PRIMS Full-text transcription (HTML)
[I]
Zur Geſchichte der deutſchen Kleingewerbe im 19. Jahrhundert.
Statiſtiſche und nationalökonomiſche Unterſuchungen
Halle,Verlag der Buchhandlung des Waiſenhauſes.1870.
[II][III]

Meinem Schwager Dr. Guſtav Rümelin, k. w. Staatsrath a. D., Vorſtand des k. w. ſtatiſt. Bureaus, Dozenten der Philoſophie und Statiſtik an der Univerſität Tübingen, in Liebe und Dankbarkeit gewidmet.

[IV][V]

Vorrede.

Die nachſtehenden Unterſuchungen ſind urſprünglich veranlaßt durch die Redaktion des Arbeiterfreundes. Seit geraumer Zeit dem Namen nach Mitarbeiter dieſer Zeitſchrift fühlte ich längſt die moraliſche Ver - pflichtung, dieſe nominelle Mitarbeiterſchaft zu einer faktiſchen zu machen. Um den wiederholten Aufforde - rungen der Redaktion zu genügen, nahm ich eine Arbeit wieder vor, die mich ſeit lange beſchäftigte, die Bearbeitung der Handwerkerſtatiſtik der wichtigern deutſchen Zollvereinsſtaaten. Bald aber ſah ich, daß die Vollendung dieſer Arbeit einen Umfang gewinne, der die Veröffentlichung in einer Zeitſchrift ausſchließe. Damit war eine ſelbſtändige Publikation geboten, wie ſie nunmehr erfolgt. Meiner Verpflichtung gegenüber dem Arbeiterfreund kam ich dadurch nach, daß mir die Verlagsbuchhandlung des Waiſenhauſes geſtattete, einen Theil der Unterſuchungen (etwa die Hälfte derſelben) daneben im Arbeiterfreund abdrucken zu laſſen. Es folgte aus dieſer Kombination der Uebelſtand, daß der Druck der erſten Bogen im Januar 1869, noch ehe der Entwurf der neuen Gewerbeordnung ausge - geben war, begann, während die letzten erſt im Sep -VIVorrede.tember und Oktober 1869 ganz vollendet und gedruckt wurden.

Seit mir im Jahre 1862 die Ausarbeitung der im Dezember 1861 aufgenommenen württembergiſchen Gewerbeſtatiſtik übertragen worden war, hatte ich die hiermit zuſammenhängenden Fragen und Unterſuchungen ſtets mit beſonderer Vorliebe im Auge behalten. Als ich nach Preußen kam, hatte ich doppelte Veranlaſſung mich immer und immer wieder für wiſſenſchaftliche Vor - leſungen, für Vorleſungen in Gewerbe - und Hand - werkervereinen, ſowie für literariſche Arbeiten mit der preußiſchen Gewerbeſtatiſtik, ſowie mit der des Nachbar - landes, mit der ſächſiſchen, zu beſchäftigen. So hatte ſich das Material, die verſchiedenſten Arten der Berech - nung, der Tabellen bei mir gehäuft; meine eigenen Anſichten waren im Laufe dieſer Zeit mannigfach andere geworden, als ich mich durch die genannte äußere Ver - anlaſſung zur definitiven Ausarbeitung entſchloß. Ich theilte früher, meinen allgemeinern Studien und meinen politiſchen Anſchauungen gemäß, die hergebrachten An - ſichten der liberalen Nationalökonomie, die rein opti - miſtiſche Auffaſſung unſerer volkswirthſchaftlichen Fort - ſchritte, die Idee, in der Gewerbefreiheit an ſich liege ausſchließlich das Heilmittel für alle Uebelſtände. Je tiefer aber meine Studien gingen, deſto mehr ſah ich nicht die Unrichtigkeit, im Gegentheil die Berechtigung, aber auch die Einſeitigkeit dieſes Standpunktes ein, deſto mehr verwandelten ſich mir frühere Abſtraktionen in konkrete Unterſcheidungen, der ſchönfärbende Optimis - mus in die Einſicht, daß nothwendig aus den großenVIIVorrede.Umwälzungen unſerer Zeit neben glänzenden, unerhör - ten Fortſchritten tiefe ſoziale und wirthſchaftliche Miß - ſtände ſich ergeben; es verwandelte ſich mir der Nihilis - mus des laissez faire et laissez passer in die Forderung poſitiver Reformen, wobei die Reformen mir immer mehr als die Hauptſache erſchienen, nicht die Frage, ob ſie der Staat oder die Geſellſchaft in die Hand zu nehmen habe.

Doch zunächſt haben dieſe Unterſuchungen für jene tiefer liegenden Fragen nur das Material zu ſammeln, einen Theil des status quo feſtzuſtellen. Der erſte Zweck der Arbeit lag für mich darin, die ſo vielfach mißbräuchlich benutzten ſtatiſtiſchen Zahlen kritiſch zu unterſuchen, nur vergleichbare Zahlen zuſammen zu ſtellen, durch richtige Anordnung der Zahlen die Fragen zu ſtellen, welche ſie beantworten können. Ich habe daher auch nicht geſcheut, ſelbſt mit einer breiten und hier und da ermüdenden Ausführlichkeit die Entſtehung und den Werth der einzelnen Zahlen klar zu legen, durch zahlreiche Anmerkungen jedem Leſer die eigene Prüfung und Nachrechnung zu ermöglichen. Die Mehr - zahl meiner Rechnungen habe ich durch einen ausge - zeichneten Mathematiker, Herrn Ulrich, Beamten der Verſicherungsgeſellſchaft Iduna prüfen laſſen; auch im Druck ſind die Zahlen mit möglichſter Sorgfalt rektifizirt, ſo daß hoffentlich die niemals ganz zu vermeidenden Druck - und Rechenfehler unbedeutend ſind. Daneben habe ich angeſtrebt, die Zahlen ſo mitzutheilen, daß auch der Nichtfachmann ſie leicht verſteht, d. h. ich habe ſie, durchaus in kleine Tabellen gruppirt, zwiſchen demVIIIVorrede.Texte mitgetheilt, auch abſichtlich die Hauptreſultate der Tabelle nochmals in Worten ausgeſprochen, was ja in offiziellen Publikationen, wie in Werken für den Statiſtiker von Fach zu vermeiden iſt.

Wenn ich dabei möglichſt ſuchte, die Zahlen ganz für ſich ſprechen zu laſſen, ſo weiß doch jeder Statiſtiker, daß das nur möglich iſt, wenn der, welcher die Zahlen vorführt, eine genaue vollſtändige Kenntniß der realen Verhältniſſe hat, um die es ſich handelt. Und dazu rechne ich nicht nur eine Kenntniß der ſpezifiſch gewerb - lichen Zuſtände, der Technik der Gewerbe, der Abſatz - und Preisverhältniſſe, ſondern ebenſo ſehr eine Kenntniß der pſychologiſchen und ſittlichen Zuſtände, der Perſonen, um die es ſich handelt, der Art, wie die betreffenden wirthſchaftlichen Klaſſen ſozial und ſonſt mit einander verkehren und ſtehen.

Ich habe mich in dieſer Beziehung bemüht, das große literariſche Material, das in den Handelskammer - berichten, in den Ausſtellungsberichten, ſowie in den volkswirthſchaftlichen Zeitſchriften liegt, zu verwerthen. Ich ſammle ſeit Jahren an der ſehr umfangreichen Brochürenliteratur über deutſche Volkswirthſchaft des 19ten Jahrhunderts. Auf manchen Reiſen und Wan - derungen habe ich den Süden und den Norden des Zollvereins durchſtreift, die großen Fabriken beſichtigt, die Werkſtätten der Handwerker aufgeſucht und in den Wohnungen der Arbeiter eingeſprochen. Aber immer bleibt das, was man ſo ſelbſt geſehen, ſogar das, was man ſelbſt geleſen und ſtudirt hat, gegenüber dem großen Gebiete des gewerblichen Lebens ein kleinesIXVorrede.Bruchtheil. So kann es nicht fehlen, daß da oder dort vielleicht die Information eine ungenügende war, die Ausarbeitung eine ungleiche wurde. Die Grenz - linie zwiſchen Zahlenmittheilung und ausführender Be - trachtung konnte ſchon wegen der verſchiedenen Bedeu - tung der einzelnen Fragen, Staaten und Gewerbe keine ganz gleichmäßige ſein. Aber darauf kommt es auch nicht an. Das Weſentliche liegt immer wieder im Ge - ſammtergebniß. Dieſes iſt wohl mehr durch die gleich - ſam mathematiſch feſtgeſtellten ſtatiſtiſchen Reſultate daneben aber immer auch durch die ſonſtigen Studien und Anſichten, durch das Temperament und die Erleb - niſſe des Autors bedingt. Ein ſubjektiver Reſt bleibt immer. Es iſt die Schattenſeite jeder wiſſenſchaftlichen Arbeit; es iſt aber auch im gewiſſen Sinne ein Vor - zug. Es ſoll ein ſubjektiver Reſt bleiben. Eine Arbeit derart, welche mit über die wichtigſten volkswirthſchaft - lichen Fragen der Gegenwart ſich ausſpricht, ſoll ſub - jektiv im guten Sinne des Wortes, ſie ſoll eine erlebte ſein. Sie ſoll ſich gründen auf ſelbſtändige Forſchung, die unter Kenntniß aller bisherigen Reſultate der Wiſſenſchaft, doch bei der Beobachtung von allen Schul - theorien zu abſtrahiren, mit eigenem Auge und offenem Herzen zu ſehen vermag.

Das iſt doppelt nothwendig für Fragen, welche vom Streite der politiſchen Parteien ſeit Jahren ſo hin - und hergezerrt wurden, daß auf allen Seiten die Unbefangenheit des Urtheils verloren ging, daß man die Parteideviſen über die Dinge ſtellte, daß man beiderſeits mit Argumenten focht, die aus der Rüſt -XVorrede.kammer der doch ſchon vielfach wieder veralteten Partei - ſchriften geholt (hier aus Adam Müller, Haller, Sismondi, dort aus Adam Smith und Baſtiat), auf die im Augenblick ſtreitigen Objekte oft kaum paßten. Beſonders die extremen Flügel beider großen politiſchen Parteien haben intolerant, wie die Extreme immer ſind, ſich gerade auch für volkswirthſchaftliche Dinge ein Parteidogma zurecht gemacht, an deſſen Unfehlbar - keit und Unantaſtbarkeit ſie mit der ganzen Leiden - ſchaftlichkeit einer pfäffiſchen Orthodoxie feſthalten. Dieſer Vorwurf trifft nicht bloß unſere konſervativen, er trifft beſonders auch die radikalen Volkswirthe.

Man kann mit den Hauptzielen der volkswirth - ſchaftlichen liberalen Agitation des letzten Jahrzehntes, mit den Hauptzielen des volkswirthſchaftlichen Kon - greſſes vollſtändig einverſtanden ſein, man kann das Verdienſt jener volkswirthſchaftlichen Agitation um die praktiſche Durchführung wichtiger, allerdings über - wiegend negativer Reformen, man kann das poſitive Verdienſt Schulze-Delitzſch’s ſehr hoch ſtellen, ohne darum die ganz einſeitigen theoretiſchen Grundlagen jener volkswirthſchaftlichen Partei zu theilen jenes abſtrakte Schuldogma, das die unbedingte Harmonie aller Privatintereſſen, das die unbedingte Berechtigung jedes wirthſchaftlichen Egoismus predigt, das, die pſychologiſchen, ſozialen und ſittlichen Vorbedingungen jedes konkreten volkswirthſchaftlichen Zuſtandes ver - kennend, das wirthſchaftliche Leben aus abſtrakten Motiven ableitet. Man kann die Grenzen einer über - mächtigen Bureaukratie eingeengt, den Polizeiſtaat inXIVorrede.einen wahrhaft konſtitutionellen verwandelt wünſchen, man kann ein Parteigänger politiſcher und wirthſchaft - licher Freiheit ſein, ohne darum die rechtlichen und ſtaatlichen Grundlagen der Volkswirthſchaft zu ver - kennen, wie es jenen radikalen Volkswirthen ſo oft begegnet. Sie wollen eine im Augenblick an der Re - gierung befindliche Partei, die theilweiſe freilich zugleich eine wirthſchaftliche Klaſſe mit egoiſtiſchen Intereſſen iſt, bekämpfen; und ſie bekämpfen häufig die ewig ſittliche Natur, das ewige Recht des Staates ſelbſt, oder erklären ſie, wie ihr Gegner, das wirthſchaftliche Privatintereſſe, das die meiſten ihrer Mitglieder als wirthſchaftliche Klaſſe haben, ohne Weiteres für das Staatsintereſſe, für das allgemeine Intereſſe ſelbſt.

Solche Verwechslung von Partei - und Klaſſen - intereſſen mit theilweiſe oder ſcheinbar wiſſenſchaftlichen Ausführungen und Ergebniſſen kommt rechts und links vor; ſie begegnet den Heißſpornen beider Parteien oft ganz unbewußter Weiſe; manche, denen ſie begegnet, glauben dabei in ehrlichſter Weiſe zu handeln. Oft aber auch iſt das nicht der Fall. Und das iſt gerade die Gefahr, welcher die Nationalökonomie mehr als jede andere Wiſſenſchaft ausgeſetzt iſt. Nicht die vielen Laien und Dilettanten, welche in beſter Abſicht heute volkswirthſchaftliche Abhandlungen ſchreiben, ſind gefähr - lich für eine klare und geſunde öffentliche Meinung, ſondern jene geſchulten Advokaten und Literaten, welche im Dienſte einzelner Börſenunternehmungen, einzelner wirthſchaftlicher Klaſſen, einzelner Zeitungen und Zeit - ſchriften, welche ausſchließlich die Intereſſen dieſer oderXIIVorrede.jener Klaſſe, oft gar einzelner Perſonen verfolgen, doch immer ſich den Anſchein geben, als ſei ihre egoiſtiſche Intereſſentenpolemik ein Ergebniß der Wiſſen - ſchaft oder wenigſtens durchaus im Einklang mit der allgemeinen Wohlfahrt, mit dem Staatsintereſſe.

Eine unbefangene Forſchung, welche ſich bemüht, frei von allen Schultheorien und Intereſſen, nur von den Dingen ſelbſt auszugehen, wird das Meiſte unter anderem Geſichtswinkel ſehen, als der Parteimann und als der Klaſſenintereſſent; ſie wird Irrthümer einer - ſeits, berechtigte Momente andererſeits auf beiden Seiten ſehen und muß dieß, will ſie anders ehrlich verfahren, offen ausſprechen. Die politiſchen Parteien und die wirthſchaftlichen Klaſſen als ſolche werden da - durch nicht befriedigt werden; ja man läuft Gefahr, alle vor den Kopf zu ſtoßen, ohne eine zu befriedigen. Die Wiſſenſchaft kann ſich darüber nicht grämen. Sie hat nicht den Parteien zu dienen, ſondern über ihnen zu ſtehen, ſie hat nur einen Zweck, den ehrlich und mit Anſtrengung aller ihrer Mittel nach Wahr - heit zu ſtreben.

Auch nur auf einem ſolchen Standpunkt wird es gelingen, was man ſo oft verlangt hat, ſo oft an - ſtrebt, über die Theorien Adam Smith’s wahrhaft hinauszukommen hinauszukommen nicht durch all - gemeine Deklamationen, durch unwahre Anpreiſungen vergangener Zeiten und überlebter Inſtitutionen, ſon - dern durch die exakte Forſchung, welche, die einzelnen Gebiete nach einander durch emſige Arbeit klarlegend, den großen Gedanken des Zuſammenhangs allerXIIIVorrede.ſozialen Probleme doch immer feſthält, vor Allem den Grundgedanken einer tiefern Auffaſſung, die Ueber - zeugung von der nothwendigen Einheit und Ver - knüpfung des wirthſchaftlichen mit dem ſittlichen Leben der Völker immer vor Augen behält.

Wenn es mir gelungen iſt, in dieſem Sinne einen Beitrag zur ethiſchen Begründung der National - ökonomie geliefert zu haben, in dem Sinne gearbeitet zu haben, in welchem ſchon J. G. Hoffmann, dann Roſcher und Stein, Engel und Hildebrand, trotz ihrer verſchiedenen Ausgangspunkte, ſowie neuerdings mehrere der jüngern deutſchen Nationalökonomen geforſcht und gearbeitet haben, dann glaube ich meinen Zweck erreicht zu haben. Wenn mir das gelungen iſt, dann auch nur glaube ich das volle Recht zu haben, dem Manne dieſe Unterſuchungen zu widmen, der von tiefſtem Einfluß auf meine geiſtige Entwicklung vor Allem durch ſein Beiſpiel, durch ſeinen Umgang, wie durch ſeine wiſſenſchaftlichen Arbeiten dazu beigetragen hat, mich zu erziehen zu wiſſen - ſchaftlicher Arbeit und zum Muthe ſelbſtändiger unab - hängiger Ueberzeugung!

Halle a / S. im Oktober 1869.

Guſtav Schmoller.

[XIV][XV]

Inhaltsverzeichniß.

  • Seite
  • Einleitung1 10
  • Ein Rückblick ins 18te Jahrhundert.
  • 1. Das allgemeine Darniederliegen der Gewerbe13 22
  • 2. Die preußiſche Verwaltung und die preußiſche Induſtrie des 18ten Jahrhunderts23 46
  • Die Hauptreſultate der preußiſchen Aufnahmen von 1795 1861.
  • 1. Die preuß. Handwerksſtatiſtik von 1795 / 180349 58
  • 2. Die preuß. Handwerkertabellen von 1816 4359 69
  • 3. Die preuß. Handwerkertabellen von 1846 6170 99
  • Die Hauptreſultate der Aufnahmen in Baden, Württemberg, Baiern und Sachſen im 19ten Jahrhundert.
  • 1. Die badiſche Handwerkerſtatiſtik von 1829 61103 107
  • 2. Die württembergiſche Handwerkerſtatiſtik von 1835 61 und die Folgen der Gewerbefreiheit von 1862 67108 117
  • 3. Die bairiſche Handwerkerſtatiſtik von 1810 61118 137
  • 4. Die ſächſiſche Handwerkerſtatiſtik von 1830 1861, die Gewerbefreiheit von 1862 66138 156
  • Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr im 19 ten Jahrhundert.
  • 1. Die Urſachen159 195
  • 2. Die neuere Art der Produktion196 210
  • 3. Das Verkaufsgeſchäft des kleinen Handwerkers 211 227 4. Die Magazine und der Hauſirhandel228 254
  • XVI
  • Seite
  • Die lokale und geſchäftliche Vertheilung der Ge - werbetreibenden.
  • 1. Das Handwerk in Stadt und Land257 287
  • 2. Das Handwerk nach Provinzen und Staaten288 325
  • 3. Das Verhältniß der Gehülfen zu den Meiſtern im Allgemeinen326 355
  • 4. Das Verhältniß der Gehülfen zu den Meiſtern im Speziellen356 390
  • Der Kampf des großen und kleinen Betriebs in einzelnen Gewerbszweigen.
  • 1. Die Nahrungsgewerbe im Allgemeinen und die in der Fabriktabelle verzeichneten im Speziellen393 410
  • 2. Die Bäcker und Fleiſcher411 430
  • 3. Die Wirthſchafts - und verwandten Gewerbe431 446
  • 4. Die Baumwoll - und Leinenſpinnerei447 471
  • 5. Die Wollſpinnerei, die Zwirn -, Strick -, Stick - und Nähgarnfabriken, die Garnbleiche und Färberei und die Seilerei472 491
  • 6. Die Weberei überhaupt und die Weberei als häusliche Nebenbeſchäftigung im Speziellen 492 510 7. Die handwerksmäßige lokale Weberei511 533
  • 8. Die Leinen - und Baumwollweberei für den Abſatz im Großen nebſt ihren Hülfsgewerben534 575
  • 9. Die Wollweberei im Großen, die Seiden -, die Band - und die Strumpfweberei576 614
  • 10. Die Schuhmacher, Schneider und ver - wandten Gewerbe615 652
  • Schluß und Reſultate653 704
[1]

Einleitung.

Zweck und Gegenſtand der Unterſuchungen. Die bisherigen Bearbeitungen der Gewerbeſtatiſtik. Die Quellen der Ge - werbeſtatiſtik und der kritiſche Werth gewerbeſtatiſtiſcher Auf - nahmen. Die Trennung der Aufnahmen in Fabrik - und Handwerkertabellen.

Das Geſetz vom 8. Juli 1868, betreffend den Betrieb der ſtehenden Gewerbe, hat für das ganze Gebiet des norddeutſchen Bundes die Gewerbefreiheit, ſoweit ſie nicht vorher ſchon exiſtirte, gebracht. Lange Angeſtrebtes iſt damit erreicht, eine für alle Gewerbe nothwendige Geſetzesänderung erzielt. Aber irren würde man ſicher, wenn man einen allzugroßen ſchnellen Ein - fluß dieſer Aenderung auf die Lage und Entwickelung der Handwerke erwartete, wenn man glaubte, die Gewerbe - freiheit bringe den beſtehenden Kleingewerben zunächſt Vortheil. Ihre Entwickelung iſt mehr durch andere Umſtände, als durch die Gewerbegeſetzgebung bedingt. Die Technik in den einzelnen Gewerben, die Konkurrenz mit der Großinduſtrie, die Bildung und Rührigkeit der Handwerker ſelbſt, die landwirthſchaftliche und die ſonſtige induſtrielle Entwickelung einer Gegend, die Dich - tigkeit der Bevölkerung, die Verkehrsmittel ſind eben ſo wichtig oder wichtiger, als die Gewerbeverfaſſung.

Schmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 12Einleitung.

Mag dem aber ſein, wie ihm wolle, ſicher iſt es am Platze, bei einer ſo wichtigen Aenderung der Geſetz - gebung den Blick rückwärts und vorwärts zu wenden und ſich von Neuem die oft beſprochene Frage vorzulegen, welches war, iſt und wird die Lage der Kleingewerbe ſein? Vieles iſt darüber geſchrieben und geſagt wor - den, vielfach hat man einzelne Punkte unterſucht, ſo gerade den Einfluß der Gewerbefreiheit, die Konkurrenz der Großinduſtrie, die neuen Organiſationen, Aſſozia - tionen, Kreditvereine, die dem Handwerke Hülfe bringen ſollen und theilweiſe auch ſchon gebracht haben. Viel weniger aber hat man nach dem Geſammtreſultat aller der verſchiedenen zuſammenwirkenden Momente gefragt, wie ſie in der Gewerbeſtatiſtik uns vorliegen.

Was ich in den folgenden Unterſuchungen beabſich - tige, iſt weder eine zuſammenfaſſende deutſche Gewerbe - ſtatiſtik, noch eine vollſtändige Geſchichte der Klein - gewerbe, noch der Gewerbegeſetzgebung; eben ſowenig beabſichtige ich ein näheres Eingehen auf das Aſſozia - tionsweſen; ich will das gewerbeſtatiſtiſche Material der bedeutendern deutſchen Zollvereinsſtaaten, ſoweit es gedruckt vorliegt, kritiſch unterſuchen, damit das letzte Ergebniß aller zuſammenwirkenden Urſachen möglichſt feſtſtellen und aus dieſer feſtgeſtellten Beobachtung ver - ſuchen, Schlüſſe über die Vergangenheit und gegen - wärtige Lage der Kleingewerbe, über dieſe und jene damit zuſammenhängende Frage zu ziehen.

Die folgenden Betrachtungen und Unterſuchungen glauben um ſo mehr am Platze zu ſein, ſowie auch in loſer, ſkizzenhafter Form auftreten zu dürfen, als es3Frühere Bearbeitungen.mit einer gleich zu erwähnenden Ausnahme an jeder vollſtändigen neuen Bearbeitung beſonders der preußiſchen Gewerbeſtatiſtik fehlt. Der trefflichen Bearbeitung von Hoffmann,1Die Bevölkerung des preußiſchen Staates. Berlin 1839. S. 114 ff. welche die gewerbeſtatiſtiſchen Reſultate bis 1837 in Betracht zieht, iſt keine vollſtändig ebenbürtige gefolgt. Dieterici hat die Ergebniſſe der Aufnahmen von 1843 552Dieterici die ſtatiſt. Tabellen des preuß. Staates für 1843, Berlin 1845; Tabellen und amtliche Nachrichten über den preuß. Staat I VI. (enthaltend die Aufnahme von 1849, theilweiſe mit der von 1852.) Berlin 1851 55; Tabellen und amtliche Nachrichten für 1852, 1855 und 1858, je ein Band (letzterer nach dem Tode Dieterici’s von Engel herausgegeben.) Mitthei - lungen des ſtatiſtiſchen Bureaus in Berlin, 13 Bände. 1848 60. veröffentlicht, Engel die von 1858 und 1861. 3Preußiſche Statiſtik in zwangloſen Heften V. Die Er - gebniſſe der Volkszählung und Volksbeſchreibung nach den Auf - nahmen vom 3. Dezember 1861, reſp. Anfang 1862. Ber - lin 1864.Einzelne Fragen ſind von Dieterici in dem Tabellenwerk von 1843, wie in den Mittheilungen erörtert;4Dieterici, Mittheilungen des ſtatiſt. Bureaus: I, 68 ent - hält nur die Mittheilungen der Geſammtreſultate der Gewerbe - aufnahme von 1846, um zu berechnen, wie viele Perſonen zur eigentlich arbeitenden Klaſſe gehören; I, 213 291 und II, 1 16 enthält eine Vergleichung der wichtigern Handwerke von 1822 und 46, wobei hauptſächlich der Beweis geführt werden ſoll, daß die Gewerbefreiheit nicht zur Ueberſetzung des Hand - werks geführt habe; II, 235 64 eine Vergleichung des König - reichs und der preuß. Provinz Sachſen nach dem Stand von 1846, worin die intenſivere gewerbliche Entwickelung des König - für 1849 iſt die Bearbeitung in dem V. Folio -1 *4Einleitung.band der offiziellen Tabellen auch eine etwas weiter gehende. Die Reſultate von 1846 58 ſind im erſten Band der Zeitſchrift des ſtatiſtiſchen Bureaus zu einer überſichtlichen Tabelle wenigſtens vereinigt. 1Zeitſchrift des königlich preuß. ſtatiſtiſchen Bureaus I, S. 50 52. 1860.Die Reſul - tate von 1846 61 ſind für die einzelnen Gewerbe im Jahrbuch für die amtliche Statiſtik vergleichend zuſammen - geſtellt. Die Publikation der Aufnahme von 1861 iſt eine beſſere und eingehendere, als die früheren. Eine befriedigende Bearbeitung des Materials kann ich in all dem nicht ſehen.

Längſt nachdem ich mit dieſer Bearbeitung begon - nen, erſchien der dritte Band von Viebahn’s ausge - zeichneter Statiſtik des zollvereinten und nördlichen Deutſchlands, der das Gewerbeweſen umfaßt. So voll - endet derſelbe iſt, ſo viel ich geſtehe, aus demſelben gelernt zu haben, ſo mannigfach ich mich auf ſeine Reſultate und Berechnungen da und dort beziehen werde, ſo wenig konnte er mich abhalten, meine Unterſuchun -4reichs trotz Zunftverfaſſung nachgewieſen wird; III, 177 183 eine Ueberſicht der mit Weberei und Spinnerei im Zollverein beſchäftigten Perſonen; IV, 252 308 eine Vergleichung der Gewerbeaufnahmen der Zollvereinsſtaaten von 1846, in der Hauptſache ſich auf Mittheilung der Zahlen beſchränkend; V, 212 269 eine Ueberſicht der gewerblichen und Fabrikations - verhältniſſe des preuß. Staates am Ende der Jahre 1846 und 49, ebenfalls in der Hauptſache nur die Zahlen mittheilend; VII, 328 352, die Meiſter und Gehülfen 1849 und 52, nicht viel mehr als die Zahlen und den allgemeinen Beweis der Zunahme.5Literatur und Quellen.gen zu Ende zu führen und zu publiziren. Viebahn will nur den gegenwärtigen Standpunkt der deutſchen Induſtrie darſtellen; er geht nur ſelten auf ältere Zahlen über 1861, noch ſeltener über 1846 zurück. Ich will nirgends wie er darſtellen, eine vollſtändige Beſchreibung geben, ich will nur ein paar große Fragen hiſtoriſch unterſuchen, ſoweit es mit dem gewerbeſtati - ſtiſchen Material möglich iſt. Die Fragen, welche mir die wichtigſten ſind, kann Viebahn ſchon um des knappen Raumes in einem Sammelwerke willen vielfach kaum berühren, theilweiſe übergeht er ſie ganz.

Von den andern deutſchen Staaten haben eben - falls nur wenige genügende Bearbeitungen ihrer Hand - werksſtatiſtik aufzuweiſen. Am umfaſſendſten noch ſind die von Sachſen1Zeitſchrift des ſtatiſt. Bureaus des königl. ſächſ. Mini - ſteriums des Innern 1860 Nr. 9 und 10: Zur Statiſtik der Handwerke in Sachſen; 1863 Nr. 9 und 10: Zur Statiſtik der Handwerke im Königreich Sachſen 1849 und 61. Das klaſ - ſiſche Quellenwerk Engel’s über ſächſ. Gewerbeſtatiſtik, der dritte Folioband der Mittheilungen (Dresden 1854) kommt für unſere Unterſuchungen weniger in Betracht, da es nur die Beſchäf - tigungsſtatiſtik des einen Jahres 1849 enthält; die dortige Unterſuchung geht mehr auf Fragen, die hier ausgeſchloſſen ſind, wie z. B. die lokale Vertheilung der ſächſ. Induſtrie, die Alters - und Civilſtandsverhältniſſe der Gewerbtreibenden. und Württemberg;2Württembergiſche Jahrbücher 1862. Heft 2. Das Königreich Württemberg 1863. die bairiſche3Die Bevölkerung und die Gewerbe des Königreichs Baiern, nach der Aufnahme von 1861 verglichen mit 1847. München 1862.6Einleitung.und badiſche1Dietz, die Gewerbe im Großherzogthum Baden. Karls - ruhe 1863. Bearbeitung geht nicht viel über die Mit - theilung der Zahlen hinaus, die hannöverſche2Zur Statiſtik des Königreichs Hannover. Heft 10. Ge - werbeſtatiſtik von 1861. Hannover 1864. beſchränkt ſich nur auf das Jahr 1861 und bietet daher unſerer hiſtoriſchen Unterſuchung kein Feld. Die thüringiſche Gewerbeſtatiſtik,3Statiſtik Thüringens, Mittheilungen des ſtatiſtiſchen Bureaus vereinigter thüringiſcher Staaten, herausgegeben von Dr. Bruno Hildebrandt I. Jena 1865 67. S. 228 324. Die Gewerbtreibenden im Großherzogthum Sachſen 1861 ſind auch verzeichnet in: Beiträge zur Statiſtik des Großherzog - thums Sachſen-Weimar-Eiſenach. Erſtes Heft. Weimar 1864. S. 57 65. ſoweit ſie mir bekannt iſt, geht über das Jahr 1861 nur durch ein paar Mittheilungen aus Gotha und Koburg zurück; in der Hauptſache beſchränkt ſie ſich auf 1861 und auf die Umrechnung der abſo - luten Zahlen in Prozentverhältniſſe nach einigen Haupt - richtungen. Auch auf Thüringen und die andern kleinen Staaten beabſichtige ich nicht näher einzugehen; auf allzukleinem Raume können zu leicht beſondere exzeptionelle Urſachen einwirken, die das Reſultat trüben.4Derart waren die Verhältniſſe in Bremen, wo der übertriebenſte Zunftgeiſt die Gewerbe hemmte und die Zuſtände mit der Gewerbefreiheit um ſo plötzlicher ſich änderten; ſiehe als Belag hierfür die intereſſante Vergleichung der bremiſchen Ge - werbeſtatiſtik von 1862 und 64: Zur Statiſtik des bremiſchen Staats. Bremen 1865. S. 24 ff. Es wäre aber ſicher ſehr falſch, aus den dortigen Zahlen auf eine Handwerkerzunahme, die überhaupt aus allgemeinen Urſachen erfolge, ſchließen zu wollen. Die7Kritik der Aufnahmen.geſammte Aufnahme in den Zollvereinsſtaaten von 1861 iſt vom Centralbureau des Zollvereins publizirt, aber ohne daß nur die Totalſummen der Tabellen gezogen wären. 1Statiſtiſche Ueberſichten der Fabriken und vorherrſchend für den Großhandel beſchäftigten Gewerbsanſtalten, der dafür arbeitenden mechaniſchen Kräfte und ſämmtlicher Dampfmaſchi - nen, der Handels - und Transportgewerbe, ſowie der Hand - werker im Gebiete des Zollvereins. Berlin, Jonas 1864.

Neuere Aufnahmen ſeit 1861 exiſtiren leider faſt gar keine, was um ſo mehr zu bedauern iſt, als gerade von 1861 68 unſer gewerbliches Leben ſich ſo ſehr verändert hat.

Ehe ich zur Sache komme, muß ich noch eine Bemerkung vorausſchicken. Die Nichtbeachtung und Nichtbearbeitung der Gewerbeſtatiſtik hatte und hat bei vielen hervorragenden Statiſtikern und Nationalökonomen einen, wenn nicht ganz genügenden, doch auch nicht ganz unſtichhaltigen Grund nämlich die Unvollkommenheit der Aufnahmen. Ueber Großgewerbe, Ackerbau, Forſt - wirthſchaft kann die Statiſtik eine Reihe wichtiger und theilweiſe leicht konſtatirbarer Verhältniſſe und Merk - male feſtſtellen. Das Handwerk hat in der Regel nur eine Perſonalſtatiſtik; nur die Zahl der Meiſter, der Geſellen und Lehrlinge oder beider letzteren zuſammen läßt ſich aufnehmen, daraus ihr Verhältniß zur Bevölke - rung berechnen. Damit weiß man noch unendlich wenig über die Produktion, über Blüthe oder Verfall, über die geſchäftliche Organiſation. Was ſagt eine geringere Zahl Geſchäfte, wenn jedes beſtehende Geſchäft mit ſo viel mehr Maſchinen arbeitet? was ſagt eine bloße8Einleitung.Perſonalſtatiſtik ohne Statiſtik der techniſchen Hülfs - mittel und des Umſatzes? Die ältern einfachen Kate - gorien Meiſter und Gehülfen paſſen auf heutige Zu - ſtände nicht mehr ganz, erſchöpfen ſie wenigſtens nicht. Vielfach ſind heute verſchiedene Handwerke in Geſammt - unternehmungen vereinigt; daſſelbe Geſchäft treibt Pelz - handel, Hutfabrikation, Handſchuhmacherei. Dadurch und durch andere ſolche Verhältniſſe entſteht eine Reihe von Schwierigkeiten, Bedenken, Unkorrektheiten. Nur bei einer möglichſt genauen Kenntniß der realen gewerb - lichen Verhältniſſe, um die es ſich handelt, wie der Art der Aufnahmen werden ſich die Irrthümer, die noth - wendige Folge dieſer Mißſtände ſind, nicht ganz, aber doch einigermaßen vermeiden laſſen.

Der allgemeine Werth der Aufnahmen unterliegt neben dieſen ſpeziellen Bedenken noch dem Zweifel, der aus einer Vergleichung mit der Aufnahme der Bevölke - rungstabellen hervorgeht. Die Bevölkerungsaufnahmen haben ſich ſucceſſiv verbeſſert, eine wiſſenſchaftlich bear - beitete Technik der Aufnahmen hat ſich gebildet; die Selbſtangaben in den Haus - oder Haushaltungsliſten ſind glaubwürdige Zeugniſſe der betreffenden Perſonen über einfache verſtändliche Fragen. So ſind die Gewerbe - tabellen nicht aufgenommen; ſie ſtützen ſich meiſt nicht auf Selbſtangaben; ſchon die Rubriken der Tabellen ſind zu komplizirt, um die Leute ſie ſelbſt ausfüllen zu laſſen. Die Ausfüllung der erſten Tabellen fällt in die Hand von Lokalbehörden (Orts - oder Kreisvorſtän - den), bei denen oftmals die gehörige Einſicht, öfter vielleicht noch der gehörige Wille fehlt. Für die Ver -9Kritik der Aufnahmen.gleichung der verſchiedenen Staaten kommt hinzu, daß man ſich bis zu einem gewiſſen Grade ſchon 1846, vollſtändig 1861 zu einem gemeinſamen Schema in den Zollvereinsſtaaten einigte, daß man aber keine ſichere Garantie dafür hat, ob die Ausführung eine einheit - liche, gleichmäßige iſt, ob dieſelben Kategorien überall gleichmäßig aufgefaßt wurden.

Gerechten Zweifeln und Bedenken unterliegt auch die ganze in Preußen übliche Trennung der Aufnahme in zwei beſondere Tabellen, in die Fabriktabelle und die Handwerkertabelle. 1Die Angriffe gegen dieſe Eintheilung gehen hauptſächlich von Engel aus: ſ. Zeitſchrift des ſtatiſt. Bur. 1863. S. 80. und Preuß. Statiſtik V. S. 49.Engel hat nicht ganz Unrecht, wenn er ſagt, es fehle an jeder ſcharfen Definition für dieſe Trennung, ganz abgeſehen davon, daß die Uebergänge von der einen zur andern Art ſo zahlreich und fein ſchattirt ſeien, daß es ſchwer zu ſagen ſei, wo das Hand - werk aufhöre, die Fabrik anfange. Es gibt Gerbereien, Schmieden, Glockengießereien in der Handwerkertabelle verzeichnet, die größer ſind als viele Fabriken. Als Meiſter werden nicht bloß ſelbſtändige Unternehmer, ſondern viele Arbeiter bezeichnet, die zu Hauſe für Verleger arbeiten.

Mag dem aber ſein, wie ihm wolle, die Trennung iſt eine gegebene Thatſache; für künftige Aufnahmen wird ſie als offene Frage zu diskutiren ſein, für die früheren iſt ſie da und es fragt ſich bloß, ob ſie die Thatſachen ſo entſtellt, daß wegen ihr gar keine richtige Bearbei - tung möglich iſt.

10Einleitung.

Das zu behaupten wäre lächerlich. Gerade für eine Unterſuchung, die nur die Kleingewerbe in Betracht ziehen will, bietet die Trennung ſogar Vortheile. Und wenn man von Einzelheiten abſieht, ſo entſpricht ſie ſelbſt heute noch im Ganzen den realen Zuſtänden, hat ihnen jedenfalls bis in die fünfziger Jahre entſprochen. In der Hauptſache ſind die Geſchäfte, welche in der Handwerkertabelle ſtehen, etwas Anderes als die in der Fabriktabelle ſtehenden. Entſcheidet im Detail oft nur Willkür und Zufall, ob eine Unternehmung in der einen oder andern Tabelle verzeichnet iſt, für die Haupt - kategorien iſt die Scheidung doch klar; für ſie hat die - ſelbe jedenfalls in den verſchiedenen Jahren nach gleichen Grundſätzen ſtattgefunden. Und wenn manche Unterneh - mung, die in der Fabriktabelle ſteht, in die Handwerker - tabelle gehört, ſo wird auch der umgekehrte Fehler ſtatt - gefunden haben, und das Geſammtreſultat wird in Folge dieſer Ausgleichung doch relativ der Wahrheit ſich nähern.

Für mancherlei Fragen und Verhältniſſe werden bedeutende Zweifel bleiben. Da wird man verſuchen müſſen die Zahlen kritiſch zu rektifiziren, wenn es geht. Wenn das nicht geht, wird man die Schlüſſe vorerſt hypothetiſch ziehen und ſo zunächſt ein vorläufiges Re - ſultat erhalten.

Verfährt man nur wiſſenſchaftlich, ſo hat man trotz der Unvollkommenheit der Aufnahmen ein werth - volles Unterſuchungsmaterial, das bei richtiger und vor - ſichtiger Frageſtellung der Wahrheit entſprechende Ant - worten nicht ſchuldig bleibt.

[11]

Ein Rückblick ins 18. Jahrhundert.

[12][13]

1. Das allgemeine Darniederliegen der Gewerbe.

Die Nachwehen des dreißigjährigen Krieges und die Zuſtände überhaupt. Die zeitgenöſſiſchen Klagen über die elende Lage der Handwerke. Die verſchiedene Wirkung der Zuſtände auf die Lokalgewerbe und die für den größeren Abſatz arbeiten - den Gewerbe. Aus der Münchener Handwerksſtatiſtik des 17. Jahrhundert. Einzelne gewerbeſtatiſtiſche Notizen aus dem 18. Jahrhundert: Bairiſche Tuchmacher; Niedergrafſchaft Katzenellnbogen; Herzogthum Magdeburg; Fürſtenthum Würz - burg; Schweidnitz; Kaufbeuern; Speier.

Obgleich wir für das 18. Jahrhundert keine umfaſ - ſenden Gewerbeaufnahmen haben, ſei es geſtattet, mit einigen Worten an die damaligen Zuſtände zu erinnern. 1Siehe darüber Biedermann, Deutſchland im 18. Jahr - hundert. Leipzig 1854. I, 235 329. Maſcher, das deutſche Gewerbeweſen. Potsdam 1866. 349 477. Gülich, geſchicht - liche Darſtellung des Handels, der Gewerbe ꝛc. Jena 1830. II, 197 335.

Noch litt Deutſchland an den Nachwehen des dreißigjährigen Krieges. Der deutſche Handel war ver - nichtet. Die Kleinſtaaterei hemmte jede Bewegung. Das Gewerberecht war ausgeartet in den verrottetſten Zopf. Mißbräuche aller Art wucherten. Vergeblich ſuchten14Ein Rückblick ins 18. Jahrhundert.Reichs - wie Landesgeſetzgebung dagegen anzukämpfen. Vergeblich war Alles, weil Stumpfſinn und Apathie, kleinlicher Spießbürgergeiſt und beſchränkte Indolenz überall herrſchten, weil Gevatter Schneider und Hand - ſchuhmacher möglichſt ohne Anſtrengung und Arbeit ſich nothdürftige Nahrung zu ſchaffen und zu erhalten ſuch - ten. Ein großer Theil der Handwerker, auch der ſtädtiſchen, war zu Halbbauern herabgeſunken. Feindlich und apathiſch verhielt ſich die Mehrzahl gegen neue Anregungen, wie ſie von den flüchtigen franzöſiſchen Proteſtanten, von den Fürſtenhöfen ausgingen. Das Fabrikweſen oder vielmehr einzelne für weitern Abſatz arbeitende Hausinduſtrien wurden in einzelnen Ländern, wie in Preußen, in Sachſen, auch in Oeſtreich von aufgeklärten Fürſten gepflegt und gehoben; nur wenige Induſtrien, wie die Leinenmanufaktur, hatten aus alter Zeit her noch eine gewiſſe Blüthe gerettet; aber das berührte in der Hauptſache die hergebrachten Hand - werkszuſtände nicht viel, jedenfalls nur in einzelnen Ländern.

Die ökonomiſche Lage der meiſten Handwerker war ebenſo kümmerlich als ihre Technik unvollendet, ihre Arbeit ſchlecht. Das dauernde Siechthum, wie es ebenſo Folge der Geſetzgebung und der politiſchen Zu - ſtände, als der techniſchen Ungeſchicklichkeit und ſpieß - bürgerlichen Trägheit war, hatte aber je nach der Art der Gewerbe und lokal, je nach den mitwirkenden ſon - ſtigen Verhältniſſen, ziemlich verſchiedene Folgen. In einigen Gegenden und Gewerben allgemeiner Rückgang ſelbſt der Meiſterzahl, in andern im Gegentheil eine15Die Klagen über gewerbliche Noth.Ueberſetzung des Handwerks. Ueberall aber treffen wir gleichmäßig die Klagen über gewerblichen Nothſtand.

Juſtus Möſer klagt,1Patriotiſche Phantaſien. Berlin 1775. I, 181 ff. daß man Handel und Hand - werk auf dem platten Lande geſtattete, da könne ſich der Handwerker in allen kleinern Städten nicht mehr halten. An einer andern Stelle2Eod. S. 21. ſucht er die Urſache des Verfalls in der Krämerei: Man laſſe ſich, ruft er, die Rollen von unſern Handwerkern nur ſeit hun - dert Jahren zeigen. Die Krämer haben ſich gerade dreifach vermehrt, und die Handwerker unter der Hälfte verlohren. Der Eiſenkram hat den Kleinſchmid, der Bureau - und Stuhlkram den Tiſchler, der Goldkram den Bortenwirker, der goldene, härene, gelbe und weiße Knopf den Knopfmacher und Gelbgießer verdorben. Und kann man ſich eine Sache gedenken, womit der Krämer jetzt nicht heimlich oder öffentlich handelt? Aehnlich ſpricht ſich auch Bergius in ſeinem Polizei - magazin aus. 3Siehe Bd. VI. 392 93 (1786).Beide täuſchen ſich über Urſache und Wirkung; die Krämerei war nicht die Urſache des Ver - falls der Handwerke, ſondern mit und durch den Verfall des Handwerks und mit dem Aufblühen der Fabriken entſtand erſt der regere Detailhandel.

Als fernern Beleg über die elenden Zuſtände im Allgemeinen möchte ich noch die Klagen von Krug aus der Zeit gegen 1800 hervorheben, die doppelt ſchwer wiegen, da ſie ſich auf Preußen beziehen, das immerhin den andern Staaten, wie wir ſehen werden, noch weſent -16Ein Rückblick ins 18. Jahrhundert.lich voraus war. Krug1Betrachtungen über den National-Reichthum des preuß. Staates II, 153 ff. legt ſich die Frage vor, ob der Wohlſtand der Städte im Ganzen gegen ältere Zeiten zu - oder abgenommen habe. Eine Erfahrung, antwortet er, welche man nicht bloß in den preußi - ſchen Städten, ſondern in den Städten vieler anderer Staaten gemacht hat und noch immer machen kann, möchte wohl dieſe Frage für die Abnahme des Reich - thums und Wohlſtands im Ganzen entſcheiden. Er erinnert an die mittelalterlichen Bauten der Städte, er klagt wohl ziemlich übertrieben , daß nur die - jenigen Induſtriellen, die dem Luxus, den nichtswür - digen Künſten, Gaukeleien und Spielereien der Vor - nehmen dienen, noch zunehmen. Wenn wir ſagt er den Wohlſtand des Bürgerſtandes oder der induſtriöſen Klaſſen in den Städten ohne Rückſicht auf jetzt herrſchende Moden und den Einfluß des Zeitgeiſtes auf die Bedürfniſſe dieſes Standes betrachten, ſo wird wohl für wenige Städte der geſunkene Wohlſtand des Handwerksſtandes geleugnet und gründlich widerlegt werden können. Die Klagen über zunehmende Nahrungs - loſigkeit der Landſtädte werden in allen Provinzen gehört und ſind in neuerer Zeit immer ausgebreiteter gewor - den; in den kleinen Landſtädten hat der Luxus noch nicht unter der Mehrheit der Handwerker Platz finden können, und die alte Simplicität der Sitten und der Bedürfniſſe iſt hier noch am mehrſten zu finden. Es haben viele Urſachen zuſammengewirkt, welche den Wohl -17Die Klagen über gewerbliche Noth.ſtand des Bürgerſtandes zerſtört haben und die haupt - ſächlichſten derſelben mögen in falſchen Abgabenſyſtemen, in der Verwandlung einträglicher Gewerbe in Fabrik - anſtalten, in der Aufhebung oder Beeinträchtigung der Innungen und in den Handelseinſchränkungen zu ſuchen ſein.

Wir wollen mit Krug hier nicht rechten, in wie weit er Recht hat mit ſeinen Klagen, mit den Urſachen, die er anführt. Er vermengt Wahres mit Falſchem; er ſieht vorübergehende Mißſtände zu Ende des Jahr - hunderts für dauernde Urſachen an; er verkennt man - ches Gute, weil es neu iſt, weil es ihm als zuſammen - hängend mit verderblichem Luxus erſcheint1Die ſtatiſtiſchen Belege, welche er von den Städten der Kurmark als Beweis des Verfalls anführt, zeigen wohl einzelnes Schlimme, aber zum größern Theile beweiſen ſie das Gegentheil, nämlich den volkswirthſchaftlichen Fortſchritt der kurmärkiſchen Städte. aber ſo viel beweiſen ſeine Worte, blühend war das Hand - werk des 18. Jahrhunderts nicht.

Suchen wir nun Einiges über die Zahlen der Handwerker und ihrer Gehülfen beizubringen.

Der vorhin ſchon erwähnte Unterſchied in der Rückwirkung der allgemeinen Zuſtände auf die Zahl der Handwerker mußte ſich zeigen Hauptſächlich zwiſchen den reinen Lokalgewerben, die für den täglichen Abſatz die nothwendigſten Waaren liefern, und jenen, die ent - behrlichere Waaren, ſowie Waaren für den entfernteren Abſatz produziren. Bei letztern wird der Ruin viel ſchneller eintreten, die Meiſterzahl wird raſch ſinken;Schmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 218Ein Rückblick ins 18. Jahrhundert.erſtere können lange der Zahl nach dieſelben bleiben, aber ſie machen immer ſchlechtere Geſchäfte, führen Jahr - zehnte hindurch ein elendes Daſein.

Ein zwar weiter zurück liegender, aber ſchlagender Beleg hiefür iſt die Münchener Handwerksſtatiſtik von 1618, 1633 und 1649. 1München während des dreißigjährigen Krieges, eine Rede von Georg von Sutner. München, Lindauer 1796. S. 60. 66 ff.Die Geſammtzahl der Meiſter betrug nach den Steuerbüchern, während die Bevölkerung der Stadt in dem einen Jahr 1635 um 15000 Men - ſchen durch den Tod ärmer geworden ſein ſoll,2Siehe eod. S. 36 und Hanſer, Deutſchland nach dem 30 jährigen Kriege. Leipzig, Winter 1862. S. 213. 1618 ...... 1781 1633 ...... 1469 1649 ...... 1110

Einzelne Gewerbe, wie die Sammtweber, Kunſtfüh - rer, Meſſingarbeiter, Saitenmacher, ſind ganz verſchwun - den. Andere ähnlicher Art zeigen wenigſtens eine ſehr ſtarke Abnahme. Es ſind

19Handwerksſtatiſtik jener Zeit.

Keine weſentliche Aenderung, ja theilweiſe eine Zunahme zeigen dagegen folgende Kategorien:

Dieſelbe Bewegung, die hier als akute Krankheit ſich zeigt, ſehen wir von da bis gegen 1800 als chro - niſche Krankheit. Einzelne Handwerke nehmen reißend ab, während ſie daneben an manchen Orten, begünſtigt durch beſondere Verhältniſſe und fürſtliche Bemü - hungen, auch wieder aufblühen; die Mehrzahl der gewöhnlichen Handwerke aber nimmt kaum ab, jeden - falls nicht ſtark genug, um den bleibenden aus - kömmliche Nahrung zu ſchaffen. Die Zunftverfaſſung gibt dem Einzelnen zu viel, um zu ſterben, zu wenig, um ordentlich zu leben, und ſo iſt das Handwerk im Verhältniß zur Bevölkerung an vielen Orten viel zu ſtark beſetzt. Auch erblicher Hausbeſitz, der geſtattet, von der Miethe zu leben, nebenhergehende Acker - und Gartenwirthſchaft wirkte da und dort auf Ueber - ſetzung.

Daher die ſcheinbar widerſprechenden Zahlen und Angaben. Nicolai1Theil VI. S. 594. vergl. Gülich II, 285. führt in ſeiner Reiſe durch Deutſch - land folgende Statiſtik des Tuchmachergewerbes in Baiern an; es waren:2 *20Ein Rückblick ins 18. Jahrhundert.

Dagegen ergibt ſich eine vollſtändige Ueberſetzung des Handwerks aus folgenden Zahlen. In der Nieder - grafſchaft Katzenellnbogen1Siehe Schlözer, Staatsanzeigen VI. 159 191. Maſcher, Gewerbeweſen S. 433. kommen 1783 nach der zuverläſſigen Angabe eines dortigen Beamten, des Kam - meraſſeſſor Hüpeden, auf 19596 Seelen nicht weniger als 1663 Handwerker, Künſtler und Handelsleute mit 87 Geſellen und 21 Lehrlingen zuſammen 1751 hand - werksmäßig beſchäftigte Perſonen. Es ſind darunter einige wenige Leute, die heute nicht in der Handwerks -, ſondern in der Handelstabelle verzeichnet werden; neh - men wir nur 1600 handwerksmäßig beſchäftigte Per - ſonen auf 19596 Seelen an, ſo ſind es 8,16 % der ganzen Bevölkerung, während 1861 die Handwerker in dem gewerbreichen Sachſen erſt 8, in Preußen 5 6 % der Bevölkerung betragen, während 1845 in den größ - ten deutſchen Städten die ſämmtlichen Gewerbetreiben - den 4 6 %, nur in Berlin und Wien bis 10 %2Nach Reden, Zeitſchrift des Vereins für deutſche Sta - tiſtik I, 763: Vergleichende Zuſammenſtellung der Bevölke - rung und der Zahl der Gewerbtreibenden in 14 deutſchen Städten. ausmachen. Daß es ſich um eine zu große Zahl Mei - ſter handelt, die ſich des halb kümmerlich nährt, zeigt[21]Handwerksſtatiſtik jener Zeit.die Gehülfenzahl; 168 auf 1663, alſo 10 % der Meiſter; in Sachſen kommen 1861 auf jeden Meiſter etwa Gehülfen, in Preußen auf jeden Meiſter einer alſo 100 bis 150 % der Meiſter.

Maſcher und Kotelmann1Gewerbeweſen S. 432. Kotelmann, die Urſachen des Pauperismus unter den deutſchen Handwerkern, deutſche Vier - teljahrsſchrift 1851. Heft 1. S. 193 ff., beſonders S. 202 und 226. theilen ohne Angabe der Quellen noch einige Daten mit, die ein ähnliches Bild ergeben. Im Herzogthum Magdeburg kommen 1784 auf 280332 Seelen 33203 Handwerker, darun - ter 2297 Geſellen und 1988 Lehrlinge und 1868 Meiſter, Geſellen und Lehrlinge in Fabriken beſchäftigt. Es bleiben alſo 27050 ſelbſtändige kleine Meiſter mit 4285 Gehülfen: mit den Gehülfen über, ohne ſie bei - nahe 10 % der ganzen Bevölkerung. Das wenig indu - ſtrielle Fürſtenthum Würzburg hat auf 262409 Seelen 13762 ſelbſtändige Gewerbetreibende mit 2176 Gehül - fen, zuſammen 15938 oder 6,08 % der Bevölkerung. Schweidnitz hatte 1788 folgende Bevölkerung: Civil - ſtand 6118 Seelen, Militär 2865, zuſammen 8983 Seelen, davon 1072 Handwerker, alſo auf einen Handwerker etwa 8,3 Seelen; der Handwerkerſtand 12 % der Bevölkerung. Kaufbeuern hatte 1783 etwa 4000 Seelen mit 800 Gewerbtreibenden, worunter indeſſen 300 Weber eingerechnet ſind. Wenn wir dieſe in Abzug bringen, ſo machen die Handwerker immer noch 12,5 % aus. In Speier, das noch zu Ende des 16. Jahrhunderts 1000 Tuch - und Leinweberſtühle22Ein Rückblick ins 18. Jahrhundert.zählte, das 1792 deren nur noch 20 hatte, kommen in dieſem Jahre auf 5129 Einwohner doch noch 674 ſelbſtändige Gewerbtreibende mit 290 Gehülfen, alſo 964 Perſonen, das ſind 18,79 % der Bevölkerung. Sie müſſen in ſehr ſchlimmer Lage geweſen ſein, wenn man auch annimmt, ſie hätten neben dem Abſatz in der Stadt noch einen weitreichenden in der Umgegend gehabt. Kaum 100 dieſer Meiſter konnten von ihrem Gewerbebetrieb leben. Ich kenne ſagt ein Augen - zeuge, der damalige Zunftherr Adam Weiß zu Speier äußerſt thätige rechtſchaffene Profeſſioniſten, die Tag und Nacht anhaltend zu arbeiten wünſchen. Allein ſie finden keine Beſchäftigung und müſſen zu ihrem gro - ßen Leidweſen gezwungen müßig gehen. Voll Wehmuth ſieht man ſie für die Ihrigen gegen den Hungertod käm - pfen, und kaum verſchafft ihnen ihr Sieg das trockene Brod.

So ſind die gewerblichen Zuſtände Deutſchlands im 18. Jahrhundert beinahe allenthalben. Immerhin aber gab es einzelne Theile des Reichs, wo die Lage des Gewerbsmannes etwas beſſer war, wie ich ſchon vorhin erwähnte. In Oeſtreich war durch Karl VI., durch Maria Thereſia und Joſeph II. Manches geſche - hen. Auch in Sachſen war einiger gewerblicher Fort - ſchritt nicht zu leugnen. Vor Allem aber hatte man es in den preußiſchen Landen verſtanden, den Wohl - ſtand zu fördern. Es iſt nöthig, darauf noch einen Blick zu werfen.

[23]

2. Die preußiſche Verwaltung und die preußiſche Induſtrie des 18. Jahrhunderts.

Die Thätigkeit des großen Kurfürſten und König Friedrich’s. Friedrich Wilhelm I., die poſitiven Beförderungen der Indu - ſtrie und die Reform der Zunftverfaſſung. Friedrich der Große; ſeine Juſtiz, Toleranz und Einwanderungspolitik; die poſitiven Beförderungen beſonders der Gewebeinduſtrie; die fortgeſetzte Reform des Zunftweſens, die weſtpreußiſche Hand - werksordnung von 1774. Der Erfolg dieſer Maßregeln nach Marperger, Mirabeau, Krug; das Handwerk in Berlin 1784, in Brandenburg 1784. Allgemeine Würdigung der preußi - ſchen Verwaltung des 18. Jahrhunderts; die Berechtigung der Maßregeln, beſonders der Reglements in Bezug auf die Hausinduſtrie.

Schon der große Kurfürſt beginnt mit jener plan - mäßigen Leitung und Beförderung der Gewerbe und des Handels durch die Staatsregierung. 1Das ziemlich vollſtändige Material für die Geſchichte die - ſer Bemühungen liegt vor in Mylius, Corpus Const. Marchic. V und in der Fortſetzung, im Novum Corpus Const. Prussic. 1751 1800. Es fehlt aber noch an einer irgendwie genü - genden Bearbeitung. Einen kurzen Abriß enthält die geſchicht - liche Einleitung in Rönne, Gewerbepolizei des preuß. Staats. Breslau 1851. S. 8 ff.Seine Haupt - bemühung war, tüchtige niederländiſche und franzöſiſche24Ein Rückblick ins 18. Jahrhundert.Gewerbsleute ins Land zu ziehen. Durch die Edikte von 1667, 1669 und 1683 ſollte in jeder Weiſe die Wiederbebauung wüſter Stellen in Städten und Dör - fern befördert werden. An Stelle des höchſt ungleich auf einzelnen Häuſern haftenden alten Schoſſes ſetzte er die ſpäter vielgeſchmähte Acciſe in den Städten durch, die zunächſt ſehr zur Hebung der ſtädtiſchen Gewerbe beitrug, Handwerker, Krämer und Kaufleute von ander - wärts anzog. Es wurde ein Gedränge verſpürt, um Häuſer zu kaufen. Die Edikte vom 3. November 1686, 7. Mai 1688 und 13. Juli 1688 ſollten die ganze Gewerbeverfaſſung beſſern. Theure Meiſterſtücke wur - den verboten; alle Geſchloſſenheit der Zünfte auf eine beſtimmte Anzahl Meiſterſtellen ward verpönt. Alle Ein - wanderer erhielten freies Meiſter - und Bürgerrecht. Wo es nothwendig war, wurden die Zunftſchranken durch Perſonalprivilegien durchbrochen. Die Linneninduſtrie der Grafſchaft Ravensberg, früher durch niederländiſche Flüchtlinge begründet, wurde durch die Leggeordnung von 1652 wieder weſentlich gehoben. 1Vergl. Mirabeau, de la monarchie prussienne. Lon - dres 1788. III, 217.Die Maße, die Qualität, die Namen beſtimmter Gewebe wurden feſt - geſetzt, die Leinwand nachgemeſſen, mit herrſchaftlichem Stempel verſehen, das Verhältniß von Stadt und Land geordnet. Er begann damit, das Privilegium der Städte in Bezug auf die Weberei aufzuheben, wie das noch mehr ſein Sohn gethan hat. 2Daſelbſt S. 221 22. Mylius V. Abth. II. S. 428. Patent vom 25. Juni 1729. eod. S. 754: Spinner und Leine -

25Der große Churfürſt und König Friedrich I.

Auch in den übrigen Zweigen der Gewerbepolizei ſetzte König Friedrich eine ähnliche Politik fort;1Siehe Stenzel, Geſchichte des preuß. Staats. Hamburg 1841. III., 47 ff. beſon - ders die Beförderung aller Art von Einwanderern wurde ſyſtematiſch betrieben. Magdeburg wurde von den Pfälzern vollſtändig wieder aufgebaut. In Berlin mehr - ten ſich die franzöſiſchen Geſchäfte und Gewerbe. Im Jahre 1690 ſollen ſchon 43 Arten neuer Gewerbszweige durch die Wallonen und Franzoſen in der Mark hei - miſch geworden ſein. Heftig klagten die einheimiſchen Gewerbe über dieſe neue Konkurrenz; aber die Regierung achtete nicht auf dieſe Klagen.

Unter Friedrich Wilhelm, dem ſparſam klugen, hausväterlichen Tyrannen ſeiner Unterthanen, knüpften ſich an dieſe Maßregeln weitere und tiefer eingreifende; Ausfuhrverbote von Rohſtoffen, beſonders von Wolle, Einfuhrverbote oder hohe Zölle reſp. Acciſeabgaben für fremde Manufakte werden erlaſſen. Walkmühlen, Fär - bereien, Preſſen, Wollmagazine werden von der Regie - rung angelegt. Das Berliner Lagerhaus, als ſtaatliche Muſter-Tuchfabrik, wird gegründet. Niedere Steuern oder vollſtändige Steuerfreiheit, Freiheit von Einquartie - rung und Werbung, Vorſchüſſe auf 3 Jahre vom Tage ihrer Verheiratung werden fremden Tuch -, Raſch -, Zeug -, Fries -, Strumpf - und Hutmachern verſprochen. 2Stenzel III, 413.2weber ſoll man auf dem Lande ſo viel als man kann und will anſetzen dürfen.26Ein Rückblick ins 18. Jahrhundert.In der Inſtruktion an die Fabrikinſpektoren von 17291Mylius V. Abth. II. S. 467. wird dieſen aufgetragen, zu ſehen, daß die armen Tuchmacher Verleger bekommen, welche ihnen Wolle und Arbeitslohn vorſchießen. Strenge wird befohlen, daß die im Zuchthaus zu Spandau das Raſch - und Zeugmachen erlernt haben, in die Zunft aufzunehmen ſeien. In dem Generalprivilegium für die Tuchmacher der Mark von 17342Mylius V. Abth. II. S. 375. wird erklärt, das Gewerbe ſei ein ungeſchloſſenes, jeder Meiſter dürfe Geſellen halten ſo viel, als er wolle; ein niederes Maximum von 4 5 Thalern wird für die Koſten des Meiſterwerdens feſtgeſetzt; zwiſchen Fremden und Einheimiſchen, welche Meiſter werden wollen, ſoll kein Unterſchied gemacht werden. Damit es nicht an Garn fehle für die Webe - rei, wird das Spinnen allen Hökerweibern, Handwerks - frauen und Bürgertöchtern, die in öffentlichen Buden feil halten, anbefohlen.

In Bezug auf die Zunftverfaſſung überhaupt wer - den ſchon vor dem Reichsgeſetz von 1731 weſentliche Aenderungen getroffen. Das Handwerk ſoll in der Hauptſache den Städten bleiben, aber nicht der bloß bornirte Egoismus der Zunftgenoſſen der Stadt ſoll über die Ausnahmen entſcheiden. Es werden 1718 Prin - cipia regulativa3Mylius V. Abth. II. S. 670. über das Verhältniß von Stadt und Land erlaſſen; nicht bloß Spinner und Leineweber, ſon - dern auch Schmiede, Schneider, Zimmerleute, Rade - macher ſind zuzulaſſen, in jedem Dorfe wenigſtens ſo27Friedrich Wilhelm I. viele als 1624 Handwerksſtellen da waren. Genaue Verzeichniſſe über die Zahl der alten Stellen werden publicirt. Jede Gutsherrſchaft kann für ſie ſelbſt arbei - tende Handwerker anſetzen, ſo viel ſie will. Die Land - meiſter dürfen beliebig Geſellen halten und Jungen lehren, nur ſie nicht losſprechen. 1Eod. S. 735, Anno 1724.Den Dorfküſtern und Schulmeiſtern ſoll wegen ihres ſchlechten Gehalts fort erlaubt werden, eine Profeſſion zu treiben.

Mehrmals (1718 und 1721)2Mylius V. Abth. I. 411. Abth. II. S. 674. werden Verzeich - niſſe der in einzelnen Städten fehlenden Handwerker veröffentlicht, um Einwanderer gegen freies Bürger - und Meiſterrecht, Bauholz und mehrjährige Abgaben - freiheit dahin zu ziehen. Alle theuren Meiſterſtücke werden 1723 verboten. 3Mylius V. Abth. II. 734.Waiſen und Soldatenkindern ſoll das Vorwärtskommen in der Zunft in jeder Weiſe erleichtert werden.

Hauptſächlich aber wurde das Reichsgeſetz gegen die Zunftmißbräuche mit Nachdruck durchgeführt. Ein beſon - derer Anhang in Mylius von 618 Spalten enthält die ſämmtlichen hienach revidirten Zunftſtatuten aus den Jahren 1734 37. Mit polizeilicher Gewalt durch die beaufſichtigenden Altmeiſter, durch die Steuerräthe und Fabrikinſpektoren wird verſucht, in alle Gewerbe Ord - nung, Fortſchritt, tüchtige Arbeit zu bringen; viel Kleinliches und Veraltetes wird in hausväterlichem Sinne beibehalten, aber die eigentlich monopoliſtiſchen Mißbräuche werden ſchonungslos verfolgt.

28Ein Rückblick ins 18. Jahrhundert.

Die Verwaltung des größten preußiſchen Königs ging von denſelben Anſchauungen aus;1Das Material bei Mylius; ſonſt; Roſcher, über die volkswirthſch. Anſichten Friederichs des Großen, akad. Feſtſchrift der kgl. ſächſ. Geſellſchaft der Wiſſenſch. ; Lippe-Weißenfeld, Weſtpreußen unter Friederich dem Großen. 1866; Mirabeau de la mon. prussienne Bd. III; Dohm, Denkwürdigkeiten Bd. IV. S. 85 132. 377 527. Hannover 1819; Preuß, Friederich der Große Bd. III u. IV und Urkundenband III u. IV. Berlin 1833 u. 34. Hertzberg, Huit dissertations. Berlin 1787. aber die Durch - führung war großartiger, feſter, planvoller, wie ſeine Einſicht, ſeine Kenntniſſe und ſein Charakter dem ſeines Vorgängers unendlich überlegen waren. Dagegen wirkte unter ihm die höchſte Anſpannung der Finanzen, die übermäßige Ausbildung des indirekten Steuerſyſtems den Bemühungen um Hebung des Wohlſtandes ſtärker entgegen als früher.

Als der wichtigſte Grundſatz ſeiner hierin ſeinem Vater weit überlegenen Regierung ſtand der voran, das Juſtizverfahren ſo zu beſſern und ſo unabhängig zu machen, die Gewiſſensfreiheit ſo feſtzuſtellen, daß Preu - ßen der Zielpunkt aller Auswanderung blieb und noch mehr werde. Hunderte von Dörfern hat er gegründet,2Hertzberg, S. 191. Tauſende von fleißigen Handwerkern und Fabrikanten hat er ins Land gezogen. Wie früher wurden Liſten der an den einzelnen Orten fehlenden Handwerker publi - zirt. Maſſenhaft wurden beſonders Bauhandwerker aus dem Voigtlande und dem Sächſiſchen nach Weſtpreußen29Friedrich II. übergeſiedelt (1776). 1Lippe-Weißenfeld S. 75 und 115.In Schleſien allein ſollen 1763 77 nicht weniger als 30000 Gewerbtreibende eingewandert ſein.

Die poſitiven Beförderungen der Induſtrie waren ſchroff merkantiliſtiſche, die eben, weil ſie ſchroff ein - greifen, manche Intereſſen verletzten, oft geändert, modifizirt werden mußten, wie z. B. die Wollausfuhr - verbote. Aber überallhin kam durch ſeine Anregungen gewerbliche Thätigkeit. Der ſchleſiſche Bergbau iſt auf ihn zurückzuführen; eine große Eiſenwaaren-Fabrik wurde in Neuſtadteberswalde ins Leben gerufen; die Berliner Staats-Eiſengießerei, die Mutter der ganzen Berliner Maſchineninduſtrie, iſt ſein Werk. Die Krefelder Seiden - induſtrie erblühte unter ihm; die Elberfelder und Bar - mer Induſtrie2Siehe darüber: Hocker, die Großinduſtrie Rheinlandes und Weſtfalens, ihre Geographie, Geſchichte, Produktion und Statiſtik. Leipzig 1867. S. 180 188. erwuchs unter ihm aus bloßer Bleicherei und Färberei zur großartigſten Weberei. Die Bielefel - der Linneninduſtrie wurde durch Einrichtung holländiſcher Bleichanſtalten, durch ein Handels - und Bleichgericht, durch Beförderung des Abſatzes auf diplomatiſchem Wege unterſtützt. Am meiſten vielleicht geſchah für die Gewebeinduſtrie Schleſiens und der Mark, beſonders Berlins. Techniſche Reglements, wie z. B. 1754 für die neumärkiſchen Tuchmacher, auch einzelne Spezial - befehle ordneten die geſammte Spinnerei und Weberei. Die Garnausfuhr wurde verboten, das Spinnen in jeder Weiſe befördert, ſelbſt den Soldaten wurde es30Ein Rückblick ins 18. Jahrhundert.befohlen,1Mirabeau III. 74. 78. den Baumwollſpinnern ſogar Jahresprämien gezahlt. 2Novum Corpus Const. Pruss. 1753. S. 455.Niedere Steuern, Freiheit von jeder Meiſter - abgabe und von Einquartierung für die Weber und Spinner, volle Gleichſtellung von Stadt und Land für dieſe Gewerbe, Einrichtung von Schauanſtalten, Woll - magazine, Gewährung von Staatsdarlehen, von Penſio - nen an Lyoner und Schweizer Seidenweber neben dem Webelohn, den ſie vom Fabrikanten erhielten; das waren die früher ſchon beliebten, jetzt noch mehr ausgebildeten Mittel. Weſentlich war die Sorge für die kleinen Handwerker, die für Verleger und Fabriken arbeiteten; es war das um ſo wichtiger, als die Hausinduſtrie damals noch faſt die allgemeine Form war, in der die geſammte Eiſen - und Gewebeinduſtrie ſich bewegte. Die wohlhabenderen Meiſter arbeiteten auf eigene Rechnung und verkauften an die Verleger; die ärmeren erhielten den Rohſtoff vom Verleger und hatten die fertige Waare abzuliefern. Für dieſe Handwerker ſind die Edikte bemüht, Kredit und Rohſtoff zu ſchaffen, für die Fabri - kanten Sicherheit des ihnen gehörigen Rohſtoffes durch ſtrenge Strafen gegen Veruntreuung, durch ein 1756 eingeführtes Separations - und Vindikationsrecht, das ihnen im Konkurſe der kleinen Meiſter die gelieferten Rohſtoffe an ſich zu nehmen erlaubt. Im Verhältniß beider zu einander wird ſtrenge darüber gewacht, daß kein Betrug, keine Uebervortheilung, kein unbilliger Nothverkauf ſtattfinde.

31Die Zunftreformen.

Die allgemeine Gewerbegeſetzgebung in Bezug auf Zünfte und Innungen wird noch mehr als früher von alten Mißbräuchen gereinigt. In den Jahren 1751 55 werden eine ſehr große Zahl Innungsprivilegien beſon - ders für Preußen (im e. S.) revidirt;1Novum Corpus Const. Pruss. I, 1159. daneben wird durch einzelne Spezialbefehle dieſer und jener Uebelſtand abgeſtellt. Ueber die Richtung dieſer Geſetzgebung nur einige Worte. Die Loskaufung vom Meiſterſtücke gegen Geld und Geſchenke wird 1747 verboten. Als mit der Noth des Jahres 1771 viele Handwerksgeſellen am Kolbergiſchen Feſtungsbau im Taglohn arbeiten, wird ſtrenge eingeſchärft, ſie derohalben nicht aus der Zunft zu ſtoßen. 2Verordnung vom 21. März 1771; dieſe, wie manche andere Edikte und Verordnungen, die ich in den Original - drucken geſammelt habe, iſt nicht im Nov. Corp. abgedruckt.Aus der Handwerkerordnung für Weſt - preußen von 1774 hebe ich folgendes hervor: alle alten Artikel und Bräuche, alle Schmauſereien ſind abge - ſchafft; bei allen wichtigen Dingen, beſonders bei Hand - habung der Zunftgerichtsbarkeit, muß ein Magiſtrats - mitglied anweſend ſein; nur leicht verkäufliche Meiſterſtücke dürfen gefordert werden; Meiſter aus andern Städten müſſen überall zugelaſſen werden, wenn ſie das etwaige Plus an Meiſtergeld nachzahlen; jeder Meiſter hält ſo viel Geſellen und Stühle, als er will; nur die Lehr - lingszahl kann auf Wunſch durch die Ortsbehörde unter Zuſtimmung der Kriegs - und Domänenkammer beſchränkt werden; alle fremden Geſellen, die nach fremdem Recht eine Stufe in der Zunfthierarchie erreicht haben, ſind32Ein Rückblick ins 18. Jahrhundert.in Preußen zuzulaſſen, wie wenn ſie in Preußen nach dortigem Recht dieſe Stufe erreicht hätten; alle Geburts - beſchränkungen für das Lehrlingwerden ſind beſeitigt, ebenſo die zahlreichen Gründe der Unredlichkeit; volle Freiheit des Jahrmarktverkehrs, auch für Fremde, wird ſtatuirt; mehrere einander naheſtehende Zünfte ſollen kombinirt werden, damit die Streitigkeiten aufhören.

Das waren im Großen und Ganzen die Grund - ſätze, nach denen im 18. Jahrhundert die brandenbur - giſch-preußiſchen Gewerbe behandelt wurden. Was war der Erfolg? der Erfolg trotz dem, was dieſer Staat im 18. Jahrhundert erduldet. Ich erinnere dabei nur an die Peſt, die Preußen und Pommern 1709 1711 faſt entvölkerte,1Stenzel III, 188. an den Steuerdruck und die Kriege unter dem großen König, an die volkswirthſchaftliche Kriſis, welche nach dem 7 jährigen Kriege hauptſächlich durch die Münzwirren entſtand,2Preuß, Urkundenbuch III, S. 86 ff. Briefwechſel zwiſchen Friederich dem Großen und ſeinen Miniſtern über den Verfall des Handels, der Fabriken und über das Projekt einer neuen Billetbank. 1766. an die Wirkungen der Hungerjahre von 1770 74. Trotz alledem war der Erfolg ein großer, wie ich nur durch einige zeitgenöſſiſche Urtheile und ſtatiſtiſche Zahlen beweiſen will.

Schon zu Anfang des Jahrhunderts gilt der preu - ßiſche Gewerbfleiß als ein den Nachbarſtaaten überlege - ner. Man ſehe die Handwerksſtäte ruft Mar - perger3Paul Jakob Marperger’s, Mitglied der königl. preuß. Sozietät der Wiſſenſchaften, Kurtzgefaßte geographiſche, hiſto - ſchon 1710 voller fleißiger Handwerksleute33Der Erfolg der Maßregeln.und die öffentlichen Kramladen voll köſtlicher Waaren, welche die Kaufleute theils aus der Fremde verſchrieben, theils auch durch ihre eigene Induſtrie im Lande ſelbſt von denen Handwerksleuten zuwege gebracht haben. Viel ſicherer aber lauten die Nachrichten und die ſtatiſtiſchen Ergebniſſe, wenn wir uns in die letzten Lebensjahre König Friederich’s verſetzen. 1Die Geſammtüberſicht über die preußiſche Induſtrie im Jahre 1785 nach Hertzberg, huit dissertations S. 254 theile ich nicht mit, da ich ſie mit keinen frühern oder ſpätern Zahlen direkt vergleichen kann; immerhin iſt ſie ſehr lehrreich, ſie zeigt klar die Entwickelung der preußiſchen Gewerbe bis gegen 1785.

Bedeutend war vor Allem die ſchleſiſche Gewebe - induſtrie gewachſen. Unter der öſtreichiſchen Regierung zählte man 12000 Webſtühle für Leinwand, zu Ende der Regierung Friederich’s des Großen 20000. 2Mirabeau III, 92.Die Produktion an Stücken Tuch war geweſen:3Daſ. 96.

Die Produktion von Strümpfen in Schleſien war geweſen:4Daſ. 106.

3riſche und merkatoriſche Beſchreibung aller derjenigen Länder und Provinzen, welche dem königl. preuß. und churbrand. Scepter unterworfen. Berlin 1710. Zu vergleichen auch Büſching’s neue Erdbeſchreibung, dritter Theil. Bd. II. S. 2067 68. Vierte Aufl. Hamb. 1765.Schmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 334Ein Rückblick ins 18. Jahrhundert.

Mirabeau, der ſo ſehr ſich bemüht, die Erfolge von König Friederich’s Verwaltungsgrundſätzen herabzu - ſetzen, ruft doch über Schleſien aus: il y régne une population, une culture et une industrie vraiement immense. Schneer1A. Schneer, über die Noth der Leinenarbeiter in Schleſien. Berlin, Veit 1844. ſchildert die Zuſtände der Weber - diſtrikte gegen 1800 als behagliche, allerdings durch jede Stockung des Abſatzes bedrohte, die Weber als ſelb - ſtändige Unternehmer, die auf den Leinwandmärkten an die Kaufleute verkaufen. Im Allgemeinen, ſagt er, war namentlich unter den Leinwandkaufleuten Reich - thum und Ueppigkeit und unter den arbeitenden Klaſſen der Leinwandinduſtrie ein gewiſſer Wohlſtand und ein leichtſinniges Wohlleben verbreitet.

Aehnliches ließe ſich von der weſtfäliſchen Linnen - induſtrie,2Siehe Mirabeau III, 199. von der rheiniſchen Seiden -, Baumwolle - und Eiſeninduſtrie berichten. Ich will mich darauf beſchrän - ken, über die Mark Brandenburg und Berlin noch Eini - ges mitzutheilen. Krug3II, 162. ſtellt in Bezug auf die kur - märkiſchen Städte die lehrreiche, oben ſchon erwähnte Vergleichung zwiſchen 1750 und 1801 an. Es gab in denſelben:

35Preußiſche Gewerbeſtatiſtik.

Die Tabelle beweist freilich, daß mit dem Fort - ſchritt der Induſtrie und der Bevölkerung auch die ſchlimmen Elemente (Arme, Züchtlinge) wachſen; aber im Ganzen deutet ſie doch mehr auf Fortſchritt als auf Rückſchritt.

In Berlin hatte Handel und Verkehr außerordent - lich zugenommen; vor Allem die für den Großhandel arbeitenden Gewerbe hatten ſich entwickelt, aber auch der kleine Handwerkerſtand befand ſich in guter Lage. Reden theilt gewerbeſtatiſtiſche Zahlen aus den Jahren 1783 85 mit,1Zeitſchrift des Vereins für deutſche Statiſtik II, 476: Die Gewerbthätigkeit Berlins in älterer und neueſter Zeit. die er mit den Zahlen von 1847 vergleicht. Von Handwerksmeiſtern macht er 19 Kate - gorien namhaft, welche zuſammen 1784 2,22 %, 1847 3,14 % der ganzen Bevölkerung ausmachen. Nicht alle einzelnen Kategorien aber haben zugenommen von 1784 bis 1847. Abgenommen gegenüber der Bevölkerung haben folgende:3 *36Ein Rückblick ins 18. Jahrhundert.

Dagegen haben zugenommen:

Die erſtern Betriebe ſind ſolche, bei welchen ſchon bis 1847 die kleinern Geſchäfte durch größere verdrängt ſind, bei welchen durch Maſchinen, verbeſſerte Technik37Die Gewerbe Berlin’s.und größere Arbeiterzahl das gewiß auch geſtiegene Bedürfniß befriedigt wird.

Die letztern Betriebe ſind ſolche, bei denen das noch nicht geſchehen iſt, bei denen der ſteigende Wohl - ſtand eine größere Zahl kleiner Geſchäfte bis 1847 her - vorgerufen hat.

Jedenfalls ergiebt ſich ſo viel aus den Zahlen, daß der Unterſchied zwiſchen 1784 und 1847 kein allzugroßer iſt. Sehr ſtark abgenommen hat nur die Zahl der Lohgerber und Maurermeiſter, ſtark zugenommen nur die der Tiſchler, Tapeziere, Klempner, Drechsler, Buch - binder, Inſtrumentenmacher. Bei den übrigen liegen die Verhältnißzahlen nicht weit auseinander, ein Beweis, daß ſchon 1784 die gewerblichen Zuſtände Berlins beſſere waren, als in den meiſten übrigen deutſchen Städten.

Eine andere Bemerkung drängt ſich daneben noch auf. Welch ungeheurer Umſchwung in der Zeit von 1784 bis 1847, und in den wichtigern Kleingewerben Berlins doch keine ſehr bedeutende Aenderung.

Von größern Gewerben hatten ſich in Berlin vor Allem die Lederfabrikation, die Blumenfabrikation, die Strohhutmanufakturen, die Zuckerſiedereien, die Kattun - druckereien, die Weberei aller Art entwickelt. Ich will die Zahlen nicht alle wiederholen; viele dieſer Induſtrien ſind 1783 85 ſtärker vertreten als 1847 49: Web - ſtühle wurden 1783 gezählt für Seide 2316, für Wolle 2566, für Linnen 238, für Baumwolle 1048, zuſammen 6168; die Zahlen nehmen noch zu bis ins neue Jahrhundert; 1804 ſind 3691 Baumwollſtühle vor - handen; 1849 zählt man in Berlin 2147 Stühle für38Ein Rückblick ins 18. Jahrhundert.Seide, 2270 für Wolle, 63 für Linnen, 2113 für Baumwolle. Mirabeau1III, 113. muß von der Berliner Indu - ſtrie geſtehen: Les manufactures établies à Berlin y trouvent un marché immense sous la main, le concours de toutes les sciences, de tous les artistes; ils peuvent donner à leurs ouvrages une perfection, une beauté qui les fassent rechercher au dehors. Tant d’avantages, joints aux priviléges exclusifs qui leur assurent le marché dans les états du roi de Prusse, doivent étendre considérablement leurs profits et accélérer leur activité.

Nicht überall natürlich in den preußiſchen Landen war die gewerbliche Entwickelung eine ſo glänzende; beſonders der kleine Handwerkerſtand befand ſich noch da und dort in ähnlicher Lage wie im übrigen Deutſchland. Die oben angeführten Magdeburger Zahlen zeigen, wie klein die Zahl der Gehülfen war, und das iſt immer ein ungünſtiges Zeichen. Aehnliches wird aus weſt - fäliſchen Städten berichtet. So zählte Bochum 17802Jacobi, das Berg -, Hütten - und Gewerbeweſen des Regierungsbezirks Arnsberg. Iſerlohn 1857. S. 532. auf 13 Schreinermeiſter 2 Geſellen, auf 26 Schuh - machermeiſter 3, auf 21 Bäckermeiſter 1, auf 8 Zim - merleute 1, auf 5 Maurermeiſter 1 Geſellen; die mei - ſten andern Handwerke waren ganz ohne Geſellen. Als Beweis aber, daß gerade auch in dieſem Punkte die preußiſchen Zuſtände vielfach beſſere waren, als im übri - gen Deutſchland, möchte ich ſchließlich einige Zahlen aus der Handwerksſtatiſtik der Stadt Brandenburg von 178439Die preußiſchen Handwerke.anführen. 1Schlözer, Staatsanzeigen VI, 154.Es waren bei einer Bevölkerung von 8980 Civil - und 2290 Militärperſonen

Dieſe Geſellen - und Lehrjungenzahlen deuten im Gegenſatz zu den eben und oben angeführten auf ein ſehr blühendes Handwerk hin.

Nach dieſen Bemerkungen über die Art der preußiſchen Gewerbebeförderung und über den thatſäch - lichen Erfolg derſelben, kann ich nicht umhin, noch einige allgemeinere Betrachtungen über dieſelbe anzuſtellen; denn wenn auch dieſe Unterſuchungen in erſter Linie die realen Zuſtände feſtſtellen, nicht die jeweilige Geſetz - gebung beurtheilen wollen, ſo iſt es doch gerade hier am Platze, ein Wort gerechter Würdigung auszuſprechen, da bis in die neueſte Zeit die Beurtheilung von doktri - närer Einſeitigkeit beeinflußt iſt. Mirabeau, Dohm, Preuß, Stenzel ſind Theoretiker des entgegengeſetzten Extrems, und das Urtheil über die preußiſche Gewerbe -40Ein Rückblick ins 18. Jahrhundert.geſetzgebung des vorigen Jahrhunderts iſt bis auf die neueſte Zeit von ihren Ausſprüchen faſt gänzlich abhängig geblieben.

Unter der Herrſchaft des Merkantilſyſtems, wie ſpäter unter dem der Phyſiokraten und Smithianer hat man ſich in doktrinärer Weiſe zu allgemein an allgemeine Sätze gehalten. Damals war das Prinzip: Staatsein - miſchung unter allen Umſtänden; nichts lehrte man entſteht ohne ſie; der Steuerrath, die Kriegs - und Domänenkammer weiß Alles beſſer. Dann wurde ebenſo einſeitig Fernhaltung aller Staatsintervention, Beſei - tigung aller Gewerbegeſetzgebung Prinzip; die Regie - rung lehrte man kann nur ſchaden, ſie verſteht niemals die Dinge beſſer als die Gewerbetreibenden; alle Induſtrie gedeiht nur, wenn man ſie ſich ganz ſelbſt überläßt. Früher ſpezialiſirte man zu ſehr, man dachte mehr an die Vorbedingungen des gewerblichen Lebens im Kleinen und Einzelnen; dadurch, daß man da ein - griff, wollte man latente Kräfte entbinden, Hinderniſſe beſeitigen. Später generaliſirte man zu ſehr; man dachte nur an die allgemeinſten Vorbedingungen; in die klei - nern Urſachen und perſönlichen Hemmniſſe, gleichſam in die Reibungswiderſtände des praktiſchen Lebens wollte man gar nicht eingreifen. Beide Prinzipien ſind gleich wahr und gleich falſch. Keins derſelben, wenn auch das eine mehr als das andere, wird an ſich Induſtrien ins Leben rufen; weder die volle Gewerbefreiheit noch die weitgehendſten Gewerbereglements und Vorſchriften wirken ganz direkt und können darum Selbſtzweck ſein. Für alles gewerbliche Leben und Gedeihen ſind eine41Würdigung der preuß. Gewerbepolizei.ganze Reihe der verſchiedenartigſten und komplizirteſten Kulturbedingungen nothwendig: ſtaatliche und ſoziale Zu - ſtände, Bevölkerungsdichtigkeit, Kapitalanſammlung, per - ſönliche Kräfte, Kenntniſſe, moraliſche Eigenſchaften, Handelsverbindungen und manches Andere. Viele dieſer Vorbedingungen ſind von beiden Prinzipien gleich unab - hängig. Auf andere Vorbedingungen aber wirken ſie, und das Urtheil über ſie richtet ſich eben danach, ob und wie ſie auf eine Anzahl dieſer Vorbedingungen fördernd wirken. Jedes der beiden Prinzipien wird bei der Man - nigfaltigkeit der realen Verhältniſſe da und dort hem - men, da und dort fördern. Jedes iſt dann am Platze, wenn es nach den zeitlichen Geſammtverhältniſſen von Land und Volk im Ganzen mehr fördert, als hemmt. Je nach den pſychologiſchen, moraliſchen und ſozialen Ver - hältniſſen wird das eine ſo ſehr am Platze ſein, wie das andere. Ein zartes Pflänzchen iſt ein ander Ding als eine mehrhundertjährige Eiche, ein Kind bedarf anderer Pflege als der Mann. Niemals aber wird man Fana - tiker des Prinzips ſein dürfen, weil man es immer auch zu einer beſtimmten Zeit und in einem beſtimmten Staate mit den verſchiedenartigſten Menſchen, Kräften und Zu - ſtänden zu thun hat. Es wird auch in Zeiten allge - meinſter Staatseinmiſchung Verhältniſſe geben, wo freie Bewegung, freie Konkurrenz am Platze iſt; umgekehrt auch in Zeiten allgemeiner Gewerbefreiheit wird es Punkte geben, wo ſtaatliche Aufſicht, polizeiliche Vor - ſchriften am Platze ſind, weil ſie im konkreten Falle die Vorbedingungen gewerblichen Lebens, techniſche Ge - ſchicklichkeit, angeſtrengte Arbeitsenergie, reelle Ehrlichkeit,42Ein Rückblick ins 18. Jahrhundert.die doch auch beim Syſteme der Freiheit letzter Zweck ſind, mehr fördern. Man wird beſonders nie vergeſſen dürfen, daß gewiſſe Klaſſen der Geſellſchaft, gewiſſe Kreiſe der Volkswirthſchaft viel langſamer ſich entwickeln. Das Handwerk, der Kleinhandel, der Detailverkehr iſt etwas total Anderes als die Großinduſtrie und der Groß - handel. Es handelt ſich um andere Menſchen, um andere Wirkungen, um andere Möglichkeiten der Ent - wickelung.

Dieſe Erörterung mag ſehr theoretiſch klingen, ſie ſollte nur das apodiktiſche Urtheil einleiten, das ich wage. Jedem, der glaubt, durch ein Syſtem der vollen Ge - werbefreiheit und ſtaatlichen Nichtintervention wäre die preußiſche Induſtrie von 1650 1800 ſo oder gar noch beſſer gewachſen, als ſie mit dem entgegengeſetzten Syſtem wirklich ſich entwickelte, dem muß jedes tiefere hiſtoriſche und nationalökonomiſche Urtheil abgeſprochen werden. Und damit iſt das Syſtem im Ganzen für jene Zeit gerechtfertigt, mag es auch im Einzelnen viel Unrichtiges gethan oder mit ſich gebracht haben, eben weil man an dem im Ganzen richtigen Syſtem auch damals zu dok - trinär feſthielt.

Giebt man Letzteres auch zu, iſt nicht zu leugnen, daß man zu einſeitig an den Segen ſtaatlicher Pflege glaubte, ſo darf man dabei nicht vergeſſen, daß die allgemeine Zunftgeſetzgebung nach vielen Richtungen hin im Sinne größerer Freiheit reformirt wurde. Die Ge - ſchloſſenheit der Zunft wurde beſeitigt, wie die egoiſtiſche Herrſchaft der Altmeiſter. Jeder Meiſter durfte Geſellen halten, ſo viel er wollte, durfte ſich niederlaſſen, wo43Würdigung der preuß. Gewerbepolizei.er wollte; durch liberales Heranziehen Fremder wurde die Konkurrenz befördert, die gewerblichen Rechte des platten Landes wurden weſentlich ausgedehnt. Es ließe ſich noch ſehr zweifeln, ob alle dieſe Maßregeln nicht einen mindeſtens ebenſo großen Fortſchritt im Sinne der Freiheit und Rechtsgleichheit repräſentiren als die Gewerbe - freiheit von 1810, ob ſie nicht einen größern Fortſchritt enthalten gegenüber den vorherigen Zunftmißbräuchen, als das Geſetz von 1868 gegenüber dem von 1849. Die poſitiven Förderungen einzelner Gewerbe durch Kredit, Prämien, Reglements, Verbot fremder Waaren ent - ſprachen im Allgemeinen der entſetzlichen Lethargie und Lähmung aller gewerblichen Kreiſe jener Zeit, entſprachen der geſellſchaftlichen Stellung und Bildung der kleinen Leute, der für Verleger arbeitenden Meiſter, auf denen in der Hauptſache die ganze damalige Induſtrie ruhte. Oft wurde fehlgegriffen, öfter aber das Richtige getroffen. Die regierenden Elemente waren den Gewerbtreibenden an Einſicht und Kenntniß damals ſo überlegen, daß ſie ihnen ſagen konnten, was zu thun ſei.

In Bezug auf die Gewebeinduſtrie, auf die zahl - reichen Spinner - und Weberdörfer und Städte, die damals ins Leben gerufen, ſpäter theilweiſe in ſo große Noth gekommen ſind, hat man oft gezweifelt, ob die Politik eine richtige war; ob es richtig war, ſo viele Arbeitskräfte zu einer Thätigkeit zu veranlaſſen, die in ihrer Einfachheit geringen Lohn gab und bei jeder Zoll - ermäßigung oder - Beſeitigung in Gefahr war, wieder ſiſtirt zu werden. Die Nothſtände zeigten ſich auch ſehr bedeutend in den Napoleoniſchen Kriegen und bis gegen44Ein Rückblick ins 18. Jahrhundert.1818. Knuth1Dieterici, der Volkswohlſtand im preuß. Staate. Ber - lin 1846. S. 102. z. B. erklärt 1817 von der großen Berliner Kattunweberei auf einfachen Stühlen, ſie gehöre zu den allererbärmlichſten Erwerbsmitteln, ein Kattun - weber verdiene täglich höchſtens 6 7 Groſchen, ein Tiſch - lergeſelle einen Thaler.

Dennoch wäre es falſch, aus den Nothſtänden der Weberei von 1800 1818, aus der Thatſache, daß die einfache Kattunweberei nicht nach Berlin paßte, den Schluß zu ziehen, daß die ganze Beförderung der Ge - webeinduſtrie falſch war. In der Hauptſache war die Weberei geſund und nach den Verhältniſſen des vorigen Jahrhunderts naturgemäß. Die Art der Hausinduſtrie ermöglichte einen glücklichen Uebergang des kleinen fleißigen Arbeiters zum Unternehmer. Viele arme Leinwandweber vom Lande zogen in die Städte und wurden da nach und nach wohlhabende Fabrikanten. 2Dieterici, Volkswohlſtand S. 98.Das Eingreifen in die Kreditverhältniſſe dieſer kleinen Weber hatte ihre ſehr gute Seite; nichts iſt für den kleinen Mann ſchlim - mer als die Kreditloſigkeit, durch nichts iſt ein Syſtem der Hausinduſtrie mehr gefährdet, als durch Lotterkredit, der in Abhängigkeit, Uebervortheilung und Ausſaugung des kleinen Mannes nur zu leicht ausartet. Die ganze Ueberwachung der Hausinduſtrie durch techniſche Regle - ments und Schauämter war Bedingung einer gedeih - lichen Entwickelung in jener Zeit. Ganz richtig ſagt Roſcher,3Volkswirthſch. Anſichten Friederich’s d. Gr. S. 37. ſolche Regierungsthätigkeit erſetze, was dem45Würdigung der preuß. Gewerbepolizei.kleinen Handwerker ſonſt ganz fehle, nämlich durch ihre techniſchen Rathgeber die Verbindung des Gewerbes mit der Wiſſenſchaft, durch ihre Handelskonſule die fortlau - fende Kenntniß der fremden Märkte, durch ihre Schau - und Stempelanſtalten die weitreichende Notorietät einer großen Firma. Auch Mirabeau muß zugeben, daß man überall die Blüthe der Induſtrie auf dieſe Reglements zurückführt. 1z. B. III, 218.Ich will von zeitgenöſſiſchen Stimmen nur Juſti2Vollſtändige Abhandlung von denen Manufakturen und Fabriken. Kopenhagen 1758. I, 122. anführen, der 1758 ſagt: In den meiſten deutſchen Staaten, ohngeachtet man das Anſehen haben will, die Manufakturen zu gründen, fehlet es noch gar ſehr an ſolchen Reglements. Nur in denen preußiſchen Staaten, wo man die wahren Maßregeln ſelten außer Acht läßt, haben alle Arten von Manufakturen die um - ſtändlichſten und vortreflichſten Ordnungen, und man muß dieſelben zu Rathe ziehen, wenn man dergleichen Reglements verfertigen will.

Wenn ich ſo im Ganzen die Friedericianiſche Ver - waltung als eine den damaligen Zuſtänden entſprechende bezeichne, ſo will ich daneben nicht leugnen, daß manche der merkantiliſtiſchen Maßregeln verkehrt, daß die Regie -, Acciſe - und Steuerverwaltung drückend und hart war. Beſonders aber darf man für das Ende des Jahrhun - derts nicht vergeſſen, daß die Zuſtände ſelbſt ſich änder - ten; was 1740 noch am Platze war, konnte 1800 ſchon unerträglich ſein. Und eine eingreifende Verwal -46Ein Rückblick ins 18. Jahrhundert.tungspolitik, wie die preußiſche, erforderte Talent, Sach - kenntniß, unermüdliche Thätigkeit, um immer wieder die Reglements in Einklang mit den Zeitbedürfniſſen zu bringen. Nach dem Tode des großen Königs war an die Stelle dieſer unermüdlichen Thätigkeit Stagnation getreten.

Unter allen Umſtänden bleibt wahr, was Viebahn von Friederich dem Großen ſagt: er hat Preußen nicht nur politiſch zur Großmacht erhoben, er hat ſein Land auch kommerziell, gewerblich und geiſtig in die Reihe der erſten der welthiſtoriſchen Staaten geſtellt. Er hat es gethan mit den Mitteln, die die Zeit gab und for - derte. Einem in Individualismus aufgelösten Volke hat er unerbittlich in allen Gebieten und ſo auch auf dem volkswirthſchaftlichen Gebiete die höchſte Pflicht gepredigt und gelehrt, alles Einzelne und Individuelle dem Ganzen zu opfern.

[47]

Die Hauptreſultate der preußiſchen Aufnahmen von 1795 1861.

[48][49]

1. Die preußiſche Handwerksſtatiſtik von 1795 / 1803.

Die Zuſtände gegen 1800. Die Gewerbefreiheit. Die wirth - ſchaftliche Entwickelung bis gegen 1831. Der Werth der Krug’ſchen Zahlen. Die Vergleichung der Aufnahmen von 1795 / 1803 und von 1831. Das Reſultat ziemlich unveränderter Verhältniſſe.

Ich habe mein Urtheil über die preußiſche Ver - waltung wohl ſchon durch die Reſultate der Statiſtik zu ſtützen geſucht; ich habe aber dabei eine wichtige Quelle noch nicht berührt, die preußiſche Handwerksſtatiſtik von Krug in ſeinen Betrachtungen über den Nationalreich - thum des preußiſchen Staates. 1II, S. 172 205.Es wird paſſend ſein, bei ihr, an der Grenzſcheide des Jahrhunderts einen Moment zu verweilen und ſie hauptſächlich mit einer ſpätern Aufnahme zu vergleichen, ſie dadurch zu einem lebensvollen Bilde zu geſtalten.

Waren die gewerblichen Zuſtände gegen 1800 ſchon mannigfach durch die alte Geſetzgebung gehemmt, im Ganzen war der Wohlſtand ein ſteigender bis gegen 1805 und 1806. Die außerordentliche Steigerung der Getreide - und Bodenpreiſe in ganz Norddeutſchland von 1770 abSchmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 450Die preußiſchen Aufnahmen.hatte die Kaufkraft der ländlichen Kreiſe ſehr geho - ben. 1Siehe: Gülich II, 293 336; Krug I, 404 ff.Die erſten franzöſiſchen Kriege erſtreckten ihre ungünſtigen Wirkungen kaum auf Preußen. Erſt ſeit 1799 machte ſich die Stockung in den norddeutſchen Handelsſtädten geltend. Erſt nach 1806 trat im ganzen Lande die Lähmung des Verkehrs, die wirthſchaftliche Erſchöpfung durch die Kriege, traten die Einquartierungen, Verwüſtungen, Kontributionen ein.

In dieſe Zeit fällt die Einführung der Gewerbe - freiheit. Sie war für Preußen und Littauen ſchon 1806 und 1808, für den ganzen damaligen preußiſchen Staat durch das Edikt vom 2. November 1810 einge - führt worden. Am linken Rheinufer verſtand ſie ſich mit der franzöſiſchen Herrſchaft von ſelbſt; für Weſtfalen wurde ſie durch die Dekrete vom 5. Auguſt 1808 und 12. Februar 1810, für das Großherzogthum Berg durch das Dekret vom 31. März 1809 eingeführt.

Sicher iſt die in Preußen eingeführte Gewerbe - freiheit eine jener unſchätzbaren liberalen Konzeſſionen geweſen, die zuſammen ſo ſegensreich gewirkt, den National - geiſt gehoben, die unwiderſtehliche Kraft der Bevöl - kerung im Jahre 1813 erzeugt haben. Aber es wird ſchwer ſein, nachzuweiſen, welche direkte, unmittelbare Wirkung die geſetzliche Aenderung auf die wirthſchaftliche Lage der Kleingewerbe gehabt habe. Manches wird ſich ſogleich mit der Publikation des Ediktes geändert haben; mancher Geſelle wird ein eigenes Geſchäft angefangen haben, mancher ſich an einem paſſendern Orte, in dem51Die Zuſtände gegen 1800.benachbarten Dorfe ſtatt in der Stadt niedergelaſſen haben; aber die gewerblichen Geſammtverhältniſſe werden ſich zunächſt nicht viel geändert haben, weil ſie unter dem Drucke vieler anderer, mächtiger wirkender Urſachen ſtanden.

Mit dem Frieden erfolgte die Vergrößerung Preußens; in den neuerworbenen Landestheilen ließ man die her - gebrachte Gewerbeverfaſſung unverändert, die Gewerbe - freiheit am Rhein und in Weſtfalen, die Zunftverfaſſung in Sachſen. Immer war es der überwiegend größere Theil der Monarchie, in dem von da ab bis 1845 volle Gewerbefreiheit herrſchte.

Die erſten Jahre nach dem Frieden waren nicht eben günſtige für die wirthſchaftliche Entwickelung. Die Nachwehen der großen Verluſte und Zerſtörungen, die Hungersnoth 1816 17, die Ackerbaukriſis 1820 25 waren harte Schläge. Die Grenzveränderung brachte für die Induſtrie der rheiniſchen Städte manchen Verluſt; das Aufhören der Kontinentalſperre, die engliſche Kon - kurrenz, die ſich um ſo heftiger jetzt auf Deutſchland warf, der Mangel einer gemeinſamen Ordnung des Zoll - weſens, das Alles waren zunächſt ungünſtige Um - ſtände. Dem gegenüber war für Preußen die neue Ordnung des Zollweſens im Jahre 1818 ein großer Fortſchritt. Die öſtlichen Provinzen ſtanden nun der rheiniſchen Induſtrie offen; Aachen, Elberfeld, Barmen, Berlin, zeigen einen raſchen Aufſchwung,1Gülich II, 420 ff. wie überhaupt alle preußiſchen Lande, während allerdings die vom4 *52Die preußiſchen Aufnahmen.preußiſchen Zollſyſtem ausgeſchloſſenen nächſtliegenden Nachbarlande litten. Ein anderes wichtiges Moment für die allgemeine Beſſerung der Lage waren die Ende der zwanziger Jahre wieder ſteigenden Produktenpreiſe. Die Getreideausfuhr nach England nahm wieder zu, das Wollgeſchäft des norddeutſchen Landwirths war in der höchſten Blüthe, die Ackerbaukriſis ſo ziemlich zu Ende. Somit werden wir nicht irren, wenn wir die Jahre gegen 1830 als ſolche bezeichnen, in denen die beſon - deren Mißſtände, die ſich an die Kriegsjahre und an die erſten Friedensjahre anſchloſſen, weſentlich zurück - getreten ſind, in denen alſo die Gewerbefreiheit in ihren reinen Folgen ſich erſichtlich zeigen muß; daneben ſind es Jahre, in denen die Konkurrenz der Groß - induſtrie noch kaum begonnen hat, jedenfalls noch nicht in dem Maße vorhanden iſt, wie heutzutage.

Deshalb glaube ich, richtig zu verfahren, wenn ich, wie früher ſchon Dieterici, die preußiſche Gewerbe - ſtatiſtik von 1795 / 1803 gerade mit der von 1831 vergleiche. Die erſte ein Bild der Zuſtände vor dem Krieg, ein Bild relativ blühender Kleininduſtrie, wie ſie unter der Herrſchaft des Zunftweſens und der ſtaat - lichen Maßregelung möglich war; die zweite ein Bild der Zuſtände, wie ſie nach ſo ziemlicher Beſeitigung der Kriegswehen unter der beinahe vollſtändigen Herrſchaft der Gewerbefreiheit ſich geſtalten.

Krug’s ſtatiſtiſche Aufnahmen ſind in den Jahren 1795 1803 nach den einzelnen preußiſchen Provinzen gemacht; ſie erſtrecken ſich nicht auf ſämmtliche Provinzen oder Departements. Die in Betracht kommenden ſind53Die Krug’ſchen Zahlen.das Poſener, Kaliſcher, Warſchauer Departement, Pom - mern, Neumark, Schleſien, Kurmark, Magdeburg, Paderborn, Minden und Ravensburg, Grafſchaft Mark, Kleve, Lingen und Tecklenburg, Oſtfriesland, Neuchatel. Da dieſe Departements ſich gleichmäßig auf die Monarchie vertheilen, ſo kann die Methode nicht angefochten werden, nach der Bevölkerung und der Meiſterzahl dieſer Auf - nahmen, die muthmaßliche Meiſterzahl für die ganze Monarchie zu berechnen. Die Handwerksgeſellen bleiben außer Betracht, da Krug ihre Zahl gar nicht nach den einzelnen Gewerben, ſondern nur nach Provinzen mittheilt.

Folgen wir nun für 1831 den Zahlen Dieterici’s,1Der Volkswohlſtand, S. 180. ſo ergiebt zunächſt eine allgemeine Vergleichung von 26 der wichtigſten Handwerke, daß 1795 1803 auf 10.023900 Einwohner 194183 Meiſter in denſelben, 1831 auf 13.038960 Einwohner 300752 Meiſter, damals alſo einer auf 51,6 Menſchen, jetzt auf 43,4 Men - ſchen kamen. Damals ſind 1,93 %, jetzt 2,3 % der Bevölkerung Handwerksmeiſter in den betreffenden 26 Hauptgewerben. Die Zahl der Meiſter iſt alſo ſtärker geſtiegen als die Bevölkerung; aber wir werden dieſer Steigerung ein geringeres Gewicht beilegen, wenn wir uns erinnern, daß in den Zahlen von 1795 / 1803 die armen unbevölkerten Landſtriche (Südpreußen und Neuoſtpreußen) ſtecken, die an Rußland abgetreten wurden, in denen von 1831 eine Reihe ſehr entwickelter Gegen - den, die erſt 1815 zu Preußen kamen, wie Theile der Rheinprovinz und der Provinz Sachſen.

54Die preußiſchen Aufnahmen.

Eine genauere Einſicht gewährt die folgende ſpezielle Vergleichung einiger der wichtigern Gewerbe, wobei je in der erſten Spalte die Zahl der Meiſter, in der zweiten die der Einwohner, welche auf einen Meiſter kommen, verzeichnet iſt.

Hiernach iſt die Meiſterzahl geringer geſtiegen als die Bevölkerung bei den Schmieden, den Hutmachern, den Goldſchmieden; das ſind Gewerbe, in denen die Bildung der größeren Geſchäfte die wahrſcheinlichſte Urſache des Rückganges iſt. In den wichtigſten der angeführten Gewerbe hat ſich die Proportion zwiſchen Bevölkerung und Meiſterzahl ſehr wenig verändert, ſo55Der Vergleich von 1803 und 1831.bei den Schuhmachern, Schneidern, Bäckern, Fleiſchern, Rade - und Stellmachern, kaum etwas mehr bei den Böttchern, Riemern, Sattlern, Seilern. Eine weſent - lich ſtärkere Zunahme als die Bevölkerung zeigen nur die Tiſchler und Drechsler, die Maurer, die Buchbinder und Zinngießer.

Dieſe Zahlen ſind beredt. Sie zeigen uns das Leben und die Entwickelung der wichtigſten Handwerke für die Zeit von 1800 1831 gleichſam als etwas Elementares, das von den Stürmen der Zeit, von der Aenderung der äußern Gewerbeverfaſſung weniger berührt wird, als man gewöhnlich erwartet. Die Gemeinde - verfaſſung, die ſtändiſchen Rechte, das ganze Agrarrecht war ein anderes geworden; die Gewerbefreiheit, die unbedingte Zulaſſung der Handwerker auf dem Lande war eingetreten. Das ſtädtiſche Acciſeweſen war ein anderes geworden, die Gewerbeſteuer war eingeführt worden. Und es erſcheint beinahe, als ob All das ſpurlos an den Kleingewerben vorbeigegangen wäre. In vielen Gewerben dieſelbe Meiſterzahl trotz der außer - ordentlichen Veränderungen, die zwiſchen 1800 und 1831 liegen. Auch die großen Aenderungen in der Technik mancher Gewerbe, die Dampfmaſchinen und die anderen neuen Maſchinen und Entdeckungen zeigen keinen weſent - lichen Einfluß bis dahin auf die Handwerke. Selbſt der geſtiegene Wohlſtand, wenn man für 1831 überhaupt einen ſolchen gegenüber 1800 annehmen will, zeigt ſich nicht in einer größern Zahl von Bäcker -, Fleiſcher -, Schuhmacher - und Schneidermeiſtern; dieſe Haupt - gewerbe dienen ja auch ziemlich elementaren, ſich nicht56Die preußiſchen Aufnahmen.ſo leicht ändernden Bedürfniſſen; ſondern nux in der größern Zahl Maurer, Tiſchler, Drechsler; d. h. man baut 1831 wieder mehr, man richtet die Wohnungen beſſer ein, aber man ißt, man kleidet und beſchuht ſich auf alte Weiſe.

Man mag allerdings daran erinnern, daß dieſelbe Meiſterzahl nicht nothwendig dieſelbe Technik, denſelben Wohlſtand, dieſelbe Geſellen - und Lehrlingszahl andeutet. Aber ſehr viel hat ſich darin gerade bis 1831 nicht geändert; was die Gehülfenzahl betrifft, ſo führe ich als Beweis dafür an, daß die Meiſter - und Gehülfen - zahl von 1819 bis 1828 ſich in ziemlich gleicher Pro - portion ändert;1Nach den Zahlen bei Ferber, Beiträge zur Kenntniß der gewerblichen und kommerziellen Zuſtände der preußiſchen Monarchie. Aus amtlichen Quellen. Berlin, Trautwein 1829. Tabelle zu S. 329. Neue Beiträge S. 160. gerade die Gewerbefreiheit mußte dahin wirken, daß zunächſt die Tendenz zur Bildung größerer Geſchäfte mit mehr Gehülfen eher etwas aufgehalten wurde.

Freilich iſt bei dieſer Vergleichung nur auf den Anfang und das Ende der Periode geſehen, auf die Zeit von 1795 / 1803 und auf die von 1831. Dazwiſchen hat der Handwerkerſtand wohl ſtärker geſchwankt. Im Jahre 1811 waren in Preußen noch 286000 Gewerbe - patente ertheilt worden; dieſe Zahl ſinkt bis 1814 auf 242700, iſt alſo in dieſem Jahre um 15½ % niedriger; dann ſteigt die jährliche Zahl wieder; im Jahre 182057Der Vergleich von 1803 und 1831.iſt ſie 20 % höher als 1814 15. 1Rau, Grundſätze der Volkswirthſchafts - Politik. 2te Abth. 5. Aufl. S. 29; es ſind Zahlen, welche der preuß. Staats - zeitung entlehnt ſind.Durch ſolche Schwankungen in Folge der Kriege wird aber unſere Behauptung nur noch in helleres Licht geſtellt. Trotz - dem, daß Alles erſchüttert, geändert, umgeſtürzt wurde, kann man ſagen bringen es gleichmäßig ſich erhal - tende volkswirthſchaftliche Bedingungen dahin, daß nach wenigen Jahren Alles ſo ziemlich im alten Geleiſe iſt, daß ähnliche Zahlenproportionen ſich bei den ſtatiſtiſchen Aufnahmen wieder ergeben.

Dabei will ich allerdings Eins im Voraus als Einſchränkung meiner Behauptung hinzufügen. Die elementare, vom Wechſel der Jahre, wie der ſtaatlichen Verfaſſung und Verwaltung wenig berührte Natur der wichtigſten Handwerke, die vor Allem gegenüber dem viel wechſelvollern Leben der Großinduſtrie zu betonen iſt, wird ſich immer geltend machen; immer werden die Aenderungen ſchwer ſich vollziehen, ſchon weil ſie zuſammenhängen mit den ſchwer ſich ändernden Lebens - gewohnheiten, häuslichen Sitten und Bräuchen des ganzen Volkes. Aber zunächſt beweiſen die vorſtehenden Zahlen nur, daß die großen Ereigniſſe von 1795 1831 daran wenig geändert haben. Wir werden ſehen, daß ſpäter vielleicht unbedeutendere Ereigniſſe, aber Ereigniſſe anderer Art, tiefer eingreifen. Nur ſolange die Technik, die häusliche Wirthſchaft und die Verkehrsverhältniſſe dieſelben bleiben und die haben ſich bis 1831 wenig geändert , wird die Thatſache, daß die vorzüglichſten58Die preußiſchen Aufnahmen.Handwerke in erſter Linie für lokale, nothwendige, ſtets ziemlich konſtante Bedürfniſſe arbeiten, dem Handwerk den ſichern, unveränderten Boden erhalten.

Zugleich iſt nicht zu vergeſſen, daß hier nur von 26 Arten der wichtigern lokalen Handwerke die Rede war. Die ganze Weberei und andere handwerksmäßige Hausinduſtriezweige ſind nicht mit einbegriffen. Auch in den folgenden Unterſuchungen müſſen die Weber zunächſt außer Betracht bleiben, da unſere Betrachtung ſich von jetzt an ſtreng an die Art der ſtatiſtiſchen Aufnahmen halten muß.

[59]

2. Die preußiſchen Handwerkertabellen von 1816 43.

Geſchichte der Aufnahme. Kritiſche Feſtſtellung der Hauptſummen. Ergebniß: Stabilität von 1816 28; Blüthe der Klein - gewerbe von 1828 43. Die einzelnen Faktoren der Geſammt - änderung nach den einzelnen Gewerben, nach Meiſtern und Gehülfen.

Nach dieſen einleitenden Bemerkungen über die Zuſtände vor und nach den Kriegsjahren wenden wir uns ausſchließlich der Zeit nach 1815 zu. Und das Erſte wird ſein, uns einen Geſammteindruck der Ge - ſchichte des Handwerks zu verſchaffen durch Betrachtung der Geſammtſummen, welche die preußiſchen Gewerbe - tabellen in den einzelnen Aufnahmejahren ergeben.

Ueber die Aufnahme und den Umfang der Tabellen iſt Folgendes zu bemerken.

Nachdem J. G. Hoffmann, als Leiter des ſtati - ſtiſchen Bureaus, im Jahre 1816 die wichtigſten Hand - werker in der Populationsliſte hatte mitzählen laſſen, richtete er 1819 zum erſten Male eine beſondere Gewerbe - tabelle ein, die nun von drei zu drei Jahren bei den Regierungen ausgefüllt werden ſollte. Dieſe Tabelle blieb trotz mancher Aenderungen in den Grundzügen unver -60Die preußiſchen Aufnahmen.ändert bis 1843. Erſt die Aufnahme von 1846 erfolgte auf weſentlich anderer, breiterer Grundlage.

Die ältere Tabelle war von Hoffmann ſo einfach als möglich entworfen. 1Siehe Tabellen und amtliche Nachrichten über den preuß. Staat für das Jahr 1849 Band V. Berlin 1854. S. IV. ff., und Böckh, die geſchichtliche Entwickelung der amtlichen Statiſtik des preußiſchen Staates. Berlin 1863. S. 47, 53 ff., 78 ff.Ihr Hauptinhalt waren die wichtigſten mechaniſchen Künſtler und Handwerker. Nicht bei allen, wohl aber bei der Mehrzahl wurden die Gehülfen (Geſellen und Lehrlinge zuſammen) gezählt. Nicht inbegriffen ſind z. B. Fiſcher, Gärtner, Barbiere, Friſeure, ebenſo wenig Spinner und Weber. Nach den Künſtlern und Handwerkern enthält die Tabelle noch die gehenden Webſtühle, die Mühlen, die Handelsgewerbe, die Transportgewerbe, das Geſinde. Für die Zuſtände des preußiſchen Staates vor 50 Jahren gaben dieſe Rubriken immerhin ein genügendes Bild, wenn ſie auch für einzelne Gegenden und ihr entwickelteres Gewerbe - leben, hauptſächlich für die Rheinprovinz nicht ganz aus - reichten. Ihr Vortheil war, daß ſie in ihrer Einfach - heit leicht auszufüllen waren.

Das Bedürfniß nach Erweiterung zeigte ſich aber bald. Neue Rubriken wurden hinzugefügt; beſonders 1837 erweiterte Hoffmann die Tabelle weſentlich durch Aufnahme einer Anzahl Fabriken, der Dampfmaſchinen u. ſ. w. Auch 1837 aber wurde an der eigentlichen Handwerkertabelle wenig geändert; für die Kürſchner, Mechaniker, Buchbinder wurde die Gehülfenzahl hinzu -61Kritik der Aufnahmen.gefügt; die Zimmermeiſter wurden in Zimmermeiſter und Zimmerflickarbeiter, die Maurer in Maurermeiſter, Flicker, Ziegeldecker und Steinmetzen zerlegt; 1840 wurden die Färber in Färber und Kattundrucker geſchie - den. Es läßt ſich ſomit eine vergleichbare Tabelle bis 1843 inkl. leicht herſtellen.

Die Aufnahmen, ſowie offizielle Summirungen der - ſelben ſind nicht gleichmäßig publizirt. Man iſt genöthigt, die Zahlen für die verſchiedenen Jahre aus ſehr ver - ſchiedenen offiziellen, halboffiziellen oder ganz privaten Arbeiten der jeweiligen Direktoren des ſtatiſtiſchen Bureaus zuſammen zu ſuchen. Daher ſind auch darüber einige kritiſche Bemerkungen nöthig.

Die Summe der Meiſter und Gehülfen für 1816 iſt der Publikation Dieterici’s in ſeinem Volkswohl - ſtande entnommen. 1Siehe daſelbſt S. 187.Die Summe, wie ſie von da aus in alle ſpäteren, amtliche und nichtamtliche Schriften überging, iſt aber inſofern etwas zu niedrig, als in ihr die Kuchenbäcker, Korbmacher, Buchdrucker und Tuchſcheerer fehlen. Doch würden dieſe nach Analogie der ſpätern Zahlen nicht mehr als circa 7000 Meiſter und 4000 Gehülfen betragen. 2Für die Gehülfenzahl von 1816 bis zur Gegenwart bemerke ich, daß ſie mit den im Jahrbuch für die amtliche Sta - tiſtik des preuß. Staates Jahrg. II, S. 238 publizirten Zahlen nicht ganz übereinſtimmen können. Es ſind dort die männlichen Gehülfen getrennt von den weiblichen; ich habe überall die Summe beider beibehalten, da die Zahlen der weiblichen Ge - hülfen verſchwindend klein ſind und die großen Geſammtzahlen

62Die preußiſchen Aufnahmen.

Die Summen für 1819, 1822, 1825 und 1828 ſind Ferber’s Beiträgen,1Beiträge Tabelle S. 228. Neue Beiträge, Tabelle S. 160. alſo einer halbamtlichen Publi - kation entnommen. Ferber giebt nicht näher an, was ſeine Zahlen umfaſſen; deswegen glaube ich annehmen zu müſſen, daß ſie ſich auf die ſämmtlichen damals aufgenommenen Handwerker erſtrecken.

Für das Jahr 1831 iſt mir keine amtliche Sum - mirung der Handwerker bekannt, außer der bei Diete - rici,2Volkswohlſtand S. 253. die aber unvollſtändig iſt, indem ſie ebenfalls die Kuchenbäcker, Korbmacher, Buchdrucker und Tuchſcheerer wegläßt. Durch Hinzufügung dieſer iſt meine Zahl höher als die von Dieterici, wie ſie ebenfalls in alle ſpätere Werke übergegangen iſt.

Für 1834 iſt mir keine amtliche Summirung bekannt. Ich habe daher die Zahlen nach der amt - lichen Spezialpublikation berechnet, die in Dieterici’s ſtatiſtiſcher Ueberſicht3Dieterici, ſtatiſtiſche Ueberſicht der wichtigſten Gegen - ſtände des Verkehrs und Verbrauchs im preuß. Staate und im deutſchen Zollverbande von 1831 36. Berlin 1838. S. 462 68. enthalten iſt.

2durch dieſe Beibehaltung ſich nicht weſentlich ändern. Außerdem können die Zahlen von 1816 43 deswegen nicht ganz dieſelben ſein, weil ich in meiner Zählung für alle die Gewerbe, für welche die Zählung der Gehülfen erſt ſpäter eintrat, die Ge - hülfen bis 1843 wegließ. Groß ſind übrigens die Unterſchiede der Zahlen nicht.

63Zur Kritik der Zahlen.

Auch für die folgenden Aufnahmen habe ich die Summen nach den Spezialtabellen neu berechnet, für 1837 und 40 nach den Fortſetzungen der ſtatiſtiſchen Ueberſichten,1Erſte Fortſetzung, Berlin 1842. S. 384 401. Zweite Fortſetzung, Berlin 1844. S. 600 618. für 1843 nach dem beſondern für dieſes Jahr veröffentlichten Tabellenwerk. 2Dieterici, die ſtatiſtiſchen Tabellen S. 130.Ich habe dabei die ſämmtlich bisher gezählten Gewerbe mitgezählt, die Gehülfen da weggelaſſen, wo ſie früher auch fehlten, um ſo die Summen direkt vergleichbar mit den frühern Aufnahmen zu machen. Dadurch ſtimmen die Zahlen aber nicht ganz überein mit den gelegentlich von Die - terici erwähnten oder ſpeziell von ihm berechneten. 3Für 1837 erwähnt Dieterici, 2te Fortſetzung S. 619, 368429 Meiſter mit 231266 Gehülfen; er giebt nicht an, wie er das berechnet hat; ohne Zweifel läßt er wieder die Tuchſcheerer, Korbmacher, Buchdrucker, Kuchenbäcker weg; für 1840 giebt er daſ. S. 619 und 627 (an letzterer Stelle nach Provinzen ſummirt) 387687 Meiſter mit 286612 Gehülfen an; die gerin - gere Meiſterzahl hat dieſelbe Urſache, die höhere Gehülfenzahl als unſere hat ihren Grund in dem Mitzählen aller aufgenom - menen Gehülfen. Für 1843 giebt er in ſeinem Volkswohl - ſtand S. 254 eine Summirung (400932 Meiſter mit 309570 Gehülfen), die von da in alle ſpätere Literatur übergegangen iſt. Sie iſt weſentlich niedriger als unſere, da ſie, zur Ver - gleichung mit einer ebenfalls lückenhaften Tabelle von 1831 gemacht, wieder verſchiedene Kategorien wegläßt. In den ſtatiſt. Tabellen pro 1843 S. 145 giebt er eine andere Summirung nach Provinzen (410221 Meiſter mit 358660 Gehülfen), die wieder weſentlich höher iſt als unſere; die Zahl der Meiſter nur um 2000, die Urſache iſt mir nicht klar; die Zahl der Gehülfen um circa 47000, weil Dieterici hier für alle Gewerbe, in

64Die preußiſchen Aufnahmen.

In der nun folgenden Tabelle, in welche ich die Bevölkerung Preußens nach Dieterici’s Handbuch der Statiſtik des preußiſchen Staates1Berlin 1861. S. 134. Ich erwähne das nur, weil Kolb z. B. etwas andere Zahlen angiebt. einſetze, vergleiche ich das Verhältniß des Handwerkerſtandes zur Total - bevölkerung. Die erſte Prozentberechnung giebt Ant - wort auf die Frage, wie viel Prozente der Bevölke - rung machen Meiſter und Gehülfen zuſammen aus? Die zweite auf die Frage, wie viel Prozente der Bevöl - kerung machen die Meiſter mit ihren Familien und Gehülfen aus? Die Familie eines Meiſters iſt dabei nach dem Vorgang Dieterici’s2Statiſtiſche Tabellen pro 1843 S. 145. zu 4,1 Perſonen gerechnet. Da die Gehülfen alle als unverheiratet angenommen ſind, während die zahlreichen Maurer - und Zimmer - geſellen wenigſtens zu einem großen Theil verheiratet ſind, ſo bleiben jedenfalls die Summen der ſo gewon - nenen ganzen vom Handwerk lebenden Bevölkerung weit eher unter, als über der Wirklichkeit.

Daß überhaupt gefragt werden muß, nicht ob die Zahl der Handwerker an ſich, ſondern ob ſie im Ver - hältniß der Bevölkerung zugenommen hat, darüber brauche ich wohl kein Wort hinzu zu fügen. Nur daran möchte ich noch erinnern, daß allerdings bei einer ſo ſtark fortſchreitenden Bevölkerung, wie bei der preußiſchen von 1816 43, eine Zunahme im Verhältniß der Bevöl -3denen auch damals die Gehülfen noch nicht gezählt wurden, eine ungefähre Schätzung derſelben einſtellt, dahin gehend, daß wenigſtens ſo viele Gehülfen als Meiſter vorhanden ſeien.65Die Zahlen von 1816 43.kerung ſchon einen kleinen Fortſchritt andeutet. Da die Zunahme der Bevölkerung in erſter Linie Folge zahl - reicher Geburten iſt, ſo ſind es zunächſt die niedrigſten Altersklaſſen, die reichlicher ausgefüllt ſind, während die höhern, die ſchon einem beſtimmten Beruf angehören, ſich gleich bleiben, ja vielleicht, wie in dieſem Fall, durch die Kriege dezimirt ſind. Der Handwerkerſtand behauptet ſich nun auf ſeinem Niveau, wenn er nur im Verhältniß zu den geſammten Erwachſenen die gleiche Prozentzahl beſchäftigt. Behauptet er im Verhältniß zur ganzen, hauptſächlich an Kindern reichen Bevölkerung die gleiche Prozentzahl, ſo nimmt er offenbar von den Erwachſenen relativ etwas mehr in Anſpruch als vorher.

Doch hier endlich nach langen Vorbemerkungen die Tabelle ſelbſt:

Man unterſcheidet bei Betrachtung dieſer Tabelle leicht zwei Perioden. Von 1816 31 beinahe Stabilität, die nur 1825 durch ein vorübergehendesSchmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 566Die preußiſchen Aufnahmen.Anwachſen unterbrochen iſt; von 1834 an eine ſucceſſive Zunahme des Handwerkerſtandes gegenüber der Bevöl - kerung. Die Urſachen liegen überwiegend in den allge - meinen, früher ungünſtigen, ſpäter günſtigen Vorbe - dingungen der wirthſchaftlichen Entwickelung, an die ich, ſoweit ſie die Zeit von 1816 31 betreffen, ſchon oben1Oben S. 51 52. erinnerte. Man erholte ſich erſt wieder von Krieg und Ackerbaukriſis. Der Einfluß der vorangeſchrittenen Induſtrieländer war noch gering, der deutſche Handel noch gelähmt durch die Zollſchranken.

Weſentlich beſſer geſtalten ſich die Zuſtände in den dreißiger Jahren. Der Zollverein beginnt ſeine Seg - nungen fühlbar zu machen; der deutſche Exporthandel nimmt zu, neue Gewerbszweige entſtehen; Zuckerfabriken, Baumwollſpinnereien werden gebaut. Daneben freilich iſt der Einfluß des Auslandes noch gering; die erſten Eiſenbahnen ſind in England eben erſt vollendet; noch haben die großen internationalen Ausſtellungen nicht gewirkt, noch haben wir kaum einen heimiſchen Maſchinen - bau, noch exiſtiren unſere großen polytechniſchen Schulen nicht oder ſind eben erſt gegründet. Der Fortſchritt mußte ſich alſo in den hergebrachten Formen halten, d. h. hauptſächlich in einer Zunahme der Kleingewerbe zeigen.

Auch für wichtige Induſtriezweige, welche auf den Abſatz im Großen angewieſen ſind, bleibt die Form der Hausinduſtrie vorerſt unangetaſtet ſo für wichtige Theile der Metallinduſtrie; ſo für die Weberei, die nicht67Die Reſultate von 1816 43.in dieſen Zahlen begriffen iſt. Die Tuchmacher und Tuch - ſcheerer ſind zwar theilweiſe ſchon in übler Lage; aber ſonſt iſt der Handwebſtuhl noch unangefochten. Die Zahl der Webſtühle nimmt ſogar in den meiſten Branchen einen raſchen Aufſchwung bis 1840; erſt in den rück - gehenden Zahlen von 1843 zeigt ſich der Eintritt der Weberkriſis, die ſiegende Konkurrenz der neuen vollen - deteren Technik.

Die vorſtehenden Folgerungen aus der Tabelle für 1816 43 galten dem Hauptreſultat, das dahin ging: Stabilität in den zwanziger, Fortſchritt in den dreißiger Jahren. Ein ſolches Geſammtreſultat kann nun aber auf ſehr verſchiedene Weiſe erreicht ſein; es kann ausſchließlich durch die Meiſter - oder durch die Gehülfenzahl oder gleichmäßig durch beide, es kann erzielt ſein dadurch, daß einzelne Gewerbe ganz zu Grunde gingen, während andere um ſo kräftiger erblühten. Obwohl hier noch nicht näher in dieſes Detail eingegangen werden ſoll, muß ich wenigſtens einige Worte nach beiden Richtungen hin beifügen.

Die Bewegung der einzelnen Gewerbe iſt natür - lich keine ganz gleichmäßige; aber doch handelt es ſich um keine allzugroßen Differenzen, nicht um den Unter - gang einzelner Gewerbe, für die andere an die Stelle träten. Es gehen einzelne etwas zurück, andere und zwar ſehr viele bleiben der Bevölkerung parallel, wieder andere nehmen etwas ſtärker zu. Beſonders in einzelnen Perioden iſt die Differenz etwas größer. Die ſtärkſte Zunahme erfolgt 1831 34; nach der Depreſſion von Revolution und Cholera, nach der Bildung des Zoll -5 *68Die preußiſchen Aufnahmen.vereins nimmt Alles einen freudigern Aufſchwung; wäh - rend die Bevölkerung von 100 auf 103 ſteigt, ſteigen beinahe alle Gewerbe von 100 auf 106 8, manche noch mehr; und es nehmen daran gerade die wichtigſten Gewerbe, wie Bäcker und Fleiſcher, die ſonſt gerne der Bevölkerung parallel bleiben, Theil. In den Jahren 1834 37 erhebt ſich die Bevölkerung von 100 auf 104; eine weſentlich ſtärkere Zunahme zeigen in dieſem Zeitraum nur die Gewerbe für Bauten und Hausein - richtung, ſowie einzelne, die einem ſich entwickelnden Luxusbedürfniß dienen, wie die Putzmacherinnen. Aehnlich iſt es in den Perioden von 1837 40 und 1840 43; es geſellen ſich als ſtärker fortſchreitende Gewerbe zu ihnen hauptſächlich noch ſolche, welche die Großinduſtrie beſchäftigt, wie Mechaniker, Schloſſer, Steinmetzen, während die Hauptgewerbe Bäcker, Fleiſcher, Schuh - macher ihr Verhältniß zur Bevölkerung nicht viel ändern; ſelbſt das entwickelungsfähige Schneidergewerbe zeigt 1837, 40 und 43 jedesmal eine die Bevölkerung nur kaum überholende Zunahme. Die bereits rückgehenden Gewerbe ſind ſolche, bei denen die Konkurrenz der großen Geſchäfte anfängt zu wirken: Seifenſieder, Gerber, Handſchuh - macher, Hutmacher, Töpfer und Ofenfabrikanten.

Die Verſchiedenheit der Bewegung zwiſchen den einzelnen Gewerben iſt nicht ſo groß als die zwiſchen Meiſter und Gehülfen. Von 1816 19 nehmen nur die Meiſter zu, die Gehülfen ab; von 1819 25 iſt die Bewegung ſo ziemlich gleich; von 25 28 nehmen nochmals die Meiſter zu und die Gehülfen ab; von 28 31 überwiegt wenigſtens die Zunahme der Meiſter;69Die Reſultate von 1816 43.erſt von 1831 ab tritt dauernd und zwar in ganz über - wiegender Weiſe eine ſtärkere Zunahme der Gehülfen ein, ſo daß als Geſammtergebniß von 1816 bis 43 die Meiſter von 100 auf circa 180, die Gehülfen von 100 auf circa 220 ſteigen.

Dieſe Verſchiedenheit der zwanziger und dreißiger Jahre entſpricht dem Ergebniß der obigen Unterſuchung. In dem erſten Zeitabſchnitt fehlt die Möglichkeit, die Geſchäfte auszudehnen, mehr Gehülfen zu halten; die Gewerbefreiheit ermöglicht Jedem, leicht ſelbſt ein Ge - ſchäft anzufangen, leer gebliebene Lücken füllen ſich; der Handel, das Einkaufen in Magazinen, das Ladenhalten iſt noch weniger entwickelt; das ladet zur Niederlaſſung überall ein, dem lokalen Bedürfniß zu dienen, wenn auch das zu machende Geſchäft vorerſt klein iſt. Im zweiten Abſchnitt liegen die Dinge ſchon weſentlich anders: die Lücken ſind beſetzt; trotz der Gewerbefreiheit wird das Anfangen eines eigenen Betriebes in den größeren Städten, wo die Nachfrage wächſt, ſchwieriger, und ſo nehmen hier eher die vorhandenen Geſchäfte zu, als daß neue gegründet würden. Dieſe Richtung zeigt ſich ſpäter noch viel mehr. Es iſt aber wichtig, daran zu erinnern, daß ſie ſchon vor 1845 und 1849 eintrat, weil man ſpäter oft glaubte, die veränderte Gewerbegeſetzgebung ſei daran ſchuld, was jedenfalls nur zum Theil der Fall war.

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3. Die preußiſchen Handwerkertabellen von 1846 61.

Die Summen. Kritiſche Prüfung derſelben und Geſchichte der Aufnahmen. Die allgemeine wirthſchaftliche Lage und im Anſchluß daran das Ergebniß der rektifizirten Tabellen. Vergleich von 1843 und 46, Beginn der Handwerkernoth. Vergleich von 1846 und 49, Höhepunkt der Kriſis durch Revo - lution und Geſchäftsſtockung. Die Geſetzgebung von 1849 als Folge der Klagen; Beurtheilung dieſer Geſetzgebung und ihrer Wirkung. Vergleich von 1849 und 52, unbedeutende Beſſerung. Vergleich von 1852 und 55, abermalige Kriſis. Die Aufnahmen von 1855 61; die Beſſerung durch die allge - meine wirthſchaftliche Lage. Die Zuſtände 1861 65.

Die Zeit nach 1843, reſp. von 1846 an, ſcheidet ſich von der früheren in Preußen materiell durch die 1845 und noch mehr durch die 1849 erlaſſene Gewerbe - geſetzgebung; formell müßte ſie ſchon unſere Betrachtung trennen, da die ſtatiſtiſchen Aufnahmen von 1846 an weſentlich andere ſind. Ehe ich aber auf die Verſchie - denheit der Aufnahme eingehe, will ich die Zahlen ſelbſt vorausſchicken, wie ſie hergebrachtermaßen in der offi - ziellen Statiſtik für 1846 58 mitgetheilt werden.1 Die Hauptreſultate der Gewerbetabellen in den Jahren 1846, 1849, 1853, 1855 und 1858 in der Zeitſchrift Ich71Die Zahlen von 1843 61.wiederhole dabei die Zahlen für 1843 und ſetze für 1861 die Hauptſummen der Handwerkertabelle bei, wie ſie in der amtlichen Publikation lauten. 1Preußiſche Statiſtik, in zwangloſen Heften. Berlin 1864. V, S. 28.Die geſammte Handwerkerbevölkerung iſt wieder ſo berechnet, daß die Gehülfen als unverheiratet, die Familien der Meiſter jede zu 4,1 Perſonen angenommen ſind.

Sollen dieſe Zahlen einer vergleichenden hiſtoriſchen Betrachtung zur Grundlage dienen, ſo muß man ihren Werth und ihre Entſtehung kritiſch prüfen, ehe man Schlüſſe daraus zieht.

Was die Richtigkeit der Zahlen an ſich betrifft, ſo will ich nur wenige Worte in Bezug auf andere Sum - men, welche man da und dort trifft, vorausſchicken. Für 1846 und 49 giebt Dieterici2Mittheilungen V, 216: in den Mitthei -1des ſtatiſtiſchen Bureaus Jahrg. I, 50 52. Viebahn, Statiſtik des zollvereinten und nördl. Deutſchlands III, 561.72Die preußiſchen Aufnahmen.lungen andere Zahlen, als die obigen und zwar niedri - gere. Dies iſt für 1849 ſehr erklärlich; er will die Aufnahmen mit 1846 vergleichbar machen und läßt ſo alle erſt 1849 hinzugekommenen Spalten weg. Warum aber 1846 circa 4000 Meiſter und 2000 Gehülfen weniger gerechnet ſind, als in der ſpätern offiziellen Sta - tiſtik, vermag ich nicht anzugeben; eine eigene Nach - rechnung iſt mir gar nicht möglich, da die Tabellen pro 1846 nicht vollſtändig publizirt ſind. 1Die Mittheilungen I, 213 291; II, 1 32 geben nur einzelne der wichtigern Handwerke, um ſie mit den Zahlen von 1822 zu vergleichen. Auch die Publikation im erſten Bande des Jahrbuchs für amtliche Statiſtik iſt pro 1846 nicht zu Grunde zu legen; die Handwerkertabelle iſt dort mit der Fabriktabelle vereinigt, eine geſonderte Summirung der Handwerker nicht vollzogen; eine Nachrechnung iſt ebenfalls unmöglich, da Meiſter und Gehülfen nicht geſondert angegeben ſind.Immerhin aber iſt dieſe Abweichung ſo mäßig, daß ſie überſehen werden kann.

Für das Jahr 1852 giebt Dieterici die Zahlen in den amtlichen Tabellen, wie in einer ſpäteren Bearbei - tung2Amtliche Tabellen V, S. 884, Mittheilungen VII, 332 33 ſind die Zahlen folgende: 552766 Meiſter und 446035 Gehülfen. etwas niedriger an, als ſie Engel in den ſpä - tern offiziellen Angaben anführt. Da ſpätere Angaben derart als die rektifizirten gelten müſſen, habe ich ſie beibehalten. Der Grund der Differenz iſt mir nicht erſichtlich; doch iſt die Abweichung ebenfalls ſo unbe - deutend, daß ſie keine weitere Beachtung verdient.

73Kritik der Zahlen.

Für 1858 habe ich nach der amtlichen Publi - kation eine kalkulatoriſch genau geprüfte Nachrechnung angeſtellt; ich mußte die Hauptſummen getrennt haben nach Stadt und Land für die Unterſuchung dieſes Ge - genſatzes. Das genaue Ergebniß der Geſammtſumme iſt 1.042513, alſo etwa 10000 Perſonen weniger, als in der ſpätern Publikation Engels. Die Differenz ver - mag ich ebenſowenig zu erklären. Für dieſe Unter - ſuchung muß ich Engel’s Zahl ſtehen laſſen; für die ſpätere Unterſuchung über den Gegenſatz von Stadt und Land kann ich nur die von mir berechneten Zahlen benutzen, da andere fehlen.

Für 1861 kenne ich noch zwei Summirungen, aller - dings nicht amtlicher Natur, die mit den vorſtehenden Zahlen nicht übereinſtimmen. Ad. Frantz1Ad. Frantz, Tabellen der Gewerbeſtatiſtik der Staaten des deutſchen Zollvereins. Brieg 1867. giebt in ſei - nen gewerbeſtatiſtiſchen Tabellen allerdings beinahe die - ſelbe Hauptſumme von 1.092368 Perſonen, aber die - ſelbe entſteht bei ihm aus circa 16100 mehr Meiſter und weniger Gehülfen. Das kann nur den Grund haben, daß er die Flickarbeiter bei den Maurern und Zimmerleuten, die gerade ſo viel ausmachen, zu den Meiſtern rechnet, während ſie die offizielle Statiſtik offen - bar zu den Gehülfen zählt. Mag Letzteres auch unrich - tiger ſein, ſofern die Flickarbeiter immerhin ſelbſt Unternehmer ſind, eigene Geſchäfte haben, ich mußte bei den offiziellen Zahlen bleiben, ſchon weil ſie die Vermuthung für ſich haben, daß dieſe Frage bei ihnen74Die preußiſchen Aufnahmen.gleichmäßig wie bei den frühern Aufnahmen entſchieden iſt. Es iſt aber von Intereſſe, ſich deſſen eben bei dieſen Zahlen bewußt zu bleiben. Die Abnahme der Meiſter im Ganzen kommt theilweiſe davon her, daß Leute, die früher als kleine Zimmer - und Maurer - meiſter gezählt worden wären, jetzt als Flickarbeiter unter den Gehülfen ſtecken.

Viebahn zählt in ſeiner Statiſtik des Zollvereins1III, 743. für 1861 nur 523481 Meiſter und 519412 Gehül - fen, zuſammen 1.042893 Perſonen; auch ſeine Zahlen für die andern Staaten ſind etwas geringer als die mir ſonſt bekannten Summirungen. Die Urſache der Dif - ferenz iſt nicht erſichtlich. Viebahn muß wohl verſchie - dene Kategorien der offiziellen Tabelle weggelaſſen haben.

Gehen wir von der kalkulatoriſchen zur ſachlichen Prüfung, ſo bleibt die Hauptſache zu wiſſen erſtens, wie verſchieden die Aufnahmen von 1846 ab gegenüber den frühern ſind, und zweitens, ob ſie wenigſtens unter ſich vergleichbar ſind, wie ſich aus ihrer Zuſammenſtellung in der amtlichen Statiſtik zu ergeben ſcheint.

Die Gewerbetabellen bis 1843 waren J. G. Hoff - mann’s Werk; noch die letzten Aenderungen, die im Jahre 1837 eingeführt wurden, hatte er angeordnet. Sein ſpäterer Nachfolger Dieterici war zwar ſeit 1835 Hülfsarbeiter des ſtatiſtiſchen Bureau’s; die Direktion übernahm er aber erſt 1844, als das ſtatiſtiſche Bureau dem Handelsamt unterſtellt wurde. Eine ſeiner erſten Aufgaben war die veränderte Einrichtung der Gewerbe -75Kritik der Aufnahmen.tabelle, die durch die Entwickelung der gewerblichen Verhältniſſe, durch die Spezialiſirung ſo vieler Geſchäfte, durch die Ausdehnung der Großinduſtrie geboten ſchien. Ueberdies hatte die Zollvereinskonferenz ſchon am 11. No - vember 1843 die Aufnahme einer Gewerbeſtatiſtik des Zollvereins beſchloſſen,1Böckh, die geſchichtl. Entwickelung der amtl. Statiſtik S. 54 ff., 75 ff. wobei die Abſicht zunächſt nur auf eine Statiſtik der Großgewerbe gerichtet war. Eine neue Grundlage war zu ſchaffen. Langwierige Unterhand - lungen fanden 1844 und 45 darüber mit dem Finanz - miniſterium und den Oberpräſidenten ſtatt. Dieterici bemühte ſich, gegenüber den ganz neuen Vorſchlägen die Tabelle der Handwerker wenigſtens ſo zu erhalten, daß nicht alle Vergleichung mit früher ausgeſchloſſen war. Das endliche Reſultat war das, daß zunächſt die Auf - nahme in zwei Haupttabellen geſchah; die eine war die ſog. Fabriktabelle; die andere erhielt folgende Abthei - lungen: 1) die mechaniſchen Künſtler und Handwerker (110 ſtatt bisher 72 Kolonnen, es waren mehrere Arten hinzugeſetzt und durchgehend die Zahlen für die ſelbſtän - digen Gewerbtreibenden und für die Gehülfen und Lehr - linge getrennt worden), 2) die Anſtalten für den litera - riſchen Verkehr, 3) die Handelsgewerbe, 4) die Schiff - fahrt, das Fracht - und Lohnfuhrwerk, 5) die Gaſt - und Schenkwirthſchaft, 6) das Geſinde, 7) die Handarbeiter. Die Regierungen wurden angewieſen, in allen bedeutenden Orten eine Prüfung der Tabellen durch Gewerbtreibende eintreten zu laſſen. So fand die Aufnahme 1846 ſtatt.

76Die preußiſchen Aufnahmen.

Wie viel die Aufnahme der Gehülfen zu allen Handwerken ausmacht, läßt ſich etwa darnach bemeſſen, daß die Tabelle von 1843 etwa 40000 Meiſter ohne Gehülfen angab, und daß Dieterici, wo er für 1843 die Gehülfenzahl voll rechnen will, ſtatt 311458 358660 annimmt. 1Statiſtiſche Tabellen pro 1843 S. 145.Wie viel die bisher nicht gerech - neten Arten von Handwerkern ausmachen, kann ich nicht ſagen, da mir für 1846 keine vollſtändige Spezialauf - nahme vorliegt und die von 1849 wieder weſentlich umfaſſender iſt. 2Das geht auch daraus hervor, daß Dieterici bei der Vergleichung mit 1846 nicht 942373 Perſonen, ſondern 848042 rechnete, wobei er offenbar die Arten wegläßt, die 1846 nicht gezählt ſind. Mittheilungen V, 216.Es wurden 1849 abermals 16 neue Arten hinzugefügt. Die Geſammtzahl der Perſonen, welche in der Tabelle von 1849 der Art der Gewerbe nach neu ſind gegenüber der von 1843, wird circa 130 150000 Perſonen ausmachen. Es ſind darunter die Leinenſpinner (57981 mit 26305 Gehülfen), die Gärtner (6598 mit 2853 Gehülfen), die Fiſcher (6430 mit 2633 Gehül - fen), die Barbiere (6033 mit 2431 Gehülfen), die Auktionatoren (4204 mit 270 Gehülfen) und noch manche Andere.

Darnach iſt, wenn die Zahlen von 1846 und 49 mit den früheren verglichen werden ſollen, für 1849 ein Abzug von gegen 200000 zu machen (150000 für andere bisher nicht gezählte Arten von Gewerb - treibenden, 50000 für bisher nicht gezählte Gehülfen), für 1846 wenigſtens einer von 100000.

77Kritik der Aufnahmen.

Von 1849 an iſt an den Tabellen relativ weniger geändert; beſonders die Aufnahmen für 1852 und 1855 haben ganz denſelben Umfang, höchſtens eine Unterſchei - dung dieſes oder jenes unbedeutenden Gewerbes in zwei Unterarten kommt vor, was für unſern Zweck gleich - gültig iſt.

Die Hauptänderung bei der Aufnahme von 1858 iſt die Trennung der Gehülfen in Geſellen und Lehr - linge bei jedem Gewerbe; doch iſt das wieder für unſere Zwecke ohne Bedeutung. Andere Aenderungen ſind nicht allzu weſentlich. Die letzten Rubriken ſind 1858 nicht ganz gleich gefaßt, doch handelt es ſich da höchſtens um einige hundert Perſonen; nur eine große Rubrik blieb 1858 ganz weg, nämlich die der Auktionatoren, welche 1855 6188 Perſonen mit 310 Gehülfen umfaßte. Dagegen umfaßt die Rubrik Kahnführer 1855 nur 93 Perſonen und 10 Gehülfen; 1858 iſt ſie zu Kahn - führer, Pferdeverleiher, Vermiether möblirter Zimmer erweitert und hat nun 5551 Perſonen. Die ganze Diffe - renz der Aufnahme überſchreitet ſomit einige Tauſende nicht.

Nicht ganz daſſelbe läßt ſich von der letzten Auf - nahme, von der für 1861 ſagen; ſie iſt nach ziemlich verändertem Schema gemacht. Man wollte endlich mit einer gleichmäßigen Aufnahme im Zollverein Ernſt machen; denn 1846 war es nur dahin gekommen, daß einige Staaten ſich in der Hauptſache der preußiſchen Tabellen bedient hatten. 1Mittheilungen IV, 252 308: Statiſtiſche Ueberſicht der Fabrikations - und gewerblichen Zuſtände in den verſchie - denen Staaten des deutſchen Zollvereins im Jahre 1846.Weitere Unterhandlungen mit78Die preußiſchen Aufnahmen.den Zollvereinsſtaaten wurden ſeit 1852 geführt. Be - ſonders in München fanden 1854 Berathungen auf Grund eines Entwurfes von Viebahn ſtatt, deren Re - ſultate aber 1859 nochmal modifizirt wurden. 1Böckh, geſchichtliche Entwickelung S. 81 und For - mulare für Gewerbeſtatiſtik des Zollvereins nach den Vorſchlägen der im Jahre 1854 zu München verſammelten Kommiſſion und nach den Abänderungsvorſchlägen Preußens. Berlin, Oberhof - buchdruckerei.Hier - nach geſchah 1861 die Aufnahme in den ſämmtlichen Zollvereinsſtaaten. 2Ueber Preußen ſiehe: Preußiſche Statiſtik Bd. V. S. 49. Nr. 14.

Die Hauptänderung der Tabelle betrifft aber die äußerliche Anordnung. Dem Inhalt nach ſind die wich - tigern Abtheilungen dieſelben wie 1858; daß einige Gewerbe in Unterabtheilungen zerlegt, einige unbedeu - tende Gewerbe hinzu kamen (Inhaber von Badeanſtalten, Waſchanſtalten, Verfertiger von Streichriemen ꝛc. ), daß einige andere unbedeutende Gewerbe wegblieben (Blatt - geſchirrmacher, Verfertiger von Wachslichtern, Zünd - waaren ꝛc. ) wird nicht viel ausmachen, wird höchſtens eine Differenz von einigen hundert Perſonen bedingen. Dagegen habe ich in Bezug auf die Leinenſpinner, welche 1849 noch 84286, 1858 noch 54054 Meiſter und Gehülfen umfaſſen, einigen Zweifel, ob die Zahl von 14557 im Jahre 1861 der wirklichen Abnahme entſpricht oder nicht vielmehr auf einer veränderten Auf - nahme beruht; das ergäbe eine Differenz von circa 40000 Perſonen, davon 36000 Meiſter. Auch wenn die79Die Lage der Kleingewerbe 1840 46.Abnahme von 1858 61 wirklich ſo groß iſt, ſo muß man dieſe Zahl bei der Vergleichung im Auge behalten; denn es iſt ein großer Unterſchied, ob die Spinner um 40000 Perſonen oder ob die eigentlichen Handwerker zuſammen um 40000 Perſonen abnahmen.

Nach dieſer Kritik der Zahlen können wir erſt zur Frage zurückkehren, welches die Lage des Handwerker - ſtandes von Anfang der vierziger Jahre bis zur Gegen - wart nach dieſen Zahlen war.

Erinnern wir uns dabei der allgemeinen volkswirth - ſchaftlichen Lage. Die Fortſchritte der techniſchen Bildung in Deutſchland gehen Hand in Hand mit dem Bau der Eiſenbahnen; die internationalen Beziehungen vervielfäl - tigen ſich; der Export nach Amerika, nach den Kolonien nimmt nie dageweſene Dimenſionen an; die großen Unternehmungen, vor Allem die, welche die Vortheile einer vollendeten Technik, eines großen Kapitals, einer weitſichtigen kaufmänniſchen Leitung in ſich vereinigen, erlangen jetzt erſt eine Stellung, wie ſie ſie in England ſchon früher inne hatten. Die Folgen für das Hand - werk mußten ſehr verſchieden ſein, hier Förderung, Abſatz, Arbeit in Fülle, dort Hemmung, Rückgang, erdrückende Konkurrenz. Im Ganzen überwog entſchieden das Letztere.

