Was man in der Jugend wünſcht, hat man im Alter die Fülle.
So trieb es mich wechſelsweiſe, meine Geneſung zu befoͤrdern und zu verhindern, und ein gewiſſer heimlicher Aerger geſellte ſich noch zu meinen uͤbrigen Empfindungen: denn ich bemerkte wohl, daß man mich beob¬ achtete, daß man mir nicht leicht etwas Ver¬ ſiegeltes zuſtellte, ohne darauf Acht zu haben, was es fuͤr Wirkungen hervorbringe? ob ich es geheim hielt oder ob ich es offen hinlegte, und was dergleichen mehr war. Ich vermu¬ thete daher, daß Pylades, ein Vetter, oder wohl gar Gretchen ſelbſt, den Verſuch moͤchte gemacht haben mir zu ſchreiben, um Nach¬ richt zu geben oder zu erhalten; ich war nun erſt recht verdrießlich neben meiner Bekuͤm¬ merniß, und hatte wieder neue Gelegenheit, meine Vermuthungen zu uͤben und mich in die ſeltſamſten Verknuͤpfungen zu verirren.
1 *4Es dauerte nicht lange, ſo gab man mir noch einen beſondern Aufſeher. Gluͤcklicherwei¬ ſe war es ein Mann, den ich liebte und ſchaͤtz¬ te; er hatte eine Hofmeiſterſtelle in einem befreundeten Hauſe bekleidet, ſein bisheriger Zoͤgling war allein auf die Academie gegangen. Er beſuchte mich oͤfters in meiner traurigen Lage, und man fand zuletzt nichts natuͤrlicher, als ihm ein Zimmer neben dem meinigen ein¬ zuraͤumen: da er mich denn beſchaͤftigen, beru¬ higen und, wie ich wohl merken konnte, im Auge behalten ſollte. Weil ich ihn jedoch von Herzen ſchaͤtzte und ihm auch fruͤher gar Man¬ ches, nur nicht die Neigung zu Gretchen, vertraut hatte; ſo beſchloß ich um ſo mehr, ganz offen und gerade gegen ihn zu ſeyn, als es mir unertraͤglich war, mit Jemand taͤglich zu leben und auf einem unſicheren, geſpann¬ ten Fuß mit ihm zu ſtehen. Ich ſaͤumte da¬ her nicht lange, ſprach ihm von der Sache, erquickte mich in Erzaͤhlung und Wiederholung der kleinſten Umſtaͤnde meines vergangenen5 Gluͤcks, und erreichte dadurch ſo viel, daß er, als ein verſtaͤndiger Mann, einſah, es ſey beſſer, mich mit dem Ausgang der Geſchichte bekannt zu machen, und zwar im Einzelnen und Beſonderen, damit ich klar uͤber das Gan¬ ze wuͤrde und man mir mit Ernſt und Eifer zureden koͤnne, daß ich mich faſſen, das Vergan¬ gene hinter mich werfen und ein neues Leben anfangen muͤſſe. Zuerſt vertraute er mir, wer die anderen jungen Leute von Stande geweſen, die ſich Anfangs zu verwegenen Myſtificatio¬ nen, dann zu poſſenhaften Polizeyverbrechen, ferner zu luſtigen Geldſchneidereyen und an¬ deren ſolchen verfaͤnglichen Dingen hatten ver¬ leiten laſſen. Es war dadurch wirklich eine kleine Verſchwoͤrung entſtanden, zu der ſich gewiſſenloſe Menſchen geſellten, durch Verfaͤl¬ ſchung von Papieren, Nachbildung von Unter¬ ſchriften manches Strafwuͤrdige begingen und noch Strafwuͤrdigeres vorbereiteten. Die Vet¬ tern, nach denen ich zuletzt ungeduldig fragte, waren ganz unſchuldig, nur im Allgemeinſten6 mit jenen andern bekannt, keineswegs aber ver¬ einigt befunden worden. Mein Client, durch deſſen Empfehlung an den Großvater man mir eigentlich auf die Spur gekommen, war einer der ſchlimmſten, und bewarb ſich um jenes Amt hauptſaͤchlich, um gewiſſe Bu¬ benſtuͤcke unternehmen oder bedecken zu koͤn¬ nen. Nach allein dieſem konnte ich mich zu¬ letzt nicht halten und fragte, was aus Gret¬ chen geworden ſey zu der ich ein fuͤr alle¬ mal die groͤßte Neigung bekannte. Mein Freund ſchuͤttelte den Kopf und laͤchelte: „ Be¬ ruhigen Sie ſich, verſetzte er: dieſes Maͤd¬ chen iſt ſehr wohl beſtanden und hat ein Herr¬ liches Zeugniß davon getragen. Man konnte nichts als Gutes und Liebes an ihr finden, die Herren Examinatoren ſelbſt wurden ihr gewogen, und haben ihr die Entfernung aus der Stadt, die ſie wuͤnſchte, nicht verſagen koͤnnen. Auch das was ſie in Ruͤckſicht auf Sie, mein Freund, bekannt hat, macht ihr Ehre; ich habe ihre Ausſage in den geheimen7 Acten ſelbſt geleſen und ihre Unterſchrift ge¬ ſehen. “ Die Unterſchrift! rief ich aus, die mich ſo gluͤcklich und ſo ungluͤcklich macht. Was hat ſie denn bekannt? was hat ſie un¬ terſchrieben? Der Freund zauderte zu ant¬ worten; aber die Heiterkeit ſeines Geſichts zeigte mir an, daß er nichts Gefaͤhrliches ver¬ berge. „ Wenn Sie's denn wiſſen wollen, verſetzte er endlich, als von Ihnen und Ih¬ rem Umgang mit ihr die Rede war, ſagte ſie ganz freymuͤthig: ich kann es nicht leugnen, daß ich ihn oft und gern geſehen habe; aber ich habe ihn immer als ein Kind betrachtet und meine Neigung zu ihm war wahrhaft ſchwe¬ ſterlich. In manchen Faͤllen habe ich ihn gut berathen, und anſtatt ihn zu einer zweydeuti¬ gen[Handlung] aufzuregen, habe ich ihn ver¬ hindert, an muthwilligen Streichen Theil zu nehmen, die ihm haͤtten Verdruß bringen koͤnnen. “
Der Freund fuhr noch weiter fort, Gret¬ chen als eine Hofmeiſterinn reden zu laſſen;8 ich hoͤrte ihm aber ſchon lange nicht mehr zu: denn daß ſie mich fuͤr ein Kind zu den Acten erklaͤrt, nahm ich ganz entſetzlich uͤbel, und glaubte mich auf einmal von aller Lei¬ denſchaft fuͤr ſie geheilt; ja ich verſicherte ha¬ ſtig meinen Freund, daß nun alles abgethan ſey! Auch ſprach ich nicht mehr von ihr, nann¬ te ihren Namen nicht mehr; doch konnte ich die boͤſe Gewohnheit nicht laſſen, an ſie zu den¬ ken, wir ihre Geſtalt, ihr Weſen, ihr Betra¬ gen zu vergegenwaͤrtigen, das mir denn nun freylich jetzt in einem ganz anderen Lichte er¬ ſchien. Ich fand es unertraͤglich, daß ein Maͤdchen, hoͤchſtens ein Paar Jahre aͤlter als ich, mich fuͤr ein Kind halten ſollte, der ich doch fuͤr einen ganz geſcheuten und geſchickten Jun¬ gen zu gelten glaubte. Nun kam mir ihr kal¬ tes, abſtoßendes Weſen, das mich ſonſt ſo an¬ gereizt hatte, ganz widerlich vor; die Fami¬ liaritaͤten, die ſie ſich gegen mich erlaubte, mir aber zu erwidern nicht geſtattete, waren mir ganz verhaßt. Das alles waͤre jedoch noch9 gut geweſen, wenn ich ſie nicht wegen des Un¬ terſchreibens jener poetiſchen Liebesepiſtel, wo¬ durch ſie mir denn doch eine foͤrmliche Neigung erklaͤrte, fuͤr eine verſchmitzte und ſelbſtſuͤch¬ tige Coquette zu halten berechtigt geweſen waͤ¬ re. Auch maskirt zur Putzmacherinn kam ſie mir nicht mehr ſo unſchuldig vor, und ich kehrte dieſe aͤrgerlichen Betrachtungen ſo lan¬ ge bey mir hin und wieder, bis ich ihr alle liebenswuͤrdigen Eigenſchaften ſaͤmmtlich abge¬ ſtreift hatte. Dem Verſtande nach war ich uͤberzeugt und glaubte ſie verwerfen zu muͤſ¬ ſen; nur ihr Bild! ihr Bild ſtrafte mich Luͤ¬ gen, ſo oft es mir wieder vorſchwebte, wel¬ ches freylich noch oft genug geſchah.
Indeſſen war denn doch dieſer Pfeil mit ſeinen Widerhaken aus dem Herzen geriſſen, und es fragte ſich, wie man der inneren ju¬ gendlichen Heilkraft zu Huͤlfe kaͤme? Ich er¬ mannte mich wirklich, und das erſte was ſo¬ gleich abgethan wurde, war das Weinen und10 Raſen, welches ich nun fuͤr hoͤchſt kindiſch anſah. Ein großer Schritt zur Beſſerung! Denn ich hatte oft halbe Naͤchte durch mich mit dem groͤßten Ungeſtuͤm dieſen Schmerzen uͤber¬ laſſen, ſo daß es durch Thraͤnen und Schluch¬ zen zuletzt dahin kam, daß ich kaum mehr ſchlingen konnte und der Genuß von Speiſe und Trank mir ſchmerzlich ward, auch die ſo nah verwandte Bruſt zu leiden ſchien. Der Verdruß, den ich uͤber jene Entdeckung immer fort empfand, ließ mich jede Weich¬ lichkeit verbannen; ich fand es ſchrecklich, daß ich um eines Maͤdchens willen Schlaf und Ruhe und Geſundheit aufgeopfert hatte, die ſich darin gefiel, mich als einen Saͤugling zu betrachten und ſich hoͤchſt ammenhaft weiſe gegen mich zu duͤnken.
Dieſe kraͤnkenden Vorſtellungen waren, wie ich mich leicht uͤberzeugte, nur durch Thaͤ¬ tigkeit zu verbannen; aber was ſollte ich er¬ greifen? Ich hatte in gar vielen Dingen frey¬11 lich manches nachzuholen, und mich in mehr als einem Sinne auf die Academie vorzube¬ reiten, die ich nun beziehen ſollte; aber nichts wollte mir ſchmecken noch gelingen. Gar man¬ ches erſchien mir bekannt und trivial; zu mehrerer Begruͤndung fand ich weder eigne Kraft noch aͤußere Gelegenheit, und ließ mich daher durch die Liebhaberey meines braven Stubennachbarn zu einem Studium bewegen, das mir ganz neu und fremd war und fuͤr lange Zeit ein weites Feld von Kennt¬ niſſen und Betrachtungen darbot. Mein Freund fing naͤmlich an, mich mit den phi¬ loſophiſchen Geheimniſſen bekannt zu machen. Er hatte unter Daries in Jena ſtudirt und als ein ſehr wohlgeordneter Kopf den Zuſam¬ menhang jener Lehre ſcharf gefaßt, und ſo ſuchte er ſie auch mir beyzubringen. Aber leider wollten dieſe Dinge in meinem Gehirn auf eine ſolche Weiſe nicht zuſammenhaͤngen. Ich that Fragen, die er ſpaͤter zu beantwor¬ ten, ich machte Forderungen, die er kuͤnftig zu12 befriedigen verſprach. Unſere wichtigſte Diffe¬ renz war jedoch dieſe, daß ich behauptete, eine abgeſonderte Philoſophie ſey nicht noͤthig, in¬ dem ſie ſchon in der Religion und Poeſie voll¬ kommen enthalten ſey. Dieſes wollte er nun keinesweges gelten laſſen, ſondern ſuchte mir vielmehr zu beweiſen, daß erſt dieſe durch je¬ ne begruͤndet werden muͤßten; welches ich hartnaͤckig leugnete, und im Fortgange unſe¬ rer Unterhaltung bey jedem Schritt Argu¬ mente fuͤr meine Meynung fand. Denn da in der Poeſie ein gewiſſer Glaube an das Un¬ moͤgliche, in der Religion ein eben ſolcher Glaube an das Unergruͤndliche Statt finden muß; ſo ſchienen mir die Philoſophen in ei¬ ner ſehr uͤblen Lage zu ſeyn, die auf ihrem Felde beydes beweiſen und erklaͤren wollten; wie ſich denn auch aus der Geſchichte der Phi¬ loſophie ſehr geſchwind darthun ließ, daß im¬ mer einer einen andern Grund ſuchte als der andre, und der Sceptiker zuletzt alles fuͤr grund - und bodenlos anſprach.
13Eben dieſe Geſchichte der Philoſophie je¬ doch, die mein Freund mit mir zu treiben ſich genoͤthigt ſah, weil ich dem dogmatiſchen Vortrag gar nichts abgewinnen konnte, un¬ terhielt mich ſehr, aber nur in dem Sinne, daß mir eine Lehre, eine Meynung ſo gut wie die andre vorkam, in ſofern ich naͤmlich in dieſelbe einzudringen faͤhig war. An den aͤlteſten Maͤnnern und Schulen gefiel mir am beſten, daß Poeſie, Religion und Philoſophie ganz in Eins zuſammenfielen, und ich behaup¬ tete jene meine erſte Meynung nur um deſto lebhafter, als mir das Buch Hiob, das Hohe - Lied und die Spruͤchwoͤrter Salomonis eben ſo gut als die Orphiſchen und Heſiodiſchen Geſaͤnge dafuͤr ein guͤltiges Zeugniß abzulegen ſchienen. Mein Freund hatte den kleinen Brucker zum Grunde ſeines Vortrags gelegt, und je weiter wir vorwaͤrts kamen, je weni¬ ger wußte ich daraus zu machen. Was die erſten griechiſchen Philoſophen wollten, konnte mir nicht deutlich werden. Sokrates galt14 mir fuͤr einen trefflichen weiſen Mann, der wohl, im Leben und Tod, ſich mit Chriſto vergleichen laſſe. Seine Schuͤler hingegen ſchienen mir große Aehnlichkeit mit den Apo¬ ſteln zu haben, die ſich nach des Meiſters Tode ſogleich entzweyten und offenbar jeder nur eine beſchraͤnkte Sinnesart fuͤr das Rech¬ te erkannte. Weder die Schaͤrfe des Ari¬ ſtoteles, noch die Fuͤlle des Plato fruchteten bey mir im mindeſten. Zu den Stoikern hin¬ gegen hatte ich ſchon fruͤher einige Neigung gefaßt, und ſchaffte nun den Epictet her¬ bey, den ich mit vieler Theilnahme ſtudirte. Mein Freund ließ mich ungern in dieſer Ein¬ ſeitigkeit hingehen, von der er mich nicht ab¬ zuziehen vermochte: denn ohngeachtet ſeiner mannigfaltigen Studien, wußte er doch die Hauptfrage nicht in's Enge zu bringen. Er haͤtte mir nur ſagen duͤrfen, daß es im Leben bloß aufs Thun ankomme, das Genießen und Leiden finde ſich von ſelbſt. Indeſſen darf man die Jugend nur gewaͤhren laſſen; nicht15 ſehr lange haftet ſie an falſchen Maximen; das Leben reißt oder lockt ſie bald davon wie¬ der los.
Die Jahrszeit war ſchoͤn geworden, wir gingen oft zuſammen ins Freye und beſuchten die Luſtoͤrter, die in großer Anzahl um die Stadt umherliegen. Aber gerade hier konnte es mir am wenigſten wohl ſeyn: denn ich ſah noch die Geſpenſter der Vettern uͤberall, und fuͤrchtete bald da bald dort einen hervortreten zu ſehen. Auch waren mir die gleichguͤltigſten Blicke der Menſchen beſchwerlich. Ich hatte jene bewußtloſe Gluͤckſeligkeit verloren, unbe¬ kannt und unbeſcholten umherzugehen und in dem groͤßten Gewuͤhle an keinen Beobachter zu denken. Jetzt fing der hypochondriſche Duͤnkel an mich zu quaͤlen, als erregte ich die Auf¬ merkſamkeit der Leute, als waͤren ihre Blicke auf mein Weſen gerichtet, es feſtzuhalten, zu unterſuchen und zu tadeln.
16Ich zog daher meinen Freund in die Waͤl¬ der und, indem ich die einfoͤrmigen Fichten floh, ſucht 'ich jene ſchoͤnen belaubten Haine, die ſich zwar nicht weit und breit in der Ge¬ gend erſtrecken, aber doch immer von ſolchem Umfange ſind, daß ein armes verwundetes Herz ſich darin verbergen kann. In der groͤßten Tiefe des Waldes hatte ich mir ei¬ nen ernſten Platz ausgeſucht, wo die aͤlteſten Eichen und Buchen einen herrlich großen, be¬ ſchatteten Raum bildeten. Etwas abhaͤngig war der Boden und machte das Verdienſt der alten Staͤmme nur deſto bemerkbarer. Rings an dieſen freyen Kreis ſchloſſen ſich die dichteſten Gebuͤſche, aus denen bemooste Felſen maͤchtig und wuͤrdig hervorblickten und einem waſſerreichen Bach einen raſchen Fall verſchafften.
Kaum hatte ich meinen Freund, der ſich lieber in freyer Landſchaft am Strom unter Menſchen befand, hierher genoͤthiget, als er17 mich ſcherzend verſicherte, ich erweiſe mich wie ein wahrer Deutſcher. Umſtaͤndlich erzaͤhlte er mir aus dem Tacitus, wie ſich unſere Ur¬ vaͤter an den Gefuͤhlen begnuͤgt, welche uns die Natur in ſolchen Einſamkeiten mit unge¬ kuͤnſtelter Bauart ſo herrlich vorbereitet. Er hatte mir nicht lange davon erzaͤhlt, als ich ausrief: O! warum liegt dieſer koͤſtliche Platz nicht in tiefer Wildniß, warum duͤrfen wir nicht einen Zaun umher fuͤhren, ihn und uns zu heiligen und von der Welt abzuſondern! Gewiß es iſt keine ſchoͤnere Gottesverehrung als die, zu der man kein Bild bedarf, die bloß aus dem Wechſelgeſpraͤch mit der Natur in unſerem Buſen entſpringt! — Was ich damals fuͤhlte, iſt mir noch gegenwaͤrtig; was ich ſagte, wuͤßte ich nicht wieder zu finden. Soviel iſt aber gewiß, daß die unbeſtimm¬ ten, ſich weit ausdehnenden Gefuͤhle der Jugend und ungebildeter Voͤlker allein zum Erhabenen geeignet ſind, das, wenn es durch aͤußere Dinge in uns erregt werden ſoll, form¬II. 218los, oder zu unfaßlichen Formen gebildet, uns mit einer Groͤße umgeben muß, der wir nicht gewachſen ſind.
Eine ſolche Stimmung der Seele empfin¬ den, mehr oder weniger, alle Menſchen, ſo wie ſie dieſes edle Beduͤrfniß auf mancherley Weiſe zu befriedigen ſuchen. Aber wie das Erhabene von Daͤmmerung und Nacht, wo ſich die Geſtalten vereinigen, gar leicht erzeugt wird, ſo wird es dagegen vom Tage ver¬ ſcheucht, der alles ſondert und trennt, und ſo muß es auch durch jede wachſende Bildung vernichtet werden, wenn es nicht gluͤcklich ge¬ nug iſt, ſich zu dem Schoͤnen zu fluͤchten und ſich innig mit ihm zu vereinigen, wodurch denn beyde gleich unſterblich und unverwuͤſt¬ lich ſind.
Die kurzen Augenblicke ſolcher Genuͤſſe verkuͤrzte mir noch mein denkender Freund, aber ganz umſonſt verſuchte ich, wenn ich19 heraus an die Welt trat, in der lichten und mageren Umgebung, ein ſolches Gefuͤhl bey mir wieder zu erregen; ja kaum die Erinne¬ rung davon vermochte ich zu erhalten. Mein Herz war jedoch zu verwoͤhnt, als daß es ſich haͤtte beruhigen koͤnnen: es hatte geliebt, der Gegenſtand war ihm entriſſen; es hatte ge¬ lebt, und das Leben war ihm verkuͤmmert. Ein Freund, der es zu deutlich merken laͤßt, daß er an euch zu bilden gedenkt, erregt kein Behagen; indeſſen eine Frau, die euch bildet, indem ſie euch zu verwoͤhnen ſcheint, wie ein himmliſches, freudebringendes Weſen angebe¬ tet wird. Aber jene Geſtalt, an der ſich der Begriff des Schoͤnen mir hervorthat, war in die Ferne weggeſchwunden; ſie beſuchte mich oft unter den Schatten meiner Eichen, aber ich konnte ſie nicht feſthalten, und ich fuͤhlte einen gewaltigen Trieb, etwas Aehnliches in der Weite zu ſuchen.
2 *20Ich hatte meinen Freund und Aufſeher unvermerkt gewoͤhnt, ja genoͤthigt, mich al¬ lein zu laſſen; denn ſelbſt in meinem heiligen Walde thaten mir jene unbeſtimmten, rieſen¬ haften Gefuͤhle nicht genug. Das Auge war vor allen anderen das Organ, womit ich die Welt faßte. Ich hatte von Kindheit auf zwi¬ ſchen Malern gelebt, und mich gewoͤhnt, die Gegenſtaͤnde wie ſie, in Bezug auf die Kunſt anzuſehen. Jetzt, da ich mir ſelbſt und der Einſamkeit uͤberlaſſen war, trat dieſe Gabe, halb natuͤrlich, halb erworben, hervor; wo ich hinſah erblickte ich ein Bild, und was mir auffiel, was mich erfreute, wollte ich feſt¬ halten, und ich fing an auf die ungeſchickteſte Weiſe nach der Natur zu zeichnen. Es fehl¬ te mir hierzu nichts weniger als alles; doch blieb ich hartnaͤckig daran, ohne irgend ein techniſches Mittel, das Herrlichſte nachbilden zu wollen, was ſich meinen Augen darſtellte. Ich gewann freylich dadurch eine große Auf¬ merkſamkeit auf die Gegenſtaͤnde, aber ich21 faßte ſie nur im Ganzen, in ſofern ſie Wir¬ kung thaten; und ſo wenig mich die Natur zu einem deſcriptiven Dichter beſtimmt hatte, eben ſo wenig wollte ſie mir die Faͤhigkeit ei¬ nes Zeichners fuͤrs Einzelne verleihen. Da jedoch nur dieß allein die Art war, die mir uͤbrig blieb, mich zu aͤußern, ſo hing ich mit eben ſo viel Hartnaͤckigkeit, ja mit Truͤbſinn daran, daß ich immer eifriger meine Arbeiten fortſetzte, je weniger ich etwas dabey heraus¬ kommen ſah.
Leugnen will ich jedoch nicht, daß ſich eine gewiſſe Schelmerey mit einmiſchte: denn ich hatte bemerkt, daß wenn ich einen halb¬ beſchatteten alten Stamm, an deſſen maͤchtig gekruͤmmte Wurzeln ſich wohlbeleuchtete Farren¬ kraͤuter anſchmiegten, von blinkenden Gras¬ lichtern begleitet, mir zu einem qualreichen Studium ausgeſucht hatte, mein Freund, der aus Erfahrung wußte, daß unter einer Stun¬ de da nicht loszukommen ſey, ſich gewoͤhnlich22 entſchloß, mit einem Buche ein anderes ge¬ faͤlliges Plaͤtzchen zu ſuchen. Nun ſtoͤrte mich nichts, meiner Liebhaberey nachzuhaͤngen, die um deſto emſiger war, als mir meine Blaͤtter dadurch lieb wurden, daß ich mich gewoͤhnte, an ihnen nicht ſowohl das zu ſehen, was darauf ſtand, als dasjenige, was ich zu jeder Zeit und Stunde dabey gedacht hatte. So koͤnnen uns Kraͤuter und Blumen der gemein¬ ſten Art ein liebes Tagebuch bilden, weil nichts, was die Erinnerung eines gluͤcklichen Moments zuruͤckruft, unbedeutend ſeyn kann; und noch jetzt wuͤrde es mir ſchwer fallen, manches dergleichen, was mir aus verſchiede¬ nen Epochen uͤbrig geblieben, als werthlos zu vertilgen, weil es, mich unmittelbar in jene Zeiten verſetzt, deren ich mich zwar mit Weh¬ muth, doch nicht ungern erinnere.
Wenn aber ſolche Blaͤtter irgend ein In¬ tereſſe an und fuͤr ſich haben koͤnnten, ſo waͤ¬ ren ſie dieſen Vorzug der Theilnahme und23 Aufmerkſamkeit meines Vaters ſchuldig. Die¬ ſer, durch meinen Aufſeher benachrichtiget, daß ich mich nach und nach in meinen Zuſtand finde und beſonders mich leidenſchaftlich auf das Zeichnen nach der Natur gewendet habe, war damit gar wohl zufrieden, theils weil er ſelbſt ſehr viel auf Zeichnung und Malerey hielt, theils weil Gevatter Seekaz ihm eini¬ gemal geſagt hatte, es ſey Schade, daß ich nicht zum Maler beſtimmt ſey. Allein hier kamen die Eigenheiten des Vaters und Sohns wieder zum Conflict: denn es war mir faſt unmoͤglich, bey meinen Zeichnungen ein gutes, weißes, voͤllig reines Papier zu gebrauchen; graue veraltete, ja ſchon von einer Seite be¬ ſchriebene Blaͤtter reizten mich am meiſten, eben als wenn meine Unfaͤhigkeit ſich vor dem Pruͤfſtein eines weißen Grundes gefuͤrchtet haͤtte. So war auch keine Zeichnung ganz ausgefuͤllt; und wie haͤtte ich denn ein Gan¬ zes leiſten ſollen, das ich wohl mit Augen ſah, aber nicht begriff, und wie ein Einzel¬24 nes, das ich zwar kannte, aber dem zu fol¬ gen ich weder Fertigkeit noch Geduld hatte. Wirklich war auch in dieſem Puncte die Paͤ¬ dagogik meines Vaters zu bewundern. Er fragte wohlwollend nach meinen Verſuchen, und zog Linien um jede unvollkommene Skizze: er wollte mich dadurch zur Vollſtaͤndigkeit und Ausfuͤhrlichkeit noͤthigen; die unregelmaͤßi¬ gen Blaͤtter ſchnitt er zurechte, und machte damit den Anfang zu einer Sammlung, in der er ſich dereinſt der Fortſchritte ſeines Soh¬ nes freuen wollte. Es war ihm daher kei¬ neswegs unangenehm, wenn mich mein wil¬ des unſtaͤtes Weſen in der Gegend umher¬ trieb, vielmehr zeigte er ſich zufrieden, wenn ich nur irgend ein Heft zuruͤckbrachte, an dem er ſeine Geduld uͤben und ſeine Hoffnungen einigermaßen ſtaͤrken konnte.
Man ſorgte nicht mehr, daß ich in mei¬ ne fruͤheren Neigungen und Verhaͤltniſſe zu¬ ruͤckfallen koͤnnte, man ließ mir nach und nach25 vollkommene Freyheit. Durch zufaͤllige An¬ regung, ſo wie in zufaͤlliger Geſellſchaft ſtellte ich manche Wanderungen nach dem Gebirge an, das von Kindheit auf ſo fern und ernſt¬ haft vor mir geſtanden hatte. So beſuchten wir Homburg, Kroneburg, beſtiegen den Feld¬ berg, von dem uns die weite Ausſicht immer mehr in die Ferne lockte. Da blieb denn Koͤ¬ nigſtein nicht unbeſucht; Wisbaden, Schwal¬ bach mit ſeinen Umgebungen beſchaͤftigten uns mehrere Tage; wir gelangten an den Rhein, den wir, von den Hoͤhen herab, weit her ſchlaͤngeln geſehen. Maynz ſetzte uns in Ver¬ wunderung, doch konnte es den jugendlichen Sinn nicht feſſeln, der ins Freye ging; wir erheiterten uns an der Lage von Biberich, und nahmen zufrieden und froh unſeren Ruͤckweg.
Dieſe ganze Tour, von der ſich mein Va¬ ter manches Blatt verſprach, waͤre beynahe ohne Frucht geweſen: denn welcher Sinn, welches Talent, welche Uebung gehoͤrt nicht26 dazu, eine weite und breite Landſchaft als Bild zu begreifen! Unmerklich wieder zog es mich jedoch ins Enge, wo ich einige Ausbeu¬ te fand: denn ich traf kein verfallenes Schloß, kein Gemaͤuer, das auf die Vorzeit hindeute¬ te, daß ich es nicht fuͤr einen wuͤrdigen Ge¬ genſtand gehalten und ſo gut als moͤglich nach¬ gebildet haͤtte. Selbſt den Druſenſtein auf dem Walle zu Maynz zeichnete ich mit eini¬ ger Gefahr und mit Unſtatten, die ein Jeder erleben muß, der ſich von Reiſen einige bild¬ liche Erinnerungen mit nach Hauſe nehmen will. Leider hatte ich abermals nur das ſchlechteſte Conceptpapier mitgenommen und mehrere Gegenſtaͤnde unſchicklich auf ein Blatt gehaͤuft; aber mein vaͤterlicher Lehrer ließ ſich dadurch nicht irre machen; er ſchnitt die Blaͤt¬ ter aus einander, ließ das Zuſammenpaſſende durch den Buchbinder aufziehen, faßte die einzelnen Blaͤtter in Linien und noͤthigte mich dadurch wirklich, die Umriſſe verſchiedener Berge bis an den Rand zu ziehen und den27 Vordergrund mit einigen Kraͤutern und Stei¬ nen auszufuͤllen.
Konnten ſeine treuen Bemuͤhungen auch mein Talent nicht ſteigern, ſo hatte doch die¬ ſer Zug ſeiner Ordnungsliebe einen geheimen Einfluß auf mich, der ſich ſpaͤterhin auf mehr als eine Weiſe lebendig erwies.
Von ſolchen halb lebensluſtigen, halb kuͤnſt¬ leriſchen Streifpartieen, welche ſich in kurzer Zeit vollbringen und oͤfters wiederholen lie¬ ßen, ward ich jedoch wieder nach Hauſe ge¬ zogen, und zwar durch einen Magneten, der von jeher ſtark auf mich wirkte; es war mei¬ ne Schweſter. Sie, nur ein Jahr juͤnger als ich, hatte mein ganzes bewußtes Leben mit mir herangelebt und ſich dadurch mit mir aufs innigſte verbunden. Zu dieſen natuͤrli¬ chen Anlaͤſſen geſellte ſich noch ein aus unſe¬ rer haͤuslichen Lage hervorgehender Drang; ein zwar liebevoller und wohlgeſinnter, aber28 ernſter Vater, der, weil er innerlich ein ſehr zartes Gemuͤth hegte, aͤußerlich mit unglaub¬ licher Conſequenz eine eherne Strenge vorbil¬ dete, damit er zu dem Zwecke gelangen moͤ¬ ge, ſeinen Kindern die beſte Erziehung zu ge¬ ben, ſein wohlgegruͤndetes Haus zu erbauen, zu ordnen und zu erhalten; dagegen eine Mut¬ ter faſt noch Kind, welche erſt mit und in ih¬ ren beyden Aelteſten zum Bewußtſeyn heran¬ wuchs; dieſe drey, wie ſie die Welt mit ge¬ ſundem Blicke gewahr wurden, lebensfaͤhig und nach gegenwaͤrtigem Genuß verlangend. Ein ſolcher in der Familie ſchwebender Wider¬ ſtreit vermehrte ſich mit den Jahren. Der Vater verfolgte ſeine Abſicht unerſchuͤttert und ununterbrochen; Mutter und Kinder konnten ihre Gefuͤhle, ihre Anforderungen, ihre Wuͤn¬ ſche nicht aufgeben.
Unter dieſen Umſtaͤnden war es natuͤrlich, daß Bruder und Schweſter ſich feſt an ein¬ ander ſchloſſen und ſich zur Mutter hielten,29 um die im Ganzen verſagten Freuden wenig¬ ſtens einzeln zu erhaſchen. Da aber die Stun¬ den der Eingezogenheit und Muͤhe ſehr lang und weit waren gegen die Augenblicke der Erholung und des Vergnuͤgens, beſonders fuͤr meine Schweſter, die das Haus niemals auf ſo lange Zelt als ich verlaſſen konnte; ſo ward ihr Beduͤrfniß, ſich mit mir zu unterhalten, noch durch die Sehnſucht geſchaͤrft, mit der ſie mich in die Ferne begleitete.
Und ſo wie in den erſten Jahren Spiel und Lernen, Wachsthum und Bildung den Geſchwiſtern voͤllig gemein war, ſo daß ſie ſich wohl fuͤr Zwillinge halten konnten; ſo blieb auch unter ihnen dieſe Gemeinſchaft, dieſes Vertrauen, bey Entwickelung phyſiſcher und moraliſcher Kraͤfte. Jenes Intereſſe der Jugend, jenes Erſtaunen beym Erwachen ſinn¬ licher Triebe, die ſich in geiſtige Formen, geiſtiger Beduͤrfniſſe, die ſich in ſinnliche Ge¬ ſtalten einkleiden, alle Betrachtungen daruͤber30 die uns eher verduͤſtern als aufklaͤren, wie ein Nebel das Thal, woraus er ſich empor¬ heben will, zudeckt und nicht erhellt, manche Irrungen und Verirrungen, die daraus ent¬ ſpringen, theilten und beſtanden die Geſchwi¬ ſter Hand in Hand, und wurden uͤber ihre ſeltſamen Zuſtaͤnde um deſto weniger aufge¬ klaͤrt, als die heilige Scheu der nahen Ver¬ wandtſchaft ſie, indem ſie ſich einander mehr naͤhern, ins Klare treten wollten, nur immer gewaltiger aus einander hielt.
Ungern ſpreche ich dieß im Allgemeinen aus, was ich vor Jahren darzuſtellen unter¬ nahm, ohne daß ich es haͤtte ausfuͤhren koͤn¬ nen. Da ich dieſes geliebte, unbegreifliche Weſen nur zu bald verlor, fuͤhlte ich genug¬ ſamen Anlaß, mir ihren Werth zu vergegen¬ waͤrtigen, und ſo entſtand bey mir der Be¬ griff eines dichteriſchen Ganzen, in welchem es moͤglich geweſen waͤre, ihre Individualitaͤt darzuſtellen: allein es ließ ſich dazu keine an¬31 dere Form denken als die der Richardſonſchen Romane. Nur durch das genauſte Detail, durch unendliche Einzelnheiten, die lebendig alle den Character des Ganzen tragen und, indem ſie aus einer wunderſamen Tiefe her¬ vorſpringen, eine Ahndung von dieſer Tiefe geben; nur auf ſolche Weiſe haͤtte es einiger¬ maßen gelingen koͤnnen, eine Vorſtellung die¬ ſer merkwuͤrdigen Perſoͤnlichkeit mitzutheilen: denn die Quelle kann nur gedacht werden, in ſofern ſie fließt. Aber von dieſem ſchoͤ¬ nen und frommen Vorſatz zog mich, wie von ſo vielen anderen, der Tumult der Welt zu¬ ruͤck, und nun bleibt mir nichts uͤbrig, als den Schatten jenes ſeligen Geiſtes nur, wie durch Huͤlfe eines magiſchen Spiegels, auf einen Augenblick heranzurufen.
Sie war groß, wohl - und zart gebaut und hatte etwas Natuͤrlichwuͤrdiges in ihrem Betragen, das in eine angenehme Weichheit verſchmolz. Die Zuͤge ihres Geſichts, weder32 bedeutend noch ſchoͤn, ſprachen von einem Weſen, das weder mit ſich einig war, noch werden konnte. Ihre Augen waren nicht die ſchoͤnſten, die ich jemals ſah, aber die tief¬ ſten, hinter denen man am meiſten erwartete, und wenn ſie irgend eine Neigung, eine Lie¬ be ausdruͤckten, einen Glanz hatten ohne Glei¬ chen; und doch war dieſer Ausdruck eigentlich nicht zaͤrtlich, wie der, der aus dem Herzen kommt und zugleich etwas Sehnſuͤchtiges und Verlangendes mit ſich fuͤhrt; dieſer Ausdruck kam aus der Seele, er war voll und reich, er ſchien nur geben zu wollen, nicht des Em¬ pfangens zu beduͤrfen.
Was ihr Geſicht aber ganz eigentlich ent¬ ſtellte, ſo daß ſie manchmal wirklich haͤßlich ausſehen konnte, war die Mode jener Zeit, welche nicht allein die Stirn entbloͤßte, ſon¬ dern auch alles that, um ſie ſcheinbar oder wirklich, zufaͤllig oder vorſaͤtzlich zu vergroͤ¬ ßern. Da ſie nun die weiblichſte, reingewoͤlb¬33 teſte Stirn hatte und dabey ein Paar ſtarke ſchwarze Augenbrauen und vorliegende Augen; ſo entſtand aus dieſen Verhaͤltniſſen ein Con¬ traſt, der einen jeden Fremden fuͤr den erſten Augenblick wo nicht abſtieß, doch wenigſtens nicht anzog. Sie empfand es fruͤh, und dieß Gefuͤhl ward immer peinlicher, je mehr ſie in die Jahre trat, wo beyde Geſchlechter ei¬ ne unſchuldige Freude empfinden, ſich wechſel¬ ſeitig angenehm zu werden.
Niemanden kann ſeine eigne Geſtalt zu¬ wider ſeyn, der Haͤßlichſte wie der Schoͤnſte hat das Recht ſich ſeiner Gegenwart zu freu¬ en; und da das Wohlwollen verſchoͤnt, und ſich Jedermann mit Wohlwollen im Spiegel beſieht, ſo kann man behaupten, daß Jeder ſich auch mit Wohlgefallen erblicken muͤſſe, ſelbſt wenn er ſich dagegen ſtraͤuben wollte. Meine Schweſter hatte jedoch eine ſo entſchie¬ dene Anlage zum Verſtand, daß ſie hier un¬ moͤglich blind und albern ſeyn konnte; ſieII. 334wußte vielmehr vielleicht deutlicher als billig, daß ſie hinter ihren Geſpielinnen an aͤußerer Schoͤnheit ſehr weit zuruͤckſtehe, ohne zu ih¬ rem Troſte zu fuͤhlen, daß ſie ihnen an inne¬ ren Vorzuͤgen unendlich uͤberlegen ſey.
Kann ein Frauenzimmer fuͤr den Mangel von Schoͤnheit entſchaͤdigt werden, ſo war ſie es reichlich durch das unbegrenzte Vertrauen, die Achtung und Liebe, welche ſaͤmmtliche Freundinnen zu ihr trugen; ſie mochten aͤlter oder juͤnger ſeyn, alle hegten die gleichen Em¬ pfindungen. Eine ſehr angenehme Geſellſchaft hatte ſich um ſie verſammelt, es fehlte nicht an jungen Maͤnnern, die ſich einzuſchleichen wußten, faſt jedes Maͤdchen fand einen Freund; nur ſie war ohne Haͤlfte geblieben. Freylich, wenn ihr Aeußeres einigermaßen abſtoßend war, ſo wirkte das Innere, das hindurch¬ blickte, mehr ablehnend, als anziehend: denn die Gegenwart einer jeden Wuͤrde weiſt den andern auf ſich ſelbſt zuruͤck. Sie fuͤhlte es35 lebhaft, ſie verbarg mir's nicht, und ihre Neigung wendete ſich deſto kraͤftiger zu mir. Der Fall war eigen genug. So wie Ver¬ traute, denen man ein Liebesverſtaͤndniß of¬ fenbart, durch aufrichtige Theilnahme wirklich Mitliebende werden, ja zu Rivalen heran¬ wachſen und die Neigung zuletzt wohl auf ſich ſelbſt hinziehen, ſo war es mit uns Geſchwi¬ ſtern: denn indem mein Verhaͤltniß zu Gret¬ chen zerriß, troͤſtete mich meine Schweſter um deſto ernſtlicher, als ſie heimlich die Zufrie¬ denheit empfand, eine Nebenbuhlerinn losge¬ worden zu ſeyn; und ſo mußte auch ich mit einer ſtillen Halbſchadenfreude empfinden, wenn ſie mir Gerechtigkeit widerfahren ließ, daß ich der Einzige ſey, der ſie wahrhaft liebe, ſie kenne und ſie verehre. Wenn ſich nun bey mir von Zeit zu Zeit der Schmerz uͤber Gretchens Verluſt erneuerte und ich aus dem Stegreife zu weinen, zu klagen und mich un¬ gebaͤrdig zu ſtellen anfing, ſo erregte meine Verzweifelung uͤber das Verlorene bey ihr ei¬3 *36ne gleichfalls verzweifelnde Ungeduld uͤber das Niebeſeſſene, Mislungene und Voruͤbergeſtri¬ chene ſolcher jugendlichen Neigungen, daß wir uns beyde grenzenlos ungluͤcklich hielten, und um ſo mehr, als in dieſem ſeltſamen Falle die Vertrauenden ſich nicht in Liebende um¬ wandeln durften.
Gluͤcklicherweiſe miſchte ſich jedoch der wun¬ derliche Liebesgott, der ohne Noth ſo viel Unheil anrichtet, hier einmal wohlthaͤtig mit ein, um uns aus aller Verlegenheit zu zie¬ hen. Mit einem jungen Englaͤnder, der ſich in der Pfeiliſchen Penſion bildete, hatte ich viel Verkehr. Er konnte von ſeiner Sprache gute Rechenſchaft geben, ich uͤbte ſie mit ihm und erfuhr dabey Manches von ſeinem Lande und Volke. Er ging lange genug bey uns aus und ein, ohne daß ich eine Neigung zu meiner Schweſter an ihm bemerkte, doch moch¬ te er ſie im Stillen bis zur Leidenſchaft ge¬ naͤhrt haben: denn endlich erklaͤrte ſich's un¬37 verſehens und auf einmal. Sie kannte ihn, ſie ſchaͤtzte ihn, und er verdiente es. Sie war oft bey unſeren engliſchen Unterhaltungen die Dritte geweſen, wir hatten aus ſeinem Munde uns beyde die Wunderlichkeiten der engliſchen Ausſprache anzueignen geſucht, und uns dadurch nicht nur das Beſondere ihres Tones und Klanges, ſondern ſogar das Be¬ ſonderſte der perſoͤnlichen Eigenheiten unſeres Lehrers angewoͤhnt, ſo daß es zuletzt ſeltſam genug klang, wenn wir zuſammen wie aus Einem Munde zu reden ſchienen. Seine Be¬ muͤhung, von uns auf gleiche Weiſe ſo viel vom Deutſchen zu lernen, wollte nicht gelin¬ gen, und ich glaube bemerkt zu haben, daß auch jener kleine Liebeshandel, ſowohl ſchrift¬ lich als muͤndlich, in engliſcher Sprache durch¬ gefuͤhrt wurde. Beyde junge Perſonen ſchick¬ ten ſich recht gut fuͤr einander: er war groß und wohlgebaut, wie ſie, nur noch ſchlanker; ſein Geſicht, klein und eng beyſammen, haͤtte wirklich huͤbſch ſeyn koͤnnen, waͤre es durch38 die Blattern nicht allzuſehr entſtellt geweſen; ſein Betragen war ruhig, beſtimmt, man durfte es wohl manchmal trocken und kalt nennen; aber ſein Herz war voll Guͤte und Liebe, ſeine Seele voll Edelmuth und ſeine Neigungen ſo dauernd als entſchieden und gelaſſen. Nun zeichnete ſich dieſes ernſte Paar, das ſich erſt neuerlich zuſammengefunden hat¬ te, unter den anderen ganz eigen aus, die ſchon mehr mit einander bekannt, von leich¬ teren Characteren, ſorglos wegen der Zukunft, ſich in jenen Verhaͤltniſſen leichtſinnig herum¬ trieben, die gewoͤhnlich nur als ein fruchtlo¬ ſes Vorſpiel kuͤnftiger ernſterer Verbindungen voruͤbergehen, und ſehr ſelten eine dauernde Folge auf das Leben bewirken.
Die gute Jahrszeit, die ſchoͤne Gegend blieb fuͤr eine ſo muntere Geſellſchaft nicht unbenutzt; Waſſerfahrten ſtellte man haͤufig an, weil dieſe die geſelligſten von allen Luſt¬ partieen ſind. Wir mochten uns jedoch zu39 Waſſer oder zu Lande bewegen, ſo zeigten ſich gleich die einzelnen anziehenden Kraͤfte; jedes Paar ſchloß ſich zuſammen, und fuͤr ei¬ nige Maͤnner, die nicht verſagt waren, wor¬ unter ich auch gehoͤrte, blieb entweder gar keine weibliche Unterhaltung, oder eine ſolche, die man an einem luſtigen Tage nicht wuͤrde gewaͤhlt haben. Ein Freund, der ſich in glei¬ chem Falle befand, und dem es an einer Haͤlf¬ te hauptſaͤchlich deswegen ermangeln mochte, weil es ihm, bey dem beſten Humor, an Zaͤrtlichkeit, und bey viel Verſtand, an jener Aufmerkſamkeit fehlte, ohne welche ſich Ver¬ bindungen ſolcher Art nicht denken laſſen; die¬ ſer, nachdem er oͤfters ſeinen Zuſtand launig und geiſtreich beklagt, verſprach, bey der naͤch¬ ſten Verſammlung einen Vorſchlag zu thun, wodurch ihm und dem Ganzen geholfen wer¬ den ſollte. Auch verfehlte er nicht ſein Ver¬ ſprechen zu erfuͤllen: denn als wir, nach ei¬ ner glaͤnzenden Waſſerfahrt und einem ſehr anmuthigen Spazirgang, zwiſchen ſchattigen40 Huͤgeln gelagert im Gras, oder ſitzend auf bemooſten Felſen und Baumwurzeln, heiter und froh ein laͤndliches Mahl verzehrt hat¬ ten, und uns der Freund alle heiter und gu¬ ter Dinge ſah, gebot er mit ſchalkhafter Wuͤr¬ de, einen Halbkreis ſitzend zu ſchließen, vor den er hintrat und folgendermaßen emphatiſch zu peroriren anfing:
„ Hoͤchſt werthe Freunde und Freundinnen, Gepaarte und Ungepaarte! — Schon aus dieſer Anrede erhellet, wie noͤthig es ſey, daß ein Bußprediger auftrete und der Geſellſchaft das Gewiſſen ſchaͤrfe. Ein Theil meiner ed¬ len Freunde iſt gepaart, und mag ſich dabey ganz wohl befinden, ein anderer ungepaart, der befindet ſich hoͤchſt ſchlecht, wie ich aus eigner Erfahrung verſichern kann; und wenn nun gleich die lieben Gepaarten hier die Mehr¬ zahl ausmachen, ſo gebe ich ihnen doch zu be¬ denken, ob es nicht eben geſellige Pflicht ſey, fuͤr alle zu ſorgen? Warum vereinigen wir41 uns zahlreich? als um an einander wechſelſei¬ tig Theil zu nehmen; und wie kann das ge¬ ſchehen? wenn ſich in unſerem Kreiſe wieder ſo viele kleine Abſonderungen bemerken laſſen. Weit entfernt bin ich, etwas gegen ſo ſchoͤne Verhaͤltniſſe meynen, oder nur daran ruͤhren zu wollen; aber alles hat ſeine Zeit! ein ſchoͤ¬ nes, großes Wort, woran freylich Niemand denkt, wenn ihm fuͤr Zeitvertreib hinreichend geſorgt iſt. “
Er fuhr darauf immer lebhafter und luſti¬ ger fort, die geſelligen Tugenden den zaͤrtli¬ chen Empfindungen gegenuͤberzuſtellen. Dieſe, ſagte er, koͤnnen uns niemals fehlen, wir tra¬ gen ſie immer bey uns, und Jeder wird dar¬ in leicht ohne Uebung ein Meiſter; aber jene muͤſſen wir aufſuchen, wir muͤſſen uns um ſie bemuͤhen, und wir moͤgen darin ſo viel wir wollen fortſchreiten, ſo lernt man ſie doch niemals ganz aus. — Nun ging er ins Be¬ ſondere. Mancher mochte ſich getroffen fuͤh¬42 len, und man konnte nicht unterlaſſen, ſich unter einander anzuſehen; doch hatte der Freund das Privilegium, daß man ihm nichts uͤbel nahm, und ſo konnte er ungeſtoͤrt fort¬ fahren.
„ Die Maͤngel aufdecken iſt nicht genug; ja man hat Unrecht ſolches zu thun, wenn man nicht zugleich das Mittel zu dem beſſe¬ ren Zuſtande anzugeben weiß. Ich will Euch, meine Freunde, daher nicht etwa, wie ein Charwochenprediger, zur Buße und Beſſerung im Allgemeinen ermahnen, vielmehr wuͤnſche ich ſaͤmmtlichen liebenswuͤrdigen Paaren das laͤngſte und dauerhafteſte Gluͤck, und um hie¬ zu ſelbſt auf das ſicherſte beyzutragen, thue ich den Vorſchlag, fuͤr unſere geſelligen Stun¬ den dieſe kleinen allerliebſten Abſonderungen zu trennen und aufzuheben. Ich habe, fuhr er fort, ſchon fuͤr die Ausfuͤhrung geſorgt, wenn ich Beyfall finden ſollte. Hier iſt ein Beutel, in dem die Namen der Herren be¬43 findlich ſind; ziehen Sie nun, meine Schoͤ¬ nen, und laſſen Sie Sich's gefallen, denje¬ nigen auf acht Tage als Diener zu beguͤnſti¬ gen, den Ihnen das Loos zuweiſt. Dieß gilt nur innerhalb unſeres Kreiſes; ſobald er aufgehoben iſt, ſind auch dieſe Verbindungen aufgehoben, und wer Sie nach Hauſe fuͤhren ſoll, mag das Herz entſcheiden. “
Ein großer Theil der Geſellſchaft war uͤber dieſe Anrede und die Art, wie er ſie vortrug, froh geworden und ſchien den Einfall zu bil¬ ligen; einige Paare jedoch ſahen vor ſich hin, als glaubten ſie dabey nicht ihre Rechnung zu finden: deshalb rief er mit launiger Hef¬ tigkeit:
„ Fuͤrwahr! es uͤberraſcht mich, daß nicht Jemand aufſpringt, und obgleich noch andere zaudern, meinen Vorſchlag anpreiſt, deſſen Vortheile auseinanderſetzt, und mir erſpart mein eigner Lobredner zu ſeyn. Ich bin der44 Aelteſte unter Ihnen; das mir Gott verzeihe! Schon habe ich eine Glatze, daran iſt mein großes Nachdenken Schuld. “—
Hier nahm er den Hut ab —
„ Aber ich wuͤrde ſie mit Freuden und Eh¬ ren zur Schau ſtellen, wenn meine eignen Ueberlegungen, die mir die Haut austrocknen und mich des ſchoͤnſten Schmucks berauben, nur auch mir und Anderen einigermaßen foͤr¬ derlich ſeyn koͤnnten. Wir ſind jung, meine Freunde, das iſt ſchoͤn; wir werden aͤlter werden, das iſt dumm; wir nehmen uns un¬ ter einander wenig uͤbel, das iſt huͤbſch und der Jahreszeit gemaͤß. Aber bald, meine Freunde, werden die Tage kommen, wo wir uns ſelbſt manches uͤbel zu nehmen haben: da mag denn jeder ſehen, wie er mit ſich zu¬ rechte kommt; aber zugleich werden uns andre manches uͤbel nehmen, und zwar wo wir es gar nicht begreifen; darauf muͤſſen wir45 uns vorbereiten, und dieſes ſoll nunmehr ge¬ ſchehen. “
Er hatte die ganze Rede, beſonders aber die letzte Stelle, mit Ton und Gebaͤrden eines Kapuziners vorgetragen: denn da er catholiſch war, ſo mochte er genugſame Gelegenheit ge¬ habt haben, die Redekunſt dieſer Vaͤter zu ſtudiren. Nun ſchien er außer Athem, trock¬ nete ſein jung-kahles Haupt, das ihm wirk¬ lich das Anſehen eines Pfaffen gab, und ſetz¬ te durch dieſe Poſſen die leichtgeſinnte Socie¬ taͤt in ſo gute Laune, daß Jedermann be¬ gierig war ihn weiter zu hoͤren. Allein an¬ ſtatt fortzufahren, zog er den Beutel und wendete ſich zur naͤchſten Dame: „ Es kommt auf einen Verſuch an! rief er aus, das Werk wird den Meiſter loben. Wenn es in acht Tagen nicht gefaͤllt, ſo geben wir es auf und es mag bey dem Alten bleiben! “ 46Halb willig, halb genoͤthigt zogen die Da¬ men ihre Roͤllchen, und gar leicht bemerkte man, daß bey dieſer geringen Handlung man¬ cherley Leidenſchaften im Spiel waren. Gluͤck¬ licherweiſe traf ſich's, daß die Heitergeſinnten getrennt wurden, die Ernſteren zuſammenblie¬ ben; und ſo behielt auch meine Schweſter ih¬ ren Englaͤnder, welches ſie beyderſeits dem Gott der Liebe und des Gluͤcks ſehr gut auf¬ nahmen. Die neuen Zufallspaare wurden ſo¬ gleich von dem Antiſtes zuſammengegeben, auf ihre Geſundheit getrunken und allen um ſo mehr Freude gewuͤnſcht, als ihre Dauer nur kurz ſeyn ſollte. Gewiß aber war dieß der heiterſte Moment, den unſere Geſellſchaft ſeit langer Zeit genoſſen. Die jungen Maͤnner, denen kein Frauenzimmer zu Theil geworden, erhielten nunmehr das Amt, dieſe Woche uͤber fuͤr Geiſt, Seele und Leib zu ſorgen, wie ſich unſer Redner ausdruͤckte, beſonders aber, meynte er, fuͤr die Seele, weil die beyden an¬ deren ſich ſchon eher ſelbſt zu helfen wuͤßten.
47Die Vorſteher, die ſich gleich Ehre ma¬ chen wollten, brachten ganz artige neue Spie¬ le ſchnell in Gang, bereiteten in einiger Fer¬ ne eine Abendkoſt, auf die man nicht gerech¬ net hatte, illuminirten bey unſerer naͤchtlichen Ruͤckkehr die Jacht, ob es gleich, bey dem hellen Mondſchein, nicht noͤthig geweſen waͤ¬ re; ſie entſchuldigten ſich aber damit, daß es der neuen geſelligen Einrichtung ganz gemaͤß ſey, die zaͤrtlichen Blickt des himmliſchen Mondes durch irdiſche Lichter zu uͤberſcheinen. In dem Augenblick als wir ans Land ſtie¬ gen, rief unſer Solon: „ ite missa est! “ein Jeder fuͤhrte die ihm durch's Loos zugefalle¬ ne Dame noch aus dem Schiffe und uͤbergab ſie alsdann ihrer eigentlichen Haͤlfte, wogegen er ſich wieder die ſeinige eintauſchte.
Bey der naͤchſten Zuſammenkunft ward dieſe woͤchentliche Einrichtung fuͤr den Som¬ mer feſtgeſetzt und die Verlooſung abermals vorgenommen. Es war keine Frage, daß48 durch dieſen Scherz eine neue und unerwar¬ tete Wendung in die Geſellſchaft kam, und ein Jeder angeregt ward, was ihm von Geiſt und Anmuth beywohnte an den Tag zu brin¬ gen und ſeiner augenblicklichen Schoͤnen auf das verbindlichſte den Hof zu machen, indem er ſich wohl zutraute, wenigſtens fuͤr eine Woche genugſamen Vorrath zu Gefaͤlligkeiten zu haben.
Man hatte ſich kaum eingerichtet, als man unſerem Redner, ſtatt ihm zu danken, den Vorwurf machte, er habe das Beſte ſei¬ ner Rede, den Schluß, fuͤr ſich behalten. Er verſicherte darauf, das Beſte einer Rede ſey die Ueberredung, und wer nicht zu uͤberreden gedenke, muͤſſe gar nicht reden: denn mit der Ueberzeugung ſey es eine mißliche Sache. Als man ihm demohngeachtet keine Ruhe ließ, begann er ſogleich eine Kapuzinade, fra¬ tzenhafter als je, vielleicht gerade darum, weil er die ernſthafteſten Dinge zu ſagen gedachte.
49Er fuͤhrte naͤmlich mit Spruͤchen aus der Bi¬ bel, die nicht zur Sache paßten, mit Gleich¬ niſſen, die nicht trafen, mit Anſpielungen, die nichts erlaͤuterten, den Satz aus, daß wer ſeine Leidenſchaften, Neigungen, Wuͤn¬ ſche, Vorſaͤtze, Plane nicht zu verbergen wiſ¬ ſe, in der Welt zu nichts komme, ſondern aller Orten und Enden geſtoͤrt und zum Be¬ ſten gehabt werde; vorzuͤglich aber, wenn man in der Liebe gluͤcklich ſeyn wolle, habe man ſich des tiefſten Geheimniſſes zu befleißigen.
Dieſer Gedanke ſchlang ſich durch das Ganze durch, ohne daß eigentlich ein Wort davon waͤre ausgeſprochen worden. Will man ſich einen Begriff von dieſem ſeltſamen Men¬ ſchen machen, ſo bedenke man, daß er mit viel Anlage geboren, ſeine Talente und be¬ ſonders ſeinen Scharfſinn in Jeſuiterſchulen ausgebildet und eine große Welt - und Men¬ ſchenkenntniß, aber nur von der ſchlimmen Seite, zuſammengewonnen hatte. Er warII. 450etwa zwey und zwanzig Jahr alt, und haͤtte mich gern zum Proſelyten ſeiner Menſchen¬ verachtung gemacht; aber es wollte nicht bey mir greifen, denn ich hatte noch immer gro¬ ße Luſt, gut zu ſeyn und Andere gut zu fin¬ den. Indeſſen bin ich durch ihn auf vieles aufmerkſam geworden.
Das Perſonal einer jeden heiteren Geſell¬ ſchaft vollſtaͤndig zu machen gehoͤrt nothwen¬ dig ein Acteur, welcher Freude daran hat, wenn die Uebrigen, um ſo manchen gleich¬ guͤltigen Moment zu beleben, die Pfeile des Witzes gegen ihn richten moͤgen. Iſt er nicht bloß ein ausgeſtopfter Sarazene, wie derjeni¬ ge, an dem bey Luſtkaͤmpfen die Ritter ihre Lanzen uͤbten, ſondern verſteht er ſelbſt zu ſcharmuziren, zu necken und aufzufordern, leicht zu verwunden und ſich zuruͤckzuziehen, und, indem er ſich Preis zu geben ſcheint, Anderen eins zu verſetzen, ſo kann nicht wohl etwas Anmuthigeres gefunden werden. Einen51 ſolchen beſaßen wir an unſerem Freund Horn, deſſen Name ſchon zu allerley Scherzen An¬ laß gab und der, wegen ſeiner kleinen Ge¬ ſtalt, immer nur Hoͤrnchen genannt wurde. Er war wirklich der Kleinſte in der Geſell¬ ſchaft, von derben, aber gefaͤlligen Formen; eine Stumpfnaſe, ein etwas aufgeworfener Mund, kleine funkelnde Augen bildeten ein ſchwarzbraunes Geſicht, das immer zum La¬ chen aufzufordern ſchien. Sein kleiner ge¬ drungener Schaͤdel war mit krauſen ſchwar¬ zen Haaren reich beſetzt, ſein Bart fruͤhzeitig blau, den er gar zu gern haͤtte wachſen laſ¬ ſen, um als comiſche Maske die Geſellſchaft immer im Lachen zu erhalten. Uebrigens war er nett und behend, behauptete aber krumme Beine zu haben, welches man ihm zugab, weil er es gern ſo wollte, woruͤber denn mancher Scherz entſtand: denn weil er als ein ſehr guter Taͤnzer geſucht wurde, ſo rechnete er es unter die Eigenheiten des Frau¬ enzimmers, daß ſie die krummen Beine im¬4 *52mer auf dem Plane ſehen wollten. Seine Heiterkeit war unverwuͤſtlich und ſeine Gegen¬ wart bey jeder Zuſammenkunft unentbehrlich. Wir beyde ſchloſſen uns um ſo enger an ein¬ ander, als er mir auf die Academie folgen ſollte; und er verdient wohl, daß ich ſeiner in allen Ehren gedenke, da er viele Jahre mit unendlicher Liebe, Treue und Geduld an mir gehalten hat.
Durch meine Leichtigkeit zu reimen und gemeinen Gegenſtaͤnden eine poetiſche Seite abzugewinnen, hatte er ſich gleichfalls zu ſol¬ chen Arbeiten verfuͤhren laſſen. Unſere klei¬ nen geſelligen Reiſen, Luſtpartieen und die dabey vorkommenden Zufaͤlligkeiten ſtutzten wir poetiſch auf, und ſo entſtand durch die Schil¬ derung einer Begebenheit immer eine neue Begebenheit. Weil aber gewoͤhnlich derglei¬ chen geſellige Scherze auf Verſpottung hin¬ auslaufen, und Freund Horn mit ſeinen bur¬ lesken Darſtellungen nicht immer in den ge¬53 hoͤrigen Grenzen blieb; ſo gab es manchmal Verdruß, der aber bald wieder gemildert und getilgt werden konnte.
So verſuchte er ſich auch in einer Dich¬ tungsart, welche ſehr an der Tagesordnung war, im comiſchen Heldengedicht. Pope's Lockenraub hatte viele Nachahmungen erweckt; Zachariaͤ cultivirte dieſe Dichtart auf deutſchem Grund und Boden, und Jedermann gefiel ſie, weil der gewoͤhnliche Gegenſtand derſel¬ ben irgend ein taͤppiſcher Menſch war, den die Genien zum Beſten hatten, indem ſie den beſſeren beguͤnſtigten.
Es iſt nicht wunderbar, aber es erregt doch Verwunderung, wenn man bey Betrach¬ tung einer Litteratur, beſonders der deutſchen, beobachtet, wie eine ganze Nation von einem einmal gegebenen und in einer gewiſſen Form mit Gluͤck behandelten Gegenſtand nicht wie¬ der loskommen kann, ſondern ihn auf alle54 Weiſe wiederholt haben will; da denn zuletzt, unter den angehaͤuften Nachahmungen, das Original ſelbſt verdeckt und erſtickt wird.
Das Heldengedicht meines Freundes war ein Beleg zu dieſer Bemerkung. Bey einer großen Schlittenfahrt wird einem taͤppiſchen Menſchen ein Frauenzimmer zu Theil, das ihn nicht mag; ihm begegnet neckiſch genug ein Ungluͤck nach dem andern, das bey einer ſolchen Gelegenheit ſich ereignen kann, bis er zuletzt, als er ſich das Schlittenrecht erbittet, von der Pritſche faͤllt, wobey ihm denn, wie natuͤrlich, die Geiſter ein Bein geſtellt haben. Die Schoͤne ergreift die Zuͤgel und faͤhrt al¬ lein nach Hauſe; ein beguͤnſtigter Freund em¬ pfaͤngt ſie und triumphirt uͤber den anmaßli¬ chen Nebenbuhler. Uebrigens war es ſehr artig ausgedacht, wie ihn die vier verſchiede¬ nen Geiſter nach und nach beſchaͤdigen, bis ihn endlich die Gnomen gar aus dem Sattel heben. Das Gedicht, in Alexandrinern ge¬55 ſchrieben, auf eine wahre Geſchichte gegruͤn¬ det, ergetzte unſer kleines Publicum gar ſehr, und man war uͤberzeugt, daß es ſich mit der Walpurgisnacht von Loͤven, oder dem Renommiſten von Zachariaͤ gar wohl meſſen koͤnne.
Indem nun unſere geſelligen Freuden nur einen Abend und die Vorbereitungen dazu wenige Stunden erforderten, ſo hatte ich Zeit genug zu leſen und, wie ich glaubte, zu ſtu¬ diren. Meinem Vater zu Liebe repetirte ich fleißig den kleinen Hopp, und konnte mich vorwaͤrts und ruͤckwaͤrts darin examiniren laſ¬ ſen, wodurch ich mir denn den Hauptinhalt der Inſtitutionen vollkommen zu eigen machte. Allein unruhige Wißbegierde trieb mich wei¬ ter, ich gerieth in die Geſchichte der alten Lit¬ teratur und von da in einen Encyclopaͤdismus, indem ich Geßners Iſagoge und Mor¬ hovs Polyhiſtor durchlief, und mir dadurch einen allgemeinen Begriff erwarb, wie man¬56 ches Wunderliche in Lehr und Leben ſchon mochte vorgekommen ſeyn. Durch dieſen an¬ haltenden und haſtigen, Tag und Nacht fort¬ geſetzten Fleiß verwirrte ich mich eher als ich mich bildete; ich verlor mich aber in ein noch groͤßeres Labyrinth, als ich Bayle'n in mei¬ nes Vaters Bibliothek fand und mich in den¬ ſelben vertiefte.
Eine Hauptuͤberzeugung aber, die ſich im¬ mer in mir erneuerte, war die Wichtigkeit der alten Sprachen: denn ſo viel draͤngte ſich mir aus dem litterariſchen Wirrwarr immer wieder entgegen, daß in ihnen alle Muſter der Redekuͤnſte und zugleich alles andere Wuͤr¬ dige, was die Welt jemals beſeſſen, aufbe¬ wahrt ſey. Das Hebraͤiſche ſo wie die bibli¬ ſchen Studien waren in den Hintergrund ge¬ treten, das Griechiſche gleichfalls, da meine Kenntniſſe deſſelben ſich nicht uͤber das neue Teſtament hinaus erſtreckten. Deſto ernſtli¬ cher hielt ich mich ans Lateiniſche, deſſen57 Muſterwerke uns naͤher liegen und das uns, nebſt ſo herrlichen Originalproductionen, auch den uͤbrigen Erwerb aller Zeiten in Ueberſe¬ tzungen und Werken der groͤßten Gelehrten darbietet. Ich las daher viel in dieſer Spra¬ che mit großer Leichtigkeit, und durfte glau¬ ben die Autoren zu verſtehen, weil mir am buchſtaͤblichen Sinne nichts abging. Ja es verdroß mich gar ſehr, als ich vernahm, Gro¬ tius habe uͤbermuͤthig geaͤußert, er leſe den Terenz anders als die Knaben. Gluͤckliche Beſchraͤnkung der Jugend! ja der Menſchen uͤberhaupt, daß ſie ſich in jedem Augenblicke ihres Daſeyns fuͤr vollendet halten koͤnnen, und weder nach Wahrem noch Falſchen, we¬ der nach Hohem noch Tiefen fragen, ſon¬ dern bloß nach dem, was ihnen gemaͤß iſt.
So hatte ich denn das Lateiniſche gelernt, wie das Deutſche, das Franzoͤſiſche, das Eng¬ liſche, nur aus dem Gebrauch, ohne Regel und ohne Begriff. Wer den damaligen Zu¬58 ſtand des Schulunterrichts kennt, wird nicht ſeltſam finden, daß ich die Grammatik uͤber¬ ſprang, ſo wie die Redekunſt: mir ſchien al¬ les natuͤrlich zuzugehen, ich behielt die Wor¬ te, ihre Bildungen und Umbildungen in Ohr und Sinn, und bediente mich der Sprache mit Leichtigkeit zum Schreiben und Schwaͤtzen.
Michael, die Zeit, da ich die Academie beſuchen ſollte, ruͤckte heran, und mein In¬ neres ward eben ſo ſehr vom Leben als von der Lehre bewegt. Eine Abneigung gegen meine Vaterſtadt ward mir immer deutlicher. Durch Gretchens Entfernung war der Kna¬ ben - und Juͤnglingspflanze das Herz ausge¬ brochen; ſie brauchte Zeit, um an den Seiten wieder auszuſchlagen und den erſten Schaden durch neues Wachsthum zu uͤberwinden. Mei¬ ne Wanderungen durch die Straßen hatten aufgehoͤrt, ich ging nur, wie Andere, die noth¬ wendigen Wege. Nach Gretchens Viertel kam ich nie wieder, nicht einmal in die Gegend;59 und wie mir meine alten Mauern und Thuͤr¬ me nach und nach verleideten, ſo misfiel mir auch die Verfaſſung der Stadt, alles was mir ſonſt ſo ehrwuͤrdig vorkam, erſchien mir in verſchobenen Bildern. Als Enkel des Schultheißen waren mir die heimlichen Ge¬ brechen einer ſolchen Republik nicht unbekannt geblieben, um ſo weniger, als Kinder ein ganz eignes Erſtaunen fuͤhlen und zu emſigen Unterſuchungen angereizt werden, ſobald ihnen etwas, das ſie bisher unbedingt verehrt, eini¬ germaßen verdaͤchtig wird. Der vergebliche Verdruß rechtſchaffener Maͤnner im Wider¬ ſtreit mit ſolchen, die von Parteyen zu gewin¬ nen, wohl gar zu beſtechen ſind, war mir nur zu deutlich geworden, ich haßte jede Unge¬ rechtigkeit uͤber die Maßen: denn die Kinder ſind alle moraliſche Rigoriſten. Mein Vater, in die Angelegenheiten der Stadt nur als Privatmann verflochten, aͤußerte ſich im Ver¬ druß uͤber manches Mislungene ſehr lebhaft. Und ſah ich ihn nicht, nach ſo viel Studien.
60Bemuͤhungen, Reiſen und mannigfaltiger Bil¬ dung endlich zwiſchen ſeinen Brandmauern ein einſames Leben fuͤhren, wie ich mir es nicht wuͤnſchen konnte? Dieß zuſammen lag als eine entſetzliche Laſt auf meinem Gemuͤthe, von der ich mich nur zu befreyen wußte, indem ich mir einen ganz anderen Lebensplan, als den mir vorgeſchriebenen, zu erſinnen trachtete. Ich warf in Gedanken die juriſtiſchen Studien weg und widmete mich allein den Sprachen, den Alterthuͤmern, der Geſchichte und allem was daraus hervorquillt.
Zwar machte mir jederzeit die poetiſche Nachbildung deſſen, was ich an mir ſelbſt, an Anderen und an der Natur gewahr ge¬ worden, das groͤßte Vergnuͤgen. Ich that es mit immer wachſender Leichtigkeit, weil es aus Inſtinct geſchah und keine Kritik mich irre gemacht hatte; und wenn ich auch meinen Productionen nicht recht traute, ſo konnte ich ſie wohl als fehlerhaft, aber nicht als ganz ver¬61 werflich anſehen. Ward mir dieſes oder jenes daran getadelt, ſo blieb es doch im Stillen meine Ueberzeugung, daß es nach und nach immer beſſer werden muͤßte, und daß ich wohl einmal neben Hagedorn, Gellert und anderen ſolchen Maͤnnern mit Ehre duͤrfte genannt werden. Aber eine ſolche Beſtimmung allein ſchien mir allzuleer und unzulaͤnglich; ich woll¬ te mich mit Ernſt zu jenen gruͤndlichen Stu¬ dien bekennen, und indem ich, bey einer voll¬ ſtaͤndigeren Anſicht des Alterthums, in meinen eigenen Werken raſcher vorzuſchreiten dachte, mich zu einer academiſchen Lehrſtelle faͤhig ma¬ chen, welche mir das Wuͤnſchenswertheſte ſchien fuͤr einen jungen Mann, der ſich ſelbſt aus¬ zubilden und zur Bildung Anderer beyzutra¬ gen gedachte.
Bey dieſen Geſinnungen hatte ich immer Goͤttingen im Auge. Auf Maͤnnern, wie Heyne, Michaelis und ſo manchem Ande¬62 ren ruhte mein ganzes Vertrauen; mein ſehn¬ lichſter Wunſch war, zu ihren Fuͤßen zu ſitzen und auf ihre Lehren zu merken. Aber mein Vater blieb unbeweglich. Was auch einige Hausfreunde, die meiner Meynung waren, auf ihn zu wirken ſuchten; er beſtand dar¬ auf, daß ich nach Leipzig gehen muͤſſe. Nun hielt ich den Entſchluß, daß ich, gegen ſei¬ ne Geſinnungen und Willen, eine eigne Stu¬ dien - und Lebensweiſe ergreifen wollte, erſt recht fuͤr Nothwehr. Die Hartnaͤckigkeit mei¬ nes Vater, der, ohne es zu wiſſen, ſich mei¬ nen Planen entgegenſetzte, beſtaͤrkte mich in meiner Impietaͤt, daß ich mir gar kein Ge¬ wiſſen daraus machte, ihm Stunden lang zuzuhoͤren, wenn er mir den Curſus der Stu¬ dien und des Lebens, wie ich ihn auf Aca¬ demieen und in der Welt zu durchlaufen haͤt¬ te, vorerzaͤhlte und wiederholte.
Da mir alle Hoffnung nach Goͤttingen abgeſchnitten war, wendete ich nun meinen63 Blick nach Leipzig. Dort erſchien mir Er¬ neſti als ein helles Licht, auch Morus er¬ regte ſchon viel Vertrauen. Ich erſann mir im Stillen einen Gegencurſus, oder vielmehr ich baute ein Luftſchloß auf einen ziemlich ſo¬ liden Grund; und es ſchien mir ſogar roman¬ tiſch ehrenvoll, ſich ſeine eigne Lebensbahn vor¬ zuzeichnen, die mir um ſo weniger phanta¬ ſtiſch vorkam, als Griesbach auf dem aͤhn¬ lichen Wege ſchon große Fortſchritte gemacht hatte und deshalb von Jedermann geruͤhmt wurde. Die heimliche Freude eines Gefange¬ nen, wenn er ſeine Ketten abgeloͤſt und die Kerkergitter bald durchgefeilt hat, kann nicht groͤßer ſeyn, als die meine war, indem ich die Tage ſchwinden und den October heran¬ nahen ſah. Die unfreundliche Jahreszeit, die boͤſen Wege, von denen Jedermann zu er¬ zaͤhlen wußte, ſchreckten mich nicht. Der Gedanke, an einem fremden Orte zu Win¬ terszeit Einſtand geben zu muͤſſen, machte mich nicht truͤbe; genug ich ſah nur meine64 gegenwaͤrtigen Verhaͤltniſſe duͤſter, und ſtellte mir die uͤbrige unbekannte Welt licht und heiter vor. So bildete ich mir meine Traͤu¬ me, denen ich ausſchließlich nachhing, und verſprach mir in der Ferne nichts als Gluͤck und Zufriedenheit.
So ſehr ich auch gegen Jedermann von dieſen meinen Vorſaͤtzen ein Geheimniß mach¬ te, ſo konnte ich ſie doch meiner Schweſter nicht verbergen, die, nachdem ſie Anfangs dar¬ uͤber ſehr erſchrocken war, ſich zuletzt beru¬ higte, als ich ihr verſprach ſie nachzuholen, damit ſie ſich meines erworbenen glaͤnzenden Zuſtandes mit mir erfreuen und an meinem Wohlbehagen Theil nehmen koͤnnte.
Michael kam endlich, ſehnlich erwartet, heran, da ich denn mit dem Buchhaͤndler Flei¬ ſcher und deſſen Gattinn, einer geborenen Triller, welche ihren Vater in Wittenberg beſuchen wollte, mit Vergnuͤgen abfuhr, und65 die werthe Stadt, die mich geboren und er¬ zogen, gleichguͤltig hinter mir ließ, als wenn ich ſie nie wieder betreten wollte.
So loͤſen ſich in gewiſſen Epochen Kinder von Aeltern, Diener von Herren, Beguͤnſtigte von Goͤnnern los, und ein ſolcher Verſuch, ſich auf ſeine Fuͤße zu ſtellen, ſich unabhaͤn¬ gig zu machen, fuͤr ſein eigen Selbſt zu leben, er gelinge oder nicht, iſt immer dem Wil¬ len der Natur gemaͤß.
Wir waren zur Allerheiligen-Pforte hin¬ ausgefahren und hatten bald Hanau hinter uns, da ich denn zu Gegenden gelangte, die durch ihre Neuheit meine Aufmerkſamkeit er¬ regten, wenn ſie auch in der jetzigen Jahrszeit wenig Erfreuliches darboten. Ein anhaltender Regen hatte die Wege aͤußert verdorben, welche uͤberhaupt noch nicht in den guten Stand ge¬ ſetzt waren, in welchem wir ſie nachmals finden; und unſere Reiſe war daher weder angenehmII. 566noch gluͤcklich. Doch verdankte ich dieſer feuch¬ ten Witterung den Anblick eines Naturphaͤno¬ mens, das wohl hoͤchſt ſelten ſeyn mag; denn ich habe nichts Aehnliches jemals wieder geſehen, noch auch von Anderen, daß ſie es gewahrt haͤt¬ ten, vernommen. Wir fuhren naͤmlich zwiſchen Hanau und Gellenhauſen bey Nachtzeit eine Anhoͤhe hinauf, und wollten, ob es gleich fin¬ ſter war, doch lieber zu Fuße gehen, als uns der Gefahr und Beſchwerlichkeit dieſer Weg¬ ſtrecke ausſetzen. Auf einmal ſah ich an der rechten Seite des Wegs, in einer Tiefe eine Art von wunderſam erleuchteten Amphitheater. Es blinkten naͤmlich in einem trichterfoͤrmigen Raume unzaͤhlige Lichtchen ſtufenweiſe uͤber einander, und leuchteten ſo lebhaft, daß das Auge davon geblendet wurde. Was aber den Blick noch mehr verwirrte, war, daß ſie nicht etwa ſtill ſaßen, ſondern hin und wieder huͤpf¬ ten, ſowohl von oben nach unten, als umge¬ kehrt und nach allen Seiten. Die meiſten jedoch blieben ruhig und flimmerten fort. Nur67 hoͤchſt ungern ließ ich mich von dieſem Schau¬ ſpiel abrufen, das ich genauer zu beobachten gewuͤnſcht haͤtte. Auf Befragen wollte der Poſtillon zwar von einer ſolchen Erſcheinung nichts wiſſen, ſagte aber, daß in der Naͤhe ſich ein alter Steinbruch befinde, deſſen mitt¬ lere Vertiefung mit Waſſer angefuͤllt ſey. Ob dieſes nun ein Pandaͤmonium von Irrlichtern oder eine Geſellſchaft von leuchtenden Geſchoͤp¬ fen geweſen, will ich nicht entſcheiden.
Durch Thuͤringen wurden die Wege noch ſchlimmer, und leider blieb unſer Wagen in der Gegend von Auerſtaͤdt bey einbrechender Nacht ſtecken. Wir waren von allen Menſchen ent¬ fernt, und thaten das Moͤgliche uns los zu arbeiten. Ich ermangelte nicht, mich mit Ei¬ fer anzuſtrengen, und mochte mir dadurch die Baͤnder der Bruſt uͤbermaͤßig ausgedehnt ha¬ ben; denn ich empfand bald nachher einen Schmerz, der verſchwand und wiederkehrte und erſt nach vielen Jahren mich voͤllig verließ.
5 *68Doch ſollte ich noch in derſelbigen Nacht, als wenn ſie recht zu abwechſelnden Schickſa¬ len beſtimmt geweſen waͤre, nach einem uner¬ wartet gluͤcklichen Ereigniß, einen neckiſchen Verdruß empfinden. Wir trafen naͤmlich in Auerſtaͤdt ein vornehmes Ehepaar, das, durch aͤhnliche Schickſale verſpaͤtet, eben auch erſt angekommen war; einen anſehnlichen wuͤrdigen Mann in den beſten Jahren mit einer ſehr ſchoͤnen Gemahlinn. Zuvorkommend veranla߬ ten ſie uns, in ihrer Geſellſchaft zu ſpeiſen, und ich fand mich ſehr gluͤcklich, als die treff¬ liche Dame ein freundliches Wort an mich wen¬ den wollte. Als ich aber hinausgeſandt ward, die gehoffte Suppe zu beſchleunigen, uͤberfiel mich, der ich freylich des Wachens und der Reiſebeſchwerden nicht gewohnt war, eine ſo unuͤberwindliche Schlafſucht, daß ich ganz ei¬ gentlich im Gehen ſchlief, mit dem Hut auf dem Kopfe wieder in das Zimmer trat, mich, ohne zu bemerken, daß die Anderen ihre Tiſch¬ gebet verrichteten, bewußtlos gelaſſen gleich¬69 falls hinter den Stuhl ſtellte, und mir nicht traͤumen ließ, daß ich durch mein Betragen ihre Andacht auf eine ſehr luſtige Weiſe zu ſtoͤren gekommen ſey. Madame Fleiſcher, der es weder an Geiſt und Witz, noch an Zunge fehlte, erſuchte die Fremden, noch ehe man ſich ſetzte, ſie moͤchten nicht auffallend finden, was ſie hier mit Augen ſaͤhen; der junge Reiſegefaͤhrte habe große Anlange zum Quaͤ¬ ker, welche Gott und den Koͤnig nicht beſſer zu verehren glaubten, als mit bedecktem Haup¬ te. Die ſchoͤne Dame, die ſich des Lachens nicht enthalten konnte, ward dadurch nur noch ſchoͤner, und ich haͤtte alles in der Welt dar¬ um gegeben, nicht Urſache an einer Heiter¬ keit geweſen zu ſeyn, die ihr ſo fuͤrtrefflich zu Geſicht ſtand. Ich hatte jedoch den Hut kaum beyſeite gebracht, als die Perſonen, nach ih¬ rer Weltſitte, den Scherz ſogleich fallen lie¬ ßen, und durch den beſten Wein aus ihrem Flaſchenkeller Schlaf, Mismuth und das An¬70 denken an alle vergangenen Uebel voͤllig aus¬ loͤſchten.
Als ich in Leipzig ankam war es gerade Meßzeit, woraus mir ein beſonderes Vergnuͤ¬ gen entſprang: denn ich ſah hier die Fortſe¬ tzung eines vaterlaͤndiſchen Zuſtandes vor mir, bekannte Waaren und Verkaͤufer, nur an an¬ deren Plaͤtzen und in einer anderen Folge. Ich durchſtrich den Markt und die Buden mit vie¬ lem Antheil; beſonders aber zogen meine Auf¬ merkſamkeit an ſich, in ihren ſeltſamen Klei¬ dern, jene Bewohner der oͤſtlichen Gegenden, die Polen und Ruſſen, vor allen aber die Griechen, deren anſehnlichen Geſtalten und wuͤrdigen Kleidungen ich gar oft zu Gefallen ging.
Dieſe lebhafte Bewegung war jedoch bald voruͤber, und nun trat mir die Stadt ſelbſt, mit ihren ſchoͤnen, hohen und unter einander gleichen Gebaͤuden entgegen. Sie machte ei¬ nen ſehr guten Eindruck auf mich, und es71 iſt nicht zu leugnen, daß ſie uͤberhaupt, be¬ ſonders aber in ſtillen Momenten der Sonn - und Feyertage etwas Impoſantes hat, ſo wie denn auch im Mondſchien die Straßen, halb beſchattet, halb erleuchtet, mich oft zu naͤcht¬ lichen Promenaden einluden.
Indeſſen genuͤgte mir gegen das, was ich bisher gewohnt war, dieſer neue Zuſtand kei¬ neswegs. Leipzig ruft dem Beſchauer keine al¬ terthuͤmliche Zeit zuruͤck; es iſt eine neue, kurz vergangene, von Handelsthaͤtigkeit, Wohlha¬ benheit, Reichthum zeugende Epoche, die ſich uns in dieſen Denkmalen ankuͤndet. Jedoch ganz nach meinem Sinn waren die mir un¬ geheuer ſcheinenden Gebaͤude, die, nach zwey Straßen ihr Geſicht wendend, in großen, himmelhoch umbauten Hofraͤumen eine buͤr¬ gerliche Welt umfaſſend, großen Burgen, ja Halbſtaͤdten aͤhnlich ſind. In einem dieſer ſelt¬ ſamen Raͤume quartierte ich mich ein, und zwar in der Feuerkugel zwiſchen dem alten72 und neuen Neumarkt. Ein Paar artige Zim¬ mer, die in den Hof ſahen, der wegen des Durchgangs nicht unbelebt war, bewohnte der Buchhaͤndler Fleiſcher waͤhrend der Meſſe, und ich fuͤr die uͤbrige Zeit um einen leidlichen Preis. Als Stubennachbarn fand ich einen Theologen, der in ſeinem Fache gruͤndlich un¬ terrichtet, wohldenkend, aber arm war, und, was ihm große Sorge fuͤr die Zukunft mach¬ te, ſehr an den Augen litt. Er hatte ſich dieſes Uebel durch uͤbermaͤßiges Leſen bis in die tiefſte Daͤmmerung, ja ſogar, um das wenige Oel zu erſparen, bey Mondſchein zu¬ gezogen. Unſere alte Wirthinn erzeigte ſich wohlthaͤtig gegen ihn, gegen mich jederzeit freundlich, und gegen beyde ſorgſam.
