PRIMS Full-text transcription (HTML)
Die Wahlverwandtſchaften.
Erſter Theil.
Tuͤbingen,in der J. G. Cottaischen Buchhandlung.1809.
Die Wahlverwandtſchaften.
Erſter Theil.
I. 1

Erſtes Kapitel.

Eduard ſo nennen wir einen reichen Baron im beſten Mannesalter Eduard hatte in ſeiner Baumſchule die ſchoͤnſte Stun¬ de eines Aprilnachmittags zugebracht, um friſch erhaltene Pfropfreiſer auf junge Staͤm¬ me zu bringen. Sein Geſchaͤft war eben vollendet; er legte die Geraͤthſchaften in das Futteral zuſammen und betrachtete ſeine Ar¬ beit mit Vergnuͤgen, als der Gaͤrtner hinzu¬ trat und ſich an dem theilnehmenden Fleiße des Herrn ergetzte.

Haſt du meine Frau nicht geſehen? frag¬ te Eduard, indem er ſich weiter zu gehen an¬ ſchickte.

I *4

Druͤben in den neuen Anlagen, verſetzte der Gaͤrtner. Die Mooshuͤtte wird heute fertig, die ſie an der Felswand, dem Schloſ¬ ſe gegenuͤber gebaut hat. Alles iſt recht ſchoͤn geworden und muß Ew. Gnaden gefallen. Man hat einen vortrefflichen Anblick: unten das Dorf, ein wenig rechter Hand die Kir¬ che, uͤber deren Thurmſpitze man faſt hin¬ wegſieht; gegenuͤber das Schloß und die Gaͤrten.

Ganz recht, verſetzte Eduard; einige Schritte von hier konnte ich die Leute arbei¬ ten ſehen.

Dann, fuhr der Gaͤrtner fort, oͤffnet ſich rechts das Thal und man ſieht uͤber die rei¬ chen Baumwieſen in eine heitere Ferne. Der Stieg die Felſen hinauf iſt gar huͤbſch ange¬ legt. Die gnaͤdige Frau verſteht es; man arbeitet unter ihr mit Vergnuͤgen.

5

Geh zu ihr, ſagte Eduard, und erſuche ſie, auf mich zu warten. Sage ihr, ich wuͤnſche die neue Schoͤpfung zu ſehen und mich daran zu erfreuen.

Der Gaͤrtner entfernte ſich eilig und Eduard folgte bald.

Dieſer ſtieg nun die Terraſſen hinunter, muſterte, im Vorbeygehen, Gewaͤchshaͤuſer und Treibebeete, bis er ans Waſſer, dann uͤber einen Steg an den Ort kam, wo ſich der Pfad nach den neuen Anlagen in zwey Arme theilte. Den einen, der uͤber den Kirchhof ziemlich gerade nach der Felswand hinging, ließ er liegen um den andern ein¬ zuſchlagen, der ſich links etwas weiter durch anmuthiges Gebuͤſch ſachte hinaufwand; da wo beyde zuſammentrafen, ſetzte er ſich fuͤr einen Augenblick auf einer wohlangebrachten Bank nieder, betrat ſodann den eigentlichen Stieg, und ſah ſich durch allerley Treppen6 und Abſaͤtze, auf dem ſchmalen, bald mehr bald weniger ſteilen Wege endlich zur Mooshuͤtte geleitet.

An der Thuͤre empfing Charlotte ihren Gemahl und ließ ihn dergeſtalt niederſitzen, daß er durch Thuͤre und Fenſter die verſchie¬ denen Bilder, welche die Landſchaft gleichſam im Rahmen zeigten, auf einen Blick uͤberſe¬ hen konnte. Er freute ſich daran, in Hoff¬ nung daß der Fruͤhling bald alles noch reich¬ licher beleben wuͤrde. Nur eines habe ich zu erinnern, ſetzte er hinzu: die Huͤtte ſcheint mir etwas zu eng.

Fuͤr uns beyde doch geraͤumig genug, ver¬ ſetzte Charlotte.

Nun freylich, ſagte Eduard, fuͤr einen Dritten iſt auch wohl noch Platz.

Warum nicht? verſetzte Charlotte, und7 auch fuͤr ein Viertes. Fuͤr groͤßere Geſell¬ ſchaft wollen wir ſchon andere Stellen be¬ reiten.

Da wir denn ungeſtoͤrt hier allein ſind, ſagte Eduard, und ganz ruhigen heiteren Sinnes; ſo muß ich dir geſtehen, daß ich ſchon einige Zeit etwas auf dem Herzen habe, was ich dir vertrauen muß und moͤchte, und nicht dazu kommen kann.

Ich habe dir ſo etwas angemerkt, ver¬ ſetzte Charlotte.

Und ich will nur geſtehen, fuhr Eduard fort, wenn mich der Poſtbote morgen fruͤh nicht draͤngte, wenn wir uns nicht heut ent¬ ſchließen muͤßten, ich haͤtte vielleicht noch laͤn¬ ger geſchwiegen.

Was iſt es denn? fragte Charlotte freund¬ lich entgegenkommend.

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Es betrifft unſern Freund, den Haupt¬ mann, antwortete Eduard. Du kennſt die traurige Lage, in die er, wie ſo mancher an¬ dere, ohne ſein Verſchulden geſetzt iſt. Wie ſchmerzlich muß es einem Manne von ſeinen Kenntniſſen, ſeinen Talenten und Fertigkeiten ſeyn, ſich außer Thaͤtigkeit zu ſehen und ich will nicht lange zuruͤckhalten mit dem was ich fuͤr ihn wuͤnſche: ich moͤchte daß wir ihn auf einige Zeit zu uns naͤhmen.

Das iſt wohl zu uͤberlegen und von mehr als einer Seite zu betrachten, verſetzte Char¬ lotte.

Meine Anſichten bin ich bereit dir mitzu¬ theilen, entgegnete ihr Eduard. In ſeinem letzten Briefe herrſcht ein ſtiller Ausdruck des tiefſten Mismuthes; nicht daß es ihm an ir¬ gend einem Beduͤrfniß fehle: denn er weiß ſich durchaus zu beſchraͤnken und fuͤr das Nothwen¬ dige habe ich geſorgt; auch druͤckt es ihn nicht9 etwas von mir anzunehmen: denn wir ſind unſre Lebzeit uͤber einander wechſelſeitig ſo viel ſchuldig geworden, daß wir nicht berechnen koͤnnen, wie unſer Credit und Debet ſich ge¬ gen einander verhalte daß er geſchaͤftlos iſt, das iſt eigentlich ſeine Qual. Das Vielfache, was er an ſich ausgebildet hat, zu Andrer Nutzen taͤglich und ſtuͤndlich zu gebrauchen, iſt ganz allein ſein Vergnuͤgen, ja ſeine Lei¬ denſchaft. Und nun die Haͤnde in den Schoos zu legen, oder noch weiter zu ſtudiren, ſich wei¬ tere Geſchicklichkeit zu verſchaffen, da er das nicht brauchen kann, was er in vollem Maa¬ ße beſitzt genug, liebes Kind, es iſt eine peinliche Lage, deren Qual er doppelt und dreyfach in ſeiner Einſamkeit empfindet.

Ich dachte doch, ſagte Charlotte, ihm waͤren von verſchiedenen Orten Anerbietun¬ gen geſchehen. Ich hatte ſelbſt, um ſeinet¬ willen, an manche thaͤtige Freunde und Freun¬ dinnen geſchrieben, und ſoviel ich weiß, blieb dieß auch nicht ohne Wirkung.

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Ganz recht, verſetzte Eduard; aber ſelbſt dieſe verſchiedenen Gelegenheiten, dieſe An¬ erbietungen machen ihm neue Qual, neue Un¬ ruhe. Keines von den Verhaͤltniſſen iſt ihm gemaͤß. Er ſoll nicht wirken; er ſoll ſich auf¬ opfern, ſeine Zeit, ſeine Geſinnungen, ſeine Art zu ſeyn, und das iſt ihm unmoͤglich. Jemehr ich das alles betrachte, jemehr ich es fuͤhle, deſto lebhafter wird der Wunſch ihn bey uns zu ſehen.

Es iſt recht ſchoͤn und liebenswuͤrdig von dir, verſetzte Charlotte, daß du des Freundes Zuſtand mit ſo viel Theilnahme bedenkſt; al¬ lein erlaube mir dich aufzufordern, auch dei¬ ner, auch unſer zu gedenken.

Das habe ich gethan, entgegnete ihr Eduard. Wir koͤnnen von ſeiner Naͤhe uns nur Vortheil und Annehmlichkeit verſprechen. Von dem Aufwande will ich nicht reden, der auf alle Faͤlle gering fuͤr mich wird, wenn er11 zu uns zieht; beſonders wenn ich zugleich be¬ denke, daß uns ſeine Gegenwart nicht die mindeſte Unbequemlichkeit verurſacht. Auf dem rechten Fluͤgel des Schloſſes kann er wohnen, und alles andre findet ſich. Wie viel wird ihm dadurch geleiſtet, und wie manches Angenehme wird uns durch ſeinen Umgang, ja wie mancher Vortheil! Ich haͤtte laͤngſt ei¬ ne Ausmeſſung des Gutes und der Gegend ge¬ wuͤnſcht; er wird ſie beſorgen und leiten. Deine Abſicht iſt, ſelbſt die Guͤter kuͤnftig zu verwalten, ſobald die Jahre der gegenwaͤrtigen Paͤchter verfloſſen ſind. Wie bedenklich iſt ein ſolches Unternehmen! Zu wie manchen Vorkenntniſſen kann er uns nicht verhelfen! Ich fuͤhle nur zu ſehr, daß mir ein Mann die¬ ſer Art abgeht. Die Landleute haben die rechten Kenntniſſe; ihre Mittheilungen aber ſind confus und nicht ehrlich. Die Studirten aus der Stadt und von den Akademieen ſind wohl klar und ordentlich; aber es fehlt an der unmittelbaren Einſicht in die Sache. Vom12 Freunde kann ich mir beydes verſprechen; und dann entſpringen noch hundert andre Verhaͤlt¬ niſſe daraus, die ich mir alle gern vorſtellen mag, die auch auf dich Bezug haben und wo¬ von ich viel Gutes vorausſehe. Nun danke ich dir, daß du mich freundlich angehoͤrt haſt; itzt ſprich aber auch recht frey und umſtaͤndlich und ſage mir alles was du zu ſagen haſt, ich will dich nicht unterbrechen.

Recht gut, verſetzte Charlotte: ſo will ich gleich mit einer allgemeinen Bemerkung anfan¬ gen. Die Maͤnner denken mehr auf das Einzelne, auf das Gegenwaͤrtige, und das mit Recht, weil ſie zu thun, zu wirken beru¬ fen ſind; die Weiber hingegen mehr auf das was im Leben zuſammenhaͤngt, und das mit gleichem Rechte, weil ihr Schickſal, das Schickſal ihrer Familien, an dieſen Zuſammen¬ hang geknuͤpft iſt, und auch gerade dieſes Zu¬ ſammenhaͤngende von ihnen gefordert wird. Laß uns deswegen einen Blick auf unſer ge¬13 genwaͤrtiges, auf unſer vergangenes Leben werfen, und du wirſt mir eingeſtehen, daß die Berufung des Hauptmanns nicht ſo ganz mit unſern Vorſaͤtzen, unſern Planen, unſern Einrichtungen zuſammentrifft.

Mag ich doch ſo gern unſerer fruͤhſten Verhaͤltniſſe gedenken! Wir liebten einander als junge Leute recht herzlich; wir wurden getrennt: du von mir, weil dein Vater, aus nie zu ſaͤttigender Begierde des Beſitzes, dich mit einer ziemlich aͤlteren reichen Frau ver¬ band; ich von dir, weil ich, ohne ſonderli¬ che Ausſichten, einem wohlhabenden, nicht ge¬ liebten aber geehrten Manne meine Hand rei¬ chen mußte. Wir wurden wieder frey; du fruͤher, indem dich dein Muͤtterchen im Beſitz eines großen Vermoͤgens ließ; ich ſpaͤter, eben zu der Zeit, da du von Reiſen zuruͤckkamſt. So fanden wir uns wieder. Wir freuten uns der Erinnerung, wir liebten die Erinnerung, wir konnten ungeſtoͤrt zuſammen leben. Du14 drangſt auf eine Verbindung; ich willigte nicht gleich: denn da wir ohngefaͤhr von denſelben Jahren ſind, ſo bin ich als Frau wohl aͤlter geworden, du nicht als Mann. Zuletzt wollte ich dir nicht verſagen, was du fuͤr dein einzi¬ ges Gluͤck zu halten ſchienſt. Du wollteſt von allen Unruhen, die du bey Hof, im Militaͤr, auf Reiſen erlebt hatteſt, dich an meiner Sei¬ te erhohlen, zur Beſinnung kommen, des Le¬ bens genießen; aber auch nur mit mir allein. Meine einzige Tochter that ich in Penſion, wo ſie ſich freylich mannigfaltiger ausbildet, als bey einem laͤndlichen Aufenthalte geſchehen koͤnnte; und nicht ſie allein, auch Ottilien, meine liebe Nichte, that ich dorthin, die vielleicht zur haͤuslichen Gehuͤlfinn unter mei¬ ner Anleitung am beſten herangewachſen waͤre. Das alles geſchah mit deiner Einſtimmung, bloß damit wir uns ſelbſt leben, bloß damit wir das fruͤh ſo ſehnlich gewuͤnſchte, endlich ſpaͤt erlangte Gluͤck ungeſtoͤrt genießen moͤchten. So haben wir unſern laͤndlichen Aufenthalt15 angetreten. Ich uͤbernahm das Innere, du das Aeußere und was ins Ganze geht. Meine Einrichtung iſt gemacht, dir in allem entgegen zu kommen, nur fuͤr dich allein zu leben; laß uns wenigſtens eine Zeit lang verſuchen, in wie fern wir auf dieſe Weiſe mit einander aus¬ reichen.

Da das Zuſammenhaͤngende, wie du ſagſt, eigentlich euer Element iſt, verſetzte Eduard; ſo muß man euch freylich nicht in einer Fol¬ ge reden hoͤren, oder ſich entſchließen euch Recht zu geben, und du ſollſt auch Recht ha¬ ben bis auf den heutigen Tag. Die Anlage, die wir bis jetzt zu unſerm Daſeyn gemacht haben, iſt von guter Art; ſollen wir aber nichts weiter darauf bauen, und ſoll ſich nichts weiter daraus entwickeln? Was ich im Gar¬ ten leiſte, du im Park, ſoll das nur fuͤr Ein¬ ſiedler gethan ſeyn?

Recht gut! verſetzte Charlotte, recht wohl! 16Nur daß wir nichts hinderndes, fremdes her¬ ein bringen. Bedenke, daß unſre Vorſaͤtze, auch was die Unterhaltung betrifft, ſich ge¬ wiſſermaßen nur auf unſer beyderſeitiges Zu¬ ſammenſeyn bezogen. Du wollteſt zuerſt die Tagebuͤcher deiner Reiſe mir in ordentlicher Folge mittheilen, bey dieſer Gelegenheit ſo manches dahin gehoͤrige von Papieren in Ord¬ nung bringen, und unter meiner Theilnahme, mit meiner Beyhuͤlfe, aus dieſen unſchaͤtzba¬ ren aber verworrenen Heften und Blaͤttern ein fuͤr uns und andre erfreuliches Ganze zu¬ ſammenſtellen. Ich verſprach dir an der Ab¬ ſchrift zu helfen, und wir dachten es uns ſo bequem, ſo artig, ſo gemuͤthlich und heimlich, die Welt, die wir zuſammen nicht ſehen ſoll¬ ten, in der Erinnerung zu durchreiſen. Ja der Anfang iſt ſchon gemacht. Dann haſt du die Abende deine Floͤte wieder vorgenommen, begleiteſt mich am Clavier; und an Beſuchen aus der Nachbarſchaft und in die Nachbar¬ ſchaft fehlt es uns nicht. Ich wenigſtens ha¬17 be mir aus allem dieſem den erſten wahrhaft froͤhlichen Sommer zuſammengebaut, den ich in meinem Leben zu genießen dachte.

Wenn mir nur nicht, verſetzte Eduard in¬ dem er ſich die Stirne rieb, bey alle dem, was du mir ſo liebe oll und verſtaͤndig wie¬ derhohlſt, immer der Gedanke beyginge, durch die Gegenwart des Hauptmanns wuͤrde nichts geſtoͤrt, ja vielmehr alles beſchleunigt und neu belebt. Auch er hat einen Theil meiner Wanderungen mitgemacht; auch er hat man¬ ches, und in verſchiedenem Sinne, ſich ange¬ merkt: wir benutzten das zuſammen, und als¬ dann wuͤrde es erſt ein huͤbſches Ganze wer¬ den.

So laß mich denn dir aufrichtig geſtehen, entgegnete Charlotte mit einiger Ungeduld, daß dieſem Vorhaben mein Gefuͤhl wider¬ ſpricht, daß eine Ahndung mir nichts Gutes weiſſagt.

I. 218

Auf dieſe Weiſe waͤret Ihr Frauen wohl unuͤberwindlich, verſetzte Eduard: erſt verſtaͤn¬ dig, daß man nicht widerſprechen kann, liebe¬ voll, daß man ſich gern hingiebt, gefuͤhlvoll, daß man Euch nicht weh thun mag, ahndungs¬ voll, daß man erſchrickt.

