Das Schauſpiel dauerte ſehr lange. Die alte Barbara trat einigemal ans Fenſter und horchte, ob die Kutſchen nicht raſſeln wollten. Sie erwartete Marianen, ihre ſchöne Gebie¬ terin, die heute im Nachſpiele, als junger Officier gekleidet, das Publikum entzückte, mit größerer Ungedult, als ſonſt, wenn ſie ihr nur ein mäßiges Abendeſſen vorzuſetzen hatte; diesmal ſollte ſie mit einem Packet überraſcht werden, das Norberg, ein junger reicher Kaufmann, durch den Poſtwagen ge¬ ſchickt hatte, um zu zeigen, daß er auch in der Entfernung ſeiner Geliebten gedenke.
A 24Barbara war als alte Dienerin, Ver¬ traute, Rathgeberin, Unterhändlerin und Haushälterin im Beſitz, die Siegel zu er¬ öffnen und auch dieſen Abend konnte ſie ihrer Neugierde um ſo weniger widerſtehen, als ihr die Gunſt des freygebigen Liebhabers mehr als ſelbſt Marianen am Herzen lag. Zu ihrer größten Freude hatte ſie in dem Packete ein feines Stück Neſſeltuch und die neuſten Bänder für Marianen, für ſich aber ein Stück Kattun, Halstücher und ein Röll¬ chen Geld gefunden. Mit welcher Neigung, welcher Dankbarkeit erinnerte ſie ſich des abweſenden Norbergs! wie lebhaft nahm ſie ſich vor, auch bey Marianen ſeiner im beſten zu gedenken, ſie zu erinnern, was ſie ihm ſchuldig ſey und was er von ihrer Treue hof¬ fen und erwarten müſſe.
Das Neſſeltuch, durch die Farbe der halb¬ aufgerollten Bänder belebt, lag wie ein5 Chriſtgeſchenk auf dem Tiſchchen; die Stel¬ lung der Lichter erhöhte den Glanz der Gabe, alles war in Ordnung, als die Alte den Tritt Marianens auf der Treppe vernahm, und ihr entgegen eilte. Aber wie ſehr ver¬ wundert trat ſie zurück, als das weibliche Officierchen, ohne auf ihre Liebkoſungen zu achten, ſich an ihr vorbey drängte, mit un¬ gewöhnlicher Haſt und Bewegung in das Zimmer trat, Federhut und Degen auf den Tiſch warf, unruhig auf und nieder ging und den feyerlich angezündeten Lichtern kei¬ nen Blick gönnte.
Was haſt du, Liebchen? rief die Alte verwundert aus. Ums Himmelswillen, Töch¬ terchen, was giebts? Sieh hier dieſe Geſchen¬ ke! Von wem können ſie ſeyn, als von dei¬ nem zärtlichſten Freunde? Norberg ſchickt dir das Stück Mouſſelin zum Nachtkleide, bald iſt er ſelbſt da; er ſcheint mir eifriger und freygebiger als jemals.
6Die Alte kehrte ſich um, und wollte die Gaben, womit er auch ſie bedacht, vorwei¬ ſen, als Mariane, ſich von den Geſchenken wegwendend, mit Leidenſchaft ausrief: fort! fort! heute will ich nichts von allem dieſen hören, ich habe dir gehorcht, du haſt es ge¬ wollt, es ſey ſo! Wenn Norberg zurückkehrt, bin ich wieder ſein, bin ich dein, mache mit mir was du willſt, aber bis dahin will ich mein ſeyn, und hätteſt du tauſend Zungen, du ſollteſt mir meinen Vorſatz nicht ausre¬ den. Dieſes ganze Mein will ich dem ge¬ ben, der mich liebt und den ich liebe. Keine Geſichter! Ich will mich dieſer Leidenſchaft überlaſſen, als wenn ſie ewig dauern ſollte.
Der Alten fehlte es nicht an Gegenvor¬ ſtellungen und Gründen; doch da ſie in fer¬ nerem Wortwechſel heftig und bitter ward, ſprang Mariane auf ſie los und faßte ſie bey der Bruſt. Die Alte lachte überlaut. 7Ich werde ſorgen müſſen, rief ſie aus, daß ſie wieder bald in lange Kleider kommt, wenn ich meines Lebens ſicher ſeyn will. Fort, zieht euch aus! Ich hoffe das Mädchen wird mir abbitten, was mir der flüchtige Junker Leids zugefügt hat; herunter mit dem Rock und immer ſo fort alles herunter, es iſt eine unbequeme Tracht, und für euch ge¬ fährlich wie ich merke. Die Achſelbänder be¬ geiſtern euch.
Die Alte hatte Hand an ſie gelegt, Ma¬ riane riß ſich los. Nicht ſo geſchwind! rief ſie aus: ich habe noch heute Beſuch zu er¬ warten.
Das iſt nicht gut, verſetzte die Alte. Doch nicht den jungen, zärtlichen, unbefiederten Kaufmannsſohn? Eben den, verſetzte Ma¬ riane.
Es ſcheint, als wenn die Großmuth eure herrſchende Leidenſchaft werden wollte, er¬8 wiederte die Alte ſpottend: ihr nehmt euch der Unmündigen, der Unvermögenden mit großem Eifer an. Es muß reizend ſeyn, als uneigennützige Geberinn angebetet zu wer¬ den. —
Spotte wie du willſt. Ich lieb’ ihn! ich lieb’ ihn! Mit welchem Entzücken ſprech ich zum erſtenmal dieſe Worte aus! Das iſt dieſe Leidenſchaft, die ich ſo oft vorgeſtellt habe, von der ich keinen Begriff hatte. Ja, ich will mich ihm um den Hals werfen! ich will ihn faſſen, als wenn ich ihn ewig halten wollte. Ich will ihm meine ganze Liebe zei¬ gen, ſeine Liebe in ihrem ganzen Umfang ge¬ nießen. —
Mäßigt euch, ſagte die Alte gelaſſen: mäßigt euch! Ich muß eure Freude durch Ein Wort unterbrechen: Norberg kommt! in vierzehn Tagen kommt er! Hier iſt ſein Brief, der die Geſchenke begleitet hat. —
9Und wenn mir die Morgenſonne meinen Freund rauben ſollte, will ich mirs verber¬ gen. Vierzehn Tage! Welche Ewigkeit! In vierzehn Tagen, was kann da nicht vorfal¬ len, was kann ſich da nicht verändern!
Wilhelm trat herein. Mit welcher Leb¬ haftigkeit flog ſie ihm entgegen! mit wel¬ chem Entzücken umſchlang er die rothe Uni¬ form! drückte er das weiße Atlaßweſtchen an ſeine Bruſt! Wer wagte hier zu beſchreiben, wem geziemt es, die Seeligkeit zweyer Lie¬ benden auszuſprechen. Die Alte ging mur¬ rend bey Seite, wir entfernen uns mit ihr und laſſen die Glücklichen allein.
10Als Wilhelm ſeine Mutter des andern Mor¬ gens begrüßte, eröffnete ſie ihm, daß der Vater ſehr verdrießlich ſey, und ihm den täglichen Beſuch des Schauſpiels nächſtens unterſagen werde. Wenn ich gleich ſelbſt, fuhr ſie fort, manchmal gern ins Theater gehe; ſo möchte ich es doch oft verwünſchen, da meine häusliche Ruhe durch deine un¬ mäßige Leidenſchaft zu dieſem Vergnügen ge¬ ſtört wird. Der Vater wiederholt immer, wozu es nur nütze ſey? Wie man ſeine Zeit nur ſo verderben könne? —
Ich habe es auch ſchon von ihm hören müſſen, verſetzte Wilhelm: und habe ihm vielleicht zu haſtig geantwortet; aber ums Himmelswillen Mutter! iſt denn alles un¬11 nütz, was uns nicht unmittelbar Geld in den Beutel bringt, was uns nicht den allernäch¬ ſten Beſitz verſchafft? Hatten wir in dem alten Hauſe nicht Raum genug? und war es nöthig ein neues zu bauen? Verwendet der Vater nicht jährlich einen anſehnlichen Theil ſeines Handelsgewinnes zur Verſchöne¬ rung der Zimmer? Dieſe ſeidenen Tapeten, dieſe engliſchen Mobilien ſind ſie nicht auch unnütz? Könnten wir uns nicht mit geringe¬ ren begnügen? Wenigſtens bekenne ich, daß mir dieſe geſtreiften Wände, dieſe hundert¬ mal wiederholten Blumen, Schnörkel, Körb¬ chen und Figuren einen durchaus unangeneh¬ men Eindruck machen. Sie kommen mir höchſtens vor wie unſer Theatervorhang. Aber wie anders iſts vor dieſem zu ſitzen! Wenn man noch ſo lange warten muß, ſo weiß man doch, er wird in die Höhe gehen, und wir werden die mannigfaltigſten Gegen¬12 ſtände ſehen, die uns unterhalten, aufklären und erheben. —
Mach 'es nur mäßig, ſagte die Mutter: der Vater will auch Abends unterhalten ſeyn, und dann glaubt er, es zerſtreue dich, und am Ende trag ich, wenn er verdrießlich wird, die Schuld. Wie oft mußte ich mir das verwünſchte Puppenſpiel vorwerfen laſſen, das ich euch vor zwölf Jahren zum heiligen Chriſt gab, und das euch zuerſt Geſchmack am Schauſpiele beybrachte!
Schelten Sie das Puppenſpiel nicht, laſ¬ ſen Sie ſich Ihre Liebe und Vorſorge nicht gereuen. Es waren die erſten vergnügten Augenblicke, die ich in dem neuen leeren Hauſe genoß, ich ſehe es dieſen Augenblick noch vor mir, ich weiß, wie ſonderbar es mir vorkam, als man uns, nach Empfang der gewöhnlichen Chriſtgeſchenke, vor einer Thüre niederſitzen hieß, die aus einem andern13 Zimmer herein ging. Sie eröffnete ſich; al¬ lein nicht wie ſonſt zum hin und wiederlau¬ fen, der Eingang war durch eine unerwarte¬ te Feſtlichkeit ausgefüllt. Es baute ſich ein Portal in die Höhe, das von einem myſti¬ ſchen Vorhang verdeckt war. Erſt ſtanden wir alle von ferne, und wie unſre Neugierde größer ward, um zu ſehen was wohl blin¬ kendes und raſſelndes ſich hinter der halb durchſichtigen Hülle verbergen möchte, wieß man jedem ſein Stühlchen an und gebot uns in Geduld zu warten.
So ſaß nun alles und war ſtill; eine Pfeife gab das Signal, der Vorhang rollte in die Höhe, und zeigte eine hochroth gemahl¬ te Ausſicht in den Tempel. Der Hoheprie¬ ſter Samuel erſchien mit Jonathan, und ihre wechſelnden wunderlichen Stimmen kamen mir höchſt ehrwürdig vor. Kurz darauf be¬ trat Saul die Scene, in großer Verlegenheit14 über die Impertinenz des ſchwerlöthigen Kriegers, der ihn und die ſeinigen herausge¬ fordert hatte. Wie wohl ward es mir da¬ her als der zwerggeſtaltete Sohn Iſai mit Schäferſtab, Hirtentaſche und Schleuder her¬ vorhüpfte und ſprach: Grosmächtigſter Kö¬ nig und Herr Herr! es entfalle keinem der Muth um deßwillen; wenn Ihro Majeſtät mir erlauben wollen, ſo will ich hingehen und mit dem gewaltigen Rieſen in den Streit treten. — Der erſte Akt war geendet und die Zuſchauer höchſt begierig zu ſehen was nun weiter vorgehen ſollte, jedes wünſchte die Muſik möchte nur bald aufhören. Endlich ging der Vorhang wieder in die Höhe. Da¬ vid weihte das Fleiſch des Ungeheuers den Vögeln unter dem Himmel und den Thieren auf dem Felde, der Philiſter ſprach Hohn, ſtampfte viel mit beyden Füßen, fiel endlich wie ein Klotz und gab der ganzen Sache15 einen herrlichen Ausſchlag. Wie dann nach¬ her die Jungfrauen ſangen: Saul hat Tau¬ ſend geſchlagen, David aber Zehntauſend! der Kopf des Rieſen vor dem kleinen Über¬ winder hergetragen wurde, und er die ſchöne Königstochter zur Gemahlinn erhielt; ver¬ droß es mich doch bey aller Freude, daß der Glücksprinz ſo zwergmäßig gebildet ſey. Denn nach der Idee vom großen Goliath und kleinen David hatte man nicht verfehlt beyde recht charakteriſtiſch zu machen. Ich bitte Sie, wo ſind die Puppen hingekom¬ men? Ich habe verſprochen, ſie einem Freun¬ de zu zeigen, dem ich viel Vergnügen machte, indem ich ihn neulich von dieſem Kinderſpiel unterhielt.
Es wundert mich nicht, daß du dich die¬ ſer Dinge ſo lebhaft erinnerſt: denn du nahmſt gleich den größten Antheil daran. Ich weiß, wie du mir das Büchelchen entwendeteſt und16 das ganze Stück auswendig lernteſt, ich wur¬ de es erſt gewahr, als du eines Abends dir einen Goliath und David von Wachs mach¬ teſt, ſie beyde gegen einander peroriren lieſ¬ ſeſt, dem Rieſen endlich einen Stoß gabſt und ſein unförmliches Haupt auf einer gro¬ ßen Stecknadel mit wächſernem Griff dem kleinen David in die Hand klebteſt. Ich hatte damals ſo eine herzliche mütterliche Freude über dein gutes Gedächtniß und dei¬ ne pathetiſche Rede, daß ich mir ſogleich vor¬ nahm, dir die hölzerne Truppe nun ſelbſt zu übergeben. Ich dachte damals nicht, daß es mir ſo manche verdrießliche Stunde machen ſollte. —
Laſſen Sie ſich’s nicht gereuen, verſetzte Wilhelm: denn es haben uns dieſe Scherze manche vergnügte Stunde gemacht.
Und mit dieſem erbat er ſich die Schlüſ¬ ſel, eilte, fand die Puppen und war einenAu¬17Augenblick in jene Zeiten verſetzt, wo ſie ihm noch belebt ſchienen, wo er ſie durch die Leb¬ haftigkeit ſeiner Stimme, durch die Bewe¬ gung ſeiner Hände zu beleben glaubte. Er nahm ſie mit auf ſeine Stube und verwahr¬ te ſie ſorgfältig.
W. Meiſters Lehrj. B18Wenn die erſte Liebe, wie ich allgemein be¬ haupten höre, das Schönſte iſt, was ein Herz früher oder ſpäter empfinden kann; ſo müſ¬ ſen wir unſern Helden dreyfach glücklich prei¬ ſen, daß ihm gegönnt ward, die Wonne die¬ ſer einzigen Augenblicke in ihrem ganzen Umfange zu genießen. Nur wenig Men¬ ſchen werden ſo vorzüglich begünſtigt, indeß die meiſten von ihren frühern Empfindungen nur durch eine harte Schule geführt werden, in welcher ſie, nach einem kümmerlichen Ge¬ nuß, gezwungen ſind, ihren beſten Wünſchen entſagen, und das, was ihnen als höchſte Glückſeligkeit vorſchwebte, für immer entbeh¬ ren zu lernen.
19Auf den Flügeln der Einbildungskraft hatte ſich Wilhelms Begierde zu dem reizen¬ den Mädchen erhoben, nach einem kurzen Umgange hatte er ihre Neigung gewonnen, er fand ſich im Beſitz einer Perſon, die er ſo ſehr liebte, ja verehrte: denn ſie war ihm zuerſt in dem günſtigen Lichte theatraliſcher Vorſtellung erſchienen, und ſeine Leidenſchaft zur Bühne verband ſich mit der erſten Liebe zu einem weiblichen Geſchöpfe. Seine Ju¬ gend ließ ihn reiche Freuden genießen, die von einer lebhaften Dichtung erhöht und er¬ halten wurden. Auch der Zuſtand ſeiner Ge¬ liebten gab ihrem Betragen eine Stimmung, welche ſeinen Empfindungen ſehr zu Hülfe kam; die Furcht, ihr Geliebter möchte ihre übrigen Verhältniſſe vor der Zeit entdecken, verbreitete über ſie einen liebenswürdigen Anſchein von Sorge und Schaam, ihre Lei¬ denſchaft für ihn war lebhaft, ſelbſt ihre Un¬B 220ruhe ſchien ihre Zärtlichkeit zu vermehren; ſie war das lieblichſte Geſchöpf in ſeinen Armen.
Als er aus dem erſten Taumel der Freu¬ de erwachte, und auf ſein Leben und ſeine Verhältniſſe zurückblickte, erſchien ihm alles neu, ſeine Pflichten heiliger, ſeine Liebhabe¬ reyen lebhafter, ſeine Kenntniſſe deutlicher, ſeine Talente kräftiger, ſeine Vorſätze ent¬ ſchiedener. Es ward ihm daher leicht, eine Einrichtung zu treffen, um den Vorwürfen ſeines Vaters zu entgehen, ſeine Mutter zu beruhigen und Marianens Liebe ungeſtört zu genießen. Er verrichtete des Tags ſeine Ge¬ ſchäfte pünktlich, entſagte gewöhnlich dem Schauſpiel, war Abends bey Tiſche unterhal¬ tend, und ſchlich, wenn alles zu Bette war, in ſeinen Mantel gehüllt, ſachte zu dem Garten hinaus und eilte, alle Lindors und Leanders im Buſen, unaufhaltſam zu ſeiner Geliebten.
21Was bringen Sie? fragte Mariane, als er eines Abends ein Bündel hervorwies, das die Alte, in Hoffnung angenehmer Geſchenke, ſehr aufmerkſam betrachtete. Sie werden es nicht errathen, verſetzte Wilhelm.
Wie verwunderte ſich Mariane, wie ent¬ ſetzte ſich Barbara, als die aufgebundene Serviette einen verworrnen Haufen ſpannen¬ langer Puppen ſehen ließ. Mariane lachte laut, als Wilhelm die verworrenen Dräte auseinander zu wickeln und jede Figur ein¬ zeln vorzuzeigen bemühet war. Die Alte ſchlich verdrüßlich bey Seite.
Es bedarf nur einer Kleinigkeit, um zwey Liebende zu unterhalten, und ſo vergnügten ſich unſre Freunde dieſen Abend aufs beſte. Die kleine Truppe wurde gemuſtert, jede Fi¬ gur genau betrachtet und belacht. König Saul im ſchwarzen Sammtrocke mit der gol¬ denen Krone wollte Marianen gar nicht ge¬22 fallen; er ſähe ihr, ſagte ſie, zu ſteif und pe¬ dantiſch aus. Deſto beſſer behagte ihr Jo¬ nathan, ſein glattes Kinn, ſein gelb und ro¬ thes Kleid und der Turban. Auch wußte ſie ihn gar artig am Drate hin und her zu drehen, ließ ihn Reverenzen machen und Liebeserklärungen herſagen. Dagegen wollte ſie dem Propheten Samuel nicht die mindeſte Aufmerkſamkeit ſchenken, wenn ihr gleich Wilhelm das Bruſtſchildchen anpries und er¬ zählte, daß der Schillertaft des Leibrocks von einem alten Kleide der Großmutter ge¬ nommen ſey. David war ihr zu klein, und Goliath zu groß, ſie hielt ſich an ihren Jo¬ nathan. Sie wußte ihm ſo artig zu thun, und zuletzt ihre Liebkoſungen von der Puppe auf unſern Freund herüber zu tragen, daß auch dießmal wieder ein geringes Spiel die Einleitung glücklicher Stunden ward.
Aus der Süßigkeit ihrer zärtlichen Träu¬23 me wurden ſie durch einen Lerm geweckt, welcher auf der Straße entſtand. Mariane rief der Alten, die, nach ihrer Gewohnheit noch fleißig, die veränderlichen Materialien der Theatergarderobe zum Gebrauch des nächſten Stückes anzupaſſen beſchäftigt war. Sie gab die Auskunft, daß eben eine Ge¬ ſellſchaft luſtiger Geſellen aus dem Italiäner Keller neben an heraus taumle, wo ſie bey friſchen Auſtern, die eben angekommen, des Champagners nicht geſchont hätten.
Schade, ſagte Mariane: daß es uns nicht früher eingefallen iſt, wir hätten uns auch was zu Gute thun ſollen.
Es iſt wohl noch Zeit, verſetzte Wilhelm und reichte der Alten einen Louisdor hin: verſchaft Sie uns, was wir wünſchen, ſo ſoll Sie’s mit genießen.
Die Alte war behend, und in kurzer Zeit ſtand ein artig beſtellter Tiſch mit einer24 wohlgeordneten Collation vor den Liebenden. Die Alte mußte ſich dazu ſetzen, man aß, trank und ließ ſich’s wohl ſeyn.
In ſolchen Fällen fehlt es nie an Unter¬ haltung. Mariane nahm ihren Jonathan wieder vor, und die Alte wußte das Ge¬ ſpräch auf Wilhelms Lieblingsmaterie zu wenden. Sie haben uns ſchon einmal, ſagte ſie, von der erſten Aufführung eines Pup¬ penſpiels am Weihnachtsabend unterhalten, es war luſtig zu hören. Sie wurden eben unterbrochen, als das Ballet angehen ſollte. Nun kennen wir das herrliche Perſonal, das jene großen Wirkungen hervorbrachte.
Ja, ſagte Mariane: erzähle uns weiter, wie war dir’s zu Muthe?
Es iſt eine ſchöne Empfindung, liebe Ma¬ riane, verſetzte Wilhelm: wenn wir uns al¬ ter Zeiten und alter unſchädlicher Irrthümer erinnern, beſonders wenn es in einem Au¬25 genblicke geſchieht, da wir eine Höhe glück¬ lich erreicht haben, von welcher wir uns um¬ ſehen und den zurückgelegten Weg über¬ ſchauen können. Es iſt ſo angenehm, ſelbſt¬ zufrieden, ſich mancher Hinderniſſe zu erin¬ nern, die wir oft mit einem peinlichen Ge¬ fühle für unüberwindlich hielten, und dasje¬ nige, was wir jetzt entwickelt ſind, mit dem zu vergleichen, was wir damals unentwickelt waren. Aber unausſprechlich glücklich fühl’ ich mich jetzt, da ich in dieſem Augenblicke mit dir von dem Vergangnen rede, weil ich zugleich vorwärts in das reizende Land ſchaue, das wir zuſammen Hand in Hand durchwandern können.
Wie war es mit dem Ballet? fiel die Alte ihm ein. Ich fürchte, es iſt nicht alles abgelaufen, wie es ſollte.
O ja, verſetzte Wilhelm: ſehr gut! Von jenen wunderlichen Sprüngen der Mohren26 und Mohrinnen, Schäfer und Schäferinnen, Zwerge und Zwerginnen, iſt mir eine dunkle Erinnerung auf mein ganzes Leben geblie¬ ben. Nun fiel der Vorhang, die Thüre ſchloß ſich und die ganze kleine Geſellſchaft eilte wie betrunken und taumelnd zu Bette; ich weiß aber wohl, daß ich nicht einſchlafen konnte, daß ich noch etwas erzählt haben wollte, daß ich noch viele Fragen that, und daß ich nur ungern die Wärterin entließ, die uns zur Ruhe gebracht hatte.
Den andern Morgen war leider das ma¬ giſche Gerüſte wieder verſchwunden, der my¬ ſtiſche Schleyer weggehoben, man ging durch jene Thüre wieder frey aus einer Stube in die andere, und ſo viel Abentheuer hatten keine Spur zurückgelaſſen. Meine Geſchwi¬ ſter liefen mit ihren Spielſachen auf und ab, ich allein ſchlich hin und her, es ſchien mir unmöglich, daß da nur zwo Thürpfoſten ſeyn27 ſollten, wo geſtern noch ſo viel Zauberey ge¬ weſen war. Ach wer eine verlorne Liebe ſucht, kann nicht unglücklicher ſeyn, als ich mir damals ſchien!
Ein freudetrunkner Blick, den er auf Ma¬ rianen warf, überzeugte ſie, daß er nicht fürchtete, jemals in dieſen Fall kommen zu können.
20[28]Mein einziger Wunſch war nunmehr, fuhr Wilhelm fort, eine zweyte Aufführung des Stücks zu ſehen. Ich lag der Mutter an, und dieſe ſuchte zu einer gelegenen Stunde den Vater zu bereden; allein ihre Mühe war vergebens. Er behauptete, nur ein ſel¬ tenes Vergnügen könne bey den Menſchen einen Werth haben, Kinder und Alte wü߬ ten nicht zu ſchätzen, was ihnen Gutes täg¬ lich begegnete.
Wir hätten auch noch lange, vielleicht bis wieder Weihnachten, warten müſſen, hät¬ te nicht der Erbauer und heimliche Director unſers Schauſpiels ſelbſt Luſt gefühlt, die Vorſtellung zu wiederholen und dabey in29 einem Nachſpiele einen ganz friſch fertig ge¬ wordenen Hanswurſt zu produziren.
Ein junger Mann von der Artillerie, mit vielen Talenten begabt, beſonders in mecha¬ niſchen Arbeiten geſchickt, der dem Vater während des Baues viele weſentliche Dienſte geleiſtet hatte und von ihm reichlich beſchenkt worden war, wollte ſich am Chriſtfeſte der kleinen Familie dankbar erzeigen, und machte dem Hauſe ſeines Gönners ein Geſchenk mit dieſem ganz eingerichteten Theater, das er eh¬ mals in müßigen Stunden zuſammen ge¬ baut, geſchnitzt und gemahlt hatte. Er war es, der mit Hülfe eines Bedienten ſelbſt die Puppen regierte und mit verſtellter Stimme die verſchiedenen Rollen herſagte. Ihm ward nicht ſchwer, den Vater zu bereden, der einem Freunde aus Gefälligkeit zugeſtand, was er ſeinen Kindern aus Überzeugung abgeſchla¬ gen hatte. Genug, das Theater ward wie¬30 der aufgeſtellt, einige Nachbarskinder gebe¬ ten und das Stück wiederhohlt.
Hatte ich das erſtemal die Freude der Ueberraſchung und des Staunens, ſo war zum zweytenmale die Wolluſt des Aufmer¬ kens und Forſchens groß. Wie das zugehe? war jetzt mein Anliegen. Daß die Puppen nicht ſelbſt redeten, hatte ich mir ſchon das erſtemal geſagt, daß ſie ſich nicht von ſelbſt bewegten, vermuthete ich auch; aber warum das alles doch ſo hübſch war? und es doch ſo ausſah, als wenn ſie ſelbſt redeten und ſich bewegten? und wo die Lichter und die Leute ſeyn möchten? dieſe Räthſel beunru¬ higten mich um deſto mehr, je mehr ich wünſchte, zugleich unter den Bezauberten und Zauberern zu ſeyn, zugleich meine Hände verdeckt im Spiel zu haben und als Zu¬ ſchauer die Freude der Illuſion zu genießen.
Das Stück war zu Ende, man machte31 Vorbereitungen zum Nachſpiel, die Zuſchauer waren aufgeſtanden und ſchwatzten durchein¬ ander. Ich drängte mich näher an die Thü¬ re und hörte inwendig am Klappern, daß man mit Aufräumen beſchäftigt ſey. Ich hub den untern Teppich auf und guckte zwi¬ ſchen dem Geſtelle durch. Meine Mutter bemerkte es und zog mich zurück; allein ich hatte doch ſo viel geſehen, daß man Freunde und Feinde, Saul und Goliath und wie ſie alle heißen mochten, in Einen Schiebkaſten packte, und ſo erhielt meine halbbefriedigte Neugierde friſche Nahrung. Dabey hatte ich zu meinem größten Erſtaunen den Lieu¬ tenant im Heiligthume ſehr geſchäftig erblickt. Nunmehr konnte mich der Hanswurſt, ſo ſehr er mit ſeinen Abſätzen klapperte, nicht unterhalten. Ich verlohr mich in tiefes Nachdenken und war nach dieſer Entdeckung ruhiger und unruhiger als vorher. Nach¬32 dem ich etwas erfahren hatte, kam es mir erſt vor, als ob ich gar nichts wiſſe, und ich hatte Recht: denn es fehlte mir der Zu¬ ſammenhang, und darauf kommt doch eigent¬ lich alles an.
Fünf¬33Die Kinder haben, fuhr Wilhelm fort, in wohleingerichteten und geordneten Häuſern eine Empfindung, wie ungefähr Ratten und Mäuſe haben mögen: ſie ſind aufmerkſam auf alle Ritzen und Löcher, wo ſie zu einem verbotenen Naſchwerk gelangen können; ſie genießen es mit einer ſolchen verſtohlnen wollüſtigen Furcht, die einen großen Theil des kindiſchen Glücks ausmacht.
Ich war vor allen meinen Geſchwiſtern aufmerkſam, wenn irgend ein Schlüſſel ſtek¬ ken blieb. Je größer die Ehrfurcht war, die ich für die verſchloſſenen Thüren in meinem Herzen herumtrug, an denen ich Wochen und Monate lang vorbeygehen mußte, und in die ich nur manchmal, wenn die Mutter dasW. Meiſters Lehrj. C34Heiligthum öfnete, um etwas heraus zu ho¬ len, einen verſtohlnen Blick that; deſto ſchnel¬ ler war ich, einen Augenblick zu benutzen, den mich die Nachläſſigkeit der Wirthſchafterin¬ nen manchmal treffen ließ.
Unter allen Thüren war, wie man leicht erachten kann, die Thüre der Speiſekammer diejenige, auf die meine Sinne am ſchärfſten gerichtet waren. Wenig ahndungsvolle Freu¬ den des Lebens glichen der Empfindung, wenn mich meine Mutter manchmal hinein¬ rief, um ihr etwas heraustragen zu helfen, und ich denn einige gedörrte Pflaumen ent¬ weder ihrer Güte oder meiner Liſt zu dan¬ ken hatte. Die aufgehäuften Schätze über¬ einander umfingen meine Einbildungskraft mit ihrer Fülle, und ſelbſt der wunderliche Geruch, den ſo mancherley Spezereyen durch¬ einander aushauchten, hatte ſo eine leckere Wirkung auf mich, daß ich niemals ver¬35 ſäumte, ſo oft ich in der Nähe war, mich wenigſtens an der eröfneten Atmoſphäre zu weiden. Dieſer merkwürdige Schlüſſel blieb eines Sonntag Morgens, da die Mutter von dem Geläute übereilt ward, und das ganze Haus in einer tiefen Sabbathſtille lag, ſtecken. Kaum hatte ich es bemerkt, als ich etlichemal ſachte an der Wand hin und her ging, mich endlich ſtill und fein andrängte, die Thüre öfnete, und mich mit Einem Schritt in der Nähe ſo vieler langgewünſch¬ ter Glückſeligkeit fühlte. Ich beſah Käſten, Säcke, Schachteln, Büchſen, Gläſer mit ei¬ nem ſchnellen zweifelnden Blicke, was ich wählen und nehmen ſollte? griff endlich nach den vielgeliebten gewelkten Pflaumen, verſah mich mit einigen getrockneten Äpfeln, und nahm genügſam noch eine eingemachte Pomeranzenſchaale dazu: mit welcher Beute ich meinen Weg wieder rückwärts glitſchenC 236wollte, als mir ein paar nebeneinanderſte¬ hende Kaſten in die Augen fielen, aus deren einem Dräte, oben mit Häkchen verſehen, durch den übel verſchloſſenen Schieber her¬ aushingen. Ahndungsvoll fiel ich darüber her; und mit welcher überirdiſchen Empfin¬ dung entdeckte ich, daß darin meine Helden - und Freudenwelt aufeinander gepackt ſey? Ich wollte die oberſten aufheben, betrachten, die unterſten hervorziehen; allein gar bald verwirrte ich die leichten Dräte, kam darüber in Unruhe und Bangigkeit, beſonders da die Köchin in der benachbarten Küche einige Be¬ wegungen machte, daß ich alles, ſo gut ich konnte, zuſammendrückte, den Kaſten zuſchob, nur ein geſchriebenes Büchelchen, worin die Comödie von David und Goliath aufgezeich¬ net war, das oben aufgelegen hatte, zu mir ſteckte, und mich mit dieſer Beute leiſe die Treppe hinauf in eine Dachkammer rettete.
37Von der Zeit an wandte ich alle verſtoh¬ lenen einſamen Stunden darauf, mein Schau¬ ſpiel wiederholt zu leſen, es auswendig zu lernen, und mir in Gedanken vorzuſtellen, wie herrlich es ſeyn müßte, wenn ich auch die Geſtalten dazu mit meinen Fingern be¬ leben könnte. Ich ward darüber in meinen Gedanken ſelbſt zum David und zum Go¬ liath. In allen Winkeln des Bodens, der Ställe, des Gartens, unter allerley Umſtän¬ den, ſtudierte ich das Stück ganz in mich hinein, ergriff alle Rollen, und lernte ſie aus¬ wendig, nur daß ich mich meiſt an den Platz der Haupthelden zu ſetzen pflegte, und die übrigen wie Trabanten nur im Gedächtniſſe mitlaufen ließ. So lagen mir die großmü¬ thigen Reden Davids, mit denen er den über¬ müthigen Rieſen Goliath herausforderte, Tag und Nacht im Sinne; ich murmelte ſie oft vor mich hin, niemand gab Acht darauf, als38 der Vater, der manchmal einen ſolchen Aus¬ ruf bemerkte, und bey ſich ſelbſt das gute Gedächtniß ſeines Knabens prieß, der von ſo wenigem Zuhören ſo mancherley habe behal¬ ten können.
Hierdurch ward ich immer verwegener, und rezitirte eines Abends das Stück zum grö߬ ten Theile vor meiner Mutter, indem ich mir einige Wachsklümpchen zu Schauſpielern bereitete. Sie merkte auf, drang in mich, und ich geſtand.
Glücklicher Weiſe fiel dieſe Entdeckung in die Zeit, da der Lieutenant ſelbſt den Wunſch geäuſſert hatte, mich in dieſe Geheimniſſe einweihen zu dürfen. Meine Mutter gab ihm ſogleich Nachricht von dem unerwarte¬ ten Talente ihres Sohnes, und er wußte nun einzuleiten, daß man ihm ein Paar Zimmer im oberſten Stocke, die gewöhnlich leer ſtanden, überließ, in deren einem wieder39 die Zuſchauer ſitzen, in dem andern die Schauſpieler ſeyn, da denn das Proſcenium abermals die Öfnung der Thüre ausfüllen ſollte. Der Vater hatte ſeinem Freunde das alles zu veranſtalten erlaubt, er ſelbſt ſchien nur durch die Finger zu ſehen, nach dem Grundſatze, man müſſe den Kindern nicht merken laſſen, wie lieb man ſie habe, ſie griffen immer zu weit um ſich; er meynte, man müſſe bey ihren Freuden ernſt ſcheinen, und ſie ihnen manchmal verderben, damit ihre Zufriedenheit ſie nicht übermäßig und übermüthig mache.
40Der Lieutenant ſchlug nunmehr das Theater auf, und beſorgte das Übrige. Ich merkte wohl, daß er die Woche mehrmals zu unge¬ wöhnlicher Zeit ins Haus kam, und vermu¬ thete die Abſicht. Meine Begierde wuchs unglaublich, da ich wohl fühlte, daß ich vor Sonnabends keinen Theil an dem, was zu¬ bereitet wurde, nehmen durfte. Endlich er¬ ſchien der gewünſchte Tag. Abends fünfe kam mein Führer, und nahm mich mit hin¬ auf. Zitternd vor Freude trat ich hinein, und erblickte auf beyden Seiten des Geſtel¬ les die herabhängenden Puppen in der Ord¬ nung, wie ſie auftreten ſollten; ich betrachtete ſie ſorgfältig, ſtieg auf den Tritt, der mich über das Theater erhub, ſo daß ich nun41 über der kleinen Welt ſchwebte. Ich ſah nicht ohne Ehrfurcht zwiſchen die Bretchen hinunter, weil die Erinnerung, welche herrli¬ che Wirkung das Ganze von auſſen thue, und das Gefühl, in welche Geheimniſſe ich eingeweiht ſey, mich umfaßten. Wir mach¬ ten einen Verſuch, und es ging gut.
Den andern Tag, da eine Geſellſchaft Kinder geladen war, hielten wir uns trefflich, auſſer daß ich in dem Feuer der Aktion mei¬ nen Jonathan fallen ließ, und genöthigt war, mit der Hand hinunter zu greifen, und ihn zu holen: ein Zufall, der die Illuſion ſehr unterbrach, ein großes Gelächter verurſachte, und mich unſäglich kränkte. Auch ſchien die¬ ſes Verſehn dem Vater ſehr willkommen zu ſeyn, der das große Vergnügen, ſein Söhn¬ chen ſo fähig zu ſehen, wohlbedächtig nicht an den Tag gab, nach geendigtem Stücke ſich gleich an die Fehler hing, und ſagte, es42 wäre recht artig geweſen, wenn nur dies oder das nicht verſagt hätte.
Mich kränkte das innig, ich ward trau¬ rig für den Abend, hatte aber am kommen¬ den Morgen allen Verdruß ſchon wieder verſchlafen, und war in dem Gedanken ſelig, daß ich, auſſer jenem Unglück, trefflich ge¬ ſpielt habe. Dazu kam der Beyfall der Zu¬ ſchauer, welche durchaus behaupteten: ob¬ gleich der Lieutenant in Abſicht der groben und feinen Stimme ſehr viel gethan habe, ſo perorire er doch meiſt zu affektirt und ſteif; dagegen ſpreche der neue Anfänger ſei¬ nen David und Jonathan vortrefflich, be¬ ſonders lobte die Mutter den freymüthigen Ausdruck, wie ich den Goliath herausgefor¬ dert, und dem Könige den beſcheidenen Sie¬ ger vorgeſtellt habe.
Nun blieb zu meiner größten Freude das Theater aufgeſchlagen, und da der Frühling43 herbeykam, und man ohne Feuer beſtehen konnte, lag ich in meinen Frey - und Spiel¬ ſtunden in der Kammer, und ließ die Pup¬ pen wacker durch einander ſpielen. Oft lud ich meine Geſchwiſter und Kameraden hin¬ auf; wenn ſie aber auch nicht kommen woll¬ ten, war ich allein. Meine Einbildungskraft brütete über der kleinen Welt, die gar bald eine andere Geſtalt gewann.
Ich hatte kaum das erſte Stück, wozu Theater und Schauſpieler geſchaffen und ge¬ ſtempelt waren, etlichemal aufgeführt, als es mir ſchon keine Freude mehr machte. Dage¬ gen waren mir unter den Büchern des Gro߬ vaters die deutſche Schaubühne und verſchie¬ dene italieniſch – deutſche Opern in die Hände gekommen, in die ich mich ſehr vertiefte und jedesmal nur erſt vorne die Perſonen über¬ rechnete, und dann ſogleich, ohne weiters, zur Aufführung des Stückes ſchritt. Da mußte44 nun König Saul in ſeinem ſchwarzen Sammt¬ kleide den Chaumigrem, Cato und Darius ſpielen; wobey zu bemerken iſt, daß die Stücke niemals ganz, ſondern meiſtentheils nur die fünften Akte, wo es an ein Todtſte¬ chen ging, aufgeführt wurden.
Auch war es natürlich, daß mich die Oper mit ihren manichfaltigen Veränderungen und Abenteuern mehr als alles anziehen mußte. Ich fand darin ſtürmiſche Meere, Götter, die in Wolken herabkommen, und, was mich vorzüglich glücklich machte, Blitz und Don¬ ner. Ich half mir mit Pappe, Farbe und Papier, wußte gar trefflich Nacht zu machen, der Blitz war fürchterlich anzuſehen, nur der Donner gelang nicht immer, doch das hatte ſo viel nicht zu ſagen. Auch fand ſich in den Opern mehr Gelegenheit, meinen David und Goliath anzubringen, welches im regel¬ mäßigen Drama gar nicht angehen wollte. 45Ich fühlte täglich mehr Anhänglichkeit für das enge Plätzchen, wo ich ſo manche Freu¬ de genoß; und ich geſtehe, daß der Geruch, den die Puppen aus der Speiſekammer an ſich gezogen hatten, nicht wenig dazu bey¬ trug.
Die Dekorationen meines Theaters wa¬ ren nunmehr in ziemlicher Vollkommenheit; denn, daß ich von Jugend auf ein Geſchick gehabt hatte, mit dem Zirkel umzugehen, Pappe auszuſchneiden, und Bilder zu illu¬ miniren, kam mir jetzt wohl zu ſtatten. Um deſto weher that es mir, wenn mich gar oft das Perſonal an Ausführung großer Sachen hinderte.
Meine Schweſtern, indem ſie ihre Pup¬ pen aus - und ankleideten, erregten in mir den Gedanken, meinen Helden auch nach und nach bewegliche Kleider zu verſchaffen. Man trennte ihnen die Läppchen vom Leibe, ſetzte46 ſie, ſo gut man konnte, zuſammen, ſparte ſich etwas Geld, kaufte neues Band und Flit¬ tern, bettelte ſich manches Stückchen Taft zuſammen, und ſchaffte nach und nach eine Theater-Garderobe an, in welcher beſonders die Reifröcke für die Damen nicht vergeſſen waren.
Die Truppe war nun wirklich mit Klei¬ dern für das größte Stück verſehen, und man hätte denken ſollen, es würde nun erſt recht eine Aufführung der andern folgen; aber es ging mir, wie es den Kindern öfter zu gehen pflegt, ſie faſſen weite Plane, ma¬ chen große Anſtalten, auch wohl einige Ver¬ ſuche, und es bleibt alles zuſammen liegen. Dieſes Fehlers muß ich mich auch anklagen. Die größte Freude lag bey mir in der Er¬ findung, und in der Beſchäftigung der Ein¬ bildungskraft. Dieß oder jenes Stück inter¬ eſſirte mich um irgend einer Scene willen,47 und ich ließ gleich wieder neue Kleider dazu machen. Über ſolchen Anſtalten waren die urſprünglichen Kleidungsſtücke meiner Helden in Unordnung gerathen und verſchleppt wor¬ den, daß alſo nicht einmal das erſte große Stück mehr aufgeführt werden konnte. Ich überließ mich meiner Phantaſie, probirte und bereitete ewig, baute tauſend Luftſchlöſſer, und ſpürte nicht, daß ich den Grund des kleinen Gebäudes zerſtört hatte.
Während dieſer Erzählung hatte Maria¬ ne alle ihre Freundlichkeit gegen Wilhelm aufgeboten, um ihre Schläfrigkeit zu verber¬ gen. So ſcherzhaft die Begebenheit von ei¬ ner Seite ſchien, ſo war ſie ihr doch zu ein¬ fach, und die Betrachtungen dabey zu ernſt¬ haft. Sie ſetzte zärtlich ihren Fuß auf den Fuß des Geliebten, und gab ihm ſcheinbare Zeichen ihrer Aufmerkſamkeit und ihres Bey¬ falls. Sie trank aus ſeinem Glaſe, und Wil¬48 helm war überzeugt, es ſey kein Wort ſei¬ ner Geſchichte auf die Erde gefallen. Nach einer kleinen Pauſe rief er aus: es iſt nun an dir, Mariane, mir auch deine erſten ju¬ gendlichen Freuden mitzutheilen. Noch wa¬ ren wir immer zu ſehr mit dem Gegenwärti¬ gen beſchäftigt, als daß wir uns wechſelſei¬ tig um unſere vorige Lebensweiſe hätten be¬ kümmern können, ſage mir: unter welchen Umſtänden biſt du erzogen? Welche ſind die erſten lebhaften Eindrücke, deren du dich er¬ innerſt?
Dieſe Fragen würden Marianen in große Verlegenheit geſetzt haben, wenn ihr die Alte nicht ſogleich zu Hülfe gekommen wäre. Glauben Sie denn, ſagte das kluge Weib, daß wir auf das, was uns früh begegnet, ſo aufmerkſam ſind, daß wir ſo artige Be¬ gebenheiten zu erzählen haben, und, wenn wir ſie zu erzählen hätten, daß wir derSache49Sache auch ein ſolches Geſchick zu geben wüßten?
