PRIMS Full-text transcription (HTML)
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Zwiſchen Himmel und Erde.
Erzählung
Frankfurt a. / M.Verlag von Meidinger Sohn und Comp.1856.

Seinem Freunde Berthold Auerbach

der Verfaſſer.

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Das Gärtchen liegt zwiſchen dem Wohnhauſe und dem Schieferſchuppen; wer von dem einen zum andern geht, muß daran vorbei. Vom Wohnhaus zum Schup¬ pen gehend hat man's zur linken Seite; zur rechten ſieht matt dann ein Stück Hofraum mit Holzremiſe und Stallung, vom Nachbarhauſe durch einen Latten¬ zaun getrennt. Das Wohnhaus öffnet jeden Morgen zweimal ſechs grünangeſtrichene Fenſterladen nach einer der lebhafteſten Straßen der Stadt, der Schuppen ein großes graues Thor nach einer Nebengaſſe; die Roſen an den baumartig hochgezogenen Büſchen des Gärt¬ chens können in das Gäßchen hinausſchauen, das den Vermittler macht zwiſchen den beiden größern Schwe¬ ſtern. Jenſeits des Gäßchens ſteht ein hohes Haus, das vornehm abgeſchloſſen, das enge keines Blickes würdigt. Es hat nur für das Treiben der Hauptſtraße offene Augen und ſieht man die geſchloſſenen nach dem Gäßchen zu genauer an, ſo findet man bald die Urſache ihres ewigen Schlafes; ſie ſind nur Scheinwerk, nur auf die äußere Wand gemalt.

Ludwig, Zwiſchen Himmel und Erde. 12

Das Wohnhaus, das zu dem Gärtchen gehört, ſieht nicht nach allen Seiten ſo geſchmückt aus, als nach der Hauptſtraße hin. Hier ſticht eine blaß roſen¬ farbene Tünche nicht zu grell von den grünen Fenſter¬ laden und dem blauen Schieferdache ab; nach dem Gäßchen zu, die Wetterſeite des Hauſes erſcheint von Kopf zu Fuß mit Schiefer geharniſcht; mit der andern Gie¬ belwand ſchließt es ſich an die Häuſerreihe, deren Beginn oder Ende es bildet, unmittelbar an; nach hinten aber gibt es einen Beleg zu dem Sprichwort, daß Alles ſeine ſchwache Seite habe. Hier iſt dem Hauſe eine Emporlaube angebaut, einer halben Dornenkrone nicht unähnlich. Von roh behauenen Holzſtämmen geſtüzt, zieht ſie ſich längs des obern Stockes hin und erwei¬ tert ſich nach links in ein kleines Zimmer. Dahin führt kein unmittelbarer Durchgang aus dem obern Stock des Hauſes. Wer von da nach der Gangkammer will, muß aus der hintern Hausthüre heraus und an der Wand hin wohl ſechs Schritt an der Hundehütte vorbei bis zu der hölzernen, hühnerſteigartigen Treppe, dann, iſt er dieſe hinaufgeſtiegen, die ganze Länge der Emporlaube nach links wandeln. Der letzte Theil der Reiſe wird freilich aufgeheitert durch den Blick in das Gärtchen hinab. Wenigſtens im Sommer. Und vor¬ ausgeſetzt, die der Länge des Ganges nach doppelt aufgezogene Leine iſt nicht durchaus mit Wäſche behängt. Denn im Winter ſchließen ſich die Laden, die man im3 Frühjahre wieder abnimmt, mit der Barriere zu einer undurchdringlichen Bretterwand zuſammen, deren licht¬ einlaſſende Lucken über dem Bereiche, den eine gewöhn¬ liche Menſchenlänge beherrſcht, angebracht erſcheinen.

Iſt die Zier der Baulichkeiten nicht überall die gleiche und ſtechen Emporlaube, Stall und Schuppen bedeutend gegen das Wohnhaus ab, ſo vermißt man doch nirgends, was noch mehr ziert als Schönheit der Geſtalt und glänzender Putz. Die äußerſte Sauberkeit lächelt dem Beſchauer aus dem verſteckteſten Winkel entgegen. Im Gärtchen iſt ſie faſt zu ängſtlich, um lächeln zu können. Das Gärtchen ſcheint nicht mit Hacke und Beſen gereinigt, ſondern gebürſtet. Dazu haben die kleinen Beetchen, die ſo ſcharf von dem gel¬ ben Kies der Wege abſtechen, das Anſeh'n, als wären ſie nicht mit der Schnur, als wären ſie mit Lineal und Zirkel auf den Boden hingezeichnet, die Buchsbaumein¬ faſſung, als würde ſie von Tag zu Tag von dem accurateſten Barbier der Stadt mit Kamm und Scheer¬ meſſer bedient. Und doch iſt der blaue Rock, den man täglich zweimal in das Gärtchen treten ſeh'n kann, wenn man auf der Emporlaube ſteht, und zwar einen Tag wie den andern zu derſelben Minute, noch ſau¬ berer gehalten als das Gärtchen. Der weiße Schurz darüber glänzt, verläßt der alte Herr nach mannigfa¬ cher Arbeit das Gärtchen wieder und das geſchieht täglich ſo pünktlich um dieſelbe Zeit wie ſein Kommen1*4 in ſo untadelhafter Weiße, daß eigentlich nicht ein¬ zuſehen iſt, wozu der alte Herr ihn umgenommen hat. Geht er zwiſchen den hochſtämmigen Roſen hin, die ſich die Haltung des alten Herrn zum Muſter genommen zu haben ſcheinen, ſo iſt ein Schritt wie der andre, keiner greift weiter aus oder fällt aus der Gleichmäßig¬ keit des Taktes. Betrachtet man ihn genauer, wenn er ſo inmitten ſeiner Schöpfung ſteht, ſo ſieht man, daß er äußerlich nur das nachgethan, wozu die Natur in ihm ſelber das Muſter geſchaffen. Die Regelmäßig¬ keit der einzelnen Theile ſeiner hohen Geſtalt ſcheint ſo ängſtlich abgezirkelt worden zu ſein, wie die der Beete des Gärtchens. Als ſie ihn bildete, mußte ihr Antlitz denſelben Ausdruck von Gewiſſenhaftigkeit ge¬ tragen haben, den das Geſicht des alten Herrn zeigt und der in ſeiner Stärke als Eigenſinn erſcheinen mußte, war ihm nicht ein Zug von liebender Milde beigemiſcht, ja faſt von Schwärmerei. Und noch jetzt ſcheint ſie mit derſelben Sorgfalt über ihm zu wachen, mit der ſein Auge ſein kleines Gärtchen überſieht. Sein hinten kurz geſchnittenes und über der Stirn zu einer ſoge¬ nannten Schraube zierlich gedrehtes Haar iſt von der¬ ſelben untadelhaften Weiße, die Halstuch, Weſte, Kra¬ gen und der Schurz vor dem zugeknöpften Rocke zeigen. Hier in ſeinem Gärtchen vollendet er das geſchloſſene Bild desſelben; außerhalb ſeines Hauſes muß ſein An¬ ſehen und Weſen etwas Fremdartiges haben. Pflaſter¬5 treter hören unwillkührlich auf zu plaudern, die Kinder auf der Straße zu ſpielen, kommt der alte Herr Net¬ tenmair daher geſtiegen, das ſilberknöpfige Rohr in der rechten Hand. Sein Hut hat noch die ſpitze Höhe, ſein blauer Ueberrock zeigt noch den ſchmalen Kragen und die bauſchigen Schultern einer lang vorübergegan¬ genen Mode. Das ſind Haken genug, ſchlechte Witze daran zu hängen, dennoch geſchieht dies nicht. Es iſt, als ginge ein unſichtbares Etwas mit der ſtattlichen Geſtalt, das leichtfertige Gedanken nicht aufkommen ließe.

Wenn die älteren Einwohner der Stadt, begegnet ihnen der Herr Nettenmair, eine Pauſe in ihrem Geſpräche machen, um ihn reſpektvoll zu grüßen, ſo iſt es jenes magiſche Etwas nicht allein, was dieſe Wir¬ kung thut. Sie wiſſen, was ſie in dem alten Herrn achten; iſt er vorüber, folgen ihm die Augen der noch immer Schweigenden, bis er um eine Straßenecke ver¬ ſchwindet; dann hebt ſich wohl eine Hand bis zur Höhe von ihres Beſitzers ſeitwärts geneigtem Antlitz und ein aufgereckter Zeigefinger erzählt beredter, als es der Mund vermöchte, von einem langen Leben mit allen Bürgertugenden geſchmückt und nicht durch einen ein¬ zigen Fehl geſchändet. Eine Anerkennung, die noch an Gewicht gewinnt, weiß man, wie viel ſchärfer einem nach Außen abgeſchloſſenen Daſein nachgerechnet wird. Und ein ſolches führt Herr Nettenmair. Man ſieht6 ihn nie an einem öffentlichen Orte, es müßte denn ſein, daß etwas Gemeinnütziges zu berathen oder in Gang zu bringen wäre. Die Erholung, die er ſich gönnt, ſucht er in ſeinem Gärtchen. Sonſt ſitzt er hinter ſeinen Geſchäftsbüchern oder beaufſichtigt im Schuppen das Ab - und Aufladen des Schiefers, den er aus eigener Grube gewinnt und weit in's Land und über deſſen Grenzen hinaus vertreibt. Eine ver¬ wittwete Schwägerin beſorgt ſein Hausweſen und ihre Söhne das Schieferdeckergeſchäft, das mit dem Handel verbunden iſt und an Umfang dieſem wenig nachgibt. Es iſt der Geiſt des Oheims, der Geiſt der Ordnung, der Gewiſſenhaftigkeit bis zum Eigenſinn, der auf den Neffen ruht und ihnen das Zutrauen erwirbt und er¬ hält, das ſie von weit umher beruft, wo die Deckung eines neuen Gebäudes oder eine umfaſſendere Repa¬ ratur an einem alten der Hülfe des Schieferdeckers bedarf.

Es iſt ein eigenes Zuſammenleben in dem Hauſe mit den grünen Fenſterladen. Die Schwägerin, eine noch immer ſchöne Frau, wenig jünger als der Haus¬ herr, behandelt dieſen mit einer Art ſtiller Verehrung, ja Andacht. Ebenſo die Söhne. Der alte Herr da¬ gegen beweiſt der Schwägerin eine achtungsvolle Rück¬ ſicht, eine Art Ritterlichkeit, die in ihrer ernſten Zurück¬ haltung etwas Rührendes hat, den Neffen die Zunei¬ gung eines Vaters. Doch ſteht auch hier etwas7 zwiſchen beiden Theilen, das dem ganzen Verkehr etwas rückſichtsvoll Förmliches beimiſcht. Das liegt wohl zum Theile in der ſchweigſamen Geſchloſſenheit des alten Herrn, die ſich den übrigen Familiengliedern mit¬ getheilt hat, wie denn alle ſeine Eigenthümlichkeiten bis auf die unbedeutendſten Einzelnheiten, ſo in körper¬ licher Haltung und Bewegung, wie in Urtheil und Liebhaberei auf ſie übergegangen erſcheinen. Wird in dem Familienkreiſe weniger geſprochen, ſo ſcheint ein Ausſprechen von Wünſchen und Meinungen des Einen überflüſſig, wo der Andere mit ſo ſicherm Inſtinkt zu errathen weiß. Und wie ſoll das ſchwer ſein, wo alle eigentlich ein und dasſelbe Leben leben? Es iſt ein eigenes Zuſammenleben in dem Hauſe mit den grünen Fenſterladen. Die Nachbarn wundern ſich, daß der Herr Nettenmair die Schwägerin nicht geheirathet. Es iſt nun dreißig Jahre her, daß ihr Mann, Herr Nettenmair's älterer Bruder, bei einer Reparatur am Kirchendache zu Sankt Georg verunglückte. Damals glaubte man allgemein, er werde des Bruders Wittwe heirathen. Sein damals noch lebender Vater wünſchte das ſogar und der Sohn ſelbſt ſchien nicht abgeneigt. Man weiß nicht, was ihn abhielt. Aber es geſchah nicht, wennſchon Herr Nettenmair ſich des Familien¬ weſens ſeines Bruders und der Kinder desſelben väter¬ lich annahm, auch ſich ſonſt nicht verheirathete, ſoviel8 gute Parthien ſich ihm auch anboten. Damals ſchon begann das eigene Zuſammenleben.

Es iſt natürlich, daß die guten Leute ſich wundern; ſie wiſſen nicht, was damals in vier Seelen vorging; und wüßten ſie's, ſie wunderten ſich vielleicht nur noch mehr. Nicht immer wohnte die Sonntagsruhe hier, die[j]etzt ſelbſt über die angeſtrengteſte Geſchäftigkeit der Be¬ wohner des Hauſes mit dem Gärtchen ihre Schwingen breitet. Es ging eine Zeit darüber hin, wo bittrer Schmerz über geſtohlenes Glück, wilde Wünſche ſeine Bewohner entzweiten, wo ſelbſt drohender Mord ſeinen Schatten vor ſich her warf in das Haus; wo Ver¬ zweiflung über ſelbſtgeſchaffenes Elend händeringend in ſtiller Nacht an der Hinterthür die Treppe herauf und über die Emporlaube und wieder hinunter den Gang zwiſchen Gärtchen und Stallraum bis zum Schuppen und ruhelos wieder vor und wieder hinterſchlich. Damals ſchon war das Gärtchen der Lieblingsaufenthalt einer hohen Geſtalt, aber den Eigenſinn des greiſen Geſichts dämpfte nicht Milde; wenn ſie über die Straße ſchritt, hielten auch die Knaben im luſtigen Spiele an; aber die Geſtalt ſah nicht ſo freundlich auf ſie nieder. Vielleicht, weil ihr Augenlicht faſt erloſchen war. Wohl war auch der ältere Herr Nettenmair ein geachteter Mann und er verdiente die Achtung ſeiner Mitbürger, nicht weniger als ſein milderes Ebenbild nach ihm. Er war ein Mann von ſtrenger Ehre. Er war es nur zu ſehr!

9

Alles, was dazumal die Herzen in dem Hauſe bis zum Zerſpringen ſchwellen machte, was in den ver¬ düſterten Seelen umging und zum Theile heraustrat in der Selbſtvergeſſenheit der Angſt oder zur That wurde, zur Verzweiflungsthat: alles das mag durch das Ge¬ dächtniß des Mannes geh'n, mit dem wir uns bis jetzt beſchäftigt. Es iſt Sonntag und die Glocken von Sankt Georg, die den Beginn des vormittägigen Gottesdienſtes verkündigen, rufen auch in das Gärtchen herein, wo Herr Nettenmair nach hergebrachter Weiſe zu dieſer Stunde auf einer Bank in ſeiner Laube ſitzt. Seine Augen ruhen auf dem ſchiefergedeckten Thurmdach von Sankt Georg, das über die Planken des Nachbargartens ſich erhebt und auch nach ihm zu ſchauen ſcheint. Heut ſind's ein und dreißig Jahre, ſeit er nach längerer Ab¬ weſenheit auf der Wanderſchaft in die Vaterſtadt heim¬ kehrte. Eben ſo riefen die Glocken, als er durch eine[Schneiſe] hindurch an der Straße den alten Thurm zum erſtenmale wiederſah. Damals knüpfte ſich ſeine nächſte Zukunft an das alte Schieferdach; jetzt lieſt er ſeine Vergangenheit davon ab. Denn aber ich vergeſſe, der Leſer weiß nicht, wovon ich ſpreche. Es iſt ja eben das, was ich ihm erzählen will.

So blättern wir denn die einunddreißig Jahre zurück und finden einen jungen Mann ſtatt des alten, den10 wir verlaſſen. Er iſt hochgewachſen wie dieſer, aber nicht ſo ſtark. Er trägt die braunen Haare wie der Alte, am Hinterkopfe kurz geſchoren, über der weißen hohen Stirn in eine ſogenannte Schraube künſtlich ge¬ dreht. Auf ſeinem Geſicht erſcheint noch nicht die Strenge des Alten, und dem gutmüthigen Ausdrucke iſt die Narbe getragenen Seelenſchmerzes noch nicht eingeprägt. Keineswegs aber hat er die leichtſinnige Unbekümmert¬ heit, die ſonſt ſeinem Alter eigen, und auch nicht das bequeme, nachläſſige Weſen, das dem fahrenden Hand¬ werksburſchen ſo leicht zur Gewohnheit wird. Noch führt ihn die hohe Straße durch dichten Wald, aber die Klänge der Sankt Georgenglocken aus der tief unten liegenden Stadt ſteigen herauf an der waldigen Höhe und dringen durch Baum und Buſch unhemmbar wie eine Mutter, die dem kommenden Liebling entgegenfliegt. Heimath! Was liegt in dieſen zwei kleinen Sylben! Was alles ſteht auf im Menſchenherzen, wenn die Stimme der Heimath, der Glockenton, dem aus der Fremde Kehrenden Willkommen ruft, der Ton, der das Kind in die Kirche, den Knaben zur Konfirmation und zum erſten Genuſſe des heiligen Males rief, der jede Viertelſtunde zu ihm ſprach! Im Gedanken Heimath umarmen ſich all unſre guten Engel.

Unſerm jungen Wanderer drangen Thränen aus den ernſten und doch ſo freundlichen Augen. Schämt 'er ſich nicht vor ſich ſelbſt, er hätte laut geweint. Er kam ſich vor,11 als hätt' er ſeinen Aufenthalt in der Fremde nur ge¬ träumt und könne ſich, nun er erwacht, auf den Traum kaum mehr beſinnen. Als hätt 'er nur geträumt, er ſei ein Mann geworden in der Fremde. Als ſei's ihm immer ſchon im Traum gekommen, er träume nur in der Fremde, um, wenn er daheim erwacht ſei, davon erzählen zu können. Es könnte auffallen, daß er bei alledem in dieſem Augenblicke der Aufregung ſeines ganzen Innern den Spinnenfaden nicht überſah, den die grüßende Luft von der Heimath her gegen ſeinen Rockkragen wehte, daß er die Thränen vorſichtig ab¬ trocknete, damit ſie nicht auf das Halstuch fallen möchten und mit der eigenſinnigſten Ausdauer erſt die letzten, kleinſten Reſte des Silberfadens entfernte, eh' er ſich mit ganzer Seele ſeinem Heimathsgefühle überließ. Aber auch ſein Hängen an der Heimath war ja zum Theile nur ein Ausfluß jenes eigenſinnigen Sauberkeitsbedürf¬ niſſes, das alles Fremde, das ihm anfliegen wollte, als Verunreinigung anſah; und wiederum entſprang jenes Bedürfniß aus der Gemüthswärme, mit der er Alles umfaßte, was in näherem Bezuge zu ſeiner Per¬ ſönlichkeit ſtand. Das Kleid auf ſeinem Leibe war ihm ein Stück Heimath, von dem er alles Fremde abhalten mußte.

Jetzt machte die Straße eine Wendung; der Berg¬ rücken, der vorhin die Ausſicht verengt hatte, blieb zur Seite liegen, und über jungem Wuchs ſtieg eine Thurm¬12 ſpitze auf. Es war die Spitze des Sankt Georgen¬ thurms. Der junge Wanderer hielt den Schritt an. So natürlich es war, daß das höchſte Gebäude der Stadt ihm zuerſt und vor den übrigen ſichtbar werden mußte, ſeine Sinnigkeit vergaß das über der innigen Bedeutung, die ſie in den Umſtand legte. Das Schiefer¬ dach der Kirche und des Thurms bedurfte einer Repa¬ ratur. Dieſe war ſeinem Vater übertragen worden und ſie war der Grund, wenigſtens der Vorwand, warum der Vater ihn früher aus der Fremde zurückrief, als er bei des Sohnes Abreiſe gewillt geweſen. Vielleicht morgen ſchon begann er ſeinen Theil Arbeit. Dort, ſenkrecht über dem weiten Bogen, durch den er die Glocken ſich bewegen ſah, war die Ausſteigthüre an¬ gebracht. Dort ſollten die beiden Balken ſich heraus¬ ſchieben, um die Leiter zu tragen, auf der er empor¬ klimmte bis zur Helmſtange, das Tau ſeines Fahrzeugs daran anzuknüpfen für die luftige Fahrt um das Dach. Und wie es ſeine Natur war, ſich an die Gegenſtände, mit denen er in Arbeitsberührung kommen ſollte, mit feſten Herzensfäden anzuſpinnen, ſah er in dem Auf¬ tauchen der Thurmſpitze einen Gruß und griff unwill¬ kührlich in die Luft nach dem Grüßenden hin, als gält 'es, eine freundlich dargebotene Hand zu drücken. Dann beſchleunigte der Gedanke an die Arbeit ſeinen Schritt, bis ein Aushau im Walde und die Ankunft auf der13 höchſten Kante des Berges ihm die ganze Heimaths¬ ſtadt vor ſeinen Füßen liegend zeigte.

Wieder blieb er ſteh'n. Dort ſtand das Vaterhaus, dahinter der Schieferſchuppen; in derſelben Vorſtadt, nicht zu weit davon, das Haus, wo ſie gewohnt hatte damals, als er in die Fremde ging. Jetzt wohnte ſie in ſeinem Vaterhaus, war ſeines Vaters Tochter, ſeines Bruders Weib und er ſollte von heut 'an in demſelben Hauſe leben und ſie täglich ſehen als ſeine Schwägerin. Sein Herz ſchlug ſtärker bei dem Gedanken an ſie. Aber keine von den Hoffnungen, die ſich ihm ſonſt an ihr Andenken geknüpft, ließ es ſchwellen. Seine Neigung war die eines Bruders zur Schweſter geworden und was ihn jetzt bewegte, ſah mehr einer Sorge gleich. Er wußte, ſie dachte mit Widerwillen an ihn. Sie war die Einzige im ganzen Vaterhauſe, die ungern ſein Kommen ſah. Wie war das Alles geworden? War nicht eine Zeit geweſen, wo ſie ihm gut zu ſein ſchien? Wo ſie ihm ſo gern zu begegnen ſchien, als ſpäter befliſſen, ihm auszuweichen? Da unten vor der Stadt in Gärten liegt das Schützenhaus. Wie ſind die Bäume um das Haus größer geworden, ſeit er von dieſer Höhe herab auch ihm den letzten Gruß zugewinkt hatte! Dort unter jener Akazie hatte er kurz vorher geſtanden es war an einem ſchönen Frühlingsabend geweſen, ihm war er der ſchönſte erſchienen, den er erlebt am Pfingſtſchießen. Drinn tanzte das übrige14 junge Volk; er ging ſelig um das Haus herum, indem er ſie tanzend wußte. Er fühlte ſich jetzt noch im Um¬ gang mit Mädchen und Frauen befangen, und wußte nicht mit ihnen zu reden; das war er damals noch mehr als jetzt. Wie gern' hätt 'er ihr geſagt wenn er allein war, wieviel hatt' er ihr zu ſagen und wie gut wußt er's zu ſagen, und führte es ein Zufall, daß er ſie allein traf und wunderbar wie geſchäftig der Zufall ſich zeigte, ein ſolch Zuſammentreffen zu ver¬ mitteln da trieb ihm der Gedanke, jetzt ſei der Augen¬ blick da, alles Blut nach dem Herzen, die Worte von der Zunge in den Verſteck der tiefſten Seele zurück. So war es geweſen, wie ſie, die Wangen vom Tanze glühend, allein herausgetreten war aus dem Hauſe. Es ſchien ihr nur um Kühlung zu thun; dieſe wehte ſie ſich mit dem weißen Tuche zu; aber ihre Wangen wurden nur röther. Er fühlte, ſie hatte ihn geſeh'n, ſie erwartete, er ſollte näher treten und daß ſie wußte, er verſtand ſie, das war es, was ihr die Wangen rother färbte. Das war es, was, da er zögerte, ſie wieder hinein trieb in den Saal. Vielleicht auch, daß ſie einen Dritten nahen hörte. Sein Bruder kam aus einer andern Thüre des Saals. Er hatte die beiden noch ſchweigend einander gegenüber ſtehen, vielleicht auch des Mädchens Rötherwerden geſeh'n. Du ſuchſt die Beate? fragte unſer Held, um ſeine Verlegenheit zu verbergen. Nein, entgegnete der Bruder. Sie iſt15 nicht zum Tanze und das iſt gut. Es kann doch nichts werden; ich muß mir eine Andere anſchaffen und bis ich eine finde, iſt böhmiſch Bier mein Schatz.

Es war etwas Wildes in des Bruders Rede. Unſer Held ſah ihn verwundert und zugleich bekümmert an. Warum kann nichts werden? fragte er. Und wie biſt du nur?

Ja, du meinſt, ich ſoll ſein wie du, fromm und geduldig, wenn nur kein Federchen etwa an deinem Rocke ſitzt. Ich bin ein andrer Kerl und muß mich austoben, wird mir ein Strich durch meine Rechnung gemacht. Warum nichts werden kann? Weil der Alte im blauen Rock es nicht will.

Der Vater rief dich geſtern in das Gärtchen

Ja und zog ſeine weißen Augenbrauen, die wie mit dem Lineal gemacht ſind, anderthalb Zoll in die Höh '. Ich hatte mir's wohl gedacht. Du gehſt mit der Beate vom Einnehmer. Das hat aufgehört von heut' an.

Iſt's möglich? Und warum?

Ja, haſt du je gehört, daß der im blauen Rock ein Warum vorgebracht hätte? Und haſt du ihn je gefragt: warum denn aber, Vater? Ich möchte ſein Geſicht ſeh'n, fragte ihn einer von uns: Warum? Er hat's nicht geſagt, aber ich weiß es, warum das aufgehört haben ſoll mit mir und der Beate. Ich hab's die ganze Woche her erwartet; wenn er die Hand aufhob, meint 'ich, er deutet nach dem Gärtchen, und war be¬16 reit, wie ein armer Sünder hinter ihm her zu gehen. Das iſt ja der Ort, wo er ſeine Cabinetsbefehle aus¬ theilt. Mit dem Einnehmer ſoll's nicht gut ſteh'n. Es geht eine Rede, er braucht' mehr, als ſeine Beſoldung hergeben will. Und nun du biſt ja auch ein Feder¬ chenſucher wie der im blauen Rock. Aber was kann das Mädchen dazu? Was ich? Nun aufgehört muß die Geſchichte haben, aber das Mädel dauert mich und ich muß ſeh'n, wie ich ſie vergeſſe. Ich muß trinken oder mir eine Andere anſchaffen.

Unſer Held war des Bruders Art gewohnt; er wußte, daß ſeine Reden nicht ſo wild gemeint waren, als ſie klangen, und der Bruder bewies ja ſeine Liebe und Achtung vor dem Vater durch die That ſeines Gehorſams; dennoch wär 'es unſerm Helden lieb ge¬ weſen, der Bruder hätte ſie auch im Reden gezeigt, wie im Thun. Der Bruder hatte mit ſeiner Neckerei nicht ganz unrecht gehabt. Apollonius war es, als läge etwas Unſauberes auf der Seele des Bruders und er ſtrich unwillkührlich mehrmal mit der Hand über den Rockkragen desſelben hin, als wär' es äußerlich von ihm abzuwiſchen. Vom Tanze hatte ſich Staub darauf gelagert; wie dieſer entfernt war, kam ihm die Empfin¬ dung, als ſei wirklich entfernt, was ihn geſtört.

Das Geſpräch tauſchte ſeinen Stoff. Sie kamen auf das Mädchen zu ſprechen, das vorhin ſich Kühlung zugeweht; Apollonius wußte gewiß nicht, daß er die17 Anregung dazu gegeben hatte. Wie das Mädchen das Ziel war, nach dem alle Wege ſeines Denkens führten, ſo hielt er dieſes, war er bei ihr angekommen, unent¬ rinnbar feſt. Er vergaß den Bruder ſo, daß er zuletzt eigentlich mit ſich ſelbſt ſprach. Der Bruder ſchien all das Schöne und Gute an ihr, das der Held in unbe¬ wußter Beredtſamkeit pries, erſt wahrzunehmen. Er ſtimmte immer lebhafter bei, bis er in ein wildes Lachen ausbrach, das den Helden aus ſeiner Selbſtvergeſſenheit weckte und ſeine Wangen ſo roth färbte, als die des Mädchens vorhin geweſen waren.

Und da ſchleichſt du um den Saal, wo ſie mit Andern tanzt und, zeigt ſie ſich, ſo haſt du nicht das Herz, mit ihr anzubinden. Wart ', ich will dein Ge¬ ſandter ſein. Von nun ſoll ſie keinen Reihen tanzen als mit mir, damit kein Anderer dir die Queere kommt. Ich weiß mit den Mädels umzugeh'n. Laß' mich machen für dich.

Sie ſtanden etwa zehn Schritt von der großen Saal¬ thüre entfernt, Apollonius derſelben mit dem vollen Angeſichte, der Bruder mit dem halben zugewandt. Unſer Held erſchrack vor dem Gedanken, daß das Mäd¬ chen heute noch Alles erfahren ſollte, was er für ſie fühlte. Dazu kam die Scham über ſein eigenes befan¬ genes ungeſchicktes Weſen ihr gegenüber und wie ſie davon würde denken müſſen, daß er eines Mittlers be¬ dürfe. Er hatte ſchon die Hand erhoben, dem BruderLudwig, Zwiſchen Himmel und Erde. 218Einhalt zu thun, als die Erſcheinung des Mädchens ſelbſt ihm alles Andere verdunkelte. Leiſe und allein wie vorhin kam ſie aus der Thüre geſchritten. Unter dem Tuche, mit dem ſie ſich Kühlung zuwehte, ſchien ſie verſtohlen um ſich zu ſeh'n. Er ſah wieder ihre Wangen röther werden. Hatte ſie ihn geſeh'n? Aber ſie wandte ihr Geſicht nach der entgegengeſetzten Seite. Sie ſchien etwas zu ſuchen im Graſe vor ihr. Er ſah, wie ſie eine kleine Blume pflückte, dieſe auf eine Bank legte und, nachdem ſie eine Weile wie zweifelnd geſtan¬ den, ob ſie die Blume wieder aufnehmen ſollte, wie mit ſchnellem Entſchluß ſich wieder nach der Thür wandte. Eine halb unwillkührliche Armbewegung ſchien zu ſagen: mag er ſie nehmen; ſie iſt für ihn gepflückt. Wieder wogte es roth herauf bis an das dunkelbraune Haar und die Haſt, mit der ſie in der Thüre verſchwand, ſchien einer Reue vorbeugen zu ſollen, die die Sorge erzeugen konnte, wie ihr Thun verſtanden werden würde.

Der Bruder, der von allem dem nichts zu gewahren ſchien, hatte noch in ſeiner lebendigen, heftigen Weiſe fortgeſprochen; ſeine Worte waren verloren; unſer Held hätte zwei Leben haben müſſen, ſie zu hören, denn das eine, das er beſaß, war in ſeinen Augen. Jetzt ſah er den Bruder nach dem Saale ſtürmen. Zu ſpät kam ihm der Gedanke, ihn zurückzuhalten. Er eilte ihm vergeblich nach bis zur Thüre. Dort nahm ihn die Blume, die das Mädchen für einen Finder hingelegt,19 für einen glücklichen, fand ſie der, dem ſie zugedacht war, wiederum gefangen. Und unter den leiſen, mecha¬ niſch fortgeſetzten Zurufen ſeines Mundes an den Bruder, der ſie nicht mehr hörte, er ſolle ſchweigen, fragt 'er ſich innerlich: biſt du's auch, für den ſie die Blume hierhergelegt? Hat ſie die Blume für Jemand hierhergelegt? Und ſein Herz antwortete glücklich auf Beides ein Ja, während ihn das Vorhaben des Bru¬ ders noch bedrängte.

War es ein Liebeszeichen von ihr und für ihn, ſo war es das letzte.

Zweimal ſah er verſtohlen in den Saal, wenn die Thür ſich öffnete; er ſah ſie mit ſeinem Bruder tan¬ zen, dann im Ausruhen vom Tanze den Bruder in ſeiner haſtigen Weiſe auf ſie hineinreden. Jetzt ſpricht er von mir, dachte er über das ganze Geſicht erglühend. Er ſtürzte in den Schatten der nahen Büſche, als ſie den Saal verließ. Der Bruder führte ſie heim. Er folgte den Beiden in ſo großer Entfernung, als er nöthig hielt, von ihr nicht geſehen zu werden. Als der Bruder von der Begleitung zurückkam, trat er von der Thüre weg. Er war wie nackt vor Scham. Der Bruder hatte ihn doch bemerkt. Er ſagte: Noch will ſie nichts von dir wiſſen; ich weiß nicht, iſt es Zie¬ rerei oder ihr Ernſt. Ich treffe ſie ſchon wieder. Auf einen Schlag fällt kein Baum. Aber das muß ich dir zugeſteh'n, Geſchmack haſt du. Ich weiß nicht, wo ich2 *20meine Augen gehabt habe ſeither. Die iſt noch ganz anders als die Beate. Und das will viel ſagen!

Von da an hatte der Bruder unermüdlich mit Walther's Chriſtianen getanzt und für den Bruder geſprochen und jedesmal, nachdem er ſie heimgeführt, dem Helden Rechenſchaft abgelegt von ſeinen Bemühun¬ gen für ihn. Lange noch war er ungewiß, ob ſie ſich nur ziere, oder ob ſie unſerm Helden wirklich abge¬ neigt ſei. Er erzählte gewiſſenhaft, was er zu des Helden Gunſten zu ihr geſagt, was ſie auf ſeine Fra¬ gen und Verſicherungen geantwortet. Er hatte noch Hoffnung, als unſer Held ſie ſchon aufgegeben hatte. Und dieſer hätt 'es aus ihrem Benehmen gegen ihn erken¬ nen müſſen, hätt' er auch ihre Antworten an den Bru¬ der nicht erfahren, ſeine Neigung habe keine Erwiderung zu erwarten. Sie wich ihm aus, wo ſie ihn ſah, ſo angelegentlich, als ſie ihn früher geſucht zu haben ſchien. Und war er's denn geweſen, den ſie damals ſuchte, wenn ſie überhaupt Jemand geſucht hatte?

Der Bruder forderte ihn hundertmal auf, ſie abzu¬ paſſen und ſelbſt ſeine Sache bei ihr zu führen. Er bot ſeine ganze Erfindungskraft auf, dem Helden Ge¬ legenheit zu verſchaffen, ſie allein zu ſprechen. Unſer Held wies die Aufforderungen ab, wie die Anerbieten. Es war doch unnütz. Alles, was er erreichen konnte, war, ſie nur noch mehr zu erzürnen.

21

Ich kann's nicht mehr mit anſeh'n, wie du abmagerſt und immer bleicher wirſt, ſagte der Bruder eines Abends zu unſerm Helden, nachdem er ihm gemeldet, wie er heut 'wieder erfolglos für ihn geſprochen. Du mußt fort eine Zeit lang von hier, das wird nach zwei Seiten gute Folgen für dich haben. Wenn ich ihr ſage, du biſt um ihretwillen in die Welt gegangen, wird ſie ſich vielleicht bekehren. Glaub' mir, ich kenne, was lange Haare trägt und weiß damit umzugeh'n. Du ſchreibſt ihr einen beweglichen Brief zum Abſchied, den bekommt ſie durch mich und ich will ihr ſchon das Herz weich machen. Und iſt's nicht zu erreichen, ſo wird dir's gut thun, wenn du ein oder mehre Jahre von hier weg biſt, wo dich Alles an ſie erinnert. Und zuletzt wird die Fremde einen andern Kerl aus dir machen, der mit der Art, die Schürzen trägt, beſſer umzuſpringen weiß. Du mußt tanzen lernen, das iſt ſchon der halbe Weg dazu. Und der Alte im blauen Rock iſt ohnehin vom Vetter in Köln angegangen worden, einen von uns zu ihm zu ſchicken; ich las neulich in einem Brief, der ihm aus der Taſche gefallen war. Sag 'ihm nur, du hätt'ſt aus ſeinen Reden ſo was gemerkt und wenn er's haben wollte, ſo woll'ſt du geh'n. Oder laß' mich das machen. Du biſt zu ehrlich.

Und er macht 'es wirklich. Es iſt die Frage, ob ſich unſer Held freiwillig hätte entſchließen können, die Heimath zu verlaſſen, er, der nicht begriff, wie Jemand22 wo anders leben könne, als in ſeiner Vaterſtadt, dem es immer wie ein Mährchen vorgekommen war, daß es noch andere Städte gäbe und Menſchen drin wohnten, der ſich das Leben und Thun und Treiben dieſer Menſchen nicht als ein wirkliches, wie die Bewohner ſeiner Hei¬ math es führten, ſondern als eine Art Schattenſpiel vorgeſtellt hatte, das nur für den Betrachter exiſtirte, nicht für die Schatten ſelbſt. Der Bruder, der den alten Herrn zu behandeln wußte, brachte, wie zufällig, das Geſpräch auf den Vetter in Köln, wußte die An¬ deutungen, die Herr Nettenmair in ſeiner diploma¬ tiſchen Weiſe gab, als vorbereitende Winke aufzufaſſen, faßte andere, die unſern Helden betrafen, damit zuſam¬ men. Nach öfterem Geſpräche ſchien er's für den aus¬ geſprochenen Willen des alten Herrn zu nehmen, daß Apollonius nach Köln zu dem Vetter müſſe. Da¬ durch war dem alten Herrn der Gedanke gegeben, über dem er nun, da er für den ſeinen galt, nach ſeiner Weiſe brütete. Es war wenig Arbeit vorhanden und auch für die nächſte Zeit keine Ausſicht auf eine be¬ deutende Vermehrung derſelben. Zwei Hände waren zu entbehren und blieben die im Geſchäft, ſo waren die Kräfte deſſelben zu einem halben Müſſiggang ver¬ dammt. Der alte Herr konnte nichts weniger leiden, als was er leiern nannte. Es fehlte nur an einem Widerſtande von Seiten unſers Helden. Dieſer wußte nichts von des Bruders Plane. Der Bruder hatte ihn23 weißlich nicht darin eingeweiht, weil er ihn zu gut kannte, um Vorſchub von ihm zu erwarten bei einem Thun, das er als unehrlich und unehrerbietig zugleich gegen den Vater verworfen haben würde.

Du willſt den Apollonius nach Köln ſchicken, ſagte der Bruder eines Nachmittags zu dem alten Herrn. Wird er aber gehen wollen? Ich glaube nicht. Du wirſt mich auf die Wanderſchaft ſchicken müſſen. Der Apollonius wird nicht geh'n. Wenigſtens heut 'und morgen noch nicht.

Das war genug. Noch denſelben Abend winkte der alte Herr unſerm Helden ſich in's Gärtchen nach. Vor dem alten Birnbaum blieb er ſteh'n und ſagte, indem er ein kleines Reis, das aus dem Stamme gewachſen war, entfernte: Morgen gehſt du zum Vetter nach Köln. Mit ſchneller Wendung drehte er ſich nach dem Angeredeten um und ſah verwundert, daß Apollonius gehorſam mit dem Kopfe nickte. Es ſchien ihm faſt unlieb, daß er keinen Trotz zu brechen haben ſollte. Meinte er, der arme Junge denke trotzige Gedanken, wenn er ſie auch nicht ausſpreche und wollte er auch den Trotz der Gedanken brechen? Heut 'noch ſchnürſt du deinen Ranzen, hörſt du? fuhr er ihn an. Apol¬ lonius ſagte: Ja, Vater. Morgen mit Sonnenaufgang machſt du dich auf die Reiſe. Nachdem er ſo eine trotzige Antwort faſt erzwingen zu wollen geſchienen, mochte er ſeinen Zorn bereu'n. Er machte eine Bewe¬24 gung. Apollonius ging gehorſam. Der alte Herr folgte ihm und kam einigemal auf das Zimmer der Brüder, um mit milderem Grimme den Einpackenden an mancherlei zu erinnern, was er nicht vergeſſen ſolle.

Und vom Georgenthurme tönte eben der letzte von vier Glockenſchlägen, als ſich die Thüre des Hauſes mit den grünen Fenſterladen aufthat und unſer junger Wanderer heraustrat, von dem Bruder begleitet. An derſelben Stelle, von der er jetzt auf die unter ihm liegende Stadt herabſah, hatte der Bruder Abſchied von ihm genommen und er ihm lange, lange nachge¬ ſeh'n. Vielleicht gewinn 'ich dir ſie doch, hatte der Bruder geſagt, und dann ſchreib' ich dir's ſogleich. Und iſt's mit der nichts, ſo iſt ſie nicht die Einzige auf der Welt. Du biſt ein Kerl, ich kann dir's wohl ſagen, ſo hübſch wie einer und legſt du nur dein blö¬ des Weſen ab, ſo kann dir's bei Keiner fehlen. Es iſt einmal ſo, die Mädel können nicht um uns werben und ich möchte die nicht einmal, die ſich mir von ſelbſt an den Hals würfe. Und was ſoll ein raſches Mädel mit einem Träumer anfangen? Der Vetter in Köln ſoll ein paar ſchöne Töchter haben. Und nun leb 'wohl. Deinen Brief beſorg' ich noch heut '.

Damit war der Bruder von ihm geſchieden.

Ja, ſagte Apollonius bei ſich, als er ihm nach¬ ſah. Er hat recht. Nicht wegen der Töchter vom Vetter oder ſonſt einer andern, und wär 'ſie noch ſo25 hübſch. Wär' ich anders geweſen, jetzt müßt 'ich viel¬ leicht nicht in die Fremde. War ich's, dem ſie die Blume hingelegt hat am Pfingſtſchießen, hat ſie mir begegnen wollen damals und früher, wer weiß, wie ſchwer's ihr geworden iſt. Und wie ſie das Alles um¬ ſonſt gethan, hat ſie ſich nicht vor ſich ſelber ſchämen müſſen? O, ſie hat recht, wenn ſie nichts mehr von mir wiſſen will. Ich muß anders werden.

Und dieſer Entſchluß war keine taube Blüthe gewe¬ ſen. Das Haus ſeines Vetters in Köln zeigte ſich keiner Art von Träumerei förderlich. Er fand ein ganz anderes Zuſammenleben als das daheim. Der alte Vetter war ſo lebensluſtig als das jüngſte Glied der Familie. Da war keine Vereinſamung möglich. Ein aufgeweckter Sinn für das Lächerliche ließ keine Art von Abſonderlichkeit aufkommen. Jeder mußte auf ſei¬ ner Hut ſein; keiner konnte ſich gehen laſſen. Apol¬ lonius hätte ein anderer werden müſſen und wenn er nicht wollte. Auch im Geſchäft ging's anders her als daheim. Der alte Herr im blauen Rock gab ſeine Be¬ fehle, wie der Gott der Hebräer aus Wolken und mit der Stimme des Donners. Er hätte ſeinem Anſehen etwas zu vergeben geglaubt durch das Ausſprechen ſei¬ ner Gründe. Er gab kein Warum und ſeine Söhne wagten nicht, nach Warum zu fragen. Und ſelbſt das Verkehrte mußte durchgeführt werden, war der Befehl einmal ausgeſprochen. Ueber Dinge, die das Geſchäft26 nicht betrafen, redete er mit den Söhnen gar nicht. Dagegen war es des Vetters Weiſe, eh 'er ſelbſt ſeine Anſicht über einen Punkt des Geſchäftes ausſprach, ſeine Gehülfen um ihre Meinung zu fragen. Es war dann nicht genug an der Meinung, er wollte auch die Gründe wiſſen. Dann machte er Einwürfe; war ihre Meinung die richtige, mußten ſie dieſelbe ſiegreich durch¬ kämpfen; irrten ſie, nöthigte er ſie, durch eigenes Den¬ ken auf das Rechte zu kommen. So erzog er ſich Helfer, die nicht um jede Kleinigkeit, ihn fragen mu߬ ten, denen er Manches überlaſſen konnte. Und ſo hielt er es auch mit andern Dingen. Es waren wenig Verhältniſſe des bürgerlichen Lebens, die er nicht nach ſeiner Weiſe mit ſeiner Familie und Apollonius gehörte dazu durchſprach. Indem er zunächſt nur darauf auszugehen ſchien, das Urtheil der jungen Leute zu bilden, gab er ihnen einen Reichthum von Lebens¬ regeln und Grundſätzen, die um ſo mehr Frucht ver¬ ſprachen, da die jungen Leute ſie ſelbſt hatten finden müſſen. Woran der Vetter bei ſeinem Verwandten nicht taſtete, das war deſſen Gewiſſenhaftigkeit, Eigen¬ ſinn in der Arbeit und Sauberkeit des Leibes und der Seele. Doch ließ er es nicht an Winken und Beiſpie¬ len fehlen, wie auch dieſe Tugenden an Uebermaß er¬ kranken könnten.

Apollonius erkannte ſehr deutlich, daß ſein Glück ihn zu dem Vetter geführt. Er verlor das träumeriſche27 Weſen immer mehr; bald konnte der Vetter die ſchwie¬ rigſte Arbeitsaufgabe in des Jünglings Hände legen und dieſer vollendete jede ohne die Hülfe fremden Ra¬ thes zu ſolcher Zufriedenheit des Vetters, daß dieſer ſich geſtehen mußte, er ſelbſt würde die Sache nicht umſichtiger begonnen, nicht energiſcher betrieben, nicht ſchneller und glücklicher beendet haben. Bald konnte der Jüngling ſich ein Urtheil bilden über die Art, wie ſie daheim die Geſchäfte geführt hatten. Mußte er ſich ſagen, daß ſie nicht die zweckmäßigſte geweſen, ja daß Manches, was der alte Herr angeordnet hatte, verkehrt genannt werden mußte, dann warf er ſich wohl ſeinen unkindlichen Sinn bitter vor, ſtrengte ſich an, das Thun des Vaters bei ſich zu rechtfertigen und zwang ſich, war ihm das unmöglich geweſen, zu dem Gedanken, der alte Herr habe ſeine guten Gründe gehabt und er ſelbſt ſei nur zu beſchränkt, um ſie zu errathen.

Es kamen Briefe vom Bruder. Im erſten ſchrieb dieſer, er ſei nun ſo weit über das Mädchen klar, daß ihre Härte gegen unſern Helden von einer andern Nei¬ gung des Mädchens herrühre, deren Gegenſtand zu nennen ſie nicht zu bewegen ſei. Aus dem nächſten, der kaum von dem Mädchen ſprach, las Apollonius ein Mitleid mit ihm heraus, deſſen Grund er nicht zu finden wußte. Der dritte gab dieſen Grund nur zu deutlich an. Der Bruder ſelbſt war der Gegenſtand der verſchwiegenen Neigung des Mädchens geweſen. 28Sie hatte ihm mancherlei Zeichen davon gegeben, nach¬ dem er nach des Vaters Willen ſeiner erſten Geliebten entſagt. Er hatte nichts davon geahnt und als er nun als Werber für den Bruder aufgetreten, Scham und Ueberzeugung, er ſelbſt liebe ſie nicht, ihren Mund ver¬ ſchloſſen.

Nun begriff unſer Held unter Schmerzen, daß er ſich geirrt, als er gemeint, jene ſtummen Zeichen gälten ihm. Er wunderte ſich, daß er ſeinen Irrthum nicht damals ſchon eingeſeh'n. War nicht ſein Bruder ihr ſo nah, als er, da ſie die Blume hinlegte, die der Unrechte fand? Und wenn ſie ihm ſo abſichtlich unab¬ ſichtlich allein begegnete ja, wenn er ſich die Augen¬ blicke, die Eigenthümer ſeiner Träume, vergegenwärtigte ſie hatte ſeinen Bruder geſucht, darum war ſie er¬ ſchrocken, ihm zu begegnen, drum floh ſie jedesmal, wenn ſie ihn erkannte, wenn ſie den fand, den ſie nicht ſuchte. Mit ihm ſprach ſie nicht; mit dem Bruder konnte ſie Viertelſtunden lang ſcherzen.

Dieſe Gedanken bezeichneten Stunden, Tage, Wochen tiefinnerſten Schmerzes; aber das Vertrauen des Vetters, das durch Bewährung vergolten werden mußte, die heilende Wirkung emſigen und bedachten Schaffens, die Männlichkeit, zu der ſein Weſen durch Beides ſchon gereift war, bewährten ſich in dem Kampfe und gingen noch gekräftigter daraus hervor.

29

Ein ſpäterer Brief, den er vom Bruder erhielt, mel¬ dete ihm, der alte Walther, der des Mädchens Neigung entdeckt und der alte Herr im blauen Rocke waren übereingekommen, der Bruder ſolle das Mädchen hei¬ rathen. Des alten Herrn Soll war ein Muß, das wußte unſer Held ſo gut als der Bruder. Des Mäd¬ chens Neigung hatte den Bruder gerührt; ſie war ſchön und brav; ſollte er ſich dem Willen des Vaters ent¬ gegenſetzen um des Helden willen, um einer Liebe willen, die ohne Hoffnung war? Der Zuſtimmung des Helden im Voraus gewiß, hatte er ſich in die Schickung des Himmels ergeben. Die ganze erſte Hälfte des folgenden Briefes, in welchem er ſeine Heirath meldete, klang die fromme Stimmung nach. Nach vielen herzlichen Troſtes¬ worten kam die Entſchuldigung oder vielmehr Recht¬ fertigung, warum der Bruder zwiſchen dieſem und dem vorigen Briefe zwei Jahr lang nicht geſchrieben. Darauf eine Beſchreibung ſeines häuslichen Glückes; ein Mäd¬ chen und einen Knaben hatte ihm ſein junges Weib geboren, das noch mit der ganzen Glut ihrer Mädchen¬ liebe an ihm hing. Der Vater war unterdeß 'von einem Augenübel befallen und immer unfähiger geworden, das Geſchäft nach ſeiner ſouveränen Weiſe allein zu leiten. Das hatte ihn noch immer wunderlicher gemacht. Wenn er eine Zeitlang die Zügel ganz den Händen des Sohnes überlaſſen müſſen, dann hatte ihn das alte Bedürfniß zu herrſchen, durch die Langeweile der gezwungenen30 Muße noch geſchärft, ſich wieder aufraffen laſſen. Nun kannte er die Sache, um die ſich's eben handelte, und an die er ſich bisher nichts gekehrt, nur unzureichend; und wenn er ſie kannte, ſo war ihm darum zu thun, ſeinen Willen als den herrſchenden durchzuſetzen. Und ſchon deßhalb verwarf er den Plan, nach dem der Sohn bisher gehandelt. Was bereits geſcheh'n, Arbeit und Auslage war verloren. Dabei mußte er doch wieder den Sohn zu Hülfe nehmen und die beſte Darſtellung des Verhaltes erſetzte dem alten Herrn den Mangel der eigenen Anſchauung nicht. Zuletzt mußte er einſeh'n, daß die Sache auf ſeinem Wege nicht ging. Es war Geld, Zeit und Arbeitskraft vergeudet und, was ihn noch tiefer traf, er hatte ſich blosgegeben. Nach eini¬ gen dergeſtalt mißlungenen Verſuchen, die Zügel als blinder Fuhrmann wieder an ſich zu reißen, hatte er ſich ganz von den Geſchäften zurückgezogen. Blos als berathender Helfer ſich einem Andern unterzuordnen und gar dem eigenen Sohne, der bis vor Kurzem noch nur der ungefragte und willenloſe Vollzieher ſeiner Be¬ fehle geweſen, das war dem alten Herrn unmöglich. Im Gärtchen fand er Beſchäftigung; er konnte ſich welche machen, wenn ihm nicht genügte, was die Pflege des Gärtchens bis jetzt ſeinen Beſorgern von ſelbſt ent¬ gegengebracht. Er konnte das Alte entfernen, Neues erſinnen und wieder Neuerem Platz machen laſſen, und er that es. Unumſchränkt herrſchend in dem kleinen31 grünen Reiche, in dem von Nun kein Warum mehr laut werden durfte und neben dem Geſetze der Natur nur noch ein einziges waltete, ſein Wille, vergaß oder ſchien er zu vergeſſen, daß er früher einen mächtigern Zepter geführt.

Mehr aber als von dem Geſchäfte und dem wun¬ derlichen alten Herrn ſchrieb der Bruder in ſeinen fol¬ genden Briefen von den Feſtlichkeiten der Schützenge¬ ſellſchaft der Vaterſtadt und einem Bürgervereine, der zuſammengetreten war, ſein Ergötzen von dem der niedriger ſtehenden Schichten der Bevölkerung abzuſon¬ dern. Aus all' den Beſchreibungen von Vogel - und Scheibenſchießen, Conzerten und Bällen, als deren Mittelpunkt er und ſeine junge Frau daſtanden, lachte die höchſte Befriedigung der Eitelkeit des Briefſtellers. Nur in einer Nachſchrift war in dem letzten Briefe des ernſteren Umſtandes leicht Erwähnung gethan, die Stadt wolle eine Reparatur des Thurm - und Kirchen¬ daches zu Sankt Georg vornehmen laſſen und habe ihn mit der Ausführung derſelben betraut. Der im blauen Rocke dringe in ihn, unſern Helden aufzufor¬ dern, in die Vaterſtadt und das Geſchäft zurückzukeh¬ ren. Der Bruder war der Meinung, unſer Held werde die ihm liebgewordenen Verhältniſſe in Köln nicht um einer ſo geringfügigen Urſache willen verlaſ¬ ſen mögen. Die Reparatur werde mit den vorhandenen Arbeitskräften in kurzer Zeit zu vollenden ſein. Der32 ſchadhaften Stellen an Thurm - und Kirchendach ſeien nur wenige. Ueberdieß ſeh 'er auch ab von dem Wi¬ derwillen ſeiner Frau gegen unſern Helden, den er ſeit¬ her ſo vergebens bekämpft, würde es dieſem eine un¬ nütze Quälerei ſein, all' das ſich wieder aufzufriſchen, was er froh ſein müſſe, vergeſſen zu haben. Er werde leicht einen Vorwand finden, dem Gehorſam gegen einen Befehl, den nur Wunderlichkeit eingegeben, aus¬ zuweichen. Den Schluß des Briefes machte eine neckende Anſpielung auf ein Verhältniß unſeres Helden mit der jüngſten Tochter des Vetters, von dem die Vaterſtadt voll ſei. Der Bruder ließ ſich ihr als ſeiner künftigen Schwägerin empfehlen.

Wenn auch ein ſolches Verhältniß nicht beſtand Apollonius konnte ſich ſagen, es lag nur an ihm, es in's Leben zu rufen. Der Vetter hatte ſchon manchen Wink fallen laſſen, der dahin zielte; und das Mädchen, von dem die Rede war, hätte ſich nicht geſträubt. Un¬ ſer Apollonius war ein Burſche geworden, den ſo leicht Keine ausgeſchlagen hätte, deren Herz und Hand noch zu ihrer Verfügung ſtand. Die Gewohnheit, nach ſeinem eigenen Ermeſſen zu handeln und über die Thä¬ tigkeit einer Anzahl tüchtiger Arbeiter ſelbſtſtändig zu verfügen, hatte ſeinem Aeußern Haltung und ſeinem Benehmen Sicherheit gegeben. Und was von ſeiner frühern Schüchternheit gegen Frauen und ſeiner Nei¬ gung, ſich träumend in ſich ſelbſt zu verſenken, noch33 übrig geblieben war, erhöhte noch die ſichere Männlich¬ keit, deren Ausdruck es milderte.

Ja, er wußte, daß er des Vetters Schwiegerſohn werden konnte, wenn er wollte. Das Mädchen war hübſch, brav und ihm zugethan wie eine Schweſter. Aber nur als eine Schweſter ſah er ſie an; es war ihm nie der Wunſch gekommen, ſie möchte ihm mehr ſein. Die Neigung zu Chriſtianen meinte er beſiegt zu haben; er wußte nicht, daß doch nur ſie es war, die zwiſchen ihm und des Vetters Tochter ſtand und zwiſchen ihm und jeder andern geſtanden hätte. Als er erfuhr, Chriſtiane liebte ſeinen Bruder, hatte er die kleine Blechkapſel mit der Blume von der Bruſt genom¬ men, wo er ſie ſeit jenem Abende trug, da er ſie irrend als für ihn hingelegt aufgehoben. Als Chriſtiane ſei¬ nes Bruders Weib geworden war, packte er die Kapſel mit der Blume ein und ſchickte ſie dem Bruder. Weg¬ werfen konnte er nicht, was ihm einmal theuer gewe¬ ſen, aber beſitzen durfte er die Blume nicht mehr. Beſitzen durfte ſie nur der, für den ſie beſtimmt gewe¬ ſen, dem die Hand gehörte, die ſie gegeben hatte.

Der Vater rief ihn zurück; er mußte gehorchen. Aber es war mehr als der bloße Gehorſam in ihm lebendig. Er ging nicht allein; er ging gern. Des Vaters Wort war ihm mehr eine Erlaubniß, als ein Befehl. Wenn die Frühlingsſonne in ein Gemach dringt, das den Winter über unbewohnt und verſchloſ¬Ludwig, Zwiſchen Himmel und Erde. 334ſen ſtand, dann ſieht man, es war ſchlafendes Leben, was wie vertrocknete Leichen auf der Diele lag. Nun regt ſich's und dehnt ſich's und wird zur ſummenden Wolke und brauſt jubelnd hinein in den goldenen Strahl. Nicht der Vater allein, jedes Haus der Vaterſtadt, jeder Hügel, jeder Garten darum, jeder Baum darin rief ihn. Der Bruder, die Schweſter dieſen Namen gab er Chriſtianen riefen ihn. Er fühlte ſich ſicher, daß es nur die Schweſter war, die ihn zu ihr zog. Doch ſie rief ihn ja nicht. Sie trug einen Widerwillen gegen ihn, hatte ihm der Bruder geſchrieben; einen Widerwillen, ſo ſtark, daß ſechs Jahre lang der Bruder vergeblich gegen ihn gekämpft. Es war ihm, als müſſe er ſchon deßwegen heim, damit er ihr zeigte, er ver¬ diene ihren Widerwillen nicht, er ſei werth, ihr Bruder zu ſein. Das ſchrieb er dem Bruder in dem Briefe, der ſeinen Gehorſam meldete und den Tag angab, an dem der Bruder ihn erwarten ſollte. Er konnte ihn verſichern, daß die Erinnerungen an ehemals ihn nicht quälen würden, daß die Sorge[des] Bruders unbegrün¬ det ſei.

So war es gekommen, daß der Gedanke an ſie keine von den alten Hoffnungen erweckte. Als er von der Höhe herabſah, fragte er ſich: wird mir's gelingen, ihr Bruder zu werden, die mir jetzt eine Schweſter iſt?

Noch eine Weile ſtand er und ſah hinab. Aber ſeine Haltung hatte ſich verändert und ſein Blick war35 ein anderer geworden. In Gedanken hatte er die letz¬ ten vier Jahre noch einmal durchlebt und war noch einmal aus einem blöden, träumeriſchen Knaben zum Manne geworden. Als ſein Blick wieder auf den Thurm und die Kirche zu Sankt Georg fiel, hob ſich die Hand nicht wie vorhin unwillkürlich, wie um eine unſichtbar ihm hingereichte zu drücken. Er ſchalt ſich über ſein kindiſches Gaffen. Er mußte ſobald als mög¬ lich die Dinge in der Nähe ſeh'n, um ſich ein Urtheil zu bilden, was zu thun ſei. Die Liebe zur Heimath war noch ſo ſtark in ihm als je, aber es war nicht mehr die des Knaben, dem die Heimath eine Mutter iſt, die ihn hätſchelnd in die Arme nimmt; es war die Liebe des Mannes. Die Heimath war ihm ein Weib, ein Kind, für das zu ſchaffen es ihn trieb.

Wer in das Haus hineinſeh'n konnte mit den grü¬ nen Fenſterladen, etwa eine Stunde vor Mittag, der merkte wohl, daß die Gedanken ſeiner Bewohner nicht im gewöhnlichen alltäglichen Geleiſe gingen. Man konnte es ſehen an der Art, wie die Leute aufſtanden und wie ſie ſich ſetzten, wie ſie die Thüren öffneten und ſchloſſen, wie ſie Dinge anfaßten und wieder weg¬ ſtellten, mit denen ſie weiter nichts thaten, als ſie neh¬ men und wieder hinſtellen, und offenbar auch weiter3 *36nichts thun wollten. Wer ſich beſinnt, in welcher Ge¬ müthslage er am öfteſten die Uhr aus der Taſche zog, und noch eh 'er ſie wieder in die Taſche verſenkt, ſchon vergeſſen hatte, welche Zeit es ſei, und ſie wieder her¬ vorholte, und da er nicht wußte, warum er das gethan, ſie an das Ohr hielt, und ohne gehört zu haben, ob ſie noch ging oder nicht, den Uhrſchlüſſel ſuchte und ſie aufzog, vielleicht zum dritten Male in Zeit von einer Stunde: der wird, falls er ſich noch beſinnen kann auf das, was er ſchon damals nicht wußte, als er es that, errathen können, was die Leute zu all' der zweckloſen Thätigkeit verleitet. Auch der junge Herr, der eben zum ſechſten Male ſeit einer Stunde ſeine Uhr aufzieh'n will, iſt ſo wenig mit dem Bewußtſein bei dieſem Ge¬ ſchäft, daß er es in der nächſten Viertelſtunde zum ſie¬ benten Male verſuchen wird. Dann ſetzt er ſeine wohl¬ genährte, kurze Geſtalt auf den Stuhl am Fenſter und es iſt ungewiß, ob er hinaus auf die Straße ſieht, oder ob er bei den Gedanken iſt, die in derſelben zweck¬ loſen Unruhe, die ſein Aeußeres zeigt, wie Wolken¬ ſchatten an ſeinem Bewußtſein vorbeiflattern. Er ſitzt in ſchwarzer Sonntagskleidung einer jungen Frau gegen¬ über. Er hätte Zeit genug, zu ſeh'n, wie ſchön ſie iſt, wie anmuthig ihr das zerſtreute Weſen anſteht, und es kleidet ſie weit beſſer, als ihn. Zuweilen ſcheint er's auch zu ſeh'n, aber dann iſt's, als wär's ihm keine Freude. Dann werden die Gedankenſchatten auf37 ſeinem Geſichte tiefer und flattern nicht mehr ſo ſchnell darüber hin. Er betrachtet die ſchönen Züge der jun¬ gen Frau genauer, ja es iſt, als ob er ſie belauere, als ob er ſorgenvoll ſich frage, ob ſie den Ausdruck von Widerwillen, der über ihnen hängt, behalten werde, bis und klingt dann zufällig ein ſtärkerer Tritt von der Straße herein an ſein Ohr, dann ſchrickt er auf, aber er vermeidet ihre ſchönen offenen Augen, die ſie nach ihm hin aufſchlagen kann vom Klange des Tritts geweckt.

Im Gärtchen kann der alte Valentin einem eben ſo alten Herrn im blauen Rock nichts recht machen. Er iſt zu aufgeregt und horcht und ſieht zu viel durch den Zaun nach der Straße, darüber thut er bald zu wenig, bald zu viel. Und der alte Herr ſchilt manch¬ mal, ſcheint es auch nur, um ſeine eigene Bewegung zu verbergen. Die Hände zittern merklich, mit denen er unterſucht, ob die Buchsbaumeinfaſſung der kleinen Beete auch ſo eigenſinnig gleichmäßig geſchoren iſt, wie er ſie geſchoren haben würde, beſäß 'er noch das ſcharfe Aug' von ehedem. Der alte Valentin müßte eine Thräne von den hohlen Backen wiſchen, wie es ſo oft geſchieht, über die Hülfloſigkeit des alten Herrn und tauſend Vergleiche zwiſchen ſonſt und jetzt, die ihm der Anblick derſelben herbeiruft; aber ſeine Augen und ſeine Gedanken ſind auf der Straße vor dem Zaun.

38

Hinten am Ende des Ganges, neben der Thür des Schuppens, ſitzt auf einem Haufen Schieferplatten ein ungemüthlicher Geſell in Hemdärmeln. Der Ausdruck ſeines Geſichtes wechſelt ohne ſichtbaren äußeren Anlaß zwiſchen widerwärtiger Zuthulichkeit und tückiſchem Trotz. Er kramt, ſcheint es, unter ſeinen Geſichtern, wie ein Mädchen in ihrem Schmuck. Er hält beide bereit, um das rechte gleich bei der Hand zu haben. Er weiß noch nicht, welches er brauchen wird.

Vorn durch den Spalt der wenig geöffneten Haus¬ thüre lauſcht das Dienſtmädchen. Aber keine ihrer Be¬ kannten geht vorbei. Bald wird ſie auf einen Vorwand ſinnen, die erſte beſte vorüberwandelnde Geſtalt anzu¬ halten, nur um wie gelegentlich anzubringen, das Haus erwarte heut 'ſeinen jüngern Sohn aus der Fremde zurück. Einſtweilen ſagt ſie es dem alten Hunde, der, bemüht, die verſchiedenen Gruppen durch ſein Ab - und Zugehen in Verbindung zu erhalten, eben bei ihr an¬ gekommen iſt. Und ſogleich wendet er ſich nach dem Hofe zurück, wie um weiter zu ſagen, was er vernom¬ men. Der alte Hund iſt von der Unruhe der Menſchen angeſteckt. Iſt doch jetzt die Stunde, die er an andern Tagen vor ſeiner Hütte ſchlafend verbringt.

Die alte Gewohnheit ſcheint ihn zu mahnen, als er an ſeiner Hütte vorbei laufen will. Er legt ſich daneben. Aber er ſchließt die Augen nicht. Er ſcheint in tiefe Gedanken verſunken. Denkt er ſich die weite39 Erde mit ihren Bergen und Thälern und Flüſſen, mit ihren Städten und Dörfern? Und von Ort zu Orte Straßen und auf jeder Straße Wanderer, fortziehende und heimkehrende? Wer ein ſcharfes Auge hätte, die Herzensfäden alle zu ſeh'n, die ſich ſpinnen die Straßen entlang über Hügel und Thal, dunkle und helle, je nachdem Hoffnung oder Entſagung an der Spule ſaß, ein traumhaftes Gewebe! Manche reißen, helle dun¬ keln, dunkle werden hell; manche bleiben ausgeſpannt, ſo lang die Herzen leben, aus denen ſie geſponnen ſind; manche zieh'n mit unentrinnbarer Gewalt zurück. Dann eilt des Wanderers Seele vor ihm her und pocht ſchon an des Vaterhauſes Thür und liegt an warmen Herzen, an Wangen von Freudenthränen feucht, in Armen, die ihn drücken und umfangen und ihn nicht laſſen wollen, während ſein Fuß noch weit davon auf fremdem Boden ſchreitet. Und ſteht er auf der Flur des Vaterhauſes, wie anders dann, wie anders oft iſt ſein Empfang, als er geträumt! Wie anders ſind die Menſchen geworden! In einer Minute ſagt er zwei¬ mal: ſie ſind's, und zweimal: ſie ſind's nicht. Dann ſucht er die altbekannten lieben Stellen, die Häuſer, den Fluß, die Berge, die das Heimathsthal umgürten; die müſſen doch die alten geblieben ſein. Aber auch ſie ſind anders geworden. Oft ſind's die Dinge, die Menſchen, oft nur das Auge, das ſie wiederſieht. Die Zeit malt anders, als die Erinnerung. Die Erinnerun[g]40glättet die alten Falten, die Zeit malt neue dazu. Und die, mit denen er in der Erinnerung immer zu¬ ſammen war, in der Wirklichkeit muß er ſich erſt wie¬ der an ſie gewöhnen.

Ob Apollonius das dachte, als er immer etwas vergebens erwartete und nicht wußte, daß es der Bru¬ der war, der ihm entgegenkommen ſollte? Ob der Bruder fühlte, Appollonius müſſe nach ihm ausſeh'n, als er ſo ſchnell von ſeinem Stuhle aufſtand? Er hatte ſchon die Thürklinke in der Hand. Er ließ ſie fahren. Fiel ihm ein, er könne ihn verfehlen, und blieb, weil er Frau und Bruder die Peinlichkeit des Augen¬ blickes erſparen wollte, in dem ſie einander allein gegen¬ über ſtehen müßten? Sie mit dem Widerwillen und er mit dem Bewußtſein jenes Widerwillens. Jetzt ſtieg die alte Geſtalt des Geſchiedenen vor dem Bruder auf und es war, als befreite ſie dieſen von ſchweren Sor¬ gen. Es war die Wendung, mit der er ſich ſonſt von dem Gegenwärtigen abwandte und dabei ausſah, als ſagte er zu ſich: der Träumer! Und eine raſche Be¬ wegung machte, wie um recht zu fühlen, welch 'ein Anderer er ſei, wie beſſer er ſich auf das Leben ver¬ ſtehe und auf die Art, die lange Haare hat und Schürzen trägt . Er muſterte mit einem beruhigten Blick ſeine gedrungene Geſtalt, ſein volles rothes Ge¬ ſicht, das tiefer in den Schultern ſtack, als er meinte, wenigſtens nicht tiefer, als er für ſchön hielt, in dem41 Spiegel, ſteckte die Hände in die Beinkleidertaſchen und klapperte mit dem Gelde darin. Er beſann ſich, ſchon dem Geſellen am Schuppen geſagt zu haben: Es bleibt beim Alten in der Arbeit. Du nimmſt von Niemand Befehle, als von mir. Ich bin Herr hier. Und der hatte ſo eigen zweideutig gelacht, als ſagte er ein lautes Ja zu dem Redenden und zu ſich: ich laß' dich ſo reden, weil ich es bin. Fritz Nettenmair dachte: lange wird er nicht bleiben; dafür will ich ſchon thun. Und über der Bewegung, die wiederum ſagte: ich bin ein Kerl, der das Leben verſteht, fiel ihm der Ball ein, an dem er das heute Abend noch viel genugthuender empfinden wird, weil er's in allen Augen leſen kann, was er iſt und kein Anderer ſo außer ihm.

