugehörigkeit zu je einer derselben läſst der Individualität noch einen weiten Spielraum; aber je mehre es werden, desto unwahrscheinlicher ist es, daſs noch andere Personen die gleiche Gruppenkombination aufweisen werden, daſs diese vielen Kreise sich noch einmal in einem Punkte schneiden. Wie der konkrete Gegenstand für unser Erkennen seine Individualität verliert, wenn man ihn einer Eigenschaft nach unter einen allgemeinen Begriff bringt, sie aber in dem Maſse wiedergewinnt, in dem die andern Begriffe hervorgehoben werden, unter die seine andern Eigenschaften ihn einreihen, so daſs jedes Ding, platonisch zu reden, an so vielen Ideen Teil hat, wie es vielerlei Qua - litäten besitzt, und dadurch seine individuelle Bestimmtheit erlangt: gerade so verhält sich die Persönlichkeit gegenüber den Kreisen, denen sie angehört. Innerhalb des psychologisch - theoretischen Gebietes ist ganz das Analoge zu beobachten; was wir das Objektive in unserm Weltbild nennen, was sich als das Sachliche der Subjektivität des Einzeleindrucks gegen - überzustellen scheint, das ist doch thatsächlich nur ein sehr gehäuftes und wiederholtes Subjektives — wie nach Hume’s Meinung die Kausalität, das sachliche Erfolgen nur in einem oft wiederholten, zeitlich sinnlichen Folgen, und wie der sub - stantielle Gegenstand uns gegenüber nur in der Synthese sinnlicher Eindrücke besteht. So nun bilden wir aus diesen objektiv gewordenen Elementen dasjenige, was wir die Sub - jektivität κατ̕ ἐξοχήν nennen, die Persönlichkeit, die die Ele - mente der Kultur in individueller Weise kombiniert. Nachdem die Synthese des Subjektiven das Objektive hervorgebracht, erzeugt nun die Synthese des Objektiven ein neueres und höheres Subjektives — wie die Persönlichkeit sich an den socialen Kreis hingiebt und sich in ihm verliert; um dann durch die individuelle Kreuzung der socialen Kreise in ihr wieder ihre Eigenart zurückzugewinnen. Übrigens wird ihre zweckmäſsige Bestimmtheit so gewissermaſsen zum Gegenbild ihrer kausalen: an ihrem Ursprung ist sie doch auch nur der Kreuzungspunkt unzähliger socialer Fäden, das Ergebnis der Vererbung von verschiedensten Kreisen und Anpassungs - perioden her, und wird zur Individualität durch die Besonder - heit der Quanten und Kombinationen, in denen sich die Gattungselemente in ihr zusammenfinden. Schlieſst sie sich nun mit der Mannichfaltigkeit ihrer Triebe und Interessen wieder an sociale Gebilde an, so ist das sozusagen ein Aus - strahlen und Wiedergeben dessen, was sie empfangen, in ana - loger, aber bewuſster und erhöhter Form.
104X 1.Ihre Bestimmtheit wird nun eine um so gröſsere sein, wenn die bestimmenden Kreise mehr nebeneinander liegende, als konzentrische sind; d. h. allmählich sich verengende Kreise, wie Nation, sociale Stellung, Beruf, besondere Kategorie inner - halb dieses, werden der an ihnen teilhabenden Person keine so individuelle Stelle anweisen, weil der engste derselben ganz von selbst die Teilhaberschaft an den weiteren bedeutet, als wenn jemand auſser seiner Berufsstellung etwa noch einem wissenschaftlichen Vereine angehört, Aufsichtsrat einer Aktien - gesellschaft ist und ein städtisches Ehrenamt bekleidet; je weniger das Teilhaben an dem einen Kreise von selbst An - weisung giebt auf das Teilhaben an dem andern, desto be - stimmter wird die Person dadurch bezeichnet, daſs sie in einem Schnittpunkt beider steht. Ich will hier nur andeuten, wie die Möglichkeit der Individualisierung auch dadurch ins Unermeſsliche wächst, daſs dieselbe Person in den verschie - denen Kreisen, denen sie gleichzeitig angehört, ganz ver - schiedene relative Stellungen einnehmen kann. Denn jeder neue Zusammenschluſs unter gleichem Gesichtspunkt erzeugt sofort wieder in sich eine gewisse Ungleichheit, eine Differen - zierung zwischen Führenden und Geführten; wenn ein ein - heitliches Interesse, wie es etwa das erwähnte humanistische war, für hohe und niedere Personen ein gemeinsames Band war, das ihre sonstige Verschiedenheit paralysierte, so ent - sprangen nun innerhalb dieser Gemeinsamkeit und nach den ihr eigenen Kategorieen neue Unterschiede zwischen Hoch und Niedrig, welche ganz auſser Korrespondenz mit dem Hoch und Niedrig innerhalb ihrer sonstigen Kreise stehen. Indem die Höhen der Stellungen, welche eine und dieselbe Person in verschiedenen Gruppen einnimmt, von einander völlig un - abhängig sind, können so seltsame Kombinationen entstehen, wie die, daſs in Ländern mit allgemeiner Wehrpflicht der geistig und social höchststehende Mann sich einem Unter - offizier unterzuordnen hat und daſs die Pariser Bettlergilde einen gewählten „ König “besitzt, der ursprünglich nur ein Bettler wie alle, und, so viel ich weiſs, auch weiter ein solcher bleibend, mit wahrhaft fürstlichen Ehren und Bevorzugungen ausgestattet ist — vielleicht die merkwürdigste und indivi - dualisierendste Vereinigung von Niedrigkeit in einer und Höhe in anderer socialen Stellung. Auch sind hier diejenigen Komplikationen in Betracht zu ziehen, die durch die Kon - kurrenz innerhalb einer Gruppe entstehen; der Kaufmann ist einerseits mit anderen Kaufleuten zu einem Kreise verbunden, der eine groſse Anzahl gemeinsamer Interessen hat: wirt - schaftspolitische Gesetzgebung, sociales Ansehen des Kauf - mannsstandes, Repräsentation desselben, Zusammenschluſs ge - genüber dem Publikum zur Aufrechterhaltung bestimmter Preise und vieles andere — geht die gesamte Handelswelt als105X 1.solche an und lässt sie Dritten gegenüber als Einheit er - scheinen. Andererseits aber befindet sich jeder Kaufmann in konkurrierendem Gegensatz gegen so und so viele andere, das Eintreten in diesen Beruf schafft ihm im gleichen Moment Verbindung und Isolierung, Gleichstellung und Sonderstellung; er wahrt sein Interesse durch die erbittertste Konkurrenz mit denjenigen, mit denen er sich doch um des gleichen Interesses willen oft aufs engste zusammenschliessen muſs. Dieser inner - liche Gegensatz ist zwar auf dem kaufmännischen Gebiet wohl am krassesten, indes auch auf allen andern bis herab zu der ephemeren Socialisierung einer Abendgesellschaft irgendwie vorhanden. Und wenn wir nun bedenken, welche Bedeutung für die Persönlichkeit das Maſs hat, in dem sie Anschluſs oder Gegensatz in ihren socialen Gruppen findet, so thut sich uns eine unermeſsliche Möglichkeit von individualisierenden Kombinationen dadurch auf, daſs der Einzelne einer Mannich - faltigkeit von Kreisen angehört, in denen das Verhältnis von Konkurrenz und Zusammenschluſs stark variiert, und da jedem Menschen ein gewisses Maſs kollektivistischen Bedürfnisses eigen ist, so ergiebt die Mischung zwischen Kollektivismus und Isolierung, die jeder Kreis bietet, einen neuen rationalen Gesichtspunkt für die Zusammenstellung der Kreise, denen sich der Einzelne anschlieſst: wo innerhalb eines Kreises starke Konkurrenz herrscht, werden die Mitglieder sich gern solche anderweitigen Kreise suchen, die möglichst konkurrenzlos sind; so findet sich im Kaufmannsstand eine entschiedene Vorliebe für gesellige Vereine, während das die Konkurrenz innerhalb des eigenen Kreises ziemlich ausschlieſsende Standes - bewuſstsein des Aristokraten ihm derartige Ergänzungen ziemlich überflüssig macht und ihm vielmehr die Vergesell - schaftungen näher legt, die in sich stärkere Konkurrenz aus - bilden, z. B. alle durch Sportinteressen zusammengehaltenen. Endlich erwähne ich hier noch drittens die oft diskrepanten dadurch entstehenden Kreuzungen, daſs ein Einzelner oder eine Gruppe von Interessen beherrscht werden, die einander entgegengesetzt sind und jene deshalb zu gleicher Zeit ganz entgegengesetzten Parteien angehören lassen. Für Individuen liegt ein solches Verhalten dann nahe, wenn bei vielseitig ausgebildeter Kultur ein starkes politisches Parteileben herrscht; dann pflegt nämlich die Erscheinung einzutreten, daſs die po - litischen Parteien die verschiedenen Standpunkte auch in den - jenigen Fragen, die mit der Politik gar nichts zu thun haben, unter sich verteilen, sodaſs eine bestimmte Tendenz der Litteratur, der Kunst, der Religiosität etc. mit der einen Partei, die entgegengesetzte mit der andern associiert wird; die Linie, die die Parteien sondert, wird schlieſslich durch die Gesamtheit der Lebensinteressen hindurch verlängert. Da liegt es denn auf der Hand, daſs der Einzelne, der sich nicht106X 1.vollkommen in den Bann der Partei geben will, sich etwa mit seiner ästhetischen oder religiösen Überzeugung einer Gruppierung anschlieſsen wird, die mit seinen politischen Gegnern amalgamiert ist. Er wird im Schnittpunkt zweier Gruppen stehen, die sich sonst als einander entgegengesetzte bewuſst sind. Ganzen Massen wurde eine solche Doppel - stellung zur Zeit der grausamen Unterdrückung der irischen Katholiken durch England aufgezwungen. Heute fühlten sich die Protestanten Englands und Irlands verbunden gegen den gemeinsamen Religionsfeind ohne Rücksicht auf die Lands - mannschaft, morgen waren die Protestanten und Katholiken Irlands gegen den Unterdrücker ihres gemeinsamen Vater - landes verbunden ohne Rücksicht auf Religionsverschiedenheit.
Die Ausbildung des öffentlichen Geistes zeigt sich nun darin, daſs genügend viele Kreise von irgendwelcher objek - tiven Form und Organisierung vorhanden sind, um jeder Wesensseite einer mannichfach beanlagten Persönlichkeit Zu - sammenschluſs und genossenschaftliche Bethätigung zu ge - währen. Hierdurch wird eine gleichmäſsige Annäherung an das Ideal des Kollektivismus wie des Individualismus geboten. Denn einerseits findet der Einzelne für jede seiner Neigungen und Bestrebungen eine Gemeinschaft vor, die ihm die Be - friedigung derselben erleichtert, seinen Thätigkeiten je eine als zweckmäſsig erprobte Form und alle Vorteile der Gruppen - angehörigkeit darbietet; andererseits wird das Specifische der Individualität durch die Kombination der Kreise gewahrt, die in jedem Fall eine andere sein kann. Wenn die vor - geschrittene Kultur den socialen Kreis, dem wir mit unserer ganzen Persönlichkeit angehören, mehr und mehr erweitert, dafür aber das Individuum in höherem Maſse auf sich selbst stellt und es mancher Stützen und Vorteile des enggeschlossenen Kreises beraubt: so liegt in jener Herstellung von Kreisen und Genossenschaften, in denen sich beliebig viele, für den gleichen Zweck interessierte Menschen zusammenfinden können, eine Ausgleichung jener Vereinsamung der Persönlichkeit, die aus dem Bruch mit der engen Umschränktheit früherer Zu - stände hervorgeht.
Die Enge dieses Zusammenschlusses ist daran zu er - messen, ob und in welchem Grade ein solcher Kreis eine be - sondere „ Ehre “ausgebildet hat, derart, daſs der Verlust oder die Kränkung der Ehre eines Mitgliedes von jedem andern Mitgliede als eine Minderung der eigenen Ehre empfunden wird, oder daſs die Genossenschaft eine kollektivpersönliche Ehre besitzt, deren Wandlungen sich in dem Ehr-Empfinden jedes Mitgliedes abspiegeln. Durch Herstellung dieses speci - fischen Ehrbegriffes (Familienehre, Offiziersehre, kaufmänni - sche Ehre u. s. w.) sichern sich solche Kreise das zweck - mäſsige Verhalten ihrer Mitglieder besonders auf dem Gebiete107X 1.derjenigen specifischen Differenz, durch welche sie sich von dem weitesten socialen Kreise abscheiden, sodaſs die Zwangs - maſsregeln für das richtige Verhalten diesem gegenüber, die staatlichen Gesetze, keine Bestimmungen für jenes enthalten. Einer der gröſsten socialethischen Fortschritte vollzieht sich auf diese Weise: die enge und strenge Bindung früherer Zu - stände, in denen die sociale Gruppe als Ganzes, resp. ihre Zentralgewalt, das Thun und Lassen des Einzelnen nach den verschiedensten Richtungen hin reguliert, beschränkt ihre Re - gulative mehr und mehr auf die notwendigen Interessen der Allgemeinheit; die Freiheit des Individuums gewinnt mehr und mehr Gebiete für sich. Diese aber werden von neuen Gruppenbildungen besetzt, aber so, daſs die Interessen des Einzelnen frei entscheiden, zu welcher er gehören will; in - folge dessen genügt statt äuſserer Zwangsmittel schon das Gefühl der Ehre, um ihn an diejenigen Normen zu fesseln, deren es zum Bestande der Gruppe bedarf. Übrigens nimmt dieser Prozeſs nicht nur von der staatlichen Zwangsgewalt seinen Ursprung; überall, wo eine Gruppenmacht eine Anzahl von individuellen Lebensbeziehungen, die sachlich auſser Be - ziehung zu ihren Zwecken stehen, ursprünglich beherrscht — auch in der Familie, in der Zunft, in der religiösen Gemein - schaft u. s. w. —, giebt sie die Anlehnung und den Zusammen - schluſs in Bezug auf jene schlieſslich an besondere Vereine ab, an denen die Beteiligung Sache der persönlichen Freiheit ist, wodurch denn die Aufgabe der Socialisierung in viel voll - kommnerer Weise gelöst werden kann, als durch die frühere, die Individualität mehr vernachlässigende Vereinigung.
Es kommt hinzu, daſs die undifferenzierte Herrschaft einer socialen Macht über den Menschen, wie ausgedehnt und streng sie auch sei, doch immer noch um eine Reihe von Lebensbeziehungen sich nicht kümmert und nicht kümmern kann, und daſs diese der rein individuellen Willkür um so sorgloser und bestimmungsloser überlassen werden, je gröſserer Zwang in den übrigen Beziehungen herrscht; so muſste der griechische und noch mehr der altrömische Bürger sich zwar in allen mit der Politik nur irgend im Zusammenhang stehenden Fragen den Normen und Zwecken seiner vaterländischen Ge - meinschaft bedingungslos unterordnen; aber er besaſs dafür als Herr seines Hauses eine um so unumschränktere Selbstherr - lichkeit; so giebt jener engste sociale Zusammenschluſs, wie wir ihn an den in kleinen Gruppen lebenden Naturvölkern beobachten, dem Einzelnen vollkommene Freiheit, sich gegen alle auſserhalb des Stammes stehenden Personen in jeder ihm beliebenden Weise zu benehmen; so findet der Despotismus häufig sein Korrelat und sogar seine Unterstützung in der vollkommensten Freiheit und selbst Zügellosigkeit der wenigen ihm nicht wichtigen Beziehungen der Persönlichkeiten. Nach108X 1.dieser unzweckmäſsigen Verteilung kollektivistischen Zwanges und individualistischer Willkür tritt eine angemessenere und gerechtere da ein, wo der sachliche Inhalt der Sitten und Tendenzen der Personen über die associative Gestaltung ent - scheidet, weil sich dann auch für ihre bis dahin ganz un - kontrollierten und rein individualistisch bestimmten Bethäti - gungen leichter kollektivistische Anlehnungen finden werden; denn in demselben Maſse, in dem die Persönlichkeit als Ganzes befreit wird, sucht sie auch für ihre einzelnen Seiten socialen Zusammenschluſs und beschränkt freiwillig die indivi - dualistische Willkür, in der sie sonst einen Ersatz für die undifferenzierte Fesselung an eine Kollektivmacht findet; so sehen wir z. B. in Ländern mit groſser politischer Freiheit ein besonders stark ausgebildetes Vereinsleben, in religiösen Gemeinschaften ohne starke hierarchisch ausgeübte Kirchen - gewalt eine lebhafte Sektenbildung u. s. w. Mit einem Wort, Freiheit und Bindung verteilen sich gleichmäſsiger, wenn die Socialisierung, statt die heterogenen Bestandteile der Persön - lichkeit in einen einheitlichen Kreis zu zwingen, vielmehr die Möglichkeit gewährt, daſs das Homogene aus heterogenen Kreisen sich zusammenschlieſst.
