PRIMS Full-text transcription (HTML)
TAF. I.

BORORÓ-HÄUPTLING

Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens.
Reiseschilderung und Ergebnisse der Zweiten Schingú-Expedition 1887 1888
Mit 30 Tafeln (1 Heliogravüre, 11 Lichtdruckbilder, 5 Autotypien und 7 lithogr. Tafeln), sowie 160 Text - Abbildungen nach den PHOTOGRAPHIEN der Expedition, nach den Originalaufnahmen von WILHELM VON DEN STEINEN und nach Zeichnungen von JOHANNES GEHRTS nebst einer Karte von Prof. Dr. PETER VOGEL.
BERLIN1894.Geographische Verlagsbuchhandlung von DIETRICH REIMER Inhaber: HOEFER & VOHSEN.
[III]
Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens.
[IV][V]

VORWORT.

áma! du!

úra! ich!

So lautet die einfache Formel, mit der man sich am Kulisehu einander vorstellt, und gern würde ich dem freundlichen Leser Weiteres ersparen, wenn ich ihn nicht auch bitten müsste, meine » jüngeren Brüder «, die Gefährten der Reise, zu begrüssen, und doch auch sonst noch Einiges auf dem Herzen hätte.

Für » jüngeren Bruder « und » Vetter « haben die Indianer ein und dasselbe Wort; so trifft ihre Bezeichnung wirklich im vollen Sinn zu auf unsern Spezial - artisten Wilhelm von den Steinen aus Düsseldorf, da er zwar nach unsern Begriffen mein Vetter ist, aber gemeinhin für meinen jüngeren Bruder gehalten wird. Er war schon 1884 mit mir den Schingú hinabgerudert.

Der Zweite, Dr. Paul Ehrenreich aus Berlin, war ebenfalls kein Neuling in Brasilien, er hatte schon in Espíritu Santo die genauere Bekanntschaft der Botokuden gemacht, er hat nach Abschluss unseres gemeinsamen Unternehmens noch den Araguay und den Purus befahren und dürfte deshalb heute mehr als irgend ein anderer deutscher Reisender vom Innern des gewaltigen Reiches gesehen haben. Ihm sind die Photographien und die Körpermessungen zu verdanken.

Die Wegaufnahme und astronomischen Bestimmungen waren nebst geo - logischen Untersuchungen von Professor Dr. Peter Vogel aus München über - nommen. Wir beide hatten 1882 83 auf der Deutschen Polarexpedition nach Südgeorgien, deren stellvertretender Leiter er war, während eines Jahres die enge Schlafkoje in Freud und Leid geteilt, ihn zog es 1887 wieder mächtig hinaus, und so war er bereit, das Werk des Dr. Otto Clauss, unseres ant -[VI] arktischen Kollegen und des Geographen der ersten Schingú-Expedition, in neues Gebiet hinein fortzuführen.

Professor Vogel veröffentlicht seine Ergebnisse gleichzeitig mit dem Er - scheinen dieses Buches in dem Organ der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin, die sich um unsere Reise das Verdienst erworben hat, ihn aus den Mitteln der Karl Ritter-Stiftung zu unterstützen. Dem Präsidenten, Herrn Geheimrat Freiherrn von Richthofen, sage ich für die gütige Erlaubnis, dass die von Herrn Dr. Richard Kiepert’s bewährter Hand gezeichnete und redigierte Karte meinen Schilderungen beigegeben werde, verbindlichen Dank. Ich selbst habe durch die Humboldt-Stiftung der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin eine wesentliche Förderung erfahren und bitte das Kuratorium, auch an dieser Stelle meinen ergebensten Dank ent - gegenzunehmen.

Im Verlauf der Reise haben wir von Brasiliern wie von Landsleuten in Brasilien und den La Platastaaten, sowohl von einfachen Privaten als von Personen in hohen Aemtern, zahlreiche Beweise der Gastfreundschaft empfangen, die uns auf’s Tiefste verpflichtet haben. Wenn wir uns bei den Söhnen des Landes in gewissem Grade dadurch erkenntlich zeigen können, dass wir das Innere einer wenig erforschten Provinz aufschliessen helfen, bleiben wir unsern Landsleuten gegenüber in voller Schuld; wollte ich nur die Orte nennen, in denen sie wohnen, müsste ich mit Ausschluss unserer Indianerpfade die ganze Route rekapitulieren. So rufe ich Allen, zu denen diese Zeilen den Weg finden, ob sie im Handel einführen und ausführen oder in politischer Stellung anführen, ob sie der Küste fern als wackere Kolonisten hausen, die herzlichsten Grüsse zu und wünsche ihrer Arbeit den Schutz des Friedens und geordneter Zustände.

Sechs Mal schon hat der Mais geblüht, seit wir das Quellgebiet des Schingú verlassen haben » zwei zwei zwei « aháge aháge aháge rechnet der Bakaïrí und findet kein Wort in seiner Sprache, um eine grössere Zahl auszudrücken. Die Berichterstattung hat sich länger verzögert als mir lieb war; hauptsächlich bin ich durch sprachliche Vorarbeiten (» Die Bakaïrí-Sprache «, K. F. Köhler, Leipzig 1892) aufgehalten worden, doch habe ich dabei auch Vielerlei gelernt und eine breitere und festere Grundlage gewonnen als mit dem in linguistischer und ethnographischer Hinsicht erheblich geringeren Material der ersten Expedition. Die Liebe zu dem Gegenstand ist mit der längeren Beschäftigung nur gewachsen, denn in gleichem Mass verstärkte sich notwendig die Erkenntnis der von unserem hoch - verehrten Altmeister Adolf Bastian mit flammender Begeisterung gepredigten Wahrheit, dass der Untergang der geringgeschätzten Naturvölker den Verlust unersetzlicher Urkunden für die Geschichte des menschlichen Geistes bedeutet. An Beweisen fehlt es nicht in den folgenden Blättern. Und wie Jeder, der von einer Ueberzeung tief durchdrungen ist, sich auch getrieben fühlt, für sie Propaganda zu machen, so möchte auch ich mich nicht gern nur an den engen Kreis der Fachleute wenden und habe mir die Freude gegönnt, gemeinver -[VII] ständlich zu schreiben. Dankbar muss ich hier den Mut und das Entgegen - kommen der Verlagshandlung anerkennen, die meinen Wunsch, den Preis so niedrig zu bestimmen als irgend möglich, erfüllt und doch an der Ausstattung nicht gespart hat.

Möge dem Leser der grosse zeitliche Abstand nicht fühlbarer werden als er es mir ist, wenn ich mich in jene Tage zurückversetze Es lässt sich nicht leugnen, mein Zeitsinn funktioniert ein wenig mangelhaft; ich wünschte nur, der Grund läge darin, dass es mir wirklich gelungen wäre, mich in die Seele unserer Naturvölker, dieser Kinder des Augenblicks, hineinzudenken was zu versuchen meine eigentliche Aufgabe war.

Neubabelsberg, Karaibenhof, Oktober 1893.

[VIII]

Inhalts-Verzeichnis.

  • Seite
  • I. Kapitel. Reise nach Cuyabá und Aufbruch der Expedition. Riode Janeiro. » Cholera im Matogrosso. « Bei D. Pedro II. Nach Sta. Catharina. Sambakís. Deutsche Kolonien. Nach Buenos Aires. Museum in La Plata. Nach Cuyabá. Veränderungen seit 1884. Der gute und der böse Hauptmann. Martyrios-Expeditionen. Die neuen Reisegefährten. Ausrüstung. Abmarsch1 15
  • II. Kapitel. Von Cuyabá zum Independencia-Lager I. Plan und Itinerar. Andere Routen als 1884. Kurze Chronik. Hochebene und Sertão. Die » Serras « ein Terrassenland; seine Physiognomie und topo - graphische Anordnung. Campos. Ansiedler. Lebensbedingungen und Kultur - stufe. Ein flüchtiges Liebespaar. Zahme Bakaïrí. Die von Rio Novo auf Reisen. Dorf am Paranatinga. Besuch und Gegenbesuch der wilden Bakaïrí 1886. Kunde von den Bakaïrí am Kulisehu16 25
  • III. Kapitel. Von Cuyabá zum Independencia-Lager II. Marsch. Unser Zug. Aeussere Erscheinung von Herren und Kameraden. Maultier - treiber - und Holzhackerkursus. Zunehmender Stumpfsinn. Die Sonne als Zeitmesser. Freuden des Marsches. Früchte des Sertão. Nachtlager und Küche. Ankunft. Ungeziefer. » Nationalkoch « und Jagdgerichte. Perrot’s Geburtstagfeier. Nacht - stimmung. Gewohnheitstraum des Fliegens. Aufbruch am Morgen. Rondon - strasse und letzter Teil des Weges. Sertãopost. Im Kulisehu-Gebiet. Independencia. Schlachtplan26 45
  • IV. Kapitel. Erste Begegnung mit den Indianern. Rindenkanus. Indianerspuren. Meine Fahrt mit Antonio und Carlos. Tierleben. Träumerei vor dem Abendessen. Einmündung des Ponekuru. Katarakte. Die Anzeichen der Besiedelung mehren sich. Der Häuptling Tumayaua. Nach dem ersten Bakaïrídorf. Ankunft des » Karaiben «46 54
  • V. Kapitel. Bakaïrí-Idylle. I. Auskunft über Kulisehu und Kuluëne. Antonio und Carlos zurück. Ein Weltteil, in dem nicht gelacht wird. Dorfanlage. Vorstellung der Personen. Mein Flötenhaus. In Paleko’s Haus. Bewirtung. Bohnenkochen und Tanzlieder. Aeussere Erscheinung der Indianer. Nacktheit und Schamgefühl. Essen und Schamgefühl. Tabakkollegium. Pantomime: Flussfahrt, Tagereisen, Stämme, Steinbeilarbeit. Vorführung von » Mäh « und » Wauwau «. Tabakpflanzen. Fisch - fang in der Lagune. Kanubau55 74
  • II. Psychologische Notizen über das Verhalten dem Neuen gegenüber. Grenzen des Verständnisses. Studien mit dem Dujourhabenden. Schwierigkeiten der Ver - ständigung und der sprachlichen Aufnahme: Substantiva, Verba, über - geordnete Begriffe75 81
  • VI. Kapitel. I. Gemeinsamer Aufbruch und Besuch der drei Bakaïrídörfer. Independencia während meiner Abwesenheit. Vorbereitungen zur Abreise. Nach dem ersten Bakaïrídorf. Photographieren. Puppe überreicht. Nach dem zweiten Bakaïrídorf. Flussfahrt. Gastfreundschaft. Vermummung zum Holen der Speisen. Nachttanz. Fries im Häuptlingshaus. Nach dem dritten Bakaïrídorf. Begrüssungs - reden. Sammlung. Der erste Nahuquá. Körpermessung und Perlen82 94
  • IX
  • Seite
  • II. Zu den Nahuquá. Verkehr von Bakaïrí und Nahuquá. Ueberraschte im Hafen. Merkwürdiger Empfang. Dorf ausgeräumt. Ein Yaurikumá. Ueber Nacht. Mehinakú im Dorf. Tänze. Traurige Aussichten für Professor Bastian. Ich voraus zu den Mehinakú. Besserung der Verhältnisse. Botschaft über die Schlacht zwischen den Suyá und den Trumaí94 101
  • III. Zu den Mehinakú. Allein voraus. Ankunft und Empfang. Festhütte. Gestörte Eintracht und Versöhnung. Wohlhabenheit. Fliegende Ameisen. Ethno - graphische Sammlung102 107
  • IV. Zu den Auetö́. Fahrt. Empfang im Hafen und im Dorf. Wurfbretter. Masken. Künstlerhütte. Verkehrszentrum. Die Waurá. Ringkampf107 111
  • V. Zu den Yaulapiti. Die Arauití im Auetö́dorf. Fahrt durch Kanäle und über die Uyá-Lagune. Ein armes Dorf. Der Zauberer Moritona. Empfang des blinden Häuptlings. Zurück zu den Auetö́ und wieder zu den Yaulapiti. Zweites Yaulapitidorf111 115
  • VI. Zu den Kamayurá. Empfang. Freude über unsere Sprachverwandtschaft. Nachrichten von den Arumá. Gemütlicher Aufenthalt. Kamayurá und Trumaí 1884 zusammen. Einladung nach Cuyabá. Diebereien115 120
  • VII. Trumaí-Lager und Auetö́-Hafen. Vogel’s Plan, Schingú-Koblenz zu besuchen. Ueber die Yaulapiti zurück. Zusammentreffen mit den Trumaí. Studien mit Hindernissen. Arsenikdiebstahl. Die zerstörten Trumaídörfer. Zum Auetö́hafen. Namenstausch. Kanus erworben. Diebstähle. Yanumakapü-Nahuquá. Abschied120 127
  • VIII. Rückkehr nach Independencia. Vogel’s Fahrt nach Schingú - Koblenz. Ab vom Auetö́hafen. Besuche der Dörfer. Begleitung durch die Indianer. Rheinischer Karneval am Kulisehu. Abschiedszene in Maigéri. Die Bergfahrt: Rudern, Beschwerden, Fieber. Independencia: Ruhetag, Feierlicher Abschied von den Bakaïrí127 137
  • VII. Kapitel. Independencia Cuyabá. Route. Transport und Beschwerden in der Regenzeit. Perrot und Januario verirrt. Hunger. Ankunft am Paranatinga und in der Fazenda S. Manoel mit Hindernissen. Weihnachten im Sertão. Ankunft in Cuyabá138 152
  • VIII. Kapitel. I. Geographie und Klassifikation der Stämme des Schingú - Quellgebiets153 159
  • II. Anthropologisches159 172
  • IX. Kapitel. I. Die Tracht: Haar und Haut. Vorbemerkung über Kleidung und Schmuck. Das Haar. Haupthaar, Körperhaar, Wimpern. Die Haut. Durchbohrung. Umschnürung. Ketten. Anstreichen und Bemalen. Ritznarben. Tätowierung173 190
  • II. Sexualia. DieVorrichtungen bei Männern und Frauen sind keine Hüllen. Schutz der Schleimhaut und sein Nutzen bei eintretender Geschlechtsreife. Ursprung aber bei den Frauen als Verband und Pelotte, bei den Männern als gym - nastische Behandlung der Phimose190 199
  • III. Jägertum, Feldbau und » Steinzeit « - Kultur. Bevölkerungszahl. Lage der Dörfer. Vereinigung von uraltem Feldbau und Weltanschauung des Jägertums. Jagd und Fischfang müssen den metalllosen Stämmen, für die der Ausdruck » Steinzeit « unzutreffend ist, die wichtigsten Werkzeuge liefern. Steinbeil - monopol, Zähne, Knochen, Muscheln, Federn, Aufzählung der Nutz - pflanzen und Verteilung nach Stämmen. Keine Bananen. Pflanzennamen als Zeugen für stetige Entwickelung. Fehlen berauschender Mehlgetränke beweist, dass Einfachheit nicht gleich Degeneration. Vereinigung von Jagd und Feldbau ermöglicht durch Arbeitsteilung der Geschlechter. Indianerinnen schaffen den Feldbau; sie erfinden die Töpfe zum Ersatz der Kürbisse, die Männer braten, die Frauen kochen. Durch fremde Frauen Kultur des Feldbaues, der Töpfe, der Mehlbereitung verbreitet und nach Kriegen erhalten, namentlich durch Nu-Aruakfrauen200 219
  • IV. Das Feuer und die Entdeckung des Holzfeuerzeuges. Einleitung. Kampbrände und Verhalten der Tierwelt. Uralte Jagd. Die » Queimada « eine Kulturstätte. Die Schauer des primitiven Menschen. Der Mythus von der Be - lehrung durch den Sturmwind. Feuererzeugung und Arbeitsmethoden. VerfahrenX Seite am Schingú. Ursprung des Holzreibens. Stadium der Unterhaltung des Feuers und Zundertechnik. Praehistorische Vagabunden und Prometheus. Bestätigung durch den Versuch219 228
  • V. Waffen, Geräte, Industrie. Bogen und Pfeile. Wurfbrett. Keule. Kanu. Fischereigerät. Flechten und Textilarbeiten. Burití - und Baumwoll - hängematten. Kürbisgefässe. Töpferei228 242
  • X. Kapitel. I. Das Zeichnen. Ursprung aus der zeichnenden Geberde. Beschreibendes Zeichnen älter als künstlerisches. Sandzeichnungen. Bleistiftzeichnungen. Erklärung der Tafeln. Profilstellung. Proportionen. Fingerzahl. Rinden - zeichnungen243 258
  • II. Zeichenornamente. Ornamentaler Fries der Bakaïrí. Mereschu und Uluri. Die Auetö́-Ornamente. Folgerungen. Verwendung der Ornamente. Kalabassen, Beijúwender, Spinnwirtel. Bemalung der Töpfe258 277
  • III. Plastische Darstellung und Keramik. Einleitung. Ketten - figürchen. Strohfiguren. Lehmpuppen. Wachsfiguren. Holzfiguren (Tanz-Vögel und-Fische, Mandioka-Grabhölzer, Beijúwender, Kämme, Schemel). Töpfe. 277 292
  • IV. Verhältnis des Tiermotivs zur Technik293 294
  • XI. Kapitel. Maskenornamentik und Tanzschmuck. Vorbemerkung295
  • I. Masken. Tanzen und Singen. » Idole? « Gelage und Einladungen. Teil - nahme der Frauen. Arten der Vermummung. Bakaïrí-Tänze (Makanári) und - Masken. Nahuquá (Fischnetz-Tanz). Mehinakú (Kaiman-Tanz). Auetö́ (Koahálu -, Yakuíkatú-Tanz). Kamayurá (Hüvát-Tanz). Trumaí296 319
  • II. Gemeinsamer Ursprung der Masken und des Mereschu-Musters. Die Auetö́ als Erfinder der Gewebmaske und des Mereschu-Ornaments319 324
  • III. Sonstiger Festapparat. Kamayurá-Tänze. Tanz-Keulen. Schmuck - wirtel etc. Musikinstrumente. Schwirrhölzer. Federschmuck. Diademe. Spiele der Jugend324 329
  • XII. Kapitel. I. Recht und Sitte. Eigentum. Verwandtschaft. Ehe. Moral. Tausch - verkehr. Namen. Geburt. Couvade und deren Erklärung. Begräbnis330 339
  • II. Zauberei und Medizinmänner. Hexerei in verschiedenen Stadien und auf verschiedenen Kulturstufen. Traumerlebnisse. Pars pro toto. Gute und böse Medizinmänner. Ihre Methoden. Sterben in der Narkose. Der Medizinmann im Himmel. Tabak. Wetterbeschwörung339 347
  • XIII. Kapitel. Wissenschaft und Sage der Bakaïrí. I. Die Grundanschauung. Der Mensch muss nicht sterben. Wissen von der Fortdauer nach dem Tode. Naturerklärung durch Geschichten. Tiere = Personen. Tiere liefern wirklich die Kultur, daher gleiche Erklärung auf unbekannte Herkunft übertragen. Entstehung der erklärenden Geschichte. Ge - stirne, die ältesten Dinge und Tiere. Bedeutung der Milchstrasse. Verwand - lung. Männer aus Pfeilen, Frauen aus Maisstampfern. Keri und Kame und die Ahnensage. Die Namen Keri und Kame. Die Zwillinge und ihre Mutter sind keine tiefsinnigen Personifikationen348 372
  • II. Die Texte. Die Eltern von Keri und Kame. Entstehung und Tod der Mutter. Letzterer gerächt. Sonne, Schlaf und Burití-Hängematte. Himmel und Erde vertauscht. Feuer. Flüsse. Zum Salto des Paranatinga. Haus, Fischfang, Festtänze, Stämme. Abschied von Keri und Kame. Tabak und Baumwolle. Mandioka; Rehgeweih. Der hässliche Strauss. Keri und der Kampfuchs auf der Jagd. Der Jaguar und der Ameisenbär372 386
  • XIV. Kapitel. Zur Frage über die Urheimat der Karaiben. I. Geschichtliches von den Bakaïrí387 395
  • II. Verschiebung der Karaiben nach Norden395 404
  • XV. Kapitel. I. Die Zählkunst der Bakaïrí und der Ursprung der 2. Die Zahl - wörter der übrigen Stämme. Namen der Finger. Hersagen der ZahlwörterXI Seite mit Fingergeberden. Zählen von Gegenständen über 6; idem unter 6. Die rechte Hand tastet. Fälle des praktischen Gebrauchs und Fehlen gesetzmässiger Zahlen. Fingergeberde nicht mimisch, sondern rechnend. Rätsel der » 2 «. » 5 « = » Hand « kein Vorbild, sondern eine (späte) Erfahrungsgrenze. Ent - stehung der » 2 « durch Zerlegung eines Ganzen in seine Hälften. Die Dinge liefern die Erfahrungsgrenze der » 2 « - Geberde. Abhängigkeit vom Tastsinn. Bestätigung durch die Etymologie405 418
  • II. Farbenwörter. Vorhandene Farbstoffe. Uebereinstimmend die Zahl der Farbenwörter. Sonderbare Angaben durch Etymologie verständlich. Farbe älter als Bedürfnis nach Farbenwörtern. Verwendung bei Tier - und Pflanzennamen. Grün niemals = blauschwarz418 423
  • XVI. Kapitel. Die Paressí. Zur Geschichte der Paressí und ihnen verwandter Stämme. Unser Besuch. Sprache. Anthropologisches. Zur Ethnographie (Tracht, ethnographische Ausbeute, berauschende Getränke, Tanzfeste). Lebensgang. Beerdigung. Medizinmänner. Die Seele des Träumenden und des Toten. Firmament. Ahnensage. Schöpfung. Ursprung der Kulturgewächse. Abstammung der Bakaïrí. Das Leben im Himmel. Fluss - und Waldgeister. Heimat der Paressí424 440
  • XVII. Kapitel. Zu den Bororó. I Geschichtliches. Gründung der Kolonien. Bororó da Campanha und do Cabacal. » Coroados « = Bororó. Verwirrung in der Literatur. Der kleine Sebastian. Martius. Beendigung der Fehde und Katechese. Raubwirtschaft in den Kolonien441 448
  • II. Bilder aus der Katechese. Nach dem S. Lourenço. (Erste Bekannt - schaft mit Täuflingen in Cuyabá. Reise.) Die Bewohner (Clemente) und die Anlage der Kolonie. Europäische Kleidung. Feldbau. Unsere Eindrücke. Streit und Weiberringkampf (Maria). Fleischverteilung. Nächtliches Klagegeheul. Vespergebet. Skandal mit Arateba. Charfreitag. Totenklage. Halleluja-Sonnabend (Judas). Kayapó. Drohende Auflösung der Kolonie. Schule. Die feindlichen Brüder. Disziplin. Duarte’s Ankunft. » Voluntarios da patria «. Frühstück und Serenade448 467
  • III. Beobachtungen. Anthropologisches. Tracht (Haar. Sexualia. Künst - liche Verletzungen. Bemalung. Schmuck). Die Aróe. Jagd und Feldbau. Waffen. Arbeiten im Männerhaus und Technik. Nahrung; » Einsegnung « durch die Baris. Tanz und Spiel. Musikinstrumente; Schwirrhölzer. Zeichenkunst. Recht und Heirat (Sitten der Familie und des Männerhauses). Geburt; Namen. Totenfeier. Seele und Fortdauer nach dem Tode. Himmlische Flöhe; Meteorbeschwörung468 518
  • XVIII. Kapitel. Nach Cuyabá und heimwärts519 521
  • Anhang. I. Wörterverzeichnisse der 1. Nahuquá, 2. Yanumakapü-Nahuquá, 3. Mehinakú, 4. Kustenaú, 5. Waurá, 6. Yaulapiti, 7. Auetö́, 8. Kamayurá, 9. Trumaí, 10. Paressí, 11. Bororó523 547
  • II. Die matogrossenser Stämme nach cuyabaner Akten548 552
  • III. Volksglaube in Cuyabá553 562
[XII]

Verzeichnis der Text-Abbildungen.

  • AbbildungSeite
  • 1. Briefkasten im Sertão42
  • 2. » Eva «, Tumayaua’s Tochter58
  • 3. Vogelkäfig88
  • 4. Nahuquá95
  • 4. * Mehinakúfrau102
  • 5. Auetö́-Häuptling Auayato108
  • 6. Geflechtmaske, Wurfhölzer und Wurfpfeile der Auetö́109
  • 7. Kamayurá-Lagune117
  • 8. Indianer als Europäer maskiert131
  • 9. Unser Fremdenhaus in der Independencia136
  • 10. Auetö́164
  • 11. Bakaïrí-Mädchen175
  • 12. Holzmaske der Bakaïrí mit Ohr - und Nasenfedern180
  • 13. Nasenschmuckstein der Bakaïrífrauen181
  • 14. Kamayurá mit Muschelkette183
  • 15. Wundkratzer188
  • 16. Kamayuráfrau mit Ritznarben189
  • 17. Penisstulp der Bororó192
  • 18. Uluri194
  • 19. Hockende Bakaïrí197
  • 20. Steinbeil203
  • 21. Quirlbohrer204
  • 22. Feuerauge-Piranya205
  • 23. Hundsfisch206
  • 24. Piranya206
  • 25. Vorderklauen des Riesengürteltiers206
  • 26. Kapivara-Zähne206
  • 27. Messermuschel und Hobelmuschel207
  • 28. Wurfbrett und Spitzen von Wurfpfeilen232
  • 29. Bakaïrí-Ruder234
  • 30. Bratständer (Trempe) 236
  • 31. Tragkorb237
  • 32. Feuerfächer238
  • 33. Bleistiftzeichnung von Flüssen247
  • 34. Matrincham-Sandzeichnung248
  • 35. Rochen - und Pakú-Sandzeichnung248
  • 36. Sandzeichnung der Mehinakú248
  • 37. Rindenfigur der Bakaïrí256
  • 38. Rindenfiguren der Nahuquá256
  • XIII
  • AbbildungSeite
  • 39. Pfostenzeichnungen der Auetö́257
  • 40. Flöte der Mehinakú mit zwei Affen257
  • 41. Tokandira-Ameise257
  • 42. Mereschu260
  • 43. Mereschu-Muster mit Bleistift gezeichnet261
  • 44. Holzmaske mit Mereschu-Muster262
  • 45. Holzmaske der Auetö́263
  • 46. Tuchmaske der Auetö́263
  • 47. Spinnwirtel der Mehinakú263
  • 48. Rückenhölzer der Bakaïrí mit den Mustern: Mereschu, Uluri, Fledermaus und Schlange265
  • 49. Rückenholz mit Heuschrecke266
  • 50. Rückenholz mit Vögeln266
  • 51. Ruder der Bakaïrí269
  • 52. Trinkkürbis (Bakaïrí) mit Mereschu - und Fledermausmuster271
  • 53. Federkürbis (Bakaïrí) mit Mereschumuster271
  • 54. Beijúwender a. der Kamayurá, b. der Yaulapiti272
  • 55. Spinnwirtel mit Mereschumuster (Mehinakú) 272
  • 56. Spinnwirtel der Kamayurá mit Mereschu - und Ulurimuster273
  • 57. Spinnwirtel mit Mereschu - und Ulurimuster273
  • 58. Schmuckwirtel der Auetö́ mit Mereschumuster273
  • 59. Spinnwirtel der Kamayurá mit Mereschumuster274
  • 60. Schmuckwirtel der Auetö́ mit Wirtelmotiven274
  • 61. Schmuckwirtel der Kamayurá275
  • 62. Geschnitzter Holzwirtel der Auetö́276
  • 63. Vogelfigur aus Muschelschale278
  • 64. Kettenfigürchen279
  • 65. Kröte. Nahuquá280
  • 66. Reh. Nahuquá280
  • 67. Frauen - und Männerfigur. Bororó280
  • 68. Aufforderung zum Tanz. Bakaïrí281
  • 69. Maisfigur: Harpya destructor. Bakaïrí281
  • 70. Lehmpuppe. Bakaïrí282
  • 71. Thonpuppe. Auetö́282
  • 72. Wachsfigur: Nabelschwein. Mehinakú283
  • 73. Wachsfigur: Karijo-Taube. Mehinakú283
  • 74. Holzfiguren: Falk und Massarico284
  • 75. Holzfisch der Batovy-Bakaïrí284
  • 76. Mandiokagraber als Rückenholz284
  • 77. Grabwespen-Motiv der Mandiokahölzer. Mehinakú285
  • 78. Beijúwender und Mandiokaholz. Mehinakú285
  • 79. Kamm. Auetö́286
  • 80. Kamm mit Jaguaren. Mehinakú286
  • 81. Schemel286
  • 82. Tujujú-Schemel. Kamayurá287
  • 83. Nimmersatt-Schemel. Mehinakú287
  • 84. Doppelgeier-Schemel. Trumaí288
  • 85. Affen-Schemel. Nahuquá288
  • 86. Jaguar-Schemel. Mehinakú288
  • 87. Eidechsen-Topf291
  • 88. Reh-Topf291
  • 89. Suyá-Kröten-Topf292
  • 90. Imeo-Tänzer. Bakaïrí299
  • 91. Wels-Maske. Bakaïrí301
  • 92. Makanári der Bakaïrí302
  • XIV
  • AbbildungSeite
  • 93. Netzgeflecht-Maske mit Piava-Fisch. Bakaïrí303
  • 94. Papadüri-Taube. Bakaïrí304
  • 95. Alapübe-Vogel. Bakaïrí304
  • 96. Waldhahn. Bakaïrí304
  • 97. Tüwetüwe-Vogel. Bakaïrí304
  • 98. Kualóhe-Tänzer mit Tüwetüwe-Maske. Bakaïrí306
  • 99. Nahuquá-Maske307
  • 100. Guikurú-Maske307
  • 101. Mehinakú-Maske mit rot bemaltem Grund308
  • 102. Mehinakú-Maske mit Zinnenband308
  • 103. Grosse Mehinakú-Maske309
  • 104. Kaiman-Masken. Mehinakú310
  • 105. Kaiman-Maske. Mehinakú310
  • 106. Kaiman-Masken. Mehinakú311
  • 107. Koahálu-Masken. Auetö́311
  • 108. Koahálu-Maske. Auetö́312
  • 109. Koahálu-Maske. Holzplatte. Auetö́312
  • 110. Yakuíkatú-Holzmasken der Auetö́314
  • 111. Yakuíkatú-Masken mit Flügelzeichnungen. Auetö́315
  • 112. Gewebmaske der Kamayurá316
  • 113. Hüvá-Maske. Kamayurá316
  • 114. Hüvát-Maske. Kamayurá316
  • 115. Holzmaske mit Fischbildern. Kamayurá317
  • 116. Trumaí-Maske, schwarzrot318
  • 117. Trumaí-Maske mit Mereschumuster318
  • 118. Trumaí-Masken, schwarzweissrot319
  • 119. Tanzkeule. Kamayurá324
  • 120. Hundsfisch-Tanzstab. Kamayurá325
  • 121. Schwirrholz. Mehinakú327
  • 122. Schwirrhölzer (Fischform). Nahuquá327
  • 123. Ohrfedern. Kamayurá328
  • 124. Daihasö́. Paressí431
  • 125. Paressí-Mädchen432
  • 126. Bororó-Mädchen452
  • 127. Bororófrau455
  • 128. Bororó-Jungen462
  • 129. Mutter und Tochter. Bororó473
  • 130. Lippenkette. Bororó475
  • 131. Lippenbohrer. Bororó475
  • 132. Kratzknochen. Bororó475
  • 133. Paríko-Federdiadem. Bororó478
  • 134. Arara-Ohrfeder. Bororó479
  • 135. Brustschmuck aus Gürteltierklauen. Bororó479
  • 136. Kopfschmuck aus Jaguarkrallen. Bororó480
  • 137. Bogen und Pfeile. Bororó484
  • 138. Schiessender Bororó485
  • 139. Kapivara-Meissel. Bororó487
  • 140. Hobelmuschel. Bororó487
  • 141. Bororófrau mit Brustschnüren und Armbändern488
  • 142. Wassertopf und Topfschale. Bororó490
  • 143. Maisball und Federpeitsche. Bororó496
  • 144. Totenflöte. Bororó496
  • 145. Schwirrhölzer. Bororó498

Verzeichnis der Tafeln.

  • No. Seite
  • 1. Bororó-HäuptlingTitelbild
  • 2. Die Herren16
  • 3. Die Kameraden32
  • 4. Tumayaua-Bucht48
  • 5. Bakaïrí-Frauen64
  • 6. Bakaïrí (Luchu und Tumayaua) 72
  • 7. Fischnetztanz der Nahuquá96
  • 8. Demonstration einer Vogelpfeife bei den Mehinakú104
  • 9. Kamayurá-Frauen112
  • 10. Transport eines Rindenkanus durch die Auetö́120
  • 11. Kulisehu-Reise128
  • 12. Independencia-Küchenplatz136
  • 13. Bakaïrí » Itzig «160
  • 14. Mehinakú176
  • 15. Kochtöpfe und Auetö́grab240
  • 16. Originalzeichnungen vom Kulisehu I248
  • 17. Originalzeichnungen vom Kulisehu II248
  • 18. Originalzeichnungen der Bororó I248
  • 19. Originalzeichnungen der Bororó II248
  • 20. Bakaïrí-Ornamente I256
  • 21. Bakaïrí-Ornamente II256
  • 22. Auetö́-Ornamente264
  • 23. Keramische Motive I288
  • 24. Keramische Motive II288
  • 25. Vor dem Männerhaus der Bororó448
  • 26. Bororó464
  • 27. Bororó mit Federn beklebt472
  • 28. Schiessender Bororó480
  • 29. Bororó-Totenfeier504
  • 30. Meteor-Beschwörung bei den Bororó512
[1]

I. KAPITEL. Reise nach Cuyabá und Aufbruch der Expedition.

Rio de Janeiro. » Cholera im Matogrosso «. Bei D. Pedro II. Nach St. Catharina. Sambakís. Deutsche Kolonieen. Nach Buenos Aires. Museum in La Plata. Nach Cuyabá. Ver - änderungen seit 1884. Der gute und der böse Hauptmann. Martyrios-Expeditionen. Die neuen Reisegefährten. Ausrüstung. Abmarsch.

Rio de Janeiro war noch viel schöner als vor drei Jahren. Als wir damals Abschied nehmen mussten, waren wir vom Fieber erschöpft und abgespannt an Geist und Körper; in unserm Zustand reizbarer Schwäche schwelgten wir zwar mit vielleicht gesteigerter Erregung in dem traumhaft schimmernden Bilde der » vielbesungenen Inselbucht «, aber der Rest von Energie, den wir noch besassen, setzte sich doch in das ungeduldige Verlangen um, dem verderblichen Zauber - kreis der Tropenglut so rasch wie möglich zu entrinnen. Jetzt kehrten wir zurück, neugestärkt in der heimatlichen Erde, eine wieder normale Milz und einen guten Vorrat von Arsenikpillen mitbringend, vor Allem aber geschwellt von froher Unternehmungslust. Entzückt genossen wir das wundervolle Schauspiel der Einfahrt und grüssten auch ihren gewaltigen Wächter, den steil aus der Meerflut aufragenden Granitturm des Zuckerhuts, mit herzlicher Vertraulichkeit, als ob er die ganze Zeit hindurch nur auf uns gewartet hätte.

Schon war ein minder unzugänglicher Freund dienstfertig zur Stelle und hiess uns noch an Bord willkommen, Herr Weber, unser stets getreuer Berater. Er entführte mich in seine gastliche Lagunen-Wohnung draussen vor dem bo - tanischen Garten am Fuss des Corcovado, des grotesken, selbst die jähen Ab - stürze empor von ewigem Waldgrün umhüllten Bergkolosses. Nebenan in dem reizendsten Junggesellenheim, das die Erde zwischen den Wendekreisen kennt, nahmen die Nachbarn meinen Vetter Wilhelm auf und liessen ihm ein urkräftiges Tahahá! Tahahá! entgegenschallen, das noch unvergessene Empfangsgebrüll unserer Suyá-Indianer von 1884. Vogel und Ehrenreich richteten sich in einem Pensionat an der Praia de Botafogo häuslich ein.

Schlechte Nachrichten waren uns vorbehalten. Im Matogrosso, dem zu - künftigen Schauplatz unserer Thaten, herrschte die Cholera. Die Dampferver - bindung mit der fernen Binnenprovinz über Buenos Aires den La Plata -v. d. Steinen, Zentral-Brasilien. 12Paraguay aufwärts, nach der Hauptstadt Cuyabá war abgebrochen. Noch am Tage unserer Ankunft, den 26. Februar 1887, suchten wir, um Zuverlässiges über unsere Aussichten zu erfahren, den Chef des Telegraphenwesens, Herrn Baron de Capanema auf, der als Milchbruder und Freund Dom Pedros grossen Einfluss besass. Er empfahl uns, möglichst bald eine Audienz bei Sr. Majestät zu erbitten, damit uns von Seiten der Behörden die Wege geebnet seien, und war auch so liebenswürdig, uns sofort durch eine Depesche anzumelden. Der Kaiser war zum Staatsrat in Rio anwesend, fuhr aber den nächsten Morgen in die Sommer - residenz Petropolis und bestellte uns dorthin. Wir durchkreuzten also schon am folgenden Tage wieder die herrliche Bai nach dem am Nordufer gelegenen Mauá, wo der Zug der Gebirgsbahn die Dampferreisenden aufnimmt.

Unserm Boot nicht weit voraus fuhr die kaiserliche Yacht. Ein lieber Freund begleitete uns, Herr Haupt, Senhor Octavio genannt, der in Petropolis wohnte und sich zur Erfüllung seiner Berufspflichten täglich nach der Stadt be - gab; er steht unter denen, die uns durch kleine und grosse Dienstleistungen nur die Annehmlichkeiten unseres Aufenthaltes empfinden liessen, in erster Reihe und ist unserm Unternehmen von unendlichem Nutzen gewesen.

Auf der Landungsbrücke wartete der Zug. Dort stand auch der Kaiser mit dem Marquez de Paranagua, dem Vorsitzenden der geographischen Gesellschaft, und winkte uns heran, als wir vorbeischreiten wollten. Er befahl uns auf 12 Uhr in den Palast. Pünktlich traten wir an und pünktlich erschien der beste aller Brasilier. Mit freundlichen Worten dankte er mir für die Widmung des Buches über die erste Schingú-Expedition, erkundigte sich in seiner lebhaft eindringen - den Art nach den neuen Plänen und entliess uns mit guten Wünschen, deren Verwirklichung zu unterstützen die Behörden angewiesen werden sollten.

Von dem Kaiser gingen wir zum Ackerbauminister Prado. Mit ihm, einem Paulisten, wurde eingehend die Möglichkeit erörtert, durch die Provinz São Paulo über Land nach dem Matogrosso zu gehen. Allein von dem an und für sich verlockenden Plan mussten wir wegen unserer zahlreichen Kisten und Kasten, deren Transport äusserst schwierig und kostspielig gewesen wäre, ohne Weiteres Abstand nehmen. Bei Prado trafen wir auch zum ersten Male mit dem soeben zum Senator des Kaiserreichs erwählten Herrn d’Escragnolle Taunay, dem glänzendsten Schriftsteller und Redner des Instituto Historico zusammen, der von jenem Tage an unser Unternehmen gefördert hat, so oft wir mit einer Bitte zu ihm kamen. Endlich machten wir pflichtschuldigst dem deutschen Gesandten, Herrn Grafen Dönhoff, unsere Aufwartung; wir fanden seine Wohnung nicht ohne längeres Umherirren, da wir nach dem » ministro allemão « gefragt hatten und irrtümlicher Weise nicht zu dem Diener des Staates, sondern zu dem Geist - lichen, dem Diener des Herrn, gewiesen wurden.

Am nächsten Morgen waren wir wieder in Rio; die Hoffnung nach Cuyabá zu kommen, mussten wir vorläufig aufgeben. Es war eine traurige Geschichte. Anfang März mit dem fahrplanmässigen Dampfer abreisend, wären wir im April3 in Cuyabá gewesen, hätten um Mitte Mai aufbrechen und die ganze Trockenzeit, die dort von Mai bis September gerechnet wird, und die sich allein zum Reisen mit einer Tropa eignet, voll verwerten können. Zwar gab es in Rio im Museo Nacional und in der Bibliotheca Nacional die Hülle und Fülle für uns zu thun, und leicht hätten wir ein paar Monate mit grossem Nutzen verbleiben können. Allein wir waren ungeduldig, und die schönen Indianersachen, die wir in den Glasschränken sahen, oder von denen wir in den alten Büchern lasen, trieben uns hinaus, statt uns zu halten. Wir beschlossen nach der Provinz St. Catharina zu gehen, dort unseren Dampfer, der in der Hauptstadt Desterro anlaufen würde, abzuwarten und mittlerweile Sambakís zu studieren sowie die deutschen Kolonien aufzusuchen.

Die Untersuchung der Sambakís, der den europäischen Kjökkenmöddingern entsprechenden Muschelhaufen indianischer Vorzeit, war ein altes Lieblingsthema der Anthropologischen Gesellschaft in Berlin; so konnte uns nichts näher liegen als eine Exkursion zu jenen primitiven Kulturstätten, die gute Ausbeute an Stein - geräten und Skeletteilen versprachen.

Am 8. Februar hatte ich noch die Ehre, in einer Sitzung der geographischen Gesellschaft unseren Expeditionsplan zu entwickeln, und am 10. Februar dampften wir ab gen Desterro. Fast Monat haben wir dort gewartet. Hätten wir von Anfang an mit einem so langen Aufenthalt rechnen dürfen, was hätten wir nicht alles unternehmen können!

Wenige Tagereisen von den Kolonien sind in den sogenannten » Bugres «, die, wenn sie auch den Gēs-Stämmen gehören, leider mit Unrecht als » Botokuden « bezeichnet zu werden pflegen, noch ansehnliche Reste der indianischen Bevölkerung vorhanden. Sie bedürfen dringend der Untersuchung. Alljährlich fällt eine An - zahl dieser armen Teufel den Büchsen vorgeschobener Kolonistenposten, besonders der Italiener, zum Opfer. Im Regierungsgebäude von Desterro traf ich mit einem biedern Alten von der » Serra « zusammen, der dort, wie ich selbst, irgend ein Anliegen hatte, und benutzte die Gelegenheit, mich zu erkundigen, ob er mir vielleicht Indianer-Schädel verschaffen könne. Der gute Greis, der mich für einen höheren Beamten zu halten schien, sah mich zu meinem Befremden misstrauisch an und erwiederte nach einigem Zögern: » Die Schädel könnte ich Ihnen schon besorgen. Aber ich muss dann erst mit meinen Nachbarn sprechen, ob sie dabei sind. « Das liess tief blicken.

In zwei Monaten wäre es uns vielleicht geglückt, in freundlichere und nützlichere Beziehungen zu den Bugres zu treten. Aber wie die Sache lag, mussten wir ängstlich Sorge tragen, uns nur für kurze Strecken von der Tele - graphenlinie zu entfernen; unter solchen Umständen kam nur Flickwerk zu Stande.

Den März widmeten wir ausschliesslich den Sambakís; wir haben im Ganzen ihrer 14 untersucht und am genauesten diejenigen in der Umgebung von Laguna, einem kleinen Hafen südwestlich von Desterro, kennen gelernt. Ehrenreich allein besuchte die Sambakís in S. Francisco.

1*4

Da aber der vorliegende Bericht auf die Schilderung unserer Schingú-Ergeb - nisse abzielt, möchte ich dem freundlichen Leser nicht dieselbe Verzögerung zu - muten, die wir von den Sambakís erfahren haben. *)Eine vorläufige Mittheilung über unsere Arbeiten enthält ein Reisebrief an Herrn Geh. Rath Virchow in den Verhandlungen der Berliner Anthropologischen Gesellschaft. Vergl. Sitzung vom 16. Juli 1887.Ich müsste ihn sonst auch bitten, uns in die deutschen Kolonien zu begleiten, über die sich die Reisege - fährten in verschiedenen Richtungen während des April und der ersten Hälfte des Mai zerstreuten. Unser vortrefflicher Freund Ernesto Vahl in Desterro stattete uns mit wertvollen Empfehlungen aus und unterstützte eifrig unsere Propaganda zu Gunsten des Berliner Museums für Völkerkunde. In seiner Ge - sellschaft durchritten Ehrenreich und ich ein paar ebenso fröhliche wie lehrreiche Tage die Kreuz und Quer das liebliche Revier von Blumenau; der » Immigrant « veröffentlichte einen Aufruf von mir, wir organisirten Sammelstellen und ritten von Gehöft zu Gehöft, wo immer wir einen Landsmann im Verdacht hatten, dass er auf alten Steinbeilklingen seine Messer schleife oder mit einer der prächtigen Steinkeulen, die häufig beim Ausroden der Pflanzungen gefunden werden, pietät - los Kaffeebohnen stampfe. Und Abends buk Mutter Lungershausen Kartoffel - puffer aus Mandiokamehl, tranken wir » Nationalbier « und fühlten uns inmitten aller der treuherzigen, ehrenfesten Gesichter so zu Hause, dass wir den Gedanken, im Kaiserreich Brasilien zu sein, kaum fassen konnten. Dort weilte aber auch eine Zierde der deutschen**)Ich würde sagen der brasilischen Wissenschaft, wenn die neue Regierung seines Adoptiv - vaterlandes, dem er seit 1852 angehört, nicht mittlerweile auf seine Dienste verzichtet und ihn des keineswegs überreichlich besoldeten Amtes als naturalista viajante des Museums in Rio enthoben hätte. Wissenschaft, der » naturalista « Dr. Fritz Müller, dessen Wert nur von seiner Anspruchlosigkeit und Bescheidenheit übertroffen wird; die Spaziergänge im » Urwald « von Blumenau, auf denen uns der verehrungs - würdige, jugendlich lebhafte Greis an seinem innigen Verkehr mit der Natur teil - nehmen liess, sind eine meiner edelsten Reiseerinnerungen.

Vogel und mein Vetter durchstreiften fünf Wochen meist zu Fuss die südlicher gelegenen Kolonien, deutsche wie italienische. Sie besuchten die etwas zweifelhaften Kohlenminen am Fuss der Serra , erkletterten das Hochplateau mit seinem Araukarienwald, wo sie bei einer Temperatur, deren sie sich im Land des südlichen Kreuzes nicht versehen hätten, von vier Grad Kälte im Freien kampiren mussten, und stiegen wieder in das Tiefland hinab. Sie fuhren mit der Bahn nach Laguna und entschieden sich, an der Küste entlang nach Porto Alegre zu reiten. Sie waren jedoch noch nicht drei Tage unterwegs, als sie am 16. Mai in der Kolonie Ararangua zu ihrem Schmerz mein nichtsdestoweniger freudiges Telegramm erhielten, dass der langersehnte Dampfer endlich in Sicht sei.

Am 24. Mai waren wir wieder alle in Desterro vereinigt und Pfingstmontag den 29., nachdem wir gerade noch Zeit gefunden hatten, unsere Sambakí-Sammlung zu ordnen und nach Berlin zu entsenden, sagten wir der malerischen Bucht von5 St. Catharina Lebewohl. Die Rio Grande , ein gutes Vorzeichen, stand unter dem Kommando desselben Kapitäns, der uns 1884 nach Cuyabá gebracht hatte.

Den 31. Mai verbrachten wir in der Hafenstadt Rio Grande, fuhren den folgenden Tag mit einem Abstecher nach Pelotas und kamen am 4. Juni in Montevideo an. Mein Vetter und ich stiegen sofort auf einen argentinischen Dampfer, den mit raffinirtem Luxus ausgestatteten » Eolo « um, begierig so manches herzliche Wiedersehen, das unserer in Buenos Aires wartete, zu beschleunigen; bald folgten auch Ehrenreich und Vogel.

Fast zwei Wochen hatten wir in der Hauptstadt von Argentinien zu ver - weilen; erst dann kam der eigentliche Matogrosso-Dampfer. Wir benutzten den Aufenthalt, um einige Indianerstudien zu machen. In dem 11. Bataillon der Linien - infanterie wurden zwei Matako und ein Toba linguistisch und anthropologisch auf - genommen sowie photographirt. Einer ganz ausserordentlichen Liebenswürdigkeit hatten wir uns des deutschen Gesandten, des Freiherrn von Rotenhan, zu erfreuen, dessen Empfehlung wir auch die Erlaubniss verdankten, die Soldaten zu untersuchen.

Unter seiner Führung lernten wir die merkwürdige, durch Zauberschlag aus der Erde gestampfte Stadt La Plata kennen, das heisst eine » Stadt «, wo das Bürgertum noch so gut wie fehlte, planmässig verteilt aber die grossartigsten Paläste und Regierungsgebäude bereits fertig in der Pampa standen. Leider liess die Ornamentik die fabrikmässige Herstellung nirgends verkennen. Köstlich er - schien uns Spöttern die Kathedrale, die aus Backstein gebaut zu schwindelnder Höhe emporsteigen soll: ein ungeheures Areal, mit den Ziegeluntersätzen der Pfeiler bestellt, und inmitten ein einsamer Arbeiter, der Kalk anrührte, während aus der Ferne ein Zweiter sinnend zuschaute. Wir wanderten staunend von Strasse zu Strasse oder richtiger von Gebäude zu Gebäude, verschafften uns einen flüchtigen Eindruck von den grossartigen Hafenanlagen, auf deren Ausführung die Zukunft der Stadt beruht, und gelangten durch einen überall durchscheinenden, mit entsetzlicher Regelmässigkeit gepflanzten, aber wegen der silbrig schimmernden Blätter dennoch hübschen Eucalyptuswald vor unserm geistigen Auge dämmerte trotz der exotischen Bäume etwas wie die Landschaft von Teltow und Lichterfelde auf zu dem neuen Provinzialmuseum. Freskogemälde in frischen glänzenden Farben schmückten die Vestibülrotunde: der Amerikaner der Vorzeit in Gesell - schaft fossiler Geschöpfe, moderne Pampasindianer, Eingeborene nach dem ersten Segelschiff ausschauend, das den Fluss heraufkam, andere Feuer durch Reibung entzündend, und Cordilleren-Landschaften. Die schönen Säle enthielten bereits eine Fülle von Schätzen: ausser einer modern naturhistorischen eine reiche pa - läontologische Sammlung von niedern Tieren und in besonderm Glanz zahlreiche Exemplare von Dinosaurium, Megatherium, Glyptodon, Toxodon, Macrauchenia und wie die Arten der tertiären patagonischen Säugetiere oder der Uebergangs - fauna nach dem Quartär hinüber alle heissen mögen, eine imposante Sammlung von Schädeln und Skeletten der ältesten menschlichen Einwohner bis zu den Patagoniern, die der Direktor Francisco P. Moreno für die letzten vorgeschichtlichen6 Einwanderer hält, und zu den modernen Pampasindianern hinunter, eine ethno - logische Sammlung mit massenhaftem prähistorischem Material, mit den einfachen Steingeräten des Feuerlandes bis zu den herrlichen Vasen der Peruaner und der Calchaquí. Um dieses Institutes willen allein dürfen wir dem seltsamen Ex - periment der Stadtgründung vollen Erfolg wünschen.

Unfreundlicher sprach sich Professor Burmeister in Buenos Aires aus, dessen herzerquickende Grobheit freilich nicht geringeren Ruf genoss als seine Gelehrsam - keit. Zu unserer Freude lasen wir im Diario, dass » el sabio Murmeister «, wie der Druckfehlerteufel wollte, von seiner Reise in die Provinz Misiones gerade zurückgekehrt sei, und beeilten uns, ihn vor der Abreise noch zu begrüssen. Wir trafen den alten Herrn in vortrefflicher Stimmung und wurden mit orangerotem Muskateller aus Valencia bewirtet, der mit der kräftigen Herbheit seines Wesens seltsam kontrastirte. Man hatte sein Museum nach La Plata übersiedeln wollen und den Werth auf 20,000 Nacionales veranschlagt. Er erklärte aber, dass es nicht angehe, kostbare Exemplare wie sein prächtiges Megatherium dem Transport auszusetzen und sie in dem neuen Gebäude verderben zu lassen; so kaufte schliess - lich die Bundesregierung das Museum der Provinz Buenos Aires für 25,000 Na - cionales ab, und es konnte an seinem Ort verbleiben. Leider hatte es nur dunkle alte Räume und war gefüllt wie ein Stapelraum, doch hoffte Burmeister, dass ihm im Laufe der Zeit das Universitätsgebäude zur Verfügung gestellt werde. La Plata war in seinen Augen reiner Schwindel; er spottete über die Bilder, wo ein Indianer an einem Glyptodonknochen kaue » so erzählt man mir, denn ich bin natürlich nie dagewesen und werde nie hingehen; « er habe trotz Ameghino nicht den geringsten Beweis für das Dasein des Menschen in dieser Epoche entdecken können ein Urteil, das er später nicht mehr aufrecht gehalten haben soll. Als ich zum Abschied wünschte, dass wir ihn in voller Gesundheit wiederfänden, erwiderte er mit seinem grimmigen Humor: » ich habe die Ueberzeugung erlangt, dass ich, wenn auch nicht geistig, so doch wenigstens körperlich unsterblich bin. « Es ist ihm leider nicht mehr lange vergönnt gewesen, sich dieser Ueberzeugung zu freuen.

Am 17. Juni wurde es endlich Ernst; der brasilische Dampfer, die » Rio Parana «, erschien und mit den bei niederem Wasserstand ortsüblichen Umständ - lichkeiten von der Landungsbrücke in einen Karren, von dem Karren in ein Boot gelangten wir an Bord.

Unter den Reisegefährten fanden wir einen alten Cuyabaner Freund, den Postdirektor Senhor André Vergilio d’Albuquerque. Derselbe erzählte uns, dass man mit der Cholera ziemlich gnädig davongekommen sei. In Corumbá seien allerdings über 100, in Cuyabá nur wenige Personen gestorben. Viele hätten sich auf’s Land geflüchtet. Er selbst hatte Sonderbares erlebt. Nach Aufhebung des Dampferverkehrs hatte er die Post auf dem alten Wege der Tropas nach Rio befördern wollen; als er jedoch nach langem Ritt in der ersten Bahnstation S. Paulos erschien, hiess es, er habe die Quarantaine durchbrochen: obwohl Cuyabá bei seiner Abreise noch seuchenfrei gewesen war und er inzwischen7 eine Strecke von 2300 Kilometern zu Pferde zurückgelegt hatte, wurde er ver - haftet und zur Desinfektion, die in dem kleinen Nest mit allen Schikanen aus - zuführen unmöglich war, auf einer zweitägigen Reise mit Bahn und Dampfer und ohne Isolirung von den übrigen Passagieren nach Ilha Grande, der Qurantaine - Insel von Rio de Janeiro, gebracht, um dort, ich weiss nicht wie viele Tage, aus - gelüftet zu werden.

Am 20. Juni Abends erreichten wir Santa Helena, die Fabrik des Kemme - richschen Fleischextraktes. Sie gehört dem Haus Tornquist in Buenos Aires, dessen Associé Herr Lynen sich das höchst dankenswerte Verdienst um unsere Reise erworben hatte, ihr eine Sendung von Fleischextrakt, Bouillonextrakt und Pepton zu stiften, und auch, wie wir bald erfuhren, so liebenswürdig gewesen war, uns hier anzumelden. Denn zu unserer Ueberraschung erklang aus einem Nachen, der in der Dunkelheit heranglitt, plötzlich die Frage herauf, ob die deutsche Expedition an Bord sei, und trat auch gleich darauf Herr Dr. Kemmerich in Person auf Deck mit einem Blumenstrauss und einer neuen inhaltsschweren Kiste ausgerüstet. Erfreulicher Weise musste der Dampfer Kohlen aufnehmen und blieb bis Mitternacht. Nur zu bereitwillig ergriffen wir die Gelegenheit, das Klaviergeklimper, Kartenspiel und die schrecklichen deklamatorischen Vor - träge des Kajütensalons mit einer behaglichen Familienstube zu vertauschen und folgten der Einladung des Gastfreundes. Zur grösseren Feierlichkeit hatte der Mayordomo auf den am Ufer aufgetürmten Knochenhügeln der Schlachtopfer zwei mächtige Pechfeuer angezündet, so dass die Fabrik in romantischer Be - leuchtung prangte. Damals » nur « 200 Ochsen täglich mussten hier ihr Leben lassen, doch war die Anstalt in gutem Aufschwung begriffen und sollte bald zu grösseren Verhältnissen erweitert werden. Herr Kemmerich hatte ein neues Präparat ersonnen, ein gelbliches, unter hydraulischem Druck hergestelltes Fleisch - mehl, in dem so viel Nährstoffe feingepulvertes Bratenfleisch, Speisefett, Peptone, Extrakt vereinigt waren, dass 100 gr dem Nährwerte von 500 gr frischen Fleisches entsprechen, und dass ein Mann ausschliesslich von dem Inhalt einer etwa spannenlangen zilindrischen Blechbüchse 3 4 Tage leben könne; er bat uns, dieses leicht transportable Gemenge von Kraft und Stoff auf der Reise in Form von Suppe zu versuchen. Wie ich schon hier anführen darf, sind uns die » Fleischpatronen « von solchem Nutzen gewesen, dass wir die Stunde segnen dürfen, wo wir sie erhielten.

In Corrientes mussten wir von unserm schönen, elektrisch beleuchteten Dampfer Abschied nehmen und auf den bescheideneren und kleineren » Rapido « übersiedeln. Dennoch war der Tausch ein guter, denn bei dem » Rio Parana « drohte das Auffahren auf den Sand chronisch zu werden.

Den 28. Juni Asuncion, den 29. Juni weiter. Wir überstürzten uns niemals. Am 30. Juni stoppten wir eine gute Weile, um für einen Ochsen, den wir mit uns führten, Gras zu schneiden. Bequemer wäre es noch gewesen, ihn sich am Lande satt fressen zu lassen.

8

Paraguay verlassend kamen wir nun endlich wieder nach Brasilien. In Corumbá trafen wir den 4. Juli in der Morgenfrühe ein und hatten den » Rapido « nunmehr abermals mit einer noch kleineren Ausgabe, dem » Rio Verde «, zu ver - tauschen, der am 5. Juli Morgens abfuhr. Am 11. Juli 3 p. m. kam das ersehnte Cuyabá in Sicht. Ein Vierteljahr später, als wir gerechnet hatten. Vor Freude, dass wir nun glücklich so weit waren, fuhren wir in diesem Augenblick noch einmal und zum letzten Mal mit Vehemenz auf den Sand. So setzten wir im Boot einen Kilometer oberhalb des Hafens an’s Ufer und pilgerten zu Fuss nach dem Städtchen. Dort hatte man auch schon die Geduld verloren; Freunde kamen uns entgegengeritten, begrüssten uns mit Lachen und Händeschütteln und geleiteten uns zu einer gastlichen Wohnung, die uns beherbergen musste, bis wir am andern Tag ein Gasthof, der doch nichts getaugt haben würde, war glücklicher Weise noch nicht vorhanden ein leerstehendes Haus in der Rua Nova gemietet hatten.

Cuyabá. Es erregte ein allgemeines Schütteln des Kopfes, als wir er - klärten, dass wir spätestens in drei Wochen auf dem Marsche sein müssten. In der That ist es nicht so leicht, in kürzester Frist die nötigen Maultiere zu er - halten, ohne dass man auf das schmählichste betrogen wird, und die nötigen mit dem Leben in der Wildnis vertrauten Begleiter, die sogenannten » Camaradas «, sagen wir Kameraden, zu finden, ohne dass man Gefahr läuft, eine Anzahl un - brauchbarer Menschen zu mieten, die später das Wohl und den Erfolg der Expedition in Frage stellen. Wir waren im Grunde selbst erstaunt, dass es uns gelang, die Vorbereitungen in siebzehn Tagen zu erledigen.

Der Umstand, dass wir im Jahre 1884 den ganzen Kursus schon einmal durchgekostet hatten, kam uns in einem Sinne natürlich sehr zu Statten: wir kannten die Sprache und hatten viele persönliche Beziehungen. Auf der andern Seite aber war damit auch ein schwerer Nachteil verbunden, dessen Gewicht uns erst allmählich klar wurde. Bekanntlich sind oder waren? ich rede natürlich von den vergangenen Tagen des Kaisertums fast alle Brasilier der besseren Klassen praktische Politiker, sie wollen von Staatsämtern leben und müssen, da die vorhandenen Stellen für alle Anwärter nicht ausreichen, sich in die beiden grossen Lager spalten derer, die im Besitz sind, und derer, die etwas haben wollen. Die eine Partei triumphirt, die andere windet sich in oppositionellem Grimme, die eine nennt sich, Niemand weiss warum, konservativ, die andere liberal. 1884 waren wir auf das Gastfreundlichste und Liebenswürdigste von der guten Gesellschaft aufgenommen worden, und da sie in jener Zeit der herrschenden Richtung gemäss konservativ war, während man auf die Liberalen geringschätzig herabblickte, galten auch wir für konservativ. Da aber 1887 die Liberalen an der Reihe waren, und jetzt ihrerseits die Mitglieder der konservativen Partei schlecht be - handeln durften, so mussten auch wir schlecht behandelt werden. Mit grosser Re - serve kamen uns die Liberalen entgegen, um sich auf keinen Fall etwas zu vergeben.

9

Ein ganz besonders drastisches Beispiel dieser Verhältnisse trat in einer An - gelegenheit zu Tage, die auf das Innigste mit unserer ersten Expedition verknüpft war. Unserer militärischen Eskorte waren zwei Hauptleute beigegeben gewesen, Herr Tupy und Herr Castro. Der Erstere war als der Aeltere der Kommandant, er hatte aber an der Expedition leider nur das persönliche Interesse gefunden, die ihm vom Präsidenten zur Verfügung gestellten Gelder für seine Spielschulden zu verwenden, anstatt den Proviant und den Sold der Soldaten zu bezahlen. Unterwegs entdeckten wir, dass die Lebensmittel nur bis zum Paranatinga reichten, und da auch eine Anzahl Soldaten ganz unbrauchbar war, mussten wir Herrn Tupy mit einem Teil der Leute zurücksenden, wenn wir nicht das übliche Schicksal der von Cuyabá ausgehenden Expeditionen teilen und unverrichteter Sache heimkehren wollten. So baten wir Herrn Castro das Kommando zu übernehmen, setzten die notwendige Scheidung in einer dramatisch bewegten Lagerscene energisch durch und vollendeten dann unsere Reise programmgemäss mit glücklichem Erfolg.

Herr Tupy schlug nach seiner Rückkunft in Cuyabá einen fürchterlichen Lärm, erklärte uns in den Zeitungen für Schwindler, die sich für Mitglieder der » illustrissima sociedade de geographia de Berlim « ausgäben, in Wirklichkeit aber die Martyrios, die sagenhaften Goldminen der Provinz, auskundschaften und aus - beuten wollten, und klagte seinen Gefährten Castro des Vergehens der Insub - ordination unter erschwerenden Umständen an.

Während der ganzen Zeit unserer Abwesenheit in Deutschland hat sich die lustige Geschichte fortgesponnen. Im Anfang war sie für Castro, der es seiner - seits an kräftigen Erwiderungen nicht fehlen liess, nicht ungünstig verlaufen, nahm jedoch bei dem Sturz der konservativen Partei eine ernsthafte Wendung, als Herr Tupy plötzlich einen Gesinnungswechsel verspürte und sich zu den Ueber - zeugungen der neuen Partei bekannte. Castro wurde vor ein Kriegsgericht ge - stellt; die von Tupy beigebrachten Zeugen erklärten eidlich, dass jener mit uns gemeinschaftliche Sache gemacht habe, um den kommandirenden Offizier aus dem Wege zu räumen. Ueber mich selbst erfuhr ich aus den Akten, dass ich mit den Revolver in der Hand Herrn Tupy’s Leben bedroht habe. Der Spruch des Kriegsgerichts lautete gegen Castro. Wir fanden ihn in Haft, doch war insofern noch nicht alle Hoffnung verloren, als gerade mit dem Dampfer, mit dem wir gekommen waren, die Prozessakten zur letzten Entscheidung an den obersten Militair-Gerichtshof in Rio befördert werden sollten. Noch in der Nacht unserer Ankunft setzte ich mich hin und schrieb eine kurze klare Auseinandersetzung des wahren Sachverhalts, die mein Vetter Wilhelm und ich als eine Erklärung an Eidesstatt unterzeichneten. Wir schickten dieselbe an die Deutsche Gesandtschaft in Rio mit der Bitte, sie dem Supremo Tribunal zu übermitteln. Ich füge schon hier an, dass wir nach der Rückkehr von der zweiten Expedition noch in Cuyabá von Herrn Grafen Dönhoff die Nachricht erhielten, Castro sei einstimmig freige - sprochen worden, und dass er später, nachdem ich in Rio persönlichen Bericht erstattet, verdientermassen auch dekorirt wurde.

10

Während der konservative Castro im Arrest sass, hatte man den liberalen Herrn Tupy auf eine ehrenvolle Expedition zur Untersuchung des Rio das Mortes ausgeschickt, doch haben ihn die Indianer nicht freundlich behandelt, sie über - fielen seine kleine Truppe und brachten ihm mit einem Keulenschlag eine schwere Schädelwunde bei. Er kehrte aber lebendig und mit ein paar abgeschnittenen Indianerohren (» Affenohren « behaupteten die Widersacher) nach der Hauptstadt zurück, genas, wurde nach Rio Grande do Sul versetzt, womit er einen guten Tausch machte, und dort bald zum Major befördert. Als er von Cuyabá abfuhr, verteilte man unter die Passagiere des Dampfers ein Flugblatt » An das Heer und die Flotte «, das weit und breit versandt, und in dem Jedermann vor dem » infamen, ekelhaften Kapitän Antonio Tupy Ferreira Caldas « gewarnt wurde. Seine Stirn sei von Gott doppelt gezeichnet, einmal mit dem angeborenen Kains - mal, dann mit der Schädeldepression, die nicht von der Keule der Indianer, sondern von dem Comblain-Büchsenkolben eines seiner Soldaten herrühre. Er sei » Ver - schleuderer der öffentlichen Gelder, Zwischenträger, Intrigant, Spieler von Beruf, Verleumder, Speichellecker, Lüderjahn, Spitzbube, Schwindler, Verräter, Ueber - läufer, einem Reptil oder widerlichem Wurm ähnlich, kurz eine Eiterbeule in menschlicher Gestalt und mit allen Lastern behaftet, die man im Universum nur kenne und ausübe «. In diesem Ton hatte man hüben und drüben die ganze Fehde geführt, es waren, wie ich zu meinem Erstaunen erfuhr und nachträglich sah, Zeitungsartikel erschienen, unterzeichnet Dr. Carlos oder auch mit meinem vollen Namen, in denen ich dem Kapitän Tupy eine Blütenlese portugiesischer Schimpfwörter an den Kopf warf, wie ich selbst sie in meinen Sprachkenntnissen nicht hätte vermuten dürfen; mein gelindestes Prädikat war das der Giftschlange » jararaca « gewesen, Cophias atrox. Unter solchen Umständen lässt sich begreifen, dass die uns bei unserem neuen Erscheinen in Cuyabá entgegengebrachten Ge - fühle etwas gemischter Art waren.

Es war von Seiten Tupys ein sehr geschickter Zug und eine sehr richtige Spekulation auf die Ideen der Bevölkerung gewesen, dass er uns beschuldigt hatte, goldsuchende Abenteurer zu sein. Noch heute wird es wenige Menschen im Matogrosso geben, die da glauben, dass wir von Deutschland die weite Reise und von Cuyabá aus die beschwerliche Expedition unternommen hätten zu dem unge - heuerlichen Zweck, die armseligen Indianer kennen zu lernen; wir waren Ingenieure und suchten die Martyrios, das Eldorado der Provinz, dessen Namen jedes mato - grossenser Herz höher schlagen lässt, das aufzusuchen jeder Bürger gern grosse Opfer bringen würde.

Zu meiner Ueberraschung erfuhren wir, dass 1884 eine Handvoll Leute den Spuren der Expedition viele Tagereisen gefolgt waren; sie hatten wie wir über den Paranatinga gesetzt und waren von dort bis an den Batovy vorgedrungen, wo sie an unserem Einschiffungsplatz Kehrt machen mussten.

Nicht genug damit, wurde im Jahre 1886 planmässig unter der Führung des José da Silva Rondon eine Expedition in das Batovy-Gebiet unternommen. 1134 Leute mit 40 Reit - oder Lasttieren und 3 Ochsen zogen am 1. Juli aus. Es befanden sich in der Gesellschaft sehr wohlhabende Bürger der Stadt, die einen ansehnlichen Beitrag zahlten und sich um der glänzenden Aussicht willen vielen ungewohnten Strapazen bereitwillig unterzogen. Man schlug den nächsten Weg zum Paranatinga über die Chapada ein. Der Ausgangspunkt der Reise in’s Unbekannte war die Fazenda S. Manoel im Quellgebiet des Paranatinga, die am 16. Juni erreicht wurde. Man bewegte sich in nordöstlicher Richtung, überschritt eine Menge von Bächen und durchwühlte eine Menge Sand und Kieselgeröll nach dem gleissenden Golde. Um Mitte Juli befand man sich zwischen den Quellbächen des Batovy und gelangte zu dem Einschiffungsplatz unserer ersten Expedition. Zuletzt aber war eine grosse Verwirrung eingerissen, man hatte ernstlich mit dem Proviantmangel zu kämpfen, die Tiere waren in schlechtem Zustande, der eine Herr wollte hierhin, der andere dorthin, und alle vereinigten sich schliesslich, zu Muttern und den Fleischtöpfen Cuyabá’s zurück zu kehren.

Da traf 1887 die alarmierende Nachricht ein: schon wieder kommen der Dr. Carlos und seine Gefährten, um eine Expedition an den Schingú zu machen. Das konnte nicht mit rechten Dingen zugehen, die Deutschen hätten also trotz - dem und alledem die Martyrios gefunden. Wahrscheinlich lagen die Goldminen ein paar Tagereisen flussabwärts, und man war 1886 zu früh umgekehrt. Wieder stellte sich Rondon an die Spitze einer Expedition, die er diesmal grössten - teils aus eigenen Mitteln bestritt, und setzte sich in Bewegung, während wir noch fern von Cuyabá waren, so dass er sich den Vorsprung vor uns sicherte. Sein Unternehmen hat auch in das unsere eingegriffen, wie wir später sehen werden.

Nach unseren Erfahrungen mit dem Hauptmann Tupy hegten wir den dringenden Wunsch, ohne militärische Unterstützung auszukommen. Es war jedoch bei der knapp bemessenen Zeit vollständig unmöglich, den Bedarf an zuverlässigen Kameraden zu decken. Das brauchbare Material dieser Leute sitzt natürlich draussen auf den oft weit entfernten Pflanzungen und Gehöften; in der Stadt fehlt es nicht an arbeitslosen Individuen jeder Farbenstufe, es ist aber nur ein Zufall, wenn man unter ihnen tüchtige Personen antrifft, die mit dem Buschmesser, der Büchse und den Packtieren hinlänglich Bescheid wissen.

So sahen wir ein, dass wir der Notlage ein kleines Zugeständnis zu machen hatten. Wir konnten dies auch mit gutem Vertrauen thun, wenn es uns gelang, einen wackeren Landsmann in brasilischen Diensten, der seinerseits mit Freuden bereit war, mitzugehen, den Leutnant des 8. Bataillons, Herrn Luiz Perrot zum Begleiter zu erhalten. Perrot, einer französischen Emigrantenfamilie entstammend und in der Nähe von Frankfurt am Main zu Hause, war im Alter von 20 Jahren nach Südamerika verschlagen, hatte den Paraguay-Krieg mitgemacht und sass seither in dem verlorenen Weltwinkel Cuyabá. Ich stellte bei dem Präsidenten der Provinz, einem Vize-Präsidenten in jenen Tagen, den Antrag, dass er uns Perrot nebst vier Leuten und den für diese notwendigen Tieren zur Verfügung stelle. Mein Gesuch wurde anstandslos genehmigt.

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Von den Kameraden, die sich uns anboten, fanden nur zwei Gnade vor unsern Augen, Kolonisten-Söhne aus Rio Grande do Sul, Namens Pedro und Carlos Dhein. Wir haben diese Wahl nicht zu bereuen gehabt. Es waren ein paar prächtige, stramme Burschen, unverdrossen bei der schwersten Arbeit und auch zu feinerer nicht ungeschickt. Besonders der Jüngere, Carlos, war auf seine Art ein Genie, der alles konnte, was er anfasste. Die beiden Brüder hatten ein paar Jahre in Diensten des amerikanischen Naturforschers und Sammlers Herbert Smith gestanden, für ihn gejagt und die Ausbeute regelrecht präpariert. Nach seiner Abreise hatten sie zu ihrer Verzweiflung erst Ziegel, dann Brod backen müssen; mit Begeisterung traten sie nun in eine Stelle, die ihren Talenten und Neigungen wieder zusagte. Sie führten uns auch 4 Hunde zu, » Jagdhunde «: den altersschwachen » Diamante «, der ein sehr brüchiger und ungeschliffener Edelstein war, von seinen Herren aber wegen der einstigen Tugenden noch wie ein Kleinod wertgehalten wurde, und die drei flinken und frechen » Feroz «, Wilder, » Legitimo «, Echter, » Certeza «, Sicherheit.

Wir rechneten ferner mit Bestimmtheit darauf, die Begleitung des besten Mannes unserer ersten Expedition zu gewinnen, des Bakaïrí-Indianers Antonio, der in seinem Dorfe am Paranatinga, dem vorgeschobensten Posten des bekannten Gebietes, wohnte, und den wir dort aufzusuchen gedachten.

Eine unerwartete Unterstützung meldete sich in Gestalt des alten guten Januario. Er hatte uns 1884 als Kommandant der uns damals von der Regierung überlassenen Reittiere bis zum Einschiffungsplatz begleitet und seine Schutz - befohlenen nach Cuyabá zurückgeführt. In der Zwischenzeit hatte der tapfere Sergeant nach 35jährigen Diensten seinen Abschied als Leutnant erhalten und sehnte sich, gegenüber Cuyabá in einem kleinen Häuschen wohnend, nach neuen Thaten. Wir kauften ihm ein gutes Reittier, unterstützten ihn für seine Aus - rüstung und hiessen sein Mitgehen um so mehr willkommen, als wir in dem Be - streben, einen guten Arriero zu finden, sehr unglücklich waren. Es ist dies der Führer der Lasttiere, von dessen Tüchtigkeit das Wohl und Wehe einer Tropa abhängt; er beaufsichtigt das Packen der Tiere, hält die Sattel in Stand, sorgt für die gute Ordnung auf dem Marsche, sieht sich nach den guten Bachübergängen um, entscheidet bei alle den tausend kleinen Schwierigkeiten unterwegs mit seinem Feldherrnblick und bestimmt Zeit und Ort des Lagers. Der einzige Arriero, der sich uns anbot, und den wir nur zwei Tage behielten, war ein so klapperiges altes Gestell, das zwar noch reiten, aber schon längst nicht mehr gehen konnte, dass wir ihn sicherlich auf halbem Wege hätten begraben müssen. Zu unserer Beruhigung ist er auch schon vor unserer Rückkehr und wenigstens ohne unser Verschulden gestorben.

So waren wir ausser dem später hinzutretenden Antonio 12 Personen: wir vier, Perrot, Januario, Carlos und Peter, sowie die vier von Perrot ausgesuchten Soldaten. Sie waren sämtlich Unteroffiziere und hiessen João Pedro, Columna, Raymundo und Satyro.

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Auf dem ersten Lagerplatz, noch in dichtester Nähe von Cuyabá, schloss sich uns endlich der kleine Mulatte Manoel an. Er wollte uns durchaus begleiten, obgleich seine Ausrüstung nur in der Hose und dem zerrissenen Hemd bestand, die er anhatte; mochte er Einiges dazu bekommen und in aller Heiligen Namen als Küchenjunge mitlaufen.

Ein langes Kapitel war die Lasttierfrage gewesen. Die Maultiere kosteten im Durchschnitt 150 Milreis, damals etwa 300 Mark. Wir verzichteten auf Reit - tiere und gingen zu Fuss, gebrauchten aber dennoch 12 Lasttiere. Perrot ritt sein Pferd und stellte für sich und seine Soldaten 4 Maultiere. Ausserdem half er mit einem alten Gaul dem Bedürfnis nach einer Madrinha aus, wie das den übrigen Tieren vorausschreitende Leittier genannt wird. Dazu kam endlich das für Januario gekaufte vortreffliche Reitmaultier, so dass die ganze Tropa aus 19 Tieren bestand. Jedes Lasttier trägt zwei » Bruacas, « grosse Ledersäcke, die aus Ochsenhaut so ausgeschnitten und zusammengenäht werden, dass oben ein Deckel übergreift. Mit ein paar ledernen Henkeln werden sie an den » Cangalhas « aufgehängt: so heissen die Tragsättel, die aus einem hölzernen Gestell bestehen und zum Schutz gegen den Druck mit grasgefütterten Kissen unterpolstert sind.

Unser Plan war, die Tiere bis zum Einschiffungsplatz mit uns zu führen, und dort unter Aufsicht zurückzulassen, während wir die Flussreise machten und die Indianer besuchten. Nach glücklicher Rückkehr zum Hafen fiel dann den Tieren die Hauptaufgabe zu, unsere Sammlungen nach Cuyabá zu bringen. Da - mit für diese Raum bleibe, mussten wir uns in der Belastung der Tiere nach Möglichkeit beschränken. Das Rechenexempel gestaltete sich nur insofern nicht ungünstig, als wir ja sicher sein konnten, dass von jenem Zeitpunkte ab aller von Lebensmitteln beanspruchte Platz zur freien Verfügung stand; nur wenige Büchsen mit Suppentafeln und » Kemmerich « mochten bis dahin gerettet werden können. Mandiokamehl hofften wir von den Indianern zu erhalten; im Übrigen mussten wir von Jagd und Fischfang leben. Denn hätten wir für eine Reihe von 5 oder 6 Monaten ausreichenden Proviant mitnehmen wollen, so hätten wir eine Truppe organisieren müssen von einem weit unsere Mittel übersteigenden Umfang, und diese Möglichkeit selbst vorausgesetzt, hätten wir für die grössere Zahl von Tieren auch wieder einer grösseren Zahl von Leuten bedurft, der Gang des Marsches wäre in weglosem Terrain doppelt und dreifach erschwert und in dem Fall, dass die Expedition wie so viele andere im Matogrosso scheiterte, das Unglück unverhältnismässig gesteigert worden.

