PRIMS Full-text transcription (HTML)
Reiſebilder
Zweiter Theil.
Hamburg, beyHoffmann und Campe. 1827.
[1]

Die Nordſee.

1826. Zweite Abtheilung.

1[2]

Motto: Xenophon's Anabaſis IV. 7.

[3]

I. Meergruß.

Thalatta! Thalatta!
Sey mir gegruͤßt, du ewiges Meer!
Sey mir gegruͤßt zehntauſendmal
Aus jauchzendem Herzen,
Wie einſt dich begruͤßten
Zehntauſend Griechenherzen,
Ungluͤckbekaͤmpfende, heimathverlangende,
Weltberuͤhmte Griechenherzen.
Es wogten die Fluthen,
Sie wogten und brauſten,
Die Sonne goß eilig herunter
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Die ſpielenden Roſenlichter,
Die aufgeſcheuchten Moͤvenzuͤge
Flatterten fort, lautſchreyend,
Es ſtampften die Roſſe, es klirrten die Schilde,
Und weithin erſcholl es, wie Siegesruf:
Thalatta! Thalatta!
Sey mir gegruͤßt, du ewiges Meer,
Wie Sprache der Heimath rauſcht mir dein Waſſer,
Wie Traͤume der Kindheit ſeh 'ich es flimmern
Auf deinem wogenden Wellengebiet,
Und alte Erinn'rung erzaͤhlt mir auf's neue,
Von all dem lieben, herrlichen Spielzeug,
Von all den blinkenden Weihnachtsgaben,
Von all den rothen Corallenbaͤumen,
Goldfiſchchen, Perlen und bunten Muſcheln,
Die du geheimnißvoll bewahreſt
Dort unten im klaren Kriſtallhaus.
O! wie hab 'ich geſchmachtet in oͤder Fremde!
Gleich einer welken Blume
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In des Botanikers blecherner Kapſel,
Lag mir das Herz in der Bruſt;
Mir iſt, als ſaß ich winterlange,
Ein Kranker, in dunkler Krankenſtube,
Und nun verlaß ich ſie ploͤtzlich,
Und blendend ſtrahlt mir entgegen
Der ſchmaragdne Fruͤhling, der ſonnengeweckte,
Und es rauſchen die weißen Bluͤthenbaͤume,
Und die jungen Blumen ſchauen mich an,
Mit bunten, duftenden Augen,
Und es duftet und ſummt, und athmet und lacht,
Und im blauen Himmel ſingen die Voͤglein
Thalatta! Thalatta!
Du tapferes Ruͤckzugherz!
Wie oft, wie bitteroft
Bedraͤngten dich des Nordens Barbarinnen!
Aus großen, ſiegenden Augen
Schoſſen ſie brennende Pfeile;
Mit krummgeſchliffenen Worten
Drohten ſie mir die Bruſt zu ſpalten,
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Mit Keilſchriftbillets zerſchlugen ſie mir
Das arme, betaͤubte Gehirn
Vergebens hielt ich den Schild entgegen,
Die Pfeile ziſchten, die Hiebe krachten,
Und von des Nordens Barbarinnen
Ward ich gedraͤngt bis an's Meer,
Und freyaufathmend begruͤß 'ich das Meer,
Das liebe, rettende Meer,
Thalatta! Thalatta!
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II. Gewitter.

Dumpf liegt auf dem Meer 'das Gewitter,
Und durch die ſchwarze Wolkenwand
Zuckt der zackige Wetterſtrahl,
Raſch aufleuchtend und raſch verſchwindend,
Wie'n Witz aus dem Haupte Kronions.
Ueber das wuͤſte, wogende Waſſer
Weithin rollen die Donner
Und ſpringen die weißen Wellenroſſe,
Die Boreas ſelber gezeugt
Mit des Erichthons reizenden Stuten,
Und es flattert aͤngſtlich das Seegevoͤgel,
Wie Schattenleichen am Styx,
Die Charon abwies vom naͤchtlichen Kahn.
Armes, luſtiges Schifflein,
Das dort dahintanzt den ſchlimmſten Tanz!
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Aeolus ſchickt ihm die flinkſten Geſellen,
Die wild aufſpielen zum froͤhlichen Reigen;
Der Eine pfeift, der Andre blaͤſt,
Der Dritte ſtreicht den dumpfen Brummbaß
Und der ſchwankende Seemann ſteht am Steuer,
Und ſchaut beſtaͤndig nach der Buſſole,
Der zitternden Seele des Schiffes,
Und hebt die Haͤnde flehend zum Himmel:
O rette mich, Kaſtor, reiſiger Held,
Und Du, Kaͤmpfer der Fauſt, Polydeukes!
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III. Der Schiffbruͤchige.

Hoffnung und Liebe! Alles zertruͤmmert!
Und ich ſelber, gleich einer Leiche,
Die grollend ausgeworfen das Meer,
Lieg 'ich am Strande,
Am oͤden, kahlen Strande.
Vor mir woget die Waſſerwuͤſte,
Hinter mir liegt nur Kummer und Elend,
Und uͤber mich hin ziehen die Wolken,
Die formlos grauen Toͤchter der Luft,
Die aus dem Meer', in Nebeleimern,
Das Waſſer ſchoͤpfen,
Und es muͤhſam ſchleppen und ſchleppen,
Und es wieder verſchuͤtten in's Meer,
Ein truͤbes, langweil'ges Geſchaͤft,
Und nutzlos, wie mein eignes Leben.
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Die Wogen murmeln, die Moͤven ſchrillen,
Alte Erinn'rungen wehen mich an,
Vergeſſene Traͤume, erloſchene Bilder,
Qualvoll ſuͤße, tauchen hervor!
Es lebt ein Weib im Norden,
Ein ſchoͤnes Weib, koͤniglich ſchoͤn.
Die ſchlanke Zypreſſengeſtalt
Umſchließt ein luͤſtern weißes Gewand;
Die dunkle Lockenfuͤlle,
Wie eine ſelige Nacht, ergießt ſich
Von dem hohen, flechtengekroͤnten Haupte,
Sie ringelt ſich traͤumeriſch ſuͤß
Um das ſuͤße, blaſſe Antlitz;
Und aus dem ſuͤßen, blaſſen Antlitz,
Groß und gewaltig, ſtrahlt ein Auge,
Wie eine ſchwarze Sonne.
O, du ſchwarze Sonne, wie oft,
Entzuͤckend oft, trank ich aus dir
Die wilden Begeiſt'rungsflammen,
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Und ſtand und taumelte, feuerberauſcht
Dann ſchwebte ein taubenmildes Laͤcheln
Um die hochgeſchuͤrzten, ſtolzen Lippen,
Und die hochgeſchuͤrzten, ſtolzen Lippen
Hauchten Worte, ſuͤß wie Mondlicht
Und zart wie der Duft der Roſe
Und meine Seele erhob ſich
Und flog, wie ein Aar, hinauf in den Himmel!
Schweigt, ihr Wogen und Moͤven!
Voruͤber iſt Alles, Gluͤck und Hoffnung,
Hoffnung und Liebe! Ich liege am Boden,
Ein oͤder, ſchiffbruͤchiger Mann,
Und druͤcke mein gluͤhendes Antlitz
In den feuchten Sand.
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IV. Untergang der Sonne.

Die ſchoͤne Sonne
Iſt ruhig hinabgeſtiegen in's Meer;
Die wogenden Waſſer ſind ſchon gefaͤrbt
Von der dunkeln Nacht,
Nur noch die Abendroͤthe
Ueberſtreut ſie mit goldnen Lichtern,
Und die rauſchende Fluthgewalt
Draͤngt an's Ufer die weißen Wellen,
Die luſtig und haſtig huͤpfen,
Wie wollige Laͤmmerheerden,
Die Abends der ſingende Hirtenjunge
Nach Hauſe treibt.
Wie ſchoͤn iſt die Sonne!
So ſprach nach langem Schweigen der Freund,
Der mit mir am Strande wandelte,
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Und ſcherzend halb und halb wehmuͤthig,
Verſichert 'er mir: die Sonne ſey
Eine ſchoͤne Frau, die den alten Meergott
Aus Convenienz geheurathet;
Des Tages uͤber wandle ſie freudig
Am hohen Himmel, purpurgeputzt,
Und diamantenblitzend,
Und allgeliebt und allbewundert
Von allen Weltkreaturen,
Und alle Weltkreaturen erfreuend
Mit ihres Blickes Licht und Waͤrme;
Aber des Abends, troſtlos gezwungen,
Kehre ſie wieder zuruͤck
In das naſſe Haus, in die oͤden Arme
Des greiſen Gemahls.
Glaub mir's ſetzte hinzu der Freund,
Und lachte und ſeufzte und lachte wieder
Die fuͤhren dort unten die zaͤrtlichſte Ehe!
Entweder ſie ſchlafen oder ſie zanken ſich,
Daß hochaufbrauſt hier oben das Meer,
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Und der Schiffer im Wellengeraͤuſch es hoͤrt
Wie der Alte ſein Weib ausſchilt:
Runde Metze des Weltalls!
Strahlenbuhlende!
Den ganzen Tag gluͤhſt du fuͤr Andre,
Und Nachts, fuͤr Mich, biſt du froſtig und muͤde!
Nach ſolcher Gardienenpredigt,
Verſteht ſich! bricht dann aus in Thraͤnen
Die ſtolze Sonne und klagt ihr Elend,
Und klagt ſo jammerlang, daß der Meergott
Ploͤtzlich verzweiflungsvoll aus dem Bett ſpringt,
Und ſchnell nach der Meeresflaͤche heraufſchwimmt,
Um Luft und Beſinnung zu ſchoͤpfen.
So ſah ich ihn ſelbſt, verfloſſene Nacht,
Bis an die Bruſt dem Meer 'enttauchen.
Er trug eine Jacke von gelbem Flanell,
Und eine liljenweiße Schlafmuͤtz,
Und ein abgewelktes Geſicht.
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V. Der Geſang der Okeaniden.

Adendlich blaſſer wird es am Meere,
Und einſam, mit ſeiner einſamen Seele,
Sitzt dort ein Mann auf dem kahlen Strand,
Und ſchaut, todtkalten Blickes, hinauf
Nach der weiten, todtkalten Himmelswoͤlbung,
Und ſchaut auf das weite, wogende Meer,
Und uͤber das weite, wogende Meer,
Wie Luͤfteſegler, ziehn ſeine Seufzer,
Und kehren wieder, truͤbſelig,
Und hatten verſchloſſen gefunden das Herz,
Worin ſie ankern wollten
Und er ſtoͤhnt ſo laut, daß die weißen Moͤven,
Aufgeſcheucht aus den ſandigen Neſtern,
Ihn heerdenweiſ 'umflattern,
Und er ſpricht zu ihnen die lachenden Worte:
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Schwarzbeinigte Voͤgel,
Mit weißen Fluͤgeln Meer-uͤberflatternde
Mit krummen Schnaͤbeln Seewaſſer-ſaufende
Und thranigtes Robbenfleiſch-freſſende,
Eu'r Leben iſt bitter wie Eure Nahrung!
Ich aber, der Gluͤckliche, koſte nur Suͤßes!
Ich koſte den ſuͤßen Duft der Roſe,
Der Mondſchein-gefuͤtterten Nachtigallbraut;
Ich koſte noch ſuͤßere Joſty-Baiſers,
Mit weißer Seligkeit gefuͤllte;
Und das Allerſuͤßeſte koſt 'ich:
Suͤße Liebe und ſuͤßes Geliebtſeyn.
Sie liebt mich! Sie liebt mich! die holde
Jungfrau!
Jetzt ſteht ſie daheim, am Erker des Hauſes,
Und ſchaut in die Daͤmm'rung hinaus, auf die
Landſtraß '
Und horcht, und ſehnt ſich nach mir wahrhaftig!
Vergebens ſpaͤht ſie umher und ſie ſeufzet
Und ſeufzend ſteigt ſie hinab in den Garten,
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Und wandelt in Duft und Mondſchein,
Und ſpricht mit den Blumen, erzaͤhlet ihnen:
Wie ich, der Geliebte, ſo lieblich bin
Und ſo liebenswuͤrdig wahrhaftig!
Nachher im Bette, im Schlafe, im Traum,
Umgaukelt ſie ſelig mein theures Bild,
Sogar des Morgens, beim Fruͤhſtuͤck,
Auf dem glaͤnzenden Butterbrodte,
Sieht ſie mein laͤchelndes Antlitz,
Und ſie frißt es auf vor Liebe wahrhaftig!
Alſo prahlt er und prahlt er,
Und zwiſchendrein ſchrillen die Moͤven,
Wie kaltes, ironiſches Kichern;
Die Daͤmm'rungsnebel ſteigen herauf;
Aus violettem Gewoͤlk, unheimlich,
Schaut hervor der grasgelbe Mond;
Hochaufrauſchen die Meereswogen,
Und tief aus hochaufrauſchendem Meer,
Wehmuͤthig wie fluͤſternder Windzug,
Toͤnt der Geſang der Okeaniden,
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Der ſchoͤnen, mitleidigen Waſſerfrau'n,
Vor allen vernehmbar die liebliche Stimme
Der ſilberfuͤßigen Peleus-Gattinn,
Und ſie ſeufzen und ſingen:
O Thor, du Thor! du prahlender Thor!
Du kummergequaͤlter!
Dahingemordet ſind all deine Hoffnungen,
Die taͤndelnden Kinder des Herzens,
Und ach! dein Herz, dein Niobe-Herz
Verſteinert vor Gram!
In deinem Haupte wird's Nacht,
Und es zucken hindurch die Blitze des Wahnſinns,
Und du prahlſt vor Schmerzen!
O Thor, du Thor! du prahlender Thor!
Halsſtarrig biſt du wie dein Ahnherr,
Der hohe Titane, der himmliſches Feuer
Den Goͤttern ſtahl und den Menſchen gab,
Und Geyer-gequaͤlet, Felſen-gefeſſelt,
Olympauftrotzte und trotzte und ſtoͤhnte,
Daß wir es hoͤrten im tiefen Meer,
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Und zu ihm kamen mit Troſtgeſang.
O Thor, du Thor! du prahlender Thor!
Du aber biſt ohnmaͤchtiger noch,
Und es waͤre vernuͤnftig, du ehrteſt die Goͤtter,
Und truͤgeſt geduldig die Laſt des Elends,
Und truͤgeſt geduldig ſo lange, ſo lange,
Bis Atlas ſelbſt die Geduld verliert,
Und die ſchwere Welt von den Schultern abwirft
In die ewige Nacht.
So ſcholl der Geſang der Okeaniden,
Der ſchoͤnen, mitleidigen Waſſerfrau'n,
Bis lautere Wogen ihn uͤberrauſchten
Hinter die Wolken zog ſich der Mond,
Es gaͤhnte die Nacht,
Und ich ſaß noch lange im Dunkeln und weinte.
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VI. Die Goͤtter Griechenlands.

Vollbluͤhender Mond! In deinem Licht,
Wie fließendes Gold, erglaͤnzt das Meer;
Wie Tagesklarheit, doch daͤmmrig verzaubert,
Liegt's uͤber der weiten Strandesflaͤche;
Und am hellblau'n, ſternloſen Himmel
Schweben die weißen Wolken,
Wie koloſſale Goͤtterbilder
Von leuchtendem Marmor.
Nein, nimmermehr, das ſind keine Wolken!
Das ſind ſie ſelber, die Goͤtter von Hellas,
Die einſt ſo freudig die Welt beherrſchten,
Doch jetzt, verdraͤngt und verſtorben,
Als ungeheure Geſpenſter dahinziehn
Am mitternaͤchtlichen Himmel.
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Staunend, und ſeltſam geblendet, betracht 'ich
Das luftige Pantheon,
Die feyerlich ſtummen, grau'nhaft bewegten
Rieſengeſtalten.
Der dort iſt Kronion, der Himmelskoͤnig,
Schneeweiß ſind die Locken des Haupts,
Die beruͤhmten, olymposerſchuͤtternden Locken,
Er haͤlt in der Hand den erloſchenen Blitz,
In ſeinem Geſichte liegt Ungluͤck und Gram,
Und doch noch immer der alte Stolz.
Das waren beſſere Zeiten, o Zeus,
Als du dich himmliſch ergoͤtzteſt
An Knaben und Nymphen und Hekatomben!
Doch auch die Goͤtter regieren nicht ewig,
Die jungen verdraͤngen die alten,
Wie du einſt ſelber den greiſen Vater
Und deine Titanen-Oehme verdraͤngt,
Jupiter Parricida!
Auch dich erkenn' ich, ſtolze Here!
Trotz all deiner eiferſuͤchtigen Angſt,
Hat doch eine Andre das Zepter gewonnen,
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Und du biſt nicht mehr die Himmelskoͤn'gin,
Und dein großes Aug 'iſt erſtarrt,
Und deine Lilienarme ſind kraftlos,
Und nimmermehr trifft deine Rache
Die gottbefruchtete Jungfrau
Und den wunderthaͤtigen Gottesſohn.
Auch dich erkenn' ich, Pallas Athene!
Mit Schild und Weisheit konnteſt du nicht
Abwehren das Goͤtterverderben?
Auch dich erkenn 'ich, auch dich, Aphrodite,
Einſt die goldene! jetzt die ſilberne!
Zwar ſchmuͤckt dich noch immer des Guͤrtels Liebreiz;
Doch graut mir heimlich vor deiner Schoͤnheit,
Und wollt' mich begluͤcken dein guͤtiger Leib,
Wie andre Helden, ich ſtuͤrbe vor Angſt;
Als Leichengoͤttin erſcheinſt du mir,
Venus Libitina!
Nicht mehr mit Liebe ſchaut nach dir,
Dort, der ſchreckliche Ares.
Es ſchaut ſo traurig Phoͤbos Apollo,
Der Juͤngling. Es ſchweigt ſeine Ley'r,
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Die ſo freudig erklungen beim Goͤttermahl.
Noch trauriger ſchaut Hephaiſtos,
Und wahrlich, der Hinkende! nimmermehr
Faͤllt er Hebe'n in's Amt,
Und ſchenkt geſchaͤftig, in der Verſammlung,
Den lieblichen Nektar Und laͤngſt iſt erloſchen
Das unausloͤſchliche Goͤttergelaͤchter.
Ich hab 'Euch niemals geliebt, Ihr Goͤtter!
Denn widerwaͤrtig ſind mir die Griechen,
Und gar die Roͤmer ſind mir verhaßt.
Doch heil'ges Erbarmen und ſchauriges Mitleid
Durchſtroͤmt mein Herz,
Wenn ich Euch jetzt da droben ſchaue,
Verlaſſene Goͤtter,
Todte, nachtwandelnde Schatten,
Nebelſchwache, die der Wind verſcheucht
Und wenn ich bedenke, wie feig und windig
Die Goͤtter ſind, die Euch beſiegten,
Die neuen, herrſchenden, triſten Goͤtter,
Die Schadenfrohen im Schafspelz der Demuth
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O da faßt mich ein duͤſterer Groll,
Und brechen moͤcht' ich die neuen Tempel,
Und kaͤmpfen fuͤr Euch, Ihr alten Goͤtter,
Fuͤr Euch und Eu'r gutes, ambroſiſches Recht,
Und vor Euren hohen Altaͤren,
Den wiedergebauten, den opferdampfenden,
Moͤcht 'ich ſelber knien und beten,
Und flehend die Arme erheben
Denn, immerhin, Ihr alten Goͤtter,
Habt Ihr's auch eh'mals, in Kaͤmpfen der Menſchen,
Stets mit der Parthey der Sieger gehalten,
So iſt doch der Menſch großmuͤth'ger als Ihr,
Und in Goͤtterkaͤmpfen halt 'ich es jetzt
Mit der Parthey der beſiegten Goͤtter.
Alſo ſprach ich, und ſichtbar erroͤtheten
Droben die blaſſen Wolkengeſtalten,
Und ſchauten mich an wie Sterbende,
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Schmerzenverklaͤrt, und ſchwanden ploͤtzlich.
Der Mond verbarg ſich eben
Hinter Gewoͤlk, das dunkler heranzog;
Hochaufrauſchte das Meer,
Und ſiegreich traten hervor am Himmel
Die ewigen Sterne.
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VII. Fragen.

