Als Wilhelm des Morgens ſich nach Mignon im Hauſe umſah, fand er ſie nicht, hörte aber, daß ſie früh mit Melina ausge¬ gangen ſey, welcher ſich, um die Garderobe und die übrigen Theater-Geräthſchaften zu übernehmen, bey Zeiten aufgemacht hatte.
Nach Verlauf einiger Stunden hörte Wilhelm Muſik vor ſeiner Thüre. Er glaub¬ te anfänglich, der Harfenſpieler ſey ſchon wieder zugegen; allein er unterſchied bald die Töne einer Zitter und die Stimme, wel¬ che zu ſingen anfing, war Mignons Stim¬
9 me. Wilhelm öfnete die Thüre, das Kind trat herein und ſang das Lied, das wir ſo eben aufgezeichnet haben.
Melodie und Ausdruck gefielen unſerm Freunde beſonders, ob er gleich die Worte nicht alle verſtehen konnte. Er ließ ſich die Strophen wiederholen und erklären, ſchrieb ſie auf und überſetzte ſie ins Deutſche. Aber die Originalität der Wendungen konnte er nur von ferne nachahmen. Die kindliche Unſchuld des Ausdrucks verſchwand, indem die gebrochene Sprache übereinſtimmend, und das Unzuſammenhängende verbunden ward. Auch konnte der Reiz der Melodie mit nichts verglichen werden.
Sie fing jeden Vers feyerlich und präch¬ tig an, als ob ſie auf etwas ſonderbares aufmerkſam machen, als ob ſie etwas wich¬ tiges vortragen wollte. Bey der dritten Zeile ward der Geſang dumpfer und düſte¬10 rer, das: kennſt du es wohl? drückte ſie geheimnißvoll und bedächtig aus, in dem: dahin! dahin! lag eine unwiderſtehliche Sehnſucht, und ihr: Laß uns ziehn! wußte ſie, bey jeder Wiederholung, derge¬ ſtalt zu modifiziren, daß es bald bittend und dringend, bald treibend und vielverſprechend war.
Nachdem ſie das Lied zum zweytenmal geendigt hatte, hielt ſie einen Augenblick inne, ſah Wilhelmen ſcharf an und fragte: kennſt du das Land? — Es muß wohl Ita¬ lien gemeynt ſeyn, verſetzte Wilhelm, woher haſt du das Liedchen? — Italien? ſagte Mignon bedeutend: gehſt du nach Italien, ſo nimm mich mit, es friert mich hier. — Biſt du ſchon dort geweſen, liebe Kleine? fragte Wilhelm. — Das Kind war ſtill und nichts weiter aus ihm zu bringen.
Melina, der hereinkam, beſah die Zitter11 und freute ſich, daß ſie ſchon ſo hübſch zu¬ recht gemacht ſey. Das Inſtrument war ein Inventarienſtück der alten Garderobe, Mig¬ non hatte ſich’s dieſen Morgen ausgebeten, der Harfenſpieler bezog es ſogleich, und das Kind entwickelte bey dieſer Gelegenheit ein Talent, das man an ihm bisher noch nicht kannte.
Melina hatte ſchon die Garderobe mit allem Zugehör übernommen; einige Glieder des Stadtraths verſprachen ihm gleich die Erlaubniß, einige Zeit im Orte zu ſpielen. Mit frohem Herzen und erheitertem Geſicht kam er nunmehr wieder zurück. Er ſchien ein ganz anderer Menſch zu ſeyn. Denn er war ſanft, höflich gegen jedermann, ja zu¬ vorkommend und einnehmend. Er wünſchte ſich Glück, daß er nunmehr ſeine Freunde, die bisher verlegen und müßig geweſen, werde beſchäftigen und auf eine Zeitlang12 engagiren können, wobey er zugleich bedauer¬ te, daß er freylich zum Anfange nicht im Stande ſey, die vortrefflichen Subjecte, die das Glück ihm zugeführt, nach ihren Fähig¬ keiten und Talenten zu belohnen, da er ſeine Schuld einem ſo großmüthigen Freunde, als Wilhelm ſich gezeigt habe, vor allen Dingen abtragen müſſe.
Ich kann Ihnen nicht ausdrücken, ſagte Melina zu ihm, welche Freundſchaft Sie mir erzeigen, indem Sie mir zur Direction eines Theaters verhelfen. Denn als ich Sie antraf, befand ich mich in einer ſehr wun¬ derlichen Lage. Sie erinnern ſich, wie leb¬ haft ich Ihnen bey unſrer erſten Bekannt¬ ſchaft meine Abneigung gegen das Theater ſehen ließ, und doch mußte ich mich, ſobald ich verheirathet war, aus Liebe zu meiner Frau, welche ſich viel Freude und Beyfall verſprach, nach einem Engagement umſehen. 13Ich fand keins, wenigſtens kein beſtändiges, dagegen aber, glücklicherweiſe, einige Ge¬ ſchäftsmänner, die eben in außerordentlichen Fällen jemanden brauchen konnten, der mit der Feder umzugehen wußte, Franzöſiſch ver¬ ſtand, und im Rechnen nicht ganz unerfah¬ ren war. So ging es mir eine Zeitlang recht gut, ich ward leidlich bezahlt, ſchaffte mir manches an, und meine Verhältniſſe machten mir keine Schande. Allein die auſ¬ ſerordentlichen Aufträge meiner Gönner gin¬ gen zu Ende, an eine dauerhafte Verſorgung war nicht zu denken, und meine Frau ver¬ langte nur deſto eifriger nach dem Theater, leider zu einer Zeit, wo ihre Umſtände nicht die vortheilhafteſten ſind, um ſich dem Pu¬ blico mit Ehren darzuſtellen. Nun, hoffe ich, ſoll die Anſtalt, die ich durch Ihre Hülfe einrichten werde, für mich und die meinigen ein guter Anfang ſeyn, und ich verdanke14 Ihnen mein künftiges Glück, es werde auch wie es wolle.
Wilhelm hörte dieſe Äußerungen mit Zu¬ friedenheit an, und die ſämmtlichen Schau¬ ſpieler waren gleichfalls mit den Erklärungen des neuen Directors ſo ziemlich zufrieden, freuten ſich heimlich, daß ſich ſo ſchnell ein Engagement zeige, und waren geneigt, für den Anfang, mit einer geringen Gage vor¬ lieb zu nehmen, weil die meiſten dasjenige, was ihnen ſo unvermuthet angeboten wurde, als einen Zuſchuß anſahen, auf den ſie vor kurzem noch nicht Rechnung machen konn¬ ten. Melina war im Begriff dieſe Dispoſi¬ tion zu benutzen, ſuchte auf eine geſchickte Weiſe jeden beſonders zu ſprechen, und hatte bald den einen auf dieſe, den andern auf eine andere Weiſe zu bereden gewußt, daß ſie die Contracte geſchwind abzuſchließen ge¬ neigt waren, über das neue Verhältniß kaum15 nachdachten, und ſich ſchon geſichert glaubten, mit ſechswöchentlicher Aufkündigung wieder loskommen zu können.
Nun ſollten die Bedingungen in gehörige Form gebracht werden, und Melina dachte ſchon an die Stücke, mit denen er zuerſt das Publicum anlocken wollte, als ein Courier dem Stallmeiſter die Ankunft der Herrſchaft verkündigte, und dieſer die untergelegten Pferde vorzuführen befahl.
Bald darauf fuhr der hochbepackte Wa¬ gen, von deſſen Bocke zwey Bedienten her¬ unterſprangen, vor dem Gaſthauſe vor, und Philine war nach ihrer Art am erſten bey der Hand und ſtellte ſich unter die Thüre.
Wer iſt Sie? fragte die Gräfin im Her¬ eintreten.
Eine Schauſpielerin, Ihro Excellenz zu dienen, war die Antwort, indem der Schalk mit einem gar frommen Geſichte und demü¬16 thigen Gebährden ſich neigte und der Dame den Rock küßte.
Der Graf, der noch einige Perſonen um¬ her ſtehen ſah, die ſich gleichfalls für Schau¬ ſpieler ausgaben, erkundigte ſich nach der Stärke der Geſellſchaft, nach dem letzten Orte ihres Auffenthalts und ihrem Director. Wenn es Franzoſen wären, ſagte er zu ſei¬ ner Gemahlin, könnten wir dem Prinzen eine unerwartete Freude machen, und ihm bey uns ſeine Lieblingsunterhaltung ver¬ ſchaffen.
Es käme darauf an, verſetzte die Gräfin: ob wir nicht dieſe Leute, wenn ſie ſchon un¬ glücklicherweiſe nur Deutſche ſind, auf dem Schloß, ſo lange der Fürſt bey uns bleibt, ſpielen ließen. Sie haben doch wohl einige Geſchicklichkeit. Eine große Societät läßt ſich am beſten durch ein Theater unterhalten, und der Baron würde ſie ſchon zuſtutzen.
Un¬17Unter dieſen Worten gingen ſie die Trep¬ pe hinauf, und Melina präſentirte ſich oben als Director. Ruf Er ſeine Leute zuſam¬ men, ſagte der Graf: und ſtell Er ſie mir vor, damit ich ſehe, was an ihnen iſt. Ich will auch zugleich die Liſte von den Stük¬ ken ſehen, die ſie allenfalls aufführen könnten.
Melina eilte mit einem tiefen Bücklinge aus dem Zimmer, und kam bald mit den Schauſpielern zurück. Sie drückten ſich vor und hinter einander, die einen präſentirten ſich ſchlecht, aus großer Begierde zu gefallen, und die andern nicht beſſer, weil ſie ſich leichtſinnig darſtellten. Philine bezeigte der Gräfin, die außerordentlich gnädig und freundlich war, alle Ehrfurcht; der Graf muſterte indeß die übrigen. Er fragte einen jeden nach ſeinem Fache, und äußerte gegen Melina: daß man ſtreng auf Fächer haltenW. Meiſters Lehrj. B18müſſe, welchen Ausſpruch dieſer in der grö߬ ten Devotion aufnahm.
Der Graf bemerkte darauf einem jeden, worauf er beſonders zu ſtudiren, was er an ſeiner Figur und Stellung zu beſſern habe, zeigte ihnen einleuchtend, woran es den Deutſchen immer fehle, und ließ ſo außeror¬ dentliche Kenntniſſe ſehen, daß alle in der größten Demuth vor ſo einem erleuchteten Kenner und erlauchten Beſchützer ſtanden, und kaum Athem zu holen ſich getrauten.
Wer iſt der Menſch dort in der Ecke? fragte der Graf, indem er nach einem Sub¬ jecte ſah, das ihm noch nicht vorgeſtellt wor¬ den war, und eine hagre Figur nahte ſich in einem abgetragenen, auf dem Ellbogen mit Fleckchen beſetzten, Rocke; eine kümmer¬ liche Perücke bedeckte das Haupt des demü¬ thigen Klienten.
Dieſer Menſch, den wir ſchon aus dem19 vorigen Buche als Philinens Liebling ken¬ nen, pflegte gewöhnlich Pedanten, Magiſter und Poeten zu ſpielen, und meiſtens die Rolle zu übernehmen, wenn jemand Schläge kriegen oder begoſſen werden ſollte. Er hat¬ te ſich gewiſſe kriechende, lächerliche, furchtſa¬ me Bücklinge angewöhnt, und ſeine ſtockende Sprache, die zu ſeinen Rollen paßte, machte die Zuſchauer lachen, ſo daß er immer noch als ein brauchbares Glied der Geſellſchaft angeſehen wurde, beſonders da er übrigens ſehr dienſtfertig und gefällig war. Er nahte ſich auf ſeine Weiſe dem Grafen, neigte ſich vor demſelben, und beantwortete jede Frage auf die Art, wie er ſich in ſeinen Rollen auf dem Theater zu gebährden pflegte. Der Graf ſah ihn mit gefälliger Aufmerkſamkeit und mit Überlegung eine Zeitlang an, als¬ dann rief er, indem er ſich zu der Gräfin wendete: mein Kind, betrachte mir dieſenB 220Mann genau, ich hafte dafür, das iſt ein großer Schauſpieler, oder kann es werden. Der Menſch machte von ganzem Herzen ei¬ nen albernen Bückling, ſo daß der Graf laut über ihn lachen mußte, und ausrief: Er macht ſeine Sachen excellent, ich wette, die¬ ſer Menſch kann ſpielen was er will, und es iſt Schade, daß man ihn bisher zu nichts beſ¬ ſerm gebraucht hat.
Ein ſo außerordentlicher Vorzug war für die übrigen ſehr kränkend, nur Melina em¬ pfand nichts davon, er gab vielmehr dem Grafen vollkommen recht, und verſetzte mit ehrfurchtsvoller Mine: ach ja, es hat wohl ihm und mehreren von uns nur ein ſolcher Kenner und eine ſolche Aufmunterung ge¬ fehlt, wie wir ſie gegenwärtig an Ew. Excel¬ lenz gefunden haben.
Iſt das die ſämmtliche Geſellſchaft? ſagte der Graf.
21Es ſind einige Glieder abweſend, verſetzte der kluge Melina, und überhaupt könnten wir, wenn wir nur Unterſtützung fänden, ſehr bald aus der Nachbarſchaft vollzählig ſeyn.
Indeſſen ſagte Philine zur Gräfin: es iſt noch ein recht hübſcher junger Mann oben, der ſich gewiß bald zum erſten Liebhaber qualifiziren würde.
Warum läßt er ſich nicht ſehen? verſetzte die Gräfin.
Ich will ihn holen, rief Philine, und eilte zur Thüre hinaus.
Sie fand Wilhelmen noch mit Mignon beſchäftigt, und beredete ihn mit hinunter zu gehen. Er folgte ihr mit einigem Unwillen, doch trieb ihn die Neugier; denn da er von vornehmen Perſonen hörte, war er voll Ver¬ langen, ſie näher kennen zu lernen. Er trat ins Zimmer, und ſeine Augen begegneten ſo¬22 gleich den Augen der Gräfin, die auf ihn gerichtet waren Philine zog ihn zu der Dame, indeß der Graf ſich mit den übrigen beſchäftigte. Wilhelm neigte ſich, und gab auf verſchiedene Fragen, welche die reizende Dame an ihn that, nicht ohne Verwirrung Antwort. Ihre Schönheit, Jugend, Anmuth, Zierlichkeit und feines Betragen machten den angenehmſten Eindruck auf ihn, um ſo mehr, da ihre Reden und Gebärden mit einer ge¬ wiſſen Schamhaftigkeit, ja man dürfte ſagen, Verlegenheit, begleitet waren. Auch dem Grafen ward er vorgeſtellt, der aber wenig Acht auf ihn hatte, ſondern zu ſeiner Ge¬ mahlin ans Fenſter trat, und ſie um etwas zu fragen ſchien. Man konnte bemerken, daß ihre Meinung auf das lebhafteſte mit der ſeinigen übereinſtimmte, ja daß ſie ihn eifrig zu bitten und ihn in ſeiner Geſinnung zu beſtärken ſchien.
23Er kehrte ſich darauf bald zu der Geſell¬ ſchaft, und ſagte: ich kann mich gegenwärtig nicht aufhalten, aber ich will einen Freund zu euch ſchicken, und wenn ihr billige Bedin¬ gungen macht, und euch recht viel Mühe geben wollt, ſo bin ich nicht abgeneigt, euch auf dem Schloſſe ſpielen zu laſſen.
Alle bezeigten ihre große Freude darüber, und beſonders küßte Philine mit der größten Lebhaftigkeit der Gräfin die Hände.
Sieht Sie Kleine, ſagte die Dame, in¬ dem ſie dem leichtfertigen Mädchen die Bak¬ ken klopfte: ſieht Sie, mein Kind: da kommt Sie wieder zu mir, ich will ſchon mein Ver¬ ſprechen halten, Sie muß ſich nur beſſer an¬ ziehen. Philine entſchuldigte ſich, daß ſie wenig auf ihre Garderobe zu verwenden habe, und ſogleich befahl die Gräfin ihren Kammerfrauen, einen engliſchen Hut und ein ſeidnes Halstuch, die leicht auszupacken wa¬24 ren, herauf zu geben. Nun putzte die Grä¬ fin ſelbſt Philinen an, die fortfuhr ſich mit einer ſcheinheiligen, unſchuldigen Miene gar artig zu gebährden und zu betragen.
Der Graf bot ſeiner Gemahlin die Hand und führte ſie hinunter. Sie grüßte die ganze Geſellſchaft im Vorbeygehn freundlich, und kehrte ſich nochmals gegen Wilhelmen um, indem ſie mit der huldreichſten Miene zu ihm ſagte: wir ſehen uns bald wieder.
So glückliche Ausſichten belebten die ganze Geſellſchaft; jeder ließ nunmehr ſeinen Hoffnungen, Wünſchen und Einbildungen freyen Lauf, ſprach von den Rollen, die er ſpielen, von dem Beyfall, den er erhalten wollte. Melina überlegte, wie er noch ge¬ ſchwind, durch einige Vorſtellungen, den Ein¬ wohnern des Städtchens etwas Geld abneh¬25 men und zugleich die Geſellſchaft in Athem ſetzen könne, indeß andre in die Küche gin¬ gen, um ein beſſeres Mittagseſſen zu beſtel¬ len, als man ſonſt einzunehmen gewohnt war.
26Nach einigen Tagen kam der Baron, und Melina empfing ihn nicht ohne Furcht. Der Graf hatte ihn als einen Kenner angekün¬ digt, und es war zu beſorgen, er werde gar bald die ſchwache Seite des kleinen Haufens entdecken, und einſehen, daß er keine formirte Truppe vor ſich habe, indem ſie kaum Ein Stück gehörig beſetzen konnten; allein ſo¬ wohl der Director als die ſämmtlichen Glie¬ der waren bald aus aller Sorge, da ſie an dem Baron einen Mann fanden, der mit dem größten Enthuſiasmus das vaterländi¬ ſche Theater betrachtete, dem ein jeder Schau¬ ſpieler und jede Geſellſchaft willkommen und erfreulich war. Er begrüßte ſie alle mit Feyerlichkeit, prieß ſich glücklich eine deutſche27 Bühne ſo unvermuthet anzutreffen, mit ihr in Verbindung zu kommen, und die vater¬ ländiſchen Muſen in das Schloß ſeines Ver¬ wandten einzuführen. Er brachte bald dar¬ auf ein Heft aus der Taſche, in welchem Melina die Puncte des Contracts zu erblik¬ ken hofte; allein es war ganz etwas ande¬ res. Der Baron bat ſie, ein Drama, das er ſelbſt verfertigt, und das er von ihnen ge¬ ſpielt zu ſehen wünſchte, mit Aufmerkſamkeit anzuhören. Willig ſchloſſen ſie einen Kreis, und waren erfreut, mit ſo geringen Koſten ſich in der Gunſt eines ſo nothwendigen Mannes befeſtigen zu können, obgleich ein jeder nach der Dicke des Heftes übermäßig lange Zeit befürchtete. Auch war es wirklich ſo, das Stück war in fünf Akten geſchrieben, und von der Art, die gar kein Ende nimmt.
Der Held war ein vornehmer, tugendhaf¬ ter, großmüthiger und dabey verkannter und28 verfolgter Mann, der aber denn doch zuletzt den Sieg über ſeine Feinde davon trug, über welche ſodann die ſtrengſte poetiſche Gerech¬ tigkeit ausgeübt worden wäre, wenn er ihnen nicht auf der Stelle verziehen hätte.
Indem dieſes Stück vorgetragen wurde, hatte jeder Zuhörer Raum genug an ſich ſelbſt zu denken, und ganz ſachte aus der Demuth, zu der er ſich noch vor kurzem ge¬ neigt fühlte, zu einer glücklichen Selbſtgefäl¬ ligkeit empor zu ſteigen, und von da aus die anmuthigſten Ausſichten in die Zukunft zu überſchauen. Diejenigen, die keine ihnen angemeſſene Rolle in dem Stück fanden, er¬ klärten es bey ſich für ſchlecht, und hielten den Baron für einen unglücklichen Autor, dagegen die andern eine Stelle, bey der ſie beklatſcht zu werden hoften, mit dem grö߬ ten Lobe zur möglichſten Zufriedenheit des Verfaſſers verfolgten.
29Mit dem Ökonomiſchen waren ſie ge¬ ſchwind fertig. Melina wußte zu ſeinem Vortheil mit dem Baron den Contract ab¬ zuſchließen, und ihn vor den übrigen Schau¬ ſpielern geheim zu halten.
Über Wilhelmen ſprach Melina den Ba¬ ron im vorbeygehen, und verſicherte, daß er ſich ſehr gut zum Theaterdichter qualifizire, und zum Schauſpieler ſelbſt keine üble An¬ lagen habe. Der Baron machte ſogleich mit ihm als einen Collegen Bekanntſchaft und Wilhelm produzirte einige kleine Stücke, die nebſt wenigen Reliquien an jenem Tage, als er den größten Theil ſeiner Arbeiten in Feuer aufgehen ließ, durch einen Zufall gerettet wurden. Der Baron lobte ſowohl die Stücke als den Vortrag, nahm als bekannt an, daß er mit hinüber auf das Schloß kommen wür¬ de, verſprach, bey ſeinem Abſchiede, allen die beſte Aufnahme, bequeme Wohnung, gutes30 Eſſen, Beyfall und Geſchenke, und Melina ſetzte noch die Verſicherung eines beſtimmten Taſchengeldes hinzu.
Man kann denken, in welche gute Stim¬ mung durch dieſen Beſuch die Geſellſchaft geſetzt war, indem ſie ſtatt eines ängſtlichen und niedrigen Zuſtandes auf einmal Ehre und Behagen vor ſich ſah. Sie machten ſich ſchon zum voraus auf jene Rechnung luſtig, und jedes hielt vor unſchicklich, nur noch irgend einen Groſchen Geld in der Ta¬ ſche zu behalten.
Wilhelm ging indeſſen mit ſich zu Rathe, ob er die Geſellſchaft auf das Schloß beglei¬ ten ſolle? und fand in mehr als einem Sin¬ ne räthlich dahin zu gehen. Melina hofte bey dieſem vortheilhaften Engagement ſeine Schuld wenigſtens zum Theil abtragen zu können, und unſer Freund, der auf Men¬ ſchenkenntniß ausging, wollte die Gelegenheit31 nicht verſäumen, die große Welt näher ken¬ nen zu lernen, in der er viele Aufſchlüſſe über das Leben, über ſich ſelbſt und die Kunſt zu erlangen hofte. Dabey durfte er ſich nicht geſtehen, wie ſehr er wünſche, der ſchönen Gräfin wieder näher zu kommen. Er ſuchte ſich vielmehr im Allgemeinen zu überzeugen, welchen großen Vortheil ihm die nähere Kenntniß der vornehmen und reichen Welt bringen würde. Er machte ſeine Be¬ trachtungen über den Grafen, die Gräfin, den Baron, über die Sicherheit, Bequemlich¬ keit und Anmuth ihres Betragens, und rief, als er allein war, mit Entzücken aus:
Dreymal glücklich ſind diejenigen zu prei¬ ſen, die ihre Geburt ſogleich über die untern Stufen der Menſchheit hinaus hebt; die durch jene Verhältniſſe, in welchen ſich man¬ che gute Menſchen die ganze Zeit ihres Le¬ bens abängſtigen, nicht durchzugehen, auch32 nicht einmal darin als Gäſte zu verweilen brauchen. Allgemein und richtig muß ihr Blick auf dem höheren Standpunkte werden, leicht ein jeder Schritt ihres Lebens! Sie ſind von Geburt an gleichſam in ein Schiff geſetzt, um bey der Überfahrt, die wir alle machen müſſen, ſich des günſtigen Windes zu bedienen, und den widrigen abzuwarten, anſtatt daß andere nur für ihre Perſon ſchwimmend ſich abarbeiten, vom günſtigen Winde wenig Vortheil genießen, und im Sturme mit bald erſchöpften Kräften unter¬ gehen. Welche Bequemlichkeit, welche Leich¬ tigkeit giebt ein angebohrnes Vermögen! und wie ſicher blühet ein Handel, der auf ein gutes Kapital gegründet iſt, ſo daß nicht jeder mißlungene Verſuch ſogleich in Unthä¬ tigkeit verſetzt! Wer kann den Werth und Unwerth irrdiſcher Dinge beſſer kennen, als der ſie zu genießen von Jugend auf im Fallewar. 33war, und wer kann ſeinen Geiſt früher auf das Nothwendige, das Nützliche, das Wahre leiten, als der ſich von ſo vielen Irrthümern in einem Alter überzeugen muß, wo es ihm noch an Kräften nicht gebricht, ein neues Le¬ ben anzufangen.
So rief unſer Freund allen denenjenigen Glück zu, die ſich in den höheren Regionen befinden; aber auch denen, die ſich einem ſolchen Kreiſe nähern, aus dieſen Quellen ſchöpfen können, und pries ſeinen Genius, der Anſtalt machte, auch ihn dieſe Stufen hinan zu führen.
Indeſſen mußte Melina, nachdem er lan¬ ge ſich den Kopf zerbrochen, wie er nach dem Verlangen des Grafen und nach ſeiner eigenen Überzeugung die Geſellſchaft in Fä¬ cher eintheilen und einem jeden ſeine beſtimm¬ te Mitwirkung übertragen wollte, zuletzt, da es an die Ausführung kam, ſehr zufriedenW. Meiſters Lehrj. C34ſeyn, wenn er bey einem ſo geringen Perſo¬ nal die Schauſpieler willig fand, ſich nach Möglichkeit in dieſe oder jene Rollen zu ſchicken. Doch übernahm gewöhnlich Laertes die Liebhaber, Philine die Kammermädchen, die beiden jungen Frauenzimmer theilten ſich in die naiven und zärtlichen Liebhaberinnen, der alte Polterer ward am beſten geſpielt, Melina ſelbſt glaubte als Chevalier auftre¬ ten zu dürfen, Madam Melina mußte, zu ihrem größten Verdruß, in das Fach der jungen Frauen, ja ſogar der zärtlichen Müt¬ ter übergehen, und weil in den neuern Stük¬ ken nicht leicht mehr ein Pedant oder Poet, wenn er auch vorkommen ſollte, lächerlich gemacht wird; ſo mußte der bekannte Günſt¬ ling des Grafen nunmehr die Präſidenten und Miniſter ſpielen, weil dieſe gewöhnlich als Böſewichter vorgeſtellt und im fünften Akte übel behandelt werden. Eben ſo ſteckte35 Melina mit Vergnügen, als Kammerjunker oder Kammerherr, die Grobheiten ein, welche ihm von biedern deutſchen Männern herge¬ brachter Maßen in mehreren beliebten Stük¬ ken aufgedrungen wurden, weil er ſich doch bey dieſer Gelegenheit artig herausputzen konnte, und das Air eines Hofmannes, das er vollkommen zu beſitzen glaubte, anzuneh¬ men die Erlaubniß hatte.
Es dauerte nicht lange, ſo kamen von verſchiedenen Gegenden mehrere Schauſpieler herbeygefloſſen, welche ohne ſonderliche Prü¬ fung angenommen, aber auch ohne ſonderli¬ che Bedingungen feſtgehalten wurden.
Wilhelm, den Melina vergebens einige¬ mal zu einer Liebhaberrolle zu bereden ſuch¬ te, nahm ſich der Sache mit vielem guten Willen an, ohne daß unſer neuer Director ſeine Bemühungen im mindeſten anerkannte, vielmehr glaubte dieſer mit ſeiner WürdeC 236auch alle nöthige Einſicht überkommen zu haben; beſonders war das Streichen eine ſeiner angenehmſten Beſchäftigungen, wodurch er ein jedes Stück auf das gehörige Zeit¬ maaß herunter zu ſetzen wußte, ohne irgend eine andere Rückſicht zu nehmen. Er hatte viel Zuſpruch, das Publikum war ſehr zufrie¬ den, und die geſchmackvollſten Einwohner des Städtchens behaupteten, daß das Theater in der Reſidenz keinesweges ſo gut als das ihre beſtellt ſey.
37Endlich kam die Zeit herbey, da man ſich zur Überfahrt ſchicken, die Kutſchen und Wa¬ gen erwarten ſollte, die unſere ganze Truppe nach dem Schloſſe des Grafen hinüber zu führen beſtellt waren. Schon zum voraus fielen große Streitigkeiten vor, wer mit dem andern fahren? wie man ſitzen ſollte? Die Ordnung und Eintheilung ward endlich nur mit Mühe ausgemacht und feſtgeſetzt, doch leider ohne Wirkung. Zur beſtimmten Stun¬ de kamen weniger Wagen als man erwartet hatte, und man mußte ſich einrichten. Der Baron, der zu Pferde nicht lange hinterdrein folgte, gab zur Urſache an: daß im Schloſſe alles in großer Bewegung ſey, weil nicht allein der Fürſt einige Tage früher eintreffen38 werde, als man geglaubt, ſondern weil auch unerwarteter Beſuch ſchon gegenwärtig ange¬ langt ſey; der Platz gehe ſehr zuſammen, ſie würden auch deswegen nicht ſo gut logiren, als man es ihnen vorher beſtimmt habe, welches ihm außerordentlich leid thue.
Man theilte ſich in die Wagen, ſo gut es gehen wollte, und da leidlich Wetter und das Schloß nur einige Stunden entfernt war, machten ſich die Luſtigſten lieber zu Fuße auf den Weg, als daß ſie die Rückkehr der Kutſchen hätten abwarten ſollen. Die Caravane zog mit Freudengeſchrey aus, zum erſtenmal ohne Sorgen, wie der Wirth zu bezahlen ſey. Das Schloß des Grafen ſtand ihnen wie ein Feengebäude vor der Seele, ſie waren die glücklichſten und fröhlichſten Menſchen von der Welt, und jeder knüpfte unterweges an dieſen Tag, nach ſeiner Art zu denken, eine Reihe von Glück, Ehre und Wohlſtand.
39Ein ſtarker Regen, der unerwartet einfiel, konnte ſie nicht aus dieſen angenehmen Em¬ pfindungen reiſſen; da er aber immer anhal¬ tender und ſtärker wurde, ſpürten viele von ihnen eine ziemliche Unbequemlichkeit. Die Nacht kam herbey, und erwünſchter konnte ihnen nichts erſcheinen, als der durch alle Stockwerke erleuchtete Pallaſt des Grafen, der ihnen von einem Hügel entgegen glänzte, ſo daß ſie die Fenſter zählen konnten.
Als ſie näher heran kamen, fanden ſie auch alle Fenſter der Seitengebäude erhellet. Ein jeder dachte bey ſich, welches wohl ſein Zimmer werden möchte? und die meiſten be¬ gnügten ſich beſcheiden mit einer Stube im Manſarde oder in den Flügeln.
Nun fuhren ſie durch das Dorf und am Wirthshauſe vorbey. Wilhelm ließ halten, um dort abzuſteigen; allein der Wirth ver¬ ſicherte, daß er ihm nicht den geringſten40 Raum anweiſen könne. Der Herr Graf habe, weil unvermuthete Gäſte angekommen, ſogleich das ganze Wirthshaus beſprochen, an allen Zimmern ſtehe ſchon ſeit geſtern mit Kreide deutlich angeſchrieben, wer darinne wohnen ſolle. Wider ſeinen Willen mußte alſo unſer Freund mit der übrigen Geſell¬ ſchaft zum Schloßhofe hineinfahren.
Um die Küchenfeuer in einem Seitenge¬ bäude ſahen ſie geſchäftige Köche ſich hin und her bewegen, und waren durch dieſen Anblick ſchon erquickt; eilig kamen Bediente mit Lichtern auf die Treppe des Hauptge¬ bäudes geſprungen, und das Herz der guten Wanderer quoll über dieſen Ausſichten auf. Wie ſehr verwunderten ſie ſich dagegen, als ſich dieſer Empfang in ein entſetzliches Flu¬ chen auflöste. Die Bedienten ſchimpften auf die Fuhrleute, daß ſie hier herein gefahren ſeyen; ſie ſollten umwenden, rief man, und41 wieder hinaus nach dem alten Schloſſe zu, hier ſey kein Raum für dieſe Gäſte! Einem ſo unfreundlichen und unerwarteten Beſcheide fügten ſie noch allerley Spöttereyen hinzu, und lachten ſich unter einander aus, daß ſie durch dieſen Irrthum in den Regen geſprengt worden. Es goß noch immer, keine Sterne ſtanden am Himmel, und nun wurde die Geſellſchaft durch einen holprichten Weg zwi¬ ſchen zwey Mauern in das alte hintere Schloß gezogen, welches unbewohnt da ſtand, ſeit der Vater des Grafen das vordere ge¬ baut hatte. Theils im Hofe, theils unter einem langen gewölbten Thorwege hielten die Wagen ſtill, und die Fuhrleute, Anſpän¬ ner aus dem Dorfe, ſpannten aus und ritten ihrer Wege.
Da niemand zum Empfange der Geſell¬ ſchaft ſich zeigte, ſtiegen ſie aus, riefen, ſuch¬ ten; vergebens! Alles blieb finſter und ſtille. 42Der Wind blies durch das hohe Thor, und grauerlich waren die alten Thürme und Höfe, wovon ſie kaum die Geſtalten in der Finſter¬ niß unterſchieden. Sie froren und ſchauer¬ ten, die Frauen fürchteten ſich, die Kinder fingen an zu weinen, ihre Ungeduld vermehr¬ te ſich mit jedem Augenblicke, und ein ſo ſchneller Glückswechſel, auf den niemand vor¬ bereitet war, brachte ſie alle ganz und gar aus der Faſſung.
Da ſie jeden Augenblick erwarteten, daß jemand kommen und ihnen aufſchließen wer¬ de, da bald Regen bald Sturm ſie täuſchte, und ſie mehr als einmal den Tritt des er¬ wünſchten Schloßvoigts zu hören glaubten, blieben ſie eine lange Zeit unmuthig und unthätig, es fiel keinem ein, in das neue Schloß zu gehen, und dort mitleidige Seelen um Hülfe anzurufen. Sie konnten nicht be¬ greifen, wo ihr Freund, der Baron, geblie¬43 ben ſey, und waren in einer höchſtbeſchwer¬ lichen Lage.
Endlich kamen wirklich Menſchen an, und man erkannte an ihren Stimmen jene Fu߬ gänger, die auf dem Wege hinter den Fah¬ renden zurück geblieben waren. Sie erzähl¬ ten, daß der Baron mit dem Pferde geſtürzt ſey, ſich am Fuße ſtark beſchädigt habe, und daß man auch ſie, da ſie im Schloſſe nach¬ gefragt, mit Ungeſtüm hieher gewieſen habe.
Die ganze Geſellſchaft war in der grö߬ ten Verlegenheit, man rathſchlagte, was man thun ſollte, und konnte keinen Entſchluß faſ¬ ſen. Endlich ſah man von weitem eine La¬ terne kommen, und holte friſchen Athem; allein die Hofnung einer baldigen Erlöſung verſchwand auch wieder, indem die Erſchei¬ nung näher kam und deutlich ward. Ein Reitknecht leuchtete dem bekannten Stallmei¬ ſter des Grafen vor, und dieſer erkundigte44 ſich, als er näher kam, ſehr eifrig nach Ma¬ demoiſelle Philinen. Sie war kaum aus dem übrigen Haufen hervorgetreten, als er ihr ſehr dringend anbot, ſie in das neue Schloß zu führen, wo ein Plätzchen für ſie bey den Kammerjungfern der Gräfin berei¬ tet ſey. Sie beſann ſich nicht lange das An¬ erbieten dankbar zu ergreifen, faßte ihn bey dem Arme und wollte, da ſie den andern ihren Koffer empfohlen, mit ihm forteilen; allein man trat ihnen in den Weg, fragte, bat, beſchwor den Stallmeiſter, daß er end¬ lich, um nur mit ſeiner Schönen los zu kom¬ men, alles verſprach, und verſicherte: in kur¬ zem ſolle das Schloß eröffnet und ſie auf das Beſte einquartiert werden. Bald dar¬ auf ſahen ſie den Schein ſeiner Laterne ver¬ ſchwinden, und hoften lange vergebens auf das neue Licht, das ihnen endlich nach vie¬ len Worten, Schelten und Schmähen er¬45 ſchien, und ſie mit einigem Troſte und Hof¬ nung belebte.
Ein alter Hausknecht eröfnete die Thüre des alten Gebäudes, in das ſie mit Gewalt eindrangen. Ein jeder ſorgte nun für ſeine Sachen, ſie abzupacken, ſie hereinzuſchaffen. Das meiſte war, wie die Perſonen ſelbſt, tüchtig durchweicht. Bey dem Einen Lichte ging alles ſehr langſam. Im Gebäude ſtieß man ſich, ſtolperte, fiel. Man bat um mehr Lichter, man bat um Feuerung. Der einſyl¬ bige Hausknecht ließ mit genauer Noth ſeine Laterne da, ging, und kam nicht wieder.
Nun fing man an das Haus zu durch¬ ſuchen, die Thüren aller Zimmer waren offen, große Öfen, gewirkte Tapeten, eingelegte Fußböden waren von ſeiner vorigen Pracht noch übrig; von anderm Hausgeräthe aber nichts zu finden, kein Tiſch, kein Stuhl, kein Spiegel, kaum einige ungeheuere leere Bett¬46 ſtellen, alles Schmuckes und alles Nothwen¬ digen beraubt. Die naſſen Koffer und Man¬ telſäcke wurden zu Sitzen gewählt, ein Theil der müden Wanderer bequemten ſich auf dem Fußboden, Wilhelm hatte ſich auf eini¬ ge Stufen geſetzt, Mignon lag auf ſeinen Knieen; das Kind war unruhig, und auf ſeine Frage was ihm fehlte? antwortete es: mich hungert! Er fand nichts bey ſich, um das Verlangen des Kindes zu ſtillen, die übrige Geſellſchaft hatte ſich auch aufgezehrt, und er mußte die arme Kreatur ohne Er¬ quickung laſſen. Er blieb bey dem ganzen Vorfalle unthätig, ſtill in ſich gekehrt: denn er war ſehr verdrießlich und grimmig, daß er nicht auf ſeinem Sinne beſtanden und bey dem Wirthshauſe abgeſtiegen ſey; wenn er auch auf dem oberſten Boden hätte ſein La¬ ger nehmen ſollen.
Die übrigen gebährdeten ſich jeder nach47 ſeiner Art. Einige hatten einen Haufen al¬ tes Gehölz in einen ungeheuren Kamin des Saals geſchaft und zündeten, mit großem Jauchzen, den Scheiterhaufen an. Unglück¬ licherweiſe ward auch dieſe Hoffnung ſich zu trocknen und zu wärmen auf das ſchrecklich¬ ſte getäuſcht, denn dieſer Kamin ſtand nur zur Zierde da, und war von oben herein ver¬ mauert, der Dampf trat ſchnell zurück und erfüllte auf einmal die Zimmer; das dürre Holz ſchlug raſſelnd in Flammen auf, und auch die Flamme ward herausgetrieben, der Zug, der durch die zerbrochenen Fenſterſchei¬ ben drang, gab ihr eine unſtäte Richtung, man fürchtete das Schloß anzuzünden, mu߬ te das Feuer auseinander ziehen, austreten, dämpfen, der Rauch vermehrte ſich, der Zu¬ ſtand wurde unerträglicher, man kam der Verzweiflung nahe.
Wilhelm war vor dem Rauch in ein ent¬48 ferntes Zimmer gewichen, wohin ihm bald Mignon folgte und einen wohlgekleideten Bedienten, der eine hohe hellbrennende, dop¬ pelt erleuchtete Laterne trug, hereinführte; dieſer wendete ſich an Wilhelmen, und indem er ihm auf einem ſchönen porzelanenen Tel¬ ler Konfekt und Früchte überreichte, ſagte er: dieß ſchickt Ihnen das junge Frauenzimmer von drüben, mit der Bitte, zur Geſellſchaft zu kommen, ſie läßt ſagen, ſetzte der Bedien¬ te mit einer leichtfertigen Mine hinzu: es gehe ihr ſehr wohl, und ſie wünſche ihre Zufriedenheit mit ihren Freunden zu theilen.
Wilhelm erwartete nichts weniger als dieſen Antrag, denn er hatte Philinen, ſeit dem Abentheuer, der ſteinernen Bank, mit entſchiedener Verachtung begegnet, und war ſo feſt entſchloſſen, keine Gemeinſchaft mehr mit ihr zu haben, daß er im Begriff ſtand, die ſüße Gabe wieder zurück zu ſchicken, alsein49ein bittender Blick Mignons ihn vermogte, ſie anzunehmen, und im Namen des Kindes dafür zu danken; die Einladung ſchlug er ganz aus. Er bat den Bedienten, einige Sorge für die angekommene Geſellſchaft zu haben, und erkundigte ſich nach dem Baron. Dieſer lag zu Bette, hatte aber ſchon, ſoviel der Bediente zu ſagen wußte, einem Andern Auftrag gegeben, für die elend Beherbergten zu ſorgen.
Der Bediente ging und hinterließ Wil¬ helmen eins von ſeinen Lichtern, das dieſer in Ermanglung eines Leuchters auf das Fen¬ ſtergeſims kleben mußte, und nun wenigſtens bey ſeinen Betrachtungen die vier Wände des Zimmers erhellt ſah. Denn es währte noch lange, ehe die Anſtalten rege wurden, die unſere Gäſte zur Ruhe bringen ſollten. Nach und nach kamen Lichter, jedoch ohne Lichtputzen, dann einige Stühle, eine StundeW. Meiſters Lehrj. D50darauf Deckbetten, dann Kiſſen, alles wohl durchnetzt, und es war ſchon weit über Mit¬ ternacht, als endlich Strohſäcke und Ma¬ tratzen herbeygeſchaft wurden, die, wenn man ſie zuerſt gehabt hätte, höchſtwillkommen ge¬ weſen ſeyn würden.
In der Zwiſchenzeit war auch etwas von Eſſen und Trinken angelangt, das ohne viele Kritik genoſſen wurde, ob es gleich einem ſehr unordentlichen Abhub ähnlich ſah, und von der Achtung, die man für die Gäſte hat¬ te, kein ſonderliches Zeugniß ablegte.
51Durch die Unart und den Übermuth einiger leichtfertigen Geſellen, vermehrte ſich die Un¬ ruhe und das Übel der Nacht, indem ſie ſich einander neckten, aufweckten und ſich wech¬ ſelsweiſe allerley Streiche ſpielten. Der an¬ dere Morgen brach an, unter lauten Klagen über ihren Freund, den Baron, daß er ſie ſo getäuſcht und ihnen ein ganz anderes Bild von der Ordnung und Bequemlichkeit, in die ſie kommen würden, gemacht habe. Doch zur Verwunderung und Troſt erſchien in aller Frühe der Graf ſelbſt mit einigen Bedienten, und erkundigte ſich nach ihren Umſtänden. Er war ſehr entrüſtet, als er hörte, wie übel es ihnen ergangen, und der Baron, der, geführt, herbey hinkte, verklagteD 252den Haushofmeiſter, wie befehlswidrig er ſich bey dieſer Gelegenheit gezeigt, und glaubte ihm ein rechtes Bad angerichtet zu haben.
Der Graf befahl ſogleich, daß alles in ſeiner Gegenwart zur möglichſten Bequem¬ lichkeit der Gäſte geordnet werden ſolle. Darauf kamen einige Offiziere, die von den Aktrizen ſogleich Kundſchaft nahmen, und der Graf ließ ſich die ganze Geſellſchaft vor¬ ſtellen, redete einen jeden bey ſeinem Namen an, und miſchte einige Scherze in die Unter¬ redung, daß alle über einen ſo gnädigen Herrn ganz entzückt waren. Endlich mußte Wilhelm auch an die Reihe, an den ſich Mignon anhing. Wilhelm entſchuldigte ſich ſo gut er konnte über ſeine Freyheit, der Graf hingegen ſchien ſeine Gegenwart als bekannt anzunehmen.
Ein Herr, der neben dem Grafen ſtand, den man für einen Offizier hielte, ob er53 gleich keine Uniform anhatte, ſprach beſon¬ ders mit unſerm Freunde, und zeichnete ſich vor allen andern aus. Große hellblaue Au¬ gen leuchteten unter einer hohen Stirne her¬ vor, nachläſſig waren ſeine blonden Haare aufgeſchlagen, und ſeine mittlere Statur zeigte ein ſehr wackres, feſtes und beſtimm¬ tes Weſen. Seine Fragen waren lebhaft, und er ſchien ſich auf alles zu verſtehen, wornach er fragte.
Wilhelm erkundigte ſich nach dieſem Man¬ ne bey dem Baron, der aber nicht viel Gu¬ tes von ihm zu ſagen wußte. Er habe den Character als Major, ſey eigentlich der Günſtling des Prinzen, verſehe deſſen ge¬ heimſte Geſchäfte und werde für deſſen rech¬ ten Arm gehalten, ja man habe Urſache zu glauben, er ſey ſein natürlicher Sohn. In Frankreich, England, Italien ſey er mit Ge¬ ſandtſchaften geweſen, er werde überall ſehr54 diſtinguirt, und das mache ihn einbildiſch, er wähne, die deutſche Litteratur aus dem Grunde zu kennen, und erlaube ſich allerley ſchaale Spöttereyen gegen dieſelbe. Er, der Baron, vermeide alle Unterredung mit ihm, und Wilhelm werde wohl thun, ſich auch von ihm entfernt zu halten, denn am Ende gebe er jedermann etwas ab. Man nenne ihn Jarno, wiſſe aber nicht recht, was man aus dem Namen machen ſolle.