Perrot transportierte den Proviant für sich und seine vier Unteroffiziere auf den der Regierung gehörigen Maultieren, den » Reunas «. Er führte ausserdem 3 Zelte mit, ein grosses für sich und zwei kleine für je 2 Mann.

Von unsern 24 Bruacas war die Hälfte für die Lebensmittel bestimmt; im Ueberfluss nahmen wir nur das unentbehrliche Salz mit, das für mehr als ein halbes Jahr ausgereicht hätte, 3 Sack = 150 Liter. Die übrigen Hauptartikel waren: 1. die ausgezeichneten braunen Bohnen, 2. Farinha, die Mandiokagrütze,14 3. Carne secca, gesalzenes und an der Luft getrocknetes Fleisch, 4. Speck, 5. Reis, 6. Rapadura d. i. ungereinigter Zucker in Gestalt und Grösse unserer Ziegelsteine, 7. Gemüsetafeln (Mélange, Kerbel, Sellerie) von A. Guhl in Hamburg, kondensirte Suppen (Erbsen, Bohnen, Graupen) von R. Scheller in Hildburghausen, und Kemmerich’sche Präparate (Fleischmehl, Fleischextrakt, Bouillonextrakt, Pepton und etliche Dosen Zunge). Es ist vielleicht nicht uninteressant, die Einzelheiten der übrigen Ausrüstung aufzuzählen. Da wären zu nennen:

Gewürze: Pfeffer oder » Pimenta «, die frischen Früchte in dünnem Essig auf - bewahrt, Senfpulver und ein paar Flaschen Worcestershiresauce. Getränke: Para - guaythee, etwas chinesischer Thee und Kaffee; eine Liebesgabe von Eckauer Doppelkümmel, und einheimischer Branntwein, » Cachaça « und » Caninha «. Ferner Becher, Teller, Gabeln, Löffel, Kochtöpfe, Theekessel und Beobachtungslaternen. Beile, Pickäxte, Schippen, ein Brecheisen, die beiden letzteren Werkzeuge unent - behrlich bei schweren Bachübergängen. Geschmiedeter Feuerstahl, schwedische Streichhölzer, Brennöl, Spiritus, Pulver, Schrot, Zündhütchen, Seife, einige Pack Papier, Handwerkszeug. Angeln und Angelschnüre, deren Qualität von grosser Wichtigkeit ist, von W. Stork in München. Für die Tiere eine Madrinhaschelle, Striegel, Stricke, Hufeisen, Nägel, Opodeldoc, Tartaro.

Als sogenannte » Dobres « d. h. den Tieren oberhalb der Bruacas aufgeladene Packstücke gingen: Ochsenhäute, deren man immer zu wenig mitnimmt, unsere beiden wasserdichten Zelte von Franz Clouth in Nippes bei Köln, die sich sehr bewährt haben, unsere Nachtsäcke mit Hängematte, Moskiteiro, Ponchos, Decke (vorzüglich sind die grossen Jäger-Decken) und einem Stück Gummituch, das zu den wichtigsten Artikeln gehört. Dobres waren auch der Tabak, eine 50 m lange Rolle schwarzen » Cuyabano’s «, der an Wichtigkeit den Lebensmitteln gleichsteht, und Mais als Wegzehrung während einer Reihe von Tagen für die Maultiere. Endlich Tauschwaaren, die wir aus Deutschland mitgebracht und dank dem Ent - gegenkommen der brasilischen Behörden zollfrei eingeführt hatten: eine schwere Ladung von Solinger Eisenwaaren von F. A. Wolff in Graefrath, hauptsächlich Messern, Beilen, einigen Scheeren, Kuhketten zur Ausschmückung der Häuptlinge, 75 kg Perlen von Greiner & Co. in Bischofsgrün-Bayern, schliesslich Hemden, Taschentücher, Spiegel, Mundharmonikas, Flöten und dergleichen Ueberraschungen mehr. Für unsere Kameraden hatten wir mitgebracht: Hosen, Hemden, Wald - messer, einfache Vorderlader und Revolver.

Der Monatssold der Kameraden beträgt durchschnittlich 30 Milreis (etwa 60 Mark). Erheblich teurer sind gute Arrieros.

Unsere fachliche Ausrüstung nahm auch einigen Raum in Anspruch. Behuß astronomischer und geodätischer Messungen standen zur Verfügung: ein Prismen - kreis von Pistor & Martins auf 20 '' ablesbar, ein Quecksilberhorizont mit Marien - glasdach von C. Bamberg, ein kleines Universalinstrument von Pistor & Martins, auf 30 '' ablesbar, die uns die Direktion der Seewarte in Hamburg freundlichst leihweise überlassen hatte, ein kleiner Reisetheodolit mit Stativ von Casella auf[1] 'ablesbar,15 3 kompensirte Ankeruhren. Zu erdmagnetischen Messungen: ein Deviationsmagne - tometer von C. Bamberg (Seewarte), zwei Magnete mit Schwingungskasten von einem Lamontschen Reisetheodoliten. Zur Terrainaufnahme und zu Höhenbe - stimmungen: ein Siedepunktapparat von Fuess, ein Naudetsches Aneroid von Feiglstock in Etui zum Umhängen, ein Aneroid nach Goldschmidt von Hottinger, zwei Taschenaneroide von Campbell, eine Schmalkalderbussole mit Kreis von 7 cm Durchmesser, ein » Skizzenbrett « nach Naumann von G. Heide, mehrere Taschenkompasse, zwei Schrittzähler. Ein Registriraneroid von Richard Frères blieb zum Zweck korrespondirender Aufzeichnungen in Cuyabá zurück und wurde von Herrn André Vergilio d’Albuquerque bedient. Zu meteorologischen Beo - bachtungen: ein Maximal - und ein Minimalthermometer von Fuess, ein Schleuder - apparat nach Rung mit 3 Thermometern (Seewarte), ein kleines Taschenhygro - meter, ein Pinselthermometer für Wassertemperaturen. Ausserdem noch Schleuder - thermometer und Extremthermometer. Ferner eine reichhaltige und wohlüber - legte photographische Ausrüstung mit Steinheil’schem Apparat, das Virchow’sche anthropologische Instrumentarium, Chemikalien, etliche Spiritusgläser für kleine zoologische Ausbeute, Zeichen - und Malutensilien, vorgedruckte anthropologische Tabellen und sprachliche Verzeichnisse. Das geringste Gewicht brachten die wenigen und dünnen Bücher » Reiselektüre «, deren Jeder eines oder anderes mit - führte; Friederike Kempner, die unentbehrlichste Trösterin auf prosaischem Marsch in fernen Landen, sagt es ja selbst: » Das Gute ist so federleicht «.

Die letzten Tage waren natürlich eitel Packerei und Plackerei. Am Nach - mittag des 28. Juli zogen wir aus und schlugen eine halbe Stunde vor der Stadt das Nachtlager auf. Am ersten Tag kommt es nur darauf an, aus der Stadt heraus zu gelangen, und auch an den nächstfolgenden Tagen werden, wenn man nicht über eine Tropa miteinander gewöhnter Tiere verfügt, nur geringe Marsch - leistungen zu Stande gebracht. Da heisst es mehr denn je » Paciencia « und wieder » Paciencia, Senhor! «

II. KAPITEL. Von Cuyabá zum Independencia-Lager. I.

Plan und Itinerar. Andere Routen als 1884. Kurze Chronik. Hochebene und Sertão. Die » Serras « ein Terrassenland; seine Physiognomie und topographische Anordnung. Campos. Ansiedler. Lebensbedingungen und Kulturstufe. Ein flüchtiges Liebespaar. Zahme Bakaïrí. Die von Rio Novo auf Reisen. Dorf am Paranatinga. Besuch und Gegenbesuch der » wilden « Bakaïrí 1886. Kunde von den Bakaïrí am Kulisehu!

Plan und Itinerar. In geringer Entfernung östlich und nordöstlich von Cuyabá erhebt sich mit steilem Anstieg die Hochebene, auf der sowohl die Zu - flüsse vom Paraguay als die des Amazonas entspringen. Niveaudifferenzen von so kleinem Betrag, dass man mit dem Augenmass die Wasserscheide nicht er - kennt, geben für zwei benachbarte Quellbäche den Ausschlag, ob ihr Reiseziel das Delta am Aequator oder die Mündung des Silberstromes unter 35° s. Br. sein wird. Wir hatten uns aus dem südlichen Stromsystem in das nördliche zu begeben und den Uebergang von dem einen zum andern im Norden oder Nord - osten auf der Wasserscheide zwischen dem zum Bereich des Paraguay gehörigen Rio Cuyabá und seinem » Contravertenten «, dem zum Amazonas strebenden Tapajoz aufzusuchen, um uns dann in östlicher Richtung nach den Quellflüssen des Schingú zu wenden.

Ungefähr in der Mitte des Weges lag der Paranatinga, der durch zahlreiche Quellbäche gespeiste und rasch anschwellende Nebenfluss des Tapajoz, dessen Quellgebiet dem des Schingú benachbart ist, und von dem man lange Zeit ge - glaubt hat, dass er selbst der westlichste Arm des Schingú sei.

So zerfiel unser Marsch in zwei Abschnitte: I. von Cuyabá bis zum Para - natinga durch, wenn auch spärlich genug, doch immerhin besiedeltes Gebiet und II. von Paranatinga auf weglosem Terrain zu dem Quellfluss des Schingú, den wir hinabfahren wollten.

I. Von Cuyabá zum Paranatinga waren wir 1884 in weitem Bogen erst auf dem linken, später auf dem rechten Ufer des Rio Cuyabá marschirt; wir hatten diesen Umweg unseren Ochsen zuliebe eingeschlagen, die wir damals als Lasttiere verwendeten, und die hier den bequemsten Aufstieg auf die Hochebene fanden. Mit den Maultieren konnten wir direkter auf unser Ziel losgehen und waren dabei

TAF. II.

DIE HERREN JANUARIODr. PEDRODr. CARLOSPERROTANTONIO Dr. GUILHERMEDr. PAULO

[16]17 in der Lage, Hinweg und Rückweg der Expedition zur wertvollen Erweiterung der geographischen Aufnahme auf zweierlei Weise zu gestalten: auf dem Hin - weg erreichten wir den Paranatinga (ebenso wie 1884, wenn auch auf anderer Route) bei dem Dorf der » zahmen « Bakaïrí und die letzte brasilische An - siedelung vorher war dieses Mal die Fazenda Cuyabasinho; die Bakaïrí unter - stützten uns wieder beim Uebergang über den ansehnlichen Fluss, und unser braver Antonio, der Spezialsachverständige für den Bau von Rindenkanus, gesellte sich zu der Truppe, auf dem Rückweg überschritten wir den Paranatinga weiter oberhalb und fanden den Anschluss an die Zivilisation bei der Fazenda S. Manoel, von wo aus über Ponte alta der geradeste Weg nach Cuyabá führte.

II. Für die Strecke vom Paranatinga zum Quellgebiet des Schingú kam das Folgende in Betracht. 1884 hatten wir nach dem Uebergang über den Paranatinga eine Anzahl von Bächen und Flüsschen, die nach Norden zogen, gekreuzt, ohne entscheiden zu können, ob sie dem Paranatinga-Tapajoz oder dem Schingú ange - hörten und uns dann auf dem ersten westlichen Quellfluss, den wir mit grösserer Wahrscheinlichkeit als einen Quellfluss des Schingú ansprechen durften, dem Rio Batovy oder Tamitotoala der Eingeborenen eingeschifft. Er mündete schliess - lich auch in einen Hauptarm des Schingú, den Ronuro, ja der Ronuro kam aus südwestlicher Richtung herbeigeflossen, sodass wir uns nun bewusst wurden, in den zwischen Paranatinga und Batovy überschrittenen Bächen und Flüsschen bereits Vasallen des Schingú passiert zu haben. Mit dem Ronuro vereinigte sich ganz kurz unterhalb der Batovymündung ein anderer von Ost bis Südost kommender mächtiger Quellfluss, von dem wir damals mit Unrecht glaubten, es sei der » Kulisehu « der Eingeborenen, während es in Wirklichkeit der uns nicht genannte Kuluëne mitsamt dem früher aufgenommenen kleineren Kulisehu war; Ronuro mit dem Batovy und dem falschen » Kulisehu « bildeten zusammen in » Schingú - Koblenz « (Confluentia), pflegten wir zu sagen den eigentlichen Schingú, den wir 1884 bis zur Mündung hinabfuhren.

An diesem » Kulisehu «, welchen Namen ich vorläufig beibehalten muss, sollten viele Indianerstämme wohnen, ihn suchten wir 1887. Wir mussten also den westlicher gelegenen Batovy überschreiten und nur bedacht sein, uns dabei so weit als möglich oberhalb unseres alten Einschiffungsplatzes zu halten, damit wir höchstens unbedeutende Quellbäche zu durchkreuzen hätten.

Wir gelangten vom Bakaïrídorf am Paranatinga nach dem Ursprung des Batovy, indem wir auf der ersten Hälfte der Strecke den Spuren von 1884 folgten und auf der zweiten, statt nördlich abzuschwenken, östliche Richtung beibehielten; wir blieben, soviel es anging, nahe der Wasserscheide, traten alsdann in das Quell - gebiet des Kulisehu und dieser Fluss war in der That der wirkliche Kulisehu ein und wandten uns nach einer Weile gen Norden, bis wir am 6. September einen Arm erreichten, der die Einschiffung erlaubte. Wir nannten den Lagerplatzv. d. Steinen, Zentral-Brasilien. 218nach dem am folgenden Tage, den 7. September, in Brasilien gefeierten Fest der Unabhängigkeitserklärung den » Pouso da Independencia «, oder kurzweg » Independencia «.

Somit kann ich die Umrisse unserer Landreise für den Hinweg unter Zu - fügung der wichtigsten Daten in den Hauptzügen folgendermassen angeben:

28. Juli 1887 Abmarsch von Cuyabá über einige linke Nebenflüsse des Rio Cuyabá und zwar am 2. August über den Coxipó assú (den » grossen « Coxipó), vom 4. bis 7. Aug. über den Rio Manso 9. Aug. zum Rio Marzagão und 10. Aug. Anstieg auf die » Serra « 12. Aug. Fazenda Cuyabasinho im Quellgebiet des Cuyabá über die Wasserscheide zum Paranatinga und Aufenthalt vom 16. bis 19. Aug. an seinem linken Ufer im Bakaïrídorf 20. Aug. rechtes Ufer des Paranatinga über die Quellbäche des Ronuro nach dem Quellgebiet des Batovy: 25. Aug. Westarm, 26. Aug. Mittelarm des Batovy 27. Aug. über den Ost - arm des Batovy und über die Wasserscheide zum ersten kleinen Kulisehu-Quell - bach endlich am 6. September nach vieler Mühsal macht die erschöpfte Truppe Halt in dem Independencia-Lager.

Da ich mich des geographischen Berichtes enthalten will, brauche ich dem freundlichen Leser auch nicht zuzumuten, bei jedem » Descanso « oder » Pouso «, wie wir uns nach unsern brasilischen Gefährten den Ort der Mittagpause und des Nachtlagers zu nennen gewöhnt hatten, Halt zu machen und jeden kleinen Fort - schritt an der Hand von Tagebuch und Karte zu verfolgen. Ich beschränke mich auf eine allgemeine Skizze des Terrains und ein paar Augenblicksbilder aus unserm Leben auf dem Marsche.

Hochebene und Sertão. Die Reliefformen unseres Gebiets sind in ihren Grundzügen leicht zu verstehen. Ein gewaltiges Sandsteinplateau, das horizontal geschichteten Urschiefern aufruht, ist den vereinigten mechanischen und chemischen Angriffen von Wasser und Wind ausgesetzt gewesen und hat um so grössere Veränderungen erfahren müssen, als die Gegensätze von Regenzeit und Trocken - zeit und die Temperaturdifferenzen von Tag und Nacht sehr scharf ausgesprochen sind. Ueber die Oberfläche weit zerstreut liegen die harten Knollen der » Canga «, die Schlacken des ausgewaschenen und verwitterten eisenschüssigen Sandsteins; in den tieferen Einschnitten tritt der Schiefer zu Tage, und zuweilen wandert man, während der Weg sonst mit gelbrötlichem Sand bedeckt zu sein pflegt, auf grauem hartem wie zementirtem Boden. Aus dem alten Plateaumassiv ist ein Terrassenland geworden mit teilweise sanft geböschten, teilweise steilen Stufen. Als Zeugen für die ursprüngliche Mächtigkeit erheben sich auf seiner breiten Fläche hier und da mit steilen Hängen isolirte Tafelberge oder richtiger, da sie nur eine durchschnittliche Höhe von etwa 80 m haben, Tafelhügel, die » morros « der Brasilier.

Ungemein jäh fällt das Plateau an seinem Westrand im Nordosten von der Hauptstadt zu der 600 bis 700 m tiefer gelegenen Thalsohle des Rio Cuyabá19 hinab; Cuyabá liegt nach Vogels Bestimmung (Fussboden der Kathedrale) 219 m über dem Meeresspiegel, St. Anna de Chapada 855 m, die höchste Stelle unserer Route auf dem Plateau in der Nähe von Lagoa Comprida hatte 939 m. Der Bewohner der Niederung, dem der Terrassenrand wie ein Gebirgszug erscheint, spricht von einer » Serra « de São Jeronymo oder auch mehr nördlich von einer » Serra « Azul, obgleich er oben angelangt sich nicht auf einem Gipfel, sondern in einer weiten Ebene findet. Doch haben eine Anzahl kleinerer, von der Haupt - masse getrennter Plateaus der Erosion noch widerstanden und erheben sich nun als Ausläufer der Hochebene selbstständig vorgelagert. Unser Marsch führte zu unserer Ueberraschung mitten durch sie hindurch, wo wir nach der Aufnahme von Clauss im Jahre 1884 schon oben über die Hochebene hätten ziehen sollen: er hatte damals diese Ausläufer aus der Ferne eingepeilt und nicht wissen können, dass sie nicht den Rand der Hauptterrasse, sondern nur vorgeschobene Posten darstellen.

Mit ihren grotesken Formen geben sie der Landschaft einen hochroman - tischen Character. So hatten wir dem ersten von ihnen gegenüber den Eindruck, als ob wir ein 300 m hohes Kastell mit kolossaler Front vor uns sähen; rote Sandsteinzinnen krönten prachtvoll die senkrechte Burgwand. Wir erblickten plumpe Kyklopenbauten an der Seite unserer sandigen Strasse oder auf grünen Bergkegel einen halbzerfallenen Turm mit Schiessscharten und Fensterluken und Mauerresten ringsum oder auf einsamer Höhe ein Staatsgefängnis, das sich, als wir näher kamen, in einen gewaltigen Sarkophag, der auf einer stumpfen Pyramide stand, zu verwandeln schien: wir mussten uns sagen, diese wundersamen Felsen, deren stimmungsvoller Reiz in der Verklärung der untergehenden Sonne oder im Zauberglanz des Mondscheins nicht wenig gesteigert wurde, würden von Teufels - sagen und anderm Folklore wimmeln, wenn sie im alten Europa ständen.

Um so prosaischer und eintöniger ist die Hochebene. Durch die Erosion des Wassers erhält sie ein flaches Relief: seichte beckenartige Vertiefungen werden durch flache Hügelrücken, die Chapadões, geschieden. Die Karawane bemüht sich solange als möglich, oben auf dem trockenen und tristen Chapadão zu bleiben und lässt es sich dem stetigen bequemen Vorwärtsrücken zuliebe selbst gefallen, wenn sie für eine Weile aus der Richtung kommt: denn eine » Cabeceira, « ein Quellbach, bedeutet immer Aufenthalt und kleine oder grosse Schwierigkeiten. Auf dem Chapadão ist die Vegetation nichts weniger als elegant und üppig: krumme und verkrüppelte Bäumchen mit zerrissener Borkenrinde, zum Teil mit kronleuchter - artigen Ästen, deren Enden lederne Blätter aufsitzen schmalgefiederte Palmen, verhältnismässig selten und von unansehnlichem Wuchs raschelndes Gebüsch und dürre starre Grashalme eine Pflanzenwelt, die mit ihrem ganzen Habitus beweisen zu wollen scheint, mit wie wenig Wasser sich wirtschaften lässt, und die in der Trockenzeit mit dem blinkenden Thau allein auszukommen hat. Alle Nieder - schläge vereinigen sich in den tiefern Einschnitten der Hänge, wo sich sofort ein dichteres und kraftvolleres Buschwerk den Bachufern entlang entwickelt, oder2*20bilden in der Thalmulde jene eigenartige und liebliche Cabeceira, die sich dem Wanderer als das reizvollste Landschaftsbildchen des Matogrosso einprägt. Halb - verschmachtet in dem dürren Busch und auf dem sandigen Boden tritt man plötzlich auf einen saftigen frischen, vielleicht ein wenig sumpfigen Wiesengrund hinaus, an dessen Ende in der Mittellinie der junge Bach entspringt, wo ihn das Auge aber vergeblich sucht. Denn thalabwärts schleichend verschwindet er sofort inmitten einer Doppelgallerie prächtiger, schlank emporragender Fächerpalmen und hochstämmiger Laubbäume; und dieser an vollen Wipfeln und Kronen reiche Wald geht nicht etwa beiderseits mit Sträuchern oder Gestrüpp in den niedrigen Busch über, sondern zieht als freistehende dunkle Mauer in die Ferne, noch eine gute Strecke von dem feuchtschimmernden breiten Streifen der grünen Grasflur eingefasst.

Der Topograph darf sich nicht beklagen, dass er schwere Arbeit habe; steigt er auf einen der Tafelberge oder bewegt er sich auf hohem Chapadão, so erblickt er nirgendwo wie bei uns die in der Sonne schimmernden Silberbänder der Wasserarme, allein für ihn bedeuten Bach oder Fluss alle die schmalen, auf hellem Grund scharf abgesetzten Waldlinien, die aus engen Querthälern der Hügelrücken seitlich hervortreten und in gewundenem Lauf den rasch anschwellen - den und dem ferneren Horizont zustrebenden Hauptzug im tiefen, breiten Thal - grund suchen.

Hier oben auf der Hochebene befinden wir uns in der echten Natur der » Campos «, und alle Eigentümlichkeiten dieser Kampwildnis die in beliebigen Uebergängen von dem schwer durchdringlichen, mit stachligen Hecken und dornigem Gestrüpp erfüllten Buschdickicht, dem » Campo cerrado «, bis zu der nur von schmucken Wäldchen (Capões) oder kleinen Palmenständen (Buritisaes) unter - brochenen Grassteppe erscheint alle Eigentümlichkeiten ihrer wechselnden Bodengestaltung und Bewässerung, ihrer Pflanzen - und Tierwelt, ihrer Lebens - bedingungen für den Menschen fasst der Brasilier in dem einen Wort » Sertão « zusammen. Der Sertão » bruto «, der rohe wilde Sertão, ist der, in dem es keine Menschenwohnung oder Weg und Steg überhaupt mehr giebt, wie wir ihn jenseits des Paranatinga in seinem vollen Glanze kennen lernten, aber auch der Sertão, der einige Leguas im Nordosten von Cuyabá beginnt, ist nur eine gewaltige Einöde mit wenigen kleinen, um Tagereisen voneinander entfernten Ansiedelungen.

Man kann ohne grosse Uebertreibung sagen, dass der Sertão bereits hinter den Thoren der Hauptstadt einsetzt, denn kein Feldbau, keine Dörfer, keine Bauernhöfe, nur die sandigen, mit Kieselbrocken bestreuten Wege durch das niedrige Gebüsch verraten die Kultur. Im Anfang zieht man noch auf breiter Strasse, die nicht gerade mit Fahrdamm, Wegweisern und Meilensteinen ausge - stattet, aber für die Tiere gut gangbar ist. Sie liegt nur völlig vernachlässigt; jedes Hindernis, eine tiefe Karrenspur oder ein in der Regenzeit ausgespültes Loch oder ein seitlich herabgestürzter Baum wird umgangen, umritten oder um -21 fahren. Bald aber verengert sich der weniger und weniger betretene Weg und jenseit des Rio Manso wird er für lange Strecken zum schmalen Pfad, den Maul - tier - oder Rinderfährten nicht immer deutlich bezeichnen.

Ansiedler. Bei der ansässigen Bevölkerung, den » moradores « unseres Ge - biets, wollen wir einen Augenblick verweilen, ehe wir von aller Zivilisation es ist nicht gerade viel, was sie selbst davon haben bis zum letzten Teil der Rückreise Abschied nehmen müssen.

Erst am 7. Reisetage, dem 3. August, trafen wir ein Gehöft in Pontinha, am 4. August kamen wir nach der kleinen Ansiedelung von Tacoarasinha am Rio Manso und am 12. und 13. August im Quellgebiet des Cuyabá nach dem Sitio des Boaventura, sieben elenden Hütten, und nahebei den beiden Fazenden von Cuyabasinho und Cuyabá, die im Besitz derselben Familie sind. Mehr als durch lange Beschreibung werden die Verhältnisse durch die einfache Thatsache be - leuchtet, dass alle jene Niederlassungen mit Ausnahme der des Boaventura erst seit kürzester Zeit an ihrem heutigen Orte stehen: der Eigentümer von Pontinha war von dem Rio Marzagão, den wir am 9. August passierten, herübergezogen, weil die zahlreichen blutsaugenden Fledermäuse dort die Viehzucht unmöglich machten die Leute von Tacoarasinha hatten kurz vorher noch weiter ober - halb am Rio Manso einen Ort Bananal bewohnt die Fazendeiros von Cuyabá - sinho und Cuyabá hatten wir selbst 1884 schon an anderer Stelle besucht und zwar näher am Paranatinga in der Fazenda Corrego Fundo (vergl. » Durch Centralbrasilien « p. 116), die teils des Wechselfiebers, der » Sezão «, teils eines Brandes wegen aufgegeben worden war und nun nur noch auf unserer somit bereits veralteten Karte existiert; der Grund, den man in der Stadt am häufigsten vorauszusetzen geneigt ist, dass Überfälle von Indianern den Fazendeiro zum Wegziehen genötigt hätten, trifft heute nur in den seltensten Fällen zu. So darf es nicht Wunder nehmen, dass wir auch einige » Tapeiras « oder verlassene Gehöfte antrafen, wo wir in dem alten » Laranjal « erquickende Apfelsinen pflückten oder an den Pfefferbüschen unsere Gewürzflaschen füllten. So hat es auch nur der Sitio des Boaventura bereits zu einem kleinen in tiefer Einsamkeit gelegenen Kirchhof gebracht: auf einem Haufen rostbrauner Cangaschlacken erhebt sich ein Holzkreuz, ohne Inschrift natürlich, und ringsum liegen zwölf steinbedeckte Gräber, deren Inhaber, wie während des Lebens, in der Hängematte schlafen.

» Arme Leut «, diese portugiesisch sprechenden Moradores von vorwiegend indianischer, stark mit Negerblut versetzter Rasse. Im Vergleich zu ihnen waren die Bewohner der kleinen, sicherlich nicht sehr blühenden Ortschaften am Cuyabá, Guia und Rosario, die wir 1884 besucht hatten, wohlhabende Städter. Nur am Cuyabasinho schien wenigstens ein grösserer Viehstand vorhanden zu sein; die Rinder leben in völliger Freiheit und werden gelegentlich gezählt und gezeichnet, doch macht sich in der ganzen Provinz der verhängnisvolle Uebelstand geltend, dass die auf den weiten Strecken unentbehrlichen Pferde schnell an einer mit22 Lähmung der hintern Extremitäten beginnenden » Hüftenseuche «, peste-cadeira, zu Grunde gehen, und die Zucht vorläufig unmöglich erscheint. Angegeben wurde mir auf der Fazenda ich glaube nicht recht an diese Zahlen ein Viehstand von 5 6000 Rindern und 60 Pferden; Maultierzucht wurde versuchs - weise begonnen. Die Schweine wurden nicht gemästet, da man allen Mais verkaufte.

Wie gross der Landbesitz ist, weiss der Fazendeiro selbst nicht; niemals haben hier regelrechte Vermessungen stattgefunden. Niemand prüft auch die Ansprüche. Der Herr des fürstlichen Grundbesitzes wohnt mit seiner Familie in einem strohgedeckten, aus lehmbeworfenem Fachwerk erbauten Hause ohne Keller und Obergeschoss, in dem es ein paar Tische, Stühle oder Bänke und rohge - zimmerte Truhen, aber keine Kommoden, Schränke, Betten, Oefen giebt: Alles schläft nach des Landes Brauch in Hängematten, und man kocht auf einem Back - ofen in einer vom Hause getrennten Küche oder Kochhütte. Das Verhältnis zum Fremden hält die Mitte zwischen Gastlichkeit und Gastwirtschaft oder Geschäft: man nimmt für die Unterkunft im Haus oder Hof kein Geld, spendiert Kaffee, ein Schnäpschen, Milch, wenn es deren giebt, und verkauft Farinha, Reis, Bohnen, Mandioka, Mais, Dörrfleisch, Hühner. Wie allenthalben im spanischen oder portu - giesischen Amerika wird der Eintretende zu dem Mahl eingeladen, das gerade eingenommen wird. Allein der ärmere Cuyabaner, erzählte man mir, ass deshalb gern aus der Schublade statt von der Platte des Tisches: ertönte das Hände - klatschen vor der Thüre, das einen Besuch anzeigte, so verschwanden gleichzeitig mit seinem freundlichen » Herein « die Teller im Innern des Tisches. Unleugbar praktisch.

Mit der Cachaça, dem Branntwein, hatten wir es in Cuyabasinho schlecht getroffen: drei Tage vorher war aller Vorrath an einem Fest zu Ehren des heiligen Antonio ausgetrunken worden. Vorsorglich werden stets die Frauen auf der Fazenda dem Fremden ferngehalten, wenn sie nicht schon mehr oder minder Grossmütter sind, und in diesem Misstrauen, wie in der grossen Jäger - geschicklichkeit und in der Freude an allen Abenteuern mit dem Getier des Waldes, dem sie mit ihren ausgehungerten halbwilden Hunden zu Leibe rücken, meint man die indianische Abstammung der Moradores noch durchbrechen zu sehen.

Geradezu armselig waren die Hütten von Tacoarasinha, deren Bewohner von den Schingú-Indianern in Hinsicht auf behagliche tüchtige Einrichtung und fleissige Lebensfürsorge unendlich viel zu lernen hätten. Diese kleineren Moradores, fern von allem Verkehr und ohne jede Erziehung aufgewachsen, auf den engsten geistigen Horizont beschränkt, sind durch und durch » gente atrasada «, zurück - gebliebene Leute; sie leben bedürfnislos, mit ein paar Pakú-Fischen zufrieden, von der Hand in den Mund, und ihre guten Anlagen verkümmern im Nichtge - brauch. Es gab in dem elenden Nest am Rio Manso kein Pulver und Schrot, keinen Kaffee, keine Rapadura. Von uns wollten sie Mais und Farinha kaufen! Sie hatten nur zwei Kanus und waren doch bei ihrer Trägheit in erster Linie auf den Fischfang angewiesen.

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Zum Fluss hinunter war am Morgen und Abend ein fortwährendes Kommen und Gehen. Die Frauen holten Wasser, erschienen aber stets zu mehreren oder in Begleitung eines Mannes. Natürlich wurden wir, da wir Bücher bei uns hatten, Notizen machten und mit wunderbaren Instrumenten hantirten, von der schlecht ernährten, kränklichen Gesellschaft fleissig um unsern ärztlichen Rath gefragt. » Ich bitte «, lautete dann die Ansprache, » um die grosse Freundlickeit, mir den Puls zu fühlen «, oder » sind Sie der Herr, der den Puls fühlt? « Gern suchten wir aus unserer Apotheke ein Trostmittelchen hervor und erhoben Ehrenreich, der von uns das ernsteste Gesicht hatte, ein für alle Mal auf den Posten des » Herrn, der den Puls fühlt «.

Von dem Neuen, was sie bei uns sahen, erregten ausser einem überall bewunderten dreiläufigen Gewehr am meisten ihr Erstaunen die aus Kautschuk und Gummi verfertigten Sachen, da sie gelegentlich ausziehen, um die » Seringa «, den Saft der Siphonia, zumal im Distrikt des Rio Beijaflor, zu sammeln. Es war die reine Zauberei, als wir mit zwei aufgeblasenen Gummikissen ein schwer lahmendes Maultier, das in einem vorspringenden Ast gerannt war und nicht zu schwimmen vermochte, hinter dem Kanu über den Rio Manso bugsirten. Ein Kamm und gar eine Tabakspfeife aus Kautschuck! » Was gibt es nicht alles in dieser Gotteswelt, ihr Leute neste mundo de Christo, oh, djente, djente! « Die Frauen, die wir im Sitio des Boaventura sprachen, waren Zeit ihres Lebens noch nicht einmal in Rosario oder bei der heiligen Senhora von Guia gewesen. Alles wird aber besser werden, » wenn erst die Eisenbahn kommt «.

Hier möchte ich auch einer kleinen romantischen Episode gedenken, in der wir unbewusst als Schützer treuer Liebe wirkten. Am 17. Tage sahen wir, in aller Morgenfrühe aufbrechend, vor uns ein seltsames Paar wandern, das wir bald einholten. Es war ein Neger, zerlumpt, hässlich schielend, aber gutmütig ausschauend, und eine Negerin, jung, hübsch, jedenfalls viel zu hübsch für ihren Begleiter, er auf dem Rücken, sie auf ihrem schwarzen Tituskopf ein grosses weisses Bündel tragend. Beide gingen barfuss und zwar sie in einem rosafarbenen Kattun - kleid mit himmelblauen Volants, er das Buschmesser, sie eine ungeschlachte Pistole in der Hand. Woher? » Von Cuyabá. « Wohin? » Zu den Bakaïrí am Paranatinga. « Er war Fuhrknecht in der Stadt gewesen und sie, die er heiraten wollte, Sklavin; ihr Herr hatte seinen Konsens verweigert, und der Preis, sie loszukaufen, war uner - schwinglich gewesen. Der gute Bischof, den sie um Beistand anflehte, riet ihnen er heisst Carlos Luiz d’Amour das Weite zu suchen, bis er die Angelegenheit in Ordnung gebracht habe. Ob auch er oder ein anderer milder Genius den Gedanken eingegeben hat, ich weiss es nicht sie liessen sich auf ihrer Flucht durch unsern Zug Ziel und Weg weisen, pilgerten, ohne dass wir eine Ahnung davon hatten, dicht hinter uns her, schliefen in der Nähe unserer Lagerplätze und fanden dort nach unserm Abmarsch, wenn wir Jagdglück gehabt hatten, auch noch einen Rest Wildpret zum Morgenimbiss. Einer der Fazendeiros,24 hatte sie vergeblich verfolgt. Jetzt erst im Quellgebiet des Cuyabá fühlten sie sich in Sicherheit; die wenigen Tagemärsche, die noch zu den Bakaïrí fehlten, war die junge Frau ausser Stande, zurückzulegen, aber sie fanden Unterkunft und Arbeit bei der letzten Ansiedelung. Wenn ihnen dort im Mai des folgenden Jahres ein pünktlicher Storch, Ciconia Maguary, das erste Pickaninny gebracht hat, konnte er auch der Mutter die Freudenbotschaft melden, dass die Sklaverei abgeschafft sei, und ihr die Stunde der Freiheit geschlagen habe.

Zahme Bakaïrí. Dem äussern und innern Leben der brasilischen Ansiedler durchaus ähnlich verfliesst den in ihrer Nähe wohnenden Bakaïrí das Dasein. Sie sind alle getauft warum, wissen sie selber nicht, es sei denn, um einen schönen portugiesischen Vornamen, dessen Aussprache ihnen oft schwere Mühe macht, zu bekommen und Einige von ihnen radebrechen auch ein wenig das gebildete Idiom Brasiliens.

Das schon zum Arinosgebiet gehörige Dorf am Rio Novo zu besuchen, wo wir sie 1884 zuerst kennen lernten (vergl. » Durch Zentralbrasilien « p. 102 ff. ), ging leider nicht an; um so mehr war ich am 11. August überrascht und erfreut, als wir vor dem Uebergang des Cuyabá, den wir trotz seiner 70 bis 80 m Breite durchschreiten konnten, ganz unversehens einem kleinen Zug von etwa neun In - dianern begegneten, guten alten Bekannten, die ihrerseits nicht wenig erstaunt waren, in ihrer Sprache angerufen zu werden. Sie hatten ihr Dorf vor 2 Tagen verlassen und brachten Kautschuk nach Cuyabá; sie reisten langsam, von Last - ochsen begleitet, und schossen sich mit Pfeil und Bogen unterwegs ihre Fische. 22 Arroben Kautschuk führten sie, ein achtbares Quantum mit einem Wert, die Arrobe zu 33 Milreis, von 726 Milreis oder damals über 1400 Mark. So wenigstens rechnete Perrot. Wissen möchte ich aber, wie der Handelsmann in Cuyabá ge - rechnet, und für welchen Gegenwert von Tauschartikeln er ihnen den Kautschuk abgenommen hat. Wäre noch der Häuptling Reginaldo dabei gewesen, der bis 20 zählen konnte.

Die Bakaïrí des Paranatinga trafen wir schon auf der ehemaligen Fazenda von Corrego Fundo, die nun zu einem » Retiro «, einer kleinen Station für die Viehwirtschaft, herabgesunken war; sie hatten sich dort für einige Tage verdingt und gingen am folgenden Tage insgesamt mit uns zu ihrem Dorf am Flusse. Antonio war glücklich, Wilhelm und mich wieder zu sehen und sofort zum Mit - gehen bereit, ohne auch nur ein Wort über die Bedingungen oder über die Einzelheiten unseres Planes zu verlieren. Im Dorf war es wieder urgemütlich: viele Hühner mit ihren Küken, einige unglaubliche Hunde und dicke Schweine liefen umher, für zwei mittlerweile zusammengestürzte Häuser hatte man zwei neue eins davon ein kleiner Fremdenstall gebaut, Bananen und Mandioka waren reichlich vorhanden und nicht minder der delikate Matrincham-Fisch. Der war jetzt gerade auf seiner nächtlichen Massenwanderung flussaufwärts begriffen und er, dem zu Ehren das schönste Tanzfest mit dem lustigsten Mummenschanz ge -25 feiert wird, gilt dem seinen Paranatinga liebenden Bakaïrí als das beste Wertstück der Heimat; » Matrincham! «, sagte der Häuptling Felipe lakonisch, als ich ihn fragte, ob er nicht besser sein Dorf mehr cuyabáwärts verlege.

Einer sehr späten Nachwelt werden diese Heimstätten nicht erhalten werden, wenn sich nicht vieles ändert, und Felipe, der sich selbst nur Pelipe aussprechen kann, war einsichtig genug, den Verfall zu bemerken. Seit 1884 waren Mehrere zu den Fazendeiros verzogen, darunter auch zwei Brasilier, die sich damals in der Gemeinde eingenistet hatten, den alten Miguel hatten meine Chininpulver nicht am Leben erhalten, Kinder waren nicht geboren, der hundertjährige Caetano schwatzte zwar noch so vergnüglichen Unsinn zusammen, dass kein Ende abzu - sehen war, allein Nachwuchs konnte seine junge Luisa von ihm nicht erwarten, und die Statistik verdarb entschieden der Gebrauch, dass den Alten die Jungen, den Jungen die Alten vermählt wurden, sowie die Anschauung, dass Angriffe auf das keimende Leben nicht als Verbrechen gelten.

Das Dorf vor dem Untergang zu retten, giebt es nur ein Mittel, das zugleich einen Erfolg von weit grösserer Tragweite einbringen könnte, und auf dieses Mittel ist keineswegs die brasilische Regierung, sondern in seiner Besorgnis der dumme Felipe verfallen. Es besteht einfach darin, dass man sich womöglich mit den von uns 1884 aufgefundenen Bakaïrí des Batovy in dauernden Verkehr setze und einen Teil von ihnen nach dem Paranatinga ziehe. Felipe erzählte, was von hohem Interesse ist, dass er mit Antonio und einem Andern sich 1886 auf - gemacht habe, die Stammesgenossen an dem Zufluss des Schingú zu besuchen. Ich komme auf die näheren, auch ethnologisch wichtigen Umstände später in der Geschichte der Westbakaïrí zurück und bemerke hier nur, dass es den Dreien gelang, einige Bakaïrí des ersten Batovydorfes zu einem umgehenden Gegenbesuch am Paranatinga zu veranlassen; sie wurden mitgenommen, sahen die Wunder der europäischen Kultur und kehrten beschenkt mit Allem, was die armen Teufel schenken konnten, an den Batovy zurück, einen späteren Besuch in grösserer Zahl in Aussicht stellend.

Für unsere Expedition hatte der merkwürdige Zwischenfall eine grosse Be - deutung. Felipe und Antonio hatten von ihren Verwandten erfahren, dass es auch im Osten des Batovy-Tamitotoala an dem Kulisehu noch mehrere Bakaïrídörfer gebe. Mein Herz hüpfte voller Freude bei dieser Nachricht. Denn wenn wir erstens den Kulisehu finden und zweitens dort mit Bakaïrí zu - sammentreffen würden, hatten wir gewonnenes Spiel. Ihrer Hülfe waren wir sicher und von ihnen erhielten wir auch genaue Auskunft über die anderen Stämme des Flusses. Und so ist es denn auch gekommen.

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III. KAPITEL. Von Cuyabá zum Independencia-Lager. II.

Marsch. Unser Zug. Aeussere Erscheinung von Herren und Kameraden. Maultiertreiber - und Holzhackerkursus. Zunehmender Stumpfsinn. Die Sonne als Zeitmesser. Freuden des Marsches. Früchte des Sertão. Nachtlager und Küche. Ankunft. Ungeziefer. » Nationalkoch « und Jagd - gerichte. Perrot’s Geburtstagsfeier. Nachtstimmung. Gewohnheitstraum des Fliegens. Aufbruch am Morgen. Rondonstrasse und letzter Teil des Weges. Sertãopost. Im Kulisehu-Gebiet. Independencia. Schlachtplan.

Marsch. Die Leistungen unserer Karawane waren sehr verschieden, aber durchschnittlich galt ein Marsch von sechs Stunden als das normale Mass. In der ersten Zeit wurde es gewöhnlich, keine besonderen Hindernisse vorausgesetzt, Uhr, bis der Aufbruch erfolgte; später gelang es um 7 Uhr fortzukommen. Am Mittag wurde häufig eine kleine Ruhepause eingeschoben, wozu irgend ein schwieriger Bachübergang den willkommenen Anlass bot.

Unser Zug sah wohl gerade nicht elegant aus, er hatte aber etwas Flottes und Originelles an sich. Perrot zu Pferde ritt im bedächtigen Schritt dem alten Schimmel mit langem Schweif und langer Mähne, der Madrinha, voraus, die nichts als am Hals ihre Glocke trug; nebenher schritt barfuss der Küchenjunge Manoel, stolz das Gewehr eines der Herren auf der Schulter, und in der Hand oder am Gewehr oder auf dem Kopf den grossen blau emaillirten Kessel. Es folgten oder folgten häufig auch nicht die sechzehn Maultiere, eins hinter dem andern, und wir und die Leute dazwischen verteilt, zumeist ein Jeder für sich allein vorwärts strebend; über die hochaufgestapelte Last der Tiere, einem Kutschen - dach ähnlich, war eine steife Ochsenhaut gespannt, auf der die alles zusammen - schnürende » Sobrecarga «, ein breiter Lederriemen, nur schlechten Halt fand. Ueberall und nirgends endlich die Hunde; den Vieren hatte sich als Fünfter ein kleiner weiblicher Spitz auf einer verlassenen Ansiedelung » Fazendinha «, nach der er selbst den Namen Fazendinha empfing, anschliessen dürfen. Unermüdlich flog der alte Renommist Januario auf seiner muntern Mula die Reihe entlang und sprach lobend oder tadelnd mit den Maultieren, blieb auch ab und zu ein Stück zurück und fröhnte seiner Leidenschaft, den Kamp anzuzünden, weniger um des nächtlich schönen Flammenschauspiels willen als zu dem praktischen Zweck, dass27 der Rückweg » man konnte ja nicht wissen « durch den schwarzen Streifen weithin sichtbar bleibe und in dem frisch ersprossenen Gras auch zartes Futter liefere. » Die Wolkensäule wich nimmer von dem Volk des Tages, noch die Feuersäule des Nachts. «

Höchst anständig präsentirten sich in ihrer Erscheinung die beiden Reiter: Perrot in buntfarbigem Leinenhemd und weissleinenen Beinkleidern, vom Hut bis zu den Kavalleriestiefeln adrett und nett und militärisch, und Januario mit seinem feierlichen schwarzbraunen verrunzelten Gesicht über dem weissen Stehkragen, nur Leutnant a. D., aber den Sattel funkelnagelneu, das Gewehr in neuem Futteral, den Revolver in einer neuen mit Jaguarfell überzogenen Tasche, ein blitzblankes Trinkhorn umgehangen, und ohne Sorgen für die Zukunft, da er sich täglich mehr von seinen Gläubigern entfernte, deren zwei noch auf dem ersten Lagerplatz erschienen waren und mit enttäuschten Mienen wieder hatten abziehen müssen. Auf seinen Schuhen sassen mit einem merkwürdigen, tief eingeschnittenen Fransenkranz lose Stiefelschäfte als Futterale für die Unterschenkel auf: er hatte sie kunstgerecht von einem Paar alter Stiefel abgeschnitten, die ihm 1884 Dr. Clauss verehrt hatte!

Doch zierte auch Wilhelm und mich noch dasselbe Paar Hosen von englischem Leder nach Art der italienischen Orgeldreher, das die erste Expedition mitge - macht hatte. Es hatte dem Vogels für die neue Reise zum Vorbild gedient; für Jäger’sche Wollene schwärmte Ehrenreich. Wir alle Vier trugen Jägerhemden und sind mit ihnen zumal in der schwülen Regenzeit, weil sie den Schweiss sofort aufsaugten[und] rasch trockneten, sehr zufrieden gewesen. Unsere breitrandigen Strohhüte waren in dem Gefängnis von Cuyabá gearbeitet worden, billig, doch anscheinend für kleinere Köpfe. Das Schuhwerk war verschieden: Ehrenreich und ich gingen in Bergschuhen und, wo der Sand sich häufte, wanderte ich barfuss; Wilhelm liebte Pantoffeln, Vogel die leinenen Baskenschuhe, die man am La Plata kauft. Eine Zeit lang benutzte ich auch, ohne mich recht daran gewöhnen zu können, » Alprecatas « (in gutem oder » Alpacatas «, » Precatas « im matogrossenser Portugiesisch), Ledersandalen, die mir aus frischer Tapirhaut geschnitten worden waren. Diese Sandalen, den Indianern unbekannt, sind von den Negern eingeführt worden; so befinden sich im Berliner Museum für Völkerkunde in der Kameruner Sammlung des Leutnant Morgen zwei Paar genau derselben Art, wie die Ka - meraden und ich sie gebrauchten. Die Sohle muss so geschnitten werden, dass man mit den Haaren gegen den Strich geht; eine Riemenschlinge beginnt zwischen erster und zweiter Zehe, läuft horizontal um die Ferse und wird vor dieser beider - seits mit einer Schlaufe nach unten festgehalten.

Die Kameraden trugen auf dem Rücken einen steifen selbstgenähten Leder - sack, den Surrão; nur Antonio schleppte seine Habseligkeiten in einem schweren weissen Leinensack, und schien sich auch, wenn er ein Wild verfolgte, dadurch kaum behindert zu fühlen. Die Militärs unter ihnen, Perrots vier Unteroffiziere, trugen von ihrer Uniform nur selten den blauen Rock mit rotem Stehkragen28 und drei Messingknöpfen am Aermel; er stand auch wirklich, obwohl er nicht die erste Garnitur war, zu den bald abgerissenen Zivilhosen, zu dem alten Filzdeckel auf dem Kopf und den blossen Füssen in einem gewissen Widerspruch. Gewöhnlich gingen sie in Drillichjacken, die rot eingefasste Achselklappen hatten. Am Hut steckte eine Nähnadel, eine Zigarette oder dergleichen; den des schwarzbraunen Columna schmückte ein rosa Seidenband. Carlos und Peter erfreuten sich eines sehr festen Anzugs (d. h. Hemd und Hose) aus Segelleinen, der wie die Stiefel - schäfte Januario’s einen historischen Wert besass: er war aus dem Zelt ihres früheren Herrn, des Naturforschers Herbert Smith geschnitten.

Der Flinte konnte der Eine oder Andere wohl entraten; ich habe die meine Peter überlassen, mich mit dem Revolver begnügt und auf der ganzen Reise keinen Büchsenschuss abgegeben. Unser Aller unentbehrlichstes Stück war das Facão, das grosse Buschmesser; das von uns mitgenommene Solinger Fabrikat hat den Anforderungen, die daran gestellt werden mussten, die freilich sonst auch nur an ein Beil gestellt zu werden pflegen, nicht ganz entsprochen und stand dem amerikanischen, in Cuyabá käuflichen entschieden nach.

Die Meisten von uns führten in der kleinen Umhängetasche, der » Patrona «, neben einiger Munition und einem Stück Tabak das Feuerzeug des brasilischen Waldläufers bei sich, das man in den Sammlungen gelegentlich als indianisches Objekt bezeichnet findet: einen Stahl von Bügelform und in der oft mit einge - ritzten Mustern hübsch verzierten Spitze eines Ochsenhorns den Feuerstein und die » Isca «, entweder Baumwolle, die von den schwarzen Kernen befreit und am Feuer ein wenig gedörrt wurde, oder, als sie ausging, schwammiges Bastgewebe von der Uakumá-Palme. Eine Holzscheibe verschliesst das Hörnchen und kann an einem in der Mitte befestigten Stückchen Riemen herausgezogen werden. Fehlte einmal Stahl oder Stein, brachte man den Zunder leicht mit einem Brennglas oder dem Objektiv des Feldstechers zum Glimmen; an Sonne fehlte es nicht. Endlich hing uns am Gürtel der » Caneco «, ein gewöhnlicher Blechbecher mit Henkel, oder eine Kürbisschale von der Crescentia Cuyeté, die innen geschwärzte, zum Essen wie zum Trinken dienende » Kuye «.

Vogel machte seine Wegaufnahme, mit dem Kompass peilend, die Uhr be - fragend, notirend, zuweilen einen Stein zerklopfend oder an langem Faden das Schleuderthermometer schwingend. Ehrenreich wanderte beschaulich und die um - gebende Natur studierend fürbass; Wilhelm und ich waren auf dem ersten Teil des Marsches als Maultiertreiber und auf dem zweiten als Holzhacker mit wütendem Eifer thätig.

Was unsern Treiberkursus anlangt, so schienen die Maultiere im Anfang vom Teufel besessen. Daher das ewige » oh diavo « - Fluchen oder etwa ein zorniges » oh burro safado para comer milho « der Kameraden: » oh du verfluchter Esel, der nichts kann als Mais fressen « und mehr dergleichen kräftiger Zuspruch. Die beliebig in Cuyabá und Umgegend zusammengekauften Tiere bildeten noch eine regellose Horde selbstherrlicher Individuen, und die bessern Gemüter unter ihnen wurden29 durch ein paar ehrgeizige Racker, die durchaus den andern vorauskommen wollten, demoralisirt: sie liefen im dichtern Kamp mit ihren Lasten gegen die Bäume an, dass die dürren Aeste krachten und die Gepäckstücke herabkollerten, und schlugen sich dann munter seitwärts in die Büsche; die Leute mussten ihre Leder - säcke abwerfen, um die Flüchtlinge zurückzuholen, die überall verstreuten Sachen und Riemen zu sammeln und alles wieder aufzuladen, wozu aber jedesmal min - destens zwei Personen nötig waren, da die beiden schweren Bruacas rechts und links a tempo eingehängt wurden. Noch heute gedenke ich mit einem Gefühl der Unlust eines Tages, wo die Verwirrung sehr gross war und ich mich allein übrig sah, um sechs Maultiere eine endlos lange halbe Stunde durch den wüsten struppigen Busch vor mir her zu treiben. Im besseren Terrain verursachte wiederum ihr Gelüste, frisches Gras zu fressen oder an den Blättern der Akurí - Palmen zu rupfen, steten Aufenthalt. Allmählich indessen lernten die Esel, wie sie durchweg genannt wurden, bessere Ordnung halten und in der weglosen Wildnis jenseit des Paranatinga hatten wir eine zwar mehr und mehr abmagernde und mit Druckwunden behaftete, aber doch wohldisziplinierte Tropa.

Hier bildeten Antonio, Wilhelm und ich die Avantgarde. Wir brachen eine halbe Stunde früher auf, suchten oder machten vielmehr den Weg, indem wir das Gestrüpp wegsäbelten und unausgesetzt alle drei markirten, d. h. rechts und links mit unsern Buschmessern Zweige kappten oder von dem Stamm ein Stück Rinde wegschlugen, sodass der nachfolgende Zug stetig vorwärts rücken und die Wegrichtung an den zersplitterten Aesten und an den weissen oder roten Schälwunden der Bäume erkennen konnte. Waren wir an ein unüberwindliches Hindernis geraten, und hatten wir deshalb ein Stück zurückzugehen und einen neuen Weg zu suchen, so wurde der unbrauchbar gewordene durch auffällig quer - gelegtes Strauchwerk versperrt, und der neue durch mächtige Schälstreifen geradezu reklamenhaft den Blicken empfohlen. Nicht immer wurden unsere Zeichen richtig gefunden oder die gute Madrinha hatte unbeachtet die Sperrung überschritten; dann räsonnirte die ganze Gesellschaft über unser schlechtes Markiren und wir drei Holzknechte waren nachher sehr betrübt, weil wir im Schweiss unseres Angesichts das Beste gethan zu haben meinten. Uns zum Lobe muss ich erwähnen, dass wir jenseit des Paranatinga unsere alten Marken von 1884 noch wiederfinden und ausgiebig benutzen, ja mehrfach noch deutlich die verschiedenen » Handschriften « unterscheiden konnten.

Zuweilen hatten es wohl beide Teile an Aufmerksamkeit fehlen lassen. Zumal im guten Terrain. Denn es ist ja kaum zu glauben, in welchem Masse die gleichmässig Dahinmarschierenden von stillem Stumpfsinn erfasst werden können. Die ganze Natur schläft in Hitze und Dürre. Der viele Staub, den man schlucken muss, trocknet Lippe und Zunge aus, die Schnurrbarthaare sind durch zähen Teig verklebt und die Zähne haben einen Ueberzug davon, dass man wie auf Gummi - pastillen kaut, der Gaumen verschmachtet. Man duselt und die Andern duseln auch und die Tiere duseln; das fluchende » anda, diavo « wird seltener und30 schwächer oder man hört es nicht mehr, man stiert in die sonnendurchglühte Landschaft und sieht sie nicht mehr. Man spricht leise vor sich hin und rafft sich vielleicht noch einmal auf, den trockenen Mund weiter zu öffnen und dem Nächsten wehmütig zuzurufen: » wenn Sie jetzt in Berlin wären, etc.? « und lächelt schmerzlich über die matte Antwort, aus der etwas wie » Spatenbräu « oder » eine Weisse « hervorklingt. Doch an solchem Traumbild trinkt und schluckt man und an dem Staubteig kaut man und verdrossen stapft man weiter, tief - innerlich, aber ohne sich zur Abwehr aufzuschwingen, einen der Hunde ver - wünschend, der ebenso verdrossen hinterher wandert und uns bei jedem zweiten Schritt auf die Fersen tritt; man torkelt über den Weg oder die Graskuppen, die Koordinationsstörungen nehmen im Gehen oder Denken mehr und mehr zu, schliesslich schläft man, die Andern schlafen, die Tiere schlafen wie die Natur ringsum schläft, nur dass sie unbeweglich daliegt und wir mechanisch weiter rücken.

Gäbe es noch etwas Lebendiges! Doch man wundert sich schon über einen einsamen Schmetterling. Das Tierleben beschränkte sich auf die Cabeceiras und die kleinen Capão-Wäldchen; dort erhob sich stets wütendes Gebell, wenn die Hunde eindrangen und diesen oder jenen die heisse Tageszeit verschlafenden Vierfüssler aufstörten. Aber die Hochebene war tot. Selbst nach Sonnenauf - gang nichts von Vogelgezwitscher, sondern die Ruhe eines Kirchhofes oder so etwas wie eine Landschaft auf dem Monde. Gegen Mittag erbarmungslose Glut - und Bruthitze, die grauschwarzen Bäumchen im Campo cerrado, reine Gerippe, warfen nur dünne Schattenmaschen: zeigte sich in der Ferne einmal ein wirk - licher Baum, so liefen die Hunde, was ein merkwürdiges Zeugnis für ihr Schluss - vermögen abgiebt, ob er nun am Wege oder seitab stand, gerade auf ihn zu und pflanzten sich in seinem Schatten, die Zunge heraushängend und keuchend, auf, bis der Zug vorbeikam. Auf dem hohen Chapadão hörte zeitweilig aller Baumwuchs auf, den Boden deckten scharfes Massega-Gras oder die schauder - haften Pinselquasten des Bocksbarts, barba de bode, von denen der Fuss immer abgleitet, oder Cangaschlacken, die ihn immer hemmen. Dankbar begrüsste man es wie eine Erlösung, wenn wenigstens einmal ein flüchtiger Wolkenschatten ge - spendet wurde.

Das Tagesgestirn gewöhnten wir uns bald wie die brasilischen Waldläufer nicht nur als Kompass, sondern auch als Zeitmesser zu verwerten. Ich brachte es dahin, die Zeit nach dem Sonnenstand bis auf eine Viertelstunde richtig zu schätzen. Perrot behauptete, dass die Leute den Stand der Sonne oder eines Sternes, z. B. der Venus nach Braças (à 2,2 m) bestimmten, etwa: » Die Venus geht morgen um 4 Uhr auf, treffen wir uns bei 3 Braças «. Dem aufgehenden Mond wurde ein Durchmesser von ungefähr I m, dem Mond im Zenith von ½ m zugeschrieben. Ich lernte auch bald, wenn ich nur wusste, wieviel Uhr es ungefähr war, über die Himmelsrichtung unseres Weges im Klaren zu bleiben, ohne besonders zur Sonne aufzuschauen: der Schatten des Vordermannes, der eines Grashalms oder31 der eigne Schatten that völlig denselben Dienst wie die Sonne selbst. Man kommt aber zu einer noch höheren Stufe, es gelingt leicht, eine konstante Himmels - richtung während des Marsches einzuhalten, auch ohne dass man sich die be - stimmte Frage nach der Zeit vorlegt, indem man nur vom ersten Augenblick an die Schattenlinien beobachtet und dann im Stillen an ihrer fortwährenden, vom Gang der Sonne abhängigen Verschiebung anfangs bewusst, bei grösserer Uebung unbewusst weiterrechnet: will man z. B. östliche Richtung innehalten, so geht man bei Sonnenaufgang der Sonne entgegen und sorgt dafür, dass sich der links entstehende Winkel von Wegrichtung und Schattenlinie allmählig in dem Grade vergrössert, als sich die Sonne nach Norden bewegt. Diesem Winkel zwischen Aufgang und Mittag, zwischen Mittag und Untergang das für den grob praktischen Zweck ausreichende Mass zu geben, macht bei stetigem Marsch selbst einem Kulturmenschen, der sich ohne seine Instrumente sehr ungeschickt anstellt, keine grossen Schwierigkeiten und weckt in ihm wenigstens die Ahnung eines Verständnisses dafür, wie der von Jugend auf die Natur mit offenen Augen beobachtende Eingeborene die Uebung soweit gesteigert hat, dass wir ihm einen besonderen » Instinkt « zuschreiben möchten.

Ein solcher » Instinkt «, der auf sehr sicherm Wissen beruht, bildet sich auch für die topographische Kenntnis des Terrains heraus: unsere beiden Autoritäten Vogel, der nie im Sertão gewesen war, und Antonio, dem Geologie und Mathematik in gleicher Weise fremd geblieben waren, hatten über den Verlauf der Chapadões und der Cabeceiras, von dem unsere Marschrichtung abhängen musste, zuweilen recht verschiedene Ansichten und es kam dazu, dass sie eine Zeit lang einander unfreundlich und damit auch falsch beurteilten.

Vielleicht habe ich, der Beschwerden des Weges, des Durstes, der Monotonie des Landschaftsbildes gedenkend, eine ungünstigere Meinung von dem Sertão der Trockenzeit erweckt als billig ist. So darf ich nicht unterlassen auch einige Lichtpunkte zu zeigen. Da ist nun vor allem hervorzuheben, dass die kühlen Nächte und der Schlaf im Freien ungemein erfrischten, und dass man sich an jedem jungen Morgen wieder im Vollbesitz der leiblichen und geistigen Elastizität befand; da ist nicht zu vergessen, dass man auch auf angestrengtem Marsch nicht schwitzte, weil die trockene Luft den Schweiss schon im Entstehen aufsog, und dass die Tage, an denen man mehrere Stunden hintereinander gar kein Wasser oder auf dem Grund eines hohen verstaubten Bambusdickichts nur eine salzig - bittere Lache fand, zu den Ausnahmen gehörten. Wie köstlich waren auch wenigstens so lange die Lasttiere noch nicht angelangt waren und die schwierige Passage noch keine Sorge machte die etwa 10 Schritt breiten, tief einge - schnittenen, von überhängendem Gezweig beschatteten Bachbetten, wo man unter der grünen Wölbung auf einer rötlichen Sandsteinfliese an dem kristallklaren Wässerchen sass, mit vollem Becher schöpfte, das Pfeifchen genoss und mit dem nackten Fuss plätschernd die hurtigen, in ihren gestreiften Schwimmanzügen aller - liebst aussehenden Lambaré-Fischchen aufscheuchte oder einen der handgrossen32 azurblauen, in den Sonnenlichtern metallisch aufschimmernden Neoptolemos-Falter bei seinem Flug von Staude zu Staude beobachtete. Und so bescheiden die niedrigen Guariroba-Palmen mit ihren gewöhnlichen Blättern waren, so elegant erschienen dem Auge schon aus weiter Ferne die mit mächtiger Fächerkrone aufragenden Buritís, die nicht nur wegen ihrer Schönheit, sondern namentlich auch deshalb willkommen waren, weil sich bei ihrem Standort immer Wasser befindet.

Gern würde ich auch den tropischen Früchten, die man in unserer Einöde billiger Weise im Ueberfluss antreffen sollte, ein Loblied singen, um das Konto der Annehmlichkeiten zu vermehren, aber es ist merkwürdig, man mag kommen, wann man will, es ist stets zu spät oder zu früh für die Gaben Pomonas. Schon fast zu zählen waren die Früchte der Uakumá-Palmen, Cocos campestris, die uns zu Teil wurden, und deren gelboranges Fleisch einen klebrigen aprikosen - süssen Saft besass; gewöhnlich hatte sie schon vor vollendeter Reife der Tapir gefressen. Nur sehr selten konnten wir uns an ein paar Mangaven, Hancornia speciosa, erquicken, und am allerseltensten war uns das Beste, die äusserlich apfel - ähnliche, » grossartig « schmeckende Frucht von Solanum lycocarpum, Fruta de lobo oder Wolfsfrucht des Sertanejo’s beschieden, deren quellender Süssigkeit durch die schwarzen Kerne ein wenig zarte Bitterkeit beigemischt wurde. Dabei schritt in unserer Marschordnung der » indian file « Einer hinter dem Andern, und war die blosse Gelegenheit schon selten, so war noch viel seltener der Vordermann, der sie nicht für sich selbst voll ausnutzte. Ich, der ich doch meist an zweiter Stelle ging, glaubte schon recht zu kurz zu kommen, und bildete mir von dem sonst so löblichen Antonio vor mir das Urteil, dass er Alles von reifen saftigen Früchten bemerke und Alles schleunigst in Selbstsucht geniesse; er kam, sah und saugte.

Nun, und wenn sich während des Marsches die Summe der Lust und die der Unlust etwa die Wage hielten, so überwog auf dem » Pouso « jedenfalls das Vergnügen trotz der gelegentlichen Misère eines schlechten Platzes oder des Ungeziefers oder der vermissten Maultiere.

Nachtlager und Küche. Auf Wasser, Weide und » Hängemattenbäume « kam es an, wenn wir Quartier machten. Zum idealen Pouso gehörte ein klarer Bach mit bequemem Zutritt für Tiere und Menschen, der auch an tieferen Stellen zwischen reinlichen Sandsteinplatten ein erfrischendes Bad gewährte, gehörte ferner junges saftiges Gras in einer vom krüppeligen Kampwald umschlossenen Thalmulde, sodass die Esel nicht verlockt wurden, in die Ferne zu schweifen, gehörte endlich ein Ufer, gut ventiliert, ohne fliegendes und kriechendes Ungeziefer und frei von Untergestrüpp mit schlanken Bäumen in einem Abstand von 7 bis 9 Schritt. Der absolut schlechte Pouso war in dürrer Grassteppe ein Stück Morast mit zwei oder drei dicht beieinander stehenden Buritípalmen, mit einer schwülen Pfütze und darüber summendem Moskitoschwarm; so schlimm aber kam es wenigstens auf dem H in weg nur ganz ausnahmsweise.

DIE KAMERADEN MANOELCARLOSPETERJOÃO PEDRORAYMUNDO COLUMNASATYRO

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Die Bruacas und Gepäckstücke, die Holzsättel und das Riemenzeug wurden in guter Ordnung nebeneinander gestapelt, die Eselrücken sorgfältig auf Schwel - lungen und Druckwunden untersucht und behandelt, und vergnügt entfernte sich die vierbeinige Gesellschaft. Sie hatte volle Freiheit; nur in den ersten Tagen wurden den gefürchtetsten Ausreissern, was aber selten bis zum nächsten Morgen vorhielt, die Vorderfüsse zusammengeschnallt, sodass sie nur mit känguruhartigen, schwerfälligen Bewegungen vorwärts hopsen konnten. Wahrhaft erbitterten uns ein paar von einem Herrn Elpidio gekaufte und deshalb kurzweg » die Elpidios « benannte Esel, die noch vom zweiten Lagerplatz recta via nach Cuyabá zurück - gelaufen waren und fortan, in treuer Freundschaft vereint, jede Gelegenheit be - nutzten durchzubrennen.

Manoel hatte rasch seinen Platz für die Küche gefunden, Holz gesammelt, blasend und mit dem Hut fächelnd ein helles Feuer entzündet, rechts und links einen gegabelten Ast eingerammt und über eine Querstange den Bohnenkessel gehängt. Wir waren währenddess beflissen, die Bäume für die Hängematten aus - zuwählen und bemächtigten uns des Sackes, der den Bedarf für die Nacht ent - hielt; der Sack selbst, der Ledergürtel und was man sonst bei Seite legen wollte, wurde sorgsam an einem Ast frei aufgehangen, damit Termiten und Ameisen nicht gar zu leichtes Spiel hatten. Dann aber ging es schleunigst zu der Bruake, in der sich die Farinha befand, und in dem Becher oder besser in der mehr fassenden Kürbisschale wurde aus der Mehlgrütze, einigen möglichst dicken Schnitzeln Rapadura, so lange es von diesen Ziegelsteinkaramellen noch gab, und einem Schuss Bachwasser eine » Jakuba « angerührt: das war stets ein schwel - gerischer Augenblick, der auf allen Gesichtern frohe Laune hervorzauberte. Wasser von 21° galt als kühler Trank; fast eiskalt erschien uns das während der Nacht kalt gestellte am Morgen falls es die Hunde nicht ausgetrunken hatten.

Mochte selbst ein Bienchen in unsern Nektar fallen. Eines! Aber freilich wenn sie uns umschwirrten, als ob wir blühende Obstbäume wären, wurden wir traurig. Auf einigen Lagerplätzen, besonders auf dem » Bienenpouso « am 10. August waren die kleinen, dicken fliegenähnlichen Borstentiere eine wirkliche Plage. Wie lebendig gewordene Ordenssterne krochen sie über die Brust und bedeckten die Kleidung zu hunderten, begierig, jeden Flecken und jede Spur von Schweiss mit dem ganzen Fleiss, wegen dessen sie oft gelobt werden, zu bewirtschaften. Sie stachen ja nicht, aber sie suchten, sobald man stehen blieb oder sich setzte, in Nase, Auge und Ohr hineinzugelangen, verbreiteten sich auf allen Wegen vor - dringend über die Haut und krabbelten und kitzelten und zerquatschten ekelhaft, wenn man sie unzart anfasste.

Bienen hasste man, während man die Moskitos fürchtete. Von diesen schlimmeren Quälgeistern hatten wir während der Trockenzeit nicht viel zu leiden und auch später ohne Vergleich weniger als 1884 an den Katarakten des mitt - leren Schingú. Der Moskiteiro, der, durch einige dünne Gerten aufgespannt er - halten, unsere Hängematte als luftiges Gazezelt umgab, bot sichern Schutz; diev. d. Steinen, Zentral-Brasilien. 334Ruhe schmeckte doppelt süss im Genuss der stillen Schadenfreude, wenn draussen in unheimlicher Nähe mit unzufriedenem Diminuendo und drohendem Crescendo die feine Musik ertönte. So schrieb, zeichnete, rechnete, faulenzte man unter seinem Moskiteiro. Die nächtlichen Beobachtungen wurden zuweilen unangenehm beeinträchtigt; da tanzten denn Vogel und mein ihm assistirender Vetter vor dem dreibeinigen Theodolithen einen Tanz der Verzweiflung auf und nieder, während sie durch das Fernrohr schauten und die Ziffern niederschrieben. Respekt auch vor der niederträchtigsten kleinsten Art, dem » mosquito pólvora «. Sie ist winzig, fast unsichtbar und dringt unbehindert durch die Gazemaschen des Mos - kiteiros, ihr Stich ich weiss nicht, ob mehr ätzend oder juckend verwirrt die Sinne, in Schweiss gebadet wirft man sich umher und wütend reibt man erst und kratzt dann, trotz des Bewusstseins, für ein paar Sekunden der Erleichterung eine wochenlang schwärende Haut einzutauschen.

Schmerzhaft, und zwar so, dass auch ein Phlegmatiker mit einem Schrei in die Höhe springt, ist der Stich der Mutuka-Bremse. Aber auch sie kommt eigentlich erst für die Rückreise in Betracht. In hohem Grade lästig waren die kleinen Fliegen, die unsere Leute » Lambe-olhos «, Augenlecker, nannten; nur gehörten sie, wie die von den Blättern herabgeschüttelten Carapatos: Zecken, die sich in die Haut einbohren und Blut saugend zu Knötchen anschwellen, und die am Abend verschwindenden Borrachudos: Stechfliegen, deren Stich kleine schwarze Pünktchen von Blutgerinnsel in der Haut zurücklässt, eher zu den Plagen des Marsches als zu denen des Lagers. Die Lambe-olhos wahrscheinlich beachtete man die Tierchen nur bei dieser Richtung ihres Angriffs schienen es ganz allein auf die Augen, und, was ich ihnen sehr übel nahm, ganz besonders auf meine Augen abgesehen zu haben, und endlich, was am schlimmsten war, sie schienen den Raum unter dem Oberlid zu bevorzugen, sodass man schleunigst mit verkniffenem Gesicht den lieben Nächsten zu Hülfe rief und bei dem schwierigen Fall gewöhnlich von einer Hand in die andere wandern musste.

Der unliebsame Besuch der Kupims, Termiten, und der wahren Herren des Urwalds, der Ameisen, galt weniger uns als unserm Nachtsack und den Ledersachen. Glücklicher Weise wurden die Gäste meist noch rechtzeitig am Abend bemerkt, da man durch den Schaden und die lästige Arbeit des Auspackens, Schüttelns, Sengens und Reinigens bald so klug geworden war, vor dem Schlafengehen noch einmal nachzusehen. Zumal der Ruf » Carregadores « veranlasste immer einen kleinen Alarm: wer sie auf seinem Platz entdeckte, flüchtete sich mit seiner gesamten Habe, und Alles sprang besorgt aus den Hängematten, um die Gepäckstücke zu untersuchen. Diese nächtlich arbeitenden » Lastträger « - Ameisen oder Schlepper - ameisen, eine Atta-Art, die auf ihrem Zuge relativ ungeheure Lasten weg - schleppen, haben Augen von fast Erbsengrösse und machen mit ihren starken Zangen scharfe halbmondförmige Einschnitte in Tuch und Leinen; ihre Wohnstätte umfasst ein grosses Terrain, und die zahllosen Gänge sollen bis 3 m tief in die Erde reichen. Mehr interessant als gefährlich, da sie Niemanden von uns etwas35 zu Leide gethan hat, war die gigantische braune Tokandyra-Ameise, Cryptocerus atratus, die zum Glück kein Herdentier ist, und deren Zwicken dem Skorpion - stich ähnelt; die Termiten sollen mit ihr in wütender Fehde liegen. Ich könnte noch mancherlei anderes Ungeziefer nennen, was uns an diesem oder jenem Abend zu Leibe rückte, aber ich bin mir bewusst, durch solch lange Aufzählung, in der man aus Freude an der Erinnerung ohnehin schon bei jedem einzelnen gern übertreibt, ein falsches Gesamtbild im Geiste des Lesers zu erzeugen. Man könnte zu der Vorstellung kommen, die Hängematte im Sertão sei ein schlechterer Aufenthalt gewesen als ein Bett in einer Kavalleriekaserne oder im gefüllten Zwischendeck oder in manch einem verehrungswürdigen altstrassburger Hause.

Wenden wir uns wieder zu dem appetitlicheren Teil des Pouso. Manoels helle Stimme, die sich während der Zubereitung des Mahles in improvisirten Gesängen (» oh ihr Bohnen, wann werdet ihr gar sein? «): lauter, aber melodieen - und gedankenarmer Zwiesprach mit dem Feuer, dem Kochkessel oder seinem Inhalt ergangen hatte, rief den Herrentisch zusammen, uns vier, Perrot, Januario und auch Antonio. Die Leute, die andern Sieben, lagerten und kochten in den beiden stets getrennten Gruppen der vier Soldaten und drei Kameraden.

Pünktlich, sehr pünktlich war ein Jeder zur Stelle, bewaffnet mit Messer und Gabel, ergriff einen der Zinnteller, die später durch indianische Kürbisschalen ersetzt wurden, und Alles lagerte sich in malerischen Posituren nur Vogel hockte dazwischen auf seinem Observations-Klappstühlchen um die gelbe oder schwarzweisse Ochsenhaut, auf der der dampfende Kessel, ein Teller mit Farinha und die Pfefferflasche standen oder, wenn die Haut sehr bucklig war, auch plötzlich umfielen. Nach dem Essen gab es den nicht genug zu schätzenden Mate, den Paraguaythee, gelegentlich auch Kaffee.

Unsere etwas einförmige Speisekarte wurde durch Jagd und an den Fluss - passagen durch Fischfang angenehm belebt. Es wird ja mit sehr wenigen Aus - nahmen Alles gegessen, was geschossen wird, und es wird ausser Aasvögeln und kleinen Vögeln Alles geschossen, was Wirbeltier heisst. Ich habe in Rio de Janeiro ein lehrreiches Büchlein, den » Cozinheiro Nacional «, Nationalkoch, ge - funden, das auf jeder Seite beweist, wie mannigfaltig und gesund die zoologische Küche Brasiliens ist und uns hier als kompetenter Führer dienen mag. Für den Tapir 16 Rezepte, für Jaguar, Ameisenbär, Galictis, ein marderartiges Tier, 3 Rezepte, für den Affen 7 Rezepte: » man nimmt einen Affen, schneidet den Kopf ab « und richtet ihn zu 1) am Spiess gespickt, 2) im Ofen gebraten, 3) ge - dünstet mit Gurken, 4) gestovt mit indischen Feigen, 5) gekocht mit Kürbis, 6) gekocht mit Bananen, 7) gebraten mit Salat von süssen Kartoffeln; es werden natürlich empfohlen Reh (26 Rezepte) und Wildschwein, dann Fischotter und besonders die Nagetiere Coelogenis paca (12 Rezepte), einem Spanferkel ähnlich, Cavia aperea, das kleine Haustierchen der Peruaner, » excellente «, und das Kapivara, Hydrochoerus capybara, das sehr schmackhaft und äusserst gesund ist für skrophulöse, syphilitische, rheumatische und tuberkulöse Personen, aber leider3*36schlecht riechenden und schmeckenden Arzneien nachgesetzt wird wegen seiner mühsamen Zubereitung: 24 Stunden in Gewürze, 24 Stunden in fliessendes Wasser gelegt, 6 Stunden angesetzt mit Branntwein, Nelken, Petersilie, Zwiebel, Ingwer, Majoran, Salz, Pfeffer, am Spiess gebraten und, wenn fertig, serviert. Ferner sind die Beutelratte Gamba und der Rüsselbär oder das Koatí, Nasua socialis, » aus - gezeichnet und sehr gesucht «. Von drei Arten Tatús, Gürteltieren, werden zwei Arten nicht gelobt, das Tatú canastra, Dasypus Gigas, wegen seines zähen Fleisches, und das » Tatú cavador dos cemeterios «, das » Grabgürteltier der Kirch - höfe «, wegen seines üblen Geruches. Die Eidechse liefert ein Fricassé, dem des Huhnes zum Verwechseln ähnlich. Die Hühnervögel des Waldes, Jakú (Penelope) und Mutung (Crax), sowie die grossen und kleinen Papageienvögel sind in Ragouts vortrefflich; vor dem Anú (Crotophaga) dagegen, der nur Zecken fresse und stark rieche, wird gewarnt, obgleich er nach allgemeinem Glauben Asthma, ver - altete Lues und Warzen heile. Ganz delikat ist das Fleisch der Schlangen, und wer es gegessen hat, zieht es jedem andern vor. Vor Allem ist es ausserordent - lich wirksam bei Herzkrankheiten, veralteter Lues, und ein unfehlbares Mittel im ersten Stadium der Elephantiasis. Der Kopf wird abgeschnitten und die Haut abgezogen. Das Fleisch der lebendige Jungen zur Welt bringenden Schlangen verdient vor dem der eierlegenden den Vorzug, und unter jenen liefert das schmackhafteste und heilkräftigste die Klapperschlange.

