Ὁ μη δαρεις ανϑρωπος ου παιδευεται.
Als Vorwort zu der gegenwaͤrtigen Arbeit, welche deſſelben vielleicht mehr als eine andere beduͤrfen moͤchte, ſtehe hier der Brief eines Freundes, durch den ein ſolches, immer bedenkliches Unternehmen veranlaßt worden.
„ Wir haben, theurer Freund, nun¬ mehr die zwoͤlf Theile Ihrer dichteriſchen Werke beyſammen, und finden, indem wir ſie durchleſen, manches Bekannte, manches Unbekannte; ja manches Ver¬ geſſene wird durch dieſe Sammlung wie¬ der angefriſcht. Man kann ſich nicht enthalten, dieſe zwoͤlf Baͤnde, welche in* 2IVEinem Format vor uns ſtehen, als ein Ganzes zu betrachten, und man moͤchte ſich daraus gern ein Bild des Autors und ſeines Talents entwerfen. Nun iſt nicht zu laͤugnen, daß fuͤr die Lebhaf¬ tigkeit, womit derſelbe ſeine ſchriftſtelleri¬ ſche Laufbahn begonnen, fuͤr die lange Zeit die ſeit dem verfloſſen, ein Duzzend Baͤndchen zu wenig ſcheinen muͤſſen. Eben ſo kann man ſich bey den einzel¬ nen Arbeiten nicht verhehlen, daß mei¬ ſtens beſondere Veranlaſſungen dieſelben hervorgebracht, und ſowohl aͤußere be¬ ſtimmte Gegenſtaͤnde als innere entſchie¬ dene Bildungsſtufen daraus hervorſchei¬ nen, nicht minder auch gewiſſe temporaͤre moraliſche und aͤſthetiſche Maximen und Ueberzeugungen darin obwalten. Im Ganzen aber bleiben dieſe ProduktionenV immer unzuſammenhaͤngend; ja oft ſollte man kaum glauben, daß ſie von demſel¬ ben Schriftſteller entſprungen ſeyen.
Ihre Freunde haben indeſſen die Nach¬ forſchung nicht aufgegeben und ſuchen, als naͤher bekannt mit Ihrer Lebens - und Denkweiſe, manches Raͤthſel zu erra¬ then, manches Problem aufzuloͤſen; ja ſie finden, da eine alte Neigung und ein verjaͤhrtes Verhaͤltniß ihnen beyſteht, ſelbſt in den vorkommenden Schwierig¬ keiten einigen Reiz. Doch wuͤrde uns hie und da eine Nachhuͤlfe nicht unan¬ genehm ſeyn, welche Sie unſern freund¬ ſchaftlichen Geſinnungen nicht wohl ver¬ ſagen duͤrfen.
VIDas Erſte alſo, warum wir Sie er¬ ſuchen, iſt, daß Sie uns Ihre, bey der neuen Ausgabe, nach gewiſſen innern Beziehungen geordneten Dichtwerke in einer chronologiſchen Folge auffuͤhren und ſowohl die Lebens - und Gemuͤthszu¬ ſtaͤnde, die den Stoff dazu hergegeben, als auch die Beyſpiele, welche auf Sie gewirkt, nicht weniger die theoretiſchen Grundſaͤtze, denen Sie gefolgt, in ei¬ nem gewiſſen Zuſammenhange vertrauen moͤchten. Widmen Sie dieſe Bemuͤhung einem engern Kreiſe, vielleicht entſpringt daraus etwas, was auch einem groͤßern angenehm und nuͤtzlich werden kann. Der Schriftſteller ſoll bis in ſein hoͤch¬ ſtes Alter den Vortheil nicht aufgeben, ſich mit denen die eine Neigung zu ihm gefaßt, auch in die Ferne zu unterhal¬VII ten; und wenn es nicht einem Jeden ver¬ liehen ſeyn moͤchte, in gewiſſen Jahren mit unerwarteten, maͤchtig wirkſamen Erzeugniſſen von neuem aufzutreten: ſo ſollte doch gerade zu der Zeit, wo die Erkenntniß vollſtaͤndiger, das Bewußt¬ ſeyn deutlicher wird, das Geſchaͤft ſehr unterhaltend und neubelebend ſeyn, je¬ nes Hervorgebrachte wieder als Stoff zu behandeln und zu einem Letzten zu bear¬ beiten, welches denen abermals zur Bil¬ dung gereiche, die ſich fruͤher mit und an dem Kuͤnſtler gebildet haben. “
Dieſes ſo freundlich geaͤußerte Ver¬ langen erweckte bey mir unmittelbar die Luſt es zu befolgen. Denn wenn wir in fruͤherer Zeit leidenſchaftlich unſern ei¬ genen Weg gehen, und um nicht irre zuVIII werden, die Anforderungen Anderer un¬ geduldig ablehnen, ſo iſt es uns in ſpaͤ¬ tern Tagen hoͤchſt erwuͤnſcht, wenn ir¬ gend eine Theilnahme uns aufregen und zu einer neuen Thaͤtigkeit liebevoll be¬ ſtimmen mag. Ich unterzog mich daher ſogleich der vorlaͤufigen Arbeit, die groͤ¬ ßeren und kleineren Dichtwerke meiner zwoͤlf Baͤnde auszuzeichnen und den Jah¬ ren nach zu ordnen. Ich ſuchte mir Zeit und Umſtaͤnde zu vergegenwaͤrtigen, un¬ ter welchen ich ſie hervorgebracht. Allein das Geſchaͤft ward bald beſchwerlicher, weil ausfuͤhrliche Anzeigen und Erklaͤ¬ rungen noͤthig wurden, um die Luͤcken zwiſchen dem bereits Bekanntgemachten auszufuͤllen. Denn zuvoͤrderſt fehlt alles woran ich mich zuerſt geuͤbt, es fehlt manches Angefangene und nicht Vollen¬IX dete; ja ſogar iſt die aͤußere Geſtalt manches Vollendeten voͤllig verſchwun¬ den, indem es in der Folge gaͤnzlich um¬ gearbeitet und in eine andere Form ge¬ goſſen worden. Außer dieſem blieb mir auch noch zu gedenken, wie ich mich in Wiſſenſchaften und andern Kuͤnſten be¬ muͤht, und was ich in ſolchen fremd ſcheinenden Faͤchern ſowohl einzeln als in Verbindung mit Freunden, theils im Stillen geuͤbt, theils oͤffentlich bekannt gemacht.
Alles dieſes wuͤnſchte ich nach und nach zu Befriedigung meiner Wohlwol¬ lenden einzuſchalten; allein dieſe Bemuͤ¬ hungen und Betrachtungen fuͤhrten mich immer weiter: denn indem ich jener ſehr wohl uͤberdachten Forderung zu entſpre¬X chen wuͤnſchte, und mich bemuͤhte, die innern Regungen, die aͤußern Einfluͤſſe, die theoretiſch und praktiſch von mir be¬ tretenen Stufen, der Reihe nach darzu¬ ſtellen; ſo ward ich aus meinem engen Privatleben in die weite Welt geruͤckt, die Geſtalten von hundert bedeutenden Menſchen, welche naͤher oder entfernter auf mich eingewirkt, traten hervor; ja die ungeheuren Bewegungen des allgemeinen politiſchen Weltlaufs, die auf mich wie auf die ganze Maſſe der Gleichzeitigen den groͤßten Einfluß gehabt, mußten vor¬ zuͤglich beachtet werden. Denn dieſes ſcheint die Hauptaufgabe der Biographie zu ſeyn, den Menſchen in ſeinen Zeit¬ verhaͤltniſſen darzuſtellen, und zu zeigen, in wiefern ihm das Ganze widerſtrebt, in wiefern es ihn beguͤnſtigt, wie er ſichXI eine Welt - und Menſchenanſicht daraus gebildet, und wie er ſie, wenn er Kuͤnſt¬ ler, Dichter, Schriftſteller iſt, wieder nach außen abgeſpiegelt. Hiezu wird aber ein kaum Erreichbares gefordert, daß naͤmlich das Individuum ſich und ſein Jahrhundert kenne, ſich, in wiefern es unter allen Umſtaͤnden daſſelbe ge¬ blieben, das Jahrhundert, als welches ſowohl den willigen als unwilligen mit ſich fortreißt, beſtimmt und bildet, der¬ geſtalt daß man wohl ſagen kann, ein Jeder, nur zehn Jahre fruͤher oder ſpaͤ¬ ter geboren, duͤrfte, was ſeine eigene Bildung und die Wirkung nach außen betrifft, ein ganz anderer geworden ſeyn.
Auf dieſem Wege, aus dergleichen Betrachtungen und Verſuchen, aus ſol¬XII chen Erinnerungen und Ueberlegungen entſprang die gegenwaͤrtige Schilderung, und aus dieſem Geſichtspunct ihres Ent¬ ſtehens wird ſie am beſten genoſſen, ge¬ nutzt, und am billigſten beurtheilt wer¬ den koͤnnen. Was aber ſonſt noch, be¬ ſonders uͤber die halb poetiſche, halb hi¬ ſtoriſche Behandlung etwa zu ſagen ſeyn moͤchte, dazu findet ſich wohl im Laufe der Erzaͤhlung mehrmals Gelegenheit.
[3]Am 28. Auguſt 1749, Mittags mit dem Glockenſchlage zwoͤlf, kam ich in Frankfurt am Main auf die Welt. Die Conſtellation war gluͤcklich; die Sonne ſtand im Zeichen der Jungfrau, und culminirte fuͤr den Tag; Ju¬ piter und Venus blickten ſie freundlich an, Merkur nicht widerwaͤrtig; Saturn und Mars verhielten ſich gleichguͤltig: nur der Mond, der ſo eben voll ward, uͤbte die Kraft ſeines Gegenſcheins um ſo mehr, als zugleich ſeine Planetenſtunde eingetreten war. Er wider¬ ſetzte ſich daher meiner Geburt, die nicht eher erfolgen konnte, als bis dieſe Stunde vor¬ uͤbergegangen.
Dieſe guten Aſpecten, welche mir die Aſtro¬ logen in der Folgezeit ſehr hoch anzurechnen1 *4wußten, moͤgen wohl Urſache an meiner Erhal¬ tung geweſen ſeyn: denn durch Ungeſchicklich¬ keit der Hebamme kam ich fuͤr todt auf die Welt, und nur durch vielfache Bemuͤhungen brachte man es dahin, daß ich das Licht erblickte. Die¬ ſer Umſtand, welcher die Meinigen in große Noth verſetzt hatte, gereichte jedoch meinen Mitbuͤrgern zum Vortheil, indem mein Gro߬ vater, der Schultheiß Johann Wolfgang Textor, daher Anlaß nahm, daß ein Ge¬ burtshelfer angeſtellt, und der Hebammen-Un¬ terricht eingefuͤhrt oder erneuert wurde; wel¬ ches denn manchem der Nachgebornen mag zu Gute gekommen ſeyn.
Wenn man ſich erinnern will, was uns in der fruͤhſten Zeit der Jugend begegnet iſt, ſo kommt man oft in den Fall, dasjenige was wir von an¬ dern gehoͤrt, mit dem zu verwechſeln, was wir wirklich aus eigner anſchauender Erfahrung be¬ ſitzen. Ohne alſo hieruͤber eine genaue Unterſu¬ chung anzuſtellen, welche ohnehin zu nichts fuͤh¬5 ren kann, bin ich mir bewußt, daß wir in ei¬ nem alten Hauſe wohnten, welches eigentlich aus zwey durchgebrochnen Haͤuſern beſtand. Eine thurmartige Treppe fuͤhrte zu unzuſammenhan¬ genden Zimmern, und die Ungleichheit der Stock¬ werke war durch Stufen ausgeglichen. Fuͤr uns Kinder, eine juͤngere Schweſter und mich, war der untere weitlaͤuftige Hausflur der liebſte Raum, welcher neben der Thuͤre ein großes hoͤl¬ zernes Gitterwerk hatte, wodurch man unmit¬ telbar mit der Straße und der freyen Luft in Verbindung kam. Einen ſolchen Vogelbauer, mit dem viele Haͤuſer verſehen waren, nannte man ein Geraͤms. Die Frauen ſaßen darin, um zu naͤhen und zu ſtricken; die Koͤchinn las ih¬ ren Salat; die Nachbarinnen beſprachen ſich von daher miteinander, und die Straßen gewan¬ nen dadurch in der guten Jahrezeit ein ſuͤdliches Anſehen. Man fuͤhlte ſich frey, indem man mit dem Oeffentlichen vertraut war. So kamen auch durch dieſe Geraͤmſe die Kinder mit den Nachbarn in Verbindung, und mich gewan¬6 nen drey gegenuͤber wohnende Bruͤder von Ochſenſtein, hinterlaſſene Soͤhne des verſtor¬ benen Schultheißen, gar lieb, und beſchaͤftigten und neckten ſich mit mir auf mancherley Weiſe.
Die Meinigen erzaͤhlten gern allerley Eu¬ lenſpiegeleyen, zu denen mich jene ſonſt ernſte und einſame Maͤnner angereizt. Ich fuͤhre nur einen von dieſen Streichen an. Es war eben Topfmarkt geweſen, und man hatte nicht al¬ lein die Kuͤche fuͤr die naͤchſte Zeit mit ſolchen Waaren verſorgt, ſondern auch uns Kindern dergleichen Geſchirr im Kleinen zu ſpielender Beſchaͤftigung eingekauft. An einem ſchoͤnen Nachmittag, da alles ruhig im Hauſe war, trieb ich im Geraͤms mit meinen Schuͤſſeln und Toͤpfen mein Weſen, und da weiter nichts dabey heraus kommen wollte, warf ich ein Geſchirr auf die Straße und freute mich, daß es ſo luſtig zerbrach. Die von Ochſenſtein, welche ſahen, wie ich mich daran ergetzte, daß ich ſo gar froͤhlich in die Haͤndchen patſchte, riefen:7 Noch mehr! Ich ſaͤumte nicht, ſogleich einen Topf, und auf immer fortwaͤhrendes Rufen: Noch mehr! nach und nach ſaͤmmtliche Schuͤſ¬ ſelchen, Tiegelchen, Kaͤnnchen gegen das Pfla¬ ſter zu ſchleudern. Meine Nachbarn fuhren fort ihren Beyfall zu bezeigen, und ich war hoͤchlich froh ihnen Vergnuͤgen zu machen. Mein Vor¬ rath aber war aufgezehrt und ſie riefen immer: Noch mehr! Ich eilte daher ſtracks in die Kuͤche und holte die irdenen Teller, welche nun frey¬ lich im Zerbrechen noch ein luſtigeres Schau¬ ſpiel gaben; und ſo lief ich hin und wieder, brachte einen Teller nach dem andern, wie ich ſie auf dem Topfbrett der Reihe nach erreichen konnte, und weil ſich jene gar nicht zufrieden gaben, ſo ſtuͤrzte ich alles was ich von Ge¬ ſchirr erſchleppen konnte, in gleiches Verder¬ ben. Nur ſpaͤter erſchien Jemand zu hindern und zu wehren. Das Ungluͤck war geſche¬ hen, und man hatte fuͤr ſo viel zerbrochne Toͤpferwaare wenigſtens eine luſtige Ge¬8 ſchichte, an der ſich beſonders die ſchalkiſchen Urheber bis an ihr Lebensende ergetzten.
Meines Vaters Mutter, bey der wir ei¬ gentlich im Hauſe wohnten, lebte in einem gro¬ ßen Zimmer hinten hinaus, unmittelbar an der Hausflur, und wir pflegten unſere Spiele bis an ihren Seſſel, ja wenn ſie krank war, bis an ihr Bett hin auszudehnen. Ich erin¬ nere mich ihrer gleichſam als eines Geiſtes, als einer ſchoͤnen, hagern, immer weiß und rein¬ lich gekleideten Frau. Sanft, freundlich, wohl¬ wollend, iſt ſie mir im Gedaͤchtniß geblieben.
Wir hatten die Straße, in welcher unſer Haus lag, den Hirſchgraben nennen hoͤren; da wir aber weder Graben noch Hirſche ſahen, ſo wollten wir dieſen Ausdruck erklaͤrt wiſſen. Man erzaͤhlte ſodann, unſer Haus ſtehe auf einem Raum, der ſonſt außerhalb der Stadt gelegen, und da wo jetzt die Straße ſich befinde, ſey ehmals ein Graben geweſen, in welchem eine9 Anzahl Hirſche unterhalten worden. Man habe dieſe Thiere hier bewahrt und genaͤhrt, weil nach einem alten Herkommen der Senat alle Jahre einen Hirſch oͤffentlich verſpeiſet, den man denn fuͤr einen ſolchen Feſttag hier im Gra¬ ben immer zur Hand gehabt, wenn auch aus¬ waͤrts Fuͤrſten und Ritter der Stadt ihre Jagd¬ befugniß verkuͤmmerten und ſtoͤrten, oder wohl gar Feinde die Stadt eingeſchloſſen oder belagert hielten. Dieß gefiel uns ſehr, und wir wuͤnſch¬ ten, eine ſolche zahme Wildbahn waͤre auch noch bey unſern Zeiten zu ſehen geweſen.
Die Hinterſeite des Hauſes hatte, beſonders aus dem oberen Stock, eine ſehr angenehme Ausſicht uͤber eine beynah unabſehbare Flaͤche von Nachbarsgaͤrten, die ſich bis an die Stadt¬ mauern verbreiteten. Leider aber war, bey Verwandlung der ſonſt hier befindlichen Ge¬ meindeplaͤtze in Hausgaͤrten, unſer Haus und noch einige andere, die gegen die Straßenecke zu lagen, ſehr verkuͤrzt worden, indem die10 Haͤuſer vom Roßmarkt her weitlaͤufige Hin¬ tergebaͤude und große Gaͤrten ſich zueigneten, wir aber uns durch eine ziemlich hohe Mauer unſres Hofes von dieſen ſo nah gelegenen Paradieſen ausgeſchloſſen ſahen.
Im zweyten Stock befand ſich ein Zimmer, welches man das Gartenzimmer nannte, weil man ſich daſelbſt durch wenige Gewaͤchſe vor dem Fenſter den Mangel eines Gartens zu er¬ ſetzen geſucht hatte. Dort war, wie ich her¬ anwuchs, mein liebſter, zwar nicht trauriger, aber doch ſehnſuͤchtiger Aufenthalt. Ueber jene Gaͤrten hinaus, uͤber Stadtmauern und Waͤlle ſah man in eine ſchoͤne fruchtbare Ebene; es iſt die, welche ſich nach Hoͤchſt hinzieht. Dort lernte ich Sommerszeit gewoͤhnlich meine Lec¬ tionen, wartete die Gewitter ab, und konnte mich an der untergehenden Sonne, gegen wel¬ che die Fenſter gerade gerichtet waren, nicht ſatt genug ſehen. Da ich aber zu gleicher Zeit die Nachbarn in ihren Gaͤrten wandeln und ihre11 Blumen beſorgen, die Kinder ſpielen, die Ge¬ ſellſchaften ſich ergetzen ſah, die Kegelkugeln rollen und die Kegel fallen hoͤrte; ſo erregte dieß fruͤhzeitig in mir ein Gefuͤhl der Einſam¬ keit und einer daraus entſpringenden Sehnſucht, das dem von der Natur in mich gelegten Ernſten und Ahndungsvollen entſprechend, ſei¬ nen Einfluß gar bald und in der Folge noch deutlicher zeigte.
Die alte, winkelhafte, an vielen Stellen duͤſtere Beſchaffenheit des Hauſes war uͤbrigens geeignet, Schauer und Furcht in kindlichen Ge¬ muͤthern zu erwecken. Ungluͤcklicherweiſe hatte man noch die Erziehungsmaxime, den Kindern fruͤhzeitig alle Furcht vor dem Ahndungsvollen und Unſichtbaren zu benehmen, und ſie an das Schauderhafte zu gewoͤhnen. Wir Kinder ſoll¬ ten daher allein ſchlafen, und wenn uns dieſes unmoͤglich fiel, und wir uns ſacht aus den Betten hervormachten und die Geſellſchaft der Bedienten und Maͤgde ſuchten; ſo ſtellte ſich,12 in umgewandtem Schlafrock und alſo fuͤr uns verkleidet genug, der Vater in den Weg und ſchreckte uns in unſere Ruheſtaͤtte zuruͤck. Die daraus entſpringende uͤble Wirkung denkt ſich Jedermann. Wie ſoll derjenige die Furcht los werden, den man zwiſchen ein doppeltes Furcht¬ bare einklemmt? Meine Mutter, ſtets heiter und froh, und andern das Gleiche goͤnnend, erfand eine beſſere paͤdagogiſche Auskunft. Sie wu߬ te ihren Zweck durch Belohnungen zu erreichen. Es war die Zeit der Pfirſchen, deren reichlichen Genuß ſie uns jeden Morgen verſprach, wenn wir Nachts die Furcht uͤberwunden haͤtten. Es gelang, und beyde Theile waren zufrieden.
Innerhalb des Hauſes zog meinen Blick am meiſten eine Reihe roͤmiſcher Proſpecte auf ſich, mit welchen der Vater einen Vor¬ ſaal ausgeſchmuͤckt hatte, geſtochen von eini¬ gen geſchickten Vorgaͤngern des Piraneſe, die ſich auf Architectur und Perſpective wohl verſtanden, und deren Nadel ſehr deutlich13 und ſchaͤtzbar iſt. Hier ſah ich taͤglich die Piazza del Popolo, das Coliſeo, den Peters¬ platz, die Peterskirche von außen und innen, die Engelsburg und ſo manches andere. Dieſe Geſtalten druͤckten ſich tief bey mir ein, und der ſonst ſehr laconiſche Vater hatte wohl manchmal die Gefaͤlligkeit, eine Beſchreibung des Gegenſtandes vernehmen zu laſſen. Seine Vorliebe fuͤr die italiaͤniſche Sprache und fuͤr alles was ſich auf jenes Land bezieht, war ſehr ausgeſprochen. Eine kleine Mar¬ mor - und Naturalienſammlung, die er von dorther mitgebracht, zeigte er uns auch manch¬ mal vor, und einen großen Theil ſeiner Zeit verwendete er auf ſeine italiaͤniſch verfaßte Reiſebeſchreibung, deren Abſchrift und Re¬ daction er eigenhaͤndig, heftweiſe, langſam und genau ausfertigte. Ein alter heiterer italiaͤniſcher Sprachmeiſter, Giovinazzi genannt, war ihm daran behuͤlflich. Auch ſang der Alte nicht uͤbel, und meine Mutter mußte ſich bequemen, ihn und ſich ſelbſt mit14 dem Claviere taͤglich zu accompagniren; da ich denn das Solitario bosco ombroso bald kennen lernte, und auswendig wußte, ehe ich es verſtand.
Mein Vater war uͤberhaupt lehrhafter Natur, und bey ſeiner Entfernung von Ge¬ ſchaͤften wollte er gern dasjenige was er wußte und vermochte, auf andre uͤbertragen. So hatte er meine Mutter in den erſten Jahren ihrer Verheiratung zum fleißigen Schreiben angehalten, wie zum Clavierſpie¬ len und Singen; wobey ſie ſich genoͤthigt ſah, auch in der italiaͤniſchen Sprache einige Kenntniß und nothduͤrftige Fertigkeit zu er¬ werben.
Gewoͤhnlich hielten wir uns in allen un¬ ſern Freyſtunden zur Großmutter, in deren ge¬ raͤumigem Wohnzimmer wir hinlaͤnglich Platz zu unſern Spielen fanden. Sie wußte uns mit allerley Kleinigkeiten zu beſchaͤftigen,15 und mit allerley guten Biſſen zu erquicken. An einem Weihnachtsabende jedoch ſetzte ſie allen ihren Wohlthaten die Krone auf, in¬ dem ſie uns ein Puppenſpiel vorſtellen ließ, und ſo in dem alten Hauſe eine neue Welt erſchuf. Dieſes unerwartete Schauſpiel zog die jungen Gemuͤther mit Gewalt an ſich; beſonders auf den Knaben machte es einen ſehr ſtarken Eindruck, der in eine große lang¬ dauernde Wirkung nachklang.
Die kleine Buͤhne mit ihrem ſtummen Per¬ ſonal, die man uns anfangs nur vorgezeigt hatte, nachher aber zu eigner Uebung und dramatiſcher Belebung uͤbergab, mußte uns Kindern um ſo viel werther ſeyn, als es das letzte Vermaͤchtniß unſerer guten Großmutter war, die bald darauf durch zunehmende Krank¬ heit unſern Augen erſt entzogen, und dann fuͤr immer durch den Tod entriſſen wurde. Ihr Abſcheiden war fuͤr die Familie von deſto groͤßerer Bedeutung, als es eine voͤllige Ver¬16 aͤnderung in dem Zuſtande derſelben nach ſich zog.
So lange die Großmutter lebte, hatte mein Vater ſich gehuͤtet, nur das Mindeſte im Hauſe zu veraͤndern oder zu erneuern; aber man wußte wohl, daß er ſich zu einem Hauptbau vorbereitete, der nunmehr auch ſo¬ gleich vorgenommen wurde. In Frankfurt, wie in mehrern alten Staͤdten, hatte man bey Auffuͤhrung hoͤlzerner Gebaͤude, um Platz zu gewinnen, ſich erlaubt, nicht allein mit dem erſten, ſondern auch mit den folgenden Sto¬ cken uͤberzubauen; wodurch denn freylich be¬ ſonders enge Straßen etwas Duͤſteres und Aengſtliches bekamen. Endlich ging ein Ge¬ ſetz durch, daß wer ein neues Haus von Grund auf baue, nur mit dem erſten Stock uͤber das Fundament herausruͤcken duͤrfe, die uͤbrigen aber ſenkrecht auffuͤhren muͤſſe. Mein Vater, um den vorſpringenden Raum im zweyten Stock auch nicht aufzugeben, wenig17 bekuͤmmert um aͤußeres architektoniſches Anſe¬ hen, und nur um innere gute und bequeme Einrichtung beſorgt, bediente ſich, wie ſchon mehrere vor ihm gethan, der Ausflucht, die oberen Theile des Hauſes zu unterſtuͤtzen und von unten herauf einen nach dem andern weg¬ zunehmen, und das Neue gleichſam einzuſchal¬ ten, ſo daß, wenn zuletzt gewiſſermaßen nichts von dem Alten uͤbrig blieb, der ganz neue Bau noch immer fuͤr eine Reparatur gelten konnte. Da nun alſo das Einreißen und Aufrichten allmaͤhlich geſchah, ſo hatte mein Vater ſich vorgenommen, nicht aus dem Hau¬ ſe zu weichen, um deſto beſſer die Aufſicht zu fuͤhren und die Anleitung geben zu koͤnnen: denn aufs Techniſche des Baues verſtand er ſich ganz gut; dabey wollte er aber auch ſeine Familie nicht von ſich laſſen. Dieſe neue Epo¬ che war den Kindern ſehr uͤberraſchend und ſonderbar. Die Zimmer, in denen man ſie oft enge genug gehalten und mit wenig er¬ freulichem Lernen und Arbeiten geaͤngſtigt, dieI. 218Gaͤnge, auf denen ſie geſpielt, die Waͤnde, fuͤr deren Reinlichkeit und Erhaltung man ſonſt ſo ſehr geſorgt, alles das vor der Hacke des Maurers, vor dem Beile des Zimmer¬ manns fallen zu ſehen, und zwar von unten herauf, und indeſſen oben auf unterſtuͤtzten Balken, gleichſam in der Luft zu ſchweben, und dabey immer noch zu einer gewiſſen Lec¬ tion, zu einer beſtimmten Arbeit angehalten zu werden — dieſes alles brachte eine Ver¬ wirrung in den jungen Koͤpfen hervor, die ſich ſo leicht nicht wieder ins Gleiche ſetzen ließ. Doch wurde die Unbequemlichkeit von der Jugend weniger empfunden, weil ihr etwas mehr Spielraum als bisher, und manche Gelegenheit ſich auf Balken zu ſchaukeln und auf Brettern zu ſchwingen, gelaſſen ward.
Hartnaͤckig ſetzte der Vater die erſte Zeit ſei¬ nen Plan durch; doch als zuletzt auch das Dach theilweiſe abgetragen wurde, und ohngeachtet alles uͤbergeſpannten Wachstuches von abge¬19 nommenen Tapeten, der Regen bis zu unſern Betten gelangte: ſo entſchloß er ſich, obgleich ungern, die Kinder wohlwollenden Freunden, welche ſich ſchon fruͤher dazu erboten hatten, auf eine Zeit lang zu uͤberlaſſen und ſie in eine oͤffentliche Schule zu ſchicken.
Dieſer Uebergang hatte manches Unange¬ nehme: denn indem man die bisher zu Hauſe abgeſondert, reinlich, edel, obgleich ſtreng, gehaltenen Kinder unter eine rohe Maſſe von jungen Geſchoͤpfen hinunterſtieß; ſo hatten ſie vom Gemeinen, Schlechten, ja Niedertraͤchti¬ gen ganz unerwartet alles zu leiden, weil ſie aller Waffen und aller Faͤhigkeit ermangelten, ſich dagegen zu ſchuͤtzen.
Um dieſe Zeit war es eigentlich, daß ich meine Vaterſtadt zuerſt gewahr wurde: wie ich denn nach und nach immer freyer und un¬ gehinderter, theils allein, theils mit muntern Geſpielen, darin auf und abwandelte. Um2 *20den Eindruck, den dieſe ernſten und wuͤrdigen Umgebungen auf mich machten, einigermaßen mitzutheilen, muß ich hier mit der Schilde¬ rung meines Geburtsortes vorgreifen, wie er ſich in ſeinen verſchiedenen Theilen allmaͤhlich vor mir entwickelte. Am liebſten ſpazirte ich auf der großen Mainbruͤcke. Ihre Laͤnge, ihre Feſtigkeit, ihr gutes Anſehen machte ſie zu einem bemerkenswerthen Bauwerk; auch iſt es aus fruͤherer Zeit beynahe das einzige Denkmal jener Vorſorge, welche die weltliche Obrigkeit ihren Buͤrgern ſchuldig iſt. Der ſchoͤne Fluß auf - und abwaͤrts zog meine Bli¬ cke nach ſich; und wenn auf dem Bruͤcken¬ kreuz der goldene Hahn im Sonnenſchein glaͤnzte, ſo war es mir immer eine erfreuliche Empfindung. Gewoͤhnlich ward alsdann durch Sachſenhauſen ſpazirt, und die Ueberfahrt fuͤr einen Kreuzer gar behaglich genoſſen. Da befand man ſich nun wieder dieſſeits, da ſchlich man zum Weinmarkte, bewunderte den Me¬ chanismus der Krahne, wenn Waaren aus¬21 geladen wurden; beſonders aber unterhielt uns die Ankunft der Marktſchiffe, wo man ſo mancherley und mitunter ſo ſeltſame Figuren ausſteigen ſah. Ging es nun in die Stadt herein, ſo ward jederzeit der Saalhof, der wenigſtens an der Stelle ſtand, wo die Burg Kaiſer Carls des Großen und ſeiner Nachfol¬ ger geweſen ſeyn ſollte, ehrfurchtsvoll gegruͤßt. Man verlor ſich in die alte Gewerbſtadt, und beſonders Markttages gern in dem Gewuͤhl, das ſich um die Bartholomaͤus-Kirche herum verſammelte. Hier hatte ſich, von den fruͤh¬ ſten Zeiten an, die Menge der Verkaͤufer und Kraͤmer uͤbereinander gedraͤngt, und wegen einer ſolchen Beſitznahme konnte nicht leicht in den neuern Zeiten eine geraͤumige und hei¬ tere Anſtalt Platz finden. Die Buden des ſogenannten Pfarreiſen waren uns Kin¬ dern ſehr bedeutend, und wir trugen manchen Batzen hin, um uns farbige, mit goldenen Thieren bedruckte Bogen anzuſchaffen. Nur ſelten aber mochte man ſich uͤber den be¬22 ſchraͤnkten, vollgepfropften und unreinlichen Marktplatz hindraͤngen. So erinnere ich mich auch, daß ich immer mit Entſetzen vor den darauſtoßenden, engen und haͤßlichen Fleiſch¬ baͤnken geflohen bin. Der Roͤmerberg war ein deſto angenehmerer Spazirplatz. Der Weg nach der neuen Stadt, durch die neue Kraͤm, war immer aufheiternd und ergetzlich; nur verdroß es uns, daß nicht neben der Liebfrauen-Kirche eine Straße nach der Zeile zuging, und wir immer den großen Umweg durch die Haſengaſſe oder die Catharinenpfor¬ te machen mußten. Was aber die Aufmerk¬ ſamkeit des Kindes am meiſten an ſich zog, waren die vielen kleinen Staͤdte in der Stadt, die Feſtungen in der Feſtung, die ummauer¬ ten Kloſterbezirke naͤmlich, und die aus fruͤ¬ hern Jahrhunderten noch uͤbrigen mehr oder minder burgartigen Raͤume: ſo der Nuͤrnber¬ ger Hof, das Compoſtell, das Braunfels, das Stammhaus derer von Stallburg, und mehrere in den ſpaͤtern Zeiten zu Wohnungen23 und Gewerbsbenutzungen eingerichtete Veſten. Nichts architectoniſch Erhebendes war damals in Frankfurt zu ſehen: alles deutete auf eine laͤngſt vergangne, fuͤr Stadt und Gegend ſehr unruhige Zeit. Pforten und Thuͤrme, welche die Graͤnze der alten Stadt bezeichneten, dann weiterhin abermals Pforten, Thuͤrme, Mau¬ ern, Bruͤcken, Waͤlle, Graͤben, womit die neue Stadt umſchloſſen war, alles ſprach noch zu deutlich aus, daß die Nothwendigkeit, in unruhigen Zeiten dem Gemeinweſen Sicher¬ heit zu verſchaffen, dieſe Anſtalten hervorge¬ bracht, daß die Plaͤtze, die Straßen, ſelbſt die neuen, breiter und ſchoͤner angelegten, alle nur dem Zufall und der Willkuͤhr und keinem regelnden Geiſte ihren Urſprung zu danken hatten. Eine gewiſſe Neigung zum Alter¬ thuͤmlichen ſetzte ſich bey dem Knaben feſt, welche beſonders durch alte Chroniken, Holz¬ ſchnitte, wie z. B. den Grave'ſchen von der Belagerung von Frankfurt, genaͤhrt und be¬ guͤnſtigt wurden; wobey noch eine andre Luſt,24 blos menſchliche Zuſtaͤnde in ihrer Mannig¬ faltigkeit und Natuͤrlichkeit, ohne weitern An¬ ſpruch auf Intereſſe oder Schoͤnheit, zu erfaſ¬ ſen, ſich hervorthat. So war es eine von unſern liebſten Promenaden, die wir uns des Jahrs ein paarmal zu verſchaffen ſuchten, in¬ wendig auf dem Gange der Stadtmauer her¬ zuſpaziren. Gaͤrten, Hoͤfe, Hintergebaͤude ziehen ſich bis an den Zwinger heran; man ſieht mehreren tauſend Menſchen in ihre haͤus¬ lichen, kleinen, abgeſchloſſenen, verborgenen Zuſtaͤnde. Von dem Putz - und Schaugarten des Reichen zu den Obſtgaͤrten des fuͤr ſeinen Nutzen beſorgten Buͤrgers, von da zu Fabri¬ ken, Bleichplaͤtzen und aͤhnlichen Anſtalten, ja bis zum Gottesacker ſelbſt — denn eine klei¬ ne Welt lag innerhalb des Bezirks der Stadt — ging man an dem mannigfaltigſten, wun¬ derlichſten, mit jedem Schritt ſich veraͤndern¬ den Schauſpiel vorbey, an dem unſre kindi¬ ſche Neugier ſich nicht genug ergetzen konnte. Denn fuͤrwahr der bekannte hinkende Teufel,25 als er fuͤr ſeinen Freund die Daͤcher von Ma¬ drid in der Nacht abhob, hat kaum mehr fuͤr dieſen geleiſtet, als hier vor uns unter freyem Himmel, bey hellem Sonnenſchein, gethan war. Die Schluͤſſel, deren man ſich auf die¬ ſem Wege bedienen mußte, um durch man¬ cherley Thuͤrme, Treppen und Pfoͤrtchen durch¬ zukommen, waren in den Haͤnden der Zeug¬ herren, und wir verfehlten nicht ihren Subal¬ ternen aufs beſte zu ſchmeicheln.
Bedeutender noch und in einem andern Sinne fruchtbarer blieb fuͤr uns das Rath¬ haus, der Roͤmer genannt. In ſeinen untern, gewoͤlbaͤhnlichen Hallen verloren wir uns gar zu gerne. Wir verſchafften uns Eintritt in das große, hoͤchſt einfache Seſſionszimmer des Rathes. Bis auf eine gewiſſe Hoͤhe ge¬ taͤfelt, waren uͤbrigens die Waͤnde ſo wie die Woͤlbung weiß, und das Ganze ohne Spur von Malerey oder irgend einem Bildwerk. 26Nur an der mittelſten Wand in der Hoͤhe las man die kurze Inſchrift:
Nach der alterthuͤmlichſten Art waren fuͤr die Glieder dieſer Verſammlung Baͤnke rings¬ umher an der Vertaͤfelung angebracht und um eine Stufe von dem Boden erhoͤht. Da be¬ griffen wir leicht, warum die Rangordnung unſres Senats nach Baͤnken eingetheilt ſey. Von der Thuͤre linker Hand bis in die ge¬ genuͤberſtehende Ecke, als auf der erſten Bank, ſaßen die Schoͤffen, in der Ecke ſelbſt der Schultheiß, der einzige der ein kleines Tiſch¬ chen vor ſich hatte; zu ſeiner Linken bis gegen die Fenſterſeite ſaßen nunmehr die Herren der zweyten Bank; an den Fenſtern her zog ſich die dritte Bank, welche die Hand¬ werker einnahmen; in der Mitte des Saals ſtand ein Tiſch fuͤr den Protocollfuͤhrer.
27Waren wir einmal im Roͤmer, ſo miſch¬ ten wir uns auch wohl in das Gedraͤnge vor den burgemeiſterlichen Audienzen. Aber groͤ¬ ßeren Reiz hatte alles, was ſich auf Wahl und Kroͤnung der Kaiſer bezog. Wir wußten uns die Gunſt der Schließer zu verſchaffen, um die neue, heitre, in Fresko gemalte, ſonſt durch ein Gitter verſchloſſene Kaiſertrep¬ pe hinaufſteigen zu duͤrfen. Das mit Pur¬ purtapeten und wunderlich verſchnoͤrkelten Gold¬ leiſten verzierte Wahlzimmer floͤßte uns Ehr¬ furcht ein. Die Thuͤrſtuͤcke, auf welchen klei¬ ne Kinder oder Genien mit dem kaiſerlichen Ornat bekleidet, und belaſtet mit den Reichs¬ inſignien, eine gar wunderliche Figur ſpielen, betrachteten wir mit großer Aufmerkſamkeit, und hofften wohl auch noch einmal eine Kroͤ¬ nung mit Augen zu erleben. Aus dem gro¬ ßen Kaiſerſaale konnte man uns nur mit ſehr vieler Muͤhe wieder herausbringen, wenn es uns einmal gegluͤckt war hineinzuſchluͤpfen; und wir hielten denjenigen fuͤr unſern wahr¬28 ſten Freund, der uns bey den Bruſtbildern der ſaͤmmtlichen Kaiſer, die in einer gewiſſen Hoͤ¬ he umher gemalt waren, etwas von ihren Thaten erzaͤhlen mochte.
Von Carl dem Großen vernahmen wir manches Maͤhrchenhafte; aber das Hiſtoriſch¬ intereſſante fuͤr uns fing erſt mit Rudolph von Habsburg an, der durch ſeine Mannheit ſo großen Verwirrungen ein Ende gemacht. Auch Carl der vierte zog unſre Aufmerkſam¬ keit an ſich. Wir hatten ſchon von der gold¬ nen Bulle und der peinlichen Halsgerichtsord¬ nung gehoͤrt, auch daß er den Frankfurtern ihre Anhaͤnglichkeit an ſeinen edlen Gegenkai¬ ſer, Guͤnther von Schwarzburg, nicht entgel¬ ten ließ. Maximilianen hoͤrten wir als einen Menſchen - und Buͤrgerfreund loben, und daß von ihm prophezeyt worden, er werde der letzte Kaiſer aus einem deutſchen Hauſe ſeyn; welches denn auch leider eingetroffen, indem nach ſeinem Tode die Wahl nur zwiſchen dem29 Koͤnig von Spanien, Carl dem fuͤnften, und dem Koͤnig von Frankreich, Franz dem erſten, geſchwankt habe. Bedenklich fuͤgte man hin¬ zu, daß nun abermals eine ſolche Weiſſagung oder vielmehr Vorbedeutung umgehe: denn es ſey augenfaͤllig, daß nur noch Platz fuͤr das Bild eines Kaiſers uͤbrig bleibe; ein Umſtand, der obgleich zufaͤllig ſcheinend, die Patriotiſch¬ geſinnten mit Beſorgniß erfuͤlle.
Wenn wir nun ſo einmal unſern Umgang hielten, verfehlten wir auch nicht, uns nach dem Dom zu begeben und daſelbſt das Grab jenes braven, von Freund und Feinden ge¬ ſchaͤtzten Guͤnther zu beſuchen. Der merkwuͤr¬ dige Stein, der es ehmals bedeckte, iſt in dem Chor aufgerichtet. Die gleich daneben befindliche Thuͤre, welche ins Conclave fuͤhrt, blieb uns lange verſchloſſen, bis wir endlich durch die obern Behoͤrden auch den Eintritt in dieſen ſo bedeutenden Ort zu erlangen wußten. Allein wir haͤtten beſſer gethan, ihn durch30 unſre Einbildungskraft, wie bisher, auszuma¬ len: denn wir fanden dieſen in der deutſchen Geſchichte ſo merkwuͤrdigen Raum, wo die maͤchtigſten Fuͤrſten ſich zu einer Handlung von ſolcher Wichtigkeit zu verſammlen pfleg¬ ten, keinesweges wuͤrdig ausgeziert, ſondern noch obenein mit Balken, Stangen, Geruͤ¬ ſten und anderem ſolchen Geſperr, das man bey Seite ſetzen wollte, verunſtaltet. De¬ ſto mehr ward unſere Einbildungskraft ange¬ regt und das Herz uns erhoben, als wir kurz nachher die Erlaubniß erhielten, beym Vor¬ zeigen der goldnen Bulle an einige vornehme Fremden, auf dem Rathhauſe gegenwaͤrtig zu ſeyn.
Mit vieler Begierde vernahm der Knabe ſodann, was ihm die Seinigen ſo wie aͤltere Verwandte und Bekannte gern erzaͤhlten und wiederholten, die Geſchichten der zuletzt kurz auf einander gefolgten Kroͤnungen: denn es war kein Frankfurter von einem gewiſſen Al¬31 ter, der nicht dieſe beyden Ereigniſſe und was ſie begleitete, fuͤr den Gipfel ſeines Lebens gehalten haͤtte. So praͤchtig die Kroͤnung Carls des ſiebenten geweſen war, bey welcher beſonders der franzoͤſiſche Geſandte, mit Ko¬ ſten und Geſchmack, herrliche Feſte gegeben; ſo war doch die Folge fuͤr den guten Kaiſer deſto trauriger, der ſeine Reſidenz Muͤnchen nicht behaupten konnte und gewiſſermaßen die Gaſt¬ freyheit ſeiner Reichsſtaͤdter anflehen mußte.
War die Kroͤnung Franz des erſten nicht ſo auffallend praͤchtig wie jene, ſo wurde ſie doch durch die Gegenwart der Kaiſerinn Ma¬ ria Thereſia verherrlicht, deren Schoͤnheit eben ſo einen großen Eindruck auf die Maͤnner ſcheint gemacht zu haben, als die ernſte wuͤr¬ dige Geſtalt und die blauen Augen Carls des ſiebenten auf die Frauen. Wenigſtens wettei¬ ferten beyde Geſchlechter, dem aufhorchenden Knaben einen hoͤchſt vortheilhaften Begriff von jenen beyden Perſonen beyzubringen. Alle32 dieſe Beſchreibungen und Erzaͤhlungen ge¬ ſchahen mit heitrem und beruhigtem Gemuͤth: denn der Achner Friede hatte fuͤr den Augen¬ blick aller Fehde ein Ende gemacht, und wie von jenen Feyerlichkeiten, ſo ſprach man mit Behaglichkeit von den voruͤbergegangenen Kriegszuͤgen, von der Schlacht bey Dettin¬ gen, und was die merkwuͤrdigſten Begebenhei¬ ten der verfloſſenen Jahre mehr ſeyn moch¬ ten; und alles Bedeutende und Gefaͤhrliche ſchien, wie es nach einem abgeſchloſſenen Frie¬ den zu gehen pflegt, ſich nur ereignet zu ha¬ ben, um gluͤcklichen und ſorgenfreyen Men¬ ſchen zur Unterhaltung zu dienen.
Hatte man in einer ſolchen patriotiſchen Beſchraͤnkung kaum ein halbes Jahr hinge¬ bracht, ſo traten ſchon die Meſſen wieder ein, welche in den ſaͤmmtlichen Kinderkoͤpfen jederzeit eine unglaubliche Gaͤhrung hervor¬ brachten. Eine durch Erbauung ſo vieler Buden innerhalb der Stadt in weniger Zeit33 entſpringende neue Stadt, das Wogen und Treiben, das Abladen und Auspacken der Waaren, erregte von den erſten Momenten des Bewußtſeyns an, eine unbezwinglich thaͤti¬ ge Neugierde und ein unbegraͤnztes Verlan¬ gen nach kindiſchem Beſitz, das der Knabe mit wachſenden Jahren, bald auf dieſe bald auf jene Weiſe, wie es die Kraͤfte ſeines klei¬ nen Beutels erlauben wollten, zu befriedigen ſuchte. Zugleich aber bildete ſich die Vorſtel¬ lung von dem was die Welt alles hervor¬ bringt, was ſie bedarf, und was die Bewoh¬ ner ihrer verſchiedenen Theile gegen einander auswechſeln.
Dieſe großen, im Fruͤhjahr und Herbſt eintretenden Epochen wurden durch ſeltſame Feyerlichkeiten angekuͤndigt, welche um deſto wuͤrdiger ſchienen, als ſie die alte Zeit und was von dorther noch auf uns gekommen, lebhaft vergegenwaͤrtigten. Am Geleitstag war das ganze Volk auf den Beinen, draͤng¬I. 334te ſich nach der Fahrgaſſe, nach der Bruͤcke, bis uͤber Sachſenhauſen hinaus; alle Fenſter waren beſetzt, ohne daß den Tag uͤber was beſonderes vorging; die Menge ſchien nur da zu ſeyn, um ſich zu draͤngen, und die Zu¬ ſchauer, um ſich unter einander zu betrach¬ ten: denn das worauf es eigentlich ankam, ereignete ſich erſt mit ſinkender Nacht, und wurde mehr geglaubt als mit Augen geſehen.
In jenen aͤltern unruhigen Zeiten naͤm¬ lich, wo ein Jeder nach Belieben Unrecht that, oder nach Luſt das Rechte befoͤrderte, wurden die auf die Meſſen ziehenden Han¬ delsleute von Wegelagerern, edlen und uned¬ len Geſchlechts, willkuͤhrlich geplagt und ge¬ plackt, ſo daß Fuͤrſten und andre maͤchtige Staͤnde die Ihrigen mit gewaffneter Hand bis nach Frankfurt geleiten ließen. Hier wollten nun aber die Reichsſtaͤdter ſich ſelbſt und ihrem Gebiet nichts vergeben; ſie zogen den Ankoͤmmlingen entgegen: da gab es denn35 manchmal Streitigkeiten, wie weit jene Ge¬ leitenden heran kommen, oder ob ſie wohl gar ihren Einritt in die Stadt nehmen koͤnnten. Weil nun dieſes nicht allein bey Handels - und Meßgeſchaͤften ſtatt fand, ſon¬ dern auch wenn hohe Perſonen in Kriegs - und Friedenszeiten, vorzuͤglich aber zu Wahltagen, ſich heranbegaben; und es auch oͤfters zu Thaͤtlichkeiten kam, ſobald irgend ein Gefol¬ ge, das man in der Stadt nicht dulden woll¬ te, ſich mit ſeinem Herrn hereinzudraͤngen begehrte: ſo waren zeither daruͤber manche Verhandlungen gepflogen, es waren viele Re¬ ceſſe deshalb, obgleich ſtets mit beyderſeitigen Vorbehalten, geſchloſſen worden, und man gab die Hoffnung nicht auf, den ſeit Jahr¬ hunderten dauernden Zwiſt endlich einmal bey¬ zulegen, als die ganze Anſtalt, weshalb er ſo lange und oft ſehr heftig gefuͤhrt worden war, beynah fuͤr unnuͤtz, wenigſtens fuͤr uͤber¬ fluͤßig angeſehen werden konnte.
3 *36Unterdeſſen ritt die buͤrgerliche Cavallerie in mehreren Abtheilungen, mit den Ober¬ haͤuptern an ihrer Spitze, an jenen Tagen zu verſchiedenen Thoren hinaus, fand an einer gewiſſen Stelle einige Reiter oder Huſaren der zum Geleit berechtigten Reichsſtaͤnde, die nebſt ihren Anfuͤhrern wohl empfangen und bewirthet wurden; man zoͤgerte bis gegen Abend, und ritt alsdann, kaum von der war¬ tenden Menge geſehen, zur Stadt herein; da denn mancher buͤrgerliche Reiter weder ſein Pferd noch ſich ſelbſt auf dem Pferde zu erhalten vermochte. Zu dem Bruͤckenthore kamen die bedeutendſten Zuͤge herein, und deswegen war der Andrang dorthin am ſtaͤrkſten. Ganz zuletzt und mit ſinkender Nacht langte der auf gleiche Weiſe geleitete Nuͤrnberger Poſtwagen an, und man trug ſich mit der Rede, es muͤſſe jederzeit, dem Herkommen gemaͤß, eine alte Frau darin ſitzen; weshalb denn die Straßenjungen bey Ankunft des Wagens in ein gellendes Ge¬37 ſchrey auszubrechen pflegten, ob man gleich die im Wagen ſitzenden Paſſagiere keineswegs mehr unterſcheiden konnte. Unglaublich und wirklich die Sinne verwirrend war der Drang der Menge, die in dieſem Augenblick durch das Bruͤckenthor herein dem Wagen nach¬ ſtuͤrzte; deswegen auch die naͤchſten Haͤuſer von den Zuſchauern am meiſten geſucht wurden.
Eine andere, noch viel ſeltſamere Feyer¬ lichkeit, welche am hellen Tage das Publi¬ cum aufregte, war das Pfeifergericht. Es erinnerte dieſe Ceremonie an jene erſten Zei¬ ten, wo bedeutende Handelsſtaͤdte ſich von den Zoͤllen, welche mit Handel und Gewerb in gleichem Maaße zunahmen, wo nicht zu befreyen, doch wenigſtens eine Milderung derſelben zu erlangen ſuchten. Der Kaiſer, der ihrer bedurfte, ertheilte eine ſolche Frey¬ heit, da wo es von ihm abhing, gewoͤhnlich aber nur auf ein Jahr, und ſie mußte daher jaͤhrlich erneuert werden. Dieſes geſchah38 durch ſymboliſche Gaben, welche dem kaiſer¬ lichen Schultheißen, der auch wohl gelegentlich Oberzoͤllner ſeyn konnte, vor Eintritt der Bartholomaͤi-Meſſe gebracht wurden, und zwar des Anſtands wegen, wenn er mit den Schoͤffen zu Gericht ſaß. Als der Schultheiß ſpaͤterhin nicht mehr vom Kaiſer geſetzt, ſon¬ dern von der Stadt ſelbſt gewaͤhlt wurde, behielt er doch dieſe Vorrechte, und ſowohl die Zollfreyheiten der Staͤdte, als die Cere¬ monien, womit die Abgeordneten von Worms, Nuͤrnberg und Alt-Bamberg dieſe uralte Ver¬ guͤnſtigung anerkannten, waren bis auf unſere Zeiten gekommen. Den Tag vor Mariaͤ Geburt ward ein oͤffentlicher Gerichtstag ange¬ kuͤndigt. In dem großen Kaiſerſaale, in ei¬ nem umſchraͤnkten Raume, ſaßen erhoͤht die Schoͤffen, und eine Stufe hoͤher der Schult¬ heiß in ihrer Mitte; die von den Parteyen bevollmaͤchtigten Procuratoren unten zur rech¬ ten Seite. Der Actuarius faͤngt an, die auf dieſen Tag geſparten wichtigen Urtheile39 laut vorzuleſen; die Procuratoren bitten um Abſchrift, appelliren, oder was ſie ſonſt zu thun noͤthig finden.
Auf einmal meldet eine wunderliche Mu¬ ſik gleichſam die Ankunft voriger Jahrhunder¬ te. Es ſind drey Pfeifer, deren einer eine alte Schalmey, der andere einen Baß, der dritte einen Pommer oder Hoboe blaͤſt. Sie tragen blaue mit Gold verbraͤmte Maͤntel, auf den Aermeln die Noten befeſtigt, und ha¬ ben das Haupt bedeckt. So waren ſie aus ihrem Gaſthauſe, die Geſandten und ihre Begleitung hinterdrein, Punkt zehn ausge¬ zogen, von Einheimiſchen und Fremden ange¬ ſtaunt, und ſo treten ſie in den Saal. Die Gerichtsverhandlungen halten inne, Pfeifer und Begleitung bleiben vor den Schranken, der Abgeſandte tritt hinein und ſtellt ſich dem Schultheißen gegenuͤber. Die ſymboliſchen Ga¬ ben, welche auf das genauſte nach dem alten Herkommen gefordert wurden, beſtanden ge¬40 woͤhnlich in ſolchen Waaren, womit die dar¬ bringende Stadt vorzuͤglich zu handlen pfleg¬ te. Der Pfeffer galt gleichſam fuͤr alle Waaren, und ſo brachte auch hier der Ab¬ geſandte einen ſchoͤn gedrechſelten hoͤlzernen Pocal mit Pfeffer angefuͤllt. Ueber demſel¬ ben lagen ein Paar Handſchuhe, wunderſam geſchlitzt, mit Seide beſteppt und bequaſtet, als Zeichen einer geſtatteten und angenomme¬ nen Verguͤnſtigung, deſſen ſich auch wohl der Kaiſer ſelbſt in gewiſſen Faͤllen bediente. Daneben ſah man ein weißes Staͤbchen, wel¬ ches vormals bey geſetzlichen und gerichtlichen Handlungen nicht leicht fehlen durfte. Es waren noch einige kleine Silbermuͤnzen hinzu¬ gefuͤgt, und die Stadt Worms brachte einen alten Filzhut, den ſie immer wieder einloͤſte, ſo daß derſelbe viele Jahre ein Zeuge dieſer Ceremonien geweſen.
Nachdem der Geſandte ſeine Anrede gehal¬ ten, das Geſchenk abgegeben, von dem Schult¬41 heißen die Verſicherung fortdauernder Beguͤnſti¬ gung empfangen; ſo entfernte er ſich aus dem geſchloſſenen Kreiſe, die Pfeifer blieſen, der Zug ging ab, wie er gekommen war, das Gericht verfolgte ſeine Geſchaͤfte, bis der zweyte und endlich der dritte Geſandte eingefuͤhrt wur¬ den: denn ſie kamen erſt einige Zeit nacheinan¬ der, theils damit das Vergnuͤgen des Publi¬ cums laͤnger daure, theils auch weil es im¬ mer dieſelben alterthuͤmlichen Virtuoſen waren, welche Nuͤrnberg fuͤr ſich und ſeine Mitſtaͤdte zu unterhalten und jedes Jahr an Ort und Stelle zu bringen uͤbernommen hatte.
Wir Kinder waren bey dieſem Feſte beſon¬ ders intereſſirt, weil es uns nicht wenig ſchmei¬ chelte, unſern Großvater an einer ſo ehrenvol¬ len Stelle zu ſehen, und weil wir gewoͤhnlich noch ſelbigen Tag ihn ganz beſcheiden zu beſu¬ chen pflegten, um, wenn die Großmutter den Pfeffer in ihre Gewuͤrzladen geſchuͤttet haͤtte, einen Becher und Staͤbchen, ein paar Hand¬42 ſchuh oder einen alten Raͤder-Albus zu erhaſchen. Man konnte ſich dieſe ſymboliſchen, das Alter¬ thum gleichſam hervorzaubernden Ceremonien nicht erklaͤren laſſen, ohne in vergangene Jahr¬ hunderte wieder zuruͤckgefuͤhrt zu werden, ohne ſich nach Sitten, Gebraͤuchen und Geſinnungen unſerer Altvordern zu erkundigen, die ſich durch wieder auferſtandene Pfeifer und Abgeordnete, ja durch handgreifliche und fuͤr uns beſitzbare Gaben, auf eine ſo wunderliche Weiſe verge¬ genwaͤrtigten.
Solchen altehrwuͤrdigen Feyerlichkeiten folg¬ te in guter Jahrszeit manches fuͤr uns Kin¬ der luſtreichere Feſt außerhalb der Stadt unter freyem Himmel. An dem rechten Ufer des Mains unterwaͤrts, etwa eine halbe Stunde vom Thor, quillt ein Schwefelbrunnen, ſau¬ ber eingefaßt und mit uralten Linden umgeben. Nicht weit davon ſteht der Hof zu den guten Leuten, ehmals ein um dieſer Quelle willen erbautes Hoſpital. Auf den Ge¬43 meinweiden umher verſammelte man zu einem gewiſſen Tage des Jahres die Rindviehheerden aus der Nachbarſchaft, und die Hirten ſammt ihren Maͤdchen feyerten ein laͤndliches Feſt, mit Tanz und Geſang, mit mancherley Luſt und Ungezogenheit. Auf der andern Seite der Stadt lag ein aͤhnlicher nur groͤßerer Gemeinde¬ platz, gleichfalls durch einen Brunnen und durch noch ſchoͤnere Linden geziert. Dorthin trieb man zu Pfingſten die Schafheerden, und zu gleicher Zeit ließ man die armen ver¬ bleichten Waiſenkinder aus ihren Mauern ins Freye: denn man ſollte erſt ſpaͤter auf den Ge¬ danken gerathen, daß man ſolche verlaſſene Kreaturen, die ſich einſt durch die Welt durch zu helfen genoͤthigt ſind, fruͤh mit der Welt in Verbindung bringen, anſtatt ſie auf eine traurige Weiſe zu hegen, ſie lieber gleich zum Dienen und Dulden gewoͤhnen muͤſſe, und alle Urſach habe, ſie von Kindesbeinen an ſowohl phyſiſch als moraliſch zu kraͤftigen. Die Ammen und Maͤgde, welche ſich ſelbſt44 immer gern einen Spazirgang bereiten, ver¬ fehlten nicht, von den fruͤhſten Zeiten, uns an dergleichen Orte zu tragen und zu fuͤhren, ſo daß dieſe laͤndlichen Feſte wohl mit zu den erſten Eindruͤcken gehoͤren, deren ich mich er¬ inneren kann.
Das Haus war indeſſen fertig geworden und zwar in ziemlich kurzer Zeit, weil alles wohl uͤberlegt, vorbereitet und fuͤr die noͤthige Geldſumme geſorgt war. Wir fanden uns nun alle wieder verſammelt und fuͤhlten uns behag¬ lich: denn ein wohlausgedachter Plan, wenn er ausgefuͤhrt daſteht, laͤßt alles vergeſſen, was die Mittel, um zu dieſem Zweck zu gelan¬ gen, unbequemes moͤgen gehabt haben. Das Haus war fuͤr eine Privatwohnung geraͤumig genug, durchaus hell und heiter, die Treppe frey, die Vorſaͤle luſtig, und jene Ausſicht uͤber die Gaͤrten aus mehrern Fenſtern bequem zu genießen. Der innere Ausbau und was zur Vollendung und Zierde gehoͤrt, ward nach45 und nach vollbracht, und diente zugleich zur Beſchaͤftigung und zur Unterhaltung.
Das erſte was man in Ordnung brachte, war die Buͤcherſammlung des Vaters, von welcher die beſten, in Franz - oder Halb-Franz¬ band gebundenen Buͤcher die Waͤnde ſeines Arbeits - und Studirzimmers ſchmuͤcken ſollten. Er beſaß die ſchoͤnen hollaͤndiſchen Ausgaben der lateiniſchen Schriftſteller, welche er der aͤußern Uebereinſtimmung wegen ſaͤmmtlich in Quart anzuſchaffen ſuchte; ſodann vieles was ſich auf die roͤmiſchen Antiquitaͤten und die elegan¬ tere Jurisprudenz bezieht. Die vorzuͤglichſten italiaͤniſchen Dichter fehlten nicht, und fuͤr den Taſſo bezeigte er eine große Vorliebe. Die beſten neuſten Reiſebeſchreibungen waren auch vorhanden, und er ſelbſt machte ſich ein Ver¬ gnuͤgen daraus, den Keyßler und Ne¬ meiz zu berichtigen und zu ergaͤnzen. Nicht weniger hatte er ſich mit den noͤthigſten Huͤlfs¬ mitteln umgeben, mit Woͤrterbuͤchern aus ver¬46 ſchiedenen Sprachen, mit Reallexiken, daß man ſich alſo nach Belieben Raths erholen konnte, ſo wie mit manchem andern was zum Nutzen und Vergnuͤgen gereicht.
Die andere Haͤlfte dieſer Buͤcherſammlung, in ſaubern Pergamentbaͤnden mit ſehr ſchoͤn geſchriebenen Titeln, ward in einem beſon¬ dern Manſardzimmer aufgeſtellt. Das Nach¬ ſchaffen der neuen Buͤcher, ſo wie das Binden und Einreihen derſelben, betrieb er mit gro¬ ßer Gelaſſenheit und Ordnung. Dabey hatten die gelehrten Anzeigen, welche dieſem oder jenem Wert beſondere Vorzuͤge beylegten, auf ihn großen Einfluß. Seine Sammlung juriſtiſcher Diſſertationen vermehrte ſich jaͤhr¬ lich um einige Baͤnde.
Zunaͤchſt aber wurden die Gemaͤlde, die ſonſt in dem alten Hauſe zerſtreut herumgehan¬ gen, nunmehr zuſammen an den Waͤnden ei¬ nes freundlichen Zimmers neben der Studir¬47 ſtube, alle in ſchwarzen, mit goldenen Staͤb¬ chen verzierten Ramen, ſymmetriſch angebracht. Mein Vater hatte den Grundſatz, den er oͤf¬ ters und ſogar leidenſchaftlich ausſprach, daß man die lebenden Meiſter beſchaͤftigen, und weniger auf die abgeſchiedenen wenden ſolle, bey deren Schaͤtzung ſehr viel Vorurtheil mit unterlaufe. Er hatte die Vorſtellung, daß es mit den Gemaͤlden voͤllig wie mit den Rhein¬ weinen beſchaffen ſey, die wenn ihnen gleich das Alter einen vorzuͤglichen Werth beylege, dennoch in jedem folgenden Jahre eben ſo vor¬ trefflich als in den vergangenen koͤnnten hervor¬ gebracht werden. Nach Verlauf einiger Zeit werde der neue Wein auch ein alter, eben ſo koſtbar und vielleicht noch ſchmackhafter. In dieſer Meynung beſtaͤtigte er ſich vorzuͤglich durch die Bemerkung, daß mehrere alte Bilder haupt¬ ſaͤchlich dadurch fuͤr die Liebhaber einen großen Werth zu erhalten ſchienen, weil ſie dunkler und braͤuner geworden, und der harmoniſche Ton eines ſolchen Bildes oͤfters geruͤhmt wur¬48 de. Mein Vater verſicherte dagegen, es ſey ihm gar nicht bange, daß die neuen Bilder kuͤnftig nicht auch ſchwarz werden ſollten; daß ſie aber gerade dadurch gewoͤnnen, wollte er nicht zugeſtehen.
Nach dieſen Grundſaͤtzen beſchaͤftigte er mehrere Jahre hindurch die ſaͤmmtlichen Frankfurter Kuͤnſtler: den Maler Hirt, wel¬ cher Eichen - und Buchenwaͤlder, und andere ſogenannte laͤndliche Gegenden, ſehr wohl mit Vieh zu ſtaffiren wußte; desgleichen Traut¬ mann, der ſich den Rembrand zum Muſter genommen, und es in eingeſchloſſenen Lichtern und Widerſcheinen, nicht weniger in effectvollen Feuersbruͤnſten weit gebracht hatte, ſo daß er einſtens aufgefordert wurde, einen Pendant zu einem Rembrandiſchen Bilde zu malen; ferner Schuͤtz, der auf dem Wege des Sachtle¬ ben die Rheingegenden fieißig bearbeitet; nicht weniger Junkern, der Blumen - und Fruchtſtuͤcke, Stillleben und ruhig beſchaͤftigte49 Perſonen, nach dem Vorgang der Niederlaͤn¬ der, ſehr reinlich ausfuͤhrte. Nun aber ward durch die neue Ordnung, durch einen beque¬ mern Raum, und noch mehr durch die Be¬ kanntſchaft eines geſchickten Kuͤnſtlers, die Liebhaberey, wieder angefriſcht und belebt. Die¬ ſes war Seekaz, ein Schuͤler von Brink¬ mann, darmſtaͤdtiſcher Hofmaler, deſſen Ta¬ lent und Character ſich in der Folge vor uns umſtaͤndlicher entwickeln wird.
Man ſchritt auf dieſe Weiſe mit Vollen¬ dung der uͤbrigen Zimmer, nach ihren ver¬ ſchiedenen Beſtimmungen, weiter. Reinlichkeit und Ordnung herrſchten im Ganzen; vorzuͤg¬ lich trugen große Spiegelſcheiben das ihrige zu einer vollkommenen Helligkeit bey, die in dem alten Hauſe aus mehrern Urſachen, zu¬ naͤchſt aber auch wegen meiſt runder Fenſterſchei¬ ben gefehlt hatte. Der Vater zeigte ſich heiter, weil ihm alles gut gelungen war; und waͤre der gute Humor nicht manchmal dadurch un¬I. 450terbrochen worden, daß nicht immer der Fleiß und die Genauigkeit der Handwerker ſeinen Forderungen entſprachen: ſo haͤtte man kein gluͤcklicheres Leben denken koͤnnen, zumal da manches Gute theils in der Familie ſelbſt entſprang, theils ihr von außen zufloß.
Durch ein außerordentliches Weltereigniß wurde jedoch die Gemuͤthsruhe des Knaben zum erſten Mal im Tiefſten erſchuͤttert. Am erſten November 1755 ereignete ſich das Erdbeben von Liſſabon, und verbreitete uͤber die in Frieden und Ruhe ſchon eingewohnte Welt einen ungeheuren Schrecken. Eine gro¬ ße praͤchtige Reſidenz, zugleich Handels - und Hafenſtadt, wird ungewarnt von dem furcht¬ barſten Ungluͤck betroffen. Die Erde bebt und ſchwankt, das Meer brauſt auf, die Schiffe ſchlagen zuſammen, die Haͤuſer ſtuͤr¬ zen ein, Kirchen und Thuͤrme daruͤber her, der koͤnigliche Palaſt zum Theil wird vom Meere verſchlungen, die geborſtene Erde ſcheint51 Flammen zu ſpeyen: denn uͤberall meldet ſich Rauch und Brand in den Ruinen. Sech¬ zigtauſend Menſchen, einen Augenblick zuvor noch ruhig und behaglich, gehen mit einander zu Grunde, und der gluͤcklichſte darunter iſt der zu nennen, dem keine Empfindung, keine Be¬ ſinnung uͤber das Ungluͤck mehr geſtattet iſt. Die Flammen wuͤthen fort, und mit ihnen wuͤ¬ thet eine Schaar ſonſt verborgner, oder durch dieſes Ereigniß in Freyheit geſetzter Verbrecher. Die ungluͤcklichen Uebriggebliebenen ſind dem Raube, dem Morde, allen Mißhandlungen blosgeſtellt; und ſo behauptet von allen Sei¬ ten die Natur ihre ſchrankenloſe Willkuͤhr.
Schneller als die Nachrichten hatten ſchon Andeutungen von dieſem Vorfall ſich durch große Landſtrecken verbreitet; an vielen Orten waren ſchwaͤchere Erſchuͤtterungen zu verſpuͤ¬ ren, an manchen Quellen, beſonders den heilſamen, ein ungewoͤhnliches Innehalten zu bemerken geweſen: um deſto groͤßer war die4 *52Wirkung der Nachrichten ſelbſt, welche erſt im Allgemeinen, dann aber mit ſchrecklichen Einzelheiten ſich raſch verbreiteten. Hierauf ließen es die Gottesfuͤrchtigen nicht an Be¬ trachtungen, die Philoſophen nicht an Troſt¬ gruͤnden, an Strafpredigten die Geiſtlichkeit nicht fehlen. So vieles zuſammen richtete die Aufmerkſamkeit der Welt eine Zeit lang auf dieſen Punct, und die durch fremdes Ungluͤck aufgeregten Gemuͤther wurden durch Sorgen fuͤr ſich ſelbſt und die Ihrigen um ſo mehr geaͤngſtigt, als uͤber die weitverbrei¬ tete Wirkung dieſer Exploſion von allen Or¬ ten und Enden immer mehrere und umſtaͤnd¬ lichere Nachrichten einliefen. Ja vielleicht hat der Daͤmon des Schreckens zu keiner Zeit ſo ſchnell und ſo maͤchtig ſeine Schauer uͤber die Erde verbreitet.
Der Knabe, der alles dieſes wiederholt vernehmen mußte, war nicht wenig betroffen. Gott, der Schoͤpfer und Erhalter Himmels53 und der Erden, den ihm die Erklaͤrung des erſten Glaubens-Artikels ſo weiſe und gnaͤ¬ dig vorſtellte, hatte ſich, indem er die Gerech¬ ten mit den Ungerechten gleichem Verderben preis gab, keineswegs vaͤterlich bewieſen. Vergebens ſuchte das junge Gemuͤth ſich ge¬ gen dieſe Eindruͤcke herzuſtellen, welches uͤber¬ haupt um ſo weniger moͤglich war, als die Weiſen und Schriftgelehrten ſelbſt ſich uͤber die Art, wie man ein ſolches Phaͤnomen an¬ zuſehen habe, nicht vereinigen konnten.
Der folgende Sommer gab eine naͤhere Gelegenheit, den zornigen Gott, von dem das alte Teſtament ſo viel uͤberliefert, unmittelbar kennen zu lernen. Unverſehens brach ein Ha¬ gelwetter herein und ſchlug die neuen Spie¬ gelſcheiben der gegen Abend gelegenen Hin¬ terſeite des Hauſes unter Donner und Bli¬ tzen auf das gewaltſamſte zuſammen, beſchaͤ¬ digte die neuen Moͤbeln, verderbte einige ſchaͤtzbare Buͤcher und ſonſt werthe Dinge,54 und war fuͤr die Kinder um ſo fuͤrchterlicher, als das ganz außer ſich geſetzte Hausgeſinde ſie in einen dunklen Gang mit fortriß, und dort auf den Knieen liegend durch ſchreckli¬ ches Geheul und Geſchrey die erzuͤrnte Gott¬ heit zu verſoͤhnen glaubte; indeſſen der Vater ganz allein gefaßt, die Fenſterfluͤgel aufriß und aushob; wodurch er zwar manche Schei¬ ben rettete, aber auch dem auf den Hagel folgenden Regenguß einen deſto offnern Weg bereitete, ſo daß man ſich, nach endlicher Erholung, auf den Vorſaͤlen und Treppen von flutendem und rinnendem Waſſer umge¬ ben ſah.
Solche Vorfaͤlle, wie ſtoͤrend ſie auch im Ganzen waren, unterbrachen doch nur wenig den Gang und die Folge des Unterrichts, den der Vater ſelbſt uns Kindern zu geben ſich einmal vorgenommen. Er hatte ſeine Jugend auf dem Coburger Gymnaſium zugebracht, welches unter den deutſchen Lehranſtalten eine der erſten Stel¬55 len einnahm. Er hatte daſelbſt einen guten Grund in den Sprachen und was man ſonſt zu einer gelehrten Erziehung rechnete, gelegt, nachher in Leipzig ſich der Rechtswiſſenſchaft befliſſen, und zuletzt in Gießen promovirt. Seine mit Ernſt und Fleiß verfaßte Diſſer¬ tation: Electa de aditione hereditatis, wird noch von den Rechtslehrern mit Lob angefuͤhrt.
Es iſt ein frommer Wunſch aller Vaͤter, das was ihnen ſelbſt abgegangen, an den Soͤhnen realiſirt zu ſehen, ſo ohngefaͤhr als wenn man zum zweyten Mal lebte und die Erfahrungen des erſten Lebenslaufes nun erſt recht nutzen wollte. Im Gefuͤhl ſeiner Kennt¬ niſſe, in Gewißheit einer treuen Ausdauer, und im Mistrauen gegen die damaligen Leh¬ rer, nahm der Vater ſich vor, ſeine Kinder ſelbſt zu unterrichten, und nur ſoviel als es noͤthig ſchien, einzelne Stunden durch eigent¬ liche Lehrmeiſter zu beſetzen. Ein paͤdagogi¬56 ſcher Dilettantismus fing ſich uͤberhaupt ſchon zu zeigen an. Die Pedanterie und Truͤbſin¬ nigkeit der an oͤffentlichen Schulen angeſtell¬ ten Lehrer mochte wohl die erſte Veranlaſſung dazu geben. Man ſuchte nach etwas Beſſerem, und vergaß, wie, mangelhaft aller Unterricht ſeyn muß, der nicht durch Leute vom Metier ertheilt wird.
Meinem Vater war ſein eigner Lebens¬ gang bis dahin ziemlich nach Wunſch gelun¬ gen; ich ſollte denſelben Weg gehen, aber bequemer und weiter. Er ſchaͤtzte meine an¬ gebornen Gaben um ſo mehr als ſie ihm man¬ gelten: denn er hatte alles nur durch unſaͤg¬ lichen Fleiß, Anhaltſamkeit und Wiederho¬ lung erworben. Er verſicherte mir oͤfters, fruͤher und ſpaͤter, im Ernſt und Scherz, daß er mit meinen Anlagen ſich ganz anders wuͤrde benommen, und nicht ſo liederlich da¬ mit wuͤrde gewirthſchaftet haben.
57Durch ſchnelles Ergreifen, Verarbeiten und Feſthalten entwuchs ich ſehr bald dem Unterricht, den mir mein Vater und die uͤbrigen Lehrmeiſter geben konnten, ohne daß ich doch in irgend etwas begruͤndet geweſen waͤre. Die Grammatik misfiel mir, weil ich ſie nur als ein willkuͤhrliches Geſetz anſah; die Regeln ſchienen mir laͤcherlich, weil ſie durch ſo viele Ausnahmen aufgehoben wurden, die ich alle wieder beſonders lernen ſollte. Und waͤre nicht der gereimte angehende Latei¬ ner geweſen, ſo haͤtte es ſchlimm mit mir ausgeſehen; doch dieſen trommelte und ſang ich mir gern vor. So hatten wir auch eine Geographie in ſolchen Gedaͤchtnißverſen, wo uns die abgeſchmackteſten Reime das zu Be¬ haltende am beſten einpraͤgten, z. B:
Die Sprachformen und Wendungen faßte ich leicht; ſo auch entwickelte ich mir ſchnell,58 was in dem Begriff einer Sache lag. In rhetoriſchen Dingen, Chrieen und dergleichen that es mir Niemand zuvor, ob ich ſchon wegen Sprachfehler oft hintanſtehen mußte. Solche Aufſaͤtze waren es jedoch, die meinem Vater beſondre Freude machten, und wegen deren er mich mit manchem, fuͤr einen Kna¬ ben bedeutenden, Geldgeſchenk belohnte.