Wilhelm hatte darauf nichts zu ſagen, denn er empfand gegen den Fremden, ob er gleich etwas Kaltes und Abſtoßendes hatte, eine gewiſſe Neigung.
Die Geſellſchaft wurde in dem Schloſſe eingetheilt, und Melina befahl ſehr ſtrenge, ſie ſollten ſich nunmehr ordentlich halten, die Frauen ſollten beſonders wohnen, und jeder nur auf ſeine Rollen, auf die Kunſt ſein Augenmerk und ſeine Neigung richten. Er55 ſchlug Vorſchriften und Geſetze, die aus vie¬ len Puncten beſtanden, an alle Thüren. Die Summe der Strafgelder war beſtimmt, die ein jeder Übertreter in eine gemeine Büchſe entrichten ſollte.
Dieſe Verordnungen wurden wenig ge¬ achtet. Junge Offiziere gingen aus und ein, ſpaßten nicht eben auf das feinſte mit den Aktrizen, hatten die Akteure zum beſten, und vernichteten die ganze kleine Polizeyordnung, noch ehe ſie Wurzel faſſen konnte. Man jagte ſich durch die Zimmer, verkleidete ſich, verſteckte ſich. Melina, der Anfangs einigen Ernſt zeigen wollte, ward mit allerley Muth¬ willen auf das äußerſte gebracht, und als ihn bald darauf der Graf holen ließ, um den Platz zu ſehen, wo das Theater aufge¬ richtet werden ſollte, ward das Übel nur immer ärger. Die jungen Herren erſannen ſich allerley platte Späße, durch Hülfe eini¬56 ger Akteure wurden ſie noch plumper, und es ſchien, als wenn das ganze alte Schloß vom wüthenden Heere beſeſſen ſey, auch en¬ digte der Unfug nicht eher, als bis man zur Tafel ging.
Der Graf hatte Melina in einen großen Saal geführt, der noch zum alten Schloſſe gehörte, durch eine Gallerie mit dem neuen verbunden war, und worin ein kleines Thea¬ ter ſehr wohl aufgeſtellt werden konnte. Da¬ ſelbſt zeigte der einſichtsvolle Hausherr, wie er alles wolle eingerichtet haben.
Nun ward die Arbeit in großer Eile vor¬ genommen, das Theatergerüſte aufgeſchlagen und ausgeziert; was man von Dekorationen in dem Gepäcke hatte und brauchen konnte, angewendet, und das übrige mit Hülfe eini¬ ger geſchickten Leute des Grafen verfertiget. Wilhelm griff ſelbſt mit an, half die Per¬ ſpektive beſtimmen, die Umriſſe abſchnüren,57 und war höchſt beſchäftigt, daß es nicht un¬ ſchicklich werden ſollte. Der Graf, der öfters dazu kam, war ſehr zufrieden damit, zeigte wie ſie das, was ſie wirklich thaten, eigent¬ lich machen ſollten, und ließ dabey ungemei¬ ne Kenntniſſe jeder Kunſt ſehen.
Nun fing das Probiren recht ernſtlich an, wozu ſie auch Raum und Muße genug ge¬ habt hätten, wenn ſie nicht von den vielen anweſenden Fremden immer geſtört worden wären. Denn es kamen täglich neue Gäſte an, und ein jeder wollte die Geſellſchaft in Augenſchein nehmen.
58Der Baron hatte Wilhelmen einige Tage mit der Hoffnung hingehalten, daß er der Gräfin noch beſonders vorgeſtellt werden ſollte. — Ich habe, ſagte er, dieſer vortreff¬ lichen Dame ſo viel von Ihren geiſtreichen und empfindungsvollen Stücken erzählt, daß ſie nicht erwarten kann, Sie zu ſprechen und ſich ein und das andere vorleſen zu laſſen. Halten Sie ſich ja gefaßt auf den erſten Wink hinüber zu kommen, denn bey dem nächſten ruhigen Morgen werden Sie gewiß gerufen werden. Er bezeichnete ihm darauf das Nachſpiel, welches er zuerſt vorleſen ſollte, wodurch er ſich ganz beſonders em¬ pfehlen würde. Die Dame bedaure gar ſehr, daß er zu einer ſolchen unruhigen Zeit ein¬59 getroffen ſey, und ſich mit der übrigen Ge¬ ſellſchaft in dem alten Schloſſe ſchlecht behel¬ fen müſſe. —
Mit großer Sorgfalt nahm darauf Wil¬ helm das Stück vor, womit er ſeinen Ein¬ tritt in die große Welt machen ſollte. Du haſt, ſagte er, bisher im Stillen für dich gearbeitet, nur von einzelnen Freunden Bey¬ fall erhalten; du haſt eine Zeit lang ganz an deinem Talente verzweifelt, und du mußt immer noch in Sorgen ſeyn, ob du dann auch auf dem rechten Wege biſt, und ob du ſo viel Talent als Neigung zum Theater haſt? Vor den Ohren ſolcher geübten Ken¬ ner, im Kabinette, wo keine Illuſion ſtatt findet, iſt der Verſuch weit gefährlicher als anderwärts, und ich möchte doch auch nicht gerne zurück bleiben, dieſen Genuß an meine vorigen Freuden knüpfen, und die Hoffnung auf die Zukunft erweitern.
60Er nahm darauf einige Stücke durch, las ſie mit der größten Aufmerkſamkeit, korri¬ girte hier und da, rezitirte ſie ſich laut vor, um auch in Sprache und Ausdruck recht ge¬ wandt zu ſeyn, und ſteckte dasjenige, wel¬ ches er am meiſten geübt, womit er die grö߬ te Ehre einzulegen glaubte, in die Taſche, als er an einem Morgen hinüber vor die Gräfin gefordert wurde.
Der Baron hatte ihn verſichert, ſie wür¬ de allein mit einer guten Freundin ſeyn. Als er in das Zimmer trat, kam die Baro¬ neſſe von C** ihm mit vieler Freundlichkeit entgegen, freute ſich ſeine Bekanntſchaft zu machen, und präſentirte ihn der Gräfin, die ſich eben friſiren ließ, und ihn mit freundli¬ chen Worten und Blicken empfing; neben deren Stuhl er aber leider Philinen knieen und allerley Thorheiten machen ſah. — Das ſchöne Kind, ſagte die Baroneſſe, hat uns61 verſchiedenes vorgeſungen. Endige Sie doch das angefangene Liedchen, damit wir nichts davon verlieren. —
Wilhelm hörte das Stückchen mit großer Geduld an, indem er die Entfernung des Friſeurs wünſchte, ehe er ſeine Vorleſung an¬ fangen wollte. Man bot ihm eine Taſſe Chokolade an, wozu ihm die Baroneſſe ſelbſt den Zwieback reichte. Demohngeachtet ſchmeckte ihm das Frühſtück nicht, denn er wünſchte zu lebhaft der ſchönen Gräfin ir¬ gend etwas vorzutragen, was ſie intereſſiren, wodurch er ihr gefallen könnte. Auch Phi¬ line war ihm nur zu ſehr im Wege, die ihm als Zuhörerin oft ſchon unbequem geweſen war. Er ſah mit Schmerzen dem Friſeur auf die Hände, und hoffte in jedem Augen¬ blicke mehr auf die Vollendung des Baues.
Indeſſen war der Graf hereingetreten, und erzählte von den heut zu erwartenden62 Gäſten, von der Eintheilung des Tages, und was ſonſt etwa Häusliches vorkommen möch¬ te. Da er hinaus ging, ließen einige Offi¬ ziere bey der Gräfin um die Erlaubniß, ihr, weil ſie noch vor Tafel wegreiten müßten, aufwarten zu dürfen. Der Kammerdiener war indeſſen fertig geworden, und ſie ließ die Herren hereinkommen.
Die Baroneſſe gab ſich inzwiſchen Mühe unſern Freund zu unterhalten, und ihm viele Achtung zu bezeigen, die er mit Ehrfurcht, obgleich etwas zerſtreut, aufnahm. Er fühl¬ te manchmal nach dem Manuſcripte in der Taſche, hoffte auf jeden Augenblick, und faſt wollte ſeine Geduld reiſſen, als ein Galante¬ riehändler hereingelaſſen wurde, der ſeine Pappen, Kaſten, Schachteln unbarmherzig eine nach der andern eröfnete, und jede Sor¬ te ſeiner Waaren mit einer dieſem Geſchlechte eigenen Zudringlichkeit vorwies.
63Die Geſellſchaft vermehrte ſich. Die Ba¬ roneſſe ſah Wilhelmen an, und ſprach leiſe mit der Gräfin; er bemerkte es ohne die Abſicht zu verſtehen, die ihm endlich zu Hauſe klar wurde, als er ſich nach einer ängſtlich und vergebens durchharrten Stunde wegbegab. Er fand ein ſchönes engliſches Portefeuille in der Taſche. Die Baroneſſe hatte es ihm heimlich beyzuſtecken gewußt, und gleich darauf folgte der Gräfin kleiner Mohr, der ihm eine artig geſtickte Weſte überbrachte, ohne recht deutlich zu ſagen, woher ſie komme.
64Das Gemiſch der Empfindungen von Ver¬ druß und Dankbarkeit verdarb ihm den gan¬ zen Reſt des Tages, bis er gegen Abend wieder Beſchäftigung fand, indem Melina ihm eröfnete, der Graf habe von einem Vor¬ ſpiele geſprochen, das dem Prinzen zu Ehren, den Tag ſeiner Ankunft, aufgeführt werden ſollte. Er wolle darin die Eigenſchaften die¬ ſes großen Helden und Menſchenfreundes perſonifiziret haben. Dieſe Tugenden ſollten mit einander auftreten, ſein Lob verkündigen und zuletzt ſeine Büſte mit Blumen – und Lorbeerkränzen umwinden, wobey ſein verzo¬ gener Name mit dem Fürſtenhute durchſchei¬ nend glänzen ſollte. Der Graf habe ihm aufgegeben, für die Verſifikation und übrigeEin¬65Einrichtung dieſes Stückes zu ſorgen, und er hoffe, daß ihm Wilhelm, dem es etwas leich¬ tes ſey, hierin gerne beyſtehen werde.
Wie! rief dieſer verdrießlich aus, haben wir nichts als Porträte, verzogene Namen und allegoriſche Figuren, um einen Fürſten zu ehren, der nach meiner Meinung ein ganz anderes Lob verdient? Wie kann es einem vernünftigen Manne ſchmeicheln, ſich in Ef¬ figie aufgeſtellt und ſeinen Namen auf ge¬ öhltem Papiere ſchimmern zu ſehen! Ich fürchte ſehr, die Allegorien würden, beſonders bey unſerer Garderobe, zu manchen Zwey¬ deutigkeiten und Späßen Anlaß geben. Wol¬ len Sie das Stück machen oder machen laſ¬ ſen, ſo kann ich nichts dawider haben, nur bitte ich, daß ich damit verſchont bleibe.
Melina entſchuldigte ſich, es ſey nur die ohngefähre Angabe des Herrn Grafen, der ihnen übrigens ganz überlaſſe, wie ſie dasW. Meiſters Lehrj. E66Stück arrangiren wollten. Herzlich gerne, verſetzte Wilhelm, trage ich etwas zum Ver¬ gnügen dieſer vortrefflichen Herrſchaft bey, und meine Muſe hat noch kein ſo angeneh¬ mes Geſchäfte gehabt, als zum Lob eines Fürſten, der ſo viel Verehrung verdient, auch nur ſtammelnd ſich hören zu laſſen. Ich will der Sache nachdenken, vielleicht gelingt es mir, unſere kleine Truppe ſo zu ſtellen, daß wir doch wenigſtens einigen Effekt machen.
Von dieſem Augenblicke an ſann Wil¬ helm eifrig dem Auftrage nach. Ehe er ein¬ ſchlief, hatte er alles ſchon ziemlich geordnet, und den andern Morgen, bey früher Zeit, war der Plan fertig, die Scenen entworfen, ja ſchon einige der vornehmſten Stellen und Geſänge in Verſe und zu Papiere gebracht.
Wilhelm eilte morgens gleich den Baron wegen gewiſſer Umſtände zu ſprechen, und67 legte ihm ſeinen Plan vor. Dieſem gefiel er ſehr wohl, doch bezeigte er einige Verwun¬ derung. Denn er hatte den Grafen geſtern Abend von einem ganz andern Stücke ſpre¬ chen hören, welches nach ſeiner Angabe in Verſe gebracht werden ſollte.
Es iſt mir nicht wahrſcheinlich, verſetzte Wilhelm, daß es die Abſicht des Herrn Gra¬ fen geweſen ſey, gerade das Stück, ſo wie er es Melinen angegeben, fertigen zu laſſen; wenn ich nicht irre, ſo wollte er uns blos durch einen Fingerzeig auf den rechten Weg weiſen. Der Liebhaber und Kenner zeigt dem Künſtler an, was er wünſcht, und über¬ läßt ihm alsdann die Sorge das Werk her¬ vorzubringen.
Mitnichten, verſetzte der Baron, der Herr Graf verläßt ſich darauf, daß das Stück ſo und nicht anders, wie er es angegeben, auf¬ geführt werde. Das Ihrige hat freylich eineE 268entfernte Ähnlichkeit mit ſeiner Idee, und wenn wir es durchſetzen und ihn von ſeinen erſten Gedanken abbringen wollen, ſo müſſen wir es durch die Damen bewirken. Vorzüg¬ lich weiß die Baroneſſe dergleichen Operatio¬ nen meiſterlich anzulegen, es wird die Frage ſeyn, ob ihr der Plan ſo gefällt, daß ſie ſich der Sache annehmen mag, und dann wird es gewiß gehen.
Wir brauchen ohnedieß die Hülfe der Damen, ſagte Wilhelm, denn es möchte un¬ ſer Perſonale und unſere Garderobe zu der Ausführung nicht hinreichen. Ich habe auf einige hübſche Kinder gerechnet, die im Hauſe hin und wieder laufen, und die dem Kammer¬ diener und dem Haushofmeiſter zugehören.
Darauf erſuchte er den Baron, die Da¬ men mit ſeinem Plane bekannt zu machen. Dieſer kam bald zurück und brachte die Nachricht, ſie wollten ihn ſelbſt ſprechen. 69Heute Abend, wenn die Herren ſich zum Spiele ſetzten, das ohnedieß wegen der An¬ kunft eines gewiſſen Generals ernſthafter werden würde, als gewöhnlich, wollten ſie ſich unter dem Vorwande einer Unpäßlichkeit in ihr Zimmer zurück ziehen, er ſollte durch die geheime Treppe eingeführt werden, und könne alsdann ſeine Sache auf das beſte vortragen. Dieſe Art von Geheimniß gebe der Angelegenheit nunmehr einen doppelten Reiz, und die Baroneſſe beſonders freue ſich wie ein Kind auf dieſen Rendesvous, und noch mehr darauf, daß es heimlich und ge¬ ſchickt gegen den Willen des Grafen unter¬ nommen werden ſollte.
Gegen Abend, um die beſtimmte Zeit, ward Wilhelm abgeholt und mit Vorſicht hinauf geführt. Die Art, mit der ihm die Baroneſſe in einem kleinen Kabinette entge¬ gen kam, erinnerte ihn einen Augenblick an70 vorige glückliche Zeiten. Sie brachte ihn in das Zimmer der Gräfin, und nun ging es an ein Fragen, an ein Unterſuchen. Er legte ſeinen Plan mit der möglichſten Wärme und Lebhaftigkeit vor, ſo daß die Damen dafür ganz eingenommen wurden, und unſere Leſer werden erlauben, daß wir ſie auch in der Kürze damit bekannt machen.
In einer ländlichen Scene ſollten Kinder das Stück mit einem Tanze eröfnen, der je¬ nes Spiel vorſtellte, wo eins herum gehen und dem andern einen Platz abgewinnen muß. Darauf ſollten ſie mit andern Scher¬ zen abwechſeln und zuletzt zu einem immer wiederkehrenden Reihentanze ein fröhliches Lied ſingen. Darauf ſollte der Harfner mit Mignon herbeykommen, Neugierde erregen und mehrere Landleute herbeylocken, der Alte ſollte verſchiedene Lieder zum Lobe des Frie¬ dens, der Ruhe, der Freude ſingen, und Mignon darauf den Eyertanz tanzen.
71In dieſer unſchuldigen Freude werden ſie durch eine kriegeriſche Muſik geſtört, und die Geſellſchaft von einem Trupp Soldaten über¬ fallen. Die Mannsperſonen ſetzen ſich zur Wehre und werden überwunden, die Mäd¬ chen fliehen und werden eingeholt. Es ſcheint alles im Getümmel zu Grunde zu gehen, als eine Perſon, über deren Be¬ ſtimmung der Dichter noch ungewiß war, herbey kommt und durch die Nachricht, daß der Heerführer nicht weit ſey, die Ruhe wieder herſtellt. Hier wird der Charakter des Helden mit den ſchönſten Zügen geſchil¬ dert, mitten unter den Waffen Sicherheit verſprochen, dem Übermuth und der Gewalt¬ thätigkeit Schranken geſetzt. Es wird ein allgemeines Feſt zu Ehren des großmüthigen Heerführers begangen.
Die Damen waren mit dem Plane ſehr zufrieden, nur behaupteten ſie, es müſſe noth¬72 wendig etwas Allegoriſches in dem Stücke ſeyn, um es dem Herrn Grafen angenehm zu machen. Der Baron that den Vorſchlag, den Anführer der Soldaten als den Genius der Zwietracht und der Gewaltthätigkeit zu bezeichnen; zuletzt aber müſſe Minerva her¬ bey kommen, ihm Feſſeln anzulegen, Nach¬ richt von der Ankunft des Helden zu geben und deſſen Lob zu preiſen. Die Baroneſſe übernahm das Geſchäft, den Grafen zu über¬ zeugen, daß der von ihm angegebene Plan, nur mit einiger Veränderung, ausgeführt worden ſey; dabey verlangte ſie ausdrück¬ lich: daß am Ende des Stücks nothwendig die Büſte, der verzogene Namen und der Fürſtenhut erſcheinen müßten, weil ſonſt alle Unterhandlung vergeblich ſeyn würde.
Wilhelm, der ſich ſchon im Geiſte vorge¬ ſtellt hatte, wie fein er ſeinen Helden aus dem Munde der Minerva preiſen wollte,73 gab nur nach langem Widerſtande in dieſem Punkte nach, allein er fühlte ſich auf eine ſehr angenehme Weiſe gezwungen. Die ſchönen Augen der Gräfin, und ihr liebens¬ würdiges Betragen hätten ihn gar leicht be¬ wogen, auch auf die ſchönſte und angenehm¬ ſte Erfindung, auf die ſo erwünſchte Einheit einer Compoſition und auf alle ſchickliche Details Verzicht zu thun, und gegen ſein poetiſches Gewiſſen zu handeln. Eben ſo ſtand auch ſeinem bürgerlichen Gewiſſen ein harter Kampf bevor, indem, bey beſtimmte¬ rer Austheilung der Rollen, die Damen aus¬ drücklich darauf beſtanden, daß er mitſpielen müſſe.
Laertes hatte zu ſeinem Theil jenen ge¬ waltthätigen Kriegsgott erhalten, Wilhelm ſollte den Anführer der Landleute vorſtellen, der einige ſehr artige und gefühlvolle Verſe zu ſagen hatte. Nachdem er ſich eine Zeit¬74 lang geſträubt, mußte er ſich endlich doch ergeben, beſonders fand er keine Entſchuldi¬ gung, da die Baroneſſe ihm vorſtellte, die Schaubühne hier auf dem Schloſſe ſey ohne¬ dem nur als ein Geſellſchaftstheater anzuſe¬ hen, auf dem ſie gern, wenn man nur eine ſchickliche Einleitung machen könnte, mitzu¬ ſpielen wünſchte. Darauf entließen die Da¬ men unſern Freund mit vieler Freundlichkeit. Die Baroneſſe verſicherte ihn, daß er ein unvergleichlicher Menſch ſey, und begleitete ihn bis an die kleine Treppe, wo ſie ihm mit einem Händedruck gute Nacht gab.
75Befeuert durch den aufrichtigen Antheil, den die Frauenzimmer an der Sache nahmen, ward der Plan, der ihm durch die Erzäh¬ lung gegenwärtiger geworden war, ganz le¬ bendig. Er brachte den größten Theil der Nacht und den andern Morgen mit der ſorg¬ fältigſten Verſification des Dialogs und der Lieder zu.
Er war ſo ziemlich fertig, als er in das neue Schloß gerufen wurde, wo er hörte, daß die Herrſchaft, die eben frühſtückte, ihn ſprechen wollte. Er trat in den Saal, die Baroneſſe kam ihm wieder zuerſt entgegen, und unter dem Vorwande, als wenn ſie ihm einen guten Morgen bieten wollte, liſpelte ſie heimlich zu ihm: Sagen Sie nichts von76 Ihrem Stücke, als was Sie gefragt wer¬ den.
Ich höre, rief ihm der Graf zu, Sie ſind recht fleißig und arbeiten an meinem Vor¬ ſpiele, das ich zu Ehren des Prinzen geben will. Ich billige, daß Sie eine Minerva darin anbringen wollen, und ich denke bey Zeiten darauf, wie die Göttin zu kleiden iſt, damit man nicht gegen das Koſtüme ver¬ ſtößt. Ich laſſe deswegen aus meiner Bi¬ bliothek alle Bücher herbeybringen, worin ſich das Bild derſelben befindet.
In eben dem Augenblicke traten einige Bediente mit großen Körben voll Büchern allerley Formats in den Saal.
Montfaucon, die Sammlungen antiker Statüen, Gemmen und Münzen, alle Arten mythologiſcher Schriften wurden aufgeſchla¬ gen und die Figuren verglichen. Aber auch daran war es noch nicht genug! Des Gra¬77 fen vortreffliches Gedächtniß ſtellte ihm alle Minerven vor, die etwa noch auf Titel¬ kupfern, Vignetten, oder ſonſt vorkommen mochten. Es mußte deßhalb ein Buch nach dem andern aus der Bibliothek herbeyge¬ ſchafft werden, ſo daß der Graf zuletzt in einem Haufen von Büchern ſaß. Endlich, da ihm keine Minerva mehr einfiel, rief er mit Lachen aus: Ich wollte wetten, daß nun keine Minerva mehr in der ganzen Biblio¬ thek ſey, und es möchte wohl das erſtemal vorkommen, daß eine Bücherſammlung ſo ganz und gar des Bildes ihrer Schutzgöttin entbehren muß.
Die ganze Geſellſchaft freute ſich über den Einfall, und beſonders Jarno, der den Grafen immer mehr Bücher herbeyzuſchaffen gereizt hatte, lachte ganz unmäßig.
Nunmehr, ſagte der Graf, indem er ſich zu Wilhelmen wendete, iſt es eine Haupt¬78 ſache, welche Göttin meynen Sie? Minerva oder Pallas? die Göttin des Krieges oder der Künſte? —
Sollte es nicht am ſchicklichſten ſeyn, Euere Excellenz, verſetzte Wilhelm, wenn man hierüber ſich nicht beſtimmt ausdrückte, und ſie, eben weil ſie in der Mythologie eine doppelte Perſon ſpielt, auch hier in dop¬ pelter Qualität erſcheinen ließe. Sie meldet einen Krieger an, aber nur um das Volk zu beruhigen, ſie preißt einen Helden, indem ſie ſeine Menſchlichkeit erhebt, ſie überwindet die Gewaltthätigkeit und ſtellt die Freude und Ruhe unter dem Volke wieder her.
Die Baroneſſe, der es bange wurde, Wil¬ helm möchte ſich verrathen, ſchob geſchwinde den Leibſchneider der Gräfin dazwiſchen, der ſeine Meinung abgeben mußte, wie ein ſol¬ cher antiker Rock auf das beſte gefertiget werden könnte. Dieſer Mann, in Masken¬79 arbeiten erfahren, wußte die Sache ſehr leicht zu machen, und da Madam Melina, ohn¬ geachtet ihrer hohen Schwangerſchaft, die Rolle der himmliſchen Jungfrau übernommen hatte, ſo wurde er angewieſen, ihr das Maas zu nehmen, und die Gräfin bezeichne¬ te, wiewohl mit einigem Unwillen ihrer Kammerjungfern, die Kleider aus der Gar¬ derobe, welche dazu verſchnitten werden ſollten.
Auf eine geſchickte Weiſe wußte die Ba¬ roneſſe Wilhelmen wieder bey Seite zu ſchaf¬ fen, und ließ ihn bald darauf wiſſen, ſie habe die übrigen Sachen auch beſorgt. Sie ſchickte ihm zugleich den Muſikum, der des Grafen Hauskapelle dirigirte, damit dieſer theils die nothwendigen Stücke komponiren, theils ſchickliche Melodien aus dem Muſik¬ vorrathe dazu ausſuchen ſollte. Nunmehr ging alles nach Wunſche, der Graf fragte80 dem Stücke nicht weiter nach, ſondern war hauptſächlich mit der transparenten Dekora¬ tion beſchäftigt, welche am Ende des Stük¬ kes die Zuſchauer überraſchen ſollte. Seine Erfindung und die Geſchicklichkeit ſeines Kon¬ ditors brachten zuſammen wirklich eine recht angenehme Erleuchtung zuwege. Denn auf ſeinen Reiſen hatte er die größten Feyerlich¬ keiten dieſer Art geſehen, viele Kupfer und Zeichnungen mitgebracht, und wußte, was dazu gehörte, mit vielem Geſchmacke anzu¬ geben.
Unterdeſſen endigte Wilhelm ſein Stück, gab einem jeden ſeine Rolle, übernahm die ſeinige, und der Muſikus, der ſich zugleich ſehr gut auf den Tanz verſtund, richtete das Ballet ein, und ſo ging alles zum beſten.
Nur ein unerwartetes Hinderniß legte ſich in den Weg, das ihm eine böſe Lücke zu machen drohte. Er hatte ſich den grö߬ten81ten Effekt von Mignons Eyertanze verſpro¬ chen, und wie erſtaunt war er daher, als das Kind ihm, mit ſeiner gewöhnlichen Trok¬ kenheit, abſchlug zu tanzen, verſicherte, es ſey nunmehr ſein und werde nicht mehr auf das Theater gehen. Er ſuchte es durch allerley Zureden zu bewegen, und ließ nicht eher ab, als bis es bitterlich zu weinen anfing, ihm zu Füßen fiel und rief: lieber Vater! bleib auch du von den Brettern! Er merkte nicht auf dieſen Wink, und ſann, wie er durch eine andere Wendung die Scene intereſſant machen wollte.
Philine, die eins von den Landmädchen machte, und in dem Reihentanz die einzelne Stimme ſingen und die Verſe dem Chore zubringen ſollte, freute ſich recht ausgelaſſen darauf. Übrigens ging ihr es vollkommen nach Wunſche, ſie hatte ihr beſonderes Zim¬ mer, war immer um die Gräfin, die ſie mitW. Meiſters Lehrj. F82ihren Affenpoſſen unterhielt, und dafür täg¬ lich etwas geſchenkt bekam. Ein Kleid zu dieſem Stücke wurde auch für ſie zurechte gemacht, und weil ſie von einer leichten nach¬ ahmenden Natur war, ſo hatte ſie ſich bald aus dem Umgange der Damen ſo viel ge¬ merkt, als ſich für ſie ſchickte, und war in kurzer Zeit voller Lebensart und guten Be¬ tragens geworden. Die Sorgfalt des Stall¬ meiſters nahm mehr zu als ab, und da die Offiziere auch ſtark auf ſie eindrangen, und ſie ſich in einem ſo reichlichen Elemente be¬ fand, fiel es ihr ein, auch einmal die Sprö¬ de zu ſpielen, und auf eine geſchickte Weiſe ſich in einem gewiſſen vornehmen Anſehn zu üben. Kalt und fein wie ſie war, kannte ſie in acht Tagen die Schwächen des ganzen Hauſes, daß, wenn ſie abſichtlich hätte ver¬ fahren können, ſie gar leicht ihr Glück wür¬ de gemacht haben. Allein auch hier bediente83 ſie ſich ihres Vortheils nur, um ſich zu belu¬ ſtigen, um ſich einen guten Tag zu machen und impertinent zu ſeyn, wo ſie merkte, daß es ohne Gefahr geſchehen konnte.
Die Rollen waren gelernt, eine Haupt¬ probe des Stücks ward befohlen, der Graf wollte dabey ſeyn, und ſeine Gemahlin fing an zu ſorgen, wie er es aufnehmen mögte? Die Baroneſſe berief Wilhelmen heimlich, und man zeigte, je näher die Stunde herbey rückte, immer mehr Verlegenheit: denn es war doch eben ganz und gar nichts von der Idee des Grafen übrig geblieben. Jarno, der eben herein trat, wurde in das Geheim¬ niß gezogen. Es freute ihn herzlich, und er war geneigt, ſeine gute Dienſte den Damen anzubieten. Es wäre gar ſchlimm, ſagte er, gnädige Frau, wenn Sie ſich aus dieſer Sache nicht allein heraus helfen wollten; doch auf alle Fälle will ich im HinterhalteF 284liegen bleiben. Die Baroneſſe erzählte hier¬ auf, wie ſie bisher dem Grafen das ganze Stück, aber nur immer ſtellenweiſe und ohne Ordnung erzählt habe, daß er alſo auf jedes Einzelne vorbereitet ſey, nur ſtehe er frey¬ lich in Gedanken, das Ganze werde mit ſei¬ ner Idee zuſammentreffen. Ich will mich, ſagte ſie, heute Abend in der Probe zu ihm ſetzen, und ihn zu zerſtreuen ſuchen. Den Konditor habe ich auch ſchon vorgehabt, daß er ja die Dekoration am Ende recht ſchön macht, dabey aber doch etwas geringes feh¬ len läßt.
Ich wüßte einen Hof, verſetzte Jarno, wo wir ſo thätige und kluge Freunde brauch¬ ten, als Sie ſind. Will es heut Abend mit Ihren Künſten nicht mehr fort, ſo winken Sie mir, und ich will den Grafen heraus holen, und ihn nicht eher wieder hinein laſ¬ ſen, bis Minerva auftritt, und von der Il¬85 lumination bald Sukkurs zu hoffen iſt. Ich habe ihm ſchon ſeit einigen Tagen etwas zu eröffnen, das ſeinen Vetter betrift, und das ich noch immer aus Urſachen aufgeſchoben habe. Es wird ihm auch das eine Distrak¬ tion geben, und zwar nicht die angenehmſte.
Einige Geſchäfte hinderten den Grafen, zu Anfange der Probe zu ſeyn, dann unter¬ hielt ihn die Baroneſſe. Jarnos Hülfe war gar nicht nöthig. Denn indem der Graf ge¬ nug zurecht zu weiſen, zu verbeſſern und an¬ zuordnen hatte, vergas er ſich ganz und gar darüber, und da Frau Melina zuletzt nach ſeinem Sinne ſprach, und die Illumination gut ausfiel, bezeigte er ſich vollkommen zu¬ frieden. Erſt als alles vorbey war, und man zum Spiele ging, ſchien ihm der Unter¬ ſchied aufzufallen, und er fing an nachzuden¬ ken, ob denn das Stück auch wirklich von ſeiner Erfindung ſey? Auf einen Wink fiel86 nun Jarno aus ſeinem Hinterhalte hervor, der Abend verging, die Nachricht, daß der Prinz wirklich komme, beſtätigte ſich, man ritt einigemal aus, die Avantgarde in der Nachbarſchaft kampiren zu ſehen, das Haus war voller Lärmen und Unruhe, und unſere Schauſpieler, die nicht immer zum beſten von den unwilligen Bedienten verſorgt wurden, mußten, ohne daß jemand ſonderlich ſich ihrer erinnerte, in dem alten Schloſſe ihre Zeit in Erwartungen und Übungen zu¬ bringen.
87Endlich war der Prinz angekommen, die Generalität, die Staabsofficiere und das übrige Gefolge, das zu gleicher Zeit eintraf, die vielen Menſchen, die theils zum Beſuche, theils geſchäftswegen einſprachen, machten das Schloß einem Bienenſtocke ähnlich, der eben ſchwärmen will. Jederman drängte ſich herbey, den vortrefflichen Fürſten zu ſe¬ hen, und jedermann bewunderte ſeine Leut¬ ſeligkeit und Herablaſſung, jedermann er¬ ſtaunte in dem Helden und Heerführer zu¬ gleich den gefälligſten Hofmann zu erblicken.
Alle Hausgenoſſen mußten nach Order des Grafen bey der Ankunft des Fürſten auf ihrem Poſten ſeyn, kein Schauſpieler durfte ſich blicken laſſen, weil der Prinz mit88 den vorbereiteten Feyerlichkeiten überraſcht werden ſollte, und ſo ſchien er auch des Abends, als man ihn in den großen wohl¬ erleuchteten und mit gewirkten Tapeten des vorigen Jahrhunderts ausgezierten Saal führte, ganz und gar nicht auf ein Schau¬ ſpiel, vielweniger auf ein Vorſpiel zu ſeinem Lobe, vorbereitet zu ſeyn. Alles lief auf das beſte ab, und die Truppe mußte nach vollen¬ deter Vorſtellung herbey und ſich dem Prin¬ zen zeigen, der jeden auf die freundlichſte Weiſe etwas zu fragen, jedem auf die gefäl¬ ligſte Art etwas zu ſagen wußte. Wilhelm als Autor mußte beſonders vortreten, und ihm ward gleichfalls ſein Theil Beyfall zu¬ geſpendet.
Nach dem Vorſpiele fragte niemand ſon¬ derlich, in einigen Tagen war es, als wenn nichts dergleichen wäre aufgeführt worden, außer daß Jarno mit Wilhelmen gelegent¬89 lich davon ſprach, und es ſehr verſtändig lobte, nur ſetzte er hinzu: es iſt Schade, daß Sie mit hohlen Nüſſen um hohle Nüſſe ſpie¬ len. — Mehrere Tage lag Wilhelmen die¬ ſer Ausdruck im Sinne, er wußte nicht, wie er ihn auslegen, noch was er daraus neh¬ men ſollte.
Unterdeſſen ſpielte die Geſellſchaft jeden Abend ſo gut, als ſie es nach ihren Kräften vermochte, und that das mögliche, um die Aufmerkſamkeit der Zuſchauer auf ſich zu ziehen. Ein unverdienter Beyfall munterte ſie auf, und in ihrem alten Schloſſe glaub¬ ten ſie nun wirklich, eigentlich um ihretwil¬ len dränge ſich die große Verſammlung her¬ bey, nach ihren Vorſtellungen ziehe ſich die Menge der Fremden, und ſie ſeyen der Mit¬ telpunkt, um den und um deswillen ſich al¬ les drehe und bewege.
Wilhelm allein bemerkte zu ſeinem großen90 Verdruſſe gerade das Gegentheil. Denn ob¬ gleich der Prinz die erſten Vorſtellungen von Anfange bis zu Ende auf ſeinem Seſſel ſitzend, mit der größten Gewiſſenhaftigkeit abwartete, ſo ſchien er ſich doch nach und nach auf eine gute Weiſe davon zu diſpenſi¬ ren. Gerade diejenigen, welche Wilhelm im Geſpräche als die Verſtändigſten gefunden hatte, Jarno an ihrer Spitze, brachten nur flüchtige Augenblicke im Theaterſaale zu, übrigens ſaßen ſie im Vorzimmer, ſpielten, oder ſchienen ſich von Geſchäften zu unter¬ halten.
Wilhelmen verdroß gar ſehr, bey ſeinen anhaltenden Bemühungen des erwünſchteſten Beyfalls zu entbehren. Bey der Auswahl der Stücke, der Abſchrift der Rollen, den häufigen Proben, und was ſonſt nur immer vorkommen konnte, ging er Melinen eifrig zur Hand, der ihn denn auch, ſeine eigene91 Unzulänglichkeit im ſtillen fühlend, zuletzt gewähren ließ. Die Rollen memorirte Wil¬ helm mit Fleiß, und trug ſie mit Wärme und Lebhaftigkeit, und mit ſo viel Anſtand vor, als die wenige Bildung erlaubte, die er ſich ſelbſt gegeben hatte.
Die fortgeſetzte Theilnahme des Barons benahm indeß der übrigen Geſellſchaft jeden Zweifel, indem er ſie verſicherte, daß ſie die größten Effekte hervorbringe, beſonders in¬ dem ſie eins ſeiner eigenen Stücke aufführ¬ te, nur bedauerte er, daß der Prinz eine ausſchließende Neigung für das franzöſiſche Theater habe, daß ein Theil ſeiner Leute hingegen, worunter ſich Jarno beſonders auszeichne, den Ungeheuren der engliſchen Bühne einen leidenſchaftlichen Vorzug gebe.
War nun auf dieſe Weiſe die Kunſt un¬ ſrer Schauſpieler nicht auf das beſte bemerkt und bewundert; ſo waren dagegen ihre Per¬92 ſonen den Zuſchauern und Zuſchauerinnen nicht völlig gleichgültig. Wir haben ſchon oben angezeigt, daß die Schauſpielerinnen gleich von Anfang die Aufmerkſamkeit jun¬ ger Officiere erregten; allein ſie waren in der Folge glücklicher, und machten wichtigere Eroberungen. Doch wir ſchweigen davon und bemerken nur, daß Wilhelm der Gräfin von Tag zu Tag intereſſanter vorkam, ſo wie auch in ihm eine ſtille Neigung gegen ſie aufzukeimen anfing. Sie konnte, wenn er auf dem Theater war, die Augen nicht von ihm abwenden, und er ſchien bald nur allein gegen ſie gerichtet zu ſpielen und zu rezitiren. Sich wechſelſeitig anzuſehen, war ihnen ein unausſprechliches Vergnügen, dem ſich ihre harmloſen Seelen ganz überließen, ohne lebhaftere Wünſche zu nähren, oder für irgend eine Folge beſorgt zu ſeyn.
Wie über einen Fluß hinüber, der ſie93 ſcheidet, zwey feindliche Vorpoſten ſich ruhig und luſtig zuſammen beſprechen, ohne an den Krieg zu denken, in welchen ihre beiderſeiti¬ gen Partheyen begriffen ſind: ſo wechſelte die Gräfin mit Wilhelm bedeutende Blicke über die ungeheure Kluft der Geburt und des Standes hinüber, und jedes glaubte an ſeiner Seite, ſicher ſeinen Empfindungen nach¬ hängen zu dürfen.
Die Baroneſſe hatte ſich indeſſen den Laertes ausgeſucht, der ihr als ein wackerer, munterer Jüngling beſonders wohlgefiel, und der, ſo ſehr Weiberfeind er war, doch ein vorbeygehendes Abentheuer nicht verſchmähe¬ te, und wirklich dießmal wider Willen durch die Leutſeligkeit und das einnehmende Weſen der Baroneſſe gefeſſelt worden wäre, hätte ihm der Baron zufällig nicht einen guten, oder, wenn man will, einen ſchlimmen Dienſt erzeigt, indem er ihn mit den Geſinnungen dieſer Dame näher bekannt machte.
94Denn als Laertes ſie einſt laut rühmte, und ſie allen andern ihres Geſchlechts vor¬ zog, verſetzte der Baron ſcherzend: ich merke ſchon wie die Sachen ſtehen, unſre liebe Freundin hat wieder einen für ihre Ställe gewonnen. Dieſes unglückliche Gleichniß, das nur zu klar auf die gefährlichen Liebko¬ ſungen einer Circe deutete, verdroß Laertes über die maaßen, und er konnte dem Baron nicht ohne Ärgerniß zuhören, der ohne Barm¬ herzigkeit fortfuhr:
Jeder Fremde glaubt, daß er der erſte ſey, dem ein ſo angenehmes Betragen gelte; aber er irrt gewaltig, denn wir alle ſind ein¬ mal auf dieſem Wege herum geführt wor¬ den; Mann, Jüngling oder Knabe, er ſey wer er ſey, muß ſich eine Zeitlang ihr erge¬ ben, ihr anhängen, und ſich mit Sehnſucht um ſie bemühen.
Den Glücklichen, der eben, in die Gärten95 einer Zauberin hinein tretend, von allen Se¬ ligkeiten eines künſtlichen Frühlings empfan¬ gen wird, kann nichts unangenehmer über¬ raſchen, als wenn ihm, deſſen Ohr ganz auf den Geſang der Nachtigall lauſcht, irgend ein verwandelter Vorfahr unvermuthet ent¬ gegen grunzt.
Laertes ſchämte ſich nach dieſer Entdek¬ kung recht von Herzen, daß ihn ſeine Eitel¬ keit nochmals verleitet habe, von irgend ei¬ ner Frau auch nur im mindeſten gut zu den¬ ken. Er vernachläſſigte ſie nunmehr völlig, hielt ſich zu dem Stallmeiſter, mit dem er fleißig focht und auf die Jagd ging; bey Proben und Vorſtellungen aber ſich betrug, als wenn dieß blos eine Nebenſache wäre.
Der Graf und die Gräfin ließen manch¬ mal morgens einige von der Geſellſchaft ru¬ fen, da jeder denn immer Philinens unver¬ dientes Glück zu beneiden Urſache fand. 96Der Graf hatte ſeinen Liebling, den Pedan¬ ten, oft Stundenlang bey ſeiner Toilette. Dieſer Menſch ward nach und nach beklei¬ det, und bis auf Uhr und Doſe equipirt und ausgeſtattet.
Auch wurde die Geſellſchaft manchmal ſammt und ſonders nach Tafel vor die ho¬ hen Herrſchaften gefordert. Sie ſchätzten ſich es zur größten Ehre, und bemerkten nicht, daß man zu eben derſelben Zeit durch Jäger und Bediente eine Anzahl Hunde hereinbringen, und Pferde im Schloßhofe vorführen ließ.
Man hatte Wilhelmen geſagt, daß er ja gelegentlich des Prinzen Liebling, Racine, loben, und dadurch auch von ſich eine gute Meinung erwecken ſolle. Er fand dazu an einem ſolchen Nachmittage Gelegenheit, da er auch mit vorgefordert worden war, und der Prinz ihn fragte, ob er auch fleißig diegroßen97großen franzöſiſchen Theaterſchriftſteller leſe? darauf ihm denn Wilhelm mit einem ſehr lebhaften Ja antwortete. Er bemerkte nicht, daß der Fürſt, ohne ſeine Antwort abzuwar¬ ten, ſchon im Begriff war ſich weg und zu jemand anders zu wenden, er faßte ihn viel¬ mehr ſogleich und trat ihm beynah in den Weg, indem er fortfuhr: er ſchätze das fran¬ zöſiſche Theater ſehr hoch und leſe die Werke der großen Meiſter mit Entzücken, beſonders habe er zu wahrer Freude gehört, daß der Fürſt den großen Talenten eines Racine völ¬ lige Gerechtigkeit wiederfahren laſſe. Ich kann es mir vorſtellen, fuhr er fort, wie vornehme und erhabene Perſonen einen Dich¬ ter ſchätzen müſſen, der die Zuſtände ihrer höheren Verhältniſſe ſo vortrefflich und rich¬ tig ſchildert. Corneille hat, wenn ich ſo ſa¬ gen darf, große Menſchen dargeſtellt, und Racine vornehme Perſonen. Ich kann mir,W. Meiſters Lehrj. G98wenn ich ſeine Stücke leſe, immer den Dich¬ ter denken, der an einem glänzenden Hofe lebt, einen großen König vor Augen hat, mit den Beſten umgeht, und in die Geheim¬ niſſe der Menſchheit dringt, wie ſie ſich hin¬ ter koſtbar gewürkten Tapeten verbergen. Wenn ich ſeinen Brittanikus, ſeine Berenice ſtudire, ſo kommt es mir wirklich vor, ich ſey am Hofe, ſey in das Große und Kleine dieſer Wohnungen der irrdiſchen Götter ein¬ geweyht, und ich ſehe, durch die Augen eines feinfühlenden Franzoſen, Könige, die eine gan¬ ze Nation anbetet, Hofleute, die von viel tau¬ ſenden beneidet werden, in ihrer natürlichen Ge¬ ſtalt mit ihren Fehlern und Schmerzen. Die Anekdote, daß Racine ſich zu Tode gegrämt habe, weil Ludwig der vierzehnte ihn nicht mehr angeſehen, ihn ſeine Unzufriedenheit fühlen laſſen, iſt mir ein Schlüſſel zu allen99 ſeinen Werken, und es iſt unmöglich, daß ein Dichter von ſo großen Talenten, deſſen Leben und Tod an den Augen eines Königes hängt, nicht auch Stücke ſchreiben ſolle, die des Beyfalls eines Königes und eines Für¬ ſten werth ſeyen.
Jarno war herbey getreten und hörte un¬ ſerem Freunde mit Verwunderung zu; der Fürſt, der nicht geantwortet und nur mit ei¬ nem gefälligen Blicke ſeinen Beyfall gezeigt hatte, wandte ſich ſeitwärts, obgleich Wil¬ helm, dem es noch unbekannt war, daß es nicht anſtändig ſey, unter ſolchen Umſtänden einen Diskurs fortſetzen und eine Materie erſchöpfen zu wollen, noch gerne mehr ge¬ ſprochen und dem Fürſten gezeigt hätte, daß er nicht ohne Nutzen und Gefühl ſeinen Lieb¬ lingsdichter geleſen.