Dies ist einer der wichtigsten Wege, den fortschreitende Entwicklung einschlägt: die Differenzierung und Arbeits - teilung ist zuerst sozusagen quantitativer Natur und verteilt die Thätigkeitskreise derart, daſs zwar einem Individuum oder einer Gruppe ein anderer als einer andern zukommt, aber jeder derselben eine Summe qualitativ verschiedener Be - ziehungen einschlieſst; allein später wird dieses Verschiedene herausdifferenziert und aus allen diesen Kreisen zu einem nun qualitativ einheitlichen Thätigkeitskreise zusammenge - schlossen. Die Staatsverwaltung entwickelt sich häufig so, daſs das zuerst ganz undifferenzierte Verwaltungszentrum eine Reihe von Gebieten aussondert, welche je einer einzelnen Be - hörde oder Persönlichkeit unterstehen. Aber diese Gebiete sind zunächst lokaler Natur; es ist also z. B. ein Intendant von seiten des französischen Staatsrats in eine Provinz geschickt, um nun dort alle die verschiedenen Funktionen auszuüben, die sonst der Staatsrat selbst über das Ganze des Landes übt; es ist eine Teilung nach dem Quantum der Arbeit. Davon unterscheidet sich die später hervorgehende Teilung der Funktionen, wenn sich dann z. B. aus dem Staatsrat die ver - schiedenen Ministerien herausbilden, deren jedes seine Thätig - keit über das ganze Land, aber nur in einer qualitativ be - stimmten Beziehung erstreckt. Wenn die Specialisierung der Heilkunst schon im alten Aegypten für den Arm einen andern Arzt ausbildete, als für das Bein, so war auch dies eine Differenzierung nach lokalen Gesichtspunkten, der gegenüber die moderne Medizin gleiche pathologische Zustände, gleich -109X 1.viel an welchem Körpergliede sie auftreten, dem gleichen Specialarzt überantwortet, sodaſs wiederum die funktionelle Gleichheit an Stelle der zufälligen Äusserlichkeit die Zu - sammenfassung beherrscht. Die gleiche Form einer über die ältere Differenzierung und Zusammenfassung hinausgehenden neuen Verteilung zeigen jene Geschäfte, die alle verschiedenen Materialien für die Herstellung komplizierter Objekte führen, z. B. das gesamte Eisenbahnbaumaterial, alle Artikel für Gast - wirte, Zahnärzte, Schuhmacher, Magazine für sämtliche Haus - und Kücheneinrichtung u. s. w. Der einheitliche Gesichts - punkt, nach dem hier die Zusammenfügung der aus den ver - schiedensten Herstellungskreisen stammenden Objekte erfolgt, ist ihre Beziehung auf einen einheitlichen Zweck, dem sie insgesamt dienen, auf den terminus ad quem, während die Arbeitsteilung sonst nach der Einheitlichkeit des terminus a quo, der gleichen Herstellungart, stattfindet. Diese Geschäfte, welche die letztere freilich zur Voraussetzung haben, stellen eine potenzierte Arbeitsteilung dar, indem sie aus ganz hete - rogenen Branchen, die aber an sich schon sehr arbeitsteilig wirken, die nach einem Gesichtspunkt zusammengehörigen, sozusagen die zu einem neuen Grundton harmonischen Teile einschlieſsen.
Eine Zusammenfassung zu einheitlichem socialem Bewuſst - sein, die durch die Höhe der Abstraktion über den indivi - duellen Besonderheiten interessant ist, findet sich in der Zu - sammengehörigkeit der Lohnarbeiter als solcher. Gleichviel, was der Einzelne arbeite, ob Kanonen oder Spielzeug, die formale Thatsache, daſs er überhaupt für Lohn arbeitet, schlieſst ihn mit den in gleicher Lage Befindlichen zusammen; das gleichmäſsige Verhältnis zum Kapital bildet gewisser - maſsen den Exponenten, der an so verschiedenartigen Be - thätigungen das Gleichartige sich herausdifferenzieren läſst und eine Vereinheitlichung für alle daran Teilhabenden schafft. Die unermeſsliche Bedeutung, die die psychologische Differen - zierung des Begriffs des „ Arbeiters “überhaupt aus dem des Webers, Maschinenbauers, Kohlenhäuers etc. heraus hatte, wurde schon der englischen Reaktion am Anfang dieses Jahr - hunderts klar; durch die Corresponding Societies Act setzte sie durch, daſs alle schriftliche Verbindung der Arbeitervereine untereinander und auſserdem alle Gesellschaften verboten wurden, welche aus verschiedenen Branchen zusammengesetzt waren. Sie war sich offenbar bewuſst, daſs, wenn die Ver - schmelzung der allgemeinen Form des Arbeiterverhältnisses mit dem speciellen Fach erst einmal gelöst sei, wenn die ge - nossenschaftliche Vereinigung einer Reihe von Branchen erst einmal durch gegenseitige Paralysierung des Verschiedenen das ihnen allen Gemeinsame in helle Beleuchtung rückte, — daſs damit die Formel und die Aegide eines neuen socialen110X 1.Kreises geschaffen sei, dessen Verhältnis zu den früheren un - berechenbare Komplikationen ergeben würde. Nachdem die Differenzierung der Arbeit ihre verschiedenartigen Zweige ge - schaffen, legt das abstraktere Bewuſstsein wieder eine Linie hindurch, die das Gemeinsame dieser zu einem neuen socialen Kreise zusammenschlieſst. Ein ähnlicher, zu realen kollekti - vistischen Einrichtungen führender Zusammenschluſs schafft den Kaufmannsstand als solchen. So lange die Arbeitsteilung noch nicht sehr vorgeschritten ist, sondern eine ganze Anzahl verwandter Aufgaben von dem gleichen Individuum, resp. dem gleichen Berufskreise, gelöst wird, also nur eine geringere Zahl von solchen vorhanden ist, da finden folgenreiche psycho - logische Verschmelzungen leicht nach zwei Seiten hin statt, oder vielmehr eine Einheit von Elementen, die von dem Standpunkte späterer Differenziertheit als Verschmelzung be - zeichnet wird, indes ungenau, da dieser Ausdruck eine vor - herige Getrenntheit von erst später mit einander verschmel - zenden Elementen anzudeuten scheint. Erstens ist der höhere Begriff, der einer Anzahl verschiedenartiger Bethätigungen gemeinsam ist, noch nicht hinreichend von diesen in ihrer Einzelheit gelöst, um gemeinsame Handlungen und Einrich - tungen hervorzurufen. So war es z. B. erst Sache der neue - sten Kultur, daſs die Frauen sich in groſser Anzahl zusammen - thaten, um politische und sociale Rechte zu erringen oder kollektive Veranstaltungen zu ökonomischen Unterstützungs - und anderen Zwecken zu treffen, die nur die Frauen als solche angingen; wir können annehmen, daſs der Allgemein - begriff Frau bis dahin für jede noch zu eng mit derjenigen Ausgestaltung desselben, die sie selbst darstellte, verschmolzen war, wofür es natürlich keinen Unterschied macht, ob die Loslösung dieses Allgemeinbegriffs die Quelle praktischer Gestaltungen ist oder umgekehrt äuſsere Notwendigkeiten zu jener drängten. Die Bethätigungen der Frauen waren und sind eben im allgemeinen noch zu ähnliche, als daſs ein von realem und praktischem Inhalt erfüllter Allgemeinbegriff hätte entstehen hönnen, der ja überall erst durch verschieden - artige Einzelerscheinungen zum Bewuſstsein gebracht wird; gäbe es nur eine einzige Art von Bäumen, so würde es zur Bildung des Begriffs Baum überhaupt nicht gekommen sein. So neigen auch Menschen, die in sich stark differenziert, vielfach ausgebildet und bethätigt sind, eher zu kosmopoliti - schen Empfindungen und Überzeugungen, als einseitige Na - turen, denen sich das allgemein Menschliche nur in dieser beschränkten Ausgestaltung darstellt, da sie sich in andere Persönlichkeiten nicht hineinzuversetzen und also zur Empfin - dung des allen Gemeinsamen nicht durchzudringen vermögen. Die Normen für den kaufmännischen Verkehr werden um so reiner von den speciellen, für einen Zweig erforderlichen Be -111X 1.stimmungen abgelöst, in je mehr Zweige die wirtschaftliche Produktion auseinandergeht, während z. B. in Industrie - städten, die sich wesentlich auf je eine Branche beschränken, zu beobachten ist, wie sich der Begriff des Industriellen noch wenig von dem des Eisen -, Textil -, Spielwaarenindustriellen losgelöst hat und die Usancen auch des anderweitigen, des industriellen Verkehrs überhaupt ihren Charakter von der das Bewuſstsein hauptsächlich füllenden Branche entlehnen. Dabei stellen sich, wie angedeutet, die praktischen Konse - quenzen einer Herausbildung höherer Allgemeinheiten nicht immer chronologisch als solche dar, sondern bilden wechsel - wirkend auch häufig die Anregung, die das Bewuſstsein der socialen Gemeinsamkeit hervorrufen hilft. So wird z. B. dem Handwerkerstand seine Zusammengehörigkeit durch das Lehr - lingswesen nahe gelegt; wenn durch übermäſsige Verwendung von Lehrlingen die Arbeit verbilligt und verschlechtert wird, so würde die Eindämmung dieses Übels in einem Fache nur bewirken, daſs die aus ihm herausgedrängten Lehrlinge ein anderes überschwemmten, sodaſs also nur eine gemeinsame Aktion helfen kann, — eine Folge, die natürlich nur durch die Mannichfaltigkeit der Handwerke möglich ist, aber die Einheit aller dieser über ihre specifischen Differenzen hinaus zum Bewuſstsein bringen muſs.
Bewirkt die Differenzierung hier die Herausgliederung des superordinierten Kreises aus dem individuelleren, in dem er vorher nur latent lag, so hat sie nun zweitens auch mehr koordinierte Kreise von einander zu lösen. Die Zunft z. B. übte eine Aufsicht über die ganze Persönlichkeit in dem Sinne, daſs das Interesse des Handwerks deren ganzes Thun zu re - gulieren hatte. Der in die Lehrlingsschaft bei einem Meister Aufgenommene wurde dadurch zugleich ein Mitglied seiner Familie u. s. w.; kurz, die fachmäſsige Beschäftigung zentrali - sierte das ganze Leben, das politische und das Herzensleben oft mit eingeschlossen, in der energischsten Weise. Von den Momenten, die zur Auflösung dieser Verschmelzungen führten, kommt hier das in der Arbeitsteilung liegende in Betracht. In jedem Menschen, dessen mannichfaltige Lebensinhalte von einem Interessenkreise aus gelenkt werden, wird die Kraft dieses letzteren in demselben Maſse abnehmen, als er in sich an Umfang verliert. Die Enge des Bewuſstseins bewirkt, daſs eine vielgliederige Beschäftigung, eine Mannichfaltigkeit zu ihr gehöriger Vorstellungen auch die übrige Vorstellungswelt in ihren Bann zieht. Sachliche Beziehungen zwischen dieser und jener brauchen dabei gar nicht zu bestehen; durch die Not - wendigkeit, bei einer nicht arbeitsgeteilten Beschäftigung die Vorstellungen relativ schnell zu wechseln, wird ein solches Maſs von psychischer Energie verbraucht, daſs die Bebauung anderer Interessen darunter leidet und nun die so geschwächten112X 1.um so eher in associative oder sonstige Abhängigkeit von jenem zentralen Vorstellungskreise geraten. Ein Mensch, den eine groſse Leidenschaft erfüllt, setzt auch das Entfernteste, jeder inhaltlichen Berührung mit jener Entbehrende, das durch sein Bewuſstsein geht, mit ihr in irgendwelche Verbindung. Sein ganzes Seelenleben empfängt von ihr aus sein Licht und seinen Schatten; und eine entsprechende psychische Einheit wird jeder Beruf bewirken, der für die sonstigen Lebens - beziehungen nur ein relativ geringes Quantum von Bewuſst - sein übrig läſst. Hier liegt eine der wichtigsten inneren Folgen der Arbeitsteilung; sie gründet sich auf die erwähnte psychologische Thatsache, daſs in einer gegebenen Zeit, alles Übrige gleichgesetzt, um so mehr Vorstellungskraft aufgewandt wird, je häufiger das Bewuſstsein von einer Vorstellung zur andern wechseln muſs. Und dieser Wechsel der Vorstellungen hat die gleiche Folge, wie in dem Falle der Leidenschaft ihre Intensität. Deshalb wird eine nicht arbeitsgeteilte Beschäfti - gung, wiederum alles Übrige gleichgesetzt, eher als eine sehr specialisierte zu einer zentralen, alles Übrige in sich ein - saugenden Stellung in dem Lebenslaufe eines Menschen kom - men, und zwar insbesondere in Perioden, in denen es in den übrigen Lebensbeziehungen noch an der Buntheit und den wechselvollen Anregungen der modernen Zeit fehlte. Und in dem Maſse, in dem die einseitigere und deshalb mehr mecha - nische Beschäftigung jenen andern Beziehungen mehr Raum im Bewuſstsein gestattet, muſs auch deren Wert und Selb - ständigkeit wachsen. Diese koordinierende Sonderung der Interessen, die vorher in ein zentrales eingeschmolzen waren, wird auch noch durch eine andere Folge der Arbeitsteilung gefördert, die mit der oben besprochenen Lösung des höheren Socialbegriffs aus den specieller bestimmten Kreisen heraus zusammenhängt. Associationen zwischen zentralen und peri - pheren Vorstellungen und Interessenkreisen, die sich aus bloſs psychologischen und historischen Ursachen gebildet haben, werden meist so lange für sachlich notwendig gehalten, bis die Erfahrung uns Persönlichkeiten zeigt, die ebendasselbe Zentrum bei ganz anderer Peripherie oder eine gleiche Pe - ripherie bei anderem Zentrum aufweisen. Wenn also die Berufsangehörigkeit die übrigen Lebensinteressen von sich abhängig machte, so muſste sich diese Abhängigkeit mit der Zunahme der Beschäftigungszweige lockern, weil, trotz der Verschiedenheit dieser, vielerlei Gleichheiten in allen übrigen Interessen an den Tag traten. So gewinnen wir auch in den feinsten Beziehungen des Seelenlebens manche innere und äuſsere Freiheit, wenn wir ein sittlich nötiges Handeln und Fühlen bei Andern von ganz anderen Vorbedingungen ab - hängig sehen, als sie bei uns mit jenem verbunden waren; dies gilt z. B. in hohem Maſse von den ethischen Beziehungen113X 1.der Religion, an welche letztere sich manche Menschen des - halb gebunden fühlen, weil alte psychologische Gewohnheit ihre sittlichen Impulse stets an religiöse knüpfte; da bringt denn erst die Erfahrung, daſs auch religiös ganz anders ge - sinnte Menschen in ganz gleichem Maſse sittlich sind, die Be - freiung von jener Zentralisierung des ethischen Lebens und die Verselbständigung des letzteren mit sich. So muſste die wachsende Differenzierung der Berufe dem Individuum zeigen, wie die ganz gleiche Richtung anderweitiger Lebensinhalte mit differenten Berufen verknüpft sein kann und also vom Beruf überhaupt in erheblicherem Maſse unabhängig sein muſs. Und zu derselben Folge führt die gleichfalls mit der Kultur - bewegung vorschreitende Differenzierung jener anderen Lebens - inhalte. Die Verschiedenheit des Berufs bei Gleichheit der übrigen Interessen und die Verschiedenheit dieser bei Gleich - heit des Berufs muſste in gleicher Weise zu der psychologi - schen und realen Loslösung des einen vom andern führen. Sehen wir auf den Fortschritt von der Differenzierung und Zusammenfassung nach äuſserlichen schematischen Gesichts - punkten zu der nach sachlicher Zusammengehörigkeit, so zeigt sich dazu eine entschiedene Analogie auf theoretischem Ge - biet: man glaubte früher durch das Zusammenfassen gröſserer Gruppen der Lebewesen nach den Symptomen äuſserer Ver - wandtschaft die hauptsächlichen Aufgaben des Erkennens jenen gegenüber lösen zu können; aber zu tieferer und rich - tigerer Einsicht gelangte man doch erst dadurch, daſs man an scheinbar sehr verschiedenen Wesen, die man unter ent - sprechend verschiedene Artbegriffe gebracht hatte, morpho - logische und physiologische Gleichheiten entdeckte und so zu Gesetzen des organischen Lebens kam, die an weit von einander abstehenden Punkten der Reihe der organischen Wesen realisiert waren und deren Erkenntnis eine Vereinheit - lichung dessen zuwege brachte, was man früher äuſserlichen Kriterien nach in Artbegriffe von völlig selbständiger Genesis verteilt hatte. Auch hier bezeichnet die Vereinigung des sachlich Homogenen aus heterogenen Kreisen die höhere Ent - wicklungsstufe.