Ich bin nicht aberglaͤubiſch, verſetzte Char¬ lotte, und gebe nichts auf dieſe dunklen An¬ regungen, inſofern ſie nur ſolche waͤren; aber es ſind meiſtentheils unbewußte Erinnerungen gluͤcklicher und ungluͤcklicher Folgen, die wir an eigenen oder fremden Handlungen erlebt haben. Nichts iſt bedeutender in jedem Zu¬ ſtande, als die Dazwiſchenkunft eines Dritten. Ich habe Freunde geſehen, Geſchwiſter, Lie¬ bende, Gatten, deren Verhaͤltniß durch den zufaͤlligen oder gewaͤhlten Hinzutritt einer neuen Perſon ganz und gar veraͤndert, deren Lage voͤllig umgekehrt worden.

Das kann wohl geſchehen, verſetzte Edu¬19 ard, bey Menſchen, die nur dunkel vor ſich hin leben, nicht bey ſolchen, die ſchon durch Erfahrung aufgeklaͤrt ſich mehr bewußt ſind.

Das Bewußtſeyn, mein Liebſter, entgeg¬ nete Charlotte, iſt keine hinlaͤngliche Waffe, ja manchmal eine gefaͤhrliche, fuͤr den der ſie fuͤhrt; und aus dieſem allen tritt wenigſtens ſo viel hervor, daß wir uns ja nicht uͤberei¬ len ſollen. Goͤnne mir noch einige Tage, ent¬ ſcheide nicht!

Wie die Sache ſteht, erwiederte Eduard, werden wir uns, auch nach mehreren Tagen, immer uͤbereilen. Die Gruͤnde fuͤr und da¬ gegen haben wir wechſelsweiſe vorgebracht; es kommt auf den Entſchluß an, und da waͤr 'es wirklich das beſte, wir gaͤben ihn dem Loos anheim.

Ich weiß, verſetzte Charlotte, daß du in zweifelhaften Faͤllen gerne wetteſt oder wuͤr¬2 *20felſt; bey einer ſo ernſthaften Sache hinge¬ gen wuͤrde ich dieß fuͤr einen Frevel halten.

Was ſoll ich aber dem Hauptmann ſchrei¬ ben? rief Eduard aus: denn ich muß mich gleich hinſetzen.

Einen ruhigen, vernuͤnftigen, troͤſtlichen Brief, ſagte Charlotte.

Das heißt ſoviel wie keinen, verſetzte Eduard.

Und doch iſt es in manchen Faͤllen, ver¬ ſetzte Charlotte, nothwendig und freundlich lie¬ ber Nichts zu ſchreiben als nicht zu ſchreiben.

Zweytes Kapitel.

Eduard fand ſich allein auf ſeinem Zim¬ mer, und wirklich hatte die Wiederhohlung ſeiner Lebensſchickſale aus dem Munde Char¬ lottens, die Vergegenwaͤrtigung ihres beyder¬ ſeitigen Zuſtandes, ihrer Vorſaͤtze, ſein leb¬ haftes Gemuͤth angenehm aufgeregt. Er hatte ſich in ihrer Naͤhe, in ihrer Geſellſchaft ſo gluͤcklich gefuͤhlt, daß er ſich einen freund¬ lichen, theilnehmenden, aber ruhigen und auf nichts hindeutenden Brief an den Hauptmann ausdachte. Als er aber zum Schreibtiſch ging und den Brief des Freundes aufnahm, um ihn nochmals durchzuleſen, trat ihm ſogleich wieder der traurige Zuſtand des trefflichen Mannes entgegen; alle Empfindungen, die ihn22 dieſe Tage gepeinigt hatten, wachten wieder auf, und es ſchien ihm unmoͤglich, ſeinen Freund einer ſo aͤngſtlichen Lage zu uͤberlaſſen.

Sich etwas zu verſagen, war Eduard nicht gewohnt. Von Jugend auf das einzige, verzogene Kind reicher Aeltern, die ihn zu einer ſeltſamen aber hoͤchſt vortheilhaften Hei¬ rat mit einer viel aͤltern Frau zu bereden wußten, von dieſer auch auf alle Weiſe ver¬ zaͤrtelt, indem ſie ſein gutes Betragen gegen ſie durch die groͤßte Freygebigkeit zu erwiedern ſuchte, nach ihrem baldigen Tode ſein eigener Herr, auf Reiſen unabhaͤngig, jeder Abwech¬ ſelung jeder Veraͤnderung maͤchtig, nichts Ue¬ bertriebenes wollend, aber viel und vielerley wollend, freymuͤthig, wohlthaͤtig, brav, ja tapfer im Fall was konnte in der Welt ſeinen Wuͤnſchen entgegenſtehen!

Bisher war alles nach ſeinem Sinne ge¬ gangen, auch zum Beſitz Charlottens war er23 gelangt, den er ſich durch eine hartnaͤckige, ja romanenhafte Treue doch zuletzt erworben hatte; und nun fuͤhlte er ſich zum erſtenmal widerſprochen, zum erſtenmal gehindert, eben da er ſeinen Jugendfreund an ſich heranziehen, da er ſein ganzes Daſeyn gleichſam abſchlie¬ ßen wollte. Er war verdrießlich, ungeduldig, nahm einigemal die Feder und legte ſie nie¬ der, weil er nicht einig mit ſich werden konnte, was er ſchreiben ſollte. Gegen die Wuͤnſche ſeiner[Frau] wollte er nicht, nach ihrem Ver¬ langen konnte er nicht; unruhig wie er war ſollte er einen ruhigen Brief ſchreiben, es waͤre ihm ganz unmoͤglich geweſen. Das na¬ tuͤrlichſte war, daß er Aufſchub ſuchte. Mit wenig Worten bat er ſeinen Freund um Ver¬ zeihung, daß er dieſe Tage nicht geſchrieben, daß er heut nicht umſtaͤndlich ſchreibe, und verſprach fuͤr naͤchſtens ein bedeutenderes, ein beruhigendes Blatt.

Charlotte benutzte des andern Tags auf einem Spaziergang nach derſelben Stelle die24 Gelegenheit das Geſpraͤch wieder anzuknuͤpfen, vielleicht in der Ueberzeugung, daß man einen Vorſatz nicht ſichrer abſtumpfen kann, als wenn man ihn oͤfters durchſpricht.

Eduarden war dieſe Wiederhohlung er¬ wuͤnſcht. Er aͤußerte ſich nach ſeiner Weiſe freundlich und angenehm: denn wenn er, em¬ pfaͤnglich wie er war, leicht aufloderte, wenn ſein lebhaftes Begehren zudringlich ward, wenn ſeine Hartnaͤckigkeit ungeduldig machen konnte; ſo waren doch alle ſeine Aeußerungen durch eine vollkommene Schonung des andern der¬ geſtalt gemildert, daß man ihn immer noch liebenswuͤrdig finden mußte, wenn man ihn auch beſchwerlich fand.

Auf eine ſolche Weiſe brachte er Char¬ lotten dieſen Morgen erſt in die heiterſte Lau¬ ne, dann durch anmuthige Geſpraͤchswendun¬ gen ganz aus der Faſſung, ſo daß ſie zuletzt ausrief: Du willſt gewiß, daß ich das was25 ich dem Ehmann verſagte, dem Liebhaber zu¬ geſtehen ſoll.

Wenigſtens, mein Lieber, fuhr ſie fort, ſollſt du gewahr werden, daß deine Wuͤnſche, die freundliche Lebhaftigkeit womit du ſie aus¬ druͤckſt, mich nicht ungeruͤhrt, mich nicht un¬ bewegt laſſen. Sie noͤthigen mich zu einem Geſtaͤndniß. Ich habe dir bisher auch etwas verborgen. Ich befinde mich in einer aͤhnli¬ chen Lage wie du, und habe mir ſchon eben die Gewalt angethan, die ich dir nun uͤber dich ſelbſt zumuthe.

Das hoͤr 'ich gern, ſagte Eduard; ich merke wohl, im Ehſtande muß man ſich manchmal ſtreiten, denn dadurch erfaͤhrt man was von einander.

Nun ſollſt du alſo erfahren, ſagte Char¬ lotte, daß es mir mit Ottilien geht, wie dir mit dem Hauptmann. Hoͤchſt ungern weiß ich26 das liebe Kind in der Penſion, wo ſie ſich in ſehr druͤckenden Verhaͤltniſſen befindet. Wenn Luciane, meine Tochter, die fuͤr die Welt ge¬ boren iſt, ſich dort fuͤr die Welt bildet, wenn ſie Sprachen, Geſchichtliches und was ſonſt von Kenntniſſen ihr mitgetheilt wird, ſo wie ihre Noten und Variationen vom Blatte weg¬ ſpielt; wenn bey einer lebhaften Natur und bey einem gluͤcklichen Gedaͤchtniß ſie, man moͤchte wohl ſagen, alles vergißt und im Au¬ genblicke ſich an alles erinnert; wenn ſie durch Freyheit des Betragens, Anmuth im Tanze, ſchickliche Bequemlichkeit des Geſpraͤchs ſich vor allen auszeichnet, und durch ein an¬ gebornes herrſchendes Weſen ſich zur Koͤniginn des kleinen Kreiſes macht; wenn die Vorſte¬ herinn dieſer Anſtalt ſie als eine kleine Gott¬ heit anſieht, die nun erſt unter ihren Haͤnden recht gedeiht, die ihr Ehre machen, Zutrauen erwerben und einen Zufluß von andern jungen Perſonen verſchaffen wird; wenn die erſten Seiten ihrer Briefe und Monatsberichte im¬27 mer nur Hymnen ſind uͤber die Vortrefflichkeit eines ſolchen Kindes, die ich denn recht gut in meine Proſe zu uͤberſetzen weiß: ſo iſt da¬ gegen, was ſie ſchließlich von Ottilien er¬ waͤhnt, nur immer Entſchuldigung auf Ent¬ ſchuldigung, daß ein uͤbrigens ſo ſchoͤn heran¬ wachſendes Maͤdchen ſich nicht entwickeln, keine Faͤhigkeiten und keine Fertigkeiten zeigen wolle. Das wenige was ſie ſonſt noch hinzufuͤgt iſt gleichfalls fuͤr mich kein Raͤthſel, weil ich in dieſem lieben Kinde den ganzen Character ih¬ rer Mutter, meiner wertheſten Freundinn, gewahr werde, die ſich neben mir entwickelt hat und deren Tochter ich gewiß, wenn ich Erzieherinn oder Aufſeherinn ſeyn koͤnnte, zu einem herrlichen Geſchoͤpf heraufbilden wollte.

Da es aber einmal nicht in unſern Plan geht, und man an ſeinen Lebensverhaͤltniſſen nicht ſo viel zupfen und zerren, nicht immer was neues an ſie heranziehen ſoll; ſo trag ich das lieber, ja ich uͤberwinde die unangenehme28 Empfindung, wenn meine Tochter, welche recht gut weiß, daß die arme Ottilie ganz von uns abhaͤngt, ſich ihrer Vortheile uͤbermuͤthig gegen ſie bedient, und unſre Wohlthat dadurch ge¬ wiſſermaßen vernichtet.

Doch wer iſt ſo gebildet, daß er nicht ſeine Vorzuͤge gegen andre manchmal auf eine grauſame Weiſe geltend machte? Wer ſteht ſo hoch, daß er unter einem ſolchen Druck nicht manchmal leiden muͤßte? Durch dieſe Pruͤfun¬ gen waͤchſt Ottiliens Werth; aber ſeitdem ich den peinlichen Zuſtand recht deutlich einſehe, habe ich mir Muͤhe gegeben, ſie anderwaͤrts unterzubringen. Stuͤndlich ſoll mir eine Ant¬ wort kommen, und alsdann will ich nicht zau¬ dern. So ſteht es mit mir, mein Beſter. Du ſiehſt, wir tragen beyderſeits dieſelben Sorgen in einem treuen freundſchaftlichen Her¬ zen. Laß uns ſie gemeinſam tragen, da ſie ſich nicht gegeneinander aufheben.

29

Wir ſind wunderliche Menſchen, ſagte Eduard laͤchelnd. Wenn wir nur etwas das uns Sorge macht, aus unſerer Gegenwart verbannen koͤnnen, da glauben wir ſchon, nun ſey es abgethan. Im Ganzen koͤn¬ nen wir vieles aufopfern, aber uns im Ein¬ zelnen herzugeben, iſt eine Forderung, der wir ſelten gewachſen ſind. So war meine Mut¬ ter. So lange ich als Knabe oder Juͤngling bey ihr lebte, konnte ſie der augenblicklichen Beſorgniſſe nicht los werden. Verſpaͤtete ich mich bey einem Ausritt, ſo mußte mir ein Ungluͤck begegnet ſeyn; durchnetzte mich ein Regenſchauer, ſo war das Fieber mir gewiß. Ich verreiſte, ich entfernte mich von ihr, und nun ſchien ich ihr kaum anzugehoͤren.

Betrachten wir es genauer, fuhr er fort, ſo handeln wir beyde thoͤrigt und unverant¬ wortlich, zwey der edelſten Naturen, die unſer Herz ſo nahe angehen, im Kummer und im Druck zu laſſen, nur um uns keiner Ge¬30 fahr auszuſetzen. Wenn dieß nicht ſelbſtſuͤchtig genannt werden ſoll, was will man ſo nen¬ nen! Nimm Ottilien, laß mir den Haupt¬ mann, und in Gottes Namen ſey der Ver¬ ſuch gemacht!

Es moͤchte noch zu wagen ſeyn, ſagte Char¬ lotte bedenklich, wenn die Gefahr fuͤr uns allein waͤre. Glaubſt du denn aber, daß es raͤthlich ſey, den Hauptmann mit Ottilien als Hausgenoſſen zu ſehen, einen Mann ohnge¬ faͤhr in deinen Jahren, in den Jahren daß ich dir dieſes Schmeichelhafte nur gerade unter die Augen ſage wo der Mann erſt liebe¬ faͤhig und erſt der Liebe werth wird, und ein Maͤdchen von Ottiliens Vorzuͤgen?

Ich weiß doch auch nicht, verſetzte Eduard, wie du Ottilien ſo hoch ſtellen kannſt! Nur dadurch erklaͤre ich mir's, daß ſie deine Neigung zu ihrer Mutter geerbt hat. Huͤbſch iſt ſie, das iſt wahr, und ich erinnre mich,31 daß der Hauptmann mich auf ſie aufmerkſam machte, als wir vor einem Jahre zuruͤckkamen und ſie mit dir bey deiner Tante trafen. Huͤbſch iſt ſie, beſonders hat ſie ſchoͤne Augen; aber ich wuͤßte doch nicht, daß ſie den min¬ deſten Eindruck auf mich gemacht haͤtte.

Das iſt loͤblich an dir, ſagte Charlotte, denn ich war ja gegenwaͤrtig; und ob ſie gleich viel juͤnger iſt als ich, ſo hatte doch die Ge¬ genwart der aͤltern Freundinn ſo viele Reize fuͤr dich, daß du uͤber die aufbluͤhende ver¬ ſprechende Schoͤnheit hinausſaheſt. Es gehoͤrt auch dieß zu deiner Art zu ſeyn, deshalb ich ſo gern das Leben mit dir theile.

Charlotte, ſo aufrichtig ſie zu ſprechen ſchien, verhehlte doch etwas. Sie hatte naͤmlich damals dem von Reiſen zuruͤckkehren¬ den Eduard Ottilien abſichtlich vorgefuͤhrt, um dieſer geliebten Pflegetochter eine ſo gro¬ ße Parthie zuzuwenden: denn an ſich ſelbſt,32 in Bezug auf Eduard, dachte ſie nicht mehr. Der Hauptmann war auch angeſtiftet, Eduar¬ den aufmerkſam zu machen; aber dieſer, der ſeine fruͤhe Liebe zu Charlotten hartnaͤckig im Sinne behielt, ſah weder rechts noch links, und war nur gluͤcklich in dem Gefuͤhl, daß es moͤglich ſey, eines ſo lebhaft gewuͤnſchten und durch eine Reihe von Ereigniſſen ſchein¬ bar auf immer verſagten Gutes endlich doch theilhaft zu werden.

Eben ſtand das Ehpaar im Begriff die neuen Anlagen herunter nach dem Schloſſe zu gehen, als ein Bedienter ihnen haſtig entge¬ gen ſtieg und mit lachendem Munde ſich ſchon von unten herauf vernehmen ließ. Kommen Ew. Gnaden doch ja ſchnell heruͤber! Herr Mittler iſt in den Schloßhof geſprengt. Er hat uns alle zuſammengeſchrieen, wir ſollen Sie aufſuchen, wir ſollen Sie fragen, ob es Noth thue? Ob es Noth thut, rief er uns nach: Hoͤrt ihr? aber geſchwind, geſchwind!

33

Der drollige Mann! rief Eduard aus: kommt er nicht gerade zur rechten Zeit, Char¬ lotte? Geſchwind zuruͤck! befahl er dem Be¬ dienten: ſage ihm: es thue Noth, ſehr Noth! Er ſoll nur abſteigen. Verſorgt ſein Pferd, fuͤhrt ihn in den Saal, ſetzt ihm ein Fruͤhſtuͤck vor; wir kommen gleich.