Nun eilte ich mit meinem Empfehlungs¬ ſchreiben zu Hofrath Boͤhme, der, ein Zoͤg¬ ling von Maskow, nunmehr ſein Nachfolger, Geſchichte, und Staatsrecht lehrte. Ein klei¬ ner, unterſetzter, lebhafter Mann empfing mich73 freundlch genug und ſtellte mich ſeiner Gattinn vor. Beyde, ſo wie die uͤbrigen Perſonen, denen ich aufwartete, gaben mir die beſte Hoffnung wegen meines kuͤnftigen Aufenthal¬ tes; doch ließ ich mich anfangs gegen Nie¬ mand merken, was ich im Schilde fuͤhrte, ob ich gleich den ſchicklichen Moment kaum er¬ warten konnte, wo ich mich von der Juris¬ prudenz frey und dem Studium der Alten ver¬ bunden erklaͤren wollte. Vorſichtig wartete ich ab, bis Fleiſchers wieder abgereiſt waren, da¬ mit mein Vorſatz nicht allzugeſchwind den Mei¬ nigen verrathen wuͤrde. Sodann aber ging ich ohne Anſtand zu Hofrath Boͤhmen, dem ich vor allen die Sache glaubte vertrauen zu muͤſſen, und erklaͤrte ihm, mit vieler Conſe¬ quenz und Parrheſie, meine Abſicht. Allein ich fand keineswegs eine gute Aufnahme mei¬ nes Vortrags. Als Hiſtoriker und Staats¬ rechtler hatte er einen erklaͤrten Haß gegen alles was nach ſchoͤnen Wiſſenſchaften ſchmeck¬ te. Ungluͤcklicher Weiſe ſtand er mit denen,74 welche ſie cultivirten, nicht im beſten Verneh¬ men, und Gellerten beſonders, fuͤr den ich, ungeſchickt genug, viel Zutrauen geaͤußert hat¬ te, konnte er nun gar nicht leiden. Jenen Maͤnnern alſo einen treuen Zuhoͤrer zuzuwei¬ ſen, ſich ſelbſt aber einen zu entziehen, und noch dazu unter ſolchen Umſtaͤnden, ſchien ihm ganz und gar unzulaͤſſig. Er hielt mir daher aus dem Stegreif eine gewaltige Straf¬ predigt, worin er betheuerte, daß er ohne Er¬ laubniß meiner Aeltern einen ſolchen Schritt nicht zugeben koͤnne, wenn er ihn auch, wie hier der Fall nicht ſey, ſelbſt billigte. Er ver¬ unglimpfte darauf leidenſchaftlich Philologie und Sprachſtudien, noch mehr aber die poetiſchen Uebungen, die ich freylich im Hintergrunde hatte durchblicken laſſen. Er ſchloß zuletzt, daß wenn ich ja dem Studium der Alten mich naͤhern wolle, ſolches viel beſſer auf dem Wege der Jurisprudenz geſchehen koͤnne. Er brachte mir ſo manchen eleganten Juriſten, Eberhard Otto und Heineccius, ins Gedaͤchtniß, ver¬75 ſprach mir von den roͤmiſchen Alterthuͤmern und der Rechtsgeſchichte goldne Berge, und zeigte mir ſonnenklar, daß ich hier nicht ein¬ mal einen Umweg mache, wenn ich auch ſpaͤ¬ terhin noch jenen Vorſatz, nach reiferer Ue¬ berlegung und mit Zuſtimmung meiner Ael¬ tern, auszufuͤhren gedaͤchte. Er erſuchte mich freundlich, die Sache nochmals zu uͤberlegen und ihm meine Geſinnungen bald zu eroͤffnen, weil es noͤthig ſey, wegen bevorſtehenden An¬ fangs der Collegien, ſich zunaͤchſt zu ent¬ ſchließen.
Es war noch ganz artig von ihm, nicht auf der Stelle in mich zu dringen. Seine Argumente und das Gewicht, womit er ſie vortrug, hatten meine biegſame Jugend ſchon uͤberzeugt, und ich ſah nun erſt die Schwierig¬ keiten und Bedenklichkeiten einer Sache, die ich mir im Stillen ſo thulich ausgebildet hat¬ te. Frau Hofrath Boͤhme ließ mich kurz darauf zu ſich einladen. Ich fand ſie allein.
76Sie war nicht mehr jung und ſehr kraͤnklich, unendlich ſanft und zart, und machte gegen ihren Mann, deſſen Gutmuͤthigkeit ſogar pol¬ terte, einen entſchiedenen Contraſt. Sie brach¬ te mich auf das von ihrem Manne neulich gefuͤhrte Geſpraͤch, und ſtellte mir die Sache nochmals ſo freundlich, liebevoll und verſtaͤn¬ dig im ganzen Umfange vor, daß ich mich nicht enthalten konnte nachzugeben; die we¬ nigen Reſervationen, auf denen ich beſtand, wurden von jener Seite denn auch bewilligt.
Der Gemahl regulirte darauf meine Stun¬ den: da ſollte ich denn Philoſophie, Rechts¬ geſchichte und Inſtitutionen und noch einiges andere hoͤren. Ich ließ mir das gefallen; doch ſetzte ich durch. Gellerts Litterargeſchich¬ te uͤber Stockhauſen, und außerdem ſein Prac¬ ticum zu frequentiren.
Die Verehrung und Liebe, welche Gel¬ lert von allen jungen Leuten genoß, war77 außerordentlich. Ich hatte ihn ſchon beſucht und war freundlich von ihm aufgenommen worden. Nicht groß von Geſtalt, zierlich aber nicht hager, ſanfte, eher traurige Augen, eine ſehr ſchoͤne Stirn, eine nicht uͤbertriebene Habichtsnaſe, einen feinen Mund, ein gefaͤl¬ liges Oval des Geſichts; alles machte ſeine Gegenwart angenehm und wuͤnſchenswerth. Es koſtete einige Muͤhe, zu ihm zu gelangen. Seine zwey Famuli ſchienen Prieſter, die ein Heiligthum bewahren, wozu nicht jedem, noch zu jeder Zeit, der Zutritt erlaubt iſt; und ei¬ ne ſolche Vorſicht war wohl nothwendig: denn er wuͤrde ſeinen ganzen Tag aufgeopfert ha¬ ben, wenn er alle die Menſchen, die ſich ihm vertraulich zu naͤhern gedachten, haͤtte auf¬ nehmen und befriedigen wollen.
Meine Collegia beſuchte ich Anfangs em¬ ſig und treulich; die Philoſophie wollte mich jedoch keineswegs aufklaͤren. In der Logik kam es mir wunderlich vor, daß ich diejeni¬78 gen Geiſtesoperationen, die ich von Jugend auf mit der groͤßten Bequemlichkeit verrichte¬ te, ſo aus einander zerren, vereinzelnen und gleichſam zerſtoͤren ſollte, um den rechten Ge¬ brauch derſelben einzuſehen. Von dem Din¬ ge, von der Welt, von Gott glaubte ich ohngefaͤhr ſo viel zu wiſſen als der Lehrer ſelbſt, und es ſchien mir an mehr als einer Stelle gewaltig zu hapern. Doch ging al¬ les noch in ziemlicher Folge bis gegen Faſt¬ nacht, wo in der Naͤhe des Profeſſor Wink¬ ler auf dem Thomasplan, gerade um die Stunde, die koͤſtlichſten Kraͤpfel heiß aus der Pfanne kamen, welche uns denn dergeſtalt verſpaͤteten, daß unſere Hefte locker wurden, und das Ende derſelben gegen das Fruͤhjahr mit dem Schnee zugleich verſchmolz und ſich verlor.
Mit den juriſtiſchen Collegien ward es bald eben ſo ſchlimm: denn ich wußte gerade ſchon ſo viel, als uns der Lehrer zu uͤberlie¬79 fern fuͤr gut fand. Mein erſt hartnaͤckiger Fleiß im Nachſchreiben wurde nach und nach gelaͤhmt, indem ich es hoͤchſt langweilig fand, dasjenige nochmals aufzuzeichnen, was ich bey meinem Vater, theils fragend, theils ant¬ wortend, oft genug wiederholt hatte, um es fuͤr immer im Gedaͤchtniß zu behalten. Der Schaden, den man anrichtet, wenn man jun¬ ge Leute auf Schulen in manchen Dingen zu weit fuͤhrt, hat ſich ſpaͤterhin noch mehr erge¬ ben, da man den Sprachuͤbungen und der Begruͤndung in dem, was eigentliche Vor¬ kenntniſſe ſind, Zeit und Aufmerkſamkeit ab¬ brach, um ſie an ſogenannte Realitaͤten zu wenden, welche mehr zerſtreuen als bilden, wenn ſie nicht methodiſch und vollſtaͤndig uͤber¬ liefert werden.
Noch ein anderes Uebel, wodurch Studi¬ rende ſehr bedraͤngt ſind, erwaͤhne ich hier beylaͤufig. Profeſſoren, ſo gut wie andere in Aemtern angeſtellte Maͤnner, koͤnnen nicht al¬80 le von Einem Alter ſeyn; da aber die juͤnge¬ ren eigentlich nur lehren, um zu lernen, und noch dazu, wenn ſie gute Koͤpfe ſind, dem Zeitalter voreilen, ſo erwerben ſie ihre Bil¬ dung durchaus auf Unkoſten der Zuhoͤrer, weil dieſe nicht in dem unterrichtet werden was ſie eigentlich brauchen, ſondern in dem was der Lehrer fuͤr ſich zu bearbeiten noͤthig fin¬ det. Unter den aͤlteſten Profeſſoren dagegen ſind manche ſchon lange Zeit ſtationaͤr; ſie uͤberliefern im Ganzen nur fixe Anſichten, und was das Einzelne betrifft, Vieles, was die Zeit ſchon als unnuͤtz und falſch verur¬ theilt hat. Durch beydes entſteht ein trauri¬ ger Conflict, zwiſchen welchem junge Geiſter hin und her gezerrt werden, und welcher kaum durch die Lehrer des mittleren Alters, die, obſchon genugſam unterrichtet und gebildet, doch immer noch ein thaͤtiges Streben zum Wiſſen und Nachdenken bey ſich empfinden, ins Gleiche gebracht werden kann.
81Wie ich nun auf dieſem Wege viel meh¬ reres kennen als zurechte legen lernte, wo¬ durch ſich ein immer wachſendes Misbehagen in mir hervordrang, ſo hatte ich auch vom Leben manche kleine Unannehmlichkeiten; wie man denn, wenn man den Ort veraͤndert und in neue Verhaͤltniſſe tritt, immer Ein¬ ſtand geben muß. Das erſte, was die Frau¬ en an mir tadelten, bezog ſich auf die Klei¬ dung; denn ich war vom Hauſe freylich et¬ was wunderlich equipirt auf die Academie gelangt.
Mein Vater, dem nichts ſo ſehr verhaßt war, als wenn etwas vergeblich geſchah, wenn Jemand ſeine Zeit nicht zu brauchen wußte, oder ſie zu benutzen keine Gelegenheit fand, trieb ſeine Oeconomie mit Zeit und Kraͤften ſo weit, daß ihm nichts mehr Vergnuͤgen machte, als zwey Fliegen mit Einer Klappe zu ſchlagen. Er hatte deswegen niemals ei¬ nen Bedienten, der nicht im Hauſe zu nochII. 682etwas nuͤtzlich geweſen waͤre. Da er nun von jeher alles mit eigener Hand ſchrieb und ſpaͤ¬ ter die Bequemlichkeit hatte, jenem jungen Hausgenoſſen in die Feder zu dictiren; ſo fand er am vortheilhafteſten, Schneider zu Bedienten zu haben, welche die Stunden gut anwenden mußten, indem ſie nicht allein ihre Livreyen, ſondern auch die Kleider fuͤr Vater und Kinder zu fertigen, nicht weniger alles Flickwerk zu beſorgen hatten. Mein Vater war ſelbſt um die beſten Tuͤcher und Zeuge bemuͤht, indem er auf den Meſſen von aus¬ waͤrtigen Handelsherren feine Waare bezog und ſie in ſeinen Vorrath legte; wie ich mich denn noch recht wohl erinnere, daß er die Herrn von Loͤwenicht von Aachen jederzeit be¬ ſuchte, und mich von meiner fruͤheſten Ju¬ gend an mit dieſen und anderen vorzuͤglichen Handelsherren bekannt machte.
Fuͤr die Tuͤchtigkeit des Zeugs war alſo geſorgt und genugſamer Vorrath verſchiedener83 Sorten Tuͤcher, Sarſchen, Goͤttinger Zeug, nicht weniger das noͤthige Unterfutter vorhan¬ den, ſo daß wir, dem Stoff nach, uns wohl hatten duͤrfen ſehen laſſen; aber die Form verdarb meiſt alles: denn wenn ein ſolcher Hausſchneider allenfalls ein guter Geſelle ge¬ weſen waͤre, um einen meiſterhaft zugeſchnit¬ tenen Rock wohl zu naͤhen und zu fertigen, ſo ſollte er nun auch das Kleid ſelbſt zuſchnei¬ den, und dieſes gerieth nicht immer zum be¬ ſten. Hiezu kam noch, daß mein Vater al¬ les, was zu ſeinem Anzuge gehoͤrte, ſehr gut und reinlich hielt und viele Jahre mehr be¬ wahrte als benutzte, daher eine Vorliebe fuͤr gewiſſen alten Zuſchnitt und Verzierungen trug, wodurch unſer Putz mitunter ein wun¬ derliches Anſehen bekam.
Auf eben dieſem Wege hatte man auch meine Garderobe, die ich mit auf die Acade¬ mie nahm, zu Stande gebracht; ſie war recht vollſtaͤndig und anſehnlich und ſogar ein6 *84Treſſenkleid darunter. Ich, dieſe Art von Aufzug ſchon gewohnt, hielt mich fuͤr geputzt genug; allein es waͤhrte nicht lange, ſo uͤber¬ zeugten mich meine Freundinnen, erſt durch leichte Neckereyen, dann durch vernuͤnftige Vorſtellungen, daß ich wie aus einer fremden Welt herein geſchneyt ausſehe. So viel Ver¬ druß ich auch hieruͤber empfand, ſah ich doch Anfangs nicht, wie ich mir helfen ſollte. Als aber Herr von Maſuren, der ſo beliebte poetiſche Dorfjunker, einſt auf dem Theater in einer aͤhnlichen Kleidung auftrat, und mehr wegen ſeiner aͤußeren als inneren Abgeſchmacktheit herzlich belacht wurde, faßte ich Muth und wagte, meine ſaͤmmtliche Gar¬ derobe gegen eine neumodiſche, dem Ort ge¬ maͤße, auf einmal umzutauſchen, wodurch ſie aber freylich ſehr zuſammenſchrumpfte.
Nach dieſer uͤberſtandenen Pruͤfung ſollte abermals eine neue eintreten, welche mir weit unangenehmer auffiel, weil ſie eine Sache85 betraf, die man nicht ſo leicht ablegt und umtauſcht.
Ich war naͤmlich in dem oberdeutſchen Dialect geboren und erzogen, und obgleich mein Vater ſich ſtets einer gewiſſen Reinheit der Sprache befliß und uns Kinder auf das, was man wirklich Maͤngel jenes Idioms nen¬ nen kann, von Jugend an aufmerkſam ge¬ macht und zu einem beſſeren Sprechen vor¬ bereitet hatte; ſo blieben mir doch gar man¬ che tiefer liegende Eigenheiten, die ich, weil ſie mir ihrer Naivetaͤt wegen gefielen, mit Behagen hervorhob, und mir dadurch von meinen neuen Mitbuͤrgern jedesmal einen ſtren¬ gen Verweis zuzog. Der Oberdeutſche naͤm¬ lich, und vielleicht vorzuͤglich derjenige, welcher dem Rhein und Main anwohnt, (denn gro¬ ße Fluͤße haben, wie das Meeresufer, immer etwas Belebendes,) druͤckt ſich viel in Gleich¬ niſſen und Anſpielungen aus, und bey einer inneren, menſchenverſtaͤndigen Tuͤchtigkeit be¬86 dient er ſich ſpruͤchwoͤrtlicher Redensarten. In beyden Faͤllen iſt er oͤfters derb, doch, wenn man auf den Zweck des Ausdruckes ſieht, im¬ mer gehoͤrig; nur mag freylich manchmal et¬ was mit unterlaufen, was gegen ein zarteres Ohr ſich anſtoͤßig erweiſt.
Jede Provinz liebt ihren Dialect: denn er iſt doch eigentlich das Element, in wel¬ chem die Seele ihren Athem ſchoͤpft. Mit welchem Eigenſinn aber die meißniſche Mund¬ art die uͤbrigen zu beherrſchen, ja eine Zeit lang auszuſchließen gewußt hat, iſt Jeder¬ mann bekannt. Wir haben viele Jahre un¬ ter dieſem pedantiſchen Regimente gelitten, und nur durch vielfachen Widerſtreit haben ſich die ſaͤmmtlichen Provinzen in ihre alten Rechte wieder eingeſetzt. Was ein junger lebhafter Menſch unter dieſem beſtaͤndigen Hofmeiſtern ausgeſtanden habe, wird derjeni¬ ge leicht ermeſſen, der bedenkt, daß nun mit der Ausſprache, in deren Veraͤnderung man87 ſich endlich wohl ergaͤbe, zugleich Denkweiſe, Einbildungskraft, Gefuͤhl, vaterlaͤndiſcher Cha¬ racter ſollten aufgeopfert werden. Und dieſe unertraͤgliche Forderung wurde von gebildeten Maͤnnern und Frauen gemacht, deren Ueber¬ zeugung ich mir nicht zueignen konnte, deren Unrecht ich zu empfinden glaubte, ohne mir es deutlich machen zu koͤnnen. Mir ſollten die Anſpielungen auf bibliſche Kernſtellen un¬ terſagt ſeyn, ſo wie die Benutzung treuherzi¬ ger Chronikenausdruͤcke. Ich ſollte vergeſſen, daß ich den Kaiſer von Kaiſersberg geleſen hatte und des Gebrauchs der Spruͤchwoͤrter entbehren, die doch, Statt vieles Hin - und Herfackelns, den Nagel gleich auf den Kopf treffen; alles dieß, das ich mir mit jugendli¬ cher Heftigkeit angeeignet, ſollte ich miſſen, ich fuͤhlte mich in meinem Innerſten paraly¬ ſirt und wußte kaum mehr, wie ich mich uͤber die gemeinſten Dinge zu aͤußern hatte. Da¬ neben hoͤrte ich, man ſolle reden wie man ſchreibt und ſchreiben wie man ſpricht; da88 mir Reden und Schreiben ein fuͤr allemal zweyerley Dinge ſchienen, von denen jedes wohl ſeine eignen Rechte behaupten moͤchte. Und hatte ich doch auch im meißner Dialect Manches zu hoͤren, was ſich auf dem Papier nicht ſonderlich wuͤrde ausgenommen haben.
Jedermann, der hier vernimmt, welchen Einfluß auf einen jungen Studirenden gebil¬ dete Maͤnner und Frauen, Gelehrte und ſonſt in einer feinen Societaͤt ſich gefallende Per¬ ſonen ſo entſchieden ausuͤben, wuͤrde, wenn es auch nicht ausgeſprochen waͤre, ſich ſogleich uͤberzeugt halten, daß wir uns in Leipzig be¬ finden. Jede der deutſchen Academieen hat eine beſondere Geſtalt: denn weil in unſerem Vaterlande keine allgemeine Bildung durch¬ dringen kann, ſo beharrt jeder Ort auf ſeiner Art und Weiſe und treibt ſeine characteriſti¬ ſchen Eigenheiten bis auf's letzte; eben dieſes gilt von den Academieen. In Jena und Halle war die Rohheit auf's hoͤchſte geſtiegen,89 koͤrperliche Staͤrke, Fechtergewandtheit, die wildeſte Selbſthuͤlfe war dort an der Tages¬ ordnung; und ein ſolcher Zuſtand kann ſich nur durch den gemeinſten Saus und Braus erhalten und fortpflanzen. Das Verhaͤltniß der Studirenden zu den Einwohnern jener Staͤdte, ſo verſchieden es auch ſeyn mochte, kam doch darin uͤberein, daß der wilde Fremd¬ ling keine Achtung vor dem Buͤrger hatte und ſich als ein eignes, zu aller Freyheit und Frechheit privilegirtes Weſen anſah. Dage¬ gen konnte in Leipzig ein Student kaum an¬ ders als galant ſeyn, ſobald er mit reichen, wohl und genau geſitteten Einwohnern in ei¬ nigem Bezug ſtehen wollte.
Alle Galanterie freylich, wenn ſie nicht als Bluͤthe einer großen und weiten Lebensweiſe hervortritt, muß beſchraͤnkt, ſtationaͤr und aus gewiſſen Geſichtspuncten vielleicht albern er¬ ſcheinen; und ſo glaubten jene wilden Jaͤger von der Saale uͤber die zahmen Schaͤfer an90 der Pleiße ein großes Uebergewicht zu haben. Zachariaͤ's Renommiſt wird immer ein ſchaͤtz¬ bares Document bleiben, woraus die dama¬ lige Lebens - und Sinnesart anſchaulich her¬ vortritt; wie uͤberhaupt ſeine Gedichte jedem willkommen ſeyn muͤſſen, der ſich einen Be¬ griff von dem zwar ſchwachen, aber wegen ſeiner Unſchuld und Kindlichkeit liebenswuͤrdi¬ gen Zuſtande des damaligen geſelligen Lebens und Weſens machen will.
Alle Sitten, die aus einem gegebenen Verhaͤltniß eines gemeinen Weſens entſprin¬ gen, ſind unverwuͤſtlich, und zu meiner Zeit erinnerte noch manches an Zachariaͤ's Hel¬ dengedicht. Ein einziger unſerer academiſchen Mitbuͤrger hielt ſich fuͤr reich und unabhaͤngig genug, der oͤffentlichen Meynung ein Schnipp¬ chen zu ſchlagen. Er trank Schwaͤgerſchaft mit allen Lohnkutſchern, die er, als waͤren's die Herren, ſich in die Wagen ſetzen ließ und ſelbſt vom Bocke fuhr, ſie einmal umzuwer¬91 fen fuͤr einen großen Spaß hielt, die zerbro¬ chenen Halbchaͤſen, ſo wie die zufaͤlligen Beu¬ len zu verguͤten wußte, uͤbrigens aber Nie¬ manden beleidigte, ſondern nur das Publi¬ cum in Maſſe zu verhoͤhnen ſchien. Einſt bemaͤchtigte er und ein Spießgeſell ſich, am ſchoͤnſten Promenaden-Tage, der Eſel des Thomasmuͤllers; ſie ritten wohl gekleidet, in Schuhen und Struͤmpfen mit dem groͤßten Ernſt um die Stadt, angeſtaunt von allen Spazirgaͤngern, von denen das Glacis wim¬ melte. Als ihm einige Wohldenkende hier¬ uͤber Vorſtellungen thaten, verſicherte er ganz unbefangen, er habe nur ſehen wollen, wie ſich der Herr Chriſtus in einem aͤhnlichen Falle moͤchte ausgenommen haben. Nachah¬ mer fand er jedoch keinen und wenig Ge¬ ſellen.
Denn der Studirende von einigem Ver¬ moͤgen und Anſehen hatte alle Urſache, ſich gegen den Handelsſtand ergeben zu erweiſen,92 und ſich um ſo mehr ſchicklicher aͤußerer For¬ men zu befleißigen, als die Colonie ein Mu¬ ſterbild franzoͤſiſcher Sitten darſtellte. Die Profeſſoren, wohlhabend durch eignes Ver¬ moͤgen und gute Pfruͤnden, waren von ihren Schuͤlern nicht abhaͤngig, und der Landeskin¬ der mehrere, auf den Fuͤrſtenſchulen oder ſon¬ ſtigen Gymnaſien gebildet und Befoͤrderung hoffend, wagten es nicht, ſich von der her¬ koͤmmlichen Sitte loszuſagen. Die Naͤhe von Dresden, die Aufmerkſamkeit von daher, die wahre Froͤmmigkeit der Oberaufſeher des Studienweſens konnte nicht ohne ſittlichen, ja religioͤſen Einfluß bleiben.
Mir war dieſe Lebensart im Anfange nicht zuwider; meine Empfehlungsbriefe hat¬ ten mich in gute Haͤuſer eingefuͤhrt, deren verwandte Zirkel mich gleichfalls wohl auf¬ nahmen. Da ich aber bald empfinden mu߬ te, daß die Geſellſchaft gar manches an mir auszuſetzen hatte, und ich, nachdem ich mich93 ihrem Sinne gemaͤß gekleidet, ihr nun auch nach dem Munde reden ſollte, und dabey doch deutlich ſehen konnte, daß mir dagegen von alle dem wenig geleiſtet wurde, was ich mir von Unterricht und Sinnesfoͤrderung bey meinem academiſchen Aufenthalt verſprochen hatte; ſo fing ich an laͤſſig zu werden und die geſelligen Pflichten der Beſuche und ſon¬ ſtigen Attentionen zu verſaͤumen, und ich waͤ¬ re noch fruͤher aus allen ſolchen Verhaͤltniſſen herausgetreten, haͤtte mich nicht an Hofrath Boͤhmen Scheu und Achtung und an ſeine Gattinn Zutrauen und Neigung feſtgeknuͤpft. Der Gemahl hatte leider nicht die gluͤckliche Gabe, mit jungen Leuten umzugehen, ſich ihr Vertrauen zu erwerben und ſie fuͤr den Au¬ genblick nach Beduͤrfniß zu leiten. Ich fand niemals Gewinn davon, wenn ich ihn beſuch¬ te; ſeine Gattinn dagegen zeigte ein aufrich¬ tiges Intereſſe an mir. Ihre Kraͤnklichkeit hielt ſie ſtets zu Hauſe. Sie lud mich man¬ chen Abend zu ſich und wußte mich, der ich94 zwar geſittet war, aber doch eigentlich was man Lebensart nennt, nicht beſaß, in man¬ chen kleinen Aeußerlichkeiten zurecht zu fuͤhren und zu verbeſſern. Nur eine einzige Freun¬ dinn brachte die Abende bey ihr zu; dieſe war aber ſchon herriſcher und ſchulmeiſterli¬ cher, deswegen ſie mir aͤußerſt misfiel und ich ihr zum Trutz oͤfters jene Unarten wieder annahm, welche mir die andere ſchon abge¬ woͤhnt hatte. Sie uͤbten unterdeſſen noch immer Geduld genug an mir, lehrten mich Piquet, l'Hombre und was andere derglei¬ chen Spiele ſind, deren Kenntniß und Aus¬ uͤbung in der Geſellſchaft fuͤr unerlaͤßlich ge¬ halten wird.
Worauf aber Madame Boͤhme den groͤ߬ ten Einfluß bey mir hatte, war auf meinen Geſchmack, freylich auf eine negative Weiſe, worin ſie jedoch mit den Kritikern vollkom¬ men uͤbereintraf. Das Gottſchediſche Gewaͤſ¬ ſer hatte die deutſche Welt mit einer wahren95 Suͤndfluth uͤberſchwemmt, welche ſogar uͤber die hoͤchſten Berge hinaufzuſteigen drohte. Bis ſich eine ſolche Fluth wieder verlaͤuft, bis der Schlamm austrocknet, dazu gehoͤrt viele Zeit, und da es der nachaͤffenden Poe¬ ten in jeder Epoche eine Unzahl giebt; ſo brachte die Nachahmung des Seichten, Waͤ߬ rigen einen ſolchen Wuſt hervor, von dem gegenwaͤrtig kaum ein Begriff mehr geblieben iſt. Das Schlechte ſchlecht zu finden, war daher der groͤßte Spaß, ja der Triumph da¬ maliger Kritiker. Wer nur einigen Menſchen¬ verſtand beſaß, oberflaͤchlich mit den Alten, etwas naͤher mit den Neueren bekannt war, glaubte ſich ſchon mit einem Maßſtabe verſe¬ hen, den er uͤberall anlegen koͤnne. Madame Boͤhme war eine gebildete Frau, welcher das Unbedeutende, Schwache und Gemeine wider¬ ſtand; ſie war noch uͤberdieß Gattinn eines Mannes, der mit der Poeſie uͤberhaupt in Unfrieden lebte und dasjenige nicht gelten ließ, was ſie allenfalls noch gebilligt haͤtte. Nun96 hoͤrte ſie mir zwar einige Zeit mit Geduld zu, wenn ich ihr Verſe oder Proſe von nam¬ haften, ſchon in gutem Anſehen ſtehenden Dichtern zu recitiren mir herausnahm: denn ich behielt nach wie vor alles auswendig, was mir nur einigermaßen gefallen mochte; allein ihre Nachgiebigkeit war nicht von langer Dau¬ er. Das erſte, was ſie mir ganz entſetzlich herunter machte, waren die Poeten nach der Mode von Weiße, welche ſo eben mit großem Beyfall oͤfters wiederholt wurden, und mich ganz beſonders ergetzt hatten. Be¬ ſah ich nun freylich die Sache naͤher, ſo konn¬ te ich ihr nicht Unrecht geben. Auch einige¬ mal hatte ich gewagt, ihr etwas von meinen eigenen Gedichten, jedoch anonym vorzutra¬ gen, denen es denn nicht beſſer ging als der uͤbrigen Geſellſchaft. Und ſo waren mir in kurzer Zeit die ſchoͤnen bunten Wieſen in den Gruͤnden des deutſchen Parnaſſes, wo ich ſo gern luſtwandelte, unbarmherzig niedergemaͤht und ich ſogar genoͤthigt, das trocknende Heu97 ſelbſt mit umzuwenden und dasjenige als todt zu verſpotten, was mir kurz vorher eine ſo lebendige Freude gemacht hatte.
Dieſen ihren Lehren kam, ohne es zu wiſſen, der Profeſſor Morus zu Huͤlfe, ein ungemein ſanfter und freundlicher Mann, den ich an dem Tiſche des Hofraths Ludwig ken¬ nen lernte und der mich ſehr gefaͤllig aufnahm, wenn ich mir die Freyheit ausbat, ihn zu be¬ ſuchen. Indem ich mich nun bey ihm um das Alterthum erkundigte, ſo verbarg ich ihm nicht, was mich unter den Neuern ergetzte; da er denn mit mehr Ruhe als Madame Boͤhme, was aber noch ſchlimmer war, mit mehr Gruͤndlichkeit uͤber ſolche Dinge ſprach und mir, Anfangs zum groͤßten Verdruß, nachher aber doch zum Erſtaunen und zuletzt zur Erbauung die Augen oͤffnete.
Hiezu kamen noch die Jeremiaden, mit denen uns Gellert in ſeinem Practicum vonII. 798der Poeſie abzumahnen pflegte. Er wuͤnſchte nur proſaiſche Aufſaͤtze und beurtheilte auch dieſe immer zuerſt. Die Verſe behandelte er nur als eine traurige Zugabe, und was das Schlimmſte war, ſelbſt meine Proſe fand we¬ nig Gnade vor ſeinen Augen: denn ich pfleg¬ te, nach meiner alten Weiſe, immer einen klei¬ nen Roman zum Grunde zu legen, den ich in Briefen auszufuͤhren liebte. Die Gegen¬ ſtaͤnde waren leidenſchaftlich, der Styl ging uͤber die gewoͤhnliche Proſe hinaus, und der Inhalt mochte freylich nicht ſehr fuͤr eine tie¬ fe Menſchenkenntniß des Verfaſſers zeugen; und ſo war ich denn von unſerem Lehrer ſehr wenig beguͤnſtigt, ob er gleich meine Arbei¬ ten, ſo gut als die der Andern, genau durch¬ ſah, mit rother Dinte corrigirte und hie und da eine ſittliche Anmerkung hinzufuͤgte. Meh¬ rere Blaͤtter dieſer Art, welche ich lange Zeit mit Vergnuͤgen bewahrte, ſind leider endlich auch im Lauf der Jahre aus meinen Papie¬ ren verſchwunden.
99Wenn aͤltere Perſonen recht paͤdagogiſch verfahren wollten, ſo ſollten ſie einem jungen Manne etwas, was ihm Freude macht, es ſey von welcher Art es wolle, weder verbie¬ ten noch verleiden, wenn ſie nicht zu gleicher Zeit ihm etwas Anderes dafuͤr einzuſetzen haͤt¬ ten, oder unterzuſchieben wuͤßten. Jedermann proteſtirte gegen meine Liebhabereyen und Nei¬ gungen; und das was man mir dagegen an¬ pries, lag theils ſo weit von mir ab, daß ich ſeine Vorzuͤge nicht erkennen konnte, oder es ſtand mir ſo nah, daß ich es eben nicht fuͤr beſſer hielt als das Geſcholtene. Ich kam daruͤber durchaus in Verwirrung, und hatte mir aus einer Vorleſung Erneſti's uͤber Cice¬ ro's Orator das Beſte verſprochen; ich lernte wohl auch etwas in dieſen, Collegium, jedoch uͤber das, woran mir eigentlich gelegen war, wurde ich nicht aufgeklaͤrt. Ich forderte ei¬ nen Maßſtab des Urtheils, und glaubte ge¬ wahr zu werden, daß ihn gar Niemand be¬ ſitze: denn keiner war mit dem Andern einig,7 *100ſelbſt wenn ſie Beyſpiele vorbrachten; und wo ſollten wir ein Urtheil hernehmen, wenn man einem Manne wie Wieland ſo man¬ ches Tadelhafte in ſeinen liebenswuͤrdigen, uns Juͤngere voͤllig einnehmenden Schriften aufzuzaͤhlen wußte.
In ſolcher vielfachen Zerſtreuung, ja Zer¬ ſtuͤckelung meines Weſens und meiner Studien traf ſich's, daß ich bey Hofrath Ludwig den Mittagstiſch hatte. Er war Medicus, Bo¬ taniker, und die Geſellſchaft beſtand, außer Morus, in lauter angehenden oder der Voll¬ endung naͤheren Aerzten. Ich hoͤrte nun in dieſen Stunden gar kein ander Geſpraͤch als von Medicin oder Naturhiſtorie, und meine Einbildungskraft wurde in ein ganz ander Feld hinuͤber gezogen. Die Namen Hal¬ ler, Linné, Buͤffon hoͤrte ich mit gro¬ ßer Verehrung nennen, und wenn auch manch¬ mal wegen Irrthuͤmer, in die ſie gefallen ſeyn ſollten, ein Streit entſtand; ſo kam doch zu¬101 letzt, dem anerkannten Uebermaß ihrer Ver¬ dienſte zu Ehren, alles wieder ins Gleiche. Die Gegenſtaͤnde waren unterhaltend und be¬ deutend, und ſpannten meine Aufmerkſamkeit. Viele Benennungen und eine weitlaͤuftige Ter¬ minologie wurden mir nach und nach bekannt, die ich um ſo lieber auffaßte, weil ich mich fuͤrchtete einen Reim niederzuſchreiben, wenn er ſich mir auch noch ſo freywillig darbot, oder ein Gedicht zu leſen, indem mir bange war, es moͤchte mir gegenwaͤrtig gefallen und ich muͤſſe es denn doch, wie ſo manches An¬ dere, vielleicht naͤchſtens fuͤr ſchlecht erklaͤren.
Dieſe Geſchmacks - und Urtheilsungewi߬ heit beunruhigte mich taͤglich mehr, ſo daß ich zuletzt in Verzweiflung gerieth. Ich hat¬ te von meinen Jugendarbeiten was ich fuͤr das Beſte hielt, mitgenommen, theils weil ich mir denn doch einige Ehre dadurch zu verſchaffen hoffte, theils um meine Fortſchrit¬ te deſto ſicherer pruͤfen zu koͤnnen; aber ich102 befand mich in dem ſchlimmen Falle, in den man geſetzt iſt, wenn eine vollkommene Sin¬ nesaͤnderung verlangt wird, eine Entſagung alles deſſen, was man bisher geliebt und fuͤr gut befunden hat. Nach einiger Zeit und nach manchem Kampfe warf ich jedoch eine ſo große Verachtung auf meine begonnenen und geendigten Arbeiten, daß ich eines Tags Poeſie und Proſe, Plane, Skizzen und Ent¬ wuͤrfe ſaͤmmtlich zugleich auf dem Kuͤchen¬ heerd verbrannte, und durch den das ganze Haus erfuͤllenden Rauchqualm unſre gute alte Wirthinn in nicht geringe Furcht und Angſt verſetzte.
Ueber den Zuſtand der deutſchen Littera¬ tur jener Zeit iſt ſo Vieles und Ausreichen¬ des geſchrieben worden, daß wohl Jedermann, der einigen Antheil hieran nimmt, vollkom¬ men unterrichtet ſeyn kann; wie denn auch das Urtheil daruͤber wohl ziemlich uͤberein¬ ſtimmen duͤrfte, und was ich gegenwaͤrtig ſtuͤck - und ſprungweiſe davon zu ſagen geden¬ ke, iſt nicht ſowohl wie ſie an und fuͤr ſich beſchaffen ſeyn mochte, als vielmehr wie ſie ſich zu mir verhielt. Ich will deshalb zuerſt von ſolchen Dingen ſprechen, durch welche das Publicum beſonders aufgeregt wird, von den beyden Erbfeinden alles behaglichen Le¬ bens und aller heiteren, ſelbſtgenuͤgſamen, le¬ bendigen Dichtkunſt; von der Satyre und der Kritik.
106In ruhigen Zeiten will Jeder nach ſeiner Weiſe leben, der Buͤrger ſein Gewerb, ſein Geſchaͤft treiben und ſich nachher vergnuͤgen: ſo mag auch der Schriftſteller gern etwas verfaſſen, ſeine Arbeiten bekannt machen, und wo nicht Lohn doch Lob dafuͤr hoffen, weil er glaubt, etwas Gutes und Nuͤtzliches ge¬ than zu haben. In dieſer Ruhe wird der Buͤrger durch den Satyriker, der Autor durch den Kritiker geſtoͤrt, und ſo die friedliche Ge¬ ſellſchaft in eine unangenehme Bewegung ge¬ ſetzt.
Die litterariſche Epoche, in der ich gebo¬ ren bin, entwickelte ſich aus der vorhergehen¬ den durch Widerſpruch. Deutſchland, ſo lan¬ ge von auswaͤrtigen Voͤlkern uͤberſchwemmt, von andern Nationen durchdrungen, in ge¬ lehrten und diplomatiſchen Verhandlungen an fremde Sprachen gewieſen, konnte ſeine eigne unmoͤglich ausbilden. Es drangen ſich ihr, zu ſo manchen neuen Begriffen, auch unzaͤh¬107 lige fremde Worte noͤthiger und unnoͤthiger Weiſe mit auf, und auch fuͤr ſchon bekannte Gegenſtaͤnde ward man veranlaßt, ſich aus¬ laͤndiſcher Ausdruͤcke und Wendungen zu be¬ dienen. Der Deutſche, ſeit beynahe zwey Jahrhunderten, in einem ungluͤcklichen, tu¬ multuariſchen Zuſtande verwildert, begab ſich bey den Franzoſen in die Schule, um lebens¬ artig zu werden, und bey den Roͤmern, um ſich wuͤrdig auszudruͤcken. Dieß ſollte aber auch in der Mutterſprache geſchehen; da denn die unmittelbare Anwendung jener Idiome und deren Halbverdeutſchung ſowohl den Welt - als Geſchaͤftsſtyl laͤcherlich machte. Ueberdieß faßte man die Gleichnißreden der ſuͤdlichen Sprachen unmaͤßig auf und bediente ſich der¬ ſelben hoͤchſt uͤbertrieben. Eben ſo zog man den vornehmen Anſtand der fuͤrſtengleichen roͤmiſchen Buͤrger auf deutſche kleinſtaͤdtiſche Gelehrten-Verhaͤltniſſe heruͤber, und war eben nirgends, am wenigſten bey ſich zu Hauſe.
108Wie aber ſchon in dieſer Epoche geniali¬ ſche Werke entſprangen, ſo regte ſich auch hier der deutſche Frey - und Frohſinn. Die¬ ſer, begleitet von einem aufrichtigen Ernſte, drang darauf, daß rein und natuͤrlich, ohne Einmiſchung fremder Worte, und wie es der gemeine, verſtaͤndliche Sinn gab, geſchrieben wuͤrde. Durch dieſe loͤblichen Bemuͤhungen ward jedoch der vaterlaͤndiſchen breiten Platt¬ heit Thuͤr und Thor geoͤffnet, ja der Damm durchſtochen, durch welchen das große Ge¬ waͤſſer zunaͤchſt eindringen ſollte. Indeſſen hielt ein ſteifer Pedantismus in allen vier Facultaͤten lange Stand, bis er ſich endlich viel ſpaͤter aus einer in die andere fluͤchtete.
Gute Koͤpfe, freyaufblickende Naturkinder hatten daher zwey Gegenſtaͤnde, an denen ſie ſich uͤben, gegen die ſie wirken und, da die Sache von keiner großen Bedeutung war, ihren Muthwillen auslaſſen konnten; dieſe waren eine durch fremde Worte, Wortbildun¬109 gen und Wendungen verunzierte Sprache, und ſodann die Werthloſigkeit ſolcher Schriften, die ſich von jenem Fehler frey zu erhalten beſorgt waren; wobey Niemanden einfiel, daß, indem man ein Uebel bekaͤmpfte, das andere zu Huͤlfe gerufen ward.
Liskow, ein junger kuͤhner Menſch, wagte zuerſt einen ſeichten, albernen Schrift¬ ſteller perſoͤnlich anzufallen, deſſen ungeſchick¬ tes Benehmen ihm bald Gelegenheit gab hef¬ tiger zu verfahren. Er griff ſodann weiter um ſich und richtete ſeinen Spott immer ge¬ gen beſtimmte Perſonen und Gegenſtaͤnde, die er verachtete und veraͤchtlich zu machen ſuchte, ja mit leidenſchaftlichem Haß verfolgte. Al¬ lein ſeine Laufbahn war kurz; er ſtarb gar bald, verſchollen als ein unruhiger, unregel¬ maͤßiger Juͤngling. In dem was er gethan, ob er gleich wenig geleiſtet, mochte ſeinen Landsleuten das Talent, der Character ſchaͤ¬ tzenswerth vorkommen: wie denn die Deutſchen110 immer gegen fruͤhabgeſchiedene, gutesverſpre¬ chende Talente eine beſondere Froͤmmigkeit be¬ wieſen haben; genug, uns ward Liskow ſehr fruͤh als ein vorzuͤglicher Satyriker, der ſo¬ gar den Rang vor dem allgemein beliebten Rabener verlangen koͤnnte, geprieſen und an¬ empfohlen. Hierbey ſahen wir uns freylich nicht gefoͤrdert: denn wir konnten in ſeinen Schriften weiter nichts erkennen, als daß er das Alberne albern gefunden habe, welches uns eine ganz natuͤrliche Sache ſchien.
Rabener, wohl erzogen, unter gutem Schulunterricht aufgewachſen, von heiterer und keineswegs leidenſchaftlicher oder gehaͤſſi¬ ger Natur, ergriff die allgemeine Satyre. Sein Tadel der ſogenannten Laſter und Thor¬ heiten entſpringt aus reinen Anſichten des ruhigen Menſchenverſtandes und aus einem beſtimmten ſittlichen Begriff, wie die Welt ſeyn ſollte. Die Ruͤge der Fehler und Maͤn¬ gel iſt harmlos und heiter; und damit ſelbſt111 die geringe Kuͤhnheit ſeiner Schriften ent¬ ſchuldigt werde, ſo wird vorausgeſetzt, daß die Beſſerung der Thoren durchs Laͤcherliche kein fruchtloſes Unternehmen ſey.
Rabeners Perſoͤnlichkeit wird nicht leicht wieder erſcheinen. Als tuͤchtiger, genauer Geſchaͤftsmann thut er ſeine Pflicht, und er¬ wirbt ſich dadurch die gute Meynung ſeiner Mitbuͤrger und das Vertrauen ſeiner Oberen; nebenher uͤberlaͤßt er ſich zur Erholung einer heiteren Nichtachtung alles deſſen, was ihn zunaͤchſt umgiebt. Pedantiſche Gelehrte, eitle Juͤnglinge, jede Art von Beſchraͤnktheit und Duͤnkel beſcherzt er mehr als daß er ſie be¬ ſpottete, und ſelbſt ſein Spott druͤckt keine Verachtung aus. Eben ſo ſpaßt er uͤber ſei¬ nen eignen Zuſtand, uͤber ſein Ungluͤck, ſein Leben und ſeinen Tod.
Die Art, wie dieſer Schriftſteller ſeine Gegenſtaͤnde behandelt, hat wenig Aeſthetiſches. 112In den aͤußeren Formen iſt er zwar mannig¬ faltig genug, aber durchaus bedient er ſich der directen Ironie zu viel, daß er naͤmlich das Tadelnswuͤrdige lobt und das Lobens¬ wuͤrdige tadelt, welches redneriſche Mittel nur hoͤchſt ſelten angewendet werden ſollte: denn auf die Dauer faͤllt es einſichtigen Men¬ ſchen verdrießlich, die ſchwachen macht es irre, und behagt freylich der großen Mittelclaſſe, welche, ohne beſondern Geiſtesaufwand, ſich kluͤger duͤnken kann als Andere. Was er aber und wie er es auch vorbringt zeugt von ſei¬ ner Rechtlichkeit, Heiterkeit und Gleichmuͤ¬ thigkeit, wodurch wir uns immer eingenom¬ men fuͤhlen; der unbegrenzte Beyfall ſeiner Zeit war eine Folge ſolcher ſittlichen Vorzuͤge.
Daß man zu ſeinen allgemeinen Schilde¬ rungen Muſterbilder ſuchte und fand, war na¬ tuͤrlich, daß Einzelne ſich uͤber ihn beſchwer¬ ten, folgte daraus; ſeine allzulangen Verthei¬ digungen, daß ſeine Satyre keine perſoͤnliche113 ſey, zeugen von dem Verdruß, den man ihm erregt hat. Einige ſeiner Briefe ſetzen ihm als Menſchen und Schriftſteller den Kranz auf. Das vertrauliche Schreiben, worin er die Dresdner Belagerung ſchildert, wie er ſein Haus, ſeine Habſeligkeiten, ſeine Schrif¬ ten und Peruͤcken verliert, ohne auch im min¬ deſten ſeinen Gleichmuth erſchuͤttert, ſeine Heiterkeit getruͤbt zu ſehen, iſt hoͤchſt ſchaͤ¬ tzenswerth, ob ihm gleich ſeine Zeit - und Stadtgenoſſen dieſe gluͤckliche Gemuͤthsart nicht verzeihen konnten. Der Brief, wo er von der Abnahme ſeiner Kraͤfte, von ſeinem nahen Tode ſpricht, iſt aͤußerſt reſpektabel, und Rabener verdient, von allen heiteren, verſtaͤndigen, in die irdiſchen Ereigniſſe froh ergebenen Menſchen als Heiliger verehrt zu werden.
Ungern reiße ich mich von ihm los, nur das bemerke ich noch: ſeine Satyre bezieht ſich durchaus auf den Mittelſtand; er laͤßtII. 8114hie und da vermerken, daß er die hoͤheren auch wohl kenne, es aber nicht fuͤr raͤthlich halte ſie zu beruͤhren. Man kann ſagen, daß er keinen Nachfolger gehabt, daß ſich Niemand gefunden, der ſich ihm gleich oder aͤhnlich haͤtte halten duͤrfen.
Nun zur Kritik! und zwar vorerſt zu den theoretiſchen Verſuchen. Wir holen nicht zu weit aus, wenn wir ſagen, daß damals das Ideelle ſich aus der Welt in die Reli¬ gion gefluͤchtet hatte, ja ſogar in der Sitten¬ lehre kaum zum Vorſchein kam; von einem hoͤchſten Princip der Kunſt hatte Niemand eine Ahndung. Man gab uns Gottſcheds kritiſche Dichtkunſt in die Haͤnde; ſie war brauchbar und belehrend genug: denn ſie uͤber¬ lieferte von allen Dichtungsarten eine hiſtori¬ ſche Kenntniß, ſo wie vom Rhythmus und den verſchiedenen Bewegungen deſſelben; das poetiſche Genie ward vorausgeſetzt! Uebri¬ gens aber ſollte der Dichter Kenntniſſe ha¬115 ben, ja gelehrt ſeyn, er ſollte Geſchmack be¬ ſitzen, und was dergleichen mehr war. Man wies uns zuletzt auf Horazens Dichtkunſt, wir ſtaunten einzelne Goldſpruͤche dieſes un¬ ſchaͤtzbaren Werks mit Ehrfurcht an, wußten aber nicht im geringſten, was wir mit dem Ganzen machen, noch wie wir es nutzen ſollten.
Die Schweizer traten auf als Gottſcheds Antagoniſten; ſie mußten doch alſo etwas An¬ deres thun, etwas Beſſeres leiſten wollen: ſo hoͤrten wir denn auch, daß ſie wirklich vorzuͤg¬ licher ſeyen. Breitingers kritiſche Dicht¬ kunſt ward vorgenommen. Hier gelangten wir nun in ein weiteres Feld, eigentlich aber nur in einen groͤßeren Irrgarten, der deſto ermuͤdender war, als ein tuͤchtiger Mann, dem wir vertrauten, uns darin herumtrieb. Eine kurze Ueberſicht rechtfertige dieſe Worte.
8 *116Fuͤr die Dichtkunſt an und fuͤr ſich hatte man keinen Grundſatz finden koͤnnen; ſie war zu geiſtig und fluͤchtig. Die Malerey, eine Kunſt, die man mit den Augen feſthalten, der man mit den aͤußeren Sinnen Schritt vor Schritt nachgehen konnte, ſchien zu ſol¬ chem Ende guͤnſtiger; Englaͤnder und Franzo¬ ſen hatten ſchon uͤber bildende Kunſt theore¬ tiſirt, und man glaubte nun durch ein Gleich¬ niß von daher die Poeſie zu begruͤnden. Je¬ ne ſtellte Bilder vor die Augen, dieſe vor die Phantaſie; die poetiſchen Bilder alſo wa¬ ren das Erſte, was in Betrachtung gezogen wurde. Man fing von den Gleichniſſen an, Beſchreibungen folgten, und was nur immer den aͤußeren Sinnen darſtellbar geweſen waͤre, kam zur Sprache.
Bilder alſo! Wo ſollte man nun aber dieſe Bilder anders hernehmen als aus der Natur? Der Maler ahmte die Natur of¬ fenbar nach; warum der Dichter nicht auch? 117Aber die Natur, wie ſie vor uns liegt, kann doch nicht nachgeahmt werden: ſie enthaͤlt ſo vieles Unbedeutende, Unwuͤrdige, man muß alſo waͤhlen; was beſtimmt aber die Wahl? man muß das Bedeutende aufſuchem; was iſt aber bedeutend?
Hierauf zu antworten moͤgen ſich die Schweizer lange bedacht haben: denn ſie kom¬ men auf einen zwar wunderlichen, doch arti¬ gen, ja luſtigen Einfall, indem ſie ſagen, am bedeutendſten ſey immer das Neue; und nachdem ſie dieß eine Weile uͤberlegt haben, ſo finden ſie, das Wunderbare ſey immer neuer als alles Andere.
Nun hatten ſie die poetiſchen Erforderniſſe ziemlich beyſammen; allein es kam noch zu bedenken, daß ein Wunderbares auch leer ſeyn koͤnne und ohne Bezug auf den Men¬ ſchen. Ein ſolcher nothwendig geforderter Bezug muͤſſe aber moraliſch ſeyn, woraus118 denn offenbar die Beſſerung des Menſchen folge, und ſo habe ein Gedicht das letzte Ziel erreicht, wenn es, außer allem anderen Ge¬ leiſteten, noch nuͤtzlich werde. Nach dieſen ſaͤmmtlichen Erforderniſſen wollte man nun die verſchiedenen Dichtungsarten pruͤfen, und die¬ jenige, welche die Natur nachahmte, ſodann wunderbar und zugleich auch von ſittlichem Zweck und Nutzen ſey, ſollte fuͤr die erſte und oberſte gelten. Und nach vieler Ueber¬ legung ward endlich dieſer große Vorrang, mit hoͤchſter Ueberzeugung, der Aeſopiſchen Fabel zugeſchrieben.
So wunderlich uns jetzt eine ſolche Ab¬ leitung vorkommen mag; ſo hatte ſich doch auf die beſten Koͤpfe den entſchiedenſten Einfluß. Daß Gellert und nachher Lichtwer ſich dieſem Fache widmeten, daß ſelbſt Leſſing darin zu arbeiten verſuchte, daß ſo viele An¬ dere ihr Talent dahin wendeten, ſpricht fuͤr das Zutrauen, welches ſich dieſe Gattung er¬119 worben hatte. Theorie und Praxis wirken immer auf einander; aus den Werken kann man ſehen, wie es die Menſchen meynen, und aus den Meynungen vorausſagen, was ſie thun werden.
Doch wir duͤrfen unſere Schweizertheorie nicht verlaſſen, ohne daß ihr von uns auch Gerechtigkeit widerfahre. Bodmer, ſoviel er ſich auch bemuͤht, iſt theoretiſch und practiſch zeitlebens ein Kind geblieben. Breitinger war ein tuͤchtiger, gelehrter, einſichtsvoller Mann, dem, als er ſich recht umſah, die ſaͤmmtlichen Erforderniſſe einer Dichtung nicht entgingen, ja es laͤßt ſich nachweiſen, daß er die Maͤngel ſeiner Methode dunkel fuͤhlen mochte. Merkwuͤrdig iſt z. B. ſeine Frage: ob ein gewiſſes beſchreibendes Gedicht von Koͤ¬ nig auf das Luſtlager Auguſt's des zweyten wirklich ein Gedicht ſey? ſo wie die Beant¬ wortung derſelben guten Sinn zeigt. Zu ſei¬ ner voͤlligen Rechtfertigung aber mag dienen,120 daß er, von einem falſchen Puncte ausge¬ hend, nach beynahe ſchon durchlaufenem Krei¬ ſe, doch noch auf die Hauptſache ſtoͤßt, und die Darſtellung der Sitten, Charactere, Lei¬ denſchaften, kurz, des inneren Menſchen, auf den die Dichtkunſt doch wohl vorzuͤglich an¬ gewieſen iſt, am Ende ſeines Buchs gleich¬ ſam als Zugabe anzurathen ſich genoͤthigt findet.
In welche Verwirrung junge Geiſter durch ſolche ausgerenkte Maximen, halb verſtandene Geſetze und zerſplitterte Lehren ſich verſetzt fuͤhlten, laͤßt ſich wohl denken. Man hielt ſich an Beyſpiele, und war auch da nicht ge¬ beſſert; die auslaͤndiſchen ſtanden zu weit ab, ſo ſehr wie die alten, und aus den beſten inlaͤndiſchen blickte jedesmal eine entſchiedene Individualitaͤt hervor, deren Tugenden man ſich nicht anmaßen konnte und in deren Feh¬ ler zu fallen man fuͤrchten mußte. Fuͤr den,121 der etwas Productives in ſich fuͤhlte, war es ein verzweiflungsvoller Zuſtand.
Betrachtet man genau, was der deutſchen Poeſie fehlte, ſo war es ein Gehalt, und zwar ein nationeller; an Talenten war nie¬ mals Mangel. Hier gedenken wir nur Guͤn¬ thers, der ein Poet im vollen Sinne des Worts genannt werden darf. Ein entſchiede¬ nes Talent, begabt mit Sinnlichkeit, Ein¬ bildungskraft, Gedaͤchtniß, Gabe des Faſſens und Vergegenwaͤrtigens, fruchtbar im hoͤchſten Grade, rhythmiſchbequem, geiſtreich, witzig und dabey vielfach unterrichtet; genug er be¬ ſaß alles, was dazu gehoͤrt, im Leben ein zweytes Leben durch Poeſie hervorzubringen, und zwar in dem gemeinen wirklichen Leben. Wir bewundern ſeine große Leichtigkeit, in Gelegenheitsgedichten alle Zuſtaͤnde durchs Ge¬ fuͤhl zu erhoͤhen und mit paſſenden Geſinnun¬ gen, Bildern, hiſtoriſchen und fabelhaften Ueberlieferungen zu ſchmuͤcken. Das Rohe122 und Wilde daran gehoͤrt ſeiner Zeit, ſeiner Lebensweiſe und beſonders ſeinem Character oder, wenn man will, ſeiner Characterloſig¬ keit. Er wußte ſich nicht zu zaͤhmen, und ſo zerrann ihm ſein Leben wie ſein Dichten.
Durch ein unfertiges Betragen hatte ſich Guͤnther das Gluͤck verſcherzt, an dem Hofe Auguſt's des zweyten angeſtellt zu werden, wo man, zu allem uͤbrigen Prunk, ſich auch nach einem Hofpoeten umſah, der den Feſtlichkei¬ ten Schwung und Zierde geben und eine vor¬ uͤbergehende Pracht verewigen koͤnnte. Von Koͤnig war geſitteter und gluͤcklicher, er be¬ kleidete dieſe Stelle mit Wuͤrde und Beyfall.
In allen ſouverainen Staaten kommt der Gehalt fuͤr die Dichtkunſt von oben herunter, und vielleicht war das Luſtlager bey Muͤhl¬ berg der erſte wuͤrdige, wo nicht nationelle, doch provinzielle Gegenſtand, der vor einem Dichter auftrat. Zwey Koͤnige, die ſich in123 Gegenwart eines großen Heers begruͤßen, ihr ſaͤmmtlicher Hof - und Kriegsſtaat um ſie her, wohlgehaltene Truppen, ein Scheinkrieg, Fe¬ ſte aller Art; Beſchaͤftigung genug fuͤr den aͤußeren Sinn und uͤberfließender Stoff fuͤr ſchildernde und beſchreibende Poeſie.
Freylich hatte dieſer Gegenſtand einen in¬ neren Mangel; eben daß es nur Prunk und Schein war, aus dem keine That hervortre¬ ten konnte. Niemand, außer den Erſten, mach¬ te ſich bemerkbar, und wenn es ja geſchehen waͤre, durfte der Dichter den Einen nicht her¬ vorheben, um Andere nicht zu verletzen. Er mußte den Hof - und Staatscalender zu Rathe ziehen, und die Zeichnung der Perſonen lief daher ziemlich trocken ab; ja ſchon die Zeit¬ genoſſen machten ihm den Vorwurf, er habe die Pferde beſſer geſchildert als die Menſchen. Sollte dieß aber nicht gerade zu ſeinem Lobe gereichen? daß er ſeine Kunſt gleich da be¬ wies, wo ſich ein Gegenſtand fuͤr dieſelbe124 darbot. Auch ſcheint die Hauptſchwierigkeit ſich ihm bald offenbart zu haben: denn das Gedicht hat ſich nicht uͤber den erſten Geſang hinaus erſtreckt.
Unter ſolchen Studien und Betrachtungen uͤberraſchte mich ein unvermuthetes Ereigniß und vereitelte das loͤbliche Vorhaben, unſere neuere Litteratur von vorne herein kennen zu lernen. Mein Landsmann Johann Ge¬ org Schloſſer hatte, nachdem er ſeine academiſchen Jahre mit Fleiß und Anſtren¬ gung zugebracht, ſich zwar in Frankfurt am Main auf den gewoͤhnlichen Weg der Advo¬ catur begeben; allein ſein ſtrebender und das Allgemeine ſuchender Geiſt konnte ſich aus mancherley Urſachen in dieſe Verhaͤltniſſe nicht finden. Er nahm eine Stelle als Geheim¬ ſecretair bey dem Herzog Ludwig von Wuͤrtemberg, der ſich in Treptow auf¬ hielt, ohne Bedenken an: denn der Fuͤrſt war unter denjenigen Großen genannt, die125 auf eine edle und ſelbſtaͤndige Weiſe ſich, die Ihrigen und das Ganze aufzuklaͤren, zu beſ¬ ſern und zu hoͤheren Zwecken zu vereinigen gedachten. Dieſer Fuͤrſt Ludwig iſt es, wel¬ cher, um ſich wegen der Kinderzucht Raths zu erholen, an Rouſſeau geſchrieben hatte, deſſen bekannte Antwort mit der bedenklichen Phraſe anfaͤngt: Si j'avois le malheur d'être né prince. —
Den Geſchaͤften des Fuͤrſten nicht allein, ſondern auch der Erziehung ſeiner Kinder ſoll¬ te nun Schloſſer wo nicht vorſtehen, doch mit Rath und That willig zu Handen ſeyn. Dieſer junge, edle, den beſten Willen hegende Mann, der ſich einer vollkommenen Reinig¬ keit der Sitten befliß, haͤtte durch eine ge¬ wiſſe trockene Strenge die Menſchen leicht von ſich entfernt, wenn nicht eine ſchoͤne und ſeltene litterariſche Bildung, ſeine Sprach¬ kenntniſſe, ſeine Fertigkeit ſich ſchriftlich, ſo¬ wohl in Verſen als in Proſa, auszudruͤcken. 126Jedermann angezogen und das Leben mit ihm erleichtert haͤtte. Daß dieſer durch Leip¬ zig kommen wuͤrde war mir angekuͤndigt, und ich erwartete ihn mit Sehnſucht. Er kam und trat in einem kleinen Gaſt - oder Wein¬ hauſe ab, das im Bruͤhl lag und deſſen Wirth Schoͤnkopf hieß. Dieſer hatte eine Frankfurterinn zur Frau, und ob er gleich die uͤbrige Zeit des Jahres wenig Perſonen bewirthete, und in das kleine Haus keine Gaͤſte aufnehmen konnte; ſo war er doch Meſſenzeits von vielen Frankfurtern beſucht, welche dort zu ſpeiſen und im Nothfall auch wohl Quartier zu nehmen pflegten. Dorthin eilte ich, um Schloſſern aufzuſuchen, als er mir ſeine Ankunft melden ließ. Ich erinner¬ te mich kaum, ihn fruͤher geſehen zu haben, und fand einen jungen, wohlgebauten Mann, mit einem runden zuſammengefaßten Geſicht, ohne daß die Zuͤge deshalb ſtumpf geweſen waͤren. Die Form ſeiner gerundeten Stirn, zwiſchen ſchwarzen Augenbrauen und Locken,127 deutete auf Ernſt, Strenge und vielleicht Ei¬ genſinn. Er war gewiſſermaßen das Gegen¬ theil von mir, und eben dieß begruͤndete wohl unſere dauerhafte Freundſchaft. Ich hatte die groͤßte Achtung fuͤr ſeine Talente um ſo mehr, als ich gar wohl bemerkte, daß er mir in der Sicherheit deſſen, was er that und lei¬ ſtete, durchaus uͤberlegen war. Die Achtung und das Zutrauen, das ich ihm bewies, be¬ ſtaͤtigten ſeine Neigung, und vermehrten die Nachſicht, die er mit meinem lebhaften, fah¬ rigen und immer regſamen Weſen, im Ge¬ genſatz mit dem ſeinigen, haben mußte. Er ſtudirte die Englaͤnder fleißig, Pope war, wo nicht ſein Muſter, doch ſein Augenmerk und er hatte, im Widerſtreit mit dem Ver¬ ſuch uͤber den Menſchen jenes Schrift¬ ſtellers, ein Gedicht in gleicher Form und Silbenmaß geſchrieben, welches der chriſtli¬ chen Religion uͤber jenen Deismus den Tri¬ umph verſchaffen ſollte. Aus dem großen Vorrath von Papieren, die er bey ſich fuͤhr¬128 te, ließ er mir ſodann poetiſche und proſaiſche Aufſaͤtze in allen Sprachen ſehen, die, indem ſie mich zur Nachahmung aufriefen, mich abermals unendlich beunruhigten. Doch wu߬ te ich mir durch Thaͤtigkeit ſogleich zu helfen. Ich ſchrieb an ihn gerichtete deutſche, fran¬ zoͤſiſche, engliſche, italieniſche Gedichte, wozu ich den Stoff aus unſeren Unterhaltungen nahm, welche durchaus bedeutend und unter¬ richtend waren.
Schloſſer wollte nicht Leipzig verlaſſen, ohne die Maͤnner, welche Namen hatten, von Angeſicht zu Angeſicht geſehen zu haben. Ich fuͤhrte ihn gern zu denen mir bekannten, die von mir noch nicht beſuchten lernte ich auf dieſe Weiſe ehrenvoll kennen, weil er, als ein unterrichteter, ſchon characteriſirter Mann mit Auszeichnung empfangen wurde und den Aufwand des Geſpraͤchs recht gut zu beſtreiten wußte. Unſern Beſuch bey Gott¬ ſched darf ich nicht uͤbergehen, indem die129 Sinnes - und Sittenweiſe dieſes Mannes dar¬ aus hervortritt. Er wohnte ſehr anſtaͤndig in dem erſten Stock des goldenen Baͤren, wo ihm der aͤltere Breitkopf, wegen des großen Vortheils, den die Gottſchediſchen Schriften, Ueberſetzungen und ſonſtigen Aſſiſtenzen der Handlung gebracht, eine lebenslaͤngliche Woh¬ nung zugeſagt hatte.
Wir ließen uns melden. Der Bediente fuͤhrte uns in ein großes Zimmer, indem er ſagte, der Herr werde gleich kommen. Ob wir nun eine Gebaͤrde, die er machte, nicht recht verſtanden, wuͤßte ich nicht zu ſagen: genug wir glaubten, er habe uns in das an¬ ſtoßende Zimmer gewieſen. Wir traten hin¬ ein zu einer ſonderbaren Scene: denn in dem Augenblick trat Gottſched, der große breite rieſenhafte Mann, in einem gruͤndamaſtnen, mit rothem Tafft gefuͤtterten Schlafrock zur entgegengeſetzten Thuͤre herein; aber ſein un¬ geheures Haupt war kahl und ohne Bede¬II. 9130ckung. Dafuͤr ſollte jedoch ſogleich geſorgt ſeyn: denn der Bediente ſprang mit einer großen Allongeperuͤcke auf der Hand (die Lo¬ cken fielen bis an den Ellenbogen) zu einer Seitenthuͤre herein und reichte den Haupt¬ ſchmuck ſeinem Herrn mit erſchrockner Ge¬ baͤrde. Gottſched, ohne den mindeſten Ver¬ druß zu aͤußern, hob mit der linken Hand die Peruͤcke von dem Arme des Dieners, und indem er ſie ſehr geſchickt auf den Kopf ſchwang, gab er mit ſeiner rechten Tatze dem armen Menſchen eine Ohrfeige, ſo daß dieſer, wie es im Luſtſpiel zu geſchehen pflegt, ſich zur Thuͤre hinaus wirbelte, worauf der an¬ ſehnliche Altvater uns ganz gravitaͤtiſch zu ſitzen und einen ziemlich langen Dis¬ cours mit gutem Anſtand durchfuͤhrte.
So lange Schloſſer in Leipzig blieb ſpei¬ ſte ich taͤglich mit ihm, und lernte eine ſehr angenehme Tiſchgeſellſchaft kennen. Einige Lieflaͤnder und der Sohn des Oberhofpredi¬131 gers Herrmann in Dresden, nachheriger Burgemeiſter zu Leipzig, und ihre Hofmei¬ ſter, Hofrath Pfeil, Verfaſſer des Grafen von P., eines Pendants zu Gellerts ſchwedi¬ ſcher Graͤfinn, Zachariaͤ, ein Bruder des Dichters, und Krebel, Redacteur geogra¬ phiſcher und genealogiſcher Handbuͤcher, wa¬ ren geſittete, heitre und freundliche Menſchen. Zachariaͤ der ſtillſte, Pfeil ein feiner, bey¬ nahe etwas Diplomatiſches an ſich habender Mann, doch ohne Ziererey und mit großer Gutmuͤthigkeit, Krebel ein wahrer Fallſtaff, groß, wohlbeleibt, blond, vorliegende, heite¬ re, himmelhelle Augen, immer froh und gu¬ ter Dinge. Dieſe Perſonen begegneten mir ſaͤmmtlich, theils wegen Schloſſers, theils auch wegen meiner eignen offnen Gutmuͤthig¬ keit und Zuthaͤtigkeit, auf das allerartigſte, und es brauchte kein großes Zureden, kuͤnftig mit ihnen den Tiſch zu theilen. Ich blieb wirklich nach Schloſſers Abreiſe bey ihnen, gab den Ludwigiſchen Tiſch auf, und befand9 *132mich in dieſer geſchloſſenen Geſellſchaft um ſo wohler, als mir die Tochter vom Hauſe, ein gar huͤbſches, nettes Maͤdchen, ſehr wohl ge¬ fiel, und mir Gelegenheit ward freundliche Blicke zu wechſeln, ein Behagen, das ich ſeit dem Unfall mit Gretchen weder geſucht noch zufaͤllig gefunden hatte. Die Stunden des Mittagseſſens brachte ich mit meinen Freunden heiter und nuͤtzlich zu. Krebel hat¬ te mich wirklich lieb und wußte mich mit Maßen zu necken und anzuregen; Pfeil hin¬ gegen bewies mir eine ernſte Neigung, in¬ dem er mein Urtheil uͤber manches zu leiten und zu beſtimmen ſuchte.
Bey dieſem Umgange wurde ich durch Geſpraͤche, durch Beyſpiele und durch eignes Nachdenken gewahr, daß der erſte Schritt, um aus der waͤßrigen, weitſchweifigen, nul¬ len Epoche ſich herauszuretten, nur durch Beſtimmtheit, Praͤciſion und Kuͤrze gethan werden koͤnne. Bey dem bisherigen Styl133 konnte man das Gemeine nicht vom Beſſeren unterſcheiden, weil alles unter einander ins Flache gezogen wird. Schon hatten Schrift¬ ſteller dieſem breiten Unheil zu entgehen ge¬ ſucht, und es gelang ihnen mehr oder weni¬ ger. Haller und Rammler waren von Natur zum Gedraͤngten geneigt; Leſſing und Wieland ſind durch Reflexion dazu ge¬ fuͤhrt worden. Der erſte wurde nach und nach ganz epigrammatiſch in ſeinen Gedich¬ ten, knapp in der Minna, laconiſch in Emilia Gallotti, ſpaͤter kehrte er erſt zu einer heiteren Naivetaͤt zuruͤck, die ihn ſo wohl kleidet im Nathan. Wieland, der noch im Agathon, Don Sylvio, den Comiſchen Erzaͤhlungen mit unter pro¬ lix geweſen war, wird in Muſarion und Idris auf eine wunderſame Weiſe gefaßt und genau, mit großer Anmuth. Klopſtock, in den erſten Geſaͤngen der Meſſiade, iſt nicht ohne Weitſchweifigkeit; in den Oden und an¬ deren kleinen Gedichten erſcheint er gedraͤngt.
134ſo auch in ſeinen Tragoͤdien. Durch ſeinen Wettſtreit mit den Alten, beſonders dem Ta¬ citus, ſieht er ſich immer mehr ins Enge ge¬ noͤthigt, wodurch er zuletzt unverſtaͤndlich und ungenießbar wird. Gerſtenberg, ein ſchoͤ¬ nes aber bizarres Talent, nimmt ſich auch zuſammen, ſein Verdienſt wird geſchaͤtzt, macht aber im Ganzen wenig Freude. Gleim, weit¬ ſchweifig, behaglich von Natur, wird kaum Einmal concis in den Kriegsliedern. Ramm¬ ler iſt eigentlich mehr Kritiker als Poet. Er faͤngt an was Deutſche im Lyriſchen ge¬ leiſtet, zu ſammeln. Nun findet er, daß ihm kaum Ein Gedicht voͤllig genug thut; er muß auslaſſen, redigiren, veraͤndern, damit die Dinge nur einige Geſtalt bekommen. Hierdurch macht er ſich faſt ſo viel Feinde als es Dichter und Liebhaber giebt; da ſich jeder eigentlich nur an ſeinen Maͤngeln wie¬ der erkennt, und das Publicum ſich eher fuͤr ein fehlerhaftes Individuelle intereſſirt, als fuͤr das, was nach einer allgemeinen Ge¬135 ſchmacksregel hervorgebracht oder verbeſſert wird. Die Rhythmik lag damals noch in der Wiege, und Niemand wußte ein Mittel ihre Kindheit zu verkuͤrzen. Die poetiſche Proſa nahm uͤberhand. Geßner und Klop¬ ſtock erregten manche Nachahmer; andere wie¬ der forderten doch ein Sylbenmaß und uͤber¬ ſetzten dieſe Profe in faßliche Rhythmen. Aber auch dieſe machten es Niemand zu Dank: denn ſie mußten auslaſſen und zu¬ ſetzen, und das proſaiſche Original galt im¬ mer fuͤr das Beſſere. Jemehr aber bey al¬ lem dieſem das Gedrungene geſucht wird, deſto mehr wird Beurtheilung moͤglich, weil das Bedeutende, enger zuſammengebracht, endlich eine ſichere Vergleichung zulaͤßt. Es ergab ſich auch zugleich, daß mehrere Arten von wahrhaft poetiſchen Formen entſtanden: denn indem man von einem jeden Gegenſtande, den man nachbilden wollte, nur das Noth¬ wendige darzuſtellen ſuchte, ſo mußte man ei¬ nem jeden Gerechtigkeit widerfahren laſſen,136 und auf dieſe Weiſe, ob es gleich Niemand mit Bewußtſeyn that, vermannigfaltigten ſich die Darſtellungsweiſen, unter welchen es frey¬ lich auch frazzenhafte gab, und mancher Ver¬ ſuch ungluͤcklich ablief.
Ganz ohne Frage beſaß Wieland unter allen das ſchoͤnſte Naturell. Er hatte ſich fruͤh in jenen ideellen Regionen, ausgebildet, wo die Jugend ſo gern verweilt; da ihm aber dieſe durch das was man Erfahrung nennt, durch Begegniſſe an Welt und Wei¬ bern verleidet wurden, ſo warf er ſich auf die Seite des Wirklichen, und gefiel ſich und An¬ dern im Widerſtreit beyder Welten, wo ſich zwiſchen Scherz und Ernſt, im leichten Ge¬ fecht, ſein Talent am allerſchoͤnſten zeigte. Wie manche ſeiner glaͤnzenden Productionen fallen in die Zeit meiner academiſchen Jahre. Muſarion wirkte am meiſten auf mich, und ich kann mich noch des Ortes und der Stelle erinnern, wo ich den erſten Aushaͤnge¬137 bogen zu Geſicht bekam, welchen mir Oeſer mittheilte. Hier war es, wo ich das Antike lebendig und neu wieder zu ſehen glaubte. Alles was in Wielands Genie plaſtiſch iſt, zeigte ſich hier aufs vollkommenſte, und da jener zur ungluͤcklichen Nuͤchternheit verdamm¬ te Phanias-Timon ſich zuletzt wieder mit ſeinem Maͤdchen und der Welt verſoͤhnt, ſo mag man die menſchenfeindliche Epoche wohl auch mit ihm durchleben. Uebrigens gab man dieſen Werken ſehr gern einen heiteren Widerwillen gegen erhoͤhte Geſinnungen zu, welche, bey leicht verfehlter Anwendung aufs Leben, oͤfters der Schwaͤrmerey verdaͤchtig werden. Man verzieh dem Autor, wenn er das, was man fuͤr wahr und ehrwuͤrdig hielt, mit Spott verfolgte, um ſo eher, als er da¬ durch zu erkennen gab, daß es ihm ſelbſt im¬ merfort zu ſchaffen mache.
Wie kuͤmmerlich die Kritik ſolchen Arbei¬ ten damals entgegen kam, laͤßt ſich aus den138 erſten Baͤnden der allgemeinen deutſchen Bi¬ bliothek erſehen. Der Comiſchen Erzaͤhlungen geſchieht ehrenvolle Erwaͤhnung; aber hier iſt keine Spur von Einſicht in den Character der Dichtart ſelbſt. Der Recenſent hatte ſei¬ nen Geſchmack, wie damals alle, an Bey¬ ſpielen gebildet. Hier iſt nicht bedacht, daß man vor allen Dingen bey Beurtheilung ſol¬ cher parodiſtiſchen Werke den originalen ed¬ len, ſchoͤnen Gegenſtand vor Augen haben muͤſſe, um zu ſehen, ob der Parodiſt ihm wirklich eine ſchwache und comiſche Seite ab¬ gewonnen, ob er ihm etwas geborgt, oder, unter dem Schein einer ſolchen Nachahmung, vielleicht gar ſelbſt eine treffliche Erfindung geliefert? Von allem dem ahndet man nichts, ſondern die Gedichte werden ſtellenweis gelobt und getadelt. Der Recenſent hat, wie er ſelbſt geſteht, ſoviel was ihm gefallen ange¬ ſtrichen, daß er nicht einmal im Druck alles anfuͤhren kann. Kommt man nun gar der hoͤchſt verdienſtlichen Ueberſetzung Shakespear's139 mit dem Ausruf entgegen: „ Von rechts¬ wegen ſollte man einen Mann wie Shakes¬ peare gar nicht uͤberſetzt haben “: ſo begreift ſich ohne weiteres, wie unendlich weit die allgemeine deutſche Bibliothek in Sachen des Geſchmacks zuruͤck war, und daß junge Leute, von wahrem Gefuͤhl belebt, ſich nach anderen Leitſternen umzuſehen hatten.
Den Stoff, der auf dieſe Weiſe mehr oder weniger die Form beſtimmte, ſuchten die Deutſchen uͤberall auf. Sie hatten wenig oder keine Nationalgegenſtaͤnde behandelt. Schle¬ gels Herrmann deutete nur darauf hin. Die idylliſche Tendenz verbreitete ſich unend¬ lich. Das Charakterloſe der Geßnerſchen, bey großer Anmuth und kindlicher Herzlich¬ keit, machte Jeden glauben, daß er etwas Aehnliches vermoͤge. Eben ſo bloß aus dem Allgemeinmenſchlichen gegriffen waren jene Ge¬ dichte, die ein Fremdnationelles darſtellen ſoll¬ ten, z. B. die juͤdiſchen Schaͤfergedichte, uͤber¬140 haupt die patriarchaliſchen und was ſich ſonst auf das alte Teſtament bezog. Bodmers Noachide war ein vollkommenes Symbol der um den deutſchen Parnaß angeſchwollenen Waſſerfluth, die ſich nur langſam verlief. Das Anakreontiſche Gegaͤngel ließ gleichfalls unzaͤhlige mittelmaͤßige Koͤpfe im Breiten her¬ umſchwanken. Die Praͤciſion des Horaz noͤthigte die Deutſchen, doch nur langſam, ſich ihm gleichzuſtellen. Comiſche Heldenge¬ dichte, meiſt nach dem Vorbild von Pope's Lockenraub, dienten auch nicht, eine beſſere Zeit herbeyzufuͤhren.
Noch muß ich hier eines Wahnes geden¬ ken, der ſo ernſthaft wirkte als er laͤcherlich ſeyn muß, wenn man ihn naͤher beleuchtet. Die Deutſchen hatten nunmehr genugſam hiſtoriſche Kenntniß von allen Dichtarten, worinne ſich die verſchiedenen Nationen aus¬ gezeichnet hatten. Von Gottſched war ſchon dieſes Faͤcherwerk, welches eigentlich den in¬141 neren Begriff von Poeſie zu Grunde richtet, in ſeiner kritiſchen Dichtkunſt ziemlich voll¬ ſtaͤndig zuſammengezimmert und zugleich nach¬ gewieſen, daß auch ſchon deutſche Dichter mit vortrefflichen Werken alle Rubriken aus¬ zufuͤllen gewußt. Und ſo ging es denn im¬ mer fort. Jedes Jahr wurde die Collection anſehnlicher, aber auch jedes Jahr vertrieb eine Arbeit die andere aus dem Locat, in dem ſie bisher geglaͤnzt hatte. Wir beſaßen nunmehr, wo nicht Homere, doch Virgile und Miltone, wo nicht einen Pindar, doch einen Horaz; an Theokriten war kein Man¬ gel; und ſo wiegte man ſich mit Vergleichun¬ gen nach Außen, indem die Maſſe poetiſcher Werke immer wuchs, damit auch endlich ei¬ ne Vergleichung nach Innen Statt finden konnte.
Stand es nun mit den Sachen des Ge¬ ſchmacks auf einem ſehr ſchwankenden Fuße; ſo konnte man jener Epoche auf keine Weiſe142 ſtreitig machen, daß innerhalb des proteſtanti¬ ſchen Theils von Deutſchland und der Schweiz ſich dasjenige gar lebhaft zu regen anfing, was man Menſchenverſtand zu nennen pflegt. Die Schulphiloſophie, welche jederzeit das Verdienſt hat, alles dasjenige wornach der Menſch nur fragen kann, nach angenomme¬ nen Grundſaͤtzen, in einer beliebten Ordnung, unter beſtimmten Rubriken vorzutragen, hat¬ te ſich durch das oft Dunkle und Unnuͤtzſchei¬ nende ihres Inhalts, durch unzeitige Anwen¬ dung einer an ſich reſpectabeln Methode und durch die allzugroße Verbreitung uͤber ſo viele Gegenſtaͤnde, der Menge fremd, ungenießbar und endlich entbehrlich gemacht. Mancher gelangte zur Ueberzeugung, daß ihm wohl die Natur ſoviel guten und geraden Sinn zur Ausſtattung gegoͤnnt habe, als er ohnge¬ faͤhr beduͤrfe, ſich von den Gegenſtaͤnden ei¬ nen ſo deutlichen Begriff zu machen, daß er mit ihnen fertig werden, und zu ſeinem und anderer Nutzen damit gebahren koͤnne, ohne143 gerade ſich um das Allgemeinſte muͤhſam zu bekuͤmmern und zu forſchen, wie doch die entfernteſten Dinge, die uns nicht ſonderlich beruͤhren, wohl zuſammenhangen moͤchten? Man machte den Verſuch, man that die Au¬ gen auf, ſah gerade vor ſich hin, war auf¬ merkſam, fleißig, thaͤtig, und glaubte, wenn man in ſeinem Kreis richtig urtheile und handle, ſich auch wohl herausnehmen zu duͤr¬ fen, uͤber Anderes, was entfernter lag, mit¬ zuſprechen.
Nach einer ſolchen Vorſtellung war nun Jeder berechtiget, nicht allein zu philoſophi¬ ren, ſondern ſich auch nach und nach fuͤr ei¬ nen Philoſophen zu halten. Die Philoſo¬ phie war alſo ein mehr oder weniger geſun¬ der und geuͤbter Menſchenverſtand, der es wagte, ins Allgemeine zu gehen und uͤber innere und aͤußere Erfahrungen abzuſprechen. Ein heller Scharfſinn und eine beſondere Maͤßigkeit, indem man durchaus die Mittel¬144 ſtraße und Billigkeit gegen alle Meynungen fuͤr das Rechte hielt, verſchaffte ſolchen Schrif¬ ten und muͤndlichen Aeußerungen Anſehen und Zutrauen, und ſo fanden ſich zuletzt Philoſo¬ phen in allen Facultaͤten, ja in allen Staͤn¬ den und Hanthierungen.
Auf dieſem Wege mußten die Theologen ſich zu der ſogenannten natuͤrlichen Religion hin¬ neigen, und wenn zur Sprache kam, in wie¬ fern das Licht der Natur uns in der Erkenntniß Gottes, der Verbeſſerung und Veredlung un¬ ſerer ſelbſt zu foͤrdern hinreichend ſey, ſo wagte man gewoͤhnlich ſich zu deſſen Gunſten ohne viel Bedenken zu entſcheiden. Aus jenem Maͤßigkeitsprincip gab man ſodann ſaͤmmtli¬ chen poſitiven Religionen gleiche Rechte, wo¬ durch denn eine mit der andern gleichguͤltig und unſicher wurde. Uebrigens ließ man denn doch aber alles beſtehen, und weil die Bibel ſo voller Gehalt iſt, daß ſie mehr als jedes andere Buch Stoff zum Nachdenken und145 Gelegenheit zu Betrachtungen uͤber die menſch¬ lichen Dinge darbietet; ſo konnte ſie durchaus nach wie vor bey allen Kanzelreden und ſonſti¬ gen religioſen Verhandlungen zum Grunde ge¬ legt werden.
