Potsdam im Mai 1872.
Ein klarer Decembertag; die Erde gefroren, die Dächer bereift. Aber ſchon miſcht ſich ein leiſes Grau in die heitere Himmels - bläue, es weht leiſe herüber von Weſten her, und jenes Fröſteln läuft über uns hin, das uns ankündigt: Schnee in der Luft.
Schnee in der Luft; vielleicht morgen ſchon, daß er in Flocken niederfällt! So ſeien denn die Stunden genutzt, die noch einen freien Blick in die Landſchaft geſtatten.
Das Spreethal hinunter, an dem Charlottenburger Schloß vorbei (deſſen vergoldete Kuppel-Figuren nicht recht wiſſen, ob ſie in dem ſpärlichen Tageslicht noch blitzen müſſen oder nicht), über Brücken hin, zwiſchen Schwanen-Rudeln hindurch, geht der Zug, bis die alte Havelveſte vor uns aufſteigt, mit Brücken und Gräben, mit Thorwarten und Mauern, und über dem allen: Sanct Nicolai, die erinnerungsreiche Kirche dieſer Stadt.
Der Zug hält. Ohne Aufenthalt, mit den Minuten gei - zend, ſteuern wir durch ein Gewirr immer enger werdender Gaſſen auf den alten gothiſchen Bau zu, der ſich, auf engem und kahlem Platze, über den Dächer-Kleinkram hinweg, in die ſtahlfarbene Luft erhebt. Kein Bau erſten Ranges, aber doch an dieſer Stelle.
Fontane, Wanderungen. III. 12Das Innere, ein ſeltner Fall bei renovirten Kirchen, bietet mehr als das Aeußere verſpricht. Emporen, wie Brückenbogen geſchwungen, ziehen ſich zwiſchen den grauweißen Pfeilern hin und wirken hier, in dem ſonſt ſchmuckloſen Gange faſt wie ein Ornament (das einzige) des Mittelſchiffes.
Die Kirche ſelbſt, bei aller Schönheit, iſt kahl; im Chor aber drängen ſich die Erinnerungsſtücke, die der Kirche noch aus alter Zeit her geblieben ſind. Hier, an der Rundung des Gemäuers hin, hängen die Wappenſchilde der Quaſte, Ribbeck und Noſtitz, hier richtet ſich das prächtige Denkmal der Gebrüder Röbel auf, hier begegnen wir dem berühmten Steinaltar, den Rochus von Lynar der Kirche ſtiftete und hier endlich (in Front des Altars) erhebt ſich das dreifußartige, ſchönſte Kunſtform zeigende Taufbecken, das zugleich die Stelle angiebt, wo unter dem Eſtrich die Ueberreſte Adam Schwarzenbergs ruhn. Zur Rechten die eigene Wappentafel des Grafen: der Rabe mit dem Türkenkopf.
Alle dieſe Dinge indeß ſind es nicht, die uns heute nach Sanct Nicolai in Spandau geführt haben, unſer Beſuch gilt vielmehr dem alten Thurme, zu deſſen Höhe ein Dutzend Trep - penſtiegen hinanführen. Viele dieſer Stiegen liegen im Dunkel, andre empfangen einen Schimmer durch eingeſchnittene Oeffnun - gen, alle aber ſind bedrohlich durch ihre Steile und Gradlinig - keit und machen einem die Weisheit der alten Baumeiſter wieder gegenwärtig, die ihre Treppen ſpiralförmig durch die dicke Wan - dung der Thürme zogen und dadurch die Gefahr beſeitigten, funfzig Fuß und mehr erbarmungslos hinab zu ſtürzen.
Die Treppe frei und gradlinig; und doch iſt es ein Erſtei - gen mit Hinderniſſen, die Schlüſſel verſagen den Dienſt in den roſtigen Schlöſſern; man merkt, daß die Höhe von Sanct Nico - lai zu Spandau keine täglichen Gäſte hat, wie St. Stephan in Wien, oder St. Paul in London. Endlich ſind wir an Uhr und Glockenwerken vorbei, haben das Schlüſſelbund, im Kampf mit Großſchlöſſern und Vorlegeſchlöſſern, ſiegreich durchprobirt und ſteigen nun durch eine letzte Klappenöffnung, in die luf -3 tige Laterne hinein, die den ſteinernen Thurmbau krönt. Keine Fenſter und Blenden ſind zu öffnen, frei bläſt der Wind durch das gebrechliche Holzwerk. Das iſt die Stelle, die wir ſuchten. Ein Lug-ins-Land.
Zu Füßen uns, in ſcharfer Zeichnung, als läge eine Karte vor uns ausgebreitet, die Zickzackwälle der Feſtung; oſtwärts im grauen Dämmer die Thürme von Berlin; nördlich, ſüdlich die bucht - und ſeenreiche Havel, inſelbetupfelt, mit Flößen und Kähnen überdeckt; nach Weſten hin aber ein breites, kaum hier und da von einer Hügelwelle unterbrochenes Flachland, das Havelland.
Wer hier an einem Juni-Tage ſtände, der würde hinaus - blicken in üppig grüne Wieſen, durchwirkt von Raps - und Weizenfeldern, geſprenkelt mit Büſchen und rothen Dächern, ein Bild moderner Cultur; an dieſem grauen Decembertage aber liegt das ſchöne Havelland brachfeldartig vor uns ausge - breitet, eine grau-braune, haideartige Fläche, durch welche ſich in breiten blanken Spiegeln, wie Seeflächen, die Grundwaſſer und übergetretenen Gräben dieſer Niederungen ziehen. Wir haben dieſen Tag gewählt, um den flußumſpannten Streifen Landes, der uns auf dieſen und den folgenden Seiten beſchäf - tigen ſoll, in der Geſtalt zu ſehen, in der er ſich in alten, faſt ein Jahrtauſend zurückliegenden Zeiten darſtellte. Ein grauer Himmel über grauem Land, nur ein Krähenvolk aufſteigend aus dem Weidenwege, der ſich an den Waſſerlachen entlang zieht, ſo wie’s in dieſem Augenblick ſich zeigt, war das Land von Anfang an: öde, ſtill, Waſſer, Weide, Wald.
Aber freilich, auch dieſes Decembertages winterliche Hand hat das Leben nicht völlig abſtreifen können, das hier langſam, aber ſiegreich nach Herrſchaft gerungen hat. Dort zwiſchen Waſſer und Weiden hin läuft ein Damm, im erſten Augenblick nur wie eine braune Linie von unſerem Thurme aus bemerk - bar; aber jetzt gewinnt die Linie mehr und mehr Geſtalt; denn ziſchend, brauſend, dampfend, dazwiſchen einen Funkenregen ausſtreuend, raſſeln jetzt von zwei Seiten her die langen Wagen -1*4reihen zweier Züge heran und fliegen — an derſelben Stelle vielleicht, wo einſt Jazko und Albrecht der Bär ſich trafen — an einander vorüber. Das Ganze wie ein Blitz! —
Der Tag neigt ſich; der Sonnenball lugt nur noch blut - roth aus dem Grau des Horizonts hervor. Ein rother Schein läuft über die grauen Waſſerflächen hin. Nun iſt die Sonne unter, die Nebel ſteigen auf und wälzen ſich von Weſten her auf die Stadt und unſere Thurmſtelle zu. Noch ſehen wir, wie aus dem nächſten Röhricht ein Volk Enten aufſteigt; aber ehe es in die nächſte Lache niederfällt, iſt das ſchwarze Geflatter in dem allgemeinen Grau verſchwunden.
Das Havelland träumt wieder von alter Zeit.
Am Nordufer der Mittel-Havel, zugleich den Havelgau und ſüdlich davon die „ Zauche “beherrſchend, lag die alte Wen - denfeſte Brennibor. Ihre Eroberung durch Albrecht den Bären (1157) entſchied über den Beſitz dieſes und der benach - barten Landestheile, die von da ab ihrer Chriſtianiſirung und, was inſonderheit die Havelgegenden angeht, auch ihrer Ger - maniſirung raſch entgegen gingen. Dieſe Germaniſirung, ſoweit ſie durch die Klöſter erfolgte, ſoll uns in den nächſten Capiteln beſchäftigen; unſre heutige Aufgabe aber wendet ſich ausſchließlich der heidniſchen Epoche vor 1157 zu und verſucht in dieſer Vorgeſchichte der Mark eine Geſchichte der mär - kiſchen Wenden zu geben. Dieſer Ausdruck iſt nicht völlig correkt. Es ſoll heißen: Wenden, die, noch eh es eine „ Mark “gab, in demjenigen Landestheile wohnten, der ſpä - ter Mark Brandenburg hieß.
6Zuerſt ein Wort über die Wenden überhaupt. Sie bildeten den am meiſten nach Weſten vorgeſchobenen Stamm der großen ſlaviſchen Völkerfamilie; hinter ihnen nach Oſten und Südoſten ſaßen die Polen, die Südſlaven, die Groß - und Klein-Ruſſen.
Die Wenden rückten, etwa um 500, in die halb entvöl - kerten Lande zwiſchen Oder und Elbe ein. Sie fanden hier noch die zurückgebliebenen Reſte der alten Semnonen, jenes ger - maniſchen Stammes, der vor ihnen das Land zwiſchen Elbe und Oder inne gehabt und es — entweder einem Drucke von Oſten her nachgebend, oder aber durch Abenteuerdrang dazu getrieben — im Laufe des 5. Jahrhunderts verlaſſen hatte. Nicht alle indeß, ſo ſcheint es, hatten ſich dieſem Wanderzuge angeſchloſſen; Greiſe, Weiber, Kinder, dazu alles, was wir heute als „ Invalide “bezeichnen würden, war zurückgeblieben, und alle dieſe Reſte ehemaligen germaniſchen Lebens kamen nun - mehr in Abhängigkeit von den vordringenden Wenden. Dieſe wurden der herrſchende Stamm und gaben dem Lande ſein Gepräge, den Dingen und Ortſchaften ihre wendiſchen Namen. Als nach drei -, vier - und fünfhundert Jahren die Deutſchen zum erſten Mal wieder mit dieſem Lande „ zwiſchen Elbe und Oder “in Berührung kamen, fanden ſie, wenige Spuren ehe - maligen deutſchen Lebens abgerechnet, ein völlig ſlaviſches d. h. wendiſches Land vor.
Das Land zwiſchen Elbe und Oder war wendiſch gewor - den, ebenſo die Territorien zwiſchen Oder und Weichſel. Aber das weſtliche Wendenland war doch die Hauptſache. Hier, zwiſchen Oder und Elbe, ſtanden die berühmteſten Tempel, hier wurden die Entſcheidungsſchlachten geſchlagen; hier endlich wohn - ten die tapferſten und die mächtigſten Stämme.
Dieſer Stämme, wenn wir von kleineren Gemeinſchaften vorläufig abſehn, waren drei: die Obotriten im heutigen Mecklenburg, die Liutizen in Mark und Vorpommern, die Sorben oder Serben im Meißniſchen und der Lauſitz.
7Unter dieſen drei Hauptſtämmen der Weſtwenden, ja viel - leicht der Wenden überhaupt, waren wiederum die Liutizen (denen alſo die märkiſchen Wenden als weſentlicher Bruchtheil zugehörten) die ausgedehnteſten und mächtigſten. Mit ihnen ſtand und fiel die Vormauer des Slaventhums, und der beſte, zuverläſſigſte und wichtigſte Theil der ganzen Wendengeſchichte iſt die Geſchichte dieſes Stammes, die Geſchichte der Liutizen. Schaffarick ſagt von ihnen: „ Unter den polabiſchen d. h. den an der Elbe wohnenden Slaven waren die Liutizen oder Lutizer oder Weleten durch ihre Volksmenge und Streitbarkeit, wie durch ihre Ausdauer bei alten Sitten und Gebräuchen, die berühmteſten. Ihr Name wird in den deutſchen Annalen von Karl dem Großen bis zu ihrer völligen Unterwerfung (1157) öfter denn irgend ein andrer Volksname genannt; er herrſcht ſogar in altdeutſchen Sagen und Märchen. In ruſſiſchen Volks - ſagen wird er noch heutigentags vom Volke mit Schrecken erwähnt. “ So weit Schaffarick. Eh wir indeſſen zu einer kurzgefaßten Geſchichte der Liutizen überhaupt übergehn, ſchicke ich den Verſuch einer politiſchen Geographie des Liutizier-Lan - des vorauf.
Die Liutizen, wie ſchon angedeutet, hatten ihre Sitze nicht blos in der Mark; einige ihrer hervorragendſten Stämme bewohn - ten Neu-Vorpommern, noch andere (darunter die vielgenannten Redarier) das heutige Mecklenburg-Strelitz. Sie lebten inner - halb dieſer drei Landestheile: Mark, Strelitz, Vorpommern, in einer nicht genau zu beſtimmenden Anzahl von Gauen, von denen folgende die wichtigſten waren oder doch die bekannteſten geweſen ſind.
In der Mark: die Brizaner in der Priegnitz; die Morizaner in der Gegend von Leitzkau, Grabow, Nedlitz; die Stodoraner und Heveller in Havelland und Zauche; die Spriavaner im Teltow und Nieder-Barnim alſo zu beiden Seiten der Spree; die Riezaner in der Nähe von Wriezen (Ober-Barnim, Oderbruch); die Ukraner in der Nähe von Paſewalk.
8In Pommern und Mecklenburg-Strelitz: die Kiſſiner in der Nähe von Güſtrow; die Circipaner um Wolgaſt herum; die Dolenzer um Demmin und Stolp; die Ratarer oder Retarier zwiſchen Ober-Havel, Peene und Tolenſe (nach Raumer bis zur Doſſe); die Woliner auf Wolin und Uſedom; die Rujanen oder Ranen auf Rügen. Kleinere eingeſtreute Gaue waren: Sitna oder Ziethen (Groß - und Klein-Zieten bei Korin); der Murizzi-Gau am Müritz - See; der Doſſaner Gau an der Doſſe bei Wittſtock.