Laß uns den naͤchſten Weg nehmen, ſagte er zu ſeiner Frau, und ſchlug den Pfad uͤber den Kirchhof ein, den er ſonſt zu vermeiden pflegte. Aber wie verwundert war er, als er fand, daß Charlotte auch hier fuͤr das Gefuͤhl geſorgt habe. Mit moͤglichſter Scho¬ nung der alten Denkmaͤler hatte ſie alles ſo zu vergleichen und zu ordnen gewußt, daß es ein angenehmer Raum erſchien, auf dem das Auge und die Einbildungskraft gern ver¬ weilte.

Auch dem aͤlteſten Stein hatte ſie ſeine Ehre gegoͤnnt. Den Jahren nach waren ſieI. 334an der Mauer aufgerichtet, eingefuͤgt oder ſonſt angebracht; der hohe Sockel der Kirche ſelbſt war damit vermannigfaltigt und geziert. Eduard fuͤhlte ſich ſonderbar uͤberraſcht, wie er durch die kleine Pforte herein trat; er druͤckte Charlotten die Hand und im Auge ſtand ihm eine Thraͤne.

Aber der naͤrriſche Gaſt verſcheuchte ſie gleich. Denn dieſer hatte keine Ruh im Schloß gehabt, war ſpornſtreichs durchs Dorf bis an das Kirchhofthor geritten, wo er ſtill hielt und ſeinen Freunden entgegen rief: Ihr habt mich doch nicht zum beſten? Thut's wirklich Noth, ſo bleibe ich zu Mittage hier. Haltet mich nicht auf: ich habe heute noch viel zu thun.

Da Ihr Euch ſo weit bemuͤht habt, rief ihm Eduard entgegen; ſo reitet noch vollends herein, wir kommen an einem ernſthaften Orte35 zuſammen, und ſeht wie ſchoͤn Charlotte dieſe Trauer ausgeſchmuͤckt hat.

Hier herein, rief der Reiter, komm 'ich weder zu Pferde, noch zu Wagen, noch zu Fuße. Dieſe da ruhen in Frieden, mit ihnen habe ich nichts zu ſchaffen. Gefallen muß ich mir's laſſen, wenn man mich einmal die Fuͤße voran hereinſchleppt. Alſo iſt's Ernſt?

Ja, rief Charlotte, recht Ernſt! Es iſt das erſtemal, daß wir neue Gatten in Noth und Verwirrung ſind, woraus wir uns nicht zu helfen wiſſen.

Ihr ſeht nicht darnach aus, verſetzte er: doch will ich's glauben. Fuͤhrt Ihr mich an, ſo laß ich Euch kuͤnftig ſtecken. Folgt ge¬ ſchwinde nach; meinem Pferde mag die Er¬ hohlung zu gut kommen.

3 *36

Bald fanden ſich die Dreye im Saale zu¬ ſammen; das Eſſen ward aufgetragen, und Mittler erzaͤhlte von ſeinen heutigen Thaten und Vorhaben. Dieſer ſeltſame Mann war fruͤherhin Geiſtlicher geweſen und hatte ſich bey einer raſtloſen Thaͤtigkeit in ſeinem Amte dadurch ausgezeichnet, daß er alle Streitig¬ keiten, ſowohl die haͤuslichen, als die nach¬ barlichen, erſt der einzelnen Bewohner, ſo¬ dann ganzer Gemeinden und mehrerer Guts¬ beſitzer, zu ſtillen und zu ſchlichten wußte. So lange er im Dienſte war, hatte ſich kein Ehpaar ſcheiden laſſen, und die Landescolle¬ gien wurden mit keinen Haͤndeln und Pro¬ ceſſen von dorther behelliget. Wie noͤthig ihm die Rechtskunde ſey, ward er zeitig ge¬ wahr. Er warf ſein ganzes Studium darauf, und fuͤhlte ſich bald den geſchickteſten Advoca¬ ten gewachſen. Sein Wirkungskreis dehnte ſich wunderbar aus, und man war im Be¬ griff ihn nach der Reſidenz zu ziehen, um das von oben herein zu vollenden, was er37 von unten herauf begonnen hatte, als er einen anſehnlichen Lotteriegewinnſt that, ſich ein maͤßiges Gut kaufte, es verpachtete und zum Mittelpunct ſeiner Wirkſamkeit machte, mit dem feſten Vorſatz, oder vielmehr nach alter Gewohnheit und Neigung, in keinem Hauſe zu verweilen, wo nichts zu ſchlichten und nichts zu helfen waͤre. Diejenigen die auf Namensbedeutungen aberglaͤubiſch ſind, behaupten, der Name Mittler habe ihn ge¬ noͤthigt, dieſe ſeltſamſte aller Beſtimmungen zu ergreifen.

Der Nachtiſch war aufgetragen, als der Gaſt ſeine Wirthe ernſtlich vermahnte, nicht weiter mit ihren Entdeckungen zuruͤckzuhalten, weil er gleich nach dem Kaffee fortmuͤſſe. Die beyden Ehleute machten umſtaͤndlich ihre Bekenntniſſe; aber kaum hatte er den Sinn der Sache vernommen, als er verdrießlich vom Tiſche auffuhr, ans Fenſter ſprang und ſein Pferd zu ſatteln befahl.

38

Entweder Ihr kennt mich nicht, rief er aus, Ihr verſteht mich nicht, oder Ihr ſeyd ſehr boshaft. Iſt denn hier ein Streit? iſt denn hier eine Huͤlfe noͤthig? Glaubt Ihr, daß ich in der Welt bin, um Rath zu ge¬ ben? Das iſt das duͤmmſte Handwerk das einer treiben kann. Rathe ſich jeder ſelbſt und thue was er nicht laſſen kann. Geraͤth es gut, ſo freue er ſich ſeiner Weisheit und ſeines Gluͤcks; laͤuft's uͤbel ab, dann bin ich bey der Hand. Wer ein Uebel los ſeyn will, der weiß immer was er will; wer was beſ¬ ſers will als er hat, der iſt ganz ſtaarblind Ja ja! lacht nur er ſpielt Blindekuh, er ertappt's vielleicht; aber was? Thut was Ihr wollt: es iſt ganz einerley! Nehmt die Freunde zu Euch, laßt ſie weg: alles einerley! Das Vernuͤnftigſte habe ich mislingen ſehen, das Abgeſchmackteſte gelingen. Zerbrecht Euch die Koͤpfe nicht, und wenn's auf eine oder die andre Weiſe uͤbel ablaͤuft, zerbrecht ſie Euch auch nicht. Schickt nur nach mir, und39 Euch ſoll geholfen ſeyn. Bis dahin Euer Diener!

Und ſo ſchwang er ſich aufs Pferd, ohne den Kaffee abzuwarten.

Hier ſiehſt du, ſagte Charlotte, wie we¬ nig eigentlich ein Dritter fruchtet, wenn es zwiſchen zwey nah verbundenen Perſonen nicht ganz im Gleichgewicht ſteht. Gegenwaͤrtig ſind wir doch wohl noch verworrner und ungewiſſer, wenn's moͤglich iſt, als vor¬ her.

Beyde Gatten wuͤrden auch wohl noch eine Zeit lang geſchwankt haben, waͤre nicht ein Brief des Hauptmanns im Wechſel gegen Eduards letzten angekommen. Er hatte ſich entſchloſſen, eine der ihm angebotenen Stellen anzunehmen, ob ſie ihm gleich keineswegs ge¬ maͤß war. Er ſollte mit vornehmen und reichen Leuten die Langeweile theilen indem40 man auf ihn das Zutrauen ſetzte, daß er ſie vertreiben wuͤrde.

Eduard uͤberſah das ganze Verhaͤltniß recht deutlich und mahlte es noch recht ſcharf aus. Wollen wir unſern Freund in einem ſolchen Zuſtande wiſſen? rief er: Du kannſt nicht ſo grauſam ſeyn, Charlotte!

Der wunderliche Mann, unſer Mittler, verſetzte Charlotte, hat am Ende doch Recht. Alle ſolche Unternehmungen ſind Wageſtuͤcke. Was daraus werden kann ſieht kein Menſch voraus. Solche neue Verhaͤltniſſe koͤnnen fruchtbar ſeyn an Gluͤck und an Ungluͤck, ohne daß wir uns dabey Verdienſt oder Schuld ſonderlich zurechnen duͤrfen. Ich fuͤhle mich nicht ſtark genug dir laͤnger zu widerſtehen. Laß uns den Verſuch machen. Das einzige was ich dich bitte: es ſey nur auf kurze Zeit angeſehen. Erlaube mir, daß ich mich thaͤtiger als bisher fuͤr ihn verwende, und meinen Ein¬41 fluß, meine Verbindungen eifrig benutze und aufrege, ihm eine Stelle zu verſchaffen, die ihm nach ſeiner Weiſe einige Zufriedenheit ge¬ waͤhren kann.

Eduard verſicherte ſeine Gattinn auf die anmuthigſte Weiſe der lebhafteſten Dankbarkeit. Er eilte mit freyem frohen Gemuͤth ſeinem Freunde Vorſchlaͤge ſchriftlich zu thun. Char¬ lotte mußte in einer Nachſchrift ihren Bey¬ fall eigenhaͤndig hinzufuͤgen, ihre freundſchaft¬ lichen Bitten mit den ſeinen vereinigen. Sie ſchrieb mit gewandter Feder gefaͤllig und ver¬ bindlich, aber doch mit einer Art von Haſt, die ihr ſonſt nicht gewoͤhnlich war; und was ihr nicht leicht begegnete, ſie verunſtaltete das Papier zuletzt mit einem Tintenfleck, der ſie aͤrgerlich machte und nur groͤßer wurde, in¬ dem ſie ihn wegwiſchen wollte.

Eduard ſcherzte daruͤber, und weil noch Platz war fuͤgte er eine zweyte Nachſchrift42 hinzu: der Freund ſolle aus dieſen Zeichen die Ungeduld ſehen womit er erwartet werde, und nach der Eile womit der Brief geſchrieben, die Eilfertigkeit ſeiner Reiſe einrichten.

Der Bote war fort und Eduard glaubte ſeine Dankbarkeit nicht uͤberzeugender ausdruͤ¬ cken zu koͤnnen, als indem er aber und abermals darauf beſtand: Charlotte ſolle ſo¬ gleich Ottilien aus der Penſion hohlen laſſen.

Sie bat um Aufſchub und wußte dieſen Abend bey Eduard die Luſt zu einer muſica¬ liſchen Unterhaltung aufzuregen. Charlotte ſpielte ſehr gut Clavier; Eduard nicht eben ſo bequem die Floͤte: denn ob er ſich gleich zu Zeiten viel Muͤhe gegeben hatte, ſo war ihm doch nicht die Geduld, die Ausdauer verliehen, die zur Ausbildung eines ſolchen Talentes gehoͤrt. Er fuͤhrte deshalb ſeine Par¬ tie ſehr ungleich aus, einige Stellen gut, nur vielleicht zu geſchwind; bey andern wieder43 hielt er an, weil ſie ihm nicht gelaͤufig waren, und ſo waͤr 'es fuͤr jeden Andern ſchwer ge¬ weſen ein Duett mit ihm durchzubringen. Aber Charlotte wußte ſich darein zu finden; ſie hielt an und ließ ſich wieder von ihm fortreißen, und verſah alſo die doppelte Pflicht eines guten Kapellmeiſters und einer klugen Hausfrau, die im Ganzen immer das Maaß zu erhalten wiſſen, wenn auch die einzelnen Paſſagen nicht immer im Tact bleiben ſollten.

Drittes Kapitel.

Der Hauptmann kam. Er hatte einen ſehr verſtaͤndigen Brief vorausgeſchickt, der Charlotten voͤllig beruhigte. So viel Deutlich¬ keit uͤber ſich ſelbſt, ſo viel Klarheit uͤber ſeinen eigenen Zuſtand, uͤber den Zuſtand ſei¬ ner Freunde, gab eine heitere und froͤhliche Ausſicht.

Die Unterhaltungen der erſten Stunden waren, wie unter Freunden zu geſchehen pflegt die ſich eine Zeit lang nicht geſehen haben, leb¬ haft, ja faſt erſchoͤpfend. Gegen Abend ver¬ anlaßte Charlotte einen Spaziergang auf die neuen Anlagen. Der Hauptmann gefiel ſich ſehr in der Gegend und bemerkte jede Schoͤn¬45 heit welche durch die neuen Wege erſt ſichtbar und genießbar geworden. Er hatte ein geuͤb¬ tes Auge und dabey ein genuͤgſames; und ob er gleich das wuͤnſchenswerthe ſehr wohl kannte, machte er doch nicht, wie es oͤfters zu geſche¬ hen pflegt, Perſonen die ihn in dem Ihrigen herumfuͤhrten, dadurch einen uͤblen Humor, daß er mehr verlangte als die Umſtaͤnde zu¬ ließen, oder auch wohl gar an etwas Voll¬ kommneres erinnerte das er anderswo geſehen.

Als ſie die Mooshuͤtte erreichten, fanden ſie ſolche auf das luſtigſte ausgeſchmuͤckt, zwar nur mit kuͤnſtlichen Blumen und Wintergruͤn, doch darunter ſo ſchoͤne Buͤſchel natuͤrlichen Weizens und anderer Feld - und Baumfruͤchte angebracht, daß ſie dem Kunſtſinn der An¬ ordnenden zur Ehre gereichten. Obſchon mein Mann nicht liebt, daß man ſeinen Geburts¬ oder Namenstag feyre, ſo wird er mir doch heute nicht verargen, einem dreyfachen Feſte dieſe wenigen Kraͤnze zu widmen.

46

Ein dreyfaches? rief Eduard. Ganz ge¬ wiß! verſetzte Charlotte: unſeres Freundes An¬ kunft behandlen wir billig als ein Feſt; und dann habt Ihr beyde wohl nicht daran ge¬ dacht, daß heute Euer Namenstag iſt. Heißt nicht einer Otto ſo gut als der andere?

Beyde Freunde reichten ſich die Haͤnde uͤber den kleinen Tiſch. Du erinnerſt mich, ſagte Eduard, an dieſes jugendliche Freundſchafts¬ ſtuͤck. Als Kinder hießen wir beyde ſo; doch als wir in der Penſion zuſammenlebten und manche Irrung daraus entſtand, ſo trat ich ihm freywillig dieſen huͤbſchen laconiſchen Namen ab.

Wobey du denn doch nicht gar zu gro߬ muͤthig warſt, ſagte der Hauptmann. Denn ich erinnere mich recht wohl, daß dir der Name Eduard beſſer gefiel, wie er denn auch von angenehmen Lippen ausgeſprochen einen be¬ ſonders guten Klang hat.

47

Nun ſaßen ſie alſo zu dreyen um daſſel¬ bige Tiſchchen, wo Charlotte ſo eifrig gegen die Ankunft des Gaſtes geſprochen hatte. Eduard in ſeiner Zufriedenheit wollte die Gattinn nicht an jene Stunden erinnern; doch enthielt er ſich nicht zu ſagen: fuͤr ein Viertes waͤre auch noch recht gut Platz.

Waldhoͤrner ließen ſich in dieſem Augen¬ blick vom Schloß heruͤber vernehmen, bejah¬ ten gleichſam und bekraͤftigten die guten Ge¬ ſinnungen und Wuͤnſche der beyſammen ver¬ weilenden Freunde. Stillſchweigend hoͤrten ſie zu, indem jedes in ſich ſelbſt zuruͤckkehrte, und ſein eigen Gluͤck in ſo ſchoͤner Verbin¬ dung doppelt empfand.

Eduard unterbrach die Pauſe zuerſt, in¬ dem er aufſtand und vor die Mooshuͤtte hin¬ austrat. Laß uns, ſagte er zu Charlotten, den Freund gleich voͤllig auf die Hoͤhe fuͤhren, damit er nicht glaube, dieſes beſchraͤnkte Thal48 nur ſey unſer Erbgut und Aufenthalt; der Blick wird oben freyer und die Bruſt erwei¬ tert ſich.

So muͤſſen wir dießmal noch, verſetzte Charlotte, den alten, etwas beſchwerlichen Fu߬ pfad erklimmen; doch, hoffe ich, ſollen meine Stufen und Steige naͤchſtens bequemer bis ganz hinauf leiten.

Und ſo gelangte man denn uͤber Felſen, durch Buſch und Geſtraͤuch zur letzten Hoͤhe, die zwar keine Flaͤche, doch fortlaufende frucht¬ bare Ruͤcken bildete. Dorf und Schloß hin¬ terwaͤrts waren nicht mehr zu ſehen. In der Tiefe erblickte man ausgebreitete Teiche; druͤben bewachſene Huͤgel, an denen ſie ſich hinzogen; endlich ſteile Felſen, welche ſenk¬ recht den letzten Waſſerſpiegel entſchieden begraͤnzten und ihre bedeutenden Formen auf der Oberflaͤche deſſelben abbildeten. Dort in der Schlucht, wo ein ſtarker Bach den Tei¬49 chen zufiel, lag eine Muͤhle halb verſteckt, die mit ihren Umgebungen als ein freundli¬ ches Ruheplaͤtzchen erſchien. Mannigfaltig wechſelten im ganzen Halbkreiſe den man uͤber¬ ſah, Tiefen und Hoͤhen, Buͤſche und Waͤlder, deren erſtes Gruͤn fuͤr die Folge den fuͤllereich¬ ſten Anblick verſprach. Auch einzelne Baum¬ gruppen hielten an mancher Stelle das Auge feſt. Beſonders zeichnete zu den Fuͤßen der ſchauenden Freunde ſich eine Maſſe Pappeln und Platanen zunaͤchſt an dem Rande des mittleren Teiches vortheilhaft aus. Sie ſtand in ihrem beſten Wachsthum, friſch, geſund, empor und in die Breite ſtrebend.