Seine junge Frau ſcheint Aehnliches zu denken. Auch ſie ſieht in den Spiegel; ihre Blicke begegnen ſich darin. Die Ehe ſoll die Gatten ſich ähnlich machen. Hier traf die Bemerkung. Das Zuſammenleben hatte hier zwei Geſichter ſich ähnlich gemacht, die unter andern Umſtänden ſich vielleicht eben ſo unähnlich ſehen würden. Und es hatte eigentlich nicht beide einander ähnlich gemacht, ſondern nur eins davon dem andern. Die übereinſtimmenden Züge, das konnte ein ſcharfes Auge ſeh'n, waren nur ihm eigen; er hatte nur gege¬ ben, aber nicht empfangen. Und doch wär 'es umge¬ kehrt beſſer geweſen für Beide, wenn er's auch nicht eingeſteh'n würde und ſie es nicht fühlte, wenigſtens42 in dieſem Augenblicke nicht. Vielleicht auch morgen und übermorgen noch nicht. Wie viel Zeit mag nöthig ſein, wie viel Schmerzen wird ſie zu Hülfe nehmen müſſen, von einem urſprünglich ſo ſchönen Menſchenbilde abzuwaſchen, womit die Gewohnheit von Jahren es beſchmutzt!

Die Thür flog auf, das hochgeröthete Antlitz des Dienſtmädchens erſchien in ihr. Er kommt! Wer in der Straße zufällig am Fenſter ſteht, ſchaut mit Wohl¬ gefallen auf die friſche, ſchlanke, männliche Geſtalt herab, die daher kommt, den Torniſter auf dem Rücken, den Stock unter'm Arm. Denn er hat keine Hand frei. An der rechten führt er ein Mädchen, zwei klei¬ nere Knaben halten ſich zugleich an ſeiner linken feſt, Ein Umſtand, der das Fortkommen nicht erleichtert. Die Nachbaren, die wußten, wer erwartet wurde, fül¬ len Fenſter und Thüren. Er hat nun nicht allein den unermüdlich auf ihn einredenden Kindern, er hat auch Andern zu antworten. Den Alten muß er auf Grüße und Scherzreden erwiedern, Schulkameraden zuwinken, vor erröthenden Mädchengeſichtern ſich verneigen. Den Hut kann er nicht abzieh'n; die Kinder geben ſeine Hände nicht frei. Aber die Grüßenden verlangen es auch nicht; ſie ſeh'n, wie unmöglich es ihm iſt. Und wo er vorübergegangen, da ſagt ein Winken hinter ihm her, er iſt noch der alte, hübſche, beſcheidene Junge, und ein gehobener Finger ſetzt hinzu: aber er iſt kein43 Junge mehr; er iſt ein Mann geworden und was für einer! Iſt das Fenſter geſchloſſen, wird Alles zu ſei¬ nem Lobe laut, nur die Mädchen nicht, die reif genug waren, ſein Neigen mit unwillkührlichem Erröthen zu erwiedern. Die ſind ſtiller als ſonſt, und die Sonne, die heut ſo viel heller ſcheint, als an andern Tagen, bringt die ſeltſamſten Wirkungen auf ſie hervor. Zu¬ nächſt einen eigenen Drang der Füße, in der Richtung nach den Fenſtern ſich zu bewegen; dann ein ebenſo wunderbar plötzliches Wiedererwachen längſt entſchlafe¬ ner Freundſchaften, deren Gegenſtände in der Nähe des Nettenmair'ſchen Hauſes wohnen und die man beſuchen muß; endlich merkwürdig oft wiederkehrenden Andrang des Blutes nach dem Kopfe, den man für ein Errö¬ then angeſehen hätte, war nur irgend ein Grund dazu vorhanden.

Ob die Veränderung, die mit unſerm Wanderer in der Fremde vorgegangen, ſeinen Bruder ebenſo erfreuen wird, als die Nachbaren?

Er iſt an der Thür des Vaterhauſes angekommen. Vergeblich hat er an den Fenſtern nach einem bekann¬ ten Antlitz geſucht. Jetzt kommt ein unterſetzter Herr im ſchwarzen Frack herausgeſtürzt. So haſtig kommt er geſtürzt, ſo wild umſchlingt er jenen, ſo feſt drückt er ihn an ſeine weiße Weſte, ſo nah 'drängt er Wange gegen Wange, ſo lang' läßt er ſie da ruh'n, daß man die Wahl hat, zu glauben, er liebt den Bru¬44 der außerordentlich, oder er will ſich nicht gern in die Augen ſeh'n laſſen von ihm. Aber er muß ihn doch endlich einmal aus den Armen thun; er nimmt ihn unter den rechten und zieht ihn in die Thüre.

Schön, daß du kommſt! herrlich, daß du kommſt! Es war eigentlich nicht nöthig ein Einfall von dem im blauen Rock, und der hat nichts mehr zu befehlen im Geſchäft. Aber es iſt wirklich ſchön von dir; es thut mir nur leid, daß du deiner Braut unnütz die Augen roth machſt. Deiner Braut! das ſprach er ſo deutlich und mit ſo erhöhter Stimme, daß man es in der Wohnſtube vernehmen und verſtehen konnte.

Der Ankömmling ſuchte mit feuchten Augen in des Bruders Angeſicht, wie um Zug für Zug durch¬ zugeh'n, ob auch Alles noch darin ſei, was ihm ſo lieb und theuer geweſen. Der Bruder that nichts dazu, das Geſchäft ihm zu erleichtern. Was auch ihn hin¬ dern mochte; er ſah von dem Andern nur, was ſich zwiſchen Kinn und Fußſpitzen deſſelben befand. Er hatte vielleicht gedacht, ſich mit der alten Wendung auf den Ferſen an die Spitze des Zuges zu ſtellen. Aber nach dem Wenigen, das er geſeh'n, paßte der Träu¬ mer nicht mehr und die Wendung unterblieb.

Der Vater hat es haben wollen, ſagte der Ankömm¬ ling unbefangen. Und was du da von einer Braut ſagſt

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Der Bruder unterbrach ihn; er lachte laut in ſeiner alten Weiſe, ſo daß man, ſprach Appollonius auch weiter, ihn nicht mehr verſtanden hätte. Schon gut! Schon gut! Noch einmal, es iſt prächtig, daß du uns beſuchſt und vierzehn Tage wenigſtens wirſt du feſt gehalten, magſt du wollen oder nicht. Kehr 'dich nicht an die, ſetzte er leiſer hinzu und zeigte mit der Rechten durch die Thüre, die er eben mit der Linken öffnete.

Die junge Frau ſtand mit dem Rücken gegen die Thür an einem Schrank, in welchem ſie kramte. Ver¬ legen und nicht eben freundlich wandte ſie ſich, und nur nach dem Manne. Noch ſah der Schwager nichts als einen Theil ihrer rechten Wange und eine bren¬ nende Röthe darauf. Was man ſonſt an ihrem Be¬ nehmen auszuſetzen fände, es zeigte ſich darin eine unverkennbare Ehrlichkeit, ein Unvermögen, ſich anders zu geben, als ſie war. Sie ſtand da, als mache ſie ſich gefaßt, eine Beleidigung hören zu müſſen. Der Ankömmling ging auf ſie zu und ergriff ihre Hand, die ſie ihm erſt ſchien entziehen zu wollen und dann regunglos in der ſeinen liegen ließ. Er freute ſich, ſeine werthe Schwägerin zu begrüßen. Er bat ihr ab, daß er durch ſein Kommen ſie erzürne, und hoffte, durch redliches Bemüh'n den unverkennbaren Widerwillen zu beſiegen, den ſie gegen ihn trage. In ſo ſchonende und artige Wendung er Bitte und Hoffnung kleidete, er ſprach beide blos in Gedanken aus. Daß Alles ſo46 war, wie er es ſich gedacht, und doch wieder ſo ganz anders, nahm ihm Unbefangenheit und Muth.

Der Bruder machte der peinlichen Pauſe, denn ſeine Frau antwortete mit keinem Laute, ein willkommenes Ende. Er zeigte auf die Kinder. Sie drängten ſich noch immer, unbeirrt von Allem, was die Erwachſenen bedrängte und ſie nicht bemerkten und verſtanden, um den neuen Onkel; und dieſer war froh über den Anlaß, ſich zu ihnen herabzubeugen und tauſenderlei Fragen beantworten zu müſſen.

Die Brut iſt aufdringlich, ſagte der Bruder. Er zeigte auf die Kinder, aber er ſah verſtohlen nach der Frau. Bei alledem wundert's mich, wie ihr bekannt geworden ſeid. Und ſo ſchnell ſo vertraut, fügte er hinzu. Er mochte in Gedanken ſeine letzte Bemerkung weiter ſpinnen: es ſcheint, du verſtehſt ſchnell vertraut zu werden und zu machen. Ein Schatten wie von Beſorgniß legte ſich über ſein rothes Geſicht. Aber den Kindern galt die Beſorgniß nicht; er hätte ſonſt dabei nach den Kindern geſehn und nicht nach ſeiner Frau.

Der Ankömmling ſprach immer eifriger mit den Kindern. Er hatte die Frage überhört, oder er wollte vor der zürnenden Frau ſich nicht merken laſſen, weſſen Bild er ſo lebendig in ſich trage. Die Aehnlichkeit mit der Mutter hatte ihn die Kleinen, die ihm zufällig begeg¬ net, als ſeines Bruders Kinder erkennen laſſen. Die Frage aber, wie ſie ſo ſchnell mit ihm vertraut werden47 konnten, hätte man an den alten Valentin thun müſſen. War er's doch geweſen, der ihnen immer von dem Onkel erzählt, der bald zu ihnen komme. Vielleicht nur, um von dem mit Jemand ſprechen zu können, von dem er ſo gern ſprach. Der Bruder und die Schwägerin wichen ſolchen Geſprächen aus und der alte Herr machte ſich nicht ſo gemein mit dem alten Geſellen, über Dinge mit ihm zu ſprechen, die ihm den Vorwand bieten konnten, in irgend eine Art Ver¬ traulichkeit gegen ihn zu verfallen. Der alte Valentin hätte auch ſagen können, die Kinder waren nicht zu¬ fällig dem Onkel begegnet. Sie waren gegangen, um ihn zu finden. Der alte Valentin hatte daran gedacht, wie tauſend Heimkehrenden die harrende Liebe entgegeneilt; es hatte ihm weh gethan, daß nur ſeinem Liebling kein Gruß entgegenkäme, ehe er pochte an des Vaters Thür.

Apollonius verſtummte plötzlich. Er erſchrack, daß die Verlegenheit ihn des Vaters vergeſſen gemacht. Der Bruder verſtand ſeine Bewegung und ſagte erleichtert: er iſt im Gärtchen. Apollonius ſprang auf und eilte hinaus.

Da unter ſeinen Beeten kauerte die Geſtalt des alten Herrn. Er folgte der Scheere des alten Valen¬ tin, der auf den Knieen vor ihm herrutſchte, noch im¬ mer mit den prüfenden Händen. Er fand manche Un¬ gleichheit, die der Geſelle ſofort entfernen mußte. Ein48 Wunder war es nicht. Der alte Valentin dachte jede Minute zweimal: jetzt kommt er! und wenn er ſo dachte, fuhr die Scheere queer in den Buchsbaum hinein. Und der alte Herr würde noch anders gebrummt haben, machte nicht derſelbe Gedanke die Hand unſicher, die nun ſein Auge war.

Apollonius ſtand vor dem Vater und konnte vor Schmerz nicht ſprechen. Er hatte lang gewußt, der Vater war blind, er hatte ſich ihn oft in ſchmerzlichen Gedanken vorgemalt. Da war er geweſen wie ſonſt, nur mit einem Schirm vor den Augen. Er hatte ſich ihn ſitzend oder auf den alten Valentin ſich lehnend gedacht, aber nie, wie er ihn jetzt ſah, die hohe Ge¬ ſtalt hülflos wie ein Kind, die kauernde Stellung, die zitternd und ungewiß vor ſich hingreifenden Hände. Nun wußte er erſt, was blind ſein heißt. Valentin ſezte die Scheere ab und lachte oder weinte auf den Knieen; man konnte nicht ſagen, was er that. Der alte Herr neigte erſt wie horchend den Kopf auf die Seite, dann nahm er ſich zuſammen. Apollonius ſah, der Vater empfand ſeine Blindheit als etwas, deß er ſich ſchämen müſſe. Er ſah, wie der alte Herr ſich anſtrengte, jede Bewegung zu vermeiden, die daran er¬ innern könnte, er ſei blind. Er wußte nun erſt, was bei dem alten Mann, den er ſo liebte, blind ſein hieß! Der alte Herr ahnte, daß der Ankömmling in ſeiner Nähe war. Aber wo? auf welcher Seite? Apollonius49 fühlte, der Vater empfand dieſe Ungewißheit mit Be¬ ſchämung, und zwang die verſagende Bruſt zu dem Rufe: Vater! lieber Vater! Er ſtürzte neben dem alten Herrn in die Kniee und wollte beide Arme um ihn ſchlagen. Der alte Herr machte eine Bewegung, die um Scho¬ nung zu bitten ſchien, obgleich ſie nur den Jüngling von ihm abhalten ſollte. Der ſchlug die zurückgewie¬ ſenen Arme um die eigene Bruſt, den Schmerz da feſt zu halten, der, über die Lippen geſtiegen, dem Vater verrathen hätte, wie tief er deſſen Elend empfand. Die gleiche Schonung ließ den alten Valentin die unwill¬ kührliche Bewegung, dem alten Herrn ſich aufrichten zu helfen, zu einem Griff nach der Scheere machen, die zwiſchen ihm und dieſem lag. Auch er wollte den Ankömmling verbergen, was nicht zu verbergen war. So treu und tief hatte er ſich in ſeinen alten Herrn hineingelebt.

Der alte Herr hatte ſich erhoben und reichte dem Sohne die Hand, etwa als wär 'dieſer ſo viel Tage fortgeweſen, als er Jahre fortgeweſen war. Du wirſt müde ſein und hungrig. Ich leide etwas an den Augen, aber es hat nichts zu ſagen. Wegen des Geſchäftes rede mit dem Fritz. Ich hab's aufgegeben. Ich will Ruhe haben. Aber das iſt's eigentlich nicht; junge Leute müſſen auch einmal ſelbſtändig werden. Das gibt mehr Luſt zum Geſchäft.

Ludwig, Zwiſchen Himmel und Erde. 450

Er trat dem Sohn um einen Schritt näher. Es war wie ein Kampf in ihm. Er wollte etwas ſagen, das Niemand hören ſollte, als der Sohn. Aber er ſchwieg. Ein Gedankenſchatten von Mißtrauen und Furcht, ſich etwas zu vergeben, flog über ſein ſteiner¬ nes Geſicht. Er winkte dem Sohn, zu geh'n. Aber er ſelbſt blieb regungslos ſteh'n, bis ſein ſcharfes Ohr die Thür der Wohnſtube öffnen und ſchließen gehört. Dann ging er nach der Laube, immer voll Anſtrengung und ſcheinbarer Sorgloſigkeit. Drinn ſtand er lang, mit dem Geſichte der grünen Hinterwand zugekehrt, und ſchien die Ranken von Teufelszwirn, die dieſe bildeten, angelegentlich zu muſtern. Allerlei Gedanken zogen über ſeine Stirn. Es waren ſorgenvolle, ſeltener von Hoffnung angeſchimmert, als von Argwohn über¬ dunkelt; und alle galten dem Geſchäft und der Ehre des Hauſes, um das er vor Allen, ſelbſt vor den Gliedern dieſes Hauſes, ſich nicht im entfernteſten zu kümmern ſich den Anſchein gab.

Warum er unterdrückt, was er dem Ankömmling ſagen wollte? War es vom Geſchäft oder von der Ehre des Hauſes? Und wußte oder ahnte er, der anſtatt ſeiner nun um Beides zu ſorgen hatte, ſtand an die Thür des Gärtchens gelehnt und konnte hören, was er ſprach, und wenn er heimlich mit ihm ſprach, wenig¬ ſtens ſehen, daß er dies that? War es der Grund, warum er Apollonius hatte zurückrufen laſſen aus der51 Fremde? Und ſchien ihm noch jetzt jedes Ausſprechen eines Warum mit ſeinem Anſehn unverträglich?

Es war ein wunderlich Beiſammenſein drinn in der Wohnſtube am Mittagstiſch. Der alte Herr , wie immer, allein auf ſeinem Stübchen. Auch die Kinder waren entfernt worden und kamen erſt nach dem Eſſen wieder herein. Die junge Frau hielt ſich mehr in der Küche oder ſonſt wo auf; und ſaß ſie einmal wenige Minuten lang am Tiſch, ſo war ſie ſtumm wie bei der Begrüßung, und die grollende Wolke wich nicht von ihrer Stirn. Der Bruder war des Vaters Zuſtand gewohnt, der Apollonius noch mit erſter Schärfe in das Herz ſchnitt; er erzählte nur von den Wunderlich¬ keiten deſſelben; der im blauen Rock wiſſe ſelbſt nicht, was er wolle, und mache ſich und Allen im Hauſe ohne Noth das Leben ſauer. Begann Apollonius von dem Geſchäft, von der bevorſtehenden Reparatur des Kirch¬ dachs von Sankt Georg, dann ſprach der Bruder von Vergnügungen, mit denen er ſich freue, dem Bruder ſeinen Aufenthalt bei ihm angenehmer zu machen, und gedachte dieſes Aufenthalts ſtets als eines vorüber¬ gehenden Beſuches. Sagte der ihm, er ſei nicht ge¬ kommen, ſich zu vergnügen, ſondern zu arbeiten, dann lachte er wie über einen unvergleichlichen Witz, daß Apollonius helfen wolle, nichts zu thun, und zeigte, er verſtehe Spaß, und wär 'er noch ſo trocken vorgetragen. Dann, war ſeine Frau hinausgegangen, forſchte er4*52nach dem Verhältniß Apollonius zu der Tochter des Vetters und lachte dann wieder über den Bruder Spa߬ vogel, in dem man den alten Träumer gar nicht wieder¬ erkenne.

Nach Tiſch kamen die Kinder wieder herein und mit ihnen mehr Leben und Gemüthlichkeit. Während Apol¬ lonius vor den alten Verhältniſſen noch als vor neuen und fremden ſtand, hatte das neue zu den Kleinen ſchon die ganze Vertraulichkeit eines alten gewonnen. Den ganzen Nachmittag beſchäftigte den Bruder und, wie es ſchien, auch die Schwägerin nur der Ball. Der Bruder vergaß immer mehr, was ihm unbehaglich ſein mochte, über dem Eindruck, den er als Hauptperſon bei dem Feſte auf den Ankömmling machen würde, und benutzte die Zeit bis zum Beginne desſelben, ihm durch Erzählungen und hingeworfene Winke von Ehre und Aufmerkſamkeit, die ihm bei ſolchen Gelegenheiten von den angeſehenſten Bürgern erwieſen werde, einen Vor¬ geſchmack zu geben. Er wurde zuſehends heiterer und ſchritt immer ſtolzer in der Stube hin und her. Das Knarren ſeiner wohlgewichſten Stiefeln ſagte einſtwei¬ len, eh's die Ballgäſte thaten: Ei, da iſt er ja! da iſt er ja! und wenn er dazwiſchen mit beiden Händen in den Hoſentaſchen mit Geld klapperte, klang's aus allen Saalecken: Nun wird's famos! Nun wird's famos! Und dahin zwiſchen den Bewillkommnenden aber ſchon ging er nicht mehr, er ſchwebte, er ſchwamm auf53 der Muſik jeder Tanz war eine Jubelouvertüre auf den Namen Nettenmair er fühlte keinen Boden, keine Füße, keine Beine mehr unter ſich, kaum noch die junge Frau Nettenmair, die neben ihm ſchwamm, an ſeiner rechten Floßfeder hangend, die Schönſte unter den Schönen, wie er der Jovialſte unter den Jovialen, der Daumen an der Hand des Balles war. Und zwei Stunden darauf klang es wirklich von allen Seiten: da iſt er! rief's wirklich aus allen Ecken: nun wird's famos! Wo ſie vorbeikamen, wurden Stühle ange¬ boten. Keine Hand wurde ſo oft und anhaltend ge¬ ſchüttelt, als des jovialen Fritz Nettenmair's, keinem Geſellſchaftsmitgliede ſo viel ungeheucheltes Lob in die Ohren gegoſſen, als ihm. Aber wie liebenswürdig war er auch! Wie herablaſſend nahm er all' die ver¬ dienten Huldigungen auf. Wie witzig zeigt 'er ſich; wie gefällig lachte er. Und nicht allein über ſeine eige¬ nen Späſſe denn das war keine Kunſt; ſie waren ſo geiſtreich, daß er lachen mußte, wenn er nicht wollte auch über andere, ſo wenig die es, gegen die ſeinen gehalten, verdienten. Es gab freilich auch Leute, die ſich wenig an ihn kehrten, aber er bemerkte ſie nicht, und die es deutlicher zeigten, waren Philiſter, Alltags¬ kerle, unbedeutende Menſchen, wie er dem Bruder mit verächtlichem Bedauern in's Ohr ſagte. Es war ganz eigen; man konnte an dem Grad ihrer Verehrung von Fritz Nettenmair ihre größere oder geringere Bedeutung54 als Menſchen und Bürger ganz genau ermeſſen. Da ſtand er, den rothen Kopf in den Schultern, die das ungeheuchelte Gefühl ſeiner Wichtigkeit und ſeine eigene ſtille Meinung von ſich war noch ungeheuchel¬ ter, als die laut ausgeſprochene der bedeutendſten Leute im Saal über ihn noch mehr als gewöhnlich in die Höhe gezogen, die Arme bald in graziöſer Eckigkeit an den Leib gedrückt, bald ausgeſtreckt, um mit dem Stocke irgend einem der bedeutendſten Leute eine klatſchende Liebkoſung zu verſetzen, die jederzeit mit einem dankba¬ ren Lächeln erwiedert wurde.

Als der Tanz begann, zog Fritz Nettenmair den Bruder in eine Nebenſtube. Du mußt tanzen, ſagte er. Von meiner Frau würdeſt du einen Korb holen und das wär 'mir unangenehm. Ich will dir eine zuführen, die firm iſt und dich im Takt erhalten kann. Nur herzhaft, Junge, wenn's auch nicht gleich geh'n will. Fritz Nettenmair hatte in der Aufregung der Eitelkeit ſechs Jahre vergeſſen. Der Bruder war ihm noch der alte Träumer, den er zuweilen zu ſeinem Vergnügen zu tanzen zwang. Als er ihm, auf deſſen Weigerung er nicht geachtet, das Mädchen zuführte, ergab ſich dieſer, um nicht unhöflich zu erſcheinen.

Herr Fritz Nettenmair war der gutmüthigſte Menſch von der Welt, ſo lang er ſich den alleinigen Gegen¬ ſtand der allgemeinen Bewunderung wußte. In ſolcher Stimmung konnte er für diejenigen, die ſein Glanz55 in den Schatten ſtellte, Thaten der Aufopferung thun. So auch jetzt. Wie er unter den bedeutenden Leuten ſaß, die er mit Champagner traktirte, und in den Augen ſeiner Frau die Befriedigung las, mit der ſie ihn mit Ehren überhäuft ſah, kam die Empfindung über ihn, als habe er dem Bruder ein großes Unrecht verziehn und er ſei ein außerordentlich edler Menſch, der all' die Ehrenbezeugungen verdiene und in wunderbarer Anſpruchsloſigkeit ſich dennoch herablaſſe, ſich durch ſie rühren zu laſſen. Eben tanzte Apollonius vorüber. Er ſah, der war der alte Träumer nicht mehr, aber er vergab ihm auch das. Alle Augen waren auf den ſchönen Tänzer und ſeinen gewandten Anſtand gerich¬ tet. Er zog ſeine Frau auf und in der Gewißheit, wie ſehr er den Bruder überglänzen müſſe, hatte er noch die Wolluſt, dem Bruder, wer weiß wie viel Un¬ recht, das ihm dieſer nie zugefügt, zu verzeihn.

Aber der Undankbare! Er ließ ſich nicht überglänzen. Fritz Nettenmair tanzte jovial und wie einer, der die Welt kennt und mit der Art umzugehn weiß, die lange Haare hat und Schürzen trägt; der Bruder war ein ſteifes Bild dagegen. Der nickte den Takt nicht mit dem Kopfe, der warf nicht, trat der linke Fuß im Niedertakte auf, den Oberleib auf die rechte Seite und umgekehrt; der fuhr nicht mit kühner Genialität hin und wieder queer über den Tanzſaal und ſtach andere Paare aus; der tanzte durchaus weder jovial, noch56 wie einer, der die Welt kennt und mit der Art umzu¬ gehn weiß, die lange Haare und Schürzen trägt; und dennoch blieben alle Blicke auf ihm haften; und Fritz Nettenmair übertraf vergeblich ſich ſelbſt.

Es war der ledernſte Ball, den Fritz Nettenmair mitgemacht; er konnte nicht lederner ſein, war Fritz Nettenmair daheim geblieben. Fritz Nettenmair ver¬ ſicherte es mit hohen Schwüren, und die bedeutenden Leute, die ſeinen Champagner tranken, ſtimmten, wie[immer], unbedingt in ſeine Meinung ein.

Einige bedeutende Frauen ſprachen gegen Frau Nettenmair ihre gerechte freundſchaftliche Entrüſtung über den Schwager aus. Daß dieſer nicht die Schwä¬ gerin zuerſt zum Tanze aufgezogen, bewies eine un¬ verzeihliche Mißachtung derſelben. Die Frau Netten¬ mair, die das allgemeine Unrecht an ihrem jovialen Gatten ſo tief fühlte, als wär 'es ihr ſelber angethan, ſagte, der Schwager habe wohl gewußt, daß er ſich nur einen Korb bei ihr geholt hätte. Aber dieſer wurde nur immer mehr bewundert und geehrt und der Ball demzufolge nur immer noch lederner. So ledern, daß Fritz Nettenmair mit ſeiner Frau zu einer Stunde auf¬ brach, wo er ſonſt erſt recht jovial zu werden anfing. Dennoch ſammelte er feurige Kohlen auf des undank¬ baren Bruders Haupt. Er bat in deſſen Namen das Mädchen, dem Bruder zu erlauben, daß er ſie heimbe¬ gleiten dürfe. Dann ging er aus dem Nebenſtübchen57 wieder in den Saal zu ſeiner Frau und verließ mit dieſer unter der ungeheucheltſten Verzweiflung der be¬ deutenden Leute, die noch Durſt nach Champagner hatten, das Haus.

Apollonius fand, als er des aufgenöthigten Ritter¬ dienſtes gegen ſeine Dame ſich entledigt, die Thür des Vaterhauſes offen und alle ſeine Bewohner ſchon im Schlafe. Wenigſtens zeigte ſich nirgends ein Licht und Alles war ſtill. Der Bruder hatte ihm das Kämmer¬ chen links an der Emporlaube zur Wohnung angewie¬ ſen. Zu Apollonius Glück hatten die ſechs Jahre das Haus nicht verändert, wie ſeine Bewohner. Er ging leiſe durch die Hinterthür, an dem freundlich knurren¬ den Moldau vorbei, dem er voll Dankbarkeit für das Zeichen ſeiner Beſtändigkeit den rauhen Hals ſtreichelte, ſtieg die Treppe herauf, ſchritt die Emporlaube entlang und fand ein Bett in ſeinem Stübchen. Aber er ſaß noch lang, eh 'er ſich entkleidete, auf dem Stuhl am Fenſter und verglich, was er gefunden, mit dem, was er verlaſſen.

Die Gedanken und Bilder des Vergleichs ſpielten noch in ſeine Träume hinein. Der Vater ſtand wieder vor ihm und kündigte ihm an, er müſſe noch morgen nach Köln und inmitten der Rede brach die rüſtige Geſtalt zuſammen und tappte hülflos mit zitternden Händen an der Erde herum und ſchämte ſich ihrer Blindheit. Der Bruder ſaß dabei und trank Cham¬58 pagner. Die Schwägerin kam aus dem Hauſe, das liebliche, offene Geſicht voll Zutraulichkeit und Aufrich¬ tigkeit von ſonſt; die Blume, die ſie vor Apollonius hinlegen wollte, fiel aus ihrer Hand, als ſie den Bru¬ der erblickte und der ihm neue, fremde Zug von Leer¬ heit, gedankenloſer, eitler Vergnügungsſucht, von grol¬ lender Bitterkeit gegen Appollonius legte ſich über ſie wie ein ſchmutziges Spinnengewebe. Er wollte arbei¬ tend ſich vergeſſen, aber der Bruder rüttelte an dem Fahrſtuhl, daß er faſt hinunterſtürzte aus der Schwin¬ delhöhe auf's Pflaſter und ſagte: ein Beſuch für vier¬ zehn Tage dürfe nicht arbeiten. Er wolle ja ohnehin wieder heim. Und ſonderbar war's, daß ihm jetzt Köln als ſeine Heimath erſchien und ſeine Vaterſtadt ſo fremd, daß er ſich die bitterſten Vorwürfe machte in ſeiner Gewiſſenhaftigkeit. Dann fand er ſich wieder auf dem Fahrſtuhl hoch am Thurmdach. Da war Alles anders, als es ſein ſollte, die Schiefer in verkehrter Richtung gedeckt, und nun ſtack er in die Ausfahrthür eingeklemmt, ringsum in ſtaubige Spinnengewebe ein¬ gewickelt; er hatte ſeine Feſttagskleider an; ſie waren voll Schmutz; er wiſchte und bürſtete, daß er ſchwitzte, und ſie wurden nicht rein. Und ſo oft er von der vergeblichen Bemühung aufwachte, wiederholt 'er ſich laut den Entſchluß, den er vor dem Niederlegen gefaßt. Am nächſten Morgen mußte er wiſſen, was er hier ſollte, mußte ſein Verhältniß zum Vaterhauſe ein klares59 ſein. War keine Arbeit für ihn, ſo ſah ihn der Mor¬ gen noch auf ſeinem Rückwege nach Köln.

Mit der Sonne war er auf. Aber er mußte lange warten, bis es dem Bruder gefiel, ſich von ſeinem La¬ ger zu erheben. Er benutzte die Zeit zu einem Gange nach Sankt Georg; er wollte ſich ſelbſt überzeugen, was dort zu thun ſei. Als er wieder zurück kam, traf er auf ſeinen Bruder und einen Herrn mit ihm, die eben im Begriffe waren, die Wohnſtube zu verlaſſen. Den Herrn kannte Apollonius noch von früher her als den Deputirten des Stadtraths für das Baufach. Sie begrüßten ſich. Sie hatten ſchon geſtern auf dem Balle ſich geſprochen, wo der Herr ſich eben nicht als ein bedeutender Menſch und Bürger ausgewieſen, viel¬ mehr zu den Philiſtern, Alltagskerlen und Unbedeuten¬ den gehalten hatte. Es ſchien ihm nicht unlieb, Apol¬ lonius eben jetzt zu begegnen. Nach einigen herge¬ brachten Wechſelreden kam er auf den Zweck ſeines Hierſeins. Es ſollte dieſen Morgen noch eine letzte Berathung von Sachverſtändigen ſtattfinden über das, was an Kirchen - und Thurmdach zu thun ſei, damit das Reſultat derſelben noch bei der am Nachmittag ſtattfindenden Rathsſitzung vorgetragen und Beſchluß gefaßt werden könne. Fritz Nettenmair und der Raths¬ bauherr waren eben auf dem Wege nach Sankt Georg, wo ſie die übrigen Sachverſtändigen bereits verſammelt wußten.

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Der Bruder wollte ſeinen Beſuch, wie er ſagte, nicht mit der Theilnahme an fremden Geſchäften be¬ ſchweren: ebenſowenig mochte er ihn aber das ſagte er nicht allein daheim laſſen. Er beſtellte Apollo¬ nius nach dem Waldhauſe, von wo er ihn zu einem Spa¬ ziergange abholen würde. Apollonius verſicherte ganz unbefangen, daß er lieber der Verhandlung beiwohnen möchte, und als der Rathsbauherr ihn ſogar als einen Sachverſtändigen mehr zum Mitgeh'n aufforderte, war kein Vorwand zu finden, es zu verhindern. Vielleicht hatte Fritz Nettenmair eine Ahnung davon, bald werde er dem Ankömmling noch weit mehr zu verzeihen haben.

Sie fanden die übrige Verſammlung, zwei fremde Schieferdeckermeiſter und die ſtädtiſchen Rathsbauleute, den Raths-Zimmermann, Maurer und Klempner an der Thurmthüre ihrer harrend. Man hatte bereits einige fliegende Rüſtungen zum Behufe der Unterſu¬ chung an dem Dache angebracht; auf dem Kirchenbo¬ den, der größten davon zunächſt, ging die Berathung vor ſich. Apollonius ſtand beſcheiden einige Schritte entfernt, um zu hören und, wenn er gefragt würde, auch zu reden. Er hatte das Dach vorhin genau unterſucht und ſich eine Meinung von der Sache ge¬ bildet.

Die beiden fremden Schieferdecker ſprachen ſich für die Nothwendigkeit einer umfaſſenderen Reparatur aus. Fritz Nettenmair dagegen war überzeugt, mit einigen61 kleinen Flickereien, die er angab, ſei wiederum für Jahre geholfen. Ihm ſtimmten die Rathsmeiſter, Zim¬ mermann, Maurer und Blechſchmied eifrig bei; lauter joviale und bedeutende Männer vom geſtrigen Balle, die gewiſſenhaft ſchloſſen, weſſen Champagner man trinke, deſſen Meinung müſſe man ſein. Die fremden Schieferdecker wußten recht gut, der Rath fürchtete die Koſten einer umfaſſenderen Reparatur und verſchob die höchſt nothwendige ſchon lange von Jahr zu Jahr. Da ſie obendrein ſelbſt keine Ausſicht hatten, ſich die Reparatur übertragen zu ſeh'n, ſo gaben ſie ſich nicht unnütze Mühe, Herrn Fritz Nettenmair Arbeit und Gewinn aufdringen zu helfen, woran ihm ſelber nichts gelegen ſchien. Sie fanden daher im Laufe der Debatte immer mehr, daß, je nachdem man die Sache anſehe, auch Herr Fritz Nettenmair recht habe. Vielleicht be¬ griff der Rathsbauherr, ein braver Mann, ihre, wie der bedeutenden Leute Beweggründe. Er hatte mit unbefriedigtem Geſicht eine Weile geſchwiegen, als ihm Apollonius einfiel. In deſſen Zügen ſah er ein Etwas ausgedrückt, das ſeiner eigenen Meinung zu entſprechen ſchien. Und was ſagen Sie? wandte er ſich zu ihm.

Apollonius trat beſcheiden einen Schritt näher. Ich wünſchte, Sie ſähen ſich die Sache ſo genau als möglich an, ſagte der Rathsherr. Apollonius entgeg¬ nete, er habe das bereits gethan. Ich brauche Sie nicht darauf aufmerkſam zu machen, fuhr der Raths¬62 herr fort, wie wichtig die Sache iſt. Apollonius verbeugte ſich. Der Bauherr hielt zurück, was er noch ſagen wollte. Aus des jungen Mannes Angeſicht ſprach bei aller Weichheit und Milde ſo ſtrenge Ge¬ wiſſenhaftigkeit und eigenſinnige Redlichkeit, daß der Rathsherr ſich der Ermahnung faſt ſchämte, die er an ihn hatte richten wollen. Apollonius begann nun mit den Ergebniſſen ſeiner vorhinigen Unterſuchung. Er ſtellte den Zuſtand der Stellen dar, die er hatte prüfen können und was ſich daraus auf die übrigen ſchließen ließ. Seit achtzig Jahren hatte, das war aus den Kirchenrechnungen bekannt, das Kirchendach keine um¬ faſſendere Reparatur erfahren. Wenn auch die Schie¬ ferdecke bei gutem Material noch weit länger den Ele¬ menten trotzt, iſt das doch nicht mit den Nägeln der Fall, mit denen die Schieferplatten auf Belattung und Verſchalung aufgenagelt ſind. Und wo er geprüft, hatte er die Nägel zum Theile völlig zerſtört, zum Theil der völligen Zerſtörung nah gefunden. Das Kirchendach war ein ſehr ſteiles Pultdach; da die Nä¬ gel ihre Schuldigkeit nicht mehr thaten, hatten ſich viele Platten verſchoben und der Näſſe das Eindringen ge¬ ſtattet; dort zeigte ſich, ſelbſt wo ſie von Eichenholz war, die Belattung und Verſchalung gänzlich morſch; und ſolcher Stellen waren überall.

Es zeigte ſich unumgänglich nothwendig, die ganze Bedachung umzudecken und die Belattung und Verſcha¬63 lung der morſchen Stellen durch neue zu erſetzen. Ein Winter noch mußte den Zuſtand um weit mehr ver¬ ſchlimmern, als durch Verzögerung der Reparatur an Zinſen erſpart wurde; denn dieſe konnte man ohne größten Schaden doch nur höchſtens bis auf das nächſte Jahr hinausſchieben. Er führte die Verſammelten an Stel¬ len, die zum Belege dienen konnten. Er zog nicht ſelbſt den Schluß, ſondern wußte mit der Kunſt, die er vom Vetter gelernt, die Gegner zu zwingen, das für ihn zu thun. Das Vertrauen und die Achtung des Raths¬ bauherrn vor unſerm Apollonius wuchs zuſehends. Er wandte ſich im weiteren Geſpräche faſt nur an ihn und ſchüttelte ihm herzlich die Hand, als er die Verſammlung verließ. Er hoffte, Apollonius werde bei dem Werke, wenn es wie er nun nicht mehr zweifelte, die Geneh¬ migung des Raths erhielt, ſich thätig betheiligen, und trug ihm auf, ein Gutachten abzufaſſen, auf welche Weiſe es am zweckmäßigſten anzugreifen ſei. Apollo¬ nius dankte beſcheiden für das Vertrauen, dem er wür¬ dig zu entſprechen ſuchen wolle. Ueber ſeine Mitthätig¬ keit bei der Arbeit ſelbſt, entgegnete er, habe ſein Vater als Meiſter zu entſcheiden. Ich gehe gleich mit Ihnen, ſagte der Rathsbauherr, und ſpreche mit ihm.

Hatte gleich der Bruder das Geſchäft bis jetzt ge¬ leitet und wurde er auch von den bedeutenden Leuten als Meiſter anerkannt und behandelt, er war es noch nicht. Der Alte hatte ihn ſo wenig Meiſter werden64 laſſen, als ihm das Geſchäft förmlich übergeben; er wollte ſich, wo er es nöthig fände, ein ſouveraines Ein¬ ſchreiten frei halten.

Der alte Herr hörte die Kommenden ſchon von Weitem und taſtete ſich nach der Bank in ſeiner Laube. Da ſaß er, als ſie eintraten. Nach geſchehener Be¬ grüßung fragte der Bauherr nach Herrn Nettenmair's Befinden. Ich danke Ihnen, entgegnete der alte Herr; ich leide etwas an den Augen, aber es hat nichts zu ſagen. Er lächelte dazu und der Bauherr wechſelte mit Apollonius einen Blick, der dem Manne Apol¬ lonius ganze Seele gewann. Dann erzählte er dem alten Herrn die ganze Berathung und machte, daß Apollonius in ſeiner Beſcheidenheit erröthete, und lange nicht ſeine gewöhnliche Farbe wiederfand. Der alte Herr rückte ſeinen Schirm tiefer in's Geſicht, um Nie¬ mand die Gedanken ſehen zu laſſen, die da wunderlich mit einander kämpften. Wer unter den Schirm ſehen konnte, hätte gemeint, zuerſt, der alte Herr freut ſich; der Schatten von Argwohn, mit dem er geſtern Apol¬ lonius empfing, ſchwindet. So braucht er doch nicht zu fürchten, der wird mit dem Bruder gemeine Sache gegen ihn machen! Ja, es erſchien ein Etwas auf dem Antlitz, das ſich zu ſchadenfreuen ſchien über die Demüthigung des älteren. Vielleicht wär 'er nach ſei¬ ner Weiſe eingeſchritten mit einem lakoniſchen: du ver¬ ſiehſt meine Stelle von nun, Apollonius, hörſt du?65 hätte nicht der Bauherr deſſen Lob geprieſen und wäre das nicht ſo verdient geweſen. Ja, ſagte er in ſeiner diplomatiſchen Art, ſeine Gedanken dadurch zu verber¬ gen, daß er ſie nur halb ausſprach; ja, die Jugend! er iſt jung. Und doch ſchon ſo tüchtig! ergänzte der Bauherr. Der alte Herr neigte ſeinen Kopf. Wer ein Intereſſe darin fand, wie der Bauherr, konnte glauben, er nickte dazu. Aber er meinte: die Jugend gilt heut zu Tag in der Welt! Ja, er fühlte Stolz, daß ſein Sohn ſo tüchtig, Scham, daß er ſelber blind, Freude, daß Fritz nun nicht mehr konnte, wie er wollte, daß die Ehre des Hauſes einen Wächter mehr gewon¬ nen, Furcht, die Tüchtigkeit, der er ſich freute, mache ihn ſelbſt überflüſſig. Und er konnte nichts dagegen thun; er konnte nichts mehr, er war nichts mehr. Und als hätte Apollonius das ausgeſprochen, erhob er ſich ſtraff, wie um zu zeigen, jener triumphire zu früh. Der Bauherr bat, der alte Herr möge den Sohn für die Dauer der Reparatur hier behalten und dabei thä¬ tig ſein laſſen. Der alte Herr ſchwieg eine Weile, als warte er darauf, Apollonius ſolle ſich des Dableibens weigern. Dann ſchien er anzunehmen, Apollonius weigere ſich, denn er befahl in ſeiner grimmigen Kürze: Du bleibſt; hörſt du?

Apollonius begab ſich auf ſein Stübchen, ſeine Sachen auszupacken. Er war noch darüber, als die Nachricht kam, der Stadrath habe die Reparatur ge¬Ludwig, Zwiſchen Himmel und Erde. 566nehmigt. So war es beſtimmt: er blieb. Er durfte für die geliebte Heimath ſchaffen und anwenden, was er in der Fremde gelernt. Wer den ganzen Apollonius Nettenmair mit einem Blicke überſchauen wollte, mußte jetzt in ſein Stübchen hereinſeh'n. Das Hauptziel aller ſeiner Wünſche war erreicht. Er war voll Freude. Aber er ſprang nicht auf, rannte nicht in der Stube umher, er ließ nichts fallen, er verlegte nichts, er ſuchte nicht im Koffer oder auf dem Stuhle, was er in den Händen hielt. Die Freude verwirrte ihn nicht, ſie machte ihn klarer, ja, ſie machte ihn eigenſinniger. Er überſah darum kein Federchen, nicht ein Stäubchen auf den Kleidern, die er auspackte; er ſtrich nicht ein¬ mal weniger, als er gewohnt war, darüber hin; nur an der Art, wie er das that, ſah man, was in ihm vorging. Es war zugleich ein Liebkoſen der Dinge. Die Freude über ein neugewonnenes Gut verdunkelte ihm keinen Augenblick lang, was er ſchon beſaß. Alles war ihm noch einmal geſchenkt, und das Verhältniß zu jedem ſeiner Beſitzſtücke zeigte das Gepräge einer liebenden und doch rückſichtsvollen Achtung. Wenn er an das Lob des Bauherrn dachte, war ſeine Freude darüber im einſamen Stübchen mit demſelben beſcheiden abweiſenden Erröthen gepaart, womit er es in Ge¬ genwart von Andern aufgenommen. Für ihn gab es kein Allein und kein vor den Leuten.

67

Als er ſich eingerichtet ſah, ging er ſogleich an das verlangte Gutachten. Die Reparatur war auf ſeinen Rath beſchloſſen worden. Er empfand, er war nicht allein als ſeines Vaters Geſelle, als bloßer Arbeiter dabei betheiligt; er fühlte, er hatte noch eine beſondere moraliſche Verpflichtung gegen ſeine Vaterſtadt einge¬ gangen; er mußte thun, was in ſeinen Kräften ſtand, ihr zu genügen. Er wußte nicht, daß kein Bewußt¬ ſein einer ſolchen dazu nöthig war; er hätte ohnedies gethan, was er vermocht; er kannte ſich zu wenig, um das zu wiſſen.

In dieſer erhöhten Stimmung erſchien ihm leicht, was ſein Dableiben von Seiten des Bruders und der Schwägerin unbehaglich zu machen drohte, zu beſeiti¬ gen. Der Bruder wünſchte ſein Geh'n ja nur um des Widerwillens der Schwägerin willen, und der war durch Ausdauer redlichen Mühens zu beſiegen. Sei¬ nen Bruder hatte er nie beleidigt; er wollte ſich ihm im Geſchäfte willig unterordnen. Er dachte nicht, daß man beleidigen kann, ohne zu wiſſen und zu wollen, ja, daß die Pflicht gebieten könne, zu beleidigen. Er dachte nicht, daß ſein Bruder ihn beleidigt haben könnte. Er wußte nicht, man könne auch den haſſen, den man beleidigt, nicht bloß den Beleidiger.

Unten am Schuppen ſtand der ungemüthliche Ge¬ ſelle grinſend vor Fritz Nettenmair. Er ſagte: mit dem erſten Blick hab 'ich einen weg. Ja, der Herr Apol¬5 *68lonius! Aber's hat nichts zu ſagen. Wird nicht lang dauern das! Fritz Nettenmair kaute an den Nägeln und überſah die Geberde, die ihn reizen ſollte, zu fra¬ gen, wie der Geſell das meine mit dem nicht lang Dauern. Er ging nach der Wohnſtube und fuhr im Gehen leiſe gegen einen Jemand auf, der nicht da war: Rechtſchaffenheit? Geſchäftskenntniß, wie der Alltagsrathsbaukerl ſagt? Ich weiß, warum du dich aufdringſt und einniſteſt, du Federchenſucher! du Staub¬ wiſcher! Thu 'unſchuldig, wie du willſt, ich er machte die Geberde, die hieß: ich bin einer, der das Leben kennt und die Art, die lange Haare und Schür¬ zen trägt! Damit wandte er ſich nach der Thür, aber die Wendung war nicht jovial wie ſonſt. Wie Mancher meint die Welt zu kennen und kennt nur ſich!

Der Geiſt des Hauſes mit den grünen Fenſterladen wußte mehr, als Apollonius Nettenmair, wußte mehr, als Alle. Er ſchaute Nachts durch das Fenſter, wo Apollonius bei der Lampe noch immer an ſeinem Gut¬ achten ſchrieb. Auf das Papier vor dem jungen Manne fiel ſein bleicher Schatten und der Schreibende athmete ſchwer auf, er wußte nicht, warum. Dann ſchritt er mit ängſtlicher Geberde den Gang zum Schuppen hin, und der alte Hund an ſeiner Kette heulte im Schlafe und wußte nicht warum. Die junge Frau ſah ſeine Hand über des Gatten Stirne fahren; ſie erſchrack, er erſchrack mit und wußte nicht warum. Dem alten69 Herrn träumte, man trüge einen Todten mit Schande in das Haus und das alte Haus knackte in allen ſei¬ nen Balken und wußte nicht warum. Und der Geiſt wandelte noch lang, als Alles ſchon zu Bette war, durch ſeine Zimmer, herauf und herab, her und hin, auf der Emporlaube, im Gärtchen, im Schuppen und im Gang und rang die bleichen Hände; er wußte, warum.

Zwiſchen Himmel und Erde iſt des Schieferdeckers Reich. Tief unten das lärmende Gewühl der Wande¬ rer der Erde, hoch oben die Wanderer des Himmels, die ſtillen Wolken in ihrem großen Gang. Monden, Jahre, Jahrzehnte lang hat es keine Bewohner, als der krächzenden Dohlen unruhig flatternd Volk. Aber eines Tages öffnet ſich in der Mitte der Thurmdach¬ höhe die enge Ausfahrthür; unſichtbare Hände ſchieben zwei Rüſtſtangen heraus. Dem Zuſchauer von unten gemahnt's, ſie wollen eine Brücke von Strohhalmen in den Himmel bau'n. Die Dohlen haben ſich auf Thurm¬ knopf und Wetterfahne geflüchtet und ſeh'n herab und ſträuben ihr Gefieder vor Angſt. Die Rüſtſtangen ſtehen wenige Fuß heraus und die unſichtbaren Hände laſſen vom Schieben ab. Dafür beginnt ein Hämmern im Herzen des Dachſtuhls. Die ſchlafenden Eulen ſchrecken aus und taumeln aus ihren Lucken zackig in70 das offene Aug 'des Tages hinein. Die Dohlen hören's mit Entſetzen; das Menſchenkind unten auf der feſten Erde vernimmt es nicht, die Wolken oben am Himmel ziehen gleichmüthig darüber hin. Lang währt das Pochen, dann verſtummt's. Und den Rüſt¬ ſtangen nach und quer auf ihnen liegend ſchieben ſich zwei, drei kurze Bretter. Hinter ihnen erſcheint ein Menſchenhaupt und ein Paar rüſtige Arme. Eine Hand hält den Nagel, die andere trifft ihn mit ge¬ ſchwungenem Hammer, bis die Bretter feſt aufgenagelt ſind und die fliegende Rüſtung fertig. So nennt ſie ihr Baumeiſter, dem ſie eine Brücke zum Himmel wer¬ den kann, ohne daß er es begehrt. Auf die Rüſtung baut ſich nun die Leiter und, iſt das Thurmdach ſehr hoch, Leiter auf Leiter. Nichts hält ſie zuſammen, als der eiſerne Längehacken, nichts hält ſie feſt, als auf der Rüſtung vier Männerhände und oben die Helmſtange, an der ſie lehnt. Iſt ſie einmal über der Ausfahrthür und an der Helmſtange mit ſtarken Tauen angebunden, dann ſieht der kühne Schieferdecker keine Gefahr mehr in ihrem Beſteigen, ſo weh dem ſchwindelnden Men¬ ſchenkinde tief unten auf der ſichern Erde wird, wenn es heraufſchaut und meint, die Leiter ſei aus leichten Spänen zuſammengeleimt wie ein Weihnachtsſpielwerk für Kinder. Aber eh' er die Leiter angebunden hat und um das zu thun, muß er erſt einmal hinauf¬ geſtiegen ſein, mag er ſeine arme Seele Gott befeh¬71 len. Dann iſt er erſt recht zwiſchen Himmel und Erde. Er weiß, die leichteſte Verſchiebung der Leiter und ein einziger falſcher Tritt kann ſie verſchieben ſtürzt ihn rettungslos hinab in den ſichern Tod. Haltet den Schlag der Glocken unter ihm zurück, er kann ihn erſchrecken! Die Zuſchauer unten tief auf der Erde falten athemlos unwillkührlich die Hände, die Dohlen, die er von ihrem letzten Zufluchtsorte verſcheucht, kräch¬ zen wildflatternd um ſein Haupt; nur die Wolken am Himmel gehen unberührt ihren Pfad über ihn hin. Nur die Wolken? Nein. Der kühne Mann auf der Leiter geht ſo unberührt, wie ſie. Er iſt kein eitler Wagling, der frevelnd von ſich reden machen will; er geht ſeinen gefährlichen Pfad in ſeinem Berufe. Er weiß, die Leiter iſt feſt; er ſelbſt hat das fliegende Ge¬ rüſt gebaut, er weiß, es iſt feſt; er weiß, ſein Herz iſt ſtark und ſein Tritt iſt ſicher. Er ſieht nicht hinab, wo die Erde mit grünen Armen lockt, er ſieht nicht hinauf, wo vom Zug der Wolken am Himmel der tödtliche Schwindel herabtaumeln kann auf ſein feſtes Aug '. Die Mitte der Sproſſen iſt die Bahn ſeines Blicks und oben ſteht er. Es gibt keinen Himmel und keine Erde für ihn, als die Helmſtange und die Leiter, die er mit ſeinem Tau zuſammenknüpft. Und der Knoten iſt geſchlungen; die Zuſchauer athmen auf und rühmen auf allen Straßen den kühnen Mann und ſein Thun hoch oben zwiſchen Himmel und Erde. Schie¬72 ferdecker ſpielen die Kinder der Stadt eine ganze Woche lang.

Aber der kühne Mann beginnt nun erſt ſein Werk. Er holt ein anderes Tau herauf und legt es als dreh¬ baren Ring unter dem Thurmknopf um die Stange. Daran befeſtigt er den Flaſchenzug mit drei Kloben, an den Flaſchenzug die Ringe ſeines Fahrzeugs. Ein Sitzbrett mit zwei Ausſchnitten für die herabhängenden Beine, hinten eine niedrige, gekrümmte Lehne, hüben und drüben Schiefer -, Nagel - und Werkzeugkaſten; zwiſchen den Ausſchnitten vorn das Haueiſen, ein klei¬ ner Ambos, auf dem er mit dem Deckhammer die Schie¬ fer zurichtet, wie er ſie eben braucht; dies Geräth, von vier ſtarken Tauen gehalten, die ſich oberhalb in zwei Ringe für den Hacken des Flaſchenzugs vereini¬ gen, das iſt der Hängeſtuhl, wie er es nennt, das leichte Schiff, mit dem er hoch in der Luft das Thurm¬ dach umſegelt. Mittelſt des Flaſchenzugs zieht er ſich mit leichter Mühe hinauf und läßt ſich herab, ſo hoch und tief er mag; der Ring oben dreht ſich mit Flaſchen¬ zug und Hängeſtuhl, nach welcher Seite er will, um den Thurm. Ein leichter Fußſtoß gegen die Dachfläche ſetzt das Ganze in Schwung, den er einhalten kann, wo es ihm gefällt. Und bald bleibt kein Menſchenkind mehr unten ſteh'n und ſieht herauf; der Schieferdecker und ſein Fahrzeug ſind nichts Neues mehr. Die Kinder greifen wieder zu ihren alten Spielen. Die Dohlen73 gewöhnen ſich an ihn; ſie ſehen ihn für einen Vogel an, wie ſie ſind, nur größer, aber friedlich, wie ſie; und die Wolken hoch am Himmel haben ſich nie um ihn gekümmert. Die Damen neideten ihm die Aus¬ ſicht. Wer konnte ſo frei über die grüne Ebene hin¬ ſeh'n und wie Berge hinter Bergen hervorwachſen, erſt grün, dann immer blauer, bis wo der Himmel, noch blauer, ſich auf die letzten ſtützt! Aber er kümmert ſich ſo wenig um die Berge, wie die Wolken ſich um ihn. Tag für Tag handthiert er mit Flickeiſen und Klaue, Tag für Tag hämmert er Schiefer zurecht und Nägel ein, bis er fertig iſt mit Hämmern und Nageln. Und eines Tages ſind Mann, Fahrzeug, Leiter und Rüſtung verſchwunden. Das Entfernen der Leiter iſt ſo gefähr¬ lich, als ihre Befeſtigung, aber es faltet Niemand unten die Hände, kein Mund rühmt des Mannes That zwiſchen Himmel und Erde. Die Krähen wun¬ dern ſich eine ganze Woche lang, dann iſt's, als hät¬ ten ſie vor Jahren von einem ſeltſamen Vogel geträumt. Tief unten lärmt noch das Gewühl der Wanderer der Erde, hoch oben geh'n noch die Wanderer des Him¬ mels, die ſtillen Wolken, ihren großen Gang, aber Niemand mehr umfliegt das ſteile Dach, als der Doh¬ len krächzender Schwarm.

Apollonius hatte zum Behufe ſeines Gutachtens noch manche Unterſuchungen angeſtellt. Das Thurm¬ dach war mit Metall gedeckt; dieſe Decke lag ſchon74 nah an zweihundert Jahre. Als er ſie auf ſeinem Fahrzeuge umfuhr, fand er die Metallplatten der völ¬ ligen Auflöſung nah. Das hatte man gefürchtet. Blei¬ deckung auf hohen Gebäuden kommt ungleich theurer, als Deckung mit Schiefer, wenn man dieſen in der Nähe hat. Den Schieferbedarf nimmt der Decker in ſeinem Fahrzeuge mit hinauf, das kann er mit den ungleich ſchwereren Bleiplatten nicht. Die ganze De¬ ckung mit Schiefer beſorgt der Arbeiter von ſeinem Fahrzeuge aus; Bleideckung macht feſte Gerüſte nöthig. Apollonius that den Vorſchlag, auch das Thurmdach mit Schiefer einzudecken. Der Blechſchmied, ein Be¬ deutender, wandte zwar ein, die Alten hätten die Sache ſo gut verſtanden, als die Leute in Köln, das ſollte ein Stich auf Apollonius ſein. Und der Bruder war damit einverſtanden: hätten die Alten gemeint, Schiefer thu 'es ſo gut als Blei, ſie hätten gleich Schiefer genommen. Damals waren eben noch keine Schiefer¬ gruben in nächſter Nähe vorhanden; der Schiefer hätte weit her geholt und daher die Schieferdeckung theurer kommen müſſen, als die mit Blei. Das Kirchendach war damals mit Ziegeln und erſt ſpäter, da die Schie¬ fergruben in der Nähe ſchon im Gang, mit Schiefer gedeckt worden. Das wußten der Blechſchmied und Fritz Nettenmair nicht oder wollten es nicht wiſſen. Den Letztern drückte das wachſende Anſeh'n des Bru¬75 ders. Aber Apollonius wußte es und konnte damit den Einwurf entkräften.

Sein Vorſchlag war angenommen worden. Man wollte die ganze Leitung der Reparatur in Apollonius 'Hände legen. Um ſeinen Bruder nicht zu kränken, bat er, davon abzuſeh'n. So wenig wollte er den Bruder kränken, daß er nicht einmal ausſprach, warum er ſo bitte. Er war von Köln her gewohnt, ſelbſtſtän¬ dig zu handeln; wie er ſeinen Bruder wiedergefunden hatte, ſah er manche Hemmung durch ihn voraus. Er lud ſich eine ſchwere Laſt auf, er wußte es, als er dem Bauherrn verſprach, die Sache ſolle unter dem zwei¬ köpfigen Regiment nicht leiden. Der wackere Bauherr, der Apollonius errieth und ihn darum nur mehr achtete, ſchaffte ihm die Genehmigung des Raths und nahm ſich im Stillen vor, wo es nöthig ſein ſollte, ſeinen Liebling und deſſen Anordnungen gegen den Bruder zu vertreten.

Es war eine ſchwere Aufgabe, die Apollonius ſich geſezt; ſie war noch viel ſchwerer, als er wußte. Sein Hierſein hatte den Bruder von Anfang nicht gefreut; Apollonius ſchob das auf den Einfluß der Schwägerin; er war ihm ſeitdem noch fremder geworden kein Wunder! Apollonius hatte ja bereits des Bruders Eitelkeit und Ehrſucht kennen gelernt; dieſer fühlte ſich durch das, was ſeither geſchehen, gegen Apollonius zurückgeſetzt. Den Widerwillen der Schwägerin meinte76 Apollonius durch Zeit und redliches Müh'n, die ge¬ kränkte Ehrſucht des Bruders durch äußere Unterord¬ nung zu verſöhnen. War kein weiteres Hinderniß vorhanden, durfte er hoffen, die Aufgabe, ſo ſchwer ſie ſchien, zu löſen. Aber was zwiſchen ihm und dem Bruder ſtand, war ein Anderes, ein ganz Anderes, als er meinte. Und daß er es nicht kannte, machte es nur gefährlicher. Es war ein Argwohn, aus dem Bewußt¬ ſein einer Schuld geboren, Was er that, die vermein¬ ten Hinderniſſe aus dem Weg zu räumen, mußte das wirkliche nur wachſen machen. Wär er nicht zurück¬ gekommen! hätt 'er dem Vater nicht gehorcht! wär' er draußen geblieben in der Fremde!

An der Thurmſpitze hängt das Fahrzeug; nun wird es auch auf dem Kirchdach lebendig. Rüſtige Hände hämmern den Seilhacken in die Verſchalung und ſchleifen mit ſtarkem Tau den Dachſtuhl daran. Er beſteht in zwei Dreiecken, aus feſten Bohlen zuſam¬ mengezimmert. Der Neigungswinkel des Daches hat das Verhältniß ſeiner Seiten beſtimmt. Denn unten liegt er ſtrohumwunden in ganzer Breite auf der Dach¬ fläche auf, während er oben die queer übergelegten Bretter wagrecht emporhält. Darauf ſteht oder kniet der hämmernde Schieferdecker; neben ihm handrecht hängt der Kaſten für Nägel und Schieferplatten, mit ſeiner Hackenſpitze in die Verſchalung eingetrieben.

77

Apollonius überließ dem Bruder die Ueberweiſung der Arbeit. Fritz Nettenmair that erſt wunderlich, indem er zu verſtehen gab, er meine, Apollonius ſei gekommen, hier den Herrn zu ſpielen und nicht den Diener. Es lag in der argwöhniſchen Richtung, die ſein Denken einmal angenommen, Allem, was der Bruder thun mochte, eine Abſicht, eine planmäßige Be¬ rechnung unterzulegen. Er vermuthete deshalb, Apol¬ lonius wünſche die Arbeit auf dem Kirchdach zu über¬ nehmen. Wer hier ſchaffte, konnte zu jeder Zeit ſehen, ob das Fahrzeug am Thurmdach beſetzt war oder ledig an der fliegenden Rüſtung hing. Er that arglos, er nehme an, Apollonius ſei lieber bei der Umdeckung des Thurmdaches beſchäftigt, die er ja ſelber vorgeſchlagen. Apollonius weigerte ſich nicht. Fritz meinte, obgleich es ihm unangenehm ſei, was er aber nicht merken laſſe; und hatte die Empfindung eines Menſchen, dem es gelungen, einen Widerſacher zu überliſten. Eine Em¬ pfindung, die ſich erneute, ſo oft er von ſeiner Arbeit auf dem Dachſtuhle hinaufſah nach dem Fahrzeug und der fliegenden Rüſtung am Thurm, mit der Gewißheit, der Bruder könne das Fahrzeug nicht verlaſſen und hineingeh'n, ohne daß er es ſehe und ihm zuvorkommen könne. Dann war ihm Apollonius der Träumer und er ſelbſt einer, der die Welt kannte. Im andern Augen¬ blick vielleicht ſah er wieder den Argliſtigen im Bruder und fand es wohlthuend, ſich dagegen als den Argloſen78 zu bemitleiden, dem jener Schlingen lege, um nur den Bruder haſſen zu dürfen, der ihn haſſe. Ihm fehlte das Klarheitsbedürfniß Apollonius ', das dieſem den Widerſpruch gezeigt und den erkannten zu tilgen ge¬ zwungen hätte. Vielleicht hatte er ein Gefühl von dem Widerſpruch und er unterdrückte es abſichtlich. So ſetzte ſein Schuldbewußtſein den Haß als wirklich vor¬ aus, den es verdient zu haben ſich vorwerfen mußte.

Bald merkte Apollonius, hier war nicht die Ord¬ nung, das raſche und genau berechnete Ineinander¬ greifen, an das er in Köln ſich gewöhnt, ja nur, wie es der Vater früher hier gehandhabt. Der Decker mußte viertelſtundenlang und länger auf die Schieferplat¬ ten warten; die Handlanger leierten und hatten in der Unordnung und Trägheit der Behauer und Sortirer eine gute Entſchuldigung. Der Bruder lachte halb mitlei¬ dig über Apollonius Klage. Eine ſolche Ordnung, wie der ſie verlangte, exiſtirte nirgends und war auch nicht möglich. Bei ſich verſpottete er wieder den Träu¬ mer, der ſo unpraktiſch war. Und wäre die Ordnung möglich geweſen, die Arbeit war im Tagelohn verdun¬ gen. Die verlorene Zeit wurde bezahlt, wie die ange¬ wandte. Und als Apollonius ſelbſt dazu that, den Schlendrian abzuſtellen, da war er dem Bruder wie¬ derum der Wohldiener des Bauherrn und des Rathes, er ſelber ſich der ſchlichte Mann, der ſolche Kunſtgriffe verſchmäht. Da wollte ihn jener nur vollends aus79 dem Sattel heben und hatte noch Schlimmeres im Sinn, was ihm aber nicht gelingen ſollte mit all' ſeiner Argliſt; da war Apollonius eigens darum heimgekom¬ men. Und doch meinte er, der Träumer werde ſich die Hörner ablaufen, wenn er in's Werk ſetzen wollte, was ihm ſelbſt, der die Welt kannte, nicht gelang. Ihm, der ſchärfer auf dem Zeuge war, als ſelbſt der im blauen Rock zu ſeiner Zeit geweſen. Er meinte den alten Herrn noch zu übertreffen, wenn er noch ſchriller auf dem Finger pfiff, noch grimmiger huſtete und noch entſchiedener ausſpuckte. Was an dem alten Herrn das wirklich Reſpektgebietende war, die Folge¬ richtigkeit, die auch, wo ſie in Eigenſinn ausartet, Achtung wirkt, die ruhige, in ſich gefaßte Würde einer tüchtigen Perſönlichkeit, das überſah er. Wie er es ſelbſt nicht beſaß, fehlte ihm auch der Sinn, es an Andern wahr¬ zunehmen. Stand ſeine Geſtalt überhaupt im Wider¬ ſpruch mit der Haltung des alten Herrn, die er ihr aufkünſtelte, ſo widerſprach ihr ſeine Unruhe und innere Haltloſigkeit jeden Augenblick. Die diplomatiſche Art zu reden ſchien er dem alten Herrn nur abgeborgt zu haben, um ſeine eigene Oberflächlichkeit und Gehaltlo¬ ſigkeit zu verſpotten. Aus dem ſteifen Weſen des blauen Rockes fiel er dann zu Zeiten plötzlich in ſeine eigene herablaſſende Jovialität und in eine Region der¬ ſelben, wo der Spaß den Abſtand von Vorgeſetzten und Untergebenen mit ſchmutzigen Fingern auslöſchte, als80 wär 'er nie geweſen. Rückte er ſich dann eben ſo plötzlich in der Autorität gewaltſam wieder zurecht, ſo brachte das die verlorene Achtung nicht wieder, es beleidigte nur. Zu alledem kam noch, daß er ſich von manchen ſeiner Arbeiter überſeh'n und in ſchwierigen Fällen ſie machen laſſen mußte, was ſie wollten. Apol¬ lonius dagegen hatte von Natur und aus der Schule beim Vetter, was dem Bruder fehlte; er beſaß die Würde der Perſönlichkeit, die Folgerichtigkeit bis zum Eigenſinn. Seine innere Sicherheit galt; ſie mußte ſich nicht geltend machen er war des ſichtbaren Mühens um Achtung überhoben, welches ſo ſelten ſei¬ nen Zweck erreicht, ja gemeiniglich ihn verfehlt. Und ſo gelang ihm, was er wollte. Bald war die muſter¬ hafteſte Ordnung beim Bau und Alle ſchienen ſich wohl dabei zu befinden; nur Fritz Nettenmair nicht. Das raſche Ineinandergreifen, das wie im Geleiſe einer unſichtbaren Nothwendigkeit ging, machte das Weſen im blauen Rocke, in welchem er ſich ſo groß fühlte, überflüſſig. Noch ein Grund zum Unbehagen daran war, daß die neue Ordnung von dem Bruder ausging. Von demſelben, dem er ſchon ſo viel zu verzeihen hatte und dem er immer weniger verzeihen mochte. Er wußte nicht oder wollte nicht wiſſen, welchen Zauber eine geſchloſſene Perſönlichkeit aus¬ übt, obgleich er ſelbſt widerwillig ſie anerkennen mußte, und noch weniger, daß dieſe ihm fehlte und der Bru¬81 der ſie beſaß. Er war bei ſich einig, der Bruder hatte Mittel angewandt, die zu brauchen er ſelbſt mit Ge¬ nugthuung ſich zu edel fühlte. Dadurch hatte jener die Leute ihm abſpänſtig gemacht. Apollonius wußte nichts von dem, was im Bruder vorging; der war gegen ihn, wie man gegen Argliſtige ſein muß, auf der Hut; denn ſolche Feinde kann man nur mit ihren eigenen Waffen beſiegen. Die brüderliche Freundlich¬ keit und Achtung, mit der ihn Apollonius behandelte, war eine Maske, unter der dieſer ſeine ſchlimmen Pläne ſicherer zu bergen meinte; er vergalt ihm, und machte ihn leichter unſchädlich, wenn er unter derſelben Maske ſeine Wachſamkeit barg. Die gutmüthige Willigkeit Apollonius, ſich ihm äußerlich unterzuordnen, erſchien dem Bruder wie eine Verhöhnung, an der die Arbeiter, von dem Argliſtigen gewonnen, wiſſend theilnahmen. In ſeiner Empfindlichkeit griff er ſelbſt nach den Mit¬ teln, die er bei dieſem vorausſetzte. Offen ihm entge¬ genzutreten, verhinderte ihn der Umſtand, daß Apollo¬ nius ihm ſelbſt imponirte, wenn er auch dieſen Grund nicht hätte gelten laſſen. Er legte den blauen Don¬ nerrock beiſeite und ſtieg bis auf die unterſte Sproſſe ſeiner Jovialität herab. Er begann durch Winke, dann allmälig durch Worte, ſein Mitleid mit den Ar¬ beitern zu zeigen, die unter der Tyrannei eines wohl¬ dieneriſchen Eindringlings ſeufzten, wie er ihnen bewies; da er nicht den Muth hatte, ſie zu offener Widerſetz¬Ludwig, Zwiſchen Himmel und Erde. 682lichkeit zu reizen, ſuchte er ſie zu einzelnen kleinen Aus¬ griffen zu verleiten. Er begann, ſie täglich zu traktiren. Sie aßen und tranken, blieben aber wie zuvor im Ge¬ leiſe, das Apollonius vorgezeichnet. Der gemeine Mann hat den ſcharfen Blick des Kindes für die Stärken und Schwächen ſeiner Vorgeſetzten. Durch dies Bemühn, das ſie durchſchauten, verlor er noch den letzten Reſt ſeiner Achtung; ſie lernten daraus, wenn ſie's noch nicht wußten, mit wem ſie es verder¬ ben durften, mit wem nicht. Und wären ſie ungewiß geweſen, ſo hätte ſie das ungleiche Benehmen des Bauherrn gegen die beiden Brüder beſtimmen können. Und da ſie nicht ſo fein waren, und auch nicht die Gründe dazu hatten, wie Fritz Nettenmair, gab ſich ihre Meinung unverhohlen kund. Sie nahmen ſich Dinge gegen ihn heraus, die ihm zeigten, daß der Erfolg ſeiner Herablaſſung ein ganz anderer war, als den er beabſichtigte. Nun zog er zürnend die Wolke des blauen Rockes wieder um ſich zuſammen, pfiff ſchrillen¬ der als je, ſo daß es drüben in der großen Glocke wiedertönte; ging auf doppelten Stelzen, zog die Schultern noch einmal ſo hoch am ſchwarzhaarigen Kopfe herauf; der Grimm und die Entſchiedenheit ſei¬ nes früheren Huſtens und Ausſpuckens war ein Kin¬ derſpiel gegen ſein jetziges. Aber die Arbeiter wußten bald, dergleichen geſchah nur in Apollonius Abweſen¬ heit, und deſſen zufälliges Kommen brachte, wie der83 aufgehende Vollmond, die ſchwerſten Gewitter aus der Faſſung. Fritz Nettenmair mußte an der Wiederher¬ ſtellung ſeiner verlorenen Bedeutung auf dem Schau¬ platz der Reparatur verzweifeln. Natürlich ſchrieb er auch das Ergebniß ſeiner falſchen Maßregeln auf Apollonius 'immer wachſende Rechnung. Das Gefühl, überflüſſig zu ſein, packte ihn wie den alten Herrn, brachte aber nicht ganz dieſelben Wirkungen hervor. Was dem alten Herrn das Gärtchen, das wurde nun dem ältern Sohne der Schieferſchuppen. Wenigſtens ſo lange er Apollonius auf ſeinem Fahrzeug oder auf dem Kirchendache ſah. Aber er brachte den blauen Rock nun auch mit in die Wohnſtube. Seine Kinder das war leicht, da er ſelbſt ſich nicht um ſie bekümmerte, hatte der Bruder ja auch und natürlich mit ſchlechten Mitteln gewonnen. Dieſe ſchlechten Mittel waren eben die, die er ſelbſt nie an¬ wendete: unabſichtliche Güte und weiſe Strenge der Liebe. Aber auch in ſeiner Frau ſah er immer mehr etwas, wie einen natürlichen Bundesgenoſſen des Bru¬ ders gegen ihn. Lange vorher, eh' er noch den ge¬ ringſten wirklichen Anlaß dazu hatte. Das war der Schatten, den ſeine Schuld in die Zukunft ſeiner Phantaſie warf. Ihr altes Geſetz wird ihn zwingen, durch die Verkehrtheit ſeiner Abwehrmittel den Schatten ſelber zur wirklichen, lebendigen Geſtalt zu machen und vergeltend in ſein Leben hereinzuſtellen.

