PRIMS Full-text transcription (HTML)
Reiſebilder
Zweiter Theil.
Hamburg, beyHoffmann und Campe. 1827.
[1]

Die Nordſee.

1826. Zweite Abtheilung.

1[2]

Motto: Xenophon's Anabaſis IV. 7.

[3]

I. Meergruß.

Thalatta! Thalatta!
Sey mir gegruͤßt, du ewiges Meer!
Sey mir gegruͤßt zehntauſendmal
Aus jauchzendem Herzen,
Wie einſt dich begruͤßten
Zehntauſend Griechenherzen,
Ungluͤckbekaͤmpfende, heimathverlangende,
Weltberuͤhmte Griechenherzen.
Es wogten die Fluthen,
Sie wogten und brauſten,
Die Sonne goß eilig herunter
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Die ſpielenden Roſenlichter,
Die aufgeſcheuchten Moͤvenzuͤge
Flatterten fort, lautſchreyend,
Es ſtampften die Roſſe, es klirrten die Schilde,
Und weithin erſcholl es, wie Siegesruf:
Thalatta! Thalatta!
Sey mir gegruͤßt, du ewiges Meer,
Wie Sprache der Heimath rauſcht mir dein Waſſer,
Wie Traͤume der Kindheit ſeh 'ich es flimmern
Auf deinem wogenden Wellengebiet,
Und alte Erinn'rung erzaͤhlt mir auf's neue,
Von all dem lieben, herrlichen Spielzeug,
Von all den blinkenden Weihnachtsgaben,
Von all den rothen Corallenbaͤumen,
Goldfiſchchen, Perlen und bunten Muſcheln,
Die du geheimnißvoll bewahreſt
Dort unten im klaren Kriſtallhaus.
O! wie hab 'ich geſchmachtet in oͤder Fremde!
Gleich einer welken Blume
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In des Botanikers blecherner Kapſel,
Lag mir das Herz in der Bruſt;
Mir iſt, als ſaß ich winterlange,
Ein Kranker, in dunkler Krankenſtube,
Und nun verlaß ich ſie ploͤtzlich,
Und blendend ſtrahlt mir entgegen
Der ſchmaragdne Fruͤhling, der ſonnengeweckte,
Und es rauſchen die weißen Bluͤthenbaͤume,
Und die jungen Blumen ſchauen mich an,
Mit bunten, duftenden Augen,
Und es duftet und ſummt, und athmet und lacht,
Und im blauen Himmel ſingen die Voͤglein
Thalatta! Thalatta!
Du tapferes Ruͤckzugherz!
Wie oft, wie bitteroft
Bedraͤngten dich des Nordens Barbarinnen!
Aus großen, ſiegenden Augen
Schoſſen ſie brennende Pfeile;
Mit krummgeſchliffenen Worten
Drohten ſie mir die Bruſt zu ſpalten,
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Mit Keilſchriftbillets zerſchlugen ſie mir
Das arme, betaͤubte Gehirn
Vergebens hielt ich den Schild entgegen,
Die Pfeile ziſchten, die Hiebe krachten,
Und von des Nordens Barbarinnen
Ward ich gedraͤngt bis an's Meer,
Und freyaufathmend begruͤß 'ich das Meer,
Das liebe, rettende Meer,
Thalatta! Thalatta!
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II. Gewitter.

Dumpf liegt auf dem Meer 'das Gewitter,
Und durch die ſchwarze Wolkenwand
Zuckt der zackige Wetterſtrahl,
Raſch aufleuchtend und raſch verſchwindend,
Wie'n Witz aus dem Haupte Kronions.
Ueber das wuͤſte, wogende Waſſer
Weithin rollen die Donner
Und ſpringen die weißen Wellenroſſe,
Die Boreas ſelber gezeugt
Mit des Erichthons reizenden Stuten,
Und es flattert aͤngſtlich das Seegevoͤgel,
Wie Schattenleichen am Styx,
Die Charon abwies vom naͤchtlichen Kahn.
Armes, luſtiges Schifflein,
Das dort dahintanzt den ſchlimmſten Tanz!
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Aeolus ſchickt ihm die flinkſten Geſellen,
Die wild aufſpielen zum froͤhlichen Reigen;
Der Eine pfeift, der Andre blaͤſt,
Der Dritte ſtreicht den dumpfen Brummbaß
Und der ſchwankende Seemann ſteht am Steuer,
Und ſchaut beſtaͤndig nach der Buſſole,
Der zitternden Seele des Schiffes,
Und hebt die Haͤnde flehend zum Himmel:
O rette mich, Kaſtor, reiſiger Held,
Und Du, Kaͤmpfer der Fauſt, Polydeukes!
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III. Der Schiffbruͤchige.

Hoffnung und Liebe! Alles zertruͤmmert!
Und ich ſelber, gleich einer Leiche,
Die grollend ausgeworfen das Meer,
Lieg 'ich am Strande,
Am oͤden, kahlen Strande.
Vor mir woget die Waſſerwuͤſte,
Hinter mir liegt nur Kummer und Elend,
Und uͤber mich hin ziehen die Wolken,
Die formlos grauen Toͤchter der Luft,
Die aus dem Meer', in Nebeleimern,
Das Waſſer ſchoͤpfen,
Und es muͤhſam ſchleppen und ſchleppen,
Und es wieder verſchuͤtten in's Meer,
Ein truͤbes, langweil'ges Geſchaͤft,
Und nutzlos, wie mein eignes Leben.
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Die Wogen murmeln, die Moͤven ſchrillen,
Alte Erinn'rungen wehen mich an,
Vergeſſene Traͤume, erloſchene Bilder,
Qualvoll ſuͤße, tauchen hervor!
Es lebt ein Weib im Norden,
Ein ſchoͤnes Weib, koͤniglich ſchoͤn.
Die ſchlanke Zypreſſengeſtalt
Umſchließt ein luͤſtern weißes Gewand;
Die dunkle Lockenfuͤlle,
Wie eine ſelige Nacht, ergießt ſich
Von dem hohen, flechtengekroͤnten Haupte,
Sie ringelt ſich traͤumeriſch ſuͤß
Um das ſuͤße, blaſſe Antlitz;
Und aus dem ſuͤßen, blaſſen Antlitz,
Groß und gewaltig, ſtrahlt ein Auge,
Wie eine ſchwarze Sonne.
O, du ſchwarze Sonne, wie oft,
Entzuͤckend oft, trank ich aus dir
Die wilden Begeiſt'rungsflammen,
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Und ſtand und taumelte, feuerberauſcht
Dann ſchwebte ein taubenmildes Laͤcheln
Um die hochgeſchuͤrzten, ſtolzen Lippen,
Und die hochgeſchuͤrzten, ſtolzen Lippen
Hauchten Worte, ſuͤß wie Mondlicht
Und zart wie der Duft der Roſe
Und meine Seele erhob ſich
Und flog, wie ein Aar, hinauf in den Himmel!
Schweigt, ihr Wogen und Moͤven!
Voruͤber iſt Alles, Gluͤck und Hoffnung,
Hoffnung und Liebe! Ich liege am Boden,
Ein oͤder, ſchiffbruͤchiger Mann,
Und druͤcke mein gluͤhendes Antlitz
In den feuchten Sand.
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IV. Untergang der Sonne.

Die ſchoͤne Sonne
Iſt ruhig hinabgeſtiegen in's Meer;
Die wogenden Waſſer ſind ſchon gefaͤrbt
Von der dunkeln Nacht,
Nur noch die Abendroͤthe
Ueberſtreut ſie mit goldnen Lichtern,
Und die rauſchende Fluthgewalt
Draͤngt an's Ufer die weißen Wellen,
Die luſtig und haſtig huͤpfen,
Wie wollige Laͤmmerheerden,
Die Abends der ſingende Hirtenjunge
Nach Hauſe treibt.
Wie ſchoͤn iſt die Sonne!
So ſprach nach langem Schweigen der Freund,
Der mit mir am Strande wandelte,
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Und ſcherzend halb und halb wehmuͤthig,
Verſichert 'er mir: die Sonne ſey
Eine ſchoͤne Frau, die den alten Meergott
Aus Convenienz geheurathet;
Des Tages uͤber wandle ſie freudig
Am hohen Himmel, purpurgeputzt,
Und diamantenblitzend,
Und allgeliebt und allbewundert
Von allen Weltkreaturen,
Und alle Weltkreaturen erfreuend
Mit ihres Blickes Licht und Waͤrme;
Aber des Abends, troſtlos gezwungen,
Kehre ſie wieder zuruͤck
In das naſſe Haus, in die oͤden Arme
Des greiſen Gemahls.
Glaub mir's ſetzte hinzu der Freund,
Und lachte und ſeufzte und lachte wieder
Die fuͤhren dort unten die zaͤrtlichſte Ehe!
Entweder ſie ſchlafen oder ſie zanken ſich,
Daß hochaufbrauſt hier oben das Meer,
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Und der Schiffer im Wellengeraͤuſch es hoͤrt
Wie der Alte ſein Weib ausſchilt:
Runde Metze des Weltalls!
Strahlenbuhlende!
Den ganzen Tag gluͤhſt du fuͤr Andre,
Und Nachts, fuͤr Mich, biſt du froſtig und muͤde!
Nach ſolcher Gardienenpredigt,
Verſteht ſich! bricht dann aus in Thraͤnen
Die ſtolze Sonne und klagt ihr Elend,
Und klagt ſo jammerlang, daß der Meergott
Ploͤtzlich verzweiflungsvoll aus dem Bett ſpringt,
Und ſchnell nach der Meeresflaͤche heraufſchwimmt,
Um Luft und Beſinnung zu ſchoͤpfen.
So ſah ich ihn ſelbſt, verfloſſene Nacht,
Bis an die Bruſt dem Meer 'enttauchen.
Er trug eine Jacke von gelbem Flanell,
Und eine liljenweiße Schlafmuͤtz,
Und ein abgewelktes Geſicht.
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V. Der Geſang der Okeaniden.

Adendlich blaſſer wird es am Meere,
Und einſam, mit ſeiner einſamen Seele,
Sitzt dort ein Mann auf dem kahlen Strand,
Und ſchaut, todtkalten Blickes, hinauf
Nach der weiten, todtkalten Himmelswoͤlbung,
Und ſchaut auf das weite, wogende Meer,
Und uͤber das weite, wogende Meer,
Wie Luͤfteſegler, ziehn ſeine Seufzer,
Und kehren wieder, truͤbſelig,
Und hatten verſchloſſen gefunden das Herz,
Worin ſie ankern wollten
Und er ſtoͤhnt ſo laut, daß die weißen Moͤven,
Aufgeſcheucht aus den ſandigen Neſtern,
Ihn heerdenweiſ 'umflattern,
Und er ſpricht zu ihnen die lachenden Worte:
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Schwarzbeinigte Voͤgel,
Mit weißen Fluͤgeln Meer-uͤberflatternde
Mit krummen Schnaͤbeln Seewaſſer-ſaufende
Und thranigtes Robbenfleiſch-freſſende,
Eu'r Leben iſt bitter wie Eure Nahrung!
Ich aber, der Gluͤckliche, koſte nur Suͤßes!
Ich koſte den ſuͤßen Duft der Roſe,
Der Mondſchein-gefuͤtterten Nachtigallbraut;
Ich koſte noch ſuͤßere Joſty-Baiſers,
Mit weißer Seligkeit gefuͤllte;
Und das Allerſuͤßeſte koſt 'ich:
Suͤße Liebe und ſuͤßes Geliebtſeyn.
Sie liebt mich! Sie liebt mich! die holde
Jungfrau!
Jetzt ſteht ſie daheim, am Erker des Hauſes,
Und ſchaut in die Daͤmm'rung hinaus, auf die
Landſtraß '
Und horcht, und ſehnt ſich nach mir wahrhaftig!
Vergebens ſpaͤht ſie umher und ſie ſeufzet
Und ſeufzend ſteigt ſie hinab in den Garten,
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Und wandelt in Duft und Mondſchein,
Und ſpricht mit den Blumen, erzaͤhlet ihnen:
Wie ich, der Geliebte, ſo lieblich bin
Und ſo liebenswuͤrdig wahrhaftig!
Nachher im Bette, im Schlafe, im Traum,
Umgaukelt ſie ſelig mein theures Bild,
Sogar des Morgens, beim Fruͤhſtuͤck,
Auf dem glaͤnzenden Butterbrodte,
Sieht ſie mein laͤchelndes Antlitz,
Und ſie frißt es auf vor Liebe wahrhaftig!
Alſo prahlt er und prahlt er,
Und zwiſchendrein ſchrillen die Moͤven,
Wie kaltes, ironiſches Kichern;
Die Daͤmm'rungsnebel ſteigen herauf;
Aus violettem Gewoͤlk, unheimlich,
Schaut hervor der grasgelbe Mond;
Hochaufrauſchen die Meereswogen,
Und tief aus hochaufrauſchendem Meer,
Wehmuͤthig wie fluͤſternder Windzug,
Toͤnt der Geſang der Okeaniden,
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Der ſchoͤnen, mitleidigen Waſſerfrau'n,
Vor allen vernehmbar die liebliche Stimme
Der ſilberfuͤßigen Peleus-Gattinn,
Und ſie ſeufzen und ſingen:
O Thor, du Thor! du prahlender Thor!
Du kummergequaͤlter!
Dahingemordet ſind all deine Hoffnungen,
Die taͤndelnden Kinder des Herzens,
Und ach! dein Herz, dein Niobe-Herz
Verſteinert vor Gram!
In deinem Haupte wird's Nacht,
Und es zucken hindurch die Blitze des Wahnſinns,
Und du prahlſt vor Schmerzen!
O Thor, du Thor! du prahlender Thor!
Halsſtarrig biſt du wie dein Ahnherr,
Der hohe Titane, der himmliſches Feuer
Den Goͤttern ſtahl und den Menſchen gab,
Und Geyer-gequaͤlet, Felſen-gefeſſelt,
Olympauftrotzte und trotzte und ſtoͤhnte,
Daß wir es hoͤrten im tiefen Meer,
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Und zu ihm kamen mit Troſtgeſang.
O Thor, du Thor! du prahlender Thor!
Du aber biſt ohnmaͤchtiger noch,
Und es waͤre vernuͤnftig, du ehrteſt die Goͤtter,
Und truͤgeſt geduldig die Laſt des Elends,
Und truͤgeſt geduldig ſo lange, ſo lange,
Bis Atlas ſelbſt die Geduld verliert,
Und die ſchwere Welt von den Schultern abwirft
In die ewige Nacht.
So ſcholl der Geſang der Okeaniden,
Der ſchoͤnen, mitleidigen Waſſerfrau'n,
Bis lautere Wogen ihn uͤberrauſchten
Hinter die Wolken zog ſich der Mond,
Es gaͤhnte die Nacht,
Und ich ſaß noch lange im Dunkeln und weinte.
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VI. Die Goͤtter Griechenlands.