Unter allen dieſen Völkerſchaften, Stämmen und Stämm - chen (man könnte ſie Clans nennen) waren wohl die Ranen und die Retarier die wichtigſten, beide als Hüter der zwei hei - ligſten Tempelſtätten Rhetra*)Darüber wo Rhetra oder Ratare ſtand, ſchwebt noch immer der Streit. Mann nennt folgende Orte: Stargard (Mecklenburg), Mal - chin, Röbel (am Müritz-See), Rheſa, Strelitz, Prilwitz, Kuſchwanz. Der letztere Ort, unpoetiſchen Klanges, hat zur Zeit die größten Chan - cen, als „ Rhetra “anerkannt zu werden. und Arkona; die Ranen außer - dem noch ausgezeichnet als Seefahrer und ſiegreich über die Dänen.
Keiner der einzelnen Stämme der märkiſchen Wenden konnte nach dieſer Seite hin mit den zwei wendiſchen Hauptſtäm - men in Pommern und Mecklenburg (den Ranen und Retariern) wetteifern, aber anderſeits fiel den märkiſchen Wenden die Aufgabe zu, in den jahrhundertlangen Kämpfen mit dem andringenden Deutſchthum beſtändig auf der Vorhut zu ſtehn, und in dem Muth, den die Spree - und Havelſtämme in dieſen Kämpfen entwickelt haben, wurzelt ihre Bedeutung. Wenn die Ranen, und namentlich auch die Retarier, wie ein Stamm Levi, kirch - lich vorherrſchten, ſo prävalirten die märkiſchen Wenden poli - tiſch. Brandenburg, das wir wohl nicht mit Unrecht als den wichtigſten Punkt dieſes märkiſchen Wenden-Landes anſehn, wurde neun mal erobert und wieder verloren, ſiebenmal durch9 Sturm, zweimal durch Verrath. Die Kämpfe drehten ſich mehr oder weniger um dieſen Punkt.
Die erſten Berührungen mit der wendiſchen Welt, mit den Volksſtämmen zwiſchen Elbe und Oder, fanden unter Carl dem Großen ſtatt; ſie führten zu nichts Erheblichem. Erſt unter dem erſten Sachſenkaiſer, Heinrich dem Finkler, wurde eine Unterwerfung der Wenden verſucht und durchgeführt.
Dieſe Kämpfe begannen im Jahre 924 durch einen Ein - fall Heinrich’s in das Land der Stodoraner und durch Weg - nahme Brennibor’s. Dieſem Siege Heinrich’s folgten Aufſtände (die Retarier, Stodoraner, Ukraner werden eigens genannt), und den wendiſchen Aufſtänden folgten neue deutſche Siege.
Es war eine endlos ausgeſponnene Kette, in der jedes ein - zelne Glied ſo Urſach wie Wirkung war. Die deutſche Grau - ſamkeit ſchuf wendiſche Aufſtände, und den wendiſchen Auf - ſtänden folgten neue Siege der Deutſchen, Siege, die wiederum zur Grauſamkeit führten und ſo das alte Wechſelſpiel wieder - holten. So war es unter Kaiſer Heinrich, und ſo war es unter Otto dem Großen. Zweimal wurden die Wenden in blutigen Schlachten niedergeworfen, 920 bei Lunkini (Lenzen)*)Von dieſer Schlacht bei Lunkini (Lenzen) findet ſich in „ Widu - kinds ſächſiſchen Geſchichten “eine ausführliche Beſchreibung. Die Chri - ſten belagerten Lunkini, als die Nachricht eintraf, daß ein großes Wen - denheer zum Entſatz der bedrängten Feſtung heranrücke und während der Nacht das Lager der Chriſten überfallen wolle. Ein furchtbares Unwetter indeß, heftige Regengüſſe hinderten den Angriff des Feindes. So kam der Morgen, und die Chriſten ſchickten ſich nun ihrerſeits zum Angriff an. Die Zahl der Wenden war ſo groß, daß, als die Sonne jetzt hell auf die durchnäßten Kleider der hunderttauſend Wenden ſchien, ein Dampf zum Himmel aufſtieg, der ſie wie in eine Nebelwolke hüllte, während die Chriſten in hellem Sonnenlicht heranzogen und ob dieſer Erſcheinung voll Hoffnung und Zuverſicht waren. Nach hartem Kampfe flohen die Wenden; da ihnen aber eine Abtheilung den Weg verlegt hatte, ſo ſtürzten ſie einem See zu, in dem Unzählige ertranken. Die Chroniſten geben das Wendenheer auf 200,000 Mann an. „ Die Ge - fangenen wurden alle, wie ihnen verheißen, an einem Tage geköpft. “935 am10 Doſa-Fluß (an der Doſſe), aber ihre Kraft war ungebrochen, und der Tag kam heran, der beſtimmt war, den bis dahin ſtets unterlegenen Aufſtänden zu einem Siege zu verhelfen. Dies war die Schlacht am Tanger-Fluß 983. Da von dieſem Siegestage der Wenden an, das nach ſo vielen Niederlagen ſchon halb todt geglaubte Wendenthum einen neuen Aufſchwung nahm und noch einmal in aller Macht und Furchtbarkeit aufblühte, ſo mag es geſtattet ſein, bei den Vorgängen einen Augenblick zu verweilen, die zu dieſer Schlacht und dem ihr voraufgehen - den großen Wenden-Aufſtande führten.
Miſtiwoi war Obotritenfürſt und bereits Chriſt geworden. Er hielt zum Herzog Bernhard, der damals Markgraf der Nord - mark war, und fühlte ſich dem Markgrafen an Macht, Geburt und Anſehen nah genug, um um deſſen Nichte anzuhalten. Der Markgraf verſprach ſie ihm; Miſtiwoi aber, um ganz in die Reihe chriſtlicher Fürſten einzutreten, zog zunächſt mit 1000 wendiſchen Edelleuten nach Italien und focht an Kaiſer Otto’s Seite in der großen Schlacht bei Baſantello. Als er zurück - gekehrt war, erſchien er vor Markgraf Bernhard und bat um die Hand der Nichte. Dieſer ſchwankte einen Augenblick, und ein andrer deutſcher Fürſt, der neben dem Markgrafen ſtand, raunte dieſem zu: „ Mit nichten; eines deutſchen Herzogs Bluts - verwandte gehört nicht an die Seite eines wendiſchen Hun - des. “ Miſtiwoi hatte gehört, was der Nebenſtehende halblaut vor ſich hin geſprochen hatte, und verließ die Halle. Bern - hard, der ahnen mochte, was folgen werde, ſchickte ihm Boten nach, aber umſonſt; der tödtlich verletzte Wendenfürſt ließ nur antworten: „ Der Tag kommt, wo die Hunde beißen. “ Er ging nun nach Rhetra, wo der Haupttempel aller wendiſchen Stämme ſtand, und rief — die Obotriten ſtanden ſelbſtverſtändlich zu ihm — auch alle liutiziſchen Fürſten zuſammen und erzählte ihnen die erlittene Schmach. Dann that er ſein Chriſtenthum von ſich und bekannte ſich vor dem Bilde Radegaſt’s auf’s Neue zu den alten Göttern. Darauf ließ er dem Sachſengrafen ſagen: „ Nun hab Acht, Miſtiwoi der Hund kommt, um zu11 bellen und wird bellen, daß ganz Sachſenland erſchrecken ſoll. “ Der Markgraf aber antwortete: „ Ich fürcht nicht das Brummen eines Bären, geſchweige das Bellen eines Hundes. “ Am Tangerfluß kam es zur Schlacht, und die Sachſen wurden geſchlagen. Das hatte Miſtiwoi der Hund gethan. Die Unterwerfung, die 924 begonnen hatte, hatte 983 wieder ein Ende.
Der Dom zu Brandenburg wurde zerſtört, und auf dem Harlunger Berge erhob ſich das Bild des Triglaff. Von dort aus ſah es noch wieder 150 Jahre lang in wendiſche Lande hinein. Die Liutizen waren frei.
Drei Generationen hindurch hielt ſich, nach dieſem großen Siege, die Macht der Wenden unerſchüttert; Kämpfe fanden ſtatt, ſie rüttelten an der wiedererſtandenen Wendenmacht, aber ſie brachen ſie nicht. Erſt mit dem Eintritt des 12. Jahrhun - derts gingen die Dinge einer Wandlung entgegen; die Wen - denſtämme, untereinander in Eiferſüchteleien ſich aufreibend, zum Theil auch uneins durch die raſtlos weiter wirkende Macht des Chriſtenthums, waren endlich wie ein unterhöhlter Bau, der bei dem erſten ernſteren Sturme fallen mußte. Die Spree - und Havellandſchaften waren, ſo ſcheint es, die letzten Zufluchts - ſtätten des alten Wendenthums; Brennibor, nachdem rundum immer weiteres Terrain verloren gegangen war, war mehr und mehr der Punkt geworden, an deſſen Beſitz ſich die Frage knüpfte, wer Herrſcher ſein ſolle im Lande, Sachſe oder Wende, Chriſtenthum oder Heidenthum. Das Jahr 1157, wie Eingangs ſchon bemerkt, entſchied über dieſe Frage. Albrecht der Bär erſtürmte Brennibor, die letzten Aufſtände der Bri - zaner und Stodoraner wurden niedergeworfen, und mit der Unterwerfung des Spree - und Havellandes empfing das Wen - denland zwiſchen Elbe und Oder überhaupt den Todesſtoß. (Rhetra war ſchon vorher gefallen, wenigſtens ſeiner höchſten Macht entkleidet worden. Nur der Swantewittempel auf Arkona hielt ſich um zwanzig Jahre länger, bis König „ Waldemar der Sieger “auch dieſen zerſtörte.)
12Soviel in kurzen Zügen von der Geſchichte des Wenden - landes zwiſchen Elbe und Oder. Wir wenden uns jetzt einer mehr culturhiſtoriſchen Unterſuchung zu und ſtellen zuſammen, was wir über Charakter, über Sitte, Recht und Cultur des alten Wendenthums wiſſen.
Die Frage iſt oft aufgeworfen worden, ob die Wenden wirk - lich auf einer viel niedrigeren Stufe als die vordringenden Deutſchen geſtanden hätten, und dieſe Frage iſt nicht immer mit einem beſtimmten „ Ja “beantwortet worden. Sehr wahr - ſcheinlich war die Superiorität der Deutſchen, die man ſchließ - lich wird zugeben müſſen, weniger groß, als deutſcherſeits vielfach behauptet worden iſt.
Die Wenden, um mit ihrer Wohnung zu beginnen, hauſten keineswegs (wie ein mir vorliegender Stich ſie darſtellt) in ver - palliſadirten Erdhöhlen, um ſich gleichzeitig gegen Wetter und Wölfe zu ſchützen; ſie hatten Bauten mannigfacher Art, die mehr oder weniger wirklichen Häuſern entſprachen. Daß von ihren Gebäuden, öffentlichen und privaten, kein einziges beſtimmt nachweisbar auf uns gekommen iſt, könnte dafür ſprechen, daß dieſe Bauten von einer inferioren Beſchaffenheit geweſen wären; wir dürfen aber nicht vergeſſen, daß die ſiegreichen Deutſchen natürlich alle hervorragenden Gebäude (die ſämmtlich Tempel oder Veſten waren), ſei es aus Rache oder ſei es zu eigner Sicherheit, zerſtörten, während die ſchlichten Häuſer und Hütten14 im Laufe der Jahrhunderte ſich natürlich eben ſo wenig erhalten konnten, wie deutſche Häuſer und Hütten aus jener Zeit.
Die Wenden, ſo viel ſteht feſt, hatten verhältnißmäßig wohleingerichtete Häuſer, und die Frage bleibt zunächſt nur, wie waren dieſe Häuſer. Wahrſcheinlich ſehr verſchiedener Art. Wie wir noch jetzt, oft bunt durch einander, noch häufiger nach Diſtrikten geſchieden, Lehmkathen, Fachwerk -, Feldſtein - und Backſteinhäuſer finden (der Stroh -, Schilf -, Schindel - und Ziegeldächer ganz zu geſchweigen), ſo war es gewiß auch in alten Wendenzeiten, nur noch wechſelnder, nur noch abhängiger von dem Material, das gerade zur Hand war. In den Fiſcher - dörfern an der Spree und Havel hin, in den Sumpfgegenden, die kein anderes Material kannten als Elſen und Eichen, waren die Dörfer muthmaßlich Blockhäuſer, wie man ihnen noch jetzt in den Spreewaldgegenden begegnet; auf dem Feldſtein-über - ſäten Barnim-Plateau richteten ſich, wie noch jetzt vielfach in den dortigen Dörfern geſchieht, die Wohnungen höchſt wahr - ſcheinlich aus Feldſtein auf, in fruchtbaren Gegenden aber, wo der Lehm zu Tage lag, wuchs das Lehm - und das Ziegelhaus auf; — denn die Wenden verſtanden ſich ſehr wohl auf die Nutzung des Lehms und ſehr wahrſcheinlich auch auf das Ziegel - brennen. Daß ſie unter ihrem Geräth nachweisbar auch den Mauerhammer hatten, deutet wenigſtens darauf hin. Ein - zelne dieſer Dinge ſind nicht geradezu zu beweiſen, aber ſie müſſen ſo geweſen ſein nach einem Naturgeſetz, das fortwirkt bis auf dieſen Tag. Armes Volk (oder uncultivirtes) baut ſich ſeine Wohnungen aus dem, was es zunächſt hat: am Veſuv aus Lava, in Irland aus Torf, am Nil aus Nilſchlamm, an den Pyramiden aus Trümmern vergangener Herrlichkeit. So war es immer, wird es immer ſein; — ſo war es auch bei den Wenden.
Die Wenden aber hatten nicht nur Häuſer, ſie wohn - ten auch, wie ſchon angedeutet, in Dörfern und Städten. Ihre Dörfer zogen ſich zu Hunderten und Tauſenden durch das Land. Die wendiſchen Namen unſerer Ortſchaften beweiſen15 dies zur Genüge. Manche Gegenden haben nur wendiſche Namen. Um ein Beiſpiel ſtatt vieler zu geben, die Dörfer um Ruppin herum heißen: Carwe, Gnewkow, Gartz, Wuſtrau, Bechlin, Steffin, Krentzlin, Metzeltin, Dabergotz, Gantzer, Lentzke, Manker ꝛc., lauter wendiſche Namen. Aehnlich iſt es überall in der Mark, in Lauſitz und Pommern; ſelbſt viele deutſch klingende Namen wie Wuſtrau, Wuſterhauſen ꝛc. ſind nur ein germaniſirtes Wendiſch.