Eduard lenkte beſonders auf dieſe die Auf¬ merkſamkeit ſeines Freundes. Dieſe habe ich, rief er aus, in meiner Jugend ſelbſt gepflanzt. Es waren junge Staͤmmchen, die ich rettete, als mein Vater, bey der Anlage zu einem neuen Theil des großen Schloßgartens, ſie mitten im Sommer ausroden ließ. OhneI. 450Zweifel werden ſie auch dieſes Jahr ſich durch neue Triebe wieder dankbar hervorthun.

Man kehrte zufrieden und heiter zuruͤck. Dem Gaſte ward auf dem rechten Fluͤgel des Schloſſes ein freundliches geraͤumiges Quar¬ tier angewieſen, wo er ſehr bald Buͤcher, Pa¬ piere und Inſtrumente aufgeſtellt und geord¬ net hatte, um in ſeiner gewohnten Thaͤtigkeit fortzufahren. Aber Eduard ließ ihm in den erſten Tagen keine Ruhe; er fuͤhrte ihn uͤber¬ all herum, bald zu Pferde bald zu Fuße, und machte ihn mit der Gegend, mit dem Gute bekannt; wobey er ihm zugleich die Wuͤnſche mittheilte, die er zu beſſerer Kennt¬ niß und vortheilhafterer Benutzung deſſelben ſeit langer Zeit bey ſich hegte.

Das erſte was wir thun ſollten, ſagte der Hauptmann, waͤre, daß ich die Gegend mit der Magnetnadel aufnaͤhme. Es iſt das ein leichtes heiteres Geſchaͤft, und wenn es auch51 nicht die groͤßte Genauigkeit gewaͤhrt, ſo bleibt es doch immer nuͤtzlich und fuͤr den Anfang erfreulich; auch kann man es ohne große Bey¬ huͤlfe leiſten und weiß gewiß, daß man fertig wird. Denkſt du einmal an eine genauere Ausmeſſung, ſo laͤßt ſich dazu wohl auch noch Rath finden.

Der Hauptmann war in dieſer Art des Aufnehmens ſehr geuͤbt. Er hatte die noͤthige Geraͤthſchaft mitgebracht und fing ſogleich an. Er unterrichtete Eduarden, einige Jaͤger und Bauern, die ihm bey dem Geſchaͤft behuͤlflich ſeyn ſollten. Die Tage waren guͤnſtig; die Abende und die fruͤhſten Morgen brachte er mit Aufzeichnen und Schraffiren zu. Schnell war auch alles lavirt und illuminirt, und Eduard ſah ſeine Beſitzungen auf das deut¬ lichſte, aus dem Papier, wie eine neue Schoͤp¬ fung, hervorgewachſen. Er glaubte ſie jetzt erſt kennen zu lernen; ſie ſchienen ihm jetzt erſt recht zu gehoͤren.

4 *52

Es gab Gelegenheit uͤber die Gegend, uͤber Anlagen zu ſprechen, die man nach einer ſolchen Ueberſicht viel beſſer zu Stande bringe, als wenn man nur einzeln, nach zufaͤlligen Ein¬ druͤcken, an der Natur herumverſuche.

Das muͤſſen wir meiner Frau deutlich machen, ſagte Eduard.

Thue das nicht! verſetzte der Hauptmann, der die Ueberzeugungen anderer nicht gern mit den ſeinigen durchkreuzte, den die Erfahrung gelehrt hatte, daß die Anſichten der Menſchen viel zu mannigfaltig ſind, als daß ſie, ſelbſt durch die vernuͤnftigſten Vorſtellungen, auf einen Punct verſammelt werden koͤnnten. Thue es nicht! rief er: ſie duͤrfte leicht irre werden. Es iſt ihr, wie allen denen, die ſich nur aus Liebhaberey mit ſolchen Dingen be¬ ſchaͤftigen, mehr daran gelegen, daß ſie et¬ was thue, als daß etwas gethan werde. Man taſtet an der Natur, man hat Vorliebe fuͤr53 dieſes oder jenes Plaͤtzchen; man wagt nicht dieſes oder jenes Hinderniß wegzuraͤumen, man iſt nicht kuͤhn genug etwas aufzuopfern; man kann ſich voraus nicht vorſtellen was ent¬ ſtehen ſoll, man probiert, es geraͤth, es mis¬ raͤth, man veraͤndert, veraͤndert vielleicht was man laſſen ſollte, laͤßt was man veraͤndern ſollte, und ſo bleibt es zuletzt immer ein Stuͤckwerk, das gefaͤllt und anregt, aber nicht befriedigt.

Geſteh mir aufrichtig, ſagte Eduard, du biſt mit ihren Anlagen nicht zufrieden.

Wenn die Ausfuͤhrung den Gedanken er¬ ſchoͤpfte, der ſehr gut iſt, ſo waͤre nichts zu erinnern. Sie hat ſich muͤhſam durch das Geſtein hinaufgequaͤlt und quaͤlt nun jeden, wenn du willſt, den ſie hinauffuͤhrt. Weder neben einander, noch hinter einander ſchreitet man mit einer gewiſſen Freyheit. Der Tact des Schrittes wird jeden Augenblick unter¬54 brochen; und was ließe ſich nicht noch alles einwenden.

Waͤre es denn leicht anders zu machen geweſen? fragte Eduard.

Gar leicht, verſetzte der Hauptmann; ſie durfte nur die eine Felſenecke, die noch da¬ zu unſcheinbar iſt, weil ſie aus kleinen Theilen beſteht, wegbrechen; ſo erlangte ſie eine ſchoͤn geſchwungene Wendung zum Aufſtieg und zu¬ gleich uͤberfluͤſſige Steine, um die Stellen her¬ aufzumauern, wo der Weg ſchmal und ver¬ kruͤppelt geworden waͤre. Doch ſey dieß im engſten Vertrauen unter uns geſagt: ſie wird ſonſt irre und verdrießlich. Auch muß man was gemacht iſt, beſtehen laſſen. Will man weiter Geld und Muͤhe aufwenden, ſo waͤre von der Mooshuͤtte hinaufwaͤrts und uͤber die Anhoͤhe noch mancherley zu thun und viel angenehmes zu leiſten.

55

Hatten auf dieſe Weiſe die beyden Freun¬ de am Gegenwaͤrtigen manche Beſchaͤftigung, ſo fehlte es nicht an lebhafter und vergnuͤgli¬ cher Erinnerung vergangener Tage, woran Charlotte wohl Theil zu nehmen pflegte. Auch ſetzte man ſich vor, wenn nur die naͤchſten Arbeiten erſt gethan waͤren, an die Reiſe¬ journale zu gehen und auch auf dieſe Weiſe die Vergangenheit hervorzurufen.

Uebrigens hatte Eduard mit Charlotten allein weniger Stoff zur Unterhaltung, be¬ ſonders ſeitdem er den Tadel ihrer Parkan¬ lagen, der ihm ſo gerecht ſchien, auf dem Herzen fuͤhlte. Lange verſchwieg er was ihm der Hauptmann vertraut hatte; aber als er ſeine Gattinn zuletzt beſchaͤftigt ſah, von der Mooshuͤtte hinauf zur Anhoͤhe wieder mit Stuͤfchen und Pfaͤdchen ſich empor zu arbeiten; ſo hielt er nicht laͤnger zuruͤck, ſondern machte ſie nach einigen Umſchweifen mit ſeinen neuen Einſichten bekannt.

56

Charlotte ſtand betroffen. Sie war geiſt¬ reich genug, um ſchnell einzuſehen, daß jene Recht hatten; aber das Gethane widerſprach, es war nun einmal ſo gemacht; ſie hatte es recht, ſie hatte es wuͤnſchenswerth gefunden, ſelbſt das Getadelte war ihr in jedem einzel¬ nen Theile lieb; ſie widerſtrebte der Ueber¬ zeugung, ſie vertheidigte ihre kleine Schoͤp¬ fung, ſie ſchalt auf die Maͤnner, die gleich ins Weite und Große gingen, aus einem Scherz, aus einer Unterhaltung gleich ein Werk ma¬ chen wollten, nicht an die Koſten denken, die ein erweiteter Plan durchaus nach ſich zieht. Sie war bewegt, verletzt, verdrießlich; ſie konnte das Alte nicht fahren laſſen, das Neue nicht ganz abweiſen; aber entſchloſſen wie ſie war, ſtellte ſie ſogleich die Arbeit ein und nahm ſich Zeit, die Sache zu bedenken und bey ſich reif werden zu laſſen.

Indem ſie nun auch dieſe thaͤtige Unter¬ haltung vermißte, da indeß die Maͤnner ihr57 Geſchaͤft immer geſelliger betrieben und be¬ ſonders die Kunſtgaͤrten und Glashaͤuſer mit Eifer beſorgten, auch dazwiſchen die gewoͤhn¬ lichen ritterlichen Uebungen fortſetzten, als Jagen, Pferde Kaufen, Tauſchen, Bereiten und Einfahren; ſo fuͤhlte ſich Charlotte taͤglich einſamer. Sie fuͤhrte ihren Briefwechſel, auch um des Hauptmanns willen, lebhafter, und doch gab es manche einſame Stunde. Deſto angenehmer und unterhaltender waren ihr die Berichte, die ſie aus der Penſionsan¬ ſtalt erhielt.

Einem weitlaͤuftigen Briefe der Vorſtehe¬ rinn, welcher ſich wie gewoͤhnlich uͤber der Tochter Fortſchritte mit Behagen verbreitete, war eine kurze Nachſchrift hinzugefuͤgt, nebſt einer Beylage von der Hand eines maͤnnli¬ chen Gehuͤlfen am Inſtitut, die wir beyde mittheilen.

58

Nachſchrift der Vorſteherinn.

Von Ottilien, meine Gnaͤdige, haͤtte ich eigentlich nur zu wiederholen, was in meinen vorigen Berichten enthalten iſt. Ich wuͤßte ſie nicht zu ſchelten und doch kann ich nicht zufrieden mit ihr ſeyn. Sie iſt nach wie vor beſcheiden und gefaͤllig gegen andre; aber dieſes Zuruͤcktreten, dieſe Dienſtbarkeit will mir nicht gefallen. Ew. Gnaden haben ihr neulich Geld und verſchiedene Zeuge geſchickt. Das erſte hat ſie nicht angegriffen; die andern liegen auch noch da, unberuͤhrt. Sie haͤlt freylich ihre Sachen ſehr reinlich und gut, und ſcheint nur in dieſem Sinn die Kleider zu wechſeln. Auch kann ich ihre große Maͤßig¬ keit im Eſſen und Trinken nicht loben. An unſerm Tiſch iſt kein Ueberfluß; doch ſehe ich nichts lieber als wenn die Kinder ſich an59 ſchmackhaften und geſunden Speiſen ſatt eſſen. Was mit Bedacht und Ueberzeugung aufge¬ tragen und vorgelegt iſt, ſoll auch aufgegeſſen werden. Dazu kann ich Ottilien niemals bringen. Ja ſie macht ſich irgend ein Ge¬ ſchaͤft, um eine Luͤcke auszufuͤllen, wo die Die¬ nerinnen etwas verſaͤumen, nur um eine Speiſe oder den Nachtiſch zu uͤbergehen. Bey dieſem allen kommt jedoch in Betrachtung, daß ſie manchmal, wie ich erſt ſpaͤt erfahren habe, Kopfweh auf der linken Seite hat, das zwar voruͤbergeht, aber ſchmerzlich und bedeutend ſeyn mag. Soviel von dieſem uͤbri¬ gens ſo ſchoͤnen und lieben Kinde.

Beylage des Gehuͤlfen.

Unſre vortreffliche Vorſteherinn laͤßt mich gewoͤhnlich die Briefe leſen, in welchen ſie Beobachtungen uͤber ihre Zoͤglinge den Aeltern60 und Vorgeſetzten mittheilt. Diejenigen die an Ew. Gnaden gerichtet ſind leſe ich immer mit doppelter Aufmerkſamkeit, mit doppeltem Ver¬ gnuͤgen: denn indem wir Ihnen zu einer Tochter Gluͤck zu wuͤnſchen haben, die alle jene glaͤnzenden Eigenſchaften vereinigt, wo¬ durch man in der Welt emporſteigt; ſo muß ich wenigſtens Sie nicht minder gluͤcklich preiſen, daß Ihnen in Ihrer Pflegetochter ein Kind beſchert iſt, das zum Wohl, zur Zufrieden¬ heit anderer und gewiß auch zu ſeinem eigenen Gluͤck geboren ward. Ottilie iſt faſt unſer ein¬ ziger Zoͤgling, uͤber den ich mit unſerer ſo ſehr verehrten Vorſteherinn nicht einig werden kann. Ich verarge dieſer thaͤtigen Frau kei¬ nesweges, daß ſie verlangt, man ſoll die Fruͤchte ihrer Sorgfalt aͤußerlich und deutlich ſehen; aber es giebt auch verſchloſſene Fruͤchte, die erſt die rechten kernhaften ſind, und die ſich fruͤher oder ſpaͤter zu einem ſchoͤnen Le¬ ben entwickeln. Dergleichen iſt gewiß Ihre Pflegetochter. So lange ich ſie unterrichte61 ſehe ich ſie immer gleichen Schrittes gehen, langſam, langſam vorwaͤrts, nie zuruͤck. Wenn es bey einem Kinde noͤthig iſt, vom Anfange anzufangen, ſo iſt es gewiß bey ihr. Was nicht aus dem Vorhergehenden folgt, begreift ſie nicht. Sie ſteht unfaͤhig, ja ſtoͤckiſch vor einer leicht faßlichen Sache, die fuͤr ſie mit nichts zuſammenhaͤngt. Kann man aber die Mittelglieder finden und ihr deutlich machen, ſo iſt ihr das ſchwerſte begreiflich.

Bey dieſem langſamen Vorſchreiten bleibt ſie gegen ihre Mitſchuͤlerinnen zuruͤck, die mit ganz andern Faͤhigkeiten immer vorwaͤrts ei¬ len, alles, auch das Unzuſammenhaͤngende, leicht faſſen, leicht behalten und bequem wie¬ der anwenden. So lernt ſie, ſo vermag ſie bey einem beſchleunigten Lehrvortrage gar nichts; wie es der Fall in einigen Stunden iſt, welche von trefflichen, aber raſchen und ungeduldigen Lehrern gegeben werden. Man hat uͤber ihre Handſchrift geklagt, uͤber ihre62 Unfaͤhigkeit die Regeln der Grammatik zu faſſen. Ich habe dieſe Beſchwerde naͤher unterſucht: es iſt wahr, ſie ſchreibt langſam und ſteif wenn man ſo will, doch nicht zag¬ haft und ungeſtalt. Was ich ihr von der franzoͤſiſchen Sprache, die zwar mein Fach nicht iſt, ſchrittweiſe mittheilte, begriff ſie leicht. Freilich iſt es wunderbar, ſie weiß vieles und recht gut, nur wenn man ſie fragt, ſcheint ſie nichts zu wiſſen.

Soll ich mit einer allgemeinen Bemerkung ſchließen, ſo moͤchte ich ſagen: ſie lernt nicht als eine die erzogen werden ſoll, ſondern als eine die erziehen will; nicht als Schuͤlerinn, ſondern als kuͤnftige Lehrerinn. Vielleicht kommt es Ew. Gnaden ſonderbar vor, daß ich ſelbſt als Erzieher und Lehrer jemanden nicht mehr zu loben glaube, als wenn ich ihn fuͤr meines gleichen erklaͤre. Ew. Gna¬ den beſſre Einſicht, tiefere Menſchen - und Weltkenntniß wird aus meinen beſchraͤnkten63 wohlgemeinten Worten das Beſte nehmen. Sie werden ſich uͤberzeugen, daß auch an dieſem Kinde viel Freude zu hoffen iſt. Ich empfehle mich zu Gnaden und bitte um die Erlaubniß wieder zu ſchreiben, ſobald ich glaube, daß mein Brief etwas Bedeutendes und Angenehmes enthalten werde.

Charlotte freute ſich uͤber dieſes Blatt. Sein Inhalt traf ganz nahe mit den Vor¬ ſtellungen zuſammen, welche ſie von Ottilien hegte; dabey konnte ſie ſich eines Laͤchelns nicht enthalten, indem der Antheil des Leh¬ rers herzlicher zu ſeyn ſchien, als ihn die Einſicht in die Tugenden eines Zoͤglings her¬ vorzubringen pflegt. Bey ihrer ruhigen, vor¬ urtheilsfreyen Denkweiſe ließ ſie auch ein ſol¬ ches Verhaͤltniß, wie ſo viele andre, vor ſich liegen; die Theilnahme des verſtaͤndigen Mannes an Ottilien hielt ſie werth: denn64 ſie hatte in ihrem Leben genugſam einſehen gelernt, wie hoch jede wahre Neigung zu ſchaͤtzen ſey, in einer Welt wo Gleichguͤltig¬ keit und Abneigung eigentlich recht zu Hauſe ſind.