Am Meer, am wuͤſten, naͤchtlichen Meer
Steht ein Juͤngling-Mann,
Die Bruſt voll Wehmuth, das Haupt voll Zweifel,
Und mit duͤſtern Lippen fragt er die Wogen:
O loͤſ't mir das Raͤthſel des Lebens,
Das qualvoll uralte Raͤthſel,
Woruͤber ſchon manche Haͤupter gegruͤbelt,
Haͤupter in Hieroglyphenmuͤtzen,
Haͤupter in Turban und ſchwarzem Barett,
Peruͤckenhaͤupter und tauſend andre
Arme, ſchwitzende Menſchenhaͤupter
Sagt mir, was bedeutet der Menſch?
Woher iſt er kommen? Wo geht er hin?
Wer wohnt dort oben auf goldenen Sternen?
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Es murmeln die Wogen ihr ew'ges Gemurmel,
Es weht der Wind, es fliehen die Wolken,
Es blinken die Sterne, gleichguͤltig und kalt,
Und ein Narr wartet auf Antwort.
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VIII. Der Phoͤnix.

Es kommt ein Vogel geflogen aus Weſten,
Er fliegt gen Oſten,
Nach der oͤſtlichen Gartenheimath,
Wo Spezereyen duften und wachſen,
Und Palmen rauſchen und Brunnen kuͤhlen
Und fliegend ſingt der Wundervogel:
Sie liebt ihn! ſie liebt ihn!
Sie traͤgt ſein Bildniß im kleinen Herzen,
Und traͤgt es ſuͤß und heimlich verborgen,
Und weiß es ſelbſt nicht!
Aber im Traume ſteht er vor ihr,
Sie bittet und weint und kuͤßt ſeine Haͤnde,
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Und ruft ſeinen Namen,
Und rufend erwacht ſie und liegt erſchrocken,
Und reibt ſich verwundert die ſchoͤnen Augen
Sie liebt ihn! ſie liebt ihn!
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IX. Echo.

Am Maſtbaum gelehnt, auf dem hohen Verdeck,
Stand ich und hoͤrt 'ich des Vogels Geſang.
Wie ſchwarzgruͤne Roſſe mit ſilbernen Maͤhnen,
Sprangen die weißgekraͤuſelten Wellen,
Wie Schwaͤnenzuͤge ſchifften voruͤber,
Mit ſchimmernden Segeln, die Helgolander,
Die kecken Nomaden der Nordſee;
Ueber mein Haupt, im ewigen Blau,
Hinflatterte weißes Gewoͤlk
Und prangte die ewige Sonne,
Die Roſe des Himmels, die feuerbluͤhende,
Die freudvoll ſich im Meer beſpiegelte;
Und Himmel und Meer und mein eignes Herz
Ertoͤnten im Nachhall:
Sie liebt ihn! ſie liebt ihn!
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X. Seekrankheit.

Die grauen Nachmittagswolken
Senken ſich tiefer hinab auf das Meer,
Das ihnen dunkel entgegenſteigt,
Und zwiſchendurch jagt das Schiff.
Seekrank ſitz 'ich noch immer am Maſtbaum
Und mache Betrachtungen uͤber mich ſelber,
Uralte, aſchgraue Betrachtungen,
Die ſchon der Vater Loth gemacht,
Als er des Guten zu viel genoſſen,
Und ſich nachher ſo uͤbel befand.
Mitunter denk' ich auch alter Geſchichten:
Wie kreuzbezeichnete Pilger der Vorzeit,
Auf ſtuͤrmiſcher Meerfahrt, das troſtreiche Bildniß
Der heiligen Jungfrau glaͤubig kuͤßten;
Wie kranke Ritter, in ſolcher Seenoth,
Den lieben Handſchuh ihrer Dame
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An die Lippen preßten, gleichgetroͤſtet
Ich aber ſitze und kaue verdrießlich
Einen alten Heering, den ſalzigen Troͤſter
In Katzenjammer und Hundetruͤbſal!
Unterdeſſen kaͤmpft das Schiff
Mit der wilden, wogenden Fluth;
Wie'n baͤumendes Schlachtroß ſtellt es ſich jetzt
Auf das Hintertheil, daß das Steuer kracht,
Jetzt ſtuͤrzt es kopfuͤber wieder hinab
In den heulenden Waſſerſchlund,
Dann wieder, wie ſorglos liebematt,
Denkt es ſich hinzulegen
An den ſchwarzen Buſen der Rieſenwelle,
Die maͤchtig heranbrauſt,
Und ploͤtzlich, ein wuͤſter Meerwaſſerfall,
In weißem Gekraͤuſel zuſammenſtuͤrzt,
Und mich ſelbſt mit Schaum bedeckt.
Dieſes Schwanken und Schweben und Schaukeln
Iſt unertraͤglich!
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Vergebens ſpaͤht mein Auge und ſucht
Die deutſche Kuͤſte. Doch ach! nur Waſſer,
Und abermals Waſſer, bewegtes Waſſer!
Wie der Winterwandrer des Abends ſich ſehnt
Nach einer warmen, innigen Taſſe Thee,
So ſehnt ſich jetzt mein Herz nach dir,
Mein deutſches Vaterland!
Mag immerhin dein ſuͤßer Boden bedeckt ſeyn
Mit Wahnſinn, Huſaren, ſchlechten Verſen
Und Gemuͤthsdiarhee-verbreitenden,
Duͤnnen Traktaͤtchen;
Moͤgen immerhin deine Zebras
Mit Roſen ſich maͤſten ſtatt mit Diſteln;
Moͤgen immerhin deine noblen Affen
In muͤßigem Putz ſich vornehm ſpreitzen,
Und ſich beſſer duͤnken als all das andre
Banauſiſch ſchwerhinwandelnde Hornvieh;
Mag immerhin deine Schneckenverſammlung
Sich fuͤr unſterblich halten
Weil ſie ſo langſam dahinkriecht,
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Und mag ſie taͤglich Stimmen ſammeln
Ob den Maden des Kaͤſes der Kaͤſe gehoͤrt?
Und noch lange Zeit in Berathung ziehn,
Wie man die aͤgyptiſchen Schafe veredle,
Damit ihre Wolle ſich beſſ're
Und der Hirt ſie ſcheeren koͤnne wie Andre,
Ohn 'Unterſchied
Immerhin, mag Thorheit und Unrecht
Dich ganz bedecken, O Deutſchland!
Ich ſehne mich dennoch nach dir:
Denn wenigſtens biſt du doch feſtes Land.
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XI. Im Hafen.

Gluͤcklich der Mann, der den Hafen erreicht hat,
Und hinter ſich ließ das Meer und die Stuͤrme,
Und jetzo warm und ruhig ſitzt
Im guten Rathskeller zu Bremen.
Wie doch die Welt ſo traulich und lieblich
Im Roͤmerglas ſich wiederſpiegelt,
Und wie der wogende Mikrokosmus
Sonnig hinabfließt in's durſtige Herz!
Alles erblick 'ich im Glas,
Alte und neue Voͤlkergeſchichte,
Tuͤrken und Griechen, Hegel und Gans,
Zitronenwaͤlder und Wachtparaden,
Berlin und Schilda und Tunis und Hamburg,
Vor allem aber das Bild der Geliebten,
Das Engelkoͤpfchen auf Rheinweingoldgrund.
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O, wie ſchoͤn! wie ſchoͤn biſt du, Geliebte!
Du biſt wie eine Roſe!
Nicht wie die Roſe von Schiras,
Die hafisbeſungene Nachtigallbraut;
Nicht wie die Roſe von Saron,
Die heiligrothe, prophetengefeyerte;
Du biſt wie die Roſ 'im Rathskeller zu Bremen!
Das iſt die Roſe der Roſen,
Je aͤlter ſie wird, je lieblicher bluͤht ſie,
Und ihr himmliſcher Duft, er hat mich beſeligt,
Er hat mich begeiſtert, er hat mich berauſcht,
Und hielt mich nicht feſt, am Schopfe feſt,
Der Rathskellermeiſter von Bremen,
Ich waͤre gepurzelt!
Der brave Mann! Wir ſaßen beiſammen
Und tranken wie Bruͤder,
Wir ſprachen von hohen, heimlichen Dingen,
Wir ſeufzten und ſanken uns in die Arme,
Und er hat mich bekehrt zum Glauben der Liebe,
Ich trank auf das Wohl meiner bitterſten Feinde,
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Und allen ſchlechten Poeten vergab 'ich,
Wie einſt mir ſelber vergeben ſoll werden;
Ich weinte vor Andacht, und endlich
Erſchloſſen ſich mir die Pforten des Heils,
Wo die zwoͤlf Apoſtel, die heil'gen Stuͤckfaͤſſer,
Schweigend pred'gen, und doch ſo verſtaͤndlich
Fuͤr alle Voͤlker.
Das ſind Maͤnner!
Unſcheinbar von außen, in hoͤlzernen Roͤcklein,
Sind ſie von innen ſchoͤner und leuchtender,
Denn all die ſtolzen Leviten des Tempels,
Und des Herodes Trabanten und Hoͤflinge,
Die goldgeſchmuͤckten, die purpurgekleideten
Hab 'ich doch immer geſagt
Nicht unter ganz gemeinen Leuten,
Nein, in der allerbeſten Geſellſchaft,
Lebte beſtaͤndig der Koͤnig des Himmels.
Hallelujah! Wie lieblich umwehn mich
Die Palmen von Beth EI!
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Wie duften die Myrrhen von Hebron!
Wie rauſcht der Jordan und taumelt vor Freude!
Auch meine unſterbliche Seele taumelt,
Und ich taum'le mit ihr und taumelnd
Bringt mich die Treppe hinauf, an's Tagslicht,
Der brave Rathskellermeiſter von Bremen.
Du braver Rathskellermeiſter von Bremen!
Siehſt du, auf den Daͤchern der Haͤuſer ſitzen
Die Engel und ſind betrunken und ſingen;
Die gluͤhende Sonne dort oben
Iſt nur eine rothe betrunkene Naſe,
Und um die rothe Weltgeiſt-Naſe
Dreht ſich die ganze, betrunkene Welt.
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XII. Epilog.

Wie auf dem Felde die Weizenhalmen,
So wachſen und wogen im Menſchengeiſt
Die Gedanken.
Aber die zarten Gedanken der Liebe
Sind wie luſtig dazwiſchenbluͤhende,
Roth 'und blaue Blumen.
Roth 'und blaue Blumen!
Der muͤrriſche Schnitter verwirft Euch als nutzlos,
Hoͤlzerne Flegel zerdroͤſchen Euch hoͤhnend,
Sogar der habloſe Wandrer,
Den Eu'r Anblick ergoͤtzt und erquickt,
Schuͤttelt das Haupt,
Und nennt Euch ſchoͤnes Unkraut.
Aber die laͤndliche Jungfrau,
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Die Kraͤnzewinderin,
Verehrt Euch und pfluͤckt Euch
Und ſchmuͤckt mit Euch die ſchoͤnen Locken,
Und alſo geziert, eilt ſie zum Tanzplatz,
Wo Pfeifen und Geigen lieblich ertoͤnen,
Oder zur ſtillen Buche,
Wo die Stimme des Liebſten noch lieblicher toͤnt
Als Pfeifen und Geigen.
[41]

Die Nordſee. 1826. Dritte Abtheilung.

[42]

Motto: Varnhagen von Enſe's Biographiſche Denk¬ male 1 Th. S. 1. 2.

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(Geſchrieben auf der Inſel Norderney.)

Die Eingeborenen ſind meiſtens blutarm und leben vom Fiſchfang, der erſt im naͤchſten Monat, im October, bey ſtuͤrmiſchem Wetter, ſeinen Anfang nimmt. Viele dieſer Inſulaner dienen auch als Matroſen auf frem¬ den Kauffahrtheyſchiffen und bleiben jahrelang von Hauſe entfernt, ohne ihren Angehoͤrigen irgend eine Nachricht von ſich zukommen zu laſſen. Nicht ſelten finden ſie den Tod auf dem Waſſer. Ich habe einige arme Weiber auf44 der Inſel gefunden, deren ganze maͤnnliche Fa¬ milie ſolcher Weiſe umgekommen; was ſich leicht ereignet, da der Vater mit ſeinen Soͤhnen ge¬ woͤhnlich auf demſelben Schiffe zur See faͤhrt. Das Seefahren hat fuͤr dieſe Menſchen einen großen Reiz; und dennoch glaube ich, daheim iſt ihnen allen am wohlſten zu Muthe. Sind ſie auch auf ihren Schiffen ſogar nach jenen ſuͤdlichen Laͤndern gekommen, wo die Sonne bluͤhender und der Mond romantiſcher leuchtet, ſo koͤnnen doch alle Blumen dort nicht den Leck ihres Herzens ſtopfen, und mitten in der duf¬ tigen Heimath des Fruͤhlings, ſehnen ſie ſich wieder zuruͤck nach ihrer Sandinſel, nach ihren kleinen Huͤtten, nach dem flackernden Heerde, wo die Ihrigen, wohlverwahrt in wollnen Jak¬ ken, herumkauern, und einen Thee trinken, der ſich von gekochtem Seewaſſer nur durch den Na¬ men unterſcheidet, und eine Sprache ſchwatzen, wovon kaum begreiflich ſcheint, wie es ihnen ſelber moͤglich iſt, ſie zu verſtehen.

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Was dieſe Menſchen ſo feſt und genuͤgſam zuſammenhaͤlt, iſt nicht ſo ſehr das innig myſtiſche Gefuͤhl der Liebe, als vielmehr die Gewohnheit, das naturgemaͤße Ineinander-Hin¬ uͤberleben, die gemeinſchaftliche Unmittelbarkeit. Gleiche Geiſteshoͤhe, oder beſſer geſagt Geiſtes¬ niedrigkeit, daher gleiche Beduͤrfniſſe und glei¬ ches Streben; gleiche Erfahrungen und Geſin¬ nungen, daher leichtes Verſtaͤndniß unter einan¬ der; und ſie ſitzen vertraͤglich am Feuer in den kleinen Huͤtten, ruͤcken zuſammen wenn es kalt wird, an den Augen ſehen ſie ſich ab, was ſie denken, die Worte leſen ſie ſich von den Lip¬ pen ehe ſie geſprochen worden, alle gemeinſa¬ men Lebensbeziehungen ſind ihnen im Gedaͤcht¬ niſſe, und durch einen einzigen Laut, eine ein¬ zige Miene, eine einzige ſtumme Bewegung erregen ſie unter einander ſo viel Lachen, oder Weinen oder Andacht, wie wir bey unſeres Gleichen erſt durch lange Expoſizionen, Expee¬ torazionen und Declamazionen hervorbringen46 koͤnnen. Denn Wir leben im Grunde geiſtig einſam, durch eine beſondere Erziehungsmethode oder zufaͤlliggewaͤhlte, beſondere Lektuͤre hat jeder von uns eine verſchiedene Charakterrich¬ tung empfangen, jeder von uns, geiſtig ver¬ larvt, denkt, fuͤhlt und ſtrebt anders als die Andern, und des Mißverſtaͤndniſſes wird ſo viel, und ſelbſt in weiten Haͤuſern wird das Zuſam¬ menleben ſo ſchwer, und wir ſind uͤberall be¬ engt, uͤberall fremd, und uͤberall in der Fremde.