Wie die Dörfer waren, ob groß ob klein, ob ſtark bevöl - kert oder ſchwach, kann, da jegliche beſtimmte Angabe darüber fehlt, nur durch Combination herausgerechnet, alſo nur hypo - thetiſch feſtgeſtellt werden. Die große Zahl der Todtenurnen, die man findet, außerdem die Mittheilungen Thietmar’s u. A., daß bei Lunkini 100,000 Wenden gefallen ſeien, ſcheinen darauf hinzudeuten, daß das Land allerdings ſtark bevölkert war. Unſicher, wie wir über Art und Größe der wendiſchen Dör - fer ſind, ſind wir’s auch über die Städte. Einzelne galten für bedeutend genug, um mit den Schilderungen ihres Glanzes und ihres Unterganges die Welt zu füllen, und wie geneigt wir ſein mögen, der poetiſchen Darſtellung an dieſem Weltruhm das beſte Theil zuzuſchreiben, ſo kann doch das Geſchilderte nicht ganz Fiktion geweſen ſein, ſondern muß in irgend etwas Vor - handenem ſeine reale Anlehnung gehabt haben. Beſonderes Anſehen hatten die Handelsſtädte am baltiſchen Meere. Unter dieſen war Jumne, wahrſcheinlich am Ausfluß der Swine gelegen, eine der gefeiertſten. Adam von Bremen erzählt von ihr: ſie ſei eine ſehr angeſehene Stadt und der größte Ort, den das heidniſche Europa aufzuweiſen habe. „ In ihr — ſo fährt er fort — wohnen Slaven und andere Nationen, Grie - chen und Barbaren. Denn auch den dort ankommenden Sachſen iſt, unter gleichem Rechte mit den Uebrigen, zuſammen zu wohnen verſtattet, freilich nur, ſo lange ſie ihr Chriſtenthum nicht öffentlich kundgeben. Uebrigens wird, was Sitte und Gaſtlichkeit anlangt, kein Volk zu finden ſein, das ſich ehrenwerther und dienſtfertiger bewieſe. Jene Stadt beſitzt auch16 alle möglichen Annehmlichkeiten und Seltenheiten. Dort findet ſich der Vulkanstopf, den die Eingeborenen das „ griechiſche Feuer “nennen; dort zeigt ſich auch Neptun in dreifacher Art, denn von drei Meeren wird jene Inſel beſpült, deren eines von ganz grünem Ausſehn ſein ſoll, das zweite aber von weiß - lichem; das dritte iſt durch ununterbrochene Stürme beſtändig in wuthvoll brauſender Bewegung. “
Dieſe Beſchreibungen zeitgenöſſiſcher Schriftſteller, wie auch die Beſchreibung von Vineta oder Julin (die beide daſſelbe ſind) beziehen ſich auf wendiſche Handels - und Küſtenſtädte. Es iſt indeſſen wahrſcheinlich, daß die märkiſch-wendiſchen Binnen - ſtädte wenig davon verſchieden waren, wenn auch vielleicht um etwas geringer. An Handel waren ſie gewiß unbedeutender, aber dafür ſtanden ſie dem deutſchen Leben und ſeinem Einfluß näher.
Wenden wir uns nunmehr der Frage zu, wie lebten die Wenden in ihren Dörfern und Städten, wie kleideten, wie beſchäftigten ſie ſich, ſo wird das Wenige, was wir bis hierher über ihre Häuſer u. ſ. w. geſagt haben, auch ein gewiſſes Licht auf dieſe Dinge werfen. Wie beſchäftigten ſie ſich? Neben der Führung der Waffen, die Sache jedes Freien war, gab es ein mannigfach gegliedertes, gewerbliches Leben. Die Ausſchmückung der Tempel, Ausſchmückungen, wie man ihnen noch jetzt in alt - ruſſiſchen Kirchen begegnet und wie ſie in den alten Schrift - ſtellern der Wendenzeit vielfach beſchrieben werden, laſſen keinen Zweifel darüber, daß die Wenden eine Art von Kunſt, wenig - ſtens von Kunſthandwerk kannten und übten. Sie ſchnitzten ihre Götzenbilder in Holz oder fertigten ſie aus Erz und Gold, ſie bemalten ihre Tempel und färbten das Schnitzwerk, das als groteskes Ornament die Tempel zierte. Den Schiffbau kannten ſie (die kühnen Seeräuberzüge der Ranen beweiſen es zur Genüge), und ihr Haus - und Kriegsgeräth war mannig - fach. Sie kannten den Haken zur Beackerung und die Sichel um das Korn zu ſchneiden. Die feineren Wollen-Zeuge (ſo berichten die Chroniſten) kamen aus Sachſen; aber eben aus17 der ſpeciellen Anführung des Chroniſt en, daß die feineren Zeuge aus Sachſen kamen, geht zur Genüge hervor, daß die minder feinen im Lande ſelber bereitet wurden. Einheimiſche Arbeit war auch die Leinewand, in welche die Nation ſich klei - dete und wovon ſie zu Segeln und Zelten große Mengen gebrauchte. Es iſt alſo wohl nicht zu bezweifeln, daß der Webſtuhl im Wendenlande bekannt war wie im ganzen Norden bis nach Island, und daß die Hände, welche den Flachs und den Hanf dem Erdboden abgewannen, ihn auch zu verarbeiten verſtanden. Die Hauptbeſchäftigungen blieben freilich Jagd und Fiſcherei, daneben die Bienenzucht. Das Land wies darauf hin; noch jetzt in den ſlaviſchen Flachlanden Oſteuropa’s, auf den Strecken zwiſchen Wolga und Ural, wo weite Haiden mit Lindenwäldern wechſeln, begegnen wir denſelben Erſcheinungen, derſelben Beſchäftigung. Die Honigerträge waren reich und wichtig, weil aus ihnen der Meth gewonnen wurde. Bier wurde aus Gerſte gebraut. Die Fiſche wurden friſch oder ein - geſalzen gegeſſen, denn man benutzte die Soolquellen und wußte das Salz aus ihnen zu gewinnen. Vieles ſpricht dafür, daß ſie ſelbſt Bergbau trieben und das Eiſen aus dem Erz zu ſchmel - zen verſtanden.
Noch ein Wort über die nationale Kleidung der Wen - den. Es liegen nur Andeutungen darüber vor. Daß ſie ſo geweſen ſei, oder auch nur ähnlich, wie die Wenden ſie jetzt noch tragen, iſt wohl falſch. Die wendiſche Tracht entwickelte ſich in den wendiſch gebliebenen Gegenden unter dem Einfluß wenn nicht der deutſchen Mode, ſo doch des deutſchen Stoffs und Materials, und es bedarf wohl keiner Verſicherung, daß die alten urſprünglichen Wenden weder Faltenröcke noch Zwickel - ſtrümpfe, weder Mancheſtermieder noch Ueberfallkragen gekannt haben. All dies iſt ein in ſpätern Culturzeiten Gewor - denes, an dem die Wenden-Ueberreſte nolens volens theilneh - men mußten. Gieſebrecht beſchreibt ihre Kleidung wie folgt: „ Zur nationalen Kleidung gehörte ein kleiner Hut, ein Ober - gewand, Unterkleider und Schuhe oder Stiefeln; barfuß gehenFontane, Wanderungen. III. 218wurde als ein Zeichen der äußerſten Armuth betrachtet. Die Unterkleider konnten gewaſchen werden; der Stoff, aus dem ſie beſtanden, war alſo vermuthlich Leinewand. Das Oberkleid war wollen. “ Ueber Schnitt der Kleidung und die bevorzugten Farben wird nichts geſagt, doch dürfen wir wohl annehmen, daß ſich eine Vorliebe für das Bunte (wie ſie die wendiſchen Trachten und faſt alle Nationaltrachten zeigen) darin ausſprach. Der kleine Hut und die leinenen Unterkleider: Rock, Weſte, Beinkleid, finden ſich übrigens noch bis dieſen Tag bei den Spreewalds-Wenden vor. Nur die Frauentrachten weichen völlig davon ab.
Nachdem wir bis hierher die äußere Erſcheinung betont und die Frage zu beantworten geſucht haben: wie ſahen die alten Wenden aus? wie wohnten ſie? wie beſchäftigten und wie kleideten ſie ſich, wenden wir uns in Folgendem mehr ihrem geiſtigen Leben zu, der Frage: wie war ihr Charakter, ihre geiſtige Begabung, ihr Rechtsſinn, ihre Religioſität.
Die Wenden haben uns leider kein einziges Schriftſtück (wahrſcheinlich hatten ſie nichts derart) hinterlaſſen, das uns als Anhaltepunkt dienen könnte, um danach die Schilderungen, die uns ihre bittern Feinde, die Deutſchen, von ihnen entworfen haben, nöthigenfalls zu corrigiren. Wir hören eben nur eine Partei ſprechen, dennoch ſind auch dieſe Schilderungen ihrer Gegner nicht eigentlich dazu angethan, uns mit Abneigung gegen den Charakter der Wenden zu erfüllen. Wir begegnen mehr liebenswürdigen als häßlichen Zügen, und wo wir dieſe häß - lichen Züge treffen, iſt es gemeinhin unſchwer zu erkennen, woraus dieſe Häßlichkeiten hervorgingen. Meiſt waren es Re - preſſalien, Regungen der Menſchennatur überhaupt, nicht einer ſpezifiſch böſen Menſchennatur.
Zwei Tugenden werden den Wenden von allen deutſchen Chronikenſchreibern jener Epoche (Widukin, Thietmar, Adam von2*20Bremen) zuerkannt: ſie waren tapfer und gaſtfrei. Ihre Tapfer - keit ſpricht aus der ganzen Geſchichte jener Epoche, und der Umſtand, daß ſie trotz Fehden und ſteter Zerſplitterung ihrer Kräfte dennoch den Kampf gegen das übermächtige Deutſchthum zwei Jahrhunderte lang fortſetzen konnten, läßt ihren Muth in allerglänzendſtem Lichte erſcheinen. Sie waren ausgezeichnete Krieger, zu deren angeborner Tapferkeit ſich noch andere krie - geriſche Gaben, wie ſie den Slaven eigenthümlich ſind, geſell - ten: Raſchheit, Schlauheit, Zähigkeit. Hierin ſind alle deutſchen Chroniſten einig; eben ſo einig ſind ſie in Anerkennung der wendiſchen Gaſtfreundſchaft. „ Um Aufnahme zu bitten, hatte der Fremde in der Regel nicht nöthig; ſie wurde ihm wett - eifernd angeboten. Jedes Haus hatte ſeine Gaſtzimmer und immer offne Tafel. Freigiebig wurde verthan, was durch Acker - bau, Fiſchfang, Jagd, auch wohl durch Handel und Gewerbe (in den größeren Städten) gewonnen worden war. Je frei - gebiger der Wende war, für deſto vornehmer wurde er gehalten, und für deſto vornehmer hielt er ſich ſelbſt. Wurde — was übrigens äußerſt ſelten vorkam — von dieſem oder jenem ruch - bar, daß er das Gaſtrecht verſagt habe, ſo verfiel er allgemei - ner Verachtung, und ſein Haus und Hof durften in Brand geſteckt werden. “
Sie waren tapfer und gaſtfrei, aber ſie waren falſch und untreu, ſo berichten die alten Chroniſten weiter. Die alten Chroniſten ſind indeſſen ehrlich genug hinzuzuſetzen: „ untreu gegen ihre Feinde. “ Dieſer Zuſatz legt einem ſofort die Frage nahe: wie waren denn nun aber dieſe Feinde? waren ſie, ganz von aller ehrlichen Feindſchaft, von offenem Kampfe abgeſehen, waren dieſe Feinde ihrerſeits von einer Treue, einem Worthalten, einer Zuverläſſigkeit, die den Wenden ein Sporn hätten ſein können, Treue mit Treue zu vergelten?