Vollbluͤhender Mond! In deinem Licht,
Wie fließendes Gold, erglaͤnzt das Meer;
Wie Tagesklarheit, doch daͤmmrig verzaubert,
Liegt's uͤber der weiten Strandesflaͤche;
Und am hellblau'n, ſternloſen Himmel
Schweben die weißen Wolken,
Wie koloſſale Goͤtterbilder
Von leuchtendem Marmor.
Nein, nimmermehr, das ſind keine Wolken!
Das ſind ſie ſelber, die Goͤtter von Hellas,
Die einſt ſo freudig die Welt beherrſchten,
Doch jetzt, verdraͤngt und verſtorben,
Als ungeheure Geſpenſter dahinziehn
Am mitternaͤchtlichen Himmel.
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Staunend, und ſeltſam geblendet, betracht 'ich
Das luftige Pantheon,
Die feyerlich ſtummen, grau'nhaft bewegten
Rieſengeſtalten.
Der dort iſt Kronion, der Himmelskoͤnig,
Schneeweiß ſind die Locken des Haupts,
Die beruͤhmten, olymposerſchuͤtternden Locken,
Er haͤlt in der Hand den erloſchenen Blitz,
In ſeinem Geſichte liegt Ungluͤck und Gram,
Und doch noch immer der alte Stolz.
Das waren beſſere Zeiten, o Zeus,
Als du dich himmliſch ergoͤtzteſt
An Knaben und Nymphen und Hekatomben!
Doch auch die Goͤtter regieren nicht ewig,
Die jungen verdraͤngen die alten,
Wie du einſt ſelber den greiſen Vater
Und deine Titanen-Oehme verdraͤngt,
Jupiter Parricida!
Auch dich erkenn' ich, ſtolze Here!
Trotz all deiner eiferſuͤchtigen Angſt,
Hat doch eine Andre das Zepter gewonnen,
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Und du biſt nicht mehr die Himmelskoͤn'gin,
Und dein großes Aug 'iſt erſtarrt,
Und deine Lilienarme ſind kraftlos,
Und nimmermehr trifft deine Rache
Die gottbefruchtete Jungfrau
Und den wunderthaͤtigen Gottesſohn.
Auch dich erkenn' ich, Pallas Athene!
Mit Schild und Weisheit konnteſt du nicht
Abwehren das Goͤtterverderben?
Auch dich erkenn 'ich, auch dich, Aphrodite,
Einſt die goldene! jetzt die ſilberne!
Zwar ſchmuͤckt dich noch immer des Guͤrtels Liebreiz;
Doch graut mir heimlich vor deiner Schoͤnheit,
Und wollt' mich begluͤcken dein guͤtiger Leib,
Wie andre Helden, ich ſtuͤrbe vor Angſt;
Als Leichengoͤttin erſcheinſt du mir,
Venus Libitina!
Nicht mehr mit Liebe ſchaut nach dir,
Dort, der ſchreckliche Ares.
Es ſchaut ſo traurig Phoͤbos Apollo,
Der Juͤngling. Es ſchweigt ſeine Ley'r,
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Die ſo freudig erklungen beim Goͤttermahl.
Noch trauriger ſchaut Hephaiſtos,
Und wahrlich, der Hinkende! nimmermehr
Faͤllt er Hebe'n in's Amt,
Und ſchenkt geſchaͤftig, in der Verſammlung,
Den lieblichen Nektar Und laͤngſt iſt erloſchen
Das unausloͤſchliche Goͤttergelaͤchter.
Ich hab 'Euch niemals geliebt, Ihr Goͤtter!
Denn widerwaͤrtig ſind mir die Griechen,
Und gar die Roͤmer ſind mir verhaßt.
Doch heil'ges Erbarmen und ſchauriges Mitleid
Durchſtroͤmt mein Herz,
Wenn ich Euch jetzt da droben ſchaue,
Verlaſſene Goͤtter,
Todte, nachtwandelnde Schatten,
Nebelſchwache, die der Wind verſcheucht
Und wenn ich bedenke, wie feig und windig
Die Goͤtter ſind, die Euch beſiegten,
Die neuen, herrſchenden, triſten Goͤtter,
Die Schadenfrohen im Schafspelz der Demuth
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O da faßt mich ein duͤſterer Groll,
Und brechen moͤcht' ich die neuen Tempel,
Und kaͤmpfen fuͤr Euch, Ihr alten Goͤtter,
Fuͤr Euch und Eu'r gutes, ambroſiſches Recht,
Und vor Euren hohen Altaͤren,
Den wiedergebauten, den opferdampfenden,
Moͤcht 'ich ſelber knien und beten,
Und flehend die Arme erheben
Denn, immerhin, Ihr alten Goͤtter,
Habt Ihr's auch eh'mals, in Kaͤmpfen der Menſchen,
Stets mit der Parthey der Sieger gehalten,
So iſt doch der Menſch großmuͤth'ger als Ihr,
Und in Goͤtterkaͤmpfen halt 'ich es jetzt
Mit der Parthey der beſiegten Goͤtter.
Alſo ſprach ich, und ſichtbar erroͤtheten
Droben die blaſſen Wolkengeſtalten,
Und ſchauten mich an wie Sterbende,
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Schmerzenverklaͤrt, und ſchwanden ploͤtzlich.
Der Mond verbarg ſich eben
Hinter Gewoͤlk, das dunkler heranzog;
Hochaufrauſchte das Meer,
Und ſiegreich traten hervor am Himmel
Die ewigen Sterne.
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VII. Fragen.

Am Meer, am wuͤſten, naͤchtlichen Meer
Steht ein Juͤngling-Mann,
Die Bruſt voll Wehmuth, das Haupt voll Zweifel,
Und mit duͤſtern Lippen fragt er die Wogen:
O loͤſ't mir das Raͤthſel des Lebens,
Das qualvoll uralte Raͤthſel,
Woruͤber ſchon manche Haͤupter gegruͤbelt,
Haͤupter in Hieroglyphenmuͤtzen,
Haͤupter in Turban und ſchwarzem Barett,
Peruͤckenhaͤupter und tauſend andre
Arme, ſchwitzende Menſchenhaͤupter
Sagt mir, was bedeutet der Menſch?
Woher iſt er kommen? Wo geht er hin?
Wer wohnt dort oben auf goldenen Sternen?
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Es murmeln die Wogen ihr ew'ges Gemurmel,
Es weht der Wind, es fliehen die Wolken,
Es blinken die Sterne, gleichguͤltig und kalt,
Und ein Narr wartet auf Antwort.
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VIII. Der Phoͤnix.

Es kommt ein Vogel geflogen aus Weſten,
Er fliegt gen Oſten,
Nach der oͤſtlichen Gartenheimath,
Wo Spezereyen duften und wachſen,
Und Palmen rauſchen und Brunnen kuͤhlen
Und fliegend ſingt der Wundervogel:
Sie liebt ihn! ſie liebt ihn!
Sie traͤgt ſein Bildniß im kleinen Herzen,
Und traͤgt es ſuͤß und heimlich verborgen,
Und weiß es ſelbſt nicht!
Aber im Traume ſteht er vor ihr,
Sie bittet und weint und kuͤßt ſeine Haͤnde,
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Und ruft ſeinen Namen,
Und rufend erwacht ſie und liegt erſchrocken,
Und reibt ſich verwundert die ſchoͤnen Augen
Sie liebt ihn! ſie liebt ihn!
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IX. Echo.

Am Maſtbaum gelehnt, auf dem hohen Verdeck,
Stand ich und hoͤrt 'ich des Vogels Geſang.
Wie ſchwarzgruͤne Roſſe mit ſilbernen Maͤhnen,
Sprangen die weißgekraͤuſelten Wellen,
Wie Schwaͤnenzuͤge ſchifften voruͤber,
Mit ſchimmernden Segeln, die Helgolander,
Die kecken Nomaden der Nordſee;
Ueber mein Haupt, im ewigen Blau,
Hinflatterte weißes Gewoͤlk
Und prangte die ewige Sonne,
Die Roſe des Himmels, die feuerbluͤhende,
Die freudvoll ſich im Meer beſpiegelte;
Und Himmel und Meer und mein eignes Herz
Ertoͤnten im Nachhall:
Sie liebt ihn! ſie liebt ihn!
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X. Seekrankheit.

Die grauen Nachmittagswolken
Senken ſich tiefer hinab auf das Meer,
Das ihnen dunkel entgegenſteigt,
Und zwiſchendurch jagt das Schiff.
Seekrank ſitz 'ich noch immer am Maſtbaum
Und mache Betrachtungen uͤber mich ſelber,
Uralte, aſchgraue Betrachtungen,
Die ſchon der Vater Loth gemacht,
Als er des Guten zu viel genoſſen,
Und ſich nachher ſo uͤbel befand.
Mitunter denk' ich auch alter Geſchichten:
Wie kreuzbezeichnete Pilger der Vorzeit,
Auf ſtuͤrmiſcher Meerfahrt, das troſtreiche Bildniß
Der heiligen Jungfrau glaͤubig kuͤßten;
Wie kranke Ritter, in ſolcher Seenoth,
Den lieben Handſchuh ihrer Dame
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An die Lippen preßten, gleichgetroͤſtet
Ich aber ſitze und kaue verdrießlich
Einen alten Heering, den ſalzigen Troͤſter
In Katzenjammer und Hundetruͤbſal!
Unterdeſſen kaͤmpft das Schiff
Mit der wilden, wogenden Fluth;
Wie'n baͤumendes Schlachtroß ſtellt es ſich jetzt
Auf das Hintertheil, daß das Steuer kracht,
Jetzt ſtuͤrzt es kopfuͤber wieder hinab
In den heulenden Waſſerſchlund,
Dann wieder, wie ſorglos liebematt,
Denkt es ſich hinzulegen
An den ſchwarzen Buſen der Rieſenwelle,
Die maͤchtig heranbrauſt,
Und ploͤtzlich, ein wuͤſter Meerwaſſerfall,
In weißem Gekraͤuſel zuſammenſtuͤrzt,
Und mich ſelbſt mit Schaum bedeckt.
Dieſes Schwanken und Schweben und Schaukeln
Iſt unertraͤglich!
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Vergebens ſpaͤht mein Auge und ſucht
Die deutſche Kuͤſte. Doch ach! nur Waſſer,
Und abermals Waſſer, bewegtes Waſſer!
Wie der Winterwandrer des Abends ſich ſehnt
Nach einer warmen, innigen Taſſe Thee,
So ſehnt ſich jetzt mein Herz nach dir,
Mein deutſches Vaterland!
Mag immerhin dein ſuͤßer Boden bedeckt ſeyn
Mit Wahnſinn, Huſaren, ſchlechten Verſen
Und Gemuͤthsdiarhee-verbreitenden,
Duͤnnen Traktaͤtchen;
Moͤgen immerhin deine Zebras
Mit Roſen ſich maͤſten ſtatt mit Diſteln;
Moͤgen immerhin deine noblen Affen
In muͤßigem Putz ſich vornehm ſpreitzen,
Und ſich beſſer duͤnken als all das andre
Banauſiſch ſchwerhinwandelnde Hornvieh;
Mag immerhin deine Schneckenverſammlung
Sich fuͤr unſterblich halten
Weil ſie ſo langſam dahinkriecht,
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Und mag ſie taͤglich Stimmen ſammeln
Ob den Maden des Kaͤſes der Kaͤſe gehoͤrt?
Und noch lange Zeit in Berathung ziehn,
Wie man die aͤgyptiſchen Schafe veredle,
Damit ihre Wolle ſich beſſ're
Und der Hirt ſie ſcheeren koͤnne wie Andre,
Ohn 'Unterſchied
Immerhin, mag Thorheit und Unrecht
Dich ganz bedecken, O Deutſchland!
Ich ſehne mich dennoch nach dir:
Denn wenigſtens biſt du doch feſtes Land.
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XI. Im Hafen.

Gluͤcklich der Mann, der den Hafen erreicht hat,
Und hinter ſich ließ das Meer und die Stuͤrme,
Und jetzo warm und ruhig ſitzt
Im guten Rathskeller zu Bremen.
Wie doch die Welt ſo traulich und lieblich
Im Roͤmerglas ſich wiederſpiegelt,
Und wie der wogende Mikrokosmus
Sonnig hinabfließt in's durſtige Herz!
Alles erblick 'ich im Glas,
Alte und neue Voͤlkergeſchichte,
Tuͤrken und Griechen, Hegel und Gans,
Zitronenwaͤlder und Wachtparaden,
Berlin und Schilda und Tunis und Hamburg,
Vor allem aber das Bild der Geliebten,
Das Engelkoͤpfchen auf Rheinweingoldgrund.
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O, wie ſchoͤn! wie ſchoͤn biſt du, Geliebte!
Du biſt wie eine Roſe!
Nicht wie die Roſe von Schiras,
Die hafisbeſungene Nachtigallbraut;
Nicht wie die Roſe von Saron,
Die heiligrothe, prophetengefeyerte;
Du biſt wie die Roſ 'im Rathskeller zu Bremen!
Das iſt die Roſe der Roſen,
Je aͤlter ſie wird, je lieblicher bluͤht ſie,
Und ihr himmliſcher Duft, er hat mich beſeligt,
Er hat mich begeiſtert, er hat mich berauſcht,
Und hielt mich nicht feſt, am Schopfe feſt,
Der Rathskellermeiſter von Bremen,
Ich waͤre gepurzelt!
Der brave Mann! Wir ſaßen beiſammen
Und tranken wie Bruͤder,
Wir ſprachen von hohen, heimlichen Dingen,
Wir ſeufzten und ſanken uns in die Arme,
Und er hat mich bekehrt zum Glauben der Liebe,
Ich trank auf das Wohl meiner bitterſten Feinde,
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Und allen ſchlechten Poeten vergab 'ich,
Wie einſt mir ſelber vergeben ſoll werden;
Ich weinte vor Andacht, und endlich
Erſchloſſen ſich mir die Pforten des Heils,
Wo die zwoͤlf Apoſtel, die heil'gen Stuͤckfaͤſſer,
Schweigend pred'gen, und doch ſo verſtaͤndlich
Fuͤr alle Voͤlker.
Das ſind Maͤnner!
Unſcheinbar von außen, in hoͤlzernen Roͤcklein,
Sind ſie von innen ſchoͤner und leuchtender,
Denn all die ſtolzen Leviten des Tempels,
Und des Herodes Trabanten und Hoͤflinge,
Die goldgeſchmuͤckten, die purpurgekleideten
Hab 'ich doch immer geſagt
Nicht unter ganz gemeinen Leuten,
Nein, in der allerbeſten Geſellſchaft,
Lebte beſtaͤndig der Koͤnig des Himmels.
Hallelujah! Wie lieblich umwehn mich
Die Palmen von Beth EI!
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Wie duften die Myrrhen von Hebron!
Wie rauſcht der Jordan und taumelt vor Freude!
Auch meine unſterbliche Seele taumelt,
Und ich taum'le mit ihr und taumelnd
Bringt mich die Treppe hinauf, an's Tagslicht,
Der brave Rathskellermeiſter von Bremen.
Du braver Rathskellermeiſter von Bremen!
Siehſt du, auf den Daͤchern der Haͤuſer ſitzen
Die Engel und ſind betrunken und ſingen;
Die gluͤhende Sonne dort oben
Iſt nur eine rothe betrunkene Naſe,
Und um die rothe Weltgeiſt-Naſe
Dreht ſich die ganze, betrunkene Welt.
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XII. Epilog.

Wie auf dem Felde die Weizenhalmen,
So wachſen und wogen im Menſchengeiſt
Die Gedanken.
Aber die zarten Gedanken der Liebe
Sind wie luſtig dazwiſchenbluͤhende,
Roth 'und blaue Blumen.
Roth 'und blaue Blumen!
Der muͤrriſche Schnitter verwirft Euch als nutzlos,
Hoͤlzerne Flegel zerdroͤſchen Euch hoͤhnend,
Sogar der habloſe Wandrer,
Den Eu'r Anblick ergoͤtzt und erquickt,
Schuͤttelt das Haupt,
Und nennt Euch ſchoͤnes Unkraut.
Aber die laͤndliche Jungfrau,
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Die Kraͤnzewinderin,
Verehrt Euch und pfluͤckt Euch
Und ſchmuͤckt mit Euch die ſchoͤnen Locken,
Und alſo geziert, eilt ſie zum Tanzplatz,
Wo Pfeifen und Geigen lieblich ertoͤnen,
Oder zur ſtillen Buche,
Wo die Stimme des Liebſten noch lieblicher toͤnt
Als Pfeifen und Geigen.
[41]

Die Nordſee. 1826. Dritte Abtheilung.

[42]

Motto: Varnhagen von Enſe's Biographiſche Denk¬ male 1 Th. S. 1. 2.

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(Geſchrieben auf der Inſel Norderney.)

Die Eingeborenen ſind meiſtens blutarm und leben vom Fiſchfang, der erſt im naͤchſten Monat, im October, bey ſtuͤrmiſchem Wetter, ſeinen Anfang nimmt. Viele dieſer Inſulaner dienen auch als Matroſen auf frem¬ den Kauffahrtheyſchiffen und bleiben jahrelang von Hauſe entfernt, ohne ihren Angehoͤrigen irgend eine Nachricht von ſich zukommen zu laſſen. Nicht ſelten finden ſie den Tod auf dem Waſſer. Ich habe einige arme Weiber auf44 der Inſel gefunden, deren ganze maͤnnliche Fa¬ milie ſolcher Weiſe umgekommen; was ſich leicht ereignet, da der Vater mit ſeinen Soͤhnen ge¬ woͤhnlich auf demſelben Schiffe zur See faͤhrt. Das Seefahren hat fuͤr dieſe Menſchen einen großen Reiz; und dennoch glaube ich, daheim iſt ihnen allen am wohlſten zu Muthe. Sind ſie auch auf ihren Schiffen ſogar nach jenen ſuͤdlichen Laͤndern gekommen, wo die Sonne bluͤhender und der Mond romantiſcher leuchtet, ſo koͤnnen doch alle Blumen dort nicht den Leck ihres Herzens ſtopfen, und mitten in der duf¬ tigen Heimath des Fruͤhlings, ſehnen ſie ſich wieder zuruͤck nach ihrer Sandinſel, nach ihren kleinen Huͤtten, nach dem flackernden Heerde, wo die Ihrigen, wohlverwahrt in wollnen Jak¬ ken, herumkauern, und einen Thee trinken, der ſich von gekochtem Seewaſſer nur durch den Na¬ men unterſcheidet, und eine Sprache ſchwatzen, wovon kaum begreiflich ſcheint, wie es ihnen ſelber moͤglich iſt, ſie zu verſtehen.