6 *84

Ahnungsvolle Furcht ſchien ihm, in lichten Zwi¬ ſchenblicken vorüberflatternd, von dieſem Kommen zu ſagen, das veränderte Benehmen gegen ſeine Frau müſſe es beſchleunigen. Dann war er plötzlich dop¬ pelt freundlich und jovial gegen ſie, aber auch dieſe Jovialität trug ein Etwas von der Natur des ſchwü¬ len Bodens an ſich, aus dem ſie erwuchs. Man preiſt ein Heilmittel gegen ſolche Krankheit; es heißt Zer¬ ſtreuung, Vergeſſen ſeiner ſelbſt. Als ob man da ſich vergeſſen müſſe, wo es doppelt Vorſehn gilt, der Steuermann beim Erblicken des drohenden Riffs. Fritz Nettenmair nahm es. Von nun fehlte er bei keinem Balle, bei keinem öffentlichen Vergnügen; er empfand ſich für immer der Gefahr entflohn, war er nur eine Stunde lang fern von dem Orte, wo er ſie drohen ſah. Er war mehr außer, als in ſeinem Haus. Und nicht er allein. Seiner Frau hielt er das Heilmittel noch nöthiger, als ihm. Das rächende Schuldbewußt¬ ſein nahm, was nur als möglich in der Zukunft war, als ſchon wirklich in die Gegenwart voraus. Und ſeine Frau ſtand noch ſo ſehr auf ſeiner Seite, daß ſie dem Bruder nun zürnte, deſſen Einfluß ſie in dem ver¬ änderten Benehmen des Gatten erkannte, nur nicht in dem Sinne, in dem er es wirklich war. Sie hatte ja nur Beleidigendes von dem Bruder erwartet. Dieſe Erwartung hatte ſchon dem Kommenden nur die eine Wange zugewandt und dieſe ſo mit Roth gefärbt,85 als wäre ſie ſchon erfüllt. Wußte ſie denn nicht, er war nur gekommen, um ſie zu beleidigen?

Apollonius, auf den dies alles wie eine ſchwere Wolke drückte, wie eine unverſtandene Ahnung, begriff nur das eine: der Bruder und die Schwägerin wichen ihm aus. Er vermied die Orte, die ſie aufſuchten. Er hätte ſie ſchon vermieden aus dem innerſten Bedürf¬ niß ſeiner Natur, das auf Zuſammenfaſſen, nicht auf Zerſtreuen ging. Die Einſamkeit wurde ihm ein beſſer Heilmittel, als den Beiden die Zerſtreuung. Er ſah, wie anders die Schwägerin war, als ſie ihm vordem geſchienen. Er mußte ſich Glück wünſchen, daß ſeine ſüßeſten Hoffnungen ſich nicht erfüllt. Die Arbeit gab ihm genug Empfinden ſeiner ſelbſt; was ſie frei ließ, füllten die Kinder aus. In dem natürlichen Bedürf¬ niß ihres Alters, ſich an einem fertigen Menſchenbilde aufzuranken, das, Liebe gebend und nehmend, ihr Mu¬ ſter wird, und ihr Maaß der Perſonen und Dinge, drängten ſie ſich um den Onkel, der ihrer ſo freundlich pflegte, als fremd die Aeltern ſie vernachläſſigten. Er wußte nicht, daß er damit die Schuld wachſen machte in ſeiner Rechnung beim Bruder.

Und der alte Herr im blauen Rock? Hatte er von den Wolken, die ſich rings aufballten um ſein Haus, in ſeiner Blindheit keine Ahnung? Oder war ſie's, was ihn zuweilen anfaßte, wenn er, Apollonius begeg¬86 nend, gleichgültige Worte mit ihm wechſelte. Dann kämpften zwei Mächte auf ſeiner Stirn, die der Sohn vor dem Augenſchirm nicht ſah. Er will etwas fragen, aber er fragt nicht. Der alte Herr hat ſich ſo tief in die Wolke eingeſponnen, daß kein Weg mehr von ihm herausführt in die Welt um ihn und keiner mehr hinein. Er gibt ſich das Anſehn, als wiſſe er um Alles. Thut er anders, ſo zeigt er der Welt ſeine Hülfloſigkeit und fordert die Welt ſelber auf, ſie zu mißbrauchen. Wenn er fragt, wird man ihm die Wahr¬ heit ſagen? Nein! Er hält die Welt ſo verſtockt gegen ihn, als er gegen ſie iſt. Er fragt nicht. Er lauſcht, wo er weiß, man ſieht ihn nicht lauſchen, fie¬ beriſch geſpannt auf jeden Laut. Aus jedem hört er etwas heraus, was nicht drin iſt; ſeine geſpannte Phantaſie baut Felſen daraus, die ihm die Bruſt zer¬ drücken, aber er fragt nicht. Er träumt von nichts, als von Dingen, die Schande bringen über ihn und ſein Haus; er leert die ganze Rüſtkammer der Ent¬ ehrung und fühlt jede Schmach durch, die die Welt kennt. Was keine Schande iſt, ſteigert ſich ſeinem krankhaft geſchärften Ehrgefühl dazu, das keine Ruhe wohlthätig abſtumpft, aber er trägt lieber, was die tiefſte Schande iſt, als daß er fragt. Er thut das Un¬ geheure in Gedanken, die drohende abzuwenden, aber er fragt nicht. Wie manches Thun zeigt ungeboren87 ſchon der Mutter Seele ſein Bild vorher! Wird eine Zeit kommen, wo des alten Herrn Gedanke Wirk¬ lichkeit wird?

Die Natur der Schuld iſt, daß ſie nicht allein ihren Urheber in neue Schuld verſtrickt. Sie hat eine Zau¬ bergewalt, alle, die um ihn ſtehn, in ihren gährenden Kreis zu ziehn und zu reifen in ihm, was ſchlimm iſt, zu neuer Schuld. Wohl dem, der ſich dieſer Zauber¬ kraft im unbefleckten Innern erwehrt. Wird er den Schuldigen ſelbſt nicht retten, ſo kann er den Uebrigen ein Engel ſein. Dieſe vier Menſchen, in all' ihrer Verſchiedenheit in einen Lebensknoten geknüpft, den eine Schuld verſehrt! Welch 'Schickſal werden ſie vereint ſich ſpinnen, die Leute in dem Haus mit den grünen Laden?

Nun waren ſchon Wochen vergangen ſeit Apollo¬ nius Zurückkunft, und noch hatte er die Furcht der Schwägerin nicht wahr gemacht. In den erſten Tagen las Fritz Nettenmair ein krampfhaftes Zuſammennehmen, ein verzweifeltes Gefaßtmachen in ihrem Weſen; nun machte dies einem Etwas Platz, das wie Verwunderung erſchien. Er ſah, und nur er, wie ſie immer muthiger den Bruder zu beobachten begann, wo der nicht ahnte, ihr Blick ſei auf ihn gerichtet. Sie ſchien ſein Weſen,88 ſein Thun mit ihrer Erwartung zu vergleichen. Fritz Nettenmair fühlte in ihrer Seele, wie wenig beide ſich glichen. Er mühte ſich, den Widerwillen der jungen Frau zu ſeiner alten Stärke aufzuſtacheln. Er that es, während er fühlte, wie vergeblich es war, wie ein ein¬ ziger Blick auf das milde, rechtſchaffene Antlitz des Bruders niederreißen mußte, was er mühſam in Zeit von Tagen aufgebaut. Er fühlte, wie fein er zu Werke gehen mußte, und wie plump er doch zu Werke ging; wie dieſelbe Macht, die ſein Gefühl für das Maaß ſchärfte, ihn im Handeln darüber hinausriß. Er wußte, was er begonnen, mußte ſeinen Gang voll¬ enden zu ſeinem Verderben. Er ſuchte Vergeſſen, und riß ſeine Frau immer tiefer in den Wirbel der Zer¬ ſtreuung mit hinein.

Arzneimittel ſollen, in übergroßer Gabe angewandt, das Gegentheil wirken. So geſchah's mit dem Mittel Fritz Nettenmair's; wenigſtens bei der jungen Frau. Aus dem Alltag der häuslichen Arbeit hatte ſie ſich ſonſt nach dem Feſte des Vergnügens geſehnt; nun dies der Alltag geworden, zog die Sehnſucht nach dem ſtillen Leben daheim. Ueberſättigt von den Ehrenbezeu¬ gungen der bedeutenden Leute, bemerkte ſie nun erſt, es gab auch andere: Leute, die ihren Gatten nach anderm Maaßſtab maßen. Sie begann zu vergleichen, und die Bedeutenden verloren immer mehr gegen die Alltags¬ menſchen. Sie dachte an den ledernen Ball den Abend89 von Apollonius Ankunft. Damals war ſie Apollonius ausgewichen; ſie hatte Beleidigung von ihm erwartet. Jetzt ſuchte ſie mit den Augen durch den Saal; Nie¬ mand ſah's, als Fritz Nettenmair, der es am wenigſten zu ſehen ſchien. Denn er lachte und trank wilder und jovialer, als je. Sie hatte nur das Gefühl der Lange¬ weile, das nach Abwechſelung ausſieht; ſie wußte nicht, daß ſie Jemand ſuchte. Fritz Nettenmair wußte es, und wollte vor Lachen erſticken. Er wußte mehr, als ſie; er wußte, wen ſie ſuchte. Gegen alle andere Welt jovial, that er gegen ſie den blauen Rock an. Er wird ſie bald dahin bringen, den ſonſt Gefürchteten mit ihm zu vergleichen.

Sie ſaß im Garten, während der alte Herr ſeine ſchweren Mittagsträume träumte. Fritz Nettenmair lag in der Stube auf dem Sopha und trug die Nachwehen einer durchſchwärmten Nacht. Vorher hatte er nach dem Thurmdach geſehn. Sie fühlte ſich ſo eigen wohl daheim. Und ſollte ſie nicht? Spielten nicht ihre Kinder um ſie? Sie dachte nicht daran, wie oft ſie ſich von den Kindern fortgeſehnt in den Wirbel, der ſie nicht mehr lockte. Sie nähte. Die Knaben ſpielten zu ihren Füßen, ſo ſtill, als wär 'der alte Herr zugegen. Doch nicht ſo; war der alte Herr im Gärtchen, ſie hätten ſich gar nicht hinein getraut. Das Mädchen hatte die Mutter umſchlungen, die ſelber, in der Unberührtheit ihres Weſens, noch ein Mädchen ſchien. Wenig mehr90 von der Aehnlichkeit mit ihrem Gatten lag in ihren Zügen. Sie war nur eine äußerliche geweſen. Und nur Aeußerliches ſchien die heitern Linien berührt zu haben; kein tiefinneres Erlebniß hatte ſeine Marke ihnen aufgeprägt. Das kleine Mädchen hatte dem erwachſenen, ſeiner Mutter, von Puppen, Blumen, Kindern, und in ſeiner Weiſe Manches zweimal, Man¬ ches nur halb erzählt. Jetzt erhob ſie mit altkluger Ernſthaftigkeit das Köpfchen, ſah die Mutter bedenklich an und ſagte: Was das nur iſt?

Was? fragte die Mutter.

Wenn du da geweſen biſt und fortgehſt, ſieht er dir ſo traurig nach.

Wer? fragte die Mutter.

Nun, der Onkel Apollonius. Wer ſonſt? Haſt du ihn geſcholten? oder geſchlagen, wie mich, wenn ich Zucker nehme und nicht frage? Du haſt ihm doch gewiß etwas gethan; ſonſt wär 'er nicht ſo betrübt.

Das Mädchen plauderte weiter und vergaß den Onkel bald über einen Schmetterling. Die Mutter nicht. Die Mutter hörte nicht mehr, was das Mäd¬ chen plauderte. Was war das doch für ein eigenes Gefühl, wohl und weh zugleich! Sie hatte die Nadel fallen laſſen, und merkte es nicht. War ſie erſchrocken? Es war ihr, als wär ſie erſchrocken, etwa ſo, wie man erſchrickt, hat man mit einem Menſchen geredet, und wird plötzlich inne, es iſt ein anderer, als mit dem91 man zu reden meinte. Sie hatte gemeint, Apollonius wolle ſie beleidigen, und nun ſagt das Kind: du haſt ihn beleidigt. Sie blickte auf und ſah Apollonius vom Schuppen her nach dem Hauſe kommen. In demſelben Augenblick ſtand ein anderer Mann zwiſchen ihr und dem Vorübergehenden, als wär er aus der Erde gewachſen. Es war Fritz Nettenmair. Sie hatte ihn nicht nahen gehört.

Er kam in ſeltſamer Haſt von einer gleichgülti¬ gen Frage auf den ledernen Ball. Er erzählte, was die Leute darüber meinten, wie Jedermann ſich beleidigt fühle von der Beſchimpfung, daß Apollo¬ nius ſie damals nicht aufgezogen, nicht einmal zum erſten Tanze. Eigen war's, wie ſie jetzt daran erin¬ nert wurde, empfand ſie es ſtärker, als je. Aber nicht zürnend, nur wie mit wehmüthigem Schmerze. Sie ſagte das nicht. Es war nicht nöthig. Fritz Nettenmair war wie ein Menſch im magnetiſchen Schlaf. Er brauchte ſie nicht anzuſehn; mit geſchloſ¬ ſenen Augen, von einem Baumblatt, einer Zaunlatte, von einer weißen Wand las er ab, was ſein Weib fühlte. Wir werden ihn bald los werden, denk 'ich, fuhr er fort, als hätt' er nicht an der Stallwand geleſen. Es iſt kein Platz für zwei Haushälte hier. Und die Anne iſt weiten Raum gewöhnt.

So hieß das Mädchen, mit der Apollonius am Ledernen tanzen, die er heimbegleiten mußte. Sie92 war ſeither öfter hier geweſen, unter Vorwänden, die ihre hochrothe Wange Lügen ſtrafte. Auch ihr Vater, ein angeſehener Bürger, hatte ſich um Apollonius Be¬ kanntſchaft gemüht, und Fritz Nettenmair hatte die Sache gefördert, wie er konnte.

Die Anne? rief die junge Frau wie erſchreckend.

Gut, daß ſie nicht lügen kann, dachte Fritz Netten¬ mair erleichtert. Aber es fiel ihm ein, ihr Unvermögen, ſich zu verſtellen, kam ja auch dem argen Plan des Bruders zu gut. Er hatte die Eiferſucht als letztes Mittel angewandt. Das war wieder eine Thorheit, und er bereute ſie ſchon. Sie kann ſich nicht verſtellen; und wär er noch ganz der alte Träumer, ihre Aufre¬ gung muß ihm verrathen, was in ihr vorgeht; ihre Aufregung muß ihr ſelber verrathen, was in ihr vor¬ geht. Noch weiß ſie es ſelbſt ja nicht. Und dann er ſtand wieder an dem Punkte, zu dem jeder Ausgang ihn führt; er ſah ſie ſich verſtehen; und dann , zwängte er zwiſchen den Zähnen hervor, daß jede Silbe daran ſich blutig riß, und dann wird ſie's ſchon lernen!

Der Bruder erwartete ihn in der Wohnſtube. Er muß doch einen Vorwand machen, warum er da vor¬ beikam, wo er ſie allein dachte, da er weiß, ich hab 'ihn geſehn. So dacht' er und folgte dem Bruder.

Apollonius wartete wirklich in der Wohnſtube auf ihn. Der Bruder gab ſich durch ſeine Wendung auf den Ferſen recht, als er ihn ſah. Apollonius ſuchte93 den Bruder auf, ihn vor dem ungemüthlichen Geſellen zu warnen. Er hatte manches Bedenkliche über ihn gehört, und wußte, der Bruder vertraute ihm unbedingt. Und da befiehlſt du, ich ſoll ihn fortſchicken? fragte Fritz, und konnte nicht verhindern, daß ſein Groll ein¬ mal durchſchimmerte durch ſeine Verſtellung. Apollo¬ nius mußte aus dem Ton, mit dem er ſprach, ſeine wahre Meinung herausleſen. Sie hieß: du möchteſt auch in den Schuppen dich eindrängen, und mich von da vertreiben. Verſuch's, wenn du's magſt! Apollo¬ nius ſah dem Bruder mit unverhehltem Schmerz in's Auge. Er fuhr mit der Hand über des Bruders Rock¬ klappe, als wollt 'er wegwiſchen, was ſein Verhältniß zu dem Bruder trübte, und ſagte: Hab' ich dir was zu leid gethan? Mir? lachte der Bruder. Das Lachen ſollte klingen, wie: ich wüßte nicht, was? aber es klang: Thuſt du was anders, willſt du was anders thun, als wovon du weißt, daß es mir leid iſt? Ich wollte ſchon lang dir etwas ſagen, fuhr Apollonius fort, ich will's morgen; du biſt heute nicht gelaunt. Das mit dem Geſellen mußteſt du erfahren, und es war nicht ſo gemeint, wie du's aufnahmſt. Freilich! Frei¬ lich! lachte Fritz. Ich bin überzeugt. Es war nicht ſo gemeint. Apollonius ging, und Fritz ergänzte ſeine Rede: Es war nicht ſo gemeint, wie du, Federchen¬ ſucher mich glauben machen willſt. Und anders ge¬ meint, wie ich's aufnahm? Du meinſt, ich hab '94 Der Geſelle iſt ein ſchlechter Kerl; aber du hätteſt mich nicht gewarnt, hätt'ſt du keinen Vorwand gebraucht. Er machte ſeine überlegene Wendung auf den Ferſen; in ſeinen verwüſteten Zuſtand hinein hatte ihn die glückliche Anwendung von des alten Herrn diplo¬ matiſcher Kunſt, durch halb Sagen zu verſchweigen, gefreut.

Die Freude war ſchnell vorübergehend; die alte Sorge ſchraubte ihn wieder auf ihre Marterbank. Und noch eine jüngere hatte ſich ihr zugeſellt. Er hatte das Geſchäft vernachläſſigt; der Geſelle, in ſeiner Abweſenheit Herr im Schuppen, hatte Gelegenheit genug gehabt, ihn zu beſtehlen, und ſie gewiß benutzt. Bei der Reparatur war er ſchon lang nicht mehr thä¬ tig; Apollonius mußte einen Geſellen mehr annehmen, und für den Bruder einſtellen. Er verdiente ſchon lange nichts mehr, und verſäumte doch dabei kein öffentlich Vergnügen. Die Achtung der bedeutenden Leute zeigte eine wachſende Neigung zum Sinken, und war nur durch wachſende Maſſen von Champagner aufrecht zu erhalten. Er hatte ſich in Schulden geſteckt, und vergrößerte ſie noch täglich. Und doch mußte ein¬ mal der Augenblick kommen, wo der mühſam erhaltene Schein von Wohlhabenheit verging. Er wußte, daß er nur ſo lang der Geachtete war, der Jovialſte der Jovialen galt. Er war klug genug, den Unwerth einer ſolchen Achtung, eines ſolchen Bemühens um ihn zu95 erkennen, aber nicht ſtark genug, es entbehren zu kön¬ nen. Es war kein kleiner Zuwachs zu der alten Mar¬ ter, und jene wie dieſe kam ihm von dem Bruder, und nur von ihm!

Wohlig's Anne war öfter dageweſen ſeit Apollonius Ankunft, und die junge Frau hatte in dem Glauben, der in naiven Gemüthern die natürliche Folge der eige¬ nen Wahrhaftigkeit iſt, an ihren geſuchteſten Vorwänden nicht gemäkelt. Heute war das anders. Sie war plötz¬ lich ſo ſcharfſichtig geworden, daß der erkannte Vorwand ihr in der Größe eines unverzeihlichen Verbrechens erſchien. Das Mädchen war ihr zuwider, das ſo falſch ſein konnte, und ſie ſelbſt zu ehrlich, das zu verbergen. Anne ſuchte den Grund dieſes Benehmens in dem Wi¬ derwillen der jungen Frau gegen den Schwager. Es war ja bekannt, die junge Frau gönnte dem armen Menſchen die Liebe des Bruders nicht. Sie hatte ſelbſt geäußert, ſie würde ihm einen Korb geben, wenn er es wagen würde, ſie zum Tanze aufzufordern. Und dem guten Apollonius war es anzuſehn, ſie ließ ihn des Aufenthalts in ſeinem Vaterhauſe nicht froh wer¬ den. Die Gereiztheit machte auch die Anne ehrlich; ſie ſprach von ihren Gedanken aus, was ausgeſprochen werden konnte, ohne den zarten Punkt ihrer Neigung blos zu geben. Chriſtiane mußte den Vorwurf nun auch aus fremdem Munde vernehmen, den ſchon das eigene Kind ihr gemacht. Das Mädchen ging. Apol¬96 lonius kam, vom Bruder zurück, wieder vorüber. Er konnte das Mädchen noch gehen ſehn. Aber Nichts zeigte ſich in ſeinem Geſichte, was ihrer nur halb ver¬ ſtandenen Furcht Recht gegeben hätte. Und ſo ſah auch Fritz Nettenmair, der dem Bruder aus dem Ver¬ ſteck der Hinterthür nachblickte, auf ihrem Antlitz nicht ſoviel, als er gefürchtet, zu ſehen.

Das Kind ſagt: du haſt ihm was gethan; die Anne ſagt: du haſſeſt ihn, du läßt ihn nicht froh werden. Und ſein traurig Nachblicken bald ertappt ſie ihn ſelbſt unbemerkt dabei ſagt daſſelbe. Wie ein Blitz und mit freudigem Lichte zuckte es dazwiſchen, er ſah der Anne nicht traurig nach; und auch nicht freudig, nein! gleichgültig, wie jedem Andern ſonſt. Ihr wird geſagt: du haſſeſt ihn; du haſt ihn beleidigt und du willſt ihn kränken, und ſie hat geglaubt, er haſſe ſie, er will ſie kränken. Und hat er ſie nicht gekränkt? Sie blickt in die lang vergangene Zeit zurück, wo er ſie beleidigte. Sie hat ihm ſchon lang nicht mehr darum gezürnt, ſie hat nur neue Beleidigung gefürchtet. Kann ſie jetzt noch darum zürnen, wo er ein ſo Anderer iſt; wo ſie ſelbſt weiß, er beleidigt ſie nicht; wo die Leute ſagen, und ſein trauriger Blick: ſie beleidige ihn? Und wie ſie zurückſinnt, eifrig, ſo eifrig, daß die Muſik wieder um ſie klingt, und ſie wieder unter den Ge¬ ſpielinnen ſitzt, im weißen Kleid mit den Roſaſchleifen, im Schießhaus auf der Bank den Fenſtern entlang,97 und wieder aufſteht, von dem dunkeln Drang getrieben, und durch die Tanzenden hindurch träumend nach der Thüre geht da draußen; iſt das nicht dasſelbe Ge¬ ſicht, das ihr jetzt nachſieht, wenn ſie geht, ſo ehrlich, ſo mild in ſeiner Wehmuth? iſt's nicht dasſelbe eigene Mitleid, das jetzt auf Tritt und Schritt mit ihr geht, und ſie nicht läßt, wie damals? Dann wich ſie ihm aus, und ſah ihn nicht mehr an, denn er war falſch. Falſch! Iſt er's wieder? Iſt er's noch?

Eine Nachtigall ſchlug im alten Birnbaum über ihr, ſo wunderbar und wie gewaltthätig innig und tief. Vom Georgenthurm blieſen vier Poſaunen den Abendchoral. Ueber ihnen, und wie von ihren ſchwel¬ lenden Tönen getragen fuhr Apollonius auf ſeinem leichten Schiff. Das Abendroth vergoldete die Fäden, in denen es hing. Wohin ſie ſah, glänzten die treuen, trauernden Augen, die ihm gehörten, mit denen er ihr nachſah, wenn ſie ging. Das kleine Mädchen ſah mit ihnen auf zu ihr, und erzählte vom Onkel, wie lieb und gut er ſei. Oder erzählte ſie von damals? Es war keine Zeit mehr, Sonſt und Jetzt war eins. Die letzte Aehnlichkeit mit Fritz Nettenmair war aus ihrem Antlitz verſchwunden. Ihre Seele ſchauerte hoch oben zwiſchen Himmel und Erde. Was ſie anſah, war ein Räthſel mit ſüßer Deutung, aber ſie kannte ſie nicht. Sie ſelbſt war ſich ein Räthſel. Ihrem Gatten war ſie's nicht.

Ludwig, Zwiſchen Himmel und Erde. 798

Fritz Nettenmair dachte den ganzen Tag, was das ſein möge, was Apollonius ihm morgen ſagen wolle; morgen; weil ich heut nicht gelaunt bin? Gelaunt? Ich habe den Federchenſucher in meine Karten ſehen laſſen. Hätt 'ich's nicht, wär' er plump herausgegangen; nun hab 'ich ihn gewarnt und vorſichtig gemacht. Ich bin zu ehrlich mit ſolch einem falſchen Spieler; ich muß verlieren. Gut; ich will morgen gelaunt ſein, ich will thun, als wär ich blind und taub; als ſäh' ich nicht, was er will, und wär's noch deutlicher. Eine Spinnenwebe auf meine Rockklappen, damit er was zu bürſten hat. Ich kann's nicht leiden, wenn mir ſo einer in's Geſicht ſieht, ſolch ein Heuchler!

Und ſo vorbereitet und entſchloſſen, den Liſter zu überliſten, gält's auch die ſchwerſte Probe von Selbſt¬ beherrſchung, fand Apollonius den Bruder am folgenden Tage ſeiner harrend. Auch Apollonius hatte ſeinen Entſchluß gefaßt. Er wollte ſich von keiner Laune ſeines Bruders mehr irren laſſen; es kam ja eben darauf an, all dieſen Launen ihre Quelle abzuſchneiden. Fritz bot ihm den unbefangenſten, jovialſten guten Morgen, der ihm zu Gebote ſtand. Wenn du mich ruhig und brüderlich anhören willſt, ſagte Apollonius, ſo hoff 'ich, dieſer Morgen ſoll der beſte ſein für dich und mich und uns Alle. Und uns Alle, wiederholte Fritz, und legte von ſeiner Erklärung der drei Worte nichts in ſeinen Ton. Ich weiß, daß du immer an99 uns Alle denkſt; drum rede nur jovial vom Herzen weg, ich mach's auch ſo. Apollonius ließ die beab¬ ſichtigte Einleitung weg. Er hatte klug und vorſichtig ſein gelernt, aber klug und vorſichtig gegen einen Bruder ſein, hätte ihm Falſchheit geſchienen. Selbſt, hätte er die Falſchheit des Bruders gekannt, er wäre nicht auf deſſen Gedanken von den gleichen Waffen gekommen. Er hätte ſich ſeine Erfahrung als Täuſchung ausgeredet.

Ich glaube, Fritz, begann er herzlich, wir hätten anders gegeneinander ſein ſollen, als wir ſeither ge¬ weſen ſind. Er nahm aus Gutmüthigkeit die halbe Schuld auf ſich. Der Bruder ſchob ihm in Gedanken die ganze zu, und wollte jovial das Gegentheil ver¬ ſichern, als Apollonius fortfuhr. Es war nicht zwiſchen uns, wie ſonſt, und wie es ſein ſollte. Die Urſache davon iſt, ſoviel ich weiß, nur der Widerwille deiner Frau gegen mich. Oder weißt du noch eine andere? Ich weiß keine, ſagte der Bruder mit bedauerndem Achſelzucken; aber er dachte an Apollonius Heimkunft gegen ſeinen Rath, an den Ball, an die Berathung auf dem Kirchenboden, an ſeine Verdrängung von der Reparatur, an den ganzen Plan des Bruders, an das was davon ausgeführt, an das was noch auszuführen war. Er dachte daran, daß Apollonius eben an dem Letzteren arbeite, und wie viel darauf ankomme, ſeine nächſte Abſicht zu errathen und zu vereiteln. Apollonius ſprach indeß fort und hatte keine Ahnung von dem,7*100was in dem Bruder vorging. Ich weiß nicht, woher der Widerwille deiner Frau gegen mich kommt. Ich weiß nur, daß er von Nichts kommen kann, was ich mit Abſicht gethan hätte, mir ihn zu verdienen. Kannſt du mir den Grund ſagen? Ich will ſie nicht anklagen; es iſt möglich, daß ich etwas an mir habe, das ihr mißfällt. Und dann iſt's gewiß nichts, was zu loben oder nur zu ſchonen wäre. Und ich will dann eben ſo gewiß der Letzte ſein, es zu ſchonen, weiß ich nur, was es iſt. Weißt du's, ſo bitte, ſag 'es mir. Etwas Schlimmes darfſt auch du nicht an mir ſchonen, und thäte dir's auch noch ſo weh. Weißt du's und ſagſt mir's nicht, ſo iſt's nur darum. Aber du kränkſt mich nicht damit, gewiß nicht, Fritz. Fritz Nettenmair that, was Apollonius eben gethan; er maß den Bruder in ſeinen Gedanken nach ſich. Das Ergebniß mußte zu Apollonius Nachtheil ausfallen. Apollonius nahm ſein gedankenvolles Schweigen für eine Antwort. Weißt du's nicht, fuhr er fort, ſo laſſ' uns zuſammen zu ihr gehn, und ſie fragen. Ich muß wiſſen, was ich thun ſoll. Das Leben ſeither darf nicht ſo fortgehn. Was würde der Vater ſagen, wenn er's wüßte! Mir iſt's Tag und Nacht ein Vorwurf, daß er es nicht weiß. Es iſt für uns Alle beſſer, Fritz. Komm ', laß' es uns nicht verſchieben.

Fritz Nettenmair hörte nur die Zumuthung des Bruders. Er ſollte ihn zu ihr führen! Er ſollte ihn jetzt101 zu ihr führen! Wußte Apollonius ſchon von ihrem Zu¬ ſtand, und wollte ihn benutzen? Es bedürfte der Frage nicht; wenn ſie ſich jetzt nur ſahn, mußten ſie ſich verſtehn. Dann war es da, was zu verhindern er ſeit Wochen ſich keine Stunde lang Ruhe gegönnt. Dann war es da, wo¬ von er wußte, es mußte kommen, und doch Verzweiflungs - Anſtrengungen machte, ihm das Kommen zu wehren. Sie durften ſich jetzt nicht einander gegenüberſtehn; ſie durften ſich jetzt nicht ſehn, bis er eine neue Scheidemauer zwiſchen ſie gebaut. Woraus? Darauf zu ſinnen war jetzt nicht Muße. Einen Vorwand mußte er haben, den Gang zu ihr zu verhindern; Zeit, den Vorwand zu finden. Und nur um die Zeit zu gewinnen, lachte er: Freilich! jovial fragen. Wer fragt, wird berichtet. Aber wie fällt dir das eben jetzt ein? Eben jetzt? Ein Gedanke, der ihn überwältigend traf wie ein Blitz, wurde ohne ſeine Wahl zu dieſer Frage.

Apollonius war ſchon an der Thür. Er wandte ſich zurück zum Bruder und antwortete mit einer Freude, die dieſem eine teufliſche ſchien, weil er ihm nicht in des ehrliche Geſicht ſah. Dafür würde Apollonius in des Bruders Antlitz ein Etwas von Teufelsangſt ertappt haben, hätte dieſer es ihm zugewandt. Und vielleicht dennoch nicht. Er würde den Bruder vielleicht für krank gehalten haben, ſo ohne die mindeſte Ahnung von dem, was den Bruder dabei ängſten könne, als er102 war. Ja, was ihn freute, mußte ja auch den Bruder freun. Früher, entgegnete Apollonius, mußt 'ich fürchten, ſie noch mehr zu erzürnen. Und das würde dir noch weniger lieb geweſen ſein, als mir. Der Bruder lachte und bejahte in ſeiner jovialen Weiſe mit Kopf und Schultern, um nur etwas zu thun. Und ſein: Und jetzt? ſchien nun vom Lachen halb erſtickt, nicht von etwas anderm. Deine Frau iſt anders ſeit einiger Zeit, fuhr Apollonius vertraulich fort. Sie iſt antwortete Fritz Nettenmairs Zuſammenzucken wider ſeinen Willen, und wollte ſagen, wofür er ſie hielt. Es war ein arges Wort. Aber würd' er ſelbſt, der ſie dazu gemacht, es ihm ſagen? Nein, es iſt noch nicht da, was er fürchtet. Und wenn es kommen muß; er kann's noch verzögern. Er hält mit Gewalt ſeiner Erregung den Mund zu. Er fragte gern: und woher weißt du, daß ſie anders iſt? wüßt 'er nicht, ſeine Stimme wird zittern und ihn verrathen. Er muß ja wiſſen, wer es dem Bruder verrathen hat. Hat er ſie ſchon geſprochen? Hat er's ihr von fern aus den Augen geleſen? Oder iſt ein Drittes im Spiel? ein Feind, den er ſchon haßt, eh' er weiß, ob er vorhanden iſt. Apollonius ſcheint ein Etwas von des Bruders unglückſeliger Leſegabe ange¬ flogen. Der Bruder fragt nicht; ſein Geſicht iſt abge¬ wandt; er kramt tief im Schranke, und ſucht wie ein Verzweifelnder, und kann nicht finden; und doch ant¬103 wortet ihm Apollonius. Dein Aennchen hat mir's geſagt, entgegnet er und lacht, indem er an das Kind denkt. Onkel, ſagte das närriſche Kind, die Mutter iſt nicht mehr ſo bös auf dich; geh 'nur zu ihr und ſprich: ich will's nicht mehr thun; dann iſt ſie gut und gibt dir Zucker. So hat ſie mich auf den Gedan¬ ken gebracht. Es iſt wunderbar, wie's manchmal iſt, als redete ein Engel aus den Kindern. Dein Aenn¬ chen kann uns allen ein Engel geweſen ſein. Fritz Nettenmair lachte ſo ungeheuer über das Kind, daß ſich Apollonius Lachen wieder an dem ſeinen anzündete. Aber er wußte, es war ein Teufel, der aus dem Kinde geredet; ihm war das Kind ein Teufel geweſen und konnt' es noch mehr werden. Und doch mußte er noch über das Kind lachen, über das joviale Kind mit ſeinem verfluchten Einfall. So ſehr mußte er lachen, daß es gar nicht auffiel, wie zerſtückt und krampfhaft klang, was er entgegnete. Morgen meinetwegen, oder heut 'Nachmittag noch; jetzt hab ich unmöglich Zeit. Jetzt begleit' ich dich nach Sankt Georg. Ich hab 'einen nöthigen Gang. Morgen! Ueber das ver¬ wünſchte Kind! Apollonius hatte keine Ahnung, wie ernſt das lachende verwünſcht gemeint war. Er ſagte, ſelbſt noch über das Kind lachend: Gut. So fragen wir morgen. Und dann wird Alles anders werden. Ich freue mich wie das Kind, und du dich gewiß auch, Fritz. Es ſoll ein ganz ander Leben104 werden, als ſeither. Der gute Apollonius freute ſich ſo herzlich über des Bruders Freude! Noch wie er ſchon wieder auf ſeinem Fahrzeuge um das Kirchdach flog. Eben ſo raſtlos umſchwankte ſeines Bruders Furcht, das dunkle Etwas, das über ihm ſchwankte, und ihn zu begraben drohte; noch emſiger hämmerte ſein Herz an den brechenden Planen, den Sturz zu hindern; aber ſein Gedankenſchiff hing nicht zwiſchen Himmel und Erde, von des Himmels Licht bewahrt; es taumelte tiefer, und immer tiefer, zwiſchen Erd' und Hölle, und die Hölle zeichnete ihn immer dunkler mit ihrer Glut.

Aennchen hatte die Mutter wieder umſchlungen, die in der Laube ſaß. Sie ſah wieder mit Apollonius Augen zu ihr auf, und erzählte ihr von ihm. Und kam ſie nach Kinderweiſe von ihm ab, ſo leitete die Mutter mit unbewußter Kunſt ſie wieder zu ihm zurück. Dann rauſchte es einen Augenblick in den Blättern der Laube hinter ihr. Sie dachte, es ſei der Wind, oder hörte es gar nicht; vielleicht, weil es nicht von Apollonius ſprach. Hätte ſie hingeſehn, ſie wäre ent¬ ſetzt aufgeſprungen von der Bank. Was die Blätter rauſchen machte, war das ſtürmiſche Erzittern einer ge¬ ballten Fauſt. Darüber ſtand ein rothes Geſicht, ver¬105 zerrt von der Anſtrengung, die die gehobene Fauſt zurückhielt. Sonſt hätte ſie das lächelnde Geſicht des Kindes getroffen, das, ſo jung, ſchon eine Kupplerin war. Das lächelnde, vatermörderiſche Geſicht! Das Kind hat ein blaues Kleidchen an; blau iſt die Lieb¬ lingsfarbe Apollonius '. Sein Kind trägt ſeines Todt¬ feindes Livree. Und die Mutter o, Fritz Netten¬ mair kann ſich noch auf die Zeit beſinnen, wo ſie täglich ſo gekleidet ging wie heut'. Und fürchtet ſie das nicht? Glaubt ſie, was damals vorgegangen, gibt ihr ein Recht, ihn nicht zu fürchten? Ein Recht, in Schande zu leben, weil es ſeine Schande iſt? Das Alles reißt an der gehobenen Fauſt. Und jetzt ſagt die Mutter vor ſich hin, und hat das Mädchen vergeſſen: Der arme Apollonius! Was hält die Fauſt zurück? Ich muß Fritz ſagen, wie er mich dauert. Er iſt ſo gut. Nicht, Aennchen? Aennchen ſingt und hört die Frage nicht. Sie bedarf auch keiner Antwort. Fritz iſt zornig auf ihn, weil er mich einmal gekränkt hat. Ich hab's lang vergeſſen. Er iſt anders, und Fritz thut ihm unrecht, wenn er meint, er iſt noch immer ſo. Und vielleicht iſt er nie ſo geweſen, und die Menſchen haben Fritz belogen. Wir wollen gut ſein gegen ihn, damit er froh wird. Ich kann's nicht mehr ertragen, wie er traurig iſt. Ich will's ihm ſagen, dem Fritz. So ſchließt die junge Frau ihr Selbſtgeſpräch; ihr ganzes ſüß vertrauliche Mädchenweſen iſt wieder106 aufgewacht, und Fritz Nettenmair begreift, das Thun, zu dem der Zorn ihn hinreißen will, muß erſchaffen, was noch nicht iſt, muß beſchleunigen, was kommen wird. Er iſt arm geworden, entſetzlich arm. Die Zu¬ kunft iſt nicht mehr ſein; er darf nicht auf Tage hinausrechnen; er lebt nur noch von Augenblick zu Augenblick; er muß feſthalten, was zwiſchen dem gegenwärtigen iſt und dem nächſtkommenden. Und dazwiſchen iſt nichts, als Qual und Kampf.

Er hat die Frau bis jetzt geliebt, wie er Alles that, wie er ſelbſt war, oberflächlich und jovial. Das Gewiſſen hat ſeine Seele ausgetieft. Die Furcht vor dem Verluſt hat ihn ein ander Lieben gelehrt. Das Lieben lehrte ihn wiederum ein ander Fürchten. Hätt 'er ſie früher ſo geliebt, wie jetzt, ihre tiefſte Seele hätte ſich ihm vielleicht geöffnet, ſie hätte auch ihn geliebt. Sie haben Jahre zuſammengelebt, ſind nebeneinander gegangen, ihre Seelen wußten nichts von einander. Dem Leibe nach Gattin und Mutter iſt ihre Seele ein Mädchen geblieben. Er hat die tiefern Bedürfniſſe ihres Herzens nicht geweckt, er kannte ſie nicht; er hätte ſie nicht befriedigen können. Er erkennt ſie erſt, wie ſie ſich einem Fremden zuwenden. Er fühlt erſt, was er beſaß, ohne es zu haben, nun es einem Andern gehört. Mit welcher Empfindung ſieht er die Knospe ihres Angeſichts ſich entfalten, die er ſchon für die Blume hielt! Welch niegeahnter Himmel öffnet107 ſich da, wo er ſonſt Genüge hatte, ſein eigen Spiegel¬ bild zu finden. Und wie viel er ſah; all den Reichthum an hingebendem Vertraun, an Opferfähigkeit, an ver¬ ehrendem Aufſtaunen und dienendem Ergeben zu faſſen, der in der Morgenröthe dieſes reinen Angeſichtes auf¬ ging, war ſein Auge, auch krankhaft weit geöffnet, noch zu eng. Sein Schmerz übermannte einen Augen¬ blick ſeinen Haß. Er mußte ſich fortſchleichen, um das Geſtändniß ſeiner Schuld vor dem Antlitz zu flüchten, deſſen Blick er jetzt wie ein Verbrecher fürchtete, ſo ſanft es war.

Gegen Abend wurde die junge Frau plötzlich von zwei Männerſtimmen aus ihren Träumen geweckt. Sie ſaß unfern der verſchloſſenen Schuppenthür im Graſe. Fritz war eben mit dem Bruder von der Hintergaſſe in den Schuppen getreten. Sie hörte, er zog den Bruder mit Wohlig's Anne auf. Anne ſei die beſte Parthie in der ganzen Stadt und der Bruder ein Spitzbube, der die Welt kenne und die Art, die lange Haare und Schürzen trägt. Die Anne nähe ſchon an ihrer Ausſteuer, und ihre Baſen trügen die Heirath mit Apollonius von Haus zu Hauſe. Die junge Frau hörte ihn fragen, wann die Hochzeit ſei? Sie hatte ſich entfernen wollen; ſie vergaß es; ſie vergaß das Athmen. Und drauf hätte ſie faſt laut aufgejubelt: Apollonius ſagte, er heirathe gar nicht, die Anne nicht, noch ſonſt eine. Der Bruder lachte. Drum haſt du108 den Abend deiner Heimkehr nur mit der Anne getanzt und ſie heimgeleitet? Mit deiner Frau hätt 'ich getanzt, entgegnete Apollonius. Du warnteſt mich, deine Frau würde mir einen Korb geben, weil ſie ſo unwillig auf mich war. Ich wollte nun gar nicht tanzen. Du brachteſt mir die Anne und wie du gingſt, fragteſt du ſie, ob ich ſie heimbegleiten dürfte. Da konnt' ich nicht anders. Ich habe nicht daran gedacht, die Anne Zu heirathen? lachte der Bruder. Nun ſie iſt auch zum Spaſſe hübſch genug und der Mühe werth, ſie vernarrt in dich zu machen. Fritz! rief Apollonius unwillig. Aber es iſt nicht dein Ernſt, beſänftigte er ſich ſelbſt. Ich weiß, du kennſt mich beſſer; aber auch im Scherz ſoll man einem braven Mädchen nicht zu nah treten. Pah, ſagte der Bruder, wenn ſie es ſelbſt thut. Was kommt ſie uns in's Haus und wirft ſich dir an den Kopf? Das hat ſie nicht, entgegnete Apollonius warm. Sie iſt brav und hat ſich nichts Unrechtes dabei gedacht. Ja, ſonſt hätteſt du ſie zurecht¬ gewieſen, lachte Fritz, und es lag Hohn in ſeiner Stimme. Wußt 'ich, ſagte Apollonius, was ſie dachte? Du haſt ſie mit mir aufgezogen und mich mit ihr. Ich habe nichts gethan, was ſolche Gedanken in ihr erwecken konnte. Ich hätt's für eine Sünde gehalten.

Die Männer gingen ihren Weg wieder zurück. Chriſtianen fiel's nicht ein, ſie hätten auch auf den Gang kommen können, wo ſie ſtand. Was von Offen¬109 heit und Wahrheit in ihr lag, war gegen ihren Gatten empört. Nicht die Leute hatten ihn belogen; er war ſelber falſch. Er hatte ſie belogen und Apollonius belogen und ſie hatte irrend Apollonius gekränkt. Apollonius, der ſo brav war, daß er nicht über die Anne ſpotten hören konnte, hatte auch ihrer nie geſpottet. Alles war Lüge geweſen von Anfang an. Ihr Gatte verfolgte Apollonius, weil er falſch war, und Apollonius brav. Ihr innerſtes Herz wandte ſich von dem Verfolger ab, und dem Verfolgten zu. Aus dem Aufruhr all ihrer Gefühle ſtieg ein neues heiliges ſiegend auf, und ſie gab ſich ihm in der vollen Unbe¬ fangenheit der Unſchuld hin. Sie kannte es nicht. Daß ſie es nie kennen lernte! Sobald ſie es kennen lernt, wird es Sünde. Und ſchon rauſchen die Schritte durch's Gras, auf denen die unſelige Erkennt¬ niß naht.

Fritz Nettenmair mußte ſeine neue Scheidemauer aufbau'n, eh 'er den Bruder zu ſeinem Weibe führte. Deßhalb kam er. Sein Gang war ungleich; er wählte noch und konnte ſich nicht entſcheiden. Er wurde noch ungewiſſer, als er vor ihr ſtand. Er las, was ſie fühlte, von ihrem Antlitz. Es war zu ehrlich, um etwas zu verſchweigen. Es kannte zu wenig, wovon es ſprach, um zu denken, es müßte dies verbergen. Er fühlte, mit den alten Verleumdungen werde er nichts mehr bei ihr vermögen. Er konnte ſie über ihre110 Gefühle aufklären, ſie dann bei ihrer Ehre, bei ihrem weiblichen Stolze faſſen. Er konnte ſie zwingen wozu? Zur Verſtellung? Zum Leugnen? Zur Ver¬ heimlichung, wenn ſie einmal wußte, was ſie wollte? Würde ſie nicht zu ſich ſagen: den Betrüger betrügen, das Geſtohlene heimlich wieder nehmen, iſt kein Betrug, kein Diebſtahl. Das war's! Das Bewußtſein ſeiner Schuld verfälſchte ihm die Dinge, die Menſchen. Er kannte das ſtarke Ehrgefühl ſeiner Frau, wie die bis zum Eigenſinn feſte Rechtlichkeit des Bruders und er hätte Beiden in allem getraut; nur in dem Einen traute er ihnen nicht, wo er das Gefühl hatte, er hab' es verdient, von ihnen betrogen zu ſein. So zog er doch den Weg vor, den er bis jetzt gegangen. Er machte einen kleinen Umweg über des Federchenſuchers Narrheiten. Er wußte, kleine Lächerlichkeiten ſind ge¬ ſchickter, eine werdende Neigung zu vernüchtern, als große Fehler. Er agirte Apollonius, wie er den Weg, den er mit einem Lichte gemacht, noch einmal zurück¬ ging, aus Sorge, er könnte einen Funken verloren haben. Wie es ihn bei Nacht nicht ruhen ließ, wenn ihm einfiel, er hatte bei einer Arbeit ſeinen gewöhn¬ lichen Eigenſinn vergeſſen, oder ein Arbeiter hatte das ſtrenge Wort nicht verdient, das er, vom Drang der Geſchäfte erhitzt, gegeben. Wie er aus dem Bette aufgeſprungen, um ein Lineal, das er im ſchiefen Winkel mit der Tiſchkante liegen laſſen, in den rechten111 zu rücken. Dabei ſtrich und blies Fritz Nettenmair ſich eingebildete Federchen von den Aermeln. Er ſah wohl, ſeine Mühe hatte den verkehrten Erfolg. Gereizt dadurch griff er zu ſtärkeren Mitteln. Er bedauerte die arme Anne, die Apollonius durch Scheinheiligkeit in ſich vernarrt gemacht; und erzählte, auf wie gemeine Weiſe er ſie öffentlich verſpotte. Auf den Wangen der jungen Frau war ein dunkles Roth aufgeſtiegen. Offene, naive Naturen haben einen tiefen Haß gegen alle Falſchheit, vielleicht weil ſie inſtinktmäßig fühlen, wie waffenlos ſie vor dieſem Feinde ſtehn. Sie zitterte vor Erregung, als ſie aufſtand und ſagte: Du könnteſt das thun, du; er nicht. Fritz Nettenmair ſchrack zu¬ ſammen. In dem Anblick der Geſtalt, die voll Ver¬ achtung vor ihm ſtand, war etwas, das ihn entwaffnete. Es war die Gewalt der Wahrheit, die Hoheit der Unſchuld dem Sünder gegenüber. Er raffte ſich mit Anſtrengung zuſammen. Hat er dir das geſagt? Seid ihr ſchon ſo weit? preßte er hervor. Sie wollte nach dem Hauſe gehn; er hielt ſie auf. Sie wollte ſich losreißen. Alles haſt du gelogen, ſagte ſie, ihn haſt du belogen, mich haſt du belogen. Ich habe gehört, was du vorhin im Schuppen mit ihm ſprachſt. Fritz Nettenmair athmete auf. So wußte ſie nicht Alles. Mußt ich's nicht? ſagte er, indem ſein Auge ſich der Reinheit des Ihren gegenüber kaum aufrecht hielt. Mußt 'ich nicht, um deine Schande zu verhindern? 112Soll der Federchenſucher dich verachten? Noch drückte ihr Blick den ſeinen nieder. Weißt du, was du biſt? Frag' ihn doch, was eine Frau iſt, die Ehre und Pflicht vergißt? An wen denkſt du mit Gedanken, wie du nur an deinen Mann denken ſollteſt? Wenn du wie eine verliebte Dirne umherſchleichſt, wo du meinſt, ihn zu ſehn. Und meinſt, die Menſchen ſind blind. Frag 'ihn doch, wie er ſo eine nennt? O die Leute haben ſchöne Namen für ſo eine. Er ſah, wie ſie erſchrack. Ihr Arm bebte in ſeiner Hand. Er ſah, ſie begann ihn zu verſtehn, ſie begann ſich ſelbſt zu verſtehn. Er hatte ihren Trotz gefürchtet, und ſah, ſie brach zuſammen, das Zornesroth erblich auf ihrer Wange und Schamröthe ſchlug wild über die bleiche hin. Er ſah, wie ihr Auge den Boden ſuchte, als fühlte es die Blicke aller Menſchen auf ſich gerichtet, als hätt' der Schuppen, der Zaun, die Bäume Augen und alle bohrten ſich in ihr's. Er ſah, wie ſie in der Jähheit der Erkenntniß ſich ſelbſt ſo eine nannte, für die die Leute die ſchönen Namen haben. Der Schmerz ſtrömte ſeinen Regen über die ſchamblutende brennende Wange und die Thränen waren wie Oel; das Feuer wuchs, als eine Stimme vom Schuppen klang und ſein Tritt. Sie wollte ſich gewaltſam losreißen und ſah mit halb wildem, halb flehendem Blicke auf, der ſterbend vor den tauſend Augen wieder zu Boden ſank. Er ſah, ſein Auge, das Auge des, der durch den113 Schuppen kam, war ihr das ſchrecklichſte. Er hatte ſeinen ganzen Muth wieder. Sag's ihm, preßte er leiſe hervor, was du von ihm willſt. Wenn er iſt, wie du meinſt, muß er dich verachten. Fritz Netten¬ mair hielt die Kämpfende mit der Kraft des Siegers feſt, bis er Apollonius, der fragend aus dem Schuppen ſah, gewinkt, herbeizukommen. Er ließ ſie und ſie floh nach dem Hauſe. Apollonius blieb erſchrocken auf dem halben Wege ſtehn. Da ſiehſt du, wie ſie iſt, ſagte Fritz zu ihm. Ich hab 'ihr geſagt, du woll¬ teſt ſie fragen. Willſt du, ſo gehn wir ihr nach und ſie muß uns beichten. Ich will ſehn, ob meine Frau meinen Bruder beleidigen darf, der ſo brav iſt. Apollonius mußte ihn zurückhalten. Fritz gab ſich nicht gleich zufrieden. Endlich ſagte er: Du ſiehſt aber nun, es liegt nicht an mir. O, es thut mir leid! Es war ein unwillkürlicher Schmerz in den letzten Worten, den Apollonius auf die mißlungene Ausſöh¬ nung bezog. Fritz Nettenmair wiederholte ſie leiſer, und diesmal klangen ſie wie ein Hohn auf Apollonius, wie ein höhniſches Bedauern über eine verfehlte Liſt.

Chriſtiane war nach der Wohnſtube geſtürzt und hatte die Thür hinter ſich verriegelt. An Fritz dachte ſie nicht. Aber Apollonius konnte hereintreten. Sie wälzte den fieberiſchen Gedanken, hinaus in die Welt zu fliehn; aber wohin ſie ſich dachte, im ſteilſten Gebirg, im tiefſten Walde begegnete er ihr und ſah, was ſieLudwig, Zwiſchen Himmel und Erde. 8114wollte, und er mußte ſie verachten. Und was wollte ſie denn? Wollte ſie etwas von ihm? Wenn ſie in Ge¬ danken vor ihm floh und angſtvoll eine Zuflucht ſuchte; war er es nicht wieder, zu dem ſie floh? Wenn ſie in Gedanken eine Bruſt umſchlang, daran ſich auszu¬ weinen, war es nicht ſeine? Der Augenblick, der ſie lehrte, ſie wollte etwas Böſes, hatte ſie ja erſt gelehrt, was ſie wollte. Aennchen war im Zimmer; ſie hatte das Kind nicht bemerkt. Alles Leben der Mutter war bei ihrem innern Kampfe; Aennchen ſah der Mutter nicht an, was in ihr vorging. Sie zog die Mutter auf einen Stuhl und umſchlang ſie nach ihrer Weiſe und ſah zu ihrem Antlitz auf. Die Mutter traf ihr Blick, als käm 'er aus Apollonius' Augen. Aennchen ſagte: Weißt du Mutter? der Onkel Lonius die Mutter ſprang auf und ſtieß das Kind von ſich, als wär 'er's ſelbſt. Sag' mir nichts mehr von ſag 'mir nichts mehr von ihm! ſagte ſie mit ſo zorniger Angſt, daß das Mädchen weinend verſtummte. Aenn¬ chen ſah nicht die Angſt, nur den Zorn in der Mutter Auffahren. Es war Zorn über ſich ſelbſt. Das Mäd¬ chen log, als ſie dem Onkel von der Mutter Zorn über ihn erzählte. Es bedurfte der Erzählung nicht. Hatt' er nicht ſelbſt die rothe Wange geſehn, mit der ſie ſeiner und des Bruders Frage auswich; dasſelbe Roth der zornigen Abneigung, mit dem ſie den Heim¬ kehrenden empfangen?

115

Ach, es war ein wunderlich ſchwüles Leben von da in dem Hauſe mit den grünen Fenſterladen, Tage, Wochen lang! Die junge Frau kam faſt nicht zum Vorſchein, und mußte ſie, ſo lag die brennende Röthe auf ihren Wangen. Apollonius ſaß vom erſten Mor¬ genſchein auf ſeinem Fahrzeug und hämmerte, bis die Nacht einbrach. Dann ſchlich er ſich leiſe von der Hintergaſſe durch Schuppen und Gang auf ſein Stüb¬ chen. Er wollte ihr nicht begegnen, die ihn floh. Fritz Nettenmair war wenig mehr daheim. Er ſaß von früh an bis in die Nacht in einer Trinkſtube, von wo man nach der Ausſteigethür und dem Fahrzeug am Thurmdache ſehen konnte. Er war jovialer als je, traktirte alle Welt, um ſich in ihrer lügenhaften Verehrung zu zerſtreun. Und doch, ob er lachte, ob er würfelte, ob er trank, ſein Auge flog unabläſſig mit den Dohlen um das ſteile Thurmdach. Und wie durch einen Zauber fügte es ſich, nie ſchlich Apollonius durch den Schuppen, ohne daß fünf Minuten früher Fritz Nettenmair in die Hausthür getreten war. Im Schuppen und in der Schiefergrube ſchaltete der Geſell an ſeiner Statt. Er brachte Fritz Nettenmair den Rapport vom Geſchäfte; im Anfang ſchrieb der joviale Herr davon in dicke Bücher, dann nicht mehr. Die Zerſtreuung wurde ihm immer unentbehrlicher; er hatte keine Zeit mehr zum Schreiben. Bis er tief in der Nacht wieder heimkam, wandelte der Geſell in dem8*116Gange vom Wohnzimmer bis zum Schuppen hin und her. Es waren in der Nähe Diebſtähle vorgekommen; der Geſell ſtand Wache: Fritz Nettenmair war daheim ein ängſtlicher Mann geworden. Die übrigen Leute wunderten ſich über das Vertraun Fritz Nettenmair's zu dem Geſellen. Apollonius warnte ihn wiederholt. Freilich! Er hatte Gründe, die Wache nicht zu wün¬ ſchen, am allerwenigſten von dem Geſellen, der ihm nicht gewogen war. Und das eben war Fritz Netten¬ mair's Grund, dem Geſellen zu vertraun, und auf die Warnungen nicht zu hören. Als Fritz Nettenmair zu dem Bruder geſagt: es thut mir leid, war er des Geſellen gewahr geworden. In ſeinem Grinſen hatte er geleſen, der Geſell durchſchaute ihn. Er wußte, was Fritz Nettenmair fürchtete. Da biß er die Zähne aufeinander; eine halbe Stunde ſpäter übertrug er ihm die Wache und die Stellvertretung in Schuppen und Grube. Es koſtete wenig Worte. Der Geſelle ver¬ ſtand, was Fritz ihm ſagte, daß er ſollte; er verſtand auch, was Fritz nicht ſagte und er dennoch ſollte. Fritz Nettenmair traute ſeiner Redlichkeit im Geſchäfte ſo wenig als Apollonius. Er wußte, der Geſelle würde dort mißbrauchen, daß er etwas wußte, was außer ihm und Fritz Nettenmair Niemand wußte und Niemand wiſſen durfte. Die Unredlichkeit des Geſellen dort haftete ihm für ſeine Redlichkeit, wo er ſie nöthiger brauchte. Es war die Sorgloſigkeit fieber¬117 hafter Angſt um alles Andere, was ſich nicht auf ihren Gegenſtand bezieht. Der alte Herr im blauen Rock hatte ſchlimmere Träume, als je; er horchte ge¬ ſpannter, als je, auf jeden flüchtigen Laut, hörte mehr heraus, und baute immer größere Laſten über ſeine Bruſt. Aber er fragte nicht.

Es war eines Abends ſpät. Fritz Nettenmair hatte vom Fenſter der Weinſtube Apollonius ſein Fahr¬ zeug verlaſſen, und an das fliegende Gerüſt binden ſehn, und war nach ſeiner Gewohnheit aus dem Wirths¬ hauſe geeilt, um noch vor ihm heimzukommen. Er traf ſeine Frau in der Wohnſtube bei einer häuslichen Arbeit. Der Geſelle trat herein und machte ſeine gewöhnliche Meldung. Dann ſagte er ſeinem Herrn etwas in's Ohr und ging.

Fritz Nettenmair ſetzte ſich zur Frau an den Tiſch. Hier ſaß er gewöhnlich, bis ein ſchlürfender Tritt des Geſellen im Vorhaus ihm ſagte, Apollonius ſei zu Bett gegangen. Dann ſuchte er ſein Weinhaus wieder auf; er wußte, das Haus war vor Dieben ſicher, der Geſell war bei der Wache. Das Gefühl, wie er ſein Weib in ſeiner Hand hatte, und ſie ſich leidend darein ergab, hatte bisher dem Weine geholfen, einen ſchwachen Wiederſchein der jovialen Herablaſſung über118 ihn zu werfen, die ehedem ſonnenhaft von jedem Knopfe Fritz Nettenmair's geglänzt. Heute war der Wiederſchein ſehr ſchwach. Vielleicht, weil ihr Auge nicht den Boden geſucht, als es ſein Blick berührte. Er that einige gleichgültige Fragen und ſagte dann: Du biſt heute luſtig geweſen. Sie ſollte fühlen, er wiſſe Alles, was im Haus geſchehe, ſei er auch ſelbſt nicht drinn. Du haſt geſungen. Sie ſah ihn ruhig an und ſagte: Ja. Und morgen ſing 'ich wieder; ich weiß nicht, warum ich nicht ſoll. Er ſtand geräuſch¬ voll vom Stuhle auf und ging mit lauten Tritten hin und her. Er wollte ſie einſchüchtern. Sie erhob ſich ruhig und ſtand da, als erwarte ſie einen Angriff, den ſie nicht fürchtete. Er trat ihr nah, lachte heiſcher und machte eine Handbewegung, vor der ſie erſchreckend zurückweichen ſollte. Sie that es nicht. Aber das Roth des beleidigten Gefühls trat auf ihre Wangen. Sie war ſcharfſinnig geworden, argwöhniſch dem Gatten gegenüber. Sie wußte, daß er ſie und Apollonius bewachen ließ. Und hat er dir weiter nichts geſagt? fragte ſie. Wer? fuhr Fritz Nettenmair auf. Er zog die Schultern empor und meinte, er ſäh' aus wie der im blauen Rock. Die junge Frau antwortete nicht. Sie zeigte nach der Kammerthür, in der das kleine Aennchen ſtand. Der Spion! Der Zwiſchenträger! preßte der Mann hervor. Das Kind kam ängſtlich mit zögernden Schritten. Es war im Hemdchen. Fritz Nettenmair119 ſah nicht das Flehen in des Kindes Blick, er ſollte der Mutter gut ſein, die Mutter ſei auch gut. Er ſah nicht, wie das häusliche Zerwürfniß auf dem Kinde laſtete und es bleich gemacht; wie es den Zu¬ ſtand mit durchlitt, ohne ihn zu verſtehn. Er ſah nur, wie geſpannt es horchte, um dem erzählen zu können, der es zum Horchen abgerichtet. Es wollte ſeine Knie umſchlingen, ſein Blick, ſeine gehobene Fauſt drängte es zurück. Die Mutter nahm das Kind in ſtillem Schmerz auf die Arme, und trug es in die Kammer und in ſein Bett zurück. Sie fürchtete, was der Mann ihm thun konnte. Was er ihr thun konnte, das fürchtete ſie nicht. Sie ſagte es dem Manne, als ſie wieder hereinkam und die Thüre verſchloſſen, wie um das Kind vor ihm zu retten. Ich bin eins ge¬ worden mit mir, ſagte ſie und in ihren Augen ſtand das mit ſo glänzender Schrift, daß der Mann wieder hin und herſchritt, um nicht hineinſehn zu müſſen. Ich bin eins geworden mit mir. Die Gedanken ſind gekommen, daran bin ich nicht ſchuld und ich hab 'ſie nicht kommen heißen. Ich hab' nicht gewußt, ſie waren bös. Dann hab 'ich mit den Gedanken ge¬ kämpft, und ich will nicht müd' werden, ſo lang 'ich lebe. Ich bin mit meiner Seele an dem Bett meiner ſeligen Mutter geweſen, wo ſie geſtorben iſt, und hab' ſie liegen ſehn, und hab 'die drei Finger auf ihr Herz gelegt. Ich hab' ihr verſprochen, ich will nichts Un¬120 ehrliches thun und leiden, und hab 'ſie mit Thränen gebeten, ſie ſoll mir helfen, nichts Unehrliches thun und leiden. Ich hab' ſo lang verſprochen und ſo lang gebeten, bis alle Angſt fortgeweſen iſt, und ich hab 'gewußt, ich bin ein ehrlich Weib und ich will ein ehr¬ lich Weib bleiben. Und Niemand darf mich verachten. Was du mir thun willſt, davor fürcht' ich mich nicht und wehr 'mich nicht. Du thuſt's auf dein Gewiſſen. Aber dem Kinde ſollſt du nichts thun. Du weißt nicht, wie ſtark ich bin, und was ich thun kann. Ich leid' es nicht; das ſag 'ich dir!

Sein Blick flog ſcheu an der ſchlanken Geſtalt vorüber, er berührte nicht das bleiche ſchöne Antlitz; er wußte, ein Engel ſtand darauf und drohte ihm. O er wußte, er fühlte, wie ſtark ſie war; er empfand, wie mächtig der Entſchluß eines ehrlichen Herzens ſchirmt. Aber nur gegen ihn! er empfand es an ſeiner Schwäche. Er fühlte, ihr mußte glauben, wer glauben durfte. Dies Recht hatte er im unehrlichen Spiele verſpielt. Er hätte ihr glauben müſſen, wußt 'er nicht, es mußte kommen, was kommen mußte. Sie nicht, Niemand konnte es verhindern. Einen Rettungsweg zeigte ihm ſein Engel, eh' er ihn verließ. Wenn er redlich, unabläſſig ſich mühte, gut zu machen, was er an ihr verſchuldet. Wenn er ihr die Liebe thätig zeigte, die die Angſt vor dem Verluſte ihn gelehrt. Hatt 'er nicht Helfer? Mußten die Kinder nicht ſeine121 Helfer ſein? Und ihr Pflichtgefühl, das ſo ſtark war? Die todte Mutter, an deren Bett ſie in Gedanken ge¬ treten, auf deren Herz ſie ihre Schwurfinger gelegt? Aber eben das, worauf er hofft, ihre Reinheit, ſcheucht ihn zurück, wie er ſich ihr nahen will. Und er iſt dem Geſpenſte ſeiner Schuld verfallen, dem Gedanken der Vergeltung, der ihn unwiderſtehbar treibt, das zu ſchaffen, was er verhindern will. Zu tief hat ihn die lange, ſtete Gewohnheit, ihn zu denken, eingegraben. Hoffnung und Vertrau'n ſind dem Gedanken fremd; der Haß iſt ihm verwandter. Ihn ruft er zu Hülfe. Draußen ſchlürft der Fuß des Geſellen auf dem Sande des Vorhauſes. Das Haus iſt ſicher vor Dieben. Er kann wieder gehn.