Viertes Kapitel.

Die topographiſche Charte, auf welcher das Gut mit ſeinen Umgebungen, nach einem ziemlich großen Maaßſtabe, charakteriſtiſch und faßlich durch Federſtriche und Farben darge¬ ſtellt war, und welche der Hauptmann durch einige trigonometriſche Meſſungen ſicher zu gruͤnden wußte, war bald fertig: denn weni¬ ger Schlaf, als dieſer thaͤtige Mann, be¬ durfte kaum Jemand, ſo wie ſein Tag ſtets dem augenblicklichen Zwecke gewidmet und deswegen jederzeit am Abende etwas gethan war.

Laß uns nun, ſagte er zu ſeinem Freun¬ de, an das Uebrige gehen, an die Gutsbe¬I. 566ſchreibung, wozu ſchon genugſame Vorarbeit da ſeyn muß, aus der ſich nachher Pachtan¬ ſchlaͤge und anderes ſchon entwickeln werden. Nur eines laß uns feſtſetzen und einrichten: trenne alles was eigentlich Geſchaͤft iſt vom Leben. Das Geſchaͤft verlangt Ernſt und Strenge, das Leben Willkuͤhr; das Geſchaͤft die reinſte Folge, dem Leben thut eine Incon¬ ſequenz oft noth, ja ſie iſt liebenswuͤrdig und erheiternd. Biſt du bey dem einen ſicher, ſo kannſt du in dem andern deſto freyer ſeyn; anſtatt daß bey einer Vermiſchung das Sichre durch das Freye weggeriſſen und aufgehoben wird.

Eduard fuͤhlte in dieſen Vorſchlaͤgen einen leiſen Vorwurf. Zwar von Natur nicht un¬ ordentlich, konnte er doch niemals dazu kom¬ men, ſeine Papiere nach Faͤchern abzutheilen. Das was er mit andern abzuthun hatte, was blos von ihm ſelbſt abhing, es war nicht ge¬ ſchieden; ſo wie er auch Geſchaͤfte und Be¬67 ſchaͤftigung, Unterhaltung und Zerſtreuung nicht genugſam von einander abſonderte. Jetzt wurde es ihm leicht, da ein Freund dieſe Bemuͤhung uͤbernahm, ein zweytes Ich die Sonderung bewirkte, in die das eine Ich nicht immer ſich ſpalten mag.

Sie errichteten auf dem Fluͤgel des Haupt¬ manns eine Repoſitur fuͤr das Gegenwaͤrtige, ein Archiv fuͤr das Vergangene; ſchafften alle Documente, Papiere, Nachrichten, aus ver¬ ſchiedenen Behaͤltniſſen, Kammern, Schraͤn¬ ken und Kiſten herbey, und auf das geſchwin¬ deſte war der Wuſt in eine erfreuliche Ord¬ nung gebracht, lag rubricirt in bezeichneten Faͤchern. Was man wuͤnſchte ward vollſtaͤn¬ diger gefunden als man gehofft hatte. Hier¬ bey ging ihnen ein alter Schreiber ſehr an die Hand, der den Tag uͤber, ja einen Theil der Nacht, nicht vom Pulte kam, und mit dem Eduard bisher immer unzufrieden gewe¬ ſen war.

5 *68

Ich kenne ihn nicht mehr, ſagte Eduard zu ſeinem Freund, wie thaͤtig und brauchbar der Menſch iſt. Das macht, verſetzte der Haupt¬ mann, wir tragen ihm nichts Neues auf, als bis er das Alte nach ſeiner Bequemlich¬ keit vollendet hat, und ſo leiſtet er, wie du ſiehſt, ſehr viel; ſobald man ihn ſtoͤrt, ver¬ mag er gar nichts.

Brachten die Freunde auf dieſe Weiſe ihre Tage zuſammen zu, ſo verſaͤumten ſie Abends nicht Charlotten regelmaͤßig zu beſuchen. Fand ſich keine Geſellſchaft von benachbarten Orten und Guͤtern, welches oͤfter geſchah; ſo war das Geſpraͤch, wie das Leſen, meiſt ſolchen Gegenſtaͤnden gewidmet, welche den Wohl¬ ſtand, die Vortheile und das Behagen der buͤrgerlichen Geſellſchaft vermehren.

Charlotte, ohnehin gewohnt die Gegen¬ wart zu nutzen, fuͤhlte ſich, indem ſie ihren Mann zufrieden ſah, auch perſoͤnlich gefoͤr¬69 dert. Verſchiedene haͤusliche Anſtalten, die ſie laͤngſt gewuͤnſcht, aber nicht recht einleiten koͤnnen, wurden durch die Thaͤtigkeit des Hauptmanns bewirkt. Die Hausapotheke, die bisher nur aus wenigen Mitteln beſtan¬ den, ward bereichert, und Charlotte, ſowohl durch faßliche Buͤcher als durch Unterredung, in den Stand geſetzt ihr thaͤtiges und huͤlf¬ reiches Weſen oͤfter und wirkſamer als bisher in Uebung zu bringen.

Da man auch die gewoͤhnlichen und dem¬ ungeachtet nur zu oft uͤberraſchenden Noth¬ faͤlle durchdachte; ſo wurde alles was zur Rettung der Ertrunkenen noͤthig ſeyn moͤchte um ſo mehr angeſchafft, als bey der Naͤhe ſo mancher Teiche, Gewaͤſſer und Waſſerwerke, oͤfters ein und der andre Unfall dieſer Art vorkam. Dieſe Rubrik beſorgte der Haupt¬ mann ſehr ausfuͤhrlich, und Eduarden ent¬ ſchluͤpfte die Bemerkung, daß ein ſolcher Fall in dem Leben ſeines Freundes auf die ſelt¬70 ſamſte Weiſe Epoche gemacht. Doch als die¬ ſer ſchwieg und einer traurigen Erinnerung auszuweichen ſchien, hielt Eduard gleichfalls an, ſo wie auch Charlotte, die nicht weniger im Allgemeinen davon unterrichtet war, uͤber jene Aeußerungen hinausging.

Wir wollen alle dieſe vorſorglichen An¬ ſtalten loben, ſagte eines Abends der Haupt¬ mann; nun geht uns aber das Nothwendigſte noch ab, ein tuͤchtiger Mann, der das alles zu handhaben weiß. Ich kann hiezu einen mir bekannten Feldchirurgus vorſchlagen, der jetzt um leidliche Bedingung zu haben iſt, ein vorzuͤglicher Mann in ſeinem Fache, und der mir auch in Behandlung heftiger innerer Ue¬ bel oͤfters mehr Genuͤge gethan hat als ein beruͤhmter Arzt; und augenblickliche Huͤlfe iſt doch immer das, was auf dem Lande am meiſten vermißt wird.

Auch dieſer wurde ſogleich verſchrieben und beyde Gatten freuten ſich, daß ſie ſo71 manche Summe, die ihnen zu willkuͤhrlichen Ausgaben uͤbrig blieb, auf die noͤthigſten zu verwenden Anlaß gefunden.

So benutzte Charlotte die Kenntniſſe, die Thaͤtigkeit des Hauptmanns auch nach ihrem Sinne und fing an mit ſeiner Gegenwart voͤllig zufrieden und uͤber alle Folgen beruhigt zu werden. Sie bereitete ſich gewoͤhnlich vor, manches zu fragen, und da ſie gern leben mochte, ſo ſuchte ſie alles Schaͤdliche, alles Toͤdtliche zu entfernen. Die Bleyglaſur der Toͤpferwaren, der Gruͤnſpan kupferner Gefaͤße hatte ihr ſchon manche Sorge gemacht. Sie ließ ſich hieruͤber belehren, und natuͤrlicher¬ weiſe mußte man auf die Grundbegriffe der Phyſik und Chemie zuruͤckgehen.

Zufaͤlligen aber immer willkommenen An¬ laß zu ſolchen Unterhaltungen gab Eduards Neigung, der Geſellſchaft vorzuleſen. Er hatte eine ſehr wohlklingende tiefe Stimme72 und war fruͤher, wegen lebhafter gefuͤhlter Recitation dichteriſcher und redneriſcher Ar¬ beiten, angenehm und beruͤhmt geweſen. Nun waren es andre Gegenſtaͤnde die ihn beſchaͤf¬ tigten, andre Schriften woraus er vorlas und eben ſeit einiger Zeit vorzuͤglich Werke phyſiſchen, chemiſchen und techniſchen Inhalts.

Eine ſeiner beſondern Eigenheiten, die er jedoch vielleicht mit mehrern Menſchen theilt, war die, daß es ihm unertraͤglich fiel, wenn Jemand ihm beym Leſen in das Buch ſah. In fruͤherer Zeit, beym Vorleſen von Gedich¬ ten, Schauſpielen, Erzaͤhlungen, war es die natuͤrliche Folge der lebhaften Abſicht, die der Vorleſende ſo gut als der Dichter, der Schau¬ ſpieler, der Erzaͤhlende hat, zu uͤberraſchen, Pauſen zu machen, Erwartungen zu erregen; da es denn freylich dieſer beabſichtigten Wir¬ kung ſehr zuwider iſt, wenn ihm ein Drit¬ ter wiſſentlich mit den Augen vorſpringt. Er pflegte ſich auch deswegen in ſolchem Falle73 immer ſo zu ſetzen, daß er Niemand im Ruͤ¬ cken hatte. Jetzt zu dreyen war dieſe Vor¬ ſicht unnoͤthig; und da es dießmal nicht auf Erregung des Gefuͤhls, auf Ueberraſchung der Einbildungskraft angeſehen war; ſo dachte er ſelbſt nicht daran, ſich ſonderlich in Acht zu nehmen.

Nur eines Abends fiel es ihm auf, als er ſich nachlaͤſſig geſetzt hatte, daß Charlotte ihm in das Buch ſah. Seine alte Ungeduld erwachte und er verwies es ihr, gewiſſerma¬ ßen unfreundlich. Wollte man ſich doch ſol¬ che Unarten, wie ſo manches andre was der Geſellſchaft laͤſtig iſt, ein fuͤr allemal abge¬ woͤhnen. Wenn ich Jemand vorleſe, iſt es denn nicht als wenn ich ihm muͤndlich etwas vortruͤge? Das Geſchriebene, das Gedruckte tritt an die Stelle meines eigenen Sinnes, meines eigenen Herzens; und wuͤrde ich mich wohl zu reden bemuͤhen, wenn ein Fenſterchen vor meiner Stirn, vor meiner Bruſt ange¬74 bracht waͤre, ſo daß der, dem ich meine Ge¬ danken einzeln zuzaͤhlen, meine Empfindungen einzeln zureichen will, immer ſchon lange vor¬ her wiſſen koͤnnte, wo es mit mir hinaus wollte? Wenn mir Jemand ins Buch ſieht, ſo iſt mir immer als wenn ich in zwey Stuͤ¬ cke geriſſen wuͤrde.

Charlotte, deren Gewandtheit ſich in groͤ¬ ßeren und kleineren Zirkeln beſonders dadurch bewies, daß ſie jede unangenehme, jede hef¬ tige, ja ſelbſt nur lebhafte Aeußerung zu be¬ ſeitigen, ein ſich verlaͤngerndes Geſpraͤch zu unterbrechen, ein ſtockendes anzuregen wußte, war auch dießmal von ihrer guten Gabe nicht verlaſſen. Du wirſt mir meinen Fehler ge¬ wiß verzeihen, wenn ich bekenne was mir dieſen Augenblick begegnet iſt. Ich hoͤrte von Verwandtſchaften leſen, und da dacht 'ich eben gleich an meine Verwandten, an ein Paar Vettern, die mir gerade in dieſem Augen¬ blick zu ſchaffen machen. Meine Aufmerk¬75 ſamkeit kehrt zu deiner Vorleſung zuruͤck; ich hoͤre daß von ganz lebloſen Dingen die Rede iſt, und blicke dir ins Buch, um mich wie¬ der zurecht zu finden.

Es iſt eine Gleichnißrede, die dich ver¬ fuͤhrt und verwirrt hat, ſagte Eduard. Hier wird freylich nur von Erden und Mineralien gehandelt, aber der Menſch iſt ein wahrer Narziß; er beſpiegelt ſich uͤberall gern ſelbſt; er legt ſich als Folie der ganzen Welt unter.

Ja wohl! fuhr der Hauptmann fort: ſo behandelt er alles was er außer ſich findet; ſeine Weisheit wie ſeine Thorheit, ſeinen Willen wie ſeine Willkuͤhr leicht er den Thie¬ ren, den Pflanzen, den Elementen und den Goͤttern.

Moͤchtet Ihr mich, verſetzte Charlotte, da ich Euch nicht zu weit von dem augen¬ blicklichen Intereſſe wegfuͤhren will, nur kuͤrz¬76 lich belehren, wie es eigentlich hier mit den Verwandtſchaften gemeint ſey.

Das will ich wohl gerne thun, erwiederte der Hauptmann, gegen den ſich Charlotte ge¬ wendet hatte; freylich nur ſo gut als ich es vermag, wie ich es etwa vor zehn Jahren ge¬ lernt, wie ich es geleſen habe. Ob man in der wiſſenſchaftlichen Welt noch ſo daruͤber denkt, ob es zu den neuern Lehren paßt, wuͤßte ich nicht zu ſagen.

Es iſt ſchlimm genug, rief Eduard, daß man jetzt nichts mehr fuͤr ſein ganzes Leben lernen kann. Unſre Vorfahren hielten ſich an den Unterricht, den ſie in ihrer Jugend em¬ pfangen; wir aber muͤſſen jetzt alle fuͤnf Jahre umlernen, wenn wir nicht ganz aus der Mode kommen wollen.

Wir Frauen, ſagte Charlotte, nehmen es nicht ſo genau; und wenn ich aufrichtig ſeyn77 ſoll, ſo iſt es mir eigentlich nur um den Wortverſtand zu thun: denn es macht in der Geſellſchaft nichts laͤcherlicher, als wenn man ein fremdes, ein Kunſt-Wort falſch anwen¬ det. Deshalb moͤchte ich nur wiſſen, in welchem Sinne dieſer Ausdruck eben bey die¬ ſen Gegenſtaͤnden gebraucht wird. Wie es wiſſenſchaftlich damit zuſammenhaͤnge, wollen wir den Gelehrten uͤberlaſſen, die uͤbrigens, wie ich habe bemerken koͤnnen, ſich wohl ſchwerlich jemals vereinigen werden.

Wo fangen wir aber nun an, um am ſchnellſten in die Sache zu kommen? fragte Eduard nach einer Pauſe den Hauptmann, der ſich ein wenig bedenkend bald darauf er¬ wiederte:

Wenn es mir erlaubt iſt, dem Scheine nach weit auszuhohlen, ſo ſind wir bald am Platze.

78

Seyn Sie meiner ganzen Aufmerkſamkeit verſichert, ſagte Charlotte, indem ſie ihre Ar¬ beit bey Seite legte.

Und ſo begann der Hauptmann: an allen Naturweſen, die wir gewahr werden, bemer¬ ken wir zuerſt, daß ſie einen Bezug auf ſich ſelbſt haben. Es klingt freylich wunderlich, wenn man etwas ausſpricht was ſich ohnehin verſteht; doch nur indem man ſich uͤber das Bekannte voͤllig verſtaͤndigt hat, kann man mit einander zum Unbekannten fortſchreiten.

Ich daͤchte, fiel ihm Eduard ein, wir machten ihr und uns die Sache durch Bey¬ ſpiele bequem. Stelle dir nur das Waſſer, das Oel, das Queckſilber vor, ſo wirſt du eine Einigkeit, einen Zuſammenhang ihrer Theile finden. Dieſe Einung verlaſſen ſie nicht, außer durch Gewalt oder ſonſtige Be¬ ſtimmung. Iſt dieſe beſeitigt, ſo treten ſie gleich wieder zuſammen.

79

Ohne Frage, ſagte Charlotte beyſtimmend. Regentropfen vereinigen ſich ſchnell zu Stroͤ¬ men. Und ſchon als Kinder ſpielen wir er¬ ſtaunt mit dem Queckſilber, indem wir es in Kuͤgelchen trennen und es wieder zuſammen¬ laufen laſſen.

Und ſo darf ich wohl, fuͤgte der Haupt¬ mann hinzu, eines bedeutenden Punctes im fluͤchtigen Vorbeygehen erwaͤhnen, daß naͤm¬ lich dieſer voͤllig reine, durch Fluͤſſigkeit moͤg¬ liche Bezug ſich entſchieden und immer durch die Kugelgeſtalt auszeichnet. Der fallende Waſſertropfen iſt rund; von den Queckſilber¬ kuͤgelchen haben Sie ſelbſt geſprochen; ja ein fallendes geſchmolzenes Bley, wenn es Zeit hat voͤllig zu erſtarren, kommt unten in Ge¬ ſtalt einer Kugel an.

Laſſen Sie mich voreilen, ſagte Char¬ lotte, ob ich treffe, wo Sie hinwollen. Wie jedes gegen ſich ſelbſt einen Bezug hat, ſo80 muß es auch gegen andere ein Verhaͤltniß haben.