Seit der Handelskriſis von 1839 hatte die Kriſis der Kleingewerbe begonnen. Schon 1840 hatten ja die Stadtverordneten in Berlin dem König eine Denkſchrift überreicht mit der Bitte um Aenderung der Gewerbe - geſetzgebung. Schon da hatten ſie geklagt, daß alles Handwerk überſetzt ſei, während die Steuerfähigkeit der -80Die preußiſchen Aufnahmen.ſelben ab -, die Zahl der Bankerotte unter ihnen erſchreckend zunehme; da hatten ſie geklagt über um ſich greifende Entſittlichung, unzuverläſſigere, ſchlechtere Arbeit der Handwerker, über die Thatſache, daß das Bedürfniß der Berliner Armenkaſſe von 104137 Thlr. im Jahre 1821 auf 373530 Thlr. im Jahre 1838 geſtiegen ſei. 1Ueber das Innungsweſen und die Verhältniſſe der ſtädtiſchen Handwerke überhaupt von M. M. Gießen 1843. S. 13.Und ſolche Klagen waren nicht alleinſtehend. Köln hatte eine ähnliche Bittſchrift dem Könige überreicht.

Statiſtiſch zeigt ſich die Kriſis ſprechend genug in dem Stillſtand der Zahlen. Ziehen wir für 1846 circa 100000, für 1849 circa 200000 Perſonen von der preußiſchen Handwerkertabelle ab, ſo bleiben die Haupt - ſummen ſo ziemlich auf dem Niveau von 1843, wäh - rend die Bevölkerung zunimmt.

Vergleicht man die einzelnen Handwerke in ihren Zahlen von 1843 und 46, ſo nehmen wohl noch manche der wichtigern unbedeutend zu; eine weſentliche Zunahme zeigt nur die Zahl der Maurergehülfen, was Folge der Eiſenbahnbauten und Fabrikanlagen iſt. Viele bleiben ſtabil; manche zeigen ſchon eine Abnahme theilweiſe von nicht geringer Bedeutung; es ſind ſolche, die unter der Konkurrenz der Fabrikwaaren leiden; ein - zelne von ihnen haben ſpäter wieder zugenommen als Reparaturgewerbe oder durch andere Urſachen. Was ſie zunächſt niederdrückt, iſt der erſte Gewaltſtoß der neuen Zeit, der neuen Technik, dem ſie nicht gewachſen ſind, vor allem damals noch nicht gewachſen waren, da der81Vergleich von 1843, 1846 und 1849.alte Schlendrian, die Unfähigkeit, der neuen Entwicke - lung ſich anzubequemen, damals noch in hohem Maße vorhanden war. So nehmen z. B. die Schloſſermeiſter von 20769 auf 17933, ihre Gehülfen von 19788 auf 18400 ab. Aehnlich die Drechsler und Glaſer - meiſter.

Nicht beſſer wurde es 1847 49; die Fehlernte kam hinzu, die Revolution, die allgemeine Geſchäfts - ſtockung und Unſicherheit. Bei den Zählungen im Dezember 1849 war es ſchon wieder etwas beſſer; die gute Ernte von 1849 hatte günſtig gewirkt, aber immer lebte Handel und Wandel noch nicht wieder auf.

Da uns die obigen Zahlen für die genauere Ver - gleichung von 1846 und 1849 im Stiche laſſen, ſo muß ich auf die von Dieterici ſpeziell für dieſe Vergleichung modifizirten zurückgehen. 1Mittheilungen V, 212 ff., beſonders S. 216 17.Es betrug nach ihm in ver - gleichbaren Ziffern:

Während die Bevölkerung ſtieg im Verhältniß von 100: 101,35, ſtieg die Geſammtzahl der handwerks - mäßigen Bevölkerung im Verhältniß von 100: 101,50, die der Meiſter in dem von 100: 103,65, die der Ge - hülfen nahm ab in dem von 100: 98,85.

Daß die Geſammtzahl überhaupt noch etwas wuchs, kann auf den erſten Blick überraſchen. Wenn man aber näher zuſieht, ſo findet dieſe immer ſehr mäßigeSchmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 682Die preußiſchen Aufnahmen.Zunahme der Geſammtzahl, die etwas ſtärkere der Meiſter ihre einfache Erklärung. Die Spezialtabellen zeigen beinahe durchgehend eine geringere Anzahl Gehülfen. Von wichtigern Gewerben haben nur die Bäcker, Flei - ſcher und Schuhmacher etwa dieſelbe Gehülfenzahl; die Riemer, Sattler, Schneider, Zimmerleute, Tiſchler, Böttcher, die Schmiede und Schloſſer, ſowie noch viele unbedeutendere beſchäftigen nicht mehr die alte Gehülfen - zahl. Die Tiſchler zählen 4000, die Schneider 2000 Gehülfen weniger als 1846.

Der Abſatz ſtockte, Jeder ſchränkte ſich ein; ein - zelne Geſchäfte nun, die längſt nur noch nothdürftig exiſtirt hatten, brachen zuſammen. Das war aber die Minderzahl; in der Hauptſache bleiben die alten Ge - ſchäfte zunächſt, ſie hatten nur nicht genug zu thun; ſie entlaſſen alſo Hunderte früher beſchäftigter Geſellen. Von dieſen wiſſen viele keinen andern Ausweg, als ſich ſelbſt zu etabliren und ſo die Konkurrenz zu vermehren. So erklären ſich ſehr klar die obigen Zahlen; ſo erklären ſich die großen Klagen des ganzen Handwerkerſtandes in jener Zeit. Es waren allerdings die vorhandenen Geſchäfte nicht genügend beſchäftigt, es waren zu viel Meiſter, aber nicht in erſter Linie in Folge der Gewerbefreiheit, nicht wegen mangelnder Prüfung, ſondern wegen vorübergehender Geſchäftsſtockung; es nahm aus dieſem Grunde die Meiſterzahl noch etwas zu, während die ſchon vorhandenen Meiſter täglich weitere Geſellen entlaſſen mußten.

Es wird paſſend ſein, hier einige Worte über die veränderte Geſetzgebung einzufügen, welche ja weſentlich83Die Zuſtände und Klagen 1848 und 1849.hervorgerufen wurde durch die unklaren Klagen des Handwerkerſtandes. Die Gewerbeordnung von 1845 hatte den beſtehenden Zuſtand nach jahrelangen Vor - berathungen im Weſentlichen nur kodifizirt, die Gewerbe - freiheit auf die Provinzen ausgedehnt, wo ſie noch nicht beſtand. Die Innungen ſollten, wo ſie beſtehen, erhalten bleiben, auch neue gebildet werden dürfen; doch wurde ihnen jeder Beitritts - und Prüfungszwang unterſagt. Nur bei einigen wichtigeren Handwerken wurde die Befugniß, Lehrlinge zu halten, von der Mitgliedſchaft einer Innung oder dem Nachweis der Befähigung durch Prüfung abhängig gemacht. Von einer Rückwirkung dieſes Geſetzes auf Gedeihen oder Nichtgedeihen des Hand - werkerſtandes wird nicht die Rede ſein können. Das Geſetz wurde nirgends als etwas Neues, Einſchneidendes betrachtet. Da kamen die ſchlimmen Jahre, die Gährung und Unklarheit der Revolution. Nach der Theorie des Radikalismus ſollte jeder Einzelne, wie jeder Stand ſelbſt die beſte Einſicht haben, was ihm frommte, alſo hielten auch die ehrbaren Handwerke Verſammlungen und Tage, und wie jederzeit jede ökonomiſche Klaſſe ihr nächſtliegendes egoiſtiſches Intereſſe als das Intereſſe des Staats und der Geſellſchaft anſieht, ſo thaten es jetzt die Handwerker.

Den Anfang der Zunftbewegung machte am 22. April 1848 das offene Sendſchreiben der zweiund - zwanzig Leipziger Innungen an ihre Handwerksgenoſſen mit einem Proteſt gegen das ganze Weſen, wie es ſich jetzt in Frankreich breit macht, den letzten Reſt von Tüchtigkeit und Wohlſtand untergräbt und gleichſam6 *84Die preußiſchen Aufnahmen.mit fliegenden Fahnen und klingendem Spiele über Preußen ſeinen Einzug in Deutſchland hält. Damit war die Gewerbefreiheit gemeint. Kurz darauf tagte der Vorkongreß der deutſchen Handwerker in Hamburg (2 6. Juni). Es wurden Anträge auf Beibehaltung der Bannmeile, auf ausſchließliche Befugniß der Städte zum Gewerbebetrieb, Aufhebung des Hauſirhandels und der kaufmänniſchen Reiſenden, dieſer modernen Hauſirer, geſtellt. Endlich am 15. Juli trat das Handwerker - parlament in Frankfurt zuſammen. Es tagte bis zum 18. Auguſt in ſtürmiſchen Sitzungen. Man ging aus von einem feierlichen, von Millionen Unglücklicher beſiegelten Proteſt gegen die Gewerbefreiheit. Man verlangte neben dem politiſchen ein beſonderes aus den Innungen hervorgehendes Handwerkerparlament als ſtehendes Organ; dieſes ſelbſt ſollte jährlich das Hand - werksminiſterium ernennen. In Bezug auf die Gewerbe - geſetzgebung verlangen die von der Freiheitsluft des Völkerfrühlings zuſammengeführten Meiſter Folgendes: eventuelle Beſchränkung der Meiſterzahl an Einem Orte, Verbot des Hauſirhandels, Verbot der Aſſoziation mit Nichtinnungsgenoſſen, Zugehörigkeit aller Handwerks - arbeit der Fabriken an die zünftigen Meiſter des Ortes, Beſchränkung auf Ein Gewerbe, Zuſcheidung des Klein - handels mit Handwerkswaaren an die Innungsmeiſter, für die Regel ausſchließliche Berechtigung der Städte zum Gewerbebetrieb, Unzuläſſigkeit von Gemeinde -, Staats -, Aktienwerkſtätten, Verbot des Zuſchlags der öffentlichen Arbeiten an den Mindeſtfordernden und Vertheilung derſelben an die Meiſter durch den von dieſen beſetzten85Die Wünſche der Handwerker.Gewerberath, Verbot öffentlicher Verſteigerung noch neuer Waaren, Verbot der Haltung von mehr als zwei Lehrlingen, Beſteuerung der Fabriken zu Gunſten des Handwerks, eine Geſchäftsgrenze für die Fabriken und den Handel mit Fabrikaten, endlich gleichmäßigen Lehr - zwang, Wanderzwang, Zwang zur Erſtehung einer theoretiſchen und einer praktiſchen Prüfung. Ueberboten wurden dieſe Forderungen nur noch von dem beſondern Frankfurter Schneiderkongreß, der vor Allem Aufhebung der Magazine, Beſchränkung der Arbeit der Frauen - zimmer, Verbot auswärtiger Kleidereinfuhr verlangte. 1Siehe über die ganze Bewegung: Schäffle, gemeinſame Ordnung der Gewerbebefugniſſe in Deutſchland, deutſche Viertel - jahrsſchrift. 1859. Heft 1. S. 218 ff., und Böhmert, Freiheit der Arbeit, Beiträge zur Reform der Gewerbegeſetze. Bremen 1858. S. 163 ff.

Wunderliche Produkte der Kurzſichtigkeit wie der damals allerdings herrſchenden Noth! Nur hätten die ehrbaren Meiſter nicht vergeſſen ſollen, daß die Noth des Handwerkerſtandes da am größten war, wo man dem Ideal eines ſolchen Gewerberechts noch am nächſten ſtand.

Uebrigens hätte die ganze Sturmflut von Petitionen, alle Agitation auch in Preußen nichts erreicht, wenn nicht zwei Parteien in einer gänzlich unklaren Ver - kennung des Zuſammenhangs die Bewegung unterſtützt hätten. Die konſervative, wie die ſchutzzöllneriſche Partei2Man vergleiche darüber das Organ der ſchutzzöllne - riſchen Partei, das deutſche Zollvereinsblatt z. B. Jahrgang 1849. S. 230: Und ſo begrüßen wir denn auch eine der wichtigſten Folgen der neuen preußiſchen Gewerbeordnung, die Innungen86Die preußiſchen Aufnahmen.glaubten ihre Sache zu fördern, wenn die Zünfte her - geſtellt würden. Ueberdies war die preußiſche Regierung, wie leicht jede Regierung, geneigt zu glauben, man könne der augenblicklichen Noth im Gewerbeſtande durch irgend welche Akte der Geſetzgebung abhelfen. Eine Kommiſſion von betheiligten Sachverſtändigen wurde berufen und berieth den 17. bis 30. Januar 1849. Die Klagen konzentrirten ſich darin, man könne ſich zu leicht niederlaſſen und ein Geſchäft eröffnen. Die Verordnung vom 9. Februar 1849 gibt dieſem kurz - ſichtig egoiſtiſchen Klaſſenintereſſe nach, ſchafft wieder feſte Arbeitsabgrenzung für die wichtigern Gewerbe und verlangt für die Ausübung derſelben Beitritt zur Innung nach vorangängigem Nachweiſe der Befähigung bei der Zunft oder Nachweis der Befähigung vor einer beſondern Prüfungskommiſſion. Ein feſter Bildungsgang als Lehrling und Geſelle wird wieder vorgeſchrieben; Hand - werksmeiſter dürfen zu techniſchen Arbeiten ſich nur der Geſellen und Lehrlinge des Handwerks bedienen; dieſe dürfen nur bei Meiſtern ihres Handwerks oder bei Fabrikinhabern eintreten. Wo das Halten von Magazinen zum Detailverkauf von Handwerkswaaren erhebliche Nach -2in Preußen, welche hie und da, als Anfänge einer neuen Aera des Handwerkerſtandes, bereits ins Leben getreten ſind, mit Freuden und wünſchen ihnen guten Fortgang und Nachahmung von allen Seiten. S. 233 folgt ein Artikel Handwerk und Freihandel; in demſelben wird die Erklärung der 27 Stettiner Gewerke angeführt, welche dahin lautet: daß ſie in der neuen preußiſchen Gewerbeordnung das Mittel erkennen, der grenzen - loſen Gewerbewillkür und dadurch herbeigeführten Demoraliſation und Verarmung ein Ziel zu ſetzen. 87Die Gewerbenovelle von 1849.theile für die gewerklichen Verhältniſſe des Ortes zur Folge hat, kann durch Ortsſtatuten die Haltung von Magazinen durch Solche, die nicht Meiſter ſind, beſchränkt werden.

Der Handwerkerſtand war zunächſt durch dieſe neue Gewerbeordnung befriedigt; die vorhandenen Meiſter gewannen zunächſt etwas durch die Erſchwerung des Meiſterwerdens, und die durch ganz andere Urſachen bewirkte Beſſerung des Abſatzes, der Geſchäfte im fol - genden und nächſtfolgenden Jahre ſchob man ohne Wei - teres der neuen Geſetzgebung, beſonders den Prüfungen zu.

Daß man damals ſo dachte, iſt natürlich. Mehr zu verwundern iſt und hat mich bei vielen perſönlichen Rückſprachen mit liberalen aufgeklärten Meiſtern oft über - raſcht, daß die Mehrzahl auch heute noch für die Prüfungen eingenommen iſt. Waltet dabei mancherlei Mißverſtand, mancherlei egoiſtiſches Motiv vor, ein rich - tiger Kern iſt mir in den Ausſagen von vielen Meiſtern entgegengetreten. Das Leben der Geſellen und Lehrlinge außer dem Hauſe des Meiſters, in der heutigen Groß - ſtadt, birgt in ſeiner Unabhängigkeit manche große Ge - fahr. Bei dem einen wächst damit der Charakter und der ſelbſtvertrauende redliche Fleiß, bei ſehr vielen nur die Genußſucht, die Unzufriedenheit, die Faulheit und Unzuverläſſigkeit; leichtſinnige, zu frühe Ehen kommen zahlreicher vor. Mit dieſen Uebelſtänden hat der Meiſter zu kämpfen; er wird ſie, weil er darunter leidet, leicht überſchätzen; aber vorhanden ſind ſie, und berechtigt iſt es, auf moraliſche Mittel der Gegenwirkung zu denken. Und weil ihm die andern Mittel ferner liegen, ſo iſt88Die preußiſchen Aufnahmen.der Meiſter für die Prüfungen eingenommen, die aller - dings für Viele als Sporn, als zu erreichendes Ziel von guter moraliſcher Wirkung ſein können. Wenn die Prü - fungen nicht zu leicht in egoiſtiſchen Mißbrauch aus - arteten, wenn ſie nicht nothwendig ſich verknüpften mit der heute ganz unleidlichen Abgrenzung der Arbeits - zweige, ſo könnte man allerdings die Frage als eine offene behandeln.

Was die allgemeine Wirkung der Geſetzgebung von 1849 betrifft, ſo möchte ich dabei die mehr pſychologiſche Wirkung von der realen, direkten Wirkung unter - ſcheiden.

Die pſychologiſchen Wirkungen waren theils gün - ſtige, theils ungünſtige. Viebahn betont die erſteren beſonders, wenn er ſagt: Nach dem Erſcheinen dieſer Novelle, welche der Innung wieder beſtimmtere Rechte und mehr Inhalt verlieh, entſtand im Handwerkerſtand wieder ein lebhaftes Intereſſe an dieſen Korporationen: die Statuten der alten wurden revidirt, zahlreiche neue errichtet. Die Zuſammenkünfte, die Prüfungen und Freiſprechungen beförderten das korporative Zuſammen - halten und die Bildung unter den Gewerbsgenoſſen. Die Handwerker-Fortbildungsſchulen ſind großentheils aus der Anregung oder unter Mitwirkung der Innungen hervorgegangen, und wenn ſich der gewerbliche Stand - punkt und die Leiſtungen der preußiſchen Handwerker gehoben haben, ſo kann auch den Innungen ein gewiſſes Verdienſt dabei nicht abgeſprochen werden. Das iſt bis auf einen gewiſſen Grad wohl wahr. Das eigentlich Treibende aber, das Leben Gebende war die Noth. Die89Die Folgen der Gewerbenovelle.Einſicht ſchlug durch, daß endlich auch der Handwerker vorwärts ſchreiten müſſe. Deswegen rührte man ſich, ſtrebte nach Bildung, war für die Pläne von Schulze - Delitzſch empfänglich, gründete man Schulen und Gewerbe - vereine, deswegen hatte man auch lebendigeres Intereſſe für die Innungen und für die Prüfungen. Aber nicht umgekehrt waren die Innungen das Erſte, das Anre - gende. Im Gegentheile vielfach wurden ſie bald das Hemmende, einmal weil man ſich durch die Exiſtenz der Innungen an ſich nun geholfen glaubte, noch mehr aber, weil die perſönlichen Elemente, die in ihnen an die Spitze kamen, keine ſolche waren, die Verſtändniß für gewerblichen Fortſchritt hatten. Das iſt ja der Fluch jeder alten, einmal auf Abwege gerathenen Inſtitution, daß bei Wiederbelebungsverſuchen nicht die tüchtigen, die jungen, die aufopfernden Kräfte zuſtrömen, ſondern die alten, egoiſtiſchen. Den Kreditvereinen, den Gewerbe - vereinen, den Arbeiterbildungsvereinen widmeten ſich die friſchen, aufſtrebenden Kräfte; den Innungen mehr ſolche, die darin eine behagliche Exiſtenz ohne Anſtren - gung erhofften. Für Viele und nicht die untüchtigſten wurde die Sache durch die unpaſſende reaktionäre Ver - quickung verdächtigt. Die perſönlichen Eigenſchaften Derer, welche in den Innungen obenan kamen, waren der Krebs - ſchaden der neuen Inſtitution, waren ſchlimmer als der Inhalt der Novelle ſelbſt. Dieſe Wahrnehmung iſt mir überall, wo ich mich näher nach Perſonen und Dingen erkundigte, entgegen getreten, und Regierungsrath Mülmann beſtätigt das vollſtändig, wenn er in Bezug auf die Rheinprovinz und die dortige Innungsbildung90Die preußiſchen Aufnahmen.ſagt:1Statiſtik des Regierungsbezirks Düſſeldorf. Iſerlohn 1867. IIb, 489. Nicht das Intereſſe des Handwerkerſtandes, ſeine techniſche und ſoziale Fortbildung und Vereinigung zu gegenſeitiger Unterſtützung war die Triebfeder des Zuſam - mentrittes, ſondern wieder das Anſtreben von Exkluſiv - rechten, der Egoismus, wenn nichts Schlimmeres. Mit dem Durchdringen der Ueberzeugung, daß auch die Innungen zur Erfüllung dieſer ſelbſtſüchtigen Wünſche nicht geeignet ſeien, erlahmte auch mehr und mehr die Theilnahme an dieſen Inſtituten. Ihre Verſammlungen wurden nicht mehr beſucht, die Beiträge nicht mehr geleiſtet, und ſie ſchrumpften zuerſt bis auf die Schatten - gerippe der Innungs-Prüfungskommiſſionen ein und vegetirten, ſeitdem auch dieſe durch Neuwahlen nicht mehr zu ergänzen ſind, als leere Organiſationen fort.

So viel von den pſychologiſchen Wirkungen. Was die direkten, realen Wirkungen betrifft, ſo laſſen ſie ſich aus den gewerbeſtatiſtiſchen Zahlen nicht ganz ſicher nach - weiſen, da hier der Streit immer offen bleibt, ob die Zahlen ſo ſind wegen oder trotz der Einrichtung. Immer - hin aber lehren die Zahlen, wie ich gleich zeigen werde, daß jedenfalls eine auffallende Wirkung nicht vorhanden iſt. Eine ſolche iſt aber auch nicht wahrſcheinlich. Daß die Novelle weſentlich genutzt habe, glaubt Niemand heute mehr; daß ſie geſchadet habe, wird eher noch behauptet werden können. Sie legte dem Handwerk einige Feſſeln auf, beſchränkte die verſchiedenen Kleingewerbe unter ſich, ohne es aber zu wagen, die Großinduſtrie,91Die Folgen der Gewerbenovelle.die Magazine, den Handel irgendwie zu Gunſten der Kleingewerbe zu beſchränken. Selbſt ſoweit die Novelle dazu etwa die Hand bot, wie durch die Beſtimmung über die Magazine, wurde ſie nicht ausgeführt. Ueber - haupt iſt in ſolchen Dingen ja nicht der Wortlaut ent - ſcheidend, ſondern die Art der Ausführung. Und dieſe war keine ſchroffe, ſelbſt in Bezug auf die Prüfungen. Wohl haben dieſe manche Niederlaſſung erſchwert, am meiſten noch in den Baugewerken; das Anwachſen der bloßen Flickarbeiter gegenüber den Meiſtern hängt damit zuſammen. Aber abgeſehen hiervon wurde die größte Milde beobachtet; ſchon durch das Geſetz vom 15. Mai 1854 wurden, was dem Geſellen die Hauptſache war, die Prüfungsgebühren reduzirt. Kontraventionen, abſicht - liche Täuſchungen, Namensleihungen wurden ſelten ver - folgt. Die Strafen waren praktiſch ſo nieder, daß ſelbſt eine gerichtliche Verurtheilung keine Aenderung zur Folge hatte. 1Vergl. darüber die praktiſchen Bemerkungen von Mül - mann daſ. S. 493.Somit ſind in der Hauptſache die ſtatiſtiſchen Zahlen von 1852 61 nicht aus der veränderten Geſetz - gebung, ſondern aus andern Urſachen zu erklären.

Dies zeigt ſich gleich bei denen für 1852. Die Hauptnoth iſt vorbei; wenn ſie in einigen Gewerben noch fortdauert, ſo haben die übrigen um ſo mehr ſich erholt. Es waren2Siehe die ſpezielle Vergleichung der beiden Jahre, Mit - theilungen VII, 328 52.

92Die preußiſchen Aufnahmen.

Die Zunahme von Meiſtern und Gehülfen zuſam - men beträgt 5,99 %, die der Bevölkerung nur 3,3 %; die Zunahme mußte natürlich ſtärker ſein als die der Bevölkerung, wenn man nur halbwegs wieder auf leidliche Zuſtände kommen wollte, da die Zahlen für 1849 einen Nothſtand repräſentiren.

Die Zahl der Meiſter allein nahm um 3,28 % zu, alſo nicht ganz ſo ſtark wie die Bevölkerung; in den meiſten einzelnen Gewerben zeigen aber die abſoluten Zahlen einige hundert Meiſter mehr als 1849. Abge - ſehen von denen, welche dauernd wegen Konkurrenz der Großinduſtrie zurückgehen, hat die Meiſterzahl von wich - tigen Gewerben nur bei den Zimmerleuten auch abſolut etwas abgenommen; das wird den Prüfungen zuzu - ſchreiben ſein. Bei den Maurern iſt die abſolute Meiſter - zahl trotz der Prüfungen geſtiegen.

Die Meiſter zeigen nur eine abſolute, keine relative Zunahme, die weſentliche relative Zunahme der Geſammt - zahl liegt in den Gehülfen. Sie nahmen um 9,44 % zu; in den bedeutenden Gewerbszweigen handelt es ſich in jedem um einige tauſend Gehülfen mehr, gegenüber von 1849. Der Abſatz iſt wieder ein beſſerer, die 1849 entlaſſenen Geſellen ſind meiſt wieder eingeſtellt.

Die Beſſerung der Zuſtände war aber noch keine nachhaltige; war die politiſche Lage eine ruhigere, ja warfen ſich viele Kräfte, enttäuſcht im politiſchen Leben, um ſo mehr auf das Gebiet materieller Thätigkeit, ſo wirkte das doch mehr nur belebend in den höheren Regionen des gewerblichen Lebens. Mehrere ſchlechte Ernten folgten ſich, ſie wirkten durch die Theurung93Die Kleingewerbe 1849 1855.der Lebensmittel lähmend auf den Abſatz der ohnedies gedrückten Kleingewerbe.

Die Geſammtzahl von Meiſtern und Gehülfen iſt 1855 zwar um circa 1700 Perſonen höher als 1852 (1.002384 gegen 1.000609), verglichen mit der Bevöl - kerung hat aber eine Abnahme ſtattgefunden; die ſämmt - lichen Gewerbetreibenden machen 1852 = 5,93 %, 1855 = 5,85 % aus. In vielen wichtigen Gewerben haben ſogar die abſoluten Zahlen der Meiſter, wie der Gehülfen, abgenommen. Es gibt 1855 abſolut weniger Meiſter bei den Fleiſchern, Seifenſiedern, Gerbern Schuhmachern, Handſchuhmachern, Seilern, Spritzen - machern, Schneidern (um 2000), Poſamentieren, Hut - machern, Tuchſcheerern, Färbern, Zimmerleuten, Zim - merflickern, Brunnenmachern, Wagenbauern, Böttchern, Drechslern, Haarkammmachern, Bürſtenbindern, Mau - rern, Mauerflickern, Steinſetzern und noch manchen unbe - deutendern. Viel wirkt dabei der Prüfungszwang nicht. Die allgemeinen Urſachen und die Theurung ſind wich - tiger; denn wäre jener die Haupturſache, ſo müßten die Gehülfen ſtärker zugenommen haben. Aber auch ſie zeigen vielfach nicht nur relativ, ſondern abſolut niedrigere Zahlen als 1852. So bei folgenden Gewerben: bei den Fleiſchern, Seifenſiedern, Gerbern, Schuh - machern (2000 weniger), Handſchuhmachern, Seilern, Schneidern, Poſamentieren, Tuchſcheerern, Färbern, Brunnenmachern, Tiſchlern, Wagenbauern, Böttchern, Drechslern, Töpfern, Glaſern.

Wieder etwas beſſer geſtaltet ſich die Lage in der zweiten Hälfte des Jahrzehntes. Die allgemeinen Vorbe -94Die preußiſchen Aufnahmen.dingungen der gewerblichen Entwickelung waren wieder andere geworden; die Ernten ſind beſſere, die Groß - induſtrie und der Welthandel nehmen ſtärker zu, als je. Die größeren Städte wachſen in ihrer Bevölkerung mehr und mehr, die Eiſenbahnbauten vollenden ſich in den meiſten Provinzen. Das wirkt auch auf die Klein - gewerbe, wenigſtens auf einen Theil derſelben zurück. Auch die Kreditvereine von Schulze - Delitzſch beginnen ihren ſegensvollen Einfluß zu üben. Beſonders ein - zelne Geſchäfte dehnen ſich aus, beſchäftigen mehr Gehülfen. Die Geſammtzahl iſt 1858 um circa 50000 Perſonen höher als 1855, 1861 iſt ſie abermals um 40000 Perſonen geſtiegen, und ſie würde ſich noch weſentlich höher darſtellen, wenn die Zahl der Leinen - ſpinner von 1858 61 nicht um circa 40000 abge - nommen hätte. Will man hiervon abſehen und ſetzt deshalb für 1861 noch 40000 Perſonen zu, ſo iſt auch die relative Zunahme 1858 61 größer als die von 1855 58. Die Handwerker würden danach 1855 = 5,85 %, 1858 = 5,95 % und 1861 = 6,11 % der ganzen Bevölkerung ausmachen.

Die Zunahme von 1855 61 liegt in der Gehülfen - zahl und konzentrirt ſich auch hier auf einige Haupthand - werke, auf ſolche, die einen fabrikartigen Betrieb ein - zuführen anfangen, und ſolche, die jederzeit mit wachſendem Wohlſtand ſich ausdehnen; dahin gehören die Schuhmacher, Seiler, Schneider, Putzmacher, Riemer, Tiſchler, Rade - und Stellmacher, Schmiede, Schloſſer, Zimmerleute und Maurer. Sie ſind es hauptſächlich, deren Gehülfenzahl von 1855 61 weſentlich wuchs.

95Die Kleingewerbe 1855 1861.

Immer iſt die Zunahme aber nicht allzubedeutend, und die Zunahme der Gehülfen hat die Kehrſeite einer abnehmenden Meiſterzahl. Daraus erklärt ſich auch, daß wir von 1849 ab den Prozentantheil der handwerks - mäßigen Bevölkerung mit ihren Familien an der Geſammt - bevölkerung als einen abnehmenden berechneten. Dieſer Prozentantheil war: 1849 ..... 16,52 %. 1852 ..... 16,03 %. 1853 ..... 15,70 %. 1858 ..... 15,45 %. 1861 ..... 14,87 %.

Natürlich, wenn man die abnehmende Meiſterzahl mit 4,1 Perſonen multiplizirt, dazu auch die etwas zunehmenden Gehülfen addirt, ſo müſſen die ganzen Summen gegenüber einer raſch wachſenden Bevölkerung ſinkende ſein.

Die Lage der meiſten kleinen Geſchäfte iſt übrigens auch gegen 1861, auch 1861 65, in welchen Jahren beſonders die Löhne ſtiegen, die Lebensmittel billig waren, in welchen der Abſatz allerwärts flott ging, keine ſonderlich günſtige. Ein mehr oder weniger trau - riges Bild gibt die Zuſammenſtellung des einſchlägigen Materials aus den landräthlichen Kreisbeſchreibungen (1858 66) im Jahrbuch für die amtliche Statiſtik des preußiſchen Staates. 1Jahrg. II. Berlin 1867. S. 265 348.Sieht man manchem der Berichte die landräthlich konſervative Tendenz an, die Ver - gangenheit auf Koſten der Gegenwart, das Zunftweſen auf Koſten der heutigen Geſetze zu erheben; in den96Die preußiſchen Aufnahmen.meiſten leuchtet doch eine wahrheitsgetreue Bericht - erſtattung durch, und ſie lautet mehr oder weniger dahin, daß der Abſatz der Handwerker abnimmt, ſich immer mehr auf die untern Klaſſen beſchränkt, daß ihre Zahl dagegen vielfach noch wächſt, daß nur, wo Haus - oder Grundbeſitz vorhanden, ihre Lage behaglich iſt, daß ohne denſelben die Lage des kleinen Meiſters ſich nicht über die des einfachen Tagelöhners erhebt, daß die kleinen Meiſter auf Jahrmärkten herumziehen oder auf Tagelohn neben der Gewerbsarbeit gehen müſſen. Ich will nur einige im Jahrbuch nicht wörtlich, aber dem Sinne nach treu wiedergegebene Mittheilungen der Landräthe anführen.

Aus Frauſtadt (Reg. -Bez. Poſen) wird 1860 geſchrieben: Nur die größte Betriebſamkeit und Ein - ſchränkung vermag den ſtädtiſchen Handwerkern eine ſorgenfreie Exiſtenz zu ſichern. Aus Schroda (Poſen) 1863: Weil die Handwerker vielfach ihren Betrieb mit Schulden beginnen und mit den Induſtriellen der großen Städte nicht konkurriren können, ſo müſſen ſie nicht ſelten tagelöhnern oder Erwerb durch Transport von Vagabunden oder durch Pachtung von Obſtgärten ſuchen. Aus Kröben (Poſen) 1863: Die kleinen Städte werden meiſtens von dürftigen, ſchlecht ausgebildeten und ungeſchickten, mit mangelhaftem Arbeitszeug verſehenen Handwerkern bewohnt, deren Zahl das Bedürfniß über - ſteigt. Aus Habelſchwerdt (Schleſien) 1860: Die Mehrzahl der Handwerker arbeitet ohne Geſellen und Lehrling bei wenig ſchwunghaftem Betrieb; ebenſo über - ſchreitet die große Anzahl der Viktualienhändler, welche97Die landräthlichen Berichte über das Handwerk.ihre Exiſtenz auf möglichſt bequeme Weiſe friſten wollen, weitaus das Bedürfniß. Aus Weißenfels und Weißenſee (Sachſen) 1860: Je ſchlechter die Lage des kleinen Handwerks in den Städten durch theure Wohnungen, hohe Gemeindeſteuern, Konkurrenz des Kapitals wird, deſto mehr überſiedelt das Handwerk auf das platte Land, und zwar ohne dabei zu gewinnen; denn ſelten bringen es die Handwerker, wenigſtens Schuhmacher und Schneider, zu eigenem ſchuldenfreien Beſitz. Vielen ſonſt fleißigen Handwerkern wird es durch die zu zahlreichen Konkurrenten unmöglich gemacht, ſich zu behaupten. Aus Oſchersleben (Sachſen) 1863: Das Handwerk iſt von geringem Umfang und geht, abgeſehen von den Bauhandwerkern, eher rück - als vorwärts. Aus Münſter (Weſtfalen) 1863: Das Handwerk hat geringe Bedeutung; die meiſten Handwerker treiben nebenher Ackerbau. Viele Schneider, Schreiner, Wagenmacher und ſelbſt Schuhmacher arbeiten bei ihren Kunden gegen Koſt und Tagelohn. Geſellen verdienen oft kaum ſo viel wie Knechte. Aus Bonn (Rheinprovinz) 1859: Die Auswanderung hat abgenommen; jetzt wandern faſt nur noch junge und allein ſtehende Handwerker aus, welche in Amerika oder Auſtralien eine Exiſtenz zu gründen beabſichtigen. Aus Bergheim (Rheinprovinz) 1863: Die kleinern Handwerker, Weber und dergl. ſtehen mit den Tagelöhnern, denen Wege - und andere öffentliche Bauten eine lohnende Beſchäftigung gewähren, auf einer Erwerbsſtufe. Aus Warendorf (Weſtfalen) 1865: Mit den hauptſächlichſten Handwerkern iſt jede Gemeinde faſt mehr als genügend verſehen; dem ver -Schmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 798Die preußiſchen Aufnahmen.mögensloſen jungen Manne bleibt alſo, will er nicht Zeitlebens Tagelöhner ſein, nur übrig, in induſtrie - reichen Gegenden einen Hausſtand zu gründen.

Man könnte dieſen traurigen Ausſprüchen gegenüber die Frage aufwerfen, ob es jemals früher in dieſen Kreiſen beſſer beſtellt war? Man könnte daran erin - nern, daß jede ſtarke Bevölkerungszunahme, man mag ſie im Allgemeinen als noch ſo günſtig betrachten, in einzelnen Kreiſen, für Stellungen, die leicht zugänglich ſind, einen ſtärkeren Andrang und damit ein gewiſſes Unbehagen erzeugen muß, daß aus dieſem Unbehagen heraus ja aller Fortſchritt ſtattfindet. Beide Einwen - dungen ſchwächen die Klagen über die gegenwärtige Lage der Handwerker ab; aber ſie machen ſie nicht ver - ſtummen. Die Haupturſachen des Druckes liegen in der volkswirthſchaftlichen Umbildung aller unſerer Verhält - niſſe ſeit 20 Jahren.

Wenn man das bei den eigentlichen Handwerkern leugnen wollte, jedenfalls müßte man es zugeben in Bezug auf die Hausinduſtrie der Weber, die von unſerer bisherigen Unterſuchung ausgeſchloſſen war. War ihre Lage 1850 60 vielfach wieder eine beſſere als 1840 50, im Ganzen war ſie doch jammervoll genug, wie die Mittheilungen aus den landräthlichen Kreisbe - ſchreibungen ebenfalls zeigen. Es gilt wenigſtens für den größern Theil der Handweberei, was der Landrath des Kreiſes Landeshut in Schleſien (1860) ſagt: Die Beſchäftigung ſo vieler Menſchen mit einem unterge - henden Gewerbe läßt kaum einer Hoffnung des Beſſer - werdens Raum.

99Die landräthlichen Berichte über das Handwerk.

Ich werde hierauf in den folgenden Unterſuchungen zurückkommen. Es handelte ſich hier nur um die Kon - ſtatirung der Lage der Handwerker überhaupt. Und um das Bild zu vervollſtändigen, gehe ich nunmehr auf die Handwerksſtatiſtik einiger der wichtigern Kleinſtaaten über. Es iſt das zur Beſtätigung der bisherigen Reſul - tate um ſo paſſender, als die preußiſchen Zahlen eigentlich geographiſch zu groß ſind, d. h. Länder mit zu ver - ſchiedenen Zuſtänden umfaſſen. Eine zunehmende und abnehmende Geſammtzahl kann hier aus zu verſchie - denen Faktoren zuſammengeſetzt ſein; es kann in einer Provinz ein Gewerbe von der Großinduſtrie ſchon voll - ſtändig verdrängt ſein, während es in einer andern noch ſo zunimmt, daß die Zahlen der ganzen Monarchie als ſteigende erſcheinen. Aus dieſem Grunde ſind die Reſultate kleinerer Länder, die weſentlich nur eine gleiche Kultur umfaſſen, belehrender.

Es wird ſich bei der Betrachtung der Handwerks - zuſtände in den Kleinſtaaten nicht vermeiden laſſen, einige Worte über die allgemeinen Kultur - und Wirth - ſchaftsverhältniſſe einzuflechten, obwohl ich zunächſt nur die Veränderung der Zahlen in jedem einzelnen Lande für ſich unterſuchen und nicht die verſchiedenen Staaten vergleichen will. Auf die lokalen Verſchiedenheiten der einzelnen Staaten und der einzelnen preußiſchen Pro - vinzen unter einander werde ich erſt in einem ſpätern Abſchnitte eingehen.

7 *[100][101]

Die Hauptreſultate der Aufnahmen in Baden, Württemberg, Baiern und Sachſen im 19. Jahrhundert.

[102][103]

1. Die badiſche Handwerksſtatiſtik von 1829 1861.

Land und Kulturverhältniſſe. Zunahme der Handwerker von 1829 43. Die Kriſis 1847 61. Die Gewerbefreiheit ſeit 15. Oktober 1862.

Wer je auch nur flüchtig mit dem Dampfwagen durch das badiſche Land von Heidelberg bis Baſel gefahren iſt, der hat ein anſchauliches Bild von dem langgeſtreckten Lande. Eine fleißige aufgeweckte Bevöl - kerung bebaut den nicht kärglichen, meiſt in kleine Beſitz - ſtellen zertheilten Boden. Schon im Jahre 1834 lebten 4421, 1845 4845, ſpäter wieder etwas weniger Menſchen auf der Quadratmeile. Das Land war bis zum Anſchluß an den Zollverein ein vorzugsweiſe acker - bauendes. Denn von der alten gewerblichen Blüthe mancher Städte, beſonders Freiburg’s, war längſt nichts mehr übrig; und die in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts von Markgraf Karl Friederich ins Leben gerufenen Induſtriezweige, die Bijouteriefabrikation Pforzheims, die Baumwolleninduſtrie des Wieſenthals hatten bis da nicht allzuviel zu bedeuten. Eher Bedeu -104Die Aufnahmen der kleinern Staaten.tung hatte die hausmäßige Induſtrie von Uhren, Bürſten und Holzwaaren auf dem Schwarzwalde. 1Siehe darüber, wie über das Folgende: Dietz, die Gewerbe im Großherzogthum Baden, ihre Statiſtik, ihre Pflege, ihre Erzeugniſſe. S. 330 ff.

Die kleinen Handwerke aller Art waren in den behaglichen Dörfern und kleinen Städten, in den Reſi - denzen und Univerſitäten zahlreich verbreitet. Günſtig auf ſie wirkte auch zunächſt der Anſchluß an den Zoll - verein, die guten Jahre von 1830 1840. Nach den Aufnahmen der Steuerverwaltung exiſtirten2Dietz S. 17.

während die Zahl der Fabrikanten ſich von 161 auf 405, die ihres geſammten Perſonals von 2756 auf 8745 in dieſer Zeit gehoben hatte. Es war zunächſt ein Fort - ſchritt im alten Stile, ein Fortſchritt viel mehr der Klein - als der Großgewerbe. Von der neuen Zeit, von der neuen Technik, von der neuen Konkurrenz wußte man noch wenig. Die beiden folgenden Jahrzehnte aber brachten das um ſo reichlicher. Und die Wirkung auf die Kleingewerbe iſt um ſo ſtärker.

Leider liegen mir3Dietz S. 17 28. für die Vergleichung von 1847 und 1861 nur die Meiſterzahlen der Hauptgewerbe vor, die der Geſellen fehlen für 1847; dadurch erſcheint die Kriſis noch ſchlimmer, als ſie iſt; denn wahrſcheinlich würde der Abnahme der Meiſter eine Zunahme der Gehülfen gegenüberſtehen. Wie dem aber auch ſei,105Die Zahlenreſultate in Baden.jedenfalls zeigt die folgende Tabelle, wie viele kleine Handwerksmeiſter in dieſer Zeit zu Grunde gegangen ſind. Es exiſtirten in Baden 1847 und 61, während die Bevölkerung ſo ziemlich dieſelbe blieb:

106Die Aufnahmen der kleinern Staaten.

Dagegen betrug die Zahl der Fabrikarbeiter mit Einſchluß der Weber im Jahre 1861 50147 Perſonen; noch 1849 waren es 17105 geweſen. Nicht weniger als 15649 Handwerker ſind in den 10 Jahren von 1852 62 aus Baden ausgewandert, meiſt nach Amerika, um dort jenſeit des Ozeans ſich den Heerd zu gründen, für den ſie in der Heimath keinen Platz mehr fanden. Viele frühere Meiſter ſind auch als Arbeiter in Fabriken eingetreten. Dietz verſichert, daß nunmehr durch dieſe Aenderung die Lage der übrig - gebliebenen Handwerker im Lande ſich weſentlich gebeſſert habe.

Bis zum 15. Oktober 1862 hatte in Baden der Zunftzwang gedauert; ſeither exiſtirt Gewerbefreiheit; war die Ausübung des Zunftzwangs ſowie des obrig - keitlichen Konzeſſionsweſens auch nicht allzuſtrenge geweſen, immer fühlte man ſich beengt; und vor Allem war etwas erſchwert, was in ſolchen Zeiten allgemeiner Umbildung der Technik und der Gliederung der Arbeitskräfte erleich - tert werden ſollte, der Uebergang zu andern Geſchäften und Betrieben, die Ueberſiedlung nach andern Orten. Das iſt jetzt leichter, und inſofern war die Gewerbe - freiheit auch eine momentane Erleichterung für das Kleingewerbe. 1Dietz S. 145.Abgeſehen aber hiervon, drückt die Kon - kurrenz der Großinduſtrie jetzt noch mehr als vorher. 2S. Viebahn III, 548.Der Zunftzwang war für manchen kleinen unvollkom - menen Betrieb noch eine Art Schutzmauer, die jetzt107Die badiſchen Kleingewerbe ſeit 1861.wegfällt. Das iſt natürlich kein Argument gegen die Gewerbefreiheit; denn es handelt ſich da nur um ein Früher oder Später der Beſeitigung doch unhaltbarer Exiſtenzen. Aber das zeigt ſich hier wie überall, daß die Noth der letzten Jahrzehnte nicht Folge des Zunft - zwanges war, daß mit der Gewerbefreiheit nicht ſogleich goldene Tage für den Handwerker kommen. Die Haupt - urſache der Kriſis iſt von Zunft und Gewerbefreiheit unabhängig.

[108]

2. Die württembergiſche Handwerkerſtatiſtik von 1835 61 und die Folgen der Gewerbefreiheit von 1862 67.

Wirthſchaftliche Zuſtände und Gewerbegeſetzgebung. Die Meiſter - zahlen 1835, 1852 und 1861, Abnahme derſelben. Die Zahlen der Meiſter und Gehülfen zuſammen in denſelben Jahren. Vergleichung von 26 wichtigen Handwerken 1852 und 62. Beendigung der Kriſis 1861. Die Handelskammer - berichte von 1862 67 über Gewerbefreiheit; die Klein - gewerbe in unveränderter Lage.

Weiter ab von der großen Heerſtraße, weniger berührt von fremden Einflüſſen als Baden, liegt das Württemberger Land; zäher, langſamer iſt der Charakter des Stammes. Aber ſonſt ſind Lebensbedingungen, wie wirthſchaftliche Entwicklung ähnliche. Auf engem Raume eine dichte Bevölkerung; zahlreiche kleine Städte und Flecken; ein zertheilter Grundbeſitz; bis in die neuere Zeit eine mehr landwirthſchaftliche als gewerbliche Thätig - keit; wenigſtens die Großinduſtrie hat erſt in den letzten Jahrzehnten ſich entwickelt, in dieſen allerdings große Fortſchritte gemacht.

Die Gewerbegeſetzgebung wurde ſchon 1828 und 1836 in liberalem Sinne reformirt; das Geſetz vom109Wirthſchaftliche Zuſtände und Geſetzgebung.22. April 1828 hebt für 13 Gewerbe die Zünftigkeit auf, für etwa 50 behält ſie ſie bei, aber ſo, daß mit Beſeitigung aller läſtigen Vorrechte die Zünftigkeit nur zu zweierlei zwingt: zum Erwerb des Gemeindebürger - rechts am Orte der Niederlaſſung und zu einem ziemlich leichten Nachweis der Befähigung. Eine weitere Erleich - terung war die 1854 erfolgte Zuſammenlegung von 28 bisher in einzelne Zünfte getheilten Gewerben in 7 Zunftgruppen. Von da war der Uebergang zu der 1862 (1. Mai) eingeführten Gewerbefreiheit kein allzugroßer Schritt.

Die vorzugsweiſe in dem Kleingewerbe konzentrirte gewerbliche Thätigkeit ging in den zwanziger Jahren die alten hergebrachten Bahnen. Der bairiſche Zollverein brachte 1828 keine gefährliche Konkurrenz; erſt mit dem Eintritt in den großen Zollverein entſtand eine ſolche, aber damit auch Leben und Fortſchritt. Es datirt von dieſer Zeit der Uebergang zur Großinduſtrie, die ver - mehrte Berührung mit dem Ausland, die Verbeſſerung der Technik, aber zugleich die theils verſchuldete, theils unverſchuldete Kriſis der Kleingewerbe,1Zu vergl. : Württ. Jahrbücher 1862. Heft 2. S. 161 296: Schmoller, die Reſultate der Gewerbeſtatiſtik von 1861, und Königreich Württemberg S. 551 ff. : Der Entwicklungs - gang des Gewerbslebens in den letzten 40 Jahren. deren ſprechendes Bild in der folgenden Tabelle liegt, welche die Zahlen der Meiſter in den wichtigern Gewerben 1835 36, 1852 und 1861 verzeichnet.

110Die Aufnahmen der kleinern Staaten.

Während die Bevölkerung wenigſtens 1835 52 zunimmt, ſinkt die Zahl der Meiſter in den meiſten Ge - werben, und dabei ſind einzelne, die am meiſten litten, wie das Tuchmachergewerbe, in dieſer Tabelle gar nicht begriffen. Einzelne ſinken nur bis 1852 und erholen ſich von da an wieder; ſie haben die Kriſis ſchon hinter111Die Zahlenreſultate in Württemberg.ſich. Die Geſammtzahlen würden viel ſtärker ſinken, wenn nicht doch manche ſteigende Gewerbe dazwiſchen wären, ſolche, die erſt ſich ausbilden, wie Putzmacher, Tapeziere, oder ſolche, bei denen der kleine handwerks - mäßige Betrieb wenig oder keine Konkurrenz zu leiden hat, die alſo mit dem ſteigenden Wohlſtand ſich auch der Meiſterzahl nach heben.

Daß der Wohlſtand im Ganzen ſteigt, daß er der Kriſis entgegen wirkt, iſt klar; die kleinen Geſchäfte machen Bankerott; neue in geringerer Zahl, aber umfang - reicher betrieben, prosperiren; daher ganz dieſelben Ge - werbe meiſt ſteigende Zahlen zeigen, wenn man die Geſammtheit der Beſchäftigten inkl. Geſellen und Lehr - lingen vergleicht. Nur die am ſtärkſten leidenden zeigen auch hier einen Rückgang. Die Geſammtzahl der Meiſter, Geſellen und Lehrlinge betrug:

112Die Aufnahmen der kleinern Staaten.

Nach einer Vergleichung, welche Profeſſor Mährlen1Württ. Jahrb. Jahrg. 1863. S. 39 40. anſtellt, haben in den 26 wichtigſten Handwerken die Meiſter 1852 62 um 4,5 %, die Gehülfen und Lehr - linge um 76 % zugenommen. Faßt man aber die - jenigen zuſammen, bei welchen weniger günſtige Verhält - niſſe vorhanden ſind, nämlich die Bäcker, Fleiſcher, Maurer, Zimmerleute, Töpfer, Schmiede, Kupfer - ſchmiede, Gerber, Sattler, Küfer, Färber, Poſamen - tiere, Nadler, Gürtler, Zinngießer, Hutmacher, Fri - ſeure und Barbiere, ſo haben bei ihnen zuſammen von 1852 62 die Meiſter um 8,6 % abgenommen, die Gehülfen um 34,7 % zugenommen.

Nach der größern Tabelle über Meiſter und Ge - hülfen zuſammen könnte man verſucht ſein, die Kriſis ganz zu leugnen, nach den letztern Prozentverhältniſſen113Die Reſultate in Württemberg.ſieht man ihr Vorhandenſein, aber auch die Beſſerung. Die Kriſis iſt ſo ziemlich überwunden, nachdem die Zahl der Meiſter abgenommen, ihre Geſchicklichkeit und Bil - dung ſich weſentlich gehoben hat. Freilich darf man dabei nicht vergeſſen, daß dem Jahre 1861 eben ſo glückliche Ernte - als Geſchäftsjahre vorausgingen, wäh - rend 1830 40 der erſte Stoß der fremden Konkurrenz, in den vierziger Jahren die Handelskriſen, die Hungers - noth und die Revolution, zu Anfang der funfziger Jahre wieder die Mißjahre die Kriſis ſehr verſtärkt hatten, daß alſo die Beſſerung 1861 ebenſo oder noch mehr accidentellen Urſachen zuzuſchreiben iſt als einer bleibenden Veränderung.

Für die Zeit nach 1861 fehlt es an einer ſtati - ſtiſchen Aufnahme der württembergiſchen Gewerbe, wie in den andern Zollvereinsſtaaten. Wohl aber erſieht man aus den zuverläſſigen württembergiſchen Handels - kammerberichten1Jahresberichte der Handels - und Gewerbekammern in Württemberg, Stuttgart, Blum und Vogel; für 1862 S. 28. S. 63. S. 119; für 1863 S. 23. S. 34. S. 46 49; für 1865 S. 118; für 1866 S. 45; für 1867 S. 7 11. wie die am 1. Mai 1862 eingeführte Gewerbefreiheit gewirkt hat.

Im erſten Jahre, heißt es, habe ein ungeheurer Zudrang von Gewerbtreibenden nach den größern Städten, Stuttgart ausgenommen, oder von Gehülfen in ſelb - ſtändige Unternehmungen in dem Umfang, wie er befürchtet wurde, nicht ſtattgefunden, wohl aber ſei der Zudrang zu den Detailgeſchäften und zum Hauſirhandel ein ſehr ſtarker. Die Lage der Kleingewerbe wird alsSchmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 8114Die Aufnahmen der kleinern Staaten.günſtig, aber von der Gewerbefreiheit kaum berührt bezeichnet.

Im Jahre 1863 wird beſonders die immer ſtärker wachſende Zunahme des Hauſirhandels erwähnt. Sehr viele kleine Gewerbetreibende, welche ſich früher ohne Hauſiren durchzubringen ſuchten, heißt es, laſſen ſich Hauſirſcheine geben. Hauptſächlich kommt es auch vor, daß Hauſirer an einzelnen Orten wochenlang ein Lokal miethen, ihre Waaren zum Verkauf bieten und dann weiter ziehen. Ueber die neue Gewerbeordnung über - haupt ſchreibt die Heilbronner Handelskammer: Viel - fache Erkundigungen, welche wir von Gemeindebehörden, Gewerbevereinen und Einzelnen über die Wirkungen der neuen Gewerbeordnung eingezogen haben, ſprechen ſich ziemlich übereinſtimmend dahin aus, daß ſie bis jetzt, abgeſehen vom Hauſirhandel, ſich weder als merklich wohlthätig noch als merklich nachtheilig erwieſen habe. Wie vorauszuſehen war, ſo hatte ſie namentlich durch die Beſeitigung des Erforderniſſes des Ortsbürgerrechts zur Folge, daß eine Menge Leute ſich zur ſelbſtändigen Ausübung von Gewerben meldete, namentlich in den Städten, und daß der Wegfall der Konzeſſionen bei Krä - mereien und des Beweiſes der Vorbildung beim Detail - handel gleichfalls ſehr viele Leute veranlaßte, den Handel als Haupt - oder Neben-Erwerbszweig zu ergreifen. Uebergänge von einem Handwerk auf ein anderes ſind ſelten, von einem Handwerk oder von einer ſonſtigen Beſchäftigung auf den Handel aber ſehr häufig, häu - figer als wünſchenswerth. Klagen über Ueberſetzung ſind uns nur bezüglich von Schneidern, Schuhmachern115Die Gewerbefreiheit in Württemberg.und Händlern von einigen Orten aus bekannt gewor - den.

Ganz ähnlich ſpricht ſich die Ulmer Handels - kammer aus. Von 87 in der Stadt Ulm 1863 neu angemeldeten Handelsgeſchäften ſind 10, von 173 neu angemeldeten Kleingewerben 14 ſchon im gleichen Jahre wieder eingegangen. Die zahlloſen kleinen Handels - geſchäfte, heißt es, können unmöglich prosperiren. Der Zudrang der Handwerker beſteht nur für Gewerbe, die kein Kapital erfordern; es ſind Schuſter und Schneider, Tiſchler und Maler, die daneben fortfahren, für andere Meiſter zu arbeiten. Dann kommt es vor im Maurer - und Zimmergewerbe; alte Geſellen, Polire verſuchen ein eigenes kleines Geſchäft zu beginnen, Reparaturen zu übernehmen. Auch von ihnen iſt bereits eine ziem - liche Zahl wieder zu ihren Meiſtern zurückgekehrt. Bei den übrigen Gewerben hat dagegen die Freigebung bei - nahe gar keine Aenderung hervorgebracht.

Der Bericht für 1865 berichtet eher ungünſtig als günſtig über die Folgen; er betont, daß nicht ſowohl durch das Syſtem der Gewerbefreiheit als durch die heutigen Verkehrsverhältniſſe die Ueberlegenheit der großen Geſchäfte immer ſteigt. Der Einfluß der Gewerbe - freiheit ſchreibt er zeigte ſich theils in der vermehrten Zahl der Ehen, theils in der Vermehrung der Gewerbsſtellen. Arbeiter, welche bisher in größern fabrikmäßig betriebenen Geſchäften arbeiteten, errichten im Vertrauen auf ihre Geſchicklichkeit, aber leider häufig ohne die gehörigen Mittel und die für den Unternehmer erforderliche Geſchäfts - und Marktkenntniß, eigene Ge -8 *116Die Aufuahmen der kleinern Staaten.ſchäfte, mit denen ſie ſich in einen Wettkampf mit Gegnern einlaſſen, deren Ueberlegenheit ſie zu ſpät fühlen, wenn das kleine Kapital aufgezehrt iſt und noch oben - drein Schulden gemacht ſind. Man ſieht ſich genöthigt, um Spottpreiſe für Groſſiſten zu arbeiten und ſchließlich doch wieder zum Fabrikanten zurückzukehren. Je ſchwie - riger es für den bloßen Arbeiter in ſeiner Stellung iſt, eine genaue Kenntniß der ſtatiſtiſchen Verhältniſſe ſeines Fabrikationszweigs ſich zu verſchaffen, deſto mehr thut Vorſicht bei Gründung neuer Unternehmungen Noth, wo bei dem Fortſchritt der Handelsfreiheit die Beurtheilung des Umfangs der Konſumtion eines Artikels und ſeiner Produktion immer ſchwieriger wird.

Die Geſchäftsſtockung im Jahre 1866 und 67 drückte nach den Berichten weſentlich auch auf die Lokal - und Kleingewerbe; das hat mit der Gewerbefreiheit nichts zu ſchaffen. Nicht unintereſſant aber iſt, daß die in den Kleingewerben herrſchende Geſchäftsſtockung hauptſächlich den Hauſirhandel, theilweiſe mehr den Bettel in der Form des Hauſirhandels angeſchwellt hat. In einzelnen Gegenden des Landes wird die Zunahme als eine wahre Landeskalamität betrachtet. Beſonders das Ausgebot ganzer Waarenlager im Umherziehen von Stadt zu Stadt unter dem Titel und der Form von Waarenausverkäufen wird inſofern beklagt, als ſolche Leute ſich den Steuern vollſtändig oder ganz zu ent - ziehen wiſſen. Allen Berichten gemeinſchaftlich iſt die Klage, daß dieſe Leute den Abſatz der ortsanſäſſigen und hochbeſteuerten Handel - und Gewerbetreibenden beeinträchtigen, und daß ihr herumziehendes Leben117Die Gewerbefreiheit in Württemberg.meiſtens ihren ſittlichen und ökonomiſchen Ruin herbei - führe.

Das mag übertrieben ſein, wie jederzeit die Klagen der ſtehenden Gewerbe über den Hauſirhandel; aber es zeigt, wenn es auch nur theilweiſe wahr iſt, eine Wahrheit, welche von den Schwärmern für volkswirth - ſchaftliche Freiheit ſo oft überſehen wird. Je tiefer man in den geſellſchaftlichen Klaſſen herabſteigt, deſto häufiger regulirt nicht mehr die Einſicht in das wirth - ſchaftlich für das Individuum Beſte ſeine Handlungen, ſondern kurzſichtige Genußſucht, augenblickliche Neigung zur Unthätigkeit; unſittliche Nebenmotive verſchiedener Art bilden die pſychologiſchen Faktoren, mit denen der Nationalökonom hier rechnen muß.

[118]

3. Die bairiſche Handwerkerſtatiſtik von 1810 61.

Volkscharakter und Kulturverhältniſſe. Die Geſetzgebung und ihre Bedeutung gegenüber andern Urſachen. Vergleich der Gewerbsmeiſter 1810 und 1847 in den unmittelbaren Städten diesſeit des Rhein’s; die Urſachen der Stabilität. Vergleich der Geſammtergebniſſe 1847 und 1861 im Staate und nach Kreiſen. Vergleich der wichtigern einzelnen Gewerbe 1847 und 1861. Die bairiſche Weberei. Das Handwerk in den unmittel - baren Städten und in den übrigen Gemeinden diesſeit des Rhein’s 1847 und 1861. Die Zuſtände in der Pfalz, Zunahme von 1847 61, als Folge der vor 1847 erfolgten Abnahme und Auswanderung; die Zahl der Handwerker 1861 in der Pfalz noch weſentlich unter der von Altbaiern.

Manche Theile Baierns ſtehen in ihrer induſtriellen Entwickelung dem übrigen Süddeutſchland gleich, vor allen die Pfalz, die Gegend von Nürnberg und Fürth, Augsburg; aber in der Hauptſache iſt Baiern doch gewerblich weniger entwickelt. Es iſt vom großen Ver - kehr weniger berührt, theilweiſe geſtattet die Boden - und Gebirgsformation nur eine ſparſamere Bevölkerung, Religion und Geſchichte haben den eigentlichen Baiern ſpröde gemacht gegen die Einflüſſe der entwickelteren119Volkscharakter und Kulturverhältniſſe.Nachbarſtämme. Es iſt vor Allem ein tüchtiger, geſunder, wohlhabender Bauernſtand, der zähe feſthält am Alten in Sitte und Tracht, in Lebensanſchauung und wirth - ſchaftlichem Betriebe.

Wohl dringt auch das Neue da und dort ein, aber eher ſchafft es ſich ganz neue Formen, als daß es zunächſt beſtehende Verhältniſſe umwandelt. Der Bauer iſt reicher geworden mit den ſteigenden Getreide - preiſen; aber wenn er mehr kauft, ſo ſind es mehr Induſtrie - als Handwerksprodukte. Die Großinduſtrie fängt an die Naturſchätze, die Waſſerkräfte, den billigen Arbeitslohn in Baiern zu benutzen, ſie dehnt ſich ſogar in rein landwirthſchaftlichen Diſtrikten aus. Daran iſt theilweiſe die den Fabriken günſtigere Geſetzgebung ſchuld; aber ebenſo ſehr wirken die allgemeinen Verhältniſſe. Wo vorher jede lebendige, induſtrielle Thätigkeit fehlt, wo heute erſt die Geſchäfte neu eingerichtet werden, da werden ſie viel mehr nach modernſter Art mit umfaſſen - derem Betriebe angelegt, als wo ſich der neue Aufſchwung an altes, gewerbliches Leben anſchließt. Auch in der preußiſchen Rheinprovinz iſt heute noch Manches in der Hand kleiner Geſchäfte, wofür die ſpäter entwickelten altpreußiſchen Provinzen nur große Geſchäfte kennen.

Die landläufige Auffaſſung ſchiebt die Schuld der langſamen Entwickelung Baierns vornehmlich auf die bisherige Geſetzgebung. Und es iſt wahr, die Nieder - laſſungs -, Gemeinde - und Verehelichungsgeſetzgebung war engherzig; ſie hat weſentlich dazu beigetragen, eine wenig dichte Bevölkerung zu erhalten (Oberbaiern 2452 Menſchen auf die Meile, ganz Barien 3327 im Jahre120Die Aufnahmen der kleinern Staaten.1858). Aber ebenſo wenig läßt ſich leugnen, daß Sitte und Charakter des Volks ebenſo daran Theil haben. Die Handhabung der Geſetze liegt in der Hand der Gemeinden. Wo moderner Sinn, Regſamkeit und Betriebſamkeit iſt, da machen die Gemeinden keinen ſo engherzigen Gebrauch von ihrem Vetorecht bei neu zu gründenden Heimweſen. Oberfranken hatte bei derſelben Geſetzgebung 1858 ſchon über 4000 Menſchen auf der Quadratmeile. Mit der größten Leichtigkeit erfolgte da aber auch die Niederlaſſung, beſonders in einzelnen Induſtriedörfern, wie in den Korbflechtergemeinden. 1Vergl. Bavaria, Landes - und Volkskunde des König - reichs Baiern. III. Erſte Abtheilung. München 1865. S. 445.

Mehr jedenfalls als durch die Niederlaſſungs - und Ehegeſetzgebung war das gewerbliche Leben durch die Realgewerberechte und die beſtehende Zunftgeſetzgebung gehemmt. Schon zu Anfang des Jahrhunderts hatte man die Einſicht, daß dieſe Monopole, dieſe Ausſchlie - ßungsrechte der Zünfte durchbrochen werden müßten. Eine Verordnung vom 1. Dezember 1804 und das Geſetz vom 11. September 1825, welches prinzipiell auf dem Boden der Gewerbefreiheit ſteht, ſuchte dieſen Zweck dadurch zu erreichen, daß den Behörden die Befugniß zu Konzeſſionsertheilungen eingeräumt wurde. Das Konzeſſionsſyſtem hat ja ſeine großen Nachtheile; aber wo die Gewerbefreiheit noch nicht möglich iſt, ſchafft es doch einige Konkurrenz. Es war auch den ehrbaren bai - riſchen Meiſtern ſo unbequem, daß ſie ſich ſehr Mühe gaben, es zu beſeitigen. Schon 1834 wurde das Recht121Die bairiſche Gewerbegeſetzgebung.der Behörden weſentlich zu Gunſten der Meiſter und Realberechtigten beſchränkt. Die allgemeinen Klagen, die ſeit 1840 durch ganz Deutſchland wiederklingen, daß das Handwerk überſetzt ſei, trugen nicht dazu bei, die Geſetze milder zu handhaben. Die Inſtruktion von 1853 ſteht unter dem Hochdruck der Reaktion. Die Praxis war eine weſentlich härtere, als in Würtemberg, Sachſen, Baden, die ja damals auch noch Zunftverfaſ - ſung hatten.

Erſt 1862 trat infolge der um ſich greifenden Agitation für Gewerbefreiheit eine liberalere Behand - lung durch die veränderte Gewerbeinſtruktion dieſes Jah - res ein. Die volle Gewerbefreiheit erreichte ihre geſetz - liche Einführung endlich den 30. Januar 1868. 1Schöller, das Geſetz vom 30. Januar 1868, das Gewerb - weſen betreffend, erläutert. Erlangen 1869.In der Pfalz war die durch die franzöſiſche Herrſchaft ein - geführte Gewerbefreiheit nie angetaſtet worden.

Als Beweis, daß nur die einſchränkende Geſetz - gebung an der gewerblichen Stagnation Baierns Schuld ſei, liebt man anzuführen, daß die Pfalz in beſſerer Lage ſei, daß ſeit 1862 ein großer Aufſchwung einge - treten ſei, daß Fürth die Grundlage ſeiner gewerblichen Blüthe der Zeit verdanke, in der es als anſpach’ſcher Flecken volle Gewerbefreiheit beſaß. Sicher iſt daran viel Wahres. Ebenſo ſicher aber haben jederzeit andere Umſtände weſentlich mitgewirkt, und ebenſo ſicher wird die Vergleichung der Pfalz mit Altbaiern ſehr häufig unter falſchen Geſichtspunkten vorgenommen, wie ich unten zeigen werde.

122Die Aufnahmen der kleinern Staaten.

Hauptſächlich eine wichtige Thatſache, auf welche ich in einem der folgenden Abſchnitte über vergleichende deut - ſche Gewerbeſtatiſtik noch näher kommen werde, möchte ich der Unterſuchung der Zahlen voraus ſchicken, um durch ſie einen richtigern Standpunkt zu gewinnen; es iſt die, daß Baiern trotz ſeines vorwiegend ackerbauenden Cha - rakters, trotz der Stabilität der Meiſterzahl von 1810 61 noch 1861 unter den deutſchen Ländern ſteht, welche die größte Zahl Handwerker haben. Das wirft jedenfalls auf die gewöhnliche Anſicht, die Zahl der Meiſter ſei nur der beſchränkenden Geſetzgebung wegen nicht gewach - ſen, ein ſonderbares Licht.

Für die Zeit vor 1847 iſt mir nur die Unterſu - chung Dr. Mahr’s über die Entwickelung des Handwer - kes in den Städten des Königreichs Bayern diesſeit des Rhein’s bekannt. 1Hildebrandts Jahrbücher für Nationalökonomie und Statiſtik. VI. S. 113 129.

In den Jahren 1809 12 wurde eine umfaſſende bairiſche Reichsſtatiſtik erhoben. Im Jahre 1847 wurde die Gewerbeſtatiſtik in Baiern nach dem Zollver - einsſchema ausgeführt. Mayr ſtellt nun die vergleich - baren Zahlen der Gewerbsmeiſter in den unmittelbaren 28 Städten diesſeit des Rhein’s zuſammen; die Gehül - fen waren 1810 gar nicht gezählt. Das Verhältniß iſt folgendes:

123Das Haudwerk in den Städten 1810 und 1847.

So weit bleibt das Anwachſen der Meiſter hinter dem der Bevölkerung zurück. Aber dürfen wir darin, wie Mayr, nur eine Folge der Erſchwerung des Mei - ſterwerdens ſehen? Die Erſchwerung tritt erſt ſeit 1834 ein; von 1810 34 herrſchen liberale Grundſätze; von dem ganzen Zuwachs der Bevölkerung um 118642 Seelen kommen 90494 auf die vier großen Städte, München, Nürnberg, Augsburg und Würzburg; die andern Städte bleiben ſtabil, nehmen vielfach ſogar ab; hier in den kleinen Städten iſt man am engherzigſten mit neuen Niederlaſſungen. In den vier großen Städten, die allein bedeutend zunehmen, iſt man es wohl auch, aber zugleich wirken hier alle die neuen Faktoren ſchon, welche dem kleinen Meiſter Konkurrenz machen. Da entſtehen ſchon die größer und beſſer eingerichteten Unter - nehmungen, welche mit kleinerer Perſonenzahl die glei - chen, ja die vielfach geſteigerten Bedürfniſſe befriedigen. Zieht man alles das mit in Erwägung, ſo wird man die Haupturſache der Stabilität in allgemeineren Zuſtän - den finden müſſen, hauptſächlich darin, daß die Mehr - zahl der Mittel - und Kleinſtädte nicht vorwärts ſchrei - tet, daß beſonders für die Langſamkeit der allgemeinen wirthſchaftlichen Entwickelung die Zahl der vorhandenen Meiſter ſchon zu Anfang der Periode eher zu groß iſt. Verſchlimmernd mußten allerdings darauf die engher - zigen Grundſätze von 1834 an wirken. Statt durch freie Konkurrenz haltloſe Geſchäfte zu beſeitigen und ſie da, wo ſie am Platze ſind, neu entſtehen zu laſſen, ſucht man überall nur das Meiſterwerden zu erſchwe - ren, hindert leichte Ueberſiedelungen und ſteigert dadurch124Die Aufnahmen der kleinern Staaten.die Klagen, das Mißbehagen, beſonders da in der Mehr - zahl der Städte die Bureaukratie und die Zünfte doch nicht ſo durchgreifen, daß die beſtehenden Geſchäfte ent - ſprechend abnehmen. Gerade in Baiern wird gegen 1850 mit am meiſten von Ueberſetzung der Handwerker geſpro - chen. Und das iſt nicht bloße Phraſe, ſondern geht zu einem Theile auf einen wahren Uebelſtand, auf eine lokal und zeitlich zu große Zahl von Meiſtern zurück.

Für den Vergleich von 1847 und 1861 iſt die offizielle Bearbeitung der beiden Aufnahmen von Staats - rath Hermann1Die Bevölkerung und die Gewerbe des Königreichs Baiern nach der Aufnahme von 1861, die Gewerbe in Ver - gleichung mit deren Stande im Jahre 1847; herausgegeben vom königl. ſtatiſtiſchen Bureau. München 1862. zu Grunde zu legen. Ich ſchicke die Betrachtung der Geſammtſummen voraus, um erſt nach - her auf einzelne Gewerbe, auf die Handwerke in den Städten, ſowie auf die beſondern Zuſtände in der Pfalz zurückkommen. Die Vergleichung umfaßt nicht die ſämmtlichen 1847 und 1861 aufgenommenen Gewerbe, ſondern nur die in beiden Jahren gleichartig gezählten.

Die Meiſter und Gehülfen mit Einſchluß der Hand - weber betrugen

alſo um 9364 oder 2,6 % mehr, während die Bevöl - kerung um 4,7 %, die Zahl der Fabrikarbeiter um 9 % geſtiegen war. In Altbaiern fiel die Zahl von 333466 auf 330640, alſo um 2826 Perſonen oder 0,85 %. Laſſen wir die Weber bei Seite, ſo kommen,125Vergleich von 1847 und 1861.Meiſter und Gehülfen zuſammen gerechnet, je auf einen Gewerbtreibenden Einwohner:

Gegenüber der Bevölkerung alſo hauptſächlich ein Rückgang in Niederbaiern, dagegen in der Oberpfalz, in Oberbaiern, Oberfranken und Mittelfranken Stabilität, eine kleine Zunahme in Unterfranken und Schwaben, eine weſentliche Zunahme nur in der Pfalz.

Läßt man die Gehülfen bei Seite und rechnet nur die Meiſter, ſo betrugen ſie in ganz Baiern (ohne die Weber): 1847 ... 151006 1861 ... 152976 alſo 1,3 % mehr bei einem Zuwachs der Bevölkerung um 4,7 %; bleibt die Pfalz weg, ſo nimmt die Zahl der Meiſter um 1 % ab; mit den Webern ſinkt die Geſammtzahl der Meiſter in ganz Baiern um 3 %, in Altbaiern um 5,2 %.

Ueberall macht es einen weſentlichen Unterſchied, ob die Pfalz in den Durchſchnitt einbezogen oder aus - gelaſſen wird. Aber nicht die Pfalz allein trägt dazu bei, den relativen Geſammtrückgang kleiner erſcheinen zu laſſen. Auch die Gegend von Nürnberg und Fürth wirkt in ähnlichem Sinne. In den genannten Städten126Die Aufnahmen der kleinern Staaten.haben, abgeſehen von der Blüthe beſonders der Groß - induſtrie, gerade auch eine Anzahl Handwerker, die ſonſt überall zurückgehen, z. B. die Gold - und Silberſchläger, die Roth - und Gelbgießer, die Gürtler und Nadler bedeutend zugenommen; geſchickt als Hausinduſtrie orga - niſirt, vereinigen ſie die Vortheile des kleinen Betriebs mit einem Abſatz im Großen. 1Bavaria III, zweite Abtheilung. S. 1059 ff. : der Nürn - berg-Fürther Induſtrie-Diſtrikt von Dr. Beeg.Auch in andern Gegen - den haben einzelne Gewerbzweige, die für weitern Abſatz thätig ſind, zugenommen, wie z. B. die Holzſchnitzerei und die Korbflechterei. In um ſo grellerem Lichte erſcheint der Rückgang im Uebrigen.

Auf die wichtigern einzelnen Lokalgewerbe überge - hend, theile ich die abſoluten Zahlen derſelben 1847 und 1861 mit; die Bevölkerung hat ſich (1847 4,50 Mill., 1861: 4,68, ein Plus von 4,7 %) ſehr wenig geändert, ſo daß, ähnlich wie in Württemberg und Baden, für dieſe Zeit die abſoluten Zahlen ziemlich klar Fortſchritt oder Rückgang zeigen. Es gab:

127Die einzelnen Gewerbe 1847 und 1861.

Einzelne Gewerbe, welche anderwärts am meiſten litten, wie die Tuchſcheerer und Färber, haben hier ſo - gar noch etwas zugenommen; eine ſtarke Zunahme an Meiſtern wie an Gehülfen zeigen nur die Schneider, die Buchbinder und die ländlichen Gewerbe der Korb - flechter und Holzwaarenverfertiger; ſonſt Rückgang oder Stabilität; aber nicht bloß bei den Meiſtern, ſondern128Die Aufnahmen der kleinern Staaten.auch bei den Gehülfen; die Fleiſcher, die Gärtner, die Gerber, die Seifenſieder, die Zimmerleute, die Schmiede, die Nadler, die Gürtler, die Seiler, die Poſamentiere, die Böttcher haben 1861 weniger Hülfsperſonal als 1847. Das beweist, daß der Hauptübelſtand nicht in der Erſchwerung des Meiſterwerdens lag, ſonſt hätten die Gehülfen doch eher wachſen müſſen; aber es beweist, daß die Zunftverfaſſung viele halbbeſchäftigte Handwerker hält, die allerdings beſſer unter dem Sturmwind freier Konkurrenz vollends ganz beſeitigt würden.

Mehr als alle erwähnten Gewerbe haben die Weber gelitten. Man hat es in Baiern weniger als anderswo verſtanden, den modernen Fortſchritten ſoweit zu folgen, daß, wenn auch mit geringen Löhnen, wenigſtens die Exiſtenz der Handweber gerettet wurde. Tuchmacherei und Wollweberei war von Alters her im ganzen Lande zu Hauſe, hauptſächlich aber in Schwaben, in Mittel - und Oberfranken, in der Oberpfalz und Niederbaiern, an der böhmiſchen Grenze. Von letzterer Gegend ſagt der Berichterſtatter in der Bavaria, Alois Schels:1I, zweite Abtheilung S. 1050. die Tuchfabrikation beſchäftigte vor Jahren im Vils - und Rottthale viele fleißige Hände; doch gegenwärtig liegen mehrere Realrechte brach und iſt der frühere Induſtriebetrieb zum Kleingewerbe herabgeſunken; ehe noch die mächtige Konkurrenz der andern zollvereinten Staaten eintrat, gab Präſident von Rudhart, der die Zuſtände und Bedürfniſſe der ihm anvertrauten Pro - vinz wohl erkannte, den Tuchmachern die entſprechend -129Die bairiſche Weberei.ſten Andeutungen zu gemeinſamem Zuſammenwirken und gegenſeitiger Hilfeleiſtung; leider vergebens. Die Zahl der Webſtühle für wollene Stoffe ſank von 2797 auf 2480 in dem Zeitraum von 1847 61.

Am ſtärkſten ging die Linneninduſtrie zurück; von 29499 Stühlen auf 22740. Im bairiſchen Wald wurde ſie theilweiſe von der Holzinduſtrie erſetzt, gedeiht aber dort daneben noch leidlich. 1Bavaria I, zweite Abtheilung S. 1048.Der frühere Haupt - ſitz dieſer Induſtrie war Schwaben. Ein Handelskam - merbericht des Kreiſes ſpricht ſich darüber (1863) ſo aus:2Daſ. II, zweite Abtheilung S. 926. Die früher ſchwunghaft betriebene Leinenfabri - kation hat ſowohl durch den allgemeiner gewordenen Gebrauch von Baumwollfabrikaten als durch die An - wendung mechaniſcher Spinn - und Webſtühle, wozu noch der Mangel an einheimiſchem Rohmaterial und zweckmäßigen Röſtanſtalten ſich geſellte, faſt gänzlich auf - gehört, und es iſt keine Ausſicht vorhanden, ſelbſt mit namhaften Opfern ſie wieder zu einiger Bedeutung zu bringen. Nur die Augsburger Weber ſcheinen eine Ausnahme zu machen. Dort gelang es nach und nach, wie der Verfaſſer von Augsburgs Induſtrie 3Die Induſtrie Augsburgs mit Rückſicht auf die poly - techniſche Schule 1862. nach - weist, durch Vereinigung zu gemeinſamen Werken, durch zweckmäßige Verwendung des Innungsvermögens und anderweitiger Zuſchüſſe zur Anſchaffung von Material und der zur Gebild - und Buntweberei erforderlichen Stühle und Maſchinen, dann durch die BeſtrebungenSchmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 9130Die Aufnahmen der kleinern Staaten.einzelner intelligenter und bemittelter Meiſter, die Hand - weberei auf den rechten Weg zu führen und wieder zu heben.

Die Baumwollweberei hat ihren Hauptſitz in Ober - franken, im Voigtlande, wo eine rührige fleißige Bevöl - kerung mit erſchöpfender Thätigkeit und Arbeitsluſt ihr rührend genügſames Daſein friſtet. 1Siehe Bavaria III, erſte Abtheilung S. 336. Fentſch, der lokalkundige unparteiiſche Verfaſſer dieſes Abſchnitts ſagt: Der Oberfranke iſt im Allgemeinen rührig und fleißig. In den Bezirken, wo eine induſtrielle Beſchäftigung vorwiegend iſt, bei den Paterlmachern, den Verfertigern von Holzſchuhen und den Schwingenmachern im Gebirge, den Korbflechtern am Main und an der Rodach, den Tafelmachern im Thüringer Wald, in den Weberdiſtrikten des Voigtlandes und des Wunſiedler Kreiſes, dann um Berneck, wo das Plauiſch-Nähen (die Sticke - rei) in einem großen Theil der Hütten und Bürgerhäuſer alle Hände beſchäftigt, iſt die Arbeit nahebei zur Mühſal geworden. Der geringe Verdienſt geſtattet nur wenig Ruhepunkte, und auf dem Werktagsleben laſtet eine unerquickliche Monotonie, deren Wirkung ſich in einem Mangel an Friſche und Freudigkeit kund - giebt. Der 30ſte Menſch iſt in Oberfranken ein Weber, in ganz Baiern der 96ſte. Im Bezirke Müncheberg kommen auf 24000 Seelen etwa 2000 Webermeiſter mit ungefähr 1000 Geſellen, alſo eine Weberbevölkerung von gegen 10000 12000 Menſchen. Die Baumwollweberei entwickelte ſich hier als freieres Gewerbe gegenüber der ſtrengern zunftmäßigen Leinenweberei ſeit dem 15. Jahrhundert. Noch gegen Ende des vorigen Jahrhunderts war es ein blühender Zuſtand. Einige wenige Fabrikanten beſchäftigten ſchon 140 150 Stühle; die meiſten nur wenige Stühle;131Die bairiſche Weberei.die kleinern verkauften ihr Produkt an die großen, waren aber als beſitzende Leute von dieſen nicht abhängig. In dieſem Jahrhundert nahm die Verarmung mit den ſin - kenden Preiſen der Baumwolle und der Baumwollpro - dukte zu. Viele hatten bald keine eigenen Stühle, keine eigenen Spulen mehr; Spullohn und Miethe für den Stuhl wurde ihnen vorweg am Verdienſt abgezogen. Kapital zu Ankauf eigener Twiſte war nicht mehr da. So wurden die Weber reine Lohnarbeiter; die Auswahl, für dieſen oder jenen Fabrikanten zu arbeiten, wurde im - mer kleiner, da die kleinen Fabrikanten ſelbſt Bankerott machten. Der Höhepunkt des Elends war in den vier - ziger Jahren. Seither iſt es eher wieder beſſer gewor - den, beſonders ſeit ſächſiſche Fabrikanten, durch die Bil - ligkeit des Lohnes angezogen, viel im Voigtlande arbei - ten laſſen und ſo den wenigen inländiſchen Großgeſchäf - ten, die den Weber ganz in den Händen hatten, Kon - kurrenz machten. Die Zahl der Baumwollſtühle hat in Oberfranken ſogar von 11301 auf 13378 von 1847 bis 61 zugenommen.

Die Geſammtzahl der Webermeiſter in Baiern aber hat nach der Berechnung von Hermann1Die Bevölkerung und die Gewerbe ꝛc. im Jahre 1861. S. 162. von 38323 im Jahre 1847 auf 30935 abgenommen, d. h. um 23,9 %, während die Bevölkerung um 4,7 % wuchs; auch in der Pfalz nahmen die Webermeiſter um 13,9 % ab. Welche Kämpfe, welches Elend, wie viel zerrüttetes Familienglück liegen zwiſchen zwei ſolchen Zahlen!

9 *132Die Aufnahmen der kleinern Staaten.

Nach dieſer Abſchweifung über die Weber kehre ich zu den Geſammtreſultaten zurück, wie ſie ſich unter beſondern lokalen Verhältniſſen geſtalten.

Die unmittelbaren Städte diesſeit des Rhein’s haben ſich ſtark vergrößert, von 453986 auf 544067 Einwohner; ſie ſind um 19 % reicher an Menſchen, von welchen freilich wieder der Haupttheil auf München, Nürnberg, Augsburg und Würzburg fällt; die ganze Zunahme iſt 90081 Seelen, auf die vier Städte kom - men 79863. Die Zahl der[Handwerker] inkl. der Weber und mit den Gehülfen fiel in den unmittelbaren Städ - ten von 58850 auf 57694, d. h. um 2 %; die Zahl der Meiſter mit den Webern um 2,6 %; ohne die Weber ſtieg die Meiſterzahl um 8 %. Die Meiſterzahl ohne die Weber hat alſo wenigſtens abſolut noch etwas zuge - nommen, die der Gehülfen dagegen hat auch abſolut abgenommen. Wieder ein Argument gegen die Zurück - führung aller Mißſtände auf erſchwertes Meiſterwerden.

In den ſämmtlichen übrigen Gemeinden nach Abzug der unmittelbaren Städte nahm die geſammte Handwer - kerbevölkerung nur um 0,6 % ab, während die Bevölke - rung nicht ſo ſtieg, wie in den Städten. Und doch galten da die gleichen Geſetze, und es wird in den Dörfern und kleinen Städten die Handhabung eher noch engherziger geweſen ſein. Die Städte litten mehr als das Land, weil auf dem Lande noch die alten Zuſtände fortdauern, in den Städten die Umbildungen beginnen.

Daß in der gewerbefreien Pfalz die Reſultate beſſer ſind, d. h. daß da die Geſammtzahl der Handwerker von 1847 61 ſtieg, iſt ſchon erwähnt; es iſt aber133Die Zuſtände in der Pfalz.nöthig, dabei noch einen Moment zu verweilen. Um keine falſchen Schlüſſe aus dem Gegenſatz zu ziehen, muß man ſich der Vergangenheit und der anderweitigen Zu - ſtände in der Pfalz erinnern.

Das ſchöne, von der Natur reich geſegnete Land hatte mit der franzöſiſchen Herrſchaft die freiheitliche Geſetzgebung erhalten; der beweglich rührige Sinn der Bewohner war dem Neuen ohnedieß zugänglich; die Aenderungen, welche andere Länder erſt nach Jahrzehn - ten erfuhren, vollzogen ſich ſchon jetzt; die zahlreichen indolenten bisher nur durch die Zunft geſchützten Meiſter begannen ſchon damals abzunehmen. Als die Verwü - ſtungen der Kriege überwunden waren, als vollends mit dem Zollverein die Segnungen des freien Verkehrs und der günſtigen Lage, die Segnungen der Eiſenerzlager, des vorzüglichen Weinbodens mehr und mehr zu Tage traten, da wuchs die dichte Bevölkerung immer mehr; die Kultur des Landes, der Bau von Tabak und Wein drängte zu immer weiter gehender Parcellirung; die Parcelle iſt im Durchſchnitt noch nicht ein halbes Tag - werk11 Tagwerk = 1,7 preuß. Morgen. groß; jeder Grundbeſitzer hat ſeinen kleinen Beſitz durchſchnittlich in nicht weniger als 9 Parcellen. Die Bevölkerung hatte 1818 4124 Menſchen pro Quadrat - meile betragen, 1849 betrug ſie 5697.

Aber ſucceſſiv war die Zunahme eine langſamere geworden, der Lohn war geſunken, die Noth geſtiegen. Die Auswanderung nach Amerika nahm bedeutende Di - menſionen an, nannte man doch häufig den deutſchen134Die Aufnahmen der kleinern Staaten.Auswanderer ſchlechthin einen Pfälzer. Von 1849 bis 1856 wanderten nicht weniger als 64852 Köpfe aus, ganz abgeſehen von der heimlichen Emigration, das ſind etwa 10 % der Bevölkerung des Landes. Die Bevölkerung nahm trotz des immer ſtarken natürlichen Zuwachſes um etwa 5 % in dieſer Periode ab.

Die nächſtliegenden Urſachen waren die theuren Jahre, die Revolution; die ferner liegenden aber waren die allgemeinen Veränderungen der induſtriellen Pro - duktion, die Dichtigkeit der Bevölkerung, die Parcel - lirung. Ein großer Theil der Leute lebt halb vom Boden, halb von gewerblicher Arbeit. Wenn Pflug und Hacke, Senſe und Dreſchflegel ihre Arbeit gethan haben, nehmen Cigarrenfabrikation, die Strohflechterei, die Bürſtenbinderei, der Hauſirhandel ihren Anfang. Auch in dieſen Branchen drückte die Konkurrenz mit vor - angeſchrittenen Gegenden die Preiſe; das Auskommen wurde immer kärglicher. Aehnlich war es in den Klein - gewerben, deren Betrieb trotz der Gewerbefreiheit tech - niſch zurück war. Sie waren längſt zurückgegangen; 1845 50 wanderten noch mehr Handwerker aus. Es gab in der Pfalz im Jahre 1847, Meiſter und Gehülfen zuſammengerechnet, noch nicht halb ſo viel Handwerker, als z. B. in dem gewerbeloſen Oberbaiern; ein Hand - werker kam in Oberbaiern ſchon auf 13 Menſchen, in der Pfalz erſt einer auf 271Die Bevölkerung und die Gewerbe S. 31.. Das Verdienſt der Gewerbefreiheit war ſomit das geweſen, mit dem Klein - gewerbe in der Pfalz ſehr viel früher aufgeräumt zu135Die Handwerker in der Pfalz 1847 und 1861.haben als anderswo. Der Zuſtand damals war kein erfreulicher; immer weniger konnte ſich der kleine Mei - ſter halten, und doch entſtanden zunächſt keine größeren Geſchäfte, weil der Trieb nach Selbſtändigkeit überwog und die Gewerbefreiheit Jedem die Selbſtändigkeit ge - ſtattete. Auf 17756 Meiſter kommen 1847 nur 4717 Gehülfen; das heißt, die vorhandenen Geſchäfte ſind kleiner und elender als irgendwo anders; im übrigen Baiern kommen damals 30 Einwohner auf einen Gehül - fen, in der Pfalz kommt erſt auf 129 Einwohner ein ſolcher.

Nach Mitte der 50er Jahre beſſern ſich nun, wie allerwärts, ſo auch in der Pfalz die Zuſtände; die Pro - duktenpreiſe ſteigen, die Großinduſtrie erhebt ſich in glänzendſter Weiſe, die Eiſenwerke, die Maſchinenfabri - ken, die großen Spinnereien und Webereien in Kai - ſerslautern und Zweibrücken, die chemiſchen Fabriken, die großen Glas - und Steingutfabriken geben mit der Vollendung der Eiſenbahnen dem Lande einen andern Charakter; auch die Bevölkerung wächſt wieder und überſchreitet ſelbſt die 1849 erreichte Höhe, ſie ſteigt auf 5779 Menſchen pro Quadratmeile im Jahre 1864.

Das wirkt auch auf die Kleingewerbe zurück; ihre Geſammtzahl inkl. der Weber und Gehülfen iſt 1847 .... 27226 1861 .... 39416, alſo eine Zunahme von 44,8 %; die Fabrikarbeiter hatten 18478501, 186112348 Perſonen betragen, ſie ſind alſo auch um 45 % geſtiegen. Die Zahl der Meiſter allein (inkl. Weber) betrug136Die Aufnahmen der kleinern Staaten.1847 .... 20785 1861 .... 23702, alſo eine Zunahme von 14 %. Die Hauptzunahme bei den Kleingewerben erfolgte ſomit in der Gehülfenzahl.

Dabei darf man aber nicht vergeſſen, daß dieſe Zunahme eine Zunahme iſt nach Jahren der Noth und der Decimirung; ſelbſt mit dieſer großen Zunahme iſt die Geſammtzahl der im Handwerk beſchäftigten Perſo - nen in der Pfalz immer noch nicht ſo ſtark, wie im Durchſchnitt des Königreichs Baiern; es kommen im Durchſchnitt des Königreichs 1861 auf 14 Menſchen 1 Handwerker, in der Pfalz auf 17. Die Zahl der Meiſter iſt jetzt wieder ſtärker in der Pfalz als im Durchſchnitt des Königreichs. Die Zahl der Gehülfen iſt trotz der Zunahme noch weſentlich geringer. Die einzelnen Geſchäfte ſind auch jetzt noch kleiner als in Altbaiern. Der Trieb, ſich ſelbſtändig zu machen, über - wiegt die Tendenz der Zeit auf größere Geſchäfte.

Die Hauptzunahme der Kleingewerbe bis 1861 trifft übrigens in der Pfalz wohl nicht ſo ſehr die für lokalen Bedarf arbeitenden Meiſter aller Art, ſondern vornehm - lich einzelne Hausinduſtrien, die in techniſch vervoll - kommneter Weiſe für den Großhandel thätig ſind, ſo die Schuhfabrikation in Pirmaſens, die Strohflechterei, die Bürſtenfabrikation.

Seit 1861, beſonders von 1861 65 hat ſich der Zuſtand der Pfalz noch mehr gehoben; bei der im - mer noch geringen Zahl der vorhandenen Handwerker im Jahre 1861 iſt das begreiflich. Wenn beſonders in einzelnen raſch wachſenden Städten, wie Kaiſerslau -137Die Handwerker in der Pfalz 1861 1865.tern, die Zunahme groß iſt, wenn die Meiſter dort 1861410, 1863542 Perſonen, die Gehülfen derſel - ben 1861526, 1864 die Geſellen allein 889 Perſo - nen ausmachen, wenn bei der Zunahme alle Arten von Meiſtern betheiligt ſind, wenn z. B. die Schmiede von 10 auf 23, die Schneider von 47 auf 76, die Schuh - macher von 69 auf 90, die Bäcker von 27 auf 34, die Glaſer von 9 auf 14, die Metzger von 20 auf 28, die Buchbinder von 6 auf 8, die Sattler von 6 auf 7 ſtiegen,1Bavaria, IV, 2. Abth. 1867. S. 472 ff. ſo beweist das allerdings, daß ein techniſch vollendeteres Handwerk auch heute immer noch ſeinen Platz hat; aber es beweist noch nichts über das Ge - ſammtverhältniß von großer und kleiner Induſtrie, nichts über die geſunde und ungeſunde Vermögens - und Ein - kommenvertheilung der heutigen Zeit überhaupt.

Die Gewerbefreiheit der Pfalz hat unhaltbare Zu - ſtände früher beſeitigt, den Uebergang befördert, die Technik allerwärts verbeſſert, aber die Kleingewerbe hat ſie nicht erhalten, ſondern früher vernichtet, freilich um ſie ſpäter auf geſunderer Grundlage mit beſſerer Technik wenigſtens zu einem Theile wieder erſtehen zu laſſen. Vor Allem aber und hauptſächlich hat ſie die Großgewerbe geſtärkt. Auch von 1861 bis zur Gegen - wart fällt auf ſie die Hauptentwickelung.

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4. Die ſächſiſche Handwerkerſtatiſtik von 1830 61, die Gewerbefreiheit von 1862 66.

Die ältern gewerblichen Zuſtände, zahlreiches[Handwerk], große Hausinduſtrie 1846. Die Geſetzgebung. Beginn der Kriſis ſchon zwiſchen 1836 und 49; Vergleichung der Meiſterzahlen dieſer Jahre; Zunahme der Hausinduſtrie, Abnahme der übri - gen Meiſter. Vergleichung der Handwerker in den 30 größ - ten Städten des Landes 1830 und 1856. Die Beſchäfti - gungsſtatiſtik 1849 und 61, Wachsthum aller übrigen Kate - gorien von Perſonen, Rückgang der Handwerker. Die Hand - werkerliſten 1849 und 61 und die wichtigern einzelnen Hand - werke. Die Gewerbefreiheit im Handelskammerbezirk Dresden 1862 65, im Handelskammerbezirk Leipzig 1862 66.

Das Königreich Sachſen iſt das dichtbevölkertſte Land des Zollvereins; ſchon im Jahre 1834 lebten 5868, 18587805 Menſchen auf der Quadratmeile. Handel und Gewerbe, ſeit alter Zeit dort heimiſch, ſind die weſentlichen Faktoren dieſer Bevölkerungsentwickelung. Der Boden iſt theilweiſe karg; im Erzgebirge bietet er ſelbſt dem hartnäckigſten Fleiße große Schwierigkeiten. Der Beſitz aber iſt meiſt ziemlich getheilt. Große und klei - nere Städte bilden überall gewerbliche Mittelpunkte. Die vielfach verbreitete Hausinduſtrie der Weberei, der139Die gewerblichen Zuſtände 1846.Strumpfwirkerei, der Poſamentierarbeiten erſtreckt ſich ebenſo über die Dörfer als über die Städte, ſo beſon - ders in der Lauſitz, im Erzgebirge, in den ſogenannten Schönburgiſchen Rezeßherrſchaften.

In den Jahren 1790 1806 hatte der ſächſiſche Handel durch die Leipziger Meſſen einen großen Auf - ſchwung genommen. Während der Kontinentalſperre ent - wickelte ſich beſonders die Gewebeinduſtrie raſch und erhob ſich ſelbſt u einem bedeutenden Export nach dem Auslande. Die Aufhebung der Kontinentalſperre, die Konkurrenz mit England brachte manche Schwierigkeit, aber ſie hielt den Fortſchritt nicht auf; hinderlicher waren die 1818 errichteten preußiſchen Zollſchranken, die erſt 1833 durch den Eintritt Sachſens in den Zollverein fielen.

Die größte relative Zunahme erfuhren ſchon damals die großen Betriebe, der Bergbau, das Hüttenweſen, die Spinnereien; aber der Perſonenzahl nach ſtanden Hausinduſtrie und Handwerk bis Ende der vierziger Jahre im Vordergrunde. Mechaniſche Webſtühle waren 1846 noch keine vorhanden. Außer für Eiſenbahnen und Bergbau, Spinnereien und Maſchinenfabriken gab es 1846 nur einige Dampfmaſchinen im ganzen Lande. 1Mittheilungen d. ſtatiſt. Bureaus in Berlin. II, 255.Die Zahl der Handwerker (ſogar ohne die Weber) war 1846 in Sachſen am höchſten von allen den Staaten, in denen eine Gewerbeſtatiſtik damals aufge - nommen wurde. Es kam damals ſchon auf 13,4 Ein - wohner ein Handwerker (Meiſter und Gehülfen zuſam -140Die Aufnahmen der kleinern Staaten.mengenommen), in Baden erſt auf 15,5, in Bayern auf 16,2, in Preußen auf 20,5 Einwohner. 1Mittheilungen des ſtatiſt. Bur. in Berlin IV, 292.

Und doch galt damals in Sachſen die alte Zunft - verfaſſung mit Innungszwang, Lehr - und Wanderzwang für alle älteren Gewerbe; bis 1840 noch mit weſent - licher Erſchwerung des Gewerbebetriebes auf dem plat - ten Lande. Die Hausinduſtriezweige freilich, die Webe - rei, Strumpfwirkerei, Holzwaaren - und Inſtrumenten - fabrikation, ferner die Gewerbe der Bürſtenmacher, Nagelſchmiede, Blechſchmiede, Bandmacher und Poſa - mentiere hatten ſich wenigſtens in vielen Gegenden unter Beibehaltung der Innungsverfaſſung auf dem Lande aus - gebreitet. Viele Landgemeinden hatten überdieß beſon - dere Privilegien für Gewerbebetrieb. Außerdem waren auf dem Lande die unzünftigen Gewerbe frei, die zünf - tigen waren nur unter gewiſſen Beſchränkungen zugelaſ - ſen. Das Geſetz vom 9. Okt. 1840 brachte wenigſtens einige Erleichterung: Fabrikgewerbe, Maurer, Zimmer - leute, Eſſenkehrer und Schwarzbrodbäcker ſollten wie bisher ſchon frei ſein; außerdem ſoll von der Obrigkeit für jede Landgemeinde wenigſtens ein Schneider, Schuh - macher, Weißbäcker, Fleiſcher, Schmied, Stellmacher, Sattler, Tiſchler, Glaſer, Seiler und Böttcher ohne Weiteres zugelaſſen werden. Weitere zünftige Handwer - ker bedürfen der Regierungserlaubniß. Vor wie nach 1840 waren für einzelne wenige Innungen und ein - zelne Städte Realrechte vorhanden, welche kraft beſon - derer Privilegien allein in dem Orte Meiſterrecht gaben,141Die ſächſiſche Gewerbegeſetzgebung.eine geſchloſſene Zahl repräſentirten. Manche Uebelſtände ergaben ſich aus dieſer Geſetzgebung. Die gewerbliche Entwickelung im Ganzen aber wurde dadurch bis in die vierziger Jahre nicht gehemmt. Das ſächſiſche ſtatiſtiſche Bureau ſagt hieran anſchließend:1Zeitſchrift für 1860. Nr. 9 12. Zur Statiſtik der Handwerke in Sachſen. S. 109. Die Gewerbeverfaſ - ſung hat auf die Zahl der Meiſter lange nicht den Ein - fluß, als man anzunehmen geneigt iſt. Wenn die übri - gen Bedingungen nicht gegeben ſind, vermehren ſich auch in gewerbefreien Ländern die Meiſter nicht raſch, und wo ſich dieſe Bedingungen vorfinden, hindert auch die Zunftverfaſſung ein raſches Anwachſen der Meiſterzahl ſelbſt über das reelle Bedürfniß hinaus (d. h. unter gleichzeitiger Abnahme des Hülfsperſonals) nicht.

So viel iſt richtig, ſo viel beweiſen die ſächſiſchen Zahlen vor 1846, daß die anderen Urſachen wichtiger ſind, als die Gewerbeverfaſſung. Die praktiſche Hand - habung der Gewerbegeſetze war keine allzuſchroffe. Die induſtrielle Entwicklung Sachſens war eine günſtige; der Zuwachs an Handwerkern war natürlich, ſolange in dieſen Bahnen ſich die gewerbliche Thätigkeit über - haupt bewegte. Die große Verbreitung der Kleinge - werbe hatte ihre einfache Urſache darin, daß die gewerb - liche Blüthe Sachſens ſchon lange vor 1840 beginnt.

Mit den vierziger Jahren freilich und noch mehr mit den fünfziger wird Vieles anders. Mehr und mehr wächſt nur der große Betrieb. Die Eiſenbahnen und der große Verkehr vollenden die Leichtigkeit des Abſatzes,142Die Aufnahmen der kleinern Staaten.verlangen billigere und vollendetere Produkte, wie ſie nur ſpezialiſirte Betriebe mit ausgezeichneten Maſchinen liefern können. Es ſteigert ſich der Bedarf an Kohlen, es wachſen hauptſächlich die großen Berg - und Hütten - werke, daneben die Spinnereien, die großen Appretur - anſtalten, die mechaniſchen Webereien.

Die erſte Wirkung dieſes Umſchwungs zeigt ſich uns ſchon in einer Vergleichung der Meiſterzahlen des ganzen Königreichs von 1836 und 1849,1Zeitſchrift d. ſtat. Bur. 1860. S. 106. Tab. 3b. wobei zu bedauern iſt, daß die Zahl der Gehülfen für die Ver - gleichung dieſer beiden Jahre fehlt; nur wenn man beide zuſammenfaßt, iſt ja erſichtlich, ob das Hand - werk im Ganzen zu - oder abgenommen, ob nicht die theil - weiſe Abnahme der Meiſter durch Zunahme der Gehül - fen ſich ausgleicht. Letzteres ſcheint aber hier nicht der Fall zu ſein, wenigſtens ſpricht ſich das ſtatiſtiſche Bu - reau über dieſe Epoche dahin aus, daß die Zahl der Geſellen und Lehrlinge nicht bloß relativ, ſondern ſogar in vielen Gewerben abſolut in deutlicher Abnahme begriffen ſei. 2Zeitſchrift d. ſtat. Bur. 1860. S. 100.

Was den kritiſchen Werth der Zahlen betrifft, ſo ſei nach dem Gewährsmann des ſtatiſtiſchen Bureaus bemerkt, daß die Zahlen für 1836 dem Gewerbeſteuer - kataſter entnommen ſind, daß die Weber und Strumpf - wirker für dieſes Jahr zu niedrig erſcheinen, weil die Lohnmeiſter nicht einbegriffen ſind, daß die Schnei - derzahl damals zu hoch iſt, weil die Flickſchneider und143Die ſächſiſchen Meiſter 1836 und 1849.Schneiderinnen mitgezählt ſind. Für 1849 ſind die Zahlen der Meiſter durchaus etwas zu hoch, da bei der Aufnahme von 1849 auf die Frage, ob ein Innungs - meiſter auch wirklich noch ſein Gewerbe ausübe, gar kein Gewicht gelegt wurde. 1Zeitſchrift d. ſtat. Bur. 1860. S. 102 3.Darnach iſt die Zahl der Mei - ſter und ihr Verhältniß zur Bevölkerung zu beurtheilen. Es waren:

144Die Aufnahmen der kleinern Staaten.

Ich habe in der vierten Spalte da, wo ſich eine Abnahme gegenüber der Bevölkerung findet, ein Minus - zeichen beigefügt; die Geſammtzahl aber hat nicht ab, ſondern zugenommen; es kamen auf 10000 Einw. 145Die ſächſiſchen Meiſter 1836 und 1849.1836 415, 1849 645 Meiſter; die Zunahme trifft aber ausſchließlich die Hausinduſtrie der Gewebe, die überdies 1836 zu niedrig angegeben iſt, womit frei - lich nicht geleugnet werden ſoll, daß ſie zugenommen habe. Trennt man die Poſamentiere, Strumpfwirker, Tuchmacher und Weber von den übrigen Handwerkern, ſo kommen von erſteren auf 10000 Einwohner 1836 97,54, 1849 336,82 Meiſter, von den ſämmtlichen übrigen aber 1836 317,46, 1849 308,18.

Die Zahlen für 1849 ſind nicht ganz maßgebend, ſofern dieſes Jahr ein beſonders gedrücktes war. Doch würde von dieſem Druck die Zahl der Geſellen viel mehr affizirt ſein, als die der Meiſter. Nehmen wir dazu, daß die Aufnahme 1849 viele Meiſter mitzählte, welche ihr Gewerbe nicht mehr ausübten, ſo kommen wir allerdings zu dem Schluſſe, daß in einer Zeit, in der die Bevölkerung, die Landwirthſchaft, die große Induſtrie Sachſens die größten Fortſchritte machte, die Zahl der Handwerker nicht ebenſo gewachſen, gegen - über der Bevölkerung eher zurückgegangen iſt. Es iſt das um ſo ſprechender, als gerade der ſonſtige Fortſchritt der Landwirthſchaft und der Bevölkerungsdichtigkeit doch für viele einzelne Gewerbe Vortheile, weitern Spiel - raum und auch wirkliche Zunahme brachte.

Die Arbeit, der die vorſtehenden Zahlen entnom - men ſind,1Zur Statiſtik der Handwerke in Sachſen. Zeitſchrift 1860. Nr. 9 12. beſchäftigt ſich außer den allgemeinen Fragen ſpezieller mit der Handwerksſtatiſtik der 30 größernSchmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 10146Die Aufnahmen der kleinern Staaten.ſächſiſchen Städte, indem ſie die Zahlen der Meiſter, Geſellen und Lehrlinge für die Jahre 1830 und 1856 vergleicht; die Zahlen ſtützen ſich auf eine beſondere durch die Innungen gemachte Aufnahme. Es kann ſich hier nicht darum handeln, aus den umfangreichen Tabellen der einzelnen Städte das Detail mitzutheilen, um ſo weniger, als wir auf den Gegenſatz von Stadt und Land noch beſonders werden zu ſprechen kommen; nur das Geſammtreſultat, ſoweit es eine Beſtätigung der bisherigen Unterſuchung enthält, iſt zu erwähnen. Und das geht nach den Worten der Zeitſchrift dahin: Gehen wir ſagt ſie auf die Vergleichung der Zuſtände von 1830 und 56 ein, ſo iſt auffallend, daß die meiſten Gewerbe (auch abgeſehen von den mit Bankgerechtigkeiten in geſchloſſener Zahl verſehenen, welche ſich freilich gar nicht oder nur wenig mehren konnten) in den meiſten Städten in ihrer Meiſterzahl hinter dem Wachsthum der Bevölkerung zum Theil ſehr erheblich zurückgeblieben ſind, ja zum Theil ſich abſo - lut vermindert haben. Nur bei wenigen iſt dieſe Ver - minderung der Meiſterzahl poſitiv durch eine Vermeh - rung des Hülfsperſonals ausgeglichen oder ſelbſt in eine relative Vermehrung des Gewerbes verwandelt; bei eini - gen iſt ſogar eine relative Vermehrung der Meiſterzahl durch Verminderung des Hülfsperſonals negativ ausge - glichen. Ein Theil des Zurückbleibens hinter dem Wachs - thum der Bevölkerung rührt gewiß von der zum Theil in Folge des Geſetzes vom 9. Okt. 1840 entſtandenen gleichmäßigern Verbreitung gewiſſer Handwerke über das platte Land her. Indeſſen wird ſich doch zeigen, daß147Das Handwerk in den ſächſiſchen Städten 1830 u. 1856.dieſer Einfluß auf die Geſtaltung des ſtädtiſchen Hand - werksbetriebs überſchätzt worden iſt, und daß viele kleine Städte noch immer die Mittelpunkte des Handwerks auch für das Land geblieben ſind, ſoweit man dies nach den Perſonalverhältniſſen beurtheilen kann. Je größer eine Stadt wird, deſto mehr tritt von ſelbſt der Antheil in den Hintergrund, welchen das umgebende platte Land von der Beſchäftigung der ſtädtiſchen Handwerker hat. Solche Städte dürften auch von völliger Freigebung des Gewerbebetriebs auf dem Lande nur wenig oder gar nicht berührt werden.

Wenn in Leipzig, in Dresden, in Chemnitz die Zahl der Meiſter, Geſellen und Lehrlinge nur in 2 3 Handwerken zugenommen, in vielen aber um 20 50, ja bis 70 % gegenüber der Bevölkerung abgenommen hat,1Die prozentuale Abnahme iſt berechnet in Tabelle 35 S. 122 124 a. a. O. wenn das in den kleinen Städten nicht ganz ſo, aber ähnlich iſt, ſo iſt neben der veränderten Geſetzge - bung die Haupturſache die, daß in den großen Städten die neue Richtung, die nach ſpezialiſirter Produktion und nach dem Magazinſyſtem drängt, am gewaltigſten ſich jetzt ſchon geltend gemacht hat.

Die Ergebniſſe der Beſchäftigungs - und Gewerbe - ſtatiſtik von 1849 und 18612Zeitſchrift des ſtat. Bureaus für 1863. Nr. 3 u. 4: Beiträge zur Statiſtik der in geſchloſſenen Etabliſſements mit mechaniſchen Mitteln betriebenen Induſtriezweige Sachſens im Jahre 1861. Nr. 5 8.: Die Bevölkerung des Königreichs Sachſen nach ihrer Beſchäftigung und ihrem Erwerbe 1861. beſtätigen im Allgemeinen10 *148Die Aufnahmen der kleinern Staaten.die Richtigkeit der vorſtehenden Folgerungen. Es handelt ſich um zwei einander entgegen wirkende Strömungen: auf der einen Seite eine raſch zunehmende Bevölkerung, ein raſcher Zuwachs beſonders der Städte, eine glän - zende Entwickelung der großen Induſtrie, beſonders der Gewebeinduſtrie; das muß nothwendig auch auf einzelne kleine Geſchäfte und Betriebe günſtig zurückwirken; auf der andern Seite die Unmöglichkeit für viele Handwerke, mit dieſer Entwickelung gleichen Schritt zu halten; theil - weiſer Rückgang, Abnahme der Meiſter, zum Theil auch des Hülfsperſonals.

Was die poſitiven Zahlen betrifft, ſo geſchah die Aufnahme in folgender Weiſe. Im Jahre 1849 hatte Dr. Engel in direktem Anſchluß an die Bevölkerungs - zählung eine Beſchäftigungsſtatiſtik erheben laſſen, wobei nicht die Fabriken, die einzelnen Unternehmungen über ihre Geſchäfte und Arbeiter Angaben machten, ſondern in den Hausliſten den Individualangaben Bemerkungen über die Art des Unterhalts beigefügt wurden. An dieſe Art der Zählung ſchloß man ſich auch 1861 an und fügte nur auf den Rückſeiten der Haushaltungsliſten die Sche - mata der Gewerbeſtatiſtik des Zollvereins bei, welche von andern Geſichtspunkten ausgeht, nach Geſchäften, Unternehmungen zählt. So entſtand eine doppelte Auf - nahme, die aber, was die Handwerker betrifft, ziemlich identiſch iſt. An Unrichtigkeit leidet die Aufnahme in ſo fern, als viele kleine Meiſter, welche für größere arbei -2Nr. 9 10.: Zur Statiſtik der Handwerke im Königreich Sach - ſen 1849 und 1861. 149Die ſächſiſche Induſtrie 1849 und 1861.ten, ſich als ſelbſtändige Geſchäfte angegeben haben, und noch mehr in ſofern, als viele frühere Geſellen, beſon - ders Schmiede -, Schloſſergeſellen, die in Fabriken arbei - ten, die oft nicht am Orte ſelbſt, ſondern in den nächſt - liegenden Dörfern wohnen, ſich nach ihrer innungsmäßig erworbenen Qualifikation als Geſellen angaben, und dadurch in der Handwerker - ſtatt in der Fabriktabelle verzeichnet ſind. Sowohl Meiſter als Gehülfen erſchei - nen daher 1861 in größerer Zahl, als ſie wirklich vorhanden, reſp. dem Kleingewerbe angehörig ſind.

Nach der Beſchäftigungsſtatiſtik betrugen nun die Selbſtthätigen 1849 und 1861 in den folgenden Abthei - lungen:

Faßt man dieſe mit den ſämmtlichen übrigen Selbſt - thätigen zuſammen und fragt, wie viele Prozente der ſämmtlichen Selbſtthätigen jede dieſer Klaſſen 1849 und150Die Aufnahmen der kleinern Staaten.1861 ausmachte, ſo ſteigen die Selbſtthätigen im Berg - bau von 2,11 % auf 2,52 %, die in der Fabrikin - duſtrie von 3,34 auf 6,07 %, die in der Hausinduſtrie von 17,67 auf 19,31 %, die in freien Gewerben von 1,92 auf 2,32 %, die Handarbeiter von 6,13 auf 8,88 %, nur die Handwerker ſinken von 14,03 auf 13,79 % der ſämmtlichen Selbſtthätigen des Königreichs herab.

Die Handwerkertabelle, nach der Zollvereinsauf - nahme im Jahre 1861 geordnet iſt, nicht direkt mit der Beſchäftigungsſtatiſtik von 1849 vergleichbar; doch iſt die Mehrzahl der Handwerker mit Ausſchluß der Handelsgewerbe und Hausinduſtrie in einer beſondern Tabelle nach den abſoluten Zahlen von 1849 und 61 verzeichnet,1Zeitſchrift des ſtatiſt. Bur. 1863. S. 102. deren Reſultat ich ſummirt habe. Die dort verzeichneten Meiſter ſind von 54859 auf 56257, die Gehülfen von 73403 auf 95359, die Summe beider iſt von 128262 auf 151610 geſtiegen. Das iſt eine Zunahme von 11,82 %, während die Zunahme der Bevölkerung 17,03 % beträgt.

Dieſe Rechnung beſtätigt, was die Zeitſchrift ver - ſichert, ohne die Zahlen zu ſummiren. Nachdem ſie vorausgeſchickt, daß ſich die Meiſterzahlen in ſehr vie - len Gewerben und Städten ſogar abſolut vermindert haben, daß in vielen andern Gewerben die Meiſterzah - len zwar abſolut gewachſen ſind, aber ſelten im Ver - hältniß der Bevölkerung zunahmen, fügt ſie über die Geſammtzahlen von Meiſtern und Gehülfen noch hinzu, daß auch ſie meiſt hinter dem Wachsthum der Bevölkerung151Die ſächſiſchen Kleingewerbe 1819 und 1861.zurückgeblieben ſeien; doch ſeien die Ausnahmen des Gegentheils zahlreicher, als wenn man die Meiſter allein in Betracht ziehe.

Was die einzelnen Gewerbe betrifft, ſo haben ſich ausnahmslos weniger vermehrt als die Bevölkerung die Schneider, Schuhmacher und Nagelſchmiede, faſt aus - nahmslos die Gerber, Seifenſieder, Kammmacher und Gürtler. Der Bevölkerung ſo ziemlich parallel blieben, eher ihr etwas voraus eilten die Bäcker, Barbiere, Bürſtenmacher, Buchbinder, Friſeure, Glaſer, Hut - macher, Korbmacher, Kürſchner, Klempner, Tiſchler; ausnahmslos vermehrt haben ſich nur die Maurer, Zimmerleute und Schloſſer. Die Zeitſchrift knüpft daran die richtige Bemerkung, daß die für perſönliche Dienſte und Nahrungszwecke arbeitenden Gewerbe, beſonders da ſie bis jetzt der Maſchinenhülfe faſt noch ganz entbehren, nothwendig ſich in einem gewiſſen Gleichgewicht mit der Bevölkerung halten, daß dagegen alle mit dem Ma - ſchinen - und Bauweſen verknüpften Gewerbe einen größern Spielraum für Zu - oder Abnahme bieten, daß wenn ſie der Bevölkerung voraus eilen, dieß wohl als ein Beweis des wachſenden Wohlſtandes im Allgemeinen anzu - ſehen ſei. Es wird auch Niemand leugnen können, daß der Wohlſtand im Allgemeinen in Sachſen trotz des Miß - behagens ſo vieler Kleingewerbe von 1849 61 geſtiegen iſt.

Durch das Geſetz vom 15. Oktober 1861 wurden in Sachſen die Realgewerberechte aufgehoben und entſchä - digt, die Gewerbefreiheit vom 1. Januar 1862 an eingeführt, die Innungen aber als freiwillige Vereinigun - gen beibehalten.

152Die Aufnahmen der kleinern Staaten.

Eine vollſtändige ſtatiſtiſche Erhebung, wie das Geſetz gewirkt hat, iſt auch für Sachſen nicht vorhan - den. Immer aber mögen einige Mittheilungen über die Wirkung auch hier ihre Stelle finden. Für den Dresdener Handelskammerbezirk hat Dr. Rentzſch eine Anzahl ſtatiſtiſcher Angaben in Bezug auf die Städte des Handelskammerbezirks Dresden durch beſondere Erhe - bungen geſammelt und publizirt, die einiges Licht auf die Folgen werfen. 1Dr. H. Rentzſch, gewerbeſtatiſtiſche Mittheilungen zur Berathung der Miniſterial - Vorlage über das Gewerbegeſetz. Dresden 1866.

Er unterſucht, wie viele neue gewerbliche Niederlaſ - ſungen in den 33 Städten des Dresdener Handelskam - merbezirks 1862 65 vorkamen. Auf 1000 Einwoh - ner kamen durchſchnittlich jährlich 6,55 Neuetablirungen; der Hauptandrang erfolgte 1862; man war ſeit Ende 1860 der Erlaſſung des Geſetzes ſicher geweſen, ſehr viele hatten der Koſten wegen gewartet, ſo wurde die Zahl 1862 ziemlich groß. In den beiden folgenden Jahren fanden aber wieder um ſo weniger ſtatt; der Ausfall gegen 1862 beträgt faſt überall 33 %, nicht ſelten bis 50 %. In den kleinen Ackerbauſtädten iſt der Fortſchritt ein geringer; die Hauptanziehungskraft haben die größern Städte Dresden, Freiberg, Meißen. Eine weſentliche Zunahme mußte beſonders da erfolgen, wo vorher Verbietungsrechte waren. Daß aber die Grundverhältniſſe des Handwerksbetriebs dadurch keine andern geworden ſind, geht aus zweierlei hervor. Ein -153Die Folgen der Gewerbefreiheit.mal hat nach Rentzſch der Zuwachs der Geſellen und Lehrlinge mindeſtens gleichen Schritt gehalten mit der Vermehrung der Niederlaſſungen. Und dann hat der geſammte Perſonalbeſtand ſowohl an ſich als gegenüber der Bevölkerung ſich nicht weſentlich geändert. Von 302 Gewerben ſagt Rentzſch hat eine Steige - rung des Perſonalbeſtandes nur bei 92 der aufgezählten Gewerbe ſtattgefunden und darunter in Bezug auf die Arbeitgeber nur bei 56, in Bezug auf das geſammte beſchäftigte Perſonal nur bei 57 über das Wachsthum der Bevölkerung hinaus.

In der Stadt Leipzig erfolgte ebenfalls nach den Handelskammerberichten1Jahresbericht der Handels - und Gewerbekammer zu Leipzig für 1863. Leipzig, Hirzel. S. 4 8; für 1865 u. 66. Leipzig, Hirzel 1867. S. 10 u. 157. Der Bericht pro 1864 iſt mir nur im Abdruck des preuß. Handelsarchivs 1866. I. hauptſächl. S. 620. zur Hand. der Hauptandrang 1862; es ergaben ſich 986 Anmeldungen, im Jahre 1863 ſinken ſie ſchon auf 568. In der Hauptſache erfolgt der Andrang nicht auf das eigentliche Handwerk; von den 986 Anmeldungen bezwecken 163 die Eröff - nung von Schankwirthſchaften, gegen 100 Detailhändler - geſchäfte aller Art; außerdem ſind die Schneider (35), Schuhmacher (46) und Tiſchler (40) noch etwas ſtärker vertreten. Geklagt wird nur über allzu ſtarken Andrang im Kleinhandel. Sonſt wird konſtatirt, daß die große Umgeſtaltung, die der eine gefürchtet, der andere gehofft habe, in der Hauptſache bis jetzt noch nicht eingetreten ſei. Die gefürchteten und gehofften Erſcheinungen 154Die Aufnahmen der kleinern Staaten.ſagt der Bericht waren wohl auch meiſtens der Art, daß ſie erſt im Verlaufe eines längeren Zeitraumes eintreten können; weder ein Verluſt an Selbſtändigkeit ſeitens der kleinern Meiſter gegenüber dem Kapitale, noch die wegen Wegfalles des Lehrzwangs gefürchtete Verſchlechterung oder die von anderer Seite gehoffte Ver - beſſerung der techniſchen Fertigkeiten und Kenntniſſe, und endlich größere Billigkeit der Arbeit vermöge grö - ßerer Theilung der Arbeit und häufigerer Verwendung von Maſchinen iſt bis jetzt im Großen und Ganzen auffällig bemerkbar geworden. Und wenn auch manche Erſcheinungen dieſer Art allerdings bereits vorliegen, wie z. B. der überall wahrgenommene Uebergang des Schneidergewerbes zur Magazinſchneiderei und damit verbundene Unſelbſtändigkeit kleinerer Meiſter, fabrikmä - ßiger Betrieb des Zimmergewerbes, der Schloſſerei, der Klempnerei, der Böttcherei, der Schuhmacherei, ſo iſt hierin wohl mehr die Entwickelung der Gewerbe über - haupt, als gerade eine Folge der Gewerbefreiheit zu erblicken, wie denn auch einige dieſer Erſcheinungen bereits weit hinter Einführung der Gewerbefreiheit zu - rückreichen.

Aehnlich lauten auch die ſpätern Berichte. Der Gewerbefreiheit wird nachgerühmt, daß ſie ſchärfere Konkurrenz bringe, die Intelligenz anſpanne, aber mehr in den höhern gewerblichen Kreiſen, als im eigentlichen Handwerk.

Die Gewerbefreiheit iſt heut zutage unentbehrlich, weil die alte Abgrenzung der Arbeitszweige zur Unmög - lichkeit geworden iſt. Das aber, was die Maſſe, an155Die Folgen der Gewerbefreiheit.ihr lobt und tadelt iſt für das Gemeinwohl gleichgültig; denn der eine tadelt ſie, weil unbequeme Konkurrenz für ihn entſteht, der andere lobt ſie, weil einige Unbequem - lichkeiten und Förmlichkeiten ihm erſpart ſind. Das, was an Segen für das Gemeinwohl der Weiterblickende von der Gewerbefreiheit erwartet, iſt etwas anderes, es kann eintreten, aber es muß nicht immer eintreten.

Man erwartet, daß die wirthſchaftliche Freiheit andere Sitten, andere Eigenſchaften, andere Menſchen ſchaffe, daß, wenn zunächſt nur Einzelne ſich mehr an - ſtrengen, die andern durch die Konkurrenz gezwungen werden, ihnen zu folgen. Das geht jedenfalls lang - ſam; nur von Generation zu Generation ändern ſich Sitten und Menſchen. Mögen die Folgen aber etwas früher oder ſpäter kommen, nur und ausſchließlich günſtige Wirkungen könnten dann eintreten, wenn alle Gewerb - treibende rührig und dem Fortſchritt geneigt wären, wie ſo häufig Nationalökonomen und Politiker glauben, die nur höher ſtehende Fabrikanten und Kaufleute perſönlich kennen. Da daß nicht immer der Fall iſt, ſo kann die Gewerbefreiheit in einzelnen Kreiſen ziemlich wirkungs - los bleiben, ja ſie kann umgekehrt durch den Konkurrenz - kampf einen großen Theil der Handwerker tiefer herab - drücken, ſie wird es leicht thun, wenn nicht zugleich andere Mittel und Einwirkungen pſychologiſcher und realer Art dieſelben faſſen und vorwärts bringen.

Wenn der radicale Volkswirth gerne bereit iſt, zu erklären, alle welche durch die Gewerbefreiheit nicht vorwärts kommen, ſeien werth zu Grunde zu gehen, ſo zieht er in ſeinem Urtheil eine ſchroffe Scheidelinie, die156Die Aufnahmen der kleinern Staaten.den Thatſachen des des Lebens gegenüber als unwahr erſcheint, ſo überſieht er neben zwei Extremen, welche wenige Perſonen zählen, die große Zahl derer, welche zwiſchen beiden in der Mitte ſtehen.

Die Gewerbefreiheit ſchafft einen leeren Raum; aber ſie garantirt nicht, daß alles, was in dieſem Raume wächst, geſund ſei. Will man das gewiß behaupten, ſo muß man den Boden, die Pflanzen, alle witwirkenden Urſachen noch genau unterſuchen; dann erſt hat man ein ſicheres Urtheil über das wahrſcheinliche Reſultat.

Dieſe mitwirkenden Urſachen ſind gar mannigfaltig; lokale Sitten und Zuſtände, wie allgemeine Thatſachen kommen in Betracht. Die Technik, die Produktion bildet ſich um, der Verkehr ändert ſich. Die Bevölke - rung wächst in einer früher nie erlebten Weiſe. Und wenn die heranwachſenden Ueberſchüſſe derſelben bis in die dreißiger und vierziger Jahre Platz fanden in dem ſchon ſeit alter Zeit reichlich beſetzten Handwerk, ſo änderte ſich das ſpäter um ſo mehr. Es trat die Stockung, die Stabilität, ja theilweiſe eine Abnahme ein. Das Mißbehagen einer Uebergangszeit drückt ſich allerwärts aus. Eine veränderte geſchäftliche und ſociale Schichtung der Geſellſchaft vollzieht ſich, die vorerſt zum mindeſten nicht nach allen Seiten hin als eine erfreuliche betrachtet werden darf.

[157]

Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr im 19. Jahrhundert.

[158][159]

1. Die Urſachen.

Fabrik und Handwerk. Die Vortheile des Großbetriebs und der Fortſchritt des Großbetriebs im Zollverein. Die eigent - liche Großinduſtrie nur theilweiſe in Konkurrenz mit dem Handwerk. Die Verkehrsänderungen und der Zeitpunkt ihrer Wirkung in Deutſchland. Kanäle und Chauſſeen. Die Poſten, die Dampfſchiffahrt, die Eiſenbahnen, die Telegraphen und der Welthandel. Der ſtädtiſche Verkehr der Droſchken, Omni - buſſe und Stadteiſenbahnen. Die Lokaliſirung der gewerb - lichen Thätigkeit vor dieſen Verkehrsänderungen, die Umwäl - zung mit denſelben. Die veränderte Wirthſchaft der Familie, der moraliſche und der wirthſchaftliche Erfolg derſelben. Die veränderte Vertheilung der Bevölkerung. Amerikaniſche Ver - hältniſſe. Die deutſchen Dörfer, Mittel - und Landſtädte; die Decentraliſation der Induſtrie; das moderne Anwachſen der Großſtädte durch Induſtrie, Handel und andere Urſachen. Die ſtädtiſche Bevölkerung in Preußen und die Aenderungen der - ſelben von 1831 64.

Wenn ich in den bisherigen Betrachtungen ver - ſuchte, die äußerlichen Geſammtreſultate der Geſchichte des Handwerks zu verzeichnen, die Zu - und Abnahme, die wirthſchaftliche Blüthe oder den wirthſchaftlichen Verfall der deutſchen Kleingewerbe in den einzelnen Epochen der erſten Hälfte des 19. Jahrhunderts feſtzuſtellen, ſo habe ich dabei die mancherlei Urſachen, den Einfluß der Geſetzgebung, die Rückwirkung der allgemeinen wirth -160Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.ſchaftlichen Zuſtände auf das Handwerk da und dort berührt, aber ich habe es abſichtlich vermieden, prinzipiell die Hauptfrage zu erörtern, nämlich die, welche von den verſchiedenen Urſachen des Umſchwungs die wichtigſte ſei. Darauf komme ich nunmehr.

Die Antwort ſcheint einfach, jeder Laie hat ſie auf der Zunge, ſie iſt in dieſer bekannten Faſſung von mir auch in den bisherigen Unterſuchungen gleichſam als ſelbſtverſtändlich vorausgeſetzt. Die Fabrik, ſagt man, hat das Handwerk verdrängt; die große Induſtrie ſiegt allerwärts über die kleine. Nur die großen Betriebe entſprechen den heutigen Anforderungen, können vor der ſtärkeren Konkurrenz der Gegenwart Stand halten.

Es iſt das bis auf einen gewiſſen Grad ja richtig. Aber der Satz iſt zu allgemein, rückt zu verſchiedene Dinge unter einen Geſichtswinkel, als daß man ſich dabei befriedigen könnte.

Fragen wir, woran man in erſter Linie denkt, wenn man von der Großinduſtrie ſpricht. Man denkt an die Maſſenproduktion, an die größere Zahl von Arbeitern, die in einem Unternehmen, meiſt in denſelben großen Gebäuden vereinigt ſind, an die Arbeitstheilung, die mit der Zahl der Perſonen einer und derſelben Unter - nehmung wächſt. Man denkt vor Allem an die neuen Kraft - und Arbeitsmaſchinen.

Die Dampfmaſchine und die Turbine arbeiten billi - ger als jede thieriſche und menſchliche Arbeitskraft. Man hat berechnet, daß nach engliſchen Preiſen die Arbeit von Pferden 10 mal, die von Menſchen 90 mal, nach deutſchen Preiſen die von Pferden 2,2 mal, die von161Die Vortheile des Großbetriebs.Menſchen 36 mal ſo theuer ſei, als die der Dampf - maſchine. 1Annalen der Landwirthſchaft Bd. 38. S. 175.Mag die Berechnung ganz genau ſein oder nicht, ſie giebt der Phantaſie ein Bild der Aenderung. Und wichtiger vielleicht noch als die techniſchen Fort - ſchritte in den Motoren ſind die Fortſchritte in den Arbeitsmaſchinen, in den Spinn - und Webſtühlen, in den Walzwerken und Dampfhämmern, in den Maſchinen aller Art. Sie ſparen an Arbeit und Stoff, ſie voll - enden in Sekunden, zu was man früher Stunden und Tage brauchte. Mit ihnen kam in die techniſche Seite der Produktion jene wunderbare Ausnutzung aller Natur - kräfte, jene ſcharfſinnige Ueberlegtheit, welche die großen Fortſchritte der Wiſſenſchaft benutzend die Natur - und Menſchenkraft zu komplizirten Geſammtlei - ſtungen auf die ſinnreichſte, koſtenſparendſte Art verbindet.

Außerdem aber denkt man, wenn man von der Großinduſtrie ſpricht, an die Verkehrsvortheile großer Geſchäfte, an die Leichtigkeit, ſich überall, auch in der Ferne, Abſatz zu verſchaffen, an die Vortheile ſozialer und geſchäftlicher Verbindungen. Je großartiger die Geſchäfte ſind, deſto größer iſt der Kredit, mit dem das große Kapital noch zu vergrößern, die großen Leiſtungen noch zu verdoppeln ſind. Je größer die Geſchäfte ſind, deſto leichter rentirt es, in der Preſſe und in der Oeffent - lichkeit für die Intereſſen der ſpeziellen Induſtrie zu wirken, hochbeſoldete Literaten in Dienſt zu nehmen, die Regierung für das Gedeihen der Induſtrie zu intereſſiren.

Schmoller, Geſchichte d. Kleingewerbe. 11162Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.

Ich will mich bei dieſer Schilderung nicht aufhalten; ſie iſt ſchon oft1Ich erinnere z. B. an Roſcher, Anſichten der Volks - wirthſchaft S. 117: über Induſtrie im Großen und Kleinen; S. 173: über die volkswirthſchaftliche Bedeutung der Maſchinen - induſtrie. Frédéric Passy, les machines et leur influence sur le développement de l’humanité. Paris. Hachette 1866. Michel Chevalier, die Weltinduſtrie, überſ. von Horn. Stuttg. 1869. Uebrigens iſt es für den Nationalökonomen ſchwer, allen Fortſchritten der Technik und des Maſchinenweſens zu folgen und die hiernach ſich bemeſſende größere Billigkeit und Leiſtungsfähig - keit der Induſtrie im Detail zu überſehen, da auch die ſpezifiſch techniſchen Werke darüber oft nicht einmal Auskunft geben. Viel Gutes gerade nach techniſcher Seite enthält auch Viebahn’s Gewerbeſtatiſtik. von Meiſterhand ausgeführt worden; ich könnte nur Bekanntes wiederholen. Es handelt ſich hier nicht darum, dieſe Aenderung zu ſchildern, ſondern konkreter die Frage zu ſtellen dahin, ob und in wie weit auch bei uns im Zollverein dieſe Richtung auf größere Betriebe ſich geltend gemacht hat.

Man wird es nicht leugnen können. Jede techniſche Beſſerung des Betriebs muß ſich bei freier Konkurrenz auf die Dauer Geltung verſchaffen, und es iſt gut, daß ſie es thut; denn jede techniſche Beſſerung iſt ein wahrer Fortſchritt der Kultur. Wir ſehen auch deshalb den Großbetrieb unerbittlich bei uns wachſen. Das durch - ſchnittliche Anlagekapital jeder Spindel in der Baum - woll - und Flachsſpinnerei nimmt ab, je größer die Spindelzahl iſt; jährlich wächſt die Durchſchnittszahl der Spindeln einer Spinnerei; ſie war in Preußen 1837 - 828, 1846 - 1126, 1858 - 2627, 1861 - 5783 Spindeln163Der Fortſchritt des Großbetriebs im Zollverein.in der Baumwollſpinnerei. Die Etabliſſements ſteigen 1837 bis 55 von 152 auf 209, ſinken 1858 auf 127, 1861 auf 69. Aehnlich geht es in vielen Branchen der Gewebeinduſtrie, beſonders auch in den Hülfsgewerben, den Färbereien, Bleichen, Appreturanſtalten. Für ſie ſind techniſche Kräfte ausgezeichneter Art ein Bedürfniß. Solche können nur in großen Etabliſſements angeſtellt, voll beſchäftigt und bezahlt werden.

Von immer größerer Wichtigkeit werden die Unter - nehmungen, welche uns die Brennſtoffe und die Metalle liefern. Auch ſie zeigen dieſelbe Tendenz. Die kleinen Torfſtiche rentiren kaum; immer mehr bilden ſich große Anſtalten, die den Torf als Brennmaterial, Leucht - material, als Düngemittel zu chemiſchen Zwecken in ſyſtematiſcher Weiſe ausnutzen. 1Zeitſchrift des ſächſ. ſtatiſtiſchen Bureaus II, S. 9 ff.Die Leiſtung jedes Ar - beiters in den Steinkohlenbauten der Ruhr war 1855 noch 700, 1864 986 Tonnen; die Zahl der Werke hat nicht zugenommen, aber ihre Größe. Mit ihr haben ſich die techniſchen Einrichtungen, die Maſchinen ver - beſſert, und dadurch wird die größere Leiſtungsfähig - keit jedes Arbeiters erreicht. 2Hocker, die Großinduſtrie Rheinlands und Weſtfalens S. 217, verglichen mit 227 28.Die Jahresproduktion eines zollvereinsländiſchen Steinkohlenwerks war 1848 - 148344 Zentner, 1857 - 354694 Zentner. 3Viebahn II, 366.Aehnlich geht es mit allen Bergwerken. Die in Spekulations - zeiten in großer Zahl auftauchenden kleinen Gruben,11 *164Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.ſagt die Zeitſchrift des ſächſiſchen ſtatiſtiſchen Bureaus,1VI. Jahrg. 1860. S. 79. verſchwinden immer bald wieder, theils durch Konſoli - dation, theils durch Auflaſſung; aber die größern ſtärken ſich und dehnen ſich aus, ſo daß mit Ausnahme des Kobaltbergbaues, welcher die frühere Höhe nicht wieder erreichen dürfte ſowohl nach Arbeiterzahl, als nach Produktion alle Hauptzweige des Bergbaues thatſächlich trotz der Verminderung der Grubenzahl im Steigen begriffen ſind. Und nicht viel Anderes als von den Bergwerken wird von den Hütten - und Eiſenwerken berichtet. Ein kleiner Hochofen nach dem andern wird ausgeblaſen, nur die großen halten ſich. Die Leiſtungs - fähigkeit der großen Eiſengießereien und Maſchinenfabriken wächſt mit dem Umfang. Bei Krupp in Eſſen, erzählt ein Augenzeuge, ſind zur Erzeugung des Gußſtahl 240 Schmelzöfen in einer Gußhütte aufgeſtellt; beim Guß wirkt eine eigens dazu beſtimmte gut eingeſchulte Bri - gade von 800 Mann nach dem Kommando mit einer ſtaunenswerthen Präziſion zuſammen, wobei bis auf die Sekunde jeder Handgriff, jede Leiſtung in den Zuſammen - hang des Ganzen paſſen muß. 2Hocker, S. 373.

Die kleinen Ziegeleien können nicht mehr konkur - riren mit den beſſer eingerichteten großen. Ein Hof - mann’ſcher Ringofen veranlaßt manche Feldziegelei zum Eingehen. Die Steingutfabrikation und die Glasinduſtrie leiden unter der Holztheuerung; ſie können nur durch ganz große, techniſch vollendete Heizeinrichtungen und165Die Großinduſtrie und das Handwerk.Uebergang zur Steinkohle billig genug produziren. 1Biebahn III, 866.Die Zahl der Branntweinbrennereien im Zollverein hat von 11225 im Jahre 1851 auf 7711 im Jahre 1865 abgenommen, die Produktion iſt auf das Anderthalb - fache geſtiegen. Von den Zuckerfabriken machen die großen die beſten Geſchäfte. Die alten kleinen Mahl - mühlen, welche für Kunden um Lohn arbeiten, ver - ſchwinden wenigſtens in den Städten, große Dampf - mühlen, techniſch vollendet eingerichtet, treten an die Stelle und ſie arbeiten nicht mehr um Lohn; der Dampfmüller macht eigene Geſchäfte, um zugleich alle Vortheile des Preiswechſels und der großen Spekula - tion auszunutzen. 2Zeitſchrift des ſächſ. ſtatiſtiſchen Bureaus II, 126.Die Zahl der ſämmtlichen Dampf - maſchinen nimmt nicht ſo zu, wie ihr Umfang; die Zahl derſelben ſtieg im Königreich Sachſen von 1856 bis 1861 um 82 Prozent, die der Pferdekräfte um 119 Prozent. 3Daſelbſt VIII, 105.

Ich habe dieſe zahlreichen Beiſpiele der immer groß - artiger ſich entwickelnden Großinduſtrie abſichtlich ange - führt, um dadurch von ſelbſt den Einwand hervorzu - rufen, den ich machen muß; nämlich den, was hat dieſe ganze Entwickelung mit dem Handwerk zu thun? Was ſchadet es dem Bäcker und Fleiſcher, dem Schuh - macher und Schneider, dem Tiſchler und Schloſſer, wenn die Spinnereien und Färbereien, die Gruben und Hütten,166Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.die Brennereien und Mühlen immer größer werden? Das iſt eine Sache für ſich.

Dieſer Einwand iſt richtig; er zeigt uns wenigſtens, daß die landläufige Phraſe, die Großinduſtrie habe das Handwerk verdrängt, die Sache nicht erſchöpft. Viele, man könnte ſagen die meiſten, Großinduſtrien berühren das Handwerk nicht direkt; ſie beziehen ſich auf neue Betriebe, auf ſolche, welche nie dem Handwerk ange - hörten; daß ſie ſelbſt in immer größere Etabliſſements ſich konzentriren, kann dem Handwerk nicht ſchaden. Ihr Wachsthum muß im Gegentheil, wie das Wachſen der Verkehrsanſtalten, der Eiſenbahnen, der Poſten, mehr Handwerker beſchäftigen.

Es gilt dieß freilich nicht von allen den heutigen großen Fabriken und Etabliſſements; die Spinnereien haben allerdings die profeſſionsmäßigen Spinner ver - drängt; die ganze Gewebeinduſtrie iſt heute noch mitten im Kampf zwiſchen Handwerk und Fabrik begriffen; ähnlich ein Theil der Metallinduſtrie und der Holz - waareninduſtrie.

Aber immer ſind das nur einzelne beſtimmte Ge - werbszweige, die ſo direkt mit den Fabriken zu kämpfen haben. Und doch ſehen wir in der Geſammtheit der Kleingewerbe Aenderungen, deren Urſachen wir uns klar zu machen haben. Um dieſen näher zu treten, müſſen wir etwas weiter ausholen.

Die tiefer liegende Urſache, die auch der Mechanik und Technik der Neuzeit erſt die Möglichkeit einer allge - meinen Anwendung verſchaffte, iſt die Aenderung des Verkehrs, aller Verkehrsformen. Ich will nur an167Die Verkehrsänderungen.einige Thatſachen und Jahreszahlen flüchtig erinnern. 1Zu vergleichen: Behm, die modernen Verkehrsmittel, 19tes Ergänzungsheft der Petermann’ſchen Mittheilungen. 1867. Die Verkehrsmittel auf der Weltausſtellung zu Paris im Jahre 1867, offizieller öſtr. Ausſtellungsbericht, 2te Lieferung. Perrot zur Geſchichte des Verkehrsweſens in Faucher’s Vierteljahrs - ſchrift XXI, 27 ff. XXII, 62 ff. Berlin 1867. Baxter, Railway Extension and its Results in dem Journal of the statistical society 1866, S. 549 595. Sie werden ſchlagend zeigen, in welch engem Zuſammen - hang ſie gerade auch mit der Geſchichte der Klein - gewerbe ſtehen.

Alle unſere heutigen Verkehrsmittel ſind neueſten Datums, wenigſtens ihre allgemeine Anwendung. Der engliſche Kanalbau nimmt erſt ſeit 1755 eine größere Bedeutung an; Großbritannien hat 1824 ſchon 528 deutſche Meilen Kanäle; Altpreußen 1866 erſt 94,8. Der engliſche und franzöſiſche Straßenbau beginnt eben - falls erſt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In Preußen baut Friedrich der Große 1757 die erſte Chauſſee. Erſt 1812 lernt Mac Adam2Ueber die Wirkungen der Mac Adam’ſchen Chauſſeebau - methode bis in alle Einzelheiten des Dorflebens ſiehe die hübſche Skizze von J. G. Kohl alte und neue Zeit im Dorfe Lehr - bach in der Vierteljahrsſchrift für Volkswirthſchaft VII, 1 7. die heute all - gemein übliche Methode des Chauſſeebaues in China kennen; erſt gegen 1820 verbreitet ſie ſich in Europa, erſt nun beginnt der größere Frachtverkehr mit ſchweren Laſtwagen ſtatt der kleinen Karren. Im Jahre 1816 exiſti - ren in Preußen 3694 Frachtfuhrleute mit 8440 Pferden,168Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.im Jahre 1861 9642 mit 27464 Pferden. Straßen (Chauſſeen) zählte man in Preußen:

Die Hauptthätigkeit im Chauſſeebau fällt erſt in die Zeit von 1844 1861.

Die erſten modernen Poſten waren von Franz von Taxis zwiſchen Wien und Brüſſel 1516 eingerichtet worden. In Brandenburg richtete der große Kurfürſt eine Landespoſtanſtalt ein, weil zuvörderſt dem Kauf - und Handelsmanne hoch und viel daran gelegen ſei. Es waren Reitpoſten, ſpäter auch Poſtwagen, welche die Poſt von Berlin nach Königsberg in 4, von Amſter - dam nach Königsberg in 12 Tagen brachten. Das war eine außergewöhnliche Schnelligkeit, die allgemeines Auf - ſehen erregte. Den Perſonenverkehr übernahmen die Poſten in England und Frankreich früher; in Deutſch - land mußte man im 18. Jahrhundert eigenes Fuhrwerk kaufen, Extrapoſt nehmen oder mit den konzeſſionirten Landkutſchen fahren. Sie vermittelten den Perſonenver - kehr, aber entſetzlich langſam. Von Dresden nach Berlin ging die Landkutſche alle 14 Tage, nach Alten - burg, Chemnitz, Freiberg, Zwickau ein Mal wöchent - lich; nach Bautzen und Görlitz war die Zahl der Paſ - ſagiere nicht ſo ſicher, daß der Kutſcher jede Woche an beſtimmten Tagen abgehen konnte; nach Meißen gingen das grüne und rothe Marktſchiff, jedes ein Mal wöchent -169Das Poſtweſen.lich hin und zurück. Man reiſte auch mit der beſten Fuhre ſehr langſam. Fünf Meilen der Tag, zwei Stunden die Meile, ſcheint der gewöhnliche Fortſchritt geweſen zu ſein. Eine Entfernung von 20 Meilen war zu Wagen nicht unter 3 Tagen zu durchmeſſen, in der Regel wurden 4 dazu gebraucht.

In England hatte man für die Briefbeförderung ſchon länger die ſogenannten Schnellpoſten. Der preußiſche Generalpoſtmeiſter von Nagler führt ſie 1824 auf deutſchem Boden ein. Es erregt große Bewunderung, daß der Poſt - wagen von Berlin nach Magdeburg, der vorher 2 Tage und eine Nacht gebraucht, nunmehr den Weg in 15 Stunden zurücklegt. Die Perſonenpoſten zum Verkehr von Perſonen, Briefen und Paketen zuſammen datiren in Preußen erſt von 1838. Landbriefträger gab es 1846 erſt 571 in Preußen, 1856 ſchon 3868. Das Land - briefträger-Inſtitut beförderte 1850 etwa 7⅘ Millionen Briefe, 1856 ſchon 15 Millionen. 1Vergl. darüber Jahrb. für die amtliche Statiſtik I, 516 ff. Schmidt, zur Geſchichte der Briefportoreform in Deutſchland in Hildebr. Jahrb. III, S. 1 ff.

Die Briefportoreform ging von England aus; Row - land Hill ſetzt 1840 die einſtufige Taxe durch; 1839 wurden in England 79, 1840 - 186, 1854 - 400, 1862 - 605, 1865 - 720 Millionen Briefe befördert. In Preußen konnte noch 1844 ein Brief bis 19 Sgr. koſten. Von Frankfurt a / M. bis Berlin koſtete er 8 Sgr., von Frankfurt a / M. bis Danzig 15 Sgr. Im Jahre 1844 tritt die Ermäßigung auf höchſtens 6 Sgr. 170Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.ein. Die Dresdener Poſtkonferenzen von 1847 48 und der Poſtvereinstag von 1851 bringen die dreiſtufige Brieftaxe, der norddeutſche Bund 1867 die einſtufige. Die preußiſche Poſt beförderte 1840 - 36, 1854 - 90, 1861 - 140, 1862 - 148 Millionen Briefpoſtgegen - ſtände. Die Hauptentwickelung fällt wieder nach 1850.

Die erſte regelmäßige Dampfſchiffahrt zwiſchen Amerika und England wird 1838 eingerichtet; 1848 beſaß England 1100, 1866 3165 Dampfer; die norddeutſche Handelsflotte zählt 1866 erſt 249 Dampfer. Die großen regelmäßigen Dampferlinien des Weltver - kehrs ſind meiſt erſt in den letzten Jahren eingerichtet worden.

Die erſte Eiſenbahn wurde 1825 von Darlington nach Stockton, mehr nur für den Kohlenverkehr eröffnet. Die erſte wichtige Eiſenbahn war die 1830 zwiſchen Mancheſter und Liverpool vollendete. Das preußiſche Eiſenbahngeſetz ſtammt von 1838; erſt im Jahre 18421Bluntſchli, Staatswörterbuch Art. Eiſenbahnen III, 379. kam dadurch Leben in die Sache, daß die Regierung Zinſengarantien übernahm; im Jahre 1847 entſchloß ſie ſich ſelbſt Hand ans Werk zu legen. Im Jahre 1840 exiſtirten in Preußen 17 Meilen Bahn, 1845 - 138, 1850-356, 1855-467, 1860-713, 1866-874 Mei - len. Eine Meile Bahn kommt 1866 in Preußen auf 5,8 Meilen, in Frankreich auf 5,2, in Großbritannien und Irland auf 2,0, in Belgien auf 1,5. 2Jahrbuch für die amtl. Statiſtik I, 607 9 u. preuß. Handelsarchiv 1867. II, 710.

171Die Eiſenbahnen und Telegraphen.

Die Telegraphenlinien ſind noch jünger. Die Telegraphie wurde 1840 zuerſt an engliſchen Bahnen angewandt. Erſt 1843 ließ die Direktion der rheini - ſchen Eiſenbahn bei Aachen die erſte kurze Leitung aus - führen. Der deutſch-öſterreichiſche Telegraphenverein hat 1856 Linien von 2317, 1865 von 5623 Meilen Länge im Betrieb. Die Anzahl1Jahrbuch für die amtliche Statiſtik I, 537. der in ganz Preußen beför - derten Depeſchen betrug:

2Handelsarchiv 1867 I, 574.

Damit im Einklang ſteht die Welthandelsentwicke - lung, die ganz ähnlich in allen europäiſchen Staaten erſt etwa von 1850 an ihren großen Aufſchwung nimmt. Ich belege dieſe Thatſache nur mit einigen engliſchen,3Baxter a. a. O. S. 564. franzöſiſchen4Daſelbſt S. 575. und deutſchen5Hamburgs Schiffahrt und Handel 1867, offizielle tabella - riſche Ueberſichten. Zahlen.

172Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.

Aber nicht bloß auf die großen Welthandelsſtraßen muß man blicken, wenn man das heutige Wachſen des Verkehrs ermeſſen will; eben ſo ſehr muß man ſich erinnern, daß auch der bedeutende lokale Verkehr, die meiſten Vicinalwege, die Landpoſtſtellen, die Landfahr - gelegenheiten, die Droſchken und Omnibuſſe in den Städten erſt Kinder der letzten Jahre und Jahrzehnte ſind.

Das Inſtitut der Fiaker entſtand 1630 in Paris. In Berlin1Dieterici jr., geſchichtliche und ſtatiſtiſche Mittheilungen über das öffentliche Fuhrweſen in Berlin, Zeitſchrift des ſtat. Bür. V. S. 155 164, 179 189. Bruch, der Straßen - verkehr in Berlin im Berliner Gemeindekalender für 1868, S. 65 121. wurden 1739 durch Friedrich Wilhelm I. 15 Fiaker eingerichtet, die regelmäßig auf einigen der größeren Plätze bereit ſtehen ſollten. Im Jahre 1780173Der Welthandel und der ſtädtiſche Verkehr.gab es deren 20. Erſt 1815 wurde das Berliner Droſchkenweſen ordentlich polizeilich geregelt. Im Jahre 1836 exiſtirten etwa 300 bis 400 einſpännige Droſchken, 1848-839, 1860-999, 1865 dagegen ſchon 2077.

Die Omnibuſſe für den ſtädtiſchen Verkehr kommen in Paris und London in den zwanziger Jahren auf. In Berlin werden ſie 1846 eingeführt; es ſind 1848 erſt 19 Wagen, 1855-43, 1860-47, 1862-110, 1864 dagegen ſchon 393, die dieſem wichtigen Verkehrszwecke dienen. Noch neuer ſind die Straßeneiſenbahnen; in Berlin exiſtirt erſt ſeit wenigen Jahren die einzige Berlin - Charlottenburger Linie, während hauptſächlich in Ame - rika es deren in allen großen Städten ſeit 10 15 Jahren giebt, und ſie dort einen Hauptfaktor des enormen Anwachſens der Städte bilden. 1Wiß, das Geſetz der Bevölkerung und die Eiſenbahnen. Berlin, Herbig 1867. S. 55.Der Höhepunkt ſtädti - ſchen Verkehrs wird freilich erſt erreicht durch die Stadteiſenbahnen mit Dampfbetrieb, wie ſie vollſtändig wohl erſt in London organiſirt ſind. Der Metro - politan Railway2Passy, les machines S. 35. transportirt jährlich 111 Millionen Perſonen. Jeder ſoll dabei nur eine Stunde Arbeitszeit gewinnen, ſo giebt das in dem einen Jahr ein Plus von Arbeitszeit für die Londoner Bevölkerung von 111 Millionen Stunden oder, wenn man das Jahr zu 300 Arbeitstagen und den Tag zu 10 Arbeitsſtunden rechnet, von 38000 Jahren.