Die Erzählungen der Chroniſten machen uns die Antwort auf dieſe Frage leicht; in rühmlicher Unbefangenheit erzählen ſie uns die endloſen Perfidieen der Deutſchen. Dies erklärt ſich daraus, daß ſie, von Parteigeiſt erfüllt und blind im Dienſt21 einer großen Idee, die eigenen Perfidieen vorweg als gerechtfer - tigt anſahen; wendiſcher Verrath aber war einfach Verrath und ſtand da ohne allen Glorienſchein in nackter alltäglicher Häßlich - keit. Der Wende war ein „ Hund “, ehrlos, rechtlos, und wenn er ſich unerwartet aufrichtete und ſeinen Gegner biß, ſo war er untreu. Ein Hund darf nicht beißen, es geſchehe ihm was da wolle. Die Geſchichte von Miſtewoi haben wir gehört, ſie zeigt die ſchwindelnde Höhe deutſchen Undanks und deutſcher Ueberhebung; in noch ſchlimmerem Lichte erſcheint das Deutſch - thum in der Geſchichte von Markgraf Gero. Dieſer, wie in Balladen oft erzählt, ließ 30 wendiſche Fürſten, alſo wahrſchein - lich die Häupter faſt aller Stämme zwiſchen Elbe und Oder, zu einem Gaſtmahl laden, machte die Erſchienenen trunken und ließ ſie dann ermorden. Das war 939. Nicht genug damit. Im ſelben Jahre vollführte er einen zweiten Liſt - und Gewaltſtreich. Den Tugumir, einen flüchtigen Fürſten der Heveller, den er durch Verſprechungen auf ſeine Seite zu ziehen gewußt hatte, ließ er nach Brannibor zurückkehren, wo er Haß gegen die Deutſchen heucheln und dadurch die alte Gunſt ſeines Stammes ſich wieder erobern mußte. Aber kaum im Beſitz dieſer Gunſt, tödtete er nunmehr ſeinen Neffen, der in wirklicher Treue und Aufrichtigkeit an der Sache der Wenden hing, und öffnete dann dem Gero die Thore, deſſen bloßes Werkzeug er geweſen war. Das waren die Thaten, mit denen die Deutſchen — freilich oft unter Hilfe und Zuthun der Wenden ſelbſt — voranſchritten. Weder die Deutſchen noch ihre Chroniſten, zum Theil hochkirch - liche Männer, ließen ſich dieſe Verfahrungsweiſe anfechten, klag - ten aber mal auf mal über die „ Falſchheit der götzendieneriſchen Wenden. “
Die Wenden waren tapfer und gaſtfrei, und wie wir uns überzeugt halten, um kein Haar falſcher und untreuer als ihre Beſieger, die Deutſchen; aber in einem waren ſie ihnen allerdings unebenbürtig, in jener geſtaltenden, große Ziele von Generation zu Generation unerſchütterlich im Auge behaltenden Kraft, die zu allen Zeiten der Grundzug der germaniſchen Race22 geweſen und noch jetzt die Garantie ihres Lebens, ihrer Dauer - barkeit iſt. Die Wenden von damals waren wie die Polen von heut. Ausgerüſtet mit liebenswürdigen und blendenden Eigenſchaften, an Ritterlichkeit ihren Gegnern mindeſtens gleich, an Leidenſchaft, an Opfermuth ihnen vielleicht überlegen, gingen ſie dennoch zu Grunde, weil ſie jener geſtaltenden Kraft ent - behrten. Immer voll Neigung, der Peripherie zu ihre Kräfte ſchweifen zu laſſen, ſtatt ſie im Centrum zu einen, fehlte ihnen das Concentriſche, während ſie excentriſch waren in jedem Sinne. Dazu die individuelle Freiheit höher achtend als die ſtaatliche Feſtigung —, wer erkennte in dieſem allen nicht polniſchnatio - nale Züge? Was die Polen jetzt ſind, das waren die Wenden damals.
Wir ſprechen zuletzt von dem Cultus der Wenden. Weil die religiöſe Seite der zu bekehrenden Heidenſtämme unſere chriſt - lichen Miſſionare (darunter zum Theil auch unſere Chroniſten) mehr intereſſiren mußte als irgend eine andere Seite wendiſchen Lebens und Thuns, ſo iſt es begreiflich, daß wir über dieſen Punkt unſerer liutiziſchen Vorbewohner am beſten unterrichtet ſind. Die Nachrichten, die uns geworden, beziehen ſich in ihren Details zwar überwiegend auf jene zwei Haupttempelſtätten des Wendenlandes, die nicht innerhalb der Mark, ſondern die eine (Rhetra) hart an unſerer Grenze, die andere (Arkona) auf Rügen gelegen war; aber wir dürfen faſt mit Beſtimmtheit an - nehmen, daß ſich alle dieſe Beſchreibungen auch auf die Tempel - ſtätten unſerer märkiſchen Wenden beziehen, wenn gleich dieſe, Brannibor nicht ausgeſchloſſen, nur zweiten Ranges waren.
Die wendiſche Religion kannte drei Arten der Anbetung:
Die Natur war der Boden, aus dem der wendiſche Cultus aufwuchs, wie die wendiſche Religion überhaupt Die ſpätere Bilder-Anbetung war nur Natur-Anbetung in anderer Geſtalt. Statt Stein, Quelle, Sonne ꝛc., die urſprüng -23 lich Gegenſtand der Anbetung geweſen waren, wurden nunmehr Geſtalten angebetet, die Stein, Quelle, Sonne ꝛc. bildlich darſtellten.
Die Wenden hatten in ihrer Religion einen Dualismus ſchwarzer und weißer Götter, einer lichten Welt auf der Erde und eines unterirdiſchen Reiches der Finſterniß. Die Einheit lag im Jenſeits, im Himmel.
An und in ſich ſelbſt unterſchied der Wende Leib und Seele, doch ſcheint ihm die Menſchenſeele der Thierſeele ver - wandt erſchienen zu ſein; wenigſtens glaubte er nicht an per - ſönliche Unſterblichkeit. Die Seele ſaß im Blut, aber war doch wieder getrennt davon. Strömte das Blut des Sterbenden zu Boden, ſo flog die Seele aus dem Munde und flatterte zum Schrecken aller Vögel, nur nicht der Eule, ſo lange von Baum zu Baum, bis die Leiche verbrannt oder begraben war.
Die alten Chroniſten haben uns die Namen von vier - zehn wendiſchen Göttern überliefert. Unter dieſen waren die folgenden fünf wohl die berühmteſten: Siwa (das Leben); Gerowit (der Frühlingsſieger); Swatowit (der heilige oder helle Sieger); Radigaſt (die Vernunft, die geiſtige Kraft); Triglaff (der Dreiköpfige. Ohne beſtimmte Bedeutung).
Vom Siwa haben wir keine Beſchreibung. Gerowit, der Frühlingsſieger, war mit kriegeriſchen Attributen geſchmückt, mit Lanzen und Fahnen, auch mit einem großen kunſtvollen, mit Goldblech beſchlagenen Schild. Radigaſt war reich ver - goldet und hatte ein mit Purpur verziertes Bett. Noch im 15. Jahrhundert hing in einem Fenſter der Kirche zu Gadebuſch eine aus Erz gegoſſene Krone, die angeblich von einem Bilde dieſes Gottes herſtammte. Swatowit hatte vier Köpfe, zwei nach vorne, zwei nach rückwärts gewandt, die wieder abwechſelnd nach rechts und links blickten. Bart und Haupt - haar war nach Landesſitte geſchoren. In der rechten Hand hielt der Götze ein Horn, das mit verſchiedenen Arten Metall verziert war und jährlich einmal mit Getränk angefüllt wurde; der linke Arm war bogenförmig in die Seite geſetzt, die24 Kleidung, ein Rock, der bis an die Schienbeine reichte. Dieſe waren von anderem Holz als die übrige Figur und ſo künſtlich mit den Knieen verbunden, daß man nur bei genauer Betrachtung die Fugen wahrnehmen konnte. Die Füße ſtanden auf der Erde und hatten unter dem Boden ihr Fuß - geſtell. Das Ganze war rieſenhaft, weit über menſchliche Größe hinaus. Endlich Triglaff hatte drei Köpfe; er war von Menſchengröße; ſeine drei Köpfe waren verſilbert und ein gol - dener Bund verhüllte Augen und Lippen.
Dieſe Götter hatten überall im Lande ihre Tempel, nicht nur in Städten und Dörfern, ſondern auch in unbewohnten Veſten, ſogenannten „ Burgwällen “, und zwar auf Hügeln und Klippen, in Seen und Wäldern. Wahrſcheinlich hatte jeder „ Gau “, deren es im Lande zwiſchen Elbe und Oder etwa 45 gab (eine Anzahl derſelben habe ich Eingangs aufgezählt), einen Haupttempel, ähnlich wie es in ſpäterer chriſtlicher Zeit in jedem größeren Diſtrikt eine Biſchofskirche, einen Dom, ein Kloſter gab. Dieſer Haupttempel konnte in einer Stadt ſein, aber auch eben ſo gut in einem „ Burgwall “, der dann nur den Tempel umſchloß und etwa einem Berge mit einer berühmten Wallfahrts - kirche entſprach. In Julin, Wolgaſt, Gützkow, Stettin, Mal - chow, Ploen, Jüterbock und Brandenburg werden ſolche Städte - Tempel eigens erwähnt; unzweifelhaft aber gab es deren an weit mehr Orten als an den vorſtehend genannten.
Die zwei Haupttempelſtätten im ganzen Wendenland waren, wie mehrfach hervorgehoben, Rhetra und Arkona. Stettin und Brannibor, ihnen vielleicht am nächſten ſtehend, hatten doch über - wiegend eine lokale Bedeutung.
Rhetra und Arkona repräſentirten auch die Orakel, bei denen in den großen Landesfragen Raths geholt wurde, und ihr Anſehn war ſo groß, daß der Beſitz dieſer Tempel dem ganzen Stamme, dem ſie zugehörten, ein geſteigertes Anſehen lieh; die Redarier und die Ranen nahmen eine bevorzugte Stellung ein. Später entſpann ſich zwiſchen beiden eine Riva - lität, wie zwiſchen Delphi und Dodona.
Rhetra war unter dieſen beiden Orakelſtätten die ältere, und wir beginnen mit Wiedergabe deſſen, was Thietmar, Biſchof von Merſeburg, über dieſe ſagt. Thietmar berichtet:
„ So viele Kreiſe es im Lande der Liutizier giebt, ſo viele Tempel giebt es auch und ſo viele einzelne Götzenbilder werden verehrt; die Stadt Rhetra aber behauptet einen ausgezeichneten Vorrang vor allen anderen. Nach Rhetra ſchicken die Wenden - fürſten, ehe ſie in den Kampf eilen, und ſorgfältig wird hier vermittelſt der Looſe und des Roſſes nachgeforſcht, welch’ ein Opfer den Göttern darzubringen ſei. “
26Stadt und Tempel von Rhetra ſchildert Thietmar nun weiter: „ Rhetra liegt im Gau der Rhedarier, ein Ort von dreieckiger Geſtalt, den von allen Seiten ein großer, von den Eingeborenen gepflegter und heilig gehaltener Hain umgiebt. Der Ort hat drei Thore. Zwei dieſer Thore ſtehen Jedem offen; das dritte Thor aber (das kleinſte, nach Oſten zu gelegen) weiſt auf das Meer hin und gewährt einen furchtbaren Anblick. An dieſem Thor ſteht nichts als ein künſtlich aus Holz gebau - tes Heiligthum, deſſen Dach auf den Hörnern verſchiedener Thiere ruht, die es wie Tragſteine emporhalten. Die Außen - ſeiten dieſes Heiligthums ſind mit verſchiedenen Bildern von Göttern und Göttinnen, die, ſo viel man ſehen kann, mit bewundernswerther Kunſt in das Holz hineingemeißelt ſind, ver - ziert; inwendig aber ſtehen von Menſchenhand gemachte Götzen - bilder, mit ihren Namen am Fußgeſtell, furchtbar anzuſchauen. Der vornehmſte derſelben heißt Zuaraſioi (Beiname des Radi - gaſt) und wird von allen Heiden geehrt und angebetet. Hier befinden ſich auch ihre Feldzeichen, welche nur, wenn es zum Kampfe geht, von hier fortgenommen und dann von Fuß - kämpfern getragen werden. Um dies alles ſorgfältig zu hüten, ſind von den Eingeborenen beſondere Prieſter angeſtellt, welche, wenn die Leute zuſammenkommen, um den Bildern zu opfern und ihren Zorn zu ſühnen, allein ſitzen bleiben, während die anderen ſtehen. Indem ſie dann heimlich untereinander mur - meln, graben ſie voll Zornes in die Erde hinein, um vermit - telſt geworfener Looſe nach Gewißheit über zweifelhafte Dinge zu forſchen. Nachdem dies beendigt iſt, bedecken ſie die Looſe mit grünem Raſen und führen ein Roß, das als heilig von ihnen verehrt wird, mit demüthigem Flehen über die Spitzen zweier ſich durchkreuzenden, in die Erde geſteckten Speere weg. Dies iſt gleichſam der zweite Akt, zu dem man ſchreitet, um die Zukunft zu erforſchen, und wenn beide Mittel (zuerſt das Loos, dann das heilige Pferd) auf ein gleiches Vorzeichen hin - deuten, ſo handelt man darnach; wo nicht, ſo wird von den betrübten Eingeborenen die ganze Angelegenheit aufgegeben. “
27Als Biſchof Thietmar dieſe Schilderung von Rhetra ent - warf, ſtand daſſelbe noch in höchſtem Anſehen bei der Geſammt - heit des Wendenvolkes, aber ſchon wenige Jahre ſpäter ging ſein Ruhm als erſte Tempel - und Orakelſtätte des Wenden - reiches unter; Arkona auf Rügen trat an ſeine Stelle. Nach 1066 hatten die Wenden, nach einem ſiegreichen Rachezuge, den Biſchof Johann von Mecklenburg nach Rhetra geſchleppt und dem Radigaſt das Haupt des Biſchofs geopfert; aber dies Ereig - niß führte zugleich zu jener Niederlage Rhetra’s, von der es ſich nicht mehr ganz erholte. Im Winter 1067 auf 68 erſchien Biſchof Burkhard von Halberſtadt vor Rhetra, ſtürzte das Götzenbild um und ritt auf dem weißen Roſſe des Radigaſt heim. Dieſer wohlberechnete Hohn blieb auf die Wendenſtämme nicht ohne Einfluß, Eiferſucht gegen die Rhe - darier kam hinzu, und ſo wendeten ſich die Wendenſtämme von dem Radigaſt zu Rhetra, der ſich ſchwach erwieſen hatte, ab und dem Swatowit-Tempel in Arkona zu. Hundert Jahre lang, von jenem Tage der Niederlage ab, glänzte nun Arkona, wie vorher Rhetra geglänzt hatte. Auch von Arkona und ſeinem Swatowit-Tempel beſitzen wir eine Beſchreibung. Es ſcheint, daß 4 mächtige Holzpfeiler, die auf Thierhörnern ruhten, ihrerſeits ein Dach trugen, deſſen Inneres dunkelroth getüncht war. Der Raum zwiſchen den 4 Pfeilern war durch Bretter - wände ausgefüllt, die allerhand bunt bemaltes Schnitzwerk tru - gen. Dies alles aber war nur die Außenhülle, und 4 mäch - tige Innen-Pfeiler, durch Vorhänge geſchloſſen, theilten den inneren Tempelraum wieder in zwei Hälften, in ein Heiligſtes und Allerheiligſtes. In dem letzteren erſt ſtand das Bild Swa - towit’s. Arkona hatte beſondere Tempeldiener, und mehr und mehr bildete ſich hier eine Prieſterkaſte aus. Sie unterſchieden ſich ſchon durch Tracht und Kleidung von dem Reſt der Nation und trugen Bart und Haar lang herabwallend, während die übrigen Ranen Bart und Haar geſchoren trugen. Sie gehörten zu den Edlen des Landes; kriegeriſche und prieſterliche Thätig - keit galt überhaupt den Wenden als wohl vereinbar.