Haben Sie denn niemals, ſagte Jarno,G 2100indem er ihn beyſeite nahm, ein Stück von Shakeſpearen geſehen?
Nein, verſetzte Wilhelm: denn ſeit der Zeit, daß ſie in Deutſchland bekannter ge¬ worden ſind, bin ich mit dem Theater unbe¬ kannt worden, und ich weiß nicht, ob ich mich freuen ſoll, daß ſich zufällig eine alte jugendliche Liebhaberey und Beſchäftigung gegenwärtig wieder erneuerte. Indeſſen hat mich alles, was ich von jenen Stücken ge¬ hört, nicht neugierig gemacht, ſolche ſeltſame Ungeheuer näher kennen zu lernen, die über alle Wahrſcheinlichkeit, allen Wohlſtand hin¬ auszuſchreiten ſcheinen.
Ich will Ihnen denn doch rathen, ver¬ ſetzte jener, einen Verſuch zu machen, es kann nichts ſchaden, wenn man auch das ſeltſame mit eigenen Augen ſieht. Ich will Ihnen ein Paar Theile borgen, und Sie können Ihre Zeit nicht beſſer anwenden, als wenn101 Sie ſich gleich von allen losmachen, und in der Einſamkeit Ihrer alten Wohnung in die Zauberlaterne dieſer unbekannten Welt ſehen. Es iſt ſündlich, daß Sie Ihre Stunden ver¬ derben, dieſe Affen menſchlicher auszuputzen, und dieſe Hunde tanzen zu lehren. Nur eins halte ich mir aus, daß Sie ſich an die Form nicht ſtoßen, das übrige kann ich Ihrem richtigen Gefühle überlaſſen.
Die Pferde ſtanden vor der Thüre, und Jarno ſetzte ſich mit einigen Cavalieren auf, um ſich mit der Jagd zu erluſtigen. Wil¬ helm ſah ihm traurig nach. Er hätte gerne mit dieſem Manne noch vieles geſprochen, der ihm, wiewohl auf eine unfreundliche Art, neue Ideen gab, Ideen deren er bedurfte.
Der Menſch kommt manchmal, indem er ſich einer Entwicklung ſeiner Kräfte, Fähig¬ keiten und Begriffe nähert, in eine Verlegen¬ heit, aus der ihm ein guter Freund leicht102 helfen könnte. Er gleicht einem Wanderer, der nicht weit von der Herberge ins Waſſer fällt; griffe jemand ſogleich zu, riſſe ihn ans Land, ſo wäre es um einmal naß werden gethan, anſtatt daß er ſich auch wohl ſelbſt, aber am jenſeitigen Ufer, heraus hilft, und einen beſchwerlichen weiten Umweg nach ſei¬ nem beſtimmten Ziele zu machen hat.
Wilhelm fing an zu wittern, daß es in der Welt anders zugehe, als er ſich es ge¬ dacht, er ſah das wichtige und bedeutungs¬ volle Leben der Vornehmen und Großen in der Nähe, und verwunderte ſich, wie einen leichten Anſtand ſie ihm zu geben wußten. Ein Heer auf dem Marſche, ein fürſtlicher Held an ſeiner Spitze, ſo viele mitwürkende Krieger, ſo viele zudringende Verehrer er¬ höhten ſeine Einbildungskraft. In dieſer Stimmung erhielt er die verſprochenen Bü¬103 cher, und in kurzem, wie man es vermuthen kann, ergriff ihn der Strom jenes großen Genius, und führte ihn einem unüberſehli¬ chen Meere zu, worin er ſich gar bald völ¬ lig vergaß und verlor.
104Das Verhältniß des Barons zu den Schau¬ ſpielern hatte ſeit ihrem Auffenthalte im Schloſſe verſchiedene Veränderungen erlitten. Im Anfange gereichte es zu beiderſeitiger Zufriedenheit: denn indem der Baron das erſtemal in ſeinem Leben eines ſeiner Stücke, mit denen er ein Geſellſchaftstheater ſchon belebt hatte, in den Händen wirklicher Schau¬ ſpieler und auf dem Wege zu einer anſtän¬ digen Vorſtellung ſah, war er von dem be¬ ſten Humor, bewies ſich freygebig, und kauf¬ te bey jedem Galanteriehändler, deren ſich manche einſtellten, kleine Geſchenke für die Schauſpielerinnen, und wußte den Schau¬ ſpielern manche Bouteille Champagner extra zu verſchaffen; dagegen gaben ſie ſich auch105 mit ſeinen Stücken alle Mühe, und Wil¬ helm ſparte keinen Fleiß, die herrlichen Reden des vortrefflichen Helden, deſſen Rolle ihm zugefallen war, auf das genauſte zu memo¬ riren.
Indeſſen hatten ſich doch auch nach und nach einige Mißhelligkeiten eingeſchlichen. Die Vorliebe des Barons für gewiſſe Schau¬ ſpieler wurde von Tag zu Tag merklicher, und nothwendig mußte dieß die übrigen ver¬ drießen. Er erhob ſeine Günſtlinge ganz ausſchließlich, und brachte dadurch Eiferſucht und Uneinigkeit unter die Geſellſchaft. Me¬ lina, der ſich bey ſtreitigen Fällen ohnedem nicht zu helfen wußte, befand ſich in einem ſehr unangenehmen Zuſtande. Die Geprieſe¬ nen nahmen das Lob an, ohne ſonderlich dankbar zu ſeyn, und die Zurückgeſetzten ließen auf allerley Weiſe ihren Verdruß ſpühren, und wußten ihrem erſt hochverehr¬106 ten Gönner den Aufenthalt unter ihnen auf eine oder die andere Weiſe unangenehm zu machen, ja es war ihrer Schadenfreude keine geringe Nahrung, als ein gewiſſes Gedicht, deſſen Verfaſſer man nicht kannte, im Schloſſe viele Bewegung verurſachte. Bisher hatte man ſich immer, doch auf eine ziemlich feine Weiſe, über den Umgang des Barons mit den Comödianten aufgehalten, man hatte allerley Geſchichten auf ihn gebracht, gewiſſe Vorfälle ausgeputzt, und ihnen eine luſtige und intereſſante Geſtalt gegeben. Zuletzt fing man an zu erzählen, es entſtehe eine Art von Handwerksneid zwiſchen ihm und einigen Schauſpielern, die ſich auch einbilde¬ ten, Schriftſteller zu ſeyn, und auf dieſe Sage gründet ſich das Gedicht, von welchem wir ſprachen, und welches lautete wie folgt:
Die Stimmen über dieſes Gedicht, das in einigen faſt unleſerlichen Abſchriften ſich in verſchiedenen Händen befand, waren ſehr ge¬108 theilt, auf den Verfaſſer aber wußte niemand zu muthmaßen, und als man mit einiger Schadenfreude ſich darüber zu ergötzen an¬ fing, erklärte ſich Wilhelm ſehr dagegen.
Wir Deutſchen, rief er aus, verdienten, daß unſre Muſen in der Verachtung blieben, in der ſie ſo lange geſchmachtet haben, da wir nicht Männer von Stande zu ſchätzen wiſſen, die ſich mit unſrer Litteratur auf ir¬ gend eine Weiſe abgeben mögen. Geburt, Stand und Vermögen ſtehen in keinem Wi¬ derſpruch mit Genie und Geſchmack, das ha¬ ben uns fremde Nationen gelehrt, welche unter ihren beſten Köpfen eine große Anzahl Edelleute zählen. War es bisher in Deutſch¬ land ein Wunder, wenn ein Mann von Ge¬ burt ſich den Wiſſenſchaften widmete, wurden bisher nur weniger berühmte Nahmen durch ihre Neigung zu Kunſt und Wiſſenſchaft noch berühmter; ſtiegen dagegen manche aus109 der Dunkelheit hervor, und traten wie unbe¬ kannte Sterne an den Horizont, ſo wird das nicht immer ſo ſeyn, und wenn ich mich nicht ſehr irre, ſo iſt die erſte Klaſſe der Nation auf dem Wege, ſich ihrer Vortheile auch zu Erringung des ſchönſten Kranzes der Muſen in Zukunft zu bedienen. Es iſt mir daher nichts unangenehmer, als wenn ich nicht al¬ lein den Bürger oft über den Edelmann, der die Muſen zu ſchätzen weiß, ſpotten, ſondern auch Perſonen von Stande ſelbſt mit un¬ überlegter Laune und niemals zu billigender Schadenfreude ihres Gleichen von einem Wege abſchrecken ſehe, auf dem einen jeden Ehre und Zufriedenheit erwartet.
Es ſchien die letzte Äuſſerung gegen den Grafen gerichtet zu ſeyn, von welchem Wil¬ helm gehört hatte, daß er das Gedicht wirk¬ lich gut finde. Freylich war dieſem Herrn, der immer auf ſeine Art mit dem Baron zu110 ſcherzen pflegte, ein ſolcher Anlaß ſehr er¬ wünſcht, ſeinen Verwandten auf alle Weiſe zu plagen. Jedermann hatte ſeine eigne Muthmaßungen, wer der Verfaſſer des Ge¬ dichtes ſeyn könnte, und der Graf, der ſich nicht gern im Scharfſinn von jemand über¬ troffen ſah, fiel auf einen Gedanken, den er ſogleich zu beſchwören bereit war: das Ge¬ dicht könne ſich nur von ſeinem Pedanten herſchreiben, der ein ſehr feiner Burſche ſey, und an dem er ſchon lange ſo etwas poeti¬ ſches Genie gemerkt habe. Um ſich ein rech¬ tes Vergnügen zu machen, ließ er deswegen an einem Morgen dieſen Schauſpieler rufen, der ihm in Gegenwart der Gräfin, der Ba¬ roneſſe und Jarnos das Gedicht nach ſeiner Art vorleſen mußte, und dafür Lob, Beyfall und ein Geſchenk einerndtete, und die Frage des Grafen, ob er nicht ſonſt noch einige Gedichte von früheren Zeiten beſitze? mit111 Klugheit abzulehnen wußte. So kam der Pedant zum Rufe eines Dichters, eines Witz¬ lings, und in den Augen derer, die dem Ba¬ ron günſtig waren, eines Pasquillanten und ſchlechten Menſchen. Von der Zeit an ap¬ plaudirte ihn der Graf nur immer mehr, er mochte ſeine Rolle ſpielen wie er wollte, ſo daß der arme Menſch zuletzt aufgeblaſen, ja beynahe verrückt wurde, und darauf ſann, gleich Philinen ein Zimmer im neuen Schloſſe zu beziehen.
Wäre dieſer Plan ſogleich zu vollführen geweſen, ſo möchte er einen großen Unfall vermieden haben. Denn als er eines Abends ſpät nach dem alten Schloſſe ging, und in dem dunkeln engen Wege herum tappte, ward er auf einmal angefallen, von einigen Perſonen feſtgehalten, indeſſen andere auf ihn wacker losſchlugen, und ihn im Finſtern ſo zerdraſchen, daß er beynahe liegen blieb,112 und nur mit Mühe zu ſeinen Kameraden hinauf kroch, die, ſo ſehr ſie ſich entrüſtet ſtellten, über dieſen Unfall ihre heimliche Freude fühlten, und ſich kaum des Lachens erwehren konnten, als ſie ihn ſo wohl durch¬ walkt und ſeinen neuen braunen Rock über und über weiß, als wenn er mit Müllern Händel gehabt, beſtäubt und befleckt ſahen.
Der Graf, der ſogleich hiervon Nachricht erhielt, brach in einen unbeſchreiblichen Zorn aus. Er behandelte dieſe That als das größte Verbrechen, qualifizirte ſie zu einem beleidigten Burgfrieden, und ließ durch ſei¬ nen Gerichtshalter die ſtrengſte Inquiſition vornehmen. Der weißbeſtäubte Rock ſollte eine Hauptanzeige geben. Alles was nur irgend mit Puder und Mehl im Schloſſe zu ſchaffen haben konnte, wurde mit in die Un¬ terſuchung gezogen, jedoch vergebens.
Der Baron verſicherte bey ſeiner Ehrefeyer¬113feyerlich: jene Art zu ſcherzen habe ihm frey¬ lich ſehr mißfallen, und das Betragen des Herrn Grafen ſey nicht das freundſchaftlich¬ ſte geweſen, aber er habe ſich darüber hin¬ auszuſetzen gewußt, und an dem Unfall, der dem Poeten oder Pasquillanten, wie man ihn nennen wolle, begegnet, habe er nicht den mindeſten Antheil.
Die übrigen Bewegungen der Fremden und die Unruhe des Hauſes brachten bald die ganze Sache in Vergeſſenheit, und der unglückliche Günſtling mußte das Vergnügen, fremde Federn eine kurze Zeit getragen zu haben, theuer bezahlen.
Unſere Truppe, die regelmäßig alle Aben¬ de fortſpielte, und im Ganzen ſehr wohl ge¬ halten wurde, fing nun an, je beſſer es ihr ging, deſto größere Anforderungen zu machen. In kurzer Zeit war ihnen Eſſen, Trinken, Aufwartung, Wohnung zu gering, und ſieW. Meiſters Lehrj. H114lagen ihrem Beſchützer, dem Baron, an, daß er für ſie beſſer ſorgen, und ihnen zu dem Genuſſe und der Bequemlichkeit, die er ihnen verſprochen, doch endlich verhelfen ſolle. Ihre Klagen wurden lauter, und die Bemühungen ihres Freundes, ihnen genug zu thun, immer fruchtloſer.
Wilhelm kam indeſſen, auſſer in Proben und Spielſtunden, wenig mehr zum Vor¬ ſcheine. In einem der hinterſten Zimmer verſchloſſen, wozu nur Mignon und dem Harfner der Zutritt gerne verſtattet wurde, lebte und webte er in der ſhakeſpeariſchen Welt, ſo daß er auſſer ſich nichts kannte noch empfand.
Man erzählt von Zauberern, die durch magiſche Formeln eine ungeheure Menge al¬ lerley geiſtiger Geſtalten in ihre Stube her¬ beyziehen. Die Beſchwörungen ſind ſo kräf¬ tig, daß ſich bald der Raum des Zimmers115 ausfüllt, und die Geiſter bis an den kleinen gezogenen Kreis hinan gedrängt, um denſel¬ ben und über dem Haupte des Meiſters in ewig drehender Verwandlung ſich bewegend vermehren. Jeder Winkel iſt vollgepfropft, und jedes Geſims beſetzt, Eier dehnen ſich aus und Rieſengeſtalten ziehen ſich in Pil¬ zen zuſammen. Unglücklicher Weiſe hat der Schwarzkünſtler das Wort vergeſſen, womit er dieſe Geiſterfluth wieder zur Ebbe bringen könnte. — So ſaß Wilhelm, und mit un¬ bekannter Bewegung wurden tauſend Em¬ pfindungen und Fähigkeiten in ihm rege, von denen er keinen Begrif und keine Ahn¬ dung gehabt hatte. Nichts konnte ihn aus dieſem Zuſtande reiſſen, und er war ſehr un¬ zufrieden, wenn irgend jemand zu kommen Gelegenheit nahm, um ihn von dem, was auswärts vorging, zu unterhalten.
So merkte er kaum auf, als man ihmH 2116die Nachricht brachte, es ſollte in dem Schlo߬ hof eine Execution vorgehen und ein Knabe geſtäupt werden, der ſich eines nächtlichen Einbruchs verdächtig gemacht habe, und da er den Rock eines Perückenmachers trage, wahrſcheinlich mit unter den Meuchelmördern geweſen ſey. Der Knabe läugne zwar auf das hartnäckigſte, und man könne ihn des¬ wegen nicht förmlich beſtrafen, wolle ihm aber als einem Vagabunden einen Denkzettel geben und ihn weiter ſchicken, weil er einige Tage in der Gegend herumgeſchwärmt ſey, ſich des Nachts in den Mühlen aufgehalten, endlich eine Leiter an die Gartenmauer an¬ gelehnt habe, und herüber geſtiegen ſey.
Wilhelm fand an dem ganzen Handel nichts ſonderlich merkwürdig, als Mignon haſtig herein kam und ihn verſicherte, der Gefangene ſey Friedrich, der ſich ſeit den Händeln mit dem Stallmeiſter von der Ge¬117 ſellſchaft und aus unſern Augen verlohren hatte.
Wilhelm, den der Knabe intereſſirte, machte ſich eilends auf, und fand im Schlo߬ hofe ſchon Zurüſtungen. Denn der Graf liebte die Feyerlichkeit auch in dergleichen Fällen. Der Knabe wurde herbeygebracht. Wilhelm trat dazwiſchen und bat, daß man inne hal¬ ten mögte, indem er den Knaben kenne, und vorher erſt verſchiedenes ſeinetwegen anzu¬ bringen habe. Er hatte Mühe mit ſeinen Vorſtellungen durchzudringen, und erhielt endlich die Erlaubniß, mit dem Delinquenten allein zu ſprechen. Dieſer verſicherte, von dem Überfalle, bey dem ein Akteur ſollte gemißhandelt worden ſeyn, wiſſe er gar nichts. Er ſey nur um das Schloß herum geſtreift, und des Nachts herein geſchlichen, um Phi¬ linen aufzuſuchen, deren Schlafzimmer er ausgekundſchaftet gehabt, und es auch gewiß118 würde getroffen haben, wenn er nicht unter¬ wegens aufgefangen worden wäre.
Wilhelm, der, zur Ehre der Geſellſchaft, das Verhältniß nicht gerne entdecken wollte, eilte zu dem Stallmeiſter und bat ihn, nach ſeiner Kenntniß der Perſonen und des Hau¬ ſes, dieſe Angelegenheit zu vermitteln, und den Knaben zu befreyen.
Dieſer launigte Mann erdachte, unter Wilhelms Beyſtand, eine kleine Geſchichte, daß der Knabe zur Truppe gehört habe, von ihr entlaufen ſey, doch wieder gewünſcht, ſich bey ihr einzufinden und aufgenommen zu werden. Er habe deswegen die Abſicht ge¬ habt, bey Nachtzeit einige ſeiner Gönner aufzuſuchen, und ſich ihnen zu empfehlen. Man bezeugte übrigens, daß er ſich ſonſt gut aufgeführt, die Damen miſchten ſich darein, und er ward entlaſſen.
Wilhelm nahm ihn auf, und er war nun¬119 mehr die dritte Perſon der wunderbaren Fa¬ milie, die Wilhelm ſeit einiger Zeit als ſeine eigene anſah. Der Alte und Mignon nah¬ men den Wiederkehrenden freundlich auf, und alle drey verbanden ſich nunmehr, ihrem Freunde und Beſchützer aufmerkſam zu die¬ nen, und ihm etwas angenehmes zu erzeigen.
120Philine wußte ſich nun täglich beſſer bey den Damen einzuſchmeicheln. Wenn ſie zuſam¬ men allein waren, leitete ſie meiſtentheils das Geſpräch auf die Männer, die kamen und gingen, und Wilhelm war nicht der letzte, mit dem man ſich beſchäftigte. Dem klugen Mäd¬ chen blieb es nicht verborgen, daß er einen tiefen Eindruck auf das Herz der Gräfin ge¬ macht habe; ſie erzählte daher von ihm was ſie wußte und nicht wußte; hütete ſich aber irgend etwas vorzubringen, das man zu ſei¬ nem Nachtheil hätte deuten können, und rühmte dagegen ſeinen Edelmuth, ſeine Frey¬ gebigkeit und beſonders ſeine Sittſamkeit im Betragen gegen das weibliche Geſchlecht. Alle übrigen Fragen, die an ſie geſchahen, be¬121 antwortete ſie mit Klugheit, und als die Ba¬ roneſſe die zunehmende Neigung ihrer ſchö¬ nen Freundin bemerkte, war auch ihr dieſe Entdeckung ſehr willkommen. Denn ihre Verhältniſſe zu mehreren Männern, beſon¬ ders in dieſen letzten Tagen zu Jarno, blie¬ ben der Gräfin nicht verborgen, deren reine Seele einen ſolchen Leichtſinn nicht ohne Mißbilligung und ohne ſanften Tadel bemer¬ ken konnte.
Auf dieſe Weiſe hatte die Baroneſſe ſo¬ wohl als Philine, jede ein beſonderes Inter¬ eſſe, unſern Freund der Gräfin näher zu bringen, und Philine hoffte noch überdieß bey Gelegenheit, wieder für ſich zu arbeiten, und die verlohrne Gunſt des jungen Man¬ nes ſich wo möglich wieder zu erwerben.
Eines Tags, als der Graf mit der übri¬ gen Geſellſchaft auf die Jagd geritten war, und man die Herren erſt den andern Mor¬122 gen zurück erwartete, erſann ſich die Baro¬ neſſe einen Scherz, der völlig in ihrer Art war, denn ſie liebte die Verkleidungen und kam, um die Geſellſchaft zu überraſchen, bald als Bauermädchen, bald als Page, bald als Jägerburſche zum Vorſchein. Sie gab ſich dadurch das Anſehn einer kleinen Fee, die überall, und gerade da, wo man ſie am we¬ nigſten vermuthet, gegenwärtig iſt. Nichts glich ihrer Freude, wenn ſie unerkannt eine Zeitlang die Geſellſchaft bedient, oder ſonſt unter ihr gewandelt hatte, und ſie ſich zu¬ letzt auf eine ſcherzhafte Weiſe zu entdecken wußte.
Gegen Abend ließ ſie Wilhelmen auf ihr Zimmer fordern, und da ſie eben noch etwas zu thun hatte, ſollte Philine ihn vorbereiten.
Er kam und fand nicht ohne Verwunde¬ rung, ſtatt der gnädigen Frauen, das leicht¬ fertige Mädchen im Zimmer. Sie begegnete123 ihm mit einer gewiſſen anſtändigen Freymü¬ thigkeit, in der ſie ſich bisher geübt hatte, und nöthigte ihn dadurch gleichfalls zur Höflichkeit.
Zuerſt ſcherzte ſie im Allgemeinen über das gute Glück, das ihn verfolge, und ihn auch, wie ſie wohl merke, gegenwärtig hier¬ her gebracht habe, ſodann warf ſie ihm auf eine angenehme Art ſein Betragen vor, wo¬ mit er ſie bisher gequält habe, ſchalt und beſchuldigte ſich ſelbſt, geſtand, daß ſie ſonſt wohl ſo ſeine Begegnung verdient, machte eine ſo aufrichtige Beſchreibung ihres Zuſtan¬ des, den ſie den vorigen nannte, und ſetzte hinzu: daß ſie ſich ſelbſt verachten müſſe, wenn ſie nicht fähig wäre ſich zu ändern, und ſich ſeiner Freundſchaft werth zu machen.
Wilhelm war über dieſe Rede betroffen. Er hatte zu wenig Kenntniß der Welt, um zu wiſſen, daß eben ganz leichtſinnige und124 der Beſſerung unfähige Menſchen ſich oft am lebhafteſten anklagen, ihre Fehler mit großer Freymüthigkeit bekennen und bereuen, ob ſie gleich nicht die mindeſte Kraft in ſich haben, von dem Wege zurück zu treten, auf den eine übermächtige Natur ſie hinreißt. Er konnte daher nicht unfreundlich gegen die zierliche Sünderin bleiben; er ließ ſich mit ihr in ein Geſpräch ein, und vernahm von ihr den Vorſchlag zu einer ſonderbaren Ver¬ kleidung, womit man die ſchöne Gräfin zu überraſchen gedachte.
Er fand dabey einiges Bedenken, das er Philinen nicht verheelte; allein die Baroneſ¬ ſe, welche in dem Augenblick herein trat, ließ ihm keine Zeit zu Zweifeln übrig, ſie zog ihn vielmehr mit ſich fort, indem ſie ver¬ ſicherte, es ſey eben die rechte Stunde.
Es war dunkel geworden, und ſie führte ihn in die Garderobe des Grafen, ließ ihn125 ſeinen Rock ausziehen, und in den ſeidnen Schlafrock des Grafen hinein ſchlupfen, ſetzte ihm darauf die Mütze mit dem rothen Ban¬ de auf, führte ihn ins Kabinet und hieß ihn, ſich in den großen Seſſel ſetzen und ein Buch nehmen, zündete die argantiſche Lampe ſelbſt an, die vor ihm ſtand, und unterrichtete ihn, was er zu thun, und was er für eine Rolle zu ſpielen habe.
Man werde, ſagte ſie, der Gräfin die unvermuthete Ankunft ihres Gemahls, und ſeine üble Laune ankündigen, ſie werde kom¬ men, einigemal im Zimmer auf und abgehn, ſich alsdann auf die Lehne des Seſſels ſetzen, ihren Arm auf ſeine Schulter legen, und ei¬ nige Worte ſprechen. Er ſolle ſeine Ehmanns¬ rolle ſo lange und ſo gut als möglich ſpielen, wenn er ſich aber endlich entdecken müßte, ſo ſolle er hübſch artig und galant ſeyn.
Wilhelm ſaß nun unruhig genug in die¬126 ſer wunderlichen Maske, der Vorſchlag hat¬ te ihn überraſcht, und die Ausführung eilte der Überlegung zuvor. Schon war die Ba¬ roneſſe wieder zum Zimmer hinaus, als er erſt bemerkte, wie gefährlich der Poſten war, den er eingenommen hatte. Er leugnete ſich nicht, daß die Schönheit, die Jugend, die Anmuth der Gräfin einigen Eindruck auf ihn gemacht hatten; allein da er ſeiner Na¬ tur nach von aller leeren Galanterie weit entfernt war, und ihm ſeine Grundſätze einen Gedanken an ernſthaftere Unternehmungen nicht erlaubten, ſo war er wirklich in dieſem Augenblicke in nicht geringer Verlegenheit. Die Furcht, der Gräfin zu mißfallen, oder ihr mehr als billig zu gefallen, war gleich groß bey ihm.
Jeder weibliche Reiz, der jemals auf ihn gewirkt hatte, zeigte ſich wieder vor ſeiner Einbildungskraft. Mariane erſchien ihm im127 weißen Morgenkleide, und flehte um ſein Andenken. Philinens Liebenswürdigkeit, ihre ſchönen Haare, und ihr einſchmeichelndes Be¬ tragen waren durch ihre neuſte Gegenwart wieder wirkſam geworden, doch alles trat wie hinter den Flor der Entfernung zurück, wenn er ſich die edle, blühende Gräfin dachte, de¬ ren Arm er in wenig Minuten an ſeinem Halſe fühlen ſollte, deren unſchuldige Liebko¬ ſungen er zu erwiedern aufgefordert war.
Die ſonderbare Art, wie er aus dieſer Verlegenheit ſollte gezogen werden, ahndete er freylich nicht. Denn wie groß war ſein Erſtaunen, ja ſein Schrecken, als hinter ihm die Thüre ſich aufthat, und er bey dem er¬ ſten verſtohlnen Blick, den er in den Spiegel warf, den Grafen ganz deutlich erblickte, der mit einem Lichte in der Hand herein trat. Sein Zweifel, was er zu thun habe, ob er ſitzen bleiben oder aufſtehen, fliehen, beken¬128 nen, leugnen oder um Vergebung bitten ſolle, dauerte nur einige Augenblicke. Der Graf, der unbeweglich in der Thüre ſtehen geblie¬ ben war, trat zurück und machte ſie ſachte zu. In dem Moment ſprang die Baroneſſe zur Seitenthüre herein, löſchte die Lampe aus, riß Wilhelmen vom Stuhle, und zog ihn nach ſich in das Kabinet. Geſchwind warf er den Schlafrock ab, der ſogleich wie¬ der ſeinen gewöhnlichen Platz erhielt. Die Baroneſſe nahm Wilhelms Rock über den Arm, und eilte mit ihm durch einige Stuben, Gänge und Verſchläge in ihr Zimmer, wo Wilhelm, nachdem ſie ſich erhohlt hatte, von ihr vernahm: ſie ſey zu der Gräfin gekom¬ men, um ihr die erdichtete Nachricht von der Ankunft des Grafen zu bringen. Ich weiß es ſchon, ſagte die Gräfin: was mag wohl begegnet ſeyn? Ich habe ihn ſo eben zum Seitenthore herein reiten ſehen. Erſchrockenſey129ſey die Baroneſſe ſogleich auf des Grafen Zimmer gelaufen, um ihn abzuholen.
Unglücklicherweiſe ſind Sie zu ſpät ge¬ kommen! rief Wilhelm aus. Der Graf war vorhin im Zimmer, und hat mich ſitzen ſehen.
Hat er Sie erkannt?
Ich weis es nicht. Er ſah mich im Spie¬ gel, ſo wie ich ihn, und eh’ ich wußte, ob es ein Geſpenſt oder er ſelbſt war, trat er ſchon wieder zurück, und drückte die Thüre hinter ſich zu.
Die Verlegenheit der Baroneſſe vermehrte ſich, als ein Bedienter ſie zu rufen kam, und anzeigte, der Graf befinde ſich bey ſeiner Gemahlin. Mit ſchwerem Herzen ging ſie hin, und fand den Grafen zwar ſtill und in ſich gekehrt, aber in ſeinen Äuſſerungen mil¬ der und freundlicher als gewöhnlich. Sie wußte nicht, was ſie denken ſollte. Man ſprach von den Vorfällen der Jagd und denW. Meiſters Lehrj. I130Urſachen ſeiner früheren Zurückkunft. Das Geſpräch ging bald aus. Der Graf ward ſtille, und beſonders mußte der Baroneſſe auffallen, als er nach Wilhelmen fragte, und den Wunſch äuſſerte: man möchte ihn rufen laſſen, damit er etwas vorleſe.
Wilhelm, der ſich im Zimmer der Baro¬ neſſe wieder angekleidet und einigermaßen erholt hatte, kam nicht ohne Sorgen auf den Befehl herbey. Der Graf gab ihm ein Buch, aus welchem er eine abentheuerliche Novelle nicht ohne Beklemmung vorlas. Sein Ton hatte etwas Unſicheres, Zitterndes, das ſich glücklicherweiſe zu dem Inhalt der Geſchichte ſchickte. Der Graf gab einigemal freundliche Zeichen des Beyfalls, und lobte den beſondern Ausdruck der Vorleſung, da er zuletzt unſern Freund entließ.
131Wilhelm hatte kaum einige Stücke Sha¬ keſpears geleſen, als ihre Wirkung auf ihn ſo ſtark wurde, daß er weiter fortzufahren nicht im Stande war. Seine ganze Seele gerieth in Bewegung. Er ſuchte Gelegenheit, mit Jarno zu ſprechen, und konnte ihm nicht genug für die verſchafte Freude danken.
Ich habe es wohl vorausgeſehen, ſagte dieſer, daß Sie gegen die Trefflichkeiten des auſſerordentlichſten und wunderbarſten aller Schriftſteller nicht unempfindlich bleiben wür¬ den.
Ja, rief Wilhelm aus, ich erinnere mich nicht, daß ein Buch, ein Menſch oder irgend eine Begebenheit des Lebens ſo große Wir¬ kungen auf mich hervorgebracht hätte, alsI 2132die köſtlichen Stücke, die ich durch Ihre Gü¬ tigkeit habe kennen lernen. Sie ſcheinen ein Werk eines himmliſchen Genius zu ſeyn, der ſich den Menſchen nähert, um ſie mit ſich ſelbſt auf die gelindeſte Weiſe bekannt zu machen. Es ſind keine Gedichte! man glaubt vor den aufgeſchlagenen, ungeheuren Bü¬ chern des Schickſals zu ſtehen, in denen der Sturmwind des bewegteſten Lebens ſauſt, und ſie mit Gewalt raſch hin und wieder blättert. Ich bin über die Stärke und Zart¬ heit, über die Gewalt und Ruhe ſo erſtaunt, und auſſer aller Faſſung gebracht, daß ich nur mit Sehnſucht auf die Zeit warte, da ich mich in einem Zuſtande befinden werde, weiter zu leſen.
Bravo, ſagte Jarno, indem er unſerm Freunde die Hand reichte und ſie ihm drück¬ te, ſo wollte ich es haben! und die Folgen, die ich hoffe, werden gewiß auch nicht aus¬ bleiben. —
133Ich wünſchte, verſetzte Wilhelm, daß ich Ihnen alles, was gegenwärtig in mir vor¬ geht, entdecken könnte! Alle Vorgefühle, die ich jemals über Menſchheit und ihre Schick¬ ſale gehabt, die mich von Jugend auf, mir ſelbſt unbemerkt, begleiteten, finde ich in Shakeſpears Stücken erfüllt und entwickelt. Es ſcheint, als wenn er uns alle Räthſel offenbarte, ohne daß man doch ſagen kann: hier oder da iſt das Wort der Auflöſung. Seine Menſchen ſcheinen natürliche Men¬ ſchen zu ſeyn, und ſie ſind es doch nicht. Dieſe geheimnißvollſten und zuſammenge¬ ſetzteſten Geſchöpfe der Natur handeln vor uns in ſeinen Stücken, als wenn ſie Uhren wären, deren Zifferblatt und Gehäuſe man von Kriſtall gebildet hätte, ſie zeigen nach ihrer Beſtimmung den Lauf der Stunden an, und man kann zugleich das Räder - und Fe¬ derwerk erkennen, das ſie treibt. Dieſe we¬134 nigen Blicke, die ich in Shakeſpears Welt gethan, reizen mich mehr als irgend etwas anders, in der wirklichen Welt ſchnellere Forſchritte vorwärts zu thun, mich in die Fluth der Schickſale zu miſchen, die über ſie verhängt ſind, und dereinſt, wenn es mir glücken ſollte, aus dem großen Meere der wahren Natur wenige Becher zu ſchöpfen, und ſie von der Schaubühne dem lechzenden Publikum meines Vaterlandes auszuſpenden.
Wie freut mich die Gemüthsverfaſſung, in der ich Sie ſehe, verſetzte Jarno, und legte dem bewegten Jüngling die Hand auf die Schulter. Laſſen Sie den Vorſatz nicht fahren, in ein thätiges Leben überzugehen, und eilen Sie die guten Jahre, die Ihnen gegönnt ſind, wacker zu nutzen. Kann ich Ihnen behülflich ſeyn, ſo geſchieht es von ganzem Herzen. Noch habe ich nicht ge¬ fragt, wie Sie in dieſe Geſellſchaft gekom¬135 men ſind, für die Sie weder gebohren noch erzogen ſeyn können. So viel hoffe ich und ſehe ich, daß Sie ſich heraus ſehnen. Ich weiß nichts von Ihrer Herkunft, von Ihren häuslichen Umſtänden, überlegen Sie, was Sie mir vertrauen wollen. So viel kann ich Ihnen nur ſagen, die Zeiten des Krieges, in denen wir leben, können ſchnelle Wechſel des Glückes hervorbringen; mögen Sie Ihre Kräfte und Talente unſerm Dienſte widmen, Mühe, und wenn es Noth thut, Gefahr nicht ſcheuen, ſo habe ich eben jetzo eine Ge¬ legenheit, Sie an einen Platz zu ſtellen, den eine Zeitlang bekleidet zu haben, Sie in der Folge nicht gereuen wird. Wilhelm konnte ſeinen Dank nicht genug ausdrücken, und war willig, ſeinem Freunde und Beſchützer die ganze Geſchichte ſeines Lebens zu er¬ zählen.
Sie hatten ſich unter dieſem Geſpräch136 weit in den Park verloren, und waren auf die Landſtraße, welche durch denſelben durch¬ ging, gekommen. Jarno ſtand einen Augen¬ blick ſtill, und ſagte: bedenken Sie meinen Vorſchlag, entſchließen Sie ſich, geben Sie mir in einigen Tagen Antwort, und ſchenken Sie mir Ihr Vertrauen. Ich verſichre Sie, es iſt mir bisher unbegreiflich geweſen, wie Sie ſich mit ſolchem Volk haben gemein machen können. Ich hab’ es oft mit Ekel und Verdruß geſehen, wie Sie, um nur eini¬ germaßen leben zu können, Ihr Herz an ei¬ nen herumziehenden Bänkelſänger und an ein albernes zwitterhaftes Geſchöpf hängen mußten.
Er hatte noch nicht ausgeredet, als ein Officier zu Pferde eilends herankam, dem ein Reitknecht mit einem Handpferd folgte. Jarno rief ihm einen lebhaften Gruß zu. Der Officier ſprang vom Pferde, beide um¬137 armten ſich und unterhielten ſich mit einan¬ der, indem Wilhelm, beſtürzt über die letzten Worte ſeines kriegeriſchen Freundes, in ſich gekehrt an der Seite ſtand. Jarno durch¬ blätterte einige Papiere, die ihm der Ankom¬ mende überreicht hatte, dieſer aber ging auf Wilhelmen zu, reichte ihm die Hand, und rief mit Emphaſe: ich treffe Sie in einer würdigen Geſellſchaft, folgen Sie dem Rathe Ihres Freundes, und erfüllen Sie dadurch zugleich die Wünſche eines Unbekannten, der herzlichen Theil an Ihnen nimmt. Er ſprachs, umarmte Wilhelmen, drückte ihn mit Lebhaftigkeit an ſeine Bruſt. Zu glei¬ cher Zeit trat Jarno herbey, und ſagte zu dem Fremden: es iſt am beſten, ich reite gleich mit ihnen hinein, ſo können Sie die nöthigen Ordres erhalten, und Sie reiten noch vor Nacht wieder fort. Beide ſchwan¬ gen ſich darauf zu Pferde, und überließen138 unſern verwunderten Freund ſeinen eigenen Betrachtungen.
Die letzten Worte Jarnos klangen noch in ſeinen Ohren. Ihm war unerträglich, das Paar menſchlicher Weſen, das ihm un¬ ſchuldigerweiſe ſeine Neigung abgewonnen hatte, durch einen Mann, den er ſo ſehr ver¬ ehrte, ſo tief heruntergeſetzt zu ſehen. Die ſonderbare Umarmung des Officiers, den er nicht kannte, machte wenig Eindruck auf ihn, ſie beſchäftigte ſeine Neugierde und Einbil¬ dungskraft einen Augenblick; aber Jarnos Reden hatten ſein Herz getroffen; er war tief verwundet, und nun brach er auf ſeinem Rückwege gegen ſich ſelbſt in Vorwürfe aus, daß er nur einen Augenblick die hartherzige Kälte Jarnos, die ihm aus den Augen her¬ ausſehe, und aus allen ſeinen Gebährden ſpreche, habe verkennen und vergeſſen mö¬ gen. — Nein, rief er aus, du bildeſt dir139 nur ein, du abgeſtorbener Weltmann, daß du ein Freund ſeyn könneſt! Alles, was du mir anbieten magſt, iſt der Empfindung nicht werth, die mich an dieſe Unglücklichen bindet. Welch ein Glück, daß ich noch bey Zeiten entdecke, was ich von dir zu erwarten hatte! —
Er ſchloß Mignon, die ihm eben entge¬ gen kam, in die Arme, und rief aus: nein, uns ſoll nichts trennen, du gutes kleines Ge¬ ſchöpf! Die ſcheinbare Klugheit der Welt ſoll mich nicht vermögen, dich zu verlaſſen, noch zu vergeſſen, was ich dir ſchuldig bin.
Das Kind, deſſen heftige Liebkoſungen er ſonſt abzulehnen pflegte, erfreute ſich dieſes unerwarteten Ausdruckes der Zärtlichkeit, und hing ſich ſo feſt an ihn, daß er es nur mit Mühe zuletzt los werden konnte.
Seit dieſer Zeit gab er mehr auf Jarnos Handlungen acht, die ihm nicht alle lobens¬140 würdig ſchienen: ja es kam wohl manches vor, das ihm durchaus mißfiel. So hatte er zum Beyſpiel ſtarken Verdacht, das Ge¬ dicht auf den Baron, welches der arme Pe¬ dant ſo theuer hatte bezahlen müſſen, ſey Jarnos Arbeit. Da nun dieſer in Wilhelms Gegenwart über den Vorfall geſcherzt hatte, glaubte unſer Freund hierin das Zeichen ei¬ nes höchſt verdorbenen Herzens zu erkennen; denn was konnte boshafter ſeyn, als einen Unſchuldigen, deſſen Leiden man verurſacht, zu verſpotten, und weder an Genugthuung noch Entſchädigung zu denken. Gern hätte Wilhelm ſie ſelbſt veranlaßt, denn er war durch einen ſehr ſonderbaren Zufall den Thä¬ tern jener nächtlichen Mißhandlung auf die Spur gekommen.
Man hatte ihm bisher immer zu verber¬ gen gewußt, daß einige junge Officiere, im unteren Saale des alten Schloſſes, mit einem141 Theile der Schauſpieler und Schauſpielerin¬ nen ganze Nächte auf eine luſtige Weiſe zu¬ brachten. Eines Morgens, als er nach ſei¬ ner Gewohnheit früh aufgeſtanden, kam er von ohngefähr in das Zimmer, und fand die jungen Herren, die eine höchſt ſonderbare Toilette zu machen im Begriff ſtunden. Sie hatten in einen Napf mit Waſſer Kreide ein¬ gerieben, und trugen den Teig mit einer Bürſte auf ihre Weſten und Beinkleider, ohne ſie auszuziehen, und ſtellten alſo die Reinlichkeit ihrer Garderobe auf das ſchnell¬ ſte wieder her. Unſerm Freunde, der ſich über dieſe Handgriffe wunderte, fiel der weiß beſtäubte und befleckte Rock des Pedanten ein, der Verdacht wurde um ſo viel ſtärker, als er erfuhr, daß einige Verwandten des Barons ſich unter der Geſellſchaft befänden.
Um dieſem Verdacht näher aus die Spur zu kommen, ſuchte er die jungen Herren mit142 einem kleinen Frühſtücke zu beſchäftigen. Sie waren ſehr lebhaft, und erzählten viele luſti¬ ge Geſchichten. Der eine beſonders, der eine Zeitlang auf Werbung geſtanden, wußte nicht genug die Liſt und Thätigkeit ſeines Hauptmanns zu rühmen, der alle Arten von Menſchen an ſich zu ziehen, und jeden nach ſeiner Art zu überliſten verſtand. Umſtänd¬ lich erzählte er, wie junge Leute von gutem Hauſe und ſorgfältiger Erziehung, durch al¬ lerley Vorſpiegelungen einer anſtändigen Ver¬ ſorgung betrogen worden, und lachte herz¬ lich über die Gimpel, denen es im Anfange ſo wohl gethan habe, ſich von einem ange¬ ſehenen, tapferen, klugen und freygebigen Officier geſchätzt und hervorgezogen zu ſehen.
Wie ſegnete Wilhelm ſeinen Genius, der ihm ſo unvermuthet den Abgrund zeigte, deſſen Rande er ſich unſchuldigerweiſe genä¬ hert hatte. Er ſah nun in Jarno nichts als143 den Werber; die Umarmung des fremden Officiers war ihm leicht erklärlich. Er ver¬ abſcheuete die Geſinnungen dieſer Männer, und vermied von dem Augenblicke mit irgend jemand, der eine Uniform trug, zuſammen zu kommen, und ihm wäre die Nachricht, daß die Armee weiter vorwärts rücke, in dieſem Sinne ſehr angenehm geweſen, wenn er nicht zugleich hätte fürchten müſſen, aus der Nähe ſeiner ſchönen Freundin, vielleicht auf immer, verbannt zu werden.
144Inzwiſchen hatte die Baroneſſe mehrere Tage, von Sorgen und einer unbefriedigten Neugierde gepeinigt, zugebracht, Denn das Betragen des Grafen ſeit jenem Abentheuer war ihr ein völliges Räthſel. Er war ganz aus ſeiner Manier herausgegangen, von ſei¬ nen gewöhnlichen Scherzen hörte man keinen. Seine Forderungen an die Geſellſchaft und an die Bedienten hatten ſehr nachgelaſſen. Von Pedanterie und gebieteriſchem Weſen merkte man wenig, vielmehr war er ſtill und in ſich gekehrt, jedoch ſchien er heiter, und wirklich ein anderer Menſch zu ſeyn. Bey Vorleſungen, zu denen er zuweilen Anlaß gab, wählte er ernſthafte, oft religiöſe Bü¬ cher, und die Baroneſſe lebte in beſtändigerFurcht,145Furcht, es möchte hinter dieſer anſcheinenden Ruhe ſich ein geheimer Groll verbergen, ein ſtiller Vorſatz, den Frevel, den er ſo zufällig entdeckt, zu rächen. Sie entſchloß ſich daher, Jarno zu ihrem Vertrauten zu machen, und ſie konnte es um ſo mehr, als ſie mit ihm in einem Verhältniſſe ſtand, in dem man ſich ſonſt wenig zu verbergen pflegt. Jarno war ſeit kurzer Zeit ihr entſchiedner Freund, doch waren ſie klug genug, ihre Neigung und ihre Freuden vor der lermenden Welt, die ſie umgab, zu verbergen. Nur den Augen der Gräfin war dieſer neue Roman nicht ent¬ gangen, und höchſt wahrſcheinlich ſuchte die Baroneſſe ihre Freundin gleichfalls zu be¬ ſchäftigen, um den ſtillen Vorwürfen zu ent¬ gehen, welche ſie denn doch manchmal von jener edlen Seele zu erdulden hatte.