In diesen Angaben des » Nationalkochs « sind thatsächliche Erfahrungen und die leicht verständlichen Gedankengänge des Volksglaubens wundersam vermischt. Den grösseren Teil der aufgeführten Gerichte, wenn man von der langen Reihe einzelner Rezepte absieht, haben wir redlich durchgekostet, doch sind die wenigen Schlangen, denen wir begegnet sind, leider niemals in den Kochkessel gewandert.

Für das Affenfleisch haben wir uns nicht recht begeistern können, obwohl der » Nationalkoch « für ein brasilisches Festdiner, » lautar brasileiro « vorschreibt: » man setze je einen Macaco an die vier Ecken der Tafel «. Unser Wildpret war eine Cebusart, ein graugelblicher und bräunlicher Geselle mit schwarzem Hinter - haupt und hehaartem Wickelschwanz. In Brehms Tierleben (1 49, 1890) wird » die so häufig hervorgehobene Aehnlichkeit eines zubereiteten Affen mit einem Kinde « mit den Worten zurückgewiesen: » Dieser verbrauchte und gänzlich unpassende Vergleich sollte endlich aus Reisebeschreibungen verschwinden, denn ungefähr mit dem nämlichen Rechte könnte ein gebratener Hase kinderähnlich genannt werden; die Menschenähnlichkeit des Affen liegt in seinen Bewegungen, nicht in seiner Körperform. « Warum so schroff? Wie ein Mensch aussieht, wissen wir Alle, und wir Alle sind thatsächlich an ein Menschlein erinnert worden. Gern gestehe ich zu, dass wir, gewohnt, den Affen als unsere eigene Karikatur zu betrachten, eine solche Aehnlichkeit zu finden vielleicht erwarten und sie deshalb zu überschätzen geneigt sind. Im Uebrigen bedaure ich, dass ich keine Photo - graphie von einem Affen vorweisen kann, der am Spiess steckt: aufrecht, die Arme mit den fünffingrigen Händen schlaff herabhängend, den schwarz verkohlten37 und versengten Kopf zur Seite geneigt und das Gesicht (» mit der dämlichen Schnute «, erklärte Einer auf nicht-portugiesisch) in schmerzlichem, meinetwegen auch dämlichem Mienenspiel erstarrt ich glaube, man würde mehr doch als durch einen Hasen an eine hässliche Miniatur-Menschengestalt erinnert werden. Wirkungsvoller freilich ist der Eindruck, wenn der umhergereichte » Spiessgesell « mit Kopf und Armen schlenkert und so auch einige der von Brehm geforderten Bewegungen wenigstens passiv zum Besten giebt. Die Indianer brachten den Affen mit Haut und Haar auf das Feuer, und auch hier habe ich den Vergleich vermerkt » wie eine schauderhafte Kindermumie «. Das Fleisch fanden wir zäh, doch saftig, den Geschmack nach verschwalktem, schlecht bereitetem Rindfleisch; es empfahl sich, den Affen angebraten während der Nacht stehen zu lassen und am nächsten Morgen zu kochen.

Unser Urteil über den Tapir lautete: er verdient gegessen zu werden, er bedarf einer pfeffrigen Brühe und ist nicht zart. Als bestes Stück gilt der Rüssel. Vortrefflich ist, wie wohl bei allen grossen Landsäugetieren, die frisch gebratene Leber, die schnell und gut am Spiess herzurichten Vogels Spezialität war. Des Wildschweins Geschmack ist sehr verschieden von dem des unsern, es ist auch weisslich wie Kalbfleisch. Auf unserm berüchtigten » Bienenpouso « brach eine Herde von etwa 60 Stück dicht an dem Lagerplatz vorbei; der tollen Jagd, die sich im Augenblick unter grosser Verwirrung und fürchterlichem Hundegeheul entwickelte, fielen vier Eber und eine Sau zum Opfer. Es wurde ein mächtiger horizontaler, ½ m über dem Boden stehender Holzrost, das von den Indianern übernommene » Moquem «, errichtet, auf dem die grossen Stücke geröstet wurden (» moqueados «), während das Filet am Spiess gebraten und Leber, Herz, Nieren mit Speck gekocht wurden.

Reh und Hirsch, » veado « und » cervo «, schmeckten anders als bei uns. Zuweilen war die Hirschkeule ganz vorzüglich, im Aussehen einem kleinen Kalbs - braten gleichend, von Geschmack aber feiner und zarter. Wir hatten es mit den beiden Arten des Pampashirsches (Cervus campestris) und des Kamprehs (Cervus simplicicornis) zu thun. Ihr Wildpret war uns stets sehr willkommen, ausge - nommen das des mehr oder minder erwachsenen Hirsches. Der Geschmack und Geruch seines Fleisches hat viel von Knoblauch an sich und ist leider sehr nachhaltig; der Braten blieb uns bis zur Rückreise, wo wir in der Not auch einen alten stinkenden Bock recht hochzuschätzen lernten, ein Ding des Abscheus. Selbst das Fell behält die » Catinga «, wie in Brasilien allgemein mit dem Tupí - wort die Ausdünstung der Neger, Füchse, Böcke u. s. w. genannt wird. Die Rehe jenseit des Paranatinga waren noch frei von Menschenfurcht; 30 Schritt voraus blieben sie stehen und betrachteten uns neugierig, ein angeschossenes Tier machte sich auf den Trab, hielt aber auf 40 Schritt wieder ruhig an und leckte sich das Blut ab.

Jaguarfleisch, das uns 1884 wie fettes Schweinefleisch vortrefflich mundete, haben wir 1887 nicht genossen. Den Ameisenbär verachteten wir ob seines38 widerlichen Fettes; junge Tiere sollen nicht so übel sein. Gebratener Rüsselbär hat einen angenehmen Wildgeschmack.

Vögel kamen nur selten zum Schuss, hier und da eine der Rebhuhnarten oder eine Taube oder ein Papagei. Sie ziehen die Flusswaldung vor.

Schildkröten waren ziemlich selten, doch natürlich stets willkommen, be - sonders stärkere weibliche Exemplare, die runde Eier bis fast zur Grösse mittel - grosser Apfelsinen beherbergten. Am Rio Manso assen wir auch in den Schuppen gerösteten Alligatorschwanz; das fischweisse, in dicken Längsbündeln geordnete Fleisch war etwas zäh, aber wohl geniessbar und wurde von den Einen als fisch -, von den Andern als krebsartig betrachtet und der Abwechslung halber unserer Carne secca vorgezogen. Leguane gab es erst später auf der Flussfahrt. Von Fischen habe ich des Dourado, Pakú, Jahú, der Piranha, der Piraputanga zu gedenken, von denen die ersteren während der Ruhetage am Rio Manso zum Teil geschossen wurden; den Matrinchams des Paranatinga habe ich die verdiente ehrenvolle Erwähnung schon früher angedeihen lassen. In den kleineren Ge - wässern der Hochebene war wenig Gelegenheit zum Fischen geboten; die finger - langen Lambarés wurden mit etwas Farinhakleister von den Leuten gelegentlich mehr zum Vergnügen geangelt. Und die wenigen Fische bissen auch nicht einmal an; der Grund dafür, den einer unserer Mulatten entdeckte, wäre eines Irischman würdig gewesen: » weil sie die Angel nicht kennen «.

Eine grössere Anzahl von Menschen rein auf die Jagd angewiesen, würde im Sertão schweren Entbehrungen ausgesetzt sein, selbst wenn sie sich an einem günstigen Platz festsetzte. Gleichzeitig aber in regelmässigem Marsch vorrücken ist unmöglich. Das Land ist trotz der gegenteiligen Behauptungen der Mato - grossenser als verhältnismässig jagdarm zu bezeichnen, doch mögen sich ein paar Leute mit guten Hunden und einigem Salzvorrat, sofern sie nicht an eine strikte Route und an eine bestimmte Zeit gebunden sind, recht wohl durchschlagen können.

Von vegetabilischen Nahrungsmitteln wird ausser dem bereits besprochenen Früchten nur Palmkohl von der Guariroba chininbitter und Akurí geboten. » Palmwein « haben wir nur einmal getrunken; wir fällten eine Burití, die in der Höhe 17 m der Stamm, 2 m (Stiel 0,35 m + Fächer 1,65 m) das Blatt 19 m mass und einen Umfang von 1,2 m hatte, und schlugen mehrere Tröge in den stahlhart klingenden Stamm, wobei zwei Beilgriffe zerbrachen. Aus den graurötlichen Gefässbündeln floss, in den oberen Trögen nur sehr spärlich, ein sanftes Zuckerwasser, das allmählich einen Geschmack von Kokosmilch annahm und ausgetrunken wurde, ehe Gährung eintrat.

So glaube ich, den hervorragendsten Genüssen, die das Lagerleben bot, ge - recht geworden zu sein. Als gewissenhafter Chronist erwähne ich auch Perrot’s Ge - burtstagsfeier am 14. August: wir vier brachten ihm schon vor Tagesanbruch einen solennen Fackelzug mit obligater Musik dar, das heisst ein Jeder, der noch herrschenden Nachtzeit angemessen gekleidet, trug eine brennende Kerze, ich blies auf meinem Signalhörnchen, Vogel und Ehrenreich pfiffen auf einem Jagdflötchen,39 Wilhelm auf den Fingern, die Hunde stimmten gellend ein, ich besang den Jubilar in einigen schon durch den Reim Brasilien: Familien gebotenen Versen, und zu alledem gab es noch einen Schnaps, der den alten Januario zu einem lauten, der Himmel weiss, wo aufgeschnappten » hip, hip, hurrah « begeisterte. Das Geburtstagskind wurde auch mit einem Packetchen Zigaretten und einem Stück amerikanischen Tabaks beschenkt und durfte in einer Tasse Kaffee einen noch aufgesparten Rest Zucker trinken.

Ja, es war ein schönes und lustiges Dasein in unsern billigen Nachtquartieren. Wenn das Essen abgetragen war, Jeder sein Besteck im Bach gespült, Manoel die Teller gewaschen hatte der Schlingel gebrauchte für die Reinigung seines Kochgeschirrs Seife wie wir bei dem rapiden Verbrauch dieses Artikels eines Tages feststellten, ja er hatte die gerupften und ausgenommenen Vögel aussen und innen mit Seife gewaschen wenn die Nacht sich tiefer und tiefer über unser in der Einsamkeit verlorenes Lagerbildchen senkte, dann schaukelten wir uns urbehaglich in unsern Hängematten und allerlei Wechselrede flog herüber und hinüber. Jagdabenteuer besonders schön war es, wie Perrot von einem über den Fluss überhängenden Baum herabfiel und sich auf einen Alligator setzte und das Tierleben kamen in erster Reihe: als von allgemeinerem Interesse möge die bestimmte Behauptung erwähnt sein, dass sich Jaguar und Puma häufig kreuzen; auch zwischen der eingewanderten Ratte und Cavia Aperea sollen Kreuzungen vorkommen. Perrot’s Schilderungen ferner von den Schrecken des Paraguaykrieges, von den Mordthaten des Tyrannen Lopez, den sein an den Rand der Vernichtung getriebenes Volk noch heute als Heros verehrt und an dessen Tod es nicht glauben will, Indianergeschichten, unsere Zukunftspläne, der Verlauf der Flüsse und Chapadões, la société de Cuyabá, Reiseerlebnisse und natürlich die Heimat alles das waren unerschöpfliche Themata, und ging einmal der Plauderstoff aus, so brauchte man nur Ehrenreich’s wohlassortirten Anekdoten - kasten anzutippen und es quoll hervor ohn Ende wie aus dem Hut eines Taschen - spielers: Wippchen, Geheimrats-Jette, der urkomische Bendix, die Goldene 110 wehe wenn sie losgelassen, da gab es kein Einhalten.

Längst waren wir verstummt, dann war seitab, wo die Leute um das Feuer sassen und die Bohnen zum Frühstück kochten, die Unterhaltung noch im vollen Gange. Laut klang die Stimme eines Haupterzählers herüber, prächtig nach - ahmend, alle Affekte durchlaufend und, wenn die Pointe kam, mit Triumph in die höchste Fistel überspringend; kräftig setzte der Beifall der Andern ein, man hörte sie lachen und ausspucken: » o que ladrão, oh, was für ein Spitzbube! « » Nur die Neger und die Deutschen können lachen «, behauptete Ehrenreich.

Allmählich wird es still. Im Walde flötet mit vollen, klaren und ganz menschenähnlichen Tönen der Johó, Crypturus noctivagus; er setzt die ganze Nacht nicht aus, und, wenn er Abends beginnt, hat sein immer gleichmässiger Ruf die unfehlbare Wirkung, dass jedermann ihn nachpfeift. Kein Lüftchen regt sich, doch knattert es in den Fächern der Buritípalmen wie leiser Regen, maschinen -40 mässig schwirrt das ununterbrochene Zirpen der Zikaden, zuweilen mischt sich das ferne Geklingel der Madrinha hinein.

Finster ist es nur im Gebüsch und unter den Bäumen, wo als formlos un - deutliche Masse der Wall der Gepäckstücke und Sättel liegt; das Feuer ist bis auf einen glimmenden Holzkloben erloschen. Durch die schwarzen Aeste über unserer Hängematte blickt der funkelnde Sternenhimmel, wie körperliche Schatten - arme recken sie sich in die Luft, und unter ihnen weg schweift das Auge über die dunkle Hochebene, auf der fernhin die roten Glutlinien des fortschreitenden Grasbrandes leuchten; zuweilen flackert es empor in wabernder Lohe, kriecht über einen Hügel und dehnt sich wieder lang zu einer dünnen Schlange aus, deutlich erkennt man Hochöfen, Bahnhöfe, verfolgt die Signallaternen der Schienenwege und bemerkt gar hier und da festlich illuminierte Gartenlokale. O Traum des Matogrosso, wann wirst du die Wirklichkeit gewinnen, die länger anhält als ein nächtliches Phantasma? Der Dr. Carlos, hofften die Cuyabaner, werde den Schingú entlang das beste Terrain für die Eisenbahn nach Pará finden. Er fand mehr, er hat in mancher Nacht die Bahn schon fertig und im schönsten Betrieb den Sertão durchziehen sehen, aber er ist zum Unglück, wenn er so weit war, immer rasch eingeschlafen.

Und dann in seinem wirklichen Traum, löste er mit sicherer Eleganz ein Problem, das viel wichtiger ist als die Eisenbahn im Matogrosso. Er flog. Er flog mehrere Stockwerke die Treppe hinunter, ohne den Boden zu berühren und lenkte scharf um die Ecken, ohne anzustossen, er flog draussen zu den Dächern empor und über sie hinweg, ja er war sich dabei immer auf das Bestimmteste bewusst, nicht etwa zu träumen, und liess sich einmal sogar von dem Direktor Renz engagiren, um die neue herrliche Kunst im Zirkus zu zeigen, wo sie freilich im entscheidenden Augenblick versagte, und die Menschenmenge den armen Erfinder mit brausendem Gelächter verhöhnte. Der Traum des Fliegens war für mich in der Hängematte geradezu ein Gewohnheitstraum und immer mit der lebendigsten Ueberzeugung des Wachseins verknüpft. Ich gebrauchte selten etwas, was als Kopfkissen hätte gelten können, ein Tuch, eine Mütze oder dergleichen, denn dieses Ersatzstück verlor sich doch von seinem Platz. So war der Hals und der Ansatz des Kopfes im Nacken nicht unterstützt, die durch das Körpergewicht straff angezogene Hängematte ging frei weggespannt über diese Stelle, und oben oder zur Seite lag der Kopf schwer auf, gleichsam wie ein besonderer Körper für sich. Wahrscheinlich ist in dieser unbequemen Lage die Erklärung enthalten.

Ich hatte einen leisen Schlaf und stand als guter Hausvater auch zuerst auf, um Manoel zu wecken, dass er den Mate aufsetze. Schlaftrunken blies der Junge die Asche an und hatte bald sein kochendes Wasser. Dann erschallte mein Trompetchen in gellenden Tönen und Fazendinha, der Spitz, sang zur Be - gleitung sein Morgenlied. Die geübtesten Fährtensucher brachen auf, die Maul - tiere zu holen, wir banden die Hängematten los, packten die Decken ein, wuschen uns im Bach mit Seife und, um zu sparen, auch mit Sand, vielleicht kostbarem41 goldführendem Sand, assen marschbereit unsere Bohnen und warteten mit immer neuer Spannung auf den ersten Laut der Klingel der Madrinha. Der gute Schimmel erschien, hinter ihm kamen die Esel geschritten denn die schönen Tage waren längst vorbei, als Januario mit dem Maissack raschelnd sein lockendes » jo jo jo « ertönen liess und sie in Aufregung heraneilten und mit dem Vorderfuss ungeduldig aufstampften eifrig zählten wir der Reihe entlang und dankten unserm Schicksal, wenn keins der teuern Häupter fehlte und sich nicht einmal die beiden Elpidios » versteckt « hatten. Gewöhnlich kamen sie in kleinen Abtheilungen und nicht selten hatten sich einige erst eine Stunde weit oder mehr vom Lager ent - fernt gefunden, wohin man ihre Spuren verfolgen musste. Die Tiere wurden jedes an eine Stange oder ein Bäumchen gebunden, und die Avantgarde setzte sich in Bewegung.

Rondonstrasse und letzter Teil des Weges. Es war am 25. August, als wir die beiden Quellflüsse des Ronuro, den Bugio und den Jatobá möglichst nahe ihrem Ursprung passiert hatten, und weiter östlich ziehend eine frische Queimada bemerkten. Sie konnte nur von der Goldsucher-Expedition des Cuyabaners Rondon herrühren: bald kreuzten wir in der That auch seinen nach Norden gerichteten Weg, einen schmalen, aber von den Eseln festgetretenen Graspfad. Rondon war also in das Gebiet des Jatobá und damit des Ronuro vorgedrungen; dort hoffte er das Eldorado der Martyrios zu finden. Da er, wie wir wussten, über die Fazenda S. Manoel gezogen war, denselben Weg, den wir auf der heimreise von hier aus einschlagen wollten, so war es für uns von grossem Interesse, darüber Näheres zu erfahren. Er konnte uns vielleicht beraten, ob sein Weg auch in der Regenzeit, in der wir zurückkehrten, überall gangbar und der Rio S. Manoel dann für unsere Truppe passierbar sein werde, wie weit es ferner von hier noch bis zur Fazenda und wie jenseits derselben der Anstieg auf die » Serra « beschaffen sei.

Die Rondonstrasse kreuzte sich mit unserm Wege rechtwinklig bei einem freistehenden, verhältnismässig hohen Baum; er sollte die Sertãopost vermitteln. Ich schrieb Abends auf dem Pouso am Westarm des Batovy meinen Brief, in dem wir den Kollegen begrüssten und unsere Fragen formulierten, und legte ihn nebst einem Bogen Papier und einem Bleistift in eine wasserdichte Blechbüchse. Perrot und Januario ritten am nächsten Morgen zurück, nagelten die mit Leder - riemen umschlossene Büchse an und befestigten kreuzweise darüber zwei Bambus - stöcke mit flatternden Fähnchen. Das Terrain ringsum war bereits Queimada, sodass man von einem Feuer nichts zu befürchten brauchte; der Baum wurde noch gründlich markiert und aussen auf dem Briefkasten stand mit Tusche ge - schrieben die Adresse: » Illm͇o͇ Sr. Rondon. «

Obgleich wir möglichst nach Süden gehalten hatten, fanden wir den West - arm des Batovy doch bereits stärker als uns lieb war; er floss ausserdem zwischen steilen Uferhängen, die abgestochen und mit einem Geländer flankiert42 werden mussten. Das Quellbecken des Batovy zeigte sich weiter südwärts vor - geschoben, als unsere Karte von 1884 auf Grund von Peilungen angab. Wir machten, nachdem wir einen kleinen Mittelarm ohne Mühe passiert hatten, eine Rekognoszirung nach Süden und fanden eine von breiten Waldstreifen reich durchsetzte Landschaft: der Wald des Batovy schien unmittelbar in den des Paranatinga oder, mussten wir uns fragen, östlich auch schon des Kulisehu überzugehen; eine Wasserscheide war nicht zu erkennen. Im Batovybecken entdeckten wir auch deutliche Indianerspuren, wahrscheinlich von umherstreifenden Kayapó herrührend, von Menschenhand geknickte Zweige und ein bei Seite ge - worfenes Stück Buritístab. Und, was uns nicht minder interessierte, ziemlich

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Abb. 1.

Briefkasten im Sertão.

frische Fährten von Ochsen und ein Lager, das von 5 6 Tieren benutzt zu sein schien. Das waren Ochsen, die uns selbst gehörten, die wir selbst bezahlt hatten: 1884 bei der Einschiffung hatten wir sie laufen lassen, da sie zum Schlachten wegen ihres heruntergekommenen Zustandes und ihrer Wunden nicht taugten. Jetzt waren sie, wie die breit ausgetretenen Spuren bewiesen, rund und fett geworden. Aber es gelang nicht, sie aufzutreiben, und nur ein Tapir fiel uns zur Beute.

Nachdem wir am 27. August das letzte Quellflüsschen des Batovy über - schritten, einen äusserst mühseligen Anstieg auf den Ostchapadão ausgeführt, auf seiner Höhe eine lange, 10 m breite, 3 4 m tiefe Erdspalte, deren Wände aus43 grauschwarzem, trocknem Morast bestanden und in die der Wald hinabgestürzt war, durch scharfes dürres Massegagras auf Tapirpfaden wandernd umgangen und einen unangenehmen Chapadão mit einem Niederstieg voller Cangablöcke gekreuzt hatten, machten wir an einem sumpfigen Bächlein einen Ruhetag, nicht denkend, dass wir bereits Kulisehuwasser tranken. Die Maultiere waren von den Strapazen schon recht mitgenommen, während die Hunde sich gerade hier, in den besten Jagdgründen, am wohlsten fühlten und gelegentlich mit Tapirfleisch derart voll - pfropften, dass sie sich kaum mehr bewegen konnten, auch selbst zu jagen viel zu faul wurden.

Wir wünschten auf der Wasserscheide zwischen Batovy und seinen östlichen Nachbarn nach Norden zu rücken, allein wir gerieten in ein schreckliches Hügel - gewirr mit tiefen Abstürzen, mussten jeden Fortschritt in nördlicher Richtung mit einem Umweg nach Osten erkaufen und hatten Tag für Tag mit den schwierigsten Passagen zu kämpfen: die kleinen Bäche höher oben waren tief eingeschnitten und hatten senkrechte Ufer, die grösseren weiter unten verbreiterten sich rasch zu Flüsschen von mehr als 30 m Breite, deren Gewässer träge zwischen Sandsteinblöcken dahinfloss und von hohem Wald oder starrendem Bambusdickicht mit sumpfigem Grund eingeschlossen war. Das Land zwischen den Quellarmen war fast ausnahmslos klassischer Campo cerrado, wo Antonio, Wilhelm und ich schwere Arbeit hatten. Wie ein gehetztes Wild hatte Antonio bachaufwärts, bachabwärts zu rennen, um nach einem erträglichen Uebergang zu fahnden. Aber die Esel stürzten dennoch oft einer hinter dem andern.

Kräftig sahen wir den Hauptfluss unseres Thals sich entwickeln, immer breiter und voller schwoll sein Waldstreifen an, aber war es der Kulisehu? 30 36 m Breite war doch sehr wenig. Wir rechneten bestimmt darauf, dass bald von Osten her ein stärkerer Arm hinzukomme, doch hofften wir vergebens. Antonio freilich hatte die feste Ueberzeugung, wir müssten schon am richtigen Kulisehu sein, wo weiter abwärts die Bakaïrí wohnten; er hatte von den Bakaïrí des Batovy erfahren, dass die Kulisehu-Bakaïrí den Fluss hoch bis zu einem grossem Katarakt hinaufgingen, um dort zu fischen, und dass die Batovy-Bakaïrí drei Tage ge - brauchten, wenn sie ihre Stammesgenossen am Kulisehu über Land besuchten. Im nahen Bereich von Indianern schienen wir schon jetzt zu sein. Am 2. Sep - tember bemerkten wir Abends einen Schein im Osten, der jedoch vielleicht vom aufgehenden Mond herrührte, am 4. September konnten wir ihn mit Sicherheit als Feuerschein ansprechen, und am 5. September brachte uns der Wind am Tage Rauch und Asche aus SSO.

Mit deutlichen Anzeichen rückte die Regenzeit heran. Die Luft war dunstig, die Hitze unausstehlich, die Sonne ging löschpapierfarben auf und ging rosa am trüben Himmel wie eine Polarsonne unter; in der Nacht vom 1. auf den 2. Sep - tember hatten wir den ersten Regenalarm, aber es blieb bei dem Schrecken; nur im Osten ging ein Gewitter nieder. Doch am 2. September regnete es auch wirklich ein wenig; wir schlugen zum ersten Mal, freilich mehr zum Vergnügen44 als weil es notwendig gewesen wäre, die Zelte auf. Die Vorräte verringerten sich bedenklich: wir hatten noch zwei Alqueires (à 50 Ltr) Bohnen und die letzten zwei Alqueires Farinha sie allein giebt Kraft, während Bohnen und Fleisch nur den Magen beschweren, meinten unsere brasilischen Soldaten waren bereits angebrochen, der Speck war aufgezehrt, nicht ohne nächtliche Beihilfe unserer Jagdhunde.

Am 6. September Cerrado, Cerrado! Die Avantgarde säbelte wie besessen, um der Truppe einen Weg zu öffnen. Es war Pikade schlagen und nicht mehr markieren. Gegen 11 Uhr kamen wir endlich einmal an eine hochgelegene Lichtung und gewannen einen Ausblick nach Norden. Diavo, Cerrado, so weit das Auge reichte, Cerrado für Leguas hinaus! Wir sahen einander an und ver - standen uns ohne Worte: rechts schwenkt marsch zum Fluss hinab und weiter vorwärts auf dem Flusse selbst! In einer halben Stunde erreichten wir das Ufer und sahen, dass wir eine vortreffliche Ecke gefunden hatten: ein frischer 8 m breiter Bach floss hier ein, schlankstämmige Bäumchen für die Hängematten waren hinreichend vorhanden, und ein breites Stück Grasland schob sich waldfrei bis an diesen Lagerplatz vor. Die arme Truppe, sie erschien erst um 4 Uhr Nach - mittags: acht Esel hatten sich seitwärts in die Büsche geschlagen; einer war nach langem Suchen an einem Bach liegend gefunden worden, einer steckte noch im Walde und sie selbst, die fromme unbepackte Madrinha hatte dem Zuge ent - schlossen den Rücken gewandt und das Weite gesucht.

» Viva a independencia! « riefen unsere Brasilier am Tage ihres Festes, den 7. September, und Independencia wurde der Name unseres Standquartiers: 13° 34',3 südl. Breite, 51° 58',5 westl. Länge von Greenwich. Es wurde beschlossen, dass Antonio ein Rindenkanu mache, wovon wir uns freilich jetzt am Ende der Trockenzeit, da die Rinde des Jatobá-Baumes dann spröde ist und zerspringt, nicht gerade das Beste versprechen durften, und dass ich mit ihm und Carlos mich einschiffe, um zu sehen, ob wir zu Indianern und, wenn das Glück uns hold war, zu Bakaïrí-Indianern gelangen würden. Günstigen Falls, rechneten wir, in etwa drei Tagen; Vogel schätzte die Höhe der Independencia, die 148 m über Cuyabá, 367 m über dem Meeresspiegel betrug, auf ungefähr 50 m über der Kulisehumündung, es standen jedenfalls noch starke Stromschnellen oder Wasserfälle in Aussicht. Mittlerweile sollten die andern Herren rekognoszieren, ob nicht auch flussabwärts ein günstiger Lagerplatz zu finden sei, damit wir die Maultierstation womöglich weiter vorschieben könnten. Erst im Fall eines Misserfolgs unserer Kanufahrt kamen die Indianer, die wir nach dem Feuer im Osten vermuteten und die sicher keine Bakaïrí waren, in Betracht. Unser Fluss war noch bedenk - lich schmal. Von rechts her musste jedenfalls ein stärkerer Arm hinzutreten, da die Einmündung unseres Kulisehu von 1884 in » Schingú-Koblenz « einem statt - lichen Strom entsprach: gehörten die Indianer der östlichen Queimada zu seinem Gebiet, so durften wir hoffen, von den Bakaïrí am besten bei ihnen eingeführt zu werden.

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Was endlich den Unterhalt der hier oder ein Stück flussabwärts zurück - bleibenden Tiere und Leute anging, so musste für jene eine frische Queimada angelegt werden, und war diesen guter Fischfang und gute Jagd im Flusswald gewiss. Schon die ersten Versuche lieferten prächtige Trahirafische (Erythrinus) einen Mutum cavallo (Crax) und eine Jakutinga (Penelope) in die Küche; an Schweinen und Nagetieren konnte es nicht fehlen. Eine grosse Sukurí-Schlange (Boa Scytale) wurde nicht nur nicht gegessen, sondern sogar als Fischköder ver - worfen. Auch nur von rein theoretischem Interesse war der Fund eines Riesen - gürteltiers (Dasypus Gigas), das durch einen Schuss in den hintern Teil des Rückenpanzers getödtet wurde und penetrant nach zoologischem Garten roch. Ein träges Geschöpf, sehr muskulös, zumal an den zum Graben gebrauchten und mit mächtigen Krallen versehenen Vorderbeinen. Es ist bereits sehr selten und gehört schon halb der Vorzeit an. Ungefähr so, wie die Indianer der » Steinzeit «, die wir suchten.

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IV. KAPITEL. Erste Begegnung mit den Indianern.

Rindenkanus, Indianerspuren. Meine Fahrt mit Antonio und Carlos. Tierleben. Träumerei vor dem Abendessen. Einmündung des Ponekuru. Katarakte. Die Anzeichen der Besiedelung mehren sich. Der Häuptling Tumayaua. Nach dem ersten Bakaïrídorf. Ankunft des » Karaiben «.

Nach mehrfach vergeblichem Anklopfen fand Antonio eine Jatobá (Hy - menaea sp.) mit brauchbarer Rinde. Es wird ein Stangengerüst um den Baum errichtet, ein langer rechteckiger Streifen Rinde mit Axthieben abgelöst und, vorsichtig heruntergenommen, auf niedrige Stützen gestellt; dann wird die Rinde durch Hitze, indem man ein Feuer unterhalb anzündet und auch oben Reiser an - brennt, geschmeidig gemacht, und die Ränder der Längsseiten werden empor - gebogen. Vorne bildet man eine Spitze, hinten wird die Rinde nach innen vor - gedrückt, sodass eine leicht eingebuchtete Querwand mit scharfwinkligen Kanten entsteht, an denen sich die Rinde mit Vorliebe bald spaltet. Das Kanu sollte an einem Tage fertig gestellt und den nächsten Morgen zum Wasser gebracht werden.

Antonio kam merkwürdig vergnügt von seiner Arbeit heim. Ich glaubte, weil das Kanu gut geraten sei, unterhielt mich mit ihm darüber eine Weile und meinte, noch einmal zu unsern Plänen übergehend: » Also Du fürchtest nicht, dass der Fluss ohne Anwohner sei? « » Nein «, erwiderte er abweisend, » ich habe ja schon einen Rancho gefunden. « » Warum sagst Du das denn nicht? « » Ich wollte es ja noch sagen. « Beim Suchen nach Ruderholz hatte er eine zusammengefallene palmstrohgedeckte Jagdhütte entdeckt; ihre Pfosten zeigten die stumpfen Hieb - marken des Steinbeils. Daneben lagen angebrannte Holzkloben noch in der radienförmigen Anordnung des indianischen Lagerfeuers; benachbarte Jatobás hatte man mit Steinäxten auf ihre Brauchbarkeit untersucht, ein noch erkenn - barer Weg durchs Gebüsch führte zu einem » Hafen « am Flusse. Antonio glaubte, es sei wohl ein Jahr her, dass die Besucher sich hier aufgehalten hätten.

Donnerstag, den 8. September 10½ Uhr Morgens stiessen wir ab. Carlos sass vorn, Antonio hinten, ich in der Mitte. Ein Zelt, das wir gern mitgenommen hätten, musste wegen seines Gewichts zurückbleiben und mit einem leichteren47 Ochsenfell vertauscht werden. Das Kanu war in der Eile doch herzlich schlecht geraten und Flickwerk schon von Anbeginn. Grade unter mir durchsetzte den Boden des schmalen Stücks Rinde, das ein Fahrzeug darstellen wollte, ein m langer wachsverklebter Riss; an den Seiten rannen unter den dort aufgepappten Lehmklumpen leise und unaufhörlich quellende Wässerchen hervor, die den Fuss umspülten.

Aber was lag daran? Ich war glücklich. Wir hatten bestimmte Aussicht, Indianer zu treffen; wir zweifelten in unserm Herzen kaum, dass es Bakaïrí sein würden. Mochte aber kommen was da wollte, wir drei konnten uns aufeinander verlassen. Carlos sang mit seiner harten Stimme sorglos die brasilischen Gassen - hauer in den Wald hinein; Antonio schwieg, aber wenn ich mich umschaute, sah ich sein ehrliches Gesicht strahlen von guter Laune und Unternehmungslust.

Das Wasser war still und fast tot. Wir passierten einige kleine Schnellen und Sandbänke, an denen ausgestiegen werden musste, und wo ich auf’s Neue zu lernen hatte, mit nackten Füssen über Kiesel und Geröll zu gehen. Langwierige Hindernisse bildeten die mächtigen Baumgerippe, die seitlich im Flusse lagen oder ihn auch überbrückten und durchsetzten; mit tiefgeduckten Köpfen krochen wir seufzend unter den Stämmen durch oder säbelten die sperrenden Aeste nieder. Dickicht am Lande, Dickicht im Wasser. Aber wir waren nun einmal in der Höhe der Trockenzeit; 5 8 m erhob sich die steile Uferwand, die während der Regenperiode nicht sichtbar ist, frei über dem Wasserspiegel, durchzogen von den horizontalen Linien früherer Pegelstände. So kamen wir auch an vielem jetzt blossliegendem Sandstrand, der meist sanft geböscht und mit zahlreichen Tier - spuren bedeckt war, vorüber.

Das muntere Vogelleben am Fluss fiel uns nach der langen Wanderung durch die tote Einöde des verkrüppelten Buschwaldes doppelt auf und that uns nach der Entbehrung doppelt wohl. Man muss die Vögel auf der Stromfahrt einteilen in solche, die man sieht, und solche, die man nur hört. Eine ganze Reihe von befiederten Bewohnern des Waldes sind uns sehr vertraut geworden, die wir doch unterwegs nicht ein einziges Mal erblickt haben; wir kannten ihren Ruf, wir ahmten ihn nach, wir liessen uns von unsern Begleitern erzählen, zu welcher Art sie gehörten, wir lasen über sie in den Büchern nach, aber wir würden in einem Museum an diesen Freunden vorübergehen, ohne sie zu erkennen. Carlos, der in seiner früheren Stellung zahllose Vögel des Matogrosso gejagt und abgebalgt hatte, war leider weit sachverständiger als ich; er teilte seinerseits die Vögel in solche ein, die Herbert Smith » hatte « und solche, die er » nicht hatte «. Zu der letzten Kategorie gehörten die Schwalben, dieselben, denen wir 1884 auf dem Batovy begegnet waren. Wir sahen oder hörten sonst von Vögeln schon an diesem ersten Tage Tauben, Kolibris, kleine Schwärme Periquitos, Araras, Eisvögel, den gelben Bemtevi (Saurophagus sulphuratus), den neugierigen kopfnickenden Strandläufer Massarico (Calidris arenaria), den Biguá (Carbo brasilianus) und Sperberarten, Taucher der Luft neben dem des Wassers,48 endlich die Penolopiden Arakuan und Jakutinga, die von uns mit besonderem Interesse verfolgten wohlschmeckenden Hühnervögel. Von Fischen bemerkten wir Matrincham, Bagre, den Wels oder Pintado und Agulha, den Nadelfisch, der in Gestalt des Restes einer Otternmahlzeit gefunden wurde. Ausserordentlich zahl - reich waren gelbe Schmetterlinge am Sandstrand, die Smith » zu Tausenden hatte «, ferner Bienen und Grillen. Zuweilen plumpste ein Sinimbú, der Leguan, von einem Ast in das Wasser hinunter. Auf dem Sande liefen die Spuren von Schildkröten, Schweinen und Tapiren. Die Kaimans, » Jakaré « der Brasilier, schienen sehr selten zu sein, wir sahen jedoch eine kleine Art, und in der Nacht wurde Antonio so erklärte er am nächsten Morgen als er wegen der Moskitos die Hängematte verlassen habe, von einem neugierigen Vertreter dieser Sippe unfreundlich angefletscht.

Wir nannten deshalb unsern Lagerplatz, den wir kurz nach 4 Uhr bezogen hatten, den Pouso do Jakaré. Antonio nahm sich des unglücklichen Kanus an; er schob es auf ein niederes Gerüst von Gabelstützen, zündete ein Reisigfeuer darunter an und richtete das Vorderteil nach Möglichkeit empor; den Riss ver - stopfte er mit Lumpen und verschmierte ihn mit Bienenwachs. Brüllaffen gaben uns ein Abendkonzert und thaten so fürchterlich, als ob wir das Gruseln lernen sollten.

Gern standen wir den nächsten Morgen frühzeitig auf; wir fluchten über die Moskitos und fuhren um Uhr in den zarten Dampfnebel hinaus, der über dem Wasser wallte. Die Vögel zwitscherten und lärmten, ein Kaitetú-Schwein durchschwamm in der Ferne den Fluss. Wir ruderten möglichst geräuschlos zwischen den mit Kampvegetation bestandenen Ufern hin: viel hohes Laub - gebüsch und Bambusdickicht, aus dem der Baum der roten Ameisen, die Imbauva, emporragte. Ein fetter Mutum cavallo mit schwarzem, grünblau schimmernden Gefieder und siegellackrotem Kamm wurde glücklich erbeutet und sofort gerupft; Antonio sammelte die Schwungfedern und Schwanzfedern, die gespalten und in spiraliger Drehung dem Ende des Pfeilschaftes aufgesetzt werden, sorgsam für seine Genossen am Paranatinga, um ihnen etwas von der Reise mitzubringen. Ein Stückchen des Fleisches diente zum Köder, als wir eine Schnelle mit bloss - liegenden Blöcken passierten und die Matrinchams aufstörten, die dort zwischen den Steinen angeblich schliefen. Die Beiden warfen ihre Angeln aus und liessen sie bei jedem Wurf ein paar Mal verlockend aufschlagen; es wurde auch ge - schnappt, aber leider nicht angebissen. Sie schossen auf ein paar spielende Ariranhas, grosse Fischottern, die wie Robben auftauchen, fauchen, blitzschnell verschwinden und plötzlich irgendwo weit flussabwärts wieder erscheinen.

Kurz nach Mittag bemerkte Antonio am rechten Ufer abgerissene Zweige; wir stiegen aus und sahen bei näherer Untersuchung, dass man ein erlegtes Jagd - tier, ein Kapivara wahrscheinlich, auf eine Streu von Zweigen und Blättern gelegt hatte, um das Fleisch beim Ausweiden vor dem Sande zu schützen. Es fand sich weder Hütte noch Feuerstelle; die Beute war also von diesem Ort nach dem

TAF. IV.

TUMAYAUA-BUCHT

49 Lagerplatz oder gar nach dem Dorfe gebracht worden. Die Narben des Strauch - werks sollten aber einen Monat alt sein. Wir machten hier unsere Mittagspause, brieten den Mutung nebst dem von dem Otter apportierten Fisch, würzten das Frühstück mit hoffnungsvollen Konjekturen und stiessen, nachdem ich Carlos zum Nachtisch noch die Freude gegönnt hatte, mir einen dicken Sandfloh auszuschälen, in froher Stimmung ab. Borrachudos, die kleinen Stechfliegen, begleiteten uns in einer dichten Wolke; wegen des infernalischen Juckens musste ich die nackten Füsse mit einem Taschentuch umwickeln. Es war schwül und regnerisch. Bald brach auch ein heftiges Gewitter los und nötigte uns, an steilem, schlüpfrigem Uferhang, wo einige Steinhaufen vorgelagert waren, für eine gute Stunde Schutz zu suchen. Dann aber wurde es mild und sonnig, und unsere Wollenwäsche war rasch getrocknet. Schön oder gesellschaftsmässig war sie ja nicht, meine Jäger’sche Bekleidung, doch fand ich sie leicht und praktisch, und die Indianer hatten kein Recht mich zu tadeln, wenn ich nur in Hemd und Unterhose reiste.

Die Nähe der » Compadres « oder Gevattern wurde immer augenfälliger. Denn als wir um 5 Uhr nach einem Lagerplatz Umschau hielten, kamen wir gerade zur rechten Stunde an eine Bachmündung, die am linken Flussufer lag, zu unserer Freude klares, kühles Wasser führte und eine zwar kunstlose, aber von Menschenhand herrührende Versperrung durch Astwerk zeigte: eine » Chiqueira «. So nennen die Brasilier eine der einfachsten und von der Natur selbst in häufigen zufälligen Vorkommnissen vorgebildeten Fischfallen an der Mündung eines Baches oder dem Ausfluss eines Lagunenarmes; die Fische treten bei hohem Wasserstand ungehindert ein und können bei niederem nicht mehr zurück. Wir kletterten die steile Böschung hinauf und fanden oben einen ausgezeichneten Platz für das Nachtquartier, frei von Untergestrüpp und mit mittelstarken Bäumen in gehörigem Abstand. Nur jammerten unsere Leute, als sie das Kanu in den Chiqueirabach hinaufgeschoben hatten, dass sie in dem Uferlehm » frieiras « bekommen hätten, schmerzhafte Anschwellungen, wie sie ent - ständen, wenn man in Kapivaralosung, Maultierjauche und dergleichen schöne Sachen trete. Sie trampelten ein Weilchen vor Schmerz mit den Füssen und rieben sie mit Salz ein.

Es war ein herrlicher Abend. Möge mir der Leser verzeihen, wenn ich ihn trotz seines rein subjektiven Inhalts noch einmal heraufbeschwöre. In der Hänge - matte sitzend, gönnte ich mir zum ersten Mal seit Cuyabá den Luxus, bei einem Kerzenstumpf zu schreiben; in dem dichteren Walde nebenan musizierten die Grillen, unten murmelte das Bächlein, und, höherer Aufmerksamkeit wert, brodelten über dem Feuer dort im Kessel widerspenstig Landgraf Ludwig, werde hart, werde hart! die braunen Bohnen.

Es dauerte nicht lange, so lag das Tagebuch verloren in einem Winkel der Hängematte. Ich lachte selbst ein wenig darüber, aber ich betrachtete mein Ereignis, den Kerzenstumpf, mit wahrer Zärtlichkeit und schaukelte mich, in die Flammen starrend, behaglich rauchend und den Körper wie die Seele in sanftenv. d. Steinen, Zentral-Brasilien. 450Schwingungen wiegend. Gedanken hatte ich eigentlich nicht und das that wohl. Auch Sehnsucht hatte ich nicht nach den Genüssen, die uns daheim unentbehrlich scheinen. In meinem Pfeifchen und in meiner Kerze erschöpfte sich alles Be - dürfnis nach Glück. Im Augenblick galt mir um Vieles mehr als ein Seidel » Echtes « oder eine Flasche Rauenthaler die Kürbisschale frischen Bachwassers, die Carlos mir an die Hängematte reichte; kaltherzig gedachte ich jener Dinge wie einer blassen Vergangenheit. Ich sagte mir, dass es die Stunde sei, wo man sich daheim zu Konzert, Theater, Gesellschaft begiebt. Und unversehens wusste ich mich selbst inmitten des Berliner Strassengetriebes, ich trat vor eine Litfass - säule, las die bunten Anschläge von oben nach unten und ging lesend rund herum, aber mein Puls blieb ruhig, und es regte sich kein Zucken der Begehrlich - keit. Stillvergnügt bemerkte ich nur, dass ich kein Geld bei mir hatte, und dass meine Toilette für die Linden polizeiwidrig war; mit der Empfindung harmlosen Spottes schaute ich auf die Zeitungsverkäufer, die rollenden Wagen, die erleuchteten Läden, die treibende Menschenmenge, gern kehrte ich zurück an meinen dunklen Urwaldfluss.

Aber sind denn auch sie so leicht zu entbehren, fragte ich mich in meinem träumerischen Dusel, sie, die unsere ganze Empfindungswelt beherrschen und be - seelen? Eines wenigstens war gewiss: würde das Wunder geschehen sein, was nicht geschah, und hätten mich aus dem Gezweig urplötzlich ein paar der blühendsten Lippen verführerisch angelächelt ich würde geraucht und freundlich um die Erlaubnis gebeten haben, weiter zu rauchen. Das Beste, folgerte ich, scheint es demnach zu sein, wenn wir mit der Erinnerung an feinere Genüsse ein stilles Glück in den allereinfachsten finden können; der Philosoph von Wiedensahl hat wieder einmal Recht: » Zufriedenheit ist das Vergnügen an Dingen, welche wir nicht kriegen «.

Und dennoch, nur und allein um der braunen Bohnen oder der Wildnis und Stromschnellen willen würde ich Berlin nicht mit dem Schingú vertauscht haben; ohne einen höheren Zweck, eine Hoffnung also, die in ernsten Kultur - begriffen wurzelt, würde auch die echteste Natur sehr bald wohl unausstehlich werden. Drollig genug, dass Unsereins von Deutschland herüberkommt und hier vielleicht sein kostbares Leben aufs Spiel setzt um die Heimat der Karaiben zu suchen! » Was ist ihm Hekuba? « Was ist mir Cuyabá und Karáiba?

Doch es giebt Probleme so verzwickt und unergründlich, dass man sie mit hungrigem Magen nicht zu lösen vermag, und es war gut, dass Carlos vom Feuer her endlich seinen Triumphruf » Pronto « erschallen liess. Die Bohnen standen an - gerichtet auf dem Boden, das Farinhasäckchen lag daneben, von dem eingerammten Holzspiess winkte wohlwollend noch ein Rest Mutung mochten die Grillen im Walde weiter zirpen.

Um Uhr (10. September 1887) fuhren wir ab, begierig der Dinge, die nach den Vorzeichen des gestrigen Tages heute kommen würden. Nach 20 Mi - nuten mündete auf der rechten Seite ein Fluss in den unsern ein, ebenso stiller51 Flut wie er und nur ein wenig schmaler. Er wurde uns später als Ponekuru bezeichnet. Die vorwiegende Richtung der vereinigten Gewässer war N bis NO, dieselbe, die auch unsere frühere Fahrt trotz der zahlreichen Windungen einzu - halten bestrebt gewesen. Unsere ganze Aufmerksamkeit aber hielt schon eine Weile vor dem Erscheinen des Zuflusses ein uns von 1884 her nur zu wohlbe - kanntes, mehr und mehr anschwellendes Brausen gefesselt: wir näherten uns einer grossen » Cachoeira «. Wir passierten etliche Steininseln, die aus Sandsteinblöcken bestanden und mit niederm Gebüsch und dünnen Sträuchern bewachsen waren, das Tosen und Rauschen nahm mächtig zu und plötzlich blickten wir hinab auf das verbreiterte, mit gewaltigen Steinlagern gefüllte Strombett, in dem der Schwall der Wassermassen über eine weite Strecke schäumend und strudelnd thalwärts stürzte. Unser späterer Salto Taunay.

Wir hatten eine Stunde Aufenthalt. Das Kanu wurde die Stufen hinab - geschoben, das Gepäck den Uferrand entlang auf den Schultern getragen. Ich hätte mich selbst sehen mögen: Strohhut mit Ararafedern, Hemd, Unterhose, Ledergürtel, Umhängetasche, grauleinene Baskenschuhe, über dem linken Arm das gefaltene Ochsenfell und in der rechten Hand unsere vier Zinnteller, deren oberster mit einem Rest gekochter Bohnen gefüllt war; dabei eifrig Umschau haltend und nach Verdächtigem ausspähend. An einer Cachoeira, wie dieser, giebt es reichliche Gelegenheit für Fischfang; und richtig, wir fanden deutliche Fussspuren und auf den Steinen halbverbrannte Palmfackeln, deren graue, feine Asche noch erhalten war. Das Alter der Schutzhütte in dem Independencia-Lager hatten wir auf ein Jahr geschätzt, das Alter der abgerissenen Zweige an dem Ort, wo das Kapivara zerteilt worden war, auf einen Monat, und mehr als eine Woche konnte es kaum her sein, dass diese Fackeln gebrannt hatten; die Sache wurde jetzt also sengerich und brenzelig in des Wortes verwegenster Bedeutung.

Die schöne Cachoeira hatte im Gegensatz zu den ärmlicheren Katarakten des Batovy in gleicher geographischer Breite bereits durchaus den grossartigeren Charakter der echten Schingúkatarakte, auch war das Wasser unterhalb, wo der Fluss wieder ruhig und klar dahinströmte, prächtig dunkel und flaschengrün. Doch schon nach einer Viertelstunde kam eine neue, ansehnliche Cachoeira, niedriger als die erste, wo ich wieder auszusteigen und über Land zu pilgern hatte. Auch hier wurde Fischfang getrieben. Wir zählten jenseit der Cachoeira 13 sogenannte » Currals «, Ringe von Steinblöcken an seichteren Stellen des Flussbettes; durch eine Lücke in dem Ring können die Fische eintreten, die von den Indianern alsdann zusammengetrieben und geschossen werden. Nicht wenig überrascht war ich, als Antonio weiter abwärts im ruhigen Wasser plötzlich erklärte, dass hier gestern oder vorgestern ein Kanu gewesen sei; ich bemerkte nur eine Menge weisser Bläschen dem Ufer zu. Der Schaum des Ruderschlages erhält sich auf stiller Flut in einer Strasse; durch keinen Wellenschlag zertrümmert, bleiben die Luftblasen auf dem Wasser stehen und werden vom Winde allmählich an’s Ufer getrieben.

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Wir ruderten zwei Stunden kräftig vorwärts, sprachen nur wenig und mit leiser Stimme und fuhren vorsichtig auslugend hart am inneren Rande in jede neue Windung ein. Aber alle Anzeichen hatten aufgehört. Beiderseits lag hoher schweigender Wald, der Fluss schimmerte im Sonnenschein, nichts Lebendiges regte sich im weiten Umkreis, und hier oder da nur gaukelte ein gelber Schmetter - ling vorüber. Kurz vor Mittag öffnete sich das Strombett zu einer ziemlich weiten Bucht; es war nicht recht zu erkennen, ob es sich um eine Lagune oder um eine Inselbildung handelte und der Fluss sich in zwei Arten teile; wir legten an, und ich schickte die Beiden aus, das Stück Wald, das uns von der Lagune trennte, zu durchqueren und jenseits den Lauf des Wassers zu prüfen.

Wartend sass ich am Strande; schon kam Carlos zurück, als ich einen Büchsenschuss flussabwärts plötzlich ein Kanu bemerke. Ein einzelner nackter Indianer steht darin und strebt eilfertig dem Ufer zu; dort lenkt er das Fahrzeug hinter ein abgestürztes Baumgeripp und duckt sich in seinem Schutze vorsichtig nieder. » Bakaïrí, Bakaïrí « schrie ich aus Leibeskräften, » kúra Bakaïrí, áma Ba - kaïrí, úra Bakaïrí «, wir sind Bakaïrí, du bist ein Bakaïrí, ich bin ein Bakaïrí, die Bakaïrí sind gut kurz schreie, was mir der Geist von Reminiscenzen aus den Begrüssungsformeln gerade jenes Stammes eingiebt, in freudigster Erregung. Und siehe da: » Bakaïrí, Bakaïrí, Bakaïrí « klingt es zurück. Andere Worte kommen hinzu, die ich leider nicht verstehe, aber die hoch emporgeschraubte Stimme trägt einen unglückselig ängstlichen und misstrauischen Ausdruck, und die Arme fuchteln hinter dem Baumgeripp in der Luft herum, als ob der Mensch dort tanze wie ein Kannibale in der Schaubude. » Bakaïrí .... « beginne ich wieder, da kommt glücklicher Weise Antonio mit mächtigen Sätzen herbeigesprungen, und halb ausser Atem vor Aufregung schreit er nun seinerseits den Fluss hinunter eine lange Er - klärung, die ich wiederum nicht verstehe, die aber bei dem verschanzten Helden ein dankbares Jubelgeheul entfesselt und die Situation wie mit einem Zauber - schlag klärt.

Das Kanu schoss aus dem Versteck hervor und eilte geradenwegs, ein schönes, langes, trockenes Rindenkanu, an unser trauriges, krummes, wachsverklebtes, lehm - beschmiertes, von schmutzigem Wasser durchspültes Fahrzeug heran, wahrlich, ich meinte, wir wären es, die hier in den Kreis einer höheren Kultur träten; wenn der edle Schiffer auch nur mit einer Gürtelschnur bekleidet war und nichts mit sich führte, als die sauber gearbeiteten, federverzierten Pfeile und den Bogen, die neben einer mit Honig gefüllten Kürbisschale auf dem Boden des Kanus lagen, so stach doch dieses auf uns zu gleitende Gesamtbild in seiner Nettigkeit und Reinlichkeit auf das Vorteilhafteste ab von uns abgerissenen Kulturträgern neben dem nassfaulen Stück Rinde, das unser Boot hiess. Nun, der Ankömmling zeigte mit seinem Gesichtsausdruck deutlich, dass er seinerseits doch uns bewundere.

Er benahm sich auch gar nicht als der schweigsame düstere Indianer, dessen Seele, wie ich auf Grund unserer Schulweisheit hätte verlangen dürfen, die eintönige niederdrückende Umgebung des tropischen Waldes wiederspiegelte, sondern lachte53 und schwatzte mit seinem Stammesgenossen Antonio, als ob er in einem glück - lichen Lande der gemässigten Zone aufgewachsen wäre. In wenigen Minuten waren wir gute Freunde, er sagte uns sogar, was er freilich nach des Landes Brauch ohne schamhaftes Zaudern und Zögern nicht zu Stande brachte, auf mein Drängen seinen Namen; er hiess Tumayaua und war der Häuptling eines wenige Stunden entfernten Dorfes der Bakaïrí.

Also wirklich der Bakaïrí! Die Hoffnung der vergangenen Wochen war in Erfüllung gegangen, wir traten in unser Forschungsgebiet bei einem uns wohl - bekannten gutartigen Völkchen ein, und unser Debut war gesichert. Tumayaua, erfuhr ich jetzt durch Antonio, war nicht wenig verdutzt gewesen über meinen Zuruf; dass er ein Bakaïrí sei, dass wir aber keine Bakaïrí seien, hatte er geantwortet. Zuvorkommend bot uns der Gute sein Kanu an, stieg selbst in das unsere und übernahm die Führung. Aber wir plauderten nicht minder eifrig als wir ruderten. Die Bakaïrí des Batovy waren Tumayaua’s Verwandte und Freunde. Von dem ersten Dorf, das wir 1884 besucht hatten, gab es wunderbare Neuig - keiten. Der alte Indianer, den wir damals den » Professor « genannt hatten, war mit einigen Andern unterwegs zum Paranatinga! Sie wollten Antonio und seinen Stammesbrüdern einen neuen Besuch abstatten. Pauhaga, der erste Bakaïrí, den wir auf der früheren Reise am Batovy begrüsst hatten, wohnte augenblicklich in Tumayaua’s Gemeinde, und ein merkwürdiger Zufall fügte es also, dass wir ihn auch gerade im ersten Dorfe des Kulisehu wiedersehen sollten. Waren wir denn auch wirklich am Kulisehu? Ja, der Fluss hiess Kulisehu, Kulisëu oder Kulihëu, wie denn h und s im Bakaïrí zu wechseln pflegen, und alle die Stämme, die wir suchten, wohnten anscheinend auch an seinen Ufern.

Doch Cachoeiras unterbrachen die Unterhaltung. Um 12 Uhr waren wir abgefahren; nach einer halben Stunde kam eine 60 m lange, niedrige Stein - cachoeira, durch die wir uns mühsam hindurchwanden, kurz nach 1 Uhr dann No. 4 der heutigen Reihe, wo entladen werden musste, und ein halbes Stündchen Aufenthalt entstand. ¾3 Uhr trafen wir bei der fünften und letzten ein, die sich mit kräftigem Schwall durch die Felsblöcke ergoss. Hier aber streikte der Pilot gegen die Weiterbeförderung unseres in akuter Wassersucht verendenden Kanus. Wir nahmen ihn als Vierten auf und überliessen die Leiche ihrem Schicksal. Tumayaua, dass mussten wir lobend anerkennen, war uns wirklich zur guten Stunde entgegengekommen; dass wir drei mit unserm Gepäck und ohne Kenntnis des Weges durch die letzten Cachoeiras in dem elenden Kanu, das den einzelnen Indianer nicht mehr tragen konnte, bis zum Dorf gekommen wären, ist sehr unwahrscheinlich. Gewiss aber hätten wir heute dieses Ziel nicht mehr erreicht. Uhr legten wir am linken Ufer an; wir waren im » Hafen «.

Wer sich mehr freute, Tumayaua, der eilend vorauslief, um uns anzumelden, und rasch unseren Blicken entschwunden war, oder wir, ist schwer zu sagen. Wir wanderten hintereinander den schmalen Pfad in dem durch Brand gelichteten Terrain, traten nach wenigen Minuten in den Wald, hörten lautes Schreien und54 Durcheinanderrufen, und einige hundert Schritte weiter, nachdem wir noch auf einem als Brücke dienenden Baumstamm ein kristallklares Bächlein passiert hatten, kamen wir in Sicht dreier bienenkorbartiger Hütten, die einen freien Platz zwischen sich hatten. Dort erwartete uns, den eifrig gestikulierenden Tumayaua an der Spitze, eine nackte braune Gesellschaft von Männern und in dem Hintertreffen von Weibern und Kindern, alle zu einer engen Gruppe zusammengeschlossen und halb verlegen, halb freudig gestimmt, jedenfalls aber auf’s Höchste überrascht. Die Männer traten uns, die rechte Hand emporstreckend, entgegen und sagten » áma « = » du «, » das bist du «, oder » áma kχaráiba « = » du, der Karaibe «.

Nicht sie, sondern wir sind in ihren Augen die » Karaiben «, und ich, der ich bei uns von dem Karaibenstamm der Bakaïrí spreche, hiess dort der » píma kχaráiba «, der Häuptling der Karaiben.

[55]

V. KAPITEL. Bakaïrí-Idylle.

I.

Auskunft über Kulisehu und Kuluëne. Antonio und Carlos zurück. Ein Weltteil, in dem nicht gelacht wird. Dorfanlage. Vorstellung der Personen. Mein Flötenhaus. In Paleko’s Haus. Bewirtung. Bohnenkochen und Tanzlieder. Aeussere Erscheinung der Indianer. Nacktheit und Schamgefühl. Essen und Schamgefühl. Tabakkollegium. Pantomime: Flussfahrt, Tagereisen, Stämme, Steinbeilarbeit. Vorführung von » Mäh « und » Wauwau «. Tabakpflanzen. Fisch - fang in der Lagune. Kanubau.

Schon am ersten Abend erhielt ich eine ziemlich klare Vorstellung von den Anwohnern des Kulisehu, die uns in Aussicht standen. Es gab drei Bakaïrí - dörfer; ihnen sollten folgen ein Dorf der » Nahuquá «, zwei Dörfer der » Minakú «, ein Dorf der » Auití «, ein Dorf der » Yaulapihü « und am » Kuluëne « ein Dorf der » Trumaí «. Zwischen dem Kulisehu und dem Tamitotoala-Batovy sollten noch die » Kamayulá « und die » Waurá « wohnen. Unsicher blieb, was der Flussname » Ku - luëne « bedeute, den ich jetzt zum ersten Mal hörte. Erst allmählich lernte ich ver - stehen, dass es der im Osten gelegene Hauptfluss sei, grösser als der Kulisehu, der in ihn einmünde. Also war der Fluss, den wir 1884 bei Schingú-Koblenz von SO hatten heranziehen sehen, nicht eigentlich der » Kulisehu «, wie wir damals verstanden und bisher geglaubt hatten, sondern der vereinigte Kuluëne-Kulisehu gewesen: der Name » Kuluëne « blieb auch dem Schingú selbst unterhalb der grossen Gabelung, sodass z. B. die Suyá am Kuluëne wohnten. Wollte man nach der Nomenklatur der Eingeborenen verfahren, müsste man an Stelle von » Schingú « den Namen » Kuluëne « gebrauchen und nun sagen, dass der Kuluëne zuerst den Kulisehu und dann bei » Koblenz « den Ronuro mit dem Tamitotoala-Batovy aufnimmt.

Es war ein schwer Stück Arbeit, diese Angaben von den Bakaïrí heraus - zubekommen; es wurde dabei viel in den Sand gezeichnet, viel Pantomime ge - trieben und, wenn ein Stück des Weges unklar geblieben war, immer wieder von vorne angefangen. Für’s Erste wusste ich genug; die einzelnen Stämme wohnten offenbar nur um wenige, im höchsten Fall drei Tagereisen von einander entfernt. Auch eine böse Nachricht wurde mir zu Teil, und ich gestehe, dass sie mir die bisher so angenehme Erinnerung an die erste Expedition verdarb: als die Trumaí56 damals bei Koblenz vor uns in heller Flucht davongestürzt waren, und unsere Soldaten sie verfolgt hatten, um einige von ihnen trotz aller Eile mitgenommenen Gegenstände zurückzugewinnen, war bei dem thörichten Schiessen, das sich die Leute erlaubt hatten und das angeblich nur in die Luft gerichtet war, dennoch ein Trumaí, wie ich jetzt erfuhr, getödtet worden. Dort konnten wir also kaum auf herzliches Willkommen rechnen.

Antonio und Carlos schickte ich am nächsten Tage, dem 11. September 1887, mit den Neuigkeiten nach der Independencia zurück. Ich hatte für ein Buschmesser das eine der beiden Kanus, das die Bakaïrí besassen, erworben. Ich selbst wollte zurückbleiben, ein neues Kanu anfertigen lassen und die seltene Gelegenheit, allein unter diesen Naturkindern zu weilen, für meine Studien aus - nutzen. In dem flussabwärts liegenden zweiten Bakaïrídorf, hörte ich, seien drei Kanus vorhanden, und könnten wir vielleicht zwei bekommen. Während für die im Standquartier zurückbleibenden ein guter Rancho gebaut würde, sollten deshalb ein oder zwei Herren, die jetzt von Antonio und Carlos geholt wurden, mit mir nach dem zweiten Bakaïrídorf fahren; dort konnten wir uns vervoll - ständigen und alsdann günstigen Falls mit vier Kanus nach der Independencia zurückrudern, um nun endlich die eigentliche Flussfahrt anzutreten. Antonio und Carlos sollten ferner, um Zeit zu sparen, ihr Kanu an der ersten grossen Cachoeira zurücklassen und über Land die Independencia aufsuchen. So wurde das Terrain im Anschluss an die mittlerweile von den Herren in der Inde - pendencia gewonnenen Erfahrungen vollständig rekognosziert und die Frage er - ledigt, ob das Standquartier nicht näher an das erste Bakaïrídorf vorgeschoben werden könne.

Als ich die beiden Wackern zum Hafen gebracht hatte und sie bald in der nächsten Biegung des Flusses verschwunden waren, kehrte ich zu meinen neuen Freunden zurück und fühlte mich in ihrer Mitte bald so wohl, dass ich jene idyllischen Tage unbedenklich den glücklichsten zurechne, die ich erlebt habe. Ich will versuchen, ihnen in einer kleinen Skizze gerecht zu werden; ich erhalte dadurch Gelegenheit, manche kleinen Züge von dem braven Völkchen mitzu - teilen, die im rein fachwissenschaftlichen Bericht nicht unterzubringen wären und doch des Wertes schon deshalb nicht entbehren, weil sie uns die Indianer nicht ganz so zeigen, wie wir sie uns vorzustellen gewohnt sind. Nicht Weniges davon verschwand, als später die grössere Gesellschaft kam; die volle Unbefangenheit, mit der man sich mir Einzelnen gegenüber gab, blieb nicht bestehen, und das Verhalten ähnelte mehr dem bekannten Schema, das in den Büchern gezeichnet zu werden pflegt. Und da möchte ich, was meine Bakaïrí angeht, von vorn - herein Einspruch erheben gegen derartige Anschauungen über ihre Eigenschaften, wie sie ihren typischen Ausdruck in den folgenden Sätzen Oscar Peschels (Abhandlungen zur Erd - und Völkerkunde, Leipzig 1877, Band I, p. 421) finden: » In keinem Weltteil der Erde hat man vor 1492 weniger frohes Lachen gehört als in Amerika. Der sogenannte rote Mann bleibt sich unter allen Himmels -57 strichen gleich, er ist überall düster, schweigsam, in sich gekehrt und auf eine gewisse würdevolle Haltung bedacht. «

Für die Bakaïrí treffen diese Prädikate in keiner Weise zu, sie waren heiter, redselig und zutraulich, wie ich sie in ihrem Verkehr untereinander be - obachtete, und wie sie sich mir allein gegenüber gaben. Ich werde die Beispiele dafür nicht schuldig bleiben, ich habe in diesem Dorfe fast ebenso viel gelacht und lachen gehört als unter den Kokospalmen von Samoa und Tonga. Es ist richtig, das Temperament ist weniger beweglich und die ganze Lebensauffassung weniger sonnig als bei den Kindern der Südsee, die Mädchen tanzen nicht im Mondschein und die Männer singen nicht auf der Kanufahrt; leichter wird Scheu und Misstrauen geweckt, aber von alledem ist es ein weiter Weg zu der Schwer - mut und Verschlossenheit, die dem Indianer, als ob es zwischen Berings - und Magalhãesstrasse nur eine einzige Familie gäbe, ebenso wie das schwarze Ross - haar und die mongolischen Augen, dem Anschein nach ein für alle Mal zuge - sprochen werden sollen.

Das » Dorf « war sehr klein, es bestand aus zwei grossen runden Häusern, in deren jedem mehrere Familien wohnten, und einem kleinen, leeren, etwas baufälligen oblongen Hause, in dem ich meine Residenz aufschlug. Zwischen den Häusern erstreckte sich die » taséra «, ein freier Platz, wo einige Gerüste standen, um das weisse, auf Matten ausgebreitete Mandiokamehl zu trocknen, wo in der Mitte ein langer dünner Sitzbalken lag und nach dem Rande zu etliche Baumwollstauden, Orléanssträucher (Bixa Orellana) und Ricinuspflanzen wuchsen. Ringsum waren zahlreiche Obstbäume angepflanzt, Bakayuvapalmen (Acrocomia), Mangaven (Hancornia speciosa), Fruta de lobo (Solanum lycocarpum), und eine Art Allee von stattlichen Pikí-Bäumen (Caryocar butyrosum). Nach Osten führte ein Weg zum » Hafen « über den nahebei befindlichen Bach hinüber, nach Nord - osten ein breiter Pfad durch hohes Sapé-Gras, mit dem die Häuser gedeckt werden, zu der unterhalb gelegenen Stromschnelle, nach Süden ein Pfad zu der Mandioka-Pflanzung, und überall trat hoher Wald dicht an die besiedelte und bepflanzte Lichtung heran.

Die Gemeinde zählte 9 Männer, 7 Frauen, 5 Kinder. Die Namen der Männer waren: Tumayaua, der Häuptling, unser Führer, dem in erster Linie die Sorge um die Pflanzung oblag (Tafel 6), Paleko, sein Vater, ein reizender alter Herr, mit dem ich enge Freundschaft schloss und der an seinem Lebens - abend Körbe und Reusen flocht, Alakuai, der pfiffige Zimmermann und Kanu - bauer, Awia, der Maler, Yapü, der Dicke, Kalawaku, der Bescheidene und die jungen Männer Kulekule, Luchu (Tafel 6) und Pauhaga. Es unter ihnen einigen Tagen noch ein paar Besucher aus dem zweiten Dorf hinzu, kamen nach Einer, dessen Eltern früh gestorben waren, der deshalb keinen Namen hatte.

Namen der Frauen waren nicht zu erfahren: » pekóto úra « lautete regel - mässig die Antwort » ich bin eine Frau «. So musste ich hier meine eigenen Be -58 zeichnungen erfinden; es gab, wie immer, eine Alte, die sehr viel zu sagen hatte, und die mit. ihrem dürren runzligen Körper nicht gerade schön war, die » Stamm - hexe «, Paleko’s Gattin (vgl. Tafel 5 links). Ihr Gegenstück war ihre Enkelin » Eva «, Tumayaua’s Tochter, Mutter zweier Kinder und die jugendliche Frau des musku - lösen, prachtvoll stämmig gebauten Kulekule, der mir, ehe ich seinen Namen wusste, würdig erschien, in diesem kleinen Paradiese » Adam « zu heissen und sich auch einer schön gelbrötlichen Lehmfarbe erfreute. Eva hatte ein fein geschnittenes europäisches Gesicht mit vollen Lippen, leicht errötenden Wangen, die dicht von welligem Haar umrahmt waren, und den schönsten Augen, die ich in Brasilien und das will nicht wenig bedeuten gesehen habe, grossen Augen, deren lieb -

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Abb. 2.

» Eva «, Tumayaua’s Tochter.

licher Blick garnichts von Koketterie enthielt, in deren strahlendem Feuer aber doch bei einem vollen, naiv zärtlichen Aufschlag jener Funke schuldloser Lüsternheit aufleuchtete, der einst den ewigen Weltbrand entzündet haben muss; so sah sie bei einem von keiner Einschnürung jemals misshandelten Körper wirklich wie eine junge Mutter Eva aus. Leider schuppte sie sich gar zu oft auf dem Kopfe und wenn dies auch zuweilen aus Verlegenheit geschehen mochte, so hatten doch Läuschen daran ihren sichtbaren Anteil.

Die etwa 12 jährige Freundin Eva’s, » meine Zukünftige « (Tafel 5 die dritte von rechts), pflegte sie hervorzuholen und zu essen. Dieser gehörte überhaupt alles Gute im Dorfe und viele Perlen, die ich Andern geschenkt hatte, fand ich später an ihrem Hals. Sie war das Töchterlein des verstorbenen Häuptlings und seine59 Erbin. Ihr Oheim Tumayaua war nur interimistisches Oberhaupt, er hätte mir, wenn ich dem sehr ernst gemeinten Vorschlag Paleko’s gefolgt wäre und seine Nichte geheiratet hätte, die Regierung abtreten müssen. Ich kann mir noch heute nicht verhehlen, dass, um von der ausgezeichneten Partie, mit der keine höheren Ansprüche an Toilettenaufwand als eine Schnur Glasperlen und ein Stück Rindenbast von der Grösse eines kleinen Menschenohres verbunden waren, ganz abzusehen, eine bessere Gelegenheit, die Ethnologie des Kulisehu kennen zu lernen, kaum zu erdenken war. Von den übrigen Frauen bekam ich wenig zu sehen, mit Ausnahme etwa der » Egypterin «, die auch vom zweiten Dorf herüberkam, eine lange habgierige Person mit egyptischem Profil und mandelförmigen Augen (Tafel 5 die zweite von rechts).

Ich hielt mich die beiden ersten Tage bescheidentlich zurück, um die Leutchen nicht zu ängstigen, ich merkte auch, dass einer der Männer fast immer zum Ehrendienst bei mir abkommandirt und so eine Art Dujour eingerichtet war; als ich in der ersten Nacht nach der Verabschiedung noch bei Licht einige Zeit aufbleiben und mein Tagebuch führen wollte, erschien der alte Paleko an der Thüre und bat mich ebenso höflich wie dringend, zu schlafen und die Kerze aus - zublasen. Meine Diskretion trug gute Früchte, bald holte man mich in die beiden grossen Häuser: in dem einen waren Paleko und die Zukünftige, in dem andern Tumayaua und Tochter die Hauptbewohner. Man nahm mich mit hinaus zum Fischen, zum Stapellauf des neuen Kanus u. dergl., und Alles hätte nicht besser sein können, wenn ich nicht bei der gastfreundlichen, aber für mich durchaus unzulänglichen Bewirtung an chronischem Hunger gelitten hätte. Ich musste mir durch starkes Rauchen zu helfen suchen und leistete darin das Menschenmögliche, während die Indianer sich diesem Genuss fast nur in unserm allabendlichen Tabak - kollegium auf dem Platz draussen, den vergnügtesten Stunden des Tages, dann aber auch in corpore und mit grossem Eifer hingaben.

Mein Häuschen hatte zur Zeit der Feste als Tanzhaus gedient, » kχato-éti « oder » Flötenhaus «. Zwei Rohrflöten in einem Futteral aus Burití-Palmstroh an der Wand hängend, waren die einzigen Reste der vergangenen herrlichkeit. Doch war es für mich besser so; denn die Frauen, die in dieser Ruine frei aus - und eingingen, dürfen das Flötenhaus der Männer niemals betreten. Es war 7 Schritt breit, lang, die Schritt auseinander stehenden Hauptpfosten inmitten, die das Dach stützten, waren m hoch. Oben blieb in dem Strohdach eine 1 m breite und m lange Luke frei. Ein paar Fischreusen standen in einer Ecke, sonst gab es nichts als die zwei Pfosten, von deren einem ich die Hänge - matte zur Wand hinübergespannt hatte. Ausser meiner Ehrenwache hatte ich noch die Gesellschaft eines Japú (Cassicus), der mir wie ein grüner tropischer Hans Huckebein vorkam; er durfte nur oben in den Sparren der Rauchluke sitzen und wurde, wenn er plötzlich herunterschoss und wie ein wildes Tier zwischen uns umherjagte, schleunigst wieder auf seinen Beobachtungsposten ver - scheucht, wo er, den Kopf neugierig geneigt und den Schnabel offen, herabschaute. 60Zuweilen kam auch eins der nachts eifrig thätigen Mäuslein spionieren und wurde, wenn es nicht zeitig entwischte, mit einem Kinderpfeil geschossen und den Frauen zum Braten gebracht. Fast ständige Gäste waren grosse schwarz-weiss gestreifte Bienen, die sich ebenso wie ein hier und da durch den Eingang herzuflatternder Schmetterling ruhig greifen und bei Seite setzen liessen. Am heissen Mittag meinte ich öfters inmitten eines von Gesumm und Gebrumm erfüllten Bienenkorbes zu sitzen.

Es war um diese Stunde am dritten Tage, dass ich vor den Bienen und Fliegen in das grosse Haus Paleko’s flüchtete und es zum ersten Mal betrat. Dort drinnen war es wundervoll kühl und gemütlich und nichts von lästigem Ungeziefer vorhanden. Nur Ameisen zogen mit Mehlkörnern beladen ihre Strasse zum Mandiokastampfer. Die Männer schaukelten sich, ihre Hauptbeschäftigung daheim, in den Hängematten, und nachdem ich anstandshalber auf dem Ehren - schemel, der die Höhe einer Zigarrenkiste hatte, ein Weilchen sitzen geblieben war, folgte ich bald ihrem Beispiel.

Man meinte sich in einem riesigen Bienenkorb zu befinden, glücklicherweise ohne die Bienen. Der Grundriss war fast kreisförmig mit einem Durchmesser vom 15 m; zwei gewaltige Pfosten, 9 m hoch und m von einander abstehend, stützten in der Mitte die mächtige Strohkuppel, deren Gerüst aus horizontalen Bambusringen und über diese senkrecht nach oben zur Luke gebogenen Stangen bestand. Sie war rauchgeschwärzt, wie Theer glänzend. Die Wandung ringsum, über der sie sich erhob, ein festgeschlossener Ring von m hohen Pfosten, nur unterbrochen durch zwei für mich viel zu niedrige Thüreingänge, die sich gegen - überlagen. Von der Wand waren nach innen zu, in der Richtung der Radien, die Hängematten gespannt, an besonders starken Pfosten beiderseits befestigt, sodass der Aussenraum in eine Anzahl von freilich offenen Gemächern eingeteilt war. Der grosse Mittelraum um die Hauptpfosten herum und unter der Luke, der frei blieb, war Küche und Stapelplatz für Proviantkörbe, Töpfe, irdene Beijú - Pfannen, Siebe, Matten, Kiepen, Mörser, Stampfer und Kalabassen. An die Haupt - pfosten waren Stöcke mit Schlingpflanzen angeflochten, wo wieder Kürbisschalen oder Tabakbündel herabhingen, von einem Querbalken baumelten grosse Vögel mit strohgeflochtenen Beinen und Schwänzen herab, die sehr geheimnisvoll aus - sahen und nur den Zweck hatten, die Maiskolben, aus denen ihr Inneres und die Flügel zusammengesetzt waren, auf eine das Auge erfreuende Art aufzubewahren. Der Boden war überzogen von einem steinharten Satz des feinen weissen Mandioka - mehls, mehlweiss waren die Mörser und Stampfer und rauchgeschwärzt die Töpfe. Ueber den Thüren Körbe mit Kalabassen, Reusen, Fischnetze, in den » Gemächern « an der Wand Bogen, Steinbeile, die buntgefiederten Pfeile aus dem Kuppelstroh hervorstarrend, ein Kram von Körbchen, Trinkschalen und kleinerem Gerät, am Boden weisse Lehmkugeln, Töpfchen, Schemel, Holzstücke, Feuerfächer und die Asche des Feuerchens, das Jeder nachts neben und fast unter seiner Hängematte unterhält, an der Hängematte ein Büschelchen bunter Federn und der Kamm hängend, hier und da eine Pyramide aus Stäben mit dem Bratrost;61 auch fand sich ein Paar der Stöcke aufgehängt, mit denen Feuer gerieben wird, und daneben ein Paketchen mit dem Zunderbast angebunden.