28Auch hier in Arkona diente das „ weiße Pferd “zur Zeichen - deuterei. Alle Poeſie knüpfte ſich an daſſelbe. Nicht ſelten fand man es des Morgens mit Schaum und Schmutz bedeckt in ſeinem Stall: dann hieß es, Swatowit ſelber habe das Pferd geritten und es im Streit gegen ſeine Feinde getummelt. Die Formen, unter denen das Orakel ertheilt oder die Frage „ Krieg oder Friede “entſchieden wurde, waren denen in Rhetra nah verwandt, aber doch nicht voll dieſelben. Drei Paar gekreuzte Lanzen wurden in den Boden geſteckt und das Pferd heran geführt. Schritt es nun mit dem rechten Fuß zuerſt über die Speere, ſo war das Zeichen glücklich, unglücklich, wenn das Thier den linken Fuß zuerſt aufhob. Entſchiedenes Heil aber verſprach das Orakel nur, wenn das weiße Pferd über alle drei Lanzenpaare mit dem rechten Fuße hingeſchritten war.
Der Swatowit-Tempel auf Arkona war das letzte Boll - werk des Heidenthums; es fiel endlich in den Dänenkämpfen, im Kriege mit „ Waldemar dem Sieger “, nachdem es nicht nur den Radigaſt-Tempel Rhetra’s, wenigſtens den Ruhm deſſelben, um ein Jahrhundert, ſondern auch den uns in gewiſſem Sinne näher angehenden Triglaff-Tempel zu Brannibor um zwanzig und einige Jahre überlebt hatte.
Dieſer Triglaff-Tempel zu Brannibor, wenn auch für die Geſammtheit der Wenden nur ein Tempel zweiten Ranges, ſtand doch, wie eben ſchon angedeutet, für die märkiſchen Wenden in erſter Reihe, und dieſe ſeine lokale Bedeutung — da uns die märkiſchen Wenden hier vorzugsweiſe beſchäftigen — erheiſcht noch ein kurzes Verweilen bei ihm.
Der Triglaff, der in Brannibor verehrt wurde, war eine urſprünglich pommerſche Gottheit und wurde, wie es ſcheint, erſt in ſpäterer Zeit, ſei es aus Eiferſucht oder ſei es aus Miß - trauen gegen den Radigaſt (in Rhetra), von Pommern her eingeführt. In Kürze haben wir ihn ſchon an anderer Stelle beſchrieben. Er hatte drei Köpfe, weil er Herr im Himmel, auf Erden und in der Unterwelt war, und ſein Geſicht war verhüllt, zum Zeichen, daß er die Sünden der Menſchen29 überſah und verzieh. In ſeinen Händen hielt er einen gehörn - ten Mond, ein Symbol, über deſſen Bedeutung nur Vermu - thungen exiſtiren. Seinen Haupttempel hatte er in Stettin, der den Schilderungen nach, die wir davon beſitzen, den aus Holz aufgeführten, mit Bildwerk und Schnitzereien ausgeſchmückten Tempeln in Rhetra und Arkona ſehr verwandt geweſen ſein muß. Auch der Triglaff-Dienſt war dem Dienſt des Radi - gaſt oder Swatowit mehr oder weniger verwandt. Die Zeichen wurden in ähnlicher Weiſe gedeutet, das Roß ſchritt über die gekreuzten Lanzenſpitzen hin, und das Berühren dieſer oder jener Lanze, mit dem einen oder andern Fuß — alles hatte ſeine Bedeutung zum Heil oder Unheil. Nur das Roß ſelbſt war nicht weiß ſondern ſchwarz, vielleicht weil Triglaff ſelbſt mehr den finſtern als den lichten Göttern zugehörte.
Um 982, unmittelbar nach dem großen Wendenaufſtande, war es, daß nunmehr dieſem Triglaff zu Ehren auch in Bran - nibor (wo bereits 50 Jahre ein Biſchofsſitz beſtanden hatte) ein Tempel errichtet wurde; derſelbe erhob ſich auf dem Harlun - ger Berge und ſah triumphirend in das dem Heiden - und Wen - denthum wieder zurückeroberte Land hinein. Es war höchſt wahrſcheinlich kein Holzbau mehr, wie der Stettiner, ſondern ein Steinbau, nach Art der chriſtlichen Steinkapellen,*)Daß die Wenden, in ſpäterer Zeit, ſolche aus Stein aufgeführte Tempel gehabt haben, dafür ſpricht manches, namentlich auch manche örtliche Tradition. So finden wir in einer 1619 zu Wittenberg gedruck - ten Jubelpredigt eines Jüterbocker Geiſtlichen folgendes: „ Das uralte Templein allhier, welches ungefähr nur vor vierzig und etlichen Jahren iſt eingeriſſen worden, darinnen der heidniſche Götzendienſt der Wendiſchen Morgengöttin ſoll ſein geleiſtet worden, dies Templein iſt in der Länge, Breite und Höhe bis an das Dach recht viereckigt von Mauerſteinen aufgeführt geweſen, hat oben ein Kreuz - gewölbe und darüber ein viereckigt zugeſpitztes Dach von hellen Steinen gehabt. Die Thür oder Eingang von abendwärts iſt niedrig geweſen, alſo daß man im Eingehen ſich etwas bücken müſſen. Es hat auch keine Fenſter gehabt, ſondern nur ein rundes Loch ꝛc. — — alſo habe ich’s von mehreren Perſonen, die noch am Leben ſind, und30 M. W. Heffter in ſeiner trefflichen Geſchichte Brandenburgs ſtellt ſogar die Hypotheſe auf, daß aus dieſem alten heidniſchen Tempelbau, zunächſt ohne weſentliche Umgeſtaltung, die ſpäter ſo berühmt gewordene Marienkirche auf dem Harlunger-Berge hervorgegangen ſei. Wir halten dies für wahrſcheinlicher als nicht, finden indeſſen den Beweis dafür weniger in der eigenthümlichen, in allem Weſentlichen aber doch immer noch byzantiniſchen For - mengebung dieſer Kirche, als in dem hiſtoriſch nachgewieſenen Umſtande, daß ſich unter den märkiſchen Wenden der Uebergang aus dem Heidenthum ins Chriſtenthum im Weſentlichen ruhig vollzogen zu haben ſcheint, ſo ruhig etwa wie 400 Jahre ſpäter der Uebergang aus dem Katholicismus in den Proteſtantismus. Der Fürſt (Pribislaw) wurde Chriſt; das Volk folgte, theilwei - ſe widerwillig, aber doch vielfach auch willig und zwanglos. Man hatte ſich bereits mit und nebeneinander eingelebt, und der bloße Umſtand, daß das geſtürzte Bild des Triglaff nicht verbrannt oder zerſtört, vielmehr, allen bekannt und allen zu - gänglich, bis 1526 in einer Seitenkapelle der Marienkirche auf - bewahrt wurde (in welchem Jahre Chriſtian II. von Dänemark es unter Zulaſſung Joachim’s I. mit fortnehmen durfte), deu - tet darauf hin, daß die innere Wandlung der Gemüther ſich friedfertig genug vollzogen und der Chriſtengott den Wenden - gott ruhig bei Seite gedrängt hatte. Dieſe Umwandlung des Triglaff-Tempels in eine Marienkirche erfolgte zwiſchen 1136 und 41; ſechshundert Jahre hat vom Harlunger-Berge aus die berühmte Marienkirche in’s Land geſehen. Ihre Entſtehung bezeichnete den endlichen Sieg des Chriſtenthums über das Hei - denthum im Lande zwiſchen Elbe und Oder. Auf der Stätte des Triglaff-Tempels ging ein neues Leben auf, und der drei - einige Gott ſprach hinfort ſtatt des dreiköpfigen Gottes zu ſei - nem Volke.
So, wie vorſtehend geſchildert, waren die Wenden zur Zeit der (endgültigen) deutſchen Eroberung 1157 in dem Lande zwiſchen Elbe und Oder.
Es bleibt uns noch die Beantwortung der Frage übrig: was wurde aus den Wenden. Sie wurden keineswegs mit Stumpf und Stiel ausgerottet, ſie wurden auch nicht (wie die Indianerſtämme in Amerika) einfach zurückgedrängt bis zu Gegenden, wo ſie Stammesgenoſſen vorfanden, — ſie blieben vielmehr alle oder doch ſehr überwiegenden Theils im Lande und haben in allen Provinzen jenſeit der Elbe unzweifelhaft jene Miſch-Race hergeſtellt, die jetzt die preußiſchen Provinzen be - wohnt.
Einzelne Hiſtoriker haben dies beſtreiten wollen, aber wie wir glauben mit Unrecht. Einmal würde eine ſolche conſequent durchgeführte Racen-Geſchiedenheit gegen die hiſtoriſche Ueber - lieferung aller andern Staaten, bei denen ähnliche Verhältniſſe obwalteten, ſprechen, (Polen und Deutſche haſſen ſich bis dieſen Tag und heirathen ſich doch), andererſeits dürfte es, von allen Analogien abgeſehen, nicht ſchwer halten, in aberhundert Einzel - fällen ſolche Miſchung der beiden Racen nachzuweiſen. Es iſt wahr, die Deutſchen brachten den Stolz des Siegers mit, ein Race-Gefühl, das, auf geraume Zeit hin, eine Schranke ge - zogen haben mag; wir halten uns aber nichts deſtoweniger über - zeugt, daß, noch ehe die Hohenzollern in’s Land kamen, jeden - falls aber noch vor Mitte des 15. Jahrhunderts dieſe Unter - ſchiede ſo gut wie verwiſcht waren. Sie mögen an ein - zelnen Orten länger beſtanden haben, es mag Ortſchaften geben, wo ſich bis dieſen Tag eine Excluſivität findet, die auf jene alte Wenden-Abneigung zurückzuführen iſt, im Großen und Ganzen liegt die Verſchmelzung aber weit zurück. Wir wollen dabei anderer - ſeits gern zugeben, daß, wenn die Jahrhunderte ſeitdem in unge - ſtörtem Frieden verfloſſen und die Generationen in den Dörfern, ſäend und erndtend, in einem ewigen Wechſel und doch zugleich in einem ewigen Gleichmaaß ſich gefolgt wären, dieſe Empfin - dungen des Racen-Dünkels vielleicht dieſelben geblieben wären. 32Aber „ die Noth giebt wunderliche Schlafgeſellen “, und die Con - ſervirung von Race-Dünkel und Vorurtheil wurde durch die Ver - hältniſſe, durch Brand und Krieg, durch die Gemeinſchaftlichkeit des Unglücks unmöglich gemacht. Das Aufeinander-angewieſen-ſein riß jene Schranken nieder, die in der Fülle ſelbſtbewußten Glücks vielleicht geblieben wären. Mehrfach ging der ſchwarze Tod durch das Land und entvölkerte die Dörfer; was der ſchwarze Tod nicht that, das thaten, in nie raſtenden Kriegen, die Pommern und Polen, und was die Pommern und Polen nicht thaten, das thaten die Huſſiten. Im Barnim befinden ſich vielleicht 20 oder 30 Feldmarken (jetzt einfache Acker - oder Brachfelder), die Namen wie Wüſte-Sieversdorf, Wüſte-Gielsdorf, Wüſte-Büſow ꝛc. führen, Benennungen aus jener Epoche immer neuer Ver - ödungen her. Die wüſt gewordenen Dörfer, namentlich ſolche, wo einzelne bewohnte Häuſer und Hütten ſtehen geblieben waren, wieder neu zu beſetzen, war die Aufgabe der Landesverwaltung, die in Brandenburg von jeher den fridericianiſchen Satz ver - folgte: „ Menſchen; vor allem Menſchen “. Man freute ſich jeden Zuzugs, ohne nach der Racen-Abſtammung zu fragen.
Das deutſche Dorf, in dem vielleicht ein Fritze, ein Han - ſen, ein Dietrichs wohnte, war froh einen Kroll, einen Noack, einen Poſedien die wüſt gewordenen Stätten einnehmen zu ſehn, und ebenſo die wendiſchen Dörfer empfingen den deutſchen Zuzug mit Freude. Die Namensverzeichniſſe im Landbuch von 1375, wie die Urkunden überhaupt, laſſen keinen Zweifel darüber.
Alle dieſe Anführungen haben ſelbſtverſtändlich nur die Regel, nur die Verhältniſſe in ihren großen Zügen ſchildern ſollen, ganz beſonders aber die der Mittelmark. Die Mittel - mark, im Gegenſatz zu den mehr Oder - und Elb-wärts gele - genen Landestheilen, war der eigentliche Miſchungsbottich; die Verhältniſſe forderten dazu auf. Auf dem platten Lande war es die Noth, in den Städten war es die Gelegenheit, die die Menſchen, deutſch oder wendiſch, zuſammenführte. Die alten Bürgerfamilien freilich beharrten in ihrer Abgeſchloſſenheit und betrachteten den Wenden-Kietz um kein Haar breit beſſer33 als ein jüdiſches Ghetto, aber dem „ Zuzug “gegenüber kamen die alten, alles nach Zunft und Race ſondernden ſtädtiſchen Traditionen wenig oder gar nicht in Betracht, und die „ kleinen Leute “thaten ſich zuſammen, unbekümmert um die Frage: wen - diſch oder deutſch. So lagen die Dinge in der Mittelmark, d. h. alſo in Teltow und Barnim, im Ruppin’ſchen, in Bes - kow-Storkow, in der Weſthälfte von Lebus, überhaupt in allen Landestheilen, in denen ſich Deutſchthum und Wenden - thum einigermaßen die Wage hielten. Anders freilich war es in Weſt und Oſt. Je mehr nach der Elbe zu, je excluſiver hielt ſich das Deutſchthum, weil es ihm leicht gemacht war, ſich aus ſeinen Stammesgenoſſen jenſeits der Elbe zu rekrutiren; umgekehrt, je näher der Oder und den eigentlichen ſlaviſchen Landen zu, je länger blieb das Wendenthum in Kraft. Jetzt indeſſen, wenige Stätten abgerechnet, iſt es, in Wirklichkeit, im Leben unſres Volks verſchwunden. Es lebt noch fort in der Mehrzahl unſerer Städte - und Dorfnamen, in dunklen Erinnerungen, daß in einzelnen, den Namen eines Wenden - gottes bis heute feſthaltenden Lokalitäten (in Jüterbog, in Jütergotz) ein Tempel ſtand, vor allem in den Heidengräbern und Wendenkirchhöfen, die ſich allerorten in der Mark ver - breitet finden.