Nicht um ſtatiſtiſche Notizen zu häufen, habe ich alle dieſe Zahlen mitgetheilt, ſondern um durch ſie174Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.Maß und Zeit der großen Aenderungen einigermaßen feſtzuſtellen, um durch ſie zu erklären, warum die Kriſis der Handwerker in den vierziger Jahren beginnt, um durch ſie anſchaulich zu machen, daß wir, in Deutſchland wenigſtens, nur einen Theil der ganzen Umwälzung hinter uns haben.

Die frühere Zeit, der die Verkehrsmittel fehlten, mußte alle gewerbliche Thätigkeit lokaliſiren. Produktion im eigenen Hauſe, im eigenen Dorfe, in der eigenen Stadt, wenigſtens im eigenen Kreiſe, das war die Folge davon, daß man Anderes nicht geſehen, nicht kennen gelernt, daß man es, ſelbſt wenn man es kannte, nur ſchwer beziehen konnte. Der perſönliche Reiſeverkehr, der Brief - und Zeitungsverkehr, der uns jetzt leicht und ſchnell Nachricht und Kenntniß des Vollkommenern überall her bringt, iſt ebenſo wichtig für die Aenderung aller Produktions - und Konſumtionsverhältniſſe, wie der ſachliche Verkehr, der uns die Waaren ſelbſt bringt.

Alle größere, alle ſpezialiſirte Produktion, alle weiter gehende Arbeitstheilung iſt erſt mit dieſem Ver - kehr möglich geworden. Die Art der Produktion, wie ſie früher nur für wenige leicht transportable Luxus - gegenſtände üblich war, iſt jetzt erſt auf die Maſſe, auf die Mehrzahl der gewöhnlichen Waaren anwendbar. Deshalb hat dieſer neue Verkehr das Größte wie das Kleinſte geändert. Ueberall und in allen Beziehungen hat er die Fäden des wirthſchaftlichen Lebens ausein - andergezogen, künſtlicher und komplizirter geknüpft, er hat geſchäftlich und lokal dem Wohnorte nach die Menſchen anders gruppirt, er hat den Handel wie die175Die Folgen der Verkehrsänderungen.Produktion, die Anſchauungen und Bedürfniſſe der Menſchen, wie ihre Sitten und Lebensgewohnheiten umgeſtaltet. Durch dieſen Verkehr vor Allem iſt es anders geworden in der Welt, ſeit der Großvater die Großmutter nahm, iſt es anders geworden in Haus und Hof, am Familientiſch wie in der Geſindeſtube, auf dem Jahr - und Wochenmarkt wie im Laden des Städtchens, auf den großen Börſen wie auf den rie - ſigen Stapelplätzen, wo zwei Welten ihre Schätze tauſchen.

Die totale Aenderung der Verkehrsverhältniſſe und die hieraus folgende Revolution in der ganzen Pro - duktion und in der lokalen und geſchäftlichen Gruppirung der Menſchen hat auch die Unzufriedenheit mit der früher beſtehenden Gewerbe - und Niederlaſſungsgeſetzgebung erſt ſo geſteigert, daß ſie mit Recht Beachtung verlangte. Solange die Zuſtände ſich nicht weſentlich änderten, die großen und kleinen Städte, Städte und plattes Land in denſelben Verhältniſſen blieben, da war zwiſchen Gewerbe - freiheit und einem Zunft - und Konzeſſionsſyſtem, das liberal gehandhabt wurde, kein ſo großer Unterſchied. Als aber alles in Fluß kam, als alle Zuſtände andere wurden, als die Technik, die Arbeitstheilung, die Ge - ſchäftsorganiſation total andere wurden, ohne daß die Bureaukratie oder irgend Jemand anders die Tragweite der nothwendigen Aenderungen und Ueberſiedlungen auch nur entfernt ermeſſen konnte, da erſt hörte jede Mög - lichkeit, ein ſtaatliches Zunft - und Konzeſſionsweſen, einen in alter Weiſe polizeilich kontrolirten Detail - und Hauſirhandel der realen Umbildung entſprechend zu leiten,176Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.auf. Da mußte man freien Spielraum geben, wenn man auch manchen Mißſtänden, manchem modernen Schwindel dadurch ebenfalls freie Bahn gab. Durch eine bureaukratiſche Leitung ſchadete man zu viel, hemmte man die nothwendige, den Wohlſtand im Ganzen jeden - falls außerordentlich befördernde gewerbliche und Verkehrs - revolution zu ſehr.

Bleiben wir zunächſt beim Kleinſten und Größten, bei der Umbildung der Familienwirthſchaft und der veränderten lokalen Vertheilung der ganzen Bevölkerung ſtehen.

Wenn ich davon ſpreche, was in der Familie ſeit drei Generationen anders geworden iſt, ſo bleibe ich nicht dabei ſtehen, was der Verkehr geändert hat. Es iſt mir gleichgültig, ob der ſich ändernde Verkehr die erſte, die Umbildung der Produktion die zweite Urſache iſt; ich kann nicht genau ausſcheiden, wie viel auf die erwähnten Urſachen, wie viel auf Rechnung des größern Wohlſtandes und Kapitalbeſitzes kommt. Weſentlich iſt mir ja nur, zuſammenfaſſend zu zeigen, wie alle dieſe Urſachen in Verbindung mit der ganzen Lebensrichtung der neuen Zeit dem wirthſchaftlichen Leben der Familie und damit dem Handwerke eine andere Stellung gegeben haben.

Roſcher erzählt nach Eden, daß noch zu Ende des vorigen Jahrhunderts der Bauer in Hochſchottland Weber, Walker, Färber, Gerber, Schuſter in eigener Perſon war; es galt noch das alte Wort every man Jack of all trades. Das iſt theilweiſe bei uns noch ſo in den rein agrariſchen Gegenden. Noch 1861 kommen in177Die frühere Wirthſchaft der Familie.der Provinz Preußen auf 765 gewerbsmäßige Linnen - webſtühle 114550, die in den Bauerhäuſern ſtehen und dort weſentlich mit für den eigenen Bedarf arbeiten. Hoffmann berichtet 1837, daß die Landbevölkerung Preußens meiſt das ſelbſtgewebte ſogenannte Wand, ein tuchartiges ſtarkes wollenes Gewebe, zu Oberröcken und Mänteln trägt. Noch ſchlachtet in vielen Gegenden der Bauer zu Anfang des Winters ſeine Kuh und ein oder zwei Schweine für den Winter, von dem eigenen Backen des Brotes gar nicht zu reden. Noch ſoll in Oberbaiern in manchen Dörfern, wenn ein Haus gebaut wird, die ganze Gemeinde zuſammen helfen. Am mittleren Inn heißt es in der Bavaria1I, erſte Abtheilung S. 283. beſteht noch die Sitte, daß die Bauern mit ihren Leuten unter Beihilfe weniger Handwerker die Häuſer ſelbſt bauen; ſogar die Ziegel zu den Mauern werden nicht ſelten von den Landleuten ſelbſt bereitet; alle Arbeiten der Handwerker, ſelbſt der Tiſchler und Maler, werden auf der ſogenannten Stör beſorgt; der Bauherr liefert die Rohſtoffe, beköſtigt die Arbeiter und zahlt gewöhnlich noch einen Tagelohn. Noch iſt es der Polizei nicht ganz gelungen, die Spinn - ſtuben Oberbaierns zu ſchließen, wo die Frauen und Mädchen ſpinnen, die Burſchen Späne ſchneiden und allerhand Schnitzwerk fertigen.

So wie es auf dem Lande noch heute zugeht, ſo und ähnlich ging es im ſtädtiſchen Bürger - oder Beamten - hauſe noch vor 60, noch vor 30 Jahren zu. Weſſen Erinnerung zurückreicht in das großelterliche Haus, dasSchmoller; Geſchichte d. Kleingewerbe. 12178Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.noch vor dem Anfang dieſes Jahrhunderts begründet wurde, der kann ſich eine Vorſtellung davon machen, was wir meinen. Wem dieſe Erinnerung fehlt, der möge einen Blick in Kießelbach’s reizende Skizze über die drei Generationen 1Deutſche Vierteljahrsſchrift 1860. 3 tes Heft S. 1 57. werfen. Ich will nur mit einigen Worten an jene Zeit erinnern.

Die Spindel war noch immer das Symbol der Hausfrau; ſelbſtgeſponnenes Linnen zu tragen, war Ehre und Stolz; eine heilſame Sitte war es, daß in allen Kreiſen die Jungfrau nicht für eigentlich berechtigt galt zur Ehe zu ſchreiten, ehe ſie die Ausſteuer aus ſelbſtgeſponnenerLeinwand beſchaffen konnte. Dem Weber des Hauſes wurde das Garn überliefert, er hatte die Leinwand zu fertigen; für die Bleiche ſorgte wieder die Hausfrau. Aber nicht nur an Leinwand, auch an Tuch, ſelbſt an Leder hielt man eigene, ſorgfältig bereitete oder gewählte Vorräthe; die Schränke mußten wohlgefüllt ſein. Das Weißzeug, die Kleider, die Beſchuhung ſelbſt wurden im Hauſe gefertigt; der Schneider, der Schuſter kam dazu als techniſcher Gehülfe.

Auch Polſterwaaren und Betten entſtanden in ähn - licher Weiſe. Von ſelbſt geſchlachtetem Geflügel wurden die Federn durch eine Schaar eigens ſich hiezu ver - miethender Weiber ausgeleſen; das Roßhaar wurde ſorg - fältig gereinigt; der Polſterarbeiter mehr als jeder andere mußte unter dem Auge der Hausfrau arbeiten, damit die Füllung der Bettſtücke, der Matratzen, der Sophas ſicher mit dem gewählten Material und in der gewünſchten179Die frühere Wirthſchaft der Familie.Menge erfolgte. Bei Gründung der Haushaltung, wie bei Erweiterungen derſelben wurde der Tiſchler beauftragt, dieſe beſtimmten Stühle und Tiſche, Bettſtellen und Schränke nach Maß und Vorſchrift zu fertigen. Alljähr - lich erſchien er wenigſtens einmal bei der großen min - deſtens eine Woche dauernden Reinigung, um zu helfen, auszubeſſern, aufzupoliren.

Dieſer Reinigungszeit ähnlich an Unruhe und Mühſal war die große Wäſche, die alle zwei oder drei Monate gehalten wurde, welche wieder verſchiedene Ge - werbe beſchäftigte, von dem Kübler oder Böttcher, der die Gefäße herrichtete, und den Waſchfrauen, die am erſten Tag Morgens um 2 oder 3 Uhr in hellen Haufen vor das Haus rückten, bis zu den Plättfrauen, die am letzten Tag die häusliche Ruheſtörung abſchloſſen.

Wichtiger als All das war die Thätigkeit für Küche und Keller. Das Gemüſe, das Obſt zog man möglichſt im eigenen Garten; man hatte ſeinen Gärtner, der an beſtimmten Tagen erſchien, wie ſeinen Rebmann oder Weingärtner, der den eigenen Weinberg beſtellte, die Rebengelände am Hauſe aufband. Das Holz wurde in großen Klaftern gekauft; eine Reihe von Tagen arbeitete der Holzſpalter mit ſeinen Jungen und Gehülfen im Hauſe. Die Hauptſorge der Hausfrau aber bezog ſich auf die Wintervorräthe, die man theils ſelbſt produ - zirte, theils einkaufte; bis Alles in Ordnung war, hatten aber mancherlei Handwerker dabei zu thun. Zum Ein - ſchneiden und Einlegen des Sauerkrauts kann eine beſon - dere Frau mit ihrer Maſchine, den ſelbſtgekauften Weizen oder Roggen ließ man in der Mühle mahlen, das12 *180Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.Brot wurde ſelbſt gefertigt; wenn man keinen eigenen Backofen hatte, wurden die Laibe in den Gemeinde - backofen oder in den Ofen des Bäckers gebracht und da fertig gebacken. Die Sorge für den Keller und ſeine Weinſchätze, die Sorge für Inſtandhaltung der zahl - reichen Fäſſer, die Beobachtung der Gährung des neuen Weins, die Nachfüllung der Fäſſer, in denen der alte Wein ſich befand, das war dem Küfer anvertraut, der jede Woche einmal kam, die Kellerſchlüſſel erhielt und ein paar Stunden ſich im Keller zu thun machte. Der Hauptfeſttag aber war der des Schlachtens. Der Flei - ſcher mit ſeinen Geſellen hatte ein oder mehrere Tage zu thun, bis die einzelnen Stücke in der richtig kompo - nirten Salzlauge lagen, bis die Würſte dutzend - und hundertweiſe im Rauche hingen.

Kam endlich noch Landwirthſchaft hinzu, hielt man Pferde, dann wurde auch der Sattler, der Stellmacher oder Wagner, der Schmied in ähnlicher Weiſe beſchäftigt. Sie kamen ins Haus, zu beſtimmten Zeiten oder herbei - gerufen, erhielten einen beſtimmten Tage - oder Stücklohn, theilweiſe Averſalſummen fürs ganze Jahr, daneben meiſt auch Koſt, Brot, jedenfalls einen Trunk Wein, Bier oder wenigſtens Apfelmoſt.

Das Handwerkszeug und einige Hülfsſtoffe hatte der Meiſter zu liefern, ſonſt brauchte er für dieſe Art der Geſchäfte kaum Vorräthe an Rohſtoffen zu halten, noch weniger an fertigen Waaren. Er hatte daneben wohl auch Vorräthe und Waaren zum Verkauf, aber ſelten in ausgedehntem Maße; dazu fehlte der ſichere Abſatz, wie das Kapital. Die Hausfrau mußte alſo die Vorräthe181Die heutige Wirthſchaft der Familie.halten. Waaren im Vorrath zu arbeiten, Möbel, Ge - räthſchaften, Kleider, Schuhe auf Lager zu halten, war auch deswegen nicht ſo leicht wie heute, weil mit dem mangelnden Verkehr die individuelle Liebhaberei, die Eigenart jedes Individuums mehr im Vordergrund ſtand, weil entſprechend dem geringern Wohlſtand die Kaufenden oder Beſtellenden damals viel mehr als heute ausſchließ - lich der Klaſſe angehörten, die das nicht beſitzen will, was tauſend Andere in gleicher Form haben.

Heute iſt das Alles, beinahe Alles anders geworden in jeder halbwegs moderniſirten Stadt. Vorräthe hält man nicht mehr, Handlungen aller Art ſind ja in der Nähe, die Jahr aus Jahr ein bieten, was man braucht. Man kauft fertige Hemden, fertige Kleider und Schuhe, fertige Möbel, auf Flaſchen abgezogenen Wein; Brot und Fleiſch wird ins Haus gebracht, theilweiſe gar das Eſſen; die amerikaniſche Sitte, welche auch für ganze Familien das Leben im Boardinghauſe, im Gaſt - hofe geſtattet, beginnt auch bei uns Nachahmer, Ver - theidiger zu finden. In großen Etabliſſements läßt man waſchen. Man hat in den größern Städten weder zum Halten der früheren Vorräthe, noch zur Vornahme aller jener früheren Verrichtungen die Räume.

Der Laudator temporis acti ſieht nur mit Weh - muth dieſe Aenderungen. Und es iſt wahr, daß in der Art und Weiſe, wie früher die Wirthſchaft einer Familie geführt wurde, viele Motive und Veranlaſſungen zu einem geordneten Leben lagen. Vorſicht und Sparſamkeit vor der Ehe, Umſicht und Fleiß, haushälteriſcher Sinn und angeſtrengte Thätigkeit in der Ehe hingen damit182Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.zuſammen. Aber ſollten dieſe moraliſchen Eigenſchaften ſo ausſchließlich mit einer einzigen Art äußerlichen Wirth - ſchaftens verknüpft ſein? Sollten die Menſchen nothwen - dig wichtige Eigenſchaften verlieren, wenn einige äußere Veranlaſſungen zu Fleiß und Sparſamkeit nicht ſowohl ganz wegfallen, als andere Form gewinnen. Die Aende - rungen ſind Folgen wahrer techniſcher Fortſchritte, und ſomit muß man ſich ihrer bedienen; immer muß es möglich bleiben, auch mit der neuen Art des Wirth - ſchaftens das Leben ſo zu geſtalten, daß die alten wirth - ſchaftlichen Tugenden dieſelben bleiben.

Und das wird ſelbſt der eifrigſte Freund des Alten zugeſtehen, daß in den höhern Kreiſen die Tugenden des Fleißes, der Thätigkeit nicht verſchwunden ſind, daß ſie nur eine andere Richtung erhalten haben. Es wurde früher für geringen Effekt viel geiſtige und körperliche Arbeitskraft mit viel Geräuſch und viel Unruhe ver - ſchwendet. Die Arbeitskraft der helfenden kleinen Meiſter war nicht ausgenutzt; mit Laufereien, mit Warten und Herumſchlendern wurde viel Zeit verſäumt. Die Leiſtun - gen nach techniſcher Seite konnten nur unvollkommen ſein. Eine beſſere Zeiteintheilung und Arbeitstheilung gibt jetzt beſſere Leiſtungen und Produkte mit geringerem Aufwand. Das Familienleben hat an Ruhe und an Möglichkeit geiſtiger und gemüthlicher Vertiefung gewonnen.

Weniger freilich wird man das von den untern Klaſſen ſagen können. Da hat die Leichtigkeit, Alles fertig im Laden zu kaufen, ſtatt es durch die Thätigkeit der Hausfrau entſtehen zu laſſen, bis jetzt moraliſch eher ungünſtig gewirkt. Indolenz, Unluſt zu weiblichen Ar -183Vergleich der alten und neuen Zeit.beiten, ſelbſt Ungeſchicklichkeit zu backen und zu kochen einerſeits, Frauenarbeit außer dem Hauſe andererſeits ſind zuſammenhängende traurige Beigaben der neuen Entwicklung. Aber auch hier ſind dieſe Folgen keine nothwendigen; überdies iſt gerade in dieſen Kreiſen, beſonders auf dem Lande, die alte Art der Wirthſchafts - führung noch überwiegend und wird es noch lange bleiben.

Aber ich vergeſſe, daß ich hier nicht von den moraliſchen Folgen dieſer Aenderung für das Familien - leben, ſondern von den Folgen für den Handwerkerſtand zu ſprechen habe. Der Handwerker war früher ein techniſcher Arbeiter, thätig für eine Anzahl ihm perſönlich nahe ſtehender Familien. Jetzt dagegen tritt das Ver - kaufen fertiger Waaren immer mehr in Vordergrund; der Handwerker muß die Stoffe einkaufen, Lager halten, mit Borräthen ſpekuliren; dazu gehört Kapital, kauf - männiſche Bildung, eine höhere ſoziale Stellung. Eine viel kleinere Zahl größerer Geſchäfte wird übernehmen, was früher eine größere Zahl einzelner techniſcher Ar - beiter d. h. kleiner Meiſter mit den Hausfrauen zuſammen beſorgte.

Ich werde davon im folgenden Abſchnitt noch weiter zu ſprechen haben; vorher iſt es nöthig, noch von der wichtigſten Vorbedingung der ganzen Umwandlung zu ſprechen. All das Erwähnte vollzieht ſich hauptſächlich in den großen Städten. Die veränderte Vertheilung der Bevölkerung iſt mit die wichtigſte Folge der neuen Ver - kehrsmittel.

Am klarſten hat man die Wirkung der Eiſenbahnen auf die Bevölkerungsvertheilung in den Vereinigten184Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.Staaten von Nordamerika vor ſich, und zwar deswegen klarer als irgend wo anders, weil hier die ganze Kultur erſt mit den Eiſenbahnen entſteht. Keine zahlreichen Dörfer und Marktflecken, keine kleinen überall zerſtreuten Städte, ſondern einzelne Farmen und Rieſenſtädte, in denen ſich Handel und Induſtrie konzentriren, die in wenigen Jahren um Hunderttauſende zunehmen, das iſt das Bild, das ſich uns dort bietet. 1Vergl. hauptſächlich Wiß, das Geſetz der Bevölkerung und die Eiſenbahnen, eine volkswirthſchaftliche und ſtatiſtiſche Unterſuchung geführt auf dem Terrain der Vereinigten Staaten von Nordamerika.Das rieſige Anwachſen der Städte ſpiegelt ſich am ſicherſten in den Boden - und Miethpreiſen. Eine Wohnung, welche in Leipzig, Dresden oder Berlin 100 Thaler koſten würde, koſtet in den beſſern Theilen von Newyork und Boſton 5 800 Thlr. jährlich. 2Douai, Land und Leute in der Union. Berlin, Janke 1864. S. 224.Auch der Ackerboden ſteht in der Nähe dieſer Rieſenſtädte ja höher im Preiſe als in Europa. 3Pflaume, Einleitung zur Kenntniß der nordamerikani - ſchen Landwirthſchaft. Leipzig, Wigand 1866. S. 57.

Im alten Europa iſt die Wirkung langſamer; die beſtehenden Verhältniſſe ſtammen aus einer andern Zeit, und ſie bleiben zunächſt maßgebend. Wo der kleine Beſitz vorherrſcht, da exiſtiren ſeit dem Mittelalter die großen Dörfer, die kleinen Landſtädte. Bis zur Zeit der Eiſenbahnen hat der ſteigende Verkehr in der Form der Poſten und der Frachtfuhrwagen dieſe kleinen Ver -185Die Vertheilung der Bevölkerung in alter Zeit.kehrsmittelpunkte noch begünſtigt. Die Klagen aus dem vorigen Jahrhundert über den Verfall der Landſtädte ſind mehr auf die allgemeinen Urſachen gewerblichen Still - ſtands zurückzuführen; theilweiſe ſind ſie nur Ausdrücke egoiſtiſcher Unzufriedenheit darüber, daß aufgeklärte Regierungen einige Handwerker mehr auf dem Lande zulaſſen; theilweiſe beruhen ſie auf einem Irrthum. Sie beziehen ſich auf Orte, die niemals größer waren, Orte, welche erſt in der Zeit des kleinſtaatlichen Despotismus der Märkte und der unbeſchränkten Aufnahme von Gewerbtreibenden wegen die Verleihung des Stadt - rechts an ſie durchſetzten, und die nun gegenüber ſtädtiſchen Begriffen und Anſprüchen doch zu klein waren. Ein Rückgang der kleinen Städte als ſolcher iſt ſicher im vorigen Jahrhundert nicht eingetreten. Die kleinen Territorien Deutſchlands beförderten ebenfalls eine gleich - mäßige Vertheilung der Bevölkerung; da war eine kleine Reſidenz, dort eine Univerſität, da war Garniſon, dort eine Kriegs - und Domänenkammer, ein Oberlandes - gericht.

Dieſe beſtehenden Verhältniſſe ändern ſich nur ſchwer und langſam, aber immer ſind ſchon weſentliche Umbil - dungen eingetreten. Die volkswirthſchaftlichen Aenderun - gen machen ſich nach und nach unerbittlich geltend. In Bezug auf die gewerbliche Entwicklung möchte ich vor Allem an die Reſultate von Roſcher’s Unterſuchung über den Standort der Induſtriezweige erinnern. 1Deutſche Vierteljahrs-Schrift 1865, Heft 2. S. 139 201.Er führt aus, wie im Mittelalter, überhaupt in Zeiten geringen186Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.Verkehrs, in Zeiten, in welchen beinahe nur die Luxus - induſtrien ſtärker ſich entwickeln, die Gewerbe den Markt - mittelpunkt aufſuchen, da produziren, wo ſie auch gleich verkaufen können. Mit der Zeit, ſo zeigt er weiter, wird das anders. Der Verkehr hat ſich gehoben, der Waarentransport iſt ſchon leichter; in den Hauptſtädten iſt das Leben und der Boden ſchon ſehr theuer geworden; die Maſſeninduſtrien fangen an ſich zu entwickeln, ſie bedürfen der ſchweren Rohſtoffe, der Erze, der Kohlen, ſowie der zahlreichen Arbeiter. Die Induſtrie decentraliſirt ſich, ſie zieht dem Urſprungsort der Rohſtoffe, ſie zieht der Waſſerkraft, dem billigen Arbeitslohn nach. Erſt mit der Vollendung der Eiſenbahnen wird das wieder anders. Die Lebensmittel können nun viel leichter aus weiter Ferne zur Stadt geführt werden. Das Wachſen iſt möglich ohne Steigerung der Lebensmittelpreiſe und der Löhne; und nicht nur Fleiſch und Getreide, auch Kohlen, Eiſen, Wolle, Baumwolle können jetzt billig Hunderte von Meilen weit her bezogen werden. Der billige und leichte Kredit in den Städten, die Leichtigkeit des Abſatzes, die mannigfaltige Förderung durch perſön - liche Berührung und perſönliche Bekanntſchaft, die Hülfe ineinander greifender Induſtrien, die größere Möglichkeit, Abfälle zu verwerthen, die techniſchen und künſtleriſchen Bildungsmittel der Großſtädte werden jetzt das Ent - ſcheidende.

Und wie die Induſtrie, ſo konzentrirt ſich auch der Handel; ein Mittelglied nach dem andern fällt aus, weil der Verkehr ſo viel leichter geworden iſt. Der Getreidehandel von Poſen und Breslau geht jetzt direkt187Die Anziehungskraft der Städte.an den Rhein; er braucht die vermittelnden Handels - häuſer in Mitteldeutſchland nicht mehr. Der große Holz - handel von Süddeutſchland nach Holland ging früher durch mehrere Hände; der Holzhändler auf dem Schwarz - wald, in Heilbronn, in Mannheim verkaufte an den Kölner, der Kölner an den Holländer; jetzt kauft der Commis voyageur des Holländers direkt in den Wäldern bei den Auktionen. Der Kolonialwaarenhandel hat ſich weſentlich umgebildet; der kleinſte Krämer fängt an, direkt von dem Antwerpener und Hamburger Großhändler zu kaufen, um die Speſen zweiter und dritter Hand zu erſparen. Weſtfäliſche Hütten laſſen die Provinz Preu - ßen bereiſen und führen ſelbſt die kleinſten Aufträge direkt aus. 1Jahresberichte der Handelskammern des preuß. Staates für 1865. Beilage des Handelsarchivs S. 102.Die großen Plätze nehmen zu, die kleinen ab. Auf den großen Plätzen iſt jeder Käufer ſicher, durch keine Zufälligkeiten getrübte, durch lebendige Kon - kurrenz feſtgeſtellte Stapelpreiſe zu erhalten; der Bezug von den großen Plätzen wird durch die billigen Frachten auf weite Entfernungen erleichtert.

Und das ſind noch nicht die einzigen Urſachen, welche heute immer größere Menſchenmengen nach den großen Städten ziehen. Soziale und ſittliche, reſp. unſittliche Motive aller Art wirken da mit; Bildungs - und Erzie - hungsintereſſen, die Anziehung, welche die geiſtig hoch - geſpannte Atmoſphäre jeder Großſtadt übt, das Intereſſe am Mittelpunkt von Politik und Literatur zu ſein, dann wieder die Ausſicht auf erlaubte und unerlaubte Genüſſe188Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.aller Art, die Eitelkeit, welche dem Geſellen und Bauer - jungen, der in der Großſtadt diente, die Bedientenlivree mit ihren Reizen verführeriſcher macht, als eine ſelbſtän - dige Stellung auf dem Lande, auch die Hoffnung auf eine beſſere Armenverpflegung, hauptſächlich aber der Gedanke zahlloſer halb und ganz verlorener Exiſtenzen, dort in dem großen Getriebe irgend eine Chance zu finden, ehrlich oder mit Betrug und Schwindel in dem wechſelvollen Hazardſpiel des großſtädtiſchen Lebens einen Treffer zu ziehen, all das wirkt zuſammen. Wie einfache Zeiten einen Abſcheu vor den engen Mauern der Stadt haben, ſo ſtürzen ſich hoch - und überkultivirte in den Strudel des ſtädtiſchen Lebens. Im ſpätern römiſchen Reich war das platte Land verödet, Alles wollte an den Genüſſen der Städte theilnehmen.

Ich brauche dieſe allgemeine Richtung unſerer Zeit nicht weiter zu ſchildern; ſie iſt Jedem bekannt; es handelt ſich hier vielmehr wieder, wie bei den obigen Fragen darum, feſtzuſtellen, wie weit ſie bei uns in Deutſchland und ſpeziell in Preußen bis jetzt ſich durch - geſetzt hat, in wie weit ihr andere Thatſachen, die ein - mal decentraliſirte Induſtrie, die beſtehende Bodenver - theilung, die Anhänglichkeit an die engere und engſte Heimat und manches Andere bis jetzt das Gleichgewicht gehalten haben. 1Zu vergl. Dieterici, ſtatiſt. Unterſ. der Bevölkerung der Städte der Kurmark Brandenburg von 1736 1846, Mit - theilungen II, 265 277; Dieterici, über die Anzahl und Dichtigkeit der Bevölkerung von Frankreich, England und Preußen m Allgemeinen und nach den einzelnen Landestheilen, ſowie über

189Städtiſche und ländliche Bevölkerung.

Berechnet man zunächſt die ganze ſtädtiſche und die ganze ländliche Bevölkerung verſchiedener Staaten nach den Ausweiſen der amtlichen Statiſtik, ſo iſt der Begriff der ſtädtiſchen Bevölkerung ja nicht überall und nicht jederzeit gleich, aber ungefähr laſſen ſich die Zahlen doch vergleichen, wie es auch Wappäus, deſſen Reſultate ich anführe, gethan hat. In Preußen zählen bekannt - lich bei den ſtatiſtiſchen Aufnahmen diejenigen Orte als Städte, denen dieſes Prädikat nach dem beſtehenden Ver - waltungsrecht zukömmt. Es waren ſchon 1816-935 Orte, 1861 ſind es gerade 1000, von welchen etwa ¾ über 1500, nur wenige unter 600 Einwohner haben. Die Ausdehnung der Bezeichnung Stadt auf eine Anzahl früher nicht ſo bezeichneter Orte iſt von keiner ſo großen Bedeutung, daß nicht zeitlich die verſchiedenen Zahlen verglichen werden könnten.

Die ſtädtiſche Bevölkerung betrug nach Wappäus in den beigefügten Jahren folgende Prozente der Geſammt - bevölkerung:

1die Vermehrung ihrer Bevölkerung in den letzten Jahrzehnten, Mittheilungen VI, 142 205. Dieterici, über die Zunahme der Bevölkerung im preuß. Staate in Bezug auf die Vertheilung derſelben nach Stadt und Land, aus den Abhandlungen der Aka - demie von 1857. Horn, bevölkerungswiſſenſchaftliche Studien aus Belgien 1854, S. 47 61; Wappäus, allg. Bevölkerungs - ſtatiſtik 1861. II, 476 546. Viebahn, Statiſtik des Zollver - eins II, 138 164. Schwabe, Statiſtik des preußiſchen Städte - weſens, in Hildebrand’s Jahrbüchern, VII, S. 1 32.

190Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.

Von den engliſchen Zuſtänden iſt man auf dem Kontinent noch ſehr weit entfernt. In einzelnen kleineren Diſtrikten freilich zeigen ſich ſchon andere Verhältniſſe. Es beträgt die ſtädtiſche Bevölkerung:

1Mittheilungen VI, 174.
1

In den andern Regierungsbezirken ſchwankt ſie zwiſchen 9,8 (Gumbinnen) und 31,5 % (Erfurt).

Iſt ſo zunächſt gegenüber andern Ländern die An - häufung der Bevölkerung in den Städten immer noch eine mäßige, ſo kommt die weitere Frage: iſt das ein ſtabiler Zuſtand, oder beginnen auch bei uns die Ver - hältniſſe ſich zu ändern?

Horn2Bevölkerungswiſſenſchaftliche Studien aus Belgien. S. 25. ſucht zu zeigen, daß man die Zunahme der ſtädtiſchen Bevölkerung in Preußen ſehr übertreibe; er ſagt, in den 19 Jahren von 1831 49 habe in Preu - ßen dieſe ſtädtiſche Bevölkerung nur zugenommen von 27,4 % auf 28,3 %; das ſei keine weſentliche Aende - rung. Die hiervon etwas abweichenden Zahlen Legoyt’s ergeben für Preußen allerdings eine geringere Aende - rung als für Frankreich. Die Prozente der ſtädtiſchen Bevölkerung waren nach ihm:

191Die preußiſche ſtädtiſche Bevölkerung.Doch iſt das auch für Preußen keine ganz unbedeutende Zunahme und wenn vollends 1858 die Städte 29,6, 1861 30,4, 1864 31,07 %1Die Zahlen für 1858 und 61 nach Kolb, 4 te Aufl., S. 171, die für 1864 berechnet nach d. Zeitſchr. des ſtat. Bureaus 1865. V. S. 286. ausmachten, ſo ſieht man, daß der Zug nach den Städten immer nicht ſo klein iſt, daß er von 1831 - 51 vielleicht unbedeutend, dagegen 1851 - 64 ſehr wirkſam auftritt. Und dabei iſt nicht zu überſehen, daß in dem Geſammtdurchſchnitte der Städte die vielen ſtabilen ganz kleinen Landſtädte ſtecken; ohne ſie würde der ſtädtiſche Zuwachs bedeutend größer ſich darſtellen. Das erklärt ja auch allein, daß nach den Berechnungen des amtlichen Jahrbuchs die geſammte ländliche Bevölke - rung von 1816 bis 1858 nicht viel weniger zunahm als die ſtädtiſche, von 100: 167, während die ſtädtiſche von 100: 181 ſtieg.

Was nun aber das Verhältniß der verſchiedenen Städte unter ſich betrifft, ſo iſt klar, daß die Zeit bis gegen 1850 eine andere war, als die von 1850 bis 1869, und ebenſo unzweifelhaft iſt, daß, abgeſehen von den Großſtädten, die Mittelſtädte von den Verkehrs - änderungen anders berührt werden, als die ganz kleinen Acker - und Beamtenſtädte. Vollſtändige Unterſuchungen, die dieſe Frage nach allen Seiten hin abſchließend lösten, beſitzen wir leider nicht. Von den vorhandenen hebe ich die von Dieterici und Schwabe hervor.

Dieterici’s Unterſuchung geht auf die Zeit von 1840 - 55. Er ſucht zu beweiſen, daß in dieſer Zeit nicht bloß und nicht am meiſten die großen, ſondern192Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.auch die Mittelſtädte zugenommen haben; daß nicht bloß die hauptſtädtiſche Induſtrie, ſondern auch andere Ele - mente, Bergbau, ländliche Gewerbe, Landwirthſchaft am Wachsthum theilhaben.

Ich führe nur einige Zahlen an. Im Regierungs - bezirk Düſſeldorf ſind an mittleren Städten von 1840-55 ſtark gewachſen: Dülken von 100 auf 157, Duisburg auf 165, Eſſen auf 203, Gladbach auf 157, Greven - broich auf 134, Hückeswagen auf 296, Kaiſerswerth auf 135, Langenberg auf 133, Mülheim an der Ruhr auf 133, Orſoy auf 133, Rheydt auf 153, Ruhrort auf 178, Solingen auf 154, Süchteln auf 169, Velbert auf 155, Vierſen auf 162. Aehnliches zeigt ſich in der Mark: Angermünde ſtieg in derſelben Zeit (1840-55) von 100 auf 136, Bernau auf 141, Bie - ſenthal auf 132, Brandenburg auf 134, Charlottenburg auf 144, Köpnik auf 132, Frieſack auf 132, Kremmen auf 142, Luckenwalde auf 141, Rhinow auf 151, Saarmund auf 158, Spandau auf 143, Werder auf 130, Wittenberge auf 201; das ſind meiſt gegen oder über 3 % jährliche Zunahme. Von den großen Städten (über 30000 Einw. ) ſtieg Breslau in derſelben Zeit von 100 auf 131, Köln auf 142, Königsberg auf 118, Magdeburg auf 129, Danzig auf 109, Aachen auf 123, Stettin auf 147, Krefeld auf 174, Barmen auf 134, Elberfeld auf 130, Poſen auf 128, Halle auf 126, Potsdam auf 120, Frankfurt auf 124; ſie ſind alſo meiſt nicht ſo ſtark gewachſen, wie die Mittelſtädte. Von den ſämmtlichen kleinern Städten iſt nur durch - ſchnittlich eine von 11 in dieſer Zeit zurückgegangen;193Die preußiſchen Städte 1840 55.in der Provinz Sachſen z. B. nur Bitterfeld, Düben, Stolberg, Burg, Dardesheim, Hornburg, Kroppenſtedt, Oſterwieck, Salzwedel, Wanzleben, Ellrich, Tennſtedt, Thamsbrück, Treffurt, alſo 14 von 138 kleinern Städten. Die ganze Zeit von 1840 55 hat noch mehr die Rich - tung auf Decentraliſation der Induſtrie; noch iſt die Wirkung der Eiſenbahnen keine ſo beherrſchende wie ſpäter.

Auch ſpäter aber nehmen nicht alle kleinen, noch weniger alle Mittelſtädte ab. Auf dieſe Zeit und auf die Wirkung der Eiſenbahnen erſtreckt ſich Schwabe’s Unterſuchung. Er faßt ſeine Reſultate in folgenden drei Sätzen zuſammen: 1) Unter den mittleren und kleinern Städten wirken die Eiſenbahnen hauptſächlich auf diejenigen, welche ſich durch einen vorherrſchend gewerb - lichen oder induſtriellen Charakter auszeichnen. 2) Der Vermehrung der übrigen mittleren und kleinen Städte entziehen die Eiſenbahnen vielfach Terrain, namentlich wird die Bevölkerungszunahme der kleinen Städte ſichtlich abgeſchwächt. 3) Bloß die großen Städte, ſo zu ſagen die Knotenpunkte des Verkehrs, nehmen durch die Eiſen - bahnen zu. Schwabe illuſtrirt dieſe Behauptungen durch folgende Tabelle. Es betrug in Prozenten der geſammten Bevölkerung die Einwohnerzahl

Ich füge dieſen Zahlen die von mir gemachte Berech - nung1Berechnet nach den abſoluten Zahlen, Preußiſche Statiſtik, die Ergebniſſe der Volkszählung von 1864. Berlin 1867. S. 284. bei, wie ſich die ganze ſtädtiſche Bevölkerung imSchmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 13194Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.Jahre 1864 auf die verſchiedenen Größenklaſſen ver - theilt. Von den 5,98 in Städten lebenden Millionen Menſchen, welche ſelbſt 31,07 % der ganzen Bevölkerung ausmachen, kommen auf

Beinahe die Hälfte der ſtädtiſchen Bevölkerung kommt alſo noch auf die kleinen Städte, welche bis 10000 Ein - wohner haben, ein Drittel beinahe freilich auf die großen und ganz großen Städte!

Die letzte Tabelle iſt geeignet, die Behauptungen Schwabe’s nicht abzuſchwächen, aber doch ſie auf ihr richtiges Maß zurückführen. Eine große Aenderung iſt im Begriff ſich zu vollziehen, aber noch ſind die frühern beſtehenden Verhältniſſe dadurch nicht weſentlich umge - ſtaltet. Auch jetzt noch wachſen viele kleine Städte, auch jetzt noch nehmen viele Mittelſtädte ſtärker zu, als die ganz großen. Die Induſtrie iſt einmal in vielen Theilen Deutſchlands mehr decentraliſirt, und ſo erfolgt das weitere Wachsthum an den Punkten der beſtehenden gewerblichen Thätigkeit. Im Königreich Sachſen haben viele der Weber - und Bergbaudörfer, der Vorſtadt - und Gärtnerdörfer bis in die neueſte Zeit ſo ſtark zugenommen wie irgend eine Stadt. 1Zeitſchrift des ſächſiſchen ſtatiſt. Bureaus 1865. S. 64.Chemnitz nahm 1861 64 um 18,73 %, alſo jährlich um 6 %, Glau - chau in derſelben Zeit um 16,34 %, Oelsnitz um195Die preußiſchen und ſächſiſchen Städte 1864.15,79 %, alſo beide jährlich auch über 5 % zu. Berlin hatte, während die ganze preußiſche Bevölkerung jähr - lich um ½ % zunimmt, 1736 85 jährlich um 2,38 %, 1786 1802 jährlich um 1,15 %, 1802 46 um 2,93 %1Dieterici Mittheilungen II, 272 77. zugenommen, erſt in letzter Zeit ſtieg die Zunahme auf 3 4 %2Engel, die Induſtrie der großen Städte, im Berliner Gemeindekalender II, 134. jährlich. Das iſt eine unge - heure Zunahme, aber immer iſt ſie noch nicht ſo groß, als die der mittleren ſächſiſchen Induſtrieſtädte.

All das iſt ſehr wichtig für das Handwerk. Der Zug nach den Großſtädten vernichtet das kleine Hand - werk; die entgegenſtehende Erhaltung der kleinern und der Mittelſtädte friſtet das Daſein des kleinern ein - fachern Handwerksbetriebs.

13 *[196]

2. Die neuere Art der Produktion.

Die verſchiedenen Arten des heutigen Handwerks. Das Klein - gewerbe im Dienſte der großen Induſtrie. Die Reparatur - gewerbe. Das Ausarbeiten heutzutage. Der Charakter des neuen ſpezialiſirten Handwerks und ſeine Vorausſetzungen. Beiſpiele deſſelben. Uebergang mancher Handwerke zur Haus - induſtrie. Die Organiſation der Hausinduſtrie; die Verhältniſſe, welche ihren Uebergang zur Fabrik wünſchenswerth machen; die Verhältniſſe welche die Hausinduſtrie erhalten. Das Genoſſen - ſchaftsweſen. Die Nürnberger Hausinduſtrie.

Die letzten Bemerkungen über die Zunahme auch der kleinern Städte deuteten ſchon darauf hin, daß der Umſchwung im Handwerksbetrieb immer bis jetzt nur ein partieller iſt. Mancherlei Umbildungen ſind erſt in ihren Anfängen vorhanden; ſie werden für manche Verhältniſſe, beſonders für das platte Land niemals erreichbar ſein, weil eben hier die Bedürfniſſe, die Verkehrseinrichtungen andere ſind. Die Eigenart mancher Gewerbe und der von ihnen produzirten Waaren ſchließen theilweiſe die modernen Veränderungen aus. Vorerſt aber möchte ich von dieſen letztern Ausnahmen abſehen und verſuchen, die Aenderungen im Allgemeinen zu ſchildern. Ich will dabei die zwei Seiten alles Geſchäftslebens, die Produktion und den Vertrieb der Waaren, in der Beſprechung aus -197Die verſchiedenen Arten des Handwerks.einanderhalten; im Ganzen geht ja auch die reale Richtung des Geſchäftslebens auf eine Trennung beider Seiten, wenn auch einzelne Neubildungen, wie das Ma - gazinſyſtem, nicht ſowohl eine vollſtändige Trennung als eine andere Art der Verbindung von Produktion und Vertrieb bezwecken.

Auch da übrigens, wo der Boden für moderne Ein - richtungen vollſtändig vorhanden iſt, bleiben noch viele Handwerksgeſchäfte alter Art, ja es bilden ſich gerade wieder durch die große Induſtrie Verhältniſſe, welche neben den neuern Geſchäften dieſen und jenen Meiſter in alter Weiſe beſchäftigen.

Wie früher als techniſche Gehülfen in den Familien, ſo arbeiten jetzt noch viele kleine Meiſter für große Unter - nehmungen. Auf großen Gütern iſt ein eigener Schmied, ein Stellmacher nothwendig; mancher Tiſchler und Bött - cher liefert ausſchließlich Kiſten und Fäſſer zur Verpackung in eine große Fabrik. Jedes größere induſtrielle Etabliſ - ſement hat ſeine Schloſſer -, ſeine Reparaturwerkſtätte. Mancher Buchbinder iſt ausſchließlich für dieſe oder jene große Verlagsfirma beſchäftigt. Dazu kommen nicht bloß für die großen, ſondern ebenſo für die kleinen Geſchäfte und die Wirthſchaften der Familien die Reparaturgewerbe. Mancher Schloſſer, Schmied, Stellmacher hat in ma - ſchinen - und induſtriereichen Gegenden heute ſo viel mit Reparaturen zu thun, als früher mit Neuanfertigungen. Wo jeder Junge von 10 Jahren eine Taſchenuhr trägt, wird ein Uhrmacher mit Reparaturen mehr verdienen, als mancher mit Uhrenanfertigung in einer Zeit, in welcher auf Tauſende von Menſchen erſt ein Uhrenbeſitzer kam.

198Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.

Kleine Geſchäfte dieſer Art, die ihren Mann nähren, ſind auch heute noch möglich. Dagegen iſt es meiſt nur ein Zeichen verarmter überzähliger Meiſter, wenn heute wieder das Ausarbeiten in den Häuſern der Kunden zunimmt, wenn z. B. im Regierungsbezirk Arnsberg 1855 57 noch Schneider, Schuſter, Tiſchler und ähn - liche Handwerker bei ſolchem Ausarbeiten mit 3 Sgr. täglich und freier Koſt zufrieden ſind, 5 Sgr. ſchon als einen guten Verdienſt ſchätzen. 1Jakobi, das Berg -, Hütten - und Gewerbeweſen des Regierungsbezirks Arnsberg. S. 531.Dazu wird heute in der Regel nur die Verarmung den kleinen Meiſter bewegen. Unter Umſtänden freilich, auf dem Lande, kann auch dieſe Art des Geſchäfts noch ganz am Platze ſein.

Meiſt aber verſchwindet ſie; eine andere Art der Geſchäftsführung iſt üblich geworden. Der tüchtige Meiſter ſucht auf Vorrath zu arbeiten, ſucht vor Allem einen mehr als lokalen Abſatz; er verſucht alle techniſchen Fortſchritte zu benutzen; er kauft einzelne Theile, die andere Geſchäfte beſſer liefern, von ihnen, beſchränkt ſich mehr noch in der Anfertigung als im Verkauf auf beſtimmte Spezialitäten; den veränderten Bedürfniſſen dienend, vielfach ganz neue Artikel anfertigend, braucht er verſchiedene Arbeitskräfte; hat er nur zwei bis drei Arbeiter, ſo gehören ſie doch häufig verſchiedenen früher getrennten Gewerben an.

Es iſt damit ſozial ein ganz anderer Stand von kleinen Unternehmern entſtanden, die nicht ſowohl durch die Größe des Geſchäfts und Kapitals als durch die199Der moderne Handwerksbetrieb.Art des Betriebs vom alten Handwerk und zwar zu ihrem Vortheil ſich unterſcheiden. Viele waren urſprüng - lich tüchtige Geſellen, oft einfache Arbeiter, manche ſind urſprünglich Kaufleute, alle nennen ſich aber jetzt mit Vorliebe Fabrikanten, auch wenn ſie nur einen einzigen oder zwei Arbeiter beſchäftigen. Ihre andere ſoziale Stellung beruht weſentlich mit auf ihren Kennt - niſſen und ihren Verbindungen. Es ſind Leute, die auf Fortbildungs -, auf Gewerbe - und polytechniſchen Schulen etwas gelernt haben, Leute, die auf Reiſen, auf Jahr - markts - und Meßbeſuchen ſich Bezugsquellen und Abſatz verſchafft haben. Dieſe perſönlichen und geſchäftlichen Verbindungen ſind in den großen Städten leichter zu erwerben, ſie ſind es oft am meiſten, was dem unge - wandten kleinen Manne in abgelegenern Orten fehlt.

Immer gehört zu dieſer Art von Geſchäften einiges Kapital, zu einzelnen ſchon ein bedeutendes. Vielfach aber ſind es Geſchäfte, die in ſehr verſchiedener Aus - dehnung betrieben werden können. Techniſche Geſchicklich - keit und Marktkenntniß ſind meiſt wichtiger als ein großes Kapital. So wenig ich leugnen will, daß das große Kapital in manchen Beziehungen durch die Gewalt ſeiner Ueberlegenheit heute unberechtigte Gewinne macht, eine zu ungleiche Vermögensvertheilung noch ungleicher macht, ſo darf man auf der andern Seite da, wo gerade nicht ſowohl das Kapital als perſönliche Eigenſchaften den Ausſchlag geben, das nicht verſchweigen. Unfähigkeit, ſich in Neues zu finden, Unfähigkeit, ſich einer ganz regelmäßigen Thätigkeit zu unterwerfen, Unfähigkeit zu ſparen, wenn der Erwerb einmal flotter geht, niedrige200Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.Leidenſchaften, Trunk und Spiel, häusliche Mißverhält - niſſe ſind in den tiefern ſozialen Schichten häufiger, als in den höhern. Mag andere moraliſche Fäulniß in den höhern Schichten weit größer ſein, für den wirth - ſchaftlichen Erwerb ſtehen ſie höher, für den wirthſchaft - lichen Erwerb neuerer Art fehlen gerade dem Hand - werker oft die moraliſchen Qualitäten, die Erziehung, wie Schulze-Delitzſch das auch immer und immer wieder betont.

Als Beweis, daß zu dieſer neuen Art des Hand - werksbetriebs nicht ſowohl großes Kapital, als perſön - liche Eigenſchaften gehören, führe ich nur einige bekannte Beiſpiele an.

Die Gerberei hat ſich weſentlich umgebildet; es giebt große, aber auch noch mittlere und kleinere gute Geſchäfte. Die lederverarbeitenden Gewerbe ſind ſehr vielfältig geworden. Einzelne Geſchäfte fertigen nur Sattelzeug, andere nur Reiſezeug und Aehnliches. Hier - mit verwandt ſind eine Reihe von Buchbinderarbeiten, die zu ſelbſtändigen Geſchäften geworden ſind: die Anfer - tigung von Etuis, Futteralen, Mappen, Albums, Karten, Portefeuilles. Die Fabrikation von künſtlichen Blumen, von Papiermachéwaaren, von Spielkarten, von Horn - und andern Doſen, von Kämmen, von Düten, Fir - niſſen, Schmieren, Wichſen liegt meiſt in der Hand kleiner, aber für größern Abſatz arbeitender Geſchäfte. Von den Klempnern ſpezialiſirt ſich heute der eine auf Lampen, der andere auf Wagenlaternen, der dritte auf lackirte Waaren; auch im kleinſten Geſchäfte werden dabei die neuen Maſchinen, die Abkantmaſchine, die Biege -201Die Specialiſirung der Geſchäfte.maſchine, die Rundſchneidemaſchine angewandt. Geſchäfte, welche eiſerne Möbel liefern, haben einzelne Arbeiter in Berlin und in Frankfurt a / M. zu gleicher Zeit. Die Zuſammenſetzung, die letzte Ausſtattung erfolgt an irgend einem andern Orte. Aehnlich iſt es in vielen Branchen der Metallwaareninduſtrie.

Die Tiſchlerei hat ſich in die verſchiedenſten Zweige aufgelöst; da ſind die Hauptbranchen Bautiſchlerei und Möbeltiſchlerei; jede Branche hat verſchiedene Hülfs - gewerbe, welche einzelne Theile, Fourniere, Schnitzerei liefern. Aber jede hat in ſich noch eine weiter gehende Arbeitstheilung. Es giebt Meiſter, die nur Fenſter, die nur Thüren, nur Stücke zu Parketböden fertigen. Thüren - drücker und dergleichen aus Horn verfertigen für ein weites Abſatzgebiet zwei hieſige Drechslermeiſter, ſagt der Leipziger Handelskammerbericht von 1866. Einzelne Meiſter legen ſich nur auf Tiſche, andere auf Stühle, wieder andere auf Buffets. 1Siehe z. B. die Schilderung der Berliner Möbelinduſtrie in den preuß. Handelskammerberichten für 1866. S. 281.Verwandt mit dieſen ver - ſchiedenen Tiſchlergeſchäften, theilweiſe in den eigentlichen Holzhandel übergehend, ſind Geſchäfte, die Radfelgen, Speichen, Stäbe, Mauerlatten, Eiſenbahnſchwellen, Tele - graphenſtangen liefern, ſolche welche hauptſächlich die Imprägnation der letztern beſorgen.

Der ſtädtiſche Wagenbau, der Eiſenbahnwagen - bau, das Tapezier - und Polſtergewerbe braucht eine Reihe von einzelnen Hülfsgewerben, welche die maſſen - hafte Anfertigung einzelner Theile übernehmen.

202Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.

Die Organiſation iſt in all dieſen Branchen ſehr wechſelvoll und verſchieden. Es giebt da meiſt große geſchloſſene Etabliſſements, aber eben ſo oft kleine ſich gegenſeitig in die Hände arbeitende Geſchäfte. Beſon - ders wo größere perſönliche Geſchicklichkeit und Kunſt - fertigkeit gefordert wird, da blühen die kleinen neben den größeren Geſchäften; die einen übernehmen das, die andern jenes. So in der Waffenfabrikation, in der Ver - fertigung von Beinwaaren, plattirten Waaren, Kupfer - waaren, Zinnapparaten, pharmazeutiſchen Apparaten, chirurgiſchen und muſikaliſchen Inſtrumenten. In Silber - waarenartikeln haben Meiſter und Fabrikanten in Berlin zuſammen 1864 112 Werkſtätten mit nur 475 Gehülfen oder Arbeitern. 1Preußiſche Handelskammerberichte für 1864. S. 68.Der ſtädtiſche Wagenbau wird in ſehr verſchiedener Ausdehnung betrieben; nur in den ganz großen Städten hat er ſich zu Geſchäften konzentrirt, welche die ganze umliegende Gegend verſehen. Am wenigſten ſind die Nahrungs -, die Bau - und die perſön - lichen Gewerbe von der ganzen Umbildung ergriffen, ſie bleiben ihrer Natur nach mehr lokal. Beinahe voll - ſtändig dagegen zur Großinduſtrie übergegangen iſt die Tapeten -, Hut -, Knopf -, Schirm -, Stock -, Seifen - und Lichterfabrikation.

Wenn das Arbeiten für größeren und entfernteren Abſatz in den Vordergrund tritt, ſo macht ſich bald geltend, daß die Geſchäfte am beſten prosperiren, wo ſie in größerer Zahl ſind, wo ſich Fachſchulen für das Gewerbe errichten laſſen, wo die Traditionen im Arbeiter -203Alte und neue Hausinduſtrien.ſtand die gleiche Richtung haben, wo die Kinder ſchon mit den Handgriffen und techniſchen Vortheilen vertraut werden. Für einzelne Geſchäftsbranchen iſt das nichts Neues; die ſchwarzwälder Uhreninduſtrie, die Bürſten - binderei in der Pfalz, die Anfertigung muſikaliſcher Inſtrumente und verſchiedener Blechwaaren in den ſächſi - ſchen Gebirgsgegenden, die Kleineiſeninduſtrie am Rhein und in Weſtfalen, die Holzſchnitzerei vieler Gebirgs - gegenden, die Strohmanufaktur, die Weberei aller Orten ſind Beiſpiele dafür. Neu iſt es, daß ſich für eine Reihe anderer Gewerbe, die früher nicht in dieſer Kon - zentration vorkamen, dieſelbe Tendenz zeigt. Die Ver - fertigung von Handſchuhen, von Schuhen und Stiefeln, die Verfertigung von fertigen Weißwaaren, Hemden, Hemdkragen, von fertigen Kleidern, die Korbflechterei, die Anfertigung von Spielwaaren, Gürtlerwaaren, Bein - waaren alle dieſe Gewerbe ſind mehr und mehr zu Hausinduſtrien in einzelnen Gegenden geworden.

Die geſchäftliche Organiſation dieſer Hausinduſtrien iſt ſehr verſchieden, je nach dem erforderlichen Bildungs - grad, dem Verdienſt, den techniſchen Hülfsmitteln, die nothwendig ſind. Je höher nach allen dieſen Merk - malen eine Geſchäftsbranche ſteht, deſto mehr werden die kleinen Meiſter ſelbſtändige Unternehmer, Eigen - thümer von Rohſtoff und Maſchinen ſein, nur den Ver - kauf und etwa die letzte Vollendung und Verpackung dem Verleger überlaſſen. Bei der Uhreninduſtrie, bei manchen Produktionen von Metallwaaren übernimmt der einzelne Meiſter nur die Anfertigung beſtimmter Theile; da iſt die Zuſammenſetzung und Adjuſtirung der Waare204Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.das Hauptgeſchäft des Verlegers. Je tiefer Bildungs - grad, Geſchicklichkeit und Verdienſt der betreffenden Ar - beiter ſteht, deſto leichter kann der ſchlimme Fall ein - treten, daß mit einem zu großen Angebot von Arbeits - kräften der Lohn gedrückt iſt, der ſelbſtändige Beſitz der Arbeitsmittel aufhört, wie der ſelbſtändige Einkauf des Rohmaterials, daß eine große Zahl verarmter Familien von wenigen Fabrikanten abhängig wird, in der Noth ſich durch betrügeriſche Waarenlieferung zu helfen ſucht, zum verkommenen Proletariat herabſinkt.

Solche Zuſtände ſind es, wo der Uebergang zur Arbeit in geſchloſſenen Etabliſſements nur eine Beſſerung enthält, den Arbeiter unter Aufſicht und Kontrole ſtellt, ihn in geſündere Räume ſetzt, ihm von ſeiner Selbſtändigkeit nichts mehr nimmt, weil ſie doch nicht mehr vorhanden iſt. 1Siehe die ausgezeichnete kleine Schrift von Dr. med. Michaelis: Ueber den Einfluß einiger Gewerbezweige auf den Geſundheitszuſtand. Leipzig 1866.

Außerdem iſt der Uebergang von der Hausinduſtrie zum Fabrikbetrieb in großen Etabliſſements dann ange - zeigt, wenn große Maſchinen nöthig ſind, die ſich der kleine Meiſter nicht wohl halten kann. Die Maſchinen - weberei wird nur ſchwer in die Hütte des kleinen Mannes einkehren. Die Hausinduſtrie der Nagelſchmiede, der Bürſtenbinder, theilweiſe auch der Stickerei gewährt ein zu elendes Auskommen, als daß man nicht ihr Aufhören, ihren Erſatz durch Fabriken wünſchen müßte.

Abgeſehen aber von ſolchen Fällen, kann ſich die Hausinduſtrie, die ſo viele moraliſche und ſoziale Vor - züge hat, ſehr gut halten, und es geht viel zu weit,205Die mögliche Erhaltung der Hausinduſtrie.ihren Untergang allgemein zu prophezeihen. Für eine ganze Reihe von Thätigkeiten hat ſie mit der Näh - maſchine einen neuen Boden erhalten. Aus den ſächſi - ſchen Gegenden der Stick -, Näh - und Konfektionswaaren - induſtrie wird berichtet, daß zwar einerſeits die Zahl der Stickmaſchinen in den Fabriken zunimmt und ein bisher noch der Handſtickerei gehöriges Gebiet ſich zu eigen macht, daß dagegen für alle Arbeit, in der die gewöhn - liche Nähmaſchine ausreicht, die Hausinduſtrie wieder zunimmt. Der Hauptabſatz der Nähmaſchinen geht nicht an Fabriken, ſondern an Familien, an kleine Gewerb - treibende. Die Nähmaſchine, ſagt der Bericht von Plauen für 1865,1Preuß. Handelsarchiv Jahrg. 1867. I, S. 278. wird einestheils im Hauſe des Arbeiters längere Zeit als in geſchloſſenen Etabliſſements und deſſen regelmäßigen Arbeitsſtunden ausgebeutet und anderſeits dort als eigener Beſitz des Arbeiters vor - ſichtiger und pfleglicher behandelt. Der Arbeitgeber iſt frei von eigener Verantwortlichkeit für Verderb und Ver - ſchlechterung; die für Reparaturen erforderliche Zeit wird weſentlich abgekürzt. Manchfach haben die Verleger oder Kaufleute den Arbeitern die Nähmaſchine vorſchußweiſe angeſchafft. Kleine Abzüge am Lohn laſſen ſie ſukzeſſiv ins Eigenthum der arbeitenden Familie übergehen. Sicher ein erfreuliches Zeichen. Schon der eigene Beſitz eines ſolchen Kapitals, die dadurch dem Arbeitgeber gegenüber erreichte Selbſtändigkeit iſt ein Gewinn.

Aber auch ſonſt ſehen wir viele blühende Haus - induſtrien noch heut zu Tage. Ihre Erhaltung gegen -206Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.über dem Fabrikſyſtem hängt ab freilich in erſter Linie von der Technik, von der Thatſache, ob für eine Pro - duktion ganz große Maſchinen nothwendig werden, dann aber auch von der Geſchicklichkeit, der Rührigkeit, den moraliſchen Eigenſchaften im Kreiſe der kleinen Meiſter. Und All das hinwiederum ſteht im Zuſammenhang mit der geſchäftlichen Organiſation, mit der Thätigkeit von Gemeinde und Staat für Schulen und gemeinſame Inſtitute, mit der Entwickelung des Genoſſenſchaftsweſens unter den Leuten ſelbſt. Oft hat nur das letztere den hausinduſtriellen Betrieb, überhaupt die kleinern Ge - ſchäfte gegenüber den Fabriken erhalten. Beſonders ſchwer iſt es häufig für den kleinen Meiſter guten und billigen Rohſtoff, Leder, Garn, Tuch und Aehnliches zu kaufen. Es iſt nicht zu beſchreiben, wie der kleine Mann, der um jeden Preis Arbeit ſucht, da von gewiſſenloſen Händlern betrügeriſch übertheuert, durch abſichtlichen Lotterkredit in Abhängigkeit gebracht wird. Da wirken die Kreditvereine, die Rohſtoffgenoſſenſchaften Wunder. Ebenſo wichtig freilich ſind die gemeinſamen Verkaufsmagazine und beſonders gemeinſame Waſſer - oder Dampfkräfte mit den entſprechenden Einrichtungen, gemeinſame Walken und Appreturanſtalten für die Weber. Gemeinſame Unternehmungen der letztern Art ſind heut - zutage ſchon eher zu Stande zu bringen, auch iſt bei ihnen eine Intervention von Gemeinde und Staat weniger gefährlich als bei den eigentlichen Produktivaſſociationen. Da aber, wo für dieſe die moraliſchen und geſchäftlichen Eigenſchaften bei den kleinen Meiſtern vorhanden ſind, liegt in ihnen ſicher das beſte Mittel, das Handwerk207Das Genoſſenſchaftsweſen.zu retten, ihm einen Abſatz im Großen zu verſchaffen, den kleinen Meiſter der Hausinduſtrie zum Unternehmer zu erheben. Wo ſie gelingen und wo ſie mißlingen, da wiederholen ſie die Lehre, daß meiſt perſönliche Eigen - ſchaften wichtiger ſind oder gleich wichtig, wie die Kapital - beſchaffung. Uhrmacher, Tiſchler, Weber, Schneider, Schuhmacher, Buchdrucker, Maſchinenbauer, Stellmacher, Metallarbeiter und Klempner ſind es, die bis jetzt auf dem Wege der Produktivaſſociation ſich zu helfen ſuchten. Der Bericht1Schulze-Delitzſch, Jahresbericht für 1867 über die auf Selbſthülfe gegründeten deutſchen Erwerbs - und Wirthſchafts - genoſſenſchaften. Leipzig, Mayer 1868 S. 59. Der Bericht für 1865 S. 13 enthält beſonders lehrreiche Mittheilungen über die zwei Produktivgenoſſenſchaften der Berliner Chalesweber und der Freiburger Uhrmacher. Die übrige Literatur über dieſen Gegenſtand von Schulze, Huber und Anderen iſt zu bekannt, als daß ſie hier ſpeciell angeführt zu werden brauchte. Schulze’s für 1867 zählt bereits 36 ſolcher Unternehmungen auf und er umfaßt nicht alle, welche exiſtiren. Vieles ließe ſich noch über dieſes Thema ſagen. Da es aber ſonſt ſo vielfach beſprochen wird, ſo beſchränke ich mich darauf, nur im Allgemeinen noch einige Bei - ſpiele der ſich erhaltenden Hausinduſtrie zu erwähnen.

Die Korbflechterei iſt heute noch in manchen Ge - genden, wo auch für den Abſatz im Großen gearbeitet wird, ganz Sache kleiner Meiſter, z. B. in Frank - furt a. O., wo 30 handwerksmäßige Geſchäfte einen ſchwunghaften Abſatz an Tiſchen, Stühlen, Blumen - ſtändern, Waſchkörben, Körben zum Verpacken haben. 2Preußiſche Handelskammerberichte für 1865. S. 724.208Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.Dagegen iſt z. B. die große bairiſche Korbflechterindu - ſtrie in Oberfranken1Bavaria III, erſte Abtheilung, 462 65. neuerdings mehr und mehr in die Hände großer Kapitalbeſitzer übergegangen. Die Korbflechter erhalten das Rohmaterial vom Fabrikanten entweder zum Kaufe oder gegen Abzug am Lohn, ſie ſind ganz in ſeinen Händen. Die eine wie die andere Geſchäftsform iſt möglich; es handelt ſich für die kleinen Geſchäfte nur um eine richtige Organiſation in Bezug des Rohſtoffs und Vermittlung des Abſatzes. In Berlin exiſtirt ſeit einigen Jahren mit Erfolg eine Genoſſenſchaft von Korbmachern zum gemeinſamen Bezug des Rohſtoffes.

Die bedeutende Achatinduſtrie im Fürſtenthum Bir - kenfeld und im Regierungsbezirk Trier2Preußiſche Handelskammerberichte für 1867. S. 810. iſt heute noch ganz Sache der kleinen Achatſchleifmeiſter, Bohrer, Gold - ſchmiede, Graveure, Tombakſchmiede. Man zählte

Ein ſchönes Bild ſich erhaltender Hausinduſtrie gewährt vor Allem die früher ſchon erwähnte Nürn - berger und Fürther Induſtrie. Ich will nur Einiges nach der anziehenden Beſchreibung Dr. Beeg’s anführen. 3In der Bavaria III, zweite Abtheilung, S. 1059 1079.

Die Gegenſtände der Fabrikation ſind Spielwaaren, Meſſingwaaren und andere Metallwaaren, als Waagen, Gewichte, Schellen, Rollen, Hahnen, Zapfen, Feuer -209Die Nürnberger Hausinduſtrie.ſpritzen, phyſikaliſche Apparate, Rechenpfennige, Spiel - marken, Blattgold, Draht aller Art, Reißzeuge, Zirkel, Ahlen und Feilen, Ringe, Brochen, Haken, dann Kämme, Brillengläſer, Brillengeſtelle, optiſche Inſtrumente, Drechslerwaaren, Pfeifen, Zigarrenſpitzen, Papparbeiten, Buntpapier, Bilderbogen. Ein Lager Nürnberger Waaren zählt über 14000 Nummern, wobei die Größenver - ſchiedenheiten noch ungerechnet ſind. In dem Packlokal des Nürnberger Kaufmanns ſtehen Kiſten, welche nach Madras und Hongkong beſtimmt ſind, neben ſolchen, die nach Newyork, Mexiko oder Südamerika gehen werden. Der Kundige erkennt an dem Waarenmuſter, an der Verpackung den Beſtimmungsort: der Horn - kamm mit dieſen Verzierungen gehört nach Texas; dieſe ſchlanken Haken und Oeſen aus dünnem Draht finden nur in Südamerika Käufer.

Die Produktion, ſagt Beeg, geſchieht in der Regel fabrikartig, aber doch zugleich handwerksmäßig, indem ſich das Handwerk ebenſowohl für die einzelnen Artikel, als ſogar für manche Manipulationen in vielfacher Weiſe zergliedert hat. Die Werkſtätten ſind daher ſeltener in großen Fabrikpaläſten, ſondern meiſtens in den kleinen Wohnungen der arbeitſamen Gewerbtreibenden. Eine Hauptſtütze der kleinen Geſchäfte ſind die verſchie - denen Mühlen, beſonders die vom Magiſtrat 1854 ange - kaufte, umgebaute und hiefür eingerichtete Schwaben - mühle; es werden dort Lokale und Kraftbenutzung an Gewerbtreibende vermiethet. In der Schwabenmühle ſind 48 ſolcher Werkſtätten; man zahlt für 1 ΄ Boden - raum des Lokals 9 Kr., für die Benutzung einer ganzenSchmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 14210Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.Pferdekraft 300 Fl., einer halben 160 Fl., einer Viertels - kraft 90 Fl. jährlich. Erſt neuerdings haben auch Fabrik - beſitzer angefangen, ihre überſchüſſige Dampfkraft ſo an kleine Leute zu vermiethen.

Die kleinen Produzenten vermitteln theilweiſe den Abſatz ſelbſt, beſonders den in der Nähe, ſie beſuchen die Meſſen in Frankfurt a / M., Leipzig und München. Mehr aber noch überlaſſen ſie den Vertrieb dem Nürnberger Kaufmann, deſſen Lager mit den meiſten Nürnberger Waaren aſſortirt iſt. Der Kaufmann empfängt die aus - wärtigen Aufträge und beſtellt nach denſelben die mannig - fachen Artikel bei den verſchiedenen Werkſtätten gewöhn - lich vermittelſt Zettel mit beſtimmter Lieferzeit. Er iſt aber nicht bloß Kommiſſionär; er verſorgt die Ge - werbsleute gelegentlich mit neuen Muſtern, hält häufig Lager, läßt Vieles auf Spekulation arbeiten, ſendet Reiſende aus. Die für ihn arbeitenden Geſchäfte ſind aber völlig unabhängig. Es darf ſo ſchließt Beeg ſeine Erzählung die glückliche Organiſation dieſer Induſtrie nicht überſehen werden, welche den unabhän - gigen bürgerlichen Handwerksſtand zur Produktion für den großen Welthandel herangebildet und die Gefahren des Entſtehens eines Proletariates auf ein Kleinſtes ermäßigt hat.

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3. Das Verkaufsgeſchäft des kleinen Handwerkers.

Das Ladengeſchäft als Aushülfe, wenn die Produktion nicht geht. Die Schattenſeiten dieſer Ladengeſchäfte neben ihrer Nothwen - digkeit. Der ſtarke Zudrang zu ihnen und die Folgen für dieſe Geſchäfte. Der Wochenmarkt, ſoweit er von Handwerkern beſucht wird. Der Jahrmarkts - und Meßverkehr früher und jetzt. Der traditionelle Verkehr auf denſelben und ſeine Ab - nahme. Nachweis dieſer abnehmenden Bedeutung. Die Meſſen. Die Jahrmärkte, zugleich abhängig von Geſetzgebung, Ver - waltung und lokalen Nebenintereſſen. Die Verbindung der Jahrmärkte mit Vieh - und Spezialmärkten, die eine ganz andere wirthſchaftliche Bedeutung haben. Statiſtik der preußi - ſchen und ſächſiſchen Jahrmärkte.

Gehen wir nach dieſen Betrachtungen über die Aenderung in der Produktion auf die Aenderung im Vertrieb der produzirten Waaren über. Es handelt ſich dabei um die kleinen Detailverkaufsgeſchäfte, um den Markt - und Meßverkehr derſelben, dann um die grö - ßeren Magazine, die in der Regel zugleich irgendwie an der Produktion betheiligt ſind, und um den Hauſir - handel mit Handwerks - und andern Waaren.

Der lokale Verkauf bleibt unentbehrlich, wenn die lokale Produktion auch aufhört. Man will, man muß Läden aller Art in der Nähe haben. Je unbedeutender14 *212Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.die eigentlich gewerbliche Thätigkeit des Handwerkers meiſt wurde, deſto mehr trat das Ladengeſchäft in den Vordergrund; man fing an, neben den eigenen fremde Produkte, zuſammen paſſende und nicht zuſammen paſſende Artikel zu führen, wenn man nur Etwas wenigſtens verdiente. Der Buchbinder handelt mit Dinte, Federn und Papier, der Klempner mit Petroleum, der Friſeur und der Bürſtenbinder mit Oelen, Seifen, Parfümerien, alle verſuchen es mit Zigarren. Ein ſolcher Detailhandel war mit einzelnen Gewerben längſt verbunden. Geſetz - gebung und Theorie hatten ſich ſchon im vorigen Jahr - hundert viel damit beſchäftigt. Bergius meint,1Bergius, Polizeimagazin (neue Auflage 1786) IV, 392 - 93; vergl. auch Möſer, Patriot. Phant. I, 21 ff. II, 303. das Handwerk verliere jetzt dadurch ſo viel, daß der Meiſter im Laden ſtehe, daß ihm die Krämerei immer wichtiger werde; die Arbeit geſchehe durch nicht beaufſichtigte Ge - ſellen und Lehrlinge; Krämerei und Handwerk ſei nicht verträglich.

Es liegt in dieſem Vorwurf ſicher ein Keim von Wahrheit; der Handwerker mochte häufig ſo viel an techniſcher Geſchicklichkeit verlieren, als er an kaufmän - niſcher Gewandtheit und Spekulationsſinn gewann. Aber gleichviel, war der Detailverkauf Bedürfniß, gewann man dabei, ſo nahm er zu. Mochte der alte Zunft - meiſter bedenklich den Kopf dazu ſchütteln, mochten ein - zelne reaktionäre Geſetze, wie das hannöverſche2Bening, zur Gewerbeordnung. Hannover 1857. S. 44. vom 15. Juni 1848, nochmals den Verſuch machen, dem213Das kleine Ladengeſchäft.Handwerker zu verbieten, erkaufte Waaren im Laden auszuſtellen und Handel damit zu treiben; es war zu widerſinnig. Selbſt Vertheidiger der ſonſtigen alten Zunft - vorſchriften geſtehen jetzt das wenigſtens, daß jeder Unter - ſchied zwiſchen Handwerker und Kaufmann aufhören müſſe. 1Schübler, Gewerbefreiheit und Gewerbeordnung. Stutt - gart 1860. S. 29.Das Bedürfniß war da. Wo volle Gewerbe - freiheit eintritt, da zeigt ſich als Hauptfolge die ſtarke Zunahme dieſer kleinen Läden, wie ich oben bei Betrach - tung der einzelnen Staaten mehrfach hervorhob.

So ſehr das aber mit dem wirklichen Bedürfniß des lokalen Bedarfs zuſammenhängt, ſo wenig läßt ſich verkennen, daß dem Bedürfniß eine noch viel ſtärkere Neigung der Anbietenden entgegenkommt. Der Hannö - verſche Handelskammerbericht von 1867 bezeichnet es als eine förmliche Verirrung, daß das Handwerk, unfähig ſeine Produktion zu vervollkommnen, ſich ſo ausſchließlich auf den bloßen Handel gelegt habe; es habe da erſt recht die Macht des großen Kapitals kennen lernen müſſen, und jetzt erſt durch die vielen Mißerfolge klug gemacht, werde es ſich wieder mehr der Produktion zuwenden. 2Preußiſche Handelskammerberichte für 1867. S. 839.

Der ſtarke Zudrang iſt pſychologiſch leicht erklär - lich. Es iſt, wenn es gelingt von dem kleinen Laden zu leben, das bequemſte Geſchäft; ohne beſondern Fleiß, ohne Arbeit ſitzt der Mann hinter dem Ladentiſch, oft ſtundenlang Zigarren rauchend und Romane leſend. Liegt214Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.der Laden gut, ſo geht es doch; liegt er ſchlecht, ſo kommt der Konkurs, ob er ſich etwas mehr anſtrengt oder nicht. Sehr häufig aber kommt er; ich bin ſicher, daß, wenn die Konkursliſten nach dieſer Richtung die Geſchäfte unterſchieden, ein ſehr großer Theil der Konkurſe als aus ſolchen Verhältniſſen herrührend ſich darſtellen würde. Die Handelskammerberichte beſtätigen das auch. 1Z. B. Jahresberichte der Handels - und Gewerbekammern in Württemberg für das Jahr 1862. S. 31.Es ſind dieſelben Motive, die der Schank - und Gaſtwirthſchaft und dem Detailhandel mit Viktua - lien leicht zu viele und zweifelhafte Exiſtenzen zuführen; es ſind dieſelben pſychologiſchen Urſachen, die in dieſen Kreiſen ſo leicht zu Betrug und Fälſchung führen, zu jenen Mißbildungen des Detailverkehrs, welche die Kon - ſumvereine nothwendig gemacht haben.

Gegen den Betrug kann eine ſtrenge Polizei, gegen den zu ſtarken Andrang auch zweifelhafter Perſönlich - keiten kann zunächſt nur die freie Konkurrenz helfen; abmeſſen läßt ſich das Bedürfniß zumal während der jetzt ſich umbildenden Verhältniſſe nicht.

Aber ſo viel iſt klar, daß gerade bei freieſter Kon - kurrenz die zahlreichen Geſchäfte derart immer kleine Gewinne machen werden. Nur wenige werden ſich zu einem großſtädtiſchen Magazin emporſchwingen; die andern werden um ſo kleiner bleiben, werden unter dem Niveau des alten Handwerks an Einkommen, wie an ſozialer Stellung des Inhabers ſtehen, werden leicht der Gefahr des Bankerotts, wie der Anwendung betrügeriſcher215Der Andrang zum Ladengeſchäft.Mittel verfallen, werden den ſchlechten Lotterkredit för - dern, weil ſie nur ſo ihre Kunden, die den ärmſten Volksklaſſen angehören, anziehen. Dennoch wäre jeder polizeiliche Eingriff da heutzutage nicht am Platze. Manchmal erhalten ſolche Ladengeſchäfte dadurch ihre volle ſittliche und wirthſchaftliche Berechtigung, daß Frau und Kinder den Kram und Verkauf beſorgen, während der Mann arbeitet, ſei es im eigenen oder in einem fremden Geſchäfte. Nur indirekt läßt ſich der zu zahl - reichen Gründung ſolcher Geſchäfte entgegenwirken, durch Verbreitung techniſcher Geſchicklichkeit, durch Erziehung des ganzen Volkes zur Arbeit, durch eine ſolche volkswirth - ſchaftliche Entwicklung, welche alle tüchtigen Kräfte beſſer verwendet, ſie überhebt, zu dieſem Nothbehelf zu greifen.

Neben dem Verkauf im Laden ſpielt der auf den Wochenmärkten immer noch eine Rolle.

Der eigentliche Wochenmarktsverkehr zwar berührt das Handwerk nicht. 1Zu vergl. über den Wochenmarkt: J. G. Hoffmann, die Befugniß zum Gewerbebetrieb, Berlin, Nicolai 1841. S. 328 344. Auch über dieſen Punkt ſind die Ausführungen Hoff - mann’s klaſſiſch; wenn auch theilweiſe nicht mehr den heutigen Verhältniſſen entſprechend, ſtehen ſie immer noch höher als Manches, was von abſtraktem unhiſtoriſchem Standpunkte die entgegengeſetzte Einſeitigkeit vertritt, wie z. B. in dieſem Punkt der Artikel von Karl Scholz der Wochenmarkt in Faucher’s Vierteljahrsſchrift, XVII, S. 25 43Die Hauptſache auf dem Wochen - markt iſt ja nach Bedürfniß, nach Herkommen und geſetz - lichen Beſtimmungen der Kleinverkehr mit Viktualien, welche die ländlichen Produzenten, die Gemüſegärtner oder die Aufkäufer, die Höker zu Markte bringen. Daß auch216Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.dieſer Viktualienhandel in den großen Städten ſich um - bildet zu ſtehenden Verkaufshallen, großen Ladengeſchäften, iſt eine Sache für ſich, die uns hier nicht weiter beſchäftigt.

Je kleiner aber eine Stadt iſt, deſto mehr trifft man auf den Wochenmärkten noch Handwerkerprodukte daneben aufgeſtellt. Die preußiſche Verwaltung läßt überall grobe Korbwaaren und Töpferwaaren1Rönne, Gewerbepolizei II, 256. zu. Da - neben beſtimmt die Gewerbeordnung von 1845 (§ 78), daß in jedem Regierungsbezirk nach Ortsgewohnheit und Bedürfniß weitere Artikel zum Wochenmarktsverkehr gerechnet werden können. In dieſem Falle dürfen auch andere als Ortseinwohner ſie auf den Markt bringen. Die Gewerbetreibenden des Ortes ſelbſt dürfen natür - lich auf dem Markt zur Wochenmarktszeit alle Produkte, alle Handwerkerwaaren verkaufen, wenn ſie nach der Marktordnung eine Bude oder einen Stand haben, reſp. bezahlen. Der Entwurf einer Gewerbeordnung des norddeutſchen Bundes läßt es den Gemeinden offen, die - ſen Rechtszuſtand zu erhalten. 2Druckſachen des Reichstags I. Legislatur-Periode, Sitzungsperiode 1869. Nr. 19 Entwurf §§ 65 72. Motive S. 79. Im Geſetze jetzt §. 64, Abſatz 2.Die betreffenden Artikel fanden auch in der Berathung des Reichstages keine weſentliche Beanſtandung. Es liegt auch kein Bedürfniß vor, die Beſtimmungen zu ändern, z. B. unbedingt alle fremden Handwerker auch mit Waaren, die nicht Wochenmarktsartikel ſind, zuzulaſſen. Denn nicht fremde Handwerker, die durch Erklärung einer Waare als217Der Wochenmarkt.Wochenmarktsartikel erſt zugelaſſen werden, ſondern die ſtädtiſchen armen Handwerker ſtellen das Hauptkontin - gent zu dem Verkauf von Handwerkswaaren auf dem Wochenmarkte.

Es iſt ein zeitraubendes, ſchlechtes Geſchäft. Der tüchtige Handwerksmann, der ſeine Kunden, ſeinen Abſatz hat, läßt ſich in ſeinem Laden, in ſeiner Werkſtatt auf - ſuchen. Es ſuchen ſich mit dem Beziehen des Wochen - marktes die zu helfen, welche die Miethe für einen gut gelegenen Laden nicht erſchwingen können. Es iſt häufig das letzte Auskunftsmittel; deswegen kann gerade eine große Zahl dem Bankerott nahe ſtehender Kleingewerbe den Andrang zum Wochenmarktsverkehr zunächſt ſteigern.

Auch der Jahrmarktsverkehr iſt zu einem großen Theil auf dieſes Niveau herabgeſunken.

Die Jahrmärkte und Meſſen hatten früher einen andern Sinn. 1J. G. Hoffmann, die Befugniß zum Gewerbebetrieb S. 344 ff.Läden, Magazine mit reicher glänzender Auswahl gab es nicht, nach den großen Städten kam man nicht. Man war dem Zunftmeiſter des Ortes preisgegeben, der mancherlei Waaren gar nicht, andere nur unvollkommen hatte. Dem gegenüber ſchufen Märkte und Meſſen Tage und Wochen freier Konkurrenz, eine örtliche und zeitliche Konzentrirung von Angebot und Nachfrage. Der Konſument fand hier alle ſeltenern Artikel, eine reiche Auswahl, billige Preiſe. Der Pro - duzent, der Handwerker fand hier allein die Gelegen - heit, ſeinem Vorrathshandel Schwung zu geben. Die218Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.Bauern und Gutsbeſitzer der ländlichen Diſtrikte, die Hauptbeſucher des Marktes, richteten ihre Einkäufe an Kleidern und Stoffen, Haus - und Wirthſchaftsgeräth, an Spielwaaren für die Kinder ohnedieß gerne auf beſtimmte Tage und Zeiten, auf die, in welchen ſie ſelbſt verkauft hatten. Die traditionell ſich anſchließenden Volksfeſte, die Schauſtellungen und Thierbuden, die engliſchen Reiter und die Seiltänzer lockten Menſchen und Käufer von fern und nahe an. So waren die Meſſen und Märkte, ehe die Zeit der Eiſenbahnen kam, ein wichtiges Glied unſers Verkehrslebens, wichtig nicht nur für die kleinen und großen Händler, für den Abſatz von Fabrikwaaren, ſondern vor Allem auch für einen großen Theil der Handwerksinduſtrie.

Beſonders einzelne Gewerbetreibende, wie die Leb - küchler, die kleinen Weber, vor allen die Schuhmacher, dann auch die Verfertiger mancher Metallwaaren, die Gürtler, Inſtrumentenmacher, Meſſerſchmiede lebten zu einem großen Theile vom Jahrmarktsbeſuch. J. G. Hoff - mann1Die Bevölkerung des preußiſchen Staates S. 120. meint 1839, die höhere Zahl der Schuhmacher gegenüber den Schneidern gehe weſentlich auf den viel - fach üblichen Jahrmarktsbeſuch der Schuſter, der ſo viel Zeit koſte, zurück. Freilich fügt er ſchon damals hinzu: die Schuhmacher beziehen die Jahrmärkte in dem Maße mehr, worin ihr Gewerbebetrieb armſeliger wird.

Das iſt jedenfalls heute noch mehr der Fall als damals. Manche zwar brauchen die Märkte und Meſſen zugleich als Berührungspunkte mit Abnehmern und Liefe -219Die Jahrmärkte und Meſſen früher und jetzt.ranten, die ſie nur ſo ſehen, nur ſo kennen lernen. Aber abgeſehen hiervon, beginnt man einzuſehen, daß bei dem Jahrmarktsbeſuch nicht viel herauskommt. Der tüchtige Geſchäftsmann iſt ſparſamer mit ſeiner Zeit geworden; er widmet ſich ausſchließlich der Produktion oder dem ſtehenden Ladengeſchäft. Das Publikum findet beinahe überall auch ohne Märkte Alles, was es braucht. Immer weniger ſuchen tüchtige Handwerker ihre Exiſtenz auf den Jahrmarkts - und Meßbeſuch zu gründen. Auch hierdurch iſt dem kleinen Handwerk eine Poſition entzogen, auf die es bisher theilweiſe geſtützt war. Und ſie würde ihm längſt ſchon noch weiter entzogen ſein, wenn in dieſem Verkehr mehr wirkliches Verſtändniß und klares Intereſſe herrſchten, wenn nicht traditionelle An - ſichten der Hausfrauen und Dienſtboten, ſowie der ganzen ländlichen Bevölkerung, anerzogene und ſchwer ausrott - bare Irrthümer noch überwiegen würden.

So unzweifelhaft der Beginn dieſer veränderten Stellung der Meſſen und Jahrmärkte iſt, ſo ſchwer läßt er ſich ſtatiſtiſch oder durch anderweite ſichere Berichte nachweiſen.

Das große Meßgeſchäft berührt unſere Unterſuchung nicht direkt; doch ſei beiläufig bemerkt, daß auch es beinahe überall in Rückgang iſt. Das frühere Großmeßgeſchäft beruhte auf Privilegien, auf Ermäßigung der ſonſt über - mäßigen Zölle, Geleite, Stapel -, Wage -, Pflaſtergelder. Für die Meſſen trat der Nachlaß ein, die Großhändler und Fabrikanten ſtrömten herbei, um, dieſer Gunſt ſich erfreuend, an den Handwerker und Detailhändler nach Pfund und Elle zu verkaufen. Seitdem dieſe Verkehrs -220Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.erſchwerungen zum großen Theil wegfielen, hat die Meſſe nicht mehr die alte Bedeutung. 1Emminghaus, Meſſen und Märkte, Vierteljahrſchrift für Volkswirthſchaft. XVII. S. 65 ff., beſonders S. 78 84. Leipzig’s Handel und Meſſen ſeit Eintritt Sachſen’s in den Zoll - verein, Zeitſchr. d. ſächſ. ſtat. Bür. 1861. S. 1 16.Seitdem überdieß der Telegraph, die Poſt und die Eiſenbahn zuſammenwirken, um Angebot und Beſtellung, Probe und Waare, Wechſel und Baarzahlung raſch, billig und ſicher zu vermitteln, ſeitdem Handelsgeſetz und rechtliche Ordnung überhaupt dem Handelsverkehr eine größere Solidität geben, bleibt die Meſſe nur nothwendig für Waaren wie z. B. die Pelzwaaren, die nicht nach Probe zu verkaufen ſind, für Firmen, von denen man nicht gerne nach bloßer Probe kauft. Man will überhaupt manche Waare am Stücke ſehen. Und das iſt auch heute noch richtig, daß die große Auswahl und die Konkurrenz auf der Meſſe die Preiſe häufig noch erniedrigen. Für Leipzig, deſſen Meßgeſchäft allein nicht poſitiv abgenommen hat, kommt noch hinzu, daß ſich hier das ganze Großmeßgeſchäft des Zollvereins konzentrirt hat. Selbſt der Großmeßver - kehr Leipzig’s aber, der ja beſonders in Produkten der Zollvereinsinduſtrie immer noch bisher zunahm, iſt nicht ſo gewachſen, wie der übrige Verkehr des ganzen Zoll - vereins. Man könnte behaupten, daß der geſammte Meßverkehr Leipzig’s trotz ſeiner quantitativen Steige - rung gegenüber dem Geſammtverkehr und der Ge - ſammtproduktion des Zollvereins eine relativ niedrigere Stellung einnimmt, als kurz nach Gründung des Zoll -221Die Jahrmärkte und Meſſen früher und jetzt.vereins. 1Zeitſchrift d. ſächſ. ſtat. Bür. 1861. S. 14.Darüber aber ſind alle Kenner einig, daß nicht bloß in Folge des ſinkenden Großmeßgeſchäfts, ſondern auch aus den andern angeführten Urſachen der Kleinverkauf von Handwerkswaaren auf dieſen Meſſen in Braunſchweig, in Frankfurt a / M., in Frankfurt a / O., in Leipzig nicht mehr die alte Bedeu - tung hat.

In Bezug auf die eigentlichen Jahrmärkte iſt die Beurtheilung der abnehmenden Bedeutung dadurch ſchwie - rig, daß ſie meiſt nicht bloß Märkte für Kramwaaren und Handwerksprodukte ſind, ſondern ſich verbinden mit Vieh - und andern Spezialproduktenmärkten. Dieſe letz - tere Marktart hat heute noch ihre volle Berechtigung. Woll -, Leder -, Flachs -, Vieh -, Leinwandmärkte, Spezial - märkte, auf welchen z. B. Tiſchlerwaaren im Großen verkauft werden,2Vergl. Jahresberichte d. württ. Handelskammern 1865 S. 77. 1866 S. 32 33 über die Stuttgarter Möbelmeſſen. ſind auch heute noch am Platz. Derartige Märkte bilden ſich ſogar täglich neue und erhalten ſo theilweiſe mit den alten Krammarkt.

Außerdem kommt in Betracht, daß die Zahl der Märkte nicht bloß von dem wirklichen wirthſchaftlichen Bedürfniß abhängt, von der Frage, ob in den ſtehenden Läden die Waaren billiger und reeller zu kaufen ſind, auch nicht bloß von Gewohnheit und Einbildung, von der hergebrachten Neigung, ſich auf dem Jahrmarkt an - ſchwindeln zu laſſen, ſondern daneben vornehmlich von der Tendenz der Kommunalbehörden, durch Märkte den222Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.Verkehr am Orte zu beleben. Dieſe Tendenz ſelbſt iſt wieder abhängig von den beſtehenden Geſetzen und der beſtehenden Verwaltungspraxis über Jahrmärkte. In Preußen gelten über die Jahrmärkte noch die Beſtimmun - gen des Landrechtes, welche durch die Gewerbeordnung von 1845 nur näher beſtimmt worden ſind. 1Rönne, Gewerbepolizei II, 514. Staatsrecht, zweite Aufl. II, b, S. 376. Auch darin ändern der Entwurf der neuen Gewerbeordnung, ſowie die Beſchlüſſe des Reichstages nichts. Die Beſtimmung der Gewerbeordnung §. 65 lautet: Die Zahl, Zeit und Dauer der Meſſen, Jahr - und Wochenmärkte wird von der zuſtändigen Verwaltungsbehörde feſtgeſetzt. Den Martberech - tigten ſteht gegen eine ſolche Anordnung kein Widerſpruch zu. Das Meß - und Marktrecht wird vom Landesherrn ertheilt, in der Regel nur an Städte. Die Feſtſtellung der einzelnen Märkte erfolgt jährlich durch die Regierung im Einver - ſtändniß mit den betreffenden Ortsbehörden. Je mehr in früherer Zeit durch die Regierungen und Grund - herrſchaften Marktprivilegien ertheilt worden waren, nur um eine Einnahmequelle zu Gunſten der berechtigten Ortſchaften zu ſchaffen, um ſo berechtigter erſcheint die Abſicht der preußiſchen Verwaltung, die Zahl der Jahr - märkte wenigſtens einigermaßen zu beſchränken. Dieſe Tendenz zeigt ſich klar in den zahlreichen Reſkripten, welche Rönne mittheilt. Aber ſie ſcheint nicht recht zum Ziele zu gelangen. In Poſen hatte man ſchon 1805 und 1817 die ſämmtlichen Märkte auf dem platten Lande aufgehoben. 2Herzog, die Entwicklung der gewerblichen Verhältniſſe im Regierungsbezirk Poſen ſeit 1815. Poſen 1867. S. 65 ff.Und doch heißt es noch 1830 in der223Die Verwaltungspraxis über Jahrmärkte.Kabinetsordre vom 21. Auguſt 1830, die Majorität des poſenſchen Landtags ſei mit den Staats - und Provinzial - behörden darin einverſtanden geweſen, daß die große Zahl der Jahrmärkte in dortiger Provinz auf die Sittlichkeit der Einwohner ebenſo nachtheilig wirke als auf das Auf - kommen des dortigen Verkehrs, und es ſollen daher in keiner Stadt jährlich mehr als vier Märkte gehalten werden.

In Sachſen hat das Gewerbegeſetz vom 15. Oktober 1861 die Tendenz, die Jahrmärkte zu beſchränken. Es ſollen von 1872 an in keinem Orte unter 10000 Ein - wohnern mehr als zwei, in keinem größern mehr als drei Jahrmärkte jährlich gehalten werden. Man ſcheint aber ſagt die Zeitſchrift des ſtat. Bureaus1Jahrgang 1866. S. 165. in den meiſten Fällen dieſe Zeit bis 1872 für den Fortbe - ſtand der alten Einrichtung voll ausnutzen zu wollen. Wenigſtens iſt bis jetzt, nachdem die Hälfte jener Friſt verſtrichen iſt, erſt an ſehr wenigen Orten eine Reduktion eingetreten und beſteht noch an ſehr vielen Orten eine über das vom 1. Januar 1872 ab zuläſſige Maß hinausgehende Zahl von Jahrmärkten.

Da überall die Intereſſen der Wirthe, der Schau - und Vergnügungsluſtigen, Nebenintereſſen noch ſchlim - merer Art mit dem allgemeinen lokalen Intereſſe zu - ſammenfallen, die Märkte zu erhalten, ſo iſt klar, daß zunächſt mehr ihre Bedeutung als ihre Zahl abnehmen muß. Immer aber zeigt eine nähere Betrachtung ſelbſt224Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.der bloßen Zahl der Märkte,1Mir iſt an ſtatiſt. Nachweiſen nur bekannt: Statiſtiſche Nachrichten über die Zahl der Jahrmärkte, welche im Preußiſchen Staate im Laufe des Jahres 1858 werden abgehalten werden, Mittheilungen des ſtat. Bur. in Berlin XI. S. 87 96. Der Marktverkehr, im Jahrbuch für die amtliche Statiſtik des Preuß. Staates I, 465, enthaltend ein Verzeichniß der Märkte von 1863. Die Jahr - und Viehmärkte im Königreich Sachſen und in Preußen, Zeitſchrift d. ſächſ. ſtatiſt. Bureaus 1866. S. 165 173. Märkte und Börſen, Königreich Württemberg 1863. S. 651 54. daß meine Behauptung im Allgemeinen richtig iſt.

Die Zahl der ſämmtlichen Jahr -, Vieh - und Pro - duktenmärkte war 1858 und 1867 folgende in Preußen:

Beſonders da die Vieh - und Produktenmärkte mit - begriffen ſind, iſt es begreiflich, daß in den öſtlichen Provinzen noch eine Zunahme der Jahrmärkte ſtattfindet. In den verkehrsarmen Strecken des platten Landes im Oſten ſind ſie heute noch am Platz, um Handwerks - waaren, wie Fabrikreſte und Ladenhüter, die in der Stadt nicht mehr gehen, die nicht mehr in der Mode ſind, aber ganz gut noch dem einfachen Bedürfniß ent - ſprechen, abzuſetzen. Dagegen ſehen wir, daß in Pom -225Die preußiſchen Jahrmärkte.mern, in Sachſen und am Rhein die Zahl der Jahr - märkte ſchon etwas, wenn auch wenig, abnimmt; in Pom - mern allerdings wohl nicht in Folge hochentwickelten Ver - kehrs, ſondern eher in Folge eines gewiſſen Stillſtandes.

Nach dem Stande von 1858 war die Bedeutung der preußiſchen Marktorte und Märkte folgende:

Die dicht bevölkerte Rheinprovinz hat die meiſten Marktorte der Fläche, Weſtfalen der Bevölkerung nach. Je mehr eine Provinz Marktorte hat, deſto weniger bedarf ſie der Märkte. An einem und demſelben Orte wurden durchſchnittlich im Jahre in Weſtfalen am wenig - ſten Märkte gehalten, nämlich , in den öſtlichen Provinzen noch 5 6; die Jahrmärkte haben alſo hier noch eine viel größere Bedeutung. In der Rheinprovinz und Weſtfalen hat der Landbewohner durchſchnittlich bis zum nächſten Marktorte eine oder nicht einmal eine Meile zurückzulegen; er wird öfter, zu jeder Zeit in die Stadt kommen; damit tritt die Bedeutung des Jahrmarkts zurück. In Preußen und Pommern hat der Landbewohner 5 6 Meilen bis zum Marktorte zurück -Schmoller, Geſchichte d. Kleingewerbe. 15226Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.zulegen; da wird er viel ſeltner kommen, aber wenn er kommt, viel zu kaufen haben, und je weniger die Läden der Stadt bieten, deſto wichtiger wird ihm noch die Konzentration des Angebots auf einem Markte ſein. Schleſien hat im Verhältniß zur Bevölkerung die wenig - ſten Marktorte, erſt einen auf ungefähr 20000 Men - ſchen, dafür aber an einem Marktort jährlich 6 7 Märkte. Die Dauer der Märkte (zwiſchen 1,1 und 1,5 Tage auf einen Markt) vermag ich nicht auf allgemeine Urſachen zurückzuführen; es ſcheinen da mehr zufällige Momente zu walten.

Im Königreich Sachſen müßten nach dem hohen Kulturgrad, nach der Dichtigkeit der Bevölkerung, nach den zahlreichen Städten und Flecken mit Läden und Magazinen die Jahrmärkte entſchieden an Bedeutung und Zahl verlieren. Daß dies auch bis auf einen gewiſſen Grad der Fall iſt, beweiſen die Ausſprüche der Handelskammerberichte, wie z. B. der Chemnitzer von 1863 ſagt: Auf den Jahrmärkten hat ſich das Groſſogeſchäft bis auf ein Minimum reduzirt; ebenſo iſt auch im Detailhandel für reelle Geſchäfte nur noch wenig zu erzielen, da durch den ſich immer mehr ver - breitenden Handel in den Städten und auf dem Lande für die Befriedigung der Bedürfniſſe vollkommen geſorgt wird. Dagegen haben die Jahrmärkte jedenfalls den großen nachtheil, daß auf denſelben liederliche und un - ſolide Geſchäftsleute immer noch Gelegenheit finden, ihr1)Jahresbericht der Handels - und Gewerbekammer in Chemnitz 1863. Chemnitz, Focke 1864. S. 10. Auch die dor - tigen Ausſprüche über das Meßgeſchäft ſind intereſſant.227Die ſächſiſchen Jahrmärkte.Spiel zu treiben und dem ſoliden Verkäufer das Ge - ſchäft zu erſchweren, wenn nicht unmöglich zu machen. Die Bedeutung der Jahrmärkte hat ſich überlebt. Die - ſelben untergraben die Solidität des Kleinhandels, erſchweren an einzelnen Orten die naturgemäße Ent - wickelung deſſelben und erzeugen und friſten das Daſein eines handeltreibenden Proletariats. Die Verminderung und ſchließlich gänzliche Beſeitigung der Jahrmärkte wird deshalb den veränderten ſozialen Verhältniſſen der Jetzt - zeit entſprechen.

Wir ſahen ſchon, daß dennoch die Geſammtzahl der ſächſiſchen Märkte zunächſt keine Neigung zur Ab - nahme hat. Aber innerhalb der Geſammtzahl liegen weſentliche Aenderungen, indem die Vieh - und Produkten - märkte zu, die Krammärkte abnehmen. Es waren nämlich:1Zeitſchrift des ſächſiſchen ſtatiſtiſchen Bureaus für 1866. S. 170.

Dieſe Zahlen beſtätigen ebenfalls die Richtung auf eine ſinkende Bedeutung der Krammärkte.

Wo und ſoweit die Jahrmärkte noch blühen, ſind die ausbietenden Verkäufer, wie auch der Chemnitzer Bericht andeutet, mehr reine Händler und Hauſirer, als Handwerker, es ſind Leute, welche den Handels - vertrieb ausſchließlich treiben und deswegen wieder eher dazu paſſen, als die produzirenden Handwerker, welche durch den Jahrmarktsbeſuch Zeit und Arbeitsluſt verlieren.

15 *[228]

4. Die Magazine und der Hauſirhandel.

Die ſtädtiſchen Magazine, ihr Charakter, ihre Konkurrenz für das kleine Handwerk. Ihre Schattenſeiten, Humbug und Be - trug. Daneben ihre volkswirthſchaftliche Berechtigung. Das verſchiedene Verhältniß der Magazine zur Produktion, zu den Arbeitern oder kleinen Meiſtern. Die Uebelſtände und ihre Erklärung. Die Wirkung der großen Magazine über das ganze Land. Die Wanderlager oder umherziehenden Magazine. Der Hauſirhandel. Die verſchiedenen Thätigkeiten, die zu ihm gerechnet werden. Zur Geſchichte deſſelben. Die Hauſirer der ältern Zeit. Die Tendenz der Verwaltung, ſie zu be - ſchränken. Die von ſelbſt erfolgende Abnahme des alten Hauſirhandels. Die Wendung der neueſten Zeit auf Wieder - zunahme. Die Arten der Hauſirer, welche wieder zunehmen. Die Berechtigung dieſer Zunahme, neben der theilweiſe un - ſittlichen und proletariſchen Zunahme. Württembergiſche Ver - hältniſſe in dieſer Beziehung. Die Beſtimmungen der Ge - werbeordnung des norddeutſchen Bundes.

Wie der tüchtige vorwärtsſchreitende Handwerker den Bezug des Jahrmarkts aufgiebt, um keine koſtbare Arbeitszeit zu verlieren, ſo weiß auch der Händler mit Handwerksprodukten, daß er beſſer fährt, wenn er ſein Ladengeſchäft in der Stadt ſo ſteigern kann, daß es ihn ausſchließlich zu nähren, zu beſchäftigen vermag.

Wir ſprechen von einem Magazinſyſtem da, wo der kaufmänniſche Vertrieb den Schwerpunkt des Geſchäftes bildet. Der Bezug, die Anfertigung der Waaren iſt229Der Charakter des ſtädtiſchen Magazins.mannigfach; die Stellung des Unternehmers ebenſo: er iſt bald nur Kaufmann, bald Techniker, immer ein Mann etwas höherer Bildung und ſozialer Stellung. Größeres Kapital iſt die Vorausſetzung, große Vorräthe zur Auswahl bilden die Grundlage des Geſchäfts. Eine vom Geiſt moderner Spekulation geleitete Reklame, glän - zende Ausſtattung, koloſſale Schaufenſter, gewandtes Ein - gehen auf alle Bedürfniſſe des Publikums bilden die Mittel anzuziehen und einen großen Abſatz zu erhalten.

Die Magazine bilden die Hauptklage des kleinen Meiſters, ihre Konkurrenz nimmt ihm die Arbeit und würde ihm häufig noch gefährlicher werden, wenn das Magazin nicht meiſt Baarzahlung verlangte, während die Schneider und Schuſter oft erſt in einem Jahre, oft noch ſpäter bezahlt werden und dieſen ruinirenden Kredit nicht weigern können, da in der That ein großer Theil derer, die zu ihnen noch kommen, es nur thut, weil hergebrachter Maßen dieſer überlange Kredit im Verkehr mit dem kleinen Meiſter üblich iſt.

Aber nicht bloß der kleine Meiſter, auch mancher ſolide Geſchäftsmann warnt bedenklich vor dem Magazin, und es unterliegt keinem Zweifel, das Magazinſyſtem iſt ſehr vielfach der eigentliche Tummelplatz des modernen Schwindels und Humbugs, ja der eigentlichen Betrügerei. Der Großhandel iſt reeller und ſolider geworden, weil ſich bei ihm in der Regel zwei Sachverſtändige gegen - über ſtehen. Im Laden und Magazin ſtehen ſich meiſt ein Sachverſtändiger und ein Laie, ein mit den Fälſchungen, mit der beſtimmten Waare überhaupt wenig oder gar nicht Vertrauter gegenüber.

230Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.

Der rechte Spekulant geht aus von dem Grundſatz: mundus vult decipi, ergo decipiatur. Die glänzende Außenſeite der Produkte iſt ihm die Hauptſache, viel weniger die Haltbarkeit, die Solidität. Doch darf man nicht vergeſſen, daß die Waare, die er liefert, meiſt fabrikmäßig hergeſtellt iſt. Sie kann nicht die Voll - endung und Haltbarkeit haben, wie ein Produkt, das nach Angabe des Beſtellers gearbeitet, in allem Detail von der Hand des Meiſters ſelbſt geprüft iſt. Iſt die Waare nur entſprechend billig, ſo iſt das kein Vorwurf gegen ſie. Freilich geht oft die Unſolidität viel weiter, wenn es auch nicht oft vorgekommen ſein mag, daß Kleidermagazine geleimte ſtatt genähter Hoſen verkauften, die im Regen bedenkliche Reſultate geliefert haben ſollen.

Aber nicht bloß durch glänzend ausſehende Waare wirkt der Spekulant, der ſein Magazin in die Höhe treiben will. Alle erlaubten und unerlaubten Mittel der Täuſchung und der Reklame werden von gewiſſen - loſen Menſchen in Szene geſetzt; und, was das ſchlimme iſt, der eine kann nicht hinter dem andern zurückbleiben, ſo häuft ſich Täuſchung auf Täuſchung, Betrug auf Betrug. 1Ein ſehr intereſſanter Beleg hiefür iſt der zunächſt auf engliſche Verhältniſſe ſich beziehende Artikel in der Westminster Review 1859, Vol. XV New Series S. 357: the morals of trade. Ein anderer nicht unwichtiger Beitrag findet ſich in den Hausblättern für 1866, Heft 21 S. 227: zur Geſchichte der Reklame, eine kulturhiſtoriſche Skizze von Hugo Schramm. Ferner: The humbugs of the world, by P. T. Barnum. London, Hotten 1865. Sind wir von amerikaniſchem, engliſchem231Die Schattenſeiten der Magazine.und franzöſiſchem Humbug noch weit entfernt, ſo ſind dieſe Dinge bei uns doch auch ſchon ſo entwickelt wie irgend wünſchenswerth. Der gewandte Rechtsanwalt und Handelsrichter weiß davon zu erzählen. Wie manchmal iſt der Fall ſchon durch ärgerliche Prozeſſe, die unter den Helfershelfern ausbrechen, ans Licht gekom - men, daß der ſpottbillige Verkauf guter Kleider in dieſem und jenem Magazin darauf beruhte, daß der Inhaber für 2000 Thaler einen Tuchvorrath kaufte und baar bezahlte, der 4000 5000 Thaler werth war. Der Verkäufer des Vorraths ſteht vor dem Bankerott und will noch etwas auf die Seite ſchaffen. Er verkauft, betrügt ſeine Gläubiger; Käufer und Verkäufer verpflichten ſich zu ſchweigen; in den Büchern wird die Sache irgend - wie vertuſcht, und Niemand erfährt etwas, wenn die ſaubern Geſchäftsfreunde nicht Händel bekommen. Andere Magazine helfen ſich wenigſtens dadurch, daß ſie keine andern Waaren als Konkurswaaren kaufen. Und in bewegter Spekulationszeit machen ſicher immer ſo viele Magazine Bankerott, daß aus ihren Zwangsauktionen billig zu kaufen iſt.

Ich will nicht behaupten, daß auch nur die Hälfte, auch nur ein Drittheil unſerer deutſchen Magazine an ſolchen Unlauterkeiten theilnehmen; aber immer wäre das Bild des Magazinſyſtems einſeitig, wenn man dieſe Auswüchſe nicht erwähnte. Sie ſind um ſo mehr zu erwähnen, als Polizei und öffentliche Meinung bei uns weniger als in entwickeltern Ländern dieſe Dinge ver - pönen, verfolgen, überhaupt kennen; um ſo mehr zu betonen, als doch trotz aller dieſer möglichen Uebelſtände232Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.zuzugeben iſt, daß das Magazinſyſtem heute eine volks - wirthſchaftliche Nothwendigkeit iſt.

Der beſte Beweis hiefür iſt, daß ſie trotz aller Klagen über ſchlechte Waaren ein immer größeres Publi - kum finden, immer mehr zunehmen. Und das hat ein - ſache volkswirthſchaftliche Urſachen. Die Arbeitstheilung zwiſchen Produktion und Vertrieb ermöglicht beſſere Pro - duktion und beſſern Vertrieb. Die Magazine ent - ſprechen dem heutigen Stande der Kapitalanſammlung, der Technik, der Geſchäftsorganiſation. Die Magazine haben Kapital und Kredit, die Konjunkturen zu benutzen, ſie bilden, wo ſie nicht ſelbſt produziren, für die Fabriken oder kleinen Produzenten ſichere, zahlungsfähige Abneh - mer; ſie kaufen, wenn ſie ſelbſt produziren laſſen, die Roh - und Hülfsſtoffe billig im Großen ein. Sie liefern billigere Waaren als früher, ſie bieten dem Publikum die große Auswahl zwiſchen fertigen Produkten, die es wünſcht. Die Waarenvorräthe, welche ſie halten, können als eine Art Reſervefonds für das ganze Volk betrachtet werden. Sind nur die Verhältniſſe richtig geordnet, ſo werden Preiſe und Betrieb durch die Magazine eher gleichmäßiger, Kriſen ſeltener. Das Magazin hält eine Mißgunſt der Konjunktur eher aus, als der kleine Meiſter; es wird auf Vorrath arbeiten laſſen, gerade wenn die Löhne gedrückt ſind.

Das Verhältniß der Magazine zu den Arbeitern iſt ſehr verſchieden. Einzelne haben eigene Arbeits - räume, wo ſie Arbeiter und Arbeiterinnen beſchäftigen; ſie ſind ganz auf dem Fuß einer Fabrik eingerichtet; der Arbeiter hier unterſcheidet ſich nur darin vom233Das Verhältniß der Magazine zur Produktion.gewöhnlichen Fabrikarbeiter, daß er ein gelernter Hand - werker iſt, dem entſprechend eine andere Stellung und andern Lohn beanſprucht.

Andere Magazine ſind ganz oder faſt ausſchließlich auf Einkauf fertiger Produkte, fertiger Lederwaaren, fertiger Kleider eingerichtet. Sie beziehen dieſelben von Fabriken oder von verſchiedenen Handwerksgeſchäften, welche ſelb - ſtändig die Rohſtoffe einkaufen und verarbeiten, welche ſich ausſchließlich auf einzelne Spezialitäten, z. B. auf die ausſchließliche Anfertigung von Damenmänteln werfen. Solche Handwerker arbeiten dann für eine Reihe von Magazinen, oft für Magazine an verſchiedenen Orten. Ihre Geſchäfte vervollkommnen ſich techniſch, ſind durch ihren Abſatz an verſchiedene Magazine unabhängig; ſie machen häufig gute Geſchäfte; es iſt kein allzugroßes Kapital zum Beginne nöthig. In dieſer Weiſe hat ſich in Thüringen und ganz Mitteldeutſchland vielfach die Schuhmacherei geſtaltet. Die kleinen Meiſter kaufen ſelbſt das Leder beſonders da, wo Rohſtoffgenoſſen - ſchaften ihnen das erleichtern und verkaufen die fer - tige Waare an die Magazine.

Häufig aber beſchäftigen die Magazine die kleinen Meiſter und Arbeiter ſo, daß ſie den Rohſtoff liefern, den Arbeiter in ſeiner eignen Wohnung arbeiten laſſen, ihm nur die Arbeit bezahlen. Von ſolchen Verhält - niſſen hauptſächlich geht die vielfach verbreitete Meinung aus, als ob das Magazinſyſtem an ſich identiſch ſei mit Lohnherabdrückung, mit blutiger Ausſaugung des Arbeiter - ſtandes. Dieſe Meinung irrt in ihrer Allgemeinheit ſchon deshalb, weil das Magazinſyſtem ganz verſchiedene234Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.geſchäftliche Organiſationen zuläßt, die gerade die Be - ziehungen zwiſchen dem Arbeiter und dem Magazin ganz verſchieden geſtalten.

Nur ſo viel läßt ſich im Allgemeinen ſagen, daß dem Magazininhaber meiſt der Vertrieb, der Verkauf die Hauptſache iſt, daß ihm die Produktion erſt in zweiter Linie ſteht, daß er alſo deswegen weniger In - tereſſe an ſeinen Arbeitern hat, als der eigentliche Fa - brikant und als der Verleger der Hausinduſtrie, deren eigenes Gedeihen mit dem Wohle der Arbeiter näher zuſammenhängt.

Ein Theil der Mißbräuche in dieſen Geſchäfts - verhältniſſen hängt mit dieſem Umſtande zuſammen; der größere Theil aber hat andere Urſachen, liegt in der allgemeinen Kriſis der Handwerksinduſtrie, in dem zu großen Angebot von Arbeitskräften, beſonders in ſolchen Gewerben, die leicht zu erlernen ſind, in denen der Zu - drang groß iſt, weil ſie bisher ohne bedeutendes Kapital leicht die Gründung eines eignen Geſchäfts erlaubten. Auch die früher mangelnde Freizügigkeit, die Schwer - fälligkeit in Ueberſiedelungen hat viel mitgewirkt; die Eiſenbahnen haben die Schwerpunkte des gewerblichen Lebens total verrückt; an einem Orte iſt der größte Arbeitermangel, am andern haben die Leute nichts mehr zu thun.

Wo ſo das Angebot an Arbeitern überwog, wo zahlreiche kleine Meiſter unbeſchäftigt waren, da haben die Magazine arbeiten laſſen. Sicher haben ſie die Unkenntniß und die Noth der armen Leute oftmals blutig und entſetzlich ausgenutzt. Aber meiſt geſchah es235Das Arbeiten für die Magazine.da, wo ohne die Magazine die Arbeiter gar keine Arbeit gefunden hätten, die Noth alſo noch größer geweſen wäre. Oft auch haben ſich die Schuhmacher und Schneider, welche für Magazine arbeiten, ſelbſt dadurch geſchadet, daß ſie das Magazin im Stiche ließen, wenn dieſes ihre Arbeit am nothwendigſten brauchte. Sie halten es häufig noch für eine Schande, für die Juden zu arbeiten, ſie wollen eine eigene Kundſchaft erwerben und löſen, ſobald in einem günſtigen Geſchäftsjahr die Nach - frage ſteigt, ihren Zuſammenhang mit dem Magazin. Nun kommt wieder eine Geſchäftsſtille; der Verſuch, ein eigenes Geſchäft zu gründen, zeigt ſich als mißlungen; die Erſparniſſe ſind verbraucht. Der Magazininhaber wie der Meiſter ſind gegenſeitig erbittert; jeder ſchiebt den flauen Abſatz dem andern in die Schuhe. Und jetzt gerade muß der kleine Meiſter um jeden Preis Arbeit ſuchen!

So kann das Verhältniß ſein, ſo muß es nicht ſein. Hat ſich nach Umwandlung der Verhältniſſe die Zahl der Arbeitenden in ein richtiges Verhältniß zur Nachfrage geſtellt, iſt die Lage der Leute eine behag - lichere, beſſere, beſitzen ſie wenigſtens das nothwendige handwerkszeug ſelbſt, ſind ſie nicht durch Vorſchüſſe von einzelnen großen Unternehmern abhängig, ſo iſt ihre Lage nicht ſchlimm. Es fehlt ihnen die alte Selbſtän - digkeit des Handwerks, es fehlt ihnen die Möglichkeit, am Unternehmergewinn theilzunehmen; aber ſie haben ihr geſichertes Verdienſt, und wenn ſie ſehr geſchickt ſind, wenn ſie etwas erſparen, können ſie immer in die Reihe der Unternehmer ſelbſt wieder eintreten.

236Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.

Die Wirkung der ſtädtiſchen Magazine beſchränkt ſich nicht auf die Städte; die ganze Umgegend der Stadt fängt an, bei ihnen zu kaufen; der ſchöne Laden beginnt auch dem Bauern zu imponiren, der ſtaunend vor den gro - ßen Spiegelfenſtern und ihrer Schauſtellung ſtehen bleibt. Die Eitelkeit ſpielt mit: mancher will hinter der Mode nicht zurückbleiben; die neueſte Mode, die neueſte Façon findet man in den großen ſchönen Läden. Die Eiſenbahn erleichtert den Beſuch ſelbſt für den ferner Wohnenden. Wie der Bauer gern in die Stadt, ſo geht der Be - wohner des Städtchens gerne auf einen Tag in die Hauptſtadt der Provinz; der wohlhabende Bewohner der Provinzialhauptſtadt aber würde es unter ſeiner Würde finden, wenn er nicht Möbel und Kleider von Berlin bezöge; die vornehme Berlinerin hat ihre Putzmacherin in Paris, nur dort kann ſie die neuen ſeidenen Roben einkaufen und erträglich machen laſſen. Berliner Möbel ſind nächſtens in den Magazinen aller deutſchen Städte; es iſt daſſelbe Holz, dieſelbe Arbeit, dieſelben Modelle; aber der Gebildete reist doch nach Berlin, um dort einzukaufen, und ſicher findet er auch da eine noch größere Auswahl, die ſchönſten Stücke, die billigſten Engros-Preiſe, oftmals freilich auch noch mehr Täuſchung und Betrug, als zu Hauſe.

Aber auch für Denjenigen, der nicht die Reiſen nach der Provinzial - oder Landeshauptſtadt machen kann, hat die wachſende Spekulation Gelegenheit geſchaffen, die Magazinwaaren zu kaufen, durch die wandernden Maga - zine, welche den Uebergang zu dem eigentlichen Hauſir - handel bilden.

237Die Wanderlager.

Man wird dieſen Wandermagazinen nicht voll - ſtändig die volkswirthſchaftliche Berechtigung abſprechen dürfen. Wenn an einem Orte ein Geſchäft nicht das ganze Jahr zu thun findet, ſo kann der Wechſel des Ortes von Monat zu Monat am Platze ſein. Die Funktion, neue Bedürfniſſe in abgelegenen Orten zu wecken, iſt ebenfalls eine berechtigte, wenn ſie nicht zu weit geht.

Auf der andern Seite aber iſt ebenſo unzweifelhaft, daß ſolche Wandermagazine mehr als jeder andere Ge - werbebetrieb es auf Täuſchung des Publikums, auf Umgehung der Gewerbeſteuer anlegen. Die Reklame, das Aushängeſchild des Ausverkaufs, die verführeriſche Form der Auktionen muß helfen einen ſchnellen Abſatz zu bewerkſtelligen, und bis die Käufer den Schaden merken, iſt das Magazin längſt an einem andern Orte. Was ich oben von den Schattenſeiten der ſtehenden Magazine ſagte, gilt doppelt und dreifach von den wandernden.

Die großen Klagen in Württemberg über der - artige Wandermagazine erwähnte ich ſchon oben. Seit die Gewerbeſteuer dieſer Art von Geſchäften geregelt iſt (1865), hat aber das wandernde Ausbieten von ganzen Waarenlagern in Wirths - und Privat - häuſern wieder weſentlich abgenommen. 1Württ. Handelskammerberichte für 1865. S. 119.Das neue Bairiſche Gewerbegeſetz hat trotz ſeiner ſonſt durchaus liberalen Richtung die Beſtimmung, daß die ſogenannten Wanderlager von der ortspolizeilichen Bewilligung ab -238Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.hängen und einer beſondern Abgabe für die Gemeinde - kaſſe des betreffenden Ortes unterliegen. 1Art. 21. ſ. die angeführten Erläuterungen von Schöller S. 79 80.Der große Erguß von Berliner Spekulanten über Thüringen und ganz Mitteldeutſchland in der Form von Wanderlagern, über den jetzt allerwärts geklagt iſt, ſcheint auch mit einer mangelhaften Regelung der Steuerverhältniſſe zu - ſammenzuhängen; vielfach ſind natürlich die Klagen über - trieben, ſie zeigen theilweiſe nur, daß Konkurrenz kommt, und daß ſie ungeſchickten Meiſtern und uncoulanten kenntnißloſen kleinen Händlern unbequem iſt. Wandernde wie ſtehende Magazine, welche Fabrikwaaren verkaufen, hätten ja überhaupt unendlich weniger zu thun, wenn die Kunden bei den kleinen Meiſtern etwas beſſere und kunſtgerechtere Produkte im Falle der Beſtellung erhielten.

Wenden wir uns endlich zum eigentlichen Hauſir - handel, der freilich nur theilweiſe hierher gehört, nur theilweiſe dem kleinen Handwerker und ſeinem Laden - geſchäft Konkurrenz macht.

Es werden zum Hauſirhandel im weitern Sinne ziemlich verſchiedene Handels - und Gewerbebetriebe gerechnet: Leute, welche ihre Dienſte anbieten, wie Scheerenſchleifer, Keſſelflicker, Topfbinder, Kaſtrirer, die in weiter Ferne herumkommen, und Glaſer, die mit Glasſcheiben und Werkzeug nur in der nächſten Umgegend Nachfrage halten, ob irgendwo eine Reparatur noth - wendig ſei; Händler, welche alle Arten von Kramwaaren vertreiben, und ſolche, die von einzelnen Induſtrien aus -239Der Hauſirhandel.geſendet, ihre Produkte in die weiteſte Ferne bringen, dieſen Induſtrien vielfach erſt Abſatz ſchaffen; dann wie - der Sammler von Abfällen, Aufkäufer von Obſt, Ge - flügel, Eier, Garnſammler und wandernde Flachsver - käufer, die letztgenannten alles Leute, die mit feſtem Wohnſitz den Verkehr höchſtens auf einige Meilen ver - mitteln, in kurzen Zeiträumen immer wieder erſcheinen.

Dieſe Verſchiedenheit derjenigen, die man unter dem Begriff der Hauſirer umfaßt, und die bisher nach den meiſten Geſetzgebungen ziemlich gleichmäßig unter den geſetz - lichen Beſtimmungen über den Gewerbebetrieb im Umher - ziehen ſtanden, erklärt auch die Verſchiedenheit der An - ſichten über Werth und Berechtigung des Hauſirhandels. Je nachdem die eine oder andere Art vorwiegt, je nachdem die ſonſtigen begleitenden Kulturzuſtände ſind, muß das Urtheil anders ausfallen. Ich will nur flüchtig anzu - deuten ſuchen, wie je nach den verſchiedenen Branchen, je nach den Zeitverhältniſſen der Hauſirhandel zu - oder abnehmen mußte, günſtiger oder ungünſtiger beurtheilt wurde.

Bei ganz rohen Zuſtänden, wie heute noch in vielen Gegenden Nordamerika’s, iſt der Hauſirer der einzige Vermittler mit der übrigen Kulturwelt, der ein - zige, der Kunſtprodukte, Gewebe, Nadel und Faden, Geräthe und Inſtrumente dem abgelegen wohnenden Landmanne bringt. Der römiſche Hauſirer durchzog die germaniſchen Lande; ähnliche Dienſte leiſtete im Mittel - alter der Jude, der Lombarde, der Zigeuner, ſpäter auch viele Deutſche ſelbſt. In armen gebirgigen Gegen - den warfen ſich ganze Ortſchaften auf dieſen mühevollen240Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.Erwerb und haben ſich bis in die neuere Zeit ſo erhalten. Ich erwähne aus Süddeutſchland die naſſauiſchen Töpfer - händler, die ſchwarzwälder Uhrenhändler, aus Nord - deutſchland vor Allem die Hauſirer Weſtfalens, die Winterberger und Weſtfälinger, die Händler aus dem Hückengrunde, die mit Holz -, Töpfer - und Eiſenwaaren, mit Hopfen und andern Waaren durch die Welt zogen, die früher vorzüglich nach Dänemark, nach Schweden und Norwegen bis in die einſamſten Thäler vordrangen, deutſche Waaren abſetzten und dafür den Feuerſchwamm mitbrachten. In Weſtfalen gibt es noch bis in die neuere Zeit Städtchen und Dörfer von 1000 6000 Ein - wohnern mit mehreren Hundert Hauſirern. 1Jacobi, das Berg -, Hütten - und Gewerbeweſen des Regbz. Arnsberg, S. 488 ff.Zu Tauſen - den zogen ſie aus jenen Gegenden jedes Frühjahr aus. 2Ulmenſtein, über den Hauſirhandel, Archiv d. pol. Oek. von Rau I, S. 213 und passim.

Waren immer ſchon viele ſchlimme Elemente unter einer derartigen Bevölkerung, war das noch mehr der Fall an der polniſchen Grenze, wo unter Juden und Polen noch mehr nomadenhafte Gewohnheiten und Hang zu Betrug und Diebſtahl exiſtirten, immer gab es unter ihnen ſehr viele ehrliche, tüchtige Leute. Aber neben ihnen finden wir früh ganz andere Elemente, die mit Recht die ſtrengſte polizeiliche Ueberwachung heraus - forderten. Aus den fahrenden Leuten des Mittelalters wird nach der Reformationszeit, noch mehr nach dem dreißigjährigen Kriege eine wahre Landeskalamität; die Verwilderung hatte alle ſittlichen Bande zerſtört. Die241Die vagabundirenden Hauſirer.Arbeitsſcheu ſchwellte damals den Hauſirhandel unnatür - lich an. Die Bevölkerung ganzer Dörfer, ganzer Gegen - den hatte ſich in fahrende Diebs - und Räuberbanden verwandelt. Mißbräuche aller Art nahmen zu. Schleich - handel, Kundſchafterei für Diebsbanden, Diebshehlerei, wenn nicht Schlimmeres, Quackſalberei, ſyſtematiſcher Betrug, Verkauf unſittlicher Bilder und verbotener Schriften galten für identiſch mit Hauſirhandel, und bis in die neuere Zeit trifft man nur allzureiche Spuren hiervon.

Eine gewaltthätige Geſetzgebung ſuchte dieſes Geſindel wieder zu ſeßhaftem Leben zu bringen, ſuchte mit allen Mitteln dieſem unſteten Leben entgegen zu wirken; und als längſt ſchon in andern Gebieten die abſtrakte Theorie von der Freiheit alles wirthſchaftlichen Verkehrs als unbedingtes Dogma galt, war in Bezug auf den Hauſir - handel Theorie und Praxis einig, war bemüht, den Hauſirhandel möglichſt zu beſchränken, das ſtehende Ge - werbe vor ſeiner Konkurrenz zu ſchützen. Von dieſem Geiſte ſind die Hauſirgeſetze bis in die neuere Zeit beherrſcht. Auf dieſem Standpunkt ſteht z. B. noch 1841 Hoffmann,1Die Befugniß zum Gewerbebetrieb S. 240. dem Rönne2Gewerbepolizei II. 224. dieſelben Worte noch 1851 unbedingt nachſpricht, wenn er ſagt: Die Fortdauer des Gewerbebetriebs im Umherziehen auf der Bildungs - ſtufe, worauf ſich Deutſchland und Preußen insbeſondere befindet, iſt eine merkwürdige Erſcheinung. Eine Noth - wendigkeit derſelben iſt durchaus unerweislich.

Schmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 16242Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.

Das preußiſche Regulativ vom 28. April 1824, das bis jetzt gegolten hat, war übrigens in relativ liberalem Geiſte gehalten. Hoffmann findet, daß es viel zu ſehr die Dinge ſich ſelbſt überlaſſe, wenn es auch auf der andern Seite durch die hohe Gewerbeſteuer für den Gewerbebetrieb im Umherziehen an einzelnen Punkten wieder einſchränkend wirke. Für Denjenigen, dem die Verwaltungspraxis in den verſchiedenen Landes - theilen nicht genau bekannt iſt, iſt es ſchwer, ein ſelb - ſtändiges Urtheil darüber zu fällen, in wie weit die Geſetzgebung, in wie weit die andern Urſachen, die realen wirthſchaftlichen Bedürfniſſe auf Zunahme oder Abnahme des Hauſirhandels gewirkt haben. Jedenfalls iſt anzunehmen, daß die Verwaltungspraxis in Preußen von 1824 bis zur Gegenwart ungefähr dieſelbe blieb, daß alſo die Stabilität des Hauſirhandels früher und die Zunahme, die neuerdings eingetreten iſt, auf andere Urſachen zurückzuführen ſind.

Im Ganzen wird man behaupten dürfen, daß die wirthſchaftlichen Verhältniſſe, die ſteigende Oeffentlichkeit und Moralität bis in die neuere Zeit in ähnlichem Sinne wirkten, wie die Hauſirgeſetze. Der Hauſirhan - del, der nur dem Vagabundenleben zum Schilde dient, hat entſchieden abgenommen. Und nicht bloß der unſolide, auch der ſolide Hauſirhandel iſt theilweiſe nicht mehr ſo nothwendig wie früher. Seit der neuern Zunahme des Verkehrs hängen nicht mehr, wie früher, ganze Induſtriezweige vom Abſatz der Hauſirer ab. Die Nürnberger und Fürther Induſtrie, die ſchwarzwälder Uhreninduſtrie, die rheinbairiſche Bürſten - und Beſen -243Die Abnahme des ältern Hauſirhandels.induſtrie ſetzen ihre Produkte jetzt mehr auf andere Weiſe ab. Der Tyroler Hauſirer mit ſeinen Lederwaaren und Handſchuhen beſucht jetzt die Meſſen und Märkte, vielfach hat er ſich feſt angeſiedelt, als Hauſirer trifft man ihn ſelten mehr. Die Gegenden und Ortſchaften, die beinahe ausſchließlich vom Hauſirhandel lebten, gehen weſentlich zurück oder nehmen die Betriebsweiſen eines geordneten ſtehenden Handels an. Wenn der weſt - fäliſche Hauſirer ſo erzählt Jacobi früher oft 1000 Fl. von einer Jahrestour aus Holland zurück - brachte, ſo iſt er jetzt mit 100 Thlr. durchſchnittlich zu - frieden. In immer weitere Kreiſe muß er ziehen, um ſich zu nähren. Von den ſüddeutſchen Hauſirern der Ehninger Gegend, die in aller Welt bekannt ſind, berichtet Mährlen:1Königreich Württemberg S. 623. Der Hauſirhandel, wie er bisher von den Krämern in Ehningen mit einem Jahresum - ſchlag von einigen Millionen Gulden betrieben wurde, iſt in ſtarker Abnahme begriffen, und es haben manche der zahlreichen Firmen dieſes Orts bereits angefangen, ihren Uebergang zur Seßhaftigkeit durch Kommanditen im In - und Auslande anzubahnen. Während aber ſo auf der einen Seite von ſelbſt und durch die Be - mühung der Verwaltung einzelne Arten des Hauſir - handels abnahmen, mußten die neueſten Verkehrs - änderungen wieder andere zur Ausdehnung veran - laſſen.

Ladengeſchäfte und Handwerk nahmen ſeit der Zeit der Eiſenbahnen auf dem Lande nicht mehr ſo zu wie16 *244Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.früher; der Jahr - und Wochenmarktsbeſuch iſt nicht mehr derſelbe. Der Bauer hat nicht mehr Zeit, ſo oft zu Markte zu fahren und ganze Tage mit Verkaufen und Einkaufen zu verlieren. Der Hauſirer kann billigere und beſſere Waaren liefern, als der Laden im Dorfe. Der Hauſirer mit Kramwaaren, mit Weißwaaren, mit Küchengeſchirr, gewinnt dadurch eher wieder. Mancherlei Neues wird heute produzirt; Bedürfniſſe und Anſprüche ändern ſich; in abgelegenere Gegenden kommt dieſes Neue nur durch den Hauſirer. Vor Allem aber mußte der einkaufende Hauſirhandel zunehmen. Der Viktualien - handel iſt meiſt jetzt in den Händen ſolcher kleinen Kommiſſionäre, welche bisher in Preußen einen Hauſir - ſchein brauchten. Sie kaufen für den Müller die kleinen Getreidepoſten zuſammen, ſie liefern dem Geflügel - händler, dem Eier -, Butter - und Milchhändler der Stadt ihre Waaren. Aber faſt immer verbindet ſich damit ein Vertrieb von Waaren, welche der Landmann braucht; ſie beſorgen dem Bauern dies und jenes in der Stadt, kaufen dort für ihn ein. Außerdem iſt man heute bemüht, die Abfälle beſſer zu nützen als früher. Altes Eiſen, Lumpen laſſen ſich ſchwer anders ſammeln als durch den Hauſirer, ſie würden nicht benutzt, wenn der Hauſirer ſie nicht holte. Die meiſten derartigen Geſchäfte ſind in den Händen nicht ganz unbemittelter Leute; ſie müſſen baar zahlen und gegen Kredit ver - kaufen, wenigſtens die an die Viktualienhändler der Stadt verkaufenden. Dazu gehört einiges Kapital.

Das erklärt, warum in neuerer Zeit die Zahl der ſogenannten Hauſirer reſp. der Hauſirpatente auch bei245Die neueſte Zunahme des Hauſirhandels.gleichbleibender Geſetzgebung zunahm, erklärt, warum bei einer Erleichterung des Hauſirhandels durch eine liberalere Geſetzgebung der Zudrang ein ſo großer iſt, obwohl damit nicht geleugnet werden ſoll, daß, wenn eine ſolche Geſetzesänderung eintritt, auch eine Reihe unlauterer Motive, ſowie die ſteigende Zahl der Bevöl - kerung an ſich zur Ausdehnung mitwirken.

Die Zahl der jährlich in Preußen nachgeſuchten und ertheilten Hauſirſcheine iſt mir leider nur für ein - zelne Jahre bekannt. Die Zahlen der in der amtlichen Statiſtik ſeit 1837 angeführten Gewerbetreibenden dieſer Art ſind mir zu einem ſtrengen Beweis nicht ganz un - verdächtig; denn einmal ſtimmen ſie nicht überein mit der Zahl der aus einzelnen Jahren mir bekannten Hauſirſcheine; das hat wohl ſeinen Grund darin, daß nur die ausſchließlich als Hauſirer lebenden Perſonen in der Gewerbetabelle unter dieſer Rubrik gezählt werden. Dann iſt die aufzunehmende Kategorie aber auch nicht immer gleich gefaßt geweſen. Immerhin will ich die Zahlen mittheilen und verſuchen, zu folgern, was ſie ungefähr enthalten.

Die aufzunehmende Kategorie lautete zuerſt1Dieterici, ſtatiſt. Ueberſicht. 2te Fortſ. S. 617. herumziehende Krämer, ſpäter herumziehende Krämer und Lumpenſammler; die Pferde - und Viehhändler waren nicht darunter; ſie machen 1858 noch eine beſon - dere Kategorie aus (12112 Perſonen zuſammen mit Kohlen -, Pech -, Theerhändlern und Trödlern). Im246Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.Jahre 1861 ſind die Kategorien etwas andere. Die Rubrik Pferde -, Vieh -, Pech -, Theer -, Kohlenhändler und Trödler fehlt ganz. Die Hauſirer ſind ſo gefaßt: herumziehende Krämer, Lumpenſammler und andere herumziehende Händler. Darnach iſt ein Theil der 1858 unter den 12112 Perſonen ſteckenden Händler jetzt hier mitverzeichnet, aber auch nur ein Theil, z. B. die Trödler nicht, wonach die Zahl für 1861 alſo, um mit den früheren Zahlen vergleichbar zu werden, um einige Tauſend reduzirt werden müßte.

Die Zahlen ſelbſt ſind folgende: 1837. 15753 1840. 16237 1843. 18146 1846. 21049 1849. 16724 1852. 20404 1855. 21214 1858. 22497 1861. 44411.

Nach dieſer Tabelle würde die Zahl der Hauſirer von 1837 bis 58 ſich kaum, nur etwa der Bevölkerungs - bewegung entſprechend, vermehrt haben. Die vorüber - gehende Steigerung 1846 erklärt ſich aus der damaligen Noth und Stockung der Kleingewerbe, welche Manche nöthigte, auf dem Wege des Hauſirens ſich durchzu - bringen. Für 1858 61 bleibt eine bedeutende Zu - nahme, man mag auch tauſende von der Zahl wegen anderer Faſſung der Rubrik abziehen. Und dieſe Zu - nahme halte ich gerade von 1858 ab nicht für un - wahrſcheinlich.

247Die Preußiſche Statiſtik des Hauſirhandels.

Es iſt daneben nicht ohne Intereſſe auf die Ver - theilung der Hauſirer nach Provinzen 1837 und 1861 einen Blick zu werfen:

Wo am meiſten Verkehr und Induſtrie, wo der Kleinbeſitz vertreten, wo die wirthſchaftliche Kultur am höchſten iſt, da finden wir die größte Zahl derſelben. Der relative Zuwachs, wenn wir ihn überhaupt nach dieſen Zahlen glauben ſchätzen zu dürfen, iſt nächſt Preußen am ſtärkſten in Sachſen und am Rhein, am ſchwächſten in Pommern, Brandenburg, Poſen. Das deutet darauf, daß es nicht ſowohl die vagabundiren - den, nomadenhaften, auf Diebſtahl und Nichtsthun ſpekulirenden Hauſirer, ſondern die kleinen, reellen, wahren wirthſchaftlichen Bedürfniſſen dienenden Auf - und Verkäufer ſind, die zunehmen.

Daß trotzdem auch heute noch der Hauſirhandel ſeine wirthſchaftlichen und ſittlichen Gefahren hat, zeigt ſich am beſten, wie ich vorhin ſchon erwähnte, wenn irgendwo die Verwaltung das Löſen der Gewerbeſcheine erleichtert, die Steuern herabſetzt, oder die Umgehung248Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.derſelben erleichtert. Der Andrang und die Mißbräuche, die da entſtehen, ſind nicht unbedeutend, es fragt ſich nur, ob ſie nicht theilweiſe vorübergehend ſind, ob nicht durch die bisherige einſchränkende Verwaltungspraxis neben manchem Unfug ſehr viele berechtigte Geſchäfte abgeſchnitten wurden.

Ich möchte in dieſer Beziehung noch Einiges aus den unparteiiſchen, ſchon oben erwähnten Berichten der württembergiſchen Handelskammern hervorheben.

Die Berichte erkennen vollſtändig an, daß die größere Ausdehnung des Hauſirhandels ſeit dem liberalen Gewerbegeſetz von 1862 ihre volkswirthſchaftliche Be - rechtigung habe, daß der Hauſirhandel Konkurrenz und Preisermäßigung ſchaffe, daß er Geſchäfte, Einkäufe und Verkäufe veranlaſſe, die ohne ihn vielfach ganz unter - blieben wären. Aber ebenſo betonen ſie die Mißſtände. Die unreellen Geſchäfte, der Schwindel, Täuſchung und Betrug, die unverſchämte Zudringlichkeit, welche ſich nicht vermindert, wenn dem Hauſirer verboten wird, die Häuſer zu betreten, haben ebenfalls zugenommen. Einzelne ganz ſchlimme Auswüchſe werden erzählt. In einem der Berichte heißt es: Es kommen Leute ins Land, welche als Entrepreneurs eine Anzahl von Kin - dern und Halberwachſenen mit ſich führen, in Wirths - häuſern ſich feſtſetzen und dieſe Leute mit Mausfallen, ordinären Blechwaaren und dergleichen ins Hauſiren ſchicken, mit der Auflage, täglich eine Summe Geldes einzubringen, in deren Ermangelung Mißhandlungen eintreten. Der Entrepreneur lebt gut, ſeine Unter - gebenen deſto ſchlechter und kaum anders als in andern249Württembergiſches Hauſirweſen.Welttheilen die Sklaven. Dieß iſt ein Mißſtand, welcher durch die Gewerbefreiheit nicht gedeckt werden ſollte.

Sehen wir aber von ſolchen einzelnen Mißbräuchen ab, die theilweiſe wenigſtens durch eine richtige, ſonſt freieſte Bewegung geſtattende Geſetzgebung und Verwal - tung verhindert werden können, ſo geht das Haupt - reſultat dahin: Die Zahl der Hauſirer hat ſich 1862 und 63 außerordentlich vermehrt, ſchon 1864 und 65 aber wieder abgenommen; erſt die Geſchäftsſtockung von 1866 hat ſie wieder ſehr vermehrt. Weitaus die Mehrzahl der Hauſirausweiſe aber wird von Leuten benutzt, über welche die ſtehenden Gewerbe nicht klagen, und welchen man keine Arbeitsſcheu vorwerfen kann; es ſind Frauen, ältere, ſchwächliche Leute, die Knochen, Lumpen, Landesprodukte aufkaufen, mit Beeren, Beſen, Schindeln handeln. Die kräftigen, zur Arbeit tauglichen Hauſirer ſind meiſt Ausländer oder Iſraeliten. Allerdings wird mit der Zunahme dieſer Handelszweige die Neigung zu Diebſtahl und Nichtsthun etwas befördert; aber allgemein iſt dieſe Folge nicht. Und bis jetzt haben in Württemberg die Verbrechen gegen Perſon und Eigen - thum, die Vergehen gegen die Sittlichkeit nirgends weſentlich zugenommen. Es wird zugegeben, daß bei einer richtigen Handhabung der Steuergeſetze die wirth - ſchaftlichen Mißſtände keinenfalls überwiegen und theil - weiſe ganz vorübergehend ſind, daß der Andrang in mäßigen Schranken gehalten werden kann.

Die Berichte zeigen, daß jedenfalls eine berechtigte Tendenz zur Ausdehnung vorhanden iſt, daß mehr an -250Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.ſtändige Motive und wirthſchaftliche Bedürfniſſe den Hauſirhandel dort zunehmen laſſen als betrügeriſche und unlautere Abſichten.

Es kommt auf Land und Leute, auf Volkscharakter und ſittliche Bildung im konkreten Falle an. Jedenfalls aber ſind dieſe Faktoren auch in Preußen und im ganzen norddeutſchen Bunde ſolche, daß eine Erleichterung gegenüber der früheren Verwaltungspraxis nothwendig und angezeigt iſt, wie ſie in der neuen Gewerbeordnung des norddeutſchen Bundes angeſtrebt wird. Es gehört eine Betrachtung dieſer neuen Geſetzgebung eigentlich nicht hierher; doch mögen einige Worte geſtattet ſein.

Der Entwurf1Druckſachen des Reichstags Nro. 13. § 53 64. Die Motive ſind enthalten S. 13 29. Die Anlage C. S. 113 ff. gibt eine Ueberſicht über die beſtehende Geſetzgebung der Bundes - ſtaaten in Betreff des Gewerbebetriebs im Umherziehen. ſchon geht von der Abſicht aus, die ſtehenden Gewerbe als ſolche nicht mehr zu bevor - zugen, den Gewerbebetrieb im Umherziehen als gleich - berechtigt anzuerkennen, nur da Beſchränkungen eintreten zu laſſen, wo es ſich um ungeſunde und gefährliche Ele - mente handelt, um Geſchäftszweige, welche in ungleich höherem Grade unlautern Zwecken als dem redlichen Er - werbe zu dienen pflegen. Die im Allgemeinen beibehaltene Legitimationspflicht ſoll, abgeſehen von ihrer ſicherheits - polizeilichen Unentbehrlichkeit, dem Publikum wenigſtens einigermaßen die Garantie, wie ſie der ſtehende Betrieb von ſelbſt bietet, erſetzen. Zum Viktualienhandel im Umherziehen ſoll kein Gewerbeſchein mehr nothwendig251Das Hauſirweſen in der neuen Gewerbeordnung.ſein. Während bisher Gewerbeſcheine in Preußen nur ertheilt wurden für eine beſtimmte Anzahl von Waaren - gattungen, ſollen jetzt ſolche für alle nicht beſonders ausgenommenen Waaren ertheilt werden. Ausgenommen ſollten nur ſein: Verzehrungsgegenſtände, ſoweit ſie nicht zu den Gegenſtänden des Wochenmarktverkehrs gehören, geiſtige Getränke, gebrauchte Kleider und Betten, Garnabfälle, Enden oder Dräumen von Seide, Wolle, Leinen und Baumwolle, Bruchgold und Bruch - ſilber, Spielkarten, Lotterieloſe, Staats - und ſonſtige Werthpapiere, Schießpulver, Feuerwerkskörper und an - dere exploſive Stoffe, Arzneimittel, Gifte und giftige Stoffe. Nur für Gaukler, Marktſchreier, Bänkelſänger und ähnliche Perſonen, welche ſich produziren wollen, ſoll der Gewerbeſchein auf einen oder mehrere Regie - rungsbezirke beſchränkt und ſoll die Ertheilung abhängig gemacht werden von dem Bedürfniß. Abgeſehen hier - von ſollte nach dem Entwurfe die Ertheilung nur ver - ſagt werden, wenn der Nachſuchende mit ekelhaften Krankheiten behaftet ſei oder ihm die Zuverläſſigkeit in Bezug auf den beabſichtigten Gewerbebetrieb fehle. Die Beſteuerung der Hauſirer ſoll Sache der einzelnen Staaten bleiben und durch die neue Gewerbeordnung gar nicht berührt werden, obwohl der Gewerbeſchein für das ganze Bundesgebiet legitimirt.

Die Motive gehen davon aus, daß dieſe Grund - ſätze gegenüber den beſtehenden Vorſchriften ein weſent - lich befreiende Wirkſamkeit üben werden. Der Com - miſſar der Bundesregierungen hob in der Debatte her - vor, daß ſchon die Regierungsvorlage einen koloſſalen252Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.Schritt vorwärts im Sinne der Befreiung der gewerb - lichen Thätigkeit enthalte und warnte dringend, nicht viel weiter zu gehen, nicht viel über dieſes Ziel hinauszuſchießen, da eine weitergehende Befreiung gar nicht einmal im Einklang mit der öffentlichen Mei - nung ſtehe.

Die Majorität des Reichstages ſtand auch prinzipiell auf gleichem Boden der Anſchauung, aber ſie ging im Detail doch weſentlich weiter, glaubte eine Reihe von Cautelen fallen laſſen zu können, welche der Entwurf beibehalten hatte, um Betrügerei und unlautere Ele - mente leichter auszuſchließen.

Der Entwurf verweigerte dem den Hauſirſchein, der nicht zuverläſſig ſei. Das kann und wird die Ver - waltungsbehörde leicht mißbrauchen, wenigſtens ungleich - mäßig und willkührlich auslegen. Jetzt iſt feſtgeſetzt, daß der nicht mehr Gewerbe - ſondern Legitimationsſchein genannte Ausweis nur dem verweigert werden darf, der beſtimmte Strafen erlitten hat, unter Polizeiaufſicht ſteht, als notoriſcher Bettler und Landſtreicher bekannt iſt. Sicher gerechter; aber die Zunahme unreeller Geſchäfte iſt ſo auch viel ſchwerer zu hemmen. Der Entwurf ver - langte Meldung bei der Polizei an jedem Orte, ver - bot ohne Aufforderung die Häuſer zu betreten. Beides wurde beſeitigt, letztere Beſtimmung, weil das gewöhnliche Hausrecht ausreiche. Von Waaren, welche der Entwurf noch ausſchließen wollte und die jetzt doch zugelaſſen werden, ſind nur zu nennen die Verzehrungsgegen - ſtände, welche nicht zum Wochenmarktsverkehr gehören, alſo hauptſächlich Colonialwaaren. Sie ſollten ausge -253Das Hauſirweſen in der neuen Gewerbeordnung.ſchloſſen werden, weil bei ihnen Fälſchungen zu leicht und häufig vorkommen. Die Kommiſſion des Reichs - tages wollte auch den Handel mit Staatspapieren, Aktien und andern Werthpapieren den Hauſirern zuge - ſtehen, worauf aber der Reichstag in Anbetracht der großen Gefahren des Aktienſchwindels, in Anbetracht der großen Leichtgläubigkeit des Publikums in dieſer Beziehung nicht einging.

Die Folge wird erſt lehren können, ob man damit nicht theilweiſe zu weit ging. Daran aber zweifle ich keinen Moment, daß der Hauſirhandel von dem Inkraft - treten des Geſetzes an außerordentlich zunehmen wird, aber auch zugenommen hätte, wenn nur die Beſtim - mungen des Entwurfes angenommen worden wären. Es iſt eine Richtung, die ſich vollzieht, ob die geſetz - lichen Beſtimmungen etwas enger oder weiter gefaßt ſind, eine Richtung, welche mancherlei Schmutz aufrührt und mit ſich bringt, aber in der Hauptſache berechtigt und nothwendig iſt.

Manch kleiner Laden, manch kleiner Handwerker wird darunter leiden, vielleicht gar zu Grunde gehen. Das läßt ſich nicht ändern. Das ſteht in nothwendigem Zuſammenhang mit der ganzen Umbildung der Pro - duktion und des Verkehrs in unſerer Zeit.

Eine Produktion durch Fabriken oder größere Hand - werkergeſchäfte, eine Produktion, die nicht mehr am Orte des Konſumenten zu ſein braucht, die nicht mehr ſich verbindet mit dem direkten Verkauf an den Konſu - menten, daneben die ſelbſtändigere Entwicklung des254Die Umgeſtaltung von Produktion und Verkehr.Handels als Großgeſchäft, als Magazin in den größern Städten, theilweiſe als Detailhandel und kleines Ladengeſchäft in den kleinen Städten und Dörfern, theilweiſe als Wandermagazin und Hauſirhandel auf dem Lande, das ſind Glieder einer und derſelben Kette.

[255]

Die lokale und geſchäftliche Vertheilung der Gewerbetreibenden.

[256][257]

1. Das Handwerk in Stadt und Land.

Der Gegenſatz von Stadt und Land, volkswirthſchaftlich und hiſtoriſch. Die ſpezifiſch ländlichen Gewerbe. Ihr Vorkommen ſchon zur Zeit des gewerblichen Städtezwangs. Kornweſtheim 1787. Die preußiſchen ländlichen Gewerbe nach Krug 1795 / 1803, dieſelben in Schleſien und in der Mark 1810 nach Hoffmann. Das ſtatiſtiſche Material für die ſpätere Zeit. Die volkswirthſchaftlichen Vorbedingungen für das Landgewerbe von 1815 55. Das preußiſche Handwerk nach Stadt und Land 1828, 1849 und 1858. Die veränderten Verhältniſſe in neueſter Zeit. Die wichtigſten einzelnen Gewerbe in Stadt und Land 1828 u. 1858. Der Unterſchied zwiſchen den grö - ßern und kleinern Städten 1828 und 1837. Das Handwerk der größern preußiſchen Städte 1861. Das bairiſche Hand - werk in den unmittelbaren Städten und im übrigen Lande 1847 und 1861. Die ſächſiſchen Kleingewerbe in den Städten 1830 und 1856; der Vergleich der großen, der kleinen Städte und des platten Landes 1849 und 1861.

In einem mehr ſyſtematiſchen Ueberblick die Haupt - veränderungen, welche das Handwerk im 19. Jahrhundert erfahren hat, darzuſtellen, war der Zweck der letzten Betrachtungen. Mancherlei ſtatiſtiſches Material habe ich zum Beweis für dieſes und jenes herangezogen, nicht aber die ſtatiſtiſchen Aufnahmen der Kleingewerbe ſelbſt. Zu ihnen kehre ich jetzt zurück, um zu prüfen, ob das,Schmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 17258Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.was ich im Allgemeinen behauptete, ſich hier im Spe - ziellen beſtätigt.

Die Hauptpunkte freilich, um die es ſich dabei handelt, entziehen ſich aller ſtatiſtiſchen Erfaßbarkeit. Aber immer läßt ſich die Prüfung wenigſtens nach ein - zelnen Seiten hin vollziehen und zugleich ſchließen ſich daran Unterſuchungen, die auch ein ſelbſtändiges Intereſſe für ſich in Anſpruch nehmen.

Wir beginnen mit der Frage nach der lokalen Ver - theilung des Handwerks. Dieſe Vertheilung kann bei der Art der ſtatiſtiſchen Aufnahmen, die wir beſitzen, nach zwei Richtungen unterſucht werden. Man kann fragen, wie verhält ſich Stadt und Land im Durch - ſchnitt von ganz Preußen, Sachſen, Baiern, und man kann fragen, wie vertheilt ſich das Handwerk nach den einzelnen deutſchen Staaten und nach den Provinzen des preußiſchen Staats?