Wenn so der Sieg des rational sachlichen Prinzips über das oberflächlich schematische mit dem allgemeinen Kultur - fortschritt Hand in Hand geht, so kann dieser Zusammenhang, da er kein apriorischer ist, doch unter Umständen durch - reiſsen. Die Solidarität der Familie erscheint zwar gegenüber der Verbindung nach sachlichen Gesichtspunkten als ein mechanisch äuſserliches Prinzip, andererseits dennoch als ein sachlich begründetes, wenn man es gegenüber einer rein nu - merischen Einteilung betrachtet, wie sie die Zehntschaften und Hundertschaften im alten Peru, in China und in einem groſsen Teile des älteren Europa zeigen. Während die social -Forschungen (42) X 1. — Simmel. 8114X 1.politische Einheitlichkeit der Familie und ihre Haftbarkeit als Ganzes für jedes Mitglied einen guten Sinn hat und um so rationeller erscheint, je mehr man die Wirkungen der Ver - erbung einsehen lernt, entbehrt die Zusammenschweiſsung einer stets gleichen Zahl von Männern zu einer — in Bezug auf Gliederung, Militärpflicht, Besteuerung, kriminelle Ver - antwortung u. s. w. — als Einheit behandelten Gruppe ganz einer rationalen Wurzel, und trotzdem tritt sie, wo wir sie verfolgen können, als Ersatz des Sippschaftsprinzipes auf und dient einer höheren Kulturstufe. Die Rechtfertigung auch für sie liegt nicht in dem terminus a quo — in Hinsicht dieses übertrifft das Familienprinzip als Differenzierungs - und Inte - grierungsgrund jedes andere —, sondern im terminus ad quem; dem höheren staatlichen Zweck ist diese, gerade wegen ihres schematischen Charakters leicht überschaubare und leicht zu organisierende Einteilung offenbar günstiger als jene ältere. Es tritt hier eine eigenartige Erscheinung des Kulturlebens ein: daſs sinnvolle, tief bedeutsame Einrichtungen und Ver - kehrungsweisen von solchen verdrängt werden, die an und für sich völlig mechanisch, äuſserlich, geistlos erscheinen; nur der höhere, über jene frühere Stufe hinausliegende Zweck giebt ihrem Zusammenwirken oder ihrem späteren Resultat eine geistige Bedeutung, die jedes einzelne Element für sich entbehren muſs; diesen Charakter trägt der moderne Soldat gegenüber dem Ritter des Mittelalters, die Maschinenarbeit gegenüber der Handarbeit, die neuzeitliche Uniformität und Nivellierung so vieler Lebensbeziehungen, die früher der freien individuellen Selbstgestaltung überlassen waren; jetzt ist einer - seits das Getriebe zu groſs und zu kompliziert, um in jedem seiner Elemente sozusagen einen ganzen Gedanken zum Aus - druck zu bringen; jedes dieser kann vielmehr nur einen mechanischen und für sich bedeutungslosen Charakter haben und erst als Glied eines Ganzen seinen Teil zur Realisierung eines Gedankens beitragen; andererseits wirkt vielfach eine Differenzierung, die das geistige Element der Thätigkeit herauslöst, sodaſs das Mechanische und das Geistige gesonderte Existenz erhalten, wie z. B. die Arbeiterin an der Stick - maschine eine viel geistlosere Thätigkeit übt, als die Stickerin, während der Geist dieser Thätigkeit sozusagen an die Ma - schine übergegangen ist, sich in ihr objektiviert hat. So können sociale Einrichtungen, Abstufungen, Zusammenschlüsse mechanischer und äuſserlicher werden und doch dem Kultur - fortschritt dienen, wenn ein höherer Socialzweck auftaucht, dem sie sich einfach unterzuordnen haben und der nicht mehr gestattet, daſs sie für sich den Geist und Sinn bewahren, mit dem ein früherer Zustand die teleologische Reihe abschloſs; und so erklärt sich jener Übergang des Sippschaftsprinzips für die sociale Einteilung zum Zehntschaftsprinzip, obgleich115X 1.dieses thatsächlich als eine Vereinigung des sachlich Hetero - genen entgegen der natürlichen Homogeneität der Familie erscheint. —
Ferner: in primitiven Gesellschaften und namentlich in denjenigen, die durch Vereinigung elementarer, in sich schon geschlossener Gruppen gebildet werden, wird der Anführer zunächst für den Krieg, dann aber auch für dauernde Herr - schaft sehr häufig durch Wahl berufen; seine Vorzüge be - wirken, daſs ihm die Würde spontan übertragen wird, die er an andern Stellen durch eben diese Vorzüge vermöge Usur - pation erlangt, die aber hier wie dort spätestens mit seinem Tode derart erlischt, daſs nun irgend eine andere, durch ähn - liche Vorzüge qualifizierte Persönlichkeit auf die eine oder die andere Weise sich des Prinzipats bemächtigt. Der sociale Fortschritt indes heftet sich gerade an das Durchbrechen des an die Vorzüge der Person geknüpften Verfahrens und an die Aufrichtung erblicher Fürstenwürde; obschon das ver - gleichsweise mechanische und äuſserliche Prinzip der Erblich - keit Kinder, Schwachsinnige, in jeder Beziehung ungeeignete Persönlichkeiten auf den Thron bringt, so überwiegt die von ihm ausgehende Sicherheit und Kontinuität der Staatsentwick - lung doch alle Vorteile des rationaleren Prinzips, nach dem die persönlichen Eigenschaften über den Besitz der Herrschaft entscheiden. Wenn die Reihe der Herrscher statt durch sach - liche Auslese durch den äuſseren Zufall der Geburt bestimmt wird und dies dennoch dem Kulturfortschritt günstig ist, so kann man nur insofern sagen, daſs diese Ausnahme die Regel bestätigt, als sie zeigt, daſs auch diese sich selbst unterge - ordnet ist, d. h., daſs auch nicht einmal sie, nicht einmal die Verwerfung des äuſserlich Schematischen durch das innerlich Rationale ihrerseits wieder zu einer schematischen Norm werden darf. Und endlich sei dafür das ziemlich analoge Verhalten angeführt, das der Monogamie ihren Vorzug vor der Promiskuität der Geschlechter verschafft hat. Ist es näm - lich die Kraft, Gesundheit und Schönheit der Eltern, die die grösste Wahrscheinlichkeit für eine tüchtige Nachkommenschaft gewährt, so wird eine Depravierung der Gattung da zu er - warten sein, wo auch ihren gealterten und herabgekommenen Mitgliedern die Gelegenheit zur Fortpflanzung gesichert bleibt. Dies aber ist gerade in der lebenslänglichen Ehe der Fall. Würde nach jedesmaligem Fruchtbringen einer Vereinigung jeder Teil von neuem das aktive und passive Wahlrecht dem andern Geschlechte gegenüber haben, so würden diejenigen Exemplare, die inzwischen ihre Gesundheit, ihre Kraft und ihre Reize verloren haben, nicht mehr zur Zeugung zuge - lassen werden, und es wäre auſserdem die gröſsere Wahr - scheinlichkeit gegeben, daſs die wirklich zu einander passenden Individuen sich zusammenfänden. Dieser, die rationalen8*116X 1.Gründe wie den rationalen Zweck der geschlechtlichen Ver - einigung stets von neuem berücksichtigenden Erneuerung der Auswahl steht die unverbrüchliche Dauer der ehelichen Ver - bindung, ihre Fortsetzung über das völlige Erlöschen der einstmals für sie bestimmenden Gründe hinaus — auch dann, wenn dieses Erlöschen nur das vorliegende Verhältnis trifft, während eine Vermischung jedes Teils mit irgendeinem an - dern noch durchaus rational wäre, — als ein gewissermaſsen äuſserliches und mechanisches Verfahren gegenüber. Wie die Erblichkeit des Prinzipats statt der Erlangung desselben auf Grund persönlicher Eigenschaften einen schematischen Cha - rakter trägt, gerade so bannt die lebenslängliche Ehe die ganze Zukunft eines Paares in das Schema eines Verhältnisses, das, für einen gegebenen Zeitpunkt zwar der adäquate Ausdruck seiner innerlichen Beziehungen, dennoch die Möglichkeit einer Variierung abschneidet, die die Gesamtheit im Interesse einer tüchtigeren Nachkommenschaft scheint wünschen zu sollen, wie sie dies in dem volkstümlichen Glauben ausdrückt, daſs uneheliche Kinder die tüchtigeren und begabteren seien. Wie aber in jenem Falle die Stabilität durch ihre sekundären Folgen alle Vorteile einer aus sachlichen Momenten erfolgenden Bestimmung weit überholt, so schafft auch der äuſserlich fixierte Übergang, gleichsam die Vererbung der Form einer Lebensepoche auf die andere, für das Verhältnis der Ge - schlechter einen Segen, der keiner Auseinandersetzung bedarf und für die Gattung allen Vorteil übertrifft, der aus der fort - gesetzten Differenzierung eingegangener Verbindungen ge - zogen werden könnte. Hier würde also die Zusammenfügung des eigentlich Zusammengehörigen aus früherem heterogenem Zusammenschluſs nicht kulturfördernd wirken.
Alle aufsteigende Entwicklung in der Reihe der Or - ganismen kann betrachtet werden als beherrscht von der Ten - denz zur Kraftersparnis. Das entwickeltere Wesen unter - scheidet sich von dem niedrigeren so, daſs es zunächst die gleichen Funktionen wie dieses, auſserdem aber noch andere auszuüben imstande ist. Das wird allerdings so möglich sein, daſs diesem Wesen ausgiebigere Kraftquellen zur Verfügung stehen. Diese indes als gleich gesetzt, wird es das Plus an Zweckthätigkeit dadurch erreichen, daſs es die niederen Funktionen mit einem geringeren Aufwand von Kraft voll - bringen und auf diese Weise für die darüber hinausgehenden Kraft gewinnen kann; Kraftersparnis ist die Vorbedingung der Kraftausgabe. Jedes Wesen ist in dem Maſse vollkom - mener, in dem es den gleichen Zweck mit einem kleineren Kraftquantum erreicht. Alle Kultur geht nicht nur dahin, immer mehr Kräfte der untermenschlichen Natur unsern Zwecken dienstbar zu machen, sondern auch jeden dieser letz - teren auf immer kraftsparenderem Wege durchzusetzen.
Es sind, wie ich glaube, dreierlei Hindernisse der Zweck - thätigkeit, in deren Vermeidung die Kraftersparnis besteht: die Reibung, der Umweg und die überflüssige Koordination der Mittel. Was der Umweg im Nacheinander ist, das ist die letztere im Nebeneinander; wenn ich zur Erreichung eines Zweckes eine unmittelbare, darauf führende Bewegung be - wirken könnte, statt dessen aber eine abseits gelegene einleite, welche erst ihrerseits und vielleicht erst durch Erregung einer dritten jene direkt zweckmäſsige anregt, so ist dies, auf die Zeit übertragen, wie wenn ich neben der einen zum Zweck118X 1.hinreichenden Bewegung noch eine Reihe anderer ausführe — sei es, weil sie mit jener associiert und, obgleich augenblicklich überflüssig, nicht von ihr zu trennen sind, sei es, daſs sie thatsächlich dem gleichen Zwecke dienen, der aber durch eine einzige von ihnen hinreichend realisiert wird.
Der evolutionistische Vorteil der Differenzierung läſst sich nun als Kraftersparnis fast nach allen hier angezeigten Rich - tungen ausdeuten. Ich gehe zunächst von einem nicht un - mittelbar socialen Gebiete aus. In der Sprachentwicklung hat die Differenzierung dahin geführt, daſs aus den wenigen Vokalen der älteren Sprachen eine mannigfaltige Reihe der - selben in den neueren auftrat. Jene früheren Vokale weisen scharfe und grelle Lautunterschiede auf, während die neueren Vermittelungen und Schattierungen zwischen ihnen stiften, sie gleichsam in Teile spalten und diese Teile mannigfaltig zusammenfügen. Man hat dies wohl richtig so erklärt, daſs es eine Erleichterung der Arbeit für die Sprachorgane mit sich brächte; jenes leichtere Gleiten der Sprache durch Misch - laute, durch unentschiedene und biegsame Schattierungen war eine Kraftersparnis gegenüber dem unvermittelten Springen zwischen scharf von einander abstehenden, jedes Mal eine völlig anders gerichtete Innervation fordernden Vokalen. Viel - leicht ist nun auch rein geistig die Verflüssigung der scharfen Begriffsgrenzen, wie sie aus der Entwicklungslehre und der monistischen Weltanschauung überhaupt hervorgeht, eine Er - sparnis von Denkarbeit, insofern das Vorstellen der Welt um so gröſsere Anstrengung fordert, je heterogener ihre Teile sind, je weniger das Denken des einen derselben inhaltlich mit dem des andern vermittelt ist. Wie eine kompliziertere, kraftverbrauchendere Gesetzgebung da nötig ist, wo die Klassen der Gruppe durch besondere Rechte oder Formen der rechtlichen Verhältnisse von einander getrennt sind; wie das denkende Umfassen der letzteren sich erleichtert, wenn die Schroffheit absoluter rechtlicher Unterschiede sich in die - jenigen flieſsenden Differenzen auflöst, die bei ganz einheit - licher und für alle gleicher Gesetzgebung noch wegen des Unterschiedes des Besitzes und der gesellschaftlichen Position bestehen bleiben: so wird vielleicht jede psychische Arbeit in dem Maſse erleichtert, in dem die Starrheit streng be - grenzter Begriffe sich zu Vermittelungen und Übergängen verflüssigt. Als Differenzierung ist dies insofern aufzufassen, als so das Band, welches eine groſse Anzahl von Individuen schematisch zusammengefaſst hat, durchgeschnitten wird und statt der gleichen Kollektiveigenschaften die Individualität des Wesens den Inhalt seines Vorgestelltwerdens ausmacht. Während jene scharf begrenzten, begrifflichen Zusammenfassungen immer subjektiven Charakter tragen — alle Synthesis, so drückt Kant dies erschöpfend aus, kann nicht in den Dingen, son -119X 1.dern nur im Geiste liegen —, zeigt das Zurückgehen auf den Einzelnen in seiner Einzelheit realistische Tendenz; und die Wirklichkeit ist unsern Begriffen gegenüber immer vermit - telnd, immer ein Kompromiſs zwischen diesen, weil sie nur herausgelöste und in unserem Kopfe verselbständigte Seiten der Wirklichkeit sind, die an sich diese mit vielen anderen verschmolzen enthält. Daher ist die Differenzierung, die scheinbar ein trennendes Prinzip ist, doch in Wirklichkeit so oft ein versöhnendes und annäherndes und eben dadurch ein kraftsparendes für den Geist, der theoretisch oder praktisch damit operiert.
Die Differenzierung zeigt hier wieder ihr Verhältnis zum Monismus; sobald die scharf abgrenzende Zusammenfassung in einzelne Gruppen und Begriffe aufhört, um zugleich mit der Individualisierung auch Vermittelung und Allmählichkeit der Übergänge eintreten zu lassen, stellt sich eine zusammen - hängende Reihe kleinster Unterschiede und damit die Fülle der Erscheinungen als einheitliches Ganzes dar. Aller Mo - nismus ist nun aber seinerseits als denkkraftsparendes Prinzip angesprochen worden. Gewiſs mit vielem Recht; ob mit be - dingungslosem und so unmittelbarem, wie es den Anschein hat, möchte ich dennoch bezweifeln. Wenn sich die monisti - sche Anschauung der Dinge auch enger an die Wirklichkeit anschlieſst, als etwa das Dogma der gesonderten Schöpfungs - akte und ihre erkenntnistheoretischen Pendants, so bedarf doch auch sie einer synthetischen Thätigkeit und zwar viel - leicht einer umfassenderen und anstrengenderen, als wenn man sich begnügt, beliebig viele Reihen von Erscheinungen, je nachdem einem gerade Ähnlichkeiten unter ihnen auffallen, als genetisch zusammengehörige anzusehen; es erfordert wohl ein höheres Denken, die Gesamtheit der physikalischen Be - wegungen aus einer einheitlichen Kraftquelle und ihren in - einander übergehenden Umsetzungen zu begreifen, als für jede verschiedene Erscheinung auch eine verschiedene Ursache zu konstituieren: für die Wärme eine besondere Wärmekraft, für das Leben eine besondere Lebenskraft, oder, mit jener typi - schen Übertreibung, für das Opium eine besondere vis dor - mitiva. Es ist wohl endlich schwieriger, das Leben der Seele als jenes einheitliche Ganze zu erkennen, wie es sich bei der Auflösung in die Prozesse zwischen den einzelnen Vorstellun - gen darbietet, als wenn man mit gesonderten Seelenvermögen rechnet und die Reproduktion der Vorstellungen aus dem „ Gedächtnis “oder die Fähigkeit des Schlieſsens aus der „ Ver - nunft “erklärt glaubt.