Mein Vater lehrte die Schweſter in dem¬ ſelben Zimmer Italiaͤniſch, wo ich den Cella¬ rius auswendig zu lernen hatte. Indem ich nun mit meinem Penſum bald fertig war und doch ſtill ſitzen ſollte, horchte ich uͤber das Buch weg und faßte das Italiaͤniſche, das mir als eine luſtige Abweichung des Lateiniſchen auffiel, ſehr behende.
Andere Fruͤhzeitigkeiten in Abſicht auf Ge¬ daͤchtniß und Combination hatte ich mit jenen Kindern gemein, die dadurch einen fruͤhen Ruf erlangt haben. Deshalb konnte mein59 Vater kaum erwarten, bis ich auf Akademie gehen wuͤrde. Sehr bald erklaͤrte er, daß ich in Leipzig, fuͤr welches er eine große Vorliebe behalten, gleichfalls Jura ſtudiren, alsdann noch eine andre Univerſitaͤt beſuchen, und promoviren ſollte. Was dieſe zweyte betraf, war es ihm gleichguͤltig, welche ich waͤhlen wuͤrde; nur gegen Goͤttingen hatte er, ich weiß nicht warum, einige Abneigung, zu meinem Leidweſen: denn ich hatte gerade auf dieſe viel Zutrauen und große Hoffnungen geſetzt.
Ferner erzaͤhlte er mir, daß ich nach Wetzlar und Regensburg, nicht weniger nach Wien und von da nach Italien gehen ſollte; ob er gleich wiederholt behauptete, man muͤſſe Paris voraus ſehen, weil man aus Italien kommend ſich an nichts mehr ergetze.
Dieſes Maͤhrchen meines kuͤnftigen Ju¬ gendganges ließ ich mir gern wiederholen,60 beſonders da es in eine Erzaͤhlung von Ita¬ lien und zuletzt in eine Beſchreibung von Neapel auslief. Sein ſonſtiger Ernſt und Trockenheit ſchien ſich jederzeit aufzuloͤſen und zu beleben, und ſo erzeugte ſich in uns Kin¬ dern der leidenſchaftliche Wunſch, auch dieſer Paradieſe theilhaft zu werden.
Privat-Stunden, welche ſich nach und nach vermehrten, theilte ich mit Nachbars¬ kindern. Dieſer gemeinſame Unterricht foͤr¬ derte mich nicht; die Lehrer gingen ihren Schlendrian, und die Unarten, ja manchmal die Boͤsartigkeiten meiner Geſellen, brachten Unruh, Verdruß und Stoͤrung in die kaͤrg¬ lichen Lehrſtunden. Chreſtomathieen, wodurch die Belehrung heiter und mannigfaltig wird, waren noch nicht bis zu uns gekommen. Der fuͤr junge Leute ſo ſtarre Cornelius Nepos, das allzu leichte, und durch Predigten und Religions-Unterricht ſogar trivial gewordne Neue Teſtament, Cellarius und Paſor konn¬61 ten uns kein Intereſſe geben; dagegen hatte ſich eine gewiſſe Reim - und Verſewuth, durch Leſung der damaligen deutſchen Dichter, unſer bemaͤchtigt. Mich hatte ſie ſchon fruͤher er¬ griffen, als ich es luſtig fand, von der rhe¬ toriſchen Behandlung der Aufgaben zu der poetiſchen uͤberzugehen.
Wir Knaben hatten eine ſonntaͤgliche Zu¬ ſammenkunft, wo jeder von ihm ſelbſt verfer¬ tigte Verſe produciren ſollte. Und hier be¬ gegnete mir etwas Wunderbares, was mich ſehr lange in Unruh ſetzte. Meine Gedichte, wie ſie auch ſeyn mochten, mußte ich immer fuͤr die beſſern halten. Allein ich bemerkte bald, daß meine Mitwerber, welche ſehr lah¬ me Dinge vorbrachten, in dem gleichen Falle waren und ſich nicht weniger duͤnkten; ja was mir noch bedenklicher ſchien, ein guter, obgleich zu ſolchen Arbeiten voͤllig unfaͤhiger Knabe, dem ich uͤbrigens gewogen war, der aber ſeine Reime ſich vom Hofmeiſter machen62 ließ, hielt dieſe nicht allein fuͤr die allerbeſten, ſondern war voͤllig uͤberzeugt, er habe ſie ſelbſt gemacht; wie er mir, in dem vertrau¬ teren Verhaͤltniß, worin ich mit ihm ſtand, jederzeit aufrichtig behauptete. Da ich nun ſolchen Irrthum und Wahnſinn offenbar vor mir ſah, fiel es mir eines Tages aufs Herz, ob ich mich vielleicht ſelbſt in dem Falle be¬ faͤnde, ob nicht jene Gedichte wirklich beſſer ſeyen als die meinigen, und ob ich nicht mit Recht jenen Knaben eben ſo toll als ſie mir vorkommen moͤchte? Dieſes beunruhigte mich ſehr und lange Zeit: denn es war mir durch¬ aus unmoͤglich, ein aͤußeres Kennzeichen der Wahrheit zu finden; ja ich ſtockte ſogar in meinen Hervorbringungen, bis mich endlich Leichtſinn und Selbſtgefuͤhl und zuletzt eine Probearbeit beruhigten, die uns Lehrer und Aeltern, welche auf unſere Scherze aufmerk¬ ſam geworden, aus dem Stegreif aufgaben, wobey ich gut beſtand und allgemeines Lob davontrug.
63Man hatte zu der Zeit noch keine Biblio¬ theken fuͤr Kinder veranſtaltet. Die Alten hatten ſelbſt noch kindliche Geſinnungen, und fanden es bequem, ihre eigene Bildung der Nachkommenſchaft mitzutheilen. Außer dem Orbis pictus des Amos Comenius kam uns kein Buch dieſer Art in die Haͤnde; aber die große Folio-Bibel, mit Kupfern von Merian, ward haͤufig von uns durchblaͤt¬ tert; Gottfrieds Chronik, mit Kupfern deſſel¬ ben Meiſters, belehrte uns von den merkwuͤr¬ digſten Faͤllen der Weltgeſchichte; die Acerra philologica that noch allerley Fabeln, My¬ thologieen und Seltſamkeiten hinzu; und da ich gar bald die Ovidiſchen Verwandlungen gewahr wurde, und beſonders die erſten Buͤ¬ cher fleißig ſtudirte: ſo war mein junges Gehirn ſchnell genug mit einer Maſſe von Bildern und Begebenheiten, von bedeutenden und wunderbaren Geſtalten und Ereigniſſen angefuͤllt, und ich konnte niemals lange Wei¬ le haben, indem ich mich immerfort beſchaͤf¬64 tigte, dieſen Erwerb zu verarbeiten, zu wie¬ derholen, wieder hervorzubringen.
Einen froͤmmern ſittlichern Effect, als jene mitunter rohen und gefaͤhrlichen Alter¬ thuͤmlichkeiten, machte Fenelons Telemach, den ich erſt nur in der Neukirchiſchen Ueber¬ ſetzung kennen lernte, und der, auch ſo unvoll¬ kommen uͤberliefert, eine gar ſuͤße und wohl¬ thaͤtige Wirkung auf mein Gemuͤth aͤußerte. Daß Robinſon Cruſoe ſich zeitig angeſchloſſen, liegt wohl in der Natur der Sache; daß die Inſel Felſenburg nicht gefehlt habe, laͤßt ſich denken. Lord Anſon's Reiſe um die Welt verband das Wuͤrdige der Wahrheit mit dem Phantaſiereichen des Maͤhrchens, und indem wir dieſen trefflichen Seemann mit den Ge¬ danken begleiteten, wurden wir weit in alle Welt hinausgefuͤhrt, und verſuchten ihm mit unſern Fingern auf dem Globus zu folgen. Nun ſollte mir auch noch eine reichlichere Aerndte bevorſtehn, indem ich an eine Maſſe65 Schriften gerieth, die zwar in ihrer gegenwaͤr¬ tigen Geſtalt nicht vortrefflich genannt werden koͤnnen, deren Inhalt jedoch uns manches Ver¬ dienſt voriger Zeiten in einer unſchuldigen Weiſe naͤher bringt.
Der Verlag oder vielmehr die Fabrik je¬ ner Buͤcher, welche in der folgenden Zeit, unter dem Titel: Volksſchriften, Volksbuͤcher, bekannt und ſogar beruͤhmt geworden, war in Frankfurt ſelbſt, und ſie wurden, wegen des großen Abgangs, mit ſtehenden Lettern auf das ſchrecklichſte Loͤſchpapier faſt unleſerlich ge¬ druckt. Wir Kinder hatten alſo das Gluͤck, dieſe ſchaͤtzbaren Ueberreſte der Mittelzeit auf einem Tiſchchen vor der Hausthuͤre eines Buͤchertroͤdlers taͤglich zu finden, und ſie uns fuͤr ein paar Kreuzer zuzueignen. Der Eu¬ lenſpiegel, die vier Haimonskinder, die ſchoͤne Meluſine, der Kaiſer Octavian, die ſchoͤne Magelone, Fortunatus, mit der ganzen Sipp¬ ſchaft bis auf den ewigen Juden, alles ſtandl. 566uns zu Dienſten, ſobald uns geluͤſtete nach dieſen Werken, anſtatt nach irgend einer Naͤſcherey zu greifen. Der groͤßte Vortheil dabey war, daß wenn wir ein ſolches Heft zerleſen oder ſonſt beſchaͤdigt hatten, es bald wieder angeſchafft und aufs neue verſchlungen werden konnte.
Wie eine Familienſpazirfahrt im Sommer durch ein ploͤtzliches Gewitter auf eine hoͤchſt verdrießliche Weiſe geſtoͤrt, und ein froher Zuſtand in den widerwaͤrtigſten verwandelt wird, ſo fallen auch die Kinderkrankheiten un¬ erwartet in die ſchoͤnſte Jahrszeit des Fruͤh¬ lebens. Mir erging es auch nicht anders. Ich hatte mir eben den Fortunatus mit ſei¬ nem Seckel und Wuͤnſchhuͤthlein gekauft, als mich ein Misbehagen und ein Fieber uͤberfiel, wodurch die Pocken ſich ankuͤndigten. Die Einimpfung derſelben ward bey uns noch im¬ mer fuͤr ſehr problematiſch angeſehen, und ob ſie gleich populare Schriftſteller ſchon fa߬67 lich und eindringlich empfohlen; ſo zauderten doch die deutſchen Aerzte mit einer Operation, welche der Natur vorzugreifen ſchien. Specu¬ lirende Englaͤnder kamen daher aufs feſte Land und impften, gegen ein anſehnliches Honorar, die Kinder ſolcher Perſonen, die ſie wohl¬ habend und frey von Vorurtheil fanden. Die Mehrzahl jedoch war noch immer dem alten Unheil ausgeſetzt; die Krankheit wuͤthete durch die Familien, toͤdtete und entſtellte viele Kinder, und wenige Aeltern wagten es, nach einem Mittel zu greifen, deſſen wahrſchein¬ liche Huͤlfe doch ſchon durch den Erfolg man¬ nigfaltig beſtaͤtigt war. Das Uebel betraf nun auch unſer Haus, und uͤberfiel mich mit ganz beſonderer Heftigkeit. Der ganze Koͤr¬ per war mit Blattern uͤberſaͤet, das Geſicht zugedeckt, und ich lag mehrere Tage blind und in großen Leiden. Man ſuchte die moͤg¬ lichſte Linderung, und verſprach mir goldene Berge, wenn ich mich ruhig verhalten und das Uebel nicht durch Reiben und Kratzen5 *68vermehren wollte. Ich gewann es uͤber mich; indeſſen hielt man uns, nach herrſchendem Vorurtheil, ſo warm als moͤglich, und ſchaͤrf¬ te dadurch nur das Uebel. Endlich, nach traurig verfloſſener Zeit, fiel es mir wie eine Maske vom Geſicht, ohne daß die Blattern eine ſichtbare Spur auf der Haut zuruͤckge¬ laſſen; aber die Bildung war merklich veraͤn¬ dert. Ich ſelbſt war zufrieden, nur wieder das Tageslicht zu ſehen, und nach und nach die fleckige Haut zu verlieren; aber Andere waren unbarmherzig genug, mich oͤfters an den vorigen Zuſtand zu erinnern; beſonders eine ſehr lebhafte Tante, die fruͤher Abgoͤtte¬ rey mit mir getrieben hatte, konnte mich, ſelbſt noch in ſpaͤtern Jahren, ſelten anſehen, ohne auszurufen: Pfui Teufel! Vetter, wie garſtig iſt er geworden! Dann erzaͤhlte ſie mir umſtaͤndlich, wie ſie ſich ſonſt an mir er¬ getzt, welches Aufſehen ſie erregt, wenn ſie mich umhergetragen; und ſo erfuhr ich fruͤh¬ zeitig, daß uns die Menſchen fuͤr das Ver¬69 gnuͤgen, das wir ihnen gewaͤhrt haben, ſehr oft empfindlich buͤßen laſſen.
Weder von Maſern, noch Windblattern, und wie die Quaͤlgeiſter der Jugend heißen moͤgen, blieb ich verſchont, und jedesmal ver¬ ſicherte man mir, es waͤre ein Gluͤck, daß dieſes Uebel nun fuͤr immer voruͤber ſey; aber leider drohte ſchon wieder ein andres im Hintergrund und ruͤckte heran. Alle dieſe Dinge vermehrten meinen Hang zum Nach¬ denken, und da ich, um das Peinliche der Ungeduld von mir zu entfernen, mich ſchon oͤfter im Ausdauern geuͤbt hatte; ſo ſchienen mir die Tugenden, welche ich an den Stoi¬ kern hatte ruͤhmen hoͤren, hoͤchſt nachahmens¬ werth, um ſo mehr als durch die chriſtliche Duldungslehre ein Aehnliches empfohlen wurde.
Bey Gelegenheit dieſes Familienleidens will ich auch noch eines Bruders gedenken, welcher um drey Jahr juͤnger als ich, gleich¬70 falls von jener Anſteckung ergriffen wurde und nicht wenig davon litt. Er war von zarter Natur, ſtill und eigenſinnig, und wir hatten niemals ein eigentliches Verhaͤltniß zuſammen. Auch uͤberlebte er kaum die Kinderjahre. Un¬ ter mehrern nachgebornen Geſchwiſtern, die gleichfalls nicht lange am Leben blieben, erin¬ nere ich mich nur eines ſehr ſchoͤnen und an¬ genehmen Maͤdchens, die aber auch bald ver¬ ſchwand, da wir denn nach Verlauf einiger Jahre, ich und meine Schweſter, uns allein uͤbrig ſahen, und nur um ſo inniger und lie¬ bevoller verbanden.
Jene Krankheiten und andere unangenehme Stoͤrungen wurden in ihren Folgen doppelt laͤſtig: denn mein Vater, der ſich einen ge¬ wiſſen Erziehungs - und Unterrichts-Calender gemacht zu haben ſchien, wollte jedes Ver¬ ſaͤumniß unmittelbar wieder einbringen, und be¬ legte die Geneſenden mit doppelten Lectionen, welche zu leiſten mir zwar nicht ſchwer, aber71 in ſofern beſchwerlich fiel, als es meine in¬ nere Entwicklung, die eine entſchiedene Rich¬ tung genommen hatte, aufhielt und gewiſſer¬ maßen zuruͤckdraͤngte.
Vor dieſen didactiſchen und paͤdagogiſchen Bedraͤngniſſen fluͤchteten wir gewoͤhnlich zu den Großaͤltern. Ihre Wohnung lag auf der friedberger Gaſſe und ſchien ehmals eine Burg geweſen zu ſeyn: denn wenn man her¬ ankam, ſah man nichts als ein großes Thor mit Zinnen, welches zu beyden Seiten an zwey Nachbarhaͤuſer ſtieß. Trat man hinein, ſo gelangte man durch einen ſchmalen Gang endlich in einen ziemlich breiten Hof, umgeben von ungleichen Gebaͤuden, welche nunmehr alle zu einer Wohnung vereinigt waren. Ge¬ woͤhnlich eilten wir ſogleich in den Garten, der ſich anſehnlich lang und breit hinter den Gebaͤuden hin erſtreckte und ſehr gut unter¬ halten war; die Gaͤnge meiſtens mit Rebge¬ laͤnder eingefaßt, ein Theil des Raums den72 Kuͤchengewaͤchſen, ein andrer den Blumen gewidmet, die vom Fruͤhjahr bis in den Herbſt, in reichlicher Abwechslung, die Rabat¬ ten ſo wie die Beete ſchmuͤckten. Die lange, gegen Mittag gerichtete Mauer war zu wohl gezogenen Spalier-Pfirſichbaͤumen genuͤtzt, von denen uns die verbotenen Fruͤchte, den Sommer uͤber, gar appetitlich entgegenreiften. Doch vermieden wir lieber dieſe Seite, weil wir unſere Genaͤſchigkeit hier nicht befriedigen durften, und wandten uns zu der entgegen¬ geſetzten, wo eine unabſehbare Reihe Johan¬ nis – und Stachelbeer-Buͤsſche unſerer Gierig¬ keit eine Folge von Aerndten bis in den Herbſt eroͤffnete. Nicht weniger war uns ein alter, hoher, weitverbreiteter Maulbeerbaum bedeu¬ tend, ſowohl wegen ſeiner Fruͤchte als auch weil man uns erzaͤhlte, daß von ſeinen Blaͤt¬ tern die Seidenwuͤrmer ſich ernaͤhrten. In die¬ ſem friedlichen Revier fand man jeden Abend den Großvater mit behaglicher Geſchaͤftigkeit eigenhaͤndig die feinere Obſt - und Blumen¬73 zucht beſorgend, indeß ein Gaͤrtner die groͤ¬ bere Arbeit verrichtete. Die vielfachen Be¬ muͤhungen, welche noͤthig ſind, um eine ſchoͤne Nelkenflor zu erhalten und zu vermehren, ließ er ſich niemals verdrießen. Er ſelbſt band ſorgfaͤltig die Zweige der Pfirſichbaͤume faͤ¬ cherartig an die Spaliere, um einen reich¬ lichen und bequemen Wachsthum der Fruͤchte zu befoͤrdern. Das Sortiren der Zwiebeln von Tulpen, Hyacinthen und verwandter Gewaͤchſe, ſo wie die Sorge fuͤr Aufbe¬ wahrung derſelben, uͤberließ er Niemanden; und noch erinnere ich mich gern, wie emſig er ſich mit dem Oculiren der verſchiedenen Roſenarten beſchaͤftigte. Dabey zog er, um ſich vor den Dornen zu ſchuͤtzen, jene alter¬ thuͤmlichen ledernen Handſchuhe an, die ihm beym Pfeifergericht jaͤhrlich in Triplo uͤber¬ reicht wurden, woran es ihm deshalb niemals mangelte. So trug er auch immer einen ta¬ laraͤhnlichen Schlafrock, und auf dem Haupt eine faltige ſchwarze Sammtmuͤtze, ſo daß er74 eine mittlere Perſon zwiſchen Alcinous und Laertes haͤtte vorſtellen koͤnnen.
Alle dieſe Gartenarbeiten betrieb er eben ſo regelmaͤßig und genau als ſeine Amtsgeſchaͤfte: denn eh er herunterkam, hatte er immer die Regiſtrande ſeiner Proponenden fuͤr den an¬ dern Tag in Ordnung gebracht und die Acten geleſen. Eben ſo fuhr er Morgens aufs Rathhaus, ſpeiſte nach ſeiner Ruͤckkehr, nickte hierauf in ſeinem Großſtuhl, und ſo ging alles einen Tag wie den andern. Er ſprach wenig, zeigte keine Spur von Heftig¬ keit; ich erinnere mich nicht, ihn zornig ge¬ ſehen zu haben. Alles was ihn umgab, war alterthuͤmlich. In ſeiner getaͤfelten Stube habe ich niemals irgend eine Neuerung wahr¬ genommen. Seine Bibliothek enthielt außer juriſtiſchen Werken nur die erſten Reiſebeſchrei¬ bungen, Seefahrten und Laͤnder-Entdeckungen. Ueberhaupt erinnere ich mich keines Zuſtandes, der ſo wie dieſer das Gefuͤhl eines unver¬75 bruͤchlichen Friedens und einer ewigen Dauer gegeben haͤtte.
Was jedoch die Ehrfurcht, die wir fuͤr dieſen wuͤrdigen Greis empfanden, bis zum Hoͤchſten ſteigerte, war die Ueberzeugung, daß derſelbe die Gabe der Weiſſagung beſitze, beſonders in Dingen, die ihn ſelbſt und ſein Schickſal betrafen. Zwar ließ er ſich gegen Niemand als gegen die Großmutter entſchie¬ den und umſtaͤndlich heraus; aber wir alle wußten doch, daß er durch bedeutende Traͤu¬ me von dem was ſich ereignen ſollte, unter¬ richtet werde. So verſicherte er z. B. ſeiner Gattinn, zur Zeit als er noch unter die juͤn¬ gern Rathsherren gehoͤrte, daß er bey der naͤchſten Vakanz auf der Schoͤffenbank zu der erledigten Stelle gelangen wuͤrde. Und als wirklich bald darauf einer der Schoͤffen vom Schlage geruͤhrt ſtarb, verordnete er am Ta¬ ge der Wahl und Kugelung, daß zu Hauſe im Stillen alles zum Empfang der Gaͤſte und76 Gratulanten ſolle eingerichtet werden, und die entſcheidende goldne Kugel ward wirklich fuͤr ihn gezogen. Den einfachen Traum, der ihn hievon belehrt, vertraute er ſeiner Gat¬ tinn folgendermaßen: Er habe ſich in voller gewoͤhnlicher Rathsverſammlung geſehen, wo alles nach hergebrachter Weiſe vorgegangen. Auf einmal habe ſich der nun verſtorbene Schoͤff von ſeinem Sitze erhoben, ſey herab¬ geſtiegen und habe ihm auf eine verbindliche Weiſe das Compliment gemacht: er moͤge den verlaſſenen Platz einnehmen, und ſey darauf zur Thuͤre hinausgegangen.
Etwas Aehnliches begegnete, als der Schultheiß mit Tode abging. Man zaudert in ſolchem Falle nicht lange mit Beſetzung dieſer Stelle, weil man immer zu fuͤrchten hat, der Kaiſer werde ſein altes Recht, einen Schultheißen zu beſtellen, irgend einmal wie¬ der hervorrufen. Dießmal ward um Mitter¬ nacht eine außerordentliche Sitzung auf den77 andern Morgen durch den Gerichtsboten an¬ geſagt. Weil dieſem nun das Licht in der Laterne verloͤſchen wollte, ſo erbat er ſich ein Stuͤmpfchen, um ſeinen Weg weiter fortſetzen zu koͤnnen. „ Gebt ihm ein ganzes, ſagte der Großvater zu den Frauen: er hat ja doch die Muͤhe um meinetwillen. “ Dieſer Aeußerung entſprach auch der Erfolg: er wur¬ de wirklich Schultheiß; wobey der Umſtand noch beſonders merkwuͤrdig war, daß, ob¬ gleich ſein Repraͤſentant bey der Kugelung an der dritten und letzten Stelle zu ziehen hatte, die zwey ſilbernen Kugeln zuerſt her¬ aus kamen, und alſo die goldne fuͤr ihn auf dem Grunde des Beutels liegen blieb.
Voͤllig proſaiſch, einfach und ohne Spur von Phantaſtiſchem oder Wunderſamem wa¬ ren auch die uͤbrigen der uns bekannt geword¬ nen Traͤume. Ferner erinnere ich mich, daß ich als Knabe unter ſeinen Buͤchern und Schreibcalendern geſtoͤrt, und darin unter78 andern auf Gaͤrtnerey bezuͤglichen Anmerkun¬ gen aufgezeichnet gefunden: Heute Nacht kam N. N. zu mir und ſagte ..... Name und Offenbarung waren in Chiffern geſchrie¬ ben. Oder es ſtand auf gleiche Weiſe: Heute Nacht ſah ich .... Das Uebrige war wie¬ der in Chiffern, bis auf die Verbindungs¬ und andre Worte, aus denen ſich nichts ab¬ nehmen ließ.
Bemerkenswerth bleibt es hiebey, daß Perſonen, welche ſonſt keine Spur von Ahn¬ dungsvermoͤgen zeigten, in ſeiner Sphaͤre, fuͤr den Augenblick die Faͤhigkeit erlangten, daß ſie von gewiſſen gleichzeitigen, obwohl in der Entfernung vorgehenden Krankheits - und Todesereigniſſen durch ſinnliche Wahrzei¬ chen eine Vorempfindung hatten. Aber auf keines ſeiner Kinder und Enkel hat eine ſol¬ che Gabe fortgeerbt; vielmehr waren ſie mei¬ ſtentheils ruͤſtige Perſonen, lebensfroh und nur aufs Wirkliche geſtellt.
79Bey dieſer Gelegenheit gedenk 'ich derſel¬ ben mit Dankbarkeit fuͤr vieles Gute, das ich von ihnen in meiner Jugend empfangen. So waren wir z. B. auf gar mannigfaltige Weiſe beſchaͤftigt und unterhalten, wenn wir die an einen Materialhaͤndler Melbert ver¬ heiratete zweyte Tochter beſuchten, deren Woh¬ nung und Laden mitten im lebhafteſten, ge¬ draͤngteſten Theile der Stadt an dem Markte lag. Hier ſahen wir nun dem Gewuͤhl und Gedraͤnge, in welches wir uns ſcheuten zu verlieren, ſehr vergnuͤglich aus den Fenſtern zu; und wenn uns im Laden unter ſo vieler¬ ley Waaren anfaͤnglich nur das Suͤßholtz und die daraus bereiteten braunen geſtempelten Zeltlein vorzuͤglich intereſſirten: ſo wurden wir doch allmaͤhlich mit der großen Menge von Gegenſtaͤnden bekannt, welche bey einer ſolchen Handlung aus - und einfließen. Die¬ ſe Tante war unter den Geſchwiſtern die lebhafteſte. Wenn meine Mutter, in juͤn¬ gern Jahren, ſich in reinlicher Kleidung, bey80 einer zierlichen weiblichen Arbeit, oder im Leſen eines Buches gefiel; ſo fuhr jene in der Nachbarſchaft umher, um ſich dort ver¬ ſaͤumter Kinder anzunehmen, ſie zu warten, zu kaͤmmen und herumzutragen, wie ſie es denn auch mit mir eine gute Weile ſo getrieben. Zur Zeit oͤffentlicher Feyerlichkeiten, wie bey Kroͤnungen, war ſie nicht zu Hauſe zu halten. Als kleines Kind ſchon hatte ſie nach dem bey ſolchen Gelegenheiten ausgeworfenen Gel¬ de gehaſcht, und man erzaͤhlte ſich: wie ſie einmal eine gute Partie beyſammen gehabt und ſolches vergnuͤglich in der flachen Hand beſchaut, habe ihr einer dagegen geſchlagen, wodurch denn die wohlerworbene Beute auf einmal verloren gegangen. Nicht weniger wußte ſie ſich viel damit, daß ſie dem vor¬ beyfahrenden Kaiſer Carl dem ſiebenten, waͤh¬ rend eines Augenblicks, da alles Volk ſchwieg, auf einem Prallſteine ſtehend, ein heftiges Vivat in die Kutſche gerufen und ihn veran¬ laßt habe, den Hut vor ihr abzuziehen und81 fuͤr dieſe kecke Aufmerkſamkeit gar gnaͤdig zu danken.
Auch in ihrem Hauſe war um ſie her alles bewegt, lebensluſtig und munter, und wir Kinder ſind ihr manche frohe Stunde ſchuldig geworden.
In einem ruhigern, aber auch ihrer Na¬ tur angemeſſenen Zuſtande befand ſich eine zweyte Tante, welche mit dem bey der St. Catharinen-Kirche angeſtellten Pfarrer Stark verheiratet war. Er lebte ſeiner Geſinnung und ſeinem Stande gemaͤß ſehr einſam, und beſaß eine ſchoͤne Bibliothek. Hier lernte ich zuerſt den Homer kennen, und zwar in einer proſaiſchen Ueberſetzung, wie ſie im ſiebenten Theil der durch Herrn von Loen beſorgten neuen Sammlung der merkwuͤrdigſten Reiſegeſchichten, unter dem Titel: Homers Beſchreibung der Eroberung des trojaniſchen Reichs, zu finden iſt, mitI. 682Kupfern im franzoͤſiſchen Theaterſinne geziert. Dieſe Bilder verdarben mir dermaßen die Ein¬ bildungskraft, daß ich lange Zeit die home¬ riſchen Helden mir nur unter dieſen Geſtalten vergegenwaͤrtigen konnte. Die Begebenheiten ſelbſt gefielen mir unſaͤglich; nur hatte ich an dem Werte ſehr auszuſetzen, daß es uns von der Eroberung Troja's keine Nachricht gebe, und ſo ſtumpf mit dem Tode Hectors endige. Mein Oheim, gegen den ich dieſen Tadel aͤußerte, verwies mich auf den Virgil, wel¬ cher denn meiner Forderung vollkommen Ge¬ nuͤge that.
Es verſteht ſich von ſelbſt, daß wir Kin¬ der, neben den uͤbrigen Lehrſtunden, auch eines fortwaͤhrenden und fortſchreitenden Re¬ ligionsunterrichts genoſſen. Doch war der kirchliche Proteſtantismus, den man uns uͤber¬ lieferte, eigentlich nur eine Art von trockner Moral: an einen geiſtreichen Vortrag ward nicht gedacht, und die Lehre konnte weder83 der Seele noch dem Herzen zuſagen. Des¬ wegen ergaben ſich gar mancherley Abſonde¬ rungen von der geſetzlichen Kirche. Es ent¬ ſtanden die Separatiſten, Pietiſten, Herrn¬ huter, die Stillen im Lande und wie man ſie ſonst zu nennen und zu bezeichnen pflegte, die aber alle blos die Abſicht hatten, ſich der Gottheit, beſonders durch Chriſtum, mehr zu naͤhern, als es ihnen unter der Form der oͤffentlichen Religion moͤglich zu ſeyn ſchien.
Der Knabe hoͤrte von dieſen Meynungen und Geſinnungen unaufhoͤrlich ſprechen: denn die Geiſtlichkeit ſowohl als die Laien theil¬ ten ſich in das Fuͤr und Wider. Die mehr oder weniger Abgeſonderten waren immer die Minderzahl; aber ihre Sinnesweiſe zog an durch Originalitaͤt, Herzlichkeit, Beharren und Selbſtaͤndigkeit. Man erzaͤhlte von dieſen Tugenden und ihren Aeußerungen allerley Geſchichten. Beſonders ward die Antwort eines frommen Klempnermeiſters bekannt, den6 *84einer ſeiner Zunftgenoſſen durch die Frage zu beſchaͤmen gedachte: wer denn eigentlich ſein Beichtvater ſey? Mit Heiterkeit und Ver¬ trauen auf ſeine gute Sache erwiederte jener: Ich habe einen ſehr vornehmen; es iſt nie¬ mand geringeres als der Beichtvater des Koͤnigs David.
Dieſes und dergleichen mag wohl Ein¬ druck auf den Knaben gemacht und ihn zu aͤhnlichen Geſinnungen aufgefordert haben. Genug, er kam auf den Gedanken, ſich dem großen Gotte der Natur, dem Schoͤpfer und Erhalter Himmels und der Erden, deſſen fruͤhere Zorn-Aeußerungen ſchon lange uͤber die Schoͤnheit der Welt und das mannigfal¬ tige Gute, das uns darin zu Theil wird, vergeſſen waren, unmittelbar zu naͤhern; der Weg dazu aber war ſehr ſonderbar.
Der Knabe hatte ſich uͤberhaupt an den erſten Glaubensartikel gehalten. Der Gott,85 der mit der Natur in unmittelbarer Verbin¬ dung ſtehe, ſie als ſein Werk anerkenne und liebe, dieſer ſchien ihm der eigentliche Gott, der ja wohl auch mit dem Menſchen wie mit allem uͤbrigen in ein genaueres Verhaͤltniß tre¬ ten koͤnne, und fuͤr denſelben eben ſo wie fuͤr die Bewegung der Sterne, fuͤr Tages - und Jahrszeiten, fuͤr Pflanzen und Thiere Sor¬ ge tragen werde. Einige Stellen des Evan¬ geliums beſagten dieſes ausdruͤcklich. Eine Geſtalt konnte der Knabe dieſem Weſen nicht verleihen; er ſuchte ihn alſo in ſeinen Wer¬ ken auf, und wollte ihm auf gut altteſtament¬ liche Weiſe einen Altar errichten. Naturpro¬ ducte ſollten die Welt im Gleichniß vorſtellen, uͤber dieſen ſollte eine Flamme brennen und das zu ſeinem Schoͤpfer ſich aufſehnende Ge¬ muͤth des Menſchen bedeuten. Nun wurden aus der vorhandnen und zufaͤllig vermehrten Naturalienſammlung die beſten Stufen und Exemplare herausgeſucht; allein wie ſolche zu ſchichten und aufzubauen ſeyn moͤchten, das86 war nun die Schwierigkeit. Der Vater hatte einen ſchoͤnen rothlackirten goldgebluͤmten Mu¬ ſikpult, in Geſtalt einer vierſeitigen Pyrami¬ de mit verſchiedenen Abſtufungen, den man zu Quartetten ſehr bequem fand, ob er gleich in der letzten Zeit nur wenig gebraucht wurde. Deſſen bemaͤchtigte ſich der Knabe, und baute nun ſtufenweiſe die Abgeordneten der Natur uͤber¬ einander, ſo daß es recht heiter und zugleich bedeutend genug ausſah. Nun ſollte bey ei¬ nem fruͤhen Sonnenaufgang die erſte Gottes¬ verehrung angeſtellt werden; nur war der junge Prieſter nicht mit ſich einig, auf welche Weiſe er eine Flamme hervorbringen ſollte, die doch auch zu gleicher Zeit einen guten Ge¬ ruch von ſich geben muͤſſe. Endlich gelang ihm ein Einfall, beydes zu verbinden, indem er Raͤucherkerzchen beſaß, welche wo nicht flammend doch glimmend den angenehmſten Geruch verbreiteten. Ja dieſes gelinde Ver¬ brennen und Verdampfen ſchien noch mehr das was im Gemuͤthe vorgeht auszudruͤcken,87 als eine offene Flamme. Die Sonne war ſchon laͤngſt aufgegangen, aber Nachbarhaͤu¬ ſer verdeckten den Oſten. Endlich erſchien ſie uͤber den Daͤchern; ſogleich ward ein Brenn¬ glas zur Hand genommen, und die in einer ſchoͤnen Porzellanſchale auf dem Gipfel ſte¬ henden Raͤucherkerzen angezuͤndet. Alles gelang nach Wunſch, und die Andacht war vollkommen. Der Altar blieb als eine be¬ ſondre Zierde des Zimmers, das man ihm im neuen Hauſe eingeraͤumt hatte, ſtehen. Jedermann ſah darin nur eine wohlaufgeputz¬ te Naturalienſammlung; der Knabe hingegen wußte beſſer was er verſchwieg. Er ſehnte ſich nach der Wiederholung jener Feyerlich¬ keit. Ungluͤcklicherweiſe war eben, als die ge¬ legenſte Sonne hervorſtieg, die Porzellantaſſe nicht bey der Hand; er ſtellte die Raͤucher¬ kerzchen unmittelbar auf die obere Flaͤche des Muſikpultes; ſie wurden angezuͤndet, und die Andacht war ſo groß, daß der Prieſter nicht merkte, welchen Schaden ſein Opfer anrichte¬88 te, als bis ihm nicht mehr abzuhelfen war. Die Kerzen hatten ſich naͤmlich in den ro¬ then Lack und in die ſchoͤnen goldnen Blu¬ men auf eine ſchmaͤhliche Weiſe eingebrannt, und gleich als waͤre ein boͤſer Geiſt verſchwun¬ den, ihre ſchwarzen unausloͤſchlichen Fußtapfen zuruͤckgelaſſen. Hieruͤber kam der junge Prie¬ ſter in die aͤußerſte Verlegenheit. Zwar wu߬ te er den Schaden durch die groͤßeſten Pracht¬ ſtufen zu bedecken, allein der Muth zu neuen Opfern war ihm vergangen, und faſt moͤchte man dieſen Zufall als eine Andeutung und Warnung betrachten, wie gefaͤhrlich es uͤber¬ haupt ſey, ſich Gott auf dergleichen Wegen naͤhern zu wollen.
[89]Alles bisher Vorgetragene deutet auf jenen gluͤcklichen und gemaͤchlichen Zuſtand, in wel¬ chem ſich die Laͤnder waͤhrend eines langen Friedens befinden. Nirgends aber genießt man eine ſolche ſchoͤne Zeit wohl mit groͤßerem Behagen als in Staͤdten, die nach ihren ei¬ genen Geſetzen leben, die groß genug ſind, eine anſehnliche Menge Buͤrger zu faſſen, und wohl gelegen, um ſie durch Handel und Wandel zu bereichern. Fremde finden ihren Gewinn, da aus - und einzuziehen, und ſind genoͤthigt Vortheil zu bringen, um Vortheil zu erlangen. Beherrſchen ſolche Staͤdte auch kein weites Gebiet, ſo koͤnnen ſie deſtomehr im Innern Wohlhaͤbigkeit bewirken, weil ih¬ re Verhaͤltniſſe nach außen ſie nicht zu koſt¬ ſpieligen Unternehmungen oder Theilnahmen verpflichten.
92Auf dieſe Weiſe verſtoß den Frankfurtern waͤhrend meiner Kindheit eine Reihe gluͤck¬ licher Jahre. Aber kaum hatte ich am 28. Auguſt 1756 mein ſiebentes Jahr zuruͤck¬ gelegt, als gleich darauf jener weltbekannte Krieg ausbrach, welcher auf die naͤchſten ſie¬ ben Jahre meines Lebens auch großen Ein¬ fluß haben ſollte. Friedrich der zweyte, Koͤ¬ nig von Preußen, war mit 60000 Mann in Sachſen eingefallen, und ſtatt einer vor¬ gaͤngigen Kriegserklaͤrung folgte ein Manifeſt, wie man ſagte, von ihm ſelbſt verfaßt, welches die Urſachen enthielt, die ihn zu einem ſolchen ungeheuren Schritt bewogen und berechtigt. Die Welt, die ſich nicht nur als Zuſchau¬ er, ſondern auch als Richter aufgefordert fand, ſpaltete ſich ſogleich in zwey Parteyen, und unſere Familie war ein Bild des großen Ganzen.
Mein Großvater, der als Schoͤff von Frankfurt uͤber Franz dem erſten den Kroͤ¬93 nungs-Himmel getragen, und von der Kai¬ ſerinn eine gewichtige goldene Kette mit ihrem Bildniß erhalten hatte, war mit einigen Schwiegerſoͤhnen und Toͤchtern auf oͤſtreichi¬ ſcher Seite. Mein Vater, von Carl dem ſiebenten zum kaiſerlichen Rath ernannt, und an dem Schickſale dieſes ungluͤcklichen Monarchen gemuͤthlich theilnehmend, neigte ſich mit der kleinern Familienhaͤlfte gegen Preußen. Gar bald wurden unſere Zuſam¬ menkuͤnfte, die man ſeit mehrern Jahren Sonntags ununterbrochen fortgeſetzt hatte, geſtoͤrt. Die unter Verſchwaͤgerten gewoͤhn¬ lichen Mishelligkeiten fanden nun erſt eine Form, in der ſie ſich ausſprechen konnten. Man ſtritt, man uͤberwarf ſich, man ſchwieg, man brach los. Der Großvater, ſonſt ein heitrer, ruhiger und bequemer Mann, ward ungeduldig. Die Frauen ſuchten vergebens das Feuer zu tuͤſchen, und nach einigen un¬ angenehmen Scenen blieb mein Vater zuerſt aus der Geſellſchaft. Nun freuten wir uns94 ungeſtoͤrt zu Hauſe der preußiſchen Siege, welche gewoͤhnlich durch jene leidenſchaftliche Tante mit großem Jubel verkuͤndigt wur¬ den. Alles andere Intereſſe mußte dieſem weichen, und wir brachten den Ueberreſt des Jahres in beſtaͤndiger Agitation zu. Die Beſitznahme von Dresden, die anfaͤngliche Maͤßigung des Koͤnigs, die zwar langſamen aber ſichern Fortſchritte, der Sieg bey Lowo¬ ſitz, die Gefangennehmung der Sachſen waren fuͤr unſere Partey eben ſo viele Triumphe. Alles was zum Vortheil der Gegner ange¬ fuͤhrt werden konnte, wurde gelaͤugnet oder verkleinert, und da die entgegengeſetzten Fami¬ lienglieder das Gleiche thaten; ſo konnten ſie einander nicht auf der Straße begegnen, ohne daß es Haͤndel ſetzte, wie in Romeo und Julie.
Und ſo war ich denn auch Preußiſch, oder um richtiger zu reden, Fritziſch geſinnt: denn was ging uns Preußen an. Es war die Per¬95 ſoͤnlichkeit des großen Koͤnigs, die auf alle Gemuͤther wirkte. Ich freute mich mit dem Vater unſerer Siege, ſchrieb ſehr gern die Siegslieder ab, und faſt noch lieber die Spottlieder auf die Gegenpartey, ſo platt die Reime auch ſeyn mochten.
Als aͤlteſter Enkel und Pathe hatte ich ſeit meiner Kindheit jeden Sonntag bey den Großaͤltern geſpeiſt: es waren meine vergnuͤg¬ teſten Stunden der ganzen Woche. Aber nun wollte mir kein Biſſen mehr ſchmecken: denn ich mußte meinen Helden aufs graͤu¬ lichſte verlaͤumden hoͤren. Hier wehte ein an¬ derer Wind, hier klang ein anderer Ton als zu Hauſe. Die Neigung, ja die Verehrung fuͤr meine Großaͤltern nahm ab. Bey den Aeltern durfte ich nichts davon erwaͤhnen; ich unterließ es aus eigenem Gefuͤhl und auch weil die Mutter mich gewarnt hatte. Dadurch war ich auf mich ſelbſt zuruͤck¬ gewieſen, und wie mir in meinem ſechſten96 Jahre, nach dem Erdbeben von Liſſabon, die Guͤte Gottes einigermaßen verdaͤchtig geworden war, ſo fing ich nun, wegen Fried¬ richs des zweyten, die Gerechtigkeit des Publicums zu bezweifeln an. Mein Ge¬ muͤth war von Natur zur Ehrerbietung ge¬ neigt, und es gehoͤrte eine große Erſchuͤtte¬ rung dazu, um meinen Glauben an irgend ein Ehrwuͤrdiges wanken zu machen. Leider hatte man uns die guten Sitten, ein anſtaͤn¬ diges Betragen, nicht um ihrer ſelbſt, ſondern um der Leute willen anempfohlen; was die Leute ſagen wuͤrden, hieß es immer, und ich dachte, die Leute muͤßten auch rechte Leute ſeyn, wuͤrden auch Alles und Jedes zu ſchaͤtzen wiſſen. Nun aber erfuhr ich das Gegentheil. Die groͤßten und augenfaͤlligſten Verdienſte wurden geſchmaͤht und angefein¬ det, die hoͤchſten Thaten wo nicht gelaͤugnet doch wenigſtens entſtellt und verkleinert; und ein ſo ſchnoͤdes Unrecht geſchah dem einzigen, offenbar uͤber alle ſeine Zeitgenoſſen erhabenen97 Manne, der taͤglich bewies und darthat was er vermoͤge; und dieß nicht etwa vom Poͤbel, ſondern von vorzuͤglichen Maͤnnern, wofuͤr ich doch meinen Großvater und meine Oheime zu halten hatte. Daß es Parteyen geben koͤnne, ja daß er ſelbſt zu einer Partey gehoͤrte, davon hatte der Knabe keinen Begriff. Er glaubte um ſo viel mehr Recht zu haben und ſeine Geſinnung fuͤr die beſſere erklaͤren zu duͤrfen, da er und die Gleichgeſinnten Marien There¬ ſien, ihre Schoͤnheit und uͤbrigen guten Eigen¬ ſchaften ja gelten ließen, und dem Kaiſer Franz ſeine Juwelen - und Geldliebhaberen weiter auch nicht verargten; daß Graf Daun manch¬ mal eine Schlafmuͤtze geheißen wurde, glaub¬ ten ſie verantworten zu koͤnnen.
Bedenke ich es aber jetzt genauer, ſo fin¬ de ich hier den Keim der Nichtachtung, ja der Verachtung des Publicums, die mir eine ganze Zeit meines Lebens anhing und nur ſpaͤt durch Einſicht und Bildung, ins Gleich¬l. 798gebracht werden konnte. Genug, ſchon da¬ mals war das Gewahrwerden parteyiſcher Ungerechtigkeit dem Knaben ſehr unangenehm, ja ſchaͤdlich, indem es ihn gewoͤhnte, ſich von geliebten und geſchaͤtzten Perſonen zu entfernen. Die immer auf einander folgenden Kriegs¬ thaten und Begebenheiten ließen den Par¬ teyen weder Ruhe noch Raſt. Wir fanden ein verdrießliches Behagen, jene eingebildeten Uebel und willkuͤhrlichen Haͤndel immer von friſchem wieder zu erregen und zu ſchaͤrfen, und ſo fuhren wir fort uns unter einander zu quaͤlen, bis einige Jahre darauf die Franzo¬ ſen Frankfurt beſetzten und uns wahre Unbe¬ quemlichkeit in die Haͤuſer brachten.
Ob nun gleich die Meiſten ſich dieſer wich¬ tigen, in der Ferne vorgehenden Ereigniſſe nur zu einer leidenſchaftlichen Unterhaltung bedienten; ſo waren doch auch andre, welche den Ernſt dieſer Zeiten wohl einſahen, und befuͤrchteten, daß bey einer Theilnahme Frank¬99 reichs der Kriegs-Schauplatz ſich auch in un¬ ſern Gegenden aufthun koͤnne. Man hielt uns Kinder mehr als bisher zu Hauſe, und ſuchte uns auf mancherley Weiſe zu beſchaͤfti¬ gen und zu unterhalten. Zu ſolchem Ende hatte man das von der Großmutter hinter¬ laſſene Puppenſpiel wieder aufgeſtellt, und zwar dergeſtalt eingerichtet, daß die Zuſchauer in meinem Giebelzimmer ſitzen, die ſpielenden und dirigirenden Perſonen aber, ſo wie das Theater ſelbſt vom Proſcenium an, in einem Nebenzimmer Platz und Raum fanden. Durch die beſondere Verguͤnſtigung, bald dieſen bald jenen Knaben als Zuſchauer einzulaſſen, er¬ warb ich mir anfangs viele Freunde; allein die Unruhe, die in den Kindern ſteckt, ließ ſie nicht lange geduldige Zuſchauer bleiben. Sie ſtoͤrten das Spiel, und wir mußten uns ein juͤngeres Publicum ausſuchen, das noch allenfalls durch Ammen und Maͤgde in der Ordnung gehalten werden konnte. Wir hat¬ ten das urſpruͤngliche Hauptdrama, worauf7 *100die Puppengeſellſchaft eigentlich eingerichtet war, auswendig gelernt, und fuͤhrten es an¬ fangs auch ausſchließlich auf; allein dieß er¬ muͤdete uns bald, wir veraͤnderten die Gar¬ derobe, die Decorationen, und wagten uns an verſchiedene Stuͤcke, die freylich fuͤr einen ſo kleinen Schauplatz zu weitlaͤuftig waren. Ob wir uns nun gleich durch dieſe Anma¬ ßung dasjenige was wir wirklich haͤtten leiſten koͤnnen, verkuͤmmerten und zuletzt gar zerſtoͤr¬ ten; ſo hat doch dieſe kindliche Unterhaltung und Beſchaͤftigung auf ſehr mannigfaltige Weiſe bey mir das Erfindungs - und Dar¬ ſtellungsvermoͤgen, die Einbildungskraft und eine gewiſſe Technik geuͤbt und befoͤrdert, wie es vielleicht auf keinem andern Wege, in ſo kurzer Zeit, in einem ſo engen Raume, mit ſo wenigem Aufwand haͤtte geſchehen koͤnnen.
Ich hatte fruͤh gelernt mit Zirkel und Lineal umzugehen, indem ich den ganzen Un¬101 terricht, den man uns in der Geometrie er¬ theilte, ſogleich in das Thaͤtige verwandte, und Pappenarbeiten konnten mich hoͤchlich be¬ ſchaͤftigen. Doch blieb ich nicht bey geome¬ triſchen Koͤrpern, bey Kaͤſtchen und ſolchen Dingen ſtehen, ſondern erſann mir artige Luſthaͤuſer, welche mit Pilaſtern, Freytreppen und flachen Daͤchern ausgeſchmuͤckt wurden; wovon jedoch wenig zu Stande kam.
Weit beharrlicher hingegen war ich, mit Huͤlfe unſers Bedienten, eines Schneiders von Profeſſion, eine Ruͤſtkammer auszuſtat¬ ten, welche zu unſern Schau - und Trauer¬ ſpielen dienen ſollte, die wir, nachdem wir den Puppen uͤber den Kopf gewachſen waren, ſelbſt aufzufuͤhren Luſt hatten. Meine Ge¬ ſpielen verfertigten ſich zwar auch ſolche Ruͤ¬ ſtungen und hielten ſie fuͤr eben ſo ſchoͤn und gut als die meinigen; allein ich hatte es nicht bey den Beduͤrfniſſen Einer Perſon bewenden laſſen, ſondern konnte mehrere des102 kleinen Heeres mit allerley Requiſiten aus¬ ſtatten, und machte mich daher unſerm klei¬ nen Kreiſe immer nothwendiger. Daß ſolche Spiele auf Parteyungen, Gefechte und Schlaͤ¬ ge hinwieſen, und gewoͤhnlich auch mit Haͤn¬ deln und Verdruß ein ſchreckliches Ende nah¬ men, laͤßt ſich denken. In ſolchen Faͤllen hielten gewoͤhnlich gewiſſe beſtimmte Geſpielen an mir, andre auf der Gegenſeite, ob es gleich oͤfter manchen Parteywechſel gab. Ein einziger Knabe, den ich Pylades nennen will, verließ nur ein einzigmal, von den an¬ dern aufgehetzt, meine Partey, konnte es aber kaum eine Minute aushalten, mir feindſelig gegenuͤber zu ſtehen; wir verſoͤhnten uns un¬ ter vielen Thraͤnen, und haben eine ganze Weile treulich zuſammen gehalten.
Dieſen ſo wie andre Wohlwollende konnte ich ſehr gluͤcklich machen, wenn ich ihnen Maͤhrchen erzaͤhlte, und beſonders liebten ſie, wenn ich in eigner Perſon ſprach, und hat¬103 ten eine große Freude, daß mir als ihrem Geſpielen ſo wunderliche Dinge koͤnnten be¬ gegnet ſeyn, und dabey gar kein Arges, wie ich Zeit und Raum zu ſolchen Abenteuern finden koͤnnen, da ſie doch ziemlich wußten, wie ich beſchaͤftigt war, und wo ich aus und einging. Nicht weniger waren zu ſolchen Begebenheiten Localitaͤten, wo nicht aus ei¬ ner andern Welt, doch gewiß aus einer an¬ dern Gegend noͤthig, und alles war doch erſt heut oder geſtern geſchehen. Sie mußten ſich daher mehr ſelbſt betruͤgen, als ich ſie zum beſten haben konnte. Und wenn ich nicht nach und nach, meinem Naturell gemaͤß, dieſe Luftgeſtalten und Windbeuteleyen zu kunſtmaͤßigen Darſtellungen haͤtte verarbeiten lernen; ſo waͤren ſolche aufſchneideriſche An¬ faͤnge gewiß nicht ohne ſchlimme Folgen fuͤr mich geblieben.
Betrachtet man dieſen Trieb recht genau, ſo moͤchte man in ihm diejenige Anmaßung104 erkennen, womit der Dichter ſelbſt das Un¬ wahrſcheinlichſte gebieteriſch ausſpricht, und von einem Jeden fordert, er ſolle dasjenige fuͤr wirklich erkennen, was ihm, dem Erfinder, auf irgend eine Weiſe als wahr erſcheinen konnte.
Was jedoch hier nur im Allgemeinen und betrachtungsweiſe vorgetragen worden, wird vielleicht durch ein Beyſpiel, durch ein Mu¬ ſterſtuͤck angenehmer und anſchaulicher werden. Ich fuͤge daher ein ſolches Maͤhrchen bey, welches mir, da ich es meinen Geſpielen oft wiederholen mußte, noch ganz wohl vor der Einbildungskraft und im Gedaͤchtniß ſchwebt.
105Mir traͤumte neulich in der Nacht vor Pfingſtſonntag, als ſtuͤnde ich vor einem Spie¬ gel und beſchaͤftigte mich mit den neuen Som¬ merkleidern, welche mir die lieben Aeltern auf das Feſt hatten machen laſſen. Der An¬ zug beſtand, wie ihr wißt, in Schuhen von ſauberem Leder, mit großen ſilbernen Schnal¬ len, feinen baumwollnen Struͤmpfen, ſchwar¬ zen Unterkleidern von Sarſche, und einem Rock von gruͤnem Berkan mit goldnen Bal¬ letten. Die Weſte dazu, von Goldſtoff, war aus meines Vaters Braͤutigamsweſte geſchnit¬ ten. Ich war friſirt und gepudert, die Lo¬ cken ſtanden mir wie Fluͤgelchen vom Kopfe; aber ich konnte mit dem Anziehen nicht fer¬106 tig werden, weil ich immer die Kleidungs¬ ſtuͤcke verwechſelte, und weil mir immer das erſte vom Leibe fiel, wenn ich das zweyte umzunehmen gedachte. In dieſer großen Ver¬ legenheit trat ein junger ſchoͤner Mann zu mir und begruͤßte mich aufs freundlichſte. Ey, ſeyd mir willkommen! ſagte ich: es iſt mir ja gar lieb, daß ich Euch hier ſehe. — „ Kennt Ihr mich denn? “verſetzte jener laͤ¬ chelnd. — Warum nicht? war meine gleich¬ falls laͤchelnde Antwort. Ihr ſeyd Merkur, und ich habe Euch oft genug abgebildet ge¬ ſehen. — „ Das bin ich, ſagte jener, und von den Goͤttern mit einem wichtigen Auf¬ trag an dich geſandt. Siehſt du dieſe drey Aepfel? “— Er reichte ſeine Hand her und zeigte mir drey Aepfel, die ſie kaum faſſen konnte, und die eben ſo wunderſam ſchoͤn als groß waren, und zwar der eine von rother, der andere von gelber, der dritte von gruͤner Farbe. Man mußte ſie fuͤr Edelſteine hal¬ ten, denen man die Form von Fruͤchten ge¬107 geben. Ich wollte darnach greifen; er aber zog zuruͤck und ſagte: „ Du mußt erſt wiſſen, daß ſie nicht fuͤr dich ſind. Du ſollſt ſie den drey ſchoͤnſten jungen Leuten von der Stadt geben, welche ſodann, jeder nach ſei¬ nem Looſe, Gattinnen finden ſollen, wie ſie ſolche nur wuͤnſchen koͤnnen. Nimm, und mach deine Sachen gut! “ſagte er ſcheidend, und gab mir die Aepfel in meine offnen Haͤnde; ſie ſchienen mir noch groͤßer gewor¬ den zu ſeyn. Ich hielt ſie darauf in die Hoͤ¬ he, gegen das Licht, und fand ſie ganz durch¬ ſichtig; aber gar bald zogen ſie ſich aufwaͤrts in die Laͤnge und wurden zu drey ſchoͤnen, ſchoͤnen Frauenzimmerchen in maͤßiger Pup¬ pengroͤße, deren Kleider von der Farbe der vorherigen Aepfel waren. So gleiteten ſie ſacht an meinen Fingern hinauf, und als ich nach ihnen haſchen wollte, um wenigſtens eine feſtzuhalten, ſchwebten ſie ſchon weit in der Hoͤhe und Ferne, daß ich nichts als das Nachſehen hatte. Ich ſtand ganz verwundert108 und verſteinert da, hatte die Haͤnde noch in der Hoͤhe und beguckte meine Finger, als waͤre daran etwas zu ſehen geweſen. Aber mit einmal erblickte ich auf meinen Finger¬ ſpitzen ein allerliebſtes Maͤdchen herumtanzen, kleiner als jene, aber gar niedlich und mun¬ ter; und weil ſie nicht wie die andern fort¬ flog, ſondern verweilte, und bald auf dieſe bald auf jene Fingerſpitze tanzend hin und her trat; ſo ſah ich ihr eine Zeit lang ver¬ wundert zu. Da ſie mir aber gar ſo wohl gefiel, glaubte ich ſie endlich haſchen zu koͤn¬ nen und dachte geſchickt genug zuzugreifen; allein in dem Augenblick fuͤhlte ich einen Schlag an den Kopf, ſo daß ich ganz be¬ taͤubt niederfiel, und aus dieſer Betaͤubung nicht eher erwachte, als bis es Zeit war mich anzuziehen und in die Kirche zu gehen.
Unter dem Gottesdienſt wiederholte ich mir jene Bilder oft genug; auch am gro߬ aͤlterlichen Tiſche, wo ich zu Mittag ſpeiſte. 109Nachmittags wollte ich einige Freunde be¬ ſuchen, ſowohl um mich in meiner neuen Kleidung, den Hut unter dem Arm und den Degen an der Seite, ſehen zu laſſen, als auch weil ich ihnen Beſuche ſchuldig war. Ich fand Niemanden zu Hauſe, und da ich hoͤrte, daß ſie in die Gaͤrten gegangen; ſo gedachte ich ihnen zu folgen und den Abend vergnuͤgt zuzubringen. Mein Weg fuͤhrte mich den Zwinger hin, und ich kam in die Gegend, welche mit Recht den Namen ſchlimme Mauer fuͤhrt: denn es iſt dort niemals ganz geheuer. Ich ging nur lang¬ ſam und dachte an meine drey Goͤttinnen, beſonders aber an die kleine Nymphe, und hielt meine Finger manchmal in die Hoͤhe, in Hoffnung ſie wuͤrde ſo artig ſeyn, wieder darauf zu balanciren. In dieſen Gedanken vorwaͤrts gehend erblickte ich, linker Hand, in der Mauer ein Pfoͤrtchen, das ich mich nicht erinnerte je geſehen zu haben. Es ſchien niedrig, aber der Spitzbogen druͤber110 haͤtte den groͤßten Mann hindurch gelaſſen. Bogen und Gewaͤnde waren aufs zierlichſte vom Steinmetz und Bildhauer ausgemeißelt, die Thuͤre ſelbſt aber zog erſt recht meine Aufmerkſamkeit an ſich. Braunes uraltes Holz, nur wenig verziert, war mit breiten, ſowohl erhaben als vertieft gearbeiteten Baͤn¬ dern von Erz beſchlagen, deren Laubwerk, worin die natuͤrlichſten Voͤgel ſaßen, ich nicht genug bewundern konnte. Doch was mir das merkwuͤrdigſte ſchien, kein Schluͤſſel¬ loch war zu ſehen, keine Klinke, kein Klop¬ fer, und ich vermuthete daraus, daß dieſe Thuͤre nur von innen aufgemacht werde. Ich hatte mich nicht geirrt: denn als ich ihr naͤher trat, um die Zieraten zu befuͤhlen, that ſie ſich hineinwaͤrts auf, und es erſchien ein Mann, deſſen Kleidung etwas Langes, Weites und Sonderbares hatte. Auch ein ehr¬ wuͤrdiger Bart umwoͤlkte ſein Kinn; daher ich ihn fuͤr einen Juden zu halten geneigt war. Er aber, eben als wenn er meine Ge¬111 danken errathen haͤtte, machte das Zeichen des heiligen Kreuzes, wodurch er mir zu erkennen gab, daß er ein guter catholiſcher Chriſt ſey. — „ Junger Herr, wie kommt Ihr hieher, und was macht Ihr da? “ſagte er mit freundlicher Stimme und Gebaͤrde. — Ich bewundre, verſetzte ich, die Arbeit dieſer Pforte: denn ich habe dergleichen noch nie¬ mals geſehen; es muͤßte denn ſeyn auf klei¬ nen Stuͤcken in den Kunſtſammlungen der Liebhaber. — „ Es freut mich, verſetzte er darauf daß Ihr ſolche Arbeit liebt. In¬ wendig iſt die Pforte noch viel ſchoͤner: tre¬ tet herein, wenn es Euch gefaͤllt. “ Mir war bey der Sache nicht ganz wohl zu Mu¬ the. Die wunderliche Kleidung des Pfoͤrt¬ ners, die Abgelegenheit und ein ſonſt ich weiß nicht was, das in der Luft zu liegen ſchien, beklemmte mich. Ich verweilte daher, unter dem Vorwande die Außenſeite noch laͤnger zu betrachten, und blickte dabey ver¬ ſtohlen in den Garten: denn ein Garten war112 es, der ſich vor mir eroͤffnet hatte. Gleich hinter der Pforte ſah ich einen großen beſchat¬ teten Platz; alte Linden, regelmaͤßig von einander abſtehend, bedeckten ihn voͤllig mit ihren dicht in einander greifenden Aeſten, ſo daß die zahlreichſten Geſellſchaften in der groͤßten Tageshitze ſich darunter haͤtten erqui¬ cken koͤnnen. Schon war ich auf die Schwelle getreten, und der Alte wußte mich immer um einen Schritt weiter zu locken. Ich widerſtand auch eigentlich nicht: denn ich hatte jederzeit gehoͤrt, daß ein Prinz oder Sultan in ſolchem Falle niemals fragen muͤſſe, ob Gefahr vorhanden ſey. Hatte ich doch auch meinen Degen an der Seite; und ſollte ich mit dem Alten nicht fertig werden, wenn er ſich feindlich erweiſen wollte? Ich trat alſo ganz geſichert hinein; der Pfoͤrtner druͤckte die Thuͤre zu, die ſo leiſe einſchnappte, daß ich es kaum ſpuͤrte. Nun zeigte er mir die inwendig angebrachte, wirklich noch viel kunſt¬ reichere Arbeit, legte ſie mir aus, und bewies113 mir dabey ein beſonderes Wohlwollen. Hie¬ durch nun voͤllig beruhigt, ließ ich mich in dem belaubten Raume an der Mauer, die ſich ins Runde, zog, weiter fuͤhren, und fand manches an ihr zu bewundern. Niſchen, mit Muſcheln, Corallen und Metallſtufen kuͤnſtlich ausgeziert, gaben aus Tritonenmaͤu¬ lern reichliches Waſſer in marmorne Becken; dazwiſchen waren Vogelhaͤuſer angebracht und andre Vergitterungen, worin Eichhoͤrnchen herumhuͤpften, Meerſchweinchen hin und wie¬ der liefen, und was man nur ſonſt von arti¬ gen Geſchoͤpfen wuͤnſchen kann. Die Voͤgel riefen und ſangen uns an, wie wir vorſchrit¬ ten; die Staare beſonders ſchwaͤtzten das naͤrriſchſte Zeug; der eine rief immer: Paris, Paris, und der andre: Narciß, Narciß, ſo deutlich als es ein Schulknabe nur ausſpre¬ chen kann. Der Alte ſchien mich immer ernſthaft anzuſehen, indem die Voͤgel dieſes riefen; ich that aber nicht als wenn ich's merkte, und hatte auch wirklich nicht ZeitI. 8114auf ihn Acht zu geben: denn ich konnte wohl gewahr werden, daß wir in die Runde gin¬ gen, und daß dieſer beſchattete Raum eigent¬ lich ein großer Kreis ſey, der einen andern viel bedeutendern umſchließe. Wir waren auch wirklich wieder bis ans Pfoͤrtchen gelangt, und es ſchien als wenn der Alte mich hinauslaſſen wolle; allein meine Augen blieben auf ein goldnes Gitter gerichtet, welches die Mitte dieſes wunderbaren Gar¬ tens zu umzaͤunen ſchien, und das ich auf unſerm Gange hinlaͤnglich zu beobachten Gele¬ genheit fand, ob mich der Alte gleich immer an der Mauer und alſo ziemlich entfernt von der Mitte zu halten wußte. Als er nun eben auf das Pfoͤrtchen los ging, ſagte ich zu ihm, mit einer Verbeugung: Ihr ſeyd ſo aͤußerſt gefaͤllig gegen mich geweſen, daß ich wohl noch eine Bitte wagen moͤchte, ehe ich von Euch ſcheide. Duͤrfte ich nicht jenes goldne Gitter naͤher beſehen, das in einem ſehr weiten Kreiſe das Innere des Gartens115 einzuſchließen ſcheint? — „ Recht gern, ver¬ ſetzte jener; aber ſodann muͤßt Ihr Euch einigen Bedingungen unterwerfen. “— Wor¬ in beſtehen ſie? fragte ich haſtig. — „ Ihr muͤßt Euren Hut und Degen hier zuruͤck¬ laſſen, und duͤrft mir nicht von der Hand, indem ich Euch begleite. “— Herzlich gern! erwiederte ich, und legte Hut und Degen auf die erſte beſte ſteinerne Bank. Sogleich ergriff er mit ſeiner Rechten meine Linke, hielt ſie feſt, und fuͤhrte mich mit einiger Gewalt gerade vorwaͤrts. Als wir ans Git¬ ter kamen, verwandelte ſich meine Verwunde¬ rung in Erſtaunen: ſo etwas hatte ich nie geſehen. Auf einem hohen Sockel von Mar¬ mor ſtanden unzaͤhlige Spieße und Partiſa¬ nen neben einander gereiht, die durch ihre ſeltſam verzierten oberen Enden zuſammenhin¬ gen und einen ganzen Kreis bildeten. Ich ſchaute durch die Zwiſchenraͤume, und ſah gleich dahinter ein ſanft fließendes Waſſer, auf beyden Seiten mit Marmor eingefaßt, das8 *116in ſeinen klaren Tiefen eine große Anzahl von Gold - und Silberfiſchen ſehen ließ, die ſich bald ſachte bald geſchwind, bald einzeln bald zugweiſe, hin und her bewegten. Nun haͤtte ich aber auch gern uͤber den Canal geſehen, um zu erfahren, wie es in dem Herzen des Gartens beſchaffen ſey, allein da fand ich zu meiner großen Betruͤbniß, daß an der Gegenſeite das Waſſer mit einem gleichen Gitter eingefaßt war, und zwar ſo kuͤnſtlicher Weiſe, daß auf einen Zwiſchenraum dieſſeits gerade ein Spieß oder eine Parti¬ ſane jenſeits paßte, und man alſo, die uͤbri¬ gen Zieraten mitgerechnet, nicht hindurchſehen konnte, man mochte ſich ſtellen wie man wollte. Ueberdieß hinderte mich der Alte, der mich noch immer feſthielt, daß ich mich nicht frey bewegen konnte. Meine Neugier wuchs indeß, nach allem was ich geſehen, immer mehr, und ich nahm mir ein Herz, den Alten zu fragen, ob man nicht auch hinuͤber kommen koͤnne. — „ Warum nicht?117 verſetzte jener; aber auf neue Bedingun¬ gen. “— Als ich nach dieſen fragte, gab er mir zu erkennen, daß ich mich umkleiden muͤſſe. Ich war es ſehr zufrieden; er fuͤhrte mich zuruͤck nach der Mauer in einen kleinen reinlichen Saal, an deſſen Waͤnden mancher¬ ley Kleidungen hingen, die ſich ſaͤmmtlich dem orientaliſchen Coſtum zu naͤhern ſchienen. Ich war geſchwind umgekleidet; er ſtreifte meine gepuderten Haare unter ein buntes Netz, nachdem er ſie zu meinem Entſetzen gewaltig ausgeſtaͤubt hatte. Nun fand ich mich vor einem großen Spiegel in meiner Vermummung gar huͤbſch, und gefiel mir beſſer als in meinem ſteifen Sonntagskleide. Ich machte einige Gebaͤrden und Spruͤnge, wie ich ſie von den Taͤnzern auf dem Me߬ theater geſehen hatte. Unter dieſem ſah ich in den Spiegel und erblickte zufaͤllig das Bild einer hinter mir befindlichen Niſche. Auf ihrem weißen Grunde hingen drey gruͤne Strickchen, jedes in ſich auf eine Weiſe ver¬118 ſchlungen, die mir in der Ferne nicht deutlich werden wollte. Ich kehrte mich daher etwas haſtig um, und fragte den Alten nach der Niſche ſo wie nach den Strickchen. Er, ganz gefaͤllig, holte eins herunter und zeigte es mir. Es war eine gruͤnſeidene Schnur von maͤßiger Staͤrke, deren beyde Enden durch ein zwiefach durchſchnittenes gruͤnes Leder geſchlungen, ihr das Anſehn gaben, als ſey es ein Werkzeug zu einem eben nicht ſehr erwuͤnſchten Gebrauch. Die Sache ſchien mir bedenklich, und ich fragte den Alten nach der Bedeutung. Er antwortete mir ganz gelaſſen und guͤtig: es ſey dieſes fuͤr diejeni¬ gen, welche das Vertrauen misbrauchten, das man ihnen hier zu ſchenken bereit ſey. Er hing die Schnur wieder an ihre Stelle und verlangte ſogleich, daß ich ihm folgen ſolle: denn dießmal faßte er mich nicht an, und ſo ging ich frey neben ihm her.
Meine groͤßte Neugier war nunmehr, wo119 die Thuͤre, wo die Bruͤcke ſeyn moͤchte, um durch das Gitter, um uͤber den Canal zu kommen: denn ich hatte dergleichen bis jetzt noch nicht ausfindig machen koͤnnen. Ich betrachtete daher die goldene Umzaͤunung ſehr genau, als wir darauf zueilten; allein au¬ genblicklich verging mir das Geſicht: denn unerwartet begannen Spieße, Speere, Helle¬ barden, Partiſanen ſich zu ruͤtteln und zu ſchuͤt¬ teln, und dieſe ſeltſame Bewegung endigte damit, daß die ſaͤmmtlichen Spitzen ſich gegen einander ſenkten, eben als wenn zwey alter¬ thuͤmliche, mit Piken bewaffnete Heerhaufen gegen einander losgehen wollten. Die Ver¬ wirrung fuͤrs Auge, das Geklirr fuͤr die Oh¬ ren, war kaum zu ertragen, aber unendlich uͤberraſchend der Anblick, als ſie voͤllig nie¬ dergelaſſen den Kreis des Canals bedeckten und die herrlichſte Bruͤcke bildeten, die man ſich denken kann: denn nun lag das bunte¬ ſte Gartenparterre vor meinem Blick. Es war in verſchlungene Beete getheilt, welche120 zuſammen betrachtet ein Labyrinth von Zie¬ raten bildeten; alle mit gruͤnen Einfaſſungen von einer niedrigen, wollig wachſenden Pflan¬ ze, die ich nie geſehen; alle mit Blumen, jede Abtheilung von verſchiedener Farbe, die ebenfalls niedrig und am Boden, den vorge¬ zeichneten Grundriß leicht verfolgen ließen. Dieſer koͤſtliche Anblick, den ich in vollem Sonnenſchein genoß, feſſelte ganz meine Au¬ gen; aber ich wußte faſt nicht, wo ich den Fuß hinſetzen ſollte: denn die ſchlaͤngelnden Wege waren aufs reinlichſte von blauem Sande gezogen, der einen dunklern Himmel, oder einen Himmel im Waſſer, an der Erde zu bilden ſchien; und ſo ging ich, die Augen auf den Boden gerichtet, eine Zeit lang ne¬ ben meinem Fuͤhrer, bis ich zuletzt gewahr ward, daß in der Mitte von dieſem Beeten - und Blumen-Rund ein großer Kreis von Cypreſſen oder pappelartigen Baͤumen ſtand, durch den man nicht hindurchſehen konnte, weil die unterſten Zweige aus der Erde her¬121 vorzutreiben ſchienen. Mein Fuͤhrer, ohne mich gerade auf den naͤchſten Weg zu draͤn¬ gen, leitete mich doch unmittelbar nach jener Mitte, und wie war ich uͤberraſcht! als ich in den Kreis der hohen Baͤume tretend, die Saͤulenhalle eines koͤſtlichen Gartengebaͤudes vor mir ſah, das nach den uͤbrigen Seiten hin aͤhnliche Anſichten und Eingaͤnge zu ha¬ ben ſchien. Noch mehr aber als dieſes Mu¬ ſter der Baukunſt entzuͤckte mich eine himm¬ liſche Muſik, die aus dem Gebaͤude hervor¬ drang. Bald glaubte ich eine Laute, bald eine Harfe, bald eine Zither zu hoͤren, und bald noch etwas Klimperndes, das keinem von dieſen drey Inſtrumenten gemaͤß war. Die Pforte, auf die wir zu gingen, eroͤffnete ſich bald nach einer leiſen Beruͤhrung des Alten; aber wie erſtaunt war ich, als die heraustretende Pfoͤrtnerinn ganz vollkommen dem niedlichen Maͤdchen glich, das mir im Traume auf den Fingern getanzt hatte. Sie gruͤßte mich auch auf eine Weiſe, als wenn122 wir ſchon bekannt waͤren, und bat mich her¬ einzutreten. Der Alte blieb zuruͤck, und ich ging mit ihr durch einen gewoͤlbten und ſchoͤn verzierten kurzen Gang nach dem Mittelſaal, deſſen herrliche domartige Hoͤhe beym Ein¬ tritt meinen Blick auf ſich zog und mich in Verwunderung ſetzte. Doch konnte mein Auge nicht lange dort verweilen, denn es ward durch ein reizenderes Schauſpiel herab¬ gelockt. Auf einem Teppich, gerade unter der Mitte der Kuppel, ſaßen drey Frauen¬ zimmer im Dreyeck, in drey verſchiedene Farben gekleidet, die eine roth, die andre gelb, die dritte gruͤn; die Seſſel waren ver¬ goldet, und der Teppich ein vollkommenes Blumenbeet. In ihren Armen lagen die drey Inſtrumente, die ich draußen hatte un¬ terſcheiden koͤnnen: denn durch meine Ankunft geſtoͤrt, hatten ſie mit ſpielen inne gehal¬ ten. — „ Seyd uns willkommen! “ſagte die mittlere, die naͤmlich, welche mit dem Ge¬ ſicht nach der Thuͤre ſaß, im rothen Kleide123 und mit der Harfe. „ Setzt Euch zu Aler¬ ten und hoͤrt zu, wenn Ihr Liebhaber von der Muſik ſeyd. “ Nun ſah 'ich erſt, daß unten quer vor ein ziemlich langes Baͤnkchen ſtand, worauf eine Mandoline lag. Das artige Maͤdchen nahm ſie auf, ſetzte ſich und zog mich an ihre Seite. Jetzt betrachtete ich auch die zweyte Dame zu meiner Rech¬ ten; ſie hatte das gelbe Kleid an, und eine Zither in der Hand; und wenn jene Harfen¬ ſpielerinn anſehnlich von Geſtalt, groß von Geſichtszuͤgen, und in ihrem Betragen maje¬ ſtaͤtisch war, ſo konnte man der Zitherſpiele¬ rinn ein leicht anmuthiges, heitres Weſen anmerken. Sie war eine ſchlanke Blondine, da jene dunkelbraunes Haar ſchmuͤckte. Die Mannigfaltigkeit und Uebereinſtimmung ihrer Muſik konnte mich nicht abhalten, nun auch die dritte Schoͤnheit im gruͤnen Gewande zu betrachten, deren Lautenſpiel etwas Ruͤh¬ rendes und zugleich Auffallendes fuͤr mich hatte. Sie war diejenige, die am meiſten124 auf mich Acht zu geben und ihr Spiel an mich zu richten ſchien; nur konnte ich aus ihr nicht klug werden: denn ſie kam mir bald zaͤrtlich, bald wunderlich, bald offen, bald eigenſinnig vor, je nachdem ſie die Mie¬ nen und ihr Spiel veraͤnderte. Bald ſchien ſie mich ruͤhren, bald mich necken zu wollen. Doch mochte ſie ſich ſtellen wie ſie wollte, ſo gewann ſie mir wenig ab: denn meine kleine Nachbarinn, mit der ich Ellbogen an Ellbogen ſaß, hatte mich ganz fuͤr ſich einge¬ nommen; und wenn ich in jenen drey Da¬ men ganz deutlich die Sylphiden meines Traums und die Farben der Aepfel erblickte, ſo begriff ich wohl, daß ich keine Urſache haͤtte ſie feſtzuhalten. Die artige Kleine haͤtte ich lieber angepackt, wenn mir nur nicht der Schlag, den ſie mir im Traume verſetzt hatte, gar zu erinnerlich geweſen waͤre. Sie hielt ſich bisher mit ihrer Man¬ doline ganz ruhig; als aber ihre Gebieterin¬ nen aufgehoͤrt hatten, ſo befahlen ſie ihr, ei¬125 nige luſtige Stuͤckchen zum Beſten zu geben. Kaum hatte ſie einige Tanzmelodieen gar aufregend abgeklimpert, ſo ſprang ſie in die Hoͤhe; ich that das Gleiche. Sie ſpielte und tanzte; ich ward hingeriſſen ihre Schritte zu begleiten, und wir fuͤhrten eine Art von kleinem Ballet auf, womit die Damen zufrie¬ den zu ſeyn ſchienen: denn ſobald wir geen¬ digt, befahlen ſie der Kleinen, mich derweil mit etwas Gutem zu erquicken, bis das Nachteſſen herankaͤme. Ich hatte freylich vergeſſen, daß außer dieſem Paradieſe noch etwas anderes in der Welt waͤre. Alerte fuͤhrte mich ſogleich in den Gang zuruͤck, durch den ich hereingekommen war. An der Seite hatte ſie zwey wohleingerichtete Zim¬ mer; in dem einen, wo ſie wohnte, ſetzte ſie mir Orangen, Feigen, Pfirſchen und Trau¬ ben vor, und ich genoß ſowohl die Fruͤchte fremder Laͤnder, als auch die der erſt kom¬ menden Monate mit großem Appetit. Zucker¬ werk war im Ueberfluß; auch fuͤllte ſie einen126 Pocal von geſchliffnem Cryſtall mit ſchaͤumen¬ dem Wein: doch zu trinken bedurfte ich nicht; denn ich hatte mich an den Fruͤchten hinreichend gelabt. — „ Nun wollen wir ſpielen, “ſagte ſie und fuͤhrte mich in das an¬ dere Zimmer. Hier ſah es nun aus wie auf einem Chriſtmarkt; aber ſo koſtbare und feine Sachen hat man niemals in einer Weihnachtsbude geſehen. Da waren alle Arten von Puppen, Puppenkleidern und Pup¬ pengeraͤthſchaften; Kuͤchen, Wochenſtuben und Laͤden; und einzelne Spielſachen in Unzahl. Sie fuͤhrte mich an allen Glasſchraͤnken herum: denn in ſolchen waren dieſe kuͤnſtlichen Arbeiten aufbewahrt. Die erſten Schraͤnke verſchloß ſie aber bald wieder und ſagte: „ Das iſt nichts fuͤr Euch, ich weiß es wohl. Hier aber, ſagte ſie, koͤnnten wir Baumate¬ rialien finden, Mauern und Thuͤrme, Haͤu¬ ſer, Pallaͤſte, Kirchen, um eine große Stadt zuſammenzuſtellen. Das unterhaͤlt mich aber nicht; wir wollen zu etwas anderem greifen,127 das fuͤr Euch und mich gleich vergnuͤglich iſt. “— Sie brachte darauf einige Kaſten hervor, in denen ich kleines Kriegsvolk uͤber einander geſchichtet erblickte, von dem ich ſogleich bekennen mußte, daß ich niemals ſo etwas Schoͤnes geſehen haͤtte. Sie ließ mir die Zeit nicht, das Einzelne naͤher zu be¬ trachten, ſondern nahm den einen Kaſten un¬ ter den Arm, und ich packte den andern auf. „ Wir wollen auf die goldne Bruͤcke gehen, ſagte ſie; dort ſpielt ſich's am beſten mit Soldaten: die Spieße geben gleich die Rich¬ tung, wie man die Armeen gegen einander zu ſtellen hat. “ Nun waren wir auf dem goldnen ſchwankenden Boden angelangt; un¬ ter mir hoͤrte ich das Waſſer rieſeln und die Fiſche plaͤtſchern, indem ich niederkniete meine Linien aufzuſtellen. Es war alles Reiterey, wie ich nunmehr ſah. Sie ruͤhmte ſich, die Koͤniginn der Amazonen zum Fuͤhrer ihres weiblichen Heeres zu beſitzen; ich dagegen fand den Achill und eine ſehr ſtattliche grie¬128 chiſche Reiterey. Die Heere ſtanden gegen einander, und man konnte nichts ſchoͤneres ſehen. Es waren nicht etwa flache bleyerne Reiter, wie die unſrigen, ſondern Mann und Pferd rund und koͤrperlich, und auf das feinſte gearbeitet; auch konnte man kaum be¬ greifen, wie ſie ſich im Gleichgewicht hielten: denn ſie ſtanden fuͤr ſich, ohne ein Fußbrett¬ chen zu haben.