Bleiben wir zunächſt bei dem Verhältniſſe von Stadt und Land, ſo liegen die weſentlichen Urſachen der verſchiedenen Vertheilung des Handwerks natur - gemäß in dem volkswirthſchaftlichen Gegenſatz von Stadt und Land ſelbſt, in der verſchiedenen wirthſchaft - lichen Bedeutung, welche die Städte und das platte Land früher gehabt haben und gegenwärtig haben. Nur in zweiter Linie kommt die Geſetzgebung in Betracht, die von jeweiligen Theorien, von anderweiten Geſichts - punkten aus die Vertheilung des Handwerks beherrſchen wollte, aber gegenüber den realen Bedürfniſſen das doch immer nur bis auf einen gewiſſen Grad vermochte.

259Der Gegenſatz von Stadt und Land.

Die Städte ſind entſtanden durch die nach einem gemeinſamen Mittelpunkt drängenden politiſchen, kirch - lichen, wirthſchaftlichen Bedürfniſſe der einzelnen Landes - theile. Jede Gegend, jeder Kreis hat das Bedürfniß, die Verwaltung, das Gericht, den Handel, die Feſte der Kirche und des Volkes an einem Punkte zu kon - zentriren; im Mittelalter bot der Schutz der Mauern und der ſtädtiſchen Rechte dem Handelsmann und dem Handwerker allein die Garantie einer geſicherten Exiſtenz. Handel und Gewerbe blühten ausſchließlich in den Städten, weil hier ausſchließlich die Bedingungen ihrer Blüthe vorhanden waren.

Mit einer gewiſſen Entwicklung des platten Landes entſtand aber auch in den Dörfern, auf den Gütern das Bedürfniß, für einzelne Thätigkeiten Gewerbetreibende am Orte ſelbſt zu haben; das theure Leben in den Städten ließ dem armen Handwerksmann die Anſiedlung auf dem Lande mit etwaigem Vertrieb der Waaren nach der Stadt wünſchenswerth erſcheinen. Das war ſchon im Mittelalter ſo und erſt mit der Ausartung des Zunftweſens, mit dem Sinken der deutſchen Volkswirth - ſchaft ſtrebten die Städte danach, das Handwerk mög - lichſt ausſchließlich auf ihre Mauern zu beſchränken,1In Nürnberg wird erſt im 15. Jahrhundert gegen das Landhandwerk eingeſchritten: ſ. Baader, Nürnberger Polizei - ordnungen. Stuttgart, liter. Verein 1861. S. 170. In Lübeck beginnen die Klagen über das Landhandwerk erſt im 16. Jahr - hundert, wie auch das ſyſtematiſche Jagen der Bönhaſen erſt um dieſe Zeit beginnt: ſ. Wehrmann, Die ältern lübeckiſchen Zunftrollen, Lübeck 1864, S. 96 u. 98.17 *260Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.ſuchte die Fürſtenpolitik, welche die Städte als Stützen ihrer Macht und ihrer Steuerkraft betrachteten und pflegten, ſie dadurch zu halten.

Die Kriege des 17. Jahrhunderts hatten viele deutſche Gegenden in ihrer ganzen wirthſchaftlichen Kultur wieder um Jahrhunderte zurückgebracht. Alles lag dar - nieder. Um ſo mehr hielt man ſich an alte Rechte; auch die Städte ſtrebten jetzt mehr als je, das Hand - werk für ſich allein in Anſpruch zu nehmen, und erreich - ten da ihren Zweck, wo nicht eine aufgeklärte Fürſten - politik dazwiſchen griff.

So kommt es, daß im 18. Jahrhundert Stadt und Land ſich noch ziemlich in alter Weiſe ſchroff gegen - über ſtehen. Aber zugleich haben die mannigfaltigſten Schickſale dafür geſorgt, daß ein großer Theil der Orte, welche den ſtädtiſchen Namen tragen und damit die Vorrechte einer Stadt genießen, dafür mehr hiſto - riſche und zufällige, als wirthſchaftliche Gründe anzu - führen haben.

Es ſind alte Reichsſtädte, alte und neue Fürſten - und Biſchofsſitze, einige Beamten - und Militärſtädte; da und dort ſchon einige neu aufblühende Handels - und Induſtrieſtädte; unter den letzteren wie unter denen, die mehr nur einem Dorfe gleichen, ſind manche, welche das Stadtrecht ſich erſt jetzt vom Landesherrn erkauft haben, um auch einen Jahrmarkt zu halten, um ihre Gewerbſamkeit etwas weniger durch die ſteifen landes - herrlichen Beamten geniren zu laſſen, um auf Kreis - oder Landtagen eine Stimme zu haben. Die über - wiegende Mehrzahl fällt auf jene mittleren Land - und261Stadt und Land in alter und neuer Zeit.Kleinſtädte, die allerdings den gewerblichen und Ver - waltungsmittelpunkt für eine Anzahl Dörfer und Herr - ſchaften bilden, die aber keinen durchaus gewerblichen Charakter haben, manchen Bauern in ihren Mauern bergen, wenn ſie nicht gar faſt ausſchließliche Ackerſtädte ſind. Manche früher ſtolze Stadt war ganz zum Dorfe herabgeſunken, führte aber die ſtolzen ſtädtiſchen Titel gleichmäßig fort.

Dieſe Verhältniſſe erſtrecken ihre Wirkung bis auf den heutigen Tag. Der Begriff einer Stadt in Preußen iſt auch heute noch, wie ich oben ſchon erwähnte, keiner, der eine gewiſſe Größe, einen ausſchließlich gewerblichen Charakter bezeichnete; es läßt ſich nur ſoviel ſagen, daß von den 1000 gegenwärtig in Altpreußen exiſtirenden Städten ¾ etwa über 1500, nur wenige unter 600 Einwohner haben, daß es dagegen nicht ſehr viele Dörfer geben wird, die über 600 800 Einwohner haben.

Ich mußte dieſe theilweiſe ſchon oben gemachten Bemerkungen wiederholen, um zu zeigen, daß eine Auf - nahme des Handwerks nach Stadt und Land die wirth - ſchaftlichen Gegenſätze, an die man dabei denkt, nur ungefähr trifft. Unter den Städten ſind manche Orte rein landwirthſchaftlichen Charakters, unter den Dörfern manche gewerbetreibende Orte. Und bis auf einen gewiſſen Grad war das ſchon im vorigen Jahr - hundert ſo, beſonders wo Bergbau, Weberei, Spinnerei und andere Induſtrien ſich übers platte Land ausdehnten. Privilegien, Konzeſſionen aller Art hatten den Städte - zwang durchlöchert. Da und dort hatte ſich ſchon da - mals das platte Land als vorzugsweiſe geeignet zu262Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.einzelnen Gewerben gezeigt. Und überall bedurfte auch damals ſchon die rein bäuerliche Wirthſchaft der Hülfe wenigſtens einiger Handwerker. Dieſe mußte man zulaſſen. Es iſt vielleicht gut, zunächſt von dieſen heute wie damals auch für die rein landwirthſchaftlichen Gegenden nothwendigen Handwerkern uns ein Bild zu machen.

Die Schmiede und Stellmacher oder Wagner ſtehen in erſter Linie. Der Schmied iſt unentbehrlich für den Beſchlag der Pferde, des Fuhrwerks, der Ackerwerkzeuge, für alle Eiſenreparaturen. Der Stellmacher iſt heute mehr auf dem Lande zu Hauſe als in der Stadt, wo der Wagenfabrikant theilweiſe an ſeine Stelle getreten iſt. Die einfachen Wagengeſtelle, die Räder, die Holztheile an Pflug und Egge kann er leicht fertigen. Wo mehr landwirthſchaftliche Maſchinen angewandt werden, da hat er auch vielfach mit ihnen zu thun. Die Arbeiten beider Handwerke ſind ſo umfaſſend, daß ſelbſt ein mäßiges Dorf ſchon mehrere Meiſter von jedem der beiden Gewerbe beſchäftigt, daß größere Güter je einen Meiſter für ſich in Anſpruch nehmen. Schon weniger Arbeit findet der Riemer oder Sattler auf dem Lande, und doch iſt er für Sattelzeug und Pferdegeſchirr ein nothwendiger Gehülfe; die Produkte ſeines Handwerks kauft der Bauer freilich mit Vorliebe auf dem Jahr - markt, dem Dorfmeiſter bleiben mehr die Reparaturen, wenn er nicht ſelbſt den Jahrmarkt bezieht. Die Fäſſer, die Kübel, die Geräthſchaften des Böttchers fehlen in keiner ländlichen Wirthſchaft ganz; das Produkt iſt ein ſo einfaches, daß der kleinſte Betrieb möglich iſt. Die263Die nothwendigen ländlichen Handwerker.amerikaniſche Faßmaſchine, welche auf der letzten Pariſer Ausſtellung zu ſehen war und nach der Verſicherung des Ausſtellers1Siehe die deutſche Ausſtellungszeitung. Paris 1867. Nro. 15. täglich 1100 Fäſſer aus rohem Holz bis zum Binden fertig macht, dürfte kaum in Deutſch - land exiſtiren und wenn ſie eingeführt wird, dem Bött - cher in der Stadt wohl, aber kaum dem auf dem Lande Konkurrenz machen.

Neben den Bedürfniſſen des landwirthſchaftlichen Betriebes kommen die Bau - und Wohnungsbedürfniſſe. Den Maurer und Zimmermann, den Schloſſer und Tiſchler kann das größere Dorf ſchwer entbehren. Da - gegen iſt der Müller von den Nahrungsgewerben der einzig nothwendige. Die Zahl der Brauer, der Bäcker, der Fleiſcher und der Wirthe hängt von dem Grade der Arbeitstheilung und dem Verkehr, von Sitten und Wohlſtand ab.

Die meiſten der ländlichen Handwerker ſind daneben Bauern oder Tagelöhner und je nachdem in ſehr ver - ſchiedener Lage. Da ſie vielfach ohne alle Gehülfen arbeiten, ſind ihre Leiſtungen techniſch gering, aber doch dem Zweck entſprechend.

Weniger ob die erwähnten, als ob auch noch andere Arten des Handwerks ſich auf dem Lande, beſon - ders in den großen Dörfern befanden, hing, ſo lange die Städte ausſchließliche Gewerberechte hatten, von der Verwaltung ab.

264Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.

Da man ſich häufig über das Fehlen der Hand - werker auf dem Lande in früherer Zeit falſche Vor - ſtellungen macht, will ich nur Einiges über dieſen Punkt anführen, ehe ich zu den Verhältniſſen der Gegenwart übergehe.

Das altwürttembergiſche Dorf Kornweſtheim,1(Rümelin), Statiſtik eines altwürttembergiſchen Dorfes vor 70 Jahren und jetzt. Württembergiſche Jahrbücher 1860. 1. Heft. S. 95 ff. beſonders S. 122 128. einige Stunden von Stuttgart, an einigen größern Straßen liegend, hatte im Jahre 1787 eine Bevölkerung von 838 Perſonen; bis 1850 war dieſe Bevölkerung geſtiegen auf 1465 Perſonen; das Dorf iſt heute noch ausſchließ - lich mit Ackerbau beſchäftigt. Die große Aenderung, die eintrat, iſt nur die, daß die alte Straße ſich in eine Eiſenbahn verwandelt hat. Die Gewerbetreibenden waren:

Die Zahl der Gewerbetreibenden iſt 1787 nicht unbedeutend, ja ſie iſt in den wichtigſten Gewerben265Das Dorf Kornweſtheim 1787 und 1852.höher als 1852, trotzdem, daß die Bevölkerung beinahe auf die doppelte Zahl gewachſen iſt. Die Verminderung der Wirthshäuſer, der Bäcker - und Metzgerladen hängt damit zuſammen, daß die früher ſehr frequente Land - ſtraße durch die Eiſenbahn ſo ziemlich verödet iſt. Die Nichtzunahme der übrigen läßt darauf ſchließen, daß die damaligen Handwerker ſehr wenig zu thun hatten. Es waren damals wohl nicht viele Gehülfen bei den Dorf - meiſtern beſchäftigt, 1852 ſind deren eine nicht unbe - deutende Zahl vorhanden. Ueber die für die damalige Zeit große Zahl Gewerbetreibender bemerkt der Verfaſſer dieſer Dorfſtatiſtik aus dem Jahre 1787, Regierungs - rath Kerner, es könne auffallen, daß Kornweſtheim ſo viele Gewerbetreibende habe trotz der Nähe der drei Städte Stuttgart, Ludwigsburg und Cannſtadt, aber es ſei ſo in den mehrſten Dörfern; freilich werde dadurch der alte Grundſatz, in den Städten ſolle das Handwerk, in den Dörfern der Feldbau getrieben werden, aus dem Gleichgewicht gebracht; aber das ſei nicht zu ändern. Daß die Anzahl der Handwerker in den Dörfern ſo fährt er fort gegenwärtig ſtärker iſt, als in ehe - maliger Zeit, hat ſeinen Grund in der gegenwärtigen ſtärkern Bevölkerung und der daraus fließenden mehreren Verſtückelung der Bauerngüter, durch welche die Land - leute außer Stand geſetzt werden, einzig von den Gütern zu leben und dahero Handwerke erlernen. Dieſe Hand - werksleute aber zu zwingen, ihre Arbeit niederzulegen oder in die Städte zu ziehen, würde umſonſt ſein.

Die Verhältniſſe waren ſtärker als die veralteten Verwaltungsvorſchriften. Auch wo der ſtrengſte Städte -266Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.zwang herrſchte ſagt Hoffmann1J. G. Hoffmann, Nachlaß kl. Schriften S. 407. wohnten längſt viele Handwerker, zum Theil im Verborgenen auf dem Lande, wenn daſſelbe volkreich und wohl - habend war.

Ich erwähnte bei der Beſprechung der preußiſchen Gewerbepolizei des 18. Jahrhunderts, daß man in Preußen wohl prinzipiell an dem alten Grundſatz feſt - halten wollte, aber daneben einzelne Gewerbe, wie die Spinner und Weber, unbedingt, andere wenigſtens bedingungsweiſe zuließ. Der Grundſatz Friedrich Wil - helm’s I., ſo viele Handwerker überall zuzulaſſen, als 1624 Handwerksſtellen vorhanden geweſen waren, gab ziemlich großen Spielraum. Beſonders in einzelnen Landestheilen, die eine höhere Kultur beſaßen, oder die vor ihrer Einverleibung in den preußiſchen Staat in dieſer Beziehung nach noch liberaleren Grundſätzen regiert worden waren, wie Schleſien, hatte man die Zulaſſung auf dem Lande ziemlich wenig erſchwert.

Den beſten Beweis hiefür giebt Krug. Er führt in ſeiner Handwerksſtatiſtik2Nationalreichthum des preuß. Staates II, 173 205. (aus der Zeit 1795 / 1803) bei jeder einzelnen Gewerbsart an, ob die Meiſter aus - ſchließlich in den Städten, oder auch auf dem Lande, und in welcher Zahl ſie da und dort zu treffen ſeien.

Die ausſchließlich in den Städten Vorkommenden ſind nicht die der Zahl nach bedeutenderen; es ſind die Apotheker, Bildhauer, Buchbinder, Buchdrucker, Bürſten -267Die ländlichen Handwerker in Preußen 1800.binder, Roth - und Gelbgießer, Goldſchmiede, Gürtler, Handſchuhmacher, Hutmacher, Klempner, Knopfmacher, Kürſchner, Kupferſchmiede, Maler, Perückenmacher, Schornſteinfeger, Seifenſieder, Seiler, Tuchmacher, Uhrmacher, Weißgerber und Zinngießer. Sehr ſparſam ſind auf dem Lande vertreten die Fleiſcher (mit Aus - nahme Schleſiens, wo Stadt - und Landfleiſcher nicht unterſchieden ſind), ſchon etwas ſtärker die Glaſer, die Kaufleute und Krämer, die aber in den rheiniſchen Pro - vinzen auch ſchon zahlreicher auf dem Lande vorkommen, dort ſogar auf dem Lande theilweiſe ſchon ſtärker ſind, als in den Städten; ähnlich die Korbmacher und Muſikanten, die Riemer und Schloſſer, die Färber Branntweinbrenner und Barbiere; Lohgerber ſind nur in der Mark ländliche vorhanden. Die übrigen Gewerbe ſind auf dem Lande ſchon ziemlich allgemein und zahl - reich vertreten. Landbäcker kommen in Pommern 10 auf 571 Stadtbäcker, dagegen in der Grafſchaft Mark 113 Landbäcker auf 289 Stadtbäcker, in Magdeburg 229 Landbäcker auf 316 Stadtbäcker, in Oſtfriesland 247 Landbäcker auf 197 Stadtbäcker. Auch bei den Böttchern, Schneidern, Stell - und Rademachern, Tiſch - lern, Schuhmachern und Maurern halten Stadt und Land ſich etwa die Waage. Und bei den Zimmerleuten, den Schmieden, Müllern und Leinewebern ſind die Landmeiſter weitaus überwiegend.

Bei dieſen Zahlen müßte man, um ſie recht zu würdigen, noch genau wiſſen, wie in den einzelnen Landestheilen die ſtädtiſche ſich zur ländlichen Bevölke - rung ſtellt. Das zieht Hoffmann in Betracht, wenn268Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.er die Aufnahme von 1810 für die Kur - und Neu - mark einer -, für Schleſien andererſeits vergleicht,1J. G. Hoffmann, Befugniß zum Gewerbebetrieb S. 17 20. dabei ſtillſchweigend vorausſetzend, daß die Zuſtände 1810 noch ganz als Folge der früheren Geſetzgebung aufzu - faſſen ſeien. In der Kur - und Neumark kommen auf 3 Städter 4 Landleute, in Schleſien auf 2 Städter 9 Landbewohner; d. h. in der Mark ſind neben zahl - reichen Städten nur kleine Dörfer, iſt das platte Land weniger bewohnt; in Schleſien ſind zahlreiche ſchon etwas größere induſtrielle Dörfer; Orte, die in der Mark vielleicht ſchon ſtädtiſche Rechte haben, zählen hier als Dörfer. Dieſer Gegenſatz wohl mehr als der von Hoffmann betonte Gegenſatz der Verwaltung, d. h. die Nachwirkung der größern Liberalität, mit der die öſtreichiſche Regierung das Landhandwerk zuließ, iſt als Urſache anzuſehen, daß die ländliche Bevölkerung Schleſiens zwar gleich viel Schneider, Schmiede und Stellmacher hat wie die der Kur - und Neumark, aber 1 ½ mal ſo viel Tiſchler, 2 mal ſo viel Böttcher, 4 mal ſo viel Schuhmacher, 7 mal ſo viel Fleiſcher und 8 mal ſo viel Bäcker.

In der Zeit nach den Freiheitskriegen, nach der Feſtſtellung des preußiſchen Zollſyſtems, nach der Grün - dung des Zollvereins war für den größern Theil der preußiſchen Monarchie die Geſetzgebung eine andere geworden, wurden für die Zollvereinsſtaaten die allge - meinen volkswirthſchaftlichen Verhältniſſe andere. Wir269Das preußiſche Landhandwerk ſeit 1815.haben zu prüfen, wie ſich nun unter Einwirkung dieſer beiden Faktoren das Handwerk in Stadt und Land zu einander ſtellt.

Leider iſt das ſtatiſtiſche Material für dieſe Prü - fung ein ziemlich unvollſtändiges. Die Unterſcheidung von Stadt und Land iſt in Preußen nicht bei allen Aufnahmen oder Publikationen feſtgehalten. Eine weſent - liche Beachtung hauptſächlich auch mit weiterer Unter - ſcheidung großer, mittlerer und kleiner Städte hat der Gegenſatz nur bei Hoffmann gefunden. 1Nachlaß kleiner Schriften S. 398, Bevölkerung des preuß. Staates S 114, Befugniß zum Gewerbetrieb passim. Was die ſpätern Aufnahmen betrifft, ſo unterſcheidet Dieterici 1849 das Geſammtreſultat nach Stadt und Land,2Band V. der Tabellen u. amtlichen Nachrichten S. 825. und die Zahlen für 1858 ſind wenigſtens getrennt nach Stadt und Land veröffentlicht. Die Aufnahme von 1861 kennt dieſen Unterſchied gar nicht, führt aber die Handwerker für alle einzelnen Städte über 20000 Ein - wohner beſonders an. Von andern deutſchen Ländern hat man nur in Sachſen dieſer Frage nähere Aufmerk - ſamkeit bei den ſtatiſtiſchen Arbeiten geſchenkt. 3Hauptſächlich für die Aufnahme von 1861, Zeitſchrift des ſächſ. ſtat. Bureaus für 1863. S. 102 und 103.

Nach Einführung der Gewerbefreiheit in Preußen lagen die Dinge folgendermaßen. Es konnte ſich auf dem Lande jeder Meiſter niederlaſſen; es war auch zu erwarten, daß mit ſteigender Wohlhabenheit theil - weiſe die Arbeitstheilung, die in der Stadt vor ſich270Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.gegangen, auf dem Lande ſich vollziehe. Aber zunächſt kamen ungünſtige Jahre; die Zahl der Landhandwerker war immer ſchon bedeutend geweſen. Mancherlei Arbeits - theilung auch, welche für den Städter geboten, iſt es nicht auf dem Lande. Wo ein Gemeindebackhaus gebaut wird, werden theilweiſe heute noch die Bäcker des Dorfes überflüſſig. Die Neigung gelernter Handwerker zieht ſie immer zunächſt mehr nach den Städten.

So glaube ich war die Zunahme des Land - handwerks zuerſt keine allzugroße; wo ſie ſtattfand, beruhte ſie wohl darauf, daß Bauernſöhne, um ſich zu halten, um den Beſitz des Vaters theilen zu können, anfingen, nebenher ein Handwerk zu treiben.

Als aber ſpäter die Bevölkerung noch weiter zunahm, als die Stellen in den Städten mehr und mehr beſetzt waren, als auch die größere Induſtrie theilweiſe auf das platte Land ſich zurückzog, als 1830 55 die Bodenpreiſe und die ländliche Wohlhabenheit bedeutend ſtiegen, da mußte auch das Landhandwerk an Zahl zu - nehmen. Uebrigens glaube ich immerhin, daß die weſentliche Zunahme erſt mit der eigentlichen Hand - werkerkriſis beginnt, d. h. von 1838 40 an.

Die Mittheilungen von Hoffmann zeigen für 1828 wenigſtens ungefähr die damalige Bedeutung des länd - lichen Gewerbebetriebs. Er faßt die Meiſter von 13 der wichtigſten Gewerbe zuſammen, die gegen aller damals gezählten Handwerker ausmachen. Es ſind 268023 Mei - ſter, während die Geſammtzahl ſich auf 323538 beläuft. Obwohl dabei die vielfach auf dem Lande wohnenden Weber und Spinner nicht ſind, ſo machen die Land -271Das preußiſche Landhandwerk 1828 und 1849.meiſter hiervon 140112 oder 52 % aus. Dabei iſt aber zuzugeben, daß Hoffmann zu den 13 Gewerben diejenigen wählte (außer den Webern und Spinnern), die am meiſten auf dem Lande vertreten ſind. Auch erhält die Eintheilung ſogleich ein etwas anderes Aus - ſehen, wenn man neben die Meiſter die Gehülfen ſtellt. Es waren 1828 von den gleichen 13 Haupt - gewerben:

Alſo 221047 beſchäftigte Perſonen in den Städten, 176868 auf dem Lande; 55,55 % ſtädtiſche gegen 44,45 % ländliche Handwerker; die in den Städten würden ſicher noch etwas mehr überwiegen, wenn die Zahlen alle Handwerker umfaßten. Es könnten dann wohl 60 % ſtädtiſche gegen 40 % ländliche Handwerker ſein.

Im Jahre 1849 zählt Dieterici in den Städten 535232 Perſonen, auf dem Lande 407141 Perſonen als dem Handwerkerſtand angehörig; ſie machen in den Städten bei einer Bevölkerung von 4,57 Mill. Menſchen 10,85 %, auf dem Lande bei einer ſolchen von 11,71 Mill. 3,81 % aus. Mit den Zahlen Hoffmanns von 1828 ſind ſie nicht direkt zu vergleichen, da ſie nicht dieſelben Kategorien umfaſſen. Die 1828 bei Hoffmann fehlen - den ſind theilweiſe ſolche, welche 1849 die Zahlen des platten Landes ſteigern, wie die Leinenſpinner, theilweiſe und noch mehr aber ſolche, welche ausſchließlich in den Städten wohnen. Wenn daher 1849 von den geſamm -272Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.ten Handwerkern 56,79 % auf die Städte, 43,21 % auf das Land kommen, ſo glaube ich liegt darin immer noch ein Beweis, daß das Landhandwerk von 1828 49 ſtärker zunahm, als die ſtädtiſchen Handwerker.

Vollkommen vergleichbar ſind Aufnahmen von 1849 und 58. Nach der von mir angeſtellten Berechnung kommen 1858 564845 Meiſter und Gehülfen auf die Städte, 477668 ---- das Land, d. h. 54,18 % der Handwerker ſind ſtädtiſche, 45,82 % ländliche; die ländlichen ſind 2 3 % ſtärker als 1849. Im Verhältniß zur Bevölkerung erſcheint dieſe Zunahme etwas geringer. Die ganze ſtädtiſche Bevölkerung macht 1858 5,34 Millionen aus, davon nehmen die Hand - werker 10,76 % ein (gegen 10,85 im Jahre 1849), die ganze ländliche Bevölkerung macht 12,49 Millionen, da - von die Handwerker 3,82 % (gegen 3,81 im Jahre 1849). Alſo im Verhältniß zur Bevölkerung nur eine ſehr un - bedeutende Zunahme des Landhandwerks.

Man darf bei ſolchen großen ſtatiſtiſchen Durch - ſchnitten, bei den großen Zahlenergebniſſen eines ganzen Landes nie vergeſſen, daß gerade dieſes beſtimmte Ge - ſammtreſultat durch ſehr verſchiedene, oftmals entgegen - geſetzte lokale Zuſtände bedingt iſt, daß die verſchieden - ſten Urſachen und Bewegungen, neben und gegen einander wirkend, dieſe gemeinſamen Reſultate ergeben. Deßwegen kann meine obige Behauptung, daß von 1830 55 eine ziemliche Zunahme des ländlichen Handwerks nach allgemeinen Urſachen anzunehmen ſei,273Das preußiſche Landhandwerk 1858 und ſpäter.mit dieſem Zahlenergebniß ganz wohl zuſammen beſtehen.

Aber je nach den Provinzen iſt das verſchieden; es iſt mehr der Fall in Provinzen wie Sachſen, Schle - ſien und der Rheinprovinz, viel weniger in Pommern, Poſen. Es nehmen überall die Meiſter mehr auf dem Lande zu, die Gehülfen mehr in den Städten und oft ſtärker, als dort die Meiſter. Auch wo die Zunahme des Landhandwerks eintrat, da erreichte ſie wohl bald eine gewiſſe Grenze, über die ſie nicht mehr hinauskam. Ich erinnere an das Beiſpiel des Dorfes Kornweſtheim, das ich oben anführte. Es begannen vor Allem ſeit den fünfziger Jahren die Wirkungen der großen Pro - duktion, des großen Verkehrs, der ſtädtiſchen Maga - zine, es begann der Zug vom Lande ab nach den Städten, ſo daß es mir fraglich erſcheint, ob nicht jetzt im Durchſchnitt des ganzen preußiſchen Staates bereits wieder ein Rückgang des Landhandwerks ein - getreten iſt.

Einzelne Gewerbe werden trotzdem auf dem Lande wachſen, während die andern zurückgehen. Ich will in dieſer Beziehung nur einige der wichtigern, haupt - ſächlich der ländlichen Gewerbe nach dem Stand der Meiſter von 1828 und 1858 mittheilen; ich füge für 1858 noch einige weitere Gewerbe bei, für die ich keine Vergleichung anſtellen kann. Man ſieht bei ihnen wenigſtens, wie ſich 1858 die Land - meiſter zu den Stadtmeiſtern verhalten. Es betrug die Zahl:Schmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 18274Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.

Die Aenderungen von 1828 58 ſind belehrend. Ziemlich bedeutender iſt das Landhandwerk geworden bei den Stellmachern, Böttchern, Tiſchlern und Seilern, etwas ſtieg es bei den Schuſtern und Gerbern, gleich im Verhältniß zum Stadthandwerk blieb es bei den Fleiſchern und Riemern; zurück ging es bei den Schmieden, Schneidern, Bäckern, Töpfern, ganz außerordentlich bei den Schloſſern, die auf dem Lande ſogar der abſoluten Zahl nach abgenommen haben, von 7810 auf 5838. Das heißt: es nahmen einige Gewerbe, welche aus - ſchließlich der bäuerlichen Wirthſchaft oder den einfachſten275Einzelne Gewerbe nach Stadt und Land.häuslichen Bedürfniſſen dienen und leicht auf dem Lande betrieben werden können, auf dem Lande ſtärker zu wie in der Stadt. Solche dagegen, deren Produkte jetzt mehr in Maſſe erzeugt werden, für welche in den Städten große Handlungen ſind, ſolche, welche unter dem veränderten Verkehr leiden, nahmen ab. Wären die Beiſpiele zahlreicher, ſo würde ſich das wahrſcheinlich noch mehr zeigen.

In engem Zuſammenhang mit der Vertheilung des Handwerks nach Stadt und Land ſteht die Verbreitung der großen Induſtrie. Eine dezentraliſirte Induſtrie wird eher das ländliche Handwerk, eine zentraliſirte mehr das ſtädtiſche Handwerk heben.

Eine abſchließende Unterſuchung darüber iſt an dieſer Stelle nicht möglich; aber einige Bemerkungen darüber will ich nicht unterlaſſen einzuſchieben. Auch für die größere Induſtrie wurde 1849 und 1858 eine Trennung der preußiſchen Tabellen nach Stadt und Land vollzogen; es iſt hiernach ein einigermaßen begründetes Urtheil möglich, obwohl der große Zug nach den Städten wahrſcheinlich bei einer Vergleichung von 1858 und 1868 viel mehr hervortreten würde.

Eine Reihe von Induſtrien zeigen von 1849 bis 1858 keine weſentlichen Aenderungen. Die Kunſt -, die Luxusinduſtrien, die feinere Mechanik und ähnliche Ge - werbe ſind damals wie ſpäter vornehmlich in den Städten. Die Eiſen - und Hüttenwerke, die Braun - und Steinkohlen - werke, die Glashütten, die Kupferhämmer, die Ziegeleien, die Theeröfen, die Zuckerfabriken befinden ſich damals wie ſpäter überwiegend auf dem Lande. Dagegen zeigen18 *276Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.andere Induſtrien doch nicht unbedeutende Aenderungen. Blicken wir z. B. auf die folgende Ueberſicht der Dampf - maſchinen und ihrer Pferdekräfte:

Die Getreidedampfmühlen, die Bergwerke und die Metallfabriken haben auf dem Lande, alle übrigen Gewerbe in der Stadt mehr zugenommen; und das letztere theil - weiſe in ſehr viel ſtärkerer Proportion, als hier erſichtlich iſt. Die Arbeiter der ſtädtiſchen Maſchinenfabriken z. B. nahmen von 3980 auf 16697, die der ländlichen nur von 2218 auf 5729 zu. Als weiterer Beleg mögen noch die Zahlen der Feinſpindeln und der Web - ſtühle nach Stadt und Land folgen. Man zählte:

277Die große Induſtrie nach Stadt und Land.

Auch hier zeigt ſich eine ziemlich ſtärkere Zunahme der ſtädtiſchen wie der ländlichen Induſtrie: ein Beweis wohl, daß im Allgemeinen meine ſchon oben ausge - ſprochene Behauptung, die Induſtrie habe in neueſter Zeit eine mehr zentraliſirende Richtung, der Wahrheit entſpricht und daß wahrſcheinlich demgemäß auch in der frühern Zunahme des Landhandwerks ſchon ein Still - ſtand, wenn nicht gar ein Rückgang eingetreten iſt.

Uebrigens iſt man bei dieſer ganzen Unterſuchung immer wieder verſucht, daran zu denken, daß die ſtatiſti - ſchen Begriffe Stadt und Land ſo wenig feſte ſind. Man müßte, um ganz ſicher zu gehen, die verſchiedenen Arten der Städte wie der Dörfer trennen können; man müßte große und kleine Dörfer, rein landwirthſchaftliche und induſtrielle Dörfer auseinander halten. Dazu fehlt aber leider das ſtatiſtiſche Material.

Wenigſtens in Bezug auf die Städte können wir den entſprechenden Unterſchied etwas verfolgen, ich meine den Unterſchied, der zwiſchen größern und kleinern Städten, d. h. der Zahl und Art der Handwerker, die ſie zählen, ſein muß.

278Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.

Hoffmann1Nachlaß kleiner Schriften S. 395 ff. trennt in der mehr erwähnten Unter - ſuchung über die 13 wichtigſten Arten der Handwerker im Jahre 1828 die 39 größern preußiſchen Städte von den ſämmtlichen übrigen kleinern Städten und dem platten Lande. Es kommen nach ihm auf je 10000 Einwohner:

Die 13 Arten von Gewerbetreibenden machen in den größern Städten 5,87 %, in den kleinern 6,93 %, auf dem Lande 1,89 % aus. In den kleinern Städten iſt der Hauptſitz des alten Handwerks. Da ſind die kleinen Meiſter am zahlreichſten. In den größern Städten iſt die Zahl der Meiſter kaum viel mehr als halb ſo groß, dafür iſt die Zahl der Gehülfen weſentlich höher. Die Geſammtzahl der Gewerbetreibenden aber iſt geringer. In den großen Städten haben 10000 Menſchen 587, in den kleinen 693 Gewerbetreibende nöthig. Und die der größern Städte haben ohne Zweifel einen wohlhabendern Kundenkreis, der ſie mehr in Anſpruch nimmt, haben auch auf das Land hinaus einen größern Abſatz, als die kleinſtädtiſchen Meiſter. Der Zahlengegenſatz zeigt alſo recht klar die Unvollkommenheit des kleinſtädtiſchen Hand - werks, die großen Zeitverluſte, die vom Wochen - und Jahrmarktsverkehr herrühren, die Nothwendigkeit für das kleinſtädtiſche Handwerk, auf Nebenbeſchäftigungen ſich zu legen.

279Das Handwerk der kleinern Städte.

In den Mittheilungen über die Aufnahme von 1837 unterſcheidet Hoffmann1Bevölkerung des preuß. Staates, S. 117 ff. ; die Be - fugniß zum Gewerbebetrieb S. 126. in Bezug auf die wich - tigern einzelnen Gewerbe die 10 Städte erſter Gewerbe - ſteuerklaſſe, die 30 anſehnlichſten Städte zweiter Gewerbe - ſteuerklaſſe, die ſämmtlichen übrigen Städte und das platte Land. Es zeigt ſich da derſelbe Gegenſatz. Außer bei den ländlichen Gewerben iſt die Hauptmaſſe der kleinen Meiſter in den kleinen Städten; die Mehrzahl arbeitet ohne Gehülfen. Bei einzelnen Gewerben zeigt ſich ſchon damals, daß ſie in den größern Städten einer neuen Produktionsmethode Platz machen, dagegen ſich noch in den kleinen Städten halten. Es ſind z. B. Meiſter und Gehülfen zuſammen 1837 an

Beides ſind Handwerke, die größern Geſchäften weichen; in den kleinern Städten aber geht die Entwick - lung langſamer. Da ſind noch keine Lederfabriken, da verkauft der Töpfermeiſter noch ſeine Waaren. In den größern Städten wird das Leder beim Lederhändler, der nicht ſelbſt produzirt, gekauft; da treten das Steingut, die Fayencewaaren der Fabriken, das Kochgeſchirr aus280Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.Gußeiſen, Eiſen - und Kupferblech an die Stelle des irdenen einfachen Geſchirres, da tritt der eiſerne Ofen, der berliner Fabrikofen an die Stelle des alten irdenen vom Töpfer gelieferten.

Die ſpätern preußiſchen Aufnahmen und ihre Be - arbeitung laſſen dieſen Unterſchied zwiſchen den verſchie - denen Städten ganz außer Acht. Nur die Aufnahme von 1861 gibt, wie erwähnt, die Gewerbetabellen in Bezug auf alle größern preußiſchen Städte; danach iſt die folgende Tabelle berechnet. Um den Charakter der einzelnen Städte noch etwas näher zu kennzeichnen, habe ich in den beiden letzten Spalten die Prozent - zahlen der Fabrik - und der Handelstabelle hinzugefügt. Sie zeigen, welchen Antheil an der Bevölkerung einer Stadt die Fabrikdirigenten und Fabrikarbeiter incl. der Weber, Müller ꝛc. einerſeits, die ſämmtlichen in Han - dels -, Transport -, Wirthſchafts - und literariſchen Ge - werben beſchäftigten Perſonen andererſeits haben. Daß die Prozentzahlen der Handwerker mit den Hoffmann - ſchen von 1828, welche nur 13 Handwerke umfaßten, nicht zu vergleichen ſind, brauche ich wohl kaum zu bemerken.

281Das Handwerk der größern Städte 1861.

Das Handwerk im Sinne der Tabelle von 1861 beſchäftigt in dieſen Städten 6 12 % der Bevölkerung, d. h. wenn wir die erwachſenen Männer zu etwa 25 % der Bevölkerung annehmen, den vierten Theil bis zur282Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.Hälfte derſelben. Die Rangordnung geſtaltet ſich ſo, daß die rheiniſchen Städte nur 6 9 % Handwerker, die Städte der mittleren und öſtlichen Provinzen 10 12 % Handwerker beſitzen, wobei nur Trier unter den rheiniſchen, Danzig unter den öſtlichen Städten eine Ausnahme macht. Daß an der größern oder geringern Zahl der Handwerker die große Induſtrie direkt ſchuld ſei, läßt ſich nicht behaupten. Koblenz mit 3 %, Köln mit 5 %, Aachen mit 15 %, Elberfeld mit 26 % Fabrikperſonal ſtehen ſich in Bezug auf das Handwerk faſt gleich. Ebenſowenig läßt ſich behaupten, daß die Größe der Städte einen Einfluß auf die Prozentzahl der Handwerker habe. Alle dieſe Städte haben mehr oder weniger den Charakter einer größern Stadt. Der vorhin beſprochene Gegenſatz von Kleinſtädten und größeren Städten fällt vollſtändig aus dieſer Tabelle hinaus. Theilweiſe liegt der Grund des weniger zahl - reichen Handwerks der rheiniſchen Städte in der höhern wirthſchaftlichen Kultur, die für dieſelben Zwecke weniger Arbeitskräfte braucht. Es kommt das gegenüber den ſächſiſchen Städten in Betracht. Theilweiſe aber liegt der Grund darin, daß bei der Art, wie die Bevölkerung am Rhein vertheilt iſt, die dortigen Städte viel weniger als im Oſten die gewerblichen Mittelpunkte ganzer Gegenden bilden. Das ganze Land hat dort mehr Handwerker, darum können die Städte etwas weniger haben. Wenn ſich die ſächſiſchen und weſtfäliſchen Städte einer -, die preußiſchen, poſenſchen, märkiſchen anderer - ſeits ſo ziemlich gleich in der Prozentzahl ihrer Hand - werker ſtehen, ſo hat das nicht ganz dieſelben Urſachen. 283Das Handwerk der größern Städte 1861.In Magdeburg, Erfurt, Halle, Münſter iſt die Hand - werkerzahl groß, weil hier eine gleichmäßigere Vermögens - vertheilung auch die kleinen Handwerksgeſchäfte hält. Im Oſten iſt man überhaupt weiter zurück; deßwegen iſt die Zahl hier nicht unbeträchtlich; und dann ſpielen hier die größern Städte eine ganz andere Rolle gegenüber dem platten Lande, als in Sachſen und Weſtfalen.

Wir ſehen, wie auch hier wieder die verſchiedenſten Urſachen neben - und gegeneinander wirken.

Vergleicht man die Prozente der Handwerkertabelle mit denen der Fabrik - und der Handelstabelle, ſo iſt her - vorzuheben, daß die Handelstabelle vielfach höhere Prozente zeigt, als die Fabriktabelle, daß meiſt beide zuſammen noch nicht ſo hoch ſind, wie die Prozente der Hand - werkertabelle. Nur in wenigen Fabrikſtädten kommt die Fabriktabelle der Handwerkertabelle nahe, nur in Brandenburg, Krefeld, Eſſen, Elberfeld, Barmen und Aachen überwiegt ſie. Das Handwerk zeigt gegenüber den beiden andern Branchen ſeinen immer noch vorhandenen elementaren Charakter, ſeine aller - wärts ſich zeigende Nothwendigkeit dadurch, daß es nur zwiſchen 6 und 12 % der Bevölkerung ſchwankt; die die Fabriktabelle ſchwankt zwiſchen 0,9 und 27 %, die Handelstabelle zwiſchen 2 und 9 % der Bevölkerung.

Als Ergänzung der bisherigen Unterſuchung über die preußiſchen Verhältniſſe will ich nunmehr noch Einiges aus der bairiſchen und ſächſiſchen Statiſtik anführen, ſchicke jedoch wieder voraus, daß die abſoluten und die Prozent - zahlen mit den preußiſchen nirgends direkt vergleichbar ſind, da die Kategorien der Handwerker, die in den284Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.einzelnen drei Staaten zu Geſammtreſultaten vereinigt ſind, nicht ganz übereinſtimmen, theilweiſe weſentlich differiren.

Die bairiſche Handwerksſtatiſtik liefert nur einen kleinen Beitrag über den Gegenſatz von Stadt und Land;1Die Bevölkerung und Gewerbe Baierns S. 163; ich habe die Zahlen b) dort zu Grunde gelegt und darnach die Prozente berechnet. Die Pfalz iſt nicht einbegriffen. ſie unterſcheidet nicht Stadt und Land über - haupt, ſondern nur die größern ſog. unmittelbaren Städte und das geſammte übrige Land, welches alſo das platte Land mit ſeinen wenigen, wie die kleinen Städte mit ihren zahlreichen Handwerkern umfaßt. Die Meiſter und Gehülfen ſind mit Einſchluß der Weber zuſammen - gerechnet. Es kamen in den größern Städten

Alſo die Hauptabnahme eben auch da, wo die Um - bildung in neue Zuſtände ſich vollzieht, d. h. in den größern Städten.

In Bezug auf Sachſen erwähnte ich in anderem Zuſammenhang ſchon,2Siehe oben S. 146 147; vergl. Zeitſchrift des ſächſ. ſtat. Bür. 1860. S. 122 24. daß nach einem Vergleich von285Stadt und Land in Baiern und Sachſen.1830 und 1856 das Handwerk in den größern Städten ſehr bedeutend, einzelne Gewerbe um 20 70 %, in den kleinern Städten dagegen nicht ebenſo abgenommen habe; an ſie ſollte die Reihe erſt ſpäter kommen.

Für die ſpätere Zeit, d. h. für den Vergleich von 1849 und 1861 benütze ich eine Tabelle,1Tab. 13, Zeitſchr. des ſtat. Bür. 1863. S. 102. welche die 36 wichtigſten Handwerke, mit Ausſchluß aller Haus - induſtrie, beſonders der Weberei, von 1849 und 1861 getrennt nach den größern, den kleinern Städten und dem platten Lande umfaßt. Nach ihr iſt die folgende Ueberſicht berechnet. Es waren

Sollte der Leſer trotz meiner Warnung an einen Vergleich dieſer Zahlen mit den preußiſchen denken, ſo iſt zu erwähnen, daß in den preußiſchen Tabellen etwa 80, hier 36 Arten von Handwerkern zuſammengefaßt ſind. Sind das auch weitaus die zahlreichern, dennoch bleibt eine direkte Vergleichung mißlich. Einige Prozente286Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.müßte man jedenfalls zuſetzen, ſo daß die größern ſächſi - ſchen Städte auf 10 11 %, die kleinern auf 12 13 % kämen. Das iſt jedenfalls den preußiſchen Verhältniſſen analog, daß die kleineren Städte das zahlreichſte Hand - werk haben. Das gegenüber Preußen viel ſtärkere länd - liche Handwerk hat ſeine Urſache in dem ſtädtiſch-in - duſtriellen Charakter eines großen Theiles des platten Landes in Sachſen, außerdem in den zahlreichen Vor - ſtadtdörfern, in welchen für die Stadt arbeitende Hand - werker wohnen. 1Zeitſchrift des ſächſ. ſtatiſt. Büreaus 1860. S. 122.Zugleich erhellt aus den ſächſiſchen und preußiſchen Zahlen, welche das platte Land betreffen, wieder, wie viel wichtiger die realen Zuſtände und Be - dürfniſſe gegenüber der Gewerbegeſetzgebung ſind. In Sachſen bis 1862 gewiſſe Beſchränkungen des Land - handwerks, in Preußen keine Spur hiervon mehr ſeit langer Zeit; und doch iſt das ſächſiſche Landhandwerk zahlreicher.

Was nun aber die Veränderungen zwiſchen 1849 und 1861 in Sachſen betrifft, ſo ſind ſie ſehr ſprechend. In den größern Städten hat das Handwerk nicht viel mehr abgenommen, weil es hier ſchon früher ſehr zurückging; die Hauptabnahme trifft die kleinen Städte; in ihnen vollzieht ſich der Umſchwung erſt jetzt. Auf dem Lande haben die Handwerker etwas, aber ſehr unbedeutend zu - genommen.

Unterſcheidet man die einzelnen Gewerbe in dieſer Beziehung, ſo trifft die Zunahme auf dem Lande gegen - über der Bevölkerung außer den hausinduſtriellen Be -287Stadt und Land in Sachſen.trieben hauptſächlich die Tiſchler, Glaſer, Stellmacher, Seiler, Riemer, Kürſchner, Bäcker und Buchbinder, ſowie die Zimmerleute und Maurer, letztere wahrſcheinlich nur ſcheinbar, durch Zählung ſtädtiſcher Arbeiter an ihrem ländlichen Wohnort in der ſtädtiſchen Umgebung, wie auch aus dieſem Grunde allein die ländlichen Buch - drucker Sachſens zunahmen. Dagegen haben auf dem Lande abgenommen die Schneider, die Schuhmacher, die Fleiſcher, die Hufſchmiede, die Gürtler, die Kupfer - ſchmiede, die Seifenſieder, die Gerber, die Töpfer, die Kammmacher, die Drechsler. Mancherlei bezieht der ländliche Konſument jetzt von der Stadt, was er früher beim Meiſter im Dorfe beſtellte.

Ob das ſeit 1862, ſeit das Landhandwerk in Sachſen ganz frei wurde, wieder ſich geändert hat, ob die Gewerbefreiheit dem ländlichen Meiſter den Abſatz wieder brachte, den er ſchon 1861 verloren hatte, möchte ich bezweifeln.

[288]

2. Das Handwerk nach Provinzen und Staaten.

Die preußiſchen Provinzen 1822, 1846 und 1861. Die preußi - ſchen Regierungsbezirke 1861 mit ihrer Handwerker -, Fabrik - und Handelsbevölkerung. Die Bäcker, Fleiſcher, Schneider und Schuhmacher nach Provinzen 1849 und 1861. Einzelne Gewerbe im Regierungsbezirk Poſen 1822, 1846 und 1861. Das Handwerk in den wichtigern Zollvereinsſtaaten 1846 und 1861. Die ſpezielleren Ergebniſſe von 1861 in ſämmtlichen Staaten des Zollvereins. Die Urſachen der Gegenſätze: Der verſchiedene Wohlſtand. Die Dichtigkeit der Bevölkerung. Landwirthſchaftliche und induſtrielle Gegenden. Der Einfluß der Großinduſtrie. Das Alter der wirthſchaftlichen Kultur in den verſchiedenen Gegenden. Die frühere oder ſpätere Beſei - tigung des Zunftweſens. Die ganze Einkommens - und Ver - mögensvertheilung, die Art und Größe der Wohnſitze der Bevölkerung, die Vertheilung des Grund und Bodens. Die daraus folgenden wirthſchaftlichen Sitten, der Volkscharakter, die Thätigkeit der Regierungen für das kleinere Handwerk.

Dem Gegenſatz zwiſchen Stadt und Land folgt der zwiſchen Landſchaften und Provinzen, Provinzen und Staaten. Er iſt theilweiſe ein ähnlicher; ein Haupt - moment des Gegenſatzes iſt daſſelbe. Da mehr agra - riſche, dort mehr gewerbliche Zuſtände. Aber dazu kom - men eine Reihe andere Momente; es wechſeln alte und junge Kultur, reiche und arme Gegenden. Andere289Die preußiſchen Provinzen 1822 61.Beſitz - und andere Bevölkerungsvertheilung, verſchie - dene Verwaltung und verſchiedenes Recht, verſchiedene Geſchichte und verſchiedener Volkscharakter ſprechen mit.

Ehe ich auf die Urſachen aber näher eingehe, will ich die ſtatiſtiſchen Grundlagen vorlegen. Ich bleibe zuerſt bei den alten preußiſchen Provinzen ſtehen, da für ſie das reichhaltigſte Unterſuchungsmaterial vorliegt; erſt nachher will ich die übrigen Zollvereinsſtaaten und die neuen preußiſchen Provinzen in den Vergleich her - einziehen.

Wie ſtark war der Handwerkerſtand gegenüber der Bevölkerung in den einzelnen preußiſchen Provinzen 1822, 1846 und 1861? In Bezug auf die erſten beiden Jahre gibt die Unterſuchung Dieterici’s1Mittheilungen II, 13. Ant - wort. In Bezug auf 1861 hat Viebahn2III, S. 745. Berechnun - gen gemacht. Ich ſtelle daneben eine eigene Berechnung, die nach den offiziellen Zahlen angeſtellt iſt, und noth - wendig etwas höhere Procentzahlen ergiebt, da Viebahn’s abſolute Handwerkerzahlen für 1861, wie ich ſchon er - wähnte, wie ich hier noch beſonders bemerken will, wahrſcheinlich durch Ausſcheidung der Kunſtgewerbe etwas niedriger ſind, als die der offiziellen Tabelle. Was den Vergleich der Zahlen für dieſe drei Jahre unter ſich betrifft, ſo iſt der zwiſchen 1822 und 1846 ganz der Wirklichkeit entſprechend, da Dieterici nur die gleichen Kategorien von Handwerkern in den Vergleich hereinzieht, dagegen umfaſſen die Zahlen von 1861Schmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 19290Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.einige weitere Kategorien von Handwerkern; die Zu - nahme erſcheint daher etwas zu groß, wenigſtens nach den von mir berechneten Zahlen. Der Vergleich, wie ſich in den einzelnen Provinzen die Procentzahl in den drei verſchiedenen Zeitpunkten ſtellt, iſt hier aber auch nicht die Hauptſache; wichtiger iſt hier die Frage, wie ſich das Rangverhältniß der Provinzen unter einander in den genannten Epochen umgeſtaltet hat, und zur Beantwortung dieſer Frage iſt die Tabelle vollſtändig brauchbar.

Ich gebe die Zahlen in der doppelten möglichen Berechnung; die ſämmtlichen Gewerbetreibenden machten Procente der Bevölkerung aus:

Oder, was daſſelbe iſt, es kamen auf einen Gewerbetreibenden Einwohner:

291Die preußiſchen Provinzen und Regierungsbezirke.

Die Zahlen für 1861 will ich verſuchen gleich dadurch noch etwas weiter zu illuſtriren, daß ich eine Prozentberechnung des Handwerkerſtandes nach den ein - zelnen Regierungsbezirken beifüge. Denn welche Gegen - ſätze birgt z. B. Schleſien; im Regierungsbezirk Breslau zählt man 6,53 % Handwerker, im Regierungsbezirk Oppeln nur 3,93 %. Zugleich will ich, wie oben bei den größern Städten, die Prozentzahlen der Fabrik - und der Handelsbevölkerung daneben ſtellen, d. h. die Pro - zente, welche die geſammten 1861 in der Fabrik - und in der Handelstabelle nach dem bekannten Inhalt der - ſelben verzeichneten Perſonen gegenüber der ganzen Be - völkerung ausmachen. Man erſieht daraus die unge - fähre Bedeutung des Handwerks in den einzelnen Re - gierungsbezirken gegenüber den Fabrik - und Handels - geſchäften.

Neben dem ſpeziellen Reſultat dieſer Tabelle, das uns hier zunächſt intereſſirt, möchte ich den Leſer darauf aufmerkſam machen, welche Reſultate vergleichender Betrachtung ſich ergeben, wenn er die folgende Tabelle über die Regierungsbezirke vergleicht mit der obigen entſprechenden über die größern Städte.

Am Rhein ſind die Prozente der Handwerker in den Städten und Regierungsbezirken nahezu gleich, im Nordoſten haben die Regierungsbezirke theilweiſe nur ein Drittel oder Viertel der ſtädtiſchen Prozentzahlen. In der ſtädtiſchen Tabelle iſt die Fabrik - und Handels - bevölkerung der Handwerkerzahl ſchon viel näher gerückt, als in der Tabelle der Regierungsbezirke. Doch das nebenbei. Die Tabelle iſt folgende:19 *292Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.

Die lokalen Gegenſätze der Fabrik - und der Handels - entwicklung ſind hier, wie in den großen Städten, viel bedeutender als die des Handwerks. Es giebt Regierungs - bezirke und Provinzen, die noch einmal ſo viel Hand - werker haben als andere, im Handel und Fabrikweſen ſolche, die 4 11 mal ſo viel Perſonen beſchäftigen. Das Handwerk zeigt auch hier wieder ſeine elementare Natur. 293Die Veränderungen von 1822 61.Es dient nothwendigen lokalen Bedürfniſſen, die einer - ſeits auch heute noch überall vorhanden ſind und ande - rerſeits nirgends über ein gewiſſes Maß hinausgehen.

Freilich ſind die Differenzen noch ſtark genug: im Oſten beſchäftigt es 3 4 %, im Weſten 6 und 7 % der Bevölkerung. Am tiefſten ſteht der Regierungsbezirk Gumbinnen 1861 mit 3,63, dann Bromberg mit 3,66, Poſen mit 3,81 %; über 7 % haben die Regierungs - bezirke Liegnitz, Magdeburg, Merſeburg, Erfurt, Arns - berg, Düſſeldorf; am höchſten ſteht Erfurt mit 7,83 %.

Um aber zunächſt zurückzukehren zu der Provinzial - tabelle und dem Unterſchied zwiſchen den verſchiedenen Jahren der Aufnahme, ſo iſt das Rangverhältniß der Provinzen unter ſich 1822 und 1861 ſo ziemlich daſſelbe. Poſen z. B. hat damals wie jetzt etwa halb ſo viel Hand - werker als Sachſen. Dieß Reſultat hat mich vollſtändig überraſcht; ich hatte, ehe ich die Unterſuchung anſtellte, erwartet, daß in den weſtlichen und mittleren Provinzen die Prozentzahl ſich weniger geändert zeigen werde; ich dachte mir hier gleichſam das Bedürfniß geſättigt; ich dachte, daß wenn hier Neubildungen ſtattfinden, ſie eher die Form der Fabriken und großen Unternehmungen an - nehmen werden. In den öſtlichen Provinzen dagegen, dachte ich, war die Zahl ſelbſt der nothwendigſten Hand - werker, wie der Bäcker, Fleiſcher, Schneider, Schuh - macher, Tiſchler 1822 noch ſo gering, daß ſie mit der Kulturentwicklung, mit der ſteigenden Arbeitstheilung hier bedeutend ſteigen müſſe, ich dachte, daß 1822 61 dieſe Provinzen ſich den Zuſtänden in Mittel - und Weſt - deutſchland müßten genähert haben.

294Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.

Und ganz unrichtig war dieſe Vermuthung auch nicht. Von 1822 46 iſt der Zuwachs in Preußen, Poſen, Brandenburg, Pommern und Schleſien im Ganzen relativ faſt größer als in Sachſen, Weſtfalen und der Rheinprovinz; erſt von 1846 61 bleiben Preußen, Poſen, Pommern ſo ziemlich ſtabil, während die andern Provinzen wieder ſchneller voranſchreiten.

Es wird nun nicht zu leugnen ſein, daß einzelne Hauptgewerbe auch 1846 61 im Oſten noch zuneh - men; die wichtigſte Urſache der geringen Geſammtzunahme liegt nicht ſowohl in den einfachen Haupthandwerken, als in der größern Zahl der Handwerker, welche feinern Be - dürfniſſen dienen in den Gürtlern, Hutmachern, Hand - ſchuhmachern, Gold - und Silberarbeitern, Klempnern, Poſamentieren, Tapezierern und ähnlichen. Derartige, wenn ich ſo ſagen ſoll, höhere Handwerke fehlten vorher faſt noch ganz; da ſie erſt nach 1846 hätten ſich bilden müſſen, blieben ſie faſt ganz aus, weil nunmehr der Handel und Verkehr ſich ſchon umgeſtaltete, die lokale Produktion nicht mehr wie früher nothwendig war.

Freilich bleiben auch die wichtigern Handwerke von 1846 an im Oſten zurück; theilweiſe wirken die ange - führten Urſachen auch auf ſie. Ich will nur für einige Hauptgewerbe, die Bäcker, Fleiſcher, Schneider und Schuhmacher eine ſpezielle Berechnung anſtellen, wie ſie in den einzelnen Provinzen 1849 61 zuge - nommen haben. Die folgende Tabelle beantwortet die Frage, auf wie viele Einwohner ein Gewerbetreibender je des betreffenden Gewerbes kam:295Der Gegenſatz der weſtlichen und öſtlichen Provinzen.

Die Tabelle zeigt, daß von 1849 61 faſt nur die Fleiſcher in Preußen und Poſen bedeutend zunahmen, die anderen Gewerbe aber in den mittlern und weſtlichen Provinzen mehr ſtiegen als im Oſten. Und auch bei den Fleiſchern erſcheint hauptſächlich deßwegen eine Zu - nahme in Preußen und Poſen, weil die Zahl der Fleiſcher hier 1849 ausnahmsweiſe niedrig, viel niedriger als 1816 iſt. Es iſt, als ob das Handwerk, weil es hier jünger war, der neuen Zeit, ihrer Technik und ihrem Betrieb noch weniger Widerſtandskraft ent - gegenzuſetzen gehabt hätte.

Einen weitern ſchlagenden Beweis hierfür liefern die Zahlen, welche Herzog1Die Entwicklung der gewerblichen Verhältniſſe im Re - gierungsbezirk Poſen ſeit 1815. S. 108 133. aus dem Regierungsbezirk Poſen mittheilt. Ich erwähne nur einige Hauptgewerbe nach den abſoluten Zahlen der Jahre 1822, 1846 und 1861:296Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.

Eine große Zunahme bis 1846; von da ab vollſtändiger Stillſtand oder Rückgang, während doch ſonſt die Verhältniſſe gerade von 1846 ab erſt weſentlich ſich beſſern, die Straßen, der Verkehr, der Bodenwerth ſteigen. Gerade das muß nach den dortigen Verhält - niſſen eben dem kleinen Handwerkerſtand nicht günſtig geweſen ſein. Er blieb beſonders in den kleinen Städten zurück, während die wohlhabendern Konſumenten nicht zurückbleiben wollten, ſich hier wohl mehr als ander - wärts nach der Hauptſtadt der Provinz oder nach Berlin wandten. Wohlhabendere machen ihre Einkäufe und Beſtellungen meiſtentheils in der Stadt Poſen, ſagt ein Bericht im Jahrbuch für amtliche Statiſtik,1Jahrgang II, 288. welcher hauptſächlich die Noth der Handwerker in den kleinen Städten der Provinz Poſen betont.

Daß die gewerbliche Thätigkeit in der Provinz Poſen wie in der Provinz Preußen vor Allem durch297Die Zuſtände in Poſen 1822 61.die ruſſiſche Zolllinie gehemmt und gelähmt wird, iſt richtig, kann aber hier nicht als hauptſächliche Urſache angeführt werden. Es trifft das mehr die größere Induſtrie; überdieß war dieſer Umſtand ſchon 1822 1846 vorhanden. Der Stillſtand von 1846 an muß alſo mehr andere Urſachen haben.

Ehe ich aber hierauf noch näher eingehe, theile ich die Zahlen über die andern Theile des Zollvereins, ſo - weit ſolche vorliegen, mit. Sie zeigen theilweiſe dieſelben Gegenſätze; theilweiſe aber iſt das Reſultat auch ein weſentlich anderes; gerade da, wo das der Fall iſt, ſind wir aufgefordert nachzuforſchen, warum es ein anderes iſt.

Für 1846 hat ſchon Dieterici eine Vergleichung der - jenigen Zollvereinsſtaaten angeſtellt, die damals brauch - bare Aufnahmen machten. 1Mittheilungen IV, 252 ff. Statiſtiſche Ueberſicht der Fabrikations - und gewerblichen Zuſtände in den verſchiedenen Staaten des deutſchen Zollvereins im Jahre 1846.Die Summen der Hand - werker aber, die er hiebei für Preußen z. B. zu Grunde legt, ſind ziemlich niedriger, als die der ſonſtigen offiziellen Statiſtik,2Er zählt 803658 Meiſter und Gehülfen in Preußen, ſonſt werden 842148 gezählt. wohl weil er ſolche Kategorien, in denen die Aufnahme nicht überall gleich gemacht wurde, weg ließ. Deshalb ſind die aus den Hauptſummen abge - leiteten Prozentzahlen eigentlich nicht direkt vergleichbar mit den Prozentzahlen nach der Aufnahme von 1861. Für 1861 exiſtiren offizielle Summirungen nur von den298Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.Staaten, die ihre Gewerbeaufnahme beſonders publizirt haben. Außerdem hat man die Summirungen in der Privatarbeit von Frantz,1A. Frantz, Tabellen der Gewerbeſtatiſtik der Staaten des deutſchen Zollvereins. Brieg 1867. Die Differenz der Frantz’ſchen und der offiziellen Summe für Preußen erwähnte ich ſchon oben S. 73. Für Württemberg führt Frantz 80775 Meiſter und 64468 Gehülfen an, in den württembergiſchen Jahrbüchern für 1862 Heft 2, S. 245 werden 79912 Meiſter mit 64147 Ge - hülfen gezählt. Für Baiern weichen ſeine Zahlen von den offi - ziellen etwas weiter ab. die mit den offiziellen Summen, ſoweit ſie exiſtiren, theilweiſe faſt ganz, theilweiſe wenig - ſtens ungefähr übereinſtimmen, und die Summen bei Viebahn,2Statiſtik des Zollvereins III, 745. die, ähnlich wie ſeine preußiſchen Zahlen, etwas niedriger als die offiziellen Summen ſind. Da ſie aus eben dem Grunde den von Dieterici für 1846 berechneten Zahlen am nächſten ſtehen werden, am eheſten mit ihnen vergleichbar ſein werden, ſo ſtelle ich ſie zunächſt mit denen Dieterici’s von 1846 zuſammen. Ganz korrekt iſt die Tabelle freilich nicht; einzelne Staaten zeigen eine kleine Zunahme, welche ſie nach unſern obigen Unter - ſuchungen nicht haben; die größern Veränderungen aber ſind ſicherlich wahrheitsgetreu; jedenfalls bleibt der Ta - belle, wie der obigen Tabelle über die preußiſchen Pro - vinzen, der Werth, daß ſie zeigt, wie die Proportionen der Zahlen von 1846 und der Zahlen von 1861 je unter einander ſich änderten, wie das Rangverhältniß der Staaten unter ſich gewechſelt hat. Es betrug die Zahl der Meiſter und Gehülfen in Prozenten der geſammten Bevölkerung:299Vergleichung einiger Staaten 1846 und 1861.

Die Zuſtände haben ſich von 1846 61 im Ganzen nicht unweſentlich geändert. Thüringen hatte 1846 am wenigſten Handwerker, 1861 am meiſten. Das Großherzogthum Heſſen ſteht in der Reihe der Staaten mit zahlreichem Handwerk jetzt oben an; Baden iſt zurückgeblieben. Die äußerſten Differenzen ſind 1861 geringer, weil die Staaten, welche 1846 das ſtärkſte Handwerk hatten, Sachſen, Baden und Baiern, ziemlich ſtabil blieben, dagegen die Staaten, welche 1846 zurück waren, an Handwerkern zunahmen, namentlich Thü - ringen und beide Heſſen, ſelbſt Naſſau. Wie kommt es, daß ſie, welche bis 1846 auf ähnlichem Standpunkt wie die öſtlichen preußiſchen Provinzen ſtanden, noch an Handwerkern zunahmen, während in jenen das Hand - werk ſich nicht weiter entwickelte? Ich werde darauf zurückkommen.

Zunächſt möchte ich noch eine ſpeziellere Vergleichung ſämmtlicher Zollvereinsſtaaten und preußiſchen Provinzen pro 1861 als weiteres Material für die Unterſuchung an - führen. Die Tabelle iſt Viebahn1Statiſtik des Zollvereins III, 745. entlehnt. Sie beantwortet300Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.in der letzten Spalte die Frage, wie viele Meiſter je auf 1000 Familien kamen, in der vorletzten die Frage, wie viele Meiſter und Gehülfen je auf 1000 Einwohner kamen; die vorhergehenden Spalten geben darüber Auskunft, wie ſtark die einzelnen Hauptabtheilungen der Gewerbe im Verhältniß der Bevölkerung waren.

301Das Handwerk in ſämmtlichen Zollvereinsſtaaten 1861.

Als Ergänzung führe ich noch die Prozentzahlen einiger ſpeziellen Gewerbe nach Viebahn an. Bei einzelnen hat er Meiſter und Gehülfen, bei andern nur die Meiſter in Rechnung gezogen. An Meiſtern und Gehülfen kamen 1861 auf 10000 Einwohner bei folgenden Gewerben:

302Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.

Von den folgenden Gewerben kamen 1861 auf 10000 Einwohner je die folgende Zahl Meiſter:

303Die provinzielle Stärke einzelner Gewerbe.

Daß einzelne Differenzen, welche ſich in dieſen ſpeziellen Zahlen zeigen, nicht bloß und nicht vollſtändig von der wirklichen Verſchiedenheit der Zuſtände, ſondern da und dort auch theilweiſe von einer Verſchiedenheit der Aufnahme herrühren, wird nicht zu leugnen ſein. Aber wir brauchen uns in dieſer Beziehung hier mit keiner Detailkritik abzugeben, da es ſich ja zunächſt mehr um das allgemeine Reſultat, um die allgemeinen Gegen - ſätze, die zu Tage treten, handelt.

Dieſe allgemeinen Gegenſätze nun, welche ſich uns in den ſämmtlichen Tabellen erſichtlich machen, ſind304Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.etwas größer als die, welche wir bei Vergleich der alt - preußiſchen Provinzen und Regierungsbezirke erſahen. In den altpreußiſchen Provinzen ſchwankt der Hand - werkerſtand zwiſchen 3,6 und 7,2 % der Bevölkerung, in den altpreußiſchen Regierungsbezirken zwiſchen 3,6 und 7,8 %, in den von Viebahn verglichenen Gegenden zwiſchen 3,6 und 8,6 %, wobei ich Frankfurt mit 16,6 % als einzelne Stadt außer Acht laſſe. Hohenzollern, Württemberg, Sachſen, Thüringen haben alle über 8 % Handwerker, alſo mehr als irgend eine altpreußiſche Provinz, über 7 % haben Anhalt, Braunſchweig, Groß - herzogthum Heſſen, ihnen ſteht nur die Provinz Sachſen mit 7,2 % gleich; zwiſchen 6 und 7 % haben ähnlich wie Brandenburg, Weſtfalen und die Rheinprovinz Hannover, Kurheſſen, Baiern, Baden, Oldenburg, Waldeck, Luxemburg. Naſſau allein von den weſt - und ſüddeutſchen Bezirken ſteht mit 5,6 % den öſtlichen preußiſchen Provinzen gleich oder nahe; Schleſien hat 5,6, Pommern 4,8, Preußen 3,9, Poſen 3,6 %.

Die einzelnen Hauptgruppen von Handwerken ſind theilweiſe gleichmäßiger, theilweiſe aber auch um ſo un - gleichmäßiger vertheilt. Ziemlich gleich ſtark ſind überall die Metallarbeiter. Aehnlich die Bekleidungsgewerbe und Holzwaarenarbeiter; in den Bekleidungsgewerben z. B. ſtehen die mittleren preußiſchen Provinzen den ſüddeutſchen und rheiniſchen Staaten ſo ziemlich gleich, während ſie in den Geſammtzahlen weſentlich zurückbleiben; ſelbſt Poſen und Preußen ſtehen hier nicht ſo ſehr zurück; ſie haben 1,5 % in den Bekleidungsgewerben, Hohen - zollern nur 2,6, Württemberg 2,8, alſo noch nicht305Die provinzielle Stärke einzelner Gewerbe.doppelt ſo viel; dagegen wird in den Baugewerben die Zahl Poſens von Hohenzollern um mehr als das 4 fache, von Süddeutſchland, Oberſachſen und den rheiniſchen Staaten um das 2 3 fache übertroffen. In Poſen kommen auf 10000 Menſchen 20, in Preußen 30, in Pommern 42 Maurer, in Thüringen dagegen 110, in Württemberg 71, in Baiern 74. Eine ſtarke Ver - ſchiedenheit zeigen auch die Gewerbe für perſönliche Dienſt - leiſtungen und für Stoffbereitung, ſowie die Nahrungs - gewerbe. Im Südweſten Deutſchlands etwa die drei - fache Zahl wie im Nordoſten.

Dieſe Differenzen, wie überhaupt die Differenzen in den meiſten Gewerben, werden noch ſtärker, wenn man nur die Meiſterzahlen anſieht. Da wo die Zuſtände noch ein zahlreiches Handwerk erlauben, gibt es auch noch mehr kleine Geſchäfte, alſo um ſo mehr Meiſter, während in den Ländern mit entgegengeſetzten Zuſtänden die Gehülfenzahl relativ ſtärker ſein wird.

In Heſſen-Darmſtadt gibt es 4 5 mal ſo viel Fleiſchermeiſter als in Preußen im e. S., in Württemberg gibt es 6 mal ſo viel Bäckermeiſter als in Preußen, in Heſſen 6 mal ſo viel Barbiere als in Preußen, in Thü - ringen 7 mal ſo viel Gerbermeiſter als in Poſen, in Württemberg 60 mal ſo viel Steinhauermeiſter als in Poſen, 8 mal ſo viel Glaſermeiſter als in Schleſien.

Einige andere Gewerbe freilich zeigen auch, wenn man nur die Meiſterzahlen vergleicht, keinen größern Unterſchied. Die ſpezifiſch ländlichen Gewerbe der Schmiede, der Sattler, dann die Gewerbe der Tiſchler, auch der Schneider und Schuhmacher ſind ſich in denSchmoller, Geſchichte d. Kleingewerbe. 20306Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.verſchiedenen Gegenden ihrer Meiſterzahl nach ziemlich nahe. In einigen Gewerben ſtehen ſich Württemberg, Baden, Baiern einerſeits, Preußen und Poſen anderer - ſeits ſogar ſehr nahe. In der nordöſtlichen, wie in der ſüdweſtlichen Ecke ſind z. B. noch am meiſten Töpfermeiſter; in dem ganzen Gebiete dazwiſchen ſind ſie von den größern Geſchäften und dem Handel ver - drängt. Dort iſt es die Unentwickeltheit der wirthſchaft - lichen Verhältniſſe überhaupt, hier ſind es die kleinen Städte und großen Dörfer, welche ſie halten.

Dieſe letzte Bemerkung zeigt, wie mannigfaltig und verſchieden die Urſachen ſein können, die eine hohe oder niedrige Prozentzahl von Handwerkern hervorrufen, wie vorſichtig man in allgemeinen Schlüſſen ſein muß.

Um daher, ehe ich die Urſachen, welche die Gegen - ſätze beherrſchen, genauer beſpreche, noch weiteres Licht auf den Gegenſtand zu werfen, will ich noch einige Berech - nungen über das Verhältniß der Handwerker zur Fabrik - bevölkerung in den einzelnen Staaten nach dem Stande von 1861 mittheilen. Die abſoluten Zahlen ſind Frantz1Die geringen Abweichungen ſeiner Zahlen von den offiziellen, ſoweit dieſe überhaupt exiſtiren, ſind für dieſe Berech - nungen gleichgültig. Ich habe abſichtlich hiezu nicht die Viebahn - ſchen Zahlen genommen, weil ſie in Bezug auf die Fabriken viel mehr als in Bezug auf das Handwerk unter den offiziellen Zahlen bleiben. entnommen. Der Inhalt der Handwerker - und der Fabrik - tabelle iſt bekannt. Die Vergleichung gibt wenigſtens ungefähr ein Bild davon, wie in den einzelnen Staaten307Fabrik und Handwerk in den einzelnen Staaten.Fabrik und Handwerk ſich in Wirklichkeit verhalten. Die erſte Tabelle gibt die abſoluten Zahlen und den Prozentantheil von Fabrik und Handwerk an der Geſammtſumme.

In Hannover, wo die rein landwirthſchaftlichen Gegenden vorwiegen, iſt das Handwerk am ſtärkſten, es folgen Baiern, Kurheſſen, Württemberg; dann Preußen und Baden; zuletzt Sachſen, wo allein die Fabriktabelle ſtärker iſt, als die Handwerkertabelle. Dieſe Zahlen ſind aber nur relativ. Hannover hat gegenüber ſeinen Fabriken das ſtärkſte Handwerk; mit der Bevölkerung verglichen, hat es ein ſchwächeres Handwerk als Sachſen, Baden, Württemberg und Baiern. Dieſen Vergleich der Fabrik - und der Handwerkertabellen mit der Bevöl - kerung führt die folgende Tabelle noch aus, wobei ich für die Handwerkerzahlen neben die Frantz’ſchen die20 *308Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.oben ſchon angeführten von Viebahn ſtelle. Sie zeigen, daß der Unterſchied kein allzugroßer iſt.

Das Handwerk iſt hiernach am ſtärkſten in Württem - berg, wo die Fabriken bedeutend, aber nicht am ſtärkſten ſind; dann folgt Sachſen, mit 8 reſp. 8,49 % Hand - werkern neben 10,03 % Fabrikperſonal. Alſo vertragen ſich zahlreiche Handwerker wohl mit zahlreichen Fabriken; freilich nur unter Umſtänden. Nach Sachſen folgt Baiern mit der nächſthöchſten Handwerkerzahl, während ſein Fabrikperſonal mit an letzter Stelle ſteht. Hannover und Altpreußen ſind an Handwerkern faſt gleich, wenig - ſtens ſehr nahe, an Fabrikperſonal hat Preußen nahezu die doppelte Zahl. Die Bemerkungen beweiſen auf’s ſchlagendſte, daß das Handwerk weder in gerader Proportion wächſt mit den Fabriken, wie man oft309Die Urſachen der Handwerkerzahl.behauptet hat, noch daß es umgekehrt in gerader Proportion mit ihnen abnimmt, wie andere oftmals vorgaben. Ich werde darauf im Zuſammenhang mit den andern Urſachen, um die es ſich handelt, zurück - kommen.

Gehen wir nun endlich nach langen, beinahe ermüden - den Zahlenmittheilungen auf die einzelnen Urſachen näher ein, welche ein ſchwächeres oder ſtärkeres Handwerk in den einzelnen Provinzen und Staaten bedingen, welche das Plus oder Minus an Handwerkern beeinfluſſen und beherrſchen, ſo wird man zunächſt beim Allgemeinſten ſtehen bleiben müſſen. Man könnte zuerſt geneigt ſein, an die Verſchiedenheit des Wohlſtands überhaupt zu denken, man könnte geneigt ſein zu glauben, daß reichere Gegenden mehr, ärmere weniger Handwerker im Ver - hältniß zur Bevölkerung beſitzen. Gewiß iſt das auch bis auf einen gewiſſen Grad der Fall; aber entfernt nicht durchaus. Bei größerm Reichthum und hoher Kultur kann die Art und die Richtung der Volkswirth - ſchaft ſo ſein, daß doch die Zahl der Handwerker nicht ſo groß iſt, als in andern minder wohlhabenden Gegen - den. Schleſien und Naſſau haben dieſelbe Prozentzahl Handwerker, und Schleſien iſt viel reicher; Hohenzollern hat 8,9 % Handwerker, die Rheinprovinz 6,2, und doch iſt letztere gewiß viel reicher; Baden hat 6,2 %, Baiern 6,9 %, und letzteres iſt weit hinter dem erſten an allge - meiner wirthſchaftlicher Entwickelung zurück.

Nächſt dem Wohlſtand im Allgemeinen wird es gerechtfertigt ſein, die Dichtigkeit der Bevölkerung ins Auge zu faſſen. Und man wird wieder ſagen können,310Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.daß im Allgemeinen allerdings mit der größern Zahl Menſchen, die auf der Quadratmeile leben, die Prozent - zahl der Handwerker gegenüber der Bevölkerung wächſt, daß aber im Einzelnen ſehr grelle Ausnahmen von dieſer Regel vorkommen, die auf das Mitwirken anderer Ur - ſachen hindeuten. Nehmen wir die Hauptgruppen, ſo hatten:

1Nach Viebahn II, 171 ff. Die Zahlen ſind von 1858; ich wähle ſie, weil ſie nach denſelben Hauptgruppen zuſammen - gefaßt ſind, wie die Handwerkerzahlen.
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311Die Bevölkerungsdichtigkeit und die Großinduſtrie.

Alſo weder der Wohlſtand im Allgemeinen, noch die Dichtigkeit der Bevölkerung beherrſchen allein die Handwerkerziffer.

Aber die Richtung der Produktion, wird man ent - gegnen; in den rein agrariſchen Gegenden können nicht ſo viele Handwerker ſein, wie in den induſtriellen. Wenn Poſen 3,6 %, die Provinz Sachſen 7,2 % Hand - werker hat, ſo iſt daran ſchuld, daß die eine Provinz eine landwirthſchaftliche, die andere eine induſtrielle iſt. Aber wieder laſſen ſich andere Länder reſp. Provinzen neben einander ſtellen, bei denen die Gleichheit oder die Differenz daraus nicht zu erklären iſt. Das induſtrie - reiche Schleſien hat 5,6 %, das rein landwirthſchaftliche Hannover hat 6,2 %; das vorwiegend agrariſche Baiern hat 6,9 % Handwerker, das gewerbſame Baden zählt 6,2 %, die faſt nur aus Bauerngemeinden beſtehende Provinz Kurheſſen hat ebenfalls 6,0 % Gewerbetreibende. Und es iſt natürlich. Auch das platte Land und die kleinen Ackerſtädte können zahlreiche Handwerker haben. Der induſtrielle Charakter eines Landes als ſolcher ſteigert nicht überall das kleine Handwerk.

Ich habe dafür ſchon oben die Belege mitgetheilt, wo ich die Prozentzahlen der Handwerker - und der Fabriktabelle verglich. Es gibt allerdings Gegenden, wo mit der Großinduſtrie nicht ſowohl die Kleingewerbe zunehmen, wo ſie aber von früher her zahlreich, ſpäter leidend und abnehmend, durch den Aufſchwung der Großinduſtrie eher wieder in beſſere Tage kamen. Württemberg, einzelne Theile Sachſens und der Rhein - provinz beweiſen das. Aber ganz falſch iſt es, das all -312Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.gemein zu behaupten, allgemein es auszuſprechen, die Großinduſtrie an ſich fördere und hebe nothwendig das Handwerk. Offizielle und halboffizielle Schönfärberei, von der ſelbſt Viebahn nicht ganz frei iſt,1Statiſtik des Zollvereins III, 744. haben das eben ſo oft zuverſichtlich ausgeſprochen, als der Optimis - mus der radikalen Volkswirthe, die den Beruf fühlen, die Großinduſtrie und die große Spekulation gegen jeden Vorwurf zu vertheidigen, alles ſchön und vollkommen zu finden, was wirklich oder ſcheinbar durch freie Kon - kurrenz entſtanden iſt. Beide Richtungen haben es behauptet, aber nicht bewieſen.

Sobald man näher zuſieht, wie die Konkurrenz von Handwerk und Großinduſtrie iſt, ſo bekommt man eine klare Anſchauung, wo die letztere dem Handwerke ſchadet, wo ſie es fördert. In den wenigen Branchen, in welchen die Fabrik dieſelben Waaren liefert wie der Handwerker, vornehmlich, wo ſie ſelbſt die lokalen Bedürfniſſe befriedigt, da drückt ſie auf das Handwerk, verdrängt es. Der überwiegende Theil aber der größern Unternehmungen liefert nicht Waaren für lokalen Bedarf, ſondern für ganze Länder. Dadurch entſteht auch ein Druck auf das Handwerk, aber es iſt ein Druck, der ſich dann auch über ganze Länder verbreitet, der in dieſer Vergleichung nach Provinzen gar nicht erſichtlich ſein kann. Die Förderung, welche die Großinduſtrie dem Handwerk geben kann, iſt nur indirekt, wenn wir von einigen Reparatur - und Hülfsgewerben abſehen. 313Das Alter der gewerblichen Kultur.Sie ſchafft eine dichtere, unter Umſtänden wohlhabendere Bevölkerung. Ob dieſe aber viele Handwerker beſchäftigt, hängt ab von dem Grade der Wohlhabenheit der Ar - beiter, von der Art des Zuſammenwohnens, von einer Reihe weiterer Umſtände. Beſonders in den Groß - ſtädten beſchäftigt die größte Zahl Fabrikarbeiter nicht ſowohl Handwerker, als zahlreiche Detailhändler und Magazine, große und kleine Speiſehäuſer und Schank - wirthſchaften.

Viel hängt in dieſer Beziehung ab von den hergebrachten Sitten und den häuslichen Gewohn - heiten einer Gegend. An allem Hergebrachten hängt die Mehrzahl viel zäher feſt, als die National - ökonomen meiſt glauben. Das verſchiedene Alter der gewerblichen Kultur, das den ganzen Weſten Deutſchlands von dem Oſten unterſcheidet, kommt da in Betracht. Wo ein zahlreicher kleiner Handwerker - ſtand iſt, da erhält er ſich wenigſtens theilweiſe durch die zähe Feſtigkeit beſtehender Lebensgewohnheiten und Geſchäftsſitten; wo eine gewerbliche Entwickelung erſt mit der Zeit der Dampfmaſchinen und Eiſenbahnen eintritt, da wird, worauf ich ſchon in anderem Zu - ſammenhang aufmerkſam machte, das nun neu Anzu - fangende nicht im alten, ſondern in neuem großen Style begonnen. Die größere Zahl Handwerker am Rhein, im Südweſten Deutſchlands hängt hiermit zu - ſammen. Aber wieder wäre es falſch, wenn man dieſe Wahrheit zu ſehr erweiterte, zu allgemein ausſpräche. Thüringen hatte 1846 noch 3,4 %. Handwerker, 1861 8,6 %; ſeine gewerbliche Entwickelung iſt alſo ſehr jung,314Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.und doch zählt es jetzt mehr Handwerker als Sachſen, Baden, Baiern und Württemberg.

Mit den zuletzt beſprochenen Punkten hängt ein anderer enge zuſammen; ich meine den Einfluß der Zunftverfaſſung. Es iſt ein entſchiedener Unterſchied zwiſchen den Ländern, wo ſie früher beſeitigt wurde und denen, wo ſie länger beſtand. Die Gewerbefreiheit hat mit ihrer größern Konkurrenz das kleine, techniſch weniger vollkommene Handwerk früher beſeitigt. Wo die alten Zunftvorſchriften beibehalten oder auch nur vermittelnde Gewerbegeſetze erlaſſen wurden, da hatte der Groß - betrieb, das Magazinſyſtem, da hatte alles Neue doch mit mancherlei Schwierigkeiten zu kämpfen; da erhielten ſich die beſtehenden Gewohnheiten des Verkehrs und Geſchäftslebens mehr im alten Geleiſe. War man zu engherzig, ſo beſchränkte das wohl wieder die Zahlen der Handwerker, aber abgeſehen hiervon erhielt eine gemäßigte Zunftverfaſſung entſchieden eine größere Zahl kleiner Geſchäfte. Das iſt wohl die Urſache, auf die es neben andern zurückzuführen iſt, daß die entwickeltern altpreußiſchen Provinzen hinter ſonſt ähnlichen Gegenden in der Zahl der Handwerker zurückſtehen; die Provinz Sachſen hat 7,2, das Königreich 8,0, Thüringen 8,6 %; Schleſien hat 5,6 und Hannover 6,2 %, die Rheinprovinz hat 6,2 %, die Rheinſtaaten haben 7,1 % Handwerker. Man ſieht daraus wenigſtens, daß die beſtehenden Hand - werke von einem eng egoiſtiſchen Standpunkte nicht ganz unrecht hatten mit ihrer Abneigung gegen die Gewerbe - freiheit. Von einem höhern Standpunkt aus wird man anders urtheilen; da wird man es nicht an ſich als315Der Einfluß der Gewerbegeſetzgebungein Glück betrachten, wenn die Handwerker etwas zahl - reicher, dafür aber um ſo ungeſchickter und indolenter ſind und viele halbbeſchäftigte Exiſtenzen in ſich bergen. Da wird man, ſelbſt wenn man die mit der Gewerbe - freiheit und den Fortſchritten der Technik ſich ergebende ungleichere Vermögensvertheilung, das theilweiſe Ver - ſchwinden eines Mittelſtandes tief beklagt, die ander - weitigen Fortſchritte immer dagegen halten.

Uebrigens darf man den ganzen Einfluß der Ge - werbegeſetzgebung nicht überſchätzen. Er beſchränkt ſich, ſo wie unſere deutſchen Geſetze alle waren und gehand - habt wurden, darauf, daß große durch andere Urſachen hervorgerufene Bewegungen etwas verlangſamt oder etwas verſtärkt wurden. Auch die Rheinprovinz hat trotz der längſt beſtehenden Gewerbefreiheit noch immer ein nicht unbedeutendes Handwerk; das Königreich Sachſen hat trotz der Zunftgeſetze und Realberechtigungen ſeinen Uebergang zur Großinduſtrie, da wo er angezeigt war, vollzogen.

Alle bisher beſprochenen Urſachen treffen nicht in das Herz der Sache; theilweiſe ſelbſt nicht einfacher Natur, wirken ſie vollends unter ſehr verſchiedenen Ver - hältniſſen ſehr verſchieden. Mehr und weniger wird man freilich ſo von den meiſten Urſachen ſozialer und volkswirthſchaftlicher Dinge urtheilen müſſen, wenn man genauer zuſieht. Aber doch nur mehr oder weniger. Es gibt durchgreifendere Urſachen mit ein - fachern Wirkungen. Und eine ſolche, wie mir ſcheint die wichtigſte in dieſer ganzen Frage, habe ich noch hervorzuheben.

316Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.

Ich erwähnte ſchon, wie wichtig die häuslichen Sitten, die Art der Familienwirthſchaft ſei. Der Stammescharakter und die wirtſchaftliche Geſchichte eines Volkes ſind die allgemeinen Urſachen, von denen dieſe Sitten abhängen. Spezieller aber läßt ſich behaupten, daß die Geſammtheit dieſer Verhältniſſe hauptſächlich wieder bedingt iſt von der Vermögens - und Einkommensvertheilung einerſeits, der Vertheilung der Bevölkerung in großen oder kleinen Städten, großen oder kleinen Dörfern anderſeits.

Die Kleingewerbe ſind da am ſtärkſten, wo der kleine Grundbeſitz und der kleine landwirtſchaftliche Betrieb vorwaltet, wo zahlreiche große Dörfer ſtatt der anſehnlichen Rittergüter mit wenigen Tagelöhnerhütten ſind, wo viele kleinere und mittlere Städte ſtatt weniger ganz großer Städte neben einem wenig bevölkerten platten Lande exiſtiren. Ich glaube Lorenz Stein ſpricht es einmal aus, die Vertheilung des Grundbeſitzes gibt der ganzen Volkswirthſchaft ihre Signatur. Das zeigt ſich gerade hier ſehr deutlich.

Wo der kleine Beſitz vorherrſcht, da ſteht ſich Arm und Reich anders gegenüber, da bilden ſich Anſchauungen und Sitten durch alle Schichten der Geſellſchaft hin - durch, welche die Gegenſätze nicht ſo hervortreten laſſen. Selbſt die höheren Klaſſen der Geſellſchaft, der Adel, die hohen Beamten, die Offiziere ſtehen in ſolchen Ländern mit ihren Gewohnheiten, Anſchauungen und Bedürf - niſſen nicht ſo über der Maſſe des Mittelſtandes. Die maßgebenden Perſonen in der Regierung wie in den politiſchen Parteien ſtehen dem kleinen Mittelſtande317Wohnſitze und Grundbeſitzvertheilung.näher. Der Wohlhabende lebt in Süddeutſchland ein - facher, der Aermere beſſer als in Norddeutſchland. Es wiegt mehr ein mittleres Niveau von Bedürfniſſen und Lebensanſchauungen vor. Und die Art der Bedürfniſſe; die Art der Konſumtion beſtimmt, ob größere oder kleinere Geſchäfte, ob der Handwerkermeiſter oder das Magazin ſie befriedigen. Das Land der kleinen Leute, des vorwiegenden Mittelſtandes gibt auch der kleinen Induſtrie noch mehr Beſchäftigung.

Wo der bäuerliche Mittelſtand fehlt, fehlt der übrige Mittelſtand leicht auch. Da ſind keine kleinen Städte und Verkehrsmittelpunkte, da wird heute nur noch im Großmagazin der Hauptſtadt oder vom Hau - ſirer gekauft. Und das iſt die weſentlichſte Urſache, warum die öſtlichen preußiſchen Provinzen auf die gleiche Bevölkerung nie die gleiche Zahl Handwerker wie in Süd - und Mitteldeutſchland bekommen hätten, auch wenn die Technik, die Arbeitstheilung dieſelbe geblieben wäre, auch wenn der neue Verkehr nicht Alles geändert hätte. Das iſt die weſentlichſte Urſache, warum ſie ſie jetzt noch weniger bekommen werden, warum ſie, wie wir beim Regierungsbezirk Poſen ſahen, ſeit 1846 einen ſolchen Stillſtand ihrer Handwerkerzahl zeigen.

Nur mit ein paar ſtatiſtiſchen Zahlen will ich dieſe Behauptung noch zu illuſtriren ſuchen. Die Durchſchnitts - größe der einzelnen Grundbeſitzung iſt nach Hausner in der Rheinprovinz, Württemberg, Baden, Naſſau, Heſſendarmſtadt 3 5,3 Hektaren; in den Königreichen Sachſen und Baiern, ſowie der Provinz Weſtfalen iſt der durchſchnittliche Beſitz 6,3 7,4 Hektaren, in Preußiſch318Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.Sachſen 9,8, Hannover und Schleſien 11,1, Branden - burg, Poſen, Preußen, Pommern 21 28,5 Hektaren;1Vergleichende Statiſtik von Europa, Lemberg 1865, II, 211. Die Zahlen von Hausner ſtimmen mit Viebahn’s (II, 563) preuß. Zahlen vollſtändig, den Hektar zu 4 preuß. Morgen gerechnet. das iſt, wenn man einige entgegengeſetzt wirkende Ur - ſachen wegdenkt, in der Hauptſache dieſelbe Rang - ordnung, welche ſich nach dem Prozentantheil der Hand - werker an der Bevölkerung ergiebt.

Ueber die Größe der Dörfer in den einzelnen preußiſchen Provinzen fehlen mir neuere Zahlen. Ich muß daher auf einige ältere zurückgreifen, welche theil - weiſe vielleicht nicht mehr ganz richtig, doch immer noch ein ungefähres Bild der Sache geben. Im Jahre 18492Kries, Betrachtungen über Armenpflege und Heimath - recht, Zeitſchrift für die geſammte Staatswiſſenſchaft IX, 22. Die Zahlen ſind theils den Regierungsmotiven der damals vor - gelegten Gemeindeordnung, theils der offiziellen Statiſtik ent - nommen. hatten von 36588 ländlichen Gemeinden in Preußen 8355 weniger als 100, nur 5292 hatten über 500 Seelen. In den Provinzen Preußen, Poſen und Pom - mern kommen 20 30, am Rhein 60 70 Woh - nungen auf ein Dorf. Genauere Zahlen gibt Haxt - hauſen 1839. 3Die ländliche Verfaſſung in Oſt - und Weſtpreußen. Königsberg 1839. S. 66.Nach ihm hatte ein Dorf durch - ſchnittlich in den folgenden Regierungsbezirken Ein - wohner: Königsberg 104, Danzig 108, Marienwerder319Die Größe der Dörfer und Städte.94, Poſen 134, Bromberg 196, Köslin 227, Stettin 293, Stralſund 262, Potsdam 321, Frankfurt 309, Liegnitz 323, Oppeln 330, Magdeburg 351, Merſe - burg 243, Erfurt 442. In Württemberg dagegen hat ein Dorf nach Hausner1I, 102. gegenwärtig 857, in Hannover 209 Einwohner. Es iſt klar, von wel - cher Bedeutung das für das kleine Handwerk iſt; ebenſo wie das Vorkommen vieler kleiner Städte, die nachgewieſenermaßen den größten Handwerkerſtand haben. Es kam, wieder nach Hausner,2I, 190. in Württem - berg ſchon auf eine Meile eine Stadt (incl. der Marktflecken), in Naſſau eine auf 1,25, in Heſſendarm - ſtadt auf 1,3, in Thüringen auf 1,5, in Baden und Sachſen auf 1,7, in Heſſen-Kaſſel auf 1,8, in Baiern auf 2,35, in ganz Preußen auf 3,7, in Hannover auf 3,9 Meilen. Je größer die Zahl der Städte, deſto kleiner ſind ſie. Die Reihenfolge entſpricht wieder un - gefähr dem prozentualen Vorkommen des Handwerks.

Im Anſchluß hieran möchte ich noch auf zwei Punkte aufmerkſam machen, die in gewiſſem Sinne nur eine Wiederholung des eben Geſagten enthalten, da - neben aber doch auch ſelbſtändige Geſichtspunkte zur Erklärung beibringen.

Von der Art des Familienlebens, der Vertheilung des Grundbeſitzes, der Art der menſchlichen Wohnſtätten (freilich auch von manchem Andern), iſt das bedingt,320Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.was man im Allgemeinen den Volkscharakter nennt. Jeder deutſche Stamm hat ſeine Eigenthümlichkeit; der höfliche emſige Sachſe, der beſcheidene gutmüthige Thü - ringer, der leichtlebige Rheinländer, der derbe Baier, jeder hat ſeinen eigenen Charakter, hat Züge, die das ganze wirthſchaftliche Leben der Provinz, der Gegend influiren, die beſonders von Einfluß ſind auf die Art, wie man die nächſtliegenden täglichen Bedürfniſſe befrie - digt. Viel größere Unterſchiede aber als die eben erwähn - ten bietet ganz Weſt - und Mittel-Deutſchland mit ſeiner rein deutſchen Bevölkerung einerſeits und der Oſten mit ſeinen ſlaviſchen, emigrirt-franzöſiſchen, auch ſtär - keren jüdiſchen Beimiſchungen andererſeits. Schon im Mittelalter war der Handwerker in den ehemals ſlaviſchen Ländern ein Deutſcher. Zu einem geſunden ſtädtiſchen Mittelſtande haben es die mehr ſlaviſchen, die polniſchen Gegenden nie recht bringen können. Ob es mehr der Verlauf der polniſchen Geſchichte mit ſich gebracht haben mag oder der urſprüngliche Stammescharakter, die großen Dörfer und die Städte ſind germaniſcher Ab - kunft. In den kleinen Städten der Provinz Poſen da bilden den wichtigſten Theil des Mittelſtandes die Juden. Der Iſraelit beginnt mit dem Schnapsladen, er geht dann zu einem Materialladen, zum Handel mit Landes - produkten und mit allem Möglichen über, und wenn er reich geworden iſt, zieht er nach Poſen oder gar nach Berlin. Der dortige Mittelſtand überhaupt neigt mehr zum Handel, als zum Handwerk. Es iſt charakteriſtiſch, daß der deutſche Tagelöhner auf den großen Gütern der Mark und Pommerns im Winter am Webſtuhl321Der Volkscharakter und die Verwaltung.ſitzt, alle mögliche Handwerksarbeit lernt und verrichtet, während dazu der ſlaviſche Tagelöhner in Poſen nicht zu brauchen iſt. Aus einem ſolchen Arbeiterſtand gehen keine Handwerker in Dorf und Stadt hervor.

Der andere Punkt, den ich noch hervorheben möchte, iſt folgender. In den Ländern des Kleinbeſitzes, der gleichen Vermögensvertheilung, die freilich zugleich Klein - ſtaaten ſind, hat ſich in Zuſammenhang mit den dor - tigen ſozialen Sitten und Anſchauungen nicht die Geſetz - gebung, aber die Verwaltung dem Handwerke gegenüber anders geſtellt als in Preußen.

Man wird nicht behaupten können, daß man in Preußen an ſich weniger thue oder gethan habe für In - duſtrie und Verkehr; im Gegentheile; aber das wird man ſagen dürfen, daß das, was geſchieht, an eine andere Adreſſe geht. In den größern Verhältniſſen macht ſich das Bedürfniß der kleinen Leute weniger geltend. Große Fabrikanten und Unternehmer, große Ingenieure und Spekulanten mit ihren ſpezifiſchen In - tereſſen ſtehen in Berlin mehr im Vordergrund als in den Regierungsſitzen der Kleinſtaaten, führen mehr das Wort in den öffentlichen Verſammlungen, in den Ge - werbekammern, im Parlament, in der Preſſe. Großes hat Preußen im gewerblichen Bildungsweſen geleiſtet; das Gewerbeinſtitut und die Bauakademie ſind Zeuge dafür; Staatstechniker, die in Privatdienſte übertraten, haben die großen Privatbergwerke und - Hüttenwerke weſent - lich gehoben; die Seehandlung, die Bank haben tauſend - fach da und dort eingegriffen, geholfen, Kredit gegeben; Staatsgarantien haben dem Eiſenbahnbau Schwung ver -Schmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 21322Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.liehen. Alle dieſe Beſtrebungen kommen indirekt dem Ganzen, direkt und zunächſt aber der großen Induſtrie, dem großen Kapital zu Gute.

Was für die kleine Induſtrie geſchehen iſt, iſt unbe - deutend;1Schwabe, die Förderung der Kunſtinduſtrie in England, Berlin 1866, gibt einen Ueberblick über die deutſchen Beſtrebungen nach dieſer Richtung und ſpricht ſich ganz in gleichem Sinne aus S. 188 191. die wenigen Provinzialgewerbeſchulen erſtrecken ihre Wirkung nur auf die Elite des höhern Hand - werkerſtandes; der Zeichenunterricht, das niedere gewerb - liche Schulweſen liegt bis in die neuere Zeit mit weni - gen Ausnahmen ganz darnieder, iſt nur an denjenigen Orten entwickelt, wo Privat -, Handwerkerbildungs - und Gewerbevereine die Sache in die Hand nahmen.

Man blicke dem gegenüber auf das gewerbliche Bildungsweſen Süddeutſchlands, auf das, was man dort für die Kleingewerbe überhaupt thut. Ich will von der Thätigkeit Badens und Baierns nach dieſer Richtung nicht weiter ſprechen. Von Baiern wäre haupt - ſächlich der wohlthätige Einfluß der ausgezeichneten Nürnberger Kunſtgewerbeſchule zu erwähnen. Nur an die mir am meiſten bekannte Thätigkeit der württem - bergiſchen Zentralſtelle für Handel und Gewerbe2Siehe: Steinbeis, die Elemente der Gewerbebeför - derung, nachgewieſen an der belgiſchen Induſtrie. 1851. Mirus, über Gewerbebeförderung und Gewerbsthätigkeit im Königreich Württemberg. Leipzig 1861. Württembergiſche Han - delskammerberichte für 1864, Anhang. Dorn, Pflege und För - derung des gewerblichen Forſchritts durch die Regierung in Württemberg. Wien 1868. will323Die Förderung der Kleingewerbe in Württemberg.ich erinnern. Sie hat unter ihrem tüchtigen Direktor Steinbeis ſich vorzugsweiſe bemüht, in die Kreiſe des eigentlichen Handwerks Anregung und Förderung zu bringen. Sie hat neue lohnendere Induſtriezweige ein - geführt, die beſtehenden Hausinduſtrien auf die kunſt - volleren Branchen, die dem Handwerk bleiben, überge - leitet, ſie hat tüchtige Gewerbetreibende im Auslande lernen laſſen, fremde Gewerbetreibende zur Einführung und Hebung einzelner Gewerbe ins Land gezogen. Sie hat einen dauerden Fonds zu Reiſeunterſtützungen für kleine Gewerbetreibende. Sie hat in jeder Weiſe den Abſatz nach Außen zu fördern geſucht; ſie hat in dem ſtutt - garter Muſterlager dem kleinen Manne, der nicht reiſen kann, Gelegenheit geſchafft, alles Neue, Muſter, Ma - ſchinen und Werkzeuge zu ſehen; ſie überläßt zeitweiſe neue Maſchinen den Einzelnen zur Probe. Zwei Webſchulen und verſchiedene Lehrwerkſtätten für Weber hat ſie in’s Leben gerufen, ſie zahlt Prämien für Anſchaffung neuer muſterhafter Webſtühle. In hunderte von Werkſtätten kamen ſo im Laufe weniger Jahre verbeſſerte Werkzeuge und Methoden. Auch literariſch ſucht ſie zu wirken durch das billige tüchtig redigirte Gewerbeblatt, durch Verbreitung leicht verſtändlicher techniſcher Schriften.

Das wichtigſte aber iſt das geſammte gewerbliche Fortbildungsweſen, das die Lehrlinge und Geſellen all - abendlich und des Sonntags wieder zur Schule ver - ſammelt. Die Anregung ging auch von der Zentral - ſtelle aus, die Gemeinden wirkten mit, indem ſie einen Theil der Koſten übernahmen. Beſonders der ertheilte Zeichen - und Modellirunterricht, der in den21 *324Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.größern Schulen, wie in Stuttgart, getrennt für einzelne Gewerbe, wie für Bauhandwerker, Schreiner, Schloſſer, Sattler ertheilt wird, hat ſchon unendlichen Segen geſtiftet. Mag der Unterricht einzelner norddeutſcher Muſteranſtalten, wie der des Berliner Handwerkervereins, dieſen Schulen kühn an die Seite treten, mögen da, wo ſolche freiwillige Schulen ſich dauernd erhalten haben, die - ſelben noch größern Segen ſtiften, wie jede rein auf Selbſthülfe baſirte Einrichtung einen größern Werth hat, für alle kleinern Verhältniſſe reichen die freiwilligen Lehrer, reichen zufällige Privatmittel und Anregungen nicht aus. 1Es ſoll damit das geſammte norddeutſche Hand - werker - und Arbeiterbildungsvereinsweſen kein Vorwurf treffen. Es hat daſſelbe ſeine volle Berechtigung; es hat viel geleiſtet, aber es reicht für den gewerblichen und künſtleriſchen Unterricht nicht aus. Vergleiche über dieſe Vereine den Arbeiterfreund 1866: Die Handwerker -, Arbeiter - und ähnlichen Vereine in Preußen, bearbeitet von Hermann Brämer, S. 48 ff., S. 222 ff. und S. 293 ff. ; daneben in demſ. Jahrg. S. 338: Kletke, über die wiſſenſchaftliche Erziehung unſerer Handwerker. Ferner über dieſen Punkt: Dr. Schwabe, Staatshülfe und Selbſthülfe auf dem Gebiete der Kunſtinduſtrie. Berlin 1868.Der Unterricht bloßer Privatvereine iſt zu oft ſchlecht, ungenügend, geht zu häufig wieder ganz ein. Eine ſyſtematiſche Ordnung durch den Staat, ein ſyſtematiſches Heranziehen der Gemeinden iſt nothwendig, um Beſtand und Erfolg in dieſes gewerbliche Fortbil - dungsweſen zu bringen, um es allgemeiner zu verbreiten.

Der große Vorzug der württembergiſchen Schulen iſt eben ihre große Verbreitung. Von den 101 im Jahre 1864 ſchon beſtehenden gewerblichen Fortbildungsſchulen325Das gewerbliche Bildungsweſen.ſind 86 in Orten von weniger als 6000 Einwohnern; die Schulfrequenz iſt eine außerordentliche.

Es bezeichnet den Gegenſatz zum Norden, daß man jetzt endlich in Preußen anfängt, von Seiten des Kultus - miniſteriums die großen Städte von gegen 50000 Ein - wohnern aufzufordern, ähnliche Zeichenſchulen zu errichten, daß der Staat ſich bereit erklärt, für dieſen Fall einen Beitrag zu geben, daß das neu gegründete Berliner Gewerbemuſeum daran denkt, nach Art des engliſchen Kensington Muſeums ſeine Wirkſamkeit auch außer - halb Berlins auszudehnen.

Es iſt dieſer Unterricht mit der wichtigſte Faktor, das kleine Handwerk zu erhalten, es produktionsfähig für den weiteren Abſatz zu machen, ihm Bildung, Kennt - niſſe, Unternehmungsgeiſt zu geben. Denn die kleinen Geſchäfte erhalten ſich für direkten Abſatz oder als Haus - induſtrie organiſirt in allen den Branchen, in welchen die perſönliche Arbeitskraft und Geſchicklichkeit, der künſt - leriſche Geſchmack im Vordergrund ſteht, ohne daß doch eine Maſſenproduktion möglich wäre, welche ſich des vom großen Fabrikanten beſoldeten Künſtlers bedienen könnte. Das Tiſchler -, das Drechsler -, das Klempner -, das Stein - hauer -, Maurer - und Zimmergewerbe und noch viele Andere haben als Kleingewerbe einen ganz andern Boden, wo ein tüchtiger gewerblicher Unterricht exiſtirt.

Das gewerbliche Bildungsweſen iſt vielleicht noch wichtiger als das ganze Aſſoziationsweſen; blühende Ge - noſſenſchaften nützen doch zunächſt nur Einzelnen; das gewerbliche Bildungsweſen wendet ſich an Alle.

[326]

3. Das Verhältniß der Gehülfen zu den Meiſtern im Allgemeinen.

Die Stellung des Lehrlings und des Geſellen in alter Zeit; Mißſtände ſchon damals. Die Gehülfenzahl im vorigen Jahr - hundert. Die Zahl der preußiſchen Gehülfen von 1816 43. Die Aufnahmen von 1846 61, das Gleichgewicht der Meiſter - und Gehülfenzahl 1861. Der Fortſchritt, der in der ſteigenden Gehülfenzahl liegt; daneben die immer geringere Ausſicht für alle, ſelbſt Meiſter zu werden. Die Urſachen, warum die Zunahme der Gehülfenzahl leicht die Bevölkerungs - zunahme überſteigt, nicht im Verhältniß mit dem wirklichen dauernden Bedürfniß der Volkswirthſchaft ſteht. Die Auf - löſung der alten Handwerkszuſtände. Der Uebergang älterer Geſellen zu anderen Berufen und die Auswanderung. Die Nothwendigkeit eines verheiratheten Geſellenſtandes. Die Miß - ſtände und Schwierigkeiten, welche aus dem Uebergang hiezu entſtehen. Die Vernichtung der alten Rangordnung im Hand - werk; die Nothwendigkeit der verſchiedenſten Arbeitskräfte nebeneinander. Die Stellung des Lehrlings in Folge der wegfallenden Prüfung und der ganz anderen Einrichtung der heutigen Geſchäfte.

In dem Verhältniß des Meiſters und der Meiſters - familie zu dem Geſellen und Lehrlinge liegt eigentlich der halb poetiſche halb patriarchaliſche Duft, der heute noch auf dem Handwerk der alten Zeit, wie eine327Der Lehrling und Geſelle in alter Zeit.ſchöne Erinnerung, liegt. Und es iſt wahr. In dem Verbande der verſchiedenen wirthſchaftlichen Kräfte nicht bloß zu Einer Arbeit, ſondern auch zu Einem Familien - leben lag eine große ſittigende Kraft. Der Lehrling wurde nicht bloß techniſch unterrichtet, er wurde durch Anweiſung und Vorbild zu Fleiß und Ehrbarkeit vom Meiſter erzogen, zu Sparſamkeit, Ordnung und Rein - lichkeit vom ſorgenden Auge der Meiſterin angehalten. Der Geſelle, der in der Werkſtatt des Meiſters arbeitete, an ſeinem Tiſche und unter ſeinem Dache ſchlief, war in einen für ſeine Jahre engen Kreis gebannt, er opferte ſeine beſten Jahre der Hoffnung, ſpäter ſelbſt Meiſter zu werden; aber in dieſem engen Kreiſe um - ſchloß ihn zugleich eine heilſame bürgerliche Zucht und Sittenſtrenge; eine Reihe ſinniger Gebräuche und Zere - monien gliederten ſeinen Lebensgang, der in feſte Sta - tionen gebannt war, aber auch ein ſicheres Ziel vor ſich hatte, eine ſchöne einheitliche Ordnung darſtellte. Die ſoziale Gleichheit von Arbeitgeber und Arbeiter, die Verbindung von Arbeit und Erziehung, von techniſcher und menſchlicher Erziehung, das waren die großen Vor - züge jener ältern Gewerbeverfaſſung.

Freilich hafteten ihr auch zu ihrer Blüthezeit, auch ſo lange noch nicht die ſinnigen Bräuche in ein dem graſſeſten Egoismus dienendes ſchwerfälliges Zeremoniell ausgeartet waren, nicht unbedeutende Mißſtände an. Das Ideal war niemals ein dauernd haltbares. Wo die Bevölkerung wächſt, wo das Handwerk blüht, da wächſt die Lehrlings - und Geſellenzahl, der überſchüſſige Nachwuchs der Bevölkerung drängt ſich beſonders gerne328Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.in dieſe Bahnen; das blühende Handwerk ſelbſt braucht eine größere Gehülfenzahl. Aber für dieſe ſteigende Gehülfen - zahl wird die Zahl der Meiſterſtellen bald zu klein. Die alte Ordnung läßt ſich nicht oder nur gewaltſam aufrecht erhalten. Die zunehmende Bevölkerung zer - ſprengt hier, wie in andern Verhältniſſen, immer wie - der die beſtehenden volkswirthſchaftlichen Formen.

Die deutſche Zunftverfaſſung half ſich in ihrer ſpätern Zeit damit, ſowohl die Lehrlings - als die Ge - ſellenzahl zu beſchränken1Schönberg, zur wirthſchaftlichen Bedeutung des deut - ſchen Zunftweſens im Mittelalter. Hildebrand’s Jahrbücher IX, S. 105. und das Meiſterwerden immer mehr zu erſchweren. Das hatte wieder die Kehrſeite, daß in dieſer ſpätern Epoche der Geſellenſtand als ſolcher ſich zuſammenſchloß gegen die Meiſter, in ſyſtematiſche Oppoſition und Feindſchaft zu dem Meiſterſtande kam. 2S. Wackernagel, Werkſtattfehden in alter Zeit, in der Vierteljahrsſchrift für Volkswirthſchaft XX, S. 81 92.

In Frankreich drängte die frühere induſtrielle Ent - wickelung auch früher zu einem Verlaſſen der alten Formen. Auf dem Höhepunkt der mittelalterlichen Entwickelung im 13. Jahrhundert lebte in den größern Städten wohl der Lehrling aber nicht der Geſelle im Hauſe des Meiſters; die Zahl der zu haltenden Lehrlinge war beſchränkt, die Zahl der Geſellen unbe - ſchränkt; vielfach waren die Geſellen verheirathet und ließen ihre Frauen mit arbeiten. 3Siehe die Beweiſe Levasseur, histoire des classes ouvrières en France. Paris 1859. I, 235, 236, 238. Später, im 14 ten329Die alten Mißſtände der Zunftverfaſſung.und 15 ten Jahrhundert waren die Geſellen damit nicht mehr zufrieden. Das erſchwerte Meiſterwerden führte noch viel mehr als in Deutſchland zu einer ſelbſtändigen gegen die Meiſter gerichten Organiſation, zu heftigen Kämpfen und Mißbräuchen aller Art. 1Levasseur I, 496 516.

Von der Zeit der ſtehenden Heere an beruhte die Erhaltung der Zunftverfaſſung mit darauf, daß der große Ueberſchuß alternder Geſellen, die nicht Meiſter werden konnten, ſich anwerben ließ. Die ſtehenden Soldheere des 17 ten und 18 ten Jahrhunderts beſtanden hauptſäch - lich aus früheren Handwerksgeſellen. 2J. G. Hoffmann, Nachlaß kleiner Schriften S. 402.Erſt mit der Konſkription und noch mehr mit der allgemeinen Wehr - pflicht hörte das auf.

In wie weit freilich das vorige Jahrhundert dieſes Abfluſſes noch bedurfte, um die Zunftverfaſſung in alter Weiſe zu erhalten, darüber ließe ſich ſtreiten. In der Hauptſache lagen jetzt die Dinge wieder total anders, als zur Blüthezeit der mittelalterlichen Gewerbe. Das Handwerk befand ſich mit wenigen Ausnahmen ja auf ſo tiefem Standpunkt, daß es zahlreiche Lehrlinge und Geſellen gar nicht beſchäftigte. Die ſtatiſtiſchen Zahlen ſind in dieſer Beziehung geradezu erſchreckend. Sie zeigen, wie wenig die Meiſter zu thun hatten, wie viel - fach ſie ſelbſt nebenher auf Tagelohn gehen mußten, um nur das ganze Jahr beſchäftigt zu ſein. Die Zahl der Meiſterſtellen war ſeit langeher trotz der Zunftver -330Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.faſſung zu groß, die der Lehrlinge und Geſellen war zu klein für einen halbwegs blühenden Geſchäftszuſtand.

Nach den im erſten Abſchnitt angeführten Hand - werkerzahlen kamen 1783 in der Niedergrafſchaft Katzen - ellnbogen auf 100 Meiſter durchſchnittlich 5,23 Gehülfen; 1784 auf 100 Meiſter im Herzogthum Magdeburg 15,84 Gehülfen, ungefähr zur ſelben Zeit im Fürſten - thum Würzburg 15,81 Gehülfen; d. h. von 100 Meiſtern hatten 95 reſp. 85 gar keine Gehülfen, weder Geſellen noch Lehrlinge. Da ergab es ſich aus den Verhältniſſen von ſelbſt, daß der Geſelle nicht verheirathet war. Und wenn die Handwerksgewohnheit es erſchwerte, ſo war ſie nicht im Widerſpruch mit den thatſächlichen Be - dürfniſſen. 1Siehe Maſcher, S. 404. Abſ. 42. Das Reichsgeſetz v. 16. Ang. 1731, das die weſentlichſten Mißbräuche abſchaffen will, ſpricht ſich übrigens Art. XIII. Abſ. 6 auch dagegen aus, daß man an einzelnen Orten verheirathete Geſellen nicht mehr zum Meiſterwerden zulaſſen wolle.

In Preußen mag die Zahl der Gehülfen ſchon 1795 1803, der Zeit der Krug’ſchen Aufnahmen, ziemlich höher geweſen ſein. Für einzelne Provinzen führt Krug2II, S. 205. ſogar eine ſehr hohe Zahl von Geſellen und Lehrlingen an, z. B. für Schleſien 60860, während 1861 erſt 102679 Geſellen und Lehrlinge gezählt werden. Die Krug’ſche Zahl faßt ohne Zweifel alle Spinner - und Webergehülfen mit in ſich, von welchen 1861 nur die erſtern in der Handwerkertabelle ſtehen. Ein all - gemeiner Schluß läßt ſich jedenfalls aus den unvollſtän -331Die Zahl der Gehülfen in Preußen 1783 1843.digen Angaben von Krug nicht ziehen. Wohl aber geſtattet Einzelnes eine Vergleichung. Er führt z. B. für das Herzogthum Magdeburg 1802 3135 Geſellen an; 1784 waren es nach den vorhin erwähnten Angaben 2297 Geſellen geweſen; alſo immerhin eine Zunahme, aber keine große für die Zahl von etwa 27000 Meiſtern.

Feſtern Boden für die Unterſuchung bekommen wir von 1816 ab durch die Zahlen der preußiſchen Gewerbe - ſtatiſtik. Ich lege dabei die von mir im erſten Abſchnitte berechneten Hauptzahlen zu Grunde, wobei freilich nicht zu vergeſſen iſt, daß zunächſt nur die Aufnahmen von 1816 43 unter ſich vergleichbar ſind, und daß in dieſem Zeitraum die Gehülfenzahl gleichmäßig etwas zu niedrig erſcheint, weil bei einigen Gewerben die Gehül - fen nicht mit aufgenommen wurden. Die Berechnung ſtellt ſich nun dahin, daß auf 100 Meiſter im Durch - ſchnitt der geſammten gezählten Handwerke in Preußen kamen:

Wir haben es, wie ich darauf ſchon bei Beſprechung der Grundzahlen aufmerkſam machte, mit zwei ziemlich verſchiedenen Perioden zu thun; 1816 31 eine Zeit der332Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.Stabilität; theilweiſe gedrückte, theilweiſe erſt langſam ſich beſſernde Zuſtände; ſpäter eine Zeit des Fortſchritts, der Blüthe. In der erſten Periode beträgt die Gehülfen - zahl mit nicht allzugroßen Schwankungen etwas über die Hälfte der Meiſterzahl. Es iſt das Verhältniß, wobei jeder Gehülfe noch ſichere Ausſicht hat, bald ſelbſt Meiſter zu werden, eine Ausſicht, die durch die Gewerbefreiheit noch erhöht wurde. Jedem war ja jetzt geſtattet, ſelbſt ein Geſchäft anzufangen. Und die tech - niſchen Anforderungen waren noch ſo gering, daß die kleinen Geſchäfte wohl noch beſtehen konnten.

Der Wechſel der Gehülfenzahl unter ſich in den Jahren 1816 31 iſt darnach auch ſehr begreiflich. Mehren ſich die Beſtellungen, die Geſchäfte etwas, ſo nehmen die Meiſter zunächſt etwas mehr Lehrlinge an, die bald zu Geſellen werden. Dauert das nur einige Zeit, das Meiſterwerden iſt aber nach den Erforder - niſſen, die an den Kapitalbeſitz, an die techniſche Fertig - keit der Betreffenden vom Publikum geſtellt werden, noch leicht, ſo wird der Wunſch aller ältern Geſellen, ſelbſtändig zu werden, ſich geltend machen. Dadurch muß bei der nächſten Aufnahme die Meiſterzahl wieder etwas höher, die Gehülfenzahl wieder etwas niedriger ſich ſtellen, wenn nicht unterdeſſen die Geſammtnachfrage ſo geſtiegen iſt, daß die vom Geſellen zum Meiſter Uebergehenden ſchon wieder mehr als erſetzt ſind durch Neueintretende. So, glaube ich, haben wir den zwei - maligen Anlauf zu einer etwas ſtärkeren Gehülfenzahl 1816 und 1825 zu erklären, der beidesmal wieder einem Rückgang Platz macht.

333Der Wechſel in der Gehülfenzahl 1816 43.

Von 1834 an tritt dieſer Rückgang zunächſt nicht mehr ein. Die Meiſter ſteigen langſam und gleich - mäßig, viel ſtärker aber die Gehülfen. Sie, die 1828 noch 56 % der Meiſter ausgemacht, machen 1843 ſchon 76 % aus. In den guten Jahren 1833 40 hatten die Meiſter den ſteigenden Bedürfniſſen dadurch genügt, daß ſie eine größere Zahl Lehrlinge angenommen und dieſelben ſpäter als Geſellen beſchäftigt hatten. Das ergab blühende Zuſtände, gute Geſchäfte für die Meiſter, ſo lange die neu dem Gewerbe Zutretenden jung waren, noch nicht ſelbſt Meiſter werden wollten.

Als aber gegen 1840 43 die zahlreich ſeit 1828 Eingetretenen älter wurden, das dreißigſte Lebensjahr meiſt hinter ſich hatten, da begann die kritiſche Zeit; entweder mußte der Stand der Meiſter die großen Ueberſchüſſe aufnehmen, oder man mußte zu einem Syſtem verhei - ratheter Geſellen übergehen, oder es mußten Handwerks - geſellen in größerer Zahl in Fabriken eintreten, zu an - dern Berufsarten übergehen.

Die Mehrzahl der Geſellen war in den Städten, hatte bisher da gearbeitet; ſie verſuchten eigene Geſchäfte anzufangen; es wurde immer ſchwieriger, es war bei der Umbildung der Technik immer mehr Kapital dazu nöthig. Viele Bankerotte ſolcher Anfänger und Klagen, daß das Handwerk überſetzt ſei, mußten nun nebeneinander vor - kommen. Theilweiſe allerdings trat nun die Ueberſiedlung älterer Geſellen auf das Land, nach kleinern Städten ein. Aber immer fällt dem Geſellen, der in der Stadt gelebt, die Rückkehr in das ſtille Dorf der Heimath ſchwer. Jeder fängt nur da gerne ein ſelbſtändiges334Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.Geſchäft an, wo er als Geſelle bekannt geworden iſt, wo er ſich eingelebt hat.

Was nun die Zeit von 1846 an betrifft, ſo ſind die Aufnahmen von 1846 ab etwas andere. Eine Berechnung von Dieterici, die ſich auf den Vergleich einer Anzahl Gewerbe nach dem Stande von 1822 und 1846 bezieht, ergiebt zwar, daß die Ausdehnung der Aufnahmen von 1846 auf einige weitere Kategorien von Gewerben das Verhältniß der Meiſter zu den Ge - hülfen nicht allzuſehr berührt. Aber das macht jeden - falls einen Unterſchied, der die ganz direkte Vergleichung ausſchließt, daß von da ab für alle Gewerbe die Ge - ſellen und Lehrlinge aufgenommen ſind. Wenn ſonach 1843 auf 100 Meiſter 76 Gehülfen kamen, 1846 aber 84, ſo iſt dieſe Zunahme in Wirklichkeit nicht ganz ſo ſtark geweſen.

Das Umgekehrte gilt für den Vergleich von 1846 und 1849. In letzterm Jahre ſind eine Reihe von Ge - werben hinzugekommen, die überwiegend mehr Meiſter als Gehülfen haben; dadurch erſcheint das Verhältniß der Gehülfen zu den Meiſtern als ein zu gedrücktes.

Nach der Totalaufnahme kamen 1849 auf 100 Meiſter 76,06 Gehülfen; darnach hätten die Gehülfen von 1846 49 (auf je 100 Meiſter) von 84 auf 76 abgenommen. Nach einer nur die gleichen Kategorien umfaſſenden Vergleichung Dieterici’s2Mittheilungen V, 216. dagegen ſtellt ſich das Verhältniß ſo; es kommen1)Mittheilungen II, S. 8 9.335Die Kriſis 1843 55, die Zunahme der Gehülfen bis 1861.

auf 100 Meiſter. Vier Gehülfen weniger auf 100 Meiſter deutet ſchon eine weſentliche Kriſis an. Er - wägt man dabei, daß die ſchlimmſte Geſchäftsſtockung im Dezember 1849 bei den Aufnahmen ſchon vorüber war, daß der Rückgang wohl ausſchließlich durch ent - laſſene Geſellen, nicht durch eine Minderzahl an Lehr - lingen hervorgerufen war, daß einzelne Gewerbe, wie z. B. die Nahrungsgewerbe 1849 ſogar mehr Geſellen hatten, daß der Rückgang hauptſächlich die Kunſt -, Bau -, Holz - und Metallgewerbe traf, dann erſcheint die oben näher beſprochene Kriſis klar genug in dieſen Zahlen.

Wenn der Durchſchnitt der Totalaufnahme von 1849 mit dem von 1846 nicht vergleichbar iſt, ſo iſt er es doch mit den folgenden. Ich theile daher zunächſt das Verhältniß der Gehülfen zu den Meiſtern von 1849 an, nach den früher mitgetheilten Grundzahlen berechnet, mit. Es kamen auf 100 Meiſter in ganz Preußen nach dem Durchſchnitt der ganzen Handwerkertabelle:

Die Aenderung von 1849 52 zeigt nur, daß die früher ſchon vorhandene Zahl Gehülfen wieder Be - ſchäftigung findet. Abgeſehen davon bleiben die Dinge ziemlich ſtabil; auch von 1852 55 zeigt ſich keine große Zunahme der Gehülfenzahl. Die ganze Zeit von336Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.1850 55 iſt eine für das Handwerk ſtabile, gedrückte, und der Druck geht hauptſächlich hervor aus dem Ver - hältniß der Zahl der Gehülfen zu dem der Meiſter. Die Lage wird keine beſſere, weil man in der Hauptſache noch zu keiner andern Organiſation der Geſchäfte über - geht, weil die techniſchen Fortſchritte nicht Platz greifen; die Zahl der Gehülfen nimmt nicht mehr bedeutend zu, weil viele auswandern und in Fabriken eintreten, weil die allgemeine Noth unter den Meiſtern doch manche jungen Leute von dem Erlernen eines Handwerks abſchreckt.

Erſt mit der Mitte der fünfziger Jahre wird das anders. Die techniſche Bildung und der Verkehr ſteigen; alle Verhältniſſe werden andere. Auch im Handwerk vollzieht ſich mehr und mehr die oben eingehender beſprochene Revolution. Neue Kräfte ſtrömen zu, Lehr - linge ſind wieder geſucht. Das Verhältniß der Ge - hülfen zu den Meiſtern, das lange 80: 100 geweſen war, geht auf 104: 100 im Jahre 1861 empor. Auch wenn man die Maurer - und Zimmerflickarbeiter nicht zu den Gehülfen, ſondern zu den Meiſtern rechnete, iſt das Verhältniß 98,49: 100.

Unwiderleglich liegt in der großen Veränderung ſeit 1830 der Beweis, daß auch das Handwerk, wenig - ſtens ein Theil deſſelben, mehr und mehr zu etwas größern Betrieben übergeht.

Ich will nun zunächſt abſichtlich davon abſehen, daß der Landmeiſter wie der Meiſter in kleinern Städten vielfach auch heute noch ohne Geſellen und Lehrlinge arbeitet, daß die Gehülfenzahl in einigen Gewerben viel größer iſt als in andern, ich will auch das außer Acht337Das Gleichgewicht der Meiſter - und Gehülfenzahl.laſſen, daß ſelbſt in großen Städten häufig nur wenige Meiſter eine größere Zahl, die andern gar keine Gehülfen haben, ich will zunächſt nur die allgemeine Frage noch etwas eingehender erörtern, welche Folgen ſich aus der Thatſache ergeben, daß die Gehülfenzahl die Meiſter - zahl im Durchſchnitt erreicht hat.

Oft hat man darauf aufmerkſam gemacht, daß in dieſer Veränderung ein Fortſchritt liege; man hat die ſteigende Gehülfenzahl an ſich als einen Beweis geſunder Handwerkszuſtände angeſehen. 1Zeitſchrift d. ſächſ. ſtat. Bureaus 1860. S. 110.Man hat es als das ſoziale und wirthſchaftliche Ideal hingeſtellt, daß jedes Gewerk ungefähr eben ſo viele Lehrlinge und dreimal ſo viele Geſellen als Meiſter habe. Ich ſelbſt habe mich früher faſt unbedingt dahin ausgeſprochen, wenn ich ſagte:2Württ. Jahrb. 1862. Heft 2. S. 247. Sowohl in ſozialer als in techniſch ökonomiſcher Beziehung liegt in der ſteigenden Gehülfenzahl ein unbe - rechenbarer Fortſchritt. Die Veränderung, die wir vor uns haben, iſt nicht eine Verminderung der ökonomiſch geſunden ſelbſtändigen Handwerksmeiſter, ſondern ein Wachsthum dieſer neben dem Verſchwinden der abſolut unſelbſtändigen proletarierartigen kleinen Meiſter, welche ohne Geſellen und Lehrlinge nur ein kümmerliches Da - ſein friſten, und an deren Stelle mehr und mehr ſolche Arbeiter treten, welche es vorziehen, ſtatt mit geringen Mitteln ein eigenes Geſchäft zu eröffnen, bei Meiſtern, welche ſie ununterbrochen beſchäftigen, als Geſellen zu arbeiten. Nicht ein Verſchwinden des bürgerlichenSchmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 22338Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.Mittelſtandes, wie man ſchon gemeint hat, erkennen wir in dieſen Reſultaten, ſondern gerade die Bildung einer geſunden ökonomiſchen Mittelklaſſe.

Sicher iſt daran viel Richtiges. Es iſt beſonders in den größern Städten eine neue Art bürgerlichen Mittelſtandes in den letzten Jahrzehnten groß geworden, die über dem früheren Meiſter ſtehend dem größern Unternehmer ſich nähern, mehrere, ja viele Geſellen oder Arbeiter beſchäftigen, großentheils perſönlich durch Fleiß und Thatkraft ſich auszeichnen, techniſch alle Fortſchritte der Neuzeit verfolgen.

Wenn wir das aber einerſeits freudig begrüßen, wenn wir zugeben, daß dieſe Entwickelung eine in gewiſſem Sinne nothwendige iſt, ſo dürfen wir anderer - ſeits nicht vergeſſen, daß das eine Kehrſeite hat, welche wenigſtens zunächſt für die Geſellen und Lehrlinge traurig iſt. Es vermindert ſich für ſie die Möglichkeit, je ſelbſtändig zu werden, immer mehr. Ich habe darauf ſchon hingedeutet, ich muß dabei noch etwas verweilen.

Es iſt ein einfaches Rechenexempel, um das es ſich handelt, auf das I. G. Hoffmann1Die Bevölkerung des preuß. Staats S. 118. zuerſt aufmerk - ſam machte. Der einzelne Menſch ſagt er welcher vom 14. Jahre ab 16 Jahre lang als Lehrling und Geſelle dient, will doch mit dem 30. Jahre endlich einen eigenen Hausſtand anfangen, um nun 30 40 Jahre lang als Meiſter zu leben. Er iſt alſo wenig - ſtens doppelt ſo lange Meiſter, als er vormals Gehülfe war, und es wird demnach nur halb ſo viel Gehülfen,339Licht - und Schattenſeiten der großen Gehülfenzahl.als es überhaupt Meiſter giebt, wirklich die Ausſicht auf die Meiſterſtelle eröffnet werden können. Wenn man die Rechnung nur auf die Lehrlinge beſchränkt, ſo wird ſie noch klarer. Ein Meiſter ſagt Hoffmann an anderer Stelle1Die Befugniß zum Gewerbebetrieb S. 131. unterhalte nur einen Lehrling gleichzeitig, ſo wird er doch von ſeinem dreißigſten bis zu ſeinem ſechzigſten Lebensjahre bei vierjähriger Lehrzeit ſieben auslernen können, wovon endlich doch nur einer ihn dereinſt als Meiſter erſetzen kann. Rechnet man auch darauf, daß während eines Zeitraums von dreißig Jahren die Bevölkerung ungefähr um fünfzig auf hun - dert wächſt, daß alſo in demſelben Verhältniſſe auch ſtatt zwei jetzigen Meiſtern nach dreißig Jahren drei zur Befriedigung der Bedürfniſſe des Volkes nöthig ſein werden, und daß auch in den Geſellenjahren einige zum Handwerke Angelernte ſterben, ſo wird man doch immer für Fünfe von jenen Sieben keine Ausſicht auf anſtän - digen Erwerb als Meiſter eröffnen können. In die - ſem ſelten klar genug erkannten Verhältniſſe liegt die Unhaltbarkeit der Zunftverfaſſung und der ſeit Jahr - hunderten fortdauernden Beſchwerden über unverbeſſer - liche Mißbräuche der zünftigen Handwerker.

Je nachdem man eine Zunahme der Meiſter für möglich oder wahrſcheinlich hält, je nachdem man die mittlere Lebensdauer der Meiſter ſetzt und eine Sterblichkeit unter den Lehrlingen und Geſellen annimmt, wird die Rechnung etwas anders, aber in der Haupt - ſache bleibt die Frage dieſelbe.

22 *340Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.

Der Verfaſſer der Unterſuchungen über ſächſiſche Handwerkerſtatiſtik in der Zeitſchrift des ſächſiſchen ſtatiſti - ſchen Büreaus hat den Hoffmann’ſchen Gedanken etwas genauer ausgeführt und kommt da zu folgendem Reſul - tat. Nimmt man ſagt er an, daß im Mittel der Handwerker nicht vor dem dreißigſten Jahre Meiſter wird, und daß die mittlere Lebensdauer des Handwerks - meiſters 55 Jahre ſei (ſtatt 60 70, wie Hoffmann), ſo iſt in jedem Jahre nur der 25 ſte Theil der Meiſter zu ergänzen, um die abſolute Zahl zu erhalten. Neh - men wir aber, da auch ein Zuwachs der Bevölkerung zu beachten iſt, und mancher Meiſter aus andern Gründen in Abgang kommt, den zwanzigſten Theil an. Iſt ferner die durchſchnittliche Lehrzeit 4 Jahre und wird auch die Sterblichkeit zwiſchen dem 14 ten und 30 ſten Lebenjahre beachtet, ſo kann die Zahl der Lehr - linge in einem Gewerbe, welche herangebildet werden muß, um den Perſonalbeſtand im Verhältniß zur Be - völkerung auf gleicher Höhe zu erhalten, nur zwiſchen ¼ und höchſtens der Meiſterzahl betragen; d. h. nur je der dritte oder vierte Meiſter darf einen Lehrling halten, wenn nicht ein Ueberſchuß herangebildet werden ſoll, der keine Ausſicht auf Selbſtändigkeit hat. Die mittlere Geſellenzeit nehmen wir hoch zu 12 Jahren an. Die Zahl der Geſellen wird alſo unter gleicher Vorausſetzung zur Erhaltung des Gleichgewichts nur ¾ $$\frac{4}{4}$$ der Meiſter betragen, die Summe der Geſellen und Lehrlinge ſich alſo zu den Meiſtern zwiſchen 1: 1 und 1,33: 1 verhalten dürfen. Bei Gewerben mit kurzer Lehrzeit wird dieſes Verhältniß kleiner, bei langer341Die ſinkende Möglichkeit des Meiſterwerdens.Lehrzeit größer werden, und einen ähnlichen Einfluß müßte eine etwaige Verſchiedenheit der mittleren Lebens - dauer der Meiſter äußern. Gewerbe, bei denen dieſe Normalverhältniſſe nicht erreicht werden, gehen entweder zurück oder rekrutiren ſich vorzugsweiſe aus dem Aus - lande; Gewerbe dagegen, welche ein größeres Verhältniß darbieten, ſind entweder in der Vermehrung begriffen oder überhaupt nicht geeignet, allen Geſellen Ausſicht auf Selbſtändigkeit zu gewähren.

Die hier angenommene Sterblichkeit wird ungefähr den realen Verhältniſſen entſprechen. Soweit exakte Unterſuchungen über Sterblichkeit dieſer Berufsklaſſen vorliegen, beſtätigen ſie ungefähr die hier ange - nommenen Zahlen. Es ſind die bekannten von Neufville, Engel und Neumann. 1Dr. A. Neufville, Lebensdauer und Todesurſachen 22 verſchiedener Stände und Gewerbe, Frankfurt 1855. Die Beobachtung umfaßt die Stadt Frankfurt und die Zeit von 1820 55. Engel in der Zeitſchr. des ſtatiſt. Bür. 1862. S. 242. Es ſind Berliner Ergebniſſe von 1855 60. Neumann, das Sterblichkeitsverhältniß der Berliner Arbeiterbevölkerung. Arbeiter - freund 1866. S. 113 ff. Siehe auch Frantz, Handbuch der Statiſtik, 1864. S. 117 ff.Näher auf ſie einzugehen, iſt hier nicht der Ort. Nur ein paar Worte ſind zu bemerken. Die beiden letzten Unter - ſuchungen beſchäftigen ſich mit den Meiſtern und Ge - hülfen zuſammen, mit den 15 70 jährigen; wenn Engel alſo für die verſchiedenen hauptſächlichen Hand - werke ein Durchſchnittsalter von 33 48 Jahre berech - net, ſo widerſpricht das der obigen Annahme nicht;342Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.denn ſie geht nur dahin, daß der 30 Jahre alt Gewor - dene durchſchnittlich das 55 ſte Jahr erreiche, nicht daß die Geſammtheit der 15 70 jährigen durchſchnittlich 55 Jahre erlebe. Die Unterſuchung von Neufville beſchränkt ſich nun aber auf ſolche, die ſchon Meiſter geworden ſind, und da ſchwankt das Durchſchnittsalter eben um dieſe Grenze; es betrug für die Bäcker 51,5, die Bildhauer 43,8, die Brauer 50,5, die Fiſcher 55,7, die Gärtner 56,8, die Gerber 56,8, die Kürſchner 56,6, die Maler 47,5, die Maurer 48,7, die Schlächter 56,8, die Schmiede 46,3, die Schneider 45,3, die Schuh - macher 47,3, die Tiſchler 46,3, die Zimmerleute 49,2 Jahre. Der Durchſchnitt würde wohl etwas, aber nicht ſehr viel unter 55 Jahren ſein.

Nimmt man hiernach die Möglichkeit, Meiſter zu werden, auch noch für etwas mehr Lehrlinge und Geſellen an, als das ſächſiſche ſtatiſtiſche Büreau es thut, im Ganzen bleibt das Verhältniß daſſelbe. Von der Zeit an, in welcher die Gehülfenzahl die Meiſterzahl weſent - lich überſchreitet, hört die Möglichkeit, Meiſter zu werden, je ein ſelbſtändiges Geſchäft anzufangen, für eine Anzahl von Gehülfen auf. Selbſt abgeſehen von der Umbildung der Technik und der Arbeitstheilung, von den Einflüſſen des Verkehrs und des Kapitals, liegt in dieſem Zahlenverhältniß an ſich die voll - ſtändige und nothwendige Auflöſung der alten hand - werksmäßigen Zuſtände. Das Hinzukommen dieſer erwähnten Einflüſſe verſtärkt aber die Auflöſung. Täg - lich wird es wegen ihrer ſchwerer, ein eigenes Ge - ſchäft anzufangen Die Zahl der preußiſchen Meiſter343Die Urſachen des Zudrangs zum Handwerk.iſt 1861 noch nicht wieder ſo hoch wie 1849, trotzdem daß 1861 wahrſcheinlich unter den Meiſtern ſehr viele mehr gezählt ſind, die keine ſelbſtändigen Unternehmungen mehr haben, als 1849.

Ehe ich von den Folgen dieſer allgemeinen Auf - löſung der alten Handwerkszuſtände ſpreche, will ich noch bemerken, daß der Zudrang zum Handwerk, der zunächſt die Gehülfenzahl ſteigen läßt, nicht nothwendig ein den wirklichen dauernden wirthſchaftlichen Bedürfniſſen, ſei es des alten oder des neuen Handwerks, entſprechender iſt. Mit raſch wachſender Bevölkerung kommt leicht ein Zufluß, der ſeine Urſache nicht in dem dauernden Bedürf - niß der Gewerbe hat, ſondern in andern. Umſtänden pſychologiſcher und moraliſcher Natur, ſowie vorüber - gehender wirthſchaftlicher Art.

Man hat in Bezug auf eine ſtarke Zunahme der Bevölkerung kurz nach einander gleich extremen und un - richtigen Theorien gehuldigt. Man hat, angeſteckt vom erſten Schrecken der Malthus’ſchen Theorie, eine Zeit lang jede Zunahme für ſchlimm und unheilvoll gehalten, man hat dann wieder in optimiſtiſcher Uebertreibung der wirtſchaftlichen Fortſchritte unſerer Zeit jede Zunahme an ſich als ein Glück geprieſen. Sie iſt es, aber nur in gewiſſem Sinne. Alle höhern Güter der Kultur ſind nur erreichbar in dichtbevölkerten Gegenden. Aber jede ſtarke Bevölkerungszunahme ſetzt Fortſchritte, Aende - rungen in der ganzen Volkswirthſchaft voraus, muß in der Regel verbunden ſein mit einer ganz anderen Orga - niſation aller Geſchäfte, aller Verkehrsverhältniſſe, mit einer andern lokalen Vertheilung der Bevölkerung, mit344Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.einer andern Vertheilung derſelben nach Berufszweigen. Das ſetzt ſich langſam durch, will erkämpft ſein, braucht Jahre und Jahrzehnte. Die heranwachſenden Gene - rationen ergreifen ſelten ſogleich und in richtigem Ver - hältniß die Bahnen, in denen der Ueberſchuß ſpäter definitiv Platz findet. Die Bodenvertheilung ändert ſich meiſt ſchwer, die Landwirthſchaft ſendet zunächſt ihre jüngern Söhne den Gewerben zu. Je tiefer ein Ge - werbe ſteht, je leichter es zu erlernen iſt, je weniger es Kapital erfordert, deſto größer leicht der Zudrang ohne Rückſicht auf das Bedürfniß.

In den Kreiſen, um die es ſich da vorzugsweiſe handelt, wird der 14 jährige Junge, der aus der Schule entlaſſen iſt, durchaus nicht immer mit klarer Erkenntniß für einen der Berufe beſtimmt, in denen im Augen - blicke die größte Nachfrage iſt. Das häufige traditionelle Feſthalten am Gewerbe des Vaters iſt noch nicht das ſchlimmſte; Zufall, Rückſicht auf die geringſten Koſten, auf die größte Bequemlichkeit für die Eltern und ähnliche Motive wirken theilweiſe noch ſchlimmer. Die alther - gebrachte Ueberſetzung einzelner Gewerbe, die heutzutage meiſt doppelt ſich geltend macht, hängt damit zu - ſammen.

Trifft in dieſer Beziehung die Väter der betreffen - den Kinder oder vielmehr die Unkenntniß dieſer Kreiſe in derartigen Fragen die Schuld, ſo wirken von der andern Seite zeitweiſe auch die Meiſter und Arbeitgeber auf partiellen und zeitweiſen zu großen Andrang. Wenn mit den ſtark wechſelnden Konjunkturen des heutigen Marktes die Geſchäfte zeitweilig wachſen, ſo ſuchen ſich345Die Berufswahl des Lehrlings.die Betreffenden häufig, weil es zunächſt das Billigſte iſt, durch Annahme weiterer Lehrlinge zu helfen, ohne Rück - ſicht auf die dauernde Bedürfnißfrage. 1Siehe ein ſchlagendes Beiſpiel derart bei Degenkolb, Arbeitsverhältniſſe, 2 te Aufl. Frankfurt 1849, S. 70 ff. Es bezieht ſich auf die Kattundrucker; eine übermäßige Annahme von Lehrlingen 1833 40, der drückendſte Ueberfluß an Geſellen von 1840 46.Es giebt zeit - weiſe Gewerbszweige, in welchen in Folge hiervon die Lehrlingszahl die Geſellenzahl erreicht, während bei vier - jähriger Lehr - und zwölfjähriger Geſellenzeit die Zahl der Lehrlinge doch immer höchſtens der Geſellen ausmachen ſollte. Daraus erklärt ſich, daß die frühere Beſchränkung der Lehrlingszahl nicht ſo ganz ſinnlos war, wie man oft meinte. Noch neueſtens ſpricht ſich Richard Härtel2Vergl. den auch ſonſt intereſſanten Artikel zur Lehrlings - frage im Correſpondent, Wochenſchrift für Deutſchlands Buch - drucker, Extrabeilage zu Nro. 11 vom 12. März 1869. in Beziehung auf die Buchdruckerei aufs Entſchiedenſte dahin aus, daß auf die Dauer ein ordentlicher Stand von Buchdruckergehülfen und - Arbei - tern nur dann ſich erhalten laſſe, wenn die Druckerei - beſitzer der Verſuchung einer zu ſtarken Anwendung ſoge - nannter Lehrlinge, d. h. unerwachſener Arbeiter wider - ſtünden, wenn ſie der alten Geſchäftsſitte treu bleiben, auf drei Gehülfen einen, auf neun Gehülfen erſt zwei Lehrlinge zu halten.

Welches aber auch die Urſachen der anſchwellenden Gehülfen - und Lehrlingszahl im Einzelnen ſein mögen, ſo viel iſt ſicher, die alten Handwerkszuſtände müſſen346Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.ſich damit auflöſen; d. h. es muß einerſeits eine Anzahl gelernter Geſellen ſpäter wieder zu andern Berufen übergehen, es muß andererſeits ein verheiratheter Geſellen - ſtand ſich bilden, die ganzen Rangverhältniſſe im Hand - werk müſſen andere werden.

Oefter wurde es ſchon erwähnt, wie viele Geſellen heute in eigentliche Fabriken eintreten; das war ihnen auch nach der Verordnung vom 9. Februar 1849 nicht verboten. Selbſt für Arbeiten, die nicht einen gelernten Handwerker gerade dieſer Art erfordern, nehmen viele Fabrikanten gerne Geſellen; ſie ſind geſchickter, haben mehr gelernt und geſehen, als einfache Fabrikarbeiter.

Aber das reicht nicht aus, den Ueberſchuß aufzu - nehmen. In den verſchiedenſten anderweitigen Berufen finden wir frühere gelernte Handwerksgeſellen. Mag es an Zahl verſchwinden, daß auf den Brettern, die die Welt bedeuten, ſo manche Schneider - und andere Ge - ſellen eine Zuflucht gefunden, daß der Stiefelputzer der deutſchen Univerſitätsſtädte faſt ausſchließlich ein alter Ge - ſelle iſt, der nicht Meiſter werden konnte, daß die vielen Diener von Muſeen, Leſegeſellſchaften, Vereinen, haupt - ſächlich aus verunglückten Meiſtern und Geſellen beſtehen; ſchon nach Hunderten und Tauſenden zählen andere Zufluchtsorte ihre aus dem Handwerkerſtand rekrutirten Mitglieder. Höckerei und Schankwirthſchaft ſind da in erſter Linie zu nennen. Die zahlloſen Dienſtmänner, die in jeder größern Stadt jetzt ſich anbieten, habe ich bei vielfacher perſönlicher Frage faſt immer als gelernte Handwerksgeſellen erkannt, denen es mißlungen iſt, ein eigenes Geſchäft zu begründen, und die doch nicht zeit -347Die Schickſale alternder Geſellen.lebens Geſellen bleiben wollten. Die Hunderte und Tauſende von preußiſchen Zivilverſorgungsberechtigten, die durch längere Militärzeit ſich einen Anſpruch auf eine ſubalterne Anſtellung im Staats -, Gemeinde - oder Eiſenbahndienſt erwerben, haben zu einem großen Theil früher dem Handwerk angehört. Vor Allem aber ſind die ältern Geſellen und Meiſter, die nicht vorwärts kommen, unter den Auswanderern vertreten. Zur Zeit der ſtärkſten Auswanderung gegen 1854 wanderten jährlich etwa 250000 Perſonen1Hübner, Jahrb. f. Volkswirthſchaft u. Statiſtik V, 285. aus Deutſchland aus, ein ſehr großer Theil hiervon gehörte dem Handwerker - ſtande an. 2Hübner III, S. 293 bringt darüber Nachweiſe für Preußen, Braunſchweig, Meklenburg, Oldenburg pro 1853; V, S. 288 für Baden pro 1840 55; daſelbſt für Meklenburg und Braunſchweig pro 1855; VII, S. 146 für Sachſen pro 1853 58; VIII, S. 229 für Sachſen pro 1859 61. Nur wo ein verkommenes bäuerliches Zwergproletariat iſt, wird der bäuerliche Antheil an der Auswanderung ebenfalls bedeutend; ſonſt überwiegt durchaus das Handwerk nach den Zahlen Hübner’s; mit am ſtärkſten in Sachſen.Und noch jetzt zeigt jeder Ausweis über den Beruf von Auswandern daſſelbe. Im Jahre 1866 kamen z. B. in Württemberg3Württembergiſche Jahrbücher 1866, S. 9 13. auf 1275 einwandernde 6995 auswandernde Perſonen; von letztern ſind 3576 erwachſene Perſonen männlichen Geſchlechts; und von ihnen wieder fällt weitaus der Haupttheil auf das Handwerk, nämlich 2110 Perſonen; der Reſt theilt ſich in 24 Fabrikarbeiter, 153 Tagelöhner, 694 Bauern,348Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.353 Handelsleute und etliche andere Kategorien von geringer Bedeutung. Die einzelnen Haupthandwerke zeigen Poſten von nicht unbedeutendem Umfang. Es ſind verzeichnet 232 Schmiede und Schloſſer, 193 Tiſchler, 176 Maurer, 95 Zimmerleute, 197 Schuhmacher, 150 Weber, 110 Schneider, 151 Bäcker, 134 Metzger, 85 Bierbrauer, 96 Drechsler und Wagner, 78 Gerber, 62 Küfer, 53 Mechaniker, 50 Gießer, 42 Goldarbeiter. Die andern Gewerbe ſind etwas geringer vertreten.

Und trotz aller dieſer Abflüſſe der verſchiedenſten Art bleibt die Zahl 27 36 jähriger Geſellen, die ſelbſtändig werden möchten, doch noch immer ſo groß, daß jede Erleichterung der Geſetzgebung im Sinne der Gewerbefreiheit und der Niederlaſſungsmöglichkeit den Anſtoß zu zahlreichen Verſuchen ſelbſtändiger kleiner Ge - ſchäfte gibt, aus denen einzelne tüchtige Leute ſich empor arbeiten, von denen die Mehrzahl aber wieder eingeht.

Zu einem verheiratheten Geſellenſtande überzugehen, hatte ſchon Hoffmann1Die Befugniß zum Gewerbebetrieb S. 141 150. 1841 als das Hauptmittel em - pfohlen, um die Mißbräuche und Mißſtände des Zunft - weſens, die Erſchwerung des Meiſterwerdens, die Wander - pflicht und ähnliches zu beſeitigen. In Gewerben mit größerer Geſellenzahl, wie in den Baugewerben, iſt das auch längſt der Fall; Lohn - und Kontraktsverhältniſſe haben ſich da ſo geordnet, daß ſie einem verheiratheten Geſellenſtand entſprechen.

In andern Gewerben fängt das erſt an und iſt zunächſt mit mancherlei Schwierigkeiten und Uebeln ver -349Ein Stand verheiratheter Geſellen.bunden. Das alte Verhältniß, den Lehrling und die Geſellen im Hauſe zu haben, wird verlaſſen, nicht aus der theoretiſchen Einſicht heraus, daß man zur reinen Geldwirthſchaft übergehen, daß man nach der heutigen Gehülfenzahl einen verheiratheten Geſellenſtand erhalten müſſe, ſondern weil es zunächſt bequemer oder ſchein - bar billiger iſt, weil die Stück - und Akkordarbeit das Zuſammenſein überhaupt, ſelbſt während der Arbeit überflüſſig macht. Der Meiſter, der in guter Verkehrs - lage miethet, hat nicht Raum, die Leute zu beher - bergen, oftmals nicht Raum zum Arbeiten in ſeinem Lokale. Er ſpart, wenn er die Leute zu Hauſe arbeiten läßt, Licht und Heizung, oft auch das Handwerkszeug. Der Geſelle hat zu Hauſe ohnedieß ein geheiztes Kämmer - chen, beſonders wenn er verheirathet iſt; Frau und Kinder können mithelfen. Es iſt dieß unvermeidlich, hat auch ſeine guten Seiten, aber vorerſt hört man darüber Klagen aller Art, wie z. B. Regierungsrath Mülman1Mülmann, Statiſtik des Regierungsbezirks Düſſeldorf. II, zweite Hälfte. S. 491 93. in ſeinem Bericht über die rheiniſchen Ver - hältniſſe hauptſächlich die Schattenſeiten betont. Die alte patriarchaliſche Sitte ſagt er die Gewerbs - gehülfen als zum Hausſtande des Meiſters gehörig zu betrachten, herrſcht faſt nirgendwo mehr, vielmehr wird der Lohn nur in baarem Gelde gegeben. Die Geſellen ſtehen ſich hierbei nicht beſſer, da ſie für Koſt und Wohnung überall mehr ausgeben müſſen, als ihnen der Meiſter anrechnen konnte. Aber das Streben nach un -350Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.abhängigem Leben läßt ſie dieſe Vertheuerung überſehen. Noch mehr entfernt das immer mehr und leider oft in hierzu ſehr ungeeigneten Arbeitsverhältniſſen einreißende Akkordarbeiten die Geſellen von dem Meiſter, indem es ſie auch hinſichtlich der Arbeitszeit unabhängig macht. Im Allgemeinen iſt durch dieſe Geſtaltung der Verhält - niſſe der Meiſterſtand in ſehr übler Lage wegen ſeines Hülfsperſonals, denn er hat weit größere Intereſſen zu vertreten, als der mit ſeiner Arbeitskraft leicht wieder unterkommende Geſelle. Es iſt hierdurch ſo weit gekom - men, daß in manchen Handwerken viel mehr die Furcht vor Mangel an treu aushaltendem Perſonale, als vor Mangel an Kundſchaft von Erweiterung des Geſchäfts abhält, und daß im Allgemeinen die Meiſter die freie und geſicherte Stellung der Geſellen beneiden, weshalb denn auch eine verhältnißmäßig große Zahl von Geſellen in zwar beſcheidenen, aber geſicherten Verhältniſſen einen ehelichen Hausſtand führt.