Als wenn es deſſen bedürfte! rief Wil¬ helm aus. Ich liebe dieſes zärtliche, gute, liebliche Geſchöpf ſo ſehr, daß mich jeder Au¬ genblick meines Lebens verdrießt, den ich oh¬ ne ſie zugebracht habe. Laß mich wenigſtens durch die Einbildungskraft Theil an deinem vergangenen Leben nehmen! erzähle mir al¬ les, ich will dir alles erzählen. Wir wollen uns wo möglich täuſchen, und jene für die Liebe verlorne Zeiten wieder zu gewinnen ſuchen.
Wenn Sie ſo eifrig darauf beſtehen, kön¬ nen wir Sie wohl befriedigen, ſagte die Al¬ te. Erzählen Sie uns nur erſt, wie Ihre Liebhaberey zum Schauſpiele nach und nach gewachſen ſey, wie Sie Sich geübt, wie Sie ſo glücklich zugenommen haben, daß Sie nunmehr für einen guten Schauſpieler geltenW. Meiſters Lehrj. D50können? Es hat Ihnen dabey gewiß nicht an luſtigen Begebenheiten gemangelt. Es iſt nicht der Mühe werth, daß wir uns zur Ru¬ he legen, ich habe noch eine Flaſche in Re¬ ſerve; und wer weiß, ob wir bald wieder ſo ruhig und zufrieden zuſammenſitzen?
Mariane ſchaute mit einem traurigen Blick nach ihr auf, den Wilhelm nicht be¬ merkte, und in ſeiner Erzählung fortfuhr.
51Die Zerſtreuungen der Jugend, da meine Geſpannſchaft ſich zu vermehren anfing, tha¬ ten dem einſamen ſtillen Vergnügen Eintrag. Ich war wechſelsweiſe bald Jäger, bald Sol¬ dat, bald Reuter, wie es unſre Spiele mit ſich brachten; doch hatte ich immer darin ei¬ nen kleinen Vorzug vor den andern, daß ich im Stande war, ihnen die nöthigen Geräth¬ ſchaften ſchicklich auszubilden. So waren die Schwerter meiſtens aus meiner Fabrik, ich verzierte und vergoldete die Schlitten, und ein geheimer Inſtinkt ließ mich nicht ru¬ hen, bis ich unſre Miliz ins Antike umge¬ ſchaffen hatte. Helme wurden verfertiget, mit papiernen Büſchen geſchmückt, Schilde,D 252ſogar Harniſche wurden gemacht, Arbeiten, bey denen die Bedienten im Hauſe, die etwa Schneider waren, und die Nätherinnen man¬ che Nadel zerbrachen.
Einen Theil meiner jungen Geſellen ſah ich nun wohlgerüſtet, die übrigen wurden auch nach und nach, doch geringer, ausſtaf¬ firt, und es kam ein ſtattliches Korps zu¬ ſammen. Wir marſchirten in Höfen und Gärten, ſchlugen uns brav auf die Schilde und auf die Köpfe; es gab manche Mißhel¬ ligkeit, die aber bald beygelegt war.
Dieſes Spiel, das die andern ſehr unter¬ hielt, war kaum etlichemal getrieben worden, als es mich ſchon nicht mehr befriedigte. Der Anblick ſo vieler gerüſteten Geſtalten mußte in mir nothwendig die Ritterideen aufreizen, die ſeit einiger Zeit, da ich in das Leſen al¬ ter Romane gefallen war, meinen Kopf an¬ füllten.
53Das befreyte Jeruſalem, davon mir Kop¬ pens Überſetzung in die Hände fiel, gab mei¬ nen herumſchweifenden Gedanken endlich ei¬ ne beſtimmte Richtung. Ganz konnte ich zwar das Gedicht nicht leſen; es waren aber Stellen, die ich auswendig wußte, deren Bilder mich umſchwebten. Beſonders feſſelte mich Chlorinde mit ihrem ganzen Thun und Laſſen. Die Mannweiblichkeit, die ruhige Fülle ihres Daſeyns, thaten mehr Wirkung auf den Geiſt, der ſich zu entwickeln anfing, als die gemachten Reize Armidens, ob ich gleich ihren Garten nicht verachtete.
Aber hundert und hundertmal, wenn ich Abends auf dem Altan, der zwiſchen den Giebeln des Hauſes angebracht iſt, ſpazierte, über die Gegend hinſah, und von der hinab¬ gewichenen Sonne ein zitternder Schein am Horizont heraufdämmerte, die Sterne hervor¬ traten, aus allen Winkeln und Tiefen die54 Nacht hervordrang, und der klingende Ton der Grillen durch die feierliche Stille ſchrillte, ſagte ich mir die Geſchichte des traurigen Zweykampfs zwiſchen Tancred und Chlorin¬ den vor.
So ſehr ich, wie billig, von der Partey der Chriſten war, ſtand ich doch der heidni¬ ſchen Heldin mit ganzem Herzen bey, als ſie unternahm, den großen Thurm der Belagerer anzuzünden. Und wie nun Tancred dem vermeynten Krieger in der Nacht begegnet, unter der düſtern Hülle der Streit beginnt, und ſie gewaltig kämpfen! — Ich konnte nie die Worte ausſprechen:
daß mir nicht die Thränen in die Augen kamen, die reichlich floſſen, wie der unglück¬ liche Liebhaber ihr das Schwert in die Bruſt ſtöst, der Sinkenden den Helm löst, ſie er¬55 kennt, und zur Taufe bebend das Waſſer holt.
Aber wie ging mir das Herz über, wenn in dem bezauberten Walde Tancredens Schwert den Baum trifft, Blut nach dem Hiebe fließt, und eine Stimme ihm in die Ohren tönt, daß er auch hier Chlorinden ver¬ wunde, daß er vom Schickſal beſtimmt ſey, das was er liebt überall unwiſſend zu ver¬ letzen!
Es bemächtigte ſich die Geſchichte meiner Einbildungskraft ſo, daß ſich mir, was ich von dem Gedichte geleſen hatte, dunkel zu einem Ganzen in der Seele bildete, von dem ich dergeſtalt eingenommen war, daß ich es auf irgend eine Weiſe vorzuſtellen gedachte. Ich wollte Tancreden und Reinalden ſpielen, und fand dazu zwey Rüſtungen ganz bereit, die ich ſchon gefertiget hatte. Die eine von dunkelgrauem Papier mit Schuppen ſollte den56 ernſten Tancred, die andre von Silber - und Goldpapier den glänzenden Reinald zieren. In der Lebhaftigkeit meiner Vorſtellung er¬ zählte ich alles meinen Geſpannen, die da¬ von ganz entzückt wurden, und nur nicht wohl begreifen konnten, daß das alles aufge¬ führt, und zwar von ihnen aufgeführt wer¬ den ſollte.
Dieſen Zweifeln half ich mit vieler Leich¬ tigkeit ab. Ich diſponirte gleich über ein paar Zimmer in eines benachbarten Geſpie¬ len Haus, ohne zu berechnen, daß die alte Tante ſie nimmermehr hergeben würde; eben ſo war es mit dem Theater, wovon ich auch keine beſtimmte Idee hatte, auſſer daß man es auf Balken ſetzen, die Couliſſen von ge¬ theilten ſpaniſchen Wänden hinſtellen und zum Grund ein großes Tuch nehmen müſſe. Woher aber die Materialien und Geräth¬ ſchaften kommen ſollten, hatte ich nicht bedacht.
57Für den Wald fanden wir eine gute Aus¬ kunft: wir gaben einem alten Bedienten aus einem der Häuſer, der nun Förſter geworden war, gute Worte, daß er uns junge Birken und Fichten ſchaffen möchte, die auch wirk¬ lich geſchwinder als wir hoffen konnten her¬ beygebracht wurden. Nun aber fand man ſich in großer Verlegenheit, wie man das Stück, eh die Bäume verdorrten, zu Stande bringen könne. Da war guter Rath theuer, es fehlte an Platz, am Theater, an Vorhän¬ gen. Die ſpaniſchen Wände waren das einzi¬ ge was wir hatten.
In dieſer Verlegenheit gingen wir wie¬ der den Lieutenant an, dem wir eine weit¬ läuftige Beſchreibung von der Herrlichkeit machten, die es geben ſollte. So wenig er uns begriff, ſo behülflich war er, ſchob in ei¬ ne kleine Stube, was ſich von Tiſchen im Hauſe und der Nachbarſchaft nur finden woll¬58 te an einander, ſtellte die Wände darauf, machte eine hintere Ausſicht von grünen Vor¬ hängen, die Bäume wurden auch gleich mit in die Reihe geſtellt.
Indeſſen war es Abend geworden, man hatte die Lichter angezündet, die Mägde und Kinder ſaßen auf ihren Plätzen, das Stück ſollte angehn, die ganze Heldenſchaar war angezogen; nun ſpürte aber jeder zum er¬ ſtenmal, daß er nicht wiſſe, was er zu ſagen habe. In der Hitze der Erfindung, da ich ganz von meinem Gegenſtande durchdrungen war, hatte ich vergeſſen, daß doch jeder wiſ¬ ſen müſſe, was und wo er es zu ſagen habe; und in der Lebhaftigkeit der Ausführung war es den übrigen auch nicht beygefallen: ſie glaubten ſie würden ſich leicht als Helden darſtellen, leicht ſo handeln und reden kön¬ nen, wie die Perſonen, in deren Welt ich ſie verſetzt hatte. Sie ſtanden alle erſtaunt,59 fragten ſich einander, was zuerſt kommen ſollte? und ich, der ich mich als Tancred vorne an gedacht hatte, fing, allein auftre¬ tend, einige Verſe aus dem Heldengedichte herzuſagen an. Weil aber die Stelle gar zu bald ins Erzählende überging, und ich in meiner eignen Rede endlich als dritte Perſon vorkam, auch der Gottfried, von dem die Sprache war, nicht herauskommen wollte; ſo mußte ich eben unter großem Gelächter meiner Zuſchauer wieder abziehen, ein Un¬ fall, der mich tief in der Seele kränkte. Ver¬ unglückt war die Expedition; die Zuſchauer ſaßen da, und wollten etwas ſehen. Geklei¬ det waren wir, ich raffte mich zuſammen, und entſchloß mich kurz und gut, David und Go¬ liath zu ſpielen. Einige der Geſellſchaft hat¬ ten ehemals das Puppenſpiel mit mir aufge¬ führt, alle hatten es oft geſehn, man theilte die Rollen aus, es verſprach jeder ſein Be¬60 ſtes zu thun, und ein kleiner drolliger Junge mahlte ſich einen ſchwarzen Bart, um, wenn ja eine Lücke einfallen ſollte, ſie als Hans¬ wurſt mit einer Poſſe auszufüllen. Eine Anſtalt, die ich, als dem Ernſte des Stük¬ kes zuwider, ſehr ungern geſchehen ließ. Doch ſchwur ich mir, wenn ich nur einmal aus dieſer Verlegenheit gerettet wäre, mich nie, als mit der größten Überlegung, an die Vorſtellung eines Stücks zu wagen.
61Mariane, vom Schlaf überwältigt, lehnte ſich an ihren Geliebten, der ſie feſt an ſich drückte und in ſeiner Erzählung fortfuhr, in¬ deß die Alte den Überreſt des Weins mit gutem Bedachte genoß.
Die Verlegenheit, ſagte er, in der ich mich mit meinen Freunden gefunden hatte, indem wir ein Stück das nicht exiſtirte zu ſpielen unternahmen, war bald vergeſſen. Meiner Leidenſchaft, jeden Roman, den ich las, jede Geſchichte die man mich lehrte, in einem Schauſpiele darzuſtellen, konnte ſelbſt der unbiegſamſte Stoff nicht widerſtehen. Ich war völlig überzeugt, daß alles was in der Erzählung ergötzte, vorgeſtellt eine viel grö¬62 ßere Wirkung thun müſſe; alles ſollte vor meinen Augen, alles auf der Bühne vorge¬ hen. Wenn uns in der Schule die Weltge¬ ſchichte vorgetragen wurde, zeichnete ich mir ſorgfältig aus, wo einer auf eine beſondere Weiſe erſtochen oder vergiftet wurde, und meine Einbildungskraft ſah über Expoſition und Verwicklung hinweg und eilte dem inte¬ reſſanten fünften Akte zu; ſo fing ich auch wirklich an, einige Stücke von hinten hervor zu ſchreiben, ohne daß ich auch nur bey ei¬ nem einzigen bis zum Anfange gekommen wäre.
Zu gleicher Zeit las ich, theils aus eig¬ nem Antrieb, theils auf Veranlaſſung mei¬ ner guten Freunde, welche in den Geſchmack gekommen waren Schauſpiele aufzuführen, einen ganzen Wuſt theatraliſcher Productio¬ nen durch, wie ſie der Zufall mir in die Hände führte. Ich war in den glücklichen63 Jahren, wo uns noch alles gefällt, wo wir in der Menge und Abwechslung unſre Be¬ friedigung finden. Leider aber ward mein Urtheil noch auf eine andere Weiſe beſtochen. Die Stücke gefielen mir beſonders, in denen ich zu gefallen hoffte, und es waren wenige, die ich nicht in dieſer angenehmen Täuſchung durchlas; und meine lebhafte Vorſtellungs¬ kraft, da ich mich in alle Rollen denken konnte, verführte mich zu glauben, daß ich auch alle darſtellen würde: gewöhnlich wähl¬ te ich daher bey der Austheilung diejenigen, welche ſich gar nicht für mich ſchickten, und wenn es nur einigermaßen angehn wollte, wohl gar ein paar Rollen.
Kinder wiſſen beym Spiele aus allem al¬ les zu machen; ein Stab wird zur Flinte, ein Stückchen Holz zum Degen, jedes Bün¬ delchen zur Puppe, und jeder Winkel zur Hütte. In dieſem Sinne entwickelte ſich un¬64 ſer Privattheater. Bey der völligen Unkennt¬ niß unſrer Kräfte unternahmen wir alles, bemerkten kein qui pro quo, und waren über¬ zeugt, jeder müſſe uns dafür nehmen, wofür wir uns gaben. Leider ging alles einen ſo gemeinen Gang, daß mir nicht einmal eine merkwürdige Albernheit zu erzählen übrig bleibt. Erſt ſpielten wir die wenigen Stücke durch, in welchen nur Mannsperſonen auf¬ treten; dann verkleideten wir einige aus un¬ ſerm Mittel, und zogen zuletzt die Schwe¬ ſtern mit ins Spiel. In einigen Häuſern hielt man es für eine nützliche Beſchäfti¬ gung und lud Geſellſchaften darauf. Unſer Artillerielieutenant verließ uns auch hier nicht. Er zeigte uns, wie wir kommen und gehen, deklamiren und geſtikuliren ſollten; allein er erntete für ſeine Bemühung mei¬ ſtens wenig Dank, indem wir die theatraliſchen Künſte ſchon beſſer als er zu verſtehen glaubten.
Wir65Wir verfielen gar bald auf das Trauer¬ ſpiel: denn wir hatten oft ſagen hören, und glaubten ſelbſt, es ſey leichter eine Tragödie zu ſchreiben und vorzuſtellen, als im Luſt¬ ſpiele vollkommen zu ſeyn. Auch fühlten wir uns beym erſten tragiſchen Verſuche ganz in unſerm Elemente, wir ſuchten uns der Höhe des Standes, der Vortreflichkeit der Charaktere, durch Steifheit und Affectation zu nähern, und dünkten uns durchaus nicht wenig; allein vollkommen glücklich waren wir nur, wenn wir recht raſen, mit den Füßen ſtampfen und uns wohl gar vor Wuth und Verzweiflung auf die Erde wer¬ fen durften.
Knaben und Mädchen waren in dieſen Spielen nicht lange beyſammen, als die Na¬ tur ſich zu regen, und die Geſellſchaft ſich in verſchiedene kleine Liebesgeſchichten zu thei¬ len anfing, da denn meiſtentheils ComödieW. Meiſters Lehrj. E66in der Comödie geſpielt wurde. Die glückli¬ chen Paare drückten ſich hinter den Theater¬ wänden die Hände auf das zärtlichſte; ſie verſchwammen in Glückſeligkeit, wenn ſie einander, ſo bebändert und aufgeſchmückt, recht idealiſch vorkamen, indeß gegen über die unglücklichen Nebenbuhler ſich vor Neid verzehrten, und mit Trutz und Schadenfreude allerley Unheil anrichteten.
Dieſe Spiele, obgleich ohne Verſtand un¬ ternommen und ohne Anleitung durchgeführt, waren doch nicht ohne Nutzen für uns. Wir übten unſer Gedächtniß und unſern Körper, und erlangten mehr Geſchmeidigkeit im Spre¬ chen und Betragen, als man ſonſt in ſo frü¬ hen Jahren gewinnen kann. Für mich aber war jene Zeit beſonders Epoke, mein Geiſt richtete ſich ganz nach dem Theater, und ich fand kein größer Glück, als Schauſpiele zu leſen, zu ſchreiben und zu ſpielen.
67Der Unterricht meiner Lehrer dauerte fort, man hatte mich dem Handelsſtand gewidmet, und zu unſerm Nachbar auf das Comptoir gethan; aber eben zu ſelbiger Zeit entfernte ſich mein Geiſt nur gewaltſamer von allem, was ich für ein niedriges Geſchäft halten mußte. Der Bühne wollte ich meine ganze Thätigkeit widmen, auf ihr mein Glück und meine Zufriedenheit finden.
Ich erinnere mich noch eines Gedichtes, das ſich unter meinen Papieren finden muß, in welchem die Muſe der tragiſchen Dicht¬ kunſt und eine andere Frauensgeſtalt, in der ich das Gewerbe perſonifizirt hatte, ſich um meine werthe Perſon recht wacker zanken. Die Erfindung iſt gemein, und ich erinnere mich nicht, ob die Verſe etwas taugen; aber Ihr ſollt es ſehen, um der Furcht, des Abſcheues, der Liebe und der Leidenſchaft willen, die darin herrſchen. Wie ängſtlichE 268hatte ich die alte Hausmutter geſchildert mit dem Rocken im Gürtel, mit Schlüſſeln an der Seite, Brillen auf der Naſe, immer fleißig, immer in Unruhe, zänkiſch und haus¬ hältiſch, kleinlich und beſchwerlich! Wie kümmerlich beſchrieb ich den Zuſtand deſſen, der ſich unter ihrer Ruthe bücken und ſein knechtiſches Tagewerk im Schweiße des An¬ geſichtes verdienen ſollte!
Wie anders trat jene dagegen auf! Wel¬ che Erſcheinung ward ſie dem bekümmerten Herzen! Herrlich gebildet, in ihrem Weſen und Betragen als eine Tochter der Freyheit anzuſehen. Das Gefühl ihrer ſelbſt gab ihr Würde ohne Stolz; ihre Kleider ziemten ihr, ſie umhüllten jedes Glied, ohne es zu zwän¬ gen, und die reichlichen Falten des Stoffes wiederholten, wie ein tauſendfaches Echo, die reizenden Bewegungen der Göttlichen. Welch ein Contraſt! Und auf welche Seite ſich mein69 Herz wandte, kannſt du leicht denken. Auch war nichts vergeſſen, um meine Muſe kennt¬ lich zu machen. Kronen und Dolche, Ketten und Masken, wie ſie mir meine Vorgänger überliefert hatten, waren ihr auch hier zuge¬ theilt. Der Wettſtreit war heftig, die Reden beider Perſonen kontraſtirten gehörig, da man im vierzehnten Jahre gewöhnlich das Schwarze und Weiße recht nah an einander zu mahlen pflegt. Die Alte redete, wie es einer Perſon geziemt, die eine Stecknadel aufhebt, und jene, wie eine, die Königreiche verſchenkt. Die warnenden Drohungen der Alten wurden verſchmäht; ich ſah die mir verſprochenen Reichthümer ſchon mit dem Rücken an: enterbt und nackt übergab ich mich der Muſe, die mir ihren goldnen Schleyer zuwarf und meine Blöße bedeckte. —
Hätte ich denken können, o meine Ge¬ liebte! rief er aus, indem er Marianen feſt70 an ſich drückte, daß eine ganz andere, eine lieblichere Gottheit kommen, mich in meinem Vorſatz ſtärken, mich auf meinem Wege be¬ gleiten würde; welch eine ſchönere Wendung würde mein Gedicht genommen haben, wie intereſſant würde nicht der Schluß deſſelben geworden ſeyn! Doch es iſt kein Gedicht, es iſt Wahrheit und Leben, was ich in deinen Armen finde; laß uns das ſüße Glück mit Bewußtſeyn genießen!
Durch den Druck ſeines Armes, durch die Lebhaftigkeit ſeiner erhöhten Stimme, war Mariane erwacht, und verbarg durch Lieb¬ koſungen ihre Verlegenheit: denn ſie hatte auch nicht ein Wort von dem letzten Theile ſeiner Erzählung vernommen, und es iſt zu wünſchen, daß unſer Held für ſeine Lieblings¬ geſchichten aufmerkſamere Zuhörer künftig finden möge.
71So brachte Wilhelm ſeine Nächte im Ge¬ nuſſe vertraulicher Liebe, ſeine Tage in Er¬ wartung neuer ſeliger Stunden zu. Schon zu jener Zeit, als ihn Verlangen und Hoff¬ nung zu Marianen hinzog, fühlte er ſich wie neu belebt, er fühlte, daß er ein anderer Menſch zu werden beginne; nun war er mit ihr vereinigt, die Befriedigung ſeiner Wün¬ ſche ward eine reizende Gewohnheit. Sein Herz ſtrebte, den Gegenſtand ſeiner Leiden¬ ſchaft zu veredlen, ſein Geiſt, das geliebte Mädchen mit ſich empor zu heben. In der kleinſten Abweſenheit ergriff ihn ihr Anden¬ ken. War ſie ihm ſonſt nothwendig gewe¬ ſen, ſo war ſie ihm jetzt unentbehrlich, da er mit allen Banden der Menſchheit an ſie ge¬72 knüpft war. Seine reine Seele fühlte, daß ſie die Hälfte, mehr als die Hälfte ſeiner ſelbſt ſey. Er war dankbar und hingegeben ohne Gränzen.
Auch Mariane konnte ſich eine Zeitlang täuſchen, ſie theilte die Empfindung ſeines lebhaften Glücks mit ihm. Ach! wenn nur nicht manchmal die kalte Hand des Vor¬ wurfs ihr über das Herz gefahren wäre! Selbſt an dem Buſen Wilhelms war ſie nicht ſicher davor, ſelbſt unter den Flügeln ſeiner Liebe. Und wenn ſie nun gar wieder allein war, und aus den Wolken, in denen ſeine Leidenſchaft ſie emportrug, in das Be¬ wußtſeyn ihres Zuſtandes herabſank; dann war ſie zu bedauern. Denn Leichtſinn kam ihr zu Hülfe, ſo lange ſie in niedriger Ver¬ worrenheit lebte, ſich über ihre Verhältniſſe betrog, oder vielmehr ſie nicht kannte; da erſchienen ihr die Vorfälle, denen ſie ausge¬73 ſetzt war, nur einzeln: Vergnügen und Ver¬ druß löſten ſich ab, Demüthigung wurde durch Eitelkeit, und Mangel oft durch au¬ genblicklichen Überfluß vergütet; ſie konnte Noth und Gewohnheit ſich als Geſetz und Rechtfertigung anführen, und ſo lange ließen ſich alle unangenehme Empfindungen von Stund zu Stunde, von Tag zu Tage ab¬ ſchütteln. Nun aber hatte das arme Mäd¬ chen ſich Augenblicke in eine beſſere Welt hinüber gerückt gefühlt, hatte, wie von oben herab, aus Licht und Freude ins öde, ver¬ worfene ihres Lebens herunter geſehen, hatte gefühlt, welche elende Creatur ein Weib iſt, das mit dem Verlangen nicht zugleich Liebe und Ehrfurcht einflöst, und fand ſich äußer¬ lich und innerlich um nichts gebeſſert. Sie hatte nichts, was ſie aufrichten konnte. Wenn ſie in ſich blickte und ſuchte, war es in ihrem Geiſte leer, und ihr Herz hatte kei¬74 nen Widerhalt. Je trauriger dieſer Zuſtand war, deſto heftiger ſchloß ſich ihre Neigung an den Geliebten feſt; ja die Leidenſchaft wuchs mit jedem Tage, wie die Gefahr, ihn zu verlieren, mit jedem Tage näher rückte.
Dagegen ſchwebte Wilhelm glücklich in höheren Regionen, ihm war auch eine neue Welt aufgegangen, aber reich an herrlichen Ausſichten. Kaum ließ das Uebermaaß der erſten Freude nach, ſo ſtellte ſich das hell vor ſeine Seele, was ihn bisher dunkel durch¬ wühlt hatte. Sie iſt dein! Sie hat ſich dir hingegeben! Sie, das geliebte, geſuchte, an¬ gebetete Geſchöpf, dir auf Treu und Glau¬ ben hingegeben; aber ſie hat ſich keinem Un¬ dankbaren überlaſſen. Wo er ſtand und ging, redete er mit ſich ſelbſt, ſein Herz floß beſtändig über, und er ſagte ſich in einer Fülle von prächtigen Worten die erhabenſten Geſinnungen vor. Er glaubte den hellen75 Wink des Schickſals zu verſtehen, das ihm durch Marianen die Hand reichte, ſich aus dem ſtockenden, ſchleppenden bürgerlichen Le¬ ben heraus zu reißen, aus dem er ſchon ſo lange ſich zu retten gewünſcht hatte. Sei¬ nes Vaters Haus, die Seinigen zu verlaſſen, ſchien ihm etwas leichtes. Er war jung und neu in der Welt, und ſein Muth, in ihren Weiten nach Glück und Befriedigung zu ren¬ nen, durch die Liebe erhöht. Seine Beſtim¬ mung zum Theater war ihm nunmehr klar; das hohe Ziel, das er ſich vorgeſteckt ſah, ſchien ihm näher, indem er an Marianens Hand hinſtrebte, und in ſelbſtgefälliger Be¬ ſcheidenheit erblickte er in ſich den trefflichen Schauſpieler, den Schöpfer eines künftigen National – Theaters, nach dem er ſo vielfäl¬ tig hatte ſeufzen hören. Alles, was in den innerſten Winkeln ſeiner Seele bisher ge¬ ſchlummert hatte, wurde rege. Er bildete76 aus den vielerley Ideen mit Farben der Lie¬ be ein Gemählde auf Nebelgrund, deſſen Geſtalten freylich ſehr in einander floſſen; dafür aber auch das Ganze eine deſto rei¬ zendere Wirkung that.
77Er ſaß nun zu Hauſe, kramte unter ſeinen Papieren, und rüſtete ſich zur Abreiſe. Was nach ſeiner bisherigen Beſtimmung ſchmeckte, ward bey Seite gelegt, er wollte bey ſeiner Wanderung in die Welt auch von jeder un¬ angenehmen Erinnerung frey ſeyn. Nur Werke des Geſchmacks, Dichter und Critiker wurden als bekannte Freunde unter die Er¬ wählten geſtellt; und da er bisher die Kunſt¬ richter ſehr wenig genutzt hatte, ſo erneuerte ſich ſeine Begierde nach Belehrung, als er ſeine Bücher wieder durchſah und fand, daß die theoretiſchen Schriften noch meiſt unauf¬ geſchnitten waren. Er hatte ſich, in der völ¬ ligen Überzeugung von der Nothwendigkeit ſolcher Werke, viele davon angeſchaft, und78 mit dem beſten Willen in keines auch nur bis in die Hälfte ſich hinein leſen können.
Dagegen hatte er ſich deſto eifriger an Beyſpiele gehalten, und in allen Arten die ihm bekannt worden waren, ſelbſt Verſuche gemacht.
Werner trat herein, und als er ſeinen Freund mit den bekannten Heften beſchäftigt ſah, rief er aus: Biſt du ſchon wieder über dieſen Papieren? Ich wette, du haſt nicht die Abſicht, eins oder das andere zu vollen¬ den! Du ſiehſt ſie durch und wieder durch, und beginnſt allenfalls etwas neues. —
Zu vollenden iſt nicht die Sache des Schülers, es iſt genug, wenn er ſich übt —
Aber doch fertig macht, ſo gut er kann.
Und doch ließe ſich wohl die Frage auf¬ werfen: ob man nicht eben gute Hoffnung von einem jungen Menſchen faſſen könne, der bald gewahr wird, wenn er etwas Unge¬79 ſchicktes unternommen hat, in der Arbeit nicht fortfährt, und an etwas, das niemals einen Werth haben kann, weder Mühe noch Zeit verſchwenden mag.
Ich weiß wohl, es war nie deine Sache, etwas zu Stande zu bringen, du warſt im¬ mer müde, eh’ es zur Hälfte kam. Da du noch Direktor unſers Puppenſpiels warſt, wie oft wurden neue Kleider für die Zwerg¬ geſellſchaft gemacht? neue Dekorationen aus¬ geſchnitten? Bald ſollte dieſes, bald jenes Trauerſpiel aufgeführt werden, und höchſtens gabſt du einmal den fünften Akt, wo alles recht bunt durch einander ging, und die Leu¬ te ſich erſtachen.
Wenn du von jenen Zeiten ſprechen willſt, wer war denn Schuld, daß wir die Kleider, die unſern Puppen angepaßt und auf den Leib feſt genäht waren, herunter trennen ließen, und den Aufwand einer weit¬80 läuftigen und unnützen Garderobe machten? Warſt du’s nicht, der immer ein neues Stück Band zu verhandeln hatte, der meine Lieb¬ haberey anzufeuern und zu nutzen wußte? —
Werner lachte und rief aus: Ich erinnere mich immer noch mit Freuden, daß ich von euern theatraliſchen Feldzügen Vortheil zog, wie Lieferanten vom Kriege. Als Ihr euch zur Befreyung Jeruſalems rüſtetet, machte ich auch einen ſchönen Profit, wie ehemals die Venetianer im ähnlichen Falle. Ich fin¬ de nichts vernünftiger in der Welt, als von den Thorheiten anderer Vortheil zu ziehen.
Ich weiß nicht, ob es nicht ein edleres Vergnügen wäre, die Menſchen von ihren Thorheiten zu heilen. —
Wie ich ſie kenne, möchte das wohl ein eitles Beſtreben ſeyn. Es gehört ſchon et¬ was dazu, wenn ein einziger Menſch klugund81und reich werden ſoll, und meiſtens wird er es auf Unkoſten der Andern.
Es fällt mir eben recht der Jüngling am Scheidewege in die Hände, verſetzte Wilhelm, indem er ein Heft aus den übrigen Papieren herauszog: das iſt doch fertig geworden, es mag übrigens ſeyn wie es will.
Leg es bey Seite, wirf es ins Feuer! ver¬ ſetzte Werner. Die Erfindung iſt nicht im ge¬ ringſten lobenswürdig; ſchon vormals ärger¬ te mich dieſe Compoſition genug, und zog dir den Unwillen des Vaters zu. Es mögen ganz artige Verſe ſeyn; aber die Vorſtel¬ lungsart iſt grundfalſch. Ich erinnere mich noch deines perſonifizirten Gewerbes, deiner zuſammengeſchrumpften erbärmlichen Sybille. Du magſt das Bild in irgend einem elenden Kramladen aufgeſchnappt haben. Von der Handlung hatteſt du damals keinen Begriff; ich wüßte nicht, weſſen Geiſt ausgebreiteterW. Meiſters Lehrj. F82wäre, ausgebreiteter ſeyn müßte, als der Geiſt eines ächten Handelsmanns. Welchen Überblick verſchaft uns nicht die Ordnung, in der wir unſre Geſchäfte führen! Sie läßt uns jederzeit das Ganze überſchauen, ohne daß wir nöthig hätten, uns durch das Ein¬ zelne verwirren zu laſſen. Welche Vortheile gewährt die doppelte Buchhaltung dem Kauf¬ manne! Es iſt eine der ſchönſten Erfindun¬ gen des menſchlichen Geiſtes, und ein jeder guter Haushalter ſollte ſie in ſeiner Wirth¬ ſchaft einführen.
Verzeih mir, ſagte Wilhelm lächelnd, du fängſt von der Form an, als wenn das die Sache wäre; gewöhnlich vergeßt ihr aber auch über eurem Addiren und Bilanciren das eigentliche Facit des Lebens.
Leider ſiehſt du nicht, mein Freund, wie Form und Sache hier nur eins iſt, eins ohne das andere nicht beſtehen könnte. Ordnung83 und Klarheit vermehrt die Luſt zu ſparen und zu erwerben. Ein Menſch, der übel haushält, befindet ſich in der Dunkelheit ſehr wohl, er mag die Poſten nicht gerne zuſam¬ men rechnen, die er ſchuldig iſt. Dagegen kann einem guten Wirthe nichts angenehmer ſeyn, als ſich alle Tage die Summe ſeines wachſenden Glückes zu ziehen. Selbſt ein Unfall, wenn er ihn verdrießlich überraſcht, erſchreckt ihn nicht; denn er weiß ſogleich, was für erworbene Vortheile er auf die an¬ dere Waagſchale zu legen hat. Ich bin überzeugt, mein lieber Freund, wenn du nur einmal einen rechten Geſchmack an unſern Geſchäften finden könnteſt, ſo würdeſt du dich überzeugen, daß manche Fähigkeiten des Geiſtes auch dabey ihr freyes Spiel haben können.
Es iſt möglich, daß mich die Reiſe, die ich vorhabe, auf andere Gedanken bringt.
F284O gewiß! Glaube mir, es fehlt dir nur der Anblick einer großen Thätigkeit, um dich auf immer zu dem unſern zu machen; und wenn du zurück kommſt, wirſt du dich gern zu denen geſellen, die durch alle Arten von Spedition und Spekulation einen Theil des Geldes und Wohlbefindens, das in der Welt ſeinen nothwendigen Kreislauf führt, an ſich zu reißen wiſſen. Wirf einen Blick auf die natürlichen und künſtlichen Producte aller Welttheile, betrachte wie ſie wechſelsweiſe zur Nothdurft geworden ſind! Welch eine angenehme geiſtreiche Sorgfalt iſt es, alles, was in dem Augenblicke am meiſten geſucht wird, und doch bald fehlt, bald ſchwer zu haben iſt, zu kennen, jedem, was er verlangt, leicht und ſchnell zu verſchaffen, ſich vorſich¬ tig in Vorrath zu ſetzen, und den Vortheil jedes Augenblickes dieſer großen Cirkulation zu genießen! Dieß iſt, dünkt mich, was je¬85 dem, der Kopf hat, eine große Freude ma¬ chen wird.
Wilhelm ſchien nicht abgeneigt, und Wer¬ ner fuhr fort: Beſuche nur erſt ein paar große Handelsſtädte, ein paar Häfen, und du wirſt gewiß mit fortgeriſſen werden. Wenn du ſiehſt, wie viele Menſchen beſchäf¬ tiget ſind, wenn du ſiehſt, wo ſo manches herkommt, wo es hingeht, ſo wirſt du es ge¬ wiß auch mit Vergnügen durch deine Hände gehen ſehen. Die geringſte Waare ſiehſt du im Zuſammenhange mit dem ganzen Handel, und eben darum hältſt du nichts für gering, weil alles die Cirkulation vermehrt, von wel¬ cher dein Leben ſeine Nahrung zieht.
Werner, der ſeinen richtigen Verſtand in dem Umgange mit Wilhelmen ausbildete, hatte ſich gewöhnt, auch an ſein Gewerbe, an ſeine Geſchäfte mit Erhebung der Seele zu denken, und glaubte immer, daß er es86 mit mehrerem Rechte thue, als ſein ſonſt ver¬ ſtändiger und geſchätzter Freund, der, wie es ihm ſchien, auf das unreellſte von der Welt einen ſo großen Werth, und das Gewicht ſeiner ganzen Seele legte. Manchmal dachte er, es könne gar nicht fehlen, dieſer falſche Enthuſiasmus müſſe zu überwältigen, und ein ſo guter Menſch auf den rechten Weg zu bringen ſeyn. In dieſer Hoffnung fuhr er fort: Es haben die Großen dieſer Welt ſich der Erde bemächtiget, ſie leben in Herr¬ lichkeit und Überfluß. Der kleinſte Raum unſers Welttheils iſt ſchon in Beſitz genom¬ men, jeder Beſitz befeſtiget, Ämter und ande¬ re bürgerliche Geſchäfte tragen wenig ein; wo giebt es nun noch einen rechtmäßigeren Erwerb, eine billigere Eroberung als den Handel? Haben die Fürſten dieſer Welt die Flüſſe, die Wege, die Häfen in ihrer Ge¬ walt, und nehmen von dem, was durch und87 vorbey geht, einen ſtarken Gewinn: ſollen wir nicht mit Freuden die Gelegenheit er¬ greifen, und durch unſere Thätigkeit auch Zoll von jenen Artikeln nehmen, die theils das Bedürfniß, theils der Übermuth den Menſchen unentbehrlich gemacht hat? Und ich kann dir verſichern, wenn du nur deine dichteriſche Einbildungskraft anwenden woll¬ teſt, ſo könnteſt du meine Göttin als eine unüberwindliche Siegerin der deinigen kühn entgegenſtellen. Sie führt freylich lieber den Ölzweig als das Schwert; Dolch und Ket¬ ten kennt ſie gar nicht: aber Kronen theilet ſie auch ihren Lieblingen aus, die, es ſey ohne Verachtung jener geſagt, von ächtem aus der Quelle geſchöpftem Golde und von Perlen glänzen, die ſie aus der Tiefe des Meeres durch ihre immer geſchäftigen Die¬ ner geholt hat.
Wilhelmen verdroß dieſer Ausfall ein we¬88 nig, doch verbarg er ſeine Empfindlichkeit; denn er erinnerte ſich, daß Werner auch ſei¬ ne Apoſtrophen mit Gelaſſenheit anzuhören pflegte. Übrigens war er billig genug, um gerne zu ſehen, wenn jeder von ſeinem Hand¬ werk aufs beſte dachte; nur mußte man ihm das ſeinige, dem er ſich mit Leidenſchaft ge¬ widmet hatte, unangefochten laſſen.
Und dir, rief Werner aus, der du an menſchlichen Dingen ſo herzlichen Antheil nimmſt, was wird es dir für ein Schauſpiel ſeyn, wenn du das Glück, das muthige Un¬ ternehmungen begleitet, vor deinen Augen den Menſchen wirſt gewährt ſehen! Was iſt reizender als der Anblick eines Schiffes, das von einer glücklichen Fahrt wieder anlangt, das von einem reichen Fange frühzeitig zu¬ rückkehrt! Nicht der Verwandte, der Bekann¬ te, der Theilnehmer allein, ein jeder fremder Zuſchauer wird hingeriſſen, wenn er die Freu¬89 de ſieht, mit welcher der eingeſperrte Schiffer ans Land ſpringt, noch ehe ſein Fahrzeug es ganz berührt, ſich wieder frey fühlt, und nunmehr das, was er dem falſchen Waſſer entzogen, der getreuen Erde anvertrauen kann. Nicht in Zahlen allein, mein Freund, erſcheint uns der Gewinn; das Glück iſt die Göttin der lebendigen Menſchen, und um ihre Gunſt wahrhaft zu empfinden, muß man leben und Menſchen ſehen, die ſich recht le¬ bendig bemühen und recht ſinnlich genießen.
90Es iſt nun Zeit, daß wir auch die Väter unſrer beiden Freunde näher kennen lernen; ein paar Männer von ſehr verſchiedener Den¬ kungsart, deren Geſinnungen aber darin über¬ einkamen, daß ſie den Handel für das edel¬ ſte Geſchäft hielten, und beide höchſt auf¬ merkſam auf jeden Vortheil waren, den ihnen irgend eine Spekulation bringen konnte. Der alte Meiſter hatte gleich nach dem Tode ſei¬ nes Vaters eine koſtbare Sammlung von Gemählden, Zeichnungen, Kupferſtichen und Antiquitäten ins Geld geſetzt, ſein Haus nach dem neuſten Geſchmacke von Grund aus auf¬ gebaut und möblirt, und ſein übriges Ver¬ mögen auf alle mögliche Weiſe gelten ge¬ macht. Einen anſehnlichen Theil davon hat¬91 te er dem alten Werner in die Handlung gegeben, der als ein thätiger Handelsmann berühmt war, und deſſen Spekulationen ge¬ wöhnlich durch das Glück begünſtigt wurden. Nichts wünſchte aber der alte Meiſter ſo ſehr, als ſeinem Sohne Eigenſchaften zu ge¬ ben, die ihm ſelbſt fehlten, und ſeinen Kin¬ dern Güter zu hinterlaſſen, auf deren Beſitz er den größten Werth legte; ſo war er ein beſonderer Freund vom Prächtigen, von dem was in die Augen fällt, was aber auch zu¬ gleich einen innern Werth und eine Dauer hat. In ſeinem Hauſe mußte alles ſolid und maſſiv ſeyn, der Vorrath reichlich, das Silbergeſchirr ſchwer, das Tafelſervice koſt¬ bar; dagegen waren die Gäſte ſelten, denn eine jede Mahlzeit ward ein Feſt, das ſo¬ wohl wegen der Koſten als wegen der Un¬ bequemlichkeit nicht oft wiederholt werden konnte. Sein Haushalt ging einen gelaſſe¬92 nen und einförmigen Schritt, und alles was ſich darin bewegte und erneuerte, war gerade das, was niemanden einigen Genuß gab.
Ein ganz entgegengeſetztes Leben führte der alte Werner in einem dunkeln und fin¬ ſtern Hauſe. Hatte er ſeine Geſchäfte in der engen Schreibſtube am uralten Pulte vollen¬ det; ſo wollte er gut eſſen, und wo möglich noch beſſer trinken, auch konnte er das Gute nicht allein genießen: neben ſeiner Familie mußte er ſeine Freunde, alle Fremde, die nur mit ſeinem Hauſe in einiger Verbindung ſtanden, immer bey Tiſche ſehen, ſeine Stüh¬ le waren uralt, aber er lud täglich jemanden ein, darauf zu ſitzen. Die guten Speiſen zogen die Aufmerkſamkeit der Gäſte auf ſich, und niemand bemerkte, daß ſie in gemeinem Geſchirr aufgetragen wurden. Sein Keller hielt nicht viel Wein, aber der ausgetrunke¬ ne ward gewöhnlich durch einen beſſern erſetzt.
93So lebten die beiden Väter, welche öfter zuſammen kamen, ſich wegen gemeinſchaftli¬ cher Geſchäfte berathſchlagten, und eben heu¬ te die Verſendung Wilhelms in Handelsan¬ gelegenheiten beſchloſſen.
Er mag ſich in der Welt umſehen, ſagte der alte Meiſter, und zugleich unſre Geſchäf¬ te an fremden Orten betreiben; man kann einem jungen Menſchen keine größere Wohl¬ that erweiſen, als wenn man ihn zeitig in die Beſtimmung ſeines Lebens einweiht. Ihr Sohn iſt von ſeiner Expedition ſo glücklich zurück gekommen, hat ſeine Geſchäfte ſo gut zu machen gewußt, daß ich recht neugierig bin, wie ſich der meinige beträgt; ich fürchte, er wird mehr Lehrgeld geben, als der Ihrige.
Der alte Meiſter, welcher von ſeinem Sohne und deſſen Fähigkeiten einen großen Begriff hatte, ſagte dieſe Worte in Hoffnung, daß ſein Freund ihm widerſprechen und die94 vortrefflichen Gaben des jungen Mannes herausſtreichen ſollte. Allein hierin betrog er ſich; der alte Werner, der in praktiſchen Dingen niemanden traute, als dem, den er geprüft hatte, verſetzte gelaſſen: Man muß alles verſuchen, wir können ihn eben denſel¬ ben Weg ſchicken, wir geben ihm eine Vor¬ ſchrift, wornach er ſich richtet; es ſind ver¬ ſchiedene Schulden einzukaſſiren, alte Be¬ kanntſchaften zu erneuern, neue zu machen. Er kann auch die Spekulation mit der ich Sie neulich unterhielt, befördern helfen, denn ohne genaue Nachrichten an Ort und Stelle zu ſammeln, läßt ſich dabey wenig thun.
Er mag ſich vorbereiten, verſetzte der alte Meiſter, und ſobald als möglich aufbrechen. Wo nehmen wir ein Pferd für ihn her, das ſich zu dieſer Expedition ſchickt?
Wir werden nicht weit darnach ſuchen. Ein Krämer in H***, der uns noch einiges95 ſchuldig, aber ſonſt ein guter Mann iſt, hat mir eins an Zahlungsſtatt angeboten; mein Sohn kennt es, es ſoll ein recht brauchbares Thier ſeyn.