Wo freilich der Monismus der Anschauungsweise nicht die Differenzierung und Individualisierung ihrer Inhalte zum Korrelat hat, da ist er vielfach kraftsparend, allein nicht im Sinne der anderweitig und im ganzen erhöhten Thätigkeit,120X 1.sondern im Sinne der Trägheit. So ist es, um auf theoreti - schem Gebiete zu bleiben, keineswegs immer eine Stärke des Denkens, welche zu so hohen und allgemeinen Abstraktionen aufsteigt, wie es z. B. die indische Brahmaidee ist, vielmehr oft eine Schlaffheit und Widerstandslosigkeit, die vor der scharfkantigen, grellen Wirklichkeit der Dinge flieht, nicht imstande, mit den Räthseln der Individualität fertig zu werden, und nun immer höher und höher getrieben wird bis zu der metaphysischen Idee des All-Einen, bei der überhaupt jedes bestimmte Denken aufhört. Statt in den dunklen Bergwerks - schacht der Einzelheiten der Welt hinabzusteigen, aus dem allein sich das Gold wahrer und gerechter Erkenntnis heraus - holen läſst, überspringt eine bequemere, kraftlosere Denkart einfach die Gegensätze des Seins, die sie vielmehr zu ver - einigen streben sollte, und badet sich im Aether des all-einen und all-guten Prinzips. Wo nun aber, wie in den vorher an - geführten Fällen, der auf Grund von Differenzierung sich er - hebende Monismus mehr Kraft verbraucht, als die pluralistische Denkart, ist dies doch mehr vorübergehend als definitiv. Denn die auf diese Weise erreichten Resultate sind dafür um so reicher, sodaſs im Verhältnis zu diesen doch ein geringerer Kraftverbrauch stattfindet — ungefähr wie eine Lokomotive sehr viel mehr Kraft verbraucht, als eine Postkutsche, allein im Verhältnis zu den erreichten Wirkungen sehr viel weniger. So macht ein groſser, einheitlich verwalteter Staat eine groſse und bis ins Kleinste arbeitsteilig gegliederte Beamtenschaft nötig, richtet aber mit diesem bedeutenden, durch seine Ein - heitlichkeit und seine Differenzierung erforderlichen Kraft - aufwand doch auch relativ viel mehr aus, als wenn eben das - selbe Gebiet in lauter kleine staatliche Einheiten zerfiele, deren jede freilich in sich keiner hohen Differenzierung des Verwaltungskörpers bedarf.
Schwieriger liegt die Frage nach der Kraftersparnis bei jener Differenzierung, die ein Auseinandergehen in feindliche Gegensätze enthält, also z. B. in dem früher erwähnten Falle, daſs eine ursprünglich einheitliche Körperschaft mannigfach entgegengesetzte Parteien in sich ausbildet. Man kann dies als Arbeitsteilung betrachten; denn die Tendenzen, aus denen die Parteibildungen hervorgehen, sind Triebe der mensch - lichen Natur überhaupt, die sich in irgendeinem, wie auch immer verschiedenen Maſse in jedem Einzelnen finden, und man kann sich vorstellen, daſs die verschiedenartigen Momente, die früher im Kopfe jedes Einzelnen Abwägung und relative Ausgleichung fanden, nun auf verschiedene Persönlichkeiten übertragen und von jedem in specialisierter Weise gepflegt werden, während die Ausgleichung erst im Zusammen Aller stattfindet. Die Partei, die als solche nur die Verkörperung eines einseitigen Gedankens darstellt, unterdrückt in dem ihr121X 1.Angehörigen, insoweit er ein solcher ist, alle anders gearteten Triebe, von denen er von vornherein doch nicht ganz frei zu sein pflegt; verfolgen wir die psychologischen Momente, die die Parteistellung des Einzelnen bestimmen, so sehen wir, wie in den weitaus meisten Fällen nicht eine undurchbrechliche Naturanlage auf sie hingedrängt hat, sondern die Zufälligkeit der Umstände und Einflüsse, denen der Einzelne ausgesetzt war, und die in ihm gerade die eine von verschiedenen Richtungsmöglichkeiten und potentiell vorhandenen Kräften zur Entwicklung gebracht haben, während die anderen rudi - mentär werden. Aus diesem letzten Umstande, aus dem Auf - hören der inneren Gegenbewegungen, die vor dem Eintritt in eine einseitige Partei unserm Denken und Wollen einen Teil seiner Kraft nehmen, erklärt sich die Macht, die die Partei über das Individuum übt, und die sich u. A. darin zeigt, daſs die sittlichsten und gewissenhaftesten Menschen die ganze rücksichtslose Interessenpolitik mitmachen, die eben die Partei als solche für nötig findet, welche sich um Bedenken der in - dividuellen Moral fast so wenig kümmert, wie es Staaten untereinander thun. In dieser Einseitigkeit liegt ihre Stärke, wie es sich besonders daraus ergiebt, daſs die Parteileiden - schaft ihre volle Wucht auch dann noch behält, ja oft erst entfaltet, wenn die Parteiung ihren Sinn und ihre Bedeutung ganz verloren hat, wenn gar nicht mehr um positive Ziele gestritten wird, sondern die durch keinen sachlichen Grund mehr bestimmte Zugehörigkeit zu einer Partei den Antago - nismus gegen die andere hervorruft. Vielleicht das stärkste Beispiel sind die Zirkusparteien in Rom und Byzanz; trotzdem nicht der geringste sachliche Unterschied die weiſse von der rothen Partei, die blaue von der grünen trennte, um so we - niger, als schlieſslich nicht einmal die Pferde und Lenker den Parteien eigentümlich, sondern von Unternehmern gehalten waren, die sie jeder beliebigen Partei vermietheten, — trotz - dem genügte das zufällige Ergreifen der einen oder der an - deren Partei, um ein tödlicher Feind der entgegengesetzten zu werden. Unzählige Familienzwiste früherer Zeiten trugen, wenn sie mehrere Generationen hindurch gewährt hatten, keinen anderen Charakter; das Objekt des Streites war oft längst verschwunden; aber die Thatsache, daſs man der einen oder der anderen Familie angehörte, gab jedem eine Partei - stellung des schärfsten Gegensatzes gegen die andere. Als im 14. und 15. Jahrhundert die Tyrannieen in Italien aufkamen und dadurch das politische Parteileben überhaupt jede Be - deutung verlor, dauerten dennoch die Kämpfe zwischen Guelfen und Ghibellinen weiter fort, aber ohne irgendeinen Inhalt: der Parteigegensatz als solcher hatte eine Bedeutung gewonnen, die nach seinem Sinne gar nicht mehr fragte. Kurz, die Differenzierung, die in der Parteiung liegt, entwickelt Kräfte,122X 1.deren Gröſse sich gerade in der Sinnlosigkeit zeigt, mit der sie, oft ohne Einbuſse zu erleiden, jeden Inhalt abstreift und sich nur an die Form der Partei überhaupt hält. Nun geht zwar aller sociale Zusammenschluſs aus der Schwäche und Bestandsunfähigkeit des Individuums hervor, und die blinde, sinnlose Hingabe an eine Partei, wie in den angeführten Fällen, kommt gerade häufig in Zeiten des Niedergangs und der Im - potenz der Völker oder Gruppen vor, in denen der Einzelne das sichere Gefühl individueller Kraft, wenigstens für die bis - herigen Arten ihrer Auſserung, verloren hat. Immerhin zeigen sich in dieser Form noch Kraftquanta, die sonst unentwickelt geblieben wären. Und wenn viele Kräfte auch gerade durch solche Parteiungen nutzlos aufgerieben und verschwendet werden mögen, so ist dies doch nur eine Übertreibung und ein Miſsbrauch, vor dem keine menschliche Tendenz sicher ist; im Ganzen wird man sagen müssen: die Parteibildung schafft Zentralgebilde, an welche die Anlehnung dem Einzelnen die inneren Gegenbewegungen erspart und seine Kräfte da - durch zu groſser Wirkung bringt, daſs sie dieselben in einen Kanal leitet, wo sie, ohne psychologische Hindernisse zu finden, ausströmen können; und indem nun Partei gegen Partei kämpft und jede eine groſse Anzahl persönlicher Kräfte ver - dichtet in sich enthält, muſs sich das Resultat aus der gegen - seitigen Messung der Momente und der ihnen entsprechenden Kräfte reiner, schneller und vollständiger herausstellen, als wenn der Kampf zwischen ihnen in einem individuellen Geiste oder zwischen einzelnen Individuen ausgefochten würde.
Ein eigenartiges Verhältnis zwischen Kraftverbrauch und Differenzierung findet bei jener Arbeitsteilung statt, die man die quantitative nennen könnte; während die Arbeitsteilung im gewöhnlichen Sinne bedeutet, daſs der eine etwas anderes ar - beitet als der andere, also qualitative Verhältnisse betrifft, ist auch die Arbeitsteilung von dem Gesichtspunkte aus wichtig, daſs der eine mehr arbeitet als der andere. Diese quantita - tive Arbeitsteilung wirkt freilich nur dadurch kultursteigernd, daſs sie zum Mittel der qualitativen wird, indem das Mehr oder Weniger einer zunächst für alle wesensgleichen Arbeit eine wesensverschiedene Gestaltung der Persönlichkeiten und ihrer Bethätigungen zur Folge hat; die Sklaverei und die kapitalistische Wirtschaft zeigen den Kulturwert dieser quan - titativen Arbeitsteilung. Die Umsetzung derselben in quali - tative bezog sich zunächst auf die Differenzierung zwischen körperlicher und geistiger Thätigkeit. Die bloſse Entlastung von der ersteren muſste ganz von selbst zu einer Steigerung der letzteren führen, da diese sich spontaner einstellt als jene und vielfach ohne auf bewuſste Impulse und Anstrengungen zu warten. Und nun zeigt sich auch hier, wie die Kraftersparnis durch Differenzierung doch zum Vehikel so viel höherer Kraft -123X 1.wirkung wird. Denn man kann doch wohl das Wesen der geistigen Arbeit gegenüber der körperlichen darein setzen, daſs sie mit geringerem Kraftaufwand die gröſseren Wirkungen erzielt.
Dieser Gegensatz ist freilich kein absoluter. Weder giebt es eine körperliche, hier in Betracht kommende Thätigkeit, die nicht irgendwie vom Bewuſstsein und Willen gelenkt würde, noch eine geistige, die ohne irgendeine körperliche Wirkung oder Vermittelung bliebe. Man kann also nur sagen, daſs das relative Mehr von Geistigkeit in einem Thun kraft - sparend wirkt. Man darf dieses Verhältnis der körper - licheren und der geistigeren Arbeit wohl mit dem zwischen der niederen und der höheren Seelenthätigkeit in Analogie stellen. Der psychische Prozeſs, der im Einzelnen und Sinn - lichen befangen bleibt, ist zwar weniger anstrengend, als der abstrakte und rationale; aber seine theoretischen und prakti - schen Ergebnisse sind dafür auch um so geringer. Das Denken nach logischen Prinzipien und Gesetzen ist kraftersparend, insofern es durch seinen zusammenfassenden Charakter das Durchdenken der Einzelheit ersetzt: das Gesetz, das das Ver - halten unendlich vieler Einzelfälle in eine Formel verdichtet, bedeutet die höchste Kraftersparnis des Denkens; wer das Gesetz kennt, verhält sich zu dem, der nur den einzelnen Fall kennt, wie der, der die Maschine besitzt, zum Handarbeiter. Wenn aber das höhere Denken so Zusammenfassung und Ver - dichtung ist, so ist es zunächst doch Differenzierung. Denn jede Einzelheit der Welt, die von einem bestimmten Gesetz zwar nur einen einzigen Fall bedeutet, ist doch ein Kreuzungs - punkt auſserordentlich vieler Kraftwirkungen und Gesetze, und es bedarf zunächst der psychologischen Auseinander - legung derselben, um jene einzelne Beziehung zu erkennen, die, mit der gleichen an anderen Erscheinungen zusammen - gehalten, den Grund und das Bereich des höheren Gesetzes abgiebt; erst über der Differenzierung aller der Faktoren, in deren zufälligem Zusammen die einzelne Erscheinung besteht, kann sich die höhere Norm erheben. Und nun verhält sich offenbar die geistige Thätigkeit überhaupt zur körperlichen, wie sich innerhalb des Gebietes jener die höhere zur niederen, da ja, wie oben erwähnt, der Unterschied zwischen körper - licher und geistiger Thätigkeit nur ein quantitatives Mehr und Minder beider Elemente an der Thätigkeit bedeutet. Das Denken schiebt sich zwischen die mechanischen Thätigkeiten wie das Geld zwischen die realen ökonomischen Werte und Vorgänge, konzentrierend, vermittelnd, erleichternd. Und auch das Geld ist aus einem Differenzierungsprozeſs hervor - gegangen; der Tauschwert der Dinge, eine Qualität oder Funktion, die sie neben ihren anderweitigen Eigenschaften erwerben, muſs von ihnen gelöst und im Bewuſstsein verselb -124X 1.ständigt werden, ehe die Zusammenschlieſsung dieser, den verschiedensten Dingen gemeinsamen Eigenschaft in einen über allen einzelnen stehenden Begriff und Symbol stattfinden konnte; und die Kraftersparnis, die durch diese Differenzie - rung und nachherige Zusammenschlieſsung erreicht wird, liegt gleicherweise in dem Aufsteigen zu höheren Begriffen und Normen, die in der gleichen Weise gewonnen werden. Wie kraftsparend die Konzentration, die Zusammenfassung der Individualfunktionen in eine Zentralkraft wirkt, ist ohne wei - teres klar; aber man muſs sich zum Bewuſstsein bringen, daſs einer solchen Zentralisierung stets Differenzierung zugrunde liegt, daſs sie, um Kraft zu ersparen, nicht die Erscheinungs - komplexe in ihrer Totalität, sondern immer nur herausgeson - derte Seiten derselben zusammenzufassen hat. Die Geschichte des menschlichen Denkens, ebenso wie die der socialen Ent - wicklungen, läſst sich als die Geschichte dieser Fluktuationen auffassen, durch die der bunte, prinzipienlos zusammengestellte Erscheinungskomplex nach gewissen Gesichtspunkten hin differenziert und die Resultate der Differenzierung zu einem höheren Gebilde zusammengeschlossen werden; das Gleich - gewicht zwischen Auflösung und Zusammenfassung ist aber nie ein stabiles, sondern immer ein labiles; jene höhere Ein - heit ist nie eine definitive, insofern sie entweder selbst wieder in Elemente differenziert wird, die dann ihrerseits neue und wieder höhere Zentralgebilde formen, für die sie das Material bilden, oder insofern jene früheren Komplexe nach anderen Gesichtspunkten differenziert werden, was dann neue Zusammen - schlieſsungen hervorbringt und die früheren antiquiert.
Diese ganze Bewegung läſst sich vorstellen als beherrscht von der Tendenz zur Kraftersparnis, und zwar zunächst im Sinne der Reibungsminderung. Ich habe dies oben von einem anderen Gesichtspunkte für das Verhältnis der kirchlichen Interessen zu den staatlichen und den wissenschaftlichen aus - geführt. Unzählige Kräfte gehen da verloren, wo die Arbeits - teilung noch nicht jedem ein gesondertes Gebiet angewiesen hat, sondern der Anspruch an das gleiche, gewissermaſsen nicht aufgetheilte, den Wettbewerb entfesselt; denn so sehr dieser in vielen Fällen dem Produkt zugute kommt und zu höherer objektiver Leistung anspornt, so bringt er doch in vielen anderen es mit sich, daſs zunächst auf die Beseitigung des Konkurrenten Kräfte verwandt werden müssen, bevor man an die Arbeit geht, oder auch neben ihr her. Der Sieg in diesem Kampf entscheidet sich unzählige Male nicht durch die Anspannung aller Kräfte auf die Arbeit, sondern auf auſserhalb derselben gelegene, mehr oder weniger subjektive Momente; und diese Kräfte sind verschwendet: sie gehen für die Sache verloren; sie dienen nur zur Beseitigung einer Schwierigkeit, die für den einen da ist, weil sie für den an -125X 1.dern da ist, und unter günstigerer Zielsetzung für beide fort - fallen würde: es ist das doppelt unzweckmäſsige Verhältnis, daſs Kräfte verbraucht werden, um andere Kräfte lahmzu - legen. Wenn es das Ideal der Kultur ist, daſs die Kräfte der Menschen auf die Besiegung des Objekts, resp. der Natur, statt auf die des Mitmenschen verwandt werden, so ist die Ver - teilung der Arbeitsgebiete die gröſste Förderung desselben; und wenn die griechischen Socialpolitiker den eigentlich kauf - männischen Beruf dem Staatswesen verderblich hielten und nur den Landbau als geziemenden und gerechten Erwerb gelten lassen wollten, da dieser seinen Nutzen nicht von Men - schen und deren Beraubung nähme, so ist kein Zweifel, daſs der Mangel an Arbeitsteilung sie zu diesem Urteil berechtigte. Denn die Gestattung des Landbaues erweist ihre Erkenntnis, daſs nur Hinwendung an das Objekt allein die Konkurrenz besiegt, von der sie die Sprengung des Staatswesens fürch - teten, und daſs unter den damaligen, noch nicht arbeits - geteilten Verhältnissen die Hinwendung an das Objekt un - möglich wäre, auſser wo es sich um ein der Konkurrenz so wenig zugängliches Objekt, wie das der Landbebauung, han - delt. Erst wachsende Differenzierung kann die Reibung be - seitigen, die aus der Setzung des gleichen Zieles hervorgeht, welche die Kräfte von diesem fort auf die persönliche Be - siegung des Mitbewerbers lenkt.