In jenem Zuſtande der Gedanken - und Ge¬ fuͤhlsgleichheit, wie wir ihn bey unſeren Inſula¬ nern ſehen, lebten oft ganze Voͤlker und haben oft ganze Zeitalter gelebt. Die roͤmiſch chriſtliche Kirche im Mittelalter hat vielleicht einen ſolchen Zuſtand in den Corporazionen des ganzen Eu¬ ropa begruͤnden wollen, und nahm deßhalb alle Lebensbeziehungen, alle Kraͤfte und Erſcheinun¬ gen, den ganzen phyſiſchen und moraliſchen Menſchen unter ihre Vormundſchaft. Es laͤßt ſich nicht laͤugnen, daß viel ruhiges Gluͤck da¬47 durch gegruͤndet ward und das Leben warm-in¬ niger bluͤhte, und die Kuͤnſte, wie ſtill hervorge¬ wachſene Blumen, jene Herrlichkeit entfalteten, die wir noch jetzt anſtaunen, und mit all un¬ ſerem haſtigen Wiſſen nicht nachahmen koͤnnen. Aber der Geiſt hat ſeine ewigen Rechte, er laͤßt ſich nicht eindaͤmmen durch Satzungen und nicht einlullen durch Glockengelaͤute; er zerbrach ſeinen Kerker und zerriß das eiſerne Gaͤngelband, woran ihn die Mutterkirche leitete, und er jagte im Befreyungstaumel uͤber die ganze Erde, erſtieg die hoͤchſten Gipfel der Berge, jauchzte vor Ue¬ bermuth, gedachte wieder uralter Zweifel, gruͤ¬ belte uͤber die Wunder des Tages, und zaͤhlte die Sterne der Nacht. Wir kennen noch nicht die Zahl der Sterne, die Wunder des Tages haben wir noch nicht entraͤthſelt, die alten Zwei¬ fel ſind maͤchtig geworden in unſerer Seele iſt jetzt mehr Gluͤck darin als ehemals? Wir wiſſen, daß dieſe Frage, wenn ſie den großen Hau¬ fen betrifft, nicht leicht bejaht werden kann; aber48 wir wiſſen auch, daß ein Gluͤck, das wir der Luͤge verdanken, kein wahres Gluͤck iſt, und daß wir, in den einzelnen zerriſſenen Momenten eines gottgleicheren Zuſtandes, einer hoͤheren Geiſteswuͤrde, mehr Gluͤck empfinden koͤnnen, als in den lang hinvegetirten Jahren eines dumpfen Koͤhlerglaubens.

Auf jeden Fall war jene Kirchenherrſchaft eine Unterjochung der ſchlimmſten Art. Wer buͤrgte uns fuͤr die gute Abſicht, wie ich ſie eben ausgeſprochen? Wer kann beweiſen, daß ſich nicht zuweilen eine ſchlimme Abſicht beymiſchte? Rom wollte immer herrſchen, und als ſeine Le¬ gionen fielen, ſandte es Dogmen in die Provin¬ zen. Wie eine Rieſenſpinne ſaß Rom im Mit¬ telpunkte der lateiniſchen Welt und uͤberzog ſie mit ſeinem unendlichen Gewebe. Generationen der Voͤlker lebten darunter ein beruhigtes Leben, indem ſie das fuͤr einen nahen Himmel hielten, was bloß roͤmiſches Gewebe war; nur der hoͤ¬ herſtrebende Geiſt, der dieſes Gewebe durch¬49 ſchaute, fuͤhlte ſich beengt und elend, und wenn er hindurch brechen wollte, erhaſchte ihn leicht die ſchlaue Weberin, und ſog ihm das kuͤhne Blut aus dem Herzen; Und war das Traum¬ gluͤck der bloͤden Menge nicht zu theuer erkauft fuͤr ſolches Blut? Die Tage der Geiſtesknecht¬ ſchaft ſind voruͤber; alterſchwach, zwiſchen den gebrochenen Saͤulen ihres Coliſaͤums, ſitzt die alte Kreuzſpinne, und ſpinnt noch immer das alte Gewebe, aber es iſt matt und morſch, und es verfangen ſich darin nur Schmetterlinge und Fledermaͤuſe, und nicht mehr die Stein¬ adler des Nordens.

Es iſt doch wirklich belaͤchelnswerth, waͤhrend ich im Begriff bin, mich ſo recht wohlwollend uͤber die Abſichten der roͤmiſchen Kirche zu verbreiten, erfaßt mich ploͤtzlich der angewoͤhnte proteſtantiſche Eifer, der ihr immer das Schlimmſte zumuthet; und eben dieſer Mei¬ nungszwieſpalt in mir ſelbſt giebt mir wieder ein Bild von der Zerriſſenheit der Denkweiſe450unſerer Zeit. Was wir geſtern bewundert, haſ¬ ſen wir heute, und morgen vielleicht verſpotten wir es mit Gleichguͤltigkeit.

Auf einem gewiſſen Standpunkte iſt alles gleich groß und gleich klein, und an die großen Europaͤiſchen Zeitverwandlungen werde ich erin¬ nert, indem ich den kleinen Zuſtand unſerer ar¬ men Inſulaner betrachte. Auch dieſe ſtehen an der Grenze einer ſolchen neuen Zeit, und ihre alte Sinneseinheit und Einfalt wird geſtoͤrt durch das Gedeihen des hieſigen Seebades, in¬ dem ſie deſſen Gaͤſten etwas Neues ablauſchen, was ſie nicht mit ihrer altherkoͤmmlichen Lebens¬ weiſe zu vereinen wiſſen. Stehen ſie des Abends vor den erleuchteten Fenſtern des Converſa¬ zionshauſes, und betrachten dort die Verhand¬ lungen der Herren und Damen, die verſtaͤnd¬ lichen Blicke, die begehrlichen Grimaſſen, das luͤſterne Tanzen, das vergnuͤgte Schmauſen, das habſuͤchtige Spielen u. ſ. w. ſo bleibt dieſes nicht ohne ſchlimme Folgen fuͤr dieſe Menſchen,51 die von dem Geldgewinn, der ihnen durch die Badeanſtalt zufließt, nimmermehr aufgewogen werden. Dieſes Geld reicht nicht hin fuͤr die eindringenden, neuen Beduͤrfniſſe; daher in¬ nere Lebensſtoͤrung, ſchlimmer Anreiz, großer Schmerz. Als ich ein Knabe war, fuͤhlte ich immer eine brennende Sehnſucht, wenn ſchoͤn¬ gebackene Torten, wovon ich nichts bekommen ſollte, duftig-offen, bey mir voruͤbergetragen wurden; ſpaͤterhin ſtachelte mich daſſelbe Ge¬ fuͤhl, wenn ich modiſch entbloͤßte, ſchoͤne Da¬ men vorbeyſpatzieren ſah; und ich denke jetzt die armen Inſulaner, die noch in einem Kind¬ heitszuſtande leben, haben hier oft Gelegenheit zu aͤhnlichen Empfindungen, und es waͤre gut, wenn die Eigenthuͤmer der ſchoͤnen Torten und Frauen ſolche etwas mehr verdeckten. Dieſe vie¬ len unbedeckten Delikateſſen, woran jene Leute nur die Augen weiden koͤnnen, muͤſſen ihren Ap¬ petit ſehr ſtark wecken, und wenn die armen Inſulanerinnen, in ihrer Schwangerſchaft, aller¬52 ley ſuͤßgebackene Geluͤſte bekommen, und am Ende ſogar Kinder gebaͤren, die den Badegaͤ¬ ſten aͤhnlich ſehen, ſo iſt das leicht zu erklaͤren. Ich will hier durchaus auf kein unſittliches Verhaͤltniß anſpielen. Die Tugend der Inſu¬ lanerinnen wird durch ihre Haͤßlichkeit, und gar beſonders durch ihren Fiſchgeruch, der mir we¬ nigſtens unertraͤglich war, vor der Hand ge¬ ſchuͤtzt. Auch hat man, fuͤr die Badezeit, eine Perſon vom feſten Lande hierher verpflanzt, die alle Suͤnden der fremden Gaͤſte in ſich aufnehmen, und dadurch die Inſulanerinnen vor allen ſchlimmen Einfluͤſſen ſichern ſoll. Allein, das iſt eine ſchlechte Maßregel, die nicht fuͤr eine kleine Inſel, ſondern allenfalls fuͤr eine große Seeſtadt paßt, wo die oͤffentlichen Per¬ ſonen gleichſam die Bollwerke und Blitzablei¬ ter ſind, wodurch die Moralitaͤt der Buͤrgers¬ toͤchter geſchuͤtzt wird; wie man mir denn wirklich in Hamburg ein breites Weibsbild ge¬ zeigt hat, das ſolchermaßen den halben Wand¬53 rahm deckt, ſo wie auch eine lange, magere Blitzableiterin, wodurch die große Johannis¬ ſtraße im Sommer geſichert wird.

Wie geſagt, die Tugend der Inſulanerin¬ nen iſt vor der Hand geſchuͤtzt, und wenn ſie Kinder mit badegaͤſtlichen Geſichtern zur Welt bringen, ſo erklaͤrt ſich dieſes aus jenen pſycho¬ logiſchen Geſetzen, die Goethe in den Wahl¬ verwandtſchaften ſo ſchoͤn entwickelt. Wie viele raͤthſelhafte Naturerſcheinungen ſich durch jene Geſetze erklaͤren laſſen, iſt erſtaunlich. Als ich voriges Jahr, durch Seeſturm, nach einer an¬ deren oſtfrieſiſchen Inſel verſchlagen wurde, ſah ich dort in einer Schifferhuͤtte einen ſchlechten Kupferſtich haͤngen, la tentation du vieillard uͤberſchrieben, und einen Greis darſtellend, der in ſeinen Studien geſtoͤrt wird durch die Erſcheinung eines nackten Weibes, das bis an die Huͤften aus einer Wolke hervortaucht; und ſonderbar! die Tochter des Schiffers hatte daſſelbe luͤſterne Mopsgeſicht wie das Weib auf54 jenem Bilde. Um ein anderes Beyſpiel zu er¬ waͤhnen: im Hauſe eines Geldwechſlers, deſſen geſchaͤftfuͤhrende Frau das Gepraͤge der Muͤn¬ zen immer am ſorgfaͤltigſten betrachtet, fand ich, daß die Kinder in ihren Geſichtern eine er¬ ſtaunliche Aehnlichkeit hatten mit den groͤßten Monarchen Europa's, und wenn ſie alle bey¬ ſammen waren und mit einander ſtritten, glaubte ich einen kleinen Congreß zu ſehen.

Deßhalb iſt das Gepraͤge der Muͤnzen kein gleichguͤltiger Gegenſtand fuͤr den Politiker. Da die Leute das Geld ſo innig lieben und ge¬ wiß liebevoll betrachten, ſo bekommen die Kin¬ der ſehr oft die Zuͤge des Landesfuͤrſten, der darauf gepraͤgt iſt, und der arme Fuͤrſt kommt in den Verdacht, der Vater ſeiner Untertha¬ nen zu ſeyn. Die Bourbonen haben ihre guten Gruͤnde, die Napoleonsd'or einzuſchmelzen; ſie wollen nicht mehr unter ihren Franzoſen ſo viele Napoleonskoͤpfe ſehen. Preußen hat es in der Muͤnzpolitik am weiteſten gebracht, man55 weiß es dort, durch eine verſtaͤndige Bey¬ miſchung von Kupfer, ſo einzurichten, daß die Wangen des Koͤnigs auf der neuen Scheide¬ muͤnze gleich roth werden, und ſeit einiger Zeit haben daher die Kinder in Preußen ein weit geſuͤnderes Anſehen als fruͤherhin, und es iſt ordentlich eine Freude, wenn man ihre bluͤhen¬ den Silbergroſchengeſichtchen betrachtet.

Ich habe, indem ich das Sittenverderbniß andeutete, womit die Inſulaner hier bedroht ſind, ihre geiſtliche Schutzwehr, Paſtor und Kirche, unerwaͤhnt gelaſſen. Erſterer iſt ein ſtarker Mann mit einem großen Kopfe, ſcheint weder den Nazionalismus noch den Myſtizis¬ mus erfunden zu haben, und ſein groͤßtes Ver¬ dienſt iſt, daß bey ihm eine der ſchoͤnſten Frauen dieſer Welt logirt hat. Wie ſeine Kirche ausſieht, kann ich nicht genau berichten, da ich noch nicht darin geweſen. Gott weiß, daß ich ein guter Chriſt bin, und oft ſogar im Begriff ſtehe, ſein Haus zu beſuchen, aber56 ich werde immer fatalerweiſe daran verhindert, es findet ſich gewoͤhnlich ein Schwaͤtzer, der mich auf dem Wege feſthaͤlt, und gelange ich auch einmal bis an die Pforten des Tem¬ pels, ſo erfaßt mich unverſehens eine ſpa߬ hafte Stimmung, und dann halte ich es fuͤr ſuͤndhaft, hineinzutreten. Vorigen Sonntag begegnete mir etwas der Art, indem mir vor der Kirchthuͤre die Stelle aus Goethes Fauſt in den Kopf kam, wo dieſer mit dem Me¬ phiſtopheles bey einem Kreuze voruͤbergeht und ihn fragt:

Mephiſto, haſt du Eil?
Was ſchlaͤgſt vor'm Kreuz die Augen nieder?

Und worauf Mephiſtopheles antwortet:

Ich weiß es wohl, es iſt ein Vorurtheil;
Allein es iſt mir mahl zuwider.

Dieſe Verſe ſind, ſo viel ich weiß, in kei¬ ner Ausgabe des Fauſts gedruckt, und bloß der ſel. Hofrath Moritz, der ſie aus Goethes57 Manuſcript kannte, theilt ſie mit in ſeinem Philipp Reiſer, einem ſchon verſchollenen Ro¬ mane, der die Geſchichte des Verfaſſers ent¬ haͤlt, oder vielmehr die Geſchichte einiger hun¬ dert Thaler, die der Verfaſſer nicht hatte, und wodurch ſein ganzes Leben eine Reihe von Ent¬ behrungen und Entſagungen wurde, waͤhrend doch ſeine Wuͤnſche nichts weniger als unbe¬ ſcheiden waren, wie z. B. ſein Wunſch, nach Weimar zu gehen, und bey dem Dichter des Werthers Bedienter zu werden, unter welchen Bedingungen es auch ſey, um nur in der Naͤhe Desjenigen zu leben, der von allen Menſchen auf Erden den ſtaͤrkſten Eindruck auf ſein Ge¬ muͤth gemacht hatte.

Wunderbar! damals ſchon erregte Goethe eine ſolche Begeiſterung, und doch iſt erſt unſer drittes nachwachſendes Geſchlecht im Stande, ſeine wahre Groͤße zu begreifen.

Aber dieſes Geſchlecht hat auch Menſchen hervorgebracht, in deren Herzen nur faules58 Waſſer ſintert, und die daher in den Herzen Anderer alle Springquellen eines friſchen Blu¬ tes verſtopfen moͤchten, Menſchen von erloſche¬ ner Genußfaͤhigkeit, die das Leben verlaͤumden, und Anderen alle Herrlichkeit dieſer Welt ver¬ leiden wollen, indem ſie ſolche als die Lock¬ ſpeiſen ſchildern, die der Boͤſe bloß zu unſerer Verſuchung hingeſtellt habe, gleichwie eine pfiffige Hausfrau die Zuckerdoſe, mit den gezaͤhlten Stuͤckchen Zucker, in ihrer Abwe¬ ſenheit offen ſtehen laͤßt, um die Enthalt¬ ſamkeit der Magd zu pruͤfen; und dieſe Men¬ ſchen haben einen Tugendpoͤbel um ſich verſam¬ melt, und predigen ihm das Kreuz gegen den großen Heiden und gegen ſeine nackten Goͤtter¬ geſtalten, die ſie gern durch ihre vermummten dummen Teufel erſetzen moͤchten.

Das Vermummen iſt ſo recht ihr hoͤchſtes Ziel, das Nacktgoͤttliche iſt ihnen fatal, und ein Satyr hat immer ſeine guten Gruͤnde, wenn er Hoſen anzieht und darauf dringt, daß59 auch Apollo Hoſen anziehe. Die Leute nennen ihn dann einen ſittlichen Mann, und wiſſen nicht, daß in dem Clauren-Laͤcheln eines ver¬ mummten Satyrs mehr Anſtoͤßiges liegt, als in der ganzen Nacktheit eines Wolfgang Apollo, und daß juſt in den Zeiten, wo die Menſchheit jene Pluderhoſen trug, wozu ſechzig Ellen Zeug noͤthig waren, die Sitten nicht anſtaͤndiger ge¬ weſen ſind als jetzt.

Aber werden es mir nicht die Damen uͤbel nehmen, daß ich Hoſen, ſtatt Beinkleider, ſage? O, uͤber das Feingefuͤhl der Damen! Am Ende werden nur Eunuchen fuͤr ſie ſchreiben duͤrfen, und ihre Geiſtesdiener im Occident werden ſo harmlos ſeyn muͤſſen, wie ihre Leibdiener im Orient.

Hier kommt mir ins Gedaͤchtniß eine Stelle aus Bertholds Tagebuch:

Wenn wir es recht uͤberdenken, ſo ſtecken wir doch alle nackt in unſeren Kleidern, ſagte der Doktor M. zu einer Dame, die ihm60 eine etwas derbe Aeußerung uͤbel genommen hatte.