Er mag es ſelbſt hohlen, mag mit dem Poſtwagen hinüber fahren, ſo iſt er über¬ morgen bey Zeiten wieder da, man macht ihm indeſſen den Mantelſack und die Briefe zurechte, und ſo kann er zu Anfang der künftigen Woche aufbrechen.
Wilhelm wurde gerufen und man machte ihm den Entſchluß bekannt. Wer war fro¬ her als er, da er die Mittel zu ſeinem Vor¬ haben in ſeinen Händen ſah, da ihm die Gelegenheit ohne ſein Mitwirken zubereitet worden! So groß war ſeine Leidenſchaft, ſo rein ſeine Überzeugung, er handle voll¬ kommen recht, ſich dem Drucke ſeines bisheri¬ gen Lebens zu entziehen, und einer neuen ed¬ lern Bahn zu folgen, daß ſein Gewiſſen ſich96 nicht im mindeſten regte, keine Sorge in ihm entſtand, ja daß er vielmehr dieſen Betrug für heilig hielt. Er war gewiß, daß ihn Eltern und Verwandte in der Folge für die¬ ſen Schritt preiſen und ſegnen ſollten, er er¬ kannte den Wink eines leitenden Schickſals an dieſen zuſammentreffenden Umſtänden.
Wie lang ward ihm die Zeit bis zur Nacht, bis zur Stunde, in der er ſeine Ge¬ liebte wieder ſehen ſollte! Er ſaß auf ſeinem Zimmer und überdachte ſeinen Reiſeplan. Wie ein künſtlicher Dieb oder Zauberer in der Gefangenſchaft manchmal die Füße aus den feſtgeſchloſſenen Ketten herauszieht, um die Überzeugung bey ſich zu nähren, daß ſeine Rettung möglich, ja noch näher ſey als kurzſichtige Wächter glauben.
Endlich ſchlug die nächtliche Stunde; er entfernte ſich aus ſeinem Hauſe, ſchüttelte al¬ len Druck ab, und wandelte durch die ſtillenGaſſen97Gaſſen. Auf dem großen Platze hub er ſei¬ ne Hände gen Himmel, fühlte alles hinter und unter ſich, er hatte ſich von allem los gemacht. Nun dachte er ſich in den Armen ſeiner Geliebten, dann wieder mit ihr auf dem blendenden Theatergerüſte, er ſchwebte in einer Fülle von Hoffnungen, und nur manchmal erinnerte ihn der Ruf des Nacht¬ wächters, daß er noch auf dieſer Erde wandle.
Seine Geliebte kam ihm an der Treppe entgegen, und wie ſchön! wie lieblich! In dem neuen weißen Negligee empfing ſie ihn, er glaubte ſie noch nie ſo reizend geſehen zu haben. So weihte ſie das Geſchenk des ab¬ weſenden Liebhabers in den Armen des ge¬ genwärtigen ein, und mit wahrer Leiden¬ ſchaft verſchwendete ſie den ganzen Reich¬ thum ihrer Liebkoſungen, welche ihr die Na¬ tur eingab, welche die Kunſt ſie gelehrt hat¬W. Meiſters Lehrj. G98te, an ihren Liebling, und man frage, ob er ſich glücklich, ob er ſich ſelig fühlte?
Er entdeckte ihr was vorgegangen war, und ließ ihr im allgemeinen ſeinen Plan, ſeine Wünſche ſehen. Er wolle unter zu kommen ſuchen, ſie alsdann abhohlen, er hoffe, ſie werde ihm ihre Hand nicht verſa¬ gen. Das arme Mädchen aber ſchwieg, ver¬ barg ihre Thränen und drückte den Freund an ihre Bruſt, der, ob er gleich ihr Verſtum¬ men auf das günſtigſte auslegte, doch eine Antwort gewünſcht hätte, beſonders da er ſie zuletzt auf das beſcheidenſte, auf das freund¬ lichſte fragte: ob er ſich denn nicht Vater glauben dürfe? Aber auch darauf antwortete ſie nur mit einem Seufzer, einem Kuſſe.
99Den andern Morgen erwachte Mariane nur zu neuer Betrübniß; ſie fand ſich ſehr allein, mochte den Tag nicht ſehen, blieb im Bette und weinte. Die Alte ſetzte ſich zu ihr, ſuch¬ te ihr einzureden, ſie zu tröſten; aber es ge¬ lang ihr nicht, das verwundete Herz ſo ſchnell zu heilen. Nun war der Augenblick nahe, dem das arme Mädchen wie dem letzten ihres Lebens entgegen geſehen hatte. Konnte man ſich auch in einer ängſtlichern Lage füh¬ len? Ihr Geliebter entfernte ſich, ein unbe¬ quemer Liebhaber drohte zu kommen, und das größte Unheil ſtand bevor, wenn beide, wie es leicht möglich war, einmal zuſammen¬ treffen ſollten.
Beruhige dich, Liebchen, rief die Alte: verweine mir deine ſchönen Augen nicht! IſtG 2100es denn ein ſo großes Unglück, zwey Liebha¬ ber zu beſitzen? Und wenn du auch deine Zärtlichkeit nur dem einen ſchenken kannſt; ſo ſey wenigſtens dankbar gegen den andern, der, nach der Art wie er für dich ſorgt, ge¬ wiß dein Freund genannt zu werden ver¬ dient.
Es ahndete meinem Geliebten, verſetzte Mariane dagegen mit Thränen, daß uns eine Trennung bevorſtehe; ein Traum hat ihm entdeckt, was wir ihm ſo ſorgfältig zu verbergen ſuchen. Er ſchlief ſo ruhig an meiner Seite. Auf einmal höre ich ihn ängſt¬ liche, unvernehmliche Töne ſtammeln. Mir wird bange, und ich wecke ihn auf. Ach! mit welcher Liebe, mit welcher Zärtlichkeit, mit welchem Feuer umarmt’ er mich! O Mariane! rief er aus, welchem ſchrecklichen Zuſtande haſt du mich entriſſen! Wie ſoll ich dir danken. daß du mich aus dieſer Hölle101 befreyt haſt? Mir träumte, fuhr er fort, ich befände mich, entfernt von dir, in einer un¬ bekannten Gegend; aber dein Bild ſchwebte mir vor; ich ſah dich auf einem ſchönen Hü¬ gel, die Sonne beſchien den ganzen Platz, wie reizend kamſt du mir vor! Aber es währte nicht lange, ſo ſah ich dein Bild hin¬ unter gleiten, immer hinunter gleiten, ich ſtreckte meine Arme nach dir aus, ſie reich¬ ten nicht durch die Ferne. Immer ſank dein Bild und näherte ſich einem großen See, der am Fuße des Hügels weit ausgebreitet lag, eher ein Sumpf als ein See. Auf einmal gab dir ein Mann die Hand, er ſchien dich hinaufführen zu wollen, aber leitete dich ſeit¬ wärts, und ſchien dich nach ſich zu ziehen. Ich rief, da ich dich nicht erreichen konnte, ich hoffte dich zu warnen. Wollte ich gehen, ſo ſchien der Boden mich feſt zu halten; konnt’ ich gehen, ſo hinderte mich das Waſ¬102 ſer, und ſogar mein Schreyen erſtickte in der beklemmten Bruſt. So erzählte der Arme, indem er ſich von ſeinem Schrecken an mei¬ nem Buſen erholte, und ſich glücklich pries, einen fürchterlichen Traum durch die ſeligſte Wirklichkeit verdrängt zu ſehen.
Die Alte ſuchte ſo viel möglich durch ihre Proſe die Poeſie ihrer Freundin ins Gebiet des gemeinen Lebens herunter zu locken, und bediente ſich dabey der guten Art, welche Vogelſtellern zu gelingen pflegt, indem ſie durch ein Pfeifchen die Töne derjenigen nach¬ zuahmen ſuchen, welche ſie bald und häufig in ihrem Garne zu ſehen wünſchen. Sie lobte Wilhelmen, rühmte ſeine Geſtalt, ſeine Augen, ſeine Liebe. Das arme Mädchen hörte ihr gerne zu, ſtand auf, ließ ſich an¬ kleiden, und ſchien ruhiger. Mein Kind, mein Liebchen, fuhr die Alte ſchmeichelnd fort, ich will dich nicht betrüben, nicht beleidigen,103 ich denke dir nicht dein Glück zu rauben. Darfſt du meine Abſicht verkennen, und haſt du vergeſſen, daß ich jederzeit mehr für dich als für mich geſorgt habe? Sag mir nur was du willſt, wir wollen ſchon ſehen, wie wir es ausführen.
Was kann ich wollen? verſetzte Mariane; ich bin elend, auf mein ganzes Leben elend, ich liebe ihn, der mich liebt, ſehe, daß ich mich von ihm trennen muß, und weiß nicht, wie ich es überleben kann. Norberg kommt, dem wir unſere ganze Exiſtenz ſchuldig ſind, den wir nicht entbehren können. Wilhelm iſt ſehr eingeſchränkt, er kann nichts für mich thun. —
Ja, er iſt unglücklicherweiſe von denen Liebhabern, die nichts als ihr Herz bringen, und eben dieſe haben die meiſten Präten¬ ſionen.
Spotte nicht! der Unglückliche denkt ſein104 Haus zu verlaſſen, auf das Theater zu ge¬ hen, mir ſeine Hand anzubieten.
Leere Hände haben wir ſchon vier.
Ich habe keine Wahl, fuhr Mariane fort, entſcheide du! Stoße mich da oder dort hin, nur wiſſe noch eins: wahrſcheinlich trag’ ich ein Pfand im Buſen, das uns noch mehr an einander feſſeln ſollte, das bedenke und ent¬ ſcheide, wen ſoll ich laſſen? wem ſoll ich folgen?
Nach einigem Stillſchweigen rief die Alte: daß doch die Jugend immer zwiſchen den Extremen ſchwankt! Ich finde nichts natürli¬ cher, als alles zu verbinden, was uns Ver¬ gnügen und Vortheil bringt. Liebſt du den Einen, ſo mag der Andere bezahlen, es kommt nur darauf an, daß wir klug genug ſind, ſie beide auseinander zu halten. —
Mache was du willſt, ich kann nichts denken; aber folgen will ich.
105Wir haben den Vortheil, daß wir den Eigenſinn des Directors, der auf die Sitten ſeiner Truppe ſtolz iſt, vorſchützen können. Beide Liebhaber ſind ſchon gewohnt, heimlich und vorſichtig zu Werke zu gehen. Für Stunde und Gelegenheit will ich ſorgen, nur mußt du hernach die Rolle ſpielen, die ich dir vorſchreibe. Wer weiß welcher Umſtand uns hilft. Käme Norberg nur jetzt, da Wil¬ helm entfernt iſt! Wer wehrt dir, in den Ar¬ men des einen an den andern zu denken? Ich wünſche dir zu einem Sohne Glück, er ſoll einen reichen Vater haben.
Mariane war durch dieſe Vorſtellungen nur für kurze Zeit gebeſſert. Sie konnte ihren Zuſtand nicht in Harmonie mit ihrer Empfindung, ihrer Ueberzeugung bringen; ſie wünſchte dieſe ſchmerzlichen Verhältniſſe zu vergeſſen, und tauſend kleine Umſtände mu߬ ten ſie jeden Augenblick daran erinnern.
106Wilhelm hatte indeſſen die kleine Reiſe vol¬ lendet, und überreichte, da er ſeinen Han¬ delsfreund nicht zu Hauſe fand, das Em¬ pfehlungsſchreiben der Gattin des Abweſen¬ den. Aber auch dieſe gab ihm auf ſeine Fra¬ gen wenig Beſcheid; ſie war in einer hefti¬ gen Gemüthsbewegung, und das ganze Haus in großer Verwirrung.
Es währte jedoch nicht lange, ſo vertrau¬ te ſie ihm (und es war auch nicht zu ver¬ heimlichen) daß ihre Stieftochter mit einem Schauſpieler davon gegangen ſey, mit einem Menſchen, der ſich von einer kleinen Geſell¬ ſchaft vor kurzem los gemacht, ſich im Orte aufgehalten, und im Franzöſiſchen Unterricht gegeben habe. Der Vater, auſſer ſich vor107 Schmerz und Verdruß, ſey ins Amt gelau¬ fen, um die Flüchtigen verfolgen zu laſſen. Sie ſchalt ihre Tochter heftig, ſchmähte den Liebhaber, ſo daß an beiden nichts Lobens¬ würdiges übrig blieb, beklagte mit vielen Worten die Schande, die dadurch auf die Familie gekommen, und ſetzte Wilhelmen in nicht geringe Verlegenheit, der ſich und ſein heimliches Vorhaben durch dieſe Sibylle gleichſam mit prophetiſchem Geiſte voraus getadelt und geſtraft fühlte. Noch ſtärkern und innigern Antheil mußte er aber an den Schmerzen des Vaters nehmen, der aus dem Amte zurückkam, mit ſtiller Trauer und hal¬ ben Worten ſeine Expedition der Frau er¬ zählte, und, indem er, nach eingeſehenen Briefe, das Pferd Wilhelmen vorführen ließ, ſeine Zerſtreuung und Verwirrung nicht ver¬ bergen konnte.
Wilhelm gedachte ſogleich das Pferd zu108 beſteigen, und ſich aus einem Hauſe zu ent¬ fernen, in welchem ihm, unter den gegebenen Umſtänden, unmöglich wohl werden konnte; allein der gute Mann wollte den Sohn ei¬ nes Hauſes, dem er ſo viel ſchuldig war, nicht unbewirthet und ohne ihn eine Nacht unter ſeinem Dache behalten zu haben, ent¬ laſſen.
Unſer Freund hatte ein trauriges Abend¬ eſſen eingenommen, eine unruhige Nacht aus¬ geſtanden, und eilte frühmorgens ſobald als möglich ſich von Leuten zu entfernen, die, ohne es zu wiſſen, ihn mit ihren Erzählun¬ gen und Äuſſerungen auf das empfindlichſte gequält hatten.
Er ritt langſam und nachdenkend die Straße hin, als er auf einmal eine Anzahl gewaffneter Leute durchs Feld kommen ſah, die er an ihren weiten und langen Röcken, großen Aufſchlägen, unförmlichen Hüten und109 plumpen Gewehren, an ihrem treuherzigen Gange und dem bequemen Tragen ihres Körpers ſogleich für ein Commando Land¬ miliz erkannte. Unter einer alten Eiche hiel¬ ten ſie ſtille, ſetzten ihre Flinten nieder, und lagerten ſich bequem auf dem Raſen, um eine Pfeife zu rauchen. Wilhelm verweilte bey ihnen, und ließ ſich mit einem jungen Menſchen, der zu Pferde herbeykam, in ein Geſpräch ein. Er mußte die Geſchichte der beiden Entflohenen, die ihm nur zu ſehr be¬ kannt war, leider noch einmal und zwar mit Bemerkungen, die weder dem jungen Paare noch den Eltern ſonderlich günſtig waren, vernehmen. Zugleich erfuhr er, daß man hieher gekommen ſey, die jungen Leute wirk¬ lich in Empfang zu nehmen, die in dem be¬ nachbarten Städtchen eingehohlt und ange¬ halten worden waren. Nach einiger Zeit ſah man von ferne einen Wagen herbeykom¬110 men, der von einer Bürgerwache mehr lä¬ cherlich als fürchterlich umgeben war. Ein unförmlicher Stadtſchreiber ritt voraus, und komplimentirte mit dem gegenſeitigen Aktua¬ rius (denn das war der junge Mann, mit dem Wilhelm geſprochen hatte) an der Grän¬ ze mit großer Gewiſſenhaftigkeit und wun¬ derlichen Gebärden, wie es etwa Geiſt und Zauberer, der eine inner - der andere außer¬ halb des Kreiſes, bey gefährlichen nächtlichen Operationen thun mögen.
Die Aufmerkſamkeit der Zuſchauer war indeß auf den Bauerwagen gerichtet, und man betrachtete die armen Verirrten nicht ohne Mitleiden, die auf ein paar Bündeln Stroh bey einander ſaßen, ſich zärtlich an¬ blickten, und die Umſtehenden kaum zu be¬ merken ſchienen. Zufälligerweiſe hatte man ſich genöthigt geſehen, ſie von dem letzten Dorfe auf eine ſo unſchickliche Art fort zu111 bringen, indem die alte Kutſche, in welcher man die Schöne transportirte, zerbrochen war. Sie erbat ſich bey dieſer Gelegenheit die Geſellſchaft ihres Freundes, den man, aus Ueberzeugung, er ſey auf einem capita¬ len Verbrechen betroffen, bis dahin mit Ket¬ ten beſchwert nebenher gehen laſſen. Dieſe Ketten trugen denn freylich nicht wenig bey, den Anblick der zärtlichen Gruppe intereſſanter zu machen, beſonders weil der junge Mann ſie mit vielem Anſtand beweg¬ te, indem er wiederholt ſeiner Geliebten die Hände küßte.
Wir ſind ſehr unglücklich! rief ſie den Umſtehenden zu; aber nicht ſo ſchuldig wie wir ſcheinen. So belohnen grauſame Men¬ ſchen treue Liebe, und Eltern, die das Glück ihrer Kinder gänzlich vernachläſſigen, reiſſen ſie mit Ungeſtüm aus den Armen der Freu¬ de, die ſich ihrer nach langen trüben Tagen bemächtigte!
112Indeß die Umſtehenden auf verſchiedene Weiſe ihre Theilnahme zu erkennen gaben, hatten die Gerichte ihre Zeremonien abſol¬ virt, der Wagen ging weiter, und Wilhelm, der an dem Schickſal der Verliebten großen Theil nahm, eilte auf dem Fußpfade voraus, um mit dem Amtmanne, noch ehe der Zug ankäme, Bekanntſchaft zu machen. Er er¬ reichte aber kaum das Amthaus, wo alles in Bewegung und zum Empfang der Flüchtlin¬ ge bereit war, als ihn der Aktuarius einhol¬ te, und durch eine umſtändliche Erzählung, wie alles gegangen, beſonders aber durch ein weitläuftiges Lob ſeines Pferdes, das er erſt geſtern vom Juden getauſcht, jedes andere Geſpräch verhinderte.
Schon hatte man das unglückliche Paar auſſen am Garten, der durch eine kleine Pforte mit dem Amthauſe zuſammenhing, abgeſetzt, und ſie in der Stille hineingeführt. Der113Der Aktuarius nahm über dieſe ſchonende Behandlung von Wilhelmen ein aufrichtiges Lob an, ob er gleich eigentlich dadurch nur das vor dem Amthauſe verſammelte Volk necken, und ihm das angenehme Schauſpiel einer gedemüthigten Mitbürgerin entziehen wollte.
Der Amtmann, der von ſolchen außeror¬ dentlichen Fällen kein ſonderlicher Liebhaber war, weil er meiſtentheils dabey einen und den andern Fehler machte, und für den be¬ ſten Willen gewöhnlich von fürſtlicher Regie¬ rung mit einem derben Verweiſe belohnt wurde, ging mit ſchweren Schritten nach der Amtsſtube, wohin ihm der Aktuarius, Wil¬ helm und einige angeſehene Bürger folgten.
Zuerſt ward die Schöne vorgeführt, die, ohne Frechheit, gelaſſen und mit Bewußtſeyn ihrer ſelbſt hereintrat. Die Art, wie ſie ge¬ kleidet war und ſich überhaupt betrug, zeigte,W. Meiſters Lehrj. H114daß ſie ein Mädchen ſey, die etwas auf ſich halte. Sie fing auch, ohne gefragt zu wer¬ den, über ihren Zuſtand nicht unſchicklich zu reden an.
Der Aktuarius gebot ihr zu ſchweigen, und hielt ſeine Feder über dem gebrochenen Blatte. Der Amtmann ſetzte ſich in Faſſung, ſah ihn an, räuſperte ſich, und fragte das arme Kind, wie ihr Nahme heiße und wie alt ſie ſey?
Ich bitte Sie, mein Herr, verſetzte ſie, es muß mir gar wunderbar vorkommen, daß Sie mich um meinen Nahmen und mein Al¬ ter fragen, da Sie ſehr gut wiſſen, wie ich heiße, und daß ich ſo alt wie Ihr älteſter Sohn bin. Was Sie von mir wiſſen wol¬ len, und was Sie wiſſen müſſen, will ich gern ohne Umſchweife ſagen.
Seit meines Vaters zweiter Heirath wer¬ de ich zu Hauſe nicht zum beſten gehalten. 115Ich hätte einige hübſche Parthien thun kön¬ nen, wenn nicht meine Stiefmutter aus Furcht vor der Ausſtattung ſie zu vereiteln gewußt hätte. Nun habe ich den jungen Melina kennen lernen, ich habe ihn lieben müſſen, und da wir die Hinderniſſe voraus¬ ſahen, die unſerer Verbindung im Wege ſtun¬ den, entſchloſſen wir uns mit einander in der weiten Welt ein Glück zu ſuchen, das uns zu Hauſe nicht gewährt ſchien. Ich habe nichts mitgenommen, als was mein eigen war, wir ſind nicht als Diebe und Räuber entflohen, und mein Geliebter verdient nicht, daß er mit Ketten und Banden belegt her¬ umgeſchleppt werde. Der Fürſt iſt gerecht, er wird dieſe Härte nicht billigen. Wenn wir ſtrafbar ſind, ſo ſind wir es nicht auf dieſe Weiſe.
Der alte Amtmann kam hierüber doppelt und dreyfach in Verlegenheit. Die gnädig¬H 2116ſten Ausputzer ſummten ihm ſchon um den Kopf, und die geläufige Rede des Mädchens hatte ihm den Entwurf des Protokolls gänz¬ lich zerrüttet. Das Übel wurde noch größer, als ſie bey wiederholten ordentlichen Fragen ſich nicht weiter einlaſſen wollte, ſondern ſich auf das, was ſie eben geſagt, ſtandhaft berief.
Ich bin keine Verbrecherin, ſagte ſie. Man hat mich auf Strohbündeln zur Schan¬ de hierher geführt; es iſt eine höhere Gerech¬ tigkeit, die uns wieder zu Ehren bringen ſoll.
Der Aktuarius hatte indeſſen immer ihre Worte nachgeſchrieben, und flüſterte dem Amtmanne zu: er ſolle nur weiter gehen, ein förmliches Protokoll würde ſich nachher ſchon verfaſſen laſſen.
Der Alte nahm wieder Muth, und fing nun an, nach den ſüßen Geheimniſſen der Liebe mit dürren Worten und in hergebrach¬ ten trockenen Formeln ſich zu erkundigen.
117Wilhelmen ſtieg die Röthe ins Geſicht, und die Wangen der artigen Verbrecherin belebten ſich gleichfalls durch die reizende Farbe der Schamhaftigkeit. Sie ſchwieg und ſtockte, bis die Verlegenheit ſelbſt zuletzt ihren Muth zu erhöhen ſchien.
Seyn Sie verſichert, rief ſie aus, daß ich ſtark genug ſeyn würde, die Wahrheit zu bekennen, wenn ich auch gegen mich ſelbſt ſprechen müßte; ſollte ich nun zaudern und ſtocken, da ſie mir Ehre macht? Ja, ich habe ihn von dem Augenblicke an, da ich ſeiner Neigung und ſeiner Treue gewiß war, als meinen Ehemann angeſehen, ich habe ihm alles gerne gegönnt, was die Liebe fordert, und was ein überzeugtes Herz nicht verſa¬ gen kann. Machen Sie nun mit mir, was Sie wollen. Wenn ich einen Augenblick zu geſtehen zauderte, ſo war die Furcht, daß mein Bekenntniß für meinen Geliebten ſchlim¬118 me Folgen haben könnte, allein daran Ur¬ ſache.
Wilhelm faßte, als er ihr Geſtändniß hörte, einen hohen Begriff von den Geſin¬ nungen des Mädchens, indeß ſie die Ge¬ richtsperſonen für eine freche Dirne erkann¬ ten, und die gegenwärtigen Bürger Gott dankten, daß dergleichen Fälle in ihren Fa¬ milien entweder nicht vorgekommen oder nicht bekannt geworden waren.
Wilhelm verſetzte ſeine Mariane in die¬ ſem Augenblicke vor den Richtſtuhl, legte ihr noch ſchönere Worte in den Mund, ließ ihre Aufrichtigkeit noch herzlicher und ihr Be¬ kenntniß noch edler werden. Die heftigſte Leidenſchaft, beiden Liebenden zu helfen, be¬ mächtigte ſich ſeiner. Er verbarg ſie nicht, und bat den zaudernden Amtmann heimlich, er mögte doch der Sache ein Ende machen, es ſey ja alles ſo klar als möglich, und be¬ dürfe keiner weiteren Unterſuchung.
119Dieſes half ſo viel, daß man das Mäd¬ chen abtreten, dafür aber den jungen Men¬ ſchen, nachdem man ihm vor der Thüre die Feſſeln abgenommen hatte, hereinkommen ließ. Dieſer ſchien über ſein Schickſal mehr nachdenkend. Seine Antworten waren ge¬ ſetzter, und wenn er von einer Seite weni¬ ger heroiſche Freymüthigkeit zeigte, ſo em¬ pfahl er ſich hingegen durch Beſtimmtheit und Ordnung ſeiner Ausſage.
Da auch dieſes Verhör geendiget war, welches mit dem vorigen in allem überein¬ ſtimmte, nur daß er, um das Mädchen zu ſchonen, hartnäckig läugnete, was ſie ſelbſt ſchon bekannt hatte, ließ man auch ſie end¬ lich wieder vortreten, und es entſtand zwi¬ ſchen beiden eine Scene, welche ihnen das Herz unſers Freundes gänzlich zu eigen machte.
Was nur in Romanen und Komödien120 vorzugehen pflegt, ſah er hier in einer unan¬ genehmen Gerichtsſtube vor ſeinen Augen: den Streit wechſelſeitiger Großmuth, die Stärke der Liebe im Unglück.
Iſt es denn alſo wahr, ſagte er bey ſich ſelbſt, daß die ſchüchterne Zärtlichkeit, die vor dem Auge der Sonne und der Men¬ ſchen ſich verbirgt, und nur in abgeſonderter Einſamkeit, in tiefem Geheimniſſe zu genießen wagt, wenn ſie durch einen feindſeligen Zu¬ fall hervorgeſchleppt wird, ſich alsdann mu¬ thiger, ſtärker, tapferer zeigt, als andere brauſende und großthuende Leidenſchaften?
Zu ſeinem Troſte ſchloß ſich die ganze Handlung noch ziemlich bald. Sie wurden beide in leidliche Verwahrung genommen, und wenn es möglich geweſen wäre, ſo hätte er noch dieſen Abend das Frauenzimmer zu ihren Eltern hinüber gebracht. Denn er ſetz¬ te ſich feſt vor, hier ein Mittelsmann zu121 werden, und die glückliche und anſtändige Verbindung beider Liebenden zu befördern.
Er erbat ſich von dem Amtmanne die Erlaubniß, mit Melina allein zu reden, wel¬ che ihm denn auch ohne Schwierigkeit ver¬ ſtattet wurde.
122Das Geſpräch der beiden neuen Bekannten wurde gar bald vertraut und lebhaft. Denn als Wilhelm dem niedergeſchlagnen Jüng¬ ling ſein Verhältniß zu den Eltern des Frauenzimmers entdeckte, ſich zum Mittler anbot, und ſelbſt die beſten Hoffnungen zeig¬ te, erheiterte ſich das traurige und ſorgen¬ volle Gemüth des Gefangnen, er fühlte ſich ſchon wieder befreyt, mit ſeinen Schwieger¬ eltern verſöhnt, und es war nun von künfti¬ gem Erwerb und Unterkommen die Rede.
Darüber werden Sie doch nicht in Verle¬ genheit ſeyn, verſetzte Wilhelm; denn Sie ſcheinen mir beiderſeits von der Natur be¬ ſtimmt, in dem Stande, den Sie gewählt haben, Ihr Glück zu machen. Eine ange¬123 nehme Geſtalt, eine wohlklingende Stimme, ein gefühlvolles Herz! können Schauſpieler beſſer ausgeſtattet ſeyn? Kann ich Ihnen mit einigen Empfehlungen dienen, ſo wird es mir viel Freude machen.
Ich danke Ihnen von Herzen, verſetzte der andere; aber ich werde wohl ſchwerlich davon Gebrauch machen können, denn ich denke, wo möglich, nicht auf das Theater zurück zu kehren.
Daran thun Sie ſehr übel, ſagte Wil¬ helm nach einer Pauſe, in welcher er ſich von ſeinem Erſtaunen erholt hatte, denn er dachte nicht anders, als daß der Schauſpie¬ ler, ſo bald er mit ſeiner jungen Gattin be¬ freyt worden, das Theater aufſuchen werde. Es ſchien ihm eben ſo natürlich und noth¬ wendig, als daß der Froſch das Waſſer ſucht. Nicht einen Augenblick hatte er dar¬ an gezweifelt, und mußte nun zu ſeinem Er¬ ſtaunen das Gegentheil erfahren.
124Ja, verſetzte der andere, ich habe mir vorgenommen, nicht wieder auf das Theater zurück zu kehren, vielmehr eine bürgerliche Bedienung, ſie ſey auch welche ſie wolle, an¬ zunehmen, wenn ich nur eine erhalten kann.
Das iſt ein ſonderbarer Entſchluß, den ich nicht billigen kann; denn ohne beſondere Urſache iſt es niemals rathſam, die Lebensart, die man ergriffen hat, zu verändern, und überdieß wüßte ich keinen Stand, der ſo viel Annehmlichkeiten, ſo viel reizende Ausſichten darböte, als den eines Schauſpielers.
Man ſieht, daß Sie keiner geweſen ſind, verſetzte jener. —
Darauf ſagte Wilhelm: mein Herr, wie ſelten iſt der Menſch mit dem Zuſtande zu¬ frieden, in dem er ſich befindet, er wünſcht ſich immer den ſeines Nächſten, aus welchem ſich dieſer gleichfalls herausſehnt! —
Indeß bleibt doch ein Unterſchied, verſetz¬125 te Melina, zwiſchen dem ſchlimmen und dem ſchlimmern; Erfahrung, nicht Ungeduld, macht mich ſo handeln. Iſt wohl irgend ein Stückchen Brot kümmerlicher, unſicherer und mühſeliger in der Welt? Beynahe wäre es eben ſo gut, vor den Thüren zu betteln. Was hat man von dem Neide ſeiner Mit¬ genoſſen, von der Partheylichkeit des Dire¬ ctors, von der veränderlichen Laune des Pu¬ blikums auszuſtehen? Wahrhaftig, man muß ein Fell haben wie ein Bär, der in Geſell¬ ſchaft von Affen und Hunden an der Kette herumgeführt und geprügelt wird, um bey dem Tone eines Dudelſacks vor Kindern und Pöbel zu tanzen.
Wilhelm dachte allerley bey ſich ſelbſt, was er jedoch dem guten Menſchen nicht ins Geſicht ſagen wollte. Er ging alſo nur von ferne mit dem Geſpräch um ihn herum. Je¬ ner ließ ſich deſto aufrichtiger und weitläuf¬126 tiger heraus. — Thäte es nicht Noth, ſagte er, daß ein Director jedem Stadtrathe zu Füßen fiele, um nur die Erlaubniß zu ha¬ ben, vier Wochen zwiſchen der Meſſe ein paar Groſchen mehr an einem Orte cirkuli¬ ren zu laſſen. Ich habe den unſrigen, der ſo weit ein guter Mann war, oft bedauret, wenn er mir gleich zu anderer Zeit Urſache zu Mißvergnügen gab. Ein guter Akteur ſteigert ihn, die ſchlechten kann er nicht los werden; und wenn er ſeine Einnahme eini¬ germaßen der Ausgabe gleich ſetzen will; ſo iſt es dem Publikum gleich zu viel, das Haus ſteht leer, und man muß, um nur nicht gar zu Grunde zu gehen, mit Schaden und Kummer ſpielen. Nein, mein Herr, da Sie ſich unſrer, wie Sie ſagen, annehmen mögen; ſo bitte ich Sie, ſprechen Sie auf das ernſtlichſte mit den Eltern meiner Ge¬ liebten! Man verſorge mich hier, man gebe127 mir einen kleinen Schreiber - oder Einneh¬ mer-Dienſt, und ich will mich glücklich ſchätzen.
Nachdem ſie noch einige Worte gewech¬ ſelt hatten, ſchied Wilhelm mit dem Verſpre¬ chen, Morgen ganz früh die Eltern anzuge¬ hen und zu ſehen, was er ausrichten könne. Kaum war er allein, ſo mußte er ſich in fol¬ genden Ausrufungen Luft machen: unglückli¬ cher Melina, nicht in deinem Stande, ſon¬ dern in dir liegt das armſelige, über das du nicht Herr werden kannſt! Welcher Menſch in der Welt, der ohne innern Beruf ein Handwerk, eine Kunſt oder irgend eine Le¬ bensart ergriffe, müßte nicht wie du ſeinen Zuſtand unerträglich finden? Wer mit ei¬ nem Talente zu einem Talente gebohren iſt, findet in demſelben ſein ſchönſtes Daſeyn! Nichts iſt auf der Erde ohne Beſchwerlich¬ keit, nur der innre Trieb, die Luſt, die Liebe128 helfen uns Hinderniſſe überwinden, Wege bahnen, und uns aus dem engen Kreiſe, wo¬ rin ſich andere kümmerlich abängſtigen, empor¬ heben. Dir ſind die Breter nichts als Bre¬ ter, und die Rollen, was einem Schulknaben ſein Penſum iſt. Die Zuſchauer ſiehſt du an, wie ſie ſich ſelbſt an Werkeltagen vor¬ kommen. Dir könnte es alſo freylich einer¬ ley ſeyn, hinter einem Pult über liniirten Büchern zu ſitzen, Zinſen einzutragen und Reſte herauszuſtochern. Du fühlſt nicht das zuſammenbrennende, zuſammentreffende Gan¬ ze, das allein durch den Geiſt erfunden, be¬ griffen und ausgeführt wird, du fühlſt nicht, daß in den Menſchen ein beſſerer Funke lebt, der, wenn er keine Nahrung erhält, wenn er nicht geregt wird, von der Aſche täglicher Bedürfniſſe und Gleichgültigkeit tie¬ fer bedeckt, und doch ſo ſpät und faſt nie erſtickt wird. Du fühlſt in deiner Seele kei¬ne129ne Kraft ihn aufzublaſen, in deinem eignen Herzen keinen Reichthum, um dem erweckten Nahrung zu geben. Der Hunger treibt dich, die Unbequemlichkeiten ſind dir zuwider, und es iſt dir verborgen, daß in jedem Stande dieſe Feinde lauren, die nur mit Freudigkeit und Gleichmuth zu überwinden ſind. Du thuſt wohl, dich in jene Gränzen einer ge¬ meinen Stelle zu ſehnen; denn welche wür¬ deſt du wohl ausfüllen, die Geiſt und Muth verlangt? Gieb einem Soldaten, einem Staatsmanne, einem Geiſtlichen deine Ge¬ ſinnungen, und mit eben ſo viel Recht wird er ſich über das Kümmerliche ſeines Standes beſchweren können. Ja, hat es nicht ſogar Menſchen gegeben, die von allem Lebensge¬ fühl ſo ganz verlaſſen waren, daß ſie das ganze Leben und Weſen der Sterblichen für ein Nichts, für ein kummervolles und ſtaub¬ gleiches Daſeyn erklärt haben? Regten ſichW. Meiſters Lehrj. J130lebendig in deiner Seele die Geſtalten wür¬ kender Menſchen, wärmte deine Bruſt ein theilnehmendes Feuer, verbreitete ſich über deine ganze Geſtalt die Stimmung, die aus dem innerſten kommt, wären die Töne dei¬ ner Kehle, die Worte deiner Lippen lieblich anzuhören, fühlteſt du dich genug in dir ſelbſt, ſo würdeſt du dir gewiß Ort und Ge¬ legenheit aufſuchen, dich in andern fühlen zu können.
Unter ſolchen Worten und Gedanken hat¬ te ſich unſer Freund ausgekleidet, und ſtieg mit einem Gefühle des innigſten Behagens zu Bette. Ein ganzer Roman, was er an der Stelle des Unwürdigen morgenden Ta¬ ges thun würde, entwickelte ſich in ſeiner Seele, angenehme Phantaſien begleiteten ihn in das Reich des Schlafes ſanft hinüber, und überließen ihn dort ihren Geſchwiſtern, den Träumen, die ihn mit offenen Armen131 aufnahmen, und das ruhende Haupt unſers Freundes mit dem Vorbilde des Himmels umgaben.
Am frühen Morgen war er ſchon wieder erwacht, und dachte ſeiner vorſtehenden Un¬ terhandlung nach. Er kehrte in das Haus der verlaßnen Eltern zurück, wo man ihn mit Verwundrung aufnahm. Er trug ſein Anbringen beſcheiden vor, und fand gar bald mehr und weniger Schwierigkeiten, als er ſich vermuthet hatte. Geſchehen war es ein¬ mal, und wenn gleich außerordentlich ſtrenge und harte Leute ſich gegen das Vergangene und Nichtzuändernde mit Gewalt zu ſetzen, und das Übel dadurch zu vermehren pflegen, ſo hat dagegen das Geſchehene auf die Ge¬ müther der meiſten eine unwiderſtehliche Ge¬ walt, und was unmöglich ſchien, nimmt ſo¬ gleich, als es geſchehen iſt, neben dem Ge¬ meinen ſeinen Platz ein. Es war alſo baldI 2132ausgemacht, daß der Herr Melina die Toch¬ ter heirathen ſollte, dagegen ſollte ſie wegen ihrer Unart kein Heirathsgut mitnehmen und verſprechen, das Vermächtniß einer Tante, noch einige Jahre, gegen geringe Intereſſen, in des Vaters Händen zu laſſen. Der zwey¬ te Punkt, wegen einer bürgerlichen Verſor¬ gung fand ſchon größere Schwierigkeiten. Man wollte das ungerathene Kind nicht vor Augen ſehen, man wollte die Verbindung eines hergelaufenen Menſchen mit einer ſo angeſehenen Familie, welche ſogar mit einem Superintendenten verwandt war, ſich durch die Gegenwart nicht beſtändig aufrücken laſ¬ ſen, man konnte eben ſo wenig hoffen, daß die fürſtlichen Collegien ihm eine Stelle an¬ vertrauen würden. Beide Eltern waren gleich ſtark dagegen, und Wilhelm, der ſehr eifrig dafür ſprach, weil er dem Menſchen, den er geringſchätzte, die Rückkehr auf das133 Theater nicht gönnte, und überzeugt war, daß er eines ſolchen Glückes nicht werth ſey, konnte mit allen ſeinen Argumenten nichts ausrichten. Hätte er die geheimen Triebfe¬ dern gekannt, ſo würde er ſich die Mühe gar nicht gegeben haben, die Eltern überre¬ den zu wollen. Denn der Vater, der ſeine Tochter gerne bey ſich behalten hätte, haßte den jungen Menſchen, weil ſeine Frau ſelbſt ein Auge auf ihn geworfen hatte, und dieſe konnte in ihrer Stieftochter eine glückliche Nebenbuhlerin nicht vor Augen leiden. Und ſo mußte Melina wider ſeinen Willen mit ſeiner jungen Braut, die ſchon größere Luſt bezeigte, die Welt zu ſehen, und ſich der Welt ſehen zu laſſen, nach einigen Tagen abreiſen, um bey irgend einer Geſellſchaft ein Unterkommen zu finden.
134Glückliche Jugend! glückliche Zeiten des er¬ ſten Liebesbedürfniſſes! Der Menſch iſt dann wie ein Kind, das ſich am Echo ſtundenlang ergötzt, die Unkoſten des Geſpräches allein trägt, und mit der Unterhaltung wohl zufrie¬ den iſt, wenn der unſichtbare Gegenmann auch nur die letzten Sylben der ausgerufe¬ nen Worte wiederholt.
So war Wilhelm in den frühern, beſon¬ ders aber in den ſpätern Zeiten ſeiner Lei¬ denſchaft für Marianen, als er den ganzen Reichthum ſeines Gefühls auf ſie hinüber¬ trug, und ſich dabey als einen Bettler an¬ ſah, der von ihren Almoſen lebte. Und wie uns eine Gegend reizender, ja allein reizend vorkommt, wenn ſie von der Sonne beſchie¬135 nen wird, ſo war auch alles in ſeinen Augen verſchönert und verherrlicht, was ſie umgab, was ſie berührte.
Wie oft ſtand er auf dem Theater hin¬ ter den Wänden, wozu er ſich das Privile¬ gium von dem Direktor erbeten hatte! Dann war freylich die perſpectiviſche Magie ver¬ ſchwunden, aber die viel mächtigere Zaube¬ rey der Liebe fing erſt an zu wirken. Stun¬ denlang konnte er am ſchmutzigen Lichtwagen ſtehen, den Qualm der Unſchlitt-Lampen ein¬ ziehen, nach der Geliebten hinaus blicken, und, wenn ſie wieder hereintrat und ihn freundlich anſah, ſich in Wonne verloren dicht an dem Balken - und Latten-Gerippe, in einen paradieſiſchen Zuſtand verſetzt füh¬ len. Die ausgeſtopften Lämmchen, die Waſ¬ ſerfälle von Zindel, die pappenen Roſenſtöcke und die einſeitigen Strohhütten erregten in ihm liebliche dichteriſche Bilder uralter Schä¬136 ferwelt. Sogar die in der Nähe häßlich er¬ ſcheinenden Tänzerinnen waren ihm nicht immer zuwider, weil ſie auf Einem Brete mit ſeiner Vielgeliebten ſtanden. Und ſo iſt es gewiß, daß Liebe, die Roſenlauben, Myr¬ thenwäldchen und Mondſchein erſt beleben muß, auch ſogar Hobelſpänen und Papier¬ ſchnitzeln einen Anſchein belebter Naturen ge¬ ben kann. Sie iſt eine ſo ſtarke Würze, daß ſelbſt ſchaale und ekle Brühen davon ſchmack¬ haft werden.
Solch einer Würze bedurft es freylich, um jenen Zuſtand leidlich, ja in der Folge angenehm zu machen, in welchem er gewöhn¬ lich ihre Stube, ja gelegentlich ſie ſelbſt an¬ traf.
In einem feinen Bürgerhauſe erzogen, war Ordnung und Reinlichkeit das Element, worin er athmete, und indem er von ſeines Vaters Prunkliebe einen Theil geerbt hatte,137 wußte er, in den Knabenjahren, ſein Zim¬ mer, das er als ſein kleines Reich anſah, ſtattlich auszuſtaffiren. Seine Bettvorhänge waren in große Falten aufgezogen und mit Quaſten befeſtigt, wie man Thronen vorzu¬ ſtellen pflegt, er hatte ſich einen Teppich in die Mitte des Zimmers, und einen feinern auf den Tiſch anzuſchaffen gewußt, ſeine Bü¬ cher und Geräthſchaften legte und ſtellte er faſt mechaniſch ſo, daß ein niederländiſcher Mahler gute Gruppen zu ſeinen Still-Leben hätte heraus nehmen können. Eine weiße Mütze hatte er wie einen Turban zurecht ge¬ bunden, und die Ermel ſeines Schlafrocks nach orientaliſchen Coſtüme kurz ſtutzen laſ¬ ſen. Doch gab er hiervon die Urſache an, daß die langen weiten Ermel ihn im Schrei¬ ben hinderten. Wenn er Abends ganz allein war, und nicht mehr fürchten durfte, geſtört zu werden, trug er gewöhnlich eine ſeidene138 Schärpe um den Leib, und er ſoll manchmal einen Dolch, den er ſich aus einer alten Rüſtkammer zugeeignet, in den Gürtel ge¬ ſteckt, und ſo die ihm zugetheilten tragiſchen Rollen memorirt und probirt, ja in eben dem Sinne ſein Gebet kniend auf dem Tep¬ pich verrichtet haben.