Es iſt zuzugeben, daß nicht bloß ältere verheirathete Leute, ſondern ebenſo junge kaum 18 25 jährige, denen eine gewiſſe Zucht und Aufſicht ſehr heilſam wäre, dadurch ſelbſtändig werden, dadurch Gefahren aller Art ausgeſetzt ſind, körperlich, moraliſch und geiſtig zu Grunde gehen. Dem Verhältniß zu ihrem Meiſter fehlen die früheren Bande, die aus dem Zuſammenſein am häuslichen Heerde entſprangen. Die Lohnfrage muß überdieß Meiſter und Geſellen mehr als je entzweien. Die früheren Geſellenlöhne waren relativ ſehr niedrig; der Geſelle wurde früher neben Geld und Verpflegung gleichſam mit der ſichern Ausſicht bezahlt, Meiſter zu351Die reine Geldablohnung der Gehülfen.werden und da von ſeinen Geſellen den Vortheil zu haben, den er jetzt ſeinem Meiſter bot. Dieſe Ausſicht iſt verſchwunden, darum ſchon muß der Lohn höher ſein. Außerdem muß die Naturalverpflegung erſetzt werden. Die Löhne müſſen noch mehr ſteigen, je mehr die Ge - ſellen verheirathet ſind, je mehr ſie in Fabriken Gelegen - heit haben, als geſchickte, techniſch gebildete Arbeiter ſo viel zu verdienen, daß ſie leicht eine Familie ernähren können. 1Es würde zu weit führen, wollte ich hier dieſes Steigen der Löhne durch Eingehen auf das vorhandene Beweismaterial nachweiſen; ich hebe nur zwei ausgezeichnete Arbeiten hervor: Statiſtik der Arbeitslöhne in Fabriken und Handwerken von 1830 65, im ſtatiſtiſchen Anhang zu den württembergiſchen Handelskammerberichten für 1865. S. 30 40. Die Arbeits - löhne in Niederſchleſien von Regierungsrath Jacobi, Zeit - ſchrift des preuß. ſtatiſt. Bureaus 1868. S. 326 351.

Alles das will der ehrbare alte Meiſter, der ſeine Anſchauungen aus einer andern Zeit mitgebracht hat, nicht ſehen, nicht anerkennen. Und darum ſteht er viel - fach auf Kriegsfuß mit ſeinen Arbeitern. Dem Meiſter an Bildung gleichſtehend, empfinden die ältern Geſellen den drückenden Unterſchied zwiſchen Unternehmer und Arbeiter doppelt. Viele unter ihnen haben vergeblich verſucht, ein eigenes Geſchäft anzufangen. Oft ſind das mit die geſchickteſten, begabteſten, die in dem Bewußt - ſein ihrer Talente nicht begreifen wollen, daß fehlende moraliſche und Charaktereigenſchaften ſie in dem Ver - ſuche einer eigenen Unternehmung ſcheitern laſſen mußten. Sie ſind heute mit die unzufriedenſten Elemente der352Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.Geſellſchaft. Aus ihnen vor Allem rekrutirt ſich die ſozialdemokratiſche Partei.

Theilweiſe liegt die gegenſeitige Unzufriedenheit an der Neuheit des ganzen Verhältniſſes. Soweit in der neuen Art des Lebens der Gehülfen wirkliche Gefahren liegen, beſonders für jüngere Leute, ſo weit müſſen eben alle die übrigen Mittel geiſtiger und moraliſcher Hebung ſtärker herangezogen werden. Volksſchule und Kirche, Vereinsleben und genoſſenſchaftliche Ehre, vor Allem ein richtiges geordnetes gewerbliches Bildungs - weſen müſſen erſetzen, was an moraliſcher Wirkung neben allen Mißbräuchen mit dem alten Lehrlings - und Geſellenverhältniß gegeben war. Dann werden die Klagen über Zunahme wilder Ehen, über Sittenloſigkeit, über Zunahme des Luxus ohne Zunahme der Sparſam - keit, die Klagen über leichtſinnige und zu frühe Ehen in dieſen Kreiſen Klagen, mit denen man gegen - über den untern Klaſſen ohnedieß zu leicht bei der Hand iſt nicht mehr zunehmen; dann werden ſich bei den verheiratheten Geſellen die möglichen ſegensvollen Wirkungen der Ehe, Sparſamkeit, Fleiß und An - ſtrengung, mehr und mehr einſtellen. Sie ſtehen dann den kleinen Meiſtern, die für Magazine oder andere Meiſter arbeiten, gleich; ſie ſtehen immer noch weſentlich über dem Fabrikarbeiter, können bei Geſchicklichkeit und Sparſamkeit immer ſelbſt in die Reihe der Unternehmer eintreten, ſei es allein, ſei es im Wege der Aſſoziation.

Die alte Rangordnung im Handwerk, der feſte Stufengang iſt allerdings damit unwiederbringlich ver - nichtet, wie ſie zugleich durch die neuere Technik, durch die353Die Auflöſung der alten Handwerkszuſtände.verſchiedenen Arbeitskräfte, die man heute nebeneinander in einem Geſchäfte braucht, unhaltbar geworden ſind. Für leichtere Arbeit verwendet man jetzt vielfach Frauen - hände, für gemeine Arbeit Tagelöhner. Letztere auch im Handwerk anzuwenden iſt ganz paſſend, ermäßigt die Zahl derer, die Meiſter werden wollen, vermeidet Vergeudung höherer Kräfte zu niederer Arbeit. Das hat ja auch die Verordnung von 1849 zugelaſſen. Sie wollte aber hin - dern, daß der gelernte Tiſchlergeſelle bei einem Zimmer - meiſter arbeite, ſie wollte alle Meiſter zwingen ſich nicht an Geſellen, ſondern an Meiſter der andern Gewerbe zu wenden, wenn ſie deren Hülfe brauchten. Es war ein lächerlicher Verſuch, den Lauf der Dinge zu feſſeln, es war überdieß ein erbärmlicher unmoraliſcher Verſuch, weil man dem Fabrikanten erlaubte, was man dem Meiſter verbot.

Mit der andern Technik, mit der veränderten Ab - grenzung der Geſchäfte gegeneinander, mit der größern Spezialiſirung aller Produktion iſt, um hierauf noch zu kommen, auch die Stellung des Lehrlings, ſoweit es ſich gerade um das Erlernen des Gewerbes handelt, eine total andere geworden. Wurde er früher oft ein Jahr lang und länger als Laufburſche verwendet, von der Frau Mei - ſterin zu allen möglichen häuslichen Dienſtleiſtungen gebraucht und mißbraucht, ſo lernte und ſah er doch ſpäter Alles, was in der Werkſtatt gemacht wurde, und alle die verſchiedene Arbeiten ſeines Gewerbes kamen in der Werkſtatt vor. Die Prüfungen nöthigten ihn zu einer gewiſſen Ausbildung nach allen Seiten.

Der Mißbrauch erſterer Art iſt nicht verſchwunden; wo heute, um Taglöhner oder Dienſtboten zu ſparen,Schmoller, Geſchichte d. Kleingewerbe. 23354Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.allzu zahlreich Lehrlinge angenommen werden, da lernen ſie in der erſten Zeit ſo wenig wie früher. Aber auch ſpäter lernen ſie theilweiſe heute nicht mehr ſo viel wie früher, weil die einzelnen Geſchäfte nur einſeitig auf wenige Artikel ſich werfen. Und innerhalb des ſpezialiſirten Geſchäfts wird der Lehrling zu einer ein - zelnen beſtimmten Art der Arbeit gebraucht. Wie ſoll er da viel lernen? Die Prüfung iſt weggefallen und damit jedenfalls auch ein gewiſſer Sporn. Die zu große Unabhängigkeit vom 14. Jahre ab ſteigert bei der Maſſe nicht den Trieb, etwas zu lernen. Die allgemeine Aus - bildung bleibt ſo leicht zurück. 1Viel Wahres über dieſe und ähnliche Punkte in den amtlichen Protokollen, welche über die Verhandlungen der 1865 zur Berathung der Koalitionsfrage berufenen Kommiſſion publizirt wurden. Berlin, Decker 1865.Böhmert, der eifrigſte Vertheidiger der Gewerbefreiheit, muß zugeben, daß die ſchweizer Gewerbetreibenden ſehr gerne deutſche Geſellen aus Ländern, wo noch Prüfungen exiſtiren, haben, weil ſie dieſelben für fleißiger, geſchickter und anſtelliger halten. Und aus ähnlichem Grunde ſind deutſche Ge - ſellen in Frankreich und England beliebt.

Daraus will ich entfernt keinen Schluß ziehen, der auf Wiederherſtellung des Zunftweſens und der Zunft - prüfungen ginge. Dieſe Wiederherſtellung wäre aus andern Gründen ſchädlich, ja unmöglich. Aber das glaube ich mit dem Angeführten bewieſen zu haben, daß die Beibehaltung der alten vierjährigen Lehrling - ſchaft, ohne die Prüfungen und ohne die alte viel - ſeitige Werkſtatt, die aufwachſende gewerbliche Gene -355Die Bildung des Lehrlings.ration noch tiefer herabdrückt, noch mehr dazu beiträgt, alle Geſchäfte in die Hände der höhern Unternehmer - klaſſe zu bringen. Dem iſt nur abzuhelfen, wenn man in den Kreiſen der Handwerker den gewerblichen Schulen die Aufmerkſamkeit ſchenkt, die ſie verdienen, wenn man die jungen Leute zu ihrem Beſuche anhält, wenn man dieſelben je kürzere Zeit in verſchiedene Etabliſſements als Volontaire oder Arbeiter unterbringt, wobei ſie praktiſch alles in ihr Geſchäft Einſchlägige lernen und ſehen, wenn man endlich möglichſt durch freiwillige Prüfungen den Ehrgeiz zu wecken, den Bemühungen ein feſtes Ziel zu ſetzen ſucht.

Das iſt die neue Art, wie man die gewerbliche Jugend heranbilden muß. Die Jugend ſoll arbeiten lernen; aber die Jugendjahre ſollen daneben vor Allem eine Bildungs -, nicht bloß eine Arbeitszeit ſein. Und das Gefährliche aller in neuerem Style eingerichteten Geſchäfte iſt es, ſchon den 14 jährigen als reinen Ar - beiter zu gebrauchen, ohne ihn etwas lernen zu laſſen, ohne ihm einen Ueberblick über die ſämmtlichen kauf - männiſchen und techniſchen Spezialitäten ſeiner Geſchäfts - branche zu geben.

23 *[356]

4. Das Verhältniß der Gehülfen zu den Meiſtern im Speziellen.

Die Gehülfenzahl nach den preußiſchen Provinzen 1822, 1846 und 1861, ſowie nach den preußiſchen Regierungsbezirken und einigen andern Zollvereinsſtaaten 1861. Die preußiſche Ge - hülfenzahl in Stadt und Land 1828, 1849 und 1858. Die Gehülfenzahl in den großen preußiſchen Städten 1861. Die Gehülfenzahl in Sachſen nach Stadt und Land 1849 und 1861. Die Gehülfenzahl in einzelnen Gewerben; ſächſiſche Zahlen von 1849, preußiſche von 1822 61, württembergiſche von 1835 61, berliner von 1861. Die Reſultate dieſer Tabellen. Die Gewerbe, in welchen die Gehülfenzahl ſelbſt in neuerer Zeit niedrig bleibt. Die Gewerbe mit höherer Gehülfenzahl. Die Baugewerbe. Die Meiſter und Flick - arbeiter. Die Zahlen der preußiſchen Baugewerbe von 1816 61. Die provinziellen Gegenſätze in der Organiſation der Geſchäfte: die größern Bauunternehmnngen im Oſten, der Bau für eigne Rechnung durch die kleinen Meiſter im Weſten.

An die Thatſache, daß in Preußen im Jahre 1861 die Gehülfenzahl im Durchſchnitt des ganzen Staates und der ſämmtlichen Handwerke die Meiſterzahl erreicht hat, knüpfte ich die allgemeinen Betrachtungen an, welche ſich aus der Umbildung der Handwerksgeſchäfte nach dieſer Richtung hin ergeben. Ich kehre jetzt zu den Reſultaten der Statiſtik zurück.

357Die Verſchiedenheit der Gehülfenzahl.

So unbeſtreitbar das allgemeine Reſultat iſt, das ich aus den Durchſchnittszahlen des ganzen preußiſchen Staates und ſeiner geſammten Kleingewerbe folgerte, ſo nothwendig iſt es andererſeits, hier wieder, wie ſchon oft, daran zu erinnern, daß jede ſolche Durchſchnittszahl in gewiſſem Sinne falſch iſt, ein falſches Bild giebt, ſofern ſie den Schein erweckt, als ob dieſer Durchſchnitts - zahl entſprechende Zuſtände nun, gleichmäßig verbreitet, in den verſchiedenen Gegenden und Geſchäften vorhanden wären. Die Wahrheit iſt, daß ſehr verſchiedene Zu - ſtände, verſchieden nach Gegenden wie nach Geſchäfts - branchen, dieſes Durchſchnittsreſultat ergeben haben. Soll unſere Betrachtung alſo nicht einſeitig ſein, ſo müſſen wir neben dem allgemeinen Reſultat dieſe Ver - ſchiedenheiten noch in Betracht ziehen. Sie bieten an ſich ſelbſt und in Bezug auf die hier beſprochene Frage der Meiſter - und Gehülfenzahl ein Intereſſe; außerdem aber wird ihre Unterſuchung manche frühere Ausfüh - rungen, z. B. die über die lokalen Gegenſätze, noch in helleres Licht rücken. Einige Wiederholungen ſind dabei leider nicht zu vermeiden.

Dieterici hat ſchon früher1Mittheilungen II, S. 9. auf den großen Unter - ſchied aufmerkſam gemacht, der zwiſchen den einzelnen preußiſchen Provinzen herrſcht. Bei der Vergleichung von 1822 und 1846 hat er die Lücken der Aufnahme von 1822 durch Schätzungen ergänzt. Ich ſtelle neben ſeine Zahlen die für 1861 von mir nach der offiziellen Aufnahme berechneten. Daß die Aufnahme von 1861358Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.einige Kategorien von Handwerkern mehr umfaßt, iſt für dieſe Durchſchnitte ganz gleichgültig. Das Reſultat iſt folgendes: es kamen auf 100 Meiſter

Die Mark Brandenburg erſcheint in ihren Zahlen ausſchließlich von der Hauptſtadt, von dem Charakter der hauptſtädtiſchen Geſchäfte beeinflußt. Ein Drittel ihrer Meiſter und Gehülfen gehören Berlin an. Daher laſſe ich dieſe Provinz außer Betracht.

In den Zahlen der andern Provinzen zeigt ſich vor Allem wieder der große Unterſchied zwiſchen dem Weſten und Oſten des preußiſchen Staates, hauptſächlich aber der Unterſchied in der Entwicklung beider Theile. Die Gegenſätze ſind 1822 total andere als 1861. Im Jahre 1822 ſtehen die Rheinprovinz, Sachſen und Pommern voran in der Gehülfenzahl, es folgen Weſtfalen und Schle - ſien; Preußen und Poſen haben die geringſte Gehülfen - zahl. Schon 1846 liegen die Dinge anders. Poſen z. B. hat jetzt ſchon die gleiche Gehülfenzahl wie Weſtfalen und die Rheinprovinz. Vollends bis 1861 dreht ſich das Verhältniß vollſtändig um. Am Rhein, in Weſtfalen, in Sachſen wächſt die Gehülfenzahl wohl auch noch etwas,359Die Gehülfenzahl nach den preußiſchen Provinzen.aber unbedeutend. In der Rheinprovinz ſind 1861 noch Verhältniſſe, die auf ein Ueberwiegen kleiner Geſchäfte, auf die Möglichkeit für jeden Geſellen, ſelbſt Meiſter zu werden, deuten. Im Oſten dagegen iſt die Gehülfen - zahl auf das 2 3 fache gegen 1822 geſtiegen, obwohl anzunehmen iſt, daß das Landhandwerk hier, ſoweit es exiſtirt, auch heute noch weniger Gehülfen hat, als das Landhandwerk am Rhein. Die Zahlen zeigen, daß hier die Gehülfen nicht bloß gewachſen ſind, wie es im All - gemeinen einem etwas geſtiegenen Wohlſtand entſpricht, ſie zeigen, daß hier ganz andere Zuſtände ſich gebildet haben, ſie zeigen, daß hier mehr und mehr das Handwerk der großen Städte, daß in den bedeutendern Städten mehr und mehr die größern Handwerksgeſchäfte und die Magazine überwiegen.

Aehnliche Gedanken ergeben ſich uns, wenn wir noch etwas weiter ins Detail gehen, uns die Ergebniſſe nach den einzelnen preußiſchen Regierungsbezirken geordnet anſehen. Ich laſſe ihnen als weitere Ergänzung gleich die Zahlen für einige der neuen preußiſchen Provinzen und kleinern deutſchen Staaten, berechnet nach den Frantz’ſchen Summen,1Die Zahlen weichen, wie mehr erwähnt, von den offiziellen, ſoweit ſie exiſtiren, theilweiſe etwas ab; aber ich konnte hier keine anderen zu Grunde legen; Viebahn hat über - haupt keine Summen der Meiſter und Gehülfen getrennt, und offizielle Summirungen exiſtiren nur von ein paar Staaten. Die Frantz’ſchen Zahlen haben wenigſtens die Wahrſcheinlichkeit für ſich, nach derſelben Methode gewonnen zu ſein. folgen. Es kamen auf die:360Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.

361Die Gehülfenzahl in verſchiedenen Gegenden.

Die niedrigſte Gehülfenzahl haben die armen vor - wiegend landwirthſchaftlichen Gegenden, wie Naſſau und Oberheſſen. Wo der Wohlſtand ſteigt, der rein land - wirthſchaftliche Charakter zurücktritt, iſt die Gehülfenzahl etwas größer. Aber dieſes Steigen der Gehülfenzahl geht nun nicht weiter dieſen beiden Urſachen entſprechend. Wohlhabende gewerbliche Gegenden wie Württemberg, Baden, die Regierungsbezirke Koblenz, Trier, Aachen behalten ihre mittlere Gehülfenzahl; der Regierungsbezirk Erfurt hat eine niedrigere Gehülfenzahl als die Regie - rungsbezirke Merſeburg und Magdeburg und iſt ſo wohl - habend als ſie, hat auch wohl ſo ziemlich gleichen gewerb - lichen Charakter. Die größte Gehülfenzahl außer den letztgenannten haben die Regierungsbezirke Königsberg, Danzig, Potsdam, Breslau, Liegnitz, alſo der Oſten, der weder am reichſten iſt, noch überall durch ſpezifiſch gewerblichen Charakter ſich auszeichnet. Da zeigt es ſich wieder, daß die ganze Vermögens - und Einkommen - vertheilung, das Wohnen in großen oder kleinen Städten, die Grundbeſitzvertheilung es beſtimmt, ob ſich heute die kleinern Handwerksgeſchäfte noch halten.

Bei einzelnen Staaten, wie Baiern und Sachſen, hängt die größere Gehülfenzahl vielleicht etwas mit der früheren Erſchwerung des Meiſterwerdens zuſammen. Viel wohl nicht. Auf die Dauer wirkt die freie Kon - kurrenz allerdings an anderer Stelle und mit andern ſonſtigen Wirkungen noch mehr auf größere Geſchäfte als die Zunftverfaſſung.

In den Gegenden und Bezirken, in welchen die Gehülfenzahl am niedrigſten iſt, in welchen gegen 60362Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.bis 80 Gehülfen auf 100 Meiſter kommen, wird immer - hin dieſe Zahl ausreichen, um die Meiſterſtellen wieder zu beſetzen. Ein regelmäßiger Zufluß aus Gegenden mit größerer Gehülfenzahl iſt kaum anzunehmen. Be - ſonders zwiſchen den verſchiedenen Staaten war eine derartige Beweglichkeit der Arbeitskräfte früher ſehr erſchwert. Iſt ja jetzt erſt im norddeutſchen Bunde die Freizügigkeit geſchaffen.

Dagegen iſt allerdings zwiſchen Stadt und Land einer und derſelben Gegend und Provinz eine ſolche Fluktuation der Arbeitskräfte anzunehmen. Wünſcht auch der Lehrling, der in der Stadt gelernt, der Ge - ſelle, der dort gearbeitet hat, wo möglich dort zu bleiben, der Mittelloſe muß auf’s Land zurück, wenn er ſelb - ſtändig werden will; andere werden durch Familien - verhältniſſe, durch Land - und Hausbeſitz dazu gezwungen. Das iſt bei den Gehülfenzahlen nach Stadt und Land, zu welchen wir uns jetzt wenden, nicht zu überſehen.

Nach der Aufnahme von 1828 berechnet Hoff - mann,1Nachlaß kl. Schriften S. 399. Der Durchſchnitt für das ganze Land ſtellt ſich dort zu 48 Gehülfen (auf 100 Meiſter), während ich oben 56 berechnet habe. Das hat ſeine Urſache darin, daß Hoffmann ſeiner Berechnung nicht die geſammten Handwerker, ſondern nur die 13 wichtigſten Arten zu Grunde legt. die 13 wichtigſten Arten der Handwerker zu - ſammenfaſſend, im Durchſchnitte auf 100 Meiſter

363Die preußiſchen Gehülfen in Stadt und Land.

Nach den einzelnen Provinzen vertheilen ſich 1828 die Gehülfen der Landmeiſter folgendermaßen; auf 100 Landmeiſter kamen

Im Weſten hat wenigſtens jeder dritte Land - meiſter einen Geſellen oder Lehrling; im Nordoſten arbeiten von 100 Landmeiſtern 89 ohne jede gewerb - liche Hülfe.

Im Jahre 1849 haben Gehülfen und Meiſter in den preußiſchen Städten etwa das Gleichgewicht erreicht, es kamen auf 100 Meiſter da 98, auf dem Lande 56 Gehülfen. Neun Jahre ſpäter, im Jahre 1858, haben 100 ſtädtiſche Meiſter 115,4, 100 Landmeiſter 71,8 Gehülfen. Das Landhandwerk hat 1858 beinahe ſo viel Gehülfen, daß es ſeine Meiſterſtellen allein beſetzen könnte. Die Zahl der Lehrlinge, gegenüber den Geſellen, erſcheint im Ganzen 1858 als normal: 125202 Lehrlinge auf 377093 Geſellen; alſo jene etwa dieſer; in den Städten freilich nähert ſich die Zahl der Lehrlinge nahezu der Hälfte der Geſellen, auf dem Lande beträgt ſie etwa ein Viertel derſelben.

Nach der Aufnahme von 1861 ſtellt ſich das Ver - hältniß der Meiſter und Gehülfen in den größern preu - ßiſchen Städten folgendermaßen:364Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.

Die mehr beſprochenen provinziellen Gegenſätze zeigen ſich auch hier. Die größte Gehülfenzahl hat nicht Berlin, ſondern Königsberg, Elbing und Breslau. In Berlin1Mittheilungen II, S. 9. kamen ſchon 1822 auf 100 Meiſter 185, 1846 - 210 Gehülfen, 1861 dagegen 207. Daraus365Die Gehülfen in den größern Städten 1861.ließe ſich ein Schluß ziehen, den ich freilich nur mit einer gewiſſen Vorſicht ausſprechen möchte, nämlich der, daß für die Mehrzahl der Handwerke der Ueber - gang zu einem größern Betriebe, auch heute noch eine gewiſſe Grenze hat, wenigſtens 1861 noch hatte. Ich ſuchte oben zu zeigen, daß das heutige Handwerk nicht zu dem wird, was man ſpezifiſch Großinduſtrie nennt, ſondern nur zu etwas umfaſſenderen und anders orga - niſirten Geſchäften übergeht. Erwägt man überdieß, daß gerade in den großen Städten doch noch viele kleine Meiſter, Anfänger, Flickarbeiter ohne alle Gehülfen arbeiten, ſo könnte man allerdings den Schluß für berechtigt halten, 2 3 Gehülfen auf einen Meiſter im Durchſchnitt ſei das Maximum. Immer aber bleibt dieſer Schluß problematiſch; er iſt richtig für einzelne, für viele Gewerbszweige, daneben unrichtig für andere, welche auch in der Handwerkertabelle verzeichnet ſind und bis zu 10 und mehr Gehülen auf einen Meiſter haben können, wie das Zimmer - und Maurergewerbe, einzelne Metall - und Holzgewerbe, Glockengießereien, große Möbelanſtalten.

Daß im Königreich Sachſen die Zahl der Gehülfen im Durchſchnitt des ganzen Staates weſentlich höher iſt, als die in Preußen, ſahen wir ſchon; ſie iſt höher als die irgend eines preußiſchen Regierungsbezirks. Stadt und Land haben gleichmäßig blühende Gewerbe aller Art; die dortige Handwerkertabelle umfaßt mehr wahrſcheinlich als die irgend eines andern größern deutſchen Landes ſolche Geſchäfte, die für den Abſatz im Großen thätig ſind.

366Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.

Schon im Jahre 1849 kamen im Durchſchnitt des ganzen Landes bei den 50 wichtigſten Handwerken1Zeitſchrift des ſächſ. ſtatiſt. Büreaus 1860. S. 105. auf 100 Meiſter 111 Gehülfen, in den Städten allein nur 112, alſo kaum mehr als im Durchſchnitt des ganzen Landes. Trennt man Geſellen und Lehrlinge, ſo kommen nach dieſer Rechnung auf 100 Meiſter

Dabei ſind aber die beſonders auf dem Lande als Hausinduſtrie betriebenen Gewerke einbegriffen; von einem Theil derſelben rührt die hohe Zahl Gehülfen des platten Landes her, ſo von den Bürſtenmachern, den Landklempnern und Nagelſchmieden; andere wieder, wie die Weber, haben keine beſonders hohe Gehülfen - zahl. Daneben iſt nicht zu vergeſſen, was ich oben ſchon erwähnte, daß die Gehülfenzahl auf dem Lande viel zu hoch erſcheint durch die Art der Zählung. Tauſende von Maurern, Zimmerleuten, Buchdruckern und andern Geſellen und Arbeitern, die in der Stadt arbeiten, wohnen auf dem Lande und werden da gezählt.

Für die Vergleichung von 1849 und 1861 ſind andere Zahlen zu Grunde zu legen; nämlich die der öfter ſchon angeführten Tabelle,2Zeitſchrift des ſächſ. ſtatiſt. Büreaus 1863. S. 102. welche die Meiſter und Gehülfen in 36 Handwerken, getrennt nach größern,367Die Gehülfenzahl in Sachſen.kleinern Städten und plattem Lande, aufführt. Die Tabelle beſchränkt ſich auf die ſpezifiſch lokalen Gewerbe und ſchließt alle Hausinduſtrien und fabrikmäßigen Hand - werke, wie die Weber, Tuchmacher, Tuchſcheerer, Strumpfwirker, Poſamentiere, Inſtrumentenmacher, Färber, Nadler und Aehnliche aus. Nach den dortigen abſoluten Zahlen habe ich die folgenden Verhältniſſe berechnet. Es kamen auf 100 Meiſter:

Das Verhältniß der drei verſchiedenen Arten des Handwerks unter ſich iſt ebenſo ſchlagend, wie die Um - bildung jeder einzelnen Art von 1849 61. Das An - wachſen der Gehülfenzahl auf dem Lande iſt am über - raſchendſten. Es entzieht ſich aber jeder weitern Erörte - rung, da man nicht abſieht, wie weit es aus den vorhin angeführten Gründen der Wirklichkeit, d. h. dem thatſäch - lichen Umfang der Geſchäfte auf dem Lande entſpricht. Keine weſentliche Aenderung zeigt ſich in den kleinern Städten, wie das nach den obigen Unterſuchungen über das kleinſtädtiſche Handwerk zu erwarten war. Die ſtärkſte Zunahme der Gehülfenzahl fand in den großen Städten ſtatt. Es iſt ein totaler Umſchwung der Ver - hältniſſe, der zwiſchen dieſen beiden Zahlen liegt. Vor - her noch , jetzt im Geſammtdurchſchnitt 2 3 Ge - hülfen auf einen Meiſter. Damit iſt in den ſämmt -368Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.lichen ſächſiſchen Städten über 10000 Einwohner die Grenze erreicht, die wir vorhin als eine Art Maximum hinſtellten, die Grenze, die ſelbſt in der Großſtadt Berlin und den andern größten preußiſchen Städten 1861 nicht überſchritten iſt.

Dieſes Maximum aber, wie alle die vorſtehenden Verhältnißzahlen ſind berechnet als Durchſchnitte verſchie - dener Gewerbe. Eine wirklich konkrete Anſchauung der Verhältniſſe gewinnen wir erſt, wenn wir die einzelnen Gewerbe unterſcheiden. Jedes iſt in ſeiner Technik, in ſeiner Organiſation, in ſeinem Verhältniß zum Publikum wieder ein anderes, wie ein Blick auf die folgenden Tabellen lehrt. Um das ſtatiſtiſche Material nicht zu ſehr zu häufen, beſchränke ich mich auf die Mittheilung von vier Tabellen. Die ſächſiſche umfaßt 50 Gewerbe nach dem Stande von 1849. 1Zeitſchrift des ſächſ. ſtatiſt. Büreaus 1860. S. 105.Die preu - ßiſche für die Jahre 1822 und 1846 ſtammt von Dieterici;2Mittheilungen II, S. 8. die Jahre 1858 und 1861 habe ich nach den Quellen nachgerechnet. Die württembergiſche Tabelle iſt von mir in meiner württembergiſchen Gewerbeſtatiſtik3Württembergiſche Jahrbücher 1862, 2tes Heſt, S. 248. berechnet. Als Gegenſatz zu dieſen drei ganze Länder umfaſſenden Ueberſichten füge ich noch den Stand einiger der wichtigern Berliner Handwerke im Jahre 1861 bei, berechnet nach den Zahlen der offiziellen Publikation. 4Preußiſche Statiſtik in zwangloſen Heften V, 172 182.

369Die Gehülfenzahl in einzelnen Gewerben.

Es kamen 1849 in Sachſen auf 100 Meiſter:

Die preußiſchen Zahlen ſind, wie wir das ſchon aus den allgemeinen Ergebniſſen wiſſen, geringer; es kamen da auf 100 Meiſter Gehülfen:

Schmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 24370Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.

Und nochmal geringer als die preußiſchen ſind die württembergiſchen Gehülfenzahlen; es kamen dort Ge - hülfen auf 100 Meiſter:

371Die Gehülfenzahl in einzelnen Gewerben.

Ganz anders natürlich lauten die Verhältnißzahlen Berlins; ich theile zugleich die abſoluten Zahlen der Meiſter, Gehülfen und Lehrlinge mit; man zählte 1861:

24 *372Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.

Wir ſehen große Gegenſätze in dieſen Zahlen und Gegenſätze verſchiedener Art. Von den provinziellen Gegenſätzen will ich weiter nicht reden; es ſind die ſchon mehr beſprochenen. Auch die ſukzeſſive Aenderung von 1822, reſp. 1835 bis 1861 bietet nach den obigen Ausführungen zunächſt nichts Neues. Was uns hier intereſſirt, iſt der Unterſchied der einzelnen Gewerbe unter ſich. Die äußerſten Differenzen, die ſich da zeigen, liegen ziemlich weit auseinander. Bei den Glaſern373Die Gehülfenzahl in einzelnen Gewerben.kamen 1861 in Preußen auf 100 Meiſter 49, bei den Maurern 566 Gehülfen; in Sachſen iſt 1849 der äußerſte Gegenſatz 47 und 2574, in Württemberg 1861 43 und 209, in Berlin 1861 - 92 und 1686.

Je ärmlicher und einfacher ein Gewerbe in der Regel iſt, je mehr es Landmeiſter unter ſich begreift, je weniger es großes Kapital zum Anfang des Geſchäfts fordert, je mehr es ausſchließlich auf perſönlichen Dienſt - leiſtungen des Meiſters beruht, deſto niedriger iſt die Gehülfenzahl. Man ſieht beſonders an der württem - bergiſchen, aber auch an der preußiſchen Tabelle, daß wo und ſofern die Verhältniſſe ſo einfach bleiben, die Ge - hülfenzahl, welche auf 100 Meiſter kommt, 43 80 nicht überſchreitet. Jede zeitweilig höhere Zahl ſinkt wieder, da die Geſellen, in ein gewiſſes Alter gekommen, keine Urſache haben, nicht ein eigenes Geſchäft anzu - fangen.

Anders wieder in den Gewerben, welche größeres Kapital erfordern, welche für größern Abſatz anfangen zu arbeiten; die hausinduſtriellen Betriebe bilden zwar gerade einen gewiſſen Gegenſatz zu den großen Geſchäften, aber wo ſie blühen, hat der Meiſter, welcher für den Kaufmann oder Verleger arbeitet, doch häufig einige Geſellen oder einen Lehrling, wie ſich das bei den ſächſiſchen Nagelſchmieden, Klempnermeiſtern, Poſamen - tieren zeigt. Die Gewerbe, welche durchgängig die höchſte Zahl von Gehülfen zeigen, ſind die Gerber, Töpfer, Hutmacher und vor allem die Baugewerbe. Alle die genannten neigen mehr oder weniger zu größern Geſchäften. Ihnen am nächſten ſtehen die Gürtler, Klempner,374Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.Schloſſer und Buchbinder, Gewerbe, welche ſchwung - haft betrieben zur Maſchinenanwendung und zur Spezialiſirung auf einzelne Artikel übergegangen ſind. In allen dieſen Gewerben kann nicht mehr davon die Rede ſein, daß die Geſellen ſämmtlich ſelbſtändig werden können.

Wenn in den Gewerben, welche außer dem Hauſe arbeiten laſſen, die ſämmtlichen ſo Beſchäftigten als Gehülfen, und nicht, wie vielfach, als Meiſter gezählt wären, ſo würde die Gehülfenzahl in verſchiedenen Ge - werben noch weſentlich höher ſein.

Diejenigen Gewerbe, welche eine gleich hohe Gehülfen - zahl im Durchſchnitt haben, werden ſich an techniſcher Entwickelung, Kapitalbedürfniß, Einkommen und ſozialer Stellung ungefähr auch gleich ſtehen. Aber doch nicht vollſtändig. Das eine Gewerbe bedarf mehr des Kapi - tals, das andere mehr der perſönlichen Arbeitskräfte. Die Fleiſcher, Schneider und Schuſter z. B. haben 1861 in Preußen dieſelbe Gehülfenzahl. Und doch ſteht im Durchſchnitt der Schneidermeiſter etwas unter dem Schuhmachermeiſter, jedenfalls überragt der Fleiſcher - meiſter beide durchſchnittlich an Einkommen und ſozialer Stellung. Der Schuſter hat in der Regel ſchon etwas mehr Kapital in ſeinem Geſchäft ſtecken, er treibt eher als der Schneider Vorrathshandel. Eine andere Stellung als beide hat der Fleiſcher, der Geld zum Vieheinkauf braucht, der meiſt ein Pferd hält, um auf den Einkauf zu fahren, der eines eigenen Hauſes, einer Schlacht - ſtätte ſchwer entbehren kann. Im Jahre 1822 haben die Fleiſcher ein Drittel weniger Gehülfen als die375Die Gewerbe mit gleicher Gehülſenzahl.Schuſter und doch iſt damals ſchon der Fleiſchermeiſter durchſchnittlich wohlhabender als der Schuhmacher.

Uebrigens haben die Nahrungsgewerbe in Wirklich - keit einen größern Umfang; ſie beſchäftigen mehr Hände, als hier erſichtlich iſt; aber es ſind nicht ſowohl techniſch gebildete Gehülfen, Lehrlinge und Geſellen, als Knechte und Mägde. Wenn 1864 in den thüringiſchen Staaten1Kollmann, Geſchichte und Statiſtik des Geſindeweſens, in Hildebrand’s Jahrbücher X, S. 298. auf 100 Selbſtändige in den Nahrungsgewerben 71 Dienſtboten, in den Bekleidungsgewerben aber nur 5, bei den Bauhandwerken 21, bei den Gewerben, welche ſich mit Einrichtung der Wohnungen und Herſtellung von Geräthſchaften abgeben, 11, bei allen übrigen Ge - werben endlich 6 Dienſtboten kommen, ſo ſind das Ver - hältnißzahlen, wie ſie ſich ähnlich auch wohl anderwärts ergeben würden, ſofern Aufnahmen nach der Richtung exiſtirten. Sie zeigen einen ſprechenden Unterſchied der einzelnen Gewerbearten in der Wohlhabenheit und in dem Bedürfniß an helfenden Händen für das Geſchäft. Sie zeigen, daß die Zahlen der techniſchen Gehülfen nicht allein maßgebend ſind.

Von beſonderem Einfluß auf die Gehülfenzahl iſt die Thatſache, ob das betreffende Gewerbe auf dem Lande mit vorkommt. Zahlreiche Landmeiſter ohne Ge - hülfen neben ſtädtiſchen Meiſtern mit 2 3 Gehülfen geben für den Durchſchnitt des ganzen Gewerbes doch nur 60 80 Gehülfen auf 100 Meiſter. Die Rade - macher haben in Preußen 1861 - 55, die Glaſer 49376Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.Gehülfen; die Tiſchler, Schloſſer und ähnliche Gewerbe ſehr viel mehr. Und doch wird zwiſchen den ſtädtiſchen Geſchäften kein ſehr großer Unterſchied ſein.

In Berlin iſt die Gehülfenzahl ſehr viel größer, als im Durchſchnitt des ganzen Landes. Einzelne Arten von Gewerben werden in der Großſtadt zu etwas ganz Anderem. Aber in der Hauptſache iſt doch die Ab - ſtufung zwiſchen den einzelnen Arten der Gewerbe die - ſelbe, und bei der überwiegenden Mehrzahl kommen auf einen Meiſter doch nicht über 1 3 Gehülfen durchſchnittlich. Nur wenige Gewerbe haben eine noch größere Gehülfenzahl und auch das ſind faſt lauter ſolche Gewerbszweige, bei welchen große und kleine Geſchäfte neben einander vorkommen. Von den in der Fabrik - tabelle Berlins verzeichneten Geſchäften ſind ſie faſt alle noch weit entfernt. Es kamen durchſchnittlich auf einen Arbeitgeber 1861 in Berlin:1Engel, die Induſtrie der großen Städte, Berliner Gemeindekalender II, S. 143. bei den Spinnereien 15,7, den Webereien 7,6, den Fabriken für Metallproduktion 21,8, denen für Metallwaaren 22,9, denen für mine - raliſche Stoffe 16,3, denen für Pflanzenſtoffe 7,9, denen für Holzwaaren 12,3, denen für Verzehrungsgegenſtände 8,9 Arbeiter. Dieſen Fabriken ſtehen von den oben angeführten Gewerbszweigen nur die Baugewerbe gleich. Jeder Pflaſterermeiſter in Berlin hatte 1861 durch - ſchnittlich 6, jeder Steinhauermeiſter 8, jeder Zimmer - meiſter 14, jeder Maurermeiſter 16 Geſellen und Lehrlinge.

377Die Baugewerbe.

Zahlreiche[Arbeitskräfte] ſind in den Baugewerben für den Meiſter nothwendig; vielfach iſt er in den größern Städten überhaupt ein großer Spekulant und Unternehmer geworden, der über tauſende von Thalern muß verfügen können. Immer aber zeigt ſich auch hierin noch eine große Verſchiedenheit der Verhältniſſe. Darüber möchte ich noch einige Worte bemerken, auch einige weitere Betrachtungen über die Baugewerbe, auf die ich nicht mehr im Speziellen komme, beifügen.

Zuerſt eine Bemerkung über die obigen Zahlen. Wenn nach den Tabellen 1861 ein Maurer - oder Zimmer - meiſter in Württemberg 1 2, in Preußen 4 5, in Sachſen 18 25, in Berlin 14 16 Gehülfen beſchäf - tigt, ſo ſind das nicht durchaus vergleichbare Zahlen. Die polizeilichen Beſtimmungen über das Meiſterwerden ſind verſchieden, und in Folge davon iſt theilweiſe eine beſondere Mittelklaſſe zwiſchen den Meiſtern und den Gehülfen ausgeſchieden, theilweiſe iſt dieß nicht der Fall. In Württemberg z. B. fehlt dieſer Unterſchied. Die Meiſterprüfung war überdieß niemals allzuſchwer; die Zahl der Geſellen iſt daher nicht ſo ſehr viel ſtärker als die der Meiſter; ein Verhältniß, das noch durch die übrigen Urſachen, die dort überhaupt auf kleinern Be - trieb hinwirken, unterſtützt wurde.

In Preußen hatte das Gewerbepolizeiedikt von 1811 die Beibehaltung der Prüfungen für die Bauhand - werker ausgeſprochen, die Inſtruktionen von 1821 und 1833 hatten dieſelben geordnet. 1Rönne, Gewerbepolizei II, 99.Die Anforderungen378Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.waren mäßige, aber immerhin mußte man beſonders auf dem Lande eine Reihe von kleinen Arbeiten auch Leute ſelbſtändig ausführen laſſen, welche die Prüfung nicht beſtanden hatten. Dieſe ſogenannten Flickarbeiter wurden aber erſt 1837 als beſondere Rubrik bei der ſtatiſtiſchen Aufnahme gezählt. Bei der Vergleichung von 1822 und 46, welche Dieterici anſtellte, rechnet er die Flickarbeiter zu den Meiſtern, und demgemäß habe ich in den Berechnungen für 1858 und 61 daſſelbe gethan. Dagegen zeigen die Zahlen für Berlin nur das Verhältniß der eigentlichen Meiſter zu den Gehülfen. Läßt man für die Zahlen des ganzen Staates die Flick - arbeiter weg, ſo ſtellt ſich das Verhältniß ganz anders, als die obigen Zahlen es darſtellen; es kommen dann auf 100 Meiſter

Dieſe Zahlen beweiſen zugleich, daß die nach den obigen Zahlen ſich ergebende Abnahme der Gehülfenzahl von 1858 bis 1861 (von 653 auf 440 Gehülfen bei den Zimmerleuten, von 927 auf 566 bei den Maurern pro 100 Meiſter) nur eine ſcheinbare, von der Zunahme der Flickarbeiter herrührende iſt. Die Zunahme der Flickarbeiter war ſelbſt wieder nicht Folge einer volkswirthſchaftlichen, ſondern einer polizei - lichen Anordnung. Eine ſolche war durch die Gewerbe - ordnung von 1845 und die Gewerbenovelle von 1849 eigentlich nicht hervorgerufen worden; man war wohl379Die Baugewerbe in Preußen.von 1849 an etwas ſtrenger; aber die alten Prüfungs - inſtruktionen waren bis 1856 in Geltung geweſen. Erſt die neue Inſtruktion vom 24. Januar 1856 hatte die Meiſterprüfungen weſentlich zu erſchweren, die Arbeiten, welche zur ſelbſtändigen Ausführung ältern Geſellen als Flickarbeitern überlaſſen bleiben, ziemlich enge einzu - ſchränken geſucht. Darauf hin hatten die Meiſter zuerſt abgenommen; nach wenigen Jahren mußten die Flick - arbeiter, die nun trotz ihres engen Wirkungskreiſes um ſo nothwendiger wurden, um ſo mehr zunehmen.

Um jedoch über die ganzen hier in Betracht kom - menden Gewerbe eine klarere Ueberſicht zu geben, laſſe ich zunächſt die zwei folgenden hiſtoriſchen Tabellen folgen. Sie enthalten eine ziemlich vollſtändige Ueberſicht über die geſammten preußiſchen Baugewerbe von 1816 61. Ich ſage eine ziemlich vollſtändige, denn zu einer ganz vollſtän - digen würde gehören, daß ſie auch die Kalkbrennereien und Ziegeleien, die Gyps - und Traßmühlen, die großen Zementfabriken, die jetzt Grabdenkmale, Bauornamente, Flurplatten, Treppenlehnen liefern, daß ſie alle die Arbeiter, die in Stein -, Marmor - und Schieferbrüchen thätig ſind, mitzählten. Auch die Maurer - und Zimmer - meiſter ſelbſt beſchäftigen noch außer ihren gelernten hier gezählten Gehülfen viele bloße Tagelöhner. Die Zählung der Gehülfen ſelbſt iſt bei den Maurern wenig - ſtens deswegen unſicherer als bei einem andern Gewerbe, weil die Maurergeſellen in den ſtrengen Wintermonaten, in welchen die Zählung ſtattfindet, meiſt nicht in ihrem Gewerbe beſchäftigt ſind, dann auf dem Lande wohnen und anderweitigen Arbeiten obliegen.

380Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.

Man zählte:

381Statiſtik der preußiſchen Baugewerbe.

382Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.

Aus dieſen Tabellen erhellt zuerſt, wie bedeutend die Baugewerbe zunahmen. Die Zimmerleute wuchſen 41, die Maurer 182 % ſtärker als die Bevölkerung.

Dann zeigt ſich, wie trotz der Zuziehung der Flick - arbeiter zu den Meiſtern die einzelnen Geſchäfte an Um - fang zunahmen; ſie haben durchſchnittlich 1861 etwa die dreifache Gehülfenzahl gegen 1816. Die Abnahme des Umfangs von 1858 bis 1861 liegt wieder in der ſtarken Zunahme der Flickarbeiter, welche hier als Meiſter gerechnet ſind.

Drittens ſehen wir, daß 1816 die Zimmerleute und Maurer, je nebſt den einſchlägigen Geſchäften, ſich beinahe die Waage halten, daß ſogar die Zimmerleute noch etwas überwiegen. Das ändert ſich. Die Maurer nehmen ſehr viel ſtärker zu; 1861 ſind ſie beinahe doppelt ſo ſtark vertreten. Es hängt gewiß damit zuſammen, daß mit wachſendem Wohlſtand und ſteigen - den Holzpreiſen der Fachbau und die Holzkonſtruktionen zurücktreten gegenüber dem Steinbau, neuerdings auch gegenüber der Anwendung von Eiſenkonſtruktionen.

Einen tiefern Einblick in die Art der geſchäftlichen Organiſation der Baugewerbe geben die vorſtehenden Tabellen noch nicht. Um ihn zu gewinnen, will ich eine Tabelle mittheilen, in der die Zimmerleute und Maurer nach Provinzen geordnet erſcheinen, in der nur die Meiſter und Gehülfen, nicht aber die Flickarbeiter in Betracht gezogen ſind. Die Zahlen für 18371Die Bevölkerung des preuß. Staats S. 131. ſind Hoffmann entlehnt, die für 1861 ſind von mir nach383Die Baugewerbe in den einzelnen Provinzen.den offiziellen Zahlen1Preußiſche Statiſtik in zwangloſen Heften V, S. 23. berechnet. In der letzten Spalte füge ich die oben ſchon angeführten Prozentzahlen bei, mit denen die Baugewerbe 1861 an der ganzen Bevöl - kerung theilnehmen. Es kommen Gehülfen auf 100 Meiſter:

Die großen provinziellen Gegenſätze, die wir hier vor uns ſehen, die 1861 etwas geringer geworden aber nicht verſchwunden ſind, entſprechen zugleich der hiſtori - ſchen Entwicklung der geſchäftlichen Organiſation.

Der mittelalterliche Maurer - und Zimmermeiſter war ein Handwerker ohne großes Kapital; er durfte wohl mehr Geſellen und Lehrlinge halten als andere Meiſter, oft 4 Geſellen und noch mehr, während andern nur einer oder zwei erlaubt waren; aber ein großer Unter - nehmer wurde er dadurch nicht. Die Lieferung der Materialien, des Kalks, der Steine, des Holzes, der Ziegeln, war Sache deſſen, der bauen ließ; der Kapital - beſitz des Meiſters reichte dazu nicht, Sitte und Vor -384Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.ſchrift wollte es auch nicht, um die Geſchäfte nicht zu groß werden zu laſſen. Oft war ja auch den Meiſtern verboten mehr als ein oder zwei Werke zugleich zu über - nehmen. 1Schönberg, deutſches Zunftweſen, Hildebr. Jahrb. IX, 106 ff. Baader, Nürnb. Polizeiordnungen, S. 286, Abſ. 1.Größere Bauten lagen in der Hand eines Rathsherrn,2Vergl. hauptſächlich die intereſſanten Details über den Rathhausbau in Bremen von 1407 10 im II. Jahrgang des brem. Jahrbuchs, ſowie Entres Tuchers Baumeiſterbuch der Stadt Nürnberg (1464 1475), herausgegeben von Dr. Lexer, Stuttgart, literar. Verein 1862. eines Domkapitulars, dem die Rechnungs - führung übertragen war; an ſolchen arbeiteten viele Meiſter. Für Meiſter und Geſellen waren feſte Tage - lohnſätze hergebracht, die des Meiſters etwas höher, weil er die Geräthe auch für ſeine Geſellen zu ſtellen hatte. In der Blüthezeit des mittelalterlichen Bau - weſens gaben die Bauhütten,3Viebahn III, 627 28. die als Bauhütten ein - zelner großer Städte wie ganzer Länder auftraten, der Geſammtheit der Meiſter eine feſte Organiſation, die bei großen Bauten auch wohl geſchäftlich verwandt wurde.

Die in Polizei -, Landes - und Taxordnungen feſt - geſtellten Löhne geben uns heute noch eine klare Anſchauung von dieſer Stellung der Meiſter. 4So z. B. in den ausführlichen Beſtimmungen der bairiſchen Landesordnung, die in der mir vorliegenden Ausgabe von 1553 S. 163 164 davon handelt.Selbſt in großen385Der Maurer - und Zimmermeiſter alter Zeit.Städten wie Wien iſt es nach der Polizeiordnung von 1527 die Regel, daß die Meiſter nicht Unternehmer ſind, ſondern für Tagelohn arbeiten; nur als Ausnahme wird ihnen erlaubt, daß ſie Beſtännd und geding an - nemmen müge; doch ſollen ſie ſich dann nicht übereilen, und es ſollen ihnen die in der Polizeiordnung feſtge - ſtellten Tagelohnſätze dabei als Norm dienen.

Bei dem tiefern Stand der Volkswirthſchaft im 17 ten und 18 ten Jahrhundert treten ſelbſt dieſe An - fänge von Akkordarbeit und eigentlicher Bauunterneh - mung durch die Meiſter wieder zurück. Die churſäch - ſiſche Taxordnung von 16232Müntz-Mandat und Taxtordnung, nachdem ſich män - niglichen in dieſem Churfürſtenthumb achten und richten ſoll. Leipzig 1623. S. 265 69. kennt in ihrer unendlich breiten Ausführlichkeit nur Tagelohnſätze für Meiſter, wie für Geſellen; die Sätze des Meiſters ſind etwas höher dafür, daß er den Werkzeug helt. Für das 18 te Jahrhundert führe ich an, daß Bergius3Polizei - und Kameralmagazin. Wien 1786, I, 217 ff. zwar die Akkordarbeit bei Bauten unter Erwähnung preußiſcher Reglements empfiehlt, aber doch die Bezahlung ſelbſt der Meiſter im Tagelohn als das Gewöhnliche betrachtet, den Meiſtergroſchen genau beſpricht, den der Geſelle dem Meiſter für die Benützung der Werkzeuge gibt. Im Gegenſatz zu den Zimmerleuten, Maurern und Stein - metzen bemerkt er, die Glaſer, Schloſſer und Klempner pflegten bei den Bauten nicht auf Tagelohn, ſondern1)Wiener Polizeiordnung von 1527. Originaldruck S. IX X und S. XXXII. Schmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 25386Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.nach dem Verdinge oder ſtückweiſe zu arbeiten. Daß auf dem Lande in Baiern noch heute ſo gebaut wird, erwähnte ich oben. Aber nicht bloß hier, auch ander - wärts geht es noch ſo zu, wenigſtens theilweiſe, wenig - ſtens auf dem Lande und in kleinen Städten; da arbeitet der Meiſter ſelbſt mit, hat nur wenige Geſellen; der Privatmann, welcher bauen läßt, muß es auf eigene Rechnung thun.

In den ſchon vor 1815 zu Preußen gehörigen Landestheilen hatten die Dinge ſchon früher ſich geändert. Eine ſtrenge Baupolizei hatte höhere Anforderungen an den einzelnen Meiſter geſtellt. Alle größern, beſonders die ſtaatlichen Bauten, wurden zwar den höhern, vom Staate geprüften und von ihm angeſtellten Bau - technikern zur Leitung übergeben. Und bis in die neuere Zeit läßt ja ſelbſt der reichere Privatmann die Pläne und Riſſe von ſolchen entwerfen. Aber für die Aus - führung derſelben brauchte man größere Werkmeiſter und eigentliche Unternehmer. Und je mehr es früher an großen Bauſpekulanten fehlte, die bloß als kauf - männiſches Geſchäft, als Spekulation gegen feſte Averſal - ſummen Bauten übernahmen und ſich ſelbſt wieder der einzelnen Meiſter für die Ausführung bedienten, um ſo mehr begünſtigte man es, wenn die Meiſter ſelbſt als Unternehmer auftraten. Die Rechnungslegung wurde einfacher; man hatte Einen verantwortlichen Unternehmer, einen Mann von größerer Zuverläſſigkeit, von einigem Vermögen, an den man ſich halten konnte; ſolche größere Zimmer - und Maurermeiſter hatten ſelbſt die nöthigen Rammen, Pumpen, Rüſtungen,387Die großen Bauunternehmer der öſtlichen Provinzen.Hebezeuge, die zu umfaſſenden Bauten nothwendig ſind; ſchon deßwegen gab man ihnen gerne den Vorzug. 1J. G. Hoffmann, die Bevölkerung des preußiſchen Staats. S. 131 133.

Wie die künſtleriſche Seite des Bauhandwerks reformirt wurde in erſter Linie durch den Einfluß der höhern vom Staate gebildeten Baubeamten, durch den Einfluß der vom Staate in’s Leben gerufenen Schulen, beſonders der 1799 gegründeten Bauakademie, ſo ſind es auch in erſter Linie ſtaatliche Einflüſſe, welche die geſchäftliche Organiſation umgebildet haben. Und da dieſe Einflüſſe in den altpreußiſchen Provinzen älter und tiefgreifender ſind, da hier die ungleichere Vermögens - vertheilung ohnedieß, wie wir oben ſahen, auf größere Geſchäfte hinwirkt, ſo iſt es begreiflich, daß die einzelnen Meiſter in den öſtlichen Provinzen ſo viel mehr Ge - hülfen beſchäftigen, als am Rhein und in Weſtfalen. Die Maurer - und Zimmermeiſter ſind da mehr und mehr große Unternehmer geworden, die nach Entwürfen eines Baumeiſters die Generalentrepriſe großer Bauten übernehmen, aber auch ſelbſt Pläne entwerfen, Häuſer auf Beſtellung und auf Spekulation bauen, häufig eine ganze Reihe von Bauten zu gleicher Zeit ausführen, auf dem einzelnen Bau die Aufſicht einem Polir übertragen, in ihrer Wohnung ein beſonderes Zeichen - und Geſchäfts - bureau halten müſſen. Iſt dieſe Richtung einmal im Geſchäftsleben vorhanden, ſo müſſen da, wo am meiſten gebaut wird, wo der größte Wohlſtand iſt, wo die In - duſtrie viele größere Bauten erfordert, die Geſchäfte25 *388Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.leicht noch größer werden. Sie ſind in Sachſen und Schleſien am größten, wo die Baugewerbetreibenden am ſtärkſten ſind. Es ſind dort über 2 % der Bevölkerung in den Baugewerben beſchäftigt; der einzelne Meiſter hat 24 39 Gehülfen. Dann folgt Brandenburg. Es hat 1,6 % Bauhandwerker, 21 26 Gehülfen auf einen Meiſter. Pommern ſteht nicht viel nach. Preußen und Poſen haben dieſelbe allgemeine Richtung, aber der geringere Wohlſtand, die geringere Bauthätigkeit (0,7 0,9 % der Bevölkerung ſind Bauhandwerker) bewirken es, daß auf den Meiſter nur 10 19 Gehülfen kommen.

Viel mehr Bauhandwerker wieder haben Weſtfalen und die Rheinprovinz; aber dieſelben ſind in kleine Geſchäfte zertheilt, beſonders am Rhein. Dort kommen auch 1861 auf einen Zimmermeiſter erſt 2 3, auf einen Maurer - meiſter 5 Gehülfen. Dort war, wie Hoffmann ſagt, die Vielherrſchaft kein Förderungsmittel einer ſtrengen Baupolizei. Das Meiſterrecht konnte leicht erlangt werden; das Gewerbe der Bauhandwerker zerſplitterte ſich, wie das Land, worin es getrieben wurde. Die kleinen Landwirthe, wie die Handwerker und Fabrikan - ten, nahmen die einfachen Bauten gerne ſelbſt in die Hand. Und ſo haben ſich die Sitten erhalten mehr oder weniger bis auf den heutigen Tag, trotzdem daß die Fabrik - und Eiſenbahnbauten, die Bauten von ſchönen Privathäuſern, entſprechend dem großen Wohlſtand der Provinz, dort ſo zahlreich und großartig ſind, als in irgend einem andern Theile der Monarchie. In den größeren Fabrikſtädten haben ſich natürlich die Verhält -389Die Baugewerbe am Rhein.niſſe ſchon etwas anders geſtaltet; die Durchſchnittszahlen der Provinz ſind beeinflußt von den zahlreichen Meiſtern in den vielen Dörfern. Aber ſelbſt in Köln hat der Maurermeiſter wie der Zimmermeiſter durchſchnittlich 1861 nur etwa 6 Gehülfen; ähnliche Zahlen zeigen ſich in Krefeld, Düſſeldorf, Eſſen, Elberfeld, Barmen und Aachen; in Koblenz und Trier ſind die Geſchäfte noch ſehr viel kleiner. Die allgemeinen Verhältniſſe begün - ſtigen dort auch heute noch mehr die kleinen Geſchäfte. Der Bau auf eigene Rechnung iſt überhaupt auch heute noch bei richtiger Beaufſichtigung das billigſte. Große Bauten werden dort, wie anderwärts, nicht von den Werk - meiſtern, ſondern von königlichen Baumeiſtern entworfen und geleitet und es handelt ſich dann bei der Ausführung nur darum, ſtatt einem oder wenigen Werkmeiſtern um - fangreiche Theile des Baues in Verding zu geben, eine größere Zahl kleinerer Meiſter für die einzelnen Theile heran zu ziehen.

Die Aufhebung der Prüfungen für die Bauhand - werker wird Manches beſonders in den alten öſtlichen Provinzen ändern. Für die Bauten auf dem Lande, für die Bauten der kleinen Leute wird ſie entſchieden als eine Wohlthat zu begrüßen ſein; kleine Wohnun - gen, Wohnungen für die arbeitenden Klaſſen werden leichter entſtehen, weil kleine Meiſter, die vom einfachen Geſellen ſich durch Fleiß und Sparſamkeit empor arbei - ten, zahlreicher als vorher ſich zu ſolchen Bauten an - bieten werden. Es kann da auch der Bau auf eigene Rechnung durch kleine Meiſter wieder etwas häufiger werden.

390Die Vertheilung der Gewerbetreibenden.

Aber verwiſchen wird ſich dadurch der Gegenſatz nicht; wo nach den beſtehenden Sitten und Traditionen die großen Werkmeiſter herkömmlich die Bauten über - nehmen, da wird es in der Hauptſache dabei bleiben; Sitten dieſer Art ſind mit tauſend Wurzeln feſt - gewachſen, hängen überdieß mit ſonſtigen Urſachen, Klaſſen - und Beſitzverhältniſſen ſo zuſammen, daß ſie nicht leicht ſich ändern.

Und Manches wirkt den kleinen Bauunternehmungen in neueſter Zeit noch mehr als andern kleinen Unter - nehmungen entgegen: eine immer komplizirtere Technik, große Auslagen für Baumaterialien, Maſchinen und Vorrichtungen, erhebliche Vorſchüſſe an Löhnen, welche nothwendig ſind, endlich die Neigung der Beſtellenden, lange Kredite vom Unternehmer zu fordern, erlauben nur Leuten von einigem Vermögen, ſolche Geſchäfte zu beginnen.

[391]

Der Kampf des großen und kleinen Betriebs in einzelnen Gewerbszweigen.

[392][393]

1. Die Nahrungsgewerbe im Allgemeinen und die in der Fabriktabelle verzeichneten im Speziellen.

Einleitung. Bedeutung der Nahrungsgewerbe. Zahl der Per - ſonen. Die großen Betriebe. Die Zuckerinduſtrie. Der Um - fang der andern hierher gehörenden Fabriken. Das Mühlen - weſen. Seine Fortſchritte, Mehlhandel und Dampfmüllerei. Trotzdem daneben der Fortbeſtand der kleinen Mühlen. Die Spiritusbrennerei, der frühere Kleinbetrieb, der jetzige aus - ſchließliche Großbetrieb. Die Brauerei, der theilweiſe Ueber - gang zu größern Geſchäften. Der Gegenſatz zwiſchen dem Südweſten des Zollvereins und dem Nordoſten.

Die letzten Betrachtungen über die Baugewerbe haben uns eigentlich ſchon von der allgemeinen auf die ſpeziellere Unterſuchung einzelner Gewerbe übergeführt, die als letzter Abſchnitt ſich anſchließen ſoll.

Den Mittelpunkt der Betrachtung wird daſſelbe Thema bilden wie bisher die Umbildung der Klein - gewerbe, die Frage, in wie weit das einzelne Gewerbe durch die veränderte Technik, durch die Aenderung der Verkehrsverhältniſſe und Geſchäftsgebräuche, durch die Anſammlung großer Kapitale, durch die großſtädtiſchen Verhältniſſe ein anderes geworden iſt. Ich werde mich dabei aber nicht wie bisher auf die in der Handwerker -394Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.tabelle verzeichneten Gewerbe beſchränken können. Auch in der Fabriktabelle ſtehen viele kleineren Geſchäfte; auch einzelne eigentliche Großgewerbe, ſoweit ſie mit den Kleingewerben konkurriren oder ſachlich ihnen nahe ſtehen, werde ich, wenigſtens flüchtig, berühren müſſen. Rück - blicke auf frühere Aufnahmen, hauptſächlich aber die Ergebniſſe von 1861 werden die ſtatiſtiſche Grundlage bilden. Um die Unterſuchungen nicht allzuſehr an Um - fang anſchwellen zu laſſen, werden es vorzugsweiſe die altpreußiſchen Provinzen ſein, auf deren Betrachtung ich mich beſchränke. Wenden wir uns zunächſt den Nahrungsgewerben zu.

Nach den Unterſuchungen von Ducpetiaux, Le Play und Engel kommen bei einer wohlhabenden Familie durchſchnittlich 50 Prozent, bei einer Familie des Mittel - ſtandes 55 Prozent, bei weniger bemittelten Familien bis zu 65 und 70 Prozent der Ausgaben auf die Nahrung. 1Engel, in der Zeitſchrift des ſächſ. ſtatiſtiſchen Bureaus 1857. S. 168 171.Die Nahrung iſt bei weitem der größte Poſten in den meiſten häuslichen Budgets, in allen, die den gewöhnlichen mittleren Kreiſen angehören.

Dem entſprechend umfaſſen auch die Nahrungs - gewerbe in ihrem weiteſten Sinne den größten Bruch - theil der arbeitenden Bevölkerung; es gehört neben den ſpezifiſch ſogenannten Nahrungsgewerben beinahe die geſammte landwirthſchaftliche Bevölkerung hierher, welche in Preußen 1849 noch 51,2 %, 1861 - 454 % der Bevölkerung betrug, in Sachſen 1849 - 33,82, 1861395Die Bedeutung der Nahrungsgewerbe.26,78 % der Selbſtthätigen ausmachte. Die landwirth - ſchaftliche Bevölkerung intereſſirt uns hier allerdings nicht, wir haben es nur mit den Gewerben im engern Sinne zu thun. Aber auch ohne die Landwirthſchaft ſind die Nahrungsgewerbe noch umfangreich genug. Engel rechnet für die geſammten Nahrungsgewerbe 1849 45,41 % der Selbſtthätigen, wovon 33,82 % auf die Landwirthſchaft kommen, alſo 11,59 % für Fabriken, Handwerke, Wirthe und Händler übrig bleiben. Die Handwerker allein, die hierher gehören, nämlich die Bäcker, Fleiſcher und Kuchenbäcker, nebſt Fiſchern, Gärt - nern und Verfertigern von Getreideprodukten, machen allerdings 1861 nach Viebahn in den verſchiedenen Zollvereinsſtaaten nur 0,5 0,8 % der Bevölkerung aus, das wären etwa 2 3 % der männlichen erwachſenen Perſonen; der Reſt fällt auf die Fabriken, Mühlen, Wirthſchaften und Händler.

Die Fabriken für Verzehrungsgegenſtände haben 1861 in Preußen ein Perſonal von 168963 Perſonen, die Handwerke für Nahrungsmittel ein ſolches von 107092, alſo zuſammen von 276055 Perſonen. Hiezu kämen noch etwa 80000 90000 Perſonen in den Wirth - ſchaftsgewerben, 50000 Perſonen, welche Viktualien - handel treiben, eine Anzahl Weinhandlungen und Ge - treidehandlungen, ſo daß zuſammen mindeſtens 450000 Perſonen oder 2,4 % der ganzen Bevölkerung, 9 10 % der erwachſenen männlichen Bevölkerung herauskommen.

Wie viele von dieſen Perſonen gehören nun wirklich großen Geſchäften an? Darauf gibt die Statiſtik von 1861 in ſo fern eine Antwort, als ſie alle Fabriken, welche396Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.über 50 Perſonen beſchäftigen, beſonders ausgeſchieden hat. Von den 50319 hierher gehörigen Fabriken, Mühlen und Anſtalten haben nur 338 je über 50 Perſonen beſchäftigt; die auf die 338 großen Fabriken fallende Perſonenzahl iſt 50245, alſo 11,1 % der geſammten vorhin gezählten, 29,7 % der in der Fabriktabelle aufgeführten Perſonen.

Es ſind das hauptſächlich die Rübenzuckerfabriken und Raffinerien, deren eine durchſchnittlich nach der preußiſchen Aufnahme 1861 - 159 Perſonen beſchäftigt. Die Anfänge dieſer Induſtrie waren ſehr viel kleinere; aber ſchon 1849 kamen in Preußen 130 Perſonen auf eine einzige Fabrik. Die techniſche Durchſchnittsleiſtung jeder Rübenzuckerfabrik iſt 1840 65 auf das fünffache geſtiegen. 1Viebahn III, 775.Hat hierzu die Art der Beſteuerung, welche in jeder Weiſe auf techniſche Vervollkommnung, ja ſogar auf eine Vervollkommnung ſelbſt mit einer übermäßigen Steigerung der Produktionskoſten hinwirkt, etwas bei - getragen, hat ſie die Induſtrie weſentlich an die großen Güter geknüpft, auch mit einer Beſteuerung ähnlich der franzöſiſchen hätte der Umfang der einzelnen Geſchäfte wachſen müſſen, hätten ſich die ganz kleinen Fabriken nicht gehalten.

Viel weniger umfangreich ſind die übrigen hierher gehörigen Geſchäfte nach der Aufnahme von 1861. Eine Chocoladenfabrik zählt durchſchnittlich 15 Perſonen, eine Schaumweinfabrik 9, eine Stärkefabrik obwohl dabei die kleinſten Produzenten nicht ſind, ſie ſtehen mit in der Handwerkertabelle 6; eine Bierbrauerei und397Der Großbetrieb in den Nahrungsgewerben.eine Branntweinbrennerei haben je nur gegen 3, eine Eſſigfabrik, eine Fabrik für eingedickte Pflanzenſäfte, eine Fleiſchpökelei durchſchnittlich nur gegen 2 Perſonen zur Verfügung; auf eine preußiſche Mühle kommen noch nicht 2 Perſonen nach der Aufnahme von 1861. Wenn wir nur auf den Durchſchnitt ſehen, alſo lauter Ge - ſchäfte, die den Grenzen des kleinern Betriebs noch nicht oder kaum entwachſen ſind.

In gewiſſem Sinne kann jede ſolche Durchſchnitts - zahl freilich trügen; ſie kann das Produkt einer großen Zahl mittlerer Geſchäfte, wie das Produkt ganz großer und ganz kleiner Unternehmungen ſein. Mehr oder weniger iſt das letztere der Fall bei den Mühlen, den Brauereien und Brennereien.

Im Mühlenweſen drängen zwei Urſachen auf größere techniſch verbeſſerte Einrichtungen. Der Mehl - handel im Großen gewinnt eine immer ſteigende Bedeu - tung gegenüber dem Getreidehandel. Nicht bloß die große amerikaniſche und deutſche Einfuhr nach England zeigt mehr und mehr ſtatt des Getreides Mehl, auch der deutſche Provinzialhandel geht ſchon vielfach auf Mehl über. Bedeutende Maſſen Weizenmehl werden in der Mark aus ſchleſiſchen, poſenſchen und preußiſchen Mühlen bezogen. In Berlin wurden 1866 - 438949 Zentner Weizenmehl und 545204 Zentner Roggenmehl eingeführt, in Berlin ſelbſt gemahlen nur 118465 Zentner Weizenkörner und 215718 Zentner Roggenkörner.1Meyer, Bericht über den Getreide - ꝛc. Handel in Berlin im Jahre 1866. Berlin 1867. S. 11. Zu398Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.dieſem Mehlhandel iſt aber das in den alten kleinen Mühlen gemahlene Getreide wenig brauchbar. Die Art der Befeuchtung beim alten Mahlverfahren macht das Mehl unhaltbar. Die neueren Mahleinrichtungen erfor - dern das Befeuchten gar nicht und liefern ein haltbares Mehl, wie es der Großhandel erfordert. 1Stohmann, theoretiſche, praktiſche und analytiſche Chemie 2 te Aufl. I. Braunſchweig 1865. Sp. 1191.

Wichtiger noch iſt die billige und beſſere Produktion an ſich durch die neueren Mühleinrichtungen. Paſſy verſichert, die gleiche Quantität Korn, die in früherer Zeit 100 Pfund Mehl geliefert habe, könne nach den verbeſſerten Einrichtungen über 190 Pfund geben. 2Paſſy, Dictionnaire d’économie politique II, 515 nach Schütz, über die Renten, Tübinger Zeitſchr. für Staats - wiſſenſchaft XI, S. 203.Die neue Sichtmaſchine von Henri Cabanet aus Bordeaux allein will, da ſie 10 75 % fremde Theile vorher ausſcheidet, den Steinen eine unnütze Arbeit von 10 75 % abnehmen und ſtellt außerdem eine Vermehrung des Mehles in Ausſicht, die bei allgemeiner Anwendung gleich 1 / 45 1 / 50 der ganzen Ernte ſein würde. 3Offizieller Katalog der internationalen Ausſtellung von Maſchinen, Produkten und Spezialitäten der Müllerei ꝛc. im Mai und Juni in Leipzig 1869. S. 41 46.Wie dem aber genauer im Detail ſei, die Leiſtungsfähigkeit iſt jedenfalls eine außerordentlich viel größere. Der Gang einer Wind - oder Roßmühle macht in 24 Stunden 8 12 Scheffel, ein Waſſergang 24 Scheffel, ein Dampfgang 48 Scheffel bei unausgeſetztem Betriebe. 4Viebahn III, 759.

399Die Fortſchritte der Müllerei.

Die beſſern Einrichtungen ſind nichts Neues. Das amerikaniſche Mahlverfahren wurde ſchon Anfang der dreißiger Jahre in größern ſtädtiſchen Mühlen einge - führt. In den großen Seeſtädten, auch theilweiſe in den bedeutendern Binnenſtädten exiſtiren heute große Aktien - unternehmungen ſowie reiche Unternehmer, die nicht mehr mit der Lohnmüllerei ſich abgeben, ſondern die Müllerei und die Mehlſpekulation auf eigene Rechnung im Gro - ßen betreiben. Die Dampfmühlen haben bedeutend zu - genommen; jede ganz große Mühle beinahe muß, wegen der Ungleichheit des Waſſerzufluſſes, wenigſtens eine Re - ſervedampfmaſchine haben. Es gab deren in Preußen

Das ſind die großen Geſchäfte, deren einzelne bis zu 60 und 70 Arbeiter beſchäftigen. Sie haben beſon - ders von 1861 bis zur Gegenwart noch große Fort - ſchritte gemacht, aber ſie werfen ſich auch mehr und mehr auf den Export. Der Stettiner Handelskammer - bericht von 18651Preußiſche Handelskammerberichte für 1865, S. 234. ſchildert in glänzenden Farben die Fortſchritte der großen Dampfmühlen, beſonders der Stettiner Dampfmühlenaktiengeſellſchaft, aber als Haupt - erfolg hebt er hervor, daß die Produkte nunmehr auf engliſchen und franzöſiſchen Märkten konkurriren können.

Das kann es uns erklären, daß die Konkurrenz der großen Dampfmühlen den zahlreichen kleinen Mühlen400Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.noch nicht allzu gefährlich war. Die letzteren beſtreiten noch immer den größten Theil des Bedürfniſſes. Der Mehlhandel im Großen iſt verſchwindend gegen den loka - len Mehlbedarf. Alle techniſche Vollendung und billige Produktion großer Unternehmungen kann nicht aufkom - men gegen die Transportkoſten, die aus einer größern Konzentration des Mühlenweſens entſtehen würden. Und theilweiſe ſind ja die Verbeſſerungen auch im kleinen Betrieb anzubringen.

Die ländlichen Mühlen ſind auch jetzt noch die Haupt - ſache; 1861 ſind von den preußiſchen Waſſermühlen 88 % ländliche,1Viebahn III, 756. von den Windmühlen wohl noch mehr. In Sachſen exiſtiren 1855 - 512 ſtädtiſche, 3543 länd - liche Mühlen; von 5328 gewöhnlichen deutſchen Gängen ſind 2979 noch nicht über 4 Monate im Gange. 2Zeitſchrift d. ſächſ. ſtat. Bur. 1857. S. 53.Der kleine Müller iſt nebenher Bauer, Wirth, er hat eine kleine Säge - oder Oelmühle mit ſeiner Waſſerkraft ver - bunden und iſt trotz unvollkommener Technik ein wohl - habender Bürger und Handwerker, der nicht unter der Konkurrenz der großen Mühlen leidet. Als Beweis, daß ſelbſt die kleinen Windmühlen die neuern Fortſchritte der Technik theilweiſe adoptiren können, führe ich die Bemerkungen der Greifswalder Handelskammer von 1865 an;3Preußiſche Handelskammerberichte pro 1865. S. 316. es wird, nachdem der ſchwunghafte Betrieb der einzigen Dampfmühle erwähnt iſt, berichtet, die dortigen 20 Windmühlen hätten ungefähr die gleiche401Der Fortbeſtand der kleinen Mühlen.Quantität Roggen und Weizen, aber ausſchließlich für den Platzkonſum vermahlen. Dann heißt es: Dank der ſpornenden Konkurrenz der Dampfmühlen muß an - erkannt werden, daß die Windmühlen ihr Mahlſyſtem jetzt hier ſämmtlich verbeſſert und nach dem Muſter der Dampfmühlen eingerichtet haben. Sie haben des - halb es auch dahin gebracht, in Roggenmehl ein ſo gutes Produkt zu liefern, daß ſie wohl von dieſer Sorte hier die Platzverſorgung der Hauptſache nach behaupten können, da gerade auch Roggen ſich für kleinere Mühlen - betriebe geeigneter zeigt als Weizen. Auch auf der dießjährigen Ausſtellung von Müllereimaſchinen und - Produkten in Leipzig hatte man den Eindruck, daß die meiſten Fortſchritte und Verbeſſerungen in kleinen Mühlen durchzuführen ſeien. Die theilweiſe ganz neuen Hülfsmaſchinen ſind nicht allzutheuer. Die vorhin erwähnte Sichtmaſchine z. B. war zu 1200 Francs notirt. Aehnlich manche der andern Maſchinen. Bei einzelnen beſſern Hülfsvorrichtungen am Mahlgang handelt es ſich ſogar nur um ein paar Thaler.

So kommt es, daß uns die Statiſtik neben der Zunahme der Dampfmühlen keine Abnahme der andern zeigt. Man verzeichnete in Preußen früher Waſſer - und Windmühlen zuſammen, erſt ſpäter getrennt. Von den Windmühlen haben in der Regel die alten Bockmühlen, welche noch 1861-88 % der geſammten Windmühlen aus - machen, einen, die holländiſchen Mühlen zwei Gänge. Die Zahl der Gänge wird bei den Windmühlen nicht aufge - nommen. Abgeſehen nun von den nicht zahlreichen durch thieriſche Kräfte getriebenen Mühlen gab es in Preußen:Schmoller, Geſchichte d. Klein gewerbe. 26402Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.

Nach Aufhebung des Mühlenzwangs 1810 in Preußen waren viele Windmühlen raſch entſtanden; 1825 wurde der Bau einer Windmühle an eine Kon - zeſſionsertheilung geknüpft, welche erfolgen ſollte je nach dem Bedürfniß; ſeit 1845 iſt das beſeitigt; in Folge hiervon trat die bedeutende Zunahme der Windmühlen ein, die aber nicht ſtattgefunden hätte, wenn die Kon - kurrenz der großen Etabliſſements auch auf dem Lande und in den kleinen Städten wirkte.

Im Süden und Weſten Deutſchlands iſt die Zahl der Mühlen größer, ſchon weil der Mehlkonſum viel ſtärker iſt. Selbſt die größern Geſchäfte aber ſind kleiner als im Norden; auf eine badiſche Dampfmühle kommen nach Viebahn 14, auf eine pommerſche 40 Gänge. Es gibt im Süden noch viel mehr Lohn - oder Kundenmühlen; man hat dort auch viele Kundenmühlen mit verbeſſerten amerikaniſchen Einrichtungen. Dagegen fehlen dort die kleinen ländlichen Windmühlen. Es überwiegt die mittlere Waſſermühle, während man in Norddeutſchland mehr ganz große und ganz kleine Ge - ſchäfte findet.

403Die Branntweinbrennerei.

Die Branntweinbrennerei gehört nach der ſozialen Stellung der Unternehmer weniger dem gewerblichen als dem landwirthſchaftlichen Leben an. Aber ein paar Worte mögen doch erlaubt ſein.

Die preußiſche Branntweinbrennerei empfing ihren Hauptimpuls durch die landwirthſchaftliche Ueberproduk - tion der zwanziger Jahre. In jener verkehrsarmen Zeit war ſie doppelt am Platz, um die untransportablen Kartoffeln, auch das Getreide zu verwerthen. Es ent - ſtanden die vielen kleinen und vielfach unvollkommenen Brennereien. Von 1831 ab nimmt, wohl auch in Folge der verſchärften Steuer, die Zahl der Brennereien ſchon ab, die Geſammtproduktion ſteigt aber noch bis 1839; da erreicht die preußiſche Produktion den Höhe - punkt von 197 Millionen Quart Branntwein oder 13,2 Quart pro Kopf der Bevölkerung. 1Dieterici, ſtatiſt. Ueberſ., erſte Folge, 1842. S. 223.In den vierziger Jahren kamen die ſchlechten Kartoffelernten hinzu; 1854 iſt die Produktion geſunken bis auf 109 Mill. Quart. 2Bienengräber, Statiſtik des Verkehrs und Verbrauchs im Zollverein für die Jahre 1842 64. Berlin 1868. S. 183.Die Rohſtoffe ſind theilweiſe ſchon einträglicher anders zu verwerthen, die Branntweinpreiſe ſind in Folge der Ueberproduktion außerordentlich gefallen. Das Quart koſtete in leichten Pfennigen:3J. G. Hoffmann, Darſtellung des Zuſtandes, worin ſich die Bereitung und der Verbrauch des Branntweins in Bezug auf ſtaatswirthſchaftliche und ſittliche Verhältniſſe dermalen im preußi - ſchen Staate befindet, Sammlung kleiner Schriften. Berlin 1843, S. 448.26 *404Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.

Den tiefſten Stand erreichen die Preiſe 1849 und 50; da ſtehen ſie auf 24 Pf. pro Quart in Berlin. 1Jahrbuch für die amtliche Statiſtik II, 152.Man hatte in kleinen Geſchäften überall fortproduzirt ohne jede Rückſicht auf den Abſatz des Branntweins, nur um die Schlempe als Viehfutter zu haben. Sie hat ihrer Zuſammenſetzung wegen einen beſondern Werth, braucht weniger Zuſätze an Proteinſtoffen, als wenn man die Kartoffeln direkt verfütterte; das kann ja unter Verhältniſſen ſo weit gehen, daß die Schlempe, die als Viehfutter nebenher abfällt, ſo viel Werth hat, als der urſprüngliche Rohſtoff im Ganzen. 2Siehe die Koſtenberechnungen für die Zeit von 1840 bis 1850 bei Engel, ſächſ. Jahrb. S. 382. Ferner: Settegaſt, die Thierzucht, Breslau 1868. S. 444 448.

Das war auch hauptſächlich die Urſache, warum die Fabrikation trotz der Ueberproduktion und den geſunkenen Preiſen nicht ganz aufhörte. Ja ſie nimmt von 1854 an ſogar einen neuen Aufſchwung; ſie ſteigt von 109 Mill. Quart 1854 bis auf 208 Mill. Quart 1864.

405Der Sieg des Großbetriebs in der Brennerei.

Aber möglich war das nur durch das vollſtändige Verlaſſen des Kleinbetriebs. Die Zunahme iſt rein auf Rechnung der vollendeten Technik, des Großbetriebs, der Brennereien auf ganz großen Gütern zu ſetzen. Schon in den dreißiger Jahren hatten die Fortſchritte in den Fabriken, welche den Betrieb fortſetzten, begonnen, vollendet haben ſie ſich erſt von 1854 ab. Die Zahl der Geſchäfte hat bedeutend abgenommen; es gab:

Schon 1831 freilich zahlten von den 13819 betriebenen Geſchäften 2795 je über 500 Thlr. jährliche Brannt - weinſteuer, aber 1865 zahlen von 7711 nicht weniger als 3682, alſo beinahe die Hälfte, über 500 Thlr. Der Umfang der Geſchäfte nimmt auf der Linie nach Nordoſt wieder zu. Im Jahre 1864 haben 533 Brennereien über 5000 Thlr. Steuern gezahlt, 115 hiervon fallen auf Poſen, 51 auf Pommern, 74 auf Schleſien, 124 auf die Mark, 90 auf Sachſen; das ſind zuſammen 454. Die 466 Brennereien Poſens produziren das dreifache Quantum der 2422 rheiniſchen Brennereien. Es liegt in alledem der klare Beweis, daß der Großbetrieb zur Herrſchaft gelangt iſt. Wenn 1861 auf eine Brennerei durchſchnittlich 3 Perſonen kommen, ſo beweiſt das nur, daß neben den großen Etabliſſements im Oſten eine gewiſſe Zahl ganz unbedeutender Brennereien noch exiſtirt, ſowie daß die Erhebung der Perſonenzahl nicht genau ſein kann bei einem Nebengewerbe, das nur406Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.einen Theil des Jahres Perſonen beſchäftigt, die ſonſt rein der Landwirthſchaft ſich widmen.

Etwas anderes iſt es mit der Brauerei, wenn gleich auch ſie vielfach in den Großbetrieb übergeht. Die Brauerei tritt auch theilweiſe als ländliches Neben - gewerbe auf, aber viel weniger, als die Branntwein - brennerei; ſie flüchtete ſich hauptſächlich zu einer Zeit aufs Land, als die Zunftmißbräuche in den Städten gerade hier, gerade in dieſem Gewerbe den höchſten Grad erreicht hatten. 1Engel, ſächſiſches Jahrbuch S. 376.

Die alte weitberühmte Brauerei der deutſchen Städte, welche bis in das 17te Jahrhundert ſich erhal - ten hatte, zerfiel im 18ten mehr und mehr. Thee und Kaffee, Wein und Branntwein verdrängten das Bier bei Vornehm und Gering. Die ſtädtiſche Brauzunft beſtand aus einer Anzahl Hausbeſitzern, die das aus - ſchließliche Recht zu brauen als eine Pfründe betrachteten, es häufig nur verpachteten, jedenfalls wenig von der Brauerei verſtanden, da ſie nicht, wie andere Real - berechtigte, gezwungen waren, durch eine techniſche Bildung ſich das Meiſterrecht zu erwerben. Bei ſinken - dem Abſatz wurde das Reihebrauen eingeführt, oft mit einem gemeinſamen Malzhaus und in einem gemein - ſamen Brauhaus, welche jeder nach der Reihe benutzte, weil es nicht lohnte, mehrere ſtehende Einrichtungen derart zu haben. 2J. G. Hoffmann, Befugniß zum Gewerbetrieb S. 188 bis 197.

407Die Bierbrauerei.

Erſt mit einer veränderten Gewerbegeſetzgebung, welche dieſe Mißbräuche beſeitigte oder zu beſeitigen erlaubte, nahm die Brauerei einen neuen Aufſchwung, zeigte ſich aber auch bald die Neigung zu größern Ge - ſchäften. Die Möglichkeit eines bedeutenden Abſatzes in die Ferne iſt vorhanden, die techniſchen Anſprüche an die gute Leitung einer Brauerei, wie an die Vollkommen - heit der Einrichtung haben ſich immer mehr geſteigert. Eine den heutigen Anforderungen entſprechende Kunſt - brauerei ſagt Viebahn bedarf nächſt ausgedehn - ten Gebäuden eines umfaſſenden Syſtems von Apparaten und Maſchinen zum Darren und zur Zerkleinerung des Malzes, zur Fortſchaffung und zum Kochen des Malz - ſchrotes, eiſerner Kühler in Verbindung mit Ventilatoren und Eiskühlung, welche eine für längere Dauer geeignete Untergährung auch bei wärmerer Witterung ermöglichen, Saccharometer zur genauen Beobachtung des Gährungs - laufes, ausgedehnter Eis - und Bierkeller. Die alten profeſſionsmäßigen Brauereien ſind der Konkurrenz mit dieſen neuen planmäßig eingerichteten Fabriken im Bier - handel ſelten gewachſen, ſie beſchränken ſich deshalb, da ſie meiſtens auch Schenken haben, auf die Produktion für den eigenen Bedarf.

Letztere ſind im Süden Deutſchlands, am Rhein und in Weſtfalen noch zahlreicher; auch da vergrößern ſich die einzelnen Geſchäfte;1Siehe württemberg. Jahrb. 1862 Heft 2. S. 230. beſſere, theuerere Einrich - tungen werden gemacht; aber vielfach auch in kleinern mit Schank - und Gaſtwirthſchaft verbundenen Geſchäften. 408Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.Jedes Dorf beinahe, jedes kleine Städtchen hat eine oder einige Brauereien. Die ſoziale Stellung des Brauers iſt dort überwiegend noch die eines wohlhaben - den Handwerkers, während im Norden der Brauer ein vornehmer Fabrikherr geworden iſt.

Die bairiſchen Brauereien, von welchen die Impulſe des Fortſchrittes ja weſentlich ausgingen, ſind theilweiſe ſehr groß, im Durchſchnitt aber auch noch mäßigen Um - fangs. Der jährliche Durchſchnittsverbrauch an Malz für eine Brauerei wird auf 247 bairiſche (etwa 1000 preußiſche) Scheffel gerechnet, die entſprechende Pro - duktion auf 1730 bairiſche Eimer Bier. 1Bavaria I, erſte Abtheilung, 501.In München waren 1857 zwei Brauereien, welche jährlich über 100000 Eimer (100 = 93 preuß. ), 10 welche zwiſchen 34000 und 77000 Eimer produzirten, und 14 kleinere, auf welche durchſchnittlich 14000 Eimer kamen. Das ſind große Geſchäfte. Aehnliche gibt es in Erlangen, Nürnberg, Kitzingen, Kulmbach, Landshut, Regensburg, Windsheim, Bayreuth, Hof und Tölz; die übrigen Brauereien im Lande ſind dagegen viel kleiner.

In Preußen werden die nicht gewerblichen Brauereien, die nur für den Hausbedarf arbeiten, unterſchieden von den gewerblichen; die Zahl der nicht gewerblichen hat ſich wenig geändert, dagegen hat die Zahl der gewerblichen bedeutend abgenommen, während die Produktion allein von 1854 64 von 9 auf 14 Quart pro Kopf ſtieg; es waren:2Bienengräber, Statiſtik des Verkehrs S. 159.409Die Abnahme der kleinen Bierbrauereien.

Die Abnahme erfolgte in den verſchiedenen Pro - vinzen wieder in derſelben Ordnung von Südweſt nach Nordoſt; ſie betrug 1839 64 in Prozenten:

Aus dieſen Zahlen iſt erſichtlich, wie viel ſtärker der Rückgang der ländlichen als der ſtädtiſchen Geſchäfte, hauptſächlich aber, wie viel ſtärker der Rückgang in den öſtlichen Provinzen iſt. Die ſtädtiſchen Brauereien der Rheinprovinz haben am wenigſten abgenommen, die ſchleſiſchen ſogar etwas zugenommen. Deutlicher noch zeigt ſich die Größenvertheilung der Unternehmungen in folgender Tabelle, welche zuſammengezogen nach den Zahlen von Bienengräber mittheilt, wie groß die Zahl der Brauereien iſt, welche 1864 eine beſtimmte Quan - tität Braumalz verarbeiten. Ich füge in der letzten Spalte nach Viebahn den Betrag bei, den 1865 durch - ſchnittlich eine Brauerei an Steuer zahlte.

410Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.

Die kleinen Geſchäfte, welche unter 100 Centner Braumalz verbrauchen, ſind der Zahl nach nur in den beiden weſtlichen Provinzen noch überwiegend; dagegen ſind der Zahl nach überall noch die mittleren Geſchäfte vorherrſchend, welche zwiſchen 100 und 1000 Centner ver - arbeiten. Die Aenderung aber ſeit 1853 in dieſer Beziehung iſt groß; damals machten aus

Wenn vorerſt noch die Mittelgeſchäfte überwiegen, ſo iſt die Frage, wie lange das noch anhält. Wir ſind auch hier mitten inne in dem Umbildungsprozeß.

[411]

2. Die Bäcker und die Fleiſcher.

Die techniſchen Fortſchritte in der Bäckerei. Die Brodfabriken. Die Urſachen ihrer geringen Zunahme. Die preußiſchen Bäcker 1816 61. Ihre Stabilität. Die Brodkonſumtion und die Hausbäckerei. Die Kuchenbäcker und die Konfiturenfabriken. Das Fleiſchergewerbe. Seine großſtädtiſche Organiſation. Die Schlachthausfrage. Die preußiſchen Fleiſcher 1816 61. Kleine Geſchäfte und geringe Zunahme. Die Fleiſchproduktion und Konſumtion. Ihre theilweiſe Abnahme. Hausſchlächterei und gewerbliche Schlächterei.

Sieht man nur auf die Technik und ihre Fort - ſchritte, ſo könnte man erwarten, daß die Brodfabri - kation der Brauerei in ihrer Umbildung nicht nach - ſtünde. Nicht bloß die alte Art der Brodbereitung hat große techniſche Verbeſſerungen aufzuweiſen, auch ganz neue Methoden ſind in den großen engliſchen Brodfabriken in Anwendung.

Ich erwähne als Beiſpiel die in einigen engliſchen Dampfbrodfabriken eingeführte Methode von Daugliſch. 1Stohmann, Chemie I, 1224 29.Sie beſteht darin, daß das Mehl unter Zugabe der erforderlichen Menge Salz unter ſehr hohem Drucke in einer Athmoſphäre von Kohlenſäure mit an Kohlen -412Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.ſäure geſättigtem Waſſer angerührt wird. Der Teig enthält dann kohlenſaures Gas in Waſſer unter hohem Druck vertheilt. Sobald dieſer Druck aufgehoben wird, ſtrebt das komprimirte Gas zu entweichen und lockert dabei den Teig. Das Backen erfolgt in einem 40 Fuß langen Ofen, deſſen Sohle aus Eiſenplatten beſteht und von unten geheizt wird; über der Sohle läuft ein end - loſes Rollenpaar, das die Backplatten trägt und all - mählig nach dem andern Ende des Ofens bringt. Das Brod iſt ausgezeichnet; die Ausgaben für Hefe und mancherlei Verluſte fallen weg; Arbeit iſt beinahe keine nöthig, da Alles durch Maſchinen geſchieht. Das Mehl iſt in Stunden in fertiges Brod verwandelt, wäh - rend ſonſt eine 3 4 fache Zeit nothwendig iſt.

Auch in England, ſpeziell in London, aber ſind ſolche Etabliſſements nach der ausdrücklichen Verſicherung eines kompetenten Beurtheilers1Des Halles et marchés et du Commerce des objects de consommation à Londres et à Paris. Rapport à s. Exc. le ministre de l’agriculture du commerce et des travaux publics par S. Robert de Massy. Paris Impr. impér. 1861. I, 75. 1861 noch ſehr ſelten gegenüber der Maſſe gewöhnlicher Bäcker.

Außerordentliches läßt ſich unter Beibehaltung der alten Art der Zubereitung ſchon leiſten durch die verbeſſerten, vornehmlich durch die ganz großen Backöfen. Engel hat ſchon 1857 über die Er - ſparung an Heizkoſten und Heizmaterial intereſſante Berechnungen gemacht. 2Zeitſchrift des ſächſ. ſtat. Bür. 1857. S. 54 55.In den gewöhnlichen land -413Die Brodfabriken und die verbeſſerten Backöfen.wirthſchaftlichen Backöfen, ſagt er in welchen nur zeitweilig Brod gebacken wird, braucht man für je 100 Pfund Brod 60 70 Pfund Holz; in Oefen, worin täglich 2 - bis 3 mal gebacken wird, 30 36 Pfund; in Oefen, in welchen Tag und Nacht ununter - brochen gebacken wird, 17 18 Pfund; das macht das Pfund Holz zu 1 Pfennig gerechnet 70, 36 oder 18 Pfennige; bei konſtanter Steinkohlenheizung braucht man 10 12 Pfund Steinkohlen, die 7 8 Pfennige koſten, womit die wirklichen Rechnungen der großen Bäckerei im Hoſpital St. Jean in Brüſſel überein - ſtimmen. Engel nimmt an, daß in Sachſen jährlich 800 Millionen Pfund Brod konſumirt werden, und daß demnach durch Konzentration der ganzen Brodbäckerei eine Erſparniß von nahezu einer Million Thaler zu erzielen wäre. Die jetzt viel genannten Wochenmeyer - ſchen Dampfbacköfen leiſten bei gleichen Koſten mindeſtens das fache gewöhnlicher Backöfen.

Zu derartigen großen Einrichtungen gehört aber ein großes Kapital. Reiche Unternehmer nur oder Aktien - geſellſchaften, Spitäler, große militäriſche Verpflegungs - anſtalten, ſowie Genoſſenſchaften können ſie in die Hand nehmen. In Stuttgart iſt Ende 1865 eine Brod - fabrik entſtanden, welche einen großen Zulauf hat und eine gute Qualität Brod unter dem Preiſe der übrigen Bäcker liefert. Die Berliner Aktienbäckerei hat nach Viebahn einen jährlichen Abſatz von 15 Millionen Pfund. In Trier und Köln ſind große Geſchäfte, die ihre Pro - dukte meilenweit in die Umgegend abſetzen. Die Bäcke - reien von Hameln ſollen in den letzten Jahren für etwa414Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.42000 Thaler jährlich Brod nach Weſtfalen abgeſetzt haben. In Berlin und Chemnitz exiſtiren große Ge - noſſenſchaftsbäckereien, der St. Johann-Saarbrücker Konſumverein hat eine eigene Brodbäckerei.

Die zweite Vorausſetzung ſolcher großer Bäckereien iſt die Organiſation des Abſatzes, des Brodhandels. Nun iſt der Brodhandel ja beſonders in Nord - deutſchland ſehr entwickelt, der Brodverkauf auf den Wochenmärkten durch die umliegenden Landmeiſter iſt ziemlich bedeutend. Häufig haben die Landmeiſter beſtimmte Kunden in der Stadt, denen ſie täglich oder alle paar Tage die nothwendige Brodquantität in’s Haus bringen. In Berlin wurden 1864 - 184400 Zentner Brod eingeführt. Aber das iſt mehr ein Brod - handel im Kleinen; die Frau und die Kinder des Land - meiſters beſorgen ihn, ohne daß es dazu koſtſpieliger Organe bedurfte. Auch die genoſſenſchaftliche Bäckerei kommt ohne große Koſten für den Abſatz weg. Die Mitglieder holen es in der Regel in den ohnedieß gehaltenen Kaufſtellen.

Nicht ſo die Privatbrodfabrik. Bei ihr entſtehen bedeutende Koſten für Verkaufsſtellen, für den Transport, welche theilweiſe die Erſparniſſe der Maſſenproduktion aufwiegen können. Die Einrichtung beſonderer Brod - wagen, welche herumfahren, den Familien den täglichen Bedarf in’s Haus zu liefern, lohnt nur in großen Städten. Und dann koſtet eine ſolche Organiſation nicht bloß viel, ſie widerſtreitet auch vielfach den Gewohn - heiten und Bedürfniſſen. Viele wollen nicht ſo feſt beſtellen, ſondern ſelbſt einkaufen, in der Nähe ein -415Die Erhaltung der profeſſionsmäßigen Bäckerei.kaufen. Jede Hausfrau wünſcht einen Bäcker in nächſter Nähe zu haben, beſonders um friſches Gebäck jederzeit zu bekommen. Dieſes lokale Bedürfniß iſt neben der Zähigkeit aller Gewohnheiten, neben dem meiſt noch mangelnden Kapital und den früher und bis in die neuere Zeit mangelnden Kenntniſſen in den Kreiſen der gewerbsmäßigen Bäcker die Haupturſache davon, daß bis jetzt die Brodfabriken ſo wenig Terrain erobert haben, daß bis jetzt die althergebrachte profeſſionsmäßige Bäckerei in der Hauptſache noch unbeſtritten herrſcht.

Dazu kommt freilich noch ein wichtiger Umſtand. Die erwähnten ganz neuen Syſteme laſſen ſich nur in großen Fabriken durchführen, die höchſte Feuer - materialerſparniß tritt nur ein bei Etagenbacköfen, welche in 3 4 Stockwerken zugleich zu backen erlauben, aber eine Reihe anderer kleinerer Verbeſſerungen und Erfin - dungen, die das Geſchäft ſchon ziemlich rentabler machen, ſind ſo, daß ſelbſt der kleinſte Bäcker ſie anwenden kann. Sie gerade haben ſich mannigfach in letzter Zeit verbreitet, haben ſich leichter verbreitet, weil ſie ſich an das beſtehende Syſtem kleiner Geſchäfte anſchließen.

Die Knetmaſchinen ſind einfach, billig, durch die Hand in Bewegung zu ſetzen. Dampfbacköfen kleinſten Umfangs und ſehr billig werden heute neben den großen gebaut. Mit Horsford-Liebig’ſchem Backpulver, das man in kleinen Probepacketen von 5 Pfund, dann in Kiſten von 50 Pfund für ein paar Thaler erhält, kann jeder heute verſuchen zu backen; jeder, der es anwendet, wird 10 12 % mehr Brod, wird innerhalb 2 Stunden416Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.aus dem Mehl fertiges Brod erhalten, wenn die Angaben, durch welche dieſes Pulver empfohlen wird, richtig ſind. Alle ſolche techniſchen Aenderungen ſtützen wieder den Kleinbetrieb.

Daß jedenfalls bis 1861 in Preußen ſich im All - gemeinen der Kleinbetrieb vollſtändig erhalten hat, das lehrt die folgende Tabelle, welche eine Ueberſicht über die preußiſchen Bäcker von 1816 61 gibt:1Zu vergleichen über die preußiſche Bäckerei: Mit - theilungen I, S. 224. Tabellen und amtliche Nachrichten V, S. 826.

417Die preußiſchen Bäcker 1816 61.

Die Zahl der Gehülfen iſt ziemlich geſtiegen, aber noch hat ſie 1861 die der Meiſter nicht erreicht; noch können nach dieſer Durchſchnittszahl nur wenige größere Geſchäfte vorhanden ſein; noch hat nach dem Zahlenverhältniß an ſich jeder Gehülfe die Ausſicht, ſelbſt Meiſter zu werden.

Das Verhältniß ſämmtlicher Gewerbetreibenden eines Handwerks zur Bevölkerung gibt da, wo die Technik ſich ſchon vollſtändig geändert hat, kein Bild der Produktion, aber bei der Bäckerei, wo das bis 1861 noch ſo wenig der Fall iſt, da belehrt uns das Verhältniß der Zahl der Gewerbetreibenden zur Bevölkerung über die Größe der Produktion; denn bedeutend kann der Umfang der Geſchäfte in ſolchem Falle bei gleichbleibender Meiſter - und Gehülfenzahl nicht wachſen. Die Zahl der Bäcker nun ſchwankt von 1816 49 etwas, bleibt mehr oder weniger hinter der Bevölkerung zurück; 1849 iſt die Zahl dieſelbe wie 1816 und erſt von da überholt ſie die Be - völkerung, aber nur um 4,9 %. Wie viel ſpricht man von den Fortſchritten der Konſumtion, von der Ver - beſſerung der Lage aller Klaſſen, von der beſſern Er - nährung, welche heutzutage ſtattfinde, und wir ſehen hier das ganze 19 te Jahrhundert hindurch faſt unver - änderte Verhältniſſe, kaum eine etwas größere Zahl Bäcker! Und man denke nur, wie z. B. die ſtädtiſche Bevölkerung zugenommen hat, welche nach der gewöhn - lichen Annahme doch ihr Brod und Gebäck vom Bäcker bezieht.

Jedenfalls beweiſt die geringe Aenderung von 1816 bis 1861 wieder die elementare, ſtabile Natur der ein -Schmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 27418Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.fachen Handwerke, beweiſt, wie langſam die Gewohn - heiten des häuslichen und wirthſchaftlichen Lebens ganzer Völker ſich ändern.

Uebrigens hängt die Zahl der Bäcker von zwei ganz verſchiedenen Urſachen ab, 1) davon, wie viel Brod gegeſſen wird gegenüber Breiarten, gegenüber der Kar - toffelkonſumtion und 2) davon, wie viel Brod vom Bäcker gekauft, wie viel von den Hausfrauen ſelbſt bereitet wird. Die erſte Urſache kommt beſonders für das platte Land und für die öſtlichen preußiſchen Provinzen in Betracht. Wenig hat ſich da in den Lebensgewohn - heiten des ländlichen Arbeiters, des Landvolks noch geändert. Die Zahl der Landbäcker iſt beinahe dieſelbe 1849 und 1858. In Preußen im engern Sinne kommen auf 10000 Einwohner, wie oben ſchon erwähnt iſt, 6, in Weſtfalen 21, in Württemberg 36 Bäcker - meiſter.

Ebenſo freilich iſt an dieſen Zahlen die Haus - bäckerei ſchuld. Viebahn nimmt an, daß in Frankreich die Hälfte, in ganz Deutſchland nur des gebackenen Brodes vom Bäcker gekauft wird. Hauptſächlich im Nordoſten Deutſchlands iſt auf dem Lande das Haus - backen noch üblich. Das Leben iſt in dieſer Beziehung da faſt daſſelbe, wie vor 50 und 100 Jahren. Wenn auch z. B. im Regierungsbezirk Köslin, der die wenig - ſten Bäcker überhaupt hat, die Landmeiſter von 17 im Jahre 1849 auf 41 im Jahre 1861 gewachſen ſind, ſo will das nicht viel ſagen. Aber auch auf dem Lande in Mittel - und Weſtdeutſchland hat ſich noch nicht viel geändert. Viebahn berichtet von Sachſen419Der Brodkonſum und die Hausbäckerei.ausdrücklich, daß man mehr zu dem Syſteme der häuslichen Brodbäckerei auf dem Lande zurückkehre,1Die Ergebniſſe der ſächſiſchen Statiſtik ſind ſehr zweifel - haft. Nach der Zeitſchrift 1857, S. 44 55 zählte man länd - liche Bäckereien 1846 - 1460, 1855 - 2046; alſo eine weſentliche Zunahme; nach Zeitſchrift 1863, S. 102 gab es ländliche Bäcke - reien 1849 - 1147, 1861 - 1318, alſo eine Zunahme, welche etwa der Bevölkerungszunahme entſpricht. Mag das platte Land 1846 / 55 und 1849 / 61 anders gefaßt, und ſo theilweiſe die Differenz zu erklären ſein; immer bleibt es unmöglich, daß alle Zahlen richtig ſind; das reale Reſultat iſt zu verſchieden. wie das mit dem Bau von Gemeindebacköfen ja auch anderwärts geſchieht. Was die Städte betrifft, ſo hat in den höhern Kreiſen das Hausbacken bedeutend abge - nommen; in den untern aber verhält es ſich, theil - weiſe wenigſtens, umgekehrt. Selbſt der Aermſte wird dem Bäcker etwas durch Einkauf friſcher Semmeln zu verdienen geben. Das Selbſtbacken des Brodes aber hat in dieſen Kreiſen mit der ſteigenden Theuerung des ſtädtiſchen Lebens, mit den Nothſtänden des ſtädtiſchen kleinen Mannes wieder zugenommen. Von verſchiedenen Orten höre ich das; hier in Halle iſt es entſchieden der Fall. Es hängt das in den preußiſchen Städten theil - weiſe mit der Mahlſteuer zuſammen. Beim Bäcker muß ſie mit bezahlt werden; zum Hausbacken bringt man das Mehl in ſo kleinen Quantitäten durch die Kinder in die Stadt, daß die Steuer vermieden wird. Zugleich aber rechnet die Hausfrau ihre Arbeit nicht, weil ſie ſie häufig doch nicht anders verwerthen kann, während ſie die des Bäckers theuer bezahlen muß.

27 *420Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.

Es iſt aus dieſen Bemerkungen erſichtlich, daß die Stabilität der Bäckerzahl im Ganzen ſich aus verſchie - denen Verhältniſſen zuſammen ſetzt. Zugleich zeigt eine derartige konkrete Betrachtung, von wie vielen Umſtän - den eine allgemeine Bewegung wie die fortſchreitende Arbeitstheilung, welche die abſtrakte Nationalökonomie gerne ohne weiteres annimmt, im Einzelnen ab - hängig iſt.

Ein Hauptnebengewerbe der Bäcker in Süddeutſch - land, das ihre Zahl weſentlich dort vermehrt, iſt der Weinſchank; im Norden iſt das weniger Sitte, wohl aber ſind hier die Konditoreien ſehr viel mit dem Aus - ſchank von Kaffee, Thee und Punſch oder mit Zeitungs - kabinetten verbunden. Daraus und aus dem ſteigenden Wohlſtand überhaupt iſt die Zunahme dieſer Gewerbe - treibenden, welche beinahe nur in den Städten vor - kommen, zu erklären. Dieterici hat ſchon früher darauf aufmerkſam gemacht, daß die Hauptzunahme in den öſtlichen Provinzen erfolgt ſei. 1Mittheilungen I, 225.Das liegt theilweiſe in den Lebensgewohnheiten. Der Rheinländer geht in die Kneipe, im Norden geht man in die Konditorei. Theilweiſe hängt es auch mit der ungleichern Vermögens - vertheilung zuſammen.

Die preußiſchen Zahlen der Konditoren und Kuchen - bäcker, die ich leider nur ſeit 1831, vollſtändig nur ſeit 1849 mittheilen kann, ſind folgende:421Die Konditoren und Kuchenbäcker.

Der Umfang der einzelnen Geſchäfte iſt größer als bei der Bäckerei; die Zeit von 1849 61 zeigt in dieſer Beziehung eine nicht unweſentliche Aenderung. Es hat ſich neben den kleinen Geſchäften mehr und mehr eine fabrikartige Produktion entwickelt, die nur theil - weiſe in der Fabriktabelle vorgetragen, theilweiſe noch in der Handwerkertabelle verzeichnet iſt. Chokoladen -, Konfituren -, Eſſenzen -, Liqueurfabriken entſtehen da und dort. Zuckerbackwaaren bilden ſogar einen nicht unbe - deutenden[Exportartikel] des Zollvereins. Viebahn hebt eine Reihe von Orten hervor, wo die Fabrikation blüht. 1III, 591.Königsberg, ſagt er, liefert ſeinen Marzipan, Thorn422Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.ſeinen Pfefferkuchen maſſenhaft in den Handel; letzteres fabrikmäßig jährlich gegen 2000 Centner. In Halle und Eilenburg werden Zuckerwaaren und Konfituren fabrikmäßig hergeſtellt, bis Süddeutſchland und in die Oſtſeeprovinzen abgeſetzt. In Sachſen hat ſich die Großinduſtrie der Fabrikation von Bonbons, Dragées, engliſchem Biskuit und dergleichen mit Erfolg bemächtigt, namentlich ſeit zweckmäßige Maſchinen für einzelne Zweige in Anwendung kamen.

Das Fleiſchergewerbe gehört wie die Bäckerei zu den Gewerben, in welchen zu einer ſelbſtändigen Unter - nehmung, abgeſehen vom Hausſchlächter auf dem Lande, von jeher ein gewiſſer Beſitz, ein gewiſſes Kapital gehört hat. Die Technik des Gewerbes hat vielleicht noch weniger als bei dem Bäckergewerbe ſich bis jetzt geändert. Wohl exiſtiren in großen Städten, beſonders in den Seeſtädten, große Pökel - und Räucherungsanſtalten mit mehr fabrikmäßigem Betrieb, wohl ſetzen auch größere Wurſtfabriken ihre Schneide - und Hackapparate mit Dampf in Bewegung; aber die Hauptoperationen, das Tödten des Vieh’s, das Abziehen, das Zerlegen bleiben Sache des Arbeiters. Allerdings werden in den Städten die ſtehenden Einrichtungen einer Schlächterei theurer und koſtſpieliger und für die meiſten Geſchäfte wächſt die Bedeutung des Kredits und des Betriebs - kapitals; ein gutes Geſchäft hängt weſentlich ab von geſchicktem auf genauer Kenntniß des Vieh’s geſtütztem Vieheinkauf; dabei hat das größere Geſchäft, das größere Kapital mancherlei voraus.

423Das Fleiſchergewerbe.

Uebrigens iſt die Arbeitstheilung zwiſchen dem eigentlichen Viehhandel und dem Fleiſchergewerbe eine ſehr verſchiedene. Die großſtädtiſche Entwicklung ſcheint theilweiſe dem Fleiſchergewerbe den koſtſpieligen, Vor - ſchuß erfordernden Viehhandel wieder abzunehmen. Hartſtein1Hartſtein, der Londoner Viehmarkt, Bonn 1867. Da - neben das erwähnte Werk von R. de Maſſy über den Lebens - mittelverkehr von London und Paris, und Dr. H. Janke, der internationale Fleiſchverbrauch in ſeiner neueſten Geſtalt, Viertel - jahrsſchrift für Volkswirthſchaft XXIV, 1 45. beſchreibt die Londoner Verhältniſſe der Gegenwart in folgender Weiſe. Die Viehhändler ver - kaufen auf dem zweimal wöchentlich gehaltenen Metro - politan Cattle Market durch ihren Kommiſſionär, den salesman, an den Großſchlächter, der in der Regel baar bezahlt. Wenn der salesman Kredit gibt, thut er es auf ſeine Gefahr. Der Großſchlächter iſt ein großer Unternehmer, der wöchentlich 80 100 Stück Großvieh und 500 800 Stück Schafe in eigenen großen Etabliſſements, Schlachthaus und Stallungen enthaltend, ſchlachtet und in großen Stücken verkauft. Seine Käufer ſind verſchiedene Leute. Einmal die großen Fleiſchlieferanten, welche die Fleiſchlieferungen an die Armee, an öffentliche Inſtitute, an Schulen übernommen haben. Theilweiſe führen dieſe Lieferanten das Geſchäft nicht ſelbſt aus, ſondern bilden nur die kaufmänniſche Vermittelung, übergeben einzelnen Schlächtern die Liefe - rungen im Detail, haften aber dafür im Ganzen. Da - neben verkaufen die Großſchlächter an die Kleinſchlächter,424Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.die theilweiſe auch ſelbſt ſchlachten, aber nur eine geringe Zahl Vieh, und an die reinen Detailhändler, die das Fleiſch in größern Stücken übernehmen, die verſchiedenen Sorten trennen, die einzelnen Stücke hübſch zurecht machen, bei denen das Ladengeſchäft die Haupt - ſache iſt. Beide letztere Arten von Schlächtern verkaufen ihre Abfälle an den Eingeweidehändler (tripe-shop), oder an den Kochladen (cock-shop), wo vornehmlich die unterſten Volksklaſſen dieſe Abfälle kaufen oder ver - zehren.

Eine ähnliche, wenn auch nicht ſo weit gehende Arbeitstheilung findet in andern großen Städten ſtatt. Der Berliner Adreßkalender unterſcheidet wenigſtens Schlächter und Fleiſchwaarenhandlungen. Im Jahre 1860 kommen auf 80 Fleiſchwaarenhandlungen 557 Schlächter, 1868 auf 101 Handlungen 976 Schlächter. 1Engel, die Induſtrie der großen Städte, Berliner Gemeindekalender II, 144.Die Kleinſchlächter und Detailhändler brauchen trotz dieſer Arbeitstheilung noch ein nicht unbeträchtliches Kapital.

Wichtig auch für den Groß - und Kleinbetrieb des Fleiſchergewerbes iſt die jetzt aus ſanitätspolizei - lichen Standpunkt viel beſprochene Schlachthausfrage. 2Siehe Riſch, Bericht über Schlachthäuſer und Vieh - märkte, Berlin 1866. Ueber die preuß. Geſetzgebung und die Unmöglichkeit mit ihr die einzelnen widerſtrebenden Fleiſcher zur ausſchließlichen Benutzung öffentlicher Schlachthäuſer zu zwingen. Viebahn III, 593 94.425Der Vieh - und Fleiſchhandel, die Schlachthausfrage.Zunächſt iſt jede große Aenderung derart für die beſtehenden Verhältniſſe, hauptſächlich für den beſtehen - den Beſitz, unangenehm. Auf die Dauer aber wür - den durch gemeinſame Schlachthäuſer, deren Bau Aſſoziationen oder die Gemeinden übernähmen, deren Bau der Staat ganz mit Recht auf verſchiedene Weiſe fördern könnte, die kleinen Geſchäfte wahrſcheinlich mehr gewinnen als die großen; ſie würden dadurch mit billigen Koſten die Vortheile gut eingerichteter Anſtalten erhalten, während der Großſchlächter nichts dort fände, was er nicht in ſeinem eigenen Schlachthaus auch anordnen kann. Die allgemeinen Vortheile ſolcher Anſtalten liegen in den niedrigen Generalkoſten überhaupt, ſpeziell in verſchiedenen Einrichtungen, die nur in größern Etabliſſe - ments möglich ſind, z. B. in der Nutzung des meiſt bisher ungenutzt abfließenden Blutes zur Gewinnung von Eiweißſtoffen.

Kehren wir nach dieſen allgemeinern Bemerkungen über das Fleiſchergewerbe zu den konkreten Verhältniſſen Preußens1Zu vergleichen: Hoffmann, die Bevölkerung des preuß. Staates, S. 120 ff. Mittheilungen I, 226. Tabellen u. amt - liche Nachrichten V, 827 828. und den ſtatiſtiſchen Ergebniſſen von 1816 1861 zurück, ſo iſt im Durchſchnitt des ganzen Staates der Fortſchritt zu größern Geſchäften wohl vorhanden; aber noch überwiegen die kleinen Meiſter weitaus, noch iſt eine Schlächterei durchſchnittlich kleiner als ein Bäckergeſchäft. Man zählte:426Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.

Selbſt in Berlin hat 1861 ein Fleiſcher durch - ſchnittlich nur 1 ½ Gehülfen, während der dortige Bäcker 3 4 Gehülfen beſchäftigt. Der Fleiſcher iſt in der Regel ähnlich wie der Bäcker auf einen Abſatz in den nächſten Straßen und Häuſern angewieſen; die Hausfrau will nicht zu viel Zeit verlieren, wenn ſie zu ihm geht, noch weniger, wenn ſie das Dienſtmädchen ſchickt. Das vielfach übliche Bringen des Fleiſches in die Wohnungen der Kunden iſt nur möglich, wenn der Fleiſcher in der Nähe wohnt. Der Fleiſchhandel iſt noch ſchwieriger zu organiſiren als der Brodhandel, wenn er nicht zu dem geſalzenen und getrockneten Fleiſche über -427Die preußiſchen Fleiſcher 1816 61.gehen ſoll, das weniger ſchmackhaft, weniger beliebt iſt. Wenn man neueſtens Verſuche macht, auch friſches Fleiſch nach beſondern Methoden zu konſerviren und auf weite Entfernungen zu transportiren, ſo kann das ſpäter vielleicht einmal die bisherige Art des Betriebes ändern. Bis jetzt haben dieſe Verſuche keine allgemeine praktiſche Bedeutung.

Die Geſammtzahl der preußiſchen Fleiſcher, welche um etwa ¼ geringer iſt, als die der Bäcker, hat eben - falls kaum ſtärker zugenommen, als die Bevölkerung; es kommen 1861 auf die gleiche Zahl Einwohner nur 8,5 % mehr Fleiſcher als 1816. Bis 1843 hat die Bevölkerung ſtärker zugenommen; 1849 ſowie 1855 ſteht wieder die Fleiſcherzahl hinter der von 1816 zurück. Trotz der großen ſonſtigen Aenderungen des 19. Jahr - hundert eine ſolche Stabilität!

Die erſte Urſache der Fleiſcherzahl iſt die Fleiſch - konſumtion. Wenn in Heſſen-Darmſtadt, Braunſchweig 37 38 Fleiſchermeiſter, in Baden, Sachſen, Hannover 14 19, in den öſtlichen preußiſchen Provinzen nur 8 12 Fleiſchermeiſter auf 10000 Einwohner kommen,1Viebahn III, 594 95, verglichen mit 606. ſo läßt ſich der Zuſammenhang nicht verkennen mit der andern Thatſache, daß die Fleiſchproduktion (incl. Aus - fuhr) in Altpreußen pro Kopf der Bevölkerung nur auf 46 47 Pfund, in Naſſau-Frankfurt, Baden, den rheiniſchen und thüringiſchen Staaten auf 48 56 Pfund, in den niederſächſiſchen Staaten, beſonders in den Elb - herzogthümern, auf 74 Pfund pro Kopf ſteigt. Freilich428Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.zeigt die Vergleichung auch Ausnahmen, da hohe und niedrige Produktion und Konſumtion nicht nothwendig zuſammen fallen, da Aus - und Einfuhr, die Haus - ſchlächterei und Anderes mitſprechen. Gerade in den öſtlichen preußiſchen Provinzen iſt die Fleiſchproduktion wieder größer als im Durchſchnitt Preußens, die Kon - ſumtion aber auf dem Lande und in den untern Klaſſen ſehr gering.

Unzweifelhafter iſt der Zuſammenhang zwiſchen der hiſtoriſchen Veränderung der Fleiſcherzahl und der Fleiſch - konſumtion in Preußen. Der geringen Zunahme jener entſpricht dieſe. Die Fleiſchkonſumtion betrug ja nach Dieterici und Engel1Zeitſchrift des ſtatiſt. Bureaus IV, 129. pro Kopf der Bevölkerung

Die ſteigenden Fleiſchpreiſe erſchweren trotz aller Fortſchritte des Wohlſtandes eine ſteigende Fleiſchkon - ſumtion ſehr. Für die 30 Pfund 1806 gab der Ein - zelne 2 Thlr. 6 Sgr. aus, für die 35 Pfund 1863 gibt er 4 Thlr. 4 Sgr. aus. In Berlin zahlte man 1835 für das Rindfleiſch beſonderer Güte 2 Sgr. 6 Pf., jetzt 10 und mehr Sgr. Und je größer die Vermögens - ungleichheit in einem Lande iſt, je mehr Sitten und Bedürfniſſe der verſchiedenen Geſellſchaftsklaſſen ausein - ander liegen, deſto ungleicher wird ſich die Abnahme der Fleiſchkonſumtion vertheilen. Beſonders in den429Der Fleiſchkonſum und die Hausſchlächterei.Städten hat der Fleiſchkonſum der Wohlhabenden, ja des ganzen Mittelſtandes unzweifelhaft zugenommen; aber in den untern Klaſſen muß er abgenommen haben, ſonſt könnten ſich die Geſammtzahlen der Konſumtion nicht gleich bleiben. Theilweiſe freilich finden dieſe Klaſſen Erſatz in dem Uebergang zu Pferdefleiſch, zur Kon - ſumtion von bloßen Abfällen. Es heißt aber die opti - miſtiſche Schönfärberei weit treiben, wenn man in dieſer Thatſache, wie Faucher, nur ein feiner ausgebildetes Schlächtergewerbe findet. Die genauen Unterſuchungen, welche Aſher und Soetbeer über Fleiſchkonſumtion ver - öffentlicht haben,1Beiträge zur Statiſtik Hamburg’s, mit beſonderer Rück - ſicht auf die Jahre 1821 52, Hamburg 1854. S. 145 149. reichen allerdings nur bis 1852 und ſchließen alſo mit ungünſtigen Jahren ab, aber ſie zeigen, auch wenn man das berückſichtigt, eine in den größern Städten faſt ausnahmslos abnehmende Fleiſch - konſumtion. Ich führe nur die Hamburger Zahlen an; da hat der Verbrauch pro Haushaltung betragen an Fleiſch:

Daneben iſt der Fiſchkonſum nicht geſtiegen, die Butter - und Käſekonſumtion hat auch abgenommen, der430Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.Cerealienverbrauch iſt ſo ziemlich derſelbe geblieben. Ohne Zweifel hat ſich das in neuerer Zeit wieder etwas gebeſſert; aber wie dem auch ſei, die obigen Zahlen ſagen genug.

Neben dem Fleiſchkonſum hängt die Fleiſcherzahl davon ab, wie weit die Hausſchlächterei noch verbreitet iſt, welche den gewerbsmäßigen Schlächter in der Form des Hausſchlächters zwar nicht durchaus, aber doch theil - weiſe entbehren kann. Die hohe Zahl der Fleiſcher in Württemberg, in Hohenzollern (26 28 Meiſter auf 10000 Einwohner) iſt theilweiſe Folge davon, daß die Hausſchlächterei dort wenig mehr vorkommt. Die Fleiſch - konſumtion iſt dort nicht um ſo viel ſtärker als in Schleſien, um allein es zu erklären, daß hier nur 15 Meiſter, dort 26 28 auf 10000 Einwohner kommen. In den öſtlichen preußiſchen Provinzen, aber auch in Baiern, wie überhaupt in den rein landwirth - ſchaftlichen Gegenden, iſt Hausſchlächterei noch vielfach vorhanden. Theilweiſe wird ſie gegenüber der gewerb - lichen Schlächterei wieder durch die ſteigenden Preiſe begünſtigt. Täglich friſches Fleiſch zu genießen, iſt theurer, als eingepökeltes und geräuchertes Fleiſch im Vorrath zu halten.

[431]

3. Die Wirthſchafts - und verwandten Gewerbe.

Die gewerbliche Thätigkeit des Landwirths; die Weinbauern, Gärtner und Fiſcher. Der Handel mit Lebensmitteln. Die Viktualiengeſchäfte in Preußen von 1837 58. Die Wirth - ſchaftsgewerbe, meiſt als Nebenbeſchäftigung. Die preußiſche Statiſtik 1822 61. Die Gaſthöfe und Ausſpannungen. Die Speiſewirthſchaften. Die Schankwirthſchaften, ihre Ab - nahme. Die möglichen Urſachen einer von ſelbſt eintreten - den Abnahme. Das Konzeſſionsſyſtem. Seine allgemeine Würdigung. Die Ausführung in Preußen. Die frühere und die neueſte Geſetzgebung. Allgemeine Betrachtungen über Groß - und Kleinbetrieb in den Nahrungsgewerben. Die Volksküchen, die Konſumvereine und Aehnliches.

Der Kreis der dem Nahrungsbedürfniß dienenden Gewerbe iſt mit den Bäckern, Konditoren und Fleiſchern noch nicht abgeſchloſſen.

Der kleine und große Landwirth übernimmt vielfach gewerbliche Thätigkeit, abgeſehen ganz von der Rohpro - duktion. Er fabrizirt Butter und Käſe, verkauft getrock - netes Obſt und künſtlich wie unkünſtlich zubereiteten Wein. Eine zahlreiche Klaſſe von Perſonen ſind die kleinen Weinbauern und die Blumen - und Gemüſe - gärtner, die zwiſchen Landwirthſchaft und Gewerbe in der Mitte ſtehen, einen geſunden Mittelſtand repräſentiren,432Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.durch die Art ihres Betriebs, durch die vorzugsweiſe geforderte ſorgfältige Arbeit niemals von großen Ge - ſchäften verdrängt werden können. Außer den 4224 preußiſchen Gärtnern mit 3310 Gehülfen (1861) ſind auch die 7197 Fiſcher mit 3822 Gehülfen zu nennen; auch dieſes Gewerbe bleibt, der perſönlichen Thätigkeit, des mäßigen Gewinnes wegen, im Binnenlande dem Kleinbetriebe.

Dann gehören hieher mannigfache Handelsgeſchäfte, welche ihrer Natur nach gewiſſe gewerbliche Umformungen vornehmen. Der Weinhandel, der Getreidehandel thut das, vor allem aber der kleine Detailhandel, der Kaffee röſtet und Zucker ſchlägt, alle möglichen Waaren färbt, vielfach auch verdirbt und fälſcht. Noch mehr gibt ſich der kleine Viktualienhandel damit ab. Im Butterladen wird gekochter Kaffee ausgeſchenkt; die Garküche iſt häufig hiermit verbunden. Die Zahl der faſt durchaus kleinen Viktualiengeſchäfte iſt etwa ſo groß in Preußen, als die der Bäcker und Fleiſcher zuſammen. Im Jahre 1861 ſind ſie nicht aufgenommen. Früher zählte man:

Es gehört zu dieſen Geſchäften geringe Bildung und geringes Kapital. Die Art des Betriebes, des Aufkaufs, des Verkaufs auf dem Wochenmarkt oder in den kleinen Kellerläden, übt auf Leute, welche etwas beſſeres ergreifen können, keinen Reiz aus; daher wenden ſich ihnen mehr nur Leute der unterſten Klaſſen zu. Größere Geſchäfte mit ſchönen Läden beginnen höchſtens433Die Viktualiengeſchäfte und Wirthſchaftsgewerbe.in einigen größern Städten, aber auch da nur für die Lebensmittel und Viktualien der höhern Geſellſchafts - klaſſen. Abgeſehen von dieſen, ſowie von den Geſchäften, welche hauptſächlich den Wochenmarkt beziehen, ſucht der kleine Viktualienhandel ähnlich wie der Bäcker und Fleiſcher einen lokalen Abſatz in den nächſtliegenden Häuſern und Straßen.

Die eigentlichen Wirthſchaftsgewerbe endlich, welche in der Umformung und Bereitung der Nahrungsmittel am weiteſten gehen, ſind, wie ich das ſchon mehr erwähnte, ſehr vielfach in den Händen von Perſonen, welche nebenbei mit der Produktion oder dem Handel von Nahrungsmitteln beſchäftigt ſind, oder vielmehr von ſolchen, welche das Wirthſchaftsgewerbe nur neben - bei betreiben. Es iſt ebenfalls das lokale Bedürfniß, das darauf hinwirkt. Die Brauerei verbindet ſich mit der Gaſtwirthſchaft, die Mühle mit einer Ausſpannung, die Bäckerei mit dem Weinausſchank, die Hökerei mit dem Bier - und Kaffeſchank, der Materialladen mit dem Schnapsverkauf je eines allein würde ſeinen Mann nicht nähren, beides zuſammen aber reicht aus, eine leidliche Exiſtenz für eine Familie zu ſchaffen.

Dieſe häufige Verbindung der Wirthſchaftsgewerbe mit andern iſt für das richtige Verſtändniß des ganzen Gewerbes, wie ſchon für die richtige Beurtheilung der Zahlen wichtig. Das Hülfsperſonal wird in den Tabellen etwas niederer erſcheinen, als es in Wirklich - keit iſt. Zu - und Abnahme haben eine etwas andere Bedeutung.

Schmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 28434Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.

Die Zahlen, um die es ſich handelt, ſind folgende; es gab in Preußen:1Nach Ferber’s, Dieterici’s u. Engel’s amtlichen Zahlen, vergl. hauptſächlich für 1849 Tabellen u. amtliche Nachrichten V, S. 994 ff.

Die Zahl der Geſchäfte hat in keiner der drei Ab - theilungen ſo zugenommen, wie die Bevölkerung, welche von 11 auf 18 Millionen in dieſer Zeit ſtieg; in einer Abtheilung hat die Zahl der Geſchäfte ſogar abgenommen. Wären die Wirthſchaften alle voll beſchäftigt geweſen, lebten die betreffenden Gewerbetreibenden nur hiervon, ſo wäre vorauszuſetzen, daß die Geſchäfte mindeſtens der Bevölkerung entſprechend zugenommen hätten.

Von der erſten Kategorie, den Gaſtwirthſchaften, fällt nur ein kleiner Theil unter den Begriff eines Gaſthofs; 1861 ſind die eigentlichen Gaſthöfe nicht beſonders unterſchieden; 1849 machen von den 27520 Gaſtwirthſchaften nur 4447 Gaſthöfe für die gebildeten Stände aus, wovon 2833 auf die Städte kommen. Nur dieſe ſind zu einem Theile als größere Etabliſſe - ments aufzufaſſen. Im Jahre 1861 zählen die 31520 Gaſtwirthſchaften ein Hülfsperſonal von 7919 Perſonen, alſo ſind ¾ der ſämmtlichen Gaſtwirthe wenigſtens435Die preußiſchen Wirthſchaftsgewerbe 1822 61.ohne gewerbliches Hülfsperſonal; ſie können nur ganz kleine Geſchäfte haben.

Die Speiſewirthſchaften gehören faſt ganz den Städten an; von 1928 im Jahre 1849 verzeichneten ſind 1461 ſtädtiſche. Die Zahl iſt eine beinahe ſtabile. Der durchnittliche Umfang der Geſchäfte iſt ein ſehr geringer, denn es werden 1861 auf 2221 Speiſewirthe nur 885 Diener, Kellner und Kellnerinnen gerechnet.

Aehnliches gilt von den Schankwirthen; auf 37917 Geſchäfte kommen 1861 nur 6290 Hülfsperſonen, was einen ſichern Schluß auf den trotz der geſunkenen Ge - ſammtzahl immer noch geringen Umfang der meiſten Schankwirthſchaften geſtattet. Mögen auch manche Hülfsperſonen aus den vorhin angeführten Gründen gar nicht in den Tabellen erſcheinen, viel kann das nicht ausmachen. Die Abnahme der Schankwirthſchaften von 1843 ab bis 1861 iſt eine ſehr bedeutende. Damals kam ſchon auf 289, 1849 auf 343, 1861 erſt auf 487 Einwohner eine Schenke. Die Maximal - grenze, auf welche herab die Verwaltung1Vergl. Arbeiterfreund V, 185. in Gegen - den eines allzugroßen Reichthums von Schenken die Zahl derſelben zu bringen ſuchte, iſt eine auf 250 Einwohner. Zunächſt iſt man verſucht zu zweifeln, ob die Aufnahmen überhaupt richtig ſind, denn jedermann iſt geneigt, heute eher an eine Zunahme, als an eine Abnahme der Schenken zu glauben. Ich kenne faſt keine größere Stadt näher, in der ich nicht Klagen über eine allzugroße Zunahme der Schenken gehört hätte. 28 *436Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.Da ich jedoch keinen Anhalt dafür habe, die Aufnahmen für falſch zu halten, ſo muß ich ſie bis zum Gegen - beweis als richtig annehmen. Nur das will ich noch bemerken, daß nicht bloß die Gaſthöfe und Speiſewirth - ſchaften zugleich geiſtige Getränke ausſchenken, ſondern daß auch ſehr viele Spezereiläden Branntwein ſtehend verabreichen. Und dieſe ſind, wie ich annehme, nicht unter den Schankwirthſchaften der amtlichen preußiſchen Statiſtik mitgezählt. Selbſt wenn aber die Branntwein verkaufenden Materialläden ebenſo zugenommen hätten, als die eigentlichen Schankſtätten abnahmen, wäre es ohne Zweifel eine Beſſerung. Die Trunkſucht wird durch dieſe mehr gefördert, als durch den Verkauf in dem Spezereiladen, wo der Arbeiter ſtehend, ohne langen Aufenthalt, ohne Geſellſchaft ſein Gläschen Schnaps trinkt. So wie ſo bleibt die Abnahme der eigentlichen Schankwirthſchaften als eine bemerkenswerthe Thatſache ſtehen, und es wirft ſich die Frage auf, ob ſie eine von ſelbſt erfolgende war, oder nur durch die Handhabung des polizeilichen Konzeſſionsweſen eintrat.

Eine Abnahme von ſelbſt ließe ſich immerhin denken; die Schankwirthſchaft iſt bei Vielen nicht die urſprüngliche Thätigkeit; ſie werfen ſich darauf, wenn nichts anderes mehr geht. In den Weinländern iſt der Ausſchank noch mehr bloßes Nebengewerbe des kleinen Weinproduzenten. In Zeiten der Noth ſchwillt die Zahl der Schankſtätten, dann auch in Zeiten politiſcher Aufregung. Es wäre hiernach wohl denkbar, daß die Zahl der Schankſtätten zu Anfang der 40 er Jahre durch die Kriſis der meiſten Handwerke, 1848 50437Die Abnahme der Schankwirthſchaften 1843 61.durch die Revolution ſtärker war, als ſie ohnedem geweſen wäre, daß die beſſeren Zeiten nach 1856 nicht mehr ſo viele Leute nöthigten, zu dieſem Nothbehelf zu greifen. Nach den Provinzen ſtellt ſich der Unterſchied der Schankſtätten 1849 und 61 folgendermaßen; es gab in:

Am meiſten haben ſie alſo in der Rheinprovinz abgenommen, und das iſt großentheils ſicher auf die beſſere wirthſchaftliche Lage zurückzuführen, die nicht zu einem geringern Konſum an Speiſen und Getränken, wohl aber zu einem etwas geringeren Kneipenbeſuch und einem geringeren Angebot von Perſonen führt, die ſich als Schankwirthe zu nähren ſuchen.

Dennoch, glaube ich, wäre es im Allgemeinen falſch, anzunehmen, daß die Abnahme der Schankſtätten ganz von ſelbſt erfolgt wäre. Der Andrang zu dieſem müheloſen Gewerbe iſt in den untern Klaſſen immer ſehr groß; es übt einen beſondern Reiz durch die Unter - haltung, den Verkehr, den es gewährt, durch unſittliche und verwerfliche Genüſſe, die ſich leicht damit verbinden. Wo keine Konzeſſionspflicht mehr exiſtirt, wie bis jetzt allein in Bremen, erfolgt leicht eine rapide, verwerfliche438Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.und gefährliche Zunahme. Vor Erlaß der Konzeſſions - pflicht im Jahre 1862 gab es in Bremen 512 Lokale, in welchen ſpirituöſe Getränke feil gehalten wurden, im Jahre 1867 - 829, damals eines auf 192, jetzt eines auf 132 Einwohner.

Dieß iſt der Grund, der mich veranlaßt anzuneh - men, daß auch in Preußen die Abnahme nicht ganz von ſelbſt erfolgt wäre, wenn man nicht auch durch das Konzeſſionsſyſtem darauf hingewirkt hätte.

Bei der Frage der vollſtändigen Freigebung der Schankgewerbe muß man die allgemeinen Geſichtspunkte und die Art der Ausführung aus auseinander halten.

Der abſtrakte Theoretiker verlangt auch hier unbe - dingte Freiheit, weil er das Leben nicht kennt. Er über - ſieht die Gefahren, die beſonders mit dem Branntwein - ſchank, vollends in Fabrikdiſtrikten, verbunden ſind; er überſieht, daß die proletariſche Konkurrenz die Schank - wirthe nöthigt, in jeder Weiſe anzulocken, zu verführen, einen korrumpirenden Kredit zu geben; er überſieht, daß die ganze Lebenshaltung, das Familienleben, die Sittlich - keit der arbeitenden Klaſſen hiermit zuſammenhängen; er weiß es nicht, wie ſegensreich es in großen Fabrik - diſtrikten wirkt, wenn den Arbeitern kontraktlich verboten wird, eine Schankwirthſchaft anzufangen. 1Des Freiherrn von Diergardt Maßregeln zur Förde - rung der arbeitenden Klaſſen, Arbeiterfreund V, 1867. S. 115.Alle dieſe Gründe ſprechen für eine Beſchränkung der Zahl der Schankwirthſchaften, für eine Beibehaltung des Kon - zeſſionsſyſtems.

439Die Konzeſſionirung der Wirthſchaftsgewerbe.

Es handelt ſich nur darum, es richtig und gerecht zu handhaben. Daß immer Mißgriffe vorkommen, iſt natürlich. Nur können ſie ſoweit gehen, daß die Frei - gebung dagegen wieder als das kleinere Uebel erſcheint.

Immer ſollte man vermeiden, politiſche Partei - geſichtspunkte einzumiſchen. Schwer hat in dieſer Be - ziehung ein reaktionäres Regiment in Preußen geſündigt. Ganz übertrieben aber hat das verletzte Intereſſe Ein - zelner dieſe nicht zu leugnenden Mißbräuche dargeſtellt. Abgeſehen hiervon kamen Mißgriffe da vor, wo unfähige Landräthe oder vielmehr willkürliche Kreisſekretäre ſich Fehler zu Schulden kommen ließen. Soweit die Regie - rungen eingriffen, war die Praxis eine faſt durchaus gerechte. Ueber die Vorſchriften der Kabinetsordre vom 7. Februar 1835,1Rönne, Staatsrecht zweite Aufl. II, b S. 318. Der - ſelbe Gewerbepolizei II, 151. Döhl, das Konzeſſionsweſen des preußiſchen Staates, Berlin 1862, S. 149 ff. welche nur etwas durch die Ver - ordnung vom 21. Juni 1844 verſchärft wurde, ſei nur ſoviel bemerkt, daß die Konzeſſionen je auf ein Jahr ertheilt wurden, in den Städten von der Orts - polizeibehörde, auf dem Lande durch den Landrath nach Anhörung der Kommunalbehörde, wobei die Lage des Lokals und die Perſon des Wirthes immer, die Nützlichkeit und das Bedürfniß aber nur geprüft werden ſollte, wenn es ſich um Gaſtwirthſchaften in den Ortſchaften vierter Gewerbeſteuerklaſſen, um Schankwirthſchaften, in welchen geiſtige Getränke zum Genuß auf der Stelle feilgeboten werden ſollten, um440Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.Kleinhandlungen mit geiſtigen Getränken handelte. In erſter Linie ſollte dem Kleinhandel mit Branntwein oder vielmehr dem übermäßigen Genuſſe dieſes gefähr - lichen und durch ſeine zunehmende Billigkeit immer leichter erreichbaren Reizmittels in den untern Klaſſen entgegen gewirkt werden.

Die neue Gewerbeordnung des norddeutſchen Bun - des behält nach dem Antrage Miquel’s das Konzeſſions - weſen für die Gaſt - und Schankwirthſchaft, ſowie für den Detailhandel mit geiſtigen Getränken bei; die Er - laubniß wird nicht auf eine beſtimmte Zeit ertheilt, ſie kann Perſonen nicht mehr verſagt werden, denen nur der vage leicht zu Willkür führende Begriff der ſoge - nannten Zuverläſſigkeit fehlt, wie der Entwurf wollte, ſondern nur ſolchen, gegen die beſondere gravirende Thatſachen vorliegen, oder welche kein geeignetes Lokal haben. Es bleibt aber der Landesgeſetzgebung vorbe - halten, in Bezug auf den Branntweinausſchank auch die Bedürfnißfrage zu prüfen. Darnach werden in Preußen einige bisher hervortretenden Mißſtände und Willkürlich - keiten der Konzeſſionspraxis verſchwinden, in der Haupt - ſache aber wird das Syſtem daſſelbe bleiben.

Wenn wir im Vorſtehenden ſahen, daß bei den Wirthſchaftsgewerben noch durchaus die kleinen Geſchäfte vorwalten, ſo ſind die Urſachen ähnliche, wie bei allen Nahrungsgewerben, wie beim Detailhandel mit Lebens - mitteln und Kolonialwaaren; ich habe ſie theilweiſe ſchon berührt, aber ich muß nochmals auf ſie zurückkommen.

Ich betonte als Haupturſache der kleinen Geſchäfte das lokale Bedürfniß; das allein aber würde nicht441Der proletariſche Kleinbetrieb in den Nahrungsgewerben.genügen, die große Zahl allzukleiner Betriebe hervor zu rufen. Denn dem ſtehen immer wieder die Vortheile größerer Geſchäfte entgegen; wie viel billiger läßt ſich im Großen kochen und doch herrſchen die kleinen elenden Garküchen vor; wie viel billiger läßt ſich im Großen einkaufen, und doch überwiegen die kleinen Kramläden, die kleinen Gewürz - und Kaffeekrämer.

Das hängt eben mit dem übermäßigen Andrang zu allen dieſen leicht betreibbaren Geſchäften zuſammen, welcher dann beſonders erfolgt, wenn bei raſch wachſen - der Bevölkerung die Erziehung der untern Klaſſen zur Arbeit, die Gelegenheit zu Ausbildung und zu Verdienſt nach andern Richtungen zeitweiſe nicht ebenſo wächſt. Die übermäßige Konkurrenz drückt dann auf alle dieſen Thätigkeiten Angehörenden; Mißbräuche und Unreellität ſteigern ſich; das ganze Standesbewußtſein und Ehr - gefühl der Betreffenden wird dadurch herabgedrückt; Lotterkredit wird gegeben, nur um Kunden anzuziehen. 1Vergl. oben S. 113 ff., S. 153, S. 213 ff. Huber, deſſen eben erfolgten Tod die Wiſſenſchaft ebenſo zu beklagen hat, wie der Arbeiterſtand und alle Freunde der Arbeiterſache, ſpricht ſich noch neulich in dem Artikel über die Arbeiterfrage in Deutſchland (deutſche Vierteljahrsſchrift Juli Septemberheft 1869. S. 173 ff. ) über den verderblichen Ein - fluß dieſer Elemente aus, er betont die Vertheuerung und Adulteration aller Lebensbedürfniſſe, die Ueberfüllung konkur - rirender Verkaufsſtätten, die Ueberreizung von Produktion und Konſumtion. Wo 3 4 einfache oder kooperative Geſchäfte mit einem Perfonal von 2 3 Dutzend Perſonen ausreichten, ſagt er, wird die 4 5 fache Zahl beſchäftigt, die Koſten werden ver - theuert, Schwindel aller Art, trügeriſcher Kredit als Reizmittel

442Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.

Man wird mir entgegnen, dieſe Behauptungen ſeien übertrieben und ich gebe es auch zu, daß ſie es, ſo allgemein ausgeſprochen, ſind. Ich muß mein Urtheil noch etwas begrenzen. Es iſt ganz wahr nur ſo weit, als dieſe Geſchäfte mehr dem Dienſte der untern Klaſſen ſich zuwenden.

Die Reſtaurants, in welchen der Gebildete ißt, die feinen Weinſtuben, die Detailläden mit guter Kund - ſchaft ſind etwas für ſich; ſie erfordern größeres Kapital, einen anſtändigen Geſchäftsführer. Je weiter man aber herabſteigt, deſto ſchlimmer wird es. Und da iſt die eigenthümliche Urſache, welche die vielfach korrupten kleinen theuren Geſchäfte erhält, eben die, daß der wohl - habendere anſtändigere Geſchäftsmann, der ihnen allein mit Erfolg Konkurrenz machen, ſie, was wünſchenswerth wäre, ganz beſeitigen könnte, dazu keine Luſt hat wegen der Perſonen, mit denen er dadurch zu thun bekäme. Mehr als man glauben ſollte, ſucht jeder Gewerbe - treibende in ſeinem Geſchäfte neben dem Gewinn den ſozialen Zuſammenhang; jeder will möglichſt vornehme, wohlhabende Kunden.

1ſind die Folge. Der Altenaer Handelskammerbericht pro 1867 (preuß. H. -K.-B. S. 1182) ſagt: Das Kapital trägt eine ſchwer wiegende Schuld, ſo lange man zugeben muß, daß der Arbeiter ſeine Lebensbedürfniſſe am theuerſten bezahlt, obgleich ſeine Mittel die kleinſten ſind. Niemand kann ſich auch mit Unwiſſenheit entſchuldigen gegenüber dem ſchreienden Mißſtande, daß ein großer Theil der Arbeiter noch in der traurigſten Ab - hängigkeit in Folge der leichtſinnigen Borgſchulden lebt. Segensvoll wird in dieſer Beziehung das geſetzliche Verbot der Beſchlagnahme nicht verdienter Löhne wirken.

443Die Schattenſeiten des proletariſchen Kleinbetriebs.

Hiervon giebt es in großen Städten einige wenige Ausnahmen, beſonders was große Vergnügungslokale betrifft; aber in der Hauptſache iſt der kleine Mann auch in der größten Stadt auf die kleine elende Gar - küche, auf die erbärmlichſte Schnapsſchenke, auf den korrupteſten Spezereiladen angewieſen; ſie allein nehmen ihn als Kunden an, weil ſie keine beſſern erhalten. Selbſt die Hökerfrauen auf dem Gemüſe -, dem Butter -, dem Fiſchmarkt machen ſtrenge Unterſchiede der Art.

So leiden die kleinen Leute nicht bloß als Produ - zenten, ſondern vor Allem auch als Konſumenten. Die Vortheile der großen Geſchäfte kommen ihnen nicht ein - mal da zu Gute. Die kapitalbeſitzende Privatſpekulation arbeitet nicht für ſie, weil ſie ſich nicht mit ihnen beſchmutzen will, weil ſie ſich vor ihrer Zahlungsunfähig - keit fürchtet. Es iſt dieſelbe Urſache, welche in den großen Städten die Miethpreiſe für ärmliche Wohnungen unnatürlich anſchwellen läßt, während die Privatſpekulation noch fortfährt elegante Quartiere zu bauen, ſelbſt wenn ſolche ſchon in übergroßer Zahl angeboten ſind.

Ein Beweis, daß dieſe Mißſtände vorhanden ſind, liegt darin, daß längſt humane Fabrikanten, Vereine, Gemeinden, der Staat, wo er Privatunternehmungen hat, vor Allem aber Genoſſenſchaften von Arbeitern ſelbſt ſich entſchloſſen haben, einzugreifen, das zu über - nehmen, was die Privatſpekulation für die armen Leute nicht leiſtet.

Man ſtreitet ſich in Paris, ob die neuen eleganten ungeheuren Arbeitercafés, in denen die Arbeiter und444Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.ihre Familien ſo billig eſſen und trinken, geheime kaiſer - liche Subvention haben oder gehabt haben. Die cafés und restaurants fraternelles, die associations pour la vie à bon marché, die société de l’humanité in Lille, von welchen Huber erzählt,1Huber, Reiſebriefe, Hamburg 1854, I, 293. ſind Sache von Ar - beitervereinen. Wenn jetzt in Paris ähnliche Rieſen - küchenanſtalten auch vereinzelt durch Privatthätigkeit ent - ſtanden ſind, wie die Duval’ſchen Etabliſſements, die maisons de bouillon, ſo ſind das doch mehr Ausnah - men. In Berlin iſt erſt durch gemeinnützige Thätigkeit in den letzten Jahren der Verein für Volksküchen ent - ſtanden, der durch den Betrieb im Großen im Stande iſt, für Sgr. eine ganze für einen kräftigen Mann ausreichende Portion kompaktes in Bouillon gekochtes Gemüſe und Fleiſch zu verabreichen. 2Siehe den Bericht im Arbeiterfreund V, 1867. S. 375 ff.In Sachſen3Zeitſchrift des ſächſiſchen ſtatiſtiſchen Bureaus 1857. S. 55 57. werden ſchon 1849 56 eine Reihe von Volksküchen erwähnt; 1855 ſogar 74 an der Zahl; 1856 ſind ſie ſchon wieder auf 44 geſunken; die bloß als Wohlthätig - keitsinſtitute fungirenden ſind wieder eingeſtellt. Engel lobt ihren Erfolg außerordentlich in rein wirthſchaftlicher, aber auch in hygieniſcher und moraliſcher Beziehung; er fügt hinzu: gedachte Volksküchen ſind zum Theil eine Maßregel der Wohlthätigkeit und der Geſundheits - pflege, zum Theil der Sparſamkeit, am wenigſten aber wohl ein Gegenſtand der Spekulation.

445Die Volksküchen und Konſumvereine.

Mit vielen Fabriken und Etabliſſements ſind ſolche Küchengeſchäfte im Großen jetzt verbunden; wie auch Holz -, Mehl -, Kartoffellieferungen im Großen und zu Engros - preiſen vielfach von edel - und humandenkenden Fabrik - herren und großen Grundbeſitzern übernommen werden. Typiſch bekannt hierfür iſt ja die cité ouvrière in Mühlhauſen mit ihrem Waſchhaus, ihrem Badehaus, mit der großen Bäckerei, dem Schlachthaus, Koſthaus und Materialwaarendepot. Aehnliches Aufſehen haben neuer - dings die Einrichtungen von Staub in Kuchen im König - reich Württemberg gemacht. Es iſt überall daſſelbe Prinzip des Betriebes im Großen, das durch die Privat - ſpekulation nicht zur Geltung kommend, für den Konſum der kleinen Leute thätig gemacht werden ſoll.

Am beſten freilich wird der Arbeiter dem Lotter - kredit, der Abhängigkeit vom kleinen Detailladen ent - riſſen durch den Konſumverein, der ihm alle Vortheile des Bezugs der Waaren im Großen bietet, theilweiſe auch die Vortheile der Produktion im Großen. In England wenigſtens ſind die Konſumvereine längſt ver - bunden mit großen Aſſoziationsmühlen, großen Bäcke - reien, theilweiſe auch eigenen Schlächtereien. Auch in Deutſchland haben ſich die Konſumvereine jetzt raſch entwickelt. Im Jahre 1868 zählt der Schultze’ſche Be - richt deren ſchon 555. Die meiſten ſind bis jetzt nur Kauf - und Verkaufsgeſchäfte. Aber ſchon ſind auch ein - zelne zur ſelbſtändigen Produktion im Großen über - gegangen. In Berlin haben die dortigen Konſumvereine eine gemeinſame große Brodbäckerei gegründet; in Saar - brücken, in Chemnitz exiſtirt eine Aſſoziationsbäckerei;446Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.der Züricher Konſumverein hat eine große fünf Oefen umfaſſende Bäckerei, die 1863 über eine Million Pfund Brod abſetzte. 1Pfeiffer, die Konſumvereine. Stuttgart 1865. S. 38.

Man wird ſich über dieſe Beſtrebungen auf der einen Seite nur freuen dürfen. Sie liefern dem Ar - beiter billigere und beſſere Waaren, ſie verdrängen einen korrupten betrügeriſchen Kleinhandel. Aber auf der andern Seite zeigen ſie wieder, daß das Gebiet, das den kleinen Geſchäften bleibt, theilweiſe durch ihre eigenen Schuld ſich einengt, daß der große Betrieb ſelbſt da, wo ſoziale Verhältniſſe und das lokale Bedürfniß ihm entgegenſtehen, vordringt, daß, wenn die großen Unter - nehmer und das große Kapital ihn nicht einführen, die Humanität und die Arbeiter ſelbſt ihn einführen müſſen, weil er techniſch zu große Vortheile bietet, weil ſoweit es ſich um den Kleinverkauf im Detail handelt, eine übermäßige Vertheuerung durch die kleinen Geſchäfte leicht eintritt, zu leicht unreelle Geſchäftsverhältniſſe den Konſumenten benachtheiligen.