Wir hatten nun Jedes mit großer Selbſt¬ zufriedenheit unſere Heerhaufen beſchaut, als ſie mir den Angriff verkuͤndigte. Wir hatten auch Geſchuͤtz in unſern Kaͤſten gefunden; es waren naͤmlich Schachteln voll kleiner wohlpolirter Achatkugeln. Mit dieſen ſollten wir aus einer gewiſſen Entfernung gegen ein¬ ander kaͤmpfen, wobey jedoch ausdruͤcklich be¬ dungen war, daß nicht ſtaͤrker geworfen werde, als noͤthig ſey die Figuren umzuſtuͤrzen: denn beſchaͤdigt ſollte keine werden. Wechſelſeitig ging nun die Canonade los, und im Anfang129 wirkte ſie zu unſer beyder Zufriedenheit. Al¬ lein als meine Gegnerinn bemerkte, daß ich doch beſſer zielte als ſie, und zuletzt den Sieg, der von der Ueberzahl der ſtehn ge¬ bliebenen abhing, gewinnen moͤchte, trat ſie naͤher, und ihr maͤdchenhaftes Werfen hatte denn auch den erwuͤnſchten Erfolg. Sie ſtreckte mir eine Menge meiner beſten Trup¬ pen nieder, und jemehr ich proteſtirte, deſto eifriger warf ſie. Dieß verdroß mich zuletzt, und ich erklaͤrte, daß ich ein Gleiches thun wuͤrde. Ich trat auch wirklich nicht allein naͤher heran, ſondern warf im Unmuth viel heftiger, da es denn nicht lange waͤhrte als ein paar ihrer kleinen Centaurinnen in Stuͤcke ſprangen. In ihrem Eifer bemerkte ſie es nicht gleich; aber ich ſtand verſteinert, als die zerbrochnen Figuͤrchen ſich von ſelbſt wie¬ der zuſammenfuͤgten, Amazone und Pferd wieder ein Ganzes, auch zugleich voͤllig leben¬ dig wurden, im Galopp von der goldnen Bruͤcke unter die Linden ſetzten, und in Car¬I. 9130riere hin und wieder rennend ſich endlich ge¬ gen die Mauer, ich weiß nicht wie, verloren. Meine ſchoͤne Gegnerinn war das kaum ge¬ wahr worden, als ſie in ein lautes Weinen und Jammern ausbrach und rief: daß ich ihr einen unerſetzlichen Verluſt zugefuͤgt, der weit groͤßer ſey, als es ſich ausſprechen laſſe. Ich aber, der ich ſchon erboßt war, freute mich ihr etwas zu Leide zu thun, und warf noch ein paar mir uͤbrig gebliebene Achatkugeln blindlings mit Gewalt unter ihren Heerhau¬ fen. Ungluͤcklicherweiſe traf ich die Koͤni¬ ginn, die bisher bey unſerm regelmaͤßigen Spiel ausgenommen geweſen. Sie ſprang in Stuͤcken, und ihre naͤchſten Adjutanten wurden auch zerſchmettert; aber ſchnell ſtell¬ ten ſie ſich wieder her und nahmen Reißaus wie die erſten, galoppirten ſehr luſtig unter den Linden herum und verloren ſich gegen die Mauer.
Meine Gegnerinn ſchalt und ſchimpfte;131 ich aber, nun einmal im Gange, buͤckte mich einige Achatkugeln aufzuheben, welche an den goldnen Spießen herumrollten. Mein er¬ grimmter Wunſch war, ihr ganzes Heer zu vernichten; ſie dagegen nicht faul, ſprang auf mich los und gab mir eine Ohrfeige, daß mir der Kopf ſummte. Ich, der ich immer gehoͤrt hatte, auf die Ohrfeige eines Maͤd¬ chens gehoͤre ein derber Kuß, faßte ſie bey den Ohren und kuͤßte ſie zu wiederholten Ma¬ len. Sie aber that einen ſolchen durchdrin¬ genden Schrey, der mich ſelbſt erſchreckte; ich ließ ſie fahren, und das war mein Gluͤck: denn in dem Augenblick wußte ich nicht wie mir geſchah. Der Boden unter mir fing an zu beben und zu raſſeln; ich merkte ge¬ ſchwind, daß ſich die Gitter wieder in Bewe¬ gung ſetzten: allein ich hatte nicht Zeit zu uͤber¬ legen, noch konnte ich Fuß faſſen, um zu fliehen. Ich fuͤrchtete jeden Augenblick geſpießt zu wer¬ den: denn die Partiſanen und Lanzen, die ſich aufrichteten, zerſchlitzten mir ſchon die Kleider;9 *132genug ich weiß nicht wie mir geſchah, mir verging Hoͤren und Sehen, und ich erholte mich aus meiner Betaͤubung, von meinem Schrecken, am Fuß einer Linde, wider den mich das aufſchnellende Gitter geworfen hatte. Mit dem Erwachen erwachte auch meine Bosheit, die ſich noch heftig vermehrte, als ich von druͤben die Spottworte und das Ge¬ laͤchter meiner Gegnerinn vernahm, die an der andern Seite, etwas gelinder als ich, mochte zur Erde gekommen ſeyn. Daher ſprang ich auf, und als ich rings um mich das kleine Heer nebſt ſeinem Anfuͤhrer Achill, welche das auffahrende Gitter mit mir her¬ uͤber geſchnellt hatte, zerſtreut ſah, ergriff ich den Helden zuerſt und warf ihn wider einen Baum. Seine Wiederherſtellung und ſeine Flucht gefielen mir nun doppelt, weil ſich die Schadenfreude zu dem artigſten Anblick von der Welt geſellte, und ich war im Begriff die ſaͤmmtlichen Griechen ihm nachzuſchicken,133 als auf einmal ziſchende Waſſer von allen Seiten her, aus Steinen und Mauern, aus Boden und Zweigen hervorſpruͤhten, und wo ich mich hinwendete, kreuzweiſe auf mich lospeitſchten. Mein leichtes Gewand war in kurzer Zeit voͤllig durchnaͤßt; zerſchlitzt war es ſchon, und ich ſaͤumte nicht, es mir ganz vom Leibe zu reißen. Die Pantoffeln warf ich von mir, und ſo eine Huͤlle nach der an¬ dern; ja ich fand es endlich bey dem warmen Tage ſehr angenehm, ein ſolches Strahlbad uͤber mich ergehen zu laſſen. Ganz nackt ſchritt ich nun gravitaͤtiſch zwiſchen dieſen willkommen Gewaͤſſern einher, und dachte mich lange ſo wohl befinden zu koͤnnen. Mein Zorn verkuͤhlte ſich, und ich wuͤnſchte nichts mehr als eine Verſoͤhnung mit meiner kleinen Gegnerinn. Doch in einem Nu ſchnappten die Waſſer ab, und ich ſtand nun feucht auf einem durchnaͤßten Boden. Die Gegenwart des alten Mannes, der unvermuthet vor mich trat, war mir kei¬ neswegs willkommen; ich haͤtte gewuͤnſcht, mich134 wo nicht verbergen, doch wenigſtens verhuͤllen zu koͤnnen. Die Beſchaͤmung, der Froſtſchauer, das Beſtreben mich einigermaßen zu bedecken, ließen mich eine hoͤchſt erbaͤrmliche Figur ſpie¬ len; der Alte benutzte den Augenblick, um mir die groͤßeſten Vorwuͤrfe zu machen. „ Was hindert mich, rief er aus, daß ich nicht eine der gruͤnen Schnuren ergreife und ſie, wo nicht Eurem Hals, doch Eurem Ruͤcken an¬ meſſe! “ Dieſe Drohung nahm ich hoͤchſt uͤbel. Huͤtet Euch, rief ich aus, vor ſolchen Worten, ja nur vor ſolchen Gedanken: denn ſonſt ſeyd Ihr und Eure Gebieterinnen ver¬ loren! — „ Wer biſt denn du, fragte er tru¬ tzig, daß du ſo reden darfſt? “— Ein Lieb¬ ling der Goͤtter, ſagte ich, von dem es ab¬ haͤngt, ob jene Frauenzimmer wuͤrdige Gatten finden und ein gluͤckliches Leben fuͤhren ſollen, oder ob er ſie will in ihrem Zauberkloſter ver¬ ſchmachten und veralten laſſen. — Der Alte trat einige Schritte zuruͤck. „ Wer hat dir das offenbart? “fragte er erſtaunt und be¬135 denklich. — Drey Aepfel, ſagte ich, drey Ju¬ welen. — „ Und was verlangſt du zum Lohn? “rief er aus. — Vor allen Dingen das kleine Geſchoͤpf, verſetzte ich, die mich in dieſen verwuͤnſchten Zuſtand gebracht hat. — Der Alte warf ſich vor mir nieder, ohne ſich vor der noch feuchten und ſchlammigen Erde zu ſcheuen; dann ſtand er auf, ohne benetzt zu ſeyn, nahm mich freundlich bey der Hand, fuͤhrte mich in jenen Saal, kleidete mich be¬ hend wieder an, und bald war ich wieder ſonntaͤgig geputzt und friſirt wie vorher. Der Pfoͤrtner ſprach kein Wort weiter; aber ehe er mich uͤber die Schwelle ließ, hielt er mich an, und deutete mir auf einige Gegenſtaͤnde an der Mauer druͤben uͤber den Weg, indem er zu¬ gleich ruͤckwaͤrts auf das Pfoͤrtchen zeigte. Ich verſtand ihn wohl; er wollte naͤmlich, daß ich mir die Gegenſtaͤnde einpraͤgen moͤchte, um das Pfoͤrtchen deſto gewiſſer wieder zu finden, welches ſich unverſehens hinter mir zuſchloß. Ich merkte mir nun wohl, was mir136 gegenuͤber ſtand. Ueber eine hohe Mauer ragten die Aeſte uralter Nußbaͤume heruͤber, und bedeckten zum Theil das Geſimms, wo¬ mit ſie endigte. Die Zweige reichten bis an eine ſteinerne Tafel, deren verzierte Einfaſ¬ ſung ich wohl erkennen, deren Inſchrift ich aber nicht leſen konnte. Sie ruhte auf dem Kragſtein einer Niſche, in welcher ein kuͤnſt¬ lich gearbeiteter Brunnen, von Schale zu Schale, Waſſer in ein großes Becken goß, das wie einen kleinen Teich bildete und ſich in die Erde verlor. Brunnen, Inſchrift, Nußbaͤume, alles ſtand ſenkrecht uͤbereinander; ich wollte es malen, wie ich es geſehn habe.
Nun laͤßt ſich wohl denken, wie ich dieſen Abend und manchen folgenden Tag zubrach¬ te, und wie oft ich mir dieſe Geſchichten, die ich kaum ſelbſt glauben konnte, wieder¬ holte. Sobald mir's nur irgend moͤglich war, ging ich wieder zur ſchlimmen Mauer, um wenigſtens jene Merkzeichen im Gedaͤcht¬137 niß anzufriſchen und das koͤſtliche Pfoͤrtchen zu beſchauen. Allein zu meinem groͤßten Erſtaunen fand ich alles veraͤndert. Nußbaͤu¬ me ragten wohl uͤber die Mauer, aber ſie ſtanden nicht unmittelbar neben einander. Ei¬ ne Tafel war auch eingemauert, aber von den Baͤumen weit rechts, ohne Verzierung, und mit einer leſerlichen Inſchrift. Eine Niſche mit einem Brunnen findet ſich weit links, der aber jenem, den ich geſehen, durchaus nicht zu vergleichen iſt; ſo daß ich beynahe glauben muß, das zweyte Abenteuer ſey ſo gut als das erſte ein Traum geweſen: denn von dem Pfoͤrtchen findet ſich uͤberhaupt gar keine Spur. Das Einzige was mich troͤſtet, iſt die Be¬ merkung, daß jene drey Gegenſtaͤnde ſtets den Ort zu veraͤndern ſcheinen: denn bey wie¬ derholtem Beſuch jener Gegend glaube ich be¬ merkt zu haben, daß die Nußbaͤume etwas zuſammenruͤcken, und daß Tafel und Brunnen ſich ebenfalls zu naͤhern ſcheinen. Wahrſchein¬ lich, wenn alles wieder zuſammentrifft, wird138 auch die Pforte von neuem ſichtbar ſeyn, und ich werde mein Moͤgliches thun, das Abenteuer wieder anzuknuͤpfen. Ob ich Euch erzaͤhlen kann, was weiter begegnet, oder ob es mir ausdruͤcklich verboten wird, weiß ich nicht zu ſagen.
Dieſes Maͤhrchen, von deſſen Wahrheit meine Geſpielen ſich leidenſchaftlich zu uͤber¬ zeugen trachteten, erhielt großen Beyfall. Sie beſuchten, Jeder allein, ohne es mir oder den andern zu vertrauen, den angedeuteten Ort, fanden die Nußbaͤume, die Tafel und den Brunnen, aber immer entfernt von ein¬ ander: wie ſie zuletzt bekannten, weil man in jenen Jahren nicht gern ein Geheim¬ niß verſchweigen mag. Hier ging aber der Streit erſt an. Der Eine verſicherte: die Gegenſtaͤnde ruͤckten nicht vom Flecke und blie¬ ben immer in gleicher Entfernung unter ein¬139 ander. Der Zweyte behauptete: ſie beweg¬ ten ſich, aber ſie entfernten ſich von einander. Mit dieſem war der Dritte uͤber den erſten Punct der Bewegung einſtimmig, doch ſchie¬ nen ihm Nußbaͤume, Tafel und Brunnen ſich vielmehr zu naͤhern. Der Vierte wollte noch was merkwuͤrdigeres geſehen haben: die Nußbaͤume naͤmlich in der Mitte, die Tafel aber und den Brunnen auf den entgegen¬ geſetzten Seiten als ich angegeben. In Ab¬ ſicht auf die Spur des Pfoͤrtchens variirten ſie auch. Und ſo gaben ſie mir ein fruͤhes Beyſpiel, wie die Menſchen von einer ganz einfachen und leicht zu eroͤrternden Sache die wider¬ ſprechendſten Anſichten haben und behaupten koͤnnen. Als ich die Fortſetzung meines Maͤhrchens hartnaͤckig verweigerte, ward dieſer erſte Theil oͤfters wieder begehrt. Ich huͤtete mich, an den Umſtaͤnden viel zu veraͤndern, und durch die Gleichfoͤrmigkeit meiner Erzaͤh¬ lung verwandelte ich in den Gemuͤthern mei¬ ner Zuhoͤrer die Fabel in Wahrheit.
140Uebrigens war ich den Luͤgen und der Verſtellung abgeneigt, und uͤberhaupt keines¬ wegs leichtſinnig; vielmehr zeigte ſich der in¬ nere Ernſt, mit dem ich ſchon fruͤh mich und die Welt betrachtete, auch in meinem Aeußern, und ich ward, oft freundlich, oft auch ſpoͤttiſch, uͤber eine gewiſſe Wuͤrde berufen, die ich mir herausnahm. Denn ob es mir zwar an guten, ausgeſuchten Freunden nicht fehlte, ſo waren wir doch immer die Minderzahl gegen jene, die uns mit rohem Muthwillen anzufechten ein Ver¬ gnuͤgen fanden, und uns freylich oft ſehr un¬ ſanft aus jenen maͤhrchenhaften, ſelbſtgefaͤlli¬ gen Traͤumen aufweckten, in die wir uns, ich erfindend und meine Geſpielen theilnehmend, nur allzugern verloren. Nun wurden wir abermals gewahr, daß man anſtatt ſich der Weichlichkeit und phantaſtiſchen Vergnuͤgungen hinzugeben, wohl eher Urſache habe, ſich ab¬ zuhaͤrten, um die unvermeidlichen Uebel ent¬ weder zu ertragen, oder ihnen entgegen zu wirken.
141Unter die Uebungen des Stoicismus, den ich deshalb ſo ernſtlich als es einem Knaben moͤglich iſt, bey mir ausbildete, gehoͤrten auch die Duldungen koͤrperlicher Leiden. Unſere Lehrer behandelten uns oft ſehr unfreundlich und ungeſchickt mit Schlaͤgen und Puͤffen, gegen die wir uns um ſo mehr verhaͤrteten, als Widerſetzlichkeit oder Gegenwirkung aufs hoͤchſte verpoͤnt war. Sehr viele Scherze der Jugend beruhen auf einem Wettſtreit ſolcher Ertragungen: zum Beyſpiel, wenn man mit zwey Fingern oder der ganzen Hand ſich wechſelsweiſe bis zur Betaͤubung der Glie¬ der ſchlaͤgt, oder die bey gewiſſen Spielen verſchuldeten Schlaͤge mit mehr oder weniger Geſetztheit aushaͤlt; wenn man ſich beym Ringen und Balgen durch die Kniffe der Halbuͤberwundenen nicht irre machen laͤßt; wenn man einen aus Neckerey zugefuͤgten Schmerz unterdruͤckt, ja ſelbſt das Zwicken und Kitzeln, womit junge Leute ſo geſchaͤftig gegen einander ſind, als etwas Gleichguͤltiges142 behandelt. Dadurch ſetzt man ſich in einen großen Vortheil, der uns von andern ſo ge¬ ſchwind nicht abgewonnen wird.
Da ich jedoch von einem ſolchen Leidens¬ trotz gleichſam Profeſſion machte, ſo wuchſen die Zudringlichkeiten der Andern; und wie eine unartige Grauſamkeit keine Graͤnzen kennt, ſo wußte ſie mich doch aus meiner Graͤnze hinauszutreiben. Ich erzaͤhle einen Fall ſtatt vieler. Der Lehrer war eine Stunde nicht gekommen: ſo lange wir Kin¬ der alle beyſammen waren, unterhielten wir uns recht artig; als aber die mir Wohlwol¬ lenden, nachdem ſie lange genug gewartet, hinweggingen, und ich mit drey Mißwollen¬ den allein blieb: ſo dachten dieſe mich zu quaͤlen, zu beſchaͤmen und zu vertreiben. Sie hatten mich einen Augenblick im Zim¬ mer verlaſſen und kamen mit Ruthen zuruͤck, die ſie ſich aus einem geſchwind zerſchnittenen Beſen verſchafft hatten. Ich merkte ihre143 Abſicht, und weil ich das Ende der Stunde nahe glaubte, ſo ſetzte ich aus dem Stegreife bey mir feſt, mich bis zum Glockenſchlage nicht zu wehren. Sie fingen darauf unbarm¬ herzig an, mir die Beine und Waden auf das grauſamſte zu peitſchen. Ich ruͤhrte mich nicht, fuͤhlte aber bald, daß ich mich verrechnet hatte, und daß ein ſolcher Schmerz die Minuten ſehr verlaͤngert. Mit der Dul¬ dung wuchs meine Wuth, und mit dem er¬ ſten Stundenſchlag fuhr ich dem einen, der ſich's am wenigſten verſah, mit der Hand in die Nackenhaare und ſtuͤrzte ihn augen¬ blicklich zu Boden, indem ich mit dem Knie ſeinen Ruͤcken druckte; den andern, einen juͤngeren und ſchwaͤcheren, der mich von hin¬ ten anfiel, zog ich bey dem Kopfe durch den Arm und erdroſſelte ihn faſt, indem ich ihn an mich preßte. Nun war der letzte noch uͤbrig und nicht der ſchwaͤchſte, und mir blieb nur die linke Hand zu meiner Verthei¬ digung. Allein ich ergriff ihn beym Kleide,144 und durch eine geſchickte Wendung von mei¬ ner Seite, durch eine uͤbereilte von ſeiner, brachte ich ihn nieder und ſtieß ihn mit dem Geſicht gegen den Boden. Sie ließen es nicht an Beißen, Kratzen und Treten fehlen; aber ich hatte nur meine Rache im Sinn und in den Gliedern. In dem Vortheil in dem ich mich befand, ſtieß ich ſie wiederholt mit den Koͤpfen zuſammen. Sie erhuben zuletzt ein entſetzliches Zetergeſchrey, und wir ſahen uns bald von allen Hausgenoſſen um¬ geben. Die umhergeſtreuten Ruthen und meine Beine, die ich von den Struͤmpfen entbloͤßte, zeugten bald fuͤr mich. Man be¬ hielt ſich die Strafe vor und ließ mich aus dem Hauſe; ich erklaͤrte aber, daß ich kuͤnf¬ tig, bey der geringſten Beleidigung, einem oder dem andern die Augen auskratzen, die Ohren abreißen, wo nicht gar ihn erdroſſeln wuͤrde.
Dieſer Vorfall, ob man ihn gleich, wie145 es in kindiſchen Dingen zu geſchehen pflegt, bald wieder vergaß und ſogar belachte, war jedoch Urſache, daß dieſe gemeinſamen Unter¬ richtsſtunden ſeltner wurden und zuletzt ganz aufhoͤrten. Ich war alſo wieder wie vorher mehr ins Haus gebannt, wo ich an meiner Schweſter Cornelia, die nur ein Jahr weniger zaͤhlte als ich, eine an Annehmlich¬ keit immer wachſende Geſellſchafterinn fand.
Ich will jedoch dieſen Gegenſtand nicht verlaſſen, ohne noch einige Geſchichten zu er¬ zaͤhlen, wie mancherley Unangenehmes mir von meinen Geſpielen begegnet: denn das iſt ja eben das Lehrreiche ſolcher ſittlichen Mit¬ theilungen, daß der Menſch erfahre, wie es andern ergangen, und was auch er vom Le¬ ben zu erwarten habe, und daß er, es mag ſich ereignen was will, bedenke, dieſes wi¬ derfahre ihm als Menſchen und nicht als einem beſonders Gluͤcklichen oder Ungluͤcklichen. Nuͤtzt ein ſolches Wiſſen nicht viel, um dieI. 10146Uebel zu vermeiden, ſo iſt es doch ſehr dien¬ lich, daß wir uns in die Zuſtaͤnde finden, ſie ertragen, ja ſie uͤberwinden lernen.
Noch eine allgemeine Bemerkung ſteht hier an der rechten Stelle, daß naͤmlich bey dem Emporwachſen der Kinder aus den ge¬ ſitteten Staͤnden ein ſehr großer Widerſpruch zum Vorſchein kommt, ich meyne den, daß ſie von Aeltern und Lehrern angemahnt und angeleitet werden, ſich maͤßig, verſtaͤndig, ja vernuͤnftig zu betragen, Niemanden aus Muthwillen oder Uebermuth ein Leids zuzu¬ fuͤgen und alle gehaͤſſigen Regungen, die ſich an ihnen entwickeln moͤchten, zu unterdruͤ¬ cken; daß nun aber im Gegentheil, waͤhrend die jungen Geſchoͤpfe mit einer ſolchen Ue¬ bung beſchaͤftigt ſind, ſie von andern das zu leiden haben, was an ihnen geſcholten wird und hoͤchlich verpoͤnt iſt. Dadurch kommen die armen Weſen zwiſchen dem Naturzuſtande und dem der Civiliſation gar erbaͤrmlich in147 die Klemme, und werden, je nachdem die Charakter ſind, entweder tuͤckiſch, oder ge¬ waltſam aufbrauſend, wenn ſie eine Zeitlang an ſich gehalten haben.
Gewalt iſt eher mit Gewalt zu vertrei¬ ben; aber ein gut geſinntes, zur Liebe und Theilnahme geneigtes Kind weiß dem Hohn und dem boͤſen Willen wenig entgegenzuſetzen. Wenn ich die Thaͤtlichkeiten meiner Geſellen ſo ziemlich abzuhalten wußte; ſo war ich doch keineswegs ihren Sticheleyen und Mis¬ reden gewachſen, weil in ſolchen Faͤllen der¬ jenige, der ſich vertheidigt, immer verlieren muß. Es wurden alſo auch Angriffe dieſer Art, in ſofern ſie zum Zorn reizten, mit phyſiſchen Kraͤften zuruͤckgewieſen, oder ſie regten wunderſame Betrachtungen in mir auf, die denn nicht ohne Folgen bleiben konnten. Unter andern Vorzuͤgen misgoͤnnten mir die Uebelwollenden auch, daß ich mir in einem Verhaͤltniß gefiel, welches aus dem Schult¬10 *148heißenamt meines Großvaters fuͤr die Fami¬ lie entſprang: denn indem er als der Erſte unter ſeines Gleichen daſtand, hatte dieſes doch auch auf die Seinigen nicht geringen Einfluß. Und als ich mir einmal nach ge¬ haltenem Pfeifergerichte etwas darauf einzu¬ bilden ſchien, meinen Großvater in der Mitte des Schoͤffenraths, eine Stufe hoͤher als die andern, unter dem Bilde des Kaiſers gleichſam thronend geſehen zu haben; ſo ſagte einer der Knaben hoͤhniſch: ich ſollte doch, wie der Pfau auf ſeine Fuͤße, ſo auf meinen Großvater vaͤterlicher Seite hinſehen, welcher Gaſtgeber zum Weidenhof geweſen, und wohl an die Thronen und Kronen keinen Anſpruch gemacht haͤtte. Ich erwiderte darauf, daß ich davon keineswegs beſchaͤmt ſey, weil ge¬ rade darin das Herrliche und Erhebende un¬ ſerer Vaterſtadt beſtehe, daß alle Buͤrger ſich einander gleich halten duͤrften, und daß einem Jeden ſeine Thaͤtigkeit nach ſeiner Art foͤrderlich und ehrenvoll ſeyn koͤnne. Es ſey149 mir nur leid, daß der gute Mann ſchon ſo lange geſtorben: denn ich habe mich auch ihn perſoͤnlich zu kennen oͤfters geſehnt, ſein Bildniß vielmals betrachtet, ja ſein Grab beſucht und mich wenigſtens bey der Inſchrift an dem einfachen Denkmal ſeines voruͤbergegan¬ genen Daſeyns gefreut, dem ich das meine ſchuldig geworden. Ein anderer Miswollen¬ der, der tuͤckiſchſte von allen, nahm jenen erſten bey Seite und fluͤſterte ihm etwas in die Ohren, wobey ſie mich immer ſpoͤttiſch anſahen. Schon fing die Galle mir an zu kochen, und ich foderte ſie auf, laut zu re¬ den. — „ Nun was iſt es denn weiter, ſagte der erſte, wenn du es wiſſen willſt: dieſer da meynt, du koͤnnteſt lange herumge¬ hen und ſuchen, bis du deinen Großvater faͤndeſt. “— Ich drohte nun noch heftiger, wenn ſie ſich nicht deutlicher erklaͤren wuͤrden. Sie brachten darauf ein Maͤhrchen vor, das ſie ihren Aeltern wollten abgelauſcht haben: mein Vater ſey der Sohn eines vornehmen150 Mannes, und jener gute Buͤrger habe ſich willig finden laſſen, aͤußerlich Vaterſtelle zu vertreten. Sie hatten die Unverſchaͤmtheit allerley Argumente vorzubringen, z. B. daß unſer Vermoͤgen blos von der Großmutter herruͤhre, daß die uͤbrigen Seitenverwandten, die ſich in Friedberg und ſonſt aufhielten, gleichfalls ohne Vermoͤgen ſeyen, und was noch andre ſolche Gruͤnde waren, die ihr Gewicht blos von der Bosheit hernehmen konnten. Ich hoͤrte ihnen ruhiger zu als ſie erwarteten, denn ſie ſtanden ſchon auf dem Sprung zu entfliehen, wenn ich Miene machte, nach ihren Haaren zu greifen. Aber ich verſetzte ganz gelaſſen: auch dieſes koͤnne mir recht ſeyn. Das Leben ſey ſo huͤbſch, daß man voͤllig fuͤr gleichguͤltig achten koͤnne, wem man es zu verdanken habe: denn es ſchriebe ſich doch zuletzt von Gott her, vor welchem wir alle gleich waͤren. So ließen ſie, da ſie nichts ausrichten konnten, die Sache fuͤr dießmal gut ſeyn; man ſpielte zu¬151 ſammen weiter fort, welches unter Kindern immer ein erprobtes Verſoͤhnungsmittel bleibt.
Mir war jedoch durch dieſe haͤmiſchen Worte eine Art von ſittlicher Krankheit ein¬ geimpft, die im Stillen fortſchlich. Es wollte mir gar nicht misfallen, der Enkel ir¬ gend eines vornehmen Herrn zu ſeyn, wenn es auch nicht auf die geſetzlichſte Weiſe ge¬ weſen waͤre. Meine Spuͤrkraft ging auf dieſer Faͤhrte, meine Einbildungskraft war angeregt und mein Scharfſinn aufgefordert. Ich fing nun an die Aufgaben jener zu un¬ terſuchen, fand und erfand neue Gruͤnde der Wahrſcheinlichkeit. Ich hatte von meinem Großvater wenig reden hoͤren, außer daß ſein Bildniß mit dem meiner Großmutter in einem Beſuchzimmer des alten Hauſes gehangen hatte, welche beyde, nach Erbauung des neuen, in einer obern Cammer aufbe¬ wahrt wurden. Meine Großmutter mußte eine ſehr ſchoͤne Frau geweſen ſeyn, und von152 gleichem Alter mit ihrem Manne. Auch erin¬ nerte ich mich, in ihrem Zimmer das Minia¬ turbild eines ſchoͤnen Herrn, in Uniform mit Stern und Orden, geſehen zu haben, wel¬ ches nach ihrem Tode mit vielen andern klei¬ nen Geraͤthſchaften, waͤhrend des alles um¬ waͤlzenden Hausbaues, verſchwunden war. Solche wie manche andre Dinge baute ich mir in meinem kindiſchen Kopfe zuſammen, und uͤbte fruͤhzeitig genug jenes moderne Dichter-Talent, welches durch eine abenteu¬ erliche Verknuͤpfung der bedeutenden Zuſtaͤnde des menſchlichen Lebens ſich die Theilnahme der ganzen cultivirten Welt zu verſchaffen weiß.
Da ich nun aber einen ſolchen Fall Nie¬ manden zu vertrauen, oder auch nur von ferne nachzufragen mich unterſtand; ſo ließ ich es an einer heimlichen Betriebſamkeit nicht fehlen, um wo moͤglich der Sache et¬ was naͤher zu kommen. Ich hatte naͤmlich153 ganz beſtimmt behaupten hoͤren, daß die Soͤhne den Vaͤtern oder Großvaͤtern oft ent¬ ſchieden aͤhnlich zu ſeyn pflegten. Mehrere un¬ ſerer Freunde, beſonders auch Rath Schnei¬ der, unſer Hausfreund, hatten Geſchaͤftsver¬ bindungen mit allen Fuͤrſten und Herren der Nachbarſchaft, deren, ſowohl regierender als nachgeborner, keine geringe Anzahl am Rhein und Main und in dem Raume zwi¬ ſchen beyden ihre Beſitzungen hatten, und die aus beſonderer Gunſt ihre treuen Geſchaͤfts¬ traͤger zuweilen wohl mit ihren Bildniſſen beehrten. Dieſe, die ich von Jugend auf vielmals an den Waͤnden geſehen, betrach¬ tete ich nunmehr mit doppelter Aufmerkſam¬ keit, forſchend ob ich nicht eine Aehnlichkeit mit meinem Vater, oder gar mit mir entde¬ cken koͤnnte; welches aber zu oft gelang, als daß es mich zu einiger Gewißheit haͤtte fuͤh¬ ren koͤnnen. Denn bald waren es die Au¬ gen von dieſem, bald die Naſe von jenem, die mir auf einige Verwandtſchaft zu deuten154 ſchienen. So fuͤhrten mich dieſe Kennzeichen truͤglich genug hin und wieder. Und ob ich gleich in der Folge dieſen Vorwurf als ein durchaus leeres Maͤhrchen betrachten mußte, ſo blieb mir doch der Eindruck, und ich konnte nicht unterlaſſen, die ſaͤmmtlichen Herren, deren Bildniſſe mir ſehr deutlich in der Phantaſie geblieben waren, von Zeit zu Zeit im Stillen bey mir zu muſtern und zu pruͤfen. So wahr iſt es, daß alles was den Menſchen innerlich in ſeinem Duͤnkel beſtaͤrkt, ſeiner heimlichen Eitelkeit ſchmei¬ chelt, ihm dergeſtalt hoͤchlich erwuͤnſcht iſt, daß er nicht weiter fragt, ob es ihm ſonſt auf irgend eine Weiſe zur Ehre oder zur Schmach gereichen koͤnne.
Doch anſtatt hier ernſthafte, ja ruͤgende Betrachtungen einzumiſchen, wende ich lieber meinen Blick von jenen ſchoͤnen Zeiten hin¬ weg: denn wer waͤre im Stande von der Fuͤlle der Kindheit wuͤrdig zu ſprechen! Wir155 koͤnnen die kleinen Geſchoͤpfe, die vor uns herum wandeln, nicht anders als mit Ver¬ gnuͤgen, ja mit Bewunderung anſehen: denn meiſt verſprechen ſie mehr als ſie halten, und es ſcheint als wenn die Natur unter andern ſchelmiſchen Streichen, die ſie uns ſpielt, auch hier ſich ganz beſonders vorgeſetzt, uns zum Beſten zu haben. Die erſten Organe, die ſie Kindern mit auf die Welt giebt, ſind dem naͤchſten unmittelbaren Zuſtande des Ge¬ ſchoͤpfs gemaͤß; es bedient ſich derſelben kunſt - und anſpruchslos, auf die geſchickteſte Weiſe zu den naͤchſten Zwecken. Das Kind, an und fuͤr ſich betrachtet, mit ſeines Gleichen und in Beziehungen die ſeinen Kraͤften an¬ gemeſſen ſind, ſcheint ſo verſtaͤndig, ſo ver¬ nuͤnftig, daß nichts druͤber geht, und zugleich ſo bequem, heiter und gewandt, daß man keine weitre Bildung fuͤr daſſelbe wuͤnſchen moͤchte. Wuͤchſen die Kinder in der Art fort, wie ſie ſich andeuten, ſo haͤtten wir lauter Genies. Aber das Wachsthum iſt156 nicht blos Entwicklung; die verſchiednen or¬ ganiſchen Syſteme, die den Einen Menſchen ausmachen, entſpringen aus einander, folgen einander, verwandlen ſich in einander, ver¬ draͤngen einander, ja zehren einander auf, ſo daß von manchen Faͤhigkeiten, von man¬ chen Kraftaͤußerungen, nach einer gewiſſen Zeit, kaum eine Spur mehr zu finden iſt. Wenn auch die menſchlichen Anlagen im Gan¬ zen eine entſchiedene Richtung haben, ſo wird es doch dem groͤßten und erfahrenſten Kenner ſchwer ſeyn, ſie mit Zuverlaͤſſigkeit voraus zu verkuͤnden; doch kann man hinterdrein wohl bemerken, was auf ein Kuͤnftiges hin¬ gedeutet hat.
Keinesweges gedenke ich daher in dieſen erſten Buͤchern meine Jugendgeſchichten voͤllig abzuſchließen, ſondern ich werde vielmehr noch ſpaͤterhin manchen Faden aufnehmen und fortleiten, der ſich unbemerkt durch die erſten Jahre ſchon hindurchzog. Hier muß ich157 aber bemerken, welchen ſtaͤrkeren Einfluß nach und nach die Kriegsbegebenheiten auf unſere Geſinnungen und unſre Lebensweiſe ausuͤbten.
Der ruhige Buͤrger ſteht zu den großen Weltereigniſſen in einem wunderbaren Ver¬ haͤltniß. Schon aus der Ferne regen ſie ihn auf und beunruhigen ihn, und er kann ſich, ſelbſt wenn ſie ihn nicht beruͤhren, eines Urtheils, einer Theilnahme nicht enthalten. Schnell ergreift er eine Partey, nachdem ihn ſein Character oder aͤußere Anlaͤſſe beſtimmen. Ruͤcken ſo große Schickſale, ſo bedeutende Veraͤnderungen naͤher, dann bleibt ihm bey manchen aͤußern Unbequemlichkeiten noch im¬ mer jenes innre Misbehagen, verdoppelt und ſchaͤrft das Uebel meiſtentheils und zerſtoͤrt das noch moͤgliche Gute. Dann hat er von Freunden und Feinden wirklich zu leiden, oft mehr von jenen als von dieſen, und er weiß weder wie er ſeine Neigung, noch wie er ſeinen Vortheil wahren und erhalten ſoll.
158Das Jahr 1757, das wir noch in voͤllig buͤrgerlicher Ruhe verbrachten, wurde dem ungeachtet in großer Gemuͤthsbewegung ver¬ lebt. Reicher an Begebenheiten als dieſes war vielleicht kein anderes. Die Siege, die Großthaten, die Ungluͤcksfaͤlle, die Wieder¬ herſtellungen folgten auf einander, verſchlan¬ gen ſich und ſchienen ſich aufzuheben; immer aber ſchwebte die Geſtalt Friedrich's, ſein Name, ſein Ruhm, in kurzem wieder oben. Der Enthuſiasmus ſeiner Verehrer ward im¬ mer groͤßer und belebter, der Haß ſeiner Feinde bitterer, und die Verſchiedenheit der Anſichten, welche ſelbſt Familien zerſpaltete, trug nicht wenig dazu bey, die ohnehin ſchon auf mancherley Weiſe von einander getrenn¬ ten Buͤrger noch mehr zu iſoliren. Denn in einer Stadt wie Frankfurt, wo drey Religio¬ nen die Einwohner in drey ungleiche Maſſen theilen, wo nur wenige Maͤnner, ſelbſt von der herrſchenden, zum Regiment gelangen koͤnnen, muß es gar manchen Wohlhabenden159 und Unterrichteten geben, der ſich auf ſich zuruͤckzieht und durch Studien und Liebhabe¬ reyen ſich eine eigne und abgeſchloſſene Exi¬ ſtenz bildet. Von ſolchen wird gegenwaͤrtig und auch kuͤnftig die Rede ſeyn muͤſſen, wenn man ſich die Eigenheiten eines Frankfurter Buͤrgers aus jener Zeit vergegenwaͤrtigen ſoll.
Mein Vater hatte, ſobald er von Reiſen zuruͤckgekommen, nach ſeiner eigenen Sinnes¬ art, den Gedanken gefaßt, daß er, um ſich zum Dienſte der Stadt faͤhig zu machen, eins der ſubalternen Aemter uͤbernehmen und ſolches ohne Emolumente fuͤhren wolle, wenn man es ihm ohne Ballotage uͤbergaͤbe. Er glaubte nach ſeiner Sinnesart, nach dem Be¬ griffe den er von ſich ſelbſt hatte, im Ge¬ fuͤhl ſeines guten Willens, eine ſolche Aus¬ zeichnung zu verdienen, die freylich weder geſetzlich noch herkoͤmmlich war. Daher, als ihm ſein Geſuch abgeſchlagen wurde, gerieth er in Aerger und Mismuth, verſchwur je¬160 mals irgend eine Stelle anzunehmen, und um es unmoͤglich zu machen, verſchaffte er ſich den Character eines kaiſerlichen Rathes, den der Schultheiß und die aͤlteſten Schoͤffen als einen beſondern Ehrentitel tragen. Da¬ durch hatte er ſich zum Gleichen der Oberſten gemacht und konnte nicht mehr von unten anfangen. Derſelbe Beweggrund fuͤhrte ihn auch dazu, um die aͤlteſte Tochter des Schult¬ heißen zu werben, wodurch er auch auf die¬ ſer Seite von dem Rathe ausgeſchloſſen ward. Er gehoͤrte nun unter die Zuruͤckgezogenen, welche niemals unter ſich eine Societaͤt ma¬ chen. Sie ſtehen ſo iſolirt gegen einander wie gegen das Ganze, und um ſo mehr, als ſich in dieſer Abgeſchiedenheit das Eigenthuͤm¬ liche der Character immer ſchroffer ausbil¬ det. Mein Vater mochte ſich auf Reiſen und in der freyen Welt, die er geſehen, von einer elegantern und liberalern Lebensweiſe einen Begriff gemacht haben, als ſie viel¬ leicht unter ſeinen Mitbuͤrgern gewoͤhnlich161 war. Zwar fand er darin Vorgaͤnger und Geſellen.
Der Name von Uffenbach iſt bekannt. Ein Schoͤff von Uffenbach lebte damals in gutem Anſehen. Er war in Italien geweſen, hatte ſich beſonders auf Muſik gelegt, ſang einen angenehmen Tenor, und da er eine ſchoͤne Sammlung von Muſicalien mitgebracht hatte, wurden Concerte und Oratorien bey ihm aufgefuͤhrt. Weil er nun dabey ſelbſt ſang und die Muſiker beguͤnſtigte, ſo fand man es nicht ganz ſeiner Wuͤrde gemaͤß, und die eingeladenen Gaͤſte ſowohl als die uͤbrigen Landsleute erlaubten ſich daruͤber manche luſtige Anmerkung.
Ferner erinnere ich mich eines Barons von Haͤkel, eines reichen Edelmanns, der verheiratet aber kinderlos ein ſchoͤnes Haus in der Antoniusgaſſe bewohnte, mit allem Zubehoͤr eines anſtaͤndigen Lebens ausgeſtat¬I. 11162tet. Auch beſaß er gute Gemaͤlde, Kupfer¬ ſtiche, Antiken und manches andre, wie es bey Sammlern und Liebhabern zuſammen¬ fließt. Von Zeit zu Zeit lud er die Honora¬ tioren zum Mittageſſen, und war auf eine eigne achtſame Weiſe wohlthaͤtig, indem er in ſeinem Hauſe die Armen kleidete, ihre alten Lumpen aber zuruͤckbehielt, und ihnen nur unter der Bedingung ein woͤchentliches Almoſen reichte, daß ſie in jenen geſchenkten Kleidern ſich ihm jedesmal ſauber und ordent¬ lich vorſtellten. Ich erinnere mich ſeiner nur dunkel als eines freundlichen, wohlgebildeten Mannes; deſto deutlicher aber ſeiner Auction, der ich vom Anfang bis zu Ende beywohnte, und theils auf Befehl meines Vaters, theils aus eigenem Antrieb manches erſtand, was ſich noch unter meinen Sammlungen befindet.
Fruͤher, und von mir kaum noch mit Augen geſehen, machte Johann Michael von Loen in der literariſchen Welt ſo wie163 in Frankfurt ziemliches Aufſehen. Nicht von Frankfurt gebuͤrtig hatte er ſich daſelbſt nie¬ dergelaſſen und war mit der Schweſter mei¬ ner Großmutter Textor, einer gebornen Lind¬ heim, verheiratet. Bekannt mit der Hof - und Staatswelt, und eines erneuten Adels ſich erfreuend, erlangte er dadurch einen Namen, daß er in die verſchiedenen Regun¬ gen, welche in Kirche und Staat zum Vor¬ ſchein kamen, einzugreifen den Muth hatte. Er ſchrieb den Grafen von Rivera, einen didactiſchen Roman, deſſen Inhalt aus dem zweyten Titel: oder der ehrliche Mann am Hofe, erſichtlich iſt. Dieſes Werk wurde gut aufgenommen, weil es auch von den Hoͤ¬ fen, wo ſonſt nur Klugheit zu Hauſe iſt, Sittlichkeit verlangte; und ſo brachte ihm ſeine Arbeit Beyfall und Anſehen. Ein zweytes Werk ſollte dagegen deſto gefaͤhrlicher fuͤr ihn werden. Er ſchrieb: die einzige wahre Religion, ein Buch das die Ab¬ ſicht hatte, Toleranz beſonders zwiſchen Luthe¬II *164ranern und Calviniſten zu befoͤrdern. Hier¬ uͤber kam er mit den Theologen in Streit; beſonders ſchrieb Dr. Benner in Gießen gegen ihn. Von Loen erwiederte; der Streit wurde heftig und perſoͤnlich, und die daraus entſpringenden Unannehmlichkeiten veranla߬ ten den Verfaſſer, die Stelle eines Praͤſiden¬ ten zu Lingen anzunehmen, die ihm Friedrich der zweyte anbot, der in ihm einen aufge¬ klaͤrten, und den Neuerungen, die in Frank¬ reich ſchon viel weiter gediehen waren, nicht abgeneigten vorurtheilsfreyen Mann zu erken¬ nen glaubte. Seine ehemaligen Landsleute, die er mit einigem Verdruß verlaſſen, behaup¬ teten, daß er dort nicht zufrieden ſey, ja nicht zufrieden ſeyn koͤnne, weil ſich ein Ort wie Lingen mit Frankfurt keineswegs meſſen duͤrfe. Mein Vater zweifelte auch an dem Behagen des Praͤſidenten, und verſicherte, der gute Oheim haͤtte beſſer gethan, ſich mit dem Koͤnige nicht einzulaſſen, weil es uͤber¬ haupt gefaͤhrlich ſey, ſich demſelben zu naͤhern,165 ſo ein außerordentlicher Herr er auch uͤbri¬ gens ſeyn moͤge. Denn man habe ja geſe¬ hen, wie ſchmaͤhlich der beruͤhmte Voltaire, auf Requiſition des preußiſchen Reſidenten Freytag, in Frankfurt ſey verhaftet worden, da er doch vorher ſo hoch in Gunſten geſtan¬ den und als des Koͤnigs Lehrmeiſter in der franzoͤſiſchen Poeſie anzuſehen geweſen. Es mangelte bey ſolchen Gelegenheiten nicht an Betrachtungen und Beyſpielen, um vor Hoͤ¬ fen und Herrendienſt zu warnen, wovon ſich uͤberhaupt ein geborner Frankfurter kaum ei¬ nen Begriff machen konnte.
Eines vortrefflichen Mannes, Doctor Orth, will ich hier nur dem Namen nach gedenken, indem ich verdienten Frankfurtern hier nicht ſowohl ein Denkmal zu errichten habe, vielmehr derſelben nur in ſo fern erwaͤhne, als ihr Ruf oder ihre Perſoͤnlichkeit auf mich in den fruͤhſten Jahren einigen Ein¬ fluß gehabt. Doctor Orth war ein reicher166 Mann, und gehoͤrte auch unter die, welche niemals Theil am Regimente genommen, ob ihn gleich ſeine Kenntniſſe und Einſichten wohl dazu berechtigt haͤtten. Die deutſchen und beſonders die frankfurtiſchen Alterthuͤmer ſind ihm ſehr viel ſchuldig geworden; er gab die Anmerkungen zu der ſogenannten Frank¬ furter Reformation heraus, ein Werk, in welchem die Statuten der Reichsſtadt ge¬ ſammlet ſind. Die hiſtoriſchen Capitel deſſel¬ ben habe ich in meinen Juͤnglingsjahren flei¬ ßig ſtudirt.
Von Ochſenſtein, der aͤltere jener drey Bruͤder, deren ich oben als unſerer Nachbarn gedacht, war bey ſeiner eingezogenen Art zu ſeyn, waͤhrend ſeines Lebens nicht merkwuͤrdig geworden, deſto merkwuͤrdiger aber nach ſeinem Tode, indem er eine Verordnung hinterließ, daß er morgens fruͤh, ganz im Stillen und ohne Begleitung und Gefolg, von Handwerks¬ leuten zu Grabe gebracht ſeyn wolle. Es ge¬167 ſchah, und dieſe Handlung erregte in der Stadt, wo man an prunkhafte Leichenbegaͤng¬ niſſe gewoͤhnt war, großes Aufſehn. Alle diejenigen, die bey ſolchen Gelegenheiten ei¬ nen herkoͤmmlichen Verdienſt hatten, erhu¬ ben ſich gegen die Neuerung. Allein der wackre Patrizier fand Nachfolger in allen Staͤnden, und ob man ſchon dergleichen Begaͤngniſſe ſpottweiſe Ochſenleichen nannte; ſo nahmen ſie doch zum Beſten mancher wenig bemittelten Familien uͤberhand, und die Prunkbegaͤngniſſe verloren ſich immer mehr. Ich fuͤhre dieſen Umſtand an, weil er eins der fruͤhern Symptome jener Geſinnun¬ gen von Demuth und Gleichſtellung darbie¬ tet, die ſich in der zweyten Haͤlfte des vo¬ rigen Jahrhunderts von obenherein auf ſo manche Weiſe gezeigt haben und in ſo uner¬ wartete Wirkungen ausgeſchlagen ſind.
Auch fehlte es nicht an Liebhabern des Alterthums. Es fanden ſich Gemaͤldecabinette,168 Kupferſtichſammlungen, beſonders aber wur¬ den vaterlaͤndiſche Merkwuͤrdigkeiten mit Eifer geſucht und aufgehoben. Die aͤlteren Verord¬ nungen und Mandate der Reichsſtadt, von denen keine Sammlung veranſtaltet war, wur¬ den in Druck und Schrift ſorgfaͤltig aufge¬ ſucht, nach der Zeitfolge geordnet und als ein Schatz vaterlaͤndiſcher Rechte und Herkommen mit Ehrfurcht verwahrt. Auch die Bildniſſe von Frankfurtern, die in großer Anzahl exi¬ ſtirten, wurden zuſammengebracht und mach¬ ten eine beſondre Abtheilung der Cabinette.
Solche Maͤnner ſcheint mein Vater ſich uͤber¬ haupt zum Muſter genommen zu haben. Ihm fehlte keine der Eigenſchaften, die zu einem rechtlichen und angeſehnen Buͤrger gehoͤren. Auch brachte er, nachdem er ſein Haus erbaut, ſeine Beſitzungen von jeder Art in Ordnung. Eine vortreffliche Landchartenſammlung der Schenkiſchen und anderer damals vorzuͤglicher geographiſchen Blaͤtter, jene oberwaͤhnten Ver¬169 ordnungen und Mandate, jene Bildniſſe, ein Schrank alter Gewehre, ein Schrank merk¬ wuͤrdiger venetianiſcher Glaͤſer, Becher und Bocale, Naturalien, Elfenbeinarbeiten, Bron¬ zen und hundert andere Dinge wurden ge¬ ſondert und aufgeſtellt, und ich verfehlte nicht, bey vorfallenden Auctionen, mir jederzeit ei¬ nige Auftraͤge zu Vermehrung des Vorhan¬ denen zu erbitten.
Noch einer bedeutenden Familie muß ich gedenken, von der ich ſeit meiner fruͤhſten Ju¬ gend viel Sonderbares vernahm und von ei¬ nigen ihrer Glieder ſelbſt noch manches Wun¬ derbare erlebte; es war die Senkenber¬ giſche. Der Vater, von dem ich wenig zu ſagen weiß, war ein wohlhabender Mann.
Er hatte drey Soͤhne, die ſich in ihrer Ju¬ gend ſchon durchgaͤngig als Sonderlinge aus¬ zeichneten. Dergleichen wird in einer be¬ ſchraͤnkten Stadt, wo ſich Niemand weder im Guten noch im Boͤſen hervorthun ſoll,170 nicht zum Beſten aufgenommen. Spottnamen und ſeltſame, ſich lang im Gedaͤchtniß erhal¬ tende Maͤhrchen ſind meiſtens die Frucht ei¬ ner ſolchen Sonderbarkeit. Der Vater wohn¬ te an der Ecke der Haſengaſſe, die von dem Zeichen des Hauſes, das einen, wo nicht gar drey Haſen vorſtellt, den Namen fuͤhrte. Man nannte daher dieſe drey Bruͤder nur die drey Haſen, welchen Spitznamen ſie lange Zeit nicht los wurden. Allein, wie große Vorzuͤge ſich oft in der Jugend durch etwas Wunderliches und Unſchickliches ankuͤndigen, ſo geſchah es auch hier. Der aͤlteſte war der nachher ſo ruͤhmlich bekannte Reichs¬ hofrath von Senkenberg. Der zweyte ward in den Magiſtrat aufgenommen und zeigte vorzuͤgliche Talente, die er aber auf eine rabuliſtiſche, ja verruchte Weiſe, wo nicht zum Schaden ſeiner Vaterſtadt, doch we¬ nigſtens ſeiner Collegen in der Folge mis¬ brauchte. Der dritte Bruder, ein Arzt und ein Mann von großer Rechtſchaffenheit, der171 aber wenig und nur in vornehmen Haͤuſern praktizirte, behielt bis in ſein hoͤchſtes Alter immer ein etwas wunderliches Aeußere. Er war immer ſehr nett gekleidet, und man ſah ihn nie anders auf der Straße als in Schuh und Struͤmpfen und einer wohlgepuderten Lo¬ ckenperuͤcke, den Hut unterm Arm. Er ging ſchnell, doch mit einem ſeltſamen Schwanken vor ſich hin, ſo daß er bald auf dieſer bald auf jener Seite der Straße ſich befand, und im Gehen ein Zickzack bildete. Spottvoͤgel ſagten: er ſuche durch dieſen abweichenden Schritt den ab¬ geſchiedenen Seelen aus dem Wege zu gehen, die ihn in grader Linie wohl verfolgen moͤch¬ ten, und ahme diejenigen nach, die ſich vor einem Crocodil fuͤrchten. Doch aller dieſer Scherz und manche luſtige Nachrede verwan¬ delte ſich zuletzt in Ehrfurcht gegen ihn, als er ſeine anſehnliche Wohnung mit Hof, Gar¬ ten und allem Zubehoͤr, auf der Eſchenhei¬ mer Gaſſe, zu einer mediciniſchen Stiftung widmete, wo neben der Anlage eines blos172 fuͤr Frankfurter Buͤrger beſtimmten Hospitals, ein botaniſcher Garten, ein anatomiſch Thea¬ ter, ein chemiſch Laboratorium, eine anſehn¬ liche Bibliothek und eine Wohnung fuͤr den Di¬ rector eingerichtet ward, auf eine Weiſe, de¬ ren keine Akademie ſich haͤtte ſchaͤmen duͤrfen.
Ein andrer vorzuͤglicher Mann, deſſen Perſoͤnlichkeit nicht ſowohl als ſeine Wirkung in der Nachbarſchaft und ſeine Schriften ei¬ nen ſehr bedeutenden Einfluß auf mich ge¬ habt haben, war Carl Friedrich von Moſer, der ſeiner Geſchaͤftstaͤtigkeit wegen in unſerer Gegend immer genannt wurde. Auch er hatte einen gruͤndlich-ſittlichen Cha¬ racter, der, weil die Gebrechen der menſch¬ lichen Natur ihm wohl manchmal zu ſchaffen machten, ihn ſogar zu den ſogenannten From¬ men hinzog; und ſo wollte er, wie von Loen das Hofleben, eben ſo das Geſchaͤftsleben einer gewiſſenhafteren Behandlung entgegen¬ fuͤhren. Die große Anzahl der kleinen deut¬173 ſchen Hoͤfe ſtellte eine Menge von Herren und Dienern dar, wovon die erſten unbeding¬ ten Gehorſam verlangten, und die andern meiſtentheils nur nach ihren Ueberzeugungen wirken und dienen wollten. Es entſtand da¬ her ein ewiger Conflict und ſchnelle Veraͤnde¬ rungen und Exploſionen, weil die Wirkungen des unbedingten Handelns im Kleinen viel geſchwinder merklich und ſchaͤdlich werden als im Großen. Viele Haͤuſer waren verſchuldet, und kaiſerliche Debit-Commiſſionen ernannt; andre fanden ſich langſamer oder geſchwinder auf demſelben Wege, wobey die Diener entwe¬ der gewiſſenlos Vortheil zogen, oder gewiſſen¬ haft ſich unangenehm und verhaßt machten. Moſer wollte als Staats - und Geſchaͤftsmann wirken; und hier gab ſein ererbtes, bis zum Metier ausgebildetes Talent ihm eine ent¬ ſchiedene Ausbeute; aber er wollte auch zu¬ gleich als Menſch und Buͤrger handeln und ſeiner ſittlichen Wuͤrde ſo wenig als moͤglich vergeben. Sein Herr und Diener, ſein174 Daniel in der Loͤwengrube, ſeine Reliquien ſchildern durchaus die Lage, in welcher er ſich zwar nicht gefoltert, aber doch immer geklemmt fuͤhlte. Sie deuten ſaͤmtlich auf eine Ungeduld in einem Zu¬ ſtand, mit deſſen Verhaͤltniſſen man ſich nicht verſoͤhnen und den man doch nicht los wer¬ den kann. Bey dieſer Art zu denken und zu empfinden mußte er freylich mehrmals andere Dienſte ſuchen, an welchen es ihm ſeine große Gewandtheit nicht fehlen ließ. Ich erinnere mich ſeiner als eines angeneh¬ men, beweglichen und dabey zarten Mannes.
Aus der Ferne machte jedoch der Name Klopſtock auch ſchon auf uns eine große Wirkung. Im Anfang wunderte man ſich, wie ein ſo vortrefflicher Mann ſo wunderlich heißen koͤnne; doch gewoͤhnte man ſich bald daran und dachte nicht mehr an die Bedeu¬ tung dieſer Sylben. In meines Vaters Bibliothek hatte ich bisher nur die fruͤhern,175 beſonders die zu ſeiner Zeit nach und nach heraufgekommenen und geruͤhmten Dichter ge¬ funden. Alle dieſe hatten gereimt, und mein Vater hielt den Reim fuͤr poetiſche Werke unerlaͤßlich. Canitz, Hagedorn, Drol¬ linger, Gellert, Kreutz, Haller ſtan¬ den in ſchoͤnen Franzbaͤnden in einer Reihe. An dieſe ſchloſſen ſich Neukirch's Tele¬ mach, Koppen's befreytes Jeruſalem, und andre Ueberſetzungen. Ich hatte dieſe ſaͤmmt¬ lichen Baͤnde von Kindheit auf fleißig durch¬ geleſen und theilweiſe memorirt, weshalb ich denn zur Unterhaltung der Geſellſchaft oͤfters aufgerufen wurde. Eine verdrießliche Epoche im Gegentheil eroͤffnete ſich fuͤr meinen Va¬ ter, als durch Klopſtocks Meſſias, Verſe die ihm keine Verſe ſchienen, ein Gegenſtand der oͤffentlichen Bewunderung wurden. Er ſelbſt hatte ſich wohl gehuͤtet dieſes Werk an¬ zuſchaffen; aber unſer Hausfreund, Rath Schneider, ſchwaͤrzte es ein und ſteckte es der Mutter und den Kindern zu.
176Auf dieſen geſchaͤftsthaͤtigen Mann, wel¬ cher wenig las, hatte der Meſſias gleich bey ſeiner Erſcheinung einen maͤchtigen Eindruck gemacht. Dieſe ſo natuͤrlich ausgedruͤckten und doch ſo ſchoͤn veredelten frommen Ge¬ fuͤhle, dieſe gefaͤllige Sprache, wenn man ſie auch nur fuͤr harmoniſche Proſa gelten ließ, hatten den uͤbrigens trocknen Geſchaͤftsmann ſo gewonnen, daß er die zehn erſten Geſaͤnge, denn von dieſen iſt eigentlich die Rede, als das herrlichſte Erbauungsbuch betrachtete, und ſolches alle Jahre Einmal in der Charwoche, in welcher er ſich von allen Geſchaͤften zu entbinden wußte, fuͤr ſich im Stillen durch¬ las und ſich daran fuͤrs ganze Jahr erquickte. Anfangs dachte er ſeine Empfindungen ſeinem alten Freunde mitzutheilen; allein er fand ſich ſehr beſtuͤrzt, als er eine unheilbare Ab¬ neigung vor einem Werke von ſo koͤſtlichem Gehalt, wegen einer wie es ihm ſchien gleich¬ guͤltigen aͤußern Form, gewahr werden mußte. Es fehlte, wie ſich leicht denken laͤßt, nicht177 an Wiederholung des Geſpraͤchs uͤber dieſen Gegenſtand; aber beyde Theile entfernten ſich immer weiter von einander, es gab hef¬ tige Scenen, und der nachgiebige Mann ließ ſich endlich gefallen, von ſeinem Lieb¬ lingswerke zu ſchweigen, damit er nicht zu¬ gleich einen Jugendfreund und eine gute Sonntagsſuppe verloͤre.
Proſelyten zu machen iſt der natuͤrlichſte Wunſch eines jeden Menſchen, und wie ſehr fand ſich unſer Freund im Stillen belohnt, als er in der uͤbrigen Familie fuͤr ſeinen Hei¬ ligen ſo offen geſinnte Gemuͤther entdeckte. Das Exemplar, das er jaͤhrlich nur eine Woche brauchte, war uns fuͤr die uͤbrige Zeit gewidmet. Die Mutter hielt es heim¬ lich, und wir Geſchwiſter bemaͤchtigten uns deſſelben wann wir konnten, um in Frey¬ ſtunden, in irgend einem Winkel verborgen, die auffallendſten Stellen auswendig zu ler¬ nen, und beſonders die zarteſten und heftig¬I. 12178ſten ſo geſchwind als moͤglich ins Gedaͤchtniß zu faſſen.
Porcia's Traum recitirten wir um die Wette, und in das wilde verzweifelnde Ge¬ ſpraͤch zwiſchen Satan und Adramelech, welche in's rothe Meer geſtuͤrzt worden, hatten wir uns getheilt. Die erſte Rolle, als die ge¬ waltſamſte, war auf mein Theil gekommen, die andere, um ein wenig klaͤglicher, uͤber¬ nahm meine Schweſter. Die wechſelſeitigen, zwar graͤßlichen aber doch wohlklingenden Ver¬ wuͤnſchungen floſſen nur ſo vom Munde, und wir ergriffen jede Gelegenheit, uns mit dieſen hoͤlliſchen Redensarten zu begruͤßen.
Es war ein Samſtagsabend im Winter — der Vater ließ ſich immer bey Licht raſi¬ ren, um Sonntags fruͤh ſich zur Kirche be¬ quemlich anziehen zu koͤnnen — wir ſaßen auf einem Schaͤmel hinter dem Ofen und murmelten, waͤhrend der Barbier einſeifte,179 unſere herkoͤmmlichen Fluͤche ziemlich leiſe. Nun hatte aber Adramelech den Satan mit eiſernen Haͤnden zu faſſen; meine Schweſter packte mich gewaltig an, und recitirte, zwar leiſe genug aber doch mit ſteigender Leiden¬ ſchaft:
Bisher war alles leidlich gegangen; aber laut, mit fuͤrchterlicher Stimme, rief ſie die folgen¬ den Worte:
Der gute Chirurgus erſchrak und goß dem Vater das Seifenbecken in die Bruſt. Da gab es einen großen Aufſtand, und eine ſtren¬ ge Unterſuchung ward gehalten, beſonders in Betracht des Ungluͤcks das haͤtte entſtehen koͤnnen, wenn man ſchon im Raſiren begrif¬ fen geweſen waͤre. Um allen Verdacht des Muthwillens von uns abzulehnen, bekannten wir uns zu unſern teufliſchen Rollen, und das Ungluͤck das die Hexameter angerichtet hatten, war zu offenbar, als daß man ſie nicht aufs neue haͤtte verrufen und verbannen ſollen.
So pflegen Kinder und Volk das Große, das Erhabene in ein Spiel, ja in eine Poſſe zu verwandeln; und wie ſollten ſie auch ſonſt im Stande ſeyn es auszuhalten und zu er¬ tragen.
Der Neujahrstag ward zu jener Zeit durch den allgemeinen Umlauf von perſoͤnli¬ chen Gluͤckwuͤnſchungen fuͤr die Stadt ſehr belebend. Wer ſonſt nicht leicht aus dem Hauſe kam, warf ſich in ſeine beſten Kleider, um Goͤnnern und Freunden einen Augenblick freundlich und hoͤflich zu ſeyn. Fuͤr uns Kinder war beſonders die Feſtlichkeit in dem Hauſe des Großvaters an dieſem Tage ein hoͤchſt erwuͤnſchter Genuß. Mit dem fruͤhſten Morgen waren die Enkel ſchon daſelbſt ver¬ ſammelt, um die Trommeln, die Hoboen und Clarinetten, die Poſaunen und Zinken, wie ſie das Militaͤr, die Stadtmuſici und wer ſonſt alles ertoͤnen ließ, zu vernehmen. Die verſiegelten und uͤberſchriebenen Neu¬ jahrsgeſchenke wurden von den Kindern un¬ ter die geringern Gratulanten ausgetheilt,184 und wie der Tag wuchs, ſo vermehrte ſich die Anzahl der Honoratioren. Erſt erſchie¬ nen die Vertrauten und Verwandten, dann die untern Staatsbeamten; die Herren vom Rathe ſelbſt verfehlten nicht ihren Schult¬ heiß zu begruͤßen, und eine auserwaͤhlte Anzahl wurde Abends in Zimmern bewirthet, welche das ganze Jahr uͤber kaum ſich oͤffne¬ ten. Die Torten, Biscuitkuchen, Marzipane, der ſuͤße Wein uͤbte den groͤßten Reiz auf die Kinder aus, wozu noch kam, daß der Schultheiß ſo wie die beyden Burgemeiſter, aus einigen Stiftungen jaͤhrlich etwas Sil¬ berzeug erhielten, welches denn den Enkeln und Pathen nach einer gewiſſen Abſtufung verehrt ward; genug es fehlte dieſem Feſte im Kleinen an nichts was die groͤßten zu verherrlichen pflegt.
Der Neujahrstag 1759 kam heran, fuͤr uns Kinder erwuͤnſcht und vergnuͤglich wie die vorigen, aber den aͤltern Perſonen be¬185 denklich und ahndungsvoll. Die Durchmaͤr¬ ſche der Franzoſen war man zwar gewohnt, und ſie ereigneten ſich oͤfters und haͤufig, aber doch am haͤufigſten in den letzten Tagen des vergangenen Jahres. Nach alter reichs¬ ſtaͤdtiſcher Sitte poſaunte der Thuͤrmer des Hauptthurms ſo oft Truppen heranruͤckten, und an dieſem Neujahrstage wollte er gar nicht aufhoͤren, welches ein Zeichen war, daß groͤßere Heereszuͤge von mehreren Seiten in Bewegung ſeyen. Wirklich zogen ſie auch in groͤßeren Maſſen an dieſem Tage durch die Stadt; man lief, ſie vorbeypaſſiren zu ſehen. Sonſt war man gewohnt, daß ſie nur in kleinen Partieen durchmarſchirten; dieſe aber vergroͤßerten ſich nach und nach, ohne daß man es verhindern konnte oder wollte. Ge¬ nug, am 2ten Januar, nachdem eine Co¬ lonne durch Sachſenhauſen uͤber die Bruͤcke durch die Fahrgaſſe bis an die Conſtabler¬ wache gelangt war, machte ſie Halt, uͤber¬ waͤltigte das kleine, ſie durchfuͤhrende Comman¬186 do, nahm Beſitz von gedachter Wache, zog die Zeile hinunter, und nach einem gerin¬ gen Widerſtand mußte ſich auch die Haupt¬ wache ergeben. Augenblicks waren die fried¬ lichen Straßen in einen Kriegsſchauplatz ver¬ wandelt. Dort verharrten und bivouakirten die Truppen, bis durch regelmaͤßige Einquar¬ tierung fuͤr ihr Unterkommen geſorgt waͤre.
Dieſe unerwartete, ſeit vielen Jahren un¬ erhoͤrte Laſt druͤckte die behaglichen Buͤrger gewaltig, und Niemanden konnte ſie beſchwer¬ licher ſeyn als dem Vater, der in ſein kaum vollendetes Haus fremde militaͤriſche Bewoh¬ ner aufnehmen, ihnen ſeine wohlaufgeputzten und meiſt verſchloſſenen Staatszimmer ein¬ raͤumen, und das was er ſo genau zu ordnen und zu regieren pflegte, fremder Willkuͤhr Preis geben ſollte; er, ohnehin preußiſch geſinnt, ſollte ſich nun von Franzoſen in ſei¬ nen Zimmern belagert ſehen: es war das Traurigſte was ihm nach ſeiner Denkweiſe187 begegnen konnte. Waͤre es ihm jedoch moͤg¬ lich geweſen, die Sache leichter zu nehmen, da er gut franzoͤſiſch ſprach, und im Leben ſich wohl mit Wuͤrde und Anmuth betragen konnte; ſo haͤtte er ſich und uns manche truͤbe Stunde erſparen moͤgen: denn man quartierte bey uns den Koͤnigs-Lieutenant, der, obgleich Militaͤrperſon, doch nur die Civilvorfaͤlle, die Streitigkeiten zwiſchen Sol¬ daten und Buͤrgern, Schuldenſachen und Haͤndel zu ſchlichten hatte. Es war Graf Thorane von Graſſe in der Provence, ohnweit Antibes, gebuͤrtig, eine lange hagre ernſte Geſtalt, das Geſicht durch die Blat¬ tern ſehr entſtellt, mit ſchwarzen feurigen Augen, und von einem wuͤrdigen zuſammen¬ genommenen Betragen. Gleich ſein Eintritt war fuͤr den Hausbewohner guͤnſtig. Man ſprach von den verſchiedenen Zimmern, welche theils abgegeben werden, theils der Familie verbleiben ſollten, und als der Graf ein Gemaͤldezimmer erwaͤhnen hoͤrte, ſo erbat er188 ſich gleich, ob es ſchon Nacht war, mit Ker¬ zen die Bilder wenigſtens fluͤchtig zu beſehen. Er hatte an dieſen Dingen eine uͤbergroße Freude, bezeigte ſich gegen den ihn begleiten¬ den Vater auf das verbindlichſte, und als er vernahm, daß die meiſten Kuͤnſtler noch leb¬ ten, ſich in Frankfurt und in der Nachbar¬ ſchaft aufhielten; ſo verſicherte er, daß er nichts mehr wuͤnſche, als ſie baldigſt kennen zu lernen und ſie zu beſchaͤftigen.
Aber auch dieſe Annaͤherung von Seiten der Kunſt vermochte nicht die Geſinnung mei¬ nes Vaters zu aͤndern, noch ſeinen Character zu beugen. Er ließ geſchehen was er nicht verhindern konnte, hielt ſich aber in unwirk¬ ſamer Entfernung, und das Außerordentliche was nun um ihn vorging, war ihm bis auf die geringſte Kleinigkeit unertraͤglich.
Graf Thorane indeſſen betrug ſich muſter¬ haft. Nicht einmal ſeine Landcharten wollte189 er an die Waͤnde genagelt haben, um die neuen Tapeten nicht zu verderben. Seine Leute waren gewandt, ſtill und ordentlich; aber freylich, da den ganzen Tag und einen Theil der Nacht nicht Ruhe bey ihm ward, da ein Klagender dem andern folgte, Arre¬ ſtanten gebracht und fortgefuͤhrt, alle Offiziere und Adjutanten vorgelaſſen wurden ‚ da der Graf noch uͤberdieß taͤglich offne Tafel hielt: ſo gab es in dem maͤßig großen, nur fuͤr eine Familie eingerichteten Hauſe, das nur eine durch alle Stockwerke unverſchloſſen durchgehende Treppe hatte, eine Bewegung und ein Geſumme wie in einem Bienenkoͤrbe, obgleich alles ſehr gemaͤßigt, ernſthaft und ſtreng zuging.