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Was dieſe Menſchen ſo feſt und genuͤgſam zuſammenhaͤlt, iſt nicht ſo ſehr das innig myſtiſche Gefuͤhl der Liebe, als vielmehr die Gewohnheit, das naturgemaͤße Ineinander-Hin¬ uͤberleben, die gemeinſchaftliche Unmittelbarkeit. Gleiche Geiſteshoͤhe, oder beſſer geſagt Geiſtes¬ niedrigkeit, daher gleiche Beduͤrfniſſe und glei¬ ches Streben; gleiche Erfahrungen und Geſin¬ nungen, daher leichtes Verſtaͤndniß unter einan¬ der; und ſie ſitzen vertraͤglich am Feuer in den kleinen Huͤtten, ruͤcken zuſammen wenn es kalt wird, an den Augen ſehen ſie ſich ab, was ſie denken, die Worte leſen ſie ſich von den Lip¬ pen ehe ſie geſprochen worden, alle gemeinſa¬ men Lebensbeziehungen ſind ihnen im Gedaͤcht¬ niſſe, und durch einen einzigen Laut, eine ein¬ zige Miene, eine einzige ſtumme Bewegung erregen ſie unter einander ſo viel Lachen, oder Weinen oder Andacht, wie wir bey unſeres Gleichen erſt durch lange Expoſizionen, Expee¬ torazionen und Declamazionen hervorbringen46 koͤnnen. Denn Wir leben im Grunde geiſtig einſam, durch eine beſondere Erziehungsmethode oder zufaͤlliggewaͤhlte, beſondere Lektuͤre hat jeder von uns eine verſchiedene Charakterrich¬ tung empfangen, jeder von uns, geiſtig ver¬ larvt, denkt, fuͤhlt und ſtrebt anders als die Andern, und des Mißverſtaͤndniſſes wird ſo viel, und ſelbſt in weiten Haͤuſern wird das Zuſam¬ menleben ſo ſchwer, und wir ſind uͤberall be¬ engt, uͤberall fremd, und uͤberall in der Fremde.

In jenem Zuſtande der Gedanken - und Ge¬ fuͤhlsgleichheit, wie wir ihn bey unſeren Inſula¬ nern ſehen, lebten oft ganze Voͤlker und haben oft ganze Zeitalter gelebt. Die roͤmiſch chriſtliche Kirche im Mittelalter hat vielleicht einen ſolchen Zuſtand in den Corporazionen des ganzen Eu¬ ropa begruͤnden wollen, und nahm deßhalb alle Lebensbeziehungen, alle Kraͤfte und Erſcheinun¬ gen, den ganzen phyſiſchen und moraliſchen Menſchen unter ihre Vormundſchaft. Es laͤßt ſich nicht laͤugnen, daß viel ruhiges Gluͤck da¬47 durch gegruͤndet ward und das Leben warm-in¬ niger bluͤhte, und die Kuͤnſte, wie ſtill hervorge¬ wachſene Blumen, jene Herrlichkeit entfalteten, die wir noch jetzt anſtaunen, und mit all un¬ ſerem haſtigen Wiſſen nicht nachahmen koͤnnen. Aber der Geiſt hat ſeine ewigen Rechte, er laͤßt ſich nicht eindaͤmmen durch Satzungen und nicht einlullen durch Glockengelaͤute; er zerbrach ſeinen Kerker und zerriß das eiſerne Gaͤngelband, woran ihn die Mutterkirche leitete, und er jagte im Befreyungstaumel uͤber die ganze Erde, erſtieg die hoͤchſten Gipfel der Berge, jauchzte vor Ue¬ bermuth, gedachte wieder uralter Zweifel, gruͤ¬ belte uͤber die Wunder des Tages, und zaͤhlte die Sterne der Nacht. Wir kennen noch nicht die Zahl der Sterne, die Wunder des Tages haben wir noch nicht entraͤthſelt, die alten Zwei¬ fel ſind maͤchtig geworden in unſerer Seele iſt jetzt mehr Gluͤck darin als ehemals? Wir wiſſen, daß dieſe Frage, wenn ſie den großen Hau¬ fen betrifft, nicht leicht bejaht werden kann; aber48 wir wiſſen auch, daß ein Gluͤck, das wir der Luͤge verdanken, kein wahres Gluͤck iſt, und daß wir, in den einzelnen zerriſſenen Momenten eines gottgleicheren Zuſtandes, einer hoͤheren Geiſteswuͤrde, mehr Gluͤck empfinden koͤnnen, als in den lang hinvegetirten Jahren eines dumpfen Koͤhlerglaubens.

Auf jeden Fall war jene Kirchenherrſchaft eine Unterjochung der ſchlimmſten Art. Wer buͤrgte uns fuͤr die gute Abſicht, wie ich ſie eben ausgeſprochen? Wer kann beweiſen, daß ſich nicht zuweilen eine ſchlimme Abſicht beymiſchte? Rom wollte immer herrſchen, und als ſeine Le¬ gionen fielen, ſandte es Dogmen in die Provin¬ zen. Wie eine Rieſenſpinne ſaß Rom im Mit¬ telpunkte der lateiniſchen Welt und uͤberzog ſie mit ſeinem unendlichen Gewebe. Generationen der Voͤlker lebten darunter ein beruhigtes Leben, indem ſie das fuͤr einen nahen Himmel hielten, was bloß roͤmiſches Gewebe war; nur der hoͤ¬ herſtrebende Geiſt, der dieſes Gewebe durch¬49 ſchaute, fuͤhlte ſich beengt und elend, und wenn er hindurch brechen wollte, erhaſchte ihn leicht die ſchlaue Weberin, und ſog ihm das kuͤhne Blut aus dem Herzen; Und war das Traum¬ gluͤck der bloͤden Menge nicht zu theuer erkauft fuͤr ſolches Blut? Die Tage der Geiſtesknecht¬ ſchaft ſind voruͤber; alterſchwach, zwiſchen den gebrochenen Saͤulen ihres Coliſaͤums, ſitzt die alte Kreuzſpinne, und ſpinnt noch immer das alte Gewebe, aber es iſt matt und morſch, und es verfangen ſich darin nur Schmetterlinge und Fledermaͤuſe, und nicht mehr die Stein¬ adler des Nordens.

Es iſt doch wirklich belaͤchelnswerth, waͤhrend ich im Begriff bin, mich ſo recht wohlwollend uͤber die Abſichten der roͤmiſchen Kirche zu verbreiten, erfaßt mich ploͤtzlich der angewoͤhnte proteſtantiſche Eifer, der ihr immer das Schlimmſte zumuthet; und eben dieſer Mei¬ nungszwieſpalt in mir ſelbſt giebt mir wieder ein Bild von der Zerriſſenheit der Denkweiſe450unſerer Zeit. Was wir geſtern bewundert, haſ¬ ſen wir heute, und morgen vielleicht verſpotten wir es mit Gleichguͤltigkeit.

Auf einem gewiſſen Standpunkte iſt alles gleich groß und gleich klein, und an die großen Europaͤiſchen Zeitverwandlungen werde ich erin¬ nert, indem ich den kleinen Zuſtand unſerer ar¬ men Inſulaner betrachte. Auch dieſe ſtehen an der Grenze einer ſolchen neuen Zeit, und ihre alte Sinneseinheit und Einfalt wird geſtoͤrt durch das Gedeihen des hieſigen Seebades, in¬ dem ſie deſſen Gaͤſten etwas Neues ablauſchen, was ſie nicht mit ihrer altherkoͤmmlichen Lebens¬ weiſe zu vereinen wiſſen. Stehen ſie des Abends vor den erleuchteten Fenſtern des Converſa¬ zionshauſes, und betrachten dort die Verhand¬ lungen der Herren und Damen, die verſtaͤnd¬ lichen Blicke, die begehrlichen Grimaſſen, das luͤſterne Tanzen, das vergnuͤgte Schmauſen, das habſuͤchtige Spielen u. ſ. w. ſo bleibt dieſes nicht ohne ſchlimme Folgen fuͤr dieſe Menſchen,51 die von dem Geldgewinn, der ihnen durch die Badeanſtalt zufließt, nimmermehr aufgewogen werden. Dieſes Geld reicht nicht hin fuͤr die eindringenden, neuen Beduͤrfniſſe; daher in¬ nere Lebensſtoͤrung, ſchlimmer Anreiz, großer Schmerz. Als ich ein Knabe war, fuͤhlte ich immer eine brennende Sehnſucht, wenn ſchoͤn¬ gebackene Torten, wovon ich nichts bekommen ſollte, duftig-offen, bey mir voruͤbergetragen wurden; ſpaͤterhin ſtachelte mich daſſelbe Ge¬ fuͤhl, wenn ich modiſch entbloͤßte, ſchoͤne Da¬ men vorbeyſpatzieren ſah; und ich denke jetzt die armen Inſulaner, die noch in einem Kind¬ heitszuſtande leben, haben hier oft Gelegenheit zu aͤhnlichen Empfindungen, und es waͤre gut, wenn die Eigenthuͤmer der ſchoͤnen Torten und Frauen ſolche etwas mehr verdeckten. Dieſe vie¬ len unbedeckten Delikateſſen, woran jene Leute nur die Augen weiden koͤnnen, muͤſſen ihren Ap¬ petit ſehr ſtark wecken, und wenn die armen Inſulanerinnen, in ihrer Schwangerſchaft, aller¬52 ley ſuͤßgebackene Geluͤſte bekommen, und am Ende ſogar Kinder gebaͤren, die den Badegaͤ¬ ſten aͤhnlich ſehen, ſo iſt das leicht zu erklaͤren. Ich will hier durchaus auf kein unſittliches Verhaͤltniß anſpielen. Die Tugend der Inſu¬ lanerinnen wird durch ihre Haͤßlichkeit, und gar beſonders durch ihren Fiſchgeruch, der mir we¬ nigſtens unertraͤglich war, vor der Hand ge¬ ſchuͤtzt. Auch hat man, fuͤr die Badezeit, eine Perſon vom feſten Lande hierher verpflanzt, die alle Suͤnden der fremden Gaͤſte in ſich aufnehmen, und dadurch die Inſulanerinnen vor allen ſchlimmen Einfluͤſſen ſichern ſoll. Allein, das iſt eine ſchlechte Maßregel, die nicht fuͤr eine kleine Inſel, ſondern allenfalls fuͤr eine große Seeſtadt paßt, wo die oͤffentlichen Per¬ ſonen gleichſam die Bollwerke und Blitzablei¬ ter ſind, wodurch die Moralitaͤt der Buͤrgers¬ toͤchter geſchuͤtzt wird; wie man mir denn wirklich in Hamburg ein breites Weibsbild ge¬ zeigt hat, das ſolchermaßen den halben Wand¬53 rahm deckt, ſo wie auch eine lange, magere Blitzableiterin, wodurch die große Johannis¬ ſtraße im Sommer geſichert wird.

Wie geſagt, die Tugend der Inſulanerin¬ nen iſt vor der Hand geſchuͤtzt, und wenn ſie Kinder mit badegaͤſtlichen Geſichtern zur Welt bringen, ſo erklaͤrt ſich dieſes aus jenen pſycho¬ logiſchen Geſetzen, die Goethe in den Wahl¬ verwandtſchaften ſo ſchoͤn entwickelt. Wie viele raͤthſelhafte Naturerſcheinungen ſich durch jene Geſetze erklaͤren laſſen, iſt erſtaunlich. Als ich voriges Jahr, durch Seeſturm, nach einer an¬ deren oſtfrieſiſchen Inſel verſchlagen wurde, ſah ich dort in einer Schifferhuͤtte einen ſchlechten Kupferſtich haͤngen, la tentation du vieillard uͤberſchrieben, und einen Greis darſtellend, der in ſeinen Studien geſtoͤrt wird durch die Erſcheinung eines nackten Weibes, das bis an die Huͤften aus einer Wolke hervortaucht; und ſonderbar! die Tochter des Schiffers hatte daſſelbe luͤſterne Mopsgeſicht wie das Weib auf54 jenem Bilde. Um ein anderes Beyſpiel zu er¬ waͤhnen: im Hauſe eines Geldwechſlers, deſſen geſchaͤftfuͤhrende Frau das Gepraͤge der Muͤn¬ zen immer am ſorgfaͤltigſten betrachtet, fand ich, daß die Kinder in ihren Geſichtern eine er¬ ſtaunliche Aehnlichkeit hatten mit den groͤßten Monarchen Europa's, und wenn ſie alle bey¬ ſammen waren und mit einander ſtritten, glaubte ich einen kleinen Congreß zu ſehen.

Deßhalb iſt das Gepraͤge der Muͤnzen kein gleichguͤltiger Gegenſtand fuͤr den Politiker. Da die Leute das Geld ſo innig lieben und ge¬ wiß liebevoll betrachten, ſo bekommen die Kin¬ der ſehr oft die Zuͤge des Landesfuͤrſten, der darauf gepraͤgt iſt, und der arme Fuͤrſt kommt in den Verdacht, der Vater ſeiner Untertha¬ nen zu ſeyn. Die Bourbonen haben ihre guten Gruͤnde, die Napoleonsd'or einzuſchmelzen; ſie wollen nicht mehr unter ihren Franzoſen ſo viele Napoleonskoͤpfe ſehen. Preußen hat es in der Muͤnzpolitik am weiteſten gebracht, man55 weiß es dort, durch eine verſtaͤndige Bey¬ miſchung von Kupfer, ſo einzurichten, daß die Wangen des Koͤnigs auf der neuen Scheide¬ muͤnze gleich roth werden, und ſeit einiger Zeit haben daher die Kinder in Preußen ein weit geſuͤnderes Anſehen als fruͤherhin, und es iſt ordentlich eine Freude, wenn man ihre bluͤhen¬ den Silbergroſchengeſichtchen betrachtet.

Ich habe, indem ich das Sittenverderbniß andeutete, womit die Inſulaner hier bedroht ſind, ihre geiſtliche Schutzwehr, Paſtor und Kirche, unerwaͤhnt gelaſſen. Erſterer iſt ein ſtarker Mann mit einem großen Kopfe, ſcheint weder den Nazionalismus noch den Myſtizis¬ mus erfunden zu haben, und ſein groͤßtes Ver¬ dienſt iſt, daß bey ihm eine der ſchoͤnſten Frauen dieſer Welt logirt hat. Wie ſeine Kirche ausſieht, kann ich nicht genau berichten, da ich noch nicht darin geweſen. Gott weiß, daß ich ein guter Chriſt bin, und oft ſogar im Begriff ſtehe, ſein Haus zu beſuchen, aber56 ich werde immer fatalerweiſe daran verhindert, es findet ſich gewoͤhnlich ein Schwaͤtzer, der mich auf dem Wege feſthaͤlt, und gelange ich auch einmal bis an die Pforten des Tem¬ pels, ſo erfaßt mich unverſehens eine ſpa߬ hafte Stimmung, und dann halte ich es fuͤr ſuͤndhaft, hineinzutreten. Vorigen Sonntag begegnete mir etwas der Art, indem mir vor der Kirchthuͤre die Stelle aus Goethes Fauſt in den Kopf kam, wo dieſer mit dem Me¬ phiſtopheles bey einem Kreuze voruͤbergeht und ihn fragt:

Mephiſto, haſt du Eil?
Was ſchlaͤgſt vor'm Kreuz die Augen nieder?

Und worauf Mephiſtopheles antwortet:

Ich weiß es wohl, es iſt ein Vorurtheil;
Allein es iſt mir mahl zuwider.

Dieſe Verſe ſind, ſo viel ich weiß, in kei¬ ner Ausgabe des Fauſts gedruckt, und bloß der ſel. Hofrath Moritz, der ſie aus Goethes57 Manuſcript kannte, theilt ſie mit in ſeinem Philipp Reiſer, einem ſchon verſchollenen Ro¬ mane, der die Geſchichte des Verfaſſers ent¬ haͤlt, oder vielmehr die Geſchichte einiger hun¬ dert Thaler, die der Verfaſſer nicht hatte, und wodurch ſein ganzes Leben eine Reihe von Ent¬ behrungen und Entſagungen wurde, waͤhrend doch ſeine Wuͤnſche nichts weniger als unbe¬ ſcheiden waren, wie z. B. ſein Wunſch, nach Weimar zu gehen, und bey dem Dichter des Werthers Bedienter zu werden, unter welchen Bedingungen es auch ſey, um nur in der Naͤhe Desjenigen zu leben, der von allen Menſchen auf Erden den ſtaͤrkſten Eindruck auf ſein Ge¬ muͤth gemacht hatte.

Wunderbar! damals ſchon erregte Goethe eine ſolche Begeiſterung, und doch iſt erſt unſer drittes nachwachſendes Geſchlecht im Stande, ſeine wahre Groͤße zu begreifen.

Aber dieſes Geſchlecht hat auch Menſchen hervorgebracht, in deren Herzen nur faules58 Waſſer ſintert, und die daher in den Herzen Anderer alle Springquellen eines friſchen Blu¬ tes verſtopfen moͤchten, Menſchen von erloſche¬ ner Genußfaͤhigkeit, die das Leben verlaͤumden, und Anderen alle Herrlichkeit dieſer Welt ver¬ leiden wollen, indem ſie ſolche als die Lock¬ ſpeiſen ſchildern, die der Boͤſe bloß zu unſerer Verſuchung hingeſtellt habe, gleichwie eine pfiffige Hausfrau die Zuckerdoſe, mit den gezaͤhlten Stuͤckchen Zucker, in ihrer Abwe¬ ſenheit offen ſtehen laͤßt, um die Enthalt¬ ſamkeit der Magd zu pruͤfen; und dieſe Men¬ ſchen haben einen Tugendpoͤbel um ſich verſam¬ melt, und predigen ihm das Kreuz gegen den großen Heiden und gegen ſeine nackten Goͤtter¬ geſtalten, die ſie gern durch ihre vermummten dummen Teufel erſetzen moͤchten.