Fritz Nettenmair iſt heute im Weinhaus ſo jovial, als er ſein kann. Seine Schmeichler haben Durſt und laſſen ſich ſeine Herablaſſung gefallen. Er trinkt, ſchlägt ſeinen Gäſten die Hüte über die Ohren in's Geſicht, und übt mit Stock und Hand noch manche andere zarte Liebkoſungen, und belacht ſie als geiſtreiche Scherze mit bewunderndem Lachen. Er thut Alles, ſich zu vergeſſen; es gelingt ihm nicht. Könnt 'er mit ſeiner jungen Frau tauſchen, die unterdeß einſam daheim ſitzt! Wonach er ſich ſehnt: ſich zu vergeſſen, dagegen muß ſie ſich wehren. Was er muß, was er mit aller Mühe nicht abwenden kann, danach ringt ſie und es will ihr nicht gelingen ſich auf ſich ſelbſt122 zu beſinnen. Was hilft's daß ſie's dem Kinde verbot? all' ihre Gedanken reden ihr von Apollonius. Sie meinte, ſie wich ihm aus, und ſie ſieht, er flieht ſie. Sie ſollte ſich freun, und es thut ihr weh. Ihre Wangen brennen wieder. Eigen iſt's, daß ſie ſelbſt ihren Zuſtand ſtrenger oder milder anſieht, je nachdem ſie in Gedanken Apollonius ſtrenger oder milder darüber urtheilend glaubt. So iſt er ihr das unwillkührliche Maas der Dinge geworden. Weiß er, wie ſie iſt, und verachtet ſie? Er iſt ſo mild und nachſichtig; er hat die Anne nicht verſpottet, nicht verachtet; er hat ihr das Wort geredet gegen fremde Verachtung und Spott. Hat ſie ſchon, eh' er kam, Gedanken gehabt, die ſie nicht haben ſollte, und er hat ſie errathen? Iſt ſie ſich doch, als wär 'ſie mit Allem, was ſie weiß und wünſcht, nur ein Gedanke in ihm, den er weiß, wie ſeine andern. Und ſie hat ihn gedauert; und darum ſah er ihr mit traurigem Blicke nach, wenn ſie ging? Ja! Gewiß! Und nun floh er ſie aus Schonung; ſein Anblick ſollte nicht Gedanken in ihr wecken, die beſſer geſchlafen hätten, bis ſie ſelber ſchlief im Sarg. Er vielleicht ſelbſt hatte es ihrem Manne geſagt oder geſchrieben; und dieſer hatte das Mittel gewählt, ſie durch Widerwillen zu heilen.

War's Zufall, daß ſie in dieſem Augenblicke nach ihres Mannes Schreibpult blickte? Sie ſah, er hatte den Schlüſſel abzuziehn vergeſſen. Sie erinnerte ſich, er123 war nie ſo nachläſſig geweſen. Sonſt hatte ſie keine Acht darauf gehabt; jetzt erſt fiel ihr auf, er war, wußte er ſie zugegen, nicht auf Augenblicke aus dem Zimmer gegangen, ohne zu ſchließen und den Schlüſſel abzuziehn. Im oberſten Fache rechts lagen Apollonius 'Briefe; ihr Blick war ſonſt der Stelle ausgewichen. Jetzt öffnete ſie das Pult und zog das Fach heraus. Ihre Hände zitterten, ihre ganze Geſtalt bebte. Nicht aus Furcht, ihr Mann könnte ſie dabei überraſchen. Sie mußte wiſſen, wie es ſtand zwiſchen ihr, Apollo¬ nius und ihrem Mann; ſie hätte dieſen gefragt; ſie hätte ſich nicht ſelbſt geholfen, konnte ſie ihrem Manne trau'n. Sie bebte vor Erwartung, was ſie finden wird. Ob ſie etwas davon ahnt, was ſie finden wird?

Es waren viel Briefe in dem Fach; und alle lagen offen und entfaltet darin. Und alle ſchienen nur Ab¬ drücke eines einzigen zu ſein, ſo ſehr glichen ſie ſich. Nur daß die Züge in den erſten weicher erſchienen. Wie abgezirkelt ſtand die Anrede in jedem genau auf derſelben Stelle; genau um eben ſoviel Zoll und Linien darunter der Beginn des Briefs. Der Abſtand der ſchnurgeraden Zeilen von einander und vom Rande des Bogens war in allen der gleiche; nichts war aus¬ geſtrichen; keine kleinſte Unregelmäßigkeit verrieth die Stimmung des Schreibers oder eine Veränderung der¬ ſelben; ein Buchſtabe genau wie der andere.

124

Sie berührte die Briefe alle, einen um den andern, eh 'ſie las. Mit jedem ſchlug neue glühende Röthe über ihre Wangen, als berührte ſie Apollonius ſelbſt, und ſie zog die Hand unwillkührlich zurück. Jetzt fiel mit einem Briefe eine kleine metallene Kapſel in den Kaſten zurück; die Kapſel fuhr auf, und heraus fiel eine kleine dürre Blume. Ein kleines blaues Glöckchen. Solch ein's, wie ſie einſt auf die Bank gelegt, damit er es finden ſollte. Sie erſchrack. Jene hatte Apollo¬ nius ja noch denſelben Abend mit Spott und Hohn unter ſeinen Kameraden ausgeboten, und gefragt, was ſie gäben, und dann unter dem Lachen Aller dem Bru¬ der feierlich zugeſchlagen. Dieſer brachte ſie. ihr und erzählte ihr's während des Tanzens, und Apollonius ſah zum Saalfenſter herein, höhnend, wie der Bruder ſagte. Jene hatte ſie zerpflückt; das junge Volk war über die Trümmer hingetanzt. Die Blume in der Kapſel war eine andere. Es mußte in dem Briefe ſtehn, von wem ſie war, oder wem Apollonius ſie ſchickte.

Und doch war's dieſelbe Blume. Sie las es. Wie ward ihr, als ſie las, es war dieſelbe! Thräne um Thräne ſtürzte auf das Papier und aus ihnen quoll ein roſiger Duft und verhüllte die engen Wände des Stübchens. In dem Duft regte ſich ein Weh'n, wie von leiſem Morgenwind im Lenz, wenn er die leichten Nebel flatternd ballt, und durch die Riſſe blauer125 Himmel lacht und goldene Höh'n. Und immer weiter wird der Blick, und wie der Schleier wogend tief und tiefer ſinkt, ſteigen rauſchende Wälder auf, grüne Wie¬ ſen mit ihrem Blumenſchmelz, trauliche Gärten mit laubigen Schatten, Häuſer mit glücklichen Menſchen. O es war eine Welt von Glück, von Lachen und Wei¬ nen vor Glück, die aus den Thränen ſtieg, jede färbte ſie regenbogenglänzender, jede rief: ſie war dein, und die letzte jammerte: und ſie iſt dir geſtohlen! Die Blume war von ihr; er trug ſie auf ſeiner Bruſt in Sehnſucht, Hoffen und Fürchten, bis die des Bruders war, deren er dabei gedachte. Dann warf er ſie, die Botin des Glückes, dem geſchiedenen nach. Er war ſo brav, daß er für Sünde hielt, die arme Blume dem vorzuenthalten, der ihm die Geberin geſtohlen. Und an ſolchem Manne hätte ſie hängen dürfen, mit allen Pulſen ſich in ihn drängen, ihn mit tauſend Armen der Sehnſucht umſchlingen zum Nimmerwiederfahrenlaſſen! Sie hätte es gekonnt, gedurft, geſollt! es wär 'nicht Sünde geweſen, wenn ſie es that; es wäre Sünde geweſen, that ſie es nicht. Und nun wär's Sünde, weil der ſie und ihn betrogen, der ſie nun quälte um das, was er zur Sünde gemacht? Der ſie zur Sünde zwang; denn er zwang ſie, ihn zu haſſen; und auch das war Sünde, und durch ſeine Schuld. Der ſie zwang er zwang ſie zu mehr, zu Gedanken, die mit Gott im Himmel hadern wollten, zu Gedanken,126 die aus der Liebe und dem Haſſe, die Gott verbot, ein Recht machen wollten, zu ſchrecklich klugen, verfüh¬ reriſch flüſternden, wilden, heißen, verbrecheriſchen Ge¬ danken. Und wies ſie dieſe ſchaudernd von ſich, dann ſah ſie unabſichtliche Sünde unabwendbar droh'n. Mit entſetzlich ſüßem Bangen wußte ſie den Mann ſo nah, der ihr fremd ſein ſollte, der ihr nicht fremd war, vor dem ſie in der Angſt ihrer Schwäche keine Rettung ſah. Sie floh vor ihm, vor ſich ſelbſt, in die Kammer, wo ihre Kinder ſchliefen, wo ihre Mutter geſtorben war. Dorthin, wo ihr ſo heilig wurde, hörte ſie das leiſe Regen der unſchuldig ſchlummernden Leben, zu deren Hüterin ſie Gott geſezt; die ruhigen Hauche hinflüſtern durch die ſtille, dunkle Nacht. Jeder Hauch ein ſorg¬ los ſüß aufgelöſtes Sichbefehlen an die unbekannte Macht, die das All in ihren Mutterarmen trägt. Sie ging von Bett zu Bett, und lag knieend regungslos davor, und legte die Stirn an die ſcharfen Brettkanten. Vom Sankt Georgenthurme her klangen die Glocken, wie ſie der Schritt der Zeit berührte; und er hielt nicht an im Wandern. Es ſchlug Viertel, Halb, Dreiviertel, Ganz, und wieder Viertel, und wieder Halb. Das leiſe Weh'n der ſchlummernden Kinderſeelen zitterte um ſie. Sie lag, die heißen Hände gefalten, lange, lang. Da ſtieg's empor aus dem leiſen Weben, ſilbern wie ein Oſtermorgenglockenklang. Was fürchteſt du dich vor ihm? Und ſie ſah all' ihre Engel um ſich knieen,127 und er war einer von ihren Engeln. Der ſchönſte und der ſtärkſte und der mildeſte. Und ſie durfte zu ihm aufſehn, wie man zu ſeinen Engeln aufſieht. Sie ſtand auf und ging in die Stube zurück. Die Briefe breitete ſie auf dem Tiſche aus, dann ging ſie zur Ruhe. Ihr Beſitzer ſollte wiſſen, wenn er heimkehrte und die Briefe fand, ſie hatte ſie geleſen. Nicht, um ihn zu erſchrecken, nicht als eine Anklage, wie ſie auch von ihm denken mochte. Er las davon ab, was das Bewußtſein ſeiner Schuld darauf ſchrieb; er las aus ſeiner Beleidigung ihr Rachedroh'n und ihre Pläne, es in's Werk zu ſetzen. Er kannte ihre Wahrhaftigkeit; wär' er ſo rein geweſen, als ſie, er hätte gewußt, ſie hatte nur dem Triebe ihrer ehrlichen Natur genügt. Sie ſchied ſchwer von den Briefen: aber ſie gehörten nicht ihr. Nur die Kapſel mit der dürren Blume nahm ſie weg und wollte ihm am Morgen ſagen, daß ſie es gethan.

Fritz Nettenmair ſaß noch ganz allein im Wein¬ haus. Das Haupt hing ihm müde auf die Bruſt herab. Er rechtfertigte vor ſich ſeinen Haß und ſein Thun. Der Bruder und ſie waren falſch; der Bruder und ſie waren Schuld, nicht er, daß er hier vergeu¬ dete, was ſeinen Kindern gehörte. Wer ihm ihr Herz geſtohlen, konnte für ſie ſorgen. Eben war es ihm gelungen, ſich zu überzeugen, als daheim die Kammer¬ thüre ging. Die Frau war wieder vom Bette auf¬ geſtanden und legte auch die Kapſel mit der Blume128 wieder zu den Briefen. Apollonius hatte ſie nicht behalten, ſie durfte es auch nicht. Der Gatte dachte noch nicht an's Heimgeh'n, als ſie die Decke wieder über ihre reinen Glieder breitete. Ueber dem Gedan¬ ken, ſo fort ſollte Apollonius ihr Leitſtern ſein, und wenn ſie handelte, wie er, blieb 'ſie rein und bewahrt, ſchlief ſie ein und lächelte im Schlummer wie ein ſorglos Kind.

Das Leben in dem Hauſe mit den grünen Laden wurde immer ſchwüler. Die gegenſeitige Entfremdung der Gatten nahm mit jedem Tage zu. Fritz Netten¬ mair behandelte die Frau immer rückſichtsloſer, wie ſeine Ueberzeugung wuchs, durch Schonung ſei nichts mehr zu gewinnen. Dieſe Ueberzeugung floß aus der immer kältern Ruhe der Verachtung, die ſie ihm ent¬ gegenſetzte; er dachte nicht, daß er ſelbſt ſie zu dieſer Verachtung zwang. Es war eine unglückliche, immer ſteigende Wechſelwirkung. So wenig Apollonius mit dem Bruder und der Schwägerin zuſammentraf, ihr Zerwürfniß mußte er bemerken. Es machte ihn un¬ glücklich, daß er die Schuld davon trug. In welcher Weiſe er ſie trug, das ahnte er nicht. Während die Schwägerin mit liebender Verehrung an ihm hing und ſich und ihrem ganzen Hausweſen ſeine Phyſiognomie aufprägte, grübelte er über den Grund ihres unbeſieg¬129 baren Widerwillens. Der Bruder that nichts, dieſen Irrthum zu berichtigen; er beſtätigte ihn vielmehr. Zuweilen, indem er ihn überlegen bei ſich verlachte, wenn Weinlaune und geſchmeichelte Eitelkeit ihre Wir¬ kung thaten. Der Stunden der Erſchlaffung, der Un¬ zufriedenheit mit ſich ſelbſt waren freilich mehr. Dann zwang er ſich, Verſtellung darin zu ſehn, um an dem Mitleid mit ſich ſelber den Haß gegen die Andern, in dem ihm wohl war, zu ſchärfen. Apollonius wußte wenig von der Lebensweiſe des Bruders. Fritz Net¬ tenmair verbarg ſie ihm aus dem unwillkürlichen Zwang, den Apollonius 'tüchtiges Weſen ihm abnöthigte, den er aber Niemand, am wenigſten ſich ſelbſt eingeſtanden haben würde. Und die Arbeiter wußten, daß ſie Apol¬ lonius mit Nichts kommen durften, was nach Zuträ¬ gerei ausſah, am wenigſten, wenn es ſeinen Bruder betraf, den er gern von Allen geachtet geſehen hätte, mehr als ſich ſelbſt. Aber er hatte bemerkt, Fritz ſah ihn als einen Eindringling in ſeine Rechte an, der ihm Geſchäft und Thätigkeit verleidete. Apollonius fühlte ſich von dem Tage ſeiner Rückkehr nicht wohl daheim; er war ſeinen Liebſten hier eine Laſt; er dachte oft an Köln, wo er ſich willkommen wußte. Bis jetzt hielt ihn die moraliſche Verpflichtung, die er in Rück¬ ſicht der Reparatur auf ſich genommen. Dieſe ging mit raſchen Schritten ihrer Vollendung entgegen. SoLudwig, Zwiſchen Himmel und Erde. 9130durfte der Gedanke ſeine Verwirklichung fordern, und er theilte ihn dem Bruder mit.

Es wurde Apollonius anfangs ſchwer, den Bruder zu überzeugen, es ſei ihm Ernſt mit der Rückkehr nach Köln. Fritz hielt es erſt für einen liſtigen Vorwand, ihn ſicher zu machen. Der Menſch gibt ebenſo ſchwer eine Furcht auf, als eine Hoffnung. Und er hätte ſich eingeſtehen müſſen, er habe den zwei Menſchen Unrecht gethan, die des Unrechtes an ihm anzuklagen ihm eine Gewohnheit geworden war, in der er eine Art Behagen fand. Er hätte dem Bruder ein zweites Unrecht verzeihen müſſen, das dieſer von ihm gelitten. Er fand ſich erſt darein, als es ihm gelungen war, im Bruder wieder den alten Träumer zu ſehn, und in deſſen Vorhaben eine Albernheit; als er ein unwill¬ kührliches Eingeſtändniß darin ſah, der Bruder begreife in ihm den überlegenen Gegner und gehe aus Ver¬ zweiflung am Gelingen ſeines ſchlimmen Planes. In dem Augenblick erwachte die ganze alte joviale Herab¬ laſſung wie aus einem Winterſchlaf. Seine Stiefeln knarrten wieder: da iſt er ja! und: nun wird's famos! läuteten ſeine Petſchafte den alten Triumph. Die Stiefeln übertönten, was ihm ſein Verſtand von den nothwendigen Folgen ſeiner Verſchwendung, von ſeinem Rückgange in der allgemeinen Achtung vorhielt. Es war ihm, als ſei Alles wieder ſo gut als je, war nur der Bruder fort. Er glaubte ſogar vorgreifend an131 ſeine außerordentliche Großmuth, dem Bruder zu ver¬ zeihn, daß er da geweſen. Er richtete ſich vor dem Bruder ſchon in der ganzen alten Größe wieder auf, in der er als alleiniger Chef des Geſchäfts dem An¬ kömmling gegenüber geſtanden, und winkte ihm mit ſeinem herablaſſendſten Lachen zu, er wolle es ſchon durchſetzen bei dem im blauen Rock. Der ſelber müſſe Apollonius fortſchicken.

Die junge Frau fühlte anders. Fritz Nettenmair war zu klug, ihr vorläufig davon zu ſagen. Aber der alte Valentin war nicht ſo klug und wußte nicht, warum er ſo klug ſein ſollte. Der alte Valentin war ein närriſcher Geſelle. Dem alten Herrn ſagte er nichts. Es war wunderlich, wie gewiſſenhaft er ſeine Pflicht an das Haus vertheilte, der ehrlichſte Achſel¬ träger, den es je gegeben. Er verrieth den jungen Leuten nie etwas, was er dem alten Herrn abgemerkt; aus Treue gegen den blauen Rock verbarg er es den Jungen ſo angeſtrengt, als der alte Herr ſelbſt. Aber er war auch den Jungen ſo treu ergeben, daß der alte Herr von ihnen Nichts durch ihn erfuhr, als was ſie ſelber wollten, und hätte der alte Herr gethan, was er nie that, ihn danach gefragt.

Der jungen Frau war's, als ſollte ihr Engel von ihr ſcheiden. Sie empfand, daß ſie in ſeiner Nähe ſicherer vor ihm war, als von ihm entfernt. Denn all der Zauber, der ihren Wünſchen wehrte, ſündhaft9 *132zu werden, floß ja aus ſeinen ehrlichen Augen auf ſie nieder. Von der Stirn, die ſo rein war, daß ein ſündhafter Blick verzweifelte, ſie befleckend in ſein Be¬ gehren mit zu reißen, und ſelbſt gereinigt und reinigend in die Seele zurückkam, die ihn geſchickt.

Aber Apollonius ſollte nicht gehn. Und das durch des Bruders Schuld, den allein in der ganzen Stadt ſein Gehen freute. Aber er wird ſie nicht anerkennen; auch dieſe wird er von ſich ab und auf den Bruder ſchieben. Apollonius hatte auch dem Bauherrn von ſeinem Entſchluſſe geſagt. Es befremdete ihn, daß der brave Mann, der ſonſt Alles, was Apollonius thun würde, ſchon im Voraus gebilligt, als könnte Apollonius nichts thun, was er nicht billigen müßte, die Mitthei¬ lung mit fremder, wie verwundert einſylbiger Kälte aufnahm. Er drang in ihn, ihm den Grund dieſer Veränderung zu ſagen. Die braven Männer verſtän¬ digten ſich leicht. Der Bauherr ſagte ihm, nachdem er ſich gewundert, Apollonius damit unbekannt zu finden, was er von des Bruders Lebensweiſe wußte, und war der Meinung, das Geſchäft und das Haus ſeines Vaters könne ohne Apollonius Hülfe nicht beſtehn. Er verſprach, ſich weiter nach der Sache zu erkundigen und war bald im Stande, Apollonius nähere Auf¬ klärungen zu geben. Hier und da in der Stadt war der Bruder nicht unbedeutende Summen ſchuldig, das Schiefergeſchäft war, beſonders in der letzten Zeit, ſo133 ſaumſelig und ungewiſſenhaft betrieben worden, daß manche vieljährige Kunden bereits abgeſprungen waren und andere Begriff ſtanden, es zu thun. Apollonius erſchrack. Er dachte an den Vater, an die Schwägerin und an ihre Kinder. Er dachte auch an ſich, aber eben das eigene ſtarke Ehrgefühl ſtellte ihm zuerſt vor, was der alte, ſtolze, rechtliche blinde Mann leiden müßte bei der Schande eines möglichen Concurſes. Er fand ſein Brod; aber des Bruders Weib und Kinder? Und ſie waren des Darbens nicht gewohnt. Er hatte gehört, das Erbe der Frau von ihren Aeltern war ein anſehnliches geweſen. Er ſchöpfte Hoffnung, es könne noch zu helfen ſein. Und er wollte helfen. Kein Opfer von Zeit und Kraft und Vermögen ſollte ihm zu ſchwer werden. Konnte er den Verfall nicht aufhalten, darben ſollten die Seinigen nicht. Der wackere Bauherr freute ſich über ſeines Lieblings Denkart, auf die er gerechnet, die vermiſſen zu müſſen ihn befremdet hatte. Er bot Apollonius ſeine Hülfe an. Er habe weder Frau noch Kinder, und Gott ihn etwas erwerben laſſen, um einem Freunde damit zu helfen. Noch nahm Apollonius kein Anerbieten an. Er wollte erſt ſehn, wie's ſtand, und ſich Gewißheit ver¬ ſchaffen, ob er ein ehrlicher Mann bleiben konnte, nahm er den freundlichen Erbieter beim Wort.

Es kamen ſchwere Tage für Apollonius. Der alte Herr durfte noch nichts wiſſen und, war ſeine134 Ehre aufrecht zu erhalten, auch nicht erfahren, daß ſie gewankt. Apollonius bedurfte dem Bruder gegenüber ſeine ganze Feſtigkeit und ſeine ganze Milde. Er mußte ihm täglich imponiren und mußte ihm ſtündlich ver¬ zeihn. Es war ſchon nicht leicht, den Stand ſeines Vermögens, ſeine Gläubiger und den Betrag der Schulden von ihm zu erfahren. Vergebens machte Apollonius ſeine gute Meinung geltend, der Bruder glaubte ihm nicht; und hätt 'er ihm glauben müſſen, er hätte ihn darum nicht weniger gehaßt. Er haßte ſich ſelbſt in Apollonius, und haßte ihn darum um ſo mehr, je haſſens¬ werther ſein eigenes Thun ihm erſchien. Als Apollonius die Gläubiger und die Beträge wußte, unterſuchte er den Stand des Geſchäftes und fand ihn verwirrter, als er gefürchtet. Die Bücher waren in Unordnung; in der letzten Zeit war gar nichts mehr eingetragen worden. Es fanden ſich Briefe von Kunden, die ſich über ſchlechte Waare und Saumſeligkeit beklagten, andere mit Rechnungen von dem Grubenbeſitzer, der neue Beſtellungen nicht mehr creditiren wollte, da die alten noch nicht bezahlt. Das Vermögen der Frau war zum größten Theile verthan; Apollonius mußte den Bruder zwingen, die Reſte davon herauszugeben. Er mußte mit den Gerichten drohn. Was litt Apol¬ lonius mit ſeinem ängſtlichen Ordnungsbedürfniß mitten in ſolcher Verwirrung, was, mit ſeinem ſtarken Gefühl für ſeine Angehörigen, dem Bruder gegenüber! Und135 doch ſah dieſer in jeder Aeußerung, jedem Thun des Leidenden nur ſchlecht verhehlten Triumph. Nach un¬ endlichen Müh'n gelang Apollonius eine Ueberſicht des Zuſtandes. Es ergab ſich, wenn die Gläubiger Geduld zeigten und man die Kunden wieder zu gewin¬ nen vermochte, ſo war mit ſtrenger Sparſamkeit, mit Fleiß und Gewiſſenhaftigkeit die Ehre des Hauſes zu retten, und ermüdete man nicht, konnten die Kinder des Bruders einſt ein wenigſtens ſchuldenfreies Geſchäft als Erbe übernehmen. Apollonius ſchrieb ſogleich an die Kunden, dann ging er zu den Gläubigern des Bruders. Die erſten wollten es noch einmal mit dem Hauſe verſuchen; man ſah, ſie gingen ſicher; ihre neuen Beſtellungen waren wenig mehr als Proben. Bei den Gläubigern hatte er die Freude, zu ſehn, welches Vertrau'n er bereits in ſeiner Vaterſtadt ge¬ wonnen. Wenn er die Bürgſchaft übernahm, blieben die ſchuldigen Summen als Capitale gegen billige Zinſen bis zur allmäligen Tilgung durch jährliche Abzahlungen ſtehn. Manche wollten ihm noch baares Geld dazu anvertraun. Er machte keinen Verſuch, die Wahrheit dieſer Verſicherungen auf die Probe der That zu ſtellen, und gewann dadurch das Vertraun der Verſichernden nur noch mehr. Nun ſtellte er dem Bruder anſpruchslos und mit Milde dar, was er ge¬ than und noch thun wolle. Vorwürfe konnten nichts helfen, und Ermahnungen hielt er für unnütz, wo die136 Nothwendigkeit ſo vernehmlich ſprach. Der Bruder konnte, wenn Apollonius die Leitung des Ganzen, des Geſchäftes und des Hausweſens, alle Einnahmen und Ausgaben von nun allein und vollkommen ſelbſtändig übernahm, keine willkührliche Beeinträchtigung darin ſehn. In der Sache, in der er ſeine Ehre zum Pfande geſetzt, mußte Apollonius frei ſchalten können. Und das ungeſtörte Zuſammenwirken all der Thätigkeiten, durch die allein der beabſichtigte Erfolg zu erreichen war, verlangte die Leitung einer einzigen Hand.

Vor allen Dingen mußte das Verkaufsgeſchäft wieder in Aufnahme gebracht werden. Der Gruben¬ herr hatte immer ſchlechtere Waaren geliefert und der Bruder ſie für gute annehmen müſſen, um nur über¬ haupt Waare zu erhalten; die Anerbieten der übrigen Gläubiger, die Schuld als Capital ſtehen zu laſſen, nahm er an, um mit dem, was von den Vermögens¬ reſten der Frau zunächſt flüſſig gemacht werden konnte, dem Grubenherrn die alte Schuld abzutragen und eine bedeutende neue Beſtellung ſogleich baar zu bezahlen. So erhielt man wieder und zu billigerem Preiſe gute Waare, und konnte auch ſeine Abnehmer bewähren. Der Grubenherr, der bei dieſer Gelegenheit Apollonius und ſeine Kenntniß des Materials und ſeiner Behand¬ lung kennen lernte, machte, da er alt und arbeitsmüde war, ihm den Antrag, die Grube zu pachten. Bei den Bedingungen, die er ſtellte, konnte Apollonius auf137 großen Nutzen rechnen, aber noch, wo er in ſchwerer Lage auf ſich allein ſtand, durfte er ſeine Kräfte nicht zwiſchen mehre Unternehmungen theilen.

Apollonius entwarf ſeinen Plan für das erſte Jahr und ſetzte ein Gewiſſes feſt, das der Bruder zur Führung ſeines Hausſtandes allwöchentlich von ihm in Empfang zu nehmen hatte. Er dankte von den Leuten ab, wer nur irgend zu entbehren war. Den ehrlichen Valentin machte er zum Aufſeher für die Zeit, wo er ſelbſt in Geſchäften auswärts ſein mußte. Es lag gegründeter Verdacht vor, daß der ungemüth¬ liche Geſelle mancher Veruntreuung ſich ſchuldig ge¬ macht. Fritz Nettenmair, der an dem Wächter ſeiner Ehre, wie an ihrem letzten Bollwerke feſthielt, that Alles, ihn zu rechtfertigen und dadurch im Hauſe zu erhalten. Der Geſelle hatte zu Allem, was man ihm vorwarf, ausdrücklichen Befehl von ihm gehabt. Apol¬ lonius hätte den Geſellen gern gerichtlich belangt; er mußte ſich genügen laſſen, ihn abzulohnen und das Haus ihm zu verbieten. Apollonius war unerbittlich, ſo mild er ſeine Gründe dem Bruder vortrug. Jeder Unbefangene mußte ſagen, er durfte nicht anders, der Geſelle mußte fort. Auch Fritz Nettenmair dachte, als er allein war, aber mit wildem Lachen: Freilich muß er fort! In dem Lachen klang eine Art Genugthuung, daß er recht gehabt, eine Schadenfreude, mit der er ſich ſelbſt verhöhnte. Der Federchenſucher wär 'ein Narr,138 wenn er ihn nicht ſchickte. Ein Narr, wie ich einer war, daß ich glaubte, er würde ihn doch behalten. O ich bin zu ehrlich, zu dummehrlich gegen ſo einen. Was geh'n ihn meine Schulden an? In ſeiner Gewalt wollt' er mich haben; darum zwang er mich, Schulden zu machen, damit er den Geſellen fortſchicken konnte, der ihm hinderlich war. Herr im Hauſe wollt 'er ſein, darum verdrängte er mich aus einer Stellung nach der andern, um mit ihr zuſammen zu kommen ohne mich. Damit er mich einſchüchtern könnte, daß ich's leiden müßte, was er will. Und wenn er recht hat, warum läßt er ſich ſoviel von mir gefallen? Ein ehrlicher Kerl, wie ich, wär' anders gegen mich. Es iſt ſein bös Gewiſſen. Er wär 'nicht ſo, wär' er nicht falſch. Eine Zwickmühle iſt's. Was das Einſchüchtern nicht hilft, das ſoll das Einſchmeicheln helfen. Er iſt mir nicht klug genug. Ich bin einer, der die Welt beſſer kennt, als der Träumer!

So beſtärkte ihn, was Apollonius ihm zeigen mochte, Strenge und Milde, nur in dem Gedanken, der ihn, je länger er ihn hegte und mit ſeinem Herz¬ blut fütterte, um ſo weniger losließ und um ſo durſtiger wurde, ſein Herzblut zu trinken. Er ſah kein äußeres Hinderniß mehr, das des Bruders verbrecheriſche Ab¬ ſicht verhindern konnte. Von nun an wechſelte ſein Seelenzuſtand zwiſchen verzweifelter Ergebung in das, was nicht mehr zu verhindern, ja! wohl ſchon geſchehen139 war, und zwiſchen fieberiſcher Anſtrengung, es dennoch zu verhindern. Danach geſtaltete ſich ſein Benehmen gegen Apollonius als unverhehlter Trotz oder als kriechend lauernde Verſtellung. Beherrſchte ihn die erſte Meinung, dann ſuchte er Vergeſſen Tag und Nacht. Zu ſeinem Unglück hatte der Geſell im nahen Schieferbruche Arbeit gefunden und war ganze Nächte lang 'ſein Gefährte. Die bedeutenden Leute wandten ſich von ihm und rächten ſich mit unverhohlener Ver¬ achtung für das Bedürfniß, das er ihnen geweckt und nicht mehr befriedigen konnte, und vergalten ihm nun die joviale Herablaſſung, die ſie von ihm ertrugen, ſo lange er ſie mit Champagner bezahlte. Er wich ihnen aus und folgte dem Geſellen an die Oerter, wo dieſer heimiſch war. Hier griff er die joviale Herablaſſung um eine Oktave tiefer. Nun ertönten die Branntwein¬ kneipen von ſeinen Späſſen und dieſe nahmen immer mehr von der Natur der Umgebung an. Hatten ſie doch in beſſern Zeiten eine wie vordeutende Verwandt¬ ſchaft mit dieſen gezeigt. Es kam die Zeit, wo er ſich nicht mehr ſchämte, der Kamerad der Gemeinheit zu ſein. Während Apollonius den Tag über für die An¬ gehörigen des Bruders hämmerte auf ſeinem gefähr¬ lichen Schiff, und die Nächte über Büchern und Briefen ſitzt und den wohlverdienten Biſſen ſich abdarbt, um gut zu machen mit liebendem Eifer, was der Bruder verdorben, erzählt dieſer in den Schenken, wie ſchlecht140 Apollonius an ihm gehandelt, weil er brav ſei und der Bruder ſchlecht. Er erzählt es ſo oft, daß er ſelbſt es glaubt. Und bedauert die Gläubiger, die ſich von dem Scheinheiligen bürgen ließen, der ſie alle betrügen wird, und erzählt erſonnene Geſchichten, die ſein Be¬ dauern glaubhaft machen ſollen. Läg' es an ihm, Apollonius hämmerte vergebens, und wachte ver¬ gebens bei ſeinen Büchern und Briefen. Aber es glaubt ihm Niemand. Er untergräbt nur, was er ſelbſt noch von Achtung beſitzt. Apollonius Vorſtellungen ſetzt er Hohn entgegen. Dennoch hofft Apollonius, er wird ſeine Treue noch erkennen und ſich beſſern. Seine Hoffnung zeugt beſſer von ſeinem eigenen Herzen als von ſeiner Einſicht in das Gemüth des Bruders. Kommt dieſem der Gedanke ſeiner Ver¬ dorbenheit, dann hat er einen Grund mehr, den Federchenſucher zu haſſen, und die arme Frau muß es entgelten, kehrt er zu einer Zeit heim, wo ſich Apollonius ſchon wieder zum Ausgeh'n rüſtet.

Dächer, die mit Metall oder Ziegeln eingedeckt ſind, machen in der Regel erſt nach einer Reihe von Jahren eine Reparatur nöthig; bei Schieferdächern iſt es anders. Durch die Rüſtungen und das Beſteigen der Dachfläche während des Eindeckens entſteh'n unver¬141 meidlich allerlei Beſchädigungen der Schieferplatten, die ſich nicht immer ſogleich zeigen. Die erſten drei Jahre nach beendeter Ein - oder Umdeckung verlangen oft bedeutendere Nachbeſſerungen als die fünfzig nächſt¬ folgenden. Zu dieſer alten Erfahrung gab auch das Kirchendach von Sankt Georg ſeinen Beleg. Die Schieferdecke des Thurmes dagegen, die Apollonius allein beſorgt, legte genügendes Zeugniß ab von ihres Schöpfers eigenſinniger Gewiſſenhaftigkeit. Die Dohlen, die ſie bewohnten, hätten noch lange Zeit Ruhe gehabt vor ſeinem Fahrzeug, hätte nicht ein alter Klempner¬ meiſter ſeinen kirchlichen Sinn durch Stiftung einer blechernen Zierrath an Tag legen wollen. Es war ein Blumenkranz, den Apollonius dem Thurmdach umlegen ſollte, um deſſentwillen er diesmal ſeine Leiter an der Helmſtange anknüpfte. Vor etwas mehr als einem halben Jahre hatte er ſie abgenommen.

Unterdeß war ſein angeſtrengtes Beſtreben nicht ohne Erfolg geblieben. Die alten Kunden hatte er feſtgehalten und neue dazu gewonnen. Die Gläubiger hatten ihre Zinſen und eine kleine Abſchlagszahlung für das erſte Jahr, das Vertraun und die Achtung vor Apollonius wuchs mit jedem Tage; mit ihnen ſeine Hoffnung und ſeine Kraft, die er mit verdoppel¬ ter Anſtrengung bezahlte.

Daß man dasſelbe von ſeinem Bruder ſagen könnte! von dem Verſtändniß der beiden Gatten! Es war142 ein Glück für Apollonius, daß er mit ſeiner ganzen Seele bei ſeinem Vorhaben ſein mußte, daß er keine Zeit übrig behielt, dem Bruder Schritt vor Schritt mit Augen und Herz zu folgen, zu ſehn, wie der immer tiefer ſank, den zu retten er ſich mühte. Wenn er ſich freute über ſein Gelingen, ſo war es aus Treue gegen den Bruder und deſſen Angehörigen; der Bruder ſah etwas anderes in ſeiner Freude und dachte auf nichts, als ſie zu ſtören. Es kam weit mit Fritz Nettenmair. Im Anfang hatte er den größten Theil des wöchentlich für ſeinen Hausſtand Ausgeſetzten der Frau übergeben. Dann behielt er immer mehr zurück und zuletzt trug er das Ganze dahin, wohin ihm das Bedürfniß, durch Traktiren ſich Schmeichler zu erkaufen, treuer gefolgt war, als die Achtung der Stadt. Die Erfahrung an den bedeutenden Leuten hatte ihn nicht bekehrt. Die Frau hatte ſich kümmerlicher und kümmerlicher behelfen müſſen. Der alte Valentin ſah ihre Noth, und von nun an ging das Haushaltgeld nicht mehr durch ihres Mannes, ſondern durch Valentins Hände. Und zuletzt wurde Valentin ihr Schatzmeiſter und gab ihr nie mehr, als ſie augenblicklich bedurfte, weil das Geld in ihren Händen nicht mehr vor dem Manne ſicher war. Sie mußte das, wie Alles, von ihm entgelten. Er war ſchon gewohnt, an der ganzen Welt, die ihn verfolgte, an ſich ſelbſt, an dem Gelingen Apollonius, in ihr ſich zu rächen. Valentin hätte ihn143 ſchon lang darum bei Apollonius verklagt, wenn nicht die Frau ſelber ihn daran gehindert hätte. Es war ihr eine Genugthuung, um den Mann zu leiden, der ja mehr um ſie und ihre Kinder litt. Wußte ſie Apollonius im Sturm auf der Reiſe, dann weilte ſie Stunden lang im unbedeckten Hofe. Das Wetter, das ihn traf, ſollte auch ſie treffen. Sie wollte eine gleich ſchwere Laſt tragen, wenn ſie die ſeine nicht erleichtern konnte. Soweit trieb ſie ihre Opferluſt. Sonſt benutzte ſie die Zeit, die ihr Wirthſchaft und Kinder übrig ließen, zu allerlei Arbeiten, die Valentin als ihr Agent vertrieb. Das Geld dafür verwandte ſie zum Theil ſie konnte lieber hungern, wenn auch nicht ihre Kinder hungern ſehn die Wohnſtube mit Allerlei zu ſchmücken, wovon ſie wußte, daß Apollonius es liebte. Und doch wußte ſie, Apollonius kam nie dahin, er ſah es nie. Aber ſie hätte es nicht gethan, wußte ſie, er würde es ſehn.

Ihr Gatte ſah es, ſo oft er in die Stube trat. Ihm entging nichts, was ſeinem Zorne und ſeinem Haſſe einen Vorwand entgegen bringen konnte. Er ſah die Haare ſeiner Knaben in Schrauben gedreht, wie ſie Apollonius trug; er ſah die Aehnlichkeit mit Apollonius in den Zügen der Frau und der Kinder entſtehen und wachſen; er hatte ein Aug 'für Alles, was ſeines Weibes Verehrung für den Bruder, was ihr bewußtes, ſelbſt was ihr unbewußtes ſich Hinein¬144 bilden in des Verhaßten eigenſte Eigenheit ausplauderte; er verfolgte deſſen Einfluß bis zu dem rechtwinkligen Stande der Wirbel an der Fenſterſäule. Dann begann er auf Apollonius zu ſchimpfen. Und in Ausdrücken, als müßte nun auch er zeigen, wieviel man von fremder Art annehmen könne. Waren die Kinder zugegen, dann war es der Frau erſte Sorge, ſie zu entfernen. Sie ſollten ſeine Rohheit nicht kennen und den Vater verachten lernen. Nicht um ſeinet -, um der Kinder willen. Er verrieth nicht, wie gern er die Spione los war. Ihm war es nicht um die Kinder, nur um ſich ſelbſt. So einſam hatte ihn die Verderbniß ſchon gemacht. Ohne ihr es zu geſtehn, fürchtete er die Anklage der Kinder bei Apollonius. Er dachte nicht, daß die Frau ſelbſt ihn verklagen könnte, von der er doch annahm, ſie treffe ſich mit Apollonius. Leidenſchaft und wüſtes Leben hatten ſein geringes Klarheitsbe¬ dürfniß aufgezehrt. Seine Vorausſetzungen mochten ſich widerſprechen, widerſprachen ſie nur nicht der Stimmung des Augenblicks, der Eigenwilligkeit ſeiner Leidenſchaft. Alles, was er im Zimmer ſah, war ihm ein neuer Beweis ſeiner Schande. Wie ſollte er glauben, es habe einen andern Zweck, als von Apol¬ lonius bemerkt zu werden! Wenn ſie ihm dann ſagt, ſie mög' er ſchimpfen, nur Apollonius nicht, dann zeigt ihm das ſcharfe Aug 'der Eiferſucht, wie ſie einen Genuß darin findet, um Apollonius zu leiden. Er145 wirft's ihr vor, und ſie leugnet's nicht. Sie ſagt ihm: weil er um mich leidet und um meine Kinder. Er gibt ſein mühſam Erſpartes her, um zu[erſetzen], wenn der Mann ihren Kindern das wöchentlich Ausgeſetzte raubt. Und das ſagt er dir? Das hat er dir geſagt! lacht der Mann mit wilder Freude, ſie auf dem Ge¬ ſtändniß zu ertappen, daß ſie ſich mit ihm trifft. Er nicht, zürnt die Frau, daß der Verachtete Apollonius mit ſeinem Maße mißt. Er, der Gatte, verkleinert, was Andere für ihn thaten, und rückt, was er für Andere thut, dieſen unaufhörlich und übertreibend vor. Apollonius dagegen vergrößert das Empfangene; von dem, was er erweiſt, redet er nicht, oder er ſelbſt ver¬ kleinert's, um dem Andern Bitte, Annahme und Ver¬ pflichtungsbewußtſein zu erleichtern. Apollonius ſelbſt ſollte es ſagen! Der alte Valentin hat's geſagt. Der hat ja die Uhr ſelbſt als ſeine verkauft, die Apollonius von Cöln mitbrachte. Apollonius hat ihm verboten, es ihr zu ſagen. Und auch zu ſagen, daß er's ihm verboten hat? lacht der Gatte. Und es iſt ein Etwas von Verachtung in ſeinem Lachen. Solche Dinge kann man dem Träumer zutraun; aber jetzt will er's ihm nicht zutraun. Freilich, lacht er noch wilder. Ein noch Dümmerer als der Träumer weiß, umſonſt thut's Keine. Die Schlechteſte hält ſich eines Preiſes werth. Eine mit ſolchen Haaren und mit ſolchen Augen, ſolchem Leib! Er greift ihr in die HaareLudwig, Zwiſchen Himmel und Erde. 10146und ſieht ihr in die Augen mit einem Blick, vor dem die Reinheit erröthen muß, den nur die Verworfenheit lachend erträgt. Er nimmt das Erröthen für ein Ge¬ ſtändniß und lacht noch wilder. Du willſt ſagen, ich bin noch ſchlechter als er. Hahaha! Du haſt recht. Ich hab 'ſolch eine geheirathet. Das hätt er nicht. Dazu iſt er doch nicht ſchlecht genug!

Jeder Tag, jede Nacht brachte ſolche Auftritte. Wußte Fritz Nettenmair den Bruder auswärts oder auf ſeiner Kammer und den alten Herrn im Gärtchen, dann ließ er ſeinen Zorn an Tiſchen und Stühlen aus. An der Frau ſelber ſich zu vergreifen, wagte er noch nicht. Erſt muß ihn die Wuth einmal über den Zau¬ berkreis hinwegreißen, den ihre Unſchuld, die Hohheit ſtillen Duldens um ſie zieht. Iſt es einmal geſcheh'n, dann hat der Zauber ſeine Macht verloren und er wird zuletzt aus bloßer Gewohnheit thun, wovor er jetzt noch zurückſchreckt. Die Menſchen wiſſen nicht, was ſie thun, wenn ſie ſagen: ich thu's ja nur dies einemal. Sie wiſſen nicht, welch 'wohlthätigen Zauber ſie zerſtö¬ ren. Daß Einmal nie Einmal bleibt.

Der alte Valentin mußte doch nicht Wort gehalten haben oder es führte Apollonius ein Zufall an der Thür vorbei, als der Bruder ihn fern glaubte. Er hörte das Poltern, den wilden Zornesausbruch des Bruders, er hörte den reinen Klang von der Stimme der Frau dazwiſchen, noch in der Aufregung rein147 und wohlklingend. Er hörte Beide, ohne zu ver¬ ſtehn, was ſie ſprachen. Er erſchrak. So weit gekom¬ men hatt 'er ſich das Zerwürfniß nicht vorgeſtellt. Und er war ſchuld an dem Zerwürfniß. Er mußte thun, was er konnte, den Zuſtand zu beſſern.

Der Bruder blieb erſt wie verſteint in ſeiner dro¬ henden Stellung, als er den Eintretenden erblickte. Er hatte das Gefühl eines Menſchen, der plötzlich bei ei¬ nem Unrechte überraſcht wird. Hätte ihn Apollonius angelaſſen, wie er verdiente, er wäre vor ihm gekro¬ chen. Aber Apollonius wollte ja verſöhnen und ſprach das ruhig und herzlich aus. Er hätte es freilich wiſ¬ ſen können, er hatte es oft genug erfahren, ſeine Milde gab dem Bruder nur Muth zu höhnendem Trotz. Er erfuhr es jetzt wieder. Fritz verhöhnte ihn wild la¬ chend, daß er einen Vorwand mache, wo er Herr ſei. Ob er ſich deßhalb zum Herrn des Hauſes gemacht? Er wußte, er an Apollonius Stelle wäre anders auf¬ getreten. Er hätt 'es die fühlen laſſen, die er in ſeiner Gewalt wußte. Er war ein ehrlicher Kerl und brauchte nicht ſchön zu thun. Dazu fiel ihm ein, wie oft er vergeblich die Thür umſchlichen, um Apollonius in der Stube zu überraſchen. Jetzt war er ja da in der Stube. Er war hereingetreten, weil er ihn nicht zu finden meinte. Apollonius war's, der erſchrecken mußte, Apollonius war der Ertappte, nicht er. Die Verſöh¬ nung war nur der erſte, beſte Vorwand, nach dem10*148Apollonius griff. Darum war er ſo kleinlaut. Da¬ rum erſchrack die Frau, die ihn glauben machen wollte, Apollonius komme nie in das Zimmer. Darum ſah ſie ſo flehend zu ihm auf. Der verachtende Blick, mit dem ſie ihn noch eben gemeſſen, war mit der Larve der erheuchelten Unſchuld plötzlich von ihrem ſchuldbe¬ wußten Angeſicht geriſſen. Nun wußt 'er gewiß, es war Nichts mehr zu verhindern, nur noch zu vergel¬ ten. Er konnte nun dem Bruder zeigen, er kannte ihn, und hatte ihn immer gekannt.

Er wies auf die Frau. Sie bettelt, ich ſoll gehn. Wozu? Ich ſeh zum Fenſter hinaus. Das iſt eben ſo gut. Ich ſeh nicht, was ihr treibt.

Apollonius verſtand ihn nicht. Die Frau wußte es, ohne ihn anzuſehn. Sie wollte hinaus. In ſei¬ ner Gegenwart erniedrigt zu werden bis zum Koth unter den Füßen, das trug ſie nicht. Der Gatte hielt ſie feſt mit wildem Griff. Er packte ſie wie ein Raub¬ vogel. Sie hätte laut ſchreien müſſen, zehrte der See¬ lenſchmerz den körperlichen nicht auf. Kehr 'dich nicht daran, daß ſie fort will, ſchluchzte Fritz Nettenmair vor krampfhaftem Lachen und faßte den Bruder ſo mit den Augen, wie er die Frau mit ſeiner Hand gepackt hielt. Brauchſt nicht ängſtlich zu ſein. Ich kehr' nur den Rücken, ſo iſt ſie wieder da. So redet doch miteinan¬ der. Du, ſag 'ihm, daß du ihn nicht leiden kannſt; ich glaub's ja; was glaubt ein Mann ſo einer nicht? 149Und du, gib ihr Lehren, von Köln, wo du Alles, gelernt haſt, wie man ſeinen Bruder von Haus und Geſchäft vertreibt, um nun, um hahaha! ſag' ihr doch: ein Weib ſoll willig ſein. Was? O ſolch ein willig Weib iſt ſag 'ihr doch, was ſo eine iſt. Sie weiß es noch nicht, die Unſchuld! hahaha!

Apollonius begriff nichts von dem, was er hörte und ſah. Aber der Mißbrauch der männlichen Stärke an einem ohnmächtigen Weibe empörte ihn. Unwillkür¬ lich riß dies Gefühl ihn hin. Er verdoppelte ſeine ohnehin dem Bruder weit überlegene Kraft, als er den packenden Arm faßte: ſo daß dieſer die Beute los ließ und herabfiel wie gelähmt. Die Frau wollte hinaus, aber ſie brach kraftlos zuſammen. Apollonius fing ſie auf und lehnte ſie in's Sopha. Dann ſtand er wie ein zürnender Engel vor dem Bruder. Ich habe dich durch Milde gewinnen wollen, aber du biſt ſie nicht werth. Ich habe Viel von dir ertragen und will's noch, ſagte Apollonius; du biſt mein Bruder. Du giebſt mir Schuld, ich habe dich in's Unglück geſtürzt; Gott iſt mein Zeuge, ich hab 'Alles gethan, was ich wußte, dich zu halten. Für wen hab' ich gethan, was du mir vorwirfſt, als für dich und um deine Ehre und deine Frau und deine Kinder zu retten? Wer hat mich dazu gezwungen, gegen dich ſtreng zu ſein? Für wen ſchaff 'ich? für wen wach' ich? Wenn du wüßteſt, wie mich ſchmerzt, daß du mich zwingſt, dir aufzurücken, was ich150 für dich thue! Weiß es Gott, du zwingſt mich dazu; ich hab's noch nicht gethan, weder vor Andern, noch vor mir ſelbſt. Du weißt es ſelbſt, daß du nur einen Vorwand ſuchſt, um unbrüderlich gegen mich zu ſein. Ich weiß es und will dich ertragen forthin wie bis jetzt. Aber daß du aus der Abneigung deiner Frau gegen mich einen Vorwand machſt, auch ſie zu quälen und ſie zu behandeln, wie kein braver Mann ein braves Weib behandelt, das duld 'ich nicht.

Fritz Nettenmair lachte entſetzlich auf. Der Bru¬ der hatte ihn auf alle Weiſe in Schande gebracht und wollte noch den Tugendhaften gegen ihn ſpielen, den unſchuldig Beleidigten, den ritterlichen Beſchützer der unſchuldig Beleidigten. Ein braves Weib! Ein ſo braves Weib! O freilich! Iſt ſie's nicht? Du ſagſt's und du biſt ein braver Mann. Haha! Wer muß es beſſer wiſſen, ob ein Weib brav iſt, als ſolch ein bra¬ ver Mann? Du haſt mich nicht um Alles gebracht? Du mußt mich noch um meinen Verſtand bringen, da¬ mit ich dein Märchen glaube. Sie iſt dir abgeneigt? ſie kann dich nicht leiden? Ja du weißt's noch nicht, wie ſehr. Ich darf nur fort ſein, ſo wird ſie dir's ſagen. Dann wird dir's ſchlecht gehn! Sie wird dich erdrücken, damit du ihr's glaubſt. Wenn ich dabei bin, ſagt ſie's nicht. So was ſagt eine nicht, wenn der Mann dabei iſt, wenn ſie brav iſt, wie die. Wa¬ rum ſagſt du nicht, du kannſt ſie auch nicht leiden? O151 ich hab 'ſchon keinen Verſtand mehr! Ich glaub' ſchon Alles, was ihr mir ſagt!

Fritz Nettenmair war in der Vergeßlichkeit der Lei¬ denſchaft überzeugt, die Beiden hatten das Märchen von der Abneigung erfunden.

Apollonius ſtand erſchrocken. Er mußte ſich ſagen, was er nicht glauben wollte. Der Bruder las in ſei¬ nem Geſichte Schrecken über ein aufdämmerndes Licht, Unwille und Schmerz über Verkennung. Und es war Alles ſo wahr, was er ſah, daß ſelbſt er es glauben mußte. Er verſtummte vor den Gedanken, die wie Blitze ihm durch das Hirn ſchlugen. So war's doch noch zu verhindern geweſen! noch aufzuhalten, was kommen mußte! Und wieder war er ſelbſt Aber Apollonius das ſah er trotz ſeiner Verwirrung zweifelte noch und konnte nicht glauben. So war ſein Wahnſinn wohl noch gut zu machen, ſo war's viel¬ leicht noch zu verhindern, war noch aufzuhalten, was kommen mußte, und wenn auch nur für heut und mor¬ gen noch. Aber wie? wenn er einen wilden Scherz daraus machte? Dergleichen Scherze fielen an ihm nicht auf, und Apollonius war ihm ja ſchon wieder der Träumer geworden, der Alles glaubte, was man ihm ſagte. Und er ſelber wieder einer, der das Leben kennt, der mit Träumern umzugehen weiß. Er mußte es we¬ nigſtens verſuchen. Aber ſchnell, eh 'Apollonius die Fremdheit des Gedankens überwunden, mit dem er152 kämpfte. Er brach in ein Gelächter aus, eine ſchau¬ rige Karrikatur des jovialen Lachens, womit er ſich ehe¬ dem ſeine eigenen Einfälle zu belohnen pflegte. Es war verwünſcht, daß Apollonius ſich glauben machen ließ, Fritz Nettenmair ſei eiferſüchtig! Der joviale Fritz Nettenmair! Und noch dazu auf ihn. Es war noch nichts Verwünſchteres auf der Welt paſſirt als das! Er las in der Frau Geſicht, wie die Wendung ſie er¬ leichterte. Er wagte es, ſich auf ſie zu berufen, wie verwünſcht das ſei. Ihre Bejahung machte ihn noch kühner. Er lachte nun über die Frau, die ſo verwünſcht ſei, ihm zornig vorzuhalten, daß er ſie von der Gnade des Gehaßten abhängig gemacht, und lachte, daß daher die kleinen Ehezwiſte kamen. Er lachte über Apollo¬ nius, daß er einen kleinen Zank ſo ernſt nahm. Wo waren die Eheleute, bei denen dergleichen nicht vorkam? Man ſah eben, daß Apollonius noch ein Junggeſelle war!

Apollonius hörte die Stimme des Bauherrn in der Hausflur, der nach ihm fragte, und ging raſch hinaus, damit der Bauherr nicht hereinkomme und Zeuge des Auftritts werde. Der Bruder hörte ſie zuſammen weg¬ gehen. Er war noch keineswegs beruhigt. Das ehr¬ liche Geſicht Apollonius 'kämpfte, als er hinausging noch immer mit dem Gedanken. Fritz Nettenmair war voll Wuth über ſich ſelbſt und mußte ſie an der Frau auslaſſen. Er fühlte in dem Augenblick, daß er Alles153 thue, was ein Weib ſchlecht machen kann. Ihr Blick verrieth ihm, wie ſie ſich ſelbſt verachtete wegen des Ja, das ſie ſich hatte abzwingen laſſen müſſen; wie ſie ſich ſagte, daß nun nichts mehr an ihr zu verderben ſei. Er mußte es fürchten, wenn ſie das ſich ſelbſt ſagte. Er durfte ſie ſoweit nicht kommen laſſen. Er wußte das, und gleichwohl höhnte er, ſie könne ja auch lügen, ſo geſchickt, als irgend eine. Er war nie ſein Herr geweſen; jetzt war er's weniger als je.

In Fritz Nettenmair kämpfte heut 'eine Leidenſchaft die andere nieder. Es zog ihn die wüſte Gewohnheit, im Trunk ſich zu vergeſſen, an hundert Ketten aus dem Hauſe; die Furcht der Eiferſucht hielt ihn mit tauſend Krallen darin feſt. Hatte der Bruder noch nicht daran gedacht, was er haben konnte, wenn er nur wollte; er ſelbſt hatte ihn nun auf den Gedanken gebracht. Und war der Bruder ſo brav, als er ſich ſtellte, ſeine alte Liebe, die Liebe und Schönheit der Frau Fritz Netten¬ mair hatte es nie ſo lebhaft gefühlt, wie ſchön die Frau war ſeine eigene Abhängigkeit von Apollonius, der Haß der Frau gegen ihn, die Gelegenheit des Zuſammen¬ wohnens, und, was all dieſen Dingen erſt die Gewalt gab über ſeine Furcht, das Bewußtſein ſeiner Schuld! Und war Apollonius ſo brav, als er ſich ſtellt, ſolchen Mäch¬154 ten gegenüber kann er ihm nicht trauen. Den ganzen Tag rechnete er an ſeiner Angſt herum und ließ ſeine Frau nicht aus ſeinen Augen. Erſt wie es ruhig wird um ihn, die Frau die Kinder zu Bett gebracht und ſelbſt zur Ruhe gegangen iſt, und er kein Licht mehr ſieht in Apollonius Fenſtern, da laſſen ihn die Krallen, und die Ketten ziehn deſto ſtärker. Er verſchließt die Hinterthür, die Apollonius von den Räumen des Hauſes trennt, er ſchiebt auch noch den Riegel vor, er ſchließt ſogar die Treppenthür der Emporlaube und zuletzt die Thür, durch die er geht. Er hat Urſache zu eilen, ohne daß er es weiß. Der Geſelle darf nicht lang mehr warten. Fritz Nettenmair weiß es noch nicht: Apollonius hat es beim Grubenherrn dahin gebracht, daß der Geſelle aus der Arbeit entlaſſen iſt; und bei der Polizei, daß er morgen ſich nicht mehr in der Gegend betreten laſſen darf. Der Geſelle iſt fertig zur Abreiſe; von dem Wirths¬ hauſe hinweg geht er in die weite Welt; er will nur noch Abſchied nehmen von ſeinem ehemaligen Herrn und ihm noch etwas ſagen.

Es gibt nicht viel mehr auf der Welt, woran Fritz Nettenmair hängt. Der Weg, den er geht, führt immer weiter ab von dem, was ihm das Liebſte war; es iſt unwiderbringlich für ihn verloren. Der Bewunderte und Geſchmeichelte wird er nie wieder. An ſeiner Frau hängt er nur noch durch die glühende Kette der Eifer¬ ſucht gefeſſelt. An dem Vater hat er nie gehangen;155 den Bruder haßt er. Er haßt und weiß ſich gehaßt oder glaubt ſich gehaßt in ſeinem Wahn. Das kleine Aennchen würde ſich an ihn drängen mit aller Kraft eines liebebedürftigen Kinderherzens, aber er ſcheucht das Kind mit Haß von ſich; ſie iſt ihm der Spion. Nur an Einem Menſchen noch hängt ſein Herz, an dem, der es am wenigſten um ihn verdient. Er kennt ihn und weiß, der Menſch hat ihn betrogen, hat geholfen, ihn zu Grunde zu richten, und dennoch hängt er an ihm. Der Menſch haßt Apollonius, er iſt der Einzige außer ihm, der Apollonius haßt, und deßhalb hängt Apollonius Bruder an ihm!

Fritz Nettenmair begleitete den Geſellen eine Strecke Wegs. Der Geſelle will ſchneller ausſchreiten und dankt darum für weitere Begleitung. Wenn Andere ſcheiden, iſt ihr letztes Geſpräch von dem, was ſie ge¬ meinſam lieben; das letzte Geſpräch Fritz Nettenmair's und des Geſellen iſt von ihrem Haß. Der Geſelle weiß, Apollonius hätte ihn gern in's Zuchthaus ge¬ bracht, wenn er gekonnt. Wie ſie nun einander ſcheidend gegenüber ſtehn, mißt der Geſelle den Andern mit ſeinem Blick. Es war ein böſer, lauernder Blick, ein grimmig verſtohlener Blick, welcher Fritz Nettenmair fragte, ohne daß der es hören ſollte, ob er auch reif ſei zu irgend etwas, was er nicht ausſprach. Dann ſagte er mit einer heiſern Stimme, die einem andern aufgefallen wäre, aber Fritz Nettenmair war die Stimme gewohnt:156 Und was ich ſagen wollte: ihr werdet bald Trauer haben. Ich hab 'ihn neulich geſehn. Er brauchte keinen Namen zu nennen, Fritz Nettenmair wußte, wen er meinte. Es gibt Leute, die mehr ſehn, als Andere, fuhr der Geſelle fort. Es gibt Leute, die einem Schiefer¬ decker anſehn, wenn er noch in dem Jahr herunter muß, daß ſie ihn getragen bringen und ſehn ihn daliegen, nur er ſelber nicht mehr. Ein alter Schieferdeckergeſell hat mir das Geheimniß geſagt, wie man zu dem Frohn¬ weißblick kommt. Ich hab' ihn. Und nun leb 'wohl. Und ergib dich drein, wenn ſie ihn getragen bringen.

Der Geſelle war von ihm geſchieden. Seine Schritte verklangen ſchon in der Ferne. Fritz Nettenmair ſtand noch und ſah in die weißgrauen Nebel hinein, in denen der Geſelle verſchwunden war. Sie hingen wagrecht über den Wieſen an der Straße wie ein ausgebreitet Tuch. Sie ſtiegen empor und verdichteten ſich zu ſelt¬ ſamen Geſtalten, ſie kräuſelten ſich, floſſen auseinander und ſanken wieder nieder, ſie bäumten wieder auf. Sie hingen ſich in das Gezweig der Weiden am Weg, und wie ſie dieſe bald verhüllten, bald frei ließen, ſchien es ungewiß, gerann der Nebel zu Bäumen, oder zerfloſſen die Bäume zu Nebel. Es war ein traumhaftes Treiben, ein unermüdlich Weben ohne Ziel und Zweck. Es war ein Bild deſſen, was in Fritz Nettenmair's Seele vor¬ ging, ein ſo ähnlich Bild, daß er nicht wußte, ſah er aus ſich heraus oder in ſich hinein. Da war ein nebel¬157 haftes Herabbiegen und Händezuſammenſchlagen um eine bleiche Geſtalt am Boden, dann ein langſam wallender Leichenzug; und bald war es der Feind, bald war es der Bruder, der dort lag, den ſie trugen. Bald zuckt 'es in greller Schadenfreude auf, bald ſank es in Mitleid zuſammen, bald miſchten ſich beide und das eine wollte das andere verſtecken. Der dort lag, den ſie trugen, ihm verzieh er Alles. Er weinte um ihn; denn durch die Pauſen des Grabgeſangs klang leiſe ein luſtiger Rutſcher, den die Zukunft aufſtrich: Da kommt er ja! Nun wird's famos. Und neben dem Todten lag unſichtbar eine zweite Leiche, ſeine Furcht vor dem, was kommen mußte, lag der arme Bruder nicht todt. Und im Sarg trieb verſtohlen Fritz Netten¬ mair's altes joviales Glück neue Keime. Fritz Nettenmair fühlt ſich einen Engel. Er wünſcht, der Bruder müßte nicht ſterben, weil er weiß, daß der Bruder ſterben muß.

Er geht noch immer im Nebel, als das Pflaſter der Stadt ſchon wieder unter ſeinen Tritten hallt. Sein Weg führt ihn am rothen Adler vorüber. Die Saal¬ fenſter ſind erleuchtet. Muſik klingt herab. Fritz Net¬ tenmair bleibt ſtehn und ſieht hinauf und bewegt un¬ willkührlich die Hand in der Taſche, wie ſonſt, als er noch Geld darin hatte, damit zu klappern. Er hat den Geſellen, den letzten Freund, von dem er mit Schmerz geſchieden, ſchon vergeſſen. Der Geſell iſt ein ſchlechter Kerl; gut, daß er fort iſt. Er hat die Ver¬158 gangenheit vergeſſen, er vergißt die Gegenwart, denn die Zukunft iſt wieder ſein. Sie wohnt da oben und lacht mit hellen Augen zu ihm herab. Er hat ſich ſo ſehr daran gewöhnt, Alles, was ihn drückt, mit ſeinem Bruder zuſammenzudenken, daß er's mit ihm in Ein Grab ſteigen ſieht. An die Zerrüttung ſeines Wohlſtan¬ des mag er ſich nicht erinnern. Er denkt nicht gern an unangenehme Dinge, eh 'er ſie fühlt. Iſt's nicht genug, daß er weiß, er wird den Bruder verlieren? Und wenn ſich die Dinge ſelber ihm aufdrängen, dann hilft ihm ſein Leichtſinn. Wie er ſchnell darüber hindenkt, findet er für Alles Rath, und was ihm heut nicht ein¬ fällt, das wird ihm morgen einfallen; morgen iſt auch ein Tag. Und er iſt einer, der Die Wendung, mit der er in ſeinen Weg einſchwenkt, gelingt ihm ſo jovial, als je.

Es wird ihm doch wieder eigen zu Muth, denkt er ſich, daß man zu der Thür, die er eben aufſchließt, einen Sarg heraus tragen wird. Unwillkürlich macht er Platz, wie um Sarg und Zug vor ſich vorbeizulaſſen. In's Unabänderliche, ſagt er leiſe, wie ſich überhörend, was er einem Tröſtenden zu antworten habe, wenn es ſo weit ſei, in's Unabänderliche muß ſich der Menſch ergeben. Und wie er die Achſel zu den Worten zuckt, da wird er einen leiſen, ſchlanken Lichtſchein gewahr. Ein Stück davon läuft über ſeinen Aermel, ein anderes liegt wie abgebrochen und herabgefallen neben ihm auf dem159 Pflaſter. Er ſpäht auf; der Schein kommt daher, wo der untere Abſchnitt des Ladens nicht feſt an das Fenſterſims ſchließt. Drinn in der Wohnſtube iſt Licht. So ſpät? Der Athem ſtockt dem Lauſchenden, der Alp ſitzt wieder auf ſeiner Bruſt. Der Bruder lebt ja noch; und was kommen mußte, wenn er leben bliebe, kann noch kommen, ehe er ſtirbt, oder es iſt ſchon da! Wie ihm die Hände fliegen, doch iſt die Thür leiſe wieder verſchloſſen und im Augenblick. Eben ſo leiſe, eben ſo ſchnell iſt er an der Hinterthür. Sie iſt nicht offen, aber nur einmal herumgeſchloſſen; und Fritz Nettenmair weiß es, er kann ſchwören, er hat den Schlüſſel zwei¬ mal im Schloß herumgedreht, als er ging. Er ſchleicht und tappt ſich zur Stubenthür; er hat die Klinke ge¬ funden und drückt ſie leiſe; die Thür geht auf; ein trüber Lichtſchein fällt auf die Flur. Er kommt von einem verdeckten Lichte auf dem Tiſch. Neben dieſem ſteht im Schatten ein kleines Bett; es iſt Aennchen's Bett, und ihre Mutter ſitzt daran. Chriſtiane merkt nicht, daß die Thür ſich öffnet. Sie hat den Kopf weit vornübergebeugt über das Bett; ſie ſingt leiſe und weiß nicht, was ſie ſingt; ſie horcht voll Angſt, aber nicht auf ihren Geſang; ihre Augen würden weinen, machten Thränen den Blick nicht trüb. Aber nun kommt die Röthe auf des Kindes Wange wieder, nun kann der eigene fremde Zug um des Kindes Augen und Mund verſchwinden; und ſie ſäh's nicht und ängſtigte ſich noch160 vergeblich. Ihr iſt's, als müßte jene wiederkehren und dieſer gehn, wenn ſie ſich nur recht angeſtrengt mühte, dieſes Kehren und Gehn zu bemerken. Und dabei kann ſie doch noch daran denken, wie plötzlich das gekommen iſt, was ſie ſo ſehr beängſtigt. Wie das Aennchen auf einmal im Bette neben ihrem wie mit fremder Stimme aufgeſchrien, dann nicht mehr hat ſprechen können; wie ſie aufgeſprungen und ſich angekleidet; wie ſie in der Angſt den Valentin, und dieſer, ohne ihr Wiſſen, den Apollonius geweckt. Daß der alte Geſell alle Schlüſſel im Hauſe probirt, bis ſich ergab, der Schuppenſchlüſſel ſchließe die Hinterthür; das wußte ſie nicht. Deſto lebendiger ſtand's vor ihr, wie Apollonius hereingetreten, wie ihr bei ſeinem unerwarteten Kommen geweſen, wie ſie voll Schreck und Scham und doch voll wunderbarer Be¬ ruhigung ſich gefühlt. Apollonius hatte ſogleich den Arzt, und ſodann Arzneien geholt. Er hatte an dem Bettchen geſtanden und ſich über das Aennchen gebeugt, wie jetzt ſie that. Er hatte ſie voll Schmerz angeſehn und geſagt, Aennchen's Krankheit komme von dem ehe¬ lichen Zerwürfniß, und es werde nicht geſund, höre dieß nicht auf. Er hatte von den Wundern erzählt, die einer Mutter möglich würden, und wie ſich der Menſch bezwingen könne und müſſe. Dann hatte er dem Va¬ lentin noch Manches des Aennchen's wegen anbefohlen; und war gegangen aus Sorge, der Bruder könnte ſonſt in ſeinem Irrwahn glauben, er wolle ihn auch von dem161 Krankenbett ſeiner Kinder vertreiben. Der Jammer, die Angſt wollte ſie in Apollonius 'Arme jagen; es war ihr, als wär Alles gut, läge ſie an ſeiner Bruſt; als dürfte ſie ihn nicht wieder von ſich laſſen. Aber wie er ſo zu Häupten des Kindes ſtand und ſprach, da kam er ihr ſo herrlich vor, wie ein Heiliger, vor dem ſie nur auf den Knieen liegen dürfe. Der Bett¬ ſchirm hüllte die große, ſchlanke Geſtalt in ſeinen Schatten, nur ſeine Stirn und ſeine hohe Scheitel waren ſichtbar und erſchienen, von dem Lichte auf dem Tiſche angeſtrahlt, wie in einer Glorie. Dachte ſie von ihm weg zu ihrem Gatten, ſo krampfte eiſiger Froſt ihr Herz zuſammen, und Widerwillen bäumte ſich darin wie in Rieſe gegen den bloßen Gedanken auf. Aber Apollo¬ nius hatte geſagt, Aennchen werde nicht wieder geſund, wenn das Zerwürfniß nicht ende. Er hatte geſagt, der Menſch könne und müſſe ſich bezwingen; ſie wollte ſich be¬ zwingen, weil er's geſagt. Einer Mutter wären Wunder möglich für ihr Kind; dachte ſie an Apollonius Geſicht, wie er ſo ſprach, mußte ihr das größte Wunder möglich werden.