Aber es iſt charakteriſtiſch, daß eben das Einzige, was aus der alten Wendenwelt noch zu uns ſpricht, ein Begra - benes iſt. Alles geiſtig Lebendige iſt hinüber; ſelbſt der Aber - glaube und die in ihm wurzelnden Sitten, Gebräuche und Volksweiſen, die wohl dann und wann für wendiſche Ueberreſte gehalten worden ſind, laſſen ſich vielfach (und die neuſte Wiſſen - ſchaft hat es mit Erfolg verſucht) auf etwas Urgermaniſches zurückführen, das, auch vor den Wenden ſchon, hier heimiſch war. Mit Sicherheit lebt noch Alt-Deutſches in den Gemü - thern, und das Volk erzählt von Wodan und Fricke (Freia) und dem Hackelberger Jäger; aber Radegaſt und Czernebog ſind todt. Das Wendiſche iſt weggewiſcht, untergegangen in dem Stärkern, in dem germaniſchen Leben und Gemüth,Fontane, Wanderungen. III. 334und nur noch am Rande der Oder hin, den polniſch ſla - viſchen Landen zu, zeigt ſich dann und wann, neben ſlaviſcher Heiterkeit, auch noch jener auf Hartnäckigkeit und Verſchloſſen - heit deutende finſtere Zug, der an die alte Zeit und ihre Be - wohner mahnt.
Eine der älteſten Waldpartien in der Mark iſt der Brieſe - lang, anderthalb Meilen weſtlich von Spandau. Die Ham - burger Eiſenbahn ſchneidet an ſeinem Südrande hart vorbei und bildet ſo zu ſagen den Fuß, auf dem er ſteht. Wer ihn beſuchen will und die Jahre des Turner-Enthuſiasmus hinter ſich hat, pflegt deshalb auch die genannte Bahn zu benutzen, die ihn Wochentags bis an die öſtlichen Vorlande des Waldes (Station Segefeld) oder Sonntags in Extrazügen direct bis an ſeine Eingänge führt.
Der Brieſelang iſt nicht mehr, was er war. In alten Tagen ging er über Quadratmeilen hin und füllte das ganze Territorium, das man damals als Alt-Bredow-Land bezeich - nen konnte. Das Nauen’ſche Luch, die Falkenhagen’ſchen Wieſen, der Bredow’ſche Forſt, das Pauſin’ſche Bruch, alles war Brieſelang, — ein Elsbruch im großen Stil; im Früh - jahr ein Sumpf oder See, im Sommer eine Wieſe, eine Prai - rie, zu allen Jahreszeiten aber von mächtigen Eichen, den „ Brieſelang-Eichen “überragt, die um einen Schuh höher3*36waren, als alle anderen im Lande. Das iſt nun anders geworden; in allen Theilen des alten Gebiets, zumal auch auf jener Strecke, die noch den alten Namen führt, haben ſich die Elemente geſchieden, aus weiten Sumpfſtrecken, denen man die Elſen und Eichen nahm, ſind weite Wieſenſtrecken geworden, und aus anderen, denen man Elſen und Eichen hinzuthat, ſind regelrechte Waldreviere geworden. Nur da, wo Wald und Wieſe mit einander grenzen und der Wald aus ſeinem Heerlager einzelne Poſten in die weite Wieſe hinausſtellt, nur an dieſen Stellen zeigt der Brieſelang noch ſeinen alten Charakter, zumal im Frühjahr, wenn das Sumpfwaſſer ſteigt und ſich wieder in Lachen und Lanken um die Elſenbüſche ſammelt.
Der Brieſelang iſt eine ſchwindende Macht, an Terrain verlierend wie an Charakter, aber auch noch im Schwinden ehrwürdig, voll Zeichen alter Berühmtheit und alten Glanzes. Er beſteht zur Zeit noch aus zwei Hälften, aus dem eigent - lichen Brieſelang und aus der Buten-Haide, von denen jener, mit dem Hauptpunkt „ Finkenkrug “, die ſüdliche, dieſe, die Buten-Haide, mit dem Hauptpunkt „ Königs-Eiche “, die nörd - liche Hälfte bildet, da aber wo beide Hälften zuſammentreffen, inmitten einer Lichtung, erhebt ſich die „ Förſterei Brieſelang “, die als Centralpunkt mit Recht den Namen des ganzen Waldes trägt.
In den Brieſelang alſo!
[37]vergeht kein Sonntag, wo nicht Schaaren von Beſuchern den Brieſelang umſchwärmten. Aber die Tauſende, die kommen und gehn, begnügen ſich damit, den Zipfel ſeines Gewandes zu faſſen, die Parole lautet nicht „ Brieſelang “, ſondern „ Finkenkrug. “ Und doch iſt der Finkenkrug, an der ſüdlichſten Stelle der Süd - hälfte gelegen, ein bloßes Portal, durch das man hindurch muß, um in die eigentliche Schönheit des Waldes einzutreten; nicht dieſſeits liegt die Herrlichkeit, ſondern jenſeits, und alles, was den Brieſelang ausmacht, ſeinen Charakter, ſeine Erinnerungen, ſeine Schätze, alles liegt drüber hinaus. Der Finkenkrug iſt nur erſte Etappe; wer den Brieſelang kennen will, der muß auch, rüſtigen Fußes, die beiden andern Staffeln zu erreichen wiſſen: die För - ſterei und die Eiche. Nur erſt wer bei der „ Königs-Eiche “ſteht, der hat den Brieſelang hinter ſich und kann mitſprechen.
Wir thun’s. Der geneigte Leſer wolle uns folgen.
Es iſt Sonntag vor Pfingſten; wir haben den 11 Uhr - Zug benutzt und die Sonne ſteht bereits in Mittag, als wir landen. Wir ſind zu drei; mein Reiſegefährte, ein pommerſch Blut; ich ſelbſt; der dritte (unſer Führer) ein Autochthone dieſer Gegenden. Das Dreieck Spandau-Nauen-Cremmen38 umſchließt ſeine Welt. Er iſt hager und ausdauernd wie ein Trapper, erfahren und lederfarben wie „ Pfadfinder. “ Er ver - ſteht auch zu ſprechen.
Können Sie’s glauben, ſo hebt er an, daß ich dieſe Straße ſeit 20 Jahren nicht gekommen bin; ich faſſe den Brieſelang immer von Norden her; hier unten bin ich ein Fremder. Ja, vor 20 Jahren! Das war ein Tag, gerade ſo kalt, wie der heutige warm iſt. Wir hatten Wahl in Finkenkrug.
Im Finkenkrug?
Ja, in Finkenkrug. Er mag dadurch poetiſch verlieren, mehr verlieren als er politiſch gewinnt, aber ich kann es nicht ändern. Es war in Finkenkrug und ich kam mit dem Falken - hagener Oberförſter hier des Wegs. Die Pferde waren ganz weiß, der Wald glitzerte; ich habe kein Rothkehlchen geſehn, ſo todt war der Wald.
Und ſie kamen an und ſtießen auf’s leere Neſt. Jeder war zu Hauſe geblieben.
Fehlgeſchoſſen. Viele Hunderte waren da, immer neue Schlitten fuhren an, und ehe eine halbe Stunde um war, war es nicht mehr möglich, die Ankommenden und Hereindrängenden in den Stuben unterzubringen. Da rief Oberförſter Brandt: „ Wir machen ein Feuer und tagen draußen. “ Allgemeiner Jubel. Er war Oberförſter, und die Paar Klafter Holz, die nun bald lichterloh und mit Gepraſſel an zu brennen fingen, wird er wohl nach oben hin verdefendiret haben. Es war ein entzückendes Bild. Der glitzernde Wald, das verſchneite Haus, auf deſſen weißes Dach die rothen Lichter fielen, und um das Feuer herum, in Pelze gewickelt, all die havelländiſchen Bredow’s, die Ribbeck’s, die Hünekes, Erxleben von Selbelang, Riſſelmann von Schönwalde, dazwiſchen die Paſtoren in ihren Filial-Reiſemänteln, endlich die Kutſcher und Knechte mit ihren Pferdedecken. Jede Stimme galt. Der alte Landrath v. Hobe präſidirte und verſicherte uns einmal über das andere, daß v. Patow-Potsdam gewählt werden müſſe.
Und was wurde?
39Nun, er wurde gewählt. Aber nicht ohne Zwiſchenfälle. Es muß wahr ſein, nie habe ich ſolche Vertilgung von Grog und Glühwein geſehen. In ſolchem Moment höchſter Hitze ſprang der Oberprediger aus Cremmen, ein ſcharfer Liberaler, auf die Tribüne und ſchrie: „ Was wollt Ihr jungen Moſt in alte Schläuche faſſen; weg mit Patow, ich ſtelle mich zur Wahl. “ Sein Anhang (kein Drittel) rief Bravo; aber ein Pächter aus Preſſentin, der ſchon völlig unter Grog ſtand, ſchrie in die Verſammlung hinein: „ ’runter mit ihm, hinein in’s Feuer. “ Allgemeines Gelächter; der Oberprediger indeß, der klugerweiſe nicht abwarten wollte, wie viel hier Ernſt oder Spaß war (denn einige faßten bereits zu) rettete ſich durch einen Sprung und verſchwand im Unterholze des Brieſelang. Er hat den Tag nicht vergeſſen können.
So ging das Geſpräch.
Es war inzwiſchen heiß geworden, ſo heiß, daß unſere Phantaſie mit einem gewiſſen Neid an dem Winterbilde hing, das unſer Führer eben vor uns entrollt hatte und ſchon däm - merte die Frage herauf, ob nicht ein flüchtiges „ Ausſpannen “, eine Lagerung an ſchattiger Stelle geſtattet ſei, als wir deutlich eine Art Janitſcharenmuſik vernahmen belebende Klänge, die, immer lauter werdend, unſern Füßen ihre Elaſticität wieder gaben. Wir waren am Ziel, wenigſtens an einem vorläufigen. Der Finkenkrug blitzte durch’s Gezweig, und in guter Haltung rückten wir auf einen kaſtanienumſchatteten Platz, zu dem ſich der Waldweg hier verbreitert. Eine Alternative, vor die wir uns plötzlich und gegen Erwarten geſtellt ſahen, gebot uns mitten im Wege halt zu machen. Der Finkenkrug umfaßt nämlich eine Doppelwirthſchaft: links iſt Kaffee und Kegelbahn, rechts iſt Bier und Büchſenſtand; dies hielt ſich die Wage; aber was zuletzt unſerem Schwanken ein Ende machte, war, daß nach rechts hin, wo das verlockende Seidel blühte, zugleich die minder verlockende Janitſcharenmuſik ihren Platz genommen hatte, die, in die Waldesferne hinein unbedingt ſegensreich wirkend, in nächſter Nähe ihr entſchieden Bedenkliches hatte.
40Alſo links.
Da hatten wir’s denn wirklich mal getroffen. Es war auch die Damenſeite, die Seite der jungen Paare, und ich kann mich nicht entſinnen, von meinen Landsmänninen, honni soit qui mal y pense, jemals einen ſo ungeſtört guten Eindruck empfangen zu haben. Schlank, hübſch, wohlgekleidet, munter ohne Lärm, neckiſch ohne Frivolität, frei ohne „ Freiheiten “, ſchritten ſie paarweiſe auf und ab, ſpielten zwiſchen den Bäu - men, oder flogen in der Schaukel durch die Luft. Fremde, die ſich auf vergleichende Völkerkunde verſtehen, würden die günſtigſten Urtheile von dieſer Stelle mit hinweg genommen haben, wenn man ihnen, die Paare vorſtellend, hätte ſagen können: dies iſt die Schweſter eines Steinmetzen, die Braut eines Büchſenmachers, die junge Frau eines Schiffszimmermanns oder Kahnbauers.
Eine kurze Raſt wurde genommen, das Seidel „ von ge - genüber, “geprobt dann brachen wir wieder auf, mit einem Gruß gegen das graciöſe Paar, das eben jetzt im Verſteckſpiel hinter den Bäumen ſich neckte, und traten dann in jenen ſchon erwähnten, an der Grenzlinie von Wald und Wieſe ſich hinſchlängelnden Weg ein, der, zumal in Apriltagen, wenn Alles wieder See und Sumpf iſt und jedes Elſengebüſch zu einer Inſel wird, die alten Brieſelang - Zeiten herauf beſchwört. Heut bot die Scenerie nichts von den Bildern jener Zeit. Links zwitſcherten die Vögel im Wald, nach rechts hin dehnte ſich die Wieſe, mit Tauſendſchön, Ra - nunkel und rothem Ampfer geſprenkelt. Alles war Heiterkeit und Friede. Unſer „ Pfadfinder “, der während unſers kurzen Aufenthalts im Finkenkrug ſich mehr meinem Reiſegefährten als mir zu attachiren gewußt hatte, brach hier die raſch angeknüpf - ten Beziehungen ebenſo raſch wieder ab, geſellte ſich mir aufs neue und antwortete eingehend und immer bereit auf meine hundert Fragen, die alsbald kreuz und quer gingen wie der Weg, den er uns führte.
Sie fragen nach Wildſtand und Wilddieben; nun, der Wilddiebe hat der Brieſelang wohl nicht allzuviel, aber der41 Walddiebe deſto mehr. Sie glauben gar nicht, was in ſolchem Walde alles ſteckt und wie viele Hunderte von Menſchen daraus ihre Nahrung oder doch einen Theil ihres Erwerbes ziehen. Es mag wohl 20 Arten von „ Jägern “geben, die hier im Brieſe - lang zu Hauſe ſind; vielleicht noch viel mehr.