[447]

4. Die Baumwoll - und Leinenſpinnerei.

Die Bedeutung der Bekleidungsgewerbe überhaupt. Der allge - meine Umſchwung in ihnen. Die Handſpinnerei und die Geſchichte der Spinnmaſchine. Die deutſche Baumwollſpinnerei des vorigen Jahrhunderts. Die kleinen deutſchen Maſchinen - ſpinnereien bis 1840. Die großen Spinnereien der Neuzeit. Die deutſche profeſſionsmäßige Flachsſpinnerei des vorigen Jahrhunderts. Die Anfänge der großbritanniſchen Maſchinen - ſpinnerei. Die Abſatzſtockung des deutſchen Handgarns. Die Verſchlechterung der Produktion. Die Noth der Spinner, die Veränderung der geſchäftlichen Organiſation. Die Zuſtände 1820 40; die ſinkenden Garnpreiſe; die Verſuche der Hand - ſpinnerei wieder aufzuhelfen. Die Abnahme der profeſſions - mäßigen Spinnerei von 1849 61. Die nur zu langſame Entwickelung der deutſchen Maſchinenſpinnerei. Die Lage der Handſpinnerei von 1860 bis zur Gegenwart. Die Entſtehung der beſondern Flachsbereitungsanſtalten und ihr Umfang.

Den Nahrungsgewerben am nächſten an Bedeutung ſtehen die Bekleidungsgewerbe, ja ſie überragen ſie, ſofern man an die gewerbliche Thätigkeit im engern Sinne denkt. Die Ausgaben einer Familie für die Kleidung betragen nach den oben ſchon erwähnten Be - rechnungen von Ducpetiaux, Le Play und Engel 14 bis 20 % je nach der höhern oder geringern Stellung der Betreffenden, alſo zuſammen mit den Ausgaben für448Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.Nahrung 64 90 % des Geſammteinkommens. Nur eine Ausgabe kommt der für Kleidung noch nahe, die für Wohnung mit durchſchnittlich 5 18 % der Ge - ſammtausgaben, je nach Stand und Einkommen. Die Zahl der Perſonen, welche ſich ausſchließlich mit der Herſtellung von Bekleidungsſtücken irgend welcher Art abgeben, umfaßte (1849) in Sachſen nach Engel1Zeitſchrift des ſächſ. ſtatiſtiſchen Büreaus 1857. S. 173. 30,24 % der ſämmtlichen Selbſtthätigen, während auf die geſamm - ten Nahrungsgewerbe incl. Landwirthſchaft 45,41 % auf die Gewerbe, welche ſich mit Herſtellung der Wohnung im weitern Sinne abgeben 12,22 %, auf alle andern Thätigkeiten zuſammen nur 12,13 % fielen. Sprechender läßt ſich die Bedeutung der Bekleidungsgewerbe nicht hervorheben.

Im Gegenſatz zu den Nahrungsgewerben haben die Bekleidungsgewerbe viel weniger das Bedürfniß, in der Nähe der Konſumenten zu ſein. Eine ganz andere Wirkung mußten die modernen Verkehrserleichterungen und die moderne Technik da haben.

Das Leder an unſeren Schuhen iſt aus der Haut eines ſüdamerikaniſchen Büffels geſchnitten, die Wolle unſeres Tuchrockes kommt aus Auſtralien, der Rohſtoff unſerer ſeidenen Weſte ſtammt aus China oder Indien, aus Italien oder Südfrankreich, die Baumwollfaſer unſeres Hemdes kommt aus Amerika oder Aegypten. Trans - portabler noch als die Rohſtoffe ſind die werthvollen Halb - und Ganzfabrikate. Garne und Zwirne, Leinwand und Kattun, Tuche und Teppiche gehen durch die ganze449Der Charakter der Gewebeinduſtrie.Welt. Mehr als in irgend einer andern gewerb - lichen Branche haben ſich hier die Eigenthümlichkeiten der modernen Produktion ausgebildet: eine weit gehende Anwendung von Kapital, die höchſte Ausbildung des Maſchinenweſens, die möglichſte Erſetzung aller menſch - lichen Kräfte durch Dampfkraft, die möglichſte Spezialiſi - rung der Induſtrie nach Städten und Gegenden, wie nach einzelnen Geſchäften, alles geſteigert durch die leben - digſte Konkurrenz und durch die Ausbildung der weit - gehendſten Handelsbeziehungen. Es iſt bekannt, daß gerade in das Gebiet der Gewebeinduſtrie die größten Fortſchritte, die ſchönſten praktiſchen Anwendungen der Naturwiſſenſchaften fallen. Auch das drängte vor Allem auf den Betrieb in großen geſchloſſenen Etabliſſements.

Es iſt eine ungeheure volkswirthſchaftliche und ſoziale Umwälzung, die ich hier, freilich nur in ihren Hauptumriſſen und nur ſoweit ſie Deutſchland und ſpeziell Preußen berührt, zu ſkizziren habe. Ich werde nachzuweiſen haben, in wie weit die häusliche Thätigkeit der Familie, die lokale Thätigkeit des kleinen Meiſters zurückgetreten iſt, in wie weit ſie ſich auch ſpäter, auch heute noch erhalten. Es wird ſich darum handeln zu zeigen, wo der Uebergang mit harten volkswirthſchaft - lichen Kriſen, mit dem Ruin ganzer Gegenden und wirthſchaftlichen Klaſſen verbunden war, und wo er im Gegenſatz hierzu nicht nur leichter ſich vollzog, ſondern theilweiſe neben dem techniſchen Fortſchritte von Anfang an zugleich eine ſoziale Beſſerung für die arbeitende Klaſſe, eine Beſeitigung ungeſunder Ver - hältniſſe in ſich ſchloß.

Schmoller, Geſchichte d. Kleingewerbe. 29450Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.

Wir haben zuerſt von der Herſtellung der Garne, von der Verſpinnung des Flachſes, der Baumwolle und der Wolle zu reden.

Das einfachſte Werkzeug zum Spinnen, das man bis in die neuere Zeit noch findet, iſt Kunkel und Spindel. Das 1530 erfundene Spinnrad war billig genug, um gleichfalls einzudringen bis in die unterſten Klaſſen. Die Fürſtin wie die Tagelöhnerfrau ſaß in früherer Zeit am Spinnrad oder arbeitete mit der Spindel; auch Männer füllten ihre Zeit damit aus. Und noch heute iſt beſonders auf dem Lande die Sitte noch nicht verſchwunden. Das alte Mütterchen, wie die kränklichen Schweſtern, die halberwachſenen Mädchen können nur ſo ſich nützlich machen; Abend - ſtunden und Wintertage, welche ſonſt ganz verloren wären, werden nur ſo mit emſiger Arbeit ausgefüllt.

Was ſo als Nebenbeſchäftigung geſponnen wurde, konnte da nicht reichen, wo eine blühende Weberei exi - ſtirte, reichte alſo auch in Deutſchland, beſonders in Preußen und Sachſen, nicht mehr hin, als im vorigen Jahrhundert die Weberei zunahm, ſich zu einem blühen - den Exportgewerbe emporſchwang. Um einen Weber voll zu beſchäftigen, braucht man das Geſpinnſt von 10 und noch mehr Spinnern. Ich erzählte oben ſchon, wie man in Preußen das Spinnen zu fördern ſuchte. 1S. 26 und S. 29 30.Man ließ die Soldaten ſpinnen; man führte in allen Strafanſtalten das Spinnen als Hauptbeſchäftigung ein; es reichte nicht; man gründete ganze Spinnerkolonien;451Die Handſpinnerei.die Bevölkerung mancher ländlichen Diſtrikte wuchs raſch unter dem Sporn der ſteigenden Garnpreiſe. Der Unterhalt, den dieſe Beſchäftigung gab, mochte leidlich ſein, ſo lange die Nachfrage entfernt durch die ſteigende Produktion nicht befriedigt wurde; aber immer war es ſchon damals eine elende Thätigkeit. Sie erforderte weder Kunſt, noch Kraft, noch Kenntniſſe; der ſchwäch - lichſte Theil des Arbeiterſtandes floß ihr zu. Eine ganze Bevölkerung, die ſich ihr durch Generationen hin - durch ergab, mußte geiſtig und körperlich herunter - kommen. Es war immer wie Hoffmann ſagt1J. G. Hoffmann, Nachlaß kleiner Schriften S. 55 in der klaſſiſchen Ueberſicht der Wirkungen der Spinnmaſchinen. eine Vergeudung menſchlicher Kraft, weder hinreichend fruchtbar in wirthſchaftlicher Beziehung, noch würdig genug in ſittlicher.

Auch in England hatte der Aufſchwung beſonders der Baumwollenweberei eine immer größere Nachfrage nach Garnen, nach Handſpinnern erzeugt. John Wyatt2Vergl. über die Geſchichte dieſer Erfindungen den amt - lichen Bericht der Zollvereinsregierungen über die Induſtrie - ausſtellung von 1851, Berlin, Decker 1852, Bd. II, S. 1 ff. Elliſon, Handbuch der Baumwollkultur, deutſch, Bremen 1860; Grothe, Geſchichte der Baumwolle und Baumwollenmanufaktur in der deutſchen Vierteljahrsſchrift 1864, Heft 2, S. 77 121. hatte ſchon 1730 38 Verſuche gemacht, eine Spinn - maſchine mit einer Reihe von Spindeln zu konſtruiren. Im Jahre 1738 hatte John Kay die wichtigſte Ver - beſſerung des Webſtuhls, die Schnellſchütze, erfunden. Wo ſie angewandt wurde, war die doppelte und mehr -29 *452Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.fache Produktion möglich, großer Garnmangel war un - ausbleiblich. Der weitere Fortſchritt in der Spinnmaſchine ſchließt ſich an den Namen von James Hargreaves, eines armen Webers, der im Jahre 1767 ſeine Spinn - maſchine erfand und nach ſeiner Tochter Jenny nannte. Schon im folgenden Jahre trat Arkwright mit ſeiner Spinnmaſchine hervor, die zum erſtenmale mit Pferde - oder Waſſerkraft in Bewegung geſetzt war. Bis 1785 mit einem ausſchließlichen Patente verſehen, baute er bereits viele Spinnereiapparate. Der Hauptaufſchwung der mechaniſchen Spinnerei datirt aber erſt von dem Er - löſchen ſeines Patents; Samuel Crompton hatte 1775 (oder 79) die Erfindungen Hargreaves und Arkwright’s kombinirt, die ſogenannte mulejenny konſtruirt. Die letzte Vollendung erreichte die Spinnmaſchine erſt 1825, in welchem Jahre Roberts zu Mancheſter den ſelbſtthätigen Muleſtuhl erfand. Erinnern wir uns daneben, daß James Watt 1769 85 die Dampfmaſchine, Cartwright 1787 den mechaniſchen Kraftwebſtuhl, daß 1793 Eli Whitney in Connecticut den Saw-gine zur Trennung der Baumwolle von der Kapſel, d. h. die Maſchine, welche die nothwendige Bedingung der Ausdehnung der Baum - wollkultur war, daß 1785 der Franzoſe Berthollet die Kunſtbleiche mit Chlor erfunden hatte, daß 1798 Mac Intoſh ſie verbeſſert in England einführte, ſo haben wir damit das merkwürdige Zuſammentreffen außer - ordentlicher Männer und Erfindungen, die alle ineinander - greifend den ungeheuren Aufſchwung der Gewebeinduſtrie bedingten, den Uebergang zur Großinduſtrie von ſelbſt nach ſich zogen.

453Die Spinnmaſchine und ihre Folgen.

Der Umſchwung, der ſich zuerſt in England und ſpeziell in der Baumwollinduſtrie vollzogen hatte, mußte ſich nach und nach auch anderwärts geltend machen. England konnte durch ihn billiger und beſſer produziren. Die Konkurrenz mit England wurde zur Exiſtenzfrage für alle kontinentale Gewebeinduſtrie. Es fragte ſich, welche Stellung, welchen Umfang die einzelne Induſtrie, zunächſt hier die einzelne Art der Spinnerei hatte.

Baumwolle wurde im vorigen Jahrhundert in Deutſchland noch wenig getragen. Der Stoff war ſchon viel zu theuer; koſtete doch der Centner hundert und mehr Thaler. Die am meiſten getragenen Gewebearten, die Zitze und Nankings, wurden eingeführt. Gegen Ende des Jahrhunderts hatte die Baumwollweberei zwar weſentlich zugenommen; immer hatte man zu Lichtern und Lampendocht Baumwollgarn gebraucht; zu den Stoffen, welche die Zunft der Züchner webte, war es ebenfalls nothwendig. Aber in der Hauptſache hatte es doch gereicht, die Baumwolle von Frauen und Kindern um Lohn verſpinnen zu laſſen. Eine profeſſionsmäßige Spinnerbevölkerung gab es wenigſtens nicht in allzu - großem Umfange. Als ſich daher 1738 79 die mechaniſche Baumwollſpinnerei in England entwickelte, als von 1783 an auch in Deutſchland die Maſchinen - ſpinnerei begann, verdrängte ſie langſam die Beſchäftigung einiger alten Frauen, aber ſie traf nicht eine ganze Bevölkerungsklaſſe in ihrem Haupterwerbszweig. Und als vollends das Sinken der Baumwollpreiſe und der Twiſte im 19. Jahrhundert eintrat, als der Centner rohe Baumwolle, der 1817 noch 70 Thaler in Berlin454Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.gekoſtet hatte, bis auf 19 und 20 Thaler gegen 1829 bis 1832 ſank, als damit die ungeheure Zunahme des Baumwollverbrauchs erfolgte, da dachte man längſt nicht mehr an die Möglichkeit einer Handſpinnerei der Baumwolle. Die Twiſtpreiſe ſtanden ſo, daß damals ſchon eine Spinnerin ſelbſt beim höchſten Fleiße noch 1 Sgr. mit den gröbſten Garnnummern, höchſtens einige Pfennige bei höhern Nummern hätte verdienen können. 1J. G. Hoffmann a. a. O. S. 94 95.Und das Minimum des Verdienſtes, mit dem ſich damals eine Perſon begnügte, wäre doch etwa 2 Sgr. geweſen. Man verarbeitete daher ſchon damals nur Maſchinengarn.

Innerhalb der Maſchinenſpinnerei ſelbſt aber trat der große Konkurrenzkampf zwiſchen England und Deutſch - land, zwiſchen den großen Etabliſſements und jenen kleinen Spinnereien ein, welche dem Handwerke noch nahe ſtanden. Den Hauptanſtoß erhielten die deutſchen Spinnereien durch die Kontinentalſperre. Am Rhein, an der Wupper, Ruhr, Erft und Sieg, in Sachſen, Schleſien und Baiern entſtanden zahlreiche, meiſt kleine, aber bei den damaligen Preiſen ſehr gewinnbringende Geſchäfte. 2Wiek, induſtrielle Zuſtände Sachſens, das Geſammtgebiet des ſächſ. Manufaktur - u. Fabrikweſens, Chemnitz 1840, S. 56.Nach 1815 trat unter dem Druck der eng - liſchen Konkurrenz ein Stillſtand ein, manche der kleinen Spinnereien gingen wieder ein. Das Schlimmſte waren von da an die Rückſchläge des ſchwankenden engliſchen Marktes; nach Jahren ſteigender Nachfrage und ſteigen -455Die deutſche Baumwollſpinnerei.der Preiſe, welche wieder zahlreiche Anfangsgeſchäfte hervorgerufen hatten, trat mit den Handelskriſen (ſo von 1825 26) wieder eine längere Zeit des gedrückteſten Abſatzes ein, welche in England wie bei uns den kleinen Geſchäften ein Ende machte. Die Zeit von 1826 32 war keine glänzende. Von 1833 36 waren wieder ſteigende Konjunkturen; Berichte aus dieſer Zeit ſagen: wenn ein Bauer oder Müller ſich zu wohl fühlte, baute er eine Spinnerei. Nach den Handelskriſen von 1836 und 39 traten wieder die Rückſchläge und mit ihnen wieder die zahlreichen Bankerotte der kleinen Spinner ein. So zog ſich unter wechſelnden Verhältniſſen die deutſche Baumwollſpinnerei hin, mehr und mehr auch auf ganz große Etabliſſements ſich beſchränkend, was ja in dieſer Geſchäftsbranche mehr als irgendwo angezeigt iſt, da nicht leicht in einem Zweige ſo ſehr wie hier das größere Geſchäft immer billiger zu arbeiten erlaubt. Wenn die deutſche Baumwollſpinnerei in den letzten 20 Jahren endlich in Folge der ſteigenden Kapitalanſammlung und der Ausbildung unſerer Maſchinenfabriken zu vollſtändiger Ebenbürtigkeit mit den engliſchen Spinnereien herange - wachſen iſt, ſo hat darunter nicht das eigentliche Handwerk, ſondern nur ein Theil der kleinen Fabrikanten gelitten;1Vergl oben die Zahlen über den Umfang der preuß. Spinnereien S. 162 63; ſonſt: Mährlen, die Darſtellung und Verarbeitung der Geſpinnſte, Stuttgart 1861, S. 102 ff. Zollvereinsländiſcher Ausſtellungsbericht von 1851. Bd. II, S. 10 ff. Oeſtr. Ausſtellungsbericht von 1867, Bd. IV, S. 3 ff. der Haupterfolg aber war die wenigſtens theilweiſe Ver - drängung der engliſchen Twiſte vom deutſchen Markte.

456Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.

Ganz anders lagen die Dinge in der Flachs - ſpinnerei. Leinwand war ſeit Jahrhunderten der Hauptſtoff für Ober - und Unterkleider, für Bett - und Tiſchzeug aller Stände. Dieterici rechnet,1Der Volkswohlſtand im preuß. Staat, S. 142 46. daß 1806 im Durch - ſchnitt der ganzen preußiſchen Bevölkerung jede einzelne Perſon jährlich ½ Elle Wollgewebe, ¾ Ellen Baumwoll - ſtoffe, aber 4 Ellen Leinwand verbraucht habe. Und zu dieſem Bedarf für den eigenen Verbrauch kam der Export. Seit alter Zeit hatte man aus Deutſchland viel Leinen exportirt; im 18 ten Jahrhundert hatte die Ausfuhr beſonders ſchleſiſcher und weſtfäliſcher Leinwand ſich wieder außerordentlich geſteigert. Und mit der Ausfuhr der Leinwand hatte ſich auch die Ausfuhr von Leinengarn gehoben. Allein aus den preußiſchen Staaten erreichte der Werth der jährlichen Ausfuhr gegen Ende des Jahrhunderts einen Betrag von etwa 3 Millionen Thaler. 2Dieterici, daſelbſt S. 24.

In ganz Norddeutſchland, beſonders aber in Schleſien, in Osnabrück, in Ravensberg, im Hannöver - ſchen und Braunſchweigiſchen hatte ſich das Spinnen verbreitet. 3Vergl. Gülich II, 318. Die Hauptquelle für die Geſchichte der preuß. Leindwandinduſtrie iſt Schneer, über die Noth der Leinenarbeiter in Schleſien, Berlin 1844. Vergl. auch Volz, Bei - träge zur Geſchichte der Leinwandfabrikation und des Leinwand - handels in Württemberg von den älteſten bis auf die neueſten Zeiten. Württembergiſche Jahrbücher 1854. Heft 1. S. 148 184, Heft 2, S. 1 62.Man ſpann in allen Familien des Mittel -457Die deutſche Flachsſpinnerei vor 1800.ſtandes, man ſpann in den Bauern - und Tagelöhner - hütten; man baute den Flachs ſelbſt, bereitete ihn ſelbſt; der Verdienſt einer ſpinnenden Perſon von etwa Groſchen täglich war ein hübſcher Zuſatz zu dem Ein - kommen aus der bäuerlichen Stelle. Daneben waren aber auch zahlreiche Spinnerkolonien, wie ich vorhin ſchon erwähnte, entſtanden, welche faſt ausſchließlich vom Spinnen lebten; man hatte ihre Zunahme in jeder Weiſe begünſtigt. Ihre Exiſtenz war immer prekär geweſen; doch konnte eine Familie, zu 3 4 Köpfen gerechnet, deren jeder täglich 2 Groſchen ver - diente, noch behaglich auskommen, ſo lange die Lebensmittelpreiſe niedrig waren, ſo lange in theuren Jahren die Friedericianiſchen großen Getreidemagazine ſich ihrer angenommen hatten. Mit dem außerordent - lichen Steigen aller Lebensmittelpreiſe gegen Ende des Jahrhunderts freilich wurde ihre Lage, trotz der noch immer dauernden Zunahme der Spinnerei, ſchon viel weniger günſtiger, kamen Nothzuſtände ſchon da und dort vor. 1Vergl. Jacobi, die Arbeitslöhne in Niederſchleſien, Zeit - ſchrift d. ſtat. Bür. VIII, S. 330, Anm. und Gemählde des geſell - ſchaftlichen Zuſtandes im Königreich Preußen bis 1806, Berlin 1808, I, 90; es werden daſelbſt die Folgen der Lebensmittel - vertheuerung für die Handwerker überhaupt beſchrieben.

Die Spinner, welche den Flachs nicht ſelbſt bereite - ten, kauften denſelben von den Detailhändlern, wie ſie in den Spinnerdörfern vorhanden waren. Das fertige Garn wurde auf dem Garnmarkt oder an den hauſiren - den Garnſammler verkauft. Die bloße Lohnſpinnerei war458Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.ſelten. Der Spinner war ſelbſtändiger Unternehmer, Eigen - thümer des von ihm verarbeiteten Rohſtoffs. Strenge gehandhabte Vorſchriften über den Flachshandel, über die Garnmaße und Benennungen, über die Zahl der Fäden, welche eine Strähne, ein Gebinde enthalten mußte, über getrennten Verkauf von Kette und Schuß - garn erhielten die Geſchäfte reell, ſchafften den Produkten Vertrauen im Ausland.

Während ſo in Deutſchland die Spinnerei neben der Weberei ſich entwickelt hatte, mußten andere Länder ihr Leinengarn für die Weberei aus dem Ausland beziehen. So beſonders Irland, das ſchon damals eine nicht unbedeutende Leinenweberei hatte. Irland allein bezog jährlich etwa 16 Millionen Pfund deutſches und holländiſches Leinengarn. 1Zollvereinsblatt, Jahrg. 1843, S. 969 ff. Ueber die deutſche Leineninduſtrie und den deutſchen Leinwandhandel.Da mußte, nach der Erfin - dung der Baumwollſpinnmaſchine, der Gedanke nahe liegen, dieſe Maſchine auch für die Flachsſpinnerei zu verwenden. Aber es ſtellten ſich dieſem Verſuche die größten Schwierigkeiten entgegen. Der Flachs erträgt das gleichmäßige Ziehen der Maſchine viel weniger als die Baumwolle, die Anfeuchtung des ausgezogenen Flachſes durch die Spinner wußte man lange nicht zu erſetzen. Die Herſtellung der Maſchinen war ſehr koſt - ſpielig; die erſten mechaniſchen Flachsſpinnereien arbeite - ten unvollkommen und theuer. Weder die feinen, noch die ganz groben Nummern konnte man vorerſt auf der Maſchine ſpinnen.

459Die Flachsſpinnerei 1800 1820.

So wäre auch die Entwickelung der engliſchen Maſchinenſpinnerei zunächſt eine ſehr langſame geblieben, wenn nicht durch die napoleoniſchen Kriege, ſpäter haupt - ſächlich durch die Kontinentalſperre der Bezug der deutſchen Garne wie der deutſchen Leinwand erſchwert worden wäre. Die Preiſe ſtiegen; auch in den ſpani - ſchen Kolonien blieb die deutſche Leinwand aus; da warf ſich das engliſche Kapital mit Macht auf die Flachs - ſpinnerei. Prämien für Flachsbau, halbjährig ſteigende Importzölle1Ueber die Geſchichte der engl. Maſchinenſpinnerei vergl. den zollver. Ausſtellungsbericht von 1851, II, 155. auf fremdes Leinengarn, Rückzölle für aus - geführte Leinwand kamen hinzu, ſchnell und ſicher die Blüthe der engliſchen Maſchinenſpinnerei herbeizuführen.

Unterdeſſen begann in Deutſchland die Noth der Spinner, übertäubt vom Lärm des Krieges, erſt recht klar ſich zeigend, als 1815 der Frieden wiederkehrte.

Theilweiſe zwar hob ſich der Garnbedarf und die Garnausfuhr wieder etwas, aber nicht genügend; die Baumwolle verdrängte die Leinwand mehr und mehr; der Abſatz erhielt ſich nur, wenn man das Handgarn immer billiger lieferte. Die Vorurtheile gegen das Maſchinengarn ſchwanden überall nach und nach, nur in Deutſchland nicht. Jedenfalls zeigte das Maſchinen - garn einen Vortheil, den das Handgarn nie in dem Maße gehabt, jetzt vollends durch ſchlechte Produktion verlor, eine reelle Gleichmäßigkeit des Geſpinnſtes.

Dieſer letztere Umſtand der abnehmenden Güte des deutſchen Handgarns wurde verhängnißvoll. Noch war460Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.der Export und der innere Bedarf ein ſolcher, noch war innerhalb Deutſchlands der Uebergang zur Maſchinen - ſpinnerei ſo ſchwierig, theuer und unbeliebt,1Die preußiſche Regierung hatte zuerſt 1810 eine unvoll - kommene Spinnmaſchine gekauft und dem Kaufmann Alberti im ſchleſiſchen Gebirge überlaſſen; aber erſt nach Jahren war ſie leidlich in Gang gekommen. S. Hoffmann, Ueberſicht der Wir - kungen der Spinnmaſchinen a. a. O. S. 149. daß der Handſpinnerei immer noch ein großes Feld geblieben wäre, wenn ſie ſich nicht ſelbſt durch die Verſchlechterung des Produktes diskreditirt hätte.

Gerade als die Garnpreiſe zu ſinken begannen, fing man in Schleſien an, das ſächſiſche Spinnrad ein - zuführen, das mehr und ſchneller, aber auch viel ſchlechter zu ſpinnen erlaubte. 2Schneer, über die Noth der Leinenarbeiter S. 11.Bei dem täglich ſinken - den Lohn ſuchten ſich die Leute durch eine immer ſchnellere und ſchlechtere Produktion zu helfen. Eine ſtrenge poli - zeiliche Beaufſichtigung der Produkte wäre doppelt am Platze geweſen und gerade jetzt fiel ſie faſt ganz weg. Man hatte in Preußen mit der freiheitlichen Gewerbe - geſetzgebung die Spinner - und Weberreglements nicht vollſtändig aufgehoben, man hatte aber aufgehört, ſie ſtreng durchzuführen. Mehr und mehr ſchlichen ſich betrügeriſche Verſchlechterungen ein, die deutſche Waare kam im Ausland in Verruf. Das Maſchinengarn gewann damals an Beliebtheit nur, weil man ſicher war, ein gleichmäßiges beſtimmtes Produkt vor ſich zu haben, während das Handgarn die Publica fides, deren es früher genoß, verloren hatte. Im Jahre 1828461Die Verſchlechterung des deutſchen Handgarns.erklärten die britiſchen Kaufleute das deutſche Garn, das früher ſo beliebt war, ſei aus dieſem Grunde faſt unverkäuflich. 1Gülich II, 467.

Mit der unreellen Behandlung des ganzen Geſchäfts und der ſich ſteigernden Noth geſtaltete ſich auch die ganze bisherige Organiſation des Geſchäfts zur Geißel für die Spinner. Sie hatten früher durch den Selbſt - bau oder Baarkauf des Flachſes und den Verkauf des Garnes eine gewiſſe Selbſtändigkeit behauptet. Mit der Noth wurde das anders. Für den Selbſtbau des Flachſes fehlten die Mittel; es wurde den Leuten immer ſchwerer ein Stückchen Land zu pachten; ſie mußten den Flachs vom Flachshändler nehmen. Dieſer machte ohne - dieß ſchlechte Geſchäfte durch die ſinkenden Konjunkturen, ſuchte ſich dadurch zu helfen, daß er immer ſchlechtern und billigern Flachs kaufte, den die von ihm abhängigen, an ihn ſchon verſchuldeten Spinner doch zu den alten Preiſen nehmen mußten. Der Verfall der Flachs - bereitung hängt hiermit zuſammen.

Gegenüber dem Garnhändler war der Spinner nicht in beſſerer Lage; konnte er gar keinen Flachs mehr kaufen, ſo mußte er froh ſein, dem Garnhändler welchen um Lohn zu verſpinnen; hatte er noch eigenes Garn zu verkaufen, ſo war er doch beim Handel immer der, den die Noth drängte zu verkaufen, der ſich jeden Preis gefallen laſſen mußte. Vom Händler und Faktor oft - mals gewiſſenlos gedrückt, hielt er ſich nun ſeinerſeits zu jedem Betrug berechtigt. Es entſtand ein Syſtem462Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.der Geſchäftsorganiſation, das nach allen Seiten ver - giftet und verdorben, die wirthſchaftliche Noth nur noch ſteigerte, die Bevölkerung ganzer Dörfer und Gegenden moraliſch ſo tief herabdrückte, daß von da an das Syſtem einer in den Hütten der kleinen Leute zerſtreuten Hausinduſtrie in manchen Kreiſen für identiſch galt mit der Zulaſſung von Betrug und Diebſtahl aller Art.

Man könnte glauben, die billigen Lebensmittel der zwanziger Jahre hätten die Exiſtenz der Spinner erleich - tert; aber in Wahrheit war dieſe Billigkeit für ſie eher verhängnißvoll. Sie ließen ſich leichter die ſinkenden Löhne gefallen, und als von 1828 an die Preiſe wieder ſtiegen, da war die Lage um ſo ſchlimmer. Der Ver - dienſt eines weſtfäliſchen Spinners betrug 1828 ſelten mehr als 2 Groſchen täglich. 1Gülich II, 489.Und daneben trieb die Landbaukriſis viele kleine Bauern, welche früher nicht geſponnen hatten, zu dieſem Nebenerwerb. Es war ein zunehmendes Angebot bei ſinkender Nachfrage und über - dieß lieferten die Bauern oft noch ſchlechteres Garn, als die profeſſionsmäßigen Spinner.

Da die Garne der deutſchen Länder, wo die ſtrengſte Leggeordnung ſtets aufrecht erhalten worden war, wie z. B. die Hannover’ſchen, entſchieden beſſer blieben, ihren Ruf im Ausland behaupteten, ſo ſuchte auch die preußiſche Regierung den täglich ſinkenden Ruf des preußiſchen beſonders ſchleſiſchen Handgarns durch theilweiſe Wiederherſtellung der Reglements noch zu retten, dem unreellen Geſchäftsbetrieb entgegen zu arbei -463Die zunehmende Noth der Handſpinner.ten. Beſonders für Schleſien und die Grafſchaft Glatz wurde die Verordnung vom 2. Juni 1827,1Rönne, Gewerbepolizei I, 451 ff. betreffend die polizeilichen Verhältniſſe des Leinengewerbes, erlaſſen, welche wieder einigermaßen Ordnung ſchaffen ſollte. Aber ſie genügte nicht. Daß ſie nicht wagte mit der nothwendigen Schärfe und Strenge gegen die armen Leute durchzugreifen, war begreiflich, aber es wäre noch das einzige Hülfsmittel damals geweſen. Der Provinzial - landtag hatte ſchon 1825 es ausgeſprochen und bewieſen, daß nur eine ſchärfere polizeiliche Regelung des Flachs - handels die Geſchäfte wieder auf reelle Baſis zurück - führen könne. 2Schneer, S. 155 ff., beſonders S. 157.

Wenn man übrigens die Preiſe betrachtet, ſieht man, daß alles auf die Dauer nicht helfen konnte, der Handarbeit ihr immer ſchon kärgliches Verdienſt zu erhalten. Hoffmann berechnet, daß der Flachs für das Schock Garn von 60 Stücken rein gehechelt, das Verdienſt des Händlers eingerechnet, auf durchſchnittlich etwa 18 Thaler zu ſtehen kam. Der Preis des Garnes3Vergl. auch die Preistabelle in dem zollvereinsländ. Ausſtellungsbericht für 1851. II, S. 157. war nun:

464Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.

Darnach blieb dem Spinner früher an dem Schock ein Verdienſt von 28 32 Thlr., 1833 noch von 5 Thlr. bei dem beſſern Garn, während das ſchlechtere, das Einſchußgarn, bei dem auch viel früher die Ma - ſchine konkurrirte, kaum mehr einen Verdienſt gab. So kam es, daß zu Anfang der vierziger Jahre eine ganze Spinnerfamilie, Mann, Frau und Kinder, bei allem Fleiße, wenn ſie faſt Tag und Nacht am Spinnrade ſaßen, nicht über 2 Groſchen täglichen Verdienſtes hatte.

Schon waren damals die Bemühungen für Ver - beſſerung der Flachsbereitung im Gang. Gut einge - richtete Staatsflachsanſtalten, wie in Belgien, wurden vorgeſchlagen und eingerichtet, um den Spinner aus der Hand des Flachshändlers zu befreien; in ähnlicher Weiſe ſorgte man für direkten Abſatz des Garns, um den wucheriſchen Druck des Garnſammlers von ihm zu neh - men. Durch zahlreiche Spinnſchulen ſuchte man auf eine beſſere Produktion hinzuarbeiten. In Weſtfalen exiſtirten 1845 - 75 derartige Schulen,1Zollvereinsblatt, Jahrg. 1845. S. 605. (aus der Enquete, welche das Berliner Handelsamt anſtellte). Gülich IV, 447. in Schleſien wurden ebenfalls zahlreiche errichtet. Das waren Linderungsmittel der Noth; in der Hauptſache konnten ſie nicht helfen, um ſo weniger, als die mechaniſche Flachsſpinnerei ſich nunmehr in England großartig ent - wickelt hatte, im Stande war, größere Mengen guten Maſchinengarns auch nach dem Zollverein zu liefern. Die Flachsſpindel in der Fabrik hatte ſchon 1818 etwa 120 mal ſo viel geliefert, als ein Handſpinnrad; in465Die Kriſis der deutſchen Handſpinnerei.den vierziger Jahren nahm man an, daß ein Arbeiter mit Hilfe der Spinnmaſchine 500 mal ſo viel liefern könne, als ein Handſpinner. Auch das konnte nicht ohne Wirkung bleiben, daß ſich heraus ſtellte, der Weber könne mit Maſchinengarn täglich mehr zu Stande bringen. 1Degenkolb, Arbeitsverhältniſſe, S. 35 und 69.

Die größte Noth der Spinner fällt in die vierziger Jahre. Tauſende ſind dem Hungertyphus erlegen. Die Uebelſtände waren da am größten, wo das Spinnen ausſchließliche Beſchäftigung der Leute, ja ausſchließlicher Erwerb ganzer Dörfer war, welche, erſt im 18. Jahr - hundert gegründet, oft kaum einigen Grundbeſitz hatten. Am meiſten war dieß in Schleſien und der Lauſitz der Fall, weniger in Weſtfalen. Schwer entſchloß ſich die ſchwächliche, durch Generationen herabgekommene Spinner - bevölkerung zu anderer Thätigkeit überzugehen. Es gab auch damals noch nicht ſo viele Aushülfswege, noch nicht ſo viele neu aufblühende Induſtrien, die Arbeiter ſuchten. Der Lohn war allerwärts noch gedrückt, erſt gegen 1850 fangen die Eiſenbahnbauten an, ihn zu heben.

Die preußiſchen Gewerbetabellen verzeichnen erſt von 1849 an die noch mit Handſpinnerei von Leinengarn beſchäftigten Perſonen. Ihre Zahl betrug:

Schmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 30466Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.

Die lapidare Sprache dieſer Zahlen iſt deutlich und entſetzlich, wenn man das Elend bedenkt, das zwiſchen den Zeilen liegt. Der Sprung von 1858 61 iſt der größte. Selbſt wenn man annehmen wollte, daß er in Folge von Fehlern der Aufnahme größer ſei, als die Veränderung in Wirklichkeit war, das letzte Reſultat bleibt daſſelbe. Die Handſpinnerei als ſelbſtändige Be - ſchäftigung hat beinahe überall ſeit den letzten Jahren aufgehört. Ueber 6 Pfennige täglich läßt ſich kaum mehr damit verdienen. 1Jacobi, Arbeitslöhne in Niederſchleſien, a. a. O. S. 328.Soweit die Spinner nicht, körperlich und geiſtig zu tief geſunken, dem Elend nach und nach erlegen ſind, haben ſie in Feld - und Wald - arbeit, bei Straßen - und Eiſenbahnbauten eine geſündere und beſſer bezahlte Beſchäftigung gefunden.

Die Maſchinenſpinnereien, welche das profeſſions - mäßige Handſpinnen zur Unmöglichkeit gemacht, waren in der Hauptſache keine zollvereinsländiſchen, ſondern fremde, beſonders engliſche. Für die Handſpinner aber lag darin keine Erleichterung, daß die deutſche Maſchinen - ſpinnerei ſich ſo langſam entwickelte. 2Gülich IV, S. 442 ff.Und daneben hatte dieſe langſame Entwickelung große Nachtheile für die Weberei; der verſpätete Uebergang zum Maſchinen - garn war die Haupturſache, welche ihren alten Abſatz vernichtete.

Freilich war der Uebergang in Deutſchland ſchwie - rig; es fehlte das große Kapital, es fehlten die Ma - ſchinenfabriken; vor Allem mußte es in einem Lande,467Die Flachsmaſchinenſpinnereien.welches das Handgeſpinnſt ſo billig und ſo über den Be - darf lieferte, ſchwer halten, zur Maſchinenſpinnerei über - zugehen. Die ſchutzzöllneriſche Partei verlangte längſt einen Schutzzoll zu Gunſten der Maſchinenſpinnerei, ſie erinnerte an England und die engliſchen Schutzzölle für dieſe Branche, ſie pochte darauf, daß Belgien, in ähn - licher Lage wie der Zollverein, ſich durch Einführung von Schutzzöllen ſeit 1838 außerordentlich raſch eine bedeutende Maſchinenſpinnerei geſchaffen1Vergl. Ausſtellungsbericht von 1851 II, 160. Hanſe - mann, die wirthſchaftlichen Verhältniſſe des Zollvereins, Berlin 1863. S. 44 (ſchutzzöllneriſch-tendenziös, aber ſehr gut in ſach - lichen und techniſchen Ausführungen). und dadurch ſeiner ganzen Leinenmanufaktur wieder aufgeholfen habe.

Man zögerte aus Rückſicht auf die Spinner, man wollte den Webern das Garn nicht vertheuern, man entſchloß ſich mit Recht nicht ſo leicht zu Erhöhung und Einführung von Schutzzöllen, obwohl ein Schutzzoll hier vielleicht eher am Platze war, als für manche andere Gewerbe.

Der Export des deutſchen Garnes hörte mehr und mehr auf; das fremde Maſchinengarn wurde immer nothwendiger. Noch 1833 hatte die Mehrausfuhr an rohem Leinengarn 35267 Zentner betragen; ſchon 1840 belief ſich die Mehreinfuhr auf 10939,2Dieterici, Ueberſicht S. 412, zweite Fortſetzung S. 521. 1842 46 jährlich auf 29990 Zentner. Da entſchloß man ſich 1847 doch zur Erhöhung des Zolls von 5 Sgr. auf 2 Thlr. pro Zentner. Doch blieb auch jetzt die Entwickelung der zollvereinsländiſchen Maſchinenſpinnerei eine ſehr lang -30 *468Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.ſame. Im Jahre 1843 hatten 20 Spinnereien exiſtirt, im Jahre 1861 betrug ihre Zahl erſt 38, von welchen 21 auf die ältern preußiſchen Provinzen kamen. Die Zahl der Feinſpindeln iſt in dieſer Zeit im Zollverein von 36000 auf 136492 geſtiegen; auch 1865 zählte man erſt 219000 Spindeln. 1Viebahn III, 893. Die Zunahme der Maſchinen - ſpinnerei hat in Deutſchland mehr noch als in England eine Schwierigkeit: die Konſtruktion von Flachsmaſchinen iſt ſo viel ſeltener, als die von Baumwollmaſchinen, daß ſich ſchwerer Etabliſſements bilden, die ausſchließlich ſich hiermit abgeben; nur in Irland und in Yorkſhire gibt es einige wenige Firmen; in Belgien exiſtirt ein einziges Haus von Bedeutung in Gent. In Deutſchland baut Hartmann in Chemnitz, der überhaupt Alles macht, auch Flachsmaſchinen. Einige ſüd - deutſche und ſchweizer Maſchinenfabriken haben ſich darauf gelegt, es aber wieder aufgegeben, weil ſich die Unmöglichkeit heraus - ſtellte, ſtets genug Arbeit in dem Fache zu finden. Selbſt die paar engliſchen großen Fabriken fangen an, neben den Flachs - maſchinen ſich auf Werkzeugmaſchinen zu werfen, um bei ein - tretender Ebbe nicht ganz feiern zu müſſen. Oeſtreich. Aus - ſtellungsbericht Bd. II, S. 517 18.Die Mehreinfuhr an rohem Leinengarn war durchſchnittlich 1860 64 noch 90667 Zentner. Oeſtreich zählte 1865 340000, Frankreich 600000, Großbritannien 1.781000 Spindeln, ſie ſind alſo dem Zollverein weit voraus.

Ganz hat die Handſpinnerei noch nicht aufgehört und wird nicht ſo leicht aufhören, da einzelne Garn - ſorten nur mit der Hand zu ſpinnen ſind. Aber es wird nur noch als Nebenbeſchäftigung auf dem Lande geſponnen, und auch das ſchränkt ſich von Jahr zu Jahr ein. Immer weniger findet dieſes Garn Anwendung469Die neueſte Lage der Handſpinnerei.für die gewöhnlichen Gewebe, welche in den Welthandel kommen; aus Bielefeld, aus dem Ravensberg’ſchen, aus Schleſien erzählen die Handelskammerberichte Jahr für Jahr, daß die Produktion aus Handgeſpinnſt abnehme. Der Herforder Verein für Leinen aus reinem Hand - geſpinnſt iſt der Auflöſung nahe, ſchreibt der Bericht für 1864. 1Preußiſche Handelskammerberichte pro 1864. S. 152.Einzelne Theile unſeres Bezirks, ſchreibt derſelbe Bielefelder Berichterſtatter 1865,2A. a. O. pro 1865, S. 144; zu vergl. pro 1866, S. 209. halten vor - erſt noch am Handgeſpinnſt feſt, aber ohne dabei zu proſperiren. In abgelegenern Gegenden hält ſie ſich eher noch. So kamen z. B. 1867 in den hannöverſchen Leggebezirken von den geleggten Linnen

Aber auf den Leggen, auf welchen die Handgarne noch bedeutend überwiegen, ſind die abſoluten Sum - men des jährlich produzirten Leinens ſehr geringe und nehmen immer mehr ab. Der Bericht für die Stadt Hannover ſchreibt in demſelben Jahre: Die Darſtellung von Handgeſpinnſt findet zwar immer noch ſtatt, läßt jedoch bedeutend nach. Mit der Spinnerei genau3A. a. O. pro 1867, S. 668.470Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.bekannte Perſonen halten es im Intereſſe des Hand - geſpinnſt liefernden Publikums, wie des Handels für wünſchenswerth, daß die Handſpinnerei ganz aufhöre. Die Anſicht, daß Leinen von Handgeſpinnſt beſſer ſei, als das aus Maſchinengarn, hat mehr dazu beigetragen, die deutſchen Leinen zu verdrängen, als Englands mer - kantiliſche Lage. Das Rohmaterial wird ebenſo theuer bezahlt, wie das Handgeſpinnſt. So erzielten z. B. im letzten Winter Handgeſpinnſte von etwa 7 Pfund 1 Thlr. 15 Gr. für das Bund, und ſind zu derſelben Zeit 7 Pfund Flachs mit 1 Thlr. 12 Gr. bis 1 Thlr. 15 Gr. bezahlt.

Daß ſelbſt der Bauer und Tagelöhner in Gegen - den, wo das Spinnen bisher üblich war, es nunmehr aufgibt und ſeinen Flachs verkauft, hängt mit der Um - bildung der Flachsbereitung zu eigenen ſelbſtändigen Geſchäften zuſammen. Das alte Röſten, Brechen und Schwingen des Flachſes durch den Bauern ſelbſt lieferte ein zu ſchlechtes Produkt. Seit den 40 er Jahren haben die Schenk’ſche Warmwaſſerröſte, die Watt’ſche Dampfröſte, die Brech - und Schwingemaſchinen von Lee, Durand, Lowder, Chriſtian, Kuthe, Bücklers, Kaſelowsky, Friedländer die weitere fabrikmäßige Zubereitung des Flachſes angebahnt, welche zu ihrer Ausführung mecha - niſche Kraft und Fabrikationsräume erfordert. Die Regierungen, wie patriotiſchen Vereine ſuchten ſolche An - ſtalten ins Leben zu rufen, um dem Flachsbau in Deutſch - land ſeine alte Bedeutung wieder zu geben, die große Mehreinfuhr von Flachs überflüſſig zu machen. Theil - weiſe verbanden ſich ſolche Anſtalten mit den großen471Die Flachsbereitungsanſtalten.Maſchinenſpinnereien, theilweiſe traten ſie ſelbſtändig auf; zuerſt mehr in kleinern Umfang und mehr um Lohn den Flachs für die Eigenthümer zubereitend, die ihn dann ſelbſt verſpannen oder verkauften; ſpäter mehr als große Fabrikgeſchäfte, die nicht um Lohn arbeiten, ſon - dern den rohen Flachs einkaufen, den geſchwungenen fertigen Flachs verkaufen. Die Gewerbetabellen für 1861 zählen zum erſtenmale ſolche Anſtalten und zwar in Schleſien ſolche mit über 30 Arbeitern auf eine An - ſtalt, ähnlich große in Poſen, im Königreich Sachſen, in Braunſchweig; dagegen ſind es in Weſtfalen und Süddeutſchland mehr handwerksmäßige Geſchäfte; denn die Zahl der Geſchäfte ſteht der Zahl der Arbeiter ſo ziemlich gleich. Es handelt ſich theilweiſe um Maſchinen, welche durch einen Pferdegöpel in Betrieb geſetzt werden, um Maſchinen, deren Preis einige hundert Thaler nicht überſchreitet, ſo daß die kleinen Geſchäfte auch wohl beſtehen und proſperiren können. 1Oeſtreich. Ausſtellungsbericht Bd. II, S. 520 iſt z. B. eine ausgezeichnete Brech - und Schwingemaſchine von Victor Rack in Erdmannsdorf erwähnt, welche 200 Thlr. koſtet.

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5. Die Wollſpinnerei, die Zwirn -, Strick -, Stick - und Nähgarnfabriken, die Garnbleiche und - Färberei und die Seilerei.

Der Verbrauch an Wolle und die Technik der Wollſpinnerei. Die Handſpinnerei und Kämmerei in früherer Zeit. Die frühe Entwickelung der kleinen deutſchen Streichgarnſpinnereien. Die theilweiſe Erhaltung der Handſpinnerei. Der Kampf der großen und der kleinen Streichgarnſpinnereien; die Statiſtik derſelben 1837 61. Die Lage der Streichgarnſpinnereien ſeit 1861. Die Kammgarnſpinnerei. Die Handkämmerei als Lohnarbeit, die Maſchinenkämmerei erſt ſeit neueſter Zeit. Der geringe Umfang der deutſchen Kammgarninduſtrie; das Aufhören der deutſchen Handkämmerei. Die Zwirn -, Strick -, Stick - und Nähgarnfabriken. Die Garnbleichen. Die Färberei; die Abnahme der handwerksmäßigen Geſchäfte, die Bildung großer fabrikmäßiger Geſchäfte. Die Seilerei und die Fabriken für Seilerwaaren.

Die Handſpinnerei und Kämmerei von Schafwolle beſchäftigte, als die neuen Spinnmaſchinen entdeckt wurden, auch zahlreiche Perſonen; aber ihre Zahl und ihre Stellung war doch eine andere, als die der Leinengarn - ſpinner, und das geht auf Urſachen zurück, die bis in die neueſte Zeit auch die mechaniſchen Wollſpinnereien beein - flußt haben, die ich daher zuerſt erwähnen will.

473Der Verbrauch an Wollgarn.

Die Technik des Wollſpinnens iſt eine andere, weniger Arbeit erfordernde; der Verbrauch an Woll - waaren iſt ein ſehr viel geringerer, als der von Baum - wolle und Leinen.

Ueber den Verbrauch an Wollwaaren in früherer Zeit ſagt Dieterici, indem er den Verbrauch pro Kopf der preußiſchen Bevölkerung auf ½ Elle gegen 1800 an - ſchlägt: es iſt notoriſch, wie arm in Bezug auf tuchne Bekleidung das Landvolk, d. h. die Maſſe der Nation, vor 1806 geweſen. Der Tuchrock des Bauern mußte viele Jahre aushalten und oft erſchienen Knechte und Tagelöhner im ſtrengſten Winter bei dem Gutsherrn und im Gerichtstermin im leinenen Kittel.

Die Tuche und andere Wollwaaren werden jetzt ja leichter gemacht, aber immer kann man noch rechnen, daß ſie die drei - und mehrfache Zeit von Baumwoll - ſtoffen aushalten, wodurch ſich der jährliche Bedarf natür - lich geringer ſtellt. Der Wollverbrauch wird jetzt in Deutſchland auf etwa 2, in England auf 5 Pfund1Für Frankreich berechnet Moreau de Jonnès, Sta - tistique de l’industrie de la France (Paris 1856) S. 22 nur ½ Kilogr., alſo 1 Pfund pro Kopf und fügt dem bei: c’est une pénurie extrême pour le temps nous vivons. On peut dire même que c’est une calamité publique, car le pauvre est privé des vêtements de leine qu’exige la rigueur du climat. pro Kopf berechnet, der Baumwollverbrauch in Deutſch - land auf 4, in England auf 30 40 Pfund. Dieterici und Engel rechnen pro Kopf in Preußen einen jährlichen Verbrauch (nach freilich ganz ungefähren Schätzungen):474Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.

Was die Technik betrifft, ſo iſt die Urſache der geringern Arbeit die viel geringere Feinheit aller Woll - geſpinnſte. Das gröbſte Baumwollzeug beginnt mit 70 Kettenfäden auf den Zoll, das grobe Tuch beginnt mit 27 Kettenfäden, das mittlere hat 40 50, nur das feinſte Tuch ſteigt bis zu 70. 1J. G. Hoffmann, Ueberſicht der Wirkungen der Spinn - maſchine a. a. O. S. 127.Die durchſchnittliche Arbeit bei der Baumwollſpinnerei iſt nach Hoffmann mindeſtens die 24 fache gegenüber der Wollſpinnerei. Der Werth der Wolle wird ſelbſt durch die letzte Verarbeitung zu feinen Geweben durchſchnittlich nur verdoppelt, der Werth des Flachſes verdreifacht, der Werth der Baumwolle ſteigt auf das 10, 30 und mehrfache durch die Verarbeitung bis zu beſſern Geweben. Die Vortheile der Maſchine und des Großbetriebs ſind damit ſelbſtverſtändlich für die Wollinduſtrie kleinere. Spinnereien als ſelbſtändige Ge - ſchäfte waren und ſind auch dadurch für Wolle ſchwieriger zu etabliren, daß die Wolle pro Zentner 40 100 Thlr. koſtet, während die Baumwolle von ähnlichen Preiſen zu Anfang des Jahrhunderts bis auf wenige Thaler herab - geſunken iſt.

Aus dieſen Gründen war auch die Wollſpinnerei früherer Zeit, welche das Garn für die wollenen Gewebe, wie zum Stricken und zu Strumpfwaaren mit der Hand475Die Wollſpinnerei in früherer Zeit.und dem Spinnrad zu liefern hatte, niemals ein ſo bedeutendes Gewerbe, wie die Flachsſpinnerei; ſie war ſelten ein ſelbſtändiges Gewerbe wie jene.

Auch im Mittelalter bildeten nur in den größten und blühendſten Städten der damaligen Tuchinduſtrie die Wollſchläger, die Wollkämmer und die Wollſpinner eigene Zünfte. Meiſt wurde das Schlagen der Wolle von den Tuchmachern ſelbſt beſorgt; das Kämmen wurde beinahe durchaus von Frauen um Lohn betrieben und ſelbſt das Spinnen war mehr Nebenbeſchäftigung der untern Klaſſen überhaupt; vielfach hielten ſich die Weber eigene Knechte und Mägde zu dieſem Geſchäfte. 1(Hildebrand) zur Geſchichte der deutſchen Wollinduſtrie, in Hildebrand’s Jahrbücher VII, S. 90.Das vorige Jahrhundert, deſſen Wollinduſtrie die der früheren Zeit ja im Durchſchnitt keinenfalls erreichte, kannte zwar neben der Hausſpinnerei profeſſionsmäßige Spinner, aber nicht in zu großer Zahl; die armen Leute in den Städten der Wollinduſtrie, in nächſter Nähe der Tuch - macher und Raſchmacher gaben ſich damit ab. Sie bildeten nicht wie die Leinenſpinner ganze Kolonien auf dem Lande. 2Juſti, Abhandlung von denen Manufaktur - und Fabrikenreglements zur Ergänzung ſeines Werkes von denen Manufakturen und Fabriken, Berlin und Leipzig 1762. S. 48.Sie waren nicht Unternehmer, wie jene; ſie waren zum Einkauf des Rohmaterials viel zu arm. Die Wolle war zu theuer, der Wollhandel war ſchon entwickelt, ſelbſt die Webermeiſter waren theilweiſe ja zu arm, Wolle ſelbſt zu kaufen. Das Bild, das uns aus den zahlreichen Reglements des vorigen Jahr -476Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.hunderts entgegen tritt, iſt folgendes. Der Weber mit ſeinen Geſellen und Jungen ſortirte, ſchlug und reinigte die Wolle, gab ſie dann dem Spinner und Kämmer, der für ihn um Lohn arbeitete; dann erſt wurde gewebt, gewalkt, appretirt, und wenn der Weber nicht Eigen - thümer des Rohſtoffes war, erhielt nun der Verleger das fertige Produkt gegen den Lohn zurück.

Das erklärt es, daß die Stockung des Abſatzes von Wollwaaren zur Zeit der napoleoniſchen Kriege und der Uebergang zu der kleinen Spinnmaſchine, der ſich ſchon zu Anfang des Jahrhunderts vollzog, nirgends als ein allgemeiner Nothſtand, als der Ruin eines blühen - den Handwerks empfunden wurde.

Für das ſogenannte Streichgarn, d. h. für das Garn zu gewalkten Waaren, Flanellen und einigen andern Stoffen, bedurfte es damals nur ſehr einfacher Maſchinen. Das Garn darf nicht ſcharf gedreht ſein, muß einen ziemlichen Durchmeſſer haben, um den Ein - fluß des Walkens nicht zu widerſtehen. Maſchinen hierzu waren leicht zu bauen, leicht zu bezahlen. Wohlhabende Tuchmacher, deren es, wie ich unten noch zeigen werde, beſonders in Preußen und Sachſen damals ziemlich viele gab, erwarben ſchnell und zahlreich ſolche kleine Maſchinen; auch kleine handwerksmäßige Lohnſpinne - reien entſtanden. Schon vor 1800 bauten in Berlin die Mechaniker Hoppe und Tappert Maſchinen zum Schrobbeln, Streichen und Spinnen der Wolle, in welchen letztern dreißig Spindeln gleichzeitig gingen und welche man zur Produktion ordinärer Garne mit Erfolg verwendete. Der engliſche Maſchinenbauer Cockerill477Die kleinen Streichgarnſtühle und die Handſpinnerei.brachte bald darauf ſeine ſchon viel vollendetere Woll - ſpinnmaſchine nach Verviers, führte ſie dann auch in Aachen ein, und ſeine Söhne errichteten ſchon 1815 aus Veranlaſſung der preußiſchen Regierung eine hierzu eingerichtete Maſchinenfabrik in Berlin.

Neben dieſen kleinen raſch ſich verbreitenden Streich - garnſpinnmaſchinen erhielt ſich bis in die neueſte Zeit in abgelegenen Gegenden als Nebenbeſchäftigung die Handſpinnerei. Wo der Bauer ſein eigenes Tuch ſich noch webt, da ſpinnt er auch die Wolle dazu. Mehr noch wird zu Strick - und Strumpfwaaren das Garn mit der Hand geſponnen. In Thüringen, Weſtfalen und Württemberg gibt es bis in die neuere Zeit noch Spinnerfamilien, doch dringen auch auf dem Lande die Maſchinenſtrickgarne täglich weiter vor. Die preußiſche Statiſtik verzeichnet die Wollſpinner zuſammen mit den gewerbsmäßigen Wollſtrickern; das erſchwert eine ſichere Beurtheilung der Verhältniſſe nach den Zahlen; auch die Grenze zwiſchen gewerblicher und Hausarbeit iſt natürlich ſchwankend. Man zählte in Preußen:

So viel ſieht man aus den Zahlen, daß es ſich um kein bedeutendes Gewerbe mehr handelt, auch nicht um ein plötzliches Zurückgehen.

Wohl galt es noch einen Kampf zwiſchen dem kleinen und dem großen Betrieb; aber die Loſung war hier nicht mehr: Handarbeit oder Maſchine, ſondern: kleine oder große Maſchine! Es hatte ſich der Kampf478Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.zu vollziehen zwiſchen den handwerksmäßigen Spinn - ſtühlen von 30 40 Spindeln und den großen Etabliſſe - ments. Es iſt der Kampf zwiſchen den profeſſions - mäßigen Tuchmachern und den Tuchfabriken, auf den ich weiter unten nochmals komme.

Es iſt bekannt, wie raſch und kräftig ſich die große deutſche Tuchinduſtrie ſchon in den dreißiger und vier - ziger Jahren entwickelte; es iſt bekannt, daß bei ihr eine Konzentration ſich vollzog, weiter gehend ſogar als in England. Damit war aber zugleich die Unhaltbar - keit der kleinen Streichgarnſpinnereien von 30 40 Spindeln gegeben.

Es ſpricht ſich das deutlich und klar in der folgenden Ueberſicht der preußiſchen Streichgarnſpinnereien, welche erſt von 1837 an aufgenommen wurden, aus:

Bis Anfang der vierziger Jahre deuten die Zahlen noch überwiegend auf kleine Geſchäfte; es ſind Spinne - reien in der Hand der Tuchmacher; dieſelben hatten ein oder zwei Stühle mit je 40 Spindeln in ihrer eigenen Wohnung und beſorgten das Spinnen darauf ſelbſt mit479Die Kriſis der kleinen Streichgarnſpinnereien.Hülfe der Familienmitglieder und Hausgenoſſen. Noch 1843 hatten von den 3300 Maſchinen 2894 zuſammen 163211 Spindeln, alſo eine 56; in Preußen, Poſen, und Pommern kamen 1843 auf ein Geſchäft nur 45 Spindeln; es ſcheint, ſagt Hoffmann, daß es in dieſen Provinzen keines gab mit über 80 Spindeln. In der Mark hatten die Tuchmacher noch faſt ausſchließlich eigene kleine Spinnereien; im Regierungsbezirk Frankfurt kamen 150 Spindeln auf eine Spinnerei. Nur in Schleſien und am Rhein war es damals ſchon weſentlich anders. In Schleſien hatten ſich ſchon damals größere Lohnſpinnereien gebildet, welche für die Tuchmacher wie für die Tuchfabrikanten arbeiteten. In der Gegend von Aachen hatten die Tuchfabrikanten meiſt ſchon ihre eigenen größern Spinnereien; im Regierungsbezirk Aachen kamen damals ſchon auf ein Geſchäft etwa 1000 Spindeln.

In die Zeit von 1843 55 fällt die Hauptkriſis; es iſt die kritiſche Zeit für die kleinen Tuchmacher; ihr eigenes Garn, wie ihre eigene Walkerei, Färberei und Appretur können nicht Schritt halten mit den Verbeſſe - rungen, und damit verſchwinden auch die kleinen Spinnereien nach einander. Von 1855 61 ſetzt ſich dieſe Richtung fort, etwas weniger akut, weil diejenigen, welche am wenigſten konkurriren konnten, ſchon gefallen ſind. Die Zahl der Geſchäfte ſinkt von 1843 61 auf den dritten Theil herab, der Umfang der einzelnen Spinnereien ſteigt auf das dreifache bis ſechsfache. Doch iſt der Verlauf der Kriſis ſehr verſchieden nach den Provinzen. In Preußen, Poſen, Pommern gibt es480Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.1861 noch 84 Spinnereien mit durchſchnittlich 102 186 Spindeln; in der Provinz Sachſen hat ein Geſchäft 1861 durchſchnittlich 288, in Brandenburg und Schle - ſien 524, am Rhein 1246 Spindeln. In den übrigen Theilen des Zollvereins ſind die Verhältniſſe ähnlich; die Kriſis fällt auch meiſt in die vierziger Jahre. Die Umbildung zu größeren Geſchäften geſchieht in den beiden letzten Jahrzehnten. Im Jahre 1861 zählte man im ganzen Zollverein 1797 Streichgarnſpinnereien mit 1.117870 Feinſpindeln, auf eine Spinnerei durch - ſchnittlich 15 Perſonen und 629 Spindeln.

In der Zeit nach 1861 hat ſich noch Manches geändert; die Arbeitstheilung, die Spezialiſirung, die Anwendung von weitern Maſchinen hat zugenommen, aber mehr in andern Ländern, beſonders in England und Frankreich,1Oeſtreich. Ausſtellungsbericht Bd. IV, S. 86. ohne daß ſich ſagen ließe, daß die zollvereinsländiſche Induſtrie zurückgeblieben wäre. Es kommt weſentlich auf die einzelnen Spezialitäten an. Auch in England gab es noch 1850 neben den großen Streichgarnſpinnereien viele mit nicht mehr als 100 Spindeln. 2Mährlen, die Darſtellung und Verarbeitung der Ge - ſpinnſte, S. 187.Theilweiſe iſt das dort jetzt noch ſo. Es können ſich auch kleinere Geſchäfte noch halten für ein - zelne Artikel, für gröbere Waaren, für den Lokalbedarf der mittleren und untern Klaſſen. Die ganze Tuch - induſtrie, beſonders die Produktion gröberer Tuche, wie ſie der Zollverein hauptſächlich liefert, ſtellt beſchei -481Die jetzige Lage der Streichgarnſpinnerei.denere Anforderungen an die Spinnerei, hat etwas Stabileres, Einfacheres, als die Produktion der Mode -, der Phantaſieartikel, der nouveautés und hautes nouveautés, wie ſie vor allem die Franzoſen erzeugen, oder die Produktion der ganz feinen Modetücher, wie ſie von Aachen aus Abſatz auf allen Weltmärkten finden.

Je feiner die Artikel ſind, für welche das Garn beſtimmt iſt, deſto mehr werden alle die neuen komplizirten Maſchinen nothwendig, deſto mehr wächſt der Umfang der Spinnereien. Die Krämpel - oder Krazmaſchinen, die Vorſpinn - und die Feinſpinn - maſchinen fehlen in keiner großen Fabrik mehr. Dagegen ſind Selfactors noch ſelten. Erſt ſeit Anfang der ſechsziger Jahre wurden dieſelben auf die Streich - garnſpinnerei angewandt. Erſt in neuerer Zeit gewinnen die Wollwaſch - und Trocknungsmaſchinen an Ausdeh - nung. Auf der pariſer Ausſtellung von 1867 machte eine Wollwaſchmaſchine aus Rouen großes Aufſehen, welche mit einer Frau und einem Arbeiter leiſtet, was früher 28 Leute thaten, wodurch ſich der dortige Fabri - kant eine tägliche Erſparniß von 60 Francs berechnet. 1Oeſtr. Ausſtellungsbericht Bd. II, S. 536.

Das läßt ſich nicht leugnen, daß die neugegrün - deten Geſchäfte meiſt auf breiteſter Grundlage beginnen; beſonders in ganz neuen Branchen iſt das erſichtlich, z. B. in der Kunſtwollfabrikation, d. h. der Herſtellung von neuem Garn aus alten Tuchreſten. Eine Reihe großer Aktiengeſellſchaften hat ſich auch in der Streich - garnſpinnerei gebildet.

Schmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 31482Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.

Allerdings erfolgt damit wieder eine theilweiſe Trennung bisher in einheitlichen Etabliſſements ver - bundener Geſchäfte. Das Waſchen und Reinigen der Wolle fängt an, ein ſelbſtändiger Induſtriezweig zu werden. 1Vergl. öſtr. Ausſtellungsbericht Bd. IV, S. 14. Anm. 2.Die neuen großen Spinnereien ſind nicht mehr ſo häufig wie früher mit Tuchfabriken verbunden, ſondern beſchränken ſich auf das Spinnen und Färben der Wolle um Lohn oder auf eigene Rechnung, was freilich nur beweiſt, daß in den bisher beſtehenden Etabliſſements zu Verſchiedenartiges zuſammengehäuft war, nicht daß wieder kleine Geſchäfte entſtehen.

Im Ganzen aber iſt die Streichgarnſpinnerei doch entfernt nicht ſo konzentrirt, wie die Baumwollſpinnerei; ſelbſt die größten Geſchäfte haben nicht über einige tauſend Feinſpindeln. Die lokale Verbreitung iſt eine gleichmäßigere.

Weniger läßt ſich das von der andern Art der Wollſpinnerei, der Kammgarnſpinnerei ſagen.

Man bezeichnet die Kammgarne (worsted yarn) gewöhnlich dadurch, daß man hervorhebt, ſie ſeien für die ungewalkten Gewebe beſtimmt; das iſt inſofern nicht ganz richtig, als es auch eine Reihe ungewalkter Gewebe aus Streichgarn gibt. Das Kammgarn iſt das - jenige, welches für Thibets, Orleans, für Hoſen -, Weſten -, Möbelſtoffe, für gemiſchte Gewebe beſtimmt iſt; es wird meiſt aus der langhaarigen Wolle des engliſchen Landſchafes, oder aus Alpaka - und Mohair - wolle gefertigt; nur ein kleiner Theil des Lüſtre -483Die Kammgarnſpinnerei.garns iſt aus Merinowolle. Die Wolle wird nach der Wäſche zuerſt gekämmt, dann durchſchnittlich viel feiner geſponnen als das Streichgarn und ſtärker gedreht. Die ganze Technik iſt komplizirter und ſchwieriger, und doch hat die Handarbeit hier lange ſich behauptet. Die Maſchinen waren ſchwieriger zu konſtruiren.

Beſonders das Kämmen geſchah bis in die neuere Zeit mit der Hand, aber viel weniger in ſelbſtändigen Geſchäften, ſondern um Lohn von einzelnen Arbeitern, von Weibern, von Züchtlingen für die betreffenden Weber und Fabriken. Es war kein ſelbſtändiges, geſun - des Gewerbe, wenn auch der Lohn zeitweiſe, wie in England bei dem großen Aufſchwung der Worſtedfabriken, hoch ſtand (17 20 Sh. die Woche). 1Ausſtellungsbericht von 1851, II, 64: man zählte in der Grafſchaft York 1851 auf 423 Fabriken und 118433 Arbeiter (incl. der Kämmer) 30000 Handkämmer. Die Hand - kämmerei , ſchreibt Wiek 1840,2Induſtrielle Zuſtände Sachſens S. 221. iſt der große Hemm - ſchuh der Spinnerei; gekämmte Wolle iſt nicht immer zu haben; die verſchiedenen Hände kämmen ungleich; die Veruntreuung, ja die Umtauſchung der Wolle iſt nicht zu vermeiden; die gekämmte Wolle (der Zug) wird durch Oel verunreinigt. Doch wollte es lange nicht gelingen, brauchbare und billiger arbeitende Kämm - maſchinen zu konſtruiren. Erſt in den fünfziger Jahren, mehr noch ſeit 1861 trat der Umſchwung ein. Ein Handſpinner hatte täglich etwa Pfund Zug und etwa eben ſo viel Abfall (die Kämmlinge) liefern können; die Collier’ſche Kammmaſchine lieferte nun mit wenigen31 *484Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.Händen 50 60 Pfund Zug per Tag; weitere Ver - beſſerungen brachte das Heilmann’ſche Syſtem, das Nobelſyſtem, die Morel-Kammmaſchine, welche auch gröbere Wolle und ohne viel Abfall kämmen. 1Oeſtr. Ausſtellungsbericht von 1867 Bd. IV, S. 65.Eine Morel’ſche Maſchine koſtet 8000 Francs und fordert ½ Pferdekraft, liefert mit einem Arbeiter in 12 Stun - den 350 Kilo, d. h. 700 Pfund. 2Daſelbſt II, 555.

Für Deutſchland war der Uebergang von der Hand - kämmerei zur Maſchine, wie von der Handſpinnerei zur Maſchine, nicht von ſehr großem Einfluß, da der Um - fang dieſer Induſtrie früher nicht bedeutend war.

Die Raſchmacher hatten das ſogenannte Raſch, ein ziemlich grobes Gewebe, welches meiſt zum Futter beſſerer Kleider verwendet wurde, geliefert. Was an feinern Stoffen derart, beſonders für die Frauenkleider der höhern Stände verwendet wurde, kam aus Belgien, Frankreich und England. Aber der Verbrauch auch dieſer Stoffe nahm eher noch ab, als zu Anfang dieſes Jahrhunderts die feinern, mannigfaltigen Baumwollſtoffe ſich mehr und mehr verbreiteten.

Die Produktion ſolcher Stoffe war gegen 1840 beinahe verſchwunden. Erſt von da brachte die ſteigende Wohlhabenheit, die Unzufriedenheit mit den vielfach ſchlechten Baumwollwaaren wieder eine größere Neigung für derartige Gewebe hervor. Es entſtanden zunächſt eine Anzahl faſt durchaus kleiner Spinnereien; aber ihre Bedeutung war nicht groß; 1840 kamen in Preußen485Die geringe Zahl deutſcher Kammgarnſpinnereien.auf 380839 Streichgarnſpindeln nur 56258 Kamm - garnſpindeln. Und ihre Zahl nahm ſogar mit dem größern Bedarf noch mehr ab, weil die kleinen Spinne - reien in dieſer Branche viel weniger die Konkurrenz des Auslandes aushalten konnten. Im Jahre 1846 war die Zahl der Spindeln in Preußen auf 32470 geſunken; 1861 ſind es 47153, die ſich aber jetzt auf einige wenige große Geſchäfte (auf 49 in ganz Preußen, 1846 noch 253) vertheilen. Im ganzen Zollverein zählte man 1861 - 146 Kammgarnſpinnereien mit 251897 Spindeln. Noch jetzt beſteht der überwiegende Theil der großen Einfuhr von einfachem Wollgarn des Zoll - vereins (213071 Ztr. im Jahre 1864) aus Kamm - garnen. Immerhin aber exiſtiren jetzt eine Anzahl großer Kammgarnſpinnereien in Schleſien, Brandenburg, am Rhein, vor allem im Königreich Sachſen und in Baiern. Aber ſie ſind meiſt ziemlich jungen Urſprungs und haben dann gleich von Anfang an einen den engliſchen Geſchäften ähnlichen Charakter angenommen, jenen Charakter der Großartigkeit, wie er hier aus der Natur der Sache folgt. Die Mode ſtellt an dieſe Garne gegenwärtig ſo hohe Forderungen in Bezug auf Anſehen, Weichheit, Farbe, Elaſtizität, Leichtigkeit und Geſchmeidigkeit, daß nur die raffinirteſte Anſpannung und Anwendung aller techniſchen Mittel auf dem Markte beſtehen kann. Was durch dieſe Anſtalten jetzt bei uns verdrängt wird, iſt die fremde Einfuhr, keine einheimiſchen kleinen Geſchäfte.

Ebenſowenig kann man das Aufhören der Hand - kämmerei, das ſich in den letzten zwanzig Jahren voll - zogen hat, beklagen. Theilweiſe verſchwinden damit,486Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.wie ſchon erwähnt, gar keine ſelbſtändigen Geſchäfte, ſondern nur Lohnarbeiter der Weber und Fabriken; theilweiſe wurde das Kämmen allerdings auch als ſelb - ſtändige Unternehmung auf eigene Rechnung betrieben. Es gab ſolche Geſchäfte in Sachſen, in Thüringen, in Württemberg, in Brandenburg, in Schleſien, am Rhein. Die preußiſche Statiſtik gibt inſofern keine klare Auskunft über ſie, als ſie ſie mit der Leiſten - (Kuhhaar -) ſpinnerei, Haarſpinnerei und früher mit der Hand - ſpinnerei zuſammen aufführte, auch wahrſcheinlich Ar - beiter mit aufzählt, die nicht für dieſe Geſchäfte, ſondern direkt für Fabriken arbeiteten. Die Zahlen ſind folgende:

Eine Zunahme der Anſtalten bis 1855, der Per - ſonen bis 1849; von da an raſche Abnahme. Es wird jetzt bald nur noch in den großen Kammgarnſpinnereien ſelbſt mit den peigneuses gekämmt werden.

Im Anſchluß an die Spinnerei noch einige Worte über die Herſtellung von Zwirn, Strick -, Stick - und Nähgarn, einſchließlich der Garnbleiche und Färberei, und über die Seilerei.

Was die Zwirne und mehrfachen Garne betrifft, ſo iſt klar, daß mit der Maſchinenſpinnerei auch ſie der maſchinenmäßigen Anfertigung im Großen anheim -487Die Zwirn - und Garnfabriken.fielen, daß die kleinen handwerksmäßigen Geſchäfte in den Hintergrund traten. In Preußen ſind ſie 1846 zum erſten Male aufgenommen. Man zählte:

Die Umbildung fällt in die Zeit von 1855 61. In andern deutſchen Staaten ſehen wir auch 1861 noch viel kleinere Geſchäfte, die immerhin auch nicht bloß für den lokalen Bedarf arbeiten; z. B. werden in Württemberg 24 Geſchäfte mit 395 Perſonen, in Sachſen 118 Geſchäfte mit 472 Perſonen gezählt. Das ſind entſchieden noch mehr handwerksmäßige kleine Unter - nehmungen. Aber es iſt fraglich, ob ſie ſich auf die Dauer halten werden. Wenn es ſich darum handelt, in dieſer Branche die engliſche Konkurrenz zu beſeitigen, beſonders die immer noch ſehr ſtarke Einfuhr von Leinen - zwirn überflüſſig zu machen, ſo werden dazu nur größere Geſchäfte im Stande ſein.

Aehnlich verhält es ſich mit den Garnbleichen und Garnfärbereien aller Art, die nur theilweiſe als ſelb - ſtändige Geſchäfte, theilweiſe verbunden mit andern Be - trieben, Stückbleichen, Appreturanſtalten, Stickgarn - fabriken, vorkommen.

In Schleſien exiſtiren viele Garnbleichen für Leinen und Baumwolle; ſeit alter Zeit iſt Elberfeld und Barmen dafür bekannt; ſie hatten ſchon 1790 - 150 Garnbleichen. Der Verbrauch gebleichter Garne für die Weberei iſt im Zunehmen. Im Jahre 1846 wurden in Preußen 206 Garnbleichen mit 989 Arbeitern,488Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.1861 230 mit 1124 männlichen und 226 weiblichen Arbeitern, im ganzen Zollverein 403 Anſtalten mit 1623 männlichen und 420 weiblichen Arbeitern gezählt.

Die Garnfärberei lag früher mit in der Hand der profeſſionsmäßigen Färber, welche in der Regel alle Zweige der Garn - und Stückfärberei, des Wiederauf - färbens, häufig auch noch die Druckerei zugleich betrieben. Derartige Geſchäfte exiſtiren immer noch für den Lokal - bedarf, ſie arbeiten für kleine Spinnereien und Webereien. Aber ſie haben doch ſchon bedeutend abgenommen; die fabrikmäßigen Garnfärbereien, welche ſich auf einzelne Spezialitäten legen, die Kattundruckereien, die Färbe - reien, welche mit den Wollſpinnereien und Tuchfabriken vereinigt ſind, erſetzen ſie. Bis 1837 wurden ſie in Preußen mit den Kattundruckern zuſammengezählt, daher die Abnahme von 1837 40 viel zu groß erſcheint; aber auch von 1840 61 bleibt ſie bedeutend. Man zählte in Preußen:

Der Rückgang des Gewerbes wurde von den Meiſtern wohl als Kalamität empfunden, aber die Ge - ſellen kamen leicht in den Fabrikgeſchäften unter.

489Die Färberei.

Von den fabrikmäßigen Garnfärbereien haben beſon - ders die Türkiſchrothfärbereien Fortſchritte gemacht. Von Elberfeld und Barmen, wo ſie ſeit 1780 blühten, haben ſie ſich auch nach Sachſen und Süddeutſchland verbreitet; man zählte in Preußen 1849 erſt 22 mit 831, 1861 36 mit 1388 Arbeitern. Die andern Garnfärbereien in Wolle und Baumwolle wurden früher in Preußen mit den Färbereien überhaupt zuſammen gezählt; 1861 erſt wurden ſie beſonders aufgenommen; man zählte in Preußen 561 Anſtalten mit 2526 Arbeitern. Sie kommen auch ſonſt zahlreich vor; im ganzen Zollverein betrug ihre Zahl 834 mit 3826 Arbeitern. Doch ſind alle dieſe Zahlen wenig zuverläſſig, da ſo viele dieſer Geſchäfte nicht ſelbſtändig, ſondern mit andern großen Etabliſſe - ments verbunden vorkommen. Von beſonderer Bedeutung ſind die Färbereien von wollenen Stickgarnen, den ſoge - nannten Zephyrgarnen, deren Hauptſitz Berlin iſt.

In der Seilerei handelt es ſich um zwei große Aenderungen. Der Hanf wird nicht mehr mit der Hand verſponnen, auch hier hat die Maſchinenſpinnerei Platz gegriffen. Das iſt aber nicht das Schlimmſte für den kleinen Seilermeiſter; theilweiſe hat er dadurch ſogar Förderung erhalten, indem er ſelbſt hanfenes Maſchinengarn verwendet. 1Siehe einen Bericht aus Chemnitz im Preuß. Handels - archiv 1868. II, 116.Der weitere Schritt aber war, daß auch für die Herſtellung der Seilerwaaren ſelbſt neue Apparate und Maſchinen erfunden wurden. Der deutſche Ausſtellungsbericht von 1851 ſchreibt ſchon:490Die Umbildung einzelner Gewerbszweige. Die mechaniſche Arbeit iſt bereits in alle Zweige dieſes Gewerbes eingedrungen, von der Herſtellung des Bind - fadens und der Taue an, bis zu den Spritzenſchläuchen, Maſchinenband, ja ſelbſt bis zur Anfertigung von Fiſch - netzen. Allerdings findet bei vielen Waaren dieſer Gattung keine nennenswerthe internationale Konkurrenz ſtatt; allein trotzdem iſt vorauszuſehen, daß das Gewerbe überall in die drückendſte Lage gerathen wird, wo man es verſäumt, rechtzeitig die Handarbeit zu verlaſſen und auf den Maſchinenbetrieb überzugehen. Schon 1849 zählte die preußiſche Fabriktabelle 7 Seilerwaarenfabriken mit 222 Arbeitern, alſo Geſchäfte mit durchſchnittlich 31 32 Arbeitern. Beſonders wo der Abſatz ein großer iſt, in Fabrik - und Seeſtädten, oder in den Gegenden eines ausgezeichneten Rohproduktes, einer blühenden Hanfkultur haben die großen Geſchäfte zugenommen.

Immer aber handelt es ſich in der Hauptſache nicht um einen vollſtändigen Uebergang zu ganz großen Etabliſſements, ſondern nur zu etwas größern, mit Maſchinen arbeitenden Handwerksgeſchäften. Die Ma - ſchinen, welche zur Anwendung kommen, ſind ſehr ver - ſchieden; von einer Art der mechaniſchen Seilerei heißt es in dem Berichte über ſie: die Maſchine iſt ſo klein, daß jeder ſie anwenden kann; ſie iſt im Innern jeder Wohnung, im kleinſten Raume, wenn man will hinter dem Ofen aufzuſtellen. Andere ſind allerdings ſchon viel komplizirter und theurer. 1Vergl. öſtreich. Ausſtellungsbericht von 1867. Bd. II, S. 570 ff.

491Die Seilerei.

Die preußiſchen Zahlen über das Seilergewerbe zeigen jedenfalls, daß der Uebergang zum Maſchinen - betrieb und zu den großen Geſchäften 1861 noch nicht allgemein ſich vollzogen haben konnte; man zählte:

Freilich darf man dabei nicht außer Acht laſſen, daß ſehr viele der ſogenannten Seilermeiſter heute nur noch Detailhändler ſind; ſie verkaufen Seilerwaaren in der Regel zuſammen mit Schnaps, mit Salzgurken, theilweiſe auch mit Kolonialwaaren.

[492]

6. Die Weberei überhaupt und die Weberei als häusliche Nebenbeſchäftigung im Speziellen.

Zur techniſchen Geſchichte der Weberei. Die Leiſtungen und Preiſe der verſchiedenen Stühle. Die verſchiedene geſchäftliche Organiſation der Weberei und ihre Beachtung in den ſtatiſti - ſchen Aufnahmen. Kritik der preußiſchen und zollvereins - ländiſchen Weberſtatiſtik überhaupt. Die Hausweberei und ihre ſelbſtändige Stellung gegenüber der Konkurrenz. Die Wollweberei in Preußen als Nebenbeſchäftigung. Die Lein - wandweberei als Nebenbeſchäftigung. Die preußiſche Statiſtik von 1816 61, Zunahme bis 1843, Stabilität von 1843 1861. Die Stühle nach den einzelnen Provinzen. Schätzung der Produktion der häuslichen Weberei gegenüber der gewerbs - mäßigen.

In der Spinnerei haben die großen Fabriken mit mechaniſcher Arbeit heute definitiv geſiegt, die Weberei ſteht noch mitten inne in dem Kampfe zwiſchen kleinem und großem Betrieb, zwiſchen Handarbeit und Maſchinen - arbeit. Die Aenderungen in der Technik des Webens ſind mehr Verbeſſerungen als totale Veränderungen; die wichtigſten und folgenreichſten waren auch am Hand - ſtuhl anzubringen, ja theilweiſe waren ſie bis in die neueſte Zeit nur von ihm auszunützen; der Maſchinen - ſtuhl hat in der Hauptſache dieſelbe Konſtruktion, wie der Handſtuhl, er wird nur von der mechaniſchen, ſtatt493Zur techniſchen Geſchichte der Weberei.von der menſchlichen Kraft bewegt; die Maſchine arbeitete lange kaum oder gar nicht billiger, als der meiſt genüg - ſame Handweber; für einzelne Branchen iſt die Maſchinen - arbeit heute noch nicht anwendbar. Die techniſchen Ope - rationen, denen die Gewebe vor und nach dem Weben zu unterwerfen ſind, waren es früher mehr, als die Maſchinenweberei, welche der Großinduſtrie das Ueber - gewicht verſchafften. Und aus eben dem Grunde exiſti - ren bis heute blühende Branchen der Textilgewerbe als Hausinduſtrie, mit techniſcher Vollendung der Gewebe durch Fabrikanten und Kaufleute.

Der alte einfache Webſtuhl, wie er bis zu Anfang dieſes Jahrhunderts ſo ziemlich überall üblich war, iſt beinahe Jahrtauſende alt. Wir finden ihn in den Ge - mächern der Penelope, wie in den Frauenhäuſern auf den großen Königshöfen und Domänen Karls des Großen. Es iſt derſelbe Webſtuhl, an dem ſpäter die zahlreichen niederländiſchen Tuchmacher ſitzen, den die Niederländer von da über ganz Norddeutſchland verbreiten; es iſt derſelbe Webſtuhl, der im 15ten Jahrhundert der ſchwäbiſchen Linneninduſtrie zu ihrem Weltrufe verhilft, der ſpäter die große weſtfäliſche oder ravensbergiſche Exportinduſtrie, die ſchleſiſche Linneninduſtrie, die ſächſiſche und preußiſche Tuchmacherei des 18ten Jahrhunderts in Flor bringt. Nur eine etwas andere verbeſſerte Einrichtung durch eine Mehrzahl von Tritten und Schäften brauchte es, um die im 17ten Jahrhundert aus den Niederlanden nach Deutſchland gebrachte Weberei der künſtleriſch gemuſterten Gewebe, der Drelle und Damaſte zu ermöglichen.

494Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.

Die tägliche Leiſtung eines ſolchen einfachen Hand - ſtuhles iſt natürlich ſehr verſchieden je nach der Breite, je nach dem Stoffe, ſowie je nach der Feinheit des Garnes. Die Durchſchnittsangaben, welche darüber früher und ſpäter gemacht wurden, ziehen zugleich häufig noch in Rechnung, daß ein großer Theil der Webſtühle nur einen Theil des Tages im Gange iſt; es hängt davon ab, ob der Weber noch andere Arbeit verrichtet, ob er die Hülfsoperationen ſelbſt vornehmen muß oder nicht. Man wird bei 12 ſtündiger Arbeit und mittlerem Gewebe zu Anfang des Jahrhunderts nicht über 3 6 Ellen als tägliche Leiſtung annehmen können. Viebahn rechnet noch 1846 bei 14 ſtündiger Arbeit 3 6 preußiſche Ellen Leinwand, Dieterici etwa zur ſelben Zeit 5 Ellen als tägliche Leiſtung.

Die Hauptverbeſſerung des gewöhnlichen Webſtuhls iſt die ſchon 1738 von John Kay erfundene Schnell - ſchütze, die mechaniſche Bewegung des Weberſchiffchens; ſie erlaubt viel breitere Zeuge zu weben und ſteigert die tägliche Ellenzahl wenigſtens auf das Doppelte. In Deutſchland fand die Schnellſchütze erſt in den zwanziger Jahren dieſes Jahrhunderts allgemeinere Verbreitung. Noch neuer iſt die Verbeſſerung des gewöhnlichen Web - ſtuhls durch einen Mechanismus, welcher das fertige Zeug von ſelbſt aufwickelt und die Kette von ſelbſt weiter abwickelt.

Schon 1750 hatte Vaucanſon einen Webſtuhl gebaut, deſſen einzelne Thätigkeiten mittelſt Kurbeldrehung bewirkt wurden; aber die Einrichtung war nicht praktiſch. Im Jahre 1785 ließ der Theologe Dr. Kartwright ſeinen495Die Verbeſſerung des Handſtuhls und der Kraftwebſtuhl.mechaniſchen Webſtuhl patentiren; aber die Anwendung ſcheiterte immer noch daran, daß die baumwollenen Fäden nicht feſt genug waren, den kräftigen mechaniſchen Gang des Geſchirres auszuhalten. Man half durch Beſtreichen der Kette mit der ſogenannten Schlichte; das koſtete zu viel Zeit, bis 1802 die Schlichtmaſchine erfunden wurde. Aber ſelbſt 1813 waren noch kaum 4000 ſolcher Webſtühle in England, als ſie in dieſem Jahre durch den Aufſtand der Weber beinahe alle zer - ſtört wurden. Von da an aber fanden ſie weitere Ver - breitung. Horrock in Stockport hatte die Stühle bedeu - tend verbeſſert, noch mehr gelang das Roberts in Mancheſter, deſſen Stühle von 1822 an auch nach Deutſchland kamen. Lange blieb ihre Anwendung auf Baumwolle beſchränkt, dehnte ſich dann auf Kammgarn und Leinengarn, nur langſam und ſehr beſchränkt auf Streichgarn und Seide aus. Die neueren Erfindungen beziehen ſich auf die Hülfsmaſchinen: Schuß -, Spulen - und Aufwindmaſchinen, Zettel - und Schlichtmaſchinen, Meß - und Faltmaſchinen, Maſchinen zur Reinigung der Gewebe vollenden in den großen Fabriken die Prä - ziſion, Schnelligkeit und Billigkeit der Arbeit.

Die Jacquardmaſchine, welche die Hebung der Kettenfäden in beliebiger Weiſe nach beſtimmten Muſtern regulirt und dadurch gemuſterte Gewebe leichter herzu - ſtellen erlaubt, ſtammt aus dem Jahre 1808; ſie ver - breitete ſich ziemlich ſchnell auch in Deutſchland. Der Jacquardſtuhl, wie alle die andern komplizirteren Stühle, der Korſettſtuhl, die Stühle mit einer Mehr - zahl von Schäften und Tritten, die Stühle mit496Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.Wechſellade ſind bis in die neuere Zeit überwiegend Handſtühle.

Die Leiſtungen der verſchiedenen Stühle nun können durchſchnittlich in neuerer Zeit ſo angenommen werden:1Hauptſächlich nach den genauen Unterſuchungen von Mährlen, die Darſtellung und Verarbeitung der Geſpinnſte, passim. Die Angaben dort ſind in württemb. Ellen; 100 preuß. = 108,83 württemb. Ellen. Einzelne verbeſſerte Handſtühle liefern noch mehr; z. B. der Schwarz’ſche Doppelwebſtuhl in 12 Stunden 55 Ellen 11 / 8 breite Neſſel; der Stuhl koſtet 65 Fl. ſüdd. Zollvereinsblatt 1849. II, S. 55. der verbeſſerte Handſtuhl mit Schnellſchütze ꝛc. liefert etwa 8 Ellen feine, 20 Ellen ſtarke Leinwand, 25 30, unter Umſtänden noch mehr Ellen Calico, der Jacquard - ſtuhl 5 6 Ellen, der Korſettſtuhl 3 Ellen; der Kraft - ſtuhl dagegen 40 und mehr Ellen; er hat daneben den Vorzug des immer gleichen Schlages, des gleichmäßigeren Gewebes. Bei Wollgeweben liefert der Handſtuhl 5 10 Ellen, der Maſchinenſtuhl durchſchnittlich auch nicht viel mehr als 10 Ellen.

Die Preiſe auch der einfachen Stühle ſind je nach der Stärke verſchieden; für Baumwolle und Leinen hat man leichtere, für Wolle ſchwerere. In den 40er Jahren rechnete man als Preis des einfachen Leinwand - ſtuhls 6 Thlr.2Schneer, S. 84. Jetzt werden in Schleſien die geſammten Koſten für Webſtuhl, Geſchirr u. ſ. w. zwiſchen 11 und 30 Thlr. gerechnet; ein guter Webſtuhl für 8 / 4 breite Waare allein koſtet 15 Thlr.3Jakobi, Zeitſchrift d. preuß. ſtat. Bur. 1868. S. 329. Ein guter Handtuch -497Preiſe und Leiſtungen der Webſtühle.webſtuhl, der kräftiger gebaut ſein muß, als der Lein - wandſtuhl, aber in der Hauptſache von Holz iſt, wird hier zu Lande zu 20 30 Thlr. angeſchlagen. Mährlen1Darſtellung und Verarbeitung der Geſpinnſte, S. 145. rechnet einen guten Baumwollſtuhl zu 20 Fl. ſüdd., einen ſchmalen Jacquardſtuhl zu 75 Fl., einen breiten zu 200 Fl., einen Korſettſtuhl zu 50, einen Kraftſtuhl zu 230 Fl. Der Maſchinenſtuhl wird nicht bloß da - durch ſoviel theurer, daß die Haupttheile von Eiſen ſind, er iſt auch komplizirter und muß viel exakter gearbeitet ſein. Freilich entſcheidet der Preis des Stuhls noch nicht allein die Rentabilität des einen oder andern Betriebs; die Koſten der bewegenden Kraft, die An - wendung anderer Arbeiter an der Maſchine, die General - koſten der Fabrik, die verſchiedenen Preiſe für Hand - und Maſchinenprodukte kommen mit in Betracht.

Dieſe techniſchen Vorbemerkungen enthalten ſchon einen ungefähren Ueberblick über den Gang der Ver - änderungen, aber eine halbwegs befriedigende Kenntniß können wir doch erſt erhalten, wenn wir konkreter auf die Verhältniſſe eingehen. Wir müſſen uns dabei ſchon nach dem Zwecke dieſer ganzen Unterſuchungen vor Allem an die Ergebniſſe der zollvereinsländiſchen, hauptſächlich der preußiſchen Gewerbeſtatiſtik halten. Die erſte auf - zuwerfende Frage iſt demnach, welche Arten der Weberei müſſen wir unterſcheiden und wie iſt dieſer Unterſchei - dung in der offiziellen Statiſtik Rechnung getragen?

Die Geſchäftsarten, welche wir für unſere Unter - ſuchungen zu trennen haben, ſind folgende: 1) die Pro -Schmoller, Geſchichte d. Kleingewerbe. 32498Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.duktion als Nebenbeſchäftigung für den häuslichen Bedarf; 2) die Lohnweberei für einzelne Kunden, welche dem Weber das Garn liefern und für ihren eigenen Bedarf verweben laſſen; dieſes Geſchäft verbindet ſich meiſt mit der handwerksmäßigen Weberei auf eigene Gefahr für den lokalen Abſatz, für den Vertrieb auf Wochen - und Jahrmärkten; 3) die Weberei für den Abſatz im Großen; ſie kann ſelbſt wieder Weberei in geſchloſſenen Etabliſſe - ments vorzüglich auf mechaniſchen Stühlen oder wenig - ſtens künſtlicheren Handſtühlen ſein, oder es übernimmt der Fabrikant nur die kaufmänniſche Vermittelung und gewiſſe ſchwierigere techniſche Prozeſſe, läßt dagegen die Weberei durch kleine Meiſter im Hauſe ausführen; letzteres kann wieder Kauf - oder Lohnweberei ſein.

Was zuerſt die Nebenbeſchäftigung für den häus - lichen Bedarf betrifft, ſo haben die preußiſchen Tabellen ſeit 1816 eine beſondere Rubrik hierfür, und die andern Zollvereinsſtaaten ſind dem gefolgt; es bleibt nur die Frage, welche Stühle dahin gerechnet werden, welchen Werth die Zahlen haben.

Die Angaben über die Stühle ſind durchſchnittlich immer zu niedrig, da ſie ſehr ſchwer zu ermitteln ſind, in abgelegenen Dörfern ſich der Beobachtung entziehen. 1Z. B. wurden 1861 in Sachſen nur noch wenige gezählt; es wird aber bemerkt, es ſeien noch manche vorhanden, ſie ſeien nur ſchwer zu ermitteln; Zeitſchrift des ſächſ. ſtatiſt. Büreaus 1863. S. 69.Das Kriterium für die Aufnahme in dieſe Rubrik kann nicht der Umſtand ſein, ob neben der Produktion für499Die geſchäftlichen Arten der Webereiden eigenen Bedarf auch ab und zu einige Stücke Lein - wand verkauft werden, ſondern ob der Beſitzer des Stuhls in der Hauptſache Bauer, Handwerker oder ſonſt etwas iſt und nebenher ſeine freie Zeit zum Weben benutzt. Stühle dagegen, welche einem Weber gehören, der auch nicht das ganze Jahr am Webſtuhl ſitzt, der vielleicht jetzt den ganzen Sommer auf Tagelohn geht, gehören nicht in dieſe Kategorie. Die preußiſchen Ta - bellen ſind in der Hauptſache ſo aufgefaßt und behandelt worden, obwohl die Grenze zwiſchen Hausarbeit und gewerblicher Arbeit natürlich immer etwas ſchwankend bleibt. Der Beweis hierfür liegt darin, daß die Web - ſtühle, welche unter dieſer Kategorie verzeichnet ſind, zum kleinſten Theil auf die Weberdiſtrikte, faſt aus - ſchließlich auf die rein agrariſchen Gegenden fallen. Weniger iſt das der Fall in Süddeutſchland. Das Weben iſt dort als häusliche Nebenbeſchäftigung über - haupt ſehr viel weniger verbreitet als im Norden. Man hat es ſchon allgemein ausgeſprochen, in den Gegenden des Weinbaues fehle dieſe Nebenbeſchäftigung ganz. Die Zeit der kleinen Leute iſt mehr durch andere Arbeiten ausgefüllt. Die dort unter dieſer Rubrik ver - zeichneten Stühle gehören mehr jedenfalls als im Norden kleinen Lohnwebern, welche nur einen Theil des Jahres ſich mit Weben abgeben. 1Vergl. Mährlen S. 168 und 169; Mährlen hat eine genaue Aufnahme veranſtaltet, welche für Württemberg erhebt, welche Anzahl Tage jeder Webſtuhl durchſchnittlich geht; (ſiehe daſ. S. 65): ein Stuhl auf Baumwolle geht durchſchnittlich 255,

32 *500Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.

Neben dieſen Stühlen wurden in Preußen 1816 1843 die ſämmtlichen gewerbsweiſe gehenden Webſtühle für jede Art der Textilinduſtrie in einer Summe erhoben. Die lokale Weberei um Lohn und für eigene Rechnung, wie die Weberei für Verleger und Fabriken ſtecken gleichmäßig in dieſen Zahlen. Eine Unterſchei - dung war auch früher kaum nothwendig, da es Fabriken nur wenige gab, der profeſſionsmäßige Weber eine ähn - liche Stellung hatte, ob er für Kunden, für eigene Rechnung oder für Verleger arbeitete.

Von 1846 an ſollte mit der Aenderung der Ge - werbeaufnahmen überhaupt auch eine genauere Erhebung der Gewebeinduſtrie eintreten. Zuerſt ſollten wie bisher die ſämmtlichen überhaupt vorhandenen Webſtühle gezählt werden. Dann die Webermeiſter jeder Branche mit ihren Gehülfen und Lehrlingen. In dieſer ſollten aber alle nicht techniſchen Hülfskräfte, Kinder, Frauen, die häufig beim Spulen, Kettenſcheeren, Aufbäumen, Muſter - machen helfen, ausdrücklich weggelaſſen werden. Da - durch ſind dieſe Zahlen ſtets etwas zu niedrig. Ferner iſt aber auch nicht vollſtändig klar, ob unter den Webern und ihren Gehülfen außer denen, welche in ſelbſtändigen Handwerksgeſchäften und in der Hausinduſtrie beſchäftigt1einer auf Wolle 296, einer auf gemiſchte Stoffe 251, einer auf Leinwand nur 115 Tage; darnach wären faſt alle württem - bergiſchen Leinwandſtühle ſolche, die nur als Nebenbeſchäftigung betrieben werden; Mährlen rechnet auch 86,4 % der Stühle dahin, während die amtlichen Aufnahmen 1852-45,7 %, 1861-56,9 % (Königreich Württemberg S. 576) der Leinwandſtühle als ſolche bezeichnen, welche nur nebenbei betrieben werden.501Die amtliche Statiſtik der Weberei.ſind, auch die ſämmtlichen in geſchloſſenen Etabliſſements arbeitenden Weber mitgerechnet ſind oder nicht. Neben dieſer Geſammtaufnahme der Weberei wurden nun die Fabriken noch beſonders gezählt. Nur die Zahlen der unter den Fabriken gezählten Maſchinenſtühle können als zuverläſſige betrachtet werden. Die Zahlen der Fabriken ſelbſt und des Direktionsperſonals ſind unzu - verläſſig, ſofern nicht klar iſt, ob bei den verſchiedenen Aufnahmen und ſelbſt bei derſelben Aufnahme in den verſchiedenen Gegenden nur die eigentlichen Fabriken, oder auch die Kaufleute, welche fertige Gewebe kaufen und etwa noch bleichen und appretiren laſſen, als ſolche gerechnet, ob auch die Faktoren als Inhaber ſelbſtändiger Geſchäfte mitgezählt ſind. Noch viel werthloſer aber ſind die Zahlen der Arbeiter und der Handſtühle, welche mit den Fabriken aufgenommen ſind. Bei den Arbeitern ſoll auch all das untergeordnete Hülfs - perſonal, das bei der Geſammtzählung weggelaſſen wird, mitgerechnet werden. Die Hauptfrage iſt aber die, ob nur die in den Fabriken ſelbſt arbeitenden Leute und aufgeſtellten Handſtühle oder ſämmtliche für die Fabriken arbeitenden gerechnet werden. Als 1846 zum erſten Male die Fabriken beſonders gezählt wurden, geſchah mehr das letztere. Dieterici ſpricht damals von in und für Fabriken arbeitenden Web - ſtühlen. Später geſchah mehr und mehr das erſtere aber nicht durchaus. Durch dieſe Unſicherheiten von Anfang an, durch die vollends ſich ändernde Praxis iſt jeder Schluß aus dieſen Zahlen vollſtändig werthlos; wir müſſen daher leider faſt ganz von ihnen abſehen.

502Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.

Die Zollvereinskonferenz, welche in München 1854 über die Tabellen berieth, ging nicht von einer derartigen Doppelzählung 1) der geſammten und 2) der fabrik - mäßigen Weberei aus; ſie ſtellte als Kriterium feſt, daß alle Unternehmer, welche mechaniſche Stühle oder über 10 Stühle beſchäftigen, unter die Fabriken, alle andern zu der handwerksmäßigen Weberei gehören. Darnach ſind die württembergiſchen1Vergl. württ. Jahrb. 1862, Heft 2, S. 126 u. 129. ohne Zweifel auch die meiſten andern zollvereinsländiſchen Aufnahmen 1861 gemacht. In Sachſen z. B. ſind ausdrücklich unter den II A (Rubrik 50) verzeichneten Webſtühlen nicht alle Stühle, ſondern nur diejenigen begriffen, welche nicht unmittel - bar zu den unter B angegebenen geſchloſſenen Etabliſſe - ments und Geſchäften gehören. 2Zeitſchrift des ſächſ. ſtat. Bureaus für 1863. S. 63. Anmerkung zu II A. Viebahn ſelbſt hebt hervor, daß die vierzehnte Generalkonferenz keine Doppel - zählung, wie ſie früher in Preußen üblich war, an - ordnen wollte. 3Viebahn III, 932 33.Und bei einzelnen Poſten der preußi - ſchen Tabelle iſt man verſucht zu glauben, es ſei auch in Preußen 1861 ſo gezählt worden, die Rubrik II A 50 umfaſſe nicht mehr die Geſammtheit der Stühle. 4Z. B. könnte die Abnahme der Seidewebſtühle von 1858 61, die gewiß der Wirklichkeit nicht entſpricht, ſo erklärt werden.

Selbſt wenn aber theilweiſe ſo gezählt worden iſt bei den Regierungen, das preußiſche ſtatiſtiſche Bureau geht davon aus, es habe wie früher eine Doppelzählung503Kritik der amtlichen Webereiſtatiſtik.ſtattgefunden,1Jahrbuch für die amtl. Statiſtik I, 451. Preußiſche Statiſtik in zwangloſen Heften V, 48. die Rubrik II A 50 umfaſſe alſo ſtets die Geſammtheit aller Webſtühle. Das Zollvereinsbureau hat es nicht für der Mühe werth gehalten, irgend welche Aufklärungen über die Art der Aufnahme in den verſchiedenen Staaten zu publiziren, es ſtellt einfach die preußiſchen und die andern Zahlen, die demnach unver - gleichbar ſind, untereinander, und Viebahn benutzt in ſeiner Gewerbeſtatiſtik dieſe Webſtuhlzahlen faſt unbean - ſtandet,2III, 933 fügt er die Summe der Baumwollſtühle des Zollvereinsbureaus in Rubrik 50 noch die Fabrikſtühle Hanno - vers, Anhalts und Heſſens bei, ohne daß man erſieht, warum gerade nur dieſe. Bei den andern Arten der Weberei nimmt er einfach die Summen des Zollvereinsbureaus unter II A 50 als Geſammtſumme der ganzen Weberei. obwohl ſie nach unſern Auseinanderſetzungen ſtets um den Betrag der Stühle, welche die Zoll - vereinsſtaaten außer Preußen bei den Fabriken zählen, zu niedrig ſind.

Wenn ſich aus den vorſtehenden Bemerkungen ergibt, daß die preußiſche und Zollvereinsſtatiſtik für 1861 nicht einmal ganz ſichere Summen über die Ge - ſammtzahl der Webſtühle einer Gattung liefert, daß die preußiſche Statiſtik auch in ihren frühern Aufnahmen weder ein ganz zutreffendes Bild von der lokalen hand - werksmäßigen Weberei, noch von der Hausweberei für den großen Abſatz, noch von der Weberei in geſchloſſenen Etabliſſements gibt, ganz werthlos iſt darum ein Theil der Zahlen doch nicht, wenn man ſie nur wiſſen -504Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.ſchaftlich gebraucht und gruppirt, andere ſichere Nach - richten heranzieht, um die Schlüſſe und Konjekturen zu ſtützen.

Gehen wir nun aber zur Sache ſelbſt über und zunächſt zur Frage, in wie weit ſich die häusliche Weberei als Nebenbeſchäftigung bis jetzt erhalten hat.

Die häusliche Weberei ſteht eigentlich bis in die neueſte Zeit nicht in direkter Konkurrenz mit der gewerbs - mäßigen. Wo der Bauer, der ländliche Handwerker und Tagelöhner die paar Thaler für einen Stuhl erſchwingen kann, wo die Beſchäftigung traditionell ſeit Jahrhunderten beſteht, ſich naturgemäß anſchließt an die eigene Produktion von Wolle und Flachs, da macht man keine Anſprüche an eine techniſch vollendete Waare. Da wird das Bedürfniß der Kleidung am billigſten und paſſendſten auf dieſe Weiſe befriedigt, ſo lange die Zeit und die Arbeitskräfte dazu vorhanden ſind, im Winter unbenutzt blieben ohne dieſe Nebenbeſchäftigung. Der mangelnde Verkehr und Handel in früherer Zeit machte die Thätigkeit nothwendiger; aber ſie dauert auch noch fort, lange nachdem der Bauer in den Läden der näch - ſten Stadt, auf Wochen - und Jahrmärkten einkaufen könnte.

In Preußen, Poſen, Pommern werden auch heute noch die Wollgewebe, welche das Landvolk trägt, theil - weiſe ſo gefertigt. 1Vergl. oben S. 177 und J. G. Hoffmann, Bevölkerung des preuß. Staates S. 159.Wollſtühle als Nebenbeſchäftigung gehend gab es im ganzen Staate 1831 2693, 1840505Die Weberei als häusliche Nebenbeſchäftigung.6072, 1846 4519, 1861 4447. Alſo bis 1840 ſogar eine große Zunahme, von da Abnahme bis 1846; ſeither aber kaum eine Aenderung. Dieſe Stühle machen 1846 12,6 %, 1861 12,2 % aller Wollwebſtühle aus.

Viel zahlreicher ſind die Leinwandſtühle, welche als Nebenbeſchäftigung gehen. Die Leinenweberei iſt ſeit Jahrhunderten Sache des deutſchen Landmannes; in gleicher einfacher Weiſe hat ſie ſich erhalten bis in die neuere Zeit; ihre jüngere Schweſter, die Baumwoll - weberei, hat ſie in dieſem Jahrhundert zwar aus der Kleidung der untern Volksklaſſen theilweiſe verdrängt, aber mehr in der Stadt als auf dem Lande; die Her - ſtellung baumwollener Gewebe iſt ſo viel ſpäter ent - ſtanden und ſchnell zur Großinduſtrie entwickelt nie - mals in ähnlicher Weiſe eine trauliche Nebenbeſchäftigung des kleinen Mannes geworden.

Die Zahlen der als Nebenbeſchäftigung gehenden Leinwandſtühle in Preußen kann ich theilweiſe nicht direkt angeben; ich muß theilweiſe dafür die ſämmtlichen als Nebenbeſchäftigung gehenden Stühle ſetzen; doch machen erſtere immer den weitaus größten Theil der letztern, z. B. 1861 96 % derſelben, aus. Man zählte in Preußen als Nebenbeſchäftigung betriebene Stühle:

506Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.

Es iſt eine ſtarke Zunahme von 1816 bis 1843. Während die Bevölkerung etwa auf das 1½fache ſtieg, nahm die Zahl dieſer Stühle beinahe um’s Doppelte zu. Und nicht etwa nur ſcheinbar, indem früher gewerbs - mäßig betriebene Stühle in dieſe Kategorie übertreten. Die Zahl dieſer iſt ſchon viel zu klein, um die Zunahme ſo zu erklären. Die vorhin angegebenen Urſachen wirken auf eine wirkliche Zunahme bis 1843, d. h. bis zu dem kritiſchen Zeitpunkt, der ja auch nach anderer Richtung die Grenzſcheide einer andern volkswirthſchaftlichen Zeit bezeichnet.

Von da an nimmt die Geſammtzahl nicht ab, ſie bleibt nur ſtabil; die häuslichen Stühle machen 1846 86,1 %, 1861 86,0 % aller auf Leinwand gehenden Stühle aus. Schuld hieran iſt nicht ſowohl die direkte Konkurrenz, das Angebot billiger Fabrikwaaren, das überall hin dringt, der etwa zunehmende Luxus, der mit dem einfachen eigenen Produkt nicht mehr ſo zu - frieden wäre. Etwas wirken dieſe Faktoren ja mit,507Die Statiſtik der Hausweberei.aber nicht allzuviel. Dem Bauer kommt ſein Hand - gewebe immer noch billiger als das billigſte Maſchinen - produkt, das er in dieſer Form nicht einmal liebt, ſo lange er Zeit und Arbeitskräfte zur eigenen Weberei hat. Aber gerade das hört auf. Man hat mit der intenſiven Kultur, mit andern Nebenarbeiten ſo viel mehr zu thun. Und während die Arbeit in Haus und Hof, in Flur und Feld gewachſen iſt, hat man weniger Leute. Die jüngern Söhne und Töchter haben nicht mehr Luſt, unverheirathet auf dem Hofe zu bleiben, man hat beſonders in Weſt - und Mitteldeutſchland ſehr viel weniger Geſinde als früher. 1Kollmann, Geſchichte und Statiſtik des Geſindeweſens in Hildebrand’s Jahrbücher X, 237 ff. ; Jahrbuch für die amtl. Statiſtik des preuß. Staates II, 234 37.Das eben ſo ſehr, als die geſtiegenen Flachspreiſe veranlaſſen den weſtfäliſchen Bauern, heute mehr und mehr ſeinen Flachs zu Markte zu tragen und die fertige Leinwand zu kaufen.

Während aber im Weſten die Stühle abnehmen, nehmen ſie im Oſten bis 1861 noch zu. Die Stabilität der preußiſchen Zahlen wird 1843 61 durch dieſe entgegengeſetzte Bewegung erreicht. Um die provinziellen Zahlen auch noch mit dem Stande von 1816 zu ver - gleichen, führe ich zuerſt die ſämmtlichen als Neben - beſchäftigung gehenden Stühle an. 2Die Zahlen für 1816 nach Dieterici, Volkswohlſtand S. 186, die für 1831 nach Hoffmann, Bevölkerung S. 156 die für 1861 nach der offiziellen Publikation, preuß. Statiſtik V, S. 30. Man zählte:508Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.

Die ausſchließlich für Leinwand gehenden Stühle ſind kaum etwas geringer; ſie machen aus:

Aehnliche Ergebniſſe, wie die öſtlichen preußiſchen Provinzen, zeigen einige andere norddeutſche Staaten, ähnliche Ergebniſſe wie Sachſen, Schleſien, Weſtfalen und die Rheinprovinz zeigen die ſüddeutſchen Staaten.

Viebahn1III, 952. giebt in der Geſammtüberſicht der Weberei des Zollvereins, die allerdings nach meinen obigen Aus - führungen zu niedrige Zahlen enthält, das folgende all - gemeine Reſultat. Auf 39554 Maſchinenſtühle und 394865 gewerbsmäßige Handſtühle aller Art zählt er509Vergleich der häuslichen u. gewerbsmäßigen Linnenproduktion.noch 387969 als Nebenbeſchäftigung gehende Hand - ſtühle. In der Linneninduſtrie allein zählt er 350 Maſchinenſtühle, 1199281Dieſe Zahl iſt höchſtens um einige hundert Stühle zu niedrig; mehr haben die andern Zollvereinsſtaaten (außer Preußen) nicht bei ihren Fabriken verzeichnet. gewerbsmäßig gehende Hand - ſtühle, 370970 als Nebenbeſchäftigung gehende Hand - ſtühle. Wollen wir die Produktion vergleichen, ſo dürfen wir für die letztern Stühle als tägliche Leiſtung nicht über 3 Ellen annehmen, auch keine Thätigkeit, die über 1 2 Monate, alſo etwa auf 45 Tage ſich erſtreckte. Die Leiſtung wäre etwas über 50 Millionen Ellen. Bei der gewerblichen Produktion kämen 350 Maſchinenſtühle mit täglich etwa 40 Ellen und 300 jährlichen Arbeitstagen in Betracht; das gäbe etwas über 4 Millionen Ellen. Die 119928 Handſtühle ſollen hoch gerechnet täglich je 10 Ellen liefern; über 250 Arbeitstage ſind auf ſie nicht zu rechnen. Das ergäbe zuſammen etwa 300 Millionen Ellen. 2Hiernach kommen etwa 10 Ellen jährlich auf den Kopf der Bevölkerung des Zollvereins, von Aus - und Einfuhr abge - ſehen; die oben angeführte Berechnung Engel’s (Zeitſchrift IV, 130), mit 5 Ellen pro Kopf nach Abzug der Mehrausfuhr, iſt zu niedrig; er rechnet auch für den gewerblichen Handſtuhl täg - lich nur 5 Ellen. Die gewerbsmäßige Produktion betrüge in Preußen 1861 nach Engel’s Rechnung 70 Millionen Ellen, die häusliche 36 Millionen Ellen.

So wenig ſicher dieſe Zahlen ſind, ſo geben ſie doch eine klare Anſchauung davon, von welcher Bedeutung die häusliche Weberei auch heute noch iſt. Denjenigen510Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.aber, der hieran noch zweifelte, den möchte ich daran erinnern, daß nach den Berechnungen von Moreau de Jonnès1Statistique de l’industrie de la France. S. 177. Die Zahlenergebniſſe beziehen ſich an dieſer Stelle wohl wie durchaus auf das Jahr 1850. in Frankreich die gewerbliche Leinenproduktion allerdings nach Abzug des Werthes des Rohſtoffes einen Werth von jährlich 62 Millionen Frcs., die häusliche ländliche Linnenproduktion, unter Hinzufügung des Werthes des geſammten Rohſtoffes, einen jährlichen Werth von 288 Millionen Frcs. erzeugt; auf jene kommen 18, auf dieſe 82 % des Geſammtwerthes.

[511]

7. Die handwerksmäßige lokale Weberei.

Die Geſchäfte des handwerksmäßigen Webers, die Lohnweberei für Kunden, die Produktion für den lokalen Bedarf, für Wochen - und Jahrmärkte. Die Konkurrenz mit der für den Abſatz im Großen arbeitenden Hausinduſtrie. Die ſtatiſtiſche Ermittlung der lokalen Produktion. Ihre Bedeutung in Preußen 1795 / 1803 nach Krug. Ihre Lage 1816 1831. Die lokale Baumwollweberei 1834 1861. Die profeſſionsmäßige Linnenweberei 1834 1861. Die Zunahme der kleinen preußiſchen Tuchmacher bis gegen 1840. Die Lage in andern Zollvereinsſtaaten. Die Kriſis der kleinen Geſchäfte und ihre Urſachen 1840 1861. Rückblick auf die lokale Weberei überhaupt. Die Urſachen, welche ſie theilweiſe noch halten. Die lokalen Unterſchiede in dieſer Beziehung. Berichte aus Württemberg. Die Verdrängung der lokalen Weberei aus den größern Städten durch den Detailhandel. Halle und Berlin. Der Gegenſatz eines Mittelſtandes, der auf dem Handwerk, und eines ſolchen, der auf dem Detailhandel baſirt.

Schon eine Stufe weiterer Arbeitstheilung zeigt es an, wenn das Weben nicht mehr in der Familie, ſon - dern im Hauſe des lokalen handwerksmäßigen Webers geſchieht. Das in der Familie geſponnene Garn wurde dem Weber ausgehändigt, er hatte das rohe Gewebe zurückzuliefern, das die Hausfrau dann vollends bleichen, färben, fertig machen ließ. Die armen Leute, die keinen512Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.eigenen Webſtuhl erſchwingen konnten, wie der wohl - habendere Mittelſtand, die Bürger - und Beamtenfrauen, welche zum Selbſtweben ſchon zu vornehm ſich fühlten, verfuhren ſo. In den Gegenden einer ſchwunghaften Weberei arbeiteten die Weber faſt immer neben ihrer Thätigkeit für die Kaufleute und Verleger nebenbei für Kunden. In anderen Gegenden ſuchte der Lohnweber, wenn er etwas erſpart hatte, womöglich auch auf eigne Rechnung zu arbeiten, um entweder ſelbſt einen Laden zu eröffnen, oder an einen der Meiſter des Orts zu verkaufen, welche ſchon in der etwas glücklicheren Lage waren. Solche hießen Kaufweber; ſie bezogen die Wochen - und Jahrmärkte; aus ihnen gingen ſpäter viel - fach die größern Fabrikanten und Kaufleute hervor.

Dieſe lokale Produktion lieferte die landesüblichen althergebrachten Stoffe; vor allem einfache Leinwand, höchſtens etwas Drell, ſpäter auch Jacquardgewebe, aber nicht viel (im Jahre 1820 kommen in Württemberg auf 28 ſog. Bildweber 17492 einfache Leineweber); dann, aber in viel geringerem Umfange, die einfachen Kattune, die halbbaumwollenen Gewebe, das alte Parchend, das die Züchner fertigten, jene farbigen Kotonette, in Süddeutſch - land Zeugle genannt, buntſtreifige Gewebe, die theil - weiſe zu Bettzeug, theilweiſe zur weiblichen und Kinder - kleidung in den untern und mittleren Klaſſen dienen; endlich die ungewalkten Raſche und die einfachſten gröberen Tucharten.

Eine größere an einzelnen Orten als Hausinduſtrie konzentrirte Weberei exiſtirte wohl ſchon in verſchiedenen Gegenden Deutſchlands im vorigen Jahrhundert; aber513Die lokale Weberei früherer Zeit.ihre Konkurrenz übte keinen Druck auf die faſt aller - wärts vorhandene lokale Produktion. Jene lieferte die feinern beſſern Stoffe für die höhern Klaſſen, für die großen Städte, für die Höfe; theilweiſe lieferte ſie auch dieſelben Produkte wie die lokale Weberei, war in ihrer Technik gleich einfach wie ſie; aber ſie arbeitete dann hauptſächlich für den Export; es waren Weberdiſtrikte, welche durch den wachſenden Export groß geworden waren. Nach dem damaligen Zuſtande des Verkehrs, der Handelsorganiſation war es faſt leichter, daß die ſchleſiſche Leinwand über Hamburg nach Amerika und Indien ging, als daß ſie den Weg in alle abgelegenen Landſtädtchen Deutſchlands gefunden hätte. Doch war natürlich zwiſchen den verſchiedenen Arten der Weberei in dieſer Beziehung ein ziemlicher Unterſchied. Die Tuchmacherei war ſchon nicht ſo allgemein verbreitet wie die Leineweberei; und beiden gegenüber traten die jüngern Induſtrien, die Baumwoll - und Seidenweberei, von Anfang an weniger als Lokalgewerbe auf.

Nach dem Charakter der amtlichen ſtatiſtiſchen Er - hebungen, wie ich ihn oben ſchilderte, läßt ſich aus ihnen kein direkter Schluß ziehen, wie früher die lokale handwerksmäßige Weberei ſich zur großen Hausinduſtrie, ſpäter zur fabrikmäßigen Weberei ſtellte. Die einzige Methode, welche uns offen bleibt, indirekt das Ver - hältniß der lokalen zur großen Weberei zu unterſuchen, liegt darin, nach den Spezialtabellen zu prüfen, ob die eine oder andere Art der Weberei eine allgemeine lokale Verbreitung hat oder ausſchließlich an einzelnen Orten konzentrirt vorkommt.

Schmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 33514Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.

In dieſer Beziehung geben ſchon die Krug’ſchen Tabellen1Betrachtungen über den Nationalwohlſtand des preuß. Staates II, 220 315; Dieterici gibt Volkswohlſtand S. 28 eine Tabelle nach dieſen Krug’ſchen Zahlen, welche aber total falſch iſt, indem ſie nur diejenigen Stühle reproduzirt, welche Krug je am Schluſſe einer Abtheilung, als an den wichtigſten induſtriellen Punkten konzentrirt, nochmals wiederholt. (1795 1803) ein ziemlich klares Bild. Seiden - und Baumwollweber verzeichnet Krug nur an wenigen Orten, aber dann in größern Poſten. In der Wollweberei zählt Krug 305 einzelne Orte auf, eine Anzahl hiervon mit über 100 Stühlen, die überwiegende Mehrzahl aber mit je nur ein paar Arbeitern und Stühlen. Die an gleicher Stelle von Krug gegebene Ueberſicht über die Leineweberei reſp. die Leinewebſtühle iſt weniger klar, ſofern ſie theilweiſe nach ganzen Pro - vinzen, theilweiſe nach Städten die Stühle und Arbeiter aufführt. Dagegen gibt die Tabelle der Leineweber unter den Handwerkern2II, 189. eine Anſchauung davon, wie neben der konzentrirten Produktion Schleſiens und einiger anderer Theile der Monarchie doch überall die lokale Weberei blühte. Die Zahl der Leineweber betrug hier - nach in den folgenden einzelnen Landestheilen:

515Die lokale Weberei gegen 1800.

1Dieſe Zahl der Leineweber ſetzt natürlich eine ſehr viel größere der Leinewebſtühle voraus; hatte doch Hertzberg (huits dissertations S. 254) ſchon 1785 - 51000 Webſtühle gezählt, wobei die als Nebenbeſchäftigung gehenden kaum mit erhoben ſind, und Dieterici zählt in der erwähnten unvollſtändigen Tabelle 41420 Leinwandſtühle. Im Departement der Breslauer Kammer wurden nach Schneer S. 2 allein 19000 Leinwand - ſtühle 1808 gezählt.

Auch für die ſpätere Zeit iſt ſtatiſtiſch kein anderer Beweis für das Vorkommen dieſer lokalen handwerks - mäßigen Weberei zu führen, als durch eine Prüfung der Spezialtabellen nach der erwähnten Richtung. Am beſten taugen hierzu Tabellen nach Regierungsbezirken; da mir ſolche aber für die frühere Zeit fehlen, muß ich mich für 1816 31 darauf beſchränken, eine Tabelle nach Provinzen mitzutheilen;2Nach Dieterici, Volkswohlſtand S. 186. man zählte Webſtühle:33 *516Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.

Die Zahlen der Seidenweberei zeigen klar, daß ſie nicht hierher gehören; es iſt ein konzentrirter Maſſen - betrieb an einzelnen Orten. Aehnlich auch die Baum - wollweberei, ſowie die damalige Bandweberei. Eine relativ gleichmäßigere Verbreitung dagegen ergibt ſich bei der Strumpfweberei; und die Leinen - und Wollen - weberei zeigen neben der größern Induſtrie ein ziemlich517Die lokale Weberei 1816 31.allgemeines Vorkommen. Die Leineweberei in Schleſien, Sachſen und Weſtfalen geht ſchon bedeutend zurück; in dieſen Provinzen iſt der Sitz der großen Weberei, der Abſatz nach dem Ausland ſtockte, wie wir weiter unten noch näher ſehen werden. In den Provinzen mit mehr lokaler Weberei iſt der Rückgang ent - weder ſehr viel kleiner, oder ſogar eine Zunahme zu konſtatiren, wie in Weſtpreußen, Brandenburg, Pommern. Die Wollweberei zeigt 1816 31 theil - weiſe bedeutende Rückſchritte, am ſtärkſten in Schleſien und Poſen; dieſe Provinzen verlieren ihren großen Ab - ſatz nach Rußland; die lokale Tuchmacherei aber nimmt da und dort etwas zu, wie wir z. B. an den pommer - ſchen Zahlen ſehen.

Für die ſpätere Zeit ſtelle ich die Webſtühle nach Regierungsbezirken zuſammen, laſſe dabei aber die Seidenweberei, die Band - und Strumpfweberei zunächſt außer Betracht. Ich komme auf ſie weiter unten zurück.

Die auf der folgenden Seite abgedruckte Tabelle der Baumwollweberei zeigt in Bezug auf die lokale Ver - theilung ein wechſelndes Ergebniß: 1834 gibt es in den öſtlichen Provinzen außer den Weberdiſtrikten faſt noch gar keine Züchner, wohl aber in den mittleren und weſtlichen Provinzen; ſie nehmen bis 1840 und von 1840 bis 1849 in den Regierungsbezirken, wo ſie vorher fehlten, meiſt zu. Dagegen zeigt ſich von 1849 61 ſchon wieder eine theilweiſe Abnahme aber auch nur theilweiſe , in einzelnen Bezirken, Gumbinnen, Danzig, Poſen, Köslin, Trier, nehmen ſie noch zu. Dabei iſt nicht zu vergeſſen, daß die Zunahme der kleinen, wie der großen518Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.

Baumwollweberei weiſt mit dem Uebergang von der Linnen - zur Baumwollweberei zuſammenhängt, und daß die Konjunkturen von 1849 61 für die Baumwoll - weberei ſelten günſtige, die Handweberei durch ganz exzeptionelle Preiſe wieder friſtende waren. Ohne das würde die lokale Weberei nicht einmal ſo ſtark zugenom - men haben. Im ſchroffen Gegenſatz aber zu der immer - hin kleinen Zunahme der Stühle und Geſchäfte in den519Die lokale Baumwoll - und Linnenweberei 1834 61.beſprochenen Bezirken ſteht die ſtarke Zunahme beſonders von 1840 an in den Hauptgegenden der großen In - duſtrie, in den Regierungsbezirken Breslau, Liegnitz, Erfurt, Münſter. Der Schwerpunkt der jetzt erſt glänzend ſich entwickelnden Induſtrie mußte naturgemäß nicht in die lokalen Geſchäfte, ſondern in den konzentrir - ten maſſenhaften Betrieb an einzelnen Orten fallen.

Die Linneninduſtrie gibt folgende Zahlen:

520Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.

Im Gegenſatze zur Tabelle der Baumwollweberei ſehen wir hier 1834 eine ziemlich gleichmäßige Ver - breitung der gewerbsmäßig betriebenen Stühle; aller Orten ſind kleine handwerksmäßige Meiſter. Von 1834 bis 1840 nehmen die kleinen Zahlen mehr zu als die großen. Das heißt: die lokale Kundenweberei, die handwerksmäßige Kaufweberei, das Verkaufen der Haus - leinwand auf Jahr - und Wochenmärkten nimmt noch zu, während die Weberei für den Abſatz im Großen nur theilweiſe noch etwas zunimmt, theilweiſe ſtabil bleibt oder ſchon abnimmt. Von 1840 49 nehmen die kleinen Zahlen noch etwas zu, die großen verhalten ſich ähnlich wie 1834 40. Von 1849 61 erſt gehen weſentlich auch die kleinen Zahlen zurück. Erſt alſo von 1849 61 ſchränkt ſich die Art des Geſchäfts - betriebs, von welchem wir hier zunächſt ſprechen, weſent - lich ein; denn jetzt erſt nimmt Verkehr und Handel ſo zu, daß die lokale Produktion mehr und mehr über - flüſſig wird. Doch iſt ſie 1861 von allen Arten der lokalen Weberei noch am ausgedehnteſten.

Während bei der Linneninduſtrie die Hausweberei für den Abſatz im Großen eine größere Kriſis durchzu - machen hatte, als die lokalen profeſſionsmäßigen Unter - nehmer, gilt das Gegentheil von der Wollweberei. Einem faſt vollſtändigen Untergang der kleinen Geſchäfte in neueſter Zeit ſteht der glänzendſte Aufſchwung der großen gegenüber. Deßwegen iſt die Kriſis in der folgenden Tabelle auch nicht ſo klar erſichtlich. Voraus - ſchicken will ich noch, daß hier die Tuchmacher und Raſchmacher (in Süddeutſchland Zeugmacher) zuſammen521Die lokale Wollweberei 1834 61.verzeichnet ſind, daß aber die erſteren weitaus über - wiegen. Die Zahlen ſind folgende:

Das Tuchmachergewerbe war in Deutſchland ſeit Ende des vorigen Jahrhunderts wieder vielfach aufge - blüht; der raſche Uebergang zu kleinen Streichgarn - ſpinnereien war auch von den kleinen Geſchäften vollzogen worden; mit ſteigendem Wohlſtand hob ſich die innere Nachfrage; große Tuchfabriken hatten ſich daneben ſchon522Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.bis 1831 zahlreich entwickelt; ſie hatten ſich ſtark auf den Export geworfen und drückten ſo zunächſt nicht ſo ſehr auf die kleinen Geſchäfte; im Gegentheil, die ſteigende Ausfuhr kam auch dieſen zu Gute; ſie machten, wie die obigen Zahlen lehren, jedenfalls noch von 1834 40 Fortſchritte. Die kleinen Zahlen nehmen in der Tabelle ſo ſtark zu wie die großen.

Gegen 1840 freilich beginnt ſchon der Umſchwung. In den andern Ländern des Zollvereins hatte ſich ſchon mit dem Anſchluß an den preußiſchen Zollverein die Schwierigkeit für die kleinen Tuchmacher gezeigt mit den vorzüglichen Produkten der rheiniſchen, ſächſiſchen oder brandenburgiſchen Fabriken zu konkurriren. Die in Württemberg ſo zahlreich 1825 33 entſtandenen klei - nen Tuchmachergeſchäfte1Mährlen beſchreibt die Kriſis ſehr gut a. a. O. S. 200 bis 214. zeigten jetzt, daß ſie zu vielerlei produzirten, daß ihren Waaren die Ausrüſtung, die Legart, die Appretur fehlte; der Detailverſchluß am Wohnort, der Verkauf auf Jahrmärkten wollte, je mehr der Handel ſich ausbildete, nicht mehr gehen. Auch der Uebergang zu Mode - und Sommerſtoffen allein konnte den kleinen Meiſter nicht retten. Vom Königreich Sachſen meldet Wiek2Induſtrielle Zuſtände Sachſens S. 40 48. ſchon 1840 ähnliches: die kleinen Tuchmacher verdienen trotz großer Anſtrengung kaum mehr ſo viel, daß ſie ſich halten können; ſelbſt wenn ſie ſich anſtrengen, können ſie das Tuch der Fabriken nicht liefern, ihre Waare iſt eine total andere;523Die Kriſis der kleinen Tuchmacher.ſie iſt durch den Druck der Konkurrenz billiger geworden, aber damit auch um ſo viel undichter, leichter gewalkt und nicht mehr gut gerauht. Es iſt mit ziemlicher Gewißheit vorauszuſehen, ſagt er, daß nach und nach wie in England und den Niederlanden, ſo auch hier der Meiſterbetrieb aufgehen muß in den Fabrik - betrieb.

Wo eine Mehrzahl von Tuchmachern beſtand, da hätten ſich dieſelben durch Aſſoziation helfen können, wenn nicht bei den meiſten der Hang an Vorurtheilen, an Zunft - und Innungsſatzungen, die Bedenklichkeit des Uebergangs vom Alten zum Neuen den Schritt erſchwert hätte. Der einzelne kleine Meiſter aber war unrettbar verloren. Die eigentlich kritiſche Zeit fällt in die Jahre 1840 55.

Nicht aber der Maſchinenwebſtuhl war es, was den Tuchmacher ruinirte; es gab in Preußen, deſſen Fabriken im Zollverein an der Spitze ſtanden, 1846 erſt 4,7, ſelbſt 1861 erſt 11,1 % Maſchinenſtühle unter den ſämmtlichen Wollwebſtühlen. Die Hauptſache war die Vereinigung aller bisher getrennten Zweige des Ge - ſchäfts in einheitliche konſequent geleitete Etabliſſements;1Vergl. die ausgezeichneten techniſchen und national - ökonomiſchen Ausführungen im Ausſtellungsberichte von 1851. II, beſonders S. 85. es war die Vervollkommnung der Spinnerei einerſeits, der Walke, des Rauhens und Scheerens andererſeits. Beſonders die in den vierziger Jahren ſich verbreitenden Zylinderwalken wirkten epochemachend, ſie erlaubten die524Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.Filzung der Zeuge genauer zu überwachen; es kamen ferner die Wäſch -, Rauh -, Borſt - und Scheermaſchinen, die Transverſal -, Longitudinal - und Diagonalzylinder - ſcheermaſchinen, die Dampflüſtrirapparate, die hydrau - liſchen Preſſen. Alles zugleich theure Maſchinen, welche dem kleinen Manne nicht erreichbar ſind.

Wir ſprachen ſchon in anderem Zuſammenhang von dem Rückgang der baieriſchen Tuchmacherei. 1Vergl. oben S. 128 29.Von Württemberg will ich noch erwähnen, daß 1840 47 jeder 6 te Tuchmacher bankerott machte. 2Württ. Jahrb. 1862. Heft 2. S. 190.Und doch ſagt Mährlen: die meiſten Fallimente unter den kleinen Tuchmachern fallen in die Jahre 1847 bis 1853. Der Rückgang in Preußen iſt erſichtlich aus der früher ſchon angeführten Tabelle der Streichgarnſpinnereien und aus der Thatſache, daß von 1840 an die Wollwebſtühle in den Regierungsbezirken mit großer Induſtrie, wie Aachen, Düſſeldorf, Erfurt, Liegnitz und Frankfurt außerordentlich zunehmen, während die Stühle in den Regierungsbezirken mit kleiner lokaler Produktion, beſon - ders in den öſtlichen, meiſt bedeutend abnehmen. 3Die Kreisbeſchreibung von Ratibor ſchreibt: in Hultſchin gibt es dem Namen nach viele Tuchmacher, von denen aber mangels Beſtellungen nur wenige das Gewerbe betreiben. Jahr - buch für die amtl. Statiſtik II, 274.Außerdem zeigt ſich der Verfall der kleinen Tuchmacher noch recht klar in dem Rückgang der Hülfsgewerbe. Man zählte in Preußen:525Der Rückgang der Tuchſcheerer und Walkmühlen.

Nach dieſen Zahlen beginnt die Kriſis bei den Tuchſcheerern ſchon zwiſchen 1834 37, bei den Walk - mühlen nicht viel ſpäter. Beide Gewerbe hören als ſelbſtändig nach und nach ganz auf, da die große Tuch - induſtrie eigene Walken, eigene Scheermaſchinen beſitzt.

Blicken wir ſo im Ganzen zurück auf die kleine handwerksmäßige Produktion, ſo läßt ſich nicht leugnen, daß ſie allerwärts im Rückgang begriffen, theilweiſe ſchon vollſtändig verſchwunden iſt.

Aber immerhin iſt der Uebergang noch nicht überall vollzogen; in einzelnen Branchen wird er noch Jahre und Jahrzehnte ſich hinziehen. Mancherlei Urſachen tragen dazu bei. Althergebrachte Gewohnheiten wirken den Fabrikprodukten entgegen; in abgelegenen Gegenden iſt der Handel mit ihnen nicht entwickelt. Die untern Klaſſen, die Hausfrauen in dieſen Kreiſen wünſchen nach wie vor bei dem ihnen perſönlich bekannten Weber auf dem Jahrmarkte zu kaufen. Auch jetzt noch haben526Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.manche Weber ausſchließlich damit zu thun, altes Garn, das von aufgezogenen Strümpfen, alten Stoffen und Reſten ſtammt, für ärmere Leute zu verweben. Theil - weiſe liefert die Großinduſtrie gar nicht das herkömmlich von den untern Klaſſen Gewünſchte und Getragene. Am meiſten wohl noch in Tuchen; gerade die große deutſche Tuchinduſtrie der öſtlichen Provinzen liefert ein - fache, billige Stoffe. Daneben freilich werden auch noch rohe Tuche ohne Appretur gekauft; die ungewalkten Gewebe, wie ſie vor 100 Jahren ſchon die Zeug - und Raſchmacher lieferten, die einfachen Flanelle, welche jeder Weber leicht liefern kann, ſind heute noch auf jedem Jahrmarkt zu ſehen neben den modernern Hoſen -, Weſten - und Damenkleiderſtoffen, die auch der kleine Kaufweber, der kleine Händler vom Fabrikanten erkauft hat. Das Fabrikprodukt wird theilweiſe durch zwei - bis dreifache Speſen vertheuert und ſo, wenn auch urſprünglich billiger, doch zuletzt dem Produkte des lokalen Webers im Preiſe gleich. Eine plötzliche Aende - rung iſt ſchon dadurch ausgeſchloſſen, daß die Fabriken nicht auf einmal ihre Produktion ſo ausdehnen können, um den ganzen Lokalbedarf mit zu befriedigen.

Was das Linnenzeug betrifft, ſo haben auch manche der lokalen Weber ſich die beſſern Trittſtühle, ſogar Jacquardſtühle angeſchafft, und liefern Tiſchzeug, Ser - vietten für einfachen Bedarf. Die gewöhnliche Lein - wand, welche in den Großhandel kommt, ſoll vor Allem durch ſchöne Bleiche, durch gute Appretur, durch ſchönes Ausſehen ſich auszeichnen. Für den lokalen Kleinhandel iſt das nicht nöthig. Schwere, dauerhafte, theilweiſe un -527Die theilweiſe Erhaltung der lokalen Weberei.gebleichte Leinwand ohne Appretur wird auf den Jahr - märkten verlangt; die mißtrauiſche Hausfrau des kleinen Mannes traut den künſtlichen Bleichmitteln nicht. Sie zieht die alte Art des Ausſehens vor. Gebleichte Leinwand liefert der kleine Weber, indem er gebleichtes Garn kauft.

Theilweiſe allerdings erhält ſich die lokale Pro - duktion nur dadurch, daß ſie ſich die niedrigeren Preiſe, den geringern Gewinn gefallen läßt. Der kleine Mann, der ein eigenes Haus, einen eigenen Garten hat, kann immer noch beſtehen, wenn auch ſchlechter als früher; man rechnet in dieſen Kreiſen nicht ſo, wie bei der großen Induſtrie und dem großen Handel. Die Aende - rungen vollziehen ſich erſt nach Generationen.

Ein großer Unterſchied findet auch in dieſer Beziehung noch zwiſchen den verſchiedenen Theilen des Zollvereins ſtatt. Die allgemeinen Urſachen, welche den Kleinbetrieb erhalten, eine gleichmäßige Vermögens - und Einkommensvertheilung, ein zahlreicher, aber in ſeinen Sitten einfacher Mittelſtand werden auch in der Weberei die kleine lokale Produktion eher erhalten. Dem kleinen Weber ſind die Verhältniſſe in der Provinz Sachſen, in Thüringen, am Rhein, in Süddeutſchland günſtiger, als die im Nordoſten. Ueberraſchend iſt in dieſer Beziehung die genaue öfter erwähnte Aufnahme von Mährlen in Bezug auf Württemberg. Sie bezieht ſich zwar auf das Jahr 1858; ſeitdem wird dort auch Vieles ſchon wieder anders geworden ſein. Aber für den da - maligen Zeitpunkt gibt ſie genauen Anhalt dafür, daß damals noch die lokale Kundenweberei und die hand -528Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.werksmäßige Lokalproduktion ziemlich bedeutend war. Ich will nur Einiges anführen.

Von Kalw heißt es: Die Lein - und Baumwoll - weberei wird nur von etwa 5 Meiſtern für eigene Rechnung betrieben, alle übrigen Weber ſind Lohn - arbeiter, welche für Kunden weben. Von Gmünd: es werden jährlich 277750 Ellen Leinwand erzeugt, dar - unter 55 60000 Ellen Handelswaare, die jedoch nur im Bezirke und deſſen Nachbarſchaft auf Wochen - und Jahrmärkten vertrieben wird. Beſonders die Leine - weberei wird faſt überall als ausſchließlich für den Haus - und Lokalbedarf beſtimmt bezeichnet. Auch von den ſelbſtändigen Unternehmern, die um Lohn weben laſſen oder Leinwand kaufen, ſagt Mährlen gehört ein großer Theil noch den profeſſionsmäßigen Webern ſelbſt an. Er berechnet, daß von der geſammten württembergiſchen Linnenproduktion der Ellenzahl nach 78,1 % auf gemeine Hausleinwand, 4,4 % auf feinere Handelsleinwand, 0,9 % auf Jacquardgewebe, 16,6 % auf Pack - und Sackleinewand fallen.

Allerdings hebt Mährlen daneben hervor, daß die lokale handwerksmäßige Produktion allerwärts in Abnahme, die große Produktion und der Handel mit Fabrikwaaren aber im Zunehmen begriffen ſeien.

Anderwärts hat ſich das ſchon vollzogen, am meiſten in den größern Städten. Als ſchlagenden Be - weis dafür möchte ich nur noch einige Zahlen anführen.

Halle iſt gegenwärtig eine Stadt von etwa 50000 Einwohnern, die aber in Allem, was großſtädtiſche Ent - wickelung betrifft, noch weſentlich zurück iſt, mehr noch529Der lokale Handel mit Geweben.den Charakter einer kleinen Stadt an ſich trägt, einen zahlreichen Handwerkerſtand, erſt neuerdings etwas glänzendere Magazine hat. In dem Adreßbuch für 1869 zählt man noch 12 Webermeiſter, 9 Strumpf - wirkermeiſter, auch 3 Tuchſcheerer und 4 Tuchfabriken, ſowie 4 Schnürleibfabriken und 1 Wattenfabrik; dagegen folgende Handlungen: 13 Garn - und Bandhandlungen, 9 Leinwandhandlungen, 17 Weißwaarenhandlungen, 6 Tapiſſeriehandlungen, 17 Modewaarenhandlungen, 19 Putz - und Modewaarenhandlungen, 15 Poſamentier - waarenhandlungen, 21 Schnittwaarenhandlungen, 6 Tuch - handlungen, 24 Wollwaarenhandlungen.

Die Statiſtik, welche Engel1Berliner Gemeindekalender für 1868, S. 145. nach den Berliner Adreßbüchern von 1811 68 zuſammenſtellen ließ, zeigt ebenfalls, wie der lokale Handel zu -, die kleine lokale Produktion abnimmt. Die Kategorien der Adreßbücher faſſen freilich theilweiſe gerade das, was wir trennen wollen, die Produktionsgeſchäfte, die Fabriken und die Handlungen einer Art zuſammen. Ich laſſe daher noch die Zahl der Fabriken und der Webermeiſter nach den offiziellen Aufnahmen von 1849 und 1861 folgen, wodurch ein ſichereres Urtheil möglich wird. Zieht man nunmehr z. B. die Zahl der Tuchfabriken von der Geſammtzahl der Tuchfabriken und Tuchhandlungen ab, ſo ergiebt ſich genau das Verhältniß der Produktions - geſchäfte zu den Handlungen. Die angeführten Weber haben natürlich nur zum wenigſten Theil eigene Geſchäfte, ſondern arbeiten für Fabriken.

Schmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 34530Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.

Das Reſultat der Adreßbücher iſt folgendes:

Dagegen zählen die offiziellen Aufnahmen:

531Gewebeproduktion und Gewebehandel in Berlin.

Man muß die beiden Tabellen genau ſtudiren und unter ſich vergleichen, um nach ſo verſchiedenen Auf - nahmen ein klares Bild des Inhalts zu bekommen. Und doch iſt das eine Reſultat ſchon für einen ober - flächlichen Blick klar. Es hört die lokale Produktion auf; einzelne immer größer werdende Fabriken, die nicht ſowohl für Berlin, als für den Abſatz im Großen arbeiten, bilden ſich, daneben vollzieht ſich die ſelbſtändige Entwickelung des Detailverkaufs und - Handels. Auf 3 Teppichfabriken der offiziellen Tabelle kommen (1860 bis 1861) 27 Teppichhändler und Fabrikanten des Adreßbuchs; auf 18 Zwirnereien der offiziellen Auf - nahme kommen 182 Garnhändler und Garnfabrikanten des Adreßbuchs. Das darf man daneben nicht über - ſehen, daß faſt alle dieſe zahlreichen Handlungen, die durch das lokale Bedürfniß jeder Straße, jedes Stadt - theils hervorgerufen werden, ſich in irgend welcher Weiſe an der Produktion betheiligen, dies und jenes vollenden, nähen, zuſammenſtellen, ausſchmücken laſſen.

34 *532Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.

Einzelne dieſer Verkaufsgeſchäfte haben wohl auch einen großen Umfang, die Mehrzahl aber iſt klein, baſirt auf dem allernächſten lokalen Bedürfniß. Es kommt das in ſozialer Beziehung in Betracht. Viele kleine Leute, welche hier wie allerwärts früher als Produzenten, als Handwerksmeiſter ihr Geſchäft trieben, leben jetzt als Händler; und häufig ſind es dieſelben Perſonen, wie z. B. ein Bericht aus Bunzlau ſchreibt:1Zeitſchrift des preuß. ſtat. Büreaus 1864. Bd. IV, S. 127; vergl. auch oben S. 211 ff. Tuchmacher und Weber kaufen von größern Fabriken die Waare und leben faſt nur noch vom Handel. Von den ſächſiſchen kleinen Tuchmachern ſagt ein kompetenter Berichterſtatter:2Zeitſchrift des ſächſ. ſtatiſt. Büreaus 1860, S. 135. Das Handwerk hat auch hier im reinen Handelsgewerbe geendet. Gleiches haben wir bei den Poſamentieren geſehen, es findet auch bei den Strumpfwirkern ſtatt und wird für die Weber bald nachgewieſen werden.

Es iſt das, wie geſagt, für den Sozialpolitiker, den nur die Erhaltung eines geſunden Mittelſtandes intereſſirt, von Bedeutung. Er wird auf der einen Seite ſich freuen, wenn wenigſtens ein Theil der kleinen Geſchäfte ſich ſo hält, aber er wird auf der andern Seite zugleich betonen, daß der ſich ſo erhaltende Mittel - ſtand jedenfalls ein anderer iſt, andere Menſchen, andere ſoziale Kräfte, andere Anſchauungen und Sitten in ſich ſchließt. Der kleine Händler iſt etwas Anderes, als der kleine Meiſter. Dieſer lebt von ſeiner Arbeit, jener533Der Gegenſatz des Handwerkers und Detailhändlers.von ſeiner Klugheit, ſeinem Rechentalent; dieſer hat ſich von früh bis ſpät anzuſtrengen, thätig zu ſein, jener ſucht Gewinn, nicht ohne zu arbeiten, aber doch ent - ſpricht der Gewinn nicht ſowohl der Arbeit, als der rich - tigen Reklame, der Mode, den Zufällen der Konjunktur.

Aehnliche Mißbildungen aus ähnlichen Urſachen, wie der oben beſprochene Kleinhandel mit Lebensmitteln, birgt auch der Kleinhandel mit Geweben, Garnen, Bändern und derartigen Artikeln. Flagrante Beiſpiele haben ſich neueſtens in den größern Städten gehäuft. Eine proletariſche Konkurrenz, die ſich nicht genirt mit geſtohlenen Waaren zu handeln, iſt nichts Unerhörtes. Zeigte ſich doch neulich in Berlin, bei Aufhebung der großen ſeit Jahren thätigen Diebesbande, welch erſchreckend große Zahl für achtbar gehaltener Firmen mit geſtohlenen Waaren gehandelt hatte. Man darf aus ſolchen einzelnen Beiſpielen freilich nicht zu viel folgern; aber eben ſo wenig darf man ſie in einem Geſammtbild unſerer gegenwärtigen Zuſtände überſehen. Es kommt darauf an, ob die vorhandenen moraliſchen Kräfte, eine ſteigende Oeffentlichkeit, eine geſunde kauf - männiſche Preſſe, im Stande ſind, dem unreellen Treiben die Waage zu halten und es in die Grenzen zurückzudrängen, wie es immer als Folge einzelner Per - ſönlichkeiten vorkommen muß.

[534]

8. Die Leinen - und Baumwollenweberei für den Abſatz im Großen nebſt ihren Hülfsgewerben.

Die große Weberei des Mittelalters und ihre Organiſation. Die Weberei des 18. Jahrhunderts. Der wachſende deutſche Export von Leinwand und Tuch. Die Organiſation als Hausinduſtrie. Die Vortheile und Nachtheile derſelben. Die Napoleoniſchen Kriege. Die Leineninduſtrie von 1806 an. Die Lage von 1816 49. Die Verſchlechterung der Pro - duktion, die Noth der Weber, die geſchäftliche Organiſation, die Vermittlung durch den Faktor. Die Zuſtände von 1846 61, Beginn der Maſchinenweberei. Die Verhältniſſe, in welchen das Fabrikſyſtem ſiegt; die, in welchen die Haus - induſtrie bleibt. Der Aufſchwung der Baumwollenweberei. Statiſtik derſelben 1816 61. Der Charakter der Unter - nehmungen: Fabriken neben Erhaltung der Hausweberei. Die Noth der Weber; die durch beſondere Preisverhältniſſe eintretende Wiederbelebung der Handweberei 1850 60. Der Sieg der Maſchinenweberei auch in Deutſchland. Die lokale Vertheilung von Hand - und Maſchinenweberei in Deutſchland. Die theilweis mögliche Erhaltung der Hausinduſtrie. Die handwerksmäßigen Bleicher und die fabrikmäßigen Kunſt - bleichen und Appreturanſtalten. Die Färbereien und Kattun - druckereien.

Der lokalen handwerksmäßigen Weberei habe ich in den bisherigen Ausführungen die Weberei für den535Die Gewebeinduſtrie des Mittelalters.Abſatz im Großen entgegengeſetzt. Es war unter letz - terer dabei ſowohl die Hausinduſtrie, welche für den großen Markt arbeitet, als die fabrikmäßige Weberei verſtanden. Wir haben jetzt noch zu unterſuchen, wie ſich der Konkurrenzkampf zwiſchen dieſen beiden Faktoren geſtaltet hat, wo das Fabrikſyſtem und der Maſchinen - ſtuhl die Hausinduſtrie verdrängt haben. Das Schwierige iſt dabei, daß auch der flüchtigſte Ueberblick über die Geſchichte der betreffenden Induſtrien ſich nicht geben läßt, ohne eine Reihe von mitwirkenden, aber unſerer Unterſuchung ferner liegenden Urſachen hereinzuziehen. Die allgemeine Handelsgeſchichte, die Rückwirkung poli - tiſcher Ereigniſſe, das Zollweſen des eignen und der benachbarten Staaten und ähnliche Dinge ſind theil - weiſe bedeutungsvoller für Aenderung oder Erhaltung dieſer und jener Form der Induſtrie geworden, als die direkten Vortheile und Nachtheile dieſer und jener Art des Betriebs ſelbſt.

Zahlreiche handwerksmäßige Geſchäfte an demſelben Orte vereinigt mit theilweiſe gemeinſamen Einrichtun - gen, mit einem ſehr bedeutenden Abſatz nach fremden Märkten kannte ſchon das Mittelalter und zwar hauptſächlich in der Gewebeinduſtrie. In Gent ſollen ſeiner Zeit 40000 Webſtühle geſtanden haben, in Brügge ſollen zur Zeit der höchſten Blüthe 50000 Men - ſchen von der Verarbeitung der Wolle gelebt haben. In Köln wurden nach einem Aufſtande der Weber auf einmal 1800 Tuchmacher verbannt. Noch 1610 gab es in Augsburg 6000 Leineweber. Von 1415 bis gegen 1564, bis die engliſche Konkurrenz durch die vertriebenen536Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.Niederländer ſo bedeutend zunahm, lebten die märkiſchen Städte faſt ausſchließlich von der Wollweberei. 1Vergl. über die ältere Geſchichte der deutſchen Gewebe - induſtrie: (Hildebrand), zur Geſchichte der deutſchen Woll - induſtrie in ſeinen Jahrbüchern VI, 186 254, VII, 81 153; Werner, Urkundliche Geſchichte der Iglauer Tuchmacherzunft, Leipzig 1861; Hiſtoriſche Nachricht von den Hauptmanufakturen der Tücher ꝛc. in der Churmark, in den hiſtoriſchen Beiträgen die kgl. preuß. Staaten betreffend, Deſſau 1781; ferner Mone, Zeitſchrift d. Geſch. des Oberrheins passim und die erwähnte Geſchichte der Linneninduſtrie von Volz.

Es war eine Maſſeninduſtrie, aber keine Groß - induſtrie. Die einzelnen Weber waren theilweiſe reiche Leute und traten als ſolche in die höhern Klaſſen der Geſellſchaft über, aber in der Hauptſache blieben ſie, ſo lange ſie das Geſchäft betrieben, Handwerker, Meiſter, die ſelbſt Hand anlegten. Ob dieſe glückliche ſoziale Organiſation der mittelalterlichen Gewebeinduſtrie mehr Folge der allgemeinen damaligen wirthſchaftlichen Zu - ſtände, der einfachen Technik, der mäßigen Kapitalvor - räthe war oder vielmehr Folge einer naiven ſozialiſti - ſchen Geſetzgebung, die im Einklang mit den Sitten und den moraliſchen Anſchauungen jener Zeit abſichtlich eine gewiſſe ſoziale und wirthſchaftliche Gleichheit unter ſämmtlichen Produzenten erhalten wollte,2Das behauptet hauptſächlich Schönberg in ſeinen Unter - ſuchungen über das Zunftweſen. will ich hier nicht entſcheiden. Es würde zu weit abführen, wollte ich hier das Entſtehen, die Vorausſetzungen, die Urſachen der Blüthe jener Gewebeinduſtrie ſchildern. Nur das möchte ich betonen, daß auch damals, wie bei einer537Die Organiſation der mittelalterlichen Weberei.handwerksmäßigen Maſſeninduſtrie immer, das einzelne kleine Geſchäft nicht auf ſich allein ſtehen konnte. Die große Fabrik der Gegenwart iſt eine Einheit für ſich, geleitet von einem Manne höherer Bildung und weiten Blickes. Bei der Hausinduſtrie handelt es ſich immer um eine Reihe von Geſchäften, die theils in einander greifen, theils ſich parallel entwickeln müſſen, um einen gemeinſamen Effekt zu erreichen, die in der Mehrzahl von Leuten mittlerer und geringer techniſcher und kauf - männiſcher Bildung geleitet werden.