Zum Vermittler zwiſchen einem verdrie߬ lichen, taͤglich mehr ſich hypochondriſch quaͤ¬ lenden Hausherrn und einem zwar wohlwol¬ lenden aber ſehr ernſten und genauen Mili¬ taͤrgaſt, fand ſich gluͤcklicherweiſe ein behag¬190 ticher Dolmetſcher, ein ſchoͤner wohlbeleibter heitrer Mann, der Buͤrger von Frankfurt war und gut franzoͤſiſch ſprach, ſich in alles zu ſchicken wußte und mit mancherley kleinen Unannehmlichkeiten nur ſeinen Spaß trieb. Durch dieſen hatte meine Mutter dem Grafen ihre Lage bey dem Gemuͤthszuſtande ihres Gatten vorſtellen laſſen; er hatte die Sache ſo kluͤglich ausgemalt, das neue noch nicht einmal ganz eingerichtete Haus, die natuͤrliche Zuruͤckgezogenheit des Beſitzers, die Beſchaͤf¬ tigung mit der Erziehung ſeiner Familie und was ſich alles ſonſt noch ſagen ließ, zu beden¬ ken gegeben; ſo daß der Graf, der an ſeiner Stelle auf die hoͤchſte Gerechtigkeit, Unbe¬ ſtechlichkeit und ehrenvollen Wandel den groͤ߬ ten Stolz ſetzte, auch hier ſich als Einquar¬ tierter muſterhaft zu betragen vornahm, und es wirklich die einigen Jahre ſeines Dablei¬ bens unter mancherley Umſtaͤnden unverbruͤch¬ lich gehalten hat.
191Meine Mutter beſaß einige Kenntniß des Italiaͤniſchen, welche Sprache uͤberhaupt Nie¬ manden von der Familie fremd war: ſie ent¬ ſchloß ſich daher ſogleich Franzoͤſiſch zu ler¬ nen, zu welchem Zweck der Dolmetſcher, dem ſie unter dieſen ſtuͤrmiſchen Ereigniſſen ein Kind aus der Taufe gehoben hatte, und der nun auch als Gevatter zu dem Hauſe eine doppelte Neigung ſpuͤrte, ſeiner Gevatterinn jeden abgemuͤßigten Augenblick ſchenkte (denn er wohnte gerade gegenuͤber) und ihr vor allen Dingen diejenigen Phraſen einlernte, welche ſie perſoͤnlich dem Grafen vorzutragen habe; welches denn zum beſten gerieth. Der Graf war geſchmeichelt von der Muͤhe, welche die Hausfrau ſich in ihren Jahren gab, und weil er einen heitern geiſtreichen Zug in ſei¬ nem Character hatte, auch eine gewiſſe trockne Galanterie gern ausuͤbte; ſo entſtand daraus das beſte Verhaͤltniß, und die verbuͤndeten Gevattern konnten erlangen was ſie wollten.
192Waͤre es, wie ſchon geſagt, moͤglich ge¬ weſen, den Vater zu erheitern, ſo haͤtte die¬ ſer veraͤnderte Zuſtand wenig Druͤckendes ge¬ habt. Der Graf uͤbte die ſtrengſte Uneigen¬ nuͤtzigkeit; ſelbſt Gaben, die ſeiner Stelle ge¬ buͤhrten, lehnte er ab; das Geringſte was einer Beſtechung haͤtte aͤhnlich ſehen koͤnnen, wurde mit Zorn, ja mit Strafe weggewieſen; ſeinen Leuten war aufs ſtrengſte befohlen, dem Haus¬ beſitzer nicht die mindeſten Unkoſten zu ma¬ chen. Dagegen wurde uns Kindern reichlich vom Nachtiſche mitgetheilt. Bey dieſer Gele¬ heit muß ich, um von der Unſchuld jener Zeiten einen Begriff zu geben, anfuͤhren, daß die Mutter uns eines Tages hoͤchlich betruͤbte, indem ſie das Gefrorene, das man uns von der Tafel ſendete, weggoß, weil es ihr un¬ moͤglich vorkam, daß der Magen ein wahr¬ haftes Eis, wenn es auch noch ſo durchzuckert ſey, vertragen koͤnne.
Außer dieſen Leckereyen, die wir denn doch allmaͤhlich ganz gut genießen und vertragen193 lernten, daͤuchte es uns Kindern auch noch gar behaglich, von genauen Lehrſtunden und ſtrenger Zucht einigermaßen entbunden zu ſeyn. Des Vaters uͤble Laune nahm zu, er konnte ſich nicht in das Unvermeidliche ergeben. Wie ſehr quaͤlte er ſich, die Mutter und den Ge¬ vatter, die Rathsherren, alle ſeine Freunde, nur um den Grafen los zu werden! Vergebens ſtellte man ihm vor, daß die Gegenwart eines ſolchen Mannes im Hauſe, unter den gegebe¬ nen Umſtaͤnden, eine wahre Wohlthat ſey, daß ein ewiger Wechſel, es ſey nun von Of¬ fizieren oder Gemeinen, auf die Umquartierung des Grafen folgen wuͤrde. Keins von die¬ ſen Argumenten wollte bey ihm greifen. Das Gegenwaͤrtige ſchien ihm ſo unertraͤglich, daß ihn ſein Unmuth ein Schlimmeres das folgen koͤnnte, nicht gewahr werden ließ.
Auf dieſe Weiſe ward ſeine Thaͤtigkeit ge¬ laͤhmt, die er ſonſt hauptſaͤchlich auf uns zu wenden gewohnt war. Das was er uns auf¬I. 13194gab, forderte er nicht mehr mit der ſonſtigen Genauigkeit, und wir ſuchten, wie es nur moͤg¬ lich ſchien, unſere Neugierde an militaͤriſchen und andern oͤffentlichen Dingen zu befriedi¬ gen, nicht allein im Hauſe, ſondern auch auf den Straßen, welches um ſo leichter anging, da die Tag und Nacht unverſchloſſene Haus¬ thuͤre von Schildwachen beſetzt war, die ſich um das Hin - und Wiederlaufen unruhiger Kinder nichts bekuͤmmerten.
Die mancherley Angelegenheiten, die vor dem Richterſtuhle des Koͤnigslieutenant ge¬ ſchlichtet wurden, hatten dadurch noch ei¬ nen ganz beſondern Reiz, daß er einen eige¬ nen Werth darauf legte, ſeine Entſcheidun¬ gen zugleich mit einer witzigen, geiſtreichen, heitern Wendung zu begleiten. Was er be¬ fahl, war ſtreng gerecht; die Art wie er es ausdruͤckte, war launig und pikant. Er ſchien ſich den Herzog von Oſſuna zum Vorbilde genommen zu haben. Es verging195195kaum ein Tag, daß der Dolmetſcher nicht eine oder die andere ſolche Anecdote uns und der Mutter zur Aufheiterung erzaͤhlte. Es hatte dieſer muntere Mann eine kleine Samm¬ lung ſolcher Salomoniſchen Entſcheidungen ge¬ macht; ich erinnere mich aber nur des Ein¬ drucks im Allgemeinen, ohne im Gedaͤchtniß ein Beſonderes wieder zu finden.
Den wunderbaren Character des Grafen lernte man nach und nach immer mehr kennen. Dieſer Mann war ſich ſelbſt, ſeiner Eigen¬ heiten aufs deutlichſte bewußt, und weil er ge¬ wiſſe Zeiten haben mochte, wo ihn eine Art von Unmuth, Hypochondrie, oder wie man den boͤſen Daͤmon nennen ſoll, uͤberfiel; ſo zog er ſich in ſolchen Stunden, die ſich manchmal zu Tagen verlaͤngerten, in ſein Zimmer zuruͤck, ſah Niemanden als ſeinen Cammerdiener, und war ſelbſt in dringenden Faͤllen nicht zu bewegen, daß er Audienz gegeben haͤtte. So¬ bald aber der boͤſe Geiſt von ihm gewichen13 *196war, erſchien er nach wie vor, mild, heiter und thaͤtig. Aus den Reden ſeines Cammer¬ dieners, Saint Jean, eines kleinen hagern Mannes von muntrer Gutmuͤthigkeit, konnte man ſchließen, daß er in fruͤhern Jahren von ſolcher Stimmung uͤberwaͤltigt, großes Ungluͤck angerichtet, und ſich nun vor aͤhnlichen Ab¬ wegen, bey einer ſo wichtigen, den Blicken al¬ ler Welt ausgeſetzten Stelle, zu huͤten ernſtlich vornehme.
Gleich in den erſten Tagen der Anweſen¬ heit des Grafen wurden die ſaͤmmtlichen Frankfurter Maler, als Hirt, Schuͤtz, Trautmann, Nothnagel, Junker, zu ihm berufen. Sie zeigten ihre fertigen Gemaͤl¬ de vor, und der Graf eignete ſich das Verkaͤuf¬ liche zu. Ihm wurde mein huͤbſches helles Gie¬ belzimmer in der Manſarde eingeraͤumt und ſo¬ gleich in ein Cabinett und Atelier umgewandelt: denn er war Willens, die ſaͤmmtlichen Kuͤnſtler, vor allen aber Seekaz in Darmſtadt, deſ¬197 ſen Pinſel ihm beſonders bey natuͤrlichen und unſchuldigen Vorſtellungen hoͤchlich gefiel, fuͤr eine ganze Zeit in Arbeit zu ſetzen. Er ließ daher von Graſſe, wo ſein aͤlterer Bruder ein ſchoͤnes Gebaͤude beſitzen mochte, die ſaͤmmt¬ lichen Maße aller Zimmer und Cabinette her¬ beykommen, uͤberlegte ſodann mit den Kuͤnſt¬ lern die Wandabtheilungen, und beſtimmte die Groͤße der hiernach zu verfertigenden an¬ ſehnlichen Oelbilder, welche nicht in Ramen eingefaßt, ſondern als Tapetentheile auf die Wand befeſtigt werden ſollten. Hier ging nun die Arbeit eifrig an. Seekaz uͤber¬ nahm laͤndliche Scenen, worin die Greiſe und Kinder, unmittelbar nach der Natur gemalt, ganz herrlich gluͤckten; die Juͤnglinge wollten ihm nicht eben ſo gerathen, ſie waren meiſt zu hager; und die Frauen misfielen aus der entgegengeſetzten Urſache. Denn da er eine kleine dicke, gute aber unangenehme Perſon zur Frau hatte, die ihm außer ſich ſelbſt nicht wohl ein Modell zuließ; ſo wollte nichts Ge¬198 faͤlliges zu Stande kommen. Zudem war er genoͤthigt geweſen, uͤber das Maß ſeiner Fi¬ guren hinaus zu gehen. Seine Baͤume hatten Wahrheit, aber ein kleinliches Blaͤtterwerk. Er war ein Schuͤler von Brinkmann, deſ¬ ſen Pinſel in Staffeleygemaͤlden nicht zu ſchelten iſt.
Schuͤtz, der Landſchaftmaler, fand ſich vielleicht am beſten in die Sache. Die Rhein¬ gegenden hatte er ganz in ſeiner Gewalt, ſo wie den ſonnigen Ton, der ſie in der ſchoͤnen Jah¬ reszeit belebt. Er war nicht ganz ungewohnt, in einem groͤßern Maßſtabe zu arbeiten, und auch da ließ er es an Ausfuͤhrung und Hal¬ tung nicht fehlen. Er lieferte ſehr heitre Bilder.
Trautmann rembrandiſirte einige Auf¬ erweckungswunder des neuen Teſtaments, und zuͤndete nebenher Doͤrfer und Muͤhlen an. Auch ihm war, wie ich aus den Aufriſſen199 der Zimmer bemerken konnte, ein eigenes Ca¬ binett zugetheilt worden. Hirt malte eini¬ ge gute Eichen - und Buchenwaͤlder. Seine Heerden waren lobenswert. Junker, an die Nachahmung der ausfuͤhrlichſten Nieder¬ laͤnder gewoͤhnt, konnte ſich am wenigſten in dieſen Tapetenſtyl finden; jedoch bequemte er ſich, fuͤr gute Zahlung, mit Blumen und Fruͤchten manche Abtheilung zu verzieren.
Da ich alle dieſe Maͤnner von meiner fruͤhſten Jugend an gekannt, und ſie oft in ihren Werkſtaͤtten beſucht hatte, auch der Graf mich gern um ſich leiden mochte; ſo war ich bey den Aufgaben, Berathſchlagun¬ gen und Beſtellungen, wie auch bey den Ab¬ lieferungen gegenwaͤrtig, und nahm mir, zu¬ mal wenn Skizzen und Entwuͤrfe eingereicht wurden, meine Meynung zu eroͤffnen gar wohl heraus. Ich hatte mir ſchon fruͤher bey Gemaͤlde-Liebhabern, beſonders aber auf Auctionen, denen ich fleißig beywohnte, den200 Ruhm erworben, daß ich gleich zu ſagen wiſſe, was irgend ein hiſtoriſches Bild vor¬ ſtelle, es ſey nun aus der bibliſchen oder der Profangeſchichte oder aus der Mythologie ge¬ nommen; und wenn ich auch den Sinn der allegoriſchen Bilder nicht immer traf, ſo war doch ſelten Jemand gegenwaͤrtig, der es beſ¬ ſer verſtand als ich. So hatte ich auch oͤf¬ ters die Kuͤnſtler vermocht, dieſen oder jenen Gegenſtand vorzuſtellen, und ſolcher Vortheile bediente ich mich gegenwaͤrtig mit Luſt und Liebe. Ich erinnere mich noch, daß ich ei¬ nen umſtaͤndlichen Aufſatz verfertigte, worin ich zwoͤlf Bilder beſchrieb, welche die Ge¬ ſchichte Joſephs darſtellen ſollten: einige da¬ von wurden ausgefuͤhrt.
Nach dieſen, fuͤr einen Knaben allerdings loͤblichen Verrichtungen, will ich auch einer kleinen Beſchaͤmung, die mir innerhalb dieſes Kuͤnſtlerkreiſes begegnete, Erwaͤhnung thun. Ich war naͤmlich mit allen Bildern wohl be¬201 kannt, welche man nach und nach in jenes Zimmer gebracht hatte. Meine jugendliche Neugierde ließ nichts ungeſehen und unun¬ terſucht. Einſt fand ich hinter dem Ofen ein ſchwarzes Kaͤſtchen; ich ermangelte nicht, zu forſchen was darin verborgen ſey, und ohne mich lange zu beſinnen zog ich den Schieber weg. Das darin enthaltene Gemaͤlde war freylich von der Art, die man den Augen nicht auszuſtellen pflegt, und ob ich es gleich alſobald wieder zuzuſchieben Anſtalt machte, ſo konnte ich doch nicht geſchwind genug da¬ mit fertig werden. Der Graf trat herein und ertappte mich. — „ Wer hat Euch er¬ laubt dieſes Kaͤſtchen zu eroͤffnen? “ſagte er mit ſeiner Koͤnigslieutenants-Miene. Ich hatte nicht viel darauf zu antworten, und er ſprach ſogleich die Strafe ſehr ernſthaft aus: „ Ihr werdet in acht Tagen, ſagte er, dieſes Zimmer nicht betreten. “— Ich machte eine Verbeugung und ging hinaus. Auch ge¬ horchte ich dieſem Gebot aufs puͤnctlichſte,202 ſo daß es dem guten Seekaz, der eben in dem Zimmer arbeitete, ſehr verdrießlich war: denn er hatte mich gern um ſich; und ich trieb aus einer kleinen Tuͤcke den Gehorſam ſo weit, daß ich Seekazen ſeinen Kaffe, den ich ihm gewoͤhnlich brachte, auf die Schwelle ſetzte; da er denn von ſeiner Arbeit aufſtehen und ihn holen mußte, welches er ſo uͤbel empfand, daß er mir faſt gram geworden waͤre.
Nun aber ſcheint es noͤthig, umſtaͤndli¬ cher anzuzeigen und begreiflich zu machen, wie ich mir in ſolchen Faͤllen in der franzoͤ¬ ſiſchen Sprache, die ich doch nicht gelernt, mit mehr oder weniger Bequemlichkeit durch¬ geholfen. Auch hier kam mir die angeborne Gabe zu ſtatten, daß ich leicht den Schall und Klang einer Sprache, ihre Bewegung, ihren Accent, den Ton und was ſonſt von aͤußern Eigenthuͤmlichkeiten, faſſen konnte. Aus dem Lateiniſchen waren mir viele Worte203 bekannt; das Italiaͤniſche vermittelte noch mehr, und ſo horchte ich in kurzer Zeit von Bedienten und Soldaten, Schildwachen und Beſuchen ſo viel heraus, daß ich mich, wo nicht ins Geſpraͤch miſchen, doch wenigſtens einzelne Fragen und Antworten beſtehen konnte. Aber dieſes war alles nur wenig gegen den Vortheil, den mir das Theater brachte. Von meinem Großvater hatte ich ein Freybillet erhalten, deſſen ich mich, mit Widerwillen meines Vaters, unter dem Beyſtand meiner Mutter, taͤglich bediente. Hier ſaß ich nun im Parterre vor einer fremden Buͤhne, und paßte um ſo mehr auf Bewegung, mimiſchen und Rede-Ausdruck, als ich wenig oder nichts von dem verſtand was da oben geſpro¬ chen wurde, und alſo meine Unterhaltung nur vom Geberdenſpiel und Sprachton nehmen konnte. Von der Comoͤdie verſtand ich am wenigſten, weil ſie geſchwind geſprochen wurde und ſich auf Dinge des gemeinen Lebens be¬ zog, deren Ausdruͤcke mir gar nicht bekannt204 waren. Die Tragoͤdie kam ſeltner vor, und der gemeſſene Schritt, das Tactartige der Alexandriner, das Allgemeine des Ausdrucks machten ſie mir in jedem Sinne faßlicher. Es dauerte nicht lange, ſo nahm ich den Racine, den ich in meines Vaters Biblio¬ thek antraf, zur Hand, und declamirte mir die Stuͤcke nach theatraliſcher Art und Weiſe, wie ſie das Organ meines Ohrs und das ihm ſo genau verwandte Sprachorgan gefaßt hatte, mit großer Lebhaftigkeit, ohne daß ich noch eine ganze Rede im Zuſammenhang haͤtte verſtehen koͤnnen. Ja ich lernte ganze Stellen auswendig und recitirte ſie, wie ein eingelernter Sprachvogel; welches mir um ſo leichter ward, als ich fruͤher die fuͤr ein Kind meiſt unverſtaͤndlichen bibliſchen Stellen auswendig gelernt, und ſie in dem Ton der proteſtantiſchen Prediger zu recitiren mich ge¬ woͤhnt hatte. Das verſificirte franzoͤſiſche Luſt¬ ſpiel war damals ſehr beliebt; die Stuͤcke von Destouches, Mariveaux, La Chauſ¬205 ſée kamen haͤufig vor, und ich erinnere mich noch deutlich mancher charakteriſtiſchen Figu¬ ren. Von den Molieriſchen iſt mir we¬ niger im Sinn geblieben. Was am meiſten Eindruck auf mich machte, war die Hyper¬ mneſtra von Lemière, die als ein neues Stuͤck mit Sorgfalt aufgefuͤhrt und wieder¬ holt gegeben wurde. Hoͤchſt anmuthig war der Eindruck, den der Devin du Village, Rose et Colas, Annette et Lubin, auf mich machten. Ich kann mir die bebaͤnder¬ ten Buben und Maͤdchen und ihre Bewe¬ gungen noch jetzt zuruͤckrufen. Es dauerte nicht lange, ſo regte ſich der Wunſch bey mir, mich auf dem Theater ſelbſt umzuſehen, wozu ſich mir ſo mancherley Gelegenheit dar¬ bot. Denn da ich nicht immer die ganzen Stuͤcke auszuhoͤren Geduld hatte, und manche Zeit in den Corridors, auch wohl bey gelin¬ derer Jahrszeit vor der Thuͤre, mit andern Kindern meines Alters allerley Spiele trieb; ſo geſellte ſich ein ſchoͤner munterer Knabe206 zu uns, der zum Theater gehoͤrte, und den ich in manchen kleinen Rollen, obwohl nur beylaͤufig, geſehen hatte. Mit mir konnte er ſich am beſten verſtaͤndigen, indem ich mein Franzoͤſiſch bey ihm geltend zu machen wußte; und er knuͤpfte ſich um ſo mehr an mich, als kein Knabe ſeines Alters und ſeiner Na¬ tion beym Theater oder ſonſt in der Naͤhe war. Wir gingen auch außer der Theater¬ zeit zuſammen, und ſelbſt waͤhrend der Vor¬ ſtellungen ließ er mich ſelten in Ruhe. Er war ein allerliebſter kleiner Aufſchneider, ſchwaͤtzte charmant und unaufhoͤrlich, und wußte ſo viel von ſeinen Abenteuern, Haͤn¬ deln und andern Sonderbarkeiten zu erzaͤhlen, daß er mich außerordentlich unterhielt, und ich von ihm, was Sprache und Mittheilung durch dieſelbe betrifft, in vier Wochen mehr lernte, als man ſich haͤtte vorſtellen koͤnnen; ſo daß Niemand wußte, wie ich auf einmal, gleichſam durch Inſpiration, zu der fremden Sprache gelangt war.
207Gleich in den erſten Tagen unſerer Be¬ kanntſchaft zog er mich mit ſich aufs Theater, und fuͤhrte mich beſonders in die Foyers, wo die Schauſpieler und Schauſpielerinnen in der Zwiſchenzeit ſich aufhielten und ſich an und auskleideten. Das Local war weder guͤnſtig noch bequem, indem man das Thea¬ ter in einen Concertſaal hineingezwaͤngt hatte, ſo daß fuͤr die Schauſpieler hinter der Buͤhne keine beſonderen Abtheilungen ſtatt fanden. In einem ziemlich großen Nebenzimmer, das ehedem zu Spielpartieen gedient hatte, wa¬ ren nun beyde Geſchlechter meiſt beyſammen und ſchienen ſich ſo wenig unter einander ſelbſt als vor uns Kindern zu ſcheuen, wenn es beym Anlegen oder Veraͤndern der Klei¬ dungsſtuͤcke nicht immer zum anſtaͤndigſten herging. Mir war dergleichen niemals vor¬ gekommen, und doch fand ich es bald durch Gewohnheit, bey wiederholtem Beſuch, ganz natuͤrlich.
208Es waͤhrte nicht lange, ſo entſpann ſich aber fuͤr mich ein eignes und beſondres In¬ tereſſe. Der junge Derones, ſo will ich den Knaben nennen, mit dem ich mein Ver¬ haͤltniß immer fortſetzte, war außer ſeinen Aufſchneidereyen ein Knabe von guten Sitten und recht artigem Betragen. Er machte mich mit ſeiner Schweſter bekannt, die ein paar Jahre aͤlter als wir und ein gar ange¬ nehmes Maͤdchen war, gut gewachſen, von einer regelmaͤßigen Bildung, brauner Farbe, ſchwarzen Haaren und Augen; ihr ganzes Betragen hatte etwas Stilles, ja Trauriges. Ich ſuchte ihr auf alle Weiſe gefaͤllig zu ſeyn; allein ich konnte ihre Aufmerkſamkeit nicht auf mich lenken. Junge Maͤdchen duͤn¬ ken ſich gegen juͤngere Knaben ſehr weit vor¬ geſchritten, und nehmen, indem ſie nach den Juͤnglingen hinſchauen, ein tantenhaftes Be¬ tragen gegen den Knaben an, der ihnen ſeine erſte Neigung zuwendet. Mit einem juͤngern Bruder hatte ich kein Verhaͤltniß.
209Manchmal, wenn die Mutter auf den Proben oder in Geſellſchaft war, fanden wir uns in ihrer Wohnung zuſammen, um zu ſpielen oder uns zu unterhalten. Ich ging niemals hin, ohne der Schoͤnen eine Blume, eine Frucht oder ſonſt etwas zu uͤberreichen, welches ſie zwar jederzeit mit ſehr guter Art annahm und auf das hoͤflichſte dankte; al¬ lein ich ſah ihren traurigen Blick ſich nie¬ mals erheitern, und fand keine Spur, daß ſie ſonſt auf mich geachtet haͤtte. Endlich glaubte ich ihr Geheimniß zu entdecken. Der Knabe zeigte mir hinter dem Bette ſeiner Mutter, das mit eleganten ſeidnen Vorhaͤn¬ gen aufgeputzt war, ein Paſtellbild, das Por¬ traͤt eines ſchoͤnen Mannes, und bemerkte zu¬ gleich mit ſchlauer Miene: das ſey eigentlich nicht der Papa, aber eben ſo gut wie der Papa; und indem er dieſen Mann ruͤhmte, und nach ſeiner Art umſtaͤndlich und prahle¬ riſch manches erzaͤhlte: ſo glaubte ich heraus¬ zufinden, daß die Tochter wohl dem Vater,I. 14210die beyden andern Kinder aber dem Haus¬ freund angehoͤren mochten. Ich erklaͤrte mir nun ihr trauriges Anſehen und hatte ſie nur um deſto lieber.
Die Neigung zu dieſem Maͤdchen half mir die Schwindeleyen des Bruders uͤbertra¬ gen, der nicht immer in ſeinen Graͤnzen blieb. Ich hatte oft die weitlaͤuftigen Er¬ zaͤhlungen ſeiner Großthaten auszuhalten, wie er ſich ſchon oͤfter geſchlagen, ohne jedoch dem andern ſchaden zu wollen: es ſey alles blos der Ehre wegen geſchehen. Stets habe er gewußt ſeinen Widerſacher zu entwaffnen, und ihm alsdann verziehen; ja er verſtehe ſich aufs Legiren ſo gut, daß er einſt ſelbſt in große Verlegenheit gerathen, als er den Degen ſeines Gegners auf einen hohen Baum geſchleudert, ſo daß man ihn nicht leicht wie¬ der habhaft werden koͤnnen.
Was mir meine Beſuche auf dem Thea¬ ter ſehr erleichterte, war, daß mir mein211 Freybillet, als aus den Haͤnden des Schult¬ heißen, den Weg zu allen Plaͤtzen eroͤffnete, und alſo auch zu den Sitzen im Proſcenium. Dieſes war nach franzoͤſiſcher Art ſehr tief und an beyden Seiten mit Sitzen eingefaßt, die durch eine niedrige Barriere beſchraͤnkt, ſich in mehreren Reihen hinter einander auf¬ bauten und zwar dergeſtalt, daß die erſten Sitze nur wenig uͤber die Buͤhne erhoben waren. Das Ganze galt fuͤr einen beſon¬ dern Ehrenplatz; nur Offiziere bedienten ſich gewoͤhnlich deſſelben, obgleich die Naͤhe der Schauſpieler, ich will nicht ſagen jede Illu¬ ſion, ſondern gewiſſermaßen jedes Gefallen aufhob. Sogar jenen Gebrauch oder Mis¬ brauch, uͤber den ſich Voltaire ſo ſehr be¬ ſchwert, habe ich noch erlebt und mit Au¬ gen geſehen. Wenn bey ſehr vollem Hauſe, und etwa zur Zeit von Durchmaͤrſchen ange¬ ſehene Offiziere nach jenem Ehrenplatz ſtreb¬ ten, der aber gewoͤhnlich ſchon beſetzt war; ſo ſtellte man noch einige Reihen Baͤnke und14 *212Stuͤhle ins Proſcenium auf die Buͤhne ſelbſt, und es blieb den Helden und Heldinnen nichts uͤbrig, als in einem ſehr maͤßigen Raume zwiſchen den Uniformen und Orden ihre Geheimniſſe zu enthuͤllen. Ich habe die Hypermneſtra ſelbſt unter ſolchen Umſtaͤn¬ den auffuͤhren ſehen.
Der Vorhang fiel nicht zwiſchen den Ac¬ ten; und ich erwaͤhne noch eines ſeltſamen Gebrauchs, den ich ſehr auffallend finden mu߬ te, da mir als einem guten deutſchen Kna¬ ben das Kunſtwidrige daran ganz unertraͤg¬ lich war. Das Theater naͤmlich ward als das groͤßte Heiligthum betrachtet und eine vorfallende Stoͤrung auf demſelben haͤtte als das groͤßte Verbrechen gegen die Majeſtaͤt des Publicums ſogleich muͤſſen geruͤgt werden. Zwey Grenadiere, das Gewehr beym Fuß, ſtanden daher in allen Luſtſpielen ganz oͤffent¬ lich zu beyden Seiten des hinterſten Vor¬ hangs, und waren Zeugen von allem was213 im Innerſten der Familie vorging. Da, wie geſagt, zwiſchen den Acten der Vorhang nicht niedergelaſſen wurde; ſo loͤſten, bey ein¬ fallender Muſik, zwey andere dergeſtalt ab, daß ſie aus den Culiſſen ganz ſtrack vor jene hintraten, welche ſich dann eben ſo gemeſſent¬ lich zuruͤckzogen. Wenn nun eine ſolche An¬ ſtalt recht dazu geeignet war, alles was man beym Theater Illuſion nennt, aufzuheben; ſo faͤllt es um ſo mehr auf, daß dieſes zu einer Zeit geſchah, wo nach Diderots Grundſaͤtzen und Beyſpielen die natuͤrlichſte Natuͤrlichkeit auf der Buͤhne gefordert, und eine vollkom¬ mene Taͤuſchung als das eigentliche Ziel der theatraliſchen Kunſt angegeben wurde. Von einer ſolchen militaͤriſchen Polizeyanſtalt war jedoch die Tragoͤdie entbunden, und die Hel¬ den des Alterthums hatten das Recht ſich ſelbſt zu bewachen; die gedachten Grenadiere ſtanden indeß nahe genug hinter den Cu¬ liſſen.
214So will ich denn auch noch anfuͤhren, daß ich Diderot's Hausvater, und die Philoſophen von Paliſſot geſehen habe, und mich im letztern Stuͤck der Figur des Philoſophen, der auf allen Vieren geht und in ein rohes Salathaupt beißt, noch wohl erinnre.
Alle dieſe theatraliſche Mannigfaltigkeit konnte jedoch uns Kinder nicht immer im Schauſpielhauſe feſthalten. Wir ſpielten bey ſchoͤnem Wetter vor demſelben und in der Naͤhe, und begingen allerley Thorheiten, welche beſonders an Sonn - und Feſttagen keineswegs zu unſrem Aeußeren paßten: denn ich und meines Gleichen erſchienen alsdann, angezogen wie man mich in jenem Maͤhrchen geſehen, den Hut unterm Arm, mit einem kleine Degen, deſſen Buͤgel mit einer gro¬ ßen ſeidenen Bandſchleife geziert war. Einſt, als wir eine ganze Zeit unſer Weſen getrie¬ ben, und Derones ſich unter uns gemiſcht215 hatte, fiel es dieſem ein, mir zu betheuern, ich hatte ihn beleidigt, und muͤſſe ihm Sa¬ tisfaction geben. Ich begriff zwar nicht, was ihm Anlaß geben konnte, ließ mir aber ſeine Ausforderung gefallen und wollte ziehen. Er verſicherte mir aber, es ſey in ſolchen Faͤllen gebraͤuchlich, daß man an einſame Oerter gehe, um die Sache deſto bequemer ausmachen zu koͤnnen. Wir verfuͤgten uns deshalb hinter einige Scheunen, und ſtellten uns in gehoͤrige Poſitur. Der Zweykampf erfolgte auf eine etwas theatraliſche Weiſe, die Klingen klirrten, und die Stoͤße gingen neben aus; doch im Feuer der Action blieb er mit der Spitze ſeines Degens an der Bandſchleife meines Buͤgels hangen. Sie ward durchbohrt, und er verſicherte mir, daß er nun die vollkommenſte Satisfaction habe, umarmte mich ſodann, gleichfalls recht theatraliſch, und wir gingen in das naͤch¬ ſte Caffeehaus, um uns mit einem Glaſe Mandelmilch von unſerer Gemuͤthsbewegung216 zu erholen und den alten Freundſchafts - Bund nur deſto feſter zu ſchließen.
Ein andres Abenteuer, das mir auch im Schauſpielhauſe obgleich ſpaͤter begegnet, will ich bey dieſer Gelegenheit erzaͤhlen. Ich ſaß naͤmlich mit einem meiner Geſpielen ganz ruhig im Parterre, und wir ſahen mit Ver¬ gnuͤgen einem Solotanze zu, den ein huͤb¬ ſcher Knabe, ohngefaͤhr von unſerm Alter, der Sohn eines durchreiſenden franzoͤſiſchen Tanzmeiſters, mit vieler Gewandtheit und Anmuth auffuͤhrte. Nach Art der Taͤnzer war er mit einem knappen Waͤmschen von rother Seide bekleidet, welches in einen kur¬ zen Reifrock ausgehend, gleich den Laufer¬ ſchuͤrzen, bis uͤber die Kniee ſchwebte. Wir hatten dieſem angehenden Kuͤnſtler mit dem ganzen Publicum unſern Beyfall gezollt, als mir ich weiß nicht wie einfiel, eine morali¬ ſche Reflexion zu machen. Ich ſagte zu mei¬ nem Begleiter: Wie ſchoͤn war dieſer Knabe217 geputzt und wie gut nahm er ſich aus; wer weiß in was fuͤr einem zerriſſenen Jaͤckchen er heute Nacht ſchlafen mag! — Alles war ſchon aufgeſtanden, nur ließ uns die Menge noch nicht vorwaͤrts. Eine Frau, die neben mir geſeſſen hatte und nun hart an mir ſtand, war zufaͤlliger Weiſe die Mutter die¬ ſes jungen Kuͤnſtlers, die ſich durch meine Reflexion ſehr beleidigt fuͤhlte. Zu meinem Ungluͤck konnte ſie Deutſch genug, um mich verſtanden zu haben, und ſprach es gerade ſo viel als noͤthig war, um ſchelten zu koͤnnen. Sie machte mich gewaltig herunter: Wer ich denn ſey, meinte ſie, daß ich Urſache haͤtte an der Familie und an der Wohlhabenheit dieſes jungen Menſchen zu zweifeln. Auf alle Falle duͤrfe ſie ihn fuͤr ſo gut halten als mich, und ſeine Talente koͤnnten ihm wohl ein Gluͤck bereiten, wovon ich mir nicht wuͤrde traͤumen laſſen. Dieſe Strafpredigt hieit ſie mir im Gedraͤnge und machte die Umſtehenden aufmerkſam, welche Wunder218 dachten, was ich fuͤr eine Unart muͤßte be¬ gangen haben. Da ich mich weder entſchul¬ digen, noch von Ihr entfernen konnte, ſo war ich wirklich verlegen, und als ſie einen Augenblick inne hielt, ſagte ich, ohne etwas dabey zu denken: Nun, wozu der Laͤrm? heute roth, morgen todt! — Auf dieſe Worte ſchien die Frau zu verſtummen. Sie ſah mich an und entfernte ſich von mir, ſobald es nur einigermaßen moͤglich war. Ich dachte nicht weiter an meine Worte. Nur einige Zeit hernach fielen ſie mir auf, als der Knabe, anſtatt ſich nochmals ſehen zu laſſen, krank ward und zwar ſehr gefaͤhrlich. Ob er geſtorben iſt, weiß ich nicht zu ſagen.
Dergleichen Vordeutungen durch ein un¬ zeitig, ja unſchicklich ausgeſprochnes Wort ſtanden bey den Alten ſchon in Anſehen, und es bleibt hoͤchſt merkwuͤrdig, daß die Formen des Glaubens und Aberglaubens bey219 allen Voͤlkern und zu allen Zeiten immer die¬ ſelben geblieben ſind.
Nun fehlte es von dem erſten Tage der Beſitznehmung unſerer Stadt, zumal Kin¬ dern und jungen Leuten, nicht an immer¬ waͤhrender Zerſtreuung. Theater und Baͤlle, Paraden und Durchmaͤrſche zogen unſere Auf¬ merkſamkeit hin und her. Die letztern be¬ ſonders nahmen immer zu, und das Solda¬ tenleben ſchien uns ganz luſtig und ver¬ gnuͤglich.
Der Aufenthalt des Koͤnigs-Lieutenants in unſerm Hauſe verſchaffte uns den Vortheil, alle bedeutende Perſonen der franzoͤſiſchen Ar¬ mee nach und nach zu ſehen, und beſonders die Erſten, deren Name ſchon durch den Ruf zu uns gekommen war, in der Naͤhe zu be¬ trachten. So ſahen wir von Treppen und Podeſten, gleichſam wie von Galerieen, ſehr bequem die Generalitaͤt bey uns voruͤbergehn.
220Vor allen erinnere ich mich des Prinzen Sou¬ biſe als eines ſchoͤnen leutſeligen Herrn; am deutlichſten aber des Marſchalls von Broglio als eines juͤngern, nicht großen aber wohlgebauten, lebhaften, geiſtreich um ſich blickenden, behenden Mannes.
Er kam mehrmals zum Koͤnigs-Lieutenant, und man merkte wohl, daß von wichtigen Dingen die Rede war. Wir hatten uns im erſten Vierteljahr der Einquartierung kaum in dieſen neuen Zuſtand gefunden, als ſchon die Nachricht ſich dunkel verbreitete: die Alliirten ſeyen im Anmarſch, und Herzog Ferdi¬ nand von Braunſchweig komme, die Fran¬ zoſen vom Main zu vertreiben. Man hatte von dieſen, die ſich keines beſondern Kriegs¬ gluͤckes ruͤhmen konnten, nicht die groͤßte Vorſtellung, und ſeit der Schlacht von Ros¬ bach glaubte man ſie verachten zu duͤrfen; auf den Herzog Ferdinand ſetzte man das groͤßte Vertrauen, und alle preußiſch Ge¬221 ſinnten erwarteten mit Sehnſucht ihre Be¬ freyung von der bisherigen Laſt. Mein Va¬ ter war etwas heiterer, meine Mutter in Sorgen. Sie war klug genug einzuſe¬ hen, daß ein gegenwaͤrtiges geringes Uebel leicht mit einem großen Ungemach vertauſcht werden koͤnne: denn es zeigte ſich nur allzu deutlich, daß man dem Herzog nicht entge¬ gen gehen, ſondern einen Angriff in der Naͤhe der Stadt abwarten werde. Eine Niederlage der Franzoſen, eine Flucht, eine Vertheidigung der Stadt, waͤre es auch nur um den Ruͤckzug zu decken und um die Bruͤcke zu behalten, ein Bombardement, eine Pluͤnderung, alles ſtellte ſich der erregten Einbildungskraft dar, und machte beyden Parteyen Sorge. Meine Mutter, welche alles, nur nicht die Sorge ertragen konnte, ließ durch den Dolmetſcher ihre Furcht bey dem Grafen anbringen; worauf ſie die in ſolchen Faͤllen gebraͤuchliche Antwort erhielt: ſie ſolle ganz ruhig ſeyn, es ſey nichts zu222 befuͤrchten, ſich uͤbrigens ſtill halten und mit Niemand von der Sache ſprechen.
Mehrere Truppen zogen durch die Stadt; man erfuhr, daß ſie bey Bergen Halt machten. Das Kommen und Gehen, das Reiten und Laufen vermehrte ſich immer, und unſer Haus war Tag und Nacht in Aufruhr. In dieſer Zeit habe ich den Marſchall Bro¬ glio oͤfter geſehen, immer heiter, ein wie das andre Mal an Gebaͤrden und Betragen voͤl¬ lig gleich, und es hat mich auch nachher gefreut, den Mann, deſſen Geſtalt einen ſo guten und dauerhaften Eindruck gemacht hatte, in der Geſchichte ruͤhmlich erwaͤhnt zu finden.
So kam denn endlich, nach einer unruhi¬ gen Charwoche, 1759 der Charfreytag heran. Eine große Stille verkuͤndigte den nahen Sturm. Uns Kindern war verboten aus dem Hauſe zu gehen; der Vater hatte keine223 Ruhe und ging aus. Die Schlacht begann; ich ſtieg auf den oberſten Boden, wo ich zwar die Gegend zu ſehen verhindert war, aber den Donner der Canonen und das Maſ¬ ſenfeuer des kleinen Gewehrs recht gut ver¬ nehmen konnte. Nach einigen Stunden ſa¬ hen wir die erſten Zeichen der Schlacht an einer Reihe Wagen, auf welchen Verwundete in mancherley traurigen Verſtuͤmmelungen und Gebaͤrden ſachte bey uns vorbeygefahren wur¬ den, um in das zum Lazareth umgewandelte Liebfrauen-Kloſter gebracht zu werden. So¬ gleich regte ſich die Barmherzigkeit der Buͤr¬ ger. Bier, Wein, Brodt, Geld ward den¬ jenigen hingereicht, die noch etwas empfan¬ gen konnten. Als man aber einige Zeit dar¬ auf bleſſirte und gefangne Deutſche unter dieſem Zug gewahr wurde, fand das Mit¬ leid keine Graͤnze, und es ſchien als wollte Jeder ſich von allem entbloͤßen, was er nur Bewegliches beſaß, um ſeinen bedraͤngten Landsleuten beyzuſtehen.
224Dieſe Gefangenen waren jedoch Anzei¬ chen einer fuͤr die Alliirten ungluͤcklichen Schlacht. Mein Vater, in ſeiner Parteylich¬ keit ganz ſicher, daß dieſe gewinnen wuͤrden, hatte die leidenſchaftliche Verwegenheit den gehofften Siegern entgegen zu gehen, ohne zu bedenken, daß die geſchlagene Partey erſt uͤber ihn wegfliehen muͤßte. Erſt begab er ſich in ſeinen Garten, vor dem Friedberger Thore, wo er alles einſam und ruhig fand; dann wagte er ſich auf die Bornheimer Haide, wo er aber bald verſchiedene zer¬ ſtreute Nachzuͤgler und Troßknechte anſichtig ward, die ſich den Spaß machten nach den Graͤnzſteinen zu ſchießen, ſo daß dem neu¬ gierigen Wandrer das abprallende Bley um den Kopf ſauſte. Er hielt es deshalb doch fuͤr gerathner zuruͤckzugehen, und erfuhr, bey einiger Nachfrage, was ihm ſchon der Schall des Feurens haͤtte klar machen ſollen, daß alles fuͤr die Franzoſen gut ſtehe und an kein Weichen zu denken ſey. Nach Hauſe225 gekommen, voll Unmuth, gerieth er beym Erblicken der verwundeten und gefangenen Landsleute ganz aus der gewoͤhnlichen Faſſung. Auch er ließ den Vorbeyziehenden mancherley Spende reichen; aber nur die Deutſchen ſoll¬ ten ſie erhalten, welches nicht immer moͤglich war, weil das Schickſal Freunde und Feinde zuſammen aufgepackt hatte.
Die Mutter und wir Kinder, die wir ſchon fruͤher auf des Grafen Wort gebaut und deshalb einen ziemlich beruhigten Tag hingebracht hatten, waren hoͤchlich erfreut, und die Mutter doppelt getroͤſtet, da ſie des Morgens, als ſie das Orakel ihres Schatz¬ kaͤſtleins durch einen Nadelſtich befragt, eine fuͤr die Gegenwart ſowohl als fuͤr die Zukunft ſehr troͤſtliche Antwort erhalten hatte. Wir wuͤnſchten unſerm Vater gleichen Glauben und gleiche Geſinnung, wir ſchmeichelten ihm was wir konnten, wir baten ihn etwas Speiſe zu ſich zu nehmen, die er den ganzenI. 15226Tag entbehrt hatte; er verweigerte unſre Liebkoſungen und jeden Genuß, und begab ſich auf ſein Zimmer. Unſre Freude ward indeſſen nicht geſtoͤrt; die Sache war ent¬ ſchieden; der Koͤnigs-Lieutenant, der dieſen Tag gegen ſeine Gewohnheit zu Pferde gewe¬ ſen, kehrte endlich zuruͤck, ſeine Gegenwart zu Hauſe war noͤthiger als je. Wir ſpran¬ gen ihm entgegen, kuͤßten ſeine Haͤnde und bezeigten ihm unſre Freude. Es ſchien ihm ſehr zu gefallen. „ Wohl! ſagte er freundli¬ cher als ſonſt, ich bin auch um euertwillen vergnuͤgt, liebe Kinder!‘ Er befahl ſogleich uns Zuckerwerck, ſuͤßen Wein, uͤberhaupt das Beſte zu reichen, und ging auf ſein Zimmer, ſchon von einer großen Maſſe Dringender, Fordernder und Bittender umgeben.
Wir hielten nun eine koͤſtliche Collation, bedauerten den guten Vater, der nicht Theil daran nehmen mochte, und drangen in die Mutter, ihn herbey zu rufen; ſie aber kluͤger227 als wir wußte wohl, wie unerfreulich ihm ſolche Gaben ſeyn wuͤrden. Indeſſen hatte ſie etwas Abendbrodt zurecht gemacht und haͤtte ihm gern eine Portion auf das Zim¬ mer geſchickt; aber eine ſolche Unordnung litt er nie, auch nicht in den aͤußerſten Faͤl¬ len; und nachdem man die ſuͤßen Gaben bey Seite geſchafft, ſuchte man ihn zu bere¬ den, herab in das gewoͤhnliche Speiſezimmer zu kommen. Endlich ließ er ſich bewegen, ungern, und wir ahndeten nicht, welches Unheil wir ihm und uns bereiteten. Die Treppe lief frey durchs ganze Haus an allen Vorſaͤlen vorbey. Der Vater mußte, indem er herabſtieg, unmittelbar an des Grafen Zimmer voruͤbergehn. Sein Vorſaal ſtand ſo voller Leute, daß der Graf ſich entſchloß, um mehrers auf Einmal abzuthun, herauszu¬ treten; und dieß geſchah leider in dem Augen¬ blick als der Vater herabkam. Der Graf ging ihm heiter entgegen, begruͤßte ihn und ſagte: „ Ihr werdet uns und Euch Gluͤck wuͤn¬15*228ſchen, daß dieſe gefaͤhrliche Sache ſo gluͤcklich abgelaufen iſt. “— Keinesweges! verſetzte mein Vater, mit Ingrimm; ich wollte ſie haͤtten Euch zum Teufel gejagt, und wenn ich haͤtte mitfahren ſollen. — Der Graf hielt einen Augenblick inne, dann aber fuhr er mit Wuth auf: „ Dieſes ſollt Ihr buͤßen! rief er: Ihr ſollt nicht umſonſt der gerechten Sache und mir eine ſolche Beleidigung zuge¬ fuͤgt haben! “
Der Vater war indeß gelaſſen herunter¬ geſtiegen, ſetzte ſich zu uns, ſchien heitrer als bisher, und fing an zu eſſen. Wir freuten uns daruͤber, und wußten nicht, auf welche bedenkliche Weiſe er ſich den Stein vom Her¬ zen gewaͤlzt hatte. Kurz darauf wurde die Mutter herausgerufen, und wir hatten große Luſt, dem Vater auszuplaudern, was uns der Graf fuͤr Suͤßigkeiten verehrt habe. Die Mutter kam nicht zuruͤck. Endlich trat der Dolmetſcher herein. Auf ſeinen Wink ſchickte229 man uns zu Bette; es war ſchon ſpaͤt und wir gehorchten gern. Nach einer ruhig durch¬ ſchlafenen Nacht erfuhren wir die gewaltſame Bewegung, die geſtern Abend das Haus er¬ ſchuͤttert hatte. Der Koͤnigs-Lieutenant hatte ſogleich befohlen, den Vater auf die Wache zu fuͤhren. Die Subalternen wußten wohl, daß ihm niemals zu widerſprechen war; doch hatten ſie ſich manchmal Dank verdient, wenn ſie mit der Ausfuͤhrung zauderten. Dieſe Geſinnung wußte der Gevatter Dolmetſch, den die Geiſtesgegenwart niemals verließ, aufs lebhafteſte bey ihnen rege zu machen. Der Tumult war ohnehin ſo groß, daß eine Zoͤgerung ſich von ſelbſt verſteckte und ent¬ ſchuldigte. Er hatte meine Mutter heraus¬ gerufen, und ihr den Adjutanten gleichſam in die Haͤnde gegeben, daß ſie durch Bitten und Vorſtellungen nur einigen Aufſchub erlan¬ gen moͤchte. Er ſelbſt eilte ſchnell hinauf zum Grafen, der ſich bey der großen Beherr¬ ſchung ſeiner ſelbſt ſogleich ins innre Zimmer230 zuruͤckgezogen hatte, und das dringendſte Geſchaͤft lieber einen Augenblick ſtocken ließ, als daß er den einmal in ihm erregten boͤſen Muth an einem Unſchuldigen gekuͤhlt, und eine ſeiner Wuͤrde nachtheilige Entſcheidung gegeben haͤtte.
Die Anrede des Dolmetſchers an den Grafen, die Fuͤhrung des ganzen Geſpraͤchs hat uns der dicke Gevatter, der ſich auf den gluͤcklichen Erfolg nicht wenig zu Gute that, oft genug wiederholt, ſo daß ich ſie aus dem Gedaͤchtniß wohl noch aufzeichnen kann.
Der Dolmetſch hatte gewagt das Kabi¬ net zu eroͤffnen und hineinzutreten, eine Hand¬ lung die hoͤchſt verpoͤnt war. „ Was wollt ihr? rief ihm der Graf zornig entgegen: Hinaus mit euch! Hier hat niemand das Recht hereinzutreten als Saint Jean. “
So haltet mich einen Augenblick fuͤr Saint Jean, verſetzte der Dolmetſch.
231„ Dazu gehoͤrt eine gute Einbildungskraft. Seiner zwey machen noch nicht einen wie ihr ſeyd. Entfernt euch! “
Herr Graf, Ihr habt eine große Gabe vom Himmel empfangen und an die appel¬ lire ich.
„ Ihr denkt mir zu ſchmeicheln! Glaubt nicht, daß es euch gelingen werde. “
Ihr habt die große Gabe, Herr Graf, auch in Augenblicken der Leidenſchaft, in Au¬ genblicken des Zorns, die Geſinnungen an¬ derer anzuhoͤren.
„ Wohl, wohl! Von Geſinnungen iſt eben die Rede, die ich zu lange angehoͤrt habe. Ich weiß nur zu gut, daß man uns hier nicht liebt, daß uns dieſe Buͤrger ſcheel anſehn. “
Nicht alle!
232„ Sehr viele! Was! dieſe Staͤdter, Reichs¬ ſtaͤdter wollen ſie ſeyn? Ihren Kaiſer haben ſie waͤhlen und kroͤnen ſehen, und wenn dieſer ungerecht angegriffen ſeine Laͤnder zu verlieren und einem Uſurpator zu unterliegen Gefahr laͤuft, wenn er gluͤcklicherweiſe getreue Alliirte findet, die ihr Geld, ihr Blut zu ſeinem Vortheil verwenden; ſo wollen ſie die geringe Laſt nicht tragen, die zu ihrem Theil ſie trifft, daß der Reichsfeind gedemuͤthigt werde. “
Freylich kennt Ihr dieſe Geſinnungen ſchon lange, und habt ſie als ein weiſer Mann ge¬ duldet; auch iſt es nur die geringere Zahl. Wenige, verblendet durch die glaͤnzenden Ei¬ genſchaften des Feindes, den Ihr ja ſelbſt als einen außerordentlichen Mann ſchaͤtzt, wenige nur ‚ Ihr wißt es!
„ Ja wohl! zu lange habe ich es gewußt und geduldet, ſonſt haͤtte dieſer ſich nicht un¬ terſtanden, mir in den bedeutendſten Au¬233 genblicken ſolche Beleidigungen ins Geſicht zu ſagen. Es moͤgen ſeyn ſo viel ihrer wollen, ſie ſollen in dieſem ihren kuͤhnen Repraͤſentan¬ ten geſtraft werden, und ſich merken was ſie zu erwarten haben. “
Nur Aufſchub, Herr Graf!
„ In gewiſſen Dingen kann man nicht zu geſchwind verfahren. “
Nur einen kurzen Aufſchub!
„ Nachbar! ihr denkt mich zu einem fal¬ ſchen Schritt zu verleiten; es ſoll euch nicht gelingen. “
Weder verleiten will ich Euch zu einem falſchen Schritt, noch von einem falſchen zu¬ ruͤckhalten; Euer Entſchluß iſt gerecht: er ge¬ ziemt dem Franzoſen, dem Koͤnigs-Lieutenant; aber bedenkt, daß Ihr auch Graf Thorane ſeyd. 234„ Der hat hier nicht mitzuſprechen. “
Man ſollte den braven Mann doch auch hoͤren.
„ Nun was wuͤrde er denn ſagen? “
Herr Koͤnigs-Lieutenant! wuͤrde er ſagen: Ihr habt ſo lange mit ſo viel dunklen, un¬ willigen, ungeſchickten Menſchen Geduld ge¬ habt, wenn ſie es Euch nur nicht gar zu arg machten. Dieſer hat's freylich ſehr arg ge¬ macht; aber gewinnt es uͤber Euch, Herr Koͤnigs-Lieutenant! und Jedermann wird Euch deswegen loben und preiſen.
„ Ihr wißt, daß ich eure Poſſen manch¬ mal leiden kann; aber misbraucht nicht mein Wohlwollen. Dieſe Menſchen ſind ſie denn ganz verblendet? Haͤtten wir die Schlacht verloren, in dieſem Augenblick, was wuͤrde ihr Schickſal ſeyn? Wir ſchlagen uns bis235 vor die Thore, wir ſperren die Stadt, wir halten, wir vertheidigen uns, um unſere Reti¬ rade uͤber die Bruͤcke zu decken. Glaubt ihr, daß der Feind die Haͤnde in den Schoß ge¬ legt haͤtte? Er wirft Granaten und was er bey der Hand hat, und ſie zuͤnden wo ſie koͤnnen. Dieſer Hausbeſitzer da, was will er? In dieſen Zimmern hier platzte jetzt wohl eine Feuerkugel und eine andere folgte hinterdrein; in dieſen Zimmern, deren vermaledeyte Pe¬ king-Tapeten ich geſchont, mich genirt habe, meine Landcharten nicht aufzunageln! Den ganzen Tag haͤtten ſie auf den Knieen liegen ſollen. “
Wie viele haben das gethan!
„ Sie haͤtten ſollen den Segen fuͤr uns erſtehen; den Generalen und Offizieren mit Ehren - und Freudenzeichen, den ermatteten Gemeinen mit Erquickung entgegen gehen. An¬ ſtatt deſſen verdirbt mir der Gift dieſes Par¬236 teygeiſtes die ſchoͤnſten, gluͤcklichſten, durch ſo viel Sorgen und Anſtrengungen erworbenen Augenblicke meines Lebens! “
Es iſt ein Parteygeiſt; aber ihr werdet ihn durch die Beſtrafung dieſes Mannes nur vermehren. Die mit ihm Gleichgeſinnten wer¬ den Euch als einen Tyrannen, als einen Bar¬ baren ausſchreyen; ſie werden ihn als einen Maͤrtyrer betrachten, der fuͤr die gute Sache gelitten hat; und ſelbſt die anders Geſinnten, die jetzt ſeine Gegner ſind, werden in ihm nur den Mitbuͤrger ſehen, werden ihn be¬ dauern, und indem ſie Euch Recht geben, den¬ noch finden, daß Ihr zu hart verfahren ſeyd.
„ Ich habe Euch ſchon zu lange angehoͤrt; macht, daß Ihr fortkommt! “
So hoͤrt nur noch dieſes! Bedenkt, daß es das Unerhoͤrteſte iſt, was dieſem Manne, was dieſer Familie begegnen koͤnnte. Ihr hattet237 nicht Urſache von dem guten Willen des Hausherrn erbaut zu ſeyn; aber die Haus¬ frau iſt allen euren Wuͤnſchen zuvorgekom¬ men, und die Kinder haben Euch als ihren Oheim betrachtet. Mit dieſem einzigen Schlag werdet Ihr den Frieden und das Gluͤck dieſer Wohnung auf ewig zerſtoͤren. Ja ich kann wohl ſagen, eine Bombe die ins Haus ge¬ fallen waͤre, wuͤrde nicht groͤßere Verwuͤ¬ ſtungen darin angerichtet haben. Ich habe Euch ſo oft uͤber Eure Faſſung bewundert, Herr Graf; gebt mir dießmal Gelegenheit, Euch anzubeten. Ein Krieger iſt ehrwuͤrdig, der ſich ſelbſt in Feindes Haus als einen Gaſt¬ freund betrachtet; hier iſt kein Feind, nur ein Verirrter. Gewinnt es uͤber Euch, und es wird Euch zu ewigem Ruhme gereichen!
„ Das muͤßte wunderlich zugehen, verſetzte der Graf, mit einem Laͤcheln. “
Nur ganz natuͤrlich, erwiederte der Dol¬ metſcher. Ich habe die Frau, die Kinder238 nicht zu Euren Fuͤßen geſchickt: denn ich weiß, daß Euch ſolche Scenen verdrießlich ſind; aber ich will Euch die Frau, die Kin¬ der ſchildern, wie ſie Euch danken; ich will ſie Euch ſchildern, wie ſie ſich zeitlebens von dem Tage der Schlacht bey Bergen, und von Eurer Großmuth an dieſem Tage unter¬ halten, wie ſie es Kindern und Kindeskin¬ dern erzaͤhlen, und auch Fremden ihr Inter¬ eſſe fuͤr Euch einzufloͤßen wiſſen: eine Hand¬ lung dieſer Art kann nicht untergehen!
„ Ihr trefft meine ſchwache Seite nicht, Dolmetſcher. An den Nachruhm pfleg 'ich nicht zu denken, der iſt fuͤr andere, nicht fuͤr mich; aber im Augenblick recht zu thun, meine Pflicht nicht zu verſaͤumen, meiner Ehre nichts zu vergeben, das iſt meine Sorge. Wir haben ſchon zu viel Worte ge¬ macht; jetzt geht hin — und laßt Euch von den Undankbaren danken, die ich verſchone! “ 239Der Dolmetſch, durch dieſen unerwar¬ tet gluͤcklichen Ausgang uͤberraſcht und bewegt, konnte ſich der Thraͤnen nicht enthalten, und wollte dem Grafen die Haͤnde kuͤſſen; der Graf wies ihn ab und ſagte ſtreng und ernſt: Ihr wißt, daß ich dergleichen nicht leiden kann! Und mit dieſen Worten trat er auf den Vorſaal, um die andringenden Ge¬ ſchaͤfte zu beſorgen, und das Begehren ſo vieler wartenden Menſchen zu vernehmen. So ward die Sache beygelegt, und wir feyerten den andern Morgen, bey den Ueber¬ bleibſeln der geſtrigen Zuckergeſchenke, das Voruͤbergehen eines Uebels, deſſen Androhen wir gluͤcklich verſchlafen hatten.
Ob der Dolmetſch wirklich ſo weiſe ge¬ ſprochen, oder ob er ſich die Scene nur ſo ausgemalt, wie man es wohl nach einer gu¬ ten und gluͤcklichen Handlung zu thun pflegt, will ich nicht entſcheiden; wenigſtens hat er bey Wiedererzaͤhlung derſelben niemals variirt. 240Genug, dieſer Tag duͤnkte ihm, ſo wie der ſorgenvollſte, ſo auch der glorreichſte ſeines Lebens.
Wie ſehr uͤbrigens der Graf alles falſche Ceremoniel abgelehnt, keinen Titel, der ihm nicht gebuͤhrte, jemals angenommen, und wie er in ſeinen heitern Stunden immer geiſtreich geweſen, davon ſoll eine kleine Begebenheit ein Zeugniß ablegen.
Ein vornehmer Mann, der aber auch unter die abſtruſen einſamen Frankfurter ge¬ hoͤrte, glaubte ſich uͤber ſeine Einquartierung beklagen zu muͤſſen. Er kam perſoͤnlich, und der Dolmetſch bot ihm ſeine Dienſte an; Jener aber meinte derſelben nicht zu beduͤr¬ fen. Er trat vor den Grafen mit einer an¬ ſtaͤndigen Verbeugung und ſagte: Excellenz! Der Graf gab ihm die Verbeugung zuruͤck, ſo wie die Excellenz. Betroffen von dieſer Ehrenbezeigung, nicht anders glaubend als241 der Titel ſey zu gering, buͤckte er ſich tiefer, und ſagte: Monſeigneur! — „ Mein Herr, ſagte der Graf ganz ernſthaft: wir wollen nicht weiter gehen, denn ſonſt koͤnnten wir es leicht bis zur Majeſtaͤt bringen. “— Der andere war aͤußerſt verlegen und wußte kein Wort zu ſagen. Der Dolmetſch, in einiger Entfernung ſtehend und von der ganzen Sache unterrichtet, war boshaft genug, ſich nicht zu ruͤhren; der Graf aber, mit großer Hei¬ terkeit, fuhr fort: „ Zum Beyſpiel, mein Herr, wie heißen Sie? “— Spangenberg, verſetzte jener — „ und ich, ſagte der Graf, heiße Thorane. Spangenberg, was wollt Ihr von Thorane? und nun ſetzen wir uns, die Sache ſoll gleich abgethan ſeyn. “
Und ſo wurde die Sache auch gleich zu großer Zufriedenheit desjenigen abgethan, den ich hier Spangenberg genannt habe, und die Geſchichte noch an ſelbigem Abend von dem ſchadenfrohen Dolmetſch in unſerm Familien¬I. 16242kreiſe nicht nur erzaͤhlt, ſondern mit allen Umſtaͤnden und Gebaͤrden aufgefuͤhrt.
Nach ſolchen Verwirrungen, Unruhen und Bedraͤngniſſen fand ſich gar bald die vorige Sicherheit und der Leichtſinn wieder, mit welchem beſonders die Jugend von Tag zu Tage lebt, wenn es nur einigermaßen ange¬ hen will. Meine Leidenſchaft zu dem fran¬ zoͤſiſchen Theater wuchs mit jeder Vorſtel¬ lung; ich verſaͤumte keinen Abend, ob ich gleich jedesmal, wenn ich nach dem Schau¬ ſpiel mich zur ſpeiſenden Familie an den Tiſch ſetzte und mich gar oft nur mit einigen Reſten begnuͤgte, die ſteten Vorwuͤrfe des Vaters zu dulden hatte: das Theater ſey zu gar nichts nuͤtze, und koͤnne zu gar nichts fuͤhren. Ich rief in ſolchem Falle gewoͤhnlich alle und jede Argumente hervor, welche den Vertheidigern des Schauſpiels zur Hand ſind, wenn ſie in eine gleiche Noth wie die mei¬ nige gerathen. Das Laſter im Gluͤck, die243 Tugend im Ungluͤck wurden zuletzt durch die poetiſche Gerechtigkeit wieder ins Gleichge¬ wicht gebracht. Die ſchoͤnen Beyſpiele von beſtraften Vergehungen, Miß Sara Samp¬ ſon und der Kaufmann von London, wurden ſehr lebhaft von mir hervorgehoben; aber ich zog dagegen oͤfters den Kuͤrzern, wenn die Schelmſtreiche Scapins und dergleichen auf dem Zettel ſtanden, und ich mir das Beha¬ gen mußte vorwerfen laſſen, das man uͤber die Betruͤgereyen raͤnkevoller Knechte, und uͤber den guten Erfolg der Thorheiten aus¬ gelaſſener Juͤnglinge im Publicum empfinde. Beyde Parteyen uͤberzeugten einander nicht; doch wurde mein Vater ſehr bald mit der Buͤhne ausgeſoͤhnt, als er ſah, daß ich mit unglaublicher Schnelligkeit in der franzoͤſiſchen Sprache zunahm.
Die Menſchen ſind nun einmal ſo, daß Jeder was er thun ſieht, lieber ſelbſt vor¬ naͤhme, er habe nun Geſchick dazu oder16 *244nicht. Ich hatte nun bald den ganzen Cur¬ ſus der franzoͤſiſchen Buͤhne durchgemacht; mehrere Stuͤcke kamen ſchon zum zweyten und dritten Mal; von der wuͤrdigſten Tra¬ goͤdie bis zum leichtfertigſten Nachſpiel war mir alles vor Augen und Geiſt vorbeyge¬ gangen; und wie ich als Kind den Terenz nachzuahmen wagte: ſo verfehlte ich nunmehr nicht als Knabe, bey einem viel lebhafter dringenden Anlaß, auch die franzoͤſiſchen For¬ men nach meinem Vermoͤgen und Unvermoͤ¬ gen zu wiederholen. Es wurden damals einige halb mythologiſche, halb allegoriſche Stuͤcke im Geſchmack des Piron gegeben; ſie hatten etwas von der Parodie und gefie¬ len ſehr. Dieſe Vorſtellungen zogen mich beſonders an: die goldnen Fluͤgelchen eines heitern Merkur, der Donnerkeil des verkapp¬ ten Jupiter, eine galante Danae, oder wie eine von Goͤttern beſuchte Schoͤne heißen mochte, wenn es nicht gar eine Schaͤferinn oder Jaͤgerinn war, zu der ſie ſich herunter¬245 ließen. Und da mir dergleichen Elemente aus Ovids Verwandlungen, und Pomey's Pantheon Mythicum ſehr haͤufig im Kopfe herum ſummten, ſo hatte ich bald ein ſolches Stuͤckchen in meiner Phantaſie zuſammen¬ geſtellt, wovon ich nur ſo viel zu ſagen weiß, daß die Scene laͤndlich war, daß es aber doch darin weder an Koͤnigstoͤchtern, noch Prinzen, noch Goͤttern fehlte. Der Merkur beſonders war mir dabey ſo lebhaft im Sinne, daß ich noch ſchwoͤren wollte, ich haͤtte ihn mit Augen geſehen.
Eine von mir ſelbſt ſehr reinlich gefertigte Abſchrift legte ich meinem Freunde Dero¬ nes vor, welcher ſie mit ganz beſonderem Anſtand und einer wahrhaften Goͤnnermiene aufnahm, das Manuſcript fluͤchtig durchſah, mir einige Sprachfehler nachwies, einige Re¬ den zu lang fand, und zuletzt verſprach das Werk bey gehoͤriger Muße naͤher zu betrach¬ ten und zu beurtheilen. Auf meine beſchei¬246 dene Frage, ob das Stuͤck wohl aufgefuͤhrt werden koͤnne, verſicherte er mir, daß es gar nicht unmoͤglich ſey. Sehr vieles komme beym Theater auf Gunſt an, und er be¬ ſchuͤtze mich von ganzem Herzen; nur muͤſſe man die Sache geheim halten: denn er habe ſelbſt einmal mit einem von ihm verfertigten Stuͤck die Direction uͤberraſcht, und es waͤre gewiß aufgefuͤhrt worden, wenn man nicht zu fruͤh entdeckt haͤtte, daß er der Verfaſſer ſey. Ich verſprach ihm alles moͤgliche Still¬ ſchweigen, und ſah ſchon im Geiſt den Titel meiner Piece an den Ecken der Straßen und Plaͤtze mit großen Buchſtaben angeſchlagen.
So leichtſinnig uͤbrigens der Freund war, ſo ſchien ihm doch die Gelegenheit den Mei¬ ſter zu ſpielen allzu erwuͤnſcht. Er las das Stuͤck mit Aufmerkſamkeit durch, und indem er ſich mit mir hinſetzte, um einige Kleinig¬ keiten zu aͤndern, kehrte er im Laufe der Unterhaltung das ganze Stuͤck um und um,247 ſo daß auch kein Stein auf dem andern blieb. Er ſtrich aus, ſetzte zu, nahm eine Perſon weg, ſubſtituirte eine andere, genug er verfuhr mit der tollſten Willkuͤhr von der Welt, daß mir die Haare zu Berge ſtanden. Mein Vorurtheil, daß er es doch verſtehen muͤſſe, ließ ihn gewaͤhren: denn er hatte mir ſchon oͤfter von den drey Einheiten des Ari¬ ſtoteles, von der Regelmaͤßigkeit der franzoͤſi¬ ſchen Buͤhne, von der Wahrſcheinlichkeit, von der Harmonie der Verſe und allem was dar¬ an haͤngt, ſo viel vorerzaͤhlt, daß ich ihn nicht nur fuͤr unterrichtet, ſondern auch fuͤr begruͤndet halten mußte. Er ſchalt auf die Englaͤnder und verachtete die Deutſchen; ge¬ nug, er trug mir die ganze dramaturgiſche Litaney vor, die ich in meinem Leben ſo oft mußte wiederholen hoͤren.
Ich nahm, wie der Knabe in der Fabel, meine zerfetzte Geburt mit nach Hauſe, und ſuchte ſie wieder herzuſtellen; aber vergebens. 248Weil ich ſie jedoch nicht ganz aufgeben wollte, ſo ließ ich aus meinem erſten Manuſcript, nach wenigen Veraͤnderungen, eine ſaubere Abſchrift durch unſern Schreibenden anferti¬ gen, die ich denn meinem Vater uͤberreichte und dadurch ſoviel erlangte, daß er mich, nach vollendetem Schauſpiel, meine Abendkoſt eine Zeitlang ruhig verzehren ließ.
Dieſer mislungene Verſuch hatte mich nachdenklich gemacht, und ich wollte nunmehr dieſe Theorieen, dieſe Geſetze, auf die ſich Jedermann berief, und die mir beſonders durch die Unart meines anmaaßlichen Mei¬ ſters verdaͤchtig geworden waren, unmittelbar an den Quellen kennen lernen, welches mir zwar nicht ſchwer doch muͤhſam wurde. Ich las zunaͤchſt Corneilie's Abhandlung uͤber die drey Einheiten, und erſah wohl daraus, wie man es haben wollte; warum man es aber ſo verlangte, ward mir keineswegs deutlich, und was das ſchlimmſte war, ich gerieth249 ſogleich in noch groͤßere Verwirrung, indem ich mich mit den Haͤndeln uͤber den Cid be¬ kannt machte, und die Vorreden las, in welchen Corneille und Racine ſich gegen Kri¬ tiker und Publicum zu vertheidigen genoͤthigt ſind. Hier ſah ich wenigſtens auf das deut¬ lichſte, daß kein Menſch wußte was er wollte; daß ein Stuͤck wie Cid, das die herrlichſte Wirkung hervorgebracht, auf Befehl eines allmaͤchtigen Cardinal's abſolut ſollte fuͤr ſchlecht erklaͤrt werden; daß Racine, der Ab¬ gott der zu meiner Zeit lebenden Franzoſen, der nun auch mein Abgott geworden war (denn ich hatte ihn naͤher kennen lernen, als Schoͤff von Olenſchlager durch uns Kinder den Britannicus auffuͤhren ließ, wor¬ in mir die Rolle des Nero zu Theil ward) daß Racine, ſage ich, auch zu ſeiner Zeit weder mit Liebhabern noch Kunſtrichtern fer¬ tig werden koͤnnen. Durch alles dieſes ward ich verworrner als jemals, und nachdem ich mich lange mit dieſem Hin - und Herreden,250 mit dieſer theoretiſchen Salbaderey des vo¬ rigen Jahrhunderts, gequaͤlt hatte, ſchuͤttete ich das Kind mit dem Bade aus, und warf den ganzen Plunder deſto entſchiedener von mir, je mehr ich zu bemerken glaubte, daß die Autoren ſelbſt, welche vortreffliche Sa¬ chen hervorbrachten, wenn ſie daruͤber zu re¬ den anfingen, wenn ſie den Grund ihres Handelns angaben, wenn ſie ſich vertheidigen, entſchuldigen, beſchoͤnigen wollten, doch auch nicht immer den rechten Fleck zu treffen wu߬ ten. Ich eilte daher wieder zu dem lebendig Vorhandenen, beſuchte das Schauſpiel weit eifriger, las gewiſſenhafter und ununterbroch¬ ner, ſo daß ich in dieſer Zeit Racine und Moliere ganz, und von Corneille einen gro¬ ßen Theil durchzuarbeiten die Anhaltſamkeit hatte.
Der Koͤnigs-Lieutenant wohnte noch im¬ mer in unſerm Hauſe. Er hatte ſein Be¬ tragen in nichts geaͤndert, beſonders gegen251 uns; allein es war merklich, und der Gevat¬ ter Dolmetſch wußte es uns noch deutlicher zu machen, daß er ſein Amt nicht mehr mit der Heiterkeit, nicht mehr mit dem Eifer verwaltete wie Anfangs, obgleich immer mit derſelben Rechtſchaffenheit und Treue. Sein Weſen und Betragen, das eher einen Spa¬ nier als einen Franzoſen ankuͤndigte, ſeine Launen, die doch mitunter Einfluß auf ein Geſchaͤft hatten, ſeine Unbiegſamkeit gegen die Umſtaͤnde, ſeine Reizbarkeit gegen alles was ſeine Perſon oder Character beruͤhrte, dieſes zuſammen mochte ihn doch zuweilen mit ſeinen Vorgeſetzten in Conflict bringen. Hiezu kam noch, daß er in einem Duell, welches ſich im Schauſpiel entſponnen hatte, verwundet wurde, und man dem Koͤnigs - Lieutenant uͤbel nahm, daß er ſelbſt eine ver¬ poͤnte Handlung als oberſter Polizeymeiſter begangen. Alles dieſes mochte, wie geſagt, dazu beytragen, daß er in ſich gezogner252 lebte und hier und da vielleicht weniger en¬ ergiſch verfuhr.
Indeſſen war nun ſchon eine anſehnliche Partie der beſtellten Gemaͤlde abgeliefert. Graf Thorane brachte ſeine Freyſtunden mit der Betrachtung derſelben zu, indem er ſie in gedachtem Gibelzimmer, Bane fuͤr Bane, breiter und ſchmaͤler, neben einander, und weil es an Platz mangelte, ſogar uͤber einan¬ der nageln, wiederabnehmen und aufrollen ließ. Immer wurden die Arbeiten aufs neue unterſucht, man erfreute ſich wiederholt an den Stellen, die man fuͤr die gelungenſten hielt; aber es fehlte auch nicht an Wuͤnſchen, dieſes oder jenes anders geleiſtet zu ſehen.
Hieraus entſprang eine neue und ganz wunderſame Operation. Da naͤmlich der eine Maler Figuren, der andere die Mittel¬ gruͤnde und Fernen, der dritte die Baͤume, der vierte die Blumen am beſten arbeitete;253 ſo kam der Graf auf den Gedanken, ob man nicht dieſe Talente in den Bildern ver¬ einigen, und auf dieſem Wege vollkommene Werke hervorbringen koͤnne. Der Anfang ward ſogleich damit gemacht, daß man z. B. in eine fertige Landſchaft noch ſchoͤne Herden hineinmalen ließ. Weil nun aber nicht immer der gehoͤrige Platz dazu da war, es auch dem Thiermaler auf ein paar Schafe mehr oder weniger nicht ankam; ſo war endlich die weiteſte Landſchaft zu enge. Nun hatte der Menſchenmaler auch noch die Hirten und einige Wandrer hineinzubrin¬ gen; dieſe nahmen ſich wiederum einander gleichſam die Luft, und man war verwun¬ dert, wie ſie nicht ſaͤmtlich in der freye¬ ſten Gegend erſtickten. Man konnte niemals vorausſehen, was aus der Sache werden wuͤrde, und wenn ſie fertig war, befrie¬ digte ſie nicht. Die Maler wurden verdrie߬ lich. Bey den erſten Beſtellungen hatten ſie254 gewonnen, bey dieſen Nacharbeiten verloren ſie, obgleich der Graf auch dieſe ſehr gro߬ muͤthig bezahlte. Und da die von mehrern auf Einem Bilde durch einander gearbeiteten Theile, bey aller Muͤhe, keinen guten Effect hervorbrachten, ſo glaubte zuletzt ein Jeder, daß ſeine Arbeit durch die Arbeiten der an¬ dern verdorben und vernichtet worden; daher wenig fehlte, die Kuͤnſtler haͤtten ſich hieruͤ¬ ber entzweyt und waͤren in unverſoͤhnliche Feindſchaft gerathen. Dergleichen Veraͤnde¬ rungen oder vielmehr Zuthaten wurden in gedachtem Atelier, wo ich mit den Kuͤnſtlern ganz allein blieb, ausgefertiget; und es un¬ terhielt mich, aus den Studien, beſonders der Thiere, dieſes und jenes Einzelne, dieſe oder jene Gruppe auszuſuchen, und ſie fuͤr die Naͤhe oder die Ferne in Vorſchlag zu bringen; worin man mir denn manchmal aus Ueberzeugung oder Geneigtheit zu will¬ fahren pflegte.