Wie glücklich prieß er daher in früheren Zeiten den Schauſpieler, den er im Beſitz ſo mancher majeſtätiſchen Kleider, Rüſtungen und Waffen, und in ſteter Übung eines ed¬ len Betragens ſah, deſſen Geiſt einen Spie¬ gel des herrlichſten und prächtigſten, was die Welt an Verhältniſſen, Geſinnungen und Lei¬ denſchaften hervorgebracht, darzuſtellen ſchien. Eben ſo dachte ſich Wilhelm auch das häus¬ liche Leben eines Schauſpielers als eine Reihe von würdigen Handlungen und Beſchäfti¬ gungen, davon die Erſcheinung auf dem Theater die äuſſerſte Spitze ſey. Etwa wie139 ein Silber, das vom Läuter-Feuer lange her¬ um getrieben worden, endlich farbig ſchön vor den Augen des Arbeiters erſcheint, und ihm zugleich andeutet, daß das Metall nun¬ mehr von allen fremden Zuſätzen gereiniget ſey.
Wie ſehr ſtutzte er daher Anfangs, wenn er ſich bey ſeiner Geliebten befand, und durch den glücklichen Nebel, der ihn umgab, neben aus auf Tiſche, Stühle und Boden ſah. Die Trümmer eines augenblicklichen, leichten und falſchen Putzes lagen wie das glänzende Kleid eines abgeſchuppten Fiſches zerſtreut in wilder Unordnung durch einander. Die Werk¬ zeuge menſchlicher Reinlichkeit, als Kämme, Seife, Tücher und Pomade waren mit den Spuren ihrer Beſtimmung gleichfalls nicht verſteckt. Muſik, Rollen und Schuhe, Wä¬ ſche und italieniſche Blumen, Etuis, Haar¬ nadeln, Schminktöpfchen und Bänder, Bü¬140 cher und Strohhüte, keines verſchmähte die Nachbarſchaft des andern, alle waren durch ein gemeinſchaftliches Element, durch Puder und Staub, vereinigt. Jedoch da Wilhelm in ihrer Gegenwart wenig von allem andern bemerkte, ja vielmehr ihm alles, was ihr ge¬ hörte, ſie berührt hatte, lieb werden mußte; ſo fand er zuletzt in dieſer verworrnen Wirth¬ ſchaft einen Reiz, den er in ſeiner ſtattlichen Prunkordnung niemals empfunden hatte. Es war ihm — wenn er hier ihre Schnürbruſt wegnahm, um zum Klavier zu kommen, dort ihre Röcke aufs Bette legte, um ſich ſetzen zu können, wenn ſie ſelbſt mit unbefangener Freymüthigkeit manches Natürliche, das man ſonſt gegen einen andern aus Anſtand zu verheimlichen pflegt, vor ihm nicht zu ver¬ bergen ſuchte — es war ihm, ſag’ ich, als wenn er ihr mit jedem Augenblicke näher würde, als wenn eine Gemeinſchaft zwi¬141 ſchen ihnen durch unſichtbare Bande befeſtigt würde.
Nicht eben ſo leicht konnte er die Auf¬ führung der übrigen Schauſpieler, die er bey ſeinen erſten Beſuchen manchmal bey ihr an¬ traf, mit ſeinen Begriffen vereinigen. Ge¬ ſchäftig im Müſſiggange ſchienen ſie an ihren Beruf und Zweck am wenigſten zu denken, über den poetiſchen Werth eines Stücks hör¬ te er ſie niemals reden, und weder richtig noch unrichtig darüber urtheilen; es war immer nur die Frage: was wird das Stück machen? Iſt es ein Zugſtück? Wie lange wird es ſpielen? Wie oft kann es wohl ge¬ geben werden? und was Fragen und Bemer¬ kungen dieſer Art mehr waren. Dann ging es gewöhnlich auf den Director los, daß er mit der Gage zu karg, und beſonders gegen den einen und den andern ungerecht ſey, dann auf das Publikum, daß es mit ſeinem142 Beyfall ſelten den rechten Mann belohne, daß das deutſche Theater ſich täglich verbeſ¬ ſere, daß der Schauſpieler nach ſeinen Ver¬ dienſten immer mehr geehrt werde, und nicht genug geehrt werden könne. Dann ſprach man viel von Kaffeehäuſern und Weingär¬ ten, und was daſelbſt vorgefallen, wieviel irgend ein Camerad Schulden habe und Ab¬ zug leiden müſſe, von Disproportion der wöchentlichen Gage, von Cabalen einer Ge¬ genparthey, wobey denn doch zuletzt die große und verdiente Aufmerkſamkeit des Publikums wieder in Betracht kam, und der Einfluß des Theaters auf die Bildung einer Nation und der Welt nicht vergeſſen wurde.
Alle dieſe Dinge, die Wilhelmen ſonſt ſchon manche unruhige Stunde gemacht hat¬ ten, kamen ihm gegenwärtig wieder ins Ge¬ dächtniß, als ihn ſein Pferd langſam nach Hauſe trug, und er die verſchiedenen Vor¬143 fälle, die ihm begegnet waren, überlegte. Die Bewegung, welche durch die Flucht ei¬ nes Mädchens in eine gute Bürgerfamilie, ja in ein ganzes Städtchen gekommen war, hatte er mit Augen geſehen, die Scenen auf der Landſtraße und im Amthauſe, die Geſin¬ nungen Melinas, und was ſonſt noch vor¬ gegangen war, ſtellten ſich ihm wieder dar, und brachten ſeinen lebhaften, vordringenden Geiſt in eine Art von ſorglicher Unruhe, die er nicht lange ertrug, ſondern ſeinem Pferde die Sporen gab und nach der Stadt zueilte.
Allein auch auf dieſem Wege rannte er nur neuen Unannehmlichkeiten entgegen. Werner, ſein Freund und vermuthlicher Schwager, wartete auf ihn, um ein ernſthaf¬ tes, bedeutendes und unerwartetes Geſpräch mit ihm anzufangen.
Werner war einer von den geprüften, in ihrem Daſeyn beſtimmten Leuten, die man144 gewöhnlich kalte Leute zu nennen pflegt, weil ſie bey Anläſſen weder ſchnell noch ſichtlich auflodern; auch war ſein Umgang mit Wil¬ helmen ein anhaltender Zwiſt, wodurch ſich ihre Liebe aber nur deſto feſter knüpfte: denn ungeachtet ihrer verſchiedenen Den¬ kungsart fand jeder ſeine Rechnung bey dem andern. Werner that ſich darauf etwas zu gute, daß er dem vortrefflichen, obgleich ge¬ legentlich ausſchweifenden Geiſt Wilhelms mit unter Zügel und Gebiß anzulegen ſchien, und Wilhelm fühlte oft einen herrlichen Triumph, wenn er ſeinen bedächtlichen Freund in warmer Aufwallung mit ſich fortnahm. So übte ſich einer an dem andern, ſie wur¬ den gewohnt ſich täglich zu ſehen, und man hätte ſagen ſollen, das Verlangen einander zu finden, ſich mit einander zu beſprechen, ſey durch die Unmöglichkeit, einander ver¬ ſtändlich zu werden, vermehrt worden. ImGrun¬145Grunde aber gingen ſie doch, weil ſie beide gute Menſchen waren, neben einander, mit einander nach Einem Ziel, und konnten nie¬ mals begreifen, warum denn keiner den an¬ dern auf ſeine Geſinnung reduciren könne.
Werner bemerkte ſeit einiger Zeit, daß Wilhelms Beſuche ſeltner wurden, daß er in Lieblingsmaterien kurz und zerſtreut abbrach, daß er ſich nicht mehr in lebhafte Ausbil¬ dung ſeltſamer Vorſtellungen vertiefte, an welcher ſich freylich ein freyes, in der Gegen¬ wart des Freundes Ruhe und Zufriedenheit findendes Gemüth am ſicherſten erkennen läßt. Der pünktliche und bedächtige Wer¬ ner ſuchte anfangs den Fehler in ſeinem eig¬ nen Betragen, bis ihn einige Stadtgeſpräche auf die rechte Spur brachten, und einige Unvorſichtigkeiten Wilhelms ihn der Gewi߬ heit näher führten. Er ließ ſich auf eine Unterſuchung ein, und entdeckte gar bald,W. Meiſters Lehrj. K146daß Wilhelm vor einiger Zeit eine Schauſpiele¬ rin öffentlich beſucht, mit ihr auf dem Thea¬ ter geſprochen und ſie nach Hauſe gebracht habe; er wäre troſtlos geweſen, wenn ihm auch die nächtlichen Zuſammenkünfte bekannt geworden wären; denn er hörte, daß Ma¬ riane ein verführeriſches Mädchen ſey, die ſeinen Freund wahrſcheinlich ums Geld brin¬ ge, und ſich noch nebenher von dem unwür¬ digſten Liebhaber unterhalten laſſe.
Sobald er ſeinen Verdacht ſo viel mög¬ lich zur Gewißheit erhoben, beſchloß er einen Angriff auf Wilhelmen, und war mit allen Anſtalten völlig in Bereitſchaft, als dieſer eben verdrießlich und verſtimmt von ſeiner Reiſe zurückkam.
Werner trug ihm noch denſelbigen Abend alles, was er wußte, erſt gelaſſen, dann mit dem dringenden Ernſte einer wohldenkenden Freundſchaft vor, ließ keinen Zug unbeſtimmt,147 und gab ſeinem Freunde alle die Bitterkei¬ ten zu koſten, die ruhige Menſchen an Lie¬ bende mit tugendhafter Schadenfreude ſo freygebig auszuſpenden pflegen. Aber wie man ſich denken kann, richtete er wenig aus. Wilhelm verſetzte mit inniger Bewegung, doch mit großer Sicherheit: du kennſt das Mädchen nicht, der Schein iſt vielleicht nicht zu ihrem Vortheil, aber ich bin ihrer Treue und Tugend ſo gewiß als meiner Liebe.
Werner beharrte auf ſeiner Anklage, und erbot ſich zu Beweiſen und Zeugen. Wil¬ helm verwarf ſie, und entfernte ſich von ſei¬ nem Freunde verdrießlich und erſchüttert, wie einer, dem ein ungeſchickter Zahnarzt einen ſchadhaft feſtſitzenden Zahn gefaßt und vergebens daran geruckt hat.
Höchſt unbehaglich fand ſich Wilhelm, das ſchöne Bild Marianens erſt durch die Grillen der Reiſe, dann durch Werners Un¬K 2148freundlichkeit in ſeiner Seele getrübt und beynahe entſtellt zu ſehen. Er griff zum ſicherſten Mittel, ihm die völlige Klarheit und Schönheit wieder herzuſtellen, indem er Nachts auf den gewöhnlichen Wegen zu ihr hineilte. Sie empfing ihn mit lebhafter Freude; denn er war bey ſeiner Ankunft vor¬ bey geritten, ſie hatte ihn dieſe Nacht erwar¬ tet, und es läßt ſich denken, daß alle Zwei¬ fel bald aus ſeinem Herzen vertrieben wur¬ den. Ja ihre Zärtlichkeit ſchloß ſein ganzes Vertrauen wieder auf, und er erzählte ihr, wie ſehr ſich das Publikum, wie ſehr ſich ſein Freund an ihr verſündiget.
Mancherley lebhafte Geſpräche führten ſie auf die erſten Zeiten ihrer Bekanntſchaft, de¬ ren Erinnerung eine der ſchönſten Unterhal¬ tungen zweyer Liebenden bleibt. Die erſten Schritte, die uns in den Irrgarten der Liebe bringen, ſind ſo angenehm, die erſten Aus¬149 ſichten ſo reizend, daß man ſie gar zu gern in ſein Gedächtniß zurück ruft. Jeder Theil ſucht einen Vorzug vor dem andern zu be¬ halten; er habe früher, uneigennütziger ge¬ liebt, und jedes wünſcht in dieſem Wettſtreite lieber überwunden zu werden, als zu über¬ winden.
Wilhelm wiederholte Marianen, was ſie ſchon ſo oft gehört hatte, daß ſie bald ſeine Aufmerkſamkeit von dem Schauſpiel ab und auf ſich allein gezogen habe, daß ihre Ge¬ ſtalt, ihr Spiel, ihre Stimme ihn gefeſſelt, wie er zuletzt nur die Stücke, in denen ſie geſpielt, beſucht habe, wie er endlich aufs Theater geſchlichen ſey, oft, ohne von ihr be¬ merkt zu werden, neben ihr geſtanden habe; dann ſprach er mit Entzücken von dem glück¬ lichen Abende, an dem er eine Gelegenheit gefunden, ihr eine Gefälligkeit zu erzeigen, und ein Geſpräch einzuleiten.
150Mariane dagegen wollte nicht Wort haben, daß ſie ihn ſo lange nicht bemerkt hätte; ſie behauptete, ihn ſchon auf dem Spaziergange geſehen zu haben, und bezeichnete ihm zum Beweis das Kleid, das er am ſelbigen Tage angehabt; ſie behauptete, daß er ihr damals vor allen andern gefallen, und daß ſie ſeine Bekanntſchaft gewünſcht habe.
Wie gern glaubte Wilhelm das alles! wie gern ließ er ſich überreden, daß ſie zu ihm, als er ſich ihr genähert, durch einen unwiderſtehlichen Zug hingeführt worden, daß ſie abſichtlich zwiſchen die Couliſſen ne¬ ben ihn getreten ſey, um ihn näher zu ſehen, und Bekanntſchaft mit ihm zu machen, und daß ſie zuletzt, da ſeine Zurückhaltung und Blödigkeit nicht zu überwinden geweſen, ihm ſelbſt Gelegenheit gegeben, und ihn gleichſam genöthigt habe, ein Glas Limonade herbey¬ zuholen.
151Unter dieſem liebevollen Wettſtreit, den ſie durch alle kleine Umſtände ihres kurzen Romans verfolgten, vergingen ihnen die Stunden ſehr ſchnell, und Wilhelm verließ völlig beruhigt ſeine Geliebte, mit dem feſten Vorſatze, ſein Vorhaben unverzüglich ins Werk zu richten.
152Was zu ſeiner Abreiſe nöthig war, hatten Vater und Mutter beſorgt, nur einige Klei¬ nigkeiten, die an der Equipage fehlten, ver¬ zögerten ſeinen Aufbruch um einige Tage. Wilhelm benutzte dieſe Zeit, um an Maria¬ nen einen Brief zu ſchreiben, wodurch er die Angelegenheit endlich zur Sprache bringen wollte, über welche ſie ſich mit ihm zu un¬ terhalten bisher immer vermieden hatte. Folgendermaßen lautete der Brief:
„ Unter der lieben Hülle der Nacht, die mich ſonſt in deinen Armen bedeckte, ſitze ich und denke und ſchreibe an dich, und was ich ſinne und treibe, iſt nur um dei¬ netwillen. O Mariane! mir, dem glück¬ lichſten unter den Männern, iſt es wie153 einem Bräutigam, der ahndungsvoll, welch’ eine neue Welt ſich in ihm und durch ihn entwickeln wird, auf den feſtlichen Teppi¬ chen ſteht, und, während der heiligen Ze¬ remonien, ſich gedankenvoll lüſtern vor die geheimnißreichen Vorhänge verſetzt, woher ihm die Lieblichkeit der Liebe entgegen ſäu¬ ſelt.
Ich habe über mich gewonnen, dich in einigen Tagen nicht zu ſehen, es war leicht in Hoffnung einer ſolchen Entſchädigung, ewig mit dir zu ſeyn, ganz der deinige zu bleiben! Soll ich wiederholen was ich wünſche? und doch iſt es nöthig; denn es ſcheint, als habeſt du mich bisher nicht verſtanden.
Wie oft habe ich mit leiſen Tönen der Treue, die, weil ſie alles zu halten wünſcht, wenig zu ſagen wagt, an deinem Herzen geforſcht nach dem Verlangen einer ewi¬154 gen Verbindung, Verſtanden haſt du mich gewiß, denn in deinem Herzen muß eben der Wunſch keimen; vernommen haſt du mich in jedem Kuſſe, in der anſchmiegen¬ den Ruhe jener glücklichen Abende. Da lernt ich deine Beſcheidenheit kennen, und wie vermehrte ſich meine Liebe! Wo eine andere ſich künſtlich betragen hätte, um durch überflüſſigen Sonnenſchein einen Entſchluß in dem Herzen ihres Liebhabers zur Reife zu bringen, eine Erklärung her¬ vor zu locken, und ein Verſprechen zu be¬ feſtigen, eben da ziehſt du dich zurück, ſchließeſt die halbgeöffnete Bruſt deines Geliebten wieder zu, und ſuchſt durch eine anſcheinende Gleichgültigkeit deine Bey¬ ſtimmung zu verbergen; aber ich verſtehe dich! Welch ein Elender müßte ich ſeyn, wenn ich an dieſen Zeichen die reine, un¬ eigennützige, nur für den Freund beſorgte155 Liebe nicht erkennen wollte! Vertraue mir und ſey ruhig. Wir gehören einander an, und keins von beiden verläßt oder ver¬ liert etwas, wenn wir für einander leben.
Nimm ſie hin, dieſe Hand! feyerlich noch dieß überflüſſige Zeichen. Alle Freu¬ den der Liebe haben wir empfunden, aber es ſind neue Seligkeiten in dem beſtätig¬ ten Gedanken der Dauer. Frage nicht wie? Sorge nicht! Das Schickſal ſorgt für die Liebe, und um ſo gewiſſer, da Lie¬ be genügſam iſt.
Mein Herz hat ſchon lange meiner Eltern Haus verlaſſen, es iſt bey dir, wie mein Geiſt auf der Bühne ſchwebt. O meine Geliebte! iſt wohl einem Menſchen ſo gewährt, ſeine Wünſche zu verbinden, wie mir? Kein Schlaf kömmt in meine Augen, und wie eine ewige Morgenröthe156 ſteigt deine Liebe und dein Glück vor mir auf und ab.
Kaum daß ich mich halte, nicht auffah¬ re, zu dir hinrenne und mir deine Einwil¬ ligung erzwinge, und gleich morgen frühe weiter in die Welt nach meinem Ziele hin¬ ſtrebe. — Nein, ich will mich bezwingen! ich will nicht unbeſonnen thörigte, verwe¬ gene Schritte thun; mein Plan iſt entwor¬ fen, und ich will ihn ruhig ausführen.
Ich bin mit Director Serlo bekannt, meine Reiſe geht gerade zu ihm, er hat vor einem Jahre oft ſeinen Leuten etwas von meiner Lebhaftigkeit und Freude am Theater gewünſcht, und ich werde ihm ge¬ wiß willkommen ſeyn; denn bey eurer Truppe möchte ich aus mehr als einer Ur¬ ſache nicht eintreten, auch ſpielt Serlo ſo weit von hier, daß ich anfangs meinen Schritt verbergen kann. Einen leidlichen157 Unterhalt finde ich da gleich, ich ſehe mich in dem Publiko um, lerne die Geſellſchaft kennen, und hole dich nach.
Mariane du ſiehſt, was ich über mich gewinnen kann, um dich gewiß zu haben; denn dich ſo lange nicht zu ſehen, dich in der weiten Welt zu wiſſen! recht lebhaft darf ich mir’s nicht denken. Wenn ich mir dann aber wieder deine Liebe vorſtelle, die mich vor allem ſichert, wenn du meine Bitte nicht verſchmähſt, ehe wir uns ſchei¬ den, und du mir deine Hand vor dem Prieſter reichſt; ſo werde ich ruhig gehen. Es iſt nur eine Formel unter uns, aber eine ſo ſchöne Formel, der Seegen des Himmels zu dem Seegen der Erde. In der Nachbarſchaft, im ritterſchaftlichen, geht es leicht und heimlich an.
Für den Anfang habe ich Geld genug, wir wollen theilen, es wird für uns beide158 hinreichen; ehe das verzehrt iſt, wird der Himmel weiter helfen.
Ja, Liebſte, es iſt mir gar nicht bange. Was mit ſo viel Fröhlichkeit begonnen wird, muß ein glückliches Ende erreichen. Ich habe nie gezweifelt, daß man ſein Fortkommen in der Welt finden könne, wenn es einem Ernſt iſt, und ich fühle Muth genug für zwey, ja für mehrere einen reichlichen Unterhalt zu gewinnen. Die Welt iſt undankbar, ſagen viele, ich habe noch nicht gefunden, daß ſie undank¬ bar ſey, wenn man auf die rechte Art et¬ was für ſie zu thun weiß. Mir glüht die ganze Seele bey dem Gedanken, endlich einmal aufzutreten und den Menſchen in das Herz hinein zu reden, was ſie ſich ſo lange zu hören ſehnen. Wie tauſendmal iſt es freylich mir, der ich von der Herr¬ lichkeit des Theaters ſo eingenommen bin,159 bang durch die Seele gegangen, wenn ich die elendeſten geſehen habe ſich einbilden, ſie könnten uns ein großes treffliches Wort ans Herz reden. Ein Ton, der durch die Fiſtel gezwungen wird, klingt viel beſſer und reiner; es iſt unerhört, wie ſich dieſe Burſche in ihrer groben Ungeſchicklichkeit verſündigen.
Das Theater hat oft einen Streit mit der Kanzel gehabt, ſie ſollten, dünkt mich, nicht mit einander hadern. Wie ſehr wäre zu wünſchen, daß an beiden Orten nur durch edle Menſchen Gott und Natur ver¬ herrlicht würden! Es ſind keine Träume, meine Liebſte. Wie ich an deinem Herzen habe fühlen können, daß du in Liebe biſt; ſo ergreife ich auch den glänzenden Ge¬ danken und ſage — ich wills nicht ausſa¬ gen, aber hoffen will ich, daß wir einſt als ein Paar gute Geiſter den Menſchen160 erſcheinen werden, ihre Herzen aufzuſchlieſ¬ ſen, ihre Gemüther zu berühren, und ihnen himmliſche Genüſſe zu bereiten, ſo gewiß mir an deinem Buſen Freuden gewährt waren, die immer himmliſch genennt wer¬ den müſſen, weil wir uns in jenen Augen¬ blicken aus uns ſelbſt gerückt, über uns ſelbſt erhaben fühlen.
Ich kann nicht ſchließen, ich habe ſchon zu viel geſagt, und weiß nicht, ob ich dir ſchon alles geſagt habe, alles was dich angeht; denn die Bewegung des Rades, das ſich in meinem Herzen dreht, ſind kei¬ ne Worte vermögend auszudrücken.
Nimm dieſes Blatt indeß, meine Liebe, ich habe es wieder durchgeleſen und finde, daß ich von vorne anfangen ſollte, doch enthält es alles, was du zu wiſſen nöthig haſt, was dir Vorbereitung iſt, wenn ich bald mit Fröhlichkeit der ſüßen Liebe andei¬161deinen Buſen zurückkehre. Ich komme mir vor wie ein Gefangener, der in einem Kerker lauſchend ſeine Feſſeln abfeilt; ich ſage gute Nacht meinen ſorglos ſchlafen¬ den Eltern. — Lebe wohl, Geliebte! Lebe wohl! Für dießmal ſchließ ich; die Augen ſind mir zwey, dreymal zugefallen, es iſt ſchon tief in der Nacht. »
Der Tag wollte nicht endigen, als Wilhelm, ſeinen Brief ſchön gefaltet in der Taſche, ſich zu Marianen hinſehnte, auch war es kaum düſter geworden, als er ſich wider ſeine Ge¬ wohnheit nach ihrer Wohnung hinſchlich. Sein Plan war: ſich auf die Nacht anzu¬ melden, ſeine Geliebte auf kurze Zeit wieder zu verlaſſen, ihr, eh’ er wegginge, den Brief in die Hand zu drücken, und bey ſeiner Rück¬ kehr in tiefer Nacht ihre Antwort, ihre Ein¬ willigung zu erhalten, oder durch die Macht ſeiner Liebkoſungen zu erzwingen. Er flog in ihre Arme, und konnte ſich an ihrem Bu¬ ſen kaum wieder faſſen. Die Lebhaftigkeit ſeiner Empfindungen verbarg ihm anfangs, daß ſie nicht wie ſonſt mit Herzlichkeit ant¬163 wortete; doch konnte ſie einen ängſtlichen Zuſtand nicht lange verbergen, ſie ſchützte eine Krankheit, eine Unpäßlichkeit vor, ſie beklagte ſich über Kopfweh, ſie wollte ſich auf den Vorſchlag, daß er heute Nacht wie¬ der kommen wolle, nicht einlaſſen. Er ahn¬ dete nichts Böſes, drang nicht weiter in ſie; fühlte aber, daß es nicht die Stunde ſey, ihr ſeinen Brief zu übergeben. Er behielt ihn bey ſich, und da verſchiedene ihrer Be¬ wegungen und Reden ihn auf eine höfliche Weiſe wegzugehen nöthigten, ergriff er im Taumel ſeiner ungenügſamen Liebe eines ihrer Halstücher, ſteckte es in die Taſche, und verließ wider Willen ihre Lippen und ihre Thüre. Er ſchlich nach Hauſe, konnte aber auch da nicht lange bleiben, kleidete ſich um, und ſuchte wieder die freye Luft.
Als er einige Straßen auf und abgegan¬ gen war, begegnete ihm ein Unbekannter, derL 2164nach einen gewiſſen Gaſthofe fragte; Wil¬ helm erbot ſich, ihm das Haus zu zeigen; der Fremde erkundigte ſich nach dem Nah¬ men der Straße, nach den Beſitzern verſchie¬ dener großer Gebäude, vor denen ſie vorbey gingen, ſodann nach einigen Polizey – Ein¬ richtungen der Stadt, und ſie waren in ei¬ nem ganz intereſſanten Geſpräche begriffen, als ſie am Thore des Wirthshauſes anka¬ men. Der Fremde nöthigte ſeinen Führer hinein zu treten, und ein Glas Punſch mit ihm zu trinken, zugleich gab er ſeinen Nah¬ men an und ſeinen Geburtsort, auch die Ge¬ ſchäfte, die ihn hierher gebracht hätten, und erſuchte Wilhelmen um ein gleiches Ver¬ trauen. Dieſer verſchwieg eben ſo wenig ſei¬ nen Nahmen, als ſeine Wohnung.
Sind Sie nicht ein Enkel des alten Mei¬ ſters, der die ſchöne Kunſtſammlung beſaß? fragte der Fremde.
165Ja, ich bins, ich war zehn Jahre als der Großvater ſtarb, und es ſchmerzte mich leb¬ haft, die ſchönen Sachen verkaufen zu ſehen.
Ihr Vater hat eine große Summe Gel¬ des dafür erhalten.
Sie wiſſen alſo davon?
O ja, ich habe dieſen Schatz noch in Ih¬ rem Hauſe geſehen. Ihr Großvater war nicht blos ein Sammler, er verſtand ſich auf die Kunſt, er war in einer frühern glückli¬ chen Zeit in Italien geweſen, und hatte Schätze von dort mit zurück gebracht, welche jetzt um keinen Preis mehr zu haben wären. Er beſaß treffliche Gemählde von den beſten Meiſtern, man traute kaum ſeinen Augen, wenn man ſeine Handzeichnungen durchſah; unter ſeinen Marmorn waren einige un¬ ſchätzbare Fragmente; von Bronzen beſaß er eine ſehr inſtructive Suite; ſo hatte er auch ſeine Münzen für Kunſt und Geſchichte zweck¬166 mäßig geſammelt, ſeine wenigen geſchnitte¬ nen Steine verdienten alles Lob; auch war das Ganze gut aufgeſtellt, wenn gleich die Zimmer und Säle des alten Hauſes nicht ſymmetriſch gebaut waren.
Sie können denken, was wir Kinder ver¬ loren, als alle die Sachen herunter genom¬ men und eingepackt wurden. Es waren die erſten traurigen Zeiten meines Lebens. Ich weiß noch, wie leer uns die Zimmer vorka¬ men, als wir die Gegenſtände nach und nach verſchwinden ſahen, die uns von Jugend auf unterhalten hatten, und die wir eben ſo un¬ veränderlich hielten, als das Haus und die Stadt ſelbſt.
Wenn ich nicht irre, ſo gab Ihr Vater das gelöſte Capital in die Handlung eines Nachbars, mit dem er eine Art Geſellſchafts - Handel einging?
Ganz richtig! und ihre geſellſchaftlichen167 Speculationen ſind ihnen wohl geglückt; ſie haben in dieſen zwölf Jahren ihr Vermögen ſehr vermehrt, und ſind beide nur deſto hef¬ tiger auf den Erwerb geſtellt; auch hat der alte Werner einen Sohn, der ſich viel beſſer zu dieſem Handwerke ſchickt, als ich.
Es thut mir leid, daß dieſer Ort eine ſolche Zierde verloren hat, als das Cabinet Ihres Großvaters war. Ich ſah es noch kurz vorher, ehe es verkauft wurde, und ich darf wohl ſagen, ich war Urſache, daß der Kauf zu Stande kam. Ein reicher Edel¬ mann, ein großer Liebhaber, der aber bey ſo einem wichtigen Handel ſich nicht allein auf ſein eigen Urtheil verließ, hatte mich hierher geſchickt, und verlangte meinen Rath. Sechs Tage beſah ich das Cabinet, und am ſieben¬ ten rieth ich meinem Freunde, die ganze ge¬ forderte Summe ohne Anſtand zu bezahlen. Sie waren als ein munterer Knabe oft um168 mich herum; Sie erklärten mir die Gegen¬ ſtände der Gemählde, und wußten überhaupt das Cabinet recht gut auszulegen.
Ich erinnere mich einer ſolchen Perſon, aber in Ihnen hätte ich ſie nicht wieder er¬ kannt.
Es iſt auch ſchon eine Zeit, in der wir uns mehr oder weniger verändern. Sie hat¬ ten, wenn ich mich recht erinnere, ein Lieb¬ lings-Bild darunter, von dem Sie mich gar nicht weglaſſen wollten.
Ganz richtig, es ſtellte die Geſchichte vor, wie der kranke Königsſohn ſich über die Braut ſeines Vaters in Liebe verzehrt.
Es war eben nicht das beſte Gemählde, nicht gut zuſammengeſetzt, von keiner ſonder¬ lichen Farbe, und die Ausführung durchaus manierirt.
Das verſtand ich nicht, und verſteh es noch nicht; der Gegenſtand iſt es, der169 mich an einem Gemählde reizt, nicht die Kunſt.
Da ſchien Ihr Großvater anders zu den¬ ken; denn der größte Theil ſeiner Samm¬ lung beſtand aus trefflichen Sachen, in denen man immer das Verdienſt ihres Meiſters be¬ wunderte, ſie mochten vorſtellen was ſie woll¬ ten; auch hing dieſes Bild in dem äuſſerſten Vorſaale, zum Zeichen, daß er es wenig ſchätzte.
Da war es eben, wo wir Kinder immer ſpielen durften, und wo dieſes Bild einen unauslöſchlichen Eindruck auf mich machte, den mir ſelbſt Ihre Kritik, die ich übrigens verehre, nicht auslöſchen könnte, wenn wir auch jetzt vor dem Bilde ſtünden. Wie jam¬ merte mich, wie jammert mich noch ein Jüng¬ ling, der die ſüßen Triebe, das ſchönſte Erb¬ theil, das uns die Natur gab, in ſich ver¬ ſchließen, und das Feuer, das ihn und ande¬170 re erwärmen und beleben ſollte, in ſeinem Buſen verbergen muß, ſo daß ſein Innerſtes unter ungeheuren Schmerzen verzehrt wird. Wie bedaure ich die Unglückliche, die ſich einem andern widmen ſoll, wenn ihr Herz ſchon den würdigen Gegenſtand eines wah¬ ren und reinen Verlangens gefunden hat.
Dieſe Gefühle ſind freylich ſehr weit von jenen Betrachtungen entfernt, unter denen ein Kunſtliebhaber die Werke großer Meiſter anzuſehen pflegt; wahrſcheinlich würde Ihnen aber, wenn das Cabinet ein Eigenthum Ih¬ res Hauſes geblieben wäre, nach und nach der Sinn für die Werke ſelbſt aufgegangen ſeyn, ſo daß Sie nicht immer nur ſich ſelbſt und Ihre Neigung in den Kunſtwerken geſe¬ hen hätten.
Gewiß that mir der Verkauf des Cabi¬ nettes gleich ſehr leid, und ich habe es auch in reifern Jahren öfters vermißt; wenn ich171 aber bedenke, daß es gleichſam ſo ſeyn mu߬ te, um eine Liebhaberey, um ein Talent in mir zu entwickeln, die weit mehr auf mein Leben wirken ſollten, als jene lebloſen Bil¬ der je gethan hätten; ſo beſcheide ich mich denn gern, und verehre das Schickſal das mein Beſtes und eines jeden Beſtes einzulei¬ ten weiß.
Leider höre ich ſchon wieder das Wort Schickſal von einem jungen Manne ausſpre¬ chen, der ſich eben in einem Alter befindet, wo man gewöhnlich ſeinen lebhaften Neigun¬ gen den Willen höherer Weſen unterzuſchie¬ ben pflegt.
So glauben Sie kein Schickſal? Keine Macht, die über uns waltet, und alles zu unſerm Beſten lenkt?
Es iſt hier die Rede nicht von meinem Glauben, noch der Ort auszulegen, wie ich mir Dinge, die uns allen unbegreiflich ſind,172 einigermaßen denkbar zu machen ſuche; hier iſt nur die Frage, welche Vorſtellungsart zu unſerm Beſten gereicht. Das Gewebe dieſer Welt iſt aus Nothwendigkeit und Zufall ge¬ bildet, die Vernunft des Menſchen ſtellt ſich zwiſchen beide, und weiß ſie zu beherrſchen, ſie behandelt das Nothwendige als den Grund ihres Daſeyns, das Zufällige weiß ſie zu lenken, zu leiten und zu nutzen, und nur, indem ſie feſt und unerſchütterlich ſteht, ver¬ dient der Menſch ein Gott der Erde genannt zu werden. Wehe dem, der ſich von Jugend auf gewöhnt, in dem Nothwendigen etwas Willkürliches finden zu wollen, der dem Zu¬ fälligen eine Art von Vernunft zuſchreiben möchte, welcher zu folgen ſogar eine Religion ſey. Heißt das etwas weiter, als ſeinem eignem Verſtande entſagen, und ſeinen Nei¬ gungen unbedingten Raum geben? Wir bil¬ den uns ein, fromm zu ſeyn, indem wir ohne173 Überlegung hinſchlendern, uns durch ange¬ nehme Zufälle determiniren laſſen, und end¬ lich dem Reſultate eines ſolchen ſchwanken¬ den Lebens den Nahmen einer göttlichen Führung geben.
Waren Sie niemals in dem Falle, daß ein kleiner Umſtand Sie veranlaßte, einen gewiſſen Weg einzuſchlagen, auf welchem bald eine gefällige Gelegenheit Ihnen entge¬ gen kam, und eine Reihe von unerwarteten Vorfällen Sie endlich ans Ziel brachte, das Sie ſelbſt noch kaum ins Auge gefaßt hat¬ ten? Sollte das nicht Ergebenheit in das Schickſal, Zutrauen zu einer ſolchen Leitung einflößen? —
Mit dieſen Geſinnungen könnte kein Mädchen ihre Tugend, niemand ſein Geld im Beutel behalten; denn es giebt Anläſſe genug, beides los zu werden. Ich kann mich nur über den Menſchen freuen, der weiß,174 was ihm und andern nütze iſt, und ſeine Willkür zu beſchränken arbeitet. Jeder hat ſein eigen Glück unter den Händen, wie der Künſtler eine rohe Materie, die er zu einer Geſtalt umbilden will. Aber es iſt mit die¬ ſer Kunſt wie mit allen, nur die Fähigkeit dazu wird uns angeboren, ſie will gelernt und ſorgfältig ausgeübt ſeyn.
Dieſes und mehreres wurde noch unter ihnen abgehandelt; endlich trennten ſie ſich, ohne daß ſie einander ſonderlich überzeugt zu haben ſchienen, doch beſtimmten ſie auf den folgenden Tag einen Ort der Zuſammenkunft.
Wilhelm ging noch einige Straßen auf und nieder; er hörte Clarinetten, Waldhörner und Fagotte, es ſchwoll ſein Buſen. Durch¬ reiſende Spielleute machten eine angenehme Nachtmuſik. Er ſprach mit ihnen, und um ein Stück Geld folgten ſie ihm zu Maria¬ nens Wohnung. Hohe Bäume zierten den175 Platz vor ihrem Hauſe, darunter ſtellte er ſeine Sänger, er ſelbſt ruhte auf einer Bank in einiger Entfernung, und überließ ſich ganz den ſchwebenden Tönen, die in der labenden Nacht um ihn ſäuſelten. Unter den holden Sternen hingeſtreckt war ihm ſein Daſeyn wie ein goldner Traum. — Sie hört auch dieſe Flöten, ſagte er in ſeinem Herzen; ſie fühlt, weſſen Andenken, weſſen Liebe die Nacht wohlklingend macht, auch in der Ent¬ fernung ſind wir durch dieſe Melodien zu¬ ſammen gebunden, wie in jeder Entfernung durch die feinſte Stimmung der Liebe. Ach zwey liebende Herzen, ſie ſind wie zwey Magnetuhren, was in der einen ſich regt, muß auch die andere mit bewegen, denn es iſt nur Eins, was in beiden wirkt, Eine Kraft, die ſie durchgeht. Kann ich in ihren Armen eine Möglichkeit fühlen, mich von ihr zu trennen? und doch, ich werde fern von176 ihr ſeyn, werde einen Heilort für unſere Liebe ſuchen, und werde ſie immer mit mir haben.
Wie oft iſt mirs geſchehen, daß ich ab¬ weſend von ihr, in Gedanken an ſie verlo¬ ren, ein Buch, ein Kleid oder ſonſt etwas berührte, und glaubte ihre Hand zu fühlen, ſo ganz war ich mit ihrer Gegenwart um¬ kleidet. Und jener Augenblicke mich zu erin¬ nern, die das Licht des Tages wie das Auge des kalten Zuſchauers fliehen, die zu genieſ¬ ſen Götter den ſchmerzloſen Zuſtand der rei¬ nen Seligkeit zu verlaſſen ſich entſchließen dürften. — Mich zu erinnern? — Als wenn man den Rauſch des Taumelkelchs in der Erinnerung erneuern könnte, der unſere Sin¬ ne an himmliſchen Stricken gebunden aus aller ihrer Faſſung reißt. — Und ihre Ge¬ ſtalt — — Er verlor ſich im Andenken an ſie, ſeine Ruhe ging in Verlangen über, er umfaßte einen Baum, kühlte ſeine heißeWan¬177Wange an der Rinde, und die Winde der Nacht ſaugten begierig den Hauch auf, der aus dem reinen Buſen bewegt hervordrang. Er fühlte nach dem Halstuch, das er von ihr mitgenommen hatte, es war vergeſſen, es ſteckte im vorigen Kleide. Seine Lippen lechz¬ ten, ſeine Glieder zitterten vor Verlangen.
Die Muſik hörte auf, und es war ihm, als wär’ er aus dem Elemente gefallen, in dem ſeine Empfindungen bisher empor getra¬ gen wurden. Seine Unruhe vermehrte ſich, da ſeine Gefühle nicht mehr von den ſanften Tönen genährt und gelindert wurden. Er ſetzte ſich auf ihre Schwelle nieder, und war ſchon mehr beruhigt. Er küßte den meſſin¬ genen Ring, womit man an ihre Thüre pochte, er küßte die Schwelle, über die ihre Füße aus und ein gingen, und erwärmte ſie durch das Feuer ſeiner Bruſt. Dann ſaß er wieder eine Weile ſtille, und dachte ſie hin¬W. Meiſters Lehrj. M178ter ihren Vorhängen, im weißen Nachtkleide mit dem rothen Band um den Kopf in ſüßer Ruhe, und dachte ſich ſelbſt ſo nahe zu ihr hin, daß ihm vorkam, ſie müßte nun von ihm träumen. Seine Gedanken waren lieblich, wie die Geiſter der Dämmerung; Ruhe und Verlangen wechſelten in ihm, die Liebe lief mit ſchaudernder Hand tauſendfältig über alle Saiten ſeiner Seele, es war, als wenn der Geſang der Sphären über ihm ſtille ſtünde, um die leiſen Melodien ſeines Her¬ zens zu belauſchen.
Hätte er den Hauptſchlüſſel bey ſich ge¬ habt, der ihm ſonſt Marianens Thüre öffne¬ te, er würde ſich nicht gehalten haben, wür¬ de ins Heiligthum der Liebe eingedrungen ſeyn. Doch er entfernte ſich langſam, ſchwankte halb träumend unter den Bäumen hin, woll¬ te nach Hauſe, und ward immer wieder um¬ gewendet; endlich als er’s über ſich vermoch¬179 te, ging, und an der Ecke noch einmal zurück ſah, kam es ihm vor, als wenn Marianens Thüre ſich öffnete, und eine dunkle Geſtalt ſich heraus bewegte. Er war zu weit, um deutlich zu ſehen, und eh er ſich faßte und recht aufſah, hatte ſich die Erſcheinung ſchon in der Nacht verloren, nur ganz weit glaub¬ te er ſie wieder an einem weißen Hauſe vor¬ bey ſtreifen zu ſehen. Er ſtund und blinzte, und ehe er ſich ermannte und nacheilte, war das Phantom verſchwunden. Wohin ſollt’ er ihm folgen? Welche Straße hatte den Menſchen aufgenommen, wenn es einer war?
Wie einer, dem der Blitz die Gegend in einem Winkel erhellte, gleich darauf mit ge¬ blendeten Augen die vorigen Geſtalten, den Zuſammenhang der Pfade in der Finſterniß vergebens ſucht, ſo war’s vor ſeinen Augen, ſo war’s in ſeinem Herzen. Und wie ein Geſpenſt der Mitternacht, das ungeheureM 2180Schrecken erzeugt, in folgenden Augenblicken der Faſſung für ein Kind des Schreckens ge¬ halten wird, und die fürchterliche Erſcheinung Zweifel ohne Ende in der Seele zurück läßt; ſo war auch Wilhelm in der größten Un¬ ruhe, als er an einen Eckſtein gelehnt, die Helle des Morgens und das Geſchrey der Hähne nicht achtete, bis die frühen Gewer¬ be lebendig zu werden anfingen, und ihn nach Hauſe trieben.
Er hatte, wie er zurück kam, das uner¬ wartete Blendwerk mit den triftigſten Grün¬ den beynahe aus der Seele vertrieben; doch die ſchöne Stimmung der Nacht, an die er jetzt auch nur wie an eine Erſcheinung zu¬ rück dachte, war auch dahin. Sein Herz zu letzen, ein Siegel ſeinem wiederkehrenden Glauben aufzudrücken, nahm er das Hals¬ tuch aus der vorigen Taſche. Das Rauſchen eines Zettels, der herausfiel, zog ihm das181 Tuch von den Lippen; er hob auf und las:
» So hab ich dich lieb, kleiner Narre, was war dir auch geſtern? Heute Nacht komm ich zu dir. Ich glaube wohl, daß dir’s leid thut, von hier wegzugehen; aber habe Geduld, auf die Meſſe komm ich dir nach. Höre, thu mir nicht wieder die ſchwarz – grün – braune Jacke an, du ſiehſt drin aus wie die Hexe von Endor. Hab’ ich dir nicht das weiße Neglige darum ge¬ ſchickt, daß ich ein weißes Schäfchen in meinen Armen haben will. Schick mir deine Zettel immer durch die alte Sibylle, die hat der Teufel ſelbſt zur Iris beſtellt. »
Jeder, der, mit lebhaften Kräften, vor un¬ ſern Augen, eine Abſicht zu erreichen ſtrebt, kann, wir mögen ſeinen Zweck loben oder tadeln, ſich unſre Theilnahme verſprechen; ſobald über die Sache entſchieden iſt, wen¬ den wir unſer Auge ſogleich von ihm weg; alles was geendigt, was abgethan da liegt, kann unſre Aufmerkſamkeit keineswegs feſ¬ ſeln, beſonders wenn wir ſchon frühe der Un¬ ternehmung einen übeln Ausgang prophe¬ zeiht haben.
Deswegen ſollen unſre Leſer nicht um¬ ſtändlich mit dem Jammer und der Noth unſers verunglückten Freundes unterhalten186 werden, die ihn befielen, als er ſeine Hoff¬ nungen und Wünſche, auf eine ſo unerwar¬ tete Weiſe, zerſtört ſah. Wir überſpringen vielmehr einige Jahre, und ſuchen ihn erſt da wieder auf, wo wir ihn in einer Art von Thätigkeit und Genuß zu finden hoffen, wenn wir vorher nur kürzlich ſo viel, als zum Zuſammenhang der Geſchichte nöthig iſt, vorgetragen haben.