In Summa: Familienwohnung in vollem Betrieb, gerade so viel Unordnung als zur Behaglichkeit gehörte, Alles sauber und nett hergerichtet, Alles gehängt, geschachtelt, gestülpt, keine eisernen Nägel und Schrauben, sondern nur Faden und Flechtwerk, Alles Arbeit mit Steinbeil, Tierzahn und Muschel. Totaleindruck: braun die Wand, die Hängematten, die Kalabassen, die Menschen, braun in jeder Abstufung aber harmonisch getönt, ganz Knaus. Hier und da schien die Sonne durch eine Ritze in der Strohkuppel, vor der Thür schnitt die Tageshelle scharf ab und die Gasse zwischen den Thüren lag im Halbschatten; durch die Luke, die ziemlich eng verschlossen war, fielen einige lichte Kringel und Kreise auf den Boden, und in dem emporsteigenden Rauch tanzten matte Sonnenstäubchen.

Die schweigsamen Indianer, Männer und Frauen, schwatzten fortwährend, und lustig heraus klang Eva’s liebliches Lachen. Die Frauen waren alle thätig. Eine schrappte eine rötliche Rinde, die gekocht einen heilkräftigen Sud liefert, eine zweite stampfte im Mörser Mandiokagrütze. Ab und zu wurde einem der Männer ein Schluck an die Hängematte gebracht. Ein schönes Bild dort beim loderndem Feuer, das an dem riesigen Topfkessel heraufschlug, die nackte Frau mit langem Haar, sie schöpfte den wie Milch weich wallenden Schaum des Püserego in einem kleinen Topf ab und goss ihn immer wieder mit kräftigem Schwung des Armes zurück. Andere traten hinzu, auch der gehorsamst Unter - zeichnete, und kosteten, die Finger abschleckend. Die Zukünftige sah auch sehr niedlich aus, ihr » rabenschwarzes Mongolenhaar « spielte in ein verschossenes Lichtbraun, und sie hockte vor drei unzufrieden krächzenden grünen Periquitchen, die sie aus einem Töpfchen fütterte. Dann kam auch ich an die Reihe, sie legte einen frischgebackenen goldgelben Beijú-Fladen vor mich hin und vergass nicht zu bemerken, dass er ihrer eignen Händchen Werk sei.

Der dicke Yapü war eingeschlummert. Auch mich befiel in der ungewohnten stimmungsvollen Gleichmässigkeit des häuslichen Treibens eine angenehme Müdig - keit; der freundlichen Einladung, ein Mittagsschläfchen zu halten, konnte ich nicht widerstehen, obwohl ich mich in der grössten Hängematte, die da war, wie ein Fisch im Netze krümmte.

Ich hatte fest geschlafen. Das Bild war verändert. Die Frauen sassen draussen auf dem Platz fünf in einer Kette hintereinander eifrig beim Lausen. Wer ein Tierchen fing, legte es auf die Spitze der Zunge und schluckte den Leckerbissen hinunter oder gab es auch der ursprünglichen Besitzerin, die es in der emporgehaltenen Rechten von hintenher empfing. Die Männer beobachteten aufmerksam Schwalben » iri «, Luchu schoss nach ihnen, ohne sie zu treffen; als sich ein paar in der Luft eine Beute abjagten, nahm dies das allgemeine Interesse in Anspruch, und der gute alte Paleko lieferte erklärende Anmerkungen. Ueberall dolce far niente. Nur die Ameisen feierten nicht; grosse Carregadores zogen daher, schwer bepackt mit Halmstückchen und Holzkohlen.

62

Das Haus Tumayaua’s war ein wenig kleiner; hier lugten Eva’s Kinder aus den Hängemättchen hervor, sonst war es dasselbe Bild.

Die Wohnungsverhältnisse gefielen mir besser als der zweite Teil der Pension. Mit meiner Verpflegung war es übel bestellt. Fleisch bekam ich während des Aufenthaltes im Dorf überhaupt nicht zu sehen, wenn ich zwei geschossene Mäuse ausnehme. Fisch liess man mir nur so selten und in so kleinen Portionen zu - kommen, als wenn es eine der kostbarsten Speisen wäre; einmal ein Töpfchen von kleinfingerlangen Geschöpfchen in salzloser Brühe mit einem Maiskolbenstiel als Löffel, zweimal ein knapp handgrosses Stück Fisch gebraten und auf Beijú wie auf einem Tellerchen serviert, einmal ein Stück Zitteraal, fast zu fett, aber gut und mit einer Haut wie Spickaal. Dann durfte ich einmal Beijú in Fischöl tunken, was eine besondere Delikatesse auch für die Bakaïrí nicht gewesen wäre, wenn sie in ihrer Kindheit hätten Leberthran einnehmen müssen. Mehr finde ich in meinem Tagebuch nicht verzeichnet dagegen teilte die Zukünftige am ersten Tage geröstete Maiskörner mit mir, die sie auf dem Boden hockend im Schooss hielt, brachte mir auch gelegentlich ein paar Mangaven, und Eva bot mir beim Vokabelfragen Ameisen, einen Palmbohrkäfer mit noch einem halben Bein und eine dicke Larve an, was alles » iwakulukulu «, der Superlativ jedweden Guten und Schönen im Bakaïrí, sein sollte. An den Mandioka-Fladen oder Beijús und Getränken liess man es nicht fehlen. Doch hielt der Festtrank Püserego nur für zwei Tage vor; wie Seifenwasser grünlich grau, warm und mit Blasenschaum überzogen, hatte er doch einen angenehm weichlichen, süssen Geschmack. Die Beijús waren in der Qualität je nach Art des Mehls sehr verschieden, sie wurden meist zerbröckelt und mit Wasser angerührt als Getränk genossen.

Dahingegen waren meine Gastfreunde von Herzen bereit, das Wenige, was ich von Bohnen und Salz bei mir hatte, sich schmecken zu lassen und baten darum inständigst. Mit den Bohnen hatte es seine Schwierigkeiten. Paleko und ich kochten sie zusammen, aber beide zum ersten Mal in unserm Leben. Ich machte Feuer an und er holte Scheite herbei, wir setzten einen irdenen Topf mit den Bohnen auf drei Steine und kochten los. Paleko sang dazu, seinen Korb flechtend und mit einem Fuss leise im Takt tretend; ich versuchte die Worte festzuhalten und las sie ihm, nach Kräften auf seine Art singend, vor. Leider verstehe ich den Text nicht und leider noch weniger die Noten, ich kann nur angeben, dass der Rhyth - mus sehr stark hervorgehoben wurde, und dass man, wenn nur der Alte sang, eine ganze Gesellschaft zu hören meinte, wie sie im Kreise lief und stampfte.

kuyé kuyé kutapayó kuyé kutapayó hohóhohohú yalíwayáhahú ohohú uhó ohóhóho huhohohú ohóhóchú.

énu hitenó kuyé kutápayó yekútapá yekútapá ohó. Dieser Vers enthält etwas von Augen, ein gleicher mit kámi hitenó etc. von der Sonne. *)káme Sonne Nu-Aruakwort. Das folgende yawalí ist der Name für das wurfholz und den Wurfholztanz der Tupístämme des Kulisehu. Die Texte sind wohl nur teilweise Bakaïrí.

63

yáwalí, yáwalí i í pekóto, yawalí ii ii éh yawalílawí.

yáwalí pinakú yawalí eh he , yawalí henemánekabó yawalí eh he , yawáli he he .

yawalí nawí ehé, yawalí nawí ehé, yawalé nawí ehé, yawalí nawí ehé-yä.

Wie der Yawali-Gesang gab es einen andern mit endloser Wiederholung: wákutuyéh, wákutuyéh fünf Mal, wakú wákutuyéh etc. in infinitum. Dann wusste Paleko auch ein Lied der Nahuquá, das sich auf das schöne Geschlecht, táu Frau, bezog: yámikú hezé hezémitáu yámikú erehezé mezé mitáu.

Trotz der aufmunternden Marschlieder kam in unserm Bohnentopf kein Wallen und Sprudeln zu Stande, nur bescheidene Schaumblasen schwammen oben und nach zwei Stunden waren die sanft erhitzten Hülsenfrüchte noch grün. Erst als meine Zukünftige herzukam und sich der Sache annahm, wurde auch das Tempo der Bohnen lebhafter. Auch sie sang » kuyáuhu kuyáuhú « (Diphthong au) mit leiser Stimme ein wenig nach der Melodie: » Wir hatten gebauet ein statt - liches Haus «: kuyáuhu kuyáuhuhú kirúhayé kiruhayé (vier mal) kuyáuhu kuyáu.

Leise und ziemlich dumpf, langsam feierlich, lange auf dem au verweilend.

Das Hauptlied, das wir noch häufig zusammen sangen, war das folgende: yawí yawí nakú noví ritó hahé ohó hohú, niké weké niké, niké weké niké, notú aríte nóhuhé, ohóhuhó huhú, niké weké niké, notú aríte óhohu, ohóhuhó etc.

Dumpf und leise, aber immer schneller mit gestampftem Takt und einer stossweisen Betonung, die zum Fortschreiten mitreisst; das óhohu wird wieder - holt, bis der Athem fast versagt, und man ruht wieder aus auf dem feierlicheren: notú aríte nóhuhé nuhá hahú notú aríte nóhuhé nuhá hahú , óho hu.

Ein grösserer Gegensatz ist nicht gut denkbar als zwischen einem flotten Studenten-Kneiplied und jenen Gesängen, deren Vortrag kaum ein Singen zu nennen war, sondern nur mit verhaltenen Tönen den Tanzmarsch der Füsse be - gleiten zu wollen schien. Ich sang natürlich auch, auf die Gefahr hin, den Leutchen von unserer Musik nicht den allgemein gültigen Begriff zu geben, da ich nur » eigene Melodien « zur Verfügung habe. Ich errang einen kleinen Achtungserfolg, doch war man wegen des mit der Tonfülle verbundenen ungewohnten Lärms ein wenig befangen. Naturlaute aber wie » rudirallala « gefielen meinem Freunde Paleko ausnehmend, er war mit Feuereifer bestrebt, sie zu lernen, und krümmte sich vor Lachen, wenn er nicht rasch genug folgen konnte.

Schamgefühl. Ich möchte in diesem erzählenden Teil vermeiden, Kleidung und Schmuck im Einzelnen zu beschreiben und beschränke mich, was die persönliche Erscheinung betrifft, auf die Bemerkung, dass beide Geschlechter unbekleidet gingen, dass die Frauen, wie man auf der Tafel 5 sieht, das » Ulúri «, ein gelbbraunes, dreieckig gefaltenes und an Schnüren befestigtes Stückchen Rindenbast, und um den Hals eine Schnur mit Muschelstückchen, Halmstückchen, Samenkernen, dass die Männer immer eine Hüftschnur mit oder ohne solchen Zierrat und häufig Bast -64 oder Baumwollbinden um den Oberarm oder unter einem Knie oder über einem Fussgelenk trugen. Der eine oder andere Jüngling steckte sich auch eine Feder in das durchbohrte Ohrläppchen; aber man muss nicht glauben, dass der Indianer, wie auf den Schildern der Tabakläden, immer in seinem ganzen Festputz erscheint.

Wohl aber möchte ich über den allgemeinen Eindruck, den die » Nacktheit « auf den unbefangenen Besucher machte, an dieser Stelle ein Wörtchen sagen. Diese böse Nacktheit sieht man nach einer Viertelstunde gar nicht mehr, und wenn man sich ihrer dann absichtlich erinnert und sich fragt, ob die nackten Menschen: Vater, Mutter und Kinder, die dort arglos umherstehen oder gehen, wegen ihrer Schamlosigkeit verdammt oder bemitleidet werden sollten, so muss man entweder darüber lachen wie über etwas unsäglich Albernes oder dagegen Einspruch erheben wie gegen etwas Erbärmliches. Vom ästhetischen Standpunkt hat die Hüllenlosigkeit ihr Für und Wider wie alle Wahrheit: Jugend und Kraft sahen in ihren zwanglosen Bewegungen oft entzückend, Greisentum und Krankheit in ihrem Verfall oft schauderhaft aus. Unsere Kleider erschienen den guten Leuten so merkwürdig wie uns ihre Nacktheit. Ich wurde von Männern und Frauen zum Baden begleitet und musste mir gefallen lassen, dass alle meine Zwiebel - schalen auf das Genaueste untersucht wurden. Für das peinliche Gefühl, das ich ihrer Neugier gegenüber zu empfinden wohlerzogen genug war, fehlte ihnen jedes Verständnis; sie betrachteten andächtig meine polynesische Tätowirung, zumal einen blauen Kiwi aus Neuseeland, waren aber zu meiner Genugthuung sichtlich enttäuscht darüber, dass sich unter der sorgsamen und seltsamen Verpackung nicht noch grössere Wunder bargen.

Sie selbst trugen ja auch etwas Kleiderähnliches bei Mummenschanz und Tanz, aus Palmstroh geflochtene Anzüge, deren Namen éti = Haus ist, und so erhielt mein Hemd den prunkvollen Namen » Rückenhaus «; ich hatte ein » Kopf - haus « und ein » Beinhaus «. Da die Frauen nicht tanzen und nur die Männer in ihrem Flötenhaus diese Anzüge gebrauchen dürfen, war Eva’s Frage wohl nicht so unberechtigt, ob denn » karáiba pekóto «, die Frauen der Karaiben, auch Kleider, » Häuser «, trügen? Mit welcher Schnelligkeit man sich bis in die Regionen des Unbewussten hinein an die nackte Umgebung gewöhnen kann, geht am besten daraus hervor, dass ich vom 15. auf den 16. September und ebenso in der folgenden Nacht von der deutschen Heimat träumte und dort alle Bekannten ebenso nackt sah wie die Bakaïrí; ich selbst war im Traum erstaunt darüber, aber meine Tischnachbarin bei einem Diner, an dem ich teilnahm, eine hoch - achtbare Dame, beruhigte mich sofort, indem sie sagte: » jetzt gehen ja Alle so. «

Der Zweck, den wir mit der Kleidung verbinden, blieb ihnen verborgen, daran konnte man nicht zweifeln, wenn man sah, in welch naiver Art sie Teile meines Anzugs, deren sie für eine Weile habhaft wurden, anlegten. Wie sollten sie auch sowohl von den Unbilden unseres Klimas als von dem dritten Kapitel des ersten Buch Mose etwas wissen? Sie spielten mit meinen Kleidungsstücken65 wie eitle Kinder. Luchu war glücklich, wenn ich ihm meinen Poncho lieh, und ging mit ihm und meinem Hut stolz wie der aufgeblasenste Geck auf dem Dorf - platz spazieren.

Bei der ethnographischen Schilderung der Kulisehu-Stämme werde ich auf das Thema Kleidung und Schamgefühl zurückzukommen haben; hier kann ich nur wahrheitsgetreu berichten, dass ich im Verkehr mit den Leuten von unserem Schamgefühl Nichts bemerkt habe, wohl aber von einem anders gearteten, uns durchaus fremden, über das ich sogleich berichten werde.

Beim Vokabelfragen bildeten die Körperteile einen wichtigen und leicht zu behandelnden Stoff. Die Bakaïrí fanden es sehr komisch, dass ich Alles wissen wollte, waren andrerseits aber sehr stolz, dass ihre Sprache so reich war und der Bakaïrí für jeden Teil ein Wort hatte. Sehr vergnügt wurden sie bei meinem Fragen da und liessen es an prompter Auskunft nicht fehlen, wo sie sich nach unsern Begriffen hätten schämen und womöglich lateinisch oder in Ausdrücken der Kindersprache hätten antworten sollen. Rücksichtsvoll denn ich natürlich schaute in diesem Moment durch meine Kulturbrille und sah, dass sie nackt waren hatte ich einen Augenblick abgewartet, als die Frauen aus der Hütte herausgegangen waren: ich wurde damit überrascht, dass die fällige Antwort plötzlich draussenher von einer sehr belustigten Mädchenstimme kam. Meine Vorsicht hatte keinen Sinn gehabt. Es war die Vorsicht etwa eines Arabers, der sich geniren würde, in das unverhüllte Antlitz einer Europäerin zu sehen, oder eines Chinesen, der in ängstliche Verlegenheit geriete, wenn ihm der Zufall ihr strumpfloses Füsschen zeigte. Es ist wahr, das bei uns anstössig erscheinende Thema bereitete den Bakaïrí, Männern und Frauen, entschiedenes Vergnügen, und wenn ein pedantischer Grübler, der die Schamhaftigkeit in unserm Sinn um jeden Preis als angeborenes Erbgut der Menschheit gewahrt wissen will, nun gerade aus diesem gesteigerten Mass der Heiterkeit folgern möchte, dass sich das böse Gewissen eines von höherer Sittlichkeit herabgesunkenen Stammes geregt habe, so vermag ich ihm nur zu erwidern, dass ihr lustiges Lachen weder frech war noch den Eindruck machte, als ob es eine innere Verlegenheit be - mänteln sollte. Dagegen hatte es unzweifelhaft eine leicht erotische Klangfarbe und ähnelte, so sehr verschieden Anlass und Begleitumstände bei einem echten Naturvolk sein mussten, durchaus dem Gelächter, das bei unseren Spinnstuben - scherzen, Pfänderspielen oder andern harmlosen Spässen im Verkehr der beiden Geschlechter ertönt. Ist doch aus dieser selben natürlichen Freude, wie wir später sehen werden, eins der häufigsten Ornamente ihrer Malerei, das auf zahl - reichen Gerätschaften als die Urform des Dreiecks dargestellte Uluri der Frauen hervorgegangen.

Die Uluris wünschte ich für die Sammlung in grösserer Zahl verfertigt zu haben. Was grosse Heiterkeit erregte. Eines Nachmittags wurde denn munter geschneidert. Wir sassen hinter Tumayaua’s Haus, eine Alte röstete draussen Beijús, das Mehl auf die Schüssel aufschüttend, es glatt streichend und mit Ge -v. d. Steinen, Zentral-Brasilien. 566schicklichkeit den fertigen Fladen auf ein Sieb werfend, die Kinder schleckten Püserego und spielten Fangball mit federverzierten Maisbällen, und vier Frauen und Mädchen drehten die Fäden aus Palmfaser, falteten die » Röckchen « aus braungelbem Blatt und lieferten mir die zierliche Arbeit massenweise in allen Grössen. Das Einzige, was ich zugeben muss, ist das, dass eine Frau sehr ver - blüfft war und ratlos um sich blickte, als ich ein Uluri verlangte, das sie anhatte. Allein an dieser Verlegenheit hatte ein auf die Entblössung bezogenes Scham - gefühl keinen Anteil, sondern was von Schamgefühl vorhanden war, sollte ein physiologisches genannt werden, dessen Existenz ich nicht bestreite. Als ich nun mehrere Frauen gleichzeitig um ihre Uluris bat und durch Verweisen auf die Sammlung jedes Missverständnis ausschloss, wurde mir » anstandslos « und lachend gewillfahrt.

Dagegen beobachtete ich ein deutliches Schamgefühl bei ganz anderem Anlass, und zwar beim Essen. Ich hatte nur Gelegenheit, es bei den Männern festzustellen, und möchte vermuten, dass es den Frauen erst recht nicht fehlte.

Am Abend des 13. September bot mir Tumayaua draussen auf dem Platz, wo wir Männer plaudernd bei dem Mandiokagestell standen, ein Stück Fisch an, das ich hocherfreut sofort verspeisen wollte. Alle senkten die Häupter, blickten mit dem Ausdruck peinlicher Verlegenheit vor sich nieder oder wandten sich ab, und Paleko deutete nach meiner Hütte. Sie schämten sich. Erstaunt und be - troffen ging ich in das Flötenhaus, den Fisch zu verzehren. Ich hatte die Mahl - zeit noch nicht beendet, als Kulekule eintrat, der über den Gebrauch einer ihm geschenkten Angel näher belehrt werden wollte. Mit einem Gesicht, das deutlich sagte: » ah, Sie sind noch nicht fertig «, setzte er sich nieder auf den Boden, schweigend, abgewandt und mit gesenktem Kopf und wartete. Am nächsten Abend erhielt ich draussen wieder Fisch, doch war es schon dunkel: ich ass, mich bescheidentlich dem finstern Baumgrund zukehrend und schien so keinen Anstoss zu erregen.

Als Paleko mir den Topf mit kleinen Fischen brachte, waren wir beide allein im Flötenhaus; er kehrte mir den Rücken zu und sprach kein Wort während der langen Zeit, dass ich mit den Gräten kämpfte. Ich gab Tumayaua von unserm Bohnengericht; er nahm die Portion und ging bis zu seinem Hause, wo er sich hinsetzte, ass und zwischendurch, aber ohne den Kopf zu wenden, herüberrufend sich auch an unserer Unterhaltung beteiligte. Er hatte sich also mit voller Absicht entfernt. Im Hause assen die Frauen jede für sich in der Nähe der Feuerstelle, sie brachten den Männern das Mahl, und Jeder ass auf seinem Platz. Dabei machte es sich Alakuai z. B. sehr bequem, indem er in der Hängematte liegend zu dem Topf auf dem Boden hinablangte, mit den Fingern hineinfuhr und sie sich schaukelnd abschleckte, aber Keiner behelligte den Andern mit seiner Gesellschaft. Mit dem Beijúessen war man vielleicht etwas liberaler, wenigstens mir gegenüber, doch sah ich die Männer Abends häufig einzeln bei - seite gehen, ein Stück zu verzehren. Ehrenreich hat später bei den Karajá67 am Araguay etwas Aehnliches gefunden. » Die Etikette verlangt, dass Jeder, von dem Andern abgewendet, für sich isst. Wer dagegen verstösst, muss sich den Spott der Uebrigen gefallen lassen. «

Bei den Bakaïrí war diese Etikette nun entschieden strenger, sicher wenigstens im Verhältnis zu dem Gaste, denn der Humor ging ihnen völlig ab meiner Unanständigkeit gegenüber. Ich habe gewiss Vieles gethan, was des Landes nicht der Brauch war, ich habe laut gesungen, Männer und Frauen nach ihrem Namen gefragt, die delikaten Käferlarven zurückgewiesen und dergleichen schwer zu entschuldigende Dinge mehr begangen, allein nie sah ich, dass man sich schämte. Hier aber handelte es sich um mehr als etwas Unschickliches, ich war unanständig gewesen. Darüber kann gar kein Zweifel sein.

Wenn wir mit Heine zugeben müssen, dass wir alle nackt in unsern Kleidern stecken und unserm Schamgefühl nur eine relative Berechtigung zusprechen dürfen, wird auch der Bakaïrí durch Essen an und für sich, soweit der Einzelne den Vorgang für seine Person erledigt, in edleren Gefühlen nicht verletzt werden können. Unwillkürlich gedenkt man irgend eines Tieres, das seinen Anteil von der Mahlzeit beiseite trägt, doch offenbar aus Furcht, ein anderes möchte ihn wegnehmen. Wohl glaube ich, dass Fisch und Fleisch bei den Bakaïrí, die sich mit einer gewissen Trägheit auf Mandioka und Mais mehr einschränkten als ihnen selbst lieb war, verhältnismässig knapp bemessen waren: ich bin gewiss, wenn ich noch eine Woche länger dort geblieben wäre, hätte ich mich aus freien Stücken mit jedem guten Stück, das ich rechtmässig oder unrechtmässig erwischt hätte, in eine stille Ecke gesetzt, um es vor den Blicken der Andern geschützt zu verzehren. Den hungrigen Blick, fürchte ich, habe ich selbst schon damals nach Andern hinübergeworfen. Aber die Entstehung des beschriebenen Scham - gefühls muss in älteren Zeiten wurzeln.

Du lieber Himmel, wie haben wir sogenannten gebildeten Menschen, als Schmalhans auf der Expedition Küchenmeister wurde, ich kann nur sagen, obwohl wir die Gefühle zu meistern wussten, mit Gier und Neid die gegenseitigen Portionen kontrolliert; als der Zuckervorrat, die Rapadura, zusammenschrumpfte, war es nötig gewesen, den Rest persönlich zu verteilen, damit ein Jeder sich auf dem Lagerplatz seinen Erfrischungstrank nach Belieben sparsam oder ver - schwenderisch herrichten konnte, und als wir später auf der Fazenda S. Manoel nur ein wenig Rapadura vorfanden, die wir in genau gleiche Stücke zerschnitten, erhitzten wir uns in allem Ernst über der Entdeckung, dass die Soldaten, mit denen wir ehrlich geteilt, sich heimlich eine Anzahl der Bonbon-Ziegelsteine vorweg verschafft hatten.

Die Bakaïrí lebten wie eine einzige Familie, sie verteilten untereinander die Beute von Fischfang und Jagd auf die verschiedenen Häuser, in jedem Haus musste auf die verschiedenen Familien wieder verteilt werden. Die Zeit, wo sie gelernt hatten, Mandioka und Mais zu pflanzen, und sich nun einen regel - mässigen Vorrat an Lebensmitteln sichern konnten, war eine neue Aera. Bis5*68dahin hatten sie, wie wir auf der Expedition, von der Hand in den Mund gelebt, und da war das Alleinessen um der Ruhe und des Friedens willen vielleicht eine verständige, nützliche Einrichtung gewesen. Jene Einrichtung, von Jugend auf geübt und eine Gewohnheit geworden, die im Blute steckte, wurde auch in die Zeit des sesshaften Lebens hinübergenommen, wo der Feldbau überwog und sie keinen Sinn mehr hatte. Da entwickelte sich das Schamgefühl. Denn man konnte sie als wirklich vernünftig nicht mehr begründen, man prüfte sie auch gar nicht auf ihre Berechtigung durch die Umstände, eine jede alte Ge - wohnheit ist um ihrer selbst willen da; was man dann » heilig « nennt, weil sie schlechthin eine Sache des Gefühls geworden ist. Man schämt sich, wenn Einer dawider verstösst, und schämt sich um so redlicher, je weniger man sagen könnte, was er eigentlich Schlimmes verbrochen hat. Wer einen andern Entwicklungs - gang durchgemacht hat, auf die Sache selbst sieht und nicht auf den falschen, durch Umdeutung gewonnenen Begriff, der an ihrer Stelle steht, fragt erstaunt: » warum schickt es sich nicht, nicht allein zu essen? « » Warum «, fragt der Bakaïrí uns, » schickt es sich nicht, nackt zu sein? « Der Eine müsste wissen, dass man unter seinen Kleidern » nackt « bleibt, der Andere, dass man auch in der grössten Gesellschaft » allein « isst. Ganz gewiss geht unser Schamgefühl im Verkehr der beiden Geschlechter auf eine Zeit zurück, als Jeder noch dafür sorgen musste, dass er seine Frau für sich allein hatte, sie vor den begehrlichen Blicken der Stammesgenossen zu schützen suchte und dazu die, sei es nun aus Freude am Schmuck oder aus Nützlichkeitsgründen hervorgegangene Kleidung benutzte. Da wurde denn die Kleidung selbst heilig. Es ist gewiss eine interessante Parallele, wenn wir uns die nackten Indianer als eine unanständige Gesellschaft denken und uns in die Seele eines Bakaïrí versetzen, der sich vor Scham nicht zu helfen wüsste, wenn er die fürchterlich unanständigen Europäer bei einer Table d’hôte vereinigt sähe. Er würde sich aber rasch daran gewöhnen und sich vielleicht in der nächsten Nacht an den Kulisehu zurückträumen, dort Alt und Jung gemüt - lich zusammen beim Schmaus eines Tapirbratens finden und erstaunt sich von dem Häuptling belehren lassen: » wir essen jetzt immer miteinander «.

Tabakkollegium. Am natürlichsten gaben sich meine Freunde Abends nach des Tages Last und Mühen, wenn wir Männer auf dem Dorfplatz rauchend zusammensassen. Eine harmlosere Lustigkeit war nicht gut denkbar, obgleich oder weil, wenn man will, Nichts dabei getrunken wurde. Pünktlich wie der erste der Honoratioren mit seiner langen Pfeife am Stammtisch, erschien der steif - beinige alte Paleko, das spindelförmige Tabakbündel, einen Zweig mit Wickel - blättern und einen Holzkloben in den Händen und hockte behaglich seufzend auf dem Sitzbalken nieder. Mir that bald der Rücken weh in dieser Sitzlage von einer Handbreit über dem Boden, und ich schleifte meine Ochsenhaut aus der Hütte heran. Ein paar Hölzer wurden radienförmig mit dem glimmenden Kloben zusammengelegt und ein Feuerchen angeblasen. Die Thonpfeife war unbekannt,69 man rauchte Zigarren oder richtiger Zigaretten, allerdings 25 cm lang. Das Wickel - blatt war noch grün und wurde nur einige Augenblicke über dem Feuer gehalten, es verbreitete einen balsamischen Geruch. Die Zigarre ging häufig aus, man hielt sie an die Kohle, um sie wieder anzuzünden. Gelegentlich liess man sich auch Feuer von der Zigarre des Nachbars geben, überreichte ihm dann aber die eigene, die jener in den Mund nahm und anzündete. Der Rauch wurde geschluckt. Auch meinen schweren schwarzen Tabak rauchten sie auf dieselbe Weise und in demselben For - mat und vertrugen ihn, obwohl der ihrige leicht wie Stroh war, ohne Schwierigkeit.

Aus den Häusern drang kein Laut hervor, das Geflecht an dem Eingang war vorgeschoben. Ob die Frauen nicht wach in der Hängematte lagen? Die beiden Araras, die von den Dachstangen tagsüber zu krächzen pflegten, schliefen auf einer halbverdorrten Palme. Keine Insekten belästigten uns. Zwei, drei Stunden lang sassen wir unter dem sternfunkelnden Himmelsgewölbe, rings von der dunkeln Waldmasse umgeben. Das kleinste Wölkchen, das irgendwo auf - stieg, wurde bemerkt und einer Erörterung über Woher und Wohin unterworfen. Sobald ein Tierlaut im Walde hörbar wurde, verstummte Alles einen Augenblick, wartete, ob er sich wiederhole, und man flüsterte sich zu » ein Tapir «, » ein Riesengürteltier « oder dergleichen, während Einer halb mechanisch den Tierruf nachpfiff. Auch an unwillkürlichen Lauten fehlte es nicht. Speichelschlürfen, Aufstossen, Blähungen erfuhren keine Hemmung. Bakaïrí sum, nihil humani a me alienum puto. Aber in dem Augenblick, wenn einer sich gar zu schlecht auf - führte, erfolgte sofort als unmittelbare Reflexbewegung aller Kollegen ein kurzes heftiges Ausspucken nach der Seite, ohne dass die Unterhaltung stockte. Im Wiederholungsfall freilich brummte Tumayaua oder Paleko etwas, was zu heissen schien: » Donnerwetter, wir haben doch einen Gast «, und der Uebelthäter verlor sich auf sechs Schritt weg im Schatten. Es war sehr patriarchalisch.

Das für mich wichtigste Thema, die Geographie des Kulisehu, nahmen wir ausführlich durch. Der Fluss wurde in den Sand gezeichnet, die Stämme wurden aufgezählt und mit Maiskörnern bezeichnet. Allmählich lernte ich so das richtige Verhältnis von Kulisehu und Kuluëne verstehen und erfuhr, dass die Hauptmasse der Nahuquástämme, deren jeder mit einem besondern Namen bezeichnet wurde, am Kuluëne sass. Alle Leute waren entweder gut » kúra « oder schlecht » kurápa «. Hauptsächlich richtete sich die Unterscheidung, wie ich zu meinem Erstaunen merkte, nach dem Umfang der Gastfreundschaft, die sie ausübten; » kúra « sein hiess, es beim Empfang an Beijús und Püserego, den Fladen und dem besten Kleistertrank aus Mandioka, nicht fehlen lassen. Es war zum Teil, was die Nahuquá und etwa noch die Mehinakú betraf, nach eigenen Erfahrungen, zum Teil nach Hörensagen dieselbe Information, die bei unsern Herbstreisen als die wichtigste gilt: gute und schlechte Hôtels.

Aber welcher Unterschied zwischen einem gedruckten Baedeker und dieser Gestikulation, dieser Tonmalerei, dieser sich von Etappe zu Etappe mitleidlos weiterschleichenden Aufzählung der Stationen! Von uns bis zum zweiten Bakaïrí -70 dorf eine Tagereise, von dem zweiten zum dritten zwei u. s. w. nein, so raste man nicht weiter in der guten alten Zeit, die ich hier erlebte. Zuerst setzt man sich in das Kanu, » pépi «, und rudert, rudert » pépi, pépi, pépi « man rudert mit Paddelrudern, links, rechts eintauchend, und man kommt an eine Strom - schnelle, bububu Wie hoch sie herabstürzt: die Hand geht mit jedem bu, bu von oben eine Treppenstufe nach abwärts, und wie die Frauen sich fürchten und weinen: » pekóto äh, äh, äh ....! « Da muss das pépi ein kräftiger Fusstritt nach dem Boden hin durch die Felsen, mit welchem Aechzen, vor - geschoben werden, und die » mayáku «, die Tragkörbe, mühsam 1, 2, 3 mal an die linke Schulter geklopft über Land getragen werden. Aber man steigt wieder ein und rudert, pépi, pépi, pépi. Weit, weit die Stimme schwebt ih ......., so weit ih ......., und der schnauzenförmig zugespitzte Mund, während der Kopf krampfhaft in den Nacken zurückgebogen wird, zeigt, in welcher Himmelsrichtung ih ....... Darüber sinkt die Sonne bis: die Hand, soweit sie sich auszustrecken vermag, reicht einen Bogen beschreibend nach Westen hinüber und zielt auf den Punkt am Himmel, wo die Sonne steht, wenn man lah ...... á im Hafen eintrifft. Da sind wir bei den: » Bakaïrí, Bakaïrí, Bakaïrí! « » Kúra, kúra! « und hier werden wir gut aufgenommen. Vielleicht hat man auch noch eine Stelle mit gutem Fischfang passiert, wo » Matrinchams « oder » Piranyas « zu schiessen sind: während die Wörter sonst den Ton auf der vor - letzten Silbe haben, noróku, póne, wird er jetzt wie wir » Jahré « sagen auf die letzte verlegt » norokú «, » poné «, und der Pfeil schnellt, tsök, tsök, vom Bogen.

Hinter den Nahuquá freilich, wo die Kenntnis der Einzelheiten unbestimmt wird, werden nur die Tagereisen selbst angegeben. Die rechte Hand beschreibt langsam steigend in gleichmässigem Zuge einen Bogen von Osten nach Westen, kommt dort unten an und legt sich plötzlich an die ihr entgegenkommende Wange, verweilt hier, während die Augen müde geschlossen sind, und greift dann nach dem Kleinfinger der linken Hand: einmal geschlafen. Dann wieder dieselbe Figur, doch wird mit dem Kleinfinger noch der Ringfinger ergriffen, und beide werden nach der Seite gezogen: zweimal geschlafen u. s. w. Sei auf - merksam, edler Zuhörer, denn wehe Dir, wenn Du fragst es kann Dir nicht anders geholfen werden, als indem man wieder von vorn anfängt.

Aber Rache ist süss. Die Reihe kam auch an mich, denn man wollte wissen, wie weit Cuyabá sei, mein Ausgangspunkt. Die Gesichter waren köstlich, wenn ich erst die linke, dann die rechte Hand abfingerte, dann genau nach ihrer Zählweise, die Zehen des linken und die des rechten Fusses abgriff, zwischen je zwei Fingern und je zwei Zehen vorschriftsmässig am Himmel wanderte und schlief, und zum Schluss in meine Haare greifen musste, um sie auseinander ziehend zu bekunden, dass die Zahl der Tage noch nicht reichte und mehr sei als 20! Da murmelten sie denn ihr » kóu, kóu « des Erstaunens oder » óka, óko, he okó « immer ungeduldiger, redeten alle durcheinander und vereinigten sich schliesslich in einem fröhlichen Gelächter baaren Unglaubens.

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Einzelne Indianerstämme wurden auch mit lebendiger Pantomime wegen ihrer Absonderlichkeiten verspottet; die Nahuquá waren komisch wegen ihres Bartes, die Suyá oder, wie die Bakaïrí sagten, Schuyá mussten mit ihrer Kork - scheibe, die sie in der Unterlippe tragen, herhalten, wobei die Schauspieler ihre Unterlippe stark nach vorn spannten und ein gemachtes Kauderwälsch von schnappenden Tönen hervorstiessen; die Trumaí wurden mit einem grausigen » huhuhuhu « wiedergegeben und in ihrer barbarischen Gewohnheit, dass sie die Kriegsgefangenen mit hinten zusammengebundenen Armen in den Fluss warfen, ein Gegenstand halb des Hohns oder Abscheus, halb der Furcht vor Augen geführt.

Ich darf wohl gleich erwähnen, dass sich die Mimik der Bakaïrí mutatis mutandis mit mehr oder weniger Temperament bei allen Stämmen wiederholte, dass nur die Interjektionen verschieden, die Geberden aber genau dieselben waren. Hier im Tabakkollegium lernte ich denn auch die Steinbeilpantomime zuerst kennen, die wir später, so rührend sie an und für sich war, bis zum Ueberdruss bei jedem Stamm über uns ergehen lassen mussten. Sie schilderte den Gegen - satz zwischen dem Steinbeil und dem Eisenbeil, das ihnen von Antonio sofort demonstrirt worden war, und hatte für mein Empfinden, ehe ich durch die Wiederholung abgestumpft wurde, ja im Anfang noch, weil sie sich so unerbittlich wiederholte, etwas ungemein Ergreifendes als eine Art stammelnden Protestes der metalllosen Menschheit gegen die zermalmenden Hammerschläge der Kultur, eines Protestes, der so, wie ich ihn hier noch erlebte, tausendfach in allen Erd - teilen ungehört verhallt sein muss.

Wie quält sich der Bakaïrí, um einen Baum zu fällen: frühmorgens, wenn die Sonne tschischi aufgeht, dort im Osten steigt sie beginnt er die Steinaxt zu schwingen. Und tschischi wandert aufwärts und der Bakaïrí schlägt wacker immerzu, tsök, tsök, tsök. Immer mehr ermüden die Arme sie werden ge - rieben und sinken schlaff nieder, es wird ein kleiner matter Luftstoss aus dem Mund geblasen und über das erschöpfte Gesicht gestrichen; weiter schlägt er, aber nicht mehr mit tsök, tsök, sondern einem aus dem Grunde der Brust geholten Aechzen. Die Sonne steht oben im Zenith; der Leib die flache Hand reibt darüber oder legt sich tief in eine Falte hinein ist leer; wie hungrig ist der Bakaïrí das Gesicht wird zu kläglichstem Ausdruck verzogen: endlich, wenn tschischi schon tief unten steht, fällt ein Baum: tokále = 1 zeigt der Kleinfinger. Aber Du, der Karaibe, plötzlich ist Alles an dem Mimiker Leben und Kraft der Karaibe nimmt seine Eisenaxt, reisst sie hoch empor, schlägt sie wuchtig nieder, tsök tsök, pum āh ...., da liegt der Baum, ein fester Fusstritt, schon auf dem Boden. Und da und dort und wieder hier, überall sieht man sie fallen. Schlussfolgerung für den Karaiben: gieb uns Deine Eisenäxte.

Keine Thätigkeit eines Werkzeugs aus Metall, Stein, Zahn oder Holz wurde besprochen oder es erschienen auch entsprechend malende Laute. Es ist richtig, dass ein guter Teil auf Rechnung des Verkehrs mit mir, der nur die Anfangs - gründe ihrer Sprache kannte, zu setzen war; sie waren sparsamer mit diesen72 Lauten und Geberden in ihrer eigenen Unterhaltung, allein sie verfügten doch über die Hülfssprache ausdruckvoller Bewegung in reichem Masse und bedienten sich ihrer im Verkehr mit anderen Stämmen, wie ich später sah, auf genau dieselbe Art und Weise wie mir gegenüber. So macht sich der Nachteil, dass jeder Stamm eine andere Sprache redet, wenig geltend; die Verständigung war selbst mit einem Karaiben, da die Geberden zwar stereotyp sind, aber noch die volle Anschaulichkeit enthalten und noch nicht zu konventionellen Abkürzungen eingeschränkt sind, ohne Schwierigkeit möglich.

Auch für die mir eigentümlichen Interjektionen und Geberden, die ja eben - falls unwillkürlich einen lebhafteren Ausdruck annahmen als zu Hause, bekundeten sie ein aufmerksames Interesse. Begleitete ich irgend welchen Affekt mit einem ihnen auffälligen Laut, so wurde er nachgeahmt; pfiff ich leise vor mich hin, so konnte ich bald Einen hören, der vergnügt mitpfiff. Allgemeine Anerkennung fand besonders, wenn ich mir laut lachend auf’s Bein schlug: sofort klatschten sie sich auf die nackten Schenkel und ein homerisches Gelächter erfüllte den Dorfplatz.

Meine linguistischen Aufzeichnungen vom Tage, die ich herbeiholte, wurden in unserm Tabakkollegium noch einmal durchgenommen und um kleine Beiträge bereichert. Die Sternbilder, Tiernamen, der unerschöpfliche Stoff für die Körper - teile und was der Augenblick lieferte, wurde eingetragen, vorgelesen und mit Beifall bestätigt.

Allein auch ich bot mimische Vorstellungen, zu denen mein interessantes Ochsenfell den ersten Anlass gegeben hatte, ich führte ihnen unsere Haustiere vor und erzielte damit bei meinem kleinen, aber dankbaren Publikum einen Erfolg, wie er selbst dem Verfasser des » Tierlebens « und vielbewunderten Vortrags - künstler niemals grösser beschieden gewesen sein kann. Vor allem machten sie die Bekanntschaft von Rind, Schaf und Hund, deren Grösse und Kennzeichen ich ihnen nach besten Kräften veranschaulichte, und deren Sprache » itáno « laute Ausbrüche der Heiterkeit und des Jubels hervorrief.

Da erklang es denn » muh «, » mäh «, » wauwau « und » miau « in allen Tonarten von mir und von ihnen. Besonders wirkte die Abwechslung zwischen dem merk - würdigen » mäh « der alten Schafe und dem kläglichen » mäh « eines die Mutter suchenden Lämmchens, zwischen dem Gebell der grossen Köter und dem der kleinen Kläffer. Zufällig verfügte ich über eine ziemlich gute Aussprache in diesen itános, sodass die gewiegten Kenner der Tiersprachen an der Echtheit nicht zu zweifeln brauchten. Ich suchte ihnen auch den Charakter der Tiere klar zu machen, indem ich verschiedene Arten wie Katze und Hund zusammen auftreten liess, suchte ihnen zu verdeutlichen, dass z. B. ein Hund dem Menschen gehorcht, und war jetzt in der Lage, sie über den Ursprung meiner Woll - bekleidung mäh zu unterrichten. Es waren aufmerksame Schüler, die den Lernstoff sehr bald vollständig beherrschten und fleissig übten.

Die denkwürdige Sitzung unsers Tabakkollegiums, in der ich den ersten Vortrag über die europäischen Haustiere gehalten hatte, war spät in die Nacht

TAF. VI.

BAKAÏRÍ LUCHUTUMAYAUA

73 hinein ausgedehnt worden, aber ich verabschiedete mich von glücklichen Menschen, auf deren Gesichtern geschrieben stand: das war ein schöner Abend. Luchu bellte mustergültig, er lief in die beiden Häuser, aus denen schon vielfach helles Lachen hörbar geworden war, und fuhr dort mit wildem Wau-wau umher.

Ich lag bereits halb schlafend in der Hängematte und glaubte, die Bürger - schaft ruhe wieder in dem gewohnten Frieden, als mich noch einmal Eva’s Stimme von drüben mit einem lauten » mäh « aufschreckte. » Mäh « antwortete ich denn auch zum guten Schluss aus meinem Schafstall, überall kicherte es noch einmal hinter den Strohwänden, und endlich trat dann wirklich Stille ein, bis ich mäh, mäh schon vor Sonnenaufgang fluchend emporfuhr.

Ein Tag verlief gleich dem andern. Wie wir in meiner Hütte miteinander arbeiteten, wie die Bakaïrí portugiesisch und ich bakaïrí lernte, will ich im nächsten Kapitel übersichtlich zusammenstellen, während ich noch anfüge, was ich aus unserm gemeinsamen Leben zu berichten habe.

Tumayaua liess mich vor seinem Hause Tabak pflanzen, ein Ansinnen, das mich ein wenig befremdete, bis ich merkte, dass er sich von meiner Beihülfe eine vorzügliche Ernte oder Qualität versprach; so verlangte ich nur, dass er den Anfang mache und zerrieb dann die Kapseln und senkte den Samen in den Boden, als sei ich mein Lebenlang Tabakpflanzer gewesen. Mit Kulekule musste ich zu dem Katarakt unterhalb des Dorfes gehen und ihm beim Angeln helfen; er durfte nicht ahnen, dass ich dieses Gerät seit den Zeiten der Sekunda, wo ich es mit Mühe vor der Polizei rettete, nicht mehr geschwungen hatte.

Einen sehr hübschen Fischereiausflug machten wir an einem Vormittag zu einem Halbdutzend Personen, darunter einigen Frauen, nach dem saímo, einem Teich, der etwa Kilometer vom Dorf entfernt im Kamp lag. Wir schritten ein Stück Weges durch den Wald, die Frauen Fangkörbe und Reusen tragend, Paleko ein Stück Fischgebiss an einer Schnur um den Hals und ein Steinbeil unter dem Arm, das er am Fluss auf einem Stein noch geschliffen hatte, indem er es mit dem Speichel am Munde selbst anfeuchtete. Komisch war es währenddess gewesen, zu sehen, wie die Zukünftige und ihre Schwester aus dem Kulisehu tranken: den Mund im Wasser, auf die beiden Händchen gestützt, ein Bein in die Höhe, jungen Aeffchen nicht unähnlich. Unterwegs sangen wir mit verhaltenen Tönen gemeinsam unser ohohó ohohú hu, und ich störte die Morgenstille mit einigen lauteren Liedern. Alakuai erlaubte sich, mir meinen Hut abzunehmen, war aber in diesem Schmuck so glücklich, dass ich mein Haupt in aller Heiligen Namen der mitleidlosen Kampsonne aussetzte.

Weithin erstreckte sich bis zum Saum des Uferwaldes eine mit frischem Gras bedeckte Queimada, nur ein einziger Schatten spendender Baum stand an dem Teich. In die Mitte des knietiefen sumpfigen Gewässers wurden drei Reusen gesetzt, die mit ihren Mäulern halb herausragten. Dann gingen mehrere Personen mit den Fangkörben, kútu, die die Form eines oben und unten offenen abge - stumpften Kegels hatten und aus dünnen spitzen Stöckchen zusammengesetzt74 waren, in gebückter Haltung durch den Teich und stachen schnell auf den Grund nieder: die kútu wurden über die Fischchen gestülpt, und diese oben mit der Hand hervorgeholt und in einem Hängekörbchen untergebracht. Als man so eine Weile gearbeitet hatte, ging man von verschiedenen Seiten sich nach der Mitte entgegen, wo die Reusen lagen, und suchte die Fische dort hineinzutreiben. Es war ein lustiger Anblick: die Mädchen äusserst behende, die Männer weniger flink, zumal der dicke Yapü anscheinend keineswegs in seinem Element, viel Lachen und Plantschen, in der Luft einige gaukelnde Libellen und Brummbienen ohne Zahl, am Ufer unter dem Baum eifrig kommentierend der alte Paleko, der sich mit der linken Hand auf einen Stock stützte und unter dem Oberarm der - selben Seite das sehr überflüssige Steinbeil angedrückt hielt. Die Fische hiessen poniú oder poriú, der Jejú der Brasilier.

Das von mir bestellte Rindenkanu war schon am 18. September fertig geworden; die Steinaxt hatte langsam, aber sehr sauber gearbeitet. Vier Männer trugen das Fahrzeug zum Fluss; sie hatten sich auf die Schultern aus braunem Bast geflochtene Ringe genau desselben Aussehens aufgesetzt, wie sie unsere Markt - weiber auf dem Kopfe tragen.

Ich war nun über eine Woche allein bei den guten Bakaïrí und merkte, dass sie etwas ungeduldig wurden. Sie fragten gar zu oft, wann die » jüngeren Brüder « kämen. Was ich von Kostbarkeiten mit mir geführt hatte, war auch längst in ihrem Besitz, sogar mein améma ikúto (» Figur der Eidechse «), ein Reptil mit gläsernen Schuppen und rubinroten Augen, das sie gierig umworben hatten, gehörte ihnen.

Aber unser gutes Einvernehmen blieb bis zur letzten Stunde dasselbe. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich am liebsten die ganze Regenzeit bei ihnen zugebracht, obwohl ich einen säuerlichen Geschmack im Halse, von dem ewigen Mehlessen, nicht mehr los wurde und auch von Verdauungsstörungen ge - plagt wurde. Meine ersten Eindrücke über den friedfertigen und sympathischen Charakter meiner Gastfreunde brauchten keine Korrektur zu erfahren. Die Alten waren klug und sorglich, die Jungen kräftig und behend, die Frauen fleissig und häuslich, Alle gutwillig, ein wenig eitel und mit Ausnahme einiger von ihren Pflichten in Anspruch genommenen Mütter gleichmässig heiter und gesprächig. Alle waren ehrlich. Nie hat mir Einer etwas genommen, oft hat man mir Ver - lorenes gebracht, immer wurde, was ich eingetauscht hatte, als mein Eigentum geachtet.

Kurz, Bakaïrí kúra, die Bakaïrí sind gut. Es wäre lächerlich, sie im Rousseau’schen Sinne misszuverstehen, denn von irgend welcher Idealität war auch nicht die Spur zu entdecken; sie waren nichts als das Produkt sehr einfacher und ungestörter Verhältnisse und gewährten dem Besucher, der mit seinen an Bewegung und Kampf gewohnten Augen herantrat, das Bild einer » Idylle «. Man komme vom Giessbach, Strom oder Meer, man wird den Zauber einer stillen Lagune empfinden, das ist Alles.

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II.

Psychologische Notizen über das Verhalten der Bakaïrí dem Neuen gegenüber. Grenzen des Ver - ständnisses. Studien mit dem Dujourhabenden. Schwierigkeiten der Verständigung und der sprach - lichen Aufnahme: Substantiva, Verba, übergeordnete Begriffe.

Ueber das Interesse, das die Bakaïrí an meinen Kleidern nahmen, habe ich berichtet. Es wandte sich allmählich in besonderm Grade den Taschen zu, und sie wussten bald genau, was in dieser und was in jener steckte.

» Ob ich Hemd und Hose selbst gemacht hätte? « Immer kehrte diese mir ärgerliche Frage wieder. » Ob ich die Hängematte, den Moskiteiro selbst gemacht hätte? « Es berührte sie wunderbar, dass in meinem ganzen Besitzstand nichts zu Tage kam, wo ich die Frage bejaht hätte. Deutlich war zu sehen, dass die Sachen, von deren Ursprung sie sich eine gewisse Vorstellung machen konnten, ihre Aufmerksamkeit auch lebhafter beschäftigten. Das Gewebe der paraguayer Hängematte wurde alle Tage betastet und eifrig beredet.

Alles wollten sie haben. » Ura « » (es ist) mein « lautete die einfache Erklärung. Die Männer bevorzugten für sich selbst das Praktische, für Frauen und Kinder den Schmuck, für sich die Messer, für jene die Perlen. Die Frauen wurden beim Anblick der Perlen geradezu aufgeregt und nur mein Zinnteller wurde mit gleicher Habgier umworben. » Knöpfe « schienen für eine Art Perlen gehalten zu werden. Ich entdeckte bei mehreren Frauen Zierrat, der von unserer ersten Expedition herrührte und von dem Batovy an den Kulisehu gewandert war. Eine Frau trat mir entgegen, die nichts als einen Messingknopf an einer Schnur auf der Brust trug, und auf diesem Knopf stand die 8 des achten Cuyabaner Bataillons, dem unsere Soldaten damals angehört hatten. » Ist es tuchú, Stein? «, fragten diese lebendigen Praehistoriker. Natürlich waren die Perlen ebenso Stein und ihnen wegen ihrer Buntheit lieber als Gold, das sie ganz gleichgültig liess. Ich hatte ihnen einige Stecknadeln gegeben und auch eine Nähnadel gezeigt, die einzige, die ich bei mir hatte: sie brachten mir eine Stecknadel wieder und baten, ihnen ein Loch hineinzumachen, wie es die Nähnadel hatte.

Höchst merkwürdig war die Schnelligkeit, mit der sie die ihnen unbekannten Dinge unter die ihnen bekannten einordneten und auch sofort mit dem ihnen geläufigen Namen unmittelbar und ohne jeden einschränkenden Zusatz belegten. Sie schneiden das Haar mit scharfen Muscheln oder Zähnen des Piranyafisches, und meine Scheere, der Gegenstand rückhaltlosen Entzückens, die das Haar so glatt und gleichmässig abschnitt, hiess einfach » Piranyazahn «. Der Spiegel war » Wasser! « » Zeig das Wasser «, riefen sie, wenn sie den Spiegel sehen wollten. Und mit ihm machte ich viel weniger Eindruck, als ich erwartet hatte.

Der Kompass hiess » Sonne «, die Uhr » Mond «. Ich hatte ihnen gezeigt, dass die Nadel, wie ich das Gehäuse auch drehte und wendete, immer nach dem höchsten Sonnenstand wies, und die sehr ähnliche Uhr, deren Feder sie für ein Haar erklärten, erschien ihnen als das natürliche Gegenstück noch aus dem76 besondern Grund, weil sie » nachts nicht schlief «. Sie stellten mehrfach mitten in der Unterhaltung die Forderung, dass ich die Uhr hervorhole und lachten dann sehr befriedigt, wenn sie wirklich wach war und tickte.

Nichts wäre verkehrter als zu glauben, dass dieser aufrichtigen Neugier und Bewunderung nun ein eigentlicher Wissenstrieb oder ein tieferes Bedürfnis des Verstehens zu Grunde gelegen hätte. Ueber die Frage: » hast du das gemacht? « kamen sie nicht hinaus. Nein, ich gab einfach meine Zirkusvorstellung, ich zeigte meine Kunststücke, und man freute sich, dass ich sie in jedem Augenblick in aller Eleganz vorweisen konnte und mich niemals blamierte. Das verblüffendste Beispiel einer oberflächlichen Befriedigung gab später der dicke Yapü, als Vogel ihm seine goldene Uhr zeigte und, um ihn auf das wertvolle Gold recht aufmerk - sam zu machen, sie zum Kontrast auf die Glasseite herumdrehte. Yapü hatte gerade ein Stück Beijú, Mandiokafladen in der Hand, der nur auf einer Seite gut gebacken zu werden pflegte, und somit eine schön goldgelbe und eine andere grauweissliche Seite hatte: » Beijú «, sagte er gelassen, und schritt weiter. Die Erscheinung war ihm von Beijú her bekannt, und es lohnte wahrlich nicht, sich dabei aufzuhalten.

Auch kann ich hier schon ihrer Ueberraschung gedenken, als einer der Herren, der in der Lage war, ein falsches Gebiss herausnehmen zu können, dieses Kunststück produzierte. Sie staunten, aber lachten auch sehr bald, und einige Tage später, als sie an den gefangenen Piranyafischen die Gebisse, ihre ein - heimischen » Messer «, auslösten und von einem Kameraden gefragt wurden, warum sie das thäten, antwortete Einer nicht ohne Witz: » damit wir uns auch helfen können, wie der Bruder, wenn wir einmal alt werden «.

Wie wäre es auch möglich gewesen, ihnen irgend einen meiner Apparate oder auch nur ein Messer oder einen Knopf wirklich zu erklären? Wie sollte ich ihnen begreiflich machen, was eine » Maschine « ist? Was sie zu leisten hatten, leisteten sie, sie passten gut auf und es war hübsch, die Lebhaftigkeit und Wichtigthuerei zu beobachten, mit der ein eben gezeigtes Kunststück einem neu Hinzutretenden, einem Ignoranten in ihren Augen, beschrieben wurde. So merkten sie sich ganz genau, dass meine schwedischen Zündhölzer nur auf der Reibfläche in Brand gerieten; mit grossem Eifer wurde ein Ankömmling auf Bakaïrí über » tända endast mot lådans plån « belehrt. Welche Dame bei uns wüsste mehr davon zu sagen? Nicht davon zu reden, dass keine eine Ahnung davon hat, was Feuer ist. Zuerst erschraken sie, dann fanden sie die Sache spannend, dann sehr nett und spasshaft, und endlich zogen sie die Nutzanwendung und baten mich, als ein Feuer angezündet werden sollte, einen dicken Holzkloben mit meinen Schweden in Brand zu setzen. Eine Frau, bei der wohl die ersten Gefühle vorherrschend blieben, nahm eine leere Schachtel und hing sie ihrem Baby um den Hals.

Ihr Bedürfnis, in das Wesen der neuen Dinge einzudringen, erschöpfte sich ausser in der Frage, ob ich sie gemacht habe, in der zweiten nach dem Namen. 77» Eséti? « » Eséti? « » Wie heisst das? « rief die ganze Gesellschaft unisono und alle plagten sich redlich, die portugiesischen Wörter nachzusprechen. Der Eine oder Andere flüsterte oft, während die Unterhaltung weiter ging, das Wort noch lange vor sich hin. Zwei Konsonanten hintereinander vermochten sie nicht auszusprechen. Gelang es aber hier und da, ein geeignetes Wort gut wiederzugeben, war die Freude gross, und ich hatte den Eindruck, als ob ihnen nun der Gegenstand selbst auch vertrauter erscheine. Als Name für mein Schreibbuch war » papéra «, von dem portugiesischen papel, Papier, in Aufnahme gebracht worden, und während sie im Anfang das unbegreifliche Ding nicht genug hatten betrachten und betasten können, wussten sie sich nun rasch damit abzufinden: es war eben einfach » papéra «.

Ueberall in der Welt, wo man einer fremden Sprache gegenübertritt, will man recht bald wissen, was » ein hübsches Mädchen « heisst. Ihr » pekóto iwáku « oder das lieblichere » pekóto iwakulukúlu « konnte ich ihnen mit den Worten, die sie gut nachzusprechen im Stande waren, » moça bonita « übersetzen und das wurde nun mit Entzücken geübt. Ich hatte zuerst Eva mein » moça bonita « vorgesagt, sie lachte, errötete und sprach es zierlich und deutlich aus. Sie lachte weiter, stiess ihren Gatten Kulekule in die Rippen genau so wie eine kräftige Person bei uns thun würde, die sich über einen guten Einfall freut die beiden tuschelten zusammen, und ich wurde gebeten zu sagen, was nun » ein hübscher Mann « heisse. Als ich Tumayaua’s portugiesische Versuche, die in der That, ob - wohl er Häuptling war, nicht sehr glücklich ausfielen, einmal nachahmte, lachte der ganze Chorus in einer Weise, dass sie vor Lachen nicht mehr reden konnten, sie jodelten förmlich vor Ausgelassenheit.

Das waren die düstern und verschlossenen Indianer. Wurde es ihnen mit dem Geplauder des Guten zu viel, so gähnte Alles aufrichtig und ohne die Hand vor den Mund zu halten. Dass der wohlthuende Reflex auch hier ansteckte, liess sich nicht verkennen. Dann stand Einer nach dem Andern auf, und ich blieb allein mit meinem Dujour.

Die verschiedenen Abkommandirten waren von sehr verschiedener Brauch - barkeit für meine Zwecke. Einige ermüdeten zu rasch, andere waren zu unstät. Der dicke bäurische Yapü z. B. gähnte nach wenigen Minuten und sein Gesicht schien zu sagen: » Herr, Sie fragen zu viel «, und Luchu, der eitle Fant, wollte sich nur amüsieren. Von den Jüngeren nützte mir nur der merkwürdige Kule - kule. Dieser war in der That schweigsam und zurückhaltend, aber er kam offenbar gern, lachte still für sich hin, und wenn er dann den Mund zum Reden aufthat, antwortete er besser als die Uebrigen. Er hatte für einen Topf von mir Perlen bekommen, sie aber abliefern müssen; ich schenkte ihm neue und nahm einen andern Topf, den er brachte, nicht an. Darüber war er glücklich, gab mir eine Schale des faden Pogugetränkes und setzte sich, den Kopf zutraulich an meine Schulter gelehnt, zu mir. Mein getreuester Hüter war Paleko; mit seinem langen graumelierten Haar, seinem feinen alten Antlitz hätte er sehr gut78 emeritierter Gymnasialdirektor sein können. Wie wir denn häufig an europäische Physiognomieen erinnert worden sind, deren Besitzer sich den Vergleich mit einem nackten Indianer vielleicht verbitten würden; Ehrenreich und ich waren uns z. B. in Scherz und Ernst ganz darin einig, ein paar Herren der Berliner Anthropologischen Gesellschaft am Kulisehu wiederzuerkennen: selbstverständlich haben diese Herren nichts von den Indianern, aber diese Indianer hatten etwas von den Herren. Mit Paleko war ich halbe Tage allein. Ab und zu kamen denn Eva oder die Zukünftige oder die Egypterin allein oder zusammen, uns Beiden ein wenig Gesellschaft leistend.

Paleko flocht zierliche Körbchen, besserte Reusen aus, drehte Bindfaden aus Palmfaser und was dergleichen leichte Geduldarbeit mehr war. Er gab mir nicht nur Wörter und Sätze aus seiner Muttersprache, sondern auch eine Liste von Nahuquá-Wörtern, die bezeugte, dass er mit den Nachbarn reichlichen Ver - kehr unterhalten hatte. Er weniger als die Jugend legte Wert darauf, meine Sprache kennen zu lernen. Lieber hätte ich ihnen deutsche Wörter gesagt statt der portugiesischen, doch hielt ich es für meine Pflicht, die armen Gemüter für die Zukunft nicht zu verwirren. Da meine Kenntnisse des Bakaïrí noch sehr dürftig waren, kam ich nur langsam vorwärts.

Der einfache Verkehr, der sich auf das gewöhnliche Thun und Lassen bezog, hatte keine Schwierigkeiten. Mit 50 80 Wörtern kann man sich bei einiger Uebung in jeder fremden Sprache geläufig unterhalten: dieser, dieses, ja, nein, ist da, ist nicht da, weiss nicht, will, will nicht, wie heisst, was, wo, wann, wieviel, alle, wenig, viel, anderer, sogleich, morgen, ich, du, 1, 2, 3, gut, schlecht, gross, klein, nahe, weit, oben, unten, mit, für, in, nach, lass uns, geben, nehmen, bringen, stellen, gehen, weggehen, kommen, ankommen, bleiben, essen, trinken, schlafen, machen, schneiden, aufhören und die jeweilig wichtigsten Substantiva. Das sonst so nötige » danke « und » bitte « ist dem brasilischen Eingeborenen unbekannt. Mit einem kleinen Teil jener Wörter kann man schon sehr gut zurechtkommen, und es wäre schlimm, wenn es anders wäre. Denn die grund - sätzlichen grammatischen Verschiedenheiten etwa zwischen Portugiesisch und einer beliebigen Indianersprache Brasiliens sind so gross, dass kein Kolonist oder Soldat jemals in ihr Wesen einzudringen vermag: schon die Pronominalpräfixe und die Postpositionen bilden ein unüberwindliches Hindernis. Es gelingt leider um ihretwillen in zahlreichen Fällen nicht, den Wortstamm, dessen wir nach unserm Sprachgefühl in erster Linie bedürfen, aus der mit jenen Elementen voll - zogenen Verschmelzung abzuscheiden. Der Stamm des Verbums ist ausser der Zusammensetzung mit Pronominalpräfixen in einer Weise mit adverbialen Aus - drücken vereinigt und verarbeitet, um das, was wir Flexionen nennen, zu geben, dass ein armer Teufel von Anfänger in helle Verzweiflung gerät. Da heisst im Bakaïrí záte und kχanadile beides » ich nehme mit «, verschiedene Formen für denselben Sinn: wie soll ich ahnen, dass der Verbalstamm za , der sich nach den phonetischen Gesetzen der Sprache zu ha und a verändert, in dem a 79von kχ-an-a-díle gegeben wird? Da heisst mit dem (schon veränderten) Verbal - stamm e sehen » du siehst « méta und » du siehst nicht « manepüráma und ist zu zergliedern: m - e - ta und m - an - e - püra - ama. du Stamm Flexion du Flexion Stamm nicht du.

Die einfache Folge ist, dass man alles Mögliche zum Stamm rechnet, was garnicht dazu gehört, und die Form für alle möglichen Gelegenheiten anwendet, bei denen sie weder der Person noch der Zeitfolge oder anderen in ihnen ent - haltenen Nuancen nach angebracht sind. Die organische Gliederung der Wörter erstarrt, und der Satz wird ein Mosaik der rohesten Art aus lauter Bruchstücken. Aber für die Verständigung ist dann gesorgt; dem Indianer genügt bei seinem Talent für das Charakteristische das abgehackte Wortstück durchaus an Stelle des ganzen Satzindividuums, und, was schlimmer ist, wenn man Fortschritte in der Sprache machen möchte, freilich auch um so angenehmer ist, wenn man nur den plumpen Inhalt der Mitteilung bedarf, er selbst eignet sich bald die neue Ausdrucksweise an: man unterhält sich geläufig miteinander, indem man statt mit lebendigen Worten wie mit geprägten Münzen Tauschverkehr treibt.

Was mir die Aufnahme nicht wenig erschwerte, war der Umstand, dass die Bakaïrí meinen Frageton nicht verstanden. Sie ahmten ihn nach, statt zu antworten. Die Namen der gegenwärtigen Gegenstände zu erhalten, ging ohne jede Mühe an; sie kamen dem Bedürfnis sogar entgegen, zeigten auf solche, die ich noch nicht gefragt hatte, und sagten die Namen. Sehr ausführlich nahm ich die Körperteile auf, weil sie stets mit den Pronominalpräfixen verbunden sind, der Indianer also nicht etwa sagt: » Zunge «, sondern stets mit dem Zusatz der Person » meine Zunge «, » deine Zunge «, » seine Zunge «, und somit dieser Kategorie des Verzeichnisses auch ein grammatikalischer Wert innewohnt. Es war deshalb wohl darauf zu achten, ob man den Körperteil, dessen Stamm man verlangte, an sich selbst oder an dem Gefragten oder an einem Dritten zeigte, denn die Antwort lautete je nachdem: deine ålu, meine ulu, seine ilu oder allgemein kχulu unser Aller, die hier sind, Zunge.

Tiernamen aufzunehmen war ein Vergnügen, weil hier die Nachahmung mit Lauten und Geberden am kunstvollsten auftrat. Eine Schlange, ein Alligatorkopf oder dergleichen wurde auch in den Sand gezeichnet. Mir war die Menge der Einzelangaben hinderlich, da ich nicht genug von den Stimmen und dem Be - nehmen ihrer Tiere wusste; sie boten mir Feinheiten in den Artunterschieden, die ich zu ihrer Verwunderung nicht würdigen konnte, und zuweilen fürchte ich ihnen unbegreifliche Lücken in der gewöhnlichsten Schulbildung verraten zu haben.

Die schwierigste Aufgabe lag bei den Verben, und zwar nicht allein wegen der Kompliziertheit der Formen. Gelang es mir, kurze Sätze aufzuschreiben, in denen etwas über irgend einen grade ablaufenden Vorgang ausgesagt wurde, führte ich auch selbst allerlei Handlungen, wie Essen und Trinken jetzt von diesem, dann von jenem, aus, die ihnen den Inhalt eines Satzes liefern sollten,80 so waren dabei doch grobe Irrtümer unvermeidlich. Sie sagten leider oft andere Dinge, als sie nach meinen Wünschen sagen sollten, und kritisierten die Handlung, anstatt sie zu benennen. Sie dachten für sich und nicht für mich. Und bei diesen Bemühungen wirkte ihre Bereitwilligkeit, nachzuahmen, in hohem Grade störend. Ich glaubte, nichts sei einfacher als wenigstens diejenigen intransitiven Zeitwörter zu erhalten, die sich durch eindeutige Mimik meinerseits herausfordern liessen, ich brauchte ja nur zu niesen, husten, weinen, gähnen, schnarchen, nur aufzustehen, niederzusitzen, zu fallen u. s. w., um auch sofort mit den zugehörigen Wörtern belohnt zu werden. Aber sie klebten entweder an der Anschauung des Vorgangs selbst, meinten, ich wolle fortgehen, wenn ich aufstand, gähnten recht - schaffen mit, weil sie auch müde waren, oder amüsierten sich königlich über mein sonderbares Gethue und gaben sich daran, unter vielem Lachen ebenfalls zu niesen, zu husten, und zu schnarchen, ohne aber die erlösenden Wörter auszu - sprechen.

Am besten kam ich vorwärts, wenn ich ihnen das portugiesische Wort gab, und die Formel anwandte: der Karaibe sagt so, wie sagt der Bakaïrí? Hier stiess ich endlich fast immer auf Verständnis und Gegenliebe, denn sie waren versessen darauf, von meiner Sprache zu lernen.

Es betrübte sie sehr, dass sie mich nicht besser verstanden und, Hören und Verstehen verwechselnd, baten sie mich, sie zu kurieren: ich musste Speichel auf meinen Finger nehmen und ihnen damit den Gehöreingang einreiben. Ihre Auf - fassung des Portugiesischen war sogar mangelhafter als sie selbst ahnten. Sie haben kein f in ihrem Lautschatz und ersetzen es durch p: sagte ich fogo (Feuer), fumo (Tabak), so sprachen sie pogo, pumo aus. Aber sie hörten, richtiger apperzipirten das f auch als p, sie waren, soweit ich zu sehen vermochte, fest überzeugt, denselben Laut auszusprechen, den ich ihnen vorsagte. Denn ihr Verhalten war ganz anders, wenn ich ihnen z. B. ein zu langes Wort aufgab, sie plagten sich und verzweifelten daran, aber fogo, fumo, f ...., je nachdrücklicher und lauter ich es sagte, um so nachdrücklicher und lauter fielen sie auch ein: pogo, pumo, p ...., mit merklicher Entrüstung über meine Unzufriedenheit.

Ich musste mich begnügen, das Vokabular so viel als möglich zu vervoll - ständigen und die Sätze nach bestem Wissen zu deuten. Zu einem eigentlichen Uebersetzen, das den Feinheiten ihrer Sprache gerecht geworden wäre, kam ich nicht; was ich in dieser Beziehung in meinem Buch » Die Bakaïrí-Sprache « (Leipzig, K. F. Köhler, 1892), bringen konnte, verdanke ich Antonio. Ganz be - sonders eigentümlich berührte mich ihre Freude über den Reichtum ihres Wörter - vorrats. Sie bekundeten ein grosses Vergnügen, für jedes Ding auch ein Wort zu haben, als wenn der Name selbst eine Art Ding und Besitzgegenstand wäre. Dass die Zahl der Begriffe in erster Linie vom Interesse abhängt, lag klar zu Tage. Auf der einen Seite im Vergleich mit unsern Sprachen eine Fülle von Wörtern, wie bei den Tier - oder Verwandtennamen, auf der andern eine zunächst befremdende Armut: yélo heisst » Blitz « und » Donner «, kχópö Regen,81 Gewitter und Wolke. Nun sind ja in ihrem Gebiet fast alle Regen mit Gewitter - erscheinungen verbunden, und die Wolke am Himmel hat für sie nur das Inter - esse, dass sie ein heranziehendes Gewitter bedeutet. Dass der Donner, wenn sie die sichtbare und die hörbare Teilerscheinung der elektrischen Entladung in einen Begriff zusammenfassen, in ihrem Wort yélo der wesentlichere Teil ist, geht daraus hervor, dass sie yélo auch das brummende Schwirrholz nennen; ich, der ich von der Idee des Zauberinstrumentes ausging, nach dem Brauch der Mythologen auf das Unheimliche fahndete und dies zunächst in dem zuckenden Strahl erblickte, übersetzte das Wort anfangs mit » Blitz « anstatt mit » Donner «.

Die eigentliche Armut steckt in dem Mangel an übergeordneten Begriffen wie bei allen Naturvölkern. Sie haben ein Wort für » Vogel «, das wahrscheinlich » geflügelt « bedeutet, aber die Nordkaraiben haben einen andern Stamm toro - oder tono -, der bei den Bakaïrí noch bestimmte, sehr gewöhnliche Vögel, eine Papa - geien - und eine Waldhuhnart, bedeutet. Jeder Papagei hat seinen besondern Namen und der allgemeinere Begriff » Papagei « fehlt vollständig, ebenso wie der Begriff » Palme « fehlt. Sie kennen aber die Eigenschaften jeder Papageien - und Palmenart sehr genau und kleben so an diesen zahlreichen Einzelkenntnissen, dass sie sich um die gemeinschaftlichen Merkmale, die ja kein Interesse haben, nicht bekümmern. Man sieht also, ihre Armut ist nur eine Armut an höheren Ein - heiten, sie ersticken in der Fülle des Stoffes und können ihn nicht ökonomisch bewirtschaften. Sie haben nur erst einen Verkehr mit Scheidemünze, sind aber im Besitz der Stückzahl eher überreich als arm zu nennen. Sie setzen in dem Ausbau ihrer Gedanken die Begriffe wie zu einem endlos langen Wall von gleich - artigen Steinen zusammen und haben noch kaum eine Ahnung von architektonischer Gliederung.

Ihre Schwerfälligkeit, Abstraktionen zu bilden, trat am deutlichsten bei den Versuchen hervor, die ich betreffs ihrer Zählkunst anstellte. Hierüber möchte ich aber in einem besondern Kapitel später berichten, damit ich nun endlich den Faden unserer Reisechronik wieder aufnehmen und zur Independencia zu den Gefährten heimfahren kann. Ich bin bei der Schilderung meiner Bakaïrí-Idylle etwas sehr ausführlich gewesen, erspare damit aber auch manche Einzelheiten für die spätere Darstellung, da das Bild bei den übrigen Stämmen, wenn ich es auch nirgendwo mehr so still geniessen konnte, im Wesentlichen dasselbe war.

v. d. Steinen, Zentral-Brasilien. 6[82]

VI. KAPITEL.

I. Gemeinsamer Aufbruch und Besuch der drei Bakaïrídörfer.

Independencia während meiner Abwesenheit. Vorbereitungen zur Abreise. Nach dem ersten Bakaïrí - dorf. Photographieren. Puppe überreicht. Nach dem zweiten Bakaïrídorf. Flussfahrt. Gastfreund - schaft. Vermummung zum Holen der Speisen. Nachttanz. Fries im Häuptlingshaus. Nach dem dritten Bakaïrídorf. Begrüssungsreden. Sammlung. Der erste Nahuquá. Körpermessung und Perlen.

Am 19. September 1887 kamen Ehrenreich und Vogel an. Wir fuhren gemeinsam zu dem zweiten Dorf der Bakaïrí, wo wir noch ein Kanu erwarben und kehrten zum ersten Dorf zurück. Jene brachen dann am 24. September zur Independencia auf, und ich folgte ihnen am 25., überholte sie noch, da Carlos fieberkrank war, und am 26. waren wir alle wieder in der Independencia ver - einigt. Tumayaua und Luchu hatten mich begleitet und konnten jetzt das » Wau - wau « am Original studieren. Unsern Besuch der zweiten Bakaïrí möchte ich hier noch nicht schildern, sondern bei dem Bericht über den späteren gemeinsamen anfügen, damit die Kreuz - und Querwege den Ueberblick nicht erschweren.

Ich war also vom 8. 26. September von der Independencia abwesend gewesen. Es lässt sich denken, mit welchem Gefühl der Erlösung Wilhelm und Perrot unsere Kanus begrüssten.

Die Maultiere hatten ihnen und dem alten Januario viele Sorgen gemacht. Tag um Tag fehlte bald dieses, bald jenes. Januario hatte ein Tier einmal von dem zweitnächsten Lagerplatz der Herreise zurückholen müssen und war so immer unterwegs gewesen. Inzwischen war auf der Queimada frisches junges Gras auf - geschossen und damit die Zukunft gesichert. Die Esel waren in gutem Zustande, sie fingen bereits an, fett zu werden, verwilderten schon und kamen täglich zur Tränke an einen Tümpel. Nur » Balisa «, der » Pfahl «, hatte sich ein mit Maden gefülltes Loch auf dem Rücken zugelegt. » Tormenta « war den Qualen des Daseins entrückt worden. Er konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten, frass das Gras nicht mehr, das man ihm sorglich vorschnitt, und lag eines Morgens tot auf dem Sandstrand.

83

Jagd und Fischfang hatten manche Abwechslung geboten. Nur war das Fischen nicht so leicht als man denken sollte. Antonio fing sofort nach der Rückkehr 7 Welse, Pintados, von denen er zu unserm Schmerz ganze 4 an das Paar Tumayaua und Luchu, und nur 3 an unsere grosse Küche ablieferte, allein die Soldaten waren nie so glücklich gewesen. Dagegen war allerlei Geflügel ge - schossen worden, Jakutingas und Jakús zumeist, vorzügliche Enten, ferner ver - einzelte Exemplare von Johó, Mutum cavallo, Taube, Arara und Papagei. Aus der Klasse der Vierfüssler: Affe, Reh, ein Tapir, ein Cervo de campo, der wegen seines Moschusgeruchs verschmäht wurde, und eine Waldkatze. Zweimal hatte man mehrere Schweine erbeutet, die zweite Lieferung aber war unbrauchbar geworden, da die Tiere voller » Würmer « steckten und in den Fluss geworfen werden mussten. Gelegentlich hatte man eine Schildkröte gefunden. » Buscar mel «, Honig suchen, war noch eifriger betrieben worden als die höhere Jagd. Denn stark meldete sich schon der Hunger nach Süssigkeiten. Die verschiedenen Arten des Honigs wurden verschieden gewürdigt. Der Bora-Honig hatte einen süsslich sauren und sehr seifigen Geschmack; trotzdem wusch sich Januario noch das Wachs mit Wasser aus und genoss die Flüssigkeit von der Farbe des englischen Senfs mit Behagen. Allgemeinen Anklang fand der Kupimhonig, der den Paraguay - thee versüsste oder mit Mehl angerührt wurde.