255Die Theilnehmenden an dieſem Geſchaͤft wurden alſo hoͤchſt muthlos, beſonders See¬ kaz, ein ſehr hypochondriſcher und in ſich gezogner Mann, der zwar unter Freunden durch eine unvergleichlich heitre Laune ſich als den beſten Geſellſchafter bewies, aber wenn er arbeitete, allein, in ſich gekehrt und voͤllig frey wirken wollte. Dieſer ſollte nun, wenn er ſchwere Aufgaben geloͤſt, ſie mit dem groͤßten Fleiß und der waͤrmſten Liebe, deren er immer faͤhig war, vollendet hatte, zu wiederholten Malen von Darmſtadt nach Frankfurt reiſen, um entweder an ſeinen ei¬ genen Bildern etwas zu veraͤndern, oder fremde zu ſtaffiren, oder gar unter ſeinem Beyſtand durch einen Dritten ſeine Bilder ins Buntſchaͤckige arbeiten zu laſſen. Sein Mismuth nahm zu, ſein Widerſtand ent¬ ſchied ſich, und es brauchte großer Bemuͤhun¬ gen von unſerer Seite, um dieſen Gevat¬ ter — denn auch er war's geworden — nach des Grafen Wuͤnſchen zu lenken. Ich erin¬256 nere mich noch, daß, als ſchon die Kaſten bereit ſtanden, um die ſaͤmtlichen Bilder in der Ordnung einzupacken, in welcher ſie an dem Ort ihrer Beſtimmung der Tapezirer ohne weiteres aufheften konnte, daß, ſage ich, nur eine kleine doch unumgaͤngliche Nacharbeit er¬ fordert wurde, Seekaz aber nicht zu bewe¬ gen war heruͤberzukommen. Er hatte freylich noch zu guter Letzt das beſte gethan was er vermochte, indem er die vier Elemente in Kindern und Knaben, nach dem Leben, in Thuͤrſtuͤcken dargeſtellt, und nicht allein auf die Figuren ſondern auch auf die Beywerke den groͤßten Fleiß gewendet hatte. Dieſe waren abgeliefert, bezahlt, und er glaubte auf immer aus der Sache geſchieden zu ſeyn; nun aber ſollte er wieder heruͤber, um einige Bilder, deren Maße etwas zu klein genom¬ men worden, mit wenigen Pinſelzuͤgen zu erweitern. Ein anderer, glaubte er, koͤnne das auch thun; er hatte ſich ſchon zu neuer Arbeit eingerichtet; kurz er wollte nicht kom¬257 men. Die Abſendung war vor der Thuͤre, trocknen ſollte es auch noch, jeder Verzug war mislich; der Graf, in Verzweiflung, wollte ihn militaͤriſch abholen laſſen. Wir alle wuͤnſchten die Bilder endlich fort zu ſe¬ hen, und fanden zuletzt keine Auskunft, als daß der Gevatter Dolmetſch ſich in einen Wagen ſetzte und den Widerſpaͤnſtigen mit Frau und Kind heruͤberholte, der dann von dem Grafen freundlich empfangen, wohl gepflegt, und zuletzt reichlich beſchenkt entlaſ¬ ſen wurde.
Nach den fortgeſchafften Bildern zeigte ſich ein großer Friede im Hauſe. Das Giebel¬ zimmer im Manſard wurde gereinigt und mir uͤbergeben, und mein Vater, wie er die Kaſten fortſchaffen ſah, konnte ſich des Wun¬ ſches nicht erwehren, den Grafen hinterdrein zu ſchicken. Denn wie ſehr die Neigung des Grafen auch mit der ſeinigen uͤbereinſtimmte; wie ſehr es den Vater freuen mußte, ſeinenI. 17258Grundſatz, fuͤr lebende Meiſter zu ſorgen, durch einen reicheren ſo fruchtbar befolgt zu ſehen; wie ſehr es ihn ſchmeicheln konnte, daß ſeine Sammlung Anlaß gegeben, einer Anzahl braver Kuͤnſtler in bedraͤngter Zeit einen ſo anſehnlichen Erwerb zu verſchaffen: ſo fuͤhlte er doch eine ſolche Abneigung ge¬ gen den Fremden, der in ſein Haus einge¬ drungen, daß ihm an deſſen Handlungen nichts recht duͤnken konnte. Man ſolle Kuͤnſt¬ ler beſchaͤftigen, aber nicht zu Tapetenmalern erniedrigen; man ſolle mit dem was ſie nach ihrer Ueberzeugung und Faͤhigkeit geleiſtet, wenn es einem auch nicht durchgaͤngig behage, zufrieden ſeyn und nicht immer daran mark¬ ten und maͤkeln: genug, es gab, ungeachtet des Grafen eigner liberalen Bemuͤhung, ein fuͤr allemal kein Verhaͤltniß. Mein Vater beſuchte jenes Zimmer bloß, wenn ſich der Graf bey Tafel befand, und ich erinnere mich nur ein einziges Mal, als Seekaz ſich ſelbſt uͤbertroffen hatte, und das Verian¬259 gen dieſe Bilder zu ſehen das ganze Haus herbeytrieb, daß mein Vater und der Graf zuſammentreffend an dieſen Kunſtwerken ein gemeinſames Gefallen bezeigten, das ſie an einander ſelbſt nicht finden konnten.
Kaum hatten alſo die Kiſten und Ka¬ ſten das Haus geraͤumt, als der fruͤher eingeleitete aber unterbrochne Betrieb, den Grafen zu entfernen, wieder angeknuͤpft wur¬ de. Man ſuchte durch Vorſtellungen die Gerechtigkeit, die Billigkeit durch Bitten, durch Einfluß die Neigung zu gewinnen, und brachte es endlich dahin, daß die Quartier¬ herren den Beſchluß faßten: es ſolle der Graf umlogirt, und unſer Haus, in Betracht der ſeit einigen Jahren unausgeſetzt Tag und Nacht getragnen Laſt, kuͤnftig mit Einquar¬ tierung verſchont werden. Damit ſich aber hierzu ein ſcheinbarer Vorwand finde, ſo ſolle man in eben den erſten Stock, den bisher der Koͤnigs-Lieutenant beſetzt gehabt, Mieth¬17 *260leute einnehmen und dadurch eine neue Be¬ quartierung gleichſam unmoͤglich machen. Der Graf, der nach der Trennung von ſeinen geliebten Gemaͤlden kein beſonderes Intereſſe mehr am Hauſe fand, auch ohnehin bald abgerufen und verſetzt zu werden hoffte, ließ es ſich ohne Widerrede gefallen eine an¬ dere gute Wohnung zu beziehen, und ſchied von uns in Frieden und gutem Willen. Auch verließ er bald darauf die Stadt und erhielt ſtufenweiſe noch verſchiedene Chargen, doch, wie man hoͤrte, nicht zu ſeiner Zufriedenheit. Er hatte indeß das Vergnuͤgen, jene ſo emſig von ihm beſorgten Gemaͤlde in dem Schloſſe ſeines Bruders gluͤcklich angebracht zu ſehen; ſchrieb einige Male, ſendete Maße und ließ von den mehr genannten Kuͤnſtlern verſchie¬ denes nacharbeiten. Endlich vernahmen wir nichts weiter von ihm, außer daß man uns nach mehreren Jahren verſichern wollte, er ſey in Weſtindien, auf einer der franzoͤſiſchen Colonieen, als Gouverneur geſtorben.
So viel Unbequemlichkeit uns auch die franzoͤſiſche Einquartierung mochte verurſacht haben, ſo waren wir ſie doch zu gewohnt geworden, als daß wir ſie nicht haͤtten ver¬ miſſen, daß uns Kindern das Haus nicht haͤtte todt ſcheinen ſollen. Auch war es uns nicht beſtimmt, wieder zur voͤlligen Fa¬ milieneinheit zu gelangen. Neue Miethleute waren ſchon beſprochen, und nach einigem Kehren und Scheuern, Hobeln und Bohnen, Malen und Anſtreichen, war das Haus voͤl¬ lig wieder hergeſtellt. Der Canzleydirector Moriz mit den Seinigen, ſehr werthe Freunde meiner Aeltern, zogen ein. Dieſer, kein geborner Frankfurter, aber ein tuͤchtiger Juriſt und Geſchaͤftsmann, beſorgte die Rechtsangelegenheiten mehrerer kleinen Fuͤr¬ ſten, Grafen und Herren. Ich habe ihn264 niemals anders als heiter und gefaͤllig und uͤber ſeinen Acten emſig geſehen. Frau und Kinder, ſanft, ſtill und wohlwollend, ver¬ mehrten zwar nicht die Geſelligkeit in unſerm Hauſe: denn ſie blieben fuͤr ſich; aber es war eine Stille, ein Friede zuruͤckgekehrt, den wir lange Zeit nicht genoſſen hatten. Ich bewohnte nun wieder mein Manſard-Zimmer, in welchem die Geſpenſter der vielen Gemaͤlde mir zuweilen vorſchwebten, die ich denn durch Arbeiten und Studien zu verſcheuchen ſuchte.
Der Legationsrath Moriz, ein Bruder des Canzleydirectors, kam von jetzt an auch oͤfters in unſer Haus. Er war ſchon mehr Weltmann, von einer anſehnlichen Geſtalt und dabey von bequem gefaͤlligem Betragen. Auch er beſorgte die Angelegenheiten verſchiedener Standesperſonen, und kam mit meinem Va¬ ter, bey Anlaß von Concurſen und kaiſerli¬ chen Commiſſionen, mehrmals in Beruͤhrung. Beyde hielten viel auf einander, und ſtanden265 gemeiniglich auf der Seite der Creditoren, mußten aber zu ihrem Verdruß gewoͤhnlich erfahren, daß die Mehrheit der bey ſolcher Gelegenheit Abgeordneten fuͤr die Seite der Debitoren gewonnen zu werden pflegt. Der Legationsrath theilte ſeine Kenntniſſe gern mit, war ein Freund der Mathematik, und weil dieſe in ſeinem gegenwaͤrtigen Lebensgange gar nicht vorkam, ſo machte er ſich ein Vergnuͤgen daraus, mir in dieſen Kenntniſſen weiter zu helfen. Dadurch ward ich in den Stand geſetzt, meine architectoniſchen Riſſe genauer als bisher auszuarbeiten, und den Unterricht eines Zeichenmeiſters, der uns jetzt auch taͤglich eine Stunde beſchaͤftigte, beſſer zu nutzen.
Dieſer gute alte Mann war freylich nur ein Halbkuͤnſtler. Wir mußten Striche machen und ſie zuſammenſetzen, woraus denn Augen und Naſen, Lippen und Ohren, ja zuletzt ganze Geſichter und Koͤpfe entſtehen ſollten; allein es war dabey weder an natuͤrliche266 noch kuͤnſtliche Form gedacht. Wir wurden eine Zeitlang mit dieſem Qui pro Quo der menſchlichen Geſtalt gequaͤlt, und man glaubte uns zuletzt ſehr weit gebracht zu haben, als wir die ſogenannten Affecten von Le Bruͤn zur Nachzeichnung erhielten. Aber auch dieſe Zerrbilder foͤrderten uns nicht. Nun ſchwank¬ ten wir zu den Landſchaften, zum Baumſchlag und zu allen den Dingen, die im gewoͤhnli¬ chen Unterricht ohne Folge und ohne Methode geuͤbt werden. Zuletzt fielen wir auf die genaue Nachahmung und auf die Sauberkeit der Striche, ohne uns weiter um den Werth des Originals oder deſſen Geſchmack zu bekuͤmmern.
In dieſem Beſtreben ging uns der Vater auf eine muſterhafte Weiſe vor. Er hatte nie gezeichnet, wollte nun aber, da ſeine Kinder dieſe Kunſt trieben, nicht zuruͤckblei¬ ben, ſondern ihnen, ſelbſt in ſeinem Alter, ein Beyſpiel geben, wie ſie in ihrer Jugend267 verfahren ſollten. Er copirte alſo einige Koͤpfe des Piazzetta, nach deſſen bekann¬ ten Blaͤttern in klein Octav, mit engliſchem Bleyſtift auf das feinſte hollaͤndiſche Papier. Er beobachtete dabey nicht allein die groͤßte Reinlichkeit im Umriß, ſondern ahmte auch die Schraffirung des Kupferſtichs aufs genauſte nach, mit einer leichten Hand, nur allzu leiſe, da er denn, weil er die Haͤrte vermei¬ den wollte, keine Haltung in ſeine Blaͤtter brachte. Doch waren ſie durchaus zart und gleichfoͤrmig. Sein anhaltender unermuͤdlicher Fleiß ging ſo weit, daß er die ganze anſehn¬ liche Sammlung nach allen ihren Nummern durchzeichnete, indeſſen wir Kinder von ei¬ nem Kopf zum andern ſprangen, und uns nur die auswaͤhlten, die uns gefielen.
Um dieſe Zeit ward auch der ſchon laͤngſt in Berathung gezogne Vorſatz, uns in der Muſik unterrichten zu laſſen, ausgefuͤhrt; und zwar verdient der letzte Anſtoß dazu wohl268 einige Erwaͤhnung. Daß wir das Clavier lernen ſollten, war ausgemacht; allein uͤber die Wahl des Meiſters war man immer ſtrei¬ tig geweſen. Endlich komme ich einmal zufaͤl¬ ligerweiſe in das Zimmer eines meiner Geſel¬ len, der eben Clavierſtunde nimmt, und finde den Lehrer als einen ganz allerliebſten Mann. Fuͤr jeden Finger der rechten und linken Hand hat er einen Spitznamen, womit er ihn aufs luſtigſte bezeichnet, wenn er gebraucht werden ſoll. Die ſchwarzen und weißen Taſten werden gleichfalls bildlich benannt, ja die Toͤne ſelbſt erſcheinen unter figuͤrlichen Namen. Eine ſolche bunte Geſell¬ ſchaft arbeitet nun ganz vergnuͤglich durch einander. Applicatur und Tact ſcheinen ganz leicht und anſchaulich zu werden, und indem der Schuͤler zu dem beſten Humor aufgeregt wird, geht auch alles zum ſchoͤnſten von Statten.
Kaum war ich nach Hauſe gekommen, als ich den Aeltern anlag, nunmehr Ernſt269 zu machen und uns dieſen unvergleichlichen Mann zum Claviermeiſter zu geben. Man nahm noch einigen Anſtand, man erkundigte ſich; man hoͤrte zwar nichts Uebles von dem Lehrer, aber auch nichts ſonderlich Gutes. Ich hatte indeſſen meiner Schweſter alle die luſtigen Benennungen erzaͤhlt, wir konnten den Unterricht kaum erwarten, und ſetzten es durch, daß der Mann angenommen wurde.
Das Notenleſen ging zuerſt an, und als dabey kein Spaß vorkommen wollte, troͤ¬ ſteten wir uns mit der Hoffnung, daß wenn es erſt ans Clavier gehen wuͤrde, wenn es an die Finger kaͤme, das ſcherzhafte Weſen ſeinen Anfang nehmen wuͤrde. Allein weder Taſtatur noch Fingerſetzung ſchien zu einigem Gleichniß Gelegenheit zu geben. So trocken wie die Noten, mit ihren Strichen auf und zwiſchen den fuͤnf Linien, blieben auch die ſchwarzen und weißen Claves, und weder von einem Daͤumerling noch Deuterling noch270 Goldfinger war mehr eine Sylbe zu hoͤren; und das Geſicht verzog der Mann ſo wenig beym trocknen Unterricht, als er es vorher beym trocknen Spaß verzogen hatte. Meine Schweſter machte mir die bitterſten Vorwuͤrfe, daß ich ſie getaͤuſcht habe, und glaubte wirk¬ lich, es ſey nur Erfindung von mir geweſen. Ich war aber ſelbſt betaͤubt und lernte wenig, ob der Mann gleich ordentlich genug zu Werke ging: denn ich wartete immer noch, die fruͤhern Spaͤße ſollten zum Vorſchein kommen, und vertroͤſtete meine Schweſter von einem Tage zum andern. Aber ſie blie¬ ben aus, und ich haͤtte mir dieſes Raͤthſel niemals erklaͤren koͤnnen, wenn es mir nicht gleichfalls ein Zufall aufgeloͤſt haͤtte.
Einer meiner Geſpielen trat herein, mit¬ ten in der Stunde, und auf einmal eroͤffne¬ ten ſich die ſaͤmmtlichen Roͤhren des humori¬ ſtiſchen Springbrunnens; die Daͤumerlinge, und Deuterlinge, die Krabler und Zabler,271 wie er die Finger zu bezeichnen pflegte, die Fakchen und Gakchen, wie er z. B. die No¬ ten f und g, die Fiekchen und Giekchen, wie er fis und gis benannte, waren auf ein¬ mal wieder vorhanden und machten die wun¬ derſamſten Maͤnnerchen. Mein junger Freund kam nicht aus dem Lachen, und freute ſich, daß man auf eine ſo luſtige Weiſe ſo viel lernen koͤnne. Er ſchwur, daß er ſeinen Aeltern keine Ruhe laſſen wuͤrde, bis ſie ihm einen ſolchen vortrefflichen Mann zum Lehrer gegeben.
Und ſo war mir, nach den Grundſaͤtzen einer neuern Erziehungslehre, der Weg zu zwey Kuͤnſten fruͤh genug eroͤffnet, blos auf gut Gluͤck, ohne Ueberzeugung, daß ein an¬ gebornes Talent mich darin weiter foͤrdern koͤnne. Zeichnen muͤſſe Jedermann lernen, behauptete mein Vater, und verehrte deshalb beſonders Kaiſer Maxmilian, welcher dieſes ausdruͤcklich ſolle befohlen haben. Auch hielt272 er mich ernſtlicher dazu an, als zur Muſik, welche er dagegen meiner Schweſter vorzuͤg¬ lich empfahl, ja dieſelbe außer ihren Lehr¬ ſtunden eine ziemliche Zeit des Tages am Claviere feſthielt.
Je mehr ich aber auf dieſe Weiſe zu treiben veranlaßt wurde, deſto mehr wollte ich treiben, und ſelbſt die Freyſtunden wur¬ den zu allerley wunderlichen Beſchaͤftigungen verwendet. Schon ſeit meinen fruͤhſten Zei¬ ten fuͤhlte ich einen Unterſuchungstrieb gegen natuͤrliche Dinge. Man legt es manchmal als eine Anlage zur Grauſamkeit aus, daß Kinder ſolche Gegenſtaͤnde, mit denen ſie eine Zeit lang geſpielt, die ſie bald ſo, bald ſo gehandhabt, endlich zerſtuͤcken, zerreißen und zerfetzen. Doch pflegt ſich auch die Neugierde, das Verlangen, zu erfahren wie ſolche Dinge zuſammenhaͤngen, wie ſie in¬ wendig ausſehen, auf dieſe Weiſe an den Tag zu legen. Ich erinnere mich, daß ich273 als Kind Blumen zerpfluͤckt, um zu ſehen, wie die Blaͤtter in den Kelch, oder auch Voͤ¬ gel berupft, um zu beobachten, wie die Fe¬ dern in die Fluͤgel eingefuͤgt waren. Iſt doch Kindern dieſes nicht zu verdenken, da ja ſelbſt Naturforſcher oͤfter durch Trennen und Sondern als durch Vereinigen und Ver¬ knuͤpfen, mehr durch Toͤdten als durch Bele¬ ben, ſich zu unterrichten glauben.
Ein bewaffneter Magnetſtein, ſehr zier¬ lich in Scharlachtuch eingenaͤht, mußte auch eines Tages die Wirkung einer ſolchen For¬ ſchungsluſt erfahren. Denn dieſe geheime Anziehungskraft, die er nicht allein gegen das ihm angepaßte Eiſenſtaͤbchen ausuͤbte, ſondern die noch uͤberdieß von der Art war, daß ſie ſich verſtaͤrken und taͤglich ein groͤßres Gewicht tragen konnte, dieſe geheimnißvolle Tugend hatte mich dergeſtalt zur Bewunde¬ rung hingeriſſen, daß ich mir lange Zeit blos im Anſtaunen ihrer Wirkung gefiel. Zuletztl. 18274aber glaubte ich doch einige naͤhere Auf¬ ſchluͤſſe zu erlangen, wenn ich die aͤußere Huͤlle wegtrennte. Dieß geſchah, ohne daß ich dadurch kluͤger geworden waͤre: denn die nackte Armatur belehrte mich nicht weiter. Auch dieſe nahm ich herab und behielt nun den bloßen Stein in Haͤnden, mit dem ich durch Feilſpaͤne und Naͤhnadeln mancherley Verſuche zu machen nicht ermuͤdete, aus de¬ nen jedoch mein jugendlicher Geiſt, außer einer mannigfaltigen Erfahrung, keinen wei¬ tern Vortheil zog. Ich wußte die ganze Vorrichtung nicht wieder zuſammenzubringen, die Theile zerſtreuten ſich, und ich verlor das eminente Phaͤnomen zugleich mit dem Ap¬ parat.
Nicht gluͤcklicher ging es mir mit der Zuſammenſetzung einer Electriſirmaſchine. Ein Hausfreund, deſſen Jugend in die Zeit ge¬ fallen war, in welcher die Electricitaͤt alle Geiſter beſchaͤftigte, erzaͤhlte uns oͤfter, wie275 er als Knabe eine ſolche Maſchine zu beſitzen gewuͤnſcht, wie er ſich die Hauptbedingungen abgeſehen, und mit Huͤlfe eines alten Spinn¬ rades und einiger Arzneyglaͤſer ziemliche Wir¬ kungen hervorgebracht. Da er dieſes gern und oft wiederholte, und uns dabey von der Electricitaͤt uͤberhaupt unterrichtete; ſo fanden wir Kinder die Sache ſehr plauſibel, und quaͤlten uns mit einem alten Spinnrade und einigen Arzneyglaͤſern lange Zeit herum, ohne auch nur die mindeſte Wirkung hervorbringen zu koͤnnen. Wir hielten demungeachtet am Glauben feſt, und waren ſehr vergnuͤgt, als zur Meßzeit, unter andern Raritaͤten, Zau¬ ber - und Taſchenſpielerkuͤnſten, auch eine Electriſirmaſchine ihre Kunſtſtuͤcke machte, welche ſo wie die magnetiſchen, fuͤr jene Zeit ſchon ſehr vervielfaͤltigt waren.
Das Mistrauen gegen den oͤffentlichen Unterricht vermehrte ſich von Tage zu Tage. Man ſah ſich nach Hauslehrern um, und18 *276weil einzelne Familien den Aufwand nicht beſtreiten konnten, ſo traten mehrere zuſam¬ men, um eine ſolche Abſicht zu erreichen. Allein die Kinder vertrugen ſich ſelten; der junge Mann hatte nicht Autoritaͤt genug, und nach oft widerholtem Verdruß, gab es nur gehaͤſſige Trennungen. Kein Wunder daher, daß man auf andere Anſtalten dachte, welche ſowohl beſtaͤndiger als vortheilhafter ſeyn ſollten.
Auf den Gedanken, Penſionen zu errich¬ ten, war man durch die Nothwendigkeit ge¬ kommen, welche Jedermann empfand, daß die franzoͤſiſche Sprache lebendig gelehrt und uͤberliefert werden muͤſſe. Mein Vater hatte einen jungen Menſchen erzogen, der bey ihm Bedienter, Cammerdiener, Secretaͤr, genug nach und nach alles in allem geweſen war. Dieſer, Namens Pfeil, ſprach gut franzoͤ¬ ſiſch und verſtand es gruͤndlich. Nachdem er ſich verheiratet hatte, und ſeine Goͤnner277 fuͤr ihn auf einen Zuſtand denken mußten; ſo fielen ſie auf den Gedanken, ihn eine Penſion errichten zu laſſen, die ſich nach und nach zu einer kleinen Schulanſtalt er¬ weiterte, in der man alles Nothwendige, ja zuletzt ſogar Lateiniſch und Griechiſch lehrte. Die weitverbreiteten Connexionen von Frank¬ furt gaben Gelegenheit, daß junge Franzoſen und Englaͤnder, um Deutſch zu lernen und ſonſt ſich auszubilden, dieſer Anſtalt anver¬ traut wurden. Pfeil, der ein Mann in ſei¬ nen beſten Jahren, von der wunderſamſten Energie und Thaͤtigkeit war, ſtand dem Ganzen ſehr lobenswuͤrdig vor, und weil er nie genug beſchaͤftigt ſeyn konnte; ſo warf er ſich bey Gelegenheit, da er ſeinen Schuͤlern Muſikmeiſter halten mußte, ſelbſt in die Muſik, und betrieb das Clavierſpielen mit ſolchem Eifer, daß er, der niemals vorher eine Taſte angeruͤhrt hatte, ſehr bald recht fertig und brav ſpielte. Er ſchien die Ma¬ xime meines Vaters angenommen zu haben,278 daß junge Leute nichts mehr aufmuntern und anregen koͤnne, als wenn man ſelbſt ſchon in gewiſſen Jahren ſich wieder zum Schuͤler erklaͤrte, und in einem Alter worin man ſehr ſchwer neue Fertigkeiten erlangt, dennoch durch Eifer und Anhaltſamkeit, juͤngern von der Natur mehr beguͤnſtigten den Rang ab¬ zulaufen ſuche.
Durch dieſe Neigung zum Clavierſpielen ward Pfeil auf die Inſtrumente ſelbſt ge¬ fuͤhrt, und indem er ſich die beſten zu ver¬ ſchaffen hoffte, kam er in Verhaͤltniſſe mit Friderici in Gera, deſſen Inſtrumente weit und breit beruͤhmt waren. Er nahm ei¬ ne Anzahl davon in Commiſſion, und hatte nun die Freude, nicht nur etwa einen Fluͤgel, ſondern mehrere in ſeiner Wohnung aufge¬ ſtellt zu ſehen, ſich darauf zu uͤben und hoͤ¬ ren zu laſſen.
Auch in unſer Haus brachte die Lebendig¬ keit dieſes Mannes einen groͤßern Muſikbe¬279 trieb. Mein Vater blieb mit ihm, bis auf die ſtrittigen Punkte, in einem dauernden guten Verhaͤltniſſe. Auch fuͤr uns ward ein großer Fridericiſcher Fluͤgel angeſchafft, den ich, bey meinem Clavier verweilend, wenig beruͤhrte, der aber meiner Schweſter zu deſto groͤßerer Qual gedieh, weil ſie, um das neue Inſtrument gehoͤrig zu ehren, taͤglich noch einige Zeit mehr auf ihre Uebungen zu wen¬ den hatte; wobey mein Vater als Aufſeher, Pfeil aber als Muſterbild und antreibender Hausfreund, abwechſelnd zur Seite ſtanden.
Eine beſondere Liebhaberey meines Va¬ ters machte uns Kindern viel Unbequemlich¬ keit. Es war naͤmlich die Seidenzucht, von deren Vortheil, wenn ſie allgemeiner verbrei¬ tet wuͤrde, er einen großen Begriff hatte. Einige Bekanntſchaften in Hanau, wo man die Zucht der Wuͤrmer ſehr ſorgfaͤltig betrieb, gaben ihm die naͤchſte Veranlaſſung. Von dorther wurden ihm zu rechter Zeit die Eyer280 geſendet; und ſobald die Maulbeerbaͤume ge¬ nugſames Laub zeigten, ließ man ſie aus¬ ſchluͤpfen, und wartete der kaum ſichtbaren Geſchoͤpfe mit großer Sorgfalt. In einem Manſardzimmer waren Tiſche und Geſtelle mit Brettern aufgeſchlagen, um ihnen mehr Raum und Unterhalt zu bereiten: denn ſie wuchſen ſchnell, und waren nach der letzten Haͤutung ſo heißhunrgig, daß man kaum Blaͤtter genug herbeyſchaffen konnte, ſie zu naͤhren; ja ſie mußten Tag und Nacht ge¬ fuͤttert werden, weil eben alles darauf an¬ kommt, daß ſie der Nahrung ja nicht zu ei¬ ner Zeit ermangeln, wo die große und wun¬ derſame Veraͤnderung in ihnen vorgehen ſoll. War die Witterung guͤnſtig, ſo konnte man freylich dieſes Geſchaͤft als eine luſtige Unter¬ haltung anſehen; trat aber Kaͤlte ein, daß die Maulbeerbaͤume litten, ſo machte es große Noth. Noch unangenehmer aber war es, wenn in der letzten Epoche Regen ein¬ fiel: denn dieſe Geſchoͤpfe koͤnnen die Feuch¬281 tigkeit gar nicht vertragen; und ſo mußten die benetzten Blaͤtter ſorgfaͤltig abgewiſcht und getrocknet werden, welches denn doch nicht immer ſo genau geſchehen konnte, und aus dieſer oder vielleicht auch einer andern Ur¬ ſache kamen mancherley Krankheiten unter die Heerde, wodurch die armen Creaturen zu Tauſenden hingerafft wurden. Die dar¬ aus entſtehende Faͤulniß erregte einen wirk¬ lich peſtartigen Geruch, und da man die Todten und Kranken wegſchaffen und von den Geſunden abſondern mußte, um nur ei¬ nige zu retten; ſo war es in der That ein aͤußerſt beſchwerliches und widerliches Ge¬ ſchaͤft, das uns Kindern manche boͤſe Stunde verurſachte.
Nachdem wir nun eines Jahrs die ſchoͤn¬ ſten Fruͤhlings - und Sommerwochen mit Wartung der Seidenwuͤrmer hingebracht, mußten wir dem Vater in einem andern Ge¬ ſchaͤft beyſtehen, das, obgleich einfacher, uns282 dennoch nicht weniger beſchwerlich ward. Die roͤmiſchen Proſpecte naͤmlich, welche in dem alten Hauſe, in ſchwarze Staͤbe oben und unten eingefaßt, an den Waͤnden mehrere Jahre gehangen hatten, waren durch Licht, Staub und Rauch ſehr vergilbt, und durch die Fliegen nicht wenig unſcheinbar geworden. War nun eine ſolche Unreinlichkeit in dem neuen Hauſe nicht zulaͤſſig, ſo hatten dieſe Bilder fuͤr meinen Vater auch durch ſeine laͤngere Entferntheit von den vorgeſtellten Ge¬ genden an Werth gewonnen. Denn im An¬ fange dienen uns dergleichen Abbildungen die erſt kurz vorher empfangenen Eindruͤcke aufzufriſchen und zu beleben. Sie ſcheinen uns gering gegen dieſe und meiſtens nur ein trauriges Surrogat. Verliſcht hingegen das Andenken der Urgeſtalten immer mehr und mehr, ſo treten die Nachbildungen unver¬ merkt an ihre Stelle, ſie werden uns ſo theuer als es jene waren, und was wir An¬ fangs misgeachtet, erwirbt ſich nunmehr283 unſre Schaͤtzung und Neigung. So geht es mit allen Abbildungen, beſonders auch mit Portraͤten. Nicht leicht iſt Jemand mit dem Conterfey eines Gegenwaͤrtigen zufrie¬ den, und wie erwuͤnſcht iſt uns jeder Schat¬ tenriß eines Abweſenden oder gar Abge¬ ſchiedenen.
Genug, in dieſem Gefuͤhl ſeiner bisheri¬ gen Verſchwendung wollte mein Vater jene Kupferſtiche ſoviel wie moͤglich wieder herge¬ ſtellt wiſſen. Daß dieſes durch Bleichen moͤglich ſey, war bekannt; und dieſe bey großen Blaͤttern immer bedenkliche Operation wurde unter ziemlich unguͤnſtigen Localumſtaͤn¬ den vorgenommen. Denn die großen Bret¬ ter, worauf die angerauchten Kupfer befeuch¬ tet und der Sonne ausgeſtellt wurden, ſtan¬ den vor Manſardfenſtern in den Dachrinnen an das Dach gelehnt, und waren daher man¬ chen Unfaͤllen ausgeſetzt. Dabey war die Hauptſache, daß das Papier niemals aus¬284 trocknen durfte, ſondern immer feucht gehal¬ ten werden mußte. Dieſe Obliegenheit hatte ich und meine Schweſter, wobey uns denn wegen der Langenweile und Ungeduld, wegen der Aufmerkſamkeit die uns keine Zerſtreuung zuließ, ein ſonſt ſo ſehr erwuͤnſchter Muͤßig¬ gang zur hoͤchſten Qual gereichte. Die Sache ward gleichwohl durchgeſetzt, und der Buch¬ binder, der jedes Blatt auf ſtarkes Papier aufzog, that ſein beſtes, die hier und da durch unſre Fahrlaͤſſigkeit zerriſſenen Raͤnder auszugleichen und herzuſtellen. Die ſaͤmtli¬ chen Blaͤtter wurden in einen Band zuſam¬ mengefaßt und waren fuͤr dießmal gerettet.
Damit es uns Kindern aber ja nicht an dem Allerley des Lebens und Lernens fehlen moͤchte, ſo mußte ſich gerade um dieſe Zeit ein engliſcher Sprachmeiſter melden, welcher ſich anheiſchig machte, innerhalb vier Wo¬ chen, einen Jeden der nicht ganz roh in Spra¬ chen ſey, die engliſche zu lehren und ihn ſo285 weit zu bringen, daß er ſich mit einigem Fleiß weiter helfen koͤnne. Er nahm ein maͤßiges Honorar; die Anzahl der Schuͤler in einer Stunde war ihm gleichguͤltig. Mein Vater entſchloß ſich auf der Stelle den Verſuch zu machen, und nahm mit mir und meiner Schwe¬ ſter bey dem expediten Meiſter Lection. Die Stunden wurden treulich gehalten, am Re¬ petiren fehlte es auch nicht; man ließ die vier Wochen uͤber eher einige andere Uebun¬ gen liegen; der Lehrer ſchied von uns und wir von ihm mit Zufriedenheit. Da er ſich laͤnger in der Stadt aufhielt und viele Kun¬ den fand, ſo kam er von Zeit zu Zeit nach¬ zuſehen und nachzuhelfen, dankbar, daß wir unter die erſten gehoͤrten, welche Zutrauen zu ihm gehabt, und ſtolz, uns den uͤbrigen als Muſter anfuͤhren zu koͤnnen.
In Gefolg von dieſem hegte mein Vater eine neue Sorgfalt, daß auch das Engliſche huͤbſch in der Reihe der uͤbrigen Sprach¬286 beſchaͤftigungen bliebe. Nun bekenne ich, daß es mir immer laͤſtiger wurde, bald aus dieſer bald aus jener Grammatik oder Beyſpiel¬ ſammlung, bald aus dieſem oder jenem Autor den Anlaß zu meinen Arbeiten zu nehmen, und ſo meinen Antheil an den Gegenſtaͤnden zugleich mit den Stunden zu verzetteln. Ich kam daher auf den Gedanken alles mit einmal abzuthun, und erfand einen Roman von ſechs bis ſieben Geſchwiſtern, die von einander entfernt und in der Welt zerſtreut ſich wechſelſeitig Nach¬ richt von ihren Zuſtaͤnden und Empfindungen mittheilen. Der aͤlteſte Bruder giebt in gutem Deutſch Bericht von allerley Gegenſtaͤnden und Ereigniſſen ſeiner Reiſe. Die Schweſter, in einem frauenzimmerlichen Styl, mit lau¬ ter Puncten und in kurzen Saͤtzen, unge¬ faͤhr wie nachher Siegwart geſchrieben wur¬ de, erwiedert bald ihm, bald den andern Geſchwiſtern, was ſie theils von haͤusli¬ chen Verhaͤltniſſen, theils von Herzensangele¬ genheiten zu erzaͤhlen hat. Ein Bruder ſtu¬287 dirt Theologie und ſchreibt ein ſehr foͤrm¬ liches Latein, dem er manchmal ein grie¬ chiſches Poſtſcript hinzufuͤgt. Einem folgen¬ den in Hamburg als Handlungsdiener ange¬ ſtellt, ward natuͤrlich die engliſche Correſpon¬ denz zu Theil, ſo wie einem juͤngern der ſich in Marſeille aufhielt, die franzoͤſiſche. Zum Italiaͤniſchen fand ſich ein Muſikus auf ſeinem erſten Ausflug in die Welt, und der juͤngſte, eine Art von naſeweiſem Neſtquackelchen, hat¬ te, da ihm die uͤbrigen Sprachen abgeſchnit¬ ten waren, ſich aufs Judendeutſch gelegt, und brachte durch ſeine ſchrecklichen Chiffern die uͤbrigen in Verzweiflung, und die Aeltern uͤber den guten Einfall zum Lachen.
Fuͤr dieſe wunderliche Form ſuchte ich mir einigen Gehalt, indem ich die Geographie der Gegenden, wo meine Geſchoͤpfe ſich auf¬ hielten, ſtudirte, und zu jenen trockenen Loca¬ lilaͤten allerley Menſchlichkeiten hinzu erfand, die mit dem Character der Perſonen und ih¬288 rer Beſchaͤftigung einige Verwandtſchaft hatten. Auf dieſe Weiſe wurden meine Exercitien¬ buͤcher viel voluminoͤſer; der Vater war zu¬ friedener, und ich ward eher gewahr was mir an eigenem Vorrath und an Fertigkeiten ab¬ ging.
Wie nun dergleichen Dinge, wenn ſie ein¬ mal im Gang ſind, kein Ende und keine Graͤnzen haben, ſo ging es auch hier: denn indem ich mir das barocke Judendeutſch zu¬ zueignen und es eben ſo gut zu ſchreiben ſuchte, als ich es leſen konnte, fand ich bald, daß mir die Kenntniß des Hebraͤiſchen fehlte, wovon ſich das moderne verdorbene und ver¬ zerrte allein ableiten und mit einiger Sicher¬ heit behandeln ließ. Ich eroͤffnete daher mei¬ nem Vater die Nothwendigkeit, Hebraͤiſch zu lernen, und betrieb ſehr lebhaft ſeine Einwilli¬ gung: denn ich hatte noch eine hoͤhern Zweck. Ueberall hoͤrte ich ſagen, daß zum Verſtaͤndniß des alten Teſtaments ſo wie des neuen die289 Grundſprachen noͤthig waͤren. Das letzte las ich ganz bequem, weil die ſogenannten Evan¬ gelien und Epiſteln, damit es ja auch Sonn¬ tags nicht an Uebung fehle, nach der Kirche recitirt, uͤberſetzt und einigermaßen erklaͤrt werden mußten. Eben ſo dachte ich es nun auch mit dem alten Teſtamente zu halten, das mir wegen ſeiner Eigenthuͤmlichkeit ganz beſonders von jeher zugeſagt hatte.
Mein Vater, der nicht gern etwas halb that, beſchloß den Rector unſeres Gymna¬ ſiums, Doctor Albrecht, um Privatſtunden zu erſuchen, die er mir woͤchentlich ſo lange geben ſollte, bis ich von einer ſo einfachen Sprache das Noͤthigſte gefaßt haͤtte; denn er hoffte, ſie werde, wo nicht ſo ſchnell doch wenigſtens in doppelter Zeit als die engliſche, ſich abthun laſſen.
Der Rector Albrecht war eine der ori¬ ginalſten Figuren von der Welt, klein, nichtl. 19290dick aber breit, unfoͤrmlich ohne verwachſen zu ſeyn, kurz ein Aeſop mit Chorrock und Peruͤcke. Sein uͤber-ſiebzigjaͤhriges Geſicht war durchaus zu einem ſarkaſtiſchen Laͤcheln verzogen, wobey ſeine Augen immer groß blieben, und obgleich roth doch immer leuch¬ tend und geiſtreich waren. Er wohnte in dem alten Kloſter zu den Barfuͤßern, dem Sitz des Gymnaſiums. Ich hatte ſchon als Kind, meine Aeltern begleitend, ihn manch¬ mal beſucht, und die langen dunklen Gaͤnge, die in Viſitenzimmer verwandelten Capellen, das unterbrochne treppen - und winkelhafte Lo¬ cal mit ſchaurigem Behagen durchſtrichen. Ohne mir unbequem zu ſeyn, examinirte er mich ſo oft er mich ſah, und lobte und er¬ munterte mich. Eines Tages, bey der Trans¬ location nach oͤffentlichem Examen, ſah er mich als einen auswaͤrtigen Zuſchauer, waͤhrend er die ſilbernen ſilbernen praemia virtutis diligentiae austheilte, nicht weit von ſeinem Catheder ſtehen. Ich mochte gar ſehnlich nach dem291 Beutelchen blicken, aus welchem er die Schau¬ muͤnzen hervorzog; er winkte mir, trat eine Stufe herunter und reichte mir einen ſolchen Silberling. Meine Freude war groß, obgleich Andre dieſe einem Nicht-Schulknaben gewaͤhrte Gabe außer aller Ordnung fanden. Allein dar¬ an war dem guten Alten wenig gelegen, der uͤberhaupt den Sonderling und zwar in einer auffallenden Weiſe ſpielte. Er hatte als Schul¬ mann einen ſehr guten Ruf und verſtand ſein Handwerk, ob ihm gleich das Alter ſolches aus¬ zuuͤben nicht mehr ganz geſtattete. Aber bey¬ nahe noch mehr als durch eigene Gebrechlichkeit fuͤhlte er ſich durch aͤußere Umſtaͤnde gehindert, und wie ich ſchon fruͤher wußte, war er weder mit dem Conſiſtorium, noch den Scholarchen, noch den Geiſtlichen, noch auch den Lehrern zufrieden. Seinem Naturell, das ſich zum Aufpaſſen auf Fehler und Maͤngel und zur Satire hinneigte ließ er ſowohl in Pro¬ grammen als in oͤffentlichen Reden freyen Lauf, und wie Lucian faſt der einzige Schriftſteller19 *292war, den er las und ſchaͤtzte, ſo wuͤrzte er alles was er ſagte und ſchrieb, mit beizenden Ingredienzien.
Gluͤcklicherweiſe fuͤr diejenigen mit wel¬ chen er unzufrieden war, ging er niemals direct zu Werke, ſondern ſchraubte nur mit Bezuͤgen, Anſpielungen, claſſiſchen Stellen und bibliſchen Spruͤchen auf die Maͤngel hin, die er zu ruͤgen gedachte. Dabey war ſein muͤndlicher Vortrag (er las ſeine Reden jederzeit ab) unangenehm, unverſtaͤndlich, und uͤber alles dieſes manchmal durch einen Hu¬ ſten, oͤfters aber durch ein hohles bauchſchuͤt¬ terndes Lachen unterbrochen, womit er die beißenden Stellen anzukuͤndigen und zu be¬ gleiten pflegte. Dieſen ſeltſamen Mann fand ich mild und willig, als ich anfing meine Stunden bey ihm zu nehmen. Ich ging nun taͤglich Abends um ſechs Uhr zu ihm, und fuͤhlte immer ein heimliches Behagen, wenn ſich die Klingelthuͤre hinter mir ſchloß,293 und ich nun den langen duͤſtern Kloſtergang durchzuwandeln hatte. Wir ſaßen in ſeiner Bibliothek an einem mit Wachstuch beſchlage¬ nen Tiſche; ein ſehr durchleſener Lucian kam nie von ſeiner Seite.
Ohngeachtet alles Wohlwollens gelangte ich doch nicht ohne Einſtand zur Sache: denn mein Lehrer konnte gewiſſe ſpoͤttiſche Anmerkungen, und was es denn mit dem Hebraͤiſchen eigentlich ſolle, nicht unterdruͤcken. Ich verſchwieg ihm die Abſicht auf das Ju¬ dendeutſch, und ſprach von beſſerem Ver¬ ſtaͤndniß des Grundtextes. Darauf laͤchelte er und meynte, ich ſolle ſchon zufrieden ſeyn, wenn ich nur leſen lernte. Dieß verdroß mich im Stillen, und ich nahm alle meine Aufmerkſamkeit zuſammen, als es an die Buchſtaben kam. Ich fand ein Alphabet das ohngefaͤhr dem griechiſchen zur Seite ging, deſſen Geſtalten faßlich, deſſen Benennungen mir zum groͤßten Theil nicht fremd waren.
294Ich hatte dieß alles ſehr bald begriffen und behalten, und dachte es ſollte nun ans Leſen gehen. Daß dieſes von der rechten zur lin ken Seite geſchehe, war mir wohl bewußt. Nun aber trat auf Einmal ein neues Heer von kleinen Buchſtaͤbchen und Zeichen hervor, von Puncten und Strichelchen aller Art, welche eigentlich die Vocale vorſtellen ſollten, woruͤber ich mich um ſo mehr verwunderte, als ſich in dem groͤßern Alphabete offenbar Vocale befanden, und die uͤbrigen nur unter fremden Benennungen verborgen zu ſeyn ſchie¬ nen. Auch ward gelehrt, daß die juͤdiſche Nation, ſo lange ſie gebluͤht, wirklich ſich mit jenen erſten Zeichen begnuͤgt und keine andere Art zu ſchreiben und zu leſen gekannt habe. Ich waͤre nun gar zu gern auf die¬ ſem alterthuͤmlichen, wie mir ſchien bequeme¬ ren Wege gegangen; allein mein Alter er¬ klaͤrte etwas ſtreng: man muͤſſe nach der Grammatik verfahren wie ſie einmal beliebt und verfaßt worden. Das Leſen ohne dieſe295 Puncte und Striche ſey eine ſehr ſchwere Aufgabe, und koͤnne nur von Gelehrten und den geuͤbteſten geleiſtet werden. Ich mußte mich alſo bequemen auch dieſe kleinen Merk¬ zeichen kennen zu lernen; aber die Sache ward mir immer verworrner. Nun ſollten einige der erſten groͤßern Urzeichen an ihrer Stelle gar nichts gelten, damit ihre kleinen Nachgebornen doch ja nicht umſonſt daſtehen moͤchten. Dann ſollten ſie einmal wieder ei¬ nen leiſen Hauch, dann einen mehr oder we¬ niger harten Kehllaut andeuten, bald gar nur als Stuͤtze und Widerlage dienen. Zu¬ letzt aber, wenn man ſich alles wohl gemerkt zu haben glaubte, wurden einige der großen ſowohl als der kleinen Perſonagen in den Ruheſtand verſetzt, ſo daß das Auge immer ſehr viel und die Lippe ſehr wenig zu thun hatte.
Indem ich nun dasjenige was mir dem Inhalt nach ſchon bekannt war, in einem296 fremden kauderwelſchen Idiom herſtottern ſollte, wobey mir denn ein gewiſſes Naͤſeln und Gurgeln als ein Unerreichbares nicht wenig empfohlen wurde; ſo kam ich gewiſſer¬ maßen von der Sache ganz ab, und amuͤ¬ ſirte mich auf eine kindiſche Weiſe an den ſeltſamen Namen dieſer gehaͤuften Zeichen. Da waren Kaiſer, Koͤnige und Herzoge, die als Accente hie und da dominirend, mich nicht wenig unterhielten. Aber auch dieſe ſchalen Spaͤße verloren bald ihren Reiz. Doch wurde ich dadurch ſchadlos gehalten, daß mir beym Leſen, Ueberſetzen, Wiederho¬ len, Auswendiglernen der Inhalt des Buchs um ſo lebhafter entgegentrat, und dieſer war es eigentlich, uͤber welchen ich von meinem alten Herrn Aufklaͤrung verlangte. Denn ſchon vorher waren mir die Widerſpruͤche der Ueberlieferung mit dem Wirklichen und Moͤglichen ſehr auffallend geweſen, und ich hatte meine Hauslehrer durch die Sonne, die zu Gibeon, und den Mond, der im297 Thal Ajalon ſtill ſtand, in manche Noth verſetzt; gewiſſer anderer Unwahrſcheinlichkei¬ ten und Incongruenzen nicht zu gedenken. Alles dergleichen ward nun aufgeregt, indem ich mich, um von dem Hebraͤiſchen Meiſter zu werden, mit dem alten Teſtament aus¬ ſchließlich beſchaͤftigte, und ſolches nicht mehr in Luthers Ueberſetzung, ſondern in der woͤrt¬ lichen beygedruckten Verſion des Sebaſtian Schmidt, den mir mein Vater ſogleich an¬ geſchafft hatte, durchſtudirte. Hier fingen unſere Stunden leider an, was die Sprach¬ uͤbungen betrifft, luͤckenhaft zu werden. Le¬ ſen, Exponiren, Grammatik, Aufſchreiben und Herſagen von Woͤrtern dauerte ſelten eine voͤllige halbe Stunde: denn ich fing ſogleich an auf den Sinn der Sache loszugehen, und ob wir gleich noch in dem erſten Buche Moſis befangen waren, mancherley Dinge zur Sprache zu bringen, welche mir aus den ſpaͤtern Buͤchern im Sinne lagen. Anfangs ſuchte der gute Alte mich von ſolchen Ab¬298 ſchweifungen zuruͤckzufuͤhren; zuletzt aber ſchien es ihn ſelbſt zu unterhalten. Er kam nach ſeiner Art nicht aus dem Huſten und Lachen, und wiewohl er ſich ſehr huͤthete mir eine Auskunft zu geben, die ihn haͤtte compromit¬ tiren koͤnnen, ſo ließ meine Zudringlichkeit doch nicht nach; ja da mir mehr daran gele¬ gen war, meine Zweifel vorzubringen als die Aufloͤſung derſelben zu erfahren, ſo wurde ich immer lebhafter und kuͤhner, wozu er mich durch ſein Betragen zu berechtigen ſchien. Uebrigens konnte ich nichts aus ihm bringen, als daß er ein uͤber das andre Mal mit ſeinem bauchſchuͤtternden Lachen ausrief: „ Er naͤrriſcher Kerl! Er naͤrriſcher Junge! “
Indeſſen mochte ihm meine, die Bibel nach allen Seiten durchkreuzende, kindiſche Lebhaftigkeit doch ziemlich ernſthaft und eini¬ ger Nachhuͤlfe werth geſchienen haben. Er verwies mich daher nach einiger Zeit auf das große engliſche Bibelwerk, welches in ſeiner299 Bibliothek bereit ſtand, und in welchem die Auslegung ſchwerer und bedenklicher Stellen auf eine verſtaͤndige und kluge Weiſe unter¬ nommen war. Die Ueberſetzung hatte durch die großen Bemuͤhungen deutſcher Gottesge¬ lehrten Vorzuͤge vor dem Original erhalten. Die verſchiedenen Meynungen waren ange¬ fuͤhrt, und zuletzt eine Art von Vermittelung verſucht, wobey die Wuͤrde des Buchs, der Grund der Religion und der Menſchenver¬ ſtand einigermaßen neben einander beſtehen konnten. So oft ich nun gegen Ende der Stunde mit hergebrachten Fragen und Zwei¬ feln auftrat, ſo oft deutete er auf das Re¬ poſitorium; ich holte mir den Band, er ließ mich leſen, blaͤtterte in ſeinem Lucian, und wenn ich uͤber das Buch meine Anmer¬ kungen machte, war ſein gewoͤhnliches Lachen alles wodurch er meinen Scharfſinn erwie¬ derte. In den langen Sommertagen ließ er mich ſitzen ſo lange ich leſen konnte, manch¬ mal allein; nur dauerte es eine Weile, bis300 er mir erlaubte einen Band nach dem andern mit nach Hauſe zu nehmen.
Der Menſch mag ſich wenden wohin er will, er mag unternehmen was es auch ſey, ſtets wird er auf jenen Weg wieder zuruͤck¬ kehren, den ihm die Natur einmal vorge¬ zeichnet hat. So erging es auch mir im gegenwaͤrtigen Falle. Die Bemuͤhungen um die Sprache, um den Inhalt der heiligen Schriften ſelbſt, endigten zuletzt damit, daß von jenem ſchoͤnen und viel geprieſenen Lande, ſeiner Umgebung und Nachbarſchaft, ſo wie von den Voͤlkern und Ereigniſſen, welche je¬ nen Fleck der Erde durch Jahrtauſende hin¬ durch verherrlichten, eine lebhaftere Vorſtel¬ lung in meiner Einbildungskraft hervorging.
Dieſer kleine Raum ſollte den Urſprung und das Wachsthum des Menſchengeſchlechts ſehen; von dorther ſollten die erſten und ein¬ zigſten Nachrichten der Urgeſchichte zu uns301 gelangen, und ein ſolches Local ſollte zugleich ſo einfach und faßlich, als mannigfaltig und zu den wunderſamſten Wanderungen und An¬ ſiedelungen geeignet, vor unſerer Einbildungs¬ kraft liegen. Hier, zwiſchen vier benannten Fluͤſſen, war aus der ganzen zu bewohnen¬ den Erde ein kleiner hoͤchſt anmuthiger Raum dem jugendlichen Menſchen ausgeſondert. Hier ſollte er ſeine erſten Faͤhigkeiten entwi¬ ckeln, und hier ſollte ihn zugleich das Loos treffen, das ſeiner ganzen Nachkommenſchaft beſchieden war, ſeine Ruhe zu verlieren, in¬ dem er nach Erkenntniß ſtrebte. Das Para¬ dies war verſcherzt; die Menſchen mehrten und verſchlimmerten ſich; die an die Unarten dieſes Geſchlechts noch nicht gewohnten Elo¬ him wurden ungeduldig und vernichteten es von Grund aus. Nur wenige wurden aus der allgemeinen Ueberſchwemmung gerettet; und kaum hatte ſich dieſe graͤuliche Flut ver¬ laufen, als der bekannte vaterlaͤndiſche Bo¬ den ſchon wieder vor den Blicken der dank¬302 baren Geretteten lag. Zwey Fluͤſſe von vie¬ ren, Euphrat und Tigris, floſſen noch in ih¬ ren Betten. Der Name des erſten blieb; den andern ſchien ſein Lauf zu bezeichnen. Genauere Spuren des Paradieſes waͤren nach einer ſo großen Umwaͤlzung nicht zu fordern geweſen. Das erneute Menſchengeſchlecht ging von hier zum zweyten Mal aus; es fand Gelegenheit ſich auf alle Arten zu naͤh¬ ren und zu beſchaͤftigen, am meiſten aber große Heerden zahmer Geſchoͤpfe um ſich zu verſammlen und mit ihnen nach allen Seiten hinzuziehen.
Dieſe Lebensweiſe, ſo wie die Vermehrung der Staͤmme, noͤthigte die Voͤlker bald ſich von einander zu entfernen. Sie konnten ſich ſogleich nicht entſchließen ihre Verwandte und Freunde fuͤr immer fahren zu laſſen; ſie ka¬ men auf den Gedanken einen hohen Thurm zu bauen, der ihnen aus weiter Ferne den Weg wieder zuruͤck weiſen ſollte. Aber dieſer303 Verſuch mislang wie jenes erſte Beſtreben, Sie ſollten nicht zugleich gluͤcklich und klug, zahlreich und einig ſeyn. Die Elohim ver¬ wirrten ſie, der Bau unterblieb, die Men¬ ſchen zerſtreuten ſich; die Welt war bevoͤl¬ kert, aber entzweyt.
Unſer Blick, unſer Antheil bleibt aber noch immer an dieſe Gegenden geheftet. End¬ lich geht abermals ein Stammvater von hier aus, der ſo gluͤcklich iſt, ſeinen Nachkommen einen entſchiedenen Character aufzupraͤgen, und ſie dadurch fuͤr ewige Zeiten zu einer großen, und bey allem Gluͤcks - und Orts - Wechſel zuſammenhaltenden Nation zu ver¬ einigen.
Vom Euphrat aus, nicht ohne goͤttlichen Fingerzeig, wandert Abraham gegen Weſten. Die Wuͤſte ſetzt ſeinem Zug kein entſchiedenes Hinderniß entgegen; er gelangt an den Jor¬ dan, zieht uͤber den Fluß und verbreitet ſich304 in den ſchoͤnen mittaͤgigen Gegenden von Pa¬ laͤſtina. Dieſes Land war ſchon fruͤher in Beſitz genommen und ziemlich bewohnt. Berge, nicht allzu hoch aber ſteinig und un¬ fruchtbar, waren von vielen bewaͤſſerten, dem Anbau guͤnſtigen Thaͤlern durchſchnitten. Staͤdte, Flecken, einzelne Anſiedelungen lagen zerſtreut auf der Flaͤche, auf Abhaͤngen des großen Thals, deſſen Waſſer ſich im Jordan ſammlen. So bewohnt, ſo bebaut war das Land, aber die Welt noch groß genug, und die Menſchen nicht auf den Grad ſorgfaͤltig, beduͤrfnißvoll und thaͤtig, um ſich gleich aller ihrer Umgebungen zu bemaͤchtigen. Zwiſchen jenen Beſitzungen erſtreckten ſich große Raͤume, in welchen weidende Zuͤge ſich bequem hin und her bewegen konnten. In ſolchen Raͤu¬ men haͤlt ſich Abraham auf, ſein Bruder Lot iſt bey ihm; aber ſie koͤnnen nicht lange an ſolchen Orten verbleiben. Eben jene Verfaſ¬ ſung des Landes, deſſen Bevoͤlkerung bald zu¬ bald abnimmt, und deſſen Erzeugniſſe ſich305 niemals mit dem Beduͤrfniß im Gleichgewicht erhalten, bringt unverſehens eine Hungers¬ noth hervor, und der Eingewanderte leidet mit dem Einheimiſchen, dem er durch ſeine zufaͤllige Gegenwart die eigne Nahrung ver¬ kuͤmmert hat. Die beyden chaldaͤiſchen Bruͤ¬ der ziehen nach Aegypten, und ſo iſt uns der Schauplatz vorgezeichnet, auf dem einige tauſend Jahre die bedeutendſten Begebenhei¬ ten der Welt vorgehen ſollten. Vom Tigris zum Euphrat, vom Euphrat zum Nil ſehen wir die Erde bevoͤlkert, und in dieſem Raume einen bekannten, den Goͤttern geliebten, uns ſchon werth gewordnen Mann mit Heerden und Guͤtern hin und wieder ziehen und ſie in kurzer Zeit aufs reichlichſte vermehren. Die Bruͤder kommen zuruͤck; allein gewitzigt durch die ausgeſtandene Noth, faſſen ſie den Entſchluß ſich von einander zu trennen. Beyde verweilen zwar im mittaͤgigen Canaan; aber indem Abraham zu Hebron gegen dem Hain Mamre bleibt, zieht ſich Lot nach dem ThaleI. 20306Siddim, das, wenn unſere Einbildungskraft kuͤhn genug iſt, dem Jordan einen unterir¬ diſchen Ausfluß zu geben, um an der Stelle des gegenwaͤrtigen Aſphaltſees einen trocknen Boden zu gewinnen, uns als ein zweytes Paradies erſcheinen kann und muß; um ſo mehr, weil die Bewohner und Umwohner deſſelben als Weichlinge und Frevler beruͤch¬ tigt, uns dadurch auf ein bequemes und uͤp¬ piges Leben ſchließen laſſen. Lot wohnt un¬ ter ihnen, jedoch abgeſondert.
Aber Hebron und der Hain Mamre er¬ ſcheinen uns als die wichtige Staͤtte, wo der Herr mit Abraham ſpricht und ihm alles Land verheißt, ſo weit ſein Blick nur in vier Weltgegenden reichen mag. Aus dieſen ſtil¬ len Bezirken, von dieſen Hirtenvoͤlkern, die mit den Himmliſchen umgehen duͤrfen, ſie als Gaͤſte bewirthen und manche Zwieſprache mit ihnen halten, werden wir genoͤthigt den Blick abermals gegen Oſten zu wenden, und307 an die Verfaſſung der Nebenwelt zu denken, die im Ganzen wohl der einzelnen Verfaſ¬ ſung von Canaan gleichen mochte.
Familien halten zuſammen; ſie vereinigen ſich, und die Lebensart der Staͤmme wird durch das Local beſtimmt, das ſie ſich zu¬ geeignet haben oder zueignen. Auf den Ge¬ birgen, die ihr Waſſer nach dem Tigris hin¬ unterſenden, finden wir kriegeriſche Voͤlker, die ſchon ſehr fruͤhe auf jene Welteroberer und Weltbeherrſcher hindeuten, und in einem fuͤr jene Zeiten ungeheuren Feldzug uns ein Vorſpiel kuͤnftiger Großthaten geben. Kedor Laomor, Koͤnig von Elam, wirkt ſchon maͤch¬ tig auf Verbuͤndete. Er herrſcht lange Zeit: den ſchon zwoͤlf Jahre vor Abrahams An¬ kunft in Canaan hatte er bis an den Jordan die Voͤlker zinsbar gemacht. Sie waren endlich abgefallen, und die Verbuͤndeten ruͤ¬ ſten ſich zum Kriege. Wir finden ſie unver¬ muthet auf einem Wege, auf dem wahr¬20 *308ſcheinlich auch Abraham nach Canaan ge¬ langte. Die Voͤlker an der linken und un¬ tern Seite des Jordan werden bezwungen. Kedor Laomor richtet ſeinen Zug ſuͤdwaͤrts nach den Voͤlkern der Wuͤſte, ſodann ſich nordwaͤrts wendend ſchlaͤgt er die Amalekiter, und als er auch die Amoriter uͤberwunden, gelangt er nach Canaan, uͤberfaͤllt die Koͤnige des Thals Siddim, ſchlaͤgt und zerſtreut ſie, und zieht mit großer Beute den Jordan auf¬ waͤrts, um ſeinen Siegerzug bis gegen den Libanon auszudehnen.
Unter den Gefangenen, Beraubten, mit ihrer Habe Fortgeſchleppten befindet ſich auch Lot, der das Schickſal des Landes theilt, worin er als Gaſt ſich befindet. Abraham vernimmt es, und hier ſehen wir ſogleich den Erzvater als Krieger und Helden. Er rafft ſeine Knechte zuſammen, theilt ſie in Hau¬ fen, faͤllt auf den beſchwerlichen Beutetroß, verwirrt die Sieghaften, die im Ruͤcken kei¬309 nen Feind mehr vermuthen konnten, und bringt ſeinen Bruder und deſſen Habe nebſt Manchem von der Habe der uͤberwundenen Koͤnige zuruͤck. Durch dieſen kurzen Kriegs¬ zug nimmt Abraham gleichſam von dem Lande Beſitz. Den Einwohnern erſcheint er als Beſchuͤtzer, als Retter, und durch ſeine Unei¬ genuͤtzigkeit als Koͤnig. Dankbar empfangen ihn die Koͤnige des Thals, ſegnend Melchiſe¬ dek der Koͤnig und Prieſter.
Nun werden die Weiſſagungen einer un¬ endlichen Nachkommenſchaft erneut, ja ſie gehen immer mehr ins Weite. Vom Waſſer des Euphrat bis zum Fluß Aegyptens werden ihm die ſaͤmmtlichen Landſtrecken verſprochen; aber noch ſieht es mit ſeinen unmittelbaren Leibeserben mißlich aus. Er iſt achtzig Jahr alt und hat keinen Sohn. Sara, weniger den Goͤttern vertrauend als er, wird ungedul¬ dig; ſie will nach orientaliſcher Sitte durch ihre Magd einen Nachkommen haben. Aber310 kaum iſt Hagar dem Hausherrn vertraut, kaum iſt Hoffnung zu einem Sohne; ſo zeigt ſich der Zwieſpalt im Hauſe. Die Frau begegnet ihrer eignen Beſchuͤtzten uͤbel genug, und Hagar flieht, um bey andern Horden einen beſſern Zuſtand zu finden. Nicht ohne hoͤheren Wink kehrt ſie zuruͤck, und Ismael wird geboren.
Abraham iſt nun neun und neunzig Jahr alt, und die Verheißungen einer zahlreichen Nachkommenſchaft werden noch immer wie¬ derholt, ſo daß am Ende beyde Gatten ſie laͤcherlich finden. Und doch wird Sara zuletzt guter Hoffnung und bringt einen Sohn, dem der Name Iſaak zu Theil wird.
Auf geſetzmaͤßiger Fortpflanzung des Men¬ ſchengeſchlechts ruht groͤßtentheils die Geſchichte. Die bedeutendſten Weltbegebenheiten iſt man bis in die Geheimniſſe der Familien zu ver¬ folgen genoͤthigt; und ſo geben uns auch die311 Ehen der Erzvaͤter zu eignen Betrachtungen Anlaß. Es iſt als ob die Gottheiten, welche das Schickſal der Menſchen zu leiten beliebten, die ehelichen Ereigniſſe jeder Art hier gleich¬ ſam im Vorbilde haͤtten darſtellen wollen. Abraham, ſo lange Jahre mit einer ſchoͤnen, von Vielen umworbenen Frau in kinderloſer Ehe, findet ſich in ſeinem hundertſten als Gatte zweyer Frauen, als Vater zweyer Soͤhne, und in dieſem Augenblick iſt ſein Hausfriede geſtoͤrt. Zwey Frauen neben einan¬ der, ſo wie zwey Soͤhne von zwey Muͤttern gegen einander uͤber, vertragen ſich unmoͤglich. Derjenige Theil, der durch Geſetze, Herkom¬ men und Meynung weniger beguͤnſtigt iſt, muß weichen. Abraham muß die Neigung zu Hagar, zu Ismael aufopfern; beyde wer¬ den entlaſſen und Hagar genoͤthigt, den Weg, den ſie auf einer freywilligen Flucht einge¬ ſchlagen, nunmehr wider Willen anzutreten, anfangs, wie es ſcheint, zu des Kindes und ihrem Untergang; aber der Engel des Herrn,312 der ſie fruͤher zuruͤckgewieſen, rettet ſie auch dießmal, damit Ismael auch zu einem großen Volk werde, und die unwahrſcheinlichſte aller Verheißungen ſelbſt uͤber ihre Graͤnzen hinaus in Erfuͤllung gehe.
Zwey Aeltern in Jahren und ein einziger ſpaͤtgeborner Sohn: hier ſollte man doch end¬ lich eine haͤusliche Ruhe, ein irdiſches Gluͤck erwarten! Keineswegs. Die Himmliſchen bereiten dem Erzvater noch die ſchwerſte Pruͤfung. Doch von dieſer koͤnnen wir nicht reden, ohne vorher noch mancherley Betrach¬ tungen anzuſtellen.
Sollte eine natuͤrliche, allgemeine Religion entſpringen, und ſich eine beſondere, geoffen¬ barte daraus entwickeln, ſo waren die Laͤn¬ der, in denen bisher unſere Einbildungskraft verweilt, die Lebensweiſe, die Menſchenart wohl am geſchickteſten dazu; wenigſtens finden wir nicht, daß in der ganzen Welt ſich etwas313 aͤhnlich Guͤnſtiges und Heitres hervorgethan haͤtte. Schon zur natuͤrlichen Religion, wenn wir annehmen, daß ſie fruͤher in dem menſch¬ lichen Gemuͤthe entſprungen, gehoͤrt viel Zart¬ heit der Geſinnung: denn ſie ruht auf der Ueberzeugung einer allgemeinen Vorſehung, welche die Weltordnung im Ganzen leite. Eine beſondre Religion, eine von den Goͤt¬ tern dieſem oder jenem Volk geoffenbarte, fuͤhrt den Glauben an eine beſondre Vorſe¬ hung mit ſich, die das goͤttliche Weſen gewiſ¬ ſen beguͤnſtigten Menſchen, Familien, Staͤm¬ men und Voͤlkern zuſagt. Dieſe ſcheint ſich ſchwer aus dem Innern des Menſchen zu entwickeln. Sie verlangt Ueberlieferung, Her¬ kommen, Buͤrgſchaft aus uralter Zeit.
Schoͤn iſt es daher, daß die iſraelitiſche Ueberlieferung gleich die erſten Maͤnner, welche dieſer beſondern Vorſehung vertrauen, als Glaubenshelden darſtellt, welche von jenem hohen Weſen, dem ſie ſich abhaͤngig erken¬314 nen, alle und jede Gebote eben ſo blindlings befolgen, als ſie ohne zu zweifeln die ſpaͤten Erfuͤllungen ſeiner Verheißungen abzuwarten nicht ermuͤden.
So wie eine beſondere, geoffenbarte Reli¬ gion den Begriff zum Grunde legt, daß einer mehr von den Goͤttern beguͤnſtigt ſeyn koͤnne als der andre, ſo entſpringt ſie auch vorzuͤg¬ lich aus der Abſonderung der Zuſtaͤnde. Nahe verwandt ſchienen ſich die erſten Menſchen, aber ihre Beſchaͤftigungen trennten ſie bald. Der Jaͤger war der freyeſte von allen; aus ihm entwickelte ſich der Krieger und der Herr¬ ſcher. Der Theil der den Acker baute, ſich der Erde verſchrieb, Wohnungen und Scheu¬ ern auffuͤhrte, um das Erworbene zu erhal¬ ten, konnte ſich ſchon etwas duͤnken, weil ſein Zuſtand Dauer und Sicherheit verſprach. Dem Hirten an ſeiner Stelle ſchien der unge¬ meſſenſte Zuſtand ſo wie ein graͤnzenloſer Beſitz zu Theil geworden. Die Vermehrung315 der Heerden ging ins Unendliche, und der Raum der ſie ernaͤhren ſollte, erweiterte ſich nach allen Seiten. Dieſe drey Staͤnde ſchei¬ nen ſich gleich anfangs mit Verdruß und Verachtung angeſehn zu haben; und wie der Hirte dem Staͤdter ein Graͤuel war, ſo ſon¬ derte er auch ſich wieder von dieſem ab. Die Jaͤger verlieren ſich aus unſern Augen in die Gebirge, und kommen nur als Eroberer wie¬ der zum Vorſchein.
Zum Hirtenſtande gehoͤrten die Erzvaͤter. Ihre Lebensweiſe auf dem Meere der Wuͤſten und Weiden gab ihren Geſinnungen Breite und Freyheit, das Gewoͤlbe des Himmels unter dem ſie wohnten, mit allen ſeinen naͤcht¬ lichen Sternen, ihren Gefuͤhlen Erhabenheit, und ſie bedurften mehr als der thaͤtige gewandte Jaͤger, mehr als der ſichre ſorgfaͤltige haus¬ bewohnende Ackersmann, des unerſchuͤtterlichen Glaubens, daß ein Gott ihnen zur Seite316 ziehe, daß er ſie beſuche, an ihnen Antheil nehme, ſie fuͤhre und rette.
Zu noch einer andern Betrachtung werden wir genoͤthigt indem wir zur Geſchichtsfolge uͤbergehen. So menſchlich, ſchoͤn und heiter auch die Religion der Erzvaͤter erſcheint, ſo gehen doch Zuͤge von Wildheit und Grau¬ ſamkeit hindurch, aus welcher der Menſch herankommen, oder worein er wieder verſin¬ ken kann.
Daß der Haß ſich durch das Blut, durch den Tod des uͤberwundenen Feindes verſoͤhne, iſt natuͤrlich; daß man auf dem Schlachtfelde zwiſchen den Reihen der Getoͤdteten einen Frieden ſchloß, laͤßt ſich wohl denken; daß man eben ſo durch geſchlachtete Thiere ein Buͤndniß zu befeſtigen glaubte, fließt aus dem Vorhergehenden; auch daß man die Goͤt¬ ter, die man doch immer als Partey, als Widerſacher oder als Beyſtand anſah, durch317 Getoͤdtetes herbeyziehen, ſie verſoͤhnen, ſie gewinnen koͤnne, uͤber dieſe Vorſtellung hat man ſich gleichfalls nicht zu verwundern. Bleiben wir aber bey den Opfern ſtehen, und betrachten die Art, wie ſie in jener Urzeit dargebracht wurden; ſo finden wir einen ſelt¬ ſamen, fuͤr uns ganz widerlichen Gebrauch, der wahrſcheinlich auch aus dem Kriege her¬ genommen, dieſen naͤmlich: die geopferten Thiere jeder Art, und wenn ihrer noch ſo viel gewidmet wurden, mußten in zwey Haͤlf¬ ten zerhauen, an zwey Seiten gelegt werden, und in der Straße dazwiſchen befanden ſich diejenigen, die mit der Gottheit einen Bund ſchließen wollten.
Wunderbar und ahndungsvoll geht durch jene ſchoͤne Welt noch ein anderer ſchrecklicher Zug, daß alles was geweiht, was verlobt war, ſterben mußte: wahrſcheinlich auch ein auf den Frieden uͤbergetragener Kriegsgebrauch. Den Bewohnern einer Stadt, die ſich gewalt¬318 ſam wehrt, wird mit einem ſolchen Geluͤbde gedroht; ſie geht uͤber, durch Sturm oder ſonſt: man laͤßt nichts am Leben, Maͤnner keineswegs, und manchmal theilen auch Frauen, Kinder, ja das Vieh ein gleiches Schickſal. Uebereilter und aberglaͤubiſcher Weiſe werden, beſtimmter oder unbeſtimmter, dergleichen Opfer den Goͤttern verſprochen; und ſo kom¬ men die welche man ſchonen moͤchte, ja ſo gar die Naͤchſten, die eigenen Kinder, in den Fall als Suͤhnopfer eines ſolchen Wahnſinns zu bluten.
In dem ſanften, wahrhaft urvaͤterlichen Character Abrahams konnte eine ſo barbariſche Anbetungsweiſe nicht entſpringen; aber die Goͤtter, welche manchmal, um uns zu verſu¬ chen, jene Eigenſchaften hervorzukehren ſchei¬ nen, die der Menſch ihnen anzudichten geneigt iſt, befehlen ihm das Ungeheure. Er ſoll ſeinen Sohn opfern, als Pfand des neuen Bundes, und wenn es nach dem Herge¬319 brachten geht, ihn nicht etwa nur ſchlachten und verbrennen, ſondern ihn in zwey Stuͤcke theilen, und zwiſchen ſeinen rauchenden Ein¬ geweiden ſich von den guͤtigen Goͤttern eine neue Verheißung erwarten. Ohne Zaudern und blindlings ſchickt Abraham ſich an, den Befehl zu vollziehen: den Goͤttern iſt der Wille hinreichend. Nun ſind Abrahams Pruͤ¬ fungen voruͤber: denn weiter konnten ſie nicht geſteigert werden. Aber Sara ſtirbt, und dieß giebt Gelegenheit, daß Abraham von dem Lande Canaan vorbildlich Beſitz nimmt. Er bedarf eines Grabes, und dieß iſt das erſte Mal, daß er ſich nach einem Eigenthum auf dieſer Erde umſieht. Eine zweifache Hoͤh¬ le gegen dem Hain Mamre mag er ſich ſchon fruͤher ausgeſucht haben. Dieſe kauft er mit dem daranſtoßenden Acker, und die Form Rechtens, die er dabey beobachtet, zeigt wie wichtig ihm dieſer Beſitz iſt. Er war es auch, mehr als er ſich vielleicht ſelbſt denken konnte: denn er, ſeine Soͤhne und Enkel ſollten da¬320 ſelbſt ruhen, und der naͤchſte Anſpruch auf das ganze Land, ſo wie die immerwaͤhrende Nei¬ gung ſeiner Nachkommenſchaft ſich hier zu verſammeln, dadurch am eigentlichſten begruͤn¬ tet werden.
Von nun an gehen die mannigfaltigen Fa¬ milienſcenen abwechſelnd vor ſich. Noch im¬ mer haͤlt ſich Abraham ſtreng abgeſondert von den Einwohnern, und wenn Iſmael, der Sohn einer Aegypterinn, auch eine Tochter dieſes Landes geheiratet hat, ſo ſoll nun Iſaak ſich mit einer Blutsfreundinn, einer Ebenbuͤrti¬ gen vermaͤhlen.
Abraham ſendet ſeinen Knecht nach Meſo¬ potamien zu den Verwandten, die er dort zu¬ ruͤckgelaſſen. Der kluge Eleaſar kommt uner¬ kannt an, und um die rechte Braut nach Hau¬ ſe zu bringen, pruͤft er die Dienſtfertigkeit der Maͤdchen am Brunnen. Er verlangt zu trinken fuͤr ſich, und ungebeten traͤnkt Rebec¬321 ca auch ſeine Kameele. Er beſchenkt ſie, er freyet um ſie, die ihm nicht verſagt wird. So fuͤhrt er ſie in das Haus ſeines Herrn, und ſie wird Iſaak angetraut. Auch hier muß die Nachkommenſchaft lange Zeit erwartet wer¬ den. Erſt nach einigen Pruͤfungsjahren wird Rebecca geſegnet, und derſelbe Zwieſpalt, der in Abrahams Doppelehe von zwey Muͤttern entſtand, entſpringt hier von einer. Zwey Knaben von entgegengeſetztem Sinne balgen ſich ſchon unter dem Herzen der Mutter. Sie treten ans Licht: der aͤltere lebhaft und maͤchtig, der juͤngere zart und klug; jener wird des Va¬ ters, dieſer der Mutter Liebling. Der Streit um den Vorrang, der ſchon bey der Geburt beginnt, ſetzt ſich immer fort. Eſau iſt ruhig und gleichguͤltig uͤber die Erſtgeburt, die ihm das Schickſal zugetheilt; Jakob vergißt nicht, daß ihn ſein Bruder zuruͤckgedraͤngt. Aufmerk¬ ſam auf jede Gelegenheit den erwuͤnſchten Vortheil zu gewinnen, handelt er ſeinem Bru¬ der das Recht der Erſtgeburt ab, und bevor¬l. 21322theilt ihn um des Vaters Segen. Eſau er¬ grimmt und ſchwoͤrt dem Bruder den Tod, Jakob entflieht, um in dem Lande ſeiner Vor¬ fahren ſein Gluͤck zu verſuchen.