Die Betrachtung des Individuums zeigt dies von einer anderen Seite. Wenn die Gesamtheit der Willens - und Denk - akte eines Einzelnen als ein Ganzes seiner Gruppe gegenüber sehr differenziert, in sich also sehr einheitlich ist, so werden damit jene Umstimmungen, jener Wechsel der Innervierungen vermieden, der bei gröſserer Verschiedenheit der Denkrich - tungen und Impulse notwendig ist. In unserm psychischen Wesen ist etwas dem physischen Beharrungsvermögen wenig - stens Analoges zu beobachten: ein Trieb, dem augenblicklich herrschenden Gedanken auch weiter nachzuhängen, dem jetzigen Wollen sich noch weiter zu überlassen, sich innerhalb des einmal gegebenen Interessenkreises auch weiter zu be - wegen. Wo nun ein Wechsel, ein Abspringen erfordert ist, da muſs diese Trägheitswirkung erst durch einen besonderen Impuls überwunden werden; die neue Innervierung muſs stärker sein, als ihr Zweck an und für sich erfordert, weil sie zunächst von einer anders gerichteten Kraftwirkung ge - kreuzt wird und deren ablenkende Wirkung nur durch ver - mehrte Energie paralysieren kann. Man darf sich jene phy - sisch-psychische Analogie der vis inertiae vielleicht damit er - klären, daſs wir die Kraftsumme nie mit völliger Bestimmt - heit berechnen können, die um eines gegebenen inneren oder äuſseren Zweckes willen aus dem latenten in den wirkenden Zustand übergeführt werden muſs; da aber das Zurückbleiben126X 1.hinter dem nötigen Quantum sich sehr schnell bemerkbar machen würde, so irren wir offenbar mehr und öfter nach der Seite des Zuviel, und die motorisch aufgewandte Energie wirkt noch über den Punkt hinaus, auf den sie rationaler Weise gerichtet ist. Setzt an diesem nun eine neue Willens - richtung ein, so hat sie gewissermaſsen nicht ganz freies Feld vor sich, sondern findet jenen Überschuſs anders gerichteter Kraft vor, den sie erst durch eine entsprechende eigene Ver - stärkung überwinden muſs.
Man muſs hier auch an Vorgänge innerhalb des Indivi - duums erinnern, die wenigstens gleichnisweise als Reibung und Konkurrenz zu begreifen sind. Je vielseitiger man sich bethätigt, je geringer die Einheitlichkeit und Umgrenzung un - seres Wesens ist, desto häufiger wird die verfügbare Kraft - summe desselben von verschiedenen Direktiven in Anspruch genommen, die so wenig wie Individuen untereinander eine friedliche Teilung jener vornehmen, sondern indem jede mög - lichst viel Kraft für sich beansprucht, muſs sie jeder anderen Abbruch thun, und zwar geschieht dies offenbar oft genug so, daſs auf die direkte Beseitigung des konkurrierenden Triebes Kraft verwandt wird, die uns dem sachlichen Ziele nicht näher bringt; es findet nur eine gegenseitige Aufhebung ent - gegengesetzt gerichteter Kräfte statt, deren Resultat Null ist, ehe es zu positiver Leistung kommt. Durch zweierlei Diffe - renzierungen allein kann das Individuum die so in ihm ver - schwendeten Kräfte sparen: entweder indem es sich als Ganzes differenziert, d. h. in möglichster Einseitigkeit seine Triebe auf einen Grundton abstimmt, zu dem sie nun insgesamt harmonisch sind, so daſs es wegen ihrer Gleichheit oder Parallelität zu keiner Konkurrenz kommt; oder indem es sich seinen einzelnen Trieben und Seiten nach derart differenziert und jede derselben ein so gesondertes Gebiet — sei es im Nebeneinander, oder, wie wir es weiterhin ausführen werden, im Nacheinander —, ein so scharf umgrenztes Ziel und so selbständige, abseits aller anderen liegende Wege dazu besitzt, daſs gar keine Berührung und deshalb keine Reibung und Konkurrenz unter ihnen stattfindet; die Differenzierung im Sinne des Ganzen wie im Sinne der Teile wirkt gleicher - maſsen kraftsparend. Will man diesem Verhältnis eine Stellung in einer kosmologischen Metaphysik anweisen, was ja immer nur den Anspruch einer unsicheren Ahnung und andeutenden Symbolik erheben kann, so dürfte man auf die Zöllner’sche Hypothese verweisen: die den Elementen der Materie inne - wohnenden Kräfte müſsten so beschaffen sein, daſs die unter ihrem Einflusse stattfindenden Bewegungen dahin streben, in einem begrenzten Raume die Anzahl der stattfindenden Zu - sammenstöſse auf ein Minimum zu reduzieren. Danach würden also z. B. die Bewegungen eines mit Gasmolekülen erfüllten127X 1.kubischen Raumes sich mit der Zeit in drei Gruppen teilen, von denen jede parallel zu zwei Seitenflächen vor sich ginge; dann würden eben gar keine Zusammenstöſse der Moleküle mehr untereinander, sondern nur noch mit je zwei einander gegenüberliegenden Gefäſswänden stattfinden und daher die Zahl der Zusammenstöſse auf ein Minimum reduziert sein. Ganz analog sehen wir nun, wie die Verminderung der Zu - sammenstöſse, resp. der Reibung, innerhalb zusammengesetzterer Organisationen so zustande kommt, daſs sich die Wege der einzelnen Elemente möglichst auseinanderlegen. Aus dem wirren Durcheinander, das sie in jedem Augenblick an einen Punkt zusammenführt, an dem also Reibung, Repulsion, Kraft - aufhebung stattfindet, stellt sich der Zustand der gesonderten Bahnen her, und man kann jene physikalische Tendenz ebenso als Differenzierung, wie diese psychologisch sociale als Re - duktion der Zusammenstöſse bezeichnen. Zöllner selbst deutet auf erkenntnistheoretische Gründe hin das Verhältnis so aus, daſs den äuſseren Zusammenstöſsen der Dinge ein Unlust - gefühl entspräche, und giebt der obigen physikalischen Hypo - these deshalb diese metaphysische Form: Alle Arbeitsleistungen der Naturwesen werden durch die Empfindungen der Lust und Unlust bestimmt, und zwar so, daſs die Bewegungen innerhalb eines abgeschlossenen Gebietes von Erscheinungen sich verhalten, als ob sie den unbewuſsten Zweck verfolgten, die Summe der Unlustempfindungen auf ein Minimum zu reduzieren.
Wie sich in dieses Prinzip das Differenzierungsstreben einordnet, liegt auf der Hand. Man kann aber vielleicht in der Abstraktion noch eine Stufe höher steigen und als all - gemeinste formale Tendenz des Naturgeschehens die Kraft - ersparnis ansehen; dies ersetzte den alten und jedenfalls höchst miſsverständlich ausgedrückten Grundsatz, daſs die Natur immer den kürzesten Weg nimmt, durch die Maxime, daſs sie den kürzesten Weg sucht; zu welchen Zielen dieser führt, ist dann Sache materialer Ausmachung und gestattet vielleicht keine einheitliche Zusammenfassung. Die Herbeiführung von Lust und die Vermeidung der Unlust wären dann nur ent - weder eines dieser Ziele, oder für gewisse Naturwesen das Zeichen gelungener Kraftersparnis, oder ein angezüchtetes psychologisches Lock - und Hülfsmittel für dieselbe.
Ordnen wir nun die Differenzierung dem Prinzip der Kraftersparnis unter, so ist von vornherein wahrscheinlich, daſs gelegentlich auch ihr entgegengesetzte Bewegungen und Einschränkungen diesem höchsten Ziele werden dienen müssen. Denn bei der Mannigfaltigkeit und Heterogeneität der mensch - lichen Dinge wird kein höchstes Prinzip immer und überall durch gleichgeartete Einzelvorgänge verwirklicht, sondern wegen der Verschiedenheit der Ausgangspunkte und der Not -128X 1.wendigkeit, auf Ungleiches auch Ungleiches wirken zu lassen, um Gleiches als Resultat zu erzielen, werden die Zwischen - glieder, die zu der höchsten Einheit hinaufführen, in dem Verhältnis verschiedenartige sein müssen, als sie in der teleo - logischen Kette noch von dieser abstehen. Aus der Täuschung hierüber, aus dem falschen monistischen Schein, den die Ein - heit des höchsten Prinzips psychologisch auch auf die Stufen zu ihm wirft, erklären sich unzählige Verblendungen und Ein - seitigkeiten im Handeln wie im Erkennen.
Die Gefahren einer zu weit getriebenen Individualisie - rung und Arbeitsteilung sind zu bekannt, um hier mehr als einer Hinweisung zu bedürfen. Nur das eine will ich doch erwähnen, daſs die der Specialthätigkeit zugewandte Kraft zunächst zwar durch den Verzicht auf anderweitige Thätigkeit aufs Äuſserste gesteigert wird, bei groſser Entschiedenheit und langer Dauer dieses Zustandes aber wieder abnimmt. Denn der Mangel an Übung bringt für jene anderen Muskel - oder Vorstellungsgruppen Schwächung und Atrophie mit sich, die natürlich eine Affection des gesamten Organismus in gleichem Sinne bedeutet. Da nun aber der allein funktionierende Teil doch schlieſslich aus diesem Ganzen seine Nahrung und Kraft zieht, so muſs auch seine Tüchtigkeit leiden, wenn das Ganze leidet. Die einseitige Anstrengung bringt also auf dem Um - wege über die Zusammenhänge des Gesamtorganismus, den die durch jene nötige Vernachlässigung der anderen Organe schwächt, auch eine Schwächung eben des Organes mit, dessen Kräftigung sie ursprünglich diente.
Ferner wird auch jene Arbeitsteilung, die in der Abgabe der Funktionen an öffentliche Organe besteht und im allge - meinen eine eminente Kraftersparnis bewirkt, eben um der Kraftersparnis willen oft wieder an die Individuen oder an kleinere Verbände zurückgehen. Es tritt dabei nämlich Fol - gendes ein. Wenn mehrere Funktionen von den Individuen abgelöst und von einem gemeinsamen Zentralorgan, z. B. dem Staat, übernommen werden, so treten sie in diesem, als einem einheitlichen, in derartige gegenseitige Beziehung und Ab - hängigkeit, daſs die Wandlungen der einen auch die Gesamt - heit der andern alterieren. Dadurch wird die einzelne mit einem Ballast von Rücksichten, mit der Notwendigkeit, ein stets verschobenes Gleichgewicht wiederzugewinnen, belastet und bedingt dadurch eine gröſsere Kraftaufwendung, als für das vorliegende Ziel an sich erforderlich wäre. Sobald sich aus den abgegebenen Funktionen ein neuer, mehrseitig thätiger Organismus zusammengliedert, steht dieser unter selbständigen Lebensbedingungen, die auf die Gesamtheit der Interessen berechnet sind und deshalb für die einzelne einen gröſseren Apparat arbeiten lassen, als ihre isolierte Zweckmäſsigkeit be - anspruchen würde. Ich nenne nur einige dieser Belastungen,129X 1.die jede an den Staat übergegangene Funktion treffen: die Etatisierung der Ausgaben, die Notwendigkeit, jede kleinste Aufwendung in einer Balancierung ungeheurer Gesamtsummen zu halten, die Vielfachheit der Kontrolle, die, im allgemeinen notwendig, im einzelnen oft überflüssig ist, das Interesse der politischen Parteien und die öffentliche Kritik, die oft einer - seits zu unnützen Versuchen zwingen, andererseits nützliche unterdrücken, die besonderen Berechtigungen, die die vom Staate angestellten Funktionäre genieſsen: die Pension, das sociale Übergewicht und vieles andere, — kurz, das Prinzip der Kraftersparnis wird vielfach die Ablösung der Funktionen von den individuellen Wesen und ihre Übertragung auf einen Zentralkörper ebenso einschränken, wie es sie andererseits hervorruft.
Die zwischen Differenzierung und ihrem Gegenteil wech - selnde Zweckmäſsigkeit der Entwicklung zeigt sich klar auf dem religiösen und auf dem militärischen Gebiet. Die Ent - wicklung der christlichen Kirche hatte sehr früh zu einer Scheidung zwischen den Vollkommenen und den Alltags - menschen geführt, zwischen einer geistig-geistlichen Aristo - kratie und der misera contribuens plebs. Der Priesterstand der katholischen Kirche, der die Beziehungen der Gläubigen zum Himmel vermittelt, ist nur ein Resultat eben derselben Arbeitsteilung, die etwa die Post als ein besonderes sociales Organ konstituiert hat, um die Beziehungen der Bürger zu entfernten Orten zu vermitteln. Diese Differenzierung hob die Reformation auf; sie gab dem Einzelnen die Beziehung zu seinem Gott wieder, die der Katholizismus von ihm ab - gelöst und in einem Zentralgebilde zusammengeschlossen hatte; die Religionsgüter wurden von neuem jedem zugänglich, und die irdischen Verhältnisse, Haus und Herd, Familie und bür - gerlicher Beruf, erhielten eine religiöse Weihe oder wenigstens die Möglichkeit zu ihr, die die frühere Differenzierung von ihnen getrennt hatte. Die vollständigste Beseitigung dieser zeigen dann die Gemeinden, in denen überhaupt kein beson - derer Priesterstand mehr existiert, sondern jeder, je nachdem der Geist ihn treibt, predigt.
Inwieweit jener frühere Zustand indes unter das Prinzip der Kraftersparnis fällt, zeigt die folgende Betrachtung. Drei wesentliche Requisite des Katholizismus: der Cölibat, das Klosterleben und die dogmatische Hierarchie, die sich zur Inquisition aufgipfelte, waren höchst wirksame und umfassende Mittel, um alles geistige Leben in einem bestimmten Stande zu monopolisieren, der alle Elemente des Fortschritts aus den weitesten Kreisen heraussaugte; dies war zwar in den aller - rohesten Zeiten ein Weg, um die vorhandenen geistigen Kräfte zu konservieren, die sich ohne Anhalt an einem bestimmten Stande und bestimmten Mittelpunkten wirkungslos zerstreutForschungen (42) X 1. — Simmel. 9130X 1.hätten; dann aber bewirkte es doch eine negative Zuchtwahl. Denn für alle tieferen und geistigeren Naturen gab es keinen anderen Beruf, als das Klosterleben, und da dieses den Cö - libat forderte, so war die Vererbung höherer geistiger Anlage stark verhindert; gerade die roheren und niedrigeren Naturen gewannen dadurch das Feld für sich und ihre Nachkommen - schaft. Das ist immer und überall der Fluch des Keusch - heitsideales; gilt die Keuschheit als sittliche Forderung und sittliches Verdienst, so wird sie doch nur diejenigen Seelen für sich gewinnen, die überhaupt der Beeinflussung durch ideale Momente zugänglich sind, also gerade die feineren, höheren, ethisch angelegten, und der Verzicht dieser auf Fort - pflanzung muſs notwendig das schlechte Vererbungsmaterial überwiegen machen. Wir haben hierin ein Beispiel für den oben charakterisierten Fall, daſs die Konzentration der Kräfte auf ein arbeitsteilig bestimmtes Glied zunächst zwar eine Stär - kung, dann aber auf dem Umwege über die Gesamtverhält - nisse des Organismus eine Schwächung eben dieses bewirkt. Zuerst wurden durch die scharfe Differenzierung zwischen den Organen für die geistigen und für die irdischen Interessen die ersteren konserviert und gesteigert; indem sie aber durch die völlige Abkehr vom Sinnlichen die Durchdringung der gröſseren Massen mit vererbbaren höheren Qualitäten ver - hinderten, sich selbst aber wieder nur aus eben diesen Massen rekrutieren konnten, muſste ihr eigenes Material schlieſslich degenerieren. Dazu kam der Dogmatismus im Inhalt der Lehre, der die fortschrittliche Entfaltung geistigen Lebens zunächst durch unmittelbare Einwirkung auf die Geister, dann aber auch mittelbar durch die Ketzerverfolgung beschränkte, welche man gleichfalls mit einer Zuchtwahl verglichen hat, die mit äuſserster Sorgfalt die freisinnigsten und kühnsten Männer auswählte, um sie auf irgend eine Weise unschädlich zu machen. Allein in alledem hat doch vielleicht eine segens - reiche Kraftersparnis gelegen. Vielleicht war damals die geistige Kraft der Völker in ihren älteren Bestandteilen zu erschöpft, in ihren jüngeren zu barbarisch, um bei voller Freiheit zur Entwicklung jedes geistigen Triebes tüchtige Gebilde hervorzubringen; es war vielmehr günstig, daſs ihr Auskeimen verhindert oder beschnitten und dadurch die Säfte konzentriert wurden; das Mittelalter war so eine Spar - büchse für die Kräfte der Volksseele; seine bornierende Re - ligiosität versah die Stelle des Gärtners, der die unzeitigen Triebe wegschneidet, bis sich durch Konzentrierung des für sie doch nur verschwendeten Saftes ein wahrhaft lebensfähiger Zweig bildet. Wie viele Kräfte nun aber durch das Rück - gängigmachen jener Arbeitsteilung in der Reformation direkt und indirekt gespart wurden, liegt auf der Hand. Nun war für die religiöse Empfindung und Bethätigung der Umweg131X 1.über den Priester und das weitläufige Zeremoniell überflüssig gemacht; wie es nicht mehr der Wallfahrt nach bestimmten Orten bedurfte, sondern von jedem Kämmerlein aus ein kür - zester Weg zu Gottes Ohre führte; wie das Gebet nicht mehr die Instanz der fürsprechenden Heiligen passieren muſste, um Erfüllung zu finden; wie das individuelle Gewissen sich un - mittelbar des sittlichen Wertes der Handlungen bewuſst werden durfte, ohne erst durch Nachfrage beim Priester diesen und sich selbst mit Aussprachen, Zweifeln, Vermittelungen zu be - lasten, — so wurde die Gesamtheit der innerlichen und äuſser - lichen Religiosität vereinfacht und durch Rückgewähr der herausdifferenzierten religiösen Qualitäten an den Einzelnen die Kraft gespart, die der zu ihrer Bewährung nötige Umweg über das Zentralorgan gekostet hatte.