Das Vermummen iſt ſo recht ihr hoͤchſtes Ziel, das Nacktgoͤttliche iſt ihnen fatal, und ein Satyr hat immer ſeine guten Gruͤnde, wenn er Hoſen anzieht und darauf dringt, daß59 auch Apollo Hoſen anziehe. Die Leute nennen ihn dann einen ſittlichen Mann, und wiſſen nicht, daß in dem Clauren-Laͤcheln eines ver¬ mummten Satyrs mehr Anſtoͤßiges liegt, als in der ganzen Nacktheit eines Wolfgang Apollo, und daß juſt in den Zeiten, wo die Menſchheit jene Pluderhoſen trug, wozu ſechzig Ellen Zeug noͤthig waren, die Sitten nicht anſtaͤndiger ge¬ weſen ſind als jetzt.

Aber werden es mir nicht die Damen uͤbel nehmen, daß ich Hoſen, ſtatt Beinkleider, ſage? O, uͤber das Feingefuͤhl der Damen! Am Ende werden nur Eunuchen fuͤr ſie ſchreiben duͤrfen, und ihre Geiſtesdiener im Occident werden ſo harmlos ſeyn muͤſſen, wie ihre Leibdiener im Orient.

Hier kommt mir ins Gedaͤchtniß eine Stelle aus Bertholds Tagebuch:

Wenn wir es recht uͤberdenken, ſo ſtecken wir doch alle nackt in unſeren Kleidern, ſagte der Doktor M. zu einer Dame, die ihm60 eine etwas derbe Aeußerung uͤbel genommen hatte.

Der hannoͤvriſche Adel iſt mit Goethe ſehr unzufrieden, und behauptet: er verbreite Irre¬ ligioſitaͤt, und dieſe koͤnne leicht auch falſche politiſche Anſichten hervorbringen, und das Volk muͤſſe doch durch den alten Glauben zur alten Beſcheidenheit und Maͤßigung zuruͤckgefuͤhrt wer¬ den. Auch hoͤrte ich in der letzten Zeit viel diskutiren: ob Goethe groͤßer ſey als Schiller, oder umgekehrt. Ich ſtand neulich hinter dem Stuhle einer Dame, der man ſchon von hinten ihre vier und ſechzig Ahnen anſehen konnte, und hoͤrte uͤber jenes Thema einen eifrigen Dis¬ kurs zwiſchen ihr und zwey hannoͤvriſchen No¬ bilis, deren Ahnen ſchon auf dem Zodiakus von Dendera abgebildet ſind, und wovon der Eine, ein langmagerer, queckſilbergefuͤllter Juͤngling, der wie ein Barometer ausſah, die Schillerſche Tugend und Reinheit pries, waͤhrend der An¬ dre, ebenfalls ein langaufgeſchoſſener Juͤngling,61 einige Verſe aus der Wuͤrde der Frauen hinlispelte und dabey ſo ſuͤß laͤchelte, wie ein Eſel, der den Kopf in ein Syropfaß geſteckt hatte und ſich wohlgefaͤllig die Schnautze ab¬ leckt. Beide Juͤnglinge verſtaͤrkten ihre Be¬ hauptungen beſtaͤndig mit dem betheuernden Refrain: Er iſt doch groͤßer, Er iſt wirklich groͤßer, wahrhaftig, Er iſt groͤßer, ich verſichere Sie auf Ehre, Er iſt groͤßer. Die Dame war ſo guͤtig, auch mich in dieſes aͤſthetiſche Geſpraͤch zu ziehen, und fragte: Doctor, was halten Sie von Goethe? Ich aber legte meine Arme kreuzweis auf die Bruſt, beugte glaͤubig das Haupt, und ſprach: La illah ill allah, wamohammed raſul allah!

Die Dame hatte, ohne es ſelbſt zu wiſſen, die allerſchlaueſte Frage gethan. Man kann ja einen Mann nicht geradezu fragen: was denkſt du von Himmel und Erde? was ſind deine Anſichten uͤber Menſchen und Menſchen¬ leben? biſt du ein vernuͤnftiges Geſchoͤpf oder62 ein dummer Teufel? Dieſe delikaten Fragen liegen aber alle in den unverfaͤnglichen Worten: Was halten Sie von Goethe? Denn, indem uns Allen Goethes Werke vor Augen liegen, ſo koͤnnen wir das Urtheil, das Jemand daruͤber faͤllt, mit dem unſrigen ſchnell vergleichen, wir bekommen dadurch einen feſten Maaßſtab, wo¬ mit wir gleich alle ſeine Gedanken und Ge¬ fuͤhle meſſen koͤnnen, und er hat unbewußt ſein eignes Urtheil geſprochen. Wie aber Goethe, auf dieſe Weiſe, weil er eine gemeinſchaftliche Welt iſt, die der Betrachtung eines jeden offen liegt, uns das beſte Mittel wird, um die Leute kennen zu lernen, ſo koͤnnen wir wiederum Goe¬ the ſelbſt am beſten kennen lernen, durch ſein eignes Urtheil uͤber Gegenſtaͤnde, die uns allen vor Augen liegen, und woruͤber uns ſchon die bedeutendſten Menſchen ihre Anſichten mitge¬ theilt haben. In dieſer Hinſicht moͤchte ich am liebſten auf Goethe's italieniſche Reiſe hindeuten, indem wir alle, entweder durch eigne Betrach¬63 tung oder durch fremde Vermittelung, das Land Italien kennen, und dabey ſo leicht bemerken, wie jeder daſſelbe mit ſubjektiven Augen anſieht, dieſer mit Archenhoͤlzern unmuthigen Augen, die nur das Schlimme ſehen, jener mit begeiſter¬ ten Corinna-Augen, die uͤberall nur das Herrliche ſehen, waͤhrend Goethe, mit ſeinem klaren Griechenauge, Alles ſieht, das Dunkle und das Helle, nirgends die Dinge mit ſeiner Gemuͤthsſtimmung kolorirt, und uns Land und Menſchen ſchildert, in den wahren Umriſſen und wahren Farben, womit ſie Gott umkleidet.

Das iſt ein Verdienſt Goethes, das erſt ſpaͤ¬ tere Zeiten erkennen werden; denn wir, die wir meiſt alle krank ſind, ſtecken viel zu ſehr in unſeren kranken, zerriſſenen, romantiſchen Gefuͤhlen, die wir aus allen Laͤndern und Zeit¬ altern zuſammengeleſen, als daß wir unmittel¬ bar ſehen koͤnnten, wie geſund, einheitlich und plaſtiſch ſich Goethe in ſeinen Werken zeigt. Er ſelbſt merkt es eben ſo wenig; in ſeiner naiven64 Unbewußtheit des eignen Vermoͤgens wundert er ſich, wenn man ihm ein gegenſtaͤndliches Denken zuſchreibt, und indem er durch ſeine Selbſtbiographie uns ſelbſt eine kritiſche Bey¬ huͤlfe zum Beurtheilen ſeiner Werke geben will, liefert er doch keinen Maaßſtab der Beurthei¬ lung an und fuͤr ſich, ſondern nur neue Facta, woraus man ihn beurtheilen kann, wie es ja natuͤrlich iſt, daß kein Vogel uͤber ſich ſelbſt hin¬ auszufliegen vermag.

Spaͤtere Zeiten werden, außer jenem Ver¬ moͤgen des plaſtiſchen Anſchauens, Fuͤhlens und Denkens, noch vieles in Goethe entdecken, wo¬ von wir jetzt keine Ahnung haben. Die Werke des Geiſtes ſind wenig feſtſtehend, aber die Kri¬ tik iſt etwas wandelbares, ſie geht hervor aus den Anſichten der Zeit, hat nur fuͤr dieſe ihre Bedeutung, und wenn ſie nicht ſelbſt kunſt¬ werthlicher Art iſt, wie z. B. die Schlegelſche ſo geht ſie mit ihrer Zeit zu Grabe. Jedes Zeitalter, wenn es neue Ideen bekoͤmmt, be¬65 koͤmmt auch neue Augen, und ſieht gar viel Neues in den alten Geiſteswerken. Ein Schu¬ barth ſieht jetzt in der Ilias etwas anderes und viel mehr, als ſaͤmmtliche Alexandriner; dagegen werden einſt Kritiker kommen, die viel mehr als Schubarth in Goethe ſehen.

So haͤtte ich mich dennoch an Goethe feſt¬ geſchwatzt! Aber ſolche Abſchweifungen ſind ſehr natuͤrlich, wenn einem, wie auf dieſer Inſel, beſtaͤndig das Meergeraͤuſch in die Ohren droͤhnt und den Geiſt nach Belieben ſtimmt.

Es geht ein ſtarker Nordoſtwind, und die Hexen haben wieder viel Unheil im Sinne. Man hegt hier naͤmlich wunderliche Sagen von Hexen, die den Sturm zu beſchwoͤren wiſſen; wie es denn uͤberhaupt auf allen nordiſchen Meeren viel Aberglauben giebt. Die Seeleute behaupten, manche Inſel ſtehe unter der gehei¬ men Herrſchaft ganz beſonderer Hexen, und dem boͤſen Willen derſelben ſey es zuzuſchrei¬ ben, wenn den vorbeyfahrenden Schiffen aller¬566ley Widerwaͤrtigkeiten begegnen. Als ich vori¬ ges Jahr einige Zeit auf der See lag, erzaͤhlte mir der Steuermann unſeres Schiffes: die Hexen waͤren beſonders maͤchtig auf der Inſel Wight, und ſuchten jedes Schiff, das bey Tage dort vorbeyfahren wolle, bis zur Nachtzeit aufzuhal¬ ten, um es alsdann an Klippen oder an die Inſel ſelbſt zu treiben. In ſolchen Faͤllen hoͤre man dieſe Hexen ſo laut durch die Luft ſauſen und um das Schiff herumheulen, daß der Kla¬ botermann ihnen nur mit vieler Muͤhe wider¬ ſtehen koͤnne. Als ich nun fragte: wer der Kla¬ botermann ſey? antwortete der Erzaͤhler ſehr ernſthaft: Das iſt der gute, unſichtbare Schutz¬ patron der Schiffe, der da verhuͤtet, daß den treuen und ordentlichen Schiffern Ungluͤck be¬ gegne, der da uͤberall ſelbſt nachſieht, und ſo¬ wohl fuͤr die Ordnung wie fuͤr die gute Fahrt ſorgt. Der wackere Steuermann verſicherte mit etwas heimlicherer Stimme: ich koͤnne ihn ſel¬ ber ſehr gut im Schiffsraume hoͤren, wo er die67 Waaren gern noch beſſer nachſtaue, daher das Knarren der Faͤſſer und Kiſten, wenn das Meer hoch gehe, daher bisweilen das Droͤhnen unſerer Balken und Bretter; oft haͤmmere der Klabo¬ termann auch außen am Schiffe, und das gelte dann dem Zimmermanne, der dadurch gemahnt werde, eine ſchadhafte Stelle ungeſaͤumt aus¬ zubeſſern; am liebſten aber ſetze er ſich auf das Bramſegel, zum Zeichen, daß guter Wind wehe oder ſich nahe. Auf meine Frage: ob man ihn nicht ſehen koͤnne? erhielt ich zur Antwort: Nein, man ſaͤhe ihn nicht, auch wuͤnſche keiner ihn zu ſehen, da er ſich nur dann zeige, wenn keine Rettung mehr vorhanden ſey. Einen ſol¬ chen Fall hatte zwar der gute Steuermann noch nicht ſelbſt erlebt, aber von Andern wollte er wiſſen: den Klabotermann hoͤre man alsdann vom Bramſegel herab mit den Geiſtern ſpre¬ chen, die ihm unterthan ſind; doch wenn der Sturm zu ſtark und das Scheitern unvermeid¬ lich wuͤrde, ſetze er ſich auf das Steuer, zeige68 ſich da zum erſtenmal und verſchwinde, indem er das Steuer zerbraͤche diejenigen aber, die ihn in dieſem furchtbaren Augenblick ſaͤhen, faͤn¬ den gleich darauf den Tod in den Wellen.

Der Schiffskapitain, der dieſer Erzaͤhlung mit zugehoͤrt hatte, laͤchelte ſo fein, wie ich ſeinem rauhen, Wind - und Wetterdienenden Ge¬ ſichte nicht zugetraut haͤtte, und nachher ver¬ ſicherte er mir: vor funfzig und gar vor hun¬ dert Jahren ſey auf dem Meere der Glaube an den Klabotermann ſo ſtark geweſen, daß man bey Tiſche immer auch ein Gedeck fuͤr denſelben aufgelegt und von jeder Speiſe, etwa das Beſte, auf ſeinen Teller gelegt habe, ja, auf einigen Schiffen geſchaͤhe das noch jetzt.

Ich gehe hier oft am Strande ſpatzieren und gedenke ſolcher ſeemaͤnniſchen Wunderſagen. Die anziehendſte derſelben iſt wohl die Ge¬ ſchichte vom fliegenden Hollaͤnder, den man im Sturm mit aufgeſpannten Segeln vorbeyfahren ſieht, und der zuweilen ein Boot ausſetzt, um69 den begegnenden Schiffern allerley Briefe mitzu¬ geben, die man nachher nicht zu beſorgen weiß, da ſie an laͤngſt verſtorbene Perſonen adreſſirt ſind. Manchmal gedenke ich auch des alten, lie¬ ben Maͤhrchens von dem Fiſcherknaben, der am Strande den naͤchtlichen Reigen der Meernixen belauſcht hatte, und nachher mit ſeiner Geige die ganze Welt durchzog, und alle Menſchen zau¬ berhaft entzuͤckte, wenn er ihnen die Melodie des Nixenwalzers vorſpielte. Dieſe Sage er¬ zaͤhlte mir einſt ein lieber Freund, als wir, im Conzerte zu Berlin, ſolch einen wundermaͤchti¬ gen Knaben, den Felix Mendelsſohn-Bartholdi, ſpielen hoͤrten.

Einen eigenthuͤmlichen Reiz gewaͤhrt das Kreuzen um die Inſel. Das Wetter muß aber ſchoͤn ſeyn, die Wolken muͤſſen ſich ungewoͤhnlich geſtalten, und man muß ruͤcklings auf dem Ver¬ decke liegen, und in den Himmel ſehen, und allen¬ falls auch ein Stuͤckchen Himmel im Herzen ha¬ ben. Die Wellen murmeln alsdann allerley70 wunderliches Zeug, allerley Worte, woran liebe Erinnerungen flattern, allerley Namen, die, wie ſuͤße Ahnung, in der Seele wiederklingen Eveline! Dann kommen auch Schiffe vorbey¬ gefahren, und man gruͤßt, als ob man ſich alle Tage wiederſehen koͤnnte. Nur des Nachts hat das Begegnen fremder Schiffe auf dem Meere etwas Unheimliches; man will ſich dann einbil¬ den, die beſten Freunde, die wir ſeit Jahren nicht geſehen, fuͤhren ſchweigend vorbey, und man verloͤre ſie auf immer.

Ich liebe das Meer wie meine Seele.

Oft wird mir ſogar zu Muthe, als ſey das Meer eigentlich meine Seele ſelbſt; und wie es im Meere verborgene Waſſerpflanzen giebt, die nur im Augenblick des Aufbluͤhens an deſſen Oberflaͤche heraufſchwimmen, und im Augenblick des Verbluͤhens wieder hinabtauchen: ſo kommen zuweilen auch wunderbare Blumenbilder herauf¬ geſchwommen aus der Tiefe meiner Seele, und71 duften und leuchten und verſchwinden wieder Eveline!

Man ſagt, unfern dieſer Inſel, wo jetzt nichts als Waſſer iſt, haͤtten einſt die ſchoͤnſten Doͤrfer und Staͤdte geſtanden, das Meer habe ſie ploͤtzlich alle uͤberſchwemmt, und bey klarem Wetter ſaͤhen die Schiffer noch die leuchtenden Spitzen der verſunkenen Kirchthuͤrme, und man¬ cher habe dort, in der Sonntagsfruͤhe, ſogar ein frommes Glockengelaͤute gehoͤrt. Die Geſchichte iſt wahr; denn das Meer iſt meine Seele

Eine ſchoͤne Welt iſt da verſunken,
Ihre Truͤmmer blieben unten ſtehn,
Laſſen ſich als goldne Himmelsfunken
Oft im Spiegel meiner Traͤume ſehn.
((W. Muͤller.) )

Erwachend hoͤre ich dann ein verhallendes Glockengelaͤute und Geſang heiliger Stimmen Eveline!