Die Peſt, oder ein böſes Fieber raſen in einem geſunden, vollſaftigen Körper, den ſie anfallen, ſchneller und heftiger, und ſo ward der arme Wilhelm unvermuthet von einem unglücklichen Schickſale überwältigt, daß in Einem Augenblicke ſein ganzes Weſen zer¬ rüttet war. Wie wenn von ohngefähr unter der Zurüſtung ein Feuerwerk in Brand ge¬ räth, und die künſtlich gebohrten und gefüll¬ ten Hülſen, die, nach einem gewiſſen Plane geordnet und abgebrannt, prächtig abwech¬187 ſelnde Feuer-Bilder in die Luft zeichnen ſoll¬ ten, nunmehr unordentlich und gefährlich durch einander ziſchen und ſauſen; ſo gingen auch jetzt in ſeinem Buſen Glück und Hoff¬ nung, Wolluſt und Freuden, Wirkliches und Geträumtes auf einmal ſcheiternd durch ein¬ ander. In ſolchen wüſten Augenblicken er¬ ſtarrt der Freund, der zur Rettung hinzu eilt, und dem, den es trift, iſt es eine Wohl¬ that, daß ihn die Sinne verlaſſen.
Tage des lauten, ewig wiederkehrenden und mit Vorſatz erneuerten Schmerzens folg¬ ten darauf; doch ſind auch dieſe für eine Gnade der Natur zu achten. In ſolchen Stunden hatte Wilhelm ſeine Geliebte noch nicht ganz verloren; ſeine Schmerzen waren unermüdet erneuerte Verſuche, das Glück, das ihm aus der Seele entfloh, noch feſt zu hal¬ ten, die Möglichkeit deſſelben in der Vor¬ ſtellung wieder zu erhaſchen, ſeinen auf im¬188 mer abgeſchiedenen Freuden ein kurzes Nach¬ leben zu verſchaffen. Wie man einen Kör¬ per, ſo lange die Verweſung dauert, nicht ganz todt nennen kann, ſo lange die Kräfte, die vergebens nach ihren alten Beſtimmun¬ gen zu wirken ſuchen, an der Zerſtörung der Theile, die ſie ſonſt belebten, ſich abar¬ beiten; nur dann, wenn ſich alles an einan¬ der aufgerieben hat, wenn wir das Ganze in gleichgültigen Staub zerlegt ſehen, dann entſteht in uns das erbärmliche, leere Ge¬ fühl des Todes, nur durch den Athem des Ewiglebenden zu erquicken.
In einem ſo neuen, ganzen, lieblichen Gemüthe war viel zu zerreiſſen, zu zer¬ ſtören, zu ertödten, und die ſchnellheilende Kraft der Jugend gab ſelbſt der Gewalt des Schmerzens neue Nahrung und Heftigkeit. Der Streich hatte ſein ganzes Daſeyn an der Wurzel getroffen. Werner, aus Noth189 ſein Vertrauter, griff voll Eifer zu Feuer und Schwert, um einer verhaßten Leiden¬ ſchaft, dem Ungeheuer, ins innerſte Leben zu dringen. Die Gelegenheit war ſo glücklich, das Zeugniß ſo bey der Hand, und wieviel Geſchichten und Erzählungen wußt’ er nicht zu nutzen. Er trieb’s mit ſolcher Heftigkeit und Grauſamkeit Schritt vor Schritt, ließ dem Freunde nicht das Labſal des mindeſten augenblicklichen Betruges, vertrat ihm jeden Schlupfwinkel, in welchen er ſich vor der Verzweiflung hätte retten können, daß die Natur, die ihren Liebling nicht wollte zu Grunde gehen laſſen, ihn mit Krankheit an¬ fiel, um ihm von der andern Seite Luft zu machen.
Ein lebhaftes Fieber mit ſeinem Gefolge, den Arzeneyen, der Überſpannung und der Mattigkeit; dabey die Bemühungen der Fa¬ milie, die Liebe der Mitgebohrnen, die durch190 Mangel und Bedürfniſſe ſich erſt recht fühl¬ bar macht, waren ſo viele Zerſtreuungen ei¬ nes veränderten Zuſtandes, und eine küm¬ merliche Unterhaltung. Erſt als er wieder beſſer wurde, das heißt, als ſeine Kräfte er¬ ſchöpft waren, ſah Wilhelm, mit Entſetzen, in den qualvollen Abgrund eines dürren Elendes hinab, wie man in den ausgebrann¬ ten hohlen Becher eines Vulkans hinunter blickt.
Nunmehr machte er ſich ſelbſt die bitter¬ ſten Vorwürfe, daß er, nach ſo großem Ver¬ luſt, noch einen ſchmerzloſen, ruhigen, gleich¬ gültigen Augenblick haben könne. Er ver¬ achtete ſein eigen Herz, und ſehnte ſich nach dem Labſal des Jammers und der Thränen.
Um dieſe wieder in ſich zu erwecken, brachte er vor ſein Andenken alle Scenen des vergangnen Glücks. Mit der größten Lebhaftigkeit mahlte er ſie ſich aus, ſtrebte191 wieder in ſie hinein, und wenn er ſich zur möglichſten Höhe hinauf gearbeitet hatte, wenn ihm der Sonnenſchein voriger Tage wieder die Glieder zu beleben, den Buſen zu heben ſchien, ſah er rückwärts auf den ſchrecklichen Abgrund, labte ſein Auge an der zerſchmetternden Tiefe, warf ſich hinunter, und erzwang von der Natur die bitterſten Schmerzen. Mit ſo wiederholter Grauſam¬ keit zerriß er ſich ſelbſt, denn die Jugend, die ſo reich an eingehüllten Kräften iſt, weiß nicht, was ſie verſchleudert, wenn ſie dem Schmerz, den ein Verluſt erregt, noch ſo vie¬ le erzwungene Leiden zugeſellt, als wollte ſie dem Verlornen dadurch noch erſt einen rech¬ ten Werth geben. Auch war er ſo über¬ zeugt, daß dieſer Verluſt der Einzige, der erſte und letzte ſey, den er in ſeinem Leben empfinden könne, daß er jeden Troſt verab¬ ſcheute, der ihm dieſe Leiden als endlich vor¬ zuſtellen unternahm.
192Gewöhnt, auf dieſe Weiſe ſich ſelbſt zu quä¬ len, griff er nun auch das übrige, was ihm nach der Liebe und mit der Liebe die größten Freuden und Hoffnungen gegeben hatte, ſein Talent als Dichter und Schauſpieler, mit hämiſcher Kritik von allen Seiten an. Er ſah in ſeinen Arbeiten nichts als eine geiſt¬ loſe Nachahmung einiger hergebrachten For¬ men, ohne innern Werth; er wollte darin nur ſteife Schulexercitien erkennen, denen es an jedem Funken von Naturell, Wahrheit und Begeiſterung fehle. In ſeinen Gedich¬ ten fand er nur ein monotones Sylbenmaaß, in welchem, durch einen armſeligen Reim zu¬ ſammen gehalten, ganz gemeine Gedanken und Empfindungen ſich hinſchleppten, undſo193ſo benahm er ſich auch jede Ausſicht, jede Luſt, die ihn von dieſer Seite noch allenfalls hätte wieder aufrichten können.
Seinem Schauſpieler-Talente ging es nicht beſſer. Er ſchalt ſich, daß er nicht frü¬ her die Eitelkeit entdeckt, die allein dieſer Anmaßung zum Grunde gelegen. Seine Fi¬ gur, ſein Gang, ſeine Bewegung und Dekla¬ mation mußten herhalten, und ſo ſprach er ſich jede Art von Vorzug, jedes Verdienſt, das ihn über das Gemeine empor gehoben hätte, entſcheidend ab, und vermehrte ſeine ſtumme Verzweiflung dadurch auf den höch¬ ſten Grad. Denn, wenn es hart iſt, der Liebe eines Weibes zu entſagen, ſo iſt die Empfindung nicht weniger ſchmerzlich, von dem Umgange der Muſen ſich los zu reiſſen, ſich ihrer Gemeinſchaft auf immer unwürdig zu erklären, und auf den ſchönſten und näch¬ ſten Beyfall, der unſrer Perſon, unſerm Be¬W. Meiſters Lehrj. N194tragen, unſrer Stimme öffentlich gegeben wird, Verzicht zu thun.
Auf dieſe Weiſe hatte ſich unſer Freund völlig reſignirt, und ſich zugleich mit großen Eifer den Handelsgeſchäften gewidmet. Zum Erſtaunen ſeines Freundes und zur größten Zufriedenheit ſeines Vaters war niemand auf dem Comtoir und der Börſe, im Laden und Gewölbe thätiger, als er; Correſpondenz und Rechnungen, und was ihm aufgetragen wur¬ de, beſorgte und verrichtete er mit größten Fleiß und Eifer. Freylich nicht mit dem heitern Fleiße, der zugleich dem Geſchäftigen Belohnung iſt, wenn wir dasjenige, wozu wir geboren ſind, mit Ordnung und Folge verrichten, ſondern mit dem ſtillen Fleiße der Pflicht, der den beſten Vorſatz zum Grunde hat, der durch Überzeugung genährt und durch ein innres Selbſtgefühl belohnt wird; der aber doch oft, ſelbſt dann, wenn ihm das195 ſchönſte Bewußtſeyn die Krone reicht, einen vordringenden Seufzer kaum zu erſticken vermag.
Auf dieſe Weiſe hatte Wilhelm eine Zeit¬ lang ſehr emſig fortgelebt und ſich überzeugt, daß jene harte Prüfung vom Schickſale zu ſeinem Beſten veranſtaltet worden. Er war froh, auf dem Wege des Lebens ſich bey Zeiten, obgleich unfreundlich genug, gewarnt zu ſehen, anſtatt daß andere ſpäter und ſchwerer die Mißgriffe büßen, wozu ſie ein jugendlicher Dünkel verleitet hat. Denn ge¬ wöhnlich wehrt ſich der Menſch ſo lange als er kann, den Thoren, den er im Buſen hegt, zu verabſchieden, einen Hauptirrthum zu be¬ kennen, und eine Wahrheit einzugeſtehen, die ihn zur Verzweiflung bringt.
So entſchloſſen er war, ſeinen liebſten Vorſtellungen zu entſagen, ſo war doch eini¬ ge Zeit nöthig, um ihn von ſeinem UnglückeN 2196völlig zu überzeugen. Endlich aber hatte er jede Hoffnung der Liebe, des poetiſchen Her¬ vorbringens und der perſönlichen Darſtellung, mit triftigen Gründen, ſo ganz in ſich ver¬ nichtet, daß er Muth faßte, alle Spuren ſei¬ ner Thorheit, alles, was ihn irgend noch dar¬ an erinnern könnte, völlig auszulöſchen. Er hatte daher an einem kühlen Abende ein Kaminfeuer angezündet, und holte ein Reli¬ quienkäſtchen hervor, in welchem ſich hun¬ derterley Kleinigkeiten fanden, die er in be¬ deutenden Augenblicken von Marianen er¬ halten, oder derſelben geraubt hatte. Jede vertrocknete Blume erinnerte ihn an die Zeit, da ſie noch friſch in ihren Haaren blühte, jedes Zettelchen an die glückliche Stunde, wozu ſie ihn dadurch einlud, jede Schleife an den lieblichen Ruheplatz ſeines Hauptes, ihren ſchönen Buſen. Mußte nicht auf dieſe Weiſe jede Empfindung, die er ſchon lange197 getödtet glaubte, ſich wieder zu bewegen an¬ fangen? Mußte nicht die Leidenſchaft, über die er, abgeſchieden von ſeiner Geliebten, Herr geworden war, in der Gegenwart die¬ ſer Kleinigkeiten wieder mächtig werden? Denn wir merken erſt, wie traurig und un¬ angenehm ein trüber Tag iſt, wenn ein ein¬ ziger, durchdringender Sonnenblick uns den aufmunternden Glanz einer heitern Stunde darſtellt.
Nicht ohne Bewegung ſah er daher dieſe ſo lange bewahrten Heiligthümer nach ein¬ ander in Rauch und Flamme vor ſich aufge¬ hen. Einigemal hielt er zaudernd inne, und hatte noch eine Perlenſchnur und ein flohr¬ nes Halstuch übrig, als er ſich entſchloß, mit den dichteriſchen Verſuchen ſeiner Jugend das abnehmende Feuer wieder aufzufriſchen.
Bis jetzt hatte er alles ſorgfältig aufge¬ hoben, was ihm, von der frühſten Entwick¬198 lung ſeines Geiſtes an, aus der Feder ge¬ floſſen war. Noch lagen ſeine Schriften in Bündel gebunden auf dem Boden des Kof¬ fers, wohin er ſie gepackt hatte, als er ſie auf ſeiner Flucht mitzunehmen hoffte. Wie ganz anders eröffnete er ſie jetzt, als er ſie damals zuſammen band!
Wenn wir einen Brief, den wir unter gewiſſen Umſtänden geſchrieben und geſiegelt haben, der aber den Freund, an den er ge¬ richtet war, nicht antrift, ſondern wieder zu uns zurück gebracht wird, nach einiger Zeit eröffnen, überfällt uns eine ſonderbare Em¬ pfindung, indem wir unſer eignes Siegel erbrechen, und uns mit unſern veränderten Selbſt wie mit einer dritten Perſon unter¬ halten. Ein ähnliches Gefühl ergriff mit Heftigkeit unſern Freund, als er das erſte Paquet eröffnete, die zertheilten Hefte ins Feuer warf, die eben gewaltſam aufloderten,199 als Werner hereintrat, ſich über die lebhafte Flamme verwunderte, und fragte, was hier vorgehe?
Ich gebe einen Beweis, ſagte Wilhelm, daß es mir ernſt ſey, ein Handwerk aufzu¬ geben, wozu ich nicht geboren ward; und mit dieſen Worten warf er das zweyte Pa¬ quet in das Feuer. Werner wollte ihn ab¬ halten, allein es war geſchehen.
Ich ſehe nicht ein, wie du zu dieſem Ex¬ trem kommſt, ſagte dieſer. Warum ſollen denn nun dieſe Arbeiten, wenn ſie nicht vor¬ trefflich ſind, gar vernichtet werden?
Weil ein Gedicht entweder vortrefflich ſeyn, oder gar nicht exiſtiren ſoll. Weil jeder, der keine Anlage hat, das Beſte zu leiſten, ſich der Kunſt enthalten, und ſich vor jeder Verführung dazu ernſtlich in Acht nehmen ſollte. Denn freylich regt ſich in jedem Menſchen ein gewiſſes unbeſtimmtes200 Verlangen, dasjenige was er ſieht, nachzu¬ ahmen; aber dieſes Verlangen beweiſt gar nicht, daß auch in uns die Kraft wohne, mit dem, was wir unternehmen, zu Stande zu kommen. Sieh nur die Knaben an, wie ſie jedesmal, ſo oft Seiltänzer in der Stadt ge¬ weſen, auf allen Planken und Balken hin und wieder gehen und balanciren, bis ein anderer Reiz ſie wieder zu einem ähnlichen Spiele hinzieht. Haſt du es nicht in dem Zirkel unſrer Freunde bemerkt? So oft ſich ein Virtuoſe hören läßt, finden ſich immer einige, die ſogleich daſſelbe Inſtrument zu lernen anfangen. Wie viele irren auf die¬ ſem Wege herum; glücklich wer den Fehl¬ ſchluß von ſeinen Wünſchen auf ſeine Kräfte bald gewahr wird!
Werner widerſprach; die Unterredung ward lebhaft, und Wilhelm konnte nicht ohne Bewegung die Argumente, mit denen201 er ſich ſelbſt ſo oft gequält hatte, gegen ſei¬ nen Freund wiederholen. Werner behaupte¬ te, es ſey nicht vernünftig, ein Talent, zu dem man nur einigermaßen Neigung und Geſchick habe, deswegen, weil man es nie¬ mals in der größten Vollkommenheit aus¬ üben werde, ganz aufzugeben. Es finde ſich ja ſo manche leere Zeit, die man dadurch ausfüllen, und nach und nach etwas hervor¬ bringen könne, wodurch wir uns und andern ein Vergnügen bereiten.
Unſer Freund, der hierin ganz anderer Meynung war, fiel ihm ſogleich ein, und ſagte mit großer Lebhaftigkeit:
Wie ſehr irrſt du, lieber Freund, wenn du glaubſt, daß ein Werk, deſſen erſte Vor¬ ſtellung die ganze Seele füllen muß, in un¬ terbrochenen, zuſammen gegeizten Stunden könne hervorgebracht werden. Nein, der Dichter muß ganz ſich, ganz in ſeinen ge¬202 liebten Gegenſtänden leben. Er, der vom Himmel innerlich auf das köſtlichſte begabt iſt, der einen, ſich immer ſelbſt vermehrenden Schatz im Buſen bewahrt, er muß auch von auſſen ungeſtört mit ſeinen Schätzen in der ſtillen Glückſeligkeit leben, die ein Reicher vergebens mit aufgehäuften Gütern um ſich hervorzubringen ſucht. Sieh die Menſchen an, wie ſie nach Glück und Vergnügen ren¬ nen! Ihre Wünſche, ihre Mühe, ihr Geld jagen raſtlos, und wornach? Nach dem, was der Dichter von der Natur erhalten hat, nach dem Genuß der Welt, nach dem Mit¬ gefühl ſeiner ſelbſt in andern, nach einem har¬ moniſchen Zuſammenſeyn mit vielen oft un¬ vereinbaren Dingen.
Was beunruhiget die Menſchen, als daß ſie ihre Begriffe nicht mit den Sachen ver¬ binden können, daß der Genuß ſich ihnen unter den Händen wegſtiehlt, daß das ge¬203 wünſchte zu ſpät kommt, und daß alles er¬ reichte und erlangte auf ihr Herz nicht die Wirkung thut, welche die Begierde uns in der Ferne ahnden läßt. Gleichſam wie einen Gott hat das Schickſal den Dichter über dieſes alles hinüber geſetzt. Er ſieht das Gewirre der Leidenſchaften, Familien und Reiche ſich zwecklos bewegen, er ſieht die unauflöslichen Räzel der Mißverſtändniſſe, denen oft nur ein einſylbiges Wort zur Ent¬ wicklung fehlt, unſäglich verderbliche Ver¬ wirrungen verurſachen. Er fühlt das Trau¬ rige und das Freudige jedes Menſchenſchick¬ ſals mit. Wenn der Weltmenſch in einer abzehrenden Melancholie über großen Ver¬ luſt ſeine Tage hinſchleicht, oder in ausge¬ laſſener Freude ſeinem Schickſale entgegen geht, ſo ſchreitet die empfängliche leichtbe¬ wegliche Seele des Dichters, wie die wan¬ delnde Sonne, von Nacht zu Tag fort, und204 mit leiſen Übergängen ſtimmt ſeine Harfe zu Freude und Leid. Eingeboren auf den Grund ſeines Herzens wächſt die ſchöne Blu¬ me der Weisheit hervor, und wenn die an¬ dern wachend träumen, und von ungeheuren Vorſtellungen aus allen ihren Sinnen ge¬ ängſtiget werden, ſo lebt er den Traum des Lebens als ein wachender, und das ſeltenſte, was geſchieht, iſt ihm zugleich Vergangenheit und Zukunft. Und ſo iſt der Dichter zugleich Lehrer, Wahrſager, Freund der Götter und der Menſchen. Wie! willſt du, daß er zu einem kümmerlichen Gewerbe herunter ſteige, er, der wie ein Vogel gebaut iſt, um die Welt zu überſchweben, auf hohen Gipfeln zu niſten, und ſeine Nahrung von Knospen und Früchten, einen Zweig mit dem andern leicht verwechſelnd, zu nehmen, der ſollte zu¬ gleich wie der Stier am Pfluge ziehen, wie der Hund ſich auf eine Fährte gewöhnen,205 oder vielleicht gar an die Kette geſchloſſen einen Meyerhof durch ſein Bellen ſichern?
Werner hatte, wie man ſich denken kann, mit Verwunderung zugehört. Wenn nur auch die Menſchen, fiel er ihm ein, wie die Vögel gemacht wären, und ohne daß ſie ſpinnen und weben, holdſelige Tage in be¬ ſtändigem Genuß zubringen könnten. Wenn ſie nur auch bey Ankunft des Winters ſich ſo leicht in ferne Gegenden begäben, dem Mangel auszuweichen, und ſich vor dem Froſte zu ſichern.
So haben die Dichter in Zeiten gelebt, wo das Ehrwürdige mehr erkannt ward, rief Wilhelm aus, und ſo ſollten ſie immer leben. Genugſam in ihrem Innerſten ausgeſtattet bedurften ſie wenig von auſſen; die Gabe, ſchöne Empfindungen, herrliche Bilder den Menſchen in ſüßen, ſich an jeden Gegenſtand anſchmiegenden, Worten und Melodien mit¬206 zutheilen, bezauberte von jeher die Welt, und war für den Begabten ein reichliches Erbtheil. An der Könige Höfen, an den Tiſchen der Reichen, vor den Thüren der Verliebten horchte man auf ſie, indem ſich das Ohr und die Seele für alles andere ver¬ ſchloß; wie man ſich ſelig preiſt und ent¬ zückt ſtille ſteht, wenn aus den Gebüſchen, durch die man wandelt, die Stimme der Nachtigall gewaltig rührend hervordringt! Sie fanden eine gaſtfreye Welt, und ihr nie¬ drig ſcheinender Stand erhöhte ſie nur deſto mehr; der Held lauſchte ihren Geſängen, und der Überwinder der Welt huldigte einem Dichter, weil er fühlte, daß, ohne dieſen, ſein ungeheures Daſeyn nur wie ein Sturmwind vorüberfahren würde; der Liebende wünſchte ſein Verlangen und ſeinen Genuß ſo tauſend¬ fach und ſo harmoniſch zu fühlen, als ihn die beſeelte Lippe zu ſchildern verſtand, und207 ſelbſt der Reiche konnte ſeine Beſitzthümer, ſeine Abgötter nicht mit eigenen Augen ſo koſtbar ſehen, als ſie ihm vom Glanze des, allen Werth fühlenden und erhöhenden Gei¬ ſtes beleuchtet erſchienen. Ja, wer hat, wenn du willſt, Götter gebildet, uns zu ihnen er¬ hoben, ſie zu uns herniedergebracht, als der Dichter?
Mein Freund, verſetzte Werner nach eini¬ gem Nachdenken, ich habe ſchon oft bedauert, daß du das, was du ſo lebhaft fühlſt, mit Gewalt aus deiner Seele zu verbannen ſtrebſt. Ich müßte mich ſehr irren, wenn du nicht beſſer thäteſt, dir ſelbſt einigermaßen nachzugeben, als dich durch die Widerſprüche eines ſo harten Entſagens aufzureiben, und dir mit der Einen unſchuldigen Freude den Genuß aller übrigen zu entziehen.
Darf ich dir’s geſtehen, mein Freund, ver¬ ſetzte der andre, und wirſt du mich nicht lä¬208 cherlich finden, wenn ich dir bekenne, daß jene Bilder mich noch immer verfolgen, ſo ſehr ich ſie fliehe, und daß, wenn ich mein Herz unterſuche, alle frühen Wünſche feſt, ja noch feſter als ſonſt darin haften? Doch was bleibt mir Unglücklichen gegenwärtig übrig? Ach wer mir vorausgeſagt hätte, daß die Arme meines Geiſtes ſobald zerſchmettert werden ſollten, mit denen ich ins Unendliche griff, und mit denen ich doch gewiß ein Großes zu umfaſſen hofte. Wer mir das vorausgeſagt hätte, würde mich zur Ver¬ zweiflung gebracht haben. Und noch jetzt, da das Gericht über mich ergangen iſt, jetzt, da ich die verloren habe, die anſtatt einer Gottheit mich zu meinen Wünſchen hinüber führen ſollte, was bleibt mir übrig, als mich den bitterſten Schmerzen zu überlaſſen? O mein Bruder, fuhr er fort, ich leugne nicht, ſie war mir bey meinen heimlichen Anſchlä¬gen209gen der Kloben, an den eine Strickleiter be¬ feſtigt iſt; gefährlich hoffend ſchwebt der Abentheurer in der Luft, das Eiſen bricht, und er liegt zerſchmettert am Fuße ſeiner Wünſche. Es iſt auch nun für mich kein Troſt, keine Hofnung mehr! Ich werde, rief er aus, indem er aufſprang, von dieſen un¬ glückſeligen Papieren keines übrig laſſen. Er faßte abermals ein Paar Hefte an, riß ſie auf und warf ſie ins Feuer. Werner wollte ihn abhalten, aber vergebens. Laß mich! rief Wilhelm, was ſollen dieſe elenden Blät¬ ter? Für mich ſind ſie weder Stufe noch Aufmunterung mehr. Sollen ſie übrig blei¬ ben, um mich bis ans Ende meines Lebens zu peinigen? Sollen ſie vielleicht einmal der Welt zum Geſpötte dienen, anſtatt Mitlei¬ den und Schauer zu erregen? Weh über mich und über mein Schickſal! Nun verſtehe ich erſt die Klagen der Dichter, der ausW. Meiſters Lehrj. O210Noth weiſe gewordnen Traurigen. Wie lan¬ ge hielt ich mich für unzerſtörbar, für un¬ verwundlich, und ach! nun ſeh ich, daß ein tiefer früher Schade nicht wieder auswach¬ ſen, ſich nicht wieder herſtellen kann; ich fühle, daß ich ihn mit ins Grab nehmen muß. Nein! keinen Tag des Lebens ſoll der Schmerz von mir weichen, der mich noch zu¬ letzt umbringt, und auch ihr Andenken ſoll bey mir bleiben, mit mir leben und ſterben, das Andenken der Unwürdigen — ach, mein Freund! wenn ich von Herzen reden ſoll — der gewiß nicht ganz Unwürdigen! Ihr Stand, ihre Schickſale haben ſie tauſendmal bey mir entſchuldigt. Ich bin zu grauſam geweſen, du haſt mich in deine Kälte, in dei¬ ne Härte unbarmherzig eingeweiht, meine zerrütteten Sinne gefangen gehalten und mich verhindert, das für ſie und für mich zu thun, was ich uns beiden ſchuldig war. 211Wer weiß, in welchen Zuſtand ich ſie ver¬ ſetzt habe, und erſt nach und nach fällt mir’s auf's Gewiſſen, in welcher Verzweiflung, in welcher Hülfloſigkeit ich ſie verließ. War’s nicht möglich, daß ſie ſich entſchuldigen konn¬ te? War’s nicht möglich? Wieviel Mißver¬ ſtändniſſe können die Welt verwirren, wie¬ viel Umſtände können dem größten Fehler Vergebung erflehen? — Wie oft denke ich mir ſie, in der Stille für ſich ſitzend, auf ihren Ellenbogen geſtützt. — Das iſt, ſagt ſie, die Treue, die Liebe, die er mir zu¬ ſchwur! Mit dieſem unſanften Schlag das ſchöne Leben zu endigen, das uns verband! — Er brach in einen Strom von Thränen aus, indem er ſich mit dem Geſichte auf den Tiſch warf, und die übergebliebenen Papiere benetzte.
Werner ſtand in der größten Verlegen¬ heit dabey. Er hatte ſich dieſes raſche Auf¬O 2212lodern der Leidenſchaft nicht vermuthet. Et¬ lichemal wollte er ſeinem Freunde in die Rede fallen, etlichemal das Geſpräch wo an¬ ders hinlenken, vergebens! er widerſtand dem Strome nicht. Auch hier übernahm die ausdauernde Freundſchaft wieder ihr Amt. Er ließ den heftigſten Anfall des Schmer¬ zens vorüber, indem er, durch ſeine ſtille Ge¬ genwart, eine aufrichtige reine Theilnehmung am beſten ſehen ließ, und ſo blieben ſie die¬ ſen Abend; Wilhelm ins ſtille Nachgefühl des Schmerzens verſenkt, und der andere erſchreckt durch den neuen Ausbruch einer Leidenſchaft, die er lange bemeiſtert und durch guten Rath und eifriges Zureden über¬ wältigt zu haben glaubte.
213Nach ſolchen Rückfällen pflegte Wilhelm meiſt nur deſto eifriger ſich den Geſchäften und der Thätigkeit zu widmen, und es war der beſte Weg, dem Labyrinthe, das ihn wie¬ der anzulocken ſuchte, zu entfliehen. Seine gute Art, ſich gegen Fremde zu betragen, ſei¬ ne Leichtigkeit, faſt in allen lebenden Spra¬ chen Correſpondenz zu führen, gaben ſeinem Vater und deſſen Handelsfreunde immer mehr Hoffnung, und tröſteten ſie über die Krankheit, deren Urſache ihnen nicht bekannt geworden war, und über die Pauſe, die ihren Plan unterbrochen hatte. Man beſchloß Wilhelms Abreiſe zum zweytenmal, und wir finden ihn auf ſeinem Pferde, den Mantel¬ ſack hinter ſich, erheitert durch freye Luft214 und Bewegung, dem Gebirge ſich nähern, wo er einige Aufträge ausrichten ſollte.
Er durchſtrich langſam Thäler und Berge mit der Empfindung des größten Vergnü¬ gens. Überhangende Felſen, rauſchende Waſ¬ ſerbäche, bewachſene Wände, tiefe Gründe ſah er hier zum erſtenmal, und doch hatten ſeine frühſten Jugendträume ſchon in ſolchen Gegenden geſchwebt. Er fühlte ſich bey die¬ ſem Anblicke wieder verjüngt, alle erduldete Schmerzen waren aus ſeiner Seele wegge¬ waſchen, und mit völliger Heiterkeit ſagte er ſich Stellen aus verſchiedenen Gedichten, be¬ ſonders aus dem Paſtor fido vor, die an dieſen einſamen Plätzen ſchaarenweis ſeinem Gedächtniſſe zufloſſen. Auch erinnerte er ſich mancher Stellen aus ſeinen eigenen Liedern, die er mit einer beſondern Zufriedenheit rezi¬ tirte. Er belebte die Welt, die vor ihm lag, mit allen Geſtalten der Vergangenheit, und215 jeder Schritt in die Zukunft war ihm voll Ahndung wichtiger Handlungen und merk¬ würdiger Begebenheiten.
Mehrere Menſchen, die, auf einander fol¬ gend, hinter ihm herkamen, an ihm mit ei¬ nem Gruße vorbeygingen, und den Weg ins Gebirge, durch ſteile Fußpfade, eilig fortſetz¬ ten, unterbrachen einigemal ſeine ſtille Unter¬ haltung, ohne daß er jedoch aufmerkſam auf ſie geworden wäre. Endlich geſellte ſich ein geſprächiger Gefährte zu ihm, und erzählte die Urſache der ſtarken Pilgerſchaft.
Zu Hochdorf, ſagte er, wird heute Abend eine Comödie gegeben, wozu ſich die ganze Nachbarſchaft verſammlet.
Wie, rief Wilhelm, in dieſen einſamen Gebirgen, zwiſchen dieſen undurchdringlichen Wäldern hat die Schauſpielkunſt einen Weg gefunden, und ſich einen Tempel aufgebaut? und ich muß zu ihrem Feſte wallfahrten?
216Sie werden ſich noch mehr wundern, ſag¬ te der andere, wenn Sie hören, durch wen das Stück aufgeführt wird. Es iſt eine große Fabrik in dem Orte, die viel Leute ernährt. Der Unternehmer, der ſo zu ſagen von aller menſchlichen Geſellſchaft entfernt lebt, weiß ſeine Arbeiter im Winter nicht beſſer zu beſchäftigen, als daß er ſie veran¬ laßt hat, Comödie zu ſpielen. Er leidet kei¬ ne Karten unter ihnen, und wünſcht ſie auch ſonſt von rohen Sitten abzuhalten. So bringen ſie die langen Abende zu, und heu¬ te, da des Alten Geburtstag iſt, geben ſie ihm zu Ehren eine beſondere Feſtlichkeit.
Wilhelm kam zu Hochdorf an, wo er übernachten ſollte, und ſtieg bey der Fabrik ab, deren Unternehmer auch als Schuldner auf ſeiner Liſte ſtand.
Als er ſeinen Nahmen nannte, rief der Alte verwundert aus: ey, mein Herr, ſind217 Sie der Sohn des braven Mannes, dem ich ſo viel Dank und bis jetzt noch Geld ſchul¬ dig bin? Ihr Herr Vater hat ſo viel Ge¬ duld mit mir gehabt, daß ich ein Böſewicht ſeyn müßte, wenn ich nicht eilig und fröhlich bezahlte. Sie kommen eben zur rechten Zeit, um zu ſehen, daß es mir Ernſt iſt.
Er rief ſeine Frau herbey, welche eben ſo erfreut war, den jungen Mann zu ſehen; ſie verſicherte, daß er ſeinem Vater gleiche, und bedauerte, daß ſie ihn wegen der vielen Fremden die Nacht nicht beherbergen könne.
Das Geſchäft war klar und bald berich¬ tigt, Wilhelm ſteckte ein Röllchen Gold in die Taſche, und wünſchte, daß ſeine übrigen Geſchäfte auch ſo leicht gehen möchten.
Die Stunde des Schauſpiels kam heran, man erwartete nur noch den Oberforſtmeiſter, der endlich auch anlangte, mit einigen Jä¬ gern eintrat, und mit der größten Verehrung empfangen wurde.
218Die Geſellſchaft wurde nunmehr ins Schauſpielhaus geführt, wozu man eine Scheune eingerichtet hatte, die gleich am Garten lag. Haus und Theater waren, ohne ſonderlichen Geſchmack, munter und ar¬ tig genug angelegt. Einer von den Mah¬ lern, die auf der Fabrik arbeiteten, hatte bey dem Theater in der Reſidenz gehandlangt, und hatte nun Wald, Straße und Zimmer, freylich etwas roh, hingeſtellt. Das Stück hatten ſie von einer herumziehenden Truppe geborgt, und nach ihrer eigenen Weiſe zu¬ recht geſchnitten. So wie es war, unterhielt es. Die Intrigue, daß zwey Liebhaber ein Mädchen ihrem Vormunde und wechſelsweiſe ſich ſelbſt entreiſſen wollen, brachte allerley intereſſante Situationen hervor. Es war das erſte Stück, das unſer Freund nach ei¬ ner ſo langen Zeit wieder ſah; er machte mancherley Betrachtungen; es war voller219 Handlung, aber ohne Schilderung wahrer Charactere. Es gefiel und ergötzte. So ſind die Anfänge aller Schauſpielkunſt. Der rohe Menſch iſt zufrieden, wenn er nur etwas vorgehen ſieht: der gebildete will empfinden, und Nachdenken iſt nur dem ganz ausgebil¬ deten angenehm.
Den Schauſpielern hätte er hie und da gerne nachgeholfen; denn es fehlte nur we¬ nig, ſo hätten ſie um vieles beſſer ſeyn können.
In ſeinen ſtillen Betrachtungen ſtörte ihn der Tabacksdampf, der immer ſtärker und ſtärker wurde. Der Oberforſtmeiſter hatte bald nach Anfang des Stücks ſeine Pfeife angezündet, und nach und nach nahmen ſich mehrere dieſe Freyheit heraus. Auch mach¬ ten die großen Hunde dieſes Herrn ſchlimme Auftritte. Man hatte ſie zwar ausgeſperrt; allein ſie fanden bald den Weg zur Hinter¬220 thüre herein, liefen auf das Theater, rann¬ ten wider die Acteurs, und geſellten ſich end¬ lich durch einen Sprung über das Orcheſter zu ihrem Herrn, der den erſten Platz im Parterr eingenommen hatte.
Zum Nachſpiel ward ein Opfer darge¬ bracht. Ein Portrait, das den Alten in ſei¬ nem Bräutigamskleide vorſtellte, ſtand auf einem Altar mit Kränzen behangen. Alle Schauſpieler huldigten ihm in demuthsvollen Stellungen. Das jüngſte Kind trat, weiß gekleidet, hervor, und hielt eine Rede in Verſen, wodurch die ganze Familie und ſo¬ gar der Oberforſtmeiſter, der ſich dabey an ſeine Kinder erinnerte, zu Thränen bewegt wurde. So endigte ſich das Stück, und Wilhelm konnte nicht umhin, das Theater zu beſteigen, die Actricen in der Nähe zu beſehen, ſie wegen ihres Spiels zu loben, und ihnen auf die Zukunft einigen Rath zu geben.
221Die übrigen Geſchäfte unſers Freundes, die er nach und nach in größeren und klei¬ neren Gebirgsorten verrichtete, liefen nicht alle ſo glücklich, noch ſo vergnügt ab. Man¬ che Schuldner baten um Aufſchub, manche waren unhöflich, manche leugneten. Nach ſeinem Auftrage ſollte er einige verklagen; er mußte einen Advokaten aufſuchen, dieſen inſtruiren, ſich vor Gericht ſtellen, und was dergleichen verdrießliche Geſchäfte noch mehr waren.
Eben ſo ſchlimm erging es ihm, wenn man ihm eine Ehre erzeigen wollte. Nur wenig Leute fand er, die ihn einigermaßen unterrichten konnten; wenige, mit denen er in ein nützliches Handelsverhältniß zu kom¬ men hofte. Da nun auch unglücklicherweiſe Regentage einfielen, und eine Reiſe zu Pferd in dieſen Gegenden mit unerträglichen Be¬ ſchwerden verknüpft war; ſo dankte er dem222 Himmel, als er ſich dem flachen Lande wie¬ der näherte, und am Fuße des Gebirges, in einer ſchönen und fruchtbaren Ebene, an ei¬ nem ſanften Fluſſe, im Sonnenſcheine, ein heiteres Landſtädtchen liegen ſah, in welchem er zwar keine Geſchäfte hatte, aber eben des¬ wegen ſich entſchloß, ein Paar Tage daſelbſt zu verweilen, um ſich und ſeinem Pferde, das von dem ſchlimmen Wege ſehr gelitten hatte, einige Erholung zu verſchaffen.
223Als er in einem Wirthshauſe auf dem Mark¬ te abtrat, ging es darin ſehr luſtig, wenig¬ ſtens ſehr lebhaft zu. Eine große Geſell¬ ſchaft Seiltänzer, Springer und Gaukler, die einen ſtarken Mann bey ſich hatten, waren mit Weib und Kindern eingezogen, und mach¬ ten, indem ſie ſich auf eine öffentliche Er¬ ſcheinung bereiteten, einen Unfug über den andern. Bald ſtritten ſie mit dem Wirthe, bald unter ſich ſelbſt, und wenn ihr Zank unleidlich war, ſo waren die Äuſſerungen ihres Vergnügens ganz und gar unerträglich. Unſchlüſſig, ob er gehen oder bleiben ſollte, ſtand er unter dem Thore, und ſah den Ar¬ beitern zu, die auf dem Platze ein Gerüſt aufzuſchlagen anfingen.
224Ein Mädchen, das Roſen und andere Blumen herumtrug, bot ihm ihren Korb dar, und er kaufte ſich einen ſchönen Strauß, den er mit Liebhaberey anders band und mit Zufriedenheit betrachtete, als das Fenſter ei¬ nes, an der Seite des Platzes ſtehenden, an¬ dern Gaſthauſes ſich aufthat, und ein wohl¬ gebildetes Frauenzimmer ſich an demſelben zeigte. Er konnte ohngeachtet der Entfer¬ nung bemerken, daß eine angenehme Heiter¬ keit ihr Geſicht belebte. Ihre blonden Haare fielen nachläſſig aufgelößt um ihren Nacken, ſie ſchien ſich nach dem Fremden umzuſehen. Einige Zeit darauf trat ein junger Menſch, der eine Friſirſchürze umgegürtet, und ein weißes Jäckchen an hatte, aus der Thüre jenes Hauſes, ging auf Wilhelmen los, be¬ grüßte ihn und ſagte, das Frauenzimmer am Fenſter läßt Sie fragen, ob Sie ihr nicht einen Theil der ſchönen Blumen abtretenwol¬225wollen? — Sie ſtehn ihr alle zu Dienſten, verſetzte Wilhelm, indem er dem leichten Bo¬ ten das Bouquet überreichte, und zugleich der Schönen ein Kompliment machte, wel¬ ches ſie mit einem freundlichen Gegengruß erwiederte, und ſich vom Fenſter zurückzog.
Nachdenkend über dieſes artige Aben¬ theuer ging er nach ſeinem Zimmer die Trep¬ pe hinauf, als ein junges Geſchöpf ihm ent¬ gegen ſprang, das ſeine Aufmerkſamkeit auf ſich zog. Ein kurzes ſeidnes Weſtchen mit geſchlitzten ſpaniſchen Ermeln, knappe, lange Beinkleider mit Puffen ſtanden dem Kinde gar artig. Lange ſchwarze Haare waren in Locken und Zöpfen um den Kopf gekräuſelt und gewunden. Er ſah die Geſtalt mit Ver¬ wunderung an, und konnte nicht mit ſich ei¬ nig werden, ob er ſie für einen Knaben oder für ein Mädchen erklären ſollte. Doch ent¬ ſchied er ſich bald für das letzte, und hieltW. Meiſters Lehrj. P226ſie auf, da ſie bey ihm vorbey kam, bot ihr einen guten Tag, und fragte ſie, wem ſie angehöre? ob er ſchon leicht ſehen konnte, daß ſie ein Glied der ſpringenden und tan¬ zenden Geſellſchaft ſeyn müſſe. Mit einem ſcharfen, ſchwarzen Seitenblick ſah ſie ihn an, indem ſie ſich von ihm losmachte, und in die Küche lief, ohne zu antworten.
Als er die Treppe hinauf kam, fand er auf dem weiten Vorſaale zwey Mannsper¬ ſonen, die ſich im Fechten übten, oder viel¬ mehr ihre Geſchicklichkeit an einander zu ver¬ ſuchen ſchienen. Der eine war offenbar von der Geſellſchaft, die ſich im Hauſe befand, der andere hatte ein weniger wildes Anſehn. Wilhelm ſah ihnen zu, und hatte Urſache, ſie beide zu bewundern, und als nicht lange dar¬ auf der ſchwarzbärtige nervige Streiter den Kampfplatz verließ, bot der andere, mit vie¬ ler Artigkeit, Wilhelmen das Rappier an.
227Wenn Sie einen Schüler, verſetzte dieſer, in die Lehre nehmen wollen, ſo bin ich wohl zufrieden, mit Ihnen einige Gänge zu wa¬ gen. Sie fochten zuſammen, und obgleich der Fremde dem Ankömmling weit überlegen war, ſo war er doch höflich genug zu verſi¬ chern, daß alles nur auf Übung ankomme, und wirklich hatte Wilhelm auch gezeigt, daß er früher von einem guten und gründli¬ chen deutſchen Fechtmeiſter unterrichtet wor¬ den war.
Ihre Unterhaltung ward durch das Ge¬ töſe unterbrochen, mit welchem die bunte Ge¬ ſellſchaft aus dem Wirthshauſe auszog, um die Stadt von ihrem Schauſpiel zu benach¬ richtigen, und auf ihre Künſte begierig zu machen. Einem Tambour folgte der Entre¬ preneur zu Pferde, hinter ihm eine Tänzerin auf einem ähnlichen Gerippe, die ein Kind vor ſich hielt, das mit Bändern und Flin¬P 2228tern wohl herausgeputzt war. Darauf kam die übrige Truppe zu Fuß, wovon einige auf ihren Schultern Kinder, in abentheuerlichen Stellungen, leicht und bequem daher trugen, unter denen die junge, ſchwarzköpfige, düſtere Geſtalt Wilhelms Aufmerkſamkeit aufs neue erregte.
Pagliaſſo lief unter der andringenden Menge drollig hin und her, und theilte mit ſehr begreiflichen Späßen, indem er bald ein Mädchen küßte, bald einen Knaben pritſchte, ſeine Zettel aus, und erweckte unter dem Volke eine unüberwindliche Begierde, ihn nä¬ her kennen zu lernen.