Allein dieſem Werke ſtand, ſo wie den ſaͤmmtlichen Profanſcribenten, noch ein eige¬ nes Schickſal bevor, welches im Laufe der Zeit nicht abzuwenden war. Man hatte naͤmlich bisher auf Treu und Glauben angenommen, daß dieſes Buch der Buͤcher in Einem Geiſte verfaßt, ja daß es von dem goͤttlichen Geiſte eingehaucht und gleichſam dictirt ſey. Doch waren ſchon laͤngſt von Glaͤubigen und Un¬ glaͤubigen die Ungleichheiten der verſchiedenen Theile deſſelben bald geruͤgt, bald vertheidigt worden. Englaͤnder, Franzoſen, Deutſche hat¬ ten die Bibel mit mehr oder weniger Heftigkeit, Scharfſinn, Frechheit, Muthwillen angegriffen, und eben ſo war ſie wieder von ernſthaften, wohldenkenden Menſchen einer jeden Nation inII. 10146Schutz genommen worden. Ich fuͤr meine Per¬ ſon hatte ſie lieb und werth: denn faſt ihr allein war ich meine ſittliche Bildung ſchuldig, und die Begebenheiten, die Lehren, die Sym¬ bole, die Gleichniſſe, alles hatte ſich tief bey mir eingedruͤckt und war auf eine oder die an¬ dere Weiſe wirkſam geweſen. Mir misfielen daher die ungerechten, ſpoͤttlichen und verdre¬ henden Angriffe; doch war man damals ſchon ſo weit, daß man theils als einen Haupt¬ vertheidigungsgrund vieler Stellen ſehr willig annahm, Gott habe ſich nach der Denkweiſe und Faſſungskraft der Menſchen gerichtet, ja die vom Geiſte Getriebenen haͤtten doch deswe¬ gen nicht ihren Character, ihre Individualitaͤt verleugnen koͤnnen, und Amos als Kuhhirte fuͤhre nicht die Sprache Jeſaias, welcher ein Prinz ſolle geweſen ſeyn.
Aus ſolchen Geſinnungen und Ueberzeugun¬ gen entwickelte ſich, beſonders bey immer wachſenden Sprachkenntniſſen, gar natuͤrlich147 jene Art des Studiums, daß man die orienta¬ liſchen Localitaͤten, Nationalitaͤten, Naturpro¬ ducte und Erſcheinungen genauer zu ſtudiren und ſich auf dieſe Weiſe jene alte Zeit zu verge¬ genwaͤrtigen ſuchte. Michaelis legte die gan¬ ze Gewalt ſeines Talents und ſeiner Kenntniſſe auf dieſe Seite. Reiſebeſchreibungen wurden ein kraͤftiges Huͤlfsmittel zu Erklaͤrung der hei¬ ligen Schriften, und neuere Reiſende, mit vielen Fragen ausgeruͤſtet, ſollten durch Beant¬ wortung derſelben fuͤr die Propheten und Apo¬ ſtel zeugen.
Indeſſen aber man von allen Seiten be¬ muͤht war, die heiligen Schriften zu einem na¬ tuͤrlichen Anſchauen heranzufuͤhren, und die ei¬ gentliche Denk - und Vorſtellungsweiſe derſel¬ ben allgemeiner faßlich zu machen, damit durch dieſe hiſtoriſch-kritiſche Anſicht mancher Ein¬ wurf beſeitigt, manches Anſtoͤßige getilgt und jede ſchale Spoͤtterey umwirkſam gemacht wuͤr¬ de; ſo trat in einigen Maͤnnern gerade die ent¬10 *148gegengeſetzte Sinnesart hervor, indem ſolche die dunkelſten, geheimnißvollſten Schriften zum Gegenſtand ihrer Betrachtungen waͤhlten, und ſolche aus ſich ſelbſt durch Conjecturen, Rech¬ nungen und andere geiſtreiche und ſeltſame Com¬ binationen, zwar nicht aufhellen, aber doch be¬ kraͤftigen und in ſofern ſie Weiſſagungen ent¬ hielten, durch den Erfolg begruͤnden und da¬ durch einen Glauben an das Naͤchſtzuerwarten¬ de rechtfertigen wollten.
Der ehrwuͤrdige Bengel hatte ſeinen Be¬ muͤhungen um die Offenbarung Johannis da¬ durch einen entſchiedenen Eingang verſchafft, daß er als ein verſtaͤndiger, rechtſchaffener, gottes¬ fuͤrchtiger, als ein Mann ohne Tadel bekannt war. Tiefe Gemuͤther ſind genoͤthigt, in der Vergangenheit ſo wie in der Zukunft zu leben. Das gewoͤhnliche Treiben der Welt kann ih¬ nen von keiner Bedeutung ſeyn, wenn ſie nicht in dem Verlauf der Zeiten bis zur Gegenwart, enthuͤllte Prophezeyungen, und in der naͤchſten149 wie in der fernſten Zukunft, verhuͤllte Weiſſa¬ gungen verehren. Hierdurch entſpringt ein Zu¬ ſammenhang, der in der Geſchichte vermißt wird, die uns nur ein zufaͤlliges Hin - und Wieder¬ ſchwanken in einem nothwendig geſchloſſenen Kreiſe zu uͤberliefern ſcheint. Doctor Cruſius gehoͤrte zu denen, welchen der prophetiſche Theil der heiligen Schriften am meiſten zuſag¬ te, indem er die zwey entgegengeſetzteſten Ei¬ genſchaften des menſchlichen Weſens zugleich in Thaͤtigkeit ſetzt, das Gemuͤth und den Scharfſinn. Dieſer Lehre hatten ſich viele Juͤnglinge gewidmet, und bildeten ſchon eine anſehnliche Maſſe, die um deſto mehr in die Augen fiel, als Ernesti mit den Seinigen das Dunkel, in welchem jene ſich gefielen, nicht aufzuhellen, ſondern voͤllig zu vertreiben droh¬ te. Daraus entſtanden Haͤndel, Haß und Verfolgung und manches Unannehmliche. Ich hielt mich zur klaren Parthey und ſuchte mir ihre Grundſaͤtze und Vortheile zuzueignen, ob ich mir gleich zu ahnden erlaubte, daß durch150 dieſe hoͤchſt loͤbliche, verſtaͤndige Auslegungs¬ weiſe zuletzt der poetiſche Gehalt jener Schrif¬ ten mit dem prophetiſchen verloren gehen muͤſſe.
Naͤher aber lag denen, welche ſich mit deutſcher Litteratur und ſchoͤnen Wiſſenſchaften abgaben, die Bemuͤhung ſolcher Maͤnner, die, wie Jeruſalem, Zollikoffer, Spal¬ ding, in Predigten und Abhandlungen, durch einen guten und reinen Styl, der Religion und der ihr ſo nah verwandten Sittenlehre, auch bey Perſonen von einem gewiſſen Sinn und Geſchmack, Beyfall und Anhaͤnglichkeit zu erwerben ſuchten. Eine gefaͤllige Schreib¬ art fing an durchaus noͤthig zu werden, und weil eine ſolche vor allen Dingen faßlich ſeyn muß, ſo ſtanden von vielen Seiten Schrift¬ ſteller auf, welche von ihren Studien, ihrem Metier klar, deutlich, eindringlich, und ſo¬ wohl fuͤr die Kenner als fuͤr die Menge zu ſchreiben unternahmen.
151Nach dem Vorgange eines Auslaͤnders, Tiſſot, fingen nunmehr auch die Aerzte mit Eifer an auf die allgemeine Bildung zu wir¬ ken. Sehr großen Einfluß hatten Haller, Unzer, Zimmermann, und was man im Einzelnen gegen ſie, beſonders gegen den letzten, auch ſagen mag, ſie waren zu ihrer Zeit ſehr wirkſam. Und davon ſollte in der Geſchichte, vorzuͤglich aber in der Biographie die Rede ſeyn: denn nicht in ſofern der Menſch etwas zuruͤcklaͤßt, ſondern in ſofern er wirkt und genießt und andere zu wirken und zu genießen anregt, bleibt er von Bedeutung.
Die Rechtsgelehrten, von Jugend auf gewoͤhnt an einen abſtruſen Styl, welcher ſich in allen Expeditionen, von der Kanzelley des unmittelbaren Ritters bis auf den Reichstag zu Regensburg, auf die barockſte Weiſe er¬ hielt, konnten ſich nicht leicht zu einer gewiſ¬ ſen Freyheit erheben, um ſo weniger, als die Gegenſtaͤnde, welche ſie zu behandeln hatten,152 mit der aͤußeren Form und folglich auch mit dem Styl aufs genaueſte zuſammenhingen. Doch hatte der juͤngere von Moſer ſich ſchon als ein freyer und eigenthuͤmlicher Schriftſteller bewieſen und Puͤtter durch die Klarheit ſeines Vortrags auch Klarheit in ſeinen Gegenſtand und den Styl gebracht, womit er behandelt werden ſollte. Alles was aus ſeiner Schule hervorging, zeichnete ſich dadurch aus. Und nun fanden die Philoſo¬ phen ſelbſt ſich genoͤthigt, um popular zu ſeyn, auch deutlich und faßlich zu ſchreiben. Mendelsſohn, Garve traten aus und erregten allgemeine Theilnahme und Bewun¬ derung.
Mit der Bildung der deutſchen Sprache und des Stvls in jedem Fache wuchs auch die Urtheilsfaͤhigkeit, und wir bewundern in jener Zeit Recenſionen von Werken uͤber religioſe und ſittliche Gegenſtaͤnde, ſo wie uͤber aͤrztliche; wenn wir dagegen bemerken,153 daß die Beurtheilungen von Gedichten und was ſich ſonſt auf ſchoͤne Litteratur beziehen mag, wo nicht erbaͤrmlich, doch wenigſtens ſehr ſchwach befunden werden. Dieſes gilt ſogar von den Litteraturbriefen und von der allgemeinen deutſchen Bibliothek, wie von der Bibliothek der ſchoͤnen Wiſſenſchaften, wovon man gar leicht bedeutende Beyſpiele anfuͤhren koͤnnte.
Dieſes alles mochte jedoch ſo bunt durch einander gehen als es wollte, ſo blieb einem Jeden, der etwas aus ſich zu produciren ge¬ dachte, der nicht ſeinen Vorgaͤngern die Wor¬ te und Phraſen nur aus dem Munde neh¬ men wollte, nichts weiter uͤbrig, als ſich fruͤh und ſpaͤt nach einem Stoffe umzuſehen, den er zu benutzen gedaͤchte. Auch hier wur¬ den wir ſehr in der Irre herumgefuͤhrt. Man trug ſich mit einem Worte von Kleist, das wir oft genug hoͤren mußten. Er hatte naͤmlich gegen diejenigen, welche ihn wegen154 ſeiner oͤftern einſamen Spazirgaͤnge beriefen, ſcherzhaft, geiſtreich und wahrhaft geantwor¬ tet: er ſey dabey nicht muͤßig, er gehe auf die Bilderjagd. Einem Edelmann und Soldaten ziemte dieß Gleichniß wohl, der ſich dadurch Maͤnnern ſeines Standes gegenuͤber ſtellte, die mit der Flinte im Arm auf die Haſen - und Huͤhnerjagd, ſo oft ſich nur Gelegenheit zeig¬ te, auszugehen nicht verſaͤumten. Wir finden daher in Kleiſtens Gedichten von ſolchen ein¬ zelnen, gluͤcklich aufgehaſchten, obgleich nicht immer gluͤcklich verarbeiteten Bildern gar Manches, was uns freundlich an die Natur erinnert. Nun aber ermahnte man uns auch ganz ernſtlich, auf die Bilderjagd auszuge¬ hen, die uns denn doch zuletzt nicht ganz ohne Frucht ließ, obgleich Apels Garten, die Ku¬ chengaͤrten, das Roſenthal, Golis, Raſchwitz und Konnewitz das wunderlichſte Revier ſeyn mochte, um poetiſches Wildprett darin aufzu¬ ſuchen. Und doch ward ich aus jenem An¬ laß oͤfters bewogen, meinen Spazirgang ein¬155 ſam anzuſtellen, und weil weder von ſchoͤnen, noch erhabenen Gegenſtaͤnden dem Beſchauer viel entgegentrat, und in den wirklich herrli¬ chen Roſenthale zur beſten Jahrszeit die Muͤ¬ cken keinen zarten Gedanken aufkommen ließen; ſo ward ich, bey unermuͤdet fortgeſetzter Be¬ muͤhung, auf das Kleinleben der Natur, (ich moͤchte dieſes Wort nach der Analogie von Stillleben gebrauchen,) hoͤchſt aufmerkſam, und weil die zierlichen Begebenheiten, die man in dieſem Kreiſe gewahr wird, an und fuͤr ſich wenig vorſtellen, ſo gewoͤhnte ich mich, in ih¬ nen eine Bedeutung zu ſehen, die ſich bald ge¬ gen die ſymboliſche, bald gegen die allegoriſche Seite hinneigte, je nachdem Anſchauung, Ge¬ fuͤhl oder Reflexion das Uebergewicht behielt. Ein Ereigniß, ſtatt vieler, gedenke ich zu er¬ zaͤhlen.
Ich war, nach Menſchenweiſe, in meinen Namen verliebt und ſchrieb ihn, wie junge und ungebildete Leute zu thun pflegen, uͤberall156 an. Einſt hatte ich ihn auch ſehr ſchoͤn und ge¬ nau in die glatte Rinde eines Lindenbaums von maͤßigem Alter geſchnitten. Den Herbſt darauf, als meine Neigung zu Annetten in ih¬ rer beſten Bluͤthe war, gab ich mir die Muͤhe, den ihrigen oben daruͤber zu ſchneiden. Indeſ¬ ſen hatte ich gegen Ende des Winters, als ein launiſcher Liebender, manche Gelegenheit vom Zaune gebrochen, um ſie zu quaͤlen und ihr Verdruß zu machen; Fruͤhjahrs beſuchte ich zu¬ faͤllig die Stelle, und der Saft, der maͤchtig in die Baͤume trat, war durch die Einſchnitte, die ihren Namen bezeichneten, und die noch nicht verharſcht waren, hervorgequollen und benetzte mit unſchuldigen Pflanzenthraͤnen die ſchon hart gewordenen Zuͤge des meinigen. Sie alſo hier uͤber mich weinen zu ſehen, der ich oft ihre Thraͤnen durch meine Unarten her¬ vorgerufen hatte, ſetzte mich in Beſtuͤrzung. In Erinnerung meines Unrechts und ihrer Lie¬ be kamen mir ſelbſt die Thraͤnen in die Au¬ gen, ich eilte, ihr alles doppelt und dreyfach157 abzubitten, verwandelte dieß Ereigniß in eine Idylle, die ich niemals ohne Neigung leſen und ohne Ruͤhrung Anderen vortragen konnte.
Indem ich nun, als ein Schaͤfer an der Pleiße, mich in ſolche zarte Gegenſtaͤnde kind¬ lich genug vertiefte, und immer nur ſolche waͤhlte, die ich geſchwind in meinen Buſen zu¬ ruͤckfuͤhren konnte, ſo war fuͤr deutſche Dich¬ ter von einer groͤßeren und wichtigeren Seite her laͤngſt geſorgt geweſen.
Der erſte wahre und hoͤhere eigentliche Le¬ bensgehalt kam durch Friedrich den Großen und die Thaten des ſiebenjaͤhrigen Kriegs in die deutſche Poeſie. Jede Nationaldichtung muß ſchal ſeyn oder ſchal werden, die nicht auf dem Menſchlicherſten ruht, auf den Ereigniſſen der Voͤlker und ihrer Hirten, wenn beyde fuͤr Einen Mann ſtehn. Koͤnige ſind darzuſtellen in Krieg und Gefahr, wo ſie eben dadurch als die Erſten erſcheinen, weil ſie das Schickſal des158 Allerletzten beſtimmen und theilen, und dadurch viel intereſſanter werden als die Goͤtter ſelbſt, die, wenn ſie Schickſale beſtimmt haben, ſich der Theilnahme derſelben entziehen. In die¬ ſem Sinne muß jede Nation, wenn ſie fuͤr ir¬ gend etwas gelten will, eine Epopee beſitzen, wozu nicht gerade die Form des epiſchen Ge¬ dichts noͤthig iſt.
Die Kriegslieder, von Gleim ange¬ ſtimmt, behaupten deswegen einen ſo hohen Rang unter den deutſchen Gedichten, weil ſie mit und in der That entſprungen ſind, und noch uͤberdieß, weil an ihnen die gluͤckliche Form, als haͤtte ſie ein Mitſtreitender in den hoͤchſten Augenblicken hervorgebracht, uns die vollkommenſte Wirkſamkeit empfinden laͤßt.
Rammler ſingt auf eine andere, hoͤchſt wuͤrdige Weiſe die Thaten ſeines Koͤnigs. Alle ſeine Gedichte ſind gehaltvoll, beſchaͤftigen uns mit großen, herzerhebenden Gegenſtaͤnden und159 behaupten ſchon dadurch einen unzerſtoͤrlichen Werth.
Denn der innere Gehalt des bearbeiteten Gegenſtandes iſt der Anfang und das Ende der Kunſt. Man wird zwar nicht leugnen, daß das Genie, das ausgebildete Kunſttalent, durch Behandlung aus allem alles machen und den widerſpaͤnſtigſten Stoff bezwingen koͤnne. Genau beſehen entſteht aber alsdann immer mehr ein Kunſtſtuͤck als ein Kunſtwerk, welches auf einem wuͤrdigen Gegenſtande ruhen ſoll, damit uns zuletzt die Behandlung, durch Ge¬ ſchick, Muͤhe und Fleiß, die Wuͤrde des Stof¬ fes nur deſto gluͤcklicher und herrlicher entgegen¬ bringe.
Die Preußen und mit ihnen das prote¬ ſtantiſche Deutſchland gewannen alſo fuͤr ihre Litteratur einen Schatz, welcher der Gegenpar¬ they fehlte und deſſen Mangel ſie durch keine nachherige Bemuͤhung hat erſetzen koͤnnen. An160 dem großen Begriff, den die preußiſchen Schriftſteller von ihrem Koͤnig hegen durften, bauten ſie ſich erſt heran, und um deſto eifriger, als derjenige, in deſſen Namen ſie alles thaten, ein fuͤr allemal nichts von ihnen wiſſen wollte. Schon fruͤher war durch die franzoͤſiſche Colonie, nachher durch die Vorliebe des Koͤnigs fuͤr die Bildung dieſer Nation und fuͤr ihre Finanzan¬ ſtalten, eine Maſſe franzoͤſiſcher Cultur nach Preußen gekommen, welche den Deutſchen hoͤchſt foͤrderlich ward, indem ſie dadurch zu Widerſpruch und Widerſtreben aufgefordert wurden; eben ſo war die Abneigung Friedrichs gegen das Deutſche fuͤr die Bildung des Litte¬ rarweſens ein Gluͤck. Man that alles, um ſich von dem Koͤnig bemerken zu machen, nicht etwa, um von ihm geachtet, ſondern nur be¬ achtet zu werden; aber man thats auf deut¬ ſche Weiſe, nach innerer Ueberzeugung, man that was man fuͤr recht erkannte, und wuͤnſch¬ te und wollte, daß der Koͤnig dieſes deutſche Rechte anerkennen und ſchaͤtzen ſolle. Dieß ge¬161 ſchah nicht und konnte nicht geſchehen: denn wie kann man von einem Koͤnig, der geiſtig leben und genießen will, verlangen, daß er ſeine Jahre verliere, um das, was er fuͤr bar¬ bariſch haͤlt, nur allzuſpaͤt entwickelt und ge¬ nießbar zu ſehen? In Handwerks - und Fa¬ brikſachen mochte er wohl ſich, beſonders aber ſeinem Volke, ſtatt fremder vortrefflicher Waa¬ ren, ſehr maͤßige Surrogate aufnoͤthigen; aber hier geht alles geſchwinder zur Vollkommen¬ heit, und es braucht kein Menſchenleben, um ſolche Dinge zur Reife zu bringen.
Eines Werks aber, der wahrſten Ausge¬ burt des ſiebenjaͤhrigen Krieges, von vollkom¬ menem norddeutſchen Nationalgehalt muß ich hier vor allen ehrenvoll erwaͤhnen; es iſt die erſte, aus dem bedeutenden Leben gegriffene Theaterproduction, von ſpecifiſch temporaͤrem Gehalt die deswegen auch eine nie zu berech¬ nende Wirkung that, Minna von Barn¬ helm. Leſſing, der, im Gegenſatze vonII. 11162Klopſtock und Gleim, die perſoͤnliche Wuͤrde gern wegwarf, weil er ſich zutraute, ſie jeden Augenblick wieder ergreifen und aufnehmen zu koͤnnen, gefiel ſich in einem zerſtreuten Wirths¬ haus - und Weltleben, da er gegen ſein maͤch¬ tig arbeitendes Innere ſtets ein gewaltiges Ge¬ gengewicht brauchte, und ſo hatte er ſich auch in das Gefolge des Generals Tauentzien bege¬ ben. Man erkennt leicht, wie genanntes Stuͤck zwiſchen Krieg und Frieden, Haß und Neigung erzeugt iſt. Dieſe Production war es, die den Blick in eine hoͤhere, bedeutendere Welt aus der litterariſchen und buͤrgerlichen, in welcher ſich die[Dichtkunſt] bisher bewegt hatte, gluͤcklich eroͤffnete.
Die gehaͤſſige Spannung, in welcher Preu¬ ßen und Sachſen ſich waͤhrend dieſes Kriegs ge¬ gen einander befanden, konnte durch die Been¬ digung deſſelben nicht aufgehoben werden. Der Sachſe fuͤhlte nun erſt recht ſchmerzlich die Wunden, die ihm der uͤberſtolz gewordene163 Preuße geſchlagen hatte. Durch den politiſchen Frieden konnte der Friede zwiſchen den Gemuͤ¬ thern nicht ſogleich hergeſtellt werden. Dieſes aber ſollte gedachtes Schauſpiel im Bilde be¬ wirken. Die Anmuth und Liebenswuͤrdigkeit der Saͤchſinnen uͤberwindet den Werth, die Wuͤrde, den Starrſinn der Preußen, und ſo¬ wohl an den Hauptperſonen als den Subal¬ ternen wird eine gluͤckliche Vereinigung bi¬ zarrer und widerſtrebender Elemente kunſtge¬ maͤß dargeſtellt.
Habe ich durch dieſe curſoriſchen und deſul¬ toriſchen Bemerkungen uͤber deutſche Litteratur meine Leſer in einige Verwirrung geſetzt, ſo iſt es mir gegluͤckt, eine Vorſtellung von jenem chaotiſchen Zuſtande zu geben, in welchem ſich mein armes Gehirn befand, als, im Conflict zweyer, fuͤr das litterariſche Vaterland ſo be¬ deutender Epochen, ſo viel Neues auf mich ein¬ draͤngte, ehe ich mich mit dem Alten hatte ab¬ finden koͤnnen, ſo viel Altes ſein Recht noch11 *164uͤber mich gelten machte, da ich ſchon Urſache zu haben glaubte, ihm voͤllig entſagen zu duͤr¬ fen. Welchen Weg ich einſchlug, mich aus dieſer Noth, wenn auch nur Schritt vor Schritt zu retten, will ich gegenwaͤrtig moͤg¬ lichſt zu uͤberliefern ſuchen.
Die weitſchweifige Periode, in welche mei¬ ne Jugend gefallen war, hatte ich treufleißig, in Geſellſchaft ſo vieler wuͤrdigen Maͤnner, durchgearbeitet. Die mehreren Quartbaͤnde Manuſcript, die ich meinem Vater zuruͤckließ, konnten zum genugſamen Zeugniſſe dienen, und welche Maſſe von Verſuchen, Entwuͤrfen, bis zur Haͤlfte ausgefuͤhrten Vorſaͤtzen war mehr aus Mismuth als aus Ueberzeugung in Rauch aufgegangen. Nun lernte ich durch Unterre¬ dung uͤberhaupt, durch Lehre, durch ſo manche widerſtreitende Meynung, beſonders aber durch meinen Tiſchgenoſſen, den Hofrath Pfeil, das Bedeutende des Stoffs und das Conciſe der Behandlung mehr und mehr ſchaͤtzen, ohne mir165 jedoch klar machen zu koͤnnen, wo jenes zu ſuchen und wie dieſes zu erreichen ſey. Denn bey der großen Beſchraͤnktheit meines Zuſtandes, bey der Gleichguͤltigkeit der Geſellen, dem Zu¬ ruͤckhalten der Lehrer, der Abgeſondertheit ge¬ bildeter Einwohner, bey ganz unbedeutenden Naturgegenſtaͤnden war ich genoͤthigt, alles in mir ſelbſt zu ſuchen. Verlangte ich nun zu mei¬ nen Gedichten eine wahre Unterlage, Empfin¬ dung oder Reflexion, ſo mußte ich in meinen Buſen greifen; forderte ich zu poetiſcher Dar¬ ſtellung eine unmittelbare Anſchauung des Ge¬ genſtandes, der Begebenheit, ſo durfte ich nicht aus dem Kreiſe heraustreten, der mich zu beruͤhren, mir ein Intereſſe einzufloͤßen geeig¬ net war. In dieſem Sinne ſchrieb ich zuerſt gewiſſe kleine Gedichte in Liederform oder frey¬ erem Sylbenmaß; ſie entſpringen aus Refle¬ xion, handeln vom Vergangenen und nehmen meiſt eine epigrammatiſche Wendung.
166Und ſo begann diejenige Richtung, von der ich mein ganzes Leben uͤber nicht abweichen konnte, naͤmlich dasjenige was mich erfreute oder quaͤlte, oder ſonſt beſchaͤftigte, in ein Bild, ein Gedicht zu verwandeln und daruͤber mit mir ſelbſt abzuſchließen, um ſowohl meine Be¬ griffe von den aͤußeren Dingen zu berichtigen, als mich im Innern deshalb zu beruhigen. Die Gabe hierzu war wohl Niemand noͤthiger als mir, den ſeine Natur immerfort aus einem Extreme in das andere warf. Alles was daher von mir bekannt geworden, ſind nur Bruch¬ ſtuͤcke einer großen Confeſſion, welche vollſtaͤn¬ dig zu machen dieſes Buͤchlein ein gewagter Verſuch iſt.
Meine fruͤhere Neigung zu Gretchen hatte ich nun auf ein Aennchen uͤbergetragen, von der ich nicht mehr zu ſagen wuͤßte als daß ſie jung, huͤbſch, munter, liebevoll und ſo angenehm war, daß ſie wohl verdiente, in dem Schrein des Herzens eine Zeit lang als eine kleine Hei¬167 lige aufgeſtellt zu werden, um ihr jede Vereh¬ rung zu widmen, welche zu ertheilen oft mehr Behagen erregt als zu empfangen. Ich ſah ſie taͤglich ohne Hinderniſſe, ſie half die Spei¬ ſen bereiten, die ich genoß, ſie brachte mir wenigſtens Abends den Wein, den ich trank, und ſchon unſere mittaͤgige abgeſchloſſene Tiſch¬ geſellſchaft war Buͤrge, daß das kleine, von wenig Gaͤſten außer der Meſſe beſuchte Haus ſeinen guten Ruf wohl verdiente. Es fand ſich zu mancherley Unterhaltung Gelegenheit und Luſt. Da ſie ſich aber aus dem Hauſe wenig entfernen konnte noch durfte, ſo wurde denn doch der Zeitvertreib etwas mager. Wir ſangen die Lieder von Zachariaͤ, ſpielten den Herzog Michel von Kruͤger, wobey ein zuſammen¬ geknuͤpftes Schnupftuch die Stelle der Nachti¬ gall vertreten mußte, und ſo ging es eine Zeit lang noch ganz leidlich. Weil aber dergleichen Verhaͤltniſſe, je unſchuldiger ſie ſind, deſto we¬ niger Mannigfaltigkeit auf die Dauer gewaͤh¬ ren, ſo ward ich von jener boͤſen Sucht befal¬168 len, die uns verleitet, aus der Quaͤlerey der Geliebten eine Unterhaltung zu ſchaffen und die Ergebenheit eines Maͤdchens mit willkuͤhr¬ lichen und tyranniſchen Grillen zu beherrſchen. Die boͤſe Laune uͤber das Mislingen meiner poe¬ tiſchen Verſuche, uͤber die anſcheinende Unmoͤg¬ lichkeit hieruͤber ins Klare zu kommen, und uͤber alles was mich hie und da ſonſt kneipen mochte, glaubte ich an ihr auslaſſen zu duͤrfen, weil ſie mich wirklich von Herzen liebte und was ſie nur immer konnte, mir zu Gefallen that. Durch ungegruͤndete und abgeſchmackte Eifer¬ ſuͤchteleyen verdarb ich mir und ihr die ſchoͤnſten Tage. Sie ertrug es eine Zeit lang mit un¬ glaublicher Geduld, die ich grauſam genug war aufs Aeußerſte zu treiben. Allein zu meiner Beſchaͤmung und Verzweiflung mußte ich end¬ lich bemerken, daß ſich ihr Gemuͤth von mir entfernt habe, und daß ich nun wohl zu den Tollheiten berechtigt ſeyn moͤchte, die ich mir ohne Noth und Urſache erlaubt hatte. Es gab auch ſchreckliche Scenen unter uns, bey welchen169 ich nichts gewann; und nun fuͤhlte ich erſt, daß ich ſie wirklich liebte und daß ich ſie nicht entbehren koͤnne. Meine Leidenſchaft wuchs und nahm alle Formen an, deren ſie unter ſol¬ chen Umſtaͤnden faͤhig iſt; ja zuletzt trat ich in die bisherige Rolle des Maͤdchens. Alles Moͤg¬ liche ſuchte ich hervor, um ihr gefaͤllig zu ſeyn, ihr ſogar durch Andere Freude zu verſchaffen: denn ich konnte mir die Hoffnung, ſie wieder zu gewinnen, nicht verſagen. Allein es war zu ſpaͤt! ich hatte ſie wirklich verloren, und die Tollheit, mit der ich meinen Fehler an mir ſelbſt raͤchte, indem ich auf mancherley unſin¬ nige Weiſe in meine phyſiſche Natur ſtuͤrmte, um der ſittlichen etwas zu Leide zu thun, hat ſehr viel zu den koͤrperlichen Uebeln beygetragen, unter denen ich einige der beſten Jahre meines Lebens verlor; ja ich waͤre vielleicht an dieſem Verluſt voͤllig zu Grunde gegangen, haͤtte ſich nicht hier das poetiſche Talent mit ſeinen Heil¬ kraͤften beſonders huͤlfreich erwieſen.
170Schon fruͤher hatte ich in manchen Inter¬ vallen meine Unart deutlich genug wahrgenom¬ men. Das arme Kind dauerte mich wirklich, wenn ich ſie ſo ganz ohne Noth von mir ver¬ letzt ſah. Ich ſtellte mir ihre Lage, die mei¬ nige und dagegen den zufriedenen Zuſtand ei¬ nes anderen Paares aus unſerer Geſellſchaft ſo oft und ſo umſtaͤndlich vor, daß ich end¬ lich nicht laſſen konnte, dieſe Situation, zu ei¬ ner quaͤlenden und belehrenden Buße, drama¬ tiſch zu behandeln. Daraus entſprang die aͤlte¬ ſte meiner uͤberbliebenen dramatiſchen Arbeiten, das kleine Stuͤck: die Laune des Verlieb¬ ten, an deſſen unſchuldigem Weſen man zu¬ gleich den Drang einer ſiedenden Leidenſchaft gewahr wird.
Allein mich hatte eine tiefe, bedeutende, drangvolle Welt ſchon fruͤher angeſprochen. Bey meiner Geſchichte mit Gretchen und an den Folgen derſelben hatte ich zeitig in die ſelt¬ ſamen Irrgaͤnge geblickt, mit welchen die buͤr¬171 gerliche Societaͤt unterminirt iſt. Religion, Sitte, Geſetz, Stand, Verhaͤltniſſe, Ge¬ wohnheit, alles beherrſcht nur die Oberflaͤche des ſtaͤdtiſchen Daſeyns. Die von herrlichen Haͤuſern eingefaßten Straßen werden reinlich gehalten und Jedermann betraͤgt ſich daſelbſt anſtaͤndig genug; aber im Innern ſieht es oͤf¬ ters um deſto wuͤſter aus, und ein glattes Aeu¬ ßere uͤbertuͤncht, als ein ſchwacher Bewurf, manches morſche Gemaͤuer, das uͤber Nacht zuſammenſtuͤrzt, und eine deſto ſchrecklichere Wirkung hervorbringt, als es mitten in den friedlichen Zuſtand hereinbricht. Wie viele Fa¬ milien hatte ich nicht ſchon naͤher und ferner durch Banqueroute, Eheſcheidungen, verfuͤhrte Toͤchter, Morde, Hausdiebſtaͤhle, Vergiftun¬ gen entweder ins Verderben ſtuͤrzen, oder auf dem Rande kuͤmmerlich erhalten ſehen, und hat¬ te, ſo jung ich war, in ſolchen Faͤllen zu Ret¬ tung und Huͤlfe oͤfters die Hand geboten: denn da meine Offenheit Zutrauen erweckte, meine Verſchwiegenheit erprobt war, meine Thaͤtig¬172 keit keine Opfer ſcheute und in den gefaͤhrlichſten Faͤllen am liebſten wirken mochte; ſo fand ich oft genug Gelegenheit zu vermitteln, zu ver¬ tuſchen, den Wetterſtrahl abzuleiten, und was ſonſt nur alles geleiſtet werden kann; wobey es nicht fehlen konnte, daß ich ſowohl an mir ſelbſt, als durch Andere zu manchen kraͤnken¬ den und demuͤthigenden Erfahrungen gelangen mußte. Um mir Luft zu verſchaffen entwarf ich mehrere Schauſpiele und ſchrieb die Expoſitio¬ nen von den meiſten. Da aber die Verwick¬ lungen jederzeit aͤngſtlich werden mußten, und faſt alle dieſe Stuͤcke mit einem tragiſchen Ende drohten, ließ ich eins nach dem anderen fal¬ len. Die Mitſchuldigen ſind das einzige fertig gewordene, deſſen heiteres und burleskes Weſen auf dem duͤſteren Familiengrunde als von etwas Baͤnglichem begleitet erſcheint, ſo daß es bey der Vorſtellung im Ganzen aͤngſti¬ get, wenn es im Einzelnen ergetzt. Die hart ausgeſprochenen widergeſetzlichen Handlungen verletzen das aͤſthetiſche und moraliſche Gefuͤhl,173 und deswegen konnte das Stuͤck auf dem deut¬ ſchen Theater keinen Eingang gewinnen, ob¬ gleich die Nachahmungen deſſelben, welche ſich fern von jenen Klippen gehalten, mit Beyfall aufgenommen worden.
Beyde genannte Stuͤcke jedoch ſind, ohne daß ich mir deſſen bewußt geweſen waͤre, in ei¬ nem hoͤheren Geſichtspunkt geſchrieben. Sie deuten auf eine vorſichtige Duldung bey mora¬ liſcher Zurechnung, und ſprechen in etwas her¬ ben und derben Zuͤgen jenes hoͤchſt chriſtliche Wort ſpielend aus: wer ſich ohne Suͤnde fuͤhlt, der hebe den erſten Stein auf.
Ueber dieſen Ernſt, der meine erſten Stuͤ¬ cke verduͤſterte, beging ich den Fehler, ſehr guͤn¬ ſtige Motive zu verſaͤumen, welche ganz ent¬ ſchieden in meiner Natur lagen. Es entwickel¬ te ſich naͤmlich unter jenen ernſten, fuͤr einen jungen Menſchen fuͤrchterlichen Erfahrungen in mir ein verwegner Humor, der ſich dem174 Augenblick uͤberlegen fuͤhlt, nicht allein keine Gefahr ſcheut, ſondern ſie vielmehr muthwillig herbeylockt. Der Grund davon lag in dem Uebermuthe, in welchem ſich das kraͤftige Alter ſo ſehr gefaͤllt, und der, wenn er ſich poſſen¬ haft aͤußert, ſowohl im Augenblick, als in der Erinnerung viel Vergnuͤgen macht. Dieſe Din¬ ge ſind ſo gewoͤhnlich, daß ſie in dem Woͤrter¬ buche unſerer jungen academiſchen Freunde Suiten genannt werden, und daß man, we¬ gen der nahen Verwandtſchaft, eben ſo gut Suiten reißen ſagt, als Poſſen reißen.
Solche humoriſtiſche Kuͤhnheiten, mit Geiſt und Sinn auf das Theater gebracht, ſind von der groͤßten Wirkung. Sie unterſcheiden ſich von der Intrigue dadurch, daß ſie momentan ſind, und daß ihr Zweck, wenn ſie ja einen ha¬ ben ſollten, nicht in der Ferne liegen darf. Beaumarchais hat ihren ganzen Werth ge¬ faßt, und die Wirkungen ſeiner Figaro's ent¬ ſpringen vorzuͤglich daher. Wenn nun ſolche175 gutmuͤthige Schalks - und Halbſchelmenſtreiche zu edlen Zwecken, mit perſoͤnlicher Gefahr ausgeuͤbt werden, ſo ſind die daraus entſprin¬ genden Situationen, aͤſthetiſch und moraliſch betrachtet, fuͤr das Theater von dem groͤßten Werth; wie denn z. B. die Oper: der Waſ¬ ſertraͤger, vielleicht das gluͤcklichſte Suͤjet behandelt, das wir je auf dem Theater geſe¬ hen haben.
Um die unendliche Langeweile des taͤglichen Lebens zu erheitern uͤbte ich unzaͤhlige ſolcher Streiche, theils ganz vergeblich, theils zu Zwecken meiner Freunde, denen ich gern gefaͤl¬ lig war. Fuͤr mich ſelbſt wuͤßte ich nicht, daß ich ein einzig Mal hiebey abſichtlich gehandelt haͤtte, auch kam ich niemals darauf, ein Un¬ terfangen dieſer Art als einen Gegenſtand fuͤr die Kunſt zu betrachten; haͤtte ich aber ſolche Stoffe, die mir ſo nahe zur Hand lagen, er¬ griffen und ausgebildet, ſo waͤren meine erſten Arbeiten heiterer und brauchbarer geweſen. 176Einiges, was hierher gehoͤrt, kommt zwar ſpaͤter bey mir vor, aber einzeln und abſichtlos.
Denn da uns das Herz immer naͤher liegt als der Geiſt, und uns dann zu ſchaffen macht, wenn dieſer ſich wohl zu helfen weiß; ſo waren mir die Angelegenheiten des Herzens immer als die wichtigſten erſchienen. Ich ermuͤdete nicht, uͤber Fluͤchtigkeit der Neigungen, Wandelbar¬ keit des menſchlichen Weſens, ſittliche Sinn¬ lichkeit und uͤber alle das Hohe und Tiefe nach¬ zudenken, deſſen Verknuͤpfung in unſerer Na¬ tur als das Raͤthſel des Menſchenlebens be¬ trachtet werden kann. Auch hier ſuchte ich das, was mich quaͤlte, in einem Lied, einem Epi¬ gramm, in irgend einem Reim loszuwerden, die, weil ſie ſich auf die eigenſten Gefuͤhle und auf die beſonderſten Umſtaͤnde bezogen, kaum Jemand anderes intereſſiren konnten als mich ſelbſt.
177Meine aͤußeren Verhaͤltniſſe hatten ſich in¬ deſſen nach Verlauf weniger Zeit gar ſehr veraͤn¬ dert. Madame Boͤhme war nach einer langen und traurigen Krankheit endlich geſtorben; ſie hatte mich zuletzt nicht mehr vor ſich gelaſſen. Ihr Mann konnte nicht ſonderlich mit mir zu¬ frieden ſeyn; ich ſchien ihm nicht fleißig genug und zu leichtſinnig. Beſonders nahm er es mir ſehr uͤbel, als ihm verrathen wurde, daß ich im deutſchen Staatsrechte, anſtatt gehoͤrig nachzuſchreiben, die darin aufgefuͤhrten Perſo¬ nen, als den Cammerrichter, die Praͤſidenten und Beyſitzer, mit ſeltſamen Peruͤcken an dem Rand meines Heftes abgebildet und durch dieſe Poſſen meine aufmerkſamen Nachbarn zer¬ ſtreut und zum Lachen gebracht hatte. Er lebte nach dem Verluſt ſeiner Frau noch eingezogner als vorher, und ich vermied ihn zuletzt, um ſeinen Vorwuͤrfen auszuweichen. Beſonders aber war es ein Ungluͤck, daß Gellert ſich nicht der Gewalt bedienen wollte, die er uͤber uns haͤtte ausuͤben koͤnnen. Freylich hatte er nichtII. 12178Zeit den Beichtvater zu machen, und ſich nach der Sinnesart und den Gebrechen eines Jeden zu erkundigen; daher nahm er die Sache ſehr im Ganzen und glaubte uns mit den kirchli¬ chen Anſtalten zu bezwingen; deswegen er ge¬ woͤhnlich, wenn er uns einmal vor ſich ließ, mit geſenktem Koͤpfchen und der weinerlich an¬ genehmen Stimme zu fragen pflegte, ob wir denn auch fleißig in die Kirche gingen, wer un¬ ſer Beichtvater ſey und ob wir das heilige Abendmahl genoͤſſen? Wenn wir nun bey die¬ ſem Examen ſchlecht beſtanden, ſo wurden wir mit Wehklagen entlaſſen; wir waren mehr verdrießlich als erbaut, konnten aber doch nicht umhin den Mann herzlich lieb zu haben.
Bey dieſer Gelegenheit kann ich nicht unter¬ laſſen, aus meiner fruͤheren Jugend etwas nach¬ zuholen, um anſchaulich zu machen, wie die großen Angelegenheiten der kirchlichen Religion mit Folge und Zuſammenhang behandelt wer¬ den muͤſſen, wenn ſie ſich fruchtbar, wie man179 von ihr erwartet, beweiſen ſoll. Der prote¬ ſtantiſche Gottesdienſt hat zu wenig Fuͤlle und Conſequenz, als daß er die Gemeine zuſammen¬ halten koͤnnte; daher geſchieht es leicht, daß Glieder ſich von ihr abſondern und entweder kleine Gemeinen bilden, oder, ohne kirchlichen Zuſammenhang, neben einander geruhig ihr buͤrgerliches Weſen treiben. So klagte man ſchon vor geraumer Zeit, die Kirchgaͤnger ver¬ minderten ſich von Jahr zu Jahr und in eben dem Verhaͤltniß die Perſonen, welche den Ge¬ nuß des Nachtmahls verlangten. Was bey¬ des, beſonders aber das letztere betrifft, liegt die Urſache ſehr nah; doch wer wagt ſie auszuſprechen? Wir wollen es verſuchen.
In ſittlichen und religioſen Dingen, eben ſo wohl als in phyſichen und buͤrgerlichen, mag der Menſch nicht gern etwas aus dem Stegrei¬ fe thun; eine Folge, woraus Gewohnheit ent¬ ſpringt, iſt ihm noͤthig; das was er lieben und leiſten ſoll, kann er ſich nicht einzeln, nicht ab¬12 *180geriſſen denken, und um etwas gern zu wieder¬ holen, muß es ihm nicht fremd geworden, ſeyn. Fehlt es dem proteſtantiſchen Cultus im Ganzen an Fuͤlle, ſo unterſuche man das Einzelne, und man wird finden, der Proteſtant hat zu wenig Sacramente, ja er hat nur Eins, bey dem er ſich thaͤtig erweiſt, das Abendmahl: denn die Tau¬ fe ſieht er nur an Anderen vollbringen und es wird ihm nicht wohl dabey. Die Sacramente ſind das Hoͤchſte der Religion, das ſinnliche Symbol einer außerordentlichen goͤttlichen Gunſt und Gnade. In dem Abendmahle ſollen die irdiſchen Lippen ein goͤttliches Weſen verkoͤr¬ pert empfangen und unter der Form irdiſcher Nahrung einer himmliſchen theilhaftig werden. Dieſer Sinn iſt in allen chriſtlichen Kirchen ebenderſelbe, es werde nun das Sacrament mit mehr oder weniger Ergebung in das Geheim¬ niß, mit mehr oder weniger Accommodation an das, was verſtaͤndlich iſt, genoſſen; immer bleibt es eine heilige, große Handlung, welche ſich in der Wirklichkeit an die Stelle des Moͤg¬181 lichen oder Unmoͤglichen, an die Stelle desje¬ nigen ſetzt, was der Menſch weder erlangen noch entbehren kann. Ein ſolches Sacrament duͤrfte aber nicht allein ſtehen; kein Chriſt kann es mit wahrer Freude, wozu es gegeben iſt, genießen, wenn nicht der ſymboliſche oder ſa¬ cramentliche Sinn in ihm genaͤhrt iſt. Er muß gewohnt ſeyn, die innere Religion des Herzens und die der aͤußeren Kirche als vollkommen Eins anzuſehen, als das große allgemeine Sa¬ crament, das ſich wieder in ſoviel andere zer¬ gliedert und dieſen Theilen ſeine Heiligkeit, Un¬ zerſtoͤrlichkeit und Ewigkeit mittheilt.
Hier reicht ein jugendliches Paar ſich ein¬ ander die Haͤnde, nicht zum voruͤbergehenden Gruß oder zum Tanze; der Prieſter ſpricht ſeinen Segen daruͤber aus, und das Band iſt unaufloͤslich. Es waͤhrt nicht lange, ſo bringen dieſe Gatten ein Ebenbild an die Schwelle des Altars, es wird mit heiligem Waſſer gereinigt und der Kirche dergeſtalt182 einverleibt, daß es dieſe Wohlthat nur durch den ungeheuerſten Abfall verſcherzen kann. Das Kind uͤbt ſich im Leben an den irdiſchen Dingen ſelbſt heran, in himmliſchen muß es unterrichtet werden. Zeigt ſich bey der Pruͤ¬ fung, daß dieß vollſtaͤndig geſchehen ſey, ſo wird es nunmehr als wirklicher Buͤrger, als wahrhafter und freywilliger Bekenner in den Schoos der Kirche aufgenommen, nicht ohne aͤußere Zeichen der Wichtigkeit dieſer Hand¬ lung. Nun iſt er erſt entſchieden ein Chriſt, nun kennt er erſt die Vortheile, jedoch auch die Pflichten. Aber inzwiſchen iſt ihm als Menſchen manches Wunderliche begegnet, durch Lehren und Strafen iſt ihm aufgegangen, wie bedenklich es mit ſeinem Innern ausſehe, und immerfort wird noch von Lehren und von Ue¬ bertretungen die Rede ſeyn; aber die Strafe ſoll nicht mehr Statt finden. Hier iſt ihm nun in der unendlichen Verworrenheit, in die er ſich, bey dem Widerſtreit natuͤrlicher und religioſer Forderungen, verwickeln muß, ein183 herrliches Auskunftsmittel gegeben, ſeine Tha¬ ten und Unthaten, ſeine Gebrechen und ſeine Zweifel einem wuͤrdigen, eigens dazu beſtell¬ ten Manne zu vertrauen, der ihn zu beru¬ higen, zu warnen, zu ſtaͤrken, durch gleich¬ falls ſymboliſche Strafen zu zuͤchtigen und ihn zuletzt, durch ein voͤlliges Ausloͤſchen ſeiner Schuld, zu beſeligen und ihm rein und abge¬ waſchen die Tafel ſeiner Menſchheit wieder zu uͤbergeben weiß. So, durch mehrere ſacra¬ mentliche Handlungen, welche ſich wieder, bey genauerer Anſicht, in ſacramentliche kleinere Zuͤ¬ ge verzweigen, vorbereitet und rein beruhigt, knieet er hin, die Hoſtie zu empfangen; und daß ja das Geheimniß dieſes hohen Acts noch geſteigert werde, ſieht er den Kelch nur in der Ferne, es iſt kein gemeines Eſſen und Trin¬ ken, was befriedigt, es iſt eine Himmelsſpei¬ ſe, die nach himmliſchem Tranke durſtig macht.
Jedoch glaube der Juͤngling nicht, daß es damit abgethan ſey; ſelbſt der Mann glaube184 es nicht! Denn wohl in irdiſchen Verhaͤlniſſen gewoͤhnen wir uns zuletzt auf uns ſelber zu ſtehen, und auch da wollen nicht immer Kennt¬ niſſe, Verſtand und Character hinreichen; in himmliſchen Dingen dagegen lernen wir nie aus. Das hoͤhere Gefuͤhl in uns, das ſich oft ſelbſt nicht einmal recht zu Hauſe findet, wird noch uͤberdieß von ſoviel Aeußerem be¬ draͤngt, daß unſer eignes Vermoͤgen wohl ſchwerlich alles darreicht, was zu Rath, Troſt und Huͤlfe noͤthig waͤre. Dazu aber verord¬ net findet ſich nun auch jenes Heilmittel fuͤr das ganze Leben, und ſtets harrt ein einſich¬ tiger, frommer Mann, um Irrende zurecht zu weiſen und Gequaͤlte zu erledigen.
Und was nun durch das ganze Leben ſo erprobt worden, ſoll an der Pforte des To¬ des alle ſeine Heilkraͤfte zehenfach thaͤtig er¬ weiſen. Nach einer von Jugend auf einge¬ leiteten, zutraulichen Gewohnheit nimmt der Hinfaͤllige jene ſymboliſchen, deutſamen Ver¬185 ſicherungen mit Inbrunſt an, und ihm wird da, wo jede irdiſche Garantie verſchwindet, durch eine himmliſche fuͤr alle Ewigkeit ein ſeliges Daſeyn zugeſichert. Er fuͤhlt ſich ent¬ ſchieden uͤberzeugt, daß weder ein feindſeliges Element, noch ein miswollender Geiſt ihn hin¬ dern koͤnne, ſich mit einem verklaͤrten Leibe zu umgeben, um in unmittelbaren Verhaͤlt¬ niſſen zur Gottheit an den unermeßlichen Se¬ ligkeiten Theil zu nehmen, die von ihr aus¬ fließen.
Zum Schluſſe werden ſodann, damit der ganze Menſch geheiligt ſey, auch die Fuͤße geſalbt und geſegnet. Sie ſollen, ſelbſt bey moͤglicher Geneſung, einen Widerwillen empfin¬ den, dieſen irdiſchen, harten, undurchdring¬ lichen Boden zu beruͤhren. Ihnen ſoll eine wunderſame Schnellkraft mitgetheilt werden, wodurch ſie den Erdſchollen, der ſie bisher anzog, unter ſich abſtoßen. Und ſo iſt durch einen glaͤnzenden Zirkel gleichwuͤrdig heiliger186 Handlungen, deren Schoͤnheit von uns nur kurz angedeutet worden, Wiege und Grab, ſie moͤgen zufaͤllig noch ſo weit aus einander geruͤckt liegen, in einem ſtetigen Kreiſe ver¬ bunden.
Aber alle dieſe geiſtigen Wunder entſprie¬ ßen nicht, wie andere Fruͤchte, dem natuͤrli¬ chen Boden, da koͤnnen ſie weder geſaͤet noch gepflanzt noch gepflegt werden. Aus einer anderen Region muß man ſie heruͤberſtehen, welches nicht Jedem, noch zu jeder Zeit ge¬ lingen wuͤrde. Hier entgegnet uns nun das hoͤchſte dieſer Symbole aus alter frommer Ueberlieferung. Wir hoͤren, daß ein Menſch vor dem andern von Oben beguͤnſtigt, geſeg¬ net und geheiligt werden koͤnne. Damit aber dieß ja nicht als Naturgabe erſcheine; ſo muß dieſe große, mit einer ſchweren Pflicht ver¬ bundene Gunſt von einem Berechtigten auf den anderen uͤbergetragen, und das groͤßte Gut, was ein Menſch erlangen kann, ohne187 daß er jedoch deſſen Beſitz von ſich ſelbſt we¬ der erringen, noch ergreifen koͤnne, durch gei¬ ſtige Erbſchaft auf Erden erhalten und ver¬ ewigt werden. Ja, in der Weihe des Prie¬ ſters iſt alles zuſammengefaßt, was noͤthig iſt, um diejenigen heiligen Handlungen wirkſam zu begehen, wodurch die Menge beguͤnſtigt wird, ohne daß ſie irgend eine andere Thaͤ¬ tigkeit dabey noͤthig haͤtte, als die des Glau¬ bens und des unbedingten Zutrauens. Und ſo tritt der Prieſter in der Reihe ſeiner Vor¬ fahren und Nachfolger, in dem Kreiſe ſeiner Mitgeſalbten, den hoͤchſten Segnenden dar¬ ſtellend, um ſo herrlicher auf, als es nicht er iſt, den wir verehren, ſondern ſein Amt, nicht ſein Wink, vor dem wir die Kniee beu¬ gen, ſondern der Segen, den er ertheilt, und der um deſto heiliger, unmittelbarer vom Himmel zu kommen ſcheint, weil ihn das ir¬ diſche Werkzeug nicht einmal durch ſuͤndhaf¬ tes, ja laſterhaftes Weſen ſchwaͤchen oder gar entkraͤften koͤnnte.
188Wie iſt nicht dieſer wahrhaft geiſtige Zu¬ ſammenhang im Proteſtantismus zerſplittert! indem ein Theil gedachter Symbole fuͤr apo¬ kryphiſch und nur wenige fuͤr canoniſch erklaͤrt werden, und wie will man uns durch das Gleichguͤltige der einen zu der hohen Wuͤrde der anderen vorbereiten?
Ich ward zu meiner Zeit bey einem gu¬ ten, alten, ſchwachen Geiſtlichen, der aber ſeit vielen Jahren der Beichtvater des Hau¬ ſes geweſen, in den Religionsunterricht gege¬ ben. Den Katechismus, eine Paraphraſe deſ¬ ſelben, die Heilsordnung wußte ich an den Fingern herzuerzaͤhlen, von den kraͤftig bewei¬ ſenden bibliſchen Spruͤchen fehlte mir keiner; aber von alle dem aͤrndtete ich keine Frucht; denn als man mir verſicherte, daß der brave alte Mann ſeine Hauptpruͤfung nach einer al¬ ten Formel einrichte, ſo verlor ich alle Luſt und Liebe zur Sache, ließ mich die letzten acht Tage in allerley Zerſtreuungen ein, legte189 die von einem aͤlteren Freund erborgten, dem Geiſtlichen abgewonnenen Blaͤtter in meinen Hut und las gemuͤth - und ſinnlos alles das¬ jenige her, was ich mit Gemuͤth und Ueber¬ zeugung wohl zu aͤußern gewußt haͤtte.
Aber ich fand meinen guten Willen und mein Aufſtreben in dieſem wichtigen Falle durch trocknen, geiſtloſen Schlendrian noch ſchlimmer paralyſirt, als ich mich nunmehr dem Beichtſtuhle nahen ſollte. Ich war mir wohl mancher Gebrechen, aber doch keiner großen Fehler bewußt, und gerade das Be¬ wußtſeyn verringerte ſie, weil es mich auf die moraliſche Kraft wies, die in mir lag und die mit Vorſatz und Beharrlichkeit doch wohl zuletzt uͤber den alten Adam Herr wer¬ den ſollte. Wir waren belehrt, daß wir eben darum viel beſſer als die Catholiken ſeyen, weil wir im Beichtſtuhl nichts Beſonderes zu bekennen brauchten, ja, daß es auch nicht einmal ſchicklich waͤre, ſelbſt wenn wir es190 thun wollten. Dieſes Letzte war mir gar nicht recht: denn ich hatte die ſeltſamſten religioͤſen Zweifel, die ich gern bey einer ſolchen Gele¬ genheit berichtiget haͤtte. Da nun dieſes nicht ſeyn ſollte, ſo verfaßte ich mir eine Beichte, die, indem ſie meine Zuſtaͤnde wohl ausdruͤck¬ te, einem verſtaͤndigen Manne dasjenige im Allgemeinen bekennen ſollte, was mir im Ein¬ zelnen zu ſagen verboten war. Aber als ich in das alte Barfuͤßer-Chor hineintrat, mich den wunderlichen vergitterten Schraͤnken naͤ¬ herte, in welchen die geiſtlichen Herren ſich zu dieſem Acte einzufinden pflegten, als mir der Gloͤckner die Thuͤre eroͤffnete und ich mich nun gegen meinen geiſtlichen Großvater in dem engen Raume eingeſperrt ſah, und er mich mit ſeiner ſchwachen, naͤſelnden Stimme willkommen hieß, erloſch auf einmal alles Licht meines Geiſtes und Herzens, die wohl memorirte Beichtrede wollte mir nicht uͤber die Lippen, ich ſchlug in der Verlegenheit das Buch auf, das ich in Haͤnden hatte, und191 las daraus die erſte beſte kurze Formel, die ſo allgemein war, daß ein Jeder ſie ganz ge¬ ruhig haͤtte ausſprechen koͤnnen. Ich empfing die Abſolution und entfernte mich weder warm noch kalt, ging den andern Tag mit meinen Aeltern zu dem Tiſche des Herrn, und betrug mich ein Paar Tage, wie es ſich nach einer ſo heiligen Handlung wohl ziemte.
In der Folge trat jedoch bey mir das Uebel hervor, welches aus unſerer durch man¬ cherley Dogmen complicirten, auf Bibelſpruͤche, die mehrere Auslegungen zulaſſen, gegruͤnde¬ ten Religion bedenkliche Menſchen dergeſtalt anfaͤllt, daß es hypochondriſche Zuſtaͤnde nach ſich zieht, und dieſe bis zu ihrem hoͤchſten Gipfel, zu fixen Ideen ſteigert. Ich habe mehrere Menſchen gekannt, die, bey einer ganz verſtaͤndigen Sinnes - und Lebensweiſe, ſich von dem Gedanken an die Suͤnde in den heiligen Geiſt und von der Angſt ſolche be¬ gangen zu haben nicht losmachen konnten.
192Ein gleiches Unheil drohte mir in der Mate¬ rie von dem Abendmahl. Es hatte naͤmlich ſchon ſehr fruͤh der Spruch, daß einer, der das Sacrament unwuͤrdig genieße, ſich ſelbſt das Gericht eſſe und trinke, einen ungeheue¬ ren Eindruck auf mich gemacht. Alles Furcht¬ bare, was ich in den Geſchichten der Mittel¬ zeit von Gottesurtheilen, den ſeltſamſten fungen durch gluͤhendes Eiſen, flammendes Feuer, ſchwellendes Waſſer geleſen hatte, ſelbſt was uns die Bibel von der Quelle erzaͤhlt, die dem Unſchuldigen wohl bekommt, den Schuldigen aufblaͤht und berſten macht, das alles ſtellte ſich meiner Einbildungskraft dar und vereinigte ſich zu dem hoͤchſten Furchtba¬ ren, indem falſche Zuſage, Heucheley, Mein¬ eyd, Gotteslaͤſterung, alles bey der heiligſten Handlung auf dem Unwuͤrdigen zu laſten ſchien, welches um ſo ſchrecklicher war, als ja Niemand ſich fuͤr wuͤrdig erklaͤren durfte, und man die Vergebung der Suͤnden, wo¬ durch zuletzt alles ausgeglichen werden ſollte,193 doch auf ſo manche Weiſe bedingt fand, daß man nicht ſicher war, ſie ſich mit Freyheit zu¬ eignen zu duͤrfen.
Dieſer duͤſtre Scrupel quaͤlte mich derge¬ ſtalt, und die Auskunft, die man mir als hinreichend vorſtellen wollte, ſchien mir ſo kahl und ſchwach, daß jenes Schreckbild nur an furchtbarem Anſehen dadurch gewann, und ich mich, ſobald ich Leipzig erreicht hatte, von der kirchlichen Verbindung ganz und gar los¬ zuwinden ſuchte. Wie druͤckend mußten mir daher Gellerts Anmahnungen werden! den ich, bey ſeiner ohnehin laconiſchen Behand¬ lungsart, womit er unſere Zudringlichkeit ab¬ zulehnen genoͤthigt war, mit ſolchen wunder¬ lichen Fragen nicht belaͤſtigen wollte, um ſo weniger, als ich mich derſelben in heiteren Stunden ſelbſt ſchaͤmte, und zuletzt dieſe ſelt¬ ſame Gewiſſensangſt mit Kirche und Altar voͤllig hinter mir ließ.
II. 13194Gellert hatte ſich nach ſeinem frommen Gemuͤth eine Moral aufgeſetzt, welche er von Zeit zu Zeit oͤffentlich ablas, und ſich dadurch gegen das Publicum auf eine ehrenvolle Wei¬ ſe ſeiner Pflicht entledigte. Gellerts Schrif¬ ten waren ſo lange Zeit ſchon das Fundament der deutſchen ſittlichen Cultur und Jedermann wuͤnſchte ſehnlich jenes Werk gedruckt zu ſe¬ hen, und da dieſes nur nach des guten Man¬ nes Tode geſchehen ſollte, ſo hielt man ſich ſehr gluͤcklich, es bey ſeinem Leben von ihm ſelbſt vortragen zu hoͤren. Das philoſophi¬ ſche Auditorium war in ſolchen Stunden ge¬ draͤngt voll, und die ſchoͤne Seele, der reine Wille, die Theilnahme des edlen Mannes an unſerem Wohl, ſeine Ermahnungen, Warnun¬ gen und Bitten, in einem etwas hohlen und traurigen Tone vorgebracht, machten wohl ei¬ nen augenblicklichen Eindruck; allein er hielt nicht lange nach, um ſo weniger als ſich doch manche Spoͤtter fanden, welche dieſe weiche und, wie ſie glaubten, entnervende Manier195 uns verdaͤchtig zu machen wußten. Ich erin¬ nere mich eines durchreiſenden Franzoſen, der ſich nach den Maximen und Geſinnungen des Mannes erkundigte, welcher einen ſo unge¬ heueren Zulauf hatte. Als wir ihm den noͤ¬ thigen Bericht gegeben, ſchuͤttelte er den Kopf und ſagte laͤchelnd: Laissez le faire, il nous forme des dupes.
Und ſo wußte denn auch die gute Geſell¬ ſchaft, die nicht leicht etwas Wuͤrdiges in ih¬ rer Naͤhe dulden kann, den ſittlichen Einfluß, welchen Gellert auf uns haben mochte, gele¬ gentlich zu verkuͤmmern. Bald wurde es ihm uͤbel genommen, daß er die vornehmen und reichen Daͤnen, die ihm beſonders empfohlen waren, beſſer als die uͤbrigen Studirenden unterrichte und eine ausgezeichnete Sorge fuͤr ſie trage; bald wurde es ihm als Eigennutz und Nepotismus angerechnet, daß er eben fuͤr dieſe jungen Maͤnner einen Mittagstiſch bey ſeinem Bruder einrichten laſſen. Dieſer,13 *196ein großer, anſehnlicher, derber, kurz gebun¬ dener, etwas roher Mann ſollte Fechtmeiſter geweſen ſeyn und, bey allzugroßer Nachſicht ſeines Bruders, die edlen Tiſchgenoſſen manch¬ mal hart und rauh behandeln; daher glaubte man nun wieder ſich dieſer jungen Leute an¬ nehmen zu muͤſſen, und zerrte ſo den guten Namen des trefflichen Gellert dergeſtalt hin und wieder, daß wir zuletzt, um nicht irre an ihm zu werden, gleichguͤltig gegen ihn wur¬ den und uns nicht mehr vor ihm ſehen lie¬ ßen; doch gruͤßten wir ihn immer auf das beſte, wenn er auf ſeinem zahmen Schim¬ mel einhergeritten kam. Dieſes Pferd hatte ihm der Churfuͤrſt geſchenkt, um ihn zu einer ſeiner Geſundheit ſo noͤthigen Bewegung zu verbinden; eine Auszeichnung, die ihm nicht leicht zu verzeihen war.
Und ſo ruͤckte nach und nach der Zeitpunct heran, wo mir alle Autoritaͤt verſchwinden und ich ſelbſt an den groͤßten und beſten In¬197 dividuen, die ich gekannt oder mir gedacht hatte, zweifeln, ja verzweifeln ſollte.
Friedrich der Zweyte ſtand noch immer uͤber allen vorzuͤglichen Maͤnnern des Jahr¬ hunderts in meinen Gedanken, und es mußte mir daher ſehr befremdend vorkommen, daß ich ihn ſo wenig vor den Einwohnern von Leipzig als ſonſt in meinem großvaͤterlichen Hauſe loben durfte. Sie hatten freylich die Hand des Krieges ſchwer gefuͤhlt, und es war ihnen deshalb nicht zu verargen, daß ſie von demjenigen, der ihn begonnen und fortgeſetzt, nicht das Beſte dachten. Sie wollten ihn daher wohl fuͤr einen vorzuͤglichen, aber kei¬ neswegs fuͤr einen großen Mann gelten laſ¬ ſen. Es ſey keine Kunſt, ſagten ſie, mit großen Mitteln einiges zu leiſten; und wenn man weder Laͤnder, noch Geld, noch Blut ſchone, ſo koͤnne man zuletzt ſchon ſeinen Vor¬ ſatz ausfuͤhren. Friedrich habe ſich in keinem ſeiner Plane und in nichts, was er ſich ei¬198 gentlich vorgenommen, groß bewieſen. So lange es von ihm abgehangen, habe er nur immer Fehler gemacht, und das Außerordent¬ tiche ſey nur alsdann zum Vorſchein gekom¬ men, wenn er genoͤthigt geweſen, eben dieſe Fehler wieder gut zu machen; und bloß da¬ her ſey er zu dem großen Rufe gelangt, weil jeder Menſch ſich dieſelbige Gabe wuͤnſche, die Fehler, die man haͤufig begeht, auf eine geſchickte Weiſe wieder ins Gleiche zu bringen. Man duͤrfe den ſiebenjaͤhrigen Krieg nur Schritt vor Schritt durchgehen; ſo werde man finden, daß der Koͤnig ſeine treffliche Armee ganz unnuͤtzer Weiſe aufgeopfert und ſelbſt Schuld daran geweſen, daß dieſe ver¬ derbliche Fehde ſich ſo ſehr in die Laͤnge ge¬ zogen. Ein wahrhaft großer Mann und Heerfuͤhrer waͤre mit ſeinen Feinden viel ge¬ ſchwinder fertig geworden. Sie hatten, um dieſe Geſinnungen zu behaupten, ein unend¬ liches Detail anzufuͤhren, welches ich nicht zu leugnen wußte, und nach und nach die199 unbedingte Verehrung erkalten fuͤhlte, die ich dieſem merkwuͤrdigen Fuͤrſten von Jugend auf gewidmet hatte.
Wie mich nun die Einwohner von Leipzig um das angenehme Gefuͤhl brachten, einen großen Mann zu verehren; ſo verminderte ein neuer Freund, den ich zu der Zeit ge¬ wann, gar ſehr die Achtung, welche ich fuͤr meine gegenwaͤrtigen Mitbuͤrger hegte. Die¬ ſer Freund war einer der wunderlichſten Kaͤutze, die es auf der Welt geben kann. Er hieß Behriſch und befand ſich als Hofmeiſter bey dem jungen Grafen Lindenau. Schon ſein Aeußeres war ſonderbar genug. Hager und wohlgebaut, weit in den Dreyßigen, eine ſehr große Naſe und uͤberhaupt markirte Zuͤge; eine Haartour, die man wohl eine Peruͤcke haͤtte nennen koͤnnen, trug er vom Morgen bis in die Nacht, kleidete ſich ſehr nett und ging niemals aus, als den Degen an der Seite und den Hut unter dem Arm. Er200 war einer von den Menſchen, die eine ganz beſondere Gabe haben, die Zeit zu verderben, oder vielmehr die aus Nichts Etwas zu ma¬ chen wiſſen, um ſie zu vertreiben. Alles was er that, mußte mit Langſamkeit und einem gewiſſen Anſtand geſchehen, den man affectirt haͤtte nennen koͤnnen, wenn Behriſch nicht ſchon von Natur etwas Affectirtes in ſeiner Art gehabt haͤtte. Er aͤhnelte einem alten Franzoſen, auch ſprach und ſchrieb er ſehr gut und leicht Franzoͤſiſch. Seine groͤßte Luſt war, ſich ernſthaft mit poſſenhaften Dingen zu beſchaͤftigen und irgend einen albernen Ein¬ fall bis ins Unendliche zu verfolgen. So trug er ſich beſtaͤndig grau, und weil die ver¬ ſchiedenen Theile ſeines Anzugs von verſchie¬ denen Zeugen, und alſo auch Schattirungen waren; ſo konnte er Tage lang darauf ſinnen, wie er ſich noch ein Grau mehr auf den Leib ſchaffen wollte, und war gluͤcklich, wenn ihm das gelang und er uns beſchaͤmen konnte, die wir daran gezweifelt oder es fuͤr unmoͤglich201 erklaͤrt hatten. Alsdann hielt er uns lange Strafpredigten uͤber unſeren Mangel an Er¬ findungskraft und uͤber unſern Unglauben an ſeine Talente.
Uebrigens hatte er gute Studien, war beſonders in den neueren Sprachen und ihren Litteraturen bewandert und ſchrieb eine vor¬ treffliche Hand. Mir war er ſehr gewogen, und ich, der ich immer gewohnt und geneigt war mit aͤltern Perſonen umzugehen, atta¬ chirte mich bald an ihn. Mein Umgang dien¬ te auch ihm zur beſonderen Unterhaltung, in¬ dem er Vergnuͤgen daran fand, meine Unru¬ he und Ungeduld zu zaͤhmen, womit ich ihm dagegen auch genug zu ſchaffen machte. In der Dichtkunſt hatte er dasjenige, was man Geſchmack nannte, ein gewiſſes allgemeines Urtheil uͤber das Gute und Schlechte, das Mittelmaͤßige und Zulaͤſſige; doch war ſein Urtheil mehr tadelnd, und er zerſtoͤrte noch den wenigen Glauben, den ich an gleichzeitige202 Schriftſteller bey mir hegte, durch liebloſe Anmerkungen, die er uͤber die Schriften und Gedichte dieſes und jenes mit Witz und Laune vorzubringen wußte. Meine eigenen Sachen nahm er mit Nachſicht auf und ließ mich ge¬ waͤhren; nur unter der Bedingung, daß ich nichts ſollte drucken laſſen. Er verſprach mir dagegen, daß er diejenigen Stuͤcke, die er fuͤr gut hielt, ſelbſt abſchreiben und in einem ſchoͤnen Bande mir verehren wolle. Dieſes Unternehmen gab nun Gelegenheit zu dem groͤßtmoͤglichſten Zeitverderb. Denn eh er das rechte Papier finden, ehe er mit ſich uͤber das Format einig werden konnte, ehe er die Breite des Randes und die innere Form der Schrift beſtimmt hatte, ehe die Rabenfedern herbeygeſchafft, geſchnitten und Tuſche einge¬ rieben war, vergingen ganze Wochen, ohne daß auch das Mindeſte geſchehen waͤre. Mit eben ſolchen Umſtaͤnden begab er ſich denn je¬ desmal ans Schreiben, und brachte wirklich nach und nach ein allerliebſtes Manuſcript zu¬203 ſammen. Die Titel der Gedichte waren Frac¬ tur, die Verſe ſelbſt von einer ſtehenden ſaͤch¬ ſiſchen Handſchrift, an dem Ende eines jeden Gedichtes eine analoge Vignette, die er ent¬ weder irgendwo ausgewaͤhlt oder auch wohl ſelbſt erfunden hatte, wobey er die Schraffu¬ ren der Holzſchnitte und Druckerſtoͤcke, die man bey ſolcher Gelegenheit braucht, gar zier¬ lich nachzuahmen wußte. Mir dieſe Dinge, indem er fortruͤckte, vorzuzeigen, mir das Gluͤck auf eine comiſchpathetiſche Weiſe vor¬ zuruͤhmen, daß ich mich in ſo vortrefflicher Handſchrift verewigt ſahe, und zwar auf eine Art, die keine Druckerpreſſe zu erreichen im Stande ſey, gab abermals Veranlaſſung, die ſchoͤnſten Stunden durchzubringen. Indeſſen war ſein Umgang wegen der ſchoͤnen Kennt¬ niſſe, die er beſaß, doch immer im Stillen lehrreich, und weil er mein unruhiges, hefti¬ ges Weſen zu daͤmpfen wußte, auch im ſitt¬ lichen Sinne fuͤr mich ganz heilſam. Auch hatte er einen ganz beſonderen Widerwillen204 gegen alles Rohe, und ſeine Spaͤße waren durchaus barock, ohne jemals ins Derbe oder Triviale zu fallen. Gegen ſeine Landsleute erlaubte er ſich eine frazzenhafte Abneigung, und ſchilderte was ſie auch vornehmen moch¬ ten, mit luſtigen Zuͤgen. Beſonders war er unerſchoͤpflich, einzelne Menſchen comiſch dar¬ zuſtellen; wie er denn an dem Aeußeren eines Jeden etwas auszuſetzen fand. So konnte er ſich, wenn wir zuſammen am Fenſter lagen, Stunden lang beſchaͤftigen, die Voruͤbergehen¬ den zu recenſiren und, wenn er genugſam an ihnen getadelt, genau und umſtaͤndlich anzu¬ zeigen, wie ſie ſich eigentlich haͤtten kleiden ſollen, wie ſie gehen, wie ſie ſich betragen muͤßten, um als ordentliche Leute zu erſchei¬ nen. Dergleichen Vorſchlaͤge liefen meiſten¬ theils auf etwas Ungehoͤriges und Abgeſchmack¬ tes hinaus, ſo daß man nicht ſowohl lachte uͤber das, wie der Menſch ausſah, ſondern daruͤber, wie er allenfalls haͤtte ausſehen koͤn¬ nen, wenn er verruͤckt genug geweſen waͤre,205 ſich zu verbilden. In allen ſolchen Dingen ging er ganz unbarmherzig zu Werk, ohne daß er nur im mindeſten boshaft geweſen waͤ¬ re. Dagegen wußten wir ihn von unſerer Seite zu quaͤlen, wenn wir verſicherten, daß man ihn nach ſeinem Aeußeren wo nicht fuͤr einen franzoͤſiſchen Tanzmeiſter, doch wenig¬ ſtens fuͤr den academiſchen Sprachmeiſter an¬ ſehen muͤſſe. Dieſer Vorwurf war denn ge¬ woͤhnlich das Signal zu ſtundenlangen Ab¬ handlungen, worin er den himmelweiten Un¬ terſchied herauszuſetzen pflegte, der zwiſchen ihm und einem alten Franzoſen obwalte. Hier¬ bey buͤrdete er uns gewoͤhnlich allerley unge¬ ſchickte Vorſchlaͤge auf, die wir ihm zu Ver¬ aͤnderung und Modificirung ſeiner Garderobe haͤtten thun koͤnnen.
Die Richtung meines Dichtens, das ich nur um deſto eifriger trieb, als die Ab¬ ſchrift ſchoͤner und ſorgfaͤltiger vorruckte, neigte ſich nunmehr gaͤnzlich zum Natuͤrlichen, zum206 Wahren; und wenn die Gegenſtaͤnde auch nicht immer bedeutend ſeyn konnten, ſo ſuch¬ te ich ſie doch immer rein und ſcharf auszu¬ druͤcken, um ſo mehr als mein Freund mir oͤfters zu bedenken gab, was das heißen wolle, einen Vers mit der Rabenfeder und Tuſche auf hollaͤndiſch Papier ſchreiben, was dazu fuͤr Zeit, Talent und Anſtrengung gehoͤre, die man an nichts Leeres und Ueberfluͤſſiges ver¬ ſchwenden duͤrfe. Dabey pflegte er gewoͤhn¬ lich ein fertiges Heft aufzuſchlagen und um¬ ſtaͤndlich auseinander zu ſetzen, was an die¬ ſer oder jener Stelle nicht ſtehen duͤrfe, und uns gluͤcklich zu preiſen, daß es wirklich nicht da ſtehe. Er ſprach hierauf mit großer Ver¬ achtung von der Buchdruckerey, agirte den Setzer, ſpottete uͤber deſſen Gebaͤrden, uͤber das eilige Hin - und Wiedergreifen, und lei¬ tete aus dieſem Manoͤvre alles Ungluͤck der Litteratur her. Dagegen erhob er den An¬ ſtand und die edle Stellung eines Schreiben¬ den, und ſetzte ſich ſogleich hin, um ſie uns207 vorzuzeigen, wobey er uns denn freylich aus¬ ſchalt, daß wir uns nicht nach ſeinem Bey¬ ſpiel und Muſter eben ſo am Schreibtiſch be¬ truͤgen. Nun kam er wieder auf den Con¬ traſt mit dem Setzer zuruͤck, kehrte einen an¬ gefangenen Brief das Oberſte zu unterſt, und zeigte wie unanſtaͤndig es ſey, etwa von un¬ ten nach oben, oder von der Rechten zur Lin¬ ken zu ſchreiben, und was dergleichen Dinge mehr waren, womit man ganze Baͤnde an¬ fuͤllen koͤnnte.
Mit ſolchen unſchaͤdlichen Thorheiten ver¬ geudeten wir die ſchoͤne Zeit, wobey keinem eingefallen waͤre, daß aus unſerem Kreis zu¬ faͤllig etwas ausgehen wuͤrde, welches allge¬ meine Senſation erregen und uns nicht in den beſten Leumund bringen ſollte.
Gellert mochte wenig Freude an ſeinem Practicum haben, und wenn er allenfalls Luſt empfand, einige Anleitung im proſaiſchen und208 poetiſchen Styl zu geben, ſo that er es pri¬ vatiſſime nur Wenigen, unter die wir uns nicht zaͤhlen durften. Die Luͤcke, die ſich da¬ durch in dem oͤffentlichen Unterricht ergab, ge¬ dachte Profeſſor Clodius auszufuͤllen, der ſich im Litterariſchen, Kritiſchen und Poeti¬ ſchen einigen Ruf erworben hatte und als ein junger, munterer, zuthaͤtiger Mann, ſowohl bey der Academie als in der Stadt viel Freunde fand. An die nunmehr von ihm uͤbernommene Stunde wies uns Gellert ſelbſt, und was die Hauptſache betraf, ſo merkten wir wenig Unterſchied. Auch er kritiſirte nur das Einzelne, corrigirte gleichfalls mit rother Dinte, und man befand ſich in Geſellſchaft von lauter Fehlern, ohne eine Ausſicht zu haben, worin das Rechte zu ſuchen ſey? Ich hatte ihm einige von meinen kleinen Arbeiten gebracht, die er nicht uͤbel behandelte. Al¬ lein gerade zu jener Zeit ſchrieb man mir von Hauſe, daß ich auf die Hochzeit meines Oheims nothwendig ein Gedicht liefern muͤſſe.
209Ich fuͤhlte mich ſo weit von jener leichten und leichtfertigen Periode entfernt, in welcher mir ein Aehnliches Freude gemacht haͤtte, und da ich der Lage ſelbſt nichts abgewinnen konnte, ſo dachte ich meine Arbeit mit aͤußerlichem Schmuck auf das beſte herauszuſtutzen. Ich verſammelte daher den ganzen Olymp, um uͤber die Heirat eines Frankfurter Rechtsge¬ lehrten zu rathſchlagen; und zwar ernſthaft genug, wie es ſich zum Feſte eines ſolchen Ehrenmanns wohl ſchickte. Venus und The¬ mis hatten ſich um ſeinetwillen uͤberworfen; doch ein ſchelmiſcher Streich, den Amor der letzteren ſpielte, ließ jene den Proceß gewinnen, und die Goͤtter entſchieden fuͤr die Heirat.
Die Arbeit misfiel mir keineswegs. Ich erhielt von Hauſe daruͤber ein ſchoͤnes Belo¬ bungsſchreiben, bemuͤhte mich mit einer noch¬ maligen guten Abſchrift und hoffte meinem Lehrer doch auch einigen Beyfall abzunoͤthigen. Allein hier hatte ich's ſchlecht getroffen. ErII. 14210nahm die Sache ſtreng, und indem er das Parodiſtiſche, was denn doch in dem Einfall lag, gar nicht beachtete, ſo erklaͤrte er den großen Aufwand von goͤttlichen Mitteln zu einem ſo geringen menſchlichen Zweck fuͤr aͤußerſt tadelnswerth, verwies den Gebrauch und Misbrauch ſolcher mythologiſchen Figuren als eine falſche, aus pedantiſchen Zeiten ſich herſchreibende Gewohnheit, fand den Aus¬ druck bald zu hoch, bald zu niedrig, und hat¬ te zwar im Einzelnen der rothen Dinte nicht geſchont, verſicherte jedoch, daß er noch zu wenig gethan habe.
Solche Stuͤcke wurden zwar anonym vor¬ geleſen und recenſirt; allein man paßte ein¬ ander auf, und es blieb kein Geheimniß, daß dieſe verungluͤckte Goͤtterverſammlung mein Wert geweſen ſey. Da mir jedoch ſeine Kri¬ tik, wenn ich ſeinen Standpunct annahm, ganz richtig zu ſeyn ſchien, und jene Gott¬ heiten, naͤher beſehen, freylich nur hohle211 Scheingeſtalten waren; ſo verwuͤnſchte ich den geſammten Olymp, warf das ganze mythi¬ ſche Pantheon weg, und ſeit jener Zeit ſind Amor und Luna die einzigen Gottheiten, die in meinen kleinen Gedichten allenfalls auf¬ treten.
Unter den Perſonen, welche ſich Behriſch zu Zielſcheiben ſeines Witzes erleſen hatte, ſtand gerade Clodius oben an; auch war es nicht ſchwer, ihm eine comiſche Seite abzu¬ gewinnen. Als eine kleine, etwas ſtarke, ge¬ draͤngte Figur war er in ſeinen Bewegungen heftig, etwas fahrig in ſeinen Aeußerungen und unſtaͤt in ſeinem Betragen. Durch alles dieß unterſchied er ſich von ſeinen Mitbuͤr¬ gern, die ihn jedoch, wegen ſeiner guten Ei¬ genſchaften und der ſchoͤnen Hoffnungen die er gab, recht gern gelten ließen.
Man uͤbertrug ihm gewoͤhnlich die Gedich¬ te, welche ſich bey feyerlichen Gelegenheiten14 *212nothwendig machten. Er folgte in der ſoge¬ nannten Ode der Art, deren ſich Rammler bediente, den ſie aber auch ganz allein kleide¬ te. Clodius aber hatte ſich als Nachahmer beſonders die fremden Worte gemerkt, wo¬ durch jene Rammlerſchen Gedichte mit einem majeſtaͤtiſchen Pompe auftreten, der, weil er der Groͤße ſeines Gegenſtandes und der uͤbri¬ gen poetiſchen Behandlung gemaͤß iſt, auf Ohr, Gemuͤth und Einbildungskraft eine ſehr gute Wirkung thut. Bey Clodius hingegen erſchienen dieſe Ausdruͤcke fremdartig, indem ſeine Poeſie uͤbrigens nicht geeignet war, den Geiſt auf irgend eine Weiſe zu erheben.
Solche Gedichte mußten wir nun oft ſchoͤn gedruckt und hoͤchlich gelobt vor uns ſehen, und wir fanden es hoͤchſt anſtoͤßig, daß er, der uns die heydniſchen Goͤtter verkuͤmmert hatte, ſich nun eine andere Leiter auf den Parnaß aus griechiſchen und roͤmiſchen Wort¬ ſproſſen zuſammenzimmern wollte. Dieſe oft213 wiederkehrenden Ausdruͤcke praͤgten ſich feſt in unſer Gedaͤchtniß, und zu luſtiger Stunde, da wir in den Kohlgaͤrten den trefflichſten Ku¬ chen verzehrten, fiel mir auf einmal ein, jene Kraft - und Machtworte in ein Gedicht an den Kuchenbaͤcker Hendel zu verſammeln. Ge¬ dacht, gethan! Und ſo ſtehe es denn auch hier, wie es an eine Wand des Hauſes mit Bleyſtift angeſchrieben wurde.