Geht man am Strande ſpatzieren, ſo gewaͤh¬ ren die vorbeyfahrenden Schiffe einen ſchoͤnen72 Anblick. Haben ſie die blendend, weißen Segel aufgeſpannt, ſo ſehen ſie aus wie vorbeyziehende, große Schwaͤne. Gar beſonders ſchoͤn iſt dieſer Anblick, wenn die Sonne hinter dem vorbey¬ ſegelnden Schiffe untergeht, und dieſes, wie von einer rieſigen Glorie, umſtrahlt wird.

Die Jagd am Strande ſoll ebenfalls ein gro¬ ßes Vergnuͤgen gewaͤhren. Was mich betrifft, ſo weiß ich es nicht ſonderlich zu ſchaͤtzen. Der Sinn fuͤr das Edle, Schoͤne und Gute laͤßt ſich oft durch Erziehung den Menſchen beybringen; aber der Sinn fuͤr die Jagd liegt im Blute. Wenn die Ahnen, ſchon ſeit undenklichen Zeiten, Rehboͤcke geſchoſſen haben, ſo findet auch der Enkel ein Vergnuͤgen an dieſer legitimen Be¬ ſchaͤftigung. Meine Ahnen gehoͤrten aber nicht zu den Jagenden, viel eher zu den Gejagten, und ſoll ich auf die Nachkoͤmmlinge ihrer ehe¬ maligen Collegen losdruͤcken, ſo empoͤrt ſich dawider mein Blut. Ja, aus Erfahrung weiß ich, daß, nach abgeſteckter Menſur, es mir73 weit leichter wird, auf einen Jaͤger loszudruͤcken, der die Zeiten zuruͤckwuͤnſcht, wo auch Menſchen zur hohen Jagd gehoͤrten. Gottlob dieſe Zeiten ſind voruͤber! Geluͤſtet es jetzt ſolche Jaͤger, wie¬ der einen Menſchen zu jagen, ſo muͤſſen ſie ihn dafuͤr bezahlen, wie z. B. den Schnelllaͤufer, den ich vor zwey Jahren in Goͤttingen ſah. Der arme Menſch hatte ſich ſchon in der ſchwuͤ¬ len Sonntagshitze ziemlich muͤde gelaufen, als einige hannoͤvriſche Junker, die dort Humaniora ſtudierten, ihm ein paar Thaler boten, wenn er den zuruͤckgelegten Weg nochmals laufen wolle; und der Menſch lief, und er war todtblaß und trug eine rothe Jacke, und dicht hinter ihm, im wirbelnden Staube, galoppirten die wohlgenaͤhr¬ ten, edlen Juͤnglinge, auf hohen Roſſen, deren Hufen zuweilen den gehetzten, keuchenden Men¬ ſchen trafen, und es war ein Menſch.

Des Verſuchs halber, denn ich muß mein Blut beſſer gewoͤhnen, ging ich geſtern auf die Jagd. Ich ſchoß nach einigen Moͤven, die gar74 zu ſicher umherflatterten, und doch nicht beſtimmt wiſſen konnten, daß ich ſchlecht ſchieße. Ich wollte ſie nicht treffen und ſie nur warnen, ſich ein andermal vor Leuten mit Flinten in Acht zu nehmen; aber mein Schuß ging fehl, und ich hatte das Ungluͤck, eine junge Moͤve todt zu ſchießen. Es iſt gut, daß es keine alte war; denn was waͤre dann aus den armen, kleinen Moͤvchen geworden, die noch unbefiedert, im Sandneſte der großen Duͤhne liegen, und ohne die Mutter verhungern muͤßten. Mir ahndete ſchon vorher, daß mich auf der Jagd ein Mißgeſchick treffen wuͤrde; ein Haſe war mir uͤber den Weg gelaufen.

Gar beſonders wunderbar wird mir zu Muthe, wenn ich allein in der Daͤmmerung am Strande wandle, hinter mir flache Duͤhnen, vor mir das wogende, unermeßliche Meer, uͤber mir der Himmel wie eine rieſige Criſtallkuppel ich erſcheine mir dann ſelbſt ſehr ameiſenklein, und dennoch dehnt ſich meine75 Seele ſo weltenweit. Die hohe Einfachheit der Natur, wie ſie mich hier umgiebt, zaͤhmt und erhebt mich zu gleicher Zeit, und zwar in ſtaͤr¬ kerem Grade als jemals eine andere erhabene Umgebung. Nie war mir ein Dom groß ge¬ nug; meine Seele mit ihrem alten Titanenge¬ bet ſtrebte immer hoͤher als die gothiſchen Pfei¬ ler, und wollte immer hinausbrechen durch das Dach. Auf der Spitze der Roßtrappe haben mir, beym erſten Anblick, die koloſſalen Felſen, in ihren kuͤhnen Gruppirungen, ziemlich impo¬ nirt; aber dieſer Eindruck dauerte nicht lange, meine Seele war nur uͤberraſcht, nicht uͤberwaͤl¬ tigt, und jene ungeheure Steinmaſſen wurden in meinen Augen allmaͤhlig kleiner, und am Ende erſchienen ſie mir nur wie geringe Truͤm¬ mer eines zerſchlagenen Rieſenpallaſtes, worin ſich meine Seele vielleicht comfortabel befunden haͤtte.

Mag es immerhin laͤcherlich klingen, ich kann es dennoch nicht verhehlen, das Mißver¬76 haͤltniß zwiſchen Koͤrper und Seele quaͤlt mich einigermaßen, und hier am Meere, in großar¬ tiger Naturumgebung, wird es mir zuweilen recht deutlich, und die Metempſychoſe iſt oft der Gegenſtand meines Nachdenkens. Wer kennt die große Gottesironie, die allerley Wi¬ derſpruͤche zwiſchen Seele und Koͤrper hervorzu¬ bringen pflegt. Wer kann wiſſen, in welchem Schneider jetzt die Seele eines Platos, und in welchem Schulmeiſter die Seele eines Caͤſars wohnt! Wer weiß, ob die Seele Gregors VII. nicht in dem Leibe des Großtuͤrken ſitzt, und ſich unter tauſend haͤtſchelnden Weiberhaͤndchen behaglicher fuͤhlt, als einſt in ihrer purpurnen Coͤlibatskutte. Hingegen wie viele Seelen treuer Moslemim aus Aly's Zeiten moͤgen ſich jetzt in unſeren antihelleniſchen Cabinettern befinden! Die Seelen der beiden Schaͤcher, die zur Seite des Heilands gekreuzigt worden, ſitzen vielleicht jetzt in dicken Konſiſtorialbaͤuchen und gluͤhen fuͤr den orthodoxen Lehrbegriff. Die Seele77 Dſchingischans wohnt vielleicht jetzt in einem Rezenſenten, der taͤglich, ohne es zu wiſſen, die Seelen ſeiner treueſten Baſchkiren und Kal¬ muͤcken in einem kritiſchen Journale nieder¬ ſaͤbelt. Wer weiß! wer weiß! die Seele des Pythagoras iſt vielleicht in einen armen Can¬ didaten gefahren, der durch das Examen faͤllt, weil er den pythagoraͤiſchen Lehrſatz nicht bewei¬ ſen konnte, waͤhrend in ſeinen Herren Examina¬ toren die Seelen jener Ochſen wohnen, die einſt Pythagoras, aus Freude uͤber die Entdeckung ſeines Satzes, den ewigen Goͤttern geopfert hatte. Die Hindus ſind ſo dumm nicht, wie unſere Miſſionaͤre glauben, ſie ehren die Thiere wegen der menſchlichen Seele, die ſie in ihnen vermuthen, und wenn ſie Lazarethe fuͤr invalide Affen ſtiften, in der Art unſerer Akademien, ſo kann es wohl moͤglich ſeyn, daß in jenen Affen die Seelen großer Gelehrten wohnen, da es doch bey uns ganz ſichtbar iſt, daß in einigen großen Gelehrten nur Affenſeelen ſtecken.

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Wer doch mit der Allwiſſenheit des Vergan¬ genen, auf das Treiben der Menſchen von oben herab ſehen koͤnnte! Wenn ich des Nachts am Meere wandelnd, den Wellengeſang hoͤre, und allerley Ahnung und Erinnerung in mir erwacht, ſo iſt mir, als habe ich einſt ſolchermaßen von oben herabgeſehen und ſey vor ſchwindelndem Schrecken zur Erde heruntergefallen; es iſt mir dann auch, als ſeyen meine Augen ſo teleſcopiſch ſcharf geweſen, daß ich die Sterne in Lebens¬ groͤße am Himmel wandeln geſehen, und durch all den wirbelnden Glanz geblendet worden; wie aus der Tiefe eines Jahrtauſends kommen mir dann allerley Gedanken in den Sinn, Ge¬ danken uralter Weisheit, aber ſie ſind ſo neblicht, daß ich nicht erkenne, was ſie wollen. Nur ſo viel weiß ich, daß all unſer kluges Wiſſen, Stre¬ ben und Hervorbringen irgend einem hoͤheren Geiſte eben ſo klein und nichtig erſcheinen muß, wie mir jene Spinne erſchien, die ich auf der goͤttinger Bibliothek ſo oft betrachtete. Auf den79 Folianten der Weltgeſchichte ſaß ſie emſig webend, und ſie blickte ſo philoſophiſch ſicher auf ihre Umgebung, und hatte ganz den goͤttingiſchen Gelahrtheits-Duͤnkel, und ſchien ſtolz zu ſeyn auf ihre mathematiſchen Kenntniſſe, auf ihre Kunſtleiſtungen, auf ihr einſames Nachdenken und doch wußte ſie nichts von all den Wundern, die in dem Buche ſtehen, worauf ſie geboren worden, worauf ſie ihr ganzes Leben verbracht hatte, und worauf ſie auch ſterben wird, wenn der ſchleichende Dr. L ....... ſie nicht verjagt. Und wer iſt der ſchleichende Dr. L .......? Seine Seele wohnte vielleicht einſt in eben einer ſolchen Spinne, und jetzt huͤtet er die Folianten, worauf er einſt ſaß und wenn er ſie auch lieſ't, er erfaͤhrt doch nicht ihren wahren Inhalt.

Was mag auf dem Boden einſt geſchehen ſeyn, wo ich jetzt wandle? Ein Conrector, der hier badete, wollte behaupten, hier ſey einſt der Dienſt der Hertha oder beſſer geſagt Forſete, begangen worden, wovon Tacitus ſo geheimni߬80 voll ſpricht. Wenn nur die Berichterſtatter, denen Tacitus nacherzaͤhlt, ſich nicht geirrt, und eine Badekutſche fuͤr den heiligen Wagen der Goͤttin angeſehen haben!

Im Jahr 1819 als ich zu Bonn, in einem und demſelben Semeſter, vier Collegien hoͤrte, worin meiſtens deutſche Antiquitaͤten aus der blaueſten Zeit tractirt wurden, naͤmlich . Ge¬ ſchichte der deutſchen Sprache bey Schlegel, der faſt drey Monat lang die barockſten Hypotheſen uͤber die Abſtammung der Deutſchen entwickelte, . die Germania des Tacitus bey Arndt, der in den altdeutſchen Waͤldern jene Tugenden ſuchte, die er in den Salons der Gegenwart vermißte, . germaniſches Staatsrecht bey Huͤllmann, deſſen hiſtoriſche Anſichten noch am wenigſten vague ſind, und . deutſche Urgeſchichte bey Radloff, der am Ende des Semeſters noch nicht weiter gekommen war, als bis zur Zeit des Seſoſtris damals moͤchte wohl die Sage von der alten Hertha mich mehr intereſſirt haben, als jetzt. Ich ließ ſie81 durchaus nicht auf Ruͤgen reſidiren, und verſetzte ſie vielmehr nach einer oſtfrieſiſchen Inſel. Ein junger Gelehrter hat gern ſeine Privathypotheſe. Aber auf keinen Fall haͤtte ich damals geglaubt, daß ich einſt am Strande der Nordſee wandeln wuͤrde, ohne an die alte Goͤttin mit patriotiſcher Begeiſterung zu denken. Es iſt wirklich nicht der Fall, und ich denke hier an ganz andre, juͤngere Goͤttinnen. Abſonderlich wenn ich am Strande uͤber die ſchaurige Stelle wandle, wo noch juͤngſt die ſchoͤnſten Frauen, gleich Nixen, geſchwommen. Denn weder Herren noch Damen baden hier unter einem Schirm, ſondern ſpatzieren in die freye See. Deshalb ſind auch die Bade¬ ſtellen beider Geſchlechter von einander geſchieden, doch nicht allzuweit, und wer ein gutes Glas fuͤhrt, kann uͤberall in der Welt viel ſehen. Es geht die Sage, ein neuer Actaͤon habe auf ſolche Weiſe eine badende Diana erblickt, und wunder¬ bar! nicht er, ſondern der Gemahl der Schoͤnen, habe dadurch Hoͤrner erworben.

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Die Badekutſchen, die Droſchken der Nord¬ ſee, werden hier nur bis an's Waſſer geſchoben, und beſtehen meiſtens aus viereckigen Holzgeſtellen mit ſteifem Leinen uͤberzogen. Jetzt, fuͤr die Winterzeit, ſtehen ſie im Converſazionsſaale, und fuͤhren dort gewiß eben ſo hoͤlzerne, und ſteifleinene Geſpraͤche, wie die vornehme Welt, die noch unlaͤngſt dort verkehrte.

Wenn ich aber ſage, die vornehme Welt, ſo verſtehe ich nicht darunter die guten Buͤrger Oſt¬ frieslands, ein Volk, das flach und nuͤchtern iſt, wie der Boden, den es bewohnt, das weder ſingen noch pfeifen kann, aber dennoch ein Ta¬ lent beſitzt, das beſſer iſt als alle Triller und Schnurrpfeifereyen, ein Talent, das den Men¬ ſchen adelt, und uͤber jene windige Dienſtſeelen erhebt, die allein edel zu ſeyn waͤhnen, ich meine das Talent zur Freiheit. Schlaͤgt das Herz fuͤr Freiheit, ſo iſt ein ſolcher Schlag des Her¬ zens eben ſo gut, wie ein Ritterſchlag, und das wiſſen die freyen Frieſen, und ſie verdienen ihr83 Volksepitheton; die Haͤuptlingsperiode abgerechnet, war die Ariſtokratie in Oſtfrießland niemals vor¬ herrſchend, nur ſehr wenige adlige Familien haben dort gewohnt, und der Einfluß des hannoͤvriſchen Adels, durch Verwaltungs - und Militaͤrſtand, wie er ſich jetzt uͤber das Land hinzieht, betruͤbt manches freye Oſtfrieſenherz, und uͤberall zeigt ſich die Vorliebe fuͤr die ehemalige preußiſche Regierung.

Was aber die allgemeinen deutſchen Klagen uͤber hannoͤvriſchen Adelſtolz betrifft, ſo kann ich nicht unbedingt einſtimmen. Das hannoͤvriſche Offizierkorps giebt am wenigſten Anlaß zu ſolchen Klagen. Freylich, wie in Madagaskar nur Adlige das Recht haben, Metzger zu werden, ſo hatte fruͤherhin der hannoͤvriſche Adel ein analoges Vorrecht, da nur Adlige zum Offizierrange gelan¬ gen konnten. Seitdem ſich aber in der deutſchen Legion ſo viele Buͤrgerliche ausgezeichnet, und zu Offizierſtellen emporgeſchwungen, hat auch jenes uͤble Gewohnheitsrecht nachgelaſſen. Ja,84 das ganze Corps der deutſchen Legion hat viel bey¬ getragen zur Milderung alter Vorurtheile, dieſe Leute ſind weit herum in der Welt geweſen, und in der Welt ſieht man viel, beſonders in England, und ſie haben viel gelernt, und es iſt eine Freude ihnen zuzuhoͤren, wenn ſie von Portugal, Spa¬ nien, Sizilien, den ioniſchen Inſeln, Irland, und anderen weiten Laͤndern ſprechen, wo ſie ge¬ fochten, und Vieler Menſchen Staͤdte geſehen und Sitten gelernet , ſo daß man glaubt, eine Odyſſee zu hoͤren, die leider keinen Homer finden wird. Auch iſt unter den Offizieren dieſes Corps viel freyſinnige, engliſche Sitte geblieben, die mit dem altherkoͤmmlichen hannoͤvriſchen Brauch ſtaͤrker kontraſtirt, als wir es im uͤbrigen Deutſch¬ land glauben wollen, da wir gewoͤhnlich dem Beyſpiele Englands viel Einwirkung auf Han¬ nover zuſchreiben. In dieſem Lande Hannover ſieht man nichts als Stammbaͤume, woran Pferde gebunden ſind, und vor lauter Baͤumen bleibt das Land obscur, und trotz allen Pferden koͤmmt85 es nicht weiter. Nein, durch dieſen hannoͤvriſchen Adelswald drang niemals ein Sonnenſtrahl brit¬ tiſcher Freyheit, und kein brittiſcher Freiheitston konnte jemals vernehmbar werden im wiehernden Laͤrm hannoͤvriſcher Roſſe. Was aber ein britti¬ ſcher Freyheitston iſt, habe ich erſt kuͤrzlich er¬ fahren, indem ich, im wildeſten Seewetter, ein engliſches Schiff vorbeyſegeln ſah, auf deſſen Verdeck mehrere Menſchen ſtanden, und Wind und Wellen faſt frevelhaft trotzig uͤberbruͤllten, mit ihrem alten: rule Britania, rule the waves, Britons never shall be slaves!