Und das wären?
Ich will Ihnen nur ein halbes Dutzend nennen. Da ſind die Kräuterjäger, die Käfer -, Fliegen - und Inſekten-Jäger, die Eier - und Vogeljäger, die Laubfroſchjäger, die Schlangen - jäger, die Ameiſenjäger. Auf dem Schwanen-Kruge verſammeln ſich im Juni allerlei Geſtalten, jung und alt, die Jagd auf wilde Roſenſtämme, auf „ Hagebutten-Sträucher “machen, während andere, etwas früher ſchon, aber mit derſelben Perti - nacität dem jungen Faulbaum nachſtellen.
Dem Faulbaum?
Ja! das Faulbaumholz giebt eine allerbeſte Kohle für die Pulverfabrikation. Selbſt Pappeln und Linden kommen gegen den Faulbaum nicht an. Da iſt denn immer Nachfrage, und ſo macht ſich der Handel. Nun werden Sie fragen: iſt das legal? Gut. Aber wer will in der Kohle noch nach der Legalität des Holzes ſpüren? Wer kauft Pottaſche und verlangt Ausweis über den eingeäſcherten Wald?
Ich verſteh. Aber Sie ſprachen auch von Schlangen - jägern. Das klingt ja bedenklich. Sind wir hier auf Reptilien - Terrain?
Nicht gerade hier. Aber weiter rechts, nach dem Span - dauer Forſt hinüber, da ſind die Schlangen zu Hauſe.
Blindſchleichen, Columbellen.
Nicht ſo harmlos. Die echte Kreuzotter. Es ſind dort Stellen, wo ſie ſo dicht wie Regenwürmer liegen. Dieſe Stel - len kennen die Schlangenjäger ganz genau. Ihre ganze Waffe beſteht in einem Stock, der vorn gegabelt iſt. Nun lüften ſie das halbverfaulte Gebälk, drunter die Kreuzotter liegt und im nächſten Moment fahren ſie mit dem Stock derart in die Erde, daß die Gabel ſich wie ein Halsring um die Schlange legt. 42Nun iſt ſie wehrlos und wird durch eine zweite Manipulation in einem Behälter, meiſt einer Flaſche, untergebracht.
Iſt dies nun wiſſenſchaftliche Paſſion?
Unter Umſtänden ja; aber zumeiſt Erwerb. Solche Kreuz - otter hat ihren Werth. Da ſind Händler, auf deren Preis - couranten die Rubrik „ Schlange “eine halbe Spalte füllt.
Aber wer kauft dergleichen?
Hunderte von Perſonen. Da ſind zuerſt die Zoologen und Toxikologen von Fach, da ſind die unerbittlichen Männer der Viviſektion, die von dem harmloſen Kaninchen ’mal gern auf ein kleineres Ungethüm mit Giftzahn und Giftblaſe überſpringen (ein höherer Sport, weil gefährlich), da ſind endlich die chemiſch - phyſikaliſchen Oberlehrer dieſes oder jenes Progymnaſiums, die das Naturalien-Cabinet in Pritzwalk oder Paſewalk auf der „ Höhe der Wiſſenſchaft “zu erhalten d. h. mit allerhand Rep - tilien in Glasflaſchen auszuſtaffiren wünſchen.
Auch mit Kreuzottern?
Gewiß. Die Herren von der Feder glauben immer, daß ſich die Welt blos aus Autographen - und wenn es hoch kommt aus Kupferſtichſammlern zuſammenſetzt. Sie glauben gar nicht, was alles geſammelt wird.
In dieſem Augenblick, als ob uns der Beweis „ was alles geſammelt würde “, auf der Stelle geführt werden ſollte, trat aus einem wilden Elsbuſch-Bosquet eine ſonnenverbrannte Ge - ſtalt hervor, deren Coſtüm (eine Art Jagdtaſche, aus der drei oder vier aufrechtſtehende Cigarrenkiſten hervorragten; dazu ein Stock mit flatterndem Gazebeutel) keinen Zweifel darüber laſſen konnte, welcher Kategorie von Sammlern er zugehörte. Es war ein Muſter-Exemplar.
Er trat mit raſcher Wendung an uns heran, machte mit ſeinem Käſcherſtock eine Bewegung wie ein Tambour-Major, wenn die Muſik aufhören oder wieder anfangen ſoll, und ſagte dann im Berliner Dialekt: Erlauben Sie, daß ich mich Ihnen vorſtelle, mein Name iſt Lampe, Kalitten-Jäger.
43Bei dieſem Schlußwort wiederholte er die Bewegung mit dem Stocke. Im erſten Augenblick, als er ſo jäh und plötzlich, wie die bekannten Drei auf der ſchottiſchen Haide, vor uns hin - trat, erſchrak ich ein wenig. Und zunächſt mit Recht. Die Klaſſe von Jägern nämlich, der er — auch eh’ er ſich ſelbſt dazu bekannt hatte — ſo unverkennbar angehörte, zählt keines - wegs zu den angenehmen, am allerwenigſten zu den harmloſen Erſcheinungen, wie man, ihrem Namen nach, ohne weiteres ſchließen ſollte. Sie vereinigen den Hochmuth des Turners, des Dauerläufers und des Gelehrten in ſich; jeder „ ſteht und fällt mit der Wiſſenſchaft. “
Zu dieſer Gruppe gehörte Lampe nun glücklicherweiſe nicht. Das Berlinerthum wirkte hier als Gegengift. Seine Selbſt - ironie brachte wieder alles ins Gleichgewicht und ließ noch einen gefälligen Ueberſchuß. Er bat, wie geſagt, ſich uns anſchließen und „ ſeine Fahne hochhalten zu dürfen. “ Unſere Herzen fielen ihm gleich zu, und ſo ging es weiter.
Herr Lampe, Sie ſind gewiß auch Kräuterjäger.
Nicht doch. Wer ſeinen Käſcher mit Ehren tragen will, muß die grüne Trommel zu Hauſe laſſen. Fauna apart und Flora apart. Sie glauben gar nicht, welche profunde Wiſſen - ſchaft die Käferei iſt; 120 Bockkäfer nur im Brieſelang. Das will gemacht ſein.
Gewiß. Aber ich habe mir ſagen laſſen, daß die Dinge doch Hand in Hand gehen und daß die „ Käferei “, wie Sie ſagen, ohne „ Kräuterei “gar nicht recht beſtehen kann. Bei - ſpielsweiſe wenn Sie eine Weißdornhecke ſehen, ſo wiſſen Sie auch ſchon, was in dieſer Hecke vorkommen kann, eben ſo gewiß wir wiſſen, wo die Cretins und die Kröpfe zu ſuchen ſind. Urſach und Wirkung. Theorie von der Ernährung. Bergwaſſer.
Ich danke Ihnen für Ihre Vergleiche. Aber Sie haben Recht. Das Land und die Leute, die Kräuter und die Inſekten ſtehen in allernächſter Beziehung zu einander und obwohl ich für ſtrenge Scheidung bin und die Mengerei in der Wiſſenſchaft nicht leiden kann, ſo kann man doch nicht käfern in abſoluter44 Ignorirung der grünen Trommel. Rund heraus, ich kenne dies und das. Aber das iſt nicht Wiſſenſchaft.
Ich höre, daß der Brieſelang eine eigene Flora haben ſoll, daß hier Dinge vorkommen, die ſonſt in der ganzen Mark nicht mehr zu finden ſind. Hat das ſeine Richtigkeit?
Gewiß. Der Brieſelang hat ſeine eigenen Pflanzen und ſeine eigenen Inſekten, er iſt unſer gelobtes Land und ſelbſt die Rudower Wieſe, in „ all dem Ruhm ihrer Orchideen “, muß ſich gegen den Brieſelang verſtecken.
Was kommt denn wohl ſo vor? Ich meine zunächſt von Pflanzen.
Da haben wir zunächſt das Wanzen-Knabenkraut; da haben wir ferner Neottia Nidus avis, das Vogelneſt. Noch ſeltener iſt Coptolanthera rubra, der rothe Rundbeutel; die Krone von allem aber iſt vielleicht Dicranum montanum, der gebirgliebende Gabelzahn. Wie der ſpeciell in den Brieſelang kommt, wo die Maulwurfshügel für Alles, was Berglinie heißt, aufkommen müſſen, iſt mir unerfindlich.
Und nun die Käfer.
Nun wiſſen Sie, da giebt’s kein Ende. Aber ich will es gnädig machen. Da iſt der Widderkäfer, der Baſtkäfer, der Feuerkäfer; dies ſind die leichten Truppen; dann kommt die Garde: der Schwarzkäfer, der Panzerkäfer; aber das eigentlich ſchwere Geſchütz, das den Ausſchlag giebt, das iſt doch Pro - crustes coriaceus und Saperda Seydlii. Beſonders Saperda. Sie lächeln; aber glauben Sie mir, wie unſer einem zu Muthe wird, wenn man blos das Wort Saperda ausſprechen hört, davon können Sie ſich keine Vorſtellung machen. Ich hatte einen legitimiſtiſch-hiſtoriſchen Freund, deſſen Geſicht ſich immer verklärte, wenn er „ Montmorency “ſagte; ſehen Sie, ſo geht es mir mit Saperda. Und ſagen Sie ſelbſt, klingt es nicht ſchön, apart, dies Doppel a und das r in der Mitte! O, wir haben auch ein Herz.
Iſt denn nun Saperda im ganzen Brieſelang verbreitet?
45Verbreitet? Ich weiß nicht, was Sie verbreitet nennen. Wenn eine Sache verbreitet iſt, nun, ſo iſt es mit ihr vorbei, ſo iſt ſie entzaubert. Es giebt keine verbreitete Schönheit. Schönheit iſt immer rar. Saperda findet ſich auf einem einzigen Baum, an der Segefelder Straße.
Davon hab ich gehört.
Nicht mehr wie billig. Manche Meſſerklinge iſt da zer - brochen worden. Der Baum ſieht aus wie ein Scheibenpfahl, den hundert Kugeln geſtreift, durchbohrt, zerſplittert haben. Es giebt keinen unter uns, der den Baum nicht kennt. Bei Sege - feld liegt der Sand wie eine Sahara. Aber wir durchwaten ihn mit Freudigkeit; — der Weg zu den großen Pilgerſtätten hat noch immer durch die Wüſte geführt.
Unter ſolchem Geplauder hatten wir eine Stelle erreicht, wo der Weg, die bis dahin inne gehaltene Scheidelinie zwiſchen Wald und Wieſe aufgebend, nach links hin ſcharf einbiegt. Hier ſchlug ſich Lampe in die Tiefen des Waldes, während wir, den Weg weiter verfolgend, alsbald auf eine große Lichtung mit Gärten, Häuſern und Stallgebäuden hinaus traten. Wir hatten den Centralpunkt dieſer Waldregionen erreicht: Förſterei Brieſe - lang. Daneben das „ Remonte-Depot “gleiches Namens. Die Lichtung, die dieſe beiden Häuſercomplexe einſchließt, hat den Charakter einer großen Waldwieſe. Ein Waſſerlauf, „ der neue Graben “, der in früheren Jahren das Sumpfland entwäſſert hat und nun zum Holzflößen dient, zieht ſich quer durch die ganze Breite; eine Brücke führt darüber hin. Jenſeits des Waſſerlaufes aber ſteigt der Wald („ die Buten-Haide “) aufs Neue an und ſchließt gegen Norden hin das Bild. Am jenſeitigen Rande des Waldes: die Königseiche und Dorf Pauſin.
Ein Hirſchgeweih über der Thür ließ uns nicht lange in Zweifel, wo wir die Förſterei, für die wir einen Gruß mit - brachten, zu ſuchen hätten. Wir traten ein. Es war um die dritte Stunde. Der Förſter, ein Mann von nah an 70, fuhr47 aus ſeinem Nachmittagsſchlaf auf, ſtrich ſich die momentane Runzel von der Stirn und ſtand grüßend vor uns. Wer in ſolchen Momenten Haltung bewahrt, iſt allemal eine liebens - würdige Natur.
Wenn dies je zutraf, ſo hier. Wir ſetzten uns zunächſt in eine Geisblattlaube, die den Eingang umrankte, als aber die Nachmittagsſchwüle zu drücken begann, rückten wir — ein paar Forſteleven hatten ſich uns zugeſellt — weiter vor, ſtellten die Bänke in’s Freie und nun die ganze Waldwieſe ſammt Graben, Brücke und Remonte-Depot (das zur Hälfte eine Brandſtelle war) vor uns, begann das Geplauder.
Der alte Förſter verſtand es. Ich darf wohl ſagen, ſo hob er an, der liebe Gott hat es gut mit mir gemeint. Mein Großvater war Förſter, mein Vater war Förſter, ich bin Förſter und meine drei Jungens ſind auch Förſter, oder ſollen’s werden. Wir haben Alle Waldblut in den Adern, Brieſelang-Blut. Ein Jahr bin ich einmal in einer Kiefern-Haide geweſen, aber mir wurde erſt wieder wohl, als ich Elſen und Eichen um mich her hatte.
Iſt der Brieſelang ihre Heimath?
Nicht ſo ganz, aber doch beinah. Wir ſind auf dem Glin zu Hauſe. Mein Vater war in Dienſten beim alten Blücher, der dazumal Groß-Ziethen hatte. Ich habe oft auf des alten Feldmarſchalls Knie geritten. „ Willſt Du auch ein Förſter werden? “ Das will ich. „ Na, denn werd’ ein ſo braver Kerl wie dein Vater. “ Das hab’ ich nicht vergeſſen. Es war doch ein gnädiger, alter Herr. Als es Anno 15 wieder los ging, ſagte er zu meinem Vater: „ Grote, denk Dir, der Deu - belskerl iſt wieder da; wir müſſen ihm noch ’mal eins geben; aber diesmal ordentlich, daß er genug hat un nich wiederkommt. “ Und dabei ſah er ganz ernſthaft aus, garnicht ſo ſchabernackiſch wie ſonſt wohl; es mocht’ ihm wohl ſchwanen, daß er am Ende ſelber nicht wiederkommen könne. Und hören Sie, es war auch dichte dran, als er da bei Ligny unter ſeinem Schimmel lag!