Kaum hatte die Baroneſſe ihrem Freunde die Geſchichte erzählt, als er lachend ausrief:W. Meiſters Lehrj. K146da glaubt der Alte gewiß ſich ſelbſt geſehen zu haben, er fürchtet, daß ihm dieſe Erſchei¬ nung Unglück, ja vielleicht gar den Tod be¬ deute, und nun iſt er zahm geworden wie alle die Halbmenſchen, wenn ſie an die Auf¬ löſung denken, welcher niemand entgangen iſt, noch entgehen wird. Nur ſtille, da ich hoffe, daß er noch lange leben ſoll, ſo wollen wir ihn bey dieſer Gelegenheit wenigſtens ſo formiren, daß er ſeiner Frau und ſeinen Hausgenoſſen nicht mehr zur Laſt ſeyn ſoll.
Sie fingen nun, ſo bald es nur ſchicklich war, in Gegenwart des Grafen an, von Ahndungen, Erſcheinungen und dergleichen zu ſprechen. Jarno ſpielte den Zweifler, ſei¬ ne Freundin gleichfalls, und ſie trieben es ſo weit, daß der Graf endlich Jarno bey Seite nahm, ihm ſeine Freygeiſterey verwies, und ihn, durch ſein eignes Beyſpiel, von der147 Möglichkeit und Wirklichkeit ſolcher Geſchich¬ ten zu überzeugen ſuchte. Jarno ſpielte den Betroffenen, Zweifelnden und endlich den Überzeugten, machte ſich aber gleich darauf in ſtiller Nacht mit ſeiner Freundin deſto lu¬ ſtiger über den ſchwachen Weltmann, der nun auf einmal von ſeinen Unarten durch einen Popanz bekehrt worden, und der nur noch deswegen zu loben ſey, weil er mit ſo vieler Faſſung ein bevorſtehendes Unglück, ja vielleicht gar den Tod erwarte.
Auf die natürlichſte Folge, welche dieſe Erſcheinung hätte haben können, möchte er doch wohl nicht gefaßt ſeyn, rief die Baro¬ neſſe mit ihrer gewöhnlichen Munterkeit, zu der ſie, ſo bald ihr eine Sorge vom Herzen genommen war, gleich wieder übergehen konnte. Jarno ward reichlich belohnt, und man ſchmiedete neue Anſchläge, den Grafen noch mehr kirre zu machen, und die NeigungK 2148der Gräfin zu Wilhelm noch mehr zu reizen und zu beſtärken.
In dieſer Abſicht erzählte man der Grä¬ fin die ganze Geſchichte, die ſich zwar an¬ fangs unwillig darüber zeigte, aber ſeit der Zeit nachdenklicher ward, und in ruhigen Augenblicken jene Scene, die ihr zubereitet war, zu bedenken, zu verfolgen und auszu¬ mahlen ſchien.
Die Anſtalten, welche nunmehr von allen Seiten getroffen wurden, ließen keinen Zwei¬ fel mehr übrig, daß die Armeen bald vor¬ wärts rücken, und der Prinz zugleich ſein Hauptquartier verändern würde; ja es hieß, daß der Graf zugleich auch das Gut ver¬ laſſen und wieder nach der Stadt zurückkeh¬ ren werde. Unſere Schauſpieler konnten ſich alſo leicht die Nativität ſtellen, doch nur der einzige Melina nahm ſeine Maaßregeln dar¬ nach, die andern ſuchten nur noch von dem149 Augenblicke ſo viel als möglich das Ver¬ gnüglichſte zu erhaſchen.
Wilhelm war indeſſen auf eine eigene Weiſe beſchäftigt. Die Gräfin hatte von ihm die Abſchrift ſeiner Stücke verlangt, und er ſah dieſen Wunſch der liebenswürdigen Frau als die ſchönſte Belohnung an.
Ein junger Autor, der ſich noch nicht ge¬ druckt geſehn, wendet in einem ſolchen Falle die größte Aufmerkſamkeit auf eine reinliche und zierliche Abſchrift ſeiner Werke. Es iſt gleichſam das goldne Zeitalter der Autor¬ ſchaft; man ſieht ſich in jene Jahrhunderte verſetzt, in denen die Preſſe noch nicht die Welt mit ſo viel unnützen Schriften über¬ ſchwemmt hatte, wo nur würdige Geiſtespro¬ ducte abgeſchrieben, und von den edelſten Menſchen verwahrt wurden, und wie leicht begeht man alsdann den Fehlſchluß, daß ein ſorgfältig abgezirkeltes Manuſcript auch ein150 würdiges Geiſtesproduct ſey, werth von ei¬ nem Kenner und Beſchützer beſeſſen und auf¬ geſtellt zu werden.
Man hatte zu Ehren des Prinzen, der nun in kurzem abgehen ſollte, noch ein großes Gaſtmahl angeſtellt. Viele Damen aus der Nachbarſchaft waren geladen, und die Grä¬ fin hatte ſich bey Zeiten angezogen. Sie hatte dieſen Tag ein reicheres Kleid ange¬ legt, als ſie ſonſt zu thun gewohnt war. Friſur und Aufſatz waren geſuchter, ſie war mit allen ihren Juwelen geſchmückt. Eben ſo hatte die Baroneſſe das Mögliche gethan, um ſich mit Pracht und Geſchmack anzu¬ kleiden.
Philine, als ſie merkte, daß den beiden Damen, in Erwartung ihrer Gäſte, die Zeit lang wurde, ſchlug vor, Wilhelmen kommen zu laſſen, der ſein fertiges Manuſcript zu überreichen und noch einige Kleinigkeiten vor¬151 zuleſen wünſchte. Er kam und erſtaunte im Hereintreten über die Geſtalt, über die An¬ muth der Gräfin, die durch ihren Putz nur ſichtbarer geworden waren. Er las nach dem Befehle der Damen; allein ſo zerſtreut und ſchlecht, daß wenn die Zuhörerinnen nicht ſo nachſichtig geweſen wären, ſie ihn gar bald würden entlaſſen haben.
So oft er die Gräfin anblickte, ſchien es ihm, als wenn ein elektriſcher Funke ſich vor ſeinen Augen zeigte; er wußte zuletzt nicht mehr, wo er Athem zu ſeiner Recitation her¬ nehmen ſolle. Die ſchöne Dame hatte ihm immer gefallen; aber jetzt ſchien es ihm, als ob er nie etwas vollkommneres geſehen hät¬ te, und von den tauſenderley Gedanken, die ſich in ſeiner Seele kreuzten, mochte ohnge¬ fähr folgendes der Inhalt ſeyn:
Wie thörigt lehnen ſich doch ſo viele Dichter und ſogenannte gefühlvolle Menſchen152 gegen Putz und Pracht auf, und verlangen nur in einfachen, der Natur angemeſſenen Kleidern die Frauen alles Standes zu ſehen. Sie ſchelten den Putz, ohne zu bedenken, daß es der arme Putz nicht iſt, der uns mißfällt, wenn wir eine häßliche oder minder ſchöne Perſon reich und ſonderbar gekleidet erblik¬ ken; aber ich wollte alle Kenner der Welt hier verſammeln und ſie fragen, ob ſie wünſchten etwas von dieſen Falten, von die¬ ſen Bändern und Spitzen, von dieſen Puffen, Locken und leuchtenden Steinen wegzuneh¬ men? Würden ſie nicht fürchten, den ange¬ nehmen Eindruck zu ſtöhren, der ihnen hier ſo willig und natürlich entgegen kommt? Ja, natürlich darf ich wohl ſagen! Wenn Minerva ganz gerüſtet aus dem Haupte des Jupiter entſprang, ſo ſcheinet dieſe Göttin in ihrem vollen Putze aus irgend einer Blu¬ me mit leichtem Fuße hervorgetreten zu ſeyn.
153Er ſah ſie ſo oft im Leſen an, als wenn er dieſen Eindruck ſich auf ewig einprägen wollte, und las einigemal falſch, ohne dar¬ über in Verwirrung zu gerathen, ob er gleich ſonſt über der Verwechſelung eines Wortes oder eines Buchſtabens als über einen leidi¬ gen Schandfleck einer ganzen Vorleſung ver¬ zweifeln konnte.
Ein falſcher Lerm, als wenn die Gäſte angefahren kämen, machte der Vorleſung ein Ende. Die Baroneſſe ging weg, und die Gräfin, im Begriff ihren Schreibtiſch zuzu¬ machen, der noch offen ſtand, ergriff ein Ringkäſtchen und ſteckte noch einige Ringe an die Finger. Wir werden uns bald tren¬ nen, ſagte ſie, indem ſie ihre Augen auf das Käſtchen heftete: nehmen Sie ein Andenken von einer guten Freundin, die nichts lebhaf¬ ter wünſcht, als daß es Ihnen wohlgehen möge. Sie nahm darauf einen Ring her¬154 aus, der unter einem Cryſtall ein ſchön von Haaren geflochtenes Schild zeigte, und mit Steinen beſetzt war. Sie überreichte ihn Wilhelmen, der, als er ihn annahm, nichts zu ſagen und nichts zu thun wußte, ſondern wie eingewurzelt in den Boden da ſtand. Die Gräfin ſchloß den Schreibtiſch zu, und ſetzte ſich auf ihren Sopha.
Und ich ſoll leer ausgehn, ſagte Philine, indem ſie ſich zur rechten Hand der Gräfin niederkniete: ſeht nur den Menſchen, der zur Unzeit ſo viele Worte im Munde führt, und jetzt nicht einmal eine armſelige Dankſagung herſtammeln kann. Friſch, mein Herr, thun Sie wenigſtens pantomimiſch Ihre Schuldig¬ keit, und wenn Sie heute ſelbſt nichts zu er¬ finden wiſſen, ſo ahmen Sie mir wenigſtens nach.
Philine ergriff die rechte Hand der Grä¬ fin, und küßte ſie mit Lebhaftigkeit. Wil¬155 helm ſtürzte auf ſeine Kniee, faßte die linke, und drückte ſie an ſeine Lippen. Die Gräfin ſchien verlegen, aber ohne Widerwillen.
Ach! rief Philine aus, ſo viel Schmuck hab’ ich wohl ſchon geſehen, aber noch nie eine Dame, ſo würdig ihn zu tragen. Wel¬ che Armbänder! aber auch welche Hand! Welcher Halsſchmuck! aber welche Bruſt!
Stille, Schmeichlerin, rief die Gräfin.
Stellt denn das den Herrn Grafen vor? ſagte Philine, indem ſie auf ein reiches Me¬ daillon deutete, das die Gräfin an koſtbaren Ketten an der linken Seite trug.
Er iſt als Bräutigam gemahlt, verſetzte die Gräfin.
War er denn damals ſo jung? fragte Philine: Sie ſind ja nur erſt, wie ich weiß, wenige Jahre verheyrathet.
Dieſe Jugend kommt auf die Rechnung des Mahlers, verſetzte die Gräfin.
156Es iſt ein ſchöner Mann, ſagte Philine. Doch ſollte wohl niemals, fuhr ſie fort, in¬ dem ſie die Hand auf das Herz der Gräfin legte, in dieſe verborgene Kapſel ſich ein an¬ der Bild eingeſchlichen haben?
Du biſt ſehr verwegen, Philine! rief ſie aus: ich habe dich verzogen. Laß mich ſo etwas nicht zum zweytenmal hören.
Wenn Sie zürnen, bin ich unglücklich, rief Philine, ſprang auf und eilte zur Thüre hinaus.
Wilhelm hielt die ſchönſte Hand noch in ſeinen Händen. Er ſah unverwandt auf das Armſchloß, das, zu ſeiner größten Verwun¬ derung, die Anfangsbuchſtaben ſeiner Nah¬ men in brillantenen Zügen ſehen ließ.
Beſitz ich, fragte er beſcheiden, in dem koſtbaren Ringe, denn wirklich Ihre Haare?
Ja, verſetzte ſie mit halber Stimme; dann nahm ſie ſich zuſammen, und ſagte, indem157 ſie ihm die Hand drückte: ſtehen Sie auf, und leben Sie wohl.
Hier ſteht mein Nahme, rief er aus: durch den ſonderbarſten Zufall! Er zeigte auf das Armſchloß.
Wie? rief die Gräfin: es iſt die Chiffer einer Freundin!
Es ſind die Anfangsbuchſtaben meines Nahmens. Vergeſſen Sie meiner nicht. Ihr Bild ſteht unauslöſchlich in meinem Her¬ zen. Leben Sie wohl, laſſen Sie mich fliehen!
Er küßte ihre Hand, und wollte aufſtehn; aber wie im Traum das Seltſamſte aus dem Seltſamſten ſich entwickelnd uns überraſcht; ſo hielt er, ohne zu wiſſen wie es geſchah, die Gräfin in ſeinen Armen, ihre Lippen ruhten auf den ſeinigen, und ihre wechſelſei¬ tigen lebhaften Küſſe gewährten ihnen eine Seligkeit, die wir nur aus dem erſten auf¬158 brauſenden Schaum des friſch eingeſchenkten Bechers der Liebe ſchlürfen.
Ihr Haupt ruhte auf ſeiner Schulter, und der zerdrückten Locken und Bänder ward nicht gedacht. Sie hatte ihren Arm um ihn geſchlungen; er umfaßte ſie mit Lebhaftig¬ keit, und drückte ſie wiederholend an ſeine Bruſt. O daß ein ſolcher Augenblick nicht Ewigkeiten währen kann, und wehe dem nei¬ diſchen Geſchick, das auch unſern Freunden dieſe kurzen Augenblicke unterbrach.
Wie erſchrak Wilhelm, wie betäubt fuhr er aus einem glücklichen Traume auf, als die Gräfin ſich auf einmal mit einem Schrey von ihm losriß, und mit der Hand nach ihrem Herzen fuhr.
Er ſtand betäubt vor ihr da; ſie hielt die andere Hand vor die Augen, und rief nach einer Pauſe: entfernen Sie ſich, eilen Sie!
159Er ſtand noch immer.
Verlaſſen Sie mich, rief ſie, und indem ſie die Hand von den Augen nahm, und ihn mit einem unbeſchreiblichen Blicke anſah, ſetzte ſie mit der lieblichſten Stimme hinzu: fliehen Sie mich, wenn Sie mich lieben.
Wilhelm war aus dem Zimmer, und wie¬ der auf ſeiner Stube, eh’ er wußte, wo er ſich befand.
Die Unglücklichen! welche ſonderbare Warnung des Zufalls oder der Schickung riß ſie aus einander?
Laertes ſtand nachdenklich am Fenſter und blickte, auf ſeinen Arm geſtützt, in das Feld hinaus. Philine ſchlich über den großen Saal herbey, lehnte ſich auf den Freund, und verſpottete ſein ernſthaftes Anſehn.
Lache nur nicht, verſetzte er, es iſt ab¬ ſcheulich, wie die Zeit vergeht, wie alles ſich verändert und ein Ende nimmt! Sieh nur, hier ſtand vor kurzem noch ein ſchönes La¬ ger, wie luſtig ſahen die Zelte aus! wie lebhaft ging es darin zu! wie ſorgfältig be¬ wachte man den ganzen Bezirk! und nun iſt alles auf einmal verſchwunden. Nur kurze Zeit wird das zertretne Stroh und die ein¬L 2164gegrabenen Kochlöcher noch eine Spur zei¬ gen, dann wird alles bald umgepflügt ſeyn, und die Gegenwart ſo vieler tauſend rüſti¬ gen Menſchen in dieſer Gegend wird nur noch in den Köpfen einiger alten Leute ſpuken.
Philine fing an zu ſingen, und zog ihren Freund zu einem Tanze in den Saal. Laß uns, rief ſie, da wir der Zeit nicht nachlau¬ fen können, wenn ſie vorüber iſt, ſie wenig¬ ſtens als eine ſchöne Göttin, indem ſie bey uns vorbeyzieht, fröhlich und zierlich ver¬ ehren.
Sie hatten kaum einige Wendungen ge¬ macht, als Madam Melina durch den Saal ging. Philine war boshaft genug, ſie gleich¬ falls zum Tanze einzuladen, und ſie dadurch an die Mißgeſtalt zu erinnern, in welche ſie durch ihre Schwangerſchaft verſetzt war.
Wenn ich nur, ſagte Philine hinter ihrem165 Rücken, keine Frau mehr guter Hoffnung ſe¬ hen ſollte!
Sie hofft doch, ſagte Laertes.
Aber es kleidet ſie ſo häßlich. Haſt du die vordere Wackelfalte des verkürzten Rocks geſehen, die immer voraus ſpaziert, wenn ſie ſich bewegt? Sie hat gar keine Art noch Geſchick, ſich nur ein bischen zu muſtern und ihren Zuſtand zu verbergen.
Laß nur, ſagte Laertes, die Zeit wird ihr ſchon zu Hülfe kommen.
Es wäre doch immer hübſcher, rief Phi¬ line, wenn man die Kinder von den Bäumen ſchüttelte.
Der Baron trat herein, und ſagte ihnen etwas freundliches im Nahmen des Grafen und der Gräfin, die ganz früh abgereiſt wa¬ ren, und machte ihnen einige Geſchenke. Er ging darauf zu Wilhelmen, der ſich im Ne¬ benzimmer mit Mignon beſchäftigte. Das166 Kind hatte ſich ſehr freundlich und zuthätig bezeigt, nach Wilhelms Eltern, Geſchwiſtern und Verwandten gefragt, und ihn dadurch an ſeine Pflicht erinnert, den Seinigen von ſich einige Nachricht zu geben.
Der Baron brachte ihm nebſt einem Ab¬ ſchiedsgruße von den Herrſchaften, die Ver¬ ſicherung, wie ſehr der Graf mit ihm, ſeinem Spiele, ſeinen poetiſchen Arbeiten und ſeinen theatraliſchen Bemühungen zufrieden gewe¬ ſen ſey. Er zog darauf zum Beweis dieſer Geſinnung einen Beutel hervor, durch deſſen ſchönes Gewebe die reizende Farbe neuer Goldſtücke durchſchimmerte; Wilhelm trat zurück, und weigerte ſich ihn anzunehmen.
Sehen Sie, fuhr der Baron fort, dieſe Gabe als einen Erſatz für Ihre Zeit, als eine Erkenntlichkeit für Ihre Mühe, nicht als eine Belohnung Ihres Talents an. Wenn uns dieſes einen guten Nahmen und167 die Neigung der Menſchen verſchaft, ſo iſt billig, daß wir durch Fleiß und Anſtrengung zugleich die Mittel erwerben, unſre Bedürf¬ niſſe zu befriedigen, da wir doch einmal nicht ganz Geiſt ſind. Wären wir in der Stadt, wo alles zu finden iſt; ſo hätte man dieſe kleine Summe in eine Uhr, einen Ring oder ſonſt etwas verwandelt; nun gebe ich aber den Zauberſtab unmittelbar in Ihre Hände, ſchaffen Sie ſich ein Kleinod dafür, das Ih¬ nen am liebſten und am dienlichſten iſt, und verwahren Sie es zu unſerm Andenken. Da¬ bey halten Sie ja den Beutel in Ehren. Die Damen haben ihn ſelbſt geſtrickt, und ihre Abſicht war, durch das Gefäß dem Inhalt die annehmlichſte Form zu geben.
Vergeben Sie, verſetzte Wilhelm, meiner Verlegenheit und meinen Zweifeln, dieſes Ge¬ ſchenk anzunehmen. Es vernichtet gleichſam das Wenige was ich gethan habe, und hin¬168 dert das freye Spiel einer glücklichen Erin¬ nerung. Geld iſt eine ſchöne Sache, wo et¬ was abgethan werden ſoll, und ich wünſchte nicht in dem Andenken Ihres Hauſes ſo ganz abgethan zu ſeyn.
Das iſt nicht der Fall, verſetzte der Ba¬ ron; aber indem Sie ſelbſt zart empfinden, werden Sie nicht verlangen, daß der Graf ſich völlig als Ihren Schuldner denken ſoll: ein Mann der ſeinen größten Ehrgeiz darin ſetzt, aufmerkſam und gerecht zu ſeyn. Ihm iſt nicht entgangen, welche Mühe Sie ſich gegeben, und wie Sie ſeinen Abſichten ganz Ihre Zeit gewidmet haben, ja er weiß, daß Sie, um gewiſſe Anſtalten zu beſchleunigen, Ihr eignes Geld nicht ſchonten. Wie will ich wieder vor ihm erſcheinen, wenn ich ihn nicht verſichern kann, daß ſeine Erkenntlich¬ keit Ihnen Vergnügen gemacht hat.
Wenn ich nur an mich ſelbſt denken,169 wenn ich nur meinen eigenen Empfindungen folgen dürfte, verſetzte Wilhelm, würde ich mich, ohnerachtet aller Gründe, hartnäckig weigern, dieſe Gabe, ſo ſchön und ehrenvoll ſie iſt, anzunehmen; aber ich leugne nicht, daß ſie mich in dem Augenblicke, indem ſie mich in Verlegenheit ſetzt, aus einer Verle¬ genheit reißt, in der ich mich bisher gegen die Meinigen befand, und die mir manchen ſtillen Kummer verurſachte. Ich habe ſo¬ wohl mit dem Gelde als mit der Zeit, von denen ich Rechenſchaft zu geben habe, nicht zum Beſten hausgehalten, nun wird es mir durch den Edelmuth des Herrn Grafen mög¬ lich, den Meinigen getroſt von dem Glücke Nachricht zu geben, zu dem mich dieſer ſon¬ derbare Seitenweg geführt hat. Ich opfre die Delikateſſe, die uns wie ein zartes Ge¬ wiſſen bey ſolchen Gelegenheiten warnt, einer höhern Pflicht auf, und um meinem Vater170 muthig unter die Augen treten zu können, ſteh ich beſchämt vor den Ihrigen.
Es iſt ſonderbar, verſetzte der Baron, welch ein wunderlich Bedenken man ſich macht, Geld von Freunden und Gönnern anzunehmen, von denen man jede andere Gabe mit Dank und Freude empfangen würde. Die menſchliche Natur hat mehr ähnliche Eigenheiten, ſolche Skrupel gern zu erzeugen und ſorgfältig zu nähren.
Iſt es nicht das nemliche mit allen Ehrenpunkten? fragte Wilhelm.
Ach ja, verſetzte der Baron, und andern Vorurtheilen. Wir wollen ſie nicht ausjä¬ ten, um nicht vielleicht edle Pflanzen zugleich mit auszuraufen. Aber mich freut immer, wenn einzelne Perſonen fühlen, über was man ſich hinausſetzen kann und ſoll, und ich denke mit Vergnügen an die Geſchichte des geiſtreichen Dichters, der für ein Hoftheater171 einige Stücke verfertigte, welche den ganzen Beyfall des Monarchen erhielten. Ich muß ihn anſehnlich belohnen, ſagte der großmü¬ thige Fürſt, man forſche an ihm, ob ihm irgend ein Kleinod Vergnügen macht, oder ob er nicht verſchmäht Geld anzunehmen. Nach ſeiner ſcherzhaften Art antwortete der Dichter dem abgeordneten Hofmann, ich dan¬ ke lebhaft für die gnädigen Geſinnungen, und da der Kaiſer alle Tage Geld von uns nimmt, ſo ſehe ich nicht ein, warum ich mich ſchämen ſollte, Geld von ihm anzunehmen.
Der Baron hatte kaum das Zimmer ver¬ laſſen, als Wilhelm eifrig die Baarſchaft zählte, die ihm ſo unvermuthet, und wie er glaubte, ſo unverdient zugekommen war. Es ſchien, als ob ihm der Werth und die Würde des Goldes, die uns in ſpätern Jahren erſt fühlbar werden, ahndungsweiſe zum erſten¬ mal entgegen blickten, als die ſchönen blin¬172 kenden Stücke aus dem zierlichen Beutel her¬ vorrollten. Er machte ſeine Rechnung und fand, daß er, beſonders da Melina den Vor¬ ſchuß ſogleich wieder zu bezahlen verſprochen hatte, eben ſo viel, ja noch mehr in Caſſa habe, als an jenem Tage, da Philine ihm den erſten Strauß abfordern ließ. Mit heimlicher Zufriedenheit blickte er auf ſein Talent, mit einem kleinen Stolze auf das Glück, das ihn geleitet und begleitet hatte. Er ergriff nunmehr mit Zuverſicht die Feder, um einen Brief zu ſchreiben, der auf einmal die Familie aus aller Verlegenheit und ſein bisheriges Betragen in das beſte Licht ſetzen ſollte. Er vermied eine eigentliche Erzäh¬ lung, und ließ nur in bedeutenden und my¬ ſtiſchen Ausdrücken dasjenige, was ihm be¬ gegnet ſeyn könnte, errathen. Der gute Zu¬ ſtand ſeiner Caſſe, der Erwerb, den er ſeinem Talent ſchuldig war, die Gunſt der Großen,173 die Neigung der Frauen, die Bekanntſchaft in einem weiten Kreiſe, die Ausbildung ſei¬ ner körperlichen und geiſtigen Anlagen, die Hoffnung für die Zukunft bildeten ein ſol¬ ches wunderliches Luftgemählde, daß Fata Morgagna ſelbſt es nicht ſeltſamer hätte durcheinander wirken können.
In dieſer glücklichen Exaltation fuhr er fort, nachdem der Brief geſchloſſen war, ein langes Selbſtgeſpräch zu unterhalten, in wel¬ chem er den Inhalt des Schreibens recapi¬ tulirte, und ſich eine thätige und würdige Zukunft ausmahlte. Das Beyſpiel ſo vieler edler Krieger hatte ihn angefeuert, die Sha¬ keſpeariſche Dichtung hatte ihm eine neue Welt eröfnet, und von den Lippen der ſchö¬ nen Gräfin hatte er ein unausſprechliches Feuer in ſich geſogen. Das alles konnte, das ſollte nicht ohne Wirkung aufs Leben bleiben.
174Der Stallmeiſter kam und fragte: ob ſie mit Einpacken fertig ſeyen? Leider hatte auſſer Melina noch niemand daran gedacht. Nun ſollte man eilig aufbrechen. Der Graf hatte verſprochen, die ganze Geſellſchaft einige Tagereiſen weit transportiren zu laſſen, die Pferde waren eben bereit, und konnten nicht lange entbehrt werden. Wilhelm fragte nach ſeinem Koffer; Madam Melina hatte ſich ihn zu Nutze gemacht; er verlangte nach ſei¬ nem Gelde, Herr Melina hatte es ganz un¬ ten in den Koffer mit großer Sorgfalt ge¬ packt. Philine ſagte: ich habe in dem mei¬ nigen noch Platz, nahm Wilhelms Kleider, und befahl Mignon das Übrige nachzubrin¬ gen. Wilhelm mußte es nicht ohne Wider¬ willen geſchehen laſſen.
Indem man aufpackte, und alles zuberei¬ tete, ſagte Melina: es iſt mir verdrießlich, daß wir wie Seiltänzer und Marktſchreyer175 reiſen; ich wünſchte, daß Mignon Weiber¬ kleider anzöge, und daß der Harfenſpieler ſich noch geſchwinde den Bart ſcheren ließe. Mignon hielt ſich feſt an Wilhelm, und ſag¬ te mit großer Lebhaftigkeit: ich bin ein Kna¬ be, ich will kein Mädchen ſeyn. Der Alte ſchwieg, und Philine machte bey dieſer Gele¬ genheit über die Eigenheit des Grafen, ihres Beſchützers, einige luſtige Anmerkungen. Wenn der Harfner ſeinen Bart abſchneidet, ſagte ſie, ſo mag er ihn nur ſorgfältig auf Band nä¬ hen und bewahren, daß er ihn gleich wieder vornehmen kann, ſobald er dem Herrn Gra¬ fen irgendwo in der Welt begegnet; denn dieſer Bart allein hat ihm die Gnade dieſes Herrn verſchaft.
Als man in ſie drang und eine Erklä¬ rung dieſer ſonderbaren Äuſſerung verlangte, ließ ſie ſich folgendergeſtalt vernehmen: der Graf glaubt, daß es zur Illuſion ſehr viel176 beytrage, wenn der Schauſpieler auch im ge¬ meinen Leben ſeine Rolle fortſpielt, und ſei¬ nen Character ſoutenirt, deswegen war er dem Pedanten ſo günſtig, und er fand, es ſey recht geſcheid, daß der Harfner ſeinen falſchen Bart nicht allein Abends auf dem Theater, ſondern auch beſtändig bey Tage trage, und freute ſich ſehr über das natürli¬ che Ausſehen der Maskerade.
Als die andern über dieſen Irrthum und über die ſonderbaren Meinungen des Grafen ſpotteten, ging der Harfner mit Wilhelm bey Seite, nahm von ihm Abſchied, und bat mit Thränen, ihn ja ſogleich zu entlaſſen. Wil¬ helm redete ihm zu, und verſicherte, daß er ihn gegen jedermann ſchützen werde, daß ihm niemand ein Haar krümmen, vielweniger ohne ſeinen Willen abſchneiden ſollte.
Der Alte war ſehr bewegt, und in ſeinen Augen glühte ein ſonderbares Feuer. Nichtdie¬177dieſer Anlaß treibt mich hinweg, rief er aus, ſchon lange mache ich mir ſtille Vorwürfe, daß ich um Sie bleibe. Ich ſollte nirgends verweilen, denn das Unglück ereilt mich und beſchädigt die, die ſich zu mir geſellen. Fürch¬ ten Sie alles, wenn Sie mich nicht entlaſſen, aber fragen Sie mich nicht, ich gehöre nicht mir zu, ich kann nicht bleiben.
Wem gehörſt du an? Wer kann eine ſolche Gewalt über dich ausüben?
Mein Herr, laſſen Sie mir mein ſchau¬ dervolles Geheimniß, und geben Sie mich los. Die Rache, die mich verfolgt, iſt nicht des irrdiſchen Richters; ich gehöre einem un¬ erbittlichen Schickſale; ich kann nicht bleiben, und ich darf nicht!
In dieſem Zuſtande, in dem ich dich ſehe, werde ich dich gewiß nicht laſſen.
Es iſt Hochverrath an Ihnen, mein Wohlthäter, wenn ich zaudre. Ich bin ſicherW. Meiſters Lehrj. 2. M178bey Ihnen, aber Sie ſind in Gefahr. Sie wiſſen nicht, wen Sie in Ihrer Nähe hegen. Ich bin ſchuldig, aber unglücklicher als ſchul¬ dig. Meine Gegenwart verſcheucht das Glück, und die gute That wird ohnmächtig, wenn ich dazu trete. Flüchtig und unſtät ſollt ich ſeyn, daß mein unglücklicher Genius mich nicht einholet, der mich nur langſam verfolgt, und nur dann ſich merken läßt, wenn ich mein Haupt niederlegen und ruhen will. Dankbarer kann ich mich nicht bezei¬ gen, als wenn ich Sie verlaſſe.
Sonderbarer Menſch! du kannſt mir das Vertrauen in dich ſo wenig nehmen, als die Hoffnung, dich glücklich zu ſehen. Ich will in die Geheimniſſe deines Aberglaubens nicht eindringen, aber wenn du ja in Ahndung wunderbarer Verknüpfungen und Vorbedeu¬ tungen lebſt; ſo ſage ich dir zu deinem Troſt und zu deiner Aufmunterung: geſelle dich zu179 meinem Glücke, und wir wollen ſehen, wel¬ cher Genius der ſtärkſte iſt, dein ſchwarzer oder mein weißer!
Wilhelm ergriff dieſe Gelegenheit, um ihm noch mancherley Tröſtliches zu ſagen; denn er hatte ſchon ſeit einiger Zeit in ſei¬ nem wunderbaren Begleiter einen Menſchen zu ſehen geglaubt, der durch Zufall oder Ge¬ ſchick eine große Schuld auf ſich geladen hat, und nun die Erinnerung derſelben im¬ mer mit ſich fortſchleppt. Noch vor wenigen Tagen hatte Wilhelm ſeinen Geſang behorcht, und folgende Zeilen wohl gemerkt:
Der Alte mochte nun ſagen was er woll¬ te, ſo hatte Wilhelm immer ein ſtärker Ar¬M 2180gument, wußte alles zum Beſten zu kehren und zu wenden, wußte ſo brav, ſo herzlich und tröſtlich zu ſprechen, daß der Alte ſelbſt wieder aufzuleben und ſeinen Grillen zu ent¬ ſagen ſchien.
181Melina hatte Hoffnung, in einer kleinen aber wohlhabenden Stadt mit ſeiner Geſellſchaft unterzukommen. Schon befanden ſie ſich an dem Orte, wohin ſie die Pferde des Gra¬ fen gebracht hatten, und ſahen ſich nach an¬ dern Wagen und Pferden um, mit denen ſie weiter zu kommen hofften. Melina hatte den Transport übernommen, und zeigte ſich, nach ſeiner Gewohnheit, übrigens ſehr karg. Dagegen hatte Wilhelm die ſchönen Duka¬ ten der Gräfin in der Taſche, auf deren fröh¬ liche Verwendung er das größte Recht zu haben glaubte, und ſehr leicht vergaß er, daß er ſie in der ſtattlichen Bilanz, die er den Seinigen zuſchickte, ſchon ſehr ruhmredig aufgeführt hatte.
182Sein Freund Shakeſpear, den er mit großer Freude auch als ſeinen Pathen aner¬ kannte, und ſich nur um ſo lieber Wilhelm nennen ließ, hatte ihm einen Prinzen be¬ kannt gemacht, der ſich unter geringer, ja ſogar ſchlechter Geſellſchaft eine Zeitlang auf¬ hält, und, ohngeachtet ſeiner edlen Natur, an der Roheit, Unſchicklichkeit und Al¬ bernheit ſolcher ganz ſinnlichen Burſche ſich ergötzt. Höchſt willkommen war ihm das Ideal, womit er ſeinen gegenwärtigen Zu¬ ſtand vergleichen konnte, und der Selbſtbe¬ trug, wozu er eine faſt unüberwindliche Nei¬ gung ſpürte, ward ihm dadurch auſſerordent¬ lich erleichtert.
Er fing nun an über ſeine Kleidung nach¬ zudenken. Er fand, daß ein Weſtchen, über das man im Nothfall einen kurzen Mantel würfe, für einen Wanderer eine ſehr ange¬ meſſene Tracht ſey. Lange geſtrickte Bein¬183 kleider und ein Paar Schnürſtiefeln ſchienen die wahre Tracht eines Fußgängers. Dann verſchafte er ſich eine ſchöne ſeidne Schärpe, die er zuerſt unter dem Vorwande, den Leib warm zu halten, umband; dagegen befreyte er ſeinen Hals von der Knechtſchaft einer Binde, und ließ ſich einige Streifen Neſſel¬ tuch ans Hemde heften, die aber etwas breit geriethen, und das völlige Anſehn eines an¬ tiken Kragens erhielten. Das ſchöne ſeidne Halstuch, das gerettete Andenken Marianens, lag nur locker geknüpft unter der neſſeltuch¬ nen Krauſe. Ein runder Hut mit einem bunten Bande und einer großen Feder mach¬ te die Maskerade vollkommen.
Die Frauen betheuerten, dieſe Tracht laſſe ihm vorzüglich gut. Philine ſtellte ſich ganz bezaubert darüber, und bat ſich ſeine ſchönen Haare aus, die er, um dem natürlichen Ideal nur deſto näher zu kommen, unbarmherzig184 abgeſchnitten hatte. Sie empfahl ſich da¬ durch nicht übel, und unſer Freund, der durch ſeine Freygebigkeit ſich das Recht er¬ worben hatte, auf Prinz Harry’s Manier mit den übrigen umzugehen, kam bald ſelbſt in den Geſchmack, einige tolle Streiche anzu¬ geben und zu befördern. Man focht, man tanzte, man erfand allerley Spiele, und in der Fröhlichkeit des Herzens genoß man des leidlichen Weins, den man angetroffen hatte, in ſtarkem Maaße, und Philine lauerte in der Unordnung dieſer Lebensart dem ſpröden Helden auf, für den ſein guter Genius Sor¬ ge tragen möge.
Eine vorzügliche Unterhaltung, mit der ſich die Geſellſchaft beſonders ergötzte, be¬ ſtand in einem extemporirten Spiel, in wel¬ chem ſie ihre bisherigen Gönner und Wohl¬ thäter nachahmten und durchzogen. Einige unter ihnen hatten ſich ſehr gut die Eigen¬185 heiten des äuſſern Anſtands verſchiedner vor¬ nehmer Perſonen gemerkt, und die Nachbil¬ dung derſelben ward von der übrigen Ge¬ ſellſchaft mit dem größten Beyfall aufgenom¬ men, und als Philine aus dem geheimen Archiv ihrer Erfahrungen einige beſondere Liebeserklärungen, die an ſie geſchehen wa¬ ren, vorbrachte, wußte man ſich vor Lachen und Schadenfreude kaum zu laſſen.
Wilhelm ſchalt ihre Undankbarkeit; allein man ſetzte ihm entgegen, daß ſie das, was ſie dort erhalten, genugſam abverdient, und daß überhaupt das Betragen gegen ſo ver¬ dienſtvolle Leute, wie ſie ſich zu ſeyn rühm¬ ten, nicht das beſte geweſen ſey. Nun be¬ ſchwerte man ſich, mit wie wenig Achtung man ihnen begegnet, wie ſehr man ſie zurück geſetzt habe. Das Spotten, Necken und Nachahmen ging wieder an, und man ward immer bitterer und ungerechter.
186Ich wünſchte, ſagte Wilhelm darauf, daß durch euere Äuſſerungen weder Neid noch Eigenliebe durchſchiene, und daß ihr jene Perſonen und ihre Verhältniſſe aus dem rech¬ ten Geſichtspunkte betrachtetet. Es iſt eine eigene Sache, ſchon durch die Geburt auf einen erhabenen Platz in der menſchlichen Geſellſchaft geſetzt zu ſeyn. Wem ererbte Reichthümer eine vollkommene Leichtigkeit des Daſeyns verſchaft haben, wer ſich, wenn ich mich ſo ausdrücken darf, von allem Bey¬ weſen der Menſchheit, von Jugend auf, reichlich umgeben findet, gewöhnt ſich meiſt dieſe Güter als das Erſte und Größte zu betrachten, und der Werth einer von der Natur ſchön ausgeſtatteten Menſchheit wird ihm nicht ſo deutlich. Das Betragen der Vornehmen gegen Geringere und auch unter einander, iſt nach äuſſern Vorzügen abge¬ meſſen; ſie erlauben jedem ſeinen Titel, ſei¬187 nen Rang, ſeine Kleider und Equipage, nur nicht ſeine Verdienſte geltend zu machen.
Dieſen Worten gab die Geſellſchaft einen unmäßigen Beyfall. Man fand abſcheulich, daß der Mann von Verdienſt immer zurück ſtehen müſſe, und daß in der großen Welt keine Spur von natürlichem und herzlichem Umgang zu finden ſey. Sie kamen beſon¬ ders über dieſen letzten Punkt aus dem Hun¬ dertſten ins Tauſendſte.
Scheltet ſie nicht darüber, rief Wilhelm aus, bedauert ſie vielmehr. Denn von je¬ nem Glück, das wir als das höchſte erken¬ nen, das aus dem innern Reichthum der Natur fließt, haben ſie ſelten eine erhöhte Empfindung. Nur uns Armen, die wir we¬ nig oder nichts beſitzen, iſt es gegönnt, das Glück der Freundſchaft in reichem Maaße zu genießen. Wir können unſre Geliebten weder durch Gnade erheben, noch durch188 Gunſt befördern, noch durch Geſchenke be¬ glücken. Wir haben nichts als uns ſelbſt. Dieſes ganze Selbſt müſſen wir hingeben, und, wenn es einigen Werth haben ſoll, dem Freunde das Gut auf ewig verſichern. Welch ein Genuß, welch ein Glück für den Geber und Empfänger! In welchen ſeeligen Zu¬ ſtand verſetzt uns die Treue, ſie giebt dem vorübergehenden Menſchenleben eine himm¬ liſche Gewißheit; ſie macht das Hauptcapital unſres Reichthums aus.
Mignon hatte ſich ihm unter dieſen Wor¬ ten genähert, ſchlang ſeine zarten Arme um ihn, und blieb mit dem Köpfchen an ſeine Bruſt gelehnt ſtehen. Er legte die Hand auf des Kindes Haupt, und fuhr fort: Wie leicht wird es einem Großen, die Gemüther zu gewinnen, wie leicht eignet er ſich die Herzen zu. Ein gefälliges, bequemes, nur einigermaßen menſchliches Betragen thut189 Wunder, und wie viele Mittel hat er, die einmal erworbenen Geiſter feſt zu halten. Uns kommt alles ſeltner, wird alles ſchwerer, und wie natürlich iſt es, daß wir auf das, was wir erwerben und leiſten, einen größern Werth legen. Welche rührende Beyſpiele von treuen Dienern, die ſich für ihre Herren aufopferten! Wie ſchön hat uns Shakeſpear ſolche geſchildert! Die Treue iſt, in dieſem Falle, ein Beſtreben einer edlen Seele, einem Größern gleich zu werden. Durch fort¬ dauernde Anhänglichkeit und Liebe wird der Diener ſeinem Herrn gleich, der ihn ſonſt nur als einen bezahlten Sklaven anzuſehen berechtigt iſt. Ja, dieſe Tugenden ſind nur für den geringen Stand; er kann ſie nicht entbehren, und ſie kleiden ihn ſchön. Wer ſich leicht loskaufen kann, wird ſo leicht ver¬ ſucht, ſich auch der Erkenntlichkeit zu über¬ heben. Ja, in dieſem Sinne glaube ich be¬190 haupten zu können, daß ein Großer wohl Freunde haben, aber nicht Freund ſeyn könne.
Mignon drückte ſich immer feſter an ihn.
Nun gut, verſetzte einer aus der Geſell¬ ſchaft: wir brauchen ihre Freundſchaft nicht, und haben ſie niemals verlangt. Nur ſoll¬ ten ſie ſich beſſer auf Künſte verſtehen, die ſie doch beſchützen wollen. Wenn wir am beſten geſpielt haben, hat uns niemand zu¬ gehört; alles war lauter Partheylichkeit. Wem man günſtig war, der gefiel, und man war dem nicht günſtig, der zu gefallen ver¬ diente. Es war nicht erlaubt, wie oft das Alberne und Abgeſchmackte Aufmerkſamkeit und Beyfall auf ſich zog.
Wenn ich abrechne, verſetzte Wilhelm, was Schadenfreude und Ironie geweſen ſeyn mag: ſo denk ich, es geht in der Kunſt wie in der Liebe! Wie will der Weltmann bey191 ſeinem zerſtreuten Leben die Innigkeit erhal¬ ten, in der ein Künſtler bleiben muß, wenn er etwas Vollkommenes hervorzubringen denkt, und die ſelbſt demjenigen nicht fremd ſeyn darf, der einen ſolchen Antheil am Werke nehmen will, wie der Künſtler ihn wünſcht und hofft.
Glaubt mir, meine Freunde, es iſt mit den Talenten wie mit der Tugend: man muß ſie um ihrer ſelbſt willen lieben, oder ſie ganz aufgeben. Und doch werden ſie beide nicht anders erkannt und belohnt, als wenn man ſie, gleich einem gefährlichen Geheim¬ niß, im Verborgnen üben kann.
Unterdeſſen, bis ein Kenner uns auffindet, kann man Hungers ſterben, rief einer aus der Ecke.
Nicht eben ſogleich, verſetzte Wilhelm. Ich habe geſehen, ſo lange einer lebt und ſich rührt, findet er immer ſeine Nahrung,192 und wenn ſie auch gleich nicht die reichlichſte iſt. Und worüber habt ihr euch denn zu be¬ ſchweren? Sind wir nicht ganz unvermuthet, eben da es mit uns am ſchlimmſten aus¬ ſah, gut aufgenommen und bewirthet wor¬ den? Und jetzt, da es uns noch an nichts gebricht, fällt es uns denn ein, etwas zu un¬ ſerer Übung zu thun, und nur einigermaßen weiter zu ſtreben? Wir treiben fremde Din¬ ge, und entfernen, den Schulkindern ähnlich, alles, was uns nur an unſre Lection erinnern könnte.
Wahrhaftig, ſagte Philine, es iſt unver¬ antwortlich! laßt uns ein Stück wählen; wir wollen es auf der Stelle ſpielen. Jeder muß ſein Möglichſtes thun, als wenn er vor dem größten Auditorium ſtünde.
Man überlegte nicht lange; das Stück ward beſtimmt. Es war eines deren, die damals in Deutſchland großen Beyfall fan¬den,193den, und nun verſchollen ſind. Einige pfif¬ fen eine Symphonie, jeder beſann ſich ſchnell auf ſeine Rolle, man fing an und ſpielte mit der größten Aufmerkſamkeit das Stück durch, und wirklich über Erwartung gut. Man applaudirte ſich wechſelsweiſe; man hatte ſich ſelten ſo wohl gehalten.
Als ſie fertig waren, empfanden ſie alle ein ausnehmendes Vergnügen, theils über ihre wohlzugebrachte Zeit, theils weil jeder beſonders mit ſich zufrieden ſeyn konnte. Wilhelm ließ ſich weitläuftig zu ihrem Lobe heraus, und ihre Unterhaltung war heiter und fröhlich.