Und das wird nach Verſchiedenheit der Weſen verſchieden ſeyn, fuhr Eduard eilig fort. Bald werden ſie ſich als Freunde und alte Bekannte begegnen, die ſchnell zuſam¬ mentreten, ſich vereinigen, ohne an einander etwas zu veraͤndern, wie ſich Wein mit Waſ¬ ſer vermiſcht. Dagegen werden andre fremd neben einander verharren und ſelbſt durch mechaniſches Miſchen und Reiben ſich keines¬ weges verbinden; wie Oel und Waſſer zu¬ ſammengeruͤttelt ſich den Augenblick wieder aus einander ſondert.

Es fehlt nicht viel, ſagte Charlotte, ſo ſieht man in dieſen einfachen Formen die Menſchen, die man gekannt hat; beſonders aber erinnert man ſich dabey der Societaͤten, in denen man lebte. Die meiſte Aehnlichkeit jedoch mit dieſen ſeelenloſen Weſen haben die81 Maſſen, die in der Welt ſich einander gegen¬ uͤber ſtellen, die Staͤnde, die Berufsbeſtim¬ mungen, der Adel und der dritte Stand, der Soldat und der Civiliſt.

Und doch, verſetzte Eduard, wie dieſe durch Sitten und Geſetze vereinbar ſind, ſo giebt es auch in unſerer chemiſchen Welt Mit¬ telglieder, dasjenige zu verbinden, was ſich einander abweiſt.

So verbinden wir, fiel der Hauptmann ein, das Oel durch Laugenſalz mit dem Waſſer.

Nur nicht zu geſchwind mit Ihrem Vor¬ trag, ſagte Charlotte, damit ich zeigen kann, daß ich Schritt halte. Sind wir nicht hier ſchon zu den Verwandtſchaften gelangt?

Ganz richtig, erwiederte der Hauptmann, und wir werden ſie gleich in ihrer vollenI. 682Kraft und Beſtimmtheit kennen lernen. Die¬ jenigen Naturen, die ſich beym Zuſammen¬ treffen einander ſchnell ergreifen und wechſel¬ ſeitig beſtimmen, nennen wir verwandt. An den Alcalien und Saͤuren, die, obgleich ein¬ ander entgegengeſetzt und vielleicht eben des¬ wegen, weil ſie einander entgegengeſetzt ſind, ſich am entſchiedenſten ſuchen und faſſen, ſich modificiren und zuſammen einen neuen Koͤrper bilden, iſt dieſe Verwandtſchaft auffallend ge¬ nug. Gedenken wir nur des Kalks, der zu allen Saͤuren eine große Neigung, eine ent¬ ſchiedene Vereinigungsluſt aͤußert. Sobald unſer chemiſches Cabinet ankommt, wollen wir Sie verſchiedene Verſuche ſehen laſſen, die ſehr unterhaltend ſind und einen beſſern Begriff geben als Worte, Namen und Kunſtausdruͤcke.

Laſſen Sie mich geſtehen, ſagte Charlotte, wenn Sie dieſe Ihre wunderlichen Weſen verwandt nennen, ſo kommen ſie mir nicht83 ſowohl als Blutsverwandte, vielmehr als Gei¬ ſtes - und Seelenverwandte vor. Auf eben dieſe Weiſe koͤnnen unter Menſchen wahrhaft bedeutende Freundſchaften entſtehen: denn ent¬ gegengeſetzte Eigenſchaften machen eine inni¬ gere Vereinigung moͤglich. Und ſo will ich denn abwarten, was Sie mir von dieſen ge¬ heimnißvollen Wirkungen vor die Augen brin¬ gen werden. Ich will dich ſagte ſie zu Eduard gewendet jetzt im Vorleſen nicht weiter ſtoͤren, und um ſo viel beſſer unter¬ richtet, deinen Vortrag mit Aufmerkſamkeit vernehmen.

Da du uns einmal aufgerufen haſt, ver¬ ſetzte Eduard; ſo kommſt du ſo leicht nicht los: denn eigentlich ſind die verwickelten Faͤlle die intereſſanteſten. Erſt bey dieſen lernt man die Grade der Verwandtſchaften, die naͤhern, ſtaͤrkern, entferntern, geringern Beziehungen kennen; die Verwandtſchaften werden erſt intereſſant, wenn ſie Scheidun¬ gen bewirken.

6 *84

Kommt das traurige Wort, rief Char¬ lotte, das man leider in der Welt jetzt ſo oft hoͤrt, auch in der Naturlehre vor?

Allerdings, erwiederte Eduard. Es war ſogar ein bezeichnender Ehrentitel der Chemi¬ ker, daß man ſie Scheidekuͤnſtler nannte.

Das thut man alſo nicht mehr, verſetzte Charlotte, und thut ſehr wohl daran. Das Vereinigen iſt eine groͤßere Kunſt, ein groͤ¬ ßeres Verdienſt. Ein Einungskuͤnſtler waͤre in jedem Fache der ganzen Welt willkommen. Nun ſo laßt mich denn, weil Ihr doch einmal im Zuge ſeyd, ein Paar ſolche Faͤlle wiſſen.

So ſchließen wir uns denn gleich, ſagte der Hauptmann, an dasjenige wieder an, was wir oben ſchon benannt und beſprochen haben. Z. B. was wir Kalkſtein nennen iſt eine mehr oder weniger reine Kalkerde, innig85 mit einer zarten Saͤure verbunden, die uns in Luftform bekannt geworden iſt. Bringt man ein Stuͤck ſolchen Steines in verduͤnnte Schwefelſaͤure, ſo ergreift dieſe den Kalk und erſcheint mit ihm als Gyps; jene zarte luf¬ tige Saͤure hingegen entflieht. Hier iſt eine Trennung, eine neue Zuſammenſetzung ent¬ ſtanden und man glaubt ſich nunmehr berech¬ tigt, ſogar das Wort Wahlverwandtſchaft an¬ zuwenden, weil es wirklich ausſieht als wenn ein Verhaͤltniß dem andern vorgezogen, eins vor dem andern erwaͤhlt wuͤrde.

Verzeihen Sie mir, ſagte Charlotte, wie ich dem Naturforſcher verzeihe; aber ich wuͤr¬ de hier niemals eine Wahl, eher eine Na¬ turnothwendigkeit erblicken, und dieſe kaum: denn es iſt am Ende vielleicht gar nur die Sache der Gelegenheit. Gelegenheit macht Verhaͤltniſſe wie ſie Diebe macht; und wenn von Ihren Naturkoͤrpern die Rede iſt, ſo ſcheint mir die Wahl blos in den Haͤnden86 des Chemikers zu liegen, der dieſe Weſen zu¬ ſammenbringt. Sind ſie aber einmal bey¬ ſammen, dann gnade ihnen Gott! In dem ge¬ genwaͤrtigen Falle dauert mich nur die arme Luftſaͤure, die ſich wieder im Unendlichen her¬ umtreiben muß.

Es kommt nur auf ſie an, verſetzte der Hauptmann, ſich mit dem Waſſer zu verbin¬ den und als Mineralquelle Geſunden und Kranken zur Erquickung zu dienen.

Der Gyps hat gut reden, ſagte Charlotte, der iſt nun fertig, iſt ein Koͤrper, iſt ver¬ ſorgt, anſtatt daß jenes ausgetriebene Weſen noch manche Noth haben kann bis es wieder unterkommt.

Ich muͤßte ſehr irren, ſagte Eduard laͤ¬ chelnd, oder es ſteckt eine kleine Tuͤcke hinter deinen Reden. Geſteh 'nur deine Schalkheit! Am Ende bin ich in deinen Augen der Kalk,87 der vom Hauptmann, als einer Schwefel¬ ſaͤure ergriffen, deiner anmuthigen Geſellſchaft entzogen und in einen refractaͤren Gyps ver¬ wandelt wird.

Wenn das Gewiſſen, verſetzte Charlotte, dich ſolche Betrachtungen machen heißt; ſo kann ich ohne Sorge ſeyn. Dieſe Gleichni߬ reden ſind artig und unterhaltend, und wer ſpielt nicht gern mit Aehnlichkeiten? Aber der Menſch iſt doch um ſo manche Stufe uͤber jene Elemente erhoͤht, und wenn er hier mit den ſchoͤnen Worten Wahl und Wahlverwandt¬ ſchaft etwas freygebig geweſen; ſo thut er wohl, wieder in ſich ſelbſt zuruͤckzukehren und den Werth ſolcher Ausdruͤcke bey dieſem An¬ laß recht zu bedenken. Mir ſind leider Faͤlle genug bekannt, wo eine innige unaufloͤslich ſcheinende Verbindung zweyer Weſen, durch ge¬ legentliche Zugeſellung eines Dritten, aufgeho¬ ben, und eins der erſt ſo ſchoͤn verbundenen ins loſe Weite hinausgetrieben ward.

88

Da ſind die Chemiker viel galanter, ſagte Eduard: ſie geſellen ein viertes dazu, damit keines leer ausgehe.

Ja wohl! verſetzte der Hauptmann: dieſe Faͤlle ſind allerdings die bedeutendſten und merkwuͤrdigſten, wo man das Anziehen, das Verwandtſeyn, dieſes Verlaſſen, dieſes Ver¬ einigen gleichſam uͤbers Kreuz, wirklich dar¬ ſtellen kann; wo vier, bisher je zwey zu zwey verbundene Weſen in Beruͤhrung gebracht, ihre bisherige Vereinigung verlaſſen und ſich aufs neue verbinden. In dieſem Fahrenlaſſen und Ergreifen, in dieſem Fliehen und Suchen, glaubt man wirklich eine hoͤhere Beſtimmung zu ſehen; man traut ſolchen Weſen eine Art von Wollen und Waͤhlen zu, und haͤlt das Kunſtwort Wahlverwandtſchaften vollkommen gerechtfertigt.

Beſchreiben Sie mir einen ſolchen Fall, ſagte Charlotte.

89

Man ſollte dergleichen, verſetzte der Hauptmann, nicht mit Worten abthun. Wie ſchon geſagt! ſobald ich Ihnen die Verſuche ſelbſt zeigen kann, wird alles anſchaulicher und angenehmer werden. Jetzt muͤßte ich Sie mit ſchrecklichen Kunſtworten hinhalten, die Ihnen doch keine Vorſtellung gaͤben. Man muß dieſe todtſcheinenden und doch zur Thaͤtigkeit innerlich immer bereiten Weſen wirkend vor ſeinen Augen ſehen, mit Theilnahme ſchauen, wie ſie einander ſuchen, ſich anziehen, ergrei¬ fen, zerſtoͤren, verſchlingen, aufzehren und ſodann aus der innigſten Verbindung wieder in erneuter, neuer, unerwarteter Geſtalt her¬ vortreten: dann traut man ihnen erſt ein ewiges Leben, ja wohl gar Sinn und Ver¬ ſtand zu, weil wir unſere Sinne kaum ge¬ nuͤgend fuͤhlen, ſie recht zu beobachten, und unſre Vernunft kaum hinlaͤnglich, ſie zu faſſen.

Ich laͤugne nicht, ſagte Eduard, daß die ſeltſamen Kunſtwoͤrter demjenigen der nicht90 durch ſinnliches Anſchauen, durch Begriffe mit ihnen verſoͤhnt iſt, beſchwerlich, ja laͤcherlich werden muͤſſen. Doch koͤnnten wir leicht mit Buchſtaben einſtweilen das Verhaͤltniß aus¬ druͤcken, wovon hier die Rede war.

Wenn Sie glauben, daß es nicht pedan¬ tiſch ausſieht, verſetzte der Hauptmann, ſo kann ich wohl in der Zeichenſprache mich kuͤrzlich zuſammenfaſſen. Denken ſie ſich ein A, das mit einem B innig verbunden iſt, durch viele Mittel und durch manche Gewalt nicht von ihm zu trennen; denken Sie ſich ein C, das ſich eben ſo zu einem D verhaͤlt; bringen Sie nun die beyden Paare in Beruͤh¬ rung: A wird ſich zu D, C zu B werfen, ohne daß man ſagen kann, wer das andere zuerſt verlaſſen, wer ſich mit dem andern zu¬ erſt wieder verbunden habe.

Nun denn! fiel Eduard ein: bis wir alles dieſes mit Augen ſehen, wollen wir dieſe For¬91 mel als Gleichnißrede betrachten, woraus wir uns eine Lehre zum unmittelbaren Gebrauch ziehen. Du ſtellſt das A vor, Charlotte, und ich dein B: denn eigentlich haͤnge ich doch nur von dir ab und folge dir, wie dem A das B. Das C iſt ganz deutlich der Ca¬ pitain, der mich fuͤr dießmal dir einigermaßen entzieht. Nun iſt es billig, daß wenn du nicht ins Unbeſtimmte entweichen ſollſt, dir fuͤr ein D geſorgt werde, und das iſt ganz ohne Frage das liebenswuͤrdige Daͤmchen Otti¬ lie, gegen deren Annaͤherung du dich nicht laͤnger vertheidigen darfſt.

Gut! verſetzte Charlotte, wenn auch das Beyſpiel, wie mir ſcheint, nicht ganz auf unſern Fall paßt; ſo halte ich es doch fuͤr ein Gluͤck, daß wir heute einmal voͤllig zu¬ ſammentreffen, und daß dieſe Natur - und Wahlverwandtſchaften unter uns eine vertrau¬ liche Mittheilung beſchleunigen. Ich will es alſo nur geſtehen, daß ich ſeit dieſem Nach¬92 mittage entſchloſſen bin, Ottilien zu berufen: denn meine bisherige treue Beſchließerinn und Haushaͤlterinn wird abziehen, weil ſie heiratet. Dieß waͤre von meiner Seite und um meinetwillen; was mich um Ottiliens willen beſtimmt, das wirſt du uns vorleſen. Ich will dir nicht ins Blatt ſehen, aber frey¬ lich iſt mir der Inhalt ſchon bekannt. Doch lies nur, lies! Mit dieſen Worten zog ſie einen Brief hervor und reichte ihn Eduarden.

Fuͤnftes Kapitel.

Brief der Vorſteherinn.

Ew. Gnaden werden verzeihen, wenn ich mich heute ganz kurz faſſe: denn ich habe nach vollendeter oͤffentlicher Pruͤfung deſſen was wir im vergangenen Jahr an unſern Zoͤglingen geleiſtet haben, an die ſaͤmmtlichen Aeltern und Vorgeſetzten den Verlauf zu mel¬ den; auch darf ich wohl kurz ſeyn, weil ich mit Wenigem Viel ſagen kann. Ihre Fraͤu¬ lein Tochter hat ſich in jedem Sinne als die erſte bewieſen. Die beyliegenden Zeugniſſe, ihr eigner Brief, der die Beſchreibung der Preiſe enthaͤlt die ihr geworden ſind, und94 zugleich das Vergnuͤgen ausdruͤckt das ſie uͤber ein ſo gluͤckliches Gelingen empfindet, wird Ihnen zur Beruhigung, ja zur Freude gereichen. Die meinige wird dadurch einiger¬ maßen gemindert, daß ich vorausſehe, wir werden nicht lange mehr Urſache haben ein ſo weit vorgeſchrittenes Frauenzimmer bey uns zuruͤck zu halten. Ich empfehle mich zu Gna¬ den und nehme mir die Freyheit naͤchſtens meine Gedanken uͤber das was ich am vor¬ theilhafteſten fuͤr ſie halte, zu eroͤffnen. Von Ottilien ſchreibt mein freundlicher Gehuͤlfe.

Brief des Gehülfen.

Von Ottilien laͤßt mich unſre ehrwuͤrdige Vorſteherinn ſchreiben, theils weil es ihr, nach ihrer Art zu denken, peinlich waͤre das¬ jenige was zu melden iſt zu melden, theils auch weil ſie ſelbſt einer Entſchuldigung be¬95 darf, die ſie lieber mir in den Mund legen mag.

Da ich nur allzuwohl weiß, wie wenig die gute Ottilie das zu aͤußern im Stande iſt, was in ihr liegt und was ſie vermag; ſo war mir vor der oͤffentlichen Pruͤfung einigermaßen bange, um ſo mehr als uͤberhaupt dabey keine Vorbereitung moͤglich iſt, und auch, wenn es nach der gewoͤhnlichen Weiſe ſeyn koͤnnte, Ottilie auf den Schein nicht vor¬ zubereiten waͤre. Der Ausgang hat meine Sorge nur zu ſehr gerechtfertigt; ſie hat kei¬ nen Preis erhalten und iſt auch unter denen die kein Zeugniß empfangen haben. Was ſoll ich viel ſagen? Im Schreiben hatten andere kaum ſo wohlgeformte Buchſtaben, doch viel freyere Zuͤge; im Rechnen waren alle ſchnel¬ ler, und an ſchwierige Aufgaben, welche ſie beſſer loͤſt, kam es bey der Unterſuchung nicht. Im Franzoͤſiſchen uͤberparlirten und uͤberexpo¬ nirten ſie manche; in der Geſchichte waren ihr96 Namen und Jahrzahlen nicht gleich bey der Hand; bey der Geographie vermißte man Aufmerkſamkeit auf die politiſche Eintheilung. Zum muſicaliſchen Vortrag ihrer wenigen be¬ ſcheidenen Melodieen fand ſich weder Zeit noch Ruhe. Im Zeichnen haͤtte ſie gewiß den Preis davon getragen: ihre Umriſſe waren rein und die Ausfuͤhrung bey vieler Sorgfalt geiſtreich. Leider hatte ſie etwas zu Großes unternommen und war nicht fertig geworden.