214Dieſes Gedicht ſtand lange Zeit unter ſo vielen anderen, welche die Waͤnde jener Zim¬ mer verunzierten, ohne bemerkt zu werden, und wir, die wir uns genugſam daran ergetzt hatten, vergaßen es ganz und gar uͤber an¬ deren Dingen. Geraume Zeit hernach trat Clodius mit ſeinem Medon hervor, deſſen Weisheit, Großmuth und Tugend wir un¬ endlich laͤcherlich fanden, ſo ſehr auch die er¬ ſte Vorſtellung des Stuͤcks beklatſcht wurde. Ich machte gleich Abends, als wir zuſammen in unſer Weinhaus kamen, einen Prolog in Knittelverſen, wo Arlekin mit zwey großen Saͤcken auftritt, ſie an beyde Seiten des Pro¬ ſceniums ſtellt und nach verſchiedenen vorlaͤu¬ figen Spaͤßen den Zuſchauern vertraut, daß in den beyden Saͤcken moraliſch – aͤſthetiſcher Sand befindlich ſey, den ihnen die Schau¬ ſpieler ſehr haͤufig in die Augen werfen wuͤr¬ den. Der eine ſey naͤmlich mit Wohlthaten gefuͤllt, die nichts koſteten, und der andere mit praͤchtig ausgedruͤckten Geſinnungen, die217 nichts hinter ſich haͤtten. Er entfernte ſich ungern und kam einigemal wieder, ermahnte die Zuſchauer ernſtlich, ſich an ſeine Warnung zu kehren und die Augen zuzumachen, erin¬ nerte ſie, wie er immer ihr Freund geweſen und es gut mit ihnen gemeynt, und was der¬ gleichen Dinge mehr waren. Dieſer Prolog wurde auf der Stelle von Freund Horn im Zimmer geſpielt, doch blieb der Spaß ganz unter uns, es ward nicht einmal eine Ab¬ ſchrift genommen und das Papier verlor ſich bald. Horn jedoch, der den Arlekin ganz ar¬ tig vorgeſtellt hatte, ließ ſich's einfallen, mein Gedicht an Hendel um mehrere Verſe zu er¬ weitern und es zunaͤchſt auf den Medon zu beziehen. Er las es uns vor, und wir konn¬ ten keine Freude daran haben, weil wir die Zuſaͤtze nicht eben geiſtreich fanden, und das erſte, in einem ganz anderen Sinn geſchrie¬ bene Gedicht uns entſtellt vorkam. Der Freund, unzufrieden uͤber unſere Gleichguͤltig¬ keit, ja unſeren Tadel, mochte es Anderen218 vorgezeigt haben, die es neu und luſtig fan¬ den. Nun machte man Abſchriften davon, denen der Ruf des Clodiuſiſchen Medons ſo¬ gleich eine ſchnelle Publicitaͤt verſchaffte. All¬ gemeine Misbilligung erfolgte hierauf, und die Urheber (man hatte bald erfahren, daß es aus unſerer Clike hervorgegangen war) wurden hoͤchlich getadelt: denn ſeit Cro¬ negk's und Roſt's Angriffen auf Gottſched war dergleichen nicht wieder vorgekommen. Wir hatten uns ohnehin fruͤher ſchon zuruͤck¬ gezogen, und nun befanden wir uns gar im Falle der Schuhu's gegen die uͤbrigen Voͤgel. Auch in Dresden mochte man die Sache nicht gut finden, und ſie hatte fuͤr uns wo nicht unangenehme, doch ernſte Folgen. Der Graf Lindenau war ſchon eine Zeit lang mit dem Hofmeiſter ſeines Sohns nicht ganz zufrieden. Denn obgleich der junge Mann keineswegs vernachlaͤſſigt wurde und Behriſch ſich entwe¬ der in dem Zimmer des jungen Grafen oder wenigſtens daneben hielt, wenn die Lehrmei¬219 ſter ihre taͤglichen Stunden gaben, die Col¬ legia mit ihm ſehr ordentlich frequentirte, bey Tage nicht ohne ihn ausging, auch denſelben auf allen Spazirgaͤngen begleitete; ſo waren wir Andern doch auch immer in Apels Hauſe zu finden und zogen mit, wenn man luſtwan¬ delte; das machte ſchon einiges Aufſehen. Behriſch gewoͤhnte ſich auch an uns, gab zu¬ letzt meiſtentheils Abends gegen neun Uhr ſeinen Zoͤgling in die Haͤnde des Cammerdie¬ ners und ſuchte uns im Weinhauſe auf, wo¬ hin er jedoch niemals anders als in Schuhen und Struͤmpfen, den Degen an der Seite und gewoͤhnlich den Hut unterm Arm zu kom¬ men pflegte. Die Spaͤße und Thorheiten, die er insgemein angab, gingen ins Unend¬ liche. So hatte z. B. einer unſerer Freunde die Gewohnheit Punct Zehne wegzugehen, weil er mit einem huͤbſchen Kinde in Verbin¬ dung ſtand, mit welchem er ſich nur um die¬ ſe Zeit unterhalten konnte. Wir vermißten ihn ungern, und Behriſch nahm ſich eines220 Abends, wo wir ſehr vergnuͤgt zuſammen wa¬ ren, im Stillen vor, ihn dießmal nicht weg¬ zulaſſen. Mit dem Schlage Zehn ſtand jener auf und empfahl ſich. Behriſch rief ihn an und bat, einen Augenblick zu warten, weil er gleich mit gehen wolle. Nun begann er auf die anmuthigſte Weiſe erſt nach ſeinem Degen zu ſuchen, der doch ganz vor den Au¬ gen ſtand, und gebaͤrdete ſich beym Anſchnal¬ len deſſelben ſo ungeſchickt, daß er damit nie¬ mals zu Stande kommen konnte. Er machte es auch Anfangs ſo natuͤrlich, daß Niemand ein Arges dabey hatte. Als er aber, um das Thema zu variiren, zuletzt weiter ging, daß der Degen bald auf die rechte Seite, bald zwiſchen die Beine kam, ſo entſtand ein all¬ gemeines Gelaͤchter, in das der Forteilende, welcher gleichfalls ein luſtiger Geſelle war, mit einſtimmte, und Behriſch ſo lange gewaͤhren ließ, bis die Schaͤferſtunde voruͤber war, da denn nun erſt eine gemeinſame Luſt und ver¬221 gnuͤgliche Unterhaltung bis tief in die Nacht erfolgte.
Ungluͤcklicher Weiſe hatte Behriſch und wir durch ihn, noch einen gewiſſen anderen Hang zu einigen Maͤdchen, welche beſſer wa¬ ren als ihr Ruf; wodurch denn aber unſer Ruf nicht gefoͤrdert werden konnte. Man hatte uns manchmal in ihrem Garten geſehen, und wir lenkten auch wohl unſern Spazir¬ gang dahin, wenn der junge Graf dabey war. Dieſes alles mochte zuſammen aufgeſpart und dem Vater zuletzt berichtet worden ſeyn: ge¬ nug er ſuchte auf eine glimpfliche Weiſe den Hofmeiſter los zu werden, dem es jedoch zum Gluͤck gereichte. Sein gutes Aeußere, ſeine Kenntniſſe und Talente, ſeine Rechtſchaffen¬ heit, an der Niemand etwas auszuſetzen wu߬ te, hatten ihm die Neigung und Achtung vor¬ zuͤglicher Perſonen erworben, auf deren Em¬ pfehlung er zu dem Erbprinzen von Deſſau als Erzieher berufen wurde, und an dem Ho¬222 fe eines in jeder Ruͤckſicht trefflichen Fuͤrſten ein ſolides Gluͤck fand.
Der Verluſt eines Freundes, wie Behriſch, war fuͤr mich von der groͤßten Bedeutung. Er hatte mich verzogen, indem er mich bilde¬ te, und ſeine Gegenwart war noͤthig, wenn das einigermaßen fuͤr die Societaͤt Frucht bringen ſollte, was er an mich zu wenden fuͤr gut gefunden hatte. Er wußte mich zu allerley Artigem und Schicklichem zu bewegen, was gerade am Platz war, und meine geſel¬ ligen Talente herauszuſetzen. Weil ich aber in ſolchen Dingen keine Selbſtſtaͤndigkeit er¬ worben hatte; ſo fiel ich gleich, da ich wie¬ der allein war, in mein wirriges, ſtoͤrriſches Weſen zuruͤck, welches immer zunahm je un¬ zufriedener ich uͤber meine Umgebung war, indem ich mir einbildete, daß ſie nicht mit mir zufrieden ſey. Mit der willkuͤhrlichſten Laune nahm ich uͤbel auf, was ich mir haͤtte zum Vortheil rechnen koͤnnen, entfernte man¬223 chen dadurch, mit dem ich bisher in leidlichem Verhaͤltniß geſtanden hatte, und mußte bey mancherley Widerwaͤrtigkeiten, die ich mir und Anderen, es ſey nun im Thun oder Un¬ terlaſſen, im Zuviel oder Zuwenig zugezogen hatte, von Wohlwollenden die Bemerkung hoͤ¬ ren, daß es mir an Erfahrung fehle. Das Gleiche ſagte mir wohl irgend ein Gutdenken¬ der, der meine Productionen ſah, beſonders wenn ſie ſich auf die Außenwelt bezogen. Ich beobachtete dieſe ſo gut ich konnte, fand aber daran wenig Erbauliches, und mußte noch immer genug von dem Meinigen hinzuthun, um ſie nur ertraͤglich zu finden. Auch mei¬ nem Freunde Behriſch hatte ich manchmal zugeſetzt, er ſolle mir deutlich machen, was Erfahrung ſey? Weil er aber voller Thorhei¬ ten ſteckte, ſo vertroͤſtete er mich von einem Tage zum anderen und eroͤffnete mir zuletzt, nach großen Vorbereitungen: die wahre Er¬ fahrung ſey ganz eigentlich, wenn man erfah¬ re, wie ein Erfahrner die Erfahrung erfah¬224 rend erfahren muͤſſe. Wenn wir ihn nun hieruͤber aͤußerſt ausſchalten und zur Rede ſetzten, ſo verſicherte er, hinter dieſen Worten ſtecke ein großes Geheimniß, das wir alsdenn erſt begreifen wuͤrden, wenn wir erfahren haͤtten, — und immer ſo weiter: denn es ko¬ ſtete ihm nichts, Viertelſtunden lang ſo fortzu¬ ſprechen; da denn das Erfahren immer erfahr¬ ner und zuletzt zur wahrhaften Erfahrung werden wuͤrde. Wollten wir uͤber ſolche Poſ¬ ſen verzweifeln, ſo betheuerte er, daß er die¬ ſe Art ſich deutlich und eindruͤcklich zu machen, von den neuſten und groͤßten Schriftſtellern gelernt, welche uns aufmerkſam gemacht, wie man eine ruhige Ruhe ruhen und wie die Stille im Stillen immer ſtiller werden koͤnnte.
Zufaͤlliger Weiſe ruͤhmte man in guter Geſellſchaft einen Officier, der ſich unter uns auf Urlaub befand, als einen vorzuͤglich wohl¬ denkenden und erfahrnen Mann, der den ſie¬ benjaͤhrigen Krieg mitgefochten und ſich ein225 allgemeines Zutrauen erworben habe. Es fiel nicht ſchwer, mich ihm zu naͤhern, und wir ſpazirten oͤfters mit einander. Der Begriff von Erfahrung war beynah fix in meinem Gehirne geworden, und das Beduͤrfniß, mir ihn klar zu machen, leidenſchaftlich. Offenmuͤ¬ thig wie ich war, entdeckte ich ihm die Unru¬ he, in der ich mich befand. Er laͤchelte und war freundlich genug, mir, im Gefolg mei¬ ner Fragen, etwas von ſeinem Leben und von der naͤchſten Welt uͤberhaupt zu erzaͤhlen, wo bey freylich zuletzt wenig Beſſeres herauskam als, daß die Erfahrung uns uͤberzeuge, daß unſere beſten Gedanken, Wuͤnſche und Verſaͤ¬ tze unerreichbar ſeyen, und daß man denjeni¬ gen, welcher dergleichen Grillen hege und ſie mit Lebhaftigkeit aͤußere, vornehmlich fuͤr ei¬ nen unerfahrnen Menſchen halte.
Da er jedoch ein wackerer, tuͤchtiger Mann war, ſo verſicherte er mir, er habe dieſe Gril¬ len ſelbſt noch nicht ganz aufgegeben, und be¬II. 15226finde ſich bey dem Wenigen Glaube, Liebe und Hoffnung, was ihm uͤbrig geblieben, noch ganz leidlich. Er mußte mir darauf Vieles vom Krieg erzaͤhlen, von der Lebens¬ weiſe im Feld, von Scharmuͤtzeln und Schlach¬ ten, beſonders in ſofern er Antheil daran genommen; da denn dieſe ungeheueren Ereig¬ niſſe, indem ſie auf ein einzelnes Individuum bezogen wurden, ein gar wunderliches Anſe¬ hen gewannen. Ich bewog ihn alsdann zu einer offenen Erzaͤhlung der kurz vorher be¬ ſtandenen Hofverhaͤltniſſe, welche ganz maͤhr¬ chenhaft zu ſeyn ſchienen. Ich hoͤrte von der koͤrperlichen Staͤrke Auguſt's des Zweyten, den vielen Kindern deſſelben und ſeinem ungeheu¬ eren Aufwand, ſodann von des Nachfolgers Kunſt - und Sammlungsluſt, vom Grafen Bruͤhl und deſſen grenzenloſer Prunkliebe, deren Einzelnes beynahe abgeſchmackt erſchien, von ſo viel Feſten und Prachtergetzungen, welche ſaͤmmtlich durch den Einfall Friedrichs in Sachſen abgeſchnitten worden. Nun la¬227 gen die koͤniglichen Schloͤſſer zerſtoͤrt, die Bruͤhlſchen Herrlichkeiten vernichtet, und es war von allem nur ein ſehr beſchaͤdigtes herr¬ liches Land uͤbrig geblieben.
Als er mich uͤber jenen unſinnigen Genuß des Gluͤcks verwundert, und ſodann uͤber das erfolgte Ungluͤck betruͤbt ſah, und mich bedeu¬ tete, wie man von einem erfahrnen Manne geradezu verlange, daß er uͤber keins von bey¬ den erſtaunen, noch daran einen zu lebhaften Antheil nehmen ſolle; ſo fuͤhlte ich große Luſt, in meiner bisherigen Unerfahrenheit noch eine Weile zu verharren, worin er mich denn be¬ ſtaͤrkte und recht angelegentlich bat, ich moͤchte mich, bis auf Weiteres, immer an die an¬ genehmen Erfahrungen halten und die unan¬ genehmen ſoviel als moͤglich abzulehnen ſu¬ chen, wenn ſie ſich mir aufdringen ſollten. Einſt aber, als wieder im Allgemeinen die Rede von Erfahrung war und ich ihm jene poſſenhaften Phraſen des Freundes Behriſch15 *228erzaͤhlte, ſchuͤttelte er laͤchelnd den Kopf und ſagte: da ſieht man, wie es mit Worten geht, die nur einmal ausgeſprochen ſind! Dieſe da klingen ſo neckiſch, ja ſo albern, daß es faſt unmoͤglich ſcheinen duͤrfte, einen vernuͤnftigen Sinn hineinzulegen; und doch ließ ſich viel¬ leicht ein Verſuch machen.
Und als ich in ihn drang, verſetzte er mit ſeiner verſtaͤndig heiteren Weiſe: wenn Sie mir erlauben, indem ich Ihren Freund com¬ mentire und ſupplire, in ſeiner Art fortzu¬ fahren, ſo duͤnkt mich, er habe ſagen wollen, daß die Erfahrung nichts anderes ſey, als daß man erfaͤhrt, was man nicht zu erfahren wuͤnſcht, worauf es wenigſtens in dieſer Welt meiſtens hinauslaͤuft.
Ein anderer Mann, obgleich in jedem Be¬ tracht von Behriſch unendlich verſchieden, konn¬ te doch in einem gewiſſen Sinne mit ihm verglichen werden; ich meyne Oeſern, wel¬ cher auch unter diejenigen Menſchen gehoͤrte, die ihr Leben in einer bequemen Geſchaͤftig¬ keit hintraͤumen. Seine Freunde ſelbſt be¬ kannten im Stillen, daß er, bey einem ſehr ſchoͤnen Naturell, ſeine jungen Jahre nicht in genugſamer Thaͤtigkeit verwendet, deswegen er auch nie dahin gelangt ſey, die Kunſt mit voll¬ kommner Technik auszuuͤben. Doch ſchien ein gewiſſer Fleiß ſeinem Alter vorbehalten zu ſeyn, und es fehlte ihm die vielen Jahre, die ich ihn kannte, niemals an Erfindung noch Arbeitſamkeit. Er hatte mich gleich den er¬ ſten Augenblick ſehr an ſich gezogen; ſchon ſeine Wohnung, wunderſam und ahndungvoll,232 war fuͤr mich hoͤchſt reizend. In dem alten Schloſſe Pleißenburg ging man rechts in der Ecke eine erneute heitre Wendeltreppe hinauf. Die Saͤle der Zeichenacademie, deren Direc¬ tor er war, fand man ſodann links, hell und geraͤumig; aber zu ihm ſelbſt gelangte man nur durch einen engen dunklen Gang, an deſ¬ ſen Ende man erſt den Eintritt zu ſeinen Zim¬ mern ſuchte, zwiſchen deren Reihe und einem weitlaͤuftigen Kernboden man ſo eben herge¬ gangen war. Das erſte Gemach war mit Bildern geſchmuͤckt aus der ſpaͤteren italieni¬ ſchen Schule, von Meiſtern, deren Anmuth er hoͤchlich zu preiſen pflegte. Da ich Pri¬ vatſtunden mit einigen Edelleuten bey ihm ge¬ nommen hatte, ſo war uns erlaubt, hier zu zeichnen, und wir gelangten auch manchmal in ſein daranſtoßendes inneres Cabinet, wel¬ ches zugleich ſeine wenigen Buͤcher, Kunſt - und Naturalienſammlungen und was ihn ſonſt zunaͤchſt intereſſiren mochte, enthielt. Al¬ les war mit Geſchmack, einfach und derge¬233 ſtalt geordnet, daß der kleine Raum ſehr vie¬ les umfaßte. Die Moͤbeln, Schraͤnke, Por¬ tefeuilles elegant ohne Ziererey oder Ueberfluß. So war auch das erſte was er uns empfahl und worauf er immer wieder zuruͤckkam, die Einfalt in allem, was Kunſt und Handwerk vereint hervorzubringen berufen ſind. Als ein abgeſagter Feind des Schnoͤrkel - und Muſchel¬ weſens und des ganzen barocken Geſchmacks zeigte er uns dergleichen in Kupfer geſtochne und gezeichnete alte Muſter im Gegenſatz mit beſſeren Verzierungen und einfacheren Formen der Moͤbel ſowohl als anderer Zimmerumge¬ bungen, und weil alles um ihn her mit die¬ ſen Maximen uͤbereinſtimmte; ſo machten die Worte und Lehren auf uns einen guten und dauernden Eindruck. Auch außerdem hatte er Gelegenheit, uns ſeine Geſinnungen practiſch ſehen zu laſſen, indem er ſowohl bey Privat - als Regimentsperſonen in gutem Anſehen ſtand und bey neuen Bauten und Veraͤnde¬ rungen um Rath gefragt wurde. Ueberhaupt234 ſchien er geneigter zu ſeyn, etwas gelegentlich, zu einem gewiſſen Zweck und Gebrauch zu verfertigen, als daß er fuͤr ſich beſtehende Dinge, welche eine groͤßere Vollendung ver¬ langen, unternommen und ausgearbeitet haͤtte: deshalb er auch immer bereit und zur Hand war, wenn die Buchhaͤndler groͤßere und klei¬ nere Kupfer zu irgend einem Werk verlangten; wie denn die Vignetten zu Winkelmanns er¬ ſten Schriften von ihm radirt ſind. Oft aber machte er nur ſehr ſkizzenhafte Zeichnungen, in welche ſich Geyſer ganz gut zu ſckicken verſtand. Seine Figuren hatten durchaus et¬ was Allgemeines, um nicht zu ſagen Ideelles. Seine Frauen waren angenehm und gefaͤllig, ſeine Kinder naiv genug; nur mit den Maͤn¬ nern wollte es nicht fort, die, bey ſeiner zwar geiſtreichen, aber doch immer nebuli¬ ſtiſchen und zugleich abbrevirenden Manier, meiſtentheils das Anſehn von Lazaroni erhiel¬ ten. Da er ſeine Compoſitionen uͤberhaupt weniger auf Form, als auf Licht, Schatten235 und Maſſen berechnete, ſo nahmen ſie ſich im Ganzen gut aus; wie denn alles, was er that und hervorbrachte, von einer eignen Grazie begleitet war. Weil er nun dabey eine ein¬ gewurzelte Neigung zum Bedeutenden, Alle¬ goriſchen, einen Nebengedanken Erregenden nicht bezwingen konnte noch wollte; ſo gaben ſeine Werke immer etwas zu ſinnen und wur¬ den vollſtaͤndig durch einen Begriff, da ſie es der Kunſt und der Ausfuͤhrung nach nicht ſeyn konnten. Dieſe Richtung, welche immer ge¬ faͤhrlich iſt, fuͤhrte ihn manchmal bis an die Grenze des guten Geſchmacks, wo nicht gar daruͤber hinaus. Seine Abſichten ſuchte er oft durch die wunderlichſten Einfaͤlle und durch grillenhafte Scherze zu erreichen; ja ſeinen beſten Arbeiten iſt ſtets ein humoriſtiſcher An¬ ſtrich verliehen. War das Publicum mit ſol¬ chen Dingen nicht immer zufrieden, ſo raͤchte er ſich durch eine neue, noch wunderlichere Schnurre. So ſtellte er ſpaͤter in dem Vor¬ zimmer des großen Concertſaales eine ideale236 Frauenfigur ſeiner Art vor, die eine Licht¬ ſcheere nach einer Kerze hinbewegte, und er freute ſich außerordentlich, wenn er veranlaſ¬ ſen konnte, daß man uͤber die Frage ſtritt, ob dieſe ſeltſame Muſe das Licht zu putzen oder auszuloͤſchen gedenke? wo er denn allerley necki¬ ſche Beygedanken ſchelmiſch hervorblicken ließ.
Doch machte die Erbauung des neuen Theaters zu meiner Zeit das groͤßte Aufſehen, in welchem ſein Vorhang, da er noch ganz neu war, gewiß eine außerordentlich liebliche Wirkung that. Oeſer hatte die Muſen aus den Wolken, auf denen ſie bey ſolchen Gele¬ genheiten gewoͤhnlich ſchweben, auf die Erde verſetzt. Einen Vorhof zum Tempel des Ruhms ſchmuͤckten die Statuen des Sophokles und Ariſtophanes, um welche ſich alle neuere Schauſpieldichter verſammelten. Hier nun waren die Goͤttinnen der Kuͤnſte gleichfalls ge¬ genwaͤrtig und alles wuͤrdig und ſchoͤn. Nun aber kommt das Wunderliche! Durch die237 freye Mitte ſah man das Portal des fernſte¬ henden Tempels, und ein Mann in leichter Jacke ging zwiſchen beyden obgedachten Grup¬ pen, ohne ſich um ſie zu bekuͤmmern, hin¬ durch, gerade auf den Tempel los; man ſah ihn daher im Ruͤcken, er war nicht beſonders ausgezeichnet. Dieſer nun ſollte Shakeſpearn bedeuten, der ohne Vorgaͤnger und Nachfol¬ ger, ohne ſich um die Muſter zu bekuͤmmern, auf ſeine eigne Hand der Unſterblichkeit ent¬ gegengehe. Auf dem großen Boden uͤber dem neuen Theater ward dieſes Werk vollbracht. Wir verſammelten uns dort oft um ihn, und ich habe ihm daſelbſt die Aushaͤngebogen von Muſarion vorgeleſen.
Was mich betraf, ſo ruͤckte ich in Ausuͤ¬ bung der Kunſt keineswegs weiter. Seine Lehre wirkte auf unſern Geiſt und unſern Ge¬ ſchmack; aber ſeine eigne Zeichnung war zu unbeſtimmt, als daß ſie mich, der ich an den Gegenſtaͤnden der Kunſt und Natur auch nur238 hindaͤmmerte, haͤtte zu einer ſtrengen und ent¬ ſchiedenen Ausuͤbung anleiten ſollen. Von den Geſichtern und Koͤrpern ſelbſt uͤberlieferte er uns mehr die Anſichten als die Formen, mehr die Gebaͤrden als die Proportionen. Er gab uns die Begriffe von den Geſtalten, und ver¬ langte, wir ſollten ſie in uns lebendig wer¬ den laſſen. Das waͤre denn auch ſchoͤn und recht geweſen, wenn er nicht bloß Anfaͤnger vor ſich gehabt haͤtte. Konnte man ihm da¬ her ein vorzuͤgliches Talent zum Unterricht wohl abſprechen; ſo mußte man dagegen be¬ kennen, daß er ſehr geſcheidt und weltklug ſey, und daß eine gluͤckliche Gewandtheit des Gei¬ ſtes ihn, in einem hoͤhern Sinne, recht eigent¬ lich zum Lehrer qualificire. Die Maͤngel, an denen jeder litt, ſah er recht gut ein; er ver¬ ſchmaͤhte jedoch, ſie direct zu ruͤgen, und deu¬ tete vielmehr Lob und Tadel indirect ſehr la¬ coniſch an. Nun mußte man uͤber die Sache denken und kam in der Einſicht ſchnell um vieles weiter. So hatte ich z. B. auf blaues239 Papier einen Blumenſtrauß, nach einer vor¬ handenen Vorſchrift, mit ſchwarzer und wei¬ ßer Kreide ſehr ſorgfaͤltig ausgefuͤhrt, und theils mit Wiſchen, theils mit Schraffiren das kleine Bild hervorzuheben geſucht. Nach¬ dem ich mich lange dergeſtalt bemuͤht, trat er einſtens hinter mich und ſagte: „ Mehr Pa¬ pier! “worauf er ſich ſogleich entfernte. Mein Nachbar und ich zerbrachen uns den Kopf, was das heißen koͤnne: denn mein Bouquet hatte auf einem großen halben Bogen Raum genug um ſich her. Nachdem wir lange nach¬ gedacht, glaubten wir endlich ſeinen Sinn zu treffen, wenn wir bemerkten, daß ich durch das Ineinanderarbeiten des Schwarzen und Weißen den blauen Grund ganz zugedeckt, die Mitteltinte zerſtoͤrt und wirklich eine unange¬ nehme Zeichnung mit großem Fleiß hervorge¬ bracht hatte. Uebrigens ermangelte er nicht, uns von der Perſpective, von Licht und Schat¬ ten zwar genugſam, doch immer nur ſo zu unterrichten, daß wir uns anzuſtrengen und240 zu quaͤlen hatten, um eine Anwendung der uͤberlieferten Grundſaͤtze zu treffen. Wahr¬ ſcheinlich war ſeine Abſicht, an uns, die wir doch nicht Kuͤnſtler werden ſollten, nur die Einſicht und den Geſchmack zu bilden, und uns mit den Erforderniſſen eines Kunſtwerks bekannt zu machen, ohne gerade zu verlan¬ gen, daß wir es hervorbringen ſollten. Da nun der Fleiß ohnehin meine Sache nicht war: denn es machte mir nichts Vergnuͤgen als was mich anflog; ſo wurde ich nach und nach wo nicht laͤſſig doch mismuthig, und weil die Kenntniß bequemer iſt als das Thun, ſo ließ ich mir gefallen, wohin er uns nach ſeiner Weiſe zu fuͤhren gedachte.
Zu jener Zeit war das Leben der Ma¬ ler von D'Argenville ins Deutſche uͤber¬ ſetzt, ich erhielt es ganz friſch und ſtudirte es emſig genug. Dieß ſchien Oeſern zu gefallen, und er verſchaffte uns Gelegenheit, aus den großen Leipziger Sammlungen manches Por¬241 tefeuille zu ſehen, und leitete uns dadurch zur Geſchichte der Kunſt ein. Aber auch dieſe Uebungen brachten bey mir eine andere Wir¬ kung hervor, als er im Sinn haben mochte. Die mancherley Gegenſtaͤnde, welche ich von den Kuͤnſtlern behandelt ſah, erweckten das poetiſche Talent in mir, und wie man ja wohl ein Kupfer zu einem Gedicht macht, ſo machte ich nun Gedichte zu den Kupfern und Zeichnungen, indem ich mir die darauf vorge¬ ſtellten Perſonen in ihrem vorhergehenden und nachfolgenden Zuſtande zu vergegenwaͤrtigen, bald auch ein kleines Lied, das ihnen wohl geziemt haͤtte, zu dichten wußte, und ſo mich gewoͤhnte, die Kuͤnſte in Verbindung mit ein¬ ander zu betrachten. Ja ſelbſt die Fehlgriffe, die ich that, daß meine Gedichte manchmal beſchreibend wurden, waren mir in der Fol¬ ge, als ich zu mehrerer Beſinnung kam, nuͤtz¬ lich, indem ſie mich auf den Unterſchied der Kuͤnſte aufmerkſam machten. Von ſolchen klei¬ nen Dingen ſtanden mehrere in der Samm¬ll. 16242lung, welche Behriſch veranſtaltet hatte; es iſt aber nichts davon uͤbrig geblieben.
Das Kunſt - und Geſchmackselement, wor¬ in Oeſer lebte, und auf welchem man ſelbſt, in ſofern man ihn fleißig beſuchte, getragen wurde, ward auch dadurch immer wuͤrdiger und erfreulicher, daß er ſich gern abgeſchiede¬ ner oder abweſender Maͤnner erinnerte, mit denen er in Verhaͤltniß geſtanden hatte, oder ſolches noch immer fort erhielt; wie er denn, wenn er Jemanden einmal ſeine Achtung ge¬ ſchenkt, unveraͤnderlich in dem Betragen ge¬ gen denſelben blieb, und ſich immer gleich ge¬ neigt erwies.
Nachdem wir unter den Franzoſen vor¬ zuͤglich Caylus hatten ruͤhmen hoͤren, machte er uns auch mit deutſchen, in dieſem Fache thaͤtigen Maͤnnern bekannt. So erfuhren wir, daß Profeſſor Chriſt als Liebhaber, Samm¬ ler, Kenner, Mitarbeiter, der Kunſt ſchoͤne243 Dienſte geleiſtet, und ſeine Gelehrſamkeit zu wahrer Foͤrderung derſelben angewendet habe. Heinecke dagegen durfte nicht wohl genannt werden, theils weil er ſich mit den allzukind¬ lichen Anfaͤngen der deutſchen Kunſt, welche Oeſer wenig ſchaͤtzte, gar zu emſig abgab, theils weil er einmal mit Winkelmann unſaͤu¬ berlich verfahren war, welches ihm denn nie¬ mals verziehen werden konnte. Auf Lipperts Bemuͤhungen jedoch ward unſere Aufmerkſam¬ keit kraͤftig hingeleitet, indem unſer Lehrer das Verdienſt derſelben genugſam herauszuſetzen wußte. Denn obgleich, ſagte er, die Sta¬ tuen und groͤßeren Bildwerke Grund und Gi¬ pfel aller Kunſtkenntniß blieben, ſo ſeyen ſie doch ſowohl im Original, als Abguß ſelten zu ſehen, dahingegen durch Lippert eine kleine Welt von Gemmen bekannt werde, in wel¬ cher der Alten faßlicheres Verdienſt, gluͤckliche Erfindung, zweckmaͤßige Zuſammenſtellung, ge¬ ſchmackvolle Behandlung, auffallender und be¬ greiflicher werde, auch bey ſo großer Menge16 *244die Vergleichung eher moͤglich ſey. Indem wir uns nun damit ſoviel als erlaubt war beſchaͤftigten, ſo wurde auf das hohe Kunſtle¬ ben Winkelmanns in Italien hingedeutet, und wir nahmen deſſen erſte Schriften mit Andacht in die Haͤnde; denn Oeſer hatte eine leidenſchaftliche Verehrung fuͤr ihn, die er uns gar leicht einzufloͤßen vermochte. Das Pro¬ blematiſche jener kleinen Aufſaͤtze, die ſich noch dazu durch Ironie ſelbſt verwirren und ſich auf ganz ſpecielle Meynungen und Ereigniſſe beziehen, vermochten wir zwar nicht zu ent¬ ziffern; allein weil Oeſer viel Einfluß darauf gehabt, und er das Evangelium des Schoͤ¬ nen, mehr noch des Geſchmackvollen und An¬ genehmen auch uns unablaͤſſig uͤberlieferte, ſo fanden wir den Sinn im Allgemeinen wieder und duͤnkten uns bey ſolchen Auslegungen um deſto ſicherer zu gehen, als wir es fuͤr kein geringes Gluͤck achteten, aus derſelben Quelle zu ſchoͤpfen, aus der Winkelmann ſeinen erſten Durſt geſtillt hatte.
245Einer Stadt kann kein groͤßeres Gluͤck be¬ gegnen, als wenn mehrere, im Guten und Rechten Gleichgeſinnte, ſchon gebildete Maͤn¬ ner daſelbſt neben einander wohnen. Dieſen Vorzug hatte Leipzig und genoß ihn um ſo friedlicher, als ſich noch nicht ſo manche Ent¬ zweyungen des Urtheils hervorgethan hatten. Huber, Kupferſtichſammler und wohlgeuͤbter Kenner, hatte noch außerdem das dankbar an¬ erkannte Verdienſt, daß er den Werth der deutſchen Litteratur auch den Franzoſen be¬ kannt zu machen gedachte; Kreuchauf, Liebhaber mit geuͤbtem Blick, der, als Freund der ganzen Kunſtſocietaͤt, alle Sammlungen fuͤr die ſeinigen anſehen konnte; Winkler, der die einſichtsvolle Freude, die er an ſeinen Schaͤtzen hegte, ſehr gern mit Anderen theil¬ te; mancher Andere, der ſich anſchloß, alle lebten und wirkten nur in Einem Sinne, und ich wuͤßte mich nicht zu erinnern, ſo oft ich auch wenn ſie Kunſtwerke durchſahen bey¬ wohnen durfte, daß jemals ein Zwieſpalt ent¬246 ſtanden waͤre: immer kam, billiger Weiſe, die Schule in Betracht, aus welcher der Kuͤnſtler hervorgegangen, die Zeit, in der er gelebt, das beſondere Talent, das ihm die Natur verliehen und der Grad, auf welchen er es in der Ausfuͤhrung gebracht. Da war keine Vorliebe weder fuͤr geiſtliche noch fuͤr welt¬ liche Gegenſtaͤnde, fuͤr laͤndliche oder fuͤr ſtaͤdti¬ ſche, lebendige oder lebloſe; die Frage war immer nach dem Kunſtgemaͤßen.
Ob ſich nun gleich dieſe Liebhaber und Sammler, nach ihrer Lage, Sinnesart, Ver¬ moͤgen und Gelegenheit, mehr gegen die nie¬ derlaͤndiſche Schule richteten; ſo ward doch, indem man ſein Auge an den unendlichen Verdienſten der nordweſtlichen Kuͤnſtler uͤbte, ein ſehnſuchtsvoll verehrender Blick nach Suͤd¬ oſten immer offen gehalten.
Und ſo mußte die Univerſitaͤt, wo ich die Zwecke meiner Familie, ja meine eignen ver¬247 ſaͤumte, mich in demjenigen begruͤnden, wor¬ in ich die groͤßte Zufriedenheit meines Lebens finden ſollte; auch iſt mir der Eindruck jener Localitaͤten, in welchen ich ſo bedeutende An¬ regungen empfangen, immer hoͤchſt lieb und werth geblieben. Die alte Pleißenburg, die Zimmer der Academie, vor allen aber Oeſers Wohnung, nicht weniger die Winklerſche und Richterſche Sammlungen habe ich noch im¬ mer lebhaft gegenwaͤrtig.
Ein junger Mann jedoch, der, indem ſich aͤltere unter einander von ſchon bekannten Din¬ gen unterhalten, nur beylaͤufig unterrichtet wird, und welchem das ſchwerſte Geſchaͤft, das alles zurecht zu legen, dabey uͤberlaſſen bleibt, muß ſich in einer ſehr peinlichen Lage befin¬ den. Ich ſah mich daher mit Anderen ſehn¬ ſuchtsvoll nach einer neuen Erleuchtung um, die uns denn auch durch einen Mann kom¬ men ſollte, dem wir ſchon ſoviel ſchuldig waren.
248Auf zweyerley Weiſe kann der Geiſt hoͤch¬ lich erfreut werden, durch Anſchauung und Begriff. Aber jenes erfordert einen wuͤrdi¬ gen Gegenſtand, der nicht immer bereit, und eine verhaͤltnißmaͤßige Bildung, zu der man nicht gerade gelangt iſt. Der Begriff hinge¬ gen will nur Empfaͤnglichkeit, er bringt den Inhalt mit, und iſt ſelbſt das Werkzeug der Bildung. Daher war uns jener Lichtſtrahl hoͤchſt willkommen, den der vortrefflichſte Den¬ ker durch duͤſtre Wolken auf uns herableitete. Man muß Juͤngling ſeyn, um ſich zu verge¬ genwaͤrtigen, welche Wirkung Leſſings Lao¬ koon auf uns ausuͤbte, indem dieſes Werk uns aus der Region eines kuͤmmerlichen An¬ ſchauens in die freyen Gefilde des Gedankens hinriß. Das ſo lange misverſtandene: ut pictura poesis, war auf einmal beſeitigt, der Unterſchied der bildenden und Redekuͤnſte klar, die Gipfel beyder erſchienen nun getrennt, wie nah ihre Baſen auch zuſammenſtoßen moch¬ ten. Der bildende Kuͤnſtler ſollte ſich inner¬249 halb der Grenze des Schoͤnen halten, wenn dem redenden, der die Bedeutung jeder Art nicht entbehren kann, auch daruͤber hin¬ auszuſchweifen vergoͤnnt waͤre. Jener arbeitet fuͤr den aͤußeren Sinn, der nur durch das Schoͤne befriedigt wird, dieſer fuͤr die Einbil¬ dungskraft, die ſich wohl mit dem Haͤßlichen noch abfinden mag. Wie vor einem Blitz er¬ leuchteten ſich uns alle Folgen dieſes herrli¬ chen Gedankens, alle bisherige anleitende und urtheilende Kritik ward, wie ein abgetragener Rock, weggeworfen, wir hielten uns von al¬ lem Uebel erloͤſt, und glaubten mit einigem Mitleid auf das ſonſt ſo herrliche ſechszehnte Jahrhundert herabblicken zu duͤrfen, wo man in deutſchen Bildwerken und Gedichten das Leben nur unter der Form eines ſchellenbehan¬ genen Narren, den Tod unter der Unform eines klappernden Gerippes, ſo wie die noth¬ wendigen und zufaͤlligen Uebel der Welt un¬ ter dem Bilde des frazzenhaften Teufels zu vergegenwaͤrtigen wußte.
250Am meiſten entzuͤckte uns die Schoͤnheit jenes Gedankens, daß die Alten den Tod als den Bruder des Schlafs anerkannt, und bey¬ de, wie es Menaͤchmen geziemt, zum Ver¬ wechſeln gleich gebildet. Hier konnten wir nun erſt den Triumph des Schoͤnen hoͤchlich feyern, und das Haͤßliche jeder Art, da es doch einmal aus der Welt nicht zu vertreiben iſt, im Reiche der Kunſt nur in den niedri¬ gen Kreis des Laͤcherlichen verweiſen.
Die Herrlichkeit ſolcher Haupt - und Grund¬ begriffe erſcheint nur dem Gemuͤth, auf wel¬ ches ſie ihre unendliche Wirkſamkeit ausuͤben, erſcheint nur der Zeit, in welcher ſie erſehnt, im rechten Augenblick hervortreten. Da be¬ ſchaͤftigen ſich die, welchen mit ſolcher Nah¬ rung gedient iſt, liebevoll ganze Epochen ih¬ res Lebens damit und erfreuen ſich eines uͤber¬ ſchwenglichen Wachsthums, indeſſen es nicht an Menſchen fehlt, die ſich auf der Stelle einer ſolchen Wirkung widerſetzen, und nicht251 an andern, die in der Folge an dem hohen Sinne markten und maͤkeln.
Wie ſich aber Begriff und Anſchauung wechſelsweiſe fordern, ſo konnte ich dieſe neuen Gedanken nicht lange verarbeiten, ohne daß ein unendliches Verlangen bey mir entſtanden waͤre, doch einmal bedeutende Kunſtwerke in groͤßerer Maſſe zu erblicken. Ich entſchied mich daher, Dresden ohne Aufenthalt zu be¬ ſuchen. An der noͤthigen Baarſchaft fehlte es mir nicht; aber es waren andere Schwierig¬ keiten zu uͤberwinden, die ich durch mein gril¬ lenhaftes Weſen noch ohne Noth vermehrte: denn ich hielt meinen Vorſatz vor Jedermann geheim, weil ich die dortigen Kunſtſchaͤtze ganz nach eigner Art zu betrachten wuͤnſchte und, wie ich meynte, mich von Niemand wollte irre machen laſſen. Außer dieſem ward durch noch eine andre Wunderlichkeit eine ſo einfache Sa¬ che verwickelter.
252Wir haben angeborne und anerzogene Schwaͤchen, und es moͤchte noch die Frage ſeyn, welche von beyden uns am meiſten zu ſchaffen geben. So gern ich mich mit jeder Art von Zuſtaͤnden bekannt machte und dazu manchen Anlaß gehabt hatte, war mir doch von meinem Vater eine aͤußerſte Abneigung gegen alle Gaſthoͤfe eingefloͤßt worden. Auf ſeinen Reiſen durch Italien, Frankreich und Deutſchland hatte ſich dieſe Geſinnung feſt bey ihm eingewurzelt. Ob er gleich ſelten in Bil¬ dern ſprach, und dieſelben nur wenn er ſehr heiter war zu Huͤlfe rief; ſo pflegte er doch manchmal zu wiederholen: in dem Thore ei¬ nes Gaſthofs glaube er immer ein großes Spinnengewebe ausgeſpannt zu ſehen, ſo kuͤnſt¬ lich, daß die Inſecten zwar hineinwaͤrts, aber ſelbſt die privilegirten Wespen nicht ungerupft herausfliegen koͤnnten. Es ſchien ihm etwas Erſchreckliches, dafuͤr, daß man ſeinen Ge¬ wohnheiten und allem, was einem lieb im Le¬ ben waͤre, entſagte und nach der Weiſe des253 Wirths und der Kellner lebte, noch uͤbermaͤ¬ ßig bezahlen zu muͤſſen. Er pries die Hospi¬ talitaͤt alter Zeiten, und ſo ungern er ſonſt auch etwas Ungewohntes im Hauſe duldete, ſo uͤbte er doch Gaſtfreundſchaft, beſonders an Kuͤnſtlern und Virtuoſen; wie denn Gevatter Seekaz immer ſein Quartier bey uns behielt, und Abel, der letzte Muſiker, welcher die Gambe mit Gluͤck und Beyfall behandelte, wohl aufgenommen und bewirthet wurde. Wie haͤtte ich mich nun mit ſolchen Jugend¬ eindruͤcken, die bisher durch nichts ausgeloͤſcht worden, entſchließen koͤnnen, in einer fremden Stadt einen Gaſthof zu betreten? Nichts waͤre leichter geweſen als bey guten Freun¬ den ein Quartier zu finden; Hofrath Krebel, Aſſeſſor Hermann und Andere hatten mir ſchon oft davon geſprochen: allein auch dieſen ſollte meine Reiſe ein Geheimniß bleiben, und ich gerieth auf den wunderlichſten Einfall. Mein Stubennachbar, der fleißige Theolog, dem ſeine Augen leider immer mehr ablegten, hatte ei¬254 nen Verwandten in Dresden, einen Schuſter, mit dem er von Zeit zu Zeit Briefe wechſelte. Dieſer Mann war mir wegen ſeiner Aeuße¬ rungen ſchon laͤngſt hoͤchſt merkwuͤrdig gewor¬ den, und die Ankunft eines ſeiner Briefe ward von uns immer feſtlich gefeyert. Die Art, womit er die Klagen ſeines, die Blindheit befuͤrchtenden Vetters erwiederte, war ganz eigen: denn er bemuͤhte ſich nicht um Troſt¬ gruͤnde, welche immer ſchwer zu finden ſind; aber die heitere Art, womit er ſein eignes enges, armes, muͤhſeliges Leben betrachtete, der Scherz, den er ſelbſt den Uebeln und Unbequemlichkeiten abgewann, die unverwuͤſt¬ liche Ueberzeugung, daß das Leben an und fuͤr ſich ein Gut ſey, theilte ſich demjenigen mit, der den Brief las, und verſetzte ihn, we¬ nigſtens fuͤr Augenblicke, in eine gleiche Stim¬ mung. Enthuſiaſtiſch wie ich war, hatte ich dieſen Mann oͤfters verbindlich gruͤßen laſſen, ſeine gluͤckliche Naturgabe geruͤhmt und den Wunſch, ihn kennen zu lernen, geaͤußert. Die¬255 ſes alles vorausgeſetzt, ſchien mir nichts na¬ tuͤrlicher als ihn aufzuſuchen, mich mit ihm zu unterhalten, ja bey ihm zu wohnen und ihn recht genau kennen zu lernen. Mein gu¬ ter Candidat gab mir, nach einigem Wider¬ ſtreben, einen muͤhſam geſchriebenen Brief mit, und ich fuhr, meine Matrikel in der Ta¬ ſche, mit der gelben Kutſche ſehnſuchtsvoll nach Dresden.
Ich ſuchte nach meinem Schuſter und fand ihn bald in der Vorſtadt. Auf ſeinem Sche¬ mel ſitzend empfing er mich freundlich und ſagte laͤchelnd, nachdem er den Brief geleſen: „ Ich ſehe hieraus, junger Herr, daß Ihr ein wunderlicher Chriſt ſeyd. “ Wie das, Mei¬ ſter? verſetzte ich. Wunderlich iſt nicht uͤbel gemeynt, fuhr er fort, man nennt Jemand ſo, der ſich nicht gleich iſt, und ich nenne Sie einen wunderlichen Chriſten, weil Sie Sich in einem Stuͤck als den Nachfolger des Herrn bekennen, in dem anderen aber nicht. 256Auf meine Bitte, mich aufzuklaͤren, ſagte er weiter: „ Es ſcheint, daß Ihre Abſicht iſt, eine froͤhliche Botſchaft den Armen und Nie¬ drigen zu verkuͤndigen; das iſt ſchoͤn, und dieſe Nachahmung des Herrn iſt loͤblich; Sie ſollten aber dabey bedenken, daß er lieber bey wohlhabenden und reichen Leuten zu Tiſche ſaß, wo es gut her ging, und daß er ſelbſt den Wohlgeruch des Balſams nicht verſchmaͤh¬ te, wovon Sie wohl bey mir das Gegentheil finden koͤnnten. “
Dieſer luſtige Anfang ſetzte mich gleich in guten Humor und wir neckten einander eine ziemliche Weile herum. Die Frau ſtand be¬ denklich, wie ſie einen ſolchen Gaſt unterbrin¬ gen und bewirthen ſolle? Auch hieruͤber hatte er ſehr artige Einfaͤlle, die ſich nicht allein auf die Bibel, ſondern auch auf Gottfrieds Chronik bezogen, und als wir einig waren, daß ich bleiben ſolle, ſo gab ich meinen Beu¬ tel, wie er war, der Wirthinn zum Aufhe¬257 ben und erſuchte ſie, wenn etwas noͤthig ſey, ſich daraus zu verſehen. Da er es ablehnen wollte und mit einiger Schalkheit zu verſte¬ hen gab, daß er nicht ſo abgebrannt ſey als es ausſehen moͤchte, ſo entwaffnete ich ihn dadurch, daß ich ſagte: und wenn es auch nur waͤre, um das Waſſer in Wein zu ver¬ wandeln, ſo wuͤrde wohl, da heut zu Tage keine Wunder mehr geſchehen, ein ſolches pro¬ bates Hausmittel nicht am unrechten Orte ſeyn. Die Wirthinn ſchien mein Reden und Handeln immer weniger ſeltſam zu finden, wir hatten uns bald in einander geſchickt und brachten einen ſehr heiteren Abend zu. Er blieb ſich immer gleich, weil alles aus Einer Quelle floß. Sein Eigenthum war ein tuͤch¬ tiger Menſchenverſtand, der auf einem heite¬ ren Gemuͤth ruhte und ſich in der gleichmaͤ¬ ßigen hergebrachten Thaͤtigkeit gefiel. Daß er unablaͤſſig arbeitete, war ſein Erſtes und Noth¬ wendigſtes, daß er alles Uebrige als zufaͤllig anſah, dieß bewahrte ſein Behagen; und ichII. 17258mußte ihn vor vielen Andern in die Claſſe derjenigen rechnen, welche practiſche Philoſo¬ phen, bewußtloſe Weltweiſen genannt wurden.
Die Stunde, wo die Gallerie eroͤffnet werden ſollte, mit Ungeduld erwartet, erſchien. Ich trat in dieſes Heiligthum, und meine Ver¬ wunderung uͤberſtieg jeden Begriff, den ich mir gemacht hatte. Dieſer in ſich ſelbſt wie¬ derkehrende Saal, in welchem Pracht und Reinlichkeit bey der groͤßten Stille herrſchten, die blendenden Rahmen, alle der Zeit noch naͤher, in der ſie verguldet wurden, der ge¬ bohnte Fußboden, die mehr von Schauenden betretenen als von Arbeitenden benutzten Raͤu¬ me gaben ein Gefuͤhl von Feyerlichkeit, ein¬ zig in ſeiner Art, das um ſo mehr der Em¬ pfindung aͤhnelte, womit man ein Gotteshaus betritt, als der Schmuck ſo manches Tem¬ pels, der Gegenſtand ſo mancher Anbetung hier abermals, nur zu heiligen Kunſtzwecken aufgeſtellt erſchien. Ich ließ mir die curſori¬259 ſche Demonſtration meines Fuͤhrers gar wohl gefallen, nur erbat ich mir, in der aͤußeren Gallerie bleiben zu duͤrfen. Hier fand ich mich, zu meinem Behagen, wirklich zu Hauſe. Schon hatte ich Werke mehrerer Kuͤnſtler ge¬ ſehn, andere kannte ich durch Kupferſtiche, andere dem Namen nach; ich verhehlte es nicht und floͤßte meinem Fuͤhrer dadurch eini¬ ges Vertrauen ein, ja ihn ergetzte das Ent¬ zuͤcken, das ich bey Stuͤcken aͤußerte, wo der Pinſel uͤber die Natur den Sieg davon trug: denn ſolche Dinge waren es vorzuͤglich, die mich an ſich zogen, wo die Vergleichung mit der bekannten Natur den Werth der Kunſt nothwendig erhoͤhen mußte.
Als ich bey meinem Schuſter wieder ein¬ trat, um das Mittagsmahl zu genießen, trauete ich meinen Augen kaum: denn ich glaubte ein Bild von Oſtade vor mir zu ſehen, ſo voll¬ kommen, daß man es nur auf die Gallerie haͤtte haͤngen duͤrfen. Stellung der Gegen¬17 *260ſtaͤnde, Licht, Schatten, braͤunlicher Teint des Ganzen, magiſche Haltung, alles was man in jenen Bildern bewundert, ſah ich hier in der Wirklichkeit. Es war das erſte Mal, daß ich auf einen ſo hohen Grad die Gabe ge¬ wahr wurde, die ich nachher mit mehrerem Bewußtſeyn uͤbte, die Natur naͤmlich mit den Augen dieſes oder jenes Kuͤnſtlers zu ſe¬ hen, deſſen Werken ich ſo eben eine beſondere Aufmerkſamkeit gewidmet hatte. Dieſe Faͤ¬ higkeit hat mir viel Genuß gewaͤhrt, aber auch die Begierde vermehrt, der Ausuͤbung eines Talents, das mir die Natur verſagt zu haben ſchien, von Zeit zu Zeit eifrig nachzuhaͤngen.
Ich beſuchte die Gallerie zu allen ver¬ goͤnnten Stunden, und fuhr fort mein Ent¬ zuͤcken uͤber manche koͤſtliche Werke vorlaut auszuſprechen. Ich vereitelte dadurch meinen loͤblichen Vorſatz, unbekannt und unbemerkt zu bleiben; und da ſich bisher nur ein Unterauf¬ ſeher mit mir abgegeben hatte, nahm nun261 auch der Gallerieinſpector, Rath Riedel, von mir Notiz und machte mich auf gar manches aufmerkſam, welches vorzuͤglich in meiner Sphaͤre zu liegen ſchien. Ich fand dieſen trefflichen Mann damals eben ſo thaͤ¬ tig und gefaͤllig, als ich ihn nachher mehrere Jahre hindurch geſehen und wie er ſich noch heute erweiſt. Sein Bild hat ſich mir mit jenen Kunſtſchaͤtzen ſo in Eins verwoben, daß ich beyde niemals geſondert erblicke, ja ſein Andenken hat mich nach Italien begleitet, wo mir ſeine Gegenwart in manchen großen und reichen Sammlungen ſehr wuͤnſchenswerth ge¬ weſen waͤre.
Da man auch mit Fremden und Unbe¬ kannten ſolche Werke nicht ſtumm und ohne wechſelſeitige Theilnahme betrachten kann, ihr Anblick vielmehr am erſten geeignet iſt, die Gemuͤther gegen einander zu eroͤffnen; ſo kam ich auch daſelbſt mit einem jungen Manne in's Geſpraͤch, der ſich in Dresden aufzuhal¬262 ten und einer Legation anzugehoͤren ſchien. Er lud mich ein, Abends in einen Gaſthof zu kommen, wo ſich eine muntere Geſellſchaft verſammle, und wo man, indem jeder eine maͤßige Zeche bezahlte, einige ganz vergnuͤgte Stunden zubringen koͤnne.
Ich fand mich ein, ohne die Geſellſchaft anzutreffen, und der Kellner ſetzte mich eini¬ germaßen in Verwunderung, als er mir von dem Herrn, der mich beſtellt, ein Compli¬ ment ausrichtete, wodurch dieſer eine Ent¬ ſchuldigung, daß er etwas ſpaͤter kommen werde, an mich gelangen ließ, mit dem Zuſatze, ich ſollte mich an nichts ſtoßen was vorgehe, auch werde ich nichts weiter als meine eigne Zeche zu bezahlen haben. Ich wußte nicht, was ich aus dieſen Worten ma¬ chen ſollte, aber die Spinneweben meines Vaters fielen mir ein, und ich faßte mich, um zu erwarten, was da kommen moͤchte. Die Geſellſchaft verſammelte ſich, mein Bekannter263 ſtellte mich vor und ich durfte nicht lange auf¬ merken, ſo fand ich, daß es auf Myſtifica¬ tion eines jungen Menſchen hinausgehe, der als ein Neuling ſich durch ein vorlautes, an¬ maßliches Weſen auszeichnete: ich nahm mich daher gar ſehr in Acht, daß man nicht etwa Luſt finden moͤchte, mich zu ſeinem Gefaͤhr¬ ten auszuerſehen. Bey Tiſche ward jene Ab¬ ſicht Jedermann deutlicher, nur nicht ihm. Man zechte immer ſtaͤrker, und als man zuletzt ſei¬ ner Geliebten zu Ehren gleichfalls ein Vivat angeſtimmt; ſo ſchwur jeder hoch und theuer, aus dieſen Glaͤſern duͤrfe nun weiter kein Trunk geſchehen; man warf ſie hinter ſich, und dieß war das Signal zu weit groͤßeren Thorheiten. Endlich entzog ich mich ganz ſachte, und der Kellner, indem er mir eine ſehr billige Zeche abforderte, erſuchte mich wiederzukommen, da es nicht alle Abende ſo bunt hergehe. Ich hatte weit in mein Quar¬ tier, und es war nah an Mitternacht als ich es erreichte. Die Thuͤren fand ich unver¬264 ſchloſſen, alles war zu Bette und eine Lampe erleuchtete den enghaͤuslichen Zuſtand, wo denn mein immer mehr geuͤbtes Auge ſogleich das ſchoͤnſte Bild von Schalken erblickte, von dem ich mich nicht losmachen konnte, ſo daß es mir allen Schlaf vertrieb.
Die wenigen Tage meines Aufenthalts in Dresden waren allein der Gemaͤldegallerie ge¬ widmet. Die Antiken ſtanden noch in den Pavillons des großen Gartens, ich lehnte ab ſie zu ſehen, ſo wie alles Uebrige was Dres¬ den koͤſtliches enthielt; nur zu voll von der Ueberzeugung, daß in und an der Gemaͤlde¬ ſammlung ſelbſt mir noch Vieles verborgen bleiben muͤſſe. So nahm ich den Werth der italieniſchen Meiſter mehr auf Treu und Glau¬ ben an, als daß ich mir eine Einſicht in den¬ ſelben haͤtte anmaßen koͤnnen. Was ich nicht als Natur anſehen, an die Stelle der Natur ſetzen, mit einem bekannten Gegenſtand ver¬ gleichen konnte, war auf mich nicht wirkſam. 265Der materielle Eindruck iſt es, der den An¬ fang ſelbſt zu jeder hoͤheren Liebhaberey macht.
Mit meinem Schuſter vertrug ich mich ganz gut. Er war geiſtreich und mannigfal¬ tig genug, und wir uͤberboten uns manchmal an neckiſchen Einfaͤllen; jedoch ein Menſch der ſich gluͤcklich preiſt, und von andern verlangt, daß ſie das Gleiche thun ſollen, verſetzt uns in ein Mißbehagen, ja die Wiederholung ſol¬ cher Geſinnungen macht uns Langeweile. Ich fand mich wohl beſchaͤftigt, unterhalten, auf¬ geregt, aber keineswegs gluͤcklich, und die Schuhe nach ſeinem Leiſten wollten mir nicht paſſen. Wir ſchieden jedoch als die beſten Freunde, und auch meine Wirthinn war beym Abſchiede nicht unzufrieden mit mir.
So ſollte mir denn auch, noch kurz vor meiner Abreiſe, etwas ſehr Angenehmes be¬ gegnen. Durch die Vermittelung jenes jun¬ gen Mannes, der ſich wieder bey mir in ei¬266 nigen Credit zu ſetzen wuͤnſchte, ward ich dem Director von Hagedorn vorgeſtellt, der mir ſeine Sammlung mit großer Guͤte vor¬ wies, und ſich an dem Enthuſiasmus des jungen Kunſtfreundes hoͤchlich ergetzte. Er war, wie es einem Kenner geziemt, in die Bilder, die er beſaß, ganz eigentlich verliebt, und fand daher ſelten an Anderen eine Theil¬ nahme, wie er ſie wuͤnſchte. Beſonders machte es ihm Freude, daß mir ein Bild von Schwa¬ nefeld ganz uͤbermaͤßig gefiel, daß ich daſſelbe in jedem einzelnen Theile zu preiſen und zu erheben nicht muͤde ward: denn gerade Land¬ ſchaften, die mich an den ſchoͤnen heiteren Himmel, unter welchem ich herangewachſen, wieder erinnerten, die Pflanzenfuͤlle jener Ge¬ genden, und was ſonſt fuͤr Gunſt ein waͤr¬ meres Klima den Menſchen gewaͤhrt, ruͤhrten mich in der Nachbildung am meiſten, indem ſie eine ſehnſuͤchtige Erinnerung in mir auf¬ regten.
267Dieſe koͤſtlichen, Geiſt und Sinn zur wahren Kunſt vorbereitenden Erfahrungen wurden jedoch durch einen der traurigſten An¬ blicke unterbrochen und gedaͤmpft, durch den zerſtoͤrten und veroͤdeten Zuſtand ſo mancher Straße Dresdens, durch die ich meinen Weg nahm. Die Mohrenſtraße im Schutt, ſo wie die Kreuzkirche mit ihrem geborſtenen Thurm druͤckten ſich mir tief ein und ſtehen noch wie ein dunkler Fleck in meiner Einbildungskraft. Von der Kuppel der Frauenkirche ſah ich dieſe leidigen Truͤmmern zwiſchen die ſchoͤne ſtaͤdti¬ ſche Ordnung hineingeſaͤt; da ruͤhmte mir der Kuͤſter die Kunſt des Baumeiſters, welcher Kirche und Kuppel auf einen ſo unerwuͤnſch¬ ten Fall ſchon eingerichtet und bombenfeſt er¬ baut hatte. Der gute Sacriſtan deutete mir alsdann auf Ruinen nach allen Seiten und ſagte bedenklich laconiſch: Das hat der Feind gethan!
268So kehrte ich nun zuletzt, obgleich ungern, nach Leipzig zuruͤck, und fand meine Freunde, die ſolche Abſchweifungen von mir nicht ge¬ wohnt waren, in großer Verwunderung, be¬ ſchaͤftigt mit allerley Conjecturen, was meine geheimnißvolle Reiſe wohl habe bedeuten ſol¬ len. Wenn ich ihnen darauf meine Geſchichte ganz ordentlich erzaͤhlte, erklaͤrten ſie mir ſol¬ che fuͤr ein Maͤhrchen und ſuchten ſcharfſinnig hinter das Raͤthſel zu kommen, das ich unter der Schuſterherberge zu verhuͤllen muthwillig genug ſey.
Haͤtten ſie mir aber ins Herz ſehen koͤn¬ nen, ſo wuͤrden ſie keinen Muthwillen darin entdeckt haben: denn die Wahrheit jenes al¬ ten Worts, Zuwachs an Kenntniß iſt Zu¬ wachs an Unruhe, hatte mich mit ganzer Ge¬ walt getroffen, und jemehr ich mich anſtreng¬ te, dasjenige was ich geſehn, zu ordnen und mir zuzueignen, je weniger gelang es mir; ich mußte mir zuletzt ein ſtilles Nachwirken269 gefallen laſſen. Das gewoͤhnliche Leben er¬ griff mich wieder, und ich fuͤhlte mich zuletzt ganz behaglich, wenn ein freundſchaftlicher Umgang, Zunahme an Kenntniſſen, die mir gemaͤß waren, und eine gewiſſe Uebung der Hand mich auf eine weniger bedeutende, aber meinen Kraͤften mehr proportionirte Weiſe beſchaͤftigten.
Eine ſehr angenehme und fuͤr mich heilſa¬ me Verbindung, zu der ich gelangte, war die mit dem Breitkopfiſchen Hauſe. Bernhard Chriſtoph Breitkopf, der eigentliche Stif¬ ter der Familie, der als ein armer Buchdru¬ ckergeſell nach Leipzig gekommen war, lebte noch und bewohnte den goldenen Baͤren, ein anſehnliches Gebaͤude auf dem neuen Neu¬ markt, mit Gottſched als Hausgenoſſen. Der Sohn, Joh. Gottlob Immanuel, war auch ſchon laͤngſt verheiratet und Vater meh¬ rerer Kinder. Einen Theil ihres anſehnlichen Vermoͤgens glaubten ſie nicht beſſer anwenden270 zu koͤnnen, als indem ſie ein großes neues Haus, zum ſilbernen Baͤren, dem erſten ge¬ genuͤber errichteten, welches hoͤher und weit¬ laͤuftiger als das Stammhaus ſelbſt angelegt ward. Gerade zu der Zeit des Baues ward ich mit der Familie bekannt. Der aͤlteſte Sohn mochte einige Jahre mehr haben als ich, ein wohlgeſtalteter junger Mann, der Mu¬ ſik ergeben und geuͤbt ſowohl den Fluͤgel als die Violine fertig zu behandeln. Der zweyte, eine treue gute Seele, gleichfalls muſicaliſch, belebte nicht weniger als der aͤlteſte die Con¬ certe, die oͤfters veranſtaltet wurden. Sie waren mir beyde, ſo wie auch Aeltern und Schweſtern, gewogen; ich ging ihnen beym Auf - und Ausbau, beym Moͤbliren und Ein¬ ziehen zur Hand, und begriff dadurch man¬ ches, was ſich auf ein ſolches Geſchaͤft be¬ zieht; auch hatte ich Gelegenheit, die Oeſeri¬ ſchen Lehren angewendet zu ſehn. In dem neuen Hauſe, das ich alſo entſtehen ſah, war ich oft zum Beſuch. Wir trieben manches271 gemeinſchaftlich, und der aͤlteſte componirte einige meiner Lieder, die, gedruckt, ſeinen Namen, aber nicht den meinigen fuͤhrten und wenig bekannt geworden ſind. Ich habe die beſſeren ausgezogen und zwiſchen meine uͤbrigen kleinen Poeſien eingeſchaltet. Der Vater hatte den Notendruck erfunden oder vervollkommnet. Von einer ſchoͤnen Biblio¬ thek, die ſich meiſtens auf den Urſprung der Buchdruckerey und ihr Wachsthum bezog, er¬ laubte er mir den Gebrauch, wodurch ich mir in dieſem Fache einige Kenntniß erwarb. In¬ gleichen fand ich daſelbſt gute Kupferwerke, die das Alterthum darſtellten, und ſetzte meine Studien auch von dieſer Seite fort, welche dadurch noch mehr gefoͤrdert wurden, daß eine anſehnliche Schwefelſammlung beym Umziehen in Unordnung gerathen war. Ich brachte ſie, ſo gut ich konnte, wieder zurechte und war genoͤthigt dabey mich im Lippert und Anderen umzuſehen. Einen Arzt, Doctor Reichel, gleichfalls einen Hausgenoſſen, conſultirte ich272 von Zeit zu Zeit, da ich mich wo nicht krank, doch unmuſtern fuͤhlte, und ſo fuͤhrten wir zu¬ ſammen ein ſtilles anmuthiges Leben.
Nun ſollte ich in dieſem Hauſe noch eine andere Art von Verbindung eingehen. Es zog naͤmlich in die Manſarde der Kupferſte¬ cher Stock. Er war aus Nuͤrnberg gebuͤr¬ tig, ein ſehr fleißiger und in ſeinen Arbeiten genauer und ordentlicher Mann. Auch Er ſtach, wie Geyſer, nach Oeſteriſchen Zeichnun¬ gen groͤßere und kleinere Platten, die zu Ro¬ manen und Gedichten immer mehr in Schwung kamen. Er radirte ſehr ſauber, ſo daß die Arbeit aus dem Aetzwaſſer beynahe vollendet herauskam, und mit dem Grabſtichel, den er ſehr gut fuͤhrte, nur weniges nachzuhelfen blieb. Er machte einen genauen Ueberſchlag, wie lange ihn eine Platte beſchaͤftigen wuͤrde, und nichts war vermoͤgend ihn von ſeiner Arbeit abzurufen, wenn er nicht ſein taͤglich vorgeſetztes Penſum vollbracht hatte. So ſaß273 er an einem breiten Arbeitstiſch am großen Giebelfenſter, in einer ſehr ordentlichen und reinlichen Stube, wo ihm Frau und zwey Toͤchter haͤusliche Geſellſchaft leiſteten. Von dieſen letzten iſt die eine gluͤcklich verheiratet und die andere eine vorzuͤgliche Kuͤnſtlerinn; ſie ſind lebenslaͤnglich meine Freundinnen ge¬ blieben. Ich theilte nun meine Zeit zwiſchen den obern und untern Stockwerken und atta¬ chirte mich ſehr an den Mann, der bey ſei¬ nem anhaltenden Fleiße einen herrlichen Hu¬ mor beſaß und die Gutmuͤthigkeit ſelbſt war.
Mich reizte die reinliche Technik dieſer Kunſtart, und ich geſellte mich zu ihm, um auch etwas dergleichen zu verfertigen. Meine Neigung hatte ſich wieder auf die Landſchaft gelenkt, die mir bey einſamen Spazirgaͤngen unterhaltend, an ſich erreichbar und in den Kunſtwerken faßlicher erſchien als die menſch¬ liche Figur, die mich abſchreckte. Ich radirte daher unter ſeiner Anleitung verſchiedene Land¬II. 18274ſchaften nach Thiele und Andern, die, ob¬ gleich von einer ungeuͤbten Hand verfertigt, doch einigen Effect machten und gut aufge¬ nommen wurden. Das Grundiren der Plat¬ ten, das Weißanſtreichen derſelben, das Ra¬ diren ſelbſt und zuletzt das Aetzen, gab man¬ nigfaltige Beſchaͤftigung, und ich war bald da¬ hin gelangt, daß ich meinem Meiſter in man¬ chen Dingen beyſtehen konnte. Mir fehlte nicht die beym Aetzen noͤthige Aufmerkſamkeit, und ſelten daß mir etwas mislang; aber ich hatte nicht Vorſicht genug, mich gegen die ſchaͤdlichen Duͤnſte zu verwahren, die ſich bey ſolcher Gelegenheit zu entwickeln pflegen, und ſie moͤgen wohl zu den Uebeln beygetragen haben, die mich nachher eine Zeit lang quaͤl¬ ten. Zwiſchen ſolchen Arbeiten wurde auch manchmal, damit ja alles verſucht wuͤrde, in Holz geſchnitten. Ich verfertigte verſchiedene kleine Druckerſtoͤcke, nach franzoͤſiſchen Mu¬ ſtern, und manches davon ward brauchbar gefunden.
275Man laſſe mich hier noch einiger Maͤn¬ ner gedenken, welche ſich in Leipzig aufhiel¬ ten, oder daſelbſt auf kurze Zeit verweilten. Kreisſteuereinnehmer Weiſſe, in ſeinen be¬ ſten Jahren, heiter, freundlich und zuvor¬ kommend, ward von uns geliebt und geſchaͤtzt. Zwar wollten wir ſeine Theaterſtuͤcke nicht durchaus fuͤr muſterhaft gelten laſſen, ließen uns aber doch davon hinreißen, und ſeine Opern, durch Hillern auf eine leichte Weiſe belebt, machten uns viel Vergnuͤgen. Schieb¬ ler, von Hamburg, betrat dieſelbige Bahn, und deſſen Liſuard und Dariolette ward von uns gleichfalls beguͤnſtigt. Eſchen¬ burg, ein ſchoͤner junger Mann, nur um weniges aͤlter als wir, zeichnete ſich unter den Studirenden vortheilhaft aus. Zachariaͤ ließ ſich's einige Wochen bey uns gefallen und ſpeiſte, durch ſeinen Bruder eingeleitet, mit uns an Einem Tiſche. Wir ſchaͤtzten es, wie billig, fuͤr eine Ehre, wechſelsweiſe durch ein Paar außerordentliche Gerichte, reichlicheren18 *276Nachtiſch und ausgeſuchteren Wein unſerm Gaſt zu willfahren, der, als ein großer, wohl¬ geſtalteter, behaglicher Mann, ſeine Neigung zu einer guten Tafel nicht verhehlte. Leſſing traf zu einer Zeit ein, wo wir ich weiß nicht was im Kopf hatten: es beliebte uns, ihm nirgends zu gefallen zu gehen, ja die Orte, wo er hinkam, zu vermeiden, wahrſcheinlich weil wir uns zu gut duͤnkten, von ferne zu ſtehen, und keinen Anſpruch machen konnten, in ein naͤheres Verhaͤltniß mit ihm zu gelan¬ gen. Dieſe augenblickliche Albernheit, die aber bey einer anmaßlichen und grillenhaften Ju¬ gend nichts ſeltenes iſt, beſtrafte ſich freylich in der Folge, indem ich dieſen ſo vorzuͤgli¬ chen und von mir aufs hoͤchſte geſchaͤtzten Mann niemals mit Augen geſehen.
Bey allen Bemuͤhungen jedoch, welche ſich auf Kunſt und Alterthum bezogen, hatte je¬ der ſtets Winkelmann vor Augen, deſſen Tuͤchtigkeit im Vaterlande mit Enthuſiasmus an¬277 erkannt wurde. Wir laſen fleißig ſeine Schrif¬ ten, und ſuchten uns die Umſtaͤnde bekannt zu machen, unter welchen er die erſten geſchrie¬ ben hatte. Wir fanden darin manche Anſich¬ ten, die ſich von Oeſern herzuſchreiben ſchie¬ nen, ja ſogar Scherz und Grillen nach ſeiner Art, und ließen nicht nach, bis wir uns ei¬ nen ungefaͤhren Begriff von der Gelegenheit gemacht hatten, bey welcher dieſe merkwuͤrdi¬ gen und doch mitunter ſo raͤthſelhaften Schrif¬ ten entſtanden waren; ob wir es gleich dabey nicht ſehr genau nahmen: denn die Jugend will lieber angeregt als unterrichtet ſeyn, und es war nicht das letzte Mal, daß ich eine bedeutende Bildungsſtufe ſibylliniſchen Blaͤt¬ tern verdanken ſollte.
Es war damals in der Litteratur eine ſchoͤne Zeit, wo vorzuͤglichen Menſchen noch mit Achtung begegnet wurde, obgleich die Kiotziſchen Haͤndel und Leſſings Controverſen ſchon darauf hindeuteten, daß dieſe Epoche278 ſich bald ſchließen werde. Winkelmann genoß einer ſolchen allgemeinen, unangetaſteten Ver¬ ehrung, und man weiß, wie empfindlich er war gegen irgend etwas Oeffentliches, das ſeiner wohl gefuͤhlten Wuͤrde nicht gemaͤß ſchien. Alle Zeitſchriften ſtimmten zu ſeinem Ruhme uͤberein, die beſſeren Reiſenden ka¬ men belehrt und entzuͤckt von ihm zuruͤck, und die neuen Anſichten, die er gab, verbreiteten ſich uͤber Wiſſenſchaft und Leben. Der Fuͤrſt von Deſſau hatte ſich zu einer gleichen Ach¬ tung emporgeſchwungen. Jung, wohl und edeldenkend, hatte er ſich auf ſeinen Reiſen und ſonſt recht wuͤnſchenswerth erwieſen. Win¬ kelmann war im hoͤchſten Grade von ihm entzuͤckt und belegte ihn, wo er ſeiner gedach¬ te, mit den ſchoͤnſten Beynamen. Die An¬ lage eines damals einzigen Parks, der Ge¬ ſchmack zur Baukunſt, welchen von Erd¬ mannsdorf durch ſeine Thaͤtigkeit unter¬ ſtuͤtzte, alles ſprach zu Gunſten eines Fuͤrſten, der, indem er durch ſein Beyſpiel den uͤbri¬279 gen vorleuchtete, Dienern und Unterthanen ein goldnes Zeitalter verſprach. Nun vernah¬ men wir jungen Leute mit Jubel, daß Win¬ kelmann aus Italien zuruͤckkehren, ſeinen fuͤrſtlichen Freund beſuchen, unterwegs bey Oeſern eintreten und alſo auch in unſern Ge¬ ſichtskreis kommen wuͤrde. Wir machten kei¬ nen Anſpruch mit ihm zu reden; aber wir hofften ihn zu ſehen, und weil man in ſol¬ chen Jahren einen jeden Anlaß gern in eine Luſtpartie verwandelt, ſo hatten wir ſchon Ritt und Fahrt nach Deſſau verabredet, wo wir in einer ſchoͤnen, durch Kunſt verherrlich¬ ten Gegend, in einem wohl adminiſtrirten und zugleich aͤußerlich geſchmuͤckten Lande, bald da bald dort aufzupaſſen dachten, um die uͤber uns ſo weit erhabenen Maͤnner mit ei¬ genen Augen umherwandeln zu ſehen. Oeſer war ſelbſt ganz exaltirt, wenn er daran nur dachte, und wie ein Donnerſchlag bey klarem Himmel fiel die Nachricht von Winkelmanns Tode zwiſchen uns nieder. Ich erinnere mich280 noch der Stelle, wo ich ſie zuerſt vernahm; es war in dem Hofe der Pleißenburg, nicht weit von der kleinen Pforte, durch die man zu Oeſer hinaufzuſteigen pflegte. Es kam mir ein Mitſchuͤler entgegen, ſagte mir, daß Oeſer nicht zu ſprechen ſey, und die Urſache warum. Dieſer ungeheuere Vorfall that eine ungeheuere Wirkung; es war ein allgemeines Jammern und Wehklagen, und ſein fruͤhzeitiger Tod ſchaͤrfte die Aufmerkſamkeit auf den Werth ſeines Lebens. Ja vielleicht waͤre die Wir¬ kung ſeiner Thaͤtigkeit, wenn er ſie auch bis in ein hoͤheres Alter fortgeſetzt haͤtte, nicht ſo groß geweſen, als ſie jetzt werden mußte, da er, wie mehrere außerordentliche Menſchen, auch noch durch ein ſeltſames und widerwaͤr¬ tiges Ende vom Schickſal ausgezeichnet worden.
Indem ich nun aber Winkelmanns Ab¬ ſcheiden grenzenlos beklagte, ſo dachte ich nicht, daß ich mich bald in dem Falle befinden wuͤr¬ de, fuͤr mein eignes Leben beſorgt zu ſeyn:281 denn unter allem dieſen hatten meine koͤrperli¬ chen Zuſtaͤnde nicht die beſte Wendung genom¬ men. Schon von Hauſe hatte ich einen gewiſ¬ ſen hypochondriſchen Zug mitgebracht, der ſich in dem neuen ſitzenden und ſchleichenden Leben eher verſtaͤrkte als verſchwaͤchte. Der Schmerz aus der Bruſt, den ich ſeit dem Auerſtaͤd¬ ter Unfall von Zeit zu Zeit empfand und der, nach einem Sturz mit dem Pferde, merklich ge¬ wachſen war, machte mich mismuthig. Durch eine ungluͤckliche Diaͤt verdarb ich mir die Kraͤf¬ te der Verdauung; das ſchwere Merſeburger Bier verduͤſterte mein Gehirn, der Caffee, der mir eine ganz eigne triſte Stimmung gab, beſonders mit Milch nach Tiſche genoſſen, pa¬ ralyſirte meine Eingeweide und ſchien ihre Functionen voͤllig aufzuheben, ſo daß ich des¬ halb große Beaͤngſtigungen empfand, ohne je¬ doch den Entſchluß zu einer vernuͤnftigeren Le¬ bensart faſſen zu koͤnnen. Meine Natur, von hinlaͤnglichen Kraͤften der Jugend unterſtuͤtzt, ſchwankte zwiſchen den Extremen von ausge¬282 laſſener Luſtigkeit und melancholiſchem Unbe¬ hagen. Ferner war damals die Epoche des Kaltbadens eingetreten, welches unbedingt em¬ pfohlen ward. Man ſollte auf hartem Lager ſchlafen, nur leicht zugedeckt, wodurch denn alle gewohnte Ausduͤnſtung unterdruͤckt wurde. Dieſe und andere Thorheiten, in Gefolg von misverſtandenen Anregungen Rouſſeau's, wuͤr¬ den uns, wie man verſprach, der Natur naͤher fuͤhren und uns aus dem Verderbniſſe der Sit¬ ten retten. Alles Obige nun, ohne Unterſchei¬ dung, mit unvernuͤnftigem Wechſel angewendet, empfanden mehrere als das Schaͤdlichſte, und ich verhetzte meinen gluͤcklichen Organismus der¬ geſtalt, daß die darin enthaltenen beſondern Syſteme zuletzt in eine Verſchwoͤrung und Revolution ausbrechen mußten, um das Gan¬ ze zu retten.
Eines Nachts wachte ich mit einem hefti¬ gen Blutſturz auf, und hatte noch ſo viel Kraft und Beſinnung, meinen Stubennachbar283 zu wecken. Doctor Reichel wurde gerufen, der mir aufs freundlichſte huͤlfreich ward, und ſo ſchwankte ich mehrere Tage zwiſchen Leben und Tod, und ſelbſt die Freude an einer er¬ folgenden Beſſerung wurde dadurch vergaͤllt, daß ſich, bey jener Eruption, zugleich ein Ge¬ ſchwulſt an der linken Seite des Halſes ge¬ bildet hatte, den man jetzt erſt, nach voruͤ¬ bergegangner Gefahr, zu bemerken Zeit fand. Geneſung iſt jedoch immer angenehm und er¬ freulich, wenn ſie auch langſam und kuͤmmer¬ lich von Statten geht, und da bey mir ſich die Natur geholfen, ſo ſchien ich auch nun¬ mehr ein anderer Menſch geworden zu ſeyn: denn ich hatte eine groͤßere Heiterkeit des Geiſtes gewonnen, als ich mir lange nicht ge¬ kannt, ich war froh mein Inneres frey zu fuͤh¬ len, wenn mich gleich aͤußerlich ein langwieri¬ ges Leiden bedrohte.
Was mich aber in dieſer Zeit beſonders aufrichtete, war zu ſehen, wie viel vorzuͤgliche284 Maͤnner mir unverdient ihre Neigung zuge¬ wendet hatten. Unverdient, ſage ich: denn es war keiner darunter, dem ich nicht, durch wi¬ derliche Launen, beſchwerlich geweſen waͤre, keiner, den ich nicht durch krankhaften Wider¬ ſinn mehr als einmal verletzt, ja den ich nicht, im Gefuͤhl meines eignen Unrechts, eine Zeit lang ſtoͤrriſch gemieden haͤtte. Dieß alles war vergeſſen, ſie behandelten mich aufs liebreichſte und ſuchten mich theils auf meinem Zimmer, theils ſobald ich es verlaſſen konnte, zu unter¬ halten und zu zerſtreuen. Sie fuhren mit mir aus, bewirtheten mich auf ihren Landhaͤu¬ ſern, und ich ſchien mich bald zu erholen.
Unter dieſen Freunden nenne ich wohl zu¬ foͤrderſt den damaligen Rathsherrn, nachheri¬ gen Burgemeiſter von Leipzig, Doctor Her¬ mann. Er war unter denen Tiſchgenoſſen, die ich durch Schloſſer kennen lernte, derjenige, zu dem ſich ein immer gleiches und dauern¬ des Verhaͤltniß bewaͤhrte. Man konnte ihn285 wohl zu den fleißigſten der academiſchen Mit¬ buͤrger rechnen. Er beſuchte ſeine Collegien auf das regelmaͤßigſte und ſein Privatfleiß blieb ſich immer gleich. Schritt vor Schritt, ohne die mindeſte Abweichung, ſah ich ihn den Doc¬ torgrad erreichen, dann ſich zur Aſſeſſur em¬ porheben, ohne daß ihm hieben etwas muͤh¬ ſam geſchienen, daß er im mindeſten etwas uͤbereilt oder verſpaͤtet haͤtte. Die Sanftheit ſeines Charakters zog mich an, ſeine lehrrei¬ che Unterhaltung hielt mich feſt; ja ich glaube wirklich, daß ich mich an ſeinem geregelten Fleiß vorzuͤglich deswegen erfreute, weil ich mir von einem Verdienſte, deſſen ich mich kei¬ neswegs ruͤhmen konnte, durch Anerkennung und Hochſchaͤtzung, wenigſtens einen Theil zu¬ zueignen meynte.
Eben ſo regelmaͤßig als in ſeinen Geſchaͤf¬ ten, war er in Ausuͤbung ſeiner Talente und im Genuß ſeiner Vergnuͤgungen. Er ſpielte den Fluͤgel mit großer Fertigkeit, zeichnete mit286 Gefuͤhl nach der Natur, und regte mich an das Gleiche zu thun; da ich denn in ſeiner Art auf grau Papier mit ſchwarzer und wei¬ ßer Kreide gar manches Weidigt der Pleiße und manchen lieblichen Winkel dieſer ſtillen Waſſer nachzubilden und dabey immer ſehn¬ ſuͤchtig meinen Grillen nachzuhaͤngen pflegte. Er wußte mein mitunter comiſches Weſen durch heitere Scherze zu erwiedern, und ich er¬ innere mich mancher vergnuͤgten Stunde, die wir zuſammen zubrachten, wenn er mich mit ſcherzhafter Feyerlichkeit zu einem Abendeſſen unter vier Augen einlud, wo wir mit eignem Anſtand, bey angezuͤndeten Wachslichtern, ei¬ nen ſogenannten Rathshaſen, der ihm als De¬ putat ſeiner Stelle in die Kuͤche gelaufen war, verzehrten, und mit gar manchen Spaͤßen, in Behriſchens Manier, das Eſſen zu wuͤrzen und den Geiſt des Weines zu erhoͤhen belieb¬ ten. Daß dieſer treffliche und noch jetzt in ſeinem anſehnlichen Amte immer fort wirkſa¬ me Mann mir bey meinem zwar geahndeten,287 aber in ſeiner ganzen Groͤße nicht vorausge¬ ſehenen Uebel den treulichſten Beyſtand leiſtete, mir jede freye Stunde ſchenkte, und durch Er¬ innerung an fruͤhere Heiterkeiten den truͤben Augenblick zu erhellen wußte, erkenne ich noch immer mit dem aufrichtigſten Dank, und freue mich nach ſo langer Zeit ihn oͤffentlich abſtat¬ ten zu koͤnnen.
Außer dieſem werthen Freunde nahm ſich Groͤning von Bremen beſonders meiner an. Ich hatte erſt kurz vorher ſeine Bekanntſchaft gemacht, und ſein Wohlwollen gegen mich ward ich erſt bey dem Unfalle gewahr; ich fuͤhlte den Werth dieſer Gunſt um ſo lebhafter, als Niemand leicht eine naͤhere Verbindung mit Leidenden ſucht. Er ſparte nichts, um mich zu ergetzen, mich aus dem Nachſinnen uͤber meinen Zuſtand herauszuziehen und mir Ge¬ neſung und geſunde Thaͤtigkeit in der naͤchſten Zeit vorzuzeigen und zu verſprechen. Wie oft habe ich mich gefreut, in dem Fortgange288 des Lebens zu hoͤren, wie ſich dieſer vorzuͤg¬ liche Mann, in den wichtigſten Geſchaͤften, ſeiner Vaterſtadt nuͤtzlich und heilbringend er¬ wieſen.