In den gedruckten Anzeigen waren die mannichfaltigen Künſte der Geſellſchaft, be¬ ſonders eines Monſieur Narciß und der Demoiſelle Landrinette herausgeſtrichen, wel¬ che beide, als Hauptperſonen, die Klugheit gehabt hatten, ſich von dem Zuge zu ent¬229 halten, ſich dadurch ein vornehmeres Anſehn zu geben, und größre Neugier zu erwecken.
Während des Zuges hatte ſich auch die ſchöne Nachbarin wieder am Fenſter ſehen laſſen, und Wilhelm hatte nicht verfehlt, ſich bey ſeinem Geſellſchafter nach ihr zu erkun¬ digen. Dieſer, den wir einſtweilen Laertes nennen wollen, erbot ſich, Wilhelmen zu ihr hinüber zu begleiten. Ich und das Frauen¬ zimmer, ſagte er lächelnd, ſind ein paar Trümmer einer Schauſpielergeſellſchaft, die vor kurzem hier ſcheiterte. Die Anmuth des Orts hat uns bewogen, einige Zeit hier zu bleiben, und unſre wenige geſammelte Baar¬ ſchaft in Ruhe zu verzehren, indeß ein Freund ausgezogen iſt, ein Unterkommen für ſich und uns zu ſuchen.
Laertes begleitete ſogleich ſeinen neuen Bekannten zu Philinens Thüre, wo er ihn einen Augenblick ſtehen ließ, um in einem230 benachbarten Laden Zuckerwerk zu holen. Sie werden mir es gewiß danken, ſagte er, indem er zurück kam, daß ich Ihnen dieſe artige Bekanntſchaft verſchaffe.
Das Frauenzimmer kam ihnen auf ein paar leichten Pantöffelchen mit hohen Ab¬ ſätzen aus der Stube entgegen getreten. Sie hatte eine ſchwarze Mantille über ein weißes Negligee geworfen, das, eben weil es nicht ganz reinlich war, ihr ein häusliches und bequemes Anſehn gab; ihr kurzes Röckchen ließ die niedlichſten Füße von der Welt ſehen.
Seyn Sie mir willkommen! rief ſie Wil¬ helmen zu, und nehmen Sie meinen Dank für die ſchönen Blumen. Sie führte ihn mit der einen Hand ins Zimmer, indem ſie mit der andern den Strauß an die Bruſt drückte. Als ſie ſich niedergeſetzt hatten, und in gleichgültigen Geſprächen begriffen waren,231 denen ſie eine reizende Wendung zu geben wußte, ſchüttete ihr Laertes gebrannte Man¬ deln in den Schooß, von denen ſie ſogleich zu naſchen anfing. Sehn Sie, welch ein Kind dieſer junge Menſch iſt! rief ſie aus, er wird Sie überreden wollen, daß ich eine große Freundin von ſolchen Näſchereyen ſey, und er iſt’s, der nicht leben kann, ohne ir¬ gend etwas Leckeres zu genießen.
Laſſen Sie uns nur geſtehn, verſetzte Laertes, daß wir hierin, wie in mehrerem, einander gern Geſellſchaft leiſten. Zum Bey¬ ſpiel, ſagte er, es iſt heute ein ſehr ſchöner Tag, ich dächte wir führen ſpatzieren und nähmen unſer Mittagsmahl auf der Müh¬ le. — Recht gern, ſagte Philine, wir müſſen unſerm neuen Bekannten eine kleine Verän¬ derung machen. Laertes ſprang fort, denn er ging niemals, und Wilhelm wollte einen Augenblick nach Hauſe, um ſeine Haare, die232 von der Reiſe noch verworren ausſahen, in Ordnung bringen zu laſſen. Das können Sie hier, ſagte ſie, rief ihren kleinen Diener, nöthigte Wilhelmen auf die artigſte Weiſe, ſeinen Rock auszuziehn, ihren Pudermantel anzulegen, und ſich in ihrer Gegenwart fri¬ ſiren zu laſſen. Man muß ja keine Zeit verſäumen, ſagte ſie, man weiß nicht, wie lange man beyſammen bleibt.
Der Knabe, mehr trotzig und unwillig als ungeſchickt, benahm ſich nicht zum Be¬ ſten, raufte Wilhelmen, und ſchien ſo bald nicht fertig werden zu wollen. Philine ver¬ wies ihm einigemal ſeine Unart, ſtieß ihn endlich ungeduldig hinweg, und jagte ihn zur Thüre hinaus. Nun übernahm ſie ſelbſt die Bemühung, und kräuſelte die Haare unſers Freundes mit großer Leichtigkeit und Zierlichkeit, ob ſie gleich auch nicht zu eilen ſchien, und bald dieſes bald jenes an233 ihrer Arbeit auszuſetzen hatte, indem ſie nicht vermeiden konnte mit ihren Knieen die ſeini¬ gen zu berühren, und Strauß und Buſen ſo nahe an ſeine Lippen zu bringen, daß er mehr als einmal in Verſuchung geſetzt ward, einen Kuß darauf zu drücken.
Als Wilhelm mit einem kleinen Puder¬ meſſer ſeine Stirne gereinigt hatte, ſagte ſie zu ihm: ſtecken Sie es ein, und gedenken Sie meiner dabey. Es war ein artiges Meſ¬ ſer; der Griff von eingelegten Stahl zeigte die freundlichen Worte: gedenkt mein. Wilhelm ſteckte es zu ſich, dankte ihr, und bat um die Erlaubniß, ihr ein kleines Ge¬ gengeſchenk machen zu dürfen.
Nun war man fertig geworden. Laertes hatte die Kutſche gebracht, und nun begann eine ſehr luſtige Fahrt. Philine warf jedem Armen, der ſie anbettelte, etwas zum Schla¬ ge hinaus, indem ſie ihm zugleich ein mun¬ teres und freundliches Wort zurief.
234Sie waren kaum auf der Mühle ange¬ kommen, und hatten ein Eſſen beſtellt, als eine Muſik vor dem Hauſe ſich hören ließ. Es waren Bergleute, die, zu Zitter und Tri¬ angel, mit lebhaften und grellen Stimmen, verſchiedene artige Lieder vortrugen. Es dauerte nicht lange, ſo hatte eine herbeyſtrö¬ mende Menge einen Kreis um ſie geſchloſſen, und die Geſellſchaft nickte ihnen ihren Bey¬ fall aus den Fenſtern zu. Als ſie dieſe Auf¬ merkſamkeit geſehen, erweiterten ſie ihren Kreis, und ſchienen ſich zu ihren wichtigſten Stückchen vorzubereiten. Nach einer Pauſe trat ein Bergmann mit einer Hacke hervor, und ſtellte, indeß die andern eine ernſthafte Melodie ſpielten, die Handlung des Schür¬ fens vor.
Es währte nicht lange, ſo trat ein Bauer aus der Menge, und gab jenem pantomi¬ miſch drohend zu verſtehen, daß er ſich von235 hier hinwegbegeben ſolle. Die Geſellſchaft war darüber verwundert, und erkannte erſt den, in einen Bauer verkleideten, Bergmann, als er den Mund aufthat, und in einer Art von Rezitativ den andern ſchalt, daß er wage, auf ſeinem Acker zu handthieren. Je¬ ner kam nicht aus der Faſſung, ſondern fing an, den Landmann zu belehren, daß er Recht habe hier einzuſchlagen, und gab ihm dabey die erſten Begriffe vom Bergbau. Der Bauer, der die fremde Terminologie nicht verſtand, that allerley alberne Fragen, worüber die Zuſchauer, die ſich klüger fühl¬ ten, ein herzliches Gelächter aufſchlugen. Der Bergmann ſuchte ihn zu rectificiren, und bewies ihm den Vortheil, der zuletzt auch auf ihn fließe, wenn die unterirrdiſchen Schätze des Landes herausgewühlt würden. Der Bauer, der jenem zuerſt mit Schlägen gedroht hatte, ließ ſich nach und nach be¬236 ſänftigen, und ſie ſchieden als gute Freunde von einander; beſonders aber zog ſich der Bergmann auf die honorabelſte Art aus die¬ ſem Streite.
Wir haben, ſagte Wilhelm bey Tiſche, an dieſem kleinen Dialog das lebhafteſte Beyſpiel, wie nützlich allen Ständen das Theater ſeyn könnte, wie vielen Vortheil der Staat ſelbſt daraus ziehen müßte, wenn man die Handlungen, Gewerbe und Unter¬ nehmungen der Menſchen von ihrer guten, lobenswürdigen Seite und in dem Geſichts¬ punkte auf das Theater brächte, aus wel¬ chem ſie der Staat ſelbſt ehren und ſchützen muß. Jetzt ſtellen wir nur die lächerliche Seite der Menſchen dar; der Luſtſpieldichter iſt gleichſam nur ein hämiſcher Controlleur, der auf die Fehler ſeiner Mitbürger überall ein wachſames Auge hat, und froh zu ſeyn ſcheint, wenn er ihnen eins anhängen kann.
237Sollte es nicht eine angenehme und würdige Arbeit für einen Staatsmann ſeyn, den na¬ türlichen, wechſelſeitigen Einfluß aller Stän¬ de zu überſchauen, und einen Dichter, der Humor genug hätte, bey ſeinen Arbeiten zu leiten? Ich bin überzeugt, es könnten auf dieſem Wege manche ſehr unterhaltende, zu¬ gleich nützliche und luſtige Stücke erſonnen werden.
So viel ich, ſagte Laertes, überall wo ich herumgeſchwärmt bin, habe bemerken kön¬ nen, weiß man nur zu verbieten, zu hindern und abzulehnen; ſelten aber zu gebieten, zu befördern und zu belohnen. Man läßt alles in der Welt gehn, bis es ſchädlich wird, dann zürnt man und ſchlägt drein.
Laßt mir den Staat und die Staatsleute weg, ſagte Philine, ich kann mir ſie nicht anders als in Perücken vorſtellen, und eine Perücke, es mag ſie aufhaben wer da will238 erregt in meinen Fingern eine krampfhafte Bewegung; ich möchte ſie gleich dem ehr¬ würdigen Herrn herunter nehmen, in der Stube herumſpringen und den Kahlkopf aus¬ lachen.
Mit einigen lebhaften Geſängen, welche ſie ſehr ſchön vortrug, ſchnitt Philine das Geſpräch ab, und trieb zu einer ſchnellen Rückfahrt, damit man die Künſte der Seil¬ tänzer am Abende zu ſehen nicht verſäumen möchte. Drollig bis zur Ausgelaſſenheit, ſetzte ſie ihre Freygebigkeit gegen die Armen auf dem Heimwege fort, indem ſie zuletzt, da ihr und ihren Reiſegefährten das Geld ausging, einem Mädchen ihren Strohhut und einem alten Weibe ihr Halstuch zum Schlage hinaus warf.
Philine lud beide Begleiter zu ſich in ihre Wohnung, weil man, wie ſie ſagte, aus ihren Fenſtern das öffentliche Schauſpiel239 beſſer als im andern Wirthshauſe ſehen könne.
Als ſie ankamen, fanden ſie das Gerüſt aufgeſchlagen, und den Hintergrund mit auf¬ gehängten Teppichen geziert. Die Schwung¬ breter waren ſchon gelegt, das Schlappſeil an die Pfoſten befeſtigt, und das ſtraffe Seil über die Böcke gezogen. Der Platz war ziemlich mit Volk gefüllt, und die Fen¬ ſter mit Zuſchauern einiger Art beſetzt.
Pagliaß bereitete erſt die Verſammlung mit einigen Albernheiten, worüber die Zu¬ ſchauer immer zu lachen pflegen, zur Auf¬ merkſamkeit und guten Laune vor. Einige Kinder, deren Körper die ſeltſamſten Verren¬ kungen darſtellten, erregten bald Verwunde¬ rung, bald Grauſen, und Wilhelm konnte ſich des tiefen Mitleidens nicht enthalten, als er das Kind, an dem er beym erſten Anblicke Theil genommen, mit einiger Mühe,240 die ſonderbaren Stellungen hervorbringen ſah. Doch bald erregten die luſtigen Sprin¬ ger ein lebhaftes Vergnügen, wenn ſie erſt einzeln, dann hinter einander und zuletzt alle zuſammen ſich vorwärts und rückwärts in der Luft überſchlugen. Ein lautes Hände¬ klatſchen und Jauchzen erſcholl aus der gan¬ zen Verſammlung.
Nun aber ward die Aufmerkſamkeit auf einen andern Gegenſtand gewendet. Die Kinder, eins nach dem andern, mußten das Seil betreten, und zwar die Lehrlinge zuerſt, damit ſie durch ihre Übungen das Schauſpiel verlängerten, und die Schwierigkeit der Kunſt ins Licht ſetzten. Es zeigten ſich auch einige Männer und erwachſene Frauensperſonen mit ziemlicher Geſchicklichkeit; allein es war noch nicht Monſieur Narciß, noch nicht De¬ moiſelle Landrinette.
Endlich traten auch dieſe aus einer Artvon241von Zelt, hinter aufgeſpannten rothen Vor¬ hängen hervor, und erfüllten durch ihre an¬ genehme Geſtalt und zierlichen Putz die bis¬ her glücklich genährte Hoffnung der Zu¬ ſchauer. Er, ein munteres Bürſchchen von mittlerer Größe, ſchwarzen Augen und einem ſtarken Haarzopf; ſie, nicht weniger niedlich doch ſtark gebildet; beide zeigten ſich nach einander auf dem Seile mit leichten Bewe¬ gungen, Sprüngen und ſeltſamen Poſituren. Ihre Leichtigkeit, ſeine Verwegenheit, die Genauigkeit, womit beide ihre Kunſtſtücke ausführten, erhöhten mit jedem Schritt und Sprung das allgemeine Vergnügen. Der Anſtand, womit ſie ſich betrugen, die anſchei¬ nende Bemühungen der andern um ſie, ga¬ ben ihnen das Anſehn, als wenn ſie Herr und Meiſter der ganzen Truppe wären, und jedermann hielt ſie des Ranges werth.
Die Begeiſterung des Volks theilte ſichW. Meiſters Lehrj. Q242den Zuſchauern an den Fenſtern mit, die Damen ſahen unverwandt nach Narciſſen, die Herrn nach Landrinetten. Das Volk jauchzte, und das feinere Publikum enthielt ſich nicht des Klatſchens, kaum daß man noch über Pagliaſſen lachte. Wenige nur ſchlichen ſich weg, als einige von der Truppe, um Geld zu ſammlen, ſich mit zinnernen Tellern durch die Menge drängten.
Sie haben ihre Sache, dünkt mich, gut gemacht, ſagte Wilhelm zu Philinen, die bey ihm am Fenſter lag, ich bewundere ihren Verſtand, womit ſie auch geringe Kunſtſtück¬ chen, nach und nach und zur rechten Zeit an¬ gebracht, gelten zu machen wußten, und wie ſie aus der Ungeſchicklichkeit ihrer Kinder und aus der Virtuoſität ihrer Beſten ein Ganzes zuſammen arbeiteten, das erſt unſre Aufmerk¬ ſamkeit erregte, und dann uns auf das an¬ genehmſte unterhielt.
243Das Volk hatte ſich nach und nach ver¬ laufen, und der Platz war leer geworden, indeß Philine und Laertes über die Geſtalt und die Geſchicklichkeit Narciſſens und Lan¬ drinettens in Streit geriethen, und ſich wech¬ ſelsweiſe neckten. Wilhelm ſah das wunder¬ bare Kind auf der Straße bey andern ſpie¬ lenden Kindern ſtehen, machte Philinen dar¬ auf aufmerkſam, die ſogleich, nach ihrer leb¬ haften Art, dem Kinde rief und winkte, und da es nicht kommen wollte, ſingend die Treppe hinunter klapperte und es herauf¬ führte.
Hier iſt das Räthſel, rief ſie, als ſie das Kind zur Thüre herein zog. Es blieb am Eingange ſtehen, eben als wenn es gleich wieder hinaus ſchlüpfen wollte, legte die rechte Hand vor die Bruſt, die linke vor die Stirn, und bückte ſich tief. Fürchte dich nicht, liebe Kleine, ſagte Wilhelm, indem erQ 2244auf ſie los ging. Sie ſah ihn mit unſicherm Blick an, und trat einige Schritte näher.
Wie nennſt du dich? fragte er. — Sie heißen mich Mignon. — Wie viel Jahre haſt du? — Es hat ſie niemand gezählt. — Wer war dein Vater? — Der große Teufel iſt todt. —
Nun das iſt wunderlich genug! rief Phi¬ line aus. Man fragte ſie noch einiges; ſie brachte ihre Antworten in einem gebrochnen Deutſch und mit einer ſonderbar feyerlichen Art vor, dabey legte ſie jedesmal die Hände an Bruſt und Haupt, und neigte ſich tief.
Wilhelm konnte ſie nicht genug anſehen. Seine Augen und ſein Herz wurden unwi¬ derſtehlich von dem geheimnißvollen Zuſtan¬ de dieſes Weſens angezogen. Er ſchätzte ſie zwölf bis dreyzehn Jahre; ihr Körper war gut gebaut, nur daß ihre Glieder einen ſtär¬ kern Wuchs verſprachen, oder einen zurück¬245 gehaltenen ankündigten. Ihre Bildung war nicht regelmäßig aber auffallend; ihre Stirne geheimnißvoll, ihre Naſe auſſerordentlich ſchön, und der Mund, ob er ſchon für ihr Alter zu ſehr geſchloſſen ſchien, und ſie manch¬ mal mit den Lippen nach einer Seite zuckte, noch immer treuherzig und reizend genug. Ihre bräunliche Geſichtsfarbe konnte man durch die Schminke kaum erkennen. Dieſe Geſtalt prägte ſich Wilhelmen ſehr tief ein; er ſah ſie noch immer an, ſchwieg und ver¬ gaß der Gegenwärtigen über ſeinen Betrach¬ tungen. Philine weckte ihn aus ſeinem Halb¬ traume, indem ſie dem Kinde etwas übrigge¬ bliebenes Zuckerwerk reichte, und ihm ein Zeichen gab, ſich zu entfernen. Es machte ſeinen Bückling, wie oben, und fuhr blitz¬ ſchnell zur Thüre hinaus.
Die Zeit kam nunmehr herbey, daß unſe¬ re neue Bekannten ſich für dieſen Abend246 trennen ſollten, und redeten vorher noch eine Spatzierfahrt auf den morgenden Tag ab. Sie wollten abermals an einem andern Orte, auf einem benachbarten Jägerhauſe, ihr Mit¬ tagsmahl einnehmen. Wilhelm ſprach dieſen Abend noch manches zu Philinens Lobe, wor¬ auf Laertes nur kurz und leichtſinnig ant¬ wortete.
Den andern Morgen, als ſie ſich aber¬ mals eine Stunde im Fechten geübt hatten, gingen ſie nach Philinens Gaſthofe, vor wel¬ chem ſie die beſtellte Kutſche ſchon hatten an¬ fahren ſehen. Aber wie verwundert war Wilhelm, als die Kutſche verſchwunden, und wie noch mehr, als Philine nicht zu Hauſe, anzutreffen war. Sie hatte ſich, ſo erzählte man, mit ein paar Fremden, die dieſen Mor¬ gen angekommen waren, in den Wagen ge¬ ſetzt, und war mit ihnen davon gefahren. Unſer Freund, der ſich in ihrer Geſellſchaft247 eine angenehme Unterhaltung verſprochen hatte, konnte ſeinen Verdruß nicht verbergen. Dagegen lachte Laertes, und rief: ſo gefällt ſie mir! das ſieht ihr ganz ähnlich! Laſſen Sie uns nur gerade nach dem Jagdhauſe gehen, ſie mag ſeyn, wo ſie will, wir wollen ihretwegen unſere Promenade nicht ver¬ ſäumen.
Als Wilhelm unterweges dieſe Inconſe¬ quenz des Betragens zu tadeln fortfuhr, ſag¬ te Laertes: ich kann nicht inconſequent fin¬ den, wenn jemand ſeinem Character treu bleibt. Wenn ſie ſich etwas vornimmt oder jemanden etwas verſpricht, ſo geſchieht es nur unter der ſtillſchweigenden Bedingung, daß es ihr auch bequem ſeyn werde, den Vorſatz auszuführen oder ihr Verſprechen zu halten. Sie verſchenkt gern, aber man muß immer bereit ſeyn, ihr das Geſchenkte wieder zu geben.
248Dieß iſt ein ſeltſamer Character, verſetzte
Nichts weniger als ſeltſam, nur daß ſie keine Heuchlerin iſt. Ich liebe ſie deswegen, ja ich bin ihr Freund, weil ſie mir das Ge¬ ſchlecht ſo rein darſtellt, das ich zu haſſen ſo viel Urſache habe. Sie iſt mir die wahre Eva, die Stammmutter des weiblichen Ge¬ ſchlechts; ſo ſind alle, nur wollen ſie es nicht Wort haben.
Unter mancherley Geſprächen, in welchen Laertes ſeinen Haß gegen das weibliche Ge¬ ſchlecht ſehr lebhaft ausdruckte, ohne jedoch die Urſache davon anzugeben, waren ſie in den Wald gekommen, in welchen Wilhelm ſehr verſtimmt eintrat, weil die Äuſſerungen des Laertes ihm die Erinnerung an ſein Ver¬ hältniß zu Marianen wieder lebendig ge¬ macht hatten. Sie fanden nicht weit von einer beſchatteten Quelle, unter herrlichen al¬249 ten Bäumen, Philinen allein, an einem ſtei¬ nernen Tiſche, ſitzen. Sie ſang ihnen ein luſtiges Liedchen entgegen, und als Laertes nach ihrer Geſellſchaft fragte, rief ſie aus: ich habe ſie ſchön angeführt, ich habe ſie zum Beſten gehabt, wie ſie es verdienten. Schon unterwegs ſetzte ich ihre Freygebigkeit auf die Probe, und da ich bemerkte, daß ſie von den kargen Näſchern waren, nahm ich mir gleich vor, ſie zu beſtrafen. Nach unſrer Ankunft fragten ſie den Kellner, was zu ha¬ ben ſey? der mit der gewöhnlichen Geläufig¬ keit ſeiner Zunge alles, was da war, und mehr als da war, hererzählte. Ich ſah ihre Verlegenheit, ſie blickten einander an, ſtot¬ terten, und fragten nach dem Preiſe. Was bedenken Sie ſich lange, rief ich aus, die Tafel iſt das Geſchäft eines Frauenzimmers, laſſen Sie mich dafür ſorgen. Ich fing dar¬ auf an, ein unſinniges Mittagmahl zu be¬250 ſtellen, wozu noch manches durch Boten aus der Nachbarſchaft geholt werden ſollte. Der Kellner, den ich durch ein paar ſchiefe Mäu¬ ler zum Vertrauten gemacht hatte, half mir endlich, und ſo haben wir ſie durch die Vor¬ ſtellung eines herrlichen Gaſtmahls dergeſtalt geängſtigt, daß ſie ſich kurz und gut zu ei¬ nem Spatziergange in den Wald entſchloſ¬ ſen, von dem ſie wohl ſchwerlich zurück kom¬ men werden. Ich habe eine Viertelſtunde auf meine eigene Hand gelacht, und werde lachen, ſo oft ich an die Geſichter denke. Bey Tiſche erinnerte ſie Laertes an ähnliche Fälle; ſie kamen in den Gang, luſtige Ge¬ ſchichten, Mißverſtändniſſe und Prellereyen zu erzählen.
Ein junger Mann, von ihrer Bekannt¬ ſchaft aus der Stadt, kam mit einem Buche durch den Wald geſchlichen, ſetzte ſich zu ihnen, und rühmte den ſchönen Platz. Er251 machte ſie auf das Rieſeln der Quelle, auf die Bewegung der Zweige, auf die einfallen¬ den Lichter und auf den Geſang der Vögel aufmerkſam. Philine ſang ein Liedchen vom Kuckuk, welches dem Ankömmling nicht zu behagen ſchien; er empfahl ſich bald.
Wenn ich nur nichts mehr von Natur und Naturſcenen hören ſollte, rief Philine aus, als er weg war, es iſt nichts unerträg¬ licher, als ſich das Vergnügen vorrechnen zu laſſen, das man genießt. Wenn ſchön Wet¬ ter iſt, geht man ſpatzieren, wie man tanzt, wenn aufgeſpielt wird. Wer mag aber nur einen Augenblick an die Muſik, wer an’s ſchöne Wetter denken? Der Tänzer intereſ¬ ſirt uns, nicht die Violine, und in ein paar ſchöne ſchwarze Augen zu ſehen, thut einem paar blauen Augen gar zu wohl. Was ſol¬ len dagegen Quellen und Brunnen, und alte morſche Linden! Sie ſah, indem ſie ſo ſprach,252 Wilhelmen, der ihr gegenüber ſaß, mit ei¬ nem Blick in die Augen, dem er nicht weh¬ ren konnte, wenigſtens bis an die Thüre ſei¬ nes Herzens vorzudringen.
Sie haben Recht, verſetzte er mit einiger Verlegenheit, der Menſch iſt dem Menſchen das Intereſſanteſte, und ſollte ihn vielleicht ganz allein intereſſiren. Alles andere, was uns umgiebt, iſt entweder nur Element, in dem wir leben, oder Werkzeug, deſſen wir uns bedienen. Jemehr wir uns dabey auf¬ halten, jemehr wir darauf merken und Theil daran nehmen, deſto ſchwächer wird das Ge¬ fühl unſers eignen Werthes und das Gefühl der Geſellſchaft. Die Menſchen, die einen großen Werth auf Gärten, Gebäude, Klei¬ der, Schmuck oder irgend ein Beſitzthum le¬ gen, ſind weniger geſellig und gefällig; ſie verlieren die Menſchen aus den Augen, wel¬ che zu erfreuen und zu verſammlen nur ſehr253 wenigen glückt. Sehn wir es nicht auch auf dem Theater? Ein guter Schauſpieler macht uns bald eine elende, unſchickliche Dekoration vergeſſen, dahingegen das ſchönſte Theater den Mangel an guten Schauſpielern erſt recht fühlbar macht.
Nach Tiſche ſetzte Philine ſich in das be¬ ſchattete hohe Gras. Ihre beiden Freunde mußten ihr Blumen in Menge herbeyſchaf¬ fen. Sie wand ſich einen vollen Kranz, und ſetzte ihn auf; ſie ſah unglaublich reizend aus. Die Blumen reichten noch zu einem andern hin, auch den flocht ſie, indem ſich beide Männer neben ſie ſetzten. Als er un¬ ter allerley Scherz und Anſpielungen fertig geworden war, drückte ſie ihn Wilhelmen mit der größten Anmuth auf’s Haupt, und rückte ihn mehr als einmal anders, bis er recht zu ſitzen ſchien. Und ich werde, wie es ſcheint, leer ausgehen? ſagte Laertes.
254Mit nichten, verſetzte Philine. Ihr ſollt Euch keinesweges beklagen. Sie nahm ihren Kranz vom Haupte, und ſetzte ihn Laertes auf.
Wären wir Nebenbuhler, ſagte dieſer, ſo würden wir ſehr heftig ſtreiten können, wel¬ chen von beiden du am meiſten begünſtigſt.
Da wär’t ihr rechte Thoren, verſetzte ſie, indem ſie ſich zu ihm hinüberbog, und ihm den Mund zum Kuß reichte; ſich aber ſo¬ gleich umwendete, ihren Arm um Wilhelmen ſchlang, und einen lebhaften Kuß auf ſeine Lippen drückte. Welcher ſchmeckt am beſten? fragte ſie neckiſch.
Wunderlich! rief Laertes. Es ſcheint als wenn ſo etwas niemals nach Wermuth ſchmek¬ ken könne.
So wenig, ſagte Philine, als irgend eine Gabe, die jemand ohne Neid und Eigenſinn genießt. Nun hätte ich, rief ſie aus, noch255 Luſt, eine Stunde zu tanzen, und dann müſ¬ ſen wir wohl wieder nach unſern Springern ſehen.
Man ging nach dem Hauſe, und fand Muſik daſelbſt. Philine, die eine gute Tän¬ zerin war, belebte ihre beiden Geſellſchafter. Wilhelm war nicht ungeſchickt, allein es fehl¬ te ihm an einer künſtlichen Übung. Seine beiden Freunde nahmen ſich vor, ihn zu un¬ terrichten.
Man verſpätete ſich. Die Seiltänzer hatten ihre Künſte ſchon zu produziren an¬ gefangen. Auf dem Platze hatten ſich viele Zuſchauer eingefunden, doch war unſern Freunden, als ſie ausſtiegen, ein Getümmel merkwürdig, das eine große Anzahl Men¬ ſchen nach dem Thore des Gaſthofes, in welchem Wilhelm eingekehrt war, hingezo¬ gen hatte. Wilhelm ſprang hinüber, um zu ſehen, was es ſey, und mit Entſetzen erblickte256 er, als er ſich durch's Volk drängte, den Herrn der Seiltänzergeſellſchaft, der das in¬ tereſſante Kind bey den Haaren aus dem Hauſe zu ſchleppen bemüht war, und mit einem Peitſchenſtiel unbarmherzig auf den kleinen Körper losſchlug.
Wilhelm fuhr wie ein Blitz auf den Mann zu, und faßte ihn bey der Bruſt. Laß das Kind los! ſchrie er wie ein Raſen¬ der, oder einer von uns bleibt hier auf der Stelle. Er faßte zugleich den Kerl mit einer Gewalt, die nur der Zorn geben kann ‚ bey der Kehle, daß dieſer zu erſticken glaubte, das Kind losließ, und ſich gegen den An¬ greifenden zu vertheidigen ſuchte. Einige Leute, die mit dem Kinde Mitleiden fühlten ‚ aber Streit anzufangen nicht gewagt hat¬ ten, fielen dem Seiltänzer ſogleich in die Arme, entwaffneten ihn, und drohten ihm mit vielen Schimpfreden. Dieſer, der ſichjetzt257jetzt nur auf die Waffen ſeines Mundes re¬ duzirt ſah, fing gräßlich zu drohen und zu fluchen an, die faule unnütze Kreatur wolle ihre Schuldigkeit nicht thun; ſie verweigere den Eiertanz zu tanzen, den er dem Publiko verſprochen habe; er wolle ſie todtſchlagen, und es ſolle ihn niemand daran hindern. Er ſuchte ſich los zu machen, um das Kind, das ſich unter der Menge verkrochen hatte, aufzuſuchen. Wilhelm hielt ihn zurück, und rief: du ſollſt nicht eher dieſes Geſchöpf we¬ der ſehen noch berühren, bis du vor Gericht Rechenſchaft giebſt, wo du es geſtohlen haſt; ich werde dich auf’s äuſſerſte treiben, du ſollſt mir nicht entgehen. Dieſe Rede, wel¬ che Wilhelm in der Hitze, ohne Gedanken und Abſicht, aus einem dunklen Gefühl, oder wenn man will, aus Inſpiration ausgeſpro¬ chen hatte, brachte den wüthenden Menſchen auf einmal zur Ruhe. Er rief: was hab’ W. Meiſters Lehrj. R258ich mit der unnützen Kreatur zu ſchaffen! Zahlen Sie mir, was mich ihre Kleider ko¬ ſten, und Sie mögen ſie behalten, wir wol¬ len dieſen Abend noch einig werden. Er eilte darauf, die unterbrochene Vorſtellung fortzuſetzen, und die Unruhe des Publikums durch einige bedeutende Kunſtſtücke zu be¬ friedigen.
Wilhelm ſuchte nunmehr, da es ſtille ge¬ worden war, nach dem Kinde, das ſich aber nirgends fand. Einige wollten es auf dem Boden, andere auf den Dächern der benach¬ barten Häuſer geſehen haben. Nachdem man es aller Orten geſucht hatte, mußte man ſich beruhigen, und abwarten, ob es nicht von ſelbſt wieder herbey kommen wolle.
Indeß war Narciß nach Hauſe gekom¬ men, welchen Wilhelm über die Schickſale und die Herkunft des Kindes befragte. Die¬ ſer wußte nichts davon, denn er war nicht259 lange bey der Geſellſchaft; erzählte dagegen mit großer Leichtigkeit und vielem Leichtſinne ſeine eigenen Schickſale. Als ihm Wilhelm zu dem großen Beyfall Glück wünſchte, deſ¬ ſen er ſich zu erfreuen hatte, äuſſerte er ſich ſehr gleichgültig darüber. Wir ſind gewohnt, ſagte er, daß man über uns lacht, und unſre Künſte bewundert; aber wir werden durch den auſſerordentlichen Beyfall um nichts ge¬ beſſert. Der Entrepreneur zahlt uns, und mag ſehen, wie er zurechte kömmt. Er beur¬ laubte ſich darauf, und wollte ſich eilig ent¬ fernen.
Auf die Frage, wo er ſo ſchnell hin wol¬ le? lächelte der junge Menſch, und geſtand, daß ſeine Figur und Talente ihm einen ſoli¬ dern Beyfall zugezogen, als der des großen Publikums ſey. Er habe von einigen Frauen¬ zimmern Botſchaft erhalten, die ſehr eifrig verlangten, ihn näher kennen zu lernen, undR 2260er fürchte, mit den Beſuchen, die er abzule¬ gen habe, vor Mitternacht kaum fertig zu werden. Er fuhr fort mit der größten Auf¬ richtigkeit ſeine Abentheuer zu erzählen, und hätte die Namen, Straßen und Häuſer an¬ gezeigt, wenn nicht Wilhelm eine ſolche In¬ diſcretion abgelehnt und ihn höflich entlaſſen hätte.
Laertes hatte indeſſen Landrinetten unter¬ halten, und verſicherte, ſie ſey vollkommen würdig, ein Weib zu ſeyn und zu bleiben.
Nun ging die Unterhandlung mit dem Entrepreneur wegen des Kindes an, das un¬ ſerm Freunde für dreyßig Thaler überlaſſen wurde, gegen welche der ſchwarzbärtige hef¬ tige Italiener ſeine Anſprüche völlig abtrat; von der Herkunft des Kindes aber weiter nichts bekennen wollte, als daß er ſolches nach dem Tode ſeines Bruders, den man, wegen ſeiner auſſerordentlichen Geſchicklich¬261 keit, den großen Teufel genannt, zu ſich ge¬ nommen habe.
Der andere Morgen ging meiſt mit Auf¬ ſuchen des Kindes hin. Vergebens durchkroch man alle Winkel des Hauſes und der Nach¬ barſchaft; es war verſchwunden, und man fürchtete, es mögte in ein Waſſer geſprun¬ gen ſeyn, oder ſich ſonſt ein Leid angethan haben.
Philinens Reize konnten die Unruhe un¬ ſers Freundes nicht ableiten. Er brachte ei¬ nen traurigen nachdenklichen Tag zu. Auch des Abends, da Springer und Tänzer alle ihre Kräfte aufboten, um ſich dem Publiko auf’s Beſte zu empfehlen, konnte ſein Ge¬ müth nicht erheitert und zerſtreut werden.
Durch den Zulauf aus benachbarten Ort¬ ſchaften hatte die Anzahl der Menſchen auſ¬ ſerordentlich zugenommen, und ſo wälzte ſich auch der Schneeball des Beyfalls zu einer262 ungeheuren Größe. Der Sprung über die Degen und durch das Faß mit papiernen Böden machte eine große Senſation. Der ſtarke Mann ließ zum allgemeinen Grauſen, Entſetzen und Erſtaunen, indem er ſich mit dem Kopf und den Füßen auf ein Paar aus¬ einander geſchobene Stühle legte, auf ſeinen hohlſchwebenden Leib einen Ambos heben und auf demſelben, von einigen wackern Schmiedegeſellen, ein Hufeiſen fertig ſchmie¬ den.
Auch war die ſogenannte Herkules-Stär¬ ke, da eine Reihe Männer auf den Schul¬ tern einer erſten Reihe ſtehend, abermals Frauen und Jünglinge trägt, ſo daß zuletzt eine lebendige Pyramide entſteht, deren Spitze ein Kind auf den Kopf geſtellt, als Knopf und Wetterfahne ziert, in dieſen Gegenden noch nie geſehen worden, und endigte wür¬ dig das ganze Schauſpiel. Narciß und Lan¬263 drinette ließen ſich in Tragſeſſeln auf den Schultern der übrigen durch die vornehmſten Straßen der Stadt unter lautem Freuden¬ geſchrey des Volks tragen. Man warf ihnen Bänder, Blumenſträuße und ſeidene Tücher zu, und drängte ſich, ſie ins Geſicht zu faſ¬ ſen. Jedermann ſchien glücklich zu ſeyn, ſie anzuſehn, und von ihnen eines Blicks gewür¬ digt zu werden.
Welcher Schauſpieler, welcher Schriftſtel¬ ler, ja welcher Menſch überhaupt würde ſich nicht auf dem Gipfel ſeiner Wünſche ſehen, wenn er durch irgend ein edles Wort oder eine gute That einen ſo allgemeinen Ein¬ druck hervorbrächte? Welche köſtliche Em¬ pfindung müßte es ſeyn, wenn man gute, edle, der Menſchheit würdige Gefühle eben ſo ſchnell durch einen elektriſchen Schlag ausbreiten, ein ſolches Entzücken unter dem Volke erregen könnte, als dieſe Leute durch264 ihre körperliche Geſchicklichkeit gethan haben; wenn man der Menge das Mitgefühl alles Menſchlichen geben, wenn man ſie mit der Vorſtellung des Glücks und Unglücks, der Weisheit und Thorheit, ja des Unſinns und der Albernheit entzünden, erſchüttern, und ihr ſtockendes Innere in freye, lebhafte und reine Bewegung ſetzen könnte! So ſprach unſer Freund, und da weder Philine noch Laertes geſtimmt ſchienen, einen ſolchen Dis¬ kurs fortzuſetzen, unterhielt er ſich allein mit dieſen Lieblingsbetrachtungen, als er bis ſpät in die Nacht um die Stadt ſpazierte, und ſeinen alten Wunſch, das Gute, Edle, Große durch das Schauſpiel zu verſinnlichen, wie¬ der einmal mit aller Lebhaftigkeit und aller Freyheit einer losgebundenen Einbildungs¬ kraft verfolgte.
265Des andern Tages, als die Seiltänzer mit großem Geräuſch abgezogen waren, fand ſich Mignon ſogleich wieder ein, und trat hinzu, als Wilhelm und Laertes ihre Fechtübungen auf dem Saale fortſetzten. Wo haſt du ge¬ ſteckt? fragte Wilhelm freundlich, du haſt uns viel Sorge gemacht. Das Kind ant¬ wortete nichts, und ſah ihn an. Du biſt nun unſer, rief Laertes, wir haben dich ge¬ kauft. — Was haſt du bezahlt? fragte das Kind ganz trocken. — Hundert Dukaten, ver¬ ſetzte Laertes, wenn du ſie wieder giebſt, kannſt du frey ſeyn. — Das iſt wohl viel? fragte das Kind. — O ja, du magſt dich nur gut aufführen. — Ich will dienen, ver¬ ſetzte ſie.
266Von dem Augenblicke an merkte ſie ge¬ nau, was der Kellner den beiden Freunden für Dienſte zu leiſten hatte, und litt ſchon des andern Tages nicht mehr, daß er ins Zimmer kam. Sie wollte alles ſelbſt thun, und machte auch ihre Geſchäfte zwar lang¬ ſam und mit unter unbehülflich, doch genau und mit großer Sorgfalt.
Sie ſtellte ſich oft an ein Gefäß mit Waſſer, und wuſch ihr Geſicht mit ſo großer Emſigkeit und Heftigkeit, daß ſie ſich faſt die Backen aufrieb, und Laertes erfuhr durch Fragen und Necken, daß ſie die Schminke von ihren Wangen auf alle Weiſe los zu werden ſuche, und über dem Eifer, womit ſie es that, die Röthe, die ſie durchs Reiben hervorgebracht hatte, für die hartnäckigſte Schminke halte. Man bedeutete ſie, und ſie ließ ab, und nachdem ſie wieder zur Ruhe gekommen war, zeigte ſich eine ſchöne brau¬267 ne, obgleich nur von wenigem Roth erhöhte Geſichtsfarbe.
Durch die frevelhaften Reize Philinens, durch die geheimnißvolle Gegenwart des Kin¬ des, mehr als er ſich ſelbſt geſtehen durfte, unterhalten, brachte Wilhelm verſchiedene Tage in dieſer ſonderbaren Geſellſchaft zu, und rechtfertigte ſich bey ſich ſelbſt durch eine fleißige Übung in der Fecht - und Tanz - Kunſt, wozu er ſo leicht nicht wieder Gele¬ genheit zu finden glaubte.
Nicht wenig verwundert, und gewiſſer¬ maßen erfreut war er, als er eines Tages Herrn und Frau Melina ankommen ſah, welche, gleich nach dem erſten frohen Gruße, ſich nach der Directrice und den übrigen Schauſpielern erkundigten, und mit großem Schrecken vernahmen, daß jene ſich ſchon lange entfernt habe, und dieſe bis auf weni¬ ge zerſtreut ſeyen.
268Das junge Paar hatte ſich nach ihrer Verbindung, zu der, wie wir wiſſen, Wil¬ helm behülflich geweſen, an einigen Orten nach Engagement umgeſehen, keines gefun¬ den, und war endlich in dieſes Städtchen gewieſen worden, wo einige Perſonen, die ihnen unterwegs begegneten, ein gutes Thea¬ ter geſehen haben wollten.
Philinen wollte Madam Melina, und Herr Melina dem lebhaften Laertes, als ſie Bekanntſchaft machten, keinesweges gefallen. Sie wünſchten die neuen Ankömmlinge gleich wieder los zu ſeyn, und Wilhelm konnte ihnen keine günſtige Geſinnungen beybrin¬ gen, ob er ihnen gleich wiederholt verſicherte, daß es recht gute Leute ſeyen.
Eigentlich war auch das bisherige luſtige Leben unſrer drey Abentheurer durch die Er¬ weiterung der Geſellſchaft auf mehr als eine Weiſe geſtört; denn Melina fing im Wirths¬269 hauſe (er hatte in eben demſelben, in wel¬ chem Philine wohnte, Platz gefunden) gleich zu markten und zu quängeln an. Er wollte für weniges Geld beſſeres Quartier, reichli¬ chere Mahlzeit und promptere Bedienung haben. In kurzer Zeit machten Wirth und Kellner verdrießliche Geſichter, und wenn die andern, um froh zu leben, ſich alles gefallen ließen, und nur geſchwind bezahlten, um nicht länger an das zu denken, was ſchon verzehrt war; ſo mußte die Mahlzeit, die Melina regelmäßig ſogleich berichtigte, jeder¬ zeit von vorn wieder durchgenommen wer¬ den, ſo daß Philine ihn, ohne Umſtände, ein wiederkäuendes Thier nannte.
Noch verhaßter war Madam Melina dem luſtigen Mädchen. Dieſe junge Frau war nicht ohne Bildung, doch fehlte es ihr gänzlich an Geiſt und Seele. Sie deklamir¬ te nicht übel, und wollte immer deklamiren;270 allein man merkte bald, daß es nur eine Wortdeklamation war, die auf einzelne Stel¬ len laſtete, und die Empfindung des Ganzen nicht ausdruckte. Bey dieſem allen war ſie nicht leicht jemanden, beſonders Männern, unangenehm. Vielmehr ſchrieben ihr diejeni¬ gen, die mit ihr umgingen, gewöhnlich einen ſchönen Verſtand zu; denn ſie war, was ich mit Einem Worte eine Anempfinderinn nennen möchte; ſie wußte einem Freunde, um deſſen Achtung ihr zu thun war, mit einer beſondern Aufmerkſamkeit zu ſchmei¬ cheln, in ſeine Ideen ſo lange als möglich einzugehen; ſo bald ſie aber ganz über ihren Horizont waren, mit Extaſe eine ſolche neue Erſcheinung aufzunehmen. Sie verſtand zu ſprechen und zu ſchweigen, und ob ſie gleich kein tückiſches Gemüth hatte, mit großer Vor¬ ſicht aufzupaſſen, wo des andern ſchwache Seite ſeyn möchte.