Ihr ſolltet ſehen, rief unſer Freund, wie weit wir kommen müßten, wenn wir unſre Übungen auf dieſe Art fortſetzten, und nicht blos auf Auswendiglernen, Probiren und Spielen uns mechaniſch pflicht - und hand¬ werksmäßig einſchränkten. Wie viel mehrW. Meiſters Lehrj. 2. N194Lob verdienen die Tonkünſtler, wie ſehr er¬ götzen ſie ſich, wie genau ſind ſie nicht, wenn ſie gemeinſchaftlich ihre Übungen vornehmen. Wie ſind ſie bemüht, ihre Inſtrumente über¬ einzuſtimmen, wie genau halten ſie Takt, wie zart wiſſen ſie die Stärke und Schwäche des Tons auszudrücken! Keinem fällt es ein, ſich bey dem Solo eines andern durch ein vorlautes Accompagniren Ehre zu machen. Jeder ſucht in dem Geiſt und Sinne des Componiſten zu ſpielen, und jeder das, was ihm aufgetragen iſt, es mag viel oder wenig ſeyn, gut auszudrücken.
Sollten wir nicht eben ſo genau und eben ſo geiſtreich zu Werke gehen, da wir eine Kunſt treiben, die noch viel zarter als jede Art von Muſik iſt, da wir die gewöhnlich¬ ſten und ſeltenſten Äuſſerungen der Menſch¬ heit geſchmackvoll und ergötzend darzuſtellen berufen ſind? Kann etwas abſcheulicher ſeyn,195 als in den Proben zu ſudeln, und ſich bey der Vorſtellung auf Laune und gut Glück zu verlaſſen? Wir ſollten unſer größtes Glück und Vergnügen darin ſetzen, mit einander übereinzuſtimmen, um uns wechſelsweiſe zu gefallen, und auch nur in ſo fern den Bey¬ fall des Publikums zu ſchätzen, als wir ihn uns gleichſam unter einander ſchon ſelbſt ga¬ rantirt hätten. Warum iſt der Kapellmeiſter ſeines Orcheſters gewiſſer, als der Director ſeines Schauſpiels? Weil dort jeder ſich ſei¬ nes Mißgriffs, der das äußere Ohr beleidigt, ſchämen muß; aber wie ſelten hab’ ich einen Schauſpieler verzeihliche und unverzeihliche Mißgriffe, durch die das innere Ohr ſo ſchnöde beleidigt wird, anerkennen und ſich ihrer ſchämen ſehen! Ich wünſchte nur, daß das Theater ſo ſchmal wäre, als der Draht eines Seiltänzers, damit ſich kein Ungeſchick¬ ter hinauf wagte, anſtatt daß jetzo ein jederN2196ſich Fähigkeit genug fühlt, darauf zu para¬ diren.
Die Geſellſchaft nahm dieſe Apoſtrophe gut auf, indem jeder überzeugt war, daß nicht von ihm die Rede ſeyn könne, da er ſich noch vor kurzem nebſt den übrigen ſo gut gehalten. Man kam vielmehr überein, daß man in dem Sinne, wie man angefan¬ gen, auf dieſer Reiſe und künftig, wenn man zuſammen bliebe, eine geſellige Bearbeitung wolle obwalten laſſen. Man fand nur, daß weil dieſes eine Sache der guten Laune und des freyen Willens ſey, ſo müſſe ſich eigent¬ lich kein Director darein miſchen. Man nahm als ausgemacht an, daß unter guten Menſchen die republikaniſche Form die beſte ſey; man behauptete, das Amt eines Di¬ rectors müſſe herum gehen; er müſſe von allen gewählt werden, und eine Art von kleinem Senat ihm jederzeit beygeſetzt blei¬197 ben. Sie waren ſo von dieſem Gedanken eingenommen, daß ſie wünſchten, ihn gleich ins Werk zu richten.
Ich habe nichts dagegen, ſagte Melina, wenn ihr auf der Reiſe einen ſolchen Ver¬ ſuch machen wollt; ich ſuſpendire meine Di¬ rectorſchaft gern, bis wir wieder an Ort und Stelle kommen. Er hofte, dabey zu ſparen, und manche Ausgaben der kleinen Republik oder dem Interimsdirector aufzuwälzen. Nun ging man ſehr lebhaft zu Rath, wie man die Form des neuen Staates aufs Beſte ein¬ richten wolle.
Es iſt ein wanderndes Reich, ſagte Laer¬ tes, wir werden wenigſtens keine Grenzſtrei¬ tigkeiten haben.
Man ſchritt ſogleich zur Sache, und er¬ wählte Wilhelm zum erſten Director. Der Senat ward beſtellt, die Frauen erhielten Sitz und Stimme, man ſchlug Geſetze vor.198 man verwarf, man genehmigte. Die Zeit ging unvermerkt unter dieſem Spiele vor¬ über, und weil man ſie angenehm zubrachte, glaubte man auch wirklich etwas Nützliches gethan und durch die neue Form eine neue Ausſicht für die vaterländiſche Bühne eröf¬ net zu haben.
199Wilhelm hoffte nunmehr, da er die Geſell¬ ſchaft in ſo guter Dispoſition ſah, ſich auch mit ihr über das dichteriſche Verdienſt der Stücke unterhalten zu können. Es iſt nicht genug, ſagte er zu ihnen, als ſie des andern Tages wieder zuſammen kamen, daß der Schauſpieler ein Stück nur ſo oben hin an¬ ſehe, daſſelbe nach dem erſten Eindruck beur¬ theile, und ohne Prüfung ſein Gefallen oder Mißfallen daran zu erkennen gebe. Dieß iſt dem Zuſchauer wohl erlaubt, der gerührt und unterhalten ſeyn, aber eigentlich nicht urtheilen will. Der Schauſpieler dagegen ſoll von dem Stücke und von den Urſachen ſeines Lobes und Tadels Rechenſchaft geben können: und wie will er das, wenn er nicht200 in den Sinn ſeines Autors, wenn er nicht in die Abſichten deſſelben einzudringen ver¬ ſteht? Ich habe den Fehler, ein Stück aus einer Rolle zu beurtheilen, eine Rolle nur an ſich und nicht im Zuſammenhange mit dem Stück zu betrachten, an mir ſelbſt in dieſen Tagen ſo lebhaft bemerkt, daß ich euch das Beyſpiel erzählen will, wenn ihr mir ein geneigtes Gehör gönnen wollt.
Ihr kennt Shakeſpears unvergleichlichen Hamlet aus einer Vorleſung, die euch noch auf dem Schloſſe das größte Vergnügen machte. Wir ſetzten uns vor, das Stück zu ſpielen, und ich hatte, ohne zu wiſſen was ich that, die Rolle des Prinzen übernommen; ich glaubte ſie zu ſtudieren, indem ich anfing die ſtärkſten Stellen, die Selbſtgeſpräche und jene Auftritte zu memoriren, in denen Kraft der Seele, Erhebung des Geiſtes und Leb¬ haftigkeit freyen Spielraum haben, wo das201 bewegte Gemüth ſich in einem gefühlvollen Ausdrucke zeigen kann.
Auch glaubte ich recht in den Geiſt der Rolle einzudringen, wenn ich die Laſt der tiefen Schwermuth gleichſam ſelbſt auf mich nähme, und unter dieſem Druck meinem Vor¬ bilde durch das ſeltſame Labyrinth ſo man¬ cher Launen und Sonderbarkeiten zu folgen ſuchte. So memorirte ich, und ſo übte ich mich, und glaubte nach und nach, mit mei¬ nem Helden zu einer Perſon zu werden.
Allein je weiter ich kam, deſto ſchwerer ward mir die Vorſtellung des Ganzen, und mir ſchien zuletzt faſt unmöglich, zu einer Überſicht zu gelangen. Nun ging ich das Stück in einer ununterbrochenen Folge durch, und auch da wollte mir leider manches nicht paſſen. Bald ſchienen ſich die Charaktere, bald der Ausdruck zu widerſprechen, und ich verzweifelte faſt, einen Ton zu finden, in202 welchem ich meine ganze Rolle mit allen Ab¬ weichungen und Schattirungen vortragen könnte. In dieſen Irrgängen bemühte ich mich lange vergebens, bis ich mich endlich auf einem ganz beſondern Wege meinem Ziele zu nähern hoffte.
Ich ſuchte jede Spur auf, die ſich von dem Character Hamlets in früherer Zeit vor dem Tode ſeines Vaters zeigte; ich bemerkte, was unabhängig von dieſer traurigen Bege¬ benheit, unabhängig von den nachfolgenden ſchrecklichen Ereigniſſen, dieſer intereſſante Jüngling geweſen war, und was er ohne ſie vielleicht geworden wäre.
Zart und edel entſproſſen wuchs die kö¬ nigliche Blume, unter den unmittelbaren Ein¬ flüſſen der Majeſtät, hervor; der Begriff des Rechts und der fürſtlichen Würde, das Ge¬ fühl des Guten und Anſtändigen mit dem Bewußtſeyn der Höhe ſeiner Geburt, ent¬203 wickelten ſich zugleich in ihm. Er war ein Fürſt, ein gebohrner Fürſt, und wünſchte zu regieren, nur damit der Gute ungehindert gut ſeyn möchte. Angenehm von Geſtalt, geſittet von Natur, gefällig von Herzen aus, ſollte er das Muſter der Jugend ſeyn, und die Freude der Welt werden.
Ohne irgend eine hervorſtechende Leiden¬ ſchaft, war ſeine Liebe zu Ophelien ein ſtil¬ les Vorgefühl ſüßer Bedürfniſſe; ſein Eifer zu ritterlichen Übungen war nicht ganz Ori¬ ginal, vielmehr mußte dieſe Luſt, durch das Lob, das man dem Dritten beylegte, ge¬ ſchärft und erhöht werden; rein fühlend kannte er die Redlichen, und wußte die Ruhe zu ſchätzen, die ein aufrichtiges Gemüth an dem offnen Buſen eines Freundes genießt. Bis auf einen gewiſſen Grad hatte er in Künſten und Wiſſenſchaften das Gute und Schöne erkennen und würdigen gelernt; das204 Abgeſchmackte war ihm zuwider, und wenn in ſeiner zarten Seele der Haß aufkeimen konnte, ſo war es nur eben ſo viel als nö¬ thig iſt, um bewegliche und falſche Höflinge zu verachten, und ſpöttiſch mit ihnen zu ſpie¬ len. Er war gelaſſen in ſeinem Weſen, in ſeinem Betragen einfach, weder im Müßig¬ gange behaglich, noch allzubegierig nach Be¬ ſchäftigung. Ein akademiſches Hinſchlendern ſchien er auch bey Hofe fortzuſetzen. Er be¬ ſaß mehr Fröhlichkeit der Laune als des Herzens, war ein guter Geſellſchafter, nach¬ giebig, beſcheiden, beſorgt, und konnte eine Beleidigung vergeben und vergeſſen; aber niemals konnte er ſich mit dem vereinigen, der die Grenzen des Rechten, des Guten, des Anſtändigen überſchritt.
Wenn wir das Stück wieder zuſammen leſen werden, könnt ihr beurtheilen, ob ich auf dem rechten Wege bin. Wenigſtens205 hoffe ich meine Meinung durchaus mit Stel¬ len belegen zu können.
Man gab der Schilderung lauten Bey¬ fall; man glaubte voraus zu ſehen, daß ſich nun die Handelsweiſe Hamlets gar gut wer¬ de erklären laſſen; man freute ſich über die Art, in den Geiſt des Schriftſtellers einzu¬ dringen. Jeder nahm ſich vor, auch irgend ein Stück auf dieſe Art zu ſtudieren und den Sinn des Verfaſſers zu entwickeln.
206Nur einige Tage mußte die Geſellſchaft an dem Orte liegen bleiben, und ſogleich zeigten ſich für verſchiedene Glieder derſelben nicht unangenehme Abentheuer, beſonders aber ward Laertes von einer Dame angereizt, die in der Nachbarſchaft ein Gut hatte, gegen die er ſich aber äußerſt kalt, ja unartig be¬ trug, und darüber von Philinen viele Spöt¬ tereyen erdulden mußte. Sie ergriff die Ge¬ legenheit, unſerm Freund die unglückliche Liebesgeſchichte zu erzählen, über die der arme Jüngling dem ganzen weiblichen Ge¬ ſchlechte feind geworden war. Wer wird ihm übel nehmen, rief ſie aus, daß er ein Geſchlecht haßt, das ihm ſo übel mitgeſpielt hat, und ihm alle Übel, die ſonſt Männer207 von Weibern zu befürchten haben, in einem ſehr concentrirten Tranke zu verſchlucken gab? Stellen Sie ſich vor: binnen vier und zwan¬ zig Stunden war er Liebhaber, Bräutigam, Ehmann, Hahnrey, Patient und Wittwer! Ich wüßte nicht, wie man’s einem ärger machen wollte!
Laertes lief halb lachend, halb verdrie߬ lich zur Stube hinaus, und Philine fing in ihrer allerliebſten Art die Geſchichte zu er¬ zählen an, wie Laertes als ein junger Menſch von achtzehn Jahren, eben als er bey einer Theatergeſellſchaft eingetroffen, ein ſchönes vierzehnjähriges Mädchen gefunden, die eben mit ihrem Vater, der ſich mit dem Director entzweyet, abzureiſen Willens geweſen. Er habe ſich aus dem Stegreife ſterblich ver¬ liebt, dem Vater alle mögliche Vorſtellungen gethan zu bleiben, und endlich verſprochen, das Mädchen zu heirathen. Nach einigen208 angenehmen Stunden des Brautſtandes ſey er getraut worden, habe eine glückliche Nacht als Ehmann zugebracht, darauf habe ihn ſeine Frau des andern Morgens, als er in der Probe geweſen, nach Standesgebühr mit einem Hörnerſchmuck beehrt; weil er aber aus allzugroßer Zärtlichkeit viel zu früh nach Hauſe geeilt, habe er leider einen ältern Liebhaber an ſeiner Stelle gefunden, habe mit unſinniger Leidenſchaft drein geſchlagen, Liebhaber und Vater herausgefordert, und ſey mit einer leidlichen Wunde davon ge¬ kommen. Vater und Tochter ſeyen darauf noch in der Nacht abgereiſt, und er ſey lei¬ der auf eine doppelte Weiſe verwundet zu¬ rück geblieben. Sein Unglück habe ihn zu dem ſchlechteſten Feldſcheer von der Welt ge¬ führt, und der Arme ſey leider mit ſchwar¬ zen Zähnen und triefenden Augen aus die¬ ſem Abentheuer geſchieden. Er ſey zu be¬dau¬209dauern, weil er übrigens der bravſte Junge ſey, den Gottes Erdboden trüge. Beſonders, ſagte ſie, thut es mir leid, daß der arme Narr nun die Weiber haßt: denn wer die Weiber haßt, wie kann der leben?
Melina unterbrach ſie, mit der Nachricht, daß alles zum Transport völlig bereit ſey, und daß ſie morgen früh abfahren könnten. Er überreichte ihnen eine Dispoſition, wie ſie fahren ſollten.
Wenn mich ein guter Freund auf den Schooß nimmt, ſagte Philine, ſo bin ich zu¬ frieden, daß wir eng und erbärmlich ſitzen, übrigens iſt mir alles einerley.
Es thut nichts, ſagte Laertes, der auch herbey kam.
Es iſt verdrießlich! ſagte Wilhelm, und eilte weg. Er fand für ſein Geld noch einen gar bequemen Wagen, den Melina verleug¬ net hatte. Eine andere Eintheilung wardW. Meiſters Lehrj. 2. O210gemacht, und man freuete ſich, bequem abrei¬ ſen zu können, als die bedenkliche Nachricht einlief: daß auf dem Wege, den ſie nehmen wollten, ſich ein Freycorps ſehen laſſe, von dem man nicht viel Gutes erwartete.
An dem Orte ſelbſt war man ſehr auf dieſe Zeitung aufmerkſam, wenn ſie gleich nur ſchwankend und zweydeutig war. Nach der Stellung der Armeen ſchien es unmög¬ lich, daß ein feindliches Corps ſich habe durch¬ ſchleichen, oder daß ein freundliches ſo weit habe zurück bleiben können. Jedermann war eifrig, unſrer Geſellſchaft die Gefahr, die auf ſie wartete, recht gefährlich zu beſchreiben, und ihr einen andern Weg anzurathen.
Die meiſten waren darüber in Unruhe und Furcht geſetzt, und als nach der neuen republikaniſchen Form die ſämmtlichen Glie¬ der des Staats zuſammen gerufen wurden, um über dieſen auſſerordentlichen Fall zu be¬211 rathſchlagen, waren ſie faſt einſtimmig der Meinung, daß man das Übel vermeiden und am Orte bleiben, oder ihm ausweichen und einen andern Weg erwählen müſſe.
Nur Wilhelm, von Furcht nicht einge¬ nommen, hielt für ſchimpflich, einen Plan, in den man mit ſo viel Überlegung einge¬ gangen war, nunmehr auf ein bloßes Ge¬ rücht aufzugeben. Er ſprach ihnen Muth ein, und ſeine Gründe waren männlich und überzeugend.
Noch, ſagte er, iſt es nichts als ein Ge¬ rücht, und wie viele entſtehen dergleichen im Kriege! Verſtändige Leute ſagen, daß der Fall höchſt unwahrſcheinlich, ja beynah unmöglich ſey. Sollten wir uns in einer ſo wichtigen Sache bloß durch ein ſo unge¬ wiſſes Gerede beſtimmen laſſen? Die Route, welche uns der Herr Graf angegeben hat, auf die unſer Paß lautet, iſt die kürzeſte,O 2212und wir finden auf ſelbiger den beſten Weg. Sie führt uns nach der Stadt, wo ihr Be¬ kanntſchaften, Freunde vor euch ſeht, und eine gute Aufnahme zu hoffen habt. Der Umweg bringt uns auch dahin; aber in wel¬ che ſchlimme Wege verwickelt er uns, wie weit führt er uns ab. Können wir Hoffnung haben, uns in der ſpäten Jahrszeit wieder heraus zu finden, und was für Zeit und Geld werden wir indeſſen verſplittern! Er ſagte noch viel, und trug die Sache von ſo mancherley vortheilhaften Seiten vor, daß ihre Furcht ſich verringerte, und ihr Muth zunahm. Er wußte ihnen ſo viel von der Mannszucht der regelmäßigen Truppen vor¬ zuſagen, und ihnen die Marodeurs und das hergelaufene Geſindel ſo nichtswürdig zu ſchildern, und ſelbſt die Gefahr ſo lieblich und luſtig darzuſtellen, daß alle Gemüther aufgeheitert wurden.
213Laertes war vom erſten Moment an auf ſeiner Seite, und verſicherte, daß er nicht wanken noch weichen wolle. Der alte Pol¬ terer fand wenigſtens einige übereinſtimmen¬ de Ausdrücke in ſeiner Manier, Philine lach¬ te ſie alle zuſammen aus, und da Madam Melina, die, ihrer hohen Schwangerſchaft un¬ geachtet, ihre natürliche Herzhaftigkeit nicht verloren hatte, den Vorſchlag heroiſch fand; ſo konnte Melina, der denn freylich auf dem nächſten Wege, auf den er accordirt hatte, viel zu ſparen hofte, nicht widerſtehen, und man willigte in den Vorſchlag von ganzem Herzen.
Nun fing man an, ſich auf alle Fälle zur Vertheidigung einzurichten. Man kaufte große Hirſchfänger, und hing ſie an wohl¬ geſtickten Riemen über die Schultern. Wil¬ helm ſteckte noch überdieß ein Paar Terze¬ role in den Gürtel, Laertes hatte ohnedem214 eine gute Flinte bey ſich, und man machte ſich mit einer hohen Freudigkeit auf den Weg.
Den zweyten Tag ſchlugen die Fuhrleute, die der Gegend wohl kundig waren, vor: ſie wollten auf einem waldigen Bergplatze Mit¬ tagsruhe halten, weil das Dorf weit abgele¬ gen ſey, und man bey guten Tagen gern dieſen Weg nähme.
Die Witterung war ſchön und jedermann ſtimmte leicht in den Vorſchlag ein. Wil¬ helm eilte zu Fuß durch das Gebirge vor¬ aus, und über ſeine ſonderbare Geſtalt mußte jeder, der ihm begegnete, ſtutzig werden. Er eilte mit ſchnellen und zufriedenen Schritten den Wald hinauf, Laertes pfiff hinter ihm drein, nur die Frauen ließen ſich in den Wagen fortſchleppen. Mignon lief gleich¬ falls nebenher, ſtolz auf den Hirſchfänger, den man ihr, als die Geſellſchaft ſich bewaff¬215 nete, nicht abſchlagen konnte. Um ihren Hut hatte ſie die Perlenſchnur gewunden, die Wilhelm von Marianens Reliquien übrig behalten hatte. Friedrich der Blonde trug die Flinte des Laertes, der Harfner hatte das friedlichſte Anſehen. Sein langes Kleid war in den Gürtel geſteckt, und ſo ging er freyer. Er ſtützte ſich auf einen knotigen Stab, ſein Inſtrument war bey den Wagen zurück geblieben.
Nachdem ſie nicht ganz ohne Beſchwer¬ lichkeit die Höhe erſtiegen, erkannten ſie ſo¬ gleich den angezeigten Platz an den ſchönen Buchen, die ihn umgaben und bedeckten. Eine große ſanft-abhängige Waldwieſe lud zum Bleiben ein; eine eingefaßte Quelle bot die lieblichſte Erquickung dar, und es zeigte ſich an der andern Seite durch Schluchten und Waldrücken eine ferne, ſchöne und hoff¬ nungsvolle Ausſicht. Da lagen Dörfer und216 Mühlen in den Gründen, Städtchen in der Ebene, und neue in der Ferne eintretende Berge machten die Ausſicht noch hoffnungs¬ voller, indem ſie nur wie eine ſanfte Be¬ ſchränkung hereintraten.
Die erſten Ankommenden nahmen Beſitz von der Gegend, ruhten im Schatten aus, machten ein Feuer an, und erwarteten ge¬ ſchäftig, ſingend die übrige Geſellſchaft, wel¬ che nach und nach herbey kam, und den Platz, das ſchöne Wetter, die unausſprechlich ſchöne Gegend mit Einem Munde begrüßte.
217Hatte man oft zwiſchen vier Wänden gute und fröhliche Stunden zuſammen genoſſen; ſo war man natürlich, noch viel aufgeweckter hier, wo die Freyheit des Himmels und die Schönheit der Gegend jedes Gemüth zu rei¬ nigen ſchien. Alle fühlten ſich einander nä¬ her, alle wünſchten in einem ſo angenehmen Aufenthalt ihr ganzes Leben hinzubringen. Man beneidete die Jäger, Köhler und Holz¬ hauer, Leute, die ihr Beruf an dieſen glückli¬ chen Wohnplätzen feſt hält; über alles aber pries man die reizende Wirthſchaft eines Zi¬ geunerhaufens. Man beneidete dieſe wun¬ derlichen Geſellen, die in ſeeligem Müßig¬ gange alle abentheuerlichen Reize der Natur zu genießen berechtigt ſind; man freute ſich, ihnen einigermaßen ähnlich zu ſeyn.
218Indeſſen hatten die Frauen angefangen, Erdäpfel zu ſieden, und die mitgebrachten Speiſen auszupacken und zu bereiten. Eini¬ ge Töpfe ſtanden beym Feuer, gruppenweiſe lagerte ſich die Geſellſchaft unter den Bäu¬ men und Büſchen. Ihre ſeltſame Kleidun¬ gen und die mancherley Waffen gaben ihr ein fremdes Anſehen. Die Pferde wurden bey Seite gefüttert, und wenn man die Kut¬ ſchen hätte verſtecken wollen, ſo wäre der Anblick dieſer kleinen Horde bis zur Illuſion romantiſch geweſen.
Wilhelm genoß ein nie gefühltes Ver¬ gnügen. Er konnte hier eine wandernde Colonie und ſich als Anführer derſelben den¬ ken. In dieſem Sinne unterhielt er ſich mit einem jeden, und bildete den Wahn des Moments ſo poetiſch als möglich aus. Die Gefühle der Geſellſchaft erhöhten ſich; man aß, trank und jubilirte, und bekannte wie¬219 derholt, niemals ſchönere Augenblicke erlebt zu haben.
Nicht lange hatte das Vergnügen zuge¬ nommen, als bey den jungen Leuten die Thätigkeit erwachte. Wilhelm und Laertes griffen zu den Rappieren, und fingen die߬ mal in theatraliſcher Abſicht ihre Übungen an. Sie wollten den Zweykampf darſtellen, in welchem Hamlet und ſein Gegner ein ſo tragiſches Ende nehmen. Beide Freunde waren überzeugt, daß man in dieſer wichti¬ gen Scene nicht, wie es wohl auf Theatern zu geſchehen pflegt, nur ungeſchickt hin und wieder ſtoßen dürfe; ſie hofften ein Muſter darzuſtellen, wie man, bey der Aufführung, auch dem Kenner der Fechtkunſt ein würdi¬ ges Schauſpiel zu geben habe. Man ſchloß einen Kreis um ſie her; beide fochten mit Eifer und Einſicht, das Intereſſe der Zu¬ ſchauer wuchs mit jedem Gange.
220Auf einmal aber fiel im nächſten Buſche ein Schuß, und gleich darauf noch einer, und die Geſellſchaft fuhr erſchreckt auseinan¬ der. Bald erblickte man bewaffnete Leute, die auf den Ort zudrangen, wo die Pferde nicht weit von den bepackten Kutſchen ihr Futter einnahmen.
Ein allgemeiner Schrey entfuhr dem weib¬ lichen Geſchlechte, unſre Helden warfen die Rappiere weg, griffen nach den Piſtolen, eil¬ ten den Räubern entgegen, und forderten, unter lebhaften Drohungen, Rechenſchaft des Unternehmens.
Als man ihnen lakoniſch mit ein Paar Musketenſchüſſen antwortete, druckte Wil¬ helm ſeine Piſtole auf einen Krauskopf ab, der den Wagen erſtiegen hatte, und die Stricke des Gepäckes auseinander ſchnitt. Wohlgetroffen ſtürzte er ſogleich herunter; Laertes hatte auch nicht fehl geſchoſſen, und221 beide Freunde zogen beherzt ihre Seitenge¬ wehre, als ein Theil der räuberiſchen Bande, mit Fluchen und Gebrüll, auf ſie losbrach, einige Schüſſe auf ſie that, und ſich mit blinkenden Säbeln ihrer Kühnheit entgegen ſetzte. Unſre junge Helden hielten ſich tapfer; ſie riefen ihren übrigen Geſellen zu, und munterten ſie zu einer allgemeinen Verthei¬ digung auf. Bald aber verlor Wilhelm den Anblick des Lichtes, und das Bewußtſeyn deſſen, was vorging. Von einem Schuß, der ihn zwiſchen der Bruſt und dem linken Arm verwundete, von einem Hiebe, der ihm den Hut ſpaltete, und faſt bis auf die Hirnſchale durchdrang, betäubt, fiel er nieder, und mu߬ te das unglückliche Ende des Überfalls nur erſt in der Folge aus der Erzählung ver¬ nehmen.
Als er die Augen wieder aufſchlug, be¬ fand er ſich in der wunderbarſten Lage. Das222 erſte, was ihm durch die Dämmerung, die noch vor ſeinen Augen lag, entgegen blickte, war das Geſicht Philinens, das ſich über das ſeine herüber neigte. Er fühlte ſich ſchwach, und da er, um ſich empor zu rich¬ ten, eine Bewegung machte, fand er ſich in Philinens Schooß, in den er auch wieder zurück ſank. Sie ſaß auf dem Raſen, hatte den Kopf des vor ihr ausgeſtreckten Jüng¬ lings leiſe an ſich gedrückt, und ihm in ihren Armen, ſo viel ſie konnte, ein ſanftes Lager bereitet. Mignon kniete mit zerſtreuten blu¬ tigen Haaren an ſeinen Füßen, und umfaßte ſie mit vielen Thränen.
Als Wilhelm ſeine blutigen Kleider an¬ ſah, fragte er mit gebrochner Stimme, wo er ſich befinde? was ihm und den andern begegnet ſey? Philine bat ihn, ruhig zu blei¬ ben, die übrigen, ſagte ſie, ſeyen alle in Si¬ cherheit, und niemand als er und Laertes223 verwundet. Weiter wollte ſie nichts erzäh¬ len, und bat ihn inſtändig, er möchte ſich ruhig halten, weil ſeine Wunden nur ſchlecht und in der Eile verbunden ſeyen. Er reichte Mignon die Hand, und erkundigte ſich nach der Urſache der blutigen Locken des Kindes, das er auch verwundet hielt.
Um ihn zu beruhigen, erzählte Philine: dieſes gutherzige Geſchöpf, da es ſeinen Freund verwundet geſehen, habe ſich in der Geſchwindigkeit auf nichts beſonnen, um das Blut zu ſtillen, es habe ſeine eigenen Haare die um den Kopf geflogen, genommen, um die Wunden zu ſtopfen, habe aber bald von dem vergeblichen Unternehmen abſtehen müſſen. Nachher verband man ihn mit Schwamm und Moos, Philine hatte dazu ihr Halstuch hergegeben.
Wilhelm bemerkte, daß Philine mit dem Rücken gegen ihren Koffer ſaß, der noch224 ganz wohl verſchloſſen und unbeſchädigt aus¬ ſah. Er fragte, ob die andern auch ſo glück¬ lich geweſen, ihre Haabſeligkeiten zu retten? Sie antwortete mit Achſelzucken und einem Blick auf die Wieſe, wo zerbrochne Kaſten, zerſchlagne Koffer, zerſchnittne Mantelſäcke und eine Menge kleiner Geräthſchaften zer¬ ſtreut hin und wieder lagen. Kein Menſch war auf dem Platze zu ſehen, und die wun¬ derliche Gruppe fand ſich in dieſer Einſam¬ keit allein.
Wilhelm erfuhr nun immer mehr als er wiſſen wollte: die übrigen Männer, die al¬ lenfalls noch Widerſtand hätten thun kön¬ nen, waren gleich in Schrecken geſetzt und bald überwältigt; ein Theil floh, ein Theil ſah mit Entſetzen dem Unfalle zu. Die Fuhr¬ leute, die ſich noch wegen ihrer Pferde am hartnäckigſten gehalten hatten, wurden nie¬ dergeworfen und gebunden, und in kurzemwar225war alles rein ausgeplündert und wegge¬ ſchleppt. Die beängſtigten Reiſenden fingen, ſobald die Sorge für ihr Leben vorüber war, ihren Verluſt zu bejammern an, eilten, mit möglichſter Geſchwindigkeit, dem benachbar¬ ten Dorfe zu, führten den leicht verwundeten Laertes mit ſich, und brachten nur wenige Trümmer ihrer Beſitzthümer davon. Der Harfner hatte ſein beſchädigtes Inſtrument an einen Baum gelehnt, und war mit nach dem Orte geeilt, einen Wundarzt aufzuſu¬ chen, und ſeinem für todt zurück gelaſſenen Wohlthäter nach Möglichkeit beyzuſpringen.
W. Meiſters Lehrj. 2. P226Unſre drey verunglückten Abenteurer blie¬ ben indeß noch eine Zeitlang in ihrer ſeltſa¬ men Lage, niemand eilte ihnen zu Hülfe. Der Abend kam herbey, die Nacht drohte hereinzubrechen; Philinens Gleichgültigkeit fing an in Unruhe überzugehen, Mignon lief hin und wieder, und die Ungeduld des Kin¬ des nahm mit jedem Augenblicke zu. End¬ lich da ihnen ihr Wunſch gewährt ward, und Menſchen ſich ihnen näherten, überfiel ſie ein neuer Schrecken. Sie hörten ganz deut¬ lich einen Trupp Pferde in dem Wege her¬ auf kommen, den auch ſie zurück gelegt hat¬ ten, und fürchteten, daß abermals eine Ge¬ ſellſchaft ungebetner Gäſte dieſen Wahlplatz beſuchen möchte, um Nachleſe zu halten.
227Wie angenehm wurden ſie dagegen über¬ raſcht, als ihnen aus den Büſchen, auf einem Schimmel reitend, ein Frauenzimmer zu Ge¬ ſichte kam, die von einem ältlichen Herrn und einigen Cavalieren begleitet wurde; Reitknechte, Bedienten und ein Trupp Huſa¬ ren folgten nach.
Philine, die zu dieſer Erſcheinung große Augen machte, war eben im Begriff zu ru¬ fen und die ſchöne Amazone um Hülfe an¬ zuflehen, als dieſe ſchon erſtaunt ihre Augen nach der wunderbaren Gruppe wendete, ſo¬ gleich ihr Pferd lenkte, herzuritt und ſtille hielt. Sie erkundigte ſich eifrig nach dem Verwundeten, deſſen Lage, in dem Schooße der leichtfertigen Samariterin, ihr höchſt ſon¬ derbar vorzukommen ſchien.
Iſt es Ihr Mann? fragte ſie Philinen. Es iſt nur ein guter Freund, verſetzte dieſe mit einem Ton, der Wilhelmen höchſt zuwi¬P 2228der war. Er hatte ſeine Augen auf die ſanften, hohen, ſtillen, theilnehmenden Ge¬ ſichtszüge der Ankommenden geheftet; er glaubte nie etwas edleres noch liebenswürdi¬ geres geſehen zu haben. Ein weiter Manns¬ überrock verbarg ihm ihre Geſtalt; ſie hatte ihn, wie es ſchien, gegen die Einflüſſe der kühlen Abendluft von einem ihrer Geſellſchaf¬ ter geborgt.
Die Ritter waren indeß auch näher ge¬ kommen; einige ſtiegen ab, die Dame that ein gleiches, und fragte, mit menſchenfreund¬ licher Theilnehmung, nach allen Umſtänden des Unfalls, der die Reiſenden betroffen hat¬ te, beſonders aber nach den Wunden des hingeſtreckten Jünglings. Darauf wandte ſie ſich ſchnell um, und ging mit einem alten Herrn ſeitwärts nach den Wagen, welche langſam den Berg herauf kamen, und auf dem Wahlplatze ſtille hielten.
229Nachdem die junge Dame eine kurze Zeit am Schlage der einen Kutſche geſtanden, und ſich mit den Ankommenden unterhalten hat¬ te, ſtieg ein Mann von unterſetzter Geſtalt heraus, den ſie zu unſerm verwundeten Hel¬ den führte. An dem Käſtchen, das er in der Hand hatte, und an der ledernen Taſche mit Inſtrumenten erkannte man ihn bald für ei¬ nen Wundarzt. Seine Manieren waren mehr rauh als einnehmend, doch ſeine Hand leicht, und ſeine Hülfe willkommen.
Er unterſuchte genau, erklärte, keine Wunde ſey gefährlich, er wolle ſie auf der Stelle verbinden, alsdann könne man den Kranken in das nächſte Dorf bringen.
Die Beſorgniſſe der jungen Dame ſchie¬ nen ſich zu vermehren. Sehen Sie nur, ſagte ſie, nachdem ſie einigemal hin und her¬ gegangen war, und den alten Herrn wieder herbey führte, ſehn Sie, wie man ihn zuge¬230 richtet hat! Und leidet er nicht um unſert¬ willen? Wilhelm hörte dieſe Worte, und verſtand ſie nicht. Sie ging unruhig hin und wieder; es ſchien, als könnte ſie ſich nicht von dem Anblick des Verwundeten los¬ reiſſen, und als fürchtete ſie zugleich den Wohlſtand zu verletzen, wenn ſie ſtehen blie¬ be, zu der Zeit, da man ihn, wiewohl mit Mühe, zu entkleiden anfing. Der Chirurgus ſchnitt, eben den linken Ermel auf, als der alte Herr hinzutrat und ihr, mit einem ernſt¬ haften Tone, die Nothwendigkeit ihre Reiſe fortzuſetzen vorſtellte. Wilhelm hatte ſeine Augen auf ſie gerichtet, und war von ihren Blicken ſo eingenommen, daß er kaum fühl¬ te, was mit ihm vorging.
Philine war indeſſen aufgeſtanden, um der gnädigen Dame die Hand zu küſſen. Als ſie neben einander ſtanden, glaubte un¬ ſer Freund nie einen ſolchen Abſtand geſehn231 zu haben. Philine war ihm noch nie in ei¬ nem ſo ungünſtigen Lichte erſchienen. Sie ſollte, wie es ihm vorkam, ſich jener edlen Natur nicht nahen, noch weniger ſie be¬ rühren.
Die Dame fragte Philinen verſchiednes, aber leiſe. Endlich kehrte ſie ſich zu dem alten Herrn, der noch immer trocken dabey ſtand, und ſagte: lieber Oheim, darf ich auf Ihre Koſten freygebig ſeyn? Sie zog ſogleich den Überrock aus, und ihre Abſicht, ihn dem Verwundeten und Unbekleideten hinzugeben, war nicht zu verkennen.
Wilhelm, den der heilſame Blick ihrer Augen bisher feſt gehalten hatte, war nun, als der Überrock fiel, von ihrer ſchönen Ge¬ ſtalt überraſcht. Sie trat näher herzu, und legte den Rock ſanft über ihn hin. In die¬ ſem Augenblicke, da er den Mund öffnen und einige Worte des Dankes ſtammeln232 wollte, wirkte der lebhafte Eindruck ihrer Gegenwart ſo ſonderbar auf ſeine ſchon an¬ gegriffenen Sinne, daß es ihm auf einmal vorkam, als ſey ihr Haupt mit Strahlen umgeben, und über ihr ganzes Bild verbreite ſich nach und nach ein glänzendes Licht. Der Chirurgus berührte ihn eben unſanfter, in¬ dem er die Kugel, welche in der Wunde ſtack, herauszuziehen Anſtalt machte. Die Heilige verſchwand vor den Augen des Hin¬ ſinkenden; er verlor alles Bewußtſeyn, und als er wieder zu ſich kam, waren Reiter und Wagen, die Schöne ſammt ihren Begleitern verſchwunden.
233Nachdem unſer Freund verbunden und an¬ gekleidet war, eilte der Chirurgus weg, eben als der Harfenſpieler mit einer Anzahl Bauern herauf kam. Sie bereiteten eilig aus abgehauenen Äſten und eingeflochtnem Reiſig eine Trage, luden den Verwundeten drauf und brachten ihn unter Anführung eines reitenden Jägers, den die Herrſchaft zurück gelaſſen hatte, ſachte den Berg hinun¬ ter. Der Harfner, ſtill und in ſich gekehrt, trug ſein beſchädigtes Inſtrument, einige Leu¬ te ſchleppten Philinens Koffer, ſie ſchlenderte mit einem Bündel nach, Mignon ſprang bald voraus, bald zur Seite durch Buſch und Wald, und blickte ſehnlich nach ihrem kranken Beſchützer hinüber.
234Dieſer lag, in ſeinen warmen Üeberrock gehüllt, ruhig auf der Bahre. Eine elektri¬ ſche Wärme ſchien aus der feinen Wolle in ſeinen Körper überzugehen; genug er fühlte ſich in die behaglichſte Empfindung verſetzt. Die ſchöne Beſitzerin des Kleides hatte mäch¬ tig auf ihn gewirkt. Er ſah noch den Rock von ihren Schultern fallen, die edelſte Ge¬ ſtalt, von Strahlen umgeben, vor ſich ſtehen, und ſeine Seele eilte der Verſchwundnen durch Felſen und Wälder auf dem Fuße nach.
Nur mit ſinkender Nacht kam der Zug im Dorfe vor dem Wirthshauſe an, in wel¬ chem ſich die übrige Geſellſchaft befand, und verzweiflungsvoll den unerſetzlichen Verluſt beklagte. Die einzige kleine Stube des Hau¬ ſes war von Menſchen vollgepfropft; einige lagen auf der Streue, andere hatten die Bänke eingenommen; einige ſich hinter den Ofen gedruckt, und Frau Melina erwartete,235 in einer benachbarten Kammer, ängſtlich ihre Niederkunft. Der Schrecken hatte ſie be¬ ſchleunigt, und unter dem Beyſtande der Wirthin, einer jungen, unerfahrnen Frau, konnte man wenig Gutes erwarten.
Als die neuen Ankömmlinge herein ge¬ laſſen zu werden verlangten, entſtand ein allgemeines Murren. Man behauptete nun, daß man allein auf Wilhelms Rath unter ſeiner beſondern Anführung dieſen gefährli¬ chen Weg unternommen, und ſich dieſem Un¬ fall ausgeſetzt habe. Man warf die Schuld des übeln Ausgangs auf ihn, widerſetzte ſich an der Thüre ſeinem Eintritt, und behaupte¬ te: er müſſe anderswo unterzukommen ſuchen. Philinen begegnete man noch ſchnöder, der Harfenſpieler und Mignon mußten auch das ihrige leiden.
Nicht lange hörte der Jäger, dem die Vorſorge für die Verlaßnen von ſeiner ſchö¬236 nen Herrſchaft ernſtlich anbefohlen war, dem Streite mit Geduld zu; er fuhr mit Fluchen und Drohen auf die Geſellſchaft los, gebot ihnen zuſammen zu rücken, und den Ankom¬ menden Platz zu machen. Man fing an ſich zu bequemen. Er bereitete Wilhelmen einen Platz auf einem Tiſche, den er in eine Ecke ſchob; Philine ließ ihren Koffer darneben ſtellen, und ſetzte ſich drauf. Jeder druckte ſich ſo gut er konnte, und der Jäger begab ſich weg, um zu ſehen, ob er nicht ein be¬ quemeres Quartier für das Ehepaar aus¬ machen könne.
Kaum war er fort, als der Unwille wie¬ der laut zu werden anfing, und ein Vorwurf den andern drängte. Jedermann erzählte und erhöhte ſeinen Verluſt, man ſchalt die Verwegenheit, durch die man ſo vieles ein¬ gebüßt, man verhehlte ſogar die Schaden¬ freude nicht, die man über die Wunden un¬237 ſers Freundes empfand, man verhöhnte Phi¬ linen, und wollte ihr die Art und Weiſe, wie ſie ihren Koffer gerettet, zum Verbrechen machen. Aus allerley Anzüglichkeiten und Stichelreden hätte man ſchließen ſollen, ſie habe ſich während der Plünderung und Nie¬ derlage um die Gunſt des Anführers der Bande bemüht, und habe ihn, wer weiß durch welche Künſte und Gefälligkeiten, ver¬ mocht, ihren Koffer frey zu geben. Man wollte ſie eine ganze Weile vermißt haben. Sie antwortete nichts und klapperte nur mit den großen Schlöſſern ihres Koffers, um ihre Neider recht von ſeiner Gegenwart zu über¬ zeugen, und die Verzweiflung des Haufens durch ihr eignes Glück zu vermehren.
238Wilhelm, ob er gleich durch den ſtarken Ver¬ luſt des Blutes ſchwach und nach der Er¬ ſcheinung jenes hülfreichen Engels mild und ſanft geworden war, konnte ſich doch zuletzt des Verdruſſes über die harten und unge¬ rechten Reden nicht enthalten, welche bey ſei¬ nem Stillſchweigen von der unzufriednen Geſellſchaft immer erneuert wurden. Endlich fühlte er ſich geſtärkt genug, um ſich aufzu¬ richten, und ihnen die Unart vorzuſtellen, mit der ſie ihren Freund und Führer beun¬ ruhigten. Er hob ſein verbundnes Haupt in die Höhe, und fing, indem er ſich mit eini¬ ger Mühe ſtützte und gegen die Wand lehn¬ te, folgendergeſtalt zu reden an:
239Ich vergebe dem Schmerze, den jeder über ſeinen Verluſt empfindet, daß ihr mich in einem Augenblicke beleidigt, wo ihr mich beklagen ſolltet, daß ihr mir widerſteht und mich von euch ſtoßt, das erſtemal da ich Hülfe von euch erwarten könnte. Für die Dienſte, die ich euch erzeigte, für die Gefäl¬ ligkeiten, die ich euch erwies, habe ich mich durch euren Dank, durch euer freundſchaftli¬ ches Betragen bisher genugſam belohnt ge¬ funden; verleitet mich nicht, zwingt mein Gemüth nicht zurückzugehn und zu überden¬ ken, was ich für euch gethan habe; dieſe[Berechnung] würde mir nur peinlich werden. Der Zufall hat mich zu euch geführt, Um¬ ſtände und eine heimliche Neigung haben mich bey euch gehalten. Ich nahm an euren Arbeiten, an euren Vergnügungen Theil; meine wenigen Kenntniſſe waren zu eurem Dienſte. Gebt ihr mir jetzt auf eine bittre240 Weiſe den Unfall Schuld, der uns betroffen hat; ſo erinnert ihr euch nicht, daß der erſte Vorſchlag dieſen Weg zu nehmen, von frem¬ den Leuten kam, von euch allen geprüft wor¬ den, und ſo gut von jedem als von mir ge¬ billigt worden iſt.
Wäre unſre Reiſe glücklich vollbracht, ſo würde ſich jeder wegen des guten Einfalls loben, daß er dieſen Weg angerathen, daß er ihn vorgezogen, er würde ſich unſrer Über¬ legungen und ſeines ausgeübten Stimmrechts mit Freuden erinnern; jetzo macht ihr mich allein verantwortlich, ihr zwingt mir eine Schuld auf, die ich willig übernehmen woll¬ te, wenn mich das reinſte Bewußtſeyn nicht frey ſpräche, ja wenn ich mich nicht auf euch ſelbſt berufen könnte. Habt ihr gegen mich etwas zu ſagen, ſo bringt es ordentlich vor, und ich werde mich zu vertheidigen wiſſen; habt ihr nichts Gegründetes anzugeben, ſoſchweigt,241ſchweigt, und quält mich nicht, jetzt da ich der Ruhe ſo äuſſerſt bedürftig bin.