Fritz Nettenmair trat herein. Er dachte an Nichts, als daß Apollonius dageweſen ſein müſſe, war er auch jetzt nicht mehr da. Es flirrte ihm vor den Augen vor Wuth. Er wäre auf die Frau losgeſtürzt, ſah er nicht den alten Valentin an der Kammerthüre ſitzen. Er wollte warten, bis dieſer einmal das Zimmer ver¬ ließe, und ſchlich ſich nach dem Stuhle am Fenſter,Ludwig, Zwiſchen Himmel und Erde. 11162wo er ſonſt immer geſeſſen, und als wie ein Anderer, denn jetzt! Die Frau hörte ſeinen leiſen Tritt; ſein Antlitz konnte ſie nicht ſehn. Ihr ſchien, er wußte um Aennchen's Zuſtand und ging deshalb ſo leiſe. Sie ſah Aennchen mit einem Blicke an, der ſagte, was ſie jetzt thun wollte, that ſie nur um ihr krankes Kind; ein Blick nach der Thür, aus der er gegangen war, ſetzte hinzu: und weil er's geſagt. Da iſt der Vater, Aennchen, ſagte ſie dann; ſie redete eigentlich mit dem Gatten, der am Fenſter ſaß; aber ſie konnte ihm ihr Geſicht nicht zuwenden, ihre Rede nicht unmittelbar an ihn richten. Du haſt immer nach ihm gefragt. Du haſt gemeint, wenn er kommt, wird er ſein, wie er ſonſt war, eh 'du krank geworden biſt. Deine Mutter will's auch um deinetwillen. Ihre Stimme klang ſo tief aus der Bruſt herauf, daß der Mann ſeinen Groll mit Gewalt feſthalten mußte. Er dachte: ſie thut ſo ſüß, um dich zu hintergehn. Sie haben's verabredet, als er da war. Und der Groll ſchwoll nur noch grimmiger an den weichen Klängen, mit denen ſie fort¬ fuhr: Und du gehſt noch nicht in den Himmel. Nicht, Aennchen? Du biſt ja ſo ein gut' lieb 'Kind und bleibſt noch bei Vater und Mutter. Wenn nur du haſt kein Herz vor dem Vater, du dumm' lieb 'Aenn¬ chen, weil er laut ſpricht. Er meint's nicht bös des¬ halb. Sie hielt inne; ſie erwartete die Antwort von dem Vater, nicht von dem Kinde. Sie erwartete, er163 werde an das Bett treten und zu dem Kinde ſprechen, wie ſie, und durch das Kind mit ihr. Wie ſie von ihm denken mochte, das Kind war doch ſein Kind, und es war krank. Der Mann ſchwieg und blieb ruhig auf ſeinem Stuhle ſitzen. Ein halb Vaterunſer lang hörte man nichts, als das Ticken der Uhr. Und das wurde immer ſchneller, wie das Klopfen eines Men¬ ſchenherzens, das Schlimmes kommen ahnt. Die Flamme des Lichtes zuckte wie vor Furcht. Valentin ſtand auf von ſeinem Stuhle, um das Licht zu putzen. Die Bruſt des Kindes röchelte; es wollte ſprechen, es konnte nicht. Es wollte mit den Händchen nach dem Vater langen; es konnte nicht. Es konnte nichts, als die Arme ſeiner Seele nach dem Vater ausſtrecken. Aber des Vaters Seele ſah die flehenden nicht. In ihren Händen hielt ſie krampfhaft ihren Groll und hatte keine Hand frei für das Kind. Er hört das Röcheln, aber er weiß, das Kind iſt abgerichtet von ſeinen Feinden. Es hat kein kindlich Herz gegen ihn; und wär's wirklich krank, ſo wär es abſichtlich krank geworden, um ihn betrügen zu helfen. Und ſtürb's, ſo würde ſein Sterben noch ein Kupplerdienſt ſein, den es ſeinen Feinden thut. Wär' ſein Auge nicht ſelber ſo krank, daß es ihm außen nur immer das Eine zeigt, über dem ſeine Seele innen unabläſſig brütet, er müßte es am Geſichte der Mutter ſehn, an dem Ton ihrer Stimme hören, ſie verſtellt ſich nicht, das Kind iſt11*164wirklich krank und ſehr krank. Aber ihre Weichheit, ihre Angſt iſt ihm nur die Angſt ihres Gewiſſens, die Angſt vor ſeiner Strafe, die ſie verdient fühlt und doch entwaffnen will. Valentin tritt von dem Lichte weg und geht hinaus, um ſich draußen auszuweinen. Der Mann ſteht auf und nähert ſich leiſe der Frau, ohne daß ſie ihn bemerkt. Er will ſie überraſchen und das gelingt ihm. Sie erſchrickt, wie ſie plötzlich über dem Bette jäh vor ſich ein entſtelltes Menſchenantlitz ſieht. Sie erſchrickt, und er preßt durch die Zähne: Du erſchrickſt? Weißt du warum? Sie hat ihm ſelber ſagen wollen, daß Apollonius in der Stube geweſen iſt, aber noch hat ſie es nicht gekonnt. Vor dem Bette des kranken Kindes durfte ſie's nicht; weil ſie weiß, er wird auffahren. Den Anblick ſeiner Rohheit hat ſie dem Kinde erſpart, als es noch geſund war, wenn ſie es vermochte; jetzt konnte der Schreck dem kranken Kinde den Tod bringen. Sie antwortet ihm nicht, aber ſie ſieht ihn flehend an und zeigt mit einem Augenwinke auf das Kind. Er war da! War er nicht da? fragte er; nicht um zu erfahren, wonach er fragt, ſondern um zu zeigen, daß er's nicht erſt zu er¬ fahren braucht. Und ſeine Fauſt hebt ſich geballt. Aennchen kämpft, ſich aufzurichten. Er ſieht es nicht. Die Frau ſieht es; ihre Angſt wächſt. Sie ſchlägt die Hände zuſammen. Sie ſieht ihn mit einem Blicke an, in dem Alles ſteht, was ein Weib verſprechen, was165 ein Weib drohen kann. Er ſieht nur ihr Erſchrecken, daß er's weiß, was geſchah, und die Fauſt fällt nieder auf ihre Stirn. Ein Schrei klingt. Das Kind rollt ſich in Krämpfen zuſammen. Die Mutter, über es hingeſtürzt, weint laut. Valentin kommt hereingeeilt. Fritz Net¬ tenmair geht in die Kammer. Er weiß nicht, was in ihm Herr iſt, befriedigte Rache, oder Schreck über das, was er gethan. Er ſinkt auf's Bett, als hätte der Schlag, den er geführt, ihn ſelbſt betäubt. Er hört nur halb, wie Valentin nach dem Arzt läuft; ebenſo hört er dieſen kommen und gehn. Ebenſo lauſcht er, ob er nicht Apollonius 'Flüſtern und ſeinen leiſen Schritt vernehmen kann. Sich zu zeigen, wagt er nicht; Scham hält ihn davon zurück. Er rechtfertigt ſein Thun und nennt Aennchen's Krankheit eine Pim¬ pelei: Heute wollen Kinder ſterben und morgen ſind ſie lebendiger als je! Aus dem fieberiſchen Horchen und ſich Beruhigen wird ein fieberiſches Träumen. Er ſieht Apollonius, wie der ſeine Leiter an der Helmſtange feſtbinden will, und ſagt ſich bei jedem Schritt des Steigenden wie tröſtend: Jetzt wird er fallen! jetzt! aber Apollonius fällt nicht. Jeden Augenblick erwar¬ tet er, die Taue ſollen reißen, in welchen Apollonius mit ſeinem Fahrzeuge hängt; ſie reißen nicht. In dieſe Träume hinein hört er die Thür der Stube gehn; der Traum macht einen Fall daraus, den Fall eines ſchwe¬ ren Körpers aus ungeheurer Höhe. Da wird ihm166 leicht, als wär' nun Alles gut. Im Halbſchlummer hört er in der Stube leiſes Gehn, leiſes Reden, leiſes Weinen und dazwiſchen iſt es wieder ſtill. Das leiſe Schluchzen, das zum lauten wird und ſich wiederum bewältigt, als ſei ein Schlafender in der Nähe, den es nicht wecken will, und wieder ausbricht, daß es den Schläfer nicht wecken kann, und wieder leiſe wird, weil es wie über ſich ſelbſt erſchrickt, daß es laut iſt, wo alle Menſchen leiſe ſind; wer kennt es nicht? wer erräth es nicht, wenn er es nicht kennt? Fritz Netten¬ mair weiß es im Halbſchlaf: in der Stube liegt ein Todter. Sie haben ihn gebracht. In's Unabänder¬ liche muß der Menſch ſich ergeben. Zum erſtenmal ſeit vielen Monden ſchläft er wieder ruhig. Und wa¬ rum ſollt 'er nicht? Aus dem leiſen Weinen wird ein luſtiger Rutſcher. Da iſt er ja! Nun wird's famos! klingt's aus der Ferne vom rothen Adler herein in ſeinen Schlaf. Das Leiſegehn und Leiſereden aber war wirklich und dauerte fort. Und eine Leiche war in der Stube, eine ſchöne Kinderleiche. Während Fritz Nettenmair von Leitern und Fahrzeugen träumte, hatte des kleinen Aennchen's Seele ſich zu einem beſſern Vater gerettet. Der Leib lag ſtarr in dem kleinen Bettchen. Der Zwiſt der Aeltern hatte das Kind krank gemacht; Schmerz über die wilde That des Vaters an der Mutter hatte ihm das kleine Herz gebrochen.

167

Fritz Nettenmair ſchlief noch den Schlaf eines Be¬ wahrten, als der neue Tag anbrach. Apollonius da¬ gegen war ſchon lange munter. Vielleicht hatte er gar nicht geſchlafen. Der Kampf, den ſein Bruder noch in ſeinem Angeſicht geleſen, als er ihn mit dem Bauherrn das Haus verlaſſen ſah, und den die Mühen des Ta¬ ges kaum zurückgedrängt, ſcheuchte Nachts den Schlum¬ mer von ſeinem Bett. Der Bruder hatte recht geſehn, ſeine ſcherzhafte Wendung des Geſprächs hatte ihren Zweck nicht erreicht. Und wenn Apollonius das Buch ſeiner Erinnerungen zurückblätterte, mußte er ſich in ſeiner Meinung, der Bruder ſei eiferſüchtig auf ihn, beſtärkt fühlen. Gar Manches, das er nicht begriffen, als er es geſchehen ſah, erhielt Licht von dieſer An¬ nahme und half ſie wiederum beſtätigen. Die Abnei¬ gung der Frau ſchien ein bloßer Vorwand des Bru¬ ders, ihn von ihr fern zu halten. Der Bruder mußte gemeint haben, er könne ſie mit andern als den Au¬ gen eines Bruders und Schwagers anſehn. Und das ſchien begreiflich, da der Bruder wußte, ſie war ihm mehr geweſen, bis ſie ſeine Schwägerin wurde. Er hätte das dem Bruder gern in Gedanken zum Vorwurf ge¬ macht, mußte er ſich nicht geſtehn, ſein Mitleid, das des Bruders rohe Behandlung der Frau hervorgerufen, hatte ſeinen Empfindungen für ſie eine Wärme gegeben, die ihn ſelbſt beunruhigte. Er fürchtete nicht, daß ihn dieſe hinreißen könnte, des Bruders Furcht wahr zu ma¬168 chen, aber ſeine ſtrenge Gewiſſenhaftigkeit machte ſich dieſe Wärme ſchon zum Verbrechen. Aber, fiel ihm dann ein, hat die Frau nicht wirklich ihm Abneigung gezeigt? und fühlte ſie Abneigung gegen ihn, wie konnte der Bruder dann fürchten? Der Bruder hatte im Tone des Vorwurfs ſie ein Märchen genannt, alſo glaubte er nicht daran und meinte, die Frau heuchle ſie nur und empfinde ſie nicht. Der Vetter hatte oft von der Natur der Eiferſucht geſprochen, wie ſie aus ſich ſelbſt entſtehe und ſich nähre und ihr Argwohn über die Grenzen des Wirklichen, ja des Möglichen hinausgreife, und zu Thaten verführe, wie ſie ſonſt nur der Wahnſinn vollbringt. Einen ſolchen Fall ſah Apollonius vor ſich und bedauerte den Bruder und fühlte ſchmerzlich Mitleid mit der Frau. Aus ſolchen Gedanken und Empfindungen ſchreckte ihn Valentin, der ihn hinunterrief. Er kam unruhiger wieder her¬ auf, als er hinunter gegangen war. Es war nicht allein Aennchen's Zuſtand, die er wie ein Vater liebte, was auf ſeiner Seele lag. Auch das Mitleid mit Aennchen's Mutter war gewachſen, und eine Furcht war neu hinzugekommen, die er ſich gern ausgeredet hätte, wäre ein ſolch Verfahren mit ſeinem Klarheitsbedürfniß und ſeiner Gewiſſenhaftigkeit vereinbar geweſen. Als der erſte Schimmer des neuen Tages durch ſein Fen¬ ſter fiel, ſtand er auf von dem Stuhle, auf dem er ſeit ſeiner Zurückkunft geſeſſen. Es war etwas Feierliches169 in der Weiſe, wie er ſich aufrichtete. Er ſchien ſich zu ſagen: Iſt's, wie ich fürchte, muß ich für uns Beide einſteh'n; dafür bin ich ein Mann. Ich habe gelobt, ich will meines Vaters Haus und ſeine Ehre aufrecht erhalten und ich will's in jedem Sinne erfüllen, was ich gelobt!

Fritz Nettenmair erwachte endlich. Er wußte nichts mehr von den Traumbildern der Nacht. Nur die be¬ friedigte Stimmung, das Werk der lezten, war ihm geblieben. Er beſann ſich vergebens, was ſie, die ihm ſo lange fremd geweſen, hervorgerufen haben könnte. Was ihm von den Erlebniſſen der Nacht einfiel, war nicht geeignet, ſie zu erklären. Er wußte nur noch, daß ſeine Frau ein Pimpeln des Spions zu einer Krankheit vergrößert hatte, um einen Vorwand zu erhalten, mit ihm zuſammen zu ſein. Mit ihm! Nicht blos im Geſpräch mit dem Geſellen, auch mit ſich und ſeiner Frau nannte er Apollonius Namen nicht; vielleicht, weil ſein Haß gegen den Mann auf den Namen übergegangen war, vielleicht, weil er Tag und Nacht nur an zwei Menſchen dachte und dieſe nicht mit einander zu verwechſeln waren. Er hatte nichts mehr auf der Welt, als ſeinen Haß; und der kannte nur zwei Menſchen, ihn und ſie. Er dachte ſchon, wie er der Pimpelei ein Ende machen wollte. Mit dieſem Gedanken trat er aus der Thür und ſtand vor einer Leiche. Ein Schauder faßte ihn an. Da170 ſtand das todte Kind vor ihm wie ein Warnungs¬ zeichen: nicht weiter auf dem Wege, den du einge¬ ſchlagen haſt! Da lag das Kind, das ſein Kind war, todt. Sonſt ſcheuchte er's von ſich; jetzt blieb es und fürchtete ſich nicht mehr. Und fragte ihn, ob er's noch haſſen kann, ob er's noch mit dem Namen nennen kann, mit dem er's im Haſſe genannt. Geſtern ſah er's nicht, wie er über ſeine Angſt hin den Schlag führte; der Vater des Kindes nach der Mutter des Kindes und über den ſterbenden Leib des Kindes hin. Geſtern ſah er's nicht, wie er darüber gebeugt ſtand; jetzt ſieht er's, wohin er die entſetzten Augen wendet, um dem Anblick zu entfliehn. Da ſteht das Kind vor ihm, ein Ankläger und ein Zeuge. Es zeugt für die Mutter. Sie wußte es ſterbend, und am Sterbebett ihres Kindes thut die Verworfenſte nicht, was er ihr zugetraut. Es klagt ihn an. Er hat eine Mutter am Sterbebette ihres Kindes geſchlagen. Das kann kein Mann, und wär 'das Weib ſchuldig. Und ſie war's nicht; das zeugt das Kind. Jetzt weiß er, was das bleiche, ſtumme Antlitz der Mutter rief: Du tödteſt das Kind; ſchlag nicht! Und er hat doch geſchlagen. Er hat das Kind getödtet. Das trifft ihn wie ein Wetterſtrahl, daß er zuſammen ſinkt vor dem Bette des Kindes, über das hin er die Mutter geſchlagen; vor dem Bette, in dem ſein Kind ſtarb, weil er ſeines Kindes Mutter ſchlug.

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Dort lag er lang. Der Blitz, der ihn dahingeſtreckt, hatte zurückgeleuchtet mit grauſamer Klarheit; und er hatte die Beiden unſchuldig geſehn, die er verfolgt. Und keine Schuld, als die ſeine. Er allein hat das Elend aufgethürmt, das erdrückend auf ihm liegt, Laſt auf Laſt, Schuld auf Schuld. Des Kindes Tod iſt der Gipfel. Und vielleicht iſt er's noch nicht! Der Elende ſieht, er muß zurück. Er haſcht nach jedem Strohhalm von Gedanken, der ihn retten könnte. Da hört er die weichen Klänge wieder, denen er geſtern ſein Herz verſchloſſen: Du haſt gemeint, wenn er kommt, wird er wieder ſein wie er ſonſt war, eh du krank geworden biſt. Deine Mutter will's auch. Die Klänge waren eine weiche Hand, die die Seele der Frau nach ſeiner Seele ausſtreckte und zur Ver¬ ſöhnung bot. Sein Schmerz, ſeine Angſt faßten haſtig nach der ausgeſtreckten. Er ſah das Kind im Hemd¬ chen an der Kammerthür ſtehn, wo es ſo oft geſtanden, wenn ſeine Heftigkeit es aus dem Schlummer geweckt; die Händchen gefalten, die Augen ſo ſchmerzlich flehend: er ſolle doch gut ſein mit der Mutter; und ſo ängſtlich zugleich: er ſoll doch nicht zürnen, daß es fleht. Nun, da's zu ſpät war, ſah er, das Kind wollte ſein Engel ſein. Aber es war ja noch nicht zu ſpät! Er hörte den leiſen Schritt ſeiner Frau auf der Flur der Stuben¬ thüre nahn. Er hörte ſie die Thüre öffnen. Stand Aennchen jetzt in der Kammerthür, es mußte lächeln. 172Er wollte gut ſein; er wollte wieder ſein, wie er war, eh 'Aennchen krank geworden iſt. Er ſtreckte der Ein¬ tretenden die Hand entgegen. Sie ſah ihn und ſchrack zuſammen. Sie war ſo bleich wie das todte Aennchen, ſelbſt ihre ſonſt ſo blühenden Lippen waren bleich. Der Hals, die ſchönen Arme, die weichen Hände waren bleich; das ſonſt ſo glänzende Auge war matt. All ihr Leben hatte ſich in ihr tiefſtes Herz zurückgezogen und weinte da um ihr geſtorben Kind. Als ſie ihn ſah, ſtieß ein Zittern durch ihren ganzen Körper. Mit zwei Schritten ſtand ſie zwiſchen der Leiche und ihm. Als wollte ſie das Kind noch jetzt vor ihm ſchützen. Und doch nicht ſo. Weder Furcht noch Angſt bebte um den kleinen Mund. Er war feſt geſchloſſen. Ein ander Gefühl war's, was die ſchöngewölbten Augen¬ brauen drängend herabfaltete und aus den ſonſt ſo ſanften Augen flammte. Er ſah, es war nicht mehr das Weib, das die ſchmelzenden Friedensworte ge¬ ſprochen; die war mit ihrem Kinde geſtorben in dieſer ſchrecklichen Nacht. Das Weib, das vor ihm ſtand, war nicht mehr die Mutter, die zu ihm hinhoffte, deren Kind er retten konnte; es war die Mutter, der er das Kind getödtet. Eine Mutter, die den Mörder fortwies aus der heiligen Nähe des Kindes. Ein bleichſchreckender Engel, der den befleckenden Berührer fortzürnt von ſeinem Heiligthum. Er ſprach o hätt' er geſtern geſprochen! Geſtern hatte ſie ſich nach dem173 Worte geſehnt; heute hörte ſie es nicht. Gib mir deine Hand, Chriſtiane, ſagte er. Sie zog ihre Hand krampf¬ haft zurück, als hätte er ſie ſchon berührt. Ich habe mich geirrt, fuhr er fort; ich will's euch ja glauben, ich ſeh 'es ein; ich will's nicht wieder! Ihr ſeid beſſer als ich. Das Kind iſt todt, ſagte ſie und ſelbſt ihre Stimme klang bleich. Laß' mich in dieſer ſchrecklichen Angſt nicht ohne Troſt. Kann ich anders werden, ſo kann ich's nur jetzt, und wenn du mir die Hand gibſt, und richteſt mich auf, ſagte der Mann. Sie ſah auf das Kind, nicht auf ihn. Das Kind iſt todt, wieder¬ holte ſie. Hieß das, es war ihr gleichgültig, was mit ihm werden ſollte, da ſeine Beſſerung das Kind nicht mehr rettete? Oder hatte ſie ihn vergeſſen und ſprach mit ſich ſelbſt? Der Mann richtete ſich halb auf; er faßte ihre Hand mit angſtvoller Gewalt und hielt ſie feſt. Chriſtiane, ſchluchzte er wild, da lieg ich wie ein Wurm. Tritt mich nicht! Tretet mich nicht! Um Gotteswillen, erbarme dich! Ich könnt's nicht ver¬ geſſen, hätt ich vergebens gelegen wie ein Wurm. Denk daran! Um Gotteswillen denk daran! Du haſt mich jetzt in deiner Hand. Du kannſt aus mir machen, was du willſt. Ich mach 'dich verantwortlich. Du biſt Schuld an Allem, was noch werden kann. Endlich war es ihr gelungen, ihre Hand ihm zu ent¬ reißen; ſie hielt ſie weit von ſich, als ekelte ihr davor, weil er die Hand berührt. Das Kind iſt todt, ſagte174 ſie. Er verſtand, ſie ſagte: Zwiſchen mir und dem Mörder meines Kindes kann keine Gemeinſchaft mehr ſein, auf Erden nicht und nicht im Himmel!

Er ſtand auf. Ein Wort der Verzeihung hätte ihn vielleicht gerettet! Vielleicht! Wer weiß es! Die Klarheit, die ihn jetzt zur Reue trieb, war die Klarheit eines Blitzes. Was jetzt in ihm wirkte, nahm ſeine Gewalt von der Jähheit der Ueberraſchung. Wenn das Kind in der Erde ruht, deſſen plötzlicher Anblick ihn zurückgebäumt, wird ſein Warnungsbild bleicher und bleicher werden; jede Stunde wird dem Gedanken an dieſen Augenblick von der Macht ſeiner Schrecken rauben. Zu tief hat er die Geleiſe des alten Wahn¬ gedankens eingedrückt, um ihn für immer verlöſchen, zu weit iſt er gegangen auf, dem gefährlichen Weg, um noch umkehren zu können. Die Klarheit des Blitzes müßte ſchwinden und der alte Wahn hüllte die Dinge wieder in ſeine verſtellenden Nebel. Fritz Nettenmair heulte auf oder lachte auf; die Frau fragte ſich nicht, was er that. Tiefer Abſcheu gegen ihn panzerte ihr Ohr, ihre Augen, ihre Gedanken. Er taumelte in die Kammer zurück. Sie ſah es nicht, aber ſie fühlte es, daß ſeine Gegenwart nicht mehr den Raum entweihte, darin das Heiligenbild ihres Mutterſchmerzes ſtand. Leiſe weinend ſank ſie über ihr todtes Kind.

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Die Reparatur des Kirchendachs hatte begonnen. Apollonius wollte dieſe erſt beenden, eh er die Krönung des Thurms mit der geſtifteten Blechzier unternahm. Daneben mußte er das Begräbniß des kleinen Aenn¬ chens beſorgen; der Bruder kümmerte ſich nicht darum. Er mußte ſich auch dieſer Hausvaterpflicht unterziehn. Er fühlte ſich ſchmerzlich wohl darin. Koſteten ihm doch die ſchwereren kein Opfer! Er hatte ja nicht andere, ſüßere Wünſche zu bekämpfen und zu beſiegen gehabt, als er die Pflicht gegen des Bruders Ange¬ hörige auf ſich genommen. Er war ja eben nur dem eigenſten Triebe ſeiner Natur gefolgt. Und es lag in dieſer Natur, daß er ganz ſein mußte, was er einmal war. Seit er die Hoffnungen ſeiner Jugendliebe und damit dieſe ſelbſt aufgegeben hatte, war ihm ohnehin der Gedanke eines eigenen Hausſtandes fremd gewor¬ den. Er kannte keinen andern Lebenszweck, als die Erfüllung jener Pflicht. Aber ſie ſtand nicht als dürres, despotiſches Geſetz außer ihm vor den Augen ſeiner Vernunft, ſie durchdrang ſein ganzes Weſen mit der befruchtenden Wärme eines unmittelbaren Gefühls. So war es ſeit Monaten geweſen. Wenn er auf ſeinem Fahrzeug das Thurmdach umflog, wenn er hämmernd auf dem Dachſtuhl knieete, waren die Ge¬ ſtalten der Kinder ſeines Bruders, ſeine Kinder, um ihn. Schneller, als ſein Schiff, flog ſeine Phantaſie der Zeit voraus. Wie ſein Schiff um das Thurmdach, drehte176 ſich ſein ganzes Denken um die Stunde, wo die Söhne erwachſen waren und er das ſchuldenfreie Geſchäft ihnen übergab, wo Aennchen ausſah wie ihre Mutter und er ihre jungfräuliche Hand in die Hand eines braven Mannes legte. Aennchens roſiges Geſicht ſtand vor ihm, ſo oft er aufſah von ſeinen Schieferplatten. Als es ihn ſo ſchalkhaft anlachte, war es ſein Liebling; wie das Geſichtchen immer trüber und bleicher wurde, war ſie's nur immer mehr; er ſah ſie oft doppelt durch das Waſſer in ſeinen Augen. Jetzt o manch¬ mal war's ihm, als arbeite er nun umſonſt! Und es war noch etwas hinzugekommen, was ihn immer mehr beängſtigte. Aus dem Mitleid mit der gequälten Frau, die um ihn gequält wurde, blühte die Blume ſeiner Jugendliebe wieder auf und entfaltete ſich von Tag zu Tage mehr. Und was des Bruders Hohn und Undankbarkeit gegen ihn nicht vermocht, das gelang ſeinem Benehmen gegen die Frau. Apollonius fühlte ſein Herz erkalten gegen den Bruder. Es trieb ihn, die Frau zu ſchützen; aber er wußte, ſeine Einmiſchung gab ſie nur härteren Mißhandlungen preis. Er konnte nicht mehr für ſie thun, als daß er ſich ſo entfernt hielt von ihr, als möglich. Und nicht allein wegen des Bruders; auch um ihrer ſelbſt willen, wenn er richtig geſehn hatte. Hatte er richtig geſehn? Er ſagt ſich hundertmal Nein. Er ſagt ſich's mit Schmerzen; deſto öfter und dringender ſagte er ſich's, und fühlte,177 er dürfe ſie nicht ſehn, auch um ſeinetwillen. Es peinigte ihn, wenn gleichgültige Dinge verworren und unſymmetriſch lagen und er ſie nicht ordnen konnte; hier ſah er Mißverhältniſſe und Widerſprüche in das innerſte Leben des, was ihm das Heiligſte war, ge¬ drungen, in das Herz ſeiner Familie, in ſein eigenes, und er mußte ſie wachſen ſehn und die Hände waren ihm gebunden!

Es wurde immer dunkler, immer ſchwüler, das Le¬ ben in dem Haus mit den grünen Laden, ſeit das kleine Aennchen daraus fortgetragen war. Es wurde immer dunkler und ſchwüler in Fritz Nettenmair's Bruſt und Hirn. Er hatte umkehren wollen auf dem Wege, in deſſen Mitte ihn des todten Aennchen's Bild und die Klarheit, die es über die zurückgelegte Strecke goß, geſchreckt. Er wäre umgekehrt, nahm die Frau die ge¬ botene Hand an. Er meinte es wenigſtens. Aber ſie hatte ihn zurückgewieſen, ſie hatte ihm ein Antlitz ge¬ zeigt voll Abſcheu und Verachtung; er hatte geſehn, ſie nannte ihn in ihrem Herzen den Mörder des Kin¬ des. Ihr Auge hatte ihm mit Rache gedroht, und da war es wieder dageweſen, das alte Geſpenſt, die ſchuld¬ geborene Furcht. Hat ſie's noch nicht gethan, was er fürchtet, nun wird ſie's thun, um ihn für den Schlag zu ſtrafen, an dem Aennchen ſtarb. Je mehr er daran herum greift mit ſeinen Gedanken, deſto klarer fühlt er, wie gelegen ſeinen Feinden, und ſie ſind ſeineLudwig, Zwiſchen Himmel und Erde. 12178Feinde; ſie haben ihm ein Unrecht zu vergelten wie gelegen ſeinen Feinden dieſer Schlag kam. Dann ſieht er, daß die Frau ihn warnen konnte. Sie ſagte nicht: Schlag 'nicht, das Kind iſt krank; es iſt ſein Tod, wenn du ſchlägſt. Nein! Ein Wort von ihr konnte den Schlag verhüten; ſie ſprach es nicht. O es iſt klar, ſonnenklar: ſie reizte ihn abſichtlich durch ihr Schweigen zu der wilden That. Aber wie? ihres Kin¬ des Tod hätte ſie gewollt? Den kann kein Weib wol¬ len. Ja, ſie dachte ſelbſt nicht, daß es ſterben würde; ſie wollte nur den Vorwand zum Haſſe, zum Betruge aus Haß, daß er ſie am Bette des kranken Kindes ge¬ ſchlagen. Sie dachte nicht, daß es ſterben würde; und wie es doch ſtarb, wälzte ſie die Schuld von ſich auf ihn. Und er war wieder der dumme Ehrliche geweſen; auch in dieſe Schlinge war er gegangen in ſeiner Arg¬ loſigkeit. Und hatte vor ihr gelegen, wie ein Wurm vor ihr, die vor ihm hätte liegen ſollen. Und ſie hatte ihn noch zurückgeſtoßen, mit Verachtung zurückgeſtoßen! So oft er an den Augenblick dachte, machte er ſie ver¬ antwortlich für Alles, was noch kommen konnte. Was noch aus ihm werden konnte, dazu hatte ſie ihn ge¬ macht. Er hatte die Hand geboten; er war ohne Schuld. Dann brütete er, was aus ihm noch werden könne, und das Schlimmſte war ihm nicht ſchlimm ge¬ nug, die Schuld zu vergrößern, die er auf ſie wälzte. Sie ſollte mit reuigem Entſetzen ſehen, was ſie gethan,179 als ſie ihn zurückſtieß. Je näher er drohen ſah, was kommen mußte, deſto wilder wurde ſeine Liebe oder auch ſein Haß; denn beide waren in dem Gefühl beiſam¬ men, das ſie immer glühender ihm einflößte. Deſto gelehriger lernten ſeine Augen jeden kleinſten Reiz ihrer Geſtalt, deſto ſchmerzender ſtach dieſe Schönheit durch ſeine Augen in ſein Herz. Dieſe verruchte Schönheit, die die Urſache all' ſeines Elendes war. Dieſe fluch¬ volle Schönheit, um derentwillen der eigene Bruder ihn aus Schuppen und Haus verdrängt und der Ver¬ achtung der Welt und des Weibes ſelbſt preisgegeben. Er fing an, über Gedanken zu brüten, wie er dieſe Schönheit vernichten konnte, damit ſie dem Buhlen ein Eckel wurde, und dieſer, um ſeinen Zweck betrogen, ihn umſonſt elend gemacht hatte. Und dachte er ſich das ausgeführt, dann lachte er in ſo wilder Schadenfreude auf, daß ſeine ſtarknervigen Trinkkameraden erſchracken, und die Leute, die ihm begegneten, unwillkürlich inne hielten in ihrem Gang. Und doch war der Gedanke nur ein Vorläufer eines noch ſchlimmeren. Dazwiſchen fiel ihm dann der Frohnweißblick ein. Dann wurde ſein Traum nach der wilden That zur Wirklichkeit. Dann ſtand er ſtundenlang bald da, bald dort, wo man Apollonius auf dem Kirchendache arbeiten ſah, und blickte hinauf und wartete und zählte. Jetzt müſſen die Breter unter dem Hämmernden brechen, jetzt muß das Tau reißen, daran der Dachſtuhl hängt. Jetzt müſſen12*180die Leute aufſchrein vor Schrecken, die eben noch ſo gleichgültig aus den Fenſtern ſehn oder über die Straße gehn. Dann zählte er immer fieberhaftiger, der kalte Schweiß rann ihm über die Stirn; und die Breter brachen nicht, das Tau riß nicht, die Leute ſchrien nicht auf vor Schrecken. Und immer wilder lachte er vor ſich hin, wenn er nach langem Warten müde und ver¬ zweifelt weiter ging: Wär's nur mein Unglück, könnt er mich nur noch elender damit machen, als er mich ſchon gemacht hat, er wäre längſt ſchon todt. Nur, weil mich ſein Leben elend macht, lebt er noch. Er will nicht eher ſterben, bis er mich ganz elend ge¬ macht hat!

Die Furcht ließ ihn nicht los, ſie preßte ihn immer erſtickender. Trug er ſie ſpät in der Nacht heim, dann machte der ruhige Schlaf ſeiner Frau ihn wüthend. Die ſchlief ruhig, die ihn nicht ſchlafen ließ! Er ſetzte ſich an ihr Bett und rüttelte ſie auf und erzählte ihr leiſe in's Ohr, was er an ihrem Liebſten thun will. Es waren grauſige Dinge. Wenn die Glieder ihr flogen vor Angſt und Entſetzen, dann lachte er zufrie¬ den auf, daß er doch Etwas hatte, ſie aus der ſtum¬ men Verachtung zu ſcheuchen, womit ſie ſich gegen ihn gewappnet, und vergaß daran minutenlang ſeine Qual. Dann lachte er faſt jovial; er hat ihr Angſt machen wollen. Es iſt nur einer von Fritz Nettenmair's neu¬ modiſchen Späßen. So weit haben ſie ihn doch noch181 nicht gebracht, im Ernſt an ſolche Dinge zu denken. Aber wenn ſie Apollonius davon ſagt, dann muß er's, und ſie trägt die Schuld. Er bewacht ihr jeden Tritt, ſie kann nichts thun, was er nicht erfährt. Und läßt ſie's ihn durch einen Dritten wiſſen, ſo wird er's ihm anſehn. O Fritz Nettenmair iſt einer, der ! Den ganzen Tag über, die halben Nächte geht dann die Frau wie im Fieber umher. An der leidenſchaft¬ lichen Angſt wächſt ihre Liebe zu Apollonius zur Lei¬ denſchaft. Und ſie kann's nicht hindern, denn die Leidenſchaft mehrt wiederum die Angſt. Und vor dem Gedanken der Angſt hat kein anderer Platz in ihrer Seele. Hin zu ihm will ſie ſtürzen, ihn mit preſſen¬ den Armen umfangen, ihn beſchwören dann wieder will ſie in die Gerichte aber es iſt ja nur ein wil¬ der Scherz, und ſie wird ihn erſt zum Ernſte machen, ſagt ſie Jemand davon. Sie geht nicht mehr aus der Stube, tritt nicht mehr an's Fenſter vor Furcht; ſie will jeden Schritt meiden, jede Bewegung, Alles was nur als ein Umſehen nach Apollonius erſcheinen könnte. Sie hat nicht mehr den Muth, mit Jemand zu reden, weil ihr Mann es erfahren kann, und meinen, ſie trägt ihm eine Botſchaft an Apollonius auf. Und der Mann ſieht ihre wachſende Leidenſchaft, ſieht, wie wiederum ſein Mittel, was kommen muß, aufzuhalten, es nur beſchleunigen wird, und wartet und zählt immer unge¬182 duldiger, daß die Breter nicht brechen und das Tau nicht reißt.

Es war eine trübe, ſchwüle Nacht. Die Nacht vor dem Tage, an welchem Apollonius die Bekrän¬ zung des Thurmdachs beginnen wollte. Fritz Netten¬ mair ſchlich durch die Hinterthür auf den Gang nach dem Schuppen, um nach Apollonius Fenſter heraufzu¬ ſehn. Wenn er das Licht darin erloſchen ſah, dann pflegte er die Hinterthür zu verſchließen und ſeinen wüſten Neigungen nachzugehen. Seit jener Nacht, wo Valentin die Hinterthür mit dem Schuppenſchlüſ¬ ſel geöffnet, hängte Fritz Nettenmair an den Riegel noch ein Vorlegeſchloß. Apollonius war noch nicht zu Bett gegangen. Fritz Nettenmair wußte, Apollonius löſchte in ſeiner eigenſinnigen Vorſicht nie das Licht, wenn er ſchon in's Bette geſtiegen war. Es ſtand dem Bette fern auf ſeinem Schreibtiſch; dort ſetzte er es in ein Becken und löſchte es, eh er nach dem Bette ging. Fritz Nettenmair ballte die Fauſt nach dem Fenſter hin¬ auf. Apollonius zögerte ihm auch hier zu lang. Er war müde und ging nach dem Schuppen. Der Schlüſ¬ ſel zur Hinterthür ſchloß auch den Schuppen. Es war dunkel darin. Wenn der Schieferdecker ſeine Platten zurichtet, ſitzt er rittlings auf einer Bank, in deren Mitte das Haueiſen, ſein kleiner Ambos eingeſchlagen iſt. An eine ſolche ſtieß Fritz Nettenmair mit dem Bein und183 nahm den Stoß als eine Aufforderung ſich zu ſetzen. Er konnte durch eine Lucke nach Apollonius Fenſter ſehn; er wollte das Auslöſchen des Lichtes hier erwar¬ ten. Der Schieferdecker verrichtet oft Zimmermanns¬ arbeit, er führt daher auch ein kleines Zimmerbeil un¬ ter ſeinem Werkzeuge. Ein ſolches hatte auf der Bank gelegen; es war herabgefallen, als er ſich geſetzt. Er hob es auf und behielt es abſichtslos in ſeinen Hän¬ den. Denn ſeine Gedanken waren mit ihm in der Kammer; er ſaß am Bette der Frau und ängſtigte ſie mit Drohungen. Der Aerger über das Zögern Apol¬ lonius machte ſich darin Luft, das ihn hinderte, ſich im Trunk Betäubung zu ſuchen. Er hat ſeine Hand auf das Bette der Frau geſtützt und fühlt an den Bewe¬ gungen der Decke das Zittern ihrer Glieder. Er fühlt ſich in ihre Angſt hinein, er fühlt, wie er ſelbſt Apol¬ lonius zu ihrem einzigen Gedanken macht. Er fühlt, wie ſie morgen ihm entgegenſtürzen muß, wenn er von der Arbeit heimkommt. Und wären ſie nicht ſeine Teu¬ fel, wären ſie Engel, es müßte morgen kommen, was er verhüten will. Wenn ſie ihn mit der Glut der Angſt umfaßt, das ſchöne, fluchvoll ſchöne Weib, er müßte nicht Blut in ſeinen Adern haben und hätt 'er nie den Gedanken gehabt, mit dem er doch einſchläft und aufwacht Tag für Tag, er müßte jetzt den Ge¬ danken denken. Es muß kommen, wovor[die] bloße Furcht Fritz Nettenmair zu dem elendeſten der Menſchen184 gemacht, der ſich ſelbſt anſpeien könnte; geſchieht nicht morgen noch, was der Frohnweißblick geweiſſagt. Und nun ſteht er wieder an der Straßenecke und ſieht wie¬ der hinauf und harrt und zählt verzweifelter als je, und badet ſich in Angſtſchweiß, und die Breter brechen nicht, und das Tau reißt nicht. O er wird den Frohn¬ weißblick zum Märchen machen, er wird leben bleiben, das Jahr, zehn Jahr, hundert Jahr, aus Haß gegen ihn. Und er zählt immer noch Eins, Zwei; er ſagt: nun muß da hört er das Geräuſch eines zerreißen¬ den Tau's und fährt auf aus ſeinem wachen Fie¬ bertraum. Die wilde, angſtvolle Freude iſt vergeblich. Er ſteht nicht an der Ecke und ſieht nach dem Kirchen¬ dache hinauf. Er ſitzt im Schuppen. Es iſt Nacht. Aber das Geräuſch hat er gehört. Das war keine Vorſpiegelung der Phantaſie. Und von dort her kam's. Seine Haare ſtehn empor. Dort liegen die Häng¬ ſtühle und die Flaſchenzüge mit ihren Tauen. Er hat hundertmal erzählen hören; jeder Schieferdecker weiß, was es ſagen will, das vorſpuckende Geräuſch. Aber dreimal muß es klingen, als wenn ein Tau zerriſſe; und er hat's erſt einmal gehört. Er lauſcht, er preßt die Fauſt auf das Herz. Vor ſeinen Schlägen, vor dem Brauſen des Blutes die Adern hinauf und herab, wird er's nicht hören, wenn's noch einmal klingt und noch einmal. Er lauſcht und lauſcht und das Geräuſch wiederholt ſich nicht. Da fährt ein Gedanke wie ein185 dunkelglüh'nder Blitz durch den Krampf, in den all' ſeine Gefühle zuſammengeballt ſind; der Gedanke, dem Schickſal nachzuhelfen. Er hat das Zimmerbeil immer noch in ſeinen Händen; er iſt abſichtslos mit der Hand¬ fläche an der Schneide hingefahren; jetzt kommt ihm zum Bewußtſein, das Beil iſt ſcharf, die Ecke ſpitzig. Eine ganze Reihe von Gedanken ſteht fertig da; es iſt, als ſtänden ſie ſchon lang, und der Blitz hat ſie nur ſichtbar gemacht. Morgen knüpft Apollonius ſeine Leiter an die Helmſtange, dann das Tau mit Flaſchen¬ zügen und Fahrzeug. Fritz Nettenmair greift um ſich und hat das Tau in der Hand. Das Schickſal will ſeine Hülfe; drum legt es ſelber ihm Tau und Beil in die Hand. Wer weiß, daß er hier war? Drei, vier Stiche mit dem Beil im Kreiſe um das Tau, kaum zu ſehn, werden zu einem einzigen großen Riß, wenn das Gewicht eines ſtarken Mannes am Tau zieht, und die wuchtende Bewegung des Fahrzeugs um den Thurm das Gewicht des Mannes vergrößert. Wer ſieht den Stichen an, daß ſie abſichtlich gemacht ſind? Ein Tau, das getragen, halb an der Erde fortſchleift, kann an allerlei Scharfes ſtoßen. Und das Schickſal hat den Schieferdecker, der zwiſchen Himmel und Erde hängt, in ſeiner Hand. Das Schickſal hält ihn oder läßt ihn fallen, nicht das Seil oder ein Schnitt darin. Will es ihn halten, ſchadet kein Schnitt; ſoll er fallen, reißt186 ein unverſehrtes Seil. Und das Schickſal hat ihn ſchon gezeichnet. Ein Tag früher, einer ſpäter, was iſt das, wenn er doch fallen muß? Ein Tag ſpäter und es packt einen Verbrecher. Meint's das Schickſal nicht gut, nimmt's ihn vorher aus der Welt? All' dieſe Gedanken ſchlug mit einem Schlage jener eine aus Fritz Nettenmair's Seele; im Nu war er ent¬ glommen; im Nu ſchlägt der Höllenfunke zur Flamme auf. Er hat das Tau in der linken Hand; er hebt das Beil und läßt es ſchaudernd fallen. An dem Beile glänzt Blut; durch die ganze Länge des Schuppens ragt ein blutiger Streif. Fritz Nettenmair flieht aus dem Schuppen. Er flöhe gern aus ſich ſelbſt heraus. Kaum hat er den Muth, nach Apollo¬ nius' Fenſter aufzuſehn. Ein heller Lichtſtrahl kommt von da. Fritz Nettenmair weicht vor ihm hinter einen Buſch. Jetzt bewegt der Strahl ſich zurück. Apollo¬ nius war aufgeſtanden an ſeinem Tiſche, und hatte das Licht hoch in die Höhe gehalten. Er hatte das Licht geputzt. Es konnte eine glühende Schnuppe aus der Scheere neben den Leuchter unter die Papiere gefallen ſein. Es war nicht geſchehn, und er ſtellte das Licht wieder an ſeine Stelle. Fritz Nettenmair kannte ſei¬ nes Bruders ängſtliche Gewiſſenhaftigkeit; er hatte ihn das Licht mehr als hundertmal ſo heben ſehn; er begriff, es war kein Blut, was ihn erſchreckt. Der187 Widerſchein der Flamme war durch Fenſter und Lucke gefallen und hatte roth von dem Stahl des Beiles und durch die Nacht des Schuppens geglänzt. Den¬ noch ſtand Fritz Nettenmair bebend hinter ſeinem Buſche. Der geſpenſtige Schauder verließ ihn, aber nicht ſo ſchnell das Grauen über das, was er gewollt, und daß es war, als hätte ihm der Bruder noch zu ſeinem Werke leuchten wollen. Bald verloſch Apollonius Licht. Fritz Nettenmair konnte zurückkehren und ſein Werk vollenden. Es ſtörte ihn Niemand mehr. Er that es nicht. Aber er rückte ſich wieder in ſeinem Haſſe zu¬ recht. Er ſagte ſich: ſo weit ſollen ſie ihn nicht brin¬ gen. Die Schuld des Gedankens wälzt er auf die, auf die er Alles wälzt; daß er den Gedanken nicht ausgeführt, rechnet er ſich zu. Er weiß, jeder Andere an ſeiner Statt hätte ſchlimm gethan. Dann verſchließt er Hinterthür und Vorlegſchloß, zuletzt die Hausthür; und geht. Er will trinken, bis er nichts mehr von ſich weiß. Heut hat er mehr zu vergeſſen, als je. Er geht. Ob er nicht wieder kommen wird? heute nicht; aber morgen, übermorgen, überübermorgen? Wenn der Gedanke ſeine Fremdheit für ihn verloren hat. Ge¬ wohnheit macht ſelbſt mit dem Teufel vertraut. Dazu ſollen ſie ihn nicht bringen! Ob die Stunde nicht kom¬ men wird, wo er bereut, daß er ſich nicht ſo weit brin¬ gen laſſen,[und] ſich doch noch ſo weit bringen läßt? Dazu, wozu jeder Andere an ſeiner Stelle ſich hätte brin¬188 gen laſſen? Es wurde immer dunkler, es wurde im¬ mer ſchwüler, das Leben in dem Hauſe mit den grünen Laden. Wer jetzt hineinſieht, glaubt mir's nicht, wie dunkel, wie ſchwül es einmal war.

Von dieſer Nacht an ängſtigte Fritz Nettenmair die Frau nicht mehr durch Drohungen auf Apollonius. Er begann ſogar, ſie mit einer gewiſſen Freundlichkeit zu behandeln. Dazwiſchen verlor er ſich ſtundenweiſe in ein ſtummes Vorſichhinſinnen, aus dem er, ſah er ſich beobachtet, aufſchrack. Er war dann noch freund¬ licher als ſonſt, und brachte Scherze aus ſeiner beſten Zeit. Er verſuchte ſich ſogar wieder an der Arbeit. Aber die Frau wurde nur noch ängſtlicher. Sie ver¬ mied noch mehr als ſeither, was dem Manne Anlaß zum Glauben geben konnte, ſie wolle ſich Apollonius nähern. Sie wußte nicht, warum. Und wenn ſie ihre Furcht Thorheit nannte, ſie mußte fürchten. Apollonius ſah mit Freuden die Aenderung des Bruders und ſuchte ihn auf alle Weiſe darin zu fördern. Er wußte nicht, wie der Bruder ſeine Freude auslegte!

Unterdeß hatte Apollonius die Umkränzung des Thurmdachs von Sankt Georg mit der geſtifteten Zier begonnen. Er hatte die Rüſtſtangen wiederum herausge¬ ſchoben und innen am Gebälke des Dachſtuhls feſtge¬ nagelt; die Bretter darauf befeſtigt, auf die fliegende189 Rüſtung die Leiter geſtellt, und dieſe an der Helmſtange feſtgebunden; er hatte wiederum den hänfenen Ring um die Helmſtange gelegt, daran den Flaſchenzug, und an dieſem ſeinen Hängeſtuhl befeſtigt. Die geſtiftete Blechzier beſtand aus einzelnen halbmannslangen Stücken, mit denen ſich handlich umgehen ließ. Das Ganze ſollte, nach des Stifters Angabe, der ſelbſt die Koſten der Befeſtigung trug, zwei Guirlanden vorſtellen, die ſich in gleichlaufenden Kreiſen mit herabhangenden Bogen um das Thurmdach ſchlangen. Je fünf jener Stücken, bei der oberen drei, bildeten einen dieſer Bogen. Sie mußten an ihren Enden durch eingeſchlagene Niete verbunden, und jedes einzelne noch durch ſtarke Nägel auf die Verſchalung befeſtigt werden. Da die Ränder der Schieferplatten überall ſich decken, war es nöthig, an den Stellen, wo die Vernagelung ſtattfinden ſollte, die Schiefer mit Bleiblechen umzutauſchen. Dasſelbe geſchieht, wo die ſogenannten Dachhacken in die Ver¬ ſchalung eingetrieben werden, an welche bei Reparaturen der Schieferdecker ſeine Leiter hängt. Die Fläche, mit welcher der Dachhacken, nachdem ſeine gekrümmte Spitze eingetrieben iſt, durch noch zwei ſtarke Nägel auf die Verſchalung aufgenagelt wird, darf man nicht mit Schieferplatten überdecken. Bei Beſteigung der an dem hervorſtehenden Hacken aufgehängten Leiter, kommt ſeine Fläche in Vibration, die die Schieferplatten aufwuchten und beſchädigen würde. Sie wird deßhalb190 mit einer Bleiplatte überdeckt. Und die Zierrath kam, wenn der Wind ſich darin fing, in eine ähnliche Be¬ wegung. Dann war noch Eins zu bedenken. Die Dachhacken liefen, je neun und einen halben Fuß von einander entfernt, in gleichlaufenden Kreiſen um das Thurmdach; zwiſchen je zwei Kreiſen befand ſich ein Raum von fünf Fuß. Es galt, die Zierrath ſo anzu¬ bringen, daß ſie keinen dieſer Dachhacken überdeckte. Apollonius war fleißig bei der Arbeit. Der Blechſchmied¬ meiſter, der ſeine Zier ſo bald als möglich prangen ſehn wollte, hatte ſich weniger über ihn zu beklagen, als Apol¬ lonius mit dem Meiſter zufrieden ſein konnte. Im Anfang trieb dieſer, bald mußte Apollonius den Meiſter treiben.

Es fehlte noch der Theil der obern Guirlande, der als Bogen über der Ausſteigethür hängen ſollte. Apollonius konnte nicht feiern, bis er das Material dazu erhielt. Von einem nahen Dorfe hatte man ihn wegen einer kleinen Reparatur beſchickt; er ließ ſein Fahrzeug bis auf ſeine Zurückkunft an dem Thurmdach von Sankt Georg hängen, und ging nach Brambach.

Es war den Tag darauf, daß der alte Valentin an die Wohnſtubenthür pochte. Er war ſchon einige¬ mal an der Thür geweſen und wieder fortgegangen. Sein ganzes Weſen drückte Unruhe aus. Es machte ihn etwas, woran er immer denken mußte, ſo zerſtreut, daß, als er vergebens auf ein Herein gewartet, er meinte, er müſſe es in Gedanken überhört haben, und das191 Ohr an das Schlüſſelloch legte, als ſetz 'er voraus, es müſſe noch jetzt zu hören ſein, wenn man ſich nur recht mühe. Die Unruhe weckte ihn aus der Zer¬ ſtreuung. Er pochte zum zweiten und zum dritten mal, und als der Ruf immer noch ausblieb, faßte er ſich Muth, öffnete und trat in die Stube. Die junge Frau war ihm ſchon ſeit einiger Zeit immer ausgewichen. Sie that es auch diesmal; aber heute mußte er ſie ſprechen. Sie ſaß, abſichtlich von den Fenſtern ent¬ fernt, an der Kammerthüre. Der Alte ſah nicht, daß ſie eben ſo unruhig war, als er, und ſein Hierſein ſie noch mehr ängſtete. Er entſchuldigte ſein Eindringen. Als ſie eine Bewegung machte, ſich zu entfernen, ver¬ ſicherte er, ſein Bleiben ſolle kurz ſein; er wäre nicht mit Gewalt hereingedrungen, wenn nicht etwas ihn triebe, was vielleicht ſehr wichtig ſei. Er wünſche das nicht, aber es ſei doch möglich. Die Frau horchte und ſah immer ängſtlicher bald nach den Fenſtern, bald nach der Thür. Müſſe er ihr etwas ſagen, ſoll er's, ſo ſchnell er könne. Valentin ſchien zugleich auf die ängſtlichen Blicke der Frau zu antworten, als er begann: Herr Fritz ſind auf dem Kirchendach von Sankt Georg. Ich hab' ihn eben noch vom Hofe aus geſehn. Und hat er hierher geſehn? Hat er euch in's Haus gehn ſehn? fragte die Frau in einem Athem. Bewahre, ſagte der Alte; er arbeitet heute wie ein Feind. Denkt an kein Eſſen und Trinken. 192Wenn ein Menſch ſo arbeitet Der Alte brach ab und dachte ſeinen Satz fertig: ſo hat er was vor. Die Frau ſchwieg auch. Sie kämpfte mit dem Ge¬ danken, dem treuen Alten ihre ganze Angſt anzuvertraun. Der Alte merkte nichts davon. Der Nachbar da, Sie wiſſen's wohl, fuhr er fort, kann zu Zeiten keine Nacht ſchlafen. Da hat er die Nacht, eh Herr Apollonius nach Brambach gegangen iſt, zu ſeinem Küchenfenſter heraus, Einen in unſern Schuppen ſchleichen ſehn, den Gang vom Hauſe hinter. Der Alte ſagte nicht, wen der Nachbar geſehn; wahrſchein¬ lich ſollte die junge Frau ihn danach fragen. Sie that es nicht; ſie hatte ſeine Geſchichte nicht gehört. Er fuhr fort: Den Abend vorher, eh der Herr Apollonius nach Brambach gegangen iſt, hat er das Zeug aus¬ ſuchen wollen, das er hat mitnehmen wollen; er hat alles unterſucht; das thut er immer; aber er hat ſich nicht entſchließen können. Und das iſt ſo merkwürdig, wie daß der Herr Fritz auf einmal ſo fleißig geworden iſt. Apollonius Name weckte die junge Frau; ſie horchte, als der Alte fortfuhr: Daran hab 'ich erſt vorhin im Schuppen gedacht. Wie mir der Nachbar da erzählt hat, daß Einer in den Schuppen geſchlichen iſt, hab' ich gedacht: was muß der dort gewollt haben, der dort hineingeſchlichen iſt und bei Nacht. Und wie ich aufgeſehn hab 'und hab' den Herrn Fritz ſo arbeiten ſehn, da iſt eine Unruh 'über mich gekommen und hat193 mich in den Schuppen hineingetrieben wie mit dem Stock hinter mir her. Da hab' ich mir alles Mögliche vorgeſtellt, was Einer drinn hat machen können, der hineingeſchlichen iſt. Erſt hab 'ich das Zimmerbeil an der Thür liegen ſehn, das dahin gehört, wo das andere Werkzeug iſt. Da hab' ich gedacht: Hat er was mit dem Beile gemacht? Und hab 'mir wieder vorgeſtellt, was einer mit dem Beil drinn machen kann, der bei Nacht hineingeſchlichen iſt. Mir iſt der Gedanke ge¬ kommen, es könnt' was an den Leitern ſein. Aber ich hab 'nichts gefunden daran. An dem Hängſtuhl, der noch dort lag, war auch nichts. Da fing ich an, die Kloben zu betrachten, und endlich das Seilwerk. Da war an einem was, als wär's hier und da an was Hartes angetroffen, und das hätt' das Seil verſchunden. Da denk 'ich: Das geſchieht oft und will's ſchon wieder hinlegen. Aber ich denk' auch wieder: Sonſt iſt nichts; und wenn einer hereinſchleicht, hat er was gewollt; und wenn er das Beil gehabt hat, hat er auch was damit gemacht. Da ſeh 'ich genauer zu und Gott behüt' einen Chriſtenmenſchen! Da war hier mit dem Beil hereingeſtochen, und dort, und noch einmal, und noch einmal. Ich werf's über den Balken und häng 'mich daran, da klaffen die Stiche auf; ich glaub', wenn ein Fahrzeug daran wuchtet, das Seil iſt im Stand, zu zerreißen. Der Alte war ganz bleich geworden über ſeiner Erzählung. Die Frau hatte immer angſt¬Ludwig, Zwiſchen Himmel und Erde. 13194voller an ſeinem Mund gehangen; ſie war in den Stuhl zurückgefallen und konnte kaum ſprechen. Er hat gedroht, ächzte ſie. Der Alte verſtand nicht, was ſie ſagte. Den Abend vorher war's noch nicht, fuhr er fort. Herr Apollonius, der hat ein Aug für einen Mückenſtich. Er hätt's gefunden, wie er Alles unterſucht hat. Nun denk 'ich, der die Beilſtiche gemacht hat, hat die Unterſuchung mit angeſehn und hat gemeint, Herr Apollonius wird das Zeug nicht noch einmal unterſuchen, wenn er's morgen braucht. Und da iſt er bei Nacht hineingeſchlichen. Valentin, ſchrie die Frau auf und faßte ihn bei den Schultern, halb wie um ihn zu zwingen, er ſoll ihr die Wahrheit ſagen, halb, um ſich an ihm aufrecht zu erhalten. Er hat's doch nicht mitgenommen? Valentin, ſo ſag's doch nur! Das nicht, ſagte Valentin. Aber den andern Hängſtuhl, der darin lag, und das Seilzeug dazu, und noch mehr. Und waren auch dort Stiche drinn? fragte die Frau in noch immer ſteigender Angſt. Der Alte ſagte: Ich weiß nicht. Aber der ſie gemacht hat, hat nicht gewußt, welches Herr Apol¬ lonius mitnehmen wird. Wenn er ſicher gegangen iſt, ſo hat er alle beide und ich bin ſchuld, ſtöhnte die Frau. Er hat lang gedroht, er will ihm was thun. Er that, als wär's einer von ſeinen Späſſen. Wenn ich's Jemand ſagte, wollt' er's im Ernſte thun. Wer ſo ſcherzt, ſagte Valentin,195 der macht auch, ſolchen Ernſt. Die Frau zitterte ſo heftig an allen Gliedern, daß der Alte ſeine Angſt um Apollonius über der Angſt um ſie vergaß. Er mußte ſie halten, daß ſie nicht umfiel. Aber ſie ſtieß ihn von ſich und flehte und drohte zugleich: Rett 'ihn, Valentin, rett' ihn. Hilf, Valentin! Ach Gott, ſonſt hab ich's gethan. Und betete zu Gott um Rettung und jammerte immer dazwiſchen auf: er ſei todt und ſie ſei die Schuld. Sie rief Apollonius ſelbſt mit den zärtlichſten Namen, er ſolle nicht ſterben. Valentin ſuchte in der Angſt nach einer Beruhigung für ſie und fand ein Etwas davon für ſich ſelbſt mit. Wenn es auch nicht beruhigen konnte, ſo gab es doch Hoffnung, daß Apollonius ſchon auf dem Rückweg ſein müſſe. Daß er gewiß das Tauwerk noch einmal unterſucht habe. Daß man, wär 'er verunglückt, es nunmehr wiſſen müßte. Er mußte ihr das zehnmal vorſagen, eh' ſie nur verſtand, was er meinte. Und nun erwartete ſie den Boten, der die gräßliche Nach¬ richt bringen konnte, und ſchrack auf bei jedem Laut. Ihr eigenes Schluchzen hielt ſie für die Stimme des Boten. Valentin lief endlich, da ihre Angſt und Rathloſigkeit ihn ſelber mit ergriff, zu dem alten Herrn, ihn herein¬ zuholen zu der Frau. Er wußte nicht, was beginnen; und vielleicht war noch zu retten, wenn man etwas that; vielleicht wußte der alte Herr, was zu thun war, um zu retten.

13 *196

Der alte Herr ſaß in ſeiner kleinen Stube. Wie er ſich immer tiefer in die Wolken einſpann, die ihn von der Welt außer ihm trennten, wurde ihm zuletzt auch das Gärtchen fremd. Beſonders hatte ihn die ewige Frage: Wie geht's Herr Nettenmair? dort vertrieben. Er fühlte, man konnte ihm ſein Ich leide etwas an den Augen, aber es hat nichts zu ſagen nicht mehr glauben, und ſeitdem hörte er in jener Frage eine Verhöhnung. Apollonius war, ſo ſehr er mit ihm litt, das Zurückziehen des alten Herrn und ſeine zu¬ nehmende Menſchenſcheu nicht unwillkommen. Je tiefer der Bruder fiel, deſto ſchwerer war es geworden, dem alten Herrn den Zuſtand des Hauſes zu verbergen und etwaige Zuträger abzuhalten, von denen er in ſei¬ nem Gärtchen nicht abzuſchließen war; es ſchien zuletzt unmöglich. Apollonius wußte freilich nicht, daß der alte Herr in ſeinem Stübchen an Qualen litt, die, wenn auch auf bloßer Einbildung beruhend, denen gleich kamen, vor denen er ihn ſchützen wollte. Hier ſaß der alte Herr den langen Tag zuſammen geſunken hinter dem Tiſche auf ſeinem Lederſtuhl, und brütete nach ſeiner alten Weiſe über allen Möglichkeiten von Unehre, die ſein Haus treffen konnten oder ſchritt mit haſtigen Schritten hin und her, und das Roth ſeiner eingefallenen Wangen und die heftig kämpfende Bewegung ſeiner Arme zeigte, wie er in Gedanken das Aeußerſte that, die drohenden ab¬ zuwenden. Nur der Bauherr, der mit Apollonius im197 Verſtändniſſe war, wurde zu ihm gelaſſen. Der alte Herr, der dem Gaſt, wie jedem Andern, ſein Inneres verbarg, errieth bei dieſem dieſelbe Verſtellung, und be¬ ſtärkte ſich daran in der Meinung, daß er durch Fragen nichts erfahren und nur ſeine Hülfloſigkeit offenbar machen könne. Je heißer es in ihm kochte, deſto eiſiger erſchien ſein Aeußeres. Es war ein Zuſtand, der in völligen Wahnſinn übergehen mußte, ſchlug nicht die Außenwelt eine Brücke zu ihm und riß ihn mit Gewalt aus ſeiner Vereinzelung heraus.

Dieſe Gewalt geſchah ihm heute. Er ſaß eben wieder brütend auf ſeinem Stuhle, als den Valentin ſeine Angſt zu ihm hineintrieb. Den Geſellen zwang die alte Gewohnheit, ohne daß er es wußte, die Thüre leis zu öffnen und eben ſo hereinzutreten; aber der alte Herr empfand mit ſeinem krankhaft verſchärften Gefühle ſogleich das Ungewöhnliche. Seine Erwartung nahm natürlich denſelben Gang, den all ſein Denken verfolgte. Es war eine dem Hauſe drohende Schmach, was die ſonſt immer gleiche Weiſe Valentins veränderte; es mußte eine entſetzliche ſein, da ſie den alten Geſellen aus der Faſſung brachte und ſeine Verſtellung durch¬ brach. Der alte Herr zitterte, als er aufſtand von ſei¬ nem Stuhl. Er kämpfte mit ſich, ob er fragen ſollte. Es war nicht nöthig. Der alte Geſell beichtete unge¬ fragt. Er erzählte mit fliegender Bruſt ſeine Befürch¬ tungen und was ſie rechtfertigte. Der alte Herr er¬198 ſchrack, ſo gut ihn ſeine Einbildungen auf die Wirklich¬ keit vorbereitet hatten. Aber der alte Geſell ſah nichts davon im Aeußeren ſeines Herrn. Der hörte ihn an wie immer, wie wenn er das Gleichgültigſte zu ſagen hatte. Als er ausgeſprochen, hätte das ſchärfſte Auge kein Zittern mehr an der alten hohen Geſtalt wahr¬ genommen. Der alte Herr hatte den feſten Boden der Wirklichkeit wieder unter ſeinen Füßen; er war wieder der Alte im blauen Rock. Er ſtand ſo ſtraff vor dem alten Geſellen wie ſonſt, ſo ſtraff und ruhig, daß Valentin's Seele ſich an ihm aufrichtete. Einbildungen! ſagte er dann mit ſeinem alten grimmigen Weſen. Iſt kein Geſelle da? Valentin rief einen herbei, der eben Schiefer abholen wollte. Der alte Herr ſchickte ihn nach Brambach, Apollonius auf der Stelle heimzuholen. Der Geſelle ging. Geht er Ihm nicht ſchnell genug, Er altes Weib, ſo heiß 'Er ihn eilen, damit er bald er¬ fährt, daß Er ſich um Nichts geängſtigt hat. Aber kein Wort von Seinem Summs da! Und ſchließ' Er die Frau ein, damit ſie nichts Albernes anfängt. Valentin gehorchte. Das zuverſichtliche Weſen des alten Herrn und daß nun wirklich etwas gethan war, hatte kräftiger auf ihn gewirkt, als hundert triftige Gründe vermocht hätten. Er theilte ſeine Ermuthigung der Frau mit. Er war zu eilig, um ihr zu ſagen, worauf ſie ſich gründete. Hätte er die Zeit dazu ge¬ habt, wahrſcheinlich hätte er die Frau weniger beruhigt199 verlaſſen müſſen. Und er ſelbſt ahnte nichts weniger, als daß der alte Herr innerlich überzeugt war von der Schuld ſeines älteren und von der Gefahr, wenn nicht vom Tode ſeines jüngeren Sohnes, während er ihm ſeine Befürchtungen als leere Grillen ausreden wollte, und den Boten nur geſchickt zu haben ſchien, um ihn und die Frau zu beruhigen.

Nun wird der alte Narr doch, ſagte Herr Netten¬ mair, nachdem Valentin zu ihm zurückgekehrt war, dem Nachbar das ganze Märchen, das er ſich zuſammen¬ ſpintiſirt hat, erzählt haben, und die Frau ſechs Baſen damit in die Stadt herumgeſchickt haben! Valentin merkte nichts von der fieberhaften Spannung, mit der der alte Herr die Antwort erwartete auf ſeine in einen Aus¬ ruf verkleidete Frage. Werd 'ich doch nicht! ſagte er eifrig. Des alten Herrn Vermuthung kränkte ihn. Ich hab' ja da ſelbſt noch nichts Arges gemeint, und die Frau Nettenmair hat keinen Menſchen geſprochen ſeitdem.

Der alte Herr ſchöpfte neue Hoffnung. Während Valentin's Abweſenheit hatte er ſich einen Augenblick dem ganzen Schmerz hingegeben, den ein Vater in ſeinem Falle nur empfinden konnte. Aber er hatte ſich geſagt: man dürfe nicht in unthätigem Jammer dem Verlorenen nachwerfen, was noch zu erhalten ſei. Waren auch die Söhne verloren, ſo war doch die Ehre des Hauſes, ſeine, der Frau und der Kinder Ehre vielleicht200 noch zu retten. Nun kam dem alten Herrn die an ſeinen Einbildungen gewonnene Uebung, ſich alle Mög¬ lichkeiten vorzuſtellen, bei dem wirklichen Falle zu ſtatten. Wenn die krankhaft gewachſene Empfindlichkeit ſeines Ehrgefühls ihn ſpornte, vor dem Aeußerſten nicht zurück¬ zuſchrecken, ſo gingen ſeine Gedanken nun bei dem wirk¬ lichen Falle nur denſelben fieberiſchen Gang, den zu nehmen ſie ſich an den weſenloſen Ausgeburten ſeiner Furcht gewöhnt. Verheimlichung alles deſſen, was zu einem Verdachtsgrunde auf den älteren Sohn werden konnte, ſtellte ſich ihm als die nächſte Nothwendigkeit dar. Hatten Valentin und die Frau noch Niemanden mitgetheilt, was ſie wußten, ſo konnte anderes Der¬ gleichen bereits bekannt ſein. Solch ein verbrecheri¬ ſcher Gedanke entſpringt nicht aus dem Ohngefähr. Er iſt die Blüthe eines Giftbaumes mit Stamm und Zweigen. Valentin mußte ihm erzählen, was ſeit Apollonius 'Zurückkunft im Hauſe geſchehen war. Wußte Valentin von Fritz Nettenmair's Eiferſucht nichts, oder wollte er dem alten Herrn, deſſen argwöhniſche Ge¬ müthsart er kannte, nichts davon ſagen; ſeine Erzählung wurde die Geſchichte eines leichtſinnigen, ehr - und ver¬ gnügungsſüchtigen Verſchwenders, der, trotz aller, Be¬ mühungen ſeines beſſeren Bruders, ihn zu halten, bis zum gemeinen Wüſtling und Trunkenbold herabſank; zu¬ gleich die Geſchichte eines treuen Bruders, der dem Ver¬ ſchwender nothgedrungen die Sorge um Ehre und Beſtand201 von Geſchäft und Haus aus den Händen nimmt, um dieſe Ehre zu retten, und von dem Gefallenen dafür bis in den Tod verfolgt wird.