Die allgemeine Klage uͤber hannoͤvriſchen Adelſtolz trifft wohl zumerſt die liebe Jugend ge¬ wiſſer Familien, die das Land Hannover regieren oder mittelbar zu regieren glauben. Aber auch die edlen Juͤnglinge wuͤrden bald jene Fehler der Art, oder beſſer geſagt, jene Unart ablegen, wenn ſie ebenfalls etwas in der Welt herum¬ gedraͤngt wuͤrden, oder eine beſſere Erziehung genoͤſſen. Man ſchickt ſie freylich nach Goͤttingen,86 doch da hocken ſie beyſammen, und ſprechen nur von ihren Hunden, Pferden und Ahnen, und hoͤren wenig neuere Geſchichte, und wenn ſie auch wirklich einmal dergleichen hoͤren, ſo ſind doch unterdeſſen ihre Sinne befangen durch den Anblick des Grafentiſches, der, ein Wahr¬ zeichen Goͤttingens, nur fuͤr hochgeborene Stu¬ denten beſtimmt iſt. Wahrlich, durch eine beſſere Erziehung des jungen hannoͤvriſchen Adels ließe ſich vielen Klagen vorbauen. Aber die Jungen werden wie die Alten. Derſelbe Wahn: als waͤren ſie die Blumen der Welt, waͤhrend wir Anderen bloß das Gras ſind; dieſelbe Thor¬ heit: mit dem Verdienſte der Ahnen den eigenen Unwerth bedecken zu wollen; dieſelbe Unwiſſen¬ heit uͤber das Problematiſche dieſer Verdienſte, indem die Wenigſten wiſſen, daß die Fuͤrſten ſel¬ ten ihre treueſten und tugendhafteſten Diener, aber ſehr oft den Kuppler, den Schmeichler und dergleichen Lieblingsſchufte mit adelnder Huld beehrt haben. Die Wenigſten jener Ahnenſtolzen87 koͤnnen beſtimmt angeben, was ihre Ahnen gethan haben, und ſie zeigen nur, daß ihr Name in Ruͤxners Turnierbuch erwaͤhnt ſey; ja, koͤn¬ nen ſie auch nachweiſen, daß dieſe Ahnen etwa als Kreuzritter bey der Eroberung Jeruſalems zugegen waren, ſo ſollten ſie, ehe ſie ſich etwas darauf zu Gute thun, auch beweiſen, daß jene Ritter ehrlich mitgefochten haben, daß ihre Eiſen¬ hoſen nicht mit gelber Furcht wattirt worden, und daß unter ihrem rothen Kreuze das Herz eines honetten Mannes geſeſſen. Gaͤbe es keine Ilias, ſondern bloß ein Namensverzeichniß der Helden, die vor Troja geſtanden, und ihre Na¬ men exiſtirten noch jetzt wie wuͤrde ſich der Ahnenſtolz Derer von Therſites zu blaͤhen wiſſen! Von der Reinheit des Blutes will ich gar nicht einmal ſprechen; Philoſophen und Stallknechte haben daruͤber gar ſeltſame Gedanken.

Mein Tadel, wie geſagt, treffe zumeiſt die ſchlechte Erziehung des hannoͤvriſchen Adels und deſſen fruͤh eingepraͤgten Wahn von der Wichtig¬88 keit einiger andreſſirten Formen. O! wie oft habe ich lachen muͤſſen, wenn ich bemerkte, wie viel man ſich auf dieſe Formen zu Gute that; als ſey es ſo gar uͤberaus ſchwer zu erlernen dieſes Repraͤſentiren, dieſes Praͤſentiren, dieſes Laͤcheln ohne Etwas zu ſagen, dieſes Sagen ohne Etwas zu denken, und all dieſe adligen Kuͤnſte, die der gute Buͤrgersmann als Meer¬ wunder angafft, und die doch jeder franzoͤſiſche Tanzmeiſter beſſer inne hat, als der deutſche Edelmann, dem ſie in der baͤrenleckenden Lutetia muͤhſam eingeuͤbt worden, und der ſie zu Hauſe wieder, mit deutſcher Gruͤndlichkeit und Schwer¬ faͤlligkeit, ſeinen Descendenten uͤberliefert. Dies erinnert mich an die Fabel von dem Baͤren, der auf Maͤrkten tanzte, ſeinem fuͤhrenden Lehrer entlief, zu ſeinen Mitbaͤren in den Wald zuruͤck¬ kehrte, und ihnen vorprahlte: wie das Tanzen eine ſo gar ſchwere Kunſt ſey, und wie weit er es darin gebracht habe, und in der That, den Proben, die er von ſeiner Kunſt ablegte,89 konnten die armen Beſtien ihre Bewunderung nicht verſagen. Jene Nation, wie ſie Werther nennt, bildete die vornehme Welt, die hier dieſes Jahr zu Waſſer und zu Lande geglaͤnzt hat, und es waren lauter liebe, liebe Leute, und ſie haben alle gut geſpielt.

Auch fuͤrſtliche Perſonen gab es hier, und ich muß geſtehen, daß dieſe in ihren Anſpruͤchen beſcheidener waren, als die geringere Nobleſſe. Ob aber dieſe Beſcheidenheit in den Herzen die¬ ſer hohen Perſonen liegt, oder ob ſie durch ihre aͤußere Stellung hervorgebracht wird, das will ich unentſchieden laſſen. Ich ſage dieſes nur in Beziehung auf deutſche mediatiſirte Fuͤr¬ ſten. Dieſen Leuten iſt in der letzten Zeit ein großes Unrecht geſchehen, indem man ſie einer Souverainitaͤt beraubte, wozu ſie ein eben ſo gutes Recht haben, wie die groͤßeren Fuͤrſten, wenn man etwa nicht, wie mein Unglaubens¬ genoſſe Spinoza, annehmen will, daß dasjenige, was ſich nicht durch eigene Kraft erhalten90 kann, auch kein Recht hat, zu exiſtiren. Fuͤr das vielzerſplitterte Deutſchland war es aber eine Wohlthat, daß dieſe Anzahl von Sedez¬ despoͤtchen ihr Regieren einſtellen mußten. Es iſt ſchrecklich, wenn man bedenkt wie viele der¬ ſelben wir armen Deutſchen zu ernaͤhren haben. Wenn dieſe Mediatiſirten auch nicht mehr das Zepter fuͤhren, ſo fuͤhren ſie doch noch immer Loͤffel, Meſſer und Gabel, und ſie eſſen keinen Hafer, und auch der Hafer waͤre theuer genug. Ich denke, daß wir einmal durch Amerika et¬ was von dieſer Fuͤrſtenlaſt erleichtert werden. Denn, fruͤh oder ſpaͤt, werden ſich doch die Praͤſidenten dortiger Freyſtaaten in Souveraine verwandeln, und dann fehlt es dieſen Herren an Gemahlinnen, die ſchon einen legitimen An¬ ſtrich haben, ſie ſind dann froh wenn wir ihnen unſere Prinzeſſinnen uͤberlaſſen, und wenn ſie ſechs nehmen, geben wir ihnen die ſiebente gra¬ tis, und auch unſre Prinzchen koͤnnen ſie ſpaͤ¬ terhin bey ihren Toͤchterchen employiren; 91 daher haben die mediatiſirten Fuͤrſten ſehr po¬ litiſch gehandelt, als ſie ſich wenigſtens das Gleichbuͤrtigkeitsrecht erhielten, und ihre Stamm¬ baͤume eben ſo hoch ſchaͤtzten, wie die Araber die Stammbaͤume ihrer Pferde, und zwar aus derſelben Abſicht, indem ſie wohl wiſſen, daß Deutſchland von jeher das große Fuͤrſtenge¬ ſtuͤte war, das alle regierenden Nachbarhaͤuſer mit den noͤthigen Mutterpferden und Beſchaͤ¬ lern verſehen muß.

In allen Baͤdern iſt es ein altes Gewohn¬ heitsrecht, daß die abgegangenen Gaͤſte von den zuruͤckgebliebenen etwas ſtark kritiſirt werden, und da ich der letzte bin, der noch hier weilt, ſo durfte ich wohl jenes Recht in vollem Maaße ausuͤben.

Es iſt aber jetzt ſo oͤde auf der Inſel, daß ich mir vorkomme wie Napoleon auf Sanct Helena. Nur daß ich hier eine Unterhaltung gefunden, die jenem dort fehlte. Es iſt naͤmlich der große Kaiſer ſelbſt, womit ich mich hier92 beſchaͤftige. Ein junger Englaͤnder hat mir das eben erſchienene Buch des Maitland mitgetheilt. Dieſer Seemann berichtet die Art und Weiſe, wie Napoleon ſich ihm ergab und auf dem Bel¬ lerophon ſich betrug, bis er, auf Befehl des engliſchen Miniſteriums, an Bord des Northum¬ berland gebracht wurde. Aus dieſem Buche ergiebt ſich ſonnenklar, daß der Kaiſer, in ro¬ mantiſchem Vertrauen auf brittiſche Großmuth, und um der Welt endlich Ruhe zu ſchaffen, zu den Englaͤndern ging, mehr als Gaſt, denn als Gefangener. Das war ein Fehler, den gewiß kein Anderer, und am allerwenigſten ein Wel¬ lington begangen haͤtte. Die Geſchichte aber wird ſagen, dieſer Fehler iſt ſo ſchoͤn, ſo er¬ haben, ſo herrlich, daß dazu mehr Seelengroͤße gehoͤrte, als wir Anderen zu allen unſeren Großthaten erſchwingen koͤnnen.

Die Urſache, weßhalb Cap. Maitland jetzt ſein Buch herausgiebt, ſcheint keine andere zu ſeyn, als das moraliſche Reinigungsbeduͤrfniß,93 das jeder ehrliche Mann fuͤhlt, den ein boͤſes Geſchick in eine zweydeutige Handlung verfloch¬ ten hat. Das Buch ſelbſt iſt aber ein unſchaͤtz¬ barer Gewinn fuͤr die Gefangenſchaftsgeſchichte Napoleons, die den letzten Act ſeines Lebens bildet, alle Raͤthſel der fruͤheren Acte wunder¬ bar loͤſt, und wie es eine aͤchte Tragoͤdie thun ſoll, die Gemuͤther erſchuͤttert, reinigt und verſoͤhnt. Den Charakterunterſchied der vier Hauptſchriftſteller, die uns von dieſer Gefan¬ genſchaft berichten, beſonders wie er ſich in Styl und Anſchauungsweiſe bekundet, zeigt ſich erſt recht durch ihre Zuſammenſtellung.

Maitland, der ſturmkalte, engliſche See¬ mann, verzeichnet die Begebenheiten vorurtheils¬ los und beſtimmt, als waͤren es Naturerſchei¬ nungen, die er in ſein Loogbook eintraͤgt; Las Caſes, ein enthuſiaſtiſcher Kammerherr, liegt in jeder Zeile, die er ſchreibt, zu den Fuͤßen des Kaiſers, nicht wie ein ruſſiſcher Sclave, ſondern wie ein freyer Franzoſe, dem die Be¬94 wunderung einer unerhoͤrten Heldengroͤße und Ruhmeswuͤrde unwillkuͤhrlich die Kniee beugt; Omeara, der Arzt, obgleich in Irland gebo¬ ren, dennoch ganz Englaͤnder, als ſolcher ein ehemaliger Feind des Kaiſers, aber jetzt an¬ erkennend die Majeſtaͤtsrechte des Ungluͤcks, ſchreibt freymuͤthig, ſchmucklos, thatbeſtaͤndlich, faſt im Lapidarſtyl; hingegen kein Styl, ſondern ein Stilett iſt die ſpitzige, zuſtoßende Schreib¬ art des franzoͤſiſchen Arztes, Autommarchi, eines Italieners, der ganz beſonnentrunken iſt von dem Ingrimm und der Poeſie ſeines Landes.

Beide Voͤlker, Britten und Franzoſen, lie¬ ferten von jeder Seite zwey Maͤnner, gewoͤhn¬ lichen Geiſtes, und unbeſtochen von der herr¬ ſchenden Macht, und dieſe Jury hat den Kai¬ ſer gerichtet, und verurtheilet: ewig zu leben, ewig bewundert, ewig bedauert.

Es ſind ſchon viele große Maͤnner uͤber dieſe Erde geſchritten, hier und da ſehen wir die leuchtenden Spuren ihrer Fußſtapfen, und95 in heiligen Stunden treten ſie, wie Nebelgebilde vor unſere Seele; aber ein ebenfalls großer Mann ſieht ſeine Vorgaͤnger weit deutlicher, aus einzel¬ nen Funken ihrer irdiſchen Lichtſpur erkennt er ihr geheimſtes Thun, aus einem einzigen hinter¬ laſſenen Worte erkennt er alle Falten ihres Her¬ zens; und ſolchermaßen, in einer myſtiſchen Ge¬ meinſchaft, leben die großen Maͤnner aller Zeiten, uͤber die Jahrtauſende hinweg nicken ſie einander zu, und ſehen ſich an bedeutungsvoll, und ihre Blicke begegnen ſich auf den Graͤbern unterge¬ gangener Geſchlechter, die ſich zwiſchen ſie ge¬ draͤngt hatten, und ſie verſtehen ſich und haben ſich lieb. Wir Kleinen aber, die wir nicht ſo intimen Umgang pflegen koͤnnen mit den Großen der Vergangenheit, wovon wir nur ſelten die Spur und Nebelformen ſehen, fuͤr uns iſt es vom hoͤchſten Werthe, wenn wir uͤber einen ſolchen Großen ſo viel erfahren, daß es uns leicht wird, ihn ganz lebensklar in unſre Seele aufzunehmen, und dadurch unſre Seele zu erweitern. Ein ſol¬96 cher iſt Napoleon Bonaparte. Wir wiſſen von ihm, von ſeinem Leben und Streben, mehr als von den andern Großen dieſer Erde, und taͤglich erfahren wir davon noch mehr und mehr. Wir ſehen wie das verſchuͤttete Goͤtterbild langſam ausgegraben wird, und mit jeder Schaufel Erd¬ ſchlamm, die man von ihm abnimmt, waͤchſt unſer freudiges Erſtaunen uͤber das Ebenmaaß und die Pracht der edlen Formen, die da her¬ vortreten, und die Geiſtesblitze der Feinde, die das große Bild zerſchmettern wollen, dienen nur dazu, es deſto glanzvoller zu beleuchten. Solches geſchieht namentlich durch die Aeuße¬ rungen der Frau von Staël, die in all ihrer Herbheit doch nichts anders ſagt, als daß der Kaiſer kein Menſch war wie die Andern, und daß ſein Geiſt mit keinem vorhandenen Maa߬ ſtab gemeſſen werden kann.

Ein ſolcher Geiſt iſt es, worauf folgende Worte Kants, die ich unlaͤngſt in der Morpho¬ logie erwaͤhnt ſah, hinzuweiſen ſcheinen:97 Wir koͤnnen uns einen Verſtand denken, der, weil er nicht wie der unſrige diskurſiv, ſondern intuitiv iſt, vom ſynthetiſch Allgemei¬ nen, der Anſchauung eines Ganzen als eines ſolchen, zum Beſonderen geht, das iſt, von dem Ganzen zu den Theilen. Hierbey iſt gar nicht noͤthig zu beweiſen, daß ein ſolcher intellectus archetypus moͤglich ſey, ſondern nur daß wir in der Dagegenhaltung unſeres diskurſiven, der Bil¬ der beduͤrftigen Verſtandes (intellectus ectypus) und der Zufaͤlligkeit einer ſolchen Beſchaffenheit, auf jene Ideen eines intellectus archetypus ge¬ fuͤhrt werden, dieſe auch keinen Widerſpruch er¬ halte.

Ja, was wir durch langſames Nachdenken und lange Schlußfolgen erkennen, das hatte jener Geiſt im ſelben Momente angeſchaut und tief begriffen. Daher ſein Talent die Zeit, die Gegenwart zu verſtehen, ihren Geiſt zu kajo¬ liren ihn nie zu beleidigen, und immer zu be¬ nutzen.