Der hannoͤvriſche Adel iſt mit Goethe ſehr unzufrieden, und behauptet: er verbreite Irre¬ ligioſitaͤt, und dieſe koͤnne leicht auch falſche politiſche Anſichten hervorbringen, und das Volk muͤſſe doch durch den alten Glauben zur alten Beſcheidenheit und Maͤßigung zuruͤckgefuͤhrt wer¬ den. Auch hoͤrte ich in der letzten Zeit viel diskutiren: ob Goethe groͤßer ſey als Schiller, oder umgekehrt. Ich ſtand neulich hinter dem Stuhle einer Dame, der man ſchon von hinten ihre vier und ſechzig Ahnen anſehen konnte, und hoͤrte uͤber jenes Thema einen eifrigen Dis¬ kurs zwiſchen ihr und zwey hannoͤvriſchen No¬ bilis, deren Ahnen ſchon auf dem Zodiakus von Dendera abgebildet ſind, und wovon der Eine, ein langmagerer, queckſilbergefuͤllter Juͤngling, der wie ein Barometer ausſah, die Schillerſche Tugend und Reinheit pries, waͤhrend der An¬ dre, ebenfalls ein langaufgeſchoſſener Juͤngling,61 einige Verſe aus der Wuͤrde der Frauen hinlispelte und dabey ſo ſuͤß laͤchelte, wie ein Eſel, der den Kopf in ein Syropfaß geſteckt hatte und ſich wohlgefaͤllig die Schnautze ab¬ leckt. Beide Juͤnglinge verſtaͤrkten ihre Be¬ hauptungen beſtaͤndig mit dem betheuernden Refrain: Er iſt doch groͤßer, Er iſt wirklich groͤßer, wahrhaftig, Er iſt groͤßer, ich verſichere Sie auf Ehre, Er iſt groͤßer. Die Dame war ſo guͤtig, auch mich in dieſes aͤſthetiſche Geſpraͤch zu ziehen, und fragte: Doctor, was halten Sie von Goethe? Ich aber legte meine Arme kreuzweis auf die Bruſt, beugte glaͤubig das Haupt, und ſprach: La illah ill allah, wamohammed raſul allah!

Die Dame hatte, ohne es ſelbſt zu wiſſen, die allerſchlaueſte Frage gethan. Man kann ja einen Mann nicht geradezu fragen: was denkſt du von Himmel und Erde? was ſind deine Anſichten uͤber Menſchen und Menſchen¬ leben? biſt du ein vernuͤnftiges Geſchoͤpf oder62 ein dummer Teufel? Dieſe delikaten Fragen liegen aber alle in den unverfaͤnglichen Worten: Was halten Sie von Goethe? Denn, indem uns Allen Goethes Werke vor Augen liegen, ſo koͤnnen wir das Urtheil, das Jemand daruͤber faͤllt, mit dem unſrigen ſchnell vergleichen, wir bekommen dadurch einen feſten Maaßſtab, wo¬ mit wir gleich alle ſeine Gedanken und Ge¬ fuͤhle meſſen koͤnnen, und er hat unbewußt ſein eignes Urtheil geſprochen. Wie aber Goethe, auf dieſe Weiſe, weil er eine gemeinſchaftliche Welt iſt, die der Betrachtung eines jeden offen liegt, uns das beſte Mittel wird, um die Leute kennen zu lernen, ſo koͤnnen wir wiederum Goe¬ the ſelbſt am beſten kennen lernen, durch ſein eignes Urtheil uͤber Gegenſtaͤnde, die uns allen vor Augen liegen, und woruͤber uns ſchon die bedeutendſten Menſchen ihre Anſichten mitge¬ theilt haben. In dieſer Hinſicht moͤchte ich am liebſten auf Goethe's italieniſche Reiſe hindeuten, indem wir alle, entweder durch eigne Betrach¬63 tung oder durch fremde Vermittelung, das Land Italien kennen, und dabey ſo leicht bemerken, wie jeder daſſelbe mit ſubjektiven Augen anſieht, dieſer mit Archenhoͤlzern unmuthigen Augen, die nur das Schlimme ſehen, jener mit begeiſter¬ ten Corinna-Augen, die uͤberall nur das Herrliche ſehen, waͤhrend Goethe, mit ſeinem klaren Griechenauge, Alles ſieht, das Dunkle und das Helle, nirgends die Dinge mit ſeiner Gemuͤthsſtimmung kolorirt, und uns Land und Menſchen ſchildert, in den wahren Umriſſen und wahren Farben, womit ſie Gott umkleidet.

Das iſt ein Verdienſt Goethes, das erſt ſpaͤ¬ tere Zeiten erkennen werden; denn wir, die wir meiſt alle krank ſind, ſtecken viel zu ſehr in unſeren kranken, zerriſſenen, romantiſchen Gefuͤhlen, die wir aus allen Laͤndern und Zeit¬ altern zuſammengeleſen, als daß wir unmittel¬ bar ſehen koͤnnten, wie geſund, einheitlich und plaſtiſch ſich Goethe in ſeinen Werken zeigt. Er ſelbſt merkt es eben ſo wenig; in ſeiner naiven64 Unbewußtheit des eignen Vermoͤgens wundert er ſich, wenn man ihm ein gegenſtaͤndliches Denken zuſchreibt, und indem er durch ſeine Selbſtbiographie uns ſelbſt eine kritiſche Bey¬ huͤlfe zum Beurtheilen ſeiner Werke geben will, liefert er doch keinen Maaßſtab der Beurthei¬ lung an und fuͤr ſich, ſondern nur neue Facta, woraus man ihn beurtheilen kann, wie es ja natuͤrlich iſt, daß kein Vogel uͤber ſich ſelbſt hin¬ auszufliegen vermag.

Spaͤtere Zeiten werden, außer jenem Ver¬ moͤgen des plaſtiſchen Anſchauens, Fuͤhlens und Denkens, noch vieles in Goethe entdecken, wo¬ von wir jetzt keine Ahnung haben. Die Werke des Geiſtes ſind wenig feſtſtehend, aber die Kri¬ tik iſt etwas wandelbares, ſie geht hervor aus den Anſichten der Zeit, hat nur fuͤr dieſe ihre Bedeutung, und wenn ſie nicht ſelbſt kunſt¬ werthlicher Art iſt, wie z. B. die Schlegelſche ſo geht ſie mit ihrer Zeit zu Grabe. Jedes Zeitalter, wenn es neue Ideen bekoͤmmt, be¬65 koͤmmt auch neue Augen, und ſieht gar viel Neues in den alten Geiſteswerken. Ein Schu¬ barth ſieht jetzt in der Ilias etwas anderes und viel mehr, als ſaͤmmtliche Alexandriner; dagegen werden einſt Kritiker kommen, die viel mehr als Schubarth in Goethe ſehen.

So haͤtte ich mich dennoch an Goethe feſt¬ geſchwatzt! Aber ſolche Abſchweifungen ſind ſehr natuͤrlich, wenn einem, wie auf dieſer Inſel, beſtaͤndig das Meergeraͤuſch in die Ohren droͤhnt und den Geiſt nach Belieben ſtimmt.

Es geht ein ſtarker Nordoſtwind, und die Hexen haben wieder viel Unheil im Sinne. Man hegt hier naͤmlich wunderliche Sagen von Hexen, die den Sturm zu beſchwoͤren wiſſen; wie es denn uͤberhaupt auf allen nordiſchen Meeren viel Aberglauben giebt. Die Seeleute behaupten, manche Inſel ſtehe unter der gehei¬ men Herrſchaft ganz beſonderer Hexen, und dem boͤſen Willen derſelben ſey es zuzuſchrei¬ ben, wenn den vorbeyfahrenden Schiffen aller¬566ley Widerwaͤrtigkeiten begegnen. Als ich vori¬ ges Jahr einige Zeit auf der See lag, erzaͤhlte mir der Steuermann unſeres Schiffes: die Hexen waͤren beſonders maͤchtig auf der Inſel Wight, und ſuchten jedes Schiff, das bey Tage dort vorbeyfahren wolle, bis zur Nachtzeit aufzuhal¬ ten, um es alsdann an Klippen oder an die Inſel ſelbſt zu treiben. In ſolchen Faͤllen hoͤre man dieſe Hexen ſo laut durch die Luft ſauſen und um das Schiff herumheulen, daß der Kla¬ botermann ihnen nur mit vieler Muͤhe wider¬ ſtehen koͤnne. Als ich nun fragte: wer der Kla¬ botermann ſey? antwortete der Erzaͤhler ſehr ernſthaft: Das iſt der gute, unſichtbare Schutz¬ patron der Schiffe, der da verhuͤtet, daß den treuen und ordentlichen Schiffern Ungluͤck be¬ gegne, der da uͤberall ſelbſt nachſieht, und ſo¬ wohl fuͤr die Ordnung wie fuͤr die gute Fahrt ſorgt. Der wackere Steuermann verſicherte mit etwas heimlicherer Stimme: ich koͤnne ihn ſel¬ ber ſehr gut im Schiffsraume hoͤren, wo er die67 Waaren gern noch beſſer nachſtaue, daher das Knarren der Faͤſſer und Kiſten, wenn das Meer hoch gehe, daher bisweilen das Droͤhnen unſerer Balken und Bretter; oft haͤmmere der Klabo¬ termann auch außen am Schiffe, und das gelte dann dem Zimmermanne, der dadurch gemahnt werde, eine ſchadhafte Stelle ungeſaͤumt aus¬ zubeſſern; am liebſten aber ſetze er ſich auf das Bramſegel, zum Zeichen, daß guter Wind wehe oder ſich nahe. Auf meine Frage: ob man ihn nicht ſehen koͤnne? erhielt ich zur Antwort: Nein, man ſaͤhe ihn nicht, auch wuͤnſche keiner ihn zu ſehen, da er ſich nur dann zeige, wenn keine Rettung mehr vorhanden ſey. Einen ſol¬ chen Fall hatte zwar der gute Steuermann noch nicht ſelbſt erlebt, aber von Andern wollte er wiſſen: den Klabotermann hoͤre man alsdann vom Bramſegel herab mit den Geiſtern ſpre¬ chen, die ihm unterthan ſind; doch wenn der Sturm zu ſtark und das Scheitern unvermeid¬ lich wuͤrde, ſetze er ſich auf das Steuer, zeige68 ſich da zum erſtenmal und verſchwinde, indem er das Steuer zerbraͤche diejenigen aber, die ihn in dieſem furchtbaren Augenblick ſaͤhen, faͤn¬ den gleich darauf den Tod in den Wellen.

Der Schiffskapitain, der dieſer Erzaͤhlung mit zugehoͤrt hatte, laͤchelte ſo fein, wie ich ſeinem rauhen, Wind - und Wetterdienenden Ge¬ ſichte nicht zugetraut haͤtte, und nachher ver¬ ſicherte er mir: vor funfzig und gar vor hun¬ dert Jahren ſey auf dem Meere der Glaube an den Klabotermann ſo ſtark geweſen, daß man bey Tiſche immer auch ein Gedeck fuͤr denſelben aufgelegt und von jeder Speiſe, etwa das Beſte, auf ſeinen Teller gelegt habe, ja, auf einigen Schiffen geſchaͤhe das noch jetzt.

Ich gehe hier oft am Strande ſpatzieren und gedenke ſolcher ſeemaͤnniſchen Wunderſagen. Die anziehendſte derſelben iſt wohl die Ge¬ ſchichte vom fliegenden Hollaͤnder, den man im Sturm mit aufgeſpannten Segeln vorbeyfahren ſieht, und der zuweilen ein Boot ausſetzt, um69 den begegnenden Schiffern allerley Briefe mitzu¬ geben, die man nachher nicht zu beſorgen weiß, da ſie an laͤngſt verſtorbene Perſonen adreſſirt ſind. Manchmal gedenke ich auch des alten, lie¬ ben Maͤhrchens von dem Fiſcherknaben, der am Strande den naͤchtlichen Reigen der Meernixen belauſcht hatte, und nachher mit ſeiner Geige die ganze Welt durchzog, und alle Menſchen zau¬ berhaft entzuͤckte, wenn er ihnen die Melodie des Nixenwalzers vorſpielte. Dieſe Sage er¬ zaͤhlte mir einſt ein lieber Freund, als wir, im Conzerte zu Berlin, ſolch einen wundermaͤchti¬ gen Knaben, den Felix Mendelsſohn-Bartholdi, ſpielen hoͤrten.

Einen eigenthuͤmlichen Reiz gewaͤhrt das Kreuzen um die Inſel. Das Wetter muß aber ſchoͤn ſeyn, die Wolken muͤſſen ſich ungewoͤhnlich geſtalten, und man muß ruͤcklings auf dem Ver¬ decke liegen, und in den Himmel ſehen, und allen¬ falls auch ein Stuͤckchen Himmel im Herzen ha¬ ben. Die Wellen murmeln alsdann allerley70 wunderliches Zeug, allerley Worte, woran liebe Erinnerungen flattern, allerley Namen, die, wie ſuͤße Ahnung, in der Seele wiederklingen Eveline! Dann kommen auch Schiffe vorbey¬ gefahren, und man gruͤßt, als ob man ſich alle Tage wiederſehen koͤnnte. Nur des Nachts hat das Begegnen fremder Schiffe auf dem Meere etwas Unheimliches; man will ſich dann einbil¬ den, die beſten Freunde, die wir ſeit Jahren nicht geſehen, fuͤhren ſchweigend vorbey, und man verloͤre ſie auf immer.

Ich liebe das Meer wie meine Seele.

Oft wird mir ſogar zu Muthe, als ſey das Meer eigentlich meine Seele ſelbſt; und wie es im Meere verborgene Waſſerpflanzen giebt, die nur im Augenblick des Aufbluͤhens an deſſen Oberflaͤche heraufſchwimmen, und im Augenblick des Verbluͤhens wieder hinabtauchen: ſo kommen zuweilen auch wunderbare Blumenbilder herauf¬ geſchwommen aus der Tiefe meiner Seele, und71 duften und leuchten und verſchwinden wieder Eveline!

Man ſagt, unfern dieſer Inſel, wo jetzt nichts als Waſſer iſt, haͤtten einſt die ſchoͤnſten Doͤrfer und Staͤdte geſtanden, das Meer habe ſie ploͤtzlich alle uͤberſchwemmt, und bey klarem Wetter ſaͤhen die Schiffer noch die leuchtenden Spitzen der verſunkenen Kirchthuͤrme, und man¬ cher habe dort, in der Sonntagsfruͤhe, ſogar ein frommes Glockengelaͤute gehoͤrt. Die Geſchichte iſt wahr; denn das Meer iſt meine Seele

Eine ſchoͤne Welt iſt da verſunken,
Ihre Truͤmmer blieben unten ſtehn,
Laſſen ſich als goldne Himmelsfunken
Oft im Spiegel meiner Traͤume ſehn.
((W. Muͤller.) )

Erwachend hoͤre ich dann ein verhallendes Glockengelaͤute und Geſang heiliger Stimmen Eveline!

Geht man am Strande ſpatzieren, ſo gewaͤh¬ ren die vorbeyfahrenden Schiffe einen ſchoͤnen72 Anblick. Haben ſie die blendend, weißen Segel aufgeſpannt, ſo ſehen ſie aus wie vorbeyziehende, große Schwaͤne. Gar beſonders ſchoͤn iſt dieſer Anblick, wenn die Sonne hinter dem vorbey¬ ſegelnden Schiffe untergeht, und dieſes, wie von einer rieſigen Glorie, umſtrahlt wird.

Die Jagd am Strande ſoll ebenfalls ein gro¬ ßes Vergnuͤgen gewaͤhren. Was mich betrifft, ſo weiß ich es nicht ſonderlich zu ſchaͤtzen. Der Sinn fuͤr das Edle, Schoͤne und Gute laͤßt ſich oft durch Erziehung den Menſchen beybringen; aber der Sinn fuͤr die Jagd liegt im Blute. Wenn die Ahnen, ſchon ſeit undenklichen Zeiten, Rehboͤcke geſchoſſen haben, ſo findet auch der Enkel ein Vergnuͤgen an dieſer legitimen Be¬ ſchaͤftigung. Meine Ahnen gehoͤrten aber nicht zu den Jagenden, viel eher zu den Gejagten, und ſoll ich auf die Nachkoͤmmlinge ihrer ehe¬ maligen Collegen losdruͤcken, ſo empoͤrt ſich dawider mein Blut. Ja, aus Erfahrung weiß ich, daß, nach abgeſteckter Menſur, es mir73 weit leichter wird, auf einen Jaͤger loszudruͤcken, der die Zeiten zuruͤckwuͤnſcht, wo auch Menſchen zur hohen Jagd gehoͤrten. Gottlob dieſe Zeiten ſind voruͤber! Geluͤſtet es jetzt ſolche Jaͤger, wie¬ der einen Menſchen zu jagen, ſo muͤſſen ſie ihn dafuͤr bezahlen, wie z. B. den Schnelllaͤufer, den ich vor zwey Jahren in Goͤttingen ſah. Der arme Menſch hatte ſich ſchon in der ſchwuͤ¬ len Sonntagshitze ziemlich muͤde gelaufen, als einige hannoͤvriſche Junker, die dort Humaniora ſtudierten, ihm ein paar Thaler boten, wenn er den zuruͤckgelegten Weg nochmals laufen wolle; und der Menſch lief, und er war todtblaß und trug eine rothe Jacke, und dicht hinter ihm, im wirbelnden Staube, galoppirten die wohlgenaͤhr¬ ten, edlen Juͤnglinge, auf hohen Roſſen, deren Hufen zuweilen den gehetzten, keuchenden Men¬ ſchen trafen, und es war ein Menſch.

Des Verſuchs halber, denn ich muß mein Blut beſſer gewoͤhnen, ging ich geſtern auf die Jagd. Ich ſchoß nach einigen Moͤven, die gar74 zu ſicher umherflatterten, und doch nicht beſtimmt wiſſen konnten, daß ich ſchlecht ſchieße. Ich wollte ſie nicht treffen und ſie nur warnen, ſich ein andermal vor Leuten mit Flinten in Acht zu nehmen; aber mein Schuß ging fehl, und ich hatte das Ungluͤck, eine junge Moͤve todt zu ſchießen. Es iſt gut, daß es keine alte war; denn was waͤre dann aus den armen, kleinen Moͤvchen geworden, die noch unbefiedert, im Sandneſte der großen Duͤhne liegen, und ohne die Mutter verhungern muͤßten. Mir ahndete ſchon vorher, daß mich auf der Jagd ein Mißgeſchick treffen wuͤrde; ein Haſe war mir uͤber den Weg gelaufen.