Langsam verflossen die Abende. Mit Schrecken ertappten sich Wilhelm und Perrot darauf, dass sie mehr von Cuyabá und der Rückreise plauderten als von der Flussfahrt und ihren Aussichten. Sie spielten verzweifelt Sechsundsechzig und ärgerten sich über die Verhöhnung in dem unermüdlichen Ruf des » João Cortapáo « (Hans, hack Holz, Caprimulgus albicollis), dem der Brasilier auch die Worte unterlegt: » manhã eu vou « = morgen gehe ich. Sie lauschten der sechstönigen Skala des flötenden Urutau, einer Nachtschwalbe (Nyctibius aethereus), und dem weniger wohllautenden Schrei einer Reiherart, des Sokoboi, der an die Stimme des Jaguars erinnern soll. Der Vergleich wurde aber, als sich auch das Geknurr der grossen Katze selbst hören liess, nicht zutreffend gefunden. Zu diesem Klagetönen aus dem Wald drangen aus den Zelten noch die näselnden Gesänge der Soldaten hervor, die sich einen » Côxo « (spr. Koscho), die primitive Violine des Sertanejo, geschnitzt hatten.

Die Frage, ob das Lager näher an das Bakaïrídorf hinabverlegt werden könnte, war endgültig verneint worden. Am 9. September, dem Tage nach meiner Abreise, waren Wilhelm und Perrot zu einer Rekognoszierung aufge - brochen, von der sie am 12. September ohne Ergebnis zurückkehrten. Sie hatten auf der linken Seite des Flusses im Norden und Nordnordosten nur dichten von Schlinggewächs und Dornen erfüllten Chapadão cerrado angetroffen, dann den Fluss gekreuzt und auf der rechten Seite nur einige kleine Strecken gefunden, wo die Tiere zur Not hätten vorrücken können. Sie kamen abgehetzt und müde nach Hause. Feroz, dem besten der fünf Hunde, hätte der Ausflug beinahe das Leben gekostet; man hörte ihn plötzlich laut und klagend heulen, sprang6*84eiligst hinzu und fand ihn von einer über 3 m langen Boa umschlungen, die dem Armen die Kehle schon so zugeschnürt hatte, dass er nicht mehr schreien konnte, und nur nach Empfang von vielen Messerhieben losliess.

Am 14. September kehrten dann Antonio und Carlos mit meiner Botschaft vom 11. September aus dem Bakaïrídorf zurück; sie kamen vom Salto über Land, den letzten Teil der Strecke auf dem rechten Flussufer, und hielten auch ein Hinabrücken der Station für ausgeschlossen. Zu gleichem Ergebnis kamen endlich Ehrenreich und Vogel, die am 15. September die Independencia verliessen und am 17. am Salto eintrafen, wo sie sich einschifften und zwei Leute mit der Meldung zurücksandten. Sie erklärten, dass wochenlange Arbeit nötig sein würde, um durch das Dickicht eine Pikade zu schlagen, dass die kleinen Bäche der Sucuruí und Chiqueira schon jetzt, geschweige in der Regenzeit, mit grösster Schwierigkeit zu passieren wären, weil das sumpfige, dabei dicht verwachsene Terrain lange Knüppeldämme erfordern würde. Erst in der Nähe des Salto hätten die Tiere einen Weideplatz gefunden. Hier war offener Kamp, aber namentlich im Norden von ausgedehnten Morästen mit Buritíständen umgeben, die in der Regen - zeit unter Wasser stehen und eine Fieberbrutstätte der schlimmsten Art darstellen würden. Am zweiten und dritten Tage hatten sie bis an den Kulisehu nur Sandboden und keinen einzigen Stein angetroffen.

Wir durften also mit unserer Independencia zufrieden sein. Sie hatte einen angenehmen weiten freien Platz und eine Stufe tiefer, wo der klare Bach in den Fluss einmündete, den kleinen Küchenplatz, den die Tafel 12 darstellt. Dort waren auch mehrere Hängematten aufgeschlagen, während Perrot’s Zelt und die Zelte der Soldaten oben neben dem » Neubau « standen. Es wurde nun eifrig gearbeitet, dieses Häuschen unter Dach zu bringen. Mit den Eseln wurden einige Ladungen Buritíblätter geholt; leider importirte man auf diesen auch eine Menge grosser Zecken. Quersparren wurden zu einem Girão, einem Traggerüst, mit Pindahybabast zusammengebunden, und darüber das Dach mit Buritíblättern ge - deckt. Die Holzsättel und die Ledersäcke wurden im Hause aufgeschichtet und auf dem Gerüst die ethnologische Sammlung unter Ochsenfellen geborgen. Für Januario blieb ein guter Raum zum Schlafen.

Die Sammlung war ein vielversprechender Anfang. Sie zählte schon an 120 Stück, die katalogisiert und mit Blechnummern versehen wurden. Weniger Mühe nahm die Verteilung der Essvorräte in Anspruch. Ein kleiner Theil wurde für die Rückreise über Land festgelegt. Mit den Kemmerich’schen Fleischpatronen wurden jetzt die ersten Versuche angestellt; es ergab sich, dass sie am besten mit Gemüsetafeln, Mélange d’Equipage, aufgekocht wurden. Tumayaua ver - pflichtete sich, dafür zu sorgen, dass den Zurückbleibenden vom Dorf aus Mandioka - mehl geliefert würde, und Januario erhielt vor seinen Augen einen Sack mit herr - lichen Perlen ausgehändigt, als Lockmittel für die Lieferanten.

Tumayaua versprach ferner, uns auf unserer Fahrt zu begleiten. Wir sicherten ihm zwei schöne Beile, mehrere Hemden[und] soviel Perlen zu, dass er der reichste85 Mann am Kulisehu werden sollte. Er und Luchu fühlten sich, von allen Seiten verhätschelt, über alle Massen wohl in der neuen Umgebung. Wir zeigten ihnen den Lagerplatz in bengalischer Beleuchtung, die sich in der That prächtig ausnahm, obgleich die allabendliche Illumination durch tausende von Glühkäfern, die vor dem finstern Hintergrund der Queimada ihre Fackeltänze aufführten, vielleicht stimmungs - voller war. Tumayaua und Luchu liessen sich auch anstandslos photographieren (Tafel 6). Sie thaten alles was man von ihnen verlangte. Ja, Tumayaua folgte ohne Zaudern der Einladung, sich auf Perrot’s Pferd zu setzen. Ich führte das Tier ein Weilchen und liess es dann traben; der edle Häuptling ritt und ritt, denn wie er zurückkommen sollte, war ihm unbekannt. Es steckte doch etwas von einem historischen Moment in dem Anblick: der Südamerikaner der Steinzeit zum ersten Mal auf dem Rücken eines Rosses. Luchu war diesem Ideal noch nicht reif; der junge Mensch liess sich nicht dazu bewegen, dem Beispiel des tapfern und ob des Genusses hocherfreuten Oheims zu folgen. Tumayaua mass auch das Pferd, indem er Hals und Kopf mit seiner Körpergrösse vergleichend betastete: offenbar wollte er im Tabakkollegium eine wissenschaftliche Beschreibung liefern.

Mit Hülfe der Indianer waren noch zwei Kanus gemacht worden, am 29. Sep - tember wurden die Ruder geschnitzt und am 30. die Kanus zur Probe geladen.

Nach dem ersten Bakaïrídorf (Maigéri).

Am 1. Oktober früh standen wir um vier Uhr auf und um sechs Uhr fuhren wir ab. Wir waren vertheilt auf die fünf Kanus: 1. Antonio, Wilhelm, ich; 2. Ehrenreich, João Pedro: 3. Vogel, Perrot, Columna; 4. Carlos und Peter mit schwerem Gepäck; 5. Tumayaua und Luchu. » Adeus Januario, Raymundo, Satyro, Manoel! Até á volta « bis zur Rückkehr! Sorgt für die Tiere, zankt Euch nicht und bleibt gesund! « » Feliz viagem! « riefen die guten Kerle zurück, an deren Stelle ich wahrlich nicht hätte sein mögen und die nun die Tage zählten, bis unsere Rückkehr ihnen die Freiheit wiedergäbe.

Wir ruderten fleissig, machten eine Mittagspause auf einer steinigen Insel und um ¾5 Uhr war unser Kanu als erstes an der grossen Cachoeira, die wir dem Senator Taunay zu Ehren Salto Taunay getauft haben. Im Strudel nahm ich ein prachtvolles Bad und setzte mich dann auf einen Ausguck; es dämmerte stark und Niemand kam. Um ¾7 Uhr im Vollmondschein erschienen die Andern; sie waren bis 3 Uhr bei der Insel geblieben, schlafend und Mate kochend. Das Fischen wurde durch die allzu helle Nacht erschwert, erst um 11 Uhr brachten die Leute 3 grosse fette Barbados, die auf den Rost wanderten und wohl ver - dienten, noch zur Geisterstunde in der vom Mond herrlich erleuchteten Scenerie des tosenden Wasserfalls gegessen zu werden.

Am 2. Oktober fuhren wir um ½7 Uhr ab und erreichten den Bakaïríhafen um Uhr. Dort stand der brave Paleko schon mit einer Schale Mandioka - kleister. Wilhelm und ich gingen sofort zum Dorf. Es war sehr unterhaltend86 zu beobachten, wie eine Empfangszene, da die Kanus in zeitlichen Abständen eintrafen, der andern folgte; neue Gäste, immer wieder neue Aufregung und neues Hervorstürzen aus dem Flötenhaus, wo wir unter Beijús und Kalabassen sassen. Man hatte sich zum Teil festlich mit Farbenmustern geschmückt. Kule - kule hatte Gesicht und Oberkörper mit orangeroten Strichen und Tupfen verziert, die Zukünftige hatte rote Schlangenlinien auf den Oberschenkeln, die Egypterin eine rote Stirn und Nase, Tumayaua’s kleine Enkel waren schwarz betupft und beklext, ihre Mutter Eva erschien, Haar und Haut weiss bepudert von der Beijú - arbeit. Der gemütliche Awiá trug sonderbarer Weise eine Kuchenschaufel, d. h. einen Beijúwender im Haar.

Es war auch Fremdenbesuch aus Dorf II und III vorhanden, wir zählten in Paleko’s Haus 18 und in Tumayaua’s Haus 13 Hängematten. Ehrenreich photo - graphirte. Jede Aufnahme wurde den Modellen durch einige Perlen vergütet. Sie hatten einige Angst, allein die Perlen siegten über die Furcht vor der Gefahr. Nur unter Schwierigkeiten kam die Frauengruppe Tafel 5 zu Stande. Die Frauen hatten sich aufstellen und zurechtrücken lassen, Ehrenreich war im Begriff, die Platte zu belichten, da entdeckten sie plötzlich ihr Spiegelbild in dem Objektiv und stürzten erstaunt auf den Apparat zu, es genauer zu betrachten. Der Photograph in tausend Nöten! Tumayaua war in den Besitz einer unbrauchbaren Glasplatte ge - langt » páru « Wasser und richtete sich nach Vogel’s Anweisung mit ihr in der Strohkuppel seines Hauses das erste Fenster ein.

An diesem schönen Tage wollte ich meinen Gastfreunden ein Ehrengeschenk stiften. Zwei junge Berliner Damen hatten mir eine hübsche blonde Puppe mit - gegeben, die sie mit buntem Kleidchen eigenhändig ausstaffiert hatten und die als beste Nummer unseres Waarenlagers » der Würdigsten « zugedacht war. Ich konnte nicht schwanken, dass sie der Zukünftigen, der Erbtochter des Dorfes und Herrin über alles mir gespendete Mehl, gebühre. Die neugierige Frage, ob auch die Frauen der Karaiben Kleider hätten, sollte nun ihre Erledigung finden. Ich rief die ganze Gesellschaft auf den Platz zusammen und erregte hellen Jubel, als ich das blauäugige rotwangige Porzellanköpfchen vorzeigte, das echte Blondhaar sehen und anfühlen liess und die schönen Kleider des » kχaráiba pekóto « der Reihe nach erklärte. Und das Entzücken steigerte sich noch, da ich nun auf die Zukünftige zuschritt und » áma zóto « » Du besitzest es « sagte. Die kleine Gelbhaut errötete vor Freude und zu meinem Erstaunen ergriff die sonst schweigsame Mutter mit lauter Stimme das Wort und sprach und sprach, Mancherlei betheuernd, was ich nicht verstand, was aber, wenn die Indianer auch kein Wort für » danke « haben, doch eine Dankesrede war. Wem meine Zukünftige von damals inzwischen Herz und Hand und zur Mitgift die kostbare Karaibenfrau bescheert haben mag, ich weiss es nicht in einer der seltsamen Verschlingungen aber, zu der sich zu - weilen die Glieder der Schicksalskette zusammenschliessen, hat es sich gefügt, dass die eine der beiden Berliner Damen mittlerweile die Gattin des Verlegers, die andere die Gattin des Verfassers dieses Buches geworden ist.

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Wir blieben bis tief in die Dunkelheit und gingen dann zu unserm Lager am sogenannten zweiten Hafen des Dorfes. Eine lange Stromschnelle liegt zwischen dem obern und dem untern Hafen; die Kanus waren dort noch am Nachmittag hinüberbugsiert worden, damit wir das Hindernis nicht erst am folgenden Morgen zu überwinden hatten.

Nach dem zweiten Bakaïrídorf (Iguéti).

Die Reise von dem ersten Dorf nach dem zweiten ist wegen der zahlreichen Stromschnellen sehr beschwerlich. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass der Fluss auf lange Strecken hin mit Blöcken durchsetzt ist, zwischen denen er bei dem damaligen Wasserstand nur sehr niedrig war. Wir nannten diese Art » Stein - cachoeiras «, es sind echte Katarakte, die bei höherm Wasserstand wahrscheinlich leichter passiert werden.

Die ersten Stunden hinter Maigéri floss der Kulisehu in himmlischer Ruhe dahin; das Kanu mit seinen Ruderern spiegelte sich unverzerrt in der flaschen - grünen Flut, und eine lange Spur von Schaumblasen bezeichnete die Bahn. Dunkel, aber von dem Sonnenschein gelblich durchleuchtet, setzte sich das Bild der Waldkulisse gegen die schimmernde und flimmernde Oberfläche ab. Der volle Laubschmuck rundete die Baumumrisse, und üppige hellgrüne Bambus - massen füllten alle Lücken aus. Ueberhängendes Gebüsch und niedere Bäume, die tiefgeneigt vom Ufer weggedrückt schienen, spannten Schattendächer aus, in deren Schutz man gern dahinglitt. Nichts ist schöner als das allgemeine Schweigen der Natur, ehe die Cachoeira kommt; man weiss, bald wird das Brausen erst fern und dumpf, dann lauter und lauter ertönen und geniesst die Stille, der, ohne die Aussicht auf den bald nur zu lebhaften Wechsel, unser Geist in schwerer Langeweile erliegen würde. Als wir dieselbe Strecke am 20. September zum ersten Mal fuhren, hatte ich mich an dem Anblick des geschmeidigen Luchu erfreut, der mit Bogen und Pfeil im Kanu aufrecht stehend nach Pakú-Fischen aus - spähte. Der Indianer, dem die Angel unbekannt war, gebrauchte doch schon den Köder. Er warf bohnengrosse grellrote Beeren (iwáulu) ziemlich weit in den Fluss, spannte schleunigst den Bogen, zielte auf die Beere und entsandte den Pfeil in dem Augenblick, wo der Pakú zuschnappte und die Beere verschwand.

Damals waren wir bequem in einem Tage nach Iguéti gekommen, da wir die Kanus sobald als möglich verliessen und über Land gingen. Dieses Mal konnten wir uns keine Stromschnelle ersparen. Es waren ihrer im Ganzen acht bis zu dem sogenannten Hafen, doch schlugen wir schon hinter der siebenten um Uhr das Lager auf. Bei der vierten hatten wir 40 Minuten gebraucht, um die Kanus durch das ausgedehnte Steingewirr hindurchzuschieben. Das unsere klemmte sich zwischen zwei Felsblöcken fest und füllte sich halb mit Wasser. Es ist ein unangenehmes Gefühl, wenn der elastische Boden des Fahrzeuges sich unter den Füssen biegt wie eine Welle. Um 4 Uhr fanden wir den ganzen88 Fluss versperrt und quer durchsetzt durch hohe Stakete und Steine, wo die Bakaïrí den Fischen nach Gutdünken den Weg verlegen und öffnen können. Es war ein sehr merkwürdiger Anblick und, wenn man die Arbeitsmittel und den Kulturfortschritt der Bakaïrí in Rechnung zog, nicht ohne Grossartigkeit. Wir hatten mühsam die Steine am Rand der Stakete aus dem Wege zu räumen, um überhaupt mit unsern schmalen Kanus zu passieren. Dahinter eine Breite von 124 m.

Bei der letzten Stromschnelle erlitt Vogel Schiffbruch. Die Instrumente blieben trocken, aber die Suppentafeln erlitten eine vorzeitige Wässerung. So benutzten wir die Gelegenheit, aus den rettungslos durchweichten Stücken einmal

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Abb. 3.

Vogelkäfig.

eine verschwenderische Kraftsuppe zu brauen. Wir machten hinter dem Orte des Unfalls Halt, be - suchten von hier aus am nächsten Tage, dem 4. Oktober, das Ba - kaïrídorf und liessen die Kanus währenddess zum Hafen weiter - schaffen. Auch auf dieser Strecke fuhr Vogels Kanu auf einen Stein und ging unter. Dabei sank ein uns von Herrn von Danckelman überlassenes Wasser-Thermometer seiner Bestimmung gemäss in die Tiefe, blieb aber auf Nimmer - wiedersehen drunten und entzog sich der Ablesung.

Das Dorf war in einer halben bis einer ganzen Stunde vom Fluss zu erreichen, je nachdem man später oder früher landete. Es war rings umgeben von gerodetem Land in einer Ausdehnung, die unser höchstes Erstaunen erregte. Auf den drei verschiedenen Wegen, die wir gegangen sind, kamen wir durch lange Strecken, wo der Wald mit dem Steinbeil niedergeschlagen war. Im März und April werden die Bäume gefällt und im September und Oktober das in - zwischen getrocknete Holz verbrannt. Wir betrachteten mit Bewunderung eine Anzahl dicker Stämme, deren Querschnitt mit den stumpfen Schlagmarken der Steinbeile bedeckt war und bedauerten keine solche Hiebfläche absägen und mit - nehmen zu können. Ich leistete im Stillen Abbitte bei den Indianern, über die ich oft gelacht hatte, wenn sie sich zu Hause in der Hängematte schaukelten, als wenn ihr Leben ein grosser Sonntag wäre.

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In Iguéti gab es drei grosse Familienhäuser und ein sehr ansehnliches Flöten - haus, in dem viele Tanzanzüge aus Palmstroh hingen. Auf dem Dorfplatz erhob sich ein Käfig von über Haushöhe, der aus langen, spitzkegelförmig zusammen - gestellten Stangen bestand; darin sass eine gewaltige Harpya destructor, obwohl das Dorf igu-eti = Sperberdorf heisst. Der einstige Wappenvogel war wohl schon lange dahin geschieden. Der schöne Adler wurde nach seiner Lieblings - nahrung mégo-zóto, Herr der Affen, genannt. Neben dem Häuptlingshause lag ein grosser Schleifstein für die Steinbeile; er machte mir viel Freude, weil er genau dieselben Rillen zeigte, wie wir sie in den Sambakis von Sta. Catharina beobachtet hatten.

Die Gemeinde zählte einige 40 Personen. Man sprach von drei Häuptlingen, doch kam uns in dieser Eigenschaft nur der gutmütige, sehr breitschultrige und durch watschelnden Gang ausgezeichnete Aramöke entgegen. Er hatte einen pfiffigen Ausdruck und war bei seinem ungeschlachten Körper sehr höflich, da er im Wald vor mir herschreitend liebenswürdiger, als er wahrscheinlich gegen eine Dame gewesen wäre, die Zweige abbrach, die mir hätten in’s Gesicht schnellen können. Ein grosses Messer und ein rotes Halstuch machten ihn zum Glücklichsten aller Sterblichen. Er erwies uns grosse Gastfreundschaft. Fortwährend wurden neue goldige Beijús herbeigebracht, eine Reihe von Kalabassen mit Pogu gefüllt, standen immer zur Hand, ein dünner, sehr süsser Püserego wurde im Ueberfluss geboten und für unsere Perlen erhielten wir einen Vorrat an feinem Polvilhomehl auf den Weg.

Die so eifrig backenden Frauen erschienen uns klein und hässlich, aber freudlich. Sie holten Wasser nur in Begleitung von Männern.

Als ich mit Vogel und Ehrenreich am 20. September zum ersten Mal in Iguéti war, erlebten wir eine merkwürdige Scene, die ich hier einschalten möchte. Wir sassen am Abend in dem Flötenhaus, als Einige eintraten, an der Feuer - asche niederhockten und ein lautes ih .... ausstiessen. Darauf zogen sich ein paar Andere die dort hängenden Strohanzüge an und liefen eine Weile umher wie die brüllenden Löwen. Ich glaubte, es sei eitel Scherz und Zeitvertreib, aber alle blieben durchaus ernst. Nun lief eine der Masken hinaus, während der Chor wieder ih .... hi schrie, streckte die Arme aus dem Stroh hervor und raschelte mit dem Behang. Sie verschwand in einem Hause und kam bald wieder hervor mit Beijú und Fisch beladen. Dasselbe wiederholte sich und Luchu machte den Gang als Dritter, mit Getrank zurückkehrend. Immer wurde das Hinausgehen durch das allgemeine ih angekündigt, so dass man in den Häusern vorbereitet war. Da der Strohanzug den ganzen Körper bis auf die Füsse bedeckt, ist die Person, die sich in ihm verbirgt, nicht zu erkennen. Vielleicht ist zwischen diesem Gebrauch, dass man sich sein Gastgeschenk in ver - hülltem Zustande holt, und der Sitte des Alleinessens, gegen die man nicht ver - stossen kann, ohne das Schamgefühl der Andern wachzurufen, ein Zusammenhang vorhanden.

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Später am Abend begannen drei Männer zu singen, indem sie dicht an den Thüreingang des Flötenhauses herantraten, und zwar so, dass sie uns Uebrigen den Rücken zukehrten: zwei schüttelten die Kürbisrassel, die sich nur im Material von unserem ersten Wiegenspielzeug unterscheidet, und der Dritte stampfte in taktfester Beharrlichkeit mit dem rechten Fuss auf. Die Drei sangen: íhaí, iháií huχó, ihaí ohuhoχó .... Vielleicht steckt in dem ewigen huχu, huχo nichts anders als das Wort für » Fuss «, das, altkaraibisch pupu, sich in χuχu, huχu lautgesetzlich verändert. Es war ein ernstes, fast traurig klingendes, aber sehr kräftiges » Makanari «, wie die Bakaïrí ihre Festgesänge nennen. Ehrenreich war mit der sich unverändert gleichbleibenden Monotonie des Singens, Rasselns und Stampfens sehr unzufrieden, ich kann für mein Teil aber nur sagen, dass gerade das Einerlei Eindruck auf mich machte und mich auf eine Art berauschte und gefangennahm. Andere stellten sich hinter die Drei, sangen und stampften mit, mehr und mehr schlossen sich an, und endlich liefen die der Thüre nächsten hinaus, einer nach dem andern bückte sich und folgte, der ganze Zug trabte in einer langen Kette hinüber zum Häuptlingshause mit ununterbrochenem ohúhoχó, zurück zum Flöten - haus, hin und her über den Platz; wir Gäste verfehlten nicht, auch wenigstens einige Touren des musikalischen Dauerlaufs mitzumachen, die guten Bakaïrí aber rannten, sangen, stampften die ganze Nacht. Es scheint also eine sehr alte Sitte zu sein, bis an den hellen Morgen zu tanzen. Nur dass die Männer die Arbeit allein besorgten. Es schlief sich vorzüglich dabei ein; wie das bekannte und oft bewährte Mittel zum Einschlafen, dass man sich eine endlose Hammelherde vorstellt, die über einen Zaun setzt, und die einzelnen springenden Tiere zählt, hypnotisirte ihr unentwegtes ohóhuχó mit tödlicher Sicherheit.

Bei unserm zweiten Besuch sahen wir Nichts dergleichen.

Eine kleine Schussvorstellung erweckte mehr Furcht als Erstaunen; die Frauen liefen hinter die Häuser; ein langer Jüngling flüchtete sich in die Hänge - matte und hielt sich die Ohren zu. Nach dem dritten Schuss bat der Häuptling » åle «, » es ist genug «. Hinterher hatten sie wieder Verlangen danach und stellten Aufgaben, hoch in der Luft kreisende Vögel zu treffen, die nur die Cooperschen Jäger hätten erfüllen können. Man muss sich jedenfalls hüten, einen Schuss zu thun, dessen man nicht sicher ist.

Der photographische Apparat wurde dem Häuptlingshause gegenüber auf - gestellt; Aramöke folgte der Einladung, steckte den Kopf unter das schwarze Tuch, betrachtete sich das Bild mit lebhaftem Vergnügen und schwatzte eifrig darüber. Die Uebrigen trauten der Sache nicht.

Das Haus Aramöke’s, ein prachtvolles Beispiel der primitiven Architektur, war grösser und sorgfältiger gebaut als das Paleko’s in Maigéri. Viele Vorrats - körbe waren zwischen den Mittelpfosten aufgestapelt und von der Wölbung hingen zahlreiche Maisvögel und Kolben herab. Unser Interesse aber nahm in erster Linie ein Fries von rohen Zeichnungen in Anspruch, der in etwa 2 m Höhe über den Thüren weg ringsum lief in einer Gesamtlänge von etwa 56 m. 91Auf schmale Tafeln von geschwärzter Baumrinde waren Tüpfel, Ringe, lineare Muster und dazwischen ein paar Fischzeichnungen mit weissem Lehm aufgetragen. Zu unserm grössten Erstaunen galten auch Dreiecke und Vierecke als Abbildungen konkreter Vorlagen und waren eben noch keine » geometrische Figuren «. Wilhelm zeichnete den ganzen Fries mit peinlicher Gewissenhaftigkeit ab, wie ihn die Tafeln 20 und 21 wiedergeben. Ich werde später die Erfahrungen bei den Bakaïrí mit den bei den übrigen Kulisehu-Stämmen zusammenstellen. Leider war es nicht möglich, die Originale heimzubringen. Der Lehm war so lose aufgetragen, dass er sofort abbröckelte, und so grobkörnig, dass er nicht, wie es bei den Masken gelang, durch Ueberstreichen mit Collodium festgehalten werden konnte.

Gegen Sonnenuntergang gingen wir, von Aramöke, der in seinem roten Halstuch stolzierte, geleitet, nach dem Lager, das nun an dem eigentlichen Hafen aufgeschlagen war, und trafen dort nach dem neuen Schiffbruch grosse » Trocken - wäsche «. Auch war Antonios Ruder gebrochen.

Eine Anzahl Indianer standen und sassen auf dem Uferhang herum, als wir am 6. Oktober kurz nach 7 Uhr abfuhren. João Pedro hatte sich noch ein Halbdutzend frischer Beijús bestellt und wurde pünktlich in der Frühe wie vom zivilisierten Bäcker bedient.

Die kräftige Stromschnelle, » kulúri « von den Bakaïrí genannt, die wir bald ohne Fährlichkeiten durchschnitten, war die letzte des Kulisehu: » túχu åle «, die Steine sind » alle «. Der Fluss ähnelte auf dieser Strecke wieder sehr dem Stück hinter der Independencia; viele gestürzte Bäume im Wasser, häufig hochgelegener Sandstrand oder auch steiles Lehmufer, die Strömung etwas beschleunigter. Der kleine Masarico trippelte mit seinen roten Beinchen eilfertig über den Sand uns entgegen, rief » geh weg, komm, komm « und flog eine Strecke voraus, um uns dort wieder zu erwarten. Die Windungen des Flusses waren sehr zahlreich, und die Fahrt wurde sterbenslangweilig. Dabei wurde das Sonnenlicht von dem hellen Sand grell reflektiert und das Wasser blitzte unerträglich. Um Uhr kamen wir an einen rechten Nebenbach von etwa 8 m Breite vorüber, dem Pakuneru. Das ist derselbe Name, den der Paranatinga bei den Bakaïrí führt. An seinen Quellen weitweg ih .... sollen die kayáχo, die Kayapó, wohnen; Tumayaua erklärte, dass er sie habe schreien hören. Es ist wahrscheinlich, dass von ihnen der Feuerschein herrührte, den wir wiederholt im Osten bemerkt hatten und der auf der Independencia regelmässig am Abend beobachtet worden war. Ein Stündchen später mündete links, etwa 12 m breit, der Kewayeli ein. An beiden Ufern Queimada und Pflanzung.

Tumayaua hatte als Begleiter Pakurali aus dem zweiten Dorf mitgenommen, einen untersetzten vierschrötigen Alten, dem man nicht ansah, dass er für einen grossen Zauberer galt, und der bei uns respektlos der » Droschkenkutscher « hiess. Sie hatten wenig Gepäck bei sich und bargen es leicht in den Mayakus, ihren Tragkiepen. Nicht Baumwollhängematten, sondern Hängematten aus Palmfaser, die leichter sind und rasch trocknen, wenn sie durchnässt werden, hatten sie92 auf die Reise mitgenommen. Die Beiden kamen rasch vorwärts, obwohl sie an jedem günstigen Ort auf’s Fischen bedacht waren. Den grossen Zauberer hatten wir an einer Salmiakflasche riechen lassen, was ihn nicht wenig entsetzt hatte. Er war seither nicht mehr zu verführen, irgend etwas von unsern Dingen zu beriechen. Wenn bei uns Jemand in einer Ecke ruft, dass es dort stinkt, so läuft Alles hin und schnüffelt.

Nach dem dritten Bakaïrídorf (Kuyaqualiéti).

Der Hafen, bei dem wir um Uhr ankamen, lag am Ende einer seitwärts eingeschnittenen Bucht und wäre ohne Führer nicht zu finden gewesen.

Am nächsten Morgen, dem 6. Oktober, brachen wir um 7 Uhr zum Dorfe auf und erreichten es in dreiviertel Stunden auf dem üblichen geschlängelten Waldpfad. Unterwegs sahen wir eine grosse menschliche Gestalt in Baumrinde eingeschnitzt mit drei Fingern an den Händen und strumpfartigen Füssen.

Harpyen-Dorf, kuyaquali-éti , hatte auch nur drei Häuser und ein Flöten - haus, war aber das belebteste der drei Dörfer. Ich zählte 31 Männer und unge - fähr ebensoviel Frauen und Kinder. Doch waren die letzeren zum Teil in den Wald gelaufen. Es mochten an 100 Seelen im Dorfe sein. Der Häuptling Porisa war ein kleiner freundlicher Herr; er hatte Nachts Beijú backen lassen. Wir sassen inmitten des grossen Platzes in einer langen Reihe nieder. Jedem wurde eine Trinkschale gebracht, mir wurde die grösste nebst einer Zigarre zu Teil. Die Begrüssungsreden wurden jetzt mit grosser Geläufigkeit ausgetauscht.

áma, du = das bist du. ehé úra, ja, ich = gewiss, das bin ich. bakaïrí úra, ich (bin ein) Bakaïrí. kχaráiba úra, ich (bin ein) Karaibe. bakaïrí kχúra, (die) Bakaïrí (sind) gut. kχaráiba iwakulukúlu, (die) Karaiben (sind) sehr gut. píma áma? (bist) du (der) Häuptling? píma úra, ich (bin der) Häuptling.

Jedem Karaiben hockte ein Bakaïrí gegenüber und bewunderte ihn und was er anhatte. Die schwedischen Zündhölzer, Messer, Spiegel, Knöpfe, Perlen, es war immer derselbe Kursus. Nur fand bei Porisa mein Tagebuch die meiste Anerkennung und waren es nicht die beschriebenen, oder mit Zeichnungen bedeckten, sondern die weissen leeren Blätter, die ihm Ausrufe des Entzückens entlockten. Wir schritten auch paarweise, Arm in Arm, auf dem Platze umher, in verbindlicher Unterhaltung. Ausführlich studierten wir die geographische Ver - teilung der Kulisehu-Stämme, doch blieben die Wohnorte der Trumaí nach wie vor unklar.

Das Flötenhaus war gross und geräumig, sein Dach zerfallen, viel Stroh lag drinnen auf dem Boden, und hier, wie in den Häusern, vermissten wir die Sauberkeit, die uns in den andern Dörfern so wohlgethan hatte. Vor dem Flötenhaus fand sich, auf Querhölzern aufruhend, ein mächtiger hohler Baum - stamm hingestreckt einen Morcego - (Fledermaus) Baum nannten ihn unsere93 Leute unregelmässig bemalt mit menschlichen Figuren und Fischwirbelsäulen. Man trommelte bei Festen auf diesem Rieseninstrument mit dicken Holzknüppeln, ähnlich den Mandiokastampfern.

Drinnen gab es schöne Masken und eine neue Form des Tanzanzuges: zwei gewaltige Krinolinen von 10 m Umfang mit Stroh bedeckt, kleinen Hütten ver - gleichbar, koálu, die der Tänzer an einem Ring auf der Schulter trug. Bald war ein schwungvoller Tauschhandel überall im Gange. Wir erhielten schönen Feder - schmuck, Kronen aus Ararafedern, die auf der einen Seite lichtblau, auf der andern gelb sind, zierliche Matten, in denen sie aufbewahrt werden, schwarzgelbe Rohrdiademe, wie deren Luchu auf Tafel 6 eins trägt, andere mit strahlen - förmigen Spitzen, grosse Pansflöten, ein mit Zeichnungen verziertes Ruder, Spinn - wirtel der einfachsten Art: aus Topfscherben hergestellte Scheiben, und eine Menge merkwürdiger zilinderförmiger Hölzer, die mit Ornamenten bedeckt waren und bei Festen auf dem Rücken getragen wurden. Dann aber kam in dem Gerät dieser dritten Bakaïrí deutlich zum Ausdruck, dass wir uns bei dem den übrigen Kulisehu-Indianern nächst wohnenden Teil des Stammes befanden; es war vielerlei Importwaare vorhanden und wurde hier auch als solche bezeichnet. Die Bakaïrí machen selbst keine Töpfe und haben selbst keinen Ort, an dem sie sich die Steine für die Steinbeile holen könnten, hier aber sagte man uns auch sofort, dass die Töpfe von den Mehinakú und die Steinbeile von den Trumaí stammten. Unter den Töpfen war einer in Schildkrötenform, der ein wahres Meisterwerk der primitiven Plastik darstellte, an dem Kopf, Schwanz und Füsse, sowie die Schildzeichnung auf das Herrlichste ausgeführt waren. Von den Auetö́ fanden wir eine halbzerbrochene Thonpuppe, von den Mehinakú herrührend auch Knäuel feingesponnener Baumwolle, von den Trumaí und Suyá zierliche Feder - hauben. Aus unserm eigenen Besitz von 1884 entdeckten wir zwei Eisenmeissel, Teile eines Ladestockes, die auf Steinen zugeschliffen waren.

In höchsteigener Person trafen wir einen Nahuquá; leider war der Mensch sichtlich idiotisch und konnte meinen Zwecken wenig bieten. Es ist seltsam, dass dieses keine vereinzelte Erscheinung ist: die Kustenaú von 1884 hatten einen versimpelten Bakaïrí unter sich, die Yuruna desgleichen einen Arara-Indianer mit ausgesprochenem Schwachsinn, und Aehnliches glaube ich, noch öfter bemerkt zu haben. Werden die Leute dumm in der neuen Umgebung oder überlässt man dem Nachbar nur die dummen Exemplare zur Nutzniessung?

In dem Flötenhause wurden anthropologische Messungen und photographische Aufnahmen gegen Vergütung in Perlen ausgeführt. In diesem Dorf gab es einen ausgesprochen semitischen Typus, von dem Tafel 13 ein klassisches Beispiel darstellt. Die Leute liessen sich Alles gefallen und nannten den Tasterzirkel núna » Mond «. Nur Einer war entrüstet, als ich ihm, nachdem ihn Ehrenreich von Kopf bis zu Fuss in allen Richtungen gemessen hatte, die Gebühr von drei schönen, dicken Perlen überreichte. Er wollte so viel Perlen haben, als Messungen an ihm vorgenommen waren, er wiederholte mit lebhaftem Geberdenspiel und94 anerkennungswertem Gedächtnis die sämtlichen Prozeduren: den Kopf von vorne nach hinten, von Seite zu Seite, die Nase von oben nach unten, den Abstand der Augen, die Länge der Extremitäten und ihrer Teile, die Höhe des Nabels über dem Boden u. s. w. u. s. w., und streckte hinter jeder Pantomime die Hand nach den katakuá, den Perlen aus. Es half nichts, dem Manne musste sein Recht werden, nur war ich genötigt, ihn mit kleinen Stickperlen zu entschädigen; denn als ich begann, ihn zu bezahlen, ging er getreulich hinter jedem Perlenpaar wieder die Zahl der Messungen durch, erst jenes, dann den entsprechenden Körperteil be - rührend, und ruhte nicht, ehe die lange Liste ziemlich genau erledigt war. Wenn sich diese Gelegenheiten häufen, sagte ich mir, und wenn die Bakaïrí viele solche kritischen Naturen hervorbringen, wird ihre Zählkunst reissende Fortschritte machen. Da war es ja an einem Beispiel der Erfahrung mit Händen zu greifen, wie der Handelsverkehr die arithmetischen Anlagen befruchtet und entwickelt!

Die Frauen leisteten einigen Widerstand. Ganz unmöglich war es, auch an ihnen die Aufnahmen im Flötenhaus zu machen. Sie durften es nicht betreten, obwohl das edle Gebäude schon eine halbe Ruine war. So wurden sie auf dem Platz gemessen und photographirt.

Unsere eingetauschten Schätze packten wir sorglich zusammen und baten Porisa, sie uns in seinem Hause bis zur Wiederkehr aufzubewahren. Wir durften unsere Kanus nicht überfrachten und mussten Raum vorsehen für die Sammlung bei den abwärts wohnenden Stämmen. Porisa schob die Bündel vor unsern Augen auf einen hohen Querbalken zwischen den Mittelpfosten und versprach, dass Niemand daran rühren werde.

Um ½5 Uhr zogen wir denn sehr befriedigt wieder zum Hafen. Antonio war mit acht Indianern vor die Bucht hinausgefahren, wo sich der Fischfang besser lohnte und zeigte dort den Gebrauch der Angel. Seine Begleiter konnten mit einer schweren Ladung von Piranyas, einem Bagadú und einem Pintado den Heimweg zum Dorfe antreten. Eins unserer kleinen Kanus tauschten wir gegen ein schöneres, grösseres um.

II. Zu den Nahuquá.

Verkehr von Bakaïrí und Nahuquá. Ueberraschte im Hafen. Merkwürdiger Empfang. Dorf aus - geräumt. Ein Yaurikumá. Ueber Nacht. Mehinakú im Dorf. Tänze. Traurige Aussichten für Professor Bastian. Ich voraus zu den Mehinakú. Besserung der Verhältnisse. Botschaft über die Schlacht zwischen den Suyá und den Trumaf.

Ohne Frage stehen die Nahuquá in vielfältigem Verkehr mit den Bakaïrí. Schon von dem alten Paleko hatte ich eine ganze Reihe Nahuquá-Wörter erfahren und aus ihnen zu meiner grossen Freude sofort ersehen können, dass es sich um einen neuen Karaibenstamm handle. Paleko sagte mir, dass er früher eine zeitlang bei den Nahuquá gelebt habe; auch Tumayaua war bereits bei ihnen gewesen und95 kannte viele Wörter ihrer Sprache, während alle Bakaïrí von den flussabwärts der Nahuquá wohnenden Mehinakú nicht ein halbes Dutzend Wörter wussten.

Der Nahuquá, der im dritten Dorf der Bakaïrí wohnte, begleitete uns, als wir am 7. Oktober 1887 von dem Hafen der dritten Bakaïrí zu seinen nur eine Tagereise entfernten Stammesgenossen fuhren, stieg spät Nachmittags an einer Stelle, wo ein Pfad herantrat, aus, um uns im Dorfe anzumelden. Auch drei Bakaïrí von Harpyendorf mit Einschluss des Häuptlings Porisa hatten sich uns

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Abb. 4.

Nahuquá.

angeschlossen. Wir waren um ½7 Uhr abgefahren und hatten noch eine kleine Stromschnelle von starkem Schwall zu durchsetzen. Sie gehörte mit einigen Fisch - kurrals noch den Bakaïrí, während ein kleiner, 2 m breiter Bach rechts, den wir gegen 9 Uhr passierten, und der durch einen Fischzaun abgesperrt war, schon Eigentum der Nahuquá war. Um 11 Uhr mündete wieder rechts ein breiter Bach ein, der Háiri der Bakaïrí oder Ráza der Nahuquá, in deren Gebiet er lag. Viel hoher Sandstrand, 4 5 m über dem Wasserspiegel der Trockenzeit, Weiden - gebüsch, unzählige dürre und abgestürzte Bäume. Um 1 Uhr machten wir eine96 Pause an einem fischreichen Orte; die Piranyas bissen so schnell zu, dass man die Angel nur auszuwerfen brauchte und sie auch schon daran festhingen; ein grosser, 1 m langer Bagadú, den Antonio mit Leguanköder fing, zog den glücklichen Fischer zu unserm Vergnügen bis in die Mitte des Flusses. Mehrere Angeln wurden von den Piranyas abgebissen. Die Indianer lösten nach einiger Unter - suchung sorgfältig den Unterkiefer aus, den sie zum Durchschneiden von Fäden und auch zum Haarschneiden verwenden.

Wilhelm und ich, deren Boot wie gewöhnlich mit dem Tumayaua’s den anderen voraus war, trafen zuerst am eigentlichen Hafen ein und überraschten dort drei Individuen, die nicht wenig erschreckt schienen. Es war ein hübscher strammer Junge von etwa 18 Jahren, das Urbild der Crevaux’schen Rukuyenn in Guyana, den Tumayaua als píma iméri, den Sohn eines Häuptlings, bezeichnete, ein kleiner Knabe und als dritter ein junger Mehinakú.

Durch Tumayaua freundlich getröstet und beruhigt, lachte der kleine Häupt - ling, zitterte aber am ganzen Leibe. Er hatte ein breites Baumwollbündel um den Leib geschlungen und auch eine Unwickelung über den Waden. Den Hals zierten zwei schöne Muschelketten. Ihre Tragkörbe waren mit Flussmuscheln gefüllt. Bald eilten sie freudig erregt davon. » Kúra karáiba «, der Karaibe ist gut, war ihnen hundertmal gesagt worden und Tumayaua rief ihnen noch lange nach, sie sollten für reichlich Püserego sorgen. Den andern Morgen brachen wir früh auf; nachdem wir ein Stückchen Campo cerrado passiert hatten, kamen wir in den Wald. Es war grösstenteils Capoeira, junger Buschwald, der in früher bepflanztem Terrain nachwächst. An den Bäumen bemerkten wir eine grosse Zahl von plump eingeschnitzten menschlichen Figuren mehr als wir irgendwo anders gesehen haben. Dieselben zeichneten sich durch gewaltige eselohrartige, aber schmale Verlängerungen aus, die uns als Ohrfedern gedeutet wurden. Gegen Ende des Weges fanden wir eine schöne Pflanzung von Pikí-Bäumen (Caryocar brasi - liensis); sie haben runde Früchte von der Form und dem Umfang recht grosser Aepfel mit grüner Schale, buttergelbem Inhalt und dicken Kernen.

Nach zwei Stunden erreichten wir das Dorf, es lag in Totenstille. Unser Zug betrat den Festplatz. Ein Kranz von zwölf nahe zusammenstehenden Häusern und ein schönes Flötenhaus; lange Sitzbalken lagen zu unsern Füssen. Keine Menschenseele begrüsste uns; nur in den Eingängen der schweigenden Bienen - körbe liessen sich einige dunkele Gestalten unbestimmt unterscheiden. Tumayaua rief, eifrig mit Bogen und Pfeil gestikulierend, in die Lüfte hinaus; unsere lange Reihe harrte stummvergnügt der kommenden Ereignisse, dann fingen auch wir an zu schreien, dass wir gut seien, und plötzlich sahen wir uns von einigen vierzig Männern dicht umringt.

Mit Ausbrüchen der Freude, die einen verzweifelten Anstrich grosser Angst nicht verbergen konnte, liessen sie uns einen neben dem anderen auf den dünnen Sitzbalken niederhocken und schleppten Beijús und mächtige Kürbisschalen die Hülle und Fülle herbei. Die Beijús thürmten sich in erschreckender Höhe auf;

TAFEL VII.

FISCHNETZ-TANZ DER NAHUQUÁ.

97 in den Kürbisschalen war leider nicht der wohlschmeckende Püserego enthalten, sondern nur der gewöhnliche Pogu-Mandiokakleister. Sie liessen uns einige Pikí - früchte, die im allgemeinen noch nicht reif waren, als Delikatessen probieren; ein kleines Stückchen mit Beijú schmeckte auch gar nicht so übel, doch wurde uns der fettige Geschmack bald zu stark und erregte Widerwillen.

Die Nahuquá waren kräftige, etwas plumpe Gestalten, an denen uns die viereckigen Gesichter besonders auffielen. Viele von ihnen hatten ein Doppel - kinn. Bei mehreren bemerkten wir Bemalung auf der Brust mit runden Klexen, Dreiecken und dergl. ; einer trug eine Schlangenlinie über den Ober - schenkel. Zum Ausdruck der Bewunderung oder gewaltigen Erstaunens drückten sie eine Hand fest vor Mund und Nase und liessen dahinter allerlei Töne, , hören, wie wir deren zuweilen beim Kopfschütteln machen. Es wurden uns riesige Zigarren von 40 cm Länge angeboten; anscheinend stand dieses Format im graden Verhältnis zur grossen Angst der Geber.

Nachdem die Empfangsfeierlichkeit beendet war, krochen wir in das Flöten - haus, um unsere Sachen dort niederzulegen. Die Beijúladungen und Getränke schleppte man uns eilfertig nach. In dem Haus der Männer, das sehr geräumig und sehr sorgfältig gebaut war, sah es trostlos leer aus. Ein öder Raum, nur hie und da ein paar Strohreste von Tanzkostümen auf dem Boden. Wir be - suchten einzelne Hütten: sie waren ausgeräumt, hie und da hing eine einsame Hängematte, aber die sonst überall vorhandene Menge des Hausrats von Körben, Kalabassen, Töpfen fehlte; es fehlten an den Wänden die Steinbeile, die Bogen, die Pfeile. Besonders schmerzlich aber vermissten wir die Krone der Schöpfung. Nur ein paar alte Weiber von abscheulicher Hässlichkeit abschreckend mager, die Haut am ganzen Körper verrunzelt, wirres mehlbestreutes Haar, trippelnder Gang mit eingeknickten Beinen liessen sich erblicken; sie grinsten uns freundlich an und waren gute thätige Geschöpfe, denen wir auch unsere Beijús zu verdanken hatten. Die schönere Jugend war weit in den Wald entflohen.

Ueberall trat uns starkes Misstrauen entgegen; zu jedem Gang schloss sich starke Geleitschaft an, und sie versicherten so leidenschaftlich und häufig ihr atötö atötö atötö , was dem kura der Bakaïrí entspricht, dass man sich schwer verhehlen konnte, ihre Zunge spreche das Gegenteil aus von dem, was das Herz empfand. Was wir nur von Kleinigkeiten fanden, erhandelten wir und gaben unverhältnismässig grosse Gegengeschenke, um ihre Habgier ein wenig anzuregen. Perrot blies als Medizinmann Mehrere mit Tabakrauch an und rieb sie mit Vaselin ein. Ein Alter schleppte seinen Sohn von einem zum andern und beruhigte sich nicht eher, als bis jeder ihn angepustet hatte.

Wir hielten es für gut, unsere Zahl zu verringern; zuerst kehrten Antonio und Tumayaua, später Perrot und Vogel nach dem Hafen zurück, zumal letzterer dort eine Breitenbestimmung machen wollte. Ehrenreich, mein Vetter und ich blieben mit den Bakaïrí vom dritten Dorfe zurück und wollten unter allen Um - ständen bei unseren Gastfreunden schlafen, so missfällig dieser Entschluss auchv. d. Steinen, Zentral-Brasilien. 798aufgenommen wurde. Durch Boten sollten uns vom Hafen Fische und Lebens - mittel regelmässig gebracht werden.

Wir gingen baden, von fünfzehn Mann begleitet. Ein kleines ausgetretenes Bächlein mit schmutzigem Lehmwasser befand sich etwa ½ km weit vom Dorf.

In dem Flötenhause suchten wir uns mit Einigen etwas näher anzufreunden. Einer unter ihnen nannte sich einen » Yaurikumá «; er wohnte drei Tagereisen nach Osten am Kuluëne. Von ihm erhielten wir Angaben über die Lage der Trumaí - und Kamayurá-Dörfer, die sich später als ganz richtig erwiesen. Er wusste auch einige Kamayurá-Wörter. Zu unserer Freude bewiesen sie, dass die Kamayurá ein Tupístamm sein mussten. Es machte einen wunderlichen Eindruck auf uns, von ihm, dessen Sprache wir nicht verstanden, aus einer fremden Sprache Wörter zu vernehmen, die uns so wohl vertraut waren, wie tapyra, der Tapir, und yakaré, der in Brasilien allgemein mit diesem Worte bezeichnete Kaiman. Ein Anderer gab uns eine schauspielerische Vorführung der Suyá; mit einem Stroh - streifen demonstrierte er die Ohrrollen und Lippenscheiben, was bei den Um - sitzenden wie immer allgemeines Entzücken hervorrief. Hier wurde uns auch zum ersten Mal, und zwar in Verbindung mit den Suyá, der uns unbekannte Stammesname » Aratá « genannt. Die Trumaí, die Suyá und die Aratá wurden als » kurápa « = » nicht gut « bezeichnet.

Am Abend wurde die Thür des Flötenhauses wie die der Hütten mit einer Matte verschlossen; schmerzerfüllt ergaben sich die Nahuquá in das Schicksal, uns nicht los zu werden. Auf dem Dorfplatz hielten wir noch ein vergnügtes Tabakkollegium ab und erfreuten und erstaunten die Gesellschaft mit einem kleinen Feuerwerk. Mehr noch wurde von den praktischen Menschen eine brennende Kerze bewundert. Unsere Spiegel wurden gerade wie von den Bakaïrí paru, von ihnen tune, Wasser, genannt.

In der Nacht brach ein schweres Gewitter los; mitleidig gedachten wir der armen Nahuquáweiber, die draussen im Walde schliefen. Schon um 5 Uhr begann man im Dorfe zu lärmen; kaum hörte man uns ein paar Worte reden, so hatten wir auch schon zahlreichen Besuch im Flötenhause. Nach der schlimmen Nacht trat der Wunsch, dass wir uns entfernen möchten, um so lebhafter hervor. Die anwesenden Bakaïrí des dritten Dorfes redeten uns eindringlich zu, dass wir nun gehen möchten. Wir packten auch die wenigen Kostbarkeiten, die wir erworben hatten, in Tragkörbe, während die Festhütte von neugierigen Zuschauern gedrängt voll war, und die guten Bakaïrí glaubten, wir rüsteten zum Aufbruch. Aber sie irrten sich. Wir baten sie nur, die Sachen, als sie selbst um 10 Uhr das Dorf verliessen, nach dem Hafen mitzunehmen, und blieben.

Bei unserm Spaziergang durch die Hütten trafen wir eine Anzahl kleiner Töpfe an, von denen uns bald gesagt wurde, dass sie von den Nahuquá, bald dass sie von den Mehinakú herrührten. Die alte Töpferin trug auf dem Oberarm drei parallele Linien, die Tätowirung der Mehinakúweiber, sie deutete mit den Händen an, dass sie damit gezeichnet worden sei, als sie noch ganz klein war. 99Ausser mehreren Frauen lebten unter den Nahuquá einige Mehinakúmänner, deren einen wir ja schon am Hafen getroffen hatten. Einer hatte sich die Wangen derart bemalt, dass er mit schwarzer Farbe zwei innen mit Tüpfeln ausgefüllte rechte Winkel angebracht hatte. Ich liess mir von ihm etliche Wörter in seiner Sprache nennen und fand, dass sie mit dem von uns 1884 am Batovy auf - gezeichneten Kustenáu gleichlautend waren. Da ich von dieser Sprache eine Wörterliste bei mir führte, konnte ich ihm sofort eine Reihe von Dingen nennen, was ihn mit höchstem Staunen erfüllte. Er hielt mir nun eine lange, laute Rede, hoffentlich freundschaftlichen Inhalts, und schien fest davon überzeugt, dass ich jedes Wort verstehe.

Ich wollte den Leuten gern klar machen, dass es mir darauf ankomme, Masken zu erhalten und versprach ihnen grosse Messer zur Belohnung. Offenbar wurden meine Geberden aber so ausgelegt, dass wir einen Tanz bestellten. Die Gesellschaft geriet in grosse Aufregung und führte uns nach einigen Vorbereitungen auf den Platz hinaus, wo wir auf den schrecklichen Sitzbalken niederhocken mussten. Zwei Personen besorgten die Musik. Der eine hockte auf dem Boden und schlug den Takt mit einer langen Kuye, ein anderer stand hinter ihm, ein aus Stroh geflochtenes hübsches Diademband um den Kopf und schwang eine Rassel. Drei Tänzer traten auf, Federdiademe über der Stirn, um die Hüften den lang herab - hängenden mehrfach ringsum gewickelten Schurz aus Buritístroh und die Arme mit grünem Laub geschmückt. Sie hatten sich Blätterzweige, die balsamischen Geruch verbreiteten, den Armen entlang angebunden, den Stiel nach oben, und die Hände im grünen Laub versteckt. Sie stellten sich nebeneinander auf und jeder stampfte in gebückter Haltung, die Arme ausstreckend und zusammenschlagend, entfernte sich von seinem Nachbar, drehte sich und kehrte immer stampfend wieder nach der Mitte zurück. Zum Takt der Kuye, der Rassel und des Stampfens brüllten sie mit heller Stimme: » ho ho ho « oder » hu hu hu «. Dann trat noch eine Frau hinzu, eine der hässlichsten Alten und wanderte den dreien gegenüber, die Hände auf die Brust gelegt, mit geknickten Knien taktgemäss vor - und rückwärts.

Eine zweite Tour des Tanzes wurde mit etwas lebhafteren Bewegungen, indem ein Jeder die Zweige rasselnd zusammenschlug, ohne Anwesenheit der Frau ausgeführt und von folgendem Gesang begleitet: » witenéru wayiwíti; wayiwítinéru witinerúwe; awirínuyána, awirínúyána; kanihayúha witinerú «.

Bald darauf wurde uns noch ein grosser Tanz im Flötenhause vorgeführt. Die beiden Musiker mit Rasseln und Kuye sassen in der Mitte und die anderen, sechzehn Mann stark, bewegten sich in einem Halbkreis ringsum, in dem die eine Hälfte sich immer von der andern entfernte und immer zu ihr zurückkehrte. Sie alle stampften beim Schreiten mit dem rechten Fuss auf und stiessen ein gellend lautes: » ho ho ho « aus, wobei ein Jeder die Rassel, die er in der Hand trug, mit einem heftigen Ruck in der Richtung nach den Musikern vorstiess. So ging das ewig hin und her. Sie trugen elende Strohdiademe, die sie sich in der Eile zusammengestellt hatten, und nur wenige hatten einen hübschen7*100anständigen Federschmuck. Alles, was von Instrumenten und Zierrat bei den Tänzern gebraucht worden war, tauschten wir gegen Messer ein.

Allein unsere Stimmung war recht trüb und verzweifelt. Wie sollten wir eine ethnologische Sammlung heimbringen, wenn die Leute sich vor unserer Ankunft im Walde versteckten! Was würde Professor Bastian in Berlin sagen, wenn wir ihm zur Veranschaulichung der Schingú-Kultur nur so elenden Kram überbringen konnten, wie er in diesem ausgeräumten Flötenhaus oder in diesen verlassenen Hütten noch mühsam aus irgend einem Winkel hervorgesucht werden musste! Die Nahuquá waren erst der zweite Stamm unserer Liste; wenn die übrigen sich ebenso benehmen würden, wie sie, so war es mit den Ergebnissen unserer Expedition traurig bestellt.

Was also thun? Wir durften nicht in zahlreicher Gesellschaft, die Furcht einflösste, bei den Stämmen antreten und mussten um jeden Preis suchen, sie mit unserer Ankunft unvorbereitet zu überraschen. Ich entschied mich deshalb, die Nahuquá heimlich zu verlassen und nicht mit unseren Leuten, sondern mit zwei Bakaïrí in der Frühe des nächsten Morgens allein zu den Mehinakú vor - auszufahren. Mein Vetter und Ehrenreich blieben bei den Nahuquá zurück, um ihr Misstrauen möglichst zu verscheuchen und die Untersuchungen zu ver - vollständigen; die Nachrückenden sollten mir wenigstens zwei Tage Vorsprung lassen. Wenn ich plötzlich als einzelner unter den Mehinakú erschien, so war doch wahrlich nicht anzunehmen, dass sich das ganze Dorf vor mir fürchtete und mit seiner Habe in den Wald flüchtete. So ging ich denn am Nachmittag zum Hafen zurück, während mein Vetter und Ehrenreich blieben.

Bei Ehrenreich meldeten sich in jenen Tagen die ersten Vorboten des Fiebers; sie machten sich um so unangenehmer fühlbar, als die Hitze ungewöhn - lich stark war. Wilhelm hat mir über den weiteren Verlauf das Folgende be - richtet. Nach meinem Weggehen wurde er auf den Platz hinausgeführt und dort coram publico gründlich darüber ausgeforscht, was aus mir geworden sei. Nach unserer Verabredung erwiderte er mit harmlosen Gesicht, ich habe Hunger gehabt und sei nach dem Hafen, Fische zu essen. Dieses Motiv leuchtete den Indianern ein und befriedigte sie; weniger angenehm war es ihnen, dass nicht auch er und Ehrenreich einen gleichen Hunger verspürten.

Schon um 5 Uhr des nächsten Morgens wurde Wilhelm durch eine lange Rede draussen geweckt, schlief aber wieder ein; um 6 Uhr erschien eine Ladung frischer Beijús. Ehrenreich photographierte, was Anfangs grossen Alarm erregte, aber über Erwarten gut verlief. Die Nahuquá, die sich des Lohnes der Perlen freuten, holten schliesslich selbst sogar Frauen aus dem Wald herbei, damit sie sich den Schmuck verdienten. Ein Alter, der am Stocke ging, überreichte Wilhelm ein Töpfchen bitteren Salzes, dessen Zubereitung wir später bei den Mehinakú kennen lernten. Der alte Herr betrachtete das abscheulich schmeckende Zeug als Delikatesse, denn er verfehlte nicht, mehrmals den Finger hineinzu - stecken und das Salz behaglich schmatzend abzulecken. Obenauf lagen ein paar Pfefferschötchen, die homi genannt wurden.

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Unter der Beute heimkehrender Fischer fanden sich zwei kleine Fische Namens irinko, piranyaähnlich: es war der Mereschu der Bakaïrí, der in der Ornamentik eine grosse Rolle spielt. Wilhelm zeichnete den Fisch ab und war überrascht zu sehen, welche grosse Anerkennung er für sein Bild bei den Indianern einerntete. Der intelligente Yaurikumá begriff nach längerem Zureden endlich auch unseren Wunsch, Masken zu erhalten, und versprach, dass wir sie bei der Rückkehr finden würden.

Allem Anschein nach nahm das Misstrauen etwas ab, in den Hütten tauchten Gegenstände auf, die vorher verborgen gehalten waren. Es fanden sich zwei grosse Töpfe, wie sie von den Mehinakú gefertigt werden, von mächtigem Umfang mit einer Bemalung von senkrecht aufsteigenden Streifen ringsum und einer aus zwei einander zugewandten Halbkreisen bestehenden Zeichnung aussen auf dem Boden. Ehrenreich nahm im Flötenhaus ohne Schwierigkeiten anthro - pologische Messungen vor.

Der Morgen des 11. Oktober war ruhiger. Es wurden ein paar Muschel - ketten gebracht, eine mit einem durchbohrten grossen Stein, für die der Besitzer zuerst durchaus Ehrenreich’s grosses Waldmesser haben wollte. Wilhelm traf den Häuptling hinter seiner Hütte mit Maispflanzen beschäftigt; er bohrte mit einem Stäbchen Löcher 2 3 Zoll tief und legte mehrere Körner hinein. Als mein Vetter hinzutrat, bestand der Alte darauf, dass er den Rest pflanze, ein Vorfall analog meinem Erlebnis im ersten Bakaïrí-Dorfe.

Bald darauf entstand plötzlich eine grosse Erregung unter der Gesellschaft. Wilhelm wurde in die Hütte des Häuptlings geführt und fand dort drei neue Ankömmlinge sitzen, die finster vor sich hin starrten, während Alles lärmend durcheinanderschwatzte und einige Weiber heulten. Er konnte aus dem Vorgang nicht klug werden und begriff nur so viel, dass es sich um eine schlimme Botschaft handle, deren Träger die drei rot angestrichenen Fremden waren. Erst in dem Flötenhause wurden ihm mit vielen Pantomimen die Neuigkeiten verständlich ge - macht. Die bösen Suyá hatten endlich den Plan, die Trumaí zu überfallen, zu dessen Beihilfe sie uns 1884 zu bereden suchten, mit Glück ausgeführt. Suyá Trumaí tok tok so wurde mit lebhaftem Geberdenausdruck veranschaulicht, dass die Suyá die Trumaí niedergeschlagen und vergewaltigt hätten. Es schien, dass jene einen Teil der Trumaíkanus mit Haken herangezogen und umgeworfen hatten; Pfeile wurden auf die Schwimmenden geschossen, anderen wurden die Arme auf dem Rücken zusammengebunden.

Die Leute, welche die Nachricht überbracht hatten, waren die den Trumaí zunächst wohnenden Nahuquá, die Guikurú heissen.

Am Vormittag des 11. Oktober kehrten Wilhelm und Ehrenreich, dessen Unwohlsein zunahm, an den Hafen zurück und ruderten am 12. Morgens ab, um mich einzuholen. Zwei der Mehinakú, die unter den Nahuquá wohnten und mein Verschwinden richtig gedeutet hatten, waren mir schon am Tage vorher nach - gefahren, kamen aber glücklicherweise einen Tag später an als ich selbst.

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III. Zu den Mehinakú.

Allein voraus. Ankunft und Empfang. Festhütte. Gestörte Eintracht und Versöhnung. Wohlhabenheit. Fliegende Ameisen. Ethnographische Sammlung.

Es hatte einige Kraft der Ueberredung gekostet, Tumayaua und seinen Genossen, den » Droschkenkutscher «, der glücklicher Weise, wenn er ihre Sprache auch nicht kannte, schon einmal bei den Mehinakú gewesen war, zur Ausführung meines Planes zu bewegen, doch stärkte sich Einer an dem Beispiel des Andern.

Wir fuhren am 10. Oktober früh ab und erreichten den Hafen der Mehinakú den 12. October um 11 Uhr Vormittags. Wir hatten uns nicht sonderlich beeilt; die beiden ruderten am liebsten nur dann, wenn ich das gute Beispiel gab. Am schrecklichsten war mir, dass sie alle Windungen des Flusses ausfuhren und niemals eine derselben durch Hinüberkreuzen abschnitten. Kein Fisch, kein Vogel, der nicht ihre Aufmerksamkeit beschäftigte. Sie schossen, ohne zu treffen, nach

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Abb. 4.

Mehinakúfrau.

mehreren Hühnervögeln; ein Kapivaraschwein das durch den Fluss schwamm, wurde am Hinterbein ver - wundet und lief schreiend mit dem Pfeil in den Wald. An einer fischreichen Bucht schliefen wir die Nacht und machten gute Beute. Die Beiden brieten Fische die ganze Nacht hindurch, indem sie das Feuer unter dem hölzernen Rost sorgfältig unterhielten; ihre Hängematte hatten sie so nahe aufgespannt, dass sie bequem heraus - langen, die Fische wenden, gelegentlich ein Stück verzehren und von der Wärme des Feuers Nutzen ziehen konnten.

Am zweiten Morgen sagten sie mir, dass das Ufer links den Mehinakú, rechts den Nahuquá gehöre. Der Hafen lag an einem steilen Sandufer, wo ein kleiner Bach einmündete. An den Bäumen waren Rautenmuster eingeritzt. Die Bakaïrí schoben das Kanu hoch in den Bach hinauf und versteckten ihre Ruder und Tragkörbe, in denen noch Fisch - und Beijúreste enthalten waren, sorgfältig im Wald. Tumayaua bereitete ein Gastgeschenk für die Mehinakú vor und hing sich zu diesem Zweck eine rosenkranzähnliche Schnur um, an der Früchte öligen Inhalts aufgereiht waren. Das Oel wurde auf die mit dem medizinischen Wundkratzer der Indianer eingeritzte Haut gerieben.

Wir schritten Stunde einen langweiligen und bei der dumpfen Hitze nicht unbeschwerlichen Weg durch den Wald. Etwa einen Kilometer vor dem Dorf, wo sich das Gehölz lichtete, war unter einem Baum eine grosse Kreisfigur in den Sand gezogen (vergl. die Abbildung unter » Sandzeichnungen «). An dem der Ort - schaft zugewandten Teil des Randes war innen eine schwer zu deutende Figur eingezeichnet. Tumayaua nannte das Ding atulua und beschrieb mir, dass man103 dort mit ā ā ...... einen Rundgang mache. In der That waren viele ringsum laufende Fussspuren erhalten.

Schon bevor wir hier ankamen, luden die Bakaïrí, die den grösseren Teil des Weges mir vorausgeschritten waren, stehen bleibend mich höflichst ein, den Vortritt zu nehmen. Sie liessen deutlich merken, dass es ihnen nicht mehr ganz geheuer war. Aber erst dicht vor dem Dorf begegnete uns ein Mehinakú, der schleunigst Kehrt machte, nachdem wir ihm noch eben ein » kúra, kúra! « zuge - rufen hatten. Gleich darauf betraten wir einen gewaltigen freien Platz, der von 14 Häusern im weiten Kreise umgeben war.

Ein höchst sonderbares Bild! Von allen Seiten stürzte man aus den Häusern hervor, Alt und Jung rannte mit lebhaften Rufen und Geberden umher, teils auf mich zu, teils zurückweichend. Bald wurde ich an den Händen gefasst und so, freundschaftlich festgehalten, durch die bis über hundert Personen angewachsene Schaar nach dem Flötenhaus geleitet, wo ich auf einen schöngeschnitzten Vogel - schemel niedersitzen musste. Man betrachtete mich mit dem Ausdruck der scheuen und angstvollen Neugier; die Frauen vielfach geschwärzt und teil - weise mit Russ über und über bedeckt, verbargen sich hinter dem Ring der Männer, die bei der leisesten unerwarteten Bewegung meinerseits zurückprallten. Viele Kuyen mit Stärkekleister wurden kredenzt, und ich musste aus jeder trinken. Beijús von vorzüglicher Qualität, weich, mit weisslichem Mehl, wie ein Tuch zusammengeschlagen, erschienen in Massen; auf grünen Blättern wurde auch Salz überreicht.

Ich war froh, als ich endlich in die Festhütte kriechen durfte, deren Eingang hier nicht kniehoch war. Sie war gefüllt mit bunten Holzmasken verschiedener Bemalung, aber gleicher Gestalt; bei einigen war auch das lange Buritígehänge, das vorne wie ein mächtiger Bart herabfällt, rot gefärbt.

Ich eröffnete sofort das Tauschgeschäft und erhielt für Messer und Perlen einige Masken und Töpfchen. Sie wollten absolut Messer und wieder Messer haben, sie zeigten dabei ein recht ungeduldiges Gebahren. » Nur heraus mit Deinen Sachen «, schien ein Jeder zu sagen, » siehst Du denn nicht, dass ich warte? « Das Wesen eines reellen Geschäftes, bei dem, wer etwas nimmt, auch etwas her - giebt, war ihnen entschieden unklar. Tumayaua, der sich in seiner Rolle als Impresario des interessanten Gastes überaus stolz und glücklich fühlte, setzte ihnen in längerer Rede die Elementarbegriffe des europäischen Handelsverkehrs aus - einander. Seine Geschicklichkeit, mit nicht viel mehr als drei oder vier Phrasen seiner eigenen Sprache in dem Brustton der Ueberzeugung jene Auseinander - setzung und später eine Erzählung unserer Erlebnisse zum Verständnis seiner Zuhörerschaft zu bringen, war in hohem Masse bemerkenswert.

Später hatte ich eine lange Sitzung draussen unter Beteiligung zahlreicher alter Weiber; wenn der Häuptling ein Karaibenwort von mir hörte, machte er es wie ich, der ich seine Wörter in mein Buch eintrug, und kritzelte eifrig in den Sand.

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Die beiden Bakaïrí richteten sich mit mir häuslich in der Festhütte ein. Wir blieben dort unbelästigt zur Nacht, nachdem ich noch einen inspizierenden Gang durch etliche Wohnungen gemacht hatte.

Das Flötenhaus war 13 Schritte breit, 22 Schritte lang und 5 m hoch. Es hatte zwei Thüröffnungen nebeneinander, beide äusserst niedrig und jede vier Schritt lang; draussen lag ein langer Buritístamm. Drei mächtige Pfosten stützten das Dachgebälk; ihnen entlang war ein leiterartiges Gestell horizontal befestigt, an dessen senkrecht stehenden, angebundenen Sprossen zwanzig Masken, einige Stroh - behänge und ein 60 cm langes, schwarz und rot bemaltes Schwirrholz von der Form einer Schwertklinge herabhingen.

Auf dem Boden vor dem Mittelpföstchen, das die beiden Thüröffnungen trennte, und ebenso rechts von dem Eingang, befanden sich zwei aus der Erde aufgewölbte Hautreließ, Leguane darstellend, 1 m lang, 8 cm hoch. Diese zier - lichsten aller Mounds waren im allgemeinen sehr gut modelliert, nur der Kopf von ziemlich roher Ausführung. Gegenüber dem Eingang war auf dem Dorfplatz vor kurzem Einer begraben worden; dort lag ein Reisighaufen, in dem es von dicken Käfern und Fliegen wimmelte. Man sah auch in der Erde Oeffnungen von Kanälen, aus denen die Tierchen von ihrem Gastmahl zurückkehrten.

Am nächsten Morgen wurde der Friede leider dadurch gestört, dass man mir, als ich in den Hütten abwesend war, im Flötenhaus meine Gürteltasche ent - leerte. Ich vermisste, was mir sehr schmerzlich war, den Kompass, ferner eine chirurgische Scheere, ein kleines Jagdhörnchen, eine Schachtel mit Pfeffermünz - plätzchen und dergleichen mehr. Zugleich war die Gesellschaft so habgierig und bedrängte mich so gewaltsam, dass ich einsah, ich müsse ein Exempel statuieren und dürfe mir den Diebstahl nicht gefallen lassen, wenn ich das in meiner Lage unentbehrliche Ansehen behaupten wolle. Ich beklagte mich also, nannte sie schlecht, » kurápa «, und verlangte meine Sachen zurück. Unter lebhaften Be - teuerungen ihrer Unschuld entfernten sie sich; vielleicht sei ein Kamayurá, der eben angekommen wäre, der Thäter.

Zwei Stunden vergingen. Alle fünf oder zehn Minuten kam einer herein - gekrochen, wurde aber von mir sofort zur Thüre geleitet und bedeutet, zu suchen; er stellte sich dann draussen hin und hielt in einem Tone, als könne er kaum das Weinen unterdrücken, eine laute Ansprache über den Platz, die von den Hütten aus, am erregtesten von Seiten der Weiber, mit vielem Geschrei beantwortet wurde. Eine Schale Mandioka-Getränk wies ich finster zurück. Ganz allmählich und in langen Zwischenpausen erschienen die fehlenden Gegenstände.

Einer brachte die Scheere, ein anderer das Jagdhörnchen und fünf oder sechs ebenfalls in grossen Pausen je ein Pfeffermünzplätzchen, was ich alles auf den Boden legen liess und nicht eher anzunehmen erklärte, als bis auch nicht ein Stück mehr ausstehe.

Leider erschien das Wichtigste nicht, der Kompass. Nun ging ich gerade hinüber nach der Hütte des dicken alten Häuptlings und klagte dort; er ent -

TAFEL VIII.

DEMONSTRATION EINER VOGELPFEIFE BEI DEN MEHINAKÚ.

105 schuldigte sich, dass er abwesend gewesen sei und von dem Geschehenen nichts wisse. Da nahm ich ihn bei der Hand und brachte ihn, während er sehr ungern hinterdrein wackelte, zum Flötenhause. Hier beschrieb ich ihm den Vorgang an Ort und Stelle, drohte: mehinakú kúra, karáiba kúra; mehinakú kurápa, karáiba kurápa = wenn der Mehinakú gut ist, ist auch der Karaibe gut, wenn der Mehinakú schlecht ist, ist auch der Karaibe schlecht, und feuerte zu seinem Schrecken einen Revolverschuss in den Mittelpfosten. Sofort erhob sich draussen ein lautes Heulen und verwirrtes Durcheinanderrennen. Der Alte verschwand, indem er zitternd versicherte, suchen zu wollen. Tumayaua spähte durch die Gucklöcher im Strohdach und beobachtete mit grossem Genuss die Szenen draussen, lief dann kichernd zum Pfosten und untersuchte den Schusskanal.

Den Rest des Tages hielt man sich von mir fern, nur zwei Kamayurá, Besucher des Dorfes, setzten sich zu mir vor die Festhütte und liessen sich examinieren. Demonstrativ beschenkte ich sie reichlich und erhielt von ihnen auch das Versprechen, dass wir bei ihrem Stamm gut aufgenommen werden würden. Nach ihrer Beschreibung war nicht der Alte, den ich zur Rede gestellt hatte, sondern der zweite Häuptling der Mehinakú, der mir wegen seines unzu - friedenen Gesichtes von Anfang an aufgefallen war, in höchsteigener Person der Dieb meiner Sachen.

Am nächsten Morgen brach schon um 4 Uhr ein Heidenlärm los. In der Nacht war es still gewesen, nur ab und zu hörte man draussen husten, ein Be - weis, dass die Mehinakú wachsam waren; gegen Morgen hatten wir ein sehr heftiges Gewitter, vor der Thür bildete sich ein Wassertümpel und machte den Eingang fast unpassierbar. Das Gewitter hatte ich herbeigerufen. Draussen wurden viele Reden gehalten. Entweder stand einer allein auf dem Platz und sprach mit lauter Stimme, oder, und das war das Gewöhnliche, die Redner hatten sich vor der Thür ihres Hauses aufgestellt. Mehr und mehr leuchtete mir der Humor der ganzen Geschichte ein. Wie die Helden dort vor der Thüre ihres Hauses standen und feierlich sprachen, war es eine klassische und urepische Situation. Ich liess mich zum Frieden bewegen und nahm zu Aller Freude ein Beijú an, der mir frisch duftend von der Schüssel gebracht wurde und auch vor - trefflich schmeckte. So hatte die Episode ihr Ende; dass alles gut ablief, war um so angenehmer, als sich später zu meinem Entsetzen herausstellte, dass grade der Kompass aus dem einfachen Grunde mir nicht gestohlen worden sein konnte, weil ich ihn gar nicht bei mir gehabt hatte. Auf unseren Verkehr hat das Inter - mezzo aber insofern einen sehr günstigen Einfluss ausgeübt, als die guten Mehinakú von jetzt ab höflicher wurden und mir nicht mehr mit ungeduldigem Drängen zusetzten.

Die Versöhnung war dadurch erleichtert worden, dass einer der bei den Nahuquá getroffenen Mehinakú, der mich nur von der guten Seite kannte, inzwischen angekommen war. Am Nachmittag erschienen auch Wilhelm und Vogel, während Ehrenreich krank im Hafen zurückblieb und das Dorf erst bei106 der Rückfahrt besuchte. Den Beiden wurde ein kleiner Empfang bereitet, sie mussten sich auf die prachtvollen Tierschemel setzen, die wir bei keinem andern Stamm so schön gearbeitet sahen, und erhielten ihre Willkommbeijús. Die Nachricht von der Schlacht zwischen den Trumaí und Suyá wurde unter eifriger Pantomime besprochen. Es stellte sich heraus, dass es noch zwei andere Mehinakú-Dörfer gäbe, beide eine Tagereise oder weniger entfernt. Das im SW. gelegene schien freilich sehr klein zu sein und wurde sogar als ein einziges Haus beschrieben, das andere im Norden sollte aus fünf Häusern bestehen.

Unser Dorf setzte sich, ausschliesslich des Flötenhauses, aus vierzehn Häusern zusammen; es waren ausserdem zwei Neubauten vorhanden, von denen der eine nahezu fertiggestellt und schon bewohnt war. Das Ganze machte den Eindruck grosser Wohlhabenheit. Jedenfalls, wenn der indianische Massstab angelegt wird, dass der Besitz an Mandioka den eigentlichen Reichtum be - deutet, so waren die Mehinakú der reichste Stamm des Kulisehu. Sie schienen einen sehr geordneten Feldbau zu treiben. Bei ihnen erhielten wir zuerst wieder Bataten. Als wir einige Mangaven mit Perlen bezahlten, wurden uns ganze Körbe herbeigeschleppt, bis wir unseres vorzüglichen Appetits ungeachtet den Spendern ein Halt gebieten mussten. Am Abend des 13. Oktober trug sich das freudige Ereignis zu, dass eine Wolke fliegender Ameisen über dem Dorfe niederfiel. Es wurden Strohfeuer vor den Hütten angezündet und eilfertig sammelte Alt und Jung in Kuyen und Töpfen die fast zollgrossen Tierchen, die sich in dem flackernden Feuer die langen zarten Flügel versengten. Alles jubelte und liess sich die Ameisen mit Beijú und Salzerde schmecken. In mehreren Häusern fanden wir die Leute mit der Zubereitung des Salzes beschäftigt. Sie verbrennen Takoara und Aguapé, die Blattpflanze stiller Gewässer, laugen die Asche aus und erhalten aus dem Filtrat einen salzigen Rückstand. Vielfach wird auch rötliche, wie eine Salzasche aussehende Erde unmittelbar verwendet.