Hier war es auch, wo Freund Horn ſeine Liebe und Aufmerkſamkeit ununterbrochen wir¬ ken ließ. Das ganze Breitkopfiſche Haus, die Stockiſche Familie, manche Andere behan¬ delten mich als einen nahen Verwandten; und ſo wurde mir durch das Wohlwollen ſo vieler freundlicher Menſchen das Gefuͤhl meines Zu¬ ſtandes auf das zarteſte gelindert.
Umſtaͤndlicher muß ich jedoch hier eines Mannes erwaͤhnen, den ich erſt in dieſer Zeit kennen lernte und deſſen lehrreicher Umgang mich uͤber die traurige Lage, in der ich mich befand, dergeſtalt verblendete, daß ich ſie wirk¬ lich vergaß. Es war Langer, nachheriger Bibliothekar in Wolfenbuͤttel. Vorzuͤglich ge¬ lehrt und unterrichtet freute er ſich an meinem289 Heißhunger nach Kenntniſſen, der ſich nun bey der krankhaften Reizbarkeit voͤllig fieber¬ haft aͤußerte. Er ſuchte mich durch deutliche Ueberſichten zu beruhigen, und ich bin ſeinem, obwohl kurzen Umgange ſehr viel ſchuldig ge¬ worden, indem er mich auf mancherley Weiſe zu leiten verſtand und mich aufmerkſam mach¬ te, wohin ich mich gerade gegenwaͤrtig zu richten haͤtte. Ich fand mich dieſem bedeuten¬ den Manne um ſo mehr verpflichtet, als mein Umgang ihn einiger Gefahr ausſetzte: denn als er nach Behriſchen die Hofmeiſterſtelle bey dem jungen Grafen Lindenau erhielt, machte der Vater dem neuen Mentor ausdruͤcklich zur Bedingung, keinen Umgang mit mir zu pfle¬ gen. Neugierig, ein ſo gefaͤhrliches Subject kennen zu lernen, wußte er mich mehrmals am dritten Orte zu ſehen. Ich gewann bald ſeine Neigung, und er, kluͤger als Beh¬ riſch, holte mich bey Nachtszeit ab, wir gingen zuſammen ſpaziren, unterhielten uns von intereſſanten Dingen, und ich begleiteteII. 19290ihn endlich bis an die Thuͤre ſeiner Geliebten: denn auch dieſer aͤußerlich ſtreng ſcheinende, ernſte, wiſſenſchaftliche Mann war nicht frey von den Netzen eines ſehr liebenswuͤrdigen Frauenzimmers geblieben.
Die deutſche Litteratur und mit ihr mei¬ ne eignen poetiſchen Unternehmungen wa¬ ren mir ſchon ſeit einiger Zeit fremd gewor¬ den, und ich wendete mich wieder, wie es bey einem ſolchen autodidactiſchen Kreis¬ gange zu erfolgen pflegt, gegen die geliebten Alten, die noch immer, wie ferne blaue Ber¬ ge, deutlich in ihren Umriſſen und Maſſen, aber unkenntlich in ihren Theilen und inneren Beziehungen, den Horizont meiner geiſtigen Wuͤnſche begrenzten. Ich machte einen Tauſch mit Langer, wobey ich zugleich den Glaucus und Diomedes ſpielte; ich uͤberließ ihm ganze Koͤrbe deutſcher Dichter und Kritiker und er¬ hielt dagegen eine Anzahl griechiſcher Autoren,291 deren Benutzung mich, ſelbſt bey dem langſam¬ ſten Geneſen, erquicken ſollte.
Das Vertrauen, welches neue Freunde ſich einander ſchenken, pflegt ſich ſtufenweiſe zu entwickeln. Gemeinſame Beſchaͤftigungen und Liebhabereyen ſind das erſte, worin ſich eine wechſelſeitige Uebereinſtimmung hervor¬ thut; ſodann pflegt die Mittheilung ſich uͤber vergangene und gegenwaͤrtige Leidenſchaften, beſonders uͤber Liebeſabenteuer zu erſtrecken: es iſt aber noch ein Tieferes, das ſich auf¬ ſchließt, wenn das Verhaͤltniß ſich vollenden will, es ſind die religioſen Geſinnungen, die Angelegenheiten des Herzens, die auf das Unvergaͤngliche Bezug haben, und wel¬ che ſowohl den Grund einer Freundſchaft befe¬ ſtigen als ihren Gipfel zieren.
Die chriſtliche Religion ſchwankte zwiſchen ihrem eignen Hiſtoriſchpoſitiven und einem rei¬ nen Deismus, der, auf Sittlichkeit gegruͤndet. 19 *292wiederum die Moral begruͤnden ſollte. Die Verſchiedenheit der Charactere und Denkwei¬ ſen zeigte ſich hier in unendlichen Abſtufungen, beſonders da noch ein Hauptunterſchied mit einwirkte, indem die Frage entſtand, wie viel Antheil die Vernunft, wie viel die Empfin¬ dung an ſolchen Ueberzeugungen haben koͤnne und duͤrfe. Die lebhafteſten und geiſtreich¬ ſten Maͤnner erwieſen ſich in dieſem Falle als Schmetterlinge, welche ganz uneingedenk ih¬ res Raupenſtandes die Puppenhuͤlle wegwer¬ fen, in der ſie zu ihrer organiſchen Vollkom¬ menheit gediehen ſind. Andere, treuer und beſcheidner geſinnt, konnte man den Blumen vergleichen, die ob ſie ſich gleich zur ſchoͤn¬ ſten Bluͤthe entfalten, ſich doch von der Wur¬ zel, von dem Mutterſtamme nicht losreißen, ja vielmehr durch dieſen Familienzuſammen¬ hang die gewuͤnſchte Frucht erſt zur Reife bringen. Von dieſer letztern Art war Langer; denn obgleich Gelehrter und vorzuͤglicher Buͤ¬ cherkenner, ſo mochte er doch der Bibel vor293 anderen uͤberlieferten Schriften einen beſondern Vorzug goͤnnen und ſie als ein Document an¬ ſehen, woraus wir allein unſern ſittlichen und geiſtigen Stammbaum darthun koͤnnten. Er gehoͤrte unter diejenigen, denen ein unmittel¬ bares Verhaͤltniß zu dem großen Weltgotte nicht in den Sinn will; ihm war daher eine Vermittelung nothwendig, deren Analogon er uͤberall in irdiſchen und himmliſchen Dingen zu finden glaubte. Sein Vortrag, angenehm und conſequent, fand bey einem jungen Men¬ ſchen leicht Gehoͤr, der durch eine verdrießli¬ che Krankheit von irdiſchen Dingen abgeſon¬ dert, die Lebhaftigkeit ſeines Geiſtes gegen die himmliſchen zu wenden hoͤchſt erwuͤnſcht fand. Bibelfeſt wie ich war kam es bloß auf den Glauben an, das was ich menſchlicher Weiſe zeither geſchaͤtzt, nunmehr fuͤr goͤttlich zu er¬ klaͤren, welches mir um ſo leichter fiel, da ich die erſte Bekanntſchaft mit dieſem Buche als einem goͤttlichen gemacht hatte. Einem Dul¬ denden, zart, ja ſchwaͤchlich Fuͤhlenden war294 daher das Evangelium willkommen, und wenn auch Langer bey ſeinem Glauben zugleich ein ſehr verſtaͤndiger Mann war und feſt darauf hielt, daß man die Empfindung nicht ſolle vor¬ herrſchen, ſich nicht zur Schwaͤrmerey ſolle ver¬ leiten laſſen; ſo haͤtte ich doch nicht recht gewußt, mich ohne Gefuͤhl und Enthuſiasmus mit dem neuen Teſtament zu beſchaͤftigen.
Mit ſolchen Unterhaltungen verbrachten wir manche Zeit, und er gewann mich als einen ge¬ treuen und wohl vorbereiteten Proſelyten der¬ geſtalt lieb, daß er manche ſeiner Schoͤnen zu¬ gedachte Stunde mir aufzuopfern nicht an¬ ſtand, ja ſogar Gefahr lief verrathen und, wie Behriſch, von ſeinem Patron uͤbel ange¬ ſehen zu werden. Ich erwiederte ſeine Nei¬ gung auf das dankbarſte, und wenn dasjenige was er fuͤr mich that, zu jeder Zeit waͤre ſchaͤ¬ tzenswerth geweſen, ſo mußte es mir in mei¬ ner gegenwaͤrtigen Lage hoͤchſt verehrlich ſeyn.
295Da nun aber gewoͤhnlich, wenn unſer Seelenconcent am geiſtigſten geſtimmt iſt, die rohen, kreiſchenden Toͤne des Weltweſens am gewaltſamſten und ungeſtuͤmſten einfallen, und der in Geheim immer fortwaltende Contraſt, auf einmal hervortretend, nur deſto empfind¬ licher wirkt, ſo ſollte ich auch nicht aus der peripatetiſchen Schule meines Langers entlaſ¬ ſen werden, ohne vorher noch ein, fuͤr Leip¬ zig wenigſtens, ſeltſames Ereigniß erlebt zu haben, einen Tumult naͤmlich, den die Stu¬ direnden erregten und zwar aus folgendem Anlaſſe. Mit den Stadtſoldaten hatten ſich junge Leute veruneinigt, es war nicht ohne Thaͤtlichkeiten abgelaufen. Mehrere Studi¬ rende verbanden ſich, die zugefuͤgten Beleidi¬ gungen zu raͤchen. Die Soldaten widerſtan¬ den hartnaͤckig und der Vortheil war nicht auf der Seite der ſehr unzufriedenen acade¬ miſchen Buͤrger. Nun ward erzaͤhlt, es haͤt¬ ten angeſehene Perſonen wegen tapferen Wi¬ derſtands die Obſiegenden gelobt und belohnt.296 und hierdurch ward nun das jugendliche Ehr - und Rachgefuͤhl maͤchtig aufgefordert. Man er¬ zaͤhlte ſich oͤffentlich, daß den naͤchſten Abend Fenſter eingeworfen werden ſollten, und einige Freunde, welche mir die Nachricht brachten, daß es wirklich geſchehe, mußten mich hinfuͤh¬ ren, da Jugend und Menge wohl immer durch Gefahr und Tumult angezogen wird. Es begann wirklich ein ſeltſames Schauſpiel. Die uͤbrigens freye Straße war an der einen Seite von Menſchen beſetzt, welche ganz ru¬ hig, ohne Laͤrm und Bewegung abwarteten, was geſchehen ſolle. Auf der leeren Bahn gingen etwa ein Duzzend junge Leute einzeln hin und wieder, in anſcheinender groͤßter Ge¬ laſſenheit; ſobald ſie aber gegen das bezeich¬ nete Haus kamen, ſo warfen ſie im Vorbey¬ gehn Steine nach den Fenſtern, und dieß zu wiederholten malen hin und wiederkehrend, ſo lange die Scheiben noch klirren wollten. Eben ſo ruhig, wie dieſes vorging, verlief ſich auch297 endlich alles und die Sache hatte keine weite¬ ren Folgen.
Mit einem ſo gellenden Nachklange acade¬ miſcher Großthaten fuhr ich im September 1768 von Leipzig ab, in dem bequemen Wa¬ gen eines Hauderers und in Geſellſchaft eini¬ ger mir bekannten zuverlaͤſſigen Perſonen. In der Gegend von Auerſtaͤdt gedachte ich jenes fruͤheren Unfalls; aber ich konnte nicht ahn¬ den, was viele Jahre nachher mich von dort¬ her mit groͤßerer Gefahr bedrohen wuͤrde, eben ſo wenig, als in Gotha, wo wir uns das Schloß zeigen ließen, ich, in dem großen mit Stuckaturbildern verzierten Saale, den¬ ken durfte, daß mir an eben der Stelle ſo viel Gnaͤdiges und Liebes widerfahren ſollte.
Jemehr ich mich nun meiner Vaterſtadt naͤherte, deſtomehr rief ich mir, bedenklicher Weiſe, zuruͤck, in welchen Zuſtaͤnden, Aus¬ ſichten, Hoffnungen ich von Hauſe weggegan¬298 gen, und es war ein ſehr niederſchlagendes Gefuͤhl, daß ich nunmehr gleichſam als ein Schiffbruͤchiger zuruͤckkehrte. Da ich mir je¬ doch nicht ſonderlich viel vorzuwerfen hatte, ſo wußte ich mich ziemlich zu beruhigen; indeſ¬ ſen war der Willkommen nicht ohne Bewe¬ gung. Die große Lebhaftigkeit meiner Natur durch Krankheit gereizt und erhoͤht, verur¬ ſachte eine leidenſchaftliche Scene. Ich mochte uͤbler ausſehen als ich ſelbſt wußte: denn ich hatte lange keinen Spiegel zurath gezogen; und wer wird ſich denn nicht ſelbſt gewohnt: genug man kam ſtillſchweigend uͤberein, man¬ cherley Mittheilungen erſt nach und nach zu bewirken und vor allen Dingen ſowohl koͤr¬ perlich als geiſtig einige Beruhigung eintreten zu laſſen.
Meine Schweſter geſellte ſich gleich zu mir, und wie vorlaͤufig aus ihren Briefen, ſo konnte ich nunmehr umſtaͤndlicher und genauer die Verhaͤltniſſe und die Lage der Familie ver¬299 nehmen. Mein Vater hatte nach meiner Ab¬ reiſe ſeine ganze didactiſche Liebhaberey der Schweſter zugewendet, und ihr bey einem voͤl¬ lig geſchloſſenen, durch den Frieden geſicherten und ſelbſt von Miethleuten geraͤumten Hauſe faſt alle Mittel abgeſchnitten, ſich auswaͤrts einigermaßen umzuthun und zu erholen. Das Franzoͤſiſche, Italiaͤniſche, Engliſche mußte ſie abwechſelnd treiben und bearbeiten, wobey er ſie einen großen Theil des Tags ſich an dem Claviere zu uͤben noͤthigte. Das Schreiben durfte auch nicht verſaͤumt werden, und ich hatte wohl ſchon fruͤher gemerkt, daß er ihre Correſpondenz mit mir dirigirt und ſeine Leh¬ ren durch ihre Feder mir hatte zukommen laſ¬ ſen. Meine Schweſter war und blieb ein indefinibels Weſen, das ſonderbarſte Gemiſch von Strenge und Weichheit, von Eigenſinn und Nachgiebigkeit, welche Eigenſchaften bald vereint, bald durch Willen und Neigung ver¬ einzelt wirkten. So hatte ſie auf eine Weiſe, die mir fuͤrchterlich erſchien, ihre Haͤrte gegen300 den Vater gewendet, dem ſie nicht verzieh, daß er ihr dieſe drey Jahre lang ſo manche unſchuldige Freude verhindert oder vergaͤllt, und von deſſen guten und trefflichen Eigen¬ ſchaften ſie auch ganz und gar keine anerken¬ nen wollte. Sie that alles was er befahl oder anordnete, aber auf die unlieblichſte Weiſe von der Welt. Sie that es in hergebrachter Ordnung, aber auch nichts druͤber und nichts drunter. Aus Liebe oder Gefaͤlligkeit bequemte ſie ſich zu nichts, ſo daß dieß eins der erſten Dinge war, uͤber die ſich die Mutter in ei¬ nem geheimen Geſpraͤch mit mir beklagte. Da nun aber meine Schweſter ſo liebebeduͤrftig war, als irgend ein menſchliches Weſen; ſo wendete ſie nun ihre Neigung ganz auf mich. Ihre Sorge fuͤr meine Pflege und Unterhal¬ tung verſchlang alle ihre Zeit; ihre Geſpielin¬ nen, die von ihr beherrſcht wurden, ohne daß ſie daran dachte, mußten gleichfalls allerley ausſinnen, um mir gefaͤllig und troſtreich zu ſeyn. Sie war erfinderiſch mich zu erheitern,301 und entwickelte ſogar einige Keime von poſ¬ ſenhaftem Humor, den ich an ihr nie gekannt hatte, und der ihr ſehr gut ließ. Es ent¬ ſpann ſich bald unter uns eine Cotterie-Spra¬ che, wodurch wir vor allen Menſchen reden konnten, ohne daß ſie uns verſtanden, und ſie bediente ſich dieſes Rothwelſches oͤfters mit vieler Keckheit in Gegenwart der Aeltern.
Perſoͤnlich war mein Vater in ziemlicher Behaglichkeit. Er befand ſich wohl, brachte einen großen Theil des Tags mit dem Unter¬ richte meiner Schweſter zu, ſchrieb an ſeiner Reiſebeſchreibung, und ſtimmte ſeine Laute laͤnger als er darauf ſpielte. Er verhehlte da¬ bey ſo gut er konnte den Verdruß, anſtatt eines ruͤſtigen, thaͤtigen Sohns, der nun pro¬ moviren und jene vorgeſchriebene Lebensbahn durchlaufen ſollte, einen Kraͤnkling zu finden, der noch mehr an der Seele als am Koͤrper zu leiden ſchien. Er verbarg nicht ſeinen Wunſch, daß man ſich mit der Cur expediren302 moͤge; beſonders aber mußte man ſich mit hypochondriſchen Aeußerungen in ſeiner Ge¬ genwart in Acht nehmen, weil er alsdann heftig und bitter werden konnte.
Meine Mutter, von Natur ſehr lebhaft und heiter, brachte unter dieſen Umſtaͤnden ſehr langweilige Tage zu. Die kleine Haus¬ haltung war bald beſorgt. Das Gemuͤth der guten, innerlich niemals unbeſchaͤftigten Frau wollte auch einiges Intereſſe finden, und das naͤchſte begegnete ihr in der Religion, das ſie um ſo lieber ergriff, als ihre vorzuͤglichſten Freundinnen gebildete und herzliche Gottesver¬ ehrerinnen waren. Unter dieſen ſtand Fraͤu¬ lein von Klettenberg obenan. Es iſt die¬ ſelbe, aus deren Unterhaltungen und Briefen die Bekenntniſſe der ſchoͤnen Seele entſtanden ſind, die man in Wilhelm Meiſter eingeſchal¬ tet findet. Sie war zart gebaut, von mitt¬ lerer Groͤße; ein herzliches natuͤrliches Betra¬ gen war durch Welt - und Hofart noch gefaͤl¬303 liger geworden. Ihr ſehr netter Anzug erin¬ nerte an die Kleidung Herrnhutiſcher Frauen. Heiterkeit und Gemuͤthsruhe verließen ſie nie¬ mals. Sie betrachtete ihre Krankheit als ei¬ nen nothwendigen Beſtandtheil ihres voruͤ¬ bergehenden irdiſchen Seyns; ſie litt mit der groͤßten Geduld, und in ſchmerzloſen Inter¬ vallen war ſie lebhaft und geſpraͤchig. Ihre liebſte, ja vielleicht einzige Unterhaltung wa¬ ren die ſittlichen Erfahrungen, die der Menſch, der ſich beobachtet, an ſich ſelbſt machen kann; woran ſich denn die religioſen Geſinnungen an¬ ſchloſſen, die auf eine ſehr anmuthige, ja ge¬ niale Weiſe bey ihr als natuͤrlich und uͤber¬ natuͤrlich in Betracht kamen. Mehr bedarf es kaum, um jene ausfuͤhrliche, in ihre Seele ver¬ faßte Schilderung den Freunden ſolcher Dar¬ ſtellungen wieder ins Gedaͤchtniß zu rufen. Bey dem ganz eignen Gange, den ſie von Jugend auf genommen hatte, und bey dem vor¬ nehmeren Stande, in dem ſie geboren und er¬ zogen war, bey der Lebhaftigkeit und Eigen¬304 heit ihres Geiſtes vertrug ſie ſich nicht zum Beſten mit den uͤbrigen Frauen, welche den gleichen Weg zum Heil eingeſchlagen hatten. Frau Griesbach, die vorzuͤglichſte, ſchien zu ſtreng, zu trocken, zu gelehrt; ſie wußte, dach¬ te, umfaßte mehr als die andern, die ſich mit der Entwickelung ihres Gefuͤhls begnuͤgten, und war ihnen daher laͤſtig, weil nicht jede einen ſo großen Apparat auf dem Wege zur Seligkeit mit ſich fuͤhren konnte noch wollte. Dafuͤr aber wurden denn die meiſten frey¬ lich etwas eintoͤnig, indem ſie ſich an eine ge¬ wiſſe Terminologie hielten, die man mit jener der ſpaͤteren Empfindſamen wohl verglichen haͤtte. Fraͤulein von Klettenberg fuͤhrte ihren Weg zwiſchen beyden Extremen durch, und ſchien ſich mit einiger Selbſtgefaͤlligkeit in dem Bilde des Grafen Zinzendorf zu ſpiegeln, deſſen Geſinnungen und Wirkungen Zeugniß einer hoͤheren Geburt und eines vornehmeren Standes ablegten. Nun fand ſie an mir was ſie bedurfte, ein junges lebhaftes, auch nach305 einem unbekannten Heile ſtrebendes Weſen, das, ob es ſich gleich nicht fuͤr außerordentlich ſuͤnd¬ haft halten konnte, ſich doch in keinem behag¬ lichen Zuſtand befand, und weder an Leib noch Seele ganz geſund war. Sie erfreute ſich an dem, was mir die Natur gegeben, ſo wie an manchem, was ich mir erworben hatte. Und wenn ſie mir viele Vorzuͤge zugeſtand, ſo war es keineswegs demuͤthigend fuͤr ſie: denn erſt¬ lich gedachte ſie nicht mit einer Mannsperſon zu wetteifern, und zweytens glaubte ſie, in Abſicht auf religioͤſe Bildung ſehr viel vor mir voraus zu haben. Meine Unruhe, meine Un¬ geduld, mein Streben, mein Suchen, Forſchen Sinnen und Schwanken, legte ſie auf ihre Weiſe aus, und verhehlte mir ihre Ueberzeu¬ gung nicht, ſondern verſicherte mir unbewun¬ den, das alles komme daher, weil ich keinen verſoͤhnten Gott habe. Nun hatte ich von Jugend auf geglaubt, mit meinem Gott ganz gut zu ſtehen, ja ich bildete mir, nach man¬ cherley Erfahrungen, wohl ein, daß er gegenII. 20306mich ſogar im Reſt ſtehen koͤnne, und ich war kuͤhn genug zu glauben, daß ich ihm einiges zu verzeihen haͤtte. Dieſer Duͤnkel gruͤndete ſich auf meinen unendlich guten Willen, dem er, wie mir ſchien, beſſer haͤtte zu Huͤlfe kom¬ men ſollen. Es laͤßt ſich denken, wie oft ich und meine Freundinn hieruͤber in Streit ge¬ riethen, der ſich doch immer auf die freundlich¬ ſte Weiſe und manchmal, wie meine Unter¬ haltung mit dem alten Rector, damit endig¬ te: daß ich ein naͤrriſcher Burſche ſey, dem man manches nachſehen muͤſſe.
Da ich mit der Geſchwulſt am Halſe ſehr geplagt war, indem Arzt und Chirurgus dieſe Excrescens erſt vertreiben, hernach, wie ſie ſagten, zeitigen wollten, und ſie zuletzt aufzu¬ ſchneiden fuͤr gut befanden; ſo hatte ich eine geraume Zeit mehr an Unbequemlichkeit als an Schmerzen zu leiden, obgleich gegen das En¬ de der Heilung das immer fortdauernde Be¬ tupfen mit Hoͤllenſtein und andern aͤtzenden307 Dingen hoͤchſt verdrießliche Ausſichten auf je¬ den neuen Tag geben mußte. Arzt und Chi¬ rurgus gehoͤrten auch unter die abgeſonderten Frommen, obgleich beyde von hoͤchſt verſchie¬ denem Naturell waren. Der Chirurgus, ein ſchlanker wohlgebildeter Mann von leichter und geſchickter Hand, der, leider etwas hec¬ tiſch, ſeinen Zuſtand mit wahrhaft chriſtlicher Geduld ertrug, und ſich in ſeinem Berufe durch ſein Uebel nicht irre machen ließ. Der Arzt, ein unerklaͤrlicher, ſchlaublickender, freund¬ lich ſprechender, uͤbrigens abſtruſer Mann, der ſich in dem frommen Kreiſe ein ganz beſonderes Zutrauen erworben hatte. Thaͤtig und auf¬ merkſam war er den Kranken troͤſtlich; mehr aber als durch alles erweiterte er ſeine Kund¬ ſchaft durch die Gabe, einige geheimni߬ volle ſelbſtbereitete Arzneyen im Hintergrunde zu zeigen, von denen Niemand ſprechen durfte, weil bey uns den Aerzten die eigene Dispen¬ ſation ſtreng verboten war. Mit gewiſſen Pulvern, die irgend ein Digeſtiv ſeyn mochten,20 *308that er nicht ſo geheim; aber von jenem wich¬ tigen Salze, das nur in den groͤßten Gefah¬ ren angewendet werden durfte, war nur unter den Glaͤubigen die Rede, ob es gleich noch Niemand geſehen, oder die Wirkung davon geſpuͤrt hatte. Um den Glauben an die Moͤg¬ lichkeit eines ſolchen Univerſalmittels zu erregen und zu ſtaͤrken, hatte der Arzt ſeinen Patien¬ ten, wo er nur einige Empfaͤnglichkeit fand, gewiſſe myſtiſche chemiſch-alchemiſche Buͤcher empfohlen, und zu verſtehen gegeben, daß man durch eignes Studium derſelben gar wohl da¬ hin gelangen koͤnne, jenes Kleinod ſich ſelbſt zu erwerben; welches um ſo nothwendiger ſey, als die Bereitung ſich ſowohl aus phyſiſchen, als beſonders aus moraliſchen Gruͤnden nicht, wohl uͤberliefern laſſe, ja daß man, um jenes große Wert einzuſehen, hervorzubringen und zu benutzen, die Geheimniſſe der Natur im Zuſammenhang kennen muͤſſe, weil es nichts Einzelnes ſondern etwas Univerſelles ſey, und auch wohl gar unter verſchiedenen Formen und309 Geſtalten hervorgebracht werden koͤnne. Meine Freundinn hatte auf dieſe lockenden Worte ge¬ horcht. Das Heil des Koͤrpers war zu nahe mit dem Heil der Seele verwandt; und koͤnnte je eine groͤßere Wohlthat, eine groͤßere Barm¬ herzigkeit auch an Andern ausgeuͤbt werden, als wenn man ſich ein Mittel zu eigen mach¬ te, wodurch ſo manches Leiden geſtillt, ſo manche Gefahr abgelehnt werden koͤnnte? Sie hatte ſchon ins Geheim Wellings Opus mago-cabaliſticum ſtudirt, wobey ſie jedoch, weil der Autor das Licht was er mittheilt ſo¬ gleich wieder ſelbſt verfinſtert und aufhebt, ſich nach einem Freunde umſah, der ihr in dieſem Wechſel von Licht und Finſterniß Geſell¬ ſchaft leiſtete. Es bedurfte nur einer geringen Anregung, um auch mir dieſe Krankheit zu in¬ oculiren. Ich ſchaffte das Werk an, das, wie alle Schriften dieſer Art, ſeinen Stammbaum in gerader Linie bis zur Neuplatoniſchen Schule verfolgen konnte. Meine vorzuͤglichſte Bemuͤ¬ hung an dieſem Buche war, die dunklen Hin¬310 weiſungen, wo der Verfaſſer von einer Stel¬ le auf die andere deutet, und dadurch das was er verbirgt, zu enthuͤllen verſpricht, aufs ge¬ nauſte zu bemerken und am Rande die Sei¬ tenzahlen ſolcher ſich einander aufklaͤren ſol¬ lenden Stellen zu bezeichnen. Aber auch ſo blieb das Buch noch dunkel und unverſtaͤndlich genug; außer daß man ſich zuletzt in eine ge¬ wiſſe Terminologie hineinſtudirte, und indem man mit derſelben nach eignem Belieben ge¬ bahrte, etwas wo nicht zu verſtehen, doch we¬ nigſtens zu ſagen glaubte. Gedachtes Werk erwaͤhnt ſeiner Vorgaͤnger mit vielen Ehren, und wir wurden daher angeregt jene Quellen ſelbſt aufzuſuchen. Wir wendeten uns nun an die Werke des Theophraſtus Paracelſus und Baſilius Valentinus; nicht weni¬ ger an Helmont, Starkey und andere, deren mehr oder weniger auf Natur und Ein¬ bildung beruhende Lehren und Vorſchriften wir einzuſehen und zu befolgen ſuchten. Mir wollte beſonders die Aurea Catena Homeri ge¬311 fallen, wodurch die Natur, wenn auch vielleicht auf phantaſtiſche Weiſe, in einer ſchoͤnen Ver¬ knuͤpfung dargeſtellt wird; und ſo verwendeten wir theils einzeln, theils zuſammen, viele Zeit an dieſe Seltſamkeiten, und brachten die Aben¬ de eines langen Winters, waͤhrend deſſen ich die Stube huͤten mußte, ſehr vergnuͤgt zu, in¬ dem wir zu Dreyen, meine Mutter mit einge¬ ſchloſſen, uns an dieſen Geheimniſſen mehr ergetzten, als die Offenbarung derſelben haͤtte thun koͤnnen.
Mir war indeß noch eine ſehr harte Pruͤ¬ fung vorbereitet: denn eine geſtoͤrte und man duͤrfte wohl ſagen fuͤr gewiſſe Momente ver¬ nichtete Verdauung brachte ſolche Symptome hervor, daß ich unter großen Beaͤngſtigungen das Leben zu verlieren glaubte und keine ange¬ wandten Mittel weiter etwas fruchten wollten. In dieſen letzten Noͤthen zwang meine bedraͤng¬ te Mutter mit dem groͤßten Ungeſtuͤm den ver¬ legnen Arzt, mit ſeiner Univerſal-Medicin312 hervorzuruͤcken; nach langem Widerſtande eilte er tief in der Nacht nach Hauſe und kam mit einem Glaͤschen cryſtalliſirten trocknen Salzes zuruͤck, welches in Waſſer aufgeloͤſt von dem Patienten verſchluckt wurde und einen entſchie¬ den alcaliſchen Geſchmack hatte. Das Salz war kaum genommen, ſo zeigte ſich eine Er¬ leichterung des Zuſtandes, und von dem Au¬ genblick an nahm die Krankheit eine Wen¬ dung, die ſtufenweiſe zur Beſſerung fuͤhrte. Ich darf nicht ſagen, wie ſehr dieſes den Glauben an unſern Arzt, und den Fleiß uns eines ſolchen Schatzes theilhaftig zu machen, ſtaͤrkte und erhoͤhte.
Meine Freundinn, welche aͤltern - und ge¬ ſchwiſterlos in einem großen wohlgelegnen Hauſe wohnte, hatte ſchon fruͤher angefangen, ſich einen kleinen Windofen, Kolben und Re¬ torten von maͤßiger Groͤße anzuſchaffen, und operirte nach Wellingiſchen Fingerzeigen und nach bedeutenden Winken des Arztes und313 Meiſters, beſonders auf Eiſen, in welchem die heilſamſten Kraͤfte verborgen ſeyn ſollten, wenn man es aufzuſchließen wiſſe, und weil in allen uns bekannten Schriften das Luftſalz, welches herbeygezogen werden mußte, eine große Rolle ſpielte; ſo wurden zu dieſen Operationen Al¬ calien erfordert, welche indem ſie an der Luft zerfließen ſich mit jenen uͤberirdiſchen Dingen verbinden und zuletzt ein geheimnißvolles treff¬ liches Mittelsſalz per ſe hervorbringen ſollten.
Kaum war ich einigermaßen wieder herge¬ ſtellt und konnte mich, durch eine beſſere Jahrszeit beguͤnſtigt, wieder in meinem alten Giebelzimmer aufhalten; ſo fing auch ich an, mir einen kleinen Apparat zuzulegen; ein Windoͤfchen mit einem Sandbade war zube¬ reitet, ich lernte ſehr geſchwind mit einer brennenden Lunte die Glaskolben in Schalen verwandeln, in welchen die verſchiedenen Miſchungen abgeraucht werden ſollten. Nun wurden ſonderbare Ingredienzien des Makro¬314 kosmus und Mikrokosmus auf eine geheim¬ nißvolle wunderliche Weiſe behandelt, und vor allem ſuchte man Mittelſalze auf eine uner¬ hoͤrte Art hervorzubringen. Was mich aber eine ganze Weile am meiſten beſchaͤftigte, war der ſogenannte Liquor Silicum (Kieſelſaft), welcher entſteht, wenn man reine Quarzkieſel mit einem gehoͤrigen Antheil Alcali ſchmilzt, woraus ein durchſichtiges Glas entſpringt, wel¬ ches an der Luft zerſchmilzt und eine ſchoͤne klare Fluͤſſigkeit darſtellt. Wer dieſes ein¬ mal ſelbſt verfertigt und mit Augen geſehen hat, der wird diejenigen nicht tadeln, welche an eine jungfraͤuliche Erde und an die Moͤg¬ lichkeit glauben, auf und durch dieſelbe weiter zu wirken. Dieſen Kieſelſaft zu bereiten hat¬ te ich eine beſondere Fertigkeit erlangt: die ſchoͤnen weißen Kieſel, welche ſich im Main finden, gaben dazu ein vollkommenes Mate¬ rial; und an dem uͤbrigen ſo wie an Fleiß ließ ich es nicht fehlen: nur ermuͤdete ich doch zu¬ letzt, indem ich bemerken mußte, daß das Kie¬315 ſelhafte keineswegs mit dem Salze ſo innig ver¬ eint ſey, wie ich philoſophiſcherweiſe geglaubt hatte: denn es ſchied ſich gar leicht wieder aus, und die ſchoͤnſte mineraliſche Fluͤſſigkeit, die mir einigemal zu meiner groͤßten Verwun¬ derung in Form einer animaliſchen Gallert erſchienen war, ließ doch immer ein Pulver fallen, das ich fuͤr den feinſten Kieſelſtaub an¬ ſprechen mußte, der aber keineswegs irgend etwas Productives in ſeiner Natur ſpuͤren ließ, woran man haͤtte hoffen koͤnnen dieſe jung¬ fraͤuliche Erde in den Mutterſtand uͤbergehen zu ſehen.
So wunderlich und unzuſammenhaͤngend auch dieſe Operationen waren, ſo lernte ich doch dabey mancherley. Ich gab genau auf alle Cryſtalliſationen Acht, welche ſich zeigen mochten, und ward mit den aͤußern Formen mancher na¬ tuͤrlichen Dinge bekannt, und indem mir wohl bewußt war, daß man in der neueren Zeit die chemiſchen Gegenſtaͤnde methodiſcher auf¬316 gefuͤhrt; ſo wollte ich mir im Allgemeinen da¬ von einen Begriff machen, ob ich gleich als Halbadept vor den Apothekern und allen den¬ jenigen, die mit dem gemeinen Feuer operirten, ſehr wenig Reſpect hatte. Indeſſen zog mich doch das chemiſche Compendium des Boer¬ have gewaltig an, und verleitete mich meh¬ rere Schriften dieſes Mannes zu leſen, wo¬ durch ich denn, da ohnehin meine langwierige Krankheit mich dem Aerztlichen naͤher gebracht hatte, eine Anleitung fand, auch die Aphoris¬ men dieſes trefflichen Mannes zu ſtudiren, die ich mir gern in den Sinn und ins Gedaͤcht¬ niß einpraͤgen mochte.
Eine andere, etwas menſchlichere und bey weitem fuͤr die augenblickliche Bildung nuͤtzli¬ chere Beſchaͤftigung war, daß ich die Briefe durchſah, welche ich von Leipzig aus nach Hauſe geſchrieben hatte. Nichts giebt uns mehr Aufſchluß uͤber uns ſelbſt, als wenn wir das, was vor einigen Jahren von uns aus¬317 gegangen iſt, wieder vor uns ſehen, ſo daß wir uns ſelbſt nunmehr als Gegenſtand betrachten koͤnnen. Allein freylich war ich damals noch zu jung und die Epoche noch zu nahe, welche durch dieſe Papiere dargeſtellt ward. Ueber¬ haupt, da man in jungen Jahren einen ge¬ wiſſen ſelbſtgefaͤlligen Duͤnkel nicht leicht ab¬ legt; ſo aͤußert ſich dieſer beſonders darin, daß man ſich im kurz Vorhergegangenen ver¬ achtet: denn indem man freylich von Stufe zu Stufe gewahr wird, daß dasjenige was man an ſich ſo wie an Andern fuͤr gut und vortrefflich achtet, nicht Stich haͤlt; ſo glaubt man uͤber dieſe Verlegenheit am beſten hinaus¬ zukommen, wenn man das ſelbſt wegwirft, was man nicht retten kann. So ging es auch mir. Denn wie ich in Leipzig nach und nach meine kindlichen Bemuͤhungen geringſchaͤtzen lernte, ſo kam mir nun meine academiſche Laufbahn gleichfalls geringſchaͤtzig vor, und ich ſah nicht ein, daß ſie eben darum vielen Werth fuͤr mich haben muͤßte, weil ſie mich auf eine318 hoͤhere Stufe der Betrachtung und Einſicht gehoben. Der Vater hatte meine Briefe ſo¬ wohl an ihn als an meine Schweſter ſorg¬ faͤltig geſammlet und geheftet; ja er hatte ſie ſogar mit Aufmerkſamkeit corrigirt und ſowohl Schreib - als Sprachfehler verbeſſert.
Was mir zuerſt an dieſen Briefen auffiel, war das Aeußere; ich erſchrak vor einer un¬ glaublichen Vernachlaͤſſigung der Handſchrift, die ſich vom October 1765 bis in die Haͤlfte des folgenden Januars erſtreckte. Dann er¬ ſchien aber auf einmal in der Haͤlfte des Maͤr¬ zes eine ganz gefaßte, geordnete Hand, wie ich ſie ſonst bey Preisbewerbungen anzuwen¬ den pflegte. Meine Verwunderung daruͤber loͤſte ſich in Dank gegen den guten Gellert auf, welcher wie ich mich nun wohl erinnerte, uns bey den Aufſaͤtzen, die wir ihm einreichten, mit ſeinem herzlichen Tone zur heiligen Pflicht machte, unſere Hand ſo ſehr, ja mehr als unſern Styl, zu uͤben. Dieſes wiederholte er319 ſo oft, als ihm eine kritzliche, nachlaͤſſige Schrift zu Geſicht kam; wobey er mehrmals aͤußerte, daß er ſehr gern die ſchoͤne Hand¬ ſchrift ſeiner Schuͤler zum Hauptzweck ſeines Unterrichts machen moͤchte, um ſo mehr, weil er oft genug bemerkt habe, daß eine gute Hand einen guten Styl nach ſich ziehe.
Sonſt konnte ich auch bemerken, daß die franzoͤſiſchen und engliſchen Stellen meiner Briefe obgleich nicht fehlerlos, doch mit Leich¬ tigkeit und Freyheit geſchrieben waren. Dieſe Sprachen hatte ich auch in meiner Corre¬ ſpondenz mit Georg Schloſſer, der ſich noch immer in Treptow befand, zu uͤben fortgefah¬ ren, und war mit ihm in beſtaͤndigem Zu¬ ſammenhang geblieben; wodurch ich denn von manchen weltlichen Zuſtaͤnden (denn immer ging es ihm nicht ganz ſo wie er gehofft hat¬ te) unterrichtet wurde und zu ſeiner ernſten, edlen Denkweiſe immer mehr Zutrauen faßte.
320Eine andre Betrachtung, die mir beym Durchſehen jener Briefe nicht entgehen konnte, war daß der gute Vater mit der beſten Abſicht mir einen beſondern Schaden zugefuͤgt und mich zu der wunderlichen Lebensart veranlaßt hatte, in die ich zuletzt gerathen war. Er hatte mich naͤmlich wiederholt vom Chartenſpiel abge¬ mahnt; allein Frau Hofrath Boͤhme, ſo lange ſie lebte, wußte mich nach ihrer Weiſe zu beſtimmen, indem ſie die Abmahnung meines Vaters nur von dem Misbrauch er¬ klaͤrte. Da ich nun auch die Vortheile da¬ von in der Societaͤt einſah, ſo ließ ich mich gern durch ſie regieren. Ich hatte wohl den Spiel-Sinn, aber nicht den Spiel - Geiſt; ich lernte alle Spiele leicht und geſchwind, aber niemals konnte ich die gehoͤ¬ rige Aufmerkſamkeit einen ganzen Abend zu¬ ſammenhalten. Wenn ich alſo recht gut an¬ fing, ſo verfehlte ichs doch immer am Ende und machte mich und andre verlieren; wodurch ich denn jederzeit verdrießlich entweder zur321 Abendtafel, oder aus der Geſellſchaft ging. Kaum war Madame Boͤhme verſchieden, die mich ohnedem waͤhrend ihrer langwierigen Krankheit nicht mehr zum Spiel angehalten hatte; ſo gewann die Lehre meines Vaters Kraft, ich entſchuldigte mich erſt von den Parthieen, und weil man nun nichts mehr mit mir anzufangen wußte, ſo ward ich mir noch mehr als andern laͤſtig, ſchlug die Ein¬ ladungen aus, die denn ſparſamer erfolgten, und zuletzt ganz aufhoͤrten. Das Spiel, das jungen Leuten, beſonders denen die einen practiſchen Sinn haben und ſich in der Welt umthun wollen, ſehr zu empfehlen iſt, konnte freylich bey mir niemals zur Liebhaberey wer¬ den, weil ich nicht weiter kam, ich mochte ſpielen ſo lange ich wollte. Haͤtte mir Je¬ mand einen allgemeinen Blick daruͤber gegeben und mich bemerken laſſen, wie hier gewiſſe Zeichen und mehr oder weniger Zufall eine Art von Stoff bilden, woran ſich Urtheils¬ kraft und Thaͤtigkeit uͤben koͤnnen; hatte manll. 21322mich mehrere Spiele auf einmal einſehen laſ¬ ſen, ſo haͤtte ich mich wohl eher damit befreun¬ den koͤnnen. Bey alle dem war ich durch jene Betrachtungen in der Epoche, von welcher ich hier ſpreche, zu der Ueberzeugung gekommen, daß man die geſellſchaftlichen Spiele nicht mei¬ den, ſondern ſich eher nach einer Gewandtheit in denſelben beſtreben muͤſſe. Die Zeit iſt un¬ endlich lang und ein jeder Tag ein Gefaͤß, in das ſich ſehr viel eingießen laͤßt, wenn man es wirklich ausfuͤllen will.
So vielfach war ich in meiner Einſamkeit beſchaͤftigt, um ſomehr als die verſchiedenen Geiſter der mancherley Liebhabereyen, denen ich mich nach und nach gewidmet, Gelegenheit hatten wieder hervorzutreten. So kam es auch wieder ans Zeichnen, und da ich immer unmittelbar an der Natur oder vielmehr am Wirklichen arbeiten wollte; ſo bildete ich mein Zimmer nach, mit ſeinen Moͤbeln, die Perſo¬ nen die ſich darin befanden, und wenn mich das nicht mehr unterhielt, ſtellte ich allerley323 Stadtgeſchichten dar, die man ſich eben erzaͤhl¬ te und woran man Intereſſe fand. Das al¬ les war nicht ohne Character und nicht ohne einen gewiſſen Geſchmack, aber leider fehlte den Figuren die Proportion und das eigentliche Mark, ſo wie denn auch die Ausfuͤhrung hoͤchſt nebuliſtiſch war. Mein Vater, dem dieſe Dinge Vergnuͤgen zu machen fortfuhren, woll¬ te ſie deutlicher haben; auch ſollte alles fertig und abgeſchloſſen ſeyn. Er ließ ſie daher auf¬ ziehen und mit Linien einfaſſen; ja der Maler Morgenſtern, ſein Hauskuͤnſtler — es iſt derſelbe, der ſich ſpaͤter durch Kir¬ chenproſpecte bekannt, ja beruͤhmt gemacht — mußte die perſpektiviſchen Linien der Zimmer und Raͤume hineinziehen, die ſich denn frey¬ lich ziemlich grell gegen die nebuliſtiſch ange¬ deuteten Figuren verhielten. Er glaubte mich dadurch immer mehr zur Beſtimmtheit zu noͤ¬ thigen, und um ihm gefaͤllig zu ſeyn zeichne¬ te ich mancherley Stillleben, wo ich, indem das Wirkliche als Muſter vor mir ſtand, deut¬21 *324licher und entſchiedener arbeiten konnte. End¬ lich fiel mir auch wieder einmal das Radiren ein. Ich hatte mir eine ziemlich intereſſante Landſchaft componirt, und fuͤhlte mich ſehr gluͤcklich, als ich meine allen von Stock uͤber¬ lieferten Recepte vorſuchen, und mich jener vergnuͤglichen Zeiten bey der Arbeit erinnern konnte. Ich aͤtzte die Platte bald und ließ mir Probeabdruͤcke machen. Ungluͤcklicher¬ weiſe war die Compoſition ohne Licht und Schatten, und ich quaͤlte mich nun beydes hineinzubringen; weil es mir aber nicht ganz deutlich war, worauf es ankam, ſo konnte ich nicht fertig werden. Ich befand mich zu der Zeit nach meiner Art ganz wohl; allein in die¬ ſen Tagen befiel mich ein Uebel, das mich noch nie gequaͤlt hatte. Die Kehle naͤmlich war mir ganz wund geworden, und beſonders das was man den Zapfen nennt, ſehr entzuͤn¬ det; ich konnte nur mit großen Schmerzen etwas ſchlingen, und die Aerzte wußten nicht was ſie daraus machen ſollten. Man quaͤlte325 mich mit Gurgeln und Pinſeln, und konnte mich von dieſer Noth nicht befreyen. End¬ lich ward ich wie durch eine Eingebung ge¬ wahr, daß ich bey dem Aetzen nicht vorſichtig genug geweſen und daß ich, indem ich es oͤf¬ ters und leidenſchaftlich wiederholt, mir die¬ ſes Uebel zugezogen und ſolches immer wie¬ der erneuert und vermehrt. Den Aerzten war die Sache plauſibel und gar bald gewiß, indem ich das Radiren und Aetzen um ſo mehr unterließ, als der Verſuch keineswegs gut ausgefallen war, und ich eher Urſache hatte meine Arbeit zu verbergen als vorzu¬ zeigen, woruͤber ich mich um ſo leichter troͤ¬ ſtete, als ich mich von dem beſchwerlichen Uebel ſehr bald befreyt ſah. Dabey konnte ich mich doch der Betrachtung nicht enthalten, daß wohl die aͤhnlichen Beſchaͤftigungen in Leipzig manches moͤchten zu jenen Uebeln bey¬ getragen haben, an denen ich ſoviel gelit¬ ten hatte. Freylich iſt es eine langweilige und mitunter traurige Sache, zu ſehr auf326 uns ſelbſt und was uns ſchadet und nutzt Acht zu haben; allein es iſt keine Frage, daß bey der wunderlichen Idioſyncraſie der menſch¬ lichen Natur von der einen, und bey der un¬ endlichen Verſchiedenheit der Lebensart und Genuͤſſe von der andern, es noch ein Wun¬ der iſt, daß das menſchliche Geſchlecht ſich nicht ſchon lange aufgerieben hat. Es ſcheint die menſchliche Natur eine eigne Art von Zaͤ¬ higkeit und Vielſeitigkeit zu beſitzen, da ſie alles was an ſie herankommt oder was ſie in ſich aufnimmt uͤberwindet, und wenn ſie ſich es nicht aſſimiliren kann, wenigſtens gleichguͤl¬ tig macht. Freylich muß ſie bey einem gro¬ ßen Exceß trotz alles Widerſtandes den Ele¬ menten nachgeben, wie uns ſo viele endemiſche Krankheiten und die Wirkungen des Brannt¬ weins uͤberzeugen. Koͤnnten wir, ohne aͤngſt¬ lich zu werden, auf uns Acht geben, was in unſerem complicirten buͤrgerlichen und geſelli¬ gen Leben auf uns guͤnſtig oder unguͤnſtig wirkt, und moͤchten wir das was uns als327 Genuß freylich behaglich iſt, um der uͤblen Folgen willen unterlaſſen: ſo wuͤrden wir gar manche Unbequemlichkeit, die uns bey ſonſt ge¬ ſunden Conſtitutionen oft mehr als eine Krank¬ heit ſelbſt quaͤlt, leicht zu entfernen wiſſen. Leider iſt es im Diaͤtetiſchen wie im Morali¬ ſchen: wir koͤnnen einen Fehler nicht eher ein¬ ſehen, als bis wir ihn los ſind; wobey denn nichts gewonnen wird, weil der naͤchſte Fehler dem vorhergehenden nicht aͤhnlich ſieht und alſo unter derſelben Form nicht erkannt wer¬ den kann.
Beym Durchleſen jener Briefe, die von Leipzig aus an meine Schweſter geſchrieben wa¬ ren, konnte mir unter andern auch dieſe Be¬ merkung nicht entgehen, daß ich mich ſogleich bey dem erſten academiſchen Unterricht fuͤr ſehr klug und weiſe gehalten, indem ich mich, ſobald ich etwas gelernt, dem Profeſſor ſub¬ ſtituirte und daher auch auf der Stelle didac¬ tiſch ward. Mir war es luſtig genug zu ſe¬ hen, wie ich dasjenige was Gellert uns im328 Collegium uͤberliefert oder gerathen, ſogleich wieder gegen meine Schweſter gewendet, ohne einzuſehen, daß ſowohl im Leben als im Leſen etwas dem Juͤngling gemaͤß ſeyn koͤnne, ohne ſich fuͤr ein Frauenzimmer zu ſchicken; und wir ſcherzten gemeinſchaftlich uͤber dieſe Nachaͤffe¬ rey. Auch waren mir die Gedichte, die ich in Leipzig verfaßt hatte, ſchon zu gering, und ſie ſchienen mir kalt, trocken und in Abſicht deſſen was die Zuſtaͤnde des menſchlichen Her¬ zens oder Geiſtes ausdruͤcken ſollte, allzu oberflaͤchlich. Dieſes bewog mich, als ich nun abermals das vaͤterliche Haus verlaſſen und auf eine zweyte Academie ziehen ſollte, wie¬ der ein großes Haupt-Autodafé uͤber meine Arbeiten zu verhaͤngen. Mehrere angefangene Stuͤcke, deren einige bis zum dritten oder vier¬ ten Act, andere aber nur bis zu vollendeter Expoſition gelangt waren, nebſt vielen andern Gedichten, Briefen und Papieren wurden dem Feuer uͤbergeben, und kaum blieb etwas ver¬ ſchont außer dem Manuſcript von Behriſch,329 die Laune des Verliebten und die Mitſchuldi¬ gen, an welchem letzteren ich immer fort mit beſonderer Liebe beſſerte, und da das Stuͤck ſchon fertig war, die Expoſition nochmals durcharbeitete, um ſie zugleich bewegter und klarer zu machen. Leſſing hatte in den zwey erſten Acten der Minna ein unerreichbares Muſter aufgeſtellt, wie ein Drama zu exponi¬ ren ſey, und es war mir nichts angelegner, als in ſeinen Sinn und ſeine Abſichten einzu¬ dringen.
Umſtaͤndlich genug iſt zwar ſchon die Er¬ zaͤhlung von dem was mich in dieſen Tagen beruͤhrt, aufgeregt und beſchaͤftigt; allein ich muß demohngeachtet wieder zu jenem Intereſſe zuruͤckkehren, das mir die uͤberſinnlichen Din¬ ge eingefloͤßt hatten, von denen ich ein fuͤr allemal, in ſofern es moͤglich waͤre, mir ei¬ nen Begriff zu bilden unternahm.
Einen großen Einfluß erfuhr ich dabey von einem wichtigen Buche, das mir in die Haͤnde gerieth, es war Arnolds Kirchen¬330 und Ketzergeſchichte. Dieſer Mann iſt nicht ein bloß reflectirender Hiſtoriker, ſondern zu¬ gleich fromm und fuͤhlend. Seine Geſinnun¬ gen ſtimmten ſehr zu den meinigen, und was mich an ſeinem Werk beſonders ergetzte war, daß ich von manchen Ketzern, die man mir bisher als toll oder gottlos vorgeſtellt hatte, einen vortheilhaftern Begriff erhielt. Der Geiſt des Widerſpruchs und die Luſt zum Paradoxen ſteckt in uns allen. Ich ſtudirte fleißig die verſchiedenen Meynungen, und da ich oft genug hatte ſagen hoͤren, jeder Menſch habe am Ende doch ſeine eigene Religion; ſo kam mir nichts natuͤrlicher vor, als daß ich mir auch meine eigene bilden koͤnne, und die¬ ſes that ich mit vieler Behaglichkeit. Der neue Platonismus lag zum Grunde; das Her¬ metiſche, Myſtiſche, Cabbaliſtiſche gab auch ſeinen Beytrag her, und ſo erbaute ich mir eine Welt, die ſeltſam genug ausſah.
Ich mochte mir wohl eine Gottheit vor¬ ſtellen, die ſich von Ewigkeit her ſelbſt produ¬331 cirt; da ſich aber Production nicht ohne Mannigfaltigkeit denken laͤßt, ſo mußte ſie ſich nothwendig ſogleich als ein Zweytes erſcheinen, welches wir unter dem Namen des Sohns an¬ erkennen; dieſe beyden mußten nun den Act des Hervorbringens fortſetzen, und erſchienen ſich ſelbſt wieder im Dritten, welches nun eben ſo beſtehend lebendig und ewig als das Gan¬ ze war. Hiermit war jedoch der Kreis der Gottheit geſchloſſen, und es waͤre ihnen ſelbſt nicht moͤglich geweſen, abermals ein ihnen voͤl¬ lig Gleiches hervorzubringen. Da jedoch der Productionstrieb immer fortging, ſo erſchufen ſie ein Viertes, das aber ſchon in ſich einen Widerſpruch hegte, indem es, wie ſie, unbe¬ dingt und doch zugleich in ihnen enthalten und durch ſie begraͤnzt ſeyn ſollte. Dieſes war nun Lucifer, welchem von nun an die ganze Schoͤpfungskraft uͤbertragen war, und von dem alles uͤbrige Seyn ausgehen ſollte. Er be¬ wies ſogleich ſeine unendliche Thaͤtigkeit, indem er die ſaͤmmtlichen Engel erſchuf, alle wieder332 nach ſeinem Gleichniß, unbedingt, aber in ihm enthalten und durch ihn begraͤnzt. Um¬ geben von einer ſolchen Glorie vergaß er ſei¬ nes hoͤhern Urſprungs und glaubte ihn in ſich ſelbſt zu finden, und aus dieſem erſten Un¬ dank entſprang alles was uns nicht mit dem Sinne und den Abſichten der Gottheit uͤber¬ einzuſtimmen ſcheint. Jemehr er ſich nun in ſich ſelbſt concentrirte, je unwohler mußte es ihm werden, ſo wie allen den Geiſtern, denen er die ſuͤße Erhebung zu ihrem Urſprung ver¬ kuͤmmerte. Und ſo ereignete ſich das, was uns unter der Form des Abfalls der Engel bezeichnet wird. Ein Theil derſelben concen¬ trirte ſich mit Lueifer, der andere wendete ſich wieder gegen ſeinen Urſprung. Aus dieſer Concentration der ganzen Schoͤpfung, denn ſie war von Lucifer ausgegangen und mußte ihm folgen, entſprang nun alles das, was wir un¬ ter der Geſtalt der Materie gewahr werden, was wir uns als ſchwer, feſt und finſter vor¬ ſtellen, welches aber, indem es wenn auch333 nicht unmittelbar, doch durch Filiation vom goͤttlichen Weſen herſtammt, eben ſo unbe¬ dingt maͤchtig und ewig iſt, als der Vater und die Großaͤltern. Da nun das ganze Un¬ heil, wenn wir es ſo nennen duͤrfen, bloß durch die einſeitige Richtung Lucifers ent¬ ſtand; ſo fehlte freylich dieſer Schoͤpfung die beſſere Haͤlfte: denn alles was durch Con¬ centration gewonnen wird, beſaß ſie, aber es fehlte ihr alles was durch Expanſion allein bewirkt werden kann; und ſo haͤtte die ſaͤmmt¬ liche Schoͤpfung durch immerwaͤhrende Con¬ centration ſich ſelbſt aufreiben, ſich mit ihrem Vater Lucifer vernichten und alle ihre An¬ ſpruͤche an eine gleiche Ewigkeit mit der Gottheit verlieren koͤnnen. Dieſem Zuſtand ſahen die Elohim eine Weile zu, und ſie hat¬ ten die Wahl jene Aeonen abzuwarten, in welchen das Feld wieder rein geworden und ihnen Raum zu einer neuen Schoͤpfung ge¬ blieben waͤre, oder ob ſie in das Gegenwaͤr¬ tige eingreifen und dem Mangel nach ihrer334 Unendlichkeit zu Huͤlfe kommen wollten. Sie erwaͤhlten nun das letztere, und ſupplirten durch ihren bloßen Willen in einem Augen¬ blick den ganzen Mangel, den der Erfolg von Lucifers Beginnen an ſich trug. Sie gaben dem unendlichen Seyn die Faͤhigkeit ſich auszu¬ dehnen, ſich gegen ſie zu bewegen; der eigent¬ liche Puls des Lebens war wieder hergeſtellt und Lucifer ſelbſt konnte ſich dieſer Einwir¬ kung nicht entziehen. Dieſes iſt die Epoche, wo dasjenige hervortrat, was wir als Licht kennen, und wo dasjenige begann, was wir mit dem Worte Schoͤpfung zu bezeichnen pflegen. So ſehr ſich auch nun dieſe durch die immer fortwirkende Lebenskraft der Elo¬ him ſtufenweiſe vermannigfaltigte; ſo fehlte es doch noch an einem Weſen, welches die ur¬ ſpruͤngliche Verbindung mit der Gottheit wie¬ derherzuſtellen geſchickt waͤre, und ſo wurde der Menſch hervorgebracht, der in allem der Gottheit aͤhnlich, ja gleich ſeyn ſollte, ſich aber freylich dadurch abermals in dem Falle335 Lucifers befand, zugleich unbedingt und be¬ ſchraͤnkt zu ſeyn, und da dieſer Widerſpruch durch alle Categorieen des Daſeyns ſich an ihm manifeſtiren und ein vollkommenes Bewußſeyn ſo wie ein entſchiedener Wille ſeine Zuſtaͤnde begleiten ſollte; ſo war voraus zu ſehen, daß er zugleich das Vollkommenſte und Unvoll¬ kommenſte, das gluͤcklichſte und ungluͤcklichſte Geſchoͤpf werden muͤſſe. Es waͤhrte nicht lan¬ ge, ſo ſpielte er auch voͤllig die Rolle des Lu¬ cifer. Die Abſonderung vom Wohlthaͤter iſt der eigentliche Undank, und ſo ward jener Abfall zum zweytenmal eminent, obgleich die ganze Schoͤpfung nichts iſt und nichts war, als ein Abfallen und Zuruͤckkehren zum Ur¬ ſpruͤnglichen.
Man ſieht leicht, wie hier die Erloͤſung nicht allein von Ewigkeit her beſchloſſen, ſon¬ dern als ewig nothwendig gedacht wird, ja daß ſie durch die ganze Zeit des Werdens und Seyns ſich immer wieder erneuern muß. Nichts iſt in dieſem Sinne natuͤrlicher, als336 daß die Gottheit ſelbſt die Geſtalt des Men¬ ſchen annimmt, die ſie ſich zu einer Huͤlle ſchon vorbereitet hatte, und daß ſie die Schick¬ ſale deſſelben auf kurze Zeit theilt, um durch dieſe Veraͤhnlichung das Erfreuliche zu erhoͤ¬ hen und das Schmerzliche zu mildern. Die Geſchichte aller Religionen und Philoſophieen lehrt uns, daß dieſe große, den Menſchen un¬ entbehrliche Wahrheit von verſchiedenen Na¬ tionen in verſchiedenen Zeiten auf mancher¬ ley Weiſe, ja in ſeltſamen Fabeln und Bil¬ dern der Beſchraͤnktheit gemaͤß uͤberliefert wor¬ den; genug wenn nur anerkannt wird, daß wir uns in einem Zuſtande befinden, der, wenn er uns auch niederzuziehen und zu druͤ¬ cken ſcheint, dennoch Gelegenheit giebt, ja zur Pflicht macht, uns zu erheben und die Ab¬ ſichten der Gottheit dadurch zu erfuͤllen, daß wir, indem wir von einer Seite uns zu ver¬ ſelbſten genoͤthiget ſind, von der andern in re¬ gelmaͤßigen Pulſen uns zu entſelbſtigen nicht verſaͤumen.
„ Das Herz wird ferner oͤfters zum Vor¬ theil verſchiedener, beſonders geſelliger und feiner Tugenden geruͤhrt, und die zarteren Empfindungen werden in ihm erregt und ent¬ wickelt werden. Beſonders werden ſich viele Zuͤge eindruͤcken, welche dem jungen Leſer ei¬ ne Einſicht in den verborgenern Winkel des menſchlichen Herzens und ſeiner Leidenſchaf¬ ten geben, eine Kenntniß, die mehr als alles Latein und Griechiſch werth iſt, und von welcher Ovid ein gar vortrefflicher Meiſter war. Aber dieß iſt es noch nicht, warum man eigentlich der Jugend die alten Dichter und alſo auch den Ovid in die Haͤnde giebt. Wir haben von dem guͤtigen Schoͤpfer eine Menge Seelenkraͤfte, welchen man ihre ge¬ hoͤrige Cultur, und zwar in den erſten Jah¬22 *340ren gleich, zu geben nicht verabſaͤumen muß, und die man doch weder mit Logik noch Me¬ taphyſit, Latein oder Griechiſch cultiviren kann: wir haben eine Einbildungskraft, der wir, wofern ſie ſich nicht der erſten beſten Vorſtellungen ſelbſt bemaͤchtigen ſoll, die ſchick¬ lichſten und ſchoͤnſten Bilder vorlegen und da¬ durch das Gemuͤth gewoͤhnen und uͤben muͤſ¬ ſen, das Schoͤne uͤberall und in der Natur ſelbſt, unter ſeinen beſtimmten, wahren und auch in den feineren Zuͤgen zu erkennen und zu lieben. Wir haben eine Menge Begriffe und allgemeine Kenntniſſe noͤthig, ſowohl fuͤr die Wiſſenſchaften als fuͤr das taͤgliche Leben, die ſich aus keinem Compendio erlernen laſ¬ ſen. Unſere Empfindungen, Neigungen, Lei¬ denſchaften ſollen mit Vortheil entwickelt und gereinigt werden. “
Dieſe bedeutende Stelle, welche ſich in der allgemeinen deutſchen Bibliothek vorfand, war nicht die einzige in ihrer Art. Von gar341 vielen Seiten her offenbarten ſich aͤhnliche Grundſaͤtze und gleiche Geſinnungen. Sie machten auf uns rege Juͤnglinge ſehr großen Eindruck, der um deſto entſchiedener wirkte, als er durch Wielands Beyſpiel noch verſtaͤrkt wurde: denn die Werke ſeiner zweyten glaͤn¬ zenden Epoche bewieſen klaͤrlich, daß er ſich nach ſolchen Maximen gebildet hatte. Und was konnten wir mehr verlangen? Die Phi¬ loſophie mit ihren abſtruſen Forderungen war beſeitigt, die alten Sprachen, deren Erler¬ nung mit ſo viel Muͤhſeligkeit verknuͤpft iſt, ſah man in den Hintergrund geruͤckt, die Compendien, uͤber deren Zulaͤnglichkeit uns Hamlet ſchon ein bedenkliches Wort ins Ohr geraunt hatte, wurden immer verdaͤchtiger, man wies uns auf die Betrachtung eines be¬ wegten Lebens hin, das wir ſo gerne fuͤhr¬ ten, und auf die Kenntniß der Leidenſchaften, die wir in unſerem Buſen theils empfanden, theils ahndeten, und die, wenn man ſie ſonſt geſcholten hatte, uns nunmehr als etwas342 Wichtiges und Wuͤrdiges vorkommen mußten, weil ſie der Hauptgegenſtand unſerer Studien ſeyn ſollten, und die Kenntniß derſelben als das vorzuͤglichſte Bildungsmittel unſerer Gei¬ ſteskraͤfte angeruͤhmt ward. Ueberdieß war eine ſolche Denkweiſe meiner eignen Ueberzeugung, ja meinem poetiſchen Thun und Treiben ganz angemeſſen. Ich fuͤgte mich daher ohne Wi¬ derſtreben, nachdem ich ſo manchen guten Vor¬ ſatz vereitelt, ſo manche redliche Hoffnung verſchwinden ſehn, in die Abſicht meines Va¬ ters, mich nach Straßburg zu ſchicken, wo man mir ein heiteres luſtiges Leben verſprach, indeſſen ich meine Studien weiter fortſetzen und am Ende promoviren ſollte.
Im Fruͤhjahre fuͤhlte ich meine Geſund¬ heit, noch mehr aber meinen jugendlichen Muth wieder hergeſtellt, und ſehnte mich aber¬ mals aus meinem vaͤterlichen Hauſe, obgleich aus ganz andern Urſachen als das erſte Mal: denn es waren mir dieſe huͤbſchen Zimmer343 und Raͤume, wo ich ſo viel gelitten hatte, unerfreulich geworden, und mit dem Vater ſelbſt konnte ſich kein angenehmes Verhaͤltniß anknuͤpfen; ich konnte ihm nicht ganz verzei¬ hen, daß er, bey den Recidiven meiner Krank¬ heit und bey dem langſamen Geneſen, mehr Ungeduld als billig ſehen laſſen, ja daß er, anſtatt durch Nachſicht mich zu troͤſten, ſich oft auf eine grauſame Weiſe uͤber das was in keines Menſchen Hand lag, geaͤußert, als wenn es nur vom Willen abhinge. Aber auch er ward auf mancherley Weiſe durch mich verletzt und beleidigt.
Denn junge Leute bringen von Academieen allgemeine Begriffe zuruͤck, welches zwar ganz recht und gut iſt; allein weil ſie ſich darin ſehr weiſe duͤnken, ſo legen ſie ſolche als Maßſtab an die vorkommenden Gegenſtaͤnde, welche denn meiſtens dabey verlieren muͤſſen. So hatte ich von der Baukunſt, der Einrich¬ tung und Verzierung der Haͤuſer eine allge¬344 meine Vorſtellung gewonnen, und wendete dieſe nun unvorſichtig im Geſpraͤch auf unſer eigen Haus an. Mein Vater hatte die gan¬ ze Einrichtung deſſelben erſonnen und den Bau mit großer Standhaftigkeit durchgefuͤhrt, und es ließ ſich auch, in ſofern es eine Wohnung fuͤr ihn und ſeine Familie aus¬ ſchließlich ſeyn ſollte, nichts dagegen einwen¬ den; auch waren in dieſem Sinne ſehr viele Haͤuſer von Frankfurt gebaut. Die Treppe ging frey hinauf und beruͤhrte große Vorſaͤle, die ſelbſt recht gut haͤtten Zimmer ſeyn koͤn¬ nen; wie wir denn auch die gute Jahreszeit immer daſelbſt zubrachten. Allein dieſes an¬ muthige heitere Daſeyn einer einzelnen Fami¬ lie, dieſe Communication von oben bis unten ward zur groͤßten Unbequemlichkeit, ſobald mehrere Partieen das Haus bewohnten, wie wir bey Gelegenheit der franzoͤſiſchen Einquar¬ tierung nur zu ſehr erfahren hatten. Denn jene aͤngſtliche Scene mit dem Koͤnigslieute¬ nant waͤre nicht vorgefallen, ja mein Vater345 haͤtte weniger von allen Unannehmlichkeiten em¬ pfunden, wenn unſere Treppe, nach der Leip¬ ziger Art, an die Seite gedraͤngt, und jedem Stockwerk eine abgeſchloſſene Thuͤre zugetheilt geweſen waͤre. Dieſe Bauart ruͤhmte ich einſt hoͤchlich und ſetzte ihre Vortheile heraus, zeig¬ te dem Vater die Moͤglichkeit, auch ſeine Treppe zu verlegen, woruͤber er in einen un¬ glaublichen Zorn gerieth, der um ſo heftiger war, als ich kurz vorher einige ſchnoͤrkelhafte Spiegelrahmen getadelt und gewiſſe chineſiſche Tapeten verworfen hatte. Es gab eine Sce¬ ne, welche, zwar wieder getuſcht und ausge¬ glichen, doch meine Reiſe nach dem ſchoͤnen Elſaß beſchleunigte, die ich denn auch, auf der neu eingerichteten bequemen Diligence, ohne Aufhalt und in kurzer Zeit vollbrachte.
Ich war im Wirthshaus zum Geiſt ab¬ geſtiegen und eilte ſogleich, das ſehnlichſte Verlangen zu befriedigen und mich dem Muͤn¬ ſter zu naͤhern, welcher durch Mitreiſende mir346 ſchon lange gezeigt und eine ganze Strecke her im Auge geblieben war. Als ich nun erſt durch die ſchmale Gaſſe dieſen Coloß ge¬ wahrte, ſodann aber auf dem freylich ſehr engen Platz allzunah vor ihm ſtand, machte derſelbe auf mich einen Eindruck ganz eigner Art, den ich aber auf der Stelle zu entwi¬ ckeln unfaͤhig, fuͤr dießmal nur dunkel mit mir nahm, indem ich das Gebaͤude eilig beſtieg, um nicht den ſchoͤnen Augenblick einer hohen und heitern Sonne zu verſaͤumen, welche mir das weite reiche Land auf einmal offenbaren ſollte.
Und ſo ſah ich denn von der Platt – Form die ſchoͤne Gegend vor mir, in welcher ich eine Zeit lang wohnen und hauſen durfte: die anſehnliche Stadt, die weitumherliegenden, mit herrlichen dichten Baͤumen beſetzten und durchflochtenen Auen, dieſen auffallenden Reich¬ thum der Vegetation, der dem Laufe des Rheins folgend, die Ufer, Inſeln und Wer¬347 der bezeichnet. Nicht weniger mit mannig¬ faltigem Gruͤn geſchmuͤckt iſt der von Suͤ¬ den herab ſich ziehende flache Grund, welchen die Iller bewaͤſſert; ſelbſt weſtwaͤrts, nach dem Gebirge zu, finden ſich manche Niede¬ rungen, die einen eben ſo reizenden Anblick von Wald und Wieſenwuchs gewaͤhren, ſo wie der noͤrdliche mehr huͤgelige Theil von unend¬ lichen kleinen Baͤchen durchſchnitten iſt, die uͤberall ein ſchnelles Wachsthum beguͤnſtigen. Denkt man ſich nun zwiſchen dieſen uͤppig ausgeſtreckten Matten, zwiſchen dieſen froͤh¬ lich ausgeſaͤeten Hainen alles zum Frucht¬ bau ſchickliche Land trefflich bearbeitet, gruͤ¬ nend und reifend, und die beſten und reich¬ ſten Stellen deſſelben durch Doͤrfer und Meyer¬ hoͤfe bezeichnet, und eine ſolche große und un¬ uͤberſehliche, wie ein neues Paradies fuͤr den Menſchen recht vorbereitete Flaͤche, naͤher und ferner von theils angebauten, theils waldbe¬ wachſenen Bergen begrenzt; ſo wird man das Entzuͤcken begreifen, mit dem ich mein Schick¬348 ſal ſegnete, das mir fuͤr einige Zeit einen ſo ſchoͤnen Wohnplatz beſtimmt hatte.
Ein ſolcher friſcher Anblick in ein neues Land, in welchem wir uns eine Zeit lang auf¬ halten ſollen, hat noch das Eigne, ſo ange¬ nehme als ahndungsvolle, daß das Ganze wie eine unbeſchriebene Tafel vor uns liegt. Noch ſind keine Leiden und Freuden, die ſich auf uns beziehen, darauf verzeichnet; dieſe hei¬ tre, bunte, belebte Flaͤche iſt noch ſtumm fuͤr uns; das Auge haftet nur an den Gegen¬ ſtaͤnden in ſofern ſie an und fuͤr ſich bedeu¬ tend ſind, und noch haben weder Neigung noch Leidenſchaft dieſe oder jene Stelle beſon¬ ders herauszuheben; aber eine Ahndung deſ¬ ſen was kommen wird, beunruhigt ſchon das junge Herz, und ein unbefriedigtes Beduͤrf¬ niß fordert im Stillen dasjenige, was kom¬ men ſoll und mag, und welches auf alle Faͤlle, es ſey nun Wohl oder Weh, unmerk¬349 lich den Character der Gegend, in der wir uns befinden, annehmen wird.
Herabgeſtiegen von der Hoͤhe verweilte ich noch eine Zeit lang vor dem Angeſicht des ehrwuͤrdigen Gebaͤudes; aber was ich mir weder das erſte Mal, noch in der naͤchſten Zeit ganz deutlich machen konnte, war, daß ich dieſes Wunderwerk als ein Ungeheures ge¬ wahrte, das mich haͤtte erſchrecken muͤſſen, wenn es mir nicht zugleich als ein Geregeltes faßlich und als ein Ausgearbeitetes ſogar an¬ genehm vorgekommen waͤre. Ich beſchaͤftigte mich doch keineswegs dieſem Widerſpruch nachzudenken, ſondern ließ ein ſo erſtaunli¬ ches Denkmal durch ſeine Gegenwart ruhig auf mich fortwirken.
Ich bezog ein kleines aber wohlgelegenes und anmuthiges Quartier an der Sommer¬ ſeite des Fiſchmarkts, einer ſchoͤnen langen Straße, wo immerwaͤhrende Bewegung je¬350 dem unbeſchaͤftigten Augenblick zu Huͤlfe kam. Dann gab ich meine Empfehlungsſchreiben ab, und fand unter meinen Goͤnnern einen Han¬ delsmann, der mit ſeiner Familie jenen from¬ men, mir genugſam bekannten Geſinnungen ergeben war, ob er ſich gleich, was den aͤußeren Gottesdienſt betrifft, nicht von der Kirche getrennt hatte. Er war dabey ein ver¬ ſtaͤndiger Mann und keineswegs kopfhaͤngeriſch in ſeinem Thun und Laſſen. Die Tiſchgeſell¬ ſchaft, die man mir und der man mich em¬ pfahl, war ſehr angenehm und unterhaltend. Ein Paar alte Jungfrauen hatten dieſe Pen¬ ſion ſchon lange mit Ordnung und gutem Er¬ folg gefuͤhrt; es konnten ohngefaͤhr zehen Perſonen ſeyn, aͤltere und juͤngere. Von die¬ ſen letztern iſt mir am gegenwaͤrtigſten einer, genannt Meyer, von Lindau gebuͤrtig. Man haͤtte ihn, ſeiner Geſtalt und ſeinem Geſicht nach, fuͤr den ſchoͤnſten Menſchen halten koͤn¬ nen, wenn er nicht zugleich etwas Schlottri¬ ges in ſeinem ganzen Weſen gehabt haͤtte. 351Eben ſo wurden ſeine herrlichen Naturgaben durch einen unglaublichen Leichtſinn, und ſein koͤſtliches Gemuͤth durch eine unbaͤndige Lie¬ derlichkeit verunſtaltet. Er hatte ein mehr rundes als ovales, offnes, frohes Geſicht; die Werkzeuge der Sinne, Augen, Naſe, Mund, Ohren, konnte man reich nennen, ſie zeugten von einer entſchiedenen Fuͤlle, ohne uͤbertrie¬ ben groß zu ſeyn. Der Mund beſonders war allerliebſt durch uͤbergeſchlagene Lippen, und ſeiner ganzen Phyſiognomie gab es einen eige¬ nen Ausdruck, daß er ein Raͤzel war, d.h. daß ſeine Augenbrauen uͤber der Naſe zuſam¬ menſtießen, welches bey einem ſchoͤnen Ge¬ ſichte immer einen angenehmen Ausdruck von Sinnlichkeit hervorbringt. Durch Jovialitaͤt, Aufrichtigkeit und Gutmuͤthigkeit machte er ſich bey allen Menſchen beliebt; ſein Gedaͤcht¬ niß war unglaublich, die Aufmerkſamkeit in den Collegien koſtete ihm nichts; er behielt alles was er hoͤrte und war geiſtreich genug, an allem einiges Intereſſe zu finden, und um352 ſo leichter, da er Medicin ſtudirte. Alle Ein¬ druͤcke blieben ihm lebhaft, und ſein Muth¬ wille in Wiederholung der Collegien und Nach¬ aͤffen der Profeſſoren ging manchmal ſo weit, daß wenn er drey verſchiedene Stunden des Morgens gehoͤrt hatte, er Mittags bey Tiſche paragraphenweis, ja manchmal noch abgebro¬ chener, die Profeſſoren mit einander ab¬ wechſeln ließ: welche buntſchaͤckige Vorleſung uns oft unterhielt, oft aber auch beſchwer¬ lich fiel.
Die uͤbrigen waren mehr oder weniger feine, geſetzte, ernſthafte Leute. Ein penſio¬ nirter Ludwigsritter befand ſich unter denſel¬ ben; doch waren Studirende die Ueberzahl, alle wirklich gut und wohlgeſinnt, nur mu߬ ten ſie ihr gewoͤhnliches Weindeputat nicht uͤberſchreiten. Daß dieſes nicht leicht geſchah, war die Sorge unſeres Praͤſidenten, eines Doctor Salzmann. Schon in den Sechzi¬ gen, unverheuratet, hatte er dieſen Mit¬353 tagstiſch ſeit vielen Jahren beſucht und in Ordnung und Anſehen erhalten. Er beſaß ein ſchoͤnes Vermoͤgen; in ſeinem Aeußeren hielt er ſich knapp und nett, ja er gehoͤrte zu denen, die immer in Schuh und Struͤm¬ pfen und den Hut unter dem Arm gehen. Den Hut aufzuſetzen war bey ihm eine au¬ ßerordentliche Handlung. Einen Regenſchirm fuͤhrte er gewoͤhnlich mit ſich, wohl eingedenk, daß die ſchoͤnſten Sommertage oft Gewitter und Streifſchauer uͤber das Land bringen.
Mit dieſem Manne beredete ich meinen Vorſatz, mich hier in Straßburg der Rechts¬ wiſſenſchaft ferner zu befleißigen, um bald moͤglichſt promoviren zu koͤnnen. Da er von allem genau unterrichtet war, ſo be¬ fragte ich ihn uͤber die Collegia, die ich zu hoͤren haͤtte, und was er allenfalls von der Sache denke? Darauf erwiederte er mir, daß es ſich in Straßburg nicht etwa wie auf deutſchen Academieen verhalte, wo man wohlII. 23354Juriſten im weiten und gelehrten Sinne zu bilden ſuche. Hier ſey alles, dem Verhaͤltniß gegen Frankreich gemaͤß, eigentlich auf das Practiſche gerichtet und nach dem Sinne der Franzoſen eingeleitet, welche gern bey dem Gegebnen verharren. Gewiſſe allgemeine Grundſaͤtze, gewiſſe Vorkenntniſſe ſuche man einem Jeden beyzubringen, man faſſe ſich ſo kurz wie moͤglich und uͤberliefere nur das Nothwendigſte. Er machte mich darauf mit einem Manne bekannt, zu dem man, als Repetenten, ein großes Vertrauen hegte; welches dieſer ſich auch bey mir ſehr bald zu erwerben wußte. Ich fing an mit ihm zur Einleitung uͤber Gegenſtaͤnde der Rechtswiſ¬ ſenſchaft zu ſprechen, und er wunderte ſich nicht wenig uͤber mein Schwadroniren: denn mehr als ich in meiner bisherigen Darſtel¬ lung aufzufuͤhren Gelegenheit nahm, hatte ich bey meinem Aufenthalte in Leipzig an Einſicht in die Rechtserforderniſſe gewonnen, obgleich mein ganzer Erwerb nur als ein all¬355 gemeiner encyclopaͤdiſcher Ueberblick, und nicht als eigentliche beſtimmte Kenntniß gelten konn¬ te. Das academiſche Leben, wenn wir uns auch bey demſelben des eigentlichen Fleißes nicht zu ruͤhmen haben, gewaͤhrt doch in je¬ der Art von Ausbildung unendliche Vortheile, weil wir ſtets von Menſchen umgeben ſind, welche die Wiſſenſchaft beſitzen oder ſuchen, ſo daß wir aus einer ſolchen Atmoſphaͤre, wenn auch unbewußt, immer einige Nah¬ rung ziehen.
Mein Repetent, nachdem er mit meinem Umhervagiren im Discurſe einige Zeit Ge¬ duld gehabt, machte mir zuletzt begreiflich, daß ich vor allen Dingen meine naͤchſte Ab¬ ſicht im Auge behalten muͤſſe, die naͤmlich, mich examiniren zu laſſen, zu promoviren und alsdann allenfalls in die Praxis uͤberzugehen. Um bey dem erſten ſtehen zu bleiben, ſagte er, ſo wird die Sache keineswegs im Weiten geſucht. Es wird nicht nachgefragt, wie und23 *356wo ein Geſetz entſprungen, was die innere oder aͤußere Veranlaſſung dazu gegeben; man unterſucht nicht, wie es ſich durch Zeit und Gewohnheit abgeaͤndert, ſo wenig als in wie¬ fern es ſich durch falſche Auslegung oder ver¬ kehrten Gerichtsbrauch vielleicht gar umge¬ wendet. In ſolchen Forſchungen bringen ge¬ lehrte Maͤnner ganz eigens ihr Leben zu; wir aber fragen nach dem was gegenwaͤrtig beſteht, dieß praͤgen wir unſerm Gedaͤchtniß feſt ein, daß es uns ſtets gegenwaͤrtig ſey, wenn wir uns deſſen zu Nutz und Schutz unſerr Clienten bedienen wollen. So ſtatten wir unſre jungen Leute fuͤrs naͤchſte Leben aus, und das Weitere findet ſich nach Ver¬ haͤltniß ihrer Talente und ihrer Thaͤtigkeit. Er uͤbergab mir hierauf ſeine Hefte, welche in Fragen und Antworten geſchrieben waren und woraus ich mich ſogleich ziemlich konnte examiniren laſſen, weil Hopps kleiner juriſti¬ ſcher Katechismus mir noch vollkommen im Gedaͤchtniß ſtand; das Uebrige ſupplirte ich357 mit einigem Fleiße und qualificirte mich, wi¬ der meinen Willen, auf die leichteſte Art zum Candidaten.
Da mir aber auf dieſem Wege jede eigne Thaͤtigkeit in dem Studium abgeſchnitten ward; denn ich hatte fuͤr nichts Poſitives ei¬ nen Sinn, ſondern wollte alles wo nicht ver¬ ſtaͤndig, doch hiſtoriſch erklaͤrt haben; ſo fand ich fuͤr meine Kraͤfte einen groͤßern Spiel¬ raum, den ich auf die wunderlichſte Weiſe benutzte, indem ich einem Intereſſe nachgab, das mir zufaͤllig von außen gebracht wurde.
Die meiſten meiner Tiſchgenoſſen waren Mediciner. Dieſe ſind, wie bekannt, die einzigen Studirenden, die ſich von ihrer Wiſ¬ ſenſchaft, ihrem Metier, auch außer den Lehr¬ ſtunden mit Lebhaftigkeit unterhalten. Es liegt dieſes in der Natur der Sache. Die Gegenſtaͤnde ihrer Bemuͤhungen ſind die ſinn¬ lichſten und zugleich die hoͤchſten, die einfach¬358 ſten und die complicirteſten. Die Medicin beſchaͤftigt den ganzen Menſchen, weil ſie ſich mit dem ganzen Menſchen beſchaͤftigt. Alles was der Juͤngling lernt, deutet ſogleich auf eine wichtige, zwar gefaͤhrliche, aber doch in manchem Sinn belohnende Praxis. Er wirft ſich daher mit Leidenſchaft auf das, was zu erkennen und zu thun iſt, theils weil es ihn an ſich intereſſirt, theils weil es ihm die frohe Ausſicht von Selbſtſtaͤndigkeit und Wohlha¬ ben eroͤffnet.