Wir finden endlich die folgende Form, in der eine kraft - sparende Rückbildung der Differenzierung stattfindet, insbe - sondere in religiösen Verhältnissen. Zwei Parteien, von ge - meinsamer Grundlage ausgehend, haben sich auf Unterschei - dungslehren hin als entschieden gesonderte, für sich bestehende Gruppen konstituiert. Nun soll eine Wiedervereinigung statt - finden; allein nicht so wird das oft möglich sein, daſs das Unterscheidende von einer oder von beiden aufgegeben wird, sondern nur so, daſs es zur Sache der persönlichen Über - zeugung jedes einzelnen Mitgliedes wird. Das Gemeinsame beider, das für jede bisher nur in so fester Verbindung mit ihrer specifischen Differenz existiert hatte, daſs jede Partei es sozusagen für sich allein besaſs und es kein Gemeinsames im Sinne einer zusammenschlieſsenden Kraft war, wird nun wieder ein solches unter Vernachlässigung jener Differenzen. Diese letzteren dagegen verlieren ihre gruppenbildende Macht und werden vom Ganzen auf das Individuum übertragen. Bei den Aussöhnungsversuchen, denen sich Paul III. den Lutheranern gegenüber geneigt zeigte, war die Absicht offen - bar beiderseits auf eine derartige Formulierung der Dogmen gerichtet, die beiden Parteien wieder einen gemeinsamen Boden gewährte, während es im übrigen jedem überlassen bleiben konnte, sich für sein Teil noch das Besondere und Ab - weichende, dessen er bedurfte, hinzuzudenken. Auch bei der evangelischen Union in Preuſsen war die Meinung keines - wegs die, daſs die bisherigen Unterscheidungslehren ver - schwinden, sondern nur, dass sie zur Privatsache jedes werden sollten, statt von einem besonders differenzierten konfessionellen Gebilde getragen zu werden; es stünde dem Unionisten demnach noch frei, von der Willensfreiheit im lutherischen Sinne, vom Abendmahl im reformierten zu denken. Die scheidenden Fragen waren nur keine entscheidenden mehr; sie waren wieder an das Gewissen des Einzelnen zurückgegangen und hatten dadurch den gemeinsamen Grundgedanken die Mög -9*132X 1.lichkeit gegeben, die vorangegangene Differenzierung wieder aufzuheben — was übrigens der in unserm dritten Kapitel gewonnenen Formel entspricht, nach der der Weg der Ent - wicklung von der kleineren Gruppe einerseits zur gröſseren, andererseits zugleich zur Individualisierung führt. Eine Kraft - ersparnis liegt hier insofern vor, als das religiöse Zentral - gebilde von solchen Fragen und Angelegenheiten entlastet wird, die der Einzelne am besten für sich allein ordnet, und entsprechend der Einzelne nicht mehr durch die Autorität seiner Konfession genötigt ist, mit dem, was ihm richtig erscheint, noch eine Anzahl Glaubensartikel auſser den Hauptsachen in Kauf zu nehmen, die ihm persönlich über - flüssig sind.
Wenn auch keine genaue Parallelität hiermit, so doch eine teilweise Verwandtschaft der Form zeigt die Entwick - lung des Kriegerstandes auf. Ursprünglich ist jedes männliche Mitglied des Stammes auch Krieger; mit jeglichem Besitz und dem Wunsch nach Mehrbesitz ist es unmittelbar verbunden, daſs jener verteidigt, dieser erkämpft werde; die Führung der Waffen ist die selbstverständliche Konsequenz davon, daſs jemand etwas zu gewinnen oder zu verlieren hat. Daſs eine so allgemeine, natürliche, mit jeglichem Interesse verknüpfte Bethätigung von dem Einzelnen als solchem gelöst und in einem besonderen Gebilde verselbständigt werde, bedeutet schon eine hohe Differenzierung und eine besonders groſse Kraftersparnis. Denn je mehr eigentliche Kulturbeschäfti - gungen sich ausbildeten, desto störender muſste die Notwen - digkeit, jeden Augenblick zu den Waffen zu greifen, desto kraftsparender die Einrichtung wirken, daſs lieber ein Teil der Gruppe sich ganz der kriegerischen Beschäftigung wid - mete, damit die Übrigen möglichst ungestört ihre Kräfte für die anderen nötigen Lebensinteressen entfalten könnten; es war eine Arbeitsteilung, welche ihren Gipfel in den Söldnern erreichte, die von jedem auſserkriegerischen Interesse soweit losgelöst waren, daſs sie sich jeder beliebigen Kriegspartei zu Diensten stellten. Die erste Rückgängigmachung dieser Dif - ferenzierung fand da statt, wo die Heere ihren internationalen oder unpolitischen Charakter verloren und wenigstens dem Lande entstammten, für das sie fochten, so daſs der Krieger, wenn er auch im übrigen nur dies und nichts anderes war, doch wenigstens zugleich Patriot sein konnte. Wo dies aber der Fall ist, da wird doch die zugrunde liegende, in den Kampf mitgebrachte Empfindung, der Mut, die Spannkraft, die kriegerische Tüchtigkeit überhaupt auf eine Höhe gehoben, die der vaterlandslose Söldner nur künstlich, durch bewuſste Willensanstrengung und mit entsprechend gröſserem Kraftverbrauch erreichen konnte. Überall bedeutet es eine erhebliche Kraftersparnis, wenn eine erforderte Be -133X 1.thätigung gern und mit Unterstützung des spontanen Gefühles geschieht; die Widerstände der Trägheit, der Feigheit, der Abneigung jeder Art, die sich unsern Thätigkeiten entgegen - setzen, fallen dann eben von selbst weg, während es sonst, wenn unser Herz nicht dabei beteiligt ist, besonderer An - strengung zu ihrer Überwindung bedarf. Das höchste Maſs so zu erzielender Kraftersparnis stellen die modernen Volks - heere dar, in denen die Differenzierung des Kriegerstandes ganz zurückgebildet ist. Indem die Wehrpflicht nun wieder jeden Bürger trifft, indem die Gesamtheit eines aus unermeſs - lich vielen Elementen bestehenden Vaterlandes an jeden Ein - zelnen gewiesen ist und mit auf ihm ruht, indem mannich - faltigste eigene Interessen der kriegerischen Verteidigung bedürfen, — wird ein Maximum von innerlichen Spannkräften dieser Richtung frei, und es bedarf weder des Soldes, noch des Zwanges, noch der künstlichen Anspannung, um den gleichen oder vielmehr einen viel höheren militärischen Effekt zu erzielen, als die Differenzierung des Kriegerstandes ihn hervorbrachte.
Diese auch sonst häufige Art der Entwicklung, nach der das letzte Glied derselben eine ähnliche Form wie das An - fangsglied aufweist, sehen wir in der wichtigen Frage nach der Stellvertretung differenzierter Organe für einander. Im körperlichen Leben sind stellvertretende Thätigkeiten nicht selten, und es ist zunächst klar, daſs, je niedriger und un - differenzierter der Bau eines Wesens ist, seine Teile um so eher für einander vikariieren können; wenn man den Süſswasser - polypen umkrämpelt, sodaſs sein innerer, bisher verdauender Teil an die Stelle der Haut kommt und umgekehrt, so findet demnächst eine entsprechende Vertauschung der Funktionen statt, sodaſs die frühere Haut nun das verdauende Organ wird u. s. w. Je feiner sich nun die Organe eines Wesens individuell ausgestalten, desto mehr ist jedes einzelne auf seine besondere, von keinem anderen erfüllbare Funktion angewiesen. Aber gerade bei dem Gipfelpunkt aller Entwicklung, bei dem Ge - hirn, ist ein Vikariieren der Teile für einander wieder in re - lativ hohem Maſse vorhanden. Die teilweise Fuſslähmung, die ein Kaninchen durch teilweise Zerstörung der Hirnrinde erlitten, wird nach einiger Zeit wieder aufgehoben. Die apha - sischen Störungen bei Verletzung des Gehirns lassen sich zum Teil wieder gutmachen, indem offenbar andere Hirnpartieen die Funktionen der verletzten übernehmen; auch ein Vikariat nach der quantitativen Seite hin findet statt, indem nach Ver - lust eines Sinnes die übrigen an Schärfe soweit zuzunehmen pflegen, daſs sie die durch jenen Verlust behinderten Lebens - zwecke möglichst erreichen helfen. Dem entspricht es nun ganz, wenn innerhalb der niedrigsten Gesellschaft die Un - differenziertheit ihrer Mitglieder es mit sich bringt, daſs die134X 1.meisten in ihr vor sich gehenden Thätigkeiten von jedem be - liebigen vollzogen werden können, jeder an jedes Stelle treten kann. Und wenn eine höhere Entwicklung diese Möglichkeit des Vikariats aufhebt, indem sie jeden für eine dem andern versagte Specialität ausbildet, so finden wir gerade wieder, daſs die höchsten und intelligentesten Menschen eine hervor - ragende Fähigkeit besitzen, sich in alle möglichen Lagen zu finden und alle möglichen Funktionen zu übernehmen. Die Differenzierung hat sich hier vom Ganzen, von dem sie die Einseitigkeit der Teile fordert, auf den Teil selbst übertragen und diesem eine solche innere Mannichfaltigkeit verliehen, daſs für jeden auftauchenden äuſseren Anspruch eine entsprechende Fähigkeit da ist. Die Spirale der Entwicklung erreicht hier - mit einen Punkt, der senkrecht über dem Ausgangspunkt liegt: auf dieser Höhe der Ausbildung verhält sich der Ein - zelne zum Ganzen nicht anders, als im primitiven Zustande, nur daſs in diesem beides nicht differenziert, in jenem aber differenziert ist. Die scheinbare Rückbildung der Differen - zierung, die in diesen Erscheinungen liegt, ist thatsächlich eine Weiterbildung derselben; sie ist an den Mikrokosmos zurückgegangen.
In entsprechender Weise kann man die oben dargelegte militärische Entwicklung nicht als eine Rückläufigkeit des Differenzierungsprozesses ansehen, sondern als einen Wechsel der Form, in der, und des Subjektes, an dem er sich voll - zieht. Während zur Zeit der Söldner nur ein Bruchteil des Volkes Soldat war, aber ziemlich das ganze Leben lang, ist es jetzt das ganze Volk, aber nur eine gewisse Zeit lang. Die Differenzierung hat sich aus dem Nebeneinander innerhalb der Gesamtheit auf das Nacheinander der Lebensperioden des Individuums übertragen. Überhaupt ist diese Differen - zierung der Zeit nach wichtig, derzufolge nicht Übertragung einer Funktion auf einen bestimmten Teil und gleichzeitig die einer andern auf einen andern stattfindet, sondern das Ganze zu einer Zeit sich einer bestimmten Funktion hingiebt, zu einer andern einer andern. Wie bei der homochronen Diffe - renzierung ein Teil sich einseitig gegen anderweitig mögliche Funktionen verschlieſst, so hier eine Periode. Jener auf so vielen Gebieten bemerkbare Parallelismus der Erscheinungen der räumlichen Folge und der zeitlichen Folge nach macht sich auch hier geltend. Wenn der Weg der Entwicklung der ist, daſs aus unterschiedsloser Organisation sich scharf ge - sonderte, nebeneinander funktionierende Glieder bilden, daſs aus der homogenen Masse der Gruppengenossen sich indivi - duelle, einseitig ausgebildete Persönlichkeiten differenzieren: so geht eben derselbe auch dahin, daſs das gleichförmige, von Anfang an in geradlinigeren Gleisen verlaufende Leben nie - driger Stufen in immer entschiedenere, schärfer gegen einander135X 1.abgesetzte Perioden zerfällt, und daſs überhaupt das Leben des Einzelnen, wenngleich als Ganzes und, relativ betrachtet, einseitiger, so doch in sich eine immer gröſsere Mannichfaltig - keit von besonders charakterisierten Entwicklungsstadien durch - macht. Darauf weist schon die Thatsache hin, daſs, je höher ein Wesen steht, es um so langsamer den Gipfel seiner Ent - wicklung erreicht; während das Tier in der kürzesten Frist alle die Fähigkeiten völlig entwickelt, in deren Ausübung dann sein weiteres Leben vergeht, braucht der Mensch dazu unver - gleichlich längere Zeit und durchläuft also viel mehr ver - schiedenartige Entwicklungsperioden; und offenbar muſs sich dies in dem Verhältnis des niederen Menschen zum höheren wiederholen. Das Leben der höchsten Exemplare unserer Gattung ist oft bis in das Greisenalter hinein fortwährende Entwicklung — sodaſs Goethe noch die Unsterblichkeit daraufhin postulierte, daſs er hier keine Zeit zu vollkommner Entwicklung hätte —, von der man sogar oft die Vorstellung hat, daſs die spätere Stufe nicht sowohl ein Fortschritt über jede frühere hinaus und diese nur die zu überwindende Vor - bedingung zu jener sei, sondern vielmehr die, als stellten diese verschiedenen Überzeugungs - und Bethätigungsweisen die an sich gleichberechtigten Seiten des menschlichen We - sens dar; und von den Wesen, die das Ganze unserer Gattung möglichst vollkommen in sich repräsentieren, würden sie im Nacheinander durchlaufen, weil ihr Bestehen im gleichzeitigen Nebeneinander logisch und psychologisch unmöglich ist. Ich erinnere daran, wie ein Kant eine rationalistisch-dogmatische, eine skeptische und eine kritische Periode durchlaufen hat, deren jede eine allgemeine und relativ berechtigte Seite mensch - licher Ausbildung darstellt und sonst in gleichzeitiger Ver - teilung auf verschiedene Individuen vorkommt; ferner an den Stilwechsel innerhalb künstlerischer Entwicklungen, an den Wechsel auſserberuflicher Interessen — von dem der Ver - kehrskreise bis zu dem des Sports —, an die gegenseitige Verdrängung realistischer und idealistischer, theoretischer und praktischer Epochen des Lebens, an die sich ablösenden Über - zeugungen in mancher groſsen politischen Laufbahn. Jede Parteimeinung, der die letztere etwa sich abschnittsweise zu - wendet, ruht auf einem tiefgegründeten Interesse der mensch lichen Natur; insofern die Gesamtheit überhaupt fortschreitet, entwickeln sich in ihr, obschon nicht immer in gleichen Maſs - verhältnissen, die Momente, die für Kollektivismus wie für Individualismus, für konservative wie für fortschrittliche Maſs - regeln, für Bevormundung wie für Liberalismus sprechen; und die wachsende Entschiedenheit des Parteilebens zeigt, wenn nicht das Recht, so doch die psychologische Kraft jeder dieser Tendenzen. Wenn der Einzelne nun befähigt ist, die Gesamtheit in sich aufzunehmen und zum Schnittpunkt der136X 1.in ihr angesponnenen Fäden zu werden, so ist dies entweder im Nebeneinander oder im Nacheinander ihrer einzelnen Mo - mente möglich. Und hier kommt der Gesichtspunkt der Kraftersparnis wieder zur Geltung; wo entgegengesetzte Ten - denzen gleichzeitig ihren Anspruch auf unser Bewuſstsein geltend machen, wird unzählige Male Reibung, Hemmung, unnützes Aufbrauchen von Kraft stattfinden. Darum diffe - renziert die natürliche Zweckmäſsigkeit dieselben, indem sie sie auf verschiedene Zeitmomente verteilt. Die Kraft ein - seitiger Persönlichkeiten erklärt sich sehr vielfach gewiſs nicht so, daſs sie von vornherein eine übernormale Kraftsumme be - sitzen, sondern so, daſs ihnen die unnütze Hemmung und Aufreibung der Kraft durch Verschiedenartigkeit der Interessen und Strebungen erspart bleibt; und entsprechend leuchtet es ein, daſs bei einer gegebenen Mannichfaltigkeit von Anlagen und Reizbarkeiten dasjenige Wesen die geringsten inneren Widerstände, also den geringsten Kraftverbrauch aufweisen wird, das in jeder gegebenen Periode seines Lebens sich ein - seitig der einen oder der anderen hingiebt und bei der Un - möglichkeit, dieselben im Nebeneinander an verschiedene Or - gane zu verteilen, sie wenigstens im Nacheinander an geson - derte Epochen differenziert. Dann wird das Zusammentreffen entgegengesetzter Strebungen und ein gegenseitiges Paralysieren ihrer Kraft nur in relativ kurzen Übergangsperioden statt - finden, in denen das Alte noch nicht ganz tot, das Neue noch nicht ganz lebendig ist, und die deshalb auch immer ein ge - ringeres Maſs von Kraftentwicklung darbieten.