Großes hat in den blühendſten Zeiten des kräf - tigen Städtelebens das Genoſſenſchaftsweſen für gleich - mäßige Produktion, für gemeinſame Einrichtungen und gemeinſam organiſirten Abſatz geleiſtet. Aber angelehnt waren dieſe genoſſenſchaftlichen Inſtitute immer an die Zunft, und die Zunft war in ihrer beſten Zeit keine den ſtädtiſchen oder ſtaatlichen Behörden entgegengeſetzte Genoſſenſchaft, ſie war Genoſſenſchaft und ſtädtiſche Behörde zugleich, vom Rathe kontrolirt, vom Rathe gehindert, egoiſtiſche kurzſichtige Beſchränkungen eintreten zu laſſen, durch ſchlechte Waarenlieferung den Kredit der Stadt zu kompromittiren, vom Rathe unterſtützt und nach Außen vertreten. Die Zünfte errichteten oder brachten an ſich Wollküchen, in welchen die rohe Wolle gereinigt, Kämmhäuſer, in welchen dieſelbe gekämmt wurde, Walkmühlen, Schleifereien, um die Scheeren der Tuchſcheerer zu ſchleifen, Tuchrollen, Mange - und Färbehäuſer; ſie beſaßen oder mietheten gemeinſam große Räume, wo die Tuchrahmen zum Trocknen aufgeſtellt wurden, Gärten, wo gebleicht, endlich Gewandhäuſer,538Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.in welchen die Tuche verkauft wurden. Ebenſo oft als die Zunft übernahm die Stadt ſelbſt ſolche Inſtitute. Der Name und das Siegel der Stadt garantirte in weiter Ferne die Güte der Waare. In jeder Weiſe bemühten ſich die ſtädtiſchen Behörden für das Gedeihen ſolcher Gewerbe, auf welchen der Wohlſtand der ganzen Stadt ruhte.

Die territoriale Fürſtenmacht trat im 17. und 18. Jahrhundert, als der Zunft - und Gemeindegeiſt tief geſunken, einer ſelbſtändigen geſunden Aktion nicht mehr fähig war, nur das Erbe des früheren ſtädtiſchen Regiments an, wenn ſie nun dieſe Funktionen übernahm, wenn ſie durch ihre Gewerbereglements, durch Legge - ſtellen und Schauämter für die nothwendige gleichmäßige Produktion der einzelnen kleinen Meiſter, wenn ſie mit ſtaatlichen Mitteln für mancherlei gemeinſame Einrich - tungen und Anſtalten ſorgte. Nach dem Stande der Technik, nach der Bildung des damaligen deutſchen Handwerkerſtandes, nach den vorhandenen Kapitalmitteln war in vielen Zweigen eine blühende Induſtrie nur ſo oder gar nicht möglich. Ohne dieſe Vermittlung, ohne dieſe einheitliche Organiſation war es nicht möglich, damals in Deutſchland Tauſende von kleinen Unter - nehmern zur Wohlhabenheit und zur Thätigkeit für den Welthandel zu erziehen. 1Vergl. oben S. 23 46; über die Hausinduſtrie hauptſächlich S. 44 45.Die Prohibitivmaßregeln, die Aus - und Einfuhrverbote, welche in merkantiliſti - ſchem Sinne in Preußen und anderwärts erlaſſen539Die große Weberei des 18. Jahrhunderts.wurden, mag man verurtheilen; für die wichtigſte Ge - webeinduſtrie, für die Leineweberei, waren ſie gleich - gültig; ihre Blüthe beruhte auf dem großen Export; in freier Konkurrenz hatte ſie ſich ihre Stellung auf dem Weltmarkt erkämpft, nnd die Wollinduſtrie, die Strumpfwaareninduſtrie, auch Anfänge andrer Gewebe - induſtrien waren gefolgt, hatten ebenfalls begonnen zu exportiren.

Die deutſche Linnenweberei des vorigen Jahrhun - derts hatte in Schleſien, in der Lauſitz, in Weſtfalen, in Osnabrück, im Ravensbergiſchen ihre Hauptſitze. In Bielefeld hatte ſich ſchon ſeit Anfang des Jahr - hunderts die Damaſtweberei entwickelt. Mehr und mehr bezahlte Deutſchland ſeine Colonialwaaren mit Leinwand; in den holländiſchen und ſpaniſchen Colonien war deutſche Leinwand zu Hauſe; vor Allem der Abſatz über Spa - nien und nach Spanien war ſehr bedeutend; nach der Schweiz, nach Italien und Frankreich kam ebenfalls viel deutſche Leinwand, nach dieſen Ländern mehr aus Süd - deutſchland; die vereinigten Staaten eröffneten nach ihrem Abfall vom Mutterlande einen neuen großen Markt. Beſonders ſeit 1776 ſteigerte ſich die deutſche Linnen - ausfuhr von Jahr zu Jahr. Die Bevölkerung nahm in den Webergegenden raſch zu, die Bodenpreiſe ſtanden dort noch einmal ſo hoch als anderwärts. 1Gülich II, 226.Die Kon - junkturen waren immer ſteigende, der Begehr regelmäßig größer als die Produktion. Allein aus Schleſien wurden 1777 für 3 4 Mill. Thaler Leinwand direkt nach540Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.Spanien geſandt. 1Schlötzer’s Briefwechſel Th. III, 69 70.Gegen 1800 hatte die jährliche Ausfuhr aus Schleſien an Leinwand einen Werth von gegen 13 Mill. Thaler. Der Werth der jährlich aus der ſächſiſchen Oberlauſitz ausgeführten Leinewand erreichte im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts durchſchnittlich mehr als zwei Mill. Thaler. 2Wiek, induſtrielle Zuſtände Sachſens S. 234.

Die große märkiſche Tuchinduſtrie war durch den dreißigjährigen Krieg und ſchon vorher verfallen; viele Tuchmacher hatten ſich nach Sachſen gezogen, wo die Tuchmacherei fortdauernd blühte, gegen Ende des 18. Jahrhunderts durch die Wolle der 1765 und 1778 vom Churfürſten eingeführten Merinoheerden, durch den Glanz des ſächſiſchen Hofes und durch die Lepziger Meſſe einen neuen Aufſchwung nahm. Aber auch in den preußiſchen Staaten erblühte die Wollweberei, durch alle möglichen Regierungsmaßregeln befördert, wieder;3Siehe oben S. 33. die franzöſiſchen Refugiés, ſpeziell hiefür herbeigeholte Tuchmacher aus Jülich und Holand, die Gewerberegle - ments hoben die Technik; die ſtehenden Heere ſteigerten hier wie anderwärts bedeutend die Nachfrage. Aber auch nach dem Auslande nahm der Abſatz zu. Bran - denburgiſche und ſchleſiſche Tücher wurden nach Nieder - ſachſen und Weſtfalen gebracht; der Hauptexport aber ging über Hamburg und dann direkt nach Polen und Rußland. Während für die letzten Jahre Friedrich’s des Großen Mirabeau eine Geſammtproduktion in dem541Die große Weberei des 18. Jahrhunderts.preußiſchen Staate von 5,8 Mill. Thlr. Wollwaaren und einen Export von 1 Mill. Thlr. annimmt, wird die Geſammtproduktion von Krug für 1802 auf 13 Mill. berechnet, wovon über 7 Mill. ausgeführt wurden (neben einer Einfuhr von etwa 2 Mill.). 1Dieterici, Volkswohlſtand S. 20 21.

Die Seiden - und Baumwollenweberei arbeitete mehr für den innern Bedarf, war aber in einzelnen Gegenden auch ſchon ziemlich bedeutend. Erſtere am Rhein und in Berlin, letztere beſonders im ſächſiſchen Voigtlande, wohin ſchweizer Spinner und Weber dieſe Induſtrie ſchon im 17. Jahrhundert gebracht hatten. Auch die Erzgebirgiſche Spitzen - und Strumpffabrikation exiſtirte ſchon als blühende Hausinduſtrie mit einem nicht unbeträchtlichen Abſatz nach außen.

Die Organiſation der Weberei war faſt überall dieſelbe, wie die ſtaatliche Beaufſichtigung durch Regle - ments und Schauämter. Die Weber waren beſonders in der Linnen - und Strumpfwaareninduſtrie faſt durch - aus ſelbſtändige Unternehmer, häufig zugleich kleine Haus - und Grundbeſitzer, Eigenthümer der Webſtühle; die wohlhabendern beſchäftigten ein oder ein paar Ge - hülfen. Sie verkauften meiſt direkt, d. h. ohne die Zwiſchenhand eines Factors, eines Kommiſſionärs, in der Regel auf beſondern Märkten an die Kaufleute, welche die Waare bleichen, färben und zurichten ließen, dieſelbe in den Welthandel brachten. Die Kaufleute waren ſelbſt zu einem großen Theil wohlhabend gewor - dene Weber. Sie erhielten die Aufträge auf die beſtimmt542Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.hergebrachten Arten von Geweben aus Hamburg, Bre - men, aus den Abſatzländern ſelbſt.

Der Vortheil der Organiſation lag eben darin, daß die großen Gewinne ſich auf ſo viele kleine Unter - nehmer vertheilten, daß die große Induſtrie auf die Weiſe herabſtieg in die Hütte des kleinen Handwerkers, ſich auf dem Lande anſiedelte, jene glückliche Verbin - dung mit der Bewirthſchaftung eines kleinen Grundſtücks erlaubte, welche z. B. Bowring noch im Jahre 1839 zu den begeiſterten Lobreden auf die deutſche Gewebe - induſtrie im Gegenſatz zur engliſchen veranlaßte. 1John Bowring’s Bericht über den deutſchen Zollver - band, überſ. von Dr. Bueck, Berlin 1840, S. 85.

Dagegen ließen Nachtheile auch ſchon damals ſich nicht verkennen. Die überwiegende Mehrzahl der Pro - duzenten waren weder techniſch noch kaufmänniſch gebil - dete Handwerker; ſchwerfällig hielten ſie am Hergebrach - ten feſt. Wollte je Einer Etwas Neues einführen, ſo hing er z. B. in der Wollinduſtrie vom Spinner und Kämmer oder Streicher, von der Ortswalke, vom Tuchſcheerer ab. 2Vgl. Roſcher, Anſichten der Volkswirthſchaft S. 147 bis 148.Der Kaufmann, der einen neuen Artikel verlangte, hatte die verſchiedenſten Leute und Geſchäfte dazu anzulernen, mußte ihnen die neuen Muſter, den neuen Rohſtoff liefern. Von einem Anſchmiegen an den wechſelnden Geſchmack des Publikums, von raſcher Einführung neuer Methoden konnte nicht die Rede ſein. Nur langſam, mit Verluſten, durch veränderte Regle -543Vortheile und Nachtheile der Hausinduſtrie.ments war dies möglich. Ganz beſtimmte Arten von Geweben mit feſtem Namen, beſtimmter Breite und Stücklänge konnten in der Regel nur gefertigt werden. Bei ihnen mußte man ſchon bleiben, weil nur über ſolche feſtſtehende ſtereotype Produkte eine Kontrole durch Schauämter, eine Stempelung möglich war; und dieſe Kontrole wieder war unentbehrlich, weil ohne ſie die Waaren, welche der einzelne Kaufmann lieferte, welche aber Dutzende von Webern gefertigt hatten, zu ungleich - mäßig ausgefallen wären, weil unter den kleinen Webern immer viele waren, die nicht ſo weitſichtig ſein konnten, wie heute jede große Fabrik es iſt oder ſein ſollte, einzuſehen, daß kleine Fälſchungen und Nachläſſigkeiten den ganzen Abſatz gefährden.

Große politiſche Stürme, große anhaltende Stockun - gen des Abſatzes, bedeutende Fortſchritte in der Technik, veränderte Anſchauungen über Recht und Pflicht des Staates, ſich der Induſtrie des Landes anzunehmen, das waren Schläge, welche eine derartig organiſirte Hausinduſtrie doppelt treffen mußten, zumal wenn ſie ſich faſt alle zu gleicher Zeit vereinigten.

Die napoleoniſchen Kriege, die Kontinentalſperre, die Vernichtung des auswärtigen deutſchen Handels, die großen Veränderungen innerer und äußerer Zollinien und Zollſätze haben je nach den einzelnen Induſtrien auf Deutſchland ſehr verſchieden gewirkt; einzelne, wenig entwickelt und jetzt von der engliſchen Konkurrenz befreit, haben große Fortſchritte in dieſer Zeit gemacht; andere, deren Abſatz bisher über England, überhaupt nach Staaten und Ländern gegangen war, mit denen der544Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.Handel damals unmöglich war, mußten um ſo empfind - licher leiden; da die Stockung eine Jahrelang audauernde war, mußten die bisher von Deutſchland aus verſorgten Länder entweder ihre Induſtrie ſelbſt entwickeln oder mit andern Bezugsquellen ſich in Verbindung ſetzen.

Das war zunächſt der Hauptſchlag, der die deutſche Linneninduſtrie traf1Gülich II, 337 376. und zugleich die engliſche hob, wie ich oben ſchon bei Beſprechung der Flachsſpinnerei zu zeigen ſuchte. Englands Marine, ſein auswärtiger Handel nahm zu, ihm allein ſtanden die Märkte der Kolonien noch offen, die Linnenpreiſe ſtanden dort hoch; es warf ſich mit Macht auf dieſe Induſtrie, in der Spinnerei die Maſchine, in der Bleiche und Appretur die neuen Methoden, in der Weberei aber auch noch faſt durchaus den Handſtuhl benutzend.

In Deutſchland war die Noth in den Weber - diſtrikten in jener Zeit groß, freilich verſchieden je nach - dem die Weberei ausſchließliche Erwerbsquelle der Leute war oder nicht. Der Abſatz ſtockte, die Preiſe waren gedrückt und doch ſchränkte ſich die Produktion nicht ein. Die kleinen Meiſter fuhren fort zu arbeiten, ja die eben erlaſſene Gewerbefreiheit in Preußen und die Noth auch in andern Gewerbszweigen veranlaßte da und dort ſogar noch einen weitern Zudrang, beſonders in Schleſien. Während die Leinwandkaufleute und die wohlhabenden Weber ſich eher aus dem Geſchäft zurückzogen, um nicht auch, wie ſo manche ihrer Kollegen, Bankerott zu machen, vermehrte ſich das Angebot der kleinen unvoll -545Die preußiſche Leineweberei 1806 15.kommenen Weber. Hätte das Geſchäft geblüht, ſo wären jene, die ſich jetzt mit ihrem Vermögen zurückzogen, die berufenen Leute geweſen, die Fortſchritte des eng - liſchen Maſchinenweſens nachzuahmen. Bei der Ueber - produktion aber war keine Veranlaſſung hiezu. Und die, welche bei der Weberei blieben und neu ſich zudräng - ten, waren die mittelloſen und ungeſchicktern Weber. Sie fingen im Gegentheil mehr und mehr, freilich durch die Noth getrieben, an, zu verſuchen, ob ſie durch ſchnelle, ſchlechte und gefälſchte Produktion nicht erſetzen könnten, was ſie an den gedrückten Preiſen verloren.

Es kann in dieſer Beziehung nach den übereinſtim - menden Ausſagen der Sachverſtändigen1Ich verweiſe hauptſächlich auf Schneer und das große dort angeführte Material. Auch in Frankreich fanden in den vierziger Jahren vielfache Verhandlungen ſtatt, ob nicht der ſinkenden Hausinduſtrie durch Wiederherſtellung der alten Kon - trolen aufzuhelfen ſei: Zollvereinsblatt 1845, S. 922; noch 1856 erklärt Moreau de Jonnès den Zuſtand der kleinen Leine - weber für einen ſolchen, dem nur durch verſchiedene Staats - und Gemeindeanſtalten ꝛc. zu helfen ſei, Statistique de l’in - dustrie S. 184 185. Aehnliche Berathungen in Sachſen, die aber auch zu keinem Reſultate führten, Wiek S. 241 nicht zweifel - haft ſein, daß die Gewerbefreiheit und die in Folge hievon eingetretene laxere Handhabung oder vollſtändige Nichtachtung der Reglements verhängnißvoll beſonders für die ſchleſiſche Linnenweberei geworden iſt. Stände, Regierung und Kaufleute ſahen das nach Jahren ja auch ein. Man verſuchte in Schleſien 1827 die Kontrolen theilweiſe wieder herzuſtellen, wie ich ſchonSchmoller, Geſchichte d. Kleingewerbe. 35546Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.bei Betrachtung der Spinnerei erzählte. Aber es war ſchwierig; man fand Widerſtand aller Art; für einzelne größere ſolide Geſchäfte war jede derartige Kontrole überflüſſig, daneben läſtig und hemmend. Eine ſehr große Zahl anderer Kaufleute und Weber, die ſeit Jahren ſchlechte und gefälſchte Waaren lieferten, hatten alle Urſache, aus dieſem Grunde Oppoſition zu machen. So wagte man nicht die Schau und Stempelung obli - gatoriſch zu machen; es wurde nur angeordnet, daß die Weber geſtempelte Weberblätter benutzen ſollten, worin, wenn ſie ſie anwendeten, allerdings eine Kontrole der Breite des Gewebes und der Fädenzahl der Kette gele - gen hätte.

Ich habe übrigens damit der Erzählung weit vor - gegriffen. Zunächſt hatten ſich die Verhältniſſe nach 1815 wieder etwas gebeſſert, wenigſtens ein Theil des Abſatzes nach Außen war, wenn man billig genug ver - kaufte, wieder zu gewinnen. 1Gülich II, 412.Der Abſatz in Deutſch - land ſelbſt hob ſich mit rückkehrendem Frieden; das preußiſche Zollſyſtem, ſpäter der Abſchluß des Zollvereins wirkten günſtig. Wo man ſtreng an der Naturbleiche feſthielt, hauptſächlich feines Garn, das die Maſchine noch nicht liefern konnte, verwebte, wie in Bielefeld,2Verhandlungen vor dem Berliner Handelsamt, Zoll - vereinsblatt von 1845, S. 601. Ausſage, daß der Leinen - handel Weſtfalens ſeine glücklichſte Zeit 1833 39 gehabt habe. wo ſtrengere Kontrolen die Solidität des Geſchäfts auf - recht erhalten hatten, wie in Hannover, da nahm der Abſatz ſogar theilweiſe einen neuen Aufſchwung. In547Die Lage der Leineweberei 1815 40.Hannover hatte ſich die Linnenproduktion noch von 1826 bis 38 verdoppelt. 1Bowring’s Bericht über den deutſchen Zollverband S. 70.

Aber im Ganzen wurde die Lage nicht beſſer, ſon - dern immer ſchlimmer. Die Konkurrenz der Baumwolle und der billigern engliſchen und iriſchen Linnenprodukte drückte ſchwerer und immer ſchwerer. Das Sinken der Leinwandpreiſe hatte beſonders in den zwanziger Jahren begonnen. In Schleſien ſagt Gülich ſanken vom Jahre 1823 1828 die Preiſe der meiſten Leinen - gattungen in dem Verhältniſſe von 7 zu 5, im Osna - brück’ſchen wenigſtens in einem eben ſo großen; eine Elle des hier viel gefertigten Löwentlinnens, welche man im Jahre 1815 mit etwa 100 Pfennigen bezahlt hatte, koſtete im Jahre 1828 nicht die Hälfte; in Münden kaufte man im letztern Jahre ein Stück der in der Um - gegend gemachten groben Leinwand, deren Preis im Jahre 1825 etwa 4 Thlr. war, für Thlr.

Beſonders in Schleſien beantwortete man das Sinken der Preiſe mit Ausnahme weniger großer ſolider Häuſer, wie Kramſta durch eine immer ſchlechtere Produktion und ſchädigte dadurch den Ruf der deutſchen Leinwand immer mehr. Die neue Schnell - bleiche wurde theilweiſe eingeführt, ohne daß man ſie recht verſtand. Verbrannte Waare, die beinahe im Stück nicht mehr zuſammenhielt, wurde nochmals geſtärkt und appretirt zum Export verpackt. Die betrügeriſche Vermiſchung mit Baumwolle nahm von Jahr zu Jahr35 *548Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.zu,1Vergl. Gülich IV, 437. Zollvereinsblatt 1844, S. 928 ſchreibt eine Korreſpondenz aus Mexico: Den größten Fehler begingen die Deutſchen durch ein ſchmales Gewebe und ſchlechtes Maß. Ein anderer Fehler der deutſchen Waare iſt die ſehr große Verſchiedenheit von Faden, Gewebe, Farbe, Appretur, Etiquette und die unendliche Maſſe Nummern, welche die Käufer verwirrt. Nur ein Freiburger Haus hat von allen deutſchen Fabrikanten ſich gut gehalten, es führt wenige allgemein bekannte Nummern, welche immer dieſelben bleiben und an Qualität ſich gar nicht ändern. weil viele Häuſer nur ſo die tief geſunkenen Preiſe glaubten aushalten zu können. Der einzige techniſche Fortſchritt war der, die beigemengte Baumwolle ſo zu verſtecken, daß kaum das geübteſte Auge dieſe Stoffe von unvermengtem Linnen zu unterſcheiden vermochte.

Ueber die engliſche resp. iriſche Konkurrenz will ich nur einige Worte bemerken. Durch was ſie bis 1840 wirkte, war weder der Maſchinenſtuhl noch ein Herabdrücken des Handlohns, ſondern das billige Ma - ſchinengarn und die Lieferung ſolider gleichmäßiger reeller Waare. Im Jahre 1835 exiſtirten in ganz Großbri - tannien erſt 309 Maſchinenſtühle für Leinwand, während für Baumwollwaare 109626, für Wollwaare 5127, für Seidenwaare 1714 gingen. 2Porter, progress of the nation, new edition. Lon - don 1851. S. 200.Und die Ausfuhr war von 1800 bis zu dieſer Zeit bedeutend geſtiegen, wenn auch die Hauptzunahme erſt ſpäter fällt.3Porter, S. 225 ff. Hanſemann, die wirthſchaftlichen Verhältniſſe des Zollvereins, berechnet S. 35, daß die großbrit. Ausfuhr betrug 1836 / 40 jährlich 78 Mill. Yards Linnengewebe, 1846 / 50 - 99, 1856 / 60 - 136 Mill. Yards. Der549Statiſtik der Leinewebſtühle 1816 49.Preis deſſelben Stückes Kanvas war nach Porter von 1813 33 von 30 auf 16 18 sh. gefallen, der Web - lohn eines ſolchen Stückes nur von 2 sh. 8 p. auf 2 sh. 6 p.

Wie geſtalten ſich dem gegenüber die deutſchen Verhältniſſe bis zum Höhepunkt der Kriſis zu Anfang und Mitte der vierziger Jahre, bis zu jener Zeit, in welcher das Sinken der Preiſe und der Rückgang der deutſchen Ausfuhr am ſtärkſten war? 1Die Ausfuhr über Bremen und Hamburg hatte 1839 44 etwa um 50 % abgenommen, Zollvereinsblatt 1845, S. 1021. An roher Leinwand hatte der Zollverein noch 1834 eine Mehrausfuhr von 9440 Ctnr., von da eine Mehreinfuhr, 1842 46 z. B. von jährlich 12331 Ctnr. Die Mehrausfuhr gebleichter Leinwand war 1842 noch 57499, 1860 - 18693 Ctr.Die Zahl der gewerbsmäßig in Preußen gehenden Webſtühle war nach der Aufnahme folgende:

2Die offiziellen Zahlen Schleſiens ſind nach Schneer viel zu niedrig; man zählte 1846 - 12347 gewerbsweiſe, 8820 als Nebenbeſchäftigung gehende Webſtühle, zuſ. 21167; die Zahl der Spinner war nach ihm jedenfalls noch die vierfache damals, hierzu kommen die Spuler und Bleicher, ſo daß die Zahl der nothleidenden Arbeiter ohne ihre Kinder mindeſtens auf 120000 anzuſchlagen ſei. Schneer S. 56.
2
550Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.

Von 1816 31 eine bedeutende Abnahme; ſie iſt aber in Wirklichkeit nicht von großem Einfluß, da in dieſer Zeit die als Nebenbeſchäftigung gehenden Stühle um ſo mehr zunahmen. Von 1831 49 trotz der furchtbaren Kriſis im ganzen Staate eine Zunahme, in Schleſien erſt gegen 1849 eine Abnahme. Sehr viele Weber zwar gingen in dieſer Zeit ſchon zur Baumwoll - weberei über, dafür aber rekrutirte ſich die Zahl der Leineweber immer wieder aus den Reihen der Spinner, die in noch ſchlimmerer Lage ſich durch den Uebergang zum Webſtuhl zu helfen ſuchten. 1Vgl. z. B. Zollvereinsblatt 1845, S. 520, über die Spinner im Eichsfelde, welche zur Weberei übergingen.

Dieſe Stabilität der Zahl hängt zuſammen mit dem ſchlimmſten Uebelſtand der Leineweberei: alle Un - gunſt einer langſam durch Jahrzehnte hindurch ſinkenden Preiskonjunktur wurde ertragen durch den langſam aber ſicher immer tiefer ſinkenden Lohn, durch die ſukzeſſive Einſchränkung der Bedürfniſſe, welche eine genügſame Arbeiterbevölkerung ſich gefallen ließ. Die Löhne ruft Schneer wurden immer mehr herabgeſetzt, die Indolenz, der Eigenſinn und das Kleben am Alten, welche die eigenthümlichen Charakterzüge des ſchleſiſchen Arbeiters bilden, ließ die Weber und Spinner bei der großen Zahl der Bewerber um Arbeit, mit dem Noth - dürftigen und endlich mit dem Nothdürftigſten des Lebensunterhaltes ſich begnügen. 2Ueber die ſchlechte Ernährung in den ſchleſiſchen und ſächſi - ſchen Weberdiſtrikten: Michaelis, über den Einfluß einiger In - duſtriezweige ꝛc. Noch 1863 ſchreibt die amtliche KreisbeſchreibungUnd ſelbſt wenn551Schilderung der ſchleſiſchen Nothſtände.die Weber andere Erwerbszweige hätten ergreifen können und wollen, es gab deren vor 1846 kaum welche. Der tägliche Lohn für die mühevolle 14 16 ſtündige Arbeit eines Webers, zugleich für Abnutzung der Ge - räthſchaften, Benutzung der Wohnräume, Heitzung und Beleuchtung, für Beihülfe von Frau und Kindern wird im Durchſchnitt nicht über 2 3 Sgr. damals betra - gen haben. 1Gülich II, 489. Schneer gibt 1844 den Lohn des Leinewebers auf 10 20 Groſchen für die Woche an.

Mit den Bedürfniſſen und den Anſprüchen an’s Leben ſank die geiſtige und moraliſche Spannkraft der Bevölkerung noch mehr; eine dumpfe, apathiſche Re - ſignation lagerte ſich über ganze Gegenden; von Gene - ration zu Generation wuchs ein ſchwächlicheres Geſchlecht. Die Leute waren rührend fleißig, auch Trunkenheit und andere hervorſtechende Laſter waren in den Webergegen - den nicht zu Hauſe; aber es mangelte an jeder höhern techniſchen und ſonſtigen Bildung und an allen Bildungs - elementen in den abgelegenen Gebirgskreiſen. Ueberfrühe Ehen und ein großer Kinderreichthum bildeten wie gewöhnlich die Folge eines ſozialen Zuſtandes, von dem es ſchien, daß er ſich nicht mehr verſchlechtern könne. 2von Neurode in Schleſien (Jahrbuch für die amtliche Statiſtik II, 306): Die Lohnweber haben ſo geringen Verdienſt, daß ſie mit den ſchlechteſten Nahrungsmitteln Kartoffeln ohne Butter, Klößen oder Suppen von ſog. Schwarzmehl u. ſ. w. ſich begnügen müſſen; dabei arbeiten die Lohnweber oft die ganze Nacht hin - durch, Arbeiter in den Spinn - und Appreturanſtalten 18 Stun - den täglich.552Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.Noch weniger als früher waren die Leute fähig zu irgend welchem Fortſchritt, zu neuen Methoden, Muſtern und Verbeſſerungen. Die Verſchuldung ſtieg. Manche griffen wieder zum Spinnen und Stricken, weil ſie in der Noth den Webſtuhl verkauft hatten. Viele zahlten eine jährliche Miethe bis zu 4 Thaler für einen Stuhl, welcher höchſtens 6 Thaler werth war. 1Vergl. oben die Schilderung der bairiſchen Weber - diſtrikte S. 128 131.

Wer alles gewerbliche Leben immer nur ſich ſelbſt überlaſſen will, wird über dieſe Zuſtände Niemand einen Vorwurf machen dürfen. Wer aber auf dem humanen Standpunkt ſteht, die Beſitzenden und Gebildeten einer Gegend einerſeits, die Lehrer, Geiſtlichen und Beamten andererſeits ſtets mit für verantwortlich zu halten für die Bildung, für die Lage ihrer Nachbarn, ihrer Ge - meindegenoſſen, ihrer Arbeiter, der wird allerdings die Regierung2Die Klagen bei Schneer konzentriren ſich auf die Hand - habung der ländlichen Polizei, auf die Unthätigkeit unfähiger Landräthe und auf den ganzen Standpunkt der Regierung. Nach ſeiner Anſicht hätte die Regierung, wenn ſie die Weberei halten wollte, die Reglements ſtreng wiederherſtellen, die Ver - mittlung des Abſatzes in großartiger Weiſe durch die See - handlung und konſulariſche Thätigkeit übernehmen müſſen; ſtatt dem wurde ſehr viel Geld ausgegeben, hauptſächlich in der Form von zinsloſen Darlehen (je bis zu Poſten von 8000 Thalern) an einzelne Leinwandkaufleute, damit ſie die Weber beſchäftigten; viel beſſer, meint Schneer, wäre dieſes Geld zur Gründung von Weberkompagnien (Aſſoziationen) verwendet worden, deren erſte Leitung man natürlich hätte in der Hand behalten müſſen. und die größern Induſtriellen, die Kauf -553Schilderung der ſchleſiſchen Nothſtände.leute der dortigen Gegenden großer Unterlaſſungs - ſünden zeihen.

Abgeſehen aber hiervon ſind die maßloſen Vor - würfe, mit welchen man die Kaufleute überhäufte, ſie nutzten die Noth der Weber aus, meiſtentheils über - trieben; es geſchah lokal und individuell; aber im Ganzen handelten ſie nicht anders, als die heutigen Unternehmer in der Regel handeln; die einzelnen als ſolche waren nicht ſchlimmer, als andere Geſchäftsleute. Sie drückten möglichſt die Preiſe, weil ſie ſelbſt kaum beſtehen konnten. Sie ſuchten, ohne aus dem alten Geleiſe des bisherigen Geſchäftsganges herauszukommen, ohne die Mühe und die Gefahr auf ſich zu laden, neue Methoden und Maſchinen einzuführen, noch möglichſt zu beſtehen, noch möglichſt Gewinne zu machen, und das ging nicht anders, als durch möglichſte Herabdrückung des Lohnes; es gelang immer, weil das Angebot von Arbeitern zu groß war.

Härter als über die Kaufleute, wird ſich auch die gerechteſte Beurtheilung über die Faktoren, Mäkler, Kommiſſionäre ausſprechen müſſen, welche ſich mit der ſteigenden Noth mehr und mehr zwiſchen Weber und Kaufmann einſchoben, obwohl auch dieſes Verhältniß nicht nothwendig, nicht an ſich ſchlimm iſt, unter Um - ſtänden heilſam und unentbehrlich ſein kann und einzelne achtbare Perſönlichkeiten in ſich bergen mag. Speziell hier aber gaben und konnten ſich nur harte ungebildete Menſchen mit dieſem Geſchäft abgeben; die Verhältniſſe waren wie zu Mißbrauch und Betrug einladend; es wurde ein ähnliches Verhältniß, wie das des Middleman,554Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.der zwiſchen dem iriſchen Zwergpächter und dem Grund - beſitzer ſteht. 1Die verſchiedenſten Zeugniſſe laſſen ſich hierfür anfüh - ren, von Webern, von Kaufleuten, von amtlicher Seite; außer Schneer und Michaelis ſiehe die Notizen aus den Kreisbeſchrei - bungen, Zeitſchrift des ſtat. Bür. IV, 126. Degenkolb, ſelbſt ein großer Weber, ſagt Arbeitsverhältniſſe S. 36: Können die Weber nicht in großen Werkſtätten vereinigt arbeiten, ſo ſollte wenigſtens die Unmittelbarkeit zwiſchen Arbeiter und Arbeitgeber hergeſtellt und alle läſtigen Mittelsperſonen, als Garnhändler, Faktor und Aufkäufer ꝛc., entfernt werden. In Frankreich ſind vielfach ähnliche Zuſtände in der Gewebeinduſtrie; und daher iſt der Ausſpruch eines franzöſiſchen Arbeiters: les commissionaires c’est la lepre de notre industrie, begreiflich; ſiehe Saraſſin in Gelzer’s Monatsblätter Bd. 33. Heft 2. S. 117. Vergl. Roſcher, Anſichten der Volkswirthſchaft S. 144 bis 145 u. S. 165, wo er von den Mittelsperſonen der engli - ſchen Metallhausinduſtrie erzählt und die verurtheilenden Aus - ſprüche Leon Faucher’s über ſie anführt.

Der Faktor ſteht zum Weber in verſchiedenem Ver - hältniß; bald iſt er nur Käufer ſeines Gewebes, bald iſt er Gläubiger oder Eigenthümer des Stuhls, der bei ihm für Lohn arbeiten läßt. Der Weber iſt ſo wie ſo vom Faktor abhängig. Der Geſchäftsgang iſt meiſt ſo. Der Faktor läßt ſich vom Kaufmann das Garn zu einem beſtimmten Auftrag gegen beſtimmten Preis zu - meſſen. Wo er arbeiten läßt, was er dem Weber zahlt, darum kümmert ſich der Kaufmann nicht. Der Weber erhält mit der Zeugprobe den ſogenannten Scheerzettel, auf dem vom Kaufmann nach Gut - dünken die Strafen feſtgeſetzt ſind, welche für zu kurzes Maß, zu wenig Schuß, unreines Ableſen und555Die Stellung der ſogenannten Faktoren.Aehnliches vom Lohne abgezogen werden. Die Ab - züge werden mit Recht oder Unrecht vom Kaufmann dann dem Faktor gemacht, der ſich an den Weber hält. Remonſtrirt der Weber beim Faktor, ſo zeigt dieſer ihm das Lieferbuch, in dem der Abzug verzeichnet iſt, remonſtrirt er beim Kaufmann, ſo erhält er die Antwort, er ſolle ſich an den Faktor halten, der Kauf - mann wiſſe ja nicht, wer dieſes oder jenes Stück gemacht habe. Zur Klage kommt es nicht, das riskirt der arme Weber nicht. Sehr oft kann er es auch nicht riskiren; oftmals liegen wirkliche Defekte vor. Die Noth, das Unrecht, das der Weber glaubt erdulden zu müſſen, hat es dahin gebracht, daß ſelbſt früher ordentliche Leute faſt immer etwas Garn auf die Seite bringen. In faſt jedem Weberdorfe gibt es Leute, von welchen jeder weiß, daß ſie mit geſtohlenem Garn handeln. Alle Parteien befinden ſich in einer Art Kriegszuſtand und jeder ſucht den andern zu übervortheilen, zu täuſchen, zu betrügen.

Der Hauptübelſtand der Faktorenwirthſchaft iſt der, daß dadurch jeder ſittliche Zuſammenhang zwiſchen Arbeit - geber und Arbeiter aufgehoben iſt. Der Fabrikant kennt ſeine Arbeiter nicht, er weiß nicht, wen und wie viele Leute er beſchäftigt, er hat nicht das Gefühl der Ver - antwortlichkeit, dieſe beſtimmte Zahl Leute zu dieſem Gewerbe veranlaßt zu haben, ſie daher möglichſt in gleicher Zahl dauernd beſchäftigen zu ſollen. Haupt - ſächlich aus dieſem Grunde laſten auf dem Gewerbe die drückenden Wechſel der Konjunktur läſtiger, als auf irgend einem andern.

556Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.

Nachdem in den vierziger Jahren die Zuſtände hauptſächlich in Schleſien, bis auf einen gewiſſen Grad auch anderwärts, ſich bis zu dieſer Entſetzlichkeit ent - wickelt hatten, nachdem ſelbſt die Zeit der höchſten Noth wohl hunderte dem langſamen Hungertode über - liefert, aber die Maſſe der Weber, wie die ganze Ge - ſchäftsorganiſation doch in alter Weiſe erhalten hatte, nachdem der wichtigſte Theil des auswärtigen Abſatzes einmal verloren war, mußte es in den folgenden Jahren eher wieder etwas beſſer werden. Die Produktion hatte ſich doch jedenfalls etwas eingeſchränkt, es handelt ſich jetzt hauptſächlich nur noch um den innern, von Zöllen geſchützten Bedarf. Daraus erklären ſich die preußiſchen Zahlen von 1846 61, die ich hier einſchiebe:

Der ganze Zollverein zählte nach dem Zollvereins - bureau 1861 - 1202781Die Webſtühle ſind nach meiner obigen Ausführung wohl auch etwas, aber nicht viel zu niedrig, da mit den Fabriken nur 2678 Handſtühle aufgeführt ſind. Webſtühle mit 87812 Mei - ſtern und 39833 Gehülfen, neben 301 ſogenanten Fabriken mit nur 350 Maſchinenſtühlen.

Dieſe Zahlen ſind keine erfreulichen, nicht ſowohl weil ſie von 1852 61 eine kleine Abnahme der557Die Leineweberei von 1846 61.Stühle, der Weber, auch der Fabrikgeſchäfte, deren Zählung übrigens wenig zuverläſſig erſcheint, zeigen, ſondern weil aus ihnen erſichtlich iſt, daß bis 1861 ſo ziemlich die alten ungeſunden Verhältniſſe ſich erhalten haben.

Mancherlei Verbeſſerungen waren zwar da und dort eingetreten. Die Bleiche und Appretur einzelner größerer Geſchäfte hatte ſich vervollkommnet, die Muſter - weberei war da und dort mit beſſern Stühlen einge - führt worden. Wo ſolche Fortſchritte gemacht wurden, ſtieg auch der Lohn; aber die Mehrzahl blieb unberührt hiervon und begnügte ſich mit einem Lohn, der etwas beſſer als in den vierziger Jahren, aber immer noch ſchlecht genug war. Zu Anfang der ſechsziger Jahre war der tägliche Verdienſt eines Hirſchberger Damaſt - webers wohl 10 12 Gr., eines Bolkenhainer Webers ganz feiner Leinwand ſogar 10 15 Gr., aber der gewöhnliche Weber kam täglich noch nicht über 3 4, wöchentlich über 20 25 Groſchen. 1Zeitſchrift des preuß. ſtat. Bür. IV, 126 128 über die Lage der Weberbevölkerung in Schleſien; Jahrbuch für die amtliche Statiſtik II, 264 348, die zahlreichen Angaben aus den amtlichen Kreisbeſchreibungen; aus Ratibor wird geſchrieben: Der Lumpenſammler verdient täglich 10 Sgr., der Leineweber 4 5 Sgr.

Jetzt erſt hatte die Maſchinenkonkurrenz begonnen und drückte den Lohn für einfache Gewebe, nachdem er kaum etwas zu ſteigen begonnen, wieder herab. Man hatte gelernt, das Maſchinengarn ſo zu ſpinnen, daß es auch den Maſchinenwebſtuhl aushielt; die große Rein -558Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.heit, die vollkommene Gleichheit, das gefällige Ausſehen des engliſchen Maſchinengewebes gewannen mehr und mehr Beifall. Für den Weltmarkt werden hauptſächlich ſolche Gewebe gewünſcht. Man erkannte den Vortheil der engliſchen mechaniſchen Webereien, welcher darin liegt, je nach den Konjunkturen die Produktion zu ſteigern oder zu mindern, ohne eine ganze große Weber - bevölkerung zeitweiſe heranzuziehen und wieder in Un - thätigkeit zu verſetzen.

Dennoch war es lange fraglich, ob der deutſche Fabrikant nicht noch immer billiger produzire, wenn er die Noth des armen Handwebers ausnutze, ſtatt ſich theure Maſchinen anzuſchaffen. Die Zahl der Maſchinen - ſtühle war 1858 noch verſchwindend, 1861 iſt ſie etwas gewachſen, dann erſt ſtieg ſie raſch; 1867 wurde ſie auf 1800 im Zollverein geſchätzt; in Frankreich dagegen ſollen ſchon 4000, in Belgien 3000 Maſchinenſtühle gehen, in England zählte man 20000. 1Oeſtr. Ausſtellungsbericht Band IV, S. 50.

Man ging in Weſtfalen, in Schleſien und andern deutſchen Gegenden zur Maſchinenweberei über, als end - lich mit der großen Nachfrage nach Arbeitern von 1862 an die Handweber anfingen, maſſenweis zu einfacher Tagelohnarbeit überzugehen. 2Preußiſche Handelskammerberichte pro 1865, S. 144 Abnahme in Bielefeld; S. 258 in Gladbach; S. 325: in Hirſch - berg wollen frühere Leineweber ſelbſt gegen eine Erhöhung der Löhne um 25 % nicht mehr zu der alten Beſchäftigung zurück - kehren; S. 633: im Eichsfelde ſogar wird die mechaniſche Weberei wegen Mangel an Arbeitskräften nothwendig.Es kann ſich jetzt die Hand -559Die Konkurrenz der Maſchinenweberei.weberei für einfache Sorten nur unter beſondern Verhält - niſſen noch erhalten; z. B. da, wo die Männer an Tritt - und Jacquardſtühlen arbeiten, Frau und Kinder da - neben an ein oder zwei gewöhnlichen Stühlen, die ſo viel weniger Kraft erfordern, oder wo die Weberei zur bloßen Nebenbeſchäftigung geworden iſt. Viele, in einigen Gegenden die meiſten Weber ſagt Jakobi1Zeitſchrift des preuß. ſtat. Bureaus VIII, 328. von Niederſchleſien haben vom Frühjahr bis Herbſt mancherlei in eigener Garten - und Feldwirthſchaft zu thun, oder ſind ſelbſt als Maurer, Zimmerleute, Eiſen - bahnarbeiter, Feldarbeiter, Holzhauer außer dem Hauſe beſchäftigt und betreiben daher in Sommerszeiten die Weberei nur bei ungünſtiger Witterung, oder beim Fehlen von ſonſtiger Arbeit.

Abgeſehen von ſolchen Verhältniſſen, kann ſich die Handarbeit und damit die Hausinduſtrie auf die Dauer nur für ganz feine und gemuſterte Artikel halten. Ein raſcher entſchloſſener Uebergang zum Fabrikſyſtem kann nur erwünſcht ſein. Zeitweiſe und lokal nimmt die Noth der Handweber dadurch nochmals zu. 2Jahrbuch für die amtl. Stat. II, 303 (Bolkenhain 1863): durch die Maſchinenweberei werden die Löhne der Handweber immer mehr gedrückt. Aber im Ganzen trifft die Maſchinenkonkurrenz den Handweber jetzt nicht ſo ſchwer, weil die Löhne faſt überall ſteigen. Das Verſchwinden der Hausinduſtrie, welche beſeitigt wird, iſt nicht zu beklagen; es verſchwindet eine ärm - liche, ſchlecht bezahlte Art der Beſchäftigung, es ver - ſchwinden korrupte, betrügeriſche Geſchäftsverhältniſſe. 560Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.Es ſind meiſt Leute, welche wegen mangelnder morali - ſcher, geiſtiger und techniſcher Bildung auch für das Aſſoziationsweſen, welches ihnen ihre frühere Selbſtändig - keit erhalten könnte, wenig oder gar nicht brauchbar und empfänglich ſind. Ich komme auf dieſen Punkt zurück und gehe zunächſt zur Baumwollweberei über.

Dieſelbe hat im Allgemeinen total andere Schickſale aufzuweiſen; wie die Leineweberei im Ganzen zurückging, ging ſie vorwärts; ſie verdrängte jene ja vielfach; eine rapid wachſende Ausfuhr gab ihr von Jahr zu Jahr größern Spielraum; und doch iſt die Geſchichte der deutſchen Baumwollweber, d. h. der Arbeiter, eine faſt eben ſo traurige, als die der Leineweber.

Zu Ende des vorigen Jahrhunderts war die Weberei von Baumwollſtoffen noch nicht ſehr bedeutend. Sie hatte ſich von den Niederlanden her am Nieder - rhein, in Kurſachſen, in Oberfranken, auch in Branden - burg und Schleſien verbreitet. In Augsburg blühte neben der Weberei ſchon die Kattundruckerei. Es wur - den auch ſchon deutſche Waaren exportirt, aber der Import überwog. Und daraus iſt erklärlich, daß die Kontinentalſperre dem Geſchäfte einen großen Impuls gab; der täglich ſteigende Bedarf des innern Marktes war zu decken, Frankreich, Italien und Oeſtreich boten einen großen jetzt den Engländern verſperrten Markt. Die Entwicklung war beſonders im Königreich Sachſen, aber auch anderwärts, außerordentlich. Es handelte ſich damals überwiegend um kleine Geſchäfte, es waren ja meiſt junge Anfänger.

561Die Baumwollweberei.

Nach 1815 trat ein heftiger Rückſchlag durch die engliſche Konkurrenz ein; aber als ſich Preußen 1818 abſchloß, als Preußen wie ſpäter der Zollverein die ſämmtlichen Baumwollgewebe mit einem hohen, für gröbere Waaren faſt prohibirenden Schutzzoll verſah, nahm die Weberei nicht bloß für den innern Bedarf, ſondern bald auch zum Export wieder einen glänzenden Aufſchwung. Bienengräber1Statiſtik des Verkehrs S. 214. Der zollvereins - ländiſche Export erreicht freilich noch entfernt nicht den engli - ſchen, der pro Kopf der Bevölkerung nach Hanſemann S. 71 über 8 Thlr. 1856 60 betrug, während er im Zollverein 0,47, in Belgien 0,89, in Frankreich 0,30 Thlr. erreicht. berechnet die inländiſche jährliche Produktion an Baumwollwaaren und die Mehrausfuhr an ſolchen (über die Einfuhr) im Zoll - verein folgendermaßen:

Dieſen Zahlen entſprechend ſind die Zahlen der gewerbsmäßig in Preußen gehenden Webſtühle (ohne Band -, Poſamentier - ꝛc. Stühle), der Webermeiſter und Gehülfen; man zählte in Preußen Webſtühle:

Schmoller, Geſchichte d. Kleingewerbe. 36562Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.

1Die Zahlen der Fabriken erſcheinen wie bei der Linnen - induſtrie werthlos; die Abnahme von 1858 61 zeigt, daß nicht immer nach gleichen Grundſätzen gezählt wurde.
1

Im ganzen Zollverein zählte das Zollvereinsbureau 1861 151451 Handſtühle,2Dieſe Zahl iſt wieder zu niedrig, aber höchſtens um 13008 Stühle, denn ſo viel zählt das Zollvereinsbureau unter den Fabriken Handſtühle. 77915 Webermeiſter mit 80387 Gehülfen, 940 Fabriken und 23491 Maſchinenſtühle. Baiern, Sachſen, Württemberg, Baden und Thüringen ſind außer Preußen haupt - ſächlich betheiligt.

Die Geſchäftsorganiſation war von Anfang an eine andere, als bei der Linneninduſtrie. Es war kein althergebrachtes überall verbreitetes Gewerbe; es han - delte ſich um Schaffung einer ganz neuen Induſtrie, einer Induſtrie, deren Produkte ſich einer ſteigenden Beliebtheit erfreuten, da ſie durch ihre Billigkeit den ärmern Klaſſen erlaubten, ſich beſſer und reichlicher zu kleiden und daneben durch die Mannigfaltigkeit der Verarbeitung dem Luxus der höhern Klaſſen dienten. Die Baumwolle war der Stoff, auf den ſich alle die neuen Maſchinen und Verfahrungsweiſen am leichteſten563Statiſtik und Organiſation der Baumwollweberei.anwenden ließen; die Ausbeutung aller der Möglich - keiten, welche dieſer Stoff ſchon lange der Proteus der modernen Induſtrie genannt bot, mußte den Scharfſinn der Ingenieure, der Fabrikanten, der Kauf - leute in beſonderer Weiſe reizen.

Der bloße Kaufmann, der das fertige Produkt vom Weber kaufte, wie in der Linneninduſtrie, reichte nicht aus. Auch wo zunächſt die Weberei dem Hand - weber blieb, mußte der Kaufmann für das Garn ſorgen, es aus dem Auslande beziehen oder ſelbſt ſpinnen laſſen, die Vollendung der Waare, die Bleiche, die Appretur, die Färberei und Druckerei übernehmen. Selbſt die einfachen Hemdenkattune, die Shirtings, ſind nur ver - käuflich mit fabrikmäßiger ſchöner Appretur. Ein großer Theil der Stoffe wird bedruckt verkauft. Die bunten Baumwollgewebe, die geköperten und kroiſirten Stoffe, die Piqués, Trikots, Jakonets, die locker gewebten Mouſſeline, die Vorhangſtoffe, vielfach durch Stickerei verziert, die faconnirten Hoſen - und Weſtenſtoffe, die gemiſchten halbbaumwollenen und halbwollenen Stoffe, die Jacquardgewebe, Möbelſtoffe, Tiſchdecken, Bettdecken und Aehnliches, die Baumwollſammte und Plüſche All das ſind mehr oder weniger Modeartikel, erfordern einen gebildeten Unternehmerſtand.

Während ſo die Natur des Gewerbes, freilich unter manchen harten Rückſchlägen, einen tüchtigen, dem Fortſchritt geneigten Fabrikantenſtand heranzog, blieb derſelbe in einer Beziehung doch überwiegend im alt - hergebrachten Geleiſe; die Weberei wurde nicht mit den übrigen Prozeduren in großen Etabliſſements vereinigt,36 *564Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.ſondern blieb Hausweberei; faſt nirgends ſo, daß die Weber als ſelbſtändige Unternehmer Garn gekauft und das Gewebe an die Fabrikanten verkauft hätten, ſondern ſo, daß ſie die Garne nebſt Muſter und Anweiſung erhielten, um beſtimmten Lohn webten. Die Vermitt - lung des Faktors wurde dadurch in der Baumwoll - weberei noch viel häufiger, als in der Leineweberei; alle Mißſtände dieſer Geſchäftsorganiſation zeigten ſich hier in faſt noch grellerem Lichte, als bei der Linneninduſtrie.

In England hatte ſich für alle einfachern Gewebe der Uebergang zum Maſchinenſtuhl ſchon in den zwanziger und dreißiger Jahren vollzogen, in Verbindung freilich mit entſetzlicher Noth unter den Handwebern. In Deutſchland hatte man kaum Kapital genug, für die ſonſtigen Einrichtungen; die direkte Konkurrenz der eng - liſchen Maſchinenſtühle war durch die Schutzzölle abge - halten. Der Ueberfluß der ſich anbietenden Hand - weber war ſo groß, der Preis zu dem ſie ſich anboten ſo niedrig, daß von einem Uebergang zu Maſchinen - ſtühlen nicht die Rede ſein konnte. Die zahlloſen ver - armten Leineweber in Schleſien, in Sachſen, am Rhein waren froh, hier wenigſtens wieder Beſchäftigung zu finden. Die raſche Bevölkerungszunahme in den Weber - diſtrikten hielt das Angebot Arbeitſuchender auf einer ſtets bedenklichen Höhe.

Der Lohn eines Baumwollwebers war in den zwanziger Jahren im Voigtlande und im ſächſiſchen Erzgebirge nicht über 2 Gr. täglich. 1Gülich II, 489.In Schleſien565Die ſchlechte Lage des Handwebers.konnte der Lohn nicht höher ſein, als in der Leine - weberei; auch alle die übrigen traurigen Folgen, die betrügeriſchen Geſchäftsgewohnheiten, das niedrige geiſtige Niveau, der Volkscharakter dieſer Bevölkerung, wenn ich ſo ſagen darf, übertrug ſich von der Leine - auf die Baumwollweberei.

Von Anfang der dreißiger Jahre bis 1836 und 37 erfolgte die große Zunahme der Baumwollinduſtrie, die Löhne beſſerten ſich etwas. Dann folgte der Rückſchlag von 1837 41; in Mancheſter ſtanden damals ja 1000 Häuſer leer, über 10000 Familien waren brotlos, in ganz Lancaſhire etwa 400000 Menſchen ohne Beſchäf - tigung. 1Grothe a. a. O. D. V. T. Sch. 1864. Heft 2. S. 111.Der ſächſiſche und ſchleſiſche Kattunweber war 1840 zufrieden, wenn ſich ſein Wochenverdienſt einem Thaler näherte, und Wiek, der dies mittheilt, meint damals, die Maſchinenweberei werde wohl nie in Deutſchland ſich ausbreiten, denn die Dinge lägen in England, wo die Maſchinen jetzt zunähmen, total anders, der einfache Handweber erhalte dort min - deſtens wöchentlich 4 Thaler. 2Wiek, induſtrielle Zuſtände Sachſens S. 29.

In Chemnitz,3Siehe die eingehende Geſchichte der Chemnitzer Gewebe - induſtrie im Handelskammerbericht für 1863, S. 91 ff. einem der Hauptſitze der deutſchen Baumwollweberei, hatte man bisher faſt nur einfache Kattune gefertigt. Als der Lohn hierfür immer ſpär - licher wurde, ging man zu den Ginghams, den Bunt - waaren über. Die Ginghams ſagt der Bericht -566Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.erſtatter der Chemnitzer Handelskammer gaben in Chemnitz und der Umgegend lange Zeit vielen Händen Beſchäftigung, bis in Folge drückender Konkurrenz die Löhne auf ein Minimum herabſanken, kaum ausreichend, zur Beſtreitung der dringlichſten Lebensbedürfniſſe. Dann ging man zu den gemiſchten Stoffen, Meubles - ſtoffen, Jacquardgeweben über, in welchen Gebieten man wieder etwas höhere Löhne zahlen konnte; in neueſter Zeit (von 1860 an) hat aber auch das mehr und mehr (als Handarbeit und Hausinduſtrie) aufge - hört; der Grund der Abnahme iſt darin zu ſuchen, daß bei den verhältnißmäßig niedrigen Löhnen (von Thlr. wöchentlich bis 4 Thlr.) und bei der bedeu - tenden Vertheuerung aller Lebensbedürfniſſe die jungen Arbeitskräfte ſich denjenigen Induſtriezweigen zugewendet haben, bei welchen höhere Löhne zu erreichen ſind.

Ein Hauptübelſtand für die moraliſchen Verhält - niſſe, für die ganze Lebenshaltung der Handweber liegt in den oben ſchon erwähnten wechſelnden Kon - junkturen: eine Zeit lang glänzender Verdienſt, dann Monate und Jahre lang wieder eine Noth, welche zwingt, mit dem erbärmlichſten zufrieden zu ſein. Solcher Wechſel führt dahin, daß auch in den beſſern Zeiten nicht geſpart, ſondern nur geſchlemmt wird, er depravirt die Weberbevölkerung. Solcher Wechſel trägt außerdem vor allem dazu bei, die Handarbeit zeitweilig wieder unnatürlich zu halten und auszu - dehnen.

Nach der Noth der vierziger Jahre mußte man die Handweberei für alle einfachen Gewebe ſchon für567Die zu lange Erhaltung der Handweberei.ganz verloren halten, zumal in der Baumwollweberei. Da gab die außerordentliche Nachfrage, die glänzende Steigerung des Exports nach Amerika von 1851 57 und wieder von 1858 61 den Preiſen und Löhnen eine ſolche Wendung, daß der Handweber wieder exiſtiren zu können glaubte; ſtatt ausſchließlicher Aus - dehnung der Maſchinenweberei, die theilweiſe ja auch erfolgte, beſchäftigte man wieder zahlreich die mit dem geringſten Lohn zufriedenen Handweber und veranlaßte die Eltern, ihre Kinder wieder dem Gewerbe zu widmen; viele Leineweber gingen auch jetzt wieder zur Baumwollweberei über. Man ließ Artikel auf’s Neue bei Handwebern fertigen, die längſt der Maſchine verfallen waren. Selbſt der einfachſte Kattunweber kam damals in Württemberg wieder auf etwa 34 Kr. täglich (d. h. beinahe 10 Gr.), der Jacquardweber auf 50, der Korſettweber auf 60 Kr.1Mährlen, Darſtellung und Verarbeitung der Geſpinuſte S. 142. Auch in Sachſen nahmen in Folge hiervon die Hand - ſtühle (theilweiſe freilich waren es Tritt - und Jacquard - ſtühle) von 1846 61 ſo ſehr zu: von 17739 auf 31508, die Maſchinenſtühle von 150 auf 1418. Schon damals warnte der Einſichtige, es könne das nicht auf die Dauer ſo bleiben. Beſondere Konjunkturen des Marktes, ruft Mährlen 1858, exempte Betriebs - und ökonomiſche Verhältniſſe der Unternehmer und Lohn - weber mögen es eine Zeit lang der Handarbeit möglich machen, mit der Maſchinenarbeit auf dem gleichen Pro - duktionsgebiet zu konkurriren von Dauer iſt ein ſolcher568Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.Zuſtand nie, da er gegen die Natur der Dinge ſtreitet. Ueber kurz oder lang macht die Maſchine ihr Uebergewicht geltend und reißt ihr natürliches Recht an ſich.

Und ſo war es natürlich; der Rückſchlag begann ſchon etwas 1858, vollends 1862 mit der Baumwoll - kriſis und dem geſtörten Export nach Amerika. Die Anfang der ſechsziger Jahre in den amtlichen Kreis - beſchreibungen erhobenen Löhne,1Zeitſchrift des preuß. ſtat. Bür. IV, 128. waren täglich 4 5 Gr. in Hirſchberg, 3 4 Gr. in Glatz (Regierungsbezirk Breslau), 6 Gr. in Kösfeld (Weſtfalen). Zahl - reich gingen nun auch die Kattun - und Neſſelweber zu andern Gewerben, zur gemeinen Tagelohnarbeit über. 2Jahrb. für die amtl. Stat. II, 346. Viebahn III, 926.Die Konkurrenz der Maſchinenarbeit zeigte ſich jetzt natürlich mehr als je, ſowohl in andern Län - dern, als im Zollverein ſelbſt. Berechnete Mährlen doch ſchon 1858, daß durchſchnittlich der Maſchinenſtuhl von den in Württemberg fabrizirten Geweben die Elle zu 9 Kr., der Handſtuhl aber die Elle zu 14 Kr. liefert. 3Mährlen, Darſtellung und Verarbeitung der Geſpinuſte S. 87.

In Großbritannien hatte man ſchon 1835 109626 Powerlooms für Baumwollartikel gezählt, 1856 betrug ihre Zahl gegen 300000. Die Weberei hat ſich kon - zentrirt wie die Spinnerei; meiſt iſt dort Spinnerei und Weberei nicht ohne Vortheil in denſelben Etabliſſements569Die Konkurrenz der Maſchinenweberei.verbunden. In Frankreich exiſtirten 1855 etwa 50000 mechaniſche Webſtühle, 1867 aber ſchon 80000. 1Oeſtr. Ausſtellungsbericht Band IV, 25.

Selbſt die große Schweizer Baumwollweberei, deren Uebergang zur Maſchine lange auch durch die billigen Löhne aufgehalten war, iſt jetzt in rapidem Uebergang hierzu begriffen. Man zählte 1867 gegen 13000 Maſchinenſtühle. Die daneben noch zahlreichen Hand - weber (hauptſächlich in St. Gallen noch vorherrſchend) arbeiten vor Allem die bunten Stoffe, die Ginghams. Aber ſelbſt dieſer Artikel fängt wie in Sachſen an, auf den Maſchinenſtuhl überzugehen.

In Preußen hatten die Maſchinenſtühle 1846 erſt 3,17 % betragen. Von 1855 61 fand, wie die obige Tabelle ausweiſt, eine nicht unbedeutende Zunahme ſtatt; die Powerlooms machen 1861 - 9,2 % der Geſammtzahl aus. Die Zunahme iſt aber ſehr verſchieden je nach den Provinzen; ſie war auch in andern Ländern ſtärker als in Preußen, wie die folgende Tabelle zeigt, welche je die Geſammtzahl2Bei den preußiſchen Provinzen iſt als Geſammtzahl die Summe der gehenden Webſtühle (Spalte 50 der Aufnahme - tabelle), bei den andern Staaten die Summe dieſer, nebſt der bei den Fabriken gezählten Hand - und Maſchinenſtühlen (Spalte 50, 87 u. 88) angenommen, wie das nach meinen obigen Aus - führungen nothwendig iſt. der Stühle mit den Maſchinen - ſtühlen vergleicht. Von den andern deutſchen Ländern führe ich nur die an, in welchen die Baumwollweberei von größerer Bedeutung iſt.

570Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.

Es ergiebt ſich aus dieſer Tabelle unzweifelhaft und auch Viebahn beſtätigt das, daß die mechaniſche Weberei hauptſächlich da ſich ausdehnt, wo ſie ſich an die große Spinnerei anſchließt, wie in Baden, Baiern und am Rhein. Es ſind zugleich die Länder, wo nicht ein maſſenhaftes Weberproletariat den Fabrikanten ver - anlaßt, vorerſt lieber bei der billigen Handarbeit zu bleiben, als zum Maſchinenſtuhl überzugehen. Schleſien und das Königreich Sachſen ſtehen in letzterer Beziehung oben an; ſie haben 1861 die größte Baumwollweberei, aber faſt die wenigſten Maſchinenſtühle. Von 1861 bis zur Gegenwart hat ſich nun noch viel verändert; beſon - ders im Königreich Sachſen hat ſich die Maſchinen - weberei ausgedehnt, die Hausinduſtrie eingeſchränkt. 1Vergl. die Tab. im Chemnitzer H. - K. - Ber. pro 1863, S. 97.Ein genauer Nachweis darüber iſt mir nicht möglich.

571Die mögliche Erhaltung der Hausinduſtrie.

Die letzte Frage, welche ſich hieran anſchließt, iſt die, ob mit dieſer Bewegung die Handarbeit und Haus - induſtrie ganz verſchwinden wird oder nicht. Es kommt darauf an, was ihr je nach den konkreten Verhältniſſen bisher geblieben war, auf welcher Stufe moraliſcher und techniſcher Bildung die Weber der einzelnen Gegend ſtehen. Dr. Peez berichtet z. B.2Im öſtreichiſchen Ausſtellungsbericht Bd. IV, S. 25. von Frankreich, daß 1867 neben 80000 mechaniſchen noch 200000 Hand - ſtühle gehen, und ſetzt hinzu: Um die hohe Zahl der letzteren zu begreifen, muß man ſich erinnern, daß es ſich in Frankreich nicht mehr um den hoffnungsloſen Wettlauf der Handweberei mit der Maſchine bei groben gewöhnlichen Geweben handelt, daß vielmehr die hoch - entwickelte franzöſiſche Feinwaareninduſtrie eine Menge von Geweben fordert, die wegen häufiger, von der Mode geforderter Variationen nur mit gut bezahlter Handarbeit erzeugt werden können. Hierher gehören vor Allem die feinen Artikel von St. Quentin und Tarare, aber auch die Piqués für Weſten und Anderes.

Das iſt der Punkt, um den es ſich auch in Deutſchland handelt. Wo der niedrige Lohn und die Noth die Weberbevölkerung nicht allzuweit herabgedrückt haben, wo die Geſchäftsvermittlung der Faktoren nicht zu dem traurigen Syſteme gegenſeitiger Betrügerei und Uebervortheilung ausgeartet iſt, wo man den Leuten theure Garne und werthvolle Muſter anvertrauen kann, wo die techniſchen Kenntniſſe der Weber, ſei es in Folge der beſſern Lage, ſei es in Folge von Webſchulen Fort -572Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.ſchritte gemacht haben, wo ſie den Sinn dafür und Geld oder Kredit hatten, ſich beſſere Stühle, Tritt -, Jacquard - und Korſettſtühle anzuſchaffen, wo ſich weitere Arbeiten, wie die Vorhangſtickerei, mit der Weberei verbunden haben, wo Alles das durch einen noch vor - handenen kleinen Haus - und Landbeſitz der Weber begünſtigt wurde, da hat ſich die Hausweberei bis jetzt erhalten und wird ſich auch in Zukunft in ziemlicher Ausdehnung noch halten.

Leider iſt das nicht überall, in den meiſten deutſchen Weberdiſtrikten ſogar nicht der Fall. Leider trat in Schleſien, in der Lauſitz, im bairiſchen Voigtlande zu einem großen Theile der umgekehrte Fall ein. Man fing an,1Vergl. Zeitſchrift des ſächſ. ſtat. Büreaus 1863, S. 36. Dort wird die ganze Entſtehung geſchloſſener Etabliſſements vor der Zeit der Maſchinenweberei ſo erklärt. weil man den Webern das koſtbare Material nicht anvertrauen wollte, von ihnen nicht die gehörige Sorgfalt der Ausführung erwartete, ſie die Stühle nicht beſaßen, alle feinern und beſſern Gewebe in der Fabrik, nur die gemeinern Sorten noch außer dem Hauſe weben zu laſſen. Wo das geſchah, war es auch natürlich, daß man die tüchtigern Leute mit höherem Lohne in die Fabrik nahm. Die ungeſchickten, unfähigen blieben Hausweber aber Hausweber für Artikel, die nur allzubald der Maſchinenweberei anheimfielen. Eine ſolche Hausinduſtrie mußte bald einer noch größern Lohnherabſetzung und endlich ihrem völligen Ruin ent - gegen gehen.

573Die mögliche Erhaltung der Hausinduſtrie.

In einzelnen Zweigen der Baumwoll - wie anderer Gewebeinduſtrien mag die ſpezielle Technik dieſen Weg vorgezeichnet haben, in der Hauptſache aber wurde der eine oder der andere Weg der Entwicklung vorgezeichnet durch die techniſche und ſittliche Bildung der Weber, durch die rechtzeitige Anbahnung von techniſchen Fort - ſchritten, durch eine Erziehung der Weber zu einer Zeit, da die Noth ſie noch nicht auf die tiefſte Stufe des Proletariats herabgedrückt hatte. Ganz die gleichen Momente kommen bei der Möglichkeit einer Ausdehnung des Aſſoziationsweſens in Betracht, vor der ich lieber erſt unten im Zuſammenhang ſpreche.

Zunächſt will ich nur wenige Worte noch über die Bleichereien, Appreturanſtalten, Färbereien und Kattun - druckereien anhängen.

Eine genaue Statiſtik über dieſe Hülfsgewerbe der Weberei gibt es freilich nicht. Ein Blick auf die amt - lichen Tabellen zeigt, wie werthlos ſie im Ganzen ſind; die Abgrenzung von Handwerk und Fabrik, die Ver - bindung mit andern Geſchäften macht die Zählung hier ſo ſchwierig, führt bei jeder Aufnahme wieder zu anderer Behandlung, ſo daß die Zahlen kaum irgend brauchbar zu einer Vergleichung ſind. Ich hebe auch nur die all - gemeinſten Reſultate hervor.

Die handwerksmäßigen Bleicher, Kalanderer ꝛc. haben in Preußen von 1849 61 von 979 Meiſtern auf 732, von 1051 Gehülfen auf 873 abgenommen. Die Kunſtbleichen und Appreturen haben techniſch große Fortſchritte gemacht, die großen Geſchäfte haben alle die neuen chemiſchen Hülfsmittel, die Kalander - und574Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.Walzenmaſchinen eingeführt; ihre Zahl, wie die beſchäf - tigten Perſonen haben aber abgenommen; man zählte in Preußen 1849 - 385 mit 1990, 1861 - 251 mit 1792 Arbeitern.

Von den handwerksmäßigen Färbern und ihrer Abnahme habe ich ſchon oben geſprochen. Die fabrik - mäßigen Stückfärbereien wurden in Preußen bis 1858 mit den Garnfärbereien zuſammen erhoben; erſt 1861 ſind ſie beſonders gezählt und umfaſſen 1077 Anſtalten mit 9429 Arbeitern.

Die Kattundruckereien, ſowie die Druckereien aller Art, waren mehr noch als handwerksmäßiges Gewerbe beſonders während der Kontinentalſperre aufgeblüht, waren dann aber der engliſchen Konkurrenz wieder faſt erlegen. 1Wiek, S. 161 ff. ; Degenkolb, S. 48.Die Handdrucktiſche und die hölzer - nen Druckmodel herrſchten noch durchaus vor. In den Jahren bis 1839 fand mit dem Aufſchwung der Baumwollinduſtrie nochmal eine Zunahme hauptſächlich von kleinen Geſchäften ſtatt. Unterdeſſen hatten ſich in England und Frankreich die Walzendruckmaſchinen, die Perrotinen, die Maſchinen zur Herſtellung der Druck - walzen verbreitet. Die ſtarke engliſche Konkurrenz erdrückte in den vierziger Jahren die kleinen unvoll - kommenen Geſchäfte; die größern Geſchäfte, die ſich hielten, machten die Fortſchritte mit, und gegenwärtig ſteht die zollvereinländiſche Druckerei mit dem Auslande auf ziemlich gleicher Höhe, nachdem ſie ſich weſentlich575Die Färbereien und Kattundruckereien.konzentrirt hat, wie man aus den folgenden Zahlen ſieht; man zählte in Preußen:

Der ganze Zollverein zählte 1861 - 640 Anſtalten mit 362 Druckmaſchinen, einſchließlich der Perrotinen, mit 3309 Drucktiſchen, welche hauptſächlich noch in Sachſen und Thüringen zahlreich ſind, und mit 9264 Arbeitern. Auch hier haben ſich wenige große Fabriken an Stelle der zahlreichen früheren kleinen Geſchäfte geſetzt.

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9. Die Wollweberei im Großen, die Seiden -, die Band - und die Strumpfweberei.

Die Zunahme der deutſchen Wollinduſtrie und des deutſchen Exports. Preußiſche Statiſtik von 1816 61; zollvereins - ländiſche von 1861. Die Organiſation der Tuch - und Kamm - garnwaareninduſtrie. Die großen geſchloſſenen Etabliſſements. Die Möglichkeit für kleine Geſchäfte, bei richtiger Organiſation für den Abſatz im Großen zu arbeiten. Die genoſſenſchaft - lichen Spinnereien, Walken und Webereien. Beiſpiele aus England und Deutſchland. Die Bedingungen des Entſtehens und der Blüthe der Genoſſenſchaften. Die deutſche Seiden - induſtrie. Preußiſche Statiſtik von 1816 61; zollvereins - ländiſche von 1861. Das Ueberwiegen des Handſtuhls und der Hausinduſtrie. Ein Wort über Shawl - und Teppich - weberei. Die Bandweberei und die Poſamentierarbeiten. Zur Geſchichte der Technik. Die preußiſchen Poſamentiergeſchäfte 1816 61. Die unſichern ſtatiſtiſchen Ergebniſſe über die Band - weberei. Das ſächſiſche Poſamentiergewerbe. Die Strumpf - wirkerei. Die preußiſche Statiſtik. Die Apoldaer Strumpf - wirkerei. Die ſächſiſche Strumpfwirkerei. Ihre Zunahme und Blüthe der Hausinduſtrie; ihre Schattenſeiten. Die Kriſis ſeit 1862 und die neuen Maſchinen. Die theilweiſe Beſſerung 1865 66.

Nachdem die große Linnen - und Baumwollweberei im letzten Abſchnitt ziemlich ausführlich beſprochen iſt, bleibt mir für dieſen Abſchnitt übrig, zuerſt über die Wollweberei im Großen und im Zuſammenhang hiermit577Die Wollweberei.über genoſſenſchaftliche Weberei einige Worte zu ſagen, um dann noch auf einige Zweige der Weberei einzu - gehen, deren handwerksmäßiges Vorkommen ich oben noch nicht näher beſprochen habe, weil ich über ſie an ſich kürzer ſein wollte; ich meine die Seidenweberei, die Bandfabrikation und die Strumpfwirkerei.

In der obigen Beſprechung der Wollſpinnerei ſowie der handwerksmäßigen Wollweberei iſt der Gang, den die große Weberei genommen hat, im Allgemeinen ſchon bezeichnet. Ich muß hier aber nochmals von dem Stand - punkt der Induſtrie zu Anfang des Jahrhunderts aus - gehen. Es gab damals in Preußen, in Sachſen, am Rhein zahlreiche kleine Geſchäfte, welche, ähnlich wie bei der Linneninduſtrie, durch Vermittlung von Kaufleuten für den Export arbeiteten. Ihre Zahl war beſonders in Schleſien, Poſen und Brandenburg groß, der Abſatz ging nach Rußland. Der härteſte Schlag der ſie traf, war die Einführung der prohibitivartigen Zölle in Ruß - land. Von 1818 28 ſollen gegen 250000 Deutſche nach Polen ausgewandert ſein, welche nur durch das ruſſiſche Zollſyſtem dazu genöthigt wurden, und von welchen die Tuchmacher einen bedeutenden Theil aus - machten. 1Gülich II, 470.Trotzdem ſtieg die jährliche Produktion von Wollwaaren in Preußen von 1806 31 nach Dieterici von 13½ auf 25 27 Mill. Thlr. Noch glänzender iſt der ſpätere Aufſchwung der großen Induſtrie. Die Einfuhr blieb ſich ſo ziemlich gleich; es iſt darunter aber durchſchnittlich nur 1 % Tuche, der Reſt fällt auf Kamm -Schmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 37578Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.garnartikel. Dagegen hat ſich die zollvereinsländiſche Ausfuhr von Anfang der vierziger Jahre bis Anfang der ſechziger Jahre auf den 4 5 fachen Betrag dem Gewicht nach gehoben. Im Durchſchnitt der Jahre 1860 64 hatte der Zollverein eine jährliche Mehrein - fuhr von roher Wolle und Wollgarn im Werth von 31 Mill. Thlr., dagegen eine Mehrausfuhr von Woll - geweben im Werth von 44 Mill. Thalern1Bienengräber S. 227 231. Nach Hanſemann, die wirthſch. Verhältniſſe des Zollvereins, S. 77 und 84, beträgt (bei einer jährlichen Totalausfuhr von 50 60 Mill. Thalern).

Dem entſprechend iſt auch die Zunahme in der Geſammtzahl der preußiſchen Webſtühle; der Ruin der handwerksmäßigen Geſchäfte von 1840 55 iſt darin, wegen der ſie mehr als erſetzenden Zunahme der großen Etabliſſements, gar nicht erſichtlich. Man zählte:

579Die Zunahme der Wollweberei im Großen.

Das Zollvereinsbureau zählt 1861 für den ganzen Zollverein 67343 gehende Webſtühle mit 31310 Mei - ſtern und 51645 Gehülfen, 1067 Tuchfabriken mit 2592 Maſchinenſtühlen und 11818 Handſtühlen, 622 Fabriken für andere Wollwaaren mit 3655 Maſchinen - und 9068 Handſtühlen. Die Geſammtzahl der Stühle würde ſich auf etwa 78000 ſtellen, wenn wir bei den nichtpreußiſchen Staaten die mit den Fabriken gezählten Stühle der Hauptſumme zuſetzen.

Wenn in Preußen 1861 auf 33273 gewerbsmäßig gehende Stühle überhaupt noch 10771 Webermeiſter und 26096 Gehülfen, zuſammen 36868 Perſonen, gerechnet werden, ſo könnte man verſucht ſein zu glau - ben, dieſe große Zahl Meiſter und Gehülfen bedeute, da es ſelbſtändige kleine Tuchmachergeſchäfte in der Hauptſache nicht ſein können, eine blühende Hausinduſtrie; aber dem iſt nicht ſo, es ſind das überwiegend Per - ſonen, welche in Fabriken arbeiten, wie man durch einen Blick auf die Spezialtabellen ſieht. Im Regierungs - bezirk Aachen kommen auf 930 Webermeiſter 5349 Ge - hülfen, im Regierungsbezirk Frankfurt auf 1163 Meiſter 6602 Gehülfen. Es ſind dieſelben Perſonen, welche unter den Tuchfabriken nochmals gezählt ſind. In Sachſen freilich und den andern Staaten, wo die mehr beſprochene Doppelzählung nicht ſtattfand, iſt es etwas1der jährliche Export pro Kopf der Bevölkerung von 1856 60 an Tuch aus dem Zollverein 0,82 Thlr., aus England 0,85, aus Belgien 1,53, aus Frankreich 0,51, an ſämmtlichen Woll - waaren dagegen aus dem Zollverein 1,37 Thlr., aus England 2,58, aus Belgien 1,63, aus Frankreich 1,27 Thlr.37 *580Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.anderes. Da deutet eine bedeutende Zahl Wollweb - meiſter, welche sub. II. A. Rubrik 57 58 der amt - lichen Tabellen aufgeführt ſind, auf lokale Geſchäfte oder Hausinduſtrie. Von Bedeutung ſind ſolche außer - halb der Fabriken arbeitende Wollwebmeiſter aber auch nur in Sachſen und Thüringen; da iſt alſo 1861 auch die Wollweberei noch vielfach Hausinduſtrie.

Im Ganzen iſt aber in der Wollweberei die Haus - induſtrie mehr verdrängt, als in irgend einer andern Spezialität der Weberei. Die Anfertigung von Kamm - garnartikeln iſt überdieß ziemlich jung im Zollverein, die zu liefernden Artikel erfordern einen hohen Grad von techniſcher Vollendung, das engliſche Vorbild zeigte faſt nur ganz große Geſchäfte. 1In der Kammwollinduſtrie (worsted-Artikel) liegt der Schwerpunkt der engliſchen Wollwaarenfabrikation; in ihr hat auch der Maſchinenſtuhl und das Fabrikſyſtem ſeit 1836 40 vollſtändig geſiegt; die Ausfuhr dieſer Artikel hat außerordentlich zugenommen in England, ungefähr in eben dem Maße, als die Ausfuhr von Tüchern zurückging; vergl. Ausſtellungsbericht von 1851 II, S. 54 67.Die Maſchinenſtühle des Zollvereins ſind in dieſer Branche auch ſchon zahl - reicher (3655, davon 1391 auf Sachſen) als in der Tuchfabrikation (2592, davon nur 506 auf Sachſen).

In der Tuchweberei wurde die Aufſtellung der Web - ſtühle in den geſchloſſenen Etabliſſements ſelbſt auch ſchon frühe üblich. Viele große heute wohlhabende Tuch - fabrikanten2Von Sachſen ſagt die Zeitſchrift des ſtat. Bureaus 1860 S. 135: Die Inhaber faſt aller großen Tuchfabriken ſind urſprünglich Tuchmachermeiſter und Innungsmitglieder. haben ſich vom kleinen Meiſter ſelbſt herauf -581Der frühe Sieg der großen Etabliſſements.gearbeitet, haben nach und nach einen Stuhl nach dem andern aufgeſtellt. Der Sitz der großen Tuchinduſtrie iſt nicht oder nicht vorwiegend, wie der Sitz der großen Linneninduſtrie, an den Orten, wo von altersher zahl - reiche Weber waren, die man hätte beſchäftigen können. Die Zahl der Stühle iſt überhaupt geringer, als in der Linnen - und Baumwollinduſtrie. Wer die Fortſchritte mitmachte in der Tuchinduſtrie, erzielte reichliche Gewinne, welche die Ausdehnung der Etabliſſements erlaubten, und es galt in den Geſchäftskreiſen für ganz unzweifel - haft, daß die Blüthe der deutſchen Tuchinduſtrie von dem Uebergang zu größeren geſchloſſenen Etabliſſements, von der Verbindung des Färbens, Spinnens, Webens, Walkens, Scheerens und Appretirens in einem und demſelben Lokale abhänge. 1Siehe oben S. 523; Hanſemann, S. 78 ff.Viel unweſentlicher war dem gegenüber die ſukzeſſiv eintretende Ausdehnung des Maſchinenſtuhls. Die Maſchine machte ja auch hier Fortſchritte, aber langſame; noch heute arbeiten viele Tuchfabriken erſten Rangs mit Handſtühlen. Die Leiſtung des Maſchinenſtuhls iſt gleichmäßiger und kann ſich täg - lich auf eine längere Zeit erſtrecken; aber abgeſehen hier - von iſt ſie kaum größer. Nach Mährlen’s Aufnahme von 1858 z. B. iſt die tägliche Durchſchnittsleiſtung der württembergiſchen Maſchinenſtühle 10,2 Ellen, während er als Durchſchnittsleiſtung der Handſtühle im Ulmer Kammerbezirk 10,3 Ellen, im Durchſchnitt des ganzen Landes allerdings 8,3 Ellen anführt. Wenn die Ma - ſchinenſtühle von 1861 bis zur Gegenwart noch ziemlich582Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.zugenommen haben, ſo haben ſie doch dadurch die Hand - arbeit in den Fabriken ſelbſt kaum beeinträchtigt. Ich kenne Tuchfabriken, in welchen neben den Maſchinen - ſtühlen Handſtühle gehen, auf welchen der Arbeiter mit Leichtigkeit täglich einen Thaler verdient.

Das Charakteriſtiſche der großen Betriebe iſt ſo, wie geſagt, nicht der Maſchinenſtuhl, ſondern die Vereini - gung aller Hülfsgewerbe, die höchſte Ausbildung dieſer in einheitlichen geſchloſſenen Etabliſſements. Aber es iſt hiegegen doch ſchon eine Art Reaktion eingetreten, wie Staatsrath Hermann bereits 1851 bemerkt, wenn er ſagt: Es waren die ganz großen Geſchäfte, welche die Tuchmanufaktur Deutſchlands auf ihre jetzige Höhe gehoben haben. Aber gerade bei der Vereinigung aller Zweige der Fabrikation und des Abſatzes in einer Hand kommt der Unternehmer endlich an einen Punkt, wo die Beaufſichtigung der vielen verſchiedenen techniſchen Arbeiten und die Beſorgung des Abſatzes ſo umfangreich und komplizirt wird und ſo viele Koſten verurſacht, daß der Geſammtertrag der Fabrik leicht kleiner ausfällt, als bei mäßigerem Umfang der Hauptgeſchäfte der Fall geweſen. Damit iſt dann die Theilung der Geſchäfte durch das eigene Intereſſe der Fabrikanten geboten.

Dieſe Theilung kann darin beſtehen, daß die Fa - brikanten ihr Garn wieder außer dem Hauſe weben laſſen, wie das in Sachſen niemals ganz aufgehört hat, auch in Aachen1Jahrbuch für die amtl. Statiſt. II, 328. noch theilweiſe üblich iſt. Oder kann ſie darin beſtehen, daß das Spinnen und die Her -583Die kleinen engliſchen Tuchmacher.ſtellung roher Gewebe Sache des kleinen Tuchmachers bleibt, das Scheeren und Appretiren ſowie der Vertrieb der Waare dem Fabrikanten bleibt.

Das iſt die in England, beſonders in Leeds und Um - gegend noch heute allgemein übliche Geſchäftsorgani - ſation. Baines erzählt 1859 von ihr:1Siehe Beſchreibungen: Zollvereinsblatt 1844, S. 33 bis 36; Journal of the stastical Society 1859, S. 1 34: Baines on the woollen manufacture of England, ſpeziell S. 29 30; Oeſtr. Ausſtellungsbericht von 1867, Band IV, S. 94. Vor einigen Jahren glaubte man, die großen Fabriken würden durch die Macht des Kapitals, durch die Macht der Maſchinen und die Zeiterſparniß das alte Syſtem der häuslichen und ländlichen Manufaktur vollſtändig zerſtören. Aber ſie haben das Syſtem nicht weſentlich alterirt. Der Hauptgrund wurde ſchon erwähnt, er liegt in der Eigen - thümlichkeit der Wollinduſtrie, dem Powerloom keinen bedeutenden Vortheil über den Handſtuhl zu geben. Dennoch hätte die häusliche Manufaktur unterliegen müſſen, hätten nicht die Tuchmacher die Maſchine für diejenigen Prozeſſe zu Hülfe gerufen, in welchen ſie eine unzweifelhafte Ueberlegenheit über die Handarbeit hat, d. h. für die Vorbereitung der Wolle und das Spinnen. Sie vereinigten ſich, Aktienfabriken zu errichten, wohin jeder Theilhaber ſeine eigene Wolle bringt und ſie rei - nigen, färben, ſtreichen und ſpinnen läßt; dann wird Kette und Einſchlag wieder in das eigene Haus oder die eigene Werkſtatt gebracht und auf dem Handſtuhl verwebt, oft durch die Mitglieder der Familie; das584Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.Tuch wird hierauf in der Fabrik gewalkt, gewaſchen und geſtreckt und endlich in ſog. rohem Zuſtande (balk state) nach Leeds gebracht und verkauft; vollendet wird es durch die Tuchbereiter (Dressers) nach der Beſtel - lung der Kaufleute. Viele dieſer gemeinſamen Fabriken ſind gut verwaltet und zahlen den Theilnehmern hohe Dividenden. Sie arbeiten nach Auftrag auch für andere als für die Aktionäre. Die Tuchmacher finden ſo durch Fleiß und Sparſamkeit ſich in der Lage, mit den großen Fabrikbeſitzern zu konkurriren, deren große Werke und komplizirte Maſchinen große Ausgaben mit ſich bringen. Es iſt eine glückliche Verbindung von ſelbſtändigem Kleingewerbe, Aſſoziation und fabrikmäßigem Abſatze.

Zu einem kleinen Theile haben wir auch in Deutſch - land ähnliche Verhältniſſe. Schon in den vierziger Jahren bildeten ſich an Orten mit einer großen Anzahl Tuchmachern größere Spinnereien, welche für ſie um Lohn arbeiteten und ſie ſo zunächſt hielten. 1Siehe die Beſchreibung der Hersfelder Tuchmanufaktur in dieſer Zeit, Zollvereinsblatt 1845, S. 91.Auch voll - ſtändig modern eingerichtete Appreturanſtalten mit Walk -, Rauh -, Zylinderſcheer - und Bürſtmaſchinen als eigene Geſchäfte bildeten ſich, wo eine Reihe Tuchmacher und kleiner Fabrikanten ſie um Lohn beſchäftigten. 2So z. B. in Kalw (Württemberg), Dörtenbach, Mit - theilungen über Gewerbe und Handel in Kalw. Kalw 1862. S. 6.Der Ankauf roher Tuche von den kleinern Tuchmachern durch größere Fabrikanten, um die Waare zu vollenden und in den Handel zu bringen, iſt in Schleſien, in der585Die Erhaltung der Tuchmacher durch Aſſoziationen.Mark, auch in Sachſen nicht ungewöhnlich; beſonders für Militärtuche iſt dieſe Art der Arbeitstheilung in Preußen üblich. 1Ausſtellungsbericht von 1851, II, S. 94.Aber auch eigentliche Aſſoziationen ſind vorhanden; am zahlreichſten wohl in Sachſen. Schon 1860 wird berichtet:2Zeitſchrift des ſächſ. ſtat. Bureaus 1860, S. 135. An manchen Orten, wie Roßhain, Großenhain, Leisnig, Kamenz hat ſich neben größern Etabliſſements der genoſſenſchaftliche Betrieb entwickelt, indem, abgeſehen von den faſt überall vor - handenen Innungswalken, ſich (mit der Innung nicht identiſche) Genoſſenſchaften von Meiſtern zu gemein - ſchaftlichem Betrieb der Spinnerei und Appretur ver - einigt haben. Doch haben auch die Innungen theil - weiſe die Anregung gegeben; die Tuchmacher und Weber - innungen ſind diejenigen, welche nach der Aufnahme von 1860 von allen Innungen das bedeutendſte Vermögen beſitzen, und die außer den Fleiſchern (zu Schlachthäuſern) allein dieſes Vermögen zu gewerblichen Produktions - zwecken verwendet haben. Vierzig ſächſiſche Weberin - nungen hatten damals ein Vermögen von 149000, 19 Tuchmacherinnungen ein ſolches vor 59000 Thlr.3Daſelbſt S. 140. Genaueres theilt ein Leipziger Bericht 18634Jahresbericht der Handels - und Gewerbekammer zu Leipzig 1863. S. 41 ff. mit: Die älteſten hieher gehörigen Aſſoziationen ſagt er ſind wohl die in den Wollmanufakturſtädten aus den Tuchmacherinnungen hervorgegangenen, theil - weiſe über einen Zeitraum von 50 60 Jahren und586Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.noch weiter zurückgreifenden Genoſſenſchaften, welche die einen fabrikmäßigen Betrieb erfordernden Arbeiten bei der Tuchweberei, als Walke, Färberei, Spinnen der erforderlichen Garne und die Appretur auf gemeinſchaft - liche Rechnung betreiben, und auf dieſe Weiſe den klei - nern Tuchmachermeiſtern Selbſtändigkeit und Konkurrenz - fähigkeit verleihen. Derartige Aſſoziationen finden wir in Leisnig, wo neben der Innungswalke eine Aſſoziation von 9 Genoſſen zur Appretur und eine ſolche zur Woll - ſpinnerei mit 3 Aſſortimenten beſteht. Ebenſo hat die Tuchmacherinnung zu Großenhain eine Wollſpinnerei von 3 Aſſortimenten, womit ſie den Bedarf von 15 für ſich arbeitenden Genoſſen ſpinnt und mit 13 direkt betheilig - ten Genoſſen eine Appretur, welche mit 2 Rauhma - ſchinen und den nöthigen Scheerzylindern das Bedürfniß der Betreffenden an Appretur auf ihre Erzeugniſſe deckt. In gleicher Weiſe hat Roßwein mehrere derartige Aſſoziationen zur Spinnerei mit zuſammen 10 Aſſorti - menten und Dobeln eine Innungswalke. Im Leipziger Berichte für 1865 661Handelskammerbericht S. 104. wird betont, daß die mecha - niſche Weberei immer mehr Terrain gewinne, daß aber auch bereits eine Genoſſenſchaft in Großenhain eine An - zahl mechaniſcher Stühle in einem dazu errichteten Saale des der Tuchmacherinnung gehörigen neuen Hauſes auf - geſtellt habe. Wo der mechaniſche Stuhl abſolut noth - wendig wird, da läßt ſich auch die in England ſchon ab und zu vorkommende Einrichtung treffen, daß von einer gemeinſam betriebenen Dampfmaſchine die Kraft587Deutſche Webergenoſſenſchaften.durch Transmiſſionen ganze Straßenzüge entlang in die Wohnungen der kleinen Weber geleitet wird. 1Sax, Die Wohnungszuſtände der arbeitenden Klaſſen. Wien 1869. S. 102.

Vereinzelt finden ſich ähnliche Einrichtungen wie die ſächſiſchen auch anderwärts. Die Göttinger Tuch - macherinnung bildet eine Gewerkſchaft, beſitzt ein grö - ßeres Fabriketabliſſement. 2Preußiſche Handelskammerberichte pro 1867, S. 666.Vor Allen ſind die Tuch - macher von Sagan zu erwähnen, welche ſchon 1810 eine Walke, 1841, nachdem die Walke abgebrannt war, eine vollſtändige Fabrik, d. h. Spinnerei, Walke und Appreturanſtalt für 48362 Thaler, damals in der Hauptſache auf Schulden bauten; 1863 waren 85 Mei - ſter fabrikberechtigt, die Activa der Fabrik betrugen 288129, die Passiva 58312, das freie Vermögen alſo 229817 Thlr.; in den letzten 10 Jahren hatten die Meiſter für 121520 Thlr. neue Maſchinen ange - ſchafft. 3Jacobi, die Fabrik der Tuchmacherinnung zu Sagan, Zeitſchrift des preuß. ſtat. Bureau’s 1864, S. 205 208.

Dieſe Beiſpiele beweiſen wenigſtens, daß das, was ſo ſehr wünſchenswerth wäre, im Bereiche der Möglich - keit liegt. Da die Frage eine ähnliche für die ganze Gewebeinduſtrie iſt, möchte ich hier noch einige Worte über die Webergenoſſenſchaften im Allgemeinen anfügen. Vorausſchicken will ich thatſächlich nur, daß Schulze - Delitzſch in ſeinem Berichte von 1867 resp. 1868 5 Webergenoſſenſchaften zu gemeinſchaftlichem Ankauf des Rohſtoffs und 9 resp. 10 eigentliche Produktiv -588Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.genoſſenſchaften anführt; es ſind Baumwoll - und Leine - weber, Tuchmacher und Shawlweber darunter. Ein weſentlicher Fortſchritt findet nicht ſtatt; ſchon in dem Bericht von 1863 zählt er 10 Weberaſſoziationen für gemeinſamen Einkauf oder gemeinſame Produktion auf. Außerdem ſind mir nur noch eine Anzahl ſächſiſcher Genoſſenſchaften bekannt, welche den einzigen Zweck ver - folgen, den Faktor und deſſen drückendes Zwiſchengeſchäft entbehrlich zu machen. 1Vgl. die genauere Beſchreibung dieſer Geſchäfte, Leip - ziger Handelskammerbericht für 1863, S. 42, Chemnitzer für 1863, S. 99.Aber was will das heißen gegen die Hunderte und Tauſende von kleinen Meiſtern, die im Laufe der letzten 30 Jahre zu Grunde gegangen ſind, die heute noch im Dienſte der Großinduſtrie, wie für eigene Rechnung arbeitend exiſtiren?

Gewiſſe Arten der Gewebeinduſtrie freilich entziehen ſich dem genoſſenſchaftlichen Betrieb von ſelbſt, theils wegen der perſönlichen Eigenſchaften außerordentlicher Art, welche vom Dirigenten, von den Technikern des Geſchäfts gefordert werden, theils wegen der zu großen Kapitalien, die das gut betriebene Geſchäft bedarf. Die Maſchinenweberei gehört, wie wir ſahen, nicht nothwen - dig hieher, wohl aber die Kattundruckerei, die Anfer - tigung von Modeartikeln und Aehnliches. In Bezug auf die Perſonen iſt der genoſſenſchaftliche Betrieb da unmöglich, wo eine ſeit Jahrzehnten verarmte halb ver - hungerte Weberbevölkerung, an Geiſt und Körper ver - kommen, alle Kraft zu ſelbſtändigen Fortſchritten ver - loren hat.

589Die Bedingungen der genoſſenſchaftlichen Weberei.

Aber wie viele kleine Webermeiſter ſtehen doch noch über dieſem Niveau; wie manche Fortſchritte der Technik, der Bildung, welche andere tüchtigere Menſchen vorausſetzen, ſind wenigſtens in einzelnen Gegenden zu konſtatiren. Und doch fehlt es an jeder erheblichen Zunahme, während doch der genoſſenſchaftliche Betrieb gerade in der Weberei am angezeigteſten wäre, während es kein zahlreicheres, älteres, der Erhaltung würdigeres Gewerbe in Deutſchland gibt. Das tauſendmal geprie - ſene Syſtem der Hausinduſtrie drückt, an große Fabriken angelehnt, die Arbeiter doch leicht zum Proletariat herab, genoſſenſchaftlich aber organiſirt würde es tauſende und aber tauſende kleiner geſunder Geſchäfte erhalten. In der ganzen volkswirthſchaftlichen Geſchichte des 19. Jahr - hunderts wäre neben der Konſervirung unſeres deutſchen Bauernſtandes eine Erhaltung der kleinen Webermeiſter die wichtigſte Maßregel, wenn man überhaupt auf eine ſozial und politiſch ſegensvolle größere Gleichheit der Beſitz - und Einkommensverhältniſſe Werth legt.

Aber es geht hier wie in andern Geſchäftsbranchen. So lange der kleine Meiſter noch zur Noth von dem lokalen Abſatz leben kann, ſo lange der Hausweber noch mit halbwegs leidlichem Lohn vom Fabrikanten beſchäf - tigt wird, ſo denkt er nicht an ſolche radikale Reformen. Auch in dieſen Kreiſen überwiegt das träge Kleben am Althergebrachten; zu was Mühe, Sorge, Gefahr auf ſich nehmen, wenn es im alten Geleiſe noch geht? Wenn die Noth dann eintritt und einige Zeit, einige Jahre und noch länger gedauert hat, ja dann fehlt es an Kapital, dann ſind die Tüchtigern unter den Leuten590Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.ausgewandert, zu andern Berufen übergegangen, dann iſt das ganze geiſtige und moraliſche Niveau der Leute zu tief herabgedrückt. Es fehlt in erſter Linie an der Initiative zur rechten Zeit, an den rechten Führern.

In der ganzen genoſſenſchaftlichen Bewegung han - delt es ſich darum, die kleinen Meiſter und Arbeiter zu erziehen zu den Geſchäftsſitten, zu der kaufmänniſchen Umſicht, der reellen Zuverläſſigkeit der bürgerlichen Mit - telklaſſen. Wer die Vorſchußvereine und die andern Genoſſenſchaften in der Nähe kennt, muß das zugeben; die Perſönlichkeiten entſcheiden; Schulze-Delitzſch wird genannt, hunderte von Andern mit ähnlicher höherer Bildung halten die Sache, erziehen den Handwerkerſtand, indem ſie an die Spitze treten. Nur ſie überwinden das Mißtrauen, den Neid der Meiſter unter einander. In der größern Stadt nun findet man leichter die Per - ſönlichkeiten hiezu, viel weniger aber oder gar nicht ſind ſie aufzutreiben in den einſamen Gebirgsthälern, auf dem platten Lande, wo die Hütte des Webers ſteht. Die einzig Gebildeten, von welchen hier die Initiative ausgehen könnte, ſind neben den Geiſtlichen, die ſich leider ja heute um ſolche Dinge gar wenig kümmern, die Faktoren, die Kaufleute, die Fabrikanten, d. h. die - jenigen, welche gerade das gleiche Intereſſe haben Weber - aſſoziationen zu ſtiften, wie etwa die Detailhändler, Konſumvereine ins Leben zu rufen.

Es iſt das einer der Punkte, wo die Frage ent - ſteht, ob der Staat nicht in irgend welcher Form nicht ſowohl das Kapital beſchaffen, als die Orga - niſation anregen, zur Erziehung der kleinen Meiſter für591Die Bedingungen der genoſſenſchaftlichen Weberei.den genoſſenſchaftlichen Betrieb mitwirken ſollte, ob er es nicht in den vierziger Jahren hätte thun ſollen, da es heute vielfach ſchon zu ſpät iſt. Das Kapital allein vom Staate dargereicht, wäre nur ſchädlich; es würde in nutzloſen Verſuchen vergeudet, wenn nicht die Erzie - hung, die Organiſation, die geiſtige und techniſche För - derung der Leute hinzukommt. 1Die mehrerwähnte Schrift des Dr. Michaelis, eines Arztes, über die Zuſtände in den ſchleſ. u. ſächſ. Baumwoll - und Leinenweberdiſtrikten, fordert unter Hinweiſung auf die ſtaatlichen Kräfte, welche in Belgien die verarmten Diſtrikte wieder zu einer beſſern Flachsbereitung erzogen haben, die Hülfe des Staates, Kapital, das in feſten kurzen Terminen zurückzuzahlen wäre noch mehr aber die geiſtige Initiative, die Erziehung der Weber für gemeinſame beſſere Produktion.Ich werde auf die Berechtigung ſolcher ſtaatlichen Eingriffe nochmals zurück - kommen.

Kehren wir aber nach dieſer Abſchweifung über Webergenoſſenſchaften zurück zu der Schilderung der thatſächlichen Verhältniſſe in Preußen und im Zoll - verein, und zwar zunächſt zur Seide - und Seidenband - weberei.

Die deutſche Seideninduſtrie iſt ein Produkt der franzöſiſchen Proteſtanten und der preußiſchen Gewerbe - politik. 2Vgl. oben S. 29 u. 37.Im Laufe dieſes Jahrhunderts hat ſie ſich aber auch in andern deutſchen Staaten entwickelt. Bayern und beſonders Baden beſitzen eine nicht unbe - deutende Seidenweberei. Die Hauptſitze der Induſtrie ſind aber auch jetzt noch Elberfeld, Krefeld, der ganze Regierungsbezirk Düſſeldorf, Aachen, Berlin und Pots -592Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.dam. Theilweiſe unter ſchwerem Kampf mit der fran - zöſiſchen und engliſchen Konkurrenz haben ſich die deut - ſchen Geſchäfte emporgearbeitet, mehr und mehr haben ſie den inländiſchen Markt ſich erobert und einen bedeu - tenden Export gewonnen, ſo daß jetzt die deutſche Seideninduſtrie die erſte nach der franzöſiſchen iſt, die deutſche Stadt Krefeld nächſt Lyon als der erſte Seiden - manufakturort der Welt gilt. Die Einfuhr fremder, hauptſächlich franzöſiſcher Seidenwaaren hat in Artikeln, welche in Deutſchland wenig oder gar nicht gemacht werden, noch bis in die neueſte Zeit zugenommen, aber ſehr viel ſtärker ſtieg die Ausfuhr, ſowohl in ſeidenen als in halbſeidenen Waaren. 1Bienengräber S. 237 ff. : 1842 eine Mehrausfuhr von 2736 Ztnr. ſeidnen und 1075 Ztnr. halbſeidnen, 1864 von 13676 ſeidnen und 10276 Ztnr. halbſeidnen Waaren.

Die folgende Ueberſicht zeigt die Zunahme der preußiſchen Seidenweberei, wobei ich jedoch bemerke, daß der Rückgang in der Zahl der Webſtühle und noch mehr in der Zahl der Fabrikgeſchäfte von 1858 61 mehr von einer veränderten Art der Zählung, als von einer wirklichen Abnahme herrühren muß. Im Ganzen zeigt die Tabelle klar die glänzende Entwicklung der preußi - ſchen Seidenweberei:

593Die Seidenweberei.

Die auch hier wieder nicht ganz zuverläſſige Zäh - lung des Zollvereinsbureaus ergiebt für den ganzen Zollverein 1861 - 32882 gehende Webſtühle mit 18806 Webermeiſtern und 17432 Gehülfen; da - neben als Fabriken aufgeführt 314 Geſchäfte mit 1270 Maſchinenſtühlen (689 auf Baden) und 5392 Handſtühlen.

Kleine profeſſionsmäßige Geſchäfte mit lokalem Abſatz, mit einem Vertrieb auf Jahrmärkten gab es früher wohl auch welche, aber ihre Zahl war nie groß. Der Verbrauch der Seidenwaaren iſt Sache der höhern Klaſſen; der Einkauf geſchieht und geſchah auch früher mehr in den Läden der großen Städte, welche ihre Waaren von den Fabriken beziehen; die Fabrikation war von jeher mehr eine für den Abſatz im Großen. Die Leitung der Geſchäfte war keine leichte, der Bezug des theuren Rohſtoffes, die Herrichtung der Garne, die künſtleriſche Seite des Gewerbes, das Färben der Garne, die Sorge für ſchöne geſchmackvolle Muſter erforderte wohlhabende, techniſch und künſtleriſch gebildete Unter - nehmer. Dabei blieb aber das Weben bis jetzt über - wiegend Sache der Hausinduſtrie.

Schmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 38594Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.

Der mechaniſche Webſtuhl hat wohl in keiner andern Branche der Weberei mit ſo viel techniſcher Schwierig - keit zu kämpfen als hier. Trotzdem iſt er in England auch zur Herrſchaft gelangt; aber er hat darum die Hausinduſtrie nicht verdrängt, indem gerade hier die erwähnten Einrichtungen vorkommen, welche den Ma - ſchinenſtuhl in den Wohnungen der Weber ſelbſt aufzu - ſtellen erlauben. Man zählte dort nach Grothe 1861 auf 7217 Handſtühle 10709 mechaniſche Stühle für Seidenweberei. 1Grothe, Geſchichte der Seidenzucht und Seidenmanu - faktur S. 99, in der deutſchen Vierteljahrſchrift, 1864, 4. Heft S. 44 120.Es hat das Ueberwiegen der Ma - ſchinenſtühle in England ſeinen Grund in der Speziali - tät der engliſchen Seidengewebe; es ſind einfache nicht der Mode unterworfene Artikel. Ueberall ſonſt über - wiegt theils der techniſchen Schwierigkeiten, theils der wechſelnden Mode, theils der tüchtigen Handweberei wegen noch die Handarbeit, hauptſächlich auch in Frank - reich. Sowohl in Lyon und Umgegend, wo die Stoff - weberei, als in St. Etienne, wo die Seidenbandweberei zu Hauſe iſt, werden die Weber, die ſog. contremaîtres, welche auf dem Lande zerſtreut wohnen, von dem Unter - nehmer entweder durch Komiſſionäre, welche unſern Faktoren gleichſtehen, oder direkt durch die reitenden Kommis des Hauſes beſchäftigt. Dieſe contremaîtres beſitzen meiſt einige Stühle, faſt durchaus Tritt - und Jacquardſtühle, deren Inſtandhaltung, Veränderung und Verbeſſerung ſie mit Intelligenz und Sachkenntniß beſor -595Die glückliche Organiſation der Seidenweberei.gen. Wohl wird ſagt Harpke1Oeſtr. Ausſtellungsbericht Band IV, 136. durch dieſes Syſtem der Arbeitslohn vertheuert, doch genießt der Fabrikant den Vortheil, für ganz kleine Gruppen von Stühlen verantwortliche Werkführer zu beſitzen, welche die Ausführung der Arbeit mit der größten Sorgfalt überwachen, wovon in vielen Fällen die Löſung mancher ſchwierigen Aufgabe abhängt.

In Deutſchland ſind die Verhältniſſe verſchieden; neben Maſchinenſtühlen für glatte Gewebe trifft man auch Handſtühle in geſchloſſenen Etabliſſements, aber im ganzen überwiegt auch im Zollverein bis jetzt der Handſtuhl und die Hausinduſtrie. Auf 30699 Web - ſtühle zählt man in Preußen 1861 erſt einige hundert Maſchinenſtühle; 4533 Handſtühle ſind bei den Fabri - ken gezählt; und ſelbſt von dieſen iſt ja nach der unvollkommenen Art der Aufnahme fraglich, ob ſie alle in den Fabriken ſelbſt ſtehen. In Krefeld und Elber - feld wohnen die Weber mehr in der Stadt und nähern ſich damit mehr der gewöhnlichen Arbeiterbevölkerung. Die großen Geſchäfte in Vierſen und Gladbach beſchäf - tigen mehr auf dem Lande zerſtreut wohnende Weber; auch hier wird die Verbindung einer kleinen Landwirth - ſchaft mit der Weberei als der größte Segen empfunden. Dem Bericht des erſt kürzlich verſtorbenen Herr von Diergardt,2Der Freiherrn von Diergardt Maßregeln zur Förderung der arbeitenden Klaſſen, Arbeiterfreund V, 1867. S. 181 189. welcher das hauptſächlich auch betont, über ſein enormes Seidengeſchäft entnehme ich folgendes: Die38 *596Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.Hauptſorge des Geſchäfts geht auf dauernde gleichmäßige Beſchäftigung der Weber; es giebt eine Menge von Arbeiterfamilien, wovon der Großvater, Vater, Sohn und Enkel fortwährend für mich beſchäftigt geweſen ſind, trotzdem daß ſolche alle entfernt von der Fabrik wohnen und in ihren eigenen Häuſern arbeiten; eine große Zahl der Arbeiter hat ziemlich erhebliche Erſparniſſe gemacht; viele beſitzen ein eigenes Haus, darunter ſind manche im Werthe von 2000 Thalern und darüber. Zu dem Hauſe geſellen ſich häufig Garten, Ackerland, Wieſe oder Holzung. Für gelungene Waare und ſchnelle An - fertigung werden außer dem Lohn angemeſſene Prämien bezahlt.

Der Lohn der Seidenweber iſt ſeit lange, trotz der ab und zu ſchwer auf Fabrikanten und Arbeitern laſten - den Kriſen und Geſchäftsſtockungen, ein guter geweſen; die ſteigende Entwicklung der deutſchen Seideninduſtrie ſowie die Thatſache, daß die meiſten Gewebe nicht mit der Maſchine herzuſtellen ſind, wirkten günſtig, man konnte nur tüchtige Leute brauchen, nur ſoliden zuver - läſſigen Leuten die theuern Stoffe anvertrauen. Das ganze geiſtige und moraliſche Niveau iſt damit ein höheres geblieben. Gegenwärtig wird der Tagesverdienſt eines Seidenwebers auf etwa einen Thaler geſchätzt. 1Zeitſchrift des ſtat. Bureaus IV, 128, nach der mehr - erwähnten Lohnzuſammenſtellung aus den Kreisbeſchreibungen.Mehr und mehr ſind die früher den Fabrikanten gehörigen Stühle in das Eigenthum der Weber übergegangen. 2Viebahn III, 938.

597Der hohe Lohn in der Seiden -, Shawl - u. Teppichweberei.

Aeußere Umſtände waren für dieſe glückliche Ent - wicklung allerdings von Bedeutung; von größerem Ein - fluß aber noch waren die moraliſchen und geiſtigen Eigen - ſchaften ſowohl der Unternehmer, als der Arbeiter.

Von der ganzen Shawl - und Teppichweberei, auf die ich hier des Raumes wegen nicht näher eingehen will, läßt ſich Aehnliches ſagen, wie von der Seiden - induſtrie. Theilweiſe iſt die Fabrikation ganz auf die großen geſchloſſenen Etabliſſements übergegangen; theil - weiſe aber hält ſich die Hausweberei noch; ſie ſetzt aber dann geſchickte, gebildete, zuverläſſige Leute im Beſitz guter Jacquardſtühle voraus, deren Lage daher nicht ſchlecht iſt. Die Berliner Shawlweberei iſt faſt durchaus noch Hausarbeit; ein tüchtiger Weber verdient leicht einen Thaler täglich,1Näheres im Oeſtr. Ausſtellungsbericht Band IV, 145 157. ſein Gehülfe 15 Sgr., mithelfende Kinder 6 Sgr.

Einer der wichtigſten Zweige der Bandweberei, der der Seidenbandweberei, iſt ſchon unter den ſtatiſti - ſchen Ergebniſſen der Seideninduſtrie begriffen. Wir haben es nunmehr nur noch mit der Anfertigung von leinenen, baumwollenen und wollenen Bändern zu thun, mit einem Gewerbe, das ſo vielfach mit dem Poſa - mentiergewerbe, mit der Anfertigung von Litzen, Kor - deln, Treſſen, Borten, Gimpen, Schnüren, Frangen und Zeugknöpfen zuſammenfällt, daß eine getrennte Aufnahme leider immer dadurch leiden und unklar werden muß.

598Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.

Ehe ich jedoch die Zahlen mittheile, will ich bemerken, daß auf den ganz alten Handſtühlen jedes Band einzeln gewebt wurde. Auch die ſogenannten Schubſtühle ſind noch ziemlich unvollkommen. Daneben kam ſchon frühe die Bandmühle auf,1Viebahn III, 663 und 929, Beckmann, Beiträge zur Geſchichte der Erfindungen, Leipzig 1786, I, 122. ein künſtlicher Webſtuhl, der 8 40 Bänder zu gleicher Zeit zu weben erlaubt; eine ſolche ſoll ſchon 1586 in Danzig erfun - den, aber vom Rathe verboten worden ſein, weil ſie eine Menge Arbeiter zu Bettlern mache. Uebrigens konnte dieſe Bandmühle von der Hand getrieben werden und war ſonach auch im kleinen handwerksmäßigen Ge - ſchäft anwendbar. Erſt der neueſten Zeit gehören die eigentlichen Bandmaſchinenſtühle, die Anwendung von Jacquardmaſchinen für Poſamentierartikel, die Klöppel - maſchinen an. Auf einem Maſchinenſtuhle kann ein einziger Arbeiter täglich, je nach der Breite des Bandes und der Zahl der Läufe, von 50 bis gegen 700 Ellen Band weben.

Dem entſprechend haben auch die kleinen hand - werksmäßigen lokalen Geſchäfte abgenommen. Nur ein - zelne Arten lokal vorkommender Bauernbänder, einfache Borten, Schnüre und Gurte für’s Landvolk werden von ihnen noch geliefert und dann Poſamentierartikel, welche auch heute deßwegen der Fabrik - und Hausinduſtrie nicht ganz anheim fallen, weil ſie theilweiſe doch immer noch nach Beſtellung des einzelnen Kunden gearbeitet werden müſſen. Doch iſt auch hierin ein großer Um -599Die Bandweberei und das Poſamentiergewerbe.ſchwung durch die Verkehrserleichterungen eingetreten. Jedes kleine Ladengeſchäft kann heute eine Beſtellung, ſtatt ſie ſelbſt auszuführen, einer entfernt liegenden Fabrik übertragen. Die Poſamentiere halten ſich heute mehr als Ladengeſchäfte und Detailhändler. Die Zu - nahme des Bedarfs fällt auf die Fabrikwaaren, auf jene zahlreichen Artikel für Kleider, Möbel, Zimmer - dekorationen, für Eiſenbahn - und andere Wagen.

Die preußiſche Statiſtik zählt nun die handwerks - mäßigen Poſamentiere in der Handwerker -, die Band - ſtühle in der Fabriktabelle; das Ergebniß iſt folgendes. Man zählte Poſamentiere:

Darnach fand eine ziemliche Abnahme der Poſa - mentiere neuerdings ſtatt; doch iſt ſie in ſo fern nicht ganz ſicher, als die Grenze gegenüber der in der Fabrik - tabelle gezählten Bandweberei unſicher iſt. Was die Bandſtühle betrifft, ſo zählte man früher ausſchließlich die Zahl der Gänge; es gab:1Vergl. oben S. 516 die Vertheilung nach Provinzen, welche zeigt, daß ſchon 1816 und 1831 die Bandſtühle nicht gleichmäßig überall, ſondern mehr konzentrirt vornehmlich in der Rheinprovinz als Hausinduſtrie vorkamen.600Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.

Von da an zählte man die Stühle, wobei aber die Zahlen von 1852 und 1855 offenbar falſch ſind; es werden erwähnt:

Die Weber und Gehülfen, ſowie die Fabriken nebſt Stühlen ergaben daneben ſeit 1846 folgendes Reſultat:

Auch dieſe Zahlen zeigen theilweiſe durch ihren ſchroffen Wechſel, daß ſie falſch ſein müſſen; die bei den Fabriken daneben noch gezählten Arbeiter betrugen ebenfalls 1852 und 1855 circa 10000, ſonſt gegen 7000 Perſonen. Sicher ſcheint nur die Abnahme der Handſtühle und die Zunahme der Maſchinenſtühle.

Das Zollvereinsbureau zählte 1861 bei der Band - weberei in den andern Staaten nur verſchwindend kleine601Die Bandweberei als Hausinduſtrie.unbedeutende Zahlen. Die Mehrzahl der hierher gehö - rigen Perſonen iſt in der Handwerkertabelle verzeichnet. Dieß gilt beſonders von Sachſen, wo das Poſamentier - gewerbe bisher als ſchwunghaft betriebene Hausinduſtrie blühte, jetzt theilweiſe auch zum Fabrikſyſteme übergeht. Im Jahre 1836 zählte man 1246 Meiſter in Sachſen, im Jahre 1849 aber 3191; 1861 werden 2741 Meiſter mit 3782 Gehülfen als Poſamentiere in der Handwerkertabelle, 316 handwerksmäßige Bandweber mit 450 Stühlen und 236 Gehülfen, 115 Fabriken (in ganz Preußen nur 182) mit 284 Maſchinenſtühlen, 197 einfachen Poſamentierſtühlen und 1420 Klöppel - maſchinen in der Fabriktabelle gezählt. Die Stühle der profeſſionsmäßigen Poſamentiere ſind ſonach in den Tabellen gar nicht gezählt. Viebahn ſchätzt die betheilig - ten Perſonen in Sachſen 1861 auf wenigſtens 1700 Faktore und 20000 arbeitende Männer, Frauen und Kinder, die einen guten Verdienſt haben. Er ſagt: Sachſen hat ſeit alter Zeit in Annaberg, Buchholz, Geyer, Thum und Scheibenberg eine wichtige Poſa - menteriefabrikation, welche gegen 5000 Poſamentier - und Bandſtühle beſchäftigt und ganz Deutſchland mit wohlfeilen Borden, Bändern, Frangen, Gürteln, Gorls (Agrements), Chenille und Zeugknöpfen verſieht. Auch Soutachen und die für Beſätze erforderlichen Seiden - ſchnuren werden ſeit einiger Zeit in Annaberg und Buchholz fabrizirt. Gedrehte und geflochtene Kleider - ſchnuren in Wolle und Baumwolle, ſowie Schnuren für induſtrielle Zwecke werden in einem mit Dampf - kraft ausgeſtatteten Etabliſſement zu Chemnitz, außer -602Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.dem in Hainichen und andern Orten fabrizirt; nament - lich haben die geflochtenen Spindelſchnuren wegen ihrer Haltbarkeit bedeutenden Abſatz gefunden. Die Ver - fertigung leinener und baumwollener Bänder, Schnür - ſenkel, Hoſenträger und Gurten beſchäftigt in der Lauſitz und im Dresdener Bezirk namentlich zu Pulsnitz, Groß - röhrsdorf und Brettnich zu Zeiten bis zu 1200 Stühle: die urſprünglichen mangelhaften Schubſtühle weichen den Mühlſtühlen, auch zahlreiche Maſchinenſtühle ſind ſchon im Gange und die nöthigen Baumwollfärbereien kommen zu Hülfe. Die bekannte Jacquardhoſenträger - gurtfabrikation ſteht hier allein und unterliegt keiner Konkurrenz.

Die Geſchäfte gingen bis in die neuere Zeit ſo ſchwunghaft, daß Fabrik - und Maſchinenſtühle die Hand - arbeit und Hausinduſtrie nicht verdrängt haben; es fand mehr eine Arbeitstheilung zwiſchen beiden Syſtemen ſtatt; der Lohn war ein ſteigender. Frauen, welche früher die Woche nicht über Thaler gekommen waren, verdienten ſeit Anfang der ſechsziger Jahre oft bis 3 Thaler die Woche. Der Chemnitzer Handels - kammerbericht gibt für 1863 folgende Ueberſicht über die Stühle im Kammerbezirk. Man zählte:

603Der neueſte Stand der Poſamentierinduſtrie.

Er fügt bei: Nur die Klöppelmaſchinen, worauf Schnüre und Bänder zu Krinolinen fabrizirt werden, gehören den Fabrikanten, die andern Stühle, auch die Chenilleſtühle, gehören den Faktoren oder den Arbeitern ſelbſt. Der Fabrikant kauft vom Faktor und liefert ihm die neuen Muſter. Der Umſchwung der Technik und der Geſchäftsorganiſation zeigt ſich aber doch darin, daß von den einfachen Poſamentierſtühlen etwa nur die Hälfte, die andern Stühle faſt alle voll beſchäftigt ſind.

An die Bemerkungen über das Poſamentiergewerbe ſchließen ſich endlich die über Strumpfwirkerei; ſie iſt theilweiſe auch lokal mit jenem Gewerbe vereinigt.

Strumpfwaaren werden ſeit alter Zeit neben der Handſtrickerei auf dem hölzernen Strumpfwirkſtuhl gefer - tigt, welcher ſchon 1589 von dem Magiſter William Lee zu Kambridge erfunden worden war und bis zur Mitte dieſes Jahrhunderts unverdrängt blieb. Ein ſolcher Stuhl koſtete in den zwanziger und dreißiger Jahren kaum einige Thaler, war alſo auch dem ärm - lichſten Handwerker erreichbar. Zahlreiche lokale Ge - ſchäfte entwickelten ſich ſchon im vorigen Jahrhundert, neben der beſonders in Sachſen und Thüringen blühen - den Hausinduſtrie.

Die preußiſchen Strumpfwirkerſtühle führte ich für 1816 und 1831 ſchon oben nach Provinzen an; wir ſahen, daß ſie überall vorkamen. Die Geſammtſumme der Stühle hatte 1816 2085, 1831 2110 betragen. Auch die folgende Ueberſicht nach Regierungsbezirken zeigt für die ſpätere Zeit einen ähnlichen Charakter,604Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.

d. h. einzelne Sitze einer nicht gerade bedeutenden Haus - induſtrie, daneben keine durchgängige große Abnahme in den Bezirken, welche nur kleine handwerksmäßige Ge - ſchäfte haben. Die Geſammtſumme der Stühle im preußiſchen Staate war 1834 2181, 1840 2398, 1849 2106, 1861 2336. Die Meiſter fielen 1849 61 von 1438 auf 1369, die Gehülfen ſtiegen von 971 auf 1137. Es trat bis 1861 weder eine605Die Strumpfwirkerei.weſentliche Aenderung der Technik, noch der Geſchäfts - organiſation ein.

Die daneben in Preußen beſonders gezählten Fabri - ken ſind wohl hauptſächlich nur Geſchäfte, welche die Produkte der Hausinduſtrie vollenden und vertreiben; ihre Zählung iſt demgemäß unſicher; man findet 1846 165, 1861 64 Fabriken mit damals 92, ſpäter 94 Maſchinenſtühlen, einigen hundert Handſtühlen und gegen 1000 Arbeitern.

Das Zollvereinsbureau zählt unter II. A. 39944 Strumpfwirkerſtühle, 17962 Meiſter und 16093 Ge - hülfen, von welchen die Hauptpoſten auf Sachſen, Thüringen und Baiern fallen, daneben unter II. B. 279 Fabriken mit 4236 Maſchinenſtühlen, 1739 Hand - ſtühlen, 2535 männlichen und 3369 weiblichen Arbei - tern. Von den 4236 Maſchinenſtühlen fallen wieder 3965 auf Sachſen; es ſind zu einem großen Theil engliſche Rundſtühle, welche mit der Hand betrieben werden. Ich komme darauf zurück; vorher will ich nur ein Wort über den Hauptſitz der thüringiſchen Strumpf - wirkerei, über Apolda bemerken. 1Die Wolleninduſtrie Apolda’s, Hildebrand’s Jahrbücher II, S. 310 312.

Ein einfacher Strumpfwirker, Chriſtian Zimmer - mann, der zu Ende des vorigen Jahrhunderts ſeine Waaren auf dem Rücken nach Leipzig trug, hat die große dortige Strumpfwirkerinduſtrie, welche die ganze Gegend beſchäftigt, welche die verſchiedenſten Artikel über 4000 Nummern zählen die Waarenlager nach606Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.allen Weltgegenden liefert, veranlaßt und ins Leben gerufen. Was die Organiſation betrifft, ſo herrſcht faſt durchaus noch die Hausinduſtrie. Die Wirkermeiſter, welche bis 1. Januar 1863 eine Handwerkerzunft bil - deten, haben ihre eigenen Wirkerſtühle in ihren eigenen Wohnungen, erhalten Muſter und Garne von dem Fabrikanten zugewogen und fertigen mit ihren Geſellen und Lehrlingen die beſtellten Waaren für die akkordirten Preiſe in ihrem Hauſe an, ſo daß dem Fabrikanten nur die Anfertigung der Muſter und die Arbeit der Prüfung, Sortirung, Etikettirung und Verpackung der fertigen Waaren bleibt. Um dem Bedürfniß der Detail - händler, welche von ihnen die Waaren erhalten, voll - ſtändig zu genügen, laſſen ſie auch, hauptſächlich aus - wärts auf Meilen weit bis Halle und Kaſſel ſtricken und andere Handarbeit von Frauen, von Wittwen und Waiſen fertigen. Von 941 Wirkermeiſtern im Groß - herzogthum Weimar kamen 1861 534 auf Apolda; ſie hatten 449 männliche und etwa 400 weibliche Gehülfen; daneben zählte man 39 Fabrikanten, die innerhalb ihrer Lokale 73 Buchhalter und Kommis, 77 männliche und 191 weibliche Arbeiter beſchäftigten. Mechaniſche Wirkſtühle gab es erſt 62; man ging 1861 eben erſt daran, ſie zum erſtenmal mit Dampf in Bewegung zu ſetzen. Die Aufnahme von 1864 zeigt im Großherzogthum Weimar nur 748 ſelbſtändige Strumpfwirkergeſchäfte. 1Statiſtik Thüringens von Hildebrand I, S. 249.Die Ab - nahme von 1861 64 hat dieſelbe Urſache, die ich gleich bei der ſächſiſchen Induſtrie werde zu beſprechen haben.

607Die apoldaer und die ſächſiſche Strumpfwirkerei.

Die ſächſiſche Strumpfwirkerei,2John Bowring’s Bericht über den deutſchen Zollver - band. S. 53 54. Zeitſchrift des ſächſ. ſtat. Bureaus 1860, S. 106; 1863, S. 27 u. S. 38 ff. Chemnitzer Handelskammer - bericht für 1863 S. 101 111. ſchon aus dem vorigen Jahrhundert ſtammend, nahm hauptſächlich ſeit Anfang der zwanziger Jahre ihren großen Aufſchwung. Damals regten deutſche Importeure aus den Vereinigten Staaten die Anfertigung von Strümpfen nach engliſchen Muſtern an; die Nachahmung führte auf weſentliche Verbeſſerungen in Façon, Naht, Herſtellung, Bleiche und Induſtrie; die nun von Spinnmaſchinen gelieferten Garne ermöglichten auch feinere Qualitäten als bisher, und ſo bildete ſich ziemlich raſch ein Exportgeſchäft aus, das zwar auch ſeine Kriſen hatte, aber doch mächtig zur Ausdehnung des Induſtriezweiges beitrug. Bowring gibt die Zahl der ſächſiſchen Strumpfwebemaſchinen in beinahe übertrieben ſcheinenden Zahlen ſo an:

Die Zahl der Meiſter gibt er 1831 zu 7165 an, während eine offizielle Angabe 1836 nur 3315 zählt. Den Wochenverdienſt von einem Rahmen ſchätzt Bowring auf 1 Thlr. 4 Gr. Dieſer Induſtriezweig ſagt er erfordert nur eine kleine Auslage an Kapital für den Strumpfwirker; ſein hölzerner Rahmen iſt nicht koſtſpielig, die Ausgabe für den Vorrath an Baum - wollengarn iſt klein; er kann das Leben des Landmanns608Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.mit dem des Handarbeiters vereinigen. Man kann ſagen, daß die ſächſiſchen Strumpfwirker ſich in einem Zuſtande fortſchreitend wachſenden Wohlſtandes befinden, und daß ihre Lage eine Art häuslichen Glückes iſt. Viele von ihnen ſind unabhängige Arbeiter, kaufen aus eigener Hand das rohe Material und verkaufen die fer - tigen Strümpfe an Aufkäufer, welche die Märkte in Chemnitz und Leipzig verſorgen.

Daneben zeigten ſich freilich auch ſchon damals die Mißſtände jeder Hausinduſtrie, die ihre Impulſe nicht von oben herab, durch Einmiſchung der Regierung oder durch ſehr intelligente, um die ganze Bildung der Leute ſich kümmernde Fabrikanten bekömmt. Schon von den dreißiger Jahren ſagt ein anderer Bericht: Leider ging mit dieſem allgemeinen Wohlbefinden der Arbeiter das Streben[nach] Verbeſſerung nicht Hand in Hand. Je beſſer der Verdienſt war, deſto nachläſſiger wurde gear - beitet und man war taub gegen jede Mahnung, auf tadelloſe Qualität zu halten und neue Erfindungen ein - zuführen. Alles Neue, Ungewohnte fand bei der Mehr - zahl der Arbeiter Widerſtand, den nur die Noth beſiegen konnte.

Und ſie trat ein; der Abſatz ſtockte gewaltig zu Anfang der vierziger Jahre mit der allgemeinen Ueber - produktion an Baumwollwaaren; erſt gegen Ende des Jahrzehntes wurde es wieder beſſer, man zählte in Sachſen 1846 19611 Handwirkerſtühle, 1849 90 Fabrikanten oder Unternehmer, 136 Faktore, 14763 Strumpfwirkermeiſter und 18189 Gehülfen; von einer Aenderung der Technik, von Maſchinenſtühlen, von einer609Die ſächſiſche Strumpfwirkerei.Produktion in Fabriken war noch nicht die Rede. Dazu kam es erſt in den funfziger Jahren; zuerſt wohl, weil der Abſatz wieder ſtockte und man verſuchen mußte, billiger zu produziren. Von 1855 an freilich konnte wieder für den amerikaniſchen Abſatz nicht genug pro - duzirt werden, die techniſchen Fortſchritte waren nicht mehr nothwendig, um Arbeit zu erhalten, ſie waren nur angezeigt, um mehr Waare zu liefern. Im Jahre 1861 werden 21179 Handſtühle, 12854 Strumpf - wirkermeiſter und 12185 Gehülfen (letztere wohl nicht mit der Zahl von 1849 vergleichbar, da nach der preuß. Vorſchrift alle helfenden Perſonen für Spulen, Nähen ꝛc. wegblieben) gezählt; daneben 151 Fabriken mit 3965 Maſchinen -, 775 Handſtühlen, 893 männlichen und 1208 weiblichen Arbeitern. Neben der ſo lautenden offiziellen Aufnahme1Vergl. Zeitſchrift des ſächſ. ſtat. Bür. 1863, S. 21. hat eine genauere durch Sach - verſtändige für alle größeren Geſchäfte im Laufe des Jahres 1862 ſtattgefunden; dieſe ergiebt, daß 124 größere Geſchäfte den Abſatz der Strumpfwirkerwaaren in Sachſen vermittelten, daß aber auch von dieſen damals nur 46 geſchloſſene Etabliſſements beſaßen, wovon 8 mit Dampf, 3 mit Waſſer, 1 mit Waſſer und Dampf betrieben wurden. Man ſchätzte die Geſammtzahl der Perſonen, welche in Sachſen (1861 62) von der Strumpfwirkerei lebten, auf 45000, nämlich auf 30000 Männer und 15000 Frauen.

Was die Aenderung der Technik betrifft, die eigent - lich erſt mit der Abſatzſtockung von 1862 an ſehrSchmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 39610Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.empfindlich wirkſam für die Hausinduſtrie wurde, ſo will ich darüber nur noch einige Worte bemerken.

Die alten ganz einfachen und billigen Holzſtühle lieferten nur ein einziges geradliniges Stück, die ſpäter verbeſſerten mehrere, hauptſächlich 6 und 12 Stücke auf einmal. Dieſe einfachen Stühle aber machen alle ſog. geſchnittene Waare, welche zuſammengenäht werden muß. Die breiten Handſtühle, ſowie die Theilung der Arbeit, auf einzelnen Stühlen je Beine, Ferſen, Füße für ſich zu machen, wie das in England länger ſchon üblich iſt, haben ſich erſt zu Ende der funfziger Jahre verbreitet. Daneben war aber ein ganz anderer Stuhl, der Kreis - wirkſtuhl, in den vierziger Jahren erfunden worden. Der engliſche Rundſtuhl wird in der Regel mit meh - reren (6 8) Köpfen gebaut, d. h. ſo, daß mehrere rohrartige Gewebe zugleich gefertigt werden können. Der gewöhnliche engliſche Rundſtuhl liefert 96000 Maſchen in der Minute, in der Woche das Maſchenwerk für 1200 Paar Strümpfe; er koſtet pro Kopf 30 bis 50 Thaler. Der franzöſiſche Rundſtuhl iſt etwas anders gebaut und iſt ziemlich theurer (Preisangaben zwiſchen 150 und 500 Thlr.); er liefert Trikots, Jacken, Unterhoſen. Eiſerne Handſtühle kommen auch ſchon auf 130 bis 200 Thlr. Auf beſonderen Kettenſtühlen (zu 150 bis 250 Thlr.) werden Handſchuhe, auf den ſog. Ränder - ſtühlen (zu 50 80 Thlr.) die elaſtiſchen Ränder für Strümpfe, Aermel und Hoſen, auf den ſtarken Coulir - ſtühlen beſonders ſtarke Strümpfe und Hoſen gefertigt. Eine beſondere Art von Nähmaſchinen (à 20 Thlr.) wird zum Zuſammennähen der einzelnen Stücke gebraucht. 611Die techniſchen Fortſchritte in der Strumpfwirkerei.Endlich exiſtiren jetzt auch breite mechaniſche Stühle, deren einer etwa 1000 Thaler koſtet. Die anderen Stühle können alle auch mit der Hand bewegt werden.

Die erſten engliſchen und franzöſiſchen Rundſtühle wurden in Sachſen 1851 (nach einer anderen Angabe 1852) eingeführt. Die Fortſchritte gingen aber langſam. Im Jahre 1861 hatten erſt 12 Etabliſſements ſolche verbeſſerte Stühle durch mechaniſche Kraft betrieben, 34 hatten ſolche, aber von Arbeitern bewegt. Man zählte damals in ganz Sachſen:

Das größte Etabliſſement hatte allein 1600 eng - liſche Köpfe und 60 franzöſiſche Rundſtühle. Die kleinen Strumpfwirker waren faſt alle bei ihren alten Stühlen geblieben und hatten zu thun, bis 1862 der Abſatz nach Amerika in’s Stocken kam. Der Lohn wurde gedrückt; ein gewöhnlicher Strumpfwirker ver - diente nicht mehr als 25 30 Sgr. in der Woche, wobei die Hülfe von Frau und Kindern zum Nähen und Spulen noch eingerechnet werden mußte. Selbſt auf breiten Stühlen und mit beſſer lohnenden Artikeln konnte es ein fleißiger Wirker kaum auf 2 Thlr. die Woche bringen, während beim Eiſenbahnbau 15 Gr. täglich bezahlt wurden. Die folgende Ueberſicht der Stühle des Kammerbezirks Chemnitz zeigt die Stockung,39 *612Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.am beſten, daneben gibt ſie die Zahl und die Art der Stühle, wobei zugleich erſichtlich, daß die Aufnahme der Handſtühle für ganz Sachſen 1861 unvollſtändig war. Man zählte im Herbſt 1863 nach der beſonderen Aufnahme:

1Etwa 3000 dieſer Stühle wird hinzugefügt gehören Maurern, Zimmerleuten, Feldarbeitern, ſie ſind immer nur im Winter im Gange. Der Geſammtwerth der obigen Handſtühle (wozu Hand -, Ketten - und Ränderſtühle gerechnet ſind) wird von dem Berichterſtatter zu 929510 Thlr., der Geſammtwerth der ſog. Maſchinenſtühle (von welchen aber auch viele mit der Hand betrieben werden) zu 278990 Thlr. berechnet, wobei alle Hülfsmaſchinen, Spulräder, Spulmaſchinen, Appreturutenſilien, die Motoren ꝛc. noch nicht gerechnet ſind. Bei vollem Gange erfordern dieſe Stühle jährlich 10 Mill. Pfund Garn.
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Der Chemnitzer Berichterſtatter erklärt die Noth neben der Abſatzſtockung aus dem geringen Fortſchritt im Maſchinenweſen, aus dem Zurückbleiben gegenüber den engliſchen Konkurrenten. Er beklagt vom ſittlichen Standpunkt aus den Verfall der Hausinduſtrie, aber613Die Kriſis der kleinen Strumpfwirker 1862 65.er findet in ihr die Haupturſache der Stabilität. Das Uebel ſagt er liegt in unſerem Syſtem der Hausinduſtrie, nach welchem faſt jeder Arbeiter ſein eigener Herr und Beſitzer ſeines Stuhles iſt, mit welchem er, zähe am Alten hängend, lieber das Ge - wohnte zu billigerem Lohne macht, als ſich auf neue Betriebsarten einzurichten. Meiſt fehlen den Leuten auch die Mittel dazu, denn da ſie keine Amortiſation und keine Reparaturen rechnen, ſo verarmen ſie ſchließ - lich und drücken mit ihrem billigen, freilich oft auch ſehr ſchlechten Fabrikat den Markt, daß es ſchwer iſt, ſelbſt mit verbeſſerten, aber beſſeren Lohn erheiſchenden Stühlen im Welthandel dagegen zu konkurriren.

Hunderte von Strumpfwirkern haben allerdings damals ihr Geſchäft aufgegeben, haben ihre Stühle verkauft und ſind zu dem damals flott gehenden Anna - berger Poſamentiergeſchäft oder zu anderem Beruf, auch zur reinen Tagelöhnerarbeit übergegangen. Aber als 1865 der Abſatz wieder beſſer wurde, da fanden alle noch nicht verkauften Stühle wieder Beſchäftigung, der Lohn ſtieg wieder. Es bildete ſich, woran es vorher hauptſächlich gefehlt, in Sachſen ſelbſt der Bau von Rundſtühlen und verbeſſerten eiſernen Stühlen überhaupt aus. Der Chemnitzer Bericht von 18661Preußiſches Handelsarchiv 1868, II, S. 93 94. meldet, daß auch die Hausinduſtrie ſich mehr und mehr in den Beſitz ſolcher verbeſſerter Arbeitsmittel geſetzt habe. Die 1863 oft gehörte Prophezeihung, nur das voll - ſtändige Verlaſſen der Hausinduſtrie könne die ſächſiſche614Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.Strumpfwirkerei retten, hat ſich erfreulicher Weiſe wenig - ſtens nicht vollſtändig beſtätigt.

Die Hausinduſtrie iſt hauptſächlich da und dann nicht haltbar, wo und wenn ihr der geiſtige Impuls, die Bildung fehlt. Der kaufmänniſche Standpunkt raiſonnirt gerne auf die Hausinduſtrie, weil ſie an die Kaufleute und Fabrikanten das Verlangen ſtellt, mit Mühe und mancherlei Schwierigkeiten für die techniſche Bildung der Arbeiter zu ſorgen. Die große Fabrik iſt bequemer; da bezahlt man einen tüchtigen Ingenieur und einen tüchtigen Zeichner; dann iſt die Bildung des Reſtes der Arbeiter nicht mehr von ſolcher Bedeutung.

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10. Die Schuhmacher, Schneider und verwandten Gewerbe.

Der Charakter dieſer Gewerbe. Die Nadel -, Kamm -, Knopf -, Stock - und Schirmfabrikation. Die Gerberei; ihr Aufſchwung und ihre Organiſation. Statiſtik der Gerberei von 1816 bis 67. Die preußiſchen Schuhmacher 1816 61. Das Schuhmachergewerbe bis 1846. Die Aenderungen der Organi - ſation und Technik ſeither. Die Genoſſenſchaften von Schuh - machern. Die Kürſchner, Rauchwaarenhändler und Mützen - macher. Die produzirenden und die Handelsgeſchäfte dieſer Branche; die provinzielle Vertheilung. Die Handſchuh - macherei; der Uebergang zu großen Geſchäften. Die Kravatten - macherei. Die Strohhutfabrikation. Die Hutmacherei, ihre Konzentration in großen Fabriken. Die weibliche Kopfbe - deckung und die Anfertigung künſtlicher Blumen. Das Putz - machergeſchäft. Das Schneidergewerbe. Der Inhalt der Tabellen, die Zunahme des Gewerbes. Die veränderte Or - ganiſation des Gewerbes. Die glänzenden großen Geſchäfte, die Noth der kleinen Meiſter. Die Anwendung von Frauen - arbeit. Die Weißwaarenfabriken. Die Stickerei und Spitzen - induſtrie. Die Stickmaſchine.

Wollen wir nach den Ausführungen über die wich - tigſten Arten der Herſtellung von Bekleidungsſtoffen unſern Blick noch auf die weitere Verarbeitung derſelben, überhaupt auf die Gewerbe werfen, welche mit der Vollendung der menſchlichen Bekleidung und Beſchuhung616Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.zu thun haben, ſo iſt hier von einer Großinduſtrie, wie bei der Spinnerei und Weberei nicht die Rede. Aber ſehr Vieles hat ſich auch hier geändert oder iſt nahe daran, ſich zu ändern.

Die frühere faſt ausſchließlich lokale Produktion, ſowie die Herſtellung von Kleidern innerhalb der Familie hat einen bedeutenden Stoß erhalten; die Fortſchritte des Verkehrs, die Arbeitstheilung, die Mechanik haben auch hier eingegriffen. Aber die Aenderungen der Technik ſind faſt alle ſo, daß die vollſtändige Durchführung der - ſelben doch nicht zu ganz großen Etabliſſements führt, daß, wo ſolche exiſtiren, dieſelben doch nur dieſelben Apparate zehn - und mehrfach neben einanderſtellen, daß ſie in den perſönlichen Leiſtungen der Arbeiter vielleicht eine noch etwas weiter gehende Theilung und Speziali - ſirung eintreten laſſen, aber doch keine ſolche Ueberlegen - heit über die kleinen Geſchäfte beſitzen, wie z. B. die großen Baumwollſpinnereien über die kleinen, der mecha - niſche Webſtuhl über den Handſtuhl. Außerdem aber wirkt der Konzentration in dieſem Gebiete, der Pro - duktion für andere Orte, Gegenden und Länder der Umſtand entgegen, daß der perſönliche Geſchmack ſich doch nie vollſtändig mit Schablonenarbeit zufrieden gibt, daß eine große Zahl von Perſonen alle Kleider und Schuhe, Hüte und Handſchuhe nach beſtimmten Vor - ſchriften gearbeitet haben will. Das erhält bis auf einen gewiſſen Grad die lokalen und damit auch kleinere Geſchäfte neben den großen.

Das moderne Magazin hat ſich gerade der hier in Betracht kommenden Gewerbe am meiſten bemächtigt. 617Der Charakter dieſer Bekleidungsgewerbe.Das Magazin iſt ein glänzendes Verkaufsgeſchäft, ein Laden mit großer Auswahl, aber ein ſolcher, der in der Regel doch auch auf Beſtellung, auf Maß arbeiten läßt, weil das in dieſen Artikeln vom Publikum ge - wünſcht wird. Die Produktion des Magazins iſt eine andere, als die des kleinen Handwerkers, aber in der Regel doch auch nicht die einer großen Fabrik; das Magazin bezieht die einzelnen Theile, die halb fertigen Waaren da und dort her, läßt da und dort arbeiten, wendet Maſchinen an, wenn es nothwendig iſt, aber der lokale Abſatz bleibt die Hauptſache. Uebrigens will ich hier nicht wiederholen, was ich oben von dem Ma - gazinſyſtem ſagte; es genügt, daran zu erinnern.

Am weiteſten iſt wohl das Fabrikſyſtem vorgedrun - gen in der Produktion jener kleinen Theile und Hülfs - mittel menſchlicher Bekleidung, welche am leichteſten verſendbar, zu Hunderten und Tauſenden nach gleichen Muſtern angefertigt werden können. Doch iſt auch hier der Umſchwung noch kein vollſtändiger.

Die Nähnadeln werden jetzt durchaus in Fabriken, die Stecknadeln, Haarnadeln, Haken, Oeſen auch noch mannigfach von Handwerkern gemacht. Der alte Horn - kamm iſt theilweiſe von den Waaren aus vulkaniſirtem Kautſchuk verdrängt, und dieſe werden von Fabriken geliefert; aber noch exiſtiren viele Kammmacher, Horn - dreher, Elfenbeinarbeiter; eine Kammſchneidemaſchine iſt nicht ganz billig, aber ſie wird auch von Profeſſio - niſten angeſchafft. Die überſponnenen Knöpfe liefert das Poſamentiergewerbe, die Knöpfe aus Horn und Holz, ſowie die Metallknöpfe ſind ſchon mehr auf große Ge -618Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.ſchäfte übergegangen, ähnlich wie die Anfertigung von Stöcken, Sonnen - und Regenſchirmen, Fächern und ähnlichen Dingen. Doch iſt in allen dieſen Gewerben der Großbetrieb nicht abſolut nothwendig. Wir ſehen neben den Fabriken lokale Geſchäfte, freilich vielfach mit Läden und Reparaturgeſchäften verbunden, wir ſehen außerdem, daß dieſe Waaren theilweiſe auch durch die Hausinduſtrie, alſo durch die Thätigkeit kleiner Meiſter entſtehen können. Ich erinnere nur an das Tabletterie - gewerbe in der Umgegend von Paris,1Roſcher, Anſichten der Volkswirthſchaft. S. 149. an die Thatſache, daß die große Londoner Sonnen - und Regenſchirm - fabrikation mit ihrem ungeheuren Export durchaus Haus - induſtrie iſt. Die Fabrikation der Geſtelle für Regen - und Sonnenſchirme ſagt Profeſſor Hofmann in London2Zollv. Ausſtellungsbericht 1851. III, S. 549 50. wird hauptſächlich von kleinen Meiſtern betrieben, die gewöhnlich einige Knaben als Gehülfen beſchäftigen; das Ueberziehen der Schirme hingegen wird von Frauen und Mädchen beſorgt, die in ihren Woh - nungen arbeiten. England verdankt den Vorrang in dieſer Induſtrie nicht ſowohl der Einführung neuer koſtbarer Maſchinen denn die Werkzeuge der Sonnen - und Regenſchirmmacher ſind noch faſt eben ſo einfach, als ſie es vor 100 Jahren waren ſondern vielmehr einer verſtändigen Anwendung des Prinzips der Arbeits - theilung.

Gehen wir aber nun zu den eigentlichen Hand - werken, welche hierher gehören, über. Ich beginne als619Die Gerberei.Einleitung für die Betrachtung der Schuhmacherei mit der Lederbereitung, mit der Gerberei.

Der Bedarf an Leder iſt außerordentlich geſtiegen; der Gebrauch lederner Fußbekleidung iſt ſehr viel all - gemeiner geworden als früher; auch für andere Zwecke, für Fuhrwerke, Pferdegeſchirr, Maſchinenriemen wird heute ſehr viel mehr Leder erfordert. Die eigene Pro - duktion von Häuten im Zollverein iſt mit der Viehzahl geſtiegen; 1816 zählte man in Preußen 4,0 Mill. Stück Rindvieh, 1864 - 5,8 Mill. Die Mehreinfuhr von rohen Häuten zur Lederbereitung in Preußen betrug 1822 - 45334 Ztnr., die Mehreinfuhr in den Zoll - verein 1842 - 183980 Ztnr., 1861 64 - 470000 bis 500000 Ztnr. Fertiges Leder wird wenig eingeführt; die Verarbeitung dieſer eingeführten wie der im Zoll - verein produzirten Häute erfolgt im Lande ſelbſt; ebenſo aber auch der Verbrauch des fertigen Leders; die Mehr - ausfuhr von fertigem Leder (hauptſächlich nach Oeſtreich und der Schweiz) iſt nicht bedeutend. 1Bienengräber, Statiſtik des Verkehrs. S. 391 402.Die Lederpro - duktion des Zollvereins wurde ſchon 1844 zu 1 Mill. Zentner im Werthe von 47 Mill. Thalern geſchätzt; ſie ſoll ſich von 1850 62 etwa verdoppelt haben. Die deutſche Lederinduſtrie ſteht mit an erſter Stelle. 2Viebahn III, 613.

Schon früher war das Gewerbe neben einzelnen lokalen Geſchäften mehr in denjenigen Gegenden und Orten zu Hauſe, welche ihm die günſtigſten Vorbedingun - gen, hauptſächlich gute Eichenrinde zur Lohe boten. Es620Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.erfordert von jeher ein gewiſſes Kapital zum Einkaufe der Häute und der Hülfsſtoffe, dann umfaſſende Gebäude, Gruben, Vorrathshäuſer. Die Einrichtungen ſind meiſt ſo, daß, wenn nur das größere Kapital zum Einkauf der Häute da iſt, die Ausdehnung des Geſchäfts keine Schwierigkeiten hat, und dieſes nicht entſprechend mehr Arbeit erfordert. Große Aenderungen in der Technik ſind kaum zu konſtatiren, abgeſehen von den Methoden, welche die Abkürzung der Zeit, die ſogenannten Schnell - gerberei anſtreben, und den Manipulationen, welche die mehr mechaniſche Zurichtung des Leders nach dem eigentlichen Gerbeprozeſſe bezwecken. 1Vergl. Preuß. Handelskammerberichte 1866, S. 150; es heißt da: von den 3 großen Lederfabriken Krefeld’s arbeiten zwei nach der alten Gerbemethode faſt ausſchließlich Lederſorten, die zu Schuhmacherwaaren in Stadt und Umgegend Abſatz finden. Eine dagegen läßt mit den neueſten Maſchinen ihres Faches, mit Dampf, unter theilweiſer Anwendung der Prin - zipien der Schuellgerberei hauptſächlich ſolche Artikel fertigen, welche in Wagenfabriken, zu feinen Sattlerarbeiten, zu Militär - effekten Abſatz finden.Eine vollendete Produktion freilich ſetzt einen ziemlichen Grad chemiſcher Kenntniſſe, eine geſchickte Leitung und eine ſehr exakte Arbeit voraus. Noch mehr iſt das der Fall bei der Bereitung der lackirten und gefärbten Leder, welche daher auch am früheſten auf eigentliche Fabriken über - gegangen iſt.

Die Zahl der Geſchäfte hat in Preußen ſeit neuerer Zeit nicht zu - ſondern ſogar etwas abgenommen; man zählte:621Die Gerberei.

Im Jahre 1849 hatte man die großen fabrik - mäßigen Gerbereien mit den Fabriken, in welchen lackir - tes und gefärbtes Leder bereitet wird, zuſammen gezählt; es ergaben ſich ſolche Lederfabriken 505 mit 3361 Ar - beitern,1Tabellen und amtliche Nachrichten V, S. 832. von welchen etwa die Hälfte auf Weſtfalen und die Rheinprovinz kamen. In Malmedy, einem der Hauptorte der Gerberei, zählte man ſchon 1849 6 Meiſter mit 9 Gehülfen, 39 Fabrikherrn mit 208 Ar - beitern, in Berlin 30 große Gerbereien mit 303 Arbei - tern neben 74 Meiſtern mit 252 Gehülfen. Im Jahre 1861 ſind wieder die großen Gerbereien in der Hand - werkertabelle mit gezählt; daher das Reſultat: 4907 Meiſter mit 6292 Gehülfen. Manche Fabriken ſind darunter, die große Steigerung der Produktion kommt hauptſächlich auf ihre Rechnung. Aber auch die großen Geſchäfte ſind gegenüber anderen Großinduſtrien noch mäßigen Umfangs und daneben hat ſich eine große Zahl kleiner Geſchäfte erhalten. Die außerpreußiſchen Hauptſitze der Gerberei des Zollvereins ſind Bayern, Württemberg, Sachſen und Thüringen, in welchen die Gehülfenzahl die Meiſter entweder nicht ganz erreicht oder doch kaum überſteigt. Im ganzen Zoll - verein zählte man 1861 - 11992 Meiſter mit 14309 Gehülfen.

622Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.

Von 1861 bis zur Gegenwart ſehen wir ähnliche Reſultate; die 1353 Geſchäfte, welche 1861 in der Rheinprovinz waren, ſind bis 1867 auf 1155 geſunken,1Bienengräber, Statiſtik des Verkehrs, S. 397. während die Produktion noch zunahm; aber auch 1867 iſt die durchſchnittliche Quantität verarbeiteter Häute, welche dort auf eine Gerberei kommt, nicht über 656 Ztnr. mit einem Durchſchnittswerth des fertigen Produktes von 5939 Thlr. für je eine Gerberei. Das deutet immer noch auf Geſchäfte hin, welche im Durch - ſchnitt zwiſchen großem und kleinem Betrieb in der Mitte ſtehen.

Das wichtigſte Gewerbe in der Verarbeitung des Leders ſind die Schuhmacher; ſie ſind überhaupt faſt überall das zahlreichſte Gewerbe;2Vgl. oben S. 302; ferner Mittheilungen I, 234; Tabellen und amtliche Nachrichten V, 833. Viebahn III, 680. ſelbſt Preußen, Poſen, Pommern haben im Verhältniß zur Bevölkerung nicht ſehr viel weniger Schuhmacher als Weſtfalen und die Rheinprovinz; die größte Zahl Schuhmachermeiſter hat Württemberg (73 auf 10000 Einw., 52 in Altpreußen), während nach Viebahn in Frankreich 52, in Oeſtreich 20 Meiſter auf dieſelbe Einwohnerzahl kommen. Was die hiſtoriſche Entwicklung betrifft, ſo wirken man - cherlei Urſachen neben und gegen einander. Ich theile zunächſt das Reſultat der preußiſchen Aufnahmen mit, um daran die weiteren Bemerkungen zu knüpfen. Man zählte:623Die Schuhmacher.