271Melina hatte ſich indeſſen nach den Trüm¬ mern der vorigen Direction genau erkundigt. Sowohl Dekorationen als Garderobe waren an einige Handelsleute verſetzt, und ein No¬ tarius hatte den Auftrag von der Directrice erhalten, unter gewiſſen Bedingungen, wenn ſich Liebhaber fänden, in den Verkauf aus freyer Hand zu willigen. Melina wollte die Sachen beſehen, und zog Wilhelmen mit ſich. Dieſer empfand, als man ihnen die Zimmer eröffnete, eine gewiſſe Neigung dazu, die er ſich jedoch ſelbſt nicht geſtand. In ſo einem ſchlechten Zuſtande auch die gekleckſten Dekorationen waren, ſo wenig ſcheinbar auch türkiſche und heidniſche Kleider, alte Karika¬ tur – Röcke für Männer und Frauen, Kutten272 für Zauberer, Juden und Pfaffen ſeyn moch¬ ten; ſo konnt’ er ſich doch der Empfindung nicht erwehren, daß er die glücklichſten Au¬ genblicke ſeines Lebens in der Nähe eines ähnlichen Trödelkrams gefunden hatte. Hät¬ te Melina in ſein Herz ſehen können, ſo würde er ihm eifriger zugeſetzt haben, eine Summe Geldes auf die Befreyung, Aufſtel¬ lung und neue Belebung dieſer zerſtreuten Glieder zu einem ſchönen Ganzen herzuge¬ ben. Welch ein glücklicher Menſch, rief Melina aus, könnte ich ſeyn, wenn ich nur zwey hundert Thaler beſäße, um zum An¬ fange den Beſitz dieſer erſten theatraliſchen Bedürfniſſe zu erlangen. Wie bald wollt’ ich ein kleines Schauſpiel beyſammen haben, das uns in dieſer Stadt, in dieſer Gegend gewiß ſogleich ernähren ſollte. Wilhelm ſchwieg, und beide verließen nachdenklich die wieder eingeſperrten Schätze.
Me¬273Melina hatte von dieſer Zeit an keinen andern Diskurs als Projecte und Vorſchlä¬ ge, wie man ein Theater einrichten, und da¬ bey ſeinen Vortheil finden könnte. Er ſuch¬ te Philinen und Laertes zu intereſſiren, und man that Wilhelmen Vorſchläge, Geld her¬ zuſchießen, und Sicherheit dagegen anzuneh¬ men. Dieſem fiel aber erſt bey dieſer Gele¬ genheit recht auf, daß er hier ſo lange nicht hätte verweilen ſollen; er entſchuldigte ſich, und wollte Anſtalten machen, ſeine Reiſe fortzuſetzen.
Indeſſen war ihm Mignons Geſtalt und Weſen immer reizender geworden. In allem ſeinem Thun und Laſſen hatte das Kind et¬ was ſonderbares. Es ging die Treppe we¬ der auf noch ab, ſondern ſprang; es ſtieg auf den Geländern der Gänge weg, und eh 'man ſich’s verſah, ſaß es oben auf dem Schranke, und blieb eine Weile ruhig. AuchW. Meiſters Lehrj. S274hatte Wilhelm bemerkt, daß es für jeden eine beſondere Art von Gruß hatte. Ihn grüßte ſie, ſeit einiger Zeit, mit über die Bruſt geſchlagenen Armen. Manche Tage war ſie ganz ſtumm, zu Zeiten antwortete ſie mehr auf verſchiedene Fragen, immer ſon¬ derbar, doch ſo, daß man nicht unterſcheiden konnte, ob es Witz oder Unkenntniß der Sprache war, indem ſie ein gebrochnes mit franzöſiſch und italieniſch durchflochtenes Deutſch ſprach. In ſeinem Dienſte war das Kind unermüdet, und früh mit der Sonne auf; es verlor ſich dagegen Abends zeitig, ſchlief in einer Kammer auf der nackten Erde, und war durch nichts zu bewegen, ein Bette oder einen Strohſack anzunehmen. Er fand ſie oft, daß ſie ſich wuſch. Auch ihre Klei¬ der waren reinlich, obgleich alles faſt doppelt und dreyfach an ihr geflickt war. Man ſag¬ te Wilhelmen auch, daß ſie alle Morgen275 ganz früh in die Meſſe gehe, wohin er ihr einmal folgte, und ſie in der Ecke der Kirche mit dem Roſenkranze knien und andächtig beten ſah. Sie bemerkte ihn nicht, er ging nach Hauſe, machte ſich vielerley Gedanken über dieſe Geſtalt, und konnte ſich bey ihr nichts beſtimmtes denken.
Neues Andringen Melinas um eine Sum¬ me Geldes, zur Auslöſung der mehr erwähn¬ ten Theatergeräthſchaften, beſtimmte Wil¬ helmen noch mehr, an ſeine Abreiſe zu den¬ ken. Er wollte den Seinigen, die lange nichts von ihm gehört hatten, noch mit dem heuti¬ gen Poſttage ſchreiben, er fing auch wirklich einen Brief an Wernern an, und war mit Erzählung ſeiner Abenteuer, wobey er, ohne es ſelbſt zu bemerken, ſich mehrmal von der Wahrheit entfernt hatte, ſchon ziemlich weit gekommen, als er, zu ſeinem Verdruß, auf der hintern Seite des Briefblatts ſchon eini¬S 2276ge Verſe geſchrieben fand, die er für Ma¬ dam Melina aus ſeiner Schreibtafel zu co¬ piren angefangen hatte. Unwillig zerriß er das Blatt und verſchob die Wiederholung ſeines Bekenntniſſes auf den nächſten Poſt¬ tag.
277Unſre Geſellſchaft befand ſich abermals bey¬ ſammen, und Philine, die auf jedes Pferd, das vorbey kam, auf jeden Wagen, der an¬ fuhr, äuſſerſt aufmerkſam war, rief mit gro¬ ßer Lebhaftigkeit: unſer Pedant! da kommt unſer allerliebſter Pedant! Wen mag er bey ſich haben? Sie rief und winkte zum Fenſter hinaus, und der Wagen hielt ſtille.
Ein kümmerlich armer Teufel, den man an ſeinem verſchabten, graulich-braunem Rocke und an ſeinen übelconditionirten Un¬ terkleidern für einen Magiſter, wie ſie auf Akademien zu vermodern pflegen, hätte hal¬ ten ſollen, ſtieg aus dem Wagen, und ent¬ blößte, indem er Philinen zu grüßen den Hut abthat, eine übelgepuderte, aber übri¬278 gens ſehr ſteife Perrücke, und Philine warf ihm hundert Kußhände zu.
So wie ſie ihre Glückſeligkeit fand, einen Theil der Männer zu lieben und ihrer Liebe zu genießen; ſo war das Vergnügen nicht viel geringer, das ſie ſich ſo oft als möglich gab, die übrigen, die ſie eben in dieſem Au¬ genblicke nicht liebte, auf eine ſehr leichtfer¬ tige Weiſe zum Beſten zu haben.
Über den Lärm, womit ſie dieſen alten Freund empfing, vergaß man auf die übri¬ gen zu achten, die ihm nachfolgten. Doch glaubte Wilhelm die zwey Frauenzimmer und einen ältlichen Mann, der mit ihnen hereintrat, zu kennen. Auch entdeckte ſich’s bald, daß er ſie alle drey, vor einigen Jah¬ ren, bey der Geſellſchaft, die in ſeiner Vater¬ ſtadt ſpielte, mehrmals geſehen hatte. Die Töchter waren ſeit der Zeit heran gewach¬ ſen; der Alte aber hatte ſich wenig verän¬279 dert. Dieſer ſpielte gewöhnlich die gutmü¬ thigen, polternden Alten, wovon das deut¬ ſche Theater nicht leer wird, und die man auch im gemeinen Leben nicht ſelten antrift. Denn da es der Character unſrer Landsleute iſt, das Gute ohne viel Prunk zu thun und zu leiſten; ſo denken ſie ſelten daran, daß es auch eine Art gebe, das Rechte mit Zier¬ lichkeit und Anmuth zu thun, und verfallen vielmehr, von einem Geiſte des Widerſpruchs getrieben, leicht in den Fehler, durch ein mürriſches Weſen, ihre liebſte Tugend im Contraſte darzuſtellen.
Solche Rollen ſpielte unſer Schauſpieler ſehr gut, und er ſpielte ſie ſo oft und aus¬ ſchließlich, daß er darüber eine ähnliche Art ſich zu betragen im gemeinen Leben ange¬ nommen hatte.
Wilhelm gerieth in große Bewegung, ſo¬ bald er ihn erkannte, denn er erinnerte ſich,280 wie oft er dieſen Mann neben ſeiner gelieb¬ ten Mariane auf dem Theater geſehen hat¬ te; er hörte ihn noch ſchelten, er hörte ihre ſchmeichelnde Stimme, mit der ſie ſeinem rauhen Weſen in manchen Rollen zu be¬ gegnen hatte.
Die erſte lebhafte Frage an die neuen Ankömmlinge, ob ein Unterkommen aus¬ wärts zu finden und zu hoffen ſey? ward leider mit nein beantwortet, und man mußte vernehmen, daß die Geſellſchaften, bey denen man ſich erkundigt, beſetzt, und einige davon ſogar in Sorgen ſeyen, wegen des bevorſte¬ henden Krieges auseinander gehen zu müſ¬ ſen. Der polternde Alte hatte mit ſeinen Töchtern aus Verdruß und Liebe zur Ab¬ wechſelung ein vortheilhaftes Engagement aufgegeben, hatte mit dem Pedanten, den er unterwegs antraf, einen Wagen gemiethet, um hieher zu kommen, wo denn auch, wie ſie fanden, guter Rath theuer war.
281Die Zeit, in welcher ſich die übrigen über ihre Angelegenheiten ſehr lebhaft unterhiel¬ ten, brachte Wilhelm nachdenklich zu. Er wünſchte den Alten allein zu ſprechen, wünſchte und fürchtete von Marianen zu hören, und befand ſich in der größten Un¬ ruhe.
Die Artigkeiten der neuangekommenen Frauenzimmer konnten ihn nicht aus ſeinem Traume reiſſen; aber ein Wortwechſel, der ſich erhub, machte ihn aufmerkſam. Es war Friedrich, der blonde Knabe, der Philinen aufzuwarten pflegte, ſich aber diesmal leb¬ haft widerſetzte, als er den Tiſch decken und Eſſen herbeyſchaffen ſollte. Ich habe mich verpflichtet, rief er aus, Ihnen zu dienen, aber nicht allen Menſchen aufzuwarten. Sie geriethen darüber in einen heftigen Streit. Philine beſtand darauf, er habe ſeine Schul¬ digkeit zu thun, und als er ſich hartnäckig282 widerſetzte, ſagte ſie ihm ohne Umſtände, er könne gehn, wohin er wolle.
Glauben Sie etwa, daß ich mich nicht von Ihnen entfernen könne? rief er aus, ging trotzig weg, machte ſeinen Bündel zu¬ ſammen, und eilte ſogleich zum Hauſe hin¬ aus. Geh, Mignon, ſagte Philine, und ſchaff uns, was wir brauchen; ſag es dem Kellner, und hilf aufwarten.
Mignon trat vor Wilhelm hin, und frag¬ te in ſeiner lakoniſchen Art: ſoll ich? darf ich? und Wilhelm verſetzte: thu mein Kind, was Mademoiſelle dir ſagt.
Das Kind beſorgte alles, und wartete den ganzen Abend mit großer Sorgfalt den Gäſten auf. Nach Tiſche ſuchte Wilhelm mit dem Alten einen Spatziergang allein zu machen; es gelang ihm, und nach mancher¬ ley Fragen, wie es ihm bisher gegangen? wendete ſich das Geſpräch auf die ehmalige283 Geſellſchaft, und Wilhelm wagte zuletzt nach Marianen zu fragen.
Sagen Sie mir nichts von dem abſcheu¬ lichen Geſchöpf! rief der Alte, ich habe ver¬ ſchworen, nicht mehr an ſie zu denken. Wil¬ helm erſchrak über dieſe Äußerung, war aber noch in größerer Verlegenheit, als der Alte fortfuhr, auf ihre Leichtfertigkeit und Lieder¬ lichkeit zu ſchmählen. Wie gern hätte unſer Freund das Geſpräch abgebrochen; allein er mußte nun einmal die polternden Ergießun¬ gen des wunderlichen Mannes aushalten.
Ich ſchäme mich, fuhr dieſer fort, daß ich ihr ſo geneigt war. Doch hätten Sie das Mädchen näher gekannt, Sie würden mich gewiß entſchuldigen. Sie war ſo artig, na¬ türlich und gut, ſo gefällig und in jedem Sinne leidlich. Nie hätt’ ich mir vorgeſtellt, daß Frechheit und Undank die Hauptzüge ihres Characters ſeyn ſollten.
284Schon hatte ſich Wilhelm gefaßt gemacht, das Schlimmſte von ihr zu hören, als er auf einmal mit Verwunderung bemerkte, daß der Ton des Alten milder wurde, ſeine Rede endlich ſtockte, und er ein Schnupftuch aus der Taſche nahm, um die Thränen zu trock¬ nen, die zuletzt ſeine Rede völlig unter¬ brachen.
Was iſt Ihnen? rief Wilhelm aus. Was giebt Ihren Empfindungen auf einmal eine ſo entgegengeſetzte Richtung? Verbergen Sie mir es nicht, ich nehme an dem Schickſale dieſes Mädchens mehr Antheil als Sie glau¬ ben, nur laſſen Sie mich alles wiſſen.
Ich habe wenig zu ſagen, verſetzte der Alte, indem er wieder in ſeinen ernſtlichen, verdrießlichen Ton überging ich werde es ihr nie vergeben, was ich um ſie geduldet habe. Sie hatte, fuhr er fort, immer ein gewiſſes Zutrauen zu mir; ich liebte ſie wie285 meine Tochter, und hatte, da meine Frau noch lebte, den Entſchluß gefaßt, ſie zu mir zu nehmen, und ſie aus den Händen der Alten zu retten, von deren Anleitung ich mir nicht viel Gutes verſprach. Meine Frau ſtarb, das Project zerſchlug ſich.
Gegen das Ende des Aufenthalts in Ihrer Vaterſtadt, es ſind nicht gar drey Jahre, merkte ich ihr eine ſichtbare Traurig¬ keit an; ich fragte ſie, aber ſie wich aus. Endlich machten wir uns auf die Reiſe. Sie fuhr mit mir in Einem Wagen, und ich be¬ merkte, was ſie mir auch bald geſtand, daß ſie guter Hoffnung ſey, und in der größten Furcht ſchwebe, von unſerm Director ver¬ ſtoßen zu werden. Auch dauerte es nur kur¬ ze Zeit, ſo machte er die Entdeckung, kün¬ digte ihr den Contract, der ohnedies nur auf ſechs Wochen ſtand, ſogleich auf, zahlte was ſie zu fordern hatte, und ließ ſie, aller286 Vorſtellungen ungeachtet, in einem kleinen Städtchen, in einem ſchlechten Wirthshauſe zurück.
Der Henker hole alle liederliche Dirnen! rief der Alte mit Verdruß, und beſonders dieſe, die mir ſo manche Stunde meines Le¬ bens verdorben hat. Was ſoll ich lange er¬ zählen, wie ich mich ihrer angenommen, was ich für ſie gethan, was ich an ſie gehängt, wie ich auch in der Abweſenheit für ſie ge¬ ſorgt habe. Ich wollte lieber mein Geld in den Teich werfen, und meine Zeit anwenden, räudige Hunde zu erziehen, als nur jemals wieder auf ſo ein Geſchöpf die mindeſte Auf¬ merkſamkeit zu wenden. Was war’s? Im Anfang erhielt ich Dankſagungsbriefe, Nach¬ richt von einigen Orten ihres Aufenthalts, und zuletzt kein Wort mehr, nicht einmal Dank für das Geld, das ich ihr zu ihren Wochen geſchickt hatte. O die Verſtellung287 und der Leichtſinn der Weiber iſt ſo recht zuſammengepaart, um ihnen ein bequemes Leben, und einem ehrlichen Kerl manche ver¬ drießliche Stunde zu ſchaffen!
288Man denke ſich Wilhelms Zuſtand, als er von dieſer Unterredung nach Hauſe kam. Alle ſeine alten Wunden waren wieder auf¬ geriſſen, und das Gefühl, daß ſie ſeiner Liebe nicht ganz unwürdig geweſen, wieder lebhaft geworden; denn in dem Intereſſe des Alten, in dem Lobe, das er ihr wider Willen geben mußte, war unſerm Freunde ihre ganze Lie¬ benswürdigkeit wieder erſchienen; ja ſelbſt die heftige Anklage des leidenſchaftlichen Mannes enthielt nichts, das ſie vor Wil¬ helms Augen hätte herabſetzen können. Denn dieſer bekannte ſich ſelbſt als Mitſchuldigen ihrer Vergehungen, und ihr Schweigen zu¬ letzt ſchien ihm nicht tadelhaft, er machte ſich vielmehr nur traurige Gedanken darüber,ſah289ſah ſie als Wöchnerin, als Mutter in der Welt ohne Hülfe herumirren, wahrſcheinlich mit ſeinem eigenen Kinde herumirren. Vor¬ ſtellungen, welche das ſchmerzlichſte Gefühl in ihm erregten.
Mignon hatte auf ihn gewartet, und leuchtete ihn die Treppe hinauf. Als ſie das Licht niedergeſetzt hatte, bat ſie ihn, zu erlauben, daß ſie ihm heute Abend mit einem Kunſtſtücke aufwarten dürfe. Er hätte es lieber verbeten, beſonders da er nicht wußte, was es werden ſollte. Allein er konnte die¬ ſem guten Geſchöpfe nichts abſchlagen. Nach einer kurzen Zeit trat ſie wieder herein. Sie trug einen Teppich unter dem Arme, den ſie auf der Erde ausbreitete. Wilhelm ließ ſie gewähren. Sie brachte darauf vier Lichter, ſtellte eins in jeden Winkel des Teppichs. Ein Körbchen mit Eiern, das ſie darauf hol¬ te, machte die Abſicht deutlicher. KünſtlichW. Meiſters Lehrj. T290abgemeſſen ſchritt ſie nunmehr auf dem Tep¬ pich hin und her, und legte in gewiſſen Maaßen die Eier auseinander, dann rief ſie einen Menſchen herein, der im Hauſe auf¬ wartete und die Violine ſpielte. Er trat mit ſeinem Inſtrumente in die Ecke, ſie verband ſich die Augen, gab das Zeichen, und fing zugleich mit der Muſik, wie ein aufgezoge¬ nes Räderwerk, ihre Bewegungen an, indem ſie Takt und Melodie mit dem Schlage der Caſtagnetten begleitete.
Behende, leicht, raſch, genau führte ſie den Tanz. Sie trat ſo ſcharf und ſo ſicher zwiſchen die Eier hinein, bey den Eiern nie¬ der, daß man jeden Augenblick dachte, ſie müſſe eins zertreten, oder bey ſchnellen Wen¬ dungen das andre fortſchleudern. Mit nich¬ ten! Sie berührte keines, ob ſie gleich mit allen Arten von Schritten, engen und wei¬ ten, ja ſogar mit Sprüngen, und zuletzt291 halb kniend ſich durch die Reihen durch¬ wand.
Unaufhaltſam, wie ein Uhrwerk, lief ſie ihren Weg, und die ſonderbare Muſik gab dem immer wieder von vorne anfangenden und losrauſchenden Tanze bey jeder Wieder¬ holung einen neuen Stoß. Wilhelm war von dem ſonderbaren Schauſpiele ganz hin¬ geriſſen, er vergas ſeiner Sorgen, folgte je¬ der Bewegung der geliebten Creatur, und war verwundert, wie in dieſem Tanze ſich ihr Charakter vorzüglich entwickelte.
Streng, ſcharf, trocken, heftig, und in ſanften Stellungen mehr feyerlich als ange¬ nehm, zeigte ſie ſich. Er empfand, was er ſchon für Mignon gefühlt, in dieſem Augen¬ blicke auf einmal. Er ſehnte ſich, dieſes ver¬ laſſene Weſen an Kindesſtatt ſeinem Herzen einzuverleiben, es in ſeine Arme zu nehmen,T 2292und mit der Liebe eines Vaters Freude des Lebens in ihm zu erwecken.
Der Tanz ging zu Ende; ſie rollte die Eier mit den Füßen ſachte zuſammen auf ein Häufchen, ließ keines zurück, beſchädigte keines, und ſtellte ſich dazu, indem ſie die Binde von den Augen nahm, und ihr Kunſt¬ ſtück mit einem Bücklinge endigte.
Wilhelm dankte ihr, daß ſie ihm den Tanz, den er zu ſehen gewünſcht, ſo artig und unvermuthet vorgetragen habe. Er ſtreichelte ſie, und bedauerte, daß ſie ſich’s habe ſo ſauer werden laſſen. Er verſprach ihr ein neues Kleid, worauf ſie heftig ant¬ wortete: deine Farbe! Auch das verſprach er ihr, ob er gleich nicht deutlich wußte, was ſie darunter meyne. Sie nahm die Eier zu¬ ſammen, den Teppich unter den Arm, fragte ob er noch etwas zu befehlen habe, und ſchwang ſich zur Thüre hinaus.
293Von dem Muſicus erfuhr er, daß ſie ſich ſeit einiger Zeit viele Mühe gegeben, ihm den Tanz, welches der bekannte Fandango war, ſo lange vorzuſingen, bis er ihn habe ſpielen können. Auch habe ſie ihm für ſeine Bemühungen etwas Geld angeboten, das er aber nicht nehmen wollen.
294Nach einer unruhigen Nacht, die unſer Freund theils wachend, theils von ſchweren Träumen geängſtigt, zubrachte, in denen er Marianen bald in aller Schönheit, bald in kümmerlicher Geſtalt, jetzt mit einem Kinde auf dem Arm, bald deſſelben beraubt ſah, war der Morgen kaum angebrochen, als Mignon ſchon mit einem Schneider herein¬ trat. Sie brachte graues Tuch und blauen Taffet, und erklärte nach ihrer Art, daß ſie ein neues Weſtchen und Schifferhoſen, wie ſie ſolche an den Knaben in der Stadt geſe¬ hen, mit blauen Aufſchlägen und Bändern haben wolle.
Wilhelm hatte ſeit dem Verluſt Maria¬ nens alle muntere Farben abgelegt. Er hat¬295 te ſich an das Grau, an die Kleidung der Schatten, gewöhnt, und nur etwa ein him¬ melblaues Futter oder ein kleiner Kragen von dieſer Farbe belebte einigermaßen jene ſtille Kleidung. Mignon, begierig ſeine Far¬ be zu tragen, trieb den Schneider, der in kurzem die Arbeit zu liefern verſprach.
Die Tanz – und Fecht – Stunden, die un¬ ſer Freund heute mit Laertes nahm, wollten nicht zum Beſten glücken. Auch wurden ſie bald durch Melinas Ankunft unterbrochen, der umſtändlich zeigte, wie jetzt eine kleine Geſellſchaft beyſammen ſey, mit welcher man ſchon Stücke genug aufführen könne. Er erneuerte ſeinen Antrag, daß Wilhelm eini¬ ges Geld zum Etabliſſement vorſtrecken ſolle, wobey dieſer auch wie vormals ſeine Unent¬ ſchloſſenheit zeigte.
Philine und die Mädchen kamen bald hierauf mit Lachen und Lärmen herein. Sie296 hatten ſich abermals eine Spatzierfahrt aus¬ gedacht. Denn Veränderung des Orts und der Gegenſtände war eine Luſt, nach der ſie ſich immer ſehnten. Täglich an’ einem an¬ dern Orte zu eſſen, war ihr höchſter Wunſch. Diesmal ſollte es eine Waſſerfahrt werden.
Das Schiff, womit ſie die Krümmungen des angenehmen Fluſſes hinunterfahren woll¬ ten, war ſchon durch den Pedanten beſtellt. Philine trieb, die Geſellſchaft zauderte nicht, und war bald eingeſchifft.
Was fangen wir nun an? ſagte Philine, indem ſich alle auf die Bänke niedergelaſſen hatten.
Das Kürzeſte wäre, verſetzte Laertes, wir extemporirten ein Stück. Nehme jeder eine Rolle, die ſeinem Character am angemeſſen¬ ſten iſt, und wir wollen ſehen, wie es uns gelingt.
Fürtrefflich! ſagte Wilhelm, denn in einer297 Geſellſchaft, in der man ſich nicht verſtellt, in welcher jedes nur ſeinem Sinne folgt, kann Anmuth und Zufriedenheit nicht lange wohnen, und wo man ſich immer verſtellt, dahin kommen ſie gar nicht. Es iſt alſo nicht übel gethan, wir geben uns die Ver¬ ſtellung gleich von Anfange zu, und ſind nachher unter der Maſke ſo aufrichtig, als wir wollen.
Ja, ſagte Laertes, deswegen geht ſich’s ſo angenehm mit Weibern um, die ſich nie¬ mals in ihrer natürlichen Geſtalt ſehen laſſen.
Das macht, verſetzte Madam Melina, daß ſie nicht ſo eitel ſind wie Männer, wel¬ che ſich einbilden, ſie ſeyen ſchon immer lie¬ benswürdig genug, wie ſie die Natur her¬ vorgebracht hat.
Indeſſen war man zwiſchen angenehmen Büſchen und Hügeln, zwiſchen Gärten und Weinbergen hingefahren, und die jungen298 Frauenzimmer, beſonders aber Madam Me¬ lina, druckten ihr Entzücken über die Gegend aus. Letztre fing ſogar ein artiges Gedicht von der beſchreibenden Gattung über eine ähnliche Naturſcene feyerlich herzuſagen an allein Philine unterbrach ſie, und ſchlug ein Geſetz vor, daß ſich niemand unterfangen ſolle, von einem unbelebten Gegenſtande zu ſprechen; ſie ſetzte vielmehr den Vorſchlag zur extemporirten Komödie mit Eifer durch. Der polternde Alte ſollte einen penſionirten Officier, Laertes einen vacirenden Fechtmei¬ ſter, der Pedant einen Juden vorſtellen; ſie ſelbſt wolle eine Tyrolerin machen, und über¬ ließ den übrigen ſich ihre Rollen zu wählen. Man ſollte fingiren, als ob ſie eine Geſell¬ ſchaft weltfremder Menſchen ſeyen, die ſo eben auf einem Marktſchiffe zuſammen komme.
Sie fing ſogleich mit dem Juden ihre Rolle zu ſpielen an, und eine allgemeine Heiterkeit verbreitete ſich.
299Man war nicht lange gefahren, als der Schiffer ſtille hielt, um mit Erlaubniß der Geſellſchaft noch jemand einzunehmen, der am Ufer ſtand, und gewinkt hatte.
Das iſt eben noch, was wir brauchten, rief Philine, ein blinder Paſſagier fehlte noch der Reiſegeſellſchaft.
Ein wohlgebildeter Mann ſtieg in das Schiff, den man an ſeiner Kleidung und ſei¬ ner ehrwürdigen Miene wohl für einen Geiſt¬ lichen hätte nehmen können. Er begrüßte die Geſellſchaft, die ihm nach ihrer Weiſe dankte, und ihn bald mit ihrem Scherz be¬ kannt machte. Er nahm darauf die Rolle eines Landgeiſtlichen an, die er zur Verwun¬ derung aller auf das artigſte durchſetzte, in¬ dem er bald ermahnte, bald Hiſtörchen er¬ zählte, einige ſchwache Seiten blicken ließ, und ſich doch im Reſpekt zu erhalten wußte.
Indeſſen hatte jeder, der nur ein einzi¬300 gesmal aus ſeinem Character herausgegan¬ gen war, ein Pfand geben müſſen. Philine hatte ſie mit großer Sorgfalt geſammlet, und beſonders den geiſtlichen Herrn mit vielen Küſſen bey der künftigen Einlöſung bedroht, ob er gleich ſelbſt nie in Strafe genommen ward. Melina dagegen war völlig ausge¬ plündert, Hemdenknöpfe und Schnallen, und alles was Bewegliches an ſeinem Leibe war ‚ hatte Philine zu ſich genommen. Denn er wollte einen reiſenden Engländer vorſtellen, und konnte auf keine Weiſe in ſeine Rolle hineinkommen.
Die Zeit war indeß auf das angenehmſte vergangen, jedes hatte ſeine Einbildungskraft und ſeinen Witz auf’s möglichſte angeſtrengt, und jedes ſeine Rolle mit angenehmen und unterhaltenden Scherzen ausſtaffirt. So kam man an dem Orte an, wo man ſich den Tag über aufhalten wollte, und Wilhelm ge¬301 rieth mit dem Geiſtlichen, wie wir ihn, ſei¬ nem Ausſehn und ſeiner Rolle nach, nennen wollen, auf dem Spatziergange bald in ein intereſſantes Geſpräch.
Ich finde dieſe Übung, ſagte der Unbe¬ kannte, unter Schauſpielern, ja in Geſell¬ ſchaft von Freunden und Bekannten, ſehr nützlich. Es iſt die beſte Art, die Menſchen aus ſich heraus und durch einen Umweg wie¬ der in ſich hinein zu führen. Es ſollte bey jeder Truppe eingeführt ſeyn, daß ſie ſich manchmal auf dieſe Weiſe üben müßte, und das Publikum würde gewiß dabey gewinnen, wenn alle Monate ein nicht geſchriebenes Stück aufgeführt würde, worauf ſich freylich die Schauſpieler in mehreren Proben mü߬ ten vorbereitet haben.
Man dürfte ſich, verſetzte Wilhelm, ein extemporirtes Stück nicht als ein ſolches den¬ ken, das aus dem Stegreife ſogleich compo¬302 nirt würde, ſondern als ein ſolches, wovon zwar Plan, Handlung und Scenen-Einthei¬ lung gegeben wären, deſſen Ausführung aber dem Schauſpieler überlaſſen bliebe.
Ganz richtig, ſagte der Unbekannte, und eben was dieſe Ausführung betrifft, würde ein ſolches Stück, ſobald die Schauſpieler nur einmal im Gang wären, auſſerordentlich gewinnen. Nicht die Ausführung durch Worte, denn durch dieſe muß freylich der überlegende Schriftſteller ſeine Arbeit zieren, ſondern die Ausführung durch Gebährden und Minen, Ausrufungen und was dazu ge¬ hört; kurz das ſtumme, halblaute Spiel, welches nach und nach bey uns ganz verlo¬ ren zu gehen ſcheint. Es ſind wohl Schau¬ ſpieler in Deutſchland, deren Körper das zeigt, was ſie denken und fühlen, die durch Schweigen, Zaudern, durch Winke, durch zarte anmuthige Bewegungen des Körpers303 eine Rede vorzubereiten, und die Pauſen des Geſprächs durch eine gefällige Pantomime mit dem Ganzen zu verbinden wiſſen; aber eine Übung, die einem glücklichen Naturell zu Hülfe käme, und es lehrte, mit dem Schriftſteller zu wetteifern, iſt nicht ſo im Gange, als es zum Troſte derer, die das Theater beſuchen, wohl zu wünſchen wäre.
Sollte aber nicht, verſetzte Wilhelm, ein glückliches Naturell, als das erſte und letzte, einen Schauſpieler, wie jeden andern Künſt¬ ler, ja vielleicht wie jeden Menſchen, allein zu einem ſo hochaufgeſteckten Ziele bringen?
Das erſte und letzte, Anfang und Ende möchte es wohl ſeyn und bleiben; aber in der Mitte dürfte dem Künſtler manches feh¬ len, wenn nicht Bildung das erſt aus ihm macht, was er ſeyn ſoll, und zwar frühe Bildung; denn vielleicht iſt derjenige, dem man Genie zuſchreibt, übler daran als der,304 der nur gewöhnliche Fähigkeiten beſitzt; denn jener kann leichter verbildet und viel hefti¬ ger auf falſche Wege geſtoßen werden, als dieſer.
Aber, verſetzte Wilhelm, wird das Genie ſich nicht ſelbſt retten, die Wunden, die es ſich geſchlagen, ſelbſt heilen?
Mit nichten, verſetzte der andere, oder wenigſtens nur nothdürftig; denn niemand glaube die erſten Eindrücke der Jugend ver¬ winden zu können. Iſt er in einer löblichen Freyheit, umgeben von ſchönen und edlen Gegenſtänden, in dem Umgange mit guten Menſchen aufgewachſen, haben ihn ſeine Meiſter das gelehrt, was er zuerſt wiſſen mußte, um das übrige leichter zu begreifen, hat er gelernt, was er nie zu verlernen braucht, wurden ſeine erſten Handlungen ſo geleitet, daß er das Gute künftig leichter und bequemer vollbringen kann, ohne ſichir305irgend etwas abgewöhnen zu müſſen; ſo wird dieſer Menſch ein reineres, vollkomm¬ neres und glücklicheres Leben führen, als ein anderer, der ſeine erſten Jugendkräfte im Widerſtand und im Irrthum zugeſetzt hat. Es wird ſo viel von Erziehung geſprochen und geſchrieben, und ich ſehe nur wenig Menſchen, die den einfachen aber großen Begriff, der alles andere in ſich ſchließt, faſſen und in die Ausführung übertragen können.
Das mag wohl wahr ſeyn, ſagte Wil¬ helm, denn jeder Menſch iſt beſchränkt ge¬ nug, den andern zu ſeinem Ebenbild erzie¬ hen zu wollen. Glücklich ſind diejenigen da¬ her, deren ſich das Schickſal annimmt, das jeden nach ſeiner Weiſe erzieht!
Das Schickſal, verſetzte lächelnd der an¬ dere, iſt ein vornehmer, aber theurer Hof¬ meiſter. Ich würde mich immer lieber anW. Meiſters Lehrj. U306die Vernunft eines menſchlichen Meiſters hal¬ ten. Das Schickſal, für deſſen Weisheit ich alle Ehrfurcht trage, mag an dem Zufall, durch den es wirkt, ein ſehr ungelenkes Or¬ gan haben. Denn ſelten ſcheint dieſer genau und rein auszuführen, was jenes beſchloſſen hatte.
Sie ſcheinen einen ſehr ſonderbaren Ge¬ danken auszuſprechen, verſetzte Wilhelm.
Mit nichten! Das meiſte, was in der Welt begegnet, rechtfertigt meine Meinung. Zeigen viele Begebenheiten im Anfange nicht einen großen Sinn, und gehen die meiſten nicht auf etwas albernes hinaus?
Sie wollen ſcherzen.
Und iſt es nicht, fuhr der andere fort, mit dem, was einzelnen Menſchen begegnet, eben ſo? Geſetzt, das Schickſal hätte einen zu einem guten Schauſpieler beſtimmt, (und warum ſollt’ es uns nicht auch mit guten307 Schauſpielern verſorgen?) unglücklicherweiſe führte der Zufall aber den jungen Mann in ein Puppenſpiel, wo er ſich früh nicht ent¬ halten könnte, an etwas Abgeſchmackten Theil zu nehmen, etwas Albernes leidlich, wohl gar intereſſant zu finden, und ſo die jugend¬ lichen Eindrücke, welche nie verlöſchen, denen wir eine gewiſſe Anhänglichkeit nie entziehen können, von einer falſchen Seite zu em¬ pfangen.
Wie kommen Sie auf’s Puppenſpiel? fiel ihm Wilhelm mit einiger Beſtürzung ein.
Es war nur ein willkürliches Beyſpiel; wenn es Ihnen nicht gefällt, ſo nehmen wir ein anderes. Geſetzt das Schickſal hätte ei¬ nen zu einem großen Mahler beſtimmt, und dem Zufall beliebte es, ſeine Jugend in ſchmutzige Hütten, Ställe und Scheunen zu verſtoßen, glauben Sie, daß ein ſolcher Mann ſich jemals zur Reinlichkeit, zumU 2308Adel, zur Freyheit der Seele erheben werde? Mit je lebhafterm Sinne er das Unreine in ſeiner Jugend angefaßt, und nach ſeiner Art veredelt hat, deſto gewaltſamer wird es ſich in der Folge ſeines Lebens an ihm rächen, indem es ſich, inzwiſchen daß er es zu über¬ winden ſuchte, mit ihm auf's innigſte ver¬ bunden hat. Wer früh in ſchlechter unbe¬ deutender Geſellſchaft gelebt hat, wird ſich, wenn er auch ſpäter eine beſſere haben kann, immer nach jener zurückſehnen deren Ein¬ druck ihm, zugleich mit der Erinnerung ju¬ gendlicher, nur ſelten zu wiederholender Freu¬ den, geblieben iſt.
Man kann denken, daß unter dieſem Ge¬ ſpräche ſich nach und nach die übrige Geſell¬ ſchaft entfernt hatte. Beſonders war Phili¬ ne gleich vom Anfang auf die Seite getre¬ ten. Man kam durch einen Seitenweg zu ihnen zurück. Philine brachte die Pfänder309 hervor, welche auf allerley Weiſe gelöſt werden mußten, wobey der Fremde ſich durch die artigſten Erfindungen und durch eine ungezwungene Theilnahme der ganzen Geſellſchaft, und beſonders den Frauenzim¬ mern, ſehr empfahl, und ſo floſſen die Stun¬ den des Tages unter Scherzen, Singen, Küſ¬ ſen und allerley Neckereyen auf das ange¬ nehmſte vorbey.
310Als ſie ſich wieder nach Hauſe begeben woll¬ ten, ſahen ſie ſich nach ihrem Geiſtlichen um; allein er war verſchwunden, und an keinem Orte zu finden.
Es iſt nicht artig von dem Manne, der ſonſt viel Lebensart zu haben ſcheint, ſagte Madam Melina, eine Geſellſchaft, die ihn ſo freundlich aufgenommen, ohne Abſchied zu verlaſſen.
Ich habe mich die ganze Zeit her ſchon beſonnen, ſagte Laertes, wo ich dieſen ſonder¬ baren Mann ſchon ehemals möchte geſehen haben. Ich war eben im Begriff, ihn beym Abſchiede darüber zu befragen.
Mir ging es eben ſo, verſetzte Wilhelm, und ich hätte ihn gewiß nicht entlaſſen, bis311 er uns etwas Näheres von ſeinen Umſtän¬ den entdeckt hätte. Ich müßte mich ſehr ir¬ ren, wenn ich ihn nicht ſchon irgendwo ge¬ ſprochen hätte.
Und doch könntet ihr euch, ſagte Philine, darin wirklich irren. Dieſer Mann hat ei¬ gentlich nur das falſche Anſehn eines Be¬ kannten, weil er ausſieht wie ein Menſch, und nicht wie Hans oder Kunz.
Was ſoll das heißen, ſagte Laertes, ſehen wir nicht auch aus wie Menſchen?
Ich weiß, was ich ſage, verſetzte Philine, und wenn ihr mich nicht begreift, ſo laßt’s gut ſeyn. Ich werde nicht am Ende noch gar meine Worte auslegen ſollen.
Zwey Kutſchen fuhren vor. Man lobte die Sorgfalt des Laertes, der ſie beſtellt hat¬ te. Philine nahm neben Madam Melina Wilhelmen gegenüber Platz, und die übrigen richteten ſich ein, ſo gut ſie konnten. Laertes312 ſelbſt ritt auf Wilhelms Pferde, das auch mit heraus gekommen war, nach der Stadt zurück.
Philine ſaß kaum in dem Wagen, als ſie artige Lieder zu ſingen und das Geſpräch auf Geſchichten zu lenken wußte, von denen ſie behauptete, daß ſie mit Glück dramatiſch behandelt werden könnten. Durch dieſe klu¬ ge Wendung hatte ſie gar bald ihren jungen Freund in ſeine beſte Laune geſetzt, und er komponirte aus dem Reichthum ſeines leben¬ digen Bildervorraths ſogleich ein ganzes Schauſpiel mit allen ſeinen Akten, Scenen, Characteren und Verwicklungen. Man fand für gut, einige Arien und Geſänge einzuflech¬ ten; man dichtete ſie und Philine, die in al¬ les einging, paßte ihnen gleich bekannte Me¬ lodien an, und ſang ſie aus dem Stegreife. Sie hatte eben heute ihren ſchönen, ſehr ſchönen Tag, ſie wußte mit allerley Necke¬313 reyen unſern Freund zu beleben; es ward ihm wohl, wie es ihm lange nicht geweſen war.
Seitdem ihn jene grauſame Entdeckung von der Seite Marianens geriſſen hatte, war er dem Gelübde treu geblieben, ſich vor der zuſammenſchlagenden Falle einer weibli¬ chen Umarmung zu hüthen, das treuloſe Ge¬ ſchlecht zu meiden, ſeine Schmerzen, ſeine Neigung, ſeine ſüßen Wünſche in ſeinem Buſen zu verſchließen. Die Gewiſſenhaftig¬ keit, womit er dieß Gelübde beobachtete, gab ſeinem ganzen Weſen eine geheime Nahrung, und wenn ſein Herz nicht ohne Theilneh¬ mung bleiben konnte, ſo ward eine liebevolle Mittheilung nun zum Bedürfniſſe. Er ging wieder wie von dem erſten Jugendnebel be¬ gleitet umher, ſeine Augen faßten jeden rei¬ zenden Gegenſtand mit Freuden auf, und nie war ſein Urtheil über eine liebenswürdige Geſtalt ſchonender geweſen. Wie gefährlich314 ihm in einer ſolchen Lage das verwegene Mädchen werden mußte, läßt ſich leider nur zu gut einſehen.
Zu Hauſe fanden ſie auf Wilhelms Zim¬ mer ſchon alles zum Empfang bereit, die Stühle zu einer Vorleſung zurechte geſtellt, und den Tiſch in die Mitte geſetzt, auf wel¬ chem der Punſchnapf ſeinen Platz nehmen ſollte.
Die deutſchen Ritterſtücke waren damals eben neu, und hatten die Aufmerkſamkeit und Neigung des Publikums an ſich gezo¬ gen. Der alte Polterer hatte eines dieſer Art mitgebracht, und die Vorleſung war be¬ ſchloſſen worden. Man ſetzte ſich nieder. Wilhelm bemächtigte ſich des Exemplars, und fing zu leſen an.
Die geharniſchten Ritter, die alten Bur¬ gen, die Treuherzigkeit, Rechtlichkeit und Redlichkeit, beſonders aber die Unabhängig¬315 keit der handelnden Perſonen wurden mit großem Beyfall aufgenommen. Der Vorle¬ ſer that ſein Möglichſtes, und die Geſell¬ ſchaft kam ganz auſſer ſich. Zwiſchen dem zweyten und dritten Akte kam der Punſch in einem großen Napfe, und da in dem Stücke ſelbſt ſehr viel getrunken und ange¬ ſtoßen wurde; ſo war nichts natürlicher, als daß die Geſellſchaft, bey jedem ſolchen Falle, ſich lebhaft an den Platz der Helden verſetz¬ te, gleichfalls anſtieß, und die Günſtlinge unter den handelnden Perſonen hoch leben ließ.
Jedermann war von dem Feuer des edel¬ ſten Nationalgeiſtes entzündet. Wie ſehr ge¬ fiel es dieſer deutſchen Geſellſchaft, ſich, ihrem Character gemäß, auf eignem Grund und Boden poetiſch zu ergötzen! Beſonders tha¬ ten die Gewölbe und Keller, die verfallenen Schlöſſer, das Moos und die hohlen Bäume,316 über alles aber die nächtlichen Zigeunerſcenen und das heimliche Gericht eine ganz un¬ glaubliche Wirkung. Jeder Schauſpieler ſah nun, wie er bald in Helm und Harniſch, jede Schauſpielerin, wie ſie mit einem großen ſtehenden Kragen ihre Deutſchheit vor dem Publiko produziren werde. Jeder wollte ſich ſogleich einen Namen aus dem Stücke oder aus der deutſchen Geſchichte zueignen, und Madam Melina betheuerte, Sohn oder Toch¬ ter, wozu ſie Hoffnung hatte, nicht anders als Adelbert oder Mathilde taufen zu laſſen.