Nun, zum erſten Mal in einer ſo edlen Fa¬ milie erſcheint ein Glied, das kein Bedenken traͤgt, durch Klugheit und Liſt die Vortheile zu erlangen, welche Natur und Zuſtaͤnde ihm ver¬ ſagten. Es iſt oft genug bemerkt und ausge¬ ſprochen worden, daß die heiligen Schriften uns jene Erzvaͤter und andere von Gott be¬ guͤnſtigte Maͤnner keineswegs als Tugendbilder aufſtellen wollen. Auch ſie ſind Menſchen von den verſchiedenſten Charactern, mit mancherley Maͤngeln und Gebrechen; aber eine Haupt¬ eigenſchaft darf ſolchen Maͤnnern nach dem Herzen Gottes nicht fehlen: es iſt der uner¬ ſchuͤtterliche Glaube, daß Gott ſich ihrer und der Ihrigen beſonders annehme.
Die allgemeine, die natuͤrliche Religion bedarf eigentlich keines Glaubens: denn die323 Ueberzeugung, daß ein großes, hervorbringen¬ des, ordnendes und leitendes Weſen ſich gleich¬ ſam hinter der Natur verberge, um ſich uns faßlich zu machen, eine ſolche Ueberzeugung dringt ſich einem Jeden auf; ja wenn er auch den Faden derſelben, der ihn durchs Leben fuͤhrt, manchmal fahren ließe, ſo wird er ihn doch gleich und uͤberall wieder aufnehmen koͤnnen. Ganz anders verhaͤlt ſich's mit der beſondern Re¬ ligion, die uns verkuͤndigt, daß jenes große We¬ ſen ſich eines Einzelnen, eines Stammes, eines Volkes, einer Landſchaft entſchieden und vor¬ zuͤglich annehme. Dieſe Religion iſt auf den Glauben gegruͤndet, der unerſchuͤtterlich ſeyn muß, wenn er nicht ſogleich von Grund aus zerſtoͤrt werden ſoll. Jeder Zweifel gegen eine ſolche Religion iſt ihr toͤdlich. Zur Ueberzeu¬ gung kann man zuruͤckkehren, aber nicht zum Glauben. Daher die unendlichen Pruͤfungen, das Zaudern der Erfuͤllung ſo wiederholter Verheißungen, wodurch die Glaubensfaͤhigkeit jener Ahnherren ins hellſte Licht geſetzt wird.
21 *324Auch in dieſem Glauben tritt Jakob ſei¬ nen Zug an, und wenn er durch Liſt und Betrug unſere Neigung nicht erworben hat, ſo gewinnt er ſie durch die dauernde und un¬ verbruͤchliche Liebe zu Rahel, um die er ſelbſt aus dem Stegreife wirbt, wie Eleaſar fuͤr ſeinen Vater um Rebecca geworben hatte. In ihm ſollte ſich die Verheißung eines un¬ ermeßlichen Volkes zuerſt vollkommen entfal¬ ten; er ſollte viele Soͤhne um ſich ſehen, aber auch durch ſie und ihre Muͤtter manches Herzeleid erleben.
Sieben Jahre dient er um die Geliebte, ohne Ungeduld und ohne Wanken. Sein Schwiegervater, ihm gleich an Liſt, geſinnt wie er, um jedes Mittel zum Zweck fuͤr rechtmaͤßig zu halten, betriegt ihn, vergilt ihm was er an ſeinem Bruder gethan: Ja¬ kob findet eine Gattinn, die er nicht liebt, in ſeinen Armen. Zwar, um ihn zu beſaͤnf¬ tigen, giebt Laban nach kurzer Zeit ihm die325 geliebte dazu, aber unter der Bedingung ſieben neuer Dienſtjahre; und ſo entſpringt nun Verdruß aus Verdruß. Die nicht ge¬ liebte Gattinn iſt fruchtbar, die geliebte bringt keine Kinder; dieſe will wie Sara durch eine Magd Mutter werden, jene mis¬ goͤnnt ihr auch dieſen Vortheil. Auch ſie fuͤhrt ihrem Gatten eine Magd zu, und nun iſt der gute Erzvater der geplagteſte Mann von der Welt: Vier Frauen, Kinder von dreyen, und keins von der geliebten! End¬ lich wird auch dieſe begluͤckt, und Joſeph kommt zur Welt, ein Spaͤtling der leiden¬ ſchaftlichſten Liebe. Jakobs vierzehn Dienſt¬ jahre ſind um; aber Laban will in ihm den erſten treuſten Knecht nicht entbehren. Sie ſchließen neue Bedingungen und theilen ſich in die Heerden. Laban behaͤlt die von wei¬ ßer Farbe, als die der Mehrzahl; die ſchaͤk¬ kigen, gleichſam nur den Ausſchuß, laͤßt ſich Jakob gefallen. Dieſer weiß aber auch hier ſeinen Vortheil zu wahren, und wie er durch326 ein ſchlechtes Gericht die Erſtgeburt, und durch eine Vermummung den vaͤterlichen Se¬ gen gewonnen, ſo verſteht er nun durch Kunſt und Sympathie den beſten und groͤ߬ ten Theil der Heerde ſich zuzueignen, und wird auch von dieſer Seite der wahrhaft wuͤrdige Stammvater des Volkes Iſrael und ein Muſterbild fuͤr ſeine Nachkommen. La¬ ban und die Seinigen bemerken wo nicht das Kunſtſtuͤck doch den Erfolg. Es giebt Ver¬ druß; Jakob flieht mit allen den Seinigen, mit aller Habe, und entkommt dem nachſe¬ tzenden Laban theils durch Gluͤck, theils durch Liſt. Nun ſoll ihm Rahel noch einen Sohn ſchenken; ſie ſtirbt aber in der Geburt: der Schmerzenſohn Benjamin uͤberlebt ſie, aber noch groͤßern Schmerz ſoll der Altvater bey dem anſcheinenden Verluſt ſeines Sohnes Joſeph empfinden.
327Vielleicht moͤchte Jemand fragen, warum ich dieſe allgemein bekannten, ſo oft wieder¬ holten und ausgelegten Geſchichten hier aber¬ mals umſtaͤndlich vortrage. Dieſem duͤrfte zur Antwort dienen, daß ich auf keine an¬ dere Weiſe darzuſtellen wuͤßte, wie ich bey meinem zerſtreuten Leben, bey meinem zer¬ ſtuͤckelten Lernen, dennoch meinen Geiſt, meine Gefuͤhle auf einen Punct zu einer ſtillen Wirkung verſammelte; weil ich auf keine andere Weiſe den Frieden zu ſchildern vermoͤchte, der mich umgab, wenn es auch draußen noch ſo wild und wunderlich herging. Wenn eine ſtets geſchaͤftige Einbildungskraft, wovon jenes Maͤhrchen ein Zeugniß ablegen mag, mich bald da bald dorthin fuͤhrte, wenn das Gemiſch von Fabel und Geſchichte, Mythologie und Religion mich zu verwirren drohte; ſo fluͤchtete ich gern nach jenen mor¬ genlaͤndiſchen Gegenden, ich verſenkte mich in die erſten Buͤcher Moſis, und fand mich dort unter den ausgebreiteten Hirtenſtaͤmmen328 zugleich in der groͤßten Einſamkeit und in der groͤßten Geſellſchaft.
Dieſe Familienauftritte, ehe ſie ſich in eine Geſchichte des iſraelitiſchen Volks verlie¬ ren ſollten, laſſen uns nun zum Schluß noch eine Geſtalt ſehen, an der ſich beſonders die Jugend mit Hoffnungen und Einbildungen gar artig ſchmeicheln kann: Joſeph, das Kind der leidenſchaftlichſten ehelichen Liebe. Ruhig erſcheint er uns und klar, und pro¬ phezeyt ſich ſelbſt die Vorzuͤge, die ihn uͤber ſeine Familie erheben ſollten. Durch ſeine Geſchwiſter ins Ungluͤck geſtoßen, bleibt er ſtandhaft und rechtlich in der Sklaverey, wi¬ derſteht den gefaͤhrlichſten Verſuchungen, ret¬ tet ſich durch Weiſſagung, und wird zu ho¬ hen Ehren nach Verdienſt erhoben. Erſt zeigt er ſich einem großen Koͤnigreiche, ſo¬ dann den Seinigen huͤlfreich und nuͤtzlich. Er gleicht ſeinem Urvater Abraham an Ruhe und Großheit, ſeinem Großvater Iſaak an329 Stille und Ergebenheit. Den von ſeinem Vater ihm angeſtammten Gewerbſinn uͤbt er im Großen: es ſind nicht mehr Heerden, die man einem Schwiegervater, die man fuͤr ſich ſelbſt gewinnt, es ſind Voͤlker mit allen ih¬ ren Beſitzungen, die man fuͤr einen Koͤnig einzuhandlen verſteht. Hoͤchſt anmuthig iſt dieſe natuͤrliche Erzaͤhlung, nur erſcheint ſie zu kurz, und man fuͤhlt ſich berufen, ſie ins Einzelne auszumalen.
Ein ſolches Ausmalen bibliſcher, nur im Umriß angegebener Charactere und Begeben¬ heiten war den Deutſchen nicht mehr fremd. Die Perſonen des alten und neuen Teſta¬ ments hatten durch Klopſtock ein zartes und gefuͤhlvolles Weſen gewonnen, das dem Kna¬ ben ſo wie vielen ſeiner Zeitgenoſſen hoͤchlich zuſagte. Von den Bodmeriſchen Arbeiten die¬ ſer Art kam wenig oder nichts zu ihm; aber Daniel in der Loͤwengrube, von Mo¬ ſer, machte große Wirkung auf das junge Ge¬330 muͤth. Hier gelangt ein wohldenkender Ge¬ ſchaͤfts - und Hofmann durch mancherley Truͤb¬ ſale zu hohen Ehren, und ſeine Froͤmmigkeit, durch die man ihn zu verderben drohte, ward fruͤher und ſpaͤter ſein Schild und ſeine Waffe. Die Geſchichte Joſephs zu bearbei¬ ten war mir lange ſchon wuͤnſchenswerth ge¬ weſen; allein ich konnte mit der Form nicht zurecht kommen, beſonders da mir keine Vers¬ art gelaͤufig war, die zu einer ſolchen Ar¬ beit gepaßt haͤtte. Aber nun fand ich eine proſaiſche Behandlung ſehr bequem und legte mich mit aller Gewalt auf die Bearbeitung. Nun ſuchte ich die Charactere zu ſondern und auszumalen, und durch Einſchaltung von Incidenzien und Epiſoden die alte einfache Geſchichte zu einem neuen und ſelbſtaͤndigen Werke zu machen. Ich bedachte nicht, was freylich die Jugend nicht bedenken kann, daß hiezu ein Gehalt noͤthig ſey, und daß dieſer uns nur durch das Gewahrwerden der Er¬ fahrung ſelbſt entſpringen koͤnne. Genug, ich331 vergegenwaͤrtigte mir alle Begebenheiten bis ins kleinſte Detail, und erzaͤhlte ſie mir der Reihe nach auf das genauſte.
Was mir dieſe Arbeit ſehr erleichterte, war ein Umſtand, der dieſes Werk und uͤber¬ haupt meine Autorſchaft hoͤchſt voluminoͤs zu machen drohte. Ein junger Mann von vie¬ len Faͤhigkeiten, der aber durch Anſtrengung und Duͤnkel bloͤdſinnig geworden war, wohnte als Muͤndel in meines Vaters Hauſe, lebte ruhig mit der Familie und war ſehr ſtill und in ſich gekehrt, und wenn man ihn auf ſeine gewohnte Weiſe verfahren ließ, zufrieden und gefaͤllig. Dieſer hatte ſeine academiſchen Hefte mit großer Sorgfalt geſchrieben, und ſich eine fluͤchtige leſerliche Hand erworben. Er beſchaͤftigte ſich am liebſten mit Schreiben, und ſah es gern, wenn man ihm etwas zu copiren gab; noch lieber aber, wenn man ihm dictirte, weil er ſich alsdann in ſeine gluͤcklichen academiſchen Jahre verſetzt fuͤhlte.
332Meinem Vater, der keine expedite Hand ſchrieb, und deſſen deutſche Schrift klein und zittrig war, konnte nichts erwuͤnſchter ſeyn, und er pflegte daher, bey Beſorgung eigner ſowohl als fremder Geſchaͤfte, dieſem jungen Manne gewoͤhnlich einige Stunden des Tags zu dictiren. Ich fand es nicht minder be¬ quem, in der Zwiſchenzeit alles was mir fluͤchtig durch den Kopf ging von einer frem¬ den Hand auf dem Papier fixirt zu ſehen, und meine Erfindungs - und Nachahmungs¬ gabe wuchs mit der Leichtigkeit des Auffaſſens und Aufbewahrens.
Ein ſo großes Werk als jenes bibliſche proſaiſch - epiſche Gedicht hatte ich noch nicht unternommen. Es war eben eine ziemlich ruhige Zeit, und nichts rief meine Einbil¬ dungskraft aus Palaͤſtina und Aegypten zu¬ ruͤck. So quoll mein Manuſkript taͤglich um ſo mehr auf, als das Gedicht ſtrecken¬ weiſe, wie ich es mir ſelbſt gleichſam in die333 Luft erzaͤhlte, auf dem Papier ſtand, und nur wenige Blaͤtter von Zeit zu Zeit umge¬ ſchrieben zu werden brauchten.
Als das Werk fertig war: denn es kam zu meiner eignen Verwunderung wirklich zu Stande; bedachte ich, daß von den vorigen Jahren mancherley Gedichte vorhanden ſeyen, die mir auch jetzt nicht verwerflich ſchienen, welche in ein Format mit Joſeph zuſammen¬ geſchrieben, einen ganz artigen Quartband ausmachen wuͤrden, dem man den Titel ver¬ miſchte Gedichte geben koͤnnte; welches wir ſehr wohl gefiel, weil ich dadurch im Stillen bekannte und beruͤhmte Autoren nachzuahmen Gelegenheit fand. Ich hatte eine gute An¬ zahl ſogenannter anakreontiſcher Gedichte ver¬ fertigt, die mir wegen der Bequemlichkeit des Sylbenmaßes und der Leichtigkeit des Inhalts ſehr wohl von der Hand gingen. Allein dieſe durfte ich nicht wohl aufnehmen, weil ſie keine Reime hatten, und ich doch334 vor allem meinem Vater etwas Angenehmes zu erzeigen wuͤnſchte. Deſtomehr ſchienen mir geiſtliche Oden hier am Platz, dergleichen ich zur Nachahmung des juͤngſten Gerichts von Elias Schlegel ſehr eifrig verſucht hatte. Eine zur Feyer der Hoͤllenfahrt Chriſti ge¬ ſchriebene erhielt von meinen Aeltern und Freunden viel Beyfall, und ſie hatte das Gluͤck mir ſelbſt noch einige Jahre zu gefal¬ len. Die ſogenannten Texte der ſonntaͤgigen Kirchenmuſiken, welche jedesmal gedruckt zu haben waren, ſtudirte ich fleißig. Sie wa¬ ren freylich ſehr ſchwach, und ich durfte wohl glauben, daß die meinigen, deren ich meh¬ rere nach der vorgeſchriebenen Art verfertigt hatte, eben ſo gut verdienten componirt und zur Erbauung der Gemeinde vorgetragen zu werden. Dieſe und mehrere dergleichen hatte ich ſeit laͤnger als einem Jahre mit eigener Hand abgeſchrieben, weil ich durch dieſe Pri¬ vatuͤbung von den Vorſchriften des Schreibe¬ meiſters entbunden wurde. Nunmehr aber335 ward alles redigirt und in gute Ordnung ge¬ ſtellt, und es bedurfte keines großen Zure¬ dens, um ſolche von jenem ſchreibeluſtigen jungen Manne reinlich abgeſchrieben zu ſehen. Ich eilte damit zum Buchbinder, und als ich gar bald den ſaubern Band meinem Va¬ ter uͤberreichte, munterte er mich mit beſon¬ derm Wohlgefallen auf, alle Jahre einen ſol¬ chen Quartanten zu liefern; welches er mit deſto groͤßerer Ueberzeugung that, als ich das alles nur in ſo genannten Nebenſtunden geleiſtet hatte.
Noch ein anderer Umſtand vermehrte den Hang zu dieſen theologiſchen, oder vielmehr bibliſchen Studien. Der Senior des Mini¬ ſteriums, Johann Philipp Freſenius, ein ſanfter Mann, von ſchoͤnem gefaͤlligen Anſehen, welcher von ſeiner Gemeinde ja von der ganzen Stadt als ein exemplariſcher Geiſtlicher und guter Canzelredner verehrt ward, der aber, weil er gegen die Herrnhu¬336 ter aufgetreten, bey den abgeſonderten From¬ men nicht im beſten Ruf ſtand, vor der Menge hingegen ſich durch die Bekehrung eines bis zum Tode bleſſirten freygeiſtiſchen Generals beruͤhmt und gleichſam heilig ge¬ macht hatte, dieſer ſtarb, und ſein Nachfol¬ ger Plitt, ein großer ſchoͤner wuͤrdiger Mann, der jedoch vom Catheder (er war Profeſſor in Marpurg geweſen) mehr die Gabe zu lehren als zu erbauen mitgebracht hatte, kuͤndigte ſogleich eine Art von Reli¬ gions-Curſus an, dem er ſeine Predigten in einem gewiſſen methodiſchen Zuſammenhang widmen wolle. Schon fruͤher, da ich doch einmal in die Kirche gehen mußte, hatte ich mir die Eintheilung gemerkt, und konnte dann und wann mit ziemlich vollſtaͤndiger Recita¬ tion einer Predigt großthun. Da nun uͤber den neuen Senior manches fuͤr und wider in der Gemeine geſprochen wurde, und viele kein ſonderliches Zutrauen in ſeine angekuͤn¬ digten didactiſchen Predigten ſetzen wollten;337 ſo nahm ich mir vor ſorgfaͤltiger nachzuſchrei¬ ben, welches mir um ſo eher gelang, als ich auf einem zum Hoͤren ſehr bequemen, uͤbri¬ gens aber verborgenen Sitz ſchon geringere Verſuche gemacht hatte. Ich war hoͤchſt auf¬ merkſam und behend; in dem Augenblick daß er Amen ſagte, eilte ich aus der Kirche und wendete ein paar Stunden daran, das was ich auf dem Papier und im Gedaͤchtniß fixirt hatte, eilig zu dictiren, ſo daß ich die geſchriebene Predigt noch vor Tiſche uͤberrei¬ chen konnte. Mein Vater war ſehr glorios uͤber dieſes Gelingen, und der gute Haus¬ freund, der eben zu Tiſche kam, mußte die Freude theilen. Dieſer war mir ohnehin hoͤchſt guͤnſtig, weil ich mir ſeinen Meſſias ſo zu eigen gemacht hatte, daß ich ihm, bey meinen oͤftern Beſuchen, um Siegelabdruͤcke fuͤr meine Wappenſammlung zu holen, große Stellen davon vortragen konnte, ſo daß ihm die Thraͤnen in den Augen ſtanden.
I. 22338Den naͤchſten Sonntag ſetzte ich die Ar¬ beit mit gleichem Eifer fort, und weil mich der Mechanismus derſelben ſogar unterhielt, ſo dachte ich nicht nach uͤber das was ich ſchrieb und aufbewahrte. Das erſte Viertel¬ jahr mochten ſich dieſe Bemuͤhungen ziemlich gleich bleiben; als ich aber zuletzt, nach mei¬ nem Duͤnkel, weder beſondere Aufklaͤrung uͤber die Bibel ſelbſt, noch eine freyere An¬ ſicht des Dogma's zu finden glaubte: ſo ſchien mir die kleine Eitelkeit die dabey be¬ friedigt wurde, zu theuer erkauft, als daß ich mit gleichem Eifer das Geſchaͤft haͤtte fortſetzen ſollen. Die erſt ſo blaͤtterreichen Canzelreden wurden immer magerer, und ich haͤtte zuletzt dieſe Bemuͤhung ganz abgebro¬ chen, wenn nicht mein Vater, der ein Freund der Vollſtaͤndigkeit war, mich durch gute Worte und Verſprechungen dahin gebracht, daß ich bis auf den letzten Sonntag Trinita¬ tis aushielt, obgleich am Schluſſe kaum et¬ was mehr als der Text, die Propoſition und339 die Eintheilung auf kleine Blaͤtter verzeichnet wurden.
Was das Vollbringen betrifft, darin hatte mein Vater eine beſondere Hartnaͤckigkeit. Was einmal unternommen ward, ſollte aus¬ gefuͤhrt werden, und wenn auch inzwiſchen das Unbequeme, Langweilige, Verdrießliche, ja Unnuͤtze des Begonnenen ſich deutlich offen¬ barte. Es ſchien, als wenn ihm das Vol¬ bringen der einzige Zweck, das Beharren die einzige Tugend daͤuchte. Hatten wir in lan¬ gen Winterabenden im Familienkreiſe ein Buch angefangen vorzuleſen, ſo mußten wir es auch durchbringen, wenn wir gleich ſaͤmt¬ lich dabey verzweifelten, und er mitunter ſelbſt der erſte war, der zu gaͤhnen anfing. Ich erinnere mich noch eines ſolchen Winters, wo wir Bowers Geſchichte der Paͤbſte ſo durchzuarbeiten hatten. Es war ein fuͤrchter¬ licher Zuſtand, indem wenig oder nichts was in jenen kirchlichen Verhaͤltniſſen vorkommt,22 *340Kinder und junge Leute anſprechen kann. Indeſſen iſt mir bey aller Unachtſamkeit und allem Widerwillen doch von jener Vorleſung ſoviel geblieben, daß ich in ſpaͤteren Zeiten manches daranzuknuͤpfen im Stande war.
Bey allen dieſen fremdartigen Beſchaͤfti¬ gungen und Arbeiten, die ſo ſchnell auf ein¬ ander folgten, daß man ſich kaum beſinnen konnte, ob ſie zulaͤſſig und nuͤtzlich waͤren, verlor mein Vater ſeinen Hauptzweck nicht aus den Augen. Er ſuchte mein Gedaͤchtniß, meine Gabe etwas zu faſſen und zu combini¬ ren, auf juriſtiſche Gegenſtaͤnde zu lenken, und gab mir daher ein kleines Buch, in Ge¬ ſtalt eines Catechismus, von Hopp, nach Form und Inhalt der Inſtitutionen gearbei¬ tet, in die Haͤnde. Ich lernte Fragen und Antworten bald auswendig, und konnte ſogut den Catecheten als den Catechumenen vorſtel¬ len; und wie bey dem damaligen Religions¬ unterricht eine der Hauptuͤbungen war, daß341 man auf das behendeſte in der Bibel auf¬ ſchlagen lernte, ſo wurde auch hier eine gleiche Bekanntſchaft mit dem Corpus Juris fuͤr noͤthig befunden, worin ich auch bald auf das vollkommenſte bewandert war. Mein Vater wollte weiter gehen, und der kleine Struve ward vorgenommen; aber hier ging es nicht ſo raſch. Die Form des Bu¬ ches war fuͤr den Anfaͤnger nicht ſo guͤnſtig, daß er ſich ſelbſt haͤtte aushelfen koͤnnen, und meines Vaters Art zu dociren nicht ſo liberal, daß ſie mich angeſprochen haͤtte.
Nicht allein durch die kriegeriſchen Zu¬ ſtaͤnde, in denen wir uns ſeit einigen Jah¬ ren befanden, ſondern auch durch das buͤrger¬ liche Leben ſelbſt, durch Leſen von Geſchich¬ ten und Romanen, war es uns nur allzu deutlich, daß es ſehr viele Faͤlle gebe, in welchen die Geſetze ſchweigen und dem Ein¬ zelnen nicht zu Huͤlfe kommen, der dann ſe¬ hen mag, wie er ſich aus der Sache zieht.
342Wir waren nun heran gewachſen, und dem Schlendriane nach ſollten wir auch neben an¬ dern Dingen fechten und reiten lernen, um uns gelegentlich unſerer Haut zu wehren, und zu Pferde kein ſchuͤlerhaftes Anſehn zu haben. Was den erſten Punct betrifft, ſo war uns eine ſolche Uebung ſehr angenehm: denn wir hatten uns ſchon laͤngſt Haurapiere von Haſelſtoͤcken, mit Koͤrben von Weiden ſauber geflochten, um die Hand zu ſchuͤtzen, zu verſchaffen gewußt. Nun durften wir uns wirklich ſtaͤhlerne Klingen zulegen, und das Geraſſel was wir damit machten, war ſehr lebhaft.
Zwey Fechtmeiſter befanden ſich in der Stadt: ein aͤlterer ernſter Deutſcher, der auf die ſtrenge und tuͤchtige Weiſe zu Werke ging, und ein Franzoſe, der ſeinen Vortheil durch avanciren und retiriren, durch leichte fluͤchtige Stoͤße, welche ſtets mit einigen Ausrufungen begleitet waren, zu erreichen343 ſuchte. Die Meinungen, welche Art die beſte ſey, waren getheilt. Der kleinen Ge¬ ſellſchaft mit welcher ich Stunde nehmen ſollte, gab man den Franzoſen, und wir ge¬ woͤhnten uns bald, vorwaͤrts und ruͤckwaͤrts zu gehen, auszufallen und uns zuruͤckzuziehen, und dabey immer in die herkoͤmmlichen Schrey¬ laute auszubrechen. Mehrere von unſern Bekannten aber hatten ſich zu dem deutſchen Fechtmeiſter gewendet, und uͤbten gerade das Gegentheil. Dieſe verſchiedenen Arten eine ſo wichtige Uebung zu behandeln, die Ueber¬ zeugung eines Jeden, daß ſein Meiſter der beſſere ſey, brachte wirklich eine Spaltung unter die jungen Leute, die ohngefaͤhr von einem Alter waren, und es fehlte wenig, ſo haͤtten die Fechtſchulen ganz ernſtliche Ge¬ fechte veranlaßt. Denn faſt ward eben ſo ſehr mit Worten geſtritten als mit der Klinge gefochten, und um zuletzt der Sache ein Ende zu machen, ward ein Wettkampf zwi¬ ſchen beyden Meiſtern veranſtaltet, deſſen Er¬344 folg ich nicht umſtaͤndlich zu beſchreiben brauche. Der Deutſche ſtand in ſeiner Poſi¬ tur wie eine Mauer, paßte auf ſeinen Vor¬ theil, und wußte mit Battiren und Legiren ſeinen Gegner ein uͤber das andre Mal zu entwaffnen. Dieſer behauptete, das ſey nicht Raiſon, und fuhr mit ſeiner Beweglichkeit fort, den Andern in Athem zu ſetzen. Auch brachte er dem Deutſchen wohl einige Stoͤße bey, die ihn aber ſelbſt, wenn es Ernſt ge¬ weſen waͤre, in die andre Welt geſchickt haͤtten.
Im Ganzen ward nichts entſchieden, noch gebeſſert, nur wendeten ſich einige zu dem Landsmann, worunter ich auch gehoͤrte. Al¬ lein ich hatte ſchon zu viel von dem erſten Meiſter angenommen, daher eine ziemliche Zeit daruͤber hinging, bis der neue mir es wieder abgewoͤhnen konnte, der uͤberhaupt mit uns Renegaten weniger als mit ſeinen Urſchuͤlern zufrieden war.
345Mit dem Reiten ging es mir noch ſchlim¬ mer. Zufaͤlligerweiſe ſchickte man mich im Herbſt auf die Bahn, ſo daß ich in der kuͤh¬ len und feuchten Jahreszeit meinen Anfang machte. Die pedantiſche Behandlung dieſer ſchoͤnen Kunſt war mir hoͤchlich zuwider. Zum erſten und letzten war immer vom Schlie¬ ßen die Rede, und es konnte einem doch Nie¬ mand ſagen, worin denn eigentlich der Schluß beſtehe, worauf doch alles ankommen ſolle: denn man fuhr ohne Steigbuͤgel auf dem Pferde hin und her. Uebrigens ſchien der Unterricht nur auf Prellerey und Beſchaͤmung der Scholaren angelegt. Vergaß man die Kinnkette ein - oder auszuhaͤngen, ließ man die Gerte fallen oder wohl gar den Hut, jedes Verſaͤumniß, jedes Ungluͤck mußte mit Geld gebuͤßt werden, und man ward noch obenein ausgelacht. Dieß gab mir den allerſchlimm¬ ſten Humor, beſonders da ich den Uebungs¬ ort ſelbſt ganz unertraͤglich fand. Der gar¬ ſtige, große, entweder feuchte oder ſtaubige346 Raum, die Kaͤlte, der Modergeruch, alles zuſammen war mir im hoͤchſten Grade zuwi¬ der; und da der Stallmeiſter den andern, weil ſie ihn vielleicht durch Fruͤhſtuͤcke und ſonſtige Gaben, vielleicht auch durch ihre Geſchicklichkeit beſtachen, immer die beſten Pferde, mir aber die ſchlechteſten zu reiten gab, mich auch wohl warten ließ, und mich wie es ſchien hintanſetzte: ſo brachte ich die allerverdrießlichſten Stunden uͤber einem Ge¬ ſchaͤft hin, das eigentlich das luſtigſte von der Welt ſeyn ſollte. Ja der Eindruck von jener Zeit, von jenen Zuſtaͤnden iſt mir ſo lebhaft geblieben, daß, ob ich gleich nachher leidenſchaftlich und verwegen zu reiten gewohnt war, auch Tage und Wochen lang kaum vom Pferde kam, daß ich bedeckte Reitbah¬ nen ſorgfaͤltig vermied, und hoͤchſtens nur wenig Augenblicke darin verweilte. Es kommt uͤbrigens der Fall oft genug vor, daß wenn die Anfaͤnge einer abgeſchloſſenen Kunſt uns uͤberliefert werden ſollen, dieſes auf eine347 peinliche und abſchreckende Art geſchieht. Die Ueberzeugung, wie laͤſtig und ſchaͤdlich dieſes ſey, hat in ſpaͤtern Zeiten die Erziehungs¬ maxime aufgeſtellt, daß alles der Jugend auf eine leichte, luſtige und bequeme Art beyge¬ bracht werden muͤſſe; woraus denn aber auch wieder andere Uebel und Nachtheile entſprun¬ gen ſind.
Mit der Annaͤherung des Fruͤhlings ward es bey uns auch wieder ruhiger, und wenn ich mir fruͤher das Anſchauen der Stadt, ihrer geiſtlichen und weltlichen, oͤffentlichen und Privat-Gebaͤude zu verſchaffen ſuchte, und beſonders an dem damals noch vorherr¬ ſchenden Alterthuͤmlichen das groͤßte Vergnuͤ¬ gen fand; ſo war ich nachher bemuͤht, durch die Lersner'ſche Chronik und durch andre unter meines Vaters Francofurtenſien befind¬ liche Buͤcher und Hefte, die Perſonen ver¬ gangner Zeiten mir zu vergegenwaͤrtigen; wel¬ ches mir denn auch durch große Aufmerkſam¬348 keit auf das Beſondere der Zeiten und Sitten, und bedeutender Individualitaͤten ganz gut zu gelingen ſchien.
Unter den alterthuͤmlichen Reſten war mir, von Kindheit an, der auf dem Bruͤckenthurm aufgeſteckte Schaͤdel eines Staatsverbrechers merkwuͤrdig geweſen, der von dreyen oder vieren, wie die leeren eiſernen Spitzen aus¬ wieſen, ſeit 1616 ſich durch alle Unbilden der Zeit und Witterung erhalten hatte. So oft man von Sachſenhauſen nach Frankfurt zuruͤckkehrte, hatte man den Thurm vor ſich und der Schaͤdel fiel ins Auge. Ich ließ mir als Knabe ſchon gern die Geſchichte dieſer Aufruͤhrer, des Fettmilch und ſeiner Genoſſen erzaͤhlen, wie ſie mit dem Stadt¬ regiment unzufrieden geweſen, ſich gegen daſ¬ ſelbe empoͤrt, Meuterey angeſponnen, die Judenſtadt gepluͤndert und graͤßliche Haͤndel erregt, zuletzt aber gefangen und von kaiſerli¬ chen Abgeordneten zum Tode verurtheilt wor¬349 den. Spaͤterhin lag mir daran, die naͤhern Umſtaͤnde zu erfahren, und was es denn fuͤr Leute geweſen, zu vernehmen. Als ich nun aus einem alten, gleichzeitigen, mit Holzſchnit¬ ten verſehenen Buche erfuhr, daß zwar dieſe Menſchen zum Tode verurtheilt, aber zugleich auch viele Rathsherrn abgeſetzt worden, weil mancherley Unordnung und ſehr viel Unver¬ antwortliches im Schwange geweſen; da ich nun die naͤhern Umſtaͤnde vernahm, wie alles hergegangen: ſo bedauerte ich die ungluͤck¬ lichen Menſchen, welche man wohl als Opfer, die einer kuͤnftigen beſſern Verfaſſung gebracht worden, anſehen duͤrfe; denn von jener Zeit ſchrieb ſich die Einrichtung her, nach welcher ſowohl das altadlige Haus Limpurg, das aus einem Klubb entſprungene Haus Frauenſtein, ferner Juriſten, Kaufleute und Handwer¬ ker an einem Regimente Theil nehmen ſoll¬ ten, das durch eine auf venetianiſche Weiſe verwickelte Ballotage ergaͤnzt, von buͤrger¬ lichen Collegien eingeſchraͤnkt, das Rechte zu350 thun berufen war, ohne zu dem Unrechten ſonderliche Freyheit zu behalten.
Zu den ahndungsvollen Dingen, die den Knaben und auch wohl den Juͤngling bedraͤngten, gehoͤrte beſonders der Zuſtand der Judenſtadt, eigentlich die Judengaſſe genannt, weil ſie kaum aus etwas mehr als einer einzigen Straße beſteht, welche in fruͤ¬ hen Zeiten zwiſchen Stadtmauer und Graben wie in einen Zwinger mochte eingeklemmt worden ſeyn. Die Enge, der Schmutz, das Gewimmel, der Accent einer unerfreulichen Sprache, alles zuſammen machte den unan¬ genehmſten Eindruck, wenn man auch nur am Thore vorbeygehend hineinſah. Es dau¬ erte lange bis ich allein mich hineinwagte, und ich kehrte nicht leicht wieder dahin zuruͤck, wenn ich einmal den Zudringlichkeiten ſo vie¬ ler etwas zu ſchachern unermuͤdet fordernder oder anbietender Menſchen entgangen war. Dabey ſchwebten die alten Maͤhrchen von351 Grauſamkeit der Juden gegen die Chriſten¬ kinder, die wir in Gottfrieds Chronik graͤßlich abgebildet geſehen, duͤſter vor dem jungen Gemuͤth. Und ob man gleich in der neuern Zeit beſſer von ihnen dachte, ſo zeugte doch das große Spott - und Schandgemaͤlde, wel¬ ches unter dem Bruͤckenthurm an einer Bo¬ gen-Wand, zu ihrem Unglimpf, noch ziemlich zu ſehen war, außerordentlich gegen ſie: denn es war nicht etwa durch einen Privatmuth¬ willen, ſondern aus oͤffentlicher Anſtalt ver¬ fertigt worden.
Indeſſen blieben ſie doch das auserwaͤhlte Volk Gottes, und gingen, wie es nun mochte gekommen ſeyn, zum Andenken der aͤlteſten Zeiten umher. Außerdem waren ſie ja auch Menſchen, thaͤtig, gefaͤllig, und ſelbſt dem Eigenſinn, womit ſie an ihren Gebraͤuchen hingen, konnte man ſeine Achtung nicht ver¬ ſagen. Ueberdieß waren die Maͤdchen huͤbſch, und mochten es wohl leiden, wenn ein Chri¬352 ſtenknabe ihnen am Sabbath auf dem Fiſcher¬ felde begegnend, ſich freundlich und aufmerk¬ ſam bewies. Aeußerſt neugierig war ich daher, ihre Ceremonien kennen zu lernen. Ich ließ nicht ab, bis ich ihre Schule oͤfters beſucht, einer Beſchneidung, einer Hochzeit beygewohnt und von dem Lauberhuͤttenfeſt mir ein Bild gemacht hatte. Ueberall war ich wohl aufgenommen, gut bewirthet und zur Wiederkehr eingeladen: denn es waren Per¬ ſonen von Einfluß, die mich entweder hin¬ fuͤhrten oder empfahlen.
So wurde ich denn als ein junger Bewoh¬ ner einer großen Stadt von einem Gegen¬ ſtand zum andern hin und wieder geworfen, und es fehlte mitten in der buͤrgerlichen Ruhe und Sicherheit nicht an graͤßlichen Auftritten. Bald weckte ein naͤherer oder entfernter Brand uns aus unſerm haͤuslichen Frieden, bald ſetzte ein entdecktes großes Verbrechen, deſſen Unterſuchung und Beſtrafung die Stadt353 auf viele Wochen in Unruhe. Wir mußten Zeugen von verſchiedenen Executionen ſeyn, und es iſt wohl werth zu gedenken, daß ich auch bey Verbrennung eines Buchs gegenwaͤr¬ tig geweſen bin. Es war der Verlag eines franzoͤſiſchen comiſchen Romans, der zwar den Staat, aber nicht Religion und Sitten ſchonte. Es hatte wirklich etwas Fuͤrchterli¬ ches, eine Strafe an einem lebloſen Weſen ausgeuͤbt zu ſehen. Die Ballen platzten im Feuer, und wurden durch Ofengabeln aus ein¬ ander geſchuͤrt und mit den Flammen mehr in Beruͤhrung gebracht. Es dauerte nicht lange, ſo flogen die angebrannten Blaͤtter in der Luft herum, und die Menge haſchte begierig darnach. Auch ruhten wir nicht, bis wir ein Exemplar auftrieben, und es waren nicht wenige die ſich das verbotne Vergnuͤgen gleichfalls zu verſchaffen wußten. Ja, wenn es dem Autor um Publicitaͤt zu thun war, ſo haͤtte er ſelbſt nicht beſſer dafuͤr ſorgen koͤnnen.
l. 23354Jedoch auch friedlichere Anlaͤſſe fuͤhrten mich in der Stadt hin und wieder. Mein Vater hatte mich fruͤh gewoͤhnt kleine Ge¬ ſchaͤfte fuͤr ihn zu beſorgen. Beſonders trug er mir auf, die Handwerker die er in Arbeit ſetzte, zu mahnen, da ſie ihn gewoͤhnlich laͤn¬ ger als billig aufhielten, weil er alles genau wollte gearbeitet haben und zuletzt bey promp¬ ter Bezahlung die Preiſe zu maͤßigen pflegte. Ich gelangte dadurch faſt in alle Werkſtaͤtten, und da es mir angeboren war mich in die Zuſtaͤnde anderer zu finden, eine jede beſon¬ dere Art des menſchlichen Daſeyns zu fuͤhlen und mit Gefallen daran Theil zu nehmen; ſo brachte ich manche vergnuͤgliche Stunde durch Anlaß ſolcher Auftraͤge zu, lernte eines Jeden Verfahrungsart kennen, und was die unerlaͤßlichen Bedingungen dieſer und jener Le¬ bensweiſe fuͤr Freude, fuͤr Leid, Beſchwerliches und Guͤnſtiges mit ſich fuͤhren. Ich naͤherte mich dadurch dieſer thaͤtigen, das Untere und Obere verbindenden Claſſe. Denn wenn an der355 einen Seite diejenigen ſtehen, die ſich mit den einfachen und rohen Erzeugniſſen beſchaͤftigen, an der andern ſolche, die ſchon etwas Verar¬ beitetes genießen wollen; ſo vermittelt der Gewerker durch Sinn und Hand, daß jene beyde etwas von einander empfangen und je¬ der nach ſeiner Art ſeiner Wuͤnſche theilhaft werden kann. Das Familienweſen eines je¬ den Handswerks, das Geſtalt und Farbe von der Beſchaͤftigung erhielt, war gleichfalls der Gegenſtand meiner ſtillen Aufmerkſamkeit, und ſo entwickelte, ſo beſtaͤrkte ſich in mir das Gefuͤhl der Gleichheit wo nicht aller Menſchen, doch aller menſchlichen Zuſtaͤnde, indem mir das nackte Daſeyn als die Haupt¬ bedingung, das uͤbrige alles aber als gleich¬ guͤltig und zufaͤllig erſchien.
Da mein Vater ſich nicht leicht eine Aus¬ gabe erlaubte, die durch einen augenblickli¬ chen Genuß ſogleich waͤre aufgezehrt worden: wie ich mich denn kaum erinnre, daß wir23 *356zuſammen ſpaziren gefahren, und auf einem Luſtorte etwas verzehrt haͤtten; ſo war er dagegen nicht karg mit Anſchaffung ſolcher Dinge, die bey innerm Werth auch einen gu¬ ten aͤußern Schein haben. Niemand konnte den Frieden mehr wuͤnſchen als er, ob er gleich in der letzten Zeit vom Kriege nicht die mindeſte Beſchwerlichkeit empfand. In dieſen Geſinnungen hatte er meiner Mutter eine goldne mit Diamanten beſetzte Doſe verſprochen, welche ſie erhalten ſollte, ſobald der Friede publicirt wuͤrde. In Hoffnung dieſes gluͤcklichen Ereigniſſes arbeitete man ſchon einige Jahre an dieſem Geſchenk. Die Doſe ſelbſt von ziemlicher Groͤße ward in Hanau verfertigt: denn mit den dortigen Goldarbeitern, ſo wie mit den Vorſtehern der Seidenanſtalt, ſtand mein Vater in gu¬ tem Vernehmen. Mehrere Zeichnungen wur¬ den dazu verfertigt; den Deckel zierte ein Blumenkorb, uͤber welchem eine Taube mit dem Oelzweig ſchwebte. Der Raum fuͤr die357 Juwelen war gelaſſen, die theils an der Taube, theils an den Blumen, theils auch an der Stelle wo man die Doſe zu oͤffnen pflegt, angebracht werden ſollten. Der Ju¬ welier, dem die voͤllige Ausfuͤhrung nebſt den dazu noͤthigen Steinen uͤbergeben ward, hieß Lautenſak und war ein geſchickter muntrer Mann, der wie mehrere geiſtreiche Kuͤnſtler ſelten das Nothwendige, gewoͤhnlich aber das Willkuͤhrliche that, was ihm Vergnuͤgen machte. Die Juwelen, in der Figur wie ſie auf dem Doſendeckel angebracht werden ſoll¬ ten, waren zwar bald auf ſchwarzes Wachs geſetzt und nahmen ſich ganz gut aus; allein ſie wollten ſich von da gar nicht abloͤſen, um aufs Gold zu gelangen. Im Anfange ließ mein Vater die Sache noch ſo anſtehen; als aber die Hoffnung zum Frieden immer leb¬ hafter wurde, als man zuletzt ſchon die Be¬ dingungen, beſonders die Erhebung des Erz¬ herzogs Joſeph zum roͤmiſchen Koͤnig, ge¬ nauer wiſſen wollte; ſo ward mein Vater358 immer ungeduldiger, und ich mußte woͤchent¬ lich ein paarmal, ja zuletzt faſt taͤglich den ſaumſeligen Kuͤnſtler beſuchen. Durch mein unablaͤſſiges Quaͤlen und Zureden ruͤckte die Arbeit, wiewohl langſam genug, vorwaͤrts: denn weil ſie von der Art war, daß man ſie bald vornehmen, bald wieder aus den Haͤn¬ den legen konnte, ſo fand ſich immer etwas, wodurch ſie verdraͤngt und bey Seite geſcho¬ ben wurde.
Die Haupturſache dieſes Benehmens in¬ deß war eine Arbeit, die der Kuͤnſtler fuͤr eigene Rechnung unternommen hatte. Jeder¬ mann wußte, daß Kaiſer Franz eine große Neigung zu Juwelen, beſonders auch zu far¬ bigen Steinen hege. Lautenſak hatte eine anſehnliche Summe, und wie ſich ſpaͤter fand, groͤßer als ſein Vermoͤgen auf derglei¬ chen Edelſteine verwandt, und daraus einen Blumenſtrauß zu bilden angefangen, in wel¬ chem jeder Stein nach ſeiner Form und359 Farbe guͤnſtig hervortreten und das Ganze ein Kunſtſtuͤck geben ſollte, werth in dem Schatzgewoͤlbe eines Kaiſers aufbewahrt zu ſtehen. Er hatte nach ſeiner zerſtreuten Art mehrere Jahre daran gearbeitet, und eilte nun, weil man nach dem bald zu hoffenden Frieden die Ankunft des Kaiſers zur Kroͤ¬ nung ſeines Sohns in Frankfurt erwartete, es vollſtaͤndig zu machen und endlich zuſam¬ menzubringen. Meine Luſt dergleichen Ge¬ genſtaͤnde kennen zu lernen, benutzte er ſehr gewandt, um mich als einen Mahnboten zu zerſtreuen und von meinem Vorſatz abzulen¬ ken. Er ſuchte mir die Kenntniß dieſer Steine beyzubringen, machte mich auf ihre Eigenſchaften, ihren Werth aufmerkſam, ſo daß ich ſein ganzes Bouquet zuletzt auswen¬ dig wußte, und es eben ſo gut wie er einem Kunden haͤtte anpreiſend vordemonſtriren koͤn¬ nen. Es iſt mir noch jetzt gegenwaͤrtig, und ich habe wohl koſtbarere aber nicht anmuthi¬ gere Schau - und Prachtſtuͤcke dieſer Art ge¬360 ſehen. Außerdem beſaß er noch eine huͤbſche Kupferſammlung und andere Kunſtwerke, uͤber die er ſich gern unterhielt, und ich brachte viele Stunden nicht ohne Nutzen bey ihm zu. Endlich, als wirklich der Congreß zu Hubertsburg ſchon feſtgeſetzt war, that er aus Liebe zu mir ein uͤbriges, und die Taube zuſammt den Blumen gelangte am Friedens¬ feſte wirklich in die Haͤnde meiner Mutter.
Manchen aͤhnlichen Auftrag erhielt ich denn auch, um bey den Malern beſtellte Bil¬ der zu betreiben. Mein Vater hatte bey ſich den Begriff feſtgeſetzt, und wenig Menſchen waren davon frey, daß ein Bild auf Holz gemalt einen großen Vorzug vor einem an¬ dern habe, das nur auf Leinwand aufgetragen ſey. Gute eichene Breter von jeder Form zu beſitzen, war deswegen meines Vaters große Sorgfalt, indem er wohl wußte, daß die leichtſinnigern Kuͤnſtler ſich gerade in die¬ ſer wichtigen Sache auf den Tiſcher verlie¬361 ßen. Die aͤlteſten Bohlen wurden aufgeſucht, der Tiſcher mußte mit Leimen, Hobeln und Zurichten derſelben aufs genauſte zu Werke gehen, und dann blieben ſie Jahre lang in einem obern Zimmer verwahrt, wo ſie ge¬ nugſam austrocknen konnten. Ein ſolches koͤſtliches Bret ward dem Maler Junker anvertraut, der einen verzierten Blumentopf mit den bedeutendſten Blumen nach der Na¬ tur in ſeiner kuͤnſtlichen und zierlichen Weiſe darauf darſtellen ſollte. Es war gerade im Fruͤhling, und ich verſaͤumte nicht, ihm woͤ¬ chentlich einige Mal die ſchoͤnſten Blumen zu bringen die mir unter die Hand kamen; welche er denn auch ſogleich einſchaltete, und das Ganze nach und nach aus dieſen Ele¬ menten auf das treulichſte und fleißigſte zu¬ ſammenbildete. Gelegentlich hatte ich auch wohl einmal eine Maus gefangen, die ich ihm brachte, und die er als ein gar ſo zier¬ liches Thier nachzubilden Luſt hatte, auch ſie wirklich aufs genauſte vorſtellte, wie ſie362 am Fuße des Blumentopfes eine Kornaͤhre benaſcht. Mehr dergleichen unſchuldige Na¬ turgegenſtaͤnde, als Schmetterlinge und Kaͤ¬ fer, wurden herbeygeſchafft und dargeſtellt, ſo daß zuletzt, was Nachahmung und Aus¬ fuͤhrung betraf, ein hoͤchſt ſchaͤtzbares Bild beyſammen war.
Ich wunderte mich daher nicht wenig, als der gute Mann mir eines Tages, da die Arbeit bald abgeliefert werden ſollte, um¬ ſtaͤndlich eroͤffnete, wie ihm das Bild nicht mehr gefalle, indem es wohl im Einzelnen ganz gut gerathen, im Ganzen aber nicht gut componirt ſey, weil es ſo nach und nach entſtanden, und er im Anfange das Verſehen begangen, ſich nicht wenigſtens einen allge¬ meinen Plan fuͤr Licht und Schatten ſo wie fuͤr Farben zu entwerfen, nach welchem man die einzelnen Blumen haͤtte einordnen koͤn¬ nen. Er ging mit mir das waͤhrend eines halben Jahrs vor meinen Augen entſtandene363 und mir theilweiſe gefaͤllige Bild umſtaͤndlich durch, und wußte mich zu meiner Betruͤbniß vollkommen zu uͤberzeugen. Auch hielt er die nachgebildete Maus fuͤr einen Mißgriff: denn, ſagte er, ſolche Thiere haben fuͤr viele Men¬ ſchen etwas Schauderhaftes, und man ſollte ſie da nicht anbringen, wo man Gefallen erregen will. Ich hatte nun, wie es demje¬ nigen zu gehen pflegt, der ſich von einem Vorurtheile geheilt ſieht und ſich viel kluͤger duͤnkt als er vorher geweſen, eine wahre Ver¬ achtung gegen dieß Kunſtwerk, und ſtimmte dem Kuͤnſtler voͤllig bey, als er eine andere Tafel von gleicher Groͤße verfertigen ließ, worauf er, nach dem Geſchmack den er be¬ ſaß, ein beſſer geformtes Gefaͤß und einen kunſtreicher geordneten Blumenſtrauß an¬ brachte, auch die lebendigen kleinen Beyweſen zierlich und erfreulich ſowohl zu waͤhlen als zu vertheilen wußte. Auch dieſe Tafel malte er mit der groͤßten Sorgfalt, doch freylich364 nur nach jener ſchon abgebildeten, oder aus dem Gedaͤchtniß, das ihm aber bey einer ſehr langen und emſigen Praxis gar wohl zu Huͤlfe kam. Beyde Gemaͤlde waren nun fertig, und wir hatten eine entſchiedene Freude an dem letzten, das wirklich kunſtrei¬ cher und mehr in die Augen fiel. Der Va¬ ter ward anſtatt mit einem mit zwey Stuͤ¬ cken uͤberraſcht und ihm die Wahl gelaſſen. Er billigte unſere Meynung und die Gruͤnde derſelben, beſonders auch den guten Willen und die Thaͤtigkeit: entſchied ſich aber, nach¬ dem er beyde Bilder einige Tage betrachtet, fuͤr das erſte, ohne uͤber dieſe Wahl weiter viele Worte zu machen. Der Kuͤnſtler aͤrger¬ lich, nahm ſein zweytes wohlgemeintes Bild zuruͤck, und konnte ſich gegen mich der Be¬ merkung nicht enthalten, daß die gute eichne Tafel, worauf das erſte gemalt ſtehe, zum Entſchluß des Vaters gewiß das Ihrige bey¬ getragen habe.
365Da ich hier wieder der Malerey gedenke, ſo tritt in meiner Erinnerung eine große An¬ ſtalt hervor, in der ich viele Zeit zubrachte, weil ſie und deren Vorſteher mich beſonders an ſich zog. Es war die große Wachstuchs¬ fabrik, welche der Maler Nothnagel er¬ richtet hatte: ein geſchickter Kuͤnſtler, der aber ſowohl durch ſein Talent als durch ſeine Denkweiſe mehr zum Fabrikweſen als zur Kunſt hinneigte. In einem ſehr großen Raume von Hoͤfen und Gaͤrten wurden alle Arten von Wachstuch gefertigt, von dem rohſten an, das mit der Spatel aufgetragen wird, und das man zu Ruͤſtwagen und aͤhn¬ lichem Gebrauch benutzte, durch die Tapeten hindurch, welche mit Formen abgedruckt wur¬ den, bis zu den feineren und feinſten, auf welchen bald chineſiſche und fantaſtiſche, bald natuͤrliche Blumen abgebildet, bald Figuren, bald Landſchaften durch den Pinſel geſchickter Arbeiter dargeſtellt wurden. Dieſe Mannig¬ faltigkeit, die ins Unendliche ging, ergetzte366 mich ſehr. Die Beſchaͤftigung ſo vieler Men¬ ſchen von der gemeinſten Arbeit bis zu ſol¬ chen, denen man einen gewiſſen Kunſtwerth kaum verſagen konnte, war fuͤr mich hoͤchſt anziehend. Ich machte Bekanntſchaft mit dieſer Menge in vielen Zimmern hinter ein¬ ander arbeitenden juͤngern und aͤlteren Maͤn¬ nern, und legte auch wohl ſelbſt mitunter Hand an. Der Vertrieb dieſer Waare ging außerordentlich ſtark. Wer damals baute, oder ein Gebaͤude moͤblirte, wollte fuͤr ſeine Lebenszeit verſorgt ſeyn, und dieſe Wachs¬ tuchtapeten waren allerdings unverwuͤſtlich. Nothnagel ſelbſt hatte genug mit Leitung des Ganzen zu thun, und ſaß in ſeinem Comtoir umgeben von Factoren und Handlungsdie¬ nern. Die Zeit die ihm uͤbrig blieb, be¬ ſchaͤftigte er ſich mit ſeiner Kunſtſammlung, die vorzuͤglich aus Kupferſtichen beſtand, mit denen er, ſo wie mit Gemaͤlden die er beſaß, auch wohl gelegentlich Handel trieb. Zu¬ gleich hatte er das Radiren lieb gewonnen;367 er aͤtzte verſchiedene Blaͤtter und ſetzte dieſen Kunſtzweig bis in ſeine ſpaͤteſten Jahre fort.
Da ſeine Wohnung nahe am Eſchenhei¬ mer Thore lag, ſo fuͤhrte mich, wenn ich ihn beſucht hatte, mein Weg gewoͤhnlich zur Stadt hinaus und zu den Grundſtuͤcken welche mein Vater vor den Thoren beſaß. Das eine war ein großer Baumgarten, deſ¬ ſen Boden als Wieſe benutzt wurde, und worin mein Vater das Nachpflanzen der Baͤume und was ſonſt zur Erhaltung diente, ſorgfaͤltig beobachtete, obgleich das Grund¬ ſtuͤck verpachtet war. Noch mehr Beſchaͤfti¬ gung gab ihm ein ſehr gut unterhaltener Weinberg vor dem Friedberger Thore, wo¬ ſelbſt zwiſchen den Reihen der Weinſtoͤcke, Spargelreihen mit großer Sorgfalt gepflanzt und gewartet wurden. Es verging in der guten Jahrszeit faſt kein Tag, daß nicht mein Vater ſich hinaus begab, da wir ihn denn meiſt begleiten durften, und ſo von den368 erſten Erzeugniſſen des Fruͤhlings bis zu den letzten des Herbſtes, Genuß und Freude hat¬ ten. Wir lernten nun auch mit den Garten¬ geſchaͤften umgehen, die weil ſie ſich jaͤhrlich wiederholten, uns endlich ganz bekannt und gelaͤufig wurden. Nach mancherley Fruͤchten des Sommers und Herbſtes war aber doch zuletzt die Weinleſe das Luſtigſte und am meiſten Erwuͤnſchte; ja es iſt keine Frage, daß wie der Wein ſelbſt den Orten und Ge¬ genden, wo er waͤchſt und getrunken wird, einen freyern Character giebt, ſo auch dieſe Tage der Weinleſe, indem ſie den Sommer ſchließen und zugleich den Winter eroͤffnen, eine unglaubliche Heiterkeit verbreiten. Luſt und Jubel erſtreckt ſich uͤber eine ganze Ge¬ gend. Des Tages hoͤrt man von allen Ecken und Enden Jauchzen und Schießen, und des Nachts verkuͤnden bald da bald dort Raketen und Leuchtkugeln, daß man noch uͤberall wach und munter dieſe Feyer gern ſo lange als moͤglich ausdehnen moͤchte. Die nachherigen369 Bemuͤhungen beym Keltern und waͤhrend der Gaͤhrung im Keller gaben uns auch zu Hauſe eine heitere Beſchaͤftigung, und ſo kamen wir gewoͤhnlich in den Winter hinein ohne es recht gewahr zu werden.
Dieſer laͤndlichen Beſitzungen erfreuten wir uns im Fruͤhling 1763 um ſo mehr, als uns der 15te Februar dieſes Jahrs, durch den Abſchluß des Hubertsburger Frie¬ dens, zum feſtlichen Tage geworden, unter deſſen gluͤcklichen Folgen der groͤßte Theil meines Lebens verfließen ſollte. Ehe ich je¬ doch weiter ſchreite, halte ich es fuͤr meine Schuldigkeit, einiger Maͤnner zu gedenken, welche einen bedeutenden Einfluß auf meine Jugend ausgeuͤbt.
Von Olenſchlager, Mitglied des Hauſes Frauenſtein, Schoͤff und Schwieger¬ ſohn des oben erwaͤhnten Doctor Orth, ein ſchoͤner, behaglicher, ſanguiniſcher Mann. ErI. 24370haͤtte in ſeiner burgemeiſterlichen Feſttracht gar wohl den angeſehnſten franzoͤſiſchen Praͤ¬ laten vorſtellen koͤnnen. Nach ſeinen acade¬ miſchen Studien hatte er ſich in Hof - und Staatsgeſchaͤften umgethan, und ſeine Reiſen auch zu dieſen Zwecken eingeleitet. Er hielt mich beſonders werth und ſprach oft mit mir von den Dingen, die ihn vorzuͤglich intereſ¬ ſirten. Ich war um ihn, als er eben ſeine Erlaͤuterung der guͤldnen Bulle ſchrieb; da er mir denn den Werth und die Wuͤrde dieſes Documents ſehr deutlich herauszuſetzen wußte. Auch dadurch wurde meine Einbil¬ dungskraft in jene wilden und unruhigen Zei¬ ten zuruͤckgefuͤhrt, daß ich nicht unterlaſſen konnte, dasjenige was er mir geſchichtlich er¬ zaͤhlte, gleichſam als gegenwaͤrtig, mit Aus¬ malung der Character und Umſtaͤnde und manchmal ſogar mimiſch darzuſtellen; woran er denn große Freude hatte, und durch ſei¬ nen Beyfall mich zur Wiederholung aufregte.
371Ich hatte von Kindheit auf die wunder¬ liche Gewohnheit, immer die Anfaͤnge der Buͤcher und Abtheilungen eines Werks aus¬ wendig zu lernen, zuerſt der fuͤnf Buͤcher Moſis, ſodann der Aeneide und der Meta¬ morphoſen. So machte ich es nun auch mit der goldenen Bulle, und reizte meinen Goͤn¬ ner oft zum Laͤcheln, wenn ich ganz ernſt¬ haft unverſehens ausrief: omne regnum in se divisum desolabitur: nam principes ejus facti sunt socii furum. Der kluge Mann ſchuͤttelte laͤchelnd den Kopf und ſagte bedenklich: was muͤſſen das fuͤr Zeiten gewe¬ ſen ſeyn, in welchen der Kaiſer auf einer großen Reichsverſammlung ſeinen Fuͤrſten der¬ gleichen Worte ins Geſicht publiciren ließ.
Von Olenſchlager hatte viel Anmuth im Umgang. Man ſah wenig Geſellſchaft bey ihm, aber zu einer, geiſtreichen Unterhaltung war er ſehr geneigt, und er veranlaßte uns junge Leute von Zeit zu Zeit ein Schauſpiel24 *372aufzufuͤhren: denn man hielt dafuͤr, daß eine ſolche Uebung der Jugend beſonders nuͤtzlich ſey. Wir gaben den Kanut von Schlegel, worin mir die Rolle des Koͤnigs, meiner Schweſter die Elfride, und Ulfo dem juͤn¬ gern Sohn des Hauſes zugetheilt wurde. Sodann wagten wir uns an den Britanni¬ cus, denn wir ſollten nebſt dem Schauſpieler¬ talent auch die Sprache zur Uebung bringen. Ich erhielt den Nero, meine Schweſter die Agrippine, und der juͤngere Sohn den Bri¬ tannicus. Wir wurden mehr gelobt als wir verdienten, und glaubten es noch beſſer ge¬ macht zu haben, als wie wir gelobt wurden. So ſtand ich mit dieſer Familie in dem be¬ ſten Verhaͤltniß, und bin ihr manches Ver¬ gnuͤgen und eine ſchnellere Entwicklung ſchul¬ dig geworden.
Von Reineck, aus einem altadligen Hauſe, tuͤchtig, rechtſchaffen, aber ſtarrſinnig, ein hagrer ſchwarzbrauner Mann, den ich373 niemals laͤcheln geſehen. Ihm begegnete das Ungluͤck, daß ſeine einzige Tochter durch ei¬ nen Hausfreund entfuͤhrt wurde. Er ver¬ folgte ſeinen Schwiegerſohn mit dem heftig¬ ſten Proceß, und weil die Gerichte, in ihrer Foͤrmlichkeit, ſeiner Rachſucht weder ſchnell noch ſtark genug willfahren wollten, uͤberwarf er ſich mit dieſen, und es entſtanden Haͤndel aus Haͤndeln, Proceſſe aus Proceſſen. Er zog ſich ganz in ſein Haus und einen daran¬ ſtoßenden Garten zuruͤck, lebte in einer weit¬ laͤuftigen aber traurigen Unterſtube, in die ſeit vielen Jahren kein Pinſel eines Tuͤn¬ chers, vielleicht kaum der Kehrbeſen einer Magd gekommen war. Mich konnte er gar gern leiden, und hatte mir ſeinen juͤngern Sohn beſonders empfohlen. Seine aͤlteſten Freunde, die ſich nach ihm zu richten wu߬ ten, ſeine Geſchaͤftsleute, ſeine Sachwalter ſah er manchmal bey Tiſche, und unterließ dann niemals auch mich einzuladen. Man aß ſehr gut bey ihm und trank noch beſſer.
374Den Gaͤſten erregte jedoch ein großer, aus vielen Ritzen rauchender Ofen die aͤrgſte Pein. Einer der vertrauteſten wagte einmal dieß zu bemerken, indem er den Hausherrn fragte: ob er denn ſo eine Unbequemlichkeit den ganzen Winter aushalten koͤnne. Er antwortete darauf, als ein zweyter Timon und Heautontimorumenos: „ Wollte Gott, dieß waͤre das groͤßte Uebel von denen die mich plagen! “ Nur ſpaͤt ließ er ſich bereden, Tochter und Enkel wiederzuſehen. Der Schwiegerſohn durfte ihm nicht wieder vor Augen.
Auf dieſen ſo braven als ungluͤcklichen Mann wirkte meine Gegenwart ſehr guͤnſtig: denn indem er ſich gern mit mir unterhielt, und mich beſonders von Welt - und Staats¬ verhaͤltniſſen belehrte, ſchien er ſelbſt ſich erleich¬ tert und erheitert zu fuͤhlen. Die wenigen alten Freunde, die ſich noch um ihn verſam¬ melten, gebrauchten mich daher oft, wenn ſie375 ſeinen verdrießlichen Sinn zu mildern und ihn zu irgend einer Zerſtreuung zu bereden wuͤnſchten. Wirklich fuhr er nunmehr manch¬ mal mit uns aus, und beſah ſich die Gegend wieder, auf die er ſo viele Jahre keinen Blick geworfen hatte. Er gedachte der alten Beſitzer, erzaͤhlte von ihren Charactern und Begebenheiten, wo er ſich denn immer ſtreng, aber doch oͤfters heiter und geiſtreich erwies. Wir ſuchten ihn nun auch wieder unter andere Menſchen zu bringen, welches uns aber bey¬ nah uͤbel gerathen waͤre.
Von gleichem, wenn nicht noch von hoͤhe¬ rem Alter als er, war ein Herr von Mala¬ part, ein reicher Mann, der ein ſehr ſchoͤ¬ nes Haus am Roßmarkt beſaß und gute Einkuͤnfte von Salinen zog. Auch er lebte ſehr abgeſondert; doch war er Sommers viel in ſeinem Garten vor dem Bockenheimer Thore, wo er eine ſehr ſchoͤne Nelkenflor wartete und pflegte.
376Von Reineck war auch ein Nelkenfreund; die Zeit des Flors war da, und es geſchahen einige Anregungen, ob man ſich nicht wech¬ ſelſeitig beſuchen wollte. Wir leiteten die Sache ein und trieben es ſo lange, bis end¬ lich von Reineck ſich entſchloß mit uns einen Sonntag Nachmittag hinaus zu fahren. Die Begruͤßung der beyden alten Herren war ſehr laconiſch, ja blos pantomimiſch, und man ging mit wahrhaft diplomatiſchem Schritt an den langen Nelkengeruͤſten hin und her. Der Flor war wirklich außerordentlich ſchoͤn, und die beſondern Formen und Farben der verſchiedenen Blumen, die Vorzuͤge der einen vor der andern und ihre Seltenheit machten denn doch zuletzt eine Art von Geſpraͤch aus, welches ganz freundlich zu werden ſchien; woruͤber wir andern uns um ſo mehr freuten, als wir in einer benachbarten Laube den koſt¬ barſten alten Rheinwein in geſchliffenen Fla¬ ſchen, ſchoͤnes Obſt und andre gute Dinge aufgetiſcht ſahen. Leider aber ſollten wir ſie377 nicht genießen. Denn ungluͤcklicherweiſe ſah von Reineck eine ſehr ſchoͤne Nelke vor ſich, die aber den Kopf etwas niederſenkte; er griff daher ſehr zierlich mit dem Zeige - und Mit¬ telfinger vom Stengel herauf gegen den Kelch und hob die Blume von hinten in die Hoͤhe, ſo daß er ſie wohl betrachten konnte. Aber auch dieſe zarte Beruͤhrung verdroß den Beſi¬ tzer. Von Malapart erinnerte, zwar hoͤflich aber doch ſteif genug und eher etwas ſelbſt¬ gefaͤllig, an das oculis non manibus. Von Reineck hatte die Blume ſchon losgelaſſen, fing aber auf jenes Wort gleich Feuer und ſagte, mit ſeiner gewoͤhnlichen Trockenheit und Ernſt: Es ſey einem Kenner und Lieb¬ haber wohl gemaͤß, eine Blume auf die Weiſe zu beruͤhren und zu betrachten; worauf er denn jenen Geſt wiederholte und ſie noch einmal zwiſchen die Finger nahm. Die bey¬ derſeitigen Hausfreunde — denn auch von Malapart hatte einen bey ſich — waren nun in der groͤßten Verlegenheit. Sie ließen378 einen Haſen nach dem andern laufen (dieß war unſre ſpruͤchwoͤrtliche Redensart, wenn ein Geſpraͤch ſollte unterbrochen und auf einen andern Gegenſtand gelenkt werden); allein es wollte nichts verfangen: die alten Herren waren ganz ſtumm geworden, und wir fuͤrch¬ teten jeden Augenblick, von Reineck moͤchte jenen Act wiederholen; da waͤre es denn um uns alle geſchehn geweſen. Die beyden Hausfreunde hielten ihre Herren auseinan¬ der, indem ſie ſelbige bald da bald dort beſchaͤftigten, und das kluͤgſte war, daß wir endlich aufzubrechen Anſtalt machten; und ſo mußten wir leider den reizenden Credenztiſch ungenoſſen mit dem Ruͤcken anſehen.
Hofrath Huisgen, nicht von Frankfurt gebuͤrtig, reformirter Religion und deswegen keiner oͤffentlichen Stelle noch auch der Advo¬ catur faͤhig, die er jedoch, weil man ihm als vortrefflichem Juriſten viel Vertrauen ſchenkte, unter fremder Signatur ganz gelaſſen ſowohl in379 Frankfurt als bey den Reichsgerichten zu fuͤh¬ ren wußte, war wohl ſchon ſechzig Jahr alt, als ich mit ſeinem Sohne Schreibſtunde hatte und dadurch ins Haus kam. Seine Geſtalt war groß, lang ohne hager, breit ohne beleibt zu ſeyn, Sein Geſicht, nicht allein von den Blattern entſtellt, ſondern auch des einen Auges beraubt, ſah man die erſte Zeit nur mit Apprehenſion. Er trug auf einem kahlen Haupte immer eine ganz weiße Glockenmuͤtze, oben mit einem Bande gebunden. Seine Schlafroͤcke von Kalmank oder Damaſt, waren durchaus ſehr ſauber. Er bewohnte eine gar heitre Zimmerflucht auf gleicher Erde an der Allee, und die Reinlichkeit ſeiner Umgebung entſprach dieſer Heiterkeit. Die groͤßte Ord¬ nung ſeiner Papiere, Buͤcher, Landcharten machte einen angenehmen Eindruck. Sein Sohn, Heinrich Sebaſtian, der ſich durch verſchiedene Schriften im Kunſtfach bekannt gemacht, verſprach in ſeiner Jugend wenig. Gutmuͤthig, aber taͤppiſch, nicht roh,380 aber doch geradezu und ohne beſondre Nei¬ gung ſich zu unterrichten, ſuchte er lieber die Gegenwart des Vaters zu vermeiden, indem er von der Mutter alles was er wuͤnſchte, erhalten konnte. Ich hingegen naͤherte mich dem Alten immer mehr, je mehr ich ihn kennen lernte. Da er ſich nur bedeutender Rechtsfaͤlle annahm, ſo hatte er Zeit genug ſich auf andre Weiſe zu beſchaͤftigen und zu unterhalten. Ich hatte nicht lange um ihn gelebt und ſeine Lehren vernommen; als ich wohl merken konnte, daß er mit Gott und der Welt in Oppoſition ſtehe. Eins ſeiner Lieblingsbuͤcher war Agrippa de vanitate Scientiarum, das er mir beſonders empfahl, und mein junges Gehirn dadurch eine Zeit lang in ziemliche Verwirrung ſetzte. Ich war im Behagen der Jugend zu einer Art von Optimismus geneigt, und hatte mich mit Gott oder den Goͤttern ziemlich wieder ausgeſoͤhnt: denn durch eine Reihe von Jah¬ ren war ich zu der Erfahrung gekommen, daß381 es gegen das Boͤſe manches Gleichgewicht gebe, daß man ſich von den Uebeln wohl wieder herſtelle, und daß man ſich aus Gefahren rette und nicht immer den Hals breche. Auch was die Menſchen thaten und trieben ſah ich laͤßlich an, und fand manches Lobens¬ wuͤrdige, womit mein alter Herr keineswegs zufrieden ſeyn wollte. Ja, als er einmal mir die Welt ziemlich von ihrer fratzenhaften Seite geſchildert hatte, merkte ich ihm an, daß er noch mit einem bedeutenden Trumpfe zu ſchließen gedenke. Er druͤckte, wie in ſolchen Faͤllen ſeine Art war, das blinde linke Auge ſtark zu, blickte mit dem andern ſcharf hervor und ſagte mit einer naͤſelnden Stim¬ me: „ Auch in Gott entdeck 'ich Fehler. “
Mein timoniſcher Mentor war auch Ma¬ thematiker; aber ſeine practiſche Natur trieb ihn zur Mechanik, ob er gleich nicht ſelbſt arbeitete. Eine fuͤr damalige Zeiten wenig¬ ſtens wunderſame Uhr, welche neben den Stun¬382 den und Tagen auch die Bewegungen von Sonne und Mond anzeigte, ließ er nach ſei¬ ner Angabe verfertigen. Sonntags fruͤh um Zehn zog er ſie jedesmal ſelbſt auf, welches er um ſo gewiſſer thun konnte, als er niemals in die Kirche ging. Geſellſchaft oder Gaͤſte habe ich nie bey ihm geſehen. Angezogen und aus dem Hauſe gehend erinnere ich mir ihn in zehn Jahren kaum zweymal.
Die verſchiedenen Unterhaltungen mit die¬ ſen Maͤnnern waren nicht unbedeutend, und je¬ der wirkte auf mich nach ſeiner Weiſe. Fuͤr einen jeden hatte ich ſo viel, oft noch mehr Aufmerkſamkeit als die eigenen Kinder, und jeder ſuchte an mir, als an einem geliebten Sohne, ſein Wohlgefallen zu vermehren, in¬ dem er an mir ſein moraliſches Ebenbild her¬ zuſtellen trachtete. Olenſchlager wollte mich zum Hofmann, Reineck zum diplomatiſchen Geſchaͤftsmann bilden, beyde, beſonders letz¬ terer, ſuchten mir Poeſie und Schriftſtelle¬383 rey zu verleiben. Huisgen wollte mich zum Timon ſeiner Art, daben aber zum tuͤchti¬ gen Rechtsgelehrten haben: ein nothwendiges Handwerk wie er meinte, damit man ſich und das Seinige gegen das Lumpenpack von Menſchen regelmaͤßig vertheidigen, einem Un¬ terdruͤckten beyſtehen, und allenfalles einem Schelmen etwas am Zeuge flicken koͤnne; letz¬ teres jedoch ſey weder beſonders thulich noch rathſam.
Hielt ich mich gern an der Seite jener Maͤnner, um ihren Rath, ihren Fingerzeig zu benutzen, ſo forderten juͤngere, an Alter mir nur wenig vorausgeſchrittene mich auf zum unmittelbaren Nacheifern. Ich nenne hier vor allen andern die Gebruͤder Schloſſer, und Griesbach. Da ich jedoch mit dieſen in der Folge in genauere Verbindung trat, welche viele Jahre ununterbrochen dauerte, ſo ſage ich gegenwaͤrtig nur ſoviel, daß ſie uns damals als ausgezeichnet in Sprachen und384 andern, die akademiſche Laufbahn eroͤffnenden Studien geprieſen und zum Muſter aufgeſtellt wurden, und daß Jedermann die gewiſſe Er¬ wartung hegte, ſie wuͤrden einſt im Staat und in der Kirche etwas Ungemeines leiſten.
Was mich betrifft, ſo hatte ich auch wohl im Sinne, etwas Außerordentliches hervor¬ zubringen; worin es aber beſtehen koͤnne, wollte mir nicht deutlich werden. Wie man jedoch eher an den Lohn denkt, den man er¬ halten moͤchte, als an das Verdienſt, das man ſich erwerben ſollte; ſo laͤugne ich nicht, daß wenn ich an ein wuͤnſchenswerthes Gluͤck dachte, dieſes mir am reizendſten in der Ge¬ ſtalt des Lorbeerkranzes erſchien, der den Dichter zu zieren geflochten iſt.
Fuͤr alle Voͤgel giebt es Lockſpeiſen, und jeder Menſch wird auf ſeine eigene Art ge¬ leitet und verleitet. Natur, Erziehung, Um¬ gebung, Gewohnheit hielten mich von allem Rohen abgeſondert, und ob ich gleich mit den untern Volks-Claſſen, beſonders den Handwerkern, oͤfters in Beruͤhrung kam, ſo entſtand doch daraus kein naͤheres Verhaͤlt¬ niß. Etwas Ungewoͤhnliches, vielleicht Ge¬ faͤhrliches zu unternehmen, hatte ich zwar Verwegenheit genug, und fuͤhlte mich wohl manchmal dazu aufgelegt; allein es mangelte mir die Handhabe es anzugreifen und zu faſſen.