Gar beſonders wunderbar wird mir zu Muthe, wenn ich allein in der Daͤmmerung am Strande wandle, hinter mir flache Duͤhnen, vor mir das wogende, unermeßliche Meer, uͤber mir der Himmel wie eine rieſige Criſtallkuppel ich erſcheine mir dann ſelbſt ſehr ameiſenklein, und dennoch dehnt ſich meine75 Seele ſo weltenweit. Die hohe Einfachheit der Natur, wie ſie mich hier umgiebt, zaͤhmt und erhebt mich zu gleicher Zeit, und zwar in ſtaͤr¬ kerem Grade als jemals eine andere erhabene Umgebung. Nie war mir ein Dom groß ge¬ nug; meine Seele mit ihrem alten Titanenge¬ bet ſtrebte immer hoͤher als die gothiſchen Pfei¬ ler, und wollte immer hinausbrechen durch das Dach. Auf der Spitze der Roßtrappe haben mir, beym erſten Anblick, die koloſſalen Felſen, in ihren kuͤhnen Gruppirungen, ziemlich impo¬ nirt; aber dieſer Eindruck dauerte nicht lange, meine Seele war nur uͤberraſcht, nicht uͤberwaͤl¬ tigt, und jene ungeheure Steinmaſſen wurden in meinen Augen allmaͤhlig kleiner, und am Ende erſchienen ſie mir nur wie geringe Truͤm¬ mer eines zerſchlagenen Rieſenpallaſtes, worin ſich meine Seele vielleicht comfortabel befunden haͤtte.

Mag es immerhin laͤcherlich klingen, ich kann es dennoch nicht verhehlen, das Mißver¬76 haͤltniß zwiſchen Koͤrper und Seele quaͤlt mich einigermaßen, und hier am Meere, in großar¬ tiger Naturumgebung, wird es mir zuweilen recht deutlich, und die Metempſychoſe iſt oft der Gegenſtand meines Nachdenkens. Wer kennt die große Gottesironie, die allerley Wi¬ derſpruͤche zwiſchen Seele und Koͤrper hervorzu¬ bringen pflegt. Wer kann wiſſen, in welchem Schneider jetzt die Seele eines Platos, und in welchem Schulmeiſter die Seele eines Caͤſars wohnt! Wer weiß, ob die Seele Gregors VII. nicht in dem Leibe des Großtuͤrken ſitzt, und ſich unter tauſend haͤtſchelnden Weiberhaͤndchen behaglicher fuͤhlt, als einſt in ihrer purpurnen Coͤlibatskutte. Hingegen wie viele Seelen treuer Moslemim aus Aly's Zeiten moͤgen ſich jetzt in unſeren antihelleniſchen Cabinettern befinden! Die Seelen der beiden Schaͤcher, die zur Seite des Heilands gekreuzigt worden, ſitzen vielleicht jetzt in dicken Konſiſtorialbaͤuchen und gluͤhen fuͤr den orthodoxen Lehrbegriff. Die Seele77 Dſchingischans wohnt vielleicht jetzt in einem Rezenſenten, der taͤglich, ohne es zu wiſſen, die Seelen ſeiner treueſten Baſchkiren und Kal¬ muͤcken in einem kritiſchen Journale nieder¬ ſaͤbelt. Wer weiß! wer weiß! die Seele des Pythagoras iſt vielleicht in einen armen Can¬ didaten gefahren, der durch das Examen faͤllt, weil er den pythagoraͤiſchen Lehrſatz nicht bewei¬ ſen konnte, waͤhrend in ſeinen Herren Examina¬ toren die Seelen jener Ochſen wohnen, die einſt Pythagoras, aus Freude uͤber die Entdeckung ſeines Satzes, den ewigen Goͤttern geopfert hatte. Die Hindus ſind ſo dumm nicht, wie unſere Miſſionaͤre glauben, ſie ehren die Thiere wegen der menſchlichen Seele, die ſie in ihnen vermuthen, und wenn ſie Lazarethe fuͤr invalide Affen ſtiften, in der Art unſerer Akademien, ſo kann es wohl moͤglich ſeyn, daß in jenen Affen die Seelen großer Gelehrten wohnen, da es doch bey uns ganz ſichtbar iſt, daß in einigen großen Gelehrten nur Affenſeelen ſtecken.

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Wer doch mit der Allwiſſenheit des Vergan¬ genen, auf das Treiben der Menſchen von oben herab ſehen koͤnnte! Wenn ich des Nachts am Meere wandelnd, den Wellengeſang hoͤre, und allerley Ahnung und Erinnerung in mir erwacht, ſo iſt mir, als habe ich einſt ſolchermaßen von oben herabgeſehen und ſey vor ſchwindelndem Schrecken zur Erde heruntergefallen; es iſt mir dann auch, als ſeyen meine Augen ſo teleſcopiſch ſcharf geweſen, daß ich die Sterne in Lebens¬ groͤße am Himmel wandeln geſehen, und durch all den wirbelnden Glanz geblendet worden; wie aus der Tiefe eines Jahrtauſends kommen mir dann allerley Gedanken in den Sinn, Ge¬ danken uralter Weisheit, aber ſie ſind ſo neblicht, daß ich nicht erkenne, was ſie wollen. Nur ſo viel weiß ich, daß all unſer kluges Wiſſen, Stre¬ ben und Hervorbringen irgend einem hoͤheren Geiſte eben ſo klein und nichtig erſcheinen muß, wie mir jene Spinne erſchien, die ich auf der goͤttinger Bibliothek ſo oft betrachtete. Auf den79 Folianten der Weltgeſchichte ſaß ſie emſig webend, und ſie blickte ſo philoſophiſch ſicher auf ihre Umgebung, und hatte ganz den goͤttingiſchen Gelahrtheits-Duͤnkel, und ſchien ſtolz zu ſeyn auf ihre mathematiſchen Kenntniſſe, auf ihre Kunſtleiſtungen, auf ihr einſames Nachdenken und doch wußte ſie nichts von all den Wundern, die in dem Buche ſtehen, worauf ſie geboren worden, worauf ſie ihr ganzes Leben verbracht hatte, und worauf ſie auch ſterben wird, wenn der ſchleichende Dr. L ....... ſie nicht verjagt. Und wer iſt der ſchleichende Dr. L .......? Seine Seele wohnte vielleicht einſt in eben einer ſolchen Spinne, und jetzt huͤtet er die Folianten, worauf er einſt ſaß und wenn er ſie auch lieſ't, er erfaͤhrt doch nicht ihren wahren Inhalt.

Was mag auf dem Boden einſt geſchehen ſeyn, wo ich jetzt wandle? Ein Conrector, der hier badete, wollte behaupten, hier ſey einſt der Dienſt der Hertha oder beſſer geſagt Forſete, begangen worden, wovon Tacitus ſo geheimni߬80 voll ſpricht. Wenn nur die Berichterſtatter, denen Tacitus nacherzaͤhlt, ſich nicht geirrt, und eine Badekutſche fuͤr den heiligen Wagen der Goͤttin angeſehen haben!

Im Jahr 1819 als ich zu Bonn, in einem und demſelben Semeſter, vier Collegien hoͤrte, worin meiſtens deutſche Antiquitaͤten aus der blaueſten Zeit tractirt wurden, naͤmlich . Ge¬ ſchichte der deutſchen Sprache bey Schlegel, der faſt drey Monat lang die barockſten Hypotheſen uͤber die Abſtammung der Deutſchen entwickelte, . die Germania des Tacitus bey Arndt, der in den altdeutſchen Waͤldern jene Tugenden ſuchte, die er in den Salons der Gegenwart vermißte, . germaniſches Staatsrecht bey Huͤllmann, deſſen hiſtoriſche Anſichten noch am wenigſten vague ſind, und . deutſche Urgeſchichte bey Radloff, der am Ende des Semeſters noch nicht weiter gekommen war, als bis zur Zeit des Seſoſtris damals moͤchte wohl die Sage von der alten Hertha mich mehr intereſſirt haben, als jetzt. Ich ließ ſie81 durchaus nicht auf Ruͤgen reſidiren, und verſetzte ſie vielmehr nach einer oſtfrieſiſchen Inſel. Ein junger Gelehrter hat gern ſeine Privathypotheſe. Aber auf keinen Fall haͤtte ich damals geglaubt, daß ich einſt am Strande der Nordſee wandeln wuͤrde, ohne an die alte Goͤttin mit patriotiſcher Begeiſterung zu denken. Es iſt wirklich nicht der Fall, und ich denke hier an ganz andre, juͤngere Goͤttinnen. Abſonderlich wenn ich am Strande uͤber die ſchaurige Stelle wandle, wo noch juͤngſt die ſchoͤnſten Frauen, gleich Nixen, geſchwommen. Denn weder Herren noch Damen baden hier unter einem Schirm, ſondern ſpatzieren in die freye See. Deshalb ſind auch die Bade¬ ſtellen beider Geſchlechter von einander geſchieden, doch nicht allzuweit, und wer ein gutes Glas fuͤhrt, kann uͤberall in der Welt viel ſehen. Es geht die Sage, ein neuer Actaͤon habe auf ſolche Weiſe eine badende Diana erblickt, und wunder¬ bar! nicht er, ſondern der Gemahl der Schoͤnen, habe dadurch Hoͤrner erworben.

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Die Badekutſchen, die Droſchken der Nord¬ ſee, werden hier nur bis an's Waſſer geſchoben, und beſtehen meiſtens aus viereckigen Holzgeſtellen mit ſteifem Leinen uͤberzogen. Jetzt, fuͤr die Winterzeit, ſtehen ſie im Converſazionsſaale, und fuͤhren dort gewiß eben ſo hoͤlzerne, und ſteifleinene Geſpraͤche, wie die vornehme Welt, die noch unlaͤngſt dort verkehrte.

Wenn ich aber ſage, die vornehme Welt, ſo verſtehe ich nicht darunter die guten Buͤrger Oſt¬ frieslands, ein Volk, das flach und nuͤchtern iſt, wie der Boden, den es bewohnt, das weder ſingen noch pfeifen kann, aber dennoch ein Ta¬ lent beſitzt, das beſſer iſt als alle Triller und Schnurrpfeifereyen, ein Talent, das den Men¬ ſchen adelt, und uͤber jene windige Dienſtſeelen erhebt, die allein edel zu ſeyn waͤhnen, ich meine das Talent zur Freiheit. Schlaͤgt das Herz fuͤr Freiheit, ſo iſt ein ſolcher Schlag des Her¬ zens eben ſo gut, wie ein Ritterſchlag, und das wiſſen die freyen Frieſen, und ſie verdienen ihr83 Volksepitheton; die Haͤuptlingsperiode abgerechnet, war die Ariſtokratie in Oſtfrießland niemals vor¬ herrſchend, nur ſehr wenige adlige Familien haben dort gewohnt, und der Einfluß des hannoͤvriſchen Adels, durch Verwaltungs - und Militaͤrſtand, wie er ſich jetzt uͤber das Land hinzieht, betruͤbt manches freye Oſtfrieſenherz, und uͤberall zeigt ſich die Vorliebe fuͤr die ehemalige preußiſche Regierung.

Was aber die allgemeinen deutſchen Klagen uͤber hannoͤvriſchen Adelſtolz betrifft, ſo kann ich nicht unbedingt einſtimmen. Das hannoͤvriſche Offizierkorps giebt am wenigſten Anlaß zu ſolchen Klagen. Freylich, wie in Madagaskar nur Adlige das Recht haben, Metzger zu werden, ſo hatte fruͤherhin der hannoͤvriſche Adel ein analoges Vorrecht, da nur Adlige zum Offizierrange gelan¬ gen konnten. Seitdem ſich aber in der deutſchen Legion ſo viele Buͤrgerliche ausgezeichnet, und zu Offizierſtellen emporgeſchwungen, hat auch jenes uͤble Gewohnheitsrecht nachgelaſſen. Ja,84 das ganze Corps der deutſchen Legion hat viel bey¬ getragen zur Milderung alter Vorurtheile, dieſe Leute ſind weit herum in der Welt geweſen, und in der Welt ſieht man viel, beſonders in England, und ſie haben viel gelernt, und es iſt eine Freude ihnen zuzuhoͤren, wenn ſie von Portugal, Spa¬ nien, Sizilien, den ioniſchen Inſeln, Irland, und anderen weiten Laͤndern ſprechen, wo ſie ge¬ fochten, und Vieler Menſchen Staͤdte geſehen und Sitten gelernet , ſo daß man glaubt, eine Odyſſee zu hoͤren, die leider keinen Homer finden wird. Auch iſt unter den Offizieren dieſes Corps viel freyſinnige, engliſche Sitte geblieben, die mit dem altherkoͤmmlichen hannoͤvriſchen Brauch ſtaͤrker kontraſtirt, als wir es im uͤbrigen Deutſch¬ land glauben wollen, da wir gewoͤhnlich dem Beyſpiele Englands viel Einwirkung auf Han¬ nover zuſchreiben. In dieſem Lande Hannover ſieht man nichts als Stammbaͤume, woran Pferde gebunden ſind, und vor lauter Baͤumen bleibt das Land obscur, und trotz allen Pferden koͤmmt85 es nicht weiter. Nein, durch dieſen hannoͤvriſchen Adelswald drang niemals ein Sonnenſtrahl brit¬ tiſcher Freyheit, und kein brittiſcher Freiheitston konnte jemals vernehmbar werden im wiehernden Laͤrm hannoͤvriſcher Roſſe. Was aber ein britti¬ ſcher Freyheitston iſt, habe ich erſt kuͤrzlich er¬ fahren, indem ich, im wildeſten Seewetter, ein engliſches Schiff vorbeyſegeln ſah, auf deſſen Verdeck mehrere Menſchen ſtanden, und Wind und Wellen faſt frevelhaft trotzig uͤberbruͤllten, mit ihrem alten: rule Britania, rule the waves, Britons never shall be slaves!

Die allgemeine Klage uͤber hannoͤvriſchen Adelſtolz trifft wohl zumerſt die liebe Jugend ge¬ wiſſer Familien, die das Land Hannover regieren oder mittelbar zu regieren glauben. Aber auch die edlen Juͤnglinge wuͤrden bald jene Fehler der Art, oder beſſer geſagt, jene Unart ablegen, wenn ſie ebenfalls etwas in der Welt herum¬ gedraͤngt wuͤrden, oder eine beſſere Erziehung genoͤſſen. Man ſchickt ſie freylich nach Goͤttingen,86 doch da hocken ſie beyſammen, und ſprechen nur von ihren Hunden, Pferden und Ahnen, und hoͤren wenig neuere Geſchichte, und wenn ſie auch wirklich einmal dergleichen hoͤren, ſo ſind doch unterdeſſen ihre Sinne befangen durch den Anblick des Grafentiſches, der, ein Wahr¬ zeichen Goͤttingens, nur fuͤr hochgeborene Stu¬ denten beſtimmt iſt. Wahrlich, durch eine beſſere Erziehung des jungen hannoͤvriſchen Adels ließe ſich vielen Klagen vorbauen. Aber die Jungen werden wie die Alten. Derſelbe Wahn: als waͤren ſie die Blumen der Welt, waͤhrend wir Anderen bloß das Gras ſind; dieſelbe Thor¬ heit: mit dem Verdienſte der Ahnen den eigenen Unwerth bedecken zu wollen; dieſelbe Unwiſſen¬ heit uͤber das Problematiſche dieſer Verdienſte, indem die Wenigſten wiſſen, daß die Fuͤrſten ſel¬ ten ihre treueſten und tugendhafteſten Diener, aber ſehr oft den Kuppler, den Schmeichler und dergleichen Lieblingsſchufte mit adelnder Huld beehrt haben. Die Wenigſten jener Ahnenſtolzen87 koͤnnen beſtimmt angeben, was ihre Ahnen gethan haben, und ſie zeigen nur, daß ihr Name in Ruͤxners Turnierbuch erwaͤhnt ſey; ja, koͤn¬ nen ſie auch nachweiſen, daß dieſe Ahnen etwa als Kreuzritter bey der Eroberung Jeruſalems zugegen waren, ſo ſollten ſie, ehe ſie ſich etwas darauf zu Gute thun, auch beweiſen, daß jene Ritter ehrlich mitgefochten haben, daß ihre Eiſen¬ hoſen nicht mit gelber Furcht wattirt worden, und daß unter ihrem rothen Kreuze das Herz eines honetten Mannes geſeſſen. Gaͤbe es keine Ilias, ſondern bloß ein Namensverzeichniß der Helden, die vor Troja geſtanden, und ihre Na¬ men exiſtirten noch jetzt wie wuͤrde ſich der Ahnenſtolz Derer von Therſites zu blaͤhen wiſſen! Von der Reinheit des Blutes will ich gar nicht einmal ſprechen; Philoſophen und Stallknechte haben daruͤber gar ſeltſame Gedanken.