Der alte Herr ſaß regungslos. Nur die Röthe, die immer brennender auf die magern Wangen trat, gab Kunde von dem, was er mit der Ehre ſeines Hauſes litt. Sonſt ſchien er Alles ſchon zu wiſſen. Es war das ſeine alte Weiſe; er wandte ſie hier vielleicht auch deßwegen an, weil er meinte, der Geſell würde dann um ſo weniger wagen, etwas zu verſchweigen oder wider beſſeres Wiſſen zu verändern. Die innere Auf¬ regung hinderte ihn, zu bemerken, in welchen Widerſpruch dieſer Anſchein mit ſeinem Gefühl für Ehre trat. Valentin ſuchte nicht den Schatten zu vertiefen, der auf Fritz Nettenmair's Handeln fiel; aber wie er den alten Herrn kannte, ſchien es ihm nöthig, das brave Thun Apollonius 'in das hellſte Licht zu ſtellen. Er kannte den alten Herrn doch nur halb. Er verrechnete ſich in der Wirkung, die er damit beabſichtigte, wenn er die kindliche Schonung pries, mit der Apollonius die Kunde von der Gefahr dem Ohr des alten Herrn fern gehalten. Er verdarb damit, was ſeine ſchlichte Erzäh¬ lung gethan, des Sohnes Verdienſt um das Theuerſte, was der alte Herr wußte, darzuſtellen. Der alte Herr ſah nur immer mehr die Furcht wahr gemacht, die ihm Apollonius' Tüchtigkeit erregt hatte. Apollonius hatte ihm die Gefahr unkindlich verſchwiegen, um die Rettung202 ſich allein beimeſſen zu können. Oder er hielt ſeinen Vater für den hülfloſen Blinden, der nichts mehr war und nichts mehr vermochte, als höchſtens ihn zu hindern. Und das vergab ihm der alte Herr noch weniger trotz ſeines Schmerzes um den Todten, der der Sohn ihm bereits war. Er wurde immer überzeugter, er ſelbſt hätte es nicht ſoweit kommen laſſen, wenn er darum gewußt und die Sache in ſeine Hand genommen, und Apollonius dürfe Niemand ſeines Mordes anklagen, als den eigenen Vorwitz. Dieſe Gedanken mußten natürlich vor dem zunächſt Nothwendigen zurücktreten. Was er bis jetzt von der Vorgeſchichte des bruder¬ mörderiſchen Gedankens wußte, konnte den entſtandenen Verdacht verſtärken, aber ihn nicht entſtehen machen, wenn nicht ein Anderes, das ihm noch unbekannt war, dazu trat. Er mußte von dem ſchuldigen Sohne ſelbſt erfahren, ob es ſolch ein Anderes gab. Sein Entſchluß war für alle Fälle gefaßt. Er verlangte Hut und Stock. Ein andermal wäre Valentin über dieſen Befehl er¬ ſtaunt, vielleicht ſogar erſchrocken. Iſt man durch ein Außerordentliches aufgeregt, wie es der Geſell eben war, kommt nur das unerwartet, was ſonſt das Gewöhnliche hieß, was an den alten ruhigen Zuſtand erinnert. Indeß Valentin das Befohlene herbeibrachte und der alte Herr ſich zum Ausgehen bereitete, zeigte dieſer ihm noch einmal, wie grundlos und thöricht ſeine Befürchtungen ſeien. Wer weiß, ſagte der alte Herr203 grimmig, was der Nachbar geſehen hat. Wie will er bei Nacht einen erkennen, der ſo weit entfernt von ihm iſt? Und Er dazu mit ſeinen Beilſtichen! Nun dürfte dem Jungen in Brambach das Seil geriſſen ſein oder er müßte ſonſt zufällig verunglückt ſein, ſo wird Er ſich ſteif und feſt einbilden, es ſind ſeine eingebildeten Beil¬ ſtiche ſchuld geweſen, und der hat ſie gemacht, den der Nachbar, der ſo einfältig iſt, als Er, will haben in den Schuppen ſchleichen geſehn. Und ſagt Er ein Wort davon, oder iſt Er ſo klug, daß Er in Räthſeln zu verſtehen gibt, was Er ſich einbildet in ſeinem alten Narrenſchädel, ſo iſt den andern Tag die ganze Stadt voll davon. Nicht weil's wahrſcheinlich wäre, was Er da ausgeheckt hat, und kein vernünftiger Menſch glauben kann, ſondern weil die Leute froh ſind, einem Andern das Schlimmſte nachzureden. Gott wird ja vor ſein, daß der Junge nicht zu Unglück kommt, aber es kann geſchehn, und es iſt vielleicht ſchon geſchehn. Wie leicht kommt einer hinter dem Ofen dazu, geſchweige ein Schieferdecker, der zwiſchen Himmel und Erde ſchwebt wie ein Vogel, aber keine Flügel hat wie ein Vogel. Darum mit iſt die edle Schieferdeckerkunſt eine ſo edle Kunſt, weil der Schieferdecker das ſichtlichſte Bild iſt, wie die Fürſehung den Menſchen in ihren Händen hält, wenn er in ſeinem ehrlichen Berufe handthiert. Und läßt ſie ihn fallen, ſo weiß ſie, warum; und der Menſch ſoll nicht Geſpinnſte d'rum hängen, die über einen Andern Un¬204 glück oder gar Schande bringen können. Ich bin ge¬ wiß, die Sache wird ſich ausweiſen, wie ſie iſt, und nicht, wie Er ſie ſich da zuſammengeängſtelt hat. Denn

Soweit war der alte Herr in ſeiner Rede gekommen, da hörte man draußen eine Laſt niederſetzen. Der alte Herr ſtand einen Augenblick ſtumm und wie verſteinert da. Der Valentin hatte durch das Fenſter den Blechſchmiede¬ geſellen kommen ſehn, der eben ablud. Der Jörg vom Blechſchmied, ſagte Valentin, der die blechernen Guirlanden vollends bringt. Und da iſt Er er¬ ſchrocken mit ſeinen Einbildungen und hat gemeint, ſie bringen, wer weiß wen. Wo iſt der Fritz? Auf dem Kirchendach, entgegnete Valentin. Gut, ſagte Herr Nettenmair. Sag 'Er dem Blechſchmidt, er ſoll her¬ ein kommen, wenn er fertig iſt. Der Geſelle that's. Bis Jener hereinkam, fuhr Herr Nettenmair noch mit gedämpftern Tönen in ſeiner Strafpredigt fort. Er ſprach davon, wie Menſchen ſich Einbildungen zuſam¬ mendichteten und ſich ängſteten darüber, wie über wirk¬ liche Dinge; wie die Gedanken dem Menſchen über den Kopf wüchſen und ihm keine gute Stunde ließen, wenn er nicht gleich im Anfang ſich ihrer erwehre. Es war, als wollte der alte Herr ſich über ſich ſelbſt luſtig machen. Er dachte nicht daran, daß er den Va¬ lentin über ſeinen eigenen Fehler abkanzelte. Dagegen fühlte ſich Valentin beſchämt, als treffe ihn die Strafe verdientermaßen; und er hörte dem alten Herrn mit205 Andacht und Zerknirſchung zu, bis der Blechſchmiedge¬ ſelle hereinkam. Herr Nettenmair faßte den Stock, den ihm Valentin in die Hände gab, ſetzte den Hut tief in die Stirne, um der Welt ſoviel, als möglich, von dem unfreiwilligen Geſtändniß der todten Augen zu entziehn, und ſchüttelte ſich majeſtätiſch in dem blauen Rock zurecht. Valentin wollte ihn führen, aber er ſagte: die Frau braucht Ihn; und Er wird wiſſen, was Er in meinem Hauſe zu thun hat. Valentin verſtand den Sinn der diplomatiſchen Rede. Der alte Herr machte ihn ver¬ antwortlich für das Benehmen der Frau. Herr Net¬ tenmair aber wandte ſich nun dahin, wo des Blech¬ ſchmiedegeſellen Reſpekt in ein leiſes Räuſpern aus¬ brach, und fragte ihn, ob er Zeit habe, ihn bis auf das Thurmdach von Sankt Georg zu begleiten, wo ſein älterer Sohn arbeite. Der Blechſchmied bejahte. Valentin wagte noch den Vorſchlag, Herrn Fritz lieber rufen zu laſſen. Der alte Herr ſagte grimmig: ich muß ihn oben ſprechen. Es iſt wegen der Reparatur. Darauf wandte er ſich wieder zu dem Blechſchmiedege¬ ſellen. Ich werde Seinen Arm nehmen , ſagte er mit herablaſſendem Grimm. Ich leide etwas an den Augen, aber es hat Nichts zu ſagen. Valentin ſah den Gehenden eine Weile kopfſchüttelnd nach. Als der alte Herr aus ſeinen Augen war, fiel die Zuverſicht, die er der reſoluten Gegenwart des alten Herrn ver¬ dankt, wiederum zuſammen. Er ſchlug die Hände in206 einander vor Angſt; da ihm einfiel, er ſtehe in der Hausthür und ſei verantwortlich für jedes Gerede, das der Ausdruck ſeiner Einbildungen veranlaſſen konnte, that er, als hab' er die Hände in einander gelegt, um ſie behaglich zu reiben.

Der Blechſchmiedegeſelle hatte gehört, Herr Netten¬ mair ſei ſchon ſeit Jahren blind; der ſelbſt hatte ihm geſagt, ſein Augenleiden ſei unbedeutend; er merkte bald, die Leute möchten doch recht haben. Nun nickte ein raſch Vorübergehender, und auf ſein Wie geht's? lächelte der alte Herr wiederum: Ich leide etwas an den Augen, aber es hat nichts zu ſagen. Ueber jeden Andern an Herrn Nettenmair's Stelle würde der Ge¬ ſell gelacht haben. Aber die mächtige Perſönlichkeit des alten Mannes ſetzte ihn ſo in Reſpekt, daß er den Widerſpruch ſeiner ſinnlichen Wahrnehmung mit deſſen Worten auf ſich beruhen ließ, und zugleich ſeinen Sin¬ nen glaubte: Herr Nettenmair ſei blind, und Herrn Nettenmair ſelbſt: es habe nichts zu ſagen. Das Er¬ ſcheinen des alten Herrn auf der Straße war ein Wunder, und ſicherlich würde es Aufſehen gemacht haben und der alte Herr durch hundert Hän¬ deſchüttler und Frager aufgehalten worden ſein, hätte nicht ein anderes Etwas die Aufmerkſamkeit von ihm abgelenkt. Da lief ein halblaut und ſchnell Ausge¬ ſprochenes durch die Straßen. Zwei, Drei blieben ſtehn, das Näherkommen eines Dritten, Vierten207 abwartend, der ſich merken ließ, er wiſſe das, was ſie zehn andere ähnliche Gruppen bilden ſahn. Dort ver¬ kündete es Einer im ſchnellen Vorübereilen. Und im¬ mer begann es mit einem: Wißt Ihr ſchon? , das oft von einem: Aber was iſt denn geſchehn? heraus¬ gefordert war. Herr Nettenmair brauchte nicht zu fragen; er wußte, ohne daß es ihm Einer zu ſagen brauchte, was geſchehen war. Aber er durfte ſich nicht merken laſſen, daß er's wußte, daß man eigentlich ihn hätte fragen müſſen; nicht allein, wollte man wiſſen, was geſchehen war; auch das Wie und Wodurch und das Warum. Der Blechſchmiedegeſelle meinte, Herr Nettenmair wollte an ihm niederſinken, aber der alte Herr hatte ſich nur an den Fuß geſtoßen, es hatte nichts zu ſagen. Der Geſell fragte einen Vorüber¬ eilenden. Ein Schieferdecker iſt verunglückt in Bram¬ bach. Wie denn? fragte der Geſell. Ein Seil iſt zerriſſen. Weiter weiß man noch nichts. Herr Nettenmair fühlte, wie der Geſell erſchrack, und daß er über dem Gedanken erſchrack, der Sohn des Man¬ nes war verunglückt, den er führte. Er ſagte: Es wird in Tambach geweſen ſein. Die Leute haben falſch gehört. Es hat nichts zu ſagen. Der Geſell wußte nicht, was er von der Gleichgültigkeit des Herrn Net¬ tenmair denken ſollte. Der ſagte zu ſich, indem das brennende Roth auf ſeine Wangen trat: Ja, es muß ſein. Es muß nun ſein. Er dachte daran, es gab208 Etwas, womit man allen Gerichten, allen Unterſu¬ chungen aus dem Wege gehen kann. Das Etwas, das er meinte, mußte ein hartes Etwas ſein; denn er biß die Zähne zuſammen, als er mit dem Kopf nickte und zu ſich ſagte: Es muß ſein. Nun muß es ſein. Der Geſell ging, den alten Herrn führend, wie im Traume neben ihm die Thurmtreppe von St. Georg hinan. Die Leute hatten recht; Herr Netten¬ mair war doch ein eigener Mann!

Der alte Herr hatte geſagt, er müſſe den Sohn auf dem Kirchendach ſprechen wegen der Reparatur. Er hatte ohne Abſicht in ſeiner diplomatiſchen Art ge¬ redet. Es mußte auf dem Kirchendache ſein und es galt eine Reparatur, aber nicht die des Kirchendachs.

Zwiſchen Himmel und Erde iſt des Schieferdeckers Reich. Zwiſchen Himmel und Erde, hoch oben auf dem Kirchendach von Sankt Georg, ſchaffte Fritz Net¬ tenmair, als der alte Herr ſich die Treppe zu ihm hin¬ aufführen ließ. Hier herauf war Fritz Nettenmair vor den Augen der Menſchen geflohen, die er alle auf ſich gerichtet meinte, vor ſeinen Gedanken in einen wüthen¬ den Fleiß. Er hatte die ganze Hölle in ſeiner Bruſt mit herauf gebracht; und wie angeſtrengt er ſchaffte, der Schweiß, der ihm auf der Stirne ſtand, war nicht209 der warme redlichen Mühens, es war der kalte Schweiß der Gewiſſensangſt. Er hämmerte Schiefer zurecht und nagelte ſie feſt, ſo angſtvoll haſtig, als nagelte er den Weltenbau feſt, der ſonſt einſtürzen müßte in der nächſten Viertelſtunde. Aber ſeine Seele war nicht bei dem Hämmern, ſie war wo unaufhörlich Stricke rißen und verunglückende Schieferdecker polternd hin¬ abſtürzten in den gewiſſen Tod. Zuweilen hielt er plötzlich inne; es war ihm, als müßt 'er hinunterrufen: Nach Brambach! Er ſoll nicht die Leiter beſteigen! er ſoll ſich nicht auf ſein Fahrzeug ſetzen. Aber dann blieben die vielen Hunderte, die wie Ameiſen da unten durch einander liefen, in Schreck verſteinert ſtehn, und ſoviel Paar Augen, überfüllt mit Grauen und Abſcheu, ſtarr¬ ten herauf, und der Häſcher kam und ſtieß ihn vor ſich her die Treppe hinunter; und vielleicht war es doch zu ſpät! Dann einmal faltete er die Hände über den Deckhammer und gelobte: ſtürbe Apollonius nicht, er will ein braver Mann werden. Er denkt nicht, daß ihn das reuen wird, ſobald er Apollonius gerettet weiß. Da kommt Jemand die Treppe herauf iſt's der Häſcher ſchon? Nein. Es weiß Niemand, was er ge¬ than. Er verzerrt ſein Geſicht in Trotz und fragt: Wer will mir was anhaben? Jetzt hört er Stimmen, und die Klänge der einen davon treffen wie Hammer¬ ſchläge auf ſein gequältes Herz. Das iſt die einzige Stimme, die er hier zu hören nicht erwartet. Wird derLudwig, Zwiſchen Himmel und Erde. 14210fragen, dem ſie gehört: Wo iſt dein Bruder Abel hin? Nein. Er will dem Sohne ſagen, daß Jener verun¬ glückt iſt; er meint, es iſt ein Unglückstag und er ſoll heut nicht mehr arbeiten. Und fragt er doch, die Ant¬ wort iſt faſt ſo alt, als das Menſchengeſchlecht: Soll ich meines Bruders Hüter ſein? Dabei kommt's ihm wie eine Erleichterung, daß ihm einfällt, der Vater iſt blind. Denn er weiß, ſeine ſehenden Augen könnte er jetzt nicht ertragen. Er hämmert und nagelt immer haſtiger. Er würde dem Vater ausweichen, wenn er könnte, aber der Dachſtuhl iſt ſchmal und der Alte ſpricht ſchon an dem Ausſteigeloch im Dache. Er will ihn nicht eher bemerken, als bis er muß. Nun iſt's ſchon gut, hört er den Alten ſagen. Mach 'Er ſeinem Meiſter mein Compliment; und da iſt etwas für Ihn. Trink' er eine Geſundheit dafür. Fritz Nettenmair hört, der alte Herr ſetzt ſich auf die bloßgelegte Latte im Ausſteigeloch, und weiß, der alte Herr füllt die ganze Oeffnung mit ſeiner Geſtalt. Er hört den Dank des Geſellen und ſeine Tritte, wie ſie immer ferner klingen. Schönes Wetter , ſagt Herr Nettenmair. Der Sohn erräth, der Alte will wiſſen, ob noch Jemand in der Nähe iſt. Es antwortet Niemand; Fritz Net¬ tenmair ſtirbt der Ton in der Bruſt; er hämmert immer lauter und haſtiger. Er wünſcht, die Stunde, der Tag, das Leben wär 'zu Ende. Fritz, ruft der Alte. Er ruft noch einmal, und er ruft noch einmal. Fritz Netten¬211 mair muß endlich antworten. Er denkt an den Ruf: Kain, wo biſt du? Hier, Vater, entgegnet er und hämmert fort. Der Schiefer iſt feſt, ſagt der Alte gleichgültig; ich hör's am Klange; er blättert nicht. Ja, entgegnet Fritz mit klappernden Zähnen, er nimmt kein Waſſer. Er iſt beſſer geworden, als früher, fährt der Alte fort; ſie ſind tiefer in den Bruch hineinge¬ kommen. Es ſcheint, du biſt allein. Ein Ja erſtirbt im Munde des Sohnes. Je tiefer er lagert, deſto feſter iſt das Geſtein. Iſt keine Rüſtung weiter in der Nähe? Keine. Gut. Komm hierher. Hier vor mich. Was ſoll ich? Hierher kommen. Was ge¬ ſagt ſein muß, muß leiſe geſagt ſein. Fritz Netten¬ mair trat in allen Gelenken ſchlotternd vor den Va¬ ter. Er wußte, der war blind, und doch ſuchte er ſei¬ nem Blicke auszuweichen. Der Alte rang nach Faſ¬ ſung. Aber davon ſprach kein Zug in dem verwitter¬ ten Geſicht; nur die Dauer ſeines Schweigens und ſein Athem, der das ſchwere, ächzende Wandeln des Perpendikels an der nahen Thurmuhr wie ein müdes Echo nachzuklingen ſchien. Fritz Nettenmair ahnte aus den Vorbereitungen, was kommen müſſe. Er rang nach Trotz. Wenn er's in ſeinem Argwohn erräth, wer will mir's beweiſen? Und könnt er's beweiſen, er giebt mich nicht an; davor bin ich ſicher. Warum auch ſonſt will er leiſe reden? mag er ſagen, was er will, ich weiß nichts, ich bin nichts geweſen, ich hab' 14*212nichts gethan. Sein Geſicht rang ſich aus dem Zit¬ tern aller Muskeln bis zum wildeſten Ausdrucke des Trotzes hindurch. Der alte Herr ſchwieg noch immer. Gedämpft klang das Treiben der Straßen in die Höhe herauf; unten lag ſchon violetter Schatten, um das Fahrzeug Apollonius bebte der letzte Sonnenſtrahl. Etwas ferner rauſchte ein Zug vom Felde heimkehren¬ der Tauben vorbei. Es war ein Abend voll Gottes¬ friedens. Tief unten weit hingedehnt die grüne Erde; oben hoch der Himmel, wie ein Kelch aus blauem Kryſtall darüber gedeckt. Kleine roſige Wölkchen wie Flocken hineingeſtreut. Der Lärm von unten erloſch im¬ mer mehr. Die Luft trug einzelne Töne einer fernen Glocke mit ſich und ſchlug ſie leiſe ſpielend wie wie¬ derkehrende Wellen gegen das Dach. Dort über der nächſten grünen Höhe, wo ſie herkommen, liegt Bram¬ bach. Es muß das Abendgeläute von Brambach ſein. Hoch am Himmel und tief auf der Erde, überall Gottesfrieden und ſüß aufgelöſtes Hinſehnen nach Ruh. Nur zwiſchen Himmel und Erde die beiden Menſchen auf dem Kirchdach zu Sankt Georg fühlen nicht ſeine Flügel. Nur über ſie vermag er nichts. In dem ei¬ nen brennt der Wahnſinn überreizten Ehrgefühls, in dem andern alle Flammen, alle Qualen der Hölle.

Wo iſt dein Bruder? drang es endlich zwiſchen den Zähnen des einen hervor. Ich weiß nicht. Wie ſoll ich's wiſſen? bäumt ſich im andern der Trotz. Du213 weißt nicht? Der alte Herr flüſterte nur, aber jedes ſeiner Worte ſchlug wie Donner in die Seele des Sohnes. Ich will dir's ſagen. Drüben in Bram¬ bach liegt er todt. Das Seil iſt über ihm zerrißen und du haſt's mit Beilſtichen zerſchnitten. Der Nach¬ bar hat dich in den Schuppen ſchleichen ſehn. Du haſt vor deiner Frau gedroht, du willſt es thun. Die ganze Stadt weiß es; eben tragen ſie's in die Gerichte. Der erſte, der nun die Treppe herauf kommt, iſt der Häſcher, der dich vor den Richter führt. Fritz Net¬ tenmair brach zuſammen; die Rüſtung knackte unter ihm. Der Alte horchte auf. Fiel der Elende am Rande des Gerüſt's zuſammen, ſo ſtürzte er hinab in die Tiefe. Und Alles war vorüber! Alles, was ſein mußte, war gethan! Eine Lerche ſtieg aus einem na¬ hen Garten in die Höh 'und ſtreute ihr luſtiges Tirili über Bäume und Häuſer hin. Glücklichere Menſchen hörten den Geſang aus der Ferne; Arbeiter ließen den Spaten ruhn, Kinder Peitſche und Kreiſel, und ſuchten mit himmelaufgewandten Augen den ſchwebenden klin¬ genden Punkt, und horchten mit verhaltenem Athem hinauf. Der alte Herr Nettenmair hörte die nahe Lerche nicht; er hielt auch den Athem an, aber er horchte hinunter, nicht hinauf. Und es war nichts, das wie Lerchenſang klingt, was er erhorchen wollte. Es war ein Poltern auf dem Dach unter ihm, ein gebrochener Angſtruf. Er horchte erſt voll Hoffnung,214 dann voll Angſt. Nichts klingt herauf. Vor ihm auf den Bretern des Gerüſtes röchelt ein ſchwerer Athem. Er hört, der Zufall, der ihm mitleidig helfend vorgreifen konnte, hat es nicht gethan. Er muß es thun, denn gethan muß es ſein. Sonſt zeigen die Menſchen mit den Fingern auf die Kinder: Die ſind's, deren Vater ſeinen Bruder erſchlug und auf dem Hoch¬ gericht oder im Zuchthauſe ſtarb. Und wo es längſt vergeſſen iſt, da dürfen ſie ſich nur zeigen, da wird es wieder wach; da deuten die Menſchen wieder mit den Fingern und wenden mit Schaudern von ihnen ſich ab. Das Vertrau'n, das er von den Aeltern erbt, iſt das Kapital, womit der Menſch anfängt. Es muß ihm erwieſen werden, eh er's hat verdienen können, da¬ mit er lernt, Vertrauen zu verdienen. Wer wird ih¬ nen Vertrauen erweiſen, die mit ihres Vaters Schande gezeichnet gehn? Wie ſollen ſie Vertrauen verdienen lernen? Mitten unter den Menſchen von den Menſchen ausgeſtoßen, müſſen ſie nicht werden, wie ihr Vater war? Und ſein eigenes langes Leben voll Anſtrengung, Ehre zu erwerben und zu bewahren, wird rückwärts angeſteckt von des Sohnes Schmach. Die Kinder hält man für fähig zu thun, wie der Vater that, und es kann kein ehrlicher Vater geweſen ſein, der ſolchen Sohn hatte! Die Röthe glühte immer brennender auf der eingefallenen Wange; die zuſammengeſunkene Bruſt richtete ſich keuchend empor. Er machte unwill¬215 kürlich eine vordeutende Bewegung mit dem Arm. Fritz Nettenmair ahnte ihren Sinn. Er wollte ſich aufraffen und wäre wieder umgeſunken, ſtützte er ſich nicht mit beiden Händen. So lag er auf Händen und Knieen vor dem Alten, als er den Angſtruf aus¬ ſtieß: Was willſt du, Vater? Womit gehſt du um? Ich will ſehn, erwiederte der Alte mit pfeifendem Flü¬ ſtern, ob ich's thun muß oder ob du's thun wirſt, was gethan ſein muß. Und gethan muß es ſein. Noch weiß Niemand etwas, was zur Unterſuchung führen kann vor den Gerichten, als ich, deine Frau und der Valentin. Für mich kann ich ſtehn, aber nicht für die, daß ſie's nicht verrathen, was ſie wiſſen. Wenn du jetzt herabfällſt von der Rüſtung, ſo daß die Leute meinen können, du biſt ohne Willen verunglückt, dann iſt die größte Schande verhütet. Der Schieferdecker, der verunglückt, ſteht vor der Welt als ein ehrlicher Todter, ſo ehrlich, als der Soldat, der auf dem Schlachtfeld geſtorben iſt. Du biſt ſolchen Tod nicht werth, Bankerutirer. Dich ſollte der Henker auf einer Kuhhaut hinausſchleifen auf den Richtplatz, Schand¬ bube, der du den Bruder umgebracht haſt und haſt vergiften wollen das zukünftige Leben der unſchuldi¬ gen Kinder und mein vergangenes, das voll Ehre ge¬ weſen iſt. Du haſt Schande genug gebracht über dein Haus, du ſollſt nicht noch mehr Schande darüber brin¬ gen. Von mir ſollen ſie nicht ſagen, daß mein Sohn,216 und von meinen Enkeln nicht, daß ihr Vater auf dem Blutgerüſt oder im Zuchthauſe geſtorben iſt. Du beteſt jetzt ein Vaterunſer, wenn du noch beten kannſt. Dann wend'ſt du dich, als wollteſt du wieder zu deiner Arbeit gehn, und trittſt mit dem rechten Fuß über die Rüſtung. Sag' ich, der Schreck über ſeines Bruders Unglück hat ihn ſchwindeln gemacht: mir glauben's die Gerichte und die Stadt. Das iſt's, was ein Leben einbringt, das anders geweſen iſt, als dein's. Thuſt du's nicht gutwillig, ſo ſtürz 'ich mit dir hinab und du haſt auch mich auf deinem Gewiſſen. Die Leute wiſſen, ich leide an den Augen; ich bin geſtrauchelt und hab' mich an dir anhalten wollen und hab 'dich mitgeriſſen. Meines Lebens iſt nach dem, was ich heut erfahren hab', keine Dauer mehr und kein Werth; ich bin am Ende, aber die Kinder fangen erſt an. Und auf den Kindern ſoll keine Schande haften, ſo wahr ich Nettenmair heiße. Nun beſinn 'dich, wie es werden ſoll. Ich zähle fünfzehn Paar Schläge an dem Perpendikel dort.

Fritz Nettenmair hatte mit wachſendem Entſetzen die Rede des Vaters angehört. Daß ſeine That noch nicht öffentlich bekannt war, gab ihm Hoffnung. Die Angſt vor dem gedrohten Tode weckte einen Theil ſeiner Kräfte wieder. Er flüchtete ſich wieder in ſeinen Trotz. Haſtig ſagte er, nachdem der Alte ausgeredet hatte: Ich weiß nicht, was du willſt. Ich bin un¬217 ſchuldig. Ich weiß nicht, was du da von Beilſtichen ſagſt. Er erwartete, der Vater würde auf ſeine Ein¬ wendungen eingehn, wenn auch erſt ungläubig. Aber der Alte begann ruhig zu zählen: Eins. Zwei. Vater, fiel er ihm mit ſteigender Angſt in das Zäh¬ len, und der Trotz ſeines Tones brach im Flehen: Hör mich doch nur. Die Gerichte hören einen und du hörſt mich nicht. Ich will mich ja hinunterſtürzen, weil du mich todt haben willſt, ich will ſterben, wenn gleich unſchuldig. Aber höre mich nur erſt! Der alte Herr entgegnete nicht; er zählte fort. Der Elende ſah, ſein Urtheil war geſprochen. Der Vater glaubte nicht, was er auch ſagen mochte; und er wußte, was der eigenſinnige alte Mann ſich einmal vorgenommen, das führte er unerbittlich aus. Er wollte ſich darein ergeben, dann kam ihm der Gedanke, noch einmal zu flehn; dann fiel ihm ein: er konnte den Alten zurück¬ werfen und über ihn hin entfliehn, dann: er wollte ſich anhalten, wenn der Alte ſich an ihn hing, um nicht mitzuſtürzen. Das konnte ihm kein Menſch ver¬ denken. Dazwiſchen ſah er ſchaudernd, was ihn erwar¬ tete, wenn er floh und die Gerichte faßten ihn doch. Es war beſſer, er ſtarb jetzt. Aber noch Schrecklicheres erwartete ihn über dem Tode drüben. Er ſann zurück und lebte ſein ganzes Leben im Augenblicke noch ein¬ mal durch, um zu finden, der ewige Richter konnte ihm verzeihn. Seine Gedanken verwirrten ſich; er218 war bald dort, bald da, und hatte vergeſſen, warum. Er ſah die Nebel ſich ballen, in denen der Geſell ver¬ ſchwunden war, zugleich ſah er zu den hellen Fenſtern des rothen Adlers auf, es klang: Da kommt er ja! Nun wird's famos! Er ſtand an den Straßenecken und zählte und die Breter wollten unter Apollonius nicht brechen, die Stricke über ihm nicht reißen; er ſtand wieder vor der Frau und ſagte über des ſterben¬ den Aennchen's Bett gebeugt: weißt du, warum du erſchrickſt? und holte aus zu dem unſeligen Schlage; ſelbſt daß er vor dem Vater dalag und hin - und her¬ ſann in gräßlich angſtvoller Haſt, kam ihm vorüber¬ fliehend wie in einem Fiebertraum. Dann war's ihm, als käm 'er zu ſich und unendliche Zeit ſei vergangen zwiſchen dem Augenblick, wo der Vater die Perpen¬ dikelſchläge zu zählen begonnen, und jetzt. Es müſſe ja Alles gut ſein. Er müſſe ſich nur beſinnen, ob er über den Vater hinweggeflohn, oder ob er ſich ange¬ halten, als ihn der Vater mit ſich hinunterreißen wollte. Aber da lag er noch, dort ſaß der Vater noch. Er hörte ihn Neun zählen und dann ſchweigen. Die Be¬ ſinnung verließ ihn völlig.

Der alte Herr aber ſchwieg wirklich. Er zählte nicht mehr. Sein ſcharfes Ohr hörte einen eilenden Schritt auf der Treppe. Er griff nach dem Sohne und hielt ihn, wie um ſeiner gewiß zu ſein, daß er ihm nicht entgehe. Er fühlte an der Kälte und Wider¬219 ſtandsloſigkeit des Gliedes, das er gefaßt, es ſei un¬ nöthig, den Sohn zu halten; er müſſe ohnmächtig ſein. Eine neue Sorge erwuchs ihm daraus. War der Sohn ohnmächtig, ſo mußte er, wenn möglich, das fremden Blicken entziehn. Auch dieſe Ohnmacht konnte den Verdacht entſtehn, oder wachſen machen. Er erhob ſich und wandte ſich von der Dachlucke nach dem Kommenden. Er war unſchlüſſig, ſollte er die Lucke mit ſeinem Körper decken, oder dem Kommenden entgegen gehn. Der Geſelle, den er vorhin nach Brambach geſchickt, denn dieſer war's, der ſo eilig kam, huſtete auf der Treppe. Den konnte er abhalten von der Rüſtung; ja, er konnte ihm vielleicht den An¬ blick des darauf Liegenden entziehn, wenn er ihm ent¬ gegen ging und ihn noch auf der Treppe abfertigte. So vielleicht gewiſſer, als wenn er vor der Lucke ſtehen blieb, da es wahrſcheinlich war, er verdecke die¬ ſelbe doch nicht völlig. Jetzt fühlte der alte Herr erſt, wie, was er heute erfahren müſſen, ſeine Kräfte ge¬ lähmt. Aber der Geſell merkte nichts davon; als er den alten Herrn, an den Treppenbalken gelehnt, ihm den Weg verſperren ſah.

Soll ich ihn herholen, Herr Nettenmair? fragte der Geſell, indem er auf der Treppe ſtehen blieb. Wen? fragte Herr Nettenmair dagegen. Er hatte Mühe, ſeine künſtliche Ruhe zu bewahren. War der Geſell in Brambach geweſen, konnte er nicht ſo ruhig220 ſprechen, er mochte ſprechen von wem er wollte. Nun, er wird nunmehr daheim ſein, entgegnete der Geſell. Der alte Herr wiederholte ſeine Frage nicht; er mußte ſich an dem Balken feſthalten, an dem er lehnte. Er war ſchon auf dem Wege, fuhr der Geſelle fort; ich bin mit ihm bis an's Thor gegangen. Da hat er mich zum Blechſchmied geſchickt, ich ſollte fragen, ob das Blechzeug endlich fertig wär. Der Jörg ſagte, er hätt's ſchon hingeſchafft, und käm 'eben vom Thurm¬ dach von Sankt Georg, da hätt' er den alten Herrn Nettenmair hinaufgeführt. Da hab 'ich gemeint, er wird noch oben ſein; und weil's ſo eilig war, wollt' ich ihn fragen, ob ich vielleicht den Herrn Apollonius heraufſchicken ſoll.

Jetzt erſt gelang's Herrn Nettenmair, den Balken, an dem er ſich hatte feſthalten müſſen, herauf und herunter zu betaſten, als hab 'er ihn nur umfaßt, um ihn zu unterſuchen. Da er fühlte, ſeine Hände zitterten, gab er die Unterſuchung auf. Er ſagte ſo grimmig, als er im Augenblick vermochte: Ich komme ſelber hin¬ unter. Wart' Er auf dem Abſatz, bis ich ihn rufe. Der Geſell gehorchte. Herr Nettenmair ſchöpfte tief Athem, als er ſich nicht mehr beobachtet wußte. Aus dem Athmen ward ein Schluchzen. Jetzt, da der Seelenkrampf, in dem er ſich ſeit Valentin's Mittheilung befunden, ſich zu löſen begann, trat erſt der Vater¬ ſchmerz hervor, den die leidenſchaftliche Anſtrengung221 für die Ehre des Hauſes bisher nicht zu Worte hatte kom¬ men laſſen. Er fand nun erſt Zeit, das Unglück des rechtſchaffenen Sohnes zu beweinen, als ſich zeigte, es hatte ihn nicht getroffen. Aber es fiel ihm ein, der brave Sohn ſchwebte noch immer in der gleichen Gefahr, ſo lang der ſchlimme ſich in ſeiner Nähe be¬ fand. Auch dieſen Fall hatte er in ſeinem Plane vor¬ geſehn und ſich geſagt, was er dann thun müſſe. Die bisherige Kraft, die nur eine angemaßte war, hätte ihn mit dem Krampfe verlaſſen, galt es nicht noch immer die Rettung des braven Sohns und die Ehre ſeines Hauſes. Er taſtete ſich nach der Dachlucke hin. Fritz Nettenmair war unterdeß aus ſeiner Betäubung wieder erwacht und es war ihm gelungen, aufzuſtehn. Der alte Herr hieß ihn von der Rüſtung hereintreten und ſagte: Morgen vor Sonnenaufgang biſt du nicht mehr hier. Sieh, ob du in Amerika wiederum ein anderer Menſch werden kannſt. Hier biſt du in Schande und bringſt Schande. Nach mir gehſt du heim; Geld ſollſt du haben; und machſt dich fertig. Du haſt ſeit Jahren nichts für Weib und Kind gethan; ich ſorge für ſie. Vor Tagesanbruch biſt du auf dem Weg. Hörſt du? Fritz Nettenmair wankte. Eben noch hatte er dem unausweichlichen Tode in die Augen geſehn; nun ſollte er leben! Leben, wo Niemand wußte, was er gethan, wo ihn nicht jedes zufällige Geräuſch mit dem Wahnbild des Häſchers ſchrecken durfte. In222 dieſem Augenblicke fühlte er ſelbſt das als ein Glück, daß er fern ſein ſollte von dem Weibe, um das er Alles gethan, was er gethan, und in deren Anblick er Tag für Tag Alles mitſehn ſollte, was er gethan; die ſeine That wußte, von der jeder Blick eine Drohung war, ihn der Vergeltung zu überliefern. Es graute ihm vor dem Hauſe, in dem Alles ſtündlich ihn er¬ innern mußte an das, was er unter dem fremden Himmel ganz zu vergeſſen hoffte, und ſich vormachte, durch ein neues Leben abbüßen zu wollen. Am liebſten wär 'er ſogleich unmittelbar von der Stelle, wo er jetzt ſtand, dem Rettungshafen zugeeilt. Apollonius iſt nicht geſtürzt, fuhr der Alte fort und Fritz Netten¬ mairs ganzer neuer Himmel verſank. Das alte Ge¬ ſpenſt hatte ihn wieder in ſeinen Fäuſten. Nun liebte er wieder das Weib, das zu fliehen er eben noch ſich gefreut. Mit dem Gegenſtande ſeines Haſſes lebte der Haß und die Liebe wieder auf, und beide waren Höllenflammen. Er meinte, Alles habe er gekonnt; Sterben war ein Scherz, lag nur auch der Neben¬ buhler todt. Gewiſſensangſt, das drohende Jenſeits, Alles war erträglich, nur Eins nicht: ſie in ſeinen Armen zu wiſſen. Der Alte hatte des Sohnes Ja er¬ wartet. Du gehſt, ſagte er, als dieſer ſchwieg. Du gehſt. Du biſt morgen vor Tag noch auf dem Weg nach Amerika, oder ich bin auf dem Weg in die Gerichte. Soll Schande ſein, ſo iſt's beſſer bloße223 Schande, als Schande und Mord. Denk', ich hab's geſchworen, und nun thu ', was du willſt. Der alte Herr rief den Geſellen herauf und ließ ſich heimführen.

Unterdeß war das Gerücht, das dem alten Herrn auf ſeinem Wege nach Sankt Georg begegnet war, auch in die Straße gekommen, wo das Haus mit den grünen Laden ſteht. Vor den Fenſtern erzählte es ein Vorübergehender einem andern. Die Frau hörte nichts als: Wißt ihr's ſchon? In Brambach iſt ein Schiefer¬ decker verunglückt. Dann ſank ſie vom Stuhle, von dem ſie aufſpringen wollte, auf die Dielen. Wiederum mußte der alte Valentin ſeinen Schmerz um Apollonius über der Angſt und Sorge um die Frau vergeſſen. Er eilte hinzu. Den Fall ganz verhindern konnte er nicht, nur den Kopf der Frau vor der ſcharfen Kante des Stuhlbeins bewahren, woran dieſer ſonſt anſchla¬ gend ſich verletzt hätte. Da ſaß er neben der liegenden Frau auf den Füßen und hielt in den zitternden Hän¬ den Nacken und Kopf der Frau. Von ſeinem Griffe war ihr das volle dunkelbraune Haar über der Stirne aufgegangen und verdeckte das bleiche Geſicht. Ihre vorderen Haare hatten einen Drang, ſich in natür¬ lichen Locken zu kräuſeln, den ſie durch das ſcharfe Anziehen der Scheitel nur vorübergehend überwinden224 konnte. Es war, als hätten ſie die Ohnmacht ihrer Beſitzerin benutzt, ihm nachzugeben. Der alte Valentin machte ſich die Hände frei, indem er ihre Laſt vorſichtig leiſe auf den Boden gleiten ließ, und verſuchte die Haare aus dem Geſicht zu ſtreichen. Er mußte ſehn, ob ſie noch lebe. Das verurſachte ihm lange Zeit ver¬ gebliche Mühe; die Angſt machte ſeine alten Hände noch ungeſchickter; dazu kam die eigene Scheu, die einen alten Junggeſellen unerbittlich in ſo enger weib¬ licher Nähe befängt; und der Eigenſinn der Haare, die immer wieder im krauſen Gelock über dem Geſichte zuſammenſchlugen. Der Hals - und der Schläfenpuls wehrten ſich dagegen, er ſah, wie ſie die Haare mit ihren Schlägen bewegten und faßte wieder Hoffnung. Auf dem Tiſch ſtand eine Flaſche mit Waſſer; er goß ſich davon in die hole Hand und ſpritzte ihr es auf Haare und Geſicht. Das wirkte. Sie machte eine Bewegung; er half ihr den Oberleib aufrichten und ſtützte ihn. Sie ſtrich ſich nun ſelbſt die widerſtreben¬ den Haare aus dem Geſicht und ſah ſich um. Ihr Blick hatte etwas ſo Fremdes, daß der Valentin von Neuem erſchrack. Dann nickte ſie mit dem Kopfe und ſagte mit leiſer Stimme: Ja. Valentin verſtand, ſie ſagte ſich, ſie habe die ſchreckliche Nachricht gehört und nicht geträumt. An dem Ton ihrer Stimme hörte er, ſie ſagte ſich wohl, was geſchehn, aber ſie begriff es nicht. Es war, als ginge es nicht ſie an, was ſie225 ſich ſagte, und als beſänne ſie ſich, wen wohl es be¬ treffen möge. Sie ahnte wohl, es war Schreck und Schmerz, wenn ſie dahinter kam, aber ſie wußte in dem Augenblicke nicht, was Schreck iſt und Schmerz; ein traumhaftes Vorausgefühl von Händezuſammen¬ ſchlagen, Erbleichen, Umſinken, Aufſpringen, hände¬ ringendem Umhergehn, Müdigkeit, die auf jeden Stuhl, an dem ſie vorbeiwankt, niederſinken möchte, und doch weiter getrieben wird, von fortwährendem wilden Zu¬ rückbäumen und wieder matt nach vorn auf die Bruſt Sinken des Kopfes; ein traumhaftes Vorausgefühl von alle dem wandelte in der Stube vor ihr wie ihr eigenes undeutliches fernes Spiegelbild hinter einem bergenden Florſchleier. Näher und unterſcheidbarer war ein dumpfer Druck über der Herzgrube, der zum ſtechenden Schmerze wuchs, und das angſtvolle Wiſſen, er müſſe ſie erſticken, könne ſie das Weinen nicht finden, das Alles heilen müſſe. So ſaß ſie lange regungslos und hörte nichts von alle dem, was der alte Valentin in ſeiner Angſt ihr vorſprach. Es war nichts daran ver¬ loren; der Alte glaubte ſelbſt nicht an ſeine Troſt¬ gründe, wenn er ihr beweiſen wollte, Apollonius könne nicht verunglückt ſein; er ſei zu vorſichtig dazu und zu brav. Und vollends die Geſchichte aus ſeiner Jugend, wo ſich Leute, die nun lange todt ſind, von einem ähn¬ lichen Gerüchte vergeblich hatten ſchrecken laſſen! Er wußte es und erzählte doch immer fort und beſchriebLudwig, Zwiſchen Himmel und Erde. 15226die Perſonen, als müßte es die Frau unfehlbar beruhi¬ gen, wenn ſie den alten Amtmann Kern und ſeine Haushälterin vor den Augen ihres Geiſtes ſähe, wie ſie damals leibten und lebten. Er hätte ſein Leben hingegeben, um ihr zu helfen; er wußte in ſeiner Rathloſigkeit nicht, wie? ſo ſuchte er ſich ſelbſt über die Angſt des Augenblicks durch immer eifrigeres Er¬ zählen hinauszuhelfen. Dabei belauſchte er jede kleinſte Bewegung in den Zügen des bleichen ſchönen Geſichtes; und je ſchöner und jugendlicher es ihm vorkam, deſto ſchwerer ſchien ihm, was ſie litt, und deſto eifriger wurde ſein Erzählen. Als eine ſiebenzehnjährige Braut hatte er ſie in das Haus mit den grünen Laden ein¬ ziehn ſehn, acht Jahre hatte er in ihrer Nähe gelebt. Die bis in ihr vier und zwanzigſtes ein innerlich un¬ berührtes, heiter mit den Dingen ſpielendes Kind ge¬ weſen, was hatte ſie in den letzten zwei Jahren erduldet! Und wie ſchön war ſie immer geblieben in ihrem Dulden, wie ſchön hatte ſie geduldet! Nun lag ſie zerbrochen als halb aufgeſchloſſene Blume vor ſeinen alten Augen da, die ſo oft um ſie geweint, mehr über die Milde und unbewußte, unzerſtörbare Hoheit, womit ſie ihr Unglück trug, als über ihr Unglück ſelbſt. Es gibt rührende Geſtalten, die die Angſt, die ſelbſt der Zorn nicht entſtellt; die in all ihrem Thun, ſelbſt in ihrem Lächeln, ſelbſt in ihrer lauten Freude uns be¬ wegen, deren Anblick uns rührt, ohne daß wir an einen227 Schmerz, an ein Leiden bei ihrem Anſchaun denken müſſen. Es iſt auch keine ſchmerzliche Rührung, die wir da empfinden; und der Schmerz ſelbſt hat auf ſolchem Geſicht eine wunderbare Kraft, uns zugleich zu tröſten und rührend zu erheben, indem er uns zum tiefſten Mitleid mit ſeinem Träger dahinreißt. Als eine ſolche Geſtalt hatte Chriſtiane, ſo lang er ſie kannte, vor des alten Valentin Augen geſtanden, als eine ſolche lag ſie jetzt vor ihm da.

Endlich hatte ſie das Weinen gefunden. Der alte Valentin lebte wieder auf; er ſah, ſie war gerettet. Er las es in ihrem Geſichte, das, ſo ehrlich wie ſie ſelbſt, nichts verſchweigen konnte. Er ſaß und hörte mit ſo freudiger Aufmerkſamkeit auf ihr Weinen, als wär's ein ſchönes Lied, das ſie ihm vorſänge. In den Augen¬ blicken, wo der Menſch der ſtärkeren Natur ſich ohne Abzug hingeben muß, erkennt man am ſicherſten ſeine wahre Art. Was von Thierheit im Menſchen unter der hergebrachten Schminke ſogenannter Bildung oder vorſätzlicher Verſtellung verborgen lag, tritt dann un¬ verholen hervor in den Bewegungen des Körpers und in dem Ton der Stimme. Der alte Valentin hörte die reine Melodie in Chriſtianens Stimme im hinge¬ goſſenen Weinen, welche ſie nach dem Schlag über Aenn¬ chen's Bett im Doppelſchrei von Schmerz und Entrüſtung nicht verloren hatte. Sie hatte ſich ausgeweint und erhob ſich; der alte Valentin hätte ihr nicht zu helfen15 *228gebraucht. Sie machte ſich zum Ausgehn fertig. Ihr Weſen hatte etwas feierlich Entſchiedenes angenommen. Valentin ſah's mit Erſtaunen und Sorge. Ihm fiel ſeine Verantwortlichkeit ein. Er fragte ängſtlich, ſie wolle doch nicht fort? Sie nickte mit dem Kopfe. Aber ich darf ſie nicht fortlaſſen, ſagte er. Der alte Herr hat mir's mit Ketten auf die Seele gebun¬ den. Ich muß, ſagte ſie. Ich muß in die Gerichte. Ich muß ſagen, daß ich ſchuld bin. Ich muß meine Strafe leiden. Der Großvater wird ſich meiner Kinder annehmen. Ich möchte den Herrn ſagen, ſie ſollen ihn zu dem Aennchen legen; er hat's ſo lieb gehabt. Ich möchte auch dabeiliegen, aber das werden ſie nicht thun. Nein, davon will ich nichts ſagen. Valentin wußte nicht, was er erwiedern ſollte. Er durfte ſie nicht fortlaſſen und ſah an ihrer Entſchieden¬ heit, er würde ſie nicht aufhalten können. Wenn nur der alte Herr erſt da wäre! dachte er. Er ſagte: Thäten ſie dem alten Valentin nichts auf der Welt zu lieb? Sie ſah ihn aus ihrem Schmerze freundlich an und entgegnete: Wie ihr fragen könnt! Ihr habt ihn immer lieb gehabt und das vergeß 'ich euch nicht, ſo lang ich noch lebe. Er iſt geſtorben und ich muß auch ſterben. Kann ich euch noch etwas thun, eh' ich gehen muß, ſo dürft ihr's nur ſagen. Wenn ich's auch thun kann und wenn ihr nicht verlangt, daß ich nicht gehen ſoll. Nein, ſagte der Alte. 229 Das nicht. Aber wenn Sie nur ſo lang bleiben wollten, bis der alte Herr zurückkommt, daß ich meiner Verantwortlichkeit ledig bin. Dem Alten war's nicht allein um ſich zu thun. Er hoffte zugleich, der alte Herr würde in ſeiner Geiſtesgegenwart ein Mittel finden, wodurch ſie von ihrem Vorhaben abzubringen ſei. Die Frau nickte ihm zu. So lang will ich warten, entgegnete ſie. Den Alten trieb Sorge und Hoffnung hinaus, zu ſehn, ob Herr Nettenmair noch immer nicht komme. Chriſtiane holte ihr Geſangbuch vom Pulte und ſetzte ſich damit an den Tiſch.

Der Valentin blieb länger aus, als er ſelbſt gedacht hatte. Als er wieder hereinkam, war er nicht mehr der, der vorhin hinausgegangen. Er war verwirrt und verlegen, aber ganz anders verwirrt als vorhin. Er ſtand immer im Begriff, etwas zu thun oder zu ſagen, worüber er erſchrack, und etwas anderes that oder ſagte und wiederum ungewiß ſchien, ob er nicht auch darüber erſchrecken ſollte. Immer, und wenn er gar nichts geſagt hatte, meinte er, er habe zuviel ge¬ ſagt. Manchmal war's, als ob er lachte; dann ſah er wieder deſto trauriger aus. Und das paßte nicht zu dem, was er ſprach; denn er redete vom Wetter. Da¬ zwiſchen machte er ſich viel an der Thür zu ſchaffen, die er immer wieder einmal öffnete; zuletzt blieb er im Hausflur ſtehn, wo er den Gang nach dem Schuppen hin überſehen konnte; und es waren die wunderlichſten230 Vorwände, durch die er all dieſe Thätigkeiten recht¬ fertigte. Die junge Frau bemerkte erſt die Veränderung nicht, dann beobachtete ſie ihn verwundert und immer ahnungsvoller. Zuletzt hatte er ſie angeſteckt mit ſeinem Weſen. Wenn er unwillkührlich lachte, glühte ſie in Hoffnung auf, wenn er dann ſein trauriges Geſicht machte, drückte ſie die Hände zuſammen und wurde wieder bleich. Sie folgte ſeinen Augen, ihm ſelbſt nach der Thür und erſchrack, ſo oft er ſie öffnete. Dabei ſprachen ſie immer vom Wetter; wären ſie ruhig geweſen, ſie hätten über ihre eigenen Reden lachen müſſen; aber man ſah, er fürchtete ſich, etwas zu ſagen, ſie fürchtete ſich, nach dem Etwas zu fragen. Zuletzt preßte ſie beide Hände bald gegen das Herz, das das Mieder durchſchlagen wollte, bald gegen die brennenden, hämmernden Schläfe. Der Alte meinte ſie endlich vor¬ bereitet genug, das Wetter fahren zu laſſen. Ja, ſagte er, es iſt ein Tag, wo die Todten aufſtehen möchten, und wer weiß aber thun Sie mir noch das zulieb und erſchrecken Sie nicht. Sie erſchrack dennoch. Sie ſagte zu ſich: Aber es iſt ja nicht möglich! Und ſie erſchrack doch eben, weil es mehr als möglich, weil es gewiß war. Da ſehn Sie ein¬ mal dahinter, ſchluchzte der Alte, der nur lachen wollte. Sie ſah den Gang hin; ſie hatt 'es gethan, eh' der Alte ſie dazu aufforderte. Der alte Valentin eilte aus der Vorderthür, dem alten Herrn die Freuden¬231 poſt zu bringen; ſelig und ſtolz auf ſein klug durchge¬ führtes Werk. Die junge Frau hielt ſich feſt an dem Thürpfoſten, als ſie den Schritt hörte durch den Schuppen. Aber auch der Thürpfoſten ſtand nicht mehr feſt. Sie ſelbſt nicht mehr auf dem feſten Boden; ſie ſchwindelte zwiſchen Himmel und Erde. Und als ſie ihn kommen ſah, war nichts mehr auf der Welt für ſie, als der Mann, um den ſie wochenlang mehr als Todesangſt geduldet. Alles ging um ſie im Wirbel, erſt die Wände, der Boden, die Decke, dann Bäume, Himmel und grüne Erde; ihr war, als ginge die Welt unter und ſie würde erdrückt im Wirbel, hielte ſie ſich nicht feſt an ihm. Sie fühlte, wie ſie hinſank, dann nichts mehr.

Apollonius war herzugeeilt und hatte ſie aufgefan¬ gen. Da ſtand er, und hielt das ſchöne Weib in ſei¬ nen Armen, das Weib, das er liebte, das ihn liebte. Und ſie war bleich und ſchien todt. Er trug ſie nicht in die Stube, er ließ ſie nicht herabgleiten auf die Erde, er that nichts, ſie zu beleben. Er ſtand ver¬ wirrt; er wußte nicht wie ihm geſchehen war, er mußte ſich beſinnen. Der alte Valentin hatte ihn noch nicht geſprochen; er hatte nur durch den Geſellen, der vom Blechſchmidt nach Sankt Georg eilte, erfahren, Apollonius folge ihm, und werde bald hier ſein. Apol¬ lonius war vom Nagelſchmied am Thore aufgehalten worden. Dann hatte er geeilt, dem Befehle des Va¬232 ters nachzukommen. Daß ihn der Vater rufen ließ, hatte ihn befremdet; er konnte ſich nicht denken, warum. Von dem Sturze eines Schieferdeckers in Tam¬ bach hatte er gehört, aber er wußte nicht, daß das Gerücht die Ortsnamen verwechſelt hatte, und daß Je¬ mand glauben könnte, ihn habe das Unglück getroffen. So gänzlich unvorbereitet auf das, was ihm der nächſte Augenblick bringen ſollte, war er durch den Schuppen gekommen. Er wollte ſogleich zu dem Va¬ ter aus deſſen Stübchen, da hatte er die junge Frau den Gang herſtürzen und mit dem Umſinken kämpfen ſehn und war ihr entgegengeeilt. Und nun hielt er ſie in den Armen. Die Geſtalt, die er, ſchmerzlich mühſam und doch vergebens, ſeit Wochen von ſich ab¬ zuwehren gerungen, deren bloßes Gedankenabbild all' ſein Weſen in eine Bewegung brachte, die er ſich als Sünde vorwarf, lag in ſchwellender, athmender, laſten¬ der, wonneängſtigender Wirklichkeit an ihn hingegoſſen. Ihr Kopf lehnte rückwärts geſunken über ſeinen linken Arm; er mußte ihr in das Antlitz ſehn, das ſchöner, gefährlich ſchöner war, als ſeine Träume es malen konnten. Und jetzt überflog ein Roſenſchein das weiße Antlitz bis in die weichen braunen Haare, die in den wilden, ſelbſtgeſchlungenen Locken über die Schläfe hinabrollten, die tiefen blauen Augen öffneten ſich, und er konnte ihrer Gewalt nicht entfliehn. Und nun ſah ſie ihn an und erkannte ihn. Sie wußte nicht, wie233 ſie hierher und in ſeine Arme gekommen, ſie wußte nicht, daß ſie in ſeinen Armen lag; ſie wußte nichts, als daß er lebte. Wie konnte ſie noch einen Gedanken denken neben dem! Sie weinte und lachte zugleich, ſie umſchlang ihn mit beiden Armen, um ſeiner gewiß zu ſein. Und doch fragte ſie noch in angſtvoll drängen¬ der Haſt: Und biſt du's denn auch? Biſt du's auch gewiß? Und lebſt noch? Und biſt nicht geſtürzt? Und ich habe dich nicht getödtet? Und du biſt's? Und ich bin's? Aber er er kann kommen! Sie ſah ſich wild um. Er will dich tödten. Er wird nicht eher ruhn. Sie umfaßte ihn, als wollte ſie ihn mit ihrem Leibe decken gegen einen Feind; dann vergaß ſie die Angſt über der Gewi߬ heit, daß er noch lebte, und lachte wieder und weinte zugleich und fragte ihn wieder, ob er auch noch lebe, ob er's auch ſei. Aber ſie mußte ihn ja warnen. Sie mußte ihm Alles ſagen, was Jener ihm gethan, und was er ihm noch zu thun gedroht. Sie mußte es ſchnell; jeden Augenblick konnte Jener kommen. War¬ nung, ſüß unbewußtes Liebesgeſchwätz, Weinen, La¬ chen; Seligkeit, Angſt, Schmerz um das verlorene Glück; Anklage wie des Kindes beim Vater; das Be¬ dürfniß der Liebe, mit Allem, was ſie iſt, was ſie freut, was ſie bekümmert, ein Gedanken ſeines Gei¬ ſtes, ein Gefühl ſeiner Seele zu ſein, das er denkt und fühlt wie ſeine andern; bräutliche Verwirrung und Ver¬ geſſen der ganzen Welt über den einen Augenblick, der ihr234 eigentliches Daſein iſt, denn Alles, was war und werden kann, iſt blos Schatten; was ſie erzählt, hat ſie geträumt; und erlebt, fühlt und weiß es erſt jetzt; was geweſen iſt und kommen wird, iſt geweſen und kommt nur, damit dieſer Augenblick ſein kann; vor und nach dieſem Augenblick iſt die Zeit zu Ende; al¬ les das durchdrang ſich, alles das zitterte zugleich in jedem einzelnen Klang der fliegenden, ſich preſſen¬ den Rede. Er hat mich und dich belogen. Er hat mir geſagt, du verhöhnteſt mich und hättſt meine Blume vor den Geſellen ausgeboten. Ach du weißt's ja noch, beim Pfingſtſchießen die Blume, das kleine Glöckchen, das ich liegen ließ. Und du haſt's ihm geſchickt. Ich hab's geſehn. Ich wußte nicht, warum. Du haſt mich gedauert. Daß du ſo ſtill warſt und trüb und ſo allein, das hat mir weh gethan. Da hat er mir beim Tanz geſagt, du hätteſt deinen Spott über mich. Da gingſt du in die Fremde und er hat mir geſagt, wie du in deinen Briefen über mich ſpot¬ teſt; das that mir weh. Du glaubſt nicht, wie weh mir das that, wenn ich ſchon nicht gewußt hab ', wa¬ rum. Der Vater wollte, ich ſollte ihn frein. Und wie du kamſt, hab ich mich vor dir gefürchtet; du haſt mich immer noch gedauert und ich hab' dich immer noch geliebt und wußt 'es nur nicht. Er ſelbſt hat mir's erſt geſagt. Da bin ich dir ausgewichen. Ich wollte nicht ſchlecht werden und will's auch nicht. Gewiß235 nicht. Dann hat er mich gezwungen, zu lügen. Dann hat er mir gedroht, was er dir thun wollte. Er wollte machen, daß du ſtürzen müßteſt. Es wär' nur Scherz, aber, ſagt 'ich's dir, dann wollt' er's im Ernſte thun. Seitdem hab 'ich keine Nacht geſchlafen; die ganzen Nächte hab' ich aufgeſeſſen im Bett und bin voll To¬ desangſt geweſen. Ich hab 'dich in Gefahr geſehn und durft' es dir nicht ſagen und durfte dich nicht ret¬ ten. Und er hat die Seile zerſchnitten mit der Axt in der Nacht, eh 'du nach Brambach gingſt. Der Va¬ lentin hat mir's geſagt, der Nachbar hat ihn in den Schuppen ſchleichen ſehn. Ich hab' dich todt gemeint und wollte auch ſterben. Denn ich wär 'Schuld gewe¬ ſen an deinem Tod und ſtürbe tauſendmal um dich. Und nun lebſt du noch und ich kann's nicht begreifen. Und es iſt Alles noch wie es war; die Bäume da, der Schuppen, der Himmel, und du biſt doch nicht todt. Und ich wollte auch ſterben, weil du todt warſt. Und nun lebſt du noch, und ich weiß nicht, iſt's wahr oder träume ich's nur. Iſt's denn wahr? Sag' du mir's doch: iſt's wahr? Dir glaub 'ich Alles, was du ſagſt. Und ſagſt du, ich ſoll ſterben, ſo will ich's, wenn du's nur weißt. Aber er kann kommen. Viel¬ leicht hat er gelauſcht, daß ich dir's ſagte, was er will. Schick' den Valentin in die Gerichte, daß ſie ihn fort¬ führen und er dir nichts mehr thun kann!

236

So ſchwärmte, lachte und weinte das fiebernde Weib in ſeinen Armen fort. Alles vergeſſen, wie ein Kind an einem Abgrund ſpielend, den es nicht ſieht, ruft ſie unbewußt eine Gefahr herbei, tödtlicher als die, über deren Vorbeigehen ſie jubelt, drohender als die, wogegen ſie den Mann mit ihrem Leibe decken will. Sie ahnt nicht, was ihr leidenſchaftlich Thun, die Süßigkeit ihrer unbekümmerten Hingebung, was ihre Liebkoſungen, was ihr warmes, ſchwellendes Um¬ fangen in dem Manne aufregen muß, der ſie liebt; daß ſie Alles thut, was den Mann, deſſen Rechtlich¬ keit und Edelmuth ſie ſich ſo unbekümmert anheim giebt, Rechtlichkeit und Edelmuth im Tumulte des Blu¬ tes vergeſſen machen kann. Sie hat keine Ahnung, welchen Kampf ſie in ihm entzündet, und wie ſie ihm den Sieg erſchwert, wenn nicht unmöglich macht. Und er weiß nun, das Weib in ſeinen Armen war ſein; der Bruder hat ihn um ſie und ſie um ihn betrogen. Jetzt weiß er's, wo das Weib in ſeinen Armen ihm die Größe des Glückes zeigt, um das der Bruder ihn betrogen hat. Er hat ſie geraubt und noch mißhan¬ delt; und für Alles, was er um ihn gelitten, gethan, verfolgt er ihn noch und ſteht ihm nach dem Leben. Gehört das Weib dem, der ſie ihm geſtohlen, der ſie mißhandelt, den ſie haßt? Oder ihm, dem ſie ſchänd¬ lich geſtohlen worden iſt, der ſie liebt, den ſie liebt? 237Das Alles waren nicht deutliche Gedanken; hundert einzelne Empfindungen, die, in den Strom Eines tiefen und wilden Gefühls hingeriſſen, durch ſeine Adern ſtürz¬ ten und die Muskeln ſeiner Arme ſpannten, etwas, das ſein iſt, an ſein Herz zu preſſen. Aber eine dunkle Angſt drängt dem Strom entgegen und hält die Mus¬ keln wie im Starrkrampfe feſt. Das Gefühl, er will etwas thun, und iſt ſich nicht klar, was es iſt, wohin es führen kann; eine ferne Erinnerung, daß er ein Wort gegeben hat, das er brechen wird, läßt er ſich fortreißen. Die dunkle Vorſtellung, als ſtehe er wie an ſeinem Tiſche, und, bewegt er ſich, eh 'er ſich um¬ geſehn, könn' er etwas wie ein Tintenfaß auf etwas wie Wäſche oder ein werthvolles Papier werfen; all' dem lag die angſtvolle Vorahnung zu Grunde, er könne mit Einer Bewegung Etwas verderben, was nicht wieder gut zu machen ſei. Er rang ſchon lange unter den berauſchenden Tönen nach Etwas, eh 'er wußte, daß er rang, und daß dies Etwas die Klarheit war, das Grundbedürfniß ſeiner Natur. Und nun kam ſie ihm und ſagte: das Wort, das du gegeben haſt, iſt, die Ehre des Hauſes aufrecht zu erhalten, und was du thun willſt, muß ſie zernichten. Er war der Mann und mußte für ſich und ſie einſtehn. Sie brandmarkte den Verrath, den er mit einem Drucke, mit einem Blicke, an dem rührenden unbedingten Vertraun üben würde, das aus des Weibes Hingebung ſprach,238 mit aller Schmach, die ſie fand. Sie zeigte ihm die Reinheit des Geſichtes, das an ſeinem Herzen lag und ſchwärmend zu ihm aufſah, und wie er mehr an ihr und an ſich ſelbſt verderben würde, als um was er ihren und ſeinen Feind anklagte. Noch ſtand die heilige Scheu ſchützend zwiſchen ihm und ihr, die ein einziger Druck, ein einziger Blick, für immer verſcheuchen konnte. Und doch ſah er angſtvoll nach einem Helfer ſich um. Wenn nur Valentin käme! Dann mußt' er ſie aus ſeinen Armen laſſen. Valentin kam nicht. Aber die Scham über ſeine Schwäche, die die Hülfe außen ſuchte, wurde zum Helfer. Er legte die Kraftloſe ſanft auf den Raſen. Als er die weichen Glieder aus den Hän¬ den ließ, verlor er ſie erſt. Er mußte ſich abwenden und konnte einem lauten Schluchzen nicht wehren. Da ſah der jüngſte Knabe neugierig in den Hof. Er eilte hin, hob das Kind in ſeine Arme, drückte es an ſein Herz und ſtellte es zwiſchen ſich und ſie. Es war eigen; mit dem Drucke, mit dem er das Kind an ſein Herz gedrückt, entband ſich der wilde Drang und nun erſt löſ'ten ſich die geſpannten Muskeln. Er hatte ſie in dem Kinde an ſein Herz gedrückt, wie allein er ſie an ſein Herz drücken durfte. Die Frau ſah ihn den Knaben zwiſchen ſich und ihn ſtellen und verſtand ihn. Glühende Röthe ſtieg ihr bis unter die wilden braunen Locken. Sie wußte nun erſt, daß ſie in ſeinen Armen gelegen, daß ſie ihn umfaßt hatte und mit ihm geſpro¬239 chen, wie es nur erlaubte Liebe darf. Sie ſah nun erſt die Gefahr, an deren Abgrund ſie ihn und ſich geſtellt. Sie richtete ſich auf den Knieen auf, als wollte ſie ihn flehn, ſie nicht zu verachten. Zugleich fiel ihr wieder ein, der Mann konnte ſie belauſcht ha¬ ben und die Drohung noch vollziehn. Dann hatte ſie ihn durch die Freude über ſeine Rettung erſt verdor¬ ben. Er ſah das Alles und litt es mit ihr. Er hatte ſich abgekämpft, ihr nicht zu zeigen, was in ihm vor¬ ging; aber der Kampf ſelbſt in ſeinem Innern war nicht ausgekämpft. Er neigte ſich zu ihr und ſagte: Du biſt meine brave Schweſter. Du biſt braver als ich. Und über uns und deinem Manne iſt Gott. Aber nun geh hinein, Schweſter, liebe brave Schwe¬ ſter. Sie wagte nicht aufzuſehn, aber durch die geſenk¬ ten Lieder ſah ſie ſeine Milde, das tiefe, unausſchöpf¬ bare Wohlwollen, die unvernichtbare Menſchenachtung auf ſeiner leuchtenden Stirne und um den ſanften Mund. Und wie er ihr bewußter und unbewußter Maßſtab war, wußte ſie nun, ſie war nicht ſchlecht. Und ſie konnt 'es auch nicht werden; er trug ſie be¬ wahrt wie die Mutter das Kind auf ſeinen ſtarken, vorſehenden Armen. Er wuchs ihr, wie ſie ihn durch die geſenkten Lieder ſah, mit dem Haupte bis an den Himmel. Sie wußte, daß ihm der Mann nicht ſcha¬ den konnte. Apollonius gab ihr den Knaben in den Arm und bot die Hand, ſie aufzurichten. Sie bebte240 unter der Berührung und wie ſie noch auf den Knieen lag, ſtieg ihr Gedanke zu ihm auf wie ein Gebet. Er führte ſie an die Thüre. Vom Schuppen her kam Herr Nettenmair mit dem Geſellen. Fritz Nettenmair, der ihnen nachſchlich, ſah noch, wie er ſie führte.