Indeſſen wurde ich auf eine voͤllig uner¬ wartete Weiſe in Verhaͤltniſſe verwickelt, die mich ganz nahe an große Gefahr, und we¬25 *388nigſtens fuͤr eine Zeit lang in Verlegenheit und Noth brachten. Mein fruͤheres gutes Verhaͤltniß zu jenem Knaben, den ich oben Pylades genannt, hatte ſich bis ins Juͤng¬ lingsalter fortgeſetzt. Zwar ſahen wir uns ſeltner, weil unſre Aeltern nicht zum beſten mit einander ſtanden; wo wir uns aber tra¬ fen, ſprang immer ſogleich der alte freund¬ ſchaftliche Jubel hervor. Einſt begegneten wir uns in den Alleen, die zwiſchen dem in¬ nern und aͤußern Sanct - Gallen - Thor einen ſehr angenehmen Spazirgang darboten. Wir hatten uns kaum begruͤßt, als er zu mir ſagte: „ Es geht mir mit deinen Verſen noch immer wie ſonſt. Diejenigen die du mir neulich mittheilteſt, habe ich einigen luſtigen Geſellen vorgeleſen, und keiner will glauben, daß du ſie gemacht habeſt. “— Laß es gut ſeyn, verſetzte ich; wir wollen ſie machen, uns daran ergetzen, und die Andern moͤgen davon denken und ſagen was ſie wollen.
389„ Da kommt eben der Unglaͤubige! “ſagte mein Freund. — Wir wollen nicht davon reden, war meine Antwort. Was hilfts, man bekehrt ſie doch nicht. — „ Mit nich¬ ten, ſagte der Freund: ich kann es ihm nicht ſo hingehen laſſen. “
Nach einer kurzen gleichguͤltigen Unter¬ haltung konnte es der fuͤr mich nur allzu¬ wohlgeſinnte junge Geſell nicht laſſen, und ſagte mit einiger Empfindlichkeit gegen jenen: „ Hier iſt nun der Freund, der die huͤbſchen Verſe gemacht hat, und die ihr ihm nicht zutrauen wollt. “— Er wird es gewiß nicht uͤbel nehmen, verſetzte jener: denn es iſt ja eine Ehre die wir ihm erweiſen, wenn wir glauben, daß weit mehr Gelehrſamkeit dazu gehoͤre, ſolche Verſe zu machen, als er bey ſeiner Jugend beſitzen kann. — Ich erwie¬ derte etwas Gleichguͤltiges; mein Freund aber fuhr fort: „ Es wird nicht viel Muͤhe koſten, euch zu uͤberzeugen. Gebt ihm irgend ein390 Thema auf, und er macht euch ein Gedicht aus dem Stegereif. “— Ich ließ es mir gefallen, wir wurden einig, und der Dritte fragte mich: ob ich mich wohl getraue, ei¬ nen recht artigen Liebesbrief in Verſen aufzu¬ ſetzen, den ein verſchaͤmtes junges Maͤdchen an einen Juͤngling ſchriebe, um ihre Nei¬ gung zu offenbaren. — Nichts iſt leichter als das, verſetzte ich, wenn wir nur ein Schreibzeug haͤtten. — Jener brachte ſeinen Taſchencalender hervor, worin ſich weiße Blaͤtter in Menge befanden, und ich ſetzte mich auf eine Bank, zu ſchreiben. Sie gin¬ gen indeß auf und ab und ließen mich nicht aus den Augen. Sogleich faßte ich die Si¬ tuation in den Sinn und dachte mir, wie artig es ſeyn muͤßte, wenn irgend ein huͤb¬ ſches Kind mir wirklich gewogen waͤre und es mir in Proſa oder in Verſen entdecken wollte. Ich begann daher ohne Anſtand meine Erklaͤrung, und fuͤhrte ſie in einem, zwiſchen dem Knittelvers und Madrigal391 ſchwebenden Sylbenmaße mit moͤglichſter Nai¬ vetaͤt in kurzer Zeit dergeſtalt aus, daß, als ich dieß Gedichtchen den beyden vorlas, der Zweifler in Verwunderung und mein Freund in Entzuͤcken verſetzt wurde. Jenem konnte ich auf ſein Verlangen das Gedicht um ſo weniger verweigern, als es in ſeinen Calen¬ der geſchrieben war, und ich das Document meiner Faͤhigkeiten gern in ſeinen Haͤnden ſah. Er ſchied unter vielen Verſicherungen von Bewunderung und Neigung, und wuͤnſchte nichts mehr als uns oͤfter zu begegnen, und wir machten aus, bald zuſammen aufs Land zu gehen.
Unſre Partie kam zu Stande, zu der ſich noch mehrere junge Leute von jenem Schlage geſellten. Es waren Menſchen aus dem mittlern, ja wenn man will, aus dem niedern Stande, denen es an Kopf nicht fehlte, und die auch, weil ſie durch die Schule gelaufen, manche Kenntniß und eine392 gewiſſe Bildung hatten. In einer großen reichen Stadt giebt es vielerley Erwerb¬ zweige. Sie halfen ſich durch, indem ſie fuͤr die Advocaten ſchrieben, Kinder der ge¬ ringern Claſſe durch Hausunterricht etwas weiter brachten, als es in Trivialſchulen zu geſchehen pflegt. Mit erwachſenern Kindern, welche confirmirt werden ſollten, repetirten ſie den Religionsunterricht, liefen dann wie¬ der den Maͤklern oder Kaufleuten einige Wege, und thaten ſich Abends, beſonders aber an Sonn - Feyertagen, auf eine frugale Weiſe etwas zu Gute.
Indem ſie nun unterwegs meine Liebes¬ epiſtel auf das beſte herausſtrichen, geſtan¬ den ſie mir, daß ſie einen ſehr luſtigen Ge¬ brauch davon gemacht haͤtten: ſie ſey naͤmlich mit verſtellter Hand abgeſchrieben, und mit einigen naͤhern Beziehungen einem eingebilde¬ ten jungen Manne zugeſchoben worden, der nun in der feſten Ueberzeugung ſtehe, ein393 Frauenzimmer, dem er von fern den Hof gemacht, ſey in ihn aufs aͤußerſte verliebt, und ſuche Gelegenheit ihm naͤher bekannt zu werden. Sie vertrauten mir dabey, er wuͤnſche nichts mehr als ihr auch in Verſen antworten zu koͤnnen; aber weder bey ihm noch bey ihnen finde ſich Geſchick dazu, wes¬ halb ſie mich inſtaͤndig baͤten, die gewuͤnſchte Antwort ſelbſt zu verfaſſen.
Myſtificationen ſind und bleiben eine Un¬ terhaltung fuͤr muͤßige, mehr oder weniger geiſtreiche Menſchen. Eine laͤßliche Bosheit, eine ſelbſtgefaͤllige Schadenfreude ſind ein Ge¬ nuß fuͤr diejenigen, die ſich weder mit ſich ſelbſt beſchaͤftigen, noch nach außen heilſam wirken koͤnnen. Kein Alter iſt ganz frey von einem ſolchen Kitzel. Wir hatten uns in unſern Knabenjahren einander oft ange¬ fuͤhrt; viele Spiele beruhen auf ſolchen My¬ ſtificationen und Attrapen; der gegenwaͤrtige Scherz ſchien mir nicht weiter zu gehen: ich394 willigte ein; ſie theilten mir manches Beſon¬ dere mit, was der Brief enthalten ſollte, und wir brachten ihn ſchon fertig mit nach Hauſe.
Kurze Zeit darauf wurde ich durch mei¬ nen Freund dringend eingeladen, an einem Abendfeſte jener Geſellſchaft Theil zu nehmen. Der Liebhaber wolle es dießmal ausſtatten, und verlange dabey ausdruͤcklich, dem Freunde zu danken, der ſich ſo vortrefflich als poeti¬ ſcher Secretaͤr erwieſen.
Wir kamen ſpaͤt genug zuſammen, die Mahlzeit war die frugalſte, der Wein trink¬ bar; und was die Unterhaltung betraf, ſo drehte ſie ſich faſt gaͤnzlich um die Verhoͤh¬ nung des gegenwaͤrtigen, freylich nicht ſehr aufgeweckten Menſchen, der nach wiederhol¬ ter Leſung des Briefes nicht weit davon war zu glauben, er habe ihn ſelbſt geſchrieben.
395Meine natuͤrliche Gutmuͤthigkeit ließ mich an einer ſolchen boshaften Verſtellung wenig Freude finden, und die Wiederholung deſſel¬ ben Thema's eckelte mich bald an. Gewiß, ich brachte einen verdrießlichen Abend hin, wenn nicht eine unerwartete Erſcheinung mich wieder belebt haͤtte. Bey unſerer Ankunft ſtand bereits der Tiſch reinlich und ordentlich gedeckt, hinreichender Wein aufgeſtellt; wir ſetzten uns und blieben allein, ohne Bedie¬ nung noͤthig zu haben. Als es aber doch zuletzt an Wein gebrach, rief einer nach der Magd; allein ſtatt derſelben trat ein Maͤdchen herein, von ungemeiner, und wenn man ſie in ihrer Umgebung ſah, von un¬ glaublicher Schoͤnheit. — „ Was verlangt Ihr? ſagte ſie, nachdem ſie auf eine freund¬ liche Weiſe guten Abend geboten: die Magd iſt krank und zu Bette. Kann ich Euch die¬ nen? “— Es fehlt an Wein, ſagte der eine. Wenn du uns ein paar Flaſchen holteſt, ſo waͤre es ſehr huͤbſch. — Thu es, Gretchen,396 ſagte der Andre; es iſt ja nur ein Katzen¬ ſprung. — „ Warum nicht! “verſetzte ſie, nahm ein paar leere Flaſchen vom Tiſch und eilte fort. Ihre Geſtalt war von der Ruͤck¬ ſeite faſt noch zierlicher. Das Haͤubchen ſaß ſo nett auf dem kleinen Kopfe, den ein ſchlanker Hals gar anmuthig mit Nacken und Schultern verband. Alles an ihr ſchien auserleſen, und man konnte der ganzen Ge¬ ſtalt um ſo ruhiger folgen, als die Aufmerk¬ ſamkeit nicht mehr durch die ſtillen treuen Augen und den lieblichen Mund allein ange¬ zogen und gefeſſelt wurde. Ich machte den Geſellen Vorwuͤrfe, daß ſie das Kind in der Nacht allein ausſchickten; ſie lachten mich aus, und ich war bald getroͤſtet, als ſie ſchon wiederkam: denn der Schenkwirth wohnte nur uͤber die Straße. — Setze dich dafuͤr auch zu uns, ſagte der eine. Sie that es, aber leider kam ſie nicht neben mich. Sie trank ein Glas auf unſre Geſundheit und entfernte ſich bald, indem ſie uns rieth,397 nicht gar lange beyſammen zu bleiben und uͤberhaupt nicht ſo laut zu werden: denn die Mutter wolle ſich eben zu Bette legen. Es war nicht ihre Mutter, ſondern die unſerer Wirthe.
Die Geſtalt dieſes Maͤdchens verfolgte mich von dem Augenblick an auf allen We¬ gen und Stegen: es war der erſte bleibende Eindruck, den ein weibliches Weſen auf mich gemacht hatte; und da ich einen Vorwand ſie im Hauſe zu ſehen weder finden konnte, noch ſuchen mochte, ging ich ihr zu Liebe in die Kirche und hatte bald ausgeſpuͤrt wo ſie ſaß; und ſo konnte ich waͤhrend des langen proteſtantiſchen Gottesdienſtes mich wohl ſatt an ihr ſehen. Beym Herausgehen getraute ich mich nicht ſie anzureden, noch weniger ſie zu begleiten, und war ſchon ſeelig, wenn ſie mich bemerkt und gegen einen Gruß genickt zu haben ſchien. Doch ich ſollte das Gluͤck mich ihr zu naͤhern nicht lange entbehren. 398Man hatte jenen Liebenden, deſſen poetiſcher Secretaͤr ich geworden war, glauben gemacht, der in ſeinem Namen geſchriebene Brief ſey wirklich an das Frauenzimmer abgegeben wor¬ den, und zugleich ſeine Erwartung aufs aͤu¬ ßerſte geſpannt, daß nun bald eine Antwort darauf erfolgen muͤſſe. Auch dieſe ſollte ich ſchreiben, und die ſchalkiſche Geſellſchaft ließ mich durch Pylades aufs inſtaͤndigſte erſu¬ chen, allen meinen Witz aufzubieten und alle meine Kunſt zu verwenden, daß dieſes Stuͤck recht zierlich und vollkommen werde.
In Hoffnung meine Schoͤne wiederzuſe¬ hen, machte ich mich ſogleich ans Werk, und dachte mir nun alles was mir hoͤchſt wohlge¬ faͤllig ſeyn wuͤrde, wenn Gretchen es mir ſchriebe. Ich glaubte alles ſo aus ihrer Ge¬ ſtalt, ihrem Weſen, ihrer Art, ihrem Sinn herausgeſchrieben zu haben, daß ich mich des Wunſches nicht enthalten konnte, es moͤchte wirklich ſo ſeyn, und mich in Entzuͤcken ver¬399 lor, nur zu denken, daß etwas Aehnliches von ihr an mich koͤnnte gerichtet werden. So myſtificirte ich mich ſelbſt, indem ich meynte einen andern zum Beſten zu haben, und es ſollte mir daraus noch manche Freude und manches Ungemach entſpringen. Als ich abermals gemahnt wurde, war ich fertig, verſprach zu kommen und fehlte nicht zur be¬ ſtimmten Stunde. Es war nur einer von den jungen Leuten zu Hauſe; Gretchen ſaß am Fenſter und ſpann; die Mutter ging ab und zu. Der junge Menſch verlangte, daß ich's ihm vorleſen ſollte; ich that es, und las nicht ohne Ruͤhrung, indem ich uͤber das Blatt weg nach dem ſchoͤnen Kinde hin¬ ſchielte, und da ich eine gewiſſe Unruhe ih¬ res Weſens, eine leichte Roͤthe ihrer Wangen zu bemerken glaubte, druͤckte ich nur beſſer und lebhafter aus, was ich von ihr zu ver¬ nehmen wuͤnſchte. Der Vetter, der mich oft durch Lobeserhebungen unterbrochen hatte, er¬ ſuchte mich zuletzt um einige Abaͤnderungen.
400Sie betrafen einige Stellen, die freylich mehr auf Gretchens Zuſtand, als auf den jenes Frauenzimmers paßten, das von gutem Hauſe, wohlhabend, in der Stadt bekannt und angeſehen war. Nachdem der junge Mann mir die gewuͤnſchten Aenderungen ar¬ ticulirt und ein Schreibzeug herbeygeholt hatte, ſich aber wegen eines Geſchaͤfts auf kurze Zeit beurlaubte, blieb ich auf der Wandbank hinter dem großen Tiſche ſitzen, und probierte die zu machenden Veraͤnderun¬ gen auf der großen, faſt den ganzen Tiſch einnehmenden Schieferplatte, mit einem Grif¬ fel, der ſtets im Fenſter lag, weil man auf dieſer Steinflaͤche oft rechnete, ſich mancher¬ ley notirte, ja die Gehenden und Kommen¬ den ſich ſogar Notizen dadurch mittheilten.
Ich hatte eine Zeit lang verſchiedenes ge¬ ſchrieben und wieder ausgeloͤſcht, als ich un¬ geduldig ausrief: es will nicht gehen! — „ Deſto beſſer! ſagte das liebe Maͤdchen, mit401 einem geſetzten Tone; ich wuͤnſchte, es ginge gar nicht. Sie ſollten ſich mit ſolchen Haͤn¬ deln nicht befaſſen. “— Sie ſtand vom Spinnrecken auf, und zu mir an den Tiſch tretend, hielt ſie mir mit viel Verſtand und Freundlichkeit eine Strafpredigt. „ Die Sache ſcheint ein unſchuldiger Scherz; es iſt ein Scherz, aber nicht unſchuldig. Ich habe ſchon mehrere Faͤlle erlebt, wo unſere jungen Leute wegen eines ſolchen Frevels in große Verlegenheit kamen. “— Was ſoll ich aber thun? verſetzte ich: der Brief iſt geſchrieben, und ſie verlaſſen ſich drauf, daß ich ihn um¬ aͤndern werde. — „ Glauben Sie mir, ver¬ ſetzte ſie, und aͤndern ihn nicht um; ja, neh¬ men Sie ihn zuruͤck, ſtecken Sie ihn ein, gehen Sie fort und ſuchen die Sache durch ihren Freund ins Gleiche zu bringen. Ich will auch ein Woͤrtchen mit drein reden: denn, ſehen Sie, ſo ein armes Maͤdchen als ich bin, und abhaͤngig von dieſen Verwand¬ ten, die zwar nichts Boͤſes thun, aber dochI. 26
402oft um der Luſt und des Gewinns willen, manches Wagehalſige vornehmen, ich habe widerſtanden und den erſten Brief nicht abgeſchrieben, wie man von mir verlangte; ſie haben ihn mit verſtellter Hand copirt, und ſo moͤgen ſie auch, wenn es nicht an¬ ders iſt, mit dieſem thun. Und Sie, ein junger Mann aus gutem Hauſe, wohlha¬ bend, unabhaͤngig, warum wollen Sie ſich zum Werkzeug in einer Sache gebrauchen laſ¬ ſen, aus der gewiß nichts Gutes und viel¬ leicht manches Unangenehme fuͤr Sie ent¬ ſpringen kann? “— Ich war gluͤcklich ſie in einer Folge reden zu hoͤren: denn ſonſt gab ſie nur wenige Worte in das Geſpraͤch. Meine Neigung wuchs unglaublich, ich war nicht Herr von mir ſelbſt, und erwiederte: Ich bin ſo unabhaͤngig nicht als Sie glau¬ ben, und was hilft mir wohlhabend zu ſeyn, da mir das Koͤſtlichſte fehlt, was ich wuͤn¬ ſchen duͤrfte.
403Sie hatte mein Concept der poetiſchen Epiſtel vor ſich hingezogen und las es halb laut, gar hold und anmuthig. „ Das iſt recht huͤbſch, ſagte ſie, indem ſie bey einer Art naiver Pointe inne hielt: nur Schade, daß es nicht zu einem beſſern, zu einem wahren Gebrauch beſtimmt iſt. “— Das waͤre freylich ſehr wuͤnſchenswert, rief ich aus: wie gluͤcklich muͤßte der ſeyn, der von einem Maͤdchen, das er unendlich liebt, eine ſolche Verſicherung ihrer Neigung erhielte! — „ Es gehoͤrt freylich viel dazu, verſetzte ſie, und doch wird manches moͤglich “— Zum Beyſpiel, fuhr ich fort, wenn Jemand der Sie kennt, ſchaͤtzt, verehrt und anbetet, Ih¬ nen ein ſolches Blatt vorlegte, und ſie recht dringend, recht herzlich und freundlich baͤte, was wuͤrden Sie thun? — Ich ſchob ihr das Blatt naͤher hin, das ſie ſchon wieder mir zugeſchoben hatte. Sie laͤchelte, beſann ſich einen Augenblick, nahm, die Feder und unterſchrieb. Ich kannte mich nicht vor Ent¬26*404zuͤcken, ſprang auf und wollte ſie umar¬ men. — „ Nicht kuͤſſen! ſagte ſie: das iſt ſo was Gemeines; aber lieben wenn's moͤg¬ lich iſt. “ Ich hatte das Blatt zu mir ge¬ nommen und eingeſteckt. Niemand ſoll es erhalten, ſagte ich, und die Sache iſt abge¬ than! Sie haben mich gerettet. — „ Nun vollenden Sie die Rettung, rief ſie aus: und eilen fort, ehe die Andern kommen, und Sie in Pein und Verlegenheit gerathen. “ Ich konnte mich nicht von ihr losreißen; ſie aber bat mich ſo freundlich, indem ſie mit beyden Haͤnden meine Rechte nahm und lie¬ bevoll druͤckte. Die Thraͤnen waren mir nicht weit: ich glaubte ihre Augen feucht zu ſehen; ich druͤckte mein Geſicht auf ihre Haͤnde und eilte fort. In meinem Leben hatte ich mich nicht in einer ſolchen Verwir¬ rung befunden.
Die erſten Liebes-Neigungen einer unver¬ dorbenen Jugend nehmen durchaus eine gei¬405 ſtige Wendung. Die Natur ſcheint zu wol¬ len, daß ein Geſchlecht in dem andern das Gute und Schoͤne ſinnlich gewahr werde. Und ſo war auch mir durch den Anblick die¬ ſes Maͤdchens, durch meine Neigung zu ihr, eine neue Welt des Schoͤnen und Vortreffli¬ chen aufgegangen. Ich las meine poetiſche Epiſtel hundertmal durch, beſchaute die Un¬ terſchrift, kuͤßte ſie, druͤckte ſie an mein Herz und freute mich dieſes liebenswuͤrdigen Be¬ kenntniſſes. Je mehr ſich aber mein Ent¬ zuͤcken ſteigerte, deſto weher that es mir, ſie nicht unmittelbar beſuchen, ſie nicht wieder ſehen und ſprechen zu koͤnnen: denn ich fuͤrch¬ tete die Vorwuͤrfe der Vettern und ihre Zu¬ dringlichkeit. Den guten Pylades, der die Sache vermitteln konnte, wußte ich nicht an¬ zutreffen. Ich machte mich daher den naͤch¬ ſten Sonntag auf nach Niederrad, wo¬ hin jene Geſellen gewoͤhnlich zu gehen pfleg¬ ten, und fand ſie auch wirklich. Sehr ver¬ wundert war ich jedoch, da ſie mir, anſtatt406 verdrießlich und fremd zu thun, mit frohem Geſicht entgegen kamen. Der juͤngſte beſon¬ dere war ſehr freundlich, nahm mich bey der Hand und ſagte: „ Ihr habt uns neulich einen ſchelmiſchen Streich geſpielt, und wir waren auf Euch recht boͤſe; doch hat uns Euer Entweichen und das Entwenden der poetiſchen Epiſtel auf einen guten Gedanken gebracht, der uns vielleicht ſonſt niemals auf¬ gegangen waͤre. Zur Verſoͤhnung moͤget Ihr uns heute bewirthen, und dabey ſollt Ihr erfahren, was es denn iſt, worauf wir uns etwas einbilden, und was Euch gewiß auch Freude machen wird. “ Dieſe Anrede ſetzte mich in nicht geringe Verlegenheit: denn ich hatte ungefaͤhr ſo viel Geld bey mir, um mir ſelbſt und einem Freunde et¬ was zu Gute zu thun; aber eine Geſell¬ ſchaft, und beſonders eine ſolche die nicht immer zur rechten Zeit ihre Graͤnzen fand, zu gaſtiren, war ich keineswegs eingerichtet; ja dieſer Antrag verwunderte mich um ſo407 mehr, als ſie ſonſt durchaus ſehr ehrenvoll darauf hielten, daß Jeder nur ſeine Zeche bezahlte. Sie laͤchelten uͤber meine Verlegen¬ heit, und der Juͤngere fuhr fort: „ Laßt uns erſt in die Laube ſitzen und dann ſollt Ihr das Weitre erfahren. “ Wir ſaßen, und er ſagte: „ Als Ihr die Liebesepiſtel neulich mit¬ genommen hattet, ſprachen wir die ganze Sache noch einmal durch und machten die Betrachtung, daß wir ſo ganz umſonſt, an¬ dern zum Verdruß und uns zur Gefahr, aus bloßer leidiger Schadenfreude, Euer Talent misbrauchen, da wir es doch zu unſer aller Vortheil benutzen koͤnnten. Seht, ich habe hier eine Beſtellung auf ein Hochzeit-Ge¬ dicht, ſo wie auf ein Leichen-Carmen. Das zweyte muß gleich fertig ſeyn, das erſte hat noch acht Tage Zeit. Moͤgt Ihr ſie machen, welches Euch ein Leichtes iſt, ſo tractirt Ihr uns zweymal, und wir bleiben auf lange Zeit Eure Schuldner. “— Dieſer Vorſchlag gefiel mir von allen Seiten: denn ich hatte408 ſchon von Jugend auf die Gelegenheits-Ge¬ dichte, deren damals in jeder Woche mehrere circulirten, ja beſonders bey anſehnlichen Ver¬ heiratungen duzzendweiſe zum Vorſchein ka¬ men, mit einem gewiſſen Neid betrachtet, weil ich ſolche Dinge eben ſo gut ja noch beſſer zu machen glaubte. Nun ward mir die Gelegenheit angeboten, mich zu zeigen, und beſonders, mich gedruckt zu ſehen. Ich erwies mich nicht abgeneigt. Man machte mich mit den Perſonalien, mit den Verhaͤlt¬ niſſen der Familie bekannt; ich ging etwas abſeits, machte meinen Entwurf und fuͤhrte einige Strophen aus. Da ich mich jedoch wieder zur Geſellſchaft begab, und der Wein nicht geſchont wurde; ſo fing das Gedicht an zu ſtocken, und ich konnte es dieſen Abend nicht abliefern. „ Es hat noch bis Morgen Abend Zeit, ſagten ſie, und wir wollen Euch nur geſtehen, das Honorar welches wir fuͤr das Leichen - Carmen erhalten, reicht hin uns morgen noch einen luſtigen Abend zu ver¬409 ſchaffen. Kommt zu uns: denn es iſt billig, daß Gretchen auch mit genieße, die uns ei¬ gentlich auf dieſen Einfall gebracht hat. “— Meine Freude war unſaͤglich. Auf dem Heimwege hatte ich nur die noch fehlenden Strophen im Sinne, ſchrieb das Ganze noch vor Schlafengehn nieder und den andern Morgen ſehr ſauber ins Reine. Der Tag ward mir unendlich lang, und kaum war es dunkel geworden, ſo fand ich mich wieder in der kleinen engen Wohnung neben dem aller¬ liebſten Maͤdchen.
Die jungen Leute, mit denen ich auf dieſe Weiſe immer in naͤhere Verbindung kam, wa¬ ren nicht eigentlich gemeine, aber doch ge¬ woͤhnliche Menſchen. Ihre Thaͤtigkeit war lo¬ benswuͤrdig, und ich hoͤrte ihnen mit Vergnuͤ¬ gen zu, wenn ſie von den vielfachen Mitteln und Wegen ſprachen, wie man ſich etwas erwerben koͤnne, auch erzaͤhlten ſie am liebſten von gegen¬ waͤrtig ſehr reichen Leuten, die mit nichts an¬410 gefangen. Andere haͤtten als arme Handlungs¬ diener ſich ihren Patronen nothwendig gemacht, und waͤren endlich zu ihren Schwiegerſoͤhnen erhoben worden; noch andre haͤtten einen klei¬ nen Kram mit Schwefelfaden und dergleichen ſo erweitert und veredelt, daß ſie nun als reiche Kauf - und Handelsmaͤnner erſchienen. Beſonders ſollte jungen Leuten, die gut auf den Beinen waͤren, das Beylaͤufer - und Maͤklerhandwerk und die Uebernahme von al¬ lerley Auftraͤgen und Beſorgungen fuͤr unbe¬ huͤlfliche Wohlhabende, durchaus ernaͤhrend und eintraͤglich ſeyn. Wir alle hoͤrten das gern, und Jeder duͤnkte ſich etwas, wenn er ſich in dem Augenblick vorſtellte, daß in ihm ſelbſt ſo viel verhanden ſey, nicht nur um in der Welt fortzukommen, ſondern ſogar ein außerordentliches Gluͤck zu machen. Niemand jedoch ſchien dieß Geſpraͤch ernſtlicher zu fuͤh¬ ren, als Pylades, der zuletzt geſtand, daß er ein Maͤdchen außerordentlich liebe und ſich wirklich mit ihr verſprochen habe. Die411 Vermoͤgensumſtaͤnde ſeiner Aeltern litten nicht, daß er auf Akademieen gehe; er habe ſich aber einer ſchoͤnen Handſchrift, des Rechnens und der neuern Sprachen befleißigt, und wolle nun, in Hoffnung auf jenes haͤusliche Gluͤck, ſein Moͤglichſtes verſuchen. Die Vet¬ tern lobten ihn deshalb, ob ſie gleich das fruͤhzeitige Verſprechen an ein Maͤdchen nicht billigen wollten, und ſetzten hinzu, ſie muͤßten ihn zwar fuͤr einen braven und guten Jun¬ gen anerkennen, hielten ihn aber weder fuͤr thaͤtig noch fuͤr unternehmend genug, etwas Außerordentliches zu leiſten. Indem er nun, zu ſeiner Rechtfertigung, umſtaͤndlich ausein¬ anderſetzte, was er ſich zu leiſten getraue und wie er es anzufangen gedenke; ſo wurden die uͤbrigen auch angereizt, und Jeder fing nun an zu erzaͤhlen, was er ſchon vermoͤge, thue, treibe, welchen Weg er zuruͤckgelegt und was er zunaͤchſt vor ſich ſehe. Die Reihe kam zuletzt an mich. Ich ſollte nun auch meine Lebensweiſe und Ausſichten darſtellen, und in¬412 dem ich mich beſann, ſagte Pylades: „ Das einzige halte ich mir aus, damit wir nicht gar zu kurz kommen, daß er die aͤußern Vortheile ſeiner Lage nicht mit in Anrechnung bringe. Er mag uns lieber ein Maͤhrchen erzaͤhlen, wie er es anfangen wuͤrde, wenn er in dieſem Augenblick, ſo wie wir, ganz auf ſich ſelbſt geſtellt waͤre. “
Gretchen, die bis dieſen Augenblick fort¬ geſponnen hatte, ſtand auf und ſetzte ſich wie gewoͤhnlich ans Ende des Tiſches. Wir hatten ſchon einige Flaſchen geleert, und ich fing mit dem beſten Humor meine hypothetiſche Le¬ bensgeſchichte zu erzaͤhlen an. Zuvoͤrderſt alſo empfehle ich mich Euch, ſagte ich, daß Ihr mir die Kundſchaft erhaltet, welche mir zuzuweiſen Ihr den Anfang gemacht habt. Wenn Ihr mir nach und nach den Verdienſt der ſaͤmtlichen Gelegenheitsgedichte zuwendet, und wir ihn nicht blos verſchmauſen; ſo will ich ſchon zu etwas kommen. Alsdann muͤßt413 Ihr mir nicht uͤbel nehmen, wenn ich auch in Euer Handwerk pfuſche. Worauf ich ihnen denn vorerzaͤhlte, was ich mir aus ihren Be¬ ſchaͤftigungen gemerkt hatte, und zu welchen ich mich allenfalls faͤhig hielt. Ein Jeder hatte vorher ſein Verdienſt zu Gelde ange¬ ſchlagen, und ich erſuchte ſie, mir auch zu Fertigung meines Etats behuͤlflich zu ſeyn. Gretchen hatte alles Bisherige ſehr aufmerk¬ ſam mit angehoͤrt, und zwar in der Stellung die ſie ſehr gut kleidete, ſie mochte nun zuhoͤ¬ ren oder ſprechen. Sie faßte mit beyden Haͤnden ihre uͤbereinander geſchlagenen Arme und legte ſie auf den Rand des Tiſches. So konnte ſie lange ſitzen, ohne etwas anders als den Kopf zu bewegen, welches niemals ohne Anlaß oder Bedeutung geſchah. Sie hatte manchmal ein Woͤrtchen mit eingeſprochen und uͤber dieſes und jenes, wenn wir in un¬ ſern Einrichtungen ſtockten, nachgeholfen; dann war ſie aber wieder ſtill und ruhig wie gewoͤhnlich. Ich ließ ſie nicht aus den Augen,414 und daß ich meinen Plan nicht ohne Bezug auf ſie gedacht und ausgeſprochen, kann man ſich leicht denken, und die Neigung zu ihr gab dem was ich ſagte, einen Anſchein von Wahrheit und Moͤglichkeit, daß ich mich ſelbſt einen Augenblick taͤuſchte, mich ſo ab¬ geſondert und huͤlfslos dachte, wie mein Maͤhrchen mich vorausſetzte, und mich dabey in der Ausſicht ſie zu beſitzen hoͤchſt gluͤcklich fuͤhlte. Pylades hatte ſeine Confeſſion mit der Heirat geendigt, und bey uns andern war nun auch die Frage, ob wir es in unſern Planen ſo weit gebracht haͤtten. Ich zweifle ganz und gar nicht daran, ſagte ich: denn ei¬ gentlich iſt einem Jeden von uns eine Frau noͤthig, um das im Hauſe zu bewahren und uns im Ganzen genießen zu laſſen, was wir von außen auf eine ſo wunderliche Weiſe zuſammenſtoppeln. Ich machte die Schilde¬ rung von einer Gattinn, wie ich ſie wuͤnſchte, und es muͤßte ſeltſam zugegangen ſeyn, wenn415 ſie nicht Gretchens vollkommnes Ebenbild ge¬ weſen waͤre.
Das Leichen-Carmen war verzehrt, das Hochzeit-Gedicht ſtand nun auch wohlthaͤtig in der Naͤhe; ich uͤberwand alle Furcht und Sorge und wußte, weil ich viel Bekannte hatte, meine eigentlichen Abendunterhaltungen vor den Mei¬ nigen zu verbergen. Das liebe Maͤdchen zu ſehen und neben ihr zu ſeyn, war nun bald eine unerlaͤßliche Bedingung meines Weſens. Jene hatten ſich eben ſo an mich gewoͤhnt, und wir waren faſt taͤglich zuſammen, als wenn es nicht anders ſeyn koͤnnte. Pylades hatte indeſſen ſeine Schoͤne auch in das Haus gebracht, und dieſes Paar verlebte manchen Abend mit uns. Sie als Brautleute, ob¬ gleich noch ſehr im Keime, verbargen doch nicht ihre Zaͤrtlichkeit; Gretchens Betragen gegen mich war nur geſchickt, mich in Ent¬ fernung zu halten. Sie gab Niemanden die Hand, auch nicht mir; ſie litt keine Beruͤh¬416 rung: nur ſetzte ſie ſich manchmal neben mich, beſonders wenn ich ſchrieb oder vorlas, und dann legte ſie mir vertraulich den Arm auf die Schulter, ſah mir ins Buch oder aufs Blatt; wollte ich mir aber eine aͤhnliche Frey¬ heit gegen ſie herausnehmen, ſo wich ſie und kam ſobald nicht wieder. Doch wiederholte ſie oft dieſe Stellung, ſo wie alle ihre Geſten und Bewegungen ſehr einfoͤrmig waren, aber immer gleich gehoͤrig, ſchoͤn und reizend. Al¬ lein jene Vertraulichkeit habe ich ſie gegen Niemanden weiter ausuͤben ſehen.
Eine der unſchuldigſten und zugleich unter¬ haltendſten Luſtpartieen, die ich mit verſchie¬ denen Geſellſchaften junger Leute unternahm, war, daß wir uns in das Hoͤchſter Markt¬ ſchiff ſetzten, die darin eingepackten ſeltſamen Paſſagiere beobachteten und uns bald mit dieſem bald mit jenem, wie uns Luſt oder Muthwille trieb, ſcherzhaft und neckend ein¬ ließen. Zu Hoͤchſt ſtiegen wir aus, wo zu417 gleicher Zeit das Marktſchiff von Mainz ein¬ traf. In einem Gaſthofe fand man eine gut beſetzte Tafel, wo die Beſſeren der Auf - und Abfahrenden mit einander ſpeiſten und alsdann jeder ſeine Fahrt weiter fortſetzte: denn beyde Schiffe gingen wieder zuruͤck. Wir fuhren dann jedesmal nach eingenomme¬ nem Mittagseſſen hinauf nach Frankfurt und hatten in ſehr großer Geſellſchaft die wohl¬ feilſte Waſſerfahrt gemacht, die nur moͤglich war. Einmal hatte ich auch mit Gretchens Vettern dieſen Zug unternommen, als am Tiſch in Hoͤchſt ſich ein junger Mann zu uns geſellte, der etwas aͤlter als wir ſeyn mochte. Jene kannten ihn und er ließ ſich mir vor¬ ſtellen. Er hatte in ſeinem Weſen etwas ſehr Gefaͤlliges, ohne ſonſt ausgezeichnet zu ſeyn. Von Mainz heraufgekommen fuhr er nun mit uns nach Frankfurt zuruͤck, und unterhielt ſich mit mir von allerley Dingen, welche das innere Stadtweſen, die Aemter und Stellen betrafen, worin er mir ganzI. 27418wohl unterrichtet ſchien. Als wir uns trenn¬ ten, empfahl er ſich mir und fuͤgte hinzu: er wuͤnſche, daß ich gut von ihm denken moͤge, weil er ſich gelegentlich meiner Empfeh¬ lung zu erfreuen hoffe. Ich wußte nicht was er damit ſagen wollte, aber die Vettern klaͤr¬ ten mich nach einigen Tagen auf; ſie ſprachen Gutes von ihm und erſuchten mich um ein Vorwort bey meinem Großvater, da jetzt eben eine mittlere Stelle offen ſey, zu welcher dieſer Freund gern gelangen moͤchte. Ich entſchuldigte mich anfangs, weil ich mich nie¬ mals in dergleichen Dinge gemiſcht hatte; allein ſie ſetzten mir ſo lange zu, bis ich mich es zu thun entſchloß. Hatte ich doch ſchon manchmal bemerkt, daß bey ſolchen Aemter¬ vergebungen, welche leider oft als Gnaden¬ ſachen betrachtet werden, die Vorſprache der Großmutter oder einer Tante nicht ohne Wirkung geweſen. Ich war ſoweit herange¬ wachſen, um mir auch einigen Einfluß anzu¬419 maßen. Deshalb uͤberwand ich, meinen Freun¬ den zu lieb, welche ſich auf alle Weiſe fuͤr eine ſolche Gefaͤlligkeit verbunden erklaͤrten, die Schuͤchternheit eines Enkels, und uͤber¬ nahm es, ein Bittſchreiben das mir einge¬ haͤndigt wurde, zu uͤberreichen.
Eines Sonntags nach Tiſche, als der Großvater in ſeinem Garten beſchaͤftigt war, um ſo mehr als der Herbſt herannahte, und ich ihm allenthalben behuͤlflich zu ſeyn ſuchte, ruͤckte ich nach einigem Zoͤgern mit meinem Anliegen und dem Bittſchreiben hervor. Er ſah es an und fragte mich, ob ich den jungen Menſchen kenne. Ich erzaͤhlte ihm im Allge¬ meinen was zu ſagen war, und er ließ es dabey bewenden. „ Wenn er Verdienſt und ſonſt ein gutes Zeugniß hat, ſo will ich ihm um ſeinet - und deinetwillen guͤnstig ſeyn. “ Mehr ſagte er nicht, und ich erfuhr lange nichts von der Sache.
27 *420Seit einiger Zeit hatte ich bemerkt, daß Gretchen nicht mehr ſpann, und ſich dagegen mit Naͤhen beſchaͤftigte und zwar mit ſehr feiner Arbeit, welches mich um ſo mehr wunderte, da die Tage ſchon abgenommen hatten und der Winter herankam. Ich dachte daruͤber nicht weiter nach, nur beunruhigte es mich, daß ich ſie einige Mal des Morgens nicht wie ſonſt zu Hauſe fand, und ohne Zudringlichkeit nicht erfahren konnte, wo ſie hingegangen ſey. Doch ſollte ich eines Tages ſehr wunderlich uͤberraſcht werden. Meine Schweſter, die ſich zu einem Balle vorberei¬ tete, bat mich ihr bey einer Galanterie - Haͤndlerinn ſogenannte italiaͤniſche Blumen zu holen. Sie wurden in Kloͤſtern gemacht, waren klein und niedlich. Myrten beſonders, Zwergroͤslein und dergleichen fielen gar ſchoͤn und natuͤrlich aus. Ich that ihr die Liebe und ging in den Laden, in welchem ich ſchon oͤfter mit ihr geweſen war. Kaum war ich hineingetreten und hatte die Eigenthuͤmerinn421 begruͤßt, als ich im Fenſter ein Frauenzimmer ſitzen ſah, das mir unter einem Spitzenhaͤub¬ chen gar jung und huͤbſch, und unter einer ſeidnen Mantille ſehr wohl gebaut ſchien. Ich konnte leicht an ihr eine Gehuͤlfinn erken¬ nen, denn ſie war beſchaͤftigt, Band und Federn auf ein Huͤtchen zu ſtecken. Die Putz¬ haͤndlerinn zeigte mir den langen Kaſten mit einzelnen mannigfaltigen Blumen vor; ich beſah ſie, und blickte, indem ich waͤhlte, wieder nach dem Frauenzimmerchen im Fenſter: aber wie groß war mein Erſtaunen, als ich eine unglaubliche Aehnlichkeit mit Gretchen gewahr wurde, ja zuletzt mich uͤberzeugen mußte, es ſey Gretchen ſelbſt. Auch blieb mir kein Zweifel uͤbrig, als ſie mir mit den Augen winkte und ein Zeichen gab, daß ich unſre Bekanntſchaft nicht verrathen ſollte. Nun brachte ich mit Waͤhlen und Verwerfen die Putzhaͤndlerinn in Verzweiflung, mehr als ein Frauenzimmer ſelbſt haͤtte thun koͤn¬ nen. Ich hatte wirklich keine Wahl, denn422 ich war aufs aͤußerſte verwirrt, und zugleich liebte ich mein Zaudern, weil es mich in der Naͤhe des Kindes hielt, deſſen Maske mich verdroß, und das mir doch in dieſer Maske reizender vorkam als jemals. Endlich mochte die Putzhaͤndlerinn alle Geduld verlieren, und ſuchte mir eigenhaͤndig einen ganzen Pappen¬ kaſten voll Blumen aus, den ich meiner Schweſter vorſtellen und ſie ſelbſt ſollte waͤh¬ len laſſen. So wurde ich zum Laden gleich¬ ſam hinausgetrieben, indem ſie den Kaſten durch ihr Maͤdchen vorausſchickte.
Kaum war ich zu Hauſe angekommen, als mein Vater mich berufen ließ und mir die Eroͤffnung that, es ſey nun ganz gewiß, daß der Erzherzog Joſeph zum roͤmiſchen Koͤnig gewaͤhlt und gekroͤnt werden ſolle. Ein ſo hoͤchſt bedeutendes Ereigniß muͤſſe man nicht unvorbereitet erwarten, und etwa nur gaffend und ſtaunend an ſich vorbey gehen laſſen. Er wolle daher die Wahl - und Kroͤ¬423 nungsdiarien der beyden letzten Kroͤnungen mit mir durchgehen, nicht weniger die letzten Wahlcapitulationen, um alsdann zu bemer¬ ken, was fuͤr neue Bedingungen man im gegenwaͤrtigen Falle hinzufuͤgen werde. Die Diarien wurden aufgeſchlagen, und wir beſchaͤf¬ tigten uns den ganzen Tag damit bis tief in die Nacht, indeſſen mir das huͤbſche Maͤd¬ chen, bald in ihrem alten Hauskleide, bald in ihrem neuen Coſtum, immer zwiſchen den hoͤchſten Gegenſtaͤnden des heiligen roͤmiſchen Reichs hin und wieder ſchwebte. Fuͤr dieſen Abend war es unmoͤglich ſie zu ſehen, und ich durchwachte eine ſehr unruhige Nacht. Das geſtrige Studium wurde den andern Tag eifrig fortgeſetzt, und nur gegen Abend machte ich es moͤglich, meine Schoͤne zu beſu¬ chen, die ich wieder in ihrem gewoͤhnlichen Hauskleide fand. Sie laͤchelte, indem ſie mich anſah, aber ich getraute mich nicht vor den andern etwas zu erwaͤhnen. Als die ganze Geſellſchaft wieder ruhig zuſammenſaß.
424fing ſie an und ſagte: „ Es iſt unbillig, daß Ihr unſerm Freunde nicht vertrauet was in dieſen Tagen von uns beſchloſſen worden. “ Sie fuhr darauf fort zu erzaͤhlen, daß nach unſrer neulichen Unterhaltung, wo die Rede war, wie ein Jeder ſich in der Welt wolle geltend machen, auch unter ihnen zur Sprache gekommen, auf welche Art ein weibliches Weſen ſeine Talente und Arbeiten ſteigern und ſeine Zeit vortheilhaft anwenden koͤnne. Darauf habe der Vetter vorgeſchlagen, ſie ſolle es bey einer Putzmacherinn verſuchen, die jetzt eben eine Gehuͤlfinn brauche. Man ſey mit der Frau einig geworden, ſie gehe taͤglich ſo viele Stunden hin, werde gut gelohnt; nur muͤſſe ſie dort, um des Anſtands willen, ſich zu einem gewiſſen Anputz beque¬ men, den ſie aber jederzeit zuruͤcklaſſe, weil er zu ihrem uͤbrigen Leben und Weſen ſich gar nicht ſchicken wolle. Durch dieſe Erklaͤ¬ rung war ich zwar beruhigt, nur wollte es mir nicht recht gefallen, das huͤbſche Kind425 in einem oͤffentlichen Laden und an einem Orte zu wiſſen, wo die galante Welt gelegentlich ihren Sammelplatz hatte. Doch ließ ich mir nichts merken, und ſuchte meine eiferſuͤchtige Sorge im Stillen bey mir zu verarbeiten. Hierzu goͤnnte mir der juͤngere Vetter nicht lange Zeit, der alsbald wieder mit dem Auf¬ trag zu einem Gelegenheits-Gedicht hervor¬ trat, mir die Perſonalien erzaͤhlte und ſogleich verlangte, daß ich mich zur Erfindung und Dispoſition des Gedichtes anſchicken moͤchte. Er hatte ſchon einige Mal uͤber die Behand¬ lung einer ſolchen Aufgabe mit mir geſprochen, und wie ich in ſolchen Faͤllen ſehr redſelig war, gar leicht von mir erlangt, daß ich ihm, was an dieſen Dingen rhetoriſch iſt, umſtaͤndlich auslegte, ihm einen Begriff von der Sache gab und meine eigenen und fremden Arbeiten dieſer Art als Beyſpiele benutzte. Der junge Menſch war ein guter Kopf, obgleich ohne Spur von poetiſcher Ader, und nun ging er ſo ſehr ins Einzelne und426 wollte von allem Rechenſchaft haben, daß ich mit der Bemerkung laut ward: Sieht es doch aus, als wolltet Ihr mir ins Handwerk greifen und mir die Kundſchaft entziehen. — „ Ich will es nicht laͤugnen, ſagte jener laͤchelnd: denn ich thue Euch dadurch keinen Schaden. Wie lange wird's waͤhren, ſo geht Ihr auf die Akademie, und bis dahin laßt mich noch immer etwas bey Euch profitiren. “— Herz¬ lich gern, verſetzte ich, und munterte ihn auf, ſelbſt eine Dispoſition zu machen, ein Sylbenmaß nach dem Character des Gegen¬ ſtandes zu waͤhlen, und was etwa ſonst noch noͤthig ſcheinen mochte. Er ging mit Ernſt an die Sache; aber es wollte nicht gluͤcken. Ich mußte zuletzt immer daran ſo viel umſchrei¬ ben, daß ich es leichter und beſſer von vorn herein ſelbſt geleiſtet haͤtte. Dieſes Lehren und Lernen jedoch, dieſes Mittheilen, dieſe Wechſelarbeit gab uns eine gute Unterhaltung; Gretchen, nahm Theil daran und hatte man¬ chen artigen Einfall, ſo daß wir alle vergnuͤgt,427 ja man darf ſagen gluͤcklich waren. Sie arbeitete des Tags bey der Putzmacherinn; Abends kamen wir gewoͤhnlich zuſammen, und unſre Zufriedenheit ward ſelbſt dadurch nicht geſtoͤrt, daß es mit den Beſtellungen zu Gelegenheits-Gedichten endlich nicht recht mehr fortwollte. Schmerzlich jedoch empfan¬ den wir es, daß uns eins einmal mit Pro¬ teſt zuruͤckkam, weil es dem Beſteller nicht gefiel. Indeß troͤſteten wir uns, weil wir es gerade fuͤr unſere beſte Arbeit hielten, und jenen fuͤr einen ſchlechten Kenner erklaͤ¬ ren durften. Der Vetter, der ein fuͤr alle¬ mal etwas lernen wollte, veranlaßte nunmehr fingirte Aufgaben, bey deren Aufloͤſung wir uns zwar noch immer gut genug unterhiel¬ ten, aber freylich, da ſie nichts einbrachten, unſre kleinen Gelage viel maͤßiger einrichten mußten.
Mit jenem großen ſtaatsrechtlichen Ge¬ genſtande, der Wahl und Kroͤnung eines roͤ¬428 miſchen Koͤnigs, wollte es nun immer mehr Ernſt werden. Der anfaͤnglich auf Augsburg im October 1763 ausgeſchriebene churfuͤrſt¬ liche Collegialtag ward nun nach Frankfurt verlegt, und ſowohl zu Ende dieſes Jahrs als zu Anfang des folgenden regten ſich die Vorbereitungen, welche dieſes wichtige Ge¬ ſchaͤft einleiten ſollten. Den Anfang machte ein von uns noch nie geſehener Aufzug. Eine unſerer Kanzleyperſonen zu Pferde, von vier gleichfalls berittnen Trompetern begleitet und von einer Fußwache umgeben, verlas mit lauter und vernehmlicher Stimme an al¬ len Ecken der Stadt ein weitlaͤuftiges Edict, das uns von dem Bevorſtehenden benachrich¬ tigte, und den Buͤrgern ein geziemendes und den Umſtaͤnden angemeſſenes Betragen ein¬ ſchaͤrfte. Bey Rath wurden große Ueberle¬ gungen gepflogen, und es dauerte nicht lange, ſo zeigte ſich der Reichs-Quartiermeiſter vom Erbmarſchall abgeſendet, um die Wohnungen der Geſandten und ihres Gefolges nach al¬429 tem Herkommen anzuordnen und zu bezeich¬ nen. Unſer Haus lag im churpfaͤlziſchen Sprengel, und wir hatten uns einer neuen, obgleich erfreulichern Einquartierung zu verſe¬ hen. Der mittlere Stock, welchen ehmals Graf Thorane inne gehabt, wurde einem churpfaͤlziſchen Cavalier eingeraͤumt, und da Baron von Koͤnigsthal, Nuͤrnbergiſcher Geſchaͤftstraͤger, den oberen Stock eingenom¬ men hatte, ſo waren wir noch mehr als zur Zeit der Franzoſen zuſammengedraͤngt. Die¬ ſes diente mir zu einem neuen Vorwand au¬ ßer dem Hauſe zu ſeyn, und die meiſte Zeit des Tages auf der Straße zuzubringen, um das was oͤffentlich zu ſehen war, ins Auge zu faſſen.
Nachdem uns die vorhergegangene Veraͤn¬ derung und Einrichtung der Zimmer auf dem Rathhauſe ſehenswerth geſchienen, nachdem die Ankunft der Geſandten eines nach dem andern und ihre erſte ſolenne Geſamt-Auf¬430 fahrt den 6ten Februar ſtatt gefunden; ſo be¬ wunderten wir nachher die Ankunft der kai¬ ſerlichen Commiſſarien und deren Auffahrt, ebenfalls auf den Roͤmer, welche mit großem Pomp geſchah. Die wuͤrdige Perſoͤnlichkeit des Fuͤrſten von Lichtenſtein machte einen guten Eindruck; doch wollten Kenner behaup¬ ten, die praͤchtigen Livreen ſeyen ſchon einmal bey einer andern Gelegenheit gebraucht wor¬ den, und auch dieſe Wahl und Kroͤnung werde ſchwerlich an Glanz jener von Carl dem ſiebenten gleich kommen. Wir juͤngern ließen uns das gefallen was wir vor Augen hatten, uns daͤuchte alles ſehr gut und man¬ ches ſetzte uns in Erſtaunen.
Der Wahl-Convent war endlich auf den 3ten Maͤrz anberaumt. Nun kam die Stadt durch neue Foͤrmlichkeiten in Bewegung, und die wechſelſeitigen Ceremonielbeſuche der Ge¬ ſandten hielten uns immer auf den Beinen. Auch mußten wir genau aufpaſſen, weil wir431 nicht nur gaffen, ſondern alles wohl bemer¬ ken ſollten, um zu Hauſe gehoͤrig Rechen¬ ſchaft zu geben, ja manchen kleinen Aufſatz auszufertigen, woruͤber ſich mein Vater und Herr von Koͤnigsthal, theils zu unſerer Ue¬ bung theils zu eigner Notiz, beredet hatten. Und wirklich gereichte mir dieß zu beſondrem Vortheil, indem ich uͤber das Aeußerliche ſo ziemlich ein lebendiges Wahl - und Kroͤnungs¬ diarium vorſtellen konnte.
Die Perſoͤnlichkeiten der Abgeordneten, welche auf mich einen bleibenden Eindruck ge¬ macht haben, waren zunaͤchſt die des chur¬ mainziſchen erſten Bothſchafters, Barons von Erthal, nachmaligen Churfuͤrſten. Ohne irgend etwas Auffallendes in der Geſtalt zu haben, wollte er mir in ſeinem ſchwarzen, mit Spitzen beſetzten Talar immer gar wohl¬ gefallen. Der zweyte Bothſchafter, Baron von Groſchlag, war ein wohlgebauter, im Aeußern bequem aber hoͤchſt anſtaͤndig ſich be¬432 tragender Weltmann. Er machte uͤberhaupt einen ſehr behaglichen Eindruck. Fuͤrſt Eſterhazy, der boͤhmiſche Geſandte, war nicht groß aber wohlgebaut, lebhaft und zu¬ gleich vornehm anſtaͤndig, ohne Stolz und Kaͤlte. Ich hatte eine beſondre Neigung zu ihm, weil er mich an den Marſchall von Broglio erinnerte. Doch verſchwand gewiſ¬ ſermaßen die Geſtalt und Wuͤrde dieſer treff¬ lichen Perſonen uͤber dem Vorurtheil, das man fuͤr den Brandenburgiſchen Geſandten, Baron von Plotho, gefaßt hatte. Dieſer Mann, der durch eine gewiſſe Spaͤrlichkeit ſowohl in eigner Kleidung als in Livreen und Equipagen ſich auszeichnete, war vom ſiebenjaͤhrigen Kriege her als diplomatiſcher Held beruͤhmt, hatte zu Regensburg den Notarius April, der ihm die gegen ſeinen Koͤnig ergangene Achtserklaͤrung von einigen Zeugen begleitet zu inſinuiren gedachte, mit der lakoniſchen Gegenrede: Was! Er inſinui¬ ren? die Treppe hinuntergeworfen oder wer¬433 fen laſſen. Das erſte glaubten wir, weil es uns beſſer gefiel, und wir es auch dem klei¬ nen, gedrungnen, mit ſchwarzen Feueraugen hin und wieder blickenden Manne gar wohl zutrauten. Aller Augen waren auf ihn ge¬ richtet, beſonders wo er ausſtieg. Es ent¬ ſtand jederzeit eine Art von frohem Ziſcheln, und wenig fehlte, daß man ihm applaudirt, Vivat oder Bravo zugerufen haͤtte. So hoch ſtand der Koͤnig, und alles was ihm mit Leib und Seele ergeben war, in der Gunſt der Menge, unter der ſich außer den Frankfurtern, ſchon Deutſche aus allen Ge¬ genden befanden.
Einerſeits hatte ich an dieſen Dingen manche Luſt: weil alles was vorging, es mochte ſeyn von welcher Art es wollte, doch immer eine gewiſſe Deutung verbarg, irgend ein innres Verhaͤltniß anzeigte, und ſolche ſymboliſche Ceremonien das durch ſo viele Pergamente, Papiere und Buͤcher beynahI. 28434verſchuͤttete deutſche Reich wieder fuͤr einen Augenblick lebendig darſtellten; andrerſeits aber konnte ich mir ein geheimes Misfallen nicht verbergen, wenn ich nun zu Hauſe dei innern Verhandlungen zum Behuf meines Vaters abſchreiben und dabey bemerken mußte, daß hier mehrere Gewalten einander gegen¬ uͤber ſtanden, die ſich das Gleichgewicht hiel¬ ten, und nur in ſofern einig waren, als ſie den neuen Regenten noch mehr als den alten zu beſchraͤnken gedachten; daß Jeder¬ mann ſich nur in ſofern ſeines Einfluſſes freute, als er ſeine Privilegien zu erhalten und zu erweitern, und ſeine Unabhaͤngigkeit mehr zu ſichern hoffte. Ja man war die߬ mal noch aufmerkſamer als ſonſt, weil man ſich vor Joſeph dem zweyten, vor ſeiner Heftigkeit und ſeinen vermuthlichen Planen, zu fuͤrchten anfing.
Bey meinem Großvater und den uͤbrigen Rathsverwandten, deren Haͤuſer ich zu beſu¬435 chen pflegte, war es auch keine gute Zeit: denn ſie hatten ſo viel mit Einholen der vornehmen Gaͤſte, mit Becomplimentiren, mit Ueberreichung von Geſchenken zu thun. Nicht weniger hatte der Magiſtrat im Gan¬ zen wie im Einzelnen ſich immer zu wehren, zu widerſtehn und zu proteſtiren, weil bey ſolchen Gelegenheiten ihm Jedermann etwas abzwacken oder aufbuͤrden will, und ihm we¬ nige von denen die er anſpricht, beyſtehen oder zu Huͤlfe kommen. Genug, mir trat alles nunmehr lebhaft vor Augen, was ich in der Lersnerſchen Chronik von aͤhnlichen Vorfaͤllen bey aͤhnlichen Gelegenheiten, mit Bewunderung der Geduld und Ausdauer je¬ ner guten Rathsmaͤnner, geleſen hatte.
Mancher Verdruß entſpringt auch daher, daß ſich die Stadt nach und nach mit noͤthi¬ gen und unnoͤthigen Perſonen anfuͤllt. Ver¬ gebens werden die Hoͤfe von Seiten der Stadt an die Vorſchriften der freylich veral¬28 *436teten goldnen Bulle erinnert. Nicht allein die zum Geſchaͤft Verordneten und ihre Be¬ gleiter, ſondern manche Standes - und andre Perſonen, die aus Neugier oder zu Privat¬ zwecken herankommen, ſtehen unter Protec¬ tion, und die Frage: wer eigentlich einquar¬ tiert wird und wer ſelbſt ſich eine Wohnung miethen, ſoll? iſt nicht immer ſogleich entſchie¬ den. Das Getuͤmmel waͤchſt, und ſelbſt diejenigen die nichts dabey zu leiſten oder zu verantworten haben, fangen an ſich unbehag¬ lich zu fuͤhlen.
Selbſt wir jungen Leute, die wir das alles wohl mit anſehen konnten, fanden doch immer nicht genug Befriedigung fuͤr unſere Augen, fuͤr unſre Einbildungskraft. Die ſpaniſchen Mantelkleider, die großen Feder¬ huͤte der Geſandten und hie und da noch ei¬ niges andere, gaben wohl ein aͤcht alterthuͤm¬ liches Anſehen; manches dagegen war wieder ſo halb neu oder ganz modern, daß uͤberall437 nur ein buntes unbefriedigendes, oͤfter ſogar geſchmackloſes Weſen hervortrat. Sehr gluͤck¬ lich machte es uns daher, zu vernehmen, daß wegen der Herreiſe des Kaiſers und des kuͤnftigen Koͤnigs große Anſtalten gemacht wurden, daß die churfuͤrſtlichen Collegial - Handlungen, bey welchen die letzte Wahlcapi¬ tulation zum Grunde lag, eifrig vorwaͤrts gingen, und daß der Wahltag auf den 27ten Maͤrz feſtgeſetzt ſey. Nun ward an die Herbeyſchaffung der Reichsinſignien von Nuͤrn¬ berg und Aachen gedacht, und man erwartete zunaͤchſt den Einzug des Churfuͤrſten von Mainz, waͤhrend mit ſeiner Geſandtſchaft die Irrungen wegen der Quartiere immer fort¬ dauerten.
Indeſſen betrieb ich meine Canzelliſten - Arbeit zu Hauſe ſehr lebhaft, und wurde da¬ bey freylich mancherley kleinliche Monita ge¬ wahr, die von vielen Seiten einliefen, und bey der neuen Capitulation beruͤckſichtigt wer¬438 den ſollten. Jeder Stand wollte in dieſem Document ſeine Gerechtſame gewahrt und ſein Anſehen vermehrt wiſſen. Gar viele ſolcher Bemerkungen und Wuͤnſche wurden jedoch bey Seite geſchoben; vieles blieb wie es geweſen war: gleichwohl erhielten die Mo¬ nenten die buͤndigſten Verſicherungen, daß ih¬ nen jene Uebergehung keineswegs zum Praͤju¬ diz gereichen ſolle.
Sehr vielen und beſchwerlichen Geſchaͤf¬ ten mußte ſich indeſſen das Reichsmarſchall¬ amt unterziehen: die Maſſe der Fremden wuchs, es wurde immer ſchwieriger ſie unter¬ zubringen. Ueber die Graͤnzen der verſchie¬ denen churfuͤrſtlichen Bezirke war man nicht einig. Der Magiſtrat wollte von den Buͤr¬ gern die Laſten abhalten, zu denen ſie nicht verpflichtet ſchienen, und ſo gab es, bey Tag und bey Nacht, ſtuͤndlich Beſchwerden, Re¬ curſe, Streit und Mishelligkeiten.
439Der Einzug des Churfuͤrſten von Mainz erfolgte den 21ten Maͤrz. Hier fing nun das Canoniren an, mit dem wir auf lange Zeit mehrmals betaͤubt werden ſollten. Wich¬ tig in der Reihe der Ceremonien war dieſe Feſtlichkeit: denn alle die Maͤnner, die wir bisher auftreten ſahen, waren, ſo hoch ſie auch ſtanden, doch immer nur Untergeord¬ nete; hier aber erſchien ein Souverain, ein ſelbſtaͤndiger Fuͤrſt, der erſte nach dem Kaiſer, von einem großen ſeiner wuͤrdigen Gefolge eingefuͤhrt und begleitet. Von dem Pompe dieſes Einzugs wuͤrde ich hier manches zu er¬ zaͤhlen haben, wenn ich nicht ſpaͤter wieder darauf zuruͤckzukommen gedaͤchte, und zwar bey einer Gelegenheit, die Niemand leicht errathen ſollte.
An demſelben Tage naͤmlich kam Lavater, auf ſeinem Ruͤckwege von Berlin nach Hauſe begriffen, durch Frankfurt, und ſah dieſe Feyerlichkelt mit an. Ob nun gleich ſolche440 weltliche Aeußerlichkeiten fuͤr ihn nicht den mindeſten Werth hatten, ſo mochte doch die¬ ſer Zug mit ſeiner Pracht und allem Bey¬ weſen deutlich in ſeine ſehr lebhafte Einbil¬ dungskraft ſich eingedruckt haben: denn nach mehreren Jahren, als mir dieſer vorzuͤgliche, aber eigene Mann eine poetiſche Paraphraſe, ich glaube der Offenbarung Sanct Johannis, mittheilte, fand ich den Einzug des Anti¬ chriſt Schritt vor Schritt, Geſtalt vor Ge¬ ſtalt, Umſtand vor Umſtand, dem Einzug des Churfuͤrſten von Mainz in Frankfurt nachge¬ bildet, dergeſtalt daß ſogar die Quaſten an den Koͤpfen der Iſabell-Pferde nicht fehl¬ ten. Es wird ſich mehr davon ſagen laſſen, wenn ich zur Epoche jener wunderlichen Dich¬ tungsart gelange, durch welche man die alt - und neuteſtamentlichen Mythen dem An¬ ſchauen und Gefuͤhl naͤher zu bringen glaubte, wenn man ſie voͤllig ins Moderne traveſtirte, und ihnen aus dem gegenwaͤrtigen Leben, es ſey nun gemeiner oder vornehmer, ein Ge¬441 wand umhinge. Wie dieſe Behandlungsart ſich nach und nach beliebt gemacht, davon muß gleichfalls kuͤnftig die Rede ſeyn; doch bemerke ich hier ſoviel, daß ſie weiter als durch Lavater und ſeine Nacheiferer wohl nicht getrieben worden, indem einer derſelben die heiligen drey Koͤnige, wie ſie zu Bethle¬ hem einreiten, ſo modern ſchilderte, daß die Fuͤrſten und Herren, welche Lavatern zu be¬ ſuchen pflegten, perſoͤnlich darin nicht zu ver¬ kennen waren.
Wir laſſen alſo fuͤr dießmal den Chur¬ fuͤrſten Emmerich Joſeph ſo zu ſagen incognito im Compoſtell eintreffen, und wen¬ den uns zu Gretchen, die ich, eben als die Volksmenge ſich verlief, von Pylades und ſeiner Schoͤnen begleitet (denn dieſe drey ſchienen nun unzertrennlich zu ſeyn) im Ge¬ tuͤmmel erblickte. Wir hatten uns kaum er¬ reicht und begruͤßt, als ſchon ausgemacht war, daß wir dieſen Abend zuſammen zubringen woll¬442 ten, und ich fand mich bey Zeiten ein. Die gewoͤhnliche Geſellſchaft war beyſammen, und Jedes hatte etwas zu erzaͤhlen, zu ſagen, zu bemerken; wie denn dem einen dieß, dem an¬ dern jenes am meiſten aufgefallen war. „ Eure Reden, ſagte Gretchen zuletzt, machen mich faſt noch verworrner als die Begebenheiten dieſer Tage ſelbſt. Was ich geſehen, kann ich nicht zuſammenreimen, und moͤchte von manchem gar zu gern wiſſen, wie es ſich ver¬ haͤlt. “ Ich verſetzte, daß es mir ein Leichtes ſey, ihr dieſen Dienſt zu erzeigen. Sie ſolle nur ſagen, wofuͤr ſie ſich eigentlich intereſſire. Dieß that ſie, und indem ich ihr einiges erklaͤren wollte, fand ſichs, daß es beſſer waͤre in der Ordnung zu verfahren. Ich verglich nicht unſchicklich dieſe Feyerlichkeiten und Func¬ tionen mit einem Schauſpiel, wo der Vorhang nach Belieben heruntergelaſſen wuͤrde, indeſſen die Schauſpieler fortſpielten, dann werde er wieder aufgezogen und der Zuſchauer koͤnne an jenen Verhandlungen einigermaßen wieder Theil443 nehmen. Weil ich nun ſehr redſelig war, wenn man mich gewaͤhren ließ; ſo erzaͤhlte ich alles von Anfang an bis auf den heutigen Tag, in der beſten Ordnung, und verſaͤumte nicht, um meinen Vortrag anſchaulicher zu machen, mich des vorhandenen Griffels und der großen Schiefer-Platte zu bedienen. Nur durch einige Fragen und Rechthabereyen der andern wenig geſtoͤrt, brachte ich meinen Vortrag zu allge¬ meiner Zufriedenheit ans Ende, indem mich Gretchen durch ihre fortgeſetzte Aufmerkſam¬ keit hoͤchlich ermuntert hatte. Sie dankte mir zuletzt und beneidete, nach ihrem Aus¬ druck, alle diejenigen, die von den Sachen dieſer Welt unterrichtet ſeyen und wuͤßten wie dieſes und jenes zugehe und was es zu bedeuten habe. Sie wuͤnſchte ſich ein Knabe zu ſeyn, und wußte mit vieler Freundlichkeit anzuerkennen, daß ſie mir ſchon manche Be¬ lehrung ſchuldig geworden. „ Wenn ich ein Knabe waͤre, ſagte ſie, ſo wollten wir auf Univerſitaͤten zuſammen etwas rechtes lernen. “ 444Das Geſpraͤch ward in der Art fortgefuͤhrt, ſie ſetzte ſich beſtimmt vor, Unterricht im Franzoͤſiſchen zu nehmen, deſſen Unerlaͤßlichkeit ſie im Laden der Putzhaͤndlerinn wohl gewahr worden. Ich fragte ſie, warum ſie nicht mehr dorthin gehe: denn in der letzten Zeit, da ich des Abends nicht viel abkommen konnte, war ich manchmal bey Tage, ihr zu Gefallen, am Laden vorbey gegangen, um ſie nur einen Augenblick zu ſehen. Sie erklaͤrte mir, daß ſie in dieſer unruhigen Zeit ſich dort nicht haͤtte ausſetzen wollen. Befaͤnde ſich die Stadt wieder in ihrem vorigen Zuſtande, ſo denke ſie auch wieder hinzugehen.
Nun war von dem naͤchſt bevorſtehenden Wahltag die Rede. Was und wie es vor¬ gehe, wußte ich weitlaͤuftig zu erzaͤhlen, und meine Demonſtration durch umſtaͤndliche Zeich¬ nungen auf der Tafel zu unterſtuͤtzen; wie ich denn den Raum des Conclave mit ſeinen Altaͤren, Thronen, Seſſeln und Sitzen voll¬445 kommen gegenwaͤrtig hatte. — Wir ſchieden zu rechter Zeit und mit ſonderlichem Wohlbe¬ hagen.
Denn einem jungen Paare, das von der Natur einigermaßen harmoniſch gebildet iſt, kann nichts zu einer ſchoͤnern Vereinigung ge¬ reichen, als wenn das Maͤdchen lehrbegierig und der Juͤngling lehrhaft iſt. Es entſteht daraus ein ſo gruͤndliches als angenehmes Ver¬ haͤltniß. Sie erblickt in ihm den Schoͤpfer ih¬ res geiſtigen Daſeyns, und er in ihr ein Ge¬ ſchoͤpf, das nicht der Natur, dem Zufall, oder einem einſeitigen Wollen, ſondern einem bey¬ derſeitigen Willen ſeine Vollendung verdankt; und dieſe Wechſelwirkung iſt ſo ſuͤß, daß wir uns nicht wundern duͤrfen, wenn ſeit dem alten und neuen Abelard, aus einem ſolchen Zuſammentreffen zweyer Weſen, die ge¬ waltſamſten Leidenſchaften und ſo viel Gluͤck als Ungluͤck entſprungen ſind.
446Gleich den naͤchſten Tag war große Bewe¬ gung in der Stadt, wegen der Viſiten und Gegenviſiten, welche nunmehr mit dem groͤßten Ceremoniel abgeſtattet wurden. Was mich aber als einen Frankfurter Buͤrger beſonders intereſſirte und zu vielen Betrachtungen ver¬ anlaßte, war die Ablegung des Sicherheits - Eides, den der Rath, das Militaͤr, die Buͤr¬ gerſchaft, nicht etwa durch Repraͤſentanten, ſondern perſoͤnlich und in Maſſe leiſteten: erſt auf dem großen Roͤmerſaale der Magi¬ ſtrat und die Stabsoffiziere, dann auf dem großen Platze, dem Roͤmerberg, die ſaͤmt¬ liche Buͤrgerſchaft nach ihren verſchiedenen Graden, Abſtufungen und Quartieren, und zuletzt das uͤbrige Militaͤr. Hier konnte man das ganze Gemein-Weſen mit einem Blick uͤberſchauen, verſammlet zu dem ehrenvollen Zweck, dem Haupt und den Gliedern des Reichs Sicherheit, und bey dem bevorſtehen¬ den großen Werke unverbruͤchliche Ruhe anzu¬ geloben. Nun waren auch Chur-Trier und447 Chur-Koͤlln in Perſon angekommen. Am Vorabend des Wahltags werden alle Frem¬ den aus der Stadt gewieſen, die Thore ſind geſchloſſen, die Juden in ihrer Gaſſe eingeſperrt, und der Frankfurter Buͤrger duͤnkt ſich nicht wenig, daß er allein Zeuge einer ſo großen Feyerlichkeit bleiben darf.
Bisher war alles noch ziemlich modern hergegangen: die hoͤchſten und hohen Per¬ ſonen bewegten ſich nur in Kutſchen hin und wieder; nun aber ſollten wir ſie, nach uralter Weiſe, zu Pferde ſehen. Der Zulauf und das Gedraͤnge war außerordentlich. Ich wußte mich in dem Roͤmer, den ich wie eine Maus den heimiſchen Kornboden genau kannte, ſo lange herumzuſchmiegen, bis ich an den Haupteingang gelangte, vor welchem die Churfuͤrſten und Geſandten, die zuerſt in Prachtkutſchen herangefahren und ſich oben verſammlet hatten, nunmehr zu Pferde ſtei¬ gen ſollten. Die ſtattlichſten, wohlzugeritte¬448 nen Roſſe waren mit reich geſtickten Waldrap¬ pen uͤberhangen und auf alle Weiſe ge¬ ſchmuͤckt. Churfuͤrſt Emmerich Joſeph, ein ſchoͤner behaglicher Mann, nahm ſich zu Pferde gut aus. Der beyden andern erin¬ nere ich mich weniger, als nur uͤberhaupt, daß uns dieſe rothen mit Hermelin ausge¬ ſchlagenen Fuͤrſtenmaͤntel, die wir ſonſt nur auf Gemaͤlden zu ſehen gewohnt waren, un¬ ter freyem Himmel ſehr romantiſch vorka¬ men. Auch die Bothſchafter der abweſenden weltlichen Churfuͤrſten in ihren goldſtoffnen, mit Gold uͤberſtickten, mit goldnen Spitzen - Treſſen reich beſetzten ſpaniſchen Kleidern tha¬ ten unſern Augen wohl; beſonders wehten die großen Federn von den alterthuͤmlich aufge¬ krempten Huͤten aufs praͤchtigſte. Was mir aber gar nicht dabey gefallen wollte, waren die kurzen modernen Beinkleider, die wei߬ ſeidenen Struͤmpfe und modiſchen Schuhe. Wir haͤtten Halbſtiefelchen, ſo golden als man gewollt, Sandalen oder dergleichen ge¬449 wuͤnſcht, um nur ein etwas conſequenteres Coſtum zu erblicken.
Im Betragen unterſchied ſich auch hier der Geſandte von Plotho wieder vor allen andern. Er zeigte ſich lebhaft und munter, und ſchien vor der ganzen Ceremonie nicht ſonderlichen Reſpect zu haben. Denn als ſein Vordermann, ein aͤltlicher Herr, ſich nicht ſogleich aufs Pferd ſchwingen konnte, und er deshalb eine Weile an dem großen Ein¬ gang warten mußte, enthielt er ſich des La¬ chens nicht, bis ſein Pferd auch vorgefuͤhrt wurde, auf welches er ſich denn ſehr behend hinaufſchwang und von uns abermals als ein wuͤrdiger Abgeſandter Friedrichs des zweyten bewundert wurde.
Nun war fuͤr uns der Vorhang wieder gefallen. Ich hatte mich zwar in die Kirche zu draͤngen geſucht; allein es fand ſich auch dort mehr Unbequemlichkeit als Luſt. Diel. 29450Waͤhlenden hatten ſich ins Allerheiligſte zu¬ ruͤckgezogen, in welchem weitlaͤuftige Ceremo¬ nien die Stelle einer bedaͤchtigen Wahluͤberle¬ gung vertraten. Nach langem Harren, Draͤn¬ gen und Wogen vernahm denn zuletzt das Volk den Namen Joſephs des zweyten, der zum roͤmiſchen Koͤnig ausgerufen wurde.
Der Zudrang der Fremden in die Stadt ward nun immer ſtaͤrker. Alles fuhr und ging in Galakleidern, ſo daß man zuletzt nur die ganz goldenen Anzuͤge bemerkenswerth fand. Kaiſer und Koͤnig waren ſchon in Heuſen¬ ſtamm, einem graͤflich Schoͤnborniſchen Schloſ¬ ſe, angelangt und wurden dort herkoͤmmlich begruͤßt und willkommen geheißen; die Stadt aber feyerte dieſe wichtige Epoche durch geiſt¬ liche Feſte ſaͤmtlicher Religionen, durch Hoch¬ aͤmter und Predigten, und von weltlicher Sei¬ te, zu Begleitung des Te-Deum, durch un¬ ablaͤſſiges Canoniren.
451Haͤtte man alle dieſe oͤffentlichen Feyer¬ lichkeiten von Anfang bis hieher als ein uͤber¬ legtes Kunſtwerk angeſehen, ſo wuͤrde man nicht viel daran auszuſetzen gefunden haben. Alles war gut vorbereitet; ſachte fingen die oͤffentlichen Auftritte an und wurden immer bedeutender; die Menſchen wuchſen an Zahl, die Perſonen an Wuͤrde, ihre Umgebungen wie ſie ſelbſt an Pracht, und ſo ſtieg es mit jedem Tage, ſo daß zuletzt auch ein vorberei¬ tetes gefaßtes Auge in Verwirrung gerieth.