Mein Tadel, wie geſagt, treffe zumeiſt die ſchlechte Erziehung des hannoͤvriſchen Adels und deſſen fruͤh eingepraͤgten Wahn von der Wichtig¬88 keit einiger andreſſirten Formen. O! wie oft habe ich lachen muͤſſen, wenn ich bemerkte, wie viel man ſich auf dieſe Formen zu Gute that; als ſey es ſo gar uͤberaus ſchwer zu erlernen dieſes Repraͤſentiren, dieſes Praͤſentiren, dieſes Laͤcheln ohne Etwas zu ſagen, dieſes Sagen ohne Etwas zu denken, und all dieſe adligen Kuͤnſte, die der gute Buͤrgersmann als Meer¬ wunder angafft, und die doch jeder franzoͤſiſche Tanzmeiſter beſſer inne hat, als der deutſche Edelmann, dem ſie in der baͤrenleckenden Lutetia muͤhſam eingeuͤbt worden, und der ſie zu Hauſe wieder, mit deutſcher Gruͤndlichkeit und Schwer¬ faͤlligkeit, ſeinen Descendenten uͤberliefert. Dies erinnert mich an die Fabel von dem Baͤren, der auf Maͤrkten tanzte, ſeinem fuͤhrenden Lehrer entlief, zu ſeinen Mitbaͤren in den Wald zuruͤck¬ kehrte, und ihnen vorprahlte: wie das Tanzen eine ſo gar ſchwere Kunſt ſey, und wie weit er es darin gebracht habe, und in der That, den Proben, die er von ſeiner Kunſt ablegte,89 konnten die armen Beſtien ihre Bewunderung nicht verſagen. Jene Nation, wie ſie Werther nennt, bildete die vornehme Welt, die hier dieſes Jahr zu Waſſer und zu Lande geglaͤnzt hat, und es waren lauter liebe, liebe Leute, und ſie haben alle gut geſpielt.

Auch fuͤrſtliche Perſonen gab es hier, und ich muß geſtehen, daß dieſe in ihren Anſpruͤchen beſcheidener waren, als die geringere Nobleſſe. Ob aber dieſe Beſcheidenheit in den Herzen die¬ ſer hohen Perſonen liegt, oder ob ſie durch ihre aͤußere Stellung hervorgebracht wird, das will ich unentſchieden laſſen. Ich ſage dieſes nur in Beziehung auf deutſche mediatiſirte Fuͤr¬ ſten. Dieſen Leuten iſt in der letzten Zeit ein großes Unrecht geſchehen, indem man ſie einer Souverainitaͤt beraubte, wozu ſie ein eben ſo gutes Recht haben, wie die groͤßeren Fuͤrſten, wenn man etwa nicht, wie mein Unglaubens¬ genoſſe Spinoza, annehmen will, daß dasjenige, was ſich nicht durch eigene Kraft erhalten90 kann, auch kein Recht hat, zu exiſtiren. Fuͤr das vielzerſplitterte Deutſchland war es aber eine Wohlthat, daß dieſe Anzahl von Sedez¬ despoͤtchen ihr Regieren einſtellen mußten. Es iſt ſchrecklich, wenn man bedenkt wie viele der¬ ſelben wir armen Deutſchen zu ernaͤhren haben. Wenn dieſe Mediatiſirten auch nicht mehr das Zepter fuͤhren, ſo fuͤhren ſie doch noch immer Loͤffel, Meſſer und Gabel, und ſie eſſen keinen Hafer, und auch der Hafer waͤre theuer genug. Ich denke, daß wir einmal durch Amerika et¬ was von dieſer Fuͤrſtenlaſt erleichtert werden. Denn, fruͤh oder ſpaͤt, werden ſich doch die Praͤſidenten dortiger Freyſtaaten in Souveraine verwandeln, und dann fehlt es dieſen Herren an Gemahlinnen, die ſchon einen legitimen An¬ ſtrich haben, ſie ſind dann froh wenn wir ihnen unſere Prinzeſſinnen uͤberlaſſen, und wenn ſie ſechs nehmen, geben wir ihnen die ſiebente gra¬ tis, und auch unſre Prinzchen koͤnnen ſie ſpaͤ¬ terhin bey ihren Toͤchterchen employiren; 91 daher haben die mediatiſirten Fuͤrſten ſehr po¬ litiſch gehandelt, als ſie ſich wenigſtens das Gleichbuͤrtigkeitsrecht erhielten, und ihre Stamm¬ baͤume eben ſo hoch ſchaͤtzten, wie die Araber die Stammbaͤume ihrer Pferde, und zwar aus derſelben Abſicht, indem ſie wohl wiſſen, daß Deutſchland von jeher das große Fuͤrſtenge¬ ſtuͤte war, das alle regierenden Nachbarhaͤuſer mit den noͤthigen Mutterpferden und Beſchaͤ¬ lern verſehen muß.

In allen Baͤdern iſt es ein altes Gewohn¬ heitsrecht, daß die abgegangenen Gaͤſte von den zuruͤckgebliebenen etwas ſtark kritiſirt werden, und da ich der letzte bin, der noch hier weilt, ſo durfte ich wohl jenes Recht in vollem Maaße ausuͤben.

Es iſt aber jetzt ſo oͤde auf der Inſel, daß ich mir vorkomme wie Napoleon auf Sanct Helena. Nur daß ich hier eine Unterhaltung gefunden, die jenem dort fehlte. Es iſt naͤmlich der große Kaiſer ſelbſt, womit ich mich hier92 beſchaͤftige. Ein junger Englaͤnder hat mir das eben erſchienene Buch des Maitland mitgetheilt. Dieſer Seemann berichtet die Art und Weiſe, wie Napoleon ſich ihm ergab und auf dem Bel¬ lerophon ſich betrug, bis er, auf Befehl des engliſchen Miniſteriums, an Bord des Northum¬ berland gebracht wurde. Aus dieſem Buche ergiebt ſich ſonnenklar, daß der Kaiſer, in ro¬ mantiſchem Vertrauen auf brittiſche Großmuth, und um der Welt endlich Ruhe zu ſchaffen, zu den Englaͤndern ging, mehr als Gaſt, denn als Gefangener. Das war ein Fehler, den gewiß kein Anderer, und am allerwenigſten ein Wel¬ lington begangen haͤtte. Die Geſchichte aber wird ſagen, dieſer Fehler iſt ſo ſchoͤn, ſo er¬ haben, ſo herrlich, daß dazu mehr Seelengroͤße gehoͤrte, als wir Anderen zu allen unſeren Großthaten erſchwingen koͤnnen.

Die Urſache, weßhalb Cap. Maitland jetzt ſein Buch herausgiebt, ſcheint keine andere zu ſeyn, als das moraliſche Reinigungsbeduͤrfniß,93 das jeder ehrliche Mann fuͤhlt, den ein boͤſes Geſchick in eine zweydeutige Handlung verfloch¬ ten hat. Das Buch ſelbſt iſt aber ein unſchaͤtz¬ barer Gewinn fuͤr die Gefangenſchaftsgeſchichte Napoleons, die den letzten Act ſeines Lebens bildet, alle Raͤthſel der fruͤheren Acte wunder¬ bar loͤſt, und wie es eine aͤchte Tragoͤdie thun ſoll, die Gemuͤther erſchuͤttert, reinigt und verſoͤhnt. Den Charakterunterſchied der vier Hauptſchriftſteller, die uns von dieſer Gefan¬ genſchaft berichten, beſonders wie er ſich in Styl und Anſchauungsweiſe bekundet, zeigt ſich erſt recht durch ihre Zuſammenſtellung.

Maitland, der ſturmkalte, engliſche See¬ mann, verzeichnet die Begebenheiten vorurtheils¬ los und beſtimmt, als waͤren es Naturerſchei¬ nungen, die er in ſein Loogbook eintraͤgt; Las Caſes, ein enthuſiaſtiſcher Kammerherr, liegt in jeder Zeile, die er ſchreibt, zu den Fuͤßen des Kaiſers, nicht wie ein ruſſiſcher Sclave, ſondern wie ein freyer Franzoſe, dem die Be¬94 wunderung einer unerhoͤrten Heldengroͤße und Ruhmeswuͤrde unwillkuͤhrlich die Kniee beugt; Omeara, der Arzt, obgleich in Irland gebo¬ ren, dennoch ganz Englaͤnder, als ſolcher ein ehemaliger Feind des Kaiſers, aber jetzt an¬ erkennend die Majeſtaͤtsrechte des Ungluͤcks, ſchreibt freymuͤthig, ſchmucklos, thatbeſtaͤndlich, faſt im Lapidarſtyl; hingegen kein Styl, ſondern ein Stilett iſt die ſpitzige, zuſtoßende Schreib¬ art des franzoͤſiſchen Arztes, Autommarchi, eines Italieners, der ganz beſonnentrunken iſt von dem Ingrimm und der Poeſie ſeines Landes.

Beide Voͤlker, Britten und Franzoſen, lie¬ ferten von jeder Seite zwey Maͤnner, gewoͤhn¬ lichen Geiſtes, und unbeſtochen von der herr¬ ſchenden Macht, und dieſe Jury hat den Kai¬ ſer gerichtet, und verurtheilet: ewig zu leben, ewig bewundert, ewig bedauert.

Es ſind ſchon viele große Maͤnner uͤber dieſe Erde geſchritten, hier und da ſehen wir die leuchtenden Spuren ihrer Fußſtapfen, und95 in heiligen Stunden treten ſie, wie Nebelgebilde vor unſere Seele; aber ein ebenfalls großer Mann ſieht ſeine Vorgaͤnger weit deutlicher, aus einzel¬ nen Funken ihrer irdiſchen Lichtſpur erkennt er ihr geheimſtes Thun, aus einem einzigen hinter¬ laſſenen Worte erkennt er alle Falten ihres Her¬ zens; und ſolchermaßen, in einer myſtiſchen Ge¬ meinſchaft, leben die großen Maͤnner aller Zeiten, uͤber die Jahrtauſende hinweg nicken ſie einander zu, und ſehen ſich an bedeutungsvoll, und ihre Blicke begegnen ſich auf den Graͤbern unterge¬ gangener Geſchlechter, die ſich zwiſchen ſie ge¬ draͤngt hatten, und ſie verſtehen ſich und haben ſich lieb. Wir Kleinen aber, die wir nicht ſo intimen Umgang pflegen koͤnnen mit den Großen der Vergangenheit, wovon wir nur ſelten die Spur und Nebelformen ſehen, fuͤr uns iſt es vom hoͤchſten Werthe, wenn wir uͤber einen ſolchen Großen ſo viel erfahren, daß es uns leicht wird, ihn ganz lebensklar in unſre Seele aufzunehmen, und dadurch unſre Seele zu erweitern. Ein ſol¬96 cher iſt Napoleon Bonaparte. Wir wiſſen von ihm, von ſeinem Leben und Streben, mehr als von den andern Großen dieſer Erde, und taͤglich erfahren wir davon noch mehr und mehr. Wir ſehen wie das verſchuͤttete Goͤtterbild langſam ausgegraben wird, und mit jeder Schaufel Erd¬ ſchlamm, die man von ihm abnimmt, waͤchſt unſer freudiges Erſtaunen uͤber das Ebenmaaß und die Pracht der edlen Formen, die da her¬ vortreten, und die Geiſtesblitze der Feinde, die das große Bild zerſchmettern wollen, dienen nur dazu, es deſto glanzvoller zu beleuchten. Solches geſchieht namentlich durch die Aeuße¬ rungen der Frau von Staël, die in all ihrer Herbheit doch nichts anders ſagt, als daß der Kaiſer kein Menſch war wie die Andern, und daß ſein Geiſt mit keinem vorhandenen Maa߬ ſtab gemeſſen werden kann.

Ein ſolcher Geiſt iſt es, worauf folgende Worte Kants, die ich unlaͤngſt in der Morpho¬ logie erwaͤhnt ſah, hinzuweiſen ſcheinen:97 Wir koͤnnen uns einen Verſtand denken, der, weil er nicht wie der unſrige diskurſiv, ſondern intuitiv iſt, vom ſynthetiſch Allgemei¬ nen, der Anſchauung eines Ganzen als eines ſolchen, zum Beſonderen geht, das iſt, von dem Ganzen zu den Theilen. Hierbey iſt gar nicht noͤthig zu beweiſen, daß ein ſolcher intellectus archetypus moͤglich ſey, ſondern nur daß wir in der Dagegenhaltung unſeres diskurſiven, der Bil¬ der beduͤrftigen Verſtandes (intellectus ectypus) und der Zufaͤlligkeit einer ſolchen Beſchaffenheit, auf jene Ideen eines intellectus archetypus ge¬ fuͤhrt werden, dieſe auch keinen Widerſpruch er¬ halte.

Ja, was wir durch langſames Nachdenken und lange Schlußfolgen erkennen, das hatte jener Geiſt im ſelben Momente angeſchaut und tief begriffen. Daher ſein Talent die Zeit, die Gegenwart zu verſtehen, ihren Geiſt zu kajo¬ liren ihn nie zu beleidigen, und immer zu be¬ nutzen.

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Da aber dieſer Geiſt der Zeit nicht bloß revoluzionaͤr iſt, ſondern durch den Zuſammenfluß beider Anſichten, der revoluzionaͤren und der contrerevoluzionaͤren, gebildet worden, ſo handelte Napoleon nie ganz revoluzionaͤr und nie ganz contrerevoluzionaͤr, ſondern immer im Sinne bei¬ der Anſichten, beider Prinzipien, beider Beſtre¬ bungen, die in ihm ihre Vereinigung fanden, und demnach handelte er beſtaͤndig naturgemaͤß, einfach, groß, nie krampfhaft harſch, immer ruhig milde. Daher intriguirte er nie im Einzelnen, und ſeine Schlaͤge geſchahen immer durch ſeine Kunſt, die Maſſen zu begreifen und zu lenken. Zur verwickelten, langſamen Intrigue neigen ſich kleine, analitiſche Geiſter, hingegen ſynthetiſche, intuitive Geiſter wiſſen auf wunderbar geniale Weiſe die Mittel, die ihnen die Gegenwart bie¬ tet, ſo zu verbinden, daß ſie dieſelben zu ihrem Zwecke ſchnell benutzen koͤnnen. Erſtere ſcheitern ſehr oft, da keine menſchliche Klugheit alle Vor¬ fallenheiten des Lebens vorausſehen kann und99 die Verhaͤltniſſe des Lebens nie lange ſtabil ſind; letzteren hingegen, den intuitiſchen Menſchen, ge¬ lingen ihre Vorſaͤtze am leichteſten, da ſie nur einer richtigen Berechnung des Vorhandenen be¬ duͤrfen, und ſo ſchnell handeln, daß dieſes, durch die Bewegung der Lebenswogen, keine ploͤtzliche, unvorhergeſehene Veraͤnderung erleiden kann.

Es iſt ein gluͤckliches Zuſammentreffen, daß Napoleon gerade zu einer Zeit gelebt hat, die ganz beſonders viel Sinn hat fuͤr Geſchichte, ihre Erforſchung und Darſtellung. Es werden uns daher, durch die Memoiren der Zeitgenoſſen, wenige Notizen uͤber Napoleon vorenthalten wer¬ den, und taͤglich vergroͤßert ſich die Zahl der Ge¬ ſchichtsbuͤcher, die ihn mehr oder minder im Zu¬ ſammenhang mit der uͤbrigen Welt ſchildern wol¬ len. Die Ankuͤndigung eines ſolchen Buches aus Walter Scotts Feder erregt daher die neu¬ gierigſte Erwartung.

Alle Verehrer Scotts muͤſſen fuͤr ihn zittern; denn ein ſolches Buch kann leicht der ruſſiſche100 Feldzug jenes Ruhmes werden, den er muͤhſam erworben durch eine Reihe hiſtoriſcher Romane, die mehr durch ihr Thema, als durch ihre poetiſche Kraft, alle Herzen Europas bewegt haben. Dieſes Thema iſt aber nicht bloß eine elegiſche Klage uͤber Schottlands volksthuͤmliche Herrlichkeit, die all¬ maͤhlig verdraͤngt wurde von fremder Sitte, Herrſchaft und Denkweiſe; ſondern es iſt der große Schmerz uͤber den Verluſt der Nazio¬ nal-Beſonderheiten, die in der Allgemeinheit neuerer Cultur verloren gehen, ein Schmerz, der jetzt in den Herzen aller Voͤlker zuckt. Denn Nazionalerinnerungen liegen tiefer in der Men¬ ſchen Bruſt, als man gewoͤhnlich glaubt. Man wage es nur, die alten Bilder wieder auszugra¬ ben, und uͤber Nacht bluͤht hervor auch die alte Liebe mit ihren Blumen. Das iſt nicht figuͤrlich geſagt, ſondern es iſt eine Thatſache: als Bullock vor einigen Jahren ein altheidniſches Steinbild in Mexiko ausgegraben, fand er den andern Tag, daß es naͤchtlicher Weile mit Blumen be¬101 kraͤnzt worden; und doch hatte Spanien, mit Feuer und Schwert, den alten Glauben der Me¬ xikaner zerſtoͤrt, und ſeit drey Jahrhunderten ihre Gemuͤther gar ſtark umgewuͤhlt und gepfluͤgt und mit Chriſtenthum beſaͤet. Solche Blumen aber bluͤhen auch in den Walter-Scott'ſchen Dich¬ tungen, dieſe Dichtungen ſelbſt wecken die alten Gefuͤhle,[und] wie einſt in Granada Maͤnner und Weiber mit dem Geheul der Verzweiflung aus den Haͤuſern ſtuͤrzten, wenn das Lied vom Einzug des Maurenkoͤnigs auf den Straßen er¬ klang, dergeſtalt, daß bey Todesſtrafe verboten wurde, es zu ſingen: ſo hat der Ton, der in den Scott'ſchen Dichtungen herrſcht, eine ganze Welt ſchmerzhaft erſchuͤttert. Dieſer Ton klingt wieder in den Herzen unſeres Adels, der ſeine Schloͤſſer und Wappen verfallen ſieht, er klingt wieder in den Herzen des Buͤrgers, dem die be¬ haglich enge Weiſe der Altvordern verdraͤngt wird durch weite, unerfreuliche Modernitaͤt; er klingt wieder in katholiſchen Domen, woraus der102 Glaube entflohen, und in rabbiniſchen Synagogen, woraus ſogar die Glaͤubigen fliehen; er klingt uͤber die ganze Erde, bis in die Banianenwaͤlder Hindoſtans, wo der ſeufzende Bramine das Ab¬ ſterben ſeiner Goͤtter, die Zerſtoͤrung ihrer uralten Weltordnung, und den ganzen Sieg der Eng¬ laͤnder vorausſieht.