Bey Tiſche alſo hoͤrte ich nichts anderes als mediciniſche Geſpraͤche, eben wie vormals in der Penſion des Hofraths Ludwig. Auf Spazirgaͤngen und bey Luſtpartieen kam auch nicht viel anderes zur Sprache: denn meine Tiſchgeſellen, als gute Kumpane, waren mir auch Geſellen fuͤr die uͤbrige Zeit geworden, und an ſie ſchloſſen ſich jedesmal Gleichgeſinn¬ te und Gleiches Studirende von allen Seiten an. Die mediciniſche Facultaͤt glaͤnzte uͤber¬359 haupt vor den uͤbrigen, ſowohl in Abſicht auf die Beruͤhmtheit der Lehrer als die Fre¬ quenz der Lernenden, und ſo zog mich der Strom dahin, um ſo leichter, als ich von allen dieſen Dingen gerade ſo viel Kenntniß hatte, daß meine Wiſſensluſt bald vermehrt und angefeuert werden konnte. Beym Ein¬ tritt des zweyten Semeſters beſuchte ich da¬ her Chemie bey Spielmann, Anatomie bey Lobſtein, und nahm mir vor, recht fleißig zu ſeyn, weil ich bey unſerer Societaͤt, durch meine wunderlichen Vor - oder vielmehr Ueberkenntniſſe, ſchon einiges Anſehen und Zutrauen erworben hatte.
Doch es war an dieſer Zerſtreuung und Zerſtuͤckelung meiner Studien nicht genug, ſie ſollten abermals bedeutend geſtoͤrt werden: denn eine merkwuͤrdige Staatsbegebenheit ſetzte alles in Bewegung und verſchaffte uns eine ziemliche Reihe Feyertage. Marie An¬ toinette, Erzherzoginn von Oeſterreich, Koͤni¬360 ginn von Frankreich, ſollte auf ihrem Wege nach Paris uͤber Straßburg gehen. Die Feyerlichkeiten, durch welche das Volk auf¬ merkſam gemacht wird, daß es Große in der Welt giebt, wurden emſig und haͤufig vorbe¬ reitet, und mir beſonders war dabey das Ge¬ baͤude merkwuͤrdig, das zu ihrem Empfang und zur Uebergabe in die Haͤnde der Abge¬ ſandten ihres Gemahls, auf einer Rheininſel zwiſchen den beyden Bruͤcken aufgerichtet ſtand. Es war nur wenig uͤber den Boden erhoben, hatte in der Mitte einen großen Saal, an beyden Seiten kleinere, dann folgten andere Zimmer, die ſich noch etwas hinterwaͤrts er¬ ſtreckten; genug es haͤtte, dauerhafter gebaut, gar wohl fuͤr ein Luſthaus hoher Perſonen gelten koͤnnen. Was mich aber daran beſon¬ ders intereſſirte, und weswegen ich manches Buͤſel (ein kleines damals currentes Silber¬ ſtuͤck) nicht ſchonte, um mir von dem Pfoͤrt¬ ner einen wiederholten Eintritt zu verſchaffen, waren die gewirkten Tapeten, mit denen man361 das Ganze inwendig ausgeſchlagen hatte. Hier ſah ich zum erſten Mal ein Exemplar je¬ ner nach Raphaels Cartonen gewirkten Tep¬ piche, und dieſer Anblick war fuͤr mich von ganz entſchiedener Wirkung, indem ich das Rechte und Vollkommene, obgleich nur nach¬ gebildet, in Maſſe kennen lernte. Ich ging und kam und kam und ging, und konnte mich nicht ſatt ſehen; ja ein vergebliches Streben quaͤlte mich, weil ich das was mich ſo außerordentlich anſprach auch gern begrif¬ fen haͤtte. Hoͤchſt erfreulich und erquick¬ lich fand ich dieſe Nebenſaͤle, deſto ſchreck¬ licher aber den Hauptſaal. Dieſen hatte man mit viel groͤßern, glaͤnzendern, reichern und von gedraͤngten Zierraten umgebenen Haute¬ liſſen behaͤngt, die nach Gemaͤlden neuerer Franzoſen gewirkt waren.
Nun haͤtte ich mich wohl auch mit dieſer Manier befreundet, weil meine Empfindung wie mein Urtheil nicht leicht etwas voͤllig aus¬362 ſchloß; aber aͤußerſt empoͤrte mich der Gegen¬ ſtand. Dieſe Bilder enthielten die Geſchichte von Jaſon, Medea und Creuſa, und alſo ein Beiſpiel der ungluͤcklichſten Heirat. Zur Lin¬ ken des Throns ſah man die mit dem grau¬ ſamſten Tode ringende Braut, umgeben von jammervollen Theilnehmenden; zur Rechten entſetzte ſich der Vater uͤber die ermordeten Kinder zu ſeinen Fuͤßen, waͤhrend die Furie auf dem Drachenwagen in die Luft zog. Und damit ja dem Grauſamen und Abſcheulichen nicht auch ein Abgeſchmacktes fehle, ſo ringel¬ te ſich, hinter dem rothen Sammt des gold¬ geſtickten Thronruͤckens, rechter Hand der weiße Schweif jenes Zauberſtiers hervor, in¬ zwiſchen die feuerſpeyende Beſtie ſelbſt und der ſie bekaͤmpfende Jaſon von jener koſtba¬ ren Drapperie gaͤnzlich bedeckt waren.
Hier nun wurden alle Maximen, welche ich in Oeſers Schule mir zu eigen gemacht, in meinem Buſen rege. Daß man Chriſtum363 und die Apoſtel in die Seitenſaͤle eines Hoch¬ zeitgebaͤudes gebracht, war ſchon ohne Wahl und Einſicht geſchehen, und ohne Zweifel hat¬ te das Maß der Zimmer den koͤniglichen Tep¬ pichverwahrer geleitet; allein das verzieh ich gern, weil es mir zu ſo großem Vortheil ge¬ reichte: nun aber ein Misgriff wie der im großen Saale brachte mich ganz aus der Faſſung, und ich forderte, lebhaft und heftig, meine Gefaͤhrtin zu Zeugen auf eines ſolchen Verbrechens gegen Geſchmack und Gefuͤhl. — Was! rief ich aus, ohne mich um die Um¬ ſtehenden zu bekuͤmmern: iſt es erlaubt, einer jungen Koͤniginn das Beyſpiel der graͤßlich¬ ſten Hochzeit, die vielleicht jemals vollzogen worden, bey dem erſten Schritt in ihr Land ſo unbeſonnen vor's Auge zu bringen! Giebt es denn unter den franzoͤſiſchen Architecten, Decorateuren, Tapezirern gar keinen Men¬ ſchen, der begreift, daß Bilder etwas vorſtel¬ len, daß Bilder auf Sinn und Gefuͤhl wir¬ ken, daß ſie Eindruͤcke machen, daß ſie Ahn¬364 dungen erregen! Iſt es doch nicht anders, als haͤtte man dieſer ſchoͤnen und, wie man hoͤrt, lebensluſtigen Dame das abſcheulichſte Geſpenſt bis an die Grenze entgegen geſchickt. Ich weiß nicht was ich noch alles weiter ſag¬ te, genug meine Gefaͤhrten ſuchten mich zu beſchwichtigen und aus dem Hauſe zu ſchaffen, damit es nicht Verdruß ſetzen moͤchte. Als¬ dann verſicherten ſie mir, es waͤre nicht Je¬ dermanns Sache, Bedeutung in den Bildern zu ſuchen; ihnen wenigſtens waͤre nichts da¬ bey eingefallen, und auf dergleichen Grillen wuͤrde die ganze Population Straßburgs und der Gegend, wie ſie auch herbeyſtroͤmen ſoll¬ te, ſo wenig als die Koͤniginn ſelbſt mit ih¬ rem Hofe jemals gerathen.
Der ſchoͤnen und vornehmen, ſo heitren als impoſanten Miene dieſer jungen Dame er¬ innere ich mich noch recht wohl. Sie ſchien in ihrem Glaswagen, uns allen vollkommen ſichtbar, mit ihren Begleiterinnen in vertrau¬365 licher Unterhaltung uͤber die Menge, die ih¬ rem Zug entgegenſtroͤmte, zu ſcherzen. Abends zogen wir durch die Straßen, um die ver¬ ſchiedenen illuminirten Gebaͤude, beſonders aber den brennenden Gipfel des Muͤnſters zu ſehen, an dem wir, ſowohl in der Naͤhe als in der Ferne, unſere Augen nicht genugſam weiden konnten.
Die Koͤniginn verfolgte ihren Weg; das Landvolk verlief ſich, und die Stadt war bald ruhig wie vorher. Vor Ankunft der Koͤniginn hatte man die ganz vernuͤnftige Anordnung gemacht, daß ſich keine misgeſtalteten Perſo¬ nen, keine Kruͤppel und ekelhafte Kranke auf ihrem Wege zeigen ſollten. Man ſcherzte hieruͤber, und ich machte ein kleines franzoͤ¬ ſiſches Gedicht, worin ich die Ankunft Chriſti, welcher beſonders der Kranken und Lahmen wegen auf der Welt zu wandeln ſchien, und die Ankunft der Koͤniginn, welche dieſe Un¬ gluͤcklichen verſcheuchte, in Vergleichung brach¬366 te. Meine Freunde ließen es paſſiren; ein Franzoſe hingegen, der mit uns lebte, kriti¬ ſirte ſehr unbarmherzig Sprache und Versmaß, obgleich, wie es ſchien, nur allzugruͤndlich, und ich erinnere mich nicht, nachher je wieder ein franzoͤſiſches Gedicht gemacht zu haben.
Kaum erſcholl aus der Hauptſtadt die Nachricht von der gluͤcklichen Ankunft der Koͤni¬ ginn, als eine Schreckenſpoſt ihr folgte, bey dem feſtlichen Feuerwerke ſey, durch ein Po¬ lizeyverſehen, in einer von Baumaterialien verſperrten Straße eine Unzahl Menſchen mit Pferden und Wagen zu Grunde gegangen, und die Stadt bey dieſen Hochzeitfeyerlichkei¬ ten in Trauer und Leid verſetzt worden. Die Groͤße des Ungluͤcks ſuchte man ſowohl dem jungen koͤniglichen Paare als der Welt zu verbergen, indem man die umgekommenen Perſonen heimlich begrub, ſo daß viele Fami¬ lien nur durch das voͤllige Außenbleiben der Ihrigen uͤberzeugt wurden, daß auch dieſe367 von dem ſchrecklichen Ereigniß mit hingerafft ſeyen. Daß mir lebhaft bey dieſer Gelegen¬ heit jene graͤßlichen Bilder des Hauptſaales wieder vor die Seele traten, brauche ich kaum zu erwaͤhnen: denn jedem iſt bekannt, wie maͤchtig gewiſſe ſittliche Eindruͤcke ſind, wenn ſie ſich an ſinnlichen gleichſam verkoͤrpern.
Dieſe Begebenheit ſollte jedoch auch die Meinigen durch eine Poſſe, die ich mir er¬ laubte, in Angſt und Noth verſetzen. Unter uns jungen Leuten, die wir in Leipzig zuſam¬ men waren, hatte ſich auch nachher ein ge¬ wiſſer Kitzel erhalten, einander etwas aufzu¬ binden und wechſelsweiſe zu myſtificiren. In ſolchem frevelhaften Muthwillen ſchrieb ich an einen Freund in Frankfurt (es war derſelbe, der mein Gedicht an den Kuchenbaͤcker Hen¬ del amplificirt auf Medon angewendet und deſſen allgemeine Verbreitung verurſacht hat¬ te) einen Brief von Verſailles aus datirt, worin ich ihm meine gluͤckliche Ankunft da¬368 ſelbſt, meine Theilnahme an den Feyerlichkei¬ ten und was dergleichen mehr war vermelde¬ te, ihm zugleich aber das ſtrengſte Stillſchwei¬ gen gebot. Dabey muß ich noch bemerken, daß unſere kleine Leipziger Societaͤt von jenem Streich an, der uns ſo manchen Ver¬ druß gemacht, ſich angewoͤhnt hatte, ihn von Zeit zu Zeit mit Myſtificationen zu verfolgen, und das um ſo mehr, da er der drolligſte Menſch von der Welt war, und niemals lie¬ benswuͤrdiger als wenn er den Irrthum ent¬ deckte, in den man ihn vorſaͤtzlich hineinge¬ fuͤhrt hatte. Kurz darauf als ich dieſen Brief geſchrieben, machte ich eine kleine Reiſe und blieb wohl vierzehn Tage aus. Indeſſen war die Nachricht jenes Ungluͤcks nach Frankfurt gekommen; mein Freund glaubte mich in Pa¬ ris, und ſeine Neigung ließ ihn beſorgen, ich ſey in jenes Ungluͤck mit verwickelt. Er er¬ kundigte ſich bey meinen Aeltern und andern Perſonen, an die ich zu ſchreiben pflegte, ob keine Briefe angekommen, und weil eben je¬369 ne Reiſe mich verhinderte dergleichen abzulaſ¬ ſen, ſo fehlten ſie uͤberall. Er ging in gro¬ ßer Angſt umher und vertraute es zuletzt un¬ ſern naͤchſten Freunden, die ſich nun in glei¬ cher Sorge befanden. Gluͤcklicherweiſe gelang¬ te dieſe Vermuthung nicht eher zu meinen Aeltern, als bis ein Brief angekommen war, der meine Ruͤckkehr nach Straßburg meldete. Meine jungen Freunde waren zufrieden, mich lebendig zu wiſſen, blieben aber voͤllig uͤber¬ zeugt, daß ich in der Zwiſchenzeit in Paris geweſen. Die herzlichen Nachrichten von den Sorgen, die ſie um meinetwillen gehabt, ruͤhrten mich dermaßen, daß ich dergleichen Poſſen auf ewig verſchwor, mir aber doch leider in der Folge manchmal etwas Aehnli¬ ches habe zu Schulden kommen laſſen. Das wirkliche Leben verliert oft dergeſtalt ſeinen Glanz, daß man es manchmal mit dem Fir¬ niß der Fiction wieder auffriſchen muß.
II. 24370Jener gewaltige Hof - und Prachtſtrom war nunmehr voruͤbergeronnen und hatte mir keine andre Sehnſucht zuruͤckgelaſſen, als nach je¬ nen Raphael'ſchen Teppichen, welche ich gern jeden Tag und Stunde betrachtet, verehrt, ja angebetet haͤtte. Gluͤcklicherweiſe gelang es meinen leidenſchaftlichen Bemuͤhungen, meh¬ rere Perſonen von Bedeutung dafuͤr zu intereſſi¬ ren, ſo daß ſie erſt ſo ſpaͤt als moͤglich abgenom¬ men und eingepackt wurden. Wir uͤberließen uns nunmehr wieder unſerm ſtillen gemaͤchlichen Univerſitaͤts - und Geſellſchaftsgang, und bey dem letzten blieb Actuarius Salzmann, unſer Tiſchpraͤſident, der allgemeine Paͤdagog. Sein Verſtand, ſeine Nachgiebigkeit, ſeine Wuͤrde, die er bey allem Scherz und ſelbſt manchmal bey kleinen Ausſchweifungen, die er uns er¬ laubte, immer zu erhalten wußte, machten ihn der ganzen Geſellſchaft lieb und werth, und ich wuͤßte nur wenige Faͤlle, wo er ſein ernſtliches Misfallen bezeigt, oder mit Auto¬ ritaͤt zwiſchen kleine Haͤndel und Streitigkei¬371 ten eingetreten waͤre. Unter allen jedoch war ich derjenige, der ſich am meiſten an ihn an¬ ſchloß, und er nicht weniger geneigt ſich mit mir zu unterhalten, weil er mich mannigfal¬ tiger gebildet fand als die uͤbrigen und nicht ſo einſeitig im Urtheil. Auch richtete ich mich im Aeußern nach ihm, damit er mich fuͤr ſeinen Geſellen und Genoſſen oͤffentlich ohne Verlegenheit erklaͤren konnte: denn ob er gleich nur eine Stelle bekleidete, die von ge¬ ringem Einfluß zu ſeyn ſcheint, ſo verſah er ſie doch auf eine Weiſe, die ihm zur groͤßten Eh¬ re gereichte. Er war Actuarius beym Pupil¬ len-Collegium und hatte freylich daſelbſt, wie der perpetuirliche Secretair einer Academie, eigentlich das Heft in Haͤnden. Indem er nun dieſes Geſchaͤft viele Jahre lang auf das genauſte beſorgte, ſo gab es keine Familie von der erſten bis zu der letzten, die ihm nicht Dank ſchuldig geweſen waͤre; wie denn beynahe in der ganzen Staatsverwaltung kaum Je¬ mand mehr Segen oder Fluch aͤrndten kann,24 *372als einer der fuͤr die Waiſen ſorgt, oder ihr Haab und Gut vergeudet, oder vergeuden laͤßt.
Die Straßburger ſind leidenſchaftliche Spa¬ zirgaͤnger und ſie haben wohl Recht es zu ſeyn. Man mag ſeine Schritte hinwenden, wohin man will, ſo findet man theils natuͤr¬ liche, theils in alten und neuern Zeiten kuͤnſt¬ lich angelegte Luſtoͤrter, einen wie den andern beſucht und von einem heitern luſtigen Voͤlk¬ chen genoſſen. Was aber hier den Anblick einer großen Maſſe Spazirender noch erfreu¬ licher machte als an andern Orten, war die verſchiedene Tracht des weiblichen Geſchlechts. Die Mittelclaſſe der Buͤrgermaͤdchen behielt noch die aufgewundenen mit einer großen Na¬ del feſtgeſteckten Zoͤpfe bey; nicht weniger ei¬ ne gewiſſe knappe Kleidungsart, woran jede Schleppe ein Misſtand geweſen waͤre; und was das Angenehme war, dieſe Tracht ſchnitt ſich nicht mit den Staͤnden ſcharf ab: denn es gab noch einige wohlhabende vorneh¬373 me Haͤuſer, welche den Toͤchtern ſich von die¬ ſem Coſtum zu entfernen nicht erlauben woll¬ ten. Die uͤbrigen gingen franzoͤſiſch, und dieſe Partie machte jedes Jahr einige Proſelyten. Salzmann hatte viel Bekanntſchaften und uͤber¬ all Zutritt; eine große Annehmlichkeit fuͤr ſeinen Begleitenden, beſonders im Sommer, weil man uͤberall in Gaͤrten nah und fern gute Aufnahme, gute Geſellſchaft und Erfriſchung fand, auch zugleich mehr als eine Einladung zu dieſem oder jenem frohen Tage erhielt. In einem ſolchen Falle traf ich Gelegenheit, mich einer Familie, die ich erſt zum zweyten Male beſuchte, ſehr ſchnell zu empfehlen. Wir wa¬ ren eingeladen und ſtellten uns zur beſtimm¬ ten Zeit ein. Die Geſellſchaft war nicht groß, einige ſpielten und einige ſpazirten wie ge¬ woͤhnlich. Spaͤterhin, als es zu Tiſche ge¬ hen ſollte, ſah ich die Wirthinn und ihre Schwe¬ ſter lebhaft und wie in einer beſondern Ver¬ legenheit mit einander ſprechen. Ich begeg¬ nete ihnen eben und ſagte: Zwar habe ich374 kein Recht, meine Frauenzimmer, in Ihre Geheimniſſe einzudringen; vielleicht bin ich aber im Stande einen guten Rath zu geben, oder wohl gar zu dienen. Sie eroͤffneten mir hierauf ihre peinliche Lage: daß ſie naͤmlich zwoͤlf Perſonen zu Tiſche gebeten, und in dieſem Augenblick ſey ein Verwandter von der Reiſe zuruͤckgekommen, der nun als der drey¬ zehnte, wo nicht ſich ſelbſt, doch gewiß eini¬ gen der Gaͤſte ein fatales Memento mori werden wuͤrde. — Der Sache iſt ſehr leicht abzuhelfen, verſetzte ich: Sie erlauben mir, daß ich mich entferne und mir die Entſchaͤdi¬ gung vorbehalte. Da es Perſonen von An¬ ſehen und guter Lebensart waren, ſo woll¬ ten ſie es keinesweges zugeben, ſondern ſchick¬ ten in der Nachbarſchaft umher, um den vierzehnten aufzufinden. Ich ließ es geſche¬ hen, doch da ich den Bedienten unverrichte¬ ter Sache zur Gartenthuͤre hereinkommen ſah, entwiſchte ich, und brachte meinen Abend vergnuͤgt unter den alten Linden der Wan¬375 zenau hin. Daß mir dieſe Entſagung reichlich vergolten worden, war wohl eine natuͤrliche Folge.
Eine gewiſſe allgemeine Geſelligkeit laͤßt ſich ohne das Kartenſpiel nicht mehr denken. Salzmann erneuerte die guten Lehren der Madam Boͤhme, und ich war um ſo folg¬ ſamer, als ich wirklich eingeſehen hatte, daß man ſich durch dieſe kleine Aufopferung, wenn es ja eine ſeyn ſollte, manches Vergnuͤgen, ja ſogar eine groͤßere Freyheit in der Socie¬ taͤt verſchaffen koͤnne, als man ſonſt genie¬ ßen wuͤrde. Das alte eingeſchlafene Piquet wurde daher hervorgeſucht; ich lernte Whiſt, richtete mir nach Anleitung meines Mentors einen Spielbeutel ein, welcher unter allen Umſtaͤnden unantaſtbar ſeyn ſollte; und nun fand ich Gelegenheit, mit meinem Freunde die meiſten Abende in den beſten Cirkeln zu¬ zubringen, wo man mir meiſtens wohl wollte, und manche kleine Unregelmaͤßigkeit verzieh,376 auf die mich jedoch der Freund, wiewohl milde genug, aufmerkſam zu machen pflegte.
Damit ich aber dabey ſymboliſch erfuͤhre, wie ſehr man ſich auch im Aeußern in die Geſellſchaft zu ſchicken und nach ihr zu rich¬ ten hat, ſo ward ich zu etwas genoͤthigt, welches mir das Unangenehmſte von der Welt ſchien. Ich hatte zwar ſehr ſchoͤne Haare, aber mein Straßburger Friſeur verſicherte mir ſogleich, daß ſie viel zu tief nach hinten hin ver¬ ſchnitten ſeyen und daß es ihm unmoͤglich werde, daraus eine Friſur zu bilden, in welcher ich mich produciren duͤrfe, weil nur wenig kurze und gekrauſte Vorderhaare ſtatuirt wuͤrden, alles Uebrige vom Scheitel an in den Zopf oder Haarbeutel gebunden werden muͤſſe. Hier¬ bey bleibe nun nichts uͤbrig, als mir eine Haar¬ tour gefallen zu laſſen, bis der natuͤrliche Wachsthum ſich wieder nach den Erforderniſſen der Zeit hergeſtellt habe. Er verſprach mir, daß Niemand dieſen unſchuldigen Betrug, gegen377 den ich mich erſt ſehr ernſtlich wehrte, jemals bemerken ſolle, wenn ich mich ſogleich dazu entſchließen koͤnnte. Er hielt Wort und ich galt immer fuͤr den beſtfriſirten und beſtbe¬ haarten jungen Mann. Da ich aber vom fruͤhen Morgen an ſo aufgeſtutzt und gepu¬ dert bleiben und mich zugleich in Acht neh¬ men mußte, nicht durch Erhitzung und hefti¬ ge Bewegung den falſchen Schmuck zu verra¬ then; ſo trug dieſer Zwang wirklich viel bey, daß ich mich eine Zeit lang ruhiger und geſit¬ teter benahm, mir angewoͤhnte, mit dem Hut unterm Arm und folglich auch in Schuh und Struͤmpfen zu gehen; doch durfte ich nicht ver¬ ſaͤumen, feinlederne Unter-Struͤmpfe zu tragen, um mich gegen die Rheinſchnaken zu ſichern, welche ſich an ſchoͤnen Sommeraben¬ den uͤber die Auen und Gaͤrten zu verbreiten pflegen. War mir nun unter dieſen Umſtaͤn¬ den eine heftige koͤrperliche Bewegung verſagt, ſo entfalteten ſich unſere geſelligen Geſpraͤche immer lebhafter und leidenſchaftlicher, ja ſie378 waren die intereſſanteſten, die ich bis dahin jemals gefuͤhrt hatte.
Bey meiner Art zu empfinden und zu den¬ ken koſtete es mich gar nichts, einen Jeden gelten zu laſſen fuͤr das was er war, ja ſo¬ gar fuͤr das was er gelten wollte, und ſo machte die Offenheit eines friſchen jugendlichen Muthes, der ſich faſt zum erſtenmal in ſeiner vollen Bluͤthe hervorthat, mir ſehr viele Freun¬ de und Anhaͤnger. Unſere Tiſchgeſellſchaft ver¬ mehrte ſich wohl auf zwanzig Perſonen, und weil unſer Salzmann bey ſeiner hergebrachten Methode beharrte; ſo blieb alles im alten Gange, ja die Unterhaltung ward beynahe ſchicklicher, indem ſich ein Jeder vor Mehre¬ ren in Acht zu nehmen hatte. Unter den neuen Ankoͤmmlingen befand ſich ein Mann, der mich beſonders intereſſirte; er hieß Jung, und iſt derſelbe, der nachher unter dem Na¬ men Stilling zuerſt bekannt geworden. Seine Geſtalt, ungeachtet einer veralteten379 Kleidungsart, hatte, bey einer gewiſſen Derb¬ heit, etwas Zartes. Eine Haarbeutel-Pe¬ ruͤcke entſtellte nicht ſein bedeutendes und ge¬ faͤlliges Geſicht. Seine Stimme war ſanft, ohne weich und ſchwach zu ſeyn, ja ſie wur¬ de wohltoͤnend und ſtark, ſobald er in Eifer gerieth, welches ſehr leicht geſchah. Wenn man ihn naͤher kennen lernte, ſo fand man an ihm einen geſunden Menſchenverſtand, der auf dem Gemuͤth ruhte, und ſich deswegen von Neigungen und Leidenſchaften beſtimmen ließ, und aus eben dieſem Gemuͤth entſprang ein Enthuſiasmus fuͤr das Gute, Wahre, Rechte in moͤglichſter Reinheit. Denn der Lebensgang dieſes Mannes war ſehr einfach geweſen und doch gedraͤngt an Begebenheiten und mannigfaltiger Thaͤtigkeit. Das Element ſeiner Energie war ein unverwuͤſtlicher Glaube an Gott und an eine unmittelbar von daher fließende Huͤlfe, die ſich in einer ununterbro¬ chenen Vorſorge und in einer unfehlbaren Rettung aus aller Noth, von jedem Uebel380 augenſcheinlich beſtaͤtige. Jung hatte derglei¬ chen Erfahrungen in ſeinem Leben ſo viele gemacht, ſie hatten ſich ſelbſt in der neuern Zeit, in Straßburg, oͤfters wiederholt, ſo daß er mit der groͤßten Freudigkeit ein zwar maͤßiges aber doch ſorgloſes Leben fuͤhrte und ſeinen Studien auf's ernſtlichſte oblag, wie¬ wohl er auf kein ſicheres Auskommen von einem Vierteljahre zum andern rechnen konnte. In ſeiner Jugend, auf dem Wege Kohlen¬ brenner zu werden, ergriff er das Schneider¬ handwerk, und nachdem er ſich nebenher von hoͤheren Dingen ſelbſt belehrt, ſo trieb ihn ſein lehrluſtiger Sinn zu einer Schulmeiſter¬ ſtelle. Dieſer Verſuch mislang, und er kehrte zum Handwerk zuruͤck, von dem er jedoch zu wiederholten Malen, weil Jedermann fuͤr ihn leicht Zutrauen und Neigung faßte, ab¬ gerufen ward, um abermals eine Stelle als Hauslehrer zu uͤbernehmen. Seine innerlich¬ ſte und eigentlichſte Bildung aber hatte er je¬ ner ausgebreiteten Menſchenart zu danken,381 welche auf ihre eigne Hand ihr Heil ſuchten, und indem ſie ſich durch Leſung der Schrift und wohlgemeynter Buͤcher, durch wechſel¬ ſeitiges Ermahnen und Bekennen zu erbauen trachteten, dadurch einen Grad von Cultur erhielten, der Bewunderung erregen mußte. Denn indem das Intereſſe, das ſie ſtets be¬ gleitete und das ſie in Geſellſchaft unterhielt, auf dem einfachſten Grunde der Sittlichkeit, des Wohlwollens und Wohlthuns ruhte, auch die Abweichungen, welche bey Menſchen von ſo beſchraͤnkten Zuſtaͤnden vorkommen koͤnnen, von geringer Bedeutung ſind, und daher ihr Gewiſſen meiſtens rein und ihr Geiſt gewoͤhn¬ lich heiter blieb: ſo entſtand keine kuͤnſtliche, ſondern eine wahrhaft natuͤrliche Cultur, die noch darin vor andern den Vorzug hatte, daß ſie allen Altern und Staͤnden gemaͤß und ih¬ rer Natur nach allgemein geſellig war; des¬ halb auch dieſe Perſonen, in ihrem Kreiſe, wirklich beredt und faͤhig waren, uͤber alle Herzensangelegenheiten, die zarteſten und tuͤch¬382 tigſten, ſich gehoͤrig und gefaͤllig auszudruͤcken. In demſelben Falle nun war der gute Jung. Unter wenigen, wenn auch nicht gerade Gleichgeſinnten, doch ſolchen, die ſich ſeiner Denkweiſe nicht abgeneigt erklaͤrten, fand man ihn nicht allein redſelig, ſondern beredt; beſonders erzaͤhlte er ſeine Lebensgeſchichte auf das anmuthigſte, und wußte dem Zuhoͤ¬ rer alle Zuſtaͤnde deutlich und lebendig zu vergegenwaͤrtigen. Ich trieb ihn, ſolche auf¬ zuſchreiben, und er verſprach's. Weil er aber in ſeiner Art ſich zu aͤußern einem Nachtwandler glich, den man nicht anrufen darf, wenn er nicht von ſeiner Hoͤhe herab¬ fallen, einem ſanften Strom, dem man nichts entgegenſtellen darf, wenn er nicht brauſen ſoll; ſo mußte er ſich in groͤßerer Geſellſchaft oft unbehaglich fuͤhlen. Sein Glaube duldete keinen Zweifel und ſeine Ueber¬ zeugung keinen Spott. Und wenn er in freundlicher Mittheilung unerſchoͤpflich war; ſo ſtockte gleich alles bey ihm, wenn er Wi¬383 derſpruch erlitt. Ich half ihm in ſolchen Faͤllen gewoͤhnlich uͤber, wofuͤr er mich mit aufrichtiger Neigung belohnte. Da mir ſeine Sinnesweiſe nichts Fremdes war und ich die¬ ſelbe vielmehr an meinen beſten Freunden und Freundinnen ſchon genau hatte kennen lernen, ſie mir auch in ihrer Natuͤrlichkeit und Naivetaͤt uͤberhaupt wohl zuſagte; ſo konnte er ſich mit mir durchaus am beſten finden. Die Richtung ſeines Geiſtes war mir angenehm und ſeinen Wunderglauben, der ihm ſo wohl zu Statten kam, ließ ich unangetaſtet. Auch Salzmann betrug ſich ſchonend gegen ihn; ſchonend, ſage ich, weil Salzmann, ſeinem Character, Weſen, Al¬ ter und Zuſtaͤnden nach, auf der Seite der vernuͤnftigen, oder vielmehr verſtaͤndigen Chri¬ ſten ſtehen und halten mußte, deren Reli¬ gion eigentlich auf der Rechtſchaffenheit des Characters und auf einer maͤnnlichen Selbſt¬ ſtaͤndigkeit beruhte, und die ſich daher nicht gern mit Empfindungen, die ſie leicht ins384 Truͤbe, und Schwaͤrmerey, die ſie bald ins Dunkle haͤtte fuͤhren koͤnnen, abgaben und vermengten. Auch dieſe Claſſe war reſpecta¬ bel und zahlreich; alle ehrliche tuͤchtige Leute verſtanden ſich und waren von gleicher Ueber¬ zeugung ſo wie von gleichem Lebensgang.
Lerſe, ebenmaͤßig unſer Tiſchgeſelle, ge¬ hoͤrte auch zu dieſer Zahl; ein vollkommen rechtlicher und bey beſchraͤnkten Gluͤcksguͤtern maͤßiger und genauer junger Mann. Seine Lebens - und Haushaltungsweiſe war die knapp¬ ſte, die ich unter Studirenden je kannte. Er trug ſich am ſauberſten von uns allen, und doch erſchien er immer in denſelben Kleidern; aber er behandelte auch ſeine Garderobe mit der groͤßten Sorgfalt, er hielt ſeine Umge¬ bung reinlich und ſo verlangte er auch nach ſeinem Beyſpiel alles im gemeinen Le¬ ben. Es begegnete ihm nicht, daß er ſich irgendwo angelehnt oder ſeinen Ellbogen auf den Tiſch geſtemmt haͤtte; niemals vergaß er385 ſeine Serviette zu zeichnen, und der Magd gerieth es immer zum Unheil, wenn die Stuͤhle nicht hoͤchſt ſauber gefunden wurden. Bey allem dieſen hatte er nichte Steifes in ſeinem Aeußeren. Er ſprach treuherzig, be¬ ſtimmt und trocken lebhaft, wobey ein leich¬ ter ironiſcher Scherz ihn gar wohl kleidete. An Geſtalt war er gut gebildet, ſchlank und von ziemlicher Groͤße, ſein Geſicht pockennar¬ big und unſcheinbar, ſeine kleinen blauen Au¬ am heiter und durchdringend. Wenn er uns nun von ſo mancher Seite zu hofmeiſtern Urſache hatte, ſo ließen wir ihn auch noch außerdem fuͤr unſern Fechtmeiſter gelten: denn er fuͤhrte ein ſehr gutes Rappier, und es ſchien ihm Spaß zu machen, bey dieſer Ge¬ legenheit alle Pedanterie dieſes Metiers an uns auszuuͤben. Auch profitirten wir bey ihm wirklich und mußten ihm dankbar ſeyn fuͤr manche geſellige Stunde, die er uns in guter Bewegung und Uebung verbringen hieß.
II. 25386Durch alle dieſe Eigenſchaften qualificirte ſich nun Lerſe voͤllig zu der Stelle eines Schieds - und Kampfrichters bey allen kleinen und groͤßern Haͤndeln, die in unſerm Kreiſe, wiewohl ſelten, vorfielen, und welche Salz¬ mann auf ſeine vaͤterliche Art nicht beſchwich¬ tigen konnte. Ohne die aͤußeren Formen, welche auf Academieen ſo viel Unheil anrich¬ ten, ſtellten wir eine durch Umſtaͤnde und gu¬ ten Willen geſchloſſene Geſellſchaft vor, die wohl mancher Andere zufaͤllig beruͤhren, aber ſich nicht in dieſelbe eindraͤngen konnte. Bey Beurtheilung nun innerer Verdrießlichkeiten zeigte Lerſe ſtets die groͤßte Unparteylichkeit, und wußte, wenn der Handel nicht mehr mit Worten und Erklaͤrungen ausgemacht werden konnte, die zu erwartende Genugthuung auf ehrenvolle Weiſe ins Unſchaͤdliche zu leiten. Hiezu war wirklich kein Menſch geſchickter als er; auch pflegte er oft zu ſagen, da ihn der Himmel weder zu einem Kriegs - noch Lie¬ beshelden beſtimmt habe, ſo wolle er ſich,387 im Romanen - und Fechterſinn, mit der Rol¬ le des Secundanten begnuͤgen. Da er ſich nun durchaus gleich blieb und als ein rechtes Muſter einer guten und beſtaͤndigen Sinnes¬ art angeſehen werden konnte; ſo praͤgte ſich der Begriff von ihm ſo tief als liebenswuͤr¬ dig bey mir ein, und als ich den Goͤtz von Berlichingen ſchrieb, fuͤhlte ich mich veran¬ laßt, unſerer Freundſchaft ein Denkmal zu ſetzen und der wackern Figur, die ſich auf ſo eine wuͤrdige Art zu ſubordiniren weiß, den Namen Franz Lerſe zu geben.
Indeß er nun mit ſeiner fortgeſetzten hu¬ moriſtiſchen Trockenheit uns immer zu erin¬ nern wußte, was man ſich und andern ſchul¬ dig ſey, und wie man ſich einzurichten habe, um mit den Menſchen ſo lange als moͤglich in Frieden zu leben, und ſich deshalb gegen ſie in einige Poſitur zu ſetzen; ſo hatte ich innerlich und aͤußerlich mit ganz andern Ver¬ haͤltniſſen und Gegnern zu kaͤmpfen, indem25 *388ich mit mir ſelbſt, mit den Gegenſtaͤnden, ja mit den Elementen im Streit lag. Ich befand mich in einem Geſundheitszuſtand, der mich bey allem was ich unternehmen wollte und ſollte hinreichend foͤrderte; nur war mir noch eine gewiſſe Reizbarkeit uͤbrig geblieben, die mich nicht immer im Gleichgewicht ließ. Ein ſtarker Schall war mir zuwider, krank¬ hafte Gegenſtaͤnde erregten mir Ekel und Ab¬ ſcheu. Beſonders aber aͤngſtigte mich ein Schwindel, der mich jedesmal befiel, wenn ich von einer Hoͤhe herunter blickte. Allen dieſen Maͤngeln ſuchte ich abzuhelfen, und zwar, weil ich keine Zeit verlieren wollte, auf eine etwas heftige Weiſe. Abends beym Zapfenſtreich ging ich neben der Menge Trom¬ meln her, deren gewaltſame Wirbel und Schlaͤ¬ ge das Herz im Buſen haͤtten zerſprengen moͤgen. Ich erſtieg ganz allein den hoͤchſten Gipfel des Muͤnſterthurms, und ſaß in dem ſogenannten Hals, unter dem Knopf oder der Krone, wie man's nennt, wohl eine Viertel¬389 ſtunde lang, bis ich es wagte wieder heraus in die freye Luft zu treten, wo man auf ei¬ ner Platte, die kaum eine Elle ins Gevierte haben wird, ohne ſich ſonderlich anhalten zu koͤnnen, ſtehend das unendliche Land vor ſich ſieht, indeſſen die naͤchſten Umgebungen und Zieraten die Kirche und alles, worauf und woruͤber man ſteht, verbergen. Es iſt voͤllig als wenn man ſich auf einer Mongolfiere in die Luft erhoben ſaͤhe. Dergleichen Angſt und Qual wiederholte ich ſo oft, bis der Eindruck mir ganz gleichguͤltig ward, und ich habe nachher bey Bergreiſen und geologiſchen Stu¬ dien, bey großen Bauten, wo ich mit den Zimmerleuten um die Wette uͤber die freylie¬ genden Balken und uͤber die Geſimſe des Ge¬ baͤudes herlief, ja in Rom, wo man eben dergleichen Wagſtuͤcke ausuͤben muß, um be¬ deutende Kunſtwerke naͤher zu ſehen, von je¬ nen Voruͤbungen großen Vortheil gezogen. Die Anatomie war mir auch deshalb doppelt werth, weil ſie mich den widerwaͤrtigſten An¬390 blick ertragen lehrte, indem ſie meine Wi߬ begierde befriedigte. Und ſo beſuchte ich auch das Clinicum des aͤltern Doctor Ehrmann, ſo wie die Lectionen der Entbindungskunſt ſeines Sohns, in der doppelten Abſicht, alle Zuſtaͤnde kennen zu lernen und mich von al¬ ler Apprehenſion gegen widerwaͤrtige Dinge zu befreyen. Ich habe es auch wirklich darin ſo weit gebracht, daß nichts dergleichen mich jemals aus der Faſſung ſetzen konnte. Aber nicht allein gegen dieſe ſinnlichen Eindruͤcke, ſondern auch gegen die Anfechtungen der Ein¬ bildungskraft ſuchte ich mich zu ſtaͤhlen. Die ahndungs - und ſchauervollen Eindruͤcke der Finſterniß, der Kirchhoͤfe, einſamer Oerter, naͤchtlicher Kirchen und Capellen und was hiemit verwandt ſeyn mag, wußte ich mir ebenfalls gleichguͤltig zu machen; und auch darin brachte ich es ſo weit, daß mir Tag und Nacht und jedes Local voͤllig gleich war, ja daß, als in ſpaͤter Zeit mich die Luſt an¬ kam, wieder einmal in ſolcher Umgebung die391 angenehmen Schauer der Jugend zu fuͤhlen, ich dieſe in mir kaum durch die ſeltſamſten und fuͤrchterlichſten Bilder, die ich hervorrief, wieder einigermaßen erzwingen konnte.
Dieſer Bemuͤhung, mich von dem Drang und Druck des Allzuernſten und Maͤchtigen zu befreyen, was in mir fortwaltete, und nur bald als Kraft bald als Schwaͤche er¬ ſchien, kam durchaus jene freye, geſellige, be¬ wegliche Lebensart zu Huͤlfe, welche mich im¬ mer mehr anzog, an die ich mich gewoͤhnte, und zuletzt derſelben mit voller Freyheit ge¬ nießen lernte. Es iſt in der Welt nicht ſchwer zu bemerken, daß ſich der Menſch am frey¬ ſten und am voͤlligſten von ſeinen Gebrechen los und lebig fuͤhlt, wenn er ſich die Maͤn¬ gel Anderer vergegenwaͤrtigt und ſich daruͤber mit behaglichem Tadel verbreitet. Es iſt ſchon eine ziemlich angenehme Empfindung, uns durch Misbilligung und Misreden uͤber unſers Gleichen hinauszuſetzen, weswegen auch392 hierin die gute Geſellſchaft, ſie beſtehe aus wenigen oder mehrern, ſich am liebſten er¬ geht. Nichts aber gleicht der behaglichen Selbſtgefaͤlligkeit, wenn wir uns zu Richtern der Obern und Vorgeſetzten, der Fuͤrſten und Staatsmaͤnner erheben, oͤffentliche Anſtalten ungeſchickt und zweckwidrig finden, nur die moͤglichen und wirklichen Hinderniſſe beachten, und weder die Groͤße der Intention noch die Mitwirkung anerkennen, die bey jedem Un¬ ternehmen von Zeit und Umſtaͤnden zu er¬ warten iſt.
Wer ſich der Lage des franzoͤſiſchen Reichs erinnert und ſie aus ſpaͤteren Schriften genau und umſtaͤndlich kennt, wird ſich leicht verge¬ genwaͤrtigen, wie man damals in dem elſaſ¬ ſiſchen Halbfrankreich uͤber Koͤnig und Mini¬ ſter, uͤber Hof und Guͤnſtlinge ſprach. Fuͤr meine Luſt mich zu unterrichten, waren es neue, und fuͤr Naſeweisheit und jugendlichen Duͤnkel ſehr willkommne Gegenſtaͤnde; ich393 merkte mir alles genau, ſchrieb fleißig auf, und ſehe jetzt an dem wenigen Uebriggeblie¬ benen, daß ſolche Nachrichten, wenn gleich nur aus Fabeln und unzuverlaͤſſigen allgemei¬ nen Geruͤchten im Augenblick aufgefaßt, doch immer in der Folge einen gewiſſen Werth haben, weil ſie dazu dienen, das endlich be¬ kanntgewordne Geheime mit dem damals ſchon Aufgedeckten und Oeffentlichen, das von Zeit¬ genoſſen richtig oder falſch Geurtheilte mit den Ueberzeugungen der Nachwelt zuſammen¬ zuhalten und zu vergleichen.
Auffallend und uns Pflaſtertretern taͤglich vor Augen war das Project zu Verſchoͤnerung der Stadt, deſſen Ausfuͤhrung von den Riſ¬ ſen und Planen auf die ſeltſamſte Weiſe in die Wirklichkeit uͤberzugehen anfing. Inten¬ dant Gayot hatte ſich vorgenommen, die winkligen und ungleichen Gaſſen Straßburgs umzuſchaffen und eine wohl nach der Schnur geregelte, anſehnliche, ſchoͤne Stadt zu gruͤn¬394 den. Blondel, ein Pariſer Baumeiſter, zeichnete darauf einen Vorſchlag, durch wel¬ chen hundert und vierzig Hausbeſitzer an Raum gewannen, achtzig verloren und die uͤbrigen in ihrem vorigen Zuſtande blieben. Dieſer genehmigte, aber nicht auf einmal in Ausfuͤhrung zu bringende Plan ſollte nun durch die Zeit ſeiner Vollſtaͤndigkeit entgegen wachſen, indeſſen die Stadt, wunderlich ge¬ nug, zwiſchen Form und Unform ſchwankte. Sollte z. B. eine eingebogene Straßenſeite gerad werden, ſo ruͤckte der erſte Bauluſtige auf die beſtimmte Linie vor; vielleicht ſein naͤchſter Nachbar, vielleicht aber auch der drit¬ te, vierte Beſitzer von da, durch welche Vor¬ ſpruͤnge die ungeſchickteſten Vertiefungen als Vorhoͤfe der hinterliegenden Haͤuſer zuruͤck¬ blieben. Gewalt wollte man nicht brauchen, aber ohne Noͤthigung waͤre man gar nicht vorwaͤrts gekommen, deswegen durfte Niemand an ſeinem einmal verurtheilten Hauſe etwas beſſern oder herſtellen, was ſich auf die Stra¬395 ße bezog. Alle die ſeltſamen zufaͤlligen Un¬ ſchicklichkeiten gaben uns wandelnden Muͤßig¬ gaͤngern den willkommenſten Anlaß unſern Spott zu uͤben, Vorſchlaͤge zu Beſchleunigung der Vollendung nach Behriſchens Art zu thun, und die Moͤglichkeit derſelben immer zu be¬ zweifeln, ob uns gleich manches neu entſte¬ hende ſchoͤne Gebaͤude haͤtte auf andere Ge¬ danken bringen ſollen. In wie weit jener Vorſatz durch die lange Zeit beguͤnſtigt wor¬ den, wuͤßte ich nicht zu ſagen.
Ein anderer Gegenſtand, wovon ſich die proteſtantiſchen Straßburger gern unterhiel¬ ten, war die Vertreibung der Jeſuiten. Die¬ ſe Vaͤter hatten, ſobald als die Stadt den Franzoſen zu Theil geworden, ſich gleichfalls eingefunden und um ein Domicilium nachge¬ ſucht. Bald breiteten ſie ſich aber aus und bauten ein herrliches Collegium, das an den Muͤnſter dergeſtalt anſtoͤßt, daß das Hinter¬ theil der Kirche ein Drittheil ſeiner Face be¬396 deckt. Es ſollte ein voͤlliges Viereck werden und in der Mitte einen Garten haben; drey Seiten davon waren fertig geworden. Es iſt von Steinen, ſolid, wie alle Gebaͤude dieſer Vaͤter. Daß die Proteſtanten von ihnen ge¬ draͤngt, wo nicht bedraͤngt wurden, lag in dem Plane der Geſellſchaft, welche die alte Religion in ihrem ganzen Umfange wieder herzuſtellen ſich zur Pflicht machte. Ihr Fall erregte daher die groͤßte Zufriedenheit des Ge¬ gentheils, und man ſah nicht ohne Behagen, wie ſie ihre Weine verkauften, ihre Buͤcher wegſchafften und das Gebaͤude einem andern, vielleicht weniger thaͤtigen Orden beſtimmt ward. Wie froh ſind die Menſchen, wenn ſie einen Widerſacher, ja nur einen Huͤter los ſind, und die Heerde bedenkt nicht, daß da, wo der Ruͤde fehlt, ſie den Woͤlfen ausge¬ ſetzt iſt.
Weil denn nun auch jede Stadt ihre Tragoͤdie haben muß, wovor ſich Kinder und397 Kindeskinder entſetzen, ſo ward in Stra߬ burg oft des ungluͤcklichen Praͤtors Kling¬ ling gedacht, der, nachdem er die hoͤchſte Stufe irdiſcher Gluͤckſeligkeit erſtiegen, Stadt und Land faſt unumſchraͤnkt beherrſcht und alles genoſſen, was Vermoͤgen, Rang und Einfluß nur gewaͤhren koͤnnen, endlich die Hofgunſt verloren habe, und wegen alles deſ¬ ſen, was man ihm bisher nachgeſehn, zur Verantwortung gezogen worden, ja ſogar in den Kerker gebracht, wo er, uͤber ſiebenzig Jahre alt, eines zweydeutigen Todes ver¬ blichen.
Dieſe und andere Geſchichten wußte jener Ludwigsritter, unſer Tiſchgenoſſe, mit Leiden¬ ſchaft und Lebhaftigkeit zu erzaͤhlen, deswe¬ gen ich auch gern auf Spazirgaͤngen mich zu ihm geſellte, anders als die Uebrigen, die ſolchen Einladungen auswichen und mich mit ihm allein ließen. Da ich mich bey neuen Bekanntſchaften meiſtentheils eine Zeit lang398 gehn ließ, ohne viel uͤber ſie, noch uͤber die Wirkung zu denken, die ſie auf mich aus¬ uͤbten, ſo merkte ich erſt nach und nach, daß ſeine Erzaͤhlungen und Urtheile mich mehr beunruhigten und verwirrten als unterrichte¬ ten und aufklaͤrten. Ich wußte niemals wor¬ an ich mit ihm war, obgleich das Raͤthſel ſich leicht haͤtte entziffern laſſen. Er gehoͤrte zu den Vielen, denen das Leben keine Reſul¬ tate giebt, und die ſich daher im Einzelnen, vor wie nach, abmuͤhen. Ungluͤcklicher Weiſe hatte er dabey eine entſchiedne Luſt, ja Lei¬ denſchaft zum Nachdenken, ohne zum Denken geſchickt zu ſeyn, und in ſolchen Menſchen ſetzt ſich leicht ein gewiſſer Begriff feſt, den man als eine Gemuͤthskrankheit anſehen kann. Auf eine ſolche fixe Anſicht kam auch er im¬ mer wieder zuruͤck, und ward dadurch auf die Dauer hoͤchſt laͤſtig. Er pflegte ſich naͤmlich bitter uͤber die Abnahme ſeines Gedaͤchtniſſes zu beklagen, beſonders was die naͤchſten Er¬ eigniſſe betraf, und behauptete, nach einer399 eignen Schlußfolge, alle Tugend komme von dem guten Gedaͤchtniß her, alle Laſter hinge¬ gen aus der Vergeſſenheit. Dieſe Lehre wu߬ te er mit vielem Scharfſinn durchzuſetzen; wie ſich denn alles behaupten laͤßt, wenn man ſich erlaubt, die Worte ganz unbeſtimmt, bald in weiterem, bald engerm, in einem naͤher oder ferner verwandten Sinne zu gebrauchen und anzuwenden.
Die erſten Male unterhielt es wohl ihn zu hoͤren, ja ſeine Suade ſetzte in Verwun¬ derung. Man glaubte vor einem redneriſchen Sophiſten zu ſtehen, der, zu Scherz und Uebung, den ſeltſamſten Dingen einen Schein zu verleihen weiß. Leider ſtumpfte ſich die¬ ſer erſte Eindruck nur allzubald ab: denn am Ende jedes Geſpraͤchs kam der Mann wieder auf daſſelbe Thema, ich mochte mich auch anſtellen wie ich wollte. Er war bey aͤlteren Begebenheiten nicht feſtzuhalten, ob ſie ihn gleich ſelbſt intereſſirten, ob er ſie ſchon mit400 den kleinſten Umſtaͤnden gegenwaͤrtig hatte. Vielmehr ward er oͤfters, durch einen gerin¬ gen Umſtand, mitten aus einer weltgeſchicht¬ lichen Erzaͤhlung herausgeriſſen und auf ſei¬ nen feindſeligen Lieblingsgedanken hingeſtoßen.
Einer unſerer nachmittaͤgigen Spazirgaͤnge war hierin beſonders ungluͤcklich; die Ge¬ ſchichte deſſelben ſtehe hier ſtatt aͤhnlicher Faͤl¬ le, welche den Leſer ermuͤden, wo nicht gar betruͤben koͤnnten.
Auf dem Wege durch die Stadt begegne¬ te uns eine bejahrte Bettlerinn, die ihn, durch Bitten und Andringen, in ſeiner Er¬ zaͤhlung ſtoͤrte. — Pack dich, alte Hexe! ſagte er, und ging voruͤber. Sie rief ihm den bekannten Spruch hinterdrein, nur et¬ was veraͤndert, da ſie wohl bemerkte, daß der unfreundliche Mann ſelbſt alt ſey: Wenn Ihr nicht alt werden wolltet, ſo haͤttet Ihr Euch in der Jugend ſollen haͤngen laſſen! 401Er kehrte ſich heftig herum, und ich fuͤrchtete einen Auftritt. — Haͤngen laſſen! rief er, mich haͤngen laſſen! Nein das waͤre nicht gegangen, dazu war ich ein zu braver Kerl; aber mich haͤngen, mich ſelbſt aufhaͤngen, das iſt wahr, das haͤtte ich thun ſollen; einen Schuß Pulver ſollt 'ich an mich wenden, um nicht zu erleben, daß ich keinen mehr werth bin. Die Frau ſtand wie verſteinert, er aber fuhr fort: Du haſt eine große Wahr¬ heit geſagt, Hexenmutter! und weil man dich noch nicht erſaͤuft oder verbrannt hat, ſo ſollſt du fuͤr dein Spruͤchlein belohnt werden. Er reichte ihr ein Buͤſel, das man nicht leicht an einen Bettler zu wenden pflegte.
Wir waren uͤber die erſte Rheinbruͤcke ge¬ kommen und gingen nach dem Wirthshauſe, wo wir einzukehren gedachten, und ich ſuchte ihn auf das vorige Geſpraͤch zuruͤckzufuͤhren, als unerwartet auf dem angenehmen Fußpfad ein ſehr huͤbſches Maͤdchen uns entgegen kam,II. 26402vor uns ſtehen blieb, ſich artig verneigte und ausrief: Ey ey, Herr Hauptmann, wohin? und was man ſonſt bey ſolcher Gelegenheit zu ſagen pflegt. — Mademoiſelle, verſetzte er, etwas verlegen, ich weiß nicht ... Wie? ſagte ſie, mit anmuthiger Verwunderung, ver¬ geſſen Sie Ihre Freunde ſo bald? Das Wort Vergeſſen machte ihn verdrießlich, er ſchuͤttelte den Kopf und erwiederte muͤrriſch genug: wahrhaftig, Mademoiſelle, ich wuͤßte nicht! — Nun verſetzte ſie mit einigem Hu¬ mor, doch ſehr gemaͤßigt: nehmen Sie ſich in Acht, Herr Hauptmann, ich duͤrfte Sie ein andermal auch verkennen! Und ſo eilte ſie an uns vorbey, ſtark zuſchreitend, ohne ſich umzuſehen. Auf einmal ſchlug ſich mein Weggeſell mit den beyden Faͤuſten heftig vor den Kopf: O ich Eſel! rief er aus; ich al¬ ter Eſel! da ſeht Ihr's nun, ob ich recht habe oder nicht. Und nun erging er ſich auf eine ſehr heftige Weiſe in ſeinem gewohnten Reden und Meynen, in welchem ihn dieſer403 Fall nur noch mehr beſtaͤrkte. Ich kann und mag nicht wiederholen, was er fuͤr eine Phi¬ lippiſche Rede wider ſich ſelbſt hielt. Zuletzt wendete er ſich zu mir und ſagte: Ich rufe Euch zum Zeugen an! Erinnert Ihr Euch jener Kraͤmerinn, an der Ecke, die weder jung noch huͤbſch iſt? Jedesmal gruͤße ich ſie, wenn wir vorbeygehen, und rede manch¬ mal ein paar freundliche Worte mit ihr; und doch ſind ſchon dreyßig Jahre vorbey, daß ſie mir guͤnſtig war. Nun aber, nicht vier Wochen, ſchwoͤr 'ich, ſind's, da erzeigte ſich dieſes Maͤdchen gegen mich gefaͤlliger als bil¬ lig, und nun will ich ſie nicht kennen und beleidige ſie fuͤr ihre Artigkeit! Sage ich es nicht immer, Undank iſt das groͤßte Laſter, und kein Menſch waͤre undankbar, wenn er nicht vergeßlich waͤre!
Wir traten ins Wirthshaus, und nur die zechende, ſchwaͤrmende Menge in den Vorſaͤ¬ len hemmte die Invectiven, die er gegen ſich26 *404und ſeine Altersgenoſſen ausſtieß. Er war ſtill und ich hoffte ihn beguͤtigt, als wir in ein oberes Zimmer traten, wo wir einen jun¬ gen Mann allein auf - und abgehend fanden, den der Hauptmann mit Namen begruͤßte. Es war mir angenehm ihn kennen zu ler¬ nen: denn der alte Geſell hatte mir viel Gu¬ tes von ihm geſagt und mir erzaͤhlt, daß dieſer, beym Kriegsbuͤreau angeſtellt, ihm ſchon manchmal, wenn die Penſionen geſtockt, uneigennuͤtzig ſehr gute Dienſte geleiſtet habe. Ich war froh, daß das Geſpraͤch ſich in's Allgemeine lenkte, und wir tranken eine Fla¬ ſche Wein, indem wir es fortſetzten. Hier entwickelte ſich aber zum Ungluͤck ein anderer Fehler, den mein Ritter mit ſtarrſinnigen Menſchen gemein hatte. Denn wie er im Ganzen von jenem fixen Begriff nicht loskom¬ men konnte, eben ſo ſehr hielt er an einem augenblicklichen unangenehmen Eindruck feſt, und ließ ſeine Empfindungen dabey ohne Maͤßigung abſchnurren. Der letzte Verdruß405 uͤber ſich ſelbſt war noch nicht verklungen und nun trat abermals etwas Neues hinzu, frey¬ lich von ganz anderer Art. Er hatte naͤm¬ lich nicht lange die Augen hin und her ge¬ wandt, ſo bemerkte er auf dem Tiſche eine doppelte Portion Caffee und zwey Taſſen; daneben mochte er auch, er der ſelbſt ein fei¬ ner Zeiſig war, irgend ſonſt eine Andeutung aufgeſpuͤrt haben, daß dieſer junge Mann ſich nicht eben immer ſo allein befunden. Und kaum war die Vermuthung in ihm aufgeſtie¬ gen und zur Wahrſcheinlichkeit geworden, das huͤbſche Maͤdchen habe einen Beſuch hier ab¬ geſtattet; ſo geſellte ſich zu jenem erſten Ver¬ druß noch die wunderlichſte Eiferſucht, um ihn vollends zu verwirren.
Ehe ich nun irgend etwas ahnden konn¬ te, denn ich hatte mich bisher ganz harmlos mit dem jungen Mann unterhalten, ſo fing der Hauptmann, mit einem unangenehmen Ton, den ich ihm wohl kannte, zu ſticheln406 an, auf das Taſſenpaar und auf dieſes und jenes. Der Juͤngere, betroffen, ſuchte heiter und verſtaͤndig auszuweichen, wie es unter Menſchen von Lebensart die Gewohnheit iſt; allein der Alte fuhr fort ſchonungslos unar¬ tig zu ſeyn, daß dem andern nichts uͤbrig blieb, als Hut und Stock zu ergreifen, und beym Abſchiede eine ziemlich unzweydeutige Ausforderung zuruͤckzulaſſen. Nun brach die Furie des Hauptmanns und um deſto hefti¬ ger los, als er in der Zwiſchenzeit noch eine Flaſche Wein beynahe ganz allein ausgetrun¬ ken hatte. Er ſchlug mit der Fauſt auf den Tiſch und rief mehr als einmal: den ſchlag ich todt. Es war aber eigentlich ſo boͤs nicht gemeynt, denn er gebrauchte dieſe Phraſe mehrmals, wenn ihm Jemand widerſtand, oder ſonſt misfiel. Eben ſo unerwartet ver¬ ſchlimmerte ſich die Sache auf dem Ruͤckweg: denn ich hatte die Unvorſichtigkeit, ihm ſei¬ nen Undank gegen den jungen Mann vorzu¬ halten und ihn zu erinnern, wie ſehr er mir407 die zuvorkommende Dienſtfertigkeit dieſes An¬ geſtellten geruͤhmt habe. Nein! ſolche Wuth eines Menſchen gegen ſich ſelbſt iſt mir nie wieder vorgekommen; es war die leidenſchaft¬ lichſte Schlußrede zu jenen Anfaͤngen, wozu das huͤbſche Maͤdchen Anlaß gegeben hatte. Hier ſah ich Reue und Buße bis zur Cari¬ catur getrieben, und, wie alle Leidenſchaft das Genie erſetzt, wirklich genialiſch. Denn er nahm die ſaͤmmtlichen Vorfallenheiten un¬ ſerer Nachmittagswanderung wieder auf, be¬ nutzte ſie redneriſch zur Selbſtſcheltung, ließ zuletzt die Hexe nochmals gegen ſich auftre¬ ten, und verwirrte ſich dergeſtalt, daß ich fuͤrchten mußte, er werde ſich in den Rhein ſtuͤrzen. Waͤre ich ſicher geweſen, ihn, wie Mentor ſeinen Telemach, ſchnell wieder auf¬ zufiſchen, ſo mochte er ſpringen, und ich haͤt¬ te ihn fuͤr dießmal abgekuͤhlt nach Hauſe ge¬ bracht.
408Ich vertraute ſogleich die Sache Lerſen, und wir gingen des andern Morgens zu dem jungen Manne, den mein Freund, mit ſeiner Trockenheit, zum Lachen brachte. Wir wur¬ den eins, ein ohngefaͤhres Zuſammentreffen einzuleiten, wo eine Ausgleichung vor ſich ge¬ hen ſollte. Das Luſtigſte dabey war, daß der Hauptmann, auch dießmal ſeine Unart verſchlafen hatte, und zur Beguͤtigung des jungen Mannes, dem auch an keinen Haͤn¬ deln gelegen war, ſich bereit finden ließ. Al¬ les war an einem Morgen abgethan, und da die Begebenheit nicht ganz verſchwiegen blieb, ſo entging ich nicht den Scherzen mei¬ ner Freunde, die mir aus eigner Erfahrung haͤtten vorausſagen koͤnnen, wie laͤſtig mir ge¬ legentlich die Freundſchaft des Hauptmanns werden duͤrfte.
Indem ich nun aber darauf ſinne, was wohl zunaͤchſt weiter mitzutheilen waͤre, ſo kommt mir, durch ein ſeltſames Spiel der409 Erinnerung, das ehrwuͤrdige Muͤnſtergebaͤude wieder in die Gedanken, dem ich gerade in jenen Tagen eine beſondere Aufmerkſamkeit widmete und welches uͤberhaupt in der Stadt ſowohl als auf dem Lande ſich den Augen beſtaͤndig darbietet.
Jemehr ich die Façade deſſelben betrach¬ tete, deſto mehr beſtaͤrkte und entwickelte ſich jener erſte Eindruck, daß hier das Erhabene mit dem Gefaͤlligen in Bund getreten ſey. Soll das Ungeheuere, wenn es uns als Maſ¬ ſe entgegentritt, nicht erſchrecken, ſoll es nicht verwirren, wenn wir ſein Einzelnes zu er¬ forſchen ſuchen: ſo muß es eine unnatuͤrliche, ſcheinbar unmoͤgliche Verbindung eingehen, es muß ſich das Angenehme zugeſellen. Da uns nun aber allein moͤglich wird den Eindruck des Muͤnſters auszuſprechen, wenn wir uns jene beyden unvertraͤglichen Eigenſchaften ver¬ einigt denken; ſo ſehen wir ſchon hieraus, in welchem hohen Werth wir dieſes alte Denk¬410 mal zu halten haben, und beginnen mit Ernſt eine Darſtellung, wie ſo widerſprechende Ele¬ mente ſich friedlich durchdringen und verbin¬ den konnten.
Vor allem widmen wir unſere Betrach¬ tungen, ohne noch an die Thuͤrme zu denken, allein der Façade, die als ein aufrecht geſtell¬ tes laͤngliches Viereck unſern Augen maͤchtig entgegnet. Naͤhern wir uns derſelben in der Daͤmmerung, bey Mondſchein, bey ſtern¬ heller Nacht, wo die Theile mehr oder weni¬ ger undeutlich werden und zuletzt verſchwin¬ den; ſo ſehen wir nur eine coloſſale Wand, deren Hoͤhe zur Breite ein wohlthaͤtiges Ver¬ haͤltniß hat. Betrachten wir ſie bey Tage und abſtrahiren durch Kraft unſeres Geiſtes vom Einzelnen; ſo erkennen wir die Vorder¬ ſeite eines Gebaͤudes, welche deſſen innere Raͤume nicht allein zuſchließt, ſondern auch manches Danebenliegende verdeckt. Die Oeff¬ nungen dieſer ungeheueren Flaͤche deuten auf411 innere Beduͤrfniſſe, und nach dieſen koͤnnen wir ſie ſogleich in neun Felder abtheilen. Die große Mittelthuͤre, die auf das Schiff der Kirche gerichtet iſt, faͤllt uns zuerſt in die Augen. Zu beyden Seiten derſelben liegen zwey kleinere, den Kreuzgaͤngen angehoͤrig. Ueber der Hauptthuͤre trifft unſer Blick auf das radfoͤrmige Fenſter, das in die Kirche und deren Gewoͤlbe ein ahndungsvolles Licht verbreiten ſoll. An den Seiten zeigen ſich zwey große ſenkrechte, laͤnglichviereckte Oeff¬ nungen, welche mit der mittelſten bedeutend contraſtiren und darauf hindeuten, daß ſie zu der Baſe emporſtrebender Thuͤrme gehoͤren. In dem dritten Stockwerke reihen ſich drey Oeffnungen an einander, welche zu Glocken¬ ſtuͤhlen und ſonſtigen kirchlichen Beduͤrfniſſen beſtimmt ſind. Zu oberſt ſieht man das Ganze durch die Balluſtrade der Gallerie, anſtatt eines Geſimſes, horizontal abgeſchloſ¬ ſen. Jene beſchriebenen neun Raͤume wer¬ den durch vier vom Boden aufſtrebende Pfei¬412 ler geſtuͤtzt, eingefaßt und in drey große per¬ pendiculare Abtheilungen getrennt.
Wie man nun der ganzen Maſſe ein ſchoͤ¬ nes Verhaͤltniß der Hoͤhe zur Breite nicht abſprechen kann, ſo erhaͤlt ſie auch durch die¬ ſe Pfeiler, durch die ſchlanken Eintheilungen dazwiſchen, im Einzelnen etwas gleichmaͤßig Leichtes.
Verharren wir aber bey unſerer Abſtrac¬ tion und denken uns dieſe ungeheuere Wand ohne Zieraten mit feſten Strebepfeilern, in derſelben die noͤthigen Oeffnungen, aber auch nur in ſofern ſie das Beduͤrfniß fordert; ge¬ ſtehn wir auch dieſen Hauptabtheilungen gute Verhaͤltniſſe zu: ſo wird das Ganze zwar ernſt und wuͤrdig, aber doch immer noch laͤſtig unerfreulich und als zierdelos unkuͤnſt¬ lich erſcheinen. Denn ein Kunſtwerk, deſſen Ganzes in großen, einfachen, harmoniſchen Theilen begriffen wird, macht wohl einen ed¬413 len und wuͤrdigen Eindruck, aber der eigent¬ liche Genuß, den das Gefallen erzeugt, kann nur bey Uebereinſtimmung aller entwickelten Einzelnheiten ſtatt finden.
Hierin aber gerade befriedigt uns das Ge¬ baͤude, das wir betrachten, im hoͤchſten Gra¬ de: denn wir ſehen alle und jede Zieraten je¬ dem Theil, den ſie ſchmuͤcken, voͤllig ange¬ meſſen, ſie ſind ihm untergeordnet, ſie ſchei¬ nen aus ihm entſprungen. Eine ſolche Man¬ nigfaltigkeit giebt immer ein großes Behagen, indem ſie ſich aus dem Gehoͤrigen herleitet und deshalb zugleich das Gefuͤhl der Einheit erregt, und nur in ſolchem Falle wird die Ausfuͤhrung als Gipfel der Kunſt geprieſen.
Durch ſolche Mittel ſollte nun eine feſte Mauer, eine undurchdringliche Wand, die ſich noch dazu als Baſe zweyer himmelhohen Thuͤrme anzukuͤndigen hatte, dem Auge zwar als auf ſich ſelbſt ruhend, in ſich ſelbſt beſte¬414 hend, aber auch dabey leicht und zierlich er¬ ſcheinen, und, obgleich tauſendfach durchbro¬ chen, den Begriff von unerſchuͤtterlicher Feſtig¬ keit geben.
Dieſes Raͤthſel iſt auf das gluͤcklichſte ge¬ loͤſt. Die Oeffnungen der Mauer, die ſoli¬ den Stellen derſelben, die Pfeiler, jedes hat ſeinen beſonderen Character, der aus der eig¬ nen Beſtimmung hervortritt; dieſer communi¬ cirt ſich ſtufenweis den Unterabtheilungen, da¬ her alles im gemaͤßen Sinne verziert iſt, das Große wie das Kleine ſich an der rechten Stelle befindet, leicht gefaßt werden kann, und ſo das Angenehme im Ungeheueren ſich darſtellt. Ich erinnere nur an die perſpecti¬ viſch in die Mauerdicke ſich einſenkenden, bis ins Unendliche an ihren Pfeilern und Spitz¬ bogen verzierten Thuͤren, an das Fenſter und deſſen aus der runden Form entſpringende Kunſtroſe, an das Profil ihrer Staͤbe, ſo wie an die ſchlanken Rohrſaͤulen der perpen¬415 dicularen Abtheilungen. Man vergegenwaͤrti¬ ge ſich die ſtufenweis zuruͤcktretenden Pfeiler, von ſchlanken, gleichfalls in die Hoͤhe ſtreben¬ den, zum Schutz der Heiligenbilder baldachin¬ artig beſtimmten, leichtſaͤuligen Spitzgebaͤud¬ chen begleitet, und wie zuletzt jede Rippe, jeder Knopf als Blumenknauf und Blattrei¬ he, oder als irgend ein anderes im Stein¬ ſinn umgeformtes Naturgebilde erſcheint. Man vergleiche das Gebaͤude, wo nicht ſelbſt, doch Abbildungen des Ganzen und des Einzelnen, zu Beurtheilung und Belebung meiner Aus¬ ſage. Sie koͤnnte manchem uͤbertrieben ſchei¬ nen: denn ich ſelbſt, zwar im erſten Anblicke zur Neigung gegen dieſes Werk hingeriſſen, brauchte doch lange Zeit, mich mit ſeinem Werth innig bekannt zu machen.
Unter Tadlern der gothiſchen Baukunſt aufgewachſen, naͤhrte ich meine Abneigung ge¬ gen die vielfach uͤberladenen, verworrenen Zieraten, die durch ihre Willkuͤhrlichkeit einen416 religioͤs duͤſteren Character hoͤchſt widerwaͤrtig machten; ich beſtaͤrkte mich in dieſem Unwil¬ len, da mir nur geiſtloſe Werke dieſer Art, an denen man weder gute Verhaͤltniſſe, noch eine reine Conſequenz gewahr wird, vors Ge¬ ſicht gekommen waren. Hier aber glaubte ich eine neue Offenbarung zu erblicken, indem mir jenes Tadelnswerthe keineswegs erſchien, ſondern vielmehr das Gegentheil davon ſich aufdrang.
Wie ich nun aber immer laͤnger ſah und uͤberlegte, glaubte ich uͤber das Vorgeſagte noch groͤßere Verdienſte zu entdecken. Her¬ ausgefunden war das richtige Verhaͤltniß der groͤßeren Abtheilungen, die ſo ſinnige als rei¬ che Verzierung bis ins Kleinſte; nun aber erkannte ich noch die Verknuͤpfung dieſer man¬ nigfaltigen Zieraten unter einander, die Hin¬ leitung von einem Haupttheile zum andern, die Verſchraͤnkung zwar gleichartiger, aber doch an Geſtalt hoͤchſt abwechſelnder Einzeln¬417 heiten, vom Heiligen bis zum Ungeheuer, vom Blatt bis zum Zacken. Jemehr ich un¬ terſuchte, deſto mehr gerieth ich in Erſtau¬ nen; jemehr ich mich mit Meſſen und Zeich¬ nen unterhielt und abmuͤdete, deſto mehr wuchs meine Anhaͤnglichkeit, ſo daß ich viele Zeit darauf verwendete, theils das Vorhan¬ dene zu ſtudiren, theils das Fehlende, Unvoll¬ endete, beſonders der Thuͤrme, in Gedanken und auf dem Blatte wiederherzuſtellen.
Da ich nun an alter deutſcher Staͤtte die¬ ſes Gebaͤude gegruͤndet und in aͤchter deutſcher Zeit ſo weit gediehen fand, auch der Name des Meiſters auf dem beſcheidenen Grabſtein gleichfalls vaterlaͤndiſchen Klanges und Ur¬ ſprungs war; ſo wagte ich, die bisher ver¬ rufene Benennung Gothiſche Bauart, aufge¬ fordert durch den Werth dieſes Kunſtwerks, abzuaͤndern und ſie als deutſche Baukunſt un¬ ſerer Nation zu vindiciren, ſodann aber ver¬ fehlte ich nicht, erſt muͤndlich, und hernachII. 27418in einem kleinen Aufſatz D. M. Erwini a Steinbach gewidmet, meine patriotiſchen Ge¬ ſinnungen an den Tag zu legen.
Gelangt meine biographiſche Erzaͤhlung zu der Epoche, in welcher gedachter Bogen im Druck erſchien, den Herder ſodann in ſein Heft, Von deutſcher Art und Kunſt, aufnahm, ſo wird noch manches uͤber dieſen wichtigen Gegenſtand zur Sprache kommen. Ehe ich mich aber dießmal von demſelben ab¬ wende, ſo will ich die Gelegenheit benutzen, um das dem gegenwaͤrtigen Bande vorgeſetzte Motto bey denjenigen zu rechtfertigen, welche einigen Zweifel daran hegen ſollten. Ich weiß zwar recht gut, daß gegen das brave und hoffnungsreiche altdeutſche Wort: Was einer in der Jugend wuͤnſcht, hat er im Al¬ ter genug! manche umgekehrte Erfahrung an¬ zufuͤhren, manches daran zu deuteln ſeyn moͤchte; aber auch viel Guͤnſtiges ſpricht da¬ fuͤr, und ich erklaͤre was ich dabey denke.
419Unſere Wuͤnſche ſind Vorgefuͤhle der Faͤ¬ higkeiten, die in uns liegen, Vorboten desje¬ nigen, was wir zu leiſten im Stande ſeyn werden. Was wir koͤnnen und moͤchten, ſtellt ſich unſerer Einbildungskraft außer uns und in der Zukunft dar; wir fuͤhlen eine Sehn¬ ſucht nach dem, was wir ſchon im Stillen beſitzen. So verwandelt ein leidenſchaftliches Vorausergreifen das wahrhaft Moͤgliche in ein ertraͤumtes Wirkliche. Liegt nun eine ſol¬ che Richtung entſchieden in unſerer Natur, ſo wird mit jedem Schritt unſerer Entwicke¬ lung ein Theil des erſten Wunſches erfuͤllt, bey guͤnſtigen Umſtaͤnden auf dem geraden Wege, bey unguͤnſtigen auf einem Umwege, von dem wir immer wieder nach jenem ein¬ lenken. So ſieht man Menſchen durch Be¬ harrlichkeit zu irdiſchen Guͤtern gelangen, ſie umgeben ſich mit Reichthum, Glanz und aͤußerer Ehre. Andere ſtreben noch ſicherer nach geiſtigen Vortheilen, erwerben ſich eine klare Ueberſicht der Dinge, eine Beruhigung27 *420des Gemuͤths und eine Sicherheit fuͤr die Gegenwart und Zukunft.
Nun giebt es aber eine dritte Richtung, die aus beyden gemiſcht iſt und deren Erfolg am ſicherſten gelingen muß. Wenn naͤmlich die Jugend des Menſchen in eine praͤgnante Zeit trifft, wo das Hervorbringen das Zer¬ ſtoͤren uͤberwiegt, und in ihm das Vorgefuͤhl bey Zeiten erwacht, was eine ſolche Epoche fordre und verſpreche; ſo wird er, durch aͤu¬ ßere Anlaͤſſe zu thaͤtiger Theilnahme gedraͤngt, bald da bald dorthin greifen, und der Wunſch nach vielen Seiten wirkſam zu ſeyn wird in ihm lebendig werden. Nun geſellen ſich aber zur menſchlichen Beſchraͤnktheit noch ſo viele zufaͤllige Hinderniſſe, daß hier ein Begonnenes liegen bleibt, dort ein Ergriffenes aus der Hand faͤllt, und ein Wunſch nach dem andern ſich verzettelt. Waren aber dieſe Wuͤnſche aus einem reinen Herzen entſprun¬ gen, dem Beduͤrfniß der Zeit gemaͤß; ſo darf421 man ruhig rechts und links liegen und fallen laſſen, und kann verſichert ſeyn, daß nicht allein dieſes wieder aufgefunden und aufgeho¬ ben werden muß, ſondern daß auch noch gar manches Verwandte, das man nie beruͤhrt, ja woran man nie gedacht hat, zum Vor¬ ſchein kommen werde. Sehen wir nun waͤh¬ rend unſeres Lebensganges dasjenige von An¬ dern geleiſtet, wozu wir ſelbſt fruͤher einen Beruf fuͤhlten, ihn aber, mit manchem An¬ dern, aufgeben mußten; dann tritt das ſchoͤ¬ ne Gefuͤhl ein, daß die Menſchheit zuſammen erſt der wahre Menſch iſt, und daß der Ein¬ zelne nur froh und gluͤcklich ſeyn kann, wenn er den Muth hat, ſich im Ganzen zu fuͤhlen.
Dieſe Betrachtung iſt hier recht am Pla¬ tze; denn wenn ich die Neigung bedenke, die mich zu jenen alten Bauwerken hinzog, wenn ich die Zeit berechne, die ich allein dem Straßburger Muͤnſter gewidmet, die Aufmerk¬ ſamkeit, mit der ich ſpaͤterhin den Dom zu422 Koͤlln und den zu Freyburg betrachtet und den Werth dieſer Gebaͤude immer mehr em¬ pfunden; ſo koͤnnte ich mich tadeln, daß ich ſie nachher ganz aus den Augen verloren, ja, durch eine entwickeltere Kunſt angezogen, voͤllig im Hintergrunde gelaſſen. Sehe ich nun aber in der neuſten Zeit die Aufmerk¬ ſamkeit wieder auf jene Gegenſtaͤnde hinge¬ lenkt, Neigung, ja Leidenſchaft gegen ſie her¬ vortreten und bluͤhen, ſehe ich tuͤchtige junge Leute, von ihr ergriffen, Kraͤfte, Zeit, Sorg¬ falt, Vermoͤgen dieſen Denkmalen einer ver¬ gangenen Welt ruͤckſichtlos widmen; ſo werde ich mit Vergnuͤgen erinnert, daß das was ich ſonſt wollte und wuͤnſchte einen Werth hatte. Mit Zufriedenheit ſehe ich, wie man nicht allein das von unſern Vorvordern Ge¬ leiſtete zu ſchaͤtzen weiß, ſondern wie man ſo¬ gar aus vorhandenen unausgefuͤhrten Anfaͤn¬ gen, wenigſtens im Bilde, die erſte Abſicht darzuſtellen ſucht, um uns dadurch mit dem Gedanken, welcher doch das Erſte und Letzte423 alles Vornehmens bleibt, bekannt zu machen, und eine verworren ſcheinende Vergangenheit mit beſonnenem Ernſt aufzuklaͤren und zu be¬ leben ſtrebt. Vorzuͤglich belobe ich hier den wackern Sulpiz Boiſſer é e, der unermuͤ¬ det beſchaͤftigt iſt, in einem praͤchtigen Kupfer¬ werke, den Koͤllniſchen Dom aufzuſtellen als Muſterbild jener ungeheuren Conceptionen, deren Sinn babyloniſch in den Himmel ſtreb¬ te, und die zu den irdiſchen Mitteln derge¬ ſtalt außer Verhaͤltniß waren, daß ſie noth¬ wendig in der Ausfuͤhrung ſtocken mußten. Haben wir bisher geſtaunt, daß ſolche Bau¬ werke nur ſoweit gediehen, ſo werden wir mit der groͤßten Bewunderung erfahren, was eigentlich zu leiſten die Abſicht war.
Moͤchten doch litterariſch-artiſtiſche Unter¬ nehmungen dieſer Art durch alle, welche Kraft, Vermoͤgen und Einfluß haben, gebuͤhrend be¬ foͤrdert werden, damit uns die große und rie¬ ſenmaͤßige Geſinnung unſerer Vorfahren zur424 Anſchauung gelange und wir uns einen Be¬ griff machen koͤnnen von dem was ſie wollen durften. Die hieraus entſpringende Einſicht wird nicht unfruchtbar bleiben und das Ur¬ theil ſich endlich einmal mit Gerechtigkeit an jenen Werken zu uͤben im Stande ſeyn. Ja dieſes wird auf das gruͤndlichſte geſchehen, wenn unſer thaͤtiger junger Freund, außer der dem Koͤllniſchen Dome gewidmeten Mono¬ graphie, die Geſchichte der Baukunſt unſerer Mittelzeit bis ins Einzelne verfolgt. Wird ferner an den Tag gefoͤrdert was irgend uͤber wertmaͤßige Ausuͤbung dieſer Kunſt zu erfah¬ ren iſt, wird ſie durch Vergleichung mit der griechiſch-roͤmiſchen und der orientaliſch-aͤgyp¬ tiſchen in allen Grundzuͤgen dargeſtellt; ſo kann in dieſem Fache wenig zu thun uͤbrig bleiben. Ich aber werde, wenn die Reſul¬ tate ſolcher vaterlaͤndiſchen Bemuͤhungen oͤf¬ fentlich vorliegen, ſo wie jetzt bey freundlichen Privatmittheilungen, mit wahrer Zufrieden¬ heit jenes Wort im beſten Sinne wiederho¬425 len koͤnnen: Was man in der Jugend wuͤnſcht, hat man im Alter genug.
Kann man aber bey ſolchen Wirkungen, welche Jahrhunderten angehoͤren, ſich auf die Zeit verlaſſen und die Gelegenheit erharren; ſo giebt es dagegen andere Dinge, die in der Jugend, friſch, wie reife Fruͤchte, weg¬ genoſſen werden muͤſſen. Es ſey mir erlaubt, mit dieſer raſchen Wendung, des Tanzes zu erwaͤhnen, an den das Ohr, ſo wie das Auge an den Muͤnſter, jeden Tag, jede Stunde in Straßburg, im Elſaß erinnert wird. Von fruͤher Jugend an hatte mir und meiner Schweſter der Vater ſelbſt im Tanzen Unterricht gegeben, welches einen ſo ernſt¬ haften Mann wunderlich genug haͤtte kleiden ſollen; allein er ließ ſich auch dabey nicht aus der Faſſung bringen, unterwies uns auf das beſtimmteſte in den Poſitionen und Schrit¬ ten, und als er uns weit genug gebracht hatte, um eine Menuet zu tanzen, ſo blies426 er auf einer Flute-douce uns etwas Faßli¬ ches im Dreyviertel-Tact vor, und wir be¬ wegten uns darnach ſo gut wir konnten. Auf dem franzoͤſiſchen Theater hatte ich gleichfalls von Jugend auf wo nicht Ballette doch So¬ lo's und Pas-de-deux geſehn und mir davon mancherley wunderliche Bewegungen der Fuͤſſe und allerley Spruͤnge gemerkt. Wenn wir nun der Menuet genug hatten, ſo erſuchte ich den Vater um andere Tanzmuſiken, dergleichen die Notenbuͤcher in ihren Giguen und Murkis reichlich darboten; und ich erfand mir ſo¬ gleich die Schritte und uͤbrigen Bewegun¬ gen dazu, indem der Tact meinen Gliedern ganz gemaͤß und mit denſelben geboren war. Dieß beluſtigte meinen Vater bis auf einen gewiſſen Grad, ja er machte ſich und uns manchmal den Spaß, die Affen auf dieſe Weiſe tanzen zu laſſen. Nach meinem Un¬ fall mit Gretchen und waͤhrend meines gan¬ zen Aufenthalts in Leipzig kam ich nicht wieder auf den Plan; vielmehr weiß ich427 noch, daß, als man mich auf einem Balle zu einer Menuet noͤthigte, Tact und Be¬ wegung aus meinen Gliedern gewichen ſchien, und ich mich weder der Schritte noch der Figuren mehr erinnerte; ſo daß ich mit Schimpf und Schanden beſtanden waͤre, wenn nicht der groͤßere Theil der Zuſchauer behauptet haͤtte, mein ungeſchicktes Betragen ſey bloßer Eigenſinn, in der Abſicht den Frauenzimmern alle Luſt zu benehmen, mich wider Willen aufzufordern und in ihre Rei¬ hen zu ziehen.