Statt aller Antwort fingen die Mädchen abermals zu weinen und ihren Verluſt um¬ ſtändlich zu erzählen an. Melina war ganz auſſer Faſſung: denn er hatte freylich am meiſten und mehr als wir denken können eingebüßt. Wie ein Raſender ſtolperte er in dem engen Raume hin und her, ſtieß den Kopf wider die Wand, fluchte und ſchalt auf das unziemlichſte; und da nun gar zu glei¬ cher Zeit die aus der Kammer trat, mit der Nachricht, daß ſeine Frau mit einem todten Kinde niedergekommen, erlaubte er ſich die heftigſten Ausbrüche, und einſtimmig mit ihm heulte, ſchrie, brummte und lermte alles durcheinander.
Wilhelm, der zugleich von mitleidiger Theilnehmung an ihrem Zuſtande und von Verdruß über ihre niedrige Geſinnung bis inW. Meiſters Lehrj. 2. Q242ſein Innerſtes bewegt war, fühlte ohnerach¬ tet der Schwäche ſeines Körpers die ganze Kraft ſeiner Seele lebendig. Faſt, rief er aus, muß ich euch verachten, ſo beklagens¬ werth ihr auch ſeyn mögt. Kein Unglück be¬ rechtigt uns, einen Unſchuldigen mit Vorwür¬ fen zu beladen; habe ich Theil an dieſem falſchen Schritte, ſo büße ich auch mein Theil. Ich liege verwundet hier, und wenn die Geſellſchaft verloren hat, ſo verliere ich das meiſte. Was an Garderobe geraubt worden, was an Dekorationen zu Grunde gegangen, war mein; denn Sie, Herr Meli¬ na, haben mich noch nicht bezahlt, und ich ſpreche Sie von dieſer Forderung hiermit völlig frey.
Sie haben gut ſchenken, rief Melina, was niemand wiederſehen wird. Ihr Geld lag in meiner Frauen Koffer, und es iſt Ihre Schuld, daß es Ihnen verloren geht. Aber o! wenn243 das alles wäre! — Er fing aufs neue zu ſtampfen, zu ſchimpfen und zu ſchreyen an. Jedermann erinnerte ſich der ſchönen Kleider aus der Garderobe des Grafen, der Schnal¬ len, Uhren, Doſen, Hüte, welche Melina von dem Kammerdiener ſo glücklich gehandelt hatte. Jedem fielen ſeine eigenen, obgleich viel geringeren Schätze dabey wieder ins Gedächtniß; man blickte mit Verdruß auf Philinens Koffer, man gab Wilhelmen zu verſtehen, er habe wahrlich nicht übel gethan, ſich mit dieſer Schönen zu aſſociiren, und durch ihr Glück auch ſeine Habſeligkeiten zu retten.
Glaubt ihr denn, rief er endlich aus, daß ich etwas Eignes haben werde, ſo lange ihr darbt, und iſt es wohl das erſtemal, daß ich in der Noth mit euch redlich theile? Man öffne den Koffer, und was mein iſt, will ich zum öffentlichen Bedürfniß niederlegen.
Q 2244Es iſt mein Koffer, ſagte Philine, und ich werde ihn nicht eher aufmachen, bis es mir beliebt. Ihre Paar Fittige, die ich Ihnen aufgehoben, können wenig betragen, und wenn ſie an die redlichſten Juden verkauft werden. Denken Sie an ſich, was Ihre Hei¬ lung koſten, was Ihnen in einem fremden Lande begegnen kann.
Sie werden mir, Philine, verſetzte Wil¬ helm, nichts vorenthalten, was mein iſt, und das wenige wird uns aus der erſten Verle¬ genheit retten. Allein der Menſch beſitzt noch manches, womit er ſeinen Freunden bey¬ ſtehen kann, das eben nicht klingende Münze zu ſeyn braucht. Alles was in mir iſt, ſoll dieſen Unglücklichen gewidmet ſeyn, die ge¬ wis, wenn ſie wieder zu ſich ſelbſt kommen, ihr gegenwärtiges Betragen bereuen werden. Ja, fuhr er fort, ich fühle daß ihr bedürft, und was ich vermag, will ich euch leiſten,245 ſchenkt mir euer Vertrauen aufs neue, beru¬ higt euch für dieſen Augenblick, nehmet an, was ich euch verſpreche! Wer will die Zu¬ ſage im Namen aller von mir empfangen?
Hier reckte er ſeine Hand aus, und rief: ich verſpreche, daß ich nicht eher von euch weichen, euch nicht eher verlaſſen will, als bis ein jeder ſeinen Verluſt doppelt und drey¬ fach erſetzt ſieht, bis ihr den Zuſtand, in dem ihr euch, durch weſſen Schuld es wolle, befindet, völlig vergeſſen, und mit einem glücklichern vertauſcht habt.
Er hielt ſeine Hand noch immer ausge¬ ſtreckt, und niemand wollte ſie faſſen. Ich verſprech’ es noch einmal, rief er aus, indem er auf ſein Kiſſen zurück ſank. Alle blieben ſtille; ſie waren beſchämt, aber nicht getröſtet, und Philine, auf ihrem Koffer ſitzend, knackte Nüſſe auf, die ſie in ihrer Taſche gefunden hatte.
246Der Jäger kam mit einigen Leuten zurück, und machte Anſtalt, den Verwundeten weg¬ zuſchaffen. Er hatte den Pfarrer des Orts beredet, das Ehepaar aufzunehmen; Phili¬ nens Koffer ward fortgetragen, und ſie folgte mit natürlichem Anſtand. Mignon lief vor¬ aus, und da der Kranke im Pfarrhaus an¬ kam, ward ihm ein weites Ehebette, das ſchon lange Zeit als Gaſt – und Ehren-Bette bereit ſtand, eingegeben. Hier bemerkte man erſt, daß die Wunde aufgegangen war und ſtark geblutet hatte. Man mußte für einen neuen Verband ſorgen. Der Kranke verfiel in ein Fieber, Philine wartete ihn treulich, und als die Müdigkeit ſie übermeiſterte, lös¬ te ſie der Harfenſpieler ab; Mignon war,247 mit dem feſten Vorſatz, zu wachen, in einer Ecke eingeſchlafen.
Des Morgens, als Wilhelm ſich ein we¬ nig erholt hatte, erfuhr er von dem Jäger, daß die Herrſchaft, die ihnen geſtern zu Hülfe gekommen ſey, vor kurzem ihre Güter ver¬ laſſen habe, um den Kriegsbewegungen aus¬ zuweichen, und ſich bis zum Frieden in einer ruhigern Gegend aufzuhalten. Er nannte den ältlichen Herrn und ſeine Nichte, zeigte den Ort an, wohin ſie ſich zuerſt begeben, erklärte Wilhelmen, wie das Fräulein ihm eingebunden, für die Verlaßnen Sorge zu tragen.
Der hereintretende Wundarzt unterbrach die lebhaften Dankſagungen, in welche ſich Wilhelm gegen den Jäger ergoß, machte eine umſtändliche Beſchreibung der Wunden, verſicherte, daß ſie leicht heilen würden, wenn der Patient ſich ruhig hielte und ſich ab¬ wartete.
248Nachdem der Jäger weggeritten war, er¬ zählte Philine, daß er ihr einen Beutel mit zwanzig Louisd’oren zurück gelaſſen, daß er dem Geiſtlichen ein Douceur für die Woh¬ nung gegeben, und die Curkoſten für den Chirurgus bey ihm niedergelegt habe. Sie gelte durchaus für Wilhelms Frau, introdu¬ zire ſich ein für allemal bey ihm in dieſer Qualität, und werde nicht zugeben, daß er ſich nach einer andern Wartung umſehe.
Philine, ſagte Wilhelm, ich bin Ihnen bey dem Unfall, der uns begegnet iſt, ſchon manchen Dank ſchuldig worden, und ich wünſchte nicht, meine Verbindlichkeiten gegen Sie vermehrt zu ſehen. Ich bin unruhig, ſo lange Sie um mich ſind, denn ich weiß nichts, womit ich Ihnen die Mühe vergelten kann. Geben Sie mir meine Sachen, die Sie in Ihrem Koffer gerettet haben, heraus, ſchließen Sie ſich an die übrige Geſellſchaft249 an, ſuchen Sie ein ander Quartier, nehmen Sie meinen Dank und die goldne Uhr als eine kleine Erkenntlichkeit, nur verlaſſen Sie mich; Ihre Gegenwart beunruhigt mich mehr als Sie glauben.
Sie lachte ihm ins Geſicht, als er geen¬ digt hatte. Du biſt ein Thor, ſagte ſie, du wirſt nicht klug werden. Ich weiß beſſer was dir gut iſt; ich werde bleiben; ich wer¬ de mich nicht von der Stelle rühren. Auf den Dank der Männer habe ich niemals ge¬ rechnet, alſo auch auf deinen nicht; und wenn ich dich lieb habe, was geht’s dich an?
Sie blieb, und hatte ſich bald bey dem Pfarrer und ſeiner Familie eingeſchmeichelt, indem ſie immer luſtig war, jedem etwas zu ſchenken, jedem nach dem Sinne zu reden wußte, und dabey immer that, was ſie woll¬ te. Wilhelm befand ſich nicht übel; der Chirurgus, ein unwiſſender, aber nicht unge¬250 ſchickter Menſch, ließ die Natur walten, und ſo war der Patient bald auf dem Wege der Beſſerung. Sehnlich wünſchte dieſer ſich wieder hergeſtellt zu ſehen, um ſeine Plane, ſeine Wünſche eifrig verfolgen zu können.
Unaufhörlich rief er ſich jene Begebenheit zurück, welche einen unauslöſchlichen Ein¬ druck auf ſein Gemüth gemacht hatte. Er ſah die ſchöne Amazone reitend aus den Bü¬ ſchen hervorkommen, ſie näherte ſich ihm, ſtieg ab, ging hin und wieder, und bemühte ſich um ſeinetwillen. Er ſah das umhüllende Kleid von ihren Schultern fallen; ihr Ge¬ ſicht, ihre Geſtalt glänzend verſchwinden. Alle ſeine Jugendträume knüpften ſich an dieſes Bild. Er glaubte nunmehr die edle heldenmüthige Chlorinde mit eignen Augen geſehen zu haben; ihm fiel der kranke Kö¬ nigsſohn wieder ein, an deſſen Lager die ſchöne theilnehmende Prinzeſſin mit ſtiller Beſcheidenheit herantritt.
251Sollten nicht, ſagte er manchmal im Stil¬ len zu ſich ſelbſt, uns in der Jugend wie im Schlafe, die Bilder zukünftiger Schickſale umſchweben, und unſerm unbefangenen Auge ahndungsvoll ſichtbar werden? ſollten die Keime deſſen, was uns begegnen wird, nicht ſchon von der Hand des Schickſals ausge¬ ſtreut, ſollte nicht ein Vorgenuß der Früchte, die wir einſt zu brechen hoffen, möglich ſeyn?
Sein Krankenlager gab ihm Zeit jene Scene tauſendmal zu wiederholen. Tauſend¬ mal rief er den Klang jener ſüßen Stimme zurück, und wie beneidete er Philinen, die jene hülfreiche Hand geküßt hatte. Oft kam ihm die Geſchichte wie ein Traum vor, und er würde ſie für ein Mährchen gehalten ha¬ ben, wenn nicht das Kleid zurück geblieben wäre, das ihm die Gewisheit der Erſcheinung verſicherte.
252Mit der größten Sorgfalt für dieſes Ge¬ wand war das lebhafteſte Verlangen verbun¬ den, ſich damit zu bekleiden. Sobald er auf¬ ſtand, warf er es über, und ſorgte den gan¬ zen Tag, es möchte durch einen Flecken, oder auf ſonſt eine Weiſe beſchädigt werden.
253Laertes beſuchte ſeinen Freund. Er war bey jener lebhaften Scene im Wirthshauſe nicht gegenwärtig geweſen, denn er lag in einer obern Kammer. Über ſeinen Verluſt war er ſehr getröſtet, und half ſich mit ſeinem ge¬ wöhnlichen: was thuts? Er erzählte ver¬ ſchiedne lächerliche Züge von der Geſellſchaft, beſonders gab er Frau Melina Schuld: ſie beweine den Verluſt ihrer Tochter nur des¬ wegen, weil ſie nicht das altdeutſche Vergnü¬ gen haben könne, eine Mechtilde taufen zu laſſen. Was ihren Mann betreffe, ſo offen¬ bare ſichs nun, daß er viel Geld bey ſich gehabt, und auch ſchon damals des Vor¬ ſchuſſes, den er Wilhelmen abgelockt, keines¬ weges bedurft habe. Melina wolle nunmehr254 mit dem nächſten Poſtwagen abgehn, und werde von Wilhelmen ein Empfehlungsſchrei¬ ben an ſeinen Freund den Director Serlo verlangen, bey deſſen Geſellſchaft er, weil die eigne Unternehmung geſcheitert, nun un¬ terzukommen hoffe.
Mignon war einige Tage ſehr ſtill gewe¬ ſen, und als man in ſie drang, geſtand ſie endlich, daß ihr rechter Arm verrenkt ſey. Das haſt du deiner Verwegenheit zu dan¬ ken, ſagte Philine, und erzählte: wie das Kind im Gefechte ſeinen Hirſchfänger gezo¬ gen, und als es ſeinen Freund in Gefahr geſehen, wacker auf die Freybeuter zugehauen habe. Endlich ſey es beym Arme ergriffen und auf die Seite geſchleudert worden. Man ſchalt auf ſie, daß ſie das Übel nicht eher entdeckt habe, doch merkte man wohl, daß ſie ſich vor dem Chirurgus geſcheut, der ſie bisher immer für einen Knaben gehalten255 hatte. Man ſuchte das Übel zu heben, und ſie mußte den Arm in der Binde tragen. Hierüber war ſie aufs neue empfindlich, weil ſie den beſten Theil der Pflege und War¬ tung ihres Freundes Philinen überlaſſen mußte, und die angenehme Sünderin zeigte ſich nur um deſto thätiger und aufmerkſamer.
Eines Morgens als Wilhelm erwachte, fand er ſich mit ihr in einer ſonderbaren Nähe. Er war auf ſeinem weiten Lager in der Unruhe des Schlafs ganz an die hintere Seite gerutſcht. Philine lag queer über den vordern Theil hingeſtreckt; ſie ſchien auf dem Bette ſitzend und leſend eingeſchlafen zu ſeyn. Ein Buch war ihr aus der Hand gefallen, ſie war zurück und mit dem Kopf nah’ an ſeine Bruſt geſunken, über die ſich ihre blon¬ den aufgelößten Haare in Wellen ausbreite¬ ten. Die Unordnung des Schlafs erhöhte mehr als Kunſt und Vorſatz ihre Reize; eine256 kindiſche lächelnde Ruhe ſchwebte über ihrem Geſichte. Er ſah ſie eine Zeitlang an, und ſchien ſich ſelbſt über das Vergnügen zu ta¬ deln, womit er ſie anſah, und wir wiſſen nicht, ob er ſeinen Zuſtand ſegnete oder ta¬ delte, der ihm Ruhe und Mäßigung zur Pflicht machte. Er hatte ſie eine Zeitlang aufmerkſam betrachtet, als ſie ſich zu regen anfing. Er ſchloß die Augen ſachte zu, doch konnte er nicht unterlaſſen zu blinzen und nach ihr zu ſehen, als ſie ſich wieder zurecht putzte und wegging, nach dem Frühſtück zu fragen.
Nach und nach hatten ſich nun die ſämmt¬ lichen Schauſpieler bey Wilhelmen gemeldet, hatten Empfehlungsſchreiben und Reiſegeld mehr oder weniger unartig und ungeſtüm gefordert und immer mit Widerwillen Phili¬ nens erhalten. Vergebens ſtellte ſie ihrem Freunde vor, daß der Jäger auch dieſen Leu¬ten257ten eine anſehnliche Summe zurückgelaſſen, daß man ihn nur zum Beſten habe. Viel¬ mehr kamen ſie darüber in einen lebhaften Zwiſt, und Wilhelm behauptete nunmehr ein für allemal, daß ſie ſich gleichfalls an die übrige Geſellſchaft anſchließen und ihr Glück bey Serlo verſuchen ſollte.
Nur einige Augenblicke verließ ſie ihr Gleichmuth, dann erholte ſie ſich ſchnell wie¬ der, und rief: wenn ich nur meinen Blonden wieder hätte, ſo wollt’ ich mich um euch alle nichts kümmern. Sie meinte Friedrichen, der ſich vom Wahlplatze verloren und nicht wieder gezeigt hatte.
Des andern Morgens brachte Mignon die Nachricht ans Bette: daß Philine in der Nacht abgereiſt ſey; im Nebenzimmer habe ſie alles, was ihm gehöre, ſehr ordentlich zu¬ ſammen gelegt. Er empfand ihre Abweſen¬ heit; er hatte an ihr eine treue Wärterin,W. Meiſters Lehrj. 2. R258eine muntere Geſellſchafterin verloren; er war nicht mehr gewohnt allein zu ſeyn. Al¬ lein Mignon füllte die Lücke bald wieder aus.
Seitdem jene leichtfertige Schöne in ihren freundlichen Bemühungen den Verwundeten umgab, hatte ſich die Kleine nach und nach zurück gezogen, und war ſtille für ſich geblie¬ ben; nun aber da ſie wieder freyes Feld ge¬ wann, trat ſie mit Aufmerkſamkeit und Liebe hervor, war eifrig ihm zu dienen, und mun¬ ter ihn zu unterhalten.
259Mit lebhaften Schritten nahete er ſich der Beſſerung. Er hoffte nun in wenig Tagen ſeine Reiſe antreten zu können. Er wollte nicht etwa planlos ein ſchlenderndes Leben fortſetzen, ſondern zweckmäßige Schritte ſoll¬ ten künftig ſeine Bahn bezeichnen. Zuerſt wollte er die hülfreiche Herrſchaft aufſuchen, um ſeine Dankbarkeit an den Tag zu legen, alsdann zu ſeinem Freunde dem Director eilen, um für die verunglückte Geſellſchaft auf das beſte zu ſorgen, und zugleich die Handelsfreunde, an die er mit Addreſſen ver¬ ſehen war, beſuchen, und die ihm aufgetrag¬ nen Geſchäfte verrichten. Er machte ſich Hoffnung, daß ihm das Glück wie vorher auch künftig beyſtehen, und ihm GelegenheitR 2260verſchaffen werde, durch eine glückliche Spe¬ kulation den Verluſt zu erſetzen, und die Lücke ſeiner Caſſe wieder auszufüllen.
Das Verlangen, ſeine Retterin wieder zu ſehen, wuchs mit jedem Tage. Um ſeine Reiſeroute zu beſtimmen, ging er mit dem Geiſtlichen zu Rathe, der ſchöne geographi¬ ſche und ſtatiſtiſche Kenntniſſe hatte, und eine artige Bücher – und Karten – Sammlung beſaß. Man ſuchte nach dem Orte, den die edle Familie während des Kriegs zu ihrem Sitz erwählt hatte, man ſuchte Nachrichten von ihr ſelbſt auf; allein der Ort war in keiner Geographie, auf keiner Karte zu fin¬ den, und die genealogiſchen Handbücher ſag¬ ten nichts von einer ſolchen Familie.
Wilhelm wurde unruhig, und als er ſei¬ ne Bekümmerniß laut werden ließ, entdeckte ihm der Harfenſpieler: er habe Urſache zu glauben, daß der Jäger, es ſey aus welcher261 Urſache es wolle, den wahren Nahmen ver¬ ſchwiegen habe.
Wilhelm, der nun einmal ſich in der Nähe der Schönen glaubte, hoffte einige Nachricht von ihr zu erhalten, wenn er den Harfenſpieler abſchickte; aber auch dieſe Hoff¬ nung ward getäuſcht. So ſehr der Alte ſich auch erkundigte, konnte er doch auf keine Spur kommen. In jenen Tagen waren ver¬ ſchiedene lebhafte Bewegungen und unvor¬ geſehene Durchmärſche in dieſen Gegenden vorgefallen, niemand hatte auf die reiſende Geſellſchaft beſonders Acht gegeben, ſo daß der ausgeſendete Bote, um nicht für einen jüdiſchen Spion angeſehn zu werden, wieder zurück gehen und ohne Oelblatt vor ſeinem Herrn und Freund erſcheinen mußte. Er legte ſtrenge Rechenſchaft ab, wie er den Auftrag auszurichten geſucht, und war be¬ müht, allen Verdacht einer Nachläſſigkeit von262 ſich zu entfernen. Er ſuchte auf alle Weiſe Wilhelms Betrübniß zu lindern, beſann ſich auf alles, was er von dem Jäger erfahren hatte, und brachte mancherley Muthmaßun¬ gen vor, wobey denn endlich ein Umſtand vorkam, woraus Wilhelm einige räthſelhafte Worte der ſchönen Verſchwundnen deuten konnte.
Die räuberiſche Bande nämlich hatte nicht der wandernden Truppe, ſondern jener Herrſchaft aufgepaßt, bey der ſie mit Recht vieles Geld und Koſtbarkeiten vermuthete, und von deren Zug ſie genaue Nachricht mußte gehabt haben. Man wußte nicht, ob man die That einem Freycorps, ob man ſie Marodeurs oder Räubern zuſchreiben ſollte. Genug, zum Glücke der vornehmen und rei¬ chen Caravane waren die Geringen und Ar¬ men zuerſt auf den Platz gekommen, und hatten das Schickſal erduldet, das jenen zu¬263 bereitet war. Darauf bezogen ſich die Wor¬ te der jungen Dame, deren ſich Wilhelm noch gar wohl erinnerte. Wenn er nun ver¬ gnügt und glücklich ſeyn konnte, daß ein vorſichtiger Genius ihn zum Opfer beſtimmt hatte, eine vollkommene Sterbliche zu retten, ſo war er dagegen nahe an der Verzweif¬ lung, da ihm, ſie wieder zu finden, ſie wie¬ der zu ſehen, wenigſtens für den Augenblick, alle Hoffnung verſchwunden war.
Was dieſe ſonderbare Bewegung in ihm vermehrte, war die Ähnlichkeit, die er zwi¬ ſchen der Gräfin und der ſchönen Unbekann¬ ten entdeckt zu haben glaubte. Sie glichen ſich, wie ſich Schweſtern gleichen mögen, de¬ ren keine die jüngere noch die ältere genannt werden darf, denn ſie ſcheinen Zwillinge zu ſeyn.
Die Erinnerung an die liebenswürdige Gräfin war ihm unendlich ſüß. Er rief ſich264 ihr Bild nur allzugern wieder ins Gedächt¬ niß. Aber nun trat die Geſtalt der edlen Amazone gleich dazwiſchen, eine Erſcheinung verwandelte ſich in die andere, ohne daß er im Stande geweſen wäre, dieſe oder jene feſt zu halten.
Wie wunderbar mußte ihm daher die Ähnlichkeit ihrer Handſchriften ſeyn! denn er verwahrte ein reizendes Lied von der Hand der Gräfin in ſeiner Schreibtafel, und in dem Überrocke hatte er ein Zettelchen gefun¬ den, worin man ſich mit viel zärtlicher Sorg¬ falt nach dem Befinden eines Oheims erkun¬ digte.
Wilhelm war überzeugt, daß ſeine Rette¬ rin dieſes Billet geſchrieben; daß es auf der Reiſe in einem Wirthshauſe aus einem Zim¬ mer in das andere geſchickt und von dem Oheim in die Taſche geſteckt worden ſey. Er hielt beide Handſchriften gegen einander, und
265 wenn die zierlich geſtellten Buchſtaben der Gräfin ihm ſonſt ſo ſehr gefallen hatten; ſo fand er in den ähnlichen aber freyeren Zü¬ gen der Unbekannten eine unausſprechlich fließende Harmonie. Das Billet enthielt nichts, und ſchon die Züge ſchienen ihn, ſo wie ehemals die Gegenwart der Schönen, zu erheben.
Er verfiel in eine träumende Sehnſucht, und wie einſtimmend mit ſeinen Empfindun¬ gen war das Lied, das eben in dieſer Stun¬ de Mignon und der Harfner als ein unre¬ gelmäßiges Duett mit dem herzlichſten Aus¬ drucke ſangen:
Die ſanften Lockungen des lieben Schutzgei¬ ſtes, anſtatt unſern Freund auf irgend einen Weg zu führen, nährten und vermehrten die Unruhe, die er vorher empfunden hatte. Eine heimliche Gluth ſchlich in ſeinen Adern, be¬ ſtimmte und unbeſtimmte Gegenſtände wech¬ ſelten in ſeiner Seele, und erregten ein end¬ loſes Verlangen. Bald wünſchte er ſich ein Roß, bald Flügel, und indem es ihm un¬ möglich ſchien, bleiben zu können, ſah er ſich erſt um, wohin er denn eigentlich begehre.
Der Faden ſeines Schickſals hatte ſich ſo ſonderbar verworren; er wünſchte die ſeltſa¬ men Knoten aufgelöſt oder zerſchnitten zu ſe¬ hen. Oft wenn er ein Pferd traben oder einen Wagen rollen hörte, ſchaute er eilig268 zum Fenſter hinaus, in der Hoffnung, es würde jemand ſeyn, der ihn aufſuchte, und wäre es auch nur durch Zufall, ihm Nach¬ richt, Gewisheit und Freude brächte. Er erzählte ſich Geſchichten vor, wie ſein Freund Werner in dieſe Gegend kommen und ihn überraſchen könnte, daß Mariane vielleicht erſcheinen dürfte. Der Ton eines jeden Poſt¬ horns ſetzte ihn in Bewegung. Melina ſoll¬ te von ſeinem Schickſale Nachricht geben, vorzüglich aber ſollte der Jäger wiederkom¬ men und ihn zu jener angebeteten Schönheit einladen.
Von allem dieſem geſchah leider nichts, und er mußte zuletzt wieder mit ſich allein bleiben, und indem er das Vergangne wieder durchnahm, ward ihm ein Umſtand, je mehr er ihn betrachtete und beleuchtete, immer wi¬ driger und unerträglicher. Es war ſeine ver¬ unglückte Heerführerſchaft, an die er ohne269 Verdruß nicht denken konnte. Denn ob er gleich am Abend jenes böſen Tages ſich vor der Geſellſchaft ſo ziemlich herausgeredet hat¬ te; ſo konnte er ſich doch ſelbſt ſeine Schuld nicht verleugnen. Er ſchrieb ſich vielmehr in hypochondriſchen Augenblicken den ganzen Vorfall allein zu.
Die Eigenliebe läßt uns ſowohl unſre Tugenden als unſre Fehler viel bedeutender, als ſie ſind, erſcheinen. Er hatte das Ver¬ trauen auf ſich rege gemacht, den Willen der übrigen gelenkt, und war von Unerfahrenheit und Kühnheit geleitet, vorangegangen; es ergriff ſie eine Gefahr, der ſie nicht gewach¬ ſen waren. Laute und ſtille Vorwürfe ver¬ folgten ihn, und wenn er der irregeführten Geſellſchaft nach dem empfindlichen Verluſte zugeſagt hatte, ſie nicht zu verlaſſen, bis er ihnen das Verlorne mit Wucher erſetzt hät¬ te; ſo hatte er ſich über eine neue Verwe¬270 genheit zu ſchelten, womit er ein allgemeines ausgetheiltes Übel auf ſeine Schultern zu nehmen ſich vermaß. Bald verwies er ſich, daß er durch Aufſpannung und Drang des Augenblicks ein ſolches Verſprechen gethan hatte; bald fühlte er wieder, daß jenes gut¬ müthige Hinreichen ſeiner Hand, die niemand anzunehmen würdigte, nur eine leichte Förm¬ lichkeit ſey gegen das Gelübde, das ſein Herz gethan hatte. Er ſann auf Mittel, ihnen wohlthätig und nützlich zu ſeyn, und fand alle Urſache, ſeine Reiſe zu Serlo zu beſchleunigen. Er packte nunmehr ſeine Sa¬ chen zuſammen, und eilte, ohne ſeine völlige Geneſung abzuwarten, ohne auf den Rath des Paſtors und Wundarztes zu hören, in der wunderbaren Geſellſchaft Mignons und des Alten, der Unthätigkeit zu entfliehen, in der ihn ſein Schickſal abermals nur zu lange gehalten hatte.
271Serlo empfing ihn mit offnen Armen, und rief ihm entgegen: Seh ich Sie? Erkenn’ ich Sie wieder? Sie haben ſich wenig oder nicht geändert, iſt Ihre Liebe zur edelſten Kunſt noch immer ſo ſtark und lebendig? So ſehr erfreu ich mich über Ihre Ankunft, daß ich ſelbſt das Mißtrauen nicht mehr fühle, das Ihre letzten Briefe bey mir erregt haben.
Wilhelm bat betroffen um eine nähere Erklärung.
Sie haben ſich, verſetzte Serlo, gegen mich nicht wie ein alter Freund betragen; Sie haben mich wie einen großen Herrn be¬ handelt, dem man mit gutem Gewiſſen un¬ brauchbare Leute empfehlen darf. Unſer Schickſal hängt von der Meinung des Pu¬272 blikums ab, und ich fürchte, daß Ihr Herr Melina mit den ſeinigen ſchwerlich bey uns wohl aufgenommen werden dürfte.
Wilhelm wollte etwas zu ihren Gunſten ſprechen, aber Serlo fing an, eine ſo un¬ barmherzige Schilderung von ihnen zu ma¬ chen, daß unſer Freund ſehr zufrieden war, als ein Frauenzimmer in das Zimmer trat, das Geſpräch unterbrach, und ihm ſogleich als Schweſter Aurelia von ſeinem Freunde vorgeſtellt ward. Sie empfing ihn auf das freundſchaftlichſte, und ihre Unterhaltung war ſo angenehm, daß er nicht einmal einen ent¬ ſchiedenen Zug des Kummers gewahr wurde, der ihrem geiſtreichen Geſicht noch ein beſon¬ deres Intereſſe gab.
Zum erſtenmal ſeit langer Zeit fand ſich Wilhelm wieder in ſeinem Elemente. Bey ſeinen Geſprächen hatte er ſonſt nur noth¬ dürftig gefällige Zuhörer gefunden, da erge¬273gegenwärtig mit Künſtlern und Kennern zu ſprechen das Glück hatte, die ihn nicht allein vollkommen verſtanden, ſondern die auch ſein Geſpräch belehrend erwiederten. Mit wel¬ cher Geſchwindigkeit ging man die neuſten Stücke durch! mit welcher Sicherheit beur¬ theilte man ſie! wie wußte man das Urtheil des Publikums zu prüfen und zu ſchätzen! in welcher Geſchwindigkeit klärte man einan¬ der auf!
Nun mußte ſich, bey Wilhelms Vorliebe für Shakeſpearen, das Geſpräch nothwendig auf dieſen Schriftſteller lenken. Er zeigte die lebhafteſte Hoffnung auf die Epoche, wel¬ che dieſe vortrefflichen Stücke in Deutſchland machen müßten, und bald brachte er ſeinen Hamlet vor, der ihn ſo ſehr beſchäftigt hatte.
Serlo verſicherte, daß er das Stück längſt, wenn es nur möglich geweſen wäre, gegeben hätte, daß er gern die Rolle des PoloniusW. Meiſters Lehrj. 2. S274übernehmen wolle. Dann ſetzte er mit Lä¬ cheln hinzu: und Ophelien finden ſich wohl auch, wenn wir nur erſt den Prinzen haben.
Wilhelm bemerkte nicht, daß Aurelien dieſer Scherz des Bruders zu mißfallen ſchien; er ward vielmehr nach ſeiner Art weitläuftig und lehrreich, in welchem Sinne er den Hamlet geſpielt haben wolle. Er legte ihnen die Reſultate umſtändlich dar, mit welchen wir ihn oben beſchäftigt geſehen, und gab ſich alle Mühe, ſeine Meinung annehmlich zu machen, ſo viel Zweifel auch Serlo gegen ſeine Hypotheſe erregte. Nun gut, ſagte die¬ ſer zuletzt, wir geben Ihnen alles zu, was wollen Sie weiter daraus erklären?
Vieles, alles, verſetzte Wilhelm. Denken Sie ſich einen Prinzen, wie ich ihn geſchil¬ dert habe, deſſen Vater unvermuthet ſtirbt. Ehrgeitz und Herrſchſucht ſind nicht die Lei¬ denſchaften, die ihn beleben; er hatte ſich’s275 gefallen laſſen, Sohn eines Königs zu ſeyn; aber nun iſt er erſt genöthigt auf den Ab¬ ſtand aufmerkſamer zu werden, der den Kö¬ nig vom Unterthan ſcheidet. Das Recht zur Krone war nicht erblich, und doch hätte ein längeres Leben ſeines Vaters die Anſprüche ſeines einzigen Sohnes mehr befeſtigt, und die Hoffnung zur Krone geſichert. Dagegen ſieht er ſich nun durch ſeinen Oheim, ohnge¬ achtet ſcheinbarer Verſprechungen, vielleicht auf immer ausgeſchloſſen, er fühlt ſich nun ſo arm an Gnade, an Gütern, und fremd in dem, was er von Jugend auf als ſein Ei¬ genthum betrachten konnte. Hier nimmt ſein Gemüth die erſte traurige Richtung. Er fühlt, daß er nicht mehr, ja nicht ſo viel iſt als jeder Edelmann, er giebt ſich für einen Die¬ ner eines jeden, er iſt nicht höflich, nicht her¬ ablaſſend, nein, herabgeſunken und bedürftig.
Nach ſeinem vorigen Zuſtande blickt erS 2276nur wie nach einem verſchwundnen Traume. Vergebens, daß ſein Oheim ihn aufmuntern, ihm ſeine Lage aus einem andern Geſichts¬ punkte zeigen will, die Empfindung ſeines Nichts verläßt ihn nie.
Der zweyte Schlag, der ihn traf, verletzte tiefer, beugte noch mehr. Es iſt die Heirath ſeiner Mutter. Ihm, einem treuen und zärt¬ lichen Sohne, blieb, da ſein Vater ſtarb, eine Mutter noch übrig; er hoffte in Geſell¬ ſchaft ſeiner hinterlaßnen edlen Mutter die Heldengeſtalt jenes großen Abgeſchiednen zu verehren; aber auch ſeine Mutter verliert er, und es iſt ſchlimmer als wenn ſie ihm der Tod geraubt hätte. Das zuverläßige Bild, das ſich ein wohlgerathnes Kind ſo gern von ſeinen Eltern macht, verſchwindet; bey dem Todten iſt keine Hülfe, und an der Lebendi¬ gen kein Halt. Sie iſt auch ein Weib, und unter dem allgemeinen Geſchlechtsnahmen, Gebrechlichkeit, iſt auch ſie begriffen.
277Nun erſt fühlt er ſich recht gebeugt, nun erſt verwaiſt, und kein Glück der Welt kann ihm wieder erſetzen, was er verloren hat. Nicht traurig, nicht nachdenklich von Natur, wird ihm Trauer und Nachdenken zur ſchwe¬ ren Bürde. So ſehen wir ihn auftreten. Ich glaube nicht, daß ich etwas in das Stück hineinlege, oder einen Zug übertreibe.
Serlo ſah ſeine Schweſter an, und ſagte: habe ich dir ein falſches Bild von unſerm Freunde gemacht? Er fängt gut an, und wird uns noch manches vorerzählen und viel überreden. Wilhelm ſchwur hoch und theuer, daß er nicht überreden, ſondern überzeugen wolle, und bat nur noch um einen Augen¬ blick Geduld.
Denken Sie ſich, rief er aus, dieſen Jüng¬ ling, dieſen Fürſtenſohn recht lebhaft, verge¬ genwärtigen Sie ſich ſeine Lage, und dann beobachten Sie ihn, wenn er erfährt, die278 Geſtalt ſeines Vaters erſcheine; ſtehen Sie ihm bey in der ſchrecklichen Nacht, wenn der ehrwürdige Geiſt ſelbſt vor ihm auftritt. Ein ungeheures Entſetzen ergreift ihn; er redet die Wundergeſtalt an; ſieht ſie win¬ ken, folgt und hört — Die ſchrecklichſte An¬ klage wider ſeinen Oheim ertönt in ſeinen Ohren; Aufforderung zur Rache und die dringende wiederholte Bitte: erinnere Dich meiner!
Und da der Geiſt verſchwunden iſt, wen ſehen wir vor uns ſtehen? Einen jungen Helden, der nach Rache ſchnaubt? Einen ge¬ bohrnen Fürſten, der ſich glücklich fühlt, ge¬ gen den Uſurpator ſeiner Krone aufgefordert zu werden? Nein! Staunen und Trübſinn überfällt den Einſamen; er wird bitter gegen die lächelnden Böſewichter; ſchwört den Ab¬ geſchiednen nicht zu vergeſſen, und ſchließt mit dem bedeutenden Seufzer: die Zeit iſt279 aus dem Gelenke; wehe mir, daß ich geboh¬ ren war, ſie wieder einzurichten.
In dieſen Worten, dünkt mich, liegt der Schlüſſel zu Hamlets ganzen Betragen, und mir iſt deutlich, daß Shakeſpear habe ſchil¬ dern wollen: eine große That auf eine Seele gelegt, die der That nicht gewachſen iſt. Und in dieſem Sinne find’ ich das Stück durch¬ gängig gearbeitet. Hier wird ein Eichbaum in ein köſtliches Gefäß gepflanzt, das nur liebliche Blumen in ſeinen Schooß hätte auf¬ nehmen ſollen; die Wurzeln dehnen ſich aus, das Gefäß wird zernichtet.
Ein ſchönes, reines, edles, höchſt morali¬ ſches Weſen, ohne die ſinnliche Stärke, die den Helden macht, geht unter einer Laſt zu Grunde, die es weder tragen noch abwerfen kann; jede Pflicht iſt ihm heilig, dieſe zu ſchwer. Das Unmögliche wird von ihm ge¬ fordert, nicht das Unmögliche an ſich, ſondern280 das was ihm unmöglich iſt. Wie er ſich windet, dreht, ängſtigt, vor und zurück tritt; immer erinnert wird, ſich immer erinnert, und zuletzt faſt ſeinen Zweck aus dem Sinne ver¬ liert, ohne doch jemals wieder froh zu werden.
281Verſchiedene Perſonen traten herein, die das Geſpräch unterbrachen. Es waren Virtuo¬ ſen, die ſich bey Serlo gewöhnlich einmal die Woche zu einem kleinen Concerte ver¬ ſammelten. Er liebte die Muſik ſehr, und behauptete, daß ein Schauſpieler ohne dieſe Liebe niemals zu einem deutlichen Begriff und Gefühl ſeiner eigenen Kunſt gelangen könne. So wie man viel leichter und an¬ ſtändiger agire, wenn die Gebährden durch eine Melodie begleitet und geleitet werden, ſo müſſe der Schauſpieler ſich auch ſeine pro¬ ſaiſche Rolle gleichſam im Sinne componi¬ ren, daß er ſie nicht nur eintönig nach ſeiner individuellen Art und Weiſe hinſudele, ſon¬ dern ſie in gehöriger Abwechſelung nach Takt und Maaß behandle.
282Aurelie ſchien an allem, was vorging, we¬ nig Antheil zu nehmen, vielmehr führte ſie zuletzt unſern Freund in ein Seitenzimmer, und indem ſie ans Fenſter trat und den ge¬ ſtirnten Himmel anſchaute, ſagte ſie zu ihm: Sie ſind uns manches über Hamlet ſchuldig geblieben; ich will zwar nicht voreilig ſeyn, und wünſche, daß mein Bruder auch mit an¬ hören möge, was Sie uns noch zu ſagen haben, doch laſſen Sie mich Ihre Gedanken über Ophelien hören.
Von ihr läßt ſich nicht viel ſagen, ver¬ ſetzte Wilhelm, denn nur mit wenig Meiſter¬ zügen iſt ihr Charakter vollendet. Ihr gan¬ zes Weſen ſchwebt in reifer ſüßer Sinnlich¬ keit. Ihre Neigung zu dem Prinzen, auf deſſen Hand ſie Anſpruch machen darf, fließt ſo aus der Quelle, das gute Herz überläßt ſich ſo ganz ſeinem Verlangen, daß Vater und Bruder beide fürchten, beide geradezu283 und unbeſcheiden warnen. Der Wohlſtand, wie der leichte Flor auf ihrem Buſen, kann die Bewegung ihres Herzens nicht verbergen, er wird vielmehr ein Verräther dieſer leiſen Bewegung. Ihre Einbildungskraft iſt ange¬ ſteckt, ihre ſtille Beſcheidenheit athmet eine liebevolle Begierde, und ſollte die bequeme Göttin Gelegenheit das Bäumchen ſchütteln, ſo würde die Frucht ſogleich herabfallen.
Und nun, ſagte Aurelie, wenn ſie ſich verlaſſen ſieht, verſtoßen und verſchmäht, wenn in der Seele ihres wahnſinnigen Ge¬ liebten ſich das Höchſte zum Tiefſten um¬ wendet, und er ihr ſtatt des ſüßen Bechers der Liebe den bittern Kelch der Leiden hin¬ reicht —
Ihr Herz bricht, rief Wilhelm aus, das ganze Gerüſte ihres Daſeyns rückt aus ſei¬ nen Fugen, der Tod ihres Vaters ſtürmt herein, und das ſchöne Gebäude ſtürzt völlig zuſammen.
284Wilhelm hatte nicht bemerkt, mit wel¬ chem Ausdruck Aurelie die letzten Worte aus¬ ſprach. Nur auf das Kunſtwerk, deſſen Zu¬ ſammenhang und Vollkommenheit gerichtet, ahndete er nicht, daß ſeine Freundin eine ganz andere Wirkung empfand; nicht, daß ein eigner tiefer Schmerz durch dieſe drama¬ tiſchen Schattenbilder in ihr lebhaft erregt ward.
Noch immer hatte Aurelie ihr Haupt von ihren Armen unterſtützt, und ihre Augen, die ſich mit Thränen füllten, gen Himmel ge¬ wendet. Endlich hielt ſie nicht länger ihren verborgnen Schmerz zurück; ſie faßte des Freundes beide Hände, und rief, indem er erſtaunt vor ihr ſtand: verzeihen Sie, ver¬ zeihen Sie einem geängſtigten Herzen! die Geſellſchaft ſchnürt und preßt mich zuſam¬ men, vor meinem unbarmherzigen Bruder muß ich mich zu verbergen ſuchen; nun hat285 Ihre Gegenwart alle Bande aufgelöſt. Mein Freund! fuhr ſie fort, ſeit einem Augenblicke ſind wir erſt bekannt, und ſchon werden Sie mein Vertrauter. Sie konnte die Worte kaum ausſprechen, und ſank an ſeine Schul¬ ter. Denken Sie nicht übler von mir, ſagte ſie ſchluchzend, daß ich mich Ihnen ſo ſchnell eröffne, daß Sie mich ſo ſchwach ſehen. Seyn Sie, bleiben Sie mein Freund, ich verdiene es. Er redete ihr auf das herzlich¬ ſte zu, umſonſt! ihre Thränen floſſen und er¬ ſtickten ihre Worte.
In dieſem Augenblicke trat Serlo ſehr unwillkommen herein, und ſehr unerwartet Philine, die er bey der Hand hielt. Hier iſt Ihr Freund, ſagte er zu ihr, er wird ſich freun, Sie zu begrüßen.
Wie! rief Wilhelm erſtaunt, muß ich Sie hier ſehen? Mit einem beſcheidnen, geſetzten Weſen ging ſie auf ihn los, hieß ihn will¬286 kommen, rühmte Serlo’s Güte, der ſie ohne ihr Verdienſt, bloß in Hoffnung, daß ſie ſich bilden werde, unter ſeine treffliche Trup¬ pe aufgenommen habe. Sie that dabey ge¬ gen Wilhelmen freundlich, doch aus einer ehrerbietigen Entfernung.
Dieſe Verſtellung währte aber nicht län¬ ger, als die Beiden zugegen waren. Denn als Aurelie ihren Schmerz zu verbergen weg¬ ging, und Serlo abgerufen ward, ſah Phili¬ ne erſt recht genau nach den Thüren, ob bei¬ de auch gewiß fort ſeyen, dann hüpfte ſie wie thörigt in der Stube herum, ſetzte ſich an die Erde, und wollte vor Kichern und Lachen erſticken. Dann ſprang ſie auf, ſchmeichelte unſerm Freunde, und freute ſich über alle maßen, daß ſie ſo klug geweſen ſey, vorauszugehen, das Terrain zu recognoſciren und ſich einzuniſten.