Dieſer Ton, der gewaltigſte, den der ſchotti¬ ſche Barde auf ſeiner Rieſenharfe anzuſchlagen weiß, paßt aber nicht zu dem Kaiſerliede von dem Napoleon, dem neuen Manne, dem Manne der neuen Zeit, dem Manne, worin dieſe neue Zeit ſo leuchtend ſich abſpiegelt, daß wir dadurch faſt geblendet werden, und unterdeſſen nimmer¬ mehr denken an die verſchollene Vergangenheit und ihre verblichene Pracht. Es iſt wohl zu vermuthen, daß Scott, ſeiner Vorneigung gemaͤß, jenes angedeutete, ſtabile Element im Charakter Napoleons, die contrerevoluzionaͤre Seite ſeines Geiſtes vorzugsweiſe auffaſſen wird, ſtatt daß an¬ dere Schriftſteller bloß das revoluzionaͤre Prinzip103 in ihm erkennen. Von dieſer letzteren Seite wuͤrde ihn Byron geſchildert haben, der in ſeinem ganzen Streben den Gegenſatz zu Scott bildete, und ſtatt, gleich dieſem, den Untergang der alten Formen zu beklagen, ſich ſogar von denen, die noch ſtehen geblieben ſind, verdrießlich beengt fuͤhlt, ſie, mit revoluzionaͤrem Lachen und Zaͤhnefletſchen, niederreißen moͤchte, und in dieſem Aerger die heiligſten Blumen des Lebens mit ſeinem melodiſchen Gifte beſchaͤdigt, und ſich, wie ein wahnſinniger Harlekin den Dolch in's Herz ſtoͤßt, um, mit dem hervorſtroͤmenden, ſchwarzen Blute, Herren und Damen neckiſch zu beſpritzen.

Wahrlich, in dieſem Augenblicke fuͤhle ich ſehr lebhaft, daß ich kein Nachbeter, oder beſſer geſagt Nachfrevler Byrons bin, mein Blut iſt nicht ſo ſpleeniſch ſchwarz, meine Bitterkeit koͤmmt nur aus den Gallaͤpfeln meiner Dinte, und wenn Gift in mir iſt, ſo iſt es doch nur Gegengift, Gegengift wider jene Schlangen, die104 im Schutte der alten Dome und Burgen ſo be¬ drohlich lauern. Von allen großen Schriftſtellern iſt Byron juſt derjenige, deſſen Lectuͤre mich am unleidlichſten beruͤhrt; wohingegen Scott mir, in jedem ſeiner Werke, das Herz erfreut, beru¬ higt und erkraͤftigt. Mich erfreut ſogar die Nachahmung derſelben, wie wir ſie bey W. Alexis, Bronikowski und Cooper finden, welcher erſtere, im ironiſchen Walladmor, ſeinem Vorbilde am naͤchſten ſteht, und uns auch in einer ſpaͤteren Dichtung ſo viel Geſtalten - und Geiſtesreichthum gezeigt hat, daß er wohl im Stande waͤre, mit poetiſcher Urſpruͤnglichkeit, die ſich nur der ſcotti¬ ſchen Form bedient, uns die theuerſten Momente deutſcher Geſchichte, in einer Reihe hiſtoriſcher Novellen, vor die Seele zu fuͤhren.

Aber keinem wahren Genius laſſen ſich be¬ ſtimmte Bahnen vorzeichnen, dieſe liegen auſſer¬ halb aller kritiſcher Berechnung, und ſo mag es auch als ein harmloſes Gedankenſpiel betrachtet werden, wenn ich uͤber W. Scotts Kaiſergeſchichte105 mein Vorurtheil ausſprach. Vorurtheil iſt hier der umfaſſendſte Ausdruck. Nur eins laͤßt ſich mit Beſtimmtheit ſagen: das Buch wird ge¬ leſen werden vom Aufgang bis zum Niedergang, und wir Deutſchen werden es uͤberſetzen.

Wir haben auch den Seguͤr uͤberſetzt. Nicht wahr, es iſt ein huͤbſches epiſches Gedicht? Wir Deutſchen ſchreiben auch epiſche Gedichte, aber die Helden derſelben exiſtiren bloß in unſe¬ rem Kopfe. Hingegen die Helden des franzoͤſi¬ ſchen Epos ſind wirkliche Helden, die viel groͤßere Thaten vollbracht, und viel groͤßere Leiden ge¬ litten, als wir in unſeren Dachſtuͤbchen erſinnen koͤnnen. Und wir haben doch viel Phantaſie, und die Franzoſen haben nur wenig. Vielleicht hat deshalb der liebe Gott den Franzoſen auf eine andere Art nachgeholfen, und ſie brauchen nur treu zu erzaͤhlen, was ſie in den letzten dreyzig Jahren geſehen und gethan, und ſie haben eine erlebte Literatur, wie noch kein Volk und keine Zeit ſie hervorgebracht. Dieſe Memoiren106 von Staatsleuten, Soldaten und edlen Frauen, wie ſie in Frankreich taͤglich erſcheinen, bilden einen Sagenkreis, woran die Nachwelt genug zu denken und zu ſingen hat, und worin, als deſſen Mittelpunkt, das Leben des großen Kai¬ ſers, wie ein Rieſenbaum, emporragt. Die Seguͤrſche Geſchichte des Rußlandszuges iſt ein Lied, ein franzoͤſiſches Volkslied, das zu dieſem Sagenkreiſe gehoͤrt, und, in ſeinem Tone und Stoffe, den epiſchen Dichtungen aller Zeiten gleicht und gleich ſteht. Ein Heldengeſchlecht, das durch den Zauberſpruch Freyheit und Gleichheit aus dem Boden Frankreichs emporgeſchoſſen, hat, wie im Triumphzug, berauſcht von Ruhm und gefuͤhrt von dem Gotte des Ruhmes ſelbſt, die Welt durchzogen, erſchreckt und verherrlicht, tanzt endlich den raſſelnden Waffentanz auf den Eisfeldern des Nordens, und dieſe brechen ein, und die Soͤhne des Feuers und der Freyheit gehen zu Grunde durch Kaͤlte und Sklaven.

107

Solche Beſchreibung oder Prophezeyung des Untergangs einer Heldenwelt iſt Grundton und Stoff der epiſchen Dichtungen aller Voͤlker. Auf den Felſen von Ellore und anderer indiſcher Grottentempel ſteht ſolche epiſche Kataſtrophe ein¬ gegraben mit Rieſenhieroglyphen, deren Schluͤſſel im Mahabarata zu finden iſt; der Norden hat in nicht minder ſteinernen Worten, in ſeiner Edda, dieſen Goͤtteruntergang ausgeſprochen; das Lied der Nibelungen beſingt daſſelbe tragiſche Verderben, und hat, in ſeinem Schluſſe, noch ganz beſondere Aehnlichkeit mit der Seguͤrſchen Beſchreibung des Brandes von Moskau; das Rolandslied von der Schlacht bey Roncisval, deſſen Worte verſchollen, deſſen Sage aber noch nicht erloſchen, und noch unlaͤngſt von einem der groͤßten Dichter des Vaterlandes, von Im¬ mermann, herauf beſchworen worden, iſt ebenfalls der alte Ungluͤcksgeſang; und gar das Lied von Ilion verherrlicht am ſchoͤnſten das alte Thema, und iſt doch nicht großartiger und ſchmerzlicher108 als das franzoͤſiſche Volkslied, worin Seguͤr den Untergang ſeiner Heroenwelt beſungen hat. Ja, dieſes iſt ein wahres Epos, Frankreichs Helden¬ jugend iſt der ſchoͤne Heros, der fruͤh dahinſinkt, wie wir ſolches Leid ſchon ſahen in dem Tode Baldurs, Siegfrieds, Rolands und Achilles, die ebenſo durch Ungluͤck und Verrath gefallen; und jene Helden, die wir in der Ilias bewun¬ dert, wir finden ſie wieder im Liede des Seguͤr, wir ſehen ſie rathſchlagen, zanken und kaͤmpfen, wie einſt vor dem ſkaͤiſchen Thore, iſt auch die Jacke des Koͤnigs von Neapel etwas allzubunt¬ ſcheckig modern, ſo iſt doch ſein Schlachtmuth und Uebermuth eben ſo groß, wie der des Pe¬ liden, ein Hektor an Milde und Tapferkeit ſteht vor uns Prinz Eugèn, der edle Ritter, Ney kaͤmpft wie ein Ajax, Berthier iſt ein Neſtor ohne Weisheit, Davouſt, Daruͤ, Caulincourt u. ſ. w. in ihnen wohnen die Seelen des Me¬ nelaos, des Odyſſeus, des Diomedes nur der Kaiſer ſelbſt findet nicht ſeines Gleichen, in ſei¬109 nem Haupte iſt der Olymp des Gedichtes, und wenn ich ihn, in ſeiner aͤußeren Herrſchererſchei¬ nung, mit dem Agamemnon vergleiche, ſo geſchieht das, weil ihn, eben ſo wie den groͤßten Theil ſeiner herrlichen Kampfgenoſſen, ein tragiſches Schickſal erwartete, und weil ſein Oreſtes noch lebt.

Wie die Scottſchen Dichtungen hat auch das Seguͤrſche Epos einen Ton, der unſere Herzen bezwingt. Aber dieſer Ton weckt nicht die Liebe zu laͤngſt verſchollenen Tagen der Vorzeit, ſon¬ dern es iſt ein Ton, deſſen Klangfigur uns die Gegenwart giebt, ein Ton, der uns fuͤr eben dieſe Gegenwart begeiſtert.

Wir Deutſchen ſind doch wahre Peter Schlemiehle! Wir haben auch in der letzten Zeit viel geſehen, viel ertragen, z. B. Einquar¬ tierung und Adelſtolz; und wir haben unſer edelſtes Blut hingegeben, z. B. an England, das noch jetzt jaͤhrlich eine anſtaͤndige Summe, fuͤr abge¬ ſchoſſene deutſche Arme und Beine, ihren ehe¬110 maligen Eigenthuͤmern zu bezahlen hat; und wir haben im Kleinen ſo viel Großes gethan, daß wenn man es zuſammenrechnete, die groͤßten Thaten herauskaͤmen, z. B. in Tyrol; und wir haben viel verloren, z. B. unſeren Schlag¬ ſchatten, den Titel des lieben, heiligen, roͤmiſchen Reichs und dennoch, mit allen Verluſten Opfern, Entbehrungen, Malheurs und Gro߬ thaten, hat unſere Literatur kein einziges ſolcher Denkmaͤler des Ruhmes gewonnen, wie ſie bey unſeren Nachbaren, gleich ewigen Tro¬ phaͤen, taͤglich emporſteigen. Unſere Leipziger Meſſen haben wenig profitirt durch die Schlacht bey Leipzig. Ein Gothaer, hoͤre ich, will ſie noch nachtraͤglich, in epiſcher Form, beſingen; da er aber noch nicht weiß, ob er zu den 100,000 Seelen gehoͤrt, die Hildburghauſen be¬ koͤmmt, oder zu den 150,000, die Meiningen bekoͤmmt, oder zu den 160,000, die Altenburg bekoͤmmt, ſo kann er ſein Epos noch nicht anfan¬ gen, er muͤßte denn beginnen: Singe unſterbliche111 Seele, Hildburghaͤuſiſche Seele, Meining'ſche Seele, oder auch Altenburgiſche Seele, Gleich¬ viel ſinge, ſinge der ſuͤndigen Deutſchen Erloͤ¬ ſung! Dieſer Seelenſchacher im Herzen des Vaterlandes, und deſſen blutende Zerriſſenheit, laͤßt keinen ſtolzen Sinn, und noch viel weniger ein ſtolzes Wort aufkommen, unſere ſchoͤnſten Thaten werden laͤcherlich durch den dummen Erfolg, und waͤhrend wir uns unmuthig ein¬ huͤllen in den Purpurmantel des deutſchen Hel¬ denblutes, koͤmmt ein politiſcher Schalk und ſetzt uns die Schellenkappe auf's Haupt. Eben die Literaturen unſerer Nachbaren jenſeits des Rheins und des Canals muß man mit unſerer Bagatell - Literatur vergleichen, um das Leere und Bedeu¬ tungsloſe unſeres Bagatell-Lebens zu begreifen. Oft, wenn ich die Morning-Chronicle leſe, und in jeder Zeile das engliſche Volk mit ſeiner Nazionalitaͤt erblicke, mit ſeinem Pferderennen, Boxen, Hahnenkaͤmpfen, Aſſiſen, Parlaments¬ debatten u. ſ. w., dann nehme ich wieder, be¬112 truͤbten Herzens, ein deutſches Blatt zur Hand, und ſuche darin die Momente eines Volkslebens, und finde nichts als literariſche Fraubaſereyen und Theatergeklaͤtſche.

Und doch iſt es nicht anders zu erwarten. Iſt in einem Volke alles oͤffentliche Leben unter¬ druͤckt, ſo ſucht es dennoch Gegenſtaͤnde fuͤr ge¬ meinſame Beſprechung, und dazu dienen ihm in Deutſchland ſeine Schriftſteller und Comoͤdianten. Statt Pferderennen haben wir ein Buͤcherrennen nach der Leipziger Meſſe. Statt Boxen haben wir Myſtiker und Rationaliſten, die ſich in ihren Pamphlets herumbalgen, bis die Einen zur Ver¬ nunft kommen, und den Anderen Hoͤren und Sehen vergeht und der Glauben bey ihnen Ein¬ gang findet. Statt Hahnenkaͤmpfe haben wir Journale, worin arme Teufel, die man dafuͤr fuͤttert, ſich einander den guten Namen zerreißen, waͤhrend die Philiſter freudig ausrufen: ſieh! das iſt ein Haupthahn! dem dort ſchwillt der Kamm! der hat einen ſcharfen Schnabel! das junge Haͤhnchen113 muß ſeine Federn erſt ausſchreiben, man muß es anſpornen u. ſ. w. In ſolcher Art haben wir auch unſere oͤffentlichen Aſſiſen, und das ſind die loͤſchpapiernen, ſaͤchſiſchen Literaturzeitungen, worin jeder Dummkopf von ſeines Gleichen ge¬ richtet wird, nach den Grundſaͤtzen eines litera¬ riſchen Criminalrechts, das der Abſchreckungs¬ theorie huldigt, und, als ein Verbrechen jedes Buch beſtraft. Zeigt der Verfaſſer deſſelben etwas Geiſt, ſo iſt das Verbrechen qualifizirt. Kann er aber ſein Geiſtesalibi beweiſen, ſo wird die Strafe gemildert. Freylich, bey dieſer literari¬ ſchen Criminaljuſtiz iſt es ebenfalls ein großes Gebrechen, daß dem richterlichen Ermeſſen ſo viel uͤberlaſſen bleibt, um ſo mehr, da unſere Buͤcherrichter, eben ſo wie Fallſtaff, ſich ihre Gruͤnde nicht abzwingen laſſen, und manchmal ſelbſt geheime Suͤnder ſind und vorausſehen, daß ſie morgen von denſelben Deliquenten gerichtet werden, uͤber die ſie heute das Urtheil ſprechen. Die Jugend iſt in unſerer literariſchen Criminal¬8114juſtiz ein bedeutender Milderungsgrund, und mancher alte Schriftſteller wird gelinde beur¬ theilt, weil man ihn fuͤr ein Kind haͤlt. Sogar die in der letzten Zeit aufgekommene Erfahrung, daß junge Menſchen, zur Zeit der Entwickelung ihrer Pubertaͤt, ein krankhaftes Geluͤſte tragen, Brand zu ſtiften, hat auch in der Aeſthetik ihren Einfluß gehabt, und man urtheilt deßhalb ge¬ linder uͤber ſo manche Flammentragoͤdie, z. B. die Tragoͤdie jenes feurigen Juͤnglings, der nichts geringeres als den koͤniglichen Pallaſt zu Perſepolis in Brand geſteckt hat. Wir haben, um Vergleichungen fortzuſetzen, gewiſ¬ ſermaßen auch unſere Parlamentsdebatten, und damit meine ich unſre Theaterkritiken; wie denn unſer Schauſpiel ſelbſt gar fuͤglich das Haus der Gemeinen genannt werden kann, von wegen der vielen Gemeinheiten die darin bluͤ¬ hen, von wegen des plattgetretenen Franzoͤſi¬ ſchen Unflats, den unſer Publikum, ſelbſt wenn man ihm am ſelben Abend ein Raupachſches115 Luſtſpiel gegeben hat, gar ruhig verzehrt, gleich einer Fliege, die, wenn ſie von einem Honig¬ topfe weggetrieben wird, ſich gleich mit dem beſten Appetit auf einen Quark ſetzt und ihre Mahlzeit damit beſchließt. Ich habe hier vor¬ zuͤglich im Sinne Raupachs Bekehrten , die ich vorigen Winter zu Hamburg, von den ausgezeichnetſten Schauſpielern auffuͤhren ſah, und zwar mit eben ſo vielem Beyfall, wie die Schuͤlerſchwaͤnke , ein parfuͤmirtes Quaͤrkchen, das gleich darauf, an demſelben Abend, gegeben wurde. Aber auf unſerem Theater gedeiht nicht bloß Miſt, ſondern auch Gift. In der That, hoͤre ich wie in unſeren Luſtſpielen die heilig¬ ſten Sitten und Gefuͤhle des Lebens, in einem liederlichen Tone und ſo leichtfertig ſicher abge¬ leyert werden, daß man am Ende ſelbſt gewoͤhnt wird, ſie als die gleichguͤltigſten Dinge zu be¬ trachten, hoͤre ich jene kammerdienerliche Liebes¬ erklaͤrungen, die ſentimentalen Freundſchafts¬ buͤndniſſe zu gemeinſchaftlichem Betrug, die la¬116 chenden Plane zur Taͤuſchung der Eltern oder Ehegatten, und wie all dieſe ſtereotypen Luſt¬ ſpielmotive heißen moͤgen, ach! ſo erfaßt mich inneres Grauen und bodenloſer Jammer, und ich ſchaue, aͤngſtlichen Blickes, nach den armen, unſchuldigen Engelkoͤpfchen, denen im Theater dergleichen, gewiß nicht ohne Erfolg, vordekla¬ mirt wird.