Der Einzug des Churfuͤrſten von Mainz, welchen ausfuͤhrlicher zu beſchreiben wir abge¬ lehnt, war praͤchtig und impoſant genug, um in der Einbildungskraft eines vorzuͤglichen Mannes die Ankunft eines großen geweiſſag¬ ten Weltherrſchers zu bedeuten. Auch wir waren dadurch nicht wenig geblendet worden. Nun aber ſpannte ſich unſere Erwartung aufs hoͤchſte, als es hieß, der Kaiſer und der kuͤnftige Koͤnig naͤherten ſich der Stadt. 29 *452In einiger Entfernung von Sachſenhauſen war ein Zelt errichtet, in welchem der ganze Magiſtrat ſich aufhielt, um dem Oberhaupte des Reichs die gehoͤrige Verehrung zu bezei¬ gen und die Stadt-Schluͤſſel anzubieten. Weiter hinaus, auf einer ſchoͤnen geraͤumi¬ gen Ebene, ſtand ein anderes, ein Pracht¬ gezelt, wohin ſich die ſaͤmtlichen Churfuͤr¬ ſten und Wahlbotſchafter zum Empfang der Majeſtaͤten verfuͤgten, indeſſen ihr Gefolge ſich den ganzen Weg entlang erſtreckte, um nach und nach, wie die Reihe an ſie kaͤme, ſich wieder gegen die Stadt in Bewegung zu ſetzen und gehoͤrig in den Zug einzutreten. Nunmehr fuhr der Kaiſer bey dem Zelt an, betrat ſolches, und nach ehrfurchtsvollem Empfange beurlaubten ſich die Churfuͤrſten und Geſandten, um ordnungsgemaͤß dem hoͤchſten Herrſcher den Weg zu bahnen.
Wir andern, die wir in der Stadt geblie¬ ben, um dieſe Pracht innerhalb der Mauern453 und Straßen noch mehr zu bewundern, als es auf freyem Felde haͤtte geſchehen koͤnnen, wir waren durch das von der Buͤrgerſchaft in den Gaſſen aufgeſtellte Spalier, durch den Zudrang des Volks, durch mancherley dabey vorkommende Spaͤße und Unſchicklich¬ keiten einſtweilen gar wohl unterhalten, bis uns das Gelaͤute der Glocken und der Cano¬ nendonner die unmittelbare Naͤhe des Herr¬ ſchers ankuͤndigten. Was einem Frankfurter beſonders wohlthun mußte, war, daß bey dieſer Gelegenheit, bey der Gegenwart ſo vieler Souveraͤne und ihrer Repraͤſentanten, die Reichsſtadt Frankfurt auch als ein kleiner Souveraͤn erſchien: denn ihr Stallmeiſter eroͤffnete den Zug, Reitpferde mit Wappen¬ decken, worauf der weiße Adler im rothen Felde ſich gar gut ausnahm, folgten ihm, Bediente und Offizianten, Pauker und Trom¬ peter, Deputirte des Raths, von Rathsbe¬ dienten in der Stadtlivree zu Fuße begleitet. Hieran ſchloſſen ſich die drey Compagnien454 der Buͤrger-Cavallerie, ſehr wohl beritten, dieſelbigen die wir von Jugend auf bey Ein¬ holung des Geleits und andern oͤffentlichen Gelegenheiten gekannt hatten. Wir erfreuten uns an dem Mitgefuͤhl dieſer Ehre, und an dem Hunderttauſend-Theilchen einer Souveraͤnetaͤt, welche gegenwaͤrtig in ihrem vollen Glanz erſchien. Die verſchiedenen Gefolge des Reichs-Erbmarſchalls und der von den ſechs weltlichen Churfuͤrſten abgeord¬ neten Wahlgeſandten zogen ſodann ſchritt¬ weiſe daher. Keins derſelben beſtand aus weniger denn zwanzig Bedienten und zwey Staatswagen; bey einigen aus einer noch groͤßern Anzahl. Das Gefolge der geiſtlichen Churfuͤrſten war nun immer im Steigen; die Bedienten und Hausoffizianten ſchienen unzaͤh¬ lig, Chur-Coͤln und Chur-Trier hatten uͤber zwanzig Staatswagen, Chur-Mainz allein eben ſo viel. Die Dienerſchaft zu Pferde und zu Fuß war durchaus aufs praͤchtigſte gekleidet, die Herren in den Equipagen, geiſt¬455 liche und weltliche, hatten es auch nicht feh¬ len laſſen, reich und ehrwuͤrdig angethan, und geſchmuͤckt mit allen Ordenszeichen, zu erſcheinen. Das Gefolg der kaiſerlichen Ma¬ jeſtaͤt uͤbertraf nunmehr wie billig die uͤbri¬ gen. Die Bereiter, die Handpferde, die Reitzeuge, Schabracken und Decken zogen aller Augen auf ſich, und ſechzehn ſechsſpaͤn¬ nige Galawaͤgen der kaiſerlichen Cammerher¬ ren, Geheimenraͤthe, des Ober-Caͤmmerers, Ober-Hofmeiſters, Ober-Stallmeiſters be¬ schloſſen mit großem Prunk dieſe Abtheilung des Zugs, welche, ungeachtet ihrer Pracht und Ausdehnung, doch nur der Vortrab ſeyn ſollte.
Nun aber concentrirte ſich die Reihe, indem ſich Wuͤrde und Pracht ſteigerten, immer mehr. Denn unter einer ausgewaͤhl¬ ten Begleitung eigener Haus-Dienerſchaft, die meiſten zu Fuß, wenige zu Pferde, erſchie¬ nen die Wahlbotſchafter ſo wie die Churfuͤr¬ ſten in Perſon, nach aufſteigender Ordnung,456 jeder in einem praͤchtigen Staatswagen. Un¬ mittelbar hinter Chur-Mainz kuͤndigten zehn kaiſerliche Laufer, ein und vierzig Lakeyen und acht Heiducken die Majeſtaͤten ſelbſt an. Der praͤchtigſte Staatswagen, auch im Ruͤcken mit einem ganzen Spiegelglas verſehen mit Malerey, Lackirung, Schnitzwerk und Ver¬ goldung ausgeziert, mit rothem geſtickten Sammt obenher und inwendig bezogen, ließ uns ganz bequem Kaiſer und Koͤnig, die laͤngſt erwuͤnſchten Haͤupter, in aller ihrer Herrlichkeit betrachten. Man hatte den Zug einen weiten Umweg gefuͤhrt, theils aus Nothwendigkeit, damit er ſich nur entfalten koͤnne, theils um ihn der großen Menge Menſchen ſichtbar zu machen. Er war durch Sachſenhauſen, uͤber die Bruͤcke, die Fahr¬ gaſſe, ſodann die Zeile hinunter gegangen, und wendete ſich nach der innern Stadt durch die Catharinenpforte, ein ehmaliges Thor, und ſeit Erweiterung der Stadt, ein offner Durchgang. Hier hatte man gluͤcklich bedacht,457 daß die aͤußere Herrlichkeit der Welt, ſeit einer Reihe von Jahren, ſich immer mehr in die Hoͤhe und Breite ausgedehnt. Man hatte gemeſſen und gefunden, daß durch dieſen Thor¬ weg, durch welchen ſo mancher Fuͤrſt und Kaiſer aus und eingezogen, der jetzige kaiſer¬ liche Staatswagen, ohne mit ſeinem Schnitz¬ werk und andern Aeußerlichkeiten anzuſtoßen, nicht hindurchkommen koͤnne. Man berath¬ ſchlagte, und zu Vermeidung eines unbequemen Umwegs, entſchloß man ſich das Pflaſter aufzuheben, und eine ſanfte Ab - und Auf¬ fahrt zu veranſtalten. In eben dem Sinne hatte man auch alle Wetterdaͤcher der Laͤden und Buden in den Straßen ausgehoben, da¬ mit weder die Krone, noch der Adler, noch die Genien Anſtoß und Schaden nehmen moͤchten.
So ſehr wir auch, als dieſes koſtbare Gefaͤß mit ſo koſtbarem Inhalt ſich uns naͤherte, auf die hohen Perſonen unſere Augen gerichtet hatten, ſo konnten wir doch458 nicht umhin, unſern Blick auf die herrlichen Pferde, das Geſchirr und deſſen Poſament - Schmuck zu wenden; beſonders aber fielen uns die wunderlichen, beyde auf den Pferden ſitzenden, Kutſcher und Vorreiter auf. Sie ſahen wie aus einer andern Nation, ja wie aus einer andern Welt, in langen ſchwarz - und gelbſammtnen Roͤcken und Kappen mit großen Federbuͤſchen, nach kaiſerlicher Hof¬ ſitte. Nun draͤngte ſich ſo viel zuſammen, daß man wenig mehr unterſcheiden konnte. Die Schweizergarde zu beyden Seiten des Wagens, der Erbmarſchall, das ſaͤchſiſche Schwerd aufwaͤrts in der rechten Hand hal¬ tend, die Feldmarſchaͤlle als Anfuͤhrer der kaiſerlichen Garden hinter dem Wagen rei¬ tend, die kaiſerlichen Edelknaben in Maſſe und endlich die Hatſchiergarde ſelbſt, in ſchwarzſammtnen Fluͤgelroͤcken, alle Naͤhte reich mit Gold galonirt, darunter rothe Leib¬ roͤcke und lederfarbne Camiſole, gleichfalls reich mit Gold beſetzt. Man kam vor lauter459 Sehen, Deuten und Hinweiſen gar nicht zu ſich ſelbſt, ſo daß die nicht minder praͤchtig gekleideten Leibgarden der Churfuͤrſten kaum beachtet wurden; ja wir haͤtten uns vielleicht von den Fenſtern zuruͤckgezogen, wenn wir nicht noch unſern Magiſtrat, der in funfzehn zweyſpaͤnnigen Kutſchen den Zug beſchloß, und beſonders in der letzten den Rathsſchrei¬ ber mit den Stadtſchluͤſſeln auf rothſammtenem Kiſſen haͤtten in Augenſchein nehmen wollen. Daß unſere Stadtgrenadier-Compagnie das Ende deckte, daͤuchte uns auch ehrenvoll genug, und wir fuͤhlten uns als Deutſche und als Frankfurter von dieſem Ehrentag doppelt und hoͤchlich erbaut.
Wir hatten in einem Hauſe Platz genom¬ men, wo der Aufzug, wenn er aus dem Dom zuruͤckkam, ebenfalls wieder an uns vorbey mußte. Des Gottesdienſtes, der Muſik, der Ceremonien und Feyerlichkeiten, der Anreden und Antworten, der Vortraͤge und Vorleſungen460 waren in Kirche, Chor und Conclave ſo viel, bis es zur Beſchwoͤrung der Wahlcapitulation kam, daß wir Zeit genug hatten, eine vortreff¬ liche Collation einzunehmen, und auf die Ge¬ ſundheit des alten und jungen Herrſchers manche Flaſche zu leeren. Das Geſpraͤch verlor ſich indeß, wie es bey ſolchen Gelegen¬ heiten zu gehen pflegt, in die vergangene Zeit, und es fehlte nicht an bejahrten Perſonen, welche jener vor der gegenwaͤrtigen den Vorzug gaben, wenigſtens in Abſicht auf ein gewiſſes menſchliches Intereſſe und einer leidenſchaft¬ lichen Theilnahme, welche dabey vorgewaltet. Bey Franz des erſten Kroͤnung war noch nicht alles ſo ausgemacht, wie gegenwaͤrtig; der Frie¬ de war noch nicht abgeſchloſſen, Frankreich, Chur-Brandenburg und Chur-Pfalz widerſetz¬ ten ſich der Wahl; die Truppen des kuͤnftigen Kaiſers ſtanden bey Heidelberg, wo er ſein Hauptquartier hatte, und faſt waͤren die von Aachen heraufkommenden Reichs-Inſignien von den Pfaͤlzern weggenommen worden. Indeſ¬461 ſen unterhandelte man doch, und nahm von beyden Seiten die Sache nicht aufs ſtrengſte. Maria Thereſia ſelbſt, obgleich in geſegneten Umſtaͤnden, kommt, um die endlich durchgeſetzte Kroͤnung ihres Gemahls in Perſon zu ſehen. Sie traf in Aſchaffenburg ein und beſtieg eine Jacht, um ſich nach Frankfurt zu begeben. Franz, von Heidelberg aus, denkt ſeiner Ge¬ mahlin zu begegnen, allein er kommt zu ſpaͤt, ſie iſt ſchon abgefahren. Ungekannt wirft er ſich in einen kleinen Nachen, eilt ihr nach, erreicht ihr Schiff, und das liebende Paar er¬ freut ſich dieſer uͤberraſchenden Zuſammenkunft. Das Maͤhrchen davon verbreitet ſich ſogleich, und alle Welt nimmt Theil an dieſem zaͤrt¬ lichen mit Kindern reich geſegneten Ehepaar, das ſeit ſeiner Verbindung ſo unzertrennlich geweſen, daß ſie ſchon einmal auf einer Rei¬ ſe von Wien nach Florenz zuſammen an der Venetianiſchen Graͤnze Quarantaͤne halten muͤſſen. Maria Thereſia wird in der Stadt mit Jubel bewillkommt, ſie betritt den Gaſt¬462 hof zum roͤmiſchen Kaiſer, indeſſen auf der Bornheimer Heide das große Zelt, zum Em¬ pfang ihres Gemahls, errichtet iſt. Dort fin¬ det ſich von den geiſtlichen Churfuͤrſten nur Mainz allein, von den Abgeordneten der welt¬ lichen nur Sachſen, Boͤhmen und Hannover. Der Einzug beginnt, und was ihm an Voll¬ ſtaͤndigkeit und Pracht abgehen mag, erſetzt reichlich die Gegenwart einer ſchoͤnen Frau. Sie ſteht auf dem Balcon des wohlgelegnen Hauſes und begruͤßt mit Vivatruf und Haͤn¬ deklatſchen ihren Gemahl; das Volk ſtimmt ein, zum groͤßten Enthuſiasmus aufgeregt. Da die Großen nun auch einmal Menſchen ſind, ſo denkt ſie der Buͤrger, wenn er ſie lieben will, als ſeines Gleichen, und das kann er am fuͤglichſten, wenn er ſie als lie¬ bende Gatten, als zaͤrtliche Aeltern, als an¬ haͤngliche Geſchwiſter, als treue Freunde ſich vorſtellen darf. Man hatte damals alles Gute gewuͤnſcht und prophezeyt und heute ſah man es erfuͤllt an dem erſtgebornen Sohne,463 dem Jedermann wegen ſeiner ſchoͤnen Juͤng¬ lingsgeſtalt geneigt war, und auf den die Welt, bey den hohen Eigenſchaften die er an¬ kuͤndigte, die groͤßten Hoffnungen ſetzte.
Wir hatten uns ganz in die Vergang¬ genheit und Zukunft verloren, als einige her¬ eintretende Freunde uns wieder in die Gegen¬ wart zuruͤckriefen. Sie waren von denen die den Werth einer Neuigkeit einſehen, und ſich deswegen beeilen ſie zuerſt zu verkuͤndigen. Sie wußten auch einen ſchoͤnen menſchlichen Zug dieſer hohen Perſonen zu erzaͤhlen, die wir ſo eben in dem groͤßten Prunk vorbeyziehen ge¬ ſehn. Es war naͤmlich verabredet worden, daß unterwegs, zwiſchen Heuſenſtamm und je¬ nem großen Gezelte, Kaiſer und Koͤnig den Landgrafen von Darmſtadt im Wald antref¬ fen ſollten. Dieſer alte, dem Grabe ſich naͤ¬ hernde Fuͤrſt wollte noch einmal den Herrn ſehen, dem er in fruͤherer Zeit ſich gewidmet. Beyde mochten ſich jenes Tages erinnern, als464 der Landgraf das Decret der Churfuͤrſten, das Franzen zum Kaiſer erwaͤhlte, nach Heidelberg uͤberbrachte, und die erhaltenen koſtbaren Ge¬ ſchenke mit Betheurung einer unverbruͤchlichen Anhaͤnglichkeit erwiederte. Dieſe hohen Per¬ ſonen ſtanden in einem Tannicht, und der Land¬ graf vor Alter ſchwach, hielt ſich an eine Fichte, um das Geſpraͤch noch laͤnger fortſe¬ tzen zu koͤnnen, das von beyden Theilen nicht ohne Ruͤhrung geſchah. Der Platz ward nachher auf eine unſchuldige Weiſe bezeichnet, und wir jungen Leute ſind einige Mal hinge¬ wandert.
So hatten wir mehrere Stunden mit Er¬ innerung des Alten, mit Erwaͤgung des Neuen hingebracht, als der Zug abermals, jedoch abgekuͤrzt und gedraͤngter, vor unſern Augen vorbeywogte; und wir konnten das Einzelne naͤher beobachten, bemerken und uns fuͤr die Zukunft einpraͤgen.
465Von dem Augenblick an war die Stadt in ununterbrochener Bewegung: denn bis Alle und Jede, denen es zukommt und von denen es gefordert wird, den hoͤchſten Haͤuptern ihre Aufwartung gemacht und ſich einzeln denſelben dargeſtellt hatten, war des Hin - und Wieder¬ ziehens kein Ende, und man konnte den Hof¬ ſtaat eines jeden der hohen Gegenwaͤrtigen ganz bequem im Einzelnen wiederholen.
Nun kamen auch die Reichs-Inſignien heran. Damit es aber auch hier nicht an hergebrachten Haͤndeln fehlen moͤge, ſo mu߬ ten ſie auf freyem Felde den halben Tag bis in die ſpaͤte Nacht zubringen, wegen einer Territorial - und Geleitsſtreitigkeit zwiſchen Chur-Mainz und der Stadt. Die letzte gab nach, die Mainziſchen geleiteten die In¬ ſignien bis an den Schlagbaum, und ſomit war die Sache fuͤr dießmal abgethan.
I. 30466In dieſen Tagen kam ich nicht zu mir ſelbſt. Zu Hauſe gab es zu ſchreiben und zu copiren; ſehen wollte und ſollte man alles, und ſo ging der Maͤrz zu Ende, deſſen zweyte Haͤlfte fuͤr uns ſo feſtreich geweſen war. Von dem was zuletzt vorgegangen und was am Kroͤnungstag zu erwarten ſey, hatte ich Gretchen eine treuliche und ausfuͤhrliche Be¬ lehrung verſprochen. Der große Tag nahte heran; ich hatte mehr im Sinne, wie ich es ihr ſagen wollte, als was eigentlich zu ſagen ſey; ich verarbeitete alles was mir unter die Augen und unter die Canzleyfeder kam, nur geſchwind zu dieſem naͤchſten und einzigen Ge¬ brauch. Endlich erreichte ich noch eines Abends ziemlich ſpaͤt ihre Wohnung, und that mir ſchon im voraus nicht wenig darauf zu Gute, wie mein dießmaliger Vortrag noch viel beſ¬ ſer als der erſte unvorbereitete gelingen ſollte. Allein gar oft bringt uns ſelbſt, und andern durch uns, ein augenblicklicher Anlaß mehr Freude als der entſchiedenſte Vorſatz nicht ge¬467 waͤhren kann. Zwar fand ich ziemlich dieſelbe Geſellſchaft, allein es waren einige Unbekann¬ te darunter. Sie ſetzten ſich hin zu ſpielen; nur Gretchen und der juͤngere Vetter hielten ſich zu mir und der Schiefertafel. Das liebe Maͤdchen aͤußerte gar anmuthig ihr Behagen, daß ſie, als eine Fremde, am Wahltage fuͤr eine Buͤrgerinn gegolten habe, und ihr dieſes einzige Schauſpiel zu Theil geworden ſey. Sie dankte mir aufs verbindlichſte, daß ich fuͤr ſie zu ſorgen gewußt, und ihr zeither durch Pylades allerley Einlaͤſſe mittels Billette, An¬ weiſungen, Freunde und Vorſprache zu ver¬ ſchaffen die Aufmerkſamkeit gehabt.
Von den Reichs-Kleinodien hoͤrte ſie gern erzaͤhlen. Ich verſprach ihr, daß wir dieſe wo moͤglich zuſammen ſehen wollten. Sie machte einige ſcherzhafte Anmerkungen, als ſie erfuhr, daß man Gewaͤnder und Krone dem jungen Koͤ¬ nig anprobirt habe. Ich wußte, wo ſie den30 *468Feyerlichkeiten des Kroͤnungstages zuſehen wuͤrde, und machte ſie aufmerkſam auf alles was bevorſtand, und was beſonders von ihrem Platze genau beobachtet werden konnte.
So vergaßen wir an die Zeit zu denken; es war ſchon uͤber Mitternacht geworden, und ich fand, daß ich ungluͤcklicherweiſe den Haus¬ ſchluͤſſel nicht bey mir hatte. Ohne das groͤßte Aufſehen zu erregen konnte ich nicht ins Haus. Ich theilte ihr meine Verlegenheit mit. „ Am Ende, ſagte ſie, iſt es das Beſte, die Ge¬ ſellſchaft bleibt beyſammen. “ Die Vettern und jene Fremden hatten ſchon den Gedanken ge¬ habt, weil man nicht wußte, wo man dieſe fuͤr die Nacht unterbringen ſollte. Die Sache war bald entſchieden; Gretchen ging um Caf¬ fee zu kochen, nachdem ſie, weil die Lichter auszubrennen drohten, eine große meſſingene Familienlampe mit Docht und Oel verſehen und angezuͤndet hereingebracht hatte.
469Der Caffee diente fuͤr einige Stunden zur Ermunterung; nach und nach aber ermattete das Spiel, das Geſpraͤch ging aus; die Mutter ſchlief im großen Seſſel; die Fremden von der Reiſe muͤde, nickten da und dort, Pylades und ſeine Schoͤne ſaßen in einer Ecke. Sie hatte ihren Kopf auf ſeine Schulter ge¬ legt und ſchlief; auch er wachte nicht lange. Der juͤngere Vetter, gegen uns uͤber am Schie¬ fertiſche ſitzend, hatte ſeine Arme vor ſich uͤbereinandergeſchlagen und ſchlief mit auf¬ liegendem Geſichte. Ich ſaß in der Fenſter¬ ecke hinter dem Tiſche und Gretchen neben mir. Wir unterhielten uns leiſe; aber endlich uͤbermannte auch ſie der Schlaf, ſie lehnte ihr Koͤpfchen an meine Schulter und war gleich eingeſchlummert. So ſaß ich nun al¬ lein, wachend, in der wunderlichſten Lage, in der auch mich der freundliche Bruder des Todes zu beruhigen wußte. Ich ſchlief ein, und als ich wieder erwachte, war es ſchon heller Tag. Gretchen ſtand vor dem Spiegel470 und ruͤckte ihr Haͤubchen zurechte; ſie war liebenswuͤrdiger als je, und druͤckte mir als ich ſchied gar herzlich die Haͤnde. Ich ſchlich durch einen Umweg nach unſerm Hauſe: denn an der Seite, nach dem kleinen Hirſchgraben zu, hatte ſich mein Vater in der Mauer ein kleines Guckfenſter, nicht ohne Widerſpruch des Nachbarn, angelegt. Dieſe Seite vermie¬ den wir, wenn wir nach Hauſe kommend von ihm nicht bemerkt ſeyn wollten. Meine Mut¬ ter, deren Vermittelung uns immer zu Gute kam, hatte meine Abweſenheit des Morgens beym Thee durch ein fruͤhzeitiges Ausgehen meiner zu beſchoͤnigen geſucht, und ich empfand alſo von dieſer unſchuldigen Nacht keine un¬ angenehmen Folgen.
Ueberhaupt und im Ganzen genommen machte dieſe unendlich mannigfaltige Welt, die mich umgab, auf mich nur ſehr einfachen Eindruck. Ich hatte kein Intereſſe als das Aeußere der Gegenſtaͤnde genau zu bemerken,471 kein Geſchaͤft als das mir mein Vater und Herr von Koͤnigsthal auftrugen, wodurch ich freylich den innern Gang der Dinge gewahr ward. Ich hatte keine Neigung als zu Gretchen, und keine andre Abſicht als nur alles recht gut zu ſehen und zu faſſen, um es mit ihr wiederholen und ihr erklaͤren zu koͤnnen. Ja ich beſchrieb oft, indem ein ſol¬ cher Zug vorbey ging, dieſen Zug halb laut vor mir ſelbſt, um mich alles Einzelnen zu verſichern, und dieſer Aufmerkſamkeit und Genauigkeit wegen von meiner Schoͤnen gelobt zu werden; und nur als eine Zugabe betrachtete ich den Beyfall und die Aner¬ kennung der Anderen.
Zwar ward ich manchen hohen und vor¬ nehmen Perſonen vorgeſtellt; aber theils hatte Niemand Zeit ſich um andere zu bekuͤm¬ mern, und theils wiſſen auch Aeltere nicht gleich, wie ſie ſich mit einem jungen Menſchen unterhalten und ihn pruͤfen ſollen. Ich von472 meiner Seite war auch nicht ſonderlich geſchickt mich den Leuten bequem darzuſtellen. Gewoͤhn¬ lich erwarb ich ihre Gunſt, aber nicht ihren Beyfall. Was mich beſchaͤftigte, war mir vollkommen gegenwaͤrtig; aber ich fragte nicht, ob es auch andern gemaͤß ſeyn koͤnne. Ich war meiſt zu lebhaft oder zu ſtill, und ſchien entweder zudringlich oder ſtoͤckig, je nachdem die Menſchen mich anzogen oder abſtießen; und ſo wurde ich zwar fuͤr hoff¬ nungsvoll gehalten, aber dabey fuͤr wunder¬ lich erklaͤrt.
Der Kroͤnungstag brach endlich an, den 3ten April 1764; das Wetter war guͤnſtig und alle Menſchen in Bewegung. Man hatte mir nebſt mehrern Verwandten und Freunden, in dem Roͤmer ſelbſt, in einer der obern Etagen, einen guten Platz angewieſen, wo wir das Ganze vollkommen uͤberſehen konn¬ ten. Mit dem Fruͤhſten begaben wir uns an Ort und Stelle, und beſchauten nunmehr473 von oben, wie in der Vogelperſpective, die Anſtalten die wir Tags vorher in naͤheren Augenſchein genommen hatten. Da war der neuerrichtete Springbrunnen mit zwey großen Kufen rechts und links, in welche der Dop¬ peladler auf dem Staͤnder, weißen Wein huͤ¬ ben und rothen Wein druͤben aus ſeinen zwey Schnaͤbeln ausgießen ſollte. Aufgeſchuͤttet zu einem Haufen lag dort der Haber, hier ſtand die große Bretterhuͤtte, in der man ſchon einige Tage den ganzen fetten Ochſen an einem ungeheuren Spieße bey Kohlenfeuer braten und ſchmoren ſah. Alle Zugaͤnge, die vom Roͤmer aus dahin, und von andern Straßen nach dem Roͤmer fuͤhren, waren zu beyden Seiten durch Schranken und Wachen geſichert. Der große Platz fuͤllte ſich nach und nach, und das Wogen und Draͤngen ward immer ſtaͤrker und bewegter, weil die Menge wo moͤglich immer nach der Gegend hinſtrebte, wo ein neuer Auftritt erſchien und etwas Beſonderes angekuͤndigt wurde.
474Bey alle dem herrſchte eine ziemliche Stille, und als die Sturmglocke gelaͤutet wurde, ſchien das ganze Volk von Schauer und Erſtaunen ergriffen. Was nun zuerſt die Aufmerkſamkeit aller die von oben herab den Platz uͤberſehen konnten, erregte, war der Zug, in welchem die Herren von Aachen und Nuͤrnberg die Reichs-Kleinodien nach dem Dome brachten. Dieſe hatten als Schutzhei¬ ligthuͤmer den erſten Platz im Wagen einge¬ nommen, und die Deputirten ſaßen vor ihnen in anſtaͤndiger Verehrung auf dem Ruͤckſitz. Nunmehr begeben ſich die drey Churfuͤrſten in den Dom. Nach Ueberreichung der Inſig¬ nien an Chur-Mainz werden Krone und Schwerd ſogleich nach dem kaiſerlichen Quar¬ tier gebracht. Die weiteren Anſtalten und mancherley Ceremoniel beſchaͤftigen mittler¬ weile die Hauptperſonen ſo wie die Zuſchauer in der Kirche, wie wir andern Unterrichteten uns wohl denken konnten.
475Vor unſern Augen fuhren indeſſen die Geſandten auf den Roͤmer, aus welchem der Baldachin von Unteroffizieren in das kaiſerliche Quartier getragen wird. Sogleich beſteigt der Erbmarſchall Graf von Pappen¬ heim ſein Pferd; ein ſehr ſchoͤner ſchlankge¬ bildeter Herr, den die ſpaniſche Tracht, das reiche Wams, der goldne Mantel, der hohe Federhut und die geſtraͤhlten fliegenden Haare ſehr wohl kleideten. Er ſetzt ſich in Bewe¬ gung, und unter dem Gelaͤute aller Glocken folgen ihm zu Pferde die Geſandten nach dem kaiſerlichen Quartier in noch groͤßerer Pracht als am Wahltage. Dort haͤtte man auch ſeyn moͤgen, wie man ſich an dieſem Tage durchaus zu vervielfaͤltigen wuͤnſchte. Wir erzaͤhlten einander indeſſen was dort vorgehe. Nun zieht der Kaiſer ſeinen Hausornat an, ſagten wir, eine neue Bekleidung nach dem Muſter der alten caro¬ lingiſchen verfertigt. Die Erbaͤmter erhalten die Reichs-Inſignien und ſetzen ſich damit476 zu Pferde. Der Kaiſer im Ornat, der roͤmiſche Koͤnig im ſpaniſchen Habit, beſtei¬ gen gleichfalls ihre Roſſe, und indem dieſes geſchieht, hat ſie uns der vorausgeſchrittene unendliche Zug bereits angemeldet.
Das Auge war ſchon ermuͤdet durch die Menge der reichgekleideten Dienerſchaft und der uͤbrigen Behoͤrden, durch den ſtattlich einher wandelnden Adel; und als nunmehr die Wahlbotſchafter, die Erbaͤmter und zuletzt unter dem reichgeſtickten, von zwoͤlf Schoͤffen und Rathsherrn getragenen Baldachin, der Kaiſer in romantiſcher Kleidung, zur Linken, etwas hinter ihm, ſein Sohn in ſpaniſcher Tracht, langſam auf praͤchtig geſchmuͤckten Pferden einherſchwebten, war das Auge nicht mehr ſich ſelbſt genug. Man haͤtte gewuͤnſcht durch eine Zauberformel die Erſchei¬ nung nur einen Augenblick zu feſſeln; aber die Herrlichkeit zog unaufhaltſam vorbey,477 und den kaum verlaſſenen Raum erfuͤllte ſogleich wieder das hereinwogende Volk.
Nun aber entſtand ein neues Gedraͤnge: denn es mußte ein anderer Zugang, von dem Markte her, nach der Roͤmerthuͤre eroͤffnet und ein Bretterweg aufgebruͤckt werden, wel¬ chen der aus dem Dom zuruͤckkehrende Zug beſchreiten ſollte.
Was in dem Dome vorgegangen, die unendlichen Ceremonien, welche die Salbung, die Kroͤnung, den Ritterſchlag vorbereiten und begleiten, alles dieſes ließen wir uns in der Folge gar gern von denen erzaͤhlen, die manches andere aufgeopfert hatten, um in der Kirche gegenwaͤrtig zu ſeyn.
Wir andern verzehrten mittlerweile auf unſern Plaͤtzen eine frugale Mahlzeit: denn wir mußten an dem feſtlichſten Tage den wir erlebten, mit kalter Kuͤche vorlieb nehmen.
478Dagegen aber war der beſte und aͤlteſte Wein aus allen Familienkellern herangebracht worden, ſo daß wir von dieſer Seite wenigſtens dieß alterthuͤmliche Feſt alterthuͤmlich feyerten.
Auf dem Platze war jetzt das Sehens¬ wuͤrdigſte die fertig gewordene und mit roth - gelb - und weißem Tuch uͤberlegte Bruͤcke, und wir ſollten den Kaiſer, den wir zuerſt im Wagen, dann zu Pferde ſitzend angeſtaunt, nun auch zu Fuße wandelnd bewundern; und ſonderbar genug, auf das letzte freuten wir uns am meiſten; denn uns daͤuchte dieſe Weiſe ſich darzuſtellen ſo wie die natuͤrlichſte, ſo auch die wuͤrdigſte.
Aeltere Perſonen, welche der Kroͤnung Franz des erſten beygewohnt, erzaͤhlten: Maria Thereſia, uͤber die Maßen ſchoͤn, habe jener Feyerlichkeit an einem Balconfenſter des Hauſes Frauenſtein, gleich neben dem Roͤmer, zuge¬ ſehen. Als nun ihr Gemahl in der ſeltſamen479 Verkleidung aus dem Dome zuruͤckgekommen, und ſich ihr ſo zu ſagen als ein Geſpenſt Carls des großen dargeſtellt, habe er wie zum Scherz beyde Haͤnde erhoben und ihr den Reichsapfel, den Scepter und die wun¬ derſamen Handſchuh hingewieſen, woruͤber ſie in ein unendliches Lachen ausgebrochen; welches dem ganzen zuſchauenden Volke zur groͤßten Freude und Erbauung gedient, indem es darin das gute und natuͤrliche Ehgatten - Verhaͤltniß des allerhoͤchſten Paares der Chriſtenheit mit Augen zu ſehen gewuͤrdiget worden. Als aber die Kaiſerinn, ihren Gemahl zu begruͤßen, das Schnupftuch geſchwungen und ihm ſelbſt ein lautes Vivat zugerufen, ſey der Enthuſiasmus und der Jubel des Volks aufs hoͤchſte geſtiegen, ſo daß das Freudengeſchrey gar kein Ende finden koͤnnen.
Nun verkuͤndigte der Glockenſchall und nun die Vorderſten des langen Zuges, welche480 uͤber die bunte Bruͤcke ganz ſachte einherſchrit¬ ten, daß alles gethan ſey. Die Aufmerkſam¬ keit war groͤßer denn je, der Zug deutlicher als vorher, beſonders fuͤr uns, da er jetzt gerade nach uns zu ging. Wir ſahen ihn ſo wie den ganzen volkserfuͤllten Platz beynah im Grundriß. Nur zu ſehr draͤngte ſich am Ende die Pracht: denn die Geſandten, die Erbaͤm¬ ter, Kaiſer und Koͤnig unter dem Baldachin, die drey geiſtlichen Churfuͤrſten die ſich anſchloſ¬ ſen, die ſchwarz gekleideten Schoͤffen und Rathsherren, der goldgeſtickte Himmel, alles ſchien nur eine Maſſe zu ſeyn, die nur von Einem Willen bewegt, praͤchtig harmoniſch, und ſo eben unter dem Gelaͤute der Glocken aus dem Tempel tretend, als ein Heiliges uns entgegenſtrahlte.
Eine politiſch religioſe Feyerlichkeit hat einen unendlichen Reiz. Wir ſehen die irdi¬ ſche Majeſtaͤt vor Augen, umgeben von allen Symbolen ihrer Macht; aber indem ſie ſich481 vor der himmliſchen beugt, bringt ſie uns die Gemeinſchaft beyder vor die Sinne. Denn auch der Einzelne vermag ſeine Ver¬ wandtſchaft mit der Gottheit nur dadurch zu bethaͤtigen, daß er ſich unterwirft und anbetet.
Der von dem Markt her ertoͤnende Jubel verbreitete ſich nun auch uͤber den großen Platz, und ein ungeſtuͤmes Vivat erſcholl aus tauſend und aber tauſend Kehlen, und gewiß auch aus den Herzen. Denn dieſes große Feſt ſollte ja das Pfand eines dauerhaften Friedens werden, der auch wirklich lange Jahre hindurch Deutſchland begluͤckte.
Mehrere Tage vorher war durch oͤffent¬ lichen Ausruf bekannt gemacht, daß weder die Bruͤcke, noch der Adler uͤber dem Brun¬ nen, Preis gegeben, und alſo nicht vom Volke wie ſonſt angelaſtet werden ſolle. Es geſchah dieß, um manches bey, ſolchem Anſtuͤr¬I. 31482men unvermeidliche Ungluͤck zu verhuͤten. Allein um doch einigermaßen dem Genius des Poͤbels zu opfern, gingen eigens beſtellte Perſonen hinter dem Zuge her, loͤſ'ten das Tuch von der Bruͤcke, wickelten es banen¬ weiſe zuſammen und warfen es in die Luft. Hiedurch entſtand nun zwar kein Ungluͤck, aber ein laͤcherliches Unheil: denn das Tuch entrollte ſich in der Luft und bedeckte, wie es niederfiel, eine groͤßere oder geringere Anzahl Menſchen. Diejenigen nun welche die Enden faßten und ſolche an ſich zogen, riſſen alle die Mittleren zu Boden, umhuͤll¬ ten und aͤngſtigten ſie ſo lange, bis ſie ſich durchgeriſſen oder durchgeſchnitten, und jeder nach ſeiner Weiſe einen Zipfel dieſes, durch die Fußtritte der Majeſtaͤten geheiligten Gewe¬ bes davongetragen hatte.
Dieſer wilden Beluſtigung ſah ich nicht lange zu, ſondern eilte von meinem hohen Standorte durch allerley Treppchen und Gaͤnge483 hinunter an die große Roͤmerſtiege, wo die aus der Ferne angeſtaunte ſo vornehme als herrliche Maſſe heraufwallen ſollte. Das Gedraͤng war nicht groß, weil die Zugaͤnge des Rathhauſes wohl beſetzt waren, und ich kam gluͤcklich unmittelbar oben an das eiſerne Gelaͤnder. Nun ſtiegen die Hauptperſonen an mir voruͤber, indem das Gefolge in den untern Gewoͤlbgaͤngen zuruͤckblieb, und ich konnte ſie auf der dreymal gebrochnen Treppe von allen Seiten und zuletzt ganz in der Naͤ¬ he betrachten.
Endlich kamen auch die beyden Maje¬ ſtaͤten herauf. Vater und Sohn waren wie Menaͤchmen uͤberein gekleidet. Des Kaiſers Hausornat von purpurfarbner Seide, mit Perlen und Steinen reich geziert, ſo wie Kro¬ ne, Scepter und Reichsapfel, fielen wohl in die Augen: denn alles war neu daran, und die Nachahmung des Alterthums geſchmackvoll. So bewegte er ſich auch in ſeinem Anzuge31 *484ganz bequem, und ſein treuherzig wuͤrdiges Geſicht gab zugleich den Kaiſer und den Va¬ ter zu erkennen. Der junge Koͤnig hingegen ſchleppte ſich in den ungeheuren Gewandſtuͤ¬ cken mit den Kleinodien Carls des großen, wie in einer Verkleidung einher, ſo daß er ſelbſt, von Zeit zu Zeit ſeinen Vater anſehend, ſich des Laͤchelns nicht enthalten konnte. Die Krone, welche man ſehr hatte fuͤttern muͤſſen, ſtand wie ein uͤbergreifendes Dach vom Kopf ab. Die Dalmatica, die Stola, ſo gut ſie auch angepaßt und eingenaͤht worden, gewaͤhrte doch keinswegs ein vortheilhaftes Ausſehen. Scep¬ ter und Reichsapfel ſetzten in Verwunderung; aber man konnte ſich nicht laͤugnen, daß man lieber eine maͤchtige, dem Anzuge gewachſene Geſtalt, um der guͤnſtigern Wirkung willen, damit bekleidet und ausgeſchmuͤckt geſehen haͤtte.
Kaum waren die Pforten des großen Saales hinter dieſen Geſtalten wieder geſchloſ¬485 ſen, ſo eilte ich auf meinen vorigen Platz, der von andern bereits eingenommen nur mit einiger Noth mir wieder zu Theil wurde.
Es war eben die rechte Zeit, daß ich von meinem Fenſter wieder Beſitz nahm: denn das Merkwuͤrdigſte was oͤffentlich zu erblicken war, ſollte eben vorgehen. Alles Volk hatte ſich gegen den Roͤmer zu gewendet, und ein abermaliges Vivatſchreyen gab uns zu erken¬ nen, daß Kaiſer und Koͤnig an dem Balcon¬ fenſter des großen Saales in ihrem Ornate ſich dem Volke zeigten. Aber ſie ſollten nicht allein zum Schauſpiel dienen, ſondern vor ih¬ ren Augen ſollte ein ſeltſames Schauſpiel vor¬ gehen. Vor allen ſchwang ſich nun der ſchoͤne ſchlanke Erbmarſchall auf ſein Roß; er hatte das Schwerd abgelegt, in ſeiner Rechten hielt er ein ſilbernes gehenkeltes Gemaͤß, und ein Streichblech in der Linken. So ritt er in den Schranken auf den großen Haferhaufen zu, ſprengte hinein, ſchoͤpfte das Gefaͤß uͤber¬486 voll, ſtrich es ab und trug es mit großem Anſtande wieder zuruͤck. Der kaiſerliche Mar¬ ſtall war nunmehr verſorgt. Der Erbcaͤm¬ merer ritt ſodann gleichfalls auf jene Gegend zu und brachte ein Handbecken nebſt Gießfaß und Handquele zuruͤck. Unterhaltender aber fuͤr die Zuſchauer war der Erbtruchſeß, der ein Stuͤck von dem gebratnen Ochſen zu holen kam. Auch er ritt mit einer ſilbernen Schuͤſ¬ ſel durch die Schranken bis zu der großen Bretterkuͤche, und kam bald mit verdecktem Gericht wieder hervor, um ſeinen Weg nach dem Roͤmer zu nehmen. Die Reihe traf nun den Erbſchenken, der zu dem Springbrunnen ritt und Wein holte. So war nun auch die kaiſerliche Tafel beſtellt, und aller Augen war¬ teten auf den Erbſchatzmeiſter, der das Geld auswerfen ſollte. Auch er beſtieg ein ſchoͤnes Roß, dem zu beyden Seiten des Sattels an¬ ſtatt der Piſtolenhalftern ein paar praͤchtige, mit dem churpfaͤlziſchen Wappen geſtickte Beutel befeſtigt hingen. Kaum hatte er ſich487 in Bewegung geſetzt, als er in dieſe Taſchen griff und rechts und links Gold - und Silber¬ muͤnzen freygebig ausſtreute, welche jedes¬ mal in der Luft als ein metallner Regen gar luſtig glaͤnzten. Tauſend Haͤnde zappel¬ ten augenblicklich in der Hoͤhe, um die Gaben aufzufangen; kaum aber waren die Muͤnzen niedergefallen, ſo wuͤhlte die Maſſe in ſich ſelbſt gegen den Boden und rang gewaltig um die Stuͤcke, welche zur Erde mochten gekommen ſeyn. Da nun dieſe Bewegung von beyden Seiten ſich immer wiederholte, wie der Geber vorwaͤrts ritt, ſo war es fuͤr die Zuſchauer ein ſehr beluſtigender Anblick. Zum Schluſ¬ ſe ging es am allerlebhafteſten her, als er die Beutel ſelbſt auswarf, und ein Jeder noch dieſen hoͤchſten Preis zu erhaſchen trachtete.
Die Majeſtaͤten hatten ſich vom Balcon zuruͤckgezogen, und nun ſollte dem Poͤbel aber¬ mals ein Opfer gebracht werden, der in ſol¬ chen Faͤllen lieber die Gaben rauben als ſie488 gelaſſen und dankbar empfangen will. In rohern und derberen Zeiten herrſchte der Ge¬ brauch, den Hafer, gleich nachdem der Erbmar¬ ſchall das Theil weggenommen, den Spring¬ brunnen, nachdem der Erbſchenk, die Kuͤche, nachdem der Erbtruchſeß ſein Amt verrichtet, auf der Stelle Preis zu geben. Dießmal aber hielt man, um alles Ungluͤck zu verhuͤ¬ ten, ſo viel es ſich thun ließ, Ordnung und Maß. Doch fielen die alten ſchadenfrohen Spaͤße wieder vor, daß wenn einer einen Sack Hafer aufgepackt hatte, der andre ihm ein Loch hineinſchnilt, und was dergleichen Artigkeiten mehr waren. Um den gebratnen Ochſen aber wurde dießmal wie ſonſt ein ern¬ ſterer Kampf gefuͤhrt. Man konnte ſich den¬ ſelben nur in Maſſe ſtreitig machen. Zwey Innungen, die Metzger und Weinſchroͤter, hatten ſich hergebrachtermaßen wieder ſo po¬ ſtirt, daß einer von beyden dieſer ungeheure Braten zu Theil werden mußte. Die Metz¬ ger glaubten das groͤßte Recht an einen Och¬489 ſen zu haben, den ſie unzerſtuͤckt in die Kuͤche geliefert; die Weinſchroͤter dagegen machten Anſpruch, weil die Kuͤche in der Naͤhe ih¬ res zunftmaͤßigen Aufenthalts erbaut war, und weil ſie das letztemal obgeſiegt hatten; wie denn aus dem vergitterten Giebelfenſter ihres Zunft - und Verſammlungshauſes die Hoͤrner jenes erbeuteten Stiers als Sieges¬ zeichen hervorſtarrend zu ſehen waren. Beyde zahlreichen Innungen hatten ſehr kraͤftige und tuͤchtige Mitglieder; wer aber dießmal den Sieg davon getragen, iſt mir nicht mehr er¬ innerlich.
Wie nun aber eine Feyerlichkeit dieſer Art mit etwas Gefaͤhrlichem und Schreck¬ haften ſchließen ſoll, ſo war es wirklich ein fuͤrchterlicher Augenblick, als die bretterne Kuͤche ſelbſt Preis gemacht wurde. Das Dach derſelben wimmelte ſogleich von Men¬ ſchen, ohne daß man wußte wie ſie hinauf¬ gekommen; die Bretter wurden losgeriſſen490 und heruntergeſtuͤrzt, ſo daß man, beſonders in der Ferne, denken mußte, ein jedes werde ein paar der Zudringenden todtſchlagen. In einem Nu war die Huͤtte abgedeckt, und einzelne Menſchen hingen an Sparren und Balken, um auch dieſe aus den Fugen zu reißen; ja manche ſchwebten noch oben herum, als ſchon unten die Pfoſten abgeſaͤgt waren, das Gerippe hin - und wiederſchwankte und jaͤhen Einſturz drohte. Zarte Perſonen wand¬ ten die Augen hinweg, und Jedermann er¬ wartete ſich ein großes Ungluͤck; allein man hoͤrte nicht einmal von irgend einer Beſchaͤ¬ digung, und alles war, obgleich heftig und gewaltſam, doch gluͤcklich voruͤbergegangen.
Jedermann wußte nun, daß Kaiſer und Koͤnig aus dem Cabinett, wohin ſie vom Balcon abgetreten, ſich wieder hervorbegeben und in dem großen Roͤmerſaale ſpeiſen wuͤr¬ den. Man hatte die Anſtalten dazu Tages vorher bewundern koͤnnen, und mein ſehnlich¬491 ſter Wunſch war, heute wo moͤglich nur einen Blick hinein zu thun. Ich begab mich daher auf gewohnten Pfaden wieder an die große Treppe, welcher die Thuͤre des Saals gerade gegenuͤber ſteht. Hier ſtaunte ich nun die vornehmen Perſonen an, welche ſich heute als Diener des Reichsoberhauptes bekannten. Vier und vierzig Grafen, die Speiſen aus der Kuͤche herantragend, zogen an mir vor¬ bey, alle praͤchtig gekleidet, ſo daß der Con¬ traſt ihres Anſtandes mit der Handlung fuͤr einen Knaben wohl ſinnverwirrend ſeyn konnte. Das Gedraͤnge war nicht groß, doch wegen des kleinen Raums merklich genug. Die Saalthuͤre war bewacht, indeß gingen die Befugten haͤufig aus und ein. Ich erblickte einen Pfaͤlziſchen Hausoffizianten, den ich anredete, ob er mich nicht mit hinein bringen koͤnne. Er beſann ſich nicht lange, gab mir eins der ſilbernen Gefaͤße, die er eben trug, welches er um ſo eher konnte, als ich ſauber gekleidet war; und ſo gelangte ich denn in492 das Heiligthum. Das Pfaͤlziſche Buͤffet ſtand links, unmittelbar an der Thuͤre, und mit einigen Schritten befand ich mich auf der Erhoͤhung deſſelben hinter den Schranken.
Am andern Ende des Saals, unmittelbar an den Fenſtern, ſaßen auf Thronſtufen erhoͤht, unter Baldachinen, Kaiſer und Koͤnig in ihren Ornaten; Krone und Zepter aber lagen auf goldnen Kiſſen ruͤckwaͤrts in einiger Entfernung. Die drey geiſtlichen Churfuͤrſten hatten, ihre Buͤffette hinter ſich, auf einzel¬ nen Eſtraden Platz genommen: Chur-Mainz den Majeſtaͤten gegenuͤber, Chur-Trier zur Rechten und Chur-Coͤln zur Linken. Dieſer obere Theil des Saals war wuͤrdig und erfreulich anzuſehen, und erregte die Bemer¬ kung, daß die Geiſtlichkeit ſich ſo lange als moͤglich mit dem Herrſcher halten mag. Dage¬ gen ließen die zwar praͤchtig aufgeputzten aber herrenleeren Buͤffette und Tiſche der ſaͤmt¬ lichen weltlichen Churfuͤrſten an das Misver¬493 haͤltniß denken, welches zwiſchen ihnen und dem Reichsoberhaupt durch Jahrhunderte allmaͤhlich entſtanden war. Die Geſandten derſelben hatten ſich ſchon entfernt, um in einem Seitenzimmer zu ſpeiſen; und wenn dadurch der groͤßte Theil des Saales ein geſpenſterhaftes Anſehn bekam, daß ſo viele unſichtbare Gaͤſte auf das praͤchtigſte bedient wurden; ſo war eine große unbeſetzte Tafel in der Mitte noch betruͤbter anzuſehen: denn hier ſtanden auch ſo viele Couverte leer, weil alle die, welche allenfalls ein Recht hatten ſich daran zu ſetzen, Anſtands halber, um an dem groͤßten Ehrentage ihrer Ehre nichts zu vergeben, ausblieben, wenn ſie ſich auch dermalen in der Stadt befanden.
Viele Betrachtungen anzuſtellen erlaubten mir weder meine Jahre noch das Gedraͤng der Gegenwart. Ich bemuͤhte mich alles moͤglichſt ins Auge zu faſſen, und wie der Nachtiſch aufgetragen wurde, da die Geſand¬494 ten, um ihren Hof zu machen, wieder herein¬ traten, ſuchte ich das Freye, und wußte mich bey guten Freunden in der Nachbarſchaft nach dem heutigen Halbfaſten wieder zu erqui¬ cken und zu den Illuminationen des Abends vorzubereiten.
Dieſen glaͤnzenden Abend gedachte ich auf eine gemuͤthliche Weiſe zu feyern: denn ich hatte mit Gretchen, mit Pylades und der Seinigen abgeredet, daß wir uns zur naͤchti¬ gen Stunde irgendwo treffen wollten. Schon leuchtete die Stadt an allen Ecken und Enden, als ich meine Geliebten antraf. Ich reichte Gretchen den Arm, wir zogen von einem Quartier zum andern, und befanden uns zuſammen ſehr gluͤcklich. Die Vettern waren anfangs auch bey der Geſellſchaft, verloren ſich aber nachher unter der Maſſe des Volks. Vor den Haͤuſern einiger Geſandten, wo man praͤchtige Illuminationen angebracht hatte, (die churpfaͤlziſche zeichnete ſich vorzuͤglich aus,)495 war es ſo hell wie es am Tage nur ſeyn kann. Um nicht erkannt zu werden, hatte ich mich einigermaßen vermummt, und Gret¬ chen fand es nicht uͤbel. Wir bewunderten die verſchiedenen glaͤnzenden Darſtellungen und die feenmaͤßigen Flammengebaͤude, womit immer ein Geſandter den andern zu uͤberbie¬ ten gedacht hatte. Die Anſtalt des Fuͤrſten Eſterhazy jedoch uͤbertraf alle die uͤbrigen. Unſere kleine Geſellſchaft war von der Erfin¬ dung und Ausfuͤhrung entzuͤckt, und wir wollten eben das Einzelne recht genießen, als uns die Vettern wieder begegneten und von der herrlichen Erleuchtung ſprachen, womit der Brandenburgiſche Geſandte ſein Quartier ausgeſchmuͤckt habe. Wir ließen uns nicht verdrießen, den weiten Weg von dem Ro߬ markte bis zum Saalhof zu machen, fanden aber, daß man uns auf eine frevle Weiſe zum Beſten gehabt hatte.
496Der Saalhof iſt nach dem Main zu ein regelmaͤßiges und anſehnliches Gebaͤude, deſ¬ ſen nach der Stadt gerichteter Theil aber uralt, unregelmaͤßig und unſcheinbar. Kleine, weder in Form noch Groͤße uͤbereinſtimmende, noch auf eine Linie, noch in gleicher Entfer¬ nung geſetzte Fenſter, unſymmetriſch angebrachte Thore und Thuͤren, ein meiſt in Kramlaͤden verwandeltes Untergeſchoß bilden eine verwor¬ rene Außenſeite, die von Niemand jemals betrachtet wird. Hier war man nun der zufaͤlligen, unregelmaͤßigen, unzuſammenhaͤn¬ genden Architektur gefolgt, und hatte jedes Fenſter, jede Thuͤre, jede Oeffnung fuͤr ſich mit Lampen umgeben, wie man es allenfalls bey einem wohlgebauten Hauſe thun kann, wodurch aber hier die ſchlechteſte und misge¬ bildetſte aller Façaden ganz unglaublich in das hellſte Licht geſetzt wurde. Hatte man ſich nun hieran, wie etwa an den Spaͤßen des Pagliaſſo ergetzt, obgleich nicht ohne Bedenklichkeiten, weil Jedermann etwas Vor¬497 ſaͤtzliches darin erkennen mußte; wie man denn ſchon vorher uͤber das ſonſtige aͤußre Benehmen des uͤbrigens ſehr geſchaͤtzten Plo¬ tho gloſſirt, und da man ihm nun einmal gewogen war, auch den Schalk in ihm bewun¬ dert hatte, der ſich uͤber alles Ceremoniell wie ſein Koͤnig hinauszuſetzen pflege: ſo ging man doch lieber in das Eſterhazyſche Feenreich wieder zuruͤck.
Dieſer hohe Bothſchafter hatte, dieſen Tag zu ehren, ſein unguͤnſtig gelegenes Quar¬ tier ganz uͤbergangen, und dafuͤr die große Lindenesplanade am Roßmarkt, vorn mit einem farbig erleuchteten Portal, im Hinter¬ grund aber mit einem wohl noch praͤchtigern Proſpecte verzieren laſſen. Die ganze Ein¬ faſſung bezeichneten Lampen. Zwiſchen den Baͤumen ſtanden Licht-Pyramiden und Kugeln auf durchſcheinenden Piedeſtalen; von einem Baum zum andern zogen ſich leuchtende Guirlanden, an welchen Haͤngeleuchter ſchweb¬l. 32498ten. An mehreren Orten vertheilte man Brod und Wuͤrſte unter das Volk und ließ es an Wein nicht fehlen.
Hier gingen wir nun zu Vieren aneinan¬ dergeſchloſſen hoͤchſt behaglich auf und ab, und ich an Gretchens Seite daͤuchte mir wirklich in jenen gluͤcklichen Gefilden Elyſiums zu wandeln, wo man die cryſtallnen Gefaͤße vom Baume bricht, die ſich mit dem gewuͤnſchten Wein ſogleich fuͤllen, und wo man Fruͤchte ſchuͤttelt, die ſich in jede beliebige Speiſe verwandeln. Ein ſolches Beduͤrfniß fuͤhlten wir denn zuletzt auch, und geleitet von Pyla¬ des fanden wir ein ganz artig eingerichtetes Speiſehaus; und da wir keine Gaͤſte weiter antrafen, indem alles auf den Straßen umherzog, ließen wir es uns um ſo wohler ſeyn, und verbrachten den groͤßten Theil der Nacht im Gefuͤhl von Freundſchaft, Liebe und Neigung auf das heiterſte und gluͤcklichſte. Als ich Gretchen bis an ihre Thuͤre begleitet499 hatte, kuͤßte ſie mich auf die Stirn. Es war das erſte und letzte Mal, daß ſie mir dieſe Gunſt erwies: denn leider ſollte ich ſie nicht wiederſehen.
Den andern Morgen lag ich noch im Bette, als meine Mutter verſtoͤrt und aͤngſt¬ lich hereintrat. Man konnte es ihr gar leicht anſehen, wenn ſie ſich irgend bedraͤngt fuͤhlte. — „ Steh auf, ſagte ſie, und mache dich auf etwas Unangenehmes gefaßt. Es iſt herausgekommen, daß du ſehr ſchlechte Geſellſchaft beſuchſt und dich in die gefaͤhr¬ lichſten und ſchlimmſten Haͤndel verwickelt haſt. Der Vater iſt außer ſich, und wir haben nur ſoviel von ihm erlangt, daß er die Sache durch einen Dritten unterſuchen will. Bleib auf deinem Zimmer und erwarte was bevorſteht. Der Rath Schneider wird zu dir kommen; er hat ſowohl vom Vater als von der Obrigkeit den Auftrag: denn32 *500die Sache iſt ſchon anhaͤngig und kann eine ſehr boͤſe Wendung nehmen. “
Ich ſah wohl, daß man die Sache viel ſchlimmer nahm als ſie war; doch fuͤhlte ich mich nicht wenig beunruhigt, wenn auch nur das eigentliche Verhaͤltniß entdeckt werden ſoll¬ te. Der alte Meſſianiſche Freund trat endlich herein, die Thraͤnen ſtanden ihm in den Au¬ gen; er faßte mich beym Arm und ſagte: „ Es thut mir herzlich Leid, daß ich in ſolcher An¬ gelegenheit zu Ihnen komme. Ich haͤtte nicht gedacht, daß Sie ſich ſo weit verirren koͤnnten. Aber was thut nicht ſchlechte Geſellſchaft und boͤſes Beyſpiel; und ſo kann ein junger un¬ erfahrner Menſch Schritt vor Schritt bis zum Verbrechen gefuͤhrt werden. “— Ich bin mir keines Verbrechens bewußt, verſetzte ich darauf, ſo wenig als ſchlechte Geſellſchaft beſucht zu haben. — „ Es iſt jetzt nicht von einer Vertheidigung die Rede, fiel er mir ins Wort, ſondern von einer Unterſuchung, und501 Ihrerſeits von einem aufrichtigen Bekennt¬ niß. “— Was verlangen Sie zu wiſſen? ſagte ich dagegen. Er ſetzte ſich und zog ein Blatt hervor und fing zu fragen an: „ Haben Sie nicht den N. N. Ihrem Großvater als einen Clienten zu einer *** Stelle empfohlen? “ Ich antwortete: ja. — „ Wo haben Sie ihn ken¬ nen gelernt? “— Auf Spaziergaͤngen. — „ In welcher Geſellſchaft? “— Ich ſtutzte: denn ich wollte nicht gern meine Freunde ver¬ rathen. — „ Das Verſchweigen wird nichts helfen, fuhr er fort: denn es iſt alles ſchon genugſam bekannt. “— Was iſt denn be¬ kannt? ſagte ich. — „ Daß Ihnen dieſer Menſch durch andere ſeines Gleichen iſt vor¬ gefuͤhrt worden und zwar durch *** “. Hier nannte er die Namen von drey Perſonen, die ich niemals geſehen noch gekannt hatte; welches ich dem Fragenden denn auch ſogleich erklaͤrte. — „ Sie wollen, fuhr jener fort, dieſe Menſchen nicht kennen, und haben doch mit ihnen oͤftre Zuſammenkuͤnfte gehabt! “—502 Auch nicht die geringſte, verſetzte ich: denn wie geſagt, außer dem erſten, kenne ich kei¬ nen und habe auch den niemals in einem Hauſe geſehen. — „ Sind Sie nicht oft in der *** Straße geweſen? “— Niemals, ver¬ ſetzte ich. Dieß war nicht ganz der Wahr¬ heit gemaͤß. Ich hatte Pylades einmal zu ſeiner Geliebten begleitet, die in der Straße wohnte; wir waren aber zur Hinterthuͤre hereingegangen und im Gartenhauſe geblieben. Daher glaubte ich mir die Ausflucht erlauben zu koͤnnen, in der Straße ſelbſt nicht gewe¬ ſen zu ſeyn.
Der gute Mann that noch mehr Fragen, die ich alle verneinen konnte: denn es war mir von alle dem, was er zu wiſſen verlangte, nichts bekannt. Endlich ſchien er verdrießlich zu werden und ſagte: „ Sie belohnen mein Vertrauen und meinen guten Willen ſehr ſchlecht; ich komme, um Sie zu retten. Sie koͤnnen nicht laͤugnen, daß Sie fuͤr dieſe Leute503 ſelbſt oder fuͤr ihre Mitſchuldigen Briefe ver¬ faßt, Aufſaͤtze gemacht und ſo zu ihren ſchlech¬ ten Streichen behuͤlflich geweſen. Ich kom¬ me, um Sie zu retten: denn es iſt von nichts Geringerem als nachgemachten Handſchriften, falſchen Teſtamenten, untergeſchobnen Schuld¬ ſcheinen und aͤhnlichen Dingen die Rede. Ich komme nicht allein als Hausfreund; ich komme im Namen und auf Befehl der Obrigkeit, die in Betracht Ihrer Familie und Ihrer Jugend, Sie und einige andre Juͤng¬ linge verſchonen will, die gleich Ihnen ins Netz gelockt worden. “— Es war mir auffallend, daß unter den Perſonen die er nannte, ſich gerade die nicht fanden, mit denen ich Um¬ gang gepflogen. Die Verhaͤltniſſe trafen nicht zuſammen, aber ſie beruͤhrten ſich, und ich konnte noch immer hoffen, meine jungen Freunde zu ſchonen. Allein der wackre Mann ward immer dringender. Ich konnte nicht laͤugnen, daß ich manche Naͤchte ſpaͤt nach Hauſe gekommen war, daß ich mir ei¬504 nen Hausſchluͤſſel zu verſchaffen gewußt, daß ich mit Perſonen von geringem Stand und verdaͤchtigem Ausſehen, an Luſtorten mehr als einmal bemerkt worden, daß Maͤdchen mit in die Sache verwickelt ſeyen; genug, alles ſchien entdeckt bis auf die Namen. Dieß gab mir Muth, ſtandhaft im Schweigen zu ſeyn. — „ Laſſen Sie mich, ſagte der brave Freund, nicht von Ihnen weggehen. Die Sache leidet keinen Aufſchub; unmittelbar nach mir wird ein andrer kommen, der Ih¬ nen nicht ſoviel Spielraum laͤßt. Verſchlim¬ mern Sie die ohnehin boͤſe Sache nicht durch Ihre Hartnaͤckigkeit. “
Nun ſtellte ich mir die guten Vettern, und Gretchen beſonders, recht lebhaft vor; ich ſah ſie gefangen, verhoͤrt, beſtraft, geſchmaͤht, und mir fuhr wie ein Blitz durch die Seele, daß die Vettern denn doch, ob ſie gleich ge¬ gen mich alle Rechtlichkeit beobachtet, ſich in ſo boͤſe Haͤndel konnten eingelaſſen haben,505 wenigſtens der aͤlteſte, der mir niemals recht gefallen wollte, der immer ſpaͤter nach Hauſe kam und wenig Heiters zu erzaͤhlen wußte. Noch immer hielt ich mein Bekenntniß zuruͤck. — Ich bin mir, ſagte ich, perſoͤnlich nichts Boͤſes bewußt, und kann von der Seite ganz ruhig ſeyn; aber es waͤre nicht unmoͤglich, daß diejenigen mit denen ich umgegangen bin, ſich einer verwegnen oder geſetzwidrigen Hand¬ lung ſchuldig gemacht haͤtten. Man mag ſie ſuchen, man mag ſie finden, ſie uͤberfuͤhren und beſtrafen, ich habe mir bisher nichts vorzuwerfen, und will auch gegen die nichts verſchulden, die ſich freundlich und gut ge¬ gen mich benommen haben. — Er ließ mich nicht ausreden, ſondern rief mit einiger Bewegung: „ Ja man wird ſie finden. In drey Haͤuſern kamen dieſe Boͤſewichter zuſam¬ men. (Er nannte die Straßen, er bezeich¬ nete die Haͤuſer, und zum Ungluͤck befand ſich auch das darunter, wohin ich zu gehen pfleg¬ te.) Das erſte Neſt iſt ſchon ausgehoben,506 fuhr er fort, und in dieſem Augenblick werden es die beyden andern. In wenig Stunden wird alles im Klaren ſeyn. Entziehen Sie ſich, durch ein redliches Bekenntniß, einer ge¬ richtlichen Unterſuchung, einer Confrontation und wie die garſtigen Dinge alle heißen. “— Das Haus war genannt und bezeichnet. Nun hielt ich alles Schweigen fuͤr unnuͤtz; ja, bey der Unſchuld unſrer Zuſammenkuͤnfte, konnte ich hoffen, jenen noch mehr als mir nuͤtzlich zu ſeyn. — Setzen Sie ſich, rief ich aus, und holte ihn von der Thuͤre zuruͤck: ich will Ihnen alles erzaͤhlen, und zugleich mir und Ihnen das Herz erleichtern: nur das Eine bitte ich, von nun an keine Zweifel in meine Wahrhaftigkeit.
Ich erzaͤhlte nun dem Freunde den ganzen Hergang der Sache, anfangs ruhig und ge¬ faßt; doch jemehr ich mir die Perſonen, Ge¬ genſtaͤnde, Begebenheiten ins Gedaͤchtniß rief und vergegenwaͤrtigte, und ſo manche un¬507 ſchuldige Freude, ſo manchen heitern Genuß gleichſam vor einem Criminalgericht deponi¬ ren ſollte, deſtomehr wuchs die ſchmerzlichſte Empfindung, ſo daß ich zuletzt in Thraͤnen ausbrach und mich einer unbaͤndigen Leiden¬ ſchaft uͤberließ. Der Hausfreund, welcher hoffte, daß eben jetzt das rechte Geheim¬ niß auf dem Wege ſeyn moͤchte ſich zu offen¬ baren (denn er hielt meinen Schmerz fuͤr ein Symptom, daß ich im Begriff ſtehe mit Widerwillen ein Ungeheures zu bekennen) ſuchte mich, da ihm an der Entdeckung alles gelegen war, aufs beſte zu beruhigen; welches ihm zwar nur zum Theil gelang, aber doch inſofern, daß ich meine Geſchichte nothduͤrftig auserzaͤhlen konnte. Er war, obgleich zufrie¬ den uͤber die Unſchuld der Vorgaͤnge, doch noch einigermaßen zweifelhaft, und erließ neue Fragen an mich, die mich abermals aufregten und in Schmerz und Wuth verſetzten. Ich ver¬ ſicherte endlich, daß ich nichts weiter zu ſagen habe, und wohl wiſſe, daß ich nichts zu fuͤrch¬508 ten brauche: denn ich ſey unſchuldig, von gutem Hauſe und wohl empfohlen; aber jene koͤnnten eben ſo unſchuldig ſeyn, ohne daß man ſie da¬ fuͤr anerkenne oder ſonſt beguͤnſtige. Ich er¬ klaͤrte zugleich, daß wenn man jene nicht wie mich ſchonen, ihren Thorheiten nachſehen, und ihre Fehler verzeihen wolle, wenn ihnen nur im mindeſten hart und unrecht geſchehe, ſo wuͤrde ich mir ein Leids anthun, und daran ſolle mich Niemand hindern. Auch hieruͤber ſuchte mich der Freund zu beruhigen; aber ich traute ihm nicht, und war, als er mich zu¬ letzt verließ, in der entſetzlichſten Lage. Ich machte mir nun doch Vorwuͤrfe, die Sache erzaͤhlt und alle die Verhaͤltniſſe ans Licht ge¬ bracht zu haben. Ich ſah voraus, daß man die kindlichen Handlungen, die jugendlichen Neigungen und Vertraulichkeiten ganz anders auslegen wuͤrde, und daß ich vielleicht den guten Pylades mit in dieſen Handel verwi¬ ckeln und ſehr ungluͤcklich machen koͤnnte. Alle dieſe Vorſtellungen draͤngten ſich lebhaft509 hintereinander vor meiner Seele, ſchaͤrften und ſpornten meinen Schmerz, ſo daß ich mir vor Jammer nicht zu helfen wußte, mich die Laͤnge lang auf die Erde warf, und den Fußboden mit meinen Thraͤnen benetzte.
Ich weiß nicht, wie lange ich mochte gelegen haben, als meine Schweſter herein¬ trat, uͤber meine Gebaͤrde erſchrak und al¬ les moͤgliche that mich aufzurichten. Sie er¬ zaͤhlte mir, daß eine Magiſtratsperſon unten beym Vater die Ruͤckkunft des Hausfreundes erwartet, und nachdem ſie ſich eine Zeit lang eingeſchloſſen gehalten, ſeyen die beyden Herren weggegangen, und haͤtten untereinan¬ der ſehr zufrieden, ja mit Lachen geredet, und ſie glaube die Worte verſtanden zu haben: es iſt recht gut, die Sache hat nichts zu bedeuten. — „ Freylich, fuhr ich auf, hat die Sache nichts zu bedeuten, fuͤr mich, fuͤr uns: denn ich habe nichts verbrochen, und wenn ich es haͤtte, ſo wuͤrde man mir durch¬510 zuhelfen wiſſen; aber jene, jene, rief ich aus, wer wird ihnen beyſtehn! “— Meine Schwe¬ ſter ſuchte mich umſtaͤndlich mit dem Argu¬ mente zu troͤſten, daß wenn man die Vorneh¬ meren retten wolle, man auch uͤber die Fehler der Geringern einen Schleyer werfen muͤſſe. Das alles half nichts. Sie war kaum weg¬ gegangen, als ich mich wieder meinem Schmerz uͤberließ, und ſowohl die Bilder meiner Nei¬ gung und Leidenſchaft als auch des gegenwaͤr¬ tigen und moͤglichen Ungluͤcks immer wechſels¬ weiſe hervorrief. Ich erzaͤhlte mir Maͤhrchen auf Maͤhrchen, ſah nur Ungluͤck auf Ungluͤck, und ließ es beſonders daran nicht fehlen, Gretchen und mich recht elend zu machen.
Der Hausfreund hatte mir geboten auf meinem Zimmer zu bleiben und mit Niemand mein Geſchaͤft zu pflegen, außer den Unſri¬ gen. Es war mir ganz recht, denn ich befand mich am liebſten allein. Meine Mutter und Schweſter beſuchten mich von Zeit zu Zeit,511 und ermangelten nicht mir mit allerley gutem Troſt auf das kraͤftigſte beyzuſtehen; ja ſie kamen ſogar ſchon den zweyten Tag, im Namen des nun beſſer unterrichteten Vaters mir eine voͤllige Amneſtie anzubieten, die ich zwar dankbar annahm, allein den Antrag, daß ich mit ihm ausgehen und die Reichs¬ inſignien, welche man nunmehr den Neugie¬ rigen vorzeigte, beſchauen ſollte, hartnaͤckig ablehnte, und verſicherte, daß ich weder von der Welt, noch von dem roͤmiſchen Reiche etwas weiter wiſſen wolle, bis mir bekannt geworden, wie jener verdrießliche Handel, der fuͤr mich weiter keine Folgen haben wuͤrde, fuͤr meine armen Bekannten ausgegangen. Sie wußten hieruͤber ſelbſt nichts zu ſagen und ließen mich allein. Doch machte man die folgenden Tage noch einige Verſuche, mich aus dem Hauſe und zur Theilnahme an den oͤffentlichen Feyerlichkeiten zu bewegen. Vergebens! weder der große Galatag, noch was bey Gelegenheit ſo vieler Standeserhoͤ¬512 hungen vorfiel, noch die oͤffentliche Tafel des Kaiſers und Koͤnigs, nichts konnte mich ruͤh¬ ren. Der Churfuͤrſt von Pfalz mochte kom¬ men um den beyden Majeſtaͤten aufzuwarten, dieſe mochten die Churfuͤrſten beſuchen, man mochte zur letzten churfuͤrſtlichen Sitzung zu¬ ſammen fahren, um die ruͤckſtaͤndigen Puncte zu erledigen und den Churverein zu erneuern, nichts konnte mich aus meiner leidenſchaftli¬ chen Einſamkeit hervorrufen. Ich ließ am Dankfeſte die Glocken laͤuten, den Kaiſer ſich in die Kapuzinerkirche begeben, die Churfuͤr¬ ſten und den Kaiſer abreiſen, ohne deshalb einen Schritt von meinem Zimmer zu thun. Das letzte Canoniren, ſo unmaͤßig es auch ſeyn mochte, regte mich nicht auf, und wie der Pulverdampf ſich verzog und der Schall verhallte, ſo war auch alle dieſe Herrlichkeit vor meiner Seele weggeſchwunden.
Ich empfand nun keine Zufriedenheit, als im Wiederkaͤuen meines Elends und in der513 tauſendfachen imaginaͤren Vervielfaͤltigung deſ¬ ſelben. Meine ganze Erfindungsgabe, meine Poeſie und Rhetorik hatten ſich auf dieſen kranken Fleck geworfen, und drohten, gerade durch dieſe Lebensgewalt, Leib und Seele in eine unheilbare Krankheit zu verwickeln. In dieſem traurigen Zuſtande kam mir nichts mehr wuͤnſchenswerth, nichts begehrenswerth mehr vor. Zwar ergriff mich manchmal ein unendliches Verlangen, zu wiſſen wie es mei¬ nen armen Freunden und Geliebten ergehe, was ſich bey naͤherer Unterſuchung ergeben, in wiefern ſie mit in jene Verbrechen verwi¬ ckelt oder unſchuldig moͤchten erfunden ſeyn. Auch dies malte ich mir auf das mannigfal¬ tigſte umſtaͤndlich aus, und ließ es nicht feh¬ len ſie fuͤr unſchuldig und recht ungluͤcklich zu halten. Bald wuͤnſchte ich mich von die¬ ſer Ungewißheit befreyt zu ſehen, und ſchrieb heftig drohende Briefe an den Hausfreund, daß er mir den weitern Gang der Sache nicht vorenthalten ſolle. Bald zerriß ich ſieI. 33514wieder, aus Furcht mein Ungluͤck recht deut¬ lich zu erfahren und des phantaſtiſchen Troſtes zu entbehren, mit dem ich mich bis jetzt wech¬ ſelsweiſe gequaͤlt und aufgerichtet hatte.
So verbrachte ich Tag und Nacht in großer Unruhe, in Raſen und Ermattung, ſo daß ich mich zuletzt gluͤcklich fuͤhlte, als eine koͤrperliche Krankheit mit ziemlicher Hef¬ tigkeit eintrat, wobey man den Arzt zu Huͤlfe rufen und darauf denken mußte, mich auf alle Weiſe zu beruhigen. Man glaubte es im Allgemeinen thun zu koͤnnen, indem man mir heilig verſicherte, daß alle in jene Schuld mehr oder weniger verwickelte mit der groͤ߬ ten Schonung behandelt worden, daß meine naͤchſten Freunde, ſo gut wie ganz ſchuldlos, mit einem leichten Verweiſe entlaſſen worden, und daß Gretchen ſich aus der Stadt entfernt habe und wieder in ihre Heimat gezogen ſey. Mit dem letztern zauderte man am laͤngſten, und ich nahm es auch nicht zum beſten auf:515 denn ich konnte darin keine freywillige Abreiſe, ſondern nur eine ſchmaͤhliche Verbannung ent¬ decken. Mein koͤrperlicher und geiſtiger Zuſtand verbeſſerte ſich dadurch nicht: die Noth ging nun erſt recht an, und ich hatte Zeit genug mir den ſeltſamſten Roman von traurigen Ereigniſſen und einer unvermeidlich tragiſchen Cataſtrophe ſelbſtquaͤleriſch auszumalen.
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