Hier geht es bunt zu, ſagte ſie, gerade287 ſo wie mir’s recht iſt. Aurelie hat einen un¬ glücklichen Liebeshandel mit einem Edelman¬ ne gehabt, der ein prächtiger Menſch ſeyn muß, und den ich ſelbſt wohl einmal ſehen möchte. Er hat ihr ein Andenken hinterlaſ¬ ſen, oder ich müßte mich ſehr irren. Es läuft da ein Knabe herum, ohngefähr von drey Jahren, ſchön wie die Sonne; der Papa mag allerliebſt ſeyn, ich kann ſonſt die Kinder nicht leiden, aber dieſer Junge freut mich. Ich habe ihr nachgerechnet. Der Tod ihres Mannes, die neue Bekanntſchaft, das Alter des Kindes, alles trift zuſammen.
Nun iſt der Freund ſeiner Wege gegan¬ gen; ſeit einem Jahre ſieht er ſie nicht mehr. Sie iſt darüber auſſer ſich und untröſtlich. Die Närrin! — Der Bruder hat unter der Truppe eine Tänzerin, mit der er ſchön thut, ein Aktrischen, mit der er vertraut iſt, in der Stadt noch einige Frauen, denen er aufwar¬288 tet, und nun ſteh ich auch auf der Liſte. Der Narr! — Vom übrigen Volke ſollſt du morgen hören. Und nun noch ein Wörtchen von Philinen, die Du kennſt, die Erznärrin iſt in Dich verliebt. Sie ſchwur, daß es wahr ſey, und betheuerte, daß es ein rechter Spaß ſey. Sie bat Wilhelmen inſtändig, er möchte ſich in Aurelien verlieben, dann werde die Hetze erſt recht angehen. Sie läuft ihrem Ungetreuen, Du ihr, ich Dir und der Bruder mir nach. Wenn das nicht eine Luſt auf ein halbes Jahr giebt, ſo will ich an der erſten Epiſode ſterben, die ſich zu die¬ ſem vierfach verſchlungenen Romane hinzu¬ wirft. Sie bat ihn, er möchte ihr den Han¬ del nicht verderben, und ihr ſo viel Achtung bezeigen, als ſie durch ihr öffentliches Betra¬ gen verdienen wolle.
Funf¬289Den nächſten Morgen gedachte Wilhelm Madam Melina zu beſuchen; er fand ſie nicht zu Hauſe, fragte nach den übrigen Gliedern der wandernden Geſellſchaft, und erfuhr: Philine habe ſie zum Frühſtück ein¬ geladen. Aus Neugier eilte er hin, und traf ſie alle ſehr aufgeräumt und getröſtet. Das kluge Geſchöpf hatte ſie verſammelt, ſie mit Chocolade bewirthet, und ihnen zu verſtehen gegeben, noch ſey nicht alle Ausſicht ver¬ ſperrt; ſie hoffe durch ihren Einfluß den Di¬ rector zu überzeugen, wie vortheilhaft es ihm ſey, ſo geſchickte Leute in ſeine Geſell¬ ſchaft aufzunehmen. Sie hörten ihr auf¬ merkſam zu, ſchlurften eine Taſſe nach der andern hinunter, fanden das Mädchen garW. Meiſters Lehrj. 2. T290nicht übel, und nahmen ſich vor, das Beſte von ihr zu reden.
Glauben Sie denn, ſagte Wilhelm, der mit Philinen allein geblieben war, daß Serlo ſich noch entſchließen werde, unſre Gefährten zu behalten? Mit nichten, verſetzte Philine, es iſt mir auch gar nichts daran gelegen, ich wollte, ſie wären je eher je lieber fort! den einzigen Laertes wünſcht’ ich zu behal¬ ten; die übrigen wollen wir ſchon nach und nach bey Seite bringen.
Hierauf gab ſie ihrem Freunde zu verſte¬ hen, daß ſie gewiß überzeugt ſey, er werde nunmehr ſein Talent nicht länger vergraben, ſondern unter Direction eines Serlo auf’s Theater gehen. Sie konnte die Ordnung, den Geſchmack, den Geiſt, der hier herrſche, nicht genug rühmen; ſie ſprach ſo ſchmei¬ chelnd zu unſerm Freunde, ſo ſchmeichel¬ haft von ſeinen Talenten, daß ſein Herz291 und ſeine Einbildungskraft ſich eben ſo ſehr dieſem Vorſchlage näherten, als ſein Ver¬ ſtand und ſeine Vernunft ſich davon entfern¬ ten. Er verbarg ſeine Neigung vor ſich ſelbſt und vor Philinen, und brachte einen unruhigen Tag zu, an dem er ſich nicht ent¬ ſchließen konnte, zu ſeinen Handelscorreſpon¬ denten zu gehen, und die Briefe, die dort für ihn liegen möchten, abzuholen. Denn ob er ſich gleich die Unruhe der Seinigen dieſe Zeit über vorſtellen konnte, ſo ſcheute er ſich doch, ihre Sorgen und Vorwürfe um¬ ſtändlich zu erfahren, um ſo mehr, da er ſich einen großen und reinen Genuß dieſen Abend von der Aufführung eines neuen Stücks ver¬ ſprach.
Serlo hatte ſich geweigert, ihn bey der Probe zuzulaſſen. Sie müſſen uns, ſagte er, erſt von der beſten Seite kennen lernen, eh wir zugeben, daß Sie uns in die Karte ſehen.
T 2292Mit der größten Zufriedenheit wohnte aber auch unſer Freund den Abend darauf der Vorſtellung bey. Es war das erſtemal, daß er ein Theater in ſolcher Vollkommenheit ſah. Man traute ſämmtlichen Schauſpielern fürtrefliche Gaben, glückliche Anlagen und einen hohen und klaren Begriff von ihrer Kunſt zu, und doch waren ſie einander nicht gleich; aber ſie hielten und trugen ſich wech¬ ſelsweiſe, feuerten einander an, und waren in ihrem ganzen Spiele ſehr beſtimmt und genau. Man fühlte bald, daß Serlo die Seele des Ganzen war, und er zeichnete ſich ſehr zu ſeinem Vortheil aus. Eine heitere Laune, eine gemäßigte Lebhaftigkeit, ein be¬ ſtimmtes Gefühl des Schicklichen bey einer großen Gabe der Nachahmung, mußte man an ihm, wie er aufs Theater trat, wie er den Mund öffnete, bewundern. Die innere Behaglichkeit ſeines Daſeyns ſchien ſich über293 alle Zuhörer auszubreiten, und die geiſtreiche Art, mit der er die feinſten Schattirungen der Rollen mit der größten Leichtigkeit aus¬ druckte, erweckte um ſoviel mehr Freude, als er die Kunſt zu verbergen wußte, die er ſich durch eine anhaltende Übung eigen gemacht hatte.
Seine Schweſter Aurelie blieb nicht hin¬ ter ihm, und erhielt noch größeren Beyfall, indem ſie die Gemüther der Menſchen rühr¬ te, die er zu erheitern und zu erfreuen ſo ſehr im Stande war.
Nach einigen Tagen, die auf eine ange¬ nehme Weiſe zugebracht wurden, verlangte Aurelie nach unſerm Freund. Er eilte zu ihr, und fand ſie auf dem Kanapee liegen; ſie ſchien am Kopfweh zu leiden, und ihr ganzes Weſen konnte eine fieberhafte Bewe¬ gung nicht verbergen. Ihr Auge erheiterte ſich, als ſie den Hereintretenden anſah. Ver¬294 geben Sie! rief ſie ihm entgegen, das Zu¬ trauen, das Sie mir einflößten, hat mich ſchwach gemacht. Bisher konnt’ ich mich mit meinen Schmerzen im Stillen unterhalten, ja ſie gaben mir Stärke und Troſt, nun ha¬ ben Sie, ich weiß nicht wie es zugegangen iſt, die Bande der Verſchwiegenheit gelöſt, und Sie werden nun ſelbſt wider Willen Theil an dem Kampfe nehmen, den ich gegen mich ſelbſt ſtreite.
Wilhelm antwortete ihr freundlich und verbindlich. Er verſicherte, daß ihr Bild und ihre Schmerzen ihm beſtändig vor der Seele geſchwebt, daß er ſie um ihr Vertrauen bit¬ te, daß er ſich ihr zum Freund widme.
Indem er ſo ſprach, wurden ſeine Augen von dem Knaben angezogen, der vor ihr auf der Erde ſaß, und allerley Spielwerk durch¬ einander warf. Er mochte, wie Philine ſchon angegeben, ohngefähr drey Jahre alt ſeyn,295 und Wilhelm verſtand nun erſt, warum das leichtfertige, in ihren Ausdrücken ſelten erha¬ bene Mädchen den Knaben der Sonne ver¬ glichen. Denn um die offnen braunen Au¬ gen und das volle Geſicht kräuſelten ſich die ſchönſten goldnen Locken, an einer blendend weißen Stirne zeigten ſich zarte dunkle ſanft¬ gebogene Augenbraunen, und die lebhafte Farbe der Geſundheit glänzte auf ſeinen Wangen. Setzen Sie ſich zu mir, ſagte Au¬ relie, Sie ſehen das glückliche Kind mit Ver¬ wundrung an; gewiß, ich habe es mit Freu¬ den auf meine Arme genommen, ich bewahre es mit Sorgfalt; nur kann ich auch recht an ihm den Grad meiner Schmerzen erken¬ nen, weil ich den Werth einer ſolchen Gabe nur ſelten empfinde.
Erlauben Sie mir, fuhr ſie fort, daß ich nun auch von mir und meinem Schickſale rede; denn es iſt mir ſehr daran gelegen, daß296 Sie mich nicht verkennen. Ich glaubte eini¬ ge gelaſſene Augenblicke zu haben, darum ließ ich Sie rufen; Sie ſind nun da, und ich habe meinen Faden verloren.
Ein verlaßnes Geſchöpf mehr in der Welt! werden Sie ſagen. Sie ſind ein Mann, und denken: wie gebährdet ſie ſich bey einem nothwendigen Übel, das gewiſſer als der Tod über einem Weibe ſchwebt, bey der Untreue eines Mannes, die Thörin! — O mein Freund, wäre mein Schickſal gemein, ich wollte gern gemeines Übel ertragen, aber es iſt ſo außerordentlich, warum kann ichs Ihnen nicht im Spiegel zeigen, warum nicht jemand auftragen, es Ihnen zu erzählen? O wäre ich verführt, überraſcht und dann ver¬ laſſen, dann würde in der Verzweiflung noch Troſt ſeyn; aber ich bin weit ſchlimmer dar¬ an, ich habe mich ſelbſt hintergangen, mich ſelbſt wider Wiſſen betrogen, das iſts, was ich mir niemals verzeihen kann.
297Bey edlen Geſinnungen, wie die Ihrigen ſind, verſetzte der Freund, können Sie nicht ganz unglücklich ſeyn.
Und wiſſen Sie, wem ich meine Geſin¬ nungen ſchuldig bin? fragte Aurelie; der al¬ lerſchlechteſten Erziehung, durch die jemals ein Mädchen hätte verderbt werden ſollen, dem ſchlimmſten Beyſpiele, um Sinne und Neigung zu verführen.
Nach dem frühzeitigen Tode meiner Mut¬ ter bracht’ ich die ſchönſten Jahre der Ent¬ wicklung bey einer Tante zu, die ſich zum Geſetz machte, die Geſetze der Ehrbarkeit zu verachten. Blindlings überließ ſie ſich einer jeden Neigung, ſie mochte über den Gegen¬ ſtand gebieten oder ſein Sklav ſeyn, wenn ſie nur im wilden Genuß ihrer ſelbſt vergeſ¬ ſen konnte.
Was mußten wir Kinder mit dem reinen und deutlichen Blick der Unſchuld uns für298 Begriffe von dem männlichen Geſchlechte machen? Wie dumpf, dringend, dreiſt, unge¬ ſchickt war jeder, den ſie herbeyreizte, wie ſatt, übermüthig, leer und abgeſchmackt da¬ gegen, ſobald er ſeiner Wünſche Befriedigung gefunden hatte. So hab’ ich dieſe Frau Jahre lang unter dem Gebote der ſchlechte¬ ſten Menſchen erniedrigt geſehen; was für Begegnungen mußte ſie nicht erdulden, und mit welcher Stirne wußte ſie ſich in ihr Schickſal zu finden, ja mit welcher Art dieſe ſchändlichen Feſſeln zu tragen.
So lernte ich Ihr Geſchlecht kennen, mein Freund, und wie rein haßte ichs, da ich zu bemerken ſchien, daß ſelbſt leidliche Männer, im Verhältniß gegen das unſrige, jedem guten Gefühl zu entſagen ſchienen, zu dem ſie die Natur ſonſt noch mochte fähig gemacht haben.
Leider mußt’ ich auch bey ſolchen Gele¬299 genheiten viel traurige Erfahrungen über mein eigen Geſchlecht machen, und wahrhaf¬ tig, als Mädchen von ſechzehn Jahren war ich klüger als ich jetzt bin, jetzt, da ich mich ſelbſt kaum verſtehe. Warum ſind wir ſo klug, wenn wir jung ſind, ſo klug, um im¬ mer thörichter zu werden?
Der Knabe machte Lerm, Aurelie war ungeduldig und klingelte. Ein altes Weib kam herein, ihn wegzuholen. Haſt du noch immer Zahnweh? ſagte Aurelie zu der Alten, die das Geſicht verbunden hatte. Faſt un¬ leidliches, verſetzte dieſe mit dumpfer Stim¬ me, hob den Knaben auf, der gerne mitzu¬ gehen ſchien, und brachte ihn weg.
Kaum war das Kind bey Seite, als Au¬ relie bitterlich zu weinen anfing. Ich kann nichts als jammern und klagen, rief ſie aus, und ich ſchäme mich, wie ein armer Wurm vor ihnen zu liegen. Meine Beſonnenheit300 iſt ſchon weg, und ich kann nicht mehr er¬ zählen. Sie ſtockte und ſchwieg. Ihr Freund, der nichts Allgemeines ſagen wollte, und nichts Beſonderes zu ſagen wußte, druckte hre Hand, und ſah ſie eine Zeitlang an. Endlich nahm er in der Verlegenheit ein Buch auf, das er vor ſich auf dem Tiſchchen liegen fand; es waren Shakeſpears Werke und Hamlet aufgeſchlagen.
Serlo, der eben zur Thür herein kam, nach dem Befinden ſeiner Schweſter fragte, ſchaute in das Buch, das unſer Freund in der Hand hielt, und rief aus: find’ ich Sie wieder über Ihrem Hamlet? Eben recht! Es ſind mir gar manche Zweifel aufgeſtoßen, die das canoniſche Anſehn, das Sie dem Stücke ſo gerne geben möchten, ſehr zu vermindern ſcheinen. Haben doch die Engländer ſelbſt bekannt, daß das Hauptintereſſe ſich mit dem dritten Akt ſchließe, daß die zwey letzten301 Akte nur kümmerlich das Ganze zuſammen hielten, und es iſt doch wahr, das Stück will gegen das Ende weder gehen noch rücken.
Es iſt ſehr möglich, ſagte Wilhelm, daß einige Glieder einer Nation, die ſo viel Mei¬ ſterſtücke aufzuweiſen hat, durch Vorurtheile und Beſchränktheit auf falſche Urtheile gelei¬ tet werden, aber das kann uns nicht hin¬ dern, mit eignen Augen zu ſehen, und ge¬ recht zu ſeyn. Ich bin weit entfernt, den Plan dieſes Stücks zu tadeln, ich glaube vielmehr, daß kein größerer erſonnen worden ſey. Ja, er iſt nicht erſonnen, es iſt ſo.
Wie wollen Sie das auslegen? fragte Serlo.
Ich will nichts auslegen, verſetzte Wil¬ helm, ich will Ihnen nur vorſtellen, was ich mir denke.
Aurelie hob ſich von ihrem Kiſſen auf,302 ſtützte ſich auf ihre Hand, und ſah unſern Freund an, der mit der größten Verſiche¬ rung, daß er Recht habe, alſo zu reden fort¬ fuhr: es gefällt uns ſo wohl, es ſchmeichelt ſo ſehr, wenn wir einen Helden ſehen, der durch ſich ſelbſt handelt, der liebt und haßt, wenn es ihm ſein Herz gebietet, der unter¬ nimmt und ausführt, alle Hinderniſſe abwen¬ det und zu einem großen Zwecke gelangt. Geſchichtsſchreiber und Dichter möchten uns gerne überreden, daß ein ſo ſtolzes Loos dem Menſchen fallen könne. Hier werden wir anders belehrt; der Held hat keinen Plan, aber das Stück iſt planvoll. Hier wird nicht etwa durch eine ſtarr und eigenſinnig durch¬ geführte Idee von Rache ein Böſewicht be¬ ſtraft, nein es geſchieht eine ungeheure That, ſie wälzt ſich in ihren Folgen fort, reißt Un¬ ſchuldige mit; der Verbrecher ſcheint dem Abgrunde, der ihm beſtimmt iſt, ausweichen303 zu wollen, und ſtürzt hinein, eben da, wo er ſeinen Weg glücklich auszulaufen gedenkt.
Denn das iſt die Eigenſchaft der Greuel¬ that, daß ſie auch Böſes über den Unſchul¬ digen, wie der guten Handlung, daß ſie viele Vortheile auch über den Unverdienten aus¬ breitet, ohne daß der Urheber von beiden oft weder beſtraft noch belohnt wird. Hier in unſerm Stücke wie wunderbar! Das Fege¬ feuer ſendet ſeinen Geiſt und fordert Rache, aber vergebens. Alle Umſtände kommen zu¬ ſammen, und treiben die Rache, vergebens! Weder Irrdiſchen noch Unterirrdiſchen kann gelingen, was dem Schickſal allein vorbehal¬ ten iſt. Die Gerichtsſtunde kommt. Der Böſe fällt mit dem Guten. Ein Geſchlecht wird weggemäht, und das andere ſproßt auf.
Nach einer Pauſe, in der ſie einander an¬ ſahen, nahm Serlo das Wort: Sie machen der Vorſehung kein ſonderlich Compliment,400[304] indem Sie den Dichter erheben, und dann ſcheinen Sie mir wieder zu Ehren Ihres Dichters, wie andere zu Ehren der Vorſehung, ihm Endzweck und Plane unterzuſchieben, an die er nicht gedacht hat.
Sechs¬305Laſſen Sie mich, ſagte Aurelie, nun auch eine Frage thun. Ich habe Opheliens Rolle wie¬ der angeſehen, ich bin zufrieden damit, und getraue mir ſie unter gewiſſen Umſtänden zu ſpielen. Aber ſagen Sie mir, hätte der Dich¬ ter ſeiner Wahnſinnigen nicht andere Lied¬ chen unterlegen ſollen? Könnte man nicht Fragmente aus melancholiſchen Balladen wählen? was ſollen Zweydeutigkeiten und lüſterne Albernheiten in dem Munde dieſes edlen Mädchens?
Beſte Freundin, verſetzte Wilhelm, ich kann auch hier nicht ein Jota nachgeben. Auch in dieſen Sonderbarkeiten, auch in die¬ ſer anſcheinenden Unſchicklichkeit liegt ein großer Sinn. Wiſſen wir doch gleich zuW. Meiſters Lehrj. 2. U306Anfange des Stücks, womit das Gemüth des guten Kindes beſchäftigt iſt. Stille lebte ſie vor ſich hin, aber kaum verbarg ſie ihre Sehnſucht, ihre Wünſche. Heimlich klangen die Töne der Lüſternheit in ihrer Seele, und wie oft mag ſie verſucht haben, gleich einer unvorſichtigen Wärterin ihre Sinnlichkeit zur Ruhe zu ſingen mit Liedchen, die ſie nur mehr wach halten mußten. Zuletzt, da ihr jede Gewalt über ſich ſelbſt entriſſen iſt, da ihr Herz auf der Zunge ſchwebt, wird dieſe Zunge ihre Verrätherin, und in der Unſchuld des Wahnſinns ergötzt ſie ſich vor König und Königin an dem Nachklange ihrer ge¬ liebten, loſen Lieder: vom Mädchen, das ge¬ wonnen ward; vom Mädchen, das zum Kna¬ ben ſchleicht, und ſo weiter.
Er hatte noch nicht ausgeredet, als auf einmal eine wunderbare Scene vor ſeinen Augen entſtand, die er ſich auf keine Weiſe erklären konnte.
307Serlo war einigemal in der Stube auf und ab gegangen, ohne daß er irgend eine Abſicht merken ließ. Auf einmal trat er an Aureliens Putztiſch, griff ſchnell nach etwas das darauf lag, und eilte mit ſeiner Beute der Thüre zu. Aurelie bemerkte kaum ſeine Handlung, als ſie auffuhr, ſich ihm in den Weg warf, ihn mit unglaublicher Leiden¬ ſchaft angriff, und geſchickt genug war, ein Ende des geraubten Gegenſtandes zu faſſen. Sie rangen und balgten ſich ſehr hartnäckig, drehten und wanden ſich lebhaft mit einan¬ der herum; er lachte, ſie ereiferte ſich, und als Wilhelm hinzu eilte, ſie auseinander zu bringen und zu beſänftigen, ſah er auf ein¬ mal Aurelien mit einem bloßen Dolch in der Hand auf die Seite ſpringen, indem Serlo die Scheide, die ihm zurückgeblieben war, verdrießlich auf den Boden warf. Wilhelm trat erſtaunt zurück, und ſeine ſtumme Ver¬U 2308wunderung ſchien nach der Urſache zu fragen, warum ein ſo ſonderbarer Streit über einen ſo wunderbaren Hausrath habe unter ihnen entſtehen können?
Sie ſollen, ſprach Serlo, Schiedsrichter zwiſchen uns beiden ſeyn. Was hat ſie mit dem ſcharfen Stahle zu thun? Laſſen Sie ſich ihn zeigen. Dieſer Dolch ziemt keiner Schauſpielerin; ſpitz und ſcharf wie Nadel und Meſſer! Zu was die Poſſe? Heftig wie ſie iſt, thut ſie ſich noch einmal von ohnge¬ fähr ein Leids. Ich habe einen innerlichen Haß gegen ſolche Sonderbarkeiten, ein ernſt¬ licher Gedanke dieſer Art iſt toll, und ein ſo gefährliches Spielwerk iſt abgeſchmackt.
Ich habe ihn wieder, rief Aurelie, indem ſie die blanke Klinge in die Höhe hielt, ich will meinen treuen Freund nun beſſer ver¬ wahren. Verzeih mir, rief ſie aus, indem ſie den Stahl küßte, daß ich dich ſo vernach¬ läßigt habe!
309Serlo ſchien im Ernſte böſe zu werden. — Nimm es wie du willſt, Bruder, fuhr ſie fort, kannſt du denn wiſſen, ob mir nicht etwa unter dieſer Form ein köſtlicher Talis¬ man beſcheert iſt; ob ich nicht Hülfe und Rath zur ſchlimmſten Zeit bey ihm finde; muß denn alles ſchädlich ſeyn, was gefähr¬ lich ausſieht?
Dergleichen Reden, in denen kein Sinn iſt, können mich toll machen, ſagte Serlo, und verließ mit heimlichem Grimme das Zim¬ mer. Aurelie verwahrte den Dolch ſorgfäl¬ tig in der Scheide, und ſteckte ihn zu ſich. Laſſen Sie uns das Geſpräch fortſetzen, das der unglückliche Bruder geſtört hat, fiel ſie ein, als Wilhelm einige Fragen über den ſonderbaren Streit vorbrachte.
Ich muß Ihre Schilderung Opheliens wohl gelten laſſen, fuhr ſie fort: ich will die Abſicht des Dichters nicht verkennen; nur310 kann ich ſie mehr bedauern, als mit ihr em¬ pfinden. Nun aber erlauben Sie mir eine Betrachtung, zu der Sie mir in der kurzen Zeit oft Gelegenheit gegeben haben: mit Be¬ wunderung bemerke ich an Ihnen den tiefen und richtigen Blick, mit dem Sie Dichtung und beſonders dramatiſche Dichtung beur¬ theilen; die tiefſten Abgründe der Erfindung ſind Ihnen nicht verborgen, und die feinſten Züge der Ausführung ſind Ihnen bemerkbar. Ohne die Gegenſtände jemals in der Natur erblickt zu haben, erkennen Sie die Wahr¬ heit im Bilde; es ſcheint eine Vorempfin¬ dung der ganzen Welt in Ihnen zu liegen, welche durch die harmoniſche Berührung der Dichtkunſt erregt und entwickelt wird. Denn wahrhaftig, fuhr ſie fort, von auſſen kommt nichts in Sie hinein; ich habe nicht leicht jemanden geſehen, der die Menſchen, mit denen er lebt, ſo wenig kennt, ſo von Grund311 aus verkennt, wie Sie. Erlauben Sie mir, es zu ſagen: wenn man Sie Ihren Sha¬ keſpear erklären hört, glaubt man, Sie kä¬ men eben aus dem Rathe der Götter, und hätten zugehört, wie man ſich daſelbſt bere¬ det, Menſchen zu bilden; wenn Sie dagegen mit Leuten umgehen, ſeh ich in Ihnen gleich¬ ſam das erſte, groß gebohrne Kind der Schö¬ pfung, das mit ſonderlicher Verwunderung und erbaulicher Gutmüthigkeit Löwen und Affen, Schafe und Elephanten anſtaunt, und ſie treuherzig als ſeines gleichen anſpricht, weil ſie eben auch da ſind und ſich bewegen.
Die Ahndung meines ſchülerhaften We¬ ſens, werthe Freundin, verſetzte er, iſt mir öfters läſtig, und ich werde Ihnen danken, wenn Sie mir über die Welt zu mehrerer Klarheit verhelfen wollen. Ich habe von Jugend auf die Augen meines Geiſtes mehr nach Innen als nach Auſſen gerichtet, und312 da iſt es ſehr natürlich, daß ich den Men¬ ſchen bis auf einen gewiſſen Grad habe ken¬ nen lernen, ohne die Menſchen im mindeſten zu verſtehen und zu begreifen.
Gewiß, ſagte Aurelie, ich hatte Sie An¬ fangs in Verdacht, als wollten Sie uns zum Beſten haben, da Sie von den Leuten, die Sie meinem Bruder zugeſchickt haben, ſo manches Gutes ſagten, wenn ich Ihre Briefe mit den Verdienſten dieſer Menſchen zuſam¬ men hielt.
Die Bemerkung Aureliens, ſo wahr ſie ſeyn mochte, und ſo gern ihr Freund dieſen Mangel bey ſich geſtand, führte doch etwas Drückendes, ja ſogar Beleidigendes mit ſich, daß er ſtill ward, und ſich zuſammen nahm, theils um keine Empfindlichkeit merken zu laſſen, theils in ſeinem Buſen nach der Wahr¬ heit dieſes Vorwurfs zu forſchen.
Sie dürfen nicht darüber betreten ſeyn,313 fuhr Aurelie fort, zum Lichte des Verſtandes können wir immer gelangen; aber die Fülle des Herzens kann uns niemand geben. Sind Sie zum Künſtler beſtimmt; ſo können Sie dieſe Dunkelheit und Unſchuld nicht lange genug bewahren; ſie iſt die ſchöne Hülle über der jungen Knoſpe; Unglücks genug, wenn wir zu früh herausgetrieben werden. Gewiß es iſt gut, wenn wir die nicht immer kennen, für die wir arbeiten.
O! ich war auch einmal in dieſem glück¬ lichen Zuſtande, als ich mit dem höchſten Begrif von mir ſelbſt und meiner Nation die Bühne betrat. Was waren die Deut¬ ſchen nicht in meiner Einbildung, was konn¬ ten ſie nicht ſeyn! Zu dieſer Nation ſprach ich, über die mich ein kleines Gerüſt erhob, von welcher mich eine Reihe Lampen trennte, deren Glanz und Dampf mich hinderte, die Gegenſtände vor mir genau zu unterſcheiden. 314Wie willkommen war mir der Klang des Beyfalls, der aus der Menge herauf tönte; wie dankbar nahm ich das Geſchenk an, das mir einſtimmig von ſo vielen Händen darge¬ bracht wurde. Lange wiegte ich mich ſo hin; wie ich wirkte, wirkte die Menge wieder auf mich zurück, ich war mit meinem Publikum in dem beſten Vernehmen; ich glaubte eine vollkommene Harmonie zu fühlen, und jeder¬ zeit die Edelſten und Beſten der Nation vor mir zu ſehen.
Unglücklicherweiſe war es nicht die Schau¬ ſpielerin allein, deren Naturell und Kunſt die Theaterfreunde intereſſirte, ſie machten auch Anſprüche an das junge lebhafte Mäd¬ chen. Sie gaben mir nicht undeutlich zu verſtehen, daß meine Pflicht ſey, die Empfin¬ dungen, die ich in ihnen rege gemacht, auch perſönlich mit ihnen zu theilen. Leider war das nicht meine Sache, ich wünſchte ihre315 Gemüther zu erheben; aber an das, was ſie ihr Herz nannten, hatte ich nicht den minde¬ ſten Anſpruch, und nun wurden mir alle Stände, Alter und Charaktere, einer um den andern zur Laſt, und nichts war mir ver¬ drießlicher, als daß ich mich nicht wie ein anderes ehrliches Mädchen in mein Zimmer verſchließen, und ſo mir manche Mühe er¬ ſparen konnte.
Die Männer zeigten ſich meiſt, wie ich ſie bey meiner Tante zu ſehen gewohnt war, und ſie würden mir auch diesmal nur wie¬ der Abſcheu erregt haben, wenn mich nicht ihre Eigenheiten und Albernheiten unterhal¬ ten hätten. Da ich nicht vermeiden konnte, ſie bald auf dem Theater, bald an öffentli¬ chen Orten, bald zu Hauſe zu ſehen, nahm ich mir vor, ſie alle auszulauern, und mein Bruder half mir wacker dazu. Und wenn Sie denken, daß vom beweglichen Ladendie¬316 ner und dem eingebildeten Kaufmannsſohn, bis zum gewandten abwiegenden Weltmann, dem kühnen Soldaten und dem raſchen Prin¬ zen, alle, nach und nach, bey mir vorbey ge¬ gangen ſind, und jeder nach ſeiner Art ſeinen Roman anzuknüpfen gedachte; ſo werden Sie mir verzeihen, wenn ich mir einbildete, mit meiner Nation ziemlich bekannt zu ſeyn.
Den phantaſtiſch aufgeſtutzten Studenten, den demüthig-ſtolz verlegnen Gelehrten, den ſchwankfüßigen genügſamen Domherrn, den ſteifen aufmerkſamen Geſchäftsmann, den derben Landbaron, den freundlich glatt-plat¬ ten Hofmann, den jungen aus der Bahn ſchreitenden Geiſtlichen, den gelaſſenen, ſo wie den ſchnellen und thätig ſpekulirenden Kaufmann, alle habe ich in Bewegung geſe¬ hen, und beym Himmel! wenige fanden ſich darunter, die mir nur ein gemeines Intereſſe einzuflößen im Stande geweſen wären, viel¬317 mehr war es mir äußerſt verdrießlich, den Beyfall der Thoren im einzelnen, mit Be¬ ſchwerlichkeit und langer Weile, einzucaſſi¬ ren, der mir im Ganzen ſo wohl behagt hat¬ te, den ich mir im Großen ſo gerne zueig¬ nete.
Wenn ich über mein Spiel ein vernünf¬ tiges Kompliment erwartete, wenn ich hoffte, ſie ſollten einen Autor loben, den ich hoch¬ ſchätzte; ſo machten ſie eine alberne Anmer¬ kung über die andere, und nannten ein ab¬ geſchmacktes Stück, in welchem ſie wünſchten mich ſpielen zu ſehen. Wenn ich in der Ge¬ ſellſchaft herum horchte, ob nicht etwa ein edler, geiſtreicher, witziger Zug nachklänge, und zur rechten Zeit wieder zum Vorſchein käme, konnte ich ſelten eine Spur verneh¬ men. Ein Fehler, der vorgekommen war, wenn ein Schauſpieler ſich verſprach oder ir¬ gend einen Provinzialiſm hören ließ, das318 waren die wichtigen Puncte, an denen ſie ſich feſt hielten, von denen ſie nicht los kom¬ men konnten. Ich wußte zuletzt nicht, wo¬ hin ich mich wenden ſollte; ſie dünkten ſich zu klug, ſich unterhalten zu laſſen, und ſie glaubten mich wunderſam zu unterhalten, wenn ſie an mir herum tätſchelten. Ich fing an, ſie alle von Herzen zu verachten, und es war mir eben, als wenn die ganze Nation ſich recht vorſätzlich bey mir durch ihre Ab¬ geſandte habe proſtituiren wollen. Sie kam mir im Ganzen ſo links vor, ſo übel erzo¬ gen, ſo ſchlecht unterrichtet, ſo leer von ge¬ fälligem Weſen, ſo geſchmacklos. Oft rief ich aus: es kann doch kein Deutſcher einen Schuh zuſchnallen, der es nicht von einer fremden Nation gelernt hat!
Sie ſehen, wie verblendet, wie hypochon¬ driſch ungerecht ich war, und je länger es währte, deſto mehr nahm meine Krankheit319 zu. Ich hätte mich umbringen können; al¬ lein ich verfiel auf ein ander Extrem: ich verheirathete mich, oder vielmehr ich ließ mich verheirathen. Mein Bruder, der das Theater übernommen hatte, wünſchte ſehr ei¬ nen Gehülfen zu haben. Seine Wahl fiel auf einen jungen Mann, der mir nicht zu¬ wider war, dem alles mangelte, was mein Bruder beſaß, Genie, Leben, Geiſt und ra¬ ſches Weſen; an dem ſich aber auch alles fand, was jenem abging: Liebe zur Ordnung, Fleiß, eine köſtliche Gabe hauszuhalten, und mit Gelde umzugehen.
Er iſt mein Mann geworden, ohne daß ich weiß wie, wir haben zuſammen gelebt, ohne daß ich recht weiß warum. Genug, unſre Sachen gingen gut. Wir nahmen viel ein, davon war die Thätigkeit meines Bru¬ ders Urſache; wir kamen gut aus, und das war das Verdienſt meines Mannes. Ich320 dachte nicht mehr an Welt und Nation. Mit der Welt hatte ich nichts zu theilen, und den Begriff von Nation hatte ich ver¬ loren. Wenn ich auftrat, that ich’s um zu leben, ich öffnete den Mund nur, weil ich nicht ſchweigen durfte, weil ich doch heraus gekommen war, um zu reden.
Doch, daß ich es nicht zu arg mache, eigentlich hatte ich mich ganz in die Abſicht meines Bruders ergeben; ihm war um Bey¬ fall und Geld zu thun; denn, unter uns, er hört ſich gerne loben und braucht viel. Ich ſpielte nun nicht mehr nach meinem Gefühl, nach meiner Überzeugung, ſondern wie er mich anwies, und wenn ich es ihm zu Danke gemacht hatte, war ich zufrieden. Er rich¬ tete ſich nach allen Schwächen des Publi¬ kums; es ging Geld ein, er konnte nach ſei¬ ner Willkühr leben, und wir hatten gute Tage mit ihm.
Ich321Ich war indeſſen in einen handwerks¬ mäßigen Schlendrian gefallen. Ich zog mei¬ ne Tage ohne Freude und Antheil hin, mei¬ ne Ehe war kinderlos und dauerte nur kurze Zeit. Mein Mann ward krank, ſeine Kräfte nahmen ſichtbar ab, die Sorge für ihn un¬ terbrach meine allgemeine Gleichgültigkeit. In dieſen Tagen machte ich eine Bekannt¬ ſchaft, mit der ein neues Leben für mich an¬ fing, ein neues und ſchnelleres, denn es wird bald zu Ende ſeyn.
Sie ſchwieg eine Zeitlang ſtille, dann fuhr ſie fort: auf einmal ſtockt meine geſchwätzige Laune, und ich getraue mir den Mund nicht weiter aufzuthun. Laſſen Sie mich ein we¬ nig ausruhen; Sie ſollen nicht weggehen, ohne ausführlich all mein Unglück zu wiſſen. Rufen Sie doch indeſſen Mignon herein, und hören was ſie will.
Das Kind war während Aureliens Er¬W. Meiſters Lehrj. 2. X322zählung einigemal im Zimmer geweſen. Da man bey ſeinem Eintritt leiſer ſprach, war es wieder weggeſchlichen, ſaß auf dem Saale ſtill, und wartete. Als man ſie wieder her¬ einkommen hieß, brachte ſie ein Buch mit, das man bald an Form und Einband für einen kleinen geographiſchen Atlas erkannte. Sie hatte bey dem Pfarrer unterwegs mit großer Verwundrung die erſten Landkarten geſehen, ihn viel darüber gefragt, und ſich, ſo weit es gehen wollte, unterrichtet. Ihr Verlangen etwas zu lernen ſchien durch dieſe neue Kenntnis noch viel lebhafter zu werden. Sie bat Wilhelmen inſtändig, ihr das Buch zu kaufen. Sie habe dem Bildermann ihre großen ſilbernen Schnallen dafür eingeſetzt, und wolle ſie, weil es heute Abend ſo ſpät geworden, morgen früh wieder einlöſen. Es ward ihr bewilligt, und ſie fing nun an, das¬ jenige, was ſie wußte, theils herzuſagen,323 theils nach ihrer Art die wunderlichſten Fra¬ gen zu thun. Man konnte auch hier wieder bemerken, daß bey einer großen Anſtrengung ſie nur ſchwer und mühſam begriff. So war auch ihre Handſchrift, mit der ſie ſich viele Mühe gab. Sie ſprach noch immer ſehr ge¬ brochen deutſch, und nur wenn ſie den Mund zum Singen aufthat, wenn ſie die Zither rührte, ſchien ſie ſich des einzigen Organs zu bedienen, wodurch ſie ihr Innerſtes aufſchlieſ¬ ſen und mittheilen konnte.
Wir müſſen, da wir gegenwärtig von ihr ſprechen, auch der Verlegenheit gedenken, in die ſie ſeit einiger Zeit unſern Freund öfters verſetzte. Wenn ſie kam oder ging, guten Morgen, oder gute Nacht ſagte, ſchloß ſie ihn ſo feſt in ihre Arme, und küßte ihn mit ſolcher Inbrunſt, daß ihn die Heftigkeit die¬ ſer aufkeimenden Natur oft angſt und bange machte. Die zuckende Lebhaftigkeit ſchien ſichX 2324in ihrem Betragen täglich zu vermehren, und ihr ganzes Weſen bewegte ſich in einer raſt¬ loſen Stille. Sie konnte nicht ſeyn, ohne einen Bindfaden in den Händen zu drehen, ein Tuch zu kneten, Papier oder Hölzchen zu kauen. Jedes ihrer Spiele ſchien nur eine innere heftige Erſchütterung abzuleiten. Das Einzige, was ihr einige Heiterkeit zu geben ſchien, war die Nähe des kleinen Felix, mit dem ſie ſich ſehr artig abzugeben wußte.
Aurelie, die nach einiger Ruhe geſtimmt war, ſich mit ihrem Freunde über einen Ge¬ genſtand, der ihr ſo ſehr am Herzen lag, endlich zu erklären, ward über die Beharr¬ lichkeit der Kleinen diesmal ungeduldig, und gab ihr zu verſtehen, daß ſie ſich wegbege¬ ben ſollte, und man mußte ſie endlich, da alles nicht helfen wollte, ausdrücklich und wider ihren Willen fortſchicken.
Jetzt oder niemals, ſagte Aurelie, muß325 ich Ihnen den Reſt meiner Geſchichte erzäh¬ len. Wäre mein zärtlich geliebter, ungerech¬ ter Freund nur wenige Meilen von hier, ich würde ſagen, ſetzen Sie ſich zu Pferde, ſu¬ chen Sie auf irgend eine Weiſe Bekannt¬ ſchaft mit ihm, und wenn Sie zurückkehren, ſo haben Sie mir gewiß verziehen, und be¬ dauern mich von Herzen. Jetzt kann ich Ihnen nur mit Worten ſagen, wie liebens¬ würdig er war, und wie ſehr ich ihn liebte.
Eben zu der kritiſchen Zeit, da ich für die Tage meines Mannes beſorgt ſeyn mußte, lernt ich ihn kennen. Er war eben aus Amerika zurück gekommen, wo er in Geſell¬ ſchaft einiger Franzoſen mit vieler Diſtink¬ tion unter den Fahnen der vereinigten Staa¬ ten gedient hatte.
Er begegnete mir mit einem gelaßnen Anſtande, mit einer offnen Gutmüthigkeit, ſprach über mich ſelbſt, meine Lage, mein326 Spiel, wie ein alter Bekannter, ſo theilneh¬ mend und ſo deutlich, daß ich mich zum er¬ ſtenmal freuen konnte, meine Exiſtenz in ei¬ nem andern Weſen ſo klar wieder zu erken¬ nen. Seine Urtheile waren richtig ohne ab¬ ſprechend, treffend ohne lieblos zu ſeyn. Er zeigte keine Härte, und ſein Muthwille war zugleich gefällig. Er ſchien des guten Glücks bey Frauen gewohnt zu ſeyn, das machte mich aufmerkſam; er war keinesweges ſchmei¬ chelnd und andringend, das machte mich ſorglos.
In der Stadt ging er mit wenigen um, war meiſt zu Pferde, beſuchte ſeine vielen Bekannten in der Gegend, und beſorgte die Geſchäfte ſeines Hauſes. Kam er zurück, ſo ſtieg er bey mir ab, behandelte meinen immer kränkern Mann mit warmer Sorge, ſchafte dem Leidenden durch einen geſchickten Arzt Linderung, und wie er an allem, was327 mich betraf, Theil nahm, ließ er mich auch an ſeinem Schickſale Theil nehmen. Er er¬ zählte mir die Geſchichte ſeiner Campagne, ſeiner unüberwindlichen Neigung zum Sol¬ datenſtande, ſeine Familienverhältniſſe; er vertraute mir ſeine gegenwärtigen Beſchäfti¬ gungen. Genug, er hatte nichts geheimes vor mir; er entwickelte mir ſein Innerſtes, ließ mich in die verborgenſten Winkel ſeiner Seele ſehen; ich lernte ſeine Fähigkeiten, ſei¬ ne Leidenſchaften kennen. Es war das erſte¬ mal in meinem Leben, daß ich eines herzli¬ chen, geiſtreichen Umgangs genoß. Ich war von ihm angezogen, von ihm hingeriſſen, eh’ ich über mich ſelbſt Betrachtungen anſtellen konnte.
Inzwiſchen verlor ich meinen Mann ohn¬ gefähr wie ich ihn genommen hatte. Die Laſt der theatraliſchen Geſchäfte fiel nun ganz auf mich. Mein Bruder, unverbeſſer¬328 lich auf dem Theater, war in der Haushal¬ tung niemals nütze; ich beſorgte alles, und ſtudierte dabey meine Rollen fleißiger als je¬ mals. Ich ſpielte wieder wie vor Alters, ja mit ganz anderer Kraft und neuem Leben, zwar durch ihn und um ſeinetwillen, doch nicht immer gelang es mir zum Beſten, wenn ich meinen edlen Freund im Schauſpiel wu߬ te; aber einigemal behorchte er mich, und wie angenehm mich ſein unvermutheter Bey¬ fall überraſchte, können Sie denken.
Gewiß, ich bin ein ſeltſames Geſchöpf. Bey jeder Rolle, die ich ſpielte, war es mir eigentlich nur immer zu Muthe, als wenn ich ihn lobte und zu ſeinen Ehren ſpräche; denn das war die Stimmung meines Her¬ zens, die Worte mochten übrigens ſeyn, wie ſie wollten. Wußt’ ich ihn unter den Zuhö¬ rern, ſo getraute ich mich nicht, mit der gan¬ zen Gewalt zu ſprechen, eben als wenn ich329 ihm meine Liebe, mein Lob nicht geradezu ins Geſicht aufdringen wollte; war er abwe¬ ſend, dann hatte ich freyes Spiel, ich that mein Beſtes mit einer gewiſſen Ruhe, mit einer unbeſchreiblichen Zufriedenheit. Der Beyfall freute mich wieder, und wenn ich dem Publikum Vergnügen machte, hätte ich immer zugleich hinunter rufen mögen: das ſeyd ihr ihm ſchuldig!
Ja, mir war wie durch ein Wunder das Verhältniß zum Publikum, zur ganzen Na¬ tion verändert. Sie erſchien mir auf einmal wieder in dem vortheilhafteſten Lichte, und ich erſtaunte recht über meine bisherige Ver¬ blendung.
Wie unverſtändig, ſagt ich oft zu mir ſelbſt, war es, als du ehemals auf eine Na¬ tion ſchalteſt, eben weil es eine Nation iſt. Müſſen denn, können denn einzelne Men¬ ſchen ſo intereſſant ſeyn? Keinesweges! Es330 fragt ſich, ob unter der großen Maſſe eine Menge von Anlagen, Kräften und Fähigkei¬ ten vertheilt ſey, die durch günſtige Umſtän¬ de entwickelt, durch vorzügliche Menſchen zu einem gemeinſamen Endzwecke geleitet wer¬ den können? Ich freute mich nun, ſo wenig hervorſtechende Originalität unter meinen Landsleuten zu finden; ich freute mich, daß ſie eine Richtung von auſſen anzunehmen nicht verſchmähten. Ich freute mich, einen Anführer gefunden zu haben.