Im ganzen Zollvereine zählte man 1861 - 189006 Meiſter mit 127875 Gehülfen; auf 100 Meiſter kom - men 60 Gehülfen.

Die Zunahme des Gewerbes von 1816 46 (um 10 % ſtärker als die Bevölkerung) darf theilweiſe wenigſtens als Folge des ſteigenden Wohlſtandes betrachtet werden. Es hatte ſich bis dahin in der Technik und in der Organiſation des Gewerbes nichts geändert. Freilich wäre eine Zunahme des Schuhver - brauchs auch denkbar ohne Zunahme der Gewerbe - treibenden, da die Schuhmacher von jeher zugleich eins der Gewerbe waren, welches am meiſten über eine zu große Zahl von Meiſtern klagte. Beſonders624Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.ſo lange faſt nur auf Beſtellung, faſt gar nicht auf Lager gearbeitet wurde, war es eines der am leich - teſten und mit den wenigſten Mitteln zu ergreifenden Gewerbe. Das Bedürfniß an Schuhmachern war von jeher groß, es ſtieg mit jeder allgemeinen Beſſerung der wirthſchaftlichen Verhältniſſe; der Zudrang war daher immer groß; die halbbeſchäftigten Exiſtenzen waren immer zahlreich, der Jahrmarkts - und Wochenmarkts - beſuch war die Folge davon. Dieſe Lage der überwie - genden Zahl der Meiſter erklärt zugleich den koloſſal ſteigenden Lederverbrauch neben der mäßigen Zunahme der Schuhmacher. Bis 1849 (vorübergehend ſogar noch einmal 1855) bleibt auch die Zahl der Gehülfen ſo niedrig als ſie 1816 war: auf 100 Meiſter nur 56 Ge - hülfen; d. h. jeder Geſelle, der in ein gewiſſes Alter kommt, und dann nicht zu einer andern Beſchäftigung übergeht oder auswandert, verſucht als Meiſter ſein Glück.

Von da bis 1861, noch mehr von 1861 bis zur Gegenwart ändern ſich die Dinge; und es zeigt ſich das auch in den Zahlen. Die Geſammtzahl der Schuh - macher bleibt 1846 61 gegenüber der Bevölkerung ſo ziemlich ſtabil, während der Lederkonſum noch viel ſtärker wächſt; die Gehülfenzahl ſteigt wenigſtens etwas und deutet darauf hin, daß neben den zahlreichen kleinen Meiſtern, deren Klagen in dieſer Zeit lauter als je ertönen, einzelne größere Geſchäfte ſich bilden. Es beginnt der Umſchwung in der Technik, wie in der Geſchäftsorganiſation.

In den Städten bilden ſich die Magazine; die verarmten Meiſter, welche die Mittel Leder zu kaufen,625Die Schuhmacherei im Großen.nicht mehr beſitzen, müſſen für ſie arbeiten. Es beginnt mehr und allgemeiner das Arbeiten auf Lager; die kauf - männiſche Spekulation bemächtigte ſich der Sache. Der Zollverein, der 1842 46 erſt eine Mehrausfuhr von jährlich 1559 Ztnr. groben und 1068 Ztnr. feinen Lederwaaren hatte, bringt es 1860 61 auf eine Mehr - ausfuhr von 16781 Ztnr. groben und 10532 Ztnr. feinen Lederwaaren. Damit bekamen die Schuſter als Hausinduſtrie eine andere Stellung. Innerhalb des Zollvereins freilich hatten längſt einzelne Orte Schuhe, Stiefeln und Pantoffeln auch für weiteren Abſatz ange - fertigt. Schon 1822 iſt der 10 te Kahlauer ein Schuh - macher, ebenſo der 34 ſte Erfurter; 1846 der 8 te Kahlauer und der 30 ſte Erfurter. Aber eine ſolche Produktion war doch mehr vereinzelt. Mit dem heutigen Verkehr konnte dieſe Art des Betriebes einen neuen Aufſchwung nehmen, um ſo mehr als an ſolchen Orten größere Geſchäfte entſtanden und alle Fortſchritte der Technik ſchnell ein - geführt wurden. In Erfurt waren ſchon 1849 neben 410 Meiſtern mit 411 Gehülfen 5 Schuhfabriken mit 148 Arbeitern. In Mainz hat jetzt ein Geſchäft allein 160 männliche und weibliche Arbeiter. In Württemberg geht der Schuhexport von Tuttlingen und Balingen aus. In Thüringen kommen beſonders noch Gotha, in der Provinz Sachſen Naumburg und Mühl - hauſen in Betracht. Im Königreich Sachſen liefern die Groitz’ſchen Schuhmacher mit 339 Geſellen und Lehr - lingen, 1200 anderen Perſonen und 44 Steppmaſchinen jährlich 72000 Dutzend Paar Schuhe. In der Rhein - pfalz iſt neben Worms vor Allem das kleine StädtchenSchmoller, Geſchichte d. Kleingewerbe. 40626Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.Pirmaſenz als Schuhmacherort bekannt. Die Entſtehung des Gewerbes an dieſem Ort iſt komiſch genug. Land - graf Ludwig IX von Heſſen hatte ſeine Reſidenz dahin verlegt und wollte daſelbſt möglichſt viel Soldaten, zugleich aber eine zunehmende Bevölkerung haben; er machte ſeinen Soldaten das Heirathen zur Pflicht, erlaubte ihnen aber nebenher ein Gewerbe zu treiben; ſie warfen ſich hauptſächlich auf die Schuhmacherei, die Pirmaſenzer Schuhmädchen gingen damit hauſiren; jetzt zählt der Ort von 8000 Einwohnern 13 größere und 63 kleinere Geſchäfte mit 17 Buchhaltern, 54 Zuſchnei - dern, 1154 Arbeitern und 466 Arbeiterinnen mit 60 bis 90 Näh -, Sohlſchneide - und andern Maſchinen. 1Deutſche Ausſtellungszeitung v. 20. Mai 1867, Nr. 20 verglichen mit Viebahn III, 682.Sie liefern jährlich 130000 Dutzend Paar Stiefeln oder Schuhe im Werthe von etwa 2 Mill. fl.; der Export geht nach Oſt - und Weſtindien, Auſtralien und Südamerika.

Die erſte wichtigere Aenderung der Technik, war die in den vierziger Jahren aus Amerika importirte Methode, die Sohlen mit Holzſtiften aufzunageln ſtatt zu nähen; die Arbeit geht raſcher und iſt beſſer; auch iſt die Arbeitsart freier, der Konſtitution des Körpers angemeſſener. Später kam die Nähmaſchine, welche beſonders mit der zunehmenden Verwendung von Ge - weben für das Schuhwerk von Damen die Anfertigung der oberen Theile der Schuhe ſehr erleichterte. Be -627Die techniſchen Fortſchritte in der Schuhmacherei.ſondere größere Geſchäfte bildeten ſich, welche einzelne Theile en gros produziren und liefern wie Abſätze, Schuhverzierungen, Gummizüge u. ſ. w. Eine Maſchine zum Anſchrauben der Sohlen befand ſich ſchon 1851 auf der Londoner Ausſtellung; in neuerer Zeit kom - men ſolche Maſchinen in den preußiſchen Militärſchuh - machereien zur Anwendung; eine Berliner Fabrik liefert ſie das Stück zu 200 Thlr. Der vollſtändige Ueber - gang zur Maſchinenanwendung aber datirt erſt aus neueſter Zeit. Er hat ſich ſagt der Ausſtellungsbericht von 1867 ſeit kaum zwei Jahren und ſo zu ſagen plötz - lich vollzogen. Den Anſtoß gab das induſtrielle Amerika. Mehr als drei Jahrtauſende, ſeit der Zeit der Pharao - nen, hat man die Schuhe in gleicher Weiſe einfach mit der Hand gearbeitet, jetzt iſt die rein mechaniſche An - fertigung gelungen. Man konnte den Beweis hierfür auf der Ausſtellung ſelbſt ſehen. In einer der aus - geſtellten Werkſtätten konnte man ſich ein Paar Leder - gamaſchenſchuhe nach Maaß unter ſeinen Augen binnen 45 Minuten anfertigen laſſen. Die Maſchinen von Silvan Depuis et Comp. waren darauf eingerichtet nur durch Frauenhände bedient zu werden; eine Maſchine lieferte mit einem Arbeiter täglich 23 27 Paar Schuhe, eine andere die doppelte Zahl, während jetzt ein Geſelle allein 4 Stunden zum Annageln eines Paares mit Holz - ſtiften braucht. Die Maſchinen, um welche es ſich handelt, ſind abgeſehen von der Schraubenmaſchine, die Leiſtenſchneidemaſchine, die Stanzmaſchine, welche die Sohlen nach beſtimmten Nummern herausſticht, die Walzmaſchine, die Sohlenpreſſe, die Abſatzpreſſe und40 *628Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.die Hobel - und Glättmaſchine, beide letztere zur Her - ſtellung der Abſätze. 1Oeſterr. Ausſtellungsbericht, IV, 240; Ausſtellungs - zeitung Nr. 31 u. 32.

Die meiſten dieſer Maſchinen ſind in Deutſchland noch kaum bekannt. Mit ihrer Verbreitung werden ſie noch mehr das Uebergewicht der großen Geſchäfte ver - ſtärken und dem kleinen Meiſter die Konkurrenz erſchwe - ren; deſto mehr kann aber auch eine ſteigende Pro - duktion mit abnehmender Perſonenzahl ſtattfinden. Den kleinen Meiſtern bleibt auch dem gegenüber nur der Weg der Genoſſenſchaft übrig, den ſie gerade in der Schuhmacherei auch ſchon mit einigem Erfolg betreten haben; zunächſt allerdings nur, um ſich die Rohſtoffe beſſer und billiger zu beſchaffen. 2Vergl. oben S. 233.

Schulze erzählte ſelbſt auf dem volkswirthſchaftlichen Kongreß zu Gotha 1858 darüber Folgendes: Man macht ſich kaum Vorſtellungen davon, wie ſehr die ärmeren Handwerker von den Zwiſchenhändlern in den Preiſen heraufgeſetzt werden. Ein einziges Paar Stiefel - ſohlen kam in der Aſſoziation 25 % billiger und dazu war das Material beſſer. Als nun gar in den letzten Jahren die hohen Lederpreiſe, welche im Jahre 1857 bis auf 100 % gegen früher geſtiegen waren, eintraten, war für viele Mitglieder jene die einzige Rettung. Der Aufſchwung des Schuhmachergewerkes in Delitzſch, wel - ches ſich zuerſt aſſoziirte, war bald ſo bedeutend, daß629Die Schuhmachergenoſſenſchaften.die Schuhmacher aus den Nachbarſtädten, welche mit den Delitzſch’en die Märkte bezogen, zu mir kamen und ſagten: wir können mit den Schuhmachern in Delitzſch nicht mehr konkurriren, ſie haben ihren Markt nach Magdeburg hin ausgedehnt, wir wünſchen uns auch zu aſſoziiren. Die Bewegung kam in Gang; im Jahre 1863 zählte Schulze bereits 33 preußiſche, 18 ſächſiſche und 30 andere deutſche Schuhmacherrohſtoffgenoſſen - ſchaften; 1866 ſind es 22 preußiſche, 15 ſächſiſche und 25 andere deutſche Rohſtoffvereine, neben einigen Ma - gazin - und Produktivgenoſſenſchaften; die Zahl hat alſo ſeither nicht zugenommen, wohl aber haben einzelne 40, 60 ja bis 140 Mitglieder; der Berliner Verein hat 1868 für 39016 Thaler, der Wolfenbütteler für 31104 Thlr. Leder an die Mitglieder verkauft.

Gegenüber der Geſammtzahl der 189006 zoll - vereinsländiſchen Meiſter iſt es allerdings immer noch unbedeutend, wenn einige Hundert durch die Rohſtoff - vereine in beſſerer Lage ſind. Und dann reichen die Rohſtoffvereine nicht aus, die Lage der Betreffenden von Grund aus zu beſſern; die Produktion bleibt unvoll - kommen, der Abſatz prekär. Die Geſchäftsführung ver - leitet leicht die Vorſtände, den Verein für ſich auszunutzen. Viele dieſer Genoſſenſchaften ſind dadurch wieder zu Grunde gegangen, daß die an der Spitze ſtehenden Meiſter immer das beſte Leder für ſich ausſchnitten. Das was nun für die kleineren und ärmeren Mitglieder übrig blieb, war nicht beſſer, als ſie es ſonſt erhalten konnten. Und ſo löſten ſich die Vereine wieder auf. Es fehlt hier, wie in andern Gewerben, an den Leuten,630Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.welche die Genoſſenſchaft richtig leiten und zuſammen - halten können. Die Maſſe der Meiſter iſt in ſchlechter, elender Lage. Jedem, der praktiſch in unſern großen Städten ſich um das Armenweſen bekümmert hat, dem iſt der hungernde verarmte Schuhmacher mit zahlreicher Kinderſchaar als typiſche Erſcheinung bekannt. Und ein neuer Stoß bereitet ſich vor, wenn die Maſchinen ſieg - reich weiter vordringen und doch zunächſt nur Einzelne, ſeien es einzelne Meiſter oder einzelne Genoſſenſchaften, ſie einführen.

Während wir bei den Schuhmachern mit einem einfachen Gewerbe zu thun hatten, kommen wir bei den Kürſchnern zu einem Handwerke, das in der Regel mit einem Handelsbetriebe werthvoller Waaren, mit dem Pelzhandel, verbunden iſt. Die Anfertigung von Mützen iſt ein einfaches Gewerbe, der Pelzhandel dagegen ſetzt ein bedeutenderes Kapital voraus. Die Inhaber größerer Pelzwaarenmagazine in den Städten gehören in der Regel zu den wohlhabendſten Mitgliedern des Bürger - ſtandes. Es handelt ſich eigentlich um zwei zwar häufig verbundene, aber doch ſehr verſchiedene Gewerbe; in beiden iſt die lokale Produktion zurückgetreten gegen - über der Maſſenanfertigung; aber das eine kann als Handelsgewerbe noch gut exiſtiren, während das andere hierfür zn ärmlich iſt. Danach iſt die folgende Tabelle zu beurtheilen, welche die preußiſchen Kürſchner, Rauch - waarenhändler und Mützenmacher umfaßt. Im ganzen Zollverein zählte man 1861 - 8045 Kürſchner mit 15992 Gehülfen.

631Die Kürſchner und Mützenmacher.

Der Verbrauch an Pelzwaaren iſt in kälteren Ge - genden nicht bloß ein Luxusbedürfniß, ſondern eine Noth - wendigkeit; mit ſteigendem Wohlſtand wird er in den höhern Klaſſen bedeutend zunehmen, wie auch die Mehreinfuhr von Fellen zur Pelzbereitung im Zollverein beweiſt; ſie betrug jährlich 1842 46 8064 Ztnr., 1860 64 - 11564 Ztnr.;1Bienengräber, Statiſtik des Verkehrs, S. 394. die Einfuhr hat ſich faſt auf das Doppelte in dieſer Zeit gehoben, aber auch die Ausfuhr ſtieg. Leipzig mit ſeiner Meſſe iſt ja überhaupt der größte Markt für Pelzwaaren; die jährlich dahin gebrachten Pelze werden auf über 6 Millionen Thaler632Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.geſchätzt: etwa der dritte Theil der Geſammtproduktion der Erde.

An dieſes große Geſchäft haben ſich beſonders in Leipzig und Berlin größere Kürſchneretabliſſements an - geſchloſſen, welche das Reinigen und Gerben der Felle, das Umarbeiten derſelben zu Röcken, Mänteln, Kragen, Mützen, Handſchuhen, Müffen und Halswärmern im Großen betreiben und ihre Produkte ins Ausland wie an die inländiſchen Lokalgeſchäfte abſetzen. Die größere Leiſtungsfähigkeit ſolcher Geſchäfte erlaubt eine Aus - dehnung der Geſchäfte ohne ſtark wachſende Perſonen - zahl. Dagegen wachſen neben ihnen auch die lokalen Geſchäfte, mehr als Magazine, vom Handel und Re - paraturen lebend, als ſelbſt das Kürſchnergeſchäft noch ausübend. Je mehr dieſe Lokalgeſchäfte aber bloße Handelsgeſchäfte ſind, deſto weniger werden ſie eine ſteigende Gehülfenzahl beſchäftigen.

Aus ähnlichem Grunde hat die Zahl der aus - ſchließlich Mützen verfertigenden Meiſter wahrſcheinlich nur bis in die vierziger Jahre zugenommen. Wenn ſich auch die Technik der Mützenanfertigung ſeither kaum ſehr geändert hat, ſo hat ſich doch die Produktion unter Zuhülfenahme von Nähmaſchinen und Arbeitstheilung konzentrirt, der Geſchmack ſpielt eine größere Rolle als früher. Eine Reihe von Magazinen verkaufen nebenbei Mützen, welche ſie in größeren Quantitäten aus den Hauptſitzen der tonangebenden Mode beziehen. Der kleine bloße Mützenmacher oder Mützenhändler iſt jetzt einer der ärmlichſten Handwerker. Ich glaube, daß dieſe Art von kleinen Geſchäften ſogar eher abgenommen633Der Pelz - und Mützenhandel.hat; die obigen Geſammtzahlen der hierher gehörenden Gewerbetreibenden zeigen auch gegenüber der Bevölkerung von 1852 an eine Abnahme, was ich auf die abneh - menden Mützenmacher zurückführen möchte, neben welchen der Pelzhandel wahrſcheinlich noch zugenommen hat. Daß der Pelzhandel den Schwerpunkt der Geſchäfte dieſer Rubrik bildet, ſieht man auch klar aus der pro - vinziellen Vertheilung; man zählte:

In den öſtlichen kälteren Provinzen iſt die Mehr - zahl der Geſchäfte; am Rhein und in Weſtfalen fehlten ſie früher faſt ganz, daher hier 1837 61 eine beträcht - liche Zunahme.

Gehen wir von der Mützenmacherei zu der Hand - ſchuhmacherei über, ſo ſind die gewebten Handſchuhe zu unterſcheiden von den zugeſchnittenen und genähten. Jene werden von den Strumpfwirkern geliefert, dieſe von den Handſchuhmachern. Die frühere deutſche Handſchuhmacherei lieferte hauptſächlich ſchwere lederne, leinene und wollene Handſchuhe. Die moderne Glaçé - handſchuhfabrikation kam durch vertriebene Hugenotten im 17. Jahrhundert nach einigen großen Städten, nach634Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.Erlangen, Dresden, Prag und Berlin; die deutſche Gerberei hatte früher das Leder nicht ſo weich, zart und elaſtiſch herzuſtellen vermocht. Später entwickelte ſich dieſe Glacéhandſchuhmacherei in allen halbwegs bedeutenden Städten, daneben wurden aber noch ziemlich viel franzöſiſche Waaren eingeführt. Bis Mitte der funfziger Jahre hatte der Zollverein eine Mehreinfuhr von ledernen Handſchuhen, erſt von da hat ſich die Fabrikation ſo gehoben, daß ſich eine Mehrausfuhr heraus - ſtellte. Zollvereinsländiſche Handſchuhe konkurriren jetzt mit engliſcheu, franzöſiſchen, öſterreichiſchen im Auslande.

Die Zunahme der Produktion hat aber wieder zwei verſchiedene Epochen, wie die folgende Tabelle der preußiſchen Handſchuhmacher zeigt:

635Die Handſchuhmacher.

Die Zahl der Meiſter, d. h. der kleinen mehr lokalen Geſchäfte, nimmt zu bis 1843; von da geht ſie zurück, während nun von 1840 61 die Gehülfen - zahl ſich verdoppelt und die Geſammtzahl der Gewerbe - treibenden gegenüber der Bevölkerung ſo ziemlich ſtabil bleibt. Letzteres wäre ohne Zweifel nicht der Fall, wenn die ſämmtlichen Frauen und Mädchen, welche für größere Geſchäfte zu Hauſe Handſchuhe nähen, mit ver - zeichnet wären.

In dieſer Weiſe hat ſich nämlich die große Induſtrie geſtaltet, daß der Fabrikant nur das Leder einkauft, die Handſchuhe theilweiſe mit der von Jouvin erfundenen Maſchine zuſchneidet, das Nähen aber als Haus - induſtrie und meiſt noch mit der Hand beſorgen läßt. Die Berliner Geſchäfte haben ſich vielfach der Theurung in Berlin wegen nach Potsdam gezogen und laſſen dort in der Umgegend auf dem Lande nähen. Außerdem ſind die größten Handſchuhfabriken des Zoll - vereins in Luxemburg, wo jährlich etwa eine Million Zickel - und Lammfelle von 5 Fabriken mit 1576 Arbei - tern verarbeitet werden, in den Städten Aachen, Kaſſel, Magdeburg, Halberſtadt, Erlangen, im Königreich Sachſen und in Schleſien. 1Preuß. Handelskammerberichte pro 1865, S. 481.Auch in Oeſtreich blüht die Handſchuhmacherei und hat ſich dort faſt noch mehr als im Zollverein konzentrirt. In Wien allein berichtet Rehlen2Geſchichte der Handwerke und Gewerbe, zweite Ausgabe, Leipzig 1856. S. 143. ſind mehr als 250 Geſchäfte etablirt,636Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.welche einſchließlich der Nätherinnen über 4000 Arbeiter beſchäftigen und an 18000 Dutzend Glaçéhandſchuhe verfertigen, im Werth von mehr als einer Million Gulden. Prag beſitzt etwa 50 Etabliſſements, welche über 25000 Dutzend im Werthe von 200000 Gulden produziren. Der ganze Zollverein zählte 1861 - 1854 Meiſter mit 6520 Gehülfen, an welcher Zahl ſich deutlich erkennen läßt, daß der Uebergang zu größern Geſchäften meiſt ſich vollzogen hat. In Sachſen kommen auf 85 Meiſter 792 Gehülfen, in Thüringen auf 33 Meiſter 815 Gehülfen.

Der lokale Vertrieb iſt zu einem großen Theile auf Modewaarenhandlungen und Magazine verſchiedener Art übergegangen. Doch proſperiren auch immer noch lokale Geſchafte in allen größern Städten. Manche Leute wünſchen doch Handſchuhe nach Maß und die Produktion iſt techniſch immer noch einfach; ſelbſt die Zuſchneidemaſchine iſt nicht allzutheuer und ihre Vor - theile ſind mäßig. Ich kenne Geſchäfte, wo ſie vor - handen iſt, aber nicht regelmäßig benutzt wird.

Die Anfertigung von Halsbinden, Halstüchern, Kravatten, Schlipſen und ähnlichen Artikeln, welche früher dem lokalen Handſchuh - oder Mützenmacher zu - fiel, iſt in neuerer Zeit auch auf wenige große Geſchäfte übergegangen, welche durch Direktricen die einzelnen Beſtandtheile zuſchneiden und ſie von Arbeiterinnen in ihren Wohnungen nähen laſſen. 1Ausſtellungsbericht von 1851, II, 666 68.

637Die Kravattenmacherei und die Strohhutmanufaktur.

Unter den Gewerben, welche ſich mit der Bedeckung des Kopfes beſchäftigen, war die Strohhutmanufaktur niemals eigentlich ein lokales Gewerbe; urſprünglich in Toskana zu Hauſe, kam ſie als Hausinduſtrie nach der Schweiz, nach dem Schwarzwalde, dann auch nach Sachſen, Schleſien, in’s Eichsfeld und ſo iſt die Strohhutfabri - kation und Strohflechterei heute noch mehr eine Neben - beſchäftigung in ländlichen Kreiſen, hat durch beſondere Schulen eingeführt theilweiſe das Spinnen und Weben erſetzt. Die aufgenommenen Zahlen von Arbeitern ſind daher auch wenig zuverläſſig; man zählte in Preußen 1861 auf 99 Fabriken 964 männliche und 1245 weib - liche Arbeiter, im Zollverein auf 496 Fabriken (Baden allein 239, wobei wohl die Faktore mitgerechnet ſind) mit 2068 männlichen und 3850 weiblichen Arbeitern.

Dagegen war die Anfertigung von Filzhüten, ſowie von Seidenhüten, früher Sache lokaler Handwerker; hierin iſt ein großer Umſchwung eingetreten; der leichte Verkehr und die Herrſchaft der Mode nicht bloß, ſon - dern auch eine ganz veränderte Technik begünſtigte den Uebergang zu einigen wenigen großen Fabriken. Die Enthaarung der Felle und Zurichtung der Haare für die Hutmacherei iſt anderwärts ſchon ein eigenes Gewerbe geworden; ſie iſt in Deutſchland meiſt noch mit der Hut - macherei verbunden, doch exiſtiren auch ſchon einige größere Etabliſſements in Hanau, Darmſtadt, Offenbach und Berlin. Auch die früher mit der Hutmacherei ver - bundene Anfertigung von Filzſchuhen und anderen Filz - waaren hat ſich zu beſondern größern Geſchäften abge -638Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.ſchieden. 1Viehbahn III, 666.Einzelne der großen Hutfabriken haben jetzt mehrere hundert Arbeiter. Auf der Pariſer Ausſtellung von 1867 befand ſich eine vollſtändige Dampfhutfabrik,2Dentſche Ausſtellungszeitung Nro. 32. in welcher ſo ziemlich alle Stadien der Fabrikation, vom Abwiegen der zu einem Hut erforderlichen Quantität Kaninchenhaare bis zur letzten Garnirung, dem mecha - niſchen Betriebe anheimgegeben waren. Darnach kann die folgende Tabelle der preußiſchen Hutmacher uns nicht in Erſtaunen ſetzen; man zählte:

Noch nicht ganz die halbe Zahl der 1816 beſchäf - tigten Perſonen reicht 1861 aus, einem gewiß größern639Die Hutmacherei und die Blumenfabriken.Bedürfniß zu genügen. Im Zollverein kommen 1861 auf 3117 Meiſter 5362 Gehülfen oder Arbeiter. An kleinen Orten halten ſich wohl noch die kleinen Meiſter, aber mehr als Händler; in den großen Städten eröffnen die Fabriken ſelbſt große Magazine und verkaufen da - neben an die Handlungen, welche die ſämmtlichen Herrengarderobeartikel führen.

Während die männliche Kopfbedeckung im Laufe der Zeit immer einfacher, ſtereotyper wird, läßt ſich das von der weiblichen nicht ſagen. Phantaſie und Mode ſind beſtrebt, in mannigfaltigſter, immer wechſeln - der Weiſe den weiblichen Kopf mit allen möglichen Arten von Kopfbedeckungen zu zieren, dabei in der raffinirteſten Weiſe den Stroh - oder Filzhut, die Spitzen - oder Tüll - haube mit Bändern, Schleifen, Blumen und Federn zu dekoriren. Die Band - und Poſamentiergewerbe liefern, abgeſehen von den Hüten und breiten Geweben, dazu die Rohſtoffe; auch hierfür ſind beſondere große Geſchäfte in Berlin, Leipzig und Frankfurt thätig, ſoweit dieſe Waaren nicht vom Ausland bezogen werden. Daneben kommen die Gewerbe der Buntſticker, Blumen -, Feder - und Federbuſchmacher und Strohhutnäher in Betracht, welche in den Tabellen als eigene Kategorie zuſammen - gefaßt, in Preußen 1861 - 437 Meiſter mit 1148 Ge - hülfen, im Zollverein 1936 Meiſter mit 7811 Gehülfen zählen. Schon die Zahlen zeigen, daß es vielfach größere Geſchäfte ſind. Die wichtigſte Abtheilung iſt die künſtliche Blumenfabrikation, die auch im Zollverein raſche Fortſchritte macht, ihr Vorbild aber immer noch in Frankreich und ſpeziell in Paris hat, woher noch640Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.ein großer Theil der im Zollverein verbrauchten Blumen bezogen wird. Die dortige Induſtrie hat eine ſeltene Vollendung und einen ſeltenen Umfang erreicht; der Werth der produzirten Waaren war 1847 - 11, 1858 16, 1867 - 25 Mill. Frcs., wovon etwa die Hälfte der Handarbeit, zu dem größten Theil Frauen und Mädchen, welche zu Hauſe arbeiten, zu Gute kommt. Beſondere Graveure und Werkzeugfabrikanten liefern die Matrizen, Preſſen und Modelle für die künſtlichen Blumen; darunter ſind wirkliche Künſtler; je treuer und ſchöner ſie die Natur nachzuahmen verſtehen, deſto voll - endeter ſind die Produkte. Dann kommen die Fabri - kanten, welche mit ſtrenger Sonderung der einzelnen Beſtandtheile, Kelche, Samenkapſeln, Knoſpen, Gräſer, Körner liefern. Eine dritte Gruppe färbt und preßt die Stoffe und ſtellt Zweige her. Dann erſt kommen die eigentlichen Blumenmacher, welche die meiſten Frauen beſchäftigen, wobei auch wieder ſtrenge Arbeitstheilung zwiſchen Trauerblumen, Roſenfabrikanten ꝛc. ſtatt - findet. Endlich kommen die Blumenmodiſten, welche die verſchiedenen Blumen zuſammenſetzen, Bouquets und Kränze fertigen, hauptſächlich aber in den Ma - gazinen die Waaren verkaufen, die Mode beherr - ſchen, die Verwendung für die einzelne Toilette beſtimmen.

In annähernder Weiſe hat ſich auch das Geſchäft in Deutſchland geſtaltet. Die Herſtellung der Materialien1)Ausſtellungsbericht von 1851, III, 594. Oeſtr. Aus - ſtellungsbericht 1867, Bd. IV, 232.641Die Putzmachergeſchäfte.iſt Sache beſonderer größerer Geſchäfte; im Putzmacher - laden findet nur die Zuſammenſtellung und Anpaſſung, das Zuſammennähen ſtatt. Der perſönliche Geſchmack der Dirigentin iſt die Hauptſache; das lokale Bedürfniß macht überall Geſchäfte nothwendig; bis auf die Land - ſtädte und Dörfer dringen die neuen Moden jetzt, und ſo ſehen wir, daß bei den Putzmachergeſchäften mehr die Zahl der Geſchäfte als ihr Umfang zunimmt. Man zählte in Preußen (im Zollverein 1861 - 12832 Ge - ſchäfte mit 13348 Gehülfen):

Die bedeutende Zunahme hat übrigens neben der ſteigenden Wohlhabenheit und dem größern Luxus nochSchmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 41642Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.eine weitere Urſache. Es findet ein großer Zudrang zu dieſem Gewerbe ſtatt. Die Mehrzahl der Geſchäfte iſt in weiblichen Händen, wie die Mehrzahl der Ge - hülfinnen junge Mädchen ſind, welche theilweiſe nur das Gewerbe erlernen wollen, jedenfalls ſich ihm gerne zuwenden, da es immer noch etwas beſſern Verdienſt giebt, als die bloße Nätherei. Von den preußiſchen 6424 Geſchäften haben 6177 weibliche Vorſteher, von den 5989 Gehülfen gehören 5819 dem ſchönern Ge - ſchlechte an. Die Geſchäftsinhaberinnen ſind meiſt Wittwen, ältere unverheirathete Fräuleins, vor Allem Frauen von kleinen Geſchäftsleuten, von Angeſtellten, deren Einkommen nicht ausreicht. Die Frau verſucht durch ein Putzgeſchäft das Fehlende zu erſetzen; ſie iſt mit mäßigem Verdienſt zufrieden, die Konkurrenz iſt groß; zahlreiche Bankerotte zeigen die Schwierigkeit und den großen Andrang. Daneben gibt es in den größern Städten freilich immer auch eine Anzahl ſehr großer wohlrenommirter Geſchäfte, welche entſprechend theurer arbeiten und das können, weil ſie die wohlhabendſten Klaſſen zu ihren Kunden haben.

Umfaſſender und bedeutender als alle dieſe kleinern Gewerbe iſt das Schneidergewerbe; es ſteht an Zahl faſt dem Schuhmachergewerbe nahe. Ich theile zuerſt die Ueberſicht der preußiſchen Schneider von 1816 61 mit. Daneben will ich gleich als Ausgangspunkt unſerer Betrachtung vorausſchicken, daß 1861 von den 76823 Geſchäftsinhabern 13741, von den 49291 Gehülfen 8677 weibliche Perſonen ſind. Im ganzen643Die Schneider und Kleidermacher.

Zollverein zählte man 1861 - 169824 Geſchäfte, davon 34191 in weiblichen Händen, und 98772 Gehülfen, davon 16102 weibliche. Uebrigens ſcheint die Auf - nahme in der Heranziehung der Frauen zu derſelben ſehr verſchiedene Grundſätze befolgt zu haben; in Baiern und Hannover ſind über ein Drittel der Geſchäfte in Frauenhänden, in andern Staaten ſind auf mehrere tau - ſend männliche Schneider nur wenige weibliche Geſchäfte notirt, ohne daß doch eine ſolche reale Verſchiedenheit wahrſcheinlich wäre. Dieſer Umſtand zeigt aber über - haupt, welchen Bedenken die ganze Aufnahme des Schneidergewerbes unterliegt. Der Uebergang von der41 *644Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.bloßen Nätherin zum Schneidergeſchäft iſt ein unmerk - licher. Früher wurden in Preußen die Nätherinnen und Wäſcherinnen mit den weiblichen Tagelöhnern zuſammen aufgenommen (z. B. 1849: 679719, wovon 149610 in den Städten), wobei aber nicht feſtzuſtellen iſt, wie viele von den hier gezählten Frauen Nätherinnen ſind. Die häusliche Weißnäherei iſt ja wohl jedenfalls nicht unter der Kategorie der Schneider mitbegriffen; aber fraglich erſcheint mir, ob die theilweiſe mit Kleider - geſchäften verbundenen Konfektionsgeſchäfte, die Magazine für Weißwaaren und Damenartikel hier mitgerechnet ſind oder nicht; dadurch erſcheint mir der Zweifel nicht gehoben, daß der ganze Zollverein 1861 - 4 preußiſche Weißzeugfabriken mit einigen hundert Arbeitern beſon - ders in der Fabriktabelle aufführt.

Trotz dieſer Unklarheit des Inhalts der Tabelle müſſen wir verſuchen, die Reſultate aus derſelben zu fol - gern. Das erſte wäre, daß die Geſammtzahl der preußi - ſchen Schneider um 15,1 % ſtärker zunahm, als die Be - völkerung. Nimmt man dazu, daß die Leiſtungsfähig - keit des einzelnen Arbeiters in größern Geſchäften ſchon lange, auch in allen kleinern ſeit Einführung der Näh - maſchinen, ſehr gewachſen iſt, nehmen wir ferner dazu, daß die Mehrausfuhr an fertigen Kleidern aus dem Zollverein ſeit 20 Jahren ſich verzehnfacht hat (1860 64 jährlich 11365 Ztur. im Werth von 3 4 Mill. Thlr.), ſo wird man einen Fortſchritt des Gewerbes nicht leugnen können, wie man wohl auch mit Recht annehmen kann, daß gerade die Bekleidung faſt in allen Klaſſen der Bevölkerung eine beſſere gewor -645Die Zunahme der Schneider.den iſt. Freilich bleiben daneben manche Zweifel: Die Zunahme des Perſonalbeſtandes ließe ſich auch darauf zurückführen, daß jetzt gekaufte oder beſtellte Kleider in vielen Kreiſen getragen werden, welche früher Kleider trugen, die von der Familie ſelbſt gemacht waren. Die Poeſie der Nationaltracht, der beſonderen ländlichen Be - kleidung verſchwindet; ſelbſt der deutſche Bauer fängt an, fertige ſtädtiſche Kleider zu kaufen. Auch Frauen - kleider werden gegenwärtig vielfach fertig in den Maga - zinen gekauft, wenn gleich noch entfernt nicht ſo ſehr wie die Männerkleider. Doch glaube ich kaum, daß die Zahl der Nätherinnen, welche im Hauſe der Kunden Frauen - kleider fertigen, gegen früher abgenommen hat.

In der Organiſation des Geſchäfts ſind große Aenderungen eingetreten, welche aber nicht aus der obigen Tabelle zu erſehen ſind. Ob unſere großen Städte ſchon Geſchäfte haben, wie die Pariſer, welche nur Modelle anfertigen, iſt mir zweifelhaft,1Oeſtr. Ausſtellungsbericht Bd. IV, 230: da gibt es Häuſer, welche nur Modelle aufertigen, welche Zeichner, Maler, Literaten und Sachverſtändige aller Art beſchäftigen, mit den Fabriken in regem Verkehr ſtehen, die Modefarbe beſtimmen oder wenigſtens alle Stoffe dieſer Art für eine gewiſſe Zeit, gewöhnlich drei Monate, aufkaufen. In dieſen Häuſern kaufen die erſten Schneider und Konfektionsfabrikanten die Modelle und propagiren jene, welche Sukzeß haben. wohl aber hat ſich in den größern Städten die Arbeitstheilung vollzogen,2Vergl. die ausgezeichnete Unterſuchung von Laspeyres, die Gruppirung der Induſtrie in den großen Städten, Berliner Gemeindekalender III, 65 67. welche in Paris mit den Namen Tailleurs646Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.fabricants und Tailleurs apiéceurs bezeichnet wird. In beiden Arten von Geſchäften ſehen wir große Etabliſſements, welche 50 60, ja bis 300 Geſellen in ihren Räumen beſchäftigen, daneben auch außer dem Hauſe nähen laſſen. Beide beziehen die Tuche und anderen Stoffe mehr und mehr direkt vom Fabrikanten, um dadurch die vertheuernde Zwiſchenhand des Tuch - händlers zu ſparen. Häufig ſind frühere Tuchmagazine durch Annahme eines Zuſchneiders und einer Anzahl Schneidergeſellen zu Kleidermagazinen geworden. Der Umfang der Geſchäfte, welche nach Maß und Beſtellung arbeiten, bleibt ſelbſt in den größten Städten in der Regel ein etwas geringerer. Dagegen wächſt der Um - fang der eigentlichen Kleiderfabriken theilweiſe in’s Un - glaubliche. Von dem Gerſon’ſchen Geſchäft in Berlin, das hauptſächlich Damenmäntel, Mantillen, Mode - waaren aller Art führt und nach allen Staaten und Himmelsgegenden exportirt, ſchreibt Viebahn ſchon 1852: das Geſchäft hat im vergangenen Jahre etwa 16000 bis 20000 fertige Mäntel, Mantillen ꝛc. geliefert. In zwei Geſchäftshäuſern werden unter Leitung von 5 Hand - werksmeiſtern und 3 Direktrizen 120 140 Arbeiterinnen, außerdem aber in den Wohnungen etwa 150 Meiſter mit durchſchnittlich 10 Geſellen, welche nur für dies Haus arbeiten, und im Ganzen in ſolchen fertigen Artikeln, das Weißwaarenfach mitgerechnet, 1600 2000 Perſonen, je nachdem es ſtille oder lebhafte Zeit iſt, beſchäftigt; in dem Verkaufslokal ſelbſt arbeiten gegen 100 Kommis, Aufſeher, Ladenjungfern und Diener.

647Die großen Kleiderfabriken und die kleinen Schneider.

Wenn in dieſer Weiſe die Kleiderfabrikation ſich konzentrirt, ſo muß es Wunder nehmen, daß im Ganzen in Preußen auf 100 Meiſter erſt 64 Gehülfen, auch in Berlin nur 138 kommen. Selbſt wenn man berück - ſichtigt, daß manche als Meiſter gezählte für Magazine und größere Meiſter arbeiten, ſo bleibt das Reſultat überraſchend. Es hat ähnliche Urſachen, wie die große Zahl kleiner Schuhmacher. Dem Glanz und der Ent - wicklung der großen Geſchäfte und Magazine ſteht die um ſo größere Noth der kleinen Meiſter gegenüber. Der Verſuch, ein eigenes Geſchäft zu beginnen, kann faſt ohne Kapital gemacht werden, der Zudrang iſt bedeutend. Selbſt auf dem Lande iſt die Zahl der Meiſter ſehr groß; 1858 kamen in Preußen auf 30 229 ſtädtiſche, 40 849 ländliche Meiſter; ſchon 18491Tabellen und amtliche Nachrichten V, 837. kam auf dem platten Lande im Regierungsbezirk Arnsberg auf 131, im Regierungsbezirk Münſter auf 133, im Regierungs - bezirk Magdeburg auf 144, im Regierungsbezirk Köslin auf 220 Einwohner ein Schneider (Meiſter und Ge - hülfen zuſammen). Die meiſten dieſer kleinen Schneider leben in den ärmlichſten Verhältniſſen, viele nur als Flickſchneider und als Hausarbeiter in den Häuſern der Kunden. Auch Viebahn2III, 676. nimmt an, daß zwar das Durchſchnittseinkommen, das ein großſtädtiſches Schneidergeſchäft gewähre, etwa 400 Thaler betrage, daß daſſelbe aber in kleinen Städten von 400 auf 200 Thaler ſinke, auf dem Lande wohl noch tiefer648Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.herabgehe, wofür dann freilich einige Naturaleinnahmen hinzukämen.

Die Genoſſenſchaften haben hierin wohl Einiges gebeſſert; ſchon 1863 exiſtirten 20 preußiſche und 16 andere deutſche Rohſtoffvereine von Schneidern; 1868 zählt Schulze 23 Rohſtoffvereine, 11 Magazingenoſſen - ſchaften und 10 wirkliche Produktivvereine (einige hier - von ſind in Böhmen) auf; die Stuttgarter Produktiv - genoſſenſchaft, durch Dr. Pfeifer beſonders in Gang gebracht, erfreut ſich eines blühenden Geſchäfts, wie denn nicht zu bezweifeln, daß die Schneider ſich auf kooperativem Wege helfen können. Aber was bedeuten bis jetzt dieſe paar Vereine gegenüber den 169924 zoll - vereinsländiſchen Geſchäften!

Je mehr das Magazinſyſtem ſiegt, deſto mehr findet die Beſchäftigung weiblicher Hände in der Schneiderei ſtatt; in allen Geſchäften, welche fertige Kleider liefern, ſeien es Herren - oder Frauenkleider, wendet man mehr und mehr Mädchen an, was ſchon aus den täglichen Annoncen der Zeitungen zu ſehen iſt, welche Mädchen ſuchen, die auf Herrenarbeit geübt ſind. Und nicht bloß aus den untern Ständen rekrutirt ſich die Zahl dieſer weiblichen Hände; der ganze Ueberſchuß von Töch - tern aus dem Krämer -, Handwerker - und Beamten - ſtand, die nicht ſo glücklich ſind in den Hafen einer auskömmlichen Ehe einzulaufen, ſehr viele Wittwen ſind froh, ſolche Beſchäftigung zu finden; hat ja doch erſt in neuerer Zeit die Bewegung begonnen, ihnen auch andere und lohnendere Stellungen zu eröffnen. An manchen Orten klagen die Schneider, ſie könnten mit649Die Frauenarbeit in der Schneiderei u. d. Weißwaarengeſchäft.den Berliner Geheimrathstöchtern nicht mehr konkurriren, ſo billig, wie jene, können ſie nicht arbeiten. Das alles drückt auf die kleinen Geſchäfte, während die großen den Vortheil billiger und guter Arbeit dadurch haben.

Daß es nicht ganz klar ſei, ob unter den obigen Zahlen auch die Weißwaarengeſchäfte begriffen ſind, erwähnte ich ſchon. Ich will über ſie nur noch ein paar Worte hinzufügen. Die Anfertigung der Leib - und Bettwäſche war früher ausſchließlich Sache der Hausfrau; doch entſtanden ſchon in den vierziger Jahren große Geſchäfte, welche auf Lager arbeiten ließen, die eigentliche Ausbildung des Geſchäfts, vor Allem die Ausdehnung des Exports, fand erſt in letzter Zeit ſtatt. Den lokalen Markt verſorgen überall die lokalen Lein - wandhandlungen, die faſt durchaus jetzt auch fertige Wäſche verkaufen; das Hauptgeſchäft aber konzentrirt ſich in den Gegenden der Gewebeinduſtrie, ſowie in den Hauptſtädten, in Berlin, Dresden, Wien ꝛc. Von Sachſen erzählte ich ſchon oben, daß mit der Nähmaſchine die Geſchäfte dieſer Art einen neuen Impuls bekommen, daß dadurch die Hausinduſtrie wieder eine Kräftigung erhalten habe. Anderwärts freilich ſiegt der Fabrik - betrieb. Von Bielefeld wird 1867 in Bezug auf die Fabrikation fertiger Wäſche geſchrieben:1Preuß. Handelskammerbericht pro 1867, S. 964. Sehr groß iſt dieſes Geſchäft in Frankreich; der öſtr. Ausſtellungs - bericht IV, 193 ſchätzt den Werth der jährlichen Produktion auf - 100 Mill. Frcs. Der Hauptſitz des Geſchäfts iſt in Paris; die großen Lingerie-geſchäfte laſſen aber nicht ſelbſt arbeiten, ſon - Eine weitere650Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.Zunahme des Umſatzes und der Zahl der beſchäftigten Nähmaſchinen iſt zu konſtatiren; ihre Zahl beläuft ſich jetzt hier auf 504, wobei 1500 Arbeiterinnen faſt un - ausgeſetzte Beſchäftigung finden. Dieſer Geſchäftszweig hat immer mehr an Boden gewonnen; doch haben ſich die Hoffnungen auf den durch den Handelsvertrag mit Frankreich ermöglichten größern Abſatz in dieſem Lande bis jetzt nur noch in geringem Maße verwirklicht, da man unter Anderem auch noch der Handarbeit zu ſehr den Vorzug gibt, die zu billigeren Preiſen in den Klöſtern des Elſaſſes angefertigt wird. Als eigenthümlich hervor - gehoben wird es, daß hierbei in Folge der Beſtrebungen der hieſigen Fabrikanten die Einzelarbeit immer mehr abnimmt, um durch Vereinigung der dabei beſchäftigten Kräfte unter den größern Fabrikanten, den handwerks - mäßigen Betrieb immer mehr zu verlaſſen. Die Aus - dehnung der Dampfnähereien iſt nur durch techniſche Schwierigkeiten verzögert, aber in Ausſicht genommen.

Mit der Weißnäherei ſteht die Stickerei und Spitzeninduſtrie auf einer Linie. Neben der Thätigkeit aller Frauen der gebildeten Stände arbeiten überall arme Frauen um Lohn; zu einem eigentlichen Induſtrie - zweige wurde die Stickerei innerhalb des Zollvereins eigentlich nur in Schleſien, Weſtfalen und Württemberg, dann im ſächſiſchen Erzgebirge und im Voigtlande. In Sachſen ſollen 15000 Perſonen 1861 in der Haus -1dern die techniſche Ausführung liegt in den Händen der sousentrepreneuses (vergl. Laspeyres a. a. O. S. 65 67), oder gar einzelner zu Hauſe arbeitender Nätherinnen.651Die Stickerei und Spitzeninduſtrie.induſtrie der Spitzenklöppelei und Stickerei beſchäftigt geweſen ſein; der Vorzug der deutſchen Induſtrie liegt wieder ſozial betrachtet in einem traurigen Grunde, in der außerordentlichen Billigkeit der Löhne.

Die eigentlichen Spitzen werden entweder geklöppelt, oder mit der Nadel gefertigt; beides blieb bis in die neuere Zeit Handarbeit für Frauen und Kinder, wäh - rend die ihnen nahe ſtehenden Tüllgewebe, die Gaze, die Pettinets und Bobbinets auf künſtlichen Maſchinen gewebt werden.

Erſt 1840 wurde eine mechaniſche Stickmaſchine von Heilmann im Elſaß erfunden; aber erſt 1850 gelangte ſie in St. Gallen und Appenzell zur praktiſchen Anwendung. Erſt 1857 führte ein Haus in Plauen die erſten Stickmaſchinen aus der Schweiz ein. Bald darauf bemächtigte ſich ein ſächſiſcher Maſchinenbauer der Herſtellung und verbeſſerte ſie ſogar weſentlich, indem er an dem 14 15 Fuß langen Stuhl ſtatt einer Reihe zwei bis drei Reihen Nadeln aubrachte. Ende 1861 zählte man in Sachſen 7 Etabliſſements mit 52 Maſchinen, März 1863 ſchon 16 mit 97 Ma - ſchinen. Sie werden übrigens mit der Hand getrieben. Die ſogenannten doppelten Maſchinen koſten 800 Thlr., die dreifachen 1100 Thlr. mit allem Zubehör.

Auch für die Stickerei alſo hat der Kampf mit der Maſchine begonnen; vorerſt freilich nur mit der Folge, den Lohn der armen Frauen und Kinder herabzudrücken. Im Jahre 1863 zählte man im Chemnitzer Handels - kammerbezirk noch 14695 Klöppelkiſſen für Erwachſene, von denen 12773 im Betrieb waren, 7296 für Kinder,652Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.wovon 6851 in Thätigkeit waren. Der öſtreichiſche Ausſtellungsbericht beginnt zwar ſeine Betrachtungen über die Spitzenmanufaktur mit den Worten: die Pariſer Univerſalausſtellung vom Jahre 1867 fällt in die Zeit, wo die Handſpitze über die Maſchinenſpitze nach einem längern Kampfe den Sieg davon trug und die Ausſtellung ſelbſt brachte dieſen Sieg erſt zur allge - meinen Anſchauung; ſie wird daher in der Geſchichte der Spitzenarbeit fortan als ein wichtiger Wendepunkt merkwürdig bleiben. Die durch Nadel und Klöppel erzeugten Handſpitzen erlangten dieſen Sieg über die Maſchinenſpitzen zumeiſt durch die ſchöne und geſchmack - volle Herſtellung der Zeichnung oder der Muſterung, alſo durch die ſorgſame Pflege des künſtleriſchen An - theiles. Das iſt aber gerade für die deutſchen Bezirke, welche bisher mehr einfache und billige Produkte liefer - ten, kein Troſt. Die belgiſche und franzöſiſche Spitzen - manufaktur erſter Qualität wird bei der Handarbeit bleiben, die deutſche wird der Maſchine in dem Maße erliegen, als man verſäumt, auf beſſere Qualitäten überzugehen; die Handarbeit wird ſich nur da behaupten, wo bei höherem Lohn und beſſeren ſozialen Verhältniſſen die Stickerinnen nicht nach Bildung und Herkommen auf die traurige Konkurrenz mit den einfachern Maſchinen - produkten angewieſen ſind.

[653]

Schluß und Reſultate.

Noch ein Wort über die Metall - und Maſchineninduſtrie. Die großen Fabriken und die Hausinduſtrie. Wo und wie letztere ſich halten läßt. Die Kriſis des Handwerks und ihre allgemeinen Urſachen. Die Gewerbefreiheit und die Abnahme der kleinen Geſchäfte. Die Arten der Meiſter: Die vorwärts - kommende Elite und die verarmende Maſſe. Der Handwerker - bund. Die Muthloſigkeit. Die Stellenjägerei. Die Aus - wanderung. Die Sozialdemokraten. Die Bankerottirer und Macher. Die Meiſter der Hausinduſtrie. Sind alle dieſe Leute Schuld an ihrem wirthſchaftlichen Ruin? Der Zuſam - menhang zwiſchen perſönlichen Tugenden und der Beſitz - und Einkommensvertheilung überhaupt. Prüfung unſerer Zeit nach dieſer Richtung: Die Lohn - und Fabrikarbeiter, der Bauernſtand, der höhere Gewerbeſtand, der Haus - und Grundbeſitz, die Börſe, das Aktienweſen, die Staatsſchulden. Die letzten Folgen jeder übermäßigen Vermögensungleichheit. Die poſitiven Aufgaben und der Standpunkt dafür. Die wirthſchaftliche Freiheit und die Oeffentlichkeit. Staatliche Maßregeln; die Bureaukratie und der Egoismus der bürger - lichen Mittelklaſſen. Was verdient den Vorwurf einer ſozialiſti - ſchen Maßregel? Unſere negative Geſetzgebung reicht nicht aus. Die Bevölkerungsfrage. Die Vorſchläge in Bezug auf Fabrikweſen. Die Vorſchläge in Bezug auf das Handwerk und die Hausinduſtrie.

In ähnlicher Weiſe, wie im Vorſtehenden die Ge - webeinduſtrie und Bekleidungsgewerbe, noch die Metall -654Schluß und Reſultate.und Maſchineninduſtrie, die Inſtrumenten -, Geräthe - und Holzwaarengewerbe nach ihrer hiſtoriſchen Umbil - dung in Deutſchland zu unterſuchen, war meine Abſicht. Aber der dieſem Buche urſprünglich zugemeſſene Raum iſt bereits ziemlich überſchritten und eine ähnliche Bear - beitung, wie die der Gewebeinduſtrie würde das Er - ſcheinen des Buches noch um längere Zeit verzögern. Die numeriſche Bedeutung der Metallgewerbe erreicht auch die der bisher beſprochenen Gewerbe entfernt nicht; berechnet doch auch Viebahn1III, 1133. nach dem Geſammtinhalte der Handwerker -, Handels - und Fabriktabelle des Zoll - vereins im Jahre 1861, daß 40 % der Arbeitenden auf die Textilgruppe, 21 % auf die baulichen Arbeiten, 17 % auf die Nährgewerbe, 12 % auf die Dekorations -, artiſtiſchen und literariſchen Gewerbe und nur 10 % auf die Metallurgie kommen. Sachlich freilich iſt die Bedeutung der Metallgewerbe um ſo größer. Es iſt die Induſtriebranche, von welcher die übrigen vielfach in ihren Fortſchritten abhängen, die auch in Deutſch - land in den letzten 30 Jahren die glänzendſte Ent - wickelung hatte, welche die tüchtigſten Unternehmer, die kräftigſten und am beſten bezahlten Arbeiter zählt. So mögen denn wenigſtens einige flüchtige Worte über ſie hier noch als Einleitung der Schlußbetrachtungen ihre Stelle finden.

Die Werke und Hütten, welche die Metalle zu Tage fördern und ausſchmelzen, ſind nicht bloß ſelbſt zu immer größerem Umfang angewachſen, ſie haben655Die Metall - und Maſchineninduſtrie.vielfach auch die erſte Verarbeitung der Metalle mit übernommen; eiſerne Oefen, ſowie einfachere Eiſengeräthe und Maſchinentheile werden auf den Hütten ſelbſt gegoſſen; Stahl -, Eiſenwalz - und Eiſendrahtwerke ſind mit den Hütten verbunden; häufig ſind die großen Gewerkſchaften ſogar im Beſitz von Maſchinenfabriken. Aber auch wo die weitere Verarbeitung der Metalle, beſonders des Eiſens und Stahls, ſelbſtändigen Geſchäften anheimfällt, können wenigſtens für eine Reihe von Spezialitäten nur noch die größten Etabliſſements konkurriren, da die noth - wendigen Ingenieure, Zeichner und Modelleure nur in ſolchen voll ausgenutzt und demgemäß bezahlt werden können, da die Gebäude, die ſonſtigen Anlagen, die großen Summen zum Einkauf der Rohſtoffe und zur monate - lang vorher erfolgenden Auszahlung hoher Löhne nur dem großen Kapital die Betheiligung erlauben. So für Lokomotiven, Damfſchiffe, Dampfmaſchinen, mechaniſche Spinnereien, Eiſenbahnwagen, bergmänniſche Maſchinen und Geſchütze. Krupp in Eſſen hat gegen 8000, Borſig in Berlin gegen 3000, Hartmann in Chemnitz 2000, Kramer-Klett in Nürnberg gegen 1000 Arbeiter. Auf eine Wagen - und Bahnenwagenfabrik im Zollverein kommen 1861 - 70, auf eine Maſchinenbauanſtalt 54, in Berlin allein 80 Arbeiter. Um die große Maſchinen - induſtrie gruppiren ſich nach und nach wieder eine Reihe mittlerer Geſchäfte, welche maſſenhaft einzelne Theile, Keſſelarmaturen und Aehnliches übernehmen; das iſt in entwickelteren Ländern, wie in England, noch mehr der Fall; eigentlich kleine Geſchäfte ſind das aber auch noch nicht. Neben den Maſchinenfabriken kommen eine Reihe656Schluß und Reſultate.von Anſtalten, deren Ausdehnung ziemlich verſchieden iſt: Dampfkeſſel -, Ketten -, Anker -, Schrauben -, Nägel - und Drahtſtiftfabriken, Senſenhämmer, kleinere Gieße - reien, Kratzenfabriken, Anſtalten für Hecheln, Kämme, Jacquardmaſchinenkarden, hölzerne Web - und Strumpf - ſtühle und Aehnliches. Die für Webereibedürfniſſe arbei - tenden Werkſtätten zählten 1861 noch (entſprechend der noch überwiegenden Handweberei) auf eine Anſtalt nur 3 Perſonen; doch ändern ſich auch hier die Dinge von Tag zu Tag.

Die kleinen Geräthe und Inſtrumente aus Eiſen und andern Metallen, die Produkte der Feinmechanik, die Blechwaaren, Schmiedewaaren, die Waffen und Uhren, die muſikaliſchen, optiſchen, chirurgiſchen Inſtru - mente werden theilweiſe auch noch vom Handwerk, viel - fach noch von der Hausinduſtrie, aber auch ſchon man - nigfach und mit täglich ſteigendem Erfolg von großen Fabriken geliefert. Was früher mit der Hand, aus geſchnittenen Blechen, durch getriebene Arbeit hergeſtellt wurde, wird jetzt mehr gegoſſen oder durch Druck -, durch Fall - und Walzwerke geſtanzt und gewalzt; die einfachen Ackergeräthe, welche der Schmied lieferte, gin - gen auf Eiſenwerke und landwirthſchaftliche Maſchinen - fabriken über. Alle Baubedürfniſſe, Schlöſſer, Thür - und Fenſterbeſchläge macht die Fabrik billiger; die Aus - führung von Dach - und andern Eiſenkonſtruktionen beim Häuſerbau, welche ſich nach der Oertlichkeit richten, bleiben eher dem lokalen Handwerker. Die Nagel - ſchmiede ſind theilweiſe ſchon ganz verſchwunden, im Erzgebirge und Oberfranken aber hämmern ſie ſich den657Die Kleinmetallgewerbe.Drahtſtiftfabriken zum Trotze noch müde, unter deren Konkurrenz ſie verkümmern, und denken nicht daran, ihrer Arbeit eine andere Richtung zu geben, ihren ſpär - lichen Gewinn durch ein geſuchteres Fabrikat zu erſetzen. In ähnlicher, theilweiſe auch noch in beſſerer Lage ſind eine Menge von Metall und Holz verarbeitenden Haus - induſtrien Mitteldeutſchlands, in Sachſen, in Thürin - gen, im nördlichen Baiern bis nach Naſſau und der Rheinpfalz. Die kleinen Nadler in Pappenheim, die Heimarbeiter der Nähnadel - und ähnlicher Fabriken in Schwabach, die erzgebirgiſchen Blecharbeiter, die fichtelgebirgiſchen Tafelmacher und Schieferarbeiter, die Sonneberger Holzſchnitzer und Spielwaarenverfertiger, die Krugmacher des Weſterwaldes, die pfälzer Bürſten - binder, alle dieſe Hausinduſtrien haben zu kämpfen mit dem beginnenden Fabrikſyſtem und halten ſich vorerſt durch die ſtaunenswerthe Bedürfnißloſigkeit und Genüg - ſamkeit der Arbeiter. Manche ſind in jammervoller Noth und drückender Abhängigkeit von den Kaufleuten und Faktoren, welche ihnen die Rohſtoffe liefern. Wo durch techniſche Schulen und andere Mittel die Bildung und Leiſtungsfähigkeit ſich gehoben hat, da iſt die Lage beſſer, wie z. B. die der Spielwaarenverfertigung in Sonneberg, die noch kaum Fabrikkonkurrenz hat. Aehnlich ging es ja auch mit der großen Schwarzwälder Uhren - induſtrie, deren Kriſis ſchon in den Anfang der vierziger Jahre fällt. Die Furtwanger Uhrmacherſchule, eine Reihe tüchtiger Werkzeugmacher genügten, die kleinen Leute ſo zu heben, daß ſie jetzt wieder mit jeder Großinduſtrie der Welt konkurriren.

Schmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 42658Schluß und Reſultate.

Die rheiniſche Kleineiſen - und Metallinduſtrie in Solingen, Remſcheid, Lindenſcheid, Hagen, Altena, Iſerlohn war bis in die neuere Zeit auch überwiegend Hausinduſtrie und Sache kleiner ſelbſtändiger Meiſter. Die großen kaufmänniſchen Geſchäfte (hier Kommiſſionäre genannt) geben dem Meiſter (hier Fabrikant genannt) die Beſtellungen; den Rohſtoff erhält er theilweiſe, theil - weiſe liefert er ihn ſelbſt. Die erſte Arbeit fällt dem Schmiede zu; man unterſcheidet die verſchiedenſten Arten (20 30) von Schmieden; dann gehen die Stücke an den Schleifer, der in der Schleifkotte polirt, endlich an den Reider, der das Heft aufſchlägt. 1Siehe die ausgezeichneten Schilderungen bei Jacobi, das Berg -, Hütten - und Gewerbeweſen des Regbez. Arnsberg, beſonders S. S. 77, 365, 375 390.Aehnlich iſt ein großer Theil der Waffeninduſtrie organiſirt. Aber überall zeigen ſich auch hier die Aenderungen, überall dieſelben Klagen: die kleinen Meiſter wohnen zu zer - ſtreut, können größere Maſchinen nicht anwenden, machen die techniſchen Fortſchritte nicht mit. Jacobi ſagt (1855): Es drängt auch hier der Zug der modernen Induſtrie die Fabrikation unwiderſtehlich mehr und mehr aus den vereinzelten Werkſtätten und dem noch halb handwerks - mäßigen Betriebe in die großen gewerblichen Anlagen und den geſchloſſenen Fabrikbetrieb hinüber. Schon ſind die Nadler, die Sporenmacher, die Gelbgießer, die Gürtler und Andere den großen Fabrikanſtalten meiſtens gewichen und gleichartige Entwicklungen bereiten ſich nach allen Sei - ten vor. Die Walzen treten an die Stelle der Hämmer,659Die rheiniſchen Hausinduſtrien für Metallwaaren.die Puddelöfen an die Stelle der Friſchöfen. Doch muß Jacobi zugeben, daß die meiſten Uebelſtände auch ohne Uebergang zur großen Fabrik ſich vermeiden laſſen, wenn nur die richtigen Mittel ergriffen werden. Da und dort haben ſich einige tüchtige Meiſter vereinigt; mancher Schloßſchmied arbeitet mit Durchſchnittmaſchinen, Preſſen, Kreisſcheeren zum Ausſchneiden und Formen der Schloßkaſten, mancher Schüppenſchmied mit der Schlag - maſchine zum Stampfen der Schaufeln. Bei richtiger Bildung der kleinen Meiſter, bei richtiger lokaler Ver - einigung, bei Benutzung gemeinſamer mechaniſcher Kräfte ließen ſich auch hier die kleinen Geſchäfte halten, ſo gut wie in Birmingham. 1Zollv. Ausſtellungsber. 1851 III, 168, es heißt da von der Meſſingwaarenfabrikation und Schmiederei Birmingham’s: Die Stadt hatte 1820-100000, jetzt 240000 Einw. Die Geſchäfte werden nicht bloß mit großen Kapitalien betrieben, es giebt deren Viele, in welchen nicht über 3000 5000 Thlr. ſtecken. Die kleineren Geſchäfte ſind im Zunehmen, ſeit ſich einzelne Unternehmer dazu hergeben, Dampfkräfte von beliebiger Stärke mit entſprechenden Räumlichkeiten miethweiſe abzugeben, ſo daß der kleine Fabrikant oder Handwerker ſich nur die Arbeits - maſchine und Werkzeuge, nicht aber die theuren Triebwerke anzuſchaffen braucht. Daneben iſt das entwickelte Bankſyſtem von Bedeutung für die kleinen Leute. Durch die Zunahme der kleinen Unternehmer ſind die Preiſe der Fabrikate weit billiger geworden, weil der Arbeiter, der für eigene Rechnung fabrizirt, viel mehr raffinirt als der Lohnarbeiter.Die Fabrik ſiegt nicht ſowohl, weil ſie dauernd abſolut beſſere Produkte liefert, ſon - dern weil die kleinen Meiſter den Uebergang zu manchem Neuen nicht zu machen verſtehen. Die oben beſprochene42 *660Schluß und Reſultate.Nürnberger und Fürther Hausinduſtrie iſt ein Beweis hierfür.

Es handelt ſich hier, ähnlich wie bei vielen Bran - chen der Textilinduſtrie ſowie vieler anderer Gewerbe, um Arbeiten, um Prozeduren und Vorgänge, die nicht nothwendig ein großes Fabrikſyſtem erfordern, um Thätigkeiten, für welche das große Geſchäft dieſe, das kleine jene Vorzüge hat. Den Ausſchlag nach der einen oder andern Richtung geben die verſchiedenartigſten, häufig gar nicht ſpezifiſch volkswirthſchaftlichen Urſachen. Neben Klaſſen - und Kreditverhältniſſen kommen Volks - ſitten und Charakter, hergebrachte Gewohnheiten und zufällige Anregungen durch einzelne Perſonen, die Ein - flüſſe der Beamten, die Schulverhältniſſe, die Sorge für techniſche Bildung, die erſte Organiſation des für die Hausinduſtrie immer ſchwierigeren Abſatzes, die zeit - weiſe Unterſtützung zur Ueberleitung in neue techniſche und kaufmänniſche Verhältniſſe in Betracht.

Mit dieſem Ergebniß, das den flüchtigen Ueber - blick über die Metallinduſtrie abſchließt, aber zugleich auch ein allgemeines Reſultat unſerer Unterſuchungen ausſpricht, komme ich zurück auf den eigentlichen Zweck dieſes letzten Abſchnittes, auf die Endergebniſſe und Schlußreſultate, die ich hier theilweiſe erſt zu ziehen, theilweiſe in Kürze zu reſumiren habe.

Die Kriſis des Handwerks iſt keine Sache für ſich, ſie iſt nur eine Folge der allgemeinen Aenderungen unſerer geſammten wirthſchaftlichen Verhältniſſe. Ein totaler Umſchwung der Technik und des Verkehrsweſens,661Die Kriſis des Handwerks.eine außerordentlich raſch zunehmende Bevölkerung, eine vollſtändige Verlegung faſt aller Standorte der Induſtrie wie der Landwirthſchaft, eine ganz andere Organiſation der bei der Produktion zuſammenwirkenden Kräfte, total veränderte Klaſſen - und Beſitzverhältniſſe, eine ganz andere volkswirthſchaftliche Geſetzgebung, alle dieſe Mo - mente zuſammen haben die moderne ſoziale Frage geſchaffen. Einzelne dieſer tief eingreifenden Urſachen ſtehen an ſich in engem Zuſammenhang, andere fallen gleichſam nur zufällig in dieſelbe Zeit. Die Geſammt - wirkung kann keine einfache ſein. Viele Errungenſchaften der neuen Zeit kommen allen Klaſſen gleichmäßig zu gute, andere nur einzelnen. Die vollſtändige Neugeſtaltung der Vermögens - und Einkommensverhältniſſe, als Folge nicht bloß ſpezifiſch wirthſchaftlicher, ſondern auch anderer Urſachen hat einzelne Stände, einzelne Klaſſen in ebenſo behagliche, wie andere in traurige ärmliche Lage verſetzt. Die Streiflichter, welche unſere Unterſuchungen auf die Konſumtion warfen, deuteten an, welch große Zunahme des Verbrauchs in einzelnen Artikeln, welche Stabilität oder gar Abnahme in anderen ſtattfand, wie ungleich nach den verſchiedenen geſellſchaftlichen Klaſſen ſich die Fortſchritte des Wohlſtandes vertheilen. Da Licht, dort Schatten, da die größten Fortſchritte, dort Stabilität und Mißbehagen das iſt das Bild unſerer Zeit. Ein optimiſtiſcher Ziviliſationshochmuth ſieht nur, wie herrlich weit wir es gebracht, und es wird ſich gar nicht leugnen laſſen, daß Großes geſchehen und erreicht iſt. Nur wird man bei unbefangener Beachtung zugeben, daß wir noch mitten inne in einem Gährungsprozeſſe ſtehen,662Schluß und Reſultate.in einem Kampfe geſunder und ungeſunder Elemente, in einem Kampfe neuer Tugenden und neuer Laſter; man wird zugeben, daß in dem neuen Wohnhauſe, das die Menſchheit bezogen, gleichſam die Hausordnung noch nicht oder noch nicht definitiv feſtgeſtellt iſt. Das ſchönere größere Wohnhaus wird der Menſchheit zum Heile bleiben, aber vielleicht werden erſt künftige Generationen zu den Regeln des Zuſammenlebens, zu den Sitten und Anſchauungen ſich durcharbeiten, die das Wohnen in dem neuen Gebäude für Alle oder wenigſtens für die Mehrzahl zum Segen machen. Wer freilich daran glaubt, daß die Volkswirthſchaft in ihrer hiſtoriſchen Entwicklung eine automatiſch und immer har - moniſch von ſelbſt ſich drehende Maſchine ſei, der wird, nur die techniſchen und andern Fortſchritte ſehend, nicht zugeben, daß trotz derſelben und theilweiſe durch die - ſelben zunächſt viele und ſchwere Mißſtände ſich ergeben, hauptſächlich die täglich ſteigende Ungleichheit der Ver - mögens - und Einkommensvertheilung; der wird nicht einſehen, daß zur Ergänzung des totalen Umſchwungs in unſerem äußeren wirthſchaftlichen Leben ein gleicher Umſchwung unſerer Sitten und Gewohnheiten, unſeres Rechts - und Sittlichkeitsbewußtſeins gehörte, daß ein ſolcher, bis er durchgeſetzt und erkämpft iſt, längere Zeit, vielleicht Jahrzehnte und Jahrhunderte braucht, jeden - falls gegenwärtig noch nicht erfolgt iſt. Wer auf dem entgegengeſetzten Standpunkte ſteht, wer den Zuſam - menhang zwiſchen dem innern geiſtigen und ſittlichen Leben der Völker und den äußern Geſtaltungen von Recht und Wirthſchaft erkennt, wer weiß, daß das eine663Die einſeitigen Fortſchritte unſerer Zeit.wie das andere Element allein in Bewegung kommen kann, daß das Pflichtgefühl der höhern Klaſſen ebenſo ſchwer Neuem zugänglich iſt, wie die techniſche Durch - ſchnittsbildung der untern Klaſſen, der wird es ſehr begreiflich ja nothwendig finden, daß wir uns zunächſt in einem Chaos, in einem Kampfe der ſozialen Klaſſen befinden, der wird nicht erwarten, daß die Folge ſo großer theilweiſe unter ſich gar nicht zuſammenhängender Urſachen eine vollſtändig harmoniſche Entwickelung ſei, daß wir für alle die Aenderungen unſeres äußeren wirth - ſchaftlichen Lebens auch ſchon die abſolut richtigen ſitt - lichen und rechtlichen Kulturformen gefunden haben. Die reine Wiſſenſchaft wird ſich daher nicht ſcheuen, von dieſem Standpunkte aus alle Grundlagen unſeres ſozialen Lebens in Frage zu ſtellen; denn nur, was vor erneuter Prüfung Stich hält, ſoll bleiben. Aber ſie wird ſich nicht der ſonderbaren Inkonſequenz unſerer radikalen Volkswirthe ſchuldig machen, die ſo leicht und vielfach mit Recht das beſtehende Privat - und Staats - recht als ein unhaltbares hiſtoriſch überlebtes an - greifen, dagegen vor dem zufällig heute ſo feſtgeſtellten Recht des Privateigenthums, vor dem heute zufällig beſtehenden Obligationsrecht der Arbeitsmiethe als einem unantaſtbaren Noli me tangere ſtehen bleiben und in dieſen Punkten nicht bloß konſervativ, ſondern reak - tionär und altgläubig bis zum Uebermaß werden. Nicht als wollten wir ohne Weiteres dieſe Rechtsformen an ſich angreifen, aber das geben wir zu: auch ſie ſind in ihrer augenblicklichen Geſtaltung doch nur hiſtoriſch gewordene, durch beſtimmte Zuſtände und Sitten bedingte664Schluß und Reſultate.Inſtitutionen, die nicht immer gerade ſo waren und nicht nothwendig in Zukunft immer ſo ſein werden, die nur dann ihre innere Berechtigung ſich erhalten, wenn ſie unter den beſtimmt gegebenen äußern und innern Verhältniſſen die beſte Rechtsform für die Geſell - ſchaft ſind.

Doch zunächſt nicht dieſe allgemeine Frage haben wir zu beſprechen, ſondern die konkretere, wie nach den vorſtehenden Unterſuchungen ſich die Lage des deutſchen Handwerkerſtandes im 19. Jahrhundert geſtaltet hat.

Wir ſehen, daß die Gewerbefreiheit, nothwendig nach dem heutigen Stande der Technik, mancherlei Hem - mungen, mancherlei veraltete Vorſchriften beſeitigt, daß ſie, ſoweit ſie innerhalb ſittlcher Schranken oder, wie der Kaufmann zu ſagen liebt, innerhalb des reellen Ge - ſchäftslebens auftritt, den einzelnen und beſonders den Fähigen, den an ſich ſchon Höherſtehenden zu früher nicht gekannter Anſtrengung und Arbeit treibt, daß ſie aber an ſich dem kleinen[Handwerk] keine Rettung, dem großen Gewerbe viel eher als den kleinen Meiſtern Förderung bringt, die Kardinalpunkte, um die es ſich handelt, wenn das Handwerk d. h. ein zahlreicher ſtädti - ſcher Mittelſtand erhalten werden ſoll, kaum berührt. In der neuen freieren Stellung der Innungen, in dem Wegfall jedes Zwanges zum Beitritt wird man eher eine direkte Förderung ſehen. Man kann das z. B. in Sachſen erkennen. Die Innungen, welche ſich halten wollen, an deren Spitze tüchtige Leute ſtehen, müſſen, um anzulocken, etwas bieten, irgend wie poſitiv das Ge - werbe fördern, und dann werden ſie auch an Mitglieder -665Die Gewerbefreiheit und die Zahl der Meiſter.zahl zunehmen, während ſie bisher daran nicht dachten, nur eiferſüchtig auf ihre Rechte pochten, ohne damit ihrem Ruin irgend wie Einhalt zu gebieten. Zunächſt wird aber auch das nicht zu viel wirken.

Es wird die allgemeine Richtung nicht aufhalten, die, wie wir an den vielen Beiſpielen ſahen, dahin geht, faſt in allen Zweigen der Induſtrie die kleinen Geſchäfte zu verdrängen, eine geringe Zahl von großen Unter - nehmungen mit Lohnarbeitern an deren Stelle zu ſetzen. Man mag ſich dem gegenüber darauf berufen, daß nach meinen eigenen Berechnungen die Handwerkertabelle faſt überall noch die Fabriktabelle überwiegt,1S. 307, dann auch S. 281 u. 292. man mag daran erinnern, daß Viebahn für den ganzen Zollverein folgendes Verhältniß im Jahre 1861 berechnet:

Solche Zahlen aber beweiſen als Durchſchnitt eines einzigen Momentes nicht ſehr viel. Nicht auf die Lage in dieſem oder jenem Zeitpunkt kommt es an; die Frage iſt, ob eine große Aenderung ſich vollzieht und dieſe kann ſich nie in den Zahlen eines Jahres allein zeigen, ſie kann ſich vollends nicht in den Zahlen von 1861 klar zeigen, da die Wirkung der dem Handwerk feind - lichen Faktoren theilweiſe wohl ſchon ſeit 1838 40, theilweiſe aber auch erſt von 1850 55, ja von 1861 an beginnt. Um einen Ueberblick über die wirkliche666Schluß und Reſultate.äußere und innere Lage der Handwerker zu geben, möchte ich ſie folgerdermaßen klaſſifiziren.

Die tüchtigſten Meiſter, die choleriſchen, geiſtig und körperlich kräftigſten Naturen haben ſich durch den Druck der Verhältniſſe eher gehoben; es ſind die self made men, es ſind die Stützen der Schulze-Delitzſch’ſchen Vereine, es ſind die Parteigänger der Gewerbefreiheit unter den Meiſtern ſelbſt, es ſind politiſch faſt durchaus liberale Leute; es ſind diejenigen, aus denen immer einzelne zum Beſitze großer Fabriken ſich emporarbeiten. Aber ihre Zahl iſt gering, ſehr gering. Man darf ſich durch die Mitgliederzahl der Vorſchußvereine nicht täu - ſchen laſſen; die Mitgliederzahl der Rohſtoff -, Magazin - und Produktivvereine iſt ohnedies klein genug, wie wir da und dort ſahen. In den Vorſchußvereinen gehört die Hälfte bis zwei Drittel Leuten an, die nicht in der Handwerkertabelle gezählt werden; es ſind gar viele kleine Kaufleute, kleinere und größere Fabrikanten, Rentiers und andere Perſonen dabei, und unter den Handwerkern ſelbſt iſt nicht jedem an ſich ſchon geholfen, der Mit - glied eines Vorſchußvereins iſt. Viebahn zählt 1861 im ganzen Zollverein 1101714 ſelbſtändige Handwerker und 47575 auch zum großen Theil kleine kunſtinduſtrielle Geſchäfte; Schulze zählt 1868 auf die ihm genauer bekannten 666 Vorſchußvereine 256337 Mitglieder, von denen aber, wie geſagt, ſehr viele keine Handwerker ſind. Immer iſt der Segen der Genoſſenſchaftsbewegung und ſpeziell der Vorſchußvereine ein großer, der Erfolg ein glänzender; es iſt, möchte ich ſagen, faſt die einzige Lichtſeite des heutigen Handwerks; aber es iſt eine667Die vorwärtskommenden und die verarmenden Meiſter.Förderung, die nur einer verhältnißmäßig kleinen Elite zu Gute kommt.

Ihnen gegenüber ſteht die Hauptmaſſe der kleinen Meiſter, die über die herkömmlichen Anſchauungen, wie über die Noth des Tages nicht hinauskommen. Es ſind nicht bloß die faulen, phlegmatiſchen, es iſt der Mittel - ſchlag der Menſchen, der überall überwiegt. Es ſind darunter auch manche Wohlhabende mit ererbtem, ſeltener mit erworbenem Beſitz. Sie ſuchen ihr Handwerk zu treiben, wie es der Vater und der Großvater getrieben; die neue Zeit verſtehen ſie nicht, ſie ſehen nur, daß ſie trotz aller Arbeit ärmer und ärmer werden, ſie haben die dumpfe Erinnerung, daß es früher um das Hand - werk beſſer geſtanden habe. Das ſittlich Berechtigte ihrer Beſtrebungen liegt in einem gewiſſen ſpießbürger - lichen Feſthalten an althergebrachter Zucht und Sitte, das freilich nicht gepaart iſt mit dem Verſtändniß für die neue techniſche Bildung, die ſie ihren Lehrlingen geben müßten. Ausſchließlich ſehen ſie das Heil der Handwerkerſache in Zunftrechten und Innungen, welche doch nichts für das Handwerk leiſteten. Sie ließen ſich von der Reaktion ins Schlepptau nehmen, welche ihnen mit Wiederherſtellung der Zunft beſſere Zeiten vor - ſpiegelte. Wenn Leute, wie der Geh. Rath Wagener, welche den Bund zwiſchen den alten Handwerksmeiſtern und der konſervativen Partei zu knüpfen ſuchten, nicht ausſchließlich politiſche Parteizwecke verfolgt hätten, wenn ſie mit Energie und den großen Geldmitteln, über welche ſie verfügen konnten, die ſyſtematiſche Or - ganiſation von techniſchen Schulen, von Genoſſenſchaften668Schluß und Reſultate.und hauptſächlich von Produktivaſſoziationen in die Hand genommen, ſie inſtruirt und geleitet hätten, ſtatt mit der Fata Morgana einer neuen Zunftepoche die Leute zu täuſchen, ſo wäre auch mit dieſer Klaſſe der Meiſter Manches zu erreichen geweſen. So aber hat der Bund zwiſchen den ehrbaren Meiſtern und unſern Hochtory’s dieſen mehr geſchadet als genützt, wie das Huber ſeinen ehemaligen konſervativen Freunden immer gepredigt hat. 1Vergl. V. A. Huber, Handwerkerbund und Handwerker - noth, Nordhauſen 1867.Auch der Handwerkerbund und die Handwerkertage, wo der Berliner Schuhmachermeiſter Panſe im Verein mit ultrawelfiſchen Zeitungsredakteuren das große Wort führt, haben ſich nur in Klagen über Gewerbefreiheit und in der Hoffnung einer Wiederherſtellung der Zunftrechte ergangen, als ob mit dieſen Rechten der innere Fort - ſchritt, der allein helfen kann, irgend wie angebahnt würde. Auf dem neueſten Handwerkertage, der eben jetzt hier in Halle berathet, wird zwar die Gewerbe - freiheit als fait accompli anerkannt, man beſchließt, nicht mehr dagegen zu petitioniren, es wird im Detail manches Wahre und Gute von einzelnen Meiſtern bemerkt; aber die Wortführer, Panſe und Genoſſen, verweiſen doch in der Hauptſache nur auf eine Konſer - virung der Innungen, die einſtens, nachdem allgemeine Unordnung und allgemeines Elend aus der Gewerbe - freiheit entſtanden ſein werde, wieder zu Ehren und Rechten kommen müßten. Die Maſſe der Meiſter glaubt das nicht mehr, die Theilnahme für ſolche Verheißungen669Die Muthloſigkeit der kleinen Meiſter.ſinkt ganz entſchieden; aber eben damit ſteigt die Rath - loſigkeit und die Muthloſigkeit.

Eben für dieſe Muthloſigkeit möchte ich einige perſön - liche Erfahrungen als Beſtätigung anführen. Ich habe ſeit längerer Zeit, auf Reiſen und zu Hauſe, verſucht, das Alter der Meiſter zu beobachten; ich fand faſt immer mehr alte als junge Meiſter: viele der 1861 noch vorhandenen Meiſter werden nicht mehr durch neue erſetzt werden. Die Aelteren ſiechen vollends hin, weil ſie nichts anderes zu ergreifen wiſſen. Als ich neulich den Vorſtand der hieſigen an ſich blühenden Weberaſſoziation fragte, wie es gehe, meinte er, der Abſatz gehe, ſeine 9 Weber ſeien immer voll beſchäftigt; aber einer ſeiner alten Freunde nach dem andern ſterbe weg, junge treten nicht zu, es ſetzten ſich gar keine jungen Webermeiſter mehr hier. Und ähnlich geht es mit einer Reihe von Gewerbszweigen, die heute noch als kleine Geſchäfte exiſtiren, in die aber kein junger Nachwuchs eintritt. Unter den jüngern Meiſtern, die in anderen Branchen noch verſuchen, ein Geſchäft anzufangen, hat mich bei mannigfachen Geſprächen da und dort ein Symptom um ſo mehr erſchreckt, je öfter ich darauf ſtieß: die Stellenjägerei von Leuten, deren Stolz und Ehre das eigene Geſchäft doch ſein ſollte. Sie wollen ihr Geſchäft aufgeben, wenn man ihnen nur die Stelle eines Hausmanns, eines Schließers mit freier Woh - nung oder ein paar Thalern in Ausſicht ſtellt, wenn ſie bei einer Eiſenbahn nur Wagenſchieber mit jährlich 100 Thlr. werden können. Eiſenbahnen und Aktien - geſellſchaften wiſſen davon zu erzählen. Die zahlreichen670Schluß und Reſultate.Auswanderungen von Handwerkern ſind Folge des - ſelben Zuſammenhangs. Nur ein anderes Symptom der Muthloſigkeit iſt es, wenn die leidenſchaftlichen, die ſanguiniſchen, die verbiſſenen Naturen der Sozial - demokratie ſich in die Arme werfen. Kleine Meiſter und ältere Geſellen, die es zu keinem ordentlichen Ge - ſchäft bringen können, ſtellen ein ziemliches Kontingent zu dieſer Partei.

Freilich gibt es auch welche, die den Muth nicht ganz ſinken laſſen; es ſind die pfiffigen, die verſchmitz - ten, geriebenen; für ſie iſt das Bankerottmachen ein gutes Geſchäft; urſprünglich Handwerker, werden ſie ſpäter ausſchließlich Krämer, Unterhändler, Kommiſ - ſionäre, Winkeladvokaten, Hauſirer; ihnen iſt kein Ge - ſchäft zu ſchlecht; man nennt ſie hier zu Lande die Macher, weil ſie Alles und in Allem machen. Der ſchlimmſte Theil bildet die Rekruten für das Zuchthaus; viele aber waren urſprünglich ehrliche Leute, welche nur die Noth zu Machern gemacht hat.

Unter alle die vorſtehenden Kategorien paßt eine Klaſſe der kleinen Meiſter nicht recht und zwar eine der zahlreichſten; ich meine die Weber, die Schmiede, die Blecharbeiter, die Holzſchnitzer und andere in Haus - induſtrien beſchäſtigte Meiſter und Arbeiter, welche über - wiegend auf dem Lande wohnen. Von Schleſien bis an und über den Rhein zieht ſich beſonders durch ganz Mitteldeutſchland zu Tauſenden dieſe Art kleiner Unter - nehmungen. Meiſt ſchon lokal abgeſchnitten von för - dernden Anregungen, bleiben ſie trotz immer ſinkenden Lohnes ihrer Arbeit treu. In einzelnen Branchen, wie671Die Hausinduſtrien.in der Spinnerei, ſind ſie vernichtet, in anderen naht der Untergang. Sie haben der deutſchen Induſtrie zu dem traurigen Weltruf verholfen, in erſter Linie durch Billigkeit der Arbeit ſich auszuzeichnen. Sie haben der Bevölkerung ganzer Gegenden jenen Typus der äußerſten Genügſamkeit verliehen, die ſich jede Lohn - reduktion gefallen läßt. Wenn man jetzt ſo oft verſichert, die Löhne ſteigen allgemein (was oft nur mit ein paar zufälligen engliſchen Zahlen bewieſen wird), ſo bilden ſie einen lebendigen Proteſt gegen dieſe Behauptung in ihrer Allgemeinheit. Und wenn man dieſe Leute einfach mit der Anweiſung auf den ſteigenden Lohn in der Fabrik tröſtet, ſo gibt man damit wenigſtens zu, daß der ſelbſtändige induſtrielle Mittelſtand in bedeutender Ab - nahme begriffen iſt.

Gegenüber der Mehrzahl der ſo verarmenden und abnehmenden kleinen Meiſter kann man ohne große Ungerechtigkeit nicht den Satz aufſtellen, ſie ſeien ſelbſt an ihrem Untergange ſchuld. Wohl ſind manche Ein - zelne perſönlich ſchlechte faule indolente Menſchen, wohl iſt jedem hervorragend Begabten der Weg nach Oben offen, wohl trägt der ganze Stand die Schuld Jahr - hunderte langer Lethargie und kleinlicher Spießbürgerei; aber ſchon dieſes letztere Moment iſt keine Schuld, die den Stand allein, ſondern eine Schuld, welche die Nation und ihre Geſchichte trifft. Und vollends allen den neuern Fortſchritten der Technik gegenüber befindet ſich die Maſſe der Meiſter faſt vollſtändig in der Un - möglichkeit, ſie nach ihrer herkömmlichen, ſeit Jahr - hunderten ausreichenden Bildung zu verſtehen, in der672Schluß und Reſultate.Unmöglichkeit, ſie nach ihrem Kapitalbeſitz anzuwenden. Das hauptſächlich erzeugt den Mißmuth und die dumpfe Unzufriedenheit der Meiſter, wie der vollends zum Lohn - und Fabrikarbeiter Herabgedrückten. Sie verarmen ohne oder ohne entſprechende Schuld, während ſie auf der andern Seite ſich Vermögen bilden, einen übermüthigen materialiſtiſchen Luxus entſtehen ſehen, ohne oder ſchein - bar ohne perſönliches Verdienſt.

Das Volksbewußtſein wird jede beſtehende Un - gleichheit des Vermögens und Einkommens als erträg - lich anſehen, welche wenigſtens ungefähr den perſönlichen Eigenſchaften, dem ſittlichen und geiſtigen Verdienſt der Betreffenden, der geſellſchaftlichen Klaſſe entſpricht. Ich ſage ungefähr. Denn ganz wird und kann das nie der Fall ſein. Die beſtehende Vermögensvertheilung geht theilweiſe immer zurück auf Jahrhunderte alte Ge - walt, auf Zufälle mancher Art, auf Geſetze und Ereig - niſſe, die nicht wirthſchaftlicher Natur ſind. Aber im Ganzen wird doch im gewöhnlichen Laufe der Dinge der Tüchtige erwerben, der Untüchtige verarmen. Auf dieſen nur unklar gefaßten ſittlichen Gedanken gründet ſich ja auch die in ihrer Uebertreibung freilich nicht mehr wahre Behauptung: aller Werth entſpreche der Arbeit. Wenn dem immer ſo wäre, ſo gäbe es keine ſchwierigen ſozialen Probleme. Sie entſtehen eben, wenn übermächtige große Ereigniſſe politiſcher, rechtlicher, volkswirthſchaft - licher und techniſcher Natur die Harmonie zwiſchen Beſitz und Einkommen einerſeits und dem perſönlichen Verdienſt andererſeits entweder völlig aufheben oder wenigſtens mehr oder weniger trüben und verdecken. Unſere Zeit673Die Parallele zwiſchen Verdienſt und Beſitz.zeigt in dieſer Beziehung mancherlei widerſprechende Thatſachen. Ich wiederhole dabei nicht, was ich eben vom Handwerk und den Hausinduſtrien ſagte.

Der Lohn der ländlichen Tagelöhner und Fabrik - arbeiter iſt bis in die fünfziger Jahre in Deutſch - land überhaupt kaum geſtiegen, von da an wohl nicht mehr, als die Lebensbedürfniſſe theurer wurden, keinen - falls aber in dem Maße, als das Einkommen anderer Klaſſen ſtieg. Selbſt in neuerer Zeit iſt er nicht überall geſtiegen. Das Steigen hängt ab von der Bevölkerungs - bewegung, dieſe von der ganzen ſittlichen und wirthſchaft - lichen Lebenshaltung der untern Klaſſen. So wie die Dinge mit rühmenswerthen Ausnahmen liegen, iſt aber eben die Stellung, die äußere Lage der Lohn - und Fabrikarbeiter dem geiſtigen und wirthſchaftlichen Fort - ſchritt der Betreffenden ſo wenig, ſo ſehr viel weniger günſtig, als ein eigenes Geſchäft; jenes leichtſinnige Leben in den Tag hinein, wodurch ſelbſt bei hohem Lohn die ganze Klaſſe der Arbeiter ſinkt, iſt leicht Folge der Verhält - niſſe, nicht Folge der Perſonen, und kann alſo den Betreffen - den nicht rein als ihre Schuld angerechnet werden.

Unſer kleiner Bauernſtand iſt vorwärts gekommen, vielfach wohlhabend ja reich geworden, aber mehr durch andere Verhältniſſe und Einwirkungen als durch ſich ſelbſt. Die Separationen, die Gemeinheitstheilungen und die Ablöſungen, alſo vor Allem ſtaatliche Thätigkeit und ſtaatliche Eingriffe haben ihn wohlhabend und land - wirthſchaftlichen Fortſchritten zugänglich gemacht.

In Bezug auf den höhern Gewerbeſtand läßt ſich nicht leugnen, daß ſehr viele unſerer heutigen wohl -Schmoller, Geſchichte d. Kleingewerbe. 43674Schluß und Reſultate.habenden Fabrikanten vom einfachen Arbeiter oder Hand - werksmeiſter emporgeſtiegen ſind zum größten Beſitz, zu den höchſten Ehren in Staat und Geſellſchaft. Die Standesunterſchiede, welche früher dem Talente oft ſich in den Weg ſtellten, ſind gefallen. Aber dieſes Empor - ſteigen wird von Tag zu Tag ſchwerer. In den Jahren 1830 40 gab es noch kaum große Tuch - oder Ma - ſchinenfabriken; gerade weil es damals faſt noch keine Konkurrenz, faſt noch keine großen Geſchäfte gab, kamen die Tüchtigſten unter den Tuchmachern und Keſſel - ſchmieden empor. Das iſt heute total anders geworden. Jedenfalls iſt ein ſolches Emporſteigen immer nur Einzelnen, beſonders Talentvollen und von glücklichen Zufällen Begünſtigten möglich. Daneben iſt unbeſtreit - bar, daß die große Induſtrie in ihrer Geſammtheit lange Zeit das Schoßkind der Regierungen war. Die früher gegründeten polytechniſchen Schulen haben unſere In - genieure und Fabrikanten großgezogen, Schutzzölle haben unſere Baumwollſpinner, unſere Zuckerfabrikanten und andere Fabriken reich gemacht; zahlreiche direkte Staats - unterſtützungen in Preußen, die Thätigkeit von Bank - und Seehandlung kamen in erſter Linie den großen Ge - ſchäften, wenn auch in weiterer Linie dem Ganzen ebenfalls zu Gute.

In Bezug auf das große Kapital hat Laſalle von einem blinden Werthwechſel geſprochen, der die Beſitzen - den noch reicher, die Nichtbeſitzenden täglich ärmer mache. Dieſe Anſchauung gehört in das Land der Träume. Aber Ein großer Werthwechſel hat allerdings ſtatt - gefunden, an dem nur die Beſitzenden und zwar die675Die wirthſchaftlichen Klaſſen der Gegenwart.Einzelnen ohne jede entſprechende Arbeit theilgenommen haben, an dem die Nichtbeſitzenden nur negativ durch die höheren Mieths - und Lebensmittelpreiſe partizipi - ren. Die Werthſteigerung des Haus - und Grund - beſitzes iſt im letzten Jahrhundert, ſpeziell in den letzten 30 Jahren, ſtärker geweſen als je, weil nicht leicht jemals die Bevölkerung in ſo kurzer Zeit und beſonders in den großen Städten ſo gewachſen iſt. Sie gleicht einer Neuvertheilung des Vermögens, von der man nie der Maſſe oder der Wiſſenſchaft weiß machen kann, ſie gehe irgend welcher entſprechenden Arbeit der Gewin - nenden parallel. Welche Vermögen ſind entſtanden durch die zufällige Thatſache, daß eine Parzelle in den Bereich einer Bahnlinie oder gar eines Bahnhofes fiel. Wie ſind die Häuſer der großen Städte, welche immer daneben bewohnt waren, alſo ihre Rente abwarfen, im Preiſe geſtiegen. Das Haus, in welchem Alex. v. Hum - bold geboren wurde, koſtete 1746 - 4350 Thlr., 1761 8000, 1796-21000, 1803-35200, 1824-40000, 1863-92000, 1865 - 140000 Thlr.; damals erſt wurde es weſentlich umgebaut. Und ähnlich gewann ein großer Theil des ländlichen Beſitzes. Wenn heute der ſtädtiſche und ländliche Grundbeſitz ſo vielfach über Verſchuldung klagt, ſo kommt es hauptſächlich daher, daß die reich Gewordenen verkauft, ſich als reiche Ren - tiers zurückgezogen haben, und der Spekulant, der mit Schulden gekauft hat, der in kürzeſter Zeit wieder auf ein weiteres Steigen der Preiſe rechnet, dies nicht abwarten kann. In vielen Familien unſeres Adels freilich hat die Verſchuldung die Urſache, daß Luxus43 *676Schluß und Reſultate.und Verſchwendung, theilweiſe auch die Zahl der Fa - milienmitglieder, welche ohne Arbeit leben wollen, noch bedeutender ſtieg, als der Güterwerth.

Am ungerechteſten vielleicht ſind die Anſchauungen des Laien gewöhnlich über das unberechtigte Reichwerden an der Börſe. Die Spekulation an ſich iſt ein noth - wendiges und heilſames Glied unſeres Verkehrs; wer hier oder als Bankier dauernd gewinnt, den zeichnen meiſt außerordentliche Eigenſchaften aus. Aber ein richtiger Keim liegt doch in der oft ausgeſprochenen Mißachtung des Börſengewinnes. An der Börſe und in den Börſengeſchäften iſt die kaufmänniſche Moral am laxeſten geworden; Geſchäfte werden hier vertheidigt, die ein Reſt von Anſtandsgefühl verurtheilt. Täuſchun - gen, Fälſchungen von Nachrichten, Beſtechungen von Zeitungen und Beamten und Aehnliches gelten beinahe als erlaubt; die Grenze der reellen und unreellen Ge - ſchäfte hat ſich bis auf vollſtändige Unkenntlichkeit ver - wiſcht. Und dieſe Entſittlichung des Geſchäftslebens hat ſich von der Börſe vielfach auf das ganze Aktienweſen verbreitet. Betrügeriſche Ausnutzung des Publikums zu Gunſten von Gründern und Verwaltungsräthen hat den Schein erweckt, als ob alles hier gewonnene Geld unrecht erworben wäre. In Bezug auf das ganze Staats - ſchuldenweſen will ich wenigſtens daran erinnern, daß die Unterſuchungen von Soetbeer1Betrachtungen über das Staatsſchuldenweſen und deſſen Einfluß auf die Vertheilung des Volksvermögens, Vierteljahrs - ſchrift für Volkswirthſchaft X, 1 35. das unwiderleglich677Die Gefahren der zu großen Vermögensungleichheit.bewieſen haben, daß unſer modernes Staatsſchuldenweſen die Beſitzvertheilung weſentlich zu Gunſten der Beſitzen - den und zu Ungunſten der Nichtbeſitzenden beeinflußt.

Ueber jeden einzelnen der angeführten Punkte wird ſich ſtreiten laſſen, aber über den Geſammterfolg, über die ſteigende Ungleichheit der Beſitz - und Einkommens - verhältniſſe nicht. Und mag der faktiſche Zuſammenhang zwiſchen wirthſchaftlichen Tugenden und perſönlichen Fähigkeiten einerſeits und der Vermögensvertheilung andererſeits heutzutage ſein, welcher er will, der weitere Erfolg iſt jedenfalls ein ſchlimmer: das Verſchwinden des Mittelſtandes untergräbt unſere politiſche wie unſere ſoziale Zukunft. Vollends in einem Lande, das den Beſitzenden bis jetzt noch kaum die Pflicht freiwilligen Ehrendienſtes für den Staat und die Gemeinde auferlegt, wird eine ſteigende Vermögensungleichheit die Folgen haben, die ſie immer gehabt hat, und es wäre thörichte Selbſttäuſchung, wenn wir leugnen wollten, daß wir An - fänge hierzu bei uns nur allzu zahlreich finden: auf der einen Seite den Untergang der Beſitzenden in Genuß - ſucht und Materialismus, Maitreſſenwirthſchaft und Geldheirathen, kinderloſe Ehen, welche die großen Ver - mögen noch mehr zuſammenhäufen, Mißbrauch des Regiments für die Zwecke der Beſitzenden, hartherzige Frivolität gegenüber den nothleidenden Klaſſen; auf der anderen Seite die Maſſe der Beſitzloſen ohne anderes Vorbild als dieſe Vermögensariſtokratie, ohne Bildungselemente und geiſtige Anregung in ſich, ver - zehrt von dumpfem gehäſſigem Neid, die Arbeit ver - fluchend, ergeben einem leichtſinnigen Leben in den Tag,678Schluß und Reſultate.angeſteckt von den Laſtern der Beſitzenden, ſich proleta - riſch vermehrend, bis in Folge der Laſter auch dieß auf - hört; als letztes Ergebniß ſoziale und kommuniſtiſche Revolutionen von oben oder unten, allgemeinen Umſturz oder eine Tyrannys, welche die Beſitzenden beraubt, um den Beſitzloſen panem et circenses ohne Arbeit zu reichen.

Noch ſind wir weit hiervon entfernt, noch ſind die guten Elemente zahlreich, noch iſt die Ungleichheit des Beſitzes nicht ſo groß, noch haben wir einen nicht unbedeutenden Mittelſtand; aber kurzſichtig wäre es, zu verneinen, daß unſere gegenwärtige induſtrielle Ent - wicklung dahin neigt. Mit allen Mitteln iſt deßhalb der ſteigenden Vermögensungleichheit entgegenzuarbeiten, und eine der wichtigſten praktiſchen Fragen iſt eben die möglichſte Erhaltung des noch vorhandenen Handwerker - ſtandes.

Manche Anfänge dazu ſind auch vorhanden, ich habe ſie da und dort erwähnt. Am wichtigſten iſt die genoſſenſchaftliche Bewegung. Aber viel bleibt daneben zu thun. Der ganze Standpunkt, von dem aus dieſe Frage meiſt beurtheilt worden, iſt ein ungenügender. Ich meine damit die Uebertragung des ſchönen Wortes wirthſchaftlicher Freiheit von der Beſeitigung veralteter mittelalterlicher Geſetze, die vom Liberalismus mit Recht gefordert und durchgeführt wurde, auf die Negation poſitiver Aufgaben, die, wo es an freiwilligen Organen der Geſellſchaft fehlt, der Staat wenigſtens theilweiſe in die Hand nehmen muß, die theilweiſe ohne ein neues Recht, ohne poſitive Geſetze gegenüber dem Schlendrian679Das Prinzip der wirthſchaftlichen Freiheit.und dem ſtets kurzſichtigen, immer nur an den nächſt - liegenden Erwerb denkenden Egoismus der Maſſe nicht durchzuſetzen ſind. Je mehr der Radikalismus das Alles nur negirt, die ſtarre Reaktion ſich feſtklammert an den Trümmern und Privilegien einer untergegangenen Zeit, deſto mehr iſt es Sache der Mittelparteien, ſollte es gerade auch Sache eines weitſehenden hochſinnigen Liberalismus ſein, dieſe poſitiven Aufgaben durchzu - führen, wenn er dadurch auch ſeinen eigenen Partei - mitgliedern wirthſchaftliche Opfer auferlegt.

Immer wird man unter dem Paniere politiſcher und wirthſchaftlicher Freiheit alle edel und idealiſtiſch Denkenden ſich vereinigen ſehen. Aber die konkrete Durchführung der einzelnen Freiheiten darf den prak - tiſchen Boden der Wirklichkeit nicht verlaſſen, muß immer darauf ſehen, mit welchen Menſchen und Ver - hältniſſen man es zu thun hat. Die wirthſchaftliche Freiheit, welche die Gegenwart fordert, iſt kein Unrecht in abstracto, iſt keine Schablone, die immer und überall paßt; ſie iſt nur ſoweit berechtigt, als ſie die wirthſchaftlichen Tugenden des Fleißes, der Anſtrengung, der Selbſtverantwortlichkeit fördert; ſie wird um ſo ſegensvoller wirken, wenn es ſich um Erleichterungen handelt, welche Allen oder den Meiſten zu Gute kom - men. Aber vielfach wird auch ganz anderes im Namen der wirthſchaftlichen Freiheit verlangt. Einige verlangen von dem egoiſtiſchen Standpunkte ihres ſpeziellen Er - werbes und Geſchäftes die Beſeitigung ſittlicher und rechtlicher Schranken und Kontrolen, die der Geſammt - heit zum Segen, nur der ungezügelten Gewinnſucht der680Schluß und Reſultate.Einzelnen zum Schaden gereichen. Sie wollen die Maſſe rückſichtslos ausbeuten und ſuchen, oft unterſtützt durch eine feile bezahlte kaufmänniſche Preſſe, der öffentlichen Meinung weißzumachen, es geſchehe das im allgemeinen Intereſſe. Nirgends freilich bin ich auch über ſolche Mißſtände ängſtlich, wo es eine wahrhafte Oeffentlich - keit giebt. Sie wendet alle wirthſchaftliche, wie alle politiſche Freiheit bei geſundem Volksgeiſte zum Segen. Aber die Oeffentlichkeit exiſtirt und beſteht nicht von ſelbſt, nicht überall; ſie braucht Organe; ſie wirkt nur günſtig und kräftig, wenn ſie geſunde und ſachverſtändige Organe hat; die gewöhnliche Preſſe reicht nicht überall, iſt nicht überall ſachverſtändig, nicht immer unbeſtechlich genug.

Nach unten, in den Kreiſen des Kleinverkehrs, des Trödels, Hauſirhandels, der Schankwirthſchaft, der kleinen Zwiſchenhändler ſind andere Verhältniſſe, als im großen kaufmänniſchen Verkehr. Der Einkaufende iſt ſelten Sachverſtändiger; der Verkaufende weiß, daß keine öffentliche Meinung ihn ausfindig macht und brand - markt, wie der große Kaufmann oder Fabrikant fürchten muß, der ſeine Käufer täuſcht und betrügt. Die wirth - ſchaftliche Freiheit kann hier die Untugenden und Miß - ſtände mehr ſteigern, als ſie den Fleiß fördert. Eine proletariſche Konkurrenz kann hier zugleich Kontrolen nothwendig machen, nicht in erſter Linie der Käufer wegen, die geprellt werden könnten, ſondern der Leute ſelbſt wegen, die ohne das moraliſch und wirthſchaftlich noch tiefer ſinken. 1Vgl. oben S. 114 ff., 153, 213 ff., 237 ff., 437 446.In dieſen Kreiſen iſt auch entfernt nicht681Die Kontrole wahrer Oeffentlichkeit.jedes neue Zwiſchenglied, das der Verkehr einſchiebt, berechtigt, wie man ſo oft ſagt. Das iſt nur im höheren kaufmänniſchen Verkehr der Fall. 1Vergl. oben S. 554 ff. ; daneben über den kleinen Viehhändler und ſeine die kleinen Bauern ruinirenden Geſchäfte: Held, die ländlichen Dahrlehnskaſſenvereine in der Rheinprov., in Hildebrand’s Jahrb., XIII, S. 38.

Auch in höheren Kreiſen kann nur die ſittliche Kontrole der Oeffentlichkeit verhindern, daß die unbe - dingt freie Konkurrenz nicht die unreellen Geſchäfte ſteigert. Wenn auf dem diesjährigen Genoſſenſchaftstage der Antrag, den verbundenen Vereinen die gegenſeitige Informationsertheilung über Kreditverhältniſſe nach beſtem Gewiſſen zur Pflicht zu machen und nach Be - finden die Organiſation förmlicher Schutzgenoſſenſchaften entweder ganz allgemein oder in einzelnen Verbänden und Bezirken vorzubereiten, trotz Schulze’s Bemühun - gen vollſtändig durchfiel, wenn die gern im Dunkeln und Trüben Wirthſchaftenden alles Derartige für einen neuen Polizeiſtaat erklärten, ſo iſt das ein ſehr trau - riges Zeichen. Sie wollen die Freiheit ohne die ſittliche Kontrole der Oeffentlichkeit, ſie wollen unreelle Ge - ſchäfte machen, unreellen Kredit haben, und wer das ans Licht zieht, den erklären ſie für eine neue Art von ſchlimmem Polizeiagenten. Das iſt die abſchüſſige Bahn, die von der Gewerbefreiheit zur Spielfreiheit, zur Freiheit, betrügeriſchen Bankerott zu machen, endlich zur Verbrechensfreiheit führt, von der man dann auch ver - ſichern kann, ſie werde am vollſtändigſten die Ver - brechen beſeitigen.

682Schluß und Reſultate.

Eine Reihe von Verhältniſſen entziehen ſich der Oeffentlichkeit in ihrer wahren Geſtalt immer, wenn es nicht amtliche Behörden gibt, die ohne jeden ſonſtigen Eingriff einen ſichern Befund aufnehmen und ihn publi - ziren. So im Verſicherungsweſen, theilweiſe im Bank -, Berg - und Fabrikweſen. Welche günſtigen Folgen haben die Publikationen der ſchweizer Fabrikinſpektoren für die Behandlung der Arbeiter gehabt!

Ein Punkt aber iſt es vor Allem, der bisher ſtets überſehen wurde. Freie Konkurrenz zwiſchen deutſchen und engliſchen Spinnern, deutſchem und engliſchem Eiſen, freie Konkurrenz zwiſchen dem Rübenzuckerſabri - kanten und dem Hamburger Importeur, freie Konkur - renz zwiſchen den Gewerben von Stadt und Land, freie Konkurrenz zwiſchen Fabrik - und Hausinduſtrie, zwiſchen den verſchiedenen Geſchäften derſelben Geſchäftsbranche, das Alles iſt ein total anderes Ding, als freie Kon - kurrenz zwiſchen Herrn und Knecht, zwiſchen dem iriſchen Lord und ſeinem Pachter, zwiſchen dem Fabrikanten und ſeinem Arbeiter. Wo die wirthſchaftlichen Kontrahenten als zwei ſoziale Klaſſen einander gegenüber ſtehen, die eine ausgerüſtet mit der ganzen Uebermacht, welche Reich - thum und Bildung gibt, die andere ohne alle dieſe Hülfs - mittel, da kann bei ſehr guten ſittlichen und wirth - ſchaftlichen Verhältniſſen auch die abſolute Freiheit das beſte ſein; aber ſehr oft wird die wirthſchaftliche Frei - heit hier auch nur ſo viel bedeuten, als vollſtändige Unterdrückung und blutige Ausnutzung. Da hilft auch die Oeffentlichkeit ſelten allein, weil die Organe der - ſelben im Beſitze der höhern Klaſſen ſind, weil die683Die theilweiſe Berechtigung ſtaatlicher Eingriffe.etwaigen Organe der untern Klaſſen durch einzelne Roh - heiten und Pöbelhaftigkeiten unehrlicher und ehrgeiziger Führer entſtellt werden, übers Ziel hinausſchießen, eine ſonſt gute Sache zu oft diskreditiren. Deßwegen können die Zuſtände leicht ſo liegen, daß der Staat im Inter - eſſe der Allgemeinheit, als Träger der ſittlichen Zukunft der ganzen Nation irgendwie eingreifen muß.

Die Gegner jeder ſolchen Maßregel ſuchen ſie dadurch lächerlich zu machen, daß ſie es darſtellen, als ob ein ſolcher Eingriff nur ſtattfinden könne in der Form plumber Lohnregulirung, die in Widerſpruch mit Angebot und Nachfrage ſtehe, oder in der Form roher ſozialiſtiſcher Eigenthumsverletzungen, daß ſie jede derartige Thätigkeit zuſammenwerfen mit jenem furor bureau - kraticus, der ohne Verſtändniß für bürgerliche Freiheit und Selbſtändigkeit alles durch Beamte regeln läßt.

Gewiß haben wir in Deutſchland bisher an einem Uebermaß von Beamtenmaßregelung gelitten; gewiß gilt es vor Allem, die Bureaukratie zu beſchränken, ihr durch entſprechende Reformen Gegengewichte zu ſchaffen; aber einer komplizirten Geſetzgebung können wir damit für unſere komplizirten Kulturverhältniſſe nicht entbehren. Wir haben nur dafür zu ſorgen, daß ein möglichſt großer Theil dieſer Geſetze durch die Organe der Selbſtver - waltung, durch Ehrenämter, durch Bürger ſelbſt und nicht durch Beamte ausgeführt werden. Für andere Dinge, beſonders für ſolche, in welchen die Klaſſen - intereſſen der Beſitzenden engagirt ſind, können wir dagegen der ſtaatlichen Organe nicht entbehren. Haben wir aber erſt eine richtige Selbſtverwaltung in der684Schluß und Reſultate.Gemeinde und im Kreiſe, ſo iſt ſehr gut Platz für ein nothwendiges ſtaatliches Fabrik - und Gewerbeinſpektorat. Ich habe viel über Gensdarmen, über Landräthe und Regierungen klagen hören; aber nie habe ich von ver - nünftigen Leuten gehört, unſere Spezialkommiſſare und Generalkommiſſionen ſeien ein überflüſſiges ſchädliches Reis am Baume der Bureaukratie; und ihnen wären etwaige neue Behörden derart gleichzuſtellen.

Man mag zweifeln, ob unſere gegenwärtige preu - ßiſche Bureaukratie zu ſolchen Aemtern, zu ſolcher Thä - tigkeit fähig ſei. Huber ſelbſt ſpricht es aus, nur weil er die gegenwärtige Generation gewöhnlicher preußiſcher Beamten hierfür nicht für qualifizirt halte, ſei er nicht dafür, daß die Regierung ſich irgendwie in das Ge - noſſenſchaftsweſen miſche. Aber das iſt zu ändern; wenn es die rechten Leute nicht gibt, ſind ſie zu ziehen.

Ein großer Theil unſerer Liberalen widerſtrebt allen ſolchen Maßregeln nur, weil ſie die im Augenblick an der Regierung befindliche Partei nicht ſtärken wollen; ſie würden, wie es jeder liberalen Partei, die zur Regie - rung kommt, gegangen iſt, ſpäter ſelbſt Maßregeln durchführen müſſen, die ſie heute bekämpfen.

Aber ſozialiſtiſch iſt jeder ſolche Eingriff in die freie Volkswirthſchaft, das iſt jetzt das beliebte Schlag - wort, mit dem eine abſtrakte Theorie, wie der behag - liche Beſitz der Mittelklaſſen zugleich die unſinnigſten Umſturzideen, wie die heilſamſten ſozialen Reformpläne, welche den beſitzenden Mittelklaſſen einige Opfer oder Unbequemlichkeiten, einige Kontrole ihrer Geſchäftsbetriebe auferlegen, bekämpft und brandmarkt. Ich billige nicht685Was iſt ſozialiſtiſch?die übertriebene Verachtung, die täglich von gewiſſer Seite über den Egoismus dieſer bürgerlichen Mittelklaſſen, über dieſe geldſüchtige Bourgeoiſie, über dieſe Man - cheſterſchule, über dieſe Doktrin der Geldſäcke, welche nur deßwegen Freiheit verlange, um ohne jede Schranke durch ihr Geld allein zu herrſchen, ausgegoſſen wird. Aber wer möchte unſere Fabrikanten und Bankiers, unſere Ingenieure und Unternehmer, wenn er gerecht iſt, ganz freiſprechen? Sie ſind allerdings andere Leute als die engliſchen Mancheſterleute und als die franzöſiſche Bour - geoiſie von 1830 48. Aber hat ſie nicht auch Mohl die Non Donnants genannt? haben ſie nicht ihr ſpezi - fiſches Klaſſenintereſſe, und tritt das nicht nur allzu oft und grell in ihren politiſchen Maßnahmen und Doktrinen hervor? Maskiren ſie nicht oft mit dem ſchönen Worte der wirthſchaftlichen Freiheit nur, was ihrem Geld - beutel und ihren Spekulationen ausſchließlich Gewinn bringt? Unſere Konſervativen dürfen nichts ſagen. Der Großgrundbeſitz trägt in allen Steuerfragen, in der ländlichen Arbeiterfrage ſeinen wirthſchaftlichen Egoismus noch nackter und naiver zur Schau. Unſere bürger - lichen Mittelklaſſen erheben ſich durch den Einfluß von Gelehrten, Beamten, Juriſten immer noch eher zu höheren idealen Geſichtspunkten. Aber geſündigt wird auf beiden Seiten, und die Rückwirkung davon trifft beidesmal die arbeitenden, die unteren Klaſſen.

Was iſt denn nun aber eigentlich der von den radikalen Volkswirthen ſo ſehr gebrandmarkte Sozialis - mus? Die vollſtändige Negation des Eigenthums - und Erbrechts wird ſo genannt, aber auch jede Thätigkeit der686Schluß und Reſultate.Regierung für die unteren Klaſſen, die ganze Armen - pflege, die ſtaatlichen Unterſtützungs - und Sparkaſſen, die geſetzmäßige Organiſation des Knappſchaftsweſens, die Fabrikgeſetzgebung, vollends das Inſtitut der Fabrik - inſpektoren, der Staatskredit für Wohnungen der arbei - tenden Klaſſen, wie er in England lange gegeben wird; das alles wird ohne Weiteres in einen Topf geworfen. Wer noch auf ſolch überwundenem Standpunkte ſteht, der wird als Sozialiſt oder als pſeudoreaktionärer Schleicher verurtheilt. Er kann den Eid auf die alleinſeligmachende Lehre von der wirthſchaftlichen Freiheit ja nicht leiſten; er wird ausgeſtoßen.

Auch ich verurtheile jede Maßregel, die aus unehr - lichen oder Nebenabſichten willkürlich in das beſtehende Eigenthum eingreift, die von materialiſtiſcher Gleich - macherei diktirt, von brutaler Leidenſchaft und neidiſchem Haß geſchürt, frivol die Kontinuität unſerer Rechts - inſtitutionen entzwei reißen, eine neue willkürliche Ord - nung des Beſitzes vornehmen will, ohne die Garantie zu bieten, daß die, welche nun mehr erhalten, dadurch beſſere und glückliche Bürger werden. Aber ich habe nicht jene kleinliche Furcht vor jeder Maßregel, die irgendwie das beſtehende Eigenthum und ſeinen Werth berührt. Das Eigenthum iſt kein abſolutes; der Werth des Eigenthums iſt immer mehr Folge der Geſellſchaft als Verdienſt des Einzelnen; jeder Einzelne iſt der Ge - ſellſchaft und dem Staate ſo tauſendfach verpflichtet, daß ſein Eigenthum nur denkbar iſt mit weitgehenden Pflichten und Laſten gegen das Ganze. Für gewöhnlich werden dieſe in mäßigen Grenzen ſich halten. In großen687Die berechtigten Eingriffe ins Privateigenthum.außerordentlichen Zeiten können auch große Opfer gefor - dert werden. In einem Staate der allgemeinen Wehr - pflicht, in einem Staate, welcher das Recht hat, das Leben ſeiner Bürger jeden Augenblick fürs Ganze zu fordern, wie lächerlich iſt da eine Eigenthumstheorie, welche das kleinſte Opfer für das Ganze als unſinnigen Sozialismus bezeichnet. Sind irgendwo die Klaſſen - und Beſitzverhältniſſe durch wirthſchaftliche oder andere Ur - ſachen ſo abnorm geworden, daß dadurch die ganze Zukunft des Staates und der Geſellſchaft bedroht iſt, und greift dann eine hochherzige Regierung auf geſetz - lichem Wege ein, ſtellt die Maßregeln nach genauen Prüfungen feſt, läßt ſie geordnet ausführen, ſo werden immer Privatintereſſen verletzt werden, ſo werden die Verletzten über Vergewaltigung immer klagen, ſo werden einzelne darüber zu Grunde gehen, aber der unbefangene Hiſtoriker einer ſpäteren Zeit wird die Maßregel nicht als unheilvoll ſozialiſtiſch verdammen. Iſt nicht heute noch das Herz jedes Edeldenkenden auf Seite Solon’s, wenn er die Schuldverhältniſſe der untern Klaſſen Athens ordnet, ihre Schulden reduzirt; ſind wir nicht heute noch alle auf Seite der landfordernden Plebejer in Rom, auf Seite jener ſpäteren kaiſerlichen Geſetze, welche verboten, dem Kolonen den Pachtzins weiter zu erhöhen? Billigen wir nicht die mittelalterlichen und ſpäteren Säkulariſationen, die eben auch nichts waren als Eigenthumsverletzungen, um eine ungeſunde An - häufung des Beſitzes aufzuheben, wieder eine geſun - dere Grundbeſitzvertheilung herbeizuführen. Was iſt unſere ganze moderne Agrargeſetzgebung, Separation688Schluß und Reſultate.und Ablöſung, durch welche die Berechtigten oft mehr als die Hälfte ihres Vermögens verloren, anders als eine jener gewaltſamen, aber unendlich ſegensvollen Neuvertheilungen des Eigenthums? Gerade als man in Preußen überall, wo es ging, wirthſchaftliche Freiheit und freien Verkehr proklamirte, ſetzte man Staats - behörden ein, um da zu interveniren. Warum überließ man das nicht auch dem Voluntarismus, wenn er Alles leiſten kann? Warum verbot man die alten Zuſtände durch Privatverträge neu zu gründen, wenn der freie Privatvertrag das fürs Ganze Zuträglichſte immer von ſelbſt findet? Warum ſchuf man durch gewaltthätig ins Eigenthum eingreifende Geſetze unſern deutſchen Bauernſtand, den Stolz und die Zierde unſerer Volkswirthſchaft, wenn durch den freien Verkehr die richtige Vermögens -, Boden - und Einkommensverthei - lung ſtets von ſelbſt erfolgt? Halt wird man ſagen da galt es verrottete, veraltete, durch Gewalt ent - ſtandene Zuſtände zu beſeitigen. Ja, iſt denn heute jede Gewalt abweſend? Iſt die Lage, iſt die Bildung unſerer unteren Klaſſen nicht auch eine Nachwirkung Jahrhunderte alter Mißbräuche? Werden die heutigen Zuſtände unſeres Proletariats ſpäteren Zeiten nicht ebenſo erſcheinen, wie uns die Lage der Bauern im vorigen Jahrhundert? Wird das Privat - und Polizei - recht unſerer Zeit ſpäter nicht vielleicht für ebenſo hart und gewaltſam gehalten werden, als es der Gegenwart geläufig und natürlich vorkommt?

Doch will ich keine direkten Folgerungen aus der Agrargeſetzgebung von 1808 50 auf unſere heutige689Die Klaſſengegenſätze als Bildungsunterſchiede.Gewerbegeſetzgebung ziehen. Wären die Zuſtände ſo ſchlimm, daß eine ſolch radikale Reform nothwendig wäre, die Ausſicht, ſie durchzuſetzen, würde gering ſein. Nur einer großen tiefbewegten Zeit, nur politiſchen Zuſtänden, welche zu einer kürzern oder längern Diktatur führen, ſind ſolche koloſſale Reformen eigen. Freie parlamen - tariſche Verfaſſungen ſind, wie das Gneiſt immer betont, nicht für den Austrag ſolcher tiefen ſozialen Kämpfe geſchaffen, da der Parteikampf in dieſem Falle zum erbitterten Klaſſenkampf ausarten würde.

Es handelt ſich aber auch, wie geſagt, um ſo tief greifende Reformen noch nicht. Mildere Mittel reichen, an Beſtehendes kann angeknüpft werden. Immer iſt es beſſer, wenn ein äußerer Eingriff in die beſtehende Beſitzvertheilung vermieden werden kann, da ſeine pſychologiſche Wirkung ſtets problematiſch bleibt. Für das gewerbliche Leben, von deſſen Reform wir hier ſprechen, iſt auch der Beſitz nie ſo wichtig, wie die per - ſönlichen Eigenſchaften. Gelingt die geiſtige und tech - niſche Hebung des Handwerkerſtandes, wie des Arbeiter - ſtandes, ſo iſt damit das Wichtigſte erreicht. Es han - delt ſich in erſter Linie um eine Erziehung der Leute zu andern geſellſchaftlichen Gewohnheiten, zu andern häuslichen Sitten, zu einem weitern Blick, zu einer höhern techniſchen Bildung. Wenn wir das voranſtellen, können wir auch eher hoffen, die verſchiedenen politiſchen Parteien für unſere Vorſchläge zu gewinnen. Aber das iſt zu betonen, daß die bloßen Privatkräfte nicht aus - reichen. Man darf ſich nicht einbilden, Alles Nothwendige ſei geſchehen, wenn Gewerbe - und Bankfreiheit, Ehe - undSchmoller, Geſch. d. Kleingewerbe. 44690Schluß und Reſultate.Niederlaſſungsfreiheit errungen iſt. Man darf nicht glauben, alles Uebrige finde ſich von ſelbſt. Ueberall muß dieſer negativen Thätigkeit eine poſitive zur Seite gehen, wobei Private und Vereine, Schule und Kirche, Gemeinden und Staatsregierung mitzuwirken, zu fördern haben, wobei theilweiſe auch neue Beamtenorgane und neue Geſetze unentbehrlich ſind.

Die wichtigſte Grundlage der Arbeiter - und Hand - werkerfrage iſt die Bevölkerungsbewegung. Ich will nur andeuten, wie auch hier die bloß negative Beſeitigung bisher beſchränkender Geſetze allein die Uebelſtände unſerer Zeit nicht heilt.

Der außerordentliche ſtarke Bevölkerungszuwachs kann immer leicht zu einem übermäßigen Angebot von Arbeit und damit zum Druck und zur Noth der arbei - tenden Klaſſen führen. Die optimiſtiſche Freihandels - ſchule glaubt das nicht. Sie hält die ſtärkſte Bevölke - rungszunahme für das Beſte. Das Kapital wachſe immer von ſelbſt noch ſchneller. Iſt das aber ſo ſicher und kommt es nicht auf die Vertheilung des Beſitzes, des Kapitals an? Ich habe oben ſchon auszuführen ver - ſucht, daß allerdings eine immer dichtere Bevölkerung die Vorausſetzung jeder höhern Kulturſtufe ſei, daß unſere gegenwärtigen deutſchen Verhältniſſe noch lange einen großen Zuwachs brauchen können, daß aber die Bedingungen, den Zuwachs zum Segen zu wenden, nicht ſo einfach ſeien. Sie liegen in einer totalen Aenderung der volkswirthſchaftlichen Organiſation, wo möglich in einer andern gleichmäßigern Vertheilung des Grundbeſitzes, in dem Aufblühen neuer Induſtrien, in691Die Bevölkerungsfrage.einer andern lokalen und berufsmäßigen Vertheilung der Bevölkerung. Alle dieſe Aenderungen haben wieder ſo mannigfache Vorbedingungen, vollziehen ſich nur nach ſo ſchweren Kämpfen, Irrungen, Geſetzesänderungen, daß man ſich nicht wundern darf, wenn ſie häufig zunächſt hinter dem Zuwachs der Bevölkerung zurück - bleiben. Und das iſt, nicht allgemein, aber doch jedenfalls in einzelnen Gegenden und Verhältniſſen bei uns der Fall. Die neueſten Reſultate der Bevölkerungs - ſtatiſtik ſind keine durchaus erfreulichen. Ich will nur einige Punkte nach Engel, Wappäus und Horn anführen. Obwohl die Zahl der überhaupt Verheiratheten, wie die jährliche Trauungsziffer in Preußen ziemlich abge - nommen, hat die verhältnißmäßige Zahl der Geburten kaum etwas ſich vermindert. Ein übermäßig großer Theil der Neugebornen ſtirbt wieder in den erſten Jahren. Preußen und einige andere deutſche Staaten haben überhaupt die größte Kinderſterblichkeit; beſonders trifft dieſer Vorwurf die induſtrielle Bevölkerung. Der Acker - bau erzeugt weniger, aber lebensfähigere Geburten. Die Urſache iſt naheliegend; ein übergroßer Theil der Eltern iſt nicht in der Lage, die große Zahl Kinder ſo zu nähren und zu pflegen, daß ſie das höhere Alter erreichen, der Nation das wieder erſetzen, was ſie in ihrer Jugend gekoſtet. Es iſt eine der ſchwerſten wirthſchaftlichen Laſten für eine Nation, wenn ſie einen beſtimmten Bevölkerungszuwachs, den ſie mit viel weniger Geburten und Todesfällen haben könnte, ſo d. h. mit einer Ueberzahl Geburten und einer übergroßen Kinderſterblichkeit ſich erwirbt. Es deutet44 *692Schluß und Reſultate.das immer mehr oder weniger auf proletariſche Zuſtände.

Daneben hat die Mortalität zugenommen. Die Behauptung einer Verlängerung der mittleren Lebens - dauer iſt von der Wiſſenſchaft längſt in’s Reich der Mährchen verwieſen. Die einzige wiſſenſchaftliche Be - rechnung für Preußen, welche ſich auf das Durchſchnitts - alter der jährlich Geſtorbenen bezieht, zeigt, daß dieſes ſukzeſſiv von Anfang des Jahrhunderts bis zur Gegen - wart abgenommen hat. Das Leben iſt eine durch - ſchnittlich kürzere Erſcheinung geworden. Arbeit und Genuß reiben es auf. Wechſelvollere Kämpfe und Schick - ſale treffen das Leben der Meiſten und laſſen dieſes Reſultat natürlich erſcheinen.

Und dem gegenüber ſollte es ausreichen, wenn man nur unbedingt die Feſſeln abſtreift, die da und dort der Eheſchließung entgegenſtehen? Erzählen uns die Berichte beſonders aus den Gegenden der Haus - induſtrien, der Weber - und Fabrikdiſtrikte nicht, daß übermäßig junge und leichtſinnige Ehen im Alter von 20 und 21 Jahren, übermäßige Kinderzahlen nicht die erſte Quelle des Elends ſind, aber nachdem es vor - handen, die wichtigſte Urſache der Steigerung bilden? Ich gebe zu, daß jede polizeiliche Eheerſchwerung unge - recht und ſchablonenhaft iſt, daß ſie, wo in der prole - tariſchen Geſinnung jedes Verantwortlichkeitsgefühl auf - gehört hat, wo der Arme, im Gefühl, ſchlimmer könne es nicht mehr werden, ſich dem einzigen Genuſſe, der ihm geblieben, ohne jeden Rückhalt ergibt, leicht nur zu einer Mehrzahl von unehelichen Geburten führt. Aber693Die Reformen in Bezug auf das Fabrikſyſtem.das beweiſt nicht, daß nicht andere poſitive Bemühungen der verſchiedenſten Art der Ehefreiheit zur Seite zu treten haben, um das leichtſinnige überfrühe Heirathen zu erſchweren, das Verantwortlichkeitsgefühl nach dieſer Richtung wieder zu ſteigern.

In Bezug auf das gewerbliche Leben ſelbſt nun iſt zu ſcheiden zwiſchen den Geſchäften, die einmal noth - wendig dem großen Fabrikbetrieb anheimfallen, und denen, welche dem Handwerk und der Hausinduſtrie bleiben.

Den erſteren Kreis der Gewerbsthätigkeit etwa künſtlich auch den kleinen Geſchäften erhalten zu wollen, wäre durchaus verwerflich. Da iſt das Fabrikſyſtem zu akzeptiren, aber ſo auszubilden, daß der Arbeiterſtand ſeiner jetzigen meiſt elenden Lage entriſſen wird. Die äußern Verhältniſſe, in denen er hier lebt, ſind ſo zu geſtalten, daß ſie nicht mehr nothwendig an ſich zu pſychologiſchen Urſachen von Inmoralität, von unglück - lichen Ehen und leichtſinniger Lebenshaltung werden. Die Mittel dazu ſind mannigfach, ich habe ſie hier nicht näher zu beſprechen; es handelt ſich um die Schul - und die techniſche Bildung, um Spar - und Krankenkaſſen, um die richtige Organiſation von Arbeitseinſtellungen, um die Wohnungsfrage, um die Bezahlung nach dem Stück, um die Hinzufügung von Prämien, um die Haftung der Unternehmer für Unglücksfälle, um die Betheiligung am Gewinn, um das Syſtem der Industrialpartnership, um das Genoſſenſchaftsweſen, die Konſumvereine, die Produktivaſſoziation. Nur eines möchte ich hier noch betonen: die Ausbildung einer klaren konſequenten ſpe - zialiſirten Fabrikgeſetzgebung und die Schaffung ſelbſtän -694Schluß und Reſultate.diger Organe, welche dieſelbe handhaben. Die neue Ge - werbeordnung hat nur die ſchüchternſten Anfänge hierzu; ihre Beſtimmungen über Inſpektionen, geſundheitliche Vor - richtungen u. ſ. w. ſind meiſt ſo vag, daß ſie entweder gar nichts oder Alles ſagen. In den Händen unſerer gewöhn - lichen lokalen Polizeibehörden ſind ſie nicht viel mehr als ein todtes Stück Papier. Allerdings kann eine ſolche Geſetz - gebung nur auf Grundlage umfaſſender Enquêten richtig ſich aufbauen und in ſofern mußten die weitergehenden Anträge der Sozialiſten und Konſervativen zunächſt ab - gelehnt werden. Aber die meiſten gegneriſchen Reden im Reichstag zeigten den vollſtändigſten Mangel an Ver - ſtändniß für die ideale und weitgreifende Bedeutung einer derartigen Fabrikgeſetzgebung, brachten nur einen kurzſichtigen Doktrinarismus und die egoiſtiſchen nächſt - liegenden Intereſſen der Unternehmerklaſſe zum Ausdruck.

Die Bedeutung einer eingehenden ſpezialiſirten Fabrikgeſetzgebung, wie der engliſchen, liegt nicht ſowohl in den zunächſt ergehenden Geboten und Verboten (dieſe müſſen oft plumb eingreifen, auch berechtigte Inter - eſſen verletzen, können allein nie helfen, wenn ſie nicht dauernd auf die innern Urſachen der Schäden wirken); ſie liegt in dem erziehenden, die ſittlichen Anſchauungen von Fabrikanten und Arbeiter ſukzeſſiv ändernden Ein - fluß, wie er für die engliſche Geſetzgebung neuerdings von Ludlow und Jones ſo ſchön nachgewieſen wurde.

Nachdruck hat eine ſolche Geſetzgebung aber nur in der Hand eigener reiſender Beamten, wie es die eng - liſchen Fabrikinſpektoren ſind. Selbſt die freie Schweiz hat ſich dieſer Inſtitution bemächtigt; bei uns wird695Die Reformen in Bezug auf das Handwerk.man als Sozialiſt und Pſeudoreaktionär bezeichnet, wenn man ſie verlangt. Eine geringe Zahl ſolcher Beamter mit je großen Bezirken würde genügen. Ihnen wäre auch das großentheils in die Hand zu geben, was für das eigentliche Handwerk und die Hausinduſtrie von Regierungsſeite geſchehen könnte.

Was kann aber geſchehen? Es konzentrirt ſich in zwei Punkten: 1) Erziehung der arbeitenden Klaſſen, d. h. Schulbildung und eine möglichſt überall zugänglich zu machende techniſche Erziehung und 2) Ueberleitung in neue Zuſtände und Verhältniſſe, ſoweit eine zurückgeblie - bene Bildung der Handwerker das nicht ſelbſt vermag.

Aber ſollen wir dabei den ſegensvollen Weg der Selbſthülfe verlaſſen? Was heißt Selbſthülfe? Kein Gegenſatz iſt falſcher und unklarer, als die hergebrachte Gegenüberſtellung von Staatshülfe und Selbſthülfe. Ob Schulze-Delitzſch, ob ein Fabrikinſpektor Genoſſen - ſchaften organiſirt, ſie ordentlich Buch führen, ſparen und ſammeln lehrt; in beiden Fällen wirkt die höhere Bildung, getrieben von ſittlichen Motiven, auf die untern Klaſſen, erzieht ſie und hebt ſie. Die national - ökonomiſche Schule, welche nur den platten Egoismus anerkennt, muß jede Genoſſenſchaft, in der immer die Tüchtigſten und Beſten für die Geſammtheit arbeiten, verdammen. Auch Schulze’s und aller ſeiner tüchtigen Anhänger Einfluß iſt, wie ich ſchon oben bemerkte, in erſter Linie ein erziehender. Es iſt eine Thätigkeit, die ſtets in einzelnen Fällen eben ſo ſchlimm, oder vielmehr eben ſo erfolglos wirken kann, wie etwaige Staatsthätig - keit, nämlich dann, wenn die Aufopferung, die Thätigkeit696Schluß und Reſultate.der Leiter und Stifter die Mitgenoſſen nicht erzieht und emporzieht, wenn dieſe nur den Vortheil der Genoſſen - ſchaft ausnutzen, ohne ſelbſt dadurch andere Menſchen zu werden. Jede Staatshülfe iſt dann verwerflich, wenn ſie bloß äußerlich eingreift, wenn ſie Leuten, die es nicht verdienen, die dadurch innerlich nicht anders werden, Geld und Kapital bietet. Sie iſt dann berechtigt und ſteht mit der ganzen Schulze’ſchen Bewegung vollſtändig auf einer Linie, wenn ſie die erziehende Thätigkeit, die geiſtige Hebung voranſtellt und erreicht. Sie iſt dann nothwendig, wenn der Voluntarismus nicht ausreicht wie hier; wenn er, um recht zu wirken, einer über den ganzen Staat ſich erſtreckenden feſtgegliederten Organi - ſation bedarf. Und das iſt der Fall. In kleinern Städten, in den abgelegenen Gegenden der Hausinduſtrie fehlen die freiwilligen Kräfte, welche die großen Städte bieten; eine feſtgegliederte allgemeine Organiſation ſtrebt ja Schulze ſelbſt an; wo eine ſolche aber einmal noth - wendig iſt, da wird für die Regel der Staat, d. h. die organiſirte Geſammtperſönlichkeit aller berufen ſein, ſie in die Hand zu nehmen. So lange Schulze lebt und ſeine Anwaltſchaft ſo tüchtig wirkt, iſt ſie gewiß beſſer, als jede Staatsthätigkeit. Später werden die Dinge anders liegen. Jedenfalls iſt für jetzt die lokale Thätig - keit von unten herauf das wichtigere. Da gilt es nicht Schulze zu verdrängen, ſondern ihm nachzueifern und, wo es an Organen dazu fehlt, ſie zu ſchaffen.

Der erſte Punkt iſt die Schulfrage. Bei unſerer heutigen ſonſtigen Rechts - und Staatsverfaſſung ſind alle ſozialen Gegenſätze in erſter Linie Bildungsgegenſätze. 697Die Schulfrage.Längſt hat man in Preußen im ſchroffen Gegenſatz gegen die Theorie, Alles müſſe ſich in Leiſtung und Gegenleiſtung auflöſen ſich auf den erhabenen ſoziali - ſtiſchen Standpunkt geſtellt, die Schulbildung für eine nationale Angelegenheit zu erklären. Der Schulzwang exiſtirte ſchon vor dem Landrecht; das Landrecht fügt ihm den Satz bei, daß die Schulen auf Steuern zu baſiren ſeien, ſtatt auf die direkte Gegenleiſtung, auf das Schulgeld. Bis in die neueſte Zeit hat ſich der Streit über die letztere Frage hingezogen. Es war Lorenz Stein und Gneiſt vorbehalten, die eminent ſoziale Be - deutung der Frage ins Licht zu ſtellen: Die Geſellſchaft iſt verpflichtet, die aufwachſende unmündige Generation auszurüſten mit dem Maße der Bildung, welche die arbeitende Kraft über die bloß mechaniſche Leiſtung und damit über das Maß des Maſchinenlohns, über das Niveau des Proletariats erhebt. Dieſer Pflicht kommt die Geſellſchaft nur nach, wenn ſie den unbedingten Schulzwang ausſpricht, die wirthſchaftliche Laſt der Schule auf Steuern, d. h. in erſter Linie auf die Schultern der Beſitzenden überträgt, die Forderungen an den Elementarunterricht ſteigert, die ganze Schulorgani - ſation beſonders auf dem Lande ändert und dadurch das ganze geiſtige Niveau der untern Klaſſen emporhebt.

Der zweite Punkt iſt die techniſche Bildung. Die beſitzenden Klaſſen haben längſt dafür geſorgt, daß ſie auf Staatskoſten (denn die Schul -, Kolleggelder ꝛc. ſind faſt verſchwindend) Univerſitäten, landwirthſchaftliche und andere Fachſchulen, Polytechniken haben, ſich eine über - legene Bildung auf ihnen ſchaffen. Dieſen höhern698Schluß und Reſultate.Schulen folgten die Mittelſchulen, Provinzialgewerbe - ſchulen, Baugewerkſchulen und ähnliche Inſtitute, die aber, wie ich ſchon oben hervorhob, auch mehr der höhern beſitzenden Klaſſe, den größern Werk - meiſtern, als den kleinen Handwerkern zu gute kommen. 1Vergl. oben S. 321; Viebahn III, 1144 gibt eine Ueberſicht über die ſämmtlichen zollvereinsländiſchen gewerb - lichen Schulen.Einzelne Fachſchulen für die Meiſter und Arbeiter der Hausinduſtrie hat die Noth da und dort hervorgerufen: Spinnſchulen, Webſchulen, Poſamentier - ſchulen, Uhrmacherſchulen, Strohflechtſchulen, Klöppel - ſchulen, Näh - und Strickſchulen. Anderwärts fehlt es noch ſehr an ſolchen. Manches haben dann in ſpäterer, meiſt erſt in allerneueſter Zeit, freiwillige Sonntagsſchulen, der Unterricht in Arbeiter - und Ge - werbevereinen geleiſtet. Dennoch muß ich die oben aus - geſprochene Behauptung aufrecht erhalten, daß dieſe Bemühungen nicht reichen, dem kleinen Meiſter, dem Geſellen und Lehrling in Dörfern und kleinen Städten unzugänglich ſind. Nur eine ſyſtematiſche Ordnung des Zeichen - und gewerblichen Fortbildungsunterrichts, wie ſie in Württemberg erfolgt iſt und dieſe Wohlthaten bis in die kleinſten Städte und größern Dörfer hinaus - trägt, genügt. Ob nicht den Unternehmern ein Zwang zur Freilaſſung gewiſſer Stunden für den Beſuch der Schulen, den Arbeitern ein gewiſſer Zwang des Beſuchs aufzuerlegen ſei, wird neuerdings ſogar in vielen Handels - kammerberichten als eine offene Frage behandelt. Ich699Die techniſchen Schulen.ſehe in dieſem Unterricht faſt das einzige Gegengewicht gegen die durchaus einſeitige, keine techniſche und menſch - liche Erziehung gewährende Beſchäftigung unſerer 14 18 jährigen jungen Leute in den großen Geſchäften. Die Prüfungsatteſte ſolcher Schulen haben die Lehrlings -, Geſellen - und Meiſterprüfungen zu erſetzen.

Außerdem handelt es ſich darum, an ſolchen Stellen, wo der Uebergang zu neuen Verhältniſſen dem Handwerkerſtande allein nicht möglich, wo die entſtehende große Konkurrenz zu plötzlich gleichſam ihn überfällt, auch poſitiv einzugreifen. Und dazu bedarf es der Or - gane. Die Berliner Innungen haben vorgeſchlagen im Gegenſatz zu den Handelskammern Gewerbekammern, in welchen das kleine Handwerk zu Worte komme und ſeine Intereſſen vertrete, zu gründen. Damit wäre aber nichts erreicht. Was beſſern ſolche Kammern? Selbſt die Thätigkeit der beſtehenden Handelskammern konzentrirt ſich in ihren Jahresberichten. Daß dieſe, ver - faßt meiſt von beſoldeten Literaten, welche der großen Induſtrie immer näher ſtehen, als dem kleinen Handwerk, alle Dinge mehr nur vom Standpunkt der großen Indu - ſtrie und des Handels betrachten, iſt wahr. Man hat die Berichte ſpöttiſch oft ſchon die Wunſchzettel unſerer großen Unternehmer genannt. Ob das zu ändern wäre, durch andere Zuſammenſetzung, will ich hier nicht erörtern, ſo viel aber iſt unzweifelhaft, daß Gewerbekammern, in welchen nur kleine Meiſter ihre Intereſſen berathen, die Handwerkerſache wieder mit dem ſogenannten Handwerker - recht zuſammenwerfen und nicht viel Erſprießliches leiſten würden.

700Schluß und Reſultate.

Auf der andern Seite ſind die beſtehenden Staats - organe für die in Frage kommenden Aufgaben durchaus unfähig. Der Landrath verſteht nichts davon, iſt mit andern Geſchäften und Schreibereien überhäuft, von den mannigfach noch vorhandenen Herren gar nicht zu ſprechen, welche jeden gewerblichen Fortſchritt in ihrem Kreiſe überhaupt als ein Unglück, als eine Neuerung, als eine Gefahr für den alten befeſtigten Grundbeſitz beklagen. In den Regierungen und ſtädtiſchen Magi - ſtraten hat irgend ein älterer wohlwollender Rath nebenher auch ein Dezernat in Gewerbeſachen, gewerb - lichen Unterſtützungskaſſen und Aehnlichem. Aber was außer dem hergebrachten Abarbeiten der Nummern liegt, wäre in der Regel zu viel von ihm verlangt, wenn auch rühmenswerthe Ausnahmen vorkommen.

Es bedarf einzelner nur hiermit beſchäftigter hoch - gebildeter und gutbezahlter Beamter, gewählt nicht noth - wendig aus dem Kreiſe der Bureaukraten, ſondern und vielleicht noch eher aus dem Kreiſe tüchtiger Techniker oder Kaufleute, die an der Spitze eines großen Bezirks gleichſam die Anwälte der arbeitenden Klaſſen würden. Ich meine damit etwa eine Kombination der württember - giſchen Zentralſtelle und des engliſchen Fabrikinſpektorats. Die Inſpektoren hätten neben der Aufſicht über die Fabriken, neben der Aufgabe, die Berichte hierüber zu publiziren, die Verpflichtung, den kleinern Leuten mit Rath und Anweiſung, unter Umſtänden auch mit poſi - tiver Hülfe beizuſtehen. Ein gewiſſer Fonds, angewieſen auf ſtaatliche oder kommunale Mittel, müßte ihnen zur Seite ſtehen. Ihre Hauptſorge hätte ſich zu beziehen701Das Gewerbe - und Fabrikinſpektorat.auf die techniſchen Fortſchritte der kleinen Geſchäfte; lokale Ausſtellungen von Geräthen, Werkzeugen und Ma - ſchinen aus dem Kreiſe der kleinen Gewerbe, Prämien für Anſchaffung ſolcher, einzelne Reiſeunterſtützungen, unter Umſtänden Ueberlaſſung von Werkzeugen auf Probe könnten hinzukommen. Hauptſächlich aber hätten ſie Ge - noſſenſchaften anzuregen, wo es an der Initiative fehlte, die Leute zur Theilnahme zu bewegen, die Buchführung einzurichten. Es fehlt ſo vielfach nur an einer der - artigen gebildeten und ſachverſtändigen Initiative. Dabei hätten ſie ſich jedes Eingriffs gegenüber beſtehenden Ge - noſſenſchaften, die nichts von ihnen wiſſen wollen, zu enthalten.

Vor Allem in Bezug auf die noch beſtehenden Hausinduſtrien wäre es Pflicht, nicht unthätig ihrem Untergange zuzuſehen. Die ſchwerſten Vorwürfe treffen in dieſer Richtung die Regierungen und die beſitzenden Klaſſen, wie ich oben bei der eingehenden Schilderung der Spinnerei und Weberei zeigte. Manches geſchah ja auch in Folge entſetzlicher Nothzuſtände, aber meiſt geſchah es zu ſpät und häufig am unrechten Platze.

Um nicht künſtlich eine Hausinduſtrie da zu erhal - ten, wo nothwendig zuletzt doch das Fabrikſyſtem ſiegt, wäre als Grundlage ſolcher Maßregeln eine umfaſſende Enquête dieſer Verhältniſſe zu empfehlen. Erſt auf Grundlage einer derartigen Detailinformation könen auch die Detailvorſchläge gemacht werden. Manches aber läßt ſich auch vom allgemeinen Standpunkt aus ſagen. Alle die erwähnten Maßregeln, die für das Handwerk überhaupt nothwendig ſind, müſſen für dieſe meiſt auf dem Land702Schluß und Reſultate.zerſtreuten und damit der Bildungselemente ohnedieß mehr entbehrenden Induſtrien doppelt am Platze ſein. Die wichtigſte Maßregel, die Gründung von Etabliſſe - ments, in welchen Dampf - oder Waſſerkraft an die einzelnen kleinen Meiſter vermiethet wird, könnte ohne irgend welchen Verluſt, wenn es an andern Mitteln fehlt, vom Staat oder von Gemeinden (wie in Nürn - berg) in die Hand genommen werden. 1Ueber ein derartiges auf Aktien gegründetes Etabliſſe - ment in Dresden und die Geſchäfte, die es macht, vergl. Dres - dener Handelskammerbericht für 1867, S. 102; es iſt für Drechsler und Reifendreher; der Einzelne zahlt 12 36 Thlr. jährliche Miethe; es ſind 150 Stellen; im erſten Jahre 1867 waren nur 50 vermiethet; im zweiten ſchon über 100.Wo nur ſtaatliche Aufſichtsbehörden in die zerſtreute Produktion Einheit bringen, wo nur ſie der Waare Ruf und Abſatz verſchaffen, hätte man ſie einzurichten und zu erhalten. Die Solinger Schußwaffenfabrikation durch kleine Meiſter hat ſich erſt jetzt recht entwickelt, nachdem man dem Drängen der Leute nachgegeben, eine königliche Probir - anſtalt unter Leitung eines Offiziers eingerichtet hat, welche jedem Stücke, das ſich tüchtig erweiſt, den preußiſchen heraldiſchen Adler und die Buchſtaben S. P. einprägt. 2Handelskammerberichte pro 1867, S. 637.Unter Umſtänden ſind auch heute noch Regle - ments aufzuſtellen, andere ſind aufzuheben oder zu verbeſ - ſern. Auch Staatskredit kann hier unter Umſtänden noth - wendig ſein, einzelnen Genoſſenſchaften gegeben werden, heilſam da und dort wirken, er darf aber nie als das weſentliche erſcheinen. Eher wären ſtaatliche Geſchäfte zu703Die Mittel zur Erhaltung der Hausinduſtrien.empfehlen, wenn es ſich darum handelt, einen betrüge - riſchen die Noth der armen Meiſter ausbeutenden Zwi - ſchenhandel dadurch zu verdrängen, daß man ihm durch Geſchäfte auf reeller anſtändiger Baſis Konkurrenz macht. Man hat ja auch in Preußen aus dieſem Grunde Staats - flachsauſtalten errichtet, gewiſſe Beſtimmungen über den Garnhandel getroffen.

Durch ſolche Mittel laſſen ſich hunderte und tau - ſende von kleinen Geſchäften noch halten und nicht bloß vorübergehend noch halten, ſondern auf die Dauer. Geſchieht nichts, ſo gehen ſie Kriſen entgegen, wie die Weber und Spinner Schleſiens ſeiner Zeit. Greift man bei Zeiten ein, ſo werden wohl die Intereſſen der Faktore, der Kaufleute und Fabrikanten ab und zu ver - letzt, aber man erhält einen geſunden Mittelſtand und vermeidet Nothſtände, die zuletzt den Beſitzenden mehr koſten, auch ihre Intereſſen tiefer ſchädigen, ganz anders die Staatshülfe nothwendig machen, als wir es hier empfehlen.

Damit bin ich zum Ende meiner Schlußbetrach - tungen gelangt.

Wenn es wahr iſt, daß ein Staat nur durch die Grundſätze ſich erhalten kann, durch die er groß gewor - den, ſo hat der preußiſche Staat vor allen die Pflicht, einerſeits an der Spitze zu bleiben jedes geiſtigen und ſittlichen Fortſchritts, jeder geſunden politiſchen Frei - heit, aber andererſeits die ſchönſte Pflicht jeder Re - gierung, die Initiative für das Wohl der untern Klaſſen nicht aus ſeiner Hand zu geben. Er hat die beſitzenden Klaſſen durch Heranziehung zu einer704Schluß und Reſultate.wahrhaften Selbſtregierung, zu den ſittlichen Pflichten des Staats - und Gemeindeamts zu erheben über die kurzſichtig egoiſtiſche Sphäre nächſtliegender Intereſſen bis zu der ſittlichen Höhe geſellſchaftlicher Pflichterfüllung; er hat daneben ſelbſt ſeinen Einfluß und ſeine Macht zu brauchen, die Nothleidenden zu ſchützen, die Unge - bildeten zu heben und zu erziehen, die Nichtbeſitzenden gegen den Egoismus und die Kurzſichtigkeit der Beſitzen - den, gegen dieſe Laſter, welche immer und immer wie - der hervorbrechen, zu ſchützen. Immer haben die großen preußiſchen Regenten das gethan. Immer haben ſie darum vor Allem für große Fürſten gegolten. Le roi des Prusses était toujours un roi des gueux!

Eine ſolche maßvolle Staatsthätigkeit, die auf Hebung der untern Klaſſen nicht durch gewaltthätige Experimente, ſondern vor Allem durch Schule und Erziehung, durch Beeinfluſſung der Sitten und Anſchauungen zu wirken ſucht, wird immer und immer wieder erlaubt wie noth - wendig ſein, eine ſolche Staatsthätigkeit hat zu allen Zeiten für die Zierde einer weiſen, freien und gerechten Regierung gegolten!

Halle, Buchdruckerei des Waiſenhauſes.

About this transcription

TextZur Geschichte der deutschen Kleingewerbe im 19. Jahrhundert
Author Gustav von Schmoller
Extent729 images; 136710 tokens; 17721 types; 1016662 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationZur Geschichte der deutschen Kleingewerbe im 19. Jahrhundert Statistische und nationalökonomische Untersuchungen Gustav von Schmoller. . XVI, 704 S. Buchhandlung des WaisenhausesHalle (Saale)1870.

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BBAW BBAW, 1995 B 1438

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Fraktur

LanguageGerman
ClassificationFachtext; Gesellschaftswissenschaften; Wissenschaft; Soziologie; core; ready; china

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.

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  • Berlin-Brandenburg Academy of Sciences and Humanities (BBAW)
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ShelfmarkBBAW, 1995 B 1438
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