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Da aber dieſer Geiſt der Zeit nicht bloß revoluzionaͤr iſt, ſondern durch den Zuſammenfluß beider Anſichten, der revoluzionaͤren und der contrerevoluzionaͤren, gebildet worden, ſo handelte Napoleon nie ganz revoluzionaͤr und nie ganz contrerevoluzionaͤr, ſondern immer im Sinne bei¬ der Anſichten, beider Prinzipien, beider Beſtre¬ bungen, die in ihm ihre Vereinigung fanden, und demnach handelte er beſtaͤndig naturgemaͤß, einfach, groß, nie krampfhaft harſch, immer ruhig milde. Daher intriguirte er nie im Einzelnen, und ſeine Schlaͤge geſchahen immer durch ſeine Kunſt, die Maſſen zu begreifen und zu lenken. Zur verwickelten, langſamen Intrigue neigen ſich kleine, analitiſche Geiſter, hingegen ſynthetiſche, intuitive Geiſter wiſſen auf wunderbar geniale Weiſe die Mittel, die ihnen die Gegenwart bie¬ tet, ſo zu verbinden, daß ſie dieſelben zu ihrem Zwecke ſchnell benutzen koͤnnen. Erſtere ſcheitern ſehr oft, da keine menſchliche Klugheit alle Vor¬ fallenheiten des Lebens vorausſehen kann und99 die Verhaͤltniſſe des Lebens nie lange ſtabil ſind; letzteren hingegen, den intuitiſchen Menſchen, ge¬ lingen ihre Vorſaͤtze am leichteſten, da ſie nur einer richtigen Berechnung des Vorhandenen be¬ duͤrfen, und ſo ſchnell handeln, daß dieſes, durch die Bewegung der Lebenswogen, keine ploͤtzliche, unvorhergeſehene Veraͤnderung erleiden kann.

Es iſt ein gluͤckliches Zuſammentreffen, daß Napoleon gerade zu einer Zeit gelebt hat, die ganz beſonders viel Sinn hat fuͤr Geſchichte, ihre Erforſchung und Darſtellung. Es werden uns daher, durch die Memoiren der Zeitgenoſſen, wenige Notizen uͤber Napoleon vorenthalten wer¬ den, und taͤglich vergroͤßert ſich die Zahl der Ge¬ ſchichtsbuͤcher, die ihn mehr oder minder im Zu¬ ſammenhang mit der uͤbrigen Welt ſchildern wol¬ len. Die Ankuͤndigung eines ſolchen Buches aus Walter Scotts Feder erregt daher die neu¬ gierigſte Erwartung.

Alle Verehrer Scotts muͤſſen fuͤr ihn zittern; denn ein ſolches Buch kann leicht der ruſſiſche100 Feldzug jenes Ruhmes werden, den er muͤhſam erworben durch eine Reihe hiſtoriſcher Romane, die mehr durch ihr Thema, als durch ihre poetiſche Kraft, alle Herzen Europas bewegt haben. Dieſes Thema iſt aber nicht bloß eine elegiſche Klage uͤber Schottlands volksthuͤmliche Herrlichkeit, die all¬ maͤhlig verdraͤngt wurde von fremder Sitte, Herrſchaft und Denkweiſe; ſondern es iſt der große Schmerz uͤber den Verluſt der Nazio¬ nal-Beſonderheiten, die in der Allgemeinheit neuerer Cultur verloren gehen, ein Schmerz, der jetzt in den Herzen aller Voͤlker zuckt. Denn Nazionalerinnerungen liegen tiefer in der Men¬ ſchen Bruſt, als man gewoͤhnlich glaubt. Man wage es nur, die alten Bilder wieder auszugra¬ ben, und uͤber Nacht bluͤht hervor auch die alte Liebe mit ihren Blumen. Das iſt nicht figuͤrlich geſagt, ſondern es iſt eine Thatſache: als Bullock vor einigen Jahren ein altheidniſches Steinbild in Mexiko ausgegraben, fand er den andern Tag, daß es naͤchtlicher Weile mit Blumen be¬101 kraͤnzt worden; und doch hatte Spanien, mit Feuer und Schwert, den alten Glauben der Me¬ xikaner zerſtoͤrt, und ſeit drey Jahrhunderten ihre Gemuͤther gar ſtark umgewuͤhlt und gepfluͤgt und mit Chriſtenthum beſaͤet. Solche Blumen aber bluͤhen auch in den Walter-Scott'ſchen Dich¬ tungen, dieſe Dichtungen ſelbſt wecken die alten Gefuͤhle,[und] wie einſt in Granada Maͤnner und Weiber mit dem Geheul der Verzweiflung aus den Haͤuſern ſtuͤrzten, wenn das Lied vom Einzug des Maurenkoͤnigs auf den Straßen er¬ klang, dergeſtalt, daß bey Todesſtrafe verboten wurde, es zu ſingen: ſo hat der Ton, der in den Scott'ſchen Dichtungen herrſcht, eine ganze Welt ſchmerzhaft erſchuͤttert. Dieſer Ton klingt wieder in den Herzen unſeres Adels, der ſeine Schloͤſſer und Wappen verfallen ſieht, er klingt wieder in den Herzen des Buͤrgers, dem die be¬ haglich enge Weiſe der Altvordern verdraͤngt wird durch weite, unerfreuliche Modernitaͤt; er klingt wieder in katholiſchen Domen, woraus der102 Glaube entflohen, und in rabbiniſchen Synagogen, woraus ſogar die Glaͤubigen fliehen; er klingt uͤber die ganze Erde, bis in die Banianenwaͤlder Hindoſtans, wo der ſeufzende Bramine das Ab¬ ſterben ſeiner Goͤtter, die Zerſtoͤrung ihrer uralten Weltordnung, und den ganzen Sieg der Eng¬ laͤnder vorausſieht.

Dieſer Ton, der gewaltigſte, den der ſchotti¬ ſche Barde auf ſeiner Rieſenharfe anzuſchlagen weiß, paßt aber nicht zu dem Kaiſerliede von dem Napoleon, dem neuen Manne, dem Manne der neuen Zeit, dem Manne, worin dieſe neue Zeit ſo leuchtend ſich abſpiegelt, daß wir dadurch faſt geblendet werden, und unterdeſſen nimmer¬ mehr denken an die verſchollene Vergangenheit und ihre verblichene Pracht. Es iſt wohl zu vermuthen, daß Scott, ſeiner Vorneigung gemaͤß, jenes angedeutete, ſtabile Element im Charakter Napoleons, die contrerevoluzionaͤre Seite ſeines Geiſtes vorzugsweiſe auffaſſen wird, ſtatt daß an¬ dere Schriftſteller bloß das revoluzionaͤre Prinzip103 in ihm erkennen. Von dieſer letzteren Seite wuͤrde ihn Byron geſchildert haben, der in ſeinem ganzen Streben den Gegenſatz zu Scott bildete, und ſtatt, gleich dieſem, den Untergang der alten Formen zu beklagen, ſich ſogar von denen, die noch ſtehen geblieben ſind, verdrießlich beengt fuͤhlt, ſie, mit revoluzionaͤrem Lachen und Zaͤhnefletſchen, niederreißen moͤchte, und in dieſem Aerger die heiligſten Blumen des Lebens mit ſeinem melodiſchen Gifte beſchaͤdigt, und ſich, wie ein wahnſinniger Harlekin den Dolch in's Herz ſtoͤßt, um, mit dem hervorſtroͤmenden, ſchwarzen Blute, Herren und Damen neckiſch zu beſpritzen.

Wahrlich, in dieſem Augenblicke fuͤhle ich ſehr lebhaft, daß ich kein Nachbeter, oder beſſer geſagt Nachfrevler Byrons bin, mein Blut iſt nicht ſo ſpleeniſch ſchwarz, meine Bitterkeit koͤmmt nur aus den Gallaͤpfeln meiner Dinte, und wenn Gift in mir iſt, ſo iſt es doch nur Gegengift, Gegengift wider jene Schlangen, die104 im Schutte der alten Dome und Burgen ſo be¬ drohlich lauern. Von allen großen Schriftſtellern iſt Byron juſt derjenige, deſſen Lectuͤre mich am unleidlichſten beruͤhrt; wohingegen Scott mir, in jedem ſeiner Werke, das Herz erfreut, beru¬ higt und erkraͤftigt. Mich erfreut ſogar die Nachahmung derſelben, wie wir ſie bey W. Alexis, Bronikowski und Cooper finden, welcher erſtere, im ironiſchen Walladmor, ſeinem Vorbilde am naͤchſten ſteht, und uns auch in einer ſpaͤteren Dichtung ſo viel Geſtalten - und Geiſtesreichthum gezeigt hat, daß er wohl im Stande waͤre, mit poetiſcher Urſpruͤnglichkeit, die ſich nur der ſcotti¬ ſchen Form bedient, uns die theuerſten Momente deutſcher Geſchichte, in einer Reihe hiſtoriſcher Novellen, vor die Seele zu fuͤhren.

Aber keinem wahren Genius laſſen ſich be¬ ſtimmte Bahnen vorzeichnen, dieſe liegen auſſer¬ halb aller kritiſcher Berechnung, und ſo mag es auch als ein harmloſes Gedankenſpiel betrachtet werden, wenn ich uͤber W. Scotts Kaiſergeſchichte105 mein Vorurtheil ausſprach. Vorurtheil iſt hier der umfaſſendſte Ausdruck. Nur eins laͤßt ſich mit Beſtimmtheit ſagen: das Buch wird ge¬ leſen werden vom Aufgang bis zum Niedergang, und wir Deutſchen werden es uͤberſetzen.

Wir haben auch den Seguͤr uͤberſetzt. Nicht wahr, es iſt ein huͤbſches epiſches Gedicht? Wir Deutſchen ſchreiben auch epiſche Gedichte, aber die Helden derſelben exiſtiren bloß in unſe¬ rem Kopfe. Hingegen die Helden des franzoͤſi¬ ſchen Epos ſind wirkliche Helden, die viel groͤßere Thaten vollbracht, und viel groͤßere Leiden ge¬ litten, als wir in unſeren Dachſtuͤbchen erſinnen koͤnnen. Und wir haben doch viel Phantaſie, und die Franzoſen haben nur wenig. Vielleicht hat deshalb der liebe Gott den Franzoſen auf eine andere Art nachgeholfen, und ſie brauchen nur treu zu erzaͤhlen, was ſie in den letzten dreyzig Jahren geſehen und gethan, und ſie haben eine erlebte Literatur, wie noch kein Volk und keine Zeit ſie hervorgebracht. Dieſe Memoiren106 von Staatsleuten, Soldaten und edlen Frauen, wie ſie in Frankreich taͤglich erſcheinen, bilden einen Sagenkreis, woran die Nachwelt genug zu denken und zu ſingen hat, und worin, als deſſen Mittelpunkt, das Leben des großen Kai¬ ſers, wie ein Rieſenbaum, emporragt. Die Seguͤrſche Geſchichte des Rußlandszuges iſt ein Lied, ein franzoͤſiſches Volkslied, das zu dieſem Sagenkreiſe gehoͤrt, und, in ſeinem Tone und Stoffe, den epiſchen Dichtungen aller Zeiten gleicht und gleich ſteht. Ein Heldengeſchlecht, das durch den Zauberſpruch Freyheit und Gleichheit aus dem Boden Frankreichs emporgeſchoſſen, hat, wie im Triumphzug, berauſcht von Ruhm und gefuͤhrt von dem Gotte des Ruhmes ſelbſt, die Welt durchzogen, erſchreckt und verherrlicht, tanzt endlich den raſſelnden Waffentanz auf den Eisfeldern des Nordens, und dieſe brechen ein, und die Soͤhne des Feuers und der Freyheit gehen zu Grunde durch Kaͤlte und Sklaven.

107

Solche Beſchreibung oder Prophezeyung des Untergangs einer Heldenwelt iſt Grundton und Stoff der epiſchen Dichtungen aller Voͤlker. Auf den Felſen von Ellore und anderer indiſcher Grottentempel ſteht ſolche epiſche Kataſtrophe ein¬ gegraben mit Rieſenhieroglyphen, deren Schluͤſſel im Mahabarata zu finden iſt; der Norden hat in nicht minder ſteinernen Worten, in ſeiner Edda, dieſen Goͤtteruntergang ausgeſprochen; das Lied der Nibelungen beſingt daſſelbe tragiſche Verderben, und hat, in ſeinem Schluſſe, noch ganz beſondere Aehnlichkeit mit der Seguͤrſchen Beſchreibung des Brandes von Moskau; das Rolandslied von der Schlacht bey Roncisval, deſſen Worte verſchollen, deſſen Sage aber noch nicht erloſchen, und noch unlaͤngſt von einem der groͤßten Dichter des Vaterlandes, von Im¬ mermann, herauf beſchworen worden, iſt ebenfalls der alte Ungluͤcksgeſang; und gar das Lied von Ilion verherrlicht am ſchoͤnſten das alte Thema, und iſt doch nicht großartiger und ſchmerzlicher108 als das franzoͤſiſche Volkslied, worin Seguͤr den Untergang ſeiner Heroenwelt beſungen hat. Ja, dieſes iſt ein wahres Epos, Frankreichs Helden¬ jugend iſt der ſchoͤne Heros, der fruͤh dahinſinkt, wie wir ſolches Leid ſchon ſahen in dem Tode Baldurs, Siegfrieds, Rolands und Achilles, die ebenſo durch Ungluͤck und Verrath gefallen; und jene Helden, die wir in der Ilias bewun¬ dert, wir finden ſie wieder im Liede des Seguͤr, wir ſehen ſie rathſchlagen, zanken und kaͤmpfen, wie einſt vor dem ſkaͤiſchen Thore, iſt auch die Jacke des Koͤnigs von Neapel etwas allzubunt¬ ſcheckig modern, ſo iſt doch ſein Schlachtmuth und Uebermuth eben ſo groß, wie der des Pe¬ liden, ein Hektor an Milde und Tapferkeit ſteht vor uns Prinz Eugèn, der edle Ritter, Ney kaͤmpft wie ein Ajax, Berthier iſt ein Neſtor ohne Weisheit, Davouſt, Daruͤ, Caulincourt u. ſ. w. in ihnen wohnen die Seelen des Me¬ nelaos, des Odyſſeus, des Diomedes nur der Kaiſer ſelbſt findet nicht ſeines Gleichen, in ſei¬109 nem Haupte iſt der Olymp des Gedichtes, und wenn ich ihn, in ſeiner aͤußeren Herrſchererſchei¬ nung, mit dem Agamemnon vergleiche, ſo geſchieht das, weil ihn, eben ſo wie den groͤßten Theil ſeiner herrlichen Kampfgenoſſen, ein tragiſches Schickſal erwartete, und weil ſein Oreſtes noch lebt.

Wie die Scottſchen Dichtungen hat auch das Seguͤrſche Epos einen Ton, der unſere Herzen bezwingt. Aber dieſer Ton weckt nicht die Liebe zu laͤngſt verſchollenen Tagen der Vorzeit, ſon¬ dern es iſt ein Ton, deſſen Klangfigur uns die Gegenwart giebt, ein Ton, der uns fuͤr eben dieſe Gegenwart begeiſtert.

Wir Deutſchen ſind doch wahre Peter Schlemiehle! Wir haben auch in der letzten Zeit viel geſehen, viel ertragen, z. B. Einquar¬ tierung und Adelſtolz; und wir haben unſer edelſtes Blut hingegeben, z. B. an England, das noch jetzt jaͤhrlich eine anſtaͤndige Summe, fuͤr abge¬ ſchoſſene deutſche Arme und Beine, ihren ehe¬110 maligen Eigenthuͤmern zu bezahlen hat; und wir haben im Kleinen ſo viel Großes gethan, daß wenn man es zuſammenrechnete, die groͤßten Thaten herauskaͤmen, z. B. in Tyrol; und wir haben viel verloren, z. B. unſeren Schlag¬ ſchatten, den Titel des lieben, heiligen, roͤmiſchen Reichs und dennoch, mit allen Verluſten Opfern, Entbehrungen, Malheurs und Gro߬ thaten, hat unſere Literatur kein einziges ſolcher Denkmaͤler des Ruhmes gewonnen, wie ſie bey unſeren Nachbaren, gleich ewigen Tro¬ phaͤen, taͤglich emporſteigen. Unſere Leipziger Meſſen haben wenig profitirt durch die Schlacht bey Leipzig. Ein Gothaer, hoͤre ich, will ſie noch nachtraͤglich, in epiſcher Form, beſingen; da er aber noch nicht weiß, ob er zu den 100,000 Seelen gehoͤrt, die Hildburghauſen be¬ koͤmmt, oder zu den 150,000, die Meiningen bekoͤmmt, oder zu den 160,000, die Altenburg bekoͤmmt, ſo kann er ſein Epos noch nicht anfan¬ gen, er muͤßte denn beginnen: Singe unſterbliche111 Seele, Hildburghaͤuſiſche Seele, Meining'ſche Seele, oder auch Altenburgiſche Seele, Gleich¬ viel ſinge, ſinge der ſuͤndigen Deutſchen Erloͤ¬ ſung! Dieſer Seelenſchacher im Herzen des Vaterlandes, und deſſen blutende Zerriſſenheit, laͤßt keinen ſtolzen Sinn, und noch viel weniger ein ſtolzes Wort aufkommen, unſere ſchoͤnſten Thaten werden laͤcherlich durch den dummen Erfolg, und waͤhrend wir uns unmuthig ein¬ huͤllen in den Purpurmantel des deutſchen Hel¬ denblutes, koͤmmt ein politiſcher Schalk und ſetzt uns die Schellenkappe auf's Haupt. Eben die Literaturen unſerer Nachbaren jenſeits des Rheins und des Canals muß man mit unſerer Bagatell - Literatur vergleichen, um das Leere und Bedeu¬ tungsloſe unſeres Bagatell-Lebens zu begreifen. Oft, wenn ich die Morning-Chronicle leſe, und in jeder Zeile das engliſche Volk mit ſeiner Nazionalitaͤt erblicke, mit ſeinem Pferderennen, Boxen, Hahnenkaͤmpfen, Aſſiſen, Parlaments¬ debatten u. ſ. w., dann nehme ich wieder, be¬112 truͤbten Herzens, ein deutſches Blatt zur Hand, und ſuche darin die Momente eines Volkslebens, und finde nichts als literariſche Fraubaſereyen und Theatergeklaͤtſche.