Gegen den fünften Akt ward der Beyfall lärmender und lauter, ja zuletzt, als der Held wirklich ſeinem Unterdrücker entging, und der Tyrann geſtraft wurde, war das Entzücken ſo groß, daß man ſchwur, man habe nie ſo glückliche Stunden gehabt. Melina, den der Trank begeiſtert hatte, war der lauteſte, und da der zweyte Punſchnapf geleert war, und317 Mitternacht herannahete, ſchwur Laertes hoch und theuer, es ſey kein Menſch würdig, an dieſe Gläſer jemals wieder eine Lippe zu ſetzen, und warf mit dieſer Betheuerung ſein Glas hinter ſich und durch die Scheiben auf die Gaſſe hinaus. Die übrigen folgten ſei¬ nem Beyſpiele, und ohnerachtet der Proteſta¬ tionen des Wirthes, der herbeylief, wurde der Punſchnapf ſelbſt, der nach einem ſolchen Feſte durch unheiliges Getränk nicht wieder entweiht werden ſollte, in tauſend Stücke ge¬ ſchlagen. Philine, der man ihren Rauſch am wenigſten anſah, indeß die beiden Mäd¬ chen nicht in den anſtändigſten Stellungen auf dem Kanape lagen, reizte die andern mit Schadenfreude zum Lärm. Madam Me¬ lina rezitirte einige erhabene Gedichte, und ihr Mann, der im Rauſche nicht ſehr liebens¬ würdig war, fing an auf die ſchlechte Berei¬ tung des Punſches zu ſchelten, verſicherte,318 daß er ein Feſt ganz anders einzurichten ver¬ ſtehe, und ward zuletzt, als Laertes Still¬ ſchweigen gebot, immer gröber und lauter, ſo daß dieſer, ohne ſich lange zu bedenken, ihm die Scherben des Napfs an den Kopf warf, und dadurch den Lärm nicht wenig vermehrte.
Indeſſen war die Schaarwache herbey ge¬ kommen, und verlangte ins Haus eingelaſſen zu werden. Wilhelm, vom Leſen ſehr erhitzt, ob er gleich nur wenig getrunken, hatte ge¬ nug zu thun, um mit Beyhülfe des Wirths die Leute durch Geld und gute Worte zu be¬ friedigen, und die Glieder der Geſellſchaft in ihren mißlichen Umſtänden nach Hauſe zu ſchaffen. Er warf ſich, als er zurück kam, vom Schlafe überwältigt, voller Unmuth, unausgekleidet auf’s Bette, und nichts glich der unangenehmen Empfindung, zu der er des andern Morgens erwachte, und, als er319 die Augen aufſchlug, mit düſterm Blick auf die Verwüſtungen des vergangenen Tages, den Unrath und die böſen Wirkungen hin¬ ſah, die ein geiſtreiches, lebhaftes und wohl¬ gemeyntes Dichterwerk hervorgebracht hatte.
320Nach einem kurzen Bedenken rief er ſogleich den Wirth herbey, und ließ ſowohl den Schaden als die Zeche auf ſeine Rechnung ſchreiben. Zugleich vernahm er nicht ohne Verdruß, daß ſein Pferd von Laertes geſtern bey dem Hereinreiten dergeſtalt angegriffen worden, daß es wahrſcheinlich, wie man zu ſagen pflegt, verſchlagen habe, und daß der Schmidt wenig Hoffnung zu ſeinem Aufkom¬ men gebe.
Ein Gruß von Philinen, den ſie ihm aus ihrem Fenſter zuwinkte, verſetzte ihn dagegen wieder in einen heitern Zuſtand, und er ging ſogleich in den nächſten Laden, um ihr ein kleines Geſchenk, das er ihr gegen das Pu¬ dermeſſer noch ſchuldig war, zu kaufen, undwir321wir müſſen bekennen, er hielt ſich nicht in den Grenzen eines proportionirten Gegenge¬ ſchenks. Er kaufte ihr nicht allein ein Paar ſehr niedliche Ohrringe, ſondern nahm dazu noch einen Hut und Halstuch, und einige andere Kleinigkeiten, die er ſie den erſten Tag hatte verſchwenderiſch wegwerfen ſehen.
Madam Melina, die ihn eben als er ſeine Gaben überreichte, zu beobachten kam, ſuchte noch vor Tiſche eine Gelegenheit, ihn ſehr ernſtlich über die Empfindung für dieſes Mädchen zur Rede zu ſetzen, und er war um ſo erſtaunter, als er nichts weniger als dieſe Vorwürfe zu verdienen glaubte. Er ſchwur hoch und theuer, daß es ihm keines¬ wegs eingefallen ſey, ſich an dieſe Perſon, deren ganzen Wandel er wohl kenne, zu wenden, er entſchuldigte ſich ſo gut er konnte über ſein freundliches und artiges Betragen gegen ſie, und befriedigte Madam MelinaW. Meiſters Lehrj. X322auf keine Weiſe, vielmehr ward dieſe immer verdrießlicher, da ſie bemerken mußte, daß die Schmeicheley, wodurch ſie ſich eine Art von Neigung unſers Freundes erworben hat¬ te, nicht hinreiche, dieſen Beſitz gegen die Angriffe einer lebhaften, jüngern und von der Natur glücklicher begabten Perſon zu vertheidigen.
Ihren Mann fanden ſie gleichfalls, da ſie zu Tiſche kamen, bey ſehr üblem Humor, und er fing ſchon an, ihn über Kleinigkeiten auszulaſſen, als der Wirth hereintrat und einen Harfenſpieler anmeldete. Sie werden, ſagte er, gewiß Vergnügen an der Muſik und an den Geſängen dieſes Mannes finden, es kann ſich niemand, der ihn hört, enthal¬ ten, ihn zu bewundern, und ihm etwas we¬ niges mitzutheilen.
Laſſen Sie ihn weg, verſetzte Melina, ich bin nichts weniger als geſtimmt einen Leyer¬323 mann zu hören, und wir haben allenfalls Sänger unter uns, die gern etwas verdien¬ ten. Er begleitete dieſe Worte mit einem tückiſchen Seitenblicke, den er auf Philinen warf. Sie verſtand ihn, und war gleich be¬ reit, zu ſeinem Verdruß, den angemeldeten Sänger zu beſchützen. Sie wendete ſich zu Wilhelmen, und ſagte, ſollen wir den Mann nicht hören, ſollen wir nichts thun, um uns aus der erbärmlichen Langenweile zu retten?
Melina wollte ihr antworten, und der Streit wäre lebhafter geworden, wenn nicht Wilhelm den im Augenblick hereintretenden Mann begrüßt und ihn herbeygewinkt hätte.
Die Geſtalt dieſes ſeltſamen Gaſtes ſetzte die ganze Geſellſchaft in Erſtaunen, und er hatte ſchon von einem Stuhle Beſitz genom¬ men, ehe jemand ihn zu fragen oder ſonſt etwas vorzubringen das Herz hatte. Sein kahler Scheitel war von wenig grauen Haa¬X 2324ren umkränzt, große blaue Augen blickten ſanft unter langen weißen Augenbraunen hervor. An eine wohlgebildete Naſe ſchloß ſich ein langer weißer Bart an, ohne die ge¬ fällige Lippe zu bedecken, und ein langes dunkelbraunes Gewand umhüllte den ſchlan¬ ken Körper vom Halſe bis zu den Füßen, und ſo fing er auf der Harfe, die er vor ſich genommen hatte, zu präludiren an.
Die angenehmen Töne, die er aus dem Inſtrumente hervorlockte, erheiterten gar bald die Geſellſchaft.
Ihr pflegt auch zu ſingen, guter Alter, ſagte Philine.
Gebt uns etwas, das Herz und Geiſt zu¬ gleich mit den Sinnen ergötze, ſagte Wil¬ helm. Das Inſtrument ſollte nur die Stim¬ me begleiten; denn Melodien, Gänge und Läufe ohne Worte und Sinn, ſcheinen mir Schmetterlingen oder ſchönen bunten Vögeln325 ähnlich zu ſeyn, die in der Luft vor unſern Augen herum ſchweben, die wir allenfalls haſchen und uns zueignen mögten; da ſich der Geſang dagegen wie ein Genius gen Himmel hebt, und das beſſere Ich in uns ihn zu begleiten anreizt.
Der Alte ſah Wilhelmen an, alsdann in die Höhe, that einige Griffe auf der Harfe, und begann ſein Lied. Es enthielt ein Lob auf den Geſang, pries das Glück der Sän¬ ger, und ermahnte die Menſchen, ſie zu ehren. Er trug das Lied mit ſo viel Leben und Wahrheit vor, daß es ſchien, als hätte er es in dieſem Augenblicke und bey dieſem An¬ laſſe gedichtet. Wilhelm enthielt ſich kaum, ihm um den Hals zu fallen, nur die Furcht, ein lautes Gelächter zu erregen, zog ihn auf ſeinen Stuhl zurück; denn die übrigen mach¬ ten ſchon halb laut einige alberne Anmer¬ kungen, und ſtritten, ob es ein Pfaffe oder Jude ſey.
326Als man nach dem Verfaſſer des Liedes fragte, gab er keine beſtimmte Antwort, nur verſicherte er, daß er reich an Geſängen ſey, und wünſche nur, daß ſie gefallen möchten. Der größte Theil der Geſellſchaft war fröh¬ lig und freudig, ja ſelbſt Melina nach ſeiner Art offen geworden, und indem man unter einander ſchwatzte und ſcherzte, fing der Alte das Lob des geſelligen Lebens auf das geiſt¬ reichſte zu ſingen an. Er pries Einigkeit und Gefälligkeit mit einſchmeichelnden Tönen. Auf einmal ward ſein Geſang trocken, rauh und verworren, als er gehäſſige Verſchloſſen¬ heit, kurzſinnige Feindſchaft und gefährlichen Zwieſpalt bedauerte, und gern warf jede Seele dieſe unbequemen Feſſeln ab, als er, auf den Fittigen einer vordringenden Melo¬ die getragen, die Friedensſtifter prieß, und das Glück der Seelen, die ſich wieder finden, ſang.
327Kaum hatte er geendigt, als ihm Wil¬ helm zurief: wer du auch ſeyſt, der du als ein hülfreicher Schutzgeiſt mit einer ſegnen¬ den und belebenden Stimme zu uns kommſt, nimm meine Verehrung und meinen Dank, fühle, daß wir alle dich bewundern, und ver¬ trau uns, wenn du etwas bedarfſt.
Der Alte ſchwieg, ließ erſt ſeine Finger über die Saiten ſchleichen, dann griff er ſie ſtärker an, und ſang:
Da der Sänger nach geendigtem Liede ein Glas Wein, das für ihn eingeſchenkt da ſtand, ergriff, und es mit freundlicher Mie¬ ne, ſich gegen ſeine Wohlthäter wendend, austrank, entſtand eine allgemeine Freude in der Verſammlung. Man klatſchte, und rief ihm zu, es möge dieſes Glas zu ſeiner Ge¬ ſundheit, zur Stärkung ſeiner alten Glieder gereichen. Er ſang noch einige Romanzen, und erregte immer mehr Munterkeit in der Geſellſchaft.
330Kannſt du die Melodie, Alter, rief Phi¬ line, der Schäfer putzte ſich zum Tanz?
O ja, verſetzte er, wenn Sie das Lied ſingen und aufführen wollen, an mir ſoll es nicht fehlen.
Philine ſtand auf, und hielt ſich fertig. Der Alte begann die Melodie, und ſie ſang ein Lied, das wir unſern Leſern nicht mit¬ theilen können, weil ſie es vielleicht abge¬ ſchmackt oder wohl gar unanſtändig finden könnten.
Inzwiſchen hatte die Geſellſchaft, die im¬ mer heiterer geworden war, noch manche Flaſche Wein ausgetrunken, und fing an ſehr laut zu werden. Da aber unſerm Freunde die böſen Folgen ihrer Luſt noch in friſchen Andenken ſchwebten, ſuchte er abzubrechen, ſteckte dem Alten für ſeine Bemühung eine reichliche Belohnung in die Hand, die andern thaten auch etwas, man ließ ihn abtreten331 und ruhen, und verſprach ſich auf den Abend eine wiederholte Freude von ſeiner Geſchick¬ lichkeit.
Als er hinweg war, ſagte Wilhelm zu Philinen, ich kann zwar in Ihrem Leibge¬ ſange weder ein dichteriſches noch ſittliches Verdienſt finden; doch wenn Sie mit eben der Naivität, Eigenheit und Zierlichkeit et¬ was ſchickliches auf dem Theater jemals aus¬ führen, ſo wird Ihnen allgemeiner lebhafter Beyfall gewiß zu Theil werden.
Ja, ſagte Philine, es müßte eine recht angenehme Empfindung ſeyn, ſich am Eiſe zu wärmen.
Überhaupt, ſagte Wilhelm, wie ſehr be¬ ſchämt dieſer Mann manchen Schauſpieler. Haben Sie bemerkt, wie richtig der dramati¬ ſche Ausdruck ſeiner Romanzen war? Gewiß es lebte mehr Darſtellung in ſeinem Geſang, als in unſern ſteifen Perſonen auf der Büh¬332 ne; man ſollte die Aufführung mancher Stücke eher für eine Erzählung halten, und dieſen muſikaliſchen Erzählungen eine ſinnli¬ che Gegenwart zuſchreiben.
Sie ſind ungerecht, verſetzte Laertes, ich gebe mich weder für einen großen Schauſpie¬ ler noch Sänger; aber das weiß ich, daß, wenn die Muſik die Bewegungen des Kör¬ pers leitet, ihnen Leben giebt, und ihnen zu¬ gleich das Maaß vorſchreibt; wenn Decla¬ mation und Ausdruck ſchon von dem Com¬ poſiteur auf mich übertragen werden: ſo bin ich ein ganz anderer Menſch, als wenn ich im proſaiſchen Drama das alles erſt erſchaf¬ fen, und Takt und Declamation mir erſt er¬ finden ſoll, worin mich noch dazu jeder Mit¬ ſpielende ſtören kann.
So viel weiß ich, ſagte Melina, daß uns dieſer Mann in Einem Punkte gewiß be¬ ſchämt, und zwar in einem Hauptpunkte. 333Die Stärke ſeiner Talente zeigt ſich in dem Nutzen, den er davon zieht. Uns, die wir vielleicht bald in Verlegenheit ſeyn werden, wo wir eine Mahlzeit hernehmen, bewegt er, unſre Mahlzeit mit ihm zu theilen. Er weiß uns das Geld, das wir anwenden könnten, um uns in einige Verfaſſung zu ſetzen, durch ein Liedchen aus der Taſche zu locken. Es ſcheint ſo angenehm zu ſeyn, das Geld zu verſchleudern, womit man ſich und andern eine Exiſtenz verſchaffen könnte.
Das Geſpräch bekam durch dieſe Bemer¬ kung nicht die angenehmſte Wendung. Wil¬ helm, auf den der Vorwurf eigentlich gerich¬ tet war, antwortete mit einiger Leidenſchaft, und Melina, der ſich eben nicht der größten Feinheit befliß, brachte zuletzt ſeine Beſchwer¬ den mit ziemlich trocknen Worten vor. Es ſind nun ſchon vierzehn Tage, ſagte er, daß wir das hier verpfändete Theater und die334 Garderobe beſehen haben, und beides konn¬ ten wir für eine ſehr leidliche Summe haben. Sie machten mir damals Hoffnung, daß Sie mir ſo viel creditiren würden, und bis jetzt habe ich noch nicht geſehen, daß Sie die Sache weiter bedacht oder ſich einem Ent¬ ſchluß genähert hätten. Griffen Sie damals zu, ſo wären wir jetzt im Gange. Ihre Ab¬ ſicht zu verreiſen haben Sie auch noch nicht ausgeführt, und Geld ſcheinen Sie mir dieſe Zeit über auch nicht geſpart zu haben; we¬ nigſtens giebt es Perſonen, die immer Gele¬ genheit zu verſchaffen wiſſen, daß es geſchwin¬ der weggehe.
Dieſer nicht ganz ungerechte Vorwurf traf unſern Freund. Er verſetzte einiges darauf mit Lebhaftigkeit, ja mit Heftigkeit, und er¬ griff, da die Geſellſchaft aufſtund und ſich zerſtreute, die Thüre, indem er nicht undeut¬ lich zu erkennen gab, daß er ſich nicht lange335 mehr bey ſo unfreundlichen und undankba¬ ren Menſchen aufhalten wolle. Er eilte ver¬ drießlich hinunter, ſich auf eine ſteinerne Bank zu ſetzen, die vor dem Thore ſeines Gaſthofs ſtand, und bemerkte nicht, daß er halb aus Luſt, halb aus Verdruß mehr als gewöhnlich getrunken hatte.
336Nach einer kurzen Zeit, die er, beunruhigt von mancherley Gedanken, ſitzend und vor ſich hinſehend zugebracht hatte, ſchlenderte Philine ſingend zur Hausthüre heraus, ſetzte ſich zu ihm, ja man dürfte beynahe ſagen, auf ihn, ſo nahe rückte ſie an ihn heran, lehnte ſich auf ſeine Schultern, ſpielte mit ſeinen Locken, ſtreichelte ihn, und gab ihm die beſten Worte von der Welt. Sie bat ihn, er mögte ja bleiben, und ſie nicht in der Geſellſchaft allein laſſen, in der ſie vor langer Weile ſterben müßte; ſie könne es nicht mehr mit Melina unter Einem Dache ausdauern, und habe ſich deswegen herüber quartirt.
Ver¬337Vergebens ſuchte er ſie abzuweiſen, ihr begreiflich zu machen, daß er länger weder bleiben könne noch dürfe. Sie ließ mit Bit¬ ten nicht ab, ja unvermuthet ſchlang ſie ihren Arm um ſeinen Hals, und küßte ihn mit dem lebhafteſten Ausdrucke des Verlangens.
Sind Sie toll, Philine? rief Wilhelm aus, indem er ſich loszumachen ſuchte. Die öffentliche Straße zum Zeugen ſolcher Lieb¬ koſungen zu machen, die ich auf keine Weiſe verdiene. Laſſen Sie mich los, ich kann nicht und ich werde nicht bleiben.
Und ich werde dich feſt halten, ſagte ſie, und ich werde dich hier auf öffentlicher Gaſſe ſo lange küſſen, bis du mir verſprichſt, was ich wünſche. Ich lache mich zu Tode, fuhr ſie fort; nach dieſer Vertraulichkeit halten mich die Leute gewiß für deine Frau von vier Wochen, und die Ehemänner, die eine ſo anmuthige Scene ſehen, werden mich ihrenW. Meiſters Lehrj. Y338Weibern als ein Muſter einer kindlich un¬ befangenen Zärtlichkeit anpreiſen.
Eben gingen einige Leute vorbey, und ſie liebkoſte ihn auf das anmuthigſte, und er, um kein Skandal zu geben, war gezwungen, die Rolle des geduldigen Ehemannes zu ſpie¬ len. Dann ſchnitt ſie den Leuten Geſichter im Rücken, und trieb voll Übermuth aller¬ hand Ungezogenheiten, bis er zuletzt verſpre¬ chen mußte, noch heute und morgen und übermorgen zu bleiben.
Sie ſind ein rechter Stock, ſagte ſie dar¬ auf, indem ſie von ihm abließ, und ich eine Thörin, daß ich ſo viel Freundlichkeit an Sie verſchwende. Sie ſtand verdrießlich auf und ging einige Schritte; dann kehrte ſie lachend zurück, und rief: ich glaube eben, daß ich darum in dich vernarrt bin, ich will nur gehen und meinen Strickſtrumpf holen, daß ich etwas zu thun habe. Bleibe ja, da¬339 mit ich den ſteinernen Mann auf der ſteiner¬ nen Bank wieder finde.
Dießmal that ſie ihm unrecht; denn ſo ſehr er ſich von ihr zu enthalten ſtrebte, ſo würde er doch in dieſem Augenblicke, hätte er ſich mit ihr in einer einſamen Laube be¬ funden, ihre Liebkoſungen wahrſcheinlich nicht unerwiedert gelaſſen haben.
Sie ging, nachdem ſie ihm einen leicht¬ fertigen Blick zugeworfen, in das Haus. Er hatte keinen Beruf, ihr zu folgen, vielmehr hatte ihr Betragen einen neuen Widerwillen in ihm erregt; doch hob er ſich, ohne ſelbſt recht zu wiſſen warum, von der Bank, um ihr nachzugehen.
Er war eben im Begriff in die Thüre zu treten, als Melina herbeykam, ihn beſchei¬ den anredete, und ihn wegen einiger im Wortwechſel zu hart ausgeſprochener Aus¬ drücke um Verzeihung bat. Sie nehmen mirY 2340nicht übel, fuhr er fort, wenn ich in dem Zuſtande, in dem ich mich befinde, mich viel¬ leicht zu ängſtlich bezeige; aber die Sorge für eine Frau, vielleicht bald für ein Kind, verhindert mich von einem Tag in dem an¬ dern, ruhig zu leben, und meine Zeit mit dem Genuß angenehmer Empfindungen hin¬ zubringen, wie Ihnen noch erlaubt iſt. Über¬ denken Sie, und wenn es Ihnen möglich iſt, ſo ſetzen Sie mich in den Beſitz der theatra¬ liſchen Geräthſchaften, die ſich hier vorfin¬ den. Ich werde nicht lange Ihr Schuldner und Ihnen dafür ewig dankbar bleiben.
Wilhelm, der ſich ungern auf der Schwel¬ le aufgehalten ſah, über die ihn eine unwi¬ derſtehliche Neigung in dieſem Augenblicke zu Philinen hinüberzog, ſagte mit einer über¬ raſchten Zerſtreuung und eilfertigen Gutmü¬ thigkeit: wenn ich Sie dadurch glücklich und zufrieden machen kann, ſo will ich mich nicht341 länger bedenken. Gehn Sie hin, machen Sie alles richtig. Ich bin bereit, noch die¬ ſen Abend oder morgen früh das Geld zu zahlen. Er gab hierauf Melina'n die Hand zur Beſtätigung ſeines Verſprechens, und war ſehr zufrieden, als er ihn eilig über die Straße weggehen ſah; leider aber wurde er von ſeinem Eindringen ins Haus zum zwey¬ tenmal und auf eine unangenehmere Weiſe zurück gehalten.
Ein junger Menſch mit einem Bündel auf dem Rücken kam eilig die Straße her, und trat zu Wilhelmen, der ihn gleich für Friedrichen erkannte.
Da bin ich wieder! rief er aus, indem er ſeine großen blauen Augen freudig umher und hinauf an alle Fenſter gehen ließ; wo iſt Mamſell? Der Henker mag es länger in der Welt aushalten, ohne ſie zu ſehen!
Der Wirth, der eben dazu getreten war,342 verſetzte, ſie iſt oben, und mit wenigen Sprüngen war er die Treppe hinauf, und Wilhelm blieb wie auf der Schwelle einge¬ wurzelt ſtehen. Er hätte in den erſten Au¬ genblicken den Jungen bey den Haaren rück¬ wärts die Treppe herunterreiſſen mögen; dann hemmte der heftige Kampf einer ge¬ waltſamen Eiferſucht auf einmal den Lauf ſeiner Lebensgeiſter und ſeiner Ideen, und da er ſich nach und nach von ſeiner Erſtar¬ rung erholte, überfiel ihn eine Unruhe, ein Unbehagen, dergleichen er in ſeinem Leben noch nicht empfunden hatte.
Er ging auf ſeine Stube, und fand Mi¬ gnon mit Schreiben beſchäftigt. Das Kind hatte ſich eine Zeit her mit großem Fleiße bemüht, alles, was es auswendig wußte, zu ſchreiben, und hatte ſeinem Herrn und Freund das Geſchriebene zu korrigiren gegeben. Sie war unermüdet, und faßte gut; aber die343 Buchſtaben blieben ungleich, und die Linien krumm. Auch hier ſchien ihr Körper dem Geiſte zu widerſprechen. Wilhelm, dem die Aufmerkſamkeit des Kindes, wenn er ruhigen Sinnes war, große Freude machte, achtete dießmal wenig auf das, was ſie ihm zeigte; ſie fühlte es, und betrübte ſich darüber nur deſtomehr, als ſie glaubte, dießmal ihre Sache recht gut gemacht zu haben.
Wilhelms Unruhe trieb ihn auf den Gän¬ gen des Hauſes auf und ab, und bald wie¬ der an die Hausthüre. Ein Reiter ſprengte vor, der ein gutes Anſehn hatte, und der bey geſetzten Jahren noch viel Munterkeit verrieth. Der Wirth eilte ihm entgegen, reichte ihm als einem bekannten Freunde die Hand, und rief: ey, Herr Stallmeiſter, ſieht man Sie auch einmal wieder?
Ich will nur hier füttern, verſetzte der Fremde, ich muß gleich hinüber auf das344 Gut, um in der Geſchwindigkeit allerley einrichten zu laſſen. Der Graf kömmt mor¬ gen mit ſeiner Gemahlin, ſie werden ſich eine Zeitlang drüben aufhalten, um den Prinzen von *** auf das Beſte zu bewirthen, der in dieſer Gegend wahrſcheinlich ſein Hauptquar¬ tier aufſchlägt.
Es iſt Schade, daß Sie nicht bey uns bleiben können, verſetzte der Wirth, wir ha¬ ben gute Geſellſchaft. Der Reitknecht, der nachſprengte, nahm dem Stallmeiſter das Pferd ab, der ſich unter der Thüre mit dem Wirth unterhielt, und Wilhelmen von der Seite anſah.
Dieſer, da er merkte, daß von ihm die Rede ſey, begab ſich weg, und ging einige Straßen auf und ab.
345In der verdrießlichen Unruhe, in der er ſich befand, fiel ihm ein, den Alten aufzuſuchen, durch deſſen Harfe er die böſen Geiſter zu verſcheuchen hofte. Man wies ihn, als er nach dem Manne fragte, an ein ſchlechtes Wirthshaus in einem entfernten Winkel des Städtchens, und in demſelben die Treppe hinauf bis auf den Boden, wo ihm der ſüße Harfenklang aus einer Kammer entgegen ſchallte. Es waren herzrührende, klagende Töne, von einem traurigen, ängſtlichen Ge¬ ſange begleitet. Wilhelm ſchlich an die Thü¬ re, und da der gute Alte eine Art von Phan¬ taſie vortrug, und wenige Strophen theils ſingend theils recitirend immer wiederholte, konnte der Horcher, nach einer kurzen346 Aufmerkſamkeit, ungefähr folgendes ver¬ ſtehen:
Die wehmüthige herzliche Klage drang tief in die Seele des Hörers. Es ſchien ihm, als ob der Alte manchmal von Thränen ge¬ hindert würde fortzufahren; dann klangen die Saiten allein, bis ſich wieder die Stim¬ me leiſe in gebrochenen Lauten dazwiſchen miſchte. Wilhelm ſtand an dem Pfoſten, ſei¬ ne Seele war tief gerührt, die Trauer des Unbekannten ſchloß ſein beklommenes Herz auf; er widerſtand nicht dem Mitgefühl,347 und konnte und wollte die Thränen nicht zu¬ rück halten, die des Alten herzliche Klage endlich auch aus ſeinen Augen hervorlockte. Alle Schmerzen, die ſeine Seele drückten, löſten ſich zu gleicher Zeit auf, er überließ ſich ihnen ganz, ſtieß die Kammerthüre auf, und ſtand vor dem Alten, der ein ſchlechtes Bette, den einzigen Hausrath dieſer armſeli¬ gen Wohnung, zu ſeinem Sitze zu nehmen genöthigt geweſen.
Was haſt du mir für Empfindungen rege gemacht, guter Alter? rief er aus: Alles, was in meinem Herzen ſtockte, haſt du los gelöst; laß dich nicht ſtören, ſondern fahre fort, indem du deine Leiden linderſt, einen Freund glücklich zu machen. Der Alte woll¬ te aufſtehen und etwas reden, Wilhelm ver¬ hinderte ihn daran; denn er hatte zu Mit¬ tage bemerkt, daß der Mann ungern ſprach; er ſetzte ſich vielmehr zu ihm auf den Stroh¬ ſack nieder.
348Der Alte trocknete ſeine Thränen, und fragte mit einem freundlichen Lächeln: wie kommen Sie hierher? Ich wollte Ihnen die¬ ſen Abend wieder aufwarten.
Wir ſind hier ruhiger, verſetzte Wilhelm, ſinge mir, was du willſt, was zu deiner Lage paßt, und thue nur, als ob ich gar nicht hier wäre. Es ſcheint mir, als ob du heute nicht irren könnteſt, ich finde dich ſehr glücklich, daß du dich in der Einſamkeit ſo angenehm beſchäftigen und unterhalten kannſt, und da du überall ein Fremdling biſt, in deinem Herzen die angenehme Bekanntſchaft findeſt.
Der Alte blickte auf ſeine Saiten, und nachdem er ſanft präludirt, ſtimmte er an und ſang:
Wir würden zu weitläuftig werden, und doch die Anmuth der ſeltſamen Unterredung nicht ausdrucken können, die unſer Freund mit dem abentheuerlichen Fremden hielt. Auf alles, was der Jüngling zu ihm ſagte, ant¬ wortete der Alte mit der reinſten Überein¬ ſtimmung durch Anklänge, die alle verwand¬ te Empfindungen rege machten, und der Ein¬ bildungskraft ein weites Feld eröffneten.
350Wer einer Verſammlung frommer Men¬ ſchen, die ſich, abgeſondert von der Kirche, reiner, herzlicher und geiſtreicher zu erbauen glauben, beygewohnt hat, wird ſich auch ei¬ nen Begriff von der gegenwärtigen Scene machen können; er wird ſich erinnern, wie der Liturg ſeinen Worten den Vers eines Geſanges anzupaſſen weiß, der die Seele da¬ hin erhebt, wohin der Redner wünſcht, daß ſie ihren Flug nehmen möge, wie bald dar¬ auf ein anderer aus der Gemeinde, in einer andern Melodie, den Vers eines andern Lie¬ des hinzufügt, und an dieſen wieder ein drit¬ ter einen dritten anknüpft, wodurch die ver¬ wandten Ideen der Lieder, aus denen ſie entlehnt ſind, zwar erregt werden, jede Stelle aber durch die neue Verbindung neu und individuell wird, als wenn ſie in dem Augenblicke erfunden worden wäre; wodurch denn aus einem bekannten Kreiſe von Ideen,351 aus bekannten Liedern und Sprüchen, für dieſe beſondere Geſellſchaft, für dieſen Au¬ genblick ein eigenes Ganze entſteht, durch deſſen Genuß ſie belebt, geſtärkt und erquickt wird. So erbaute der Alte ſeinen Gaſt, in¬ dem er, durch bekannte und unbekannte Lie¬ der und Stellen, nahe und ferne Gefühle, wachende und ſchlummernde, angenehme und ſchmerzliche Empfindungen in eine Zirkula¬ tion brachte, von der in dem gegenwärtigen Zuſtande unſers Freundes das Beſte zu hof¬ fen war.
352Denn wirklich fing er auf dem Rückwege über ſeine Lage lebhafter, als bisher geſche¬ hen, zu denken an, und war mit dem Vor¬ ſatze, ſich aus derſelben heraus zu reiſſen, nach Hauſe gelangt, als ihm der Wirth ſo¬ gleich im Vertrauen eröffnete, daß Made¬ moiſelle Philine an dem Stallmeiſter des Grafen eine Eroberung gemacht habe, der, nachdem er ſeinen Auftrag auf dem Guthe ausgerichtet, in höchſter Eile zurück gekom¬ men ſey, und ein gutes Abendeſſen oben auf ihrem Zimmer mit ihr verzehre.
In eben dieſem Augenblicke trat Melina mit dem Notarius herein; ſie gingen zuſam¬ men auf Wilhelms Zimmer, wo dieſer, wie¬ wohl mit einigem Zaudern, ſeinem Verſpre¬chen353chen Genüge leiſtete, dreyhundert Thaler, auf Wechſel, an Melina auszahlte, welche dieſer ſogleich dem Notarius übergab, und dage¬ gen das Document über den geſchloſſenen Kauf der ganzen theatraliſchen Geräthſchaft erhielt, welche ihm morgen früh übergeben werden ſollte.
Kaum waren ſie auseinander gegangen, als Wilhelm ein entſetzliches Geſchrey in dem Hauſe vernahm. Er hörte eine jugend¬ liche Stimme, die, zornig und drohend, durch ein unmäßiges Weinen und Heulen, durch¬ brach. Er hörte dieſe Wehklage von oben herunter an ſeiner Stube vorbey nach dem Hausplatze eilen.
Als die Neugierde unſern Freund herun¬ ter lockte, fand er Friedrichen in einer Art von Raſerey. Der Knabe weinte, knirſchte, ſtampfte, drohte mit geballten Fäuſten, und ſtellte ſich ganz ungebährdig vor Zorn undW. Meiſters Lehrj. Z354Verdruß. Mignon ſtand gegenüber und ſah mit Verwunderung zu, und der Wirth er¬ klärte einigermaßen dieſe Erſcheinung.
Der Knabe ſey nach ſeiner Rückkunft, da ihn Philine gut aufgenommen, zufrieden, luſtig und munter geweſen, habe geſungen und geſprungen bis zur Zeit, da der Stall¬ meiſter mit Philinen Bekanntſchaft gemacht. Nun habe das Mittelding zwiſchen Kind und Jüngling angefangen, ſeinen Verdruß zu zeigen, die Thüren zuzuſchlagen, und auf und nieder zu rennen. Philine habe ihm befohlen, heute Abend bey Tiſche aufzuwar¬ ten, worüber er nur noch mürriſcher und trotziger geworden; endlich habe er eine Schüſſel mit Ragout, anſtatt ſie auf den Tiſch zu ſetzen, zwiſchen Mademoiſelle und den Gaſt, die ziemlich nahe zuſammen geſeſ¬ ſen, hineingeworfen, worauf ihm der Stall¬ meiſter ein paar tüchtige Ohrfeigen gegeben,355 und ihn zur Thüre hinausgeſchmiſſen. Er, der Wirth, habe darauf die beiden Perſonen ſäubern helfen, deren Kleider ſehr übel zuge¬ richtet geweſen.
Als der Knabe die gute Wirkung ſeiner Rache vernahm, fing er laut zu lachen an, indem ihm noch immer die Thränen die Bak¬ ken herunter liefen. Er freute ſich einige Zeit herzlich, bis ihm der Schimpf, den ihm der Stärkere angethan, wieder einfiel, da er denn von neuem zu heulen und zu drohen anfing.
Wilhelm ſtand nachdenklich und beſchämt vor dieſer Scene. Er ſah ſein eignes In¬ nerſtes, mit ſtarken und übertriebenen Zügen dargeſtellt, auch er war von einer unüber¬ windlichen Eiferſucht entzündet, auch er, wenn ihn der Wohlſtand nicht zurückgehal¬ ten hätte, würde gern ſeine wilde Laune be¬ friedigt, gern, mit tückiſcher Schadenfreude,Z 2356den geliebten Gegenſtand verletzt, und ſeinen Nebenbuhler ausgefordert haben; er hätte die Menſchen, die nur zu ſeinem Verdruſſe da zu ſeyn ſchienen, vertilgen mögen.
Laertes, der auch herbey gekommen war, und die Geſchichte vernommen hatte, beſtärk¬ te ſchelmiſch den aufgebrachten Knaben, als dieſer betheuerte und ſchwur, der Stallmei¬ ſter müſſe ihm Satisfaction geben, er habe noch keine Beleidigung auf ſich ſitzen laſſen; weigere ſich der Stallmeiſter, ſo werde er ſich zu rächen wiſſen.
Laertes war hier gerade in ſeinem Fache. Er ging ernſthaft hinauf, den Stallmeiſter im Namen des Knaben heraus zu fordern.
Das iſt luſtig, ſagte dieſer, einen ſolchen Spaß hätte ich mir heut Abend kaum vor¬ geſtellt. Sie gingen hinunter, und Philine folgte ihnen. Mein Sohn, ſagte der Stall¬ meiſter zu Friedrichen, du biſt ein braver357 Junge, und ich weigere mich nicht, mit dir zu fechten; nur da die Ungleichheit unſrer Jahre und Kräfte die Sache ohnehin etwas abentheuerlich macht, ſo ſchlag ich ſtatt an¬ derer Waffen ein Paar Rappiere vor, wir wollen die Knöpfe mit Kreide beſtreichen, und wer dem andern den erſten, oder die meiſten Stöße auf den Rock zeichnet, ſoll für den Überwinder gehalten, und von dem andern mit dem beſten Weine, der in der Stadt zu haben iſt, tractirt werden.
Laertes entſchied, daß dieſer Vorſchlag angenommen werden könnte; Friedrich ge¬ horchte ihm als ſeinem Lehrmeiſter. Die Rap¬ piere kamen herbey. Philine ſetzte ſich hin, ſtrickte, und ſah beiden Kämpfern mit großer Gemüthsruhe zu.
Der Stallmeiſter, der ſehr gut focht, war gefällig genug, ſeinen Gegner zu ſchonen, und ſich einige Kreidenflecke auf den Rock brin¬358 gen zu laſſen, worauf ſie ſich umarmten, und Wein herbeygeſchaft wurde. Der Stall¬ meiſter wollte Friedrichs Herkunft und ſeine Geſchichte wiſſen, der denn ein Mährchen erzählte, das er ſchon oft wiederholt hatte, und mit dem wir ein andermal unſre Leſer bekannt zu machen denken.
In Wilhelms Seele vollendete indeſſen dieſer Zweykampf die Darſtellung ſeiner eige¬ nen Gefühle; denn er konnte ſich nicht leug¬ nen, daß er das Rappier, ja lieber noch einen Degen ſelbſt gegen den Stallmeiſter zu führen wünſchte, wenn er ſchon einſah, daß ihm dieſer in der Fechtkunſt weit über¬ legen ſey. Doch würdigte er Philinen nicht eines Blicks, hütete ſich vor jeder Äuſſerung, die ſeine Empfindung hätte verrathen kön¬ nen, und eilte, nachdem er einigemal auf die Geſundheit der Kämpfer Beſcheid gethan, auf ſein Zimmer, wo ſich tauſend unange¬ nehme Gedanken auf ihn zudrängten.
359Er erinnerte ſich der Zeit, in der ſein Geiſt durch ein unbedingtes hoffnungsreiches Streben empor gehoben wurde, wo er in dem lebhafteſten Genuſſe aller Art, wie in einem Elemente ſchwamm. Es ward ihm deutlich, wie er jetzt in ein unbeſtimmtes Schlendern gerathen war, in welchem er nur noch ſchlürfend koſtete, was er ſonſt mit vol¬ len Zügen eingeſogen hatte; aber deutlich konnte er nicht ſehen, welches unüberwindli¬ che Bedürfniß ihm die Natur zum Geſetz ge¬ macht hatte, und wie ſehr dieſes Bedürfniß durch Umſtände nur gereizt, halb befriedigt und irre geführt worden war.
Es darf alſo niemand wundern, wenn er bey Betrachtung ſeines Zuſtandes, und in¬ dem er ſich aus demſelben heraus zu denken arbeitete, in die größte Verwirrung gerieth. Es war nicht genug, daß er durch ſeine Freundſchaft zu Laertes, durch ſeine Neigung360 zu Philinen, durch ſeinen Antheil den er an Mignon nahm, länger als billig an ei¬ nem Ort und in einer Geſellſchaft feſtgehal¬ ten wurde, in welcher er ſeine Lieblingsnei¬ gung hegen, gleichſam verſtohlen ſeine Wün¬ ſche befriedigen, und ohne ſich einen Zweck vorzuſetzen, ſeinen alten Träumen nachſchlei¬ chen konnte. Aus dieſen Verhältniſſen ſich los zu reiſſen, und gleich zu ſcheiden, glaubte er Kraft genug zu beſitzen. Nun hatte er aber vor wenigen Augenblicken ſich mit Me¬ lina in ein Geldgeſchäft eingelaſſen, er hatte den räthſelhaften Alten kennen lernen, wel¬ chen zu entziffern er eine unbeſchreibliche Be¬ gierde fühlte. Allein auch dadurch ſich nicht zurück halten zu laſſen, war er nach lang hin und her geworfenen Gedanken entſchloſſen, oder glaubte wenigſtens entſchloſſen zu ſeyn. Ich muß fort, rief er aus, ich will fort! Er warf ſich in einen Seſſel, und war ſehr bewegt.
Mig¬361Mignon trat herein und fragte, ob ſie ihn aufwickeln dürfe? Sie kam ſtill; es ſchmerzte ſie tief, daß er ſie heute ſo kurz abfertigte.
Nichts iſt rührender, als wenn eine Liebe, die ſich im Stillen genährt, eine Treue, die ſich im Verborgenen befeſtiget hat, endlich dem, der ihrer bisher nicht werth geweſen, zur rechten Stunde nahe kommt, und ihm offenbar wird. Die lange und ſtreng ver¬ ſchloſſene Knoſpe war reif, und Wilhelms Herz konnte nicht empfänglicher ſeyn.
Sie ſtand vor ihm, und ſah ſeine Un¬ ruhe. — Herr! rief ſie aus, wenn du un¬ glücklich biſt, was ſoll Mignon werden? — Liebes Geſchöpf, ſagte er, indem er ihre Hän¬ de nahm, du biſt auch mit unter meinen Schmerzen. — Ich muß fort. — Sie ſah ihm in die Augen, die von verhaltenen Thrä¬ nen blinkten, und kniete mit Heftigkeit vorW. Meiſters Lehrj. A a362ihm nieder. Er behielt ihre Hände, ſie legte ihr Haupt auf ſeine Knie, und war ganz ſtill. Er ſpielte mit ihren Haaren, und war freundlich. Sie blieb lange ruhig. Endlich fühlte er an ihr eine Art Zucken, das ganz ſachte anfing, und ſich durch alle Glieder wachſend verbreitete — Was iſt dir Mig¬ non? rief er aus, was iſt dir? — Sie rich¬ tete ihr Köpfchen auf, und ſah ihn an, fuhr auf einmal nach dem Herzen, wie mit einer Gebährde, die Schmerzen verbeißt. Er hub ſie auf, und ſie fiel auf ſeinen Schoos, er druckte ſie an ſich, und küßte ſie. Sie ant¬ wortete durch keinen Händedruck, durch keine Bewegung. Sie hielt ihr Herz feſt, und auf einmal that ſie einen Schrey, der mit krampfigen Bewegungen des Körpers beglei¬ tet war. Sie fuhr auf, und fiel auch ſo¬ gleich wie an allen Gelenken gebrochen vor ihm nieder. Es war ein gräßlicher An¬ blick! — Mein Kind! rief er aus, indem er363 ſie aufhob und feſt umarmte, mein Kind, was iſt dir? — Die Zuckung dauerte fort, die vom Herzen ſich den ſchlotternden Glie¬ dern mittheilte; ſie hing nur in ſeinen Ar¬ men. Er ſchloß ſie an ſein Herz, und be¬ netzte ſie mit ſeinen Thränen. Auf einmal ſchien ſie wieder angeſpannt, wie eins, das den höchſten körperlichen Schmerz erträgt; und bald mit einer neuen Heftigkeit wurden alle ihre Glieder wieder lebendig, und ſie warf ſich ihm, wie ein Reſſort, das zuſchlägt, um den Hals, indem in ihrem Innerſten wie ein gewaltiger Riß geſchah, und in dem Au¬ genblicke floß ein Strom von Thränen aus ihren geſchloſſenen Augen in ſeinen Buſen. Er hielt ſie feſt. Sie weinte, und keine Zunge ſpricht die Gewalt dieſer Thränen aus. Ihre langen Haare waren aufgegan¬ gen, und hingen von der Weinenden nieder, und ihr ganzes Weſen ſchien in einen Bach von Thränen unaufhaltſam dahin zu ſchmel¬364 zen. Ihre ſtarren Glieder wurden gelinde, es ergoß ſich ihr Innerſtes, und in der Ver¬ irrung des Augenblickes fürchtete Wilhelm, ſie werde in ſeinen Armen zerſchmelzen, und er nichts von ihr übrig behalten. Er hielt ſie nur feſter und feſter. — Mein Kind! rief er aus, mein Kind! du biſt ja mein! wenn dich das Wort tröſten kann. Du biſt mein! ich werde dich behalten, dich nicht ver¬ laſſen! — Ihre Thränen floſſen noch im¬ mer. — Endlich richtete ſie ſich auf. Eine weiche Heiterkeit glänzte von ihrem Geſich¬ te. — Mein Vater! rief ſie, du willſt mich nicht verlaſſen! willſt mein Vater ſeyn! — Ich bin dein Kind!
Sanft fing vor der Thüre die Harfe an zu klingen; der Alte brachte ſeine herzlich¬ ſten Lieder dem Freunde zum Abendopfer, der, ſein Kind immer feſter in Armen hal¬ tend, des reinſten unbeſchreiblichſten Glückes genoß.
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