Wir konnten eine hübsche ethnologische Sammlung zusammenstellen. In allen Geräthen bekundete sich derselbe primitive, aber höchst lebendige Kunst - sinn, der sich immer Tiergestalten und zwar häufig in recht sinniger Weise zum Vorwurf nahm. Die Weiber der Mehinakú, die mit schön geschnitzten Geräten ihre Kuchen wenden, sind auch diejenigen, die es in der Herstellung künstlerischer Topfformen am weitesten gebracht haben. Von den Masken in dem Flötenhause wurden uns alle, die wir auswählten, ohne Anstand überlassen. Auch mit dem Schwirrholz verband sich kein Begriff, der eine Auslieferung an uns hätte be - denklich erscheinen lassen.

Der Abschied von den Mehinakú am Nachmittag des 14. Oktober war sehr herzlich; sie beschenkten uns noch einmal mit Beijús, Mangaven und Bataten, und vier Männer packten sich die Ladung auf, um sie für uns zum Hafen zu tragen. Unsere Sammlung, die wir nicht zum Besuch der flussabwärts wohnenden Stämme mitschleppen wollten, übergaben wir vertrauensvoll dem alten Herrn, den ich so erschreckt hatte, zur Aufbewahrung. Er war unser wohlgesinnter Freund107 geworden, nachdem ich ihm eine Reihe unserer dicksten Perlen und ein paar kleine Schellen feierlich um den Hals gehängt hatte.

Auf dem Heimwege durch den schwülen, mit einer wahren Treibhaus - temperatur erfüllten Wald begegneten wir drei Nahuquá, zwei Männern und einem Weibe; sie waren schwer mit schönen grossen Kuyen beladen. Auch im Hafen trafen wir zwei Nahuquá und die Guikurú, welche die Botschaft von der Trumaíschlacht überbracht hatten. Sie hatten über den Fluss gesetzt und waren ein Beweis, dass ein gangbarer Weg vorhanden ist über Land gekommen.

IV. Zu den Auetö́.

Fahrt. Empfang am Hafen und im Dorf. Wurfhölzer. Masken. Künstlerhütte. Verkehrszentrum. Die Waurá. Ringkampf.

Am 15. Oktober fuhren wir um Uhr früh von dem Mehinakúhafen ab; der Fluss zog sich in fürchterlichen Windungen dahin, und wir hatten den ganzen Tag über, man möchte sagen, im Kreis zu rudern. Es war zudem trübseliges regnerisches Wetter. Wir blieben die Nacht in dem Hafen des nördlichen Mehinakúdorfes, den wir um Uhr Nachmittags erreichten. Dort erwarteten uns einige Bürger, um uns freundlich zu einem Besuch einzuladen. Wir fürchteten aber den Zeitverlust und verzichteten auf den Abstecher.

Am 16. Oktober wurden wir, nachdem wir um 7 Uhr aufgebrochen waren, zur Mittagsstunde von dem linken Ufer angerufen. » katú, Auetö́, katú katú «! er - schallte in gutem Tupí. » Die Auetö́ sind gut «!

Eine kleine Anzahl meist über und über mit Russ bedeckter Indianer er - wartete uns an ihrem Hafen: die Kunde von unserem Erscheinen und den Er - eignissen bei den Mehinakú war bereits zu ihnen gedrungen; jedenfalls hatten uns die Kamayurá, die ich bei den Mehinakú mit Geschenken bedacht hatte, an - gemeldet und Gutes von uns berichtet. Wir landeten und versprachen den Nachmittag im Dorf zu erscheinen, nachdem die übrigen Kanus eingetroffen waren. Fast gleichzeitig kam auch eine andere Gesellschaft Auetö́ unter der sich einige Weiber befanden, vom Fischfang zurückkehrend, vorüber; sie trugen Reusen bei sich und hatten kleine Trahira-Fische erbeutet.

Ehrenreich war äusserst unwohl und verschob seinen Besuch wie Vogel und Perrot bis zum nächsten Tage: Wilhelm und ich machten uns um Uhr Nachmittags auf. Wir durchschritten ein Stückchen Wald, passierten eine jüngst abgebrannte Rodung, wanderten lange durch Capoeira, assen fleissig Mangaven, die zahlreich am Wege wuchsen und erreichten in Stunden das Dorf.

Unser Empfang war etwas von dem gewöhnlichen abweichend. Vor der Festhütte mussten wir ein Weilchen warten, während eine grosse Menge von Personen sich ansammelte; Schemel wurden geholt und wir verharrten alle in108 feierlichem Schweigen. Neben uns lag durch einen Zaun von niedrigen Pfosten, die man mit Flechtwerk verbunden hatte, im Geviert abgesteckt, eine Grabstätte (vgl. Tafel 15); Einzelne sassen gemütlich auf den Pfosten. Nun trat der Häuptling Auayato aus einer dem Flötenhause gegenüberliegenden Hütte hervor, Pfeil und Bogen in den Händen, den Hals mit einer Kette von Jaguarkrallen und den Kopf mit einem Diadem aus Jaguarfell geschmückt. Ziemlich fern von uns, in der Mitte des Platzes, setzte er sich auf den Boden und hielt mit lauter Stimme eine lange Festrede. Wir antworteten eifrig: katú, kúra u. s. w., u. s. w. Dann stand er

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Abb. 5.

Auetö́-Häuptling Auayato.

auf, kam herbei, setzte sich dicht vor mich hin und hielt dieselbe Rede noch einmal. Auch wir sagten alles, was uns einfiel; ich überreichte ihm ein schönes Messer, und wir alle waren ein Herz und eine Seele. Sie machten sich nicht wenig über die Mehinakú lustig, deren Weiber davongelaufen seien, und schienen eine besondere Genugthuung darin zu finden, dass ihre Nachbarn ungeschickt ge - wesen und von mir zurecht gewiesen seien. Auch sie drückten den lebhaften Wunsch aus, Perlen zu bekommen, benahmen sich dabei aber höfllich und anständig.

Die Auetö́ standen noch unter dem tiefen Eindruck des Kampfes zwischen den Suyá und Trumaí. Es wurde uns dies später noch verständlicher, als wir109 erfuhren, dass die Trumaí bei den Auetö́ Schutz gesucht hatten. Das Thema wurde am Abend ausgiebig erörtert, nachdem wir unsere Gastfreunde mit einem Sprühfeuerwerk auf dem Dorfplatz unterhalten hatten. Der Häuptling liess sofort eine seiner pathetischen Ansprachen vom Stapel und rief laut, dass die Suyá schlecht seien, dass auch die uns unbekannten Aratá schlecht seien, dass die Suyá erst die Manitsauá und dann die Trumaí vergewaltigt, viele Männer getötet und viele Weiber weggeschleppt hätten. Wir sollten uns mit den Trumaí verbinden und die Suyá züchtigen. Und 1884 war uns das umgekehrte Angebot von den Suyá gemacht worden, die damals unsere Freunde waren und gleich uns über die Trumaí zu klagen hatten.

Als wir die Hütten betraten, war eins der ersten Dinge, das uns in die Augen fiel und unser Interesse im höchsten Grade fesselte, das überall vorhandene Wurfholz. Auf der ersten Reise hatten wir ein einziges Exemplar dieser merkwürdigen Waffe von den Suyá bekommen und gehört, dass es den Kamayurá entstamme. Hier keine Hütte, in der die Wurfbretter fehlten.

Offenbar diente die Waffe vorwiegend zum Tanz. Doch wurde uns angegeben, dass die Auetö́ und Trumaí sie im Kriegsfall gebrauchten. Ver - wendung für die Jagd scheint ausgeschlossen. Der Häuptling führte uns den Gebrauch des Wurfholzes mit grotesken Geberden vor, und begleitete seine Mimik mit einem Gesang, auf den ich später noch zurückkommen werde, wenn ich die nähere Be - schreibung gebe.

Statt der Holzmasken trafen wir zum ersten Male Masken aus Baumwollgeflecht, die mit Wachs überzogen waren und als Augen Wollpfröpfchen oder Wachsklümpchen und dickere Wachsklümpchen als Nase hatten. Auch den Maskentanz zeigte uns der allzeit gefällige Häuptling, indem er dabei Bogen und Pfeil zur Hand nahm. Das Maskengesicht kam

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Abb. 6.

Geflechtmaske, Wurfhölzer und Wurfpfeile der Auetö́.

auf den vorderen Teil des Schädels zu liegen; er schaute unter ihm hinaus durch das Buritígeflecht. Der begleitende Gesangtext bezog sich auf die Frauen.

Auch die Auetö́ zeigten eine lebhafte Neigung zu einer alle Geräte aus - schmückenden Bemalung mit Ornamenten. Wir nannten sogar ein Haus, wo sie in diesem Sinne besonders thätig waren, mit allem Recht die Künstlerhütte. 110Dort befanden sich an den Wandpfosten mehrfach Tierfiguren eingeschnitzt und schwarz bemalt; an den Querbalken entdeckten wir eine ganze Reihe von geome - trischen Figuren. Die Künstler hatten grosse Freude darüber, dass wir uns für ihre Werke interessierten, wurden nicht müde, uns zu jedem Winkel zu führen, wo vielleicht noch eine Zeichnung vorhanden war und bekundeten viele Genug - thuung, dass Wilhelm sie in sein Skizzenbuch abkonterfeite.

Im Auetö́dorf herrschte reger Fremdenverkehr. Wir trafen dort Waurá, Yaulapiti, Kamayurá, Mehinakú, einen Bakaïrí vom vierten Dorf des Batovy und bei unserem späteren Aufenthalt auch noch Vertreter fast aller Haupt - stämme. Auch trieben sich dort Trumaí umher, die wir aber nicht zu Gesicht bekamen, da sie sich in Erinnerung an unsere Begegnung von anno 1884 ängstlich vor uns verbargen. Unmittelbar bei dem Auetö́dorfe beginnt das Netz von Kanälen und Lagunen, das sich bis zu der Vereinigung der Hauptquellflüsse erstreckt und die dort wohnenden Stämme verbindet. Die Auetö́ haben also ausser dem Fluss - hafen an dem Kulisehu, wo wir an Land gestiegen waren, beim Dorfe selbst noch einen Hafen, der dem Kanalnetz angehört. So stehen sie auf dem Wasser - wege in Verkehr mit den Yaulapiti und den Trumaí. Mit Einschaltung kleiner Land - strecken konnte man auf den Kanälen und Lagunen auch zu den Mehinakú, den Kamayurá und den Waurá gelangen. Vom Auetö́dorf sind denn auch unsere Exkursionen zu den Yaulapiti und Kamayurá sowie zu den Trumaí gemacht worden. Leider haben wir uns bei der gedrängten Zeit versagen müssen, die am weitesten entfernten Waurá zu besuchen.

Die Waurá müssen in dem Winkel zwischen Batovy und Kulisehu sitzen, aber jenem bedeutend näher. Die Kustenaú hatten uns 1884 ihren Namen ein - dringlich genannt, doch waren wir uns unklar geblieben, ob er wirklich einen Volks - stamm bezeichne, und lernten erst jetzt am Kulisehu, dass einige von uns im untersten Teil des Batovy bemerkte Fischfallen den Waurá gehörten. Bei den Auetö́ haben wir mehrere Individuen des Stammes gesehen, und sie gemessen, sowie sprachlich aufgenommen; sie sind den Mehinakú und Kustenaú auf das allernächste verwandt. Ein Waurá versprach uns, während wir zu den Kamayurá gingen, Töpfe und Masken zu besorgen, die wir bei der Rückkehr in das Auetö́ - dorf vorfinden sollten. Er that uns aber den Schmerz an und blieb aus.

Die drei Waurá im Auetö́dorf waren schmucke, stramme Burschen; sie führten am zweiten Tage unseres Aufenthalts mit den Auetö́ eine Art Ringkampf auf, der jedenfalls nicht zu unseren Ehren stattfand, sondern rein zufällig in die Zeit unserer Anwesenheit fiel. Auch ein Yaulapiti beteiligte sich an demselben. Die Kämpfer, immer Mitglieder verschiedener Stämme, traten paarweise vor, den Körper teils mit gelbrotem Urukú, teils mit schwarzer Farbe eingeölt. Sie hockten nieder, griffen eine Handvoll Sand auf, und die Arme herabhängend, be - wegten sie sich in tiefer Hockstellung unter grosser Geschwindigkeit mehrmals in engem Kreise umeinander, massen sich mit bitterbösen Blicken und stiessen drohende » húuhá! húuhá! « gegeneinander aus. Dann schnellte der Eine seine rechte Hand111 gegen die linke des Andern vor, beide sprangen in dieser Haltung immer hockend blitzschnell und erbosten Affen nicht unähnlich auf demselben Fleck unermüdlich herum und suchten sich am Kopf zu ergreifen und herabzuducken. Das ging eine lange Weile hin, ohne dass ein Wort gesprochen wurde. Plötzlich sprangen sie auf und holten scharf zupackend nach ihren Köpfen aus. Es gelang aber Keinem trotz eifrigem Bemühen, den Andern zu treffen und niederzureissen. Zum Schluss wurden sie sehr vergnügt und umfassten sich freundschaftlich die Schultern. Ein eigentliches Ringen kam nicht zu Stande; Hauptsache schien die Gewandtheit zu sein, mit der man es vermied, von dem Gegner plötzlich am Kopf gefasst und niedergerissen zu werden. Das Publikum verhielt sich bis auf einige lachende Kritiker regungslos. Nur weckte es allgemeine Heiterkeit, als Einer, der offenbar als Sieger galt, dem Andern das Bein unter dem Knie emporhob.

V. Zu den Yaulapiti.

Die Arauití im Auetö́dorf. Fahrt durch Kanäle und über die Uyá-Lagune. Ein armes Dorf. Der Zauberer Moritona. Empfang des blinden Häuptlings. Zurück zu den Auetö́ und wieder zu den Yaulapiti. Zweites Yaulapitidorf.

Wir trafen einzelne Yaulapiti bei den Mehinakú und Auetö́. Sie gehören nach Sprachverwandtschaft zu den Nu-Aruak, stellen aber eine von den Mehinakú, Kustenaú und Waurá bereits dialektisch ziemlich stark verschiedene Form dar.

In der Nähe des Auetö́dorfes, ein paar hundert Schritt entfernt, standen zwei Häuser, wo Auetö́männer und Yaulapitifrauen wohnten. Die Familien standen, ich weiss nicht, aus welchen Ursachen, in wenig freundschaftlichem Ver - hältnis zu dem Auetö́dorf und rechneten sich entschieden mehr zu den Yaulapiti. Sie führten den besonderen Namen der Arauití; trotzdem dass es sich nur zu unserer Zeit wenigstens um zwei Familien handelte, diente die Bezeichnung Arauití schon vollständig als Stammesname. Der Suyáhäuptling, der uns 1884 die Flusskarte des Quellgebiets in den Sand zeichnete, erwähnte die Arauití unmittelbar neben den Auetö́.

Am 18. Oktober fuhr ich mit Antonio und Tumayaua unter Führung eines Yaulapiti am Nachmittag von dem Auetö́hafen ab, um die Yaulapiti aufzunehmen. Der Kanal hatte nicht mehr als 4 5 m Breite; ringsumher umgab uns das Bild der Sumpflandschaft. Zahlreiche Seitenkanäle mündeten ein, besonders als sich unser Arm gelegentlich zu 12 bis 15 m Breite erweiterte. Es war schwer zu begreifen, wie man sich in diesem Gewirr zurechtfinden konnte. Zahlreiche Seiten - kanäle erschienen mit Gras gefüllt und von einer schmutzigen Vegetationsdecke überzogen. Soweit das Auge reichte, blickte es in ein Heer von Buritípalmen, von den hochstämmigen, ausgewachsenen, mit schöner Fächerkrone, bis zu den jüngsten herab, die dem überall wachsenden Schilfgras sehr ähnlich sahen. Nach einer Stunde passierten wir einen kleinen elenden Rancho, der zwischen einigen112 Baumwurzeln aufsass. Dies war die Zufluchtsstätte der Weiber, wenn sie aus Angst vor dem Besuch der Fremden weglaufen. Hier allerdings hätten wir sie, wenn wir selbst gewollt hätten, niemals finden können.

Der Kanal war stellenweise so schmal und so versperrt, dass wir uns nur mühsam hindurchschoben. Auf den Seitenkanälen, bedeutete mich der Yaulapiti, konnte man links zu den Mehinakú und rechts zu den Trumaí gelangen.

Es passte schlecht in das Bild der Sumpflandschaft, so angenehm ich den Mangel auch empfand, dass uns gar keine Moskitos und Schnaken belästigten. Unser Führer schaute eifrig nach Fischen aus und suchte sie mit dem Pfeil, der eine lange Knochenspitze trug, aufzuspiessen, wobei er eintauchend häufig die Strahlenbrechung im Wasser mass: er spiesste jedoch nur eine kleine Trahira. Gern stiess er das Kanu mit dem Bogen weiter.

Nach fünfviertel Stunde Fahrt waren wir am Ende des Auetö́-Kanals. Dort liessen wir das Kanu liegen und traten auf festes Land. Die Auetö́ hatten hier eine Pflanzung und bearbeiteten dieselbe offenbar, indem sie tagelang draussen blieben. Wir fanden etwa ein Dutzend Schutzhütten, mehrere Feuerstellen und eine Anzahl grosser und kleiner Töpfe. Wir gingen dann eine Stunde durch offene idyllische Buschgegend auf einem etwas schlangenförmig gewundenen Pfad über Land und erreichten wieder einen sehr schmalen sumpfigen Kanal. Hier mussten wir, im Sumpfe sitzend, längere Zeit warten, während unser Yaulapiti den Kanal ein Stück entlang gegangen war und den lauthallenden Ruf nach einem Kanu ertönen liess. Endlich kam eins herbei, erschien in unserem Kanal und brachte uns nach wenigen Augenblicken in eine schöne Lagune, deren reines Wasser den Augen wohlthat. Das Ufer war ringsum mit Buritípalmen bestanden; wir durchkreuzten den See und erreichten in einer halben Stunde das Yaulapitidorf.

Ein kurzer Weg führte zu den Häusern hinauf; es waren ihrer sechs und mehrere stark verfallen. Kein Flötenhaus war vorhanden, man brachte uns in eine leere Hütte und holte für Antonio und mich je einen Schemel herbei. Ein merkwürdiger Empfang. Nach langer Zeit erst humpelte am Stock der Häuptling herbei und blieb eine Weile, hinter mir rauchend, sitzen. Allmählich kam er aber näher, rückte mir gegenüber und begann die Unterhaltung. Er: ich bin ein Yaulapiti. Ich: ich bin ein Karaibe. Er: ich bin gut, Yaulapiti sind gut. Ich: ich bin gut, die Karaiben sind gut. Er: ich bin ein Yatoma (Zauber - arzt). Ich: ich bin ein Yatoma. Dann liess er eine Schale stickig schmeckenden, ungeniessbaren Mandiokagetränkes bringen, erhielt sein Messer und gab mir eine Zigarre.

Es ist erstaunlich, welche Unterschiede es sogar bei diesen Naturvölkern zwischen Arm und Reich giebt. Die Leute haben nichts vor mir geflüchtet, man erkennt sofort, dass sie eben nichts mehr besitzen als das Notdürftigste, dass hier nicht ausgeräumt ist wie bei den Nahuquá, sondern wirklicher Mangel herrscht. Ich kann mich nicht dazu entschliessen, den einzigen vorhandenen Beijú anzunehmen, und gebe gern Perlen, auch ohne dies trostlose Exemplar zu113 bekommen. Das wenige Mandiokamehl, das ich bemerke, ist durch und durch rot verschimmelt. Sie rösten Bakayuva-Nüsse, und ich entdecke nur einen einzigen abgeknabberten Maiskolben. Auf hölzernen Gestellen werden vor den Hütten Fische gebraten, selbst dies nur kleine elende Tiere: es ist ein unheimlicher Ge - danke, dass davon mehrere Personen satt werden sollen.

Später am Abend kam ein Mann, Namens Moritona, der mit seiner kräftigen Stimme und seinem frischen Auftreten wieder etwas Leben in die Gesell - schaft brachte; er hatte einen schwarzen Streifen mitten durch das Gesicht gemalt. Mit Stolz nannte er sofort seinen Namen, er sei ein grosser Zauberarzt, yatóma Moritona Mehinakú , erklärte er, Moritona Kamayurá, Moritona Auetö́, Moritona Trumaí bei allen Stämmen war Moritona als Arzt willkommen und, wo Einer krank war, blies er das Leiden weg. Er malte das mit einer Kraft der Ueber - zeugung aus, dass man die Krankheiten vor seinem Hauch wie Nebel ver - schwinden sah. Wir hatten uns eine Tafel Erbsensuppe gekocht: mit dem Rest rieb sich der edle Moritona die Brust ein und fragte mich treuherzig, ob das gut thue. Zu unserem Abendessen hatten uns die Yaulapiti nur Wasser liefern und einen Topf und zwei Kuyen leihen können. Und trotz ihrer Armut lag ihnen viel mehr an Perlen als an Messern.

Am anderen Morgen wurde ich aus der Hütte herausgerufen, es sei wieder ein Häuptling da, den ich begrüssen müsse. Auch hatte die Anzahl der Leute zugenommen. Sie waren, wie ich später erst verstand, aus einem zweiten Yaulapitidorf, von dem ich damals noch nichts wusste, herübergekommen. In die Mitte des Platzes, neben eine umzäunte Grabstätte, hatte man einen Schemel hingestellt. Viel Volks ringsum. Wir warteten. Der mir bekannte Häuptling sass links von mir ein wenig entfernt und rauchte; damit mir die Zeit nicht zu lang wurde, folgte ich seinem Beispiel. Das war offenbar unrichtig, denn die den endlich herankommenden Häuptling führende Frau stiess einen Laut der Unzu - friedenheit aus. Der alte Mapukáyaka war blind, die Augen getrübt. Er setzte sich mir gegenüber und die bekannte Unterhaltung nahm ihren Verlauf. Er schilderte die Armut seines Stammes und drückte sich seufzend zur besseren Deutlichkeit die Hand auf den leeren Bauch. Wir hätten den Bakaïrí so viel gegeben diese Wendung kehrt immer wieder ich müsste auch ihn beschenken. Gerührt ging ich, ihm einen blanken Löffel holen. Was unter den Umstehenden freudige Anerkennung erweckte. Der alte Häuptling betastete mich und jammerte über seine Blindheit mit solchem Anstand, dass er mir wirklich herzlich leid that. Er rieb seine Hand über meine Hand und darauf über seine Augen; er machte es ebenso mit dem Arm. Er wies auf den Begräbnisort hin, wo sein Sohn oder Enkel liege. Er er - zählte, dass die Yaulapiti früher viel stärker gewesen, durch die Manitsauá aber be - drängt worden seien; kurz er hatte nur von dunkeln Seiten des Lebens zu berichten und versetzte mich in eine ganz melancholische Stimmung. Die Manitsauá seien dann ihrerseits wieder von den Suyá bezwungen worden, wie wir denn 1884 bei den Suyá eine Anzahl gefangener Manitsauá angetroffen haben. Zum erstenv. d. Steinen, Zentral-Brasilien. 8114Male hörte ich den Ausspruch, dass die Suyá gut seien. Aber auch auf die Trumaí bezogen sich die Klagen des Alten. Sie und die Suyá seien reich, weil sie die Steinbeile hätten.

Die Alten sahen ungesund aus; mehrere Männer und Frauen hatten die Haut zu einer Schuppenkruste verdickt. Kinder waren zahlreich, verhältnismässig mehr als irgendwo sonst, vorhanden. Die Frauen sollen sich Anfangs sehr vor mir gefürchtet haben; jetzt sassen sie gemütlich um mich herum, wie im ersten Bakaïrídorf, aber sie beobachteten aufmerksam jede meiner Bewegungen und bei der geringsten, die unerwartet kam, stürzte die eine oder andere bei Seite. Mit einem plötzlichen Aufsprung hätte ich die ganze Gesellschaft in die Flucht treiben können. Man unterhielt sich leise, schien sich aber nach einer Stunde Zu - sammenseins noch nicht zu langweilen. Von meinen Zaubersachen machte zur Abwechslung hier der Spiegel den grössten Eindruck und rief ein lautes he he des Erstaunens hervor. Ein angebranntes Zündhölzchen, das ich wegwarf, ver - pflanzte Einer zwischen dem Gras in das Erdreich.

Von den armen Menschen konnte ich nicht viel erwerben. Warum sie eigentlich so jämmerlich daran waren, ist mir trotz der Manitsauá nicht verständ - lich geworden. Ihre Pflanzung war allerdings in diesem Jahre durch Schweine verwüstet worden. Es fanden sich ein paar hübsche Spindelscheiben, Beijúwender, ein wenig Federschmuck und, das einzige Besondere und Beachtenswerte, eine Anzahl Ketten mit durchbohrten Steinen.

Am Morgen des 19. Oktober hatte ich Antonio und Tumayaua nach den Auetö́ zurückbeordert, um die anderen Gefährten zu holen, während ich die sprachliche Aufnahme der Yaulapiti vollendete. Sie kehrten jedoch am Nach - mittag zurück, da sie am Ende des Auetö́kanals kein Boot gefunden hatten.

Das von uns dort zurückgelassene, behaupteten die Yaulapiti, sei von ein paar Trumaí benutzt worden. Dieselben seien bei ihnen im Dorf gewesen, aber aus Furcht vor mir bei meiner Ankunft entflohen. In dieser unangenehmen Si - tuation beschloss ich sofort, damit wir nicht vergebens erwartet und die Gefährten beunruhigt würden, zu den Auetö́ zurückzukehren. Es war doch zu hoffen, dass ein Kanu der Auetö́ am nächsten Tage erscheine, und uns aufnehme.

Wir erhielten aber erst um 5 Uhr von den Yaulapiti ein Kanu, das vom Fischfang zurückkehrte. Die Uyá, wie die grosse Lagune genannt wird, war stark bewegt. Es wetterleuchtete ringsum. Der junge Yaulapiti, der uns fuhr, blies, im Kanu stehend, mit einer Ueberzeugung und einem Ernst gegen die herauf - ziehenden Wolken, dass es eine Lust war, ihm zuzuschauen. Dem strammen Boreas spritzte ein Sprühtrichter aus dem Munde.

Wir landeten aber noch zu rechter Zeit und gingen das letzte Stück des Weges im tiefen Dunkel, während Blitze zuweilen den Pfad erhellten. In den Schutzhütten der Auetö́ am Ende des Kanals richteten wir uns für die Nacht ein. Von den vorhandenen Töpfen erwies sich bei näherer Untersuchung nur ein grosses Ungetüm zum Kochen brauchbar; ich hatte nichts als zwei Gemüsetafeln bei115 mir. Das mühsam herbeigeholte Wasser verdampfte, der Topf sprang und uns blieb nur übrig, uns hungrig in die Hängematte zu legen. Der Yaulapiti schlief auf einer der kleinen kreisrunden Matten, die von der Mandioka-Bereitung her dort herumlagen. Fast die ganze Nacht hindurch hatten wir ein starkes Gewitter und wurden trotz der Schutzdächer, die leider sehr baufällig waren, gründlich durchnässt.

Wirklich kam am nächsten Morgen, dem 20. Oktober, ein Auetö́, mit dem wir nach dem Dorfe zurückfuhren. Dort vereinigte ich mich mit den Gefährten, und noch an demselben Abend waren wir wieder bei den Yaulapiti zurück. Mein Weggehen von ihnen war also eigentlich höchst überflüssig gewesen, da Antonio und Tumayaua gerade so gut allein am Auetö́kanal auf ein Boot warten konnten, ohne mich noch hinzuzuholen. Aber die bösen Trumaí trieben sich dort herum und diesen » Wassertieren « (denn das seien sie und keine Menschen, sagte er) ging Antonio um jeden Preis aus dem Wege. Wir trugen kein Begehr, uns lange bei den Yaulapiti aufzuhalten, sondern wollten sofort zu den Kamayurá weiter.

Am 21. Oktober früh machten wir uns auf den Weg. Eine kleine Strecke hinter dem Yaulapitidorf hatten wir uns wieder in einen Kanal einzuschiffen, und dieser führte uns wieder zu einer Lagune, die nördlicher lag als die erste. Wir durchkreuzten sie und nachdem wir am anderen Ufer an ein paar dort im Sumpf liegenden langen Baumstämmen, über die wir mühsam hinüberbalanzieren mussten, gelandet waren, sahen wir uns nach wenigen Schritten in einem zweiten Yaulapitidorf.

Es bestand aus neun Hütten, von denen aber nur vier gute Wohnungen darstellten, während die übrigen fünf baufällige Ranchos waren. Etwa vierzig Personen erwarteten uns, an ihrer Spitze der blinde Häuptling und Freund Mori - tona, die also beide hier zu Hause waren. Ueberhaupt bemerkte ich eine Anzahl von Leuten, deren Bekanntschaft ich bereits im ersten Dorfe gemacht hatte. Sie waren nach meinem Erscheinen zum Besuch herübergekommen.

Dieses zweite Dorf vermochte in keiner Weise, uns über die Yaulapiti günstigere Vorstellungen zu geben. Auch hier sahen wir nur ein armseliges Fischervölkchen, dem wir einige Geschenke verabreichten und das wir nach Er - ledigung der üblichen Empfangszene nicht ungern verliessen.

VI. Zu den Kamayurá.

Empfang. Freude über unsere Sprachverwandtschaft. Nachrichten von den Arumá. Gemütlicher Aufenthalt. Kamayurá und Trumaí 1884 zusammen. Einladung nach Cuyabá. Diebereien.

Von dem zweiten Yaulapitidorf den 21. Oktober, kurz nach 9 Uhr Morgens aufbrechend, gelangten wir nach einem Marsch von Stunden durch den Wald zu den Kamayurá. Die letzte Strecke war mit prachtvollen Mangave - pflanzungen besetzt.

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Wir fanden vier Hütten und den ortsüblichen Vogelkäfig, in dem eine ge - waltige Harpye gehalten wurde. Man schien uns noch nicht erwartet zu haben; einige Personen redeten uns an und liessen uns auf Schemel niedersitzen, aber erst nach geraumer Weile, nachdem eine grössere Gesellschaft, Männer und Frauen von der Pflanzung heimgekehrt war, spielte sich die eigentliche Empfangszene ab. Die Reden fielen uns sowohl durch ihre Länge wie durch ihren litaneienhaften Ton auf, sie waren auch von längeren, unerfreulichen Pausen unterbrochen. Schliesslich rückten auch Getränke und Zigarren an, und als wir den Wunsch nach Mangaven aussprachen, wurden sie in grosser Menge herbeigebracht. Diese Früchte hatten hier bei Weitem den grössten Wohlgeschmack.

Die Kamayurá sprachen einen echten Tupídialekt, die von den Jesuiten als Lingoa geral verbreitete Sprache der alten Küstenstämme, die mit dem Guaraní der Paraguayer nahezu identisch ist. Sie hat das Gros aller von den Einheimischen übernommenen Namen geliefert. Als wir nun in der Unterhaltung feststellten, dass wir eine Menge von Namen für Tiere, Pflanzen und Geräte, was gleich für die Beijús und Mangaven (beijú, mangáb) zutraf, mit dem Kamayurá gemein hatten, war das Entzücken gross.

Ein Flötenhaus gab es in diesem Dorfe nicht. Zum ersten Mal geschah es, dass uns eine bewohnte Hütte, deren eine Hälfte man frei machte, zum Auf - enthalt angewiesen wurde. Man war dort beschäftigt, auf einer Beijúschüssel grosse geflügelte Ameisen zu rösten; sie schmeckten knusperig und zart, ähnlich wie gebrannte Mandeln oder Nüsse; ohne zu wissen, was ich verspeiste, würde ich nicht an Insekten gedacht haben, da der Geschmack nichts Widerliches oder Weichliches enthielt.

Einen halben Kilometer westlich befand sich ein zweites Dorf, sieben Häuser und eine angefangene Festhütte. Es lag am nächsten der schönen Lagune der Kamayurá. Von dem Platz aus hatte man einen reizenden Fernblick über üppiges Schilfrohr hinüber auf das von der Sonne beschienene blaue Wasser. Dort be - grüsste uns der Häuptling Akautschikí, der an einer Kniegelenkentzündung litt und auf eine Suyákeule gestützt herankam. Es wurden uns zwei Jaguar - und zwei Vogelschemel hingesetzt. Wieder wurde unser Sprachschatz aus der Lingoa geral mit dem der Kamayurá verglichen; unsere Gastfreunde erklärten uns für ihre Brüder und bekräftigten ihre Worte mit der für dieses Verwandschafts - verhältnis am Schingú üblichen Geberde, dass sie sich auf den Nabel deuteten. In den Häusern fanden wir eine Anzahl Tanzmasken sowohl aus Holz wie aus Baumwollgeflecht. Wurfhölzer waren ebenfalls überall vorhanden. Nirgendwo sahen wir so schönen Tanzschmuck, sie hatten prächtige Federdiademe und Federbänder, eine Art Federmantel und mit Fischzähnen verzierte Tanzstäbe.

Als wir den 22. Oktober an dem schönen Sandstrand der Lagune badeten, traf einmal wieder eine böse Nachricht ein, welche die Gesellschaft in Aufregung versetzte: zwei Trumaí seien angekommen und hätten neue Unthaten der Suyá gemeldet. In der Geschichte, die uns zum grössten Teile dunkel blieb, spielte117

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Abb. 7.

Kamayurá-Lagune.

118 ein Stamm der Arumá oder Yarumá die Hauptrolle. Die Suyá hatten die Arumá, die landeinwärts von ihnen zu wohnen scheinen, überfallen und jedenfalls mit ihnen gekämpft; sie hatten acht Arumá, die uns an den Fingern vorgerechnet wurden, mit Pfeilen in die Kniee gestossen, sodass sie gebückt gehen mussten vielleicht eine Methode unserer Freunde mit den Lippenscheiben, die Gefangenen sicher zu transportieren. Nach der Beschreibung der Kamayurá trugen die rätselhaften Arumá Yapúfedern im Ohr, die gewöhnliche Tonsur und eine Be - malung oder Tätowirung des Gesichts derart, dass ein Strich vom Auge zum Munde, und ein anderer vom Munde zum Ohr lief. Quer unter der Nase trugen sie Schmuck von Federn oder Knochen. Am sonderbarsten aber ist es, dass sie einen Ohrschmuck hatten mit itapú der, wie unser Metall » ting ting « machte! Im Tupí heisst itapú Klingen von Stein oder Eisen. Wir erhielten in den Hütten ein Stück einer den Arumá zugeschriebenen Keule, genau den Karajákeulen gleich, die wir 1884 bei den Yuruna erhalten hatten, von schwerem schwarzbraunen Palm - holz in Stabform geschnitzt und durch eine hübsche Kanellierung ausgezeichnet, (vergl. : Durch Zentral-Brasilien S. 241 und zweite ethnographische Tafel). Wir entdeckten auch zwei Arumápfeile. Der eine hatte an der Spitze einen Rochen - stachel mit abgefeilten Zähnchen, der andere eine lange Holzspitze, die auf einer Seite sägeförmig eingekerbt war.

Eine dritte Häusergruppe bestand aus drei Hütten, einem verfallenen Haus und einem Neubau.

Das Zusammensein mit den Kamayurá war äusserst gemütlich. Unsere glückliche Stimmung wurde durch das ungewöhnlich schöne Bild der Lagunen - landschaft nicht wenig gesteigert. Es war ein Ort, wo wir am liebsten ein paar Monate geblieben wären, und an den ich nur mit Sehnsucht zurückdenken kann. Das Tabakkollegium Abends im Mondschein hatte einen ganz besonders vertrau - lichen Charakter. Wir sangen den Kamayurá Volks - und Studentenlieder vor und ernteten grossen Beifall. Sie führten uns ihrerseits Tänze auf, wenn auch nicht in vollem Festschmuck, sondern nur zur Erklärung, damit wir erführen, wie’s dabei hergeht. Ein grosses mimisches Talent kam bei dem Wurfhölzertanz zum Vorschein: der Krieger wurde verwundet und stürzte tot zusammen genau in der Stellung des sterbenden Aegineten, dem nur der Schild fehlte.

Ausführlich wurde unser Zusammentreffen mit den Trumaí im Jahre 1884 durchgenommen. Es stellte sich heraus, dass die Kamayurá daran Teil genommen hatten und alte Freunde oder Feinde von uns waren. Der Häuptling Takuni, der eine Bassstimme besass, schilderte mit ausdrucksvoller Mimik seine damaligen Erlebnisse. Wilhelm ist sogar überzeugt, dass gerade er derjenige ist, der ihm den Hut wegnahm und dessen ungeschickter Griff nach seinem Gewehr den verhängnisvollen, Alle in die Flucht treibenden Schuss auslöste. Die fliehenden Indianer hatten in der Eile Allerlei mitgenommen, ein Boot mit Soldaten fuhr hinterher und auf der anderen Flussseite kam es, da ein Trumaí einen Pfeil ent - sandte, trotz unserer Gegenbefehle zum Schiessen. Zu unserem Leidwesen ist,119 obwohl die Soldaten damals versicherten, dass sie nur in die Luft gefeuert hätten, ein Indianer getötet worden, und dies soll nicht ein Trumai, sondern ein Kamayurá gewesen sein. Takuni erklärte, dass sie bis zu den Nahuquá am Kuluëne geflohen seien; drei Tage hätten sie dann nach Hause gebraucht, wo er krank und totmüde angekommen sei.

Am Abend des 23. Oktober lernten wir noch eine vierte Ansiedelung kennen; wir wurden mit grosser Feierlichkeit aufgefordert, dort einen Besuch zu machen und spazierten von unserem Wohnhaus im Gänsemarsch dorthin. Ein mächtiger Platz war frei gerodet worden. Ein schönes Haus, vielleicht das schönste, das wir am Schingú gesehen haben, hoch und geräumig, war offenbar erst seit kurzem fertig geworden. An diesem Orte wollten die jetzt zerstreut ange - siedelten Kamayurá sich zu einem Dorfe vereinigen. Aber und wieder kam dieses grosse Aber, als wir rauchend zusammensassen aber mit den Stein beilen ist die Arbeit so mühsam; vom Morgen bis zum Abend quält man sich, um einen Baum, den der Karaibe mit zwei oder drei Hieben tok tok niederschlägt. Ich lud die Kamayurá ein, uns nach Cuyabá zu begleiten. Dort sollten sie Messer und Aexte haben, so viel ihr Herz begehre. Ich beschrieb ihnen Cuyabá, malte ihnen aus, dass dort so viele Häuser ständen als am ganzen Kulisehu und Kuluëne zusammengenommen und versicherte sie der freundlichsten Aufnahme.

Wenig befriedigte zwar die Auskunft über den weiten Weg. Finger und Zehen reichten nicht aus, um zu veranschaulichen, wie viele Male die Sonne den Tageslauf am Himmel beschreiben müsse, bis man zu den Häusern der Karaiben gelange. Dennoch waren Alle von dem Vorschlag begeistert. Takuni schwelgte in der Vorstellung, wie ihn die Frauen bewillkommnen würden bei seiner Heim - kehr, wenn er den schwerbepackten Tragkorb niedersetze und seine Schätze her - vorhole. Stundenlang wurde das Thema in Wort und Pantomime behandelt; schliesslich überwogen bei Takuni die Zweifel. Seine schauspielerische Leistung gewann einen sentimentalen Charakter: er hat Kinder, die nach ihm weinen, die noch an der Brust liegen, für die er fischen und roden muss.

Nachdem wir uns zum Schlaf in das Haus zurückgezogen hatten, dauerte die unseren Gastfreunden so angenehme Erregung noch lange fort. Wilhelm hatte schon die Augen geschlossen, als es noch an seiner Hängematte zupfte und ein Kamayurá ihn mit leiser Stimme bat, ihm noch einmal den Weg nach Cu - yabá vorzurechnen und ihm zu versichern, dass er dort Beile und Perlen er - halten werde. Ueberhaupt fehlte es in der Nacht nicht an komischen Zwischen - fällen. Ehrenreich musste die photographischen Platten wechseln und war genötigt, die Leute zu bitten, dass sie die kleinen Feuer, die sie bei den Hängematten bis zum Morgen anzuhalten pflegen, für eine Weile auslöschten. Gutwillig entsprachen sie seinem Wunsche, aber es war ihnen unheimlich zu Mute. Als sie die rote Laterne sahen, fragten sie sogar ängstlich eine sehr merkwürdige Frage ob die Suyá kämen.

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Auf dem Platz fanden sich eine Anzahl Löcher in dem Boden, die aber nicht wie bei den Auetö́ ein Grab, sondern die Stelle bezeichneten, wo Mandioka - Wurzeln aufbewahrt wurden. Bei Gelegenheit dieser Auskunft erkundigten wir uns nach der Art und Weise, wie die Toten bestattet werden. Sie verstanden mich sofort, als ich mich selbst wie tot auf den Boden legte, und gaben eine ausführliche mimische Darstellung ihrer Gebräuche.

Sie waren immer bestrebt, uns über ihre Sitten zu belehren, nachdem sie unser Interesse daran wahrgenommen hatten, und auf dem Wege zum Baden machte mich Einer sogar mit dem Maraká-Gesang, dem Begleittext der Tanz - rasselmusik, der Manitsauá-Indianer bekannt: húmitá ya héuna hm hm .

Am letzten Morgen erfuhr unsere Eintracht zum ersten Mal eine kleine Störung. Es fehlte eine noch halb gefüllte Büchse Kemmerich’schen Fleischmehls. Auch schien es, dass aus meiner Tasche einige Küchenmesser entwendet worden waren. Ehrenreich hatte man zwei Schnallen von einem Riemen abgeschnitten. Ich sah mich genötigt, unserem Haus - und Gastwirt den Standpunkt klar zu machen und ihm meine Meinung, dass die Kamayurá nicht mehr so kúra und katú seien wie zu Anfang, in ernstem Ton auszudrücken. Man brachte uns mit demütiger Geberde Beijús, ich wies sie zurück. Die guten Kerle wurden sehr aufgeregt, schoben die Schuld auf einen Trumaí, der heimlich dagewesen sei, und brachten nach einer Weile wenigstens den verlorenen Kemmerich wieder.

VII. Trumaí-Lager und Auetö́-Hafen.

Vogel’s Plan, Schingú-Koblenz zu besuchen. Ueber die Yaulapiti zurück. Zusammentreffen mit den Trumaí. Studien mit Hindernissen. Arsenikdiebstahl. Die zerstörten Trumaídörfer. Zum Auetö́ - hafen. Namentausch. Kanus erworben. Diebstähle. Yanumakapü-Nahuqua. Abschied.

Am 22. Oktober unternahm Vogel eine Bootfahrt auf der Kamayurá-Lagune, um zu untersuchen, ob sie mit dem Fluss in Verbindung stehe. Den Indianern wurde als Motiv angegeben, dass er fischen wolle. Nach vierstündiger Abwesen - heit kehrte er zurück und hatte sich überzeugt, dass die Lagune nirgendwo in den Fluss übergehe. Es lag ihm sehr viel daran, erstens das Verhältnis von Kuluëne und Kulisehu festzustellen und zweitens an der von uns im Jahre 1884 passierten Vereinigungsstelle des von Westen kommenden Ronuro und des von Südost kommenden Flusses, der uns damals als Kulisehu bezeichnet war, also in Schingú-Koblenz, eine Ortsbestimmung zu machen, um auf diese Weise den genauen Anschluss an die geographische Aufnahme der ersten Expedition zu erreichen. Es war die Stelle, wo die Trumaí erschienen, mit Mühe zur Landung bewogen wurden und in heller Flucht davongeeilt waren.

Dass wir sämmtlich uns an dieser Rekognoszierungstour beteiligten, war nicht wünschenswert, weil es vor Allem darauf ankam, die karg bemessenen Stunden zur Untersuchung der Indianer zu verwerten, und weil keine grosse Aus -

TAFEL X.

TRANSPORT EINES RINDENKANUS DURCH DIE AUETÖ́.

121 sicht bestand, bei jenem Abstecher einen neuen Stamm anzutreffen. Zwar wurden wahrscheinlich die Dörfer der Trumaí passiert, doch wussten wir, dass sie nach dem Kampfe mit den Suyá geflohen waren und sich in unserer Nähe umhertrieben, denn vereinzelte Trumaí waren bei den Auetö́, den Yaulapiti und den Kamayurá aufgetaucht. Wo der Kern des Stammes stecke, der allen Grund hatte, sich vor einem Zusammentreffen mit uns zu fürchten, war uns unbekannt. Man musste auch die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass die wenig vertrauens - würdigen Suyá sich noch irgendwo in der Nähe der Kulisehumündung aufhielten und noch nicht nach Hause zurückgekehrt waren.

Um allen Interessen und zugleich der nötigen Vorsicht zu genügen, wurde beschlossen, dass Vogel nach dem Auetö́hafen gehe und sich von dort in zwei Kanus mit Perrot, Antonio, zwei Soldaten und ein paar Indianern nach Koblenz einschiffe, dass wir dagegen die Zeit bis zu seiner Rückkehr mit unseren Untersuchungen ausfüllten. So ging Vogel am 23. Oktober von den Kamayurá weg und machte sich den 25. verabredetermassen vom Auetö́hafen zur Kuluënemündung auf.

Wir Anderen verliessen unsere lieben Kamayurá den 25. Oktober früh Morgens. Von Takuni und seinem Gelüst nach der Cuyabáreise hörten wir nichts mehr. Doch wurden wir von einigen Indianern, die unsere Sammlung trugen, den Weg durch die unvergesslichen Mangavenhaine und den Wald bis zum zweiten Yaulapitidorf begleitet. Hier hatten wir wieder die Strecke mit Hinder - nissen vor uns: über die nördliche Lagune und durch ein Stück Kanal zum ersten Yaulapitidorf dann neue Einschiffung und Fahrt über die südliche Lagune hierauf Landweg zum Ende oder, von uns aus gerechnet, zum Anfang des Auetö́ - kanals, wo sich die Pflanzungen und Schutzhütten der Auetö́ befanden dort endlich wieder Einschiffung und Fahrt nach dem Auetö́dorf.

Das Unangenehme war, dass für diese drei Fahrten immer nur ein Kanu zur Verfügung stand, und dass es obendrein sehr leicht geschehen konnte, dass dieses Kanu sich gerade unterwegs befand und nicht zur Stelle war, wenn man es gebrauchte.

Von dem zweiten Yaulapitidorf fuhren in dem einen Kanu, das dort lag, zunächst Ehrenreich und ich ab, während Wilhelm und Carlos bei glühender Sonnenhitze über drei Stunden im schattenlosen Sumpf sitzen mussten, bis auch sie abgeholt wurden. Wir beiden gelangten zum ersten Yaulapitidorf und hatten viele Mühe, hier ein Kanu zu erhalten und wegzukommen; die Leute wollten uns durchaus länger bei sich sehen, um mehr Perlen und Messer zu bekommen. Der Häuptling schien aber doch auch einen anderen Grund zu haben, unsere Abreise zu verzögern. Erst als er sah, dass wir darauf bestanden, gab er uns ein Kanu und erzählte nun mit ängstlichem Gesicht, die Trumaí seien bei den Auetö́. Er war in grosser Besorgnis, dass wir ihnen Böses anthun wollten. Er drang inständigst in mich, davon abzustehen, und fragte mich beim Abschied noch einmal allen Ernstes mit einer sehr ausdrucksvollen Pantomime, ob ich nicht allen Trumaí den Hals abschneiden werde?

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Wir durchkreuzten die Lagune, schickten das Boot zurück und begaben uns auf den Weg zum Auetö́kanal. Es war ein schöner Nachmittag; der Indianer, der unser Gepäck trug, hatte ein vergnügtes Gemüt und blies trotz seiner Last fröhlich auf einer kleinen Pansflöte. In dieser angenehmen Stimmung störte uns der Renommist Moritona, der grosse Zauberer der Yaulapiti, der mit seinem Tragkorb einsam dahergeschritten kam. Er suchte uns zurückzuhalten und hielt eine lange Rede, deren A und O die Trumaí waren; offenbar befanden sie sich in der Nähe. Auch kamen wir an einer Stelle vorüber, wo man gelagert hatte und eine Anzahl Feuer unterhalten worden waren. Alle Zweifel schwanden am Ende des Weges. Zwei Frauen schritten dort quer über den Pfad, erhoben ein entsetzliches Geschrei und verschwanden blitzschnell im Gebüsch. Vielstimmiges, gellendes Durcheinanderrufen und zwischen den Bäumen plötzlich an allen Ecken aufgeregt hin und wieder rennende Gestalten! Wir waren bei den Trumaí!

Eine unangenehme Situation. Zurückgehen war natürlich ausgeschlossen. Also gerade vorwärts. Niemals habe ich einen unsinnigeren Lärm gehört. Im Hintergrund stürzten Weiber und Kinder mit ohrenzerreissendem Geheul von dannen; die Männer rafften hier und dort ihre Waffen auf und verdichteten sich, die Bogen, Pfeile, Wurfpfeile schwingend, zu einem schreienden, tanzenden, tobenden Knäuel, auf den wir einer hinter dem andern fest zuschritten. Ich fasste einen kleinen Herrn ins Auge, der der Häuptling zu sein schien, trat gerade auf ihn zu, legte die Hand auf seine Schulter und that, was in solchen Fällen immer das beste ist, ich lachte. Auch liess ich es an kräftig ausgesprochenen katú katú karáiba, kúra kúra karáiba nicht fehlen. Ja, ich richtete verschiedene kurze Sätze an ihn in einer Sprache, die er höchst wahrscheinlich niemals gehört hatte, deren Laute sich aber mir in kritischen Momenten gern auf die Lippen drängen und dann immer siegreich über den Ernst der Lage hinweghelfen, das ist mein liebes Düsseldorfer Platt, verdichtet in einigen karnevalistischen Schlagwörtern, die für jede Situation zutreffen. Sie thaten auch bei den Trumaí ihre Wirkung; der alte kleine Häuptling war zwar zu entsetzt, um auch lachen zu können, aber er grüsste doch so verbindlich wie möglich.

Man schleppte hastig zwei Schemel herbei und riss das Stroh herunter, in das sie verpackt waren; sie hatten Vogelgestalt und der eine, der einen Geier darstellte, war wie ein Doppeladler durch zwei Hälse und Köpfe ausgezeichnet. Wir setzten uns im Waldlager nieder und um uns herum und rings zwischen den Bäumen drängte sich und wogte die in ihrer Angst recht wild ausschauende Gesellschaft. Als ich mit vergnügten Mienen erklärte, dass ich bei ihnen schlafen wolle, regten sich zwanzig Hände auf einmal, das Gestrüpp wegzu - reissen und Raum zu schaffen aufmerksamere Bedienung war nicht zu denken. Nach einer halben Stunde meldete erneutes Geheul und Weibergeschrei die Ankunft von Wilhelm und Carlos an, die herbeigeführt wurden und eben - falls ihrer wohlwollenden Gesinnung mit Worten und Geberden deutlichen Aus - druck gaben.

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Es waren meist kleine schmächtige Gestalten mit kleinen Köpfen, zurück - tretendem Kinn und hässlichen Gesichtern; unter den alten Weibern gab es wahre Prachtexemplare von Hexenmodellen. Die Frauen trugen teilweise das dreieckige Uluri, teilweise ein uns neues Garderobenstück, eine grauweissliche Bastschlinge, die um die Hüften gezogen war und sich zu einer kleinen Rolle verdickte. Die Sprache erinnerte uns in ihrem Tonfall nicht wenig an die der Suyá, mit der sie den nörgelnden gequetschten Habitus gemein hatte, und liess sich durch den häufigen Auslaut auf ts und durch das f von allen Kulisehusprachen sofort unterscheiden.

Es war merkwürdig, dass sich die Trumaí derart hatten überraschen lassen. Wahrscheinlich hatten sie sich doch vor den Suyá, die ihre Dörfer geplündert hatten, und vor uns gleichzeitig geflüchtet. Ihre Späher, die sich bei den Auetö́, Yaulapiti und Kamayurá herumtrieben, waren wohl des Glaubens ge - wesen, dass wir von den Kamayurá aus nicht direkt zu den Auetö́ zurück - kehren, sondern nach Schingú-Koblenz gehen würden, um uns mit Perrot und Vogel, deren Fahrt ihnen bereits bekannt war, zu vereinigen und auf dem Fluss nach dem Auetö́hafen zu gelangen. Das Lager der Flüchtigen bot einen Anblick der Unordnung und Ueberstürzung. Es waren im Ganzen etwa 50 Personen; zahlreiche Feuerchen brannten bei den braunen Hängematten, Bündel aller Art lagen und hingen an den Bäumen herum; die Schutzhütten der Auetö́-Pflanzung blieben unbenutzt. Die Indianer waren zum Teil über die Kanäle gekommen: eine kleine Flotille von Kanus war in dem sumpfigen Gewässer nahebei aufgefahren, viele darunter in schlechtem Zustand und nur mit Lehm - klumpen notdürftig verpappt.

Die Beijús, die gefüllten Kürbisschalen und die Zigarren mussten bei diesem Empfang fehlen. Man brachte kleine Baumwollenknäuel herbei und verlangte Perlen. Leider hatten wir uns bei den Kamayurá so ziemlich ausgegeben und konnten daher nicht Vieles bieten. Dennoch erwarben wir mit den Resten, etlichen Messern und einigen Opfern von unserm persönlichen Besitz eine kleine, nicht unansehnliche Sammlung. Die Leute hatten die für uns wichtigsten Sachen vor den Suyá gerettet und mitgeschleppt. Da fanden sich Federschmuck, Halsketten aus Steinperlen, ein Steinbeil, als Belegstück wertvoll, da die übrigen Kulisehu - stämme ihre Steinbeile von den Trumaí erhalten, Wurfhölzer, eine Keule, zehn Masken, Tanzkeulen, grosse Flöten und verschiedene Kleinigkeiten. Wir ver - missten zu unserm Erstaunen die grossen Pfeile mit langen spitzen Bambusstücken, die die Trumaí 1884 bei sich führten, von denen sie auf der Flucht eine Anzahl verloren und an denen wir bemerkt hatten, dass man sie für die Begegnung mit uns zugeschärft hatte. Sie waren wohl im Kampf mit den Suyá verschossen worden.

Ich nutzte den Abend bei einem Kerzenstumpf schreibend möglichst aus, um ein Vokabular zu erhalten. Ein jüngerer Häuptling zeigte sich sehr anstellig, nur schrie er in seinem Eifer mit seiner starken Stimme, als ob ich stocktaub wäre. Neugierig hockten die Männer in der Nähe, die Hexen waren um die124 Feuer geschäftig, die Kinder schrieen atsíu nach der Mutter und papá nach dem Vater, durch die Zweige ergoss sich ein magisches Mondlicht über die seltsame Lagerszene, und bald umfing der Friede der Nacht Schlummernde und Wachende. Wir durften ruhig schlafen, merkten aber wohl, dass einige Männer am Feuer sitzen blieben.

Am nächsten Morgen, den 26. Oktober, gab es eine grosse Verwirrung. Man hatte mir ein grosses Glas mit Arsenikpillen gestohlen. Gern hätte ich unter den besonderen Umständen zu jedem Diebstahl ein Auge zugedrückt, allein ich konnte diesen Arsenik weder meinerseits vermissen noch die Indianer damit vergiften lassen. Ich musste die Yaulapiti, die uns begleitet hatten, nach den Erfahrungen in ihrem Dorf im Verdacht haben und verlangte von ihnen die Rückgabe. Sie beteuerten natürlich ihre Unschuld, die Trumaí gerieten in grosse Angst, die Weiber, Kinder und ein Teil der Männer schlugen sich in die Büsche und kehrten auch nicht zurück, als wirklich einer der Yaulapiti das Glas mit den Arsenikpillen brachte. Nach seiner unmassgeblichen Ansicht war es mir unter - wegs aus der Tasche gefallen. Ein Quantum fehlte augenscheinlich; ich hoffe, dass es auf verschiedene Liebhaber verteilt und von diesen bei den grade unter den Yaulapiti häufigen Hautkrankheiten mit einigem Erfolg genossen worden ist.

Wir mussten, so sehr man uns zum Fortgehen drängte, mindestens die wichtigsten Körpermessungen noch vornehmen und liessen auch nicht locker; sieben Männer wurden in der Eile zwischen dem Packen gemessen, und die einzige photographische Platte, die noch übrig war, wurde zu einer später leider verunglückten Gruppenaufnahme verwendet.

Um ¾10 Uhr fuhren wir in zwei Kanus ab, von vier Trumaí begleitet. Dreimal müsse man schlafen, gaben sie an, ehe man zu ihren Dörfern gelange. Die Mehinakú könne man auch auf den Kanalwegen erreichen und gebrauche zu ihrem zweiten Dorf nur einen Tag. Um 11 Uhr landeten wir in der Nähe des Auetö́dorfes an einer andern Stelle, als wir abgefahren waren. Im feuchten Laub lagen riesige Regenwürmer in ungeheurer Menge; wo man den Fuss hinsetzte, trat man darauf. Der Pfad führte uns zu den beiden Hütten der Yaulapiti-Auetö́ - Familien.

Es empfiehlt sich, schon hier anzufügen, was Vogel und Perrot nach ihrer Heimkehr von Schingú-Koblenz über die Trumaídörfer berichteten. Sie hatten keinen Indianer zu Gesicht bekommen, unterhalb der Einmündung des Kulisehu in den Kuluëne aber auf dem 5 m hohen Ufer ein Trumaídorf von 8 und einen Kilometer weiter östlich ein zweites von 5 Häusern, darunter Neubauten gefunden. Die Suyá hatten die Häuser sämtlich niedergebrannt, und was von grossen Töpfen und Gerät zurückgeblieben war, kurz und klein geschlagen. Unmittelbar an die Dörfer schlossen sich Pflanzungen an von auffallend grossem Umfang und sorg - fältiger Bearbeitung. Ungefähr zehn frische Gräber wurden bemerkt; der kreis - förmigen Angrabung nach zu urteilen waren die Leichen in hockender Stellung beerdigt, sie schienen tief zu liegen, da man sie wenigstens bei einigem ober -125 flächlichen Nachgraben nicht blosslegte. Antonio war sehr erschreckt gewesen, als Perrot zu ihm sagte: » o doutor Carlos precisa d’uma cabeça «. Nur mit Mühe hatte man von Antonio erreicht, dass er die Fahrt mitmache und sich der Möglichkeit aussetzte, den verhassten Trumaí zu begegnen.

Die Tage vom 26. bis 31. Oktober brachten wir im Dorf und zum grösseren Teil im Hafen der Auetö́ zu. Wir benutzten noch jede Gelegenheit zu messen, zu photographieren und die sprachlichen Aufzeichnungen zu vervoll - ständigen, und hatten dazu Exemplare fast aller Stämme zur Verfügung. Mit den Auetö́ hatten wir uns recht angefreundet. Ein vergnügter Abend erinnerte mich lebhaft an meine Bakaïrí-Idylle, auch hier wurden die Stimmen der euro - päischen Haustiere mit grossem Jubel begrüsst, und wiederholte sich die Steinbeil - pantomime mit stereotyper Treue. Es war ein besonderer Augenschmaus für sie, wenn wir uns hinstellten und Holz hackten. Mit einem der Auetö́ machte ich Schmollis nach Landesbrauch, wir vertauschten die Namen. Mayúli hiess mein Spezialfreund, der mir den Antrag machte. Der Häuptling liess mich auf - stehen, klopfte mich sechs oder sieben Mal auf den Rücken und sagte dazu ebenso oft im Takt » Mayúli «, blies mich auf die Brust und sagte mir » Mayúli « in jedes Ohr hinein. In gleicher Weise hatte ich mit Mayúli’s Person zu verfahren und ihm mein » Karilose « für Carlos einzuprägen. Alle nannten mich nun mit Betonung Mayúli, wobei ich immer an Mai-Juli dachte, und hoben hervor, wie sehr sich die Frauen darüber freuen würden. In der That, sobald ich in eine Hütte kam, riefen die Frauen » Mayúli « zum Willkomm.

Im Hafen sah es traurig aus. Dort hatte Peter mit Tumayaua und dem Droschkenkutscher Wache gehalten. Es war ein jämmerlicher sumpfiger Platz, eng und unfreundlich, der Regen hatte den mit faulem Laub bedeckten Boden erweicht, die Ameisen waren eifrig an der Arbeit gewesen und hatten das Leder und die Säcke zerschnitten, Alles sah schmutzig und hässlich aus. Dazu Schmal - hans Küchenmeister. Der arme Peter hatte von Beijú gelebt, die Fische bissen wieder einmal nicht an. Tumayaua schaukelte sich in der Hängematte und war zufrieden, er betrachtete sich stundenlang in einem kleinen runden Spiegel und rupfte sich die Härchen im Gesicht aus. Nachts quälten ihn die Moskitos; ich hörte ihn einmal, da ich selbst nicht schlief, stundenlang klagen und klatschen. Der Droschkenkutscher hatte sich, ehe wir eintrafen, in ein Kanu gesetzt und war zu den Mehinakú gefahren. Nur ein Kanu, ein schlechtes, war bei unserer Ankunft noch verfügbar. Zwei hatten Vogel und Perrot mit sich, eines vierten hatte sich eine Bande Indianer bemächtigt und war damit drei Tage auf den Fischfang ge - zogen. Sie kehrten zurück, das Boot bis an den Rand gefüllt mit gebackenen Fischen. Man brät bei allen diesen Stämmen die Fische sofort, um das Fleisch zu konserviren.

Gegen ein paar Beile wurden zwei Kanus von den Auetö́ erworben, die sie durch den Wald herbeibringen sollten. Carlos ging nach dem Dorf, um die besten auszusuchen, und erzählte, es sei ein grossartiges Bild gewesen, als die126 Indianer mit den langen Kanus auf den Schultern im Trab durch die Dorfstrasse liefen und sich die ganze Bevölkerung an dem Schauspiel beteiligte. Mittags kamen unter lautestem Juchzen an 60 Personen und brachen mit den beiden Kanus im Laufschritt aus dem Walde hervor, im Laufschritt eilten sie auch den steilen Uferhang hinab und der enge Platz wimmelte von den nackten braunen Gestalten. Sie hatten auch ein Dutzend Kinder und allerlei Vorrat von Beijús, Honig, Piki - und Mangavenfrüchten mitgebracht. Sie waren jetzt mit Leidenschaft darauf aus, von uns vor Thoresschluss noch zu bekommen, was irgend zu be - kommen war. Perlen, Perlen, Perlen! Beim Kanutransport hatte sich ein Auetö́ die Hand verletzt; Ehrenreich verband sie, war aber kaum damit fertig, als der Mann sie auch schon nach Perlen ausstreckte. Ein Waurá, mit dem ich mich schier zum Verzweifeln abquälte, dass er mir die Farbenadjektiva seiner Sprache verrate und der mir immer die Gegenstände und nicht ihre Farben nannte, unterbrach jede meiner Fragen ungeduldig, streckte die Rechte vor und verlangte Perlen, » nur her damit «, er müsse nach Hause. Es blieb mir zuweilen nichts übrig, als die Zudringlichen auf die Finger zu klopfen, zumal wenn sie mich während des Verhörens und Aufschreibens immer anstiessen und beschenkt sein wollten. Sie nahmen jedoch nichts übel. Oefters wurden sie uns lästig, weil ihre Zahl zu gross war, liessen es sich aber gefallen, dass ich sie aus der Hänge - matte herausholte und abführte. Ja, ein Alter unterstützte mich einmal thatkräftig und schlug einen ungeberdigen jüngeren Burschen mit dem Bogen über den Kopf.

Es bedurfte der grössten Wachsamkeit, dass wir uns vor Diebstählen schützten. Messer, Scheeren, Vaselin, Kerzen, Blechdöschen, Schnallen, Alles war ihnen recht. Gut, dass wir Tumayaua hatten. Er passte auf wie ein Polizei - diener, denn er durfte darauf rechnen, selbst in den Besitz alles dessen zu ge - langen, was wir behielten, und es war augenscheinlich, dass ihm jede Perlenschnur und jedes Messer durch die Seele schnitt, die wir aus den Händen gaben. Er hatte seine eigenen unterwegs angesammelten Schätze sorgsam zwischen den überstehenden Wurzeln seines Hängemattenbaumes verborgen.

Die stete Ausrede, wenn etwas fehlte, der oder jener von einem andern Stamm müsse es weggenommen haben, war im Auetö́hafen sehr billig. Ausge - nommen die Mehinakú gab es Vertreter aller Stämme: Auetö́, Kamayurá, Yaulapiti, Trumaí, Kustenaú, Waurá, Bakaïrí und Nahuquá. Immer kamen neue Besucher, und wir hatten alle Hände voll zu thun, um unsere Aufnahmen zu ergänzen.

Von den Kustenaú, die wir 1884 in einem kleinen Dorf oder richtiger bei ihrer mit einigen Hütten besetzten Pflanzung am Batovy getroffen hatten, war einer erschienen, der sich der Reisenden von damals, Wilhelm’s, Antonio’s und meiner auch noch erinnerte und nur mit diesen seinen alten Bekannten zu thun haben wollte. Auch aus dem vierten Dorf der Bakaïrí am Batovy hatte sich ein Neu - gieriger eingestellt. Offenbar hatte die Kunde von dem Wiedererscheinen der Karaiben das ganze Gebiet durchflogen. Am meisten interessierten uns einige127 Nahuquá vom Kuluëne, weil es bei der vorgerückten Zeit unmöglich war, sie selbst aufzusuchen. Da hatte der Guikurú-Nahuquá, den wir im Nahuquádorf getroffen, die Reise hinter uns gemacht, und ihm hatte sich eine Familie von vier Yanu - makapü oder Yanumakabihü, die etwa eine halbe Tagereise landeinwärts zwischen Kulisehu und Kuluëne zu wohnen schienen, angeschlossen. Da yanumáka bei den Mehinakú, Kustenaú, Waurá und Yaulapiti das Wort für » Jaguar « ist, so dachte ich schon an eine Vermischung von Nahuquá mit einem jener Nu-Aruak - stämme. Allein die sprachliche Aufnahme des Familienvaters ergab einen reinen Nahuquádialekt. Die Yanumakapú-Nahuquá hatten niedliche Tanzrasseln bei sich; dem durch den kleinen Kürbis durchgestossenen Stiel sassen am oberen Ende Tierköpfchen aus Wachs auf, und bei einer hatte man den Kürbis durch die Schale einer jungen Schildkröte ersetzt.

Die Nahuquá liessen sich von uns über den Fluss setzen. Auch die Auetö́ nahmen uns öfter in Anspruch. Man fand es entschieden sehr bequem, dass wir mit unsern Kanus immer zur Verfügung standen. Die Auetö́ schwammen aber auch ausgezeichnet. Kinder, die bis ans Knie des Vaters reichten, puddelten sich frei und vergnügt im Kulisehu umher. Einem jungen Mann, der von der andern Seite auf Auetö́ » Holüber « schrie, verweigerten wir die Fähre; es war ein Vergnügen zu sehen, wie elegant er den Fluss durchsetzte, die linke Hand hoch emporgestreckt und Hängematte und Bogen haltend.

Der Abschied wurde uns schwer, so sehr wir darauf brannten, von dem schmutzigen und ungesunden Lagerplatz wegzukommen. Vogel und Perrot waren den 29. Oktober von ihrer Fahrt zurückgekehrt, am 30. Oktober wurde noch fleissig gearbeitet und die Sammlung eingepackt. Perrot ging noch einmal in das Auetö́dorf und verabschiedete sich zärtlich, die Frauen brachten ihm ihre Kinder und ein kleines Mädchen erhielt den Namen » Perro «; für die viele Liebe musste er sich natürlich in Perlen erkenntlich zeigen, und eine junge Mutter, deren zwei Kinder er beschenkt hatte, machte ihn mit lebhaften Geberden darauf auf - merksam, dass er doch auch noch ein drittes, das in Aussicht stand, be - denken möge.

VIII. Rückkehr nach Independencia.

Vogel’s Fahrt nach Schingú-Koblenz. Ab vom Auetö́hafen. Besuche der Dörfer. Begleitung durch die Indianer. Rheinischer Karneval am Kulisehu. Abschiedszene in Maigéri. Die Bergfahrt: Rudern. Beschwerden. Fieber. Independencia: Ruhetag. Feierlicher Abschied von den Bakaïrí.

Ueber das Verhältnis von Kulisehu und Kuluëne war durch den Ausflug von Vogel und Perrot Klarheit geschaffen worden. Auayato, der Auetö́häuptling, hatte sie begleitet. Sie waren vom Hafen abwesend vom 24. Oktober 11¾ Uhr bis zum 29. Oktober 7 Uhr Abends und hatten, da sie kein Gepäck mit sich führten, leicht vorwärts kommen können. Sie erreichten die Mündung des Kulisehu128 in den schönen breiten Kuluëne in sieben Stunden, passierten links einen Zufluss, rechts einen Kanal der Mariapé-Nahuquá, fanden auf dem rechten Ufer die Trumaídörfer in dem Seite 124 beschriebenen Zustande und konnten von hier aus in gut vier Stunden in acht Stunden seit der Kulisehu-Mündung nach Schingú-Koblenz an die Vereinigungsstelle von Kuluëne und Ronuro kommen, jenen grossen Sandstrand, wo sich 1884 unser Zusammentreffen mit den Trumaí abgespielt hatte.

Die Trumaí waren also damals auf ihrem Kuluëne heruntergekommen, und uns hatte man diesen grossen Fluss, von dem wir nur die Einmündung kannten, als » Kulisehu « bezeichnet. Eine merkwürdige Entwickelung! Wir hatten auf unserer neuen Expedition den » Kulisehu « gesucht und den Kulisehu auch gefunden und befahren, allein gemeint hatten wir den Kuluëne. Schon die Trumaí wohnten unterhalb der Kulisehu-Mündung; am Kuluëne weiter oberhalb sassen die Nahuquá-Stämme, die aber glücklicher Weise auch am Kulisehu in dem von uns besuchten Dorf angesiedelt waren.

Vogel und Perrot hatten schlechtes Wetter. Wegen der Wolkenbedeckung konnte weder an der Kulisehu-Mündung noch in Koblenz die astronomische Breite bestimmt werden. Der Kuluëne hat eine Breite von 241 m unterhalb der Kulisehu - Mündung, etwas oberhalb 289 m. Von Koblenz waren sie den Ronuro hinauf - gefahren, hatten nach einer kleinen halben Stunde die Batovymündung passiert wo wir 1884 am 30. August aus dem unendlich gewundenen Waldflüsschen auf - tauchten und zum ersten Mal mit einiger Sicherheit uns der Hoffnung freuen durften, wirklich den Schingú gefunden zu haben und hatten endlich die Fahrt auf dem Ronuro noch zwei Kilometer weiter aufwärts fortgesetzt. Der Ronuro besass eine mittlere Breite von 250 m und eine Tiefe von 3 bis 6 m, der Kuluëne mass oberhalb Koblenz nur 187 m und der Hauptfluss bei unserm Sandstrand 366 m.

Wenn wir nicht den ganzen Erfolg in Frage stellen wollten, war der Gedanke, den Kuluëne noch hinaufzufahren und die übrigen Nahuquádörfer zu besuchen, völlig ausgeschlossen. Die Regenzeit hatte kräftig eingesetzt, die Fahrt flussauf - wärts wurde zunehmend schwieriger, der Proviant war erschöpft, vor uns lag die Perspektive eines langen, durch das Anschwellen der Gewässer überaus erschwerten Landmarsches. Die mitgenommenen Lebensmittel waren bis auf Salz, Paraguay - thee und etwas Kaffee so gut wie verbraucht. Die Suppentafeln waren ver - schwunden, von Gemüse gab es noch zwei Büchsen, und der Rest waren ein Fläschchen Kemmerich’scher Bouillon, zwei kleine Büchschen Pepton und drei Flaschen Schnaps. Das Kemmerich’sche Fleischmehl hatte uns allein den Aufenthalt in den Indianerdörfern ermöglicht, die beiden letzten Büchsen waren noch im Auetö́dorf verkocht worden.

Am 31. Oktober traten wir die Rückfahrt an. Ohne Hülfe der Indianer hätten wir die Sammlung nicht nach der Independencia schaffen können, da unsere Kanus nicht ausreichten. Aber für diese Dienstleistung hatten wir eine Anzahl schöner und nützlicher Tauschwaaren vorsorglich aufgespart. Zuerst

TAF. XI.

KULISEHU-REISE

129 begleiteten uns fünf Auetö́ in mehreren mit unserer Ladung befrachteten Kanus zu den Mehinakú, die Mehinakú halfen weiter zu den Nahuquá, mit den Nahuquá gelangten wir zu den dritten Bakaïrí; Bakaïrí aus allen drei Dörfern beteiligten sich an dem von Dorf zu Dorf gesteigerten Transport und am 13. November fuhren wir, eine kleine Flotte von 13 Kanus mit 14 Bakaïrí, an dem Küchenplatz der Independencia vor.

Kurz will ich skizzieren, was vom zweiten Besuch der Dörfer noch zu be - richten ist. Sehr angenehm und lehrreich waren die beiden Mehinakútage. Es musste photographiert und gemessen werden, da Ehrenreich zur Zeit des ersten Besuchs krank gewesen war. Die Frauen zitterten während des Messens am ganzen Körper. Sie hatten auffallend viele Kinder, wir stellten bei einer die unerhörte Zahl von sechs fest, eine andere hatte vier Töchter. Ich werde später noch das Lob dieser Nu-Aruakfrauen, der Erfinderinnen der Töpfe und der besten Pflegerinnen der Mandiokaindustrie, zu singen haben. Ein vortreffliches Bild der Gesellschaft liefert die Tafel 8 » Demonstration einer Vogelpfeife «. Sie lauscht den quellenden Tönen, die der vor mir sitzende Eingeborene dem neusibernen Ding entlockt. Sehr typisch ist die Geberde des kleinen Mädchens in der Mitte, das sich furchtsam die Ohren zuhält, und die Stellung der beiden aneinander gelehnten Freunde im Vordergrund. Wie ungemein malerisch sind alle diese nackten Gestalten in ihren zwanglosen Bewegungen! Wäre es nicht ein Jammer, wenn sie » Rücken - « und » Beinhäuser « anziehen sollten?

Wilhelm und ich schlossen wieder Freundschaftsbündnisse. » Belemo « tauschte den Namen mit Waikualu, und ich, » Karilose «, mit dem auf der Brust tätowirten Häuptling Mayutó. Wilhelm musste auch, wie ich bei den Bakaïrí, Tabak pflanzen. Mein Bruder Karilose überliess uns gegen ein Beil ein mächtiges Kanu, eine Art Arche Noah, so breit und ungeschlacht, dass der grösste Teil der Sammlung mit Carlos und Peter darin Platz fand.

24 Mann begleiteten uns zum Hafen; 6 trugen das Kanu voraus, die Höhlung dem Boden zugewendet, den Rand auf der Schulter, die durch Strohkränze ge - schützt war, 2 wanderten mit den Köpfen im Bauch des Fahrzeuges. Ein wahrer Leichenzug hinter dem Sarge, man summte unwillkürlich einen Trauermarsch. Grade vor mir schritt ein klassischer Junge. Die Kiepe reichte ihm von der Schulter bis an die Knie, darunter baumelte noch ein grosser Kürbis, in der linken Hand trug er Pfeil und Bogen, mit der Rechten führte er unermüdlich musizierend sein Pansflötchen zum Munde. 5 Mann, die an unserer Fahrt teil - nehmen wollten, führten jeder ein Ruder und ein die Hängematte enthaltendes Netz mit sich, das von der Stirn auf den Rücken herabhing. Immer einer hinter dem andern und mit dem Vorder - oder Hintermann schwatzend. An dem Ruder demonstrierten sie sich, wie gross die Messer wohl sein möchten, mit denen der Karaibe sie belohnen werde. Viele trugen Beijús, uläpe, in grüne Blätter einge - schlagen, mehrere während der Wegstunden eine Kürbisschale mit Pikíbrühe in der Hand. Das Kanu war breiter als der Waldpfad. Von einem starken Gewitterv. d. Steinen, Zentral-Brasilien. 9130überrascht, machten wir Halt, brachten die Sammlung und die Apparate unter das Kanu und sahen mit Ueberraschung, dass die Indianer entsetzlich froren und am ganzen Körper zitterten wie zarte Damen nach einem Ball im Schneewetter. Einzelne klapperten mit den Zähnen im schönsten Schüttelfrost. Es goss freilich eimerweise und das Sturzbad, empfindlich kalt, hatte kaum mehr als 15°. Unsere guten Mehinakú waren unglücklich, dass wir nicht ihrem Beispiel folgten und gegen die himmlischen Schleusen pusteten, sie bauten sich in der Eile, wohl mehr um sich zu beschäftigen, ein Schutzdach und jammerten ohn Ende uläpe, uläpe!

Im Hafen der Mehinakú erwarben wir noch ein Kanu; die Auetö́, die uns bis hierher begleitet hatten, waren mittlerweile spurlos verschwunden. Auch Vogels Hirschfänger fehlte.

Das Nahuquádorf stand unter dem Zeichen der Pikíernte. Wie die Kugeln im Arsenal lagen die Pikí in Haufen draussen und drinnen. Gestelle in den Häusern waren zum Trocknen der Kerne aufgestellt, die Weiber beschäftigt, die Früchte zu schälen, zu kochen und die Kerne abzukratzen, Menschen und Geräte buttergelb Caryocar butyrosum. Kein Pogu, sondern Pikíbrühe; die Pikíkerne von mandelartigem Geschmack, eine Latwerge » Pikíkraut « gar nicht übel in be - scheidener Dosis. Viele krank in den Hängematten, Magen und Haut verdorben, ein alter Glatzkopf Gesicht und Schädel mit Geschwüren bedeckt. Tumayaua erhielt Pikí zum Abschied auf den Weg. Nur ein Neugeborenes, das uns die Mutter brachte, damit wir es anbliesen, schien noch nichts von Pikí zu wissen.