Waͤhrend meines Aufenthalts in Frank¬ furt war ich von ſolchen Freuden ganz abge¬ ſchnitten; aber in Straßburg regte ſich bald, mit der uͤbrigen Lebensluſt, die Tactfaͤhig¬ keit meiner Glieder. An Sonn - und Wer¬ keltagen ſchlenderte man keinen Luſtort vorbey, ohne daſelbſt einen froͤhlichen Haufen zum Tanze verſammelt, und zwar meiſtens im Krei¬ ſe drehend zu finden. Ingleichen waren auf428 den Landhaͤuſern Privat-Baͤlle, und man ſprach ſchon von den brillanten Redouten des zukommenden Winters. Hier waͤre ich nun freylich nicht an meinem Platz und der Ge¬ ſellſchaft unnuͤtz geweſen; da rieth mir ein Freund, der ſehr gut walzte, mich erſt in minder guten Geſellſchaften zu uͤben, damit ich hernach in der beſten etwas gelten koͤnn¬ te. Er brachte mich zu einem Tanzmeiſter, der fuͤr geſchickt bekannt war; dieſer verſprach mir, wenn ich nur einigermaßen die erſten Anfangsgruͤnde wiederholt und mir zu eigen gemacht haͤtte, mich dann weiter zu leiten. Er war eine von den trockenen gewandten franzoͤſiſchen Naturen, und nahm mich freund¬ lich auf. Ich zahlte ihm den Monat vor¬ aus, und erhielt zwoͤlf Billette, gegen die er mir gewiſſe Stunden Unterricht zuſagte. Der Mann war ſtreng, genau, aber nicht pedantiſch; und da ich ſchon einige Vor¬ uͤbung hatte, ſo machte ich es ihm bald zu Danke und erhielt ſeinen Beyfall.
429Den Unterricht dieſes Lehrers erleichterte jedoch ein Umſtand gar ſehr: er hatte naͤm¬ lich zwey Toͤchter, beyde huͤbſch und noch un¬ ter zwanzig Jahren. Von Jugend auf in dieſer Kunſt unterrichtet zeigten ſie ſich darin ſehr gewandt und haͤtten als Moitie auch dem ungeſchickteſten Scholaren bald zu eini¬ ger Bildung verhelfen koͤnnen. Sie waren beyde ſehr artig, ſprachen nur franzoͤſiſch, und ich nahm mich von meiner Seite zuſam¬ men, um vor ihnen nicht linkiſch und laͤcher¬ lich zu erſcheinen. Ich hatte das Gluͤck, daß auch ſie mich lobten, immer willig waren, nach der kleinen Geige des Vaters eine Me¬ nuet zu tanzen, ja ſogar, was ihnen freylich beſchwerlicher ward, mir nach und nach das Walzen und Drehen einzulernen. Uebrigens ſchien der Vater nicht viele Kunden zu haben, und ſie fuͤhrten ein einſames Leben. Des¬ halb erſuchten ſie mich manchmal nach der Stunde bey ihnen zu bleiben und die Zeit ein wenig zu verſchwaͤtzen; das ich denn auch430 ganz gerne that, um ſo mehr als die juͤn¬ gere mir wohl gefiel und ſie ſich uͤberhaupt ſehr anſtaͤndig betrugen. Ich las manchmal aus einem Roman etwas vor, und ſie tha¬ ten das Gleiche. Die aͤltere, die ſo huͤbſch, vielleicht noch huͤbſcher war als die zweyte, mir aber nicht ſo gut wie dieſe zuſagte, be¬ trug ſich durchaus gegen mich verbindlicher und in allem gefaͤlliger. Sie war in der Stunde immer bey der Hand und zog ſie manchmal in die Laͤnge; daher ich mich eini¬ gemal verpflichtet glaubte, dem Vater zwey Billette anzubieten, die er jedoch nicht an¬ nahm. Die juͤngere hingegen, ob ſie gleich nicht unfreundlich gegen mich that, war doch eher ſtill fuͤr ſich, und ließ ſich durch den Vater herbeyrufen, um die aͤltere abzuloͤſen.
Die Urſache davon ward mir eines Abends deutlich. Denn als ich mit der aͤlteſten, nach vollendetem Tanz, in das Wohnzimmer gehen wollte, hielt ſie mich zuruͤck und ſagte: Blei¬431 ben wir noch ein wenig hier; denn ich will es Ihnen nur geſtehen, meine Schweſter hat eine Kartenſchlaͤgerinn bey ſich, die ihr offenbaren ſoll, wie es mit einem auswaͤrti¬ gen Freund beſchaffen iſt, an dem ihr gan¬ zes Herz haͤngt, auf den ſie alle ihre Hoff¬ nung geſetzt hat. Das meinige iſt frey, fuhr ſie fort, und ich werde mich gewoͤhnen muͤſ¬ ſen, es verſchmaͤht zu ſehen. Ich ſagte ihr darauf einige Artigkeiten, indem ich verſetzte, daß ſie ſich, wie es damit ſtehe, am erſten uͤberzeugen koͤnne, wenn ſie die weiſe Frau gleichfalls befragte; ich wolle es auch thun, denn ich haͤtte ſchon laͤngſt ſo etwas zu erfah¬ ren gewuͤnſcht, woran mir bisher der Glau¬ be gefehlt habe. Sie tadelte mich deshalb und betheuerte, daß nichts in der Welt ſich¬ rer ſey, als die Ausſpruͤche dieſes Orakels, nur muͤſſe man es nicht aus Scherz und Fre¬ vel, ſondern nur in wahren Anliegenheiten befragen. Ich noͤthigte ſie jedoch zuletzt mit mir in jenes Zimmer zu gehen, ſobald ſie432 ſich verſichert hatte, daß die Function vorbey ſey. Wir fanden die Schweſter ſehr aufge¬ raͤumt und auch gegen mich war ſie zuthu¬ licher als ſonſt, ſcherzhaft und beynahe geiſt¬ reich: denn da ſie eines abweſenden Freundes ſicher geworden zu ſeyn ſchien, ſo mochte ſie es fuͤr unverfaͤnglich halten, mit einem ge¬ genwaͤrtigen Freund ihrer Schweſter, denn dafuͤr hielt ſie mich, ein wenig artig zu thun.
Der Alten wurde nun geſchmeichelt und ihr gute Bezahlung zugeſagt, wenn ſie der aͤlteren Schweſter und auch mir das Wahr¬ hafte ſagen wollte. Mit den gewoͤhnlichen Vorbereitungen und Ceremonien legte ſie nun ihren Kram aus, und zwar, um der Schoͤ¬ nen zuerſt zu weiſſagen. Sie betrachtete die Lage der Karten ſorgfaͤltig, ſchien aber zu ſtocken und wollte mit der Sprache nicht her¬ aus. — Ich ſehe ſchon, ſagte die juͤngere, die mit der Auslegung einer ſolchen magiſchen Tafel ſchon naͤher bekannt war, Ihr zaudert433 und wollt meiner Schweſter nichts Unange¬ nehmes eroͤffnen; aber das iſt eine verwuͤnſch¬ te Karte! Die aͤltere wurde blaß, doch fa߬ te ſie ſich und ſagte: So ſprecht nur; es wird ja den Kopf nicht koſten! Die Alte, nach einem tiefen Seufzer, zeigte ihr nun an, daß ſie liebe, daß ſie nicht geliebt wer¬ de, daß eine andere Perſon dazwiſchen ſtehe und was dergleichen Dinge mehr waren. Man ſah dem guten Maͤdchen die Verlegen¬ heit an. Die Alte glaubte die Sache wie¬ der etwas zu verbeſſern, indem ſie auf Brie¬ fe und Geld Hoffnung machte. — Briefe, ſagte das ſchoͤne Kind, erwarte ich nicht und Geld mag ich nicht. Wenn es wahr iſt, wie Ihr ſagt, daß ich liebe, ſo verdiene ich ein Herz das mich wieder liebt. — Wir wol¬ len ſehen, ob es nicht beſſer wird, verſetzte die Alte, indem ſie die Karten miſchte und zum zweyten Mal auflegte; allein es war vor unſer aller Augen nur noch ſchlimmer ge¬ worden. Die Schoͤne ſtand nicht allein ein¬II. 28434ſamer, ſondern auch mit mancherley Verdruß umgeben; der Freund war etwas weiter und die Zwiſchenfiguren naͤher geruͤckt. Die Alte wollte zum dritten Mal auslegen, in Hoff¬ nung einer beſſern Anſicht; allein das ſchoͤne Kind hielt ſich nicht laͤnger, ſie brach in un¬ baͤndiges Weinen aus, ihr holder Buſen be¬ wegte ſich auf eine gewaltſame Weiſe, ſie wandte ſich um und rannte zum Zimmer hin¬ aus. Ich wußte nicht was ich thun ſollte. Die Neigung hielt mich bey der Gegenwaͤr¬ tigen, das Mitleid trieb mich zu jener; meine Lage war peinlich genug. — Troͤſten Sie Lucinden, ſagte die juͤngere, gehen Sie ihr nach. Ich zauderte; wie durfte ich ſie troͤſten, ohne ſie wenigſtens einer Art von Nei¬ gung zu verſichern, und konnte das wohl in einem ſolchen Augenblick auf eine kalte maͤßige Weiſe! — Laſſen Sie uns zuſammen gehn, ſagte ich zu Emilien. — Ich weiß nicht, ob ihr meine Gegenwart wohl thun wird, verſetzte dieſe. Doch gingen wir, fan¬435 den aber die Thuͤr verriegelt. Lucinde ant¬ wortete nicht, wir mochten pochen, rufen, bitten wie wir wollten. — Wir muͤſſen ſie gewaͤhren laſſen, ſagte Emilie, ſie will nun nicht anders! Und wenn ich mir freylich ihr Weſen von unſerer erſten Bekanntſchaft an erinnerte, ſo hatte ſie immer etwas Heftiges und Ungleiches, und ihre Neigung zu mir zeigte ſie am meiſten dadurch, daß ſie ihre Unart nicht an mir bewies. Was wollte ich thun! Ich zahlte die Alte reichlich fuͤr das Unheil, das ſie geſtiftet hatte, und wollte gehen, als Emilie ſagte: Ich bedinge mir, daß die Karte nun auch auf Sie geſchlagen werde. Die Alte war bereit. — Laſſen Sie mich nicht dabey ſeyn! rief ich, und eilte die Treppe hinunter.
Den andern Tag hatte ich nicht Muth hinzugehen. Den dritten ließ mir Emilie durch einen Knaben, der mir ſchon manche Botſchaft von den Schweſtern gebracht und28 *436Blumen und Fruͤchte dagegen an ſie getragen hatte, in aller Fruͤhe ſagen, ich moͤchte heute ja nicht fehlen. Ich kam zur gewoͤhnlichen Stunde und fand den Vater allein, der an meinen Tritten und Schritten, an meinem Gehen und Kommen, an meinem Tragen und Behaben noch manches ausbeſſerte und uͤbri¬ gens mit mir zufrieden ſchien. Die juͤngſte kam gegen das Ende der Stunde und tanzte mit mir eine ſehr grazioͤſe Menuet, in der ſie ſich außerordentlich angenehm bewegte, und der Vater verſicherte, nicht leicht ein huͤbſche¬ res und gewandteres Paar auf ſeinem Plane geſehen zu haben. Nach der Stunde ging ich wie gewoͤhnlich ins Wohnzimmer; der Va¬ ter ließ uns allein, ich vermißte Lucinden. — Sie liegt im Bette, ſagte Emilie, und ich ſehe es gern: haben Sie deshalb keine Sor¬ ge. Ihre Seelenkrankheit lindert ſich am er¬ ſten, wenn ſie ſich koͤrperlich fuͤr krank haͤlt; ſterben mag ſie nicht gern, und ſo thut ſie als¬ dann was wir wollen. Wir haben gewiſſe437 Hausmittel, die ſie zu ſich nimmt und aus¬ ruht; und ſo legen ſich nach und nach die tobenden Wellen. Sie iſt gar zu gut und liebenswuͤrdig bey ſo einer eingebildeten Krank¬ heit, und da ſie ſich im Grunde recht wohl befindet und nur von Leidenſchaft angegriffen iſt, ſo ſinnt ſie ſich allerhand romanenhafte Todesarten aus, vor denen ſie ſich auf eine angenehme Weiſe fuͤrchtet, wie Kinder, denen man von Geſpenſtern erzaͤhlt. So hat ſie mir geſtern Abend noch mit großer Heftigkeit erklaͤrt, daß ſie dießmal gewiß ſterben wuͤrde, und man ſollte den undankbaren falſchen Freund, der ihr erſt ſo ſchoͤn gethan und ſie nun ſo uͤbel behandle, nur dann wieder zu ihr fuͤhren, wenn ſie wirklich ganz nahe am Tode ſey: ſie wolle ihm recht bittre Vorwuͤr¬ fe machen und auch ſogleich den Geiſt auf¬ geben. — Ich weiß mich nicht ſchuldig! rief ich aus, daß ich irgend eine Neigung zu ihr geaͤußert. Ich kenne Jemand, der mir dieſes Zeugniß am beſten ertheilen kann. Emilie438 laͤchelte und verſetzte: Ich verſtehe Sie, und wenn wir nicht klug und entſchloſſen ſind ſo kommen wir alle zuſammen in eine uͤble Lage. Was werden Sie ſagen, wenn ich Sie erſuche, Ihre Stunden nicht weiter fortzuſetzen? Sie haben von dem letzten Monat allenfalls noch vier Billette, und mein Vater aͤußerte ſchon, daß er es unverantwortlich finde, Ihnen noch laͤnger Geld abzunehmen: es muͤßte denn ſeyn, daß Sie ſich der Tanzkunſt auf eine ernſtlichere Weiſe widmen wollten; was ein junger Mann in der Welt brauchte, beſaßen Sie nun. — Und dieſen Rath, Ihr Haus zu meiden, ge¬ ben Sie mir, Emilie? verſetzte ich. — Eben ich, ſagte ſie, aber nicht aus mir ſelbſt. Hoͤ¬ ren Sie nur. Als Sie vorgeſtern wegeilten, ließ ich die Karte auf Sie ſchlagen, und der¬ ſelbe Ausſpruch wiederholte ſich dreymal und immer ſtaͤrker. Sie waren umgeben von al¬ lerley Gutem und Vergnuͤglichen, von Freun¬ den und großen Herren, an Geld fehlte es439 auch nicht. Die Frauen hielten ſich in eini¬ ger Entfernung. Meine arme Schweſter be¬ ſonders ſtand immer am weiteſten; eine an¬ dere ruͤckte Ihnen immer naͤher, kam aber nie an Ihre Seite: denn es ſtellte ſich ein Dritter dazwiſchen. Ich will Ihnen nur ge¬ ſtehen, daß ich mich unter der zweyten Dame gedacht hatte, und nach dieſem Bekenntniſſe werden Sie meinen wohlmeynenden Rath am beſten begreifen. Einem entfernten Freund habe ich mein Herz und meine Hand zugeſagt, und bis jetzt liebt 'ich ihn uͤber alles; doch es waͤre moͤglich, daß Ihre Gegenwart mir bedeutender wuͤrde als bisher, und was wuͤr¬ den Sie fuͤr einen Stand zwiſchen zwey Schweſtern haben, davon Sie die eine durch Neigung und die andere durch Kaͤlte ungluͤck¬ lich gemacht haͤtten, und alle dieſe Qual um nichts und auf kurze Zeit. Denn wenn wir nicht ſchon wuͤßten, wer Sie ſind und was Sie zu hoffen haben, ſo haͤtte mir es die Karte440 aufs deutlichſte vor Augen geſtellt. Leben Sie wohl, ſagte ſie, und reichte mir die Hand. Ich zauderte. — Nun ſagte ſie, indem ſie mich gegen die Thuͤre fuͤhrte, damit es wirklich das letzte Mal ſey, daß wir uns ſprechen, ſo nehmen Sie was ich Ihnen ſonſt verſagen wuͤrde. Sie fiel mir um den Hals und kuͤßte mich aufs zaͤrtlichſte. Ich umfaßte ſie und druͤckte ſie an mich.
In dieſem Augenblicke flog die Seitenthuͤr auf, und die Schweſter ſprang in einem leich¬ ten aber anſtaͤndigen Nachtkleide hervor und rief: Du ſollſt nicht allein von ihm Abſchied nehmen! Emilie ließ mich fahren und Lucin¬ de ergriff mich, ſchloß ſich feſt an mein Herz, druͤckte ihre ſchwarzen Locken an meine Wan¬ gen und blieb eine Zeit lang in dieſer Lage. Und ſo fand ich mich denn in der Klemme zwiſchen beyden Schweſtern, wie mir's Emi¬ lie einen Augenblick vorher geweiſſagt hatte. 441Lucinde ließ mich los und ſah mir ernſt ins Geſicht. Ich wollte ihre Hand ergreifen und ihr etwas Freundliches ſagen; allein ſie wand¬ te ſich weg, ging mit ſtarken Schritten eini¬ gemal im Zimmer auf und ab und warf ſich dann in die Ecke des Sopha's. Emilie trat zu ihr, ward aber ſogleich weggewieſen, und hier entſtand eine Scene, die mir noch in der Erinnerung peinlich iſt, und die, ob ſie gleich in der Wirklichkeit nichts Theatraliſches hatte, ſondern einer lebhaften jungen Franzoͤſinn ganz angemeſſen war, dennoch nur von einer guten empfindenden Schauſpielerinn auf dem Theater wuͤrdig wiederholt werden koͤnnte.
Lucinde uͤberhaͤufte ihre Schweſter mit tauſend Vorwuͤrfen. Es iſt nicht das erſte Herz, rief ſie aus, das ſich zu mir neigt, und das Du mir entwendeſt. War es doch mit dem Abweſenden eben ſo, der ſich zuletzt unter meinen Augen mit Dir verlobte. Ich442 mußte es anſehen, ich ertrug's; ich weiß aber wie viele tauſend Thraͤnen es mich ge¬ koſtet hat. Dieſen haſt Du mir nun auch weggefangen, ohne jenen fahren zu laſſen, und wie viele verſtehſt Du nicht auf einmal zu halten. Ich bin offen und gutmuͤthig, und Jedermann glaubt mich bald zu kennen und mich vernachlaͤſſigen zu duͤrfen; Du biſt verſteckt und ſtill, und die Leute glauben Wunder was hinter dir verborgen ſey. Aber es iſt nichts dahinter als ein kaltes, ſelbſti¬ ſches Herz, das ſich alles aufzuopfern weiß; das aber kennt Niemand ſo leicht, weil es tief in Deiner Bruſt verborgen liegt, ſo wenig als mein warmes treues Herz, das ich offen trage, wie mein Geſicht.
Emilie ſchwieg und hatte ſich neben ihre Schweſter geſetzt, die ſich im Reden immer mehr erhitzte, und ſich uͤber gewiſſe beſondere Dinge herausließ, die mir zu wiſſen eigent¬443 lich nicht frommte. Emilie dagegen, die ih¬ re Schweſter zu beguͤtigen ſuchte, gab mir hinterwaͤrts ein Zeichen, daß ich mich ent¬ fernen ſollte; aber wie Eiferſucht und Arg¬ wohn mit tauſend Augen ſehen, ſo ſchien auch Lucinde es bemerkt zu haben. Sie ſprang auf und ging auf mich los, aber nicht mit Heftigkeit. Sie ſtand vor mir und ſchien auf etwas zu ſinnen. Drauf ſagte ſie: Ich weiß, daß ich Sie verloren habe; ich mache keine weitern Anſpruͤche auf Sie. Aber Du ſollſt ihn auch nicht haben, Schweſter! Sie faßte mich mit dieſen Worten ganz ei¬ gentlich beym Kopf, indem ſie mir mit bey¬ den Haͤnden in die Locken fuhr, mein Ge¬ ſicht an das ihre druͤckte und mich zu wieder¬ holten Malen auf den Mund kuͤßte. Nun, rief ſie aus, fuͤrchte meine Verwuͤnſchung. Ungluͤck uͤber Ungluͤck fuͤr immer und immer auf diejenige, die zum erſten Male nach mir dieſe Lippen kuͤßt! Wage es nun wieder mit444 ihm anzubinden; ich weiß, der Himmel er¬ hoͤrt mich dießmal. Und Sie, mein Herr, eilen Sie nun, eilen Sie was Sie koͤnnen!
Ich flog die Treppe hinunter mit dem feſten Vorſatze, das Haus nie wieder zu be¬ treten.
Die deutſchen Dichter, da ſie nicht mehr als Gildeglieder fuͤr Einen Mann ſtanden, genoſſen in der buͤrgerlichen Welt nicht der mindeſten Vortheile. Sie hatten weder Halt, Stand noch Anſehn, als in ſofern ſonſt ein Verhaͤltniß ihnen guͤnſtig war, und es kam daher bloß auf den Zufall an, ob das Talent zu Ehren oder Schanden geboren ſeyn ſollte. Ein armer Erdenſohn, im Gefuͤhl von Geiſt und Faͤhigkeiten, mußte ſich kuͤmmerlich ins Leben hineinſchleppen und die Gabe, die er allenfalls von den Muſen erhalten hatte, von dem augenblicklichen Beduͤrfniß gedraͤngt, vergeuden. Das Gelegenheitsgedicht, die er¬ ſte und aͤchteſte aller Dichtarten, ward ver¬ aͤchtlich auf einen Grad, daß die Nation noch jetzt nicht zu einem Begriff des hohen448 Werthes deſſelben gelangen kann, und ein Poet, wenn er nicht gar den Weg Guͤn¬ thers einſchlug, erſchien in der Welt auf die traurigſte Weiſe ſubordinirt, als Spaßmacher und Schmarutzer, ſo daß er ſowohl auf dem Theater als auf der Lebensbuͤhne eine Figur vorſtellte, der man nach Belieben mitſpie¬ len konnte.
Geſellte ſich hingegen die Muſe zu Maͤn¬ nern von Anſehen, ſo erhielten dieſe dadurch einen Glanz, der auf die Geberinn zuruͤck¬ fiel. Lebensgewandte Edelleute, wie Hage¬ dorn, ſtattliche Buͤrger, wie Brockes, ent¬ ſchiedene Gelehrte, wie Haller, erſchienen unter den Erſten der Nation, den Vornehm¬ ſten und Geſchaͤtzteſten gleich. Beſonders wur¬ den auch ſolche Perſonen verehrt, die, ne¬ ben jenem angenehmen Talente, ſich noch als emſige, treue Geſchaͤftsmaͤnner auszeichneten. Deshalb erfreuten ſich Uz, Rabener, Weiße einer Achtung ganz eigner Art, weil man449 die heterogenſten, ſelten mit einander ver¬ bundenen Eigenſchaften hier vereint zu ſchaͤ¬ tzen hatte.
Nun ſollte aber die Zeit kommen, wo das Dichtergenie ſich ſelbſt gewahr wuͤrde, ſich ſeine eignen Verhaͤltniſſe ſelbſt ſchuͤfe und den Grund zu einer unabhaͤngigen Wuͤrde zu legen verſtuͤnde. Alles traf in Klopſtock zuſammen, um eine ſolche Epoche zu begruͤn¬ den. Er war, von der ſinnlichen wie von der ſittlichen Seite betrachtet, ein reiner Juͤng¬ ling. Ernſt und gruͤndlich erzogen legt er, von Jugend an, einen großen Werth auf ſich ſelbſt und auf alles was er thut, und indem er die Schritte ſeines Lebens bedaͤch¬ tig vorausmißt, wendet er ſich, im Vorge¬ fuͤhl der ganzen Kraft ſeines Innern, gegen den hoͤchſten denkbaren Gegenſtand. Der Meſſias, ein Name, der unendliche Ei¬ genſchaften bezeichnet, ſollte durch ihn aufs Neue verherrlicht werden. Der Erloͤſer ſollteII. 29450der Held ſeyn, den er, durch irdiſche Ge¬ meinheit und Leiden, zu den hoͤchſten himm¬ liſchen Triumphen zu begleiten gedachte. Al¬ les was Goͤttliches, Engliſches, Menſchli¬ ches in der jungen Seele lag, ward hier in Anſpruch genommen. Er, an der Bibel er¬ zogen und durch ihre Kraft genaͤhrt, lebt nun mit Erzvaͤtern, Propheten und Vorlaͤu¬ fern als Gegenwaͤrtigen; doch alle ſind ſeit Jahrhunderten nur dazu berufen, einen lich¬ ten Kreis um den Einen zu ziehn, deſſen Erniedrigung ſie mit Staunen beſchauen, und an deſſen Verherrlichung ſie glorreich Theil nehmen ſollen. Denn endlich, nach truͤben und ſchrecklichen Stunden, wird der ewige Richter ſein Antlitz entwoͤlken, ſeinen Sohn und Mitgott wieder anerkennen, und dieſer wird ihm dagegen die abgewendeten Men¬ ſchen, ja ſogar einen abgefallenen Geiſt wie¬ der zufuͤhren. Die lebendigen Himmel jauch¬ zen in tauſend Engelſtimmen um den Thron, und ein Liebesglanz uͤbergießt das Weltall,451 das ſeinen Blick kurz vorher auf eine graͤu¬ liche Opferſtaͤtte geſammelt hielt. Der himm¬ liſche Friede, welchen Klopſtock bey Concep¬ tion und Ausfuͤhrung dieſes Gedichtes em¬ pfunden, theilt ſich noch jetzt einem Jeden mit, der die erſten zehn Geſaͤnge lieſt, ohne die Forderungen bey ſich laut werden zu laſ¬ ſen, auf die eine fortruckende Bildung nicht gerne Verzicht thut.
Die Wuͤrde des Gegenſtands erhoͤhte dem Dichter das Gefuͤhl eigner Perſoͤnlichkeit. Daß er ſelbſt dereinſt zu dieſen Choͤren eintreten, daß der Gottmenſch ihn auszeichnen, ihm von Angeſicht zu Angeſicht den Dank fuͤr ſei¬ ne Bemuͤhungen abtragen wuͤrde, den ihm ſchon hier jedes gefuͤhlvolle, fromme Herz, durch manche reine Zaͤhre, lieblich genug ent¬ richtet hatte: dieß waren ſo unſchuldige kind¬ liche Geſinnungen und Hoffnungen, als ſie nur ein wohlgeſchaffenes Gemuͤth haben und hegen kann. So erwarb nun Klopſtock das29 *452voͤllige Recht, ſich als eine geheiligte Perſon anzuſehn, und ſo befliß er ſich auch in ſei¬ nem Thun der aufmerkſamſten Reinigkeit. Noch in ſpaͤtem Alter beunruhigte es ihn ungemein, daß er ſeine erſte Liebe einem Frauenzimmer zugewendet hatte, die ihn, da ſie einen An¬ dern heiratete, in Ungewißheit ließ, ob ſie ihn wirklich geliebt habe, ob ſie ſeiner werth geweſen ſey. Die Geſinnungen, die ihn mit Meta verbanden, dieſe innige, ruhige Nei¬ gung, der kurze, heilige Eheſtand, des uͤber¬ bliebenen Gatten Abneigung vor einer zwey¬ ten Verbindung, alles iſt von der Art, um ſich deſſelben einſt im Kreiſe der Seligen wohl wieder erinnern zu duͤrfen.
Dieſes ehrenhafte Verfahren gegen ſich ſelbſt ward noch dadurch erhoͤht, daß er in dem wohlgeſinnten Daͤnemark, in dem Hau¬ ſe eines großen, und auch menſchlich betrach¬ tet, fuͤrtrefflichen Staatsmanns eine Zeit lang wohl aufgenommen war. Hier, in einem453 hoͤheren Kreiſe, der zwar in ſich abgeſchloſ¬ ſen, aber auch zugleich der aͤußeren Sitte, der Aufmerkſamkeit gegen die Welt gewidmet war, entſchied ſich ſeine Richtung noch mehr. Ein gefaßtes Betragen, eine abgemeſſene Re¬ de, ein Laconismus, ſelbſt wenn er offen und entſcheidend ſprach, gaben ihm durch ſein ganzes Leben ein gewiſſes diplomati¬ ſches, miniſterielles Anſehn, das mit jenen zarten Naturgeſinnungen im Widerſtreit zu liegen ſchien, obgleich beyde aus Einer Quel¬ le entſprangen. Von allem dieſen geben ſeine erſten Werke ein reines Ab - und Vorbild, und ſie mußten daher einen unglaublichen Einfluß gewinnen. Daß er jedoch perſoͤnlich Andere ſtrebende im Leben und Dichten ge¬ foͤrdert, iſt kaum als eine ſeiner entſchiede¬ nen Eigenſchaften zur Sprache gekommen.
Aber eben ein ſolches Foͤrderniß junger Leute im litterariſchen Thun und Treiben, eine Luſt, hoffnungsvolle, vom Gluͤck nicht454 beguͤnſtigte Menſchen vorwaͤrts zu bringen und ihnen den Weg zu erleichtern, hat einen deutſchen Mann verherrlicht, der, in Abſicht auf Wuͤrde die er ſich ſelbſt gab, wohl als der Zweyte, in Abſicht aber auf lebendige Wirkung, als der Erſte genannt werden darf. Niemanden wird entgehen, daß hier Gleim gemeynt ſey. Im Beſitz einer zwar dunkeln, aber eintraͤglichen Stelle, wohnhaft an ei¬ nem wohlgelegenen, nicht allzugroßen, durch militariſche, buͤrgerliche, litterariſche Betrieb¬ ſamkeit belebten Orte, von wo die Einkuͤnfte einer großen und reichen Stiftung ausgingen, nicht ohne daß ein Theil derſelben zum Vor¬ theil des Platzes zuruͤckblieb, fuͤhlte er einen lebhaften productiven Trieb in ſich, der je¬ doch bey aller Staͤrke ihm nicht ganz genuͤg¬ te, deswegen er ſich einem andern vielleicht maͤchtigern Triebe hingab, dem naͤmlich. An¬ dere etwas hervorbringen zu machen. Beyde Thaͤtigkeiten flochten ſich waͤhrend ſeines gan¬ zen langen Lebens unablaͤſſig durch einander. 455Er haͤtte eben ſowohl des Athemholens ent¬ behrt als des Dichtens und Schenkens, und, indem er beduͤrftigen Talenten aller Art uͤber fruͤhere oder ſpaͤtere Verlegenheiten hinaus und dadurch wirklich der Litteratur zu Ehren half, gewann er ſich ſo viele Freunde, Schuld¬ ner und Abhaͤngige, daß man ihm ſeine brei¬ te Poeſie gerne gelten ließ, weil man ihm fuͤr die reichlichen Wohlthaten nichts zu er¬ wiedern vermochte als Duldung ſeiner Gedichte.
Jener hohe Begriff nun, den ſich beyde Maͤnner von ihrem Werth bilden durften, und wodurch Andere veranlaßt wurden, ſich auch fuͤr etwas zu halten, hat im Oeffentli¬ chen und Geheimen ſehr große und ſchoͤne Wirkungen hervorgebracht. Allein dieſes Be¬ wußtſeyn, ſo ehrwuͤrdig es iſt, fuͤhrte fuͤr ſie ſelbſt, fuͤr ihre Umgebungen, ihre Zeit ein eignes Uebel herbey. Darf man beyde Maͤnner, nach ihren geiſtigen Wirkungen, unbedenklich groß nennen, ſo blieben ſie ge¬456 gen die Welt doch nur klein, und gegen ein bewegteres Leben betrachtet, waren ihre aͤu¬ ßeren Verhaͤltniſſe nichtig. Der Tag iſt lang und die Nacht dazu; man kann nicht im¬ mer dichten, thun oder geben; ihre Zeit konnte nicht ausgefuͤllt werden, wie die der Weltleute, Vornehmen und Reichen; ſie leg¬ ten daher auf ihre beſondern engen Zuſtaͤnde einen zu hohen Werth, in ihr taͤgliches Thun und Treiben eine Wichtigkeit, die ſie ſich nur unter einander zugeſtehn mochten; ſie freuten ſich mehr als billig ihrer Scherze, die, wenn ſie den Augenblick anmuthig mach¬ ten, doch in der Folge keineswegs fuͤr bedeu¬ tend gelten konnten. Sie empfingen von An¬ dern Lob und Ehre wie ſie verdienten, ſie gaben ſolche zuruͤck, wohl mit Maß, aber doch immer zu reichlich, und eben weil ſie fuͤhlten, daß ihre Neigung viel werth ſey, ſo gefielen ſie ſich, dieſelbe wiederholt aus¬ zudruͤcken, und ſchonten hierbey weder Pa¬ pier noch Dinte. So entſtanden jene Brief¬457 wechſel, uͤber deren Gehaltsmangel die neue¬ re Welt ſich verwundert, der man nicht ver¬ argen kann, wenn ſie kaum die Moͤglichkeit einſieht, wie vorzuͤgliche Menſchen ſich an einer ſolchen Wechſelnichtigkeit ergetzen konn¬ ten, wenn ſie den Wunſch laut werden laͤßt, dergleichen Blaͤtter moͤchten ungedruckt geblie¬ ben ſeyn. Allein man laſſe jene wenigen Baͤn¬ de doch immer neben ſo viel andern auf dem Buͤcherbrette ſtehn, wenn man ſich daran belehrt hat, daß der vorzuͤglichſte Menſch auch nur vom Tage lebt und nur kuͤmmerlichen Unterhalt genießt, wenn er ſich zu ſehr auf ſich ſelbſt zuruͤckwirft und in die Fuͤlle der aͤußeren Welt zu greifen verſaͤumt, wo er al¬ lein Nahrung fuͤr ſein Wachsthum und zu¬ gleich einen Maßſtab deſſelben finden kann.
Die Thaͤtigkeit jener Maͤnner ſtand in ihrer ſchoͤnſten Bluͤthe, als wir jungen Leute uns auch in unſerem Kreiſe zu regen anfingen, und ich war ſo ziemlich auf dem Wege458 mit juͤngeren Freunden, wo nicht auch mit aͤlteren Perſonen, in ein ſolches wechſelſeiti¬ ges Schoͤnethun, Geltenlaſſen, Heben und Tragen zu gerathen. In meiner Sphaͤre konnte das was ich hervorbrachte immer fuͤr gut gehalten werden. Frauenzimmer, Freun¬ de, Goͤnner werden nicht ſchlecht finden was man ihnen zu Liebe unternimmt und dichtet; aus ſolchen Verbindlichkeiten entſpringt zuletzt der Ausdruck eines leeren Behagens an ein¬ ander, in deſſen Phraſen ſich ein Character leicht verliert, wenn er nicht von Zeit zu Zeit zu hoͤherer Tuͤchtigkeit geſtaͤhlt wird.
Und ſo hatte ich von Gluͤck zu ſagen, daß, durch eine unerwartete Bekanntſchaft, alles was in mir von Selbſtgefaͤlligkeit, Be¬ ſpiegelungsluſt, Eitelkeit, Stolz und Hoch¬ muth ruhen oder wirken mochte, einer ſehr harten Pruͤfung ausgeſetzt ward, die in ihrer Art einzig, der Zeit keineswegs gemaͤß, und nur deſto eindringender und empfindlicher war.
459Denn das bedeutendſte Ereigniß, was die wichtigſten Folgen fuͤr mich haben ſollte, war die Bekanntſchaft und die daran ſich knuͤpfen¬ de naͤhere Verbindung mit Herder. Er hat¬ te den Prinzen von Holſtein-Eutin, der ſich in traurigen Gemuͤthszuſtaͤnden befand, auf Reiſen begleitet und war mit ihm bis Straßburg gekommen. Unſere Societaͤt, ſo¬ bald ſie ſeine Gegenwart vernahm, trug ein großes Verlangen ſich ihm zu naͤhern, und mir begegnete dieß Gluͤck zuerſt ganz un¬ vermuthet und zufaͤllig. Ich war naͤmlich in den Gaſthof zum Geiſt gegangen, ich weiß nicht welchen bedeutenden Fremden aufzuſu¬ chen. Gleich unten an der Treppe fand ich einen Mann, der eben auch hinaufzuſteigen im Begriff war, und den ich fuͤr einen Geiſtli¬ chen halten konnte. Sein gepudertes Haar war in eine runde Locke aufgeſteckt, das ſchwarze Kleid bezeichnete ihn gleichfalls, mehr noch aber ein langer ſchwarzer ſeidner Mantel, deſſen Ende er zuſammengenommen und in die460 Taſche geſteckt hatte. Dieſes einigermaßen auf¬ fallende, aber doch im Ganzen galante und ge¬ faͤllige Weſen, wovon ich ſchon hatte ſprechen hoͤren, ließ mich keineswegs zweifeln, daß er der beruͤhmte Ankoͤmmling ſey, und meine Anrede mußte ihn ſogleich uͤberzeugen, daß ich ihn kenne. Er fragte nach meinem Namen, der ihm von keiner Bedeutung ſeyn konnte; allein meine Offenheit ſchien ihm zu gefallen, indem er ſie mit großer Freundlichkeit erwiederte, und als wir die Treppe hinaufſtiegen, ſich ſogleich zu einer lebhaften Mittheilung bereit finden ließ. Es iſt mir entfallen, wen wir damals beſuch¬ ten; genug, beym Scheiden bat ich mir die Erlaubniß aus, ihn bey ſich zu ſehen, die er mir denn auch freundlich genug ertheilte. Ich verſaͤumte nicht, mich dieſer Verguͤnſtigung wiederholt zu bedienen, und ward immer mehr von ihm angezogen. Er hatte etwas Weiches in ſeinem Betragen, das ſehr ſchicklich und anſtaͤndig war, ohne daß es eigentlich adrett geweſen waͤre. Ein rundes Geſicht, eine be¬461 deutende Stirn, eine etwas ſtumpfe Naſe, einen etwas aufgeworfenen, aber hoͤchſt indi¬ viduell angenehmen, liebenswuͤrdigen Mund. Unter ſchwarzen Augenbrauen ein Paar kohl¬ ſchwarze Augen, die ihre Wirkung nicht ver¬ fehlten, obgleich das eine roth und entzuͤndet zu ſeyn pflegte. Durch mannigfaltige Fragen ſuchte er ſich mit mir und meinem Zuſtande bekannt zu machen, und ſeine Anziehungskraft wirkte immer ſtaͤrker auf mich. Ich war uͤberhaupt ſehr zutraulicher Natur, und vor ihm beſonders hatte ich gar kein Geheimniß. Es waͤhrte jedoch nicht lange, als der abſto¬ ßende Puls ſeines Weſens eintrat und mich in nicht geringes Misbehagen verſetzte. Ich erzaͤhlte ihm mancherley von meinen Jugend¬ beſchaͤftigungen und Liebhabereyen, unter an¬ dern von einer Siegelſammlung, die ich haupt¬ ſaͤchlich durch des correſpondenzreichen Haus¬ freundes Theilnahme zuſammengebracht. Ich hatte ſie nach dem Staats-Calender eingerich¬ tet, und war bey dieſer Gelegenheit mit462 ſaͤmmtlichen Potentaten, groͤßern und gerin¬ gern Maͤchten und Gewalten, bis auf den Adel herunter wohl bekannt geworden, und meinem Gedaͤchtniß waren dieſe heraldiſchen Zeichen gar oft, und vorzuͤglich bey der Kroͤnungsfeyerlichkeit zu Statten gekommen. Ich ſprach von dieſen Dingen mit einiger Behaglichkeit; allein er war anderer Mey¬ nung, verwarf nicht allein dieſes ganze Inter¬ eſſe, ſondern wußte es mir auch laͤcherlich zu machen, ja beynahe zu verleiden.
Von dieſem ſeinen Widerſprechungsgeiſte ſollte ich noch gar manches ausſtehen: denn er entſchloß ſich, theils weil er ſich vom Prinzen abzuſondern gedachte, theils eines Augenuͤbels wegen, in Straßburg zu verweilen. Dieſes Uebel iſt eins der beſchwerlichſten und unange¬ nehmſten, und um deſto laͤſtiger, als es nur durch eine ſchmerzliche, hoͤchſtverdrießliche und unſichere Operation geheilt werden kann. Das Thraͤnenſaͤckchen naͤmlich iſt nach unten zu ver¬463 ſchloſſen, ſo daß die darin enthaltene Feuchtig¬ keit nicht nach der Naſe hin und um ſo weni¬ ger abfließen kann als auch dem benachbarten Knochen die Oeffnung fehlt, wodurch dieſe Secretion naturgemaͤß erfolgen ſollte. Der Boden des Saͤckchens muß daher aufgeſchnit¬ ten und der Knochen durchbohrt werden; da denn ein Pferdehaar durch den Thraͤnenpunct, ferner durch das eroͤffnete Saͤckchen und durch den damit in Verbindung geſetzten neuen Ca¬ nal gezogen und taͤglich hin und wieder be¬ wegt wird, um die Communication zwiſchen beyden Theilen herzuſtellen, welches alles nicht gethan noch erreicht werden kann, wenn nicht erſt in jener Gegend aͤußerlich ein Einſchnitt gemacht worden.
Herder war nun vom Prinzen getrennt, in ein eignes Quartier gezogen, der Entſchluß war gefaßt, ſich durch Lobſtein operiren zu laſſen. Hier kamen mir jene Uebungen gut zu Statten, durch die ich meine Empfindlich¬464 keit abzuſtumpfen verſucht hatte; ich konnte der Operation beywohnen und einem ſo werthen Manne auf mancherley Weiſe dienſtlich und be¬ huͤfllich ſeyn. Hier fand ich nun alle Urſache, ſeine große Standhaſtigkeit und Geduld zu bewundern: denn weder bey den vielfachen chirurgiſchen Verwundungen, noch bey dem oftmals wiederholten ſchmerzlichen Verbande bewies er ſich im mindeſten verdrießlich, und er ſchien derjenige von uns zu ſeyn, der am wenigſten litt; aber in der Zwiſchenzeit hatten wir freylich den Wechſel ſeiner Laune vielfach zu ertragen. Ich ſage wir: denn es war au¬ ßer mir ein behaglicher Ruſſe, Namens Peg¬ low, meiſtens um ihn. Dieſer war ein fruͤ¬ herer Bekannter von Herder in Riga gewe¬ ſen, und ſuchte ſich, obgleich kein Juͤngling mehr, noch in der Chirurgie unter Lobſteins Anleitung zu vervollkommnen. Herder konnte allerliebſt einnehmend und geiſtreich ſeyn, aber eben ſo leicht eine verdrießliche Seite hervor¬ kehren. Dieſes Anziehen und Abſtoßen haben465 zwar alle Menſchen ihrer Natur nach, einige mehr, einige weniger, einige in langſamern, andere in ſchnelleren Pulſen; wenige koͤnnen ihre Eigenheiten hierin wirklich bezwingen, viele zum Schein. Was Herdern betrifft, ſo ſchrieb ſich das Uebergewicht ſeines widerſpre¬ chenden, bittern, biſſigen Humors gewiß von ſeinem Uebel und den daraus entſpringenden Leiden her. Dieſer Fall kommt im Leben oͤf¬ ters vor, und man beachtet nicht genug die moraliſche Wirkung krankhafter Zuſtaͤnde, und beurtheilt daher manche Charactere ſehr un¬ gerecht, weil man alle Menſchen fuͤr geſund nimmt und von ihnen verlangt, daß ſie ſich auch in ſolcher Maße betragen ſollen.
Die ganze Zeit dieſer Cur beſuchte ich Herdern Morgens und Abends; ich blieb auch wohl ganze Tage bey ihm und gewoͤhn¬ te mich in kurzem um ſo mehr an ſein Schel¬ ten und Tadeln, als ich ſeine ſchoͤnen und großen Eigenſchaften, ſeine ausgebreitetenII. 30466Kenntniſſe, ſeine tiefen Einſichten taͤglich mehr ſchaͤtzen lernte. Die Einwirkung dieſes gut¬ muͤthigen Polterers war groß und bedeutend. Er hatte fuͤnf Jahre mehr als ich, welches in juͤngeren Tagen ſchon einen großen Unter¬ ſchied macht; und da ich ihn fuͤr das aner¬ kannte was er war, da ich dasjenige zu ſchaͤ¬ tzen ſuchte was er ſchon geleiſtet hatte, ſo mußte er eine große Superioritaͤt uͤber mich gewinnen. Aber behaglich war der Zuſtand nicht: denn aͤltere Perſonen, mit denen ich bisher umgegangen, hatten mich mit Scho¬ nung zu bilden geſucht, vielleicht auch durch Nachgiebigkeit verzogen; von Herdern aber konnte man niemals eine Billigung erwarten, man mochte ſich anſtellen wie man wollte. Indem nun alſo auf der einen Seite meine große Neigung und Verehrung fuͤr ihn, und auf der andern das Misbehagen, das er in mir erweckte, beſtaͤndig mit einander im Streit lagen; ſo entſtand ein Zwieſpalt in mir, der erſte in ſeiner Art, den ich in meinem Leben467 empfunden hatte. Da ſeine Geſpraͤche jeder¬ zeit bedeutend waren, er mochte fragen, ant¬ worten oder ſich ſonſt auf eine Weiſe mit¬ theilen; ſo mußte er mich zu neuen Anſich¬ ten taͤglich, ja ſtuͤndlich befoͤrdern. In Leip¬ zig hatte ich mir eher ein enges und abgezir¬ keltes Weſen angewoͤhnt, und meine allge¬ meinen Kenntniſſe der deutſchen Litteratur konnten durch meinen Frankfurter Zuſtand nicht erweitert werden; ja mich hatten jene myſtiſch-religioͤſen chemiſchen Beſchaͤftigungen in dunkle Regionen gefuͤhrt, und was ſeit ei¬ nigen Jahren in der weiten literariſchen Welt vorgegangen, war mir meiſtens fremd geblie¬ ben. Nun wurde ich auf einmal durch Her¬ der mit allem neuen Streben und mit allen den Richtungen bekannt, welche daſſelbe zu nehmen ſchien. Er ſelbſt hatte ſich ſchon ge¬ nugſam beruͤhmt gemacht, und durch ſeine Fragmente, die kritiſchen Waͤlder und anderes unmittelbar an die Seite der vor¬ zuͤglichſten Maͤnner geſetzt, welche ſeit laͤnge¬30 *468rer Zeit die Augen des Vaterlands auf ſich zo¬ gen. Was in einem ſolchen Geiſte fuͤr eine Bewegung, was in einer ſolchen Natur fuͤr eine Gaͤhrung muͤſſe geweſen ſeyn, laͤßt ſich weder faſſen noch darſtellen. Groß aber war gewiß das eingehuͤllte Streben, wie man leicht eingeſtehn wird, wenn man bedenkt, wie vie¬ le Jahre nachher, und was er alles gewirkt und geleiſtet hat.
Wir hatten nicht lange auf dieſe Weiſe zuſammengelebt, als er mir vertraute, daß er ſich um den Preis, welcher auf die beſte Schrift uͤber den Urſprung der Sprachen von Berlin ausgeſetzt war, mit zu bewerben gedenke. Seine Arbeit war ſchon ihrer Voll¬ endung nahe, und wie er eine ſehr reinliche Hand ſchrieb, ſo konnte er mir bald ein les¬ bares Manuſcript heftweiſe mittheilen. Ich hatte uͤber ſolche Gegenſtaͤnde niemals nachge¬ dacht; ich war noch zu ſehr in der Mitte der Dinge befangen, als daß ich haͤtte an An¬469 fang und Ende denken ſollen. Auch ſchien mir die Frage einigermaßen muͤßig: denn wenn Gott den Menſchen als Menſchen er¬ ſchaffen hatte, ſo war ihm ja ſo gut die Sprache als der aufrechte Gang anerſchaffen; ſo gut er gleich merken mußte, daß er gehen und greifen koͤnne, ſo gut mußte er auch ge¬ wahr werden, daß er mit der Kehle zu ſin¬ gen, und dieſe Toͤne durch Zunge, Gaumen und Lippen noch auf verſchiedene Weiſe zu modificiren vermoͤge. War der Menſch goͤtt¬ lichen Urſprungs, ſo war es ja auch die Sprache ſelbſt, und war der Menſch in dem Umkreis der Natur betrachtet, ein natuͤrliches Weſen, ſo war die Sprache gleichfalls na¬ tuͤrlich. Dieſe beyden Dinge konnte ich wie Seel 'und Leib niemals auseinander bringen. Silberſchlag, bey einem cruden Realis¬ mus doch etwas phantaſtiſch geſinnt, hatte ſich fuͤr den goͤttlichen Urſprung entſchieden, das heißt, daß Gott den Schulmeiſter bey den erſten Menſchen geſpielt habe. Herders470 Abhandlung ging darauf hinaus, zu zeigen, wie der Menſch als Menſch wohl aus eig¬ nen Kraͤften zu einer Sprache gelangen koͤn¬ ne und muͤſſe. Ich las die Abhandlung mit großem Vergnuͤgen und zu meiner beſondern Kraͤftigung; allein ich ſtand nicht hoch genug, weder im Wiſſen noch im Denken, um ein Urtheil daruͤber zu begruͤnden. Ich bezeigte dem Verfaſſer daher meinen Beyfall, indem ich nur wenige Bemerkungen, die aus meiner Sinnesweiſe herfloſſen, hinzufuͤgte. Eins aber wurde wie das andre aufgenommen; man wurde geſcholten und getadelt, man mochte nun bedingt oder unbedingt zuſtimmen. Der dicke Chirurgus hatte weniger Geduld als ich; er lehnte die Mittheilung dieſer Preisſchrift humoriſtiſch ab, und verſicherte, daß er gar nicht eingerichtet ſey, uͤber ſo abſtracte Mate¬ rien zu denken. Er drang vielmehr auf's L'hombre, welches wir gewoͤhnlich Abends zu¬ ſammen ſpielten.
471Bey einer ſo verdrießlichen und ſchmerz¬ haften Cur verlor unſer Herder nicht an ſei¬ ner Lebhaftigkeit; ſie ward aber immer weni¬ ger wohlthaͤtig. Er konnte nicht ein Billet ſchreiben, um etwas zu verlangen, das nicht mit irgend einer Verhoͤhnung gewuͤrzt gewe¬ ſen waͤre. So ſchrieb er mir zum Beyſpiel einmal:
Es war freylich nicht fein, daß er ſich mit meinem Namen dieſen Spaß erlaubte: denn der Eigenname eines Menſchen iſt nicht etwa wie ein Mantel, der bloß um ihn her haͤngt und an dem man allenfalls noch zupfen472 und zerren kann, ſondern ein vollkommen paſ¬ ſendes Kleid, ja wie die Haut ſelbſt ihm uͤber und uͤber angewachſen, an der man nicht ſchaben und ſchinden darf, ohne ihn ſelbſt zu verletzen.
Der erſte Vorwurf hingegen war gegruͤn¬ deter. Ich hatte naͤmlich die von Langern eingetauſchten Autoren, und dazu noch ver¬ ſchiedene ſchoͤne Ausgaben aus meines Vaters Sammlung, mit nach Straßburg genommen und ſie auf einem reinlichen Buͤcherbrett auf¬ geſtellt, mit dem beſten Willen, ſie zu be¬ nutzen. Wie ſollte aber die Zeit zureichen, die ich in hunderterley Thaͤtigkeiten zerſplit¬ terte. Herder, der auf Buͤcher hoͤchſt auf¬ merkſam war, weil er deren jeden Augenblick bedurfte, gewahrte beym erſten Beſuch meine ſchoͤne Sammlung, aber auch bald, daß ich mich derſelben gar nicht bediente; deswegen er, als der große Feind alles Scheins und473 aller Oſtentation, bey Gelegenheit mich damit aufzuziehen pflegte.
Noch ein anderes Spottgedicht faͤllt mir ein, das er mir Abends nachſendete, als ich ihm von der Dresdner Galerie viel erzaͤhlt hatte. Freylich war ich in den hoͤhern Sinn der italiaͤniſchen Schule nicht eingedrungen, aber Dominico Feti, ein trefflicher Kuͤnſtler, wiewohl Humoriſt und alſo nicht vom erſten Range, hatte mich ſehr angeſprochen. Geiſt¬ liche Gegenſtaͤnde mußten gemalt werden. Er hielt ſich an die neuteſtamentlichen Parabeln und ſtellte ſie gern dar, mit viel Eigenheit, Geſchmack und guter Laune. Er fuͤhrte ſie dadurch ganz ans gemeine Leben heran, und die ſo geiſtreichen als naiven Einzelnheiten ſeiner Compoſitionen, durch einen freyen Pin¬ ſel empfohlen, hatten ſich mir lebendig einge¬ druͤckt. Ueber dieſen meinen kindlichen Kunſt¬ enthuſiasmus ſpottete Herder folgendergeſtalt:
474Dergleichen mehr oder weniger heitre oder abſtruſe, muntre oder bittre Spaͤße koͤnnte ich noch manche anfuͤhren. Sie verdroſſen mich nicht, waren mir aber unbequem. Da ich jedoch alles, was zu meiner Bildung bey¬ trug, hoͤchlich zu ſchaͤtzen wußte, und ich ja mehrmals fruͤhere Meynungen und Neigun¬ gen aufgegeben hatte; ſo fand ich mich gar bald darein und ſuchte nur, ſoviel mir auf meinem damaligen Standpuncte moͤglich war, gerechten Tadel von ungerechten Invectiven zu unterſcheiden. Und ſo war denn auch kein Tag, der nicht auf das fruchtbarſte lehrreich fuͤr mich geweſen waͤre.
475Ich ward mit der Poeſie von einer ganz andern Seite, in einem andern Sinne be¬ kannt als bisher, und zwar in einem ſolchen, der mir ſehr zuſagte. Die hebraͤiſche Dicht¬ kunſt, welche er nach ſeinem Vorgaͤnger Lowth geiſtreich behandelte, die Volkspoeſie, deren Ueberlieferungen im Elſaß aufzuſuchen er uns antrieb, die aͤlteſten Urkunden als Poeſie, ga¬ ben das Zeugniß, daß die Dichtkunſt uͤber¬ haupt eine Welt - und Voͤlkergabe ſey, nicht ein Privaterbtheil einiger feinen, gebildeten Maͤnner. Ich verſchlang das alles, und je heftiger ich im Empfangen, deſto freygebiger war er im Geben, und wir brachten die in¬ tereſſanteſten Stunden zuſammen zu. Meine uͤbrigen angefangenen Naturſtudien ſuchte ich fortzuſetzen, und da man immer Zeit genug hat, wenn man ſie gut anwenden will; ſo gelang mir mitunter das Doppelte und Drey¬ fache. Was die Fuͤlle dieſer wenigen Wochen betrifft, welche wir zuſammen lebten, kann ich wohl ſagen, daß alles, was Herder nach¬476 her allmaͤhlich ausgefuͤhrt hat, im Keim an¬ gedeutet ward, und daß ich dadurch in die gluͤckliche Lage gerieth, alles was ich bisher gedacht, gelernt, mir zugeeignet hatte, zu completiren, an ein Hoͤheres anzuknuͤpfen, zu erweitern. Waͤre Herder methodiſcher gewe¬ ſen, ſo haͤtte ich auch fuͤr eine dauerhafte Rich¬ tung meiner Bildung die koͤſtlichſte Anleitung gefunden; aber er war mehr geneigt zu pruͤ¬ fen und anzuregen, als zu fuͤhren und zu leiten. So machte er mich zuerſt mit Ha¬ manns Schriften bekannt, auf die er einen ſehr großen Werth ſetzte. Anſtatt mich aber uͤber dieſelben zu belehren und mir den Hang und Gang dieſes außerordentlichen Geiſtes be¬ greiflich zu machen; ſo diente es ihm gewoͤhn¬ lich nur zur Beluſtigung, wenn ich mich, um zu dem Verſtaͤndniß ſolcher Sibylliſchen Blaͤt¬ ter zu gelangen, freylich wunderlich genug ge¬ baͤrdete. Indeſſen fuͤhlte ich wohl, daß mir in Hamanns Schriften etwas zuſagte, dem477 ich mich uͤberließ, ohne zu wiſſen, woher es komme und wohin es fuͤhre.
Nachdem die Cur laͤnger als billig gedau¬ ert, Lobſtein in ſeiner Behandlung zu ſchwan¬ ken und ſich zu wiederholen anfing, ſo daß die Sache kein Ende nehmen wollte, auch Peglow mir ſchon heimlich anvertraut hatte, daß wohl ſchwerlich ein guter Ausgang zu hoffen ſey; ſo truͤbte ſich das ganze Verhaͤlt¬ niß: Herder ward ungeduldig und mismuthig, es wollte ihm nicht gelingen, ſeine Thaͤtig¬ keit wie bisher fortzuſetzen, und er mußte ſich um ſo mehr einſchraͤnken, als man die Schuld des misrathenen chirurgiſchen Unter¬ nehmens auf Herders allzugroße geiſtige An¬ ſtrengung und ſeinen ununterbrochenen lebhaf¬ ten, ja luſtigen Umgang mit uns zu ſchieben anfing. Genug, nach ſo viel Qual und Lei¬ den wollte die kuͤnſtliche Thraͤnenrinne ſich nicht bilden und die beabſichtigte Communication nicht zu Stande kommen. Man ſah ſich ge¬478 noͤthigt, damit das Uebel nicht aͤrger wuͤrde, die Wunde zugehn zu laſſen. Wenn man nun bey der Operation Herders Standhaftig¬ keit unter ſolchen Schmerzen bewundern mu߬ te, ſo hatte ſeine melancholiſche, ja grimmi¬ ge Reſignation in den Gedanken, zeitlebens einen ſolchen Makel tragen zu muͤſſen, etwas wahrhaft Erhabenes, wodurch er ſich die Ver¬ ehrung derer, die ihn ſchauten und liebten, fuͤr immer zu eigen machte. Dieſes Uebel, das ein ſo bedeutendes Angeſicht entſtellte, mu߬ te ihm um ſo aͤrgerlicher ſeyn, als er ein vorzuͤgliches Frauenzimmer in Darmſtadt ken¬ nen gelernt und ſich ihre Neigung erworben hatte. Hauptſaͤchlich in dieſem Sinne mochte er ſich jener Cur unterwerfen, um bey der Ruͤckreiſe freyer, froͤhlicher, wohlgebildeter vor ſeine Halbverlobte zu treten, und ſich gewiſ¬ ſer und unverbruͤchlicher mit ihr zu verbinden. Er eilte jedoch, ſobald als moͤglich von Stra߬ burg wegzukommen, und weil ſein bisheriger Aufenthalt ſo koſtbar als unangenehm gewe¬479 ſen, erborgte ich eine Summe Geldes fuͤr ihn, die er auf einen beſtimmten Termin zu erſtatten verſprach. Die Zeit verſtrich, ohne daß das Geld ankam. Mein Glaͤubiger mahn¬ te mich zwar nicht, aber ich war doch meh¬ rere Wochen in Verlegenheit. Endlich kam Brief und Geld, und auch hier verlaͤugnete er ſich nicht: denn anſtatt eines Dankes, ei¬ ner Entſchuldigung, enthielt ſein Schreiben lauter ſpoͤttliche Dinge in Knittelverſen, die einen Andern irre, oder gar abwendig ge¬ macht haͤtten; mich aber ruͤhrte das nicht wei¬ ter, da ich von ſeinem Werth einen ſo gro¬ ßen und maͤchtigen Begriff gefaßt hatte, der alles Widerwaͤrtige verſchlang, was ihm haͤt¬ te ſchaden koͤnnen.
Man ſoll jedoch von eignen und fremden Fehlern niemals, am wenigſten oͤffentlich reden, wenn man nicht dadurch etwas Nuͤtzliches zu bewirken denkt; deshalb will ich hier gewiſſe zubringende Bemerkungen einſchalten.
480Dank und Undank gehoͤren zu denen, in der moraliſchen Welt jeden Augenblick hervor¬ tretenden Ereigniſſen, woruͤber die Menſchen ſich unter einander niemals beruhigen koͤnnen. Ich pflege einen Unterſchied zu machen zwi¬ ſchen Nichtdankbarkeit, Undank und Wider¬ willen gegen den Dank. Jene erſte iſt dem Menſchen angeboren, ja anerſchaffen: denn ſie entſpringt aus einer gluͤcklichen, leichtſin¬ nigen Vergeſſenheit des Widerwaͤrtigen wie des Erfreulichen, wodurch ganz allein die Fort¬ ſetzung des Lebens moͤglich wird. Der Menſch bedarf ſo unendlich vieler aͤußeren Vor - und Mitwirkungen zu einem leidlichen Daſeyn, daß wenn er der Sonne und der Erde, Gott und der Natur, Vorvordern und Aeltern, Freunden und Geſellen immer den gebuͤhren¬ den Dank abtragen wollte, ihm weder Zeit noch Gefuͤhl uͤbrig bliebe, um neue Wohl¬ thaten zu empfangen und zu genießen. Laͤßt nun freylich der natuͤrliche Menſch jenen Leicht¬ ſinn in und uͤber ſich walten, ſo nimmt eine481 kalte Gleichguͤltigkeit immer mehr uͤberhand, und man ſieht den Wohlthaͤter zuletzt als ei¬ nen Fremden an, zu deſſen Schaden man allenfalls, wenn es uns nuͤtzlich waͤre, auch etwas unternehmen duͤrfte. Dieß allein kann eigentlich Undank genannt werden, der aus der Rohheit entſpringt, worin die ungebildete Natur ſich am Ende nothwendig verlieren muß. Widerwille gegen das Danken jedoch, Erwie¬ derung einer Wohlthat durch unmuthiges und verdrießliches Weſen iſt ſehr ſelten und kommt nur bey vorzuͤglichen Menſchen vor: ſolchen, die mit großen Anlagen und dem Vorgefuͤhl derſelben, in einem niederen Stande oder in einer huͤlfloſen Lage geboren, ſich von Ju¬ gend auf Schritt vor Schritt durchdraͤngen und von allen Orten her Huͤlfe und Beyſtand annehmen muͤſſen, die ihnen denn manchmal durch Plumpheit der Wohlthaͤter vergaͤllt und widerwaͤrtig werden, indem das, was ſie empfangen, irdiſch und das, was ſie dage¬ gen leiſten, hoͤherer Art iſt, ſo daß eine ei¬II. 31482gentliche Compenſation nicht gedacht werden kann. Leſſing hat bey dem ſchoͤnen Bewußt¬ ſeyn, das ihm, in ſeiner beſten Lebenszeit, uͤber irdiſche Dinge zu Theil ward, ſich hier¬ uͤber einmal derb aber heiter ausgeſprochen. Herder hingegen vergaͤllte ſich und Andern im¬ merfort die ſchoͤnſten Tage, da er jenen Un¬ muth, der ihn in der Jugend nothwendig ergriffen hatte, in der Folgezeit durch Gei¬ ſteskraft nicht zu maͤßigen wußte.
Dieſe Forderung kann man gar wohl an ſich machen: denn der Bildungsfaͤhigkeit ei¬ nes Menſchen kommt das Licht der Natur, welches immer thaͤtig iſt, ihn uͤber ſeine Zu¬ ſtaͤnde aufzuklaͤren, auch hier gar freundlich zu Statten; und uͤberhaupt ſollte man in manchen ſittlichen Bildungsfaͤllen die Maͤngel nicht zu ſchwer nehmen, und ſich nicht nach allzuernſten, weitliegenden Mitteln umſehen, da ſich gewiſſe Fehler ſehr leicht, ja ſpielend abthun laſſen. So koͤnnen wir zum Bey¬483 ſpiel die Dankbarkeit in uns durch bloße Ge¬ wohnheit erregen, lebendig erhalten, ja zum Beduͤrfniß machen.
In einem biographiſchen Verſuch ziemt es wohl, von ſich ſelbſt zu reden. Ich bin, von Natur ſo wenig dankbar als irgend ein Menſch, und beym Vergeſſen empfangenes Guten konn¬ te das heftige Gefuͤhl eines augenblicklichen Misverhaͤltniſſes mich ſehr leicht zum Undank verleiten.
Dieſem zu begegnen, gewoͤhnte ich mich zufoͤrderſt, bey allem was ich beſitze, mich gern zu erinnern, wie ich dazu gelangt, von wem ich es erhalten, es ſey durch Geſchenk, Tauſch oder Kauf, oder auf irgend eine an¬ dre Art. Ich habe mich gewoͤhnt, beym Vorzeigen meiner Sammlungen der Perſonen zu gedenken, durch deren Vermittelung ich das Einzelne erhielt, ja der Gelegenheit, dem Zufall, der entfernteſten Veranlaſſung und31 *484Mitwirkung, wodurch mir Dinge geworden, die mir lieb und werth ſind, Gerechtigkeit wiederfahren zu laſſen. Das was uns um¬ giebt erhaͤlt dadurch ein Leben, wir ſehen es in geiſtiger, liebevoller, genetiſcher Verknuͤp¬ fung, und durch das Vergegenwaͤrtigen ver¬ gangener Zuſtaͤnde wird das augenblickliche Daſeyn erhoͤht und bereichert, die Urheber der Gaben ſteigen wiederholt vor der Ein¬ bildungskraft hervor, man verknuͤpft mit ih¬ rem Bilde eine angenehme Erinnerung, macht ſich den Undank unmoͤglich und ein gelegent¬ liches Erwiedern leicht und wuͤnſchenswerth. Zugleich wird man auf die Betrachtung des¬ jenigen gefuͤhrt, was nicht ſinnlicher Beſitz iſt, und man recapitulirt gar gern, woher ſich unſere hoͤheren Guͤter ſchreiben und datiren.
Ehe ich nun von jenem fuͤr mich ſo be¬ deutenden und folgereichen Verhaͤltniſſe zu Her¬ dern den Blick hinwegwende, finde ich noch einiges nachzubringen. Es war nichts natuͤr¬485 licher, als daß ich nach und nach in Mit¬ theilung deſſen, was bisher zu meiner Bil¬ dung beygetragen, beſonders aber ſolcher Din¬ ge, die mich noch in dem Augenblicke ernſt¬ lich beſchaͤftigten, gegen Herdern immer kar¬ ger und karger ward. Er hatte mir den Spaß an ſo manchem, was ich fruͤher ge¬ liebt, verdorben und mich beſonders wegen der Freude, die ich an Ovids Metamorpho¬ ſen gehabt, aufs ſtrengſte getadelt. Ich moch¬ te meinen Liebling in Schutz nehmen wie ich wollte, ich mochte ſagen, daß fuͤr eine ju¬ gendliche Phantaſie nichts erfreulicher ſeyn koͤn¬ ne, als in jenen heitern und herrlichen Ge¬ genden mit Goͤttern und Halbgoͤttern zu ver¬ weilen und ein Zeuge ihres Thuns und ihrer Leidenſchaften zu ſeyn; ich mochte jenes oben erwaͤhnte Gutachten eines ernſthaften Man¬ nes umſtaͤndlich beybringen und ſolches durch meine eigne Erfahrung bekraͤftigen: das alles ſollte nicht gelten, es ſollte ſich keine eigent¬ liche unmittelbare Wahrheit in dieſen Gedich¬486 ten finden; hier ſey weder Griechenland noch Italien, weder eine Urwelt noch eine gebil¬ dete, alles vielmehr ſey Nachahmung des ſchon Dageweſenen und eine manierirte Dar¬ ſtellung, wie ſie ſich nur von einem Ueber¬ cultivirten erwarten laſſe. Und wenn ich denn zuletzt behaupten wollte: was ein vorzuͤgliches Individuum hervorbringe, ſey doch auch Na¬ tur, und unter allen Voͤlkern, fruͤhern und ſpaͤ¬ tern, ſey doch immer nur der Dichter Dichter geweſen; ſo wurde mir dieß nun gar nicht gut gehalten, und ich mußte manches deswegen ausſtehen, ja mein Ovid war mir beynah dadurch verleidet: denn es iſt keine Neigung, keine Gewohnheit ſo ſtark, daß ſie gegen die Misreden vorzuͤglicher Menſchen, in die man Vertrauen ſetzt, auf die Laͤnge ſich erhalten koͤnnte. Immer bleibt etwas haͤngen, und wenn man nicht unbedingt lieben darf, ſieht es mit der Liebe ſchon mislich aus.
487Am ſorgfaͤltigſten verbarg ich ihm das In¬ tereſſe an gewiſſen Gegenſtaͤnden, die ſich bey mir eingewurzelt hatten und ſich nach und nach zu poetiſchen Geſtalten ausbilden woll¬ ten. Es war Goͤtz von Berlichingen und Fauſt. Die Lebensbeſchreibung des erſteru hatte mich im Innerſten ergriffen. Die Ge¬ ſtalt eines rohen, wohlmeynenden Selbſthel¬ fers in wilder anarchiſcher Zeit erregte mei¬ nen tiefſten Antheil. Die bedeutende Pup¬ penſpielfabel des andern klang und ſummte gar vieltoͤnig in mir wieder. Auch ich hatte mich in allem Wiſſen umhergetrieben und war fruͤh genug auf die Eitelkeit deſſelben hinge¬ wieſen worden. Ich hatte es auch im Leben auf allerley Weiſe verſucht, und war immer unbefriedigter und gequaͤlter zuruͤckgekommen. Nun trug ich dieſe Dinge, ſo wie manche andre, mit mir herum und ergetzte mich dar¬ an in einſamen Stunden, ohne jedoch etwas davon aufzuſchreiben. Am meiſten aber ver¬ barg ich vor Herdern meine myſtiſch-cabbaliſti¬488 ſche Chemie und was ſich darauf bezog, ob ich mich gleich noch ſehr gern heimlich be¬ ſchaͤftigte, ſie conſequenter auszubilden, als man ſie mir uͤberliefert hatte. Von poetiſchen Arbeiten glaube ich ihm die Mitſchuldi¬ gen vorgelegt zu haben, doch erinnere ich mich nicht, daß mir irgend eine Zurechtwei¬ ſung oder Aufmunterung von ſeiner Seite hieruͤber zu Theil geworden waͤre. Aber bey dieſem allen blieb er der er war; was von ihm ausging wirkte, wenn auch nicht erfreu¬ lich, doch bedeutend; ja ſeine Handſchrift ſo¬ gar uͤbte auf mich eine magiſche Gewalt aus. Ich erinnere mich nicht, daß ich eins ſeiner Blaͤtter, ja nur ein Couvert von ſeiner Hand, zerriſſen oder verſchleudert haͤtte; dennoch iſt mir, bey den ſo mannigfaltigen Ort - und Zeitwechſeln, kein Document jener wunderba¬ ren, ahndungsvollen und gluͤcklichen Tage uͤbrig geblieben.
489Daß uͤbrigens Herders Anziehungskraft ſich ſo gut auf Andre als auf mich wirkſam erwies, wuͤrde ich kaum erwaͤhnen, haͤtte ich nicht zu bemerken, daß ſie ſich beſonders auf Jung, genannt Stilling, erſtreckt habe. Das treue redliche Streben dieſes Mannes mußte jeden, der nur irgend Gemuͤth hatte, hoͤchlich intereſſiren, und ſeine Empfaͤnglichkeit jeden, der etwas mitzutheilen im Stande war, zur Offenheit reizen. Auch betrug ſich Herder ge¬ gen ihn nachſichtiger als gegen uns Andre: denn ſeine Gegenwirkung ſchien jederzeit mit der Wirkung, die auf ihn geſchah, im Ver¬ haͤltniß zu ſtehn. Jungs Umſchraͤnktheit war von ſo viel gutem Willen, ſein Vordringen von ſo viel Sanftheit und Ernſt begleitet, daß ein Verſtaͤndiger gewiß nicht hart gegen ihn ſeyn, und ein Wohlwollender ihn nicht verhoͤhnen noch zum beſten haben konnte. Auch war Jung durch Herdern dergeſtalt exal¬ tirt, daß er ſich in allem ſeinen Thun geſtaͤrkt und gefoͤrdert fuͤhlte, ja ſeine Neigung gegen490 mich ſchien in eben dieſem Maße abzuneh¬ men; doch blieben wir immer gute Geſellen, wir trugen einander vor wie nach und erzeig¬ ten uns wechſelſeitig die freundlichſten Dienſte.
Entfernen wir uns jedoch nunmehr von der freundſchaftlichen Krankenſtube und von den allgemeinen Betrachtungen, welche eher auf Krankkeit als auf Geſundheit des Geiſtes deuten; begeben wir uns in die freye Luft, auf den hohen und breiten Altan des Muͤn¬ ſters, als waͤre die Zeit noch da, wo wir junge Geſellen uns oͤfters dorthin auf den Abend beſchieden, um mit gefuͤllten Roͤmern die ſcheidende Sonne zu begruͤßen. Hier ver¬ lor ſich alles Geſpraͤch in die Betrachtung der Gegend, alsdann wurde die Schaͤrfe der Au¬ gen gepruͤft, und jeder beſtrebte ſich die ent¬ fernteſten Gegenſtaͤnde gewahr zu werden, ja deutlich zu unterſcheiden. Gute Fernroͤhre wurden zu Huͤlfe genommen, und ein Freund nach dem andern bezeichnete genau die Stel¬491 le, die ihm die liebſte und wertheſte gewor¬ den; und ſchon fehlte es auch mir nicht an einem ſolchen Plaͤtzchen, das, ob es gleich nicht bedeutend in der Landſchaft hervortrat, mich doch mehr als alles Andere mit einem lieblichen Zauber an ſich zog. Bey ſolchen Gelegenheiten ward nun durch Erzaͤhlung die Einbildungskraft angeregt und manche kleine Reiſe verabredet, ja oft aus dem Stegreife unternommen, von denen ich nur eine ſtatt vieler umſtaͤndlich erzaͤhlen will, da ſie in manchem Sinne fuͤr mich folgereich geweſen.
Mit zwey werthen Freunden und Tiſchge¬ noſſen, Engelbach und Weyland, bey¬ de aus dem untern Elſaß gebuͤrtig, begab ich mich zu Pferde nach Zabern, wo uns, bey ſchoͤnem Wetter, der kleine freundliche Ort gar anmuthig anlachte. Der Anblick des bi¬ ſchoͤflichen Schloſſes erregte unſere Bewunde¬ rung; eines neuen Stalles Weitlaͤuftigkeit, Groͤße und Pracht zeugten von dem uͤbrigen492 Wohlbehagen des Beſitzers. Die Herrlichkeit der Treppe uͤberraſchte uns, die Zimmer und Saͤle betraten wir mit Ehrfurcht, nur con¬ traſtirte die Perſon des Cardinals, ein kleiner zuſammengefallener Mann, den wir ſpeiſen ſahen. Der Blick in den Garten iſt herrlich, und ein Canal drey Viertelſtunden lang, ſchnurgerade auf die Mitte des Schloſſes ge¬ richtet, giebt einen hohen Begriff von dem Sinn und den Kraͤften der vorigen Beſitzer. Wir ſpazirten daran hin und wieder und ge¬ noſſen mancher Partieen dieſes ſchoͤn gelege¬ nen Ganzen, zu Ende der herrlichen Elſaſſer Ebene, am Fuße der Vogeſen.
Nachdem wir uns nun an dieſem geiſtli¬ chen Vorpoſten einer koͤniglichen Macht er¬ freut, und es uns in ſeiner Region wohl ſeyn laſſen, gelangten wir fruͤh den andern Morgen zu einem oͤffentlichen Werk, das hoͤchſt wuͤrdig den Eingang in ein maͤchtiges Koͤnigreich eroͤffnet. Von der aufgehenden493 Sonne beſchienen erhob ſich vor uns die be¬ ruͤhmte Zaberner Steige, ein Werk von un¬ uͤberdenklicher Arbeit. Schlangenweis, uͤber die fuͤrchterlichſten Felſen aufgemauert, fuͤhrt eine Chauſſee, fuͤr drey Wagen neben einan¬ der breit genug, ſo leiſe bergauf, daß man es kaum empfindet. Die Haͤrte und Glaͤtte des Wegs, die geplatteten Erhoͤhungen an beyden Seiten fuͤr die Fußgaͤnger, die ſteiner¬ nen Rinnen zum Ableiten der Bergwaſſer, alles iſt ſo reinlich als kuͤnſtlich und dauerhaft hergerichtet, daß es einen genuͤgenden Anblick gewaͤhrt. So gelangt man allmaͤhlich nach Pfalzburg, einer neueren Feſtung. Sie liegt auf einem maͤßigen Huͤgel; die Werke ſind elegant auf ſchwaͤrzlichen Felſen von gleichem Geſtein erbaut, die mit Kalk weiß ausgeſtri¬ chenen Fugen bezeichnen genau die Groͤße der Quadern und geben von der reinlichen Arbeit ein auffallendes Zeugniß. Den Ort ſelbſt fan¬ den wir, wie ſich's fuͤr eine Feſtung geziemt, regelmaͤßig, von Steinen gebaut, die Kirche494 geſchmackvoll. Als wir durch die Straßen wandelten — es war Sonntags fruͤh um neun — hoͤrten wir Muſik; man walzte ſchon im Wirthshauſe nach Herzensluſt, und da ſich die Einwohner durch die große Theurung, ja durch die drohende Hungersnoth, in ihrem Vergnuͤgen nicht irre machen ließen, ſo ward auch unſer jugendlicher Frohſinn keineswegs getruͤbt, als uns der Baͤcker einiges Brodt auf die Reiſe verſagte und uns in den Gaſt¬ hof verwies, wo wir es allenfalls an Ort und Stelle verzehren duͤrften.
Sehr gern ritten wir nun wieder die Steige hinab, um dieſes architectoniſche Wunder zum zweyten Male anzuſtaunen, und uns der erquickenden Ausſicht uͤber das Elſaß nochmals zu erfreuen. Wir gelangten bald nach Buchsweiler, wo uns Freund Wey¬ land eine gute Aufnahme vorbereitet hatte. Dem friſchen jugendlichen Sinne iſt der Zu¬ ſtand einer kleinen Stadt ſehr gemaͤß; die495 Familienverhaͤltniſſe ſind naͤher und fuͤhlbarer, das Hausweſen, das zwiſchen laͤßlicher Amts¬ beſchaͤftigung, ſtaͤdtiſchem Gewerb, Feld - und Gartenbau, mit maͤßiger Thaͤtigkeit ſich hin und wieder bewegt, laͤdt uns ein zu freund¬ licher Theilnahme, die Geſelligkeit iſt noth¬ wendig, und der Fremde befindet ſich in den beſchraͤnkten Kreiſen ſehr angenehm, wenn ihn nicht etwa die Mishelligkeiten der Einwohner, die an ſolchen Orten fuͤhlbarer ſind, irgendwo beruͤhren. Dieſes Staͤdtchen war der Haupt¬ platz der Grafſchaft Hanau-Lichtenberg, dem Landgrafen von Darmſtadt unter franzoͤſiſcher Hoheit gehoͤrig. Eine daſelbſt angeſtellte Re¬ gierung und Cammer machten den Ort zum bedeutenden Mittelpunct eines ſehr ſchoͤnen und wuͤnſchenswerthen fuͤrſtlichen Beſitzes. Wir vergaßen leicht die ungleichen Straßen, die unregelmaͤßige Bauart des Orts, wenn wir heraustraten, um das alte Schloß und die an einem Huͤgel vortrefflich angelegten Gaͤr¬ ten zu beſchauen. Mancherley Luſtwaͤldchen,496 eine zahme und wilde Phaſanerie und die Reſte mancher aͤhnlichen Anſtalten zeigten; wie angenehm dieſe kleine Reſidenz ehemals muͤſſe geweſen ſeyn.
Doch alle dieſe Betrachtungen uͤbertraf der Anblick, wenn man von dem nahgelegenen Baſchberg die voͤllig paradieſiſche Gegend uͤberſchaute. Dieſe Hoͤhe, ganz aus verſchie¬ denen Muſcheln zuſammengehaͤuft, machte mich zum erſten Male auf ſolche Documente der Vorwelt aufmerkſam; ich hatte ſie noch nie¬ mals in ſo großer Maſſe beyſammen geſehn. Doch wendete ſich der ſchauluſtige Blick bald ausſchließlich in die Gegend. Man ſteht auf dem letzten Vorgebirge nach dem Lande zu; gegen Norden liegt eine fruchtbare, mit klei¬ nen Waͤldchen durchzogene Flaͤche, von einem ernſten Gebirge begrenzt, das ſich gegen Abend nach Zabern hinerſtreckt, wo man den biſchoͤflichen Palaſt und die eine Stunde davon liegende Abtey St. Johann deutlich497 erkennen mag. Von da verfolgt das Auge die immer mehr ſchwindende Bergkette der Vogeſen bis nach Suͤden hin. Wendet man ſich gegen Nordoſt, ſo ſieht man das Schloß Lichtenberg auf einem Felſen, und gegen Suͤd¬ oſt hat das Auge die unendliche Flaͤche des Elſaſſes zu durchforſchen, die ſich in immer mehr abduftenden Landſchaftsgruͤnden dem Ge¬ ſicht entzieht, bis zuletzt die ſchwaͤbiſchen Ge¬ birge ſchattenweis in den Horizont verfließen.
Schon bey meinen wenigen Wanderungen durch die Welt hatte ich bemerkt, wie bedeu¬ tend es ſey, ſich auf Reiſen nach dem Laufe der Waſſer zu erkundigen, ja bey dem klein¬ ſten Bache zu fragen, wohin er denn eigent¬ lich laufe. Man erlangt dadurch eine Ueber¬ ſicht von jeder Flußregion, in der man eben befangen iſt, einen Begriff von den Hoͤhen und Tiefen, die auf einander Bezug haben, und windet ſich am ſicherſten an dieſen Leit¬ faͤden, welche ſowohl dem Anſchauen als demII. 32498Gedaͤchtniß zu Huͤlfe kommen, aus geologi¬ ſchem und politiſchem Laͤndergewirre. In die¬ ſer Betrachtung nahm ich feyerlichen Abſchied von dem theuren Elſaß, da wir uns den an¬ dern Morgen nach Lothringen zu wenden ge¬ dachten.
Der Abend ging hin in vertraulichen Ge¬ ſpraͤchen, wo man ſich uͤber eine unerfreuliche Gegenwart durch Erinnerung an eine beſſere Vergangenheit zu erheitern ſuchte. Vor allem andern war hier, wie im ganzen Laͤndchen, der Name des letzten Grafen Reinhard von Hanau in Segen, deſſen großer Verſtand und Tuͤchtigkeit in allem ſeinen Thun und Laſſen hervortrat, und von deſſen Daſeyn noch man¬ ches ſchoͤne Denkmal uͤbrig geblieben war. Solche Maͤnner haben den Vorzug doppelte Wohlthaͤter zu ſeyn, einmal fuͤr die Gegen¬ wart, die ſie begluͤcken, und ſodann fuͤr die Zukunft, deren Gefuͤhl und Muth ſie naͤhren und aufrecht erhalten.
499Als wir nun uns nordweſtwaͤrts in das Gebirg wendeten und bey Luͤtzelſtein, ei¬ nem alten Bergſchloß in einer ſehr huͤgelvollen Gegend, vorbeyzogen, und in die Region der Saar und Moſel hinabſtiegen, fing der Him¬ mel an ſich zu truͤben, als wollte er uns den Zuſtand des rauheren Weſtreiches noch fuͤhl¬ barer machen. Das Thal der Saar, wo wir zuerſt Bockenheim, einen kleinen Ort, an¬ trafen, und gegenuͤber Neuſaarwerden, gut gebaut, mit einem Luſtſchloß, erblickten, iſt zu beyden Seiten von Bergen begleitet, die traurig heißen koͤnnten, wenn nicht an ih¬ rem Fuß eine unendliche Folge von Wieſen und Matten, die Huhnau genannt, ſich bis Saaralbe und weiter hin unuͤberſehlich er¬ ſtreckte. Große Gebaͤude eines ehmaligen Ge¬ ſtuͤtes der Herzoge von Lothringen ziehen hier den Blick an; ſie dienen gegenwaͤrtig, zu ſolchen Zwecken freylich ſehr wohl gelegen, als Meye¬ rey. Wir gelangten uͤber Saargemuͤnd nach Saarbruͤck, und dieſe kleine Reſidenz32 *500war ein lichter Punct in einem ſo felſig wal¬ digen Lande. Die Stadt, klein und huͤglich, aber durch den letzten Fuͤrſten wohl ausgeziert, macht ſogleich einen angenehmen Eindruck, weil die Haͤuſer alle grauweiß angeſtrichen ſind und die verſchiedene Hoͤhe derſelben einen mannig¬ faltigen Anblick gewaͤhrt. Mitten auf einem ſchoͤnen mit anſehnlichen Gebaͤuden umgebenen Platze ſteht die Lutheriſche Kirche, in einem kleinen, aber dem Ganzen entſprechenden Ma߬ ſtabe. Die Vorderſeite des Schloſſes liegt mit der Stadt auf ebenem Boden, die Hinterſeite dagegen am Abhange eines ſteilen Felſens. Dieſen hat man nicht allein terraſſenweis ab¬ gearbeitet, um bequem in das Thal zu gelan¬ gen, ſondern man hat ſich auch unten einen laͤnglich viereckten Gartenplatz, durch Verdraͤn¬ gung des Fluſſes an der einen und durch Ab¬ ſchroten des Felſens an der andern Seite, verſchafft, worauf denn dieſer ganze Raum erſt mit Erde ausgefuͤllt und bepflanzt worden. Die Zeit dieſer Unternehmung fiel in die501 Epoche, da man bey Gartenanlagen den Ar¬ chitecten zu Rathe zog, wie man gegenwaͤrtig das Auge des Landſchaftsmalers zu Huͤlfe nimmt. Die ganze Einrichtung des Schloſ¬ ſes, das Koſtbare und Angenehme, das Rei¬ che und Zierliche, deuteten auf einen lebens¬ luſtigen Beſitzer, wie der verſtorbene Fuͤrſt ge¬ weſen war; der gegenwaͤrtige befand ſich nicht am Orte. Praͤſident von Guͤnderode em¬ pfing uns auf's verbindlichſte und bewirthete uns drey Tage beſſer als wir es erwarten durften. Ich benutzte die mancherley Bekannt¬ ſchaften, zu denen wir gelangten, um mich vielſeitig zu unterrichten. Das genußreiche Le¬ ben des vorigen Fuͤrſten gab Stoff genug zur Unterhaltung, nicht weniger die mannigfaltigen Anſtalten, die er getroffen, um Vortheile, die ihm die Natur ſeines Landes darbot, zu be¬ nutzen. Hier wurde ich nun eigentlich in das Intereſſe der Berggegenden eingeweiht, und die Luſt zu oͤconomiſchen und techniſchen Be¬ trachtungen, welche mich einen großen Theil502 meines Lebens beſchaͤftigt haben, zuerſt erregt. Wir hoͤrten von den reichen Dutweiler Steinkohlengruben, von Eiſen - und Alaun¬ werken, ja ſogar von einem brennenden Berge, und ruͤſteten uns, dieſe Wunder in der Naͤhe zu beſchauen.