Lothar — Laſſen Sie mich meinen Freund mit ſeinem geliebten Vornahmen nennen — hatte mir immer die Deutſchen von der Sei¬ te der Tapferkeit vorgeſtellt, und mir gezeigt, daß keine bravere Nation in der Welt ſey, wenn ſie recht geführt werde, und ich ſchäm¬ te mich, an die erſte Eigenſchaft eines Volks niemals gedacht zu haben. Ihm war die Geſchichte bekannt, und mit den meiſten ver¬331 dienſtvollen Männern ſeines Zeitalters ſtand er in Verhältniſſen. So jung er war, hatte er ein Auge auf die hervorkeimende hoff¬ nungsvolle Jugend ſeines Vaterlandes, auf die ſtillen Arbeiten in ſo vielen Fächern be¬ ſchäftigter und thätiger Männer. Er ließ mich einen Überblick über Deutſchland thun, was es ſey, und was es ſeyn könne, und ich ſchämte mich, eine Nation nach der verwor¬ renen Menge beurtheilt zu haben, die ſich in eine Theatergarderobe drängen mag. Er machte mir’s zur Pflicht, auch in meinem Fache wahr, geiſtreich und belebend zu ſeyn. Nun ſchien ich mir ſelbſt inſpirirt, ſo oft ich auf das Theater trat. Mittelmäßige Stel¬ len wurden zu Gold in meinem Munde, und hätte mir damals ein Dichter zweckmäßig beygeſtanden, ich hätte die wunderbarſten Wirkungen hervorgebracht.
So lebte die junge Wittwe Monate lang332 fort. Er konnte mich nicht entbehren, und ich war höchſt unglücklich, wenn er auſſen blieb. Er zeigte mir die Briefe ſeiner Ver¬ wandten, ſeiner fürtrefflichen Schweſter. Er nahm an den kleinſten Umſtänden meiner Verhältniſſe Theil; inniger, vollkommener iſt keine Einigkeit zu denken. Der Nahme der Liebe ward nicht genannt. Er ging und kam, kam und ging — und nun, mein Freund, iſt es hohe Zeit, daß Sie auch gehen.
333Wilhelm konnte nun nicht länger den Be¬ ſuch bey ſeinen Handelsfreunden aufſchieben. Er ging nicht ohne Verlegenheit dahin; denn er wußte, daß er Briefe von den Seinigen daſelbſt antreffen werde. Er fürchtete ſich vor den Vorwürfen, die ſie enthalten mu߬ ten; wahrſcheinlich hatte man auch dem Handelshauſe Nachricht von der Verlegen¬ heit gegeben, in der man ſich ſeinetwegen befand. Er ſcheute ſich, nach ſo vielen rit¬ terlichen Abentheuern, vor dem ſchülerhaften Anſehen, in dem er erſcheinen würde, und nahm ſich vor, recht trotzig zu thun, und auf dieſe Weiſe ſeine Verlegenheit zu verbergen.
Allein zu ſeiner großen Verwunderung und Zufriedenheit ging alles ſehr gut und334 leidlich ab. In dem großen lebhaften und beſchäftigten Comtoir hatte man kaum Zeit, ſeine Briefe aufzuſuchen, ſeines längern Auſ¬ ſenbleibens ward nur im Vorbeygehn ge¬ dacht. Und als er die Briefe ſeines Vaters und ſeines Freundes Werner eröffnete, fand er ſie ſämmtlich ſehr leidlichen Inhalts. Der Alte, in Hoffnung eines weitläuftigen Jour¬ nals, deſſen Führung er dem Sohne beym Abſchiede ſorgfältig empfohlen, und wozu er ihm ein tabellariſches Schema mitgegeben, ſchien über das Stillſchweigen der erſten Zeit ziemlich beruhigt, ſo wie er ſich nur über das Räthſelhafte des erſten und einzigen vom Schloſſe des Grafen noch abgeſandten Brie¬ fes beſchwerte. Werner ſcherzte nur auf ſei¬ ne Art, erzählte luſtige Stadtgeſchichten, und bat ſich Nachricht von Freunden und Be¬ kannten aus, die Wilhelm nunmehr in der großen Handelsſtadt häufig würde kennen335 lernen. Unſer Freund, der auſſerordentlich erfreut war, um einen ſo wohlfeilen Preis loszukommen, antwortete ſogleich in einigen ſehr muntern Briefen, und verſprach dem Vater ein ausführliches Reiſejournal, mit al¬ len verlangten geographiſchen, ſtatiſtiſchen und merkantiliſchen Bemerkungen. Er hatte vieles auf der Reiſe geſehen, und hoffte dar¬ aus ein leidliches Heft zuſammen ſchreiben zu können. Er merkte nicht, daß er beynah in eben dem Falle war, in dem er ſich be¬ fand, als er ein Schauſpiel, das weder ge¬ ſchrieben, noch weniger memorirt war, auf¬ zuführen, Lichter angezündet und Zuſchauer herbey gerufen hatte. Als er daher wirklich anfing, an ſeine Compoſition zu gehen, ward er leider gewahr, daß er von Empfindungen und Gedanken, von manchen Erfahrungen des Herzens und Geiſtes ſprechen und erzäh¬ len konnte, nur nicht von äuſſern Gegenſtän¬336 den, denen er, wie er nun merkte, nicht die mindeſte Aufmerkſamkeit geſchenkt hatte.
In dieſer Verlegenheit kamen die Kennt¬ niſſe ſeines Freundes Laertes ihm gut zu ſtatten. Die Gewohnheit hatte beide junge Leute, ſo unähnlich ſie ſich waren, zuſammen verbunden, und jener war bey allen ſeinen Fehlern, mit ſeinen Sonderbarkeiten wirklich ein intereſſanter Menſch. Mit einer heitern glücklichen Sinnlichkeit begabt, hätte er alt werden können, ohne über ſeinen Zuſtand ir¬ gend nachzudenken. Nun hatte ihm aber ſein Unglück und ſeine Krankheit das reine Gefühl der Jugend geraubt, und ihm dage¬ gen einen Blick auf die Vergänglichkeit, auf das Zerſtückelte unſers Daſeyns eröffnet. Daraus war eine launigte, rhapſodiſche Art über die Gegenſtände zu denken, oder viel¬ mehr ihre unmittelbaren Eindrücke zu äuſſern, entſtanden. Er war nicht gern allein, triebſich337ſich auf allen Kaffeehäuſern, an allen Wirths¬ tiſchen herum, und wenn er ja zu Hauſe blieb, waren Reiſebeſchreibungen ſeine liebſte, ja ſeine einzige Lektüre. Dieſe konnte er nun, da er eine große Leihbibliothek fand, nach Wunſch befriedigen, und bald ſpukte die halbe Welt in ſeinem guten Gedächtniſſe.
Wie leicht konnte er daher ſeinem Freun¬ de Muth einſprechen, als dieſer ihm den völ¬ ligen Mangel an Vorrath zu der von ihm ſo feyerlich verſprochenen Relation entdeckte. Da wollen wir ein Kunſtſtück machen, ſagte jener, das ſeines gleichen nicht haben ſoll. Iſt nicht Deutſchland von einem Ende zum andern durchreiſt, durchkreuzt, durchzogen, durchkrochen und durchflogen? und hat nicht jeder deutſche Reiſende den herrlichen Vor¬ theil, ſich ſeine großen oder kleinen Ausga¬ ben vom Publikum wieder erſtatten zu laſ¬ ſen? Gieb mir nur deine Reiſeroute, ehe duW. Meiſters Lehrj. 2. Y338zu uns kamſt, das andre weiß ich. Die Quellen und Hülfsmittel zu deinem Werke will ich dir aufſuchen; an Quadratmeilen, die nicht gemeſſen ſind, und an Volksmenge, die nicht gezählt iſt, müſſen wir’s nicht feh¬ len laſſen. Die Einkünfte der Länder neh¬ men wir aus Taſchenbüchern und Tabellen, die, wie bekannt, die zuverläſſigſten Docu¬ mente ſind. Darauf gründen wir unſre po¬ litiſche Raiſonnements; an Seitenblicken auf die Regierungen ſolls nicht fehlen. Ein Paar Fürſten beſchreiben wir als wahre Väter des Vaterlandes, damit man uns deſto eher glaubt, wenn wir einigen andern etwas anhängen, und wenn wir nicht geradezu durch den Wohnort einiger berühmten Leute durchrei¬ ſen, ſo begegnen wir ihnen in einem Wirths¬ hauſe, laſſen ſie uns im Vertrauen das al¬ bernſte Zeug ſagen, und beſonders vergeſſen wir nicht eine Liebesgeſchichte mit irgend339 einem naiven Mädchen auf das anmuthigſte einzuflechten, und es ſoll ein Werk geben, das nicht allein Vater und Mutter mit Ent¬ zücken erfüllen ſoll, ſondern das dir auch je¬ der Buchhändler mit Vergnügen bezahlt.
Man ſchritt zum Werke, und beide Freun¬ de hatten viel Luſt an ihrer Arbeit, indeß Wilhelm Abends im Schauſpiel und in dem Umgange mit Serlo und Aurelien die größte Zufriedenheit fand, und ſeine Ideen, die nur zu lange ſich in einem engen Kreiſe herum gedreht hatten, täglich weiter ausbreitete.
Y 2340Nicht ohne das größte Intereſſe vernahm er Stückweiſe den Lebenslauf Serlo’s, denn es war nicht die Art dieſes ſeltnen Mannes, vertraulich zu ſeyn, und über irgend etwas im Zuſammenhange zu ſprechen. Er war, man darf ſagen, auf dem Theater gebohren und geſäugt. Schon als ſtummes Kind mu߬ te er durch ſeine bloße Gegenwart die Zu¬ ſchauer rühren, weil auch ſchon damals die Verfaſſer dieſe natürlichen und unſchuldigen Hülfsmittel kannten, und ſein erſtes: Vater und Mutter, brachte in beliebten Stücken ihm ſchon den größten Beyfall zuwege, ehe er wußte, was das Händeklatſchen bedeute. Als Amor kam er, zitternd, mehr als ein¬ mal, im Flugwerke herunter, entwickelte ſich341 als Harlekin aus dem Ey, und machte als kleiner Eſſenkehrer ſchon früh die artigſten Streiche.
Leider mußte er den Beyfall, den er an glänzenden Abenden erhielt, in den Zwiſchen¬ zeiten ſehr theuer bezahlen. Sein Vater, überzeugt, daß nur durch Schläge die Auf¬ merkſamkeit der Kinder erregt und feſtgehal¬ ten werden könne, prügelte ihn beym Ein¬ ſtudieren einer jeden Rolle zu abgemeſſenen Zeiten; nicht, weil das Kind ungeſchickt war, ſondern damit es ſich deſto gewiſſer und an¬ haltender geſchickt zeigen möge. So gab man ehemals, indem ein Gränzſtein geſetzt wurde, den umſtehenden Kindern tüchtige Ohrfeigen, und die älteſten Leute erinnern ſich noch genau des Ortes und der Stelle. Er wuchs heran, und zeigte auſſerordentliche Fähigkeiten des Geiſtes und Fertigkeiten des Körpers, und dabey eine große Biegſamkeit342 ſowohl in ſeiner Vorſtellungsart, als in Hand¬ lungen und Gebährden. Seine Nachah¬ mungsgabe überſtieg allen Glauben. Schon als Knabe ahmte er Perſonen nach, ſo daß man ſie zu ſehen glaubte, ob ſie ihm ſchon an Geſtalt, Alter und Weſen völlig unähn¬ lich und unter einander verſchieden waren. Dabey fehlte es ihm nicht an der Gabe ſich in die Welt zu ſchicken, und ſobald er ſich einigermaßen ſeiner Kräfte bewußt war, fand er nichts natürlicher, als ſeinem Vater zu entfliehen, der, wie die Vernunft des Kna¬ ben zunahm, und ſeine Geſchicklichkeit ſich vermehrte, ihnen noch durch harte Begegnung nachzuhelfen für nöthig fand.
Wie glücklich fühlte ſich der loſe Knabe nun in der freyen Welt, da ihm ſeine Eu¬ lenſpiegelspoſſen überall eine gute Aufnahme verſchafften. Sein guter Stern führte ihn zuerſt eben in der Faſtnachtszeit in ein Klo¬343 ſter, wo er, weil eben der Pater, der die Umgänge zu beſorgen, und durch geiſtliche Maskeraden die chriſtliche Gemeinde zu er¬ götzen hatte, geſtorben war, als ein hülfrei¬ cher Schutzengel auftrat. Auch übernahm er ſogleich die Rolle Gabriels in der Verkündi¬ gung, und mißfiel dem hübſchen Mädchen nicht, die als Maria ſeinen obligenten Gruß, mit äußerlicher Demuth und innerlichem Stolze, ſehr zierlich aufnahm. Er ſpielte darauf ſucceſſive in den Myſterien die wich¬ tigſten Rollen, und wußte ſich nicht wenig, da er endlich gar als Heiland der Welt ver¬ ſpottet, geſchlagen, und ans Kreuz geheftet wurde.
Einige Kriegsknechte mochten bey dieſer Gelegenheit ihre Rollen gar zu natürlich ſpielen, daher er ſie, um ſich auf die ſchick¬ lichſte Weiſe an ihnen zu rächen, bey Gele¬ genheit des jüngſten Gerichts in die präch¬344 tigſten Kleider von Kaiſern und Königen ſteckte, und ihnen in dem Augenblicke, da ſie, mit ihren Rollen ſehr wohl zufrieden, auch in dem Himmel allen andern vorauszugehen den Schritt nahmen, unvermuthet in Teu¬ felsgeſtalt begegnete, und ſie mit der Ofen¬ gabel zur herzlichſten Erbauung ſämmtlicher Zuſchauer und Bettler weidlich durchdroſch, und unbarmherzig zurück in die Grube ſtürz¬ te, wo ſie ſich von einem hervordringenden Feuer aufs übelſte empfangen ſahen.
Er war klug genug einzuſehen, daß die gekrönten Häupter ſein freches Unternehmen nicht wohl vermerken, und ſelbſt vor ſeinem privilegirten Ankläger - und Schergen-Amte keinen Reſpekt haben würden; er machte ſich daher, noch ehe das tauſendjährige Reich an¬ ging, in aller Stille davon, und ward in einer benachbarten Stadt von einer Geſellſchaft, die man damals Kinder der Freude nannte,345 mit offnen Armen aufgenommen. Es waren verſtändige, geiſtreiche, lebhafte Menſchen, die wohl einſahen, daß die Summe unſrer Exiſtenz durch Vernunft dividirt, niemals rein aufgehe, ſondern daß immer ein wun¬ derlicher Bruch übrig bleibe. Dieſen hinder¬ lichen, und, wenn er ſich in die ganze Maſſe vertheilt, gefährlichen, Bruch, ſuchten ſie zu beſtimmten Zeiten vorſetzlich los zu werden. Sie waren einen Tag der Woche recht aus¬ führlich Narren, und ſtraften an demſelben wechſelſeitig durch allegoriſche Vorſtellungen, was ſie während der übrigen Tage an ſich und andern närriſches bemerkt hatten. War dieſe Art gleich roher als eine Folge von Ausbildung, in welcher der ſittliche Menſch ſich täglich zu bemerken, zu warnen und zu ſtrafen pflegt; ſo war ſie doch luſtiger und ſicherer, denn indem man einen gewiſſen Schooßnarren nicht verleugnete, ſo tractirte346 man ihn auch nur für das was er war, an¬ ſtatt daß er auf dem andern Wege durch Hülfe des Selbſtbetrugs oft im Hauſe zur Herrſchaft gelangt, und die Vernunft zur heimlichen Knechtſchaft zwingt, die ſich ein¬ bildet, ihn lange verjagt zu haben. Die Narrenmaſke ging in der Geſellſchaft herum, und jedem war erlaubt, ſie, an ſeinem Tage, mit eigenen oder fremden Attributen, charak¬ teriſtiſch auszuzieren. In der Karnavalszeit nahm man ſich die größte Freyheit, und wetteiferte mit der Bemühung der Geiſtli¬ chen, das Volk zu unterhalten und anzuzie¬ hen. Die feyerlichen allegoriſchen Aufzüge von Tugenden und Laſtern, Künſten und Wiſſenſchaften, Welttheilen und Jahrszeiten verſinnlichten dem Volke eine Menge Be¬ griffe, und gaben ihm Ideen entfernter Ge¬ genſtände, und ſo waren dieſe Scherze nicht ohne Nutzen, da von einer andern Seite die347 geiſtlichen Mummereyen nur einen abge¬ ſchmackten Aberglauben noch mehr befeſtigten.
Der junge Serlo war auch hier wieder ganz in ſeinem Elemente; eigentliche Erfin¬ dungskraft hatte er nicht, dagegen aber das größte Geſchick, was er vor ſich fand zu nutzen, zurecht zu ſtellen, und ſcheinbar zu machen. Seine Einfälle, ſeine Nachahmungs¬ gabe, ja ſein beiſſender Witz, den er wenig¬ ſtens einen Tag in der Woche völlig frey, ſelbſt gegen ſeine Wohlthäter, üben durfte, machte ihn der ganzen Geſellſchaft werth, ja unentbehrlich.
Doch trieb ihn ſeine Unruhe bald aus dieſer vortheilhaften Lage in andere Gegen¬ den ſeines Vaterlandes, wo er wieder eine neue Schule durchzugehen hatte. Er kam in den gebildeten aber auch bildloſen Theil von Deutſchland, wo es zur Verehrung des Gu¬ ten und Schönen zwar nicht an Wahrheit348 aber oft an Geiſt gebricht; er konnte mit ſeinen Masken nichts mehr ausrichten; er mußte ſuchen auf Herz und Gemüth zu wir¬ ken. Nur kurze Zeit hielt er ſich bey klei¬ nen und großen Geſellſchaften auf, und merk¬ te, bey dieſer Gelegenheit, ſämmtlichen Stük¬ ken und Schauſpielern ihre Eigenheiten ab, die Monotonie, die damals auf dem deutſchen Theater herrſchte; den albernen Fall und Klang der Alexandriner, den geſchraubtplatten Dialog; die Trockenheit und Gemeinheit der unmittelbaren Sittenprediger hatte er bald gefaßt, und zugleich bemerkt, was rührte und gefiel.
Nicht Eine Rolle der gangbaren Stücke, ſondern die ganzen Stücke blieben leicht in ſeinem Gedächtniß, und zugleich der eigen¬ thümliche Ton des Schauſpielers, der ſie mit Beyfall vorgetragen hatte. Nun kam er zu¬ fälligerweiſe auf ſeinen Streifereyen, da ihm349 das Geld völlig ausgegangen war, zu dem Einfall, allein, ganze Stücke, beſonders auf Edelhöfen und in Dörfern vorzuſtellen, und ſich dadurch überall ſogleich Unterhalt und Nachtquartier zu verſchaffen. In jeder Schen¬ ke, jedem Zimmer und Garten war ſein Thea¬ ter gleich aufgeſchlagen; mit einem ſchelmiſchen Ernſt und anſcheinendem Enthuſiasmus wu߬ te er die Einbildungskraft ſeiner Zuſchauer zu gewinnen, ihre Sinne zu täuſchen, und vor ihren offenen Augen einen alten Schrank zu einer Burg, und einen Fächer zum Dolche umzuſchaffen. Seine Jugendwärme erſetzte den Mangel eines tiefen Gefühls, ſeine Hef¬ tigkeit ſchien Stärke, und ſeine Schmeicheley Zärtlichkeit. Diejenigen, die das Theater ſchon kannten, erinnerte er an alles, was ſie geſehen und gehört hatten, und in den übri¬ gen erregte er eine Ahndung von etwas Wunderbaren, und den Wunſch, näher da¬350 mit bekannt zu werden. Was an einem Orte Wirkung that, verfehlte er nicht am andern zu wiederholen, und hatte die herz¬ lichſte Schadenfreude, wenn er alle Men¬ ſchen, auf gleiche Weiſe, aus dem Stegreife, zum beſten haben konnte.
Bey ſeinem lebhaften, freyen und durch nichts gehinderten Geiſte verbeſſerte er ſich, indem er Rollen und Stücke oft wiederholte, ſehr geſchwind. Bald rezitirte und ſpielte er dem Sinne gemäßer, als die Muſter, die er Anfangs nur nachgeahmt hatte. Auf dieſem Wege kam er nach und nach dazu, natürlich zu ſpielen und doch immer verſtellt zu ſeyn. Er ſchien hingeriſſen, und lauerte auf den Effekt, und ſein größter Stolz war: die Menſchen ſtufenweiſe in Bewegung zu ſetzen. Selbſt das tolle Handwerk, das er trieb, nöthigte ihn bald mit einer gewiſſen Mäßi¬ gung zu verfahren, und ſo lernte er, theils351 gezwungen, theils aus Inſtinkt, das, wovon ſo wenig Schauſpieler einen Begriff zu haben ſcheinen: mit Organ und Gebährden ökono¬ miſch zu ſeyn.
So wußte er ſelbſt rohe und unfreundli¬ che Menſchen zu bändigen, und für ſich zu intereſſiren, und da er überall mit Nahrung und Obdach zufrieden war, jedes Geſchenk dankbar annahm, das man ihm reichte, ja manchmal gar das Geld, wenn er deſſen nach ſeiner Meinung genug hatte, ausſchlug; ſo ſchickte man ihn mit Empfehlungsſchreiben einander zu, und ſo wanderte er eine ganze Zeit von einem Edelhofe zum andern, wo er manches Vergnügen erregte, manches genoß, und nicht ohne die angenehmſten und artig¬ ſten Abentheuer blieb.
Bey der innerlichen Kälte ſeines Gemü¬ thes liebte er eigentlich niemand; bey der Klarheit ſeines Blicks konnte er niemand352 achten, denn er ſah nur immer die äuſſern Eigenheiten der Menſchen, und trug ſie in ſeine mimiſche Sammlung ein. Dabey aber war ſeine Selbſtigkeit äuſſerſt beleidigt, wenn er nicht jedem gefiel, und wenn er nicht über¬ all Beyfall erregte. Wie dieſer zu erlangen ſey, darauf hatte er nach und nach ſo genau acht gegeben, und hatte ſeinen Sinn ſo ge¬ ſchärft, daß er nicht allein bey ſeinen Dar¬ ſtellungen, ſondern auch im gemeinen Leben nicht mehr anders als ſchmeicheln konnte. Und ſo arbeitete ſeine Gemüthsart, ſein Ta¬ lent und ſeine Lebensart dergeſtalt wechſels¬ weiſe gegen einander, daß er ſich unver¬ merkt zu einem vollkommnen Schauſpieler ausgebildet ſah. Ja, durch eine ſeltſam ſchei¬ nende, aber ganz natürliche Wirkung und Gegenwirkung ſtieg, durch Einſicht und Übung, ſeine Rezitation, Declamation und ſein Gebährdenſpiel zu einer hohen Stufevon353von Wahrheit, Freyheit und Offenheit, in¬ dem er im Leben und Umgang immer heim¬ licher, künſtlicher, ja verſtellt und ängſtlich zu werden ſchien.
Von ſeinen Schickſalen und Abentheuern ſprechen wir vielleicht an einem andern Orte, und bemerken hier nur ſo viel: daß er in ſpäteren Zeiten, da er ſchon ein gemachter Mann, im Beſitz von entſchiednem Nahmen, und in einer ſehr guten obgleich nicht feſten Lage war, ſich angewöhnt hatte, im Geſpräch auf eine feine Weiſe theils ironiſch, theils ſpöttiſch den Sophiſten zu machen, und da¬ durch faſt jede ernſthafte Unterhaltung zu zerſtören. Beſonders gebrauchte er dieſe Ma¬ nier gegen Wilhelm, ſobald dieſer, wie es ihm oft begegnete, ein allgemeines theoreti¬ ſches Geſpräch anzuknüpfen Luſt hatte. Dem¬ ungeachtet waren ſie ſehr gern beyſammen, indem durch ihre beiderſeitige Denkart dieW. Meiſters Lehrj. 2. Z354Unterhaltung lebhaft werden mußte. Wil¬ helm wünſchte, alles aus den Begriffen, die er gefaßt hatte, zu entwickeln, und wollte die Kunſt in einem Zuſammenhange behan¬ delt haben. Er wollte ausgeſprochene Re¬ geln feſtſetzen, beſtimmen, was recht, ſchön und gut ſey, und was Beyfall verdiene; genug, er behandelte alles auf das ernſtlich¬ ſte. Serlo hingegen nahm die Sache ſehr leicht, und indem er niemals direct auf eine Frage antwortete, wußte er, durch eine Ge¬ ſchichte oder einen Schwank, die artigſte und vergnüglichſte Erläuterung beyzubringen, und die Geſellſchaft zu unterrichten, indem er ſie erheiterte.
355Indem nun Wilhelm auf dieſe Weiſe ſehr angenehme Stunden zubrachte, befanden ſich Melina und die übrigen in einer deſto ver¬ drießlichern Lage. Sie erſchienen unſerm Freunde manchmal wie böſe Geiſter, und machten ihm nicht blos durch ihre Gegen¬ wart, ſondern auch oft durch flämiſche Ge¬ ſichter und bittre Reden einen verdrießlichen Augenblick. Serlo hatte ſie nicht einmal zu Gaſtrollen gelaſſen, geſchweige daß er ihnen Hoffnung zum Engagement gemacht hätte, und hatte demungeachtet nach und nach ihre ſämmtlichen Fähigkeiten kennen gelernt. So oft ſich Schauſpieler bey ihm geſellig ver¬ ſammelten, hatte er die Gewohnheit leſen zu laſſen, und manchmal ſelbſt mitzuleſen. ErZ 2356nahm Stücke vor, die noch gegeben werden ſollten, die lange nicht gegeben waren, und zwar meiſtens nur Theilweiſe. So ließ er auch, nach einer erſten Aufführung, Stellen, bey denen er etwas zu erinnern hatte, wie¬ derholen, vermehrte dadurch die Einſicht der Schauſpieler, und verſtärkte ihre Sicherheit, den rechten Punkt zu treffen. Und wie ein geringer aber richtiger Verſtand mehr als ein verworrnes und ungeläutertes Genie zur Zufriedenheit anderer wirken kann; ſo er¬ hub er mittelmäßige Talente, durch die deut¬ liche Einſicht, die er ihnen unmerklich ver¬ ſchafte, zu einer bewundernswürdigen Fä¬ higkeit. Nicht wenig trug dazu bey, daß er auch Gedichte leſen ließ, und in ihnen das Gefühl jenes Reizes erhielt, den ein wohl¬ vorgetragner Rythmus in unſrer Seele er¬ regt, anſtatt daß man bey andern Geſell¬ ſchaften ſchon anfing, nur diejenige Proſa357 vorzutragen, wozu einem jeden der Schnabel gewachſen war.
Bey ſolchen Gelegenheiten hatte er auch die ſämmtlichen angekommenen Schauſpieler kennen lernen, das was ſie waren, und was ſie werden konnten, beurtheilt, und ſich in der Stille vorgenommen, von ihren Talenten bey einer Revolution, die ſeiner Geſellſchaft drohete, ſogleich Vortheil zu ziehen. Er ließ die Sache eine Weile auf ſich beruhen, lehn¬ te alle Interceſſionen Wilhelms für ſie mit Achſelzucken ab, bis er ſeine Zeit erſah, und ſeinem jungen Freunde ganz unerwartet den Vorſchlag that: er ſolle doch ſelbſt bey ihm aufs Theater gehen, und unter dieſer Bedin¬ gung wolle er auch die übrigen engagiren.
Die Leute müſſen alſo doch ſo unbrauch¬ bar nicht ſeyn, wie Sie mir ſolche bisher ge¬ ſchildert haben, verſetzte ihm Wilhelm, wenn ſie jetzt auf einmal zuſammen angenommen358 werden können, und ich dächte, ihre Talente müßten auch ohne mich dieſelbigen bleiben.
Serlo eröffnete ihm darauf, unter dem Siegel der Verſchwiegenheit, ſeine Lage: wie ſein erſter Liebhaber Miene mache, ihn bey der Erneuerung des Contracts zu ſteigern, und wie er nicht geſinnt ſey, ihm nachzuge¬ ben, beſonders da die Gunſt des Publikums gegen ihn ſo groß nicht mehr ſey. Ließe er dieſen gehen, ſo würde ſein ganzer Anhang ihm folgen, wodurch denn die Geſellſchaft einige gute, aber auch einige mittelmäßige Glieder verlöre. Hierauf zeigte er Wilhel¬ men, was er dagegen an ihm, an Laertes, dem alten Polterer und ſelbſt an Frau Me¬ lina zu gewinnen hoffe. Ja, er verſprach dem armen Pedanten als Juden, Miniſter, und überhaupt als Böſewicht einen entſchie¬ denen Beyfall zu verſchaffen.
Wilhelm ſtutzte, und vernahm den Vor¬359 trag nicht ohne Unruhe, und nur um etwas zu ſagen, verſetzte er, nachdem er tief Athem geholt hatte: Sie ſprechen auf eine ſehr freundliche Weiſe nur von dem Guten, was Sie an uns finden und von uns hoffen; wie ſieht es denn aber mit den ſchwachen Seiten aus, die Ihrem Scharfſinne gewiß nicht entgangen ſind?
Die wollen wir bald durch Fleiß, Übung und Nachdenken zu ſtarken Seiten machen, verſetzte Serlo. Es iſt unter euch allen, die ihr denn doch nur Naturaliſten und Pfuſcher ſeyd, keiner, der nicht mehr oder weniger Hoffnung von ſich gäbe; denn ſo viel ich alle beurtheilen kann, ſo iſt kein einziger Stock darunter, und Stöcke allein ſind die Unverbeſſerlichen, ſie mögen nun aus Eigen¬ dünkel, Dummheit oder Hypochondrie unge¬ lenk und unbiegſam ſeyn.
Serlo legte darauf mit wenigen Worten360 die Bedingungen dar, die er machen könne und wolle, bat Wilhelmen um ſchleunige Entſcheidung, und verließ ihn in nicht gerin¬ ger Unruhe.
Bey der wunderlichen und gleichſam nur zum Scherz unternommenen Arbeit jener fin¬ girten Reiſebeſchreibung, die er mit Laertes ausarbeitete, war er auf die Zuſtände und das tägliche Leben der wirklichen Welt auf¬ merkſamer geworden, als er ſonſt nicht ge¬ weſen war. Er begriff jetzt ſelbſt erſt die Abſicht des Vaters, als er ihm die Führung des Journals ſo lebhaft empfohlen. Er fühlte zum erſtenmale, wie angenehm und nützlich es ſeyn könne, ſich zur Mittelsperſon ſo vieler Gewerbe und Bedürfniſſe zu ma¬ chen, und bis in die tiefſten Gebirge und Wälder des feſten Landes Leben und Thä¬ tigkeit verbreiten zu helfen. Die lebhafte Handelsſtadt, in der er ſich befand, gab ihm361 bey der Unruhe des Laertes, der ihn überall mit herumſchleppte, den anſchaulichſten Be¬ griff eines großen Mittelpunktes, woher al¬ les ausfließt, und wohin alles zurückkehrt, und es war das erſtemal, daß ſein Geiſt im Anſchauen dieſer Art von Thätigkeit ſich wirklich ergetzte. In dieſem Zuſtande hatte ihm Serlo den Antrag gethan, und ſeine Wünſche, ſeine Neigung, ſein Zutrauen auf ein angebornes Talent, und ſeine Verpflich¬ tung gegen die hülfloſe Geſellſchaft wieder rege gemacht.
Da ſteh ich nun, ſagte er zu ſich ſelbſt, abermals am Scheidewege zwiſchen den bei¬ den Frauen, die mir in meiner Jugend er¬ ſchienen. Die eine ſieht nicht mehr ſo küm¬ merlich aus, wie damals, und die andere nicht ſo prächtig. Der einen wie der andern zu folgen fühlſt du eine Art von innern Be¬ ruf, und von beiden Seiten ſind die äuſſern362 Anläſſe ſtark genug; es ſcheint dir unmöglich dich zu entſcheiden, du wünſcheſt, daß irgend ein Übergewicht von Auſſen deine Wahl be¬ ſtimmen möge, und doch, wenn du dich recht unterſuchſt, ſo ſind es nur äuſſere Umſtände, die dir eine Neigung zu Gewerb, Erwerb und Beſitz einflößen, aber dein innerſtes Be¬ dürfniß erzeugt und nährt den Wunſch, die Anlagen, die in dir zum Guten und Schö¬ nen ruhen mögen, ſie ſeyen körperlich oder geiſtig, immer mehr zu entwickeln und aus¬ zubilden. Und muß ich nicht das Schickſal verehren, das mich ohne mein Zuthun hier¬ her an das Ziel aller meiner Wünſche führt? Geſchieht nicht alles, was ich mir ehemals ausgedacht und vorgeſetzt, nun zufällig ohne mein Mitwirken? Sonderbar genug! Der Menſch ſcheint mit nichts vertrauter zu ſeyn, als mit ſeinen Hoffnungen und Wünſchen, die er lange im Herzen nährt und bewahrt,363 und doch, wenn ſie ihm nun begegnen, wenn ſie ſich ihm gleichſam aufdringen, erkennt er ſie nicht und weicht vor ihnen zurück. Alles, was ich mir vor jener unglücklichen Nacht, die mich von Marianen entfernte, nur träu¬ men ließ, ſteht vor mir, und bietet ſich mir ſelbſt an. Hierher wollte ich flüchten, und bin ſachte hergeleitet worden; bey Serlo wollte ich unterzukommen ſuchen, er ſucht nun mich, und bietet mir Bedingungen an, die ich als Anfänger nie erwarten konnte. War es denn bloß Liebe zu Marianen, die mich ans Theater feſſelte? oder war es Liebe zur Kunſt, die mich an das Mädchen feſt¬ knüpfte? War jene Ausſicht, jener Ausweg nach der Bühne blos einem unordentlichen, unruhigen Menſchen willkommen, der ein Leben fortzuſetzen wünſchte, das ihm die Ver¬ hältniſſe der bürgerlichen Welt nicht geſtat¬ teten, oder war es alles anders, reiner, wür¬364 diger? und was ſollte dich bewegen können, deine damalige Geſinnungen zu ändern? Haſt du nicht vielmehr bisher ſelbſt unwiſ¬ ſend deinen Plan verfolgt, und iſt nicht jetzt der letzte Schritt noch mehr zu billigen, da keine Nebenabſichten dabey im Spiele ſind, und da du zugleich ein feyerlich gegebenes Wort halten, und dich auf eine edle Weiſe von einer ſchweren Schuld befreyen kannſt?
Alles, was in ſeinem Herzen und ſeiner Einbildungskraft ſich bewegte, wechſelte nun auf das lebhafteſte gegen einander ab. Daß er ſeine Mignon behalten könne, daß er den Harfner nicht zu verſtoßen brauche, war kein kleines Gewicht auf der Wagſchale, und doch ſchwankte ſie noch hin und wieder, als er ſeine Freundin Aurelie gewohnterweiſe zu beſuchen ging.
365Er fand ſie auf ihrem Ruhbette; ſie ſchien ſtille. Glauben Sie noch morgen ſpielen zu können? fragte er. O ja, verſetzte ſie leb¬ haft; Sie wiſſen, daran hindert mich nichts. — Wenn ich nur ein Mittel wüßte, den Beyfall unſers Parterr’s von mir abzu¬ lehnen: ſie meinen es gut, und werden mich noch umbringen. Vorgeſtern dacht’ ich das Herz müßte mir reißen! Sonſt konnt’ ich es wohl leiden, wenn ich mir ſelbſt gefiel, wenn ich lange ſtudirt und mich vorbereitet hatte ‚ dann freute ich mich, wenn das willkommene Zeichen: nun ſey es gelungen, von allen Enden wiedertönte. Jetzo ſag ich nicht, was ich will, nicht wie ichs will, ich werde hinge¬ riſſen, ich verwirre mich, und mein Spiel366 macht einen weit größern Eindruck. Der Beyfall wird lauter, und ich denke: wüßtet ihr, was euch entzückt! die dunkeln, heftigen, unbeſtimmten Anklänge rühren euch, zwingen euch Bewundrung ab, und ihr fühlt nicht, daß es die Schmerzenstöne der Unglücklichen ſind, der ihr euer Wohlwollen geſchenkt habt.
Heute früh hab’ ich gelernt, jetzt wieder¬ holt und verſucht. Ich bin müde, zerbrochen, und morgen geht es wieder von vorn an. Morgen Abend ſoll geſpielt werden; ſo ſchlepp’ ich mich hin und her, es iſt mir langweilig aufzuſtehen, und verdrießlich zu Bette zu gehen. Alles macht einen ewigen Zirkel in mir. Dann treten die leidigen Trö¬ ſtungen vor mir auf, dann werf ich ſie weg, und verwünſche ſie. Ich will mich nicht er¬ geben, nicht der Nothwendigkeit ergeben — warum ſoll das nothwendig ſeyn, was mich zu Grunde richtet? Könnte es nicht auch367 anders ſeyn? Ich muß es eben bezahlen, daß ich eine Deutſche bin; es iſt der Charakter der Deutſchen, daß ſie über allem ſchwer werden, daß alles über ihnen ſchwer wird.
O, meine Freundin, fiel Wilhelm ein, könnten Sie doch aufhören ſelbſt den Dolch zu ſchärfen, mit dem Sie ſich unabläſſig ver¬ wunden! Bleibt Ihnen denn nichts? Iſt denn Ihre Jugend, Ihre Geſtalt, Ihre Ge¬ ſundheit, ſind Ihre Talente nichts? Wenn Sie ein Gut ohne Ihr Verſchulden verloren haben, müſſen Sie denn alles Übrige hinter¬ drein werfen? Iſt das auch nothwendig?
Sie ſchwieg einige Augenblicke, dann fuhr ſie auf: ich weiß es wohl, daß es Zeitver¬ derb iſt, nichts als Zeitverderb iſt die Liebe! Was hätte ich nicht thun können! thun ſol¬ len! nun iſt alles rein zu Nichts geworden. Ich bin ein armes verliebtes Geſchöpf, nichts als verliebt! Haben Sie Mitleiden mit mir, bey Gott, ich bin ein armes Geſchöpf!
368Sie verſank in ſich, und nach einer kur¬ zen Pauſe rief ſie heftig aus: ihr ſeyd ge¬ wohnt, daß ſich euch alles an den Hals wirft, nein ihr könnt es nicht fühlen, kein Mann iſt im Stande, den Werth eines Wei¬ bes zu fühlen, das ſich zu ehren weiß. Bey allen heiligen Engeln, bey allen Bildern der Seeligkeit, die ſich ein reines gutmüthiges Herz erſchaft, es iſt nichts Himmliſchers, als ein weibliches Weſen, das ſich dem geliebten Manne hingiebt.
Wir ſind kalt, ſtolz, hoch, klar, klug, wenn wir verdienen Weiber zu heißen, und alle dieſe Vorzüge legen wir euch zu Füßen, ſobald wir lieben, ſobald wir hoffen, Gegen¬ liebe zu erwerben. O wie hab’ ich mein ganzes Daſeyn ſo mit Wiſſen und Willen weggeworfen; aber nun will ich auch ver¬ zweifeln, abſichtlich verzweifeln. Es ſoll kein Blutstropfen in mir ſeyn, der nicht geſtraftwird. 369wird, keine Faſer, die ich nicht peinigen will. Lächeln Sie nur, lachen Sie nur über den theatraliſchen Aufwand von Leidenſchaft.
Fern war von unſerm Freunde jede An¬ wandlung des Lachens. Der entſetzliche, halb natürliche, halb erzwungene Zuſtand ſeiner Freundin peinigte ihn nur zu ſehr. Er em¬ pfand die Foltern der unglücklichen Anſpan¬ nung mit; ſein Gehirn zerrüttete ſich, und ſein Blut war in einer fieberhaften Bewe¬ gung.
Sie war aufgeſtanden, und ging in der Stube hin und wieder. Ich ſage mir alles vor, rief ſie aus, warum ich ihn nicht lieben ſollte. Ich weiß auch, daß er es nicht werth iſt; ich wende mein Gemüth ab, dahin und dorthin, beſchäftige mich, wie es nur gehen will. Bald nehm ich eine Rolle vor, wenn ich ſie auch nicht zu ſpielen habe, ich übe die alten, die ich durch und durch kenne, fleißi¬W. Meiſters Lehrj. 2. A a370ger und fleißiger, ins Einzelne, und übe und übe — mein Freund, mein Vertrauter, wel¬ che entſetzliche Arbeit iſt es, ſich mit Gewalt von ſich ſelbſt zu entfernen! Mein Verſtand leidet, mein Gehirn iſt ſo angeſpannt; um mich vom Wahnſinne zu retten, überlaß ich mich wieder dem Gefühle, daß ich ihn lie¬ be. — Ja, ich liebe ihn, ich liebe ihn! rief ſie unter tauſend Thränen, ich liebe ihn, und ſo will ich ſterben.
Er faßte ſie bey der Hand, und bat ſie auf das inſtändigſte, ſich nicht ſelbſt aufzu¬ reiben. O, ſagte er, wie ſonderbar iſt es, daß dem Menſchen nicht allein ſo manches Unmögliche, ſondern auch ſo manches Mög¬ liche verſagt iſt. Sie waren nicht beſtimmt, ein treues Herz zu finden, das Ihre ganze Glückſeeligkeit würde gemacht haben. Ich war dazu beſtimmt, das ganze Heil meines Lebens an eine Unglückliche feſtzuknüpfen, die371 ich durch die Schwere meiner Treue wie ein Rohr zu Boden zog, ja vielleicht gar zer¬ brach.
Er hatte Aurelien ſeine Geſchichte mit Marianen vertraut, und konnte ſich alſo jetzt darauf beziehen. Sie ſah ihm ſtarr in die Augen, und fragte: können Sie ſagen, daß Sie noch niemals ein Weib betrogen, daß Sie keiner mit leichtſinniger Galanterie, mit frevelhafter Betheurung, mit herzlockenden Schwüren ihre Gunſt abzulocken geſucht?
Das kann ich, verſetzte Wilhelm, und zwar ohne Ruhmredigkeit; denn mein Leben war ſehr einfach, und ich bin ſelten in die Verſuchung gerathen, zu verſuchen. Und welche Warnung, meine ſchöne, meine edle Freundin, iſt mir der traurige Zuſtand, in den ich Sie verſetzt ſehe. Nehmen Sie ein Gelübde von mir, das meinem Herzen ganz angemeſſen iſt, das durch die Rührung, dieAa 2372Sie mir einflößten, ſich bey mir zur Sprache und Form beſtimmt, und durch dieſen Au¬ genblick geheiligt wird: jeder flüchtigen Nei¬ gung will ich widerſtehen, und ſelbſt die ernſtlichſten in meinem Buſen bewahren; kein weibliches Geſchöpf ſoll ein Bekenntniß der Liebe von meinen Lippen vernehmen, dem ich nicht mein ganzes Leben widmen kann.
Sie ſah ihn mit einer wilden Gleichgül¬ tigkeit an, und entfernte ſich, als er ihr die Hand reichte, um einige Schritte. Es iſt nichts daran gelegen, rief ſie, ſo viel Wei¬ berthränen mehr oder weniger, die See wird darum doch nicht wachſen. Doch, fuhr ſie fort, unter Tauſenden Eine gerettet, das iſt doch etwas, unter Tauſenden Einen Redli¬ chen gefunden, das iſt anzunehmen. Wiſſen Sie auch was Sie verſprechen?
Ich weiß es, verſetzte Wilhelm lächelnd, und hielt ſeine Hand hin.
373Ich nehm’ es an, verſetzte ſie, und machte eine Bewegung mit ihrer Rechten, ſo daß er glaubte, ſie würde die ſeine faſſen; aber ſchnell fuhr ſie in die Taſche, riß den Dolch wie der Blitz heraus, und fuhr mit Spitze und Schneide ihm raſch über die Hand weg. Er zog ſie ſchnell zurück, aber ſchon lief das Blut herunter.
Man muß euch Männer ſcharf zeichnen, wenn ihr merken ſollt, rief ſie mit einer wil¬ den Heiterkeit aus, die bald in eine haſtige Geſchäftigkeit überging. Sie nahm ihr Schnupftuch und umwickelte ſeine Hand da¬ mit, um das erſte hervordringende Blut zu ſtillen. Verzeihen Sie einer Halbwahnſinni¬ gen, rief ſie aus, und laſſen Sie ſich dieſe Tropfen Bluts nicht reuen. Ich bin ver¬ ſöhnt, ich bin wieder bey mir ſelber. Auf meinen Knieen will ich Abbitte thun, laſſen Sie mir den Troſt, Sie zu heilen.
374Sie eilte nach ihrem Schranke, holte Lein¬ wand und einiges Geräth, ſtillte das Blut, und beſah die Wunde ſorgfältig. Der Schnitt ging durch den Ballen gerade unter dem Daumen, theilte die Lebenslinie, und lief gegen den kleinen Finger aus. Sie ver¬ band ihn ſtill, und mit einer nachdenklichen Bedeutſamkeit in ſich gekehrt. Er fragte einigemal: Beſte, wie konnten Sie Ihren Freund verletzen?
Still! erwiederte ſie, indem ſie den Fin¬ ger auf den Mund legte: ſtill!
Die von dem Hrn. Capellmeiſter Reichard componirten Lieder werden ſo eingeheftet, daß man ſie von der Rechten zur Linken aufſchlägt:
Unter der Preſſe iſt und wird zu Johannis erſcheinen.
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Fraktur
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