Zu derselben Lösung der Frage nach der Thätigkeits - art, die ein Maximum von Kraft spare, resp. entwickle, kommt man, wenn man nicht, wie bisher, das Nacheinander des Ver - schiedenen, sondern die Verschiedenheit im Nacheinander be - tont. Ist die Aufgabe, mannichfaltige Strebungen so anzu - ordnen, daſs sie sich in möglichst vollkommener Weise und mit möglichster Energie ausleben können, so hatten wir ihre Differenzierung in der Zeit als erforderlich erkannt; wenn nun umgekehrt eine zeitliche Entwicklung gegeben ist und gefragt wird, welcher Inhalt für sie der geeignetste sei, um mit möglichst wenig Kraftaufwand eine möglichst groſse Wir - kung zu erzielen, so muſs geantwortet werden: ein in sich möglichst differenzierter. Die Analogie mit dem Nutzen, den der Fruchtwechsel gegenüber der Zweifelderwirtschaft bringt, muſs hier jedem beifallen. Wird ein Feld immer mit der - selben Fruchtart bepflanzt, so sind in relativ kurzer Zeit alle die Bestandteile, die sie zu ihrer Entwicklung braucht, dem Boden entzogen, und dieser bedarf der Ruhe zu ihrer Er - gänzung. Wird aber eine andere Art angepflanzt, so bedarf diese anderer Bodenbestandteile, welche von jener nicht be - ansprucht worden sind, und läſst dafür die bereits erschöpften137X 1.in Ruhe. Dasselbe Feld gewährt also zwei verschiedenen Arten die Möglichkeit der Entwicklung, die es zwei gleichen nicht gewährt. Die Ansprüche, die an die Kraft des mensch - lichen Wesens gestellt werden, verhalten sich nicht anders. Der veränderte Anspruch zieht aus dem Boden des Lebens eine Nahrung, die der unverändert gebliebene nicht gefunden hätte, weil er auf die früher gebrauchten und deshalb mehr oder weniger verbrauchten angewiesen wäre. Auch unsere Beziehungen zu Menschen erschöpfen sich leicht, wenn wir immer dasselbe von ihnen verlangen, während sie sich frucht - bar erhalten, wenn wir durch abwechselnde Ansprüche ver - schiedene Teile ihres Wesens in Thätigkeit setzen. Wie der Mensch in sensorischer Beziehung ein auf den Unterschied angewiesenes Wesen ist, d. h. nur den Unterschied gegen den bisherigen Zustand empfindet und wahrnimmt, so ist er es auch in motorischer Beziehung, insofern die Energie der Be - wegung sich auſserordentlich schnell abstumpft, wenn sie keine Unterschiede enthält. Die Kraftersparnis aus dieser Form der Differenzierung unseres Handelns läſst sich folgender - maſsen darstellen. Haben wir zwei verschiedene Thätigkeits - formen a und b vor uns, die den gleichen oder zwei quanti - tativ gleiche Effekte e hervorbringen können, und haben wir soeben oder eine Zeit lang hintereinander schon a ausgeübt: so wird zur weiteren Erreichung von e durch a eine gröſsere Anstrengung gehören, als durch b, das eine Abwechselung gegen die bisherige Thätigkeit bildet. Wie es für den Em - pfindungsnerven eines höheren zentripetalen Reizes bedarf, um nach eben stattgehabter Erregung noch einmal die gleiche zu produzieren, als wenn eine gleiche von einem andern, bisher nicht oder in anderer Weise gereizten verlangt wird: genau so braucht es eines gröſseren zentrifugalen Reizes, also eines gröſseren Gesamt-Kraftaufwandes des Organismus, um den eben erzielten Effekt noch einmal zu bewirken, als wenn es sich um einen neuen handelt, für den die specifische Energie noch nicht verbraucht ist. Es ist nicht möglich zu sagen, daſs ein Wesen, dessen Bethätigungen im Nacheinander nicht differenziert sind, deshalb schon mehr Kraft verbrauche, als ein differenzierendes, wohl aber, daſs es mehr Kraft ver - braucht, wenn es gleich groſse Erfolge wie das letztere er - reichen will.
Überblicken wir die bisher gewonnenen Resultate, so scheint sich ein fundamentaler Widerspruch durch sie hindurch zu ziehen, den ich statt durch Rekapitulation lieber direkt darstellen will. Die Differenzierung der socialen Gruppe steht nämlich offenbar zu der des Individuums in direktem Gegen - satz. Die erstere bedeutet, daſs der Einzelne so einseitig wie möglich sei, daſs irgend eine singuläre Aufgabe ihn ganz er - fülle und die Gesamtheit seiner Triebe, Fähigkeiten und In -138X 1.teressen auf diesen einen Ton abgestimmt sei, weil bei der Einseitigkeit des Einzelnen die gröſste Möglichkeit und Not - wendigkeit dafür vorhanden ist, daſs sie sich inhaltlich von der jedes andern Einzelnen unterscheide. So bannt der Zwang der öffentlich wirtschaftlichen Verhältnisse den Einzelnen sein Leben lang in die einförmigste Arbeit, in die umschränkteste Specialität, weil er auf diese Weise die Fertigkeit in ihr er - langt, die die geforderte Güte und Billigkeit des Produktes ermöglicht; so verlangt das öffentliche Interesse oft Einseitig - keit des politischen Standpunktes, die dem Einzelnen oft durch - aus nicht sympathisch ist, wofür die Solonische Bestimmung über Parteilosigkeit heranzuziehen ist; so steigert die Allge - meinheit die Ansprüche an diejenigen, denen sie irgendwelche Stellungen gewährt, derart, daſs ihnen oft nur durch äuſserste Konzentration auf das Fach unter Ausschluſs aller andern Bildungsinteressen genügt werden kann. Dem gegenüber be - deutet die Differenzierung des Individuums gerade das Auf - heben der Einseitigkeit; sie löst das Ineinander der Willens - und Denkfähigkeiten auf und bildet jede derselben zu einer für sich bestehenden Eigenschaft aus. Gerade indem der Einzelne das Schicksal der Gattung in sich wiederholt, setzt er sich in Gegensatz zu diesem selbst; das Glied, das sich nach der Norm des Ganzen entwickeln will, negiert damit in diesem Falle seine Rolle als Teil desselben. Die Mannich - faltigkeit scharf gesonderter Inhalte, die das Ganze verlangt, ist nur herstellbar, wenn der Einzelne auf eben dieselbe verzichtet: man kann kein Haus aus Häusern bauen. Daſs die Entgegengesetztheit dieser beiden Tendenzen keine abso - lute ist, sondern nach verschiedenen Seiten hin ihre Grenze findet, ist deshalb selbstverständlich, weil der Trieb der Diffe - renzierung selbst nicht ins Unendliche geht, sondern für jeden gegebenen Einzel - oder Kollektivorganismus an dem Geltungs - bereich des entgegengesetzten Triebes halt machen muſs. So wird es, wie wir schon mehrfach hervorgehoben, einen Grad von Individualisierung der Gruppenmitglieder geben, bei dem entweder die Leistungsfähigkeit dieser auch für ihren Specialberuf auf hört, oder bei dem die Gruppe auseinander - fällt, weil jene keine Beziehungen mehr zu einander finden. Und ebenso wird auch das Individuum für sich selbst darauf verzichten, die Mannichfaltigkeit seiner Triebe bis in die äuſserste Möglichkeit hin auszuleben, weil dies die unerträg - lichste Zersplitterung bedeuten würde. Innerhalb gewisser Grenzen wird also das Interesse des Einzelnen an seiner Differenzierung im Sinne eines Ganzen zu keinem andern Zustand führen, als das Interesse der Gesamtheit an seiner Differenzierung im Sinne eines Gliedes. Wo aber diese Grenze liegt, wo die Wünsche des Einzelnen nach innerer Mannich -139X 1.faltigkeit oder nach specialisierter Einseitigkeit mit den gleichen Forderungen der Allgemeinheit an ihn zusammenfallen, das werden nur diejenigen im Prinzip ausmachen wollen, die die aus augenblicklichen Verhältnissen sich ergebende Forderung nur so meinen stützen zu können, daſs sie sie als absolute, aus dem an sich seienden Wesen der Dinge folgende hin - stellen. Es ist jedenfalls die Aufgabe der Kultur, jene Grenzen immer zu erweitern und die socialen wie die individuellen Aufgaben immer mehr so zu gestalten, daſs der gleiche Grad von Differenzierung für beide erforderlich ist.
Was gegen die wachsende Verwirklichung dieses Zieles spricht, ist vor allem dies, daſs die entgegengesetzten An - sprüche von beiden Seiten her wachsen. Wenn nämlich das Ganze stark differenziert ist und eine Fülle sehr verschieden - artiger Thätigkeiten und Persönlichkeiten einschlieſst, so werden die Triebe und Anlagen, die durch die Vererbung in dem Einzelnen auftreten, schlieſslich gleichfalls sehr mannich - faltige und divergente sein und werden in ihrer ganzen Bunt - heit und Divergenz in demselben Maſse zur Äuſserung drängen, in dem gerade die Differenzierung der Verhältnisse, die sie hervorrief, ihnen die Möglichkeit dieser allseitigen Bewährung versagt. So lange die Differenzierung des socialen Ganzen noch nicht die Individuen, sondern vielmehr ganze Unter - abteilungen desselben betrifft — also bei Herrschaft des Kastenwesens, des erblichen Handwerks, auch der patriarcha - lischen Familienform und der Zunft, und bei jeder gröſseren Strenge der Standesunterschiede —, wird dieser innere Wider - spruch der Entwicklung noch weniger auftreten, weil die Ver - erbung der Eigenschaften wesentlich innerhalb des gleichen Kreises bleibt, also solche Personen trifft, die die so über - lieferten Triebe und Dispositionen auch ausbilden können. Sobald indes die Kreise sich mischen, sei es so, daſs der Ein - zelne an mehreren Teil hat, sei es durch Anhäufung der von verschiedenen Ascendenten ausgehenden Anlagen auf einen Erben, da wird mit der Andauer eines solchen Zustandes durch viele Generationen schlieſslich jeder Einzelne eine Reihe unerfüllbarer Forderungen in sich fühlen. In je umfassen - derer Weise die verschiedenen Bestandteile der Gesellschaft sich kreuzen, desto verschiedenere Dispositionen trägt jeder Nachkömmling von ihr zu Lehen, desto vollkommner erscheint er der Anlage nach als ihr Mikrokosmos, desto unmöglicher aber ist es ihm zugleich, jede Anlage zu der Entfaltung zu bringen, auf die sie hindrängt. Denn erst bei starkem An - wachsen des socialen Makrokosmos findet jene Mischung seiner Elemente statt, und gerade dieses Anwachsen zwingt ihn, immer gröſsere Specialisierung seiner Mitglieder zu ver - langen. Hiermit mag die gröſsere Häufigkeit der sogenannten140X 1.problematischen Naturen in der modernen Zeit in Zusammen - hang stehen. Goethe bezeichnet als problematisch solche Naturen, die keiner Situation genugthun und denen keine Situation genugthut. Wo sich nun eine groſse Anzahl von Trieben und Dispositionen, die natürlich auch in Form von Begehrungen auftreten, zusammenfindet, da wird das Leben leicht sehr viele unaufgegangene Reste zeigen. Die Befriedi - gungen, die die Wirklichkeit zu bieten weiſs, betreffen nur dieses und jenes einzelne Verlangen, und wo es ursprünglich scheint, als ob ein[Schicksal], eine Beschäftigung, ein Ver - hältnis zu Menschen uns ganz ausfüllte, da pflegt doch bei vielseitigeren Naturen bald eine Lokalisierung der Befriedi - gung einzutreten, und wenn die Verbindungen innerhalb der Seele zunächst auch den Reiz auf das Ganze derselben sich fortpflanzen lassen, so beschränkt er sich doch in kurzem auf seinen ursprünglichen Herd, die sympathisch erregten Schwin - gungen verklingen, und das Problem allseitiger Befriedigung wird auch durch diese Situation nicht als gelöst erkannt. Und die Verhältnisse ihrerseits fordern für die specielle Lage den ganzen Menschen, der sich derselben aber doch nur dann ge - währen kann, wenn die Gesamtheit seiner Anlagen sich einiger - maſsen nach dieser Richtung hin vereinigen läſst, was eben angesichts der Mannichfaltigkeit der Vererbungen immer un - wahrscheinlicher wird. Nur sehr starke Charaktere, die einer - seits den nicht für die augenblickliche Forderung geeigneten Trieben halt gebieten, andererseits die Forderung selbst so zu gestalten die Kraft haben, daſs sie mit ihren eigenen Be - gehrungen übereinstimmt, — nur diese können sich von pro - blematischer Wesensart in Zeiten fernhalten, wo die Lagen immer specialisierter und die Anlagen immer mannichfaltiger werden. Mit Recht ist deshalb der Ausdruck: problematische Natur fast zu einem Synonymum von: schwacher Charakter — geworden, wenngleich die Schwäche des Charakters nicht die eigentliche und positive Ursache jener Wesensgestaltung ist, die vielmehr nur in den Verhältnissen der individuellen und der socialen Differenzierung liegt, sondern nur insoweit Ur - sache, als man behaupten kann, daſs ein entschieden starker Charakter diesen Verhältnissen ein Gegengewicht geboten hätte.
Hier erzeugt also das Differenzierungsstreben, indem es sich einerseits auf das Ganze, andererseits auf den Teil be - zieht, einen Widerspruch, der das Gegenteil von Kraftersparnis ist. Und ganz analog sehen wir auch innerhalb des Einzel - wesens die erwähnte Differenzierung im Nacheinander in Konflikt mit der im Nebeneinander geraten. Die Einheit - lichkeit des Wesens, die charaktervolle Bestimmtheit des Handelns und der Interessen, das Festhalten einer einmal141X 1.eingeschlagenen Entwicklungsrichtung — alles dies wird von starken Trieben unserer Natur selbst um den Preis der Ein - seitigkeit verlangt und damit jene primäre Kraftersparnis er - zielt, die in der einfachen Ablehnung aller Vielheit liegt; dem gegenüber steht der Trieb nach mehrfacher Bewährung, allseitiger Entfaltung, und bewirkt die sekundäre Kraft - ersparnis, die in der Geschmeidigkeit vielfältiger Kräfte, in der Leichtigkeit des Übergangs von einer Anforderung des Lebens an die andere liegt. Man kann auch hierin die Wir - kung der groſsen Prinzipien sehen, die alles organische Leben bestimmen: der Vererbung und der Anpassung; die stabile Einheitlichkeit des Lebens, die Gleichheit des Charakters der einen Lebensperiode mit der andern entspricht am Individuum dem, was an der Gattung als Erfolg der Vererbung auftritt, während Mannichfaltigkeit im Thun und Leiden als Anpassung erscheint, als Modifikation des angeborenen Charakters je nach den Umständen, die in unberechenbarer Fülle und Entgegen - gesetztheit an uns herantreten. Und nun sehen wir den Kon - flikt dieser, auf das ganze Leben erstreckten Tendenzen sich innerhalb des Differenzierungsstrebens selbst wiederholen, wie überhaupt im Organischen das Verhältnis der Teile eines Ganzen zu einander sich oft im gegenseitigen Verhältnis der Unterabteilungen eines Teiles wiederholt. Wo die Neigung für Differenzierung vorhanden ist, da macht sich doch der Gegensatz geltend, daſs jede gegebene kürzere Epoche einer - seits mit möglichst scharf ausgebildetem, nach einer Rich - tung hin differenziertem Inhalt erfüllt und nach irgendwelcher Zeit von einer andern, von anderm Inhalt in gleicher Form erfüllten, abgelöst werde — also Differenzierung im Nach - einander; und andererseits beansprucht nun jeder gegebene Zeitteil einen in sich, d. h. im Nebeneinander, möglichst diffe - renzierten, mannichfachen Inhalt. Auf unzähligen Gebieten wird dieser Zwiespalt von der äuſsersten Wichtigkeit. Z. B. die Auswahl des Lehrstoffes für die Jugend hat stets einen Kompromiſs zwischen den beiden Tendenzen zu schlieſsen: daſs zunächst ein einheitlicher Teil des zu bewältigenden In - halts vorgenommen und einseitig, aber entsprechend fest ein - geprägt werde, um dann einem andern, ebenso behandelten Platz zu machen, und daſs andererseits doch auch ein Neben - einander der Gegenstände stattfinden muſs, das zwar nicht so schnell Gründlichkeit erzielt, aber durch die Abwechselung den Geist frisch und anpassungsfähig erhält. Die Tempera - mente, die Charaktere, die gesamten Verschiedenheiten des menschlichen Wesens, von den äuſserlichen des Berufs bis zu denen der metaphysischen Weltanschauung, zeichnen sich dadurch voneinander ab, daſs die einen die Vielheit mehr im Nacheinander, die andern mehr im Nebeneinander ent -142X 1.wickeln, resp. bewältigen. Man kann vielleicht behaupten, daſs sich die Proportion zwischen beiden für jedes Individuum etwas anders, als für jedes andere stellen wird, und daſs die Richtigstellung derselben zu den letzten Zielen praktischer Lebensweisheit gehört. Es pflegt erst durch die Reibung zwi - schen den beiden Tendenzen auſserordentlich viel Kraft ver - schwendet zu werden, ehe man sie so auf die verschiedenen Aufgaben des Lebens verteilt, daſs dem Prinzip der höchsten Kraftersparnis genügt wird.