Als die Schuͤlerinnen abgetreten waren, die Pruͤfenden zuſammen Rath hielten und uns Lehrern wenigſtens einiges Wort dabey goͤnnten, merkte ich wohl bald, daß von Ot¬ tilien gar nicht, und wenn es geſchah, wo nicht mit Misbilligung doch mit Gleichguͤltig¬ keit geſprochen wurde. Ich hoffte durch eine offne Darſtellung ihrer Art zu ſeyn, einige Gunſt zu erregen, und wagte mich daran mit doppeltem Eifer, einmal weil ich nach meiner Ueberzeugung ſprechen konnte, und97 ſodann weil ich mich in juͤngeren Jahren in eben demſelben traurigen Fall befunden hatte. Man hoͤrte mich mit Aufmerkſamkeit an; doch als ich geendigt hatte, ſagte mir der vorſitzende Pruͤfende zwar freundlich aber la¬ coniſch: Faͤhigkeiten werden vorausgeſetzt, ſie ſollen zu Fertigkeiten werden. Dieß iſt der Zweck aller Erziehung, dieß iſt die laute deut¬ liche Abſicht der Aeltern und Vorgeſetzten, die ſtille nur halbbewußte der Kinder ſelbſt. Dieß iſt auch der Gegenſtand der Pruͤfung, wobey zugleich Lehrer und Schuͤler beurtheilt wer¬ den. Aus dem was wir von Ihnen verneh¬ men, ſchoͤpfen wir gute Hoffnung von dem Kinde, und Sie ſind allerdings lobenswuͤrdig, indem Sie auf die Faͤhigkeiten der Schuͤle¬ rinnen genau Acht geben. Verwandeln Sie ſolche bis uͤbers Jahr in Fertigkeiten, ſo wird es Ihnen und Ihrer beguͤnſtigten Schuͤlerinn nicht an Beyfall mangeln.

In das was hierauf folgte hatte ich mich ſchon ergeben; aber ein noch Uebleres nichtI. 798befuͤrchtet, das ſich bald darauf zutrug. Un¬ ſere gute Vorſteherinn, die wie ein guter Hirte auch nicht eins von ihren Schaͤfchen verloren, oder wie es hier der Fall war, un¬ geſchmuͤckt ſehen moͤchte, konnte, nachdem die Herren ſich entfernt hatten, ihren Unwillen nicht bergen und ſagte zu Ottilien, die ganz ruhig, indem die andern ſich uͤber ihre Preiſe freuten, am Fenſter ſtand: aber ſagen Sie mir, ums Himmelswillen! wie kann man ſo dumm ausſehen, wenn man es nicht iſt? Ottilie verſetzte ganz gelaſſen: verzeihen Sie, liebe Mutter; ich habe gerade heute wieder mein Kopfweh und ziemlich ſtark. Das kann niemand wiſſen! verſetzte die ſonſt ſo theil¬ nehmende Frau und kehrte ſich verdrießlich um.

Nun es iſt wahr: Niemand kann es wiſ¬ ſen; denn Ottilie veraͤndert das Geſicht nicht, und ich habe auch nicht geſehen, daß ſie ein¬ mal die Hand nach dem Schlafe zu bewegt haͤtte.

99

Das war noch nicht alles. Ihre Fraͤu¬ lein Tochter, gnaͤdige Frau, ſonſt lebhaft und freymuͤthig, war im Gefuͤhl ihres heutigen Triumphs ausgelaſſen und uͤbermuͤthig. Sie ſprang mit ihren Preiſen und Zeugniſſen in den Zimmern herum, und ſchuͤttelte ſie auch Ottilien vor dem Geſicht. Du biſt heute ſchlecht gefahren! rief ſie aus. Ganz gelaſſen antwortete Ottilie: es iſt noch nicht der letzte Pruͤfungstag. Und doch wirſt du immer die letzte bleiben! rief die Fraͤulein und ſprang hinweg.

Ottilie ſchien gelaſſen fuͤr jeden andern, nur nicht fuͤr mich. Eine innre unangenehme lebhafte Bewegung, der ſie widerſteht, zeigt ſich durch eine ungleiche Farbe des Geſichts. Die linke Wange wird auf einen Augenblick roth, indem die rechte bleich wird. Ich ſah dieß Zeichen und meine Theilnehmung konnte ſich nicht zuruͤckhalten. Ich fuͤhrte unſre Vor¬ ſteherinn bey Seite, ſprach ernſthaft mit ihr7 *100uͤber die Sache. Die treffliche Frau erkannte ihren Fehler. Wir beriethen, wir beſprachen uns lange, und ohne deshalb weitlaͤufiger zu ſeyn, will ich Ew. Gnaden unſern Beſchluß und unſre Bitte vortragen: Ottilien auf ei¬ nige Zeit zu ſich zu nehmen. Die Gruͤnde werden Sie ſich ſelbſt am beſten entfalten. Beſtimmen Sie ſich hiezu, ſo ſage ich mehr uͤber die Behandlung des guten Kindes. Ver¬ laͤßt uns dann Ihre Fraͤulein Tochter, wie zu vermuthen ſteht; ſo ſehen wir Ottilien mit Freuden zuruͤckkehren.

Noch eins, das ich vielleicht in der Folge vergeſſen koͤnnte: ich habe nie geſehen, daß Ottilie etwas verlangt, oder gar um etwas dringend gebethen haͤtte. Dagegen kommen Faͤlle, wiewohl ſelten, daß ſie etwas abzuleh¬ nen ſucht was man von ihr fordert. Sie thut das mit einer Gebaͤrde, die fuͤr den der den Sinn davon gefaßt hat unwiderſtehlich iſt. Sie druͤckt die flachen Haͤnde, die ſie in101 die Hoͤhe hebt, zuſammen und fuͤhrt ſie ge¬ gen die Bruſt, indem ſie ſich nur wenig vor¬ waͤrts neigt und den dringend Fordernden mit einem ſolchen Blick anſieht, daß er gern von allem abſteht was er verlangen oder wuͤn¬ ſchen moͤchte. Sehen Sie jemals dieſe Ge¬ baͤrde, gnaͤdige Frau, wie es bey Ihrer Be¬ handlung nicht wahrſcheinlich iſt; ſo gedenken Sie meiner und ſchonen Ottilien.

Eduard hatte dieſe Briefe vorgeleſen, nicht ohne Laͤcheln und Kopfſchuͤtteln. Auch konnte es an Bemerkungen uͤber die Perſonen und uͤber die Lage der Sache nicht fehlen.

Genug! rief Eduard endlich aus: es iſt entſchieden, ſie kommt! Fuͤr dich waͤre geſorgt, meine Liebe, und wir duͤrfen nun auch mit un¬ ſerm Vorſchlag hervorruͤcken. Es wird hoͤchſt noͤthig, daß ich zu dem Hauptmann auf den rechten Fluͤgel hinuͤber ziehe. Sowohl Abends als Morgens iſt erſt die rechte Zeit zuſam¬102 men zu arbeiten. Du erhaͤltſt dagegen fuͤr dich und Ottilien auf deiner Seite den ſchoͤnſten Raum.

Charlotte ließ ſich's gefallen, und Eduard ſchilderte ihre kuͤnftige Lebensart. Unter an¬ dern rief er aus: es iſt doch recht zuvorkom¬ mend von der Nichte, ein wenig Kopfweh auf der linken Seite zu haben; ich habe es manchmal auf der rechten. Trifft es zuſam¬ men und wir ſitzen gegeneinander, ich auf den rechten Elbogen, ſie auf den linken ge¬ ſtuͤtzt, und die Koͤpfe nach verſchiedenen Sei¬ ten in die Hand gelegt; ſo muß das ein Paar artige Gegenbilder geben.

Der Hauptmann wollte das gefaͤhrlich fin¬ den; Eduard hingegen rief aus: nehmen Sie ſich nur, lieber Freund, vor dem D in Acht! Was ſollte B denn anfangen, wenn ihm C entriſſen wuͤrde?

103

Nun, ich daͤchte doch, verſetzte Charlotte, das verſtuͤnde ſich von ſelbſt.

Freylich, rief Eduard: es kehrte zu ſei¬ nem A zuruͤck, zu ſeinem A und O! rief er, indem er aufſprang und Charlotten feſt an ſeine Bruſt druͤckte.

Sechſtes Kapitel.

Ein Wagen der Ottilien brachte war an¬ gefahren. Charlotte ging ihr entgegen; das liebe Kind eilte ſich ihr zu naͤhern, warf ſich ihr zu Fuͤßen und umfaßte ihre Kniee.

Wozu die Demuͤthigung! ſagte Charlotte, die einigermaßen verlegen war und ſie aufhe¬ ben wollte. Es iſt ſo demuͤthig nicht gemeynt, verſetzte Ottilie, die in ihrer vorigen Stel¬ lung blieb. Ich mag mich nur ſo gern jener Zeit erinnern, da ich noch nicht hoͤher reichte als bis an Ihre Kniee und Ihrer Liebe ſchon ſo gewiß war.

105

Sie ſtand auf und Charlotte umarmte ſie herzlich. Sie ward den Maͤnnern vorgeſtellt und gleich mit beſonderer Achtung als Gaſt behandelt. Schoͤnheit iſt uͤberall ein gar will¬ kommner Gaſt. Sie ſchien aufmerkſam auf das Geſpraͤch, ohne daß ſie daran Theil ge¬ nommen haͤtte.

Den andern Morgen ſagte Eduard zu Charlotten: es iſt ein angenehmes unterhal¬ tendes Maͤdchen.

Unterhaltend? verſetzte Charlotte mit Laͤ¬ cheln: ſie hat ja den Mund noch nicht auf¬ gethan.

So? erwiederte Eduard, indem er ſich zu beſinnen ſchien: das waͤre doch wunderbar!

Charlotte gab dem neuen Ankoͤmmling nur wenige Winke, wie es mit dem Hausgeſchaͤfte zu halten ſey. Ottilie hatte ſchnell die ganze106 Ordnung eingeſehen, ja was noch mehr iſt, empfunden. Was ſie fuͤr alle, fuͤr einen Je¬ den insbeſondre zu beſorgen hatte, begriff ſie leicht. Alles geſchah puͤnctlich. Sie wußte anzuordnen, ohne daß ſie zu befehlen ſchien, und wo Jemand ſaͤumte, verrichtete ſie das Geſchaͤft gleich ſelbſt.

Sobald ſie gewahr wurde, wie viel Zeit ihr uͤbrig blieb, bat ſie Charlotten ihre Stun¬ den eintheilen zu duͤrfen, die nun genau be¬ obachtet wurden. Sie arbeitete das Vorge¬ ſetzte auf eine Art, von der Charlotte durch den Gehuͤlfen unterrichtet war. Man ließ ſie gewaͤhren. Nur zuweilen ſuchte Charlotte ſie anzuregen. So ſchob ſie ihr manchmal abgeſchriebene Federn unter, um ſie auf einen freyeren Zug der Handſchrift zu leiten; aber auch dieſe waren bald wieder ſcharf geſchnitten.

Die Frauenzimmer hatten untereinander feſtgeſetzt, franzoͤſiſch zu reden wenn ſie allein107 waͤren; und Charlotte beharrte um ſo mehr dabey, als Ottilie geſpraͤchiger in der frem¬ den Sprache war, indem man ihr die Uebung derſelben zur Pflicht gemacht hatte. Hier ſagte ſie oft mehr als ſie zu wollen ſchien. Beſonders ergetzte ſich Charlotte an einer zu¬ faͤlligen, zwar genauen aber doch liebevollen Schilderung der ganzen Penſionsanſtalt. Ot¬ tilie ward ihr eine liebe Geſellſchafterinn, und ſie hoffte dereinſt an ihr eine zuverlaͤſſige Freundinn zu finden.

Charlotte nahm indeß die aͤlteren Papiere wieder vor, die ſich auf Ottilien bezogen, um ſich in Erinnerung zu bringen, was die Vor¬ ſteherinn, was der Gehuͤlfe uͤber das gute Kind geurtheilt, um es mit ihrer Perſoͤnlich¬ keit ſelbſt zu vergleichen. Denn Charlotte war der Meynung, man koͤnne nicht geſchwind genug mit dem Character der Menſchen be¬ kannt werden, mit denen man zu leben hat, um zu wiſſen, was ſich von ihnen erwarten,108 was ſich an ihnen bilden laͤßt, oder was man ihnen ein fuͤr allemal zugeſtehen und verzei¬ hen muß.

Sie fand zwar bey dieſer Unterſuchung nichts neues, aber manches Bekannte ward ihr bedeutender und auffallender. So konnte ihr z. B. Ottiliens Maͤßigkeit im Eſſen und Trinken wirklich Sorge machen.

Das naͤchſte was die Frauen beſchaͤftigte war der Anzug. Charlotte verlangte von Ot¬ tilien, ſie ſolle in Kleidern reicher und mehr ausgeſucht erſcheinen. Sogleich ſchnitt das gute thaͤtige Kind die ihr fruͤher geſchenkten Stoffe ſelbſt zu und wußte ſie ſich, mit ge¬ ringer Beyhuͤlfe anderer, ſchnell und hoͤchſt zierlich anzupaſſen. Die neuen, modiſchen Gewaͤnder erhoͤhten ihre Geſtalt: denn indem das Angenehme einer Perſon ſich auch uͤber ihre Huͤlle verbreitet, ſo glaubt man ſie im¬ mer wieder von neuem und anmuthiger zu109 ſehen, wenn ſie ihre Eigenſchaften einer neuen Umgebung mittheilt.

Dadurch ward ſie den Maͤnnern, wie von Anfang ſo immer mehr, daß wir es nur mit dem rechten Namen nennen, ein wahrer Au¬ gentroſt. Denn wenn der Smaragd durch ſeine herrliche Farbe dem Geſicht wohl thut, ja ſogar einige Heilkraft an dieſem edlen Sinn ausuͤbt; ſo wirkt die menſchliche Schoͤnheit noch mit weit groͤßerer Gewalt auf den aͤu¬ ßern und inneren Sinn. Wer ſie erblickt, den kann nichts uͤbles anwehen; er fuͤhlt ſich mit ſich ſelbſt und mit der Welt in Ueber¬ einſtimmung.

Auf manche Weiſe hatte daher die Ge¬ ſellſchaft durch Ottiliens Ankunft gewonnen. Die beyden Freunde hielten regelmaͤßiger die Stunden, ja die Minuten der Zuſammen¬ kuͤnfte. Sie ließen weder zum Eſſen, noch zum Thee, noch zum Spaziergang laͤnger als110 billig auf ſich warten. Sie eilten, beſonders Abends, nicht ſobald von Tiſche weg. Char¬ lotte bemerkte das wohl und ließ beyde nicht unbeobachtet. Sie ſuchte zu erforſchen, ob einer vor dem andern hiezu den Anlaß gaͤbe; aber ſie konnte keinen Unterſchied bemerken. Beyde zeigten ſich uͤberhaupt geſelliger. Bey ihren Unterhaltungen ſchienen ſie zu bedenken, was Ottiliens Theilnahme zu erregen geeignet ſeyn moͤchte, was ihren Einſichten, ihren uͤbri¬ gen Kenntniſſen gemaͤß waͤre. Beym Leſen und Erzaͤhlen hielten ſie inne, bis ſie wieder¬ kam. Sie wurden milder und im Ganzen mittheilender.

In Erwiederung dagegen wuchs die Dienſt¬ befliſſenheit Ottiliens mit jedem Tage. Je mehr ſie das Haus, die Menſchen, die Ver¬ haͤltniſſe kennen lernte, deſto lebhafter griff ſie ein, deſto ſchneller verſtand ſie jeden Blick, jede Bewegung, ein halbes Wort, einen Laut. Ihre ruhige Aufmerkſamkeit blieb ſich immer111 gleich, ſo wie ihre gelaſſene Regſamkeit. Und ſo war ihr Sitzen, Aufſtehen, Gehen, Kom¬ men, Hohlen, Bringen, wieder Niederſitzen, ohne einen Schein von Unruhe ein ewiger Wechſel, eine ewige angenehme Bewegung. Dazu kam, daß man ſie nicht gehen hoͤrte, ſo leiſe trat ſie auf.

Dieſe anſtaͤndige Dienſtfertigkeit Ottiliens machte Charlotten viele Freude. Ein einziges was ihr nicht ganz angemeſſen vorkam, ver¬ barg ſie Ottilien nicht. Es gehoͤrt, ſagte ſie eines Tages zu ihr, unter die lobenswuͤrdi¬ gen Aufmerkſamkeiten, daß wir uns ſchnell buͤcken, wenn Jemand etwas aus der Hand fallen laͤßt, und es eilig aufzuheben ſuchen. Wir bekennen uns dadurch ihm gleichſam dienſtpflichtig; nur iſt in der groͤßern Welt dabey zu bedenken, wem man eine ſolche Er¬ gebenheit bezeigt. Gegen Frauen will ich dir daruͤber keine Geſetze vorſchreiben. Du biſt jung. Gegen Hoͤhere und Aeltere iſt es112 Schuldigkeit, gegen deines Gleichen Artig¬ keit, gegen Juͤngere und Niedere zeigt man ſich dadurch menſchlich und gut; nur will es einem Frauenzimmer nicht wohl geziemen, ſich Maͤnnern auf dieſe Weiſe ergeben und dienſtbar zu bezeigen.