48Wir nickten Alle. Vom Wald her aber ſchmetterte Finken - und Droſſelſchlag immer friſcher zu uns herüber und mit dem Daumen rückwärts deutend, ſagte der alte Förſter: ja, das klingt in’s Herz.
Das thut’s, erwiederte jetzt mein Reiſegefährte (den es nach gerade wohl Zeit iſt aus ſeiner ſtummen Rolle zu erlöſen, in der er bisher eigenſinnig beharrte), aber wollen Sie glauben Herr Förſter, daß es Gegenden giebt, wo die Vögel denn doch noch anders ſingen, ſo melodiſch, ſo tieferſchütternd, daß man aufhorcht, als habe man den Klang einer Menſchenſtimme, die erſten Töne einer wehmüthigen Volksweiſe gehört.
Der Tauſend auch, ſagte der Förſter, Sie machen mich neugierig.
Und dieſe Vögel, von denen ich ſpreche, die ſingen da, wo wir’s am wenigſten glauben möchten, in Auſtralien bei den Antipoden. Ein Engländer iſt dort gereiſt, hat die Waldſtimmen belauſcht, hat die Töne in Noten feſtgehalten und zuletzt eine Art Melodien-Buch herausgegeben, aus dem wir nun genau erfahren können, wie die auſtraliſchen Vögel ſingen.
Iſt es möglich!
Es iſt ſogar gewiß. Ich habe das Buch. Und unter all dieſen Stimmen iſt eine, die es mir beſonders angethan hat, das iſt die Stimme des Leather-head. Leather-head heißt Ledervogel, ein Name den dieſer Vogel führt, weil er einen völlig kahlen Kopf hat. Ich will Ihnen die Melodie pfeifen; ſie geht leiſe; Sie müſſen ſcharf aufhorchen.
Unſer Reiſegefährte pfiff nun in langgezogenen Tönen die Klagemelodie des Leather-head. Selbſt im Walde war es ſtill geworden. Es war als ob die Vögel drinnen mit zu Rathe ſäßen.
Das iſt ſchön, ſagte der Förſter, aber Ihr Engländer kann ſich die Melodie erfunden haben.
Ich geſtehe, fuhr unſer Reiſegefährte fort, daß ich dann und wann denſelben Verdacht hatte. Aber denken Sie, wo mir plötzlich die Gewißheit kam! Sie haben vom Aquarium gehört. Nun, in dem Aquarium befindet ſich auch eine Vogelhecke, die49 mir das Liebſte vom Ganzen iſt. Jeder hat ſo ſeinen Geſchmack. Und wie ich nun den Gang entlang komme und das Gezwitſcher der anderen Vögel einen Augenblick ſchweigt, was höre ich da plötzlich aus der Volière heraus? Die leiſen, langgezogenen Töne meines Leather-head, einmal, zweimal, dreimal. Mir war als ob ich einen alten Bekannten wiederſähe. Da ſaß er und ſtarrte mich lange an, wie wenn er gefühlt hätte: der hat dich verſtanden.
Alles ſchwieg. Der Erzähler pfiff die Melodie noch einmal. Dann knipſte der Förſter mit den Fingern und ſagte: nichts für ungut, aber ich bin doch für eine richtige Brieſelang-Droſſel; ihr Leather-head hat mich ganz melancholiſch gemacht. Ich bin für’s Fidele.
Ich auch, ich auch, riefen die anderen. Der Lederkopf war abvotirt.
Inzwiſchen begann ſich Gewölk am Himmel zu ſammeln. Dann brach die Sonne wieder durch, aber die Schwüle wuchs. „ Haben Sie viel Gewitter im Brieſelang? “fragte ich.
Oft nicht, aber wenn ſie kommen, kommen ſie gut. Im vorigen Juli ging’s hier eine Stunde toll her. Sehen Sie dort die Brandſtelle (er zeigte nach rechts) da ſtand vor Jahresfriſt noch das Remonte-Depot, 180 Pferde, alle ſchwarz.
Und es ſchlug ein?
Es ſchlug ein und es gab ein Wetter, wie ich’s hier nicht wieder haben möchte, und doch war es zugleich eine Stunde, daß mir das Herz im Leibe lacht, wenn ich daran denke. Da habe ich geſehen, was ein preußiſcher Futtermeiſter iſt.
Ein Futtermeiſter?
Ja, ſolch Remonte-Depot, müſſen Sie wiſſen, hat einen Wachtmeiſter von altem Schrot und Korn, der regiert das Ganze; er iſt wie ein kleiner König. Und ich ſage Ihnen, dieſer Futter - meiſter, … nun, der verſtand’s. Das Remonte-Depot hatte 8 Thüren. Als nun das Wetter über uns ſtand und die erſten Blitze herunter fuhren, ſtellte er ſeine acht Knechte an die acht Eingänge, ſich ſelber aber mitten auf dieſen Platz da.
Fontane, Wanderungen. III. 450Da ſtand er wie ein Feldherr, während das Feuer in breiten Scheiben niederfiel. „ Kerls “, ſchrie er, „ wenn ich rufe: Vorwärts, Thüren auf! dann iſt’s Zeit, dann hats ein - geſchlagen. “ So vergingen wohl 10 Minuten; die Blitze ließen nach, ein Hagelwetter kam, Körner wie die Tauben-Eier. Mit einem Mal ſchwieg auch das; der Hagel war wie abge - ſchnitten. Aber im nächſten Augenblick „ Krach! “und der Blitz lief über den Firſt hin. „ Vorwärts! “alle Thüren flogen auf; die Schloſſen fielen wieder wie ausgeſchüttet, und im nächſten Moment jagten die 180 ſchwarzen Pferde an mir vorbei, hier über die Brücke hin, in die Buten-Haide hinein, auf Pauſin zu. Zwölf Minuten ſpäter hatten wir die Spritzen hier; denn als die 180 ſchwarzen Pferde wie die wilde Jagd durch’s Dorf jagten, da wußten die Pauſiner was los war. „ Das Remonte - Depot brennt “und heidi ging’s in den Wald hinein, auf das Depot zu. Solch Wettfahren hat die alte Buten-Haide ihr Lebtag nicht geſehen. Ein ſchöner Tag war’s, aber ich mag ihn nicht wieder erleben.
Man ſieht noch am zerhaunen Stumpf, Wie mächtig war die Eiche.(Uhland. )
Dieſe Erzählung konnte nicht umhin uns leiſe daran zu mahnen, daß wir noch einen Theil unſerer Wanderung vor uns hätten, ein letztes Drittel, einen Schlußabſchnitt, den es auf alle Fälle gut ſei hinter ſich zu haben, um ſo mehr als das ſich anſammelnde, grelldurchleuchtete Gewölk am Himmel das Einbrechen eines Brieſelang-Gewitters nicht geradezu unwahr - ſcheinlich machte.
Ein Wind machte ſich auf, das Gewölk zerſtreute ſich wie - der, die Schwüle ließ nach; ſo ging es vorwärts. Als wir den entgegengeſetzten Waldrand nahezu erreicht hatten, nahm unſer Führer die Tete und brach mit dem Kommando „ halb rechts “in das Unterholz der Butenhaide ein. Es ſchien undurchdring - liches Geſtrüpp, bald aber lichtete ſich’s wieder und in eine breite, durch den Forſt gehauene Avenue tretend, hatten wir die Königs - eiche auf etwa 300 Schritt vor uns. Wir ließen ſie zunächſt als ein Ganzes auf uns wirken. Sie ſteht da, wie ein Rieſen - Skelett, mit gen Himmel gehobenen Händen. Die Avenue hat ganz den Charakter eines feierlichen Aufgangs, einer Trauer - Allee, die zu einem Denkmal oder Mauſoleum führt. Erſt ein Weißbuchen -, dann immer ſchmaler werdend ein Weißdorn - Spalier, bis die Avenue in einen tannenumſtellten Kreis mün - det, aus deſſen Mitte die „ Königs-Eiche “aufſteigt.
Sie führt ihren Namen mit Recht. Es iſt ein majeſtäti - ſcher Baum, 8 Fuß Durchmeſſer, 80 bis 100 Fuß hoch; man4*52braucht 20 Schritt ihn zu umſchreiten. Sein Holzinhalt wird auf 25 Klafter und ſein Alter auf 1000 Jahre berechnet. Bis vor Kurzem lebte er noch; ſeit etwa drei Jahren indeß iſt er völlig todt, nirgends ein grünes Blatt, die Rinde halb abge - fallen. Aber noch im Tode iſt er geſund. Alles Kernholz. Die Forſtleute ſagen: er ſteht noch 100 Jahr. Dem wird Jeder zuſtimmen, der die „ Königseiche “ſieht. Auf einen Laien macht ſie den Eindruck, als halte ſie nur einen langen Winterſchlaf, als brauche ſie dazu mehr Zeit als junge Bäume und müſſe deshalb ein paar Sommer überſchlagen, aber als ſei ihr Erwa - chen unter allen Umſtänden gewiß und als würd’ es binnen Kurzem im ganzen Brieſelang heißen: ſie lebt wieder.
Eine Welt von Gethier bewohnt die alte Eiche. Der Bockkäfer in wahren Rieſenexemplaren hat ſich zu Hunderten darin eingeniſtet; am erſten großen Aſt ſchwärmen Waldbienen um ihren Stock, und im kahlen Geäſt, höher hinauf, haben zahlloſe Spechte ihre Neſtlöcher.
In den Tagen ſich regenden deutſchen Geiſtes, in den Tagen Jahn’s und der Turnerei, wurde die Eiche Wanderziel und Symbol. Dies war ihre hiſtoriſche Zeit. Damals verei - nigte man ſich hier, gelobte ſich Treue und Ausharren und befeſtigte in Mittelhöhe des Stammes die Inſchrifttafel, die bis dieſe Stunde dem Baum erhalten worden iſt. Die Inſchrift ſelbſt aber, die um des Kaiſergedankens willen, den ſie ausſpricht, in dieſem Augenblicke wieder ein beſonderes Intereſſe gewährt, iſt die folgende:
Außer dieſen Turnerfahrten ſcheint die Eiche, vorher und nachher, nicht allzu viel geſehen und erlebt zu haben. Sie lebte wie ſo mancher Alte, ſtill und abgeſchieden. Ein beſtändiges Gleichmaß in beſtändigem Wechſel. Auf Sommerdürre folgten die Stürme, dann fiel Schnee, dann war Alles Sumpf und Bruch, dann wieder Sommerdürre; — ſo kamen die Jahre, ſo gingen ſie. Nichts geſchah. Es giebt Hollunderbäume in Pfarrgärten, die in 50 Jahren mehr geſehen haben, als die große Eiche in 500. Nur die letzten Jahrzehnte ſchufen einen Wandel: Landpartien und Berliner kamen.
Es handelte ſich jetzt für uns darum, ihr ein beſondere Zeichen unſerer Huldigung zu geben. Ein dreimaliges Hurrah erſchien uns für unſere civilen Verhältniſſe theils zu prätenſiös, theils unausreichend. Aus dieſer Verlegenheit indeß ſollten wir alsbald geriſſen werden; — unſer Reiſegefährte hatte alles bereits ſinnig erwogen. Er nahm ſeine umſponnene Flaſche, füllte ein Glas mit rothgoldenem Cap Conſtantia-Wein, trat vor und ſprach: „ Eiche, tauſendjährige, ſei uns gegrüßt! Hier hat der Wende gelagert und der Berliner, und allerlei Wein, fränkiſcher und deutſcher, nicht minder die „ gebrannten Wäſſer “beider Indien, Jamaica’s und Goa’s, ſind Dir zu Ehren an dieſer54 Stelle verſchüttet worden. Aber ob Süd-Afrika, ob Mohren - land von jenſeit der Linie, Dir je gehuldigt, das iſt minde - ſtens fraglich. Empfange denn die Gabe aus Gegenden, in denen nur Freiligrath und der Kaffer „ einſam ſchweift durch die Karroo “, empfange dieſe Tropfen Cap Conſtancia; — die Hänge des Tafelberges grüßen Dich und den Brieſelang! “ Damit goß er den Capwein ihr zu Füßen. Wir ſchwenkten die Hüte, ſtimmten Lieder an von Arndt und Körner und machten uns auf den Rückweg.
Im Fluge. Denn immer bedrohlicher zog ſich’s über uns zuſammen und kein Wind machte ſich mehr auf, das Gewölk zu zerſtreuen. So ging es an den alten Stätten vorbei, am Forſt - haus, am Remonte-Depot, an dem Elsbuſch, aus dem uns Lampe, der „ Jäger “, ſo bedrohlich entgegen getreten war. Als wir Finkenkrug erreichten, war es die höchſte Zeit, wenn uns daran lag, mit den Extrazüglern, die eben in Sektionen for - mirt aufbrachen, den Rettungshafen der Eiſenbahn zu gewinnen. Muſik vorauf, ſo ging es durch die letzte Waldesſtrecke. Die Pauke that wieder ihr Aeußerſtes, als plötzlich einer rief: Pauke ſtill! Sie ſchwieg wirklich. Ueber das weite Himmels - gewölbe hin rollte der erſte Donner. In den Wipfeln begann ein unheimliches Wehen, die oberſten Spitzen brachen faſt. „ Raſch, raſch “hieß es, „ Laufſchritt “; alles drängte durch einander, „ sauve qui peut “und der Zug der ſchon hielt, wurde im Sturm genommen. In demſelben Augenblick brach es los; die Blitze fuhren nieder, das Gekrach überdröhnte das Geraſſel des Zuges; wie ein Wolkenbruch fiel der Regen.
Als wir eine Stunde ſpäter, im klapperigen Gefährt über die Alſenbrücke fuhren, auf den Thiergarten zu, ſtand das Waſſer in Lachen und Lanken. Wer um dieſe Stunde vom Finkenkrug bis zur „ Königseiche “gewandert wäre, der hätte wohl den Brieſelang geſehen wie vor tauſend Jahren!