Man muſs indes im Auge behalten, daſs es sich im letzten Grunde hier auch mehr um einen graduellen, als um einen prinzipiellen Unterschied handelt. Vermöge der Enge des Be - wuſstseins, die den Inhalt desselben in jedem gegebenen Augen - blick auf eine oder äuſserst wenige Vorstellungen beschränkt, ist doch auch das sogenannte Nebeneinander der verschie - denen inneren und äuſseren Bethätigungen und Entwicklungen, genau genommen, ein Nacheinander. Daſs wir eine gewisse Periode als Einheit abgrenzen und das in ihr Vorgehende als nebeneinander vorgehend bezeichnen, ist schlieſslich etwas rein Willkürliches. Wir vernachlässigen die kleinen Zeit - unterschiede zwischen dem Auftauchen der Entwicklungs - inhalte in einer Periode und betrachten sie als gleichzeitig; die Gröſse dieses vernachlässigten Zeitunterschiedes hat aber keine objektive Grenze. Wenn also in dem obigen pädago - gischen Falle mehrere Lehrgegenstände nebeneinander betrieben werden, so ist dies doch, genau genommen, kein Nebeneinander, sondern ein Nacheinander, das nur kürzere Intervalle zeigt, als in dem Falle, den wir im engeren Sinne so bezeichnen. Für das Nebeneinander bleiben demnach nur zweierlei speci - fische Bedeutungen bestehen. Zunächst das wechselseitige Nacheinander der Inhalte; zwei Entwicklungsreihen bezeichnen wir als gleichzeitig, wenn auf einen Schritt in der einen immer ein solcher in der andern und dann wieder ein Zurück - kehren zu jener erfolgt; sie sind so als Ganze in demselben Zeitabschnitt befaſst, wenngleich ihre Teile immer verschie - dene Unterabteilungen desselben erfüllen. Zweitens bestehen die Fähigkeiten und Dispositionen, die durch nacheinander - folgende Thätigkeiten erworben werden, thatsächlich neben - einander, sodaſs der eintretende Reiz jede beliebige erwecken kann; neben dem Nacheinander der Erwerbungen und dem Nacheinander der Ausübungen besteht das Nebeneinander der latenten Kräfte. Sind dies die beiden Formen, in denen das Nebeneinander der Differenzierungen seinen genaueren Sinn findet, so wird die Konkurrenz desselben mit der Tendenz des Nacheinander sich folgendermaſsen darstellen. Wo es in einem abwechselnden Auftreten der Thätigkeiten besteht, han - delt es sich um die Frage, wie lange jedes Element des Kom -143X 1.plexes im Vordergrunde stehen soll, ehe es von dem andern abgelöst wird. Was diesen Konflikt von dem einfachen zwi - schen dem Beharrungsstreben der einzelnen Thätigkeitsform und dem sich Vordrängen der andern unterscheidet, ist die dadurch eintretende Modifikation, daſs hier mit dem Nach - lassen jeder die Vorstellung ihrer Rückkehr verbunden ist. Dies kann das Nachlassen einerseits erleichtern; es kann es aber auch erschweren, sobald der Übergang von einer zur andern überhaupt mit Schwierigkeiten verbunden ist und nun das Bewuſstsein, daſs mit jedem ersten Wechsel auch gleich der zweite näher rückt, leicht zu einem möglichsten Hinaus - schieben des ersten führen kann. Ein deutliches Gegenstreben der erwähnten Tendenzen findet sich nun etwa in der Orga - nisierung der Beamtenfunktionen, sei es im privaten oder im öffentlichen Dienst. Der Vorgesetzte oder Chef wird oft ein Interesse daran haben, daſs die Thätigkeit seiner Beamten einen gewissen Kreis von Aufgaben umfasse, denen sie sich abwechselnd widmen. Dies hat eine gröſsere Gewandtheit in den Geschäften und vor allem die Erleichterung von nötig werdenden Stellvertretungen und Aushülfen zur Folge. Dem aber wird sich oft ein Interesse des Beamten selbst entgegen - stellen, der die ihm überhaupt zugänglichen Funktionen lieber in eine Reihe gliedern wird, die die eine endgültig abgethan sein läſst, wenn die nächste beginnt. Denn hierdurch erreicht er viel eher ein Aufsteigen im Dienst, indem sehr häufig nicht sowohl die höhere und besser bezahlte Funktion die spätere ist, als vielmehr die gewohnheitsmäſsig später aufgetragene schlieſslich als solche die Würde und das Entgelt einer höheren gewinnt, wie dies namentlich in der Hierarchie der Sub - alternen, aber auch bei den höchsten, an die Sinekure strei - fenden Stellungen zu beobachten ist. Wo dagegen schon aller - hand höhere und niedere Funktionen in abwechselnder Folge in einer Stellung befaſst sind, da wird sich das Aufsteigen aus derselben nicht so leicht geben, weil die Differenzierungs - momente, die sonst die Form des Nacheinander forderten oder mit sich brachten, hier schon zugleich, im Nebeneinander, bestehen.
Zu anderweitigen Konflikten führt der zweite Sinn eines wirklichen Nebeneinander der Differenzierungen am Indivi - duum, der die latenten Kräfte und Fähigkeiten einschlieſst. Hier werden sich die Verschiedenheiten des geistig-sittlichen Wesens darin zeigen, daſs der eine eine Mehrzahl von Thä - tigkeiten übt, um die Fähigkeiten zu möglichst vielen gleich - sam in sich aufzuspeichern, der andere nur an ihrem ver - flieſsenden Nacheinander, an der Abwechselung ihrer Aktua - lität Interesse hat. Die gleiche Form der Differenz zeigen etwa zwei Rentiers, von denen der eine sein Vermögen in144X 1.einer Anzahl verschiedenartiger Werte anlegt — Grundbesitz, Fonds, Hypotheken, Geschäftsbeteiligungen u. s. w. —, der andere das gesamte Kapital bald ganz der einen, bald ganz der andern ihm günstig erscheinenden Anlage zuwendet. Die Differenzierung der Besitztümer in eine einerseits im Neben - einander, andererseits im Nacheinander bestehende Mehrheit von Anlagen dient bei dem ersteren mehr der Sicherheit, bei dem zweiten mehr der Höhe der Verzinsung. Man könnte den Kapital -, insbesondere den Geldbesitz überhaupt als eine latente Differenzierung ansehen. Denn sein Wesen liegt darin, daſs vermöge seiner eine unumschränkte Anzahl von Wir - kungen geübt werden kann. In sich vollkommen ein - heitlichen Charakters, weil als bloſses Tauschmittel voll - kommen ohne Charakter, strahlt er doch in die Mannich - faltigkeit alles Handelns und Genieſsens aus, und, in der Form der Potentialität, vereinigt er in sich den ganzen Farben - reichtum des wirtschaftlichen Lebens, wie das farblos er - scheinende Weiſs alle Farben des Spektrums in sich enthält; es konzentriert gleichsam in einem Punkt sowohl die Resultate, wie die Möglichkeit unzähliger Funktionen. Denn thatsäch - lich schlieſst es die Mannichfaltigkeit nicht nur im Vorblick, sondern auch im Rückblick ein; nur aus der Fülle sich kreu - zender Interessen, aus dem Reichtum verschiedenartigster Thätigkeiten konnte dieses, nun sozusagen über den Parteien stehende Tauschmittel hervorgehen. Die Differenzierung des wirtschaftlichen Lebens im allgemeinen ist die Ursache des Geldes, und die Möglichkeit jeder beliebigen wirtschaftlichen Differenzierung ist für den Einzelnen der Erfolg seines Be - sitzes. Das Geld ist demnach das vollständigste Nebeneinander der Differenzierungen im Sinne der Potentialität. Gegenüber dem Geldbesitz ist alle Thätigkeit überhaupt Differenzierung im Nacheinander; sie legt doch jedenfalls die vorhandene Kraftsumme in eine Anzahl verschiedener Momente auseinander, wenn sie sich auch innerhalb dieser in gleicher Form äuſsert, während die Zeit des Geldbesitzes als „ fruchtbarer Moment “im eminenten Sinne, als momentane Zusammenschlieſsung un - zähliger Fäden anzusehen ist, die im nächsten Augenblick wieder zu gleich zahllosen Wirkungen auseinandergehen. Es liegt auf der Hand, zu wie vielen und tiefen Konflikten die Zweiheit dieser Tendenzen sowohl im Individuum, wie in der Gesamtheit führen muſs, und daſs es sich hier um nichts weniger, als um den von einer bestimmten Seite her be - trachteten Kampf zwischen Kapital und Arbeit handelt. Und hier greift wieder die Frage der Kraftersparnis ein. Kapital ist objektivierte Kraftersparnis und zwar in dem doppelten Sinne, daſs eine früher erzeugte Kraft nicht sofort wieder verbraucht, sondern aufgespeichert worden ist, und daſs künf -145X 1.tige Wirkungen mit diesem höchst kompendiösen, absolut zweckmäſsigen Werkzeug geübt werden. Das Geld ist offenbar dasjenige Werkzeug, bei dessen Verwendung weniger Kraft, als bei jedem anderen durch Reibung nebenbei geht; wie es aus Arbeit und Differenzierung hervorgeht, setzt es sich in Arbeit und Differenzierung um, ohne daſs bei diesem Um - setzungsprozeſs etwas verloren wird. Infolgedessen aber erfordert es auch, daſs auſser ihm Arbeit und Differenzierung vorhanden sei, weil es sonst Allgemeinheit ohne Einzelheit, Funktion ohne Stoff, Wort ohne Sinn ist. Die Differenzie - rung im Zugleich, in dem Sinne, wie wir sie dem Kapital zusprechen, weist demnach notwendig auf eine Differenzierung im Nacheinander hin; das Maſsverhältnis beider derart zu bestimmen, daſs im Ganzen ein Maximum von Kraftersparnis eintritt, bildet für die Einzelnen und für die Allgemeinheit eines der höchsten Probleme, und diese wie jene unterscheiden sich oft aufs schärfste, indem sie bald die Differenzierung im Nebeneinander, die den Besitz ausmacht, bald die im Nach - einander, die der Arbeit entspricht, überwiegen lassen; keines von beiden kann in irgend höheren Verhältnissen entbehrt werden.
Wo nun wie hier zwei Elemente oder Tendenzen sich gegen - seitig fordern, aber auch sich gegenseitig begrenzen, da ge - rät die Erkenntnis leicht in die Versuchung eines doppelten Irrtums. Zunächst mit einem nichtssagenden: Nicht zu wenig und nicht zu viel! die Frage nach den Quanten beant - worten zu wollen, in denen jene Elemente sich zur Herstellung des wünschenswertesten Zustandes mischen müssen: das ist ein rein analytischer, ja identischer Satz; der Zusatz des „ zu “bezeichnet doch schon von vornherein ein unrichtiges Maſs, und durch die Negierung desselben wird deshalb noch absolut kein Anhaltspunkt gegeben, welches denn nun das richtige Maſs ist; die ganze Frage ist gerade die, an welchem Punkte des Anwachsens oder des Zurückweichens beider das „ zu “beginnt. Diese Gefahr, eine Formulierung des Pro - blems schon für seine Lösung zu halten, liegt eben da be - sonders nahe, wo das Maſs des einen Elementes eine Funktion, wenn auch eine unstätige, von dem des andern ist, wie es bei Kapital und Arbeit der Fall ist. Die Entfaltung der Kräfte im Nacheinander, wie die Arbeit sie mit sich bringt, erscheint leicht durch das Maſs bestimmt, in dem ihre poten - tielle Differenzierung im Nebeneinander, im Kapital, vor - handen oder wünschenswert ist; und dieser letzteren bestimmt man nun wieder das rechte Maſs nach dem Quantum der vor - handenen oder zu leistenden Arbeit.
Von fühlbareren Folgen ist ein anderer häufiger Irrtum: daſs man das labile Gleichgewicht zwischen beiden ElementenForschungen (42) X 1. Simmel. 10146X 1.als ein stabiles ansieht, und zwar sowohl für die Wirklich - keit, als für das Ideal. Das sogenannte eherne Lohngesetz ist ein solcher Versuch, die aktuelle Differenzierung der Ar - beit als in einem stetigen Verhältnis zu der latenten Differen - zierung des Kapitals stehend zu erkennen. Ebenso die Carey - sche Begründung der Interessenharmonie zwischen Kapital und Arbeit: da die steigende Zivilisation das für ein Produkt nötige Arbeitsquantum stetig vermindert, so werde der Ar - beiter für das gleiche Produkt relativ immer besser bezahlt; da aber zugleich die Konsumtion auſserordentlich wächst, so steigt auch der Gewinn des Kapitalisten, der zwar an jedem einzelnen Produkt relativ weniger Anteil hat, durch die Masse der Produktion aber, absolut genommen, doch noch einen gröſseren Vorteil hat, als bei geringerer Produktion. Hier soll also wenigstens die Entwicklung der aktuellen Differen - zierung, wie sie in der zivilisierten Arbeit liegt, zu der Ent - wicklung ihrer Aufspeicherung im Kapital ein dauerndes Ver - hältnis aufweisen, das nicht von der Zufälligkeit historischer Umstände, sondern von der logisch sachlichen Beziehung dieser Faktoren selbst bestimmt wird. Andererseits versuchen socialistische Utopieen ein derartiges Verhältnis wenigstens für die Zukunft zu konstruieren und gehen von der naiven Voraussetzung aus, es lieſse sich überhaupt eines auffinden, das durchweg verwendbar wäre und — wenn wir das socia - listische Ideal einmal nach der Seite unsrer jetzigen Betrach - tung hin deuten können — das ein Maximum von socialer Kraftersparnis darstellte. Ich denke hier etwa an die Vor - schläge Louis Blancs, der die Kräftevergeudung durch das Arbeiten der Individuen gegeneinander dadurch vermeiden will, daſs die in den Kapitalgewinn einmündende und in ihm latent werdende Arbeit nicht individualistisch verwandt, son - dern zu einem Drittel völlig gleich aufgeteilt, zu zwei Dritteln aber zur Verbesserung und Vermehrung der Arbeitsmittel etc. bestimmt werden soll.
Ich glaube, daſs alle Versuche, das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit theoretisch oder praktisch zu fixieren, das Schicksal erleiden werden, das den Operationen mit den „ Seelenvermögen “in der älteren Psychologie zu Teil wurde. Auch hier wollte man von bestimmten Verhältnissen zwischen Verstand und Vernunft, zwischen Willen und Gefühl, zwi - schen Gedächtnis und Einbildungskraft sprechen, bis man einsah, daſs dies nur ganz rohe sprachliche Zusammen - fassungen sehr komplizierter Seelenvorgänge sind, und daſs man zu einem Verständnis derselben nur kommt, indem man, von jenen Hypostasierungen absehend, auf die einfachsten psychischen Prozesse zurückgeht und die Regeln ermittelt, nach denen die einzelnen Vorstellungen sich wechselwirkend147X 1.zu jenen höheren Gebilden zusammenschlieſsen, die den un - mittelbaren Inhalt des Bewuſstseins bilden. So wird man wohl auch das Verständnis für so allgemeine und kompli - zierte Gebilde, wie Kapital und Arbeit, und für ihr gegen - seitiges Verhältnis nicht in unmittelbarem Aneinanderhalten und durch die scheinbar unmittelbare Bestimmtheit des einen durch das andere gewinnen, sondern durch das Zurückgehen auf die ursprünglichen Differenzierungsprozesse, von denen jenes beides nur verschiedene Kombinationen oder Entwick - lungsstadien sind
Pierer'sche Hofbuchdruckerei. Stephan Geibel & Co. in Altenburg.
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