Nun zogen wir durch waldige Gebirge, die demjenigen, der aus einem herrlichen fruchtbaren Lande kommt, wuͤſt und traurig erſcheinen muͤſſen, und die nur durch den in¬ nern Gehalt ihres Schooßes uns anziehen koͤnnen. Kurz hinter einander wurden wir mit einem einfachen und einem complicirten Maſchinenwerke bekannt, mit einer Senſen¬ ſchmiede und einem Drathzug. Wenn man ſich an jener ſchon erfreut, daß ſie ſich an die Stelle gemeiner Haͤnde ſetzt, ſo kann man dieſen nicht genug bewundern, indem er in einem hoͤheren organiſchen Sinne wirkt, von dem Verſtand und Bewußtſeyn kaum zu tren¬ nen ſind. In der Alaunhuͤtte erkundigten wir503 uns genau nach der Gewinnung und Reini¬ gung dieſes ſo noͤthigen Materials, und als wir große Haufen eines weißen, fetten, locke¬ ren, erdigen Weſens bemerkten und deſſen Nutzen erforſchten, antworteten die Arbeiter laͤchelnd, es ſey der Schaum, der ſich beym Alaunſieden obenauf werfe, und den Herr Stauf ſammeln laſſe, weil er denſelben gleichfalls hoffe zu Gute zu machen. — Lebt Herr Stauf noch? rief mein Begleiter ver¬ wundert aus. Man bejahte es und verſicher¬ te, daß wir, nach unſerm Reiſeplan, nicht weit von ſeiner einſamen Wohnung vorbey¬ kommen wuͤrden.
Unſer Weg ging nunmehr an den Rinnen hinauf, in welchen das Alaunwaſſer herunter¬ geleitet wird, und an dem vornehmſten Stol¬ len vorbey, den ſie die Landgrube nennen, woraus die beruͤhmten Dutweiler Steinkohlen gezogen werden. Sie haben, wenn ſie trocken ſind, die blaue Farbe eines dunkel angelaufe¬504 nen Stahls, und die ſchoͤnſte Irisfolge ſpielt bey jeder Bewegung uͤber die Oberflaͤche hin. Die finſteren Stollenſchluͤnde zogen uns je¬ doch um ſo weniger an, als der Gehalt der¬ ſelben reichlich um uns her ausgeſchuͤttet lag. Nun gelangten wir zu offnen Gruben, in welchen die geroͤſteten Alaunſchiefer ausgelaugt werden, und bald darauf uͤberraſchte uns, ob¬ gleich vorbereitet, ein ſeltſames Begegniß. Wir traten in eine Klamme und fanden uns in der Region des brennenden Berges. Ein ſtarker Schwefelgeruch umzog uns; die eine Seite der Hohle war nahezu gluͤhend, mit roͤthlichem, weißgebrannten Stein bedeckt; ein dicker Dampf ſtieg aus den Klunſen hervor, und man fuͤhlte die Hitze des Bodens auch durch die ſtarken Sohlen. Ein ſo zufaͤlliges Ereigniß, denn man weiß nicht wie dieſe Strecke ſich entzuͤndete, gewaͤhrt der Alaun¬ fabrication den großen Vortheil, daß die Schie¬ fer, woraus die Oberflaͤche des Berges be¬ ſteht, vollkommen geroͤſtet daliegen und nur505 kurz und gut ausgelaugt werden duͤrfen. Die ganze Klamme war entſtanden, daß man nach und nach die calcinirten Schiefer abgeraͤumt und verbraucht hatte. Wir kletterten aus die¬ ſer Tiefe hervor und waren auf dem Gipfel des Berges. Ein anmuthiger Buchenwald umgab den Platz, der auf die Hohle folgte und ſich ihr zu beyden Seiten verbreitete. Mehrere Baͤume ſtanden ſchon verdorrt, an¬ dere welkten in der Naͤhe von andern, die, noch ganz friſch, jene Gluth nicht ahndeten, welche ſich auch ihren Wurzeln bedrohend naͤherte.
Auf dem Platze dampften verſchiedene Oeff¬ nungen, andere hatten ſchon ausgeraucht, und ſo glomm dieſes Feuer bereits zehen Jahre durch alte verbrochene Stollen und Schaͤchte, mit welchen der Berg unterminirt iſt. Es mag ſich auch auf Kluͤften durch friſche Koh¬ lenlager durchziehn: denn einige hundert Schritte weiter in den Wald gedachte man bedeutende Merkmale von ergiebigen Stein¬506 kohlen zu verfolgen; man war aber nicht weit gelangt, als ein ſtarker Dampf den Ar¬ beitern entgegendrang und ſie vertrieb. Die Oeffnung ward wieder zugeworfen; allein wir fanden die Stelle noch rauchend, als wir dar¬ an vorbey den Weg zur Reſidenz unſeres ein¬ ſiedleriſchen Chemikers verfolgten. Sie liegt zwiſchen Bergen und Waͤldern; die Thaͤler nehmen daſelbſt ſehr mannigfaltige und ange¬ nehme Kruͤmmungen, rings umher iſt der Boden ſchwarz und kohlenartig, die Lager ge¬ hen haͤufig zu Tage aus. Ein Kohlenphilo¬ ſoph — Philosophus per ignem, wie man ſonſt ſagte — haͤtte ſich wohl nicht ſchicklicher anſiedeln koͤnnen.
Wir traten vor ein kleines, zur Wohnung nicht uͤbel dienliches Haus und fanden Herrn Stauf, der meinen Freund ſogleich erkann¬ te und mit Klagen uͤber die neue Regierung empfing, Freylich konnten wir aus ſeinen Reden vermerken, daß das Alaunwerk, ſo507 wie manche andre wohlgemeynte Anstalt, we¬ gen aͤußerer, vielleicht auch innerer Umſtaͤnde, die Unkoſten nicht trage, und was dergleichen mehr war. Er gehoͤrte unter die Chemiker jener Zeit, die, bey einem innigen Gefuͤhl deſ¬ ſen was mit Naturproducten alles zu leiſten waͤre, ſich in einer abſtruſen Betrachtung von Kleinigkeiten und Nebenſachen gefielen, und bey unzulaͤnglichen Kenntniſſen, nicht fertig genug dasjenige zu leiſten verſtanden, woraus eigentlich oͤconomiſcher und mercantiliſcher Vor¬ theil zu ziehn iſt. So lag der Nutzen, den er ſich von jenem Schaum verſprach, ſehr im Weiten; ſo zeigte er nichts als einen Kuchen Salmiak, den ihm der brennende Berg ge¬ liefert hatte.
Bereitwillig und froh, ſeine Klagen einem menſchlichen Ohre mitzutheilen, ſchleppte ſich das hagere, abgelebte Maͤnnchen in Einem Schuh und Einem Pantoffel, mit herabhaͤn¬ genden, vergebens wiederholt von ihm herauf¬508 gezogenen Struͤmpfen, den Berg hinauf, wo die Harzhuͤtte ſteht, die er ſelbſt errichtet hat und nun mit großem Leidweſen verfallen ſieht. Hier fand ſich eine zuſammenhangende Ofen¬ reihe, wo Steinkohlen abgeſchwefelt und zum Gebrauch bey Eiſenwerken tauglich gemacht werden ſollten; allein zu gleicher Zeit wollte man Oel und Harz auch zu Gute machen, ja ſogar den Ruß nicht miſſen, und ſo unter¬ lag den vielfachen Abſichten alles zuſammen. Bey Lebzeiten des vorigen Fuͤrſten trieb man das Geſchaͤft aus Liebhaberey, aus Hoffnung; jetzt fragte man nach dem unmittelbaren Nutzen, der nicht nachzuweiſen war.
Nachdem wir unſern Adepten ſeiner Ein¬ ſamkeit uͤberlaſſen, eilten wir, — denn es war ſchon ſpaͤt geworden — der Friedrichs¬ thaler Glashuͤtte zu, wo wir eine der wichtigſten und wunderbarſten Werkthaͤtigkei¬ ten des menſchlichen Kunſtgeſchickes im Vor¬ uͤbergehen kennen lernten.
509Doch faſt mehr als dieſe bedeutenden Er¬ fahrungen intereſſirten uns junge Burſche ei¬ nige luſtige Abenteuer, und bey einbrechender Finſterniß, ohnweit Neukirch, ein uͤberra¬ ſchendes Feuerwerk. Denn wie vor einigen Naͤchten, an den Ufern der Saar, leuchtende Wolken Johanniswuͤrmer zwiſchen Fels und Buſch um uns ſchwebten, ſo ſpielten uns nun die funkenwerfenden Eſſen ihr luſtiges Feuer¬ werk entgegen. Wir betraten bey tiefer Nacht die im Thalgrunde liegenden Schmelzhuͤtten, und vergnuͤgten uns an dem ſeltſamen Halb¬ dunkel dieſer Bretter-Hoͤhlen, die nur durch des gluͤhenden Ofens geringe Oeffnung kuͤm¬ merlich erleuchtet werden. Das Geraͤuſch des Waſſers und der von ihm getriebenen Blas¬ baͤlge, das fuͤrchterliche Sauſen und Pfeifen des Windſtroms, der, in das geſchmolzene Erz wuͤthend, die Ohren betaͤubt und die Sinne verwirrt, trieb uns endlich hinweg, um in Neukirch einzukehren, das an dem Berg hinaufgebaut iſt.
510Aber ungeachtet aller Mannigfaltigkeit und Unruhe des Tags konnte ich hier noch keine Raſt finden. Ich uͤberließ meinen Freund einem gluͤcklichen Schlafe und ſuchte das hoͤ¬ her gelegene Jagdſchloß. Es blickt weit uͤber Berg und Waͤlder hin, deren Umriſſe nur an dem heitern Nachthimmel zu erkennen, de¬ ren Seiten und Tiefen aber meinem Blick undurchdringlich waren. So leer als einſam ſtand das wohlerhaltene Gebaͤude; kein Ca¬ ſtellan, kein Jaͤger war zu finden. Ich ſaß vor den großen Glasthuͤren auf den Stufen, die um die ganze Terraſſe hergehn. Hier, mitten im Gebirg, uͤber einer waldbewachſe¬ nen finſteren Erde, die gegen den heitern Ho¬ rizont einer Sommernacht nur noch finſterer erſchien, das brennende Sterngewoͤlbe uͤber mir, ſaß ich an der verlaſſenen Staͤtte lange mit mir ſelbſt und glaubte niemals eine ſolche Einſamkeit empfunden zu haben. Wie lieb¬ lich uͤberraſchte mich daher aus der Ferne der Ton von ein Paar Waldhoͤrnern, der auf511 einmal wie ein Balſamduft die ruhige At¬ moſphaͤre belebte. Da erwachte in mir das Bild eines holden Weſens, das vor den bun¬ ten Geſtalten dieſer Reiſetage in den Hinter¬ grund gewichen war, es enthuͤllte ſich immer mehr und mehr, und trieb mich von meinem Platze nach der Herberge, wo ich Anſtalten traf, mit dem fruͤhſten abzureiſen.
Der Ruͤckweg wurde nicht benutzt wie der Herweg. So eilten wir durch Zweybruͤ¬ cken, das, als eine ſchoͤne und merkwuͤrdige Reſidenz, wohl auch unſere Aufmerkſamkeit verdient haͤtte. Wir warfen einen Blick auf das große, einfache Schloß, auf die weit¬ laͤuftigen, regelmaͤßig mit Lindenſtaͤmmen be¬ pflanzten, zum Dreſſiren der Parforcepferde wohleingerichteten Esplanaden, auf die gro¬ ßen Staͤlle, auf die Buͤrgerhaͤuſer, welche der Fuͤrſt baute, um ſie ausſpielen zu laſſen. Alles dieſes, ſo wie Kleidung und Betragen der Einwohner, beſonders der Frauen und512 Maͤdchen, deutete auf ein Verhaͤltniß in die Ferne, und machte den Bezug aus Paris anſchaulich, dem alles Ueberrheiniſche ſeit ge¬ raumer Zeit ſich nicht entziehen konnte. Wir beſuchten auch den vor der Stadt liegenden herzoglichen Keller, der weitlaͤuftig iſt, mit großen und kuͤnſtlichen Faͤſſern verſehn. Wir zogen weiter und fanden das Land zuletzt wie im Saarbruͤckiſchen. Zwiſchen wilden und rauhen Bergen wenig Doͤrfer; man verlernt hier ſich nach Getraide umzuſehn. Den Horn¬ bach zur Seite ſtiegen wir nach Bitſch, das an dem bedeutenden Platze liegt, wo die Gewaͤſſer ſich ſcheiden, und ein Theil in die Saar, ein Theil dem Rheine zufaͤllt; dieſe letztern ſollten uns bald nach ſich ziehn. Doch konnten wir dem Staͤdtchen Bitſch, das ſich ſehr maleriſch um einen Berg herumſchlingt, und der oben liegenden Feſtung unſere Auf¬ merkſamkeit nicht verſagen. Dieſe iſt theils auf Felſen gebaut, theils in Felſen gehauen. Die unterirdiſchen Raͤume ſind beſonders merk¬513 wuͤrdig; hier iſt nicht allein hinreichender Platz zum Aufenthalt einer Menge Men¬ ſchen und Vieh, ſondern man trifft ſogar große Gewoͤlbe zum Exerciren, eine Muͤhle, eine Capelle und was man unter der Erde ſonſt fordern koͤnnte, wenn die Oberflaͤche be¬ unruhigt wuͤrde.
Den hinabſtuͤrzenden Baͤchen folgten wir nunmehr durchs Baͤrenthal. Die dicken Waͤlder auf beyden Hoͤhen ſind unbenutzt. Hier faulen Staͤmme zu Tauſenden uͤber ein¬ ander, und junge Sproͤßlinge keimen in Un¬ zahl auf halbvermoderten Vorfahren. Hier kam uns durch Geſpraͤche einiger Fußbegleiter der Name von Dieterich wieder in die Ohren, den wir ſchon oͤfter in dieſen Wald¬ gegenden ehrenvoll hatten ausſprechen hoͤren. Die Thaͤtigkeit und Gewandtheit dieſes Man¬ nes, ſein Reichthum, die Benutzung und Anwendung deſſelben, alles erſchien im Gleich¬II. 33514gewicht; er konnte ſich mit Recht des Erwor¬ benen erfreuen, das er vermehrte, und das Verdiente genießen, das er ſicherte. Jemehr ich die Welt ſah, jemehr erfreute ich mich, außer den allgemein beruͤhmten Namen, auch beſonders an denen, die in einzelnen Gegen¬ den mit Achtung und Liebe genannt wurden; und ſo erfuhr ich auch hier bey einiger Nach¬ frage gar leicht, daß von Dieterich fruͤher als andre ſich der Gebirgsſchaͤtze, des Eiſens, der Kohlen und des Holzes, mit gutem Er¬ folg zu bedienen gewußt und ſich zu einem immer wachſenden Wohlhaben herangearbei¬ tet habe.
Niederbrunn, wohin wir gelangten, war ein neues Zeugniß hiervon. Er hatte dieſen kleinen Ort den Grafen von Leiningen und andern Theilbeſitzern abgekauft, um in der Gegend bedeutende Eiſenwerke einzu¬ richten.
515Hier in dieſen von den Roͤmern ſchon angelegten Baͤdern umſpuͤhlte mich der Geiſt des Alterthums, deſſen ehrwuͤrdige Truͤmmer in Reſten von Basreliefs und Inſchriften, Saͤulenknaͤufen und Schaͤften mir aus Bau¬ erhoͤfen, zwiſchen wirthſchaftlichem Wuſt und Geraͤthe, gar wunderſam entgegenleuchteten.
So verehrte ich auch, als wir die nahe gelegene Waſenburg beſtiegen, an der gro¬ ßen Felsmaſſe, die den Grund der einen Seite ausmacht, eine gut erhaltene Inſchrift, die dem Mercur ein dankbares Geluͤbd ab¬ ſtattet. Die Burg ſelbſt liegt auf dem letz¬ ten Berge von Bitſch her gegen das Land zu. Es ſind die Ruinen eines deutſchen, auf roͤmiſche Reſte gebauten Schloſſes. Von dem Thurm uͤberſah man abermals das ganze El¬ ſaß, und des Muͤnſters deutliche Spitze be¬ zeichnete die Lage von Straßburg. Zunaͤchſt jedoch verbreitete ſich der große Hagenauer33 *516Forſt, und die Thuͤrme dieſer Stadt ragten dahinter ganz deutlich hervor. Dorthin wur¬ de ich gezogen. Wir ritten durch Reichs¬ hofen, wo von Dieterich ein bedeutendes Schloß erbauen ließ, und nachdem wir, von den Huͤgeln bey Niedermodern, den an¬ genehmen Lauf des Moderfluͤßchens am Ha¬ genauer Wald her betrachtet hatten, ließ ich meinen Freund bey einer laͤcherlichen Stein¬ kohlengruben-Viſitation, die zu Dutweiler freylich etwas ernſthafter wuͤrde geweſen ſeyn, und ritt durch Hagenau, auf Richtwegen, welche mir die Neigung ſchon andeutete, nach dem geliebten Seſenheim.
Denn jene ſaͤmmlichen Ausſichten in eine wilde Gebirgsgegend und ſodann wieder in ein heiteres, fruchtbares, froͤhliches Land konnten meinen innern Blick nicht feſſeln, der auf einen liebenswuͤrdigen anziehenden Gegen¬ ſtand gerichtet war. Auch dießmal erſchien517 mir der Herweg reizender als der Hinweg, weil er mich wieder in die Naͤhe eines Frau¬ enzimmers brachte, der ich von Herzen er¬ geben war und welche ſoviel Achtung als Lie¬ be verdiente. Mir ſey jedoch, ehe ich meine Freunde zu ihrer laͤndlichen Wohnung fuͤhre, vergoͤnnt, eines Umſtandes zu erwaͤhnen, der ſehr viel beytrug, meine Neigung und die Zufriedenheit, welche ſie mir gewaͤhrte, zu beleben und zu erhoͤhen.
Wie ſehr ich in der neuern Litteratur zu¬ ruͤckſeyn mußte, laͤßt ſich aus der Lebensart ſchließen, die ich in Frankfurt gefuͤhrt, aus den Studien, denen ich mich gewidmet hat¬ te, und mein Aufenthalt in Straßburg konn¬ te mich darin nicht foͤrdern. Nun kam Her¬ der und brachte neben ſeinen großen Kennt¬ niſſen noch manche Huͤlfsmittel und uͤberdieß auch neuere Schriften mit. Unter dieſen kuͤn¬ digte er uns den Landprieſter von Wa¬518 kefield als ein fuͤrtreffliches Werk an, von dem er uns die deutſche Ueberſetzung durch ſelbſteigne Vorleſung bekannt machen wolle.
Seine Art zu leſen war ganz eigen; wer ihn predigen gehoͤrt hat, wird ſich davon ei¬ nen Begriff machen koͤnnen. Er trug alles, und ſo auch dieſen Roman, ernſt und ſchlicht vor; voͤllig entfernt von aller dramatiſchmi¬ miſchen Darſtellung, vermied er ſogar jene Mannigfaltigkeit, die bey einem epiſchen Vor¬ trag nicht allein erlaubt iſt, ſondern wohl gefordert wird: eine geringe Abwechſelung des Tons, wenn verſchiedene Perſonen ſprechen, wodurch das was eine jede ſagt, herausge¬ hoben und der Handelnde von dem Erzaͤh¬ lenden abgeſondert wird. Ohne monoton zu ſeyn ließ Herder alles in Einem Ton hinter einander folgen, eben als wenn nichts gegen¬ waͤrtig, ſondern alles nur hiſtoriſch waͤre, als wenn die Schatten dieſer poetiſchen Weſen519 nicht lebhaft vor ihm wirkten, ſondern nur ſanft voruͤbergleiteten. Doch hatte dieſe Art des Vortrags, aus ſeinem Munde, einen unendlichen Reiz: denn weil er alles aufs tiefſte empfand, und die Mannigfaltigkeit ei¬ nes ſolchen Werts hochzuſchaͤtzen wußte, ſo trat das ganze Verdienſt einer Production rein und um ſo deutlicher hervor, als man nicht durch ſcharf ausgeſprochene Einzelnheiten ge¬ ſtoͤrt und aus der Empfindung geriſſen wurde, welche das Ganze gewaͤhren ſollte.
Ein proteſtantiſcher Landgeiſtlicher iſt viel¬ leicht der ſchoͤnſte Gegenſtand einer modernen Idylle; er erſcheint, wie Melchiſedech, als Prieſter und Koͤnig in Einer Perſon. An den unſchuldigſten Zuſtand, der ſich auf Er¬ den denken laͤßt, an den des Ackermanns, iſt er meiſtens durch gleiche Beſchaͤftigung, ſo wie durch gleiche Familienverhaͤltniſſe geknuͤpft; er iſt Vater, Hausherr, Landmann und ſo520 vollkommen ein Glied der Gemeine. Auf die¬ ſem reinen, ſchoͤnen, irdiſchen Grunde ruht ſein hoͤherer Beruf; ihm iſt uͤbergeben, die Menſchen ins Leben zu fuͤhren, fuͤr ihre gei¬ ſtige Erziehung zu ſorgen, ſie bey allen Haupt¬ epochen ihres Daſeyns zu ſegnen, ſie zu be¬ lehren, zu kraͤftigen, zu troͤſten, und, wenn der Troſt fuͤr die Gegenwart nicht ausreicht, die Hoffnung einer gluͤcklicheren Zukunft her¬ anzurufen und zu verbuͤrgen. Denke man ſich einen ſolchen Mann, mit rein menſchli¬ chen Geſinnungen, ſtark genug, um unter keinen Umſtaͤnden davon zu weichen, und ſchon dadurch uͤber die Menge erhaben, von der man Reinheit und Feſtigkeit nicht erwarten kann; gebe man ihm die zu ſeinem Amte noͤthigen Kenntniſſe, ſo wie eine heitere, glei¬ che Thaͤtigkeit, welche ſogar leidenſchaftlich iſt, indem ſie keinen Augenblick verſaͤumt das Gute zu wirken — und man wird ihn wohl aus¬ geſtattet haben. Zugleich aber fuͤge man die521 noͤthige Beſchraͤnktheit hinzu, daß er nicht allein in einem kleinen Kreiſe verharren, ſon¬ dern auch allenfalls in einen kleineren uͤberge¬ hen moͤge; man verleihe ihm Gutmuͤthigkeit, Verſoͤhnlichkeit, Standhaftigkeit und was ſonſt noch aus einem entſchiedenen Character Loͤb¬ liches hervorſpringt, und uͤber dieß alles eine heitere Nachgiebigkeit und laͤchelnde Duldung eigner und fremder Fehler: ſo hat man das Bild unſeres trefflichen Wakefield ſo ziemlich beyſammen.
Die Darſtellung dieſes Characters auf ſei¬ nem Lebensgange durch Freuden und Leiden, das immer wachſende Intereſſe der Fabel, durch Verbindung des ganz Natuͤrlichen mit dem Sonderbaren und Seltſamen, macht die¬ ſen Roman zu einem der beſten, die je ge¬ ſchrieben worden; der noch uͤberdieß den gro¬ ßen Vorzug hat, daß er ganz ſittlich, ja im reinen Sinne chriſtlich iſt, die Belohnung522 des guten Willens, des Beharrens bey dem Rechten darſtellt, das unbedingte Zutrauen auf Gott beſtaͤtigt und den endlichen Triumph des Guten uͤber das Boͤſe beglaubigt, und dieß alles ohne eine Spur von Froͤmmeley oder Pedantismus. Vor beyden hatte den Verfaſſer der hohe Sinn bewahrt, der ſich hier durchgaͤngig als Ironie zeigt, wodurch dieſes Werkchen uns eben ſo weiſe als liebens¬ wuͤrdig entgegenkommen muß. Der Verfaſ¬ ſer, Doctor Goldſmith, hat ohne Frage gro¬ ße Einſicht in die moraliſche Welt, in ihren Werth und in ihre Gebrechen; aber zugleich mag er nur dankbar anerkennen, daß er ein Englaͤnder iſt, und die Vortheile, die ihm ſein Land, ſeine Nation darbietet, hoch an¬ rechnen. Die Familie, mit deren Schilde¬ rung er ſich beſchaͤftigt, ſteht auf einer der letzten Stufen des buͤrgerlichen Behagens, und doch kommt ſie mit dem Hoͤchſten in Beruͤh¬ rung; ihr enger Kreis, der ſich noch mehr523 verengt, greift, durch den natuͤrlichen und buͤrgerlichen Lauf der Dinge, in die große Welt mit ein; auf der reichen bewegten Wo¬ ge des engliſchen Lebens ſchwimmt dieſer klei¬ ne Kahn, und in Wohl und Weh hat er Schaden oder Huͤlfe von der ungeheueren Flotte zu erwarten, die um ihn herſeegelt.
Ich kann vorausſetzen, daß meine Leſer dieſes Werk kennen und im Gedaͤchtniß haben; wer es zuerſt hier nennen hoͤrt, ſo wie der, welcher aufgeregt wird, es wieder zu leſen, beyde werden mir danken. Fuͤr jene bemerke ich nur im Voruͤbergehn, daß des Landgeiſt¬ lichen Hausfrau von der thaͤtigen, guten Art iſt, die es ſich und den Ihrigen an nichts fehlen laͤßt, aber auch dafuͤr auf ſich und die Ihrigen etwas einbildiſch iſt. Zwey Toͤchter, Olivie, ſchoͤn und mehr nach Außen, So¬ phie, reizend und mehr nach Innen geſinnt; einen fleißigen, dem Vater nacheifernden et¬524 was herben Sohn, Moſes, will ich zu nen¬ nen nicht unterlaſſen.
Wenn Herder bey ſeiner Vorleſung eines Fehlers beſchuldigt werden konnte, ſo war es der Ungeduld; er wartete nicht ab, bis der Zu¬ hoͤrer einen gewiſſen Theil des Verlaufs ver¬ nommen und gefaßt haͤtte, um richtig dabey empfinden und gehoͤrig denken zu koͤnnen: vor¬ eilig wollte er ſogleich Wirkungen ſehen, und doch war er auch mit dieſen unzufrieden, wenn ſie hervortraten. Er tadelte das Ueber¬ maß von Gefuͤhl, das bey mir von Schritt zu Schritt mehr uͤberfloß. Ich empfand als Menſch, als junger Menſch; mir war alles lebendig, wahr, gegenwaͤrtig. Er, der bloß Gehalt und Form beachtete, ſah freylich wohl, daß ich vom Stoff uͤberwaͤltigt ward, und das wollte er nicht gelten laſſen. Peglows Reflexionen zunaͤchſt, die nicht von den fein¬ ſten waren, wurden noch uͤbler aufgenommen;525 beſonders aber erzuͤrnte er ſich uͤber unſern Mangel an Scharfſinn, daß wir die Contra¬ ſte, deren ſich der Verfaſſer oft bedient, nicht vorausſahen, uns davon ruͤhren und hinrei¬ ßen ließen, ohne den oͤfters wiederkehrenden Kunſtgriff zu merken. Daß wir aber gleich zu Anfang, wo Burchel, indem er bey einer Erzaͤhlung aus der dritten Perſon in die erſte uͤbergeht, ſich zu verrathen im Begriff iſt, daß wir nicht gleich eingeſehn oder wenigſtens gemuthmaßt hatten, daß er der Lord, von dem er ſpricht, ſelbſt ſey, verzieh er uns nicht, und als wir zuletzt, bey Entdeckung und Ver¬ wandlung des armen kuͤmmerlichen Wanderers in einen reichen, maͤchtigen Herrn, uns kind¬ lich freuten, rief er erſt jene Stelle zuruͤck, die wir nach der Abſicht des Autors uͤber¬ hoͤrt hatten, und hielt uͤber unſern Stumpf¬ ſinn eine gewaltige Strafpredigt. Man ſieht hieraus, daß er das Werk bloß als Kunſtpro¬ duct anſah und von uns das Gleiche verlang¬526 te, die wir noch in jenen Zuſtaͤnden wandel¬ ten, wo es wohl erlaubt iſt, Kunſtwerke wie Naturerzeugniſſe auf ſich wirken zu laſſen.
Ich ließ mich durch Herders Invectiven keineswegs irre machen; wie denn junge Leu¬ te das Gluͤck oder Ungluͤck haben, daß, wenn einmal etwas auf ſie gewirkt hat, dieſe Wir¬ kung in ihnen ſelbſt verarbeitet werden muß, woraus denn manches Gute, ſo wie manches Unheil entſteht. Gedachtes Werk hatte bey mir einen großen Eindruck zuruͤckgelaſſen, von dem ich mir ſelbſt nicht Rechenſchaft geben konnte; eigentlich fuͤhlte ich mich aber in Ue¬ bereinſtimmung mit jener ironiſchen[Geſinnung], die ſich uͤber die Gegenſtaͤnde, uͤber Gluͤck und Ungluͤck, Gutes und Boͤſes, Tod und Leben erhebt, und ſo zum Beſitz einer wahr¬ haft poetiſchen Welt gelangt. Freylich konnte dieſes nur ſpaͤter bey mir zum Bewußtſeyn kommen, genug, es machte mir fuͤr den Au¬527 genblick viel zu ſchaffen; keineswegs aber haͤt¬ te ich erwartet alſobald aus dieſer fingirten Welt in eine aͤhnliche wirkliche verſetzt zu werden.
Mein Tiſchgenoſſe Weyland, der ſein ſtil¬ les fleißiges Leben dadurch erheiterte, daß er, aus dem Elſaß gebuͤrtig, bey Freunden und Verwandten in der Gegend von Zeit zu Zeit einſprach, leiſtete mir auf meinen kleinen Ex¬ curſionen manchen Dienſt, indem er mich in verſchiedenen Ortſchaften und Familien theils perſoͤnlich, theils durch Empfehlungen einfuͤhr¬ te. Dieſer hatte mir oͤfters von einem Land¬ geiſtlichen geſprochen, der nahe bey Druſen¬ heim, ſechs Stunden von Straßburg, im Beſitz einer guten Pfarre mit einer verſtaͤn¬ digen Frau und ein Paar liebenswuͤrdigen Toͤch¬ tern lebe. Die Gaſtfreyheit und Anmuth die¬ ſes Hauſes ward immer dabey hoͤchlich ge¬ ruͤhmt. Soviel bedurfte es kaum, um einen528 jungen Ritter anzureizen, der ſich ſchon ange¬ woͤhnt hatte, alle abzumuͤßigenden Tage und Stunden zu Pferde und in freyer Luft zuzu¬ bringen. Alſo entſchloſſen wir uns auch zu dieſer Partie, wobey mir mein Freund ver¬ ſprechen mußte, daß er bey der Einfuͤhrung weder Gutes noch Boͤſes von mir ſagen, uͤber¬ haupt aber mich gleichguͤltig behandeln wolle, ſogar erlauben, wo nicht ſchlecht, doch etwas aͤrmlich und nachlaͤſſig gekleidet zu erſcheinen. Er willigte darein und verſprach ſich ſelbſt ei¬ nigen Spaß davon.
Es iſt eine verzeihliche Grille bedeutender Menſchen, gelegentlich einmal aͤußere Vorzuͤge in's Verborgene zu ſtellen, um den eignen innern menſchlichen Gehalt deſto reiner wir¬ ken zu laſſen; deswegen hat das Incognito der Fuͤrſten und die daraus entſpringenden Abenteuer immer etwas hoͤchſt Angenehmes: es erſcheinen verkleidete Gottheiten, die alles529 Gute, was man ihrer Perſoͤnlichkeit erweiſt, doppelt hoch anrechnen duͤrfen und im Fall ſind, das Unerfreuliche entweder leicht zu neh¬ men, oder ihm ausweichen zu koͤnnen. Daß Jupiter bey Philemon und Baucis, Heinrich der vierte, nach einer Jagdpartie, unter ſei¬ nen Bauern ſich in ihrem Incognito wohlge¬ fallen, iſt ganz der Natur gemaͤß, und man mag es gern; daß aber ein junger Menſch ohne Bedeutung und Namen ſich einfallen laͤßt, aus dem Incognito einiges Vergnuͤgen zu ziehen, moͤchte mancher fuͤr einen unver¬ zeihlichen Hochmuth auslegen. Da aber hier die Rede nicht iſt von Geſinnungen und Handlungen, in wiefern ſie lobens - oder ta¬ delnswuͤrdig, ſondern wiefern ſie ſich offenba¬ ren und ereignen koͤnnen; ſo wollen wir fuͤr dießmal, unſerer Unterhaltung zu Liebe, dem Juͤngling ſeinen Duͤnkel verzeihen, um ſo mehr, als ich hier anfuͤhren muß, daß von Jugend auf in mir eine Luſt mich zu verklei¬II. 34530den ſelbſt durch den ernſten Vater erregt worden.
Auch dießmal hatte ich mich, theils durch eigne aͤltere, theils durch einige geborgte Klei¬ dungsſtuͤcke und durch die Art die Haare zu kaͤmmen, wo nicht entſtellt, doch wenigſtens ſo wunderlich zugeſtutzt, daß mein Freund un¬ terwegs ſich des Lachens nicht erwehren konn¬ te, beſonders wenn ich Haltung und Gebaͤrde ſolcher Figuren, wenn ſie zu Pferde ſitzen, und die man lateiniſche Reiter nennt, voll¬ kommen nachzuahmen wußte. Die ſchoͤne Chauſſee, das herrlichſte Wetter und die Naͤ¬ he des Rheins gaben uns den beſten Humor. In Druſenheim hielten wir einen Augenblick an, er, um ſich nett zu machen, und ich, um mir meine Rolle zuruͤckzurufen, aus der ich gelegentlich zu fallen fuͤrchtete. Die Ge¬ gend hier hat den Character des ganz freyen ebenen Elſaſſes. Wir ritten einen anmuthi¬531 gen Fußpfad uͤber Wieſen, gelangten bald nach Seſenheim, ließen unſere Pferde im Wirthshauſe und gingen gelaſſen nach dem Pfarrhofe. — Laß dich, ſagte Weyland, in¬ dem er mir das Haus von weitem zeigte, nicht irren, daß es einem alten und ſchlechten Bauerhauſe aͤhnlich ſieht; inwendig iſt es de¬ ſto juͤnger. — Wir traten in den Hof; das Ganze gefiel mir wohl: denn es hatte gerade das, was man maleriſch nennt, und was mich in der niederlaͤndiſchen Kunſt ſo zaube¬ riſch angeſprochen hatte. Jene Wirkung war gewaltig ſichtbar, welche die Zeit uͤber alles Menſchenwerk ausuͤbt. Haus und Scheune und Stall befanden ſich in dem Zuſtande des Verfalls gerade auf dem Puncte, wo man unſchluͤßig, zwiſchen Erhalten und Neuauf¬ richten zweifelhaft, das Eine unterlaͤßt, ohne zu dem Andern gelangen zu koͤnnen.
34 *532Alles war ſtill und menſchenleer, wie im Dorfe ſo im Hofe. Wir fanden den Vater, einen kleinen, in ſich gekehrten aber doch freundlichen Mann, ganz allein: denn die Fa¬ milie war auf dem Felde. Er hieß uns will¬ kommen, bot uns eine Erfriſchung an, die wir ablehnten. Mein Freund eilte die Frauenzimmer aufzuſuchen, und ich blieb mit unſerem Wirth allein. — Sie wundern ſich vielleicht, ſagte er, daß Sie mich in einem reichen Dorfe und bey einer eintraͤglichen Stelle ſo ſchlecht quartiert finden; das kommt aber, fuhr er fort, von der Unentſchloſſen¬ heit. Schon lange iſt mir's von der Gemei¬ ne, ja von den oberen Stellen zugeſagt, daß das Haus neu aufgerichtet werden ſoll; meh¬ rere Riſſe ſind ſchon gemacht, gepruͤft, ver¬ aͤndert, keiner ganz verworfen und keiner aus¬ gefuͤhrt worden. Es hat ſo viele Jahre ge¬ dauert, daß ich mich vor Ungeduld kaum zu faſſen weiß. — Ich erwiederte ihm, was ich533 fuͤr ſchicklich hielt, um ſeine Hoffnung zu naͤh¬ ren und ihn aufzumuntern, daß er die Sache ſtaͤrker betreiben moͤchte. Er fuhr darauf fort, mit Vertrauen die Perſonen zu ſchildern, von denen ſolche Sachen abhingen, und obgleich er kein ſonderlicher Characterzeichner war, ſo konnte ich doch recht gut begreifen, wie das ganze Geſchaͤft ſtocken mußte. Die Zutrau¬ lichkeit des Mannes hatte was Eignes; er ſprach zu mir als wenn er mich zehen Jahre gekannt haͤtte, ohne daß irgend etwas in ſei¬ nem Blick geweſen waͤre, woraus ich einige Aufmerkſamkeit auf mich haͤtte muthmaßen koͤnnen. Endlich trat mein Freund mit der Mutter herein. Dieſe ſchien mich mit ganz andern Augen anzuſehn. Ihr Geſicht war regelmaͤßig und der Ausdruck deſſelben ver¬ ſtaͤndig; ſie mußte in ihrer Jugend ſchoͤn ge¬ weſen ſeyn. Ihre Geſtalt war lang und ha¬ ger, doch nicht mehr als ſolchen Jahren ge¬ ziemt; ſie hatte vom Ruͤcken her noch ein534 ganz jugendliches, angenehmes Anſehen. Die aͤlteſte Tochter kam darauf lebhaft hereinge¬ ſtuͤrmt; ſie fragte nach Friedricken, ſo wie die andern beyden auch nach ihr gefragt hat¬ ten. Der Vater verſicherte, ſie nicht geſehen zu haben, ſeit dem alle drey fortgegangen. Die Tochter fuhr wieder zur Thuͤre hinaus, um die Schweſter zu ſuchen; die Mutter brachte uns einige Erfriſchungen, und Wey¬ land ſetzte mit den beyden Gatten das Ge¬ ſpraͤch fort, das ſich auf lauter bewußte Per¬ ſonen und Verhaͤltniſſe bezog, wie es zu ge¬ ſchehn pflegt, wenn Bekannte nach einiger Zeit zuſammenkommen, von den Gliedern eines großen Zirkels Erkundigung einziehn und ſich wechſelsweiſe berichten. Ich hoͤrte zu und erfuhr nunmehr, wie viel ich mir von dieſem Kreiſe zu verſprechen hatte.
Die aͤlteſte Tochter kam wieder haſtig in die Stube, unruhig, ihre Schweſter nicht535 gefunden zu haben. Man war beſorgt um ſie und ſchalt auf dieſe oder jene boͤſe Ge¬ wohnheit, nur der Vater ſagte ganz ruhig: laßt ſie immer gehn, ſie kommt ſchon wieder! In dieſem Augenblick trat ſie wirklich in die Thuͤre; und da ging fuͤrwahr an dieſem laͤnd¬ lichen Himmel ein allerliebſter Stern auf. Beyde Toͤchter trugen ſich noch deutſch, wie man es zu nennen pflegte, und dieſe faſt ver¬ draͤngte Nationaltracht kleidete Friedricken be¬ ſonders gut. Ein kurzes weißes rundes Roͤck¬ chen mit einer Falbel, nicht laͤnger als daß die nettſten Fuͤßchen bis an die Knoͤchel ſicht¬ bar blieben; ein knappes weißes Mieder und eine ſchwarze Taffetſchuͤrze — ſo ſtand ſie auf der Grenze zwiſchen Baͤuerinn und Staͤd¬ terinn. Schlank und leicht, als wenn ſie nichts an ſich zu tragen haͤtte, ſchritt ſie, und beynahe ſchien fuͤr die gewaltigen blonden Zoͤpfe des niedlichen Koͤpfchens der Hals zu zart. Aus heiteren blauen Augen blickte ſie536 ſehr deutlich umher, und das artige Stumpf¬ naͤschen forſchte ſo frey in die Luft, als wenn es in der Welt keine Sorge geben koͤnnte; der Strohhut hing ihr am Arm, und ſo hatte ich das Vergnuͤgen, ſie beym erſten Blick auf einmal in ihrer ganzen Anmuth und Lieblichkeit zu ſehn und zu erkennen.
Ich fing nun an meine Rolle mit Maͤßi¬ gung zu ſpielen, halb beſchaͤmt, ſo gute Men¬ ſchen zum beſten zu haben, die zu beobachten es mir nicht an Zeit fehlte: denn die Maͤd¬ chen ſetzten jenes Geſpraͤch fort und zwar mit Leidenſchaft und Laune. Saͤmmtliche Nach¬ barn und Verwandte wurden abermals vor¬ gefuͤhrt, und es erſchien meiner Einbildungs¬ kraft ein ſolcher Schwarm von Onclen und Tanten, Vettern, Baſen, Kommenden, Ge¬ henden, Gevattern und Gaͤſten, daß ich in der belebteſten Welt zu hauſen glaubte. Alle Familienglieder hatten einige Worte mit mir537 geſprochen, die Mutter betrachtete mich jedes¬ mal, ſo oft ſie kam oder ging, aber Fried¬ ricke ließ ſich zuerſt mit mir in ein Geſpraͤch ein, und indem ich umherliegende Noten auf¬ nahm und durchſah, fragte ſie, ob ich auch ſpiele. Als ich es bejahte, erſuchte ſie mich etwas vorzutragen; aber der Vater ließ mich nicht dazu kommen: denn er behauptete, es ſey ſchicklich, dem Gaſte zuerſt mit irgend ei¬ nem Muſikſtuͤck oder einem Liede zu dienen.
Sie ſpielte verſchiedenes mit einiger Fer¬ tigkeit, in der Art, wie man es auf dem Lande zu hoͤren pflegt, und zwar auf einem Clavier, das der Schulmeiſter ſchon laͤngſt haͤtte ſtimmen ſollen, wenn er Zeit gehabt haͤtte. Nun ſollte ſie auch ein Lied ſingen, ein gewiſſes zaͤrtlich-trauriges; das gelang ihr nun gar nicht. Sie ſtand auf und ſagte laͤchelnd, oder vielmehr mit dem auf ihrem Geſicht immerfort ruhenden Zuge von heiterer538 Freude: wenn ich ſchlecht ſinge, ſo kann ich die Schuld nicht auf das Clavier und den Schulmeiſter werfen; laſſen Sie uns aber nur hinauskommen, dann ſollen Sie meine Elſaſſer - und Schweizerliedchen hoͤren, die klingen ſchon beſſer.
Beym Abendeſſen beſchaͤftigte mich eine Vorſtellung, die mich ſchon fruͤher uͤberfallen hatte, dergeſtalt, daß ich nachdenklich und ſtumm wurde, obgleich die Lebhaftigkeit der aͤlteren Schweſter und die Anmuth der juͤn¬ gern mich oft genug aus meinen Betrachtun¬ gen ſchuͤttelten. Meine Verwunderung war uͤber allen Ausdruck, mich ſo ganz leibhaftig in der Wakefieldſchen Familie zu finden. Der Vater konnte freylich nicht mit jenem treffli¬ chen Manne verglichen werden; allein wo gaͤbe es auch ſeinesgleichen! Dagegen ſtellte ſich alle Wuͤrde, welche jenem Ehegatten ei¬ gen iſt, hier in der Gattinn dar. Man konn¬539 te ſie nicht anſehen, ohne ſie zugleich zu eh¬ ren und zu ſcheuen. Man bemerkte bey ihr die Folgen einer guten Erziehung; ihr Betra¬ gen war ruhig, frey, heiter und einladend.
Hatte die aͤltere Tochter nicht die geruͤhm¬ te Schoͤnheit Oliviens, ſo war ſie doch wohl gebaut, lebhaft und eher heftig; ſie zeigte ſich uͤberall thaͤtig und ging der Mutter in allem an Handen. Friedricken an die Stelle von Primroſens Sophie zu ſetzen, war nicht ſchwer: denn von jener iſt wenig geſagt, man giebt nur zu, daß ſie liebenswuͤrdig ſey; die¬ ſe war es wirklich. Wie nun daſſelbe Ge¬ ſchaͤft, derſelbe Zuſtand uͤberall, wo er vor¬ kommen mag, aͤhnliche, wo nicht gleiche Wir¬ kungen hervorbringt; ſo kam auch hier man¬ ches zur Sprache, es geſchah gar manches, was in der Wakefieldſchen Familie ſich auch ſchon ereignet hatte. Als nun aber gar zu¬ letzt ein laͤngſt angekuͤndigter und von dem540 Vater mit Ungeduld erwarteter juͤngerer Sohn ins Zimmer ſprang und ſich dreuſt zu uns ſetzte, indem er von den Gaͤſten wenig No¬ tiz nahm, ſo enthielt ich mich kaum auszu¬ rufen: Moſes, biſt du auch da!
Die Unterhaltung bey Tiſche erweiterte die Anſicht jenes Land - und Familienkreiſes, indem von mancherley luſtigen Begebenheiten, die bald da bald dort vorgefallen, die Rede war. Friedricke, die neben mir ſaß, nahm daher Gelegenheit, mir verſchiedene Ortſchaf¬ ten zu beſchreiben, die es wohl zu beſuchen der Muͤhe werth ſey. Da immer ein Ge¬ ſchichtchen das andere hervorruft, ſo konnte ich nun auch mich deſto beſſer in das Geſpraͤch miſchen und aͤhnliche Begebenheiten erzaͤhlen, und weil hiebey ein guter Landwein keines¬ wegs geſchont wurde, ſo ſtand ich in Gefahr, aus meiner Rolle zu fallen, weshalb der vor¬ ſichtigere Freund den ſchoͤnen Mondſchein zum541 Vorwand nahm und auf einen Spazirgang antrug, welcher denn auch ſogleich beliebt wurde. Er bot der aͤlteſten den Arm, ich der juͤngſten, und ſo zogen wir durch die wei¬ ten Fluren, mehr den Himmel uͤber uns zum Gegenſtande habend, als die Erde, die ſich neben uns in der Breite verlor. Friedrickens Reden jedoch hatten nichts Mondſcheinhaftes; durch die Klarheit, womit ſie ſprach, machte ſie die Nacht zum Tage, und es war nichts darin was eine Empfindung angedeutet oder erweckt haͤtte, nur bezogen ſich ihre Aeuße¬ rungen mehr als bisher auf mich, indem ſie ſowohl ihren Zuſtand als die Gegend und ihre Bekannten mir von der Seite vorſtellte, wie¬ fern ich ſie wuͤrde kennen lernen: denn ſie hoffe, ſetzte ſie hinzu, daß ich keine Ausnah¬ me machen und ſie wieder beſuchen wuͤrde, wie jeder Fremde gern gethan, der einmal bey ihnen eingekehrt ſey.
542Es war mir ſehr angenehm, ſtillſchwei¬ gend der Schilderung zuzuhoͤren, die ſie von der kleinen Welt machte, in der ſie ſich be¬ wegte, und von denen Menſchen, die ſie be¬ ſonders ſchaͤtzte. Sie brachte mir dadurch ei¬ nen klaren und zugleich ſo liebenswuͤrdigen Begriff von ihrem Zuſtande bey, der ſehr wunderlich auf mich wirkte: denn ich empfand auf einmal einen tiefen Verdruß, nicht fruͤher mit ihr gelebt zu haben, und zugleich ein recht peinliches, neidiſches Gefuͤhl gegen alle, welche das Gluͤck gehabt hatten, ſie bisher zu umgeben. Ich paßte ſogleich, als wenn ich ein Recht dazu gehabt hatte, genau auf alle ihre Schilderungen von Maͤnnern, ſie mochten unter den Namen von Nachbarn, Vettern oder Gevattern auf¬ treten, und lenkte bald da bald dorthin meine Vermuthung; allein wie haͤtte ich etwas ent¬ decken ſollen in der voͤlligen Unbekanntſchaft al¬ ler Verhaͤltniſſe. Sie wurde zuletzt immer redſeliger und ich immer ſtiller. Es hoͤrte543 ſich ihr gar ſo gut zu, und da ich nur ihre Stimme vernahm, ihre Geſichtsbildung aber ſo wie die uͤbrige Welt in Daͤmmerung ſchwebte, ſo war es mir, als ob ich in ihr Herz ſaͤhe, das ich hoͤchſt rein finden mußte, da es ſich in ſo unbefangener Geſchwaͤtzigkeit vor mir eroͤffnete.
Als mein Gefaͤhrte mit mir in das fuͤr uns zubereitete Gaſtzimmer gelangte, brach er ſogleich mit Selbſtgefaͤlligkeit in behaglichen Scherz aus und that ſich viel darauf zu Gu¬ te, mich mit der Aehnlichkeit der Primroſi¬ ſchen Familie ſo ſehr uͤberraſcht zu haben. Ich ſtimmte mit ein, indem ich mich dankbar erwies. — Fuͤrwahr! rief er aus, das Maͤhr¬ chen iſt ganz beyſammen. Dieſe Familie ver¬ gleicht ſich jener ſehr gut, und der verkappte Herr da mag ſich die Ehre anthun, fuͤr Herrn Burchel gelten zu wollen; ferner, weil wir im gemeinen Leben die Boͤſewichter nicht ſo noͤ¬544 thig haben als in Romanen, ſo will ich fuͤr dießmal die Rolle des Neffen uͤbernehmen und mich beſſer auffuͤhren als er. Ich verließ je¬ doch ſogleich dieſes Geſpraͤch, ſo angenehm es mir auch ſeyn mochte, und fragte ihn vor allen Dingen auf ſein Gewiſſen, ob er mich wirklich nicht verrathen habe. Er betheuerte nein! und ich durfte ihm glauben. Sie haͤt¬ ten ſich vielmehr, ſagte er, nach dem luſtigen Tiſchgeſellen erkundigt, der in Straßburg mit ihm in Einer Penſion ſpeiſe und von dem man ihnen allerley verkehrtes Zeug erzaͤhlt habe. Ich ſchritt nun zu andern Fragen: ob ſie ge¬ liebt habe? ob ſie liebe? ob ſie verſprochen ſey? Er verneinte das alles. — Fuͤrwahr! verſetzte ich, eine ſolche Heiterkeit von Natur aus iſt mir unbegreiflich. Haͤtte ſie geliebt und verloren und ſich wieder gefaßt, oder waͤ¬ re ſie Braut, in beyden Faͤllen wollte ich es gelten laſſen.
545So ſchwatzten wir zuſammen tief in die Nacht, und ich war ſchon wieder munter als es tagte. Das Verlangen ſie wieder zu ſe¬ hen ſchien unuͤberwindlich; allein indem ich mich anzog, erſchrak ich uͤber die verwuͤnſch¬ te Garderobe, die ich mir ſo freventlich aus¬ geſucht hatte. Je weiter ich kam, meine Kleidungsſtuͤcke anzulegen, deſto niedertraͤchti¬ ger erſchien ich mir: denn alles war ja auf dieſen Effect berechnet. Mit meinen Haaren waͤre ich allenfalls noch fertig geworden; aber wie ich mich zuletzt in den geborgten, abge¬ tragenen grauen Rock einzwaͤngte und die kurzen Aermel mir das abgeſchmackteſte Anſe¬ hen gaben, fiel ich deſto entſchiedener in Ver¬ zweifelung, als ich mich in einem kleinen Spiegel nur theilweiſe betrachten konnte; da denn immer ein Theil laͤcherlicher ausſah als der andre.
ll. 35546Ueber dieſer Toilette war mein Freund aufgewacht und blickte, mit der Zufriedenheit eines guten Gewiſſens und im Gefuͤhl einer freudigen Hoffnung fuͤr den Tag, aus der ge¬ ſtopften ſeidenen Decke. Ich hatte ſchon ſeine huͤbſchen Kleider, wie ſie uͤber den Stuhl hin¬ gen, laͤngſt beneidet, und waͤre er von meiner Taille geweſen, ich haͤtte ſie ihm vor den Au¬ gen weggetragen, mich draußen umgezogen und ihm meine verwuͤnſchte Huͤlle, in den Garten eilend, zuruͤckgelaſſen; er haͤtte guten Humor genug gehabt, ſich in meine Kleider zu ſte¬ cken, und das Maͤhrchen waͤre bey fruͤhem Morgen zu einem luſtigen Ende gelangt. Daran war aber nun gar nicht zu denken, ſo wenig als wie an irgend eine ſchickliche Vermittelung. In der Figur, in der mich mein Freund fuͤr einen zwar fleißigen und ge¬ ſchickten aber armen Studioſen der Theologie ausgeben konnte, wieder vor Friedricken hin¬ zutreten, die geſtern Abend an mein verkleide¬547 tes Selbſt ſo freundlich geſprochen hatte, das war mir ganz unmoͤglich. Aergerlich und ſin¬ nend ſtand ich da und bot all mein Erfin¬ dungsvermoͤgen auf; allein es verließ mich. Als nun aber gar der behaglich Ausgeſtreckte, nachdem er mich eine Weile fixirt hatte, auf einmal in ein lautes Lachen ausbrach und aus¬ rief: Nein! es iſt wahr, du ſiehſt ganz ver¬ wuͤnſcht aus! verſetzte ich heftig: Und ich weiß was ich thue, leb wohl und entſchuldige mich! — Biſt du toll! rief er, indem er aus dem Bette ſprang und mich aufhalten wollte. Ich war aber ſchon zur Thuͤre hinaus, die Treppe hinunter, aus Haus und Hof, nach der Schenke; im Nu war mein Pferd geſat¬ telt und ich eilte in raſendem Unmuth galop¬ pirend nach Druſenheim, den Ort hindurch und immer weiter.
Da ich mich nun in Sicherheit glaubte, ritt ich langſamer und fuͤhlte nun erſt, wie35*548unendlich ungern ich mich entfernte. Ich er¬ gab mich aber in mein Schickſal, vergegenwaͤr¬ tigte mir den Spazirgang von geſtern Abend mit der groͤßten Ruhe und naͤhrte die ſtille Hoff¬ nung, Sie bald wieder zu ſehn. Doch ver¬ wandelte ſich dieſes ſtille Gefuͤhl bald wieder in Ungeduld, und nun beſchloß iſt, ſchnell in die Stadt zu reiten, mich umzuziehen, ein gutes friſches Pferd zu nehmen; da ich denn wohl allenfalls, wie mir die Leidenſchaft vorſpie¬ gelte, noch vor Tiſche, oder, wie es wahrſchein¬ licher war, zum Nachtiſche oder gegen Abend ge¬ wiß wieder eintreffen und meine Vergebung er¬ bitten konnte.
Eben wollte ich meinem Pferde die Spo¬ ren geben, um dieſen Vorſatz auszufuͤhren, als mir ein anderer und, wie mich daͤuchte, ſehr gluͤcklicher Gedanke durch den Geiſt fuhr. Schon geſtern hatte ich im Gaſthofe zu Dru¬ ſenheim einen ſehr ſauber gekleideten Wirths¬549 ſohn bemerkt, der auch heute fruͤh, mit laͤnd¬ lichen Anordnungen beſchaͤftigt, mich aus ſei¬ nem Hofe begruͤßte. Er war von meiner Ge¬ ſtalt und hatte mich fluͤchtig an mich ſelbſt er¬ innert. Gedacht, gethan! Mein Pferd war kaum umgewendet, ſo befand ich mich in Druſenheim; ich brachte es in den Stall und machte dem Burſchen kurz und gut den Vor¬ trag: er ſolle mir ſeine Kleider borgen, weil ich in Seſenheim etwas Luſtiges vorhabe. Da brauchte ich nicht auszureden; er nahm den Vorſchlag mit Freuden an und lobte mich, daß ich den Mamſells einen Spaß machen wolle; ſie waͤren ſo brav und gut, beſonders Mamſell Rieckchen, und auch die Aeltern ſaͤhen gerne, daß es immer luſtig und vergnuͤgt zuginge. Er betrachtete mich auf¬ merkſam, und da er mich nach meinem Auf¬ zug fuͤr einen armen Schlucker halten mochte, ſo ſagte er: wenn Sie ſich inſinuiren wollen, ſo iſt das der rechte Weg. Wir waren in¬550 deſſen ſchon weit in unſerer Umkleidung ge¬ kommen, und eigentlich ſollte er mir ſeine Feſttagskleider gegen die meinigen nicht anver¬ trauen; doch er war treuherzig und hatte ja mein Pferd im Stalle. Ich ſtand bald und recht ſchmuck da, warf mich in die Bruſt, und mein Freund ſchien ſein Ebenbild mit Behaglichkeit zu betrachten. — Top Herr Bruder! ſagte er, indem er mir die Hand hinreichte, in die ich wacker einſchlug, komme er meinem Maͤdel nicht zu nah, ſie moͤchte ſich vergreifen.
Meine Haare, die nunmehr wieder ihren voͤlligen Wuchs hatten, konnte ich ohngefaͤhr wie die ſeinigen ſcheiteln, und da ich ihn wiederholt betrachtete, ſo fand ichs luſtig, ſeine dichteren Augenbrauen mit einem gebrann¬ ten Korkſtoͤpſel maͤßig nachzuahmen und ſie in der Mitte naͤher zuſammenzuziehen, um mich bey meinem raͤthſelhaften Vornehmen551 auch aͤußerlich zum Raͤthſel zu bilden. Habt Ihr nun, ſagte ich, als er mir den bebaͤn¬ derten Hut reichte, nicht irgend etwas in der Pfarre auszurichten, daß ich mich auf eine natuͤrliche Weiſe dort anmelden koͤnnte? — Gut! verſetzte er, aber da muͤſſen Sie noch zwey Stunden warten. Bey uns iſt eine Woͤchnerinn; ich will mich erbieten, den Ku¬ chen der Frau Pfarrinn zu bringen, den moͤ¬ gen Sie dann hinuͤbertragen. Hoffarth muß Noth leiden und der Spaß denn auch. — Ich entſchloß mich zu warten, aber dieſe zwey Stunden wurden mir unendlich lang und ich verging vor Ungeduld, als die dritte ver¬ floß, ehe der Kuchen aus dem Ofen kam. Ich empfing ihn endlich ganz warm, und eil¬ te, bey dem ſchoͤnſten Sonnenſchein, mit meinem Creditiv davon, noch eine Strecke von meinem Ebenbild begleitet, welches gegen Abend nachzukommen und mir meine Kleider zu bringen verſprach, die ich aber lebhaft552 ablehnte und mir vorbehielt, ihm die ſeinigen wieder zuzuſtellen.
Ich war nicht weit mit meiner Gabe ge¬ ſprungen, die ich in einer ſauberen zuſam¬ mengeknuͤpften Serviette trug, als ich in der Ferne meinen Freund mit den beyden Frau¬ enzimmern mir entgegen kommen ſah. Mein Herz war beklommen, wie ſich's eigentlich un¬ ter dieſer Jacke nicht ziemte. Ich blieb ſte¬ hen, holte Athem und ſuchte zu uͤberlegen, was ich beginnen ſolle; und nun bemerkte ich erſt, daß das Terrain mir ſehr zu Statten kam: denn ſie gingen auf der andern Seite des Baches, der, ſo wie die Wieſenſtreifen, durch die er hinlief, zwey Fußpfade ziemlich aus einander hielt. Als ſie gegen mir uͤber waren rief Friedricke, die mich ſchon lange gewahrt hatte: Georges, was bringſt du? Ich war klug genug, das Geſicht mit dem Hute, den ich abnahm, zu bedecken, indem553 ich die beladene Serviette hoch in die Hoͤhe hielt. — Ein Kindtaufkuchen! rief ſie da¬ gegen; wie geht's der Schweſter? — Guet, ſagte ich, indem ich, wo nicht Elſaſſiſch, doch fremd zu reden ſuchte. — Trag ihn nach Hauſe! ſagte die aͤlteſte, und wenn du die Mutter nicht findeſt, gieb ihn der Magd; aber wart 'auf uns, wir kommen bald wie¬ der, hoͤrſt du! — Ich eilte meinen Pfad hin, im Frohgefuͤhl der beſten Hoffnung, daß alles gut ablaufen muͤſſe, da der Anfang gluͤcklich war, und hatte bald die Pfarrwoh¬ nung erreicht. Ich fand Niemand weder im Haus noch in der Kuͤche; den Herrn, den ich beſchaͤftigt in der Studirſtube vermuthen konnte, wollte ich nicht aufregen, ich ſetzte mich deshalb auf die Bank vor der Thuͤre, den Kuchen neben mich und druͤckte den Hut ins Geſicht.
554Ich erinnere mich nicht leicht einer ange¬ nehmern Empfindung. Hier an dieſer Schwel¬ le wieder zu ſitzen, uͤber die ich vor kurzem in Verzweiflung hinausgeſtolpert war; ſie ſchon wieder geſehn, ihre liebe Stimme ſchon wie¬ der gehoͤrt zu haben, kurz nachdem mein Un¬ muth mir eine lange Trennung vorgeſpiegelt hatte; jeden Augenblick ſie ſelbſt und eine Entdeckung zu erwarten, vor der mir das Herz klopfte, und doch, in dieſem zweydeu¬ tigen Falle, eine Entdeckung ohne Beſchaͤ¬ mung; dann, gleich zum Eintritt einen ſo luſtigen Streich, als keiner derjenigen, die geſtern belacht worden waren! Liebe und Noth ſind doch die beſten Meiſter, hier wirkten ſie zuſammen und der Lehrling war ihrer nicht unwerth geblieben.
Die Magd kam aber aus der Scheune getreten. — Nun! ſind die Kuchen gerathen? rief ſie mich an, wie gehts der Schweſter?555 — Alles guet, ſagte ich und deutete auf den Kuchen, ohne aufzuſehen. Sie faßte die Serviette und murrte: Nun was haſt du heute wieder? hat Baͤrbchen wieder einmal einen Andern angeſehn? Laß es uns nicht ent¬ gelten! Das wird eine ſaubere Ehe werden, wenn's ſo fort geht. Da ſie ziemlich laut ſprach, kam der Pfarrer ans Fenſter und fragte, was es gebe? Sie bedeutete ihn; ich ſtand auf und kehrte mich nach ihm zu, doch hielt ich den Hut wieder uͤber's Geſicht. Als er etwas Freundliches geſprochen und mich zu bleiben geheißen hatte, ging ich nach dem Garten und wollte eben hineintreten, als die Pfarrinn, die zum Hofthore hereinkam, mich anrief. Da mir die Sonne gerade in's Ge¬ ſicht ſchien, ſo bediente ich mich abermals des Vortheils, den mir der Hut gewaͤhrte, gruͤ߬ te ſie mit einem Scharrfuß, ſie aber ging in das Haus, nachdem ſie mir zugeſprochen hat¬ te, ich moͤchte nicht weggehen, ohne etwas556 genoſſen zu haben. Ich ging nunmehr in dem Garten auf und ab; alles hatte bisher den beſten Erfolg gehabt, doch holte ich tief Athem, wenn ich dachte, daß die jungen Leu¬ te nun bald herankommen wuͤrden. Aber un¬ vermuthet trat die Mutter zu mir und wollte eben eine Frage an mich thun, als ſie mir ins Geſicht ſah, das ich nicht mehr verber¬ gen konnte, und ihr das Wort im Munde ſtockte. — Ich ſuche Georgen, ſagte ſie nach einer Pauſe, und wen finde ich! Sind Sie es, junger Herr? wie viel Geſtalten haben Sie denn? — Im Ernſt nur Eine, verſetzte ich, zum Scherz ſoviel Sie wollen. — Den will ich nicht verderben, laͤchelte ſie; gehen Sie hinten zum Garten hinaus und auf der Wieſe hin, bis es Mittag ſchlaͤgt, dann keh¬ ren Sie zuruͤck und ich will den Spaß ſchon eingeleitet haben. Ich that's; allein da ich aus den Hecken der Dorfgaͤrten heraus war und die Wieſen hingehen wollte, kamen ge¬557 rade einige Landleute den Fußpfad her, die mich in Verlegenheit ſetzten. Ich lenkte des¬ halb nach einem Waͤldchen, das ganz nah eine Erderhoͤhung bekroͤnte, um mich darin bis zur beſtimmten Zeit zu verbergen. Doch wie wunderlich ward mir zu Muthe als ich hineintrat: denn es zeigte ſich mir ein rein¬ licher Platz mit Baͤnken, von deren jeder man eine huͤbſche Ausſicht in die Gegend gewann. Hier war das Dorf und der Kirchthurm, hier Druſenheim und dahinter die waldigen Rheininſeln, gegenuͤber die Vogeſiſchen Ge¬ birge und zuletzt der Straßburger Muͤnſter. Dieſe verſchiedenen himmelhellen Gemaͤlde waren durch buſchige Rahmen eingefaßt, ſo daß man nichts Erfreulicheres und Angeneh¬ meres ſehen konnte. Ich ſetzte mich auf eine der Baͤnke und bemerkte an dem ſtaͤrkſten Baum ein kleines laͤngliches Brett mit der Inſchrift: Friedrickens Ruhe. Es fiel mir nicht ein, daß ich gekommen ſeyn koͤnnte, die¬558 ſe Ruhe zu ſtoͤren: denn eine aufkeimende Leidenſchaft hat das Schoͤne, daß, wie ſie ſich ihres Urſprungs unbewußt iſt, ſie auch keinen Gedanken eines Endes haben, und wie ſie ſich froh und heiter fuͤhlt, nicht ahn¬ den kann; daß ſie wohl auch Unheil ſtiften duͤrfte.
Kaum hatte ich Zeit gehabt mich umzu¬ ſehn, und verlor mich eben in ſuͤße Traͤume¬ reyen, als ich Jemand kommen hoͤrte; es war Friedricke ſelbſt. — Georges, was machſt du hier? rief ſie von weitem. — Nicht Geor¬ ges! rief ich, indem ich ihr entgegenlief; aber einer, der tauſendmal um Verzeihung bittet. Sie betrachtete mich mit Erſtaunen, nahm ſich aber gleich zuſammen und ſagte nach einem tieferen Athemholen: Garſtiger Menſch, wie erſchrecken Sie mich! — Die erſte Masque hat mich in die zweyte getrie¬ ben, rief ich aus; jene waͤre unverzeihlich ge¬559 weſen, wenn ich nur einigermaßen gewußt haͤtte, zu wem ich ging, dieſe vergeben Sie gewiß: denn es iſt die Geſtalt von Menſchen, denen Sie ſo freundlich begegnen. — Ihre blaͤßlichen Wangen hatten ſich mit dem ſchoͤn¬ ſten Roſenrothe gefaͤrbt. — Schlimmer ſollen Sie's wenigſtens nicht haben als Georges! Aber laſſen Sie uns ſitzen! Ich geſtehe es, der Schreck iſt mir in die Glieder gefahren. — Ich ſetzte mich zu ihr, aͤußerſt bewegt. — Wir wiſſen alles bis heute fruͤh durch Ihren Freund, ſagte ſie, nun erzaͤhlen Sie mir das Weitere. Ich ließ mir das nicht zweymal ſagen, ſondern beſchrieb ihr meinen Abſcheu vor der geſtrigen Figur, mein Fortſtuͤrmen aus dem Hauſe ſo komiſch, daß ſie herzlich und anmuthig lachte; dann ließ ich das Ue¬ brige folgen, mit aller Beſcheidenheit zwar, doch leidenſchaftlich genug, daß es gar wohl fuͤr eine Liebeserklaͤrung in hiſtoriſcher Form haͤtte gelten koͤnnen. Das Vergnuͤgen ſie560 wieder zu finden, feyerte ich zuletzt mit einem Kuſſe auf ihre Hand, die ſie in den meini¬ gen ließ. Hatte ſie bey dem geſtrigen Mond¬ ſcheingang die Unkoſten des Geſpraͤchs uͤber¬ nommen, ſo erſtattete ich die Schuld nun reichlich von meiner Seite. Das Vergnuͤgen, ſie wiederzuſehn und ihr alles ſagen zu koͤn¬ nen, was ich geſtern zuruͤckhielt, war ſo groß, daß ich in meiner Redſeligkeit nicht bemerkte, wie ſie ſelbſt nachdenkend und ſchweigend war. Sie holte einige Mal tief Athem, und ich bat ſie aber und abermal um Verzeihung wegen des Schrecks, den ich ihr verurſacht hatte. Wie lange wir moͤgen geſeſſen haben, weiß ich nicht; aber auf einmal hoͤrten wir Rieckchen! Rieckchen! rufen. Es war die Stimme der Schweſter. — Das wird eine ſchoͤne Geſchichte geben, ſagte das liebe Maͤd¬ chen, zu ihrer voͤlligen Heiterkeit wieder her¬ geſtellt. Sie kommt an meiner Seite her, fuͤgte ſie hinzu, indem ſie ſich vorbog, mich561 halb zu verbergen: wenden Sie ſich weg, da¬ mit man Sie nicht gleich erkennt. Die Schweſter trat in den Platz, aber nicht allein, Weyland ging mit ihr, und beyde, da ſie uns erblickten, blieben wie verſteinert.
Wenn wir auf einmal aus einem ruhigen Dache eine Flamme gewaltſam ausbrechen ſaͤ¬ hen, oder einem Ungeheuer begegneten, deſ¬ ſen Misgeſtalt zugleich empoͤrend und fuͤrch¬ terlich waͤre, ſo wuͤrden wir von keinem ſo grimmigen Entſetzen befallen werden als das¬ jenige iſt, das uns ergreift, wenn wir etwas unerwartet mit Augen ſehen, das wir mora¬ liſch unmoͤglich glaubten. — Was heißt das? rief jene mit der Haſtigkeit eines Erſchrocke¬ nen: was iſt das? Du mit Georgen! Hand in Hand! Wie begreif 'ich das? — Liebe Schweſter, verſetzte Friedricke ganz bedenk¬ lich, der arme Menſch, er bittet mir was ab, er hat dir auch was abzubitten, duII. 36562mußt ihm aber zum Voraus verzeihen. — Ich verſtehe nicht, ich begreife nicht, ſagte die Schweſter, indem ſie den Kopf ſchuͤttelte und Weylanden anſah, der, nach ſeiner ſtil¬ len Art, ganz ruhig daſtand und die Sce¬ ne ohne irgend eine Aeußerung betrachtete. Friedricke ſtand auf und zog mich nach ſich. Nicht gezaudert! rief ſie, Pardon gebeten und gegeben! Nun ja! ſagte ich, indem ich der aͤlteſten ziemlich nahe trat: Pardon habe ich von Noͤthen! Sie fuhr zuruͤck, that ei¬ nen lauten Schrey und wurde roth uͤber und uͤber; dann warf ſie ſich aufs Gras, lachte uͤberlaut und wollte ſich gar nicht zufrieden geben. Weyland laͤchelte behaglich und rief: Du biſt ein excellenter Junge! Dann ſchuͤt¬ telte er meine Hand in der ſeinigen. Ge¬ woͤhnlich war er mit Liebkoſungen nicht frey¬ gebig, aber ſein Haͤndedruck hatte etwas Herz¬ liches und Belebendes; doch war er auch mit dieſem ſparſam.
563Nach einiger Erholung und Sammlung traten wir unſern Ruͤckweg nach dem Dorfe an. Unterwegs erfuhr ich, wie dieſes wun¬ derbare Zuſammentreffen veranlaßt worden. Friedricke hatte ſich von dem Spazirgange zu¬ letzt abgeſondert, um auf ihrem Plaͤtzchen noch einen Augenblick vor Tiſche zu ruhen, und als jene beyden nach Hauſe gekommen, hatte die Mutter ſie abgeſchickt, Friedricken eiligſt zu holen, weil das Mittagseſſen bereit ſey.
Die Schweſter zeigte den ausgelaſſenſten Humor, und als ſie erfuhr, daß die Mut¬ ter das Geheimniß ſchon entdeckt habe, rief ſie aus: Nun iſt noch uͤbrig, daß Vater, Bruder, Knecht und Magd gleichfalls ange¬ fuͤhrt werden. Als wir uns an dem Garten¬ zaun befanden, mußte Friedricke mit dem Freund voraus nach dem Hauſe gehen. Die Magd war im Hausgarten beſchaͤftigt und Olivie (ſo mag auch hier die aͤltere Schwe¬36 *564ſter heißen) rief ihr zu: Warte, ich habe dir was zu ſagen! Mich ließ ſie an der He¬ cke ſtehn und ging zu dem Maͤdchen. Ich ſah, daß ſie ſehr ernſthaft ſprachen. Olivie bildete ihr ein, George habe ſich mit Baͤr¬ ben uͤberworfen und ſchien Luſt zu haben ſie zu heiraten. Das gefiel der Dirne nicht uͤbel; nun ward ich gerufen und ſollte das Geſagte bekraͤftigen. Das huͤbſche derbe Kind ſenkte die Augen nieder und blieb ſo, bis ich ganz nahe vor ihr ſtand. Als ſie aber auf einmal das fremde Geſicht erblickte, that auch ſie einen lauten Schrey und lief davon. Olivie hieß mich ihr nachlaufen und ſie feſthalten, daß ſie nicht ins Haus gerieth und Laͤrm machte; ſie aber wolle ſelbſt hingehen und ſehen, wie es mit dem Vater ſtehe. Unter¬ wegs traf Olivie auf den Knecht, welcher der Magd gut war; ich hatte indeſſen das Maͤd¬ chen ereilt und hielt ſie feſt. — Denk ein¬ mal! welch ein Gluͤck, rief Olivie, mit Baͤr¬565 ben iſt's aus, und George heiratet Lieſen. — Das habe ich lange gedacht, ſagte der gute Kerl und blieb verdrießlich ſtehen.
Ich hatte dem Maͤdchen begreiflich ge¬ macht, daß es nur darauf ankomme, den Papa anzufuͤhren. Wir gingen auf den Bur¬ ſchen los, der ſich umkehrte und ſich zu ent¬ fernen ſuchte; aber Lieſe holte ihn herbey und auch er machte, indem er enttaͤuſcht ward, die wunderlichſten Gebaͤrden. Wir gingen zuſammen nach dem Hauſe. Der Tiſch war gedeckt und der Vater ſchon im Zimmer. Olivie, die mich hinter ſich hielt, trat an die Schwelle und ſagte: Vater, es iſt Dir doch recht, daß Georges heute mit uns ißt? Du mußt ihm aber erlauben, daß er den Hut aufbehaͤlt. — Meinetwegen! ſagte der Alte, aber warum ſo was Ungewoͤhnliches? Hat er ſich beſchaͤdigt? Sie zog mich vor wie ich ſtand und den Hut aufhatte. Nein!566 ſagte ſie, indem ſie mich in die Stube fuͤhr¬ te, aber er hat eine Vogelhecke darunter, die moͤchten hervorfliegen und einen verteufelten Spuck machen: denn es ſind lauter loſe Voͤ¬ gel. Der Vater ließ ſich den Scherz gefal¬ len, ohne daß er recht wußte was es hei¬ ßen ſollte. In dem Augenblick nahm ſie mir den Hut ab, machte einen Scharrfuß und verlangte von mir das Gleiche. Der Alte ſah mich an, erkannte mich, kam aber nicht aus ſeiner prieſterlichen Faſſung. Ey ey! Herr Candidat! rief er aus, indem er einen drohenden Finger aufhob: Sie haben ge¬ ſchwind umgeſattelt, und ich verliere uͤber Nacht einen Gehuͤlfen, der mir erſt geſtern ſo treulich zuſagte, manchmal die Wochenkan¬ zel fuͤr mich zu beſteigen. Darauf lachte er von Herzen, hieß mich willkommen, und wir ſetzten uns zu Tiſche. Moſes kam um vieles ſpaͤter; denn er hatte ſich, als der verzogene Juͤngſte, angewoͤhnt, die Mittags¬567 glocke zu verhoͤren. Außerdem gab er wenig Acht auf die Geſellſchaft, auch kaum wenn er widerſprach. Man hatte mich, um ihn ſicherer zu machen, nicht zwiſchen die Schwe¬ ſtern, ſondern an das Ende des Tiſches ge¬ ſetzt, wo Georges manchmal zu ſitzen pflegte. Als er, mir im Ruͤcken, zur Thuͤr herein¬ gekommen war, ſchlug er mir derb auf die Achſel und ſagte: Georges, geſegnete Mahl¬ zeit! — Schoͤnen Dank, Junker! erwiederte ich. — Die fremde Stimme, das fremde Geſicht erſchreckten ihn. — Was ſagſt du? rief Olivie, ſieht er ſeinem Bruder nicht recht aͤhnlich? — Ja wohl, von hinten, verſetz¬ te Moſes, der ſich gleich wieder zu faſſen wußte, wie allen Leuten. Er ſah mich gar nicht wieder an und beſchaͤftigte ſich bloß, die Gerichte, die er nachzuholen hatte, eifrig hinunterzuſchlingen. Dann beliebte es ihm auch, gelegentlich aufzuſtehen und ſich in Hof und Garten etwas zu ſchaffen zu machen. 568Zum Nachtiſche trat der wahrhafte Georges herein und belebte die ganze Scene noch mehr. Man wollte ihn wegen ſeiner Eiferſucht auf¬ ziehen und nicht billigen, daß er ſich an mir einen Rival geſchaffen haͤtte; allein er war beſcheiden und gewandt genug und miſchte auf eine halb duſſelige Weiſe ſich, ſeine Braut, ſein Ebenbild und die Mamſells dergeſtalt durcheinander, daß man zuletzt nicht mehr wußte, von wem die Rede war, und daß man ihn das Glas Wein und ein Stuͤck von ſeinem eignen Kuchen in Ruhe gar zu gern verzehren ließ.
Nach Tiſche war die Rede, daß man ſpa¬ ziren gehen wolle; welches doch in meinen Bauerkleidern nicht wohl anging. Die Frau¬ enzimmer aber hatten ſchon heute fruͤh, als ſie erfuhren, wer ſo uͤbereilt fortgelaufen war, ſich erinnert, daß eine ſchoͤne Pekeſche eines Vettern im Schrank haͤnge, mit der er, bey569 ſeinem Hierſeyn, auf die Jagd zu gehen pflege. Allein ich lehnte es ab, aͤußerlich zwar mit allerley Spaͤßen, aber innerlich mit dem eitlen Gefuͤhl, daß ich den guten Ein¬ druck, den ich als Bauer gemacht, nicht wie¬ der durch den Vetter zerſtoͤren wolle. Der Vater hatte ſich entfernt, ſein Mittagsſchlaͤf¬ chen zu halten, die Mutter war in der Haus¬ haltung beſchaͤftigt wie immer. Der Freund aber that den Vorſchlag, ich ſolle etwas er¬ zaͤhlen, worein ich ſogleich willigte. Wir be¬ gaben uns in eine geraͤumige Laube, und ich trug ein Maͤhrchen vor, das ich hernach un¬ ter dem Titel, „ die neue Meluſine “auf¬ geſchrieben habe. Es verhaͤlt ſich zum neuen Paris wie ohngefaͤhr der Juͤngling zum Kna¬ ben, und ich wuͤrde es hier einruͤcken, wenn ich nicht der laͤndlichen Wirklichkeit und Einfalt, die uns hier gefaͤllig umgiebt, durch wunder¬ liche Spiele der Phantaſie zu ſchaden fuͤrchte¬ te. Genug mir gelang, was den Erfinder570 und Erzaͤhler ſolcher Productionen belohnt, die Neugierde zu erregen, die Aufmerkſamkeit zu feſſeln, zu voreiliger Aufloͤſung undurch¬ dringlicher Raͤthſel zu reizen, die Erwartun¬ gen zu taͤuſchen, durch das Seltſamere, das an die Stelle des Seltſamen tritt, zu verwir¬ ren, Mitleid und Furcht zu erregen, beſorgt zu machen, zu ruͤhren und endlich durch Um¬ wendung eines ſcheinbaren Ernſtes in geiſtrei¬ chen und heitern Scherz das Gemuͤth zu be¬ friedigen, der Einbildungskraft Stoff zu neuen Bildern und dem Verſtande zu fernerm Nach¬ denken zu hinterlaſſen.
Sollte Jemand kuͤnftig dieſes Maͤhrchen gedruckt leſen und zweifeln, ob es eine ſolche Wirkung habe hervorbringen koͤnnen; ſo bedenke derſelbe, daß der Menſch eigentlich nur berufen iſt, in der Gegenwart zu wirken. Schreiben iſt ein Misbrauch der Sprache, ſtille fuͤr ſich le¬ ſen ein trauriges Surrogat der Rede. Der571 Menſch wirkt alles was er vermag auf den Menſchen durch ſeine Perſoͤnlichkeit, die Ju¬ gend am ſtaͤrkſten auf die Jugend, und hier entſpringen auch die reinſten Wirkungen. Die¬ ſe ſind es, welche die Welt beleben und weder moraliſch noch phyſiſch ausſterben laſſen. Mir war von meinem Vater eine gewiſſe lehrhafte Redſeligkeit angeerbt; von meiner Mutter die Gabe, alles was die Einbildungskraft hervor¬ bringen, faſſen kann, heiter und kraͤftig dar¬ zuſtellen, bekannte Maͤhrchen aufzufriſchen, andere zu erfinden und zu erzaͤhlen, ja im Er¬ zaͤhlen zu erfinden. Durch jene vaͤterliche Mitgift wurde ich der Geſellſchaft mehrentheils unbequem: denn wer mag gern die Meynungen und Geſinnungen des Andern hoͤren, beſonders eines Juͤnglings, deſſen Urtheil, bey luͤckenhaf¬ ter Erfahrung, immer unzulaͤnglich erſcheint. Meine Mutter hingegen hatte mich zur geſell¬ ſchaftlichen Unterhaltung eigentlich recht aus¬ geſtattet. Das leerſte Maͤhrchen hat fuͤr die572 Einbildungskraft ſchon einen hohen Reiz und der geringſte Gehalt wird vom Verſtande dankbar aufgenommen.
Durch ſolche Darſtellungen, die mich gar nichts koſteten, machte ich mich bey Kindern beliebt, erregte und ergetzte die Jugend und zog die Aufmerkſamkeit aͤlterer Perſonen auf mich. Nur mußte ich in der Societaͤt, wie ſie gewoͤhnlich iſt, ſolche Uebungen gar bald einſtellen, und ich habe nur zu ſehr an Lebens¬ genuß und freyer Geiſtesfoͤrderung dadurch verloren; doch begleiteten mich jene beyden aͤlterlichen Gaben durch's ganze Leben, mit ei¬ ner dritten verbunden, mit dem Beduͤrfniß, mich figuͤrlich und gleichnißweiſe auszudruͤcken. In Ruͤckſicht dieſer Eigenſchaften, welche der ſo einſichtige als geiſtreiche Doctor Gall, nach ſeiner Lehre, an mir anerkannte, betheuer¬ te derſelbe, ich ſey eigentlich zum Volksredner geboren. Ueber dieſe Eroͤffnung erſchrak ich573 nicht wenig: denn haͤtte ſie wirklich Grund, ſo waͤre, da ſich bey meiner Nation nichts zu reden fand, alles Uebrige, was ich vornehmen konnte, leider ein verfehlter Beruf geweſen.
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