Ich will es mir abzugewoͤhnen ſuchen, verſetzte Ottilie. Indeſſen werden Sie mir dieſe Unſchicklichkeit vergeben, wenn ich Ih¬ nen ſage, wie ich dazu gekommen bin. Man hat uns die Geſchichte gelehrt; ich habe nicht ſo viel daraus behalten, als ich wohl geſollt haͤtte: denn ich wußte nicht wozu ich's brau¬ chen wuͤrde. Nur einzelne Begebenheiten ſind mir ſehr eindruͤcklich geweſen; ſo fol¬ gende:

Als Carl der Erſte von England vor ſei¬ nen ſogenannten Richtern ſtand, fiel der goldne Knopf des Stoͤckchens das er trug herunter. Gewohnt, daß bey ſolchen Gelegenheiten ſich113 alles fuͤr ihn bemuͤhte, ſchien er ſich umzu¬ ſehen und zu erwarten, daß ihm Jemand auch dießmal den kleinen Dienſt erzeigen ſollte. Es regte ſich Niemand; er buͤckte ſich ſelbſt, um den Knopf aufzuheben. Mir kam das ſo ſchmerzlich vor, ich weiß nicht ob mit Recht, daß ich von jenem Augenblick an Niemanden kann etwas aus den Haͤnden fal¬ len ſehn, ohne mich darnach zu buͤcken. Da es aber freylich nicht immer ſchicklich ſeyn mag, und ich, fuhr ſie laͤchelnd fort, nicht jederzeit meine Geſchichte erzaͤhlen kann; ſo will ich mich kuͤnftig mehr zuruͤckhalten.

Indeſſen hatten die guten Anſtalten, zu denen ſich die beyden Freunde berufen fuͤhl¬ ten, ununterbrochenen Fortgang. Ja taͤglich fanden ſie neuen Anlaß etwas zu bedenken und zu unternehmen.

Als ſie eines Tages zuſammen durch das Dorf gingen, bemerkten ſie mißfaͤllig, wieI. 8114weit es an Ordnung und Reinlichkeit hinter jenen Doͤrfern zuruͤckſtehe, wo die Bewohner durch die Koſtbarkeit des Raums auf beydes hingewieſen werden.

Du erinnerſt dich, ſagte der Hauptmann, wie wir auf unſerer Reiſe durch die Schweiz den Wunſch aͤußerten, eine laͤndliche ſogenannte Parkanlage recht eigentlich zu verſchoͤnern, in¬ dem wir ein ſo gelegenes Dorf, nicht zur Schweizer-Bauart, ſondern zur Schweizer - Ordnung und Sauberkeit, welche die Benu¬ tzung ſo ſehr befoͤrdern, einrichteten.

Hier z. B., verſetzte Eduard, ginge das wohl an. Der Schloßberg verlaͤuft ſich in einen vorſpringenden Winkel herunter; das Dorf iſt ziemlich regelmaͤßig im Halbzirkel ge¬ genuͤber gebaut; dazwiſchen fließt der Bach, gegen deſſen Anſchwellen ſich der eine mit Steinen, der andre mit Pfaͤhlen, wieder ei¬ ner mit Balken, und der Nachbar ſodann115 mit Planken verwahren will, keiner aber den andern foͤrdert, vielmehr ſich und den uͤbrigen Schaden und Nachtheil bringt. So geht der Weg auch in ungeſchickter Bewegung bald herauf, bald herab, bald durchs Waſſer, bald uͤber Steine. Wollten die Leute mit Hand anlegen, ſo wuͤrde kein großer Zuſchuß noͤthig ſeyn, um hier eine Mauer im Halbkreis auf¬ zufuͤhren, den Weg dahinter bis an die Haͤu¬ ſer zu erhoͤhen, den ſchoͤnſten Raum herzu¬ ſtellen, der Reinlichkeit Platz zu geben und durch eine ins Große gehende Anſtalt alle kleine unzulaͤngliche Sorge auf einmal zu ver¬ bannen.

Laß es uns verſuchen, ſagte der Haupt¬ mann, indem er die Lage mit den Augen uͤberlief und ſchnell beurtheilte.

Ich mag mit Buͤrgern und Bauern nichts zu thun haben, wenn ich ihnen nicht geradezu befehlen kann, verſetzte Eduard.

8 *116

Du haſt ſo Unrecht nicht, erwiederte der Hauptmann: denn auch mir machten derglei¬ chen Geſchaͤfte im Leben ſchon viel Verdruß. Wie ſchwer iſt es, daß der Menſch recht ab¬ waͤge, was man aufopfern muß gegen das was zu gewinnen iſt! wie ſchwer, den Zweck zu wollen und die Mittel nicht zu verſchmaͤ¬ hen! Viele verwechſeln gar die Mittel und den Zweck, erfreuen ſich an jenen, ohne die¬ ſen im Auge zu behalten. Jedes Uebel ſoll an der Stelle geheilt werden, wo es zum Vorſchein kommt, und man bekuͤmmert ſich nicht um jenen Punct, wo es eigentlich ſeinen Urſprung nimmt, woher es wirkt. Deswe¬ gen iſt es ſo ſchwer Rath zu pflegen, beſon¬ ders mit der Menge, die im Taͤglichen ganz verſtaͤndig iſt, aber ſelten weiter ſieht als auf Morgen. Kommt nun gar dazu, daß der eine bey einer gemeinſamen Anſtalt gewinnen, der andre verlieren ſoll, da iſt mit Vergleich nun gar nichts auszurichten. Alles eigentlich117 gemeinſame Gute muß durch das unumſchraͤnkte Majeſtaͤtsrecht gefoͤrdert werden.

Indem ſie ſtanden und ſprachen, bettelte ſie ein Menſch an, der mehr frech als be¬ duͤrftig ausſah. Eduard, ungern unterbrochen und beunruhigt, ſchalt ihn, nachdem er ihn einigemal vergebens gelaſſener abgewieſen hatte; als aber der Kerl ſich murrend, ja gegen¬ ſcheltend, mit kleinen Schritten entfernte, auf die Rechte des Bettlers trotzte, dem man wohl ein Almoſen verſagen, ihn aber nicht beleidigen duͤrfe, weil er ſo gut wie jeder an¬ dere unter dem Schutze Gottes und der Obrig¬ keit ſtehe, kam Eduard ganz aus der Faſſung.

Der Hauptmann, ihn zu beguͤtigen, ſagte darauf: laß uns dieſen Vorfall als eine Auf¬ forderung annehmen, unſere laͤndliche Polizey auch hieruͤber zu erſtrecken. Almoſen muß man einmal geben; man thut aber beſſer, wenn man ſie nicht ſelbſt giebt, beſonders zu Hauſe. 118Da ſollte man maͤßig und gleichfoͤrmig in al¬ lem ſeyn, auch im Wohlthun. Eine allzu¬ reichliche Gabe lockt Bettler herbey, anſtatt ſie abzufertigen; dagegen man wohl auf der Reiſe, im Vorbeyfliegen, einem Armen an der Straße in der Geſtalt des zufaͤlligen Gluͤcks erſcheinen und ihm eine uͤberraſchende Gabe zuwerfen mag. Uns macht die Lage des Dorfes, des Schloſſes, eine ſolche An¬ ſtalt ſehr leicht; ich habe ſchon fruͤher daruͤber nachgedacht.

An dem einen Ende des Dorfes liegt das Wirthshaus, an dem andern wohnen ein Paar alte gute Leute; an beyden Orten mußt du eine kleine Geldſumme niederlegen. Nicht der ins Dorf hereingehende, ſondern der hinaus¬ gehende erhaͤlt etwas; und da die beyden Haͤu¬ ſer zugleich an den Wegen ſtehen die auf das Schloß fuͤhren, ſo wird auch alles was ſich hinaufwenden wollte, an die beyden Stellen gewieſen.

119

Komm, ſagte Eduard, wir wollen das gleich abmachen; das Genauere koͤnnen wir immer noch nachhohlen.

Sie gingen zum Wirth und zu dem alten Paare, und die Sache war abgethan.

Ich weiß recht gut, ſagte Eduard, indem ſie zuſammen den Schloßberg wieder hinauf¬ ſtiegen, daß alles in der Welt ankommt auf einen geſcheiden Einfall und auf einen feſten Entſchluß. So haſt du die Parkanlagen mei¬ ner Frau ſehr richtig beurtheilt, und mir auch ſchon einen Wink zum Beſſern gegeben, den ich ihr, wie ich gar nicht laͤugnen will, ſo¬ gleich mitgetheilt habe.

Ich konnte es vermuthen, verſetzte der Hauptmann, aber nicht billigen. Du haſt ſie irre gemacht; ſie laͤßt alles liegen und trutzt in dieſer einzigen Sache mit uns: denn ſie vermeidet davon zu reden und hat uns nicht120 wieder zur Mooshuͤtte geladen, ob ſie gleich mit Ottilien in den Zwiſchenſtunden hinauf¬ geht.

Dadurch muͤſſen wir uns, verſetzte Eduard, nicht abſchrecken laſſen. Wenn ich von et¬ was Gutem uͤberzeugt bin, was geſchehen koͤnnte und ſollte, ſo habe ich keine Ruhe bis ich es gethan ſehe. Sind wir doch ſonſt klug etwas einzuleiten. Laß uns die engli¬ ſchen Parkbeſchreibungen mit Kupfern zur Abendunterhaltung vornehmen, nachher deine Guts-Charte. Man muß es erſt problema¬ tiſch und nur wie zum Scherz behandeln, der Ernſt wird ſich ſchon finden.

Nach dieſer Verabredung wurden die Buͤ¬ cher aufgeſchlagen, worin man jedesmal den Grundriß der Gegend und ihre landſchaftliche Anſicht in ihrem erſten rohen Naturzuſtande gezeichnet ſah, ſodann auf andern Blaͤttern die Veraͤnderung vorgeſtellt fand, welche die121 Kunſt daran vorgenommen, um alles das be¬ ſtehende Gute zu nutzen und zu ſteigern. Hie¬ von war der Uebergang zur eigenen Beſitzung, zur eignen Umgebung, und zu dem was man daran ausbilden koͤnnte, ſehr leicht.

Die von dem Hauptmann entworfene Charte zum Grunde zu legen war nunmehr eine angenehme Beſchaͤftigung, nur konnte man ſich von jener erſten Vorſtellung, nach der Charlotte die Sache einmal angefangen hatte, nicht ganz losreißen. Doch erfand man einen leichtern Aufgang auf die Hoͤhe; man wollte oberwaͤrts am Abhange vor einem angenehmen Hoͤlzchen ein Luſtgebaͤude auf¬ fuͤhren; dieſes ſollte einen Bezug aufs Schloß haben, aus den Schloßfenſtern ſollte man es uͤberſehen, von dorther Schloß und Gaͤrten wieder beſtreichen koͤnnen.

Der Hauptmann hatte alles wohl uͤber¬ legt und gemeſſen, und brachte jenen Dorf¬122 weg, jene Mauer am Bache her, jene Aus¬ fuͤllung wieder zur Sprache. Ich gewinne, ſagte er, indem ich einen bequemen Weg zur Anhoͤhe hinauf fuͤhre, gerade ſoviel Steine, als ich zu jener Mauer bedarf. Sobald eins ins andre greift, wird beydes wohlfeiler und geſchwinder bewerkſtelligt.

Nun aber, ſagte Charlotte, kommt meine Sorge. Nothwendig muß etwas Beſtimmtes ausgeſetzt werden; und wenn man weiß, wieviel zu einer ſolchen Anlage erforderlich iſt, dann theilt man es ein, wo nicht auf Wochen, doch wenigſtens auf Monate. Die Kaſſe iſt unter meinem Beſchluß; ich zahle die Zettel, und die Rechnung fuͤhre ich ſelbſt.

Du ſcheinſt uns nicht ſonderlich viel zu vertrauen, ſagte Eduard.

Nicht viel in willkuͤhrlichen Dingen, ver¬ ſetzte Charlotte. Die Willkuͤhr wiſſen wir beſſer zu beherrſchen als ihr.

123

Die Einrichtung war gemacht, die Arbeit raſch angefangen, der Hauptmann immer ge¬ genwaͤrtig, und Charlotte nunmehr faſt taͤg¬ lich Zeuge ſeines ernſten und beſtimmten Sin¬ nes. Auch er lernte ſie naͤher kennen, und beyden wurde es leicht, zuſammen zu wirken und etwas zu Stande zu bringen.

Es iſt mit den Geſchaͤften wie mit dem Tanze; Perſonen die gleichen Schritt halten, muͤſſen ſich unentbehrlich werden; ein wech¬ ſelſeitiges Wohlwollen muß nothwendig dar¬ aus entſpringen, und daß Charlotte dem Hauptmann, ſeitdem ſie ihn naͤher kennen ge¬ lernt, wirklich wohlwollte, davon war ein ſiche¬ rer Beweis, daß ſie ihn einen ſchoͤnen Ruhe¬ platz, den ſie bey ihren erſten Anlagen beſonders ausgeſucht und verziert hatte, der aber ſeinem Plane entgegenſtand, ganz gelaſſen zerſtoͤren ließ, ohne auch nur die mindeſte unangeneh¬ me Empfindung dabey zu haben.

Siebentes Kapitel.

Indem nun Charlotte mit dem Haupt¬ mann eine gemeinſame Beſchaͤftigung fand, ſo war die Folge, daß ſich Eduard mehr zu Ottilien geſellte. Fuͤr ſie ſprach ohnehin ſeit einiger Zeit eine ſtille freundliche Neigung in ſeinem Herzen. Gegen Jedermann war ſie dienſtfertig und zuvorkommend; daß ſie es ge¬ gen ihn am meiſten ſey, das wollte ſeiner Selbſtliebe ſcheinen. Nun war keine Frage: was fuͤr Speiſen und wie er ſie liebte, hatte ſie ſchon genau bemerkt; wieviel er Zucker zum Thee zu nehmen pflegte, und was der¬ gleichen mehr iſt, entging ihr nicht. Beſon¬ ders war ſie ſorgfaͤltig, alle Zugluft abzuweh¬ ren, gegen die er eine uͤbertriebene Empfind¬125 lichkeit zeigte, und deshalb mit ſeiner Frau, der es nicht luſtig genug ſeyn konnte, manch¬ mal in Widerſpruch gerieth. Eben ſo wußte ſie im Baum - und Blumengarten Beſcheid. Was er wuͤnſchte ſuchte ſie zu befoͤrdern, was ihn ungeduldig machen konnte, zu verhuͤthen, dergeſtalt, daß ſie in kurzem wie ein freund¬ licher Schutzgeiſt ihm unentbehrlich ward und er anfing ihre Abweſenheit ſchon peinlich zu empfinden. Hiezu kam noch, daß ſie ge¬ ſpraͤchiger und offner ſchien ſobald ſie ſich allein trafen.

Eduard hatte bey zunehmenden Jahren immer etwas Kindliches behalten, das der Jugend Ottiliens beſonders zuſagte. Sie er¬ innerten ſich gern fruͤherer Zeiten, wo ſie ein¬ ander geſehen; es ſtiegen dieſe Erinnerungen bis in die erſten Epochen der Neigung Eduards zu Charlotten. Ottilie wollte ſich der beyden noch als des ſchoͤnſten Hofpaares erinnern; und wenn Eduard ihr ein ſolches Gedaͤchtniß126 aus ganz fruͤher Jugend abſprach, ſo behaup¬ tete ſie doch beſonders einen Fall noch vollkom¬ men gegenwaͤrtig zu haben, wie ſie ſich ein¬ mal, bey ſeinem Hereintreten, in Charlottens Schooß verſteckt, nicht aus Furcht, ſondern aus kindiſcher Ueberraſchung. Sie haͤtte da¬ zu ſetzen koͤnnen: weil er ſo lebhaften Ein¬ druck auf ſie gemacht, weil er ihr gar ſo wohl gefallen.

Bey ſolchen Verhaͤltniſſen waren manche Geſchaͤfte, welche die beyden Freunde zuſam¬ men fruͤher vorgenommen, gewiſſermaßen in Stocken gerathen, ſo daß ſie fuͤr noͤthig fan¬ den ſich wieder eine Ueberſicht zu verſchaffen, einige Aufſaͤtze zu entwerfen, Briefe zu ſchrei¬ ben. Sie beſtellten ſich deshalb auf ihre Canzley, wo ſie den alten Copiſten muͤßig fanden. Sie gingen an die Arbeit und ga¬ ben ihm bald zu thun, ohne zu bemerken, daß ſie ihm manches aufbuͤrdeten, was ſie ſonſt ſelbſt zu verrichten gewohnt waren. 127Gleich der erſte Aufſatz wollte dem Haupt¬ mann, gleich der erſte Brief Eduarden nicht gelingen. Sie quaͤlten ſich eine Zeit lang mit Concipiren und Umſchreiben, bis endlich Eduard, dem es am wenigſten von ſtatten ging, nach der Zeit fragte.

Da zeigte ſich denn, daß der Hauptmann vergeſſen hatte ſeine chronometriſche Secunden - Uhr aufzuziehen, das erſtemal ſeit vielen Jah¬ ren; und ſie ſchienen, wo nicht zu empfin¬ den, doch zu ahnden, daß die Zeit anfange ihnen