Nichts von alledem, was er heute gewollt und was er heute gelitten, ſtand in Herrn Nettenmairs ver¬ knöchertem Antlitz zu leſen, als er heimkam. Die junge Frau und Valentin mußten eine Predigt über grund¬ loſe Einbildungen anhören; denn die Geſchichte hatte ſich ausgewieſen, wie ſie war, nicht wie ſie der Valen¬ tin zuſammengeängſtelt hatte. Der Reiſe Fritz Netten¬ mairs gedachte er als eines lang von demſelben geheg¬ ten, aber von ihm erſt heute genehmigten Vorhabens. Apollonius erhielt den Befehl, ſogleich mit den Geſchäfts - Büchern auf des alten Herrn Stube zu kommen. Der alte Herr gab vor, er wollte den Stand des Geſchäftes genau kennen lernen. Sein wahrer Zweck dabei war, Apollonius ſo lange bei ſich in Sicherheit zu behalten, bis ſein Bruder abgereiſet ſei. Apollonius konnte, ohne wegen der nächſten laufenden Ausgaben in Ver¬ legenheit zu kommen, das Geld zu des Bruders Reiſe bis Hamburg beſchaffen. Dort wußte er einen frühern Kölner Freund, der ſich in ſehr guten Verhältniſſen241 befand, und der, um manche geleiſtete Dienſte zu ver¬ gelten, ihm öfter und noch neulich eine Geldhülfe an¬ geboten hatte. Auf des Vaters Stübchen ſchrieb er an ihn. Der Freund ſollte dem Bruder einen Platz auf einem Paſſagierſchiffe beſorgen, ſeine Aufenthalts - Koſten beſtreiten und ihm, aber nicht eher als unmittel¬ bar vor der Abfahrt eine gewiſſe Summe Geldes übermachen, alles auf Apollonius Rechnung. Valentin mußte noch den Abend auf die Poſt, um den Brief aufzugeben und Fritz Nettenmair einſchreiben zu laſſen. Der Wagen ging eine Stunde vor Sonnenaufgang ab; noch eine Stunde früher ſollte Valentin auf dem Zeuge ſein und ſich bei dem alten Herren melden.

So war das Leben in dem Hauſe mit den grünen Laden immer ſchwüler geworden. Dieſe Nacht mit ihrer ſtillen Unruhe glich der angſtvollen Stille, darin die Kräfte eines Meerſturms ſeinen Ausbruch vorbe¬ reiten. Es war ein eigenes Treiben. Wer in dieſer Nacht in das Haus hätte hereinſehn können, aber nicht in die Seelen der Menſchen darin, der wäre aus einer Befremdung in die andere gefallen. Sonſt, wenn ein Glied einer Familie zu einer Reiſe ſich rüſtet, von der es vielleicht nie wieder heimkehren wird, drängen ſich die Uebrigen um ihn. Je weniger der Augenblicke werden, die er noch mit ihnen zubringen kann, je tiefer werden ſie ausgenoſſen. Jahre des gewöhnlichen Miteinander¬ lebens drängen ſich in ihnen zuſammen. Jeder Blick,Ludwig, Zwiſchen Himmel und Erde. 16242jedes Wort, jeder Händedruck wird als ein ewiges Andenken gegeben[und] genommen. Stundenweit her kommen die Freunde des Scheidenden, ihn noch ein¬ mal zu ſehn. Nach Fritz Nettenmair ſahn die Leute im Hauſe nicht. Sie ſchauderten, ihm zu begegnen, als wär 'er ein ſchreckendes Geſpenſt. Und wie ein ſolches ſchlich er darin umher und wich den Menſchen aus, wie ſie ihm. Und die Menſchen, denen er aus¬ weicht, die ihm ausweichen, ſind nicht fremde; ſein Vater iſt's, ſein Bruder, ſein Weib und ſeine Kinder. Ein Reiſender, der nicht geſehen wird, der ſich nicht ſehen läßt, der kein Lebewohl gibt und kein Lebewohl nimmt, und der doch freiwillig reiſt, und deſſen Reiſe die andern wiſſen und genehmigen!

Apollonius mußte dem alten Herrn die Geſchäfts - Bücher vorleſen, ein wunderlich zweckloſes Werk! Denn weder er noch der alte Herr war im Geiſte bei den Zahlen. Und der alte Herr that noch dazu, als wiſſe er Alles ſchon. Daß Apollonius die Gefahr des Hauſes ihm verſchwiegen, erwähnte er natürlich nicht; von den Gedanken, die ſich bei ihm daran knüpften, ließ er keinen ſehn. Aus ſeinen diplomatiſchen Reden, zu denen er ſich bisweilen zuſammenraffte, um dem Schattenſpiel vor dem Sohne einen Schein der Wirklichkeit zu geben, konnte man vielleicht errathen, wenn man genauer aufmerkte, als es Apollonius mög¬ lich war, der alte Herr habe Alles gehen laſſen, um243 zu zeigen, wohin es kommen müſſe, zieh 'er die Hand vom Ruder ab, und daß er geſinnt ſei, von nun an ſelbſt wieder das Schiff zu leiten. Dazwiſchen fragte er den Sohn einmal wie beiläufig, ob er etwas Ge¬ naueres von dem Verunglückten in Tambach wiſſe. Apollonius konnte ihm ſagen, er kenne den Mann; es ſei derſelbe ungemüthliche Geſell, der vordem bei ihnen geweſen. So? ſagte der alte Herr gleich¬ gültig. Und weiß man, was die Urſache war? Apollonius hatte gehört, das Seil, das über dem Verunglückten geriſſen, ſei ein faſt neues, aber es müſſe an der Stelle des Riſſes rundum mit einem ſcharfen ſpitzen Werkzeug durchſchnitten geweſen ſein. Der alte Herr erſchrack. Er ahnte einen Zuſammenhang, auf den auch Andere kommen konnten. Valentin, wußte er, hatte vorhin beredet, der Arbeiter, der den Karrn mit dem Handwerkszeuge nach Brambach gefahren, müſſe auf dem Rückweg ein Anſchleifeſeil verloren haben. Apollonius hatte den Valentin damit beruhigt, er habe das Seil in Brambach verliehn. Der alte Herr war nun überzeugt, auch Apollonius müſſe einen Zuſammenhang ahnen, wenn nicht mehr, als nur ahnen; und habe durch die Antwort an Valentin ihn den Augen des alten Geſellen entziehen wollen. Er ſah, daß Apollonius in ſeinem, des alten Herren Geiſte verfuhr. Von dieſer Seite war alſo nichts zu fürchten. Aber es konnten Umſtände im Spiele ſein, die trotz16 *244Apollonius 'Vorſicht eine Entdeckung herbeizuführen drohten. Er ließ ſeine Zurückhaltung, ſo ſchwer dies ihm fiel, diesmal beiſeite, und Apollonius mußte, ge¬ fragt, ſagen, was er wußte. Es war Folgendes. Den erſten Tag hatte Apollonius in Brambach nur die Leiter gebraucht. Der Geſelle war in dem Wirths¬ haus geweſen, als er ankam. Denſelben Abend noch hatte er ihn über den Hof ſchleichen ſehn. Am andern Morgen fehlte das Seil. Er hatte ſogleich Verdacht auf den Geſellen, aber nach ſeiner gewiſſenhaften Weiſe zögerte er, ihn auszuſprechen. Auf dem Heimwege, vor dem Thor der Stadt, erfuhr er das Unglück, das ihn getroffen. Zugleich, daß der Geſell bei keinem Meiſter geſtanden, ſondern auf eigene Hand die kleine Reparatur an dem Schieferdache in Tambach unter¬ nommen. Ein Stück des von ihm hinterlaſſenen Hand¬ werkszeugs, ein Zimmerbeil, war ſchon von dem recht¬ mäßigen Beſitzer als ihm entwendet beanſprucht worden. Bald darauf machte die Warnung Chriſtianens ihn gewiß, das Seil, durch deſſen Zerreißen der Geſell verunglückt, war das ſeine. Wie die Sache nun ſtand, durfte er ſich natürlich nicht zu dem Eigenthumsrechte daran bekennen; er mußte ſeiner Ehrlichkeit ſogar den Zwang anthun, durch Erdichtungen fremder Vermuthung der Wahrheit zuvorzukommen. Der alte Herr gebot dem Sohne, weiter zu leſen. Apollonius that es, aber im Geiſte waren Beide wiederum bei andern Dingen. 245Apollonius wollte ſich zwingen. Es war ſeiner ſon¬ ſtigen Art ſo geradezu entgegen, nicht mit ganzer Seele bei der Sache zu ſein, die er trieb. Es gelang ihm nicht. So griff fremde Zerrüttung auch in dieſe gleich¬ gewichtige, wohlgeordnete Seele herüber. Endlich kam Valentin, erhielt das Reiſegeld für Fritz Netten¬ mair und die Anweiſung an den Hamburger Freund und die Weiſung, des Reiſenden Gepäck nach dem Poſthofe zu tragen, und etwaigen Auftrages harrend in ſeiner Nähe zu bleiben, bis er abgefahren ſei. Eine Stunde ſpäter kam er zurück und hatte den Be¬ fehl vollzogen. Er erzählte, Fritz Nettenmair freue ſich auf das neue Leben in Amerika. Sie ſollten ſich wundern über ihn, wenn ſie ihn wiederſähn. Er konnte kaum die Zeit erwarten. Der alte Herr richtete ſich innerlich hoch auf; er meinte grimmig, Apollonius könne vor Schlaf in den Augen nicht mehr leſen, und ſchickte ihn in's Bett. Das begonnene Werk fortzu¬ ſetzen, müſſe ſich ein andermal Zeit finden.

Und Fritz Nettenmair? Wie war ihm zu Muth in dieſer Nacht? Als er, ruhelos wie ein gequälter Geiſt, bald händeringend, bald fäuſteballend den Gang vom Hauſe nach dem Schuppen und wieder von dem Schuppen nach dem Hauſe ſchlich? Bald ſchrack er246 vor einem fallenden Blatt zuſammen, bald wünſchte er, das Haus ſtürzte über ihn und begrübe ihn. So oft er den Weg durch den Gang zurücklegte, ſo oft bäumte ſich ſeine Seele im wildeſten Trotz empor, ſo oft ſank ſie in die hingegebenſte Hülfloſigkeit zurück. Er war entſchloſſen, zu gehn und ſie dem Geha߬ ten zu überlaſſen? Daß ſie ihn höhnten? Sie hatten ihn ja ſo weit gebracht, um ihn los zu werden; dann war ihr einziger Wunſch erfüllt. Nein! er wollte bleiben! er mußte bleiben! und dann faßten ihn wieder die Gerichte denn der im blauen Rocke hielt ſein Wort und ſchloſſen ihn mit Ketten feſt, und dann war's daſſelbe. Sie hatten wieder ihren Zweck erreicht. Dann bewegte Fritz Nettenmair heftig die Arme vor ſich hin, als rüttelte er ſchon an den Gittern des Kerkerfenſters und athmete ſo mühſam, als erſtickte ihn ſchon der Dunſt der feuchten Wände. Dann überfiel ihn in plötzlicher Abſpannung das ganze Bewußtſein ſeines grenzenloſen Elendes, der Jammer gänzlicher Verlaſſenheit. Goldene Bilder ſtiegen auf; die verlorene Seligkeit marterte ihn mehr, als die ge¬ wonnene Verdammniß. Da hüpfte er als ſchuldloſes Kind den Gang hin, dem entlang er jetzt die Ueber¬ laſt ſeines Elends ſchleppte; da waren Menſchen, die ihn liebten. Wie klang der Mutter Stimme, die ihn rief, ſo ſüß! Und jetzt liebte ihn Niemand mehr. Die fremden Menſchen verachteten ihn; die ihn lieben ſoll¬247 ten, ſchauderten vor ihm. O nur ein einzig Herz, dem ſein Scheiden weh thäte, und er ginge und würde ein anderer Menſch! Jetzt ſieht er jeden freundlichen Blick, den er nicht beachtet in der Verblendung ſeiner Leidenſchaft. Das Lächeln um die angſtzuckenden Lippen des kleinen Aennchens ſteigt vor ihm auf; jetzt erkennt er die unermüdliche Liebe, die er zurückſtieß, die immer wiederkam, ſo oft er ſie zurückſtieß, bis er ihr Gefäß zerbrach; jetzt, wo ſie ihn retten könnte, wär 'ſie nicht todt durch ſeine Schuld; jetzt ergreift ihn das Mitleid mit dem Kinde mit ſo ſchmerzlicher Ge¬ walt, daß er ſein eigen Elend darüber vergäſſe, wär's nicht ein Theil davon. Das Aennchen iſt todt, aber er hat noch Kinder; ſie müſſen ihn lieben, ſie ſind ja ſein. Sein Herz ſchreit nach einem Liebeswort. Seine Arme öffnen ſich krampfhaft, etwas, was ſein iſt, an ſein Herz zu preſſen, damit er weiß, er iſt nicht ver¬ loren; und verloren iſt keiner, der noch einen Menſchen hat auf der Welt. Mit erneuten Kräften eilt er den Gang, die Hausflur hindurch, durch Stuben - und Kammerthür. Ein Nachtlicht, vom Schirm bedeckt, gibt dem Vater Schein genug, ſeine Kinder zu ſehn. An dem nächſten kleinen Bette ſinkt er in die Kniee. Ein längſt verlernter Laut flüſtert durch ſeine Lippen, und wie ihn dieſe Lippen nie flüſtern gekonnt. Fritz! Er will die Kinder nur einmal an ſein Herz drücken,248 ihre Liebe ſehn und gehn. Gehn und ein anderer Menſch werden, ein beſſerer, ein glücklicherer! Der Kleine erwacht; er meint, die Mutter hat ihn gerufen. Lächelnd öffnet er die großen Augen und erſchrickt. Vor dem Mann an ſeinem Bette fürchtet er ſich. Es iſt ein fremder Mann. Ein ſchlimmerer Mann, als ein fremder Mann. O nur ein zu bekannter Mann! Und doch fremder als fremd. Es iſt der Mann, der das Kind ſo oft zornig angeblickt, der Mann, vor dem die Mutter ſchützend es in die Kammer ſchloß, weil es nicht ſehen ſollte, was der Mann ihr that. Und dann ſtand es zitternd und horchte an der Thür, dann ballten ſich die kleinen Händchen im ohnmächtigen Zorn. Er hat ja das Kind ihn haſſen gelehrt, nicht ihn lieben. Fritz, ſagte der Vater voll Angſt: Ich gehe fort; ich komme nicht wieder. Aber ich ſchicke dir ſchöne Aepfel und Bilderbücher und denke jeden Augenblick tauſend¬ mal an dich. Ich will nichts von dir, ſagte der Knabe furchtſam trotzig. Onkel Lonius gibt mir Aepfel; ich mag deine nicht. Haſt auch du mich nicht lieb? ſagt der Vater mit brechender Stimme am zweiten Bettchen. Der kleine Georg flieht zum Bruder in deſſen Bett. Dort halten ſich die Kinder in Angſt umſchlungen. Dennoch iſt er trotzig, und ſo¬ viel Widerwillen, als ein Kindesauge faſſen kann, blickt aus dem ſeinen. Die Mutter hab' ich lieb, den249 Onkel Lonius hab 'ich lieb, ſagt das Kind; dich mag ich nicht. Laß' uns gehn, ich ſag's dem Onkel Lonius!

Fritz Nettenmair lacht im wilden Hohn und ſchluchzt zugleich im hülfloſen Schmerz. Die Kinder ſind ja nicht mehr ſein. Er iſt ja ihr Vater nicht mehr. Er iſt's. Er! Seine Kinder ſind's. Er iſt ihr Vater. Er, der ihm Alles genommen hat, hat ihm auch die Kinder genommen. Das, was man dem Elendeſten läßt. Wenn Er gehn müßte, Er! die Kinder hingen ſich an ihn. Eher riſſen die Händchen, als daß ſie ihn ließen. Und das Weib hier, dies ſchöne Weib mit dem Engelsantlitz, auf das ſelbſt die Lampe liebend all ihre Strahlen ſammelt und mehr Glanz von ihr gewinnt, als ſie von der Lampe; dieſes Weib, Sein Weib, Seins! auch Sein, wie Alles, was einmal mein war! Sie iſt in ihren Kleidern zu Bett gegan¬ gen; ſie kann die Stunde nicht erwarten, wo ich gehe; und ging Er, dieſe Roſen würden bleich, ſie flöße ſter¬ bend in ihn hinüber, um nicht getrennt von ihm zu ſein. Wie ſie auffahren würde, ſagte ihr einer in den Traum hinein, den ſie von ihm träumt, denn ſie lächelt, er geht! Er, ihr Nein! ich will nicht gehn! Nein! ich kann nicht gehn! Lieber tauſendmal ſterben! Und er hat ja dem Tode ſchon in's Angeſicht geſehn, vor Stunden erſt, als er vor dem Vater auf der Rüſtung hingeſtreckt lag. Es war ein Kinderſpiel, das Sterben,250 gegen ſolch ein Leben. Es war denn auch er war todt. Es wär 'es noch, wär' auch Er noch todt. Und er wär 'an ihr gerächt, an ihr hier mit dem teufliſchen Engelslächeln; und er wär' an dem Vater gerächt, der ihn von Beaten riß, von ſeinem guten Engel. Und an den Knaben, die ihn zurückgeſtoßen, an dem todten Aennchen, das ihn verderben half und noch Tag und Nacht ihn quält. Er wäre aber er war's ja nicht. Er mußte gehn; er wurde noch elender, als er ſchon war; und die er haßte, die ihn verdorben, wurden glücklich durch ſein Gehn. Er machte ſie alle wieder zu Teufeln, um von ihrem Glanze nicht ver¬ nichtet zu werden. Er haßte in ihnen wieder, was er an ihnen gethan; er haßte in ihnen ſelbſt die Gewalt, die er ſich anthun mußte, Teufel in ihnen zu ſehn. Und brach ihr Glanz dennoch durch die Schwärze, in die er ſie angſtvoll ſich verſteckte, ſtanden ſie als Engel über ihm, nun haßte er ſie noch mit dem Neide der Teufel. Er hatte die Grenze überſchritten, über welche keine Rückkehr mehr iſt. Wie er die Frau in ihrer Schönheit dortliegen ſah, trat ihn noch einmal der Gedanke an, dieſe Schönheit zu vernichten. Aber die einmal geweckte Erinnerung an den Augenblick, wo er todtgefaßt vor dem Vater lag und an das, was der Vater mit ihm wollte, erwies ſich mächtiger und ver¬ trieb ihn. Das Bild des Augenblickes blieb ihm und tauſchte nur die Perſonen. Er malte es immer farbi¬251 ger aus. Und nun war es eine wilde Freude, was ihn den Gang zwiſchen Haus und Schuppen hin und hertrieb. Seine Arme bewegten ſich ſo heftig als vor¬ hin, aber es waren nicht Gitterſtäbe, mit denen er rang. Unterdeß war der Mond aufgegangen. Das Haus mit den grünen Laden lag ſo friedlich in ſeinem Schimmer da. Kein Vorübergehender hätte ihm die Unruh 'angeſehn, die es hinter ſeinen Wänden barg; keiner den Gedanken geahnt, den drinn die Hölle fertig braute in einem verlorenen Gefäß.

Apollonius hatte ein Sopha in ſeinem Zimmer. Er war müde vom Wachen und von dem Kampfe, den die gefährliche Nähe des geliebten Weibes und das Wiſſen um des Bruders Betrug und empörenden Un¬ dank in ihm entzündet. Neben dieſem war erſt noch ein anderer Kampf aufgeglommen. Der Vater ſchien nicht an die böſe Abſicht des Bruders zu glauben. Vor dem Gedanken, den Arm der Obrigkeit zu ſeinem Schutze aufzurufen, ſchauderte er zurück. Die Schmach für die Familie, wenn des Bruders That bekannt wurde, mußte den Vater tödten. Und vielleicht war auch des Bruders Seele noch zu retten, wenn es ge¬ lang, ihn zu überzeugen, daß er geirrt. Aber wie? Wenn er ihn verſicherte, ihm ſchwur, daß er in der252 Frau nur die Schweſter ſehe? Vor einem halben Jahre noch hätte er das beſchwören können; heute war es Meineid: heute durfte er es nicht mehr. Er konnte, wenn der Bruder den entſetzlichen Plan auf ſein Leben nicht aufgab, die Ausführung deſſelben erſchweren, aber nicht unmöglich machen. In dem Zuſtande, in wel¬ chem Apollonius ſich jetzt befand, konnte ihm der Tod eher erwünſcht ſein, als ſchrecklich; dann hatte aller Kampf, alle Gewiſſenspein, alle Sorge ein Ende; aber was ſollte aus dem Vater, was aus ihr und den Kindern werden? Und hatte er ſich nicht das Wort gegeben, ſie vor Schande und Noth zu bewah¬ ren? Dieſen neuen Kampf beendete die Mittheilung des Vaters, Fritz wolle nach Amerika. Aber ſie machte den alten Kampf nur ſchwerer, indem ſie dem Feinde neue Kräfte gab. Er wußte freilich, daß er entſchloſſen war, die Wünſche, die er verdammen mußte, nicht zur That werden zu laſſen. Aber die Wünſche ſelbſt! Wenn kein äußeres Hinderniß mehr ihrer Er¬ füllung im Wege ſtand, mußte ihre Gewalt da nicht wachſen? Die Gewiſſensvorwürfe mit ihnen? Und die Entfernung von dem Orte, wo ſie in der täglichen Nähe einen unerſchöpflichen Erneuerungsquell hatten, machte wiederum die Erfüllung des Wortes, das er ſich gegeben, der Pflicht, die ihm ohne das gegebene Wort oblag, unmöglich. Er war heftig aufgeregt und bedurfte Ruhe. Dieſen Vormittag noch mußte er die253 Umkränzung des Thurmdaches mit der Blechzier vol¬ lenden, und Fahrzeug, Flaſchenzug, Ring und Leiter wieder herabnehmen. Sein Tritt mußte feſt, ſein Auge klar ſein. Für die einzige Stunde, bis der Arbeitstag begann, wollte er ſich nicht erſt ausziehn und zu Bett legen. Er hatte ſich bis jetzt des Sophas noch nicht bedient, darauf zu liegen. Er vermied Alles, was zur Verweichlichung führen konnte; ein gleich ſtarker Beweggrund war ſein Bedürfniß geweſen, Dinge um ſich zu haben, die er liebend hüten, an denen er bürſten und poliren konnte. Auch in dem Zuſtand von Verſtörung und Ermüdung, worin er vom Vater kam, vergaß er dieſe Schonung nicht. Er fuhr unwillkühr¬ lich mit leiſe liebkoſender Hand über den Bezug des Sophas und ſetzte ſich dann auf den hölzernen Stuhl, worauf er beim Schreiben ſaß. Hier kam ihm der Schlaf früher, als er es erwartet. Aber es war kein Schlaf, wie er ihn bedurfte; es war ein ununterbro¬ chener aufregender Traum. Chriſtiane lag in ſeinen Armen wie geſtern, er kämpfte wieder, aber diesmal ſiegte er nicht; er preßte ſie an ſich. Da ſtand der Bruder neben ihnen, und ſie ſtanden nicht mehr auf dem Gange zwiſchen Schuppen und Haus, ſondern oben am Thurmdach auf der fliegenden Rüſtung. Der Bruder wollte ihm die Beſinnungsloſe aus den Armen reißen, um ſie zu mißhandeln; er warf im ſchmerzlichen Zorne dem Bruder Alles vor, was er an254 ihm und ihr gethan und im Kampfe um das Weib ſtieß er ihn von der Rüſtung. Er erwachte. Er wollte munter bleiben, um den Traum nicht noch einmal durchträumen zu müſſen. Als er die Augen öffnete, war es Tag, und Zeit, an die Arbeit zu gehen. Er war aufgeregter erwacht, als er vom Vater gekommen. Er ſtand auf. Er hoffte, vor der friſchen Morgenluft, vor der ernüchternden Wirkung des Waſſers, das er ſich nach ſeiner Gewohnheit über Kopf und Arme goß, würden die Bilder des Traumes, welche die Lebhaf¬ tigkeit der alten Wünſche, und damit der Gewiſſens¬ vorwürfe über ſie, noch immer ſteigerten, von ihm in ſein Stübchen zurückfliehn. Aber es geſchah nicht; ſie gingen mit ihm und ließen ihn nicht los. Selbſt über der Arbeit nicht. Immer wehte der Hauch des war¬ men Mundes an ſeiner Wange; immer fühlte er ſich in ihrem ſchwellenden Umfangen, immer quollen ihm die leidenſchaftlichen Vorwürfe gegen den Bruder, der bei ihm ſtand, aus dem Herzen herauf. Er kannte ſich nicht mehr. Zu den Vorwürfen, die er ſich des¬ halb machen mußte, kam noch die Unzufriedenheit, daß er ſich nicht mit ſeiner ganzen Aufmerkſamkeit bei der Arbeit wußte. Sonſt hatte er wie ſeine eigene heitere Tüch¬ tigkeit in ſeine Arbeit mit hineingearbeitet, und dieſe mußte gut und dauerhaft ausfallen. Heute kam's ihm vor, als hämmerte er ſeine unrechten Gedanken hinein, als hämmerte er einen böſen Zauber zurecht,255 und die Arbeit könne nicht taugen, nicht haltbar wer¬ den. Der Schieferdecker muß beſonnen arbeiten. Der Mann, der heut eine Reparatur unternimmt, muß ſich auf die Berufstreue deſſen, der Jahrzehnte, vielleicht ein Jahrhundert vor ihm hierſtand, verlaſſen. Die Ungewiſſenhaftigkeit, die heute einen Dachhacken lieder¬ lich befeſtigt, kann den Braven, der nach fünfzig Jah¬ ren ſeine Leiter an den Hacken hängt und ſie beſteigt, in den Tod ſtürzen. Es war nicht einzuſehn, daß eine Nachläſſigkeit, ein Verſehn in der Arbeit, wie er ſie heute vollendete, eine ſo ſchwere Folge nach ſich ziehen ſollte, aber ſeine natürliche ängſtliche Genauig¬ keit war noch von ſeinen übrigen Kräften in ihre krankhafte Spannung mit hineingezogen. Die Ah¬ nung, er hämmere in ſeiner Zerſtreuung ein künftiges Unheil fertig, drohte als dunkle Wolke hinter dem Kampfe ſeines Gewiſſens mit den Bildern ſeines ſünd¬ haften Traums.

Er war fertig. Blendend glänzte die neue Blech¬ zier in der Sonne um die dunkle Fläche des Schie¬ ferdachs. Auch der Ring, der Flaſchenzug, das Fahr¬ zeug und die Leiter waren entfernt. Die Arbeiter, die die Leiter während des Losknüpfens und Herabſteigens gehalten, waren wieder gegangen. Apollonius hatte die fliegende Rüſtung und die Stangen, worauf ſie geruht, vom Dachgebälke abgelöſt und ſtand allein auf dem ſchmalen Brette, das den Weg vom Balken¬256 kreuze nach der Ausfahrthür hin bildete. Er ſtand ſinnend. Es war ihm, als hätte er irgendwo Nägel einzuſchlagen vergeſſen. Er ſah in die Schiefer - und Nagelkaſten ſeines Fahrzeugs, das neben ihm über einem Balken hing. Ein heimlicher, haſtiger Schritt kam unter ihm die Thurmtreppe heran. Er achtete nicht darauf; denn eben ſah er im Schieferkaſten eine Bleiplatte zurückgeblieben liegen. Er hatte nur ſoviel Bleibleche mit ſich heraufgenommen, als er brauchte; eine war alſo von ihm vergeſſen worden; in der Zer¬ ſtreuung hatte er eine Befeſtigungsſtelle übergangen. Aus der Ausfahrthür ſah er an der Thurmdachfläche hinab und hinauf. War der Fehler auf dieſer Thurm¬ ſeite geſchehn, ſo ließ er ſich vielleicht ohne Fahrzeug beſſern. Er brauchte vielleicht nur die Leiter, um zu der Stelle zu kommen. Und ſo war es auch. Etwa ſechs Fuß hoch über ihm, nahe dem Dachhaken, hatte er die Schieferplatte herausgenommen, aber vergeſſen, ſie durch die Bleiplatte zu erſetzen und die Blechguir¬ lande mit Nägeln darauf zu befeſtigen. Unterdeß wa¬ ren die heimlichen Schritte immer näher gekommen; jetzt hatte der eilende Fuß, dem ſie gehörten, das Ende der Steintreppen erreicht und ſtieg die Leitertreppe nach dem Dachgebälke herauf. Die Uhr unter ihm hob aus. Es war auf zwei. Apollonius hatte noch nicht Mittag gemacht; aber, war er in ſeiner Arbeit einem Fehler auf die Spur gekommen, dann ließ es ihm257 nicht Ruh, bis er ihn entfernt. Er war zurückgegan¬ gen, um die Leiter herbeizuholen. Dieſe lag neben dem Fahrzeug auf dem Balken. Da, indem er ſich danach herabbeugt, fühlt er ſich ergriffen und mit wilder Gewalt nach der Ausfahrthür zugeſchoben. Unwillkürlich faßte er mit der Rechten die untere Kante eines Balkens ſeitwärts über ihm; mit der Linken ſucht er vergebens nach einem Halt. Durch dieſe Be¬ wegung wendet er ſich dem Angreifer zu. Entſetzt ſieht er in ein verzerrtes Geſicht. Es iſt das wild¬ bleiche Geſicht ſeines Bruders. Er hat keine Zeit, ſich zu fragen, wie das jetzt hierher kommt. Was willſt du? ruft er. Was er auch erfahren, er kann ſich ſelbſt nicht glauben. Ein wahnwitziges Lachen ant¬ wortet ihm: Du ſollſt ſie allein haben, oder mit hin¬ unter! Fort! ruft der Bedrohte. Im zornigen Schmerze ſind all die Vorwürfe gegen den Bruder in ſein Geſicht heraufgeſtiegen. Mit ſeiner ganzen Kraft ſtößt er mit der freien Hand den Drängenden zurück. Zeigſt du endlich dein wahres Geſicht? höhnt dieſer noch wüthender. Von jeder Stelle haſt du mich ver¬ drängt, wo ich ſtand; nun iſt die Reih an mir. Auf deinem Gewiſſen ſollſt du mich haben, du Federchen¬ ſucher! Wirf mich hinunter, oder du ſollſt mit! Apollonius ſieht keine Rettung. Die Hand erlahmt, mit der er ſich nur mühſam anhält an der ſcharfen Kante des ſtarken Balkens. Er muß den Bruder anLudwig, Zwiſchen Himmel und Erde. 17258den Armen faſſen mit ſeiner ganzen Kraft, ihn herum¬ drehen und hinunterſtürzen, oder der Bruder reißt ihn mit hinunter. Doch ruft er: Ich nicht! Gut! ſtöhnt Jener. Auch das willſt du auf mich wälzen! Auch dazu willſt du mich bringen! Nun iſt's mit dei¬ ner Scheinheiligkeit am End '. Apollonius würde einen andern Halt ſuchen, wüßt' er nicht, der Bruder benutzt den Augenblick, wo er den alten läßt. Und ſchon ſtürzt der mit wildem Anlauf heran. Apollonius 'Hand rutſcht von der Balkenkante ab. Er iſt verloren, findet er keinen neuen Halt. Er kann vielleicht im Sprunge den Balken mit beiden Händen umfaſſen, aber dann ſtürzt den Bruder, den kein Widerſtand mehr aufhält, die Gewalt des eigenen Anlaufes durch die Thür. Da ſieht er im Geiſte den alten, braven, ſtolzen Vater, ſie und die Kinder; ihm kommt das Wort, das er ſich gab; er iſt der einzige Halt der Seinen; er muß leben. Ein Schwung, und er hat den Balken im Arme; in demſelben Augenblicke ſtürzt der Bruder vorbei. Die Gewichte tief unter ihnen raſſeln, und es ſchlägt zwei Uhr.

Die Dohlen, die der Kampf aus ihrer Ruhe ge¬ ſtört, ſchießen wild hernieder bis zur Ausſteigethür, und ſchweben in krächzender Wolke dort. Tief unter ihnen hört man den Fall eines ſchweren Körpers auf dem Straßenpflaſter. Ein Aufſchrei ſchallt zugleich von allen Seiten. Ein Zuſammeneilen, ein Hände¬259 ineinanderſchlagen geſchieht. Bleiche lebende Geſichter ſehn auf ein bleicheres todtes herab, das blutig auf dem Straßenpflaſter liegt. Dann verbreitet ſich die bleiche Haſt, das Aufſchrein, das Zuſammeneilen, das Händeineinanderſchlagen vom Kirchhof wie ein Wirbel¬ wind durch die Straßen bis in die entfernteſten Win¬ kel der Stadt. Aber oben hoch die Wolken am Him¬ mel achten es nicht und gehn unberührt darüber hin weiter ihren großen Gang. Sie ſehen des ſelbſtge¬ ſchaffenen Elends ſo viel unter ſich, daß das einzelne ſie nicht bewegen kann.

Es hat Alles auf der Welt ſeinen Nutzen. Wenn nicht für den, der es treibt oder an ſich hat, ſo doch für Andere. So wurde nun, was Schande über das Nettenmair'ſche Haus gebracht, zum Verhüter größerer Schande. Die Trunkſucht Fritz Nettenmair's war in der ganzen Stadt bekannt; Alle hatten ihn ſchon be¬ rauſcht geſehn; kein Wunder, daß Jeder, der den Tod Fritz Nettenmair's erfuhr, ihn jenem Laſter auf die Rech¬ nung ſtellte. Dieſe Mühe hatten eigentlich nur die erſten; die andern erfuhren ſchon die fertige Geſchichte. Es war gut, daß Niemand außer dem Nettenmair'ſchen Hauſe davon wußte, daß er nach Amerika gewollt, und daß er ſelbſt, um bei ſeiner Rückkehr weniger auf¬17 *260zufallen, ſich in ſeinen Arbeitskleidern, nur den Mantel übergeworfen, in den Poſtwagen geſetzt hatte. Der Mantel war unterwegs liegen geblieben, und die ein Recht auf ſeine Auslieferung hatten, meldeten ſich natürlich nicht dazu. In den bloßen Arbeitskleidern war er zurückgekehrt. Wer von ſeiner Abreiſe wußte, ſetzte voraus, er ſei zuerſt in ſeinem Hauſe geweſen und habe ſich da umgekleidet; wer auf dem Rückweg ihm begegnet war, hatte gemeint, er komme vom Schieferbruch oder irgend ſonſt von einer Arbeit oder Arbeitsrückſprache. Es fiel Niemand ein, rückwärts auf dergleichen kaum beachtete Umſtände Gewicht zu legen, da es nicht galt, die Geſchichte erſt zuſammen¬ zuſetzen, da man ſie ſchon fertig erhielt. Dazu hatte er vor der That an ſeinem gewöhnlichen Zerſtreuungs¬ orte ſtark getrunken und mit ſeiner Wagehalſigkeit ge¬ prahlt. Darin hatte er von je, ſeiner Natur nach, die höchſte Eigenſchaft eines vollkommenen Schieferdeckers geſehn und in der Zeit ſeiner Thätigkeit genug Beweiſe gegeben, die der Oeffentlichkeit nicht unbekannt geblieben waren, daß er jene Eigenſchaft beſaß. Dann hatte er geäußert, jetzt wolle er ſein Meiſterſtück machen, und war ſtark berauſcht von der Schenke nach Sankt Georg gegangen. Alles Umſtände, die herumkamen und die einmal gefaßte Meinung nur beſtätigten. Ein glück¬ licher Zufall hatte alle Arbeiter von Sankt Georg entfernt; von dem Kampfe vor dem Sturz wußten261 außer Apollonius nur die Dohlen, die dort wohnten. Der Bauherr hatte ſogleich, nachdem er die Geſchichte erfahren, ſeinen Liebling aufgeſucht und brachte dieſe auf den Thurmboden, wo er den Erſchöpften ſitzend fand, ſchon völlig fertig mit. So fiel es Niemand ein, dieſen zu fragen. Man erzählte ihm, anſtatt ihn erzählen zu laſſen. Es hatte ihn bei ſeinem Schmerz in der Seele des Vaters gefreut, daß Niemand den wahren Sachverhalt ahnte; die Schande des Bruders und damit des ganzen Hauſes konnte Niemand helfen und den Vater tödten. Er ſchwieg daher über das, worum man ihn nicht fragte. Der alte Herr errieth, der verlorene Sohn hatte den Tod abſichtlich geſucht. Er fand, es war ſo gut. Alles, was er vernahm, bewies ihm, der Unglückliche wollte die Ehre ſeines Hauſes ſchonen. Dennoch ängſtete ihn die Möglichkeit, es möchten noch Umſtände bekannt wer¬ den, die den allgemeinen Irrthum berichtigen könnten. Natürlich aber ließ er ſich weder ſeine Meinung, noch ſeine Furcht abſehn. Er zeigte ſie ſelbſt Apollonius nicht, der, im Glauben, der alte Herr theile die Ueber¬ zeugung der ganzen Stadt, ihm nun auch verſchwieg, wovon er fürchten mußte, es würde den Vater un¬ nöthig erſchrecken und beängſtigen. So blieb die erſte Meinung unwiderlegt, die Gerichte fanden keinen An¬ laß, unterſuchend einzuſchreiten, und die Gefahr, die der Ehre der Familie gedroht, ging glücklich vorüber.

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Eines Abends ſah man denn die ſchwarze Bahre vor dem Hauſe mit den grünen Fenſterladen ſtehn, das darüber wegſah, um ſein roſiges Ausſehn zu recht¬ fertigen. Etwas entfernter ſtanden Frauen und Kinder in Gruppen zuſammen, bald leiſe flüſternd, bald voll Aufmerkſamkeit, die zeitweilig bis zur Ungeduld ſtieg. Dasſelbe Treiben, dieſelben Empfindungen, mit der die gebildetere Schicht der Bevölkerung des Augenblickes harrt, wo der Vorhang vor den rührenden Gebilden des Dichters aufrauſchen ſoll. Dasſelbe Bedürfniß hat die blauen Schürzen hierhergezogen, das dort die ſchön¬ ſten Gewänder der Stadt verſammelt. Zuweilen kommt ein ſchwarzer Mantel unter dreieckigem Hute in düſterer Gravität die Straße daher und tritt hinter der Bahre hinweg in's Haus. Und endlich geht die Thüre doppelt auf. Der Sarg ſteht auf der Bahre, das Leichentuch bedeckt beides; leiſe und in gleichmäßiger Bewegung hebt ſich die ſchwarze wallende Maſſe; nun iſt ſie an ihrer Stelle, denn die Träger rücken den Hut zurecht. Und nun bewegt ſich's ſchwankend, flatternd. Obenauf blitzt der Deckhammer, den Valentin polirt hat, und ſagt, was man jetzt der Erde zu übergeben geht, hat ehrlich zwiſchen Erde und Himmel handthiert. Die alten Weiber ſchwemmen mit ſüßen Thränen hinweg, was von Schmutz auf ſeinem Andenken liegt. Inner¬ lich geben ſie ſich das Wort, Niemand, den ſie daran hindern können, ſoll ein Schieferdecker werden. Es iſt263 ein gefährlich Handwerk, das Schieferdeckerhandwerk zwiſchen Himmel und Erde; das predigt der Mann, der unter dem ſchwarzen Flattern zwiſchen den Bretern liegt, ſo ſtumm er iſt, mit erſchütternder Beredſamkeit. Dann muſtern ſie den alten Herrn, den zwei Leid¬ tragende führen. Er ſieht aus wie der Geiſt des ehr¬ lichen Begräbniſſes ſelbſt. Doch über dem ſchlanken, hohen Apollonius neben dem würdigen Bauherrn, ver¬ geſſen ſie die ganze Milde, die ſie vorhin geübt; ſie graben den Todten wiederum aus den naſſen Todtenblumen heraus, womit ſie ſeine menſchliche Blöße bedeckt. Seinetwegen wär 'der Hammer über ihm voll dunkeln Roſts der Schande. Apollonius iſt's, dem er dankt, daß das Werkzeug ſo ehrenblank über ſeinem letzten Bette liegt. Und ob er's um ihn verdient hat? Das will keine ſagen. Könnte ſie der Todte hören vor den Bretern und dem ſchwarzen Geflatter darum, er hätte dem Bruder noch mehr zu verzeihn. Oder auch nicht zu verzeihn; er hatte ihm nichts verziehen, nicht was er an Apollonius, nicht was dieſer an ihm gethan. Und könnt' er vollends dem Bruder in das Herz ſehn, aus dem ſein Tod allen Groll verwiſcht, das ſich Vorwürfe macht, weil es einen Böſewicht ſah, wo es den unglücklichen Wahnſinnigen hätte bedauern müſſen, er ſteifte ſich noch tiefer in den Neid der Teu¬ fel. Dann kommt die junge Frau an die Reihe, und völlig in der Weiſe ihres Geſchlechtes ſchlagen die264 Klageweiber in Eheſtifterinnen um. Und wahrlich! ſie haben nicht unrecht; ein ſchöneres Paar, eines das beſſer zuſammenpaßte, das ſeiner ſo werth wäre, wie dieſes, fänden auch tiefere Beobachter im Bereich der ganzen Stadt nicht aus. Der Zug ging am rothen Adler vorbei. Es war ſchon wieder ein Ball da oben, bei dem Fritz Nettenmair fehlte; gewiß ein lederner Ball! Da iſt er ja! da iſt er ja! klang dem Zuge entgegen und begleitete ihn unermüdlich die ganze Straße entlang. Aber famos konnte es nicht werden trotzdem. Es war derſelbe Weg, den Fritz Nettenmair zurückging, nachdem er den Geſellen begleitet hatte. Damals ſah er im Geiſte den Bruder unter dem Deckhammer und dem wallenden ſchwarzen Behänge und er ging leid¬ tragend hinter ihm drein. Nun war's umgekehrt Wirklichkeit geworden, aber Apollonius fühlte wirklich, was der Bruder nur zur Schau trug. Und fort ging's immer die Straßen hin, die Fritz Nettenmair damals hergekommen war. Und draußen vor dem Thore zer¬ floſſen wiederum die Weiden in Nebel oder Nebel ge¬ rann zu Weiden. Hüben und drüben trugen Nebel¬ männer Nebelleichen neben der wirklichen her. An dem Kreuzweg, wo Fritz Nettenmair damals den Geſellen im Nebel verſchwinden ſah, verſchwand er heute ſelbſt darin. Ob es ihn freuen würde, ſagte ihm einer, er wird den Freund wiederſehn? Er wird ihn wieder be¬ gleiten wohin? Eben tragen ſie in Tambach ihn265 hinaus. Sie haben viel zu ſprechen mit einander. Fritz Nettenmair kann dem Geſellen ſagen, wie ſorgſam er den Gedankenkeim, den jener ihm gegeben, bis zum Zerſchneiden des Seiles ausgebrütet hat, und der Ge¬ ſell dem ehemaligen Herrn, daß er unter dem Seil¬ ſchnitt verunglückte, den dieſer gemacht. Der Geiſtliche, der Fritz Nettenmair die Grabrede hält denn Fritz Nettenmair wird mit allen Ehren begraben, die ſeinem Stande ziemen und für Geld zu haben ſind weiß nicht, welch fruchtbares Thema ihm entgeht.

Das letzte Wort der Grabrede war verklungen, die letzte Scholle auf Fritz Nettenmair's Sarg gefallen, die Leidtragenden waren heimgekehrt; es war Nacht geworden und wieder Tag, und wieder Nacht geworden und wieder und wieder Tag und Nacht; andere Dinge hatten Fritz Nettenmair's Unglücksfall aus dem Munde der Stadt verdrängt und noch andere dieſe. Auf ſein Grab war ein Stein geſetzt und darauf ſein ehrlicher Tod nochmals vom Bildhauer beſcheinigt und der verge߬ lichen Nachwelt mit Meißelſtreichen eingeſchärft worden. Man ſollte meinen, die düſtere Wolke über dem Haus mit den grünen Fenſterladen müßte ſich in dem Wetter¬ ſchlag entladen haben, der den ältern Sohn vom Thurmdache von Sankt Georg auf das Straßenpflaſter niedergeſchmettert, und das Leben darin nun ſo heiter ſich geſtalten, als ſein äußerer Anblick verſpricht. Ja, man konnte es meinen, wenn man die junge Wittib266 oder ihre Kinder ſah! Die drei ſchnellkräftigen Weſen hoben die niedergedrückten Köpfchen wieder, ſobald die Laſt entfernt, war, die ſie niedergedrückt. Die junge Wittib ſah nicht aus, als wäre ſie ſchon Frau, noch weniger, als wäre ſie ſchon eine unglückliche Frau ge¬ weſen; ſie erſchien von Tag zu Tag mehr ein bräut¬ lich Mädchen oder eine mädchenhafte Braut. Und ſollte ſie nicht? Wußte ſie nicht, daß er ſie liebte? liebte ſie ihn nicht? Mußte ſie nicht das Necken Dritter darauf bringen, fiel es ihr auch ſelbſt nicht ein, daß ihre Liebe nun eine erlaubte war? Wie oft mußte ſie ſich fragen laſſen, ob ſie ſchon an ihrer Ausſtattung nähe? die Kinder fragen hören, ob ihnen ein neuer Papa auch recht ſei? Konnte ſie anders darauf antworten, als mit ſtummem Erröthen und indem ſie raſch von etwas Anderem zu ſprechen begann? Und ſo machen es bräutliche Mädchen und mädchenhafte Bräute; daß weiß Jeder. Und die Heirath war ſo natürlich, ja nach den hergebrachten Begriffen ſo noth¬ wendig, daß die Ernſteren und die über das Necken hinaus waren, dieß unausgeſprochen vorausſetzten und es eben deßhalb nicht ausſprachen, weil es ſich ihnen von ſelbſt verſtand. Auch der alte Herr ließ es in ſeiner diplomatiſchen Art zu reden an dergleichen Andeutungen nicht fehlen. Chriſtiane ſah den Mann, von dem die Leute meinten, er könne, ja er müſſe ſie heirathen, noch immer hoch über ſich; es war ihr in dieſer Beziehung, wie in allen, Bedürfniß, Pflicht und Wolluſt, ſich in267 ſeinen Willen zu ergeben, den ſie den reinſten und den heiligſten wußte. Wenn ſie trotz dieſer Ergebung Wünſche und Hoffnungen nährte, wer wird es nicht natürlich finden? wer möchte es ihr verdenken?

Der alte Herr war überzeugt, hätte er das Regi¬ ment behalten, es wäre Alles anders gekommen. Hatte er doch, was Apollonius verdorben, noch zu dem beſten Ende geführt, das möglich war. Die Noth hatte ihm das Heft noch einmal in die Hand gedrückt und er wollte es nicht wieder fahren laſſen. Die durch den glücklichen Erfolg erhöhte Meinung von ſich hatte ihn vergeſſen laſſen, daß er ſchon zweimal zu der Einſicht ge¬ zwungen worden war, eine Leitung im blauen Rocke ſei nur dann möglich, wenn man nicht mit fremden Augen ſehen müſſe. Er ſollte es zum drittenmal er¬ fahren. Es war kein Wunder, daß er Apollonius 'ſeitherigem Handeln falſche Beweggründe unterlegte. Schon als er ſich der Tüchtigkeit des Sohnes gefreut hatte, war ihm zugleich die Furcht gekommen, die Va¬ lentin's Geſtändniß der Verſchweigung ihm zur Wahr¬ heit machte. Er ſah hinter der vorgegebenen Schonung des Sohnes um ſo natürlicher Eigenmächtigkeit und die Luſt, ein verdecktes Spiel zu ſpielen, als er ihn dabei nur an dem eigenen Maßſtabe maß. Es war das Nächſtliegende, daß er in dem Sohne die eigenen Neigungen vorausſetzte. Schon damals hatte er mit einer Art Eiferſucht empfunden, daß er ſelbſt der268 tüchtigen Jugend des Sohnes gegenüber in ſeiner Blind¬ heit nichts mehr war und nichts mehr konnte. Der Arg¬ wohn, den ſeine Hülfloſigkeit ihn gelehrt, mußte ihm ſagen, daß Apollonius trotz ſeines mühſamen Verbergens dahin¬ ter gekommen war, und ſo ſah er auch die Verachtung mit unter den Beweggründen von des Sohnes Handeln.

Seit, in der Nacht vor ſeines älteren Sohnes ge¬ waltſamem Tode, Herr Nettenmair wiederum als Leiter an die Spitze des Geſchäftes getreten war, berichtete ihm Apollonius täglich über den Fortgang der laufen¬ den Arbeiten und holte ſeine Befehle ab. Iſt eine Arbeit einmal in ihr Geleis gebracht, dann führt ſie ſich ſelbſt und es bedarf von Seite des Leitenden nur Beaufſichtigung und gelegentliches Antreiben. Soll aber eine neue unternommen werden, dann gilt es die Geleiſe erſt zu ſuchen, in denen ſie laufen kann, und aus dieſen wieder das kürzeſte, das am ſicherſten und gewinnvollſten zum Ziele führende auszuwählen. Der Arbeitgeber erſchwert oft die Aufgabe, indem er ſelbſt mit hineinſprechen will, oder beſondere Nebenwünſche hat, die der Meiſter zugleich miterfüllen ſoll. Ort, Zeit und Material machen ihre Selbſtändigkeit und Eigenartigkeit geltend. Nicht jede Arbeit kann man jedem Arbeiter anvertraun; über der neuen darf der Meiſter nicht die bereits laufenden vergeſſen. Wahl, richtige Anſtellung und Vertheilung der Kräfte haben ihre Schwierigkeit. Entfernung, Wetter ſprechen dann269 auch ihr Wort dazu. All das will überwunden ſein, und ſo überwunden, daß neben dem Wunſche und dem Vortheil des Baugebers auch Handwerksehre und Vortheil des Meiſters nicht in's Gedränge geräth. Dazu braucht's offene, klare Augen von raſchem Ueberblick, der ſich Nichts entgehen läßt. Daß Apol¬ lonius dieſe beſaß, erkannte der alte Herr ſchon in deſſen erſter Meldung. Dieſe betraf eine beſonders ſchwierige Aufgabe. Apollonius ſtellte ſie ihm mit ſolcher Klarheit dar, daß der alte Herr die Dinge mit leiblichen Augen zu ſehen glaubte. Es war ein Fall, in welchem den alten Herrn ſeine Erfahrung im Stiche ließ. Apollonius machte er keine Schwierigkeit. Er zeigte drei, vier verſchiedene Wege, ihm gerecht zu werden, und ſetzte den alten Herrn in eine Verwirrung, welche dieſer kaum zu verbergen wußte. Ueber die knöcherne Stirn unter dem deckenden Augenſchirm zog eine wunderliche wilde Jagd der widerſprechendſten Empfindungen, Freude und Stolz auf den Sohn, dann Schmerz, wie er ſelbſt nun doch nichts mehr war, doch nichts mehr konnte. Dann Scham und Zorn, daß der Sohn das wußte, und über ihn triumphire; Luſt, ihn zu bändigen, und ihm zu zeigen, daß er noch Herr und Meiſter ſei. Aber wenn er ſich durchſetzen wollte: würde der Sohn gehorchen? Er konnte nichts Beſſeres erſinnen, als der Sohn ihm vorgelegt hatte; befahl er etwas Anderes, ſo beſtärkte er den Sohn in ſeiner270 Nichtachtung; und der gab ſich das Anſehn, des Vaters Befehl zu vollziehn, und that doch, was er ſelber wollte. Und er konnte das nicht hindern, ihn nicht zwingen. Er mußte ja glauben, was der Sohn und was die Leute ihm ſagten. Hatte er nicht anderthalb Jahre lang glauben müſſen, was der Sohn ihm ſagte, und die Leute hatten dem Sohne geholfen? Und ſtellte er einen Fremden dem Sohne zum Beobachter; war er der Treue des Fremden gewiß? Und wenn er das ſein konnte; ſtellte er nicht ſelbſt dann erſt ſeine Hülf¬ loſigkeit in's Licht, daß die ganze Stadt erfuhr, er war ein blinder Mann, der nichts mehr war und nichts mehr konnte, und mit dem man ſpielte, wie man wollte? Es blieb ihm kein Mittel, auch nur den Schein des Regiments beizubehalten, als ſeine diplomatiſche Kunſt. Mit grimmvoller Stimme gab er nun Befehle, die eigentlich unnöthig waren, weil ſie Dinge betrafen, die ſich von ſelbſt verſtanden und ohne Befehl gethan worden wären. Bei neuen Arbeiten, die erſt in Gang gebracht werden mußten, mißbilligte er mit Zorn die Vorſchläge Apollonius; und der Befehl, den er endlich gab, lief doch in der Hauptſache auf die Annahme des Vorſchlags hinaus, der Apollonius als der zweck¬ mäßigſte erſchienen war. Hintennach ſtellte er ſich bei ſich ſelber nach Möglichkeit wieder her; er fand etwas aus, das er für klüger hielt, als den Vorſchlag Apol¬ lonius '; war er überzeugt, daß, wenn er nur ſein Ge¬271 ſicht noch hätte, Alles doch noch ganz anders gehen würde, dann konnte er ſich der Freude und dem Stolz über die Tüchtigkeit des Sohnes ungehindert hingeben, bis er wiederum in die zornige Nothwendigkeit verſetzt wurde, ſeine diplomatiſche Kunſt anzuwenden. Apol¬ lonius ahnte ſo wenig von dem Zwang, den er, ohne zu wollen, dem alten Herrn auflegte, als von deſſen Stolz auf ihn. Ihn freute es, daß er dem Vater von den Geſchäften nichts mehr verheimlichen mußte und daß ſein Gehorſam der Erfüllung ſeines Wortes nicht im Wege ſtand. Auch von dieſer Seite her wurde der Himmel über dem Hauſe mit den grünen Laden immer blauer. Aber der Geiſt des Hauſes ſchlich noch immer händeringend darin umher. So oft es Zwei ſchlug in der Nacht, ſtand er auf der Emporlaube an der Thür von Apollonius' Stübchen und hob die bleichen Arme wie flehend gegen den Himmel empor.

Apollonius hielt ſich, war er daheim, noch immer zurückgezogen auf ſeinem Stübchen. Der alte Valentin brachte ihm das Eſſen wie ſonſt dahin. Es konnte das nicht Wunder nehmen. Das Geſchäft hatte ſich unter ſeiner fleißigen Hand vergrößert. Es wollte gegen früher mehr als doppelt ſoviel geſchrieben ſein. Der Poſtbote brachte ganze Stöße von Briefen in das272 Haus. Dazu hatte Apollonius in der letzten Zeit das vortheilhafte Anerbieten des Beſitzers angenommen und die Schiefergrube gepachtet. Er verſtand von Köln her den Betrieb des Schieferbaus und hatte ſich einen frühern Bekannten von daher verſchrieben, den er des Faches kundig und im Leben zuverläſſig wußte. Seine Wahl erwies ſich gerathen; der Mann war thätig; aber Apollonius erhielt trotzdem durch die Pach¬ tung einen bedeutenden Zuwachs von Arbeit. Der alte Bauherr ſah ihn zuweilen bedenklich an und meinte, Apollonius habe doch ſeinen Kräften zuviel vertraut. Der jungen Wittib fiel es nicht auf, daß Apollonius nur wenig in die Wohnſtube kam. Die Kinder, die er öfter zu ſich rufen und kleine Dienſte verrichten ließ, wobei ſie lernen konnten, unterhielten den Verkehr. Und ſie konnten bezeugen, daß Apollonius keine Zeit übrig hatte. Sie ſelber war deſto öfter auf ſeiner Stube; doch nur, wenn er nicht daheim war. Sie ſchmückte Thüren und Wände mit Allem, was ſie hatte, und wovon ſie wußte, daß er es liebte, und hielt ſich ganze Stunden lang arbeitend da auf. Aber auch ſie be¬ merkte die Bläſſe ſeines Angeſichts, die jedesmal gewach¬ ſen ſchien, ſeit ſie ihn nicht geſehn. Wie ſie nun ganz ſein Spiegel geworden war, ſpiegelte ſie auch dieſe Bläſſe zurück. Sie hätte ihn gern erheitert, aber ſie ſuchte ſeine Nähe nicht. Ihr ſchien, als ob ihre Nähe das Entgegengeſetzte von dem auf ihn wirke, was ſie273 zu wirken wünſchte. Er war immer freundlich und voll ritterlicher Achtung gegen ſie. Das beruhigte ſie wenigſtens über die Furcht, die ihr bei ſeinem Sich¬ zurückziehn vor ihr am nächſten lag. Wie ſie alle Tugenden, die ſie kannte, in ihn hineingeſtellt wie in einen Heiligenſchrein, hatte ſie, die ihr die erſte von allen war, die Wahrhaftigkeit nicht vergeſſen. Und ſo wußte ſie, er zwang ſich nicht, ihr Achtung zu zeigen, wenn er ſie nicht empfand. Er ſcherzte ſelbſt zuweilen, beſonders, ſah er ihren Blick ängſtlich auf ſeinem immer bleichern Geſichte haften; aber ſie merkte, daß trotzdem ihre Geſellſchaft ihn nicht heiterer, nicht ge¬ ſunder machte. Sie hätte ihn gern gefragt, was ihm fehle. Wenn er vor ihr ſtand, wagte ſie es nicht. Wenn ſie allein war, dann fragte ſie ihn. Ganze Nächte ſann ſie auf Worte, ihm das Geſtändniß abzu¬ locken, und ſprach mit ihm. Gewiß! hätte er ſie weinen gehört, gehört, wie immer ſüßer und inniger ſie ſchmeichelte und bat, die ſüßen Namen gehört, die ſie gab, er hätte ſagen müſſen, was ihm fehlte. Ihr ganzes Leben war dann auf dem Wege zwiſchen Herz und Mund; trat es ihr einmal in's Ohr, hörte ſie, was ſie ſprach, dann erröthete ſie und flüchtete ihr Erröthen vor ſich ſelbſt und der lauſchenden Nacht tief unter ihre Decke.

Dem alten braven Bauherrn vertraute ſie ihre Sorge an. Iſt's ein Wunder, ſagte der eifrig;Ludwig, Zwiſchen Himmel und Erde. 18274 wenn einer anderthalb Jahre lang den Tag ſich über Gebühr anſtrengt und die Nacht bei Büchern und Briefen aufſitzt? Dazu die immer ſteigende Sorge durch den Gott verzeih's ihm, er iſt todt, und von den Todten ſoll man nichts Böſes reden durch den Bruder; am Ende noch der Schreck, der mich drei Tage krank gemacht hat, über den und wenn ſeine Wittwe dabei iſt ich hab 'ihn nie beſonders leiden können, und zuletzt am wenigſten. So iſt die Jugend. Ich hab' ihn hundertmal gewarnt, den braven Jungen. Und nun noch den vermaledeiten Schieferbruch! Ei was Gewiſſenhaftigkeit! Das iſt keine, die nicht an die Geſundheit denkt! Der alte Bauherr hielt der jungen Wittib eine ganze lange Strafpredigt, die einem galt, der ſie nicht hörte. Dann kamen ſie überein, Apollonius müſſe einen Doktor annehmen, woll 'er oder nicht; und der Bauherr ging auf der Stelle zu dem beſten Arzte der Stadt. Der Arzt verſprach, ſein Mög¬ lichſtes zu thun. Er beſuchte auch Apollonius, und dieſer ließ ſich des Arztes Bemühungen gefallen, weil die es wünſchten, die er liebte. Der Arzt fühlte den Puls, kam wieder und wieder, verſchrieb und verſchrieb; Apollonius wurde nur noch bleicher und trüber. End¬ lich erklärte der tüchtige Mann, hier ſei ein Uebel, gegen welches alle Kunſt zu kurz falle. So tief hinein, als wo dieſe Krankheit ſitze, wirke keins von ſeinen Mitteln.

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Apollonius hatte deßhalb den Arzt ſich verbeten. Er hatte das wohl gewußt: für ſeine Krankheit gab es keinen Arzt. Wo der Bauherr die Urſach davon ſuchte, lag ſie nur zum Theile. Die Ueberanſtren¬ gung hatte blos den Boden für die Schmarozerpflanze beſtellt, die an Apollonius innerm Lebensmark zehrte. In Gemüthsbewegungen lag ihr Keim, aber nicht in denen, die der Bauherr wußte. Nicht in dem Schrecken über des Bruders Unglück, ſondern in dem Zuſtande, worin der Schreck ihn traf. Die erſten Zeichen der Krankheit ſchienen körperlicher Natur. In dem Augen¬ blick, wo der Bruder neben ihm vorbei in den Tod ſtürzte, hatten die Glocken unter ihnen Zwei geſchla¬ gen. Von da an erſchreckte ihn jeder Glockenton. Was ihm ſchwerere Beſorgniß erregte, war ein Anfall von Schwindel. Aller Schrecken jenes Tages hatte ihm die Unruhe nicht verdunkeln können, die ihn nicht losließ, wenn er eine Ungenauigkeit an einer Arbeit gefunden, bis ſie beſeitigt war. Jeder Glockenſchlag, der ihn erſchreckte, ſchien ihm eine Mahnung dazu. Schon den andern Morgen öffnete er, die Dachleiter in der Hand, die Ausfahrthür. Es war ihm ſchon auf¬ gefallen, wie unſicher ſein Schritt auf der Leitertreppe geworden war; jetzt, als er durch die Oeffnung die fernen Berge, die er ſonſt kaum bemerkte, ſich wun¬ derlich zunicken ſah, und der feſte Thurm unter ihm ſich zu ſchaukeln begann, erſchrack er. Das war der18 *176[276]Schwindel, des Schieferdeckers ärgſter, tückiſcher Feind, wenn er ihn plötzlich zwiſchen Himmel und Erde auf der ſchwanken Leiter faßt! Vergeblich ſtrebte er, ihn zu überwinden; ſein Vorhaben mußte heut aufgegeben ſein. So ſchwer war Apollonius noch kein Weg ge¬ worden, als der die Thurmtreppe von Sankt Georg herab. Was ſollte werden! Wie ſollte er ſein Wort erfüllen, wenn ihn der Schwindel nicht verließ! Noch denſelben Tag hatte er auf dem Nicolaithurme etwas nachzuſehn. Hier mußte er mehr wagen als dort; die Glocken ſchlugen, als er am gefährlichſten ſtand, vom Schwindel fühlte er keine Spur. Freudig eilte er nach Sankt Georg zurück; aber hier zitterte wieder die Treppen¬ leiter unter ſeinen Füßen, und wie er hinausſah, nickten die Berge wieder und ſchaukelte wieder der Thurm. Er war ſchon auf den unterſten Stufen der Treppe, als oben ein Stundenſchlag begann. Die Töne dröhn¬ ten ihm durch Mark und Bein, er mußte ſich am Ge¬ länder feſthalten, bis das letzte Summen verklungen war. Er machte noch Verſuch über Verſuch; er beſtieg alle Dächer und Thürme mit ſeiner alten Sicherheit; nur zu Sankt Georg wohnte der Schwindel. Dort hatte er ſeine böſen Gedanken in die Arbeit hineinge¬ hämmert; er hatte damals ſchon gefühlt, er hämmere einen Zauber zurecht, ein kommend Unheil fertig. Tag und Nacht verfolgte ihn das Bild der Stelle, wo er die Bleiplatte einzuſetzen und den Zierrath feſt zu na¬277 geln vergeſſen. Die Lücke war wie ein böſer Fleck, ein Fleck, wo eine Unthat begonnen oder vollbracht iſt, und kein Gras wächſt, und kein Schatten wird; wie eine offene Wunde, die nicht heilt, bis ſie gerächt iſt; wie ein leeres Grab, das ſich nicht ſchließt, eh 'es ſei¬ nen Bewohner aufgenommen hat. War nur die Lücke geſchloſſen, dann hatte der Zauber keine Macht mehr. Er konnte das einem Geſellen auftragen, aber der Ge¬ danke, einen Andern ſeine verwahrloſete Arbeit nach¬ beſſern zu laſſen, trieb das Roth der Scham auf ſeine bleichen Wangen. Und die Bleiplatte, von einem An¬ dern aufgenagelt, mußte wieder abfallen; die Lücke rief nach ihm, und nur er konnte ſie ſchließen. Oder den Geſellen faßte das Verderben, das er dort eingehäm¬ mert, der Schwindel, der dort wohnte, und ſtürzte ihn herab. Seit das Weib des Bruders in ſeinen Armen gelegen, führte er ein Doppelleben. Er ſchaffte den Tag lang außen, Nachts ſaß er in ſeinem Stübchen bei ſeinen Büchern auf; das ſpann ſich alles mechaniſch ab; er war trotz ſeines Kämpfens nur mit halber Seele dabei; die andere Hälfte hatte ihr Leben für ſich. Im¬ mer ſchwebte ſie mit den Dohlen um die Lücke an dem Thurmdach und brütete, welches kommende Unheil es ſei, das er fertig gehämmert jenen Morgen. Sie träumte den ſündhaften Traum wieder durch. Sie kämpfte den ſchrecklichen Kampf mit dem Bruder wieder durch. War es des Bruders Sturz, was er gehämmert hat? 278Dann fällt ihm ein, ob's nicht möglich geweſen, den Wahnſinnigen zu retten. Dann ſuchte er ängſtlich nach den Möglichkeiten, wie der Bruder zu retten ge¬ weſen, und ſchreckte doch zurück, dachte er, er könnte eine finden. So hatte ihn des Bruders Schuld aus ſeinen Fugen gezerrt. Aber auch in ſeinem Brüten zeigte ſich noch der Gegenſatz zu ſeines Bruders Natur. In jenem überwucherte die Selbſtſucht, die ſchlimme Anlage; in Apollonius überſpannte ſich, was Gutes in ihm war, ſeine Gewiſſenhaftigkeit, Anhänglichkeit und ſein Sauberkeitsbedürfniß. Er wälzte nicht ſeine Schuld ab von ſich auf den Bruder; er hob mit lie¬ bender Hand die Schuld des Bruders herüber auf ſich. Denn immer klarer wird es ihm, daß er den Bruder noch zuletzt vor dem Sturze retten konnte. Er hätte die Wege, die es gab, damals finden müſſen, war ſein Herz und Kopf nicht voll von den wilden verbotenen Wünſchen; hätte er dem Wahnſinnigen nicht gezürnt, den er bedauern ſollen. Ja, er hatte dem Bruder das Unheil fertig gehämmert mit ſeinen böſen Gedanken. Ohne die Gedanken war er früher mit ſeiner Arbeit fertig und der Bruder fand ihn nicht mehr auf dem Thurme; der Bruder kam zu ſpät und gewann Zeit, ſeinen Entſchluß zu bereu'n. Und war er noch oben, ſo war er der Stärkere, der Beſonnenere, und mußte Mittel finden, das Unheil zu verhindern. Auch im äußeren Benehmen zeigte ſich dieſer Gegenſatz mit dem279 Bruder. Wie dieſer immer ſelbſtſüchtiger, wilder und rückſichtsloſer geworden war, machte Appollonius das Seelenleiden immer milder und ſtiller. Er verlor über dem eigenen Zuſtande nicht das Mitgefühl mit frem¬ dem Leiden. Er bedauerte nicht ſich. Dachte er an die Menſchen, die ihm liebend nahe ſtanden, ſo war ſein Schmerz mehr ein Mitleid mit ihrem Mitleid. Selbſt ſein Sopha vergaß er nicht zu ſtreicheln; er that es, wie man einen Diener tröſtet, der das Un¬ glück ſeines Herrn als ſein eigenes fühlt. Natürlich, daß auch ihn die Leute mit der Heirath neckten, die ihnen nothwendig ſchien. Er mußte ſich ſagen, daß er dachte wie ſie, und daß ſeine Wünſche keine uner¬ laubten mehr waren. Aber daß ſie es einmal gewe¬ ſen, warf ſeinen Schatten herüber auf das vorwurfs¬ freie Jetzt. Seine Liebe, ihr Beſitz, ſchien ihm wie be¬ ſchmutzt. Was Verſtand und Liebe ſagen mochten, er fühlte in der Heirath eine Schuld. Daher kam's, daß Chriſtianens Nähe ihn nicht heiterer machte. Es gab Augenblicke, wo ſeine Verdüſterung ihm ſelbſt wie eine Krankheit vorkam, und er hoffte, ſie werde vorübergehn. Aber auch da trat er Chriſtianen nicht näher, ſo ſehr ſein Herz ihn zog. Er blieb gegen ſie wie damals, wo er den Knaben zwiſchen ſie und ſich geſtellt hatte. Die kleinſte Annäherung ſah er nach ſeiner Weiſe für eine Bindung an, und dachte er ſich die Heirath ent¬ ſchieden, ſo laſtete wiederum das Gefühl von Schuld280 auf ihm. Er rückte den Gedanken daran in eine un¬ beſtimmte Zukunft hinaus, dann fühlte er ſeinen Zu¬ ſtand erträglich. Er, der ſonſt ein unklares Verhält¬ niß nicht ertragen konnte! Darin aber war er ſich noch völlig gleich, daß er in ſeiner Vorſtellung eine mög¬ liche Schuld nur immer als die ſeine empfand. Sie blieb ihm unter allen Umſtänden heilig und rein.