Und doch iſt es nicht anders zu erwarten. Iſt in einem Volke alles oͤffentliche Leben unter¬ druͤckt, ſo ſucht es dennoch Gegenſtaͤnde fuͤr ge¬ meinſame Beſprechung, und dazu dienen ihm in Deutſchland ſeine Schriftſteller und Comoͤdianten. Statt Pferderennen haben wir ein Buͤcherrennen nach der Leipziger Meſſe. Statt Boxen haben wir Myſtiker und Rationaliſten, die ſich in ihren Pamphlets herumbalgen, bis die Einen zur Ver¬ nunft kommen, und den Anderen Hoͤren und Sehen vergeht und der Glauben bey ihnen Ein¬ gang findet. Statt Hahnenkaͤmpfe haben wir Journale, worin arme Teufel, die man dafuͤr fuͤttert, ſich einander den guten Namen zerreißen, waͤhrend die Philiſter freudig ausrufen: ſieh! das iſt ein Haupthahn! dem dort ſchwillt der Kamm! der hat einen ſcharfen Schnabel! das junge Haͤhnchen113 muß ſeine Federn erſt ausſchreiben, man muß es anſpornen u. ſ. w. In ſolcher Art haben wir auch unſere oͤffentlichen Aſſiſen, und das ſind die loͤſchpapiernen, ſaͤchſiſchen Literaturzeitungen, worin jeder Dummkopf von ſeines Gleichen ge¬ richtet wird, nach den Grundſaͤtzen eines litera¬ riſchen Criminalrechts, das der Abſchreckungs¬ theorie huldigt, und, als ein Verbrechen jedes Buch beſtraft. Zeigt der Verfaſſer deſſelben etwas Geiſt, ſo iſt das Verbrechen qualifizirt. Kann er aber ſein Geiſtesalibi beweiſen, ſo wird die Strafe gemildert. Freylich, bey dieſer literari¬ ſchen Criminaljuſtiz iſt es ebenfalls ein großes Gebrechen, daß dem richterlichen Ermeſſen ſo viel uͤberlaſſen bleibt, um ſo mehr, da unſere Buͤcherrichter, eben ſo wie Fallſtaff, ſich ihre Gruͤnde nicht abzwingen laſſen, und manchmal ſelbſt geheime Suͤnder ſind und vorausſehen, daß ſie morgen von denſelben Deliquenten gerichtet werden, uͤber die ſie heute das Urtheil ſprechen. Die Jugend iſt in unſerer literariſchen Criminal¬8114juſtiz ein bedeutender Milderungsgrund, und mancher alte Schriftſteller wird gelinde beur¬ theilt, weil man ihn fuͤr ein Kind haͤlt. Sogar die in der letzten Zeit aufgekommene Erfahrung, daß junge Menſchen, zur Zeit der Entwickelung ihrer Pubertaͤt, ein krankhaftes Geluͤſte tragen, Brand zu ſtiften, hat auch in der Aeſthetik ihren Einfluß gehabt, und man urtheilt deßhalb ge¬ linder uͤber ſo manche Flammentragoͤdie, z. B. die Tragoͤdie jenes feurigen Juͤnglings, der nichts geringeres als den koͤniglichen Pallaſt zu Perſepolis in Brand geſteckt hat. Wir haben, um Vergleichungen fortzuſetzen, gewiſ¬ ſermaßen auch unſere Parlamentsdebatten, und damit meine ich unſre Theaterkritiken; wie denn unſer Schauſpiel ſelbſt gar fuͤglich das Haus der Gemeinen genannt werden kann, von wegen der vielen Gemeinheiten die darin bluͤ¬ hen, von wegen des plattgetretenen Franzoͤſi¬ ſchen Unflats, den unſer Publikum, ſelbſt wenn man ihm am ſelben Abend ein Raupachſches115 Luſtſpiel gegeben hat, gar ruhig verzehrt, gleich einer Fliege, die, wenn ſie von einem Honig¬ topfe weggetrieben wird, ſich gleich mit dem beſten Appetit auf einen Quark ſetzt und ihre Mahlzeit damit beſchließt. Ich habe hier vor¬ zuͤglich im Sinne Raupachs Bekehrten , die ich vorigen Winter zu Hamburg, von den ausgezeichnetſten Schauſpielern auffuͤhren ſah, und zwar mit eben ſo vielem Beyfall, wie die Schuͤlerſchwaͤnke , ein parfuͤmirtes Quaͤrkchen, das gleich darauf, an demſelben Abend, gegeben wurde. Aber auf unſerem Theater gedeiht nicht bloß Miſt, ſondern auch Gift. In der That, hoͤre ich wie in unſeren Luſtſpielen die heilig¬ ſten Sitten und Gefuͤhle des Lebens, in einem liederlichen Tone und ſo leichtfertig ſicher abge¬ leyert werden, daß man am Ende ſelbſt gewoͤhnt wird, ſie als die gleichguͤltigſten Dinge zu be¬ trachten, hoͤre ich jene kammerdienerliche Liebes¬ erklaͤrungen, die ſentimentalen Freundſchafts¬ buͤndniſſe zu gemeinſchaftlichem Betrug, die la¬116 chenden Plane zur Taͤuſchung der Eltern oder Ehegatten, und wie all dieſe ſtereotypen Luſt¬ ſpielmotive heißen moͤgen, ach! ſo erfaßt mich inneres Grauen und bodenloſer Jammer, und ich ſchaue, aͤngſtlichen Blickes, nach den armen, unſchuldigen Engelkoͤpfchen, denen im Theater dergleichen, gewiß nicht ohne Erfolg, vordekla¬ mirt wird.

Die Klagen uͤber Verfall und Verderbniß des deutſchen Luſtſpiels, wie ſie aus ehrlichen Herzen hervorgeſeufzt werden, der kritiſche Eifer Tieck's und Zimmermann's, die bey der Reini¬ gung unſers Theaters ein muͤhſameres Geſchaͤft haben, als Herkules im Stalle des Augias, da unſer Theaterſtall gereinigt werden ſoll waͤhrend die Ochſen noch darin ſind; die Beſtre¬ bungen hochbegabter Maͤnner, die ein romanti¬ ſches Luſtſpiel begruͤnden moͤchten, die trefflichſte und treffendſte Satire, wie z. B. Robert's Pa¬ radiesvogel nichts will fruchten, Seufzer, Rathſchlaͤge, Verſuche, Geißelhiebe, Alles be¬117 wegt nur die Luft, und jedes Wort, das man daruͤber ſpricht, iſt wahrhaft in den Wind geredet.

Unſer Oberhaus, die Tragoͤdie, zeigt ſich in hoͤherem Glanze. Ich meine hinſichtlich der Couliſſen, Dekorazionen und Garderoben. Aber auch hier giebt es ein Ziel. Im Theater der Roͤmer haben Elephanten auf dem Seile getanzt und große Spruͤnge gemacht; weiter aber konnt 'es der Menſch nicht bringen, und das roͤmiſche Reich ging unter, und bey dieſer Gelegenheit auch das roͤmiſche Theater. Auf unſeren Theatern fehlt es in den Tragoͤdien zwar auch nicht an Tanz und Spruͤngen, aber dieſe werden hier von den jungen Tragoͤden ſelbſt vollbracht; und da es wohl geſchah, daß Frauenzimmer durch große Spruͤnge ploͤtzlich zum Manne geworden, ſo handelt ein weibi¬ ſches Poetlein wahrhaft pfiffig, wenn es mit ſeinen lahmen Jamben recht große Alexander¬ ſpruͤnge verſucht.

118

Da aber einmal von deutſcher Literaturmiſere die Rede iſt, und ich jetzt noch nicht geſonnen bin, mich reichlicher daruͤber zu verbreiten, ſo mag wohl hier eine fuͤgliche Stelle ſeyn zum Einſchalten der folgenden Xenien, die aus der Feder Immermann's, meines hohen Mitſtreben¬ den, gefloſſen ſind, und die mir derſelbe juͤngſthin geſchenkt hat. Die Gleichgeſinnten danken mir gewiß fuͤr die Mittheilung dieſer Verſe, und bis auf wenige Ausnahmen, die ich mit Sternen bezeichne, will ich ſie gern als meine eigne Ge¬ ſinnung vertreten.

Der poetiſche Literator.

Laß dein Laͤcheln, laß dein Flennen, ſag 'uns ohne Hinterliſt,
Wann Hans Sachs das Licht erblickte, Weckherlin geſtorben iſt.
119
Alle Menſchen muͤſſen ſterben, ſpricht das Maͤnnlein mit Bedeutung.
Alter Junge, deſſengleichen iſt uns keine große Zeitung.
Mit vergeß'nen, alten Schwarten ſchmiert er ſeine Autorſtiefeln,
Daß er dazu heiter weine, frißt er fromm poet'ſche Zwiefeln.
* Willſt du commentiren, Fraͤnzel, mindeſtens verſchon 'den Luther,
Dieſer Fiſch behagt uns beſſer, ohne die zerlaß'ne Butter.

Dramatiker.

1.

* Nimmer ſchreib 'ich mehr Tragoͤdien, mich am Publikum zu raͤchen!
Schimpf' uns, wie du willſt, mein Guter, aber halte dein Verſprechen.
120

2.

Dieſen Reiterlieutnant muͤſſet, Stachelverſe, ihr verſchonen;
Denn er commandirt Sentenzen und Gefuͤhl 'in Escadronen.

3.

Waͤr 'Melpomene ein Maͤdchen, gut, gefuͤhlvoll und natuͤrlich,
Rieth ich ihr: Heirathe dieſen, der ſo milde und ſo zierlich.

4.

Seiner vielen Suͤnden wegen geht der todte Kotzebue
Um in dieſem Ungethuͤme ohne Struͤmpfe, ohne Schuhe.
Und ſo kommt zu vollen Ehren tiefe Lehr 'aus grauen Jahren,
Daß die Seelen der Verſtorb'nen muͤſſen in die Beſtien fahren.
121

Oeſtliche Poeten.

Groß 'mérite iſt es jetzo, nach Saadi's Art zu girren,
Doch mir ſcheint's egal gepudelt, ob wir oͤſtlich, weſtlich irren.
Sonſten ſang, bey'm Mondenſcheine, Nachtigall seu Philomele;
Wenn jetzt Buͤlbuͤl floͤtet, ſcheint es mir denn doch dieſelbe Kehle.
Alter Dichter, Du gemahnſt mich, als wie Hameln's Rattenfaͤnger;
Pfeifſt nach Morgen, und es folgen all die lieben, kleinen Saͤnger.
Aus Bequemlichkeit verehren ſie die Kuͤhe frommer Inden,
Daß ſie den Olympus moͤgen naͤchſt in jedem Kuhſtall finden.
122
Von den Fruͤchten, die ſie aus dem Gartenhain von Schiras ſtehlen,
Eſſen ſie zu viel, die Armen, und vomiren dann Ghaſelen.

* Glockentoͤne.

Seht den dicken Paſtor, dorten unter ſeiner Thuͤr im Staate,
Laͤutet mit den Glocken, daß man ihn verehr 'in dem Ornate.
Und es kamen, ihn zu ſchauen, flugs die Blinden und die Lahmen,
Engebruſt und Krampf, beſonders Hyſteriegeplagte Damen.
Weiße Salbe weder heilet, noch verſchlimmert irgend Schaͤden,
Weiße Salbe findeſt jetzo du in allen Buͤcher¬ laͤden.
123
Geht's ſo fort, und laͤßt ſich jeder Pfaffe ferner adoriren,
Werd 'ich in den Schooß der Kirche ehebaldigſt retourniren.
Dort gehorch 'ich einem Papſte, und verehr' ein praesens Numen,
Aber hier macht ſich zum numen jeglich ordinirtes lumen.

Orbis pictus.

Haͤtte einen Hals das ganze weltverderbende Gelichter,
Einen Hals, ihr hohen Goͤtter: Prieſter, Hiſtrio¬ nen, Dichter!
124
In die Kirche ging ich Morgens, um Komoͤdien zu ſchauen,
Abends in's Theater, um mich an der Predigt zu erbauen.
Selbſt der liebe Gott verlieret ſehr bey mir an dem Gewichte,
Weil nach ihrem Ebenbilde ſchnitzen ihn viel tauſend Wichte.
Wenn ich Euch gefall ', ihr Leute, duͤnk' ich mich ein Leineweber,
Aber, wenn ich Euch verdrieße, ſeht, das ſtaͤrkt mir meine Leber.
Ganz bewaͤltigt er die Sprache; ja, es iſt, ſich todt zu lachen,
Seht nur, was fuͤr tolle Spruͤnge laͤſſet er die Arme machen.
125
Vieles Schlimme kann ich dulden, aber eins iſt mir zum Ekel,
Wenn der nervenſchwache Zaͤrtling ſpielt den genialen Rekel.
* Damals mocht'ſt du mir gefallen, als du buhlteſt mit Lucindchen,
Aber, o der frechen Liebſchaft! mit Marien wollen ſuͤnd'gen.
Erſt in England, dann in Spanien, jetzt in Brahma's Finſterniſſen,
Ueberall umhergeſtrichen, deutſchen Rock und Schuh zerriſſen.
Wenn die Damen ſchreiben, kramen ſtets ſie aus von ihren Schmerzen,
Fausses couches, touchirter Tugend ach, die gar zu offnen Herzen!
126
Laßt die Damen mir zufrieden; daß ſie ſchreiben, find 'ich raͤthlich,
Fuͤhrt die Frau die Amor-Feder, wird ſie wenigſtens nicht ſchaͤdlich.
Glaubt, das Schriftenthum wird gleichen bald den aͤrgſten Rockenſtuben,
Die Gevatterinnen ſchnacken, und es hoͤren zu die Buben.
Waͤr 'ich Dſchingischan, o China, waͤrſt du laͤngſt von mir vernichtet,
Dein verdammtes Theegeplaͤtſcher hat uns langſam hingerichtet.
Alles ſetzet ſich zur Ruhe, und der Groͤßte wird geduldig,
Streicht gemaͤchlich ein, was fruͤh're Zeiten blieben waren ſchuldig.
127
Jene Stadt iſt voller Verſe, Toͤne, Statuen, Schilderey'n,
Wurſthans ſteht mit der Trompete an dem Thor, und ſchreit: Herein!
Dieſe Reime klingen ſchaͤndlich, ohne Metrum und Caeſuren;
Wollt in Uniform ihr ſtecken literariſche Pan¬ duren?
Sag, wie kommſt du nur zu Worten, die ſo grob und ungezogen?
Freund, im wuͤſten Marktgedraͤnge braucht man ſeine Ellenbogen.
Aber du haſt auch bereimet, was unlaͤugbar gut und groß.
Miſcht der Beſte ſich zum Plebſe, duldet er des Plebſes Loos.
128
Wenn die Sommerfliegen ſchwaͤrmen, toͤdtet Ihr ſie mit den Klappen,
Und nach dieſen Reimen werdet ſchlagen Ihr mit Euren Kappen.
[129]

Ideen.

Das Buch Le Grand.

1826.

9[130]
Das Geſchlecht der Oerindur,
Unſres Thrones feſte Saͤule,
Soll beſtehn, ob die Natur
Auch damit zu Ende eile.
Muͤllner.
[131]

Evelina empfange dieſe Blaͤtter als ein Zeichen der Freundſchaft und Liebe des Verfaſſers.

[132][133]

Capitel I.

Sie war liebenswuͤrdig, und Er liebte Sie! Er aber war nicht liebenswuͤrdig, und Sie liebte ihn nicht.
((Altes Stuͤck.) )

Madame, kennen Sie das alte Stuͤck? Es iſt ein ganz außerordentliches Stuͤck, nur etwas zu ſehr melancholiſch. Ich hab 'mal die Hauptrolle darin geſpielt und da weinten alle Damen, nur eine Einzige weinte