Im Bakaïrídorf III, das die uns begleitenden Nahuquá übrigens nicht be - treten wollten, war die alte Festhütte abgebrannt und man zeigte sich sehr ängstlich gegenüber den früher so bewunderten Streichhölzern. Dafür fanden wir prächtige Vogel - und Fisch-Masken. Von zwei bestellten Kanus war das eine noch nicht fertig und das andere verunglückt.

Bakaïrídorf II war wie ausgestorben. Die Bewohner waren zum Teil, es blieb unklar, weshalb, abwesend, auch hatten wir offenbar das erste Mal fremde Gäste gesehen und mitgerechnet. Doch war Häuptling Aramöke liebenswürdig wie immer und liess uns Beijús vorsetzen, die wir daheim in der feinsten Thee - gesellschaft hätten anbieten dürfen. Nur mit grosser Mühe fanden wir einige Männer, um einen Teil der Sammlung ein Stück Weges über Land zu schaffen. Immer hiess es, sie müssten bei den Kindern bleiben. Dann lag eine Frau mit Brandwunden am Arm im Häuptlingshause, die auch der Gesellschaft bedurfte. Ein Kollege mit sehr sachverständigem Gesicht sass bei ihr und bekam zuweilen einen therapeutischen Anfall, während dessen er gottserbärmlich ächzend Wolken von Tabaksdampf über die Kranke blies oder auch der Wand zugewandt ent - setzlich stöhnte. Der » Droschkenkutscher «, der uns mit Tumayaua bis zu den Auetö́ begleitet hatte und der ein grosser Zauberarzt war, trennte sich hier von uns. Er musste sich durchaus an der Behandlung beteiligen und war nicht zu bewegen, den Fall dem doch äusserst tüchtig blasenden Kollegen allein zu über - lassen. Zum Lohn für dieses zivilisierte Verhalten verschafften wir ihm auch ein131 zivilisiertes Aeussere, das neben einem grossen Messer das Ziel seines Ehrgeizes gewesen war, in Gestalt eines Hemdes und einer Kopfbekleidung. Wir schmückten ihn mit Tumayaua, der schon längst in schwarzweiss karriertem Hemd und weisser Leinenhose darunter umherspazierte, gleichzeitig feierlich aus und photographierten die Beiden, wie figurae Abbildung 8 zeigen. Wilhelm hatte einige Prämien für die verdienstvollen Reisegenossen aufbewahrt, eine prächtige Düsseldorfer Fast - nachtsmütze, von ihm selbst in der Eigenschaft eines Prinzen Karneval auf hohem Triumphwagen getragen, grün, gelb, weiss und rot mit blinkenden Schellen, des - gleichen den mit Brillanten besetzten Halsorden Sr. Närrischen Hoheit diese beiden Stücke wurden Tumayaua zu Teil und eine echte Karnevalsmütze der noch lustigeren Schwesterstadt am Rhein, die wir dem Kollegen Droschkenkutscher in Ermangelung eines Doktorhutes über die Ton - sur stülpten. Tumayaua erhielt ausserdem einen von Wilhelm in Rio de Janeiro gekauften schwarzen Gehrock, Import aus Paris et le dernier mot de la perfection. Die Abbildung giebt uns einen schwachen Begriff davon, wie schauderhaft die zwei vor Stolz aufgeblasenen Narren in den Kleidern erschienen; beide gewiss nicht die schönsten Typen, sahen sie nun aber plötzlich geradezu hässlich krumm und schief aus, und daran war mehr als die Schäbigkeit des Anzugs der Umstand schuld, dass alle Um - risslinien aufgehoben und charakterlos geworden waren. Tumayaua war in Hemd und Hose noch ungeschickt wie am ersten Tage, er zerriss sie im Walde und schonte sie andrerseits wieder in übertriebener Vorsicht, indem er sie bei Ge - legenheiten auszog, wo selbst Kinder es nicht nötig haben.

Im ersten Bakaïrídorf hatte sich die Bevölkerung um eine junge Seele vermehrt.

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Abb. 8.

Indianer als Europäer maskiert.

Pauhaga war Vater geworden und hielt mit seiner Frau die Wochenstube ab. Ich werde auf die uns komisch anmutende Szene bei Besprechung der Couvade zurückkommen. Der Mais stand in üppigem Grün, es wurden uns auch vor - zügliche, etwas trockene Maisbeijús geboten. Meine Tabakpflanzung auf dem Dorfplatz war mächtig in die Höhe geschossen und durch einen Pallisadenzaun ringsum eingehegt worden.

Aber was erblickten unsere erstaunten Augen hinter Paleko’s Haus? Einen Neubau, bereits weit vorgeschritten, seltsamer Art. Oder eigentlich sehr ver - trauten Aussehens. Die Bakaïrí hatten unsern Rancho in der Independencia zum Vorbild genommen und statt ihres Bienenkorbes ein Haus mit dreieckigem Giebel9*132und zweiseitigem Dach begonnen. Da haben wir also geglaubt, noch etwas Echtes in einem verlorenen Winkel zu sehen, und schon will es dahinsinken. » Der erste Lichtblick «, sagt Bastian, » wird auch der letzte sein. «

Tumayaua, der zur Independencia mitging, veranstaltete gleichwohl den offiziellen Abschied in Maigéri. Er überreichte mir zwei grosse Kürbisschalen. Eine Weile darauf holte er mich herbei, fasste mich stürmisch am Arm, leitete mich von der Hütte, laut ringsum rufend, zum Balken inmitten des Platzes und drückte mich mit einer Art Begeisterung auf den Sitz nieder. Bald hockten dort vier Karaiben in einer Reihe nebeneinander. Dann schleppte er einen der hübsch geflochtenen Proviantkörbe, ¾ m hoch, herbei und stellte ihn mit fröhlicher Prahlerei als Geschenk vor uns hin. Das Hübscheste aber folgte noch. Eine runde Matte wurde auf den Boden gelegt, der Häuptling rief, und aus den Häusern kamen alle Frauen und Kinder im Laufschritt herbei und warfen einen Beijú klatschend auf die Matte, ein Jedes sofort zurückrennend, um Platz zu machen. Die hurtige Geschäftigkeit, mit der die Beijús herbeiflogen, war reizend. Da lagen einige 16 Stück. ále hiess es und wir waren entlassen. Wir ergingen uns natürlich in Lobpreisungen über die Gastlichkeit der Bakaïrí und beschlossen im Stillen, uns in der Independencia glänzend zu revanchieren.

Da ein starkes Gewitter losbrach, blieben wir die letzte Nacht im Dorfe. Es regnete draussen in Strömen und Tumayaua beschrieb seine Fahrten. Wir alle sassen noch lange um’s Feuer, das die Indianer wild aufflackern liessen, indem sie rücksichtslos das Stroh bündelweise aus der Wand der Festhütte rissen. Des schwarzen Gehrocks hatte sich Luchu als einzigen Kleidungsstückes bemächtigt, ein Anderer hatte sich mit einer Angel das Ohr geschmückt. Meine vergangene Zukünftige es schmerzt mich dies nicht verschweigen zu dürfen hatte mich kaum eines Blickes gewürdigt.

Das Lied von der Weibertreue!

Die Bergfahrt unterschied sich in manchen Dingen nicht unerheblich von unserer Thalfahrt. Wir hatten zumal des Nachts kräftige Regengüsse und Gewitter. Der Fluss schwoll an, der Sandstrand, die Uferwände verschwanden und auf weite Strecken strömte das Wasser mitten durch den Wald. Einige der kleinen Stromschnellen waren nicht mehr zu sehen, die Cachoeira Taunay rauschte und brodelte unverhältnismässig stärker. Andrerseits fiel der Fluss auch wieder einmal, als wir zu den Bakaïrí kamen; das Wasser war gelb und mit zahlreichen, durch die Flut vom Wasser abgespülten Bäumen eingefasst, von denen viele noch in grüner Jugend prangten.

Während wir auf dieser Strecke sogar weniger Zeit gebrauchten als bei der Thalfahrt, war das Rudern im angeschwollenen Fluss, obwohl wir jetzt gut trainiert waren, für die überdies meist vom Fieber geschwächten Leute sehr anstrengend. Die lange Stange, die auf der Thalfahrt das Vorwärtskommen wesentlich erleichtert hatte, liess sich nicht mehr verwerten. Doch kamen wir in Begleitung der133 Indianer schneller vorwärts; diese fuhren zwar alle Windungen aus, arbeiteten aber sehr stetig und drehten sich keine Zigaretten. Ihr gutes Beispiel blieb nicht ohne Wirkung, auch gab die Gesellschaft immer Anregung zu kleinen Scherzen. Unsere Kameraden unterhielten sich natürlich auch untereinander von Kanu zu Kanu nur noch in indianischen Sprachen, was wiederum den Gevattern grosses Vergnügen machte. In meinem Kanu hatte Jeder seine Methode, sich die An - strengung zu erleichtern. Ich selbst steckte mir ein möglichst fernes Ziel am Ufer, das ich erreichen wollte, ohne mit dem Rudern auszusetzen, und spaltete mein liebes Ich in zwei getrennte Persönlichkeiten, die eine, die sich redlich plagte und nur Pflichten besass, die andere, die streng über Nr. 1 zu Gericht sass. Wenn das Kanu nach der Meinung von Nr. 1 den Zielpunkt passierte, dann hatte Nr. 2 seine Bedenken, ob das Kanu an dieser Stelle nicht gerade einen Winkel mit der Uferlinie mache und in Wirklichkeit noch zurück sei; war dieser Zweifel gründlich beseitigt, so stellte Nr. 2 für eine gut bemessene Zusatzstrecke ein schmeichelhaftes Lob in Aussicht, das des Schweisses wert war. Doch half sich Nr. 1 durch taktmässiges leises Zählen mit allerlei Kniffen; besonders bewährte sich die folgende Art: z. B. 2, 4, 6 und so fort bis 40, dann dasselbe noch einmal, dann erst weiter zählen bis 50, nun auch bis 50 wiederholt und jetzt erst bis 60, etc. Con grazia in infinitum.

Wilhelm pflegte sich entweder die Frage nach allen Richtungen gründlich zu überlegen, was er bei der Ankunft auf der Fazenda S. Manoel und gar in Cuyabá zuerst essen und trinken solle, die verschiedenen Möglichkeiten abwägend, oder er rechnete sich den Zeitunterschied zwischen unserm Aufenthaltsort und dem Düsseldorfer Malkasten aus und wusste dann zu seinem Trost genau, wie es dort in diesem Augenblick aussah, wer in dieser und wer in jener Ecke sass, wer einen Skat drehte, wer Kegel schob oder ob gar Einer mit geübter Künstler - hand auf dem Tisch die Kreidezeichnung der lustigen Sieben entwarf.

Antonio hielt sich als echter Sohn eines Naturvolkes an die Gegenwart und war der Verständigste von uns Dreien. Durch seine Jagdgelüste immer wach - gehalten, spähte er mit muntern Sinnen umher, sah Alles, hörte Alles und speicherte die kleinen und kleinsten Vorgänge in seinem zuverlässigen Gedächtnis auf, um mit zahlreichen Lokalzeichen die Fähigkeit zu üben, die von den Kultur - menschen als » Ortsinstinkt « missverstanden wird. Wenn ich es nicht durch häufige Fragen selbst festgestellt hätte, ich würde kaum geglaubt haben, dass irgend Jemand ohne schriftliche Notizen sich nach einmaliger Fahrt auf einem gleichförmigen Fluss eine so sichere Anschauung über die Einzelheiten seines Verlaufs hätte erwerben können. Er kannte jede Windung nicht nur genau wieder, er sagte mir, wenn ich ihn fragte, richtig, dass es noch zwei oder drei Windungen bis zu dem oder jenem Punkte seien. Er hatte die Karte im Kopf oder vielmehr, er hatte zahlreiche und unbedeutend erscheinende Ereignisse in ihrer Reihenfolge behalten. Hier hatte » Doktor Guilherme « damals eine Ente geschossen, dort war ein Kapivara über den Fluss geschwommen, hier hingen Bienennester, dort stand ein hoher Jatobábaum,134 dessen Rinde ein Kanu geliefert hatte, hier war einer ausgestiegen, dort waren diese oder jene Fische, was Antonio nie vergass, bemerkt oder gefangen worden.

Im Gebiet der Katarakte gingen wir, um die Kanus zu entlasten, mehrere Mal ein paar Kilometer über Land, wo jenseits des Galleriewaldes der von Indianerpfaden durchsetzte Kamp dem Fussgänger wenig Hindernisse bereitete. Die stehende Sonne verbreitete eine arabische Gluthitze. Zuweilen fanden wir einen hübschen Durchblick und sahen in der Ferne die Kanus vorüberfahren.

Nicht nur bemerkten wir jetzt mehr Wasservögel, zum Teil von Jungen begleitet, sondern es fiel uns auch die Zunahme der Insekten auf. Die Käfer wurden jetzt eigentlich erst sichtbar; Schnecken kamen uns merkwürdiger Weise nie zur Beobachtung. Die Stechfliegen waren sehr lästig. Tiefverhasst waren uns die Mutuka-Bremsen auf dem Lagerplatz; es galt, viele abzuschlachten, ehe man sich häuslich einrichtete. Zum Glück war das Moskitonetz eine vorzügliche Falle, sie flogen zwischen die Falten der Gaze und liessen sich dort leicht totquetschen. Ein Skorpion stach mich unterwegs in die Sohle; die Stelle entzündete sich und war mehrere Tage äusserst empfindlich, doch lag die grössere Schuld auf Seiten des behandelnden Arztes. Im Augenblick der Verletzung war nur Karbolsäure zur Hand gewesen, ich wandte sie reichlich an, gebrauchte später noch eine kräftige Dosis Ammoniak und bekam eine saubere und schöne Aetzwunde. Die dem kleinen Unfall assistierenden Genossen empfahlen, auch die innere Behandlung nicht zu vernachlässigen, sie schafften den in unserer Apotheke schon sehr knapp gewordenen Eckauer Doppelkümmel herbei und nahmen auch ihrerseits von dem wohlthuenden Mittel ein, die prophylaktische Wirkung rühmend. Skorpiongift, Ammoniak, Karbolsäure, Alkohol, Theïn, Nikotin, Chinin, Arsenik und Beijú, dessen saure Gährung erzeugendes Mehl für mich das reine Gift geworden war es war eine hübsche Anhäufung.

Ich gebrauchte jetzt täglich 10 oder 12 Arsenikpillen zu 0,002 g, eine Dosis, die weit hinter den Leistungen der Arsenikesser zurückbleibt, und nahm auch etwas Chinin. Während ich 1884 an schwerer Malaria gelitten hatte, blieb ich jetzt bis auf wenige sehr leichte Anfälle frei, desgleichen der am gewissenhaftesten einnehmende Wilhelm, der bis zu 14 Pillen stieg. Vogel behandelte eine Hautkrank - heit, die ihn in hohem Grade belästigte, mit der ihm allein helfenden Fowler’schen Arseniklösung und trank sie aus der hohlen Hand, er hatte kein Fieber. Ehrenreich war von einigen ausgeprägten Anfällen heimgesucht worden, aber auch im Ge - brauch der Pillen sehr unpünktlich gewesen. Alle übrigen litten an ziemlich heftigen Anfällen, sogar Antonio blieb nicht verschont, und mehrere von ihnen hatten früher, obwohl Söhne des Matogrosso, mit Malaria noch nie zu thun gehabt. Die brasi - lischen Soldaten hatten die ganze Scheu der kleinen Kinder vor einer bitteren Arznei; sie waren albern genug wegzulaufen, sobald man ihnen das weisse Pulver vorn auf die Zunge legen wollte. Es war höchste Zeit, dass wir den Fluss verliessen. Soweit das post hoc, ergo propter hoc berechtigt ist, gehen meine Erfahrungen dahin, dass Chinin prophylaktisch vor der matogrossenser Malaria nicht schützt,135 die Anfälle aber abschneidet oder mildert, und dass Arsenik prophylaktisch eine ausgesprochen günstige Wirkung hat. Ich bin Max Buchner*)Beilage der Allgemeinen Zeitung, 1885 No. 127. für seine dringende Empfehlung der Arsenikpillen noch heute sehr dankbar. Das Aussetzen später war nicht mit den geringsten Unannehmlichkeiten verbunden, obwohl ich unver - nünftig genug war, plötzlich abzubrechen.

So hatten wir zwar mehr körperliche Beschwerden und weniger leibliche Genüsse als auf der Thalfahrt, doch war dafür die allgemeine Stimmung im Be - wusstsein des Erfolgs um so gehobener und fühlte sich Abends, wenigstens wer gesund war, um so wohler und behaglicher hinter dem luftigen Gaze-Vorhang des Moskiteiro, auf dem sich die Schatten zahlreicher Nachtschmetterlinge ab - zeichneten. Der Unterhaltungsstoff war jetzt weit reichhaltiger und die von Hängematte zu Hängematte fliegenden Gespräche wurden nur zuweilen durch eine kleine Pause unterbrochen, wenn wir aufmerksam nach den Fischern hin - horchten, ob nicht wieder ein Fisch auf den Kopf geschlagen würde.

Independencia. Bei einbrechender Dunkelheit landeten wir am 13. November an dem Bach des Küchenplatzes. Die vier Zurückgebliebenen eilten in ziemlich abgerissenem Zustand herbei, Satyr hatte sich schleunigst in eine Decke gehüllt, und die Freude war gross. In Januario’s verkniffenem Gesicht blinkten die Thränen wie Thautropfen in einem schwarzen Stiefmütterchen, er hatte die vorige Nacht geträumt, wir kämen, ave Maria, als Skelette zurück, und da waren wir ja nun auch wirklich. Die Vier hatten sich merkwürdig gut vertragen, nur habe, klagte der Küchenjunge Manoel im Vertrauen, Januario gar zu sehr den Alferes, den Leutnant, gespielt und immer Recht haben wollen. Drei Hütten waren gebaut worden, eine als Küche, in der ein neuer Holzmörser stand, eine für die Soldaten, eine für uns. Es sah ganz gemütlich aus. Der Leutnant hatte einen weiten Pallisadenzaun für die Maultiere angelegt und Mais und Bohnen gepflanzt. Der Hund Legitimo war von einem Koatí, einem Rüsselbär, getödtet worden. Die Esel erschienen rund und vergnügt, dass es eine Lust war. Nur hatten die Bremsen sie so arg geplagt, dass Rauchfeuer innerhalb der Umzäunung hatten unterhalten werden müssen. Die Indianer vom ersten Bakaïrídorf waren 4 bis 5 mal dagewesen und hatten es an Beijús, Mehl und Mais nicht fehlen lassen. Das letzte Mal hatte sich auch eine pekóto, eine Bakaïrífrau, hergewagt.

Wir gönnten uns einen Ruhetag. Es gab Erbsensuppe, gedörrtes Schweine - fleisch und Einer buk Mandiokakuchen mit Oel, zu dem garantirt echter Wald - honig und Thee gereicht wurden. Das Grossartigste waren aber auf den Mann zwei Zigarren. Wilhelm nahm den zurückgelassenen Proviant auf, der uns für die Heimreise übrig geblieben war: Salz 2 Sack, Paraguaythee ¼ Sack, Suppentafeln Dosen, Gemüse 4 Dosen, Kemmerich’sche Fleischmehlpatronen 24 Stück, Bohnen 4 Mahlzeiten. Ehrenreich operierte bei sich und Andern » Berne « - Ge - schwülste, von Insektenlarven hervorgerufene Beulen; das Tier wird mit Chloro -136 form oder Sublimat getötet und kann schmerzlos ausgedrückt werden. Perrot sass in Betrachtung seines bunten Halstuches versunken, das erst von einem Nahuquá gestohlen und nur unter dramatischen Auftritten zurückerlangt worden war, und das nun die Blattschneiderameisen in ein Spitzengewebe verwandelt hatten. Vogel schlief in der Hängematte, während Goethe’s Gedichte, die er sich zu seiner Erbauung von Wilhelm geliehen hatte, darunter lagen. Ich nähte zerrissene Unterhosen und las dabei in F. A. Lange über analytische und syn - thetische Urteile.

In den nächsten Tagen musste fest gearbeitet werden. Von der Sammlung war Vielerlei verschimmelt und feucht geworden, die Indianer lieferten noch manche wertvolle Erklärung, es wurde photographiert, entwickelt, gemessen, ge -

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Abb. 9.

Unser Fremdenhaus in der Independencia.

schrieben, gerechnet, gepackt, mit einem Wort in jeder Richtung gewirtschaftet. Manche der im Kanu leicht mitzunehmenden Ethnologica waren auf Maultieren kaum unterzubringen. Die grössten Bogen hatten fast m, die Pfeile fast 2 m Länge. Unmöglich konnten die Fangkörbe und Reusen wegen ihres grossen Volums und ihrer Zerbrechlichkeit den Tieren anvertraut werden. So ist denn Ehrenreich den ganzen Heimweg mit einer langen Fischreuse und bin ich ebenso mit zwei nicht schweren, aber wegen ihres grossen Umfangs und ihrer Papierkorb - form recht lästigen Fangkörben, deren Spitzen in den Hals stachen, nach Cuyabá gewandert.

Unsere Gastfreunde, die sich in unserer Kochhütte häuslich eingerichtet hatten, wurden des Sehens und Hörens nicht müde. Luchu, der eitle Fant,

TAF. XII.

INDEPENDENCIA KÜCHENPLATZ

137 verübte kleine Diebereien. Sie hatten nun auch das Messen gelernt. Einer holte sich eine Stange und mass ein Maultier aus, indem er sie neben die Ohrspitzen, den Kopf, den Rist, die Kruppe und das Ende des Schwanzes hielt und jedesmal eine Schnur umband; sorgsam brachte er seine Tabelle in Sicherheit. An einem schönen dunkeln Abend wurde das Lager bengalisch beleuchtet. Ein wackerer Apotheker in Desterro hatte uns ausser einer Kollektion Flaschen, die die wohl von einem sinnigen Landsmann vorgeschriebene Be - zeichnung » Steinenschnaps « trugen, ein Kistchen Feuerwerk mitgegeben. Prächtig machten sich die bunten Leuchtwolken an den Ecken des Viehzauns.

Nach dem Muster der Szene in Maigéri veranstalteten wir einen solennen Abschied. Es wurde eine Flaggenstange aufgerichtet, darunter ein Lederkoffer gestellt und ihm zu beiden Seiten eine Sitzreihe angebracht, Ponchos davor aus - gebreitet. Dann holte Jeder feierlich einen Indianer herbei, ich duckte Tumayaua auf den Koffer nieder und ebenso verfuhren die Andern mit ihrem Ehrengast. Wir verschwanden und kamen mit zahlreichen Geschenken in einer Kette wieder herbeigelaufen, das heisst, Jeder überlieferte nur ein einzelnes Stück und eilte, ein neues zu holen und sich wieder hinten an die Kette anzuschliessen. Taschen - tücher, Spiegel, Perlen, Messer, kleine und grosse, für die Häuptlinge Hemden und Beile, kurz Alles, was noch vorhanden war. Stets erhielt Tumayaua als braver Schweppermann das Doppelte. Zum Schluss - und Knalleffekt wurde der kleine Spitz Fazendinha an einer Leine auch im Laufschritt herangerissen. Als die Spanier einst nach Amerika kamen, brachten sie Bluthunde mit, wir dagegen verehrten den » Wilden « ein Schosshündchen, denn Tumayaua sollte das niedliche Tier seiner Tochter, meiner Eva aus der Bakaïrí-Idylle, mitbringen. Ein Ge - schenk freilich so unfruchtbar wie unsere Eisenwaaren.

Am 16. November kamen die Indianer gegen Uhr morgens, nur Tu - mayaua that seinen Mund auf und sprach itahé-ura » ich gehe «. Ehe die Sonne aufging, waren sie alle verschwunden.

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VII. KAPITEL. Independencia Cuyabá.

Route. Transport und Beschwerden in der Regenzeit. Perrot und Januario verirrt. Hunger. Ankunft am Paranatinga und in der Fazenda S. Manoel mit Hindernissen. Weihnachten im Sertão. Ankunft in Cuyabá.

Für den Marsch von der Independencia nach Cuyabá bildete wiederum der Paranatinga die Grenzscheide zwischen dem schwierigeren und dem leichteren Teil, und die erste bewohnte Station, die Fazenda S. Manoel, lag an seinem linken Quellfluss S. Manoel. Wir brachen am 19. November von unserm Lager am Kulisehu auf, die Truppe erreichte die Fazenda am 17. Dezember, sie mar - schierte dort ab am 22. Dezember und traf am 31. Dezember in Cuyabá ein.

Wiederum zogen wir von dem Kulisehugebiet an den Rand des Batovy - Quellbeckens und wählten nur den Uebergang über die Wasserscheide zum Paranatinga auf der » Rondonstrasse « (vgl. S. 41). Wir hofften in dem an der Kreuzungsstelle unserer Pfade errichteten Briefkasten genauere Auskunft über die Beschaffenheit des Weges nach S. Manoel zu erfahren. Denn Rondon würde mit Sicherheit seine Goldsuche nicht bis in die Regenzeit hinein fortgesetzt haben, es sei denn, er hätte das Eldorado der Martyrios gefunden. Von der Fazenda nach Cuyabá gab es keine Sorgen mehr; es war dies sogar die kürzeste Verbindung zwischen dem Paranatinga und dem Hauptstädtchen.

Hatte auf dem Hinweg der schwierigste Abschnitt unseres Unternehmens zwischen dem Batovy und dem Einschiffungsplatz gelegen, so waren von den sechs Wochen des Rückmarsches die vier bis zum Paranatinga die schlimmste Zeit der Expedition überhaupt. Da haben wir wirklich vielerlei kleine Leiden durchmachen müssen, die schlimmer sind als grosse, wie Moskitos und Zecken schlimmer sind als Raubsäugetiere, und wie zahlreiche angeschwollene Bäche für den Reisenden schlimmer sind als das Uebersetzen über einen breiten Fluss. Es hatte uns trotz Januario nichts genutzt, dass die Mondsichel am Vorabend unseres Auszugs fast wagerecht stand; es regnete dennoch.

Die Regenzeit! Bei einer Heimkehr kann man mit ihr fertig werden; aus - ziehen jedoch, wenn sie bereits begonnen hat, hiesse den Erfolg von vornherein139 unverantwortlich auf’s Spiel setzen. Man darf sich nicht vorstellen, dass wir in einer unausgesetzt giessenden Douche gewandelt seien, aber der Gegensatz zu der fast wolkenlosen Trockenzeit war in der That gewaltig. Sehr heftige Ge - witter kamen nieder, viel Landregen und Nebelgeriesel wurde uns zu Teil, und ein sonniger Tag wie der 28. November war eine seltene Ausnahme. Regnete es nicht, so war doch der Himmel düster und grau, sodass uns einige Augen - blicke dünnen Sonnenscheins oder Nachts ein sternenklarer Himmel wahrhaft wohlthuend dünkten. Zuweilen war der Regen sehr kalt und wir schüttelten uns wie damals die nackten Mehinakú im Walde. Und ein ander Mal schwitzte man innerhalb des feucht dunstigen Moskiteiro wiederum wie in einer überhitzten Waschküche.

Der Kamp hatte sich verjüngt; weil es im alten Europa schneit, wenn es hier regnet, nennt man auch hier die Zeit, wo doch Tier und Pflanzenwelt zu neuem Leben erwachen und wo die Sonne am höchsten steht, den » Winter «. Der Campo cerrado war in dem frischen Grün kaum wiederzuerkennen; wo das hohe dünne Massegagras niedergebrannt worden war, deckte den Boden junges Gras mit weissbüschligen Halmen. Es nahm die Trittspur kaum auf und die Nach - folgenden bedurften verdoppelter Aufmerksamkeit.

Auch die Bäche waren nicht wiederzuerkennen. Die Ufer hatten durch den höheren Wasserstand ein anderes Aussehen bekommen, es floss manches Ge - wässerchen munter daher, das früher ausgetrocknet gewesen. Vor unsern Augen schwoll das Wasser an und fiel; wir konnten uns den Uebergang oft günstiger gestalten, wenn wir mehrere Stunden warteten. Eine kurze Strecke schwammen die Maultiere mit Gepäck; wir selbst gewöhnten uns daran, nur die Stiefel anbe - haltend, bis an den Hals durch’s Wasser zu waten. Mehrere konnten leider nicht schwimmen.

In einige Verlegenheit gerieten wir nach einer ekelhaften Regennacht am 22. November vor einem kleinen tiefen Flüsschen. Wir fällten einen hohen Angikobaum, der auch in guter Richtung stürzte, aber doch nicht bis zum andern Ufer reichte. Dann aber waren wir im Besitz von etwa 25 m verzinnten Eisen - drahtes, den uns Herr Weber in Rio de Janeiro als unerlässlich, ich spreche bild - lich, auf die Seele gebunden hatte. Bisher war er nicht gebraucht worden, hier that er gute Dienste. Er wurde mit einem Lasso auf das andere Ufer geworfen und nach einigem Herüber und Hinüberschwimmen gelang die Beförderung vor - züglich. Die Bruaken glitten an einem Haken und durch einen Riemen geleitet; die erste Probe war mit einer Fracht Tapirfleisch nebst Herz und Leber gemacht worden. Schliesslich als die Bündel der Kameraden an die Reihe kamen, riss der Draht.

Für die Nichtschwimmer bedienten wir uns hier auch zum ersten Mal der vortrefflichen in den häutereichen Provinzen Brasiliens üblichen » Pelota «. Eine Ochsenhaut wurde nach Art einer niedrigen quadratförmigen Schachtel umgebogen und in dieser Form durch einen mit Riemen befestigten, aus beliebigen Stangen140 improvisierten Holzrahmen erhalten. An einer der Seiten hing ein Leitriemen, den ein Schwimmer zwischen die Zähne fasste, während ein zweiter nebenher schwimmend steuerte. Bedeutend rascher herzustellen ist eine Pelota, die uns Antonio kennen lehrte. Er bog einfach ein dünnes Stück biegsamer Schlingpflanze zu einer rundovalen Schlinge an solchen Rahmen hängen die Fischnetze der Indianer und befestigte die Ochsenhaut ringsum mit Riemen.

Da gab es natürlich viel zu lachen, erst recht, wenn der in dem aufge - spannten Regenschirm sitzende Passagier auch seinerseits zu lächeln bestrebt war. Der ganze Tag ging mit dem Uebersetzen verloren, das Lager wurde auf der einen Seite abgebrochen und auf der andern wieder aufgeschlagen. Nur war hier wenig Raum, da hoher Wald an den Fluss herantrat. Fröhliches Rufen und Schreien erfüllte die Luft. Die Madrinha stand angebunden und klingelte ver - lockend. Nackte Menschen patschten und paddelten nach Art der Hunde im Wasser bei den schwimmenden Maultieren, Carlos Alles mit seinem lustigen » o diavo « übertönend. Nackte Menschen auch, immer bereit wieder in den Fluss zu stürzen, waren oben unter den niedrigen Akurípalmen beschäftigt, die Bruaken, die Säcke oder die ungeschickten langen Pfeilbündel zu schichten und das Sattel - zeug aufs Gerüste zu hängen. Daneben lauter Genrebildchen; Einer schlug die Hängematte auf, ein Anderer sass vor Antonio auf einem Fell und liess sich die Haare schneiden, Ehrenreich quälte sich, Columna einen Dorn aus dem Fuss zu ziehen, Perrot daneben schwang eifrig die Salmiakflasche man hatte die Wunde für einen Schlangenbiss gehalten und Carlos hatte sie ausgesogen. Wieder ein Anderer machte sich am Feuer zu schaffen und kochte oder briet, und hübsch genug sah es aus, wie der bläuliche Küchenrauch vor den Palmen aufstieg. Endlich war der letzte Esel drüben über den Abhang erschienen und herüber - gebracht; mit ihm kam der Papagei, den ein Soldat vom Kulisehu nach Hause nahm, auf der Hand seines schwimmenden Herrn. Nur Diamante, der schwer - fällige alte Köter, hatte noch keine Lust, das Ufer zu verlassen, solange er dort noch einen Rest Fleisch unverschlungen wusste. Denn Braten fehlte am » Rio do Arame «, am Drahtfluss, nicht; es hatte sich endlich einmal ein Tapir schiessen lassen, und zwar endlich einmal einer, der ausnehmend zart war. Fette Stücke hielten den Vergleich mit gutem Roastbeef aus, und die Leber zerschmolz im Munde.

So fehlte es nicht an den Freuden des Daseins. Wir konstatierten, dass wir in jener Zeit einen ganz unglaublichen Fleischhunger hatten; wir assen, wenn es ein oder zwei Tage kein Wildpret gegeben hatte, einen stinkenden Bock, ohne mit der Wimper zu zucken. Freilich konstatierten wir bald nicht minder, dass wir einen unglaublichen Fetthunger hatten; wir wurden ordentlich tiefsinnig, als wir an einem alten Lagerplatz Rondons zwei leere Blechbüchsen fanden, in denen, der schönen Aufschrift nach zu urteilen, einst mehrere Kilo amerikanischen Schmalzes enthalten gewesen waren. Und endlich entwickelte sich ein Hunger nach Süssem, der an das Krankhafte grenzte. In Summa, wir hatten alle Arten von Hunger.

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Verdauungsstörungen waren überall vorhanden, abgesehen von den Fieber - anfällen. Sie schienen mehr von der Nässe herzurühren. Füsse, Glieder, Kleider, Taschen, Hängematten, Nachtsäcke, Alles war nass, was man anfasste. Man neigte zuweilen zu dem Glauben, dass sich der sumpfige Kamp in eine Lagune und wir selbst uns in Frösche zu verwandeln im Begriff waren. Wir verloren die Lust am Anblick der oft sehr stimmungsvoll wässrigen Landschaft und be - grüssten als die einzige richtige Staffage eines Tages einen riesigen Cervo oder Sumpfhirsch, in der Ferne einem gelben Ochsen ähnlich, der langsam und schwerfällig, das Haupt gesenkt und vorgestreckt, ein Bild aus vorsündflutlichen Zeiten, mit stumpfer Neugier bis auf 20 Schritt an uns herankam, aus Antonio’s Flinte einen Schrotschuss in die Brust empfing und daraufhin abtrollte, von den wütenden Hunden verfolgt.

Unsere Sachen faulten elendiglich. Die früher nur allzusteifen und buckligen Ochsenhäute, die vor der Nässe schützen sollten, verwandelten sich in schlappe Lappen, sie wurden von spitzen Dingen widerstandslos durchlöchert und rissen bei stärkerer Anspannung in breite Fetzen. Nur zwei Häute noch konnten als Pelota dienen. Die Ledersäcke verfielen demselben Erweichungsprozess; die Holzsättel zerbrachen, wurden notdürftig zusammengeflickt, passten nicht mehr und erzeugten auf den Eselrücken flache Hautwunden, die sich mit eitrigen Krusten bedeckten und trauliche Heimstätten boten für allerlei » bichos damnados «, zu Deutsch » verdammtes Viehzeug «. Was geleimt und geklebt war, was Papier oder Pappdeckel hiess ave Maria! Die Sammlung, die photographischen Platten, wir zitterten um ihretwillen an jedem Bach, wir stürzten hinter den einzelnen Stücken her wie Mütter, deren Kinder in’s Wasser fallen, aber man wusste nicht, hatten sich die Esel niederträchtiger Weise verschworen, gerade mit der kostbarsten Ladung in die nasse Tiefe abzurutschen oder nur Esel ver - mögen darüber zu entscheiden steigerte sich bei ihnen umgekehrt edelmütige Sorge für unser wertvollstes Gepäck zu einer Angst, um Himmelswillen nicht fehlzutreten, die sie mit Blindheit schlug und im kritischen Augenblick der Gegen - wart des Geistes beraubte?

Am 28. November setzten wir über den Südostarm des Batovy mit vielem Aufenthalt, am nächsten Morgen passierten die Tiere. Wir beschlossen, den schönen Tag zum Trocknen zu benutzen. Perrot und Januario, die Berittenen, sollten derweil den Briefkasten aufsuchen und uns die Antwort Rondons holen; es wurde angenommen, dass sie in 3 bis 4 Stunden dort sein konnten. Vor - sichtiger Weise nahmen sie Decken, Salz und Gewehre mit. Doch kehrten sie weder an diesem Abend noch am nächsten Morgen zurück. Wir waren bei der mondhellen Nacht gänzlich unbesorgt und beschlossen, langsam vorzurücken. Am 1. Dezember waren sie noch immer nicht zurück. Wir zündeten auf einem Hügel Feuer an, das nur eine schwache Rauchsäule entwickelte, schossen ver - schiedentlich und gingen unsrerseits den Briefkasten aufsuchen. Es zeigte sich, dass er um einen Chapadão weiter war, als wir gerechnet hatten. Antonio habe142 ich nie mehr bewundert, ohne Sonne, ohne Hiebmarken schlenderte er auf seinem Schlangenweg dem Orte zu und fand den richtigen Hügelzug, auf dem nach einigem Suchen auch der richtige Baum entdeckt wurde. Die beiden Fähnchen waren noch vorhanden. Von Perrot’s und Januario’s Besuch keine Spur. Die Antwort Rondon’s, mit Bleistift am 4. September 1887 geschrieben, lag in der Büchse. Sie sprach sich dahin aus, dass der Weg auch in der Regen - zeit passierbar sein werde und Alles nur von dem Wasserstand des Paranatinga abhänge. Die Entfernung nach der Fazenda S. Manoel wurde auf 16 Leguas (99 km) geschätzt. Der Weg von S. Manoel nach Ponte alta sei fest, ohne Hindernis in den Serras und 25 Leguas (144,5 km) lang.

» Ich bin «, lautete das sehr liebenswürdig gehaltene Schreiben des José da Silva Rondon weiter, » bei der Untersuchung der Flüsse, die ich antraf, nicht so glücklich gewesen, als Ew. Hochwohlgeboren mir gewünscht haben. Ich stiess mit Indianern » de conducta «, von schlechter Aufführung, zusammen, verlor in dem Kampf einen Gefährten, der fiel, und zwei, die versprengt wurden; zwei andere erhielten leichte Pfeilwunden. «

Das waren nun auch Schingú-Indianer, aber die uns unbekannten der Ronuro - Quellflüsse gewesen. Halt, da standen auf der vierten Seite des Briefbogens noch ein paar Zeilen in anderer Handschrift und anderer Orthographie. » Am 12. September bin ich hier am Schingú vorbeigekommen. Francisco Chivier da Silva Velho. « Der Name war uns nicht fremd; es war der des weithin bekannten Sertanejo Chico Velho, des Führers von Rondon, offenbar des einen der zwei Versprengten. Acht Tage nach Rondon und allein! Das liess tief blicken.

Betreffs der Leguas der berittenen Sertanejos waren wir etwas misstrauisch geworden; jedenfalls konnten Perrot und Januario, die immer geglaubt hatten, dass die Fazenda leicht in zwei Tagen zu erreichen sei, schweren Täuschungen zum Opfer fallen, wenn sie durch irgend einen Umstand veranlasst worden waren, vorauszureiten. Ihr Schicksal trat jetzt in den Vordergrund aller Ueberlegung. Dass sie sich verirrt hatten, konnten wir nicht begreifen, weil der erfahrene Januario den Weg dreimal gemacht hatte, sie auch irgendwo auf unsern alten Weg oder auf die Rondonstrasse stossen mussten und eine Aussicht auf den Batovyberg überall zu gewinnen war. Wir thaten bis zum Mittag des 3. Dezember Alles, was in unsern Kräften stand, durchkreuzten das ganze Terrain in allen Richtungen mit Patrouillen, durften aber nicht vergessen, dass die Beiden beritten waren und wir nicht, dass auch für uns viel auf dem Spiele stand, und dass jene vielleicht in Sicherheit waren.

Wir wanderten nun auf der Rondonstrasse in das Paranatingagebiet. Der Pfad war meist leicht erkennbar, oft mit grosser Geschicklichkeit um die Hügel geführt und mit wuchtigen Hieben markiert. Chico Velho’s Hand schrieb sicherer auf Baumrinde als auf Papier. Wir fanden auch Brücken, doch waren sie nur zum kleineren Teile noch brauchbar.

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Am 4. Dezember entdeckte Antonio endlich Spuren eines Pferdes und eines Maultieres, am 5. Dezember trafen wir gar ein niedriges Schutzdach aus Palm - blättern, wo die Beiden geschlafen hatten, mit einer Feuerstelle und dabei einen Rest Rehkeule von stärkstem Hautgoût. Antonio ass noch davon und spaltete die Knochen, um sich das Mark hervorzuholen. Die Hufspuren blieben sichtbar bis zum 6. Dezember, wo wir einen sehr hoch angeschwollenen Quellbach und jenseit desselben den eine breite Strecke unter Wasser gesetzten Wald zu passieren hatten; hier schienen die Reiter zu einer anderen Stelle abgeschwenkt zu sein.

Mit unserm Proviant waren wir zu Ende. Am 7. Dezember hatten wir noch 7 Tafeln Erbsensuppe und 7 Kemmerich’sche Patronen. Allein die Leute verachteten mehr und mehr unsere Suppen. Sie kümmerten sich nicht um die physiologische Berechnung des Nährwertes, und es ist richtig, selbst bei uns, die wir bei noch gutem Allgemeinzustand gern eine Weile theoretisch satt wurden, blieb jetzt ein Gefühl von Vereinsamung und Leere im Magen zurück, das der Volksmund Hunger nennt. Das letzte Mandiokamehl von den Indianern war am 4. Dezember in Gestalt eines vorzüglichen » Eiermingau « verzehrt worden, eine Schlussapotheose mit 8 dunkellila gefärbten, wie Billardkugeln spiegelnden Eiern, die uns ein braves Rebhuhn auf den Weg gelegt hatte. Zwei Rehe tauchten vor unserm freudigen Augen auf, da rannte der Hund Certeza ihnen eifrig entgegen und vertrieb sie mit der ganzen seines Namens würdigen Sicherheit. Es schadete nicht viel, dass Manoel unterwegs mehrere Teller und sämtliche Gabeln und Löffel verlor. Von den Leuten war täglich der Eine oder Andere für eine Stunde verschwunden, nicht immer dann, wenn er leicht zu entbehren war, und der Grund war stets derselbe: Honig suchen. Zeitweise wurden sie recht kleinmüthig, doch vergab man ihnen Alles, wenn z. B. der Mulatte Satyr eine gebratene Wurzel aus der Asche aufnahm und laut auf Deutsch ausrief: » Essen fertik. Sähr gut «.

Die vegetabilische Kost, die die Umgebung bot, war recht dürftig, aber sie füllte wenigstens: Palmkohl von der Guariroba, chininbitter, und die Wurzel der » Mandioca de campo «, Kampmandioka, yamsähnlich, holzig, nach Antonio auch von den Bakaïrí unterwegs gegessen.

Glücklicher Weise hatten wir Tabak im Ueberfluss, den knurrenden Magen zu besänftigen. Wir rauchten und tauschten in der Hängematte liegend die An - sichten über eines Jeden Lieblingsspeisen aus. Da fielen Worte wie Clever Spekulatius, Tutti Frutti, Schinkenbrod, Pumpernickel mit Schlagsahne, Saucischen, junge Hasen mit Rahm, Schmorbraten, und es war ein Hochgefühl, wenn dem Andern der Mund noch mehr wässerte als Einem selber. Durch ganz besondere Urteile zeichnete sich Ehrenreich aus, der ein seltsames Gedächtnis für seine kulinarischen Erlebnisse auf Reisen besass und Lob und Tadel schroff über die Welt verteilte. Die besten Teltower Rübchen ass man nach der Erfahrung dieses Berliners in Viktoria in der brasilischen Küstenprovinz Espiritu Santo, das Beste wurde geliefert von Spiegeleiern am Bahnhof in Rom, von Baumkuchen am Bahnhof in144 Kottbus, von Hammelrücken in Tondern, von Fruchteis oder von Kalbsherz in München, von Weisswein im Kasino zu Trier; es gab das schlechteste Brod in der Schweiz, die schlechtesten Würste in Brasilien, die schlechtesten Makkaroni in Neapel, das schlechteste Essen überhaupt in Heidelberg, das schlechteste Bier in Oberammergau. Wie gut wäre uns auch das Schlechteste erschienen!

Am 8. Dezember konnten wir zum ersten Mal eine ordentliche Queimada anlegen als Wahrzeichen für die Verschollenen. Wir rechneten leidenschaftlich die Entfernungen aus und sahen, dass Rondons Angabe zu klein ausfiel. Wir passierten zahlreiche tief eingeschnittene Bäche, viele sumpfige Strecken (Atoleiros), fanden uns wieder mitten im dichten, mit Gestrüpp gefüllten Kamp, stiegen von Chapadão zu Chapadão und immer noch erschien keine Aussicht auf den Para - natinga. Erst am 9. Dezember nach steilem Aufstieg erblickten wir den breiten Waldstreifen, den wir ersehnten. Wir schlugen einen langen Weg Pikade und standen plötzlich vor dem gelben, hochangeschwollenen und reissend dahinströmen - den Fluss, der an dieser Stelle etwa 80 m breit war.

Von hier bis zur Fazenda sollte es noch » 5 Leguas « sein. An ein Uebersetzen der Truppe ohne Kanu war nicht zu denken. Antonio musste eins machen. Lebensmittel waren nicht mehr vorhanden. So entschied ich mich, mit Peter sofort zur Fazenda aufzubrechen. Unsere Hängematten und Kleider wurden in einer Pelota auf das linke Ufer geschafft, wir selbst gingen ein gut Stück fluss - aufwärts und schwammen hinüber oder wurden vielmehr durch die Strömung fort - gerissen. Um Uhr schlugen wir uns drüben in die Büsche und kamen bald an das linke Ufer des S. Manoel, eines breiten, aber stillen Flusses, den wir wieder durchschwammen. Die Fazenda lag noch weit oberhalb. Das Verhältnis war so, dass der Fluss auf dem Wege von ihr zum Paranatinga einen grossen Bogen machte und links einmündete, wenige Kilometer oberhalb unseres rechts gelegenen Lagers. Wir schritten wieder auf wirklichen, von Fährten bedeckten Wegen; die erste Spur, die uns die sichere Nähe von Menschen verriet, rührte von Ochsen und Eseln her. Nach 6 Uhr, als die Sonne zur Rüste sank, erschallte wütendes Hundegebell, und wir standen noch nicht vor der Fazenda, aber vor einem Retiro, einer Viehstation derselben, der sogenannten » Fazenda Pacheco « älteren Datums.

» Como passou? « » wie geht es Ihnen? « begrüsste mich mit biederm Hand - schlag ein kropfbehafteter Mulatte, der Vaqueiro Feliciano, der draussen in einem Topf uns hüpfte das Herz vor Freude prasselnde Bohnen kochte. Bald erschien auch der Capataz Francisco de Veado, ein alter wetterfester Jägersmann, kerzengrade und stolz, als trüge er immer einen Degen an der Seite. Sie hielten uns für Leute von Rondon.

Eine Umzäunung für das Vieh, schlammiger ausgetretener Lehmboden, ein kleines Wohnhaus, 3 Schritte breit, Schritte lang. » Ihr Haus, Ew. Hoch - wohlgeboren. « Nach meinem Aussehen konnte ich eigentlich nur auf » Ew. Wohl - geboren « Anspruch machen. Drinnen: die Wände senkrechte Stiele mit dünnen145 Bambusquerhölzern, der Eingang bei offener Thüre unten durch ein paar Quer - stangen gegen hereinlaufende Tiere gesichert; im Palmstrohdach oben arbeitete ein Bienenschwarm. Eine weisse Hängematte, das Bett ein Gestell mit einem Ochsenfell belegt und einem Sack als Kopfkissen, auf Gestellen darüber kleine Säcke mit Bohnen, Reis, Farinha, Salz; unten an der Wand Bruaken, ein Holz - sattel, ein paar alte Kisten, auf denen Kürbisschalen, Holzlöffel und vier kleine eiserne Kochtöpfe standen, über der Thüre ein Reitsattel mit Riemenzeug, daneben ein Strohhut mit einer von der Kinnschnur lang herabhängenden bunten Troddel, ein dünner Vorderlader, eine klobige Pistole, an einigen Stangen Leinenzeug, Kleider, Decken, Lassos, auf dem Boden eine Feuerstelle und ein Haufen Asche, Sandalen, eine grosse Wasserkalabasse, mit einer Kürbisschale zugedeckt; in einer Ecke, an drei Stricken befestigt, ein aus Aststücken zu - sammengesetztes dreieckiges Hängebrett mit kaltem Rehbraten und einem Stück Ameisenbärfleisch belastet. Kein Kaffee, kein Paraguaythee. Eine leere Flasche. Das war wohl ziemlich genau das sichtbare Inventar.

Die Beiden erschöpften sich in Liebenswürdigkeiten, gaben uns Speck, Farinha, Rapadura Alles einfach, aber für uns grossartig. Auch unterliessen wir nicht die landesüblichen Förmlichkeiten, dankten verbindlich nach jedem Ge - richt und baten bei jeder Einzelheit um besondere Erlaubnis, so um einzutreten, niederzusitzen, Wasser zu nehmen, die Hängematte aufzuhängen u. s. w.

Beim Morgengrauen des 10. Dezember gingen wir fort. Wir hatten noch ein Nebenflüsschen des S. Manoel, den Pakú, der uns aber nur bis an die Hüften reichte, und ein paar kleinere Bäche zu durchschreiten. Ich musste in jenen Tagen oft der Hydrographen gedenken, die so zierlich und sauber ihre blauen Aederchen auf Papier zeichnen.

Um 10 Uhr betraten wir eine kleine Ansiedelung von Arbeitern und sahen dann unsere berühmte Fazenda S. Manoel gegenüberliegen auf hohem Ufer, in üppiger Tropenlandschaft ein Bild, das mich lebhaft an Java erinnerte. Lehm - hütten aus Fachwerk mit Palmstroh gedeckt, ein grosser Viehhof. Ein Rinden - kanu brachte uns hinüber.

Man sass beim Frühstück. Am liebsten hätte ich einen der Kameraden bei - seite geschoben und mich an seine Stelle gesetzt. Nun, José Confucio mit schwarzem Vollbart, das dicke Haar bis fast auf die Brauen reichend, barfuss in sauberem Leinenanzug aus Hemd und Hose empfing uns mit herzlicher Gast - freundschaft. Es war urgemütlich. In der einfachen Stube hing als Schmuck ein Jaguarfell, das am Tage vorher abgezogen war, aufgespannt an der Wand; der Raum war wieder mit Bruaken und allerlei Vorräten gefüllt, und auf dem gestampften Boden lag Stroh von Zuckerrohr umher, eine säugende Hündin war in der einen Ecke gebettet und aus den andern ertönte überallher ein unermüdliches Kükengepiepe. Bei Tische bedienten uns die Negerin Antoninha und eine alte Bekannte aus dem Paranatingadorf der Bakaïrí, die Indianerin Justiniana.

v. d. Steinen, Zentral-Brasilien. 10146

Da lagen sogar Zeitungen! Nicht gerade das Morgenblatt von Sonnabend, dem 10. Dezember, mit Sonntagsbeilage, sondern ungefähr einen Monat älter, aber für mich hinreichend aktuellen Inhalts. Ich erfuhr, dass der » Rio Apa «, der für uns eigentlich bestimmte Postdampfer, im Juli mit Mann und Maus untergegangen war. Confucio hatte einen Bruder in Cuyabá, der Kosciusko hiess und » ein französischer Philosoph « war. Seine zwei Schwestern Namens Brasilina und Poly - carpina wohnten auf der Fazenda. Von unsern Freunden, den benachbarten Fazendeiros am oberen Cuyabá, wollte er nichts wissen. Das Land gehöre gar nicht der Donna Matilda und ihren Verwandten, sie seien nur überall umher - gezogen und erhöben nun Ansprüche auf das ganze linke Ufer des Paranatinga.

Auch auf Rondon war er schlecht zu sprechen. Er habe seine Leute Hunger leiden lassen und mitgeführte Ochsen verkauft, statt ihnen das Fleisch zu geben. Das Zusammentreffen mit den Indianern hatte sich, wie zu erwarten war, so abgespielt, dass die Brasilier sofort, als jene mit dem gewohnten Empfangsgebrüll erschienen, Feuer gaben. Es war Rondons Vorhut gewesen, der Kapitän Francelino aus Rosario mit 6 Leuten, die diese alte und immer wieder neue Thorheit begingen. Dabei zitterte Francelino infolge Neuralgie die Hand, er kam mit dem Laden nicht zu Stande und brach unter einem Pfeil - schuss zusammen. Rondon, der die Schüsse hörte, entfloh entsetzt, » aborrecido «. Er beeilte sich so, dass ein armer Teufel von Kamerad, der hinkte, zurück - geblieben und wahrscheinlich im Sertão umgekommen sei. Und mir lag derweil wie Alpdrücken die Frage auf der Seele: was ist aus Januario und Perrot ge - worden?

Zweierlei war für uns das Notwendigste: Lebensmittel und da unsere Esel samt ihren Sätteln in dem denkbar schauderhaftesten Zustande waren, ein Arriero für die Tiere. Ich mietete einen Mann Namens Gomez und liess ein Oechslein mit Maisfarinha, Reis, Bohnen und Speck beladen. Farinha von Mandioka war nicht vorhanden, auch von Reis gab es nur wenig; Dörrfleisch, wegen des Regens knapp geworden, erhielt ich nur 4 kg, und Rapadura, die nicht im Hause gemacht, sondern von der Serra geholt sei, nur 6 Stück. Schnaps bekam ich mit Ach und Weh 2 Flaschen, er war in der vorigen Woche bei einer » Promessa « ausgetrunken worden. Ein Maultier war abhanden gekommen, man hatte eine » Promessa « ge - macht, ein Gelöbnis an den heiligen Antonio, dass er es wiederschaffe, und die Dankfeier mit Gebet (reza), Schnapstrinken und Pururútanzen begangen.

Nun, die beiden Unglücksmenschen, Perrot und Januario, die uns beinahe den Streich gespielt hätten, die ganze Expedition zu verderben, sie sassen wieder im alten Zelt. Columna, der einem Santo eine Kerze gelobt hatte, wenn sie wiederkehrten, war erhört worden; (bezahlen muss freilich der, für den das Ver - sprechen geleistet worden ist). Den 10. Dezember, den Tag nach meinem Weg - gehen, waren sie Nachmittags angeritten gekommen, triefend, abgerissen, zer - schunden, mager, hohläugig Jammergestalten, und doch von Freude erfüllt. Sie waren nicht ertrunken, nicht vom Blitz erschlagen oder sonst auf eine147 interessante Art verunglückt, sie hatten sich wirklich nur gründlich verirrt und zwar schon von Anfang an, sie waren zwölf Tage die Kreuz und Quer umhergezogen, sie hatten die drei letzten Tage nichts mehr gegessen und waren noch im Besitz von zwei kostbaren Zündhölzern. Januario’s alter Kopf hatte den erlittenen Un - bilden nicht mehr Stand halten können; er delirierte mit Verfolgungsideen. Eine Pilokarpininjektion, mit der ich ihm am 25. November, als er mit einer schweren Erkältung niederlag und jammerte, dass er durch Nichts in der Welt in Schweiss zu bringen sei, in kürzester Frist zu einem fürchterlichen Schwitzen verholfen, und mit der ich ihn auch prachtvoll kuriert hatte, diese Injektion hatte ich nur gemacht, um ihn » zu erstechen «. Perrot liess sein Gewehr putzen, um ihn » zu erschiessen «, mit Kaffee gedachte man, ihn » zu vergiften «. Er erklärte, hier am Paranatinga bleiben, sich einen Rancho bauen und eine Pflanzung anlegen zu wollen. Er begrüsste mich mit mürrischem Gesicht und trübem Blick, war sehr reizbar und anspruchsvoll, litt an Kopfschmerz und wurde auch in den nächsten Wochen, obwohl er sich entschieden besserte, nie mehr wieder ganz das vergnügte alte Haus, das uns alle mit seinem freiwilligen und unfreiwilligen Humor so häufig heiter gestimmt hatte.

Perrot war über das Benehmen Januario’s verzweifelt gewesen, er hatte allein die Tiere besorgen, Holz schlagen und Feuer machen müssen, und fortwährender Zank gesellte sich zu der Verwirrung, den elenden Nächten, den Regengüssen, dem Hunger. Den Paranatingazufluss, der den Wald unter Wasser gesetzt hatte und bei dem wir ihre Spur verloren, hatten sie für den Batovy gehalten! Sie waren nach Osten geritten. Sie kehrten zurück und setzten mit einem kleinen Floss aus Buritístielen ihr Gepäck und ihre Gewehre über. Ihr unangenehmstes Abenteuer war, während sie unter dem niedrigen Schutzdach schliefen, der nächt - liche Besuch eines Jaguars gewesen. Sie fuhren erschreckt empor, als die Katze in die Feuerasche patschte und hielten sie für einen Tapir. Januario versetzte ihr mit dem Messer einen Stoss in die Rippen, Perrot gelang es seines Gewehrs habhaft zu werden und einen Schuss abzugeben, worauf sich der Ruhestörer ver - zogen und, wie Blutspuren am nächsten Morgen zeigten, zum Wald gewandt hatte. Perrot hatte im Ganzen acht Patronen mit sich, von denen er sieben verschoss. Die letzte behielt er aus Furcht vor einem ähnlichen Fall im Gewehr, obwol sie Rehe in aller Nähe passierten und die folgenden drei Tage ohne Nahrung blieben.

Im Lager stürzte sich Alles über die Maisfarinha und die Rapadura, die zusammen wie Zwieback mit Zucker schmeckten, nur hatte man sichtlich eine grössere Auflage von den aus Zucker gegossenen Ziegelsteinen erwartet als Con - fucio hergeben wollte. Es musste die genaueste Verteilung vorgenommen werden; argwöhnisch, $$\frac{1}{10}$$ im Scherz und $$\frac{9}{10}$$ im Ernst, verglich man in seiner Gier nach dem Süssen die wirklich kleinen Portionen. Das Dörrfleisch war trockene Haut. Und im Lager selbst hatte es zuletzt Ueberfluss gegeben; nachdem man den ersten Tag noch von Guariroba gelebt und nicht ein kleines Fischlein der Einladung anzu - beissen gefolgt war, hatte man einen mächtigen auf einen halben Zentner Gewicht10*148geschätzten Jahú gefangen. Das hatte die Stimmung gehoben und wahrscheinlich auch den Puls. Wilhelm hat in seinem Tagebuch die auffallend niedrigen Puls - zahlen verzeichnet, die man am 10. Dezember zufällig beobachtet hatte, Vogel 44, Wilhelm und Perrot 56, Ehrenreich 60, Januario aber 76.

Am 13. Dezember mussten wir unthätig liegen, da der Paranatinga bei an - dauerndem Regen 1 m hoch gestiegen war. Am 14. begann das Uebersetzen mit den Holzsätteln, die Gomez drüben, soweit möglich, unter Ausrufen sach - verständigen Entsetzens zusammenflickte. Am 15. lächelte uns die Sonne, und am 16. schlachteten und assen wir auf dem Retiro einen einjährigen Ochsen, einen mamote (Säugling); der würdige Gastfreund Veado kommandierte die ge - lehrten Herren in einer Weise zum Lassieren (wobei ich mir den kleinen Finger fast ausrenkte), zum Herbeiholen grüner Zweige, zum Abhäuten und Zerlegen, dass man sah, er war von dem unvernünftigen » Ew. Hochwohlgeboren « der ersten Begrüssung zurückgekommen.

Der Pakúfluss machte es ziemlich gnädig, die Bruaken wurden hinübergetragen und gaben den Leuten ein angenehmes Gegengewicht gegen die Strömung, während die nur mit der emporgehaltenen Kleidung belasteten, am schief eingestemmten Wanderstab daherschreitenden Doktores sich kaum getrauten, die schlanke Stütze von dem beweglichen Geröllgrund zu lüften und einen Schritt weiter zu verpflanzen.

Zu Vogel’s Geburtstag am 17. Dezember zogen wir denn endlich allesamt in das Eldorado der Fazenda ein. Es entwickelte sich bald eine fieberhafte Ge - schäftigkeit. Antonio schleppte Holz herbei und briet Mandioka in der Asche; wir hatten ein Stämmchen mit fast meterlangen Wurzeln erhalten. Perrot und Vogel veranstalteten ein Wettkochen, jener » Kartoffelpuffer « aus Mandioka d. h. nicht aus der giftigen, sondern aus der gutartigen » Aypim « - Wurzel, sagen wir Mandiokapuffer, dieser einen Schmarrn in Aussicht stellend. Manoel zerrieb die Manihot utilissima, Januario schlug Eier auf, Wilhelm schnitt Speckwürfel, Vogel rührte die Eier mit Maismehl an und Perrot bearbeitete in einer riesigen Kürbis - schale seine Konkurrenzmischung, Ehrenreich holte Kaffee bei Donna Brasilina. Die Puffer siegten glänzend über den Schmarrn. Gaben doch zwei anwesende Rheinländer das Gutachten ab, dass diese Mandiokapuffer die heimischen Reib - kuchen überträfen. Dem Wettkochen folgte ein Wett -, nennen wir es dem Leser zuliebe ein Wett-essen. Aber die Kehrseite der Medaille, die dem glücklichen Tage folgende tiefunglückliche Nacht! Vergeblich hatte Ehrenreich gewarnt mit seinem früher so oft unangebracht zitierten Lieblingsspruch, Jesus Sirach 37, Vers 32 34: » Ueberfülle Dich nicht mit allerley niedlicher Speise, und friss nicht zu gierig. Denn viel Fressen macht krank, und ein unsättiger Frass kriegt das Grimmen. Viele haben sich zu Tode gefressen; wer aber mässig isset, der lebt desto länger. «

Am 18. und 19. Dezember schien die Sonne, Alles trocknete, die Bruaken derartig, dass sie nicht ausgepackt werden konnten, weil es unmöglich gewesen wäre, sie in der verschrumpelten Form wieder hineinzupacken. In der Nacht149 hatten wir viele Mühe, die Sachen vor den Besuchern zu schützen, die wir auch immer an der Pfostenwand unseres Schlafschuppens unheimlich rumoren hörten: die sogenannten » Haustiere « waren hier noch sehr unzivilisiert, die Kühe schleckten die Bruaken und Häute ab, so hoch sie aufgehängt waren, die Hunde wühlten an unserer Feuerstelle und schmatzten unausstehlich stundenlang, die Schweine frassen Alles, was nicht Holz oder Metall war, mit Vorliebe alte Tücher, und rückten denen, die ihre Indigestion hinaustrieb, in unverantwortlichster Weise schnobernd und schlingend zu Leibe. Frühzeitiges Aufstehen war Einigen von uns im Sertão schwerer gefallen als hier in der Fazenda. Hinter dem Zaun, den wir Gäste dann bald in grösseren Anzahl aufmerksam umstanden, wurden die Kühe gemolken, und eine Schale warmer Milch, mit Rapadura und Maisfarinha verrührt, däuchte uns der Gipfel irdischen Glücks.

Am 22. Dezember waren wir wieder in Bewegung. Bauchgrimmen und Verdauungsstörungen verschwanden allmählich; unser Magen vertrug die hart - näckigen Angriffe, die wir auf seine Wandungen richteten, nur im Gehen. Die Lagerplätze für die Nacht waren nun gegeben, eine grosse Annehmlichkeit und ein grosser Vorteil, da die Entfernungen ziemlich gross waren. Wir zogen über die Wasserscheide in das Gebiet des Rio Cuyabá. Ziemlich steile Hügel mit quarzigem Geröll; seit S. Manoel fand sich auch wieder Schiefer, fast vertikal gerichtet.

Am 23. Dezember ein wundervoller Morgen; an dem Bach, wo wir uns wuschen, spielte die Sonne durch das Gezweig; erfrischende Schattenkühle unter den Bäumen, draussen stechende Hitze. Alles grün im Gegensatz zur Trocken - zeit. Im Wanderschritt die Hügel hinauf und wieder hinunter. Weite Graseinöde. In den Einsenkungen krauses niedriges Walddickicht. Auch am nächsten Tage Sonnenschein. Wir schritten am Terrassenrand über die Zinnen der roten Forts, die wir auf dem Hinwege von unten bewundert hatten. Rechts in der Tiefe waldgefüllte Schluchten zwischen den napfkuchenähnlichen Bergwänden der Plateaustufen. Heiss, trocken, kein Lüftchen, sandig, ab und zu ein Wolken - schatten oder ein Raubvogel; sonst hier oben nur die tote Ebene.

An einer sumpfigen Lagune, deren schlechtes, warmes Wasser nach der einen Seite zum Rio dos Mortes, also dem Araguaygebiet, nach der andern zum Rio Manso, dem Nebenfluss des Cuyabá, hätte fliessen können, wenn es nämlich nicht wie eine grosse Pfütze stillgelegen hätte, feierten wir Weihnachten.

In Cuyabá beschenkt man sich nicht so allgemein wie in Deutschland am Weihnachtstage. Doch schicken die jungen Mädchen jungen Männern eine Platte Süssigkeiten, Doces, und erwarten ein Kleid oder dgl. als Gegengabe wenn sie nicht auf mehr spekulieren, meinte Perrot. Wir wollten unsern Christbaum haben und mussten uns, da es unter den krummen, krüppligen Erzeugnissen des Sertão nichts einer Fichte Aehnliches gab, einen machen. Wir setzten Holz - stäbchen als Zweige in einen kleinen graden Stamm und umwanden sie mit Unkraut, das den Eindruck der Fichtennadeln sehr gut wiedergab. Dann suchten150 wir mit einiger Mühe bunten Schmuck im Kamp; es fanden sich Pikí-Aepfelchen, einige orangerote Blumen und Bergkristalle; die Spitze, einer Paepalanthusstaude entnommen, bildete eine Krone, starrend von Kugeln, die am Ende langer Stachelspitzen sassen. Mit den Kerzen brauchten wir jetzt nicht mehr zu sparen. Nach Eintritt der Dunkelheit stellten wir das Kunstwerk in Perrot’s Zelt, zündeten die Lichter an und gaben nach riograndenser Art einige Schüsse ab.

Das strahlende Bäumchen in der Zeltecke machte sich ganz allerliebst. Weniger glänzend sah es mit den Geschenken aus. Doch hatten wir zweierlei für diesen Abend im tiefsten Grund der Blechkästen durch alle Unbilden der Reise hindurchgerettete Herrlichkeiten zu bescheeren. Herr Ernesto Vahl in Desterro hatte uns ein Packet bulgarischen Zigarrettentabaks mit dem ausdrück - lichen Zusatz » Weihnachten « mitgegeben, und Vogel hatte mit gleicher Be - stimmung in seinem heimatlichen Nest Uehlfeld in Franken beim Abschied eine Schachtel » extrafeiner, runder Lebkuchen « von dem Zuckerbäcker » Wilhelm Büttner am Markt « erhalten, sich selbst freilich nicht die Seelenstärke zugetraut, bis zum 24. Dezember zu warten, sondern schon in Cuyabá die Verantwortung mir übertragen. Heil den edelmütigen Spendern! Ich glaube nicht, dass sie selbst an diesem Abend wertvollere Geschenke erhalten haben. Als brave Philister tranken wir köstlichen Mokka und sangen, obwol nur Wilhelm singen konnte, zum Kaffee redlich die » Wacht am Rhein « und das in der Fremde doppelt voll ertönende » Deutschland, Deutschland über Alles «. Und der Ex - peditionsdichter klagte wehmütig:

Kein Tannenbaum mit goldnen Nüssen,
Kein frischer Schnee, kein Festgeläut
In Sonnenglut und Regengüssen
Begehen wir die Weihnachtsfreud.
Ein Teller Spekulaz, Makronen,
Ein Marzipanherz eitler Traum!
Das Christkind hängt nur braune Bohnen
Und Speck an unsern Lichterbaum.

Ein Weihnachten hatte ich in Japan, eins in Mexiko verbracht, eins im antarktischen Südgeorgien, und dieses an der von quakenden Fröschen erfüllten Lagoa Comprida, der langen Lagune, war nun das dritte auf südamerikanischem Festland.

Am 25. Dezember überstieg die Eintönigkeit der Landschaft das Mass alles Erlaubten. Während der 35 Kilometer unseres Marsches zählte ich die lebenden Wesen, die ich bemerken konnte: 1 Raubvogel, 1 kleinen Kampvogel, eine raschelnde Eidechse, 3 Bienen. Zahlreiche rote Kegel von Termitenbauten, wie groteske Grabhügel. Ein Holzkreuz mit drei aufgemalten Kreuzen; hier musste Einer vor Langeweile gestorben sein. 25 Kilometer der Strecke ohne Wasser; am Lagerplatz war der Trank gut und kühl für unsere Ansprüche, 24, .

Am 27. Dezember erreichten wir die Fazenda von Ponte alta, ein grosses Haus mit einem Mühlrad und Maisstampfer in einer schönen Thalschlucht. Dort151 wohnte der Begleiter Rondons, Chico Velho, der eine der beiden Versprengten. Er hatte 21 Tage für den einsamen Heimweg gebraucht. Wir lernten einen alten Graukopf kennen, der die Bakaïrí des Paranatinga im Jahre 1835 oder 36 besucht hatte. Seine Schilderung entsprach noch in Allem unsern Erfahrungen vom Schingú, nur dass die Indianer damals schon die brasilischen Nutzpflanzen und Haustiere besassen. Zur Feier von Ehrenreich’s Geburtstag wurde ein grosser Grog gebraut und Carlos brachte einen gereimten protugiesischen Trinkspruch aus, der begann, » viva a rosa «, es lebe die Rose, aber schliesslich mit einem kühnen Sprung auf den Doutor Paulo übersetzte. Die Maultiere erhielten nun zum ersten Mal Mais und konnten vor Aufregung fast nicht fressen; was uns die Fazenda S. Manoel war, war ihnen die von Ponte alta.

Wir kamen jetzt auf die von Cuyabá nach Goyaz führende Strasse und merkten bald lebhafteren Verkehr. Trafen wir doch ein halbes Dutzend Be - rittener, die nach der Kirche von Chapada zur Wahl zogen. Unter ihnen war ein prächtiger alter Neger-Gentleman mit kleinem Kopf und weissem Gebiss (» Garderobenhalter « nach Ehrenreich), mit gelbem Strohhut, gelber Nankingjacke, weisser Weste, weissen Hosen, Stulpstiefeln und blinkender Sporenkette; unser seltsamer Aufzug, besonders die starrenden Pfeilbündel und die Reusen auf dem Rücken von Ehrenreich und mir machten ihm einen Heidenspass, und als er schon weit voraus war, hörten wir noch das laute zwanglose Niggerlachen.

Am 29. Dezember begann der Abstieg von der Chapada. Das Wahr - zeichen der Cuyabá-Ebene, der blaue Bergkegel S. Antonio erscheint. Wald, breiter, mit Sandsteinblöcken überstreuter Weg, Steinwände wie alte Burgmauern, ein verwahrloster Schlosspark riesigen Massstabs. Allmählich geht es mühsamer und steiler bergab. Quarzgeröll und Schiefer, glühender Sonnenbrand, durch den Reflex gesteigert. Schwer zu begreifen, wie hier Karren verkehren. Lager am Corrego Formoso, am » schönen Bach «, in Gewitter und Regen. Am 30. Dezember passieren wir mehrere Ansiedlungen; ein altes Weib fragt angelegentlich, ob wir viel Gold gefunden hätten. Wir übernachten bei einer kleinen Fazenda, deren Besitzer sich zur Stadtverordneten-Wahl nach Cuyabá begeben hat. Am nächsten Morgen ist Allen schon um 4 Uhr früh der Schlaf verflogen. Man hört nur noch » cidade, cidade «, denn Cuyabá ist die Stadt natürlich. In einer Stunde am Coxipó, der 5 Kilometer unterhalb der Hauptstadt in den Cuyabá mündet. Er wird an einer Furt durchschritten. Es ist das Flüsschen, wo 1719 das erste Gold gefunden und die erste Niederlassung der Paulisten gegründet wurde.

Perrot, schon wieder ganz von dem Dämon der bürgerlichen Wohlanständigkeit erfasst, schämt sich leider seines zerlumpten Aussehens und ist vorausgeritten, um möglichst ungesehen seine Wohnung zu erreichen. Wir aber schämen uns gar nicht. Wir schmücken unsere Hutdeckel mit grünem Laub, binden den braven Maul - tieren grüne Zweige auf den Halsrücken, und geniessen in vollen Zügen den Anblick des plötzlich erscheinenden freundlichen Städtchens mit den merkwürdig vielen Häusern und Ziegeldächern, mit der » Kathedrale « des Senhor Bom Jesus152 und den Kirchlein des Senhor dos Passos, der Nossa Senhora de Rosario, der Nossa Senhora do Bom Despacho und auf dem höchsten Hügel der Bôa - Morte. Wir treffen es nicht etwa so, dass kein Festtag wäre. Gewehre und Revolver knattern, Raketen zischen in der hellen Himmelsluft empor und ver - flüchtigen sich mit losen weissen Wölkchen: die Wahlschlacht ist entschieden. Haben die Konservativen diesesmal oder die Liberalen den Sieg davon getragen? Still verblüfft starrt die Bevölkerung unserm seltsamen Zuge nach. Ihr konnten die Auetö́ und Kamayurá und Nahuquá kein grösseres Interesse einflössen als uns die Farbe ihrer Deputierten.

Auf dem freien Platz vor der Kathedrale machten wir Halt; hier war die Post und dort lagen unsere Briefe. Aber da waren auch ein paar Freunde, die uns stürmisch umarmten, Allen voraus der Chef des Postwesens, unser lieber André Vergilio de Albuquerque. Wir befragten ihn, ob das Haus in der Rua Nova noch unbewohnt und zu mieten sei. Und alle Achtung, da trat uns echt brasilische Noblesse wieder einmal in einer Aufwallung entgegen, die den gar zu gern Phrasen witternden Nordländer beschämen muss. » Dieser Herr «, sagte Senhor André Vergilio, » wünscht ihre Bekanntschaft zu machen, Doutor Carlos «. Er stellte mich einem noch jungen Manne vor, der freundlich und leicht verlegen dreinschaute, dem Commendador Manoel Nunes Ribeiro. » Dieser Herr «, fuhr Vergilio fort, » würde sich glücklich schätzen, wenn Sie mit Ihren Freunden sein leerstehendes Haus in der Hauptstrasse, eins der schönsten in dieser Stadt, beziehen und darin solange verweilen wollten, als es Ihnen möglich ist «. Und dann begeisterte sich der gute Vergilio zusehends, sprach von unsern unsterblichen Verdiensten um die Provinz Matogrosso, der Commendador verbeugte sich fleissig und lächelte verbindlich, und wir sahen doch abgerissener und wilder aus als eine von Gendarmen zusammengetriebene Bande Vagabunden. Wir nahmen das gastliche Anerbieten mit herzlichem Dank an und fanden ein geräumiges Haus mit prächtigem weitem Garten, mit einer Halle, in der wir unsere Sammlung auf das Bequemste auspacken, trocknen und reinigen, mit einer » Sala «, in der wir sie übersichtlich aufstellen, mit je einem grossen Zimmer für Jeden von uns, in dem wir uns nun auch selbst wieder ein wenig sammeln konnten.

[153]

VIII. KAPITEL.

I. Geographie und Klassifikation der Stämme des Schingú-Quellgebiets.

Der alte, von seinen Genossen durch einen äusserst bescheidenen Lippen - pflock unterschiedene Häuptling der Suyá hatte uns 1884 die lange Liste der Stämme aufgezählt, die am obern Schingú sesshaft sind, und die Quellflüsse, an deren Ufer sie wohnen, mit dem Finger in den Sand gezeichnet. Vgl. » Durch Central - brasilien «, S. 214. Seine 13 Stammesnamen haben uns verlockt, die zweite Reise zu unternehmen. Im Grossen und Ganzen, muss man sagen, haben sich die Angaben unseres Gewährsmannes bestätigt. Seine Flussverästelung kann allerdings den kartographischen Ansprüchen unserer karaibischen Genauigkeit nicht genügen, allein auch da ist er mehr im Rechte gewesen, als wir zu erkennen vermochten, indem wir den Kulisehu mit dem Kuluëne verwechselten. Nur ist die astronomische Lage der Ortschaften unter einander völlig verzerrt ausgefallen, da der Suyá für die grosse Reihe den einen Quellarm entlang auch einen sehr grossen Strich nötig hatte und ihn munter in’s endlos Südliche hinausführte.

Die Anwohner des Ronuro kennen wir nicht; Vogel hat den Auetö́häupt - ling, der die Einmündung bei Schingú-Koblenz mit ihm befuhr, so verstanden, dass es dort Kabischí und Kayapó gebe. Die Kabischí, von denen man etwas weiss, wohnen im Quellgebiet des Tapajoz als ein Teil der zahmen Paressí - Indianer; es wäre im höchsten Grade interessant und wichtig, wenn die Paressí ebenso wie die Bakaïrí in eine » zahme « und eine » wilde « Gruppe zerfielen, da gerade an diesem einst volkreichen und hochentwickelten Nu-Aruak-Stamm die rohe Zivilisierung Unersetzliches vernichtet hat. Die weitverbreiteten Kayapó würden am Ronuro durchaus nicht befremden, da sie am Paranatinga häufig erschienen und von den Brasiliern hier nur mit den Coroados-Bororó verwechselt worden sind.

An dem Nebenfluss des Ronuro, dem Batovy-Tamitotoala,*)Früher falsch Tamitatoala geschrieben. tamitóto Falk, Eule = sie töteten (schóle) einen Falken, wie die Bakaïrí mir selbst angaben. auf dem wir 1884 hinabfuhren, liegen vier Dörfer der Bakaïrí. Sein Unterlauf und das rechts anstossende Gebiet gehört den Kustenaú und den Waurá.