Dem alten Herrn war in ſeinem äußern Ehrbegriff ein Zuſammenleben wie Apollonius 'und Chriſtianen's ohne kirchliche Weihe ein ſchweres Aergerniß. Apol¬ lonius konnte ohne Schande nur unter dem Namen ihres Gatten der jungen, ſchönen Wittib und ihrer Kinder Schützer und Erhalter ſein. Nach ſeiner Weiſe ſprach er ein Machtwort. Er beſtimmte die Zeit. Das unumgängliche Trauerhalbjahr war um; und in acht Tagen ſollte die Verlobung, drei Wochen ſpäter die Hochzeit ſein.

Das Leben in dem Hauſe mit den grünen Laden begann wieder ſchwül und ſchwüler zu werden; die neuen Wolken, die unſichtbar darum heraufgezo¬ gen, drohten einen herbern Schlag, als in dem die alten ſich entladen. Die junge Wittib durfte nun eine Braut ſcheinen. Sie that, wonach man ſie neckend ge¬ fragt hatte; ſie vervollſtändigte ihre Einrichtung. Halbe Nächte ſaß ſie ſchneidend und nähend über weißes Linnen und buntes Bettzeug gebückt. Es fielen Thrä¬ nen darauf, aber die Freude behielt immer weniger281 Antheil an dieſen Thränen. Sie ſah des geliebten Mannes Zuſtand ſtündlich ſich verſchlimmern und konnte darüber nicht im Irrthum ſein, daß die Heirath die Schuld davon trug. Je blaſſer und hinfälliger er wurde, deſto milder und achtungsvoller wurde ſein Benehmen gegen ſie. Ja, es war etwas darin, was wie ſchmerz¬ liches Mitleid und unausgeſprochene Abbitte eines Un¬ rechts oder einer Beleidigung ausſah, deren er ſich gegen ſie ſchuldig wiſſe. Sie wußte nicht, was ſie da¬ von denken ſollte; nur, daß ſie nichts denken durfte, was des Bildes, das ſie von ihm in ihrer Seele trug, unwürdig geweſen wäre. In ſeiner Gegenwart war ſie ſtill wie er. Sie ſah ſein ſtummes ſchmerzliches Brüten; aber erſt, wenn ſie allein war, und ihre Kin¬ der neben ihr ſchliefen, hatte ſie den Muth, ihn zu bitten. Stundenlang bat ſie dann wie ein Kind, er ſoll ihr doch ſagen, was ihm fehlt. Sie will es mit ihm tragen; ſie muß ja; iſt ſie nicht ſein?

Und Apollonius ſelbſt? Bis jetzt hatte er den Druck dunkeln Schuldgefühls, der ſich an den Gedanken der Heirath knüpfte, zu ſchwächen vermocht, wenn er unentſchieden den Entſchluß in unbeſtimmte Ferne hin¬ auswies. Dabei hatte ihm die Hoffnung geholfen, jenes Gefühl ſei eine krankhafte Anwandelung, die vorübergehen werde. Nun der alte Herr ſein Macht¬ wort geſprochen, war ihm jenes Mittel genommen. Das Ziel war beſtimmt; mit jedem Tage, mit jeder Stunde282 trat es ihm näher. Er mußte ſich entſcheiden. Er konnte nicht. Die Entzweiung ſeines Innern klaffte immer weiter auf. Wollte er dem Glücke entſagen, dann wich das Geſpenſt der Schuld, aber das Glück ſtreckte immer verlockendere Arme nach ihm aus. Es nahm ſeine Ehre zum Bündner. Der Vater entfernte ihn dann; wie ſollte er ſein Wort halten? Wo war ein Vorwurf, wenn er das Glück in ſeine Arme nahm? Der Vater wollte es; ſie liebt ihn und hat ihn immer geliebt, nur ihn; alle Menſchen billigen es, ja ſie for¬ dern es von ihm. Dann ſah er ſie, eh 'ſie ihm geraubt wurde, wie ſie das Glöckchen hinlegte für ihn, roſig unter der braunen, krauſen Locke, die ſich immer frei macht; dann bleich unter der Locke von den Mißhand¬ lungen des Bruders, der ſie ihm geraubt, bleich um ihn; dann zitternd vor des Bruders Drohungen, zit¬ ternd um ihn; dann lachend, weinend, voll Angſt und voll Glück in ſeinen Armen. Und ſo ſoll er ſie halten dür¬ fen, vorwurfslos, die ihm gehört! Aber durch ihr ſchwel¬ lendes Umfangen, durch alle Bilder ſtillen ſanften Glücks hindurch fröſtelt ihn der alte Schauder wieder an. So war's ſchon in ſeinem Traume, als er mit dem Bruder kämpfte um ſie, und ihn hinabſtieß von der fliegenden Rüſtung in den Tod. Er ſagt ſich, das war nur im Traum; was man im Traume that, hat man nicht gethan. Aber wachend hallten die wilden Gefühle des Traumes nach. Die böſen Gedanken283 machten ihn unfähig, den Bruder zu retten. Der Sturz des Bruders machte deſſen Weib frei. Er wußte das, als er den Bruder ſtürzen ließ. Deßhalb ja hatte er ihn im Traume geſtürzt. Nun war es ja, wie in dem ſchlimmen Traum, der Bruder war todt und er hatte ſein Weib. Nimmt er des Bruders Weib, die frei wurde durch den Sturz, ſo hat er ihn hinabgeſtürzt. Hat er den Lohn der That, ſo hat er auch die That. Nimmt er ſie, wird das Gefühl ihn nicht laſſen; er wird unglücklich ſein, und ſie mit unglück¬ lich machen. Um ihret - und ſeinetwillen muß er ſie laſſen. Und will er das, dann erkennt er, wie halt¬ los dieſe Schlüſſe ſind vor den klaren Augen des Geiſtes, und will er wiederum das Glück ergreifen, ſo ſchwebt das dunkle Schuldgefühl von Neuem wie ein eiſiger Reif über ſeiner Blume, und der Geiſt vermag nichts gegen ſeine vernichtende Gewalt. Daneben mahnten immer lauter die Glockenſchläge von Sankt Georg. Immer fieberiſcher wurde die Unruhe, daß der Fehler noch nicht gebeſſert war. Aeußere Anläſſe ſchärften noch den Drang. Es hatte anhaltend geregnet, die Lücke ſchluckte, die Verſchalung ſog das Waſſer gierig ein; das Holz mußte verfaulen. Trat die Winterkälte ſtärker ein, fror die Näſſe im Holz, ſo warf ſich die Verſchalung und verletzte die Schiefer. Die Stadt, die ſeiner Pflichtreue vertraute, litt Schaden durch ihn. Jede Nacht weckte ihn der Stundenſchlag Zwei. 284In der Glut des Fiebers vermiſchten ſich die Schat¬ ten. Die Vorwürfe des innern und äußern Sauber¬ keitsbedürfniſſes floßen in einander. Immer unwider¬ ſtehlicher forderte die offene Wunde das Gericht; das gähnende Grab den, der es ſchloß. Und er war es, den der Stundenſchlag zum Gerichte rief: er, der das Grab ſchließen mußte, eh' das gehämmerte Unheil auf ein unſchuldig Haupt fiel. Sich ſelbſt hatte er das kom¬ mende Unheil fertig gehämmert. Er mußte hinauf, den Fehler zu beſſern. Und wenn er oben war, dann ſchlug es Zwei, dann packte ihn der Schwindel und riß ihn hinab, dem Bruder nach.

Der alte wackere Bauherr drang in den Leidenden; er hatte ſich das Recht erworben, ſein Vertraun zu fordern. Apollonius lächelte trüb; er ſchlug ihm ſein Verlangen nicht ab, aber er ſchob die Erfüllung von Tag zu Tag weiter hinaus. Von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde ſah die ſchöne junge Braut ihn bleicher werden und blich ihm nach. Nur der alte Herr in ſeiner Blindheit ſah die Wolke nicht, die mit dem Schlimmſten droht. Es war wieder ſchwül ge¬ worden und wurde noch immer ſchwüler, das Leben in dem Hauſe mit den grünen Laden. Kein Menſch ſieht's dem roſigen Hauſe an, wie ſchwül es einmal darin war.

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Es war in der Nacht vor dem angeſetzten Verlo¬ bungstag. Plötzlich war Schnee, dann große Kälte eingetreten. Einige Nächte ſchon hatte man das ſo¬ genannte Sankt Elmsfeuer von den Thurmſpitzen nach den blitzenden Sternen am Himmel züngeln ſehn. Trotz der trockenen Kälte empfanden die Bewohner der Gegend eine eigene Schwere in den Gliedern. Es regte ſich keine Luft. Die Menſchen ſahen ſich an, als fragte einer den andern, ob auch er die ſeltſame Beängſtigung fühle. Wunderliche Prophezeiungen von Krieg, Krankheit und Theuerung gingen von Mund zu Munde. Die Verſtändigern lächelten darüber, konnten ſich aber ſelbſt des Dranges nicht erwehren, ihre innerliche Beklemmung in entſprechende Bilder von etwas äußerlich drohend Bevorſtehendem zu klei¬ den. Den ganzen Tag hatten ſich dunkle Wolken übereinander gebaut von entſchiedenerer Zeichnung und Farbe, als ſie der Winterhimmel ſonſt zu zeigen pflegt. Ihre Schwärze hätte unerträglich grell von dem Schnee abſtechen müſſen, der Berge und Thal be¬ deckte und wie ein Zuckerſchaum in den blätterloſen Zweigen hing, dämpfte nicht ihr Wiederſchein den weißen Glanz. Hier und da dehnte ſich der feſte Um¬ riß der dunklen Wolkenburg in ſchlappen Buſen herab. Dieſe trugen das Anſehn gewöhnlicher Schneewolken, und ihr trübes Röthlichgrau vermittelte die Blei¬ ſchwärze der höhern Schicht mit dem ſchmutzigen Weiß286 der Erde und ſeinen ſchwärzlichen Scheinen. Die ganze Maſſe ſtand regungslos über der Stadt. Die Schwärze wuchs. Schon zwei Stunden nach Mittag war es Nacht in den Straßen. Die Bewohner der Untergeſchoſſe ſchloſſen die Laden; in den Fenſtern der höhern Stockwerke blitzte Licht um Licht auf. Auf den Plätzen der Stadt, die ein größeres Stück Him¬ mel zu überſehn erlaubten, ſtanden Gruppen von Men¬ ſchen zuſammen und ſahen bald nach allen Seiten aufwärts, bald ſich in die langen, bedenklichen Geſich¬ ter. Sie erzählten ſich von den Raben, die in großen Zügen bis in die Vorſtädte hereingekommen waren, zeigten auf das tiefe, unruhige, ſtoßende Geflatter der Dohlen um Sankt Georg und Sankt Nikolaus, ſpra¬ chen von Erdbeben, Bergſtürzen, wohl auch vom jüng¬ ſten Tage. Die Muthigeren meinten, es ſei nur ein ſtarkes Gewitter. Aber auch das erſchien bedenklich ge¬ nug. Der Fluß und der ſogenannte Feuerdeich, deſ¬ ſen Waſſer auf unterirdiſchen Wegen augenblicklich je¬ dem Theile der Stadt zugeleitet werden konnte, waren beide gefroren. Manche hofften, die Gefahr werde vorübergehn. Aber ſo oft ſie hinaufſahen, die dunkle Maſſe rückte nicht von der Stelle. Zwei Stunden nach Mittage hatte ſie ſchon ſo geſtanden; gegen Mit¬ ternacht ſtand ſie noch unverändert ſo. Nur ſchwerer, ſchien es, war ſie geworden und hatte ſich tiefer her¬ abgeſenkt. Wie ſollte ſie auch rücken? da nicht ein287 leiſer Lufthauch auf den Flügeln war; und ſolche Maſſe zu zerſtreu'n und fortzuſchieben, hätte es einer Winds¬ braut bedurft.

Es ſchlug Zwölf vom Sankt Georgenthurm. Der letzte Schlag ſchien nicht verhallen zu können. Aber das tiefe, dröhnende Summen, das ſo lang anhielt, war nicht mehr der verhallende Glockenton. Denn nun begann es zu wachſen; wie auf tauſend Flügeln kam es gerauſcht und geſchwollen und ſtieß zornig gegen die Häuſer, die es aufhalten wollten, und fuhr pfeifend und ſchrillend durch jede Oeffnung, die es traf; polterte im Hauſe umher, bis es eine andere Oeffnung zum Wiederherausfahren fand; riß Laden los und warf ſie grimmig zu: quetſchte ſich ſtöhnend zwiſchen nahſtehenden Mauern hindurch; pfiff wüthend um die Straßenecken; zerlief in tauſend Bäche; ſuchte ſich und ſchlug klatſchend wieder zuſammen in Einen reißenden Strom; fuhr vor grimmiger Luſt herab und hinauf; rüttelte an allem Feſten; trillte mit wildſpielen¬ dem Finger die verroſteten Wetterhähne und Fahnen, und lachte ſchrillend in ihr Geächze; blies den Schnee von einem Dach auf's andere, fegte ihn von der Straße, jagte ihn an ſteilen Mauern hinauf, daß er vor Angſt in alle Fenſterritzen kroch, und wirbelte ganze tanzende Rieſentannen aus Schnee geformt auf ſeinen Händen vor ſich her.

288

Da man ein Gewitter vorausſah, war Alles in in den Kleidern geblieben. Die Raths - und Bezirks - Gewitternachtwachen, ſowie die Spritzenmannſchaften waren ſchon ſeit Stunden beiſammen. Herr Netten¬ mair hatte den Sohn nach der Hauptwachtſtube im Rathhauſe geſandt, um da ſeine, des Rathsſchieferdecker¬ meiſters Stelle zu vertreten. Die zwei Geſellen ſaßen bei den Thurmwächtern, der eine zu Sankt Georg, der andere zu Sankt Nikolaus. Die übrigen Raths¬ werkleute unterhielten ſich in der Wachtſtube, ſo gut ſie konnten. Der Rathsbauherr ſah bekümmert auf den brütenden Apollonius. Der fühlte des Freundes Aug auf ſich gerichtet und erhob ſich, ſeinen Zuſtand zu verbergen. In dem Augenblick brauſte der Sturmwind von Neuem in den Lüften daher. Auf dem Rathhaus¬ thurme ſchlug es Eins. Der Glockenton wimmerte in den Fäuſten des Sturms, der ihn mit ſich fortriß in ſeine wilde Jagd. Apollonius trat an ein Fenſter, wie um zu ſehn, was es draußen gebe. Da leckte eine rieſige ſchwefelblaue Zunge herein, bäumte ſich zitternd zweimal an Ofen, Wand und Menſchen auf und verſchlang ſich ſpurlos in ſich ſelber. Der Sturm brauſte fort; aber wie er aus dem letzten Glockenton von Sankt Georg geboren ſchien, ſo erhob ſich jetzt aus ſeinem Brauſen etwas, das an Gewalt ſich ſo rieſig über ihn emporreckte, wie ſein Brauſen über den289 Glockenton. Eine unſichtbare Welt ſchien in den Lüften zu zertrümmern. Der Sturm brauſte und pfiff wie mit der Wuth des Tigers, daß er nicht vernichten konnte, was er packte; das tiefe majeſtätiſche Rollen, das ihn überdröhnte, war das Gebrüll des Löwen, der den Fuß auf dem Feinde hat, der triumphirende Ausdruck der in der That geſättigten Kraft.

Das hat eingeſchlagen, ſagte einer. Apollonius dachte: wenn es in den Thurm ſchlüge von Sankt Georg, dort in die Lücke und ich müßte hinauf und es ſchlüge Zwei und . Er konnte nicht ausdenken. Ein Hülfegeſchrei, ein Feuerruf erſcholl durch Sturm und Donner. Es hat eingeſchlagen, ſchrie es draußen auf der Straße. Es hat in den Thurm von Sankt Georg geſchlagen. Fort nach Sankt Georg! Jo! Hülfe! Feuerjo! Auf Sankt Georg! Jo! Feuerjo auf dem Thurm von Sankt Georg! Hörner blieſen, Trommeln wirbelten darein. Und immer der Sturm und Donner auf Donner. Dann rief es: Wo iſt der Nettenmair? Kann einer helfen, iſt's der Netten¬ mair! Jo! Feuerjo! Auf Sankt Georg! Der Netten¬ mair! Wo iſt der Nettenmair? Jo! Feuerjo! Auf dem Thurm zu Sankt Georg!

Der Bauherr ſah Apollonius erbleichen, ſeine Ge¬ ſtalt noch tiefer in ſich zuſammenſinken, als ſeither. Wo iſt der Nettenmair? rief es wieder draußen. Da ſchlug eine dunkle Röthe über ſeine bleichen Wan¬Ludwig, Zwiſchen Himmel und Erde. 19290gen, und ſeine ſchlanke Geſtalt richtete ſich hoch auf. Er knöpfte ſich raſch ein, zog den Riemen ſeiner Mütze feſt unter dem Kinn. Bleib 'ich, ſagte er zu dem Bauherrn, indem er ſich zum Gehen wandte, ſo denkt an meinen Vater, an meines Bruders Weib und ſeine Kinder. Der Bauherr war betroffen. Das Bleib' ich des jungen Mannes klang wie: Ich werde bleiben. Eine Ahnung kam dem Freunde, hier ſei Etwas, was mit dem Seelenleiden Apollonius zuſam¬ menhänge. Aber der Ausdruck ſeines Geſichtes hatte nichts mehr von dem Leiden; er war weder ängſtlich, noch wild. Durch ſeine Sorge und Schrecken hindurch fühlte der wackere Mann etwas wie freudige Hoffnung. Es war der alte Apollonius wieder, der vor ihm ſtand. Das war ganz die ruhige, beſcheidene Ent¬ ſchloſſenheit wieder, die ihn beim erſten Anblick dem jungen Manne gewonnen hatte. Wenn er ſo bliebe! dachte der Bauherr. Er hatte nicht Zeit, etwas zu erwiedern. Er drückte ihm die Hand. Apollonius empfand Alles, was der Händedruck ſagen wollte. Wie ein Mitleid zog es über ſein Geſicht hin mit dem wackern Alten, wie Mißbilligung, daß er dem braven Alten Schmerz gemacht, und ihm noch mehr Schmerz machen wollen. Er ſagte mit ſeinem alten Lächeln: Auf ſolche Fälle bin ich immer bereit. Aber es gilt Eile. Auf frohes Wiederſehn! Der ſchnellere Apol¬ lonius war dem Bauherrn bald aus den Augen. Auf291 dem ganzen Wege nach Sankt Georg, unter dem Ge¬ ſchrei, den Hörnern und Trommeln, Sturm und Donner, ſagte der Bauherr immer vor ſich hin: Entweder ſeh 'ich den braven Jungen nie wieder, oder er iſt geſund, wenn ich ihn wiederſeh'. Er legte ſich nicht Rechen¬ ſchaft ab, wie er zu dieſer Ueberzeugung kam. Hätt 'er's auch ſonſt gekonnt, es war nicht Zeit dazu. Seine Pflicht als Rathsbauherr verlangte den ganzen Mann.

Der Ruf: Nettenmair! Wo iſt der Nettenmair? tönte dem Gerufenen auf ſeinem Wege nach Sankt Georg entgegen und klang hinter ihm her. Das Ver¬ traun ſeiner Mitbürger auf ihn weckte das Gefühl ſeines Werthes wieder in ihm auf. Als er, aus der Fremde zurückkehrend, die Heimathsſtadt vor ſich liegen ſah, hatte er ſich ihr und ihrem Dienſte gelobt. Nun durfte er ſich zeigen, wie ernſt gemeint ſein Gelübde war. Er überſann in Gedanken die möglichen Geſtal¬ ten der Gefahr, und wie er ihnen begegnen könnte. Eine Spritze ſtand bereit im Dachgebälk, Tücher lagen dabei, um damit, in Waſſer getaucht, die gefährdeten Stellen zu ſchützen. Der Geſelle war angewieſen, heißes Waſſer bereit zu halten. Das Gebälke hatte er überall durch Leitern verbunden. Zum erſtenmale ſeit ſeiner Heimkunft von Brambach war er wieder mit ganzer Seele bei Einem Werke. Vor der wirklichen Noth und ihren Anforderungen traten die Gebilde19 *292ſeines Brütens wie erbleichende Schatten zurück. Die ganze alte Wirkensfreudigkeit und Spannkraft war wieder heraufgerufen, das Gefühl der Erleichterung erhöhte ſie noch. Mit Gedanken kann man Gedanken widerlegen, gegen Gefühle ſind ſie eine ſchwache Waffe. Vergebens ſah ſein Geiſt den rettenden Weg; er war in der allgemeinen Erſchlaffung mit erkrankt. Jetzt war ein ſtärkeres geſundes Gefühl gegen die ſtarken kranken Gefühle aufgeglüht und hatte ſie in ſeiner Flamme verzehrt. Er wußte, ohne beſonders daran zu denken, er hatte den rettenden Entſchluß gefunden, und dieſer war die Quelle ſeines erneuten Daſeins. Er wußte, er wird nicht ſchwindeln, und blieb er doch, ſo fiel er ſeiner Pflicht zum Opfer und keiner Schuld, und Gott und die Dankbarkeit der Stadt traten ſtatt ſeiner in das Gelübde für die Seinen ein.

Der Platz um Sankt Georg war mit Menſchen angefüllt, die alle voll Angſt nach dem Thurmdache hinauf ſahen. Der ungeheure alte Bau ſtand wie ein Fels in dem Kampf, den Blitzeshelle mit der alten Nacht unermüdlich um ihn kämpfte. Jetzt umſchlangen ihn tauſend haſtige glühende Arme mit ſolcher Macht, daß er ſelber aufzuglühen ſchien unter ihrer Glut; wie eine Brandung lief's an ihm hinauf und ſtürzte ge¬ brochen zurück, dann ſchlug die dunkle Flut der Nacht wieder über ihm zuſammen. Eben ſo oft tauchte die Menge aneinander gedrängter bleicher Geſichter auf293 um ſeinen Fuß, und ſank wieder ununterſcheidbar in's Dunkel zurück. Der Sturm riß die Stehenden an Hüten und Mänteln und ſchlug mit eigenen und frem¬ den Haaren und Kleiderzüpfeln nach ihnen, als wollte er ſie's büßen laſſen, daß er vergeblich an den ſteiner¬ nen Rippen ſich wund ſtieß, und warf ſie mit feinem Schneegerieſel, das in dem Schein der Blitze wie glühender Funkenregen an ihnen herniederſtäubte. Und wie die Menſchen bald erſchienen, bald verſchwanden, ſo wurde ihr verwirrtes Durcheinanderreden immer wieder vom Sturm und vom Donner überbrauſt und überrollt. Da rief einer, ſich ſelbſt tröſtend: es iſt ein kalter Schlag geweſen. Man ſieht ja nichts. Ein Anderer meinte, die Flamme von dem Schlag könne noch ausbrechen. Ein Dritter wurde zornig; er nahm den Einwand wie einen Wunſch, der Schlag möge nicht ein kalter geweſen ſein, und die Flamme noch ausbrechen. Er hatte ſich ſchon getröſtet, und rächte ſich für die Unruhe, die der Einwand wieder neu in ihm erregte. Viele ſahen, vor Angſt und Kälte zitternd, mit den geblendeten Augen ſtumpf in die Höhe, und wußten nicht mehr, warum. Hundert Stimmen ſetzten dagegen auseinander, welch Unglück die Stadt betreffen könne, ja betreffen müſſe, wenn der Schlag kein kalter war. Einer ſprach von der Natur der Schiefer, wie ſie im Brande ſchmelzen und als bren¬294 nende Schlacken ſtraßenweit durch die Luft fliegend ſchon oft einen beginnenden Brand im Augenblick über eine ganze Stadt verbreitet hatten. Andere klagten, wie der Sturm einen möglichen Brand begünſtige, und daß kein Waſſer zum Löſchen vorhanden ſei. Noch Andere: und wär 'welches vorhanden, ſo würde es vor der Kälte in den Spritzen und Schläuchen gefrie¬ ren. Die Meiſten ſtellten in angſtvoller Beredſamkeit den Gang dar, den der Brand nehmen würde. Stürzte das brennende Dachgebälk, ſo trieb es der Sturm da¬ hin, wo eine dichte Häuſermaſſe faſt an den Thurm ſtieß. Hier war die feuergefährlichſte Stelle der gan¬ zen Stadt. Zahlloſe hölzerne Emporlauben in engen Höfen, breterne Dachgiebel, ſchindelngedeckte Schuppen, Alles ſo zuſammengepreßt, daß nirgends eine Spritze hineinzubringen, nirgends eine Löſchmannſchaft mit Erfolg anzuſtellen war. Stürzte das brennende Dach¬ gebälke, wie es nicht anders möglich war, nach dieſer Seite, ſo war das ganze Stadtviertel, das vor dem Winde lag, bei dem Sturm und Waſſermangel un¬ rettbar verloren. Dieſe Auseinanderſetzungen brachten Aengſtlichere ſo aus der Faſſung, daß jeder neue Blitz ihnen die ausbrechende Flamme ſchien. Daß Jeder nur eine Seite der Thurmdachfläche überſehen konnte, begünſtigte die Fortpflanzung des Irrthums. Es war wunderlich, aber man hörte nun von allen Seiten zu¬295 gleich das Geſchrei: Wo? Wo? Sturm und Donner verhinderten die Verſtändigung. Jeder wollte ſelbſt ſehen; ſo entſtand ein wildes Gedränge.

Wo hat es hingeſchlagen? fragte Apollonius, der eben daher kam. In die Seite nach Bram¬ bach zu, antworteten viele Stimmen. Apollonius machte ſich Bahn durch die Menge. Mit großen Schritten eilte er die Thurmtreppe hinauf. Er war den langſamern Begleitern um eine gute Strecke vor¬ aus. Oben fragte er vergebens. Die Thürmersleute meinten, es müſſe ein kalter Schlag geweſen ſein, und waren doch im Begriff, ihre beſten Sachen zuſammen¬ zuraffen, um vom Thurme zu fliehn. Nur der Geſell, den er am Ofen beſchäftigt fand, beſaß noch Faſſung. Apollonius eilte mit Laternen nach dem Dachgebälk, um ſie da aufzuhängen. Die Leitertreppe zitterte nicht mehr unter ſeinen Füßen; er war zu eilig, das zu be¬ merken. Innen am Dachgebälke wurde Apollonius keine Spur von einem beginnenden Brande gewahr. Weder der Schwefelgeruch, der einen Einſchlag bezeich¬ net, noch gewöhnlicher Rauch war zu bemerken. Apol¬ lonius hörte ſeine Begleiter auf der Treppe. Er rief ihnen zu, er ſei hier. In dem Augenblick zuckte es blau zu allen Thurmlucken herein und unmittelbar darauf rüttelte ein praſſelnder Donner an dem Thurm. Apollonius ſtand erſt wie betäubt. Hätte er nicht unwillkührlich nach einem Balken gegriffen, er wäre um¬296 gefallen von der Erſchütterung. Ein dicker Schwefel¬ qualm ſtickte ihn. Er ſprang nach der nächſten Dach¬ lucke, um friſche Luft zu ſchöpfen. Die Werkleute, dem Schlage ferner, waren nicht betäubt worden, aber vor Schrecken auf den oberſten Treppenſtufen ſtehn ge¬ blieben. Herauf! rief ihnen Apollonius zu. Schnell das Waſſer! die Spritze! In dieſe Seite muß es ge¬ ſchlagen haben, von da kam Luftdruck und Schwefel¬ geruch. Schnell mit Waſſer und Spritze an die Aus¬ fahrthür. Der Zimmermeiſter rief, ſchon auf der Leitertreppe, huſtend: aber der Dampf! Nur ſchnell! entgegnete Apollonius. Die Ausfahrthür wird mehr Luft geben, als uns lieb iſt. Der Maurer und der Schornſteinfeger folgten dem Zimmermann, der die Schläuche trug, ſo ſchnell als möglich war, mit der Spritze die Leitertreppe hinauf. Die Andern brachten Eimer kalten, der Geſell einen Topf heißen Waſſers, um durch Zugießen das Gefrieren zu ver¬ hindern. In ſolchen Augenblicken hat, wer Ruhe zeigt, das Vertrauen, und dem gefaßten Thätigen unterord¬ nen ſich die Andern ohne Frage. Der Breterweg nach der Ausfahrthüre war ſchmal: durch die verſtändige Anordnung Apollonius 'fand dennoch Alles im Augen¬ blicke ſeinen Platz. Zunächſt Apollonius nach der Thüre ſtand der Zimmermann, dann die Spritze, dann der Maurer. Die Spritze war ſo gewendet, daß die beiden Männer die Druckſtangen vor ſich hatten. 297Zwei ſtarke Männer konnten das Druckwerk bedienen. Hinter dem Maurer ſtand der Schieferdeckergeſelle, um über deſſen Schulter, ſo oft es nöthig, von dem heißen Waſſer zuzugießen. Andere betrieben des Geſellen vorheriges Geſchäft; ſie ſchmolzen Schnee und Eis, und behielten das gewonnene Waſſer in der geheizten Thürmerſtube, damit es nicht wieder zu Eiſe fror. Andere waren bereit, als Zuträger zwiſchen Dachſtuhl und Thürmerſtube zu dienen, und bildeten eine Art Spalier. Während Apollonius mit fliegenden Worten und Winken den Plan dieſer Geſchäftsordnung dem Zimmermann und Maurer mittheilte, die ihn dann in Ausführung brachten, hatte er die Dachleiter ſchon in der Rechten und griff mit der Linken nach dem Riegel der Ausfahrthür. Die Leute hatten die beſte Hoffnung; aber als durch die geöffnete Thür der Sturm herein¬ pfiff, dem Zimmermann die Mütze vom Kopfe riß und Maſſen feinen Schneeſtaubs gegen das Gebälke warf und heulend und rüttelnd den Dachſtuhl auf - und ab¬ polterte und Blitz auf Blitz blendend durch die dunkle Oeffnung brach, da war der Muthigſte im Begriff, die Hand von dem vergeblichen Werke abzuziehn. Apollonius mußte ſich mit dem Rücken gegen die Thüre kehren, um athmen zu können. Dann, beide Hand¬ flächen gegen die Verſchalung oberhalb der Thüre ge¬ ſtemmt, bog er den Kopf zurück, um an der äußern Dachfläche hinaufzuſeh'n. Noch iſt zu retten, rief er298 angeſtrengt, damit die Leute vor dem Sturm und dem ununterbrochenen Rollen des Donners ihn verſteh'n konnten. Er ergriff das Rohr des kürzeſten Schlauches, deſſen unteres Ende der Zimmermann einſchraubend an der Spritze befeſtigte, und wand ſich den obern Theil um den Leib. Wenn ich zweimal hintereinander den Schlauch anziehe, drückt los. Meiſter, wir retten die Kirche, vielleicht die Stadt! Die rechte Hand gegen die Verſchalung geſtemmt, bog er ſich aus der Ausfahrthür; in der linken hielt er die leichte Dach¬ leiter frei hinaus, um ſie an dem nächſten Dachhacken über der Thüre anzuhängen. Den Werkleuten ſchien das unmöglich. Der Sturm mußte die Leiter in die Lüfte reißen und nur zu möglich war's, er riß den Mann mit. Es kam Apollonius zu ſtatten, daß der Wind die Leiter gegen die Dachfläche drückte. An Licht fehlte es nicht, den Hacken zu finden; aber der Schneeſtaub, der dazwiſchen wirbelte und, vom Dache herabrollend, in ſeine Augen ſchlug, war hinderlich. Aber er fühlte, die Leiter hing feſt. Zeit war nicht zu verlieren; er ſchwang ſich hinaus. Er mußte ſich mehr der Kraft und Sicherheit ſeiner Hände und Arme vertrau'n, als dem ſichern Tritt ſeiner Füße, als er hinaufklomm; denn der Sturm ſchaukelte die Leiter ſammt dem Mann wie eine Glocke hin und her. Oben, ſeitwärts über der erſten Sproſſe der Leiter, hüpften bläuliche Flammen mit gelben Spitzen unter der Lücke299 und leckten unter den Rändern der Schiefer hervor. Zwei Fuß tief unter der Lücke hatte der Blitz hinein¬ geſchlagen. Vor einer Stunde noch war er vor dem Gedanken der bloßen Möglichkeit erſchrocken, hierher könnte der Blitz ſchlagen und er müſſe herauf. Eine Reihe dunkler, tödtlicher Fiebergebilde hatten ſich daran geſchloſſen. Jetzt war Alles geſcheh'n, wie er ſich's vorhin nur gedacht, aber die Lücke war ihm wie jede andere Stelle des Thurmdachs, ſchwindellos ſtand er auf der Leiter und nur Ein friſches wackeres Gefühl erfüllte ihn; der Drang, von Kirche und Stadt die drohende Gefahr zu wenden. Ja, etwas, was ihm die dunkle Furcht durch Sorge erhöht hatte, erwies ſich nun ſogar als heilvoll und glücklich. Er erkannte, das Waſſer, welches die Lücke wochenlang geſchluckt, das nun im Holze gefroren, war es allein, was die Flamme nicht ſo ſchnell überhand nehmen ließ, als ohne dies Hinderniß geſchehen ſein würde. Der Raum, den der Brand bis jetzt einnahm, war ein kleiner. Der Froſt in der Verſchalung warf die hartnäckig immer wiederkehrenden hüpfenden Flämmchen lange zurück, eh' ſie bleibend einwurzeln und von dem Wurzelpunkte aus weiter freſſen konnten. Hatten ſie ſich einmal zu einer großen Flamme vereinigt und dieſe den durch Froſt gefeiten Raum unter der Lücke überſchritten, dann mußte der Brand bald rieſig über die Thurmſpitze hinauswachſen, und die Kirche und vielleicht die Stadt300 erlag der vereinten Gewalt von Feuer und Sturm. Er ſah, noch war zu retten. Und er brauchte die Kraft, die ihm dieſer Gedanke gab. Die Leiter ſchau¬ kelte nicht mehr blos herüber und hinüber, ſie wuchtete zugleich auf und ab. Was war das? Und wenn der Dachhacken locker war, aber er wußte, das konnte nicht ſein dieſe Bewegung war unmöglich. Aber die Leiter hing ja gar nicht an dem Hacken; er hatte ſie an ein hervorſpringendes Eichenblatt der[Blechver¬ zierung] angehängt. Nah an einem der Befeſtigungs¬ punkte; aber das andere Ende des Guirlandenſtücks, an dem die Leiter hing, war das, welches er zu be¬ feſtigen vergeſſen hatte. Sein und der Leiter Gewicht wuchtete an dem Stücke und zog es immer mehr herab und bog die Seite nach vorn, an die er die Leiter gehängt. Noch einen Zoll tiefer, und das Blatt lag wagrecht und die Leiter glitt von dem Blatte herab und mit ihm hinunter in die ungeheure Tiefe. Jetzt mußte ſich ſein neugewonnener Lebensmuth be¬ währen und er that's. Sechs Zoll weit neben dem Blatte war der Hacken. Noch drei leichte Schritte die ſchwankende Leiter hinauf und er faßte mit der linken Hand den Hacken, hielt ſich feſt daran und hob die Leiter mit der rechten von dem Blatte herüber an den Hacken. Sie hing. Die linke ließ den Hacken und faßte neben der rechten die Leiterſproſſe; die Füße folgten; er ſtand wieder auf der Leiter. Und jetzt301 begannen ſchon die Schiefer unter der Lücke zu glüh'n; nicht lang, und ſie rollten ſich ſchmelzend, und die bren¬ nenden Schlacken trugen das Verderben fliegend weiter. Apollonius zog die Klaue aus dem Gürtel; wenig Stöße mit dem Werkzeug, und die Schiefer fielen abgeſtreift in die Tiefe. Nun überſah er deutlich den geringen Umfang der brennenden Fläche; ſeine Zuverſicht wuchs. Zwei Züge an dem Schlauch, und die Spritze begann zu wirken. Er hielt das Rohr erſt gegen die Lücke, um die Verſchalung oberhalb des Brandes noch geſchickter zum Widerſtande zu machen. Die Spritze bewies ſich kräftig; wo ihr Strahl unter den Rand der Schiefer ſich einzwängte, ſplitterten dieſe krachend von den Nägeln. Die Flammen des Brandes kniſterten und hüpften zornig unter dem herabfließenden Waſſer; erſt dem unmittelbar gegen ſie gerichteten Strahl gelang es, und auch dieſem mehr durch ſeine erſtickende Gewalt, als durch die Natur ſeines Stoffes, die hartnäckigen zu bezwingen. Die Brandfläche lag ſchwarz vor ihm, dem Strahl der Spritze antwortete kein Ziſchen mehr. Da raſſelte das Getriebe der Uhr tief unter ihm. Es ſchlug Zwei. Zwei Schläge! Zwei! Und er ſtand und er ſtürzte nicht! Wie anders war es nun in der Wirklichkeit gekommen, als die fieberiſchen Ahnungen gedroht! Wenn er oben war, da ſchlug es Zwei, da packte ihn der Schwindel und riß ihn hinab, eine dunkle Schuld zu büßen. Das302 hatten ihm ſeine ſchweren wachen Träume gezeigt. Und er ſtand doch wirklich oben, und die Leiter ſchwankte im Sturme, Schneeſtaub umwirbelte ihn, Blitze um¬ zuckten ihn; mit jedem flammte die Schneedecke der Dächer, der Berge, des Thals, die ganze Gegend in Einer ungeheuern Flamme auf, und nun ſchlug's Zwei unter ihm, die Glockentöne heulten, vom Sturm ge¬ zerrt hinaus in den Aufruhr, und er ſtand, er ſtand ſchwindellos, er ſtürzte nicht. Er wußte, keine Schuld lag auf ihm; er hatte ſeine Pflicht gethan, wo Tau¬ ſende ſie nicht gethan hätten; er hatte die Stadt, an der er mit ganzer Seele hing, er allein, von der furcht¬ barſten Gefahr befreit. Aber aller Stolz dieſes Ge¬ dankens war in dieſer Seele nur ein Dankgebet. Er dachte nicht an die Menſchen, die ihn preiſen würden, nur an die Menſchen, die nun wieder aufathmen durften, an das Elend, das verhütet, an das Glück, welches erhalten war. Und er fühlte ſelbſt nach Mon¬ den wieder, was frei aufathmen heißt. Dieſe Nacht hatte die Luſt ja auch ihm wieder gebracht. Mit Freudigkeit erinnerte er ſich jetzt wieder an das Wort, das er ſich gegeben. Menſchen wie Apollonius iſt's der höchſte Segen einer braven That, daß ſie ſich ge¬ ſtärkt fühlen zu neuem braven Thun.

Die Menge unten ſchrie noch immer Wo? Wo? und drängte ſich durcheinander, als der zweite Einſchlag geſchah. Alles ſtand einen Augenblick von Schrecken303 gelähmt. Gott ſei Dank! es war wieder kalt! rief eine Stimme. Nein! Nein! dasmal brennt's! Er¬ barme ſich Gott! entgegneten Andere. Scharfe Augen ſah'n, wenn zuweilen zwiſchen den Blitzen Dun¬ kel eintrat, die kleinen Flammen wie Lichterchen über die Schiefer hüpfen. Sie ſuchten ſich und lohten, wenn ſie ſich fanden, zuckend in eine größere Flamme zuſammen auf; dann flohen ſie ſich tanzend und ſchlugen wieder zuſammen. Der Sturm bog und dehnte ſie hin und her; zuweilen ſchienen ſie zu verlöſchen, dann züngelten ſie noch höher auf als vorhin. Sie wuchſen, das ſah man; aber raſch war ihr Wachsthum nicht. Viel ſchneller und gewaltiger ſchwoll das neue Feuerjo durch die ganze Stadt. In angſtvoller Spannung bohrten ſich alle Blicke auf der kleinen Stelle feſt. Jetzt Hülfe, und es iſt noch zu verlöſchen! Und wieder klang angſtvoll der Ruf: Nettenmair! Wo iſt der Nettenmair? durch Sturm und Donner. Eine Stimme rief: Er iſt auf dem Thurm. Alle Ge¬ müther fühlten das wie eine Beruhigung. Und die meiſten kannten ihn nicht, ſelbſt die meiſten unter den Rufern. Und die ihn nicht kannten, ſchrieen am lauteſten. In Augenblicken allgemeiner Hülfloſigkeit klammert ſich die Menge an einen Namen, an ein bloſes Wort. Ein Theil ſchiebt damit die Anforderun¬ gen des Gewiſſens zu eig'nem Müh'n, zu eig'nem Wagniß von ſich; und dieſe ſind's, die dem Helfer,304 hat er nicht geholfen, dann unbarmherzig nachrechnen, was er gethan, und was er nicht gethan. Die Andern ſind froh, täuſchen ſie ſich nur über den nächſten Augenblick hinweg. Was ſoll er? rief Einer. Helfen! Retten! Andere. Und wenn er Flügel hätte, in dem Sturm wagt's Keiner. Der Netten¬ mair gewiß! Im tiefſten Herzen wußten auch die Vertrauendſten, er wird's nicht wagen. Der Gedanke, daß die Flamme noch gelöſcht werden konnte, wenn ſie nur zugänglich war, machte die allgemeine Empfin¬ dung peinlicher, da er die ſtumpfe Ergebung hinderte, wozu die unausweichliche Noth mit milder Härte zwingt. Als die Ausfahrthür ſich öffnete und die herausgehaltene Leiter ſichtbar wurde, als es ſchien, es wagt 'es dennoch einer, wirkte das ſo erſchreckend, als der Einſchlag ſelbſt. Und die Leiter hing und ſchaukelte hoch oben mit dem Manne, der daran hinaufklomm, von Schnee umwirbelt, von Blitzen umzuckt; die Leiter hinauf, die wie aus einem Span geſchnitten ſchien, und wie eine Glocke mit ihm ſchaukelte, in der ent¬ ſetzlichen Höhe. Jeder Athem ſtockte. Aus Hunderten der verſchiedenſten Geſichter ſtarrte derſelbe Ausdruck nach dem Manne hinauf. Keiner glaubte an das Wagniß, und ſie ſahen den Wagenden doch. Es war wie Etwas, das ein Traum wäre und doch Wirklich¬ keit zugleich. Keiner glaubte es, und doch ſtand jeder Einzelne ſelbſt auf der Leiter, und unter ihm ſchaukelte305 der leichte Span in Sturm und Blitz und Donner hoch zwiſchen Himmel und Erde. Und ſie ſtanden doch auch wieder unten auf der feſten Erde und ſahen nur hinauf; und doch! wenn der Mann ſtürzte, dann waren ſie's, die ſtürzten. Die Menſchen unten auf der feſten Erde hielten ſich krampfhaft an ihren eigenen Händen, an ihren Stöcken, ihren Kleidern an, um nicht herabzuſtürzen von der entſetzlichen Höhe. So ſtanden ſie ſicher und hingen doch zugleich über dem Abgrunde des Todes, jahrelang, ein Leben lang, denn die Vergangenheit war nicht geweſen; und doch war's nur ein Augenblick, ſeit ſie oben hingen. Sie ver¬ gaßen die Gefahr der Stadt, ihre eigene über der Ge¬ fahr des Menſchen da oben, die ja doch ihre eigene war. Sie ſahen, der Brand war getilgt, die Gefahr der Stadt vorüber; ſie wußten es wie in einem Traume, wo man weiß, man träumt; es war ein bloſer Gedanke ohne lebendigen Inhalt. Erſt, als der Mann die Leiter herabgeklommen, in der Ausfahrthür verſchwunden war, und die Leiter ſich nachgezogen hatte, erſt, als ſie nicht mehr oben hingen, als ſie ſich nicht mehr an den eigenen Händen, Stöcken und Kleidern feſthalten mußten; da erſt kämpfte die Bewunderung mit der Angſt, da erſt erſtickte der Jubel: zu, braver Junge! in dem Angſtruf er iſt verloren! Eine alterszitternde Stimme begann zu ſingen: Nun danket Alle Gott. Als der alte Mann an die Zeile kam:Ludwig, Zwiſchen Himmel und Erde. 20306 der uns behütet hat, da erſt ſtand Alles vor ihrer Seele, was ſie verlieren konnten und, was ihnen ge¬ rettet war. Die fremdeſten Menſchen fielen ſich in die Arme, einer umſchlang in dem Andern die Lieben, die er verlieren konnte, die ihm gerettet waren. Alle ſtimmten ein in den Geſang; und die Töne des Dankes ſchwollen durch die ganze Stadt, über Straßen und Plätze, wo Menſchen ſtanden, die gefürchtet hatten, und drangen in die Häuſer hinein bis in das innerſte Ge¬ mach, und ſtiegen bis in die höchſte Bodenkammer hinauf. Der Kranke in ſeinem einſamen Bett, das Alter in dem Stuhl, wohin es die Schwäche gebannt hielt, ſang von ferne mit; Kinder ſangen mit, die das Lied nicht verſtanden und die Gefahr, die abgewendet war. Die ganze Stadt war eine einzige große Kirche, und Sturm und Donner die rieſige Orgel darin. Und wieder erhob ſich der Ruf: Der Nettenmair! Wo iſt der Nettenmair? Wo iſt der Helfer? Wo iſt der Retter? Wo iſt der kühne Junge? Wo iſt der brave Mann? Sturm und Gewitter waren vergeſſen. Alles ſtürzte durcheinander, den Gerufenen ſuchend; der Thurm von Sankt Georg wurde geſtürmt. Den Suchenden kam der Zimmermann entgegen und ſagte, Nettenmair habe ſich einen Augenblick im Thürmer¬ ſtübchen zur Ruhe gelegt. Nun drangen ſie in den Zimmermann, er ſei doch nicht beſchädigt? Seine Geſundheit habe doch nicht gelitten? Der Zimmer¬307 meiſter konnte nichts ſagen, als daß Nettenmair mehr gethan habe, als ein Menſch im gewöhnlichen Lauf der Dinge zu thun im Stande ſei. Bei ſolchen Ge¬ legenheiten, wie die Rettung heute, ſei der Menſch ein anderer; hintennach erſtaun 'er ſelber über die Kräfte, die er gehabt. Aber es bezahle ſich Alles. Ihn den Zimmermeiſter ſolle es nicht wundern, ſchliefe Nettenmair nach der gehabten Anſtrengung drei Tage und drei Nächte in Einem Ritt hintereinander fort. Die Leute ſchienen bereit, ſo lang auf den Treppen zu warten, um den Braven nur gleich nach ſeinem Er¬ wachen zu ſeh'n. Unterdeß hatte ein angeſehener Mann auf dem nahen Marktplatze eine Geldſammlung begon¬ nen. Geld lohne freilich ſolch ein Thun nicht, als der Brave heut bewieſen; aber man könne ihm wenigſtens zeigen, man wiſſe, was man ihm zu danken habe. In der Stimmung des Augenblicks, die in jedem Einzel¬ nen wiederklang, liefen ſogar anerkannte Geizhälſe haſtig heim, ihren Beitrag zu holen, unbekümmert darum, daß ſie es eine Stunde ſpäter reuen würde. Wenige von den Wohlhabenderen ſchloſſen ſich aus; die Aermeren ſteuerten alle bei. Der Sammler erſtaunte ſelbſt über den reichen Erfolg ſeiner Bemühungen.

Wohl eine halbe Stunde hatte Apollonius gelegen. Eh 'er ſich gelegt, hatte er noch geſorgt, daß die Laternen vorſichtig ausgelöſcht wurden. Er hatte die Ausfahrthüre geſchloſſen und die Spritze leeren, die20 *308Schläuche in die Thürmerſtube bringen laſſen, damit der Froſt keinen Schaden daran bringen konnte. Er vermochte kaum mehr zu ſteh'n; der Bauherr, der unterdeß heraufgekommen war, hatte ihn dennoch halb mit Gewalt in die Thürmerſtube hinunterbringen müſ¬ ſen. Dann hatte der Freund die Thüre von innen verriegelt, Apollonius genöthigt, die gefrorenen Kleider auszuziehn, und dann wie eine Mutter an ſeines Lieb¬ lings Bett geſeſſen. Apollonius konnte nicht ſchlafen; der alte Mann litt aber nicht, daß er ſprach. Er hatte Rum und Zucker mitgebracht; an heißem Waſſer fehlte es nicht; Apollonius aber, der nie hitziges Getränk zu ſich nahm, wies den Grogk dankend zurück. Der Ge¬ ſelle hatte unterdeß friſche Kleider geholt. Apollonius verſicherte, er finde ſich wieder vollkommen kräftig, aber er zögerte, aus dem Bette aufzuſtehn. Der Alte gab ihm lachend die Kleider. Apollonius hatte ſich vorhin unter der Decke ausgezogen und ſo zog er ſich wieder an. Der Bauherr kehrte ſich ab von ihm und lachte durch das Fenſter Sturm und Blitzen zu; er wußte nicht, ob über Apollonius Schamhaftigkeit, oder über¬ haupt aus Freude an ſeinem Liebling. Er hatte oft bereut, daß er Junggeſelle geblieben war; jetzt freute es ihn faſt. Er hatte ja doch einen Sohn, und einen ſo braven, als ein Vater wünſchen kann.

Auf dem Wege begann eine große Noth für Apol¬ lonius. Er wurde von Arm in Arm geriſſen; ſelbſt309 angeſehene Frauen umfaßten und küßten ihn. Seine Hände wurden ſo gedrückt und geſchüttelt, daß er ſie drei Tage lang nicht mehr fühlte. Er verlor ſeine natürlich edle Haltung nicht; die verlegene Beſcheiden¬ heit dem begeiſterten Danke, das Erröthen dem bewun¬ dernden Lobe gegenüber, ſtand ihm ſo ſchön an, als ſein muthig entſchloſſenes Weſen in der Gefahr. Wer ihn nicht ſchon kannte, verwunderte ſich; man hatte ihn ſich anders gedacht, braun, keckäugig, verwegen, überſprudelnd von Kraftgefühl, wohl ſogar wild. Aber man geſtand ſich, ſein Anſehn widerſprach dennoch nicht ſeiner That. Das mädchenhafte Erröthen einer ſo hohen männlichen Geſtalt hatte ſeinen eigenen Reiz, und die verlegene Beſcheidenheit des ehrlichen Geſichts, die nicht zu wiſſen ſchien, was er gethan, gewann; die milde Beſonnenheit und einfache Ruhe ſtellte die That nur in ein ſchöneres Licht; man ſah, Eitelkeit und Ehrbegierde hatten keinen Theil daran gehabt.

Wir überſpringen im Geiſte drei Jahrzehnte, und kehren zu dem Manne zurück, mit dem wir uns im Anfange unſerer Erzählung beſchäftigten. Wir ließen ihn in der Laube ſeines Gärtchens. Die Glockentöne von Sankt Georg riefen die Bewohner der Stadt zum310 Vormittagsgottesdienſte; ſie klangen auch in das Gärt¬ chen hinter dem Hauſe mit den grünen Fenſterladen herein. Dort ſitzt er jeden Sonntag um dieſe Zeit. Rufen die Glocken zum Nachmittagsgottesdienſt, dann ſieht man ihn, das ſilberbeknopfte Rohr in der Hand, nach der Kirche ſteigen. Kein Menſch begeg¬ net ihm dann, der den alten Herrn nicht ehrerbietig grüßte. Nun ſind es faſt dreißig Jahre her, aber es gibt noch Leute, die die Nacht miterlebt haben, die denkwürdige Nacht, von der wir eben erzählten. Wer es noch nicht weiß, dem können ſie ſagen, was der Mann mit dem ſilberbeknopften Stocke für die Stadt gethan in jener Nacht. Und was er den Mor¬ gen nachher geſtiftet, davon kann man Steine zeugen hören. Vor der Stadt am Brambacher Wege, nicht weit vom Schützenhaus, erhebt ſich aus freundlichem Gärtchen ein ſtattlicher Bau. Es iſt das neue Bürger¬ hoſpital. Jeder Fremde, der das Haus beſucht, erfährt, daß der erſte Gedanke dazu von Herrn Nettenmair kam. Er muß die ganze Geſchichte jener Nacht hören, die wackere That des Herrn Nettenmair, der dazumal noch jung war; dann, wie man Geld für ihn geſam¬ melt, und er die bedeutende Summe an den Rath ge¬ geben als Stammfonds zu dem Kapital, das der Bau erforderte; wie ſein Beiſpiel Frucht getragen, und reiche Bürger mehr oder weniger dazu geſchenkt und ver¬ macht, bis endlich nach Jahren ein Zuſchuß aus der311 Stadtkaſſe den Beginn und die Vollendung des Baues ermöglicht hatte.

War Herr Nettenmair aus der Kirche zurück, dann verbrachte er den Reſt des Sonntags auf ſeinem Stüb¬ chen denn da wohnt er noch immer oder er machte einen Gang nach der nahen Schiefergrube, die jetzt ihm gehört, oder vielmehr ſeinen Neffen. Die Erfüllung des Wortes, das er ſich gegeben, war der Gedanke ſeines Lebens geblieben. Was er ſchaffte, ſchaffte er für die Angehörigen ſeines Bruders; er ſah ſich nur als ihren Verwalter an. Begegnete ihm auf ſeinem Wege ein zierliches kleines Mädchen, ſo dachte er an das todte Aennchen. Sein Gedächtniß war ſo gewiſſenhaft, als er ſelbſt. Dann rief er das Kind zu ſich, ſtreichelte ihm das Köpfchen, und es mußte wun¬ derlich zugegangen ſein, fand ſich in den Taſchen des blauen Rockes nicht irgend etwas ſorglich in reines Papier Gewickeltes, das er herausnehmen konnte, ſich von dem kleinen Munde einen Dank zu verdienen. Aber das Kind konnte ſich erſt freuen, wenn er vor¬ übergegangen war. Bei aller Freundlichkeit hatte die große Geſtalt etwas ſo Ernſtes und Feierliches, daß das Kind vor Reſpekt nicht zur Freude kommen konnte. Die Woche über ſaß Herr Nettenmair über ſeinen Bü¬ chern und Briefen, oder beaufſichtigte im Schuppen das Ab - und Aufladen, das Behauen und Sortiren der Schiefer. Punkt zwölf er Mittags, punkt312 ſechs zu Abend auf ſeinem Stübchen; dazu brauchte er eine Viertelſtunde, dann ſtrich er mit leiſer Hand über das alte Sopha und bewegte ſich drei andere Viertelſtunden, war es Sommerszeit, im Gärtchen. Mit dem erſten Viertelſchlage von ein und ſieben Uhr klinkte er die Staketenthüre wieder hinter ſich zu. Am Sonntag iſt's anders; da ſitzt er eine ganze Stunde lang in der Laube und ſieht nach dem Thurmdache von Sankt Georg hinauf. Uns bleibt wenig nachzuholen, und der Leſer kennt Alles, was dann durch Herrn Net¬ tenmair's Seele geht, was er ablieſt vom Thurmdache von Sankt Georg. Auch wem das bejahrte, aber immer noch ſchöne Frauengeſicht gehört, das zuweilen durch das Staket und das Bohnengelände daran, zu dem Sitzenden herüberlauſcht, das weiß der Leſer nun. Die jetzt weiße Locke über der Stirn, die ſich noch immer gern freimacht, war noch dunkelbraun und voll, und hing auf eine faltenloſe Stirn herab, die Wangen darunter ſchwellte noch Jugendkraft, die Lippen blühten noch und die blauen Augen glänzten, als ſie dem Manne entgegeneilte, der eben die Stadt gerettet. Er küßte ſie leiſe auf die Stirn und nannte ſie mit dem Namen Schweſter . Sie verſtand, was er meinte. Schon damals ſah ſie mit der Ergebung, ja Andacht zu dem Manne hinauf, mit der ſie jetzt ſein Sinnen belauſcht, aber noch ein ander Gefühl trat auf ihr durchſichtiges Antlitz.

313

Der alte Herr gerieth in Zorn, als Apollonius ihm ſeinen Entſchluß, nicht zu heirathen, mittheilte. Er ließ dem Sohne die Wahl, die Ehre der Familie zu bedenken, oder nach Köln zurückzugehn. Apollonius 'Herzen wurde es ſchwerer, als ſeinem Verſtande, den Vater zu überzeugen, daß nur er die Familienehre aufrecht zu halten vermöge, daß er bleiben müſſe. Er wußte, nur ſeinem Entſchluſſe treu, blieb er der Mann, ſein Wort zu halten. Das konnte er dem Vater nicht ſagen. Erfuhr dieſer das wahre Verhältniß der beiden jungen Leute, ſo drang er nur noch ſtärker auf die Heirath. Dann hätte er ihm auch ſagen müſſen, wie der Bruder den Tod gefunden. Er hätte ihn nur tiefer beunruhigen müſſen. Daß der Vater im Herzen überzeugt war, der Bruder hatte durch Selbſtmord ge¬ endigt, wußte er nicht. Die beiden ſo nah verwandten Menſchen verſtanden ſich nicht. Apollonius ſetzte die inner¬ liche Natur ſeines eigenen Ehrgefühles bei dem Vater voraus, und der Alte ſah in der Weigerung des Sohnes und deſſen Beweis, er nur könne der ſchwie¬ rigen Lage des Hauſes gerecht werden, den alten Trotz auf ſeine Unentbehrlichkeit, der es nun nicht einmal mehr der Mühe werth hielt, zu verbergen: der Vater war in ſeinen Augen nichts mehr, als ein hülfloſer alter blinder Mann. Und was dieſe Mißverſtändniſſe verurſachte und begünſtigte, das Zurückhalten, war eben der Familienzug, den ſie beide gemein hatten. 314Denſelben Morgen hatte eine Deputation des Raths Apollonius den Dank der Stadt gebracht; hatten die angeſehenſten Leute der Stadt gewetteifert, ihm ihre Achtung und Aufmerkſamkeit zu beweiſen. Urſache genug, eine ehrgeizige Seele zur Ueberhebung zu reizen, Grund genug für den alten Herrn, dem Apollonius als eine ſolche Seele galt, an deſſen Ueberhebung zu glauben. Der alte Herr mußte die Unentbehrlichkeit des Trotzen¬ den anerkennen und durfte weder ein Recht noch eine Macht gegen ihn behaupten. Die Gemüthsbewegung und geiſtige Ueberanſtrengung an dem Tag vor dem Tode ſeines älteren Sohnes hatten ſeine letzte Kraft untergraben; nun brach ſie vollends zuſammen. Von Tag zu Tag wurde er wunderlicher und empfindlicher. Er verlangte von Apollonius keine Unterwerfung mehr; er fand eine ſelbſtquäleriſche Luſt, in ſeiner diplomatiſchen Weiſe dem Sohne deſſen Unkindlichkeit vorzuwerfen, indem er beſtändig ſein grimmiges Be¬ dauern ausſprach, daß der tüchtige Sohn von einem alten herrſchſüchtigen Vater, der nichts mehr ſei und nichts mehr könne, ſich ſoviel gefallen laſſen müſſe. Vergeblich war alles Bemüh'n des Sohnes, der Alte glaubte nicht an die Aufrichtigkeit deſſelben. Dabei konnte er ſich in ſeiner Wunderlichkeit gleichwohl der Tüchtigkeit des Sohnes und der wachſenden Ehre und des ſteigenden Wohlſtandes ſeines Hauſes freu'n; wenn er ſich dies auch nicht merken ließ. Er erlebte315 noch den Ankauf der Schiefergrube, die Apollonius ſeither im Pachte gehabt. Der Sohn ertrug die Wun¬ derlichkeiten des Vaters mit der liebend unermüdlichen Geduld, womit er den Bruder ertragen hatte. Er lebte ja nur dem Gedanken, das Wort, das er ſich ge¬ geben, ſo reich zu erfüllen, als er konnte; und in dieſem war ja auch der Vater mit eingeſchloſſen. Das Ge¬ deihen ſeines Werkes gab ihm Kraft, alle kleinen Krän¬ kungen mit Heiterkeit zu ertragen.

Den Tag nach der Gewitterwinternacht hatte er dem alten Bauherrn ſeine ganze innere Geſchichte mit¬ getheilt. Der alte Bauherr, der bis zu ſeinem Tod mit ganzer Seele an ihm hing, blieb ſein einziger Umgang, wie er der einzige war, dem ſich Apollonius, ohne ſeiner Natur ungetreu werden zu müſſen, enger anſchließen konnte.

Einige Tage nach der Nacht mußte ſich Apollonius zu Bette legen. Ein heftiges Fieber hatte ihn ergrif¬ fen. Der Arzt erklärte die Krankheit erſt für eine ſehr bedenkliche, aber in ihr kämpfte nur der Körper den Kampf gegen das allgemeine Leiden ſieghaft aus, das geiſtig in dem Entſchluſſe jener Nacht ſeinen rettenden Abſchluß gefunden. Die Theilnahme der Stadt an dem kranken Apollonius gab ſich auf mannigfache Weiſe rührend kund. Der alte Bauherr und Valentin waren ſeine Pfleger. Der erſte wich Tag und Nacht nicht von ſeinem Lager. Diejenige, welche Natur durch Liebe und316 Dankespflicht zur ſorglichſten Pflegerin des Kranken beſtimmt hatte, rief Apollonius nicht an ſein Bett, und ſie wagte nicht, ungerufen zu kommen. Die ganze Dauer der Krankheit hindurch hatte ſie ihr Lager auf der engen Emporlaube aufgeſchlagen, um dem Kranken ſo nah zu ſein, als möglich. Wenn der Kranke ſchlief, winkte ihr der alte Bauherr, hereinzutreten. Dann ſtand ſie mit gefalteten Händen, jeden Athemzug des Schlafenden mit Sorge und Hoffnung begleitend, an dem Bettſchirm. Unwillkürlich nahm ihr leiſer Athem den Schritt des ſeinen an. Sie ſtand ſtundenlang und ſah durch einen Riß im Bettſchirm nach dem Kranken hin. Er wußte nichts von ihrer Anweſenheit, und doch konnte der Bauherr bemerken, wie leichter ſein Schlaf, wie lächelnder ſein Geſicht dann war. Keine Flaſche, aus der der Kranke einnehmen ſollte, die er nicht, ohne es zu wiſſen, aus ihrer Hand be¬ kam. Kein Pflaſter, kein Ueberſchlag, den nicht ſie bereitet; kein Tuch berührte den Kranken, das ſie nicht an ihrer Bruſt, an ihrem küſſenden Munde erwärmt. Wenn er dann mit dem Bauherrn von ihr ſprach, ſah ſie, er war mehr um ſie beſorgt, als um ſich; wenn er freundlich tröſtende Grüße an ſie auftrug, zitterte ſie hinter dem Bettſchirm vor Freude. Wenig Stunden ruhte ſie, und wehte der kalte Winternachtwind durch die locker ſchließenden Laden die kalten Flocken in ihr warmes Geſicht, berührte ihr eigener Hauch, auf der317 Decke gefroren, ihr eiſig Hals, Kinn und Buſen, dann war ſie glücklich, etwas um ihn zu leiden, der Alles um ſie litt. In dieſen Nächten bezwang die heilige Liebe die irdiſche in ihr; aus dem Schmerz der ge¬ täuſchten ſüßen Wünſche, die ihn beſitzen wollten, ſtieg ſein Bild wieder in die unnahbare Glorie hinauf, in der ſie ihn ſonſt geſehn.

Apollonius genas raſch. Und nun begann das eigene Zuſammenleben der beiden Menſchen. Sie ſahen ſich wenig. Er blieb auf ſeinem Stübchen wohnen, Valentin brachte ihm das Eſſen, wie ſonſt, dahin. Die Kinder waren oft bei ihm. Begegneten ſich die Bei¬ den, begrüßte er ſie mit freundlicher Zurückhaltung; damit entgegnete ſie den Gruß. Hatten ſie etwas zu beſprechen, ſo machte es ſich jederzeit wie zufällig, daß die Kinder und der alte Valentin, oder das Hausmäd¬ chen zugegen war. Kein Tag verging deshalb ohne ſtumme Zeichen achtender Aufmerkſamkeit. Kam er am Sonntag vom Gärtchen heim, ſo hatte er einen Strauß Blumen für ſie, den Valentin an ſie abgeben mußte. Er konnte gute Partien machen; es meldeten ſich ſtatt¬ liche Bewerber um ſie. Er wies die Anträge, ſie die Freier zurück. So vergingen Tage, Wochen, Monde, Jahre, Jahrzehnte. Der alte Herr ſtarb und wurde hinausgetragen, der brave Bauherr folgte ihm, dem Bauherrn der alte Valentin. Dafür wuchſen die Kin¬ der zu Jünglingen auf. Die wilde Locke über der318 Stirn der Wittwe, die Schraube über Apollonius 'Stirne bleichten; die Kinder waren Männer geworden, ſtark und mild wie ihr Erzieher und Lehrherr; Locke und Schraube waren weiß; das Leben der beiden Menſchen blieb dasſelbe.

Nun weiß der Leſer die ganze Vergangenheit, die der alte Herr, wenn die Glocken Sonntags zum Vor¬ mittagsgottesdienſte rufen, in ſeiner Laube ſitzend vom Thurmdach von Sankt Georg ablieſt. Heute ſieht er mehr vorwärts in die Zukunft, als in die Vergangen¬ heit zurück. Denn der ältere Neffe wird bald Anna Wohligs Tochter zum Altare von Sankt Georg, und dann heimführen; aber nicht in das Haus mit den grünen Fenſterladen, ſondern in das große Haus da¬ neben. Das roſige iſt für das gewachſene Geſchäft zu klein geworden, auch hat der neue Haushalt nicht Platz darin; Herr Nettenmair hat das große Haus über dem Gäßchen drüben gekauft. Der jüngere Neffe geht nach Köln. Der alte Vetter dort, dem Apollonius ſoviel dankt, iſt lange todt, auch der Sohn des Vetters iſt geſtorben. Dieſer hat das große Geſchäft ſeinem einzigen Kinde hinterlaſſen, der Braut des jüngſten Sohnes von Fritz Nettenmair. Beide Paare werden zuſammen in Sankt Georg getraut. Dann wohnen die beiden Alten allein in dem Hauſe mit den grünen Fenſterladen. Der alte Herr hat ſchon lang das Ge¬ ſchäft übergeben wollen; die Jungen haben es bis jetzt319 abzulehnen gewußt. Der ältere Neffe beſteht darauf, der alte Herr ſoll an der Spitze bleiben. Der alte Herr will nicht. Er hat einen Theil der Verlaſſenſchaft des alten Bauherrn, den er beerbt, für den Reſt ſeines Lebens zurückbehalten; alles Andere und es iſt nicht wenig; Herr Nettenmair gilt für einen reichen Mann übergibt er den Neffen; das Zurückbehaltene fällt nach ſeinem Tode an das neue Bürgerhospital. Er hat ſein Wort wahr gemacht; der Deckhammer über ſeinem Sarge wird ehrenblank ſein wie über wenigen.

Die junge Braut wehrt ſich, Alles anzunehmen, was die künftige Schwiegermutter ihr geben will. Wenn dieſe Alles gibt, Eins wird ſie behalten. Das Eine iſt eine Blechkapſel mit einer dürren Blume. Sie liegt bei Bibel und Geſangbuch und iſt ihrer Beſitzerin ſo heilig, als dieſe.

Die Glocken rufen noch immer. Die Roſen an den hochſtämmigen Bäumchen duften, ein Grasmück¬ chen ſitzt auf dem Buſche unter dem alten Birnbaum und ſingt; ein heimliches Regen zieht durch das ganze Gärtchen, und ſelbſt der ſtarkſtielige Buchsbaum um die gezirkelten Beete bewegt ſeine dunkeln Blätter. Der alte Herr ſieht ſinnend nach dem Thurmdach von Sankt Georg; das ſchöne Matronengeſicht lauſcht durch das Bohnengelände nach ihm hin. Die Glocken rufen es, das Grasmückchen ſingt es, die Roſen duften es, das leiſe Regen durch das Gärtchen flüſtert es,320 die ſchönen greiſen Geſichter ſagen es, auf dem Thurm¬ dach von Sankt Georg kannſt du es leſen: Von Glück und Unglück reden die Menſchen, das der Him¬ mel ihnen bringe. Was die Menſchen Glück und Un¬ glück nennen, iſt nur der rohe Stoff dazu. Am Men¬ ſchen liegt's, wozu er ihn formt. Nicht der Himmel bringt das Glück; der Menſch bereitet ſich ſein Glück und ſpannt ſeinen Himmel ſelber in der eigenen Bruſt. Der Menſch ſoll nicht ſorgen, daß er in den Himmel, ſondern daß der Himmel in ihn komme. Wer ihn nicht in ſich ſelber trägt, der ſucht ihn vergebens im ganzen All. Laß 'dich vom Verſtande leiten, aber verletze nicht die heilige Schranke des Gefühls. Kehre dich nicht tadelnd von der Welt, wie ſie iſt; ſuche ihr gerecht zu werden, dann wirſt du dir gerecht. Und in dieſem Sinne ſei dein Wandel: Zwiſchen Himmel und Erde!

Druck von C. W. Leske in Darmſtadt.

About this transcription

TextZwischen Himmel und Erde
Author Otto Ludwig
Extent332 images; 71362 tokens; 9948 types; 461766 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationZwischen Himmel und Erde Otto Ludwig. . 320 S. MeidingerFrankfurt (Main)1856.

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BBAW DWB/B4

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LanguageGerman
ClassificationBelletristik; Roman; Belletristik; Roman; core; ready; ocr

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