Die Klagen uͤber Verfall und Verderbniß des deutſchen Luſtſpiels, wie ſie aus ehrlichen Herzen hervorgeſeufzt werden, der kritiſche Eifer Tieck's und Zimmermann's, die bey der Reini¬ gung unſers Theaters ein muͤhſameres Geſchaͤft haben, als Herkules im Stalle des Augias, da unſer Theaterſtall gereinigt werden ſoll waͤhrend die Ochſen noch darin ſind; die Beſtre¬ bungen hochbegabter Maͤnner, die ein romanti¬ ſches Luſtſpiel begruͤnden moͤchten, die trefflichſte und treffendſte Satire, wie z. B. Robert's Pa¬ radiesvogel nichts will fruchten, Seufzer, Rathſchlaͤge, Verſuche, Geißelhiebe, Alles be¬117 wegt nur die Luft, und jedes Wort, das man daruͤber ſpricht, iſt wahrhaft in den Wind geredet.

Unſer Oberhaus, die Tragoͤdie, zeigt ſich in hoͤherem Glanze. Ich meine hinſichtlich der Couliſſen, Dekorazionen und Garderoben. Aber auch hier giebt es ein Ziel. Im Theater der Roͤmer haben Elephanten auf dem Seile getanzt und große Spruͤnge gemacht; weiter aber konnt 'es der Menſch nicht bringen, und das roͤmiſche Reich ging unter, und bey dieſer Gelegenheit auch das roͤmiſche Theater. Auf unſeren Theatern fehlt es in den Tragoͤdien zwar auch nicht an Tanz und Spruͤngen, aber dieſe werden hier von den jungen Tragoͤden ſelbſt vollbracht; und da es wohl geſchah, daß Frauenzimmer durch große Spruͤnge ploͤtzlich zum Manne geworden, ſo handelt ein weibi¬ ſches Poetlein wahrhaft pfiffig, wenn es mit ſeinen lahmen Jamben recht große Alexander¬ ſpruͤnge verſucht.

118

Da aber einmal von deutſcher Literaturmiſere die Rede iſt, und ich jetzt noch nicht geſonnen bin, mich reichlicher daruͤber zu verbreiten, ſo mag wohl hier eine fuͤgliche Stelle ſeyn zum Einſchalten der folgenden Xenien, die aus der Feder Immermann's, meines hohen Mitſtreben¬ den, gefloſſen ſind, und die mir derſelbe juͤngſthin geſchenkt hat. Die Gleichgeſinnten danken mir gewiß fuͤr die Mittheilung dieſer Verſe, und bis auf wenige Ausnahmen, die ich mit Sternen bezeichne, will ich ſie gern als meine eigne Ge¬ ſinnung vertreten.

Der poetiſche Literator.

Laß dein Laͤcheln, laß dein Flennen, ſag 'uns ohne Hinterliſt,
Wann Hans Sachs das Licht erblickte, Weckherlin geſtorben iſt.
119
Alle Menſchen muͤſſen ſterben, ſpricht das Maͤnnlein mit Bedeutung.
Alter Junge, deſſengleichen iſt uns keine große Zeitung.
Mit vergeß'nen, alten Schwarten ſchmiert er ſeine Autorſtiefeln,
Daß er dazu heiter weine, frißt er fromm poet'ſche Zwiefeln.
* Willſt du commentiren, Fraͤnzel, mindeſtens verſchon 'den Luther,
Dieſer Fiſch behagt uns beſſer, ohne die zerlaß'ne Butter.

Dramatiker.

1.

* Nimmer ſchreib 'ich mehr Tragoͤdien, mich am Publikum zu raͤchen!
Schimpf' uns, wie du willſt, mein Guter, aber halte dein Verſprechen.
120

2.

Dieſen Reiterlieutnant muͤſſet, Stachelverſe, ihr verſchonen;
Denn er commandirt Sentenzen und Gefuͤhl 'in Escadronen.

3.

Waͤr 'Melpomene ein Maͤdchen, gut, gefuͤhlvoll und natuͤrlich,
Rieth ich ihr: Heirathe dieſen, der ſo milde und ſo zierlich.

4.

Seiner vielen Suͤnden wegen geht der todte Kotzebue
Um in dieſem Ungethuͤme ohne Struͤmpfe, ohne Schuhe.
Und ſo kommt zu vollen Ehren tiefe Lehr 'aus grauen Jahren,
Daß die Seelen der Verſtorb'nen muͤſſen in die Beſtien fahren.
121

Oeſtliche Poeten.

Groß 'mérite iſt es jetzo, nach Saadi's Art zu girren,
Doch mir ſcheint's egal gepudelt, ob wir oͤſtlich, weſtlich irren.
Sonſten ſang, bey'm Mondenſcheine, Nachtigall seu Philomele;
Wenn jetzt Buͤlbuͤl floͤtet, ſcheint es mir denn doch dieſelbe Kehle.
Alter Dichter, Du gemahnſt mich, als wie Hameln's Rattenfaͤnger;
Pfeifſt nach Morgen, und es folgen all die lieben, kleinen Saͤnger.
Aus Bequemlichkeit verehren ſie die Kuͤhe frommer Inden,
Daß ſie den Olympus moͤgen naͤchſt in jedem Kuhſtall finden.
122
Von den Fruͤchten, die ſie aus dem Gartenhain von Schiras ſtehlen,
Eſſen ſie zu viel, die Armen, und vomiren dann Ghaſelen.

* Glockentoͤne.

Seht den dicken Paſtor, dorten unter ſeiner Thuͤr im Staate,
Laͤutet mit den Glocken, daß man ihn verehr 'in dem Ornate.
Und es kamen, ihn zu ſchauen, flugs die Blinden und die Lahmen,
Engebruſt und Krampf, beſonders Hyſteriegeplagte Damen.
Weiße Salbe weder heilet, noch verſchlimmert irgend Schaͤden,
Weiße Salbe findeſt jetzo du in allen Buͤcher¬ laͤden.
123
Geht's ſo fort, und laͤßt ſich jeder Pfaffe ferner adoriren,
Werd 'ich in den Schooß der Kirche ehebaldigſt retourniren.
Dort gehorch 'ich einem Papſte, und verehr' ein praesens Numen,
Aber hier macht ſich zum numen jeglich ordinirtes lumen.

Orbis pictus.

Haͤtte einen Hals das ganze weltverderbende Gelichter,
Einen Hals, ihr hohen Goͤtter: Prieſter, Hiſtrio¬ nen, Dichter!
124
In die Kirche ging ich Morgens, um Komoͤdien zu ſchauen,
Abends in's Theater, um mich an der Predigt zu erbauen.
Selbſt der liebe Gott verlieret ſehr bey mir an dem Gewichte,
Weil nach ihrem Ebenbilde ſchnitzen ihn viel tauſend Wichte.
Wenn ich Euch gefall ', ihr Leute, duͤnk' ich mich ein Leineweber,
Aber, wenn ich Euch verdrieße, ſeht, das ſtaͤrkt mir meine Leber.
Ganz bewaͤltigt er die Sprache; ja, es iſt, ſich todt zu lachen,
Seht nur, was fuͤr tolle Spruͤnge laͤſſet er die Arme machen.
125
Vieles Schlimme kann ich dulden, aber eins iſt mir zum Ekel,
Wenn der nervenſchwache Zaͤrtling ſpielt den genialen Rekel.
* Damals mocht'ſt du mir gefallen, als du buhlteſt mit Lucindchen,
Aber, o der frechen Liebſchaft! mit Marien wollen ſuͤnd'gen.
Erſt in England, dann in Spanien, jetzt in Brahma's Finſterniſſen,
Ueberall umhergeſtrichen, deutſchen Rock und Schuh zerriſſen.
Wenn die Damen ſchreiben, kramen ſtets ſie aus von ihren Schmerzen,
Fausses couches, touchirter Tugend ach, die gar zu offnen Herzen!
126
Laßt die Damen mir zufrieden; daß ſie ſchreiben, find 'ich raͤthlich,
Fuͤhrt die Frau die Amor-Feder, wird ſie wenigſtens nicht ſchaͤdlich.
Glaubt, das Schriftenthum wird gleichen bald den aͤrgſten Rockenſtuben,
Die Gevatterinnen ſchnacken, und es hoͤren zu die Buben.
Waͤr 'ich Dſchingischan, o China, waͤrſt du laͤngſt von mir vernichtet,
Dein verdammtes Theegeplaͤtſcher hat uns langſam hingerichtet.
Alles ſetzet ſich zur Ruhe, und der Groͤßte wird geduldig,
Streicht gemaͤchlich ein, was fruͤh're Zeiten blieben waren ſchuldig.
127
Jene Stadt iſt voller Verſe, Toͤne, Statuen, Schilderey'n,
Wurſthans ſteht mit der Trompete an dem Thor, und ſchreit: Herein!
Dieſe Reime klingen ſchaͤndlich, ohne Metrum und Caeſuren;
Wollt in Uniform ihr ſtecken literariſche Pan¬ duren?
Sag, wie kommſt du nur zu Worten, die ſo grob und ungezogen?
Freund, im wuͤſten Marktgedraͤnge braucht man ſeine Ellenbogen.
Aber du haſt auch bereimet, was unlaͤugbar gut und groß.
Miſcht der Beſte ſich zum Plebſe, duldet er des Plebſes Loos.
128
Wenn die Sommerfliegen ſchwaͤrmen, toͤdtet Ihr ſie mit den Klappen,
Und nach dieſen Reimen werdet ſchlagen Ihr mit Euren Kappen.
[129]

Ideen.

Das Buch Le Grand.

1826.

9[130]
Das Geſchlecht der Oerindur,
Unſres Thrones feſte Saͤule,
Soll beſtehn, ob die Natur
Auch damit zu Ende eile.
Muͤllner.
[131]

Evelina empfange dieſe Blaͤtter als ein Zeichen der Freundſchaft und Liebe des Verfaſſers.

[132][133]

Capitel I.

Sie war liebenswuͤrdig, und Er liebte Sie! Er aber war nicht liebenswuͤrdig, und Sie liebte ihn nicht.
((Altes Stuͤck.) )

Madame, kennen Sie das alte Stuͤck? Es iſt ein ganz außerordentliches Stuͤck, nur etwas zu ſehr melancholiſch. Ich hab 'mal die Hauptrolle darin geſpielt und da weinten alle Damen, nur eine Einzige weinte nicht, nicht eine einzige Thraͤne weinte ſie, und das war eben die Pointe des Stuͤcks, die eigentliche Kataſtrophe

134

O dieſe einzige Thraͤne! ſie quaͤlt mich noch immer in Gedanken; der Satan, wenn er meine Seele verderben will, fluͤſtert mir ins Ohr ein Lied von dieſer ungeweinten Thraͤne, ein fatales Lied mit einer noch fataleren Melodie ach, nur in der Hoͤlle hoͤrt man dieſe Melodie!

Wie man im Himmel lebt, Madame, koͤnnen Sie ſich wohl vorſtellen, um ſo eher, da Sie verheurathet ſind. Dort amuͤſirt man ſich ganz ſuͤperbe, man hat alle moͤgliche Vergnuͤgungen, man lebt in lauter Luſt und Plaiſir, ſo recht wie Gott in Frankreich. Man ſpeiſt von Mor¬ gen bis Abend, und die Kuͤche iſt ſo gut wie die Jagorſche, die gebratenen Gaͤnſe fliegen herum mit den Sauceſchuͤſſelchen im Schnabel, und fuͤhlen ſich geſchmeichelt, wenn man ſie verzehrt, butterglaͤnzende Torten wachſen wild wie Son¬ nenblumen, uͤberall Baͤche mit Bouillon und135 Champagner, uͤberall Baͤume, woran Servietten flattern, und man ſpeiſt und wiſcht ſich den Mund, und ſpeiſt wieder ohne ſich den Magen zu verderben, man ſingt Pſalmen oder man taͤndelt und ſchaͤkert mit den lieben, zaͤrtlichen Engelein, oder man geht ſpatzieren auf der gruͤnen Halleluja-Wieſe, und die weißwallen¬ den Kleider ſitzen ſehr bequem, und nichts ſtoͤrt da das Gefuͤhl der Seligkeit, kein Schmerz, kein Mißbehagen, ja ſogar, wenn Einer dem Andern zufaͤllig auf die Huͤhneraugen tritt und excusez! ausruft, ſo laͤchelt dieſer wie verklaͤrt und ver¬ ſichert: dein Tritt, Bruder, ſchmerzt nicht, ſondern au contraire, mein Herz fuͤhlt dadurch nur deſto ſuͤßere Himmelswonne.

Aber von der Hoͤlle, Madame, haben Sie gar keine Idee. Von allen Teufeln kennen Sie vielleicht nur den kleinſten, das Beelzebuͤbchen Amor, den artigen Croupier der Hoͤlle, und dieſe ſelbſt kennen ſie nur aus dem Don Juan, und136 fuͤr dieſen Weiberbetruͤger, der ein boͤſes Beyſpiel giebt, duͤnkt ſie Ihnen niemals heiß genug, obgleich unſere hochloͤblichen Theaterdirectionen ſoviel Flammenſpectakel, Feuerregen, Pulver und Colophonium dabey aufgehen laſſen, wie es nur irgend ein guter Chriſt in der Hoͤlle verlangen kann.

Indeſſen, in der Hoͤlle ſieht es viel ſchlimmer aus, als unſere Theaterdirectoren wiſſen ſie wuͤrden auch ſonſt nicht ſo viele ſchlechte Stuͤcke auffuͤhren laſſen in der Hoͤlle iſt es ganz hoͤlliſch heiß, und als ich mal in den Hunds¬ tagen dort war, fand ich es nicht zum Aushalten. Sie haben keine Idee von der Hoͤlle, Madame. Wir erlangen dorther wenig offizielle Nachrichten. Daß die armen Seelen da drunten den ganzen Tag all die ſchlechten Predigten leſen muͤſſen, die hier oben gedruckt werden das iſt Ver¬ laͤumdung. So ſchlimm iſt es nicht in der Hoͤlle, ſo raffinirte Qualen wird Satan niemals137 erſinnen. Dagegen iſt Dante's Schilderung etwas zu maͤßig, im Ganzen allzupoetiſch. Mir erſchien die Hoͤlle wie eine große buͤrgerliche Kuͤche, mit einem unendlich langen Ofen, worauf drey Reihen eiſerne Toͤpfe ſtanden, und in dieſen ſaßen die Verdammten und wurden gebraten. In der einen Reihe ſaßen die chriſtlichen Suͤn¬ der, und ſollte man es wohl glauben! ihre Anzahl war nicht allzuklein, und die Teufel ſchuͤrten unter ihnen das Feuer mit beſonderer Geſchaͤftigkeit. In der anderen Reihe ſaßen die Juden, die beſtaͤndig ſchrieen und von den Teufeln zuweilen geneckt wurden, wie es ſich denn gar poßierlich ausnahm, als ein dicker, puſtender Pfaͤnderverleiher uͤber allzugroße Hitze klagte, und ein Teufelchen ihm einige Eimer kaltes Waſſer uͤber den Kopf goß, damit er ſaͤhe, daß die Taufe eine wahre erfriſchende Wohlthat ſey. In der dritten Reihe ſaßen die Heiden, die, eben ſo wie die Juden, der Selig¬ keit nicht theilhaftig werden koͤnnen, und ewig138 brennen muͤſſen. Ich hoͤrte, wie einer derſelben, dem ein vierſchroͤtiger Teufel neue Kohlen unter¬ legte, gar unwillig aus dem Topfe hervorrief: Schone meiner, ich war Sokrates, der Weiſeſte der Sterblichen, ich habe Wahrheit und Gerech¬ tigkeit gelehrt und mein Leben geopfert fuͤr die Tugend. Aber der vierſchroͤtige, dumme Teu¬ fel ließ ſich in ſeinem Geſchaͤfte nicht ſtoͤren und brummte; Ey was! alle Heiden muͤſſen brennen, und wegen eines einzigen Menſchen duͤrfen wir keine Ausnahme machen. Ich verſichere Sie, Madame, es war eine fuͤrchterliche Hitze, und ein Schreyen, Seufzen, Stoͤhnen, Quaͤken, Greinen, Quiriliren und durch all dieſe ent¬ ſetzlichen Toͤne drang vernehmbar jene fatale Melodie des Liedes von der ungeweinten Thraͤne.

139

Capitel II.

Sie war liebenswuͤrdig, und Er liebte Sie; Er aber war nicht liebenswuͤrdig, und Sie liebte ihn nicht.
((Altes Stuͤck.) )

Madame! das alte Stuͤck iſt eine Tragoͤdie, obſchon der Held darin weder ermordet wird, noch ſich ſelbſt ermordet. Die Augen der Heldin ſind ſchoͤn, ſehr ſchoͤn Madame, riechen Sie nicht Veilchenduft? ſehr ſchoͤn, und doch ſo ſcharfgeſchliffen, daß ſie mir wie glaͤſerne Dolche durch das Herz drangen, und gewiß aus meinem Ruͤcken wieder herausguckten aber ich ſtarb doch nicht an dieſen meuchelmoͤrderiſchen Augen. Die Stimme der Heldin iſt auch ſchoͤn Ma¬ dame, hoͤrten Sie nicht eben eine Nachtigall140 ſchlagen? eine ſchoͤne, ſeidne Stimme, ein ſuͤßes Geſpinnſt der ſonnigſten Toͤne, und meine Seele