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Es folgt nach Osten der Kulisehu. An seinem linken Ufer haben wir die drei Dörfer der Bakaïrí, Maigéri oder » Tapir starb «, Iguéti oder Sperberdorf, Kuyaqualiéti oder Harpyendorf. Dann kommt am rechten Ufer das Dorf der Nahuquá. Wieder links liegt abseits und nicht von uns besucht ein viertes Dorf der Bakaïrí. Weiter flussabwärts sitzen am linken Ufer die Mehinakú in den beiden Dörfern, die die Bakaïrí als Paischuéti (Hundsfischdorf) und Kalúti be - zeichneten. Es scheint jedoch, dass es drei Dörfer giebt; die Paischuéti-Mehinakú sprachen noch ausser von den Yutapühü das wäre » Kaluti « , deren Hafen wir am 15. Oktober passierten, von den Atapilú, indem sie uns gleichzeitig vor den Ualapihü, Ulavapitü d. i. unsern Yaulapiti warnten. Von dem Mehinakúgebiet ab beginnen zahlreiche Kanäle, die mit einigen Lagunen das Gebiet zwischen den Unterläufen des Kulisehu und Batovy durchsetzen. Das Dorf der Auetö́ kann als eine Art Zentralpunkt für den Kanalverkehr gelten*)Es ist wirklich merkwürdig, dass ihr Name diesen Sinn zu enthalten scheint. Sie werden von ihren Nachbarn » Auití « genannt; nun heisst im Guaraní die unerweichte adjektivische Form apitè » was im Zentrum, in der Mitte ist «.. An zwei Lagunen finden wir in zwei Dörfern die Yaulapiti, an einer dritten Lagune die Kamayurá, die vier dicht bei einander liegende Ortschaften hatten und im Begriff waren, sie zu einer einzigen zu vereinigen. Eine Mischung von Yaulapiti und Auetö́ sind die Arauití (vgl. S. III).

Der Kulisehu mündet in den Kuluëne; wenige Stunden Ruderns führten zu den an seinem rechten Ufer nicht weit oberhalb Schingú-Koblenz in zwei Dörfern angesiedelten Trumaí. Von den Suyá vertrieben, beabsichtigte dieser Stamm, sich in der Nähe der Auetö́ ein neues Heim zu gründen. Oberhalb am Kuluëne und auch an kleinen Zuflüssen zwischen ihm und dem Kulisehu sitzen die Nahuquá in einer Reihe von Ortschaften, die besondere Namen haben. Wir lernten einzelne Individuen kennen von den Guapirí, Yanumakapü, Guikurú und Yaurikumá; die Yanumakapü, die Enomakabihü der Bakaïrí, wohnen nicht am Hauptfluss, und von den Guapirí wurde seitens der Bakaïrí besonders hervor - gehoben, dass man sie über Land zwischen Kulisehu und Kuluëne finde. Im ersten Bakaïrídorf zählte mir Paleko die Nahuquá-Ortschaften des Kuluëne auf und gab die Himmelsrichtung an, in der sie von Maigéri aus zu suchen wären; es sind, im Oberlauf beginnend: 1. Anuakúru oder Anahukú SO, 2. Aluíti oder Kanaluíti O, 3. Yamurikumá oder Yaurikumá O bis OSO, 4. Apa - laquíri ONO, 5. Guikurú ONO, 6. Mariapé NO. Hinter ihnen kamen die Trumaí. So hätten wir mit den Guapirí, den Yanumakapü und den Nahuquá des Kulisehu 9 Nahuquádörfer.

Um das Bild abzurunden, erwähne ich noch die Suyá, die an dem Haupt - strom drei kleine Tagereisen unterhalb Schingú-Koblenz wohnen, von denen wir auf der zweiten Expedition nichts sahen, aber böse Geschichten hörten, und die Manitsauá, die an einem weiter abwärts einmündenden linken Nebenfluss sitzen und den Kamayurá und Yaulapiti gut bekannt sind. Wir trafen 1884 eine An -155 zahl Manitsauá in Gefangenschaft der Suyá. Erst 1887 hörten wir von den Yarumá oder Arumá, die sehr bald nach den Trumaí den unangenehmen Besuch der Suyá empfangen haben sollten, und von denen uns die Kamayurá die merk - würdige Mitteilung machten, dass sie einen metallisch klingenden Ohrschmuck trügen (vgl. S. 118). Es ist wahrscheinlich, dass wir in ihnen Mundurukú, den berühmten Kriegerstamm des Tapajoz erblicken müssen, dessen Spuren wir am Schingú längst vermisst haben. Die Paressí nannten die Mundurukú Sarumá, was lautlich dasselbe ist wie Yarumá. Ein Stück den Yarumá zugeschriebener Keule von karajáähnlicher Arbeit kann den in der Uebereinstimmung der Namen liegenden Beweis nicht entkräften. Eine uns noch dunklere Existenz führen die Aratá; die Nahuquá erklärten, dass sie nichts taugten, und der Suyágeograph hatte sie ihnen zu Nachbarn gegeben. Ein Karajástamm?

Endlich habe ich noch, wiederum im obersten Quellgebiet, der Kayapó zu gedenken; sie sollen zwischen Kulisehu und Kuluëne oberhalb der Nahuquá an den Quellen des Pakuneru leben, des kleinen Kulisehu-Nebenflusses, dessen Namen mit dem Bakaïrí-Namen des Paranatinga identisch ist. Schon der Suyágeograph hatte als äusserste Bewohner die » Kayuquará « angegeben und ich hatte damals, wie es jetzt scheint, mit Recht vermutet, dass darunter Kayaχó-Kayapó zu ver - stehen seien.

Die lange Reihe der Namen sieht schlimmer aus als sie in Wirklichkeit ist. Jedes Dorf hat seinen Namen, und der Fremde, der ihn hört, kann zunächst nicht beurteilen, ob er dort einen neuen oder einen bekannten Stamm zu er - warten hat. Das einfachste Beispiel sind die Nahuquá. » Nahuquá « heissen für den Indianer nur die Bewohner des Kulisehudorfes; die Yaurikumá, Guikurú etc. nennen sich selbst nicht Nahuquá, und es ist nur der Zufall, der uns zuerst bei den » Nahuquá « einkehren liess, dass ich nun diesen Namen als den Stammesnamen vorführe. Geringe dialektische Verschiedenheiten mögen vorhanden sein, doch habe ich von den Yanumakapü ein Verzeichnis der wichtigsten Wörter aufnehmen und mich auch für die Yaurikumá und Guikurú überzeugen können, dass ihre Sprache mit dem » Nahuquá « durchaus übereinstimmt. Die Bakaïrí sind von einem strengeren Nationalitätsgefühl beseelt, denn sie nennen sich Bakaïrí, ob sie nun im Quellgebiet des Arinos, des Paranatinga, des Batovy oder des Kulisehu wohnen. Die Bakaïrí des Kulisehu müssten sich nach Analogie der Nahuquá mit ihren Dorfnamen Maigéri, Iguéti und Kuyaqualiéti nennen.

Es wäre ein Segen für die Ethnographie gewesen, wenn sich alle Stämme dieses schöne Beispiel der Bakaïrí zum Vorbild genommen hätten. Wir sehen hier an mehreren Beispielen deutlich, wie sich eine Familiengemeinschaft oder, wenn man will, ein Stamm räumlich verteilt, wie jede Sondergemeinschaft geneigt ist, auf den alten Zusammenhang zu verzichten und diesen deshalb unrettbar ver - lieren, ein neuer » Stamm « werden muss, wenn die Verschiebung andauert und anstatt mit den blutverwandten Nachbarn mit solchen anderer Abstammung engere Beziehungen unterhalten werden. Es bleibt uns unter diesen Umständen gar nichts156 anderes übrig als zunächst die sprachlichen Verwandtschaften festzustellen. Man braucht sie mit Blutverwandtschaften nicht zu verwechseln. Allein unter den kleinen einfachen Verhältnissen, um die es sich hier handelt, decken sich Sprach - verwandtschaft und Blutverwandtschaft weit mehr als bei höher zivilisierten Völkern, die eine durch die Schrift zu festem Gepräge ausgestaltete Sprache besitzen. Wenn in eine dieser Familiengemeinschaften ein paar fremde Individuen ein - treten, so werden sie, das ist ohne Weiteres zuzugeben, eine Kreuzung ver - anlassen, die durch das Studium der Sprache nicht verraten wird. Aber Ver - mischungen in grösserem Umfang verändern auch die Sprache gewaltig. Die fremden Frauen, die Mütter werden, üben einen Einfluss auf die Sprache der Kinder aus, der z. B. in dem Inselkaraibischen handgreiflich hervortritt. Die Kinder der Karaibenmänner und Aruakfrauen sprachen keineswegs karaibisch, wie die jungen Mulatten in Brasilien portugiesisch sprechen, sondern redeten eine neue Sprache, die wichtige grammatikalische Elemente und lautliche Besonderheiten von den Müttern aufgenommen hatte. Das ist auch wenig wunderbar, denn die Kultur - unterschiede zwischen den beiden Stämmen waren nicht wesentlich, die Zahl der fremden Frauen war gross und diese brachten alle lokale Tradition, da die er - obernden Männer von aussen kamen, mit in die Ehe. Die Kinder waren genötigt, sich sowohl für den Sprachstoff nach Vater - und Mutterseite hin auszugleichen, als auch zwischen den von hier und dort gebotenen Präfixen oder Suffixen, die für die Veränderung der Wortwurzeln durch den Einfluss auf den Stammanlaut oder den Stammauslaut von entscheidender Bedeutung sind, eine Auswahl zu treffen, und erfuhren die noch durch keine Schulmeisterkultur gezähmte, sondern in freiem Leben thätige Wechselwirkung der bisher bei den zwei elterlichen Stämmen geltenden Lautgesetze. Bei diesen Naturvölkern wird im Groben das Mass der sprachlichen Differenzierung auch das Mass der anthropologischen Differenzierung sein.

Wenn wir uns nach den Sprachverwandtschaften der Kulisehu - » Stämme « umsehen und dadurch eine Reduktion der Liste gewinnen wollten, so müssen wir einen Augenblick bei den im übrigen Brasilien vorkommenden linguistischen Gruppen verweilen.

Es giebt noch zahlreiche einzelne Stämme, die, sei es, dass ihre Sprach - verwandten nicht mehr leben, sei es, dass wir sie nicht kennen, isolierte Sprachen reden. Hierher haben wir vorläufig, um sie gleich aus dem Wege zu räumen, die Trumaí zu rechnen. Es ist mir nicht gelungen, sie irgendwo in der Nähe oder in der Ferne unterzubringen. Sie haben eine Menge Kulturwörter von ihren Nachbarn, den Kamayurá und Auetö́ entlehnt, aber der Kern und das Wesen des Idioms ist eigenartig und andern Ursprungs, wie auch der leibliche Typus von allen Kulisehu-Stämmen abweicht.

Von den Kordilleren bis zum Atlantischen Ozean, vom La Platz bis zu den Antillen sind vier grosse Sprachfamilien verbreitet: Tapuya, Tupí, Karaiben und Nu-Aruak.

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Die Tapuya sind die ostbrasilischen Aboriginer, die Waldbewohner des Küstengebietes und die Bewohner des Innern bis zu einer westlichen Grenze, als die für den Hauptstock der Schingú gelten kann. Sie zerfallen in zwei Abteilungen, eine westliche, die Gēs nach Martius, und eine östliche, zu denen die primitiven Waldstämme des Ostens und die Botokuden gehören. Die westlichsten Vor - posten der Gēs sind die Kayapó und Suyá. Mit letzteren haben wir uns bei dem Bericht über die zweite Expedition nicht weiter aufzuhalten, nur muss jetzt die interessante Thatsache nachgetragen werden, dass die Suyá früher noch viel weiter westlich gewohnt haben. Sie waren im Westen des Paranatinga an seinem linken Nebenfluss, dem Rio Verde, in der Nachbarschaft der Kayabí und Bakaïrí ansässig und wurden vor nicht langer Zeit von hier zum Schingú, man darf wohl sagen, zurück vertrieben. Die ganze Masse der Gēs sitzt seit undenklichen Zeiten östlich des Schingú, und die nächsten Verwandten der Suyá, die Apinagēs, wohnen in dem Winkel, wo Araguay und Tokantins zusammenfliessen.

Die Tupí sind über ungeheure Strecken zersplittert. Ihre Nordgrenze liegt im Grossen und Ganzen an den nördlichen Nebenflüssen des Amazonas; sie hielten die Küste von der Mündung des Amazonas bis zu der des La Plata besetzt; die Guaraní von Paraguay reden nur einen Dialekt des Tupí. Wir begegnen den Tupí an dem Oberlauf des Schingú, des Tapajoz, des Madeira, ja des Maranhão. Ihre Sprache wurde von den Jesuiten zu der Verkehrssprache, der » Lingoa geral « erhoben. Zum grossen Nutzen für die Praxis, zum Unglück für die Sprachen - kunde. Das Interesse für das Tupí hat die Wissenschaft in Brasilien alle andern Sprachen höchst stiefmütterlich behandeln lassen, zahllose Bände aus alter und neuer Zeit sind ihm gewidmet, von keinem der Tapuyastämme, weder von den Botokuden noch einem Gēs-Stamm, deren linguistische Erforschung wegen der niederen Kulturstufe zu den wichtigsten der Erde gehören würde, und die in Wirklichkeit den Kern der ostbrasilischen Urbevölkerung gebildet haben, giebt es mehr als dürftige Vokabularien. Sub spezie des Tupí sieht der brasilische Gelehrte ungefähr Alles, was über die Eingeborenen gedacht wird. Er ist glücklich, die Tupí in nächste Verwandtschaft mit den Ariern zu setzen und leitet von dem Tupí die übrigen Sprachen seines Vaterlandes ab; diese Eingeborenen sind aber wirklich so weit ver - breitet, dass es recht überflüssig ist, sie jetzt auch noch dort unterzubringen, wo sie selbst noch nie hingekommen sind. Am Kulisehu gehören zu ihnen die Auetö́ und die Kamayurá, letztere in grösserer Uebereinstimmung mit der Lingoa geral.

Die Karaiben sind im Norden des Amazonenstromes seit den Zeiten der Entdecker bekannt. Am Kulisehu waren wir die Karaiben; und so sind wohl auch ursprünglich die ersten Karaiben die ersten Fremden gewesen, die, wie in zahlreichen andern Fällen geschehen und wie wirklich bei dem Empfangslärm in einer unbekannten Sprache oft schwer zu vermeiden ist, den Stammesnamen un - richtig auffassten und das auf sie selbst bezügliche Wort dazu machten. Der Name wird natürlich von den Tupímanen aus dem weder auf den Kleinen Antillen noch an der Nordküste des Kontinents gesprochenen Tupí abgeleitet. Die Bakaïrí158 nannten uns Karáiba mit deutlicher Betonung des a ; das Wort lässt sich aus ihrer Sprache erklären als » nicht wie wir «, während der Gegensatz » wie wir « Karále heisst. Doch wollen wir die recht unsichere Etymologie beiseite lassen, es kann uns genügen, dass das Wort ein in unserm Sinn karaibisches ist, von den Tupí des Kulisehu in der schon verkürzten Form karaí nicht in der Form karyb der Lingoa geral! übernommen wurde und nach Allem für uns » Karaibe « und nicht, wie man sich jetzt vielfach zu schreiben gewöhnt hat, » Karibe « lauten muss. Karaiben sind am obern Schingú die Bakaïrí und die Nahuquá. Ihre Sprache ist grundverschieden von dem Tupí und die Lieblings - hypothese mehrerer ausgezeichneten Forscher, dass die Tupí und die Karaiben Verwandte seien, ist durch die beiden Schingúexpeditionen endgültig beseitigt worden; die Wurzelwörter der beiden Sprachen zeigen keine Uebereinstimmung.

Die Nu-Aruak zerfallen in die Unterabteilungen der Nu-Stämme und der Aruak. » Nu - « bedeutet das Leitfossil dieser Stämme, das für die meisten von ihnen höchst charakteristische Pronominalpräfix der ersten Person, dem wir von Bolivien und vom Matogrosso bis zu den Kleinen Antillen begegnen. Die Nu-Aruak sehen wir in den Guyanas in inniger Berührung mit den Karaiben; auf den Kleinen Antillen, wo die Aruak von den Karaiben überfallen und vergewaltigt worden waren, wäre ohne die Vernichtung bringende Ankunft der Europäer aller Wahrscheinlichkeit nach eine wirkliche Verschmelzung zu Stande gekommen: der Pater Raymond Breton hat uns 1665 ein Wörterbuch der Inselkaraiben überliefert, dessen indianisch-französischer Teil, leider nur dieser, durch das Verdienst von Julius Platzmann in einer Facsimile-Ausgabe allgemein zugänglich geworden ist (Leipzig 1892), und hat sich redlich bemüht, die Wörter der karaibischen Männer und die der aruakischen Weiber, wo sie verschieden lauteten, auseinander zu halten, durch seine Zusammenstellung aber bewiesen, dass durchaus nicht mehr, wie bereits oben erwähnt, zwei Sprachen selbstständig nebeneinander gesprochen wurden, sondern dass die karaibischen Männer den Stoff und Bau ihrer alten » Muttersprache « ganz gewaltig durch die neue » Sprache ihrer Mütter « hatten verändern lassen.

An dem weit entfernten Kulisehu haben wir das genaue Spiegelbild der Verhältnisse in den Guyanas angetroffen. Die Mehinakú, Kustenaú, Waurá und Yaulapiti sind Nu-Aruak; ihr Einfluss machte sich bei den Nahuquá, die mehrere Mehinakú-Weiber aufgenommen hatten, in Sprache und Kulturschatz deutlich geltend.

Die Stämme des Schingú-Quellgebiets sind also nach der linguistischen Untersuchung folgendermassen zu klassifizieren (die Zahl der Ortschaften in Klammern):

  • Karaiben: Bakaïrí (8), Nahuquá (9);
  • Nu-Aruak: Mehinakú (3), Waurá (1), Kustenaú (1) Yaulapiti (2);
  • Tupí: Kamayurá (4), Auetö́ (1);
  • Isolirt: trumaí (2).
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Wie die Nahuquá neun verschiedene » Stämme «, die nur neun verschiedenen selbständigen Ortschaften entsprechen, in sich begreifen, so könnten wir die Mehinakú, Waurá und Kustenaú ebenfalls unter einem Stamm zu - sammenlassen. Diese drei Stämme sprechen genau dasselbe Idiom. Sie bilden auch, wie wir sehen werden, eine ethnologische Einheit, und mögen, damit wir den nun einmal berechtigten Stammesnamen, wie bei den Nahuquá thatsächlich geschehen ist, keine Gewalt anthun, wo wir eines zusammenfassenden Ausdrucks bedürfen, nach dem wichtigsten ethnologischen Merkmal als die Töpferstämme bezeichnet werden. Neben ihnen stehen die yaulapiti als ein sprachlich nahver - wandter, aber doch schon deutlich im Dialekt unterschiedener und andere Ein - flüsse verratender Nu-Aruakstamm.

So hat sich das Rechenexempel dahin vereinfacht, dass wir Karaiben vor uns haben in den Bakaïrí und den Nahuquá, Nu-Aruak in den Töpferstämmen und den Yaulapiti, Tupí in den Auetö́ und den Kamayurá, und als einen Rest, der nicht aufgeht, die Trumaí übrig behalten.

II. Anthropologisches.

Die körperliche Erscheinung der Kulisehu-Indianer festzuhalten, soweit es bei der kurzen Bekanntschaft mit den einzelnen Stämmen anging, sind eine Reihe von Messungen angestellt worden, die nicht sehr zahlreich ausgefallen sind, sich auch weder gleichmässig auf die verschiedenen Stämme noch auf die beiden Geschlechter verteilen, immerhin aber ein interessantes Material darbieten. Etwaige Fehlerquellen seitens des Beobachters würden als konstant angesetzt werden dürfen, da die Messungen sämtlich von Ehrenreich ausgeführt worden sind. Dieser hat auch eine weit grössere Anzahl von Photographien auf - genommen als hier wiedergegeben werden konnte; sie sind aber zum Teil sehr fleckig geworden und nur schwierig zu reproduzieren. *)Wie sich im Einzelnen aus dem Illustrationsverzeichnis ergiebt, sind hier nach Photographien reproduziert: beide Geschlechter von Bakaïrí, Mehinakú und Kamayurá, sowie ausschliesslich Männer von Nahuquá und Auetö́, während Yaulapiti und Trumaí überhaupt fehlen.Er gedenkt das bildliche Material noch zu verwerten und den gesammelten Stoff der Messungen in seinen Einzelheiten und nach seinem Vergleichswert für die übrigen südamerikanischen Indianer zu behandeln; ich beschränke mich hier auf einige Vorarbeiten und gebe von den hauptsächlichsten Messungen wenigstens die reduzierten Masse nach Maximum, Minimum und arithmetischem Mittel wieder, um nur in den groben Umrissen die Proportionen des indianischen Körpers zu zeichnen.

Zu den Messungen diente das Virchow’sche Instrumentarium: Messstange mit zusammenlegbarem Fussbrett, Tasterzirkel und Stangenzirkel, sowie Stahl -160 bandmass. Die Masse wurden in ein gedrucktes Virchow’sches Schema (vgl. Zeit - schrift für Ethnologie XVII p. 100) eingetragen. Gemessen wurden: Bakaïrí Männer 10, Frauen 6; Nahuquá Männer 15, Frauen 12; Mehinakú Männer 6, Frauen 5; Kustenaú Frauen 1; Waurá Männer 1, Frauen 1; Auetö́ Männer 14, Frauen 2; Kamayurá Männer 14, Frauen 4; Trumaí Männer 8; im Ganzen 68 Männer und 31 Frauen. Ich werde die Stämme stets so anordnen, dass die arithmetischen Mittel der Männerzahlen von oben nach unten zunehmen.

Körperhöhe.

Das Arithmetische Mittel aus den Körperhöhen aller dieser 67 Männer ohne Rücksicht auf den Stamm beträgt 161,9.

Ohne Zweifel ist die Zahl aber zu niedrig. Schliessen wir alle jüngeren Individuen aus bis aufwärts zu dem geschätzten Alter von 25 Jahren und nehmen auch den zu » 50 « Jahren geschätzten Nahuquá, dem das Minimum von 155,5 angehört, sowie den » 60 « jährigen Kamayurá mit dem Minimum von 159,0 Körper - höhe aus, so erhalten wir die folgende Verschiebung der Stämme und Veränderung der Zahlen. Die Maxima bleiben ungestört.

Das arithmetische Mittel dieser 39 Männer, die nach der Schätzung dem Alter von 30 50 Jahren angehören würden, beträgt 162,6. Wir sehen, dass nunmehr die Trumaí und die Bakaïrí ein niedriges Mittel, die übrigen aber ein höheres erhalten haben, und zwar ist der Unterschied am erheblichsten bei den Mehinakú.

Wenn man mit Topinard 165 cm als die Durchschnittsgrösse des Erwachsenen ansetzt, so bleiben die Kulisehu-Indianer im Mittel unter Durchschnittsgrösse: Unterdurchschnittswuchs für alle Ausnahmen der Trumaí, die bereits die Grenze von 160 cm zum kleinen Wuchs überschreiten. Die Zahlen stehen im Einklang mit denen, die Topinard in seiner Tabelle für die Araukaner und Botokuden mit 162, für die Peruaner mit 160 angiebt. Der grösste Mann am Kulisehu war ein Kamayurá mit 172,0, der kleinste der Bakaïrí mit jüdischem Gesichtstypus (Tafel 13) mit 154,5. Für die Bakaïrí habe ich 1884 etwas höhere

TAF. XIII.

BAKAïRí » ITZIG «

161 Zahlen erhalten; am Batovy betrug das Mittel von 7 Messungen 163,6; am Rio Novo und Paranatinga von 14 das Mittel 164,1. Sie möchte ich deshalb wie in der ersten Tabelle den Auetö́ in der Statur vorangehen lassen.

Die Frauen waren von ausgesprochen kleinem Wuchs. Das Maximum 161,2 gehörte der langen Bakaïrí, die in der Frauengruppe (Tafel 5) erscheint, der » Egypterin « des ersten Dorfes, das Minimum 139,5 der einen der beiden nur ge - messenen Auetö́frauen, während die andere 156,5 mass, aber durch kleine Finger und Zehen besonders auffiel.

Das arithmetische Mittel der 31 gemessenen Frauen ohne Rücksicht auf das Alter beträgt 151,7.

Es geht nicht gut an, auch bei den Frauen alle Individuen bis ausschliesslich der zu 25 Jahren auszuschalten, denn es bliebe alsdann wenigstens von den Bakaïrí nur die lange Egypterin übrig, die ausserdem mit » 25 30 « Jahren meines Erachtens zu alt geschätzt ist. Lassen wir aber alle Frauen bis einschliesslich die von 20 Jahren beiseite und ebenso eine » 60 « jährige Mehinakú von 151,0, so erhalten wir:

Das arithmetische Mittel dieser 22 Frauen beträgt 152,1; doch ist das Mittel der Mehinakú und Nahuquá nach Ausschaltung der jüngeren Frauen niedriger geworden. Die durchschnittliche Differenz zwischen den beiden Geschlechtern wäre 10,5 cm oder die Frauen waren durchschnittlich um 6,5 % kleiner als die Männer.

Die kräftigst gebauten Indianer fanden sich unter den Mehinakú, vgl. Tafel 14, sehr stämmigen Burschen, und den Nahuquá, vgl. das Bild auf Seite 94. Die auffallendste Erscheinung an ihrem Körperbau ist der breite und tiefe Brustkasten und die gewaltige Schulterbreite der Männer. Die Beckenbreite erscheint geringer als die Thoraxbreite. Aeltere Männer und die Kinder zeichneten sich häufig durch ein Bäuchlein aus. Die Frauen hatten wenig breite Hüften, die Waden waren schwach und die Füsse etwas einwärts gesetzt, wie wenn sie immer auf schmalem Pfade gingen, sodass der Gang besonders der mit einer Last daher - trippelnden Frau keineswegs schön war. Wir haben eigentlich nur eine Indianerin gesehen, deren Figur auch nach unsern Begriffen graziös und ebenmässig war, es ist das schlanke Bakaïrímädchen in der Mitte der Gruppe auf Tafel 5, dem die Photographie allerdings nicht gerecht wird.

Klafterweite. Körperhöhe = 100.

Die Schwankungen sind im Einzelnen bei jedem Stamm gross, bewegen sich aber zwischen ähnlichen Grenzen, sodass der Unterschied in den arithmetischenv. d. Steinen, Zentral-Brasilien. 11162Mitteln der Serien zurücktritt. Dass die Klafterweite geringer war als die Körper - höhe, fand sich je einmal bei den Auetö́ ( 0,5), den Kamayurá ( 1,3) und den Trumaí ( 3,8).

Die Nahuquá, Kamayurá, Bakaïrí, Mehinakú, Auetö́ erscheinen hier in gleicher Reihenfolge wie bei dem Mass des Brustumfangs.

Schulterbreite. A. Körperhöhe = 100.

B. Absolut.

Brustumfang. A. Körperhöhe = 100.

Diese Zahlen sind sehr hoch. Nach Topinard haben die Schotten 56,7, nordamerikanische Indianer 55,5, die Deutschen 53,8. Die ausserordentlich starke Entwicklung des Brustkastens und der Schulterbreite ist auch das Moment, das bei dem Anblick unserer Indianer sich als auffallendstes vordrängt. Man be - trachte den Mehinakú links auf Tafel 14. Selbst die Nahuquá, die in den163 Messungen am schlechtesten wegkommen, zeichnen sich durch einen kräftigen Thorax aus, vergl. das Bild S. 95. Die Auetö́ mit ihrem niedrigen Wuchs haben den verhältnismässig grössten Brustumfang.

Bei der Wichtigkeit dieses Masses gebe ich die Umfänge auch

B. Absolut.

Kopfhöhe. Körperhöhe = 100.

Das Mass schwankt also zwischen $$\frac{1}{7}$$ und der Gesamthöhe. Bei den Männern finden sich verhältnismässig niedrigere Köpfe als bei den Frauen. Das Maximum 15,8 % gehört einer Auetö́-Frau, das Minimum 12,4 % einem Kamayurá an.

Kopfumfang. Körperhöhe = 100.

Das Maximum der Gesamtheit betrifft eine Bakaïrí-Frau, die besonders klein war und nur 140,5 cm Körperhöhe hatte. Die Waurá-Frau mit 32,2 war 147,5 cm gross. Ihr folgt im Mindestmass schon der Trumaí-Mann mit Körperhöhe 160,7 und Kopfumfang 52,0, sodass die schon beim blossen Anblick auffällige Thatsache, wie klein die Köpfe der Trumaí verhältnismässig waren, durch die Zahl 32,4 deutlich zum Ausdruck gelangt. Die Auetö́ dagegen, auch durch ihre kleine Statur ausgezeichnet, hatten wenigstens umfangreiche Köpfe, wie sie einen um - fangreichen Brustkasten hatten.

11*164

Längenbreiten-Index des Kopfes.

Meine Messungen der Bakaïrí von 1884 weichen von diesen der Kulisehu - Bakaïrí nicht unerheblich ab.

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Abb. 10.

Auetö́.

Wir sehen, dass die Verschiedenheiten der Mittel zwischen den einzelnen Stämmen sowohl als auch zwischen den Individuen desselben Stammes gross sind, dass es sich im allgemeinen um mesokephale Schädel handelt, und dass am entschiedensten die Trumaí die Grenze zur Brachykephalie überschreiten. Ordnet man die Frauen der Stämme, die Serien darbieten, nach den Mitteln, so ist die Reihenfolge dieselbe wie bei den Männern: Mehinakú, Kamayurá, Bakaïrí, Auetö́, Nahuquá. Nur bei den Bakaïrí ist der Index der Frauen gleichmässig für Maximum, Minimum und Mittel höher als der Männer.

165

Verhältnis von Kopflänge zur Ohrhöhe. Grösste Länge des Kopfes = 100.

Die Nahuquá und die Trumaí, die die breitesten Schädel besitzen, besitzen auch die höchsten.

Kieferwinkel. A. Haarrand Kinn = 100.

B. Nasenwurzel Kinn = 100.

Die Gesichter der Nahuquá erschienen besonders wegen der Breite der Kieferwinkel sehr viereckig.

Jochbogen. A. Haarrand Kinn = 100.

B. Nasenwurzel Kinn = 100.

166

Wangenbeinhöcker. A. Haarrand Kinn = 100.

B. Nasenwurzel Kinn = 100.

Mittelgesicht. Nasenwurzel Kinn = 100.

Nasenhöhe. Nasenlänge = 100.

Nasenbreite. Nasenhöhe = 100.

167

Schulterhöhe. Körperhöhe = 100.

Das Maximum unter den Männern von 86,0 hat ein Auetö́, das Minimum von 80,1 ein Nahuquá, bei den Frauen findet sich umgekehrt das Maximum von 85,7 bei einer Nahuquá und das Minimum von 81,2 bei einer Auetö́. Die Differenz zwischen den Geschlechtern ist also am grössten bei den Nahuquá und den Auetö́, im Durchschnitt wäre der Mann bei den Nahuquá in den Schultern um 1,1 % der Gesamthöhe niedriger und bei den Auetö́ um 1,2 % höher als die Frau.

Nabelhöhe. Körperhöhe = 100.

Männer: Maximum 61,6 Kamayurá, Minimum 57,8 Bakaïrí und Nahuquá. Frauen: Maximum 60,8 Bakaïrí und Minimum 59,1 Auetö́.

Symphysenhöhe. Körperhöhe = 100.

Hier ist überall das arithmetische Mittel bei den Frauen geringer als bei den Männern desselben Stammes. Die Mehinakúfrauen fehlen leider, doch liegt das Minimum der Gesamtzahl für beide Geschlechter mit 48,1 bei den Mehinakú - männern. Innerhalb der Männer Maximum 52,5 Bakaïrí, Minimum Mehinakú, innerhalb der Frauenreihen Maximum 51,8 bei den Auetö́, Minimum 48,8 bei den Kamayurá.

Darmbeinkammhöhe. Körperhöhe = 100.

168

Männermaximum 62,3 und Frauenmaximum 62,0 bei den Kamayurá.

Armlänge. Körperhöhe = 100.

Auffallend sind die langen Arme der Nahuquáfrauen. Während die Nahuquá - männer unter den Männern die kürzesten Arme haben, sind die Arme ihrer Frauen nicht nur länger als die ihrer männlichen Stammesgenossen, sondern die längsten der Gesamtzahl überhaupt; ihr Maximum 49,2 wird nur von einem Kamayurámann mit 49,3 übertroffen, ihr Minimum ist höher als das Mittel der Nahuquámänner.

Handlänge. A. Absolute.

B. Körperhöhe = 100.

C. Armlänge = 100.

169

Die Hand der Indianer ist verhältnismässig kurz und die Frauenhand mehr - fach verhältnismässig kürzer als die Männerhand.

Längen-Breiten-Index der Hand. Handlänge = 100.

Die Mehinakú haben die relativ längste und eine auch recht breite Hand. Die Hand der Bakaïrí und Nahuquá ist kurz und schmal, die der Auetö́ lang und breit, die der Kamayurá mässig lang und schmal.

Trochanterhöhe. Körperhöhe = 100.

Das Maximum 54,3 der Gesamtzahl ist bei den Bakaïrí-Frauen und das Minimum 47,2 bei den Auetö́-Männern.

Fusslänge. A. Absolut.

B. Körperlänge = 100.

Die Fusslänge ist ebenso wie die Handlänge am grössten bei den Mehinakú, gering bei den Nahuquá, während die Bakaïrí verhältnismässig längere Füsse als Hände haben. Es ist schade, dass wir nicht wissen, ob die einzige gemessene Nahuquá-Frau, die sich durch einen so auffallend langen Fuss auszeichnet, nicht170 vielleicht eine der bei dem Stamm eingeführten Mehinakú gewesen ist. Bei allen Nahuquá-Frauen waren die Zehen sehr kurz, bei der gemessenen die vierte und fünfte Zehe des rechten Fusses stark verkürzt und verkrüppelt.

Die zweite Zehe war häufig länger als die erste, und beim Gehen zeigte sich ein Abstand zwischen beiden. Der Abstand bei aufstehendem Fuss war zuweilen von rechteckiger Form.

Längenbreiten-Index des Fusses. Fusslänge = 100.

Um einen gewissen Ueberblick über die Art zu geben, wie sich den Messungen zufolge die einzelnen Stämme unterscheiden, stelle ich die 6 Stämme, von denen wir kleine Serien besitzen, für die wichtigsten Masse so zusammen, dass ich jedem die Nummer der Reihenfolge zuweise, die ihm zukommt: 1 hat die niedrigste Messzahl, 2 eine höhere und so fort bis zu 6, der höchsten Zahl der Reihenfolge. Die Kolumnen sind nach der Körperhöhe rangiert.

Die Trumaí haben die geringste Zahl von Allen für Statur, Klafterweite, Kopfumfang, Handlänge, die grösste für Kopfhöhe, Längenbreiten - und Längen - höhen-Index des Schädels, Nabelhöhe, die Mehinakú die geringste Zahl für den Längenbreiten-Index des Schädels, für Nabel -, Symphysen -, Darmbeinkamm - und Trochanterhöhe, die grösste dagegen für Statur, Schulterbreite (wie sie sich auch für Klafterweite und Brustumfang recht auszeichnen), für die Jochbogenbreite und, obwohl Arme und Beine kurz sind, für die Länge des Fusses und der Hand. Die Nahuquá haben für kein Mass eine 6, haben aber verhältnismässig viele 1 und 2 aufzuweisen.

171

Die Hautfarbe zeichnete sich in allen Abstufungen durch gelbgraue Lehm - töne aus; Sonnenbrand, Schmutz und Bemalung erschwerten die Feststellung der ursprünglichen Farbe ausserordentlich und nur unter den Baumwollbinden der Oberarme oder Unterschenkel erkannte man, wie hell die Indianer eigentlich waren. Wilhelm legte eine kleine Farbentafel an Ort und Stelle an; ihr zufolge fällt der Durchschnittston zwischen Nummer 30 und 33 der Broca’schen Tafel; dunkleren Tönen war ein entschiedenes Lila-Violett beigemischt, namentlich auf Brust und Bauch, den helleren etwas Gelb. Wir gebrauchten auch die Radde’schen Tafeln und fanden die meiste Aehnlichkeit für Stirn und Wange mit 33 m bis n oder auch 33 o, den Oberarm annähernd 33 m.

Das Haupthaar war schwarz, besonders bei den Bakaïrí, Nahuquá und Auetö́ braunschwarz. Blauschwarzer Ton kam nicht vor. Dagegen sah das Haar, besonders der Bakaïríkinder, bei schräg auffallendem Licht merkwürdig hell und verschossen aus, es spielte zuweilen in einem dunkelrosafarbigen Schimmer. Ross - haar haben wir niemals angetroffen. Das Kopfhaar war mässig dick und grad - linigen Verlaufs oder, namentlich bei den Bakaïrí und Nahuquá, ausgesprochen wellig. Zu unserer Ueberraschung sahen wir unter den Bakaïrí reine Lockenköpfe, wie beispielsweise der Typus Tafel 13 wiedergibt. Wieviel davon Natur, wieviel Kunst war, ist schwer zu sagen. Jedenfalls hatte der alte Paleko in Maigéri, der längst über die Eitelkeit der Jugend erhaben war, kurzes lockiges Haar. Wellig ist das Haar der Bakaïrí auch ohne künstliche Behandlung. Zuweilen war die Stirn bis in die Nähe der Brauen behaart.

Die Wimpern, besonders bei den Nahuquá bis auf die letzte Spur ver - schwunden, wurden ausgerupft. Desgleichen das Barthaar. Doch trafen wir öfters einen mässigen Schnurr - oder Kinnbart, gelegentlich auch Wangenbart, zumeist bei den Kamayurá. Achsel - und Schamhaar wurden ebenfalls ausgerupft.

Der Gesichtstypus der einzelnen Stämme zeigte gewisse Verschiedenheiten, die schwer zu definieren sind. Es giebt ein Bakaïrí-Gesicht, das ich mir zutrauen würde, nicht mit einem Gesicht aus den übrigen Kulisehustämmen zu verwechseln, das aber mit Karaiben der Guyanas die grösste Aehnlichkeit besitzt. Auch einen von Ehrenreich photographierten karaibischen Apiaká des Tokantíns würde ich sofort für einen Bakaïrí erklären. Andere Bakaïrí aber könnten nach ihrer Physio - gnomie auch wieder beliebigen andern Kulisehustämmen angehören. Je mehr Indianer man kennen lernte, desto unsicherer wurde man natürlich. Das Bakaïrí - oder Karaibengesicht, das ich meine, hat fast europäische Bildung, die Prognathie ist gering, Stirn nicht hoch aber gut gewölbt, die Nase hat einen etwas breiten Rücken, kräftige Flügel, eine rundliche Spitze, breite Oberlippen, die Augen sind schön mandelförmig geschnitten und voll. Dagegen giebt es einen zweiten Bakaïrítypus mit starker Prognathie, einem stark zurückweichenden Kinn, niedriger schräger Stirn und einer längeren Nase mit gebogenem Rücken, der uns besonders an den Bakaïrí des Paranatinga auffiel. Eine sonderbare Spezialität des dritten Bakaïrídorfes waren ausgeprägt jüdische Physiognomien. Der Lichtdruck Tafel 13172 zeigt uns den besten Vertreter dieser Abart, der unserm Reisehumor den Namen » Itzig « verdankte. Itzig war der kleinste Bakaïrí, aber sehr gewandt und stark und wie auf der Photographie zu sehen ist, mit einem kräftigen Brustkasten aus - gestattet, er hatte schwarzes lockiges Haar, eine breitrückige gebogene Nase und würde wohl von keinem Unbefangenen für einen Indianer gehalten werden. Wenn es ausser den Mormonen heute noch Leute giebt, die die Kinder Israels in Amerika einwandern und als Stammväter der Rothäute gelten lassen, so mögen sie Itzigs Bild als vortreffliches Beweisstück entgegennehmen. Wahrscheinlich haben sich dem Zug der verlorenen Stämme auch einige Egypter angeschlossen; wenigstens waren einige Frauen in ihrer Haartracht, besonders die Egypterin von dem ersten Dorf mit ihrem schmalen Gesicht und ihrer langen leicht gebogenen Nase von grosser Aehn - lichkeit mit den Frauen des alten Nilreichs, wie diese uns überliefert worden sind.

Stirnwülste fanden sich vereinzelt bei allen Stämmen, typisch jedoch, und bei den kleinen Menschen doppelt auffallend, bei den Trumaí. Sie hatten auch die stärkste Prognathie und das am meisten zurückweichende Kinn; sie hatten eine schmale Nasenwurzel und geringen Abstand der Augen, während die Mehinakú durch geringe Prognathie, vortretendes Kinn, breite niedrige Gesichter und weit abstehende Augen auffielen. Die Gesichter der Nahuquá waren von denen der Bakaïrí durch ihren plumperen Charakter unterschieden, sie hatten, im Gegensatz zu der ovalen Form dieser, bei stark vortretenden Kieferwinkeln etwas Viereckiges und Vierschrötiges. Die feinst geschnittenen Gesichter fanden sich unter den Kamayurá.

Die Iris war dunkelbraun und nur ausnahmsweise hellbraun; die Trumaí hatten verhältnismässig helle Augen. Einen Nahuquá fanden wir blauäugig, er hatte in Haar - und Hautfarbe nichts Besonderes, das Haar war schwarz und ziemlich straff, er war der Vater eines jungen Mannes mit dunkelbraunen Augen, seine eigenen Augen aber hatten eine entschieden blaue Iris. Die Stellung der Augen war horizontal oder ein wenig schräg, die Form war mandelförmig, die Lidspalte bei den Bakaïrí häufig sehr weit geöffnet, bei den übrigen, besonders bei den Nahuquá und Kamayurá ziemlich klein und niedrig. Mongolische Augen haben wir nicht gesehen, nur ein Kamayurá konnte als mongoloid gelten.

Schöne Zähne waren äusserst selten. Sie waren häufiger opak als durch - scheinend, die Färbung war gelblich und nur ausnahmsweise weiss, die Stellung vielfach unregelmässig; sie waren ziemlich massig, bei den Mehinakú häufig klein und fein. Fast überall erschienen sie stark abgekaut. Man sieht nie, dass sich die Indianer die Zähne putzen oder den Mund ausspülen, was ihnen bei ihrer mehlreichen Kost recht zu empfehlen wäre. Sie gebrauchen die Zähne sehr rück - sichtslos, wenn sie keine Fischzähne oder Muscheln zur Hand haben; sie beissen ferner auch in die austerartig harten Flussmuschelschalen ein Loch, um mit dessen scharfem Rand Holz zu glätten, und zerbeissen die Muscheln, aus denen sie ihre Perlen verfertigen, eine Art der Misshandlung, die besseren Gebissen verderblich sein müsste und deren blosser Anblick mir in der Seele wehthat.

[173]

IX. KAPITEL.

I. Die Tracht: Haar und Haut.

Vorbemerkung über Kleidung und Schmuck. Das Haar. Haupthaar, Körperhaar, Wimpern. Die Haut. Durchbohrung. Umschnürung. Ketten. Anstreichen und Bemalen. Ritznarben. Tätowierung.

Da ich in diesem und dem folgenden Kapitel nach Möglichkeit auf den Ursprung der bei unseren Eingeborenen beobachteten Tracht zurückzugehen suche, möchte ich zwei grundsätzliche Bemerkungen vorausschicken.

Einmal, ich halte es für einen Irrtum, dass eine aus dem Schamgefühl hervor - gegangene Kleidung dem Menschen zu seinem Menschentum notwendig sei. Die Indianer am oberen Schingú, deren Vertreter für verschiedene Stammesgruppen wir kennen gelernt haben, bedürfen der Kleidung in diesem Sinne nicht, was ich daraus schliesse, dass sie keine solche Kleidung haben. Ihre Vorrichtungen, die wir von unserer Gewöhnung aus als Schamhüllen anzusprechen geneigt wären, sind durch - aus keine Hüllen, und das Schamgefühl, das die Hüllen geschaffen haben soll, ist nicht vorhanden. Schon 1584 schrieb der Jesuitenpater Cardim von brasilischen Eingeborenen: » Alle gehen nackt, so Männer wie Weiber, und haben keinerlei Art von Kleidung und für keinen Fall verecundant, vielmehr scheint es, dass sie in diesem Teil sich im Zustand der Unschuld befinden. «

Dann muss ich einigermassen Stellung nehmen zu dem Ursprung des Schmuckes. Es steht fest, dass es heute bei den Naturvölkern zahlreiche Arten von Schmuck giebt, für die kein wirklicher oder eingebildeter Nutzen sichtbar ist und die gegenwärtig ganz und gar nur Zierden sind. Dennoch ist es wohl unmöglich, dass sich die feineren Empfindungen eher geregt haben als die gröberen. Der Jäger hat sich erst mit den Federn der erbeuteten Vögel geschmückt, ehe er sich Blumen pflückte. Ehe er sich aber Vögel schoss, um sich mit den Federn zu schmücken, hat er Vögel geschossen, um sie zu essen. Er hat sich von altersher den nackten Leib mit bunten Lehmen angestrichen. Es ist wahr, die schönen Farben liegen in der Natur am Ufer, und man ist tagtäglich hinein - getreten. Aber sollte es dem Menschen nicht eher aufgefallen sein, dass der nasse Lehm die Haut kühlte oder dass die Moskitos nicht mehr stachen, als dass er bemerkte, wie sein Fuss an Schönheit gewonnen hatte? Ich glaube, dass er174 sich zweckbewusst zunächst auch nur deshalb beschmierte, weil er Utilitarier genug war, solche Vorteile auszunutzen.

Manche wollen aber von solchem Anfang Nichts hören. Sie scheinen der Ansicht zu sein, dass dem Nützlichen etwas Geringzuschätzendes anhaftet. Warum, mögen die Götter wissen. Auch ich glaube, dass der Schmuck aus dem Ver - gnügen, dass er wie Spiel und Tanz aus einem Ueberschuss an Spannkräften hervorgeht, aber die Dinge, die man braucht, um sich zu schmücken, hat man vorher durch ihren Nutzen kennen gelernt. Wir können, sobald man sich zu schmücken beginnt, auch schon zwei Hauptrichtungen beobachten. Es giebt eine Eitelkeit, die sich auf Heldenthaten bezieht, die Eitelkeit der Jedermann zur An - sicht vorgehaltenen Bravouratteste, nennen wir sie die der Trophäe und des Schmisses, und es giebt eine zahmere Eitelkeit, die sich mit dem Eindruck durch schöne oder auch schreckliche Farben genügen lässt, nennen wir sie die der Schminke. Ueberall können wir bei unsern Indianern Methoden, die dem Nutzen, und solche, die der Verschönerung dienen, einträchtiglich nebeneinander im Ge - brauch sehen, und wir haben allen Grund anzunehmen, dass jene die älteren sind.

Das Haar. Die Haartracht der Männer ist eine Kalotte mit Tonsur. Das Haar wird von dem Wirbel aus radienförmig nach allen Seiten gekämmt, fällt vorn auf die Stirn, reicht seitlich bis an das Loch des Gehöreingangs und hinten nicht ganz bis zum Halsansatz. Während die Suyá das Vorderhaupt kahl zu scheeren pflegen und die Tonsur des Apostels Paulus besitzen, haben die Kulisehuindianer sämtlich die Tonsur des Apostels Petrus, eine kreisförmige Glatze auf dem Scheitel bis zu 7 cm Durchmesser. Wenn der junge Bakaïrí Luchu in Vogel’s braunem Lodenponcho stolzierte, sah er aus, wie ein Klosterschüler aus dem » Ekkehard «. Man hat geglaubt, die Indianer hätten die Tonsur von dem Beispiel der Patres entlehnt, was ihrer Sinnesart gewiss entsprechen würde, allein die Tonsur war vor den katholischen Priestern in Amerika. Sie ist bei den süd - amerikanischen Naturvölkern ungemein verbreitet gewesen, und da die Portugiesen die Geschorenen von coróa, Krone, Tonsur, Coroados nannten, sind ganz un - gleichwertige Stämme verwirrend mit derselben Bezeichnung bedacht worden. Pater Dobrizhoffer berichtet, dass bei den Abiponern von Paraguay die Tonsur als Auszeichnung der höheren Kaste galt. Hiervon war bei unsern Stämmen nicht die Rede. Jeder Knabe erhielt die Tonsur um die Zeit, dass er mannbar wurde, und Antonio erzählte mir, dass er geweint und sich sehr gesträubt habe, als sein Vater ihm zum ersten Mal die Glatze schor. Der Gebrauch wurde mir als uralte Sitte der Grossväter bezeichnet. Nicht immer war man sehr aufmerksam im Rasieren. Bei älteren Leuten zumal fand sich die Tonsur oft mit Stoppeln überwachsen; man kümmere sich weniger darum, hiess es, » wenn man alt wird und Vater und Mutter schon tot sind «.

Bei den Bakaïrí wussten sich eitle junge Männer auch durch hölzerne Papilloten eine volle Lockenfrisur zu verschaffen. Kleine Stücke korkartigen Holzes, mit〈…〉〈…〉〈…〉〈…〉

TAF. XIV.

MEHINAKÚ

177 Uebrigen wurde die Bartpflege weitaus am nachlässigsten behandelt, und so wird der Brauch, das Haar zu entfernen, wohl auch nicht zuerst bei ihr eingesetzt haben.

Für das Schamhaar, das nur die Suyá-Männer nicht entfernten, während ihre absolut nackten Frauen dies thaten, kann man den ziemlich grob naiven Ein - geborenen am ehesten zumuten, dass sie sein Vorhandensein als besonders hässlich erachteten. Doch ist es schwerlich befriedigend anzunehmen, dass es nur die dem Menschen angeborene Freude an glatter Haut sei, die den so energischen Ver - nichtungskrieg des unbekleideten Eingeborenen gegen alles Körperhaar in Szene gesetzt hat. Es fehlt nicht an Gründen, die es als vielfach lästig erscheinen lassen. Man sagt sich, dass auch Insekten, die nicht nach Art der Läuse verspeist werden, in Bart, Achsel - und Schamhaar eindringen und das Haar ver - filzen, wie in unserm Revier sich dort namentlich die Bienen verfingen, man erinnert sich der im Haar doppelt empfindlichen Knötchen und Eiterbläschen auf schwitzender Haut, der Unsauberkeit durch Blut und Schmutz, der Angriffs - gelegenheit für Gestrüpp wie für die Rauflust des Mitmenschen und findet so manchen Umstand, dem zufolge das Körperhaar einem nackten Menschen aller - dings eher Beschwerden als Freuden bringen mag. Es ist andrerseits auch der Zeitvertreib und Genuss zu würdigen, den das Ausrupfen der Haare und das Herumarbeiten mit Handwerkzeug am Körper in faulen Stunden den Leuten bietet. Endlich wäre es vielleicht nicht ganz gleichgültig, dass Haar und Federn als eine Art pflanzlicher Gewächse gelten. Das Wort für Haar und Federn bei den Bakaïrí und wahrscheinlich auch in andern Sprachen ist ursprünglich dasselbe wie Wald, und ob nun das Pflanzliche vom Körperlichen abgeleitet sei oder um - gekehrt, die Begriffe sind urverwandt. Haar und Pflanzen wachsen, sie werden auch ausgerodet, zumal das kurze Unkraut.

Ich möchte jedoch einen einfachen und täglich wirkenden Grund voranstellen. Wie Haut und Haar zusammengehören, so denke ich bei dem Gebrauch des Aus - rupfens an einen Zusammenhang mit dem andern Gebrauch des Körperbemalens, des Schminkens, von dem Joest behauptet, dass es älter sei als das Waschen. Für das Anstreichen des Körpers, mit dem wir uns bald näher beschäftigen wollen, ist die Entfernung des Haares aber äusserst wünschenswert, weil dieses die Farbe aufnimmt, die der darunter liegenden Haut selbst eingerieben werden soll. Wer ein Fell anstreichen will, rasiert zuvörderst. Ein Hauptzweck des Anstreichens, die Tötung der Insekten, würde gar nicht erreicht. Die Entfernung des Schamhaars findet weiter - hin eine sehr natürliche Erklärung in dem Konflikt, in den es mit den Vorrichtungen gerät, die hier gerade um die Zeit angebracht werden, wenn es erscheint. Besonders würden die Manipulationen mit der Hüftschnur bei den Männern entschieden be - hindert werden. Kurz, wer das Haar entfernt, ist besser daran und vermisst doch Nichts. Damit allein ist die Sitte genügend begründet. Rupfen, Schneiden und Rasieren sind nur eine Frage der Gründlichkeit oder der technischen Mittel oder der Rücksicht auf die Empfindlichkeit. Weniger Beachtung findet der Kamm, man hat eher die Haare geschnitten und ausgerupft, ehe man sie gekämmt hat.

v. d. Steinen, Zentral-Brasilien. 12178

Am merkwürdigsten, gewiss auch kein Zeitvertreib, ist das Ausrupfen der Wimpern, weil diese, man darf wohl sagen, Operation ganz allgemein und schon bei den kleinen Kindern beiderlei Geschlechts ausgeübt wird und mit Stammes - und Geschlechtsunterschieden nicht in Zusammenhang gebracht werden kann. *)Den Naturvölkern wird etwas gar zu häufig das Bedürfnis der Abhärtung zugeschrieben, aber ich habe nicht gesehen, dass man die Kinder abhärtete. Die Herren Väter, von den Müttern nicht zu reden, neigten eher zur Sentimentalität als zur Strenge ihren sehr eigenwilligen Sprässlingen gegen - über, die nicht schreien durften, ohne dass es auch den Eltern bitter wehthat. Man fügte ihnen mit Bestimmtheit nur Schmerzen zu, wenn man es zu ihrem Besten zu thun glaubte, man war immer um ihre Gesundheit aufs Aeusserste besorgt und behing sie mit Amuletten.

Ist das Auge aller Menschen wertvollstes Organ, so sind diese nach Tieren und Früchten spürenden Waldbewohner darauf im denkbar höchsten Grade an - gewiesen. Nie habe ich einen Indianer jammern und winseln hören wie den seine Blindheit beklagenden Häuptling der Yaulapiti. Darum braucht man aber in der Behandlung nicht die uns richtig erscheinende Einsicht zu entwickeln. Weil Tabakrauch das beste ärztliche Mittel ist, wird eine stark entzündete Binde - haut nach Kräften voller Rauch geblasen. So liegt auch der Gedanke, dass die Wimpern das Auge schützen, den Indianern ganz fern. Sie erklären, das Auge werde durch die Wimpern am Sehen behindert, namentlich, wenn sie scharf in die Ferne sehen wollten. Dass sie bemüht sind, nach ihrem besten Wissen für das edle Organ zu sorgen, geht daraus hervor, dass dem Knaben, der ein sicherer Bogenschütze werden soll, die Umgebung des Auges mit dem Wundkratzer blutig geritzt wird natürlich, weil man an diese » Medizin « glaubt und nicht, weil man ihn abhärten will. Gerade bei den Wimpern ist das grausam erscheinende Ausrupfen, weil radikal, ein noch relativ mildes Verfahren. Denn Schneiden und Rasieren am Lidrand mit Fischzähnen und Muscheln zu ertragen wäre in der That ein Heroismus.

Die Haut. Die Haut wird durchbohrt, um Schmuck aufzunehmen, sie wird mit Farbe bestrichen und wird mit Stacheln oder Zähnen geritzt. Die beiden letzteren Methoden entwickeln sich zu künstlerischer Behandlung, zur Körper - bemalung oder zur Tätowirung wissen möchte man nur, welche ursprünglichen Zwecke zu Grunde liegen.

Wenn wir bei uns verweichlichten zivilisierten Menschen im Groben und Feinen noch an tausend Beispielen beobachten, bis zu welchem Grade Gefallsucht und Eitelkeit den Sieg über körperliches Unbehagen davonzutragen pflegen, so werden wir uns nicht wundern, dass die Eitelkeit der Naturvölker noch etwas rücksichtsloser verfahrt. Der Hauptunterschied zwischen uns und ihnen ist nur der, dass sie an der Haut thun müssen, was wir an den Kleidern thun können. Dann aber ist es bei ihnen überall zunächst der Mann gewesen, der sich ge - schmückt hat. Er hat damit als Jäger angefangen und, da es die Jäger-Eitelkeit zu erklären gilt, dürfen wir schliessen, dass der Mensch zuerst den Begriff der Trophäe entwickelte, indem er sich von den Teilen der Beute, die ungeniessbar179 waren, sich aber gut konservieren und tragen liessen, nicht trennte, sondern sie zur Anerkennung für die Mitwelt aufbewahrte und an seinem Leibe anbrachte. Wir finden dies um so natürlicher, als wir wissen, dass mit solchen Teilen nach seiner Meinung die Eigenschaften des Wildes erworben wurden. So trug er Krallen, Zähne und Federn als Trophäe und Talisman. Während er die meisten dieser Dinge an eine Schnur anbinden konnte, sah er sich mit einer Feder, die er zur Erinnerung an einen guten Schuss aufbewahren wollte, in Verlegenheit: er durchbohrte den Ohrzipfel und steckte sie dort hinein, wo sie festsass und ihn nicht behinderte. Hierauf sind auch die Vorfahren aller unserer Stämme verfallen; einige haben es sich bald nicht an den Ohrlöchern genügen lassen, sondern auch die Nase und Lippe durchbohrt. Denn der Begriff der Trophäe, anfangs nur auf den mühe - vollen Erwerb bezogen, dehnte sich aus auf ein mit nicht grade grossen Schmerzen oder Mühen verbundenes Tragen; eine neue Leistung entstand, die der Bewunderung wert war, und ein junger Mann kam sich gewiss im vollen Wortsinn » schneidiger « vor, wenn er sein Kleinod in einem Loch der Nase, der Lippe oder der Ohren zur Schau trug, als wenn er es an einer Schnur umhängen hatte. Wurde die Trophäe einmal gewohnheitsmässig getragen, so war es unausbleiblich, dass sich die Aufmerksamkeit auch ihren äusseren Eigenschaften, den früher sekundären Merkmalen der Farbe und Form, zuwandte. Selbst Gegenstände, die man nur gebraucht hatte, um die Löcher offen zu halten und das Zuheilen zu verhindern, wurden zu Schmuck und Zierrat. Mit den Vorstellungen über das Schwierige, Seltene, Kraftbegabte assoziierten sich die mehr oder minder dunkel empfundenen Wahrnehmungen gefälliger Farbenkontraste.

Die künstliche Verletzung wurde aber auch Selbstzweck durch den Umstand, dass sie ein dauerndes Kennzeichen lieferte und so mancherlei Formen der Sitte gestaltete. Sie war nicht nur vorzüglich geeignet, innerhalb eines Stammes mutige und herrschende Personen, die gewöhnlich auch die eitelsten waren, aus - zuzeichnen, sie bildete vielfach von Stamm zu Stamm das mit Bewusstsein ge - tragene Nationalitätsmerkmal. Sie gab das Mittel an die Hand, schon Kinder mit Dauermalen zu versehen. Die Indianer haben von jeher den Kinderraub bei fremden Stämmen mit Leidenschaft betrieben, um sich Krieger und Frauen auf - zuziehen; so markierte man die Kinder, um sie wiedererkennen zu können, wie der Herdenbesitzer sein Vieh stempelt. Als wir bei den Bororó waren, schwor eine alte Frau Stein und Bein, unser Antonio sei, obwol er kein Wort Bororó verstand, ihr vor Jahren von Feinden gestohlener Sohn, sie wehklagte und jammerte laut durch die Nacht; da war es denn merkwürdig zu sehen, wie sich die Bororó den halb lachenden, halb empörten Antonio gründlich vornahmen, seine Unterlippe genau untersuchten, die bei ihnen schon dem Säugling durch - bohrt wird, und ihn einmütig freigaben, als sie statt ihres Lippenlöchleins eine durchlöcherte Nasenscheidewand fanden. So waren unter den Bakaïrí geraubte Paressífrauen, unter den Nahuquá Mehinakúweiber, unter den Suyá die gefangenen Manitsauá sofort nach den Stammesabzeichen von den Uebrigen zu unterscheiden. 12*180Die künstliche Verletzung entwickelte sich also zu einer ständigen Einrichtung der Zweckmässigkeit. Zudem galt das Fremde als hässlich oder komisch, das Heimische als schön und edel.

Die Durchbohrung der Ohrläppchen ist allgemein bei den Männern aller Stämme verbreitet. Sie dient allein für Federschmuck. Bei keinem Stamm des Kulisehu haben die Frauen die Ohrläppchen durchbohrt, und keine Frau trägt auch sonst am Körper irgendwelchen Federschmuck; die Frau jagt nicht der Ursprung aus der Jagdtrophäe ist noch unverkennbar ausgeprägt. Das Ohr der Knaben wird um die Zeit durchbohrt, wenn er anfängt, sich mit Bogen und Pfeilen kleinen Formates zu üben. *)Bei den Suyá tragen Männer und Frauen im aufgeschlitzten, allmählich zu einem langen Zügel erweiterten Ohrläppchen Rollen von Palmblattstreifen, aber auch hier beschränkt sich der Federschmuck auf die Männer.

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Abb. 12.

Holzmaske der Bakaïrí mit Ohr - und Nasenfedern.

Die Durchbohrung der Nasenscheidewand in ihrem untern Teil, sodass dem hindurchgesteckten Gegenstand die Flügel leicht aufgestülpt aufsitzen, ist nur bei den Bakaïrí anzutreffen, am Paranatinga und Rio Novo, am Batovy und im ersten Kulisehudorf bei beiden Geschlechtern, im zweiten Kulisehudorf nur bei den Männern, im dritten weder bei Männern noch bei Frauen. Diese geographische Verteilung macht es mir nicht unwahrscheinlich, dass die Sitte an die der Paressí181 anlehnt, die mit den westlichen Bakaïrí früher in lebhaftem, bald friedlichem, bald feindlichem Verkehr standen, von denen wir noch zwei als Kinder geraubte Frauen im Paranatingadorf fanden. Die Paressí durchbohrten ihren Frauen die Ohrläppchen, sodass sie von den Bakaïrífrauen stets zu unterscheiden waren, und ihre Männer durchbohrten die Nasenscheidewand, schoben ein Stückchen Rohr hinein und steckten nur in das eine Ende desselben eine lange Arara - oder ge - wöhnliche Tukanfeder, während der Ohrzierrat der Frauen in dreieckigen Stückchen Nusschale bestand.

Bei den Bakaïrí werden heute keine Federn mehr in der Nase getragen, doch fanden wir Masken mit einem Loch in der verlängerten Scheidewand der hölzernen Nase, durch das nach jeder Seite eine in einem Rohrstück steckende Ararafeder hinausragte. Auch ist ein Unterschied zwischen der Grösse des Loches bei Männern und Frauen, worauf ich von den Bakaïrí selbst besonders aufmerksam gemacht wurde; die Männer tragen darin ein dünnes Stück Kambayuwarohr, in das man die Feder steckte oder einen dünnen Knochen, die Frauen einen dicken Kambayuvapflock oder einen dicken Knochen oder Stein. Dieser letztere wird niemals von den Männern verwendet. Wir haben am Kulisehu einige Schmuck - steine aus grauweiss - lichem, stumpf glän - zenden Quarzit ge - sammelt, die zu der Form einer spitzen Spindel zugeschliffen waren und eine Länge

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Abb. 13.

Nasenschmuckstein der Bakaïrífrauen.

von 6 cm hatten. In wirklichem Gebrauch sahen wir die Nasenspindel, natáko, nur bei einer schwangern Frau, die auch mit vielem Halsschmuck behangen war. Diese Steine kamen vom Batovy oder vom Ponekuro, dem rechten Quellfluss des Kulisehu; sie seien selten, sodass gewöhnlich Knochen oder Rohr aushelfen müsste. Wir er - hielten auch Knochen ähnlicher Form, cm lang, und eine 7 cm lange, perl - mutterglänzende Spindel, die aus einer Muschel geschnitten war. Die Operation wird ungefähr im fünten Lebensjahre vorgenommen und soll zuweilen mit starker Blutung verbunden sein.

Die Umschnürung der Extremitäten kann ich hier anschliessen, obwohl sie unsern Indianern in dem Grade, wo man erst von einer Körperverletzung reden könnte, noch fremd war. Sie war bei allen Stämmen vielfach im Gebrauch. Man nahm dazu dicke breite Strohbinden, Baumwollstränge, Baumwollstricke oder mit Holznadeln gehäkelte Bänder, und trug sie um den Oberarm und unterhalb des Knies oder oberhalb des Fussknöchels. Am meisten fiel die Sitte im dritten Bakaïrídorf auf, wo man pralle, fast aufgeschwollene Waden sah. Doch haben wir in dem Maasse dick hervorgetriebene Waden, wie sie von den männlichen oder weiblichen Karaiben des Nordens abgebildet werden, niemals beobachtet. Die Strohbinden bemerkten wir namentlich bei den Nahuquá (vgl. die Abbildung 4). 182Nur die Männer gebrauchten die Umschnürung. Sie mache stark, wurde mir zur Erklärung angegeben. Zum Tanzschmusk trug man auch mit bunten Federn verzierte Bänder um den Oberarm.

Ketten. Mit Halsketten schmückten sich beide Geschlechter, die Männer trugen auch Zierraten an ihrer Hüftschnur. Am meisten waren Kinder und Schwangere mit Kettenschmuck behängt. Für die Kinder wurden in erster Linie auch unsere Perlen verlangt.

Die Bakaïrí verfertigten mit vieler Mühe sehr hübsche Halsketten, Trophäen der Arbeit, die bei den andern Stämmen recht beliebt waren, und die wir 1884 auch bei den Suyá gefunden haben, vgl. den Kamayurá der Abbildung 14. Es sind rechteckige, leicht gewölbte Stücke, die aus einer Windung der Schale

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Abb. 14.

Kamayurá mit Muschelkette.

von píu, Orthalicus melanostomus (Prof. v. Martens), geschnitten sind, 2 3 cm lang, 1 1,5 cm breit, fast rein weiss und heissen píu oráli. Sie decken sich mit der Längsseite dachziegelförmig und sind meist oben und unten durchbohrt, aber nur oben mit Fädchen an der Halsschnur befestigt. Man suchte besonders dicke Schalen aus, zerbrach sie und schliff sie an Steinen. Sie wurden durchbohrt mit dem Zahn des Hundsfisches oder mit dem Quirlstäbchen, an dessen Ende ein drei - eckiger Steinsplitter angeschnürt war; so bildete sich ein konisches Loch.

Eine andere Art besteht aus kleinen Scheibchen oder glatten Perlen, nur 1 mm dick und mit 3 5 mm Durchmesser. Sie sind regelmässig kreisrund, von mattem, weissgrauen bis bläulichen Glanz. Die Stückchen der zerbrochenen Schale wurden mit den Zähnen abgebissen, ungefähr gleich gross gemacht und ebenso wie die Rechtecke durchbohrt. Die winzigen Dinger sind so gleichmässig geschliffen,183 dass sie auf der Schnur eine dünne biegsame Schlange bilden. Sie pflegen mit gleichgestalteten Tukumperlen (Bactris) zu wechseln, die aus der Schale der Palmnuss abgebissen sind. Die Tukumperlen werden ebenfalls mit dem Zahn des Hundsfisches durchbohrt. Bei ihnen und den Muschelscheibchen wird die Gleich - mässigkeit dadurch erreicht, dass man die Perlen aufreiht und die Rolle nicht auf Stein schleift, sondern zwischen zwei Topfscherben reibt und glättet. Die Muschelperlen sind ein sehr natürliches Erzeugnis, wenn man überhaupt bunte oder glänzende Schalenstücke aufbewahrt; man reiht sie auf eine Schnur, da sie sich anders schlecht befestigen lassen, man macht sie untereinander gleich und erreicht dies am bequemsten, wenn man sie einfach rundum schleift. So sind die verschiedenartigsten Naturvölker mit ihrem betreffenden Muschelmaterial zu Perlen gelangt, die sich zum Verwechseln ähnlich sehen. Die Perlen haben aber auch alle Eigenschaften, um dort, wo Verkehr stattfindet, von Stamm zu Stamm zu wandern, und geben die beste Gelegenheit, den Umfang des Verkehrs, der Manchen für unbegrenzt gilt, kennen zu lernen. Die Bakaïrí des Batovy sind mehr als die des Kulisehu zóto , Herren, der Muschelketten.

Die Tukumperlen werden hauptsächlich von den Nahuquá verfertigt; diese hatten als Muschelperlen besonders rosafarbene Spindelstückchen von Bulimus, deren zóto sie waren, und von denen ein einzelnes in kleinen Abständen die Schlange der Nussperlen zu unterbrechen pflegte. Die Nahuquá zeichneten sich durch einen grossen Reichtum von Ketten, namentlich aus pflanzlichem Material, aus, das übrigens auch bei den Bakaïrí eine grössere Rolle spielte, als bei den abwärts wohnenden Stämmen. Die Bakaïrí von Maigéri schätzten » Grasperlen « sehr hoch, kanakúni, die Antonio für Früchte eines hohen, an Lagunen wachsenden, seltenen Grases erklärte, und deren jeder Halm nur wenige hervorbringe.

Wir fanden Halmstücke, Rindenstücke, Samenkerne und Beeren der ver - schiedensten Art: Nussperlen von der grossen und der kleinen Tukumpalme, Früchte einer Schlingpflanze, eines Kampbaumes Takipé, einer Pflanze namens (Bakaïrí) udayáki, roten und schwarzen Samen von Papilionaceen, von Mamona - Ricinus, Tonkabohnen (Dipteryx odorata), bei den Auetö́ Kuyensamen und Almeiscakerne, ja eine kleine 7 cm lange flaschenförmige Kuye.

Bei den Yaulapiti, Trumaí und von ihnen herrührend, bei ihren Nachbarn, waren Steinketten häufig: durchbohrte Scheiben und Zilinder, die die Nahuquá in dem bernsteinähnlichen Jatobáharz und in Thon nachbildeten. Es war der Diorit der Steinbeile und Wurfholz-Pfeile; er wurde mit dem an dem Quirlstock befestigten Steinsplitter unter Zusatz von Sand durchbohrt. Kleine Steinbirnen, wie sie zu den Wurfpfeilen gehören, wurden mit Vorliebe von den Mehinakú und Auetö́ an Kinderketten gehängt.

Es waren also deutlich Unterschiede in dem Material vorhanden, die wahr - scheinlich, wie es für die Steine ja sicher ist, örtlich bedingt waren. Alle Ketten aus den weissen Muschelstücken gingen auf die Bakaïrí, alle aus den roten auf die Nahuquá, alle aus Steinen auf die Trumaí oder Yaulapiti zurück.

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Ueberall fand sich das tierische Material. Es gab Hornperlen, Knochen - perlen, diese auch in Stäbchenform, sie wurden bald vereinzelt aufgehängt, bald zu ganzen Ketten vereinigt besonders Affen - und Jaguarzähne. Vgl. das Bild des Auetö́-Häuptlings Seite 108. Wir erhielten bei den Nahuquá eine Kette mit Jaguar - zähnen und bunten Federchen. Die Trumaí schätzten Kapivara-Zähne. Bei den Mehinakú gab es besonders reichlichen Kinderschmuck, mit dem die Säuglinge bündelweise behangen waren: ausser dem Uebrigen, zumal Affen-Zähnen, Zähne der Jaguatirica (Felis mitis), Fischwirbel, Knochen vom Bagadú-Fisch, einmal ein mächtiges schwarzes Käferhorn. Auch Klauen vom Tapir (Kamayurá), Jaguar und Hirsch.

Hiermit werden die wesentlichsten Bestandteile des Kettenschmucks wohl aufgezählt sein, in dem späteren Kapitel über die Plastik unserer Indianer komme ich auf Einzelnes noch zurück, insofern auch allerlei Figuren geschnitzt und geschliffen wurden.

Inwieweit den einzelnen Dingen nützliche und heilsame Wirkungen zu - geschrieben wurden, vermag ich nicht zu sagen. Dass der » Schmuck « viel - fach » Talisman « war, geht daraus hervor, dass, wie erwähnt, die Kinder und Schwangeren am meisten behängt waren. Wenn die Reste einer Zündholzschachtel umgehängt wurden, so wird dies auch nicht aus dem Schönheitsgefühl entsprungen sein. Die Grasperlen der Bakaïrí waren zierlichen Fischknöchelchen äussserst ähnlich, ich erhielt eine solche Kette aber nur mit grösster Mühe; sie war in den Augen ihres Besitzers entschieden » schöner « als die mit Fischperlen, weil sie seltener war.

Anstreichen und Malen. Warum streichen sich die Indianer mit Oelfarbe an, sei es nun mit schwarzer, wie die Einen, die den Orléansstrauch weniger pflegen, oder mit roter, wie die Anderen vorziehen? Den Feind durch Prunk und Entstellung zu schrecken? Das ist gewiss eine nützliche Anwendung, aber doch nur für diesen bestimmten Fall.

Sollte durch die Freude an der Farbe Alles erklärt werden? Dann sind wir genötigt, auch die Freude am Schwarzen als eine ursprüngliche Lustempfindung anzuerkennen. Dann müssten wir mit Erstaunen feststellen, dass unsern Stämmen ein z. B. in Polynesien so ausgiebig benutztes, für solchen Zweck selbst in dem relativ blumenarmen Flusswald reich bestelltes Fundgebiet der Natur entgangen ist nicht Mann, nicht Weib schmückte sich mit Blumen. Die einzige Frage, glaube ich, die Antonio aus eigener Initiative an mich gerichtet hat, war in Cuyabá die: » warum tragen die Frauen Blumen im Haar? « Der Gedanke, dass es geschehe, um sich mit bunten Farben zu schmücken, lag seiner Seele himmelfern. Nein, die bunten Papageifedern sind zum farbigen Schmuck erst geworden; zuerst war das Vergnügen an der Jagd oder dem Tierleben und die Prahlerei mit der Jäger - geschicklichkeit wirksam und dann erst kam die Sinnenfreude zu ihrem Recht.

Ich habe in meinem Tagebuch jeden Fall von Körperbemalung eingetragen und feststellen können, dass es hier noch heute zwei Arten des Körperbemalens185 giebt. Die eine, an die wir zuerst denken, die das Aeussere schmücken soll, war die seltenere und hatte ein Kennzeichen, das sie von der andern ziemlich sicher unterscheiden liess. Dieses Kennzeichen war, dass zum Schmuck das Muster gehörte, sei es einfach, sei es prunkvoll. Man muss einen Unterschied machen zwischen Anstreichen und Bemalen des Körpers. Beim Anstreichen ist das Nützliche, beim Mustermalen das Schöne massgebend. Die Farbenfreude ist in beiden Fällen vorhanden, aber sekundär. Schon die Wirkung des Urukúrots überschätzen wir. Wenn sie so allgemein wert gehalten worden wäre, so hätten sich alle Stämme seiner bedienen können. Wer den wahrhaft prunkhaften Schmuck der Papageienvögel zu Hause hat, der soll sich besonders schön vorkommen, wenn er sich mit Russ und auch mit Ziegelrot anstreicht! Man verweile im Berliner Museum für Völkerkunde vor den herrlichen Federzierraten des tropischen Südamerika und vergleiche damit getrost das Schönste und Bunteste, was unsere gewiss nicht Geringes leistende moderne Technik hervorzuzaubern vermag noch kann die Natur den Vergleich aushalten, und sicherlich schlägt ihre Federpracht das bescheidene Schwarzweissrot, das dem Indianer Kohle, Lehm und Orléans - strauch liefern.

Der Indianer gebraucht niemals Weiss zur Körperbemalung! Ich höre schon die Antwort » er findet, Weiss steht ihm nicht «. Daran ist wohl auch etwas Richtiges. Unsere weissen Perlen schätzte er geringer als die roten, beiden zog er die blauen vor, die mit seiner Haut am besten kontrastirten. Man könnte zwar einwenden, dass er diese Unterschiede schon nach dem blossen Anblick machte,[und] ehe er die Perlen auf seinem Körper gesehen hatte, aber es mag sein, rot gefiel ihm besser als weiss und blau besser als alle übrigen, nicht, weil er die für ihn selteneren Farben vorzog, sondern nach reinem Geschmacksurteil. Dann ist damit noch nicht erklärt, warum er sich des Weissen gänzlich enthielt, man verstände nur, dass er es sparsamer gebrauchte, und könnte keinenfalls be - greifen, dass er es nicht schon, um die anderen Farben besser zu heben, an - wendete. Er trägt Federhauben, die allerliebst aussehen, von reinem Weiss mit wenigen gelbroten Federchen dazwischen.

Zur Musterbemalung des Körpers eignet sich der kreidige feinkörnige Thon nicht. Würde er wie Kohle mit dem gelblichen Oel vermischt, so liesse er sich ebenfalls in Linien auftragen, aber die weisse Farbe ginge verloren. Mit Wasser gemischt, würden die Linien aber sehr unbeständig sein und zumeist beim Antrocknen abfallen. Auf den Masken liefert das Weiss nur den Grund oder erscheint bei den kunstlosesten in breiten Streifen. Dagegen würde den Ein - geborenen, wenn er seinen Farbstoff wesentlich um des Farbeneindrucks willen zum Körperschmuck verwendete, nichts hindern, sich auch mit Weiss zu verschönern, indem er sich mit dem Thon in breiter Fläche einpulverte. So sind kreidigweiss die Oberschenkel der fadendrillenden Frauen; auch der feine Mehlstaub, mit dem die Beijúbäckerinnen öfters weiss eingehüllt sind, stände ihm zur Verfügung. Aber weder die weisse Bäckerin noch der in breiter Fläche rot oder schwarz angestrichene186 Indianer hat sich so zugerichtet, um sich zu schmücken. Es ist Werkeltags - kleidung, nicht Sonntagsanzug.

Die Frage lautet also: was ist denn der Nutzen des Anstreichens? Wie bekannt, und wie ich aus eigener Erfahrung langen Barfussgehens sehr gut weiss, kühlt der Schlamm; es ist äusserst angenehm in der Hitze, die Haut feucht zu erhalten. Er kühlt insbesondere gestochene Stellen, und er schützt die ange - stochenen vor den Moskitos, ob er nun rot, gelb, schwarz oder weiss sei. Ich kann nicht glauben, dass sich der Mensch immer, wenn er durch den Ufer - schlamm gewatet ist, darum besonders geschmückt erschienen ist; es mag auf anderm Boden, wo die Erdfarben seltener sind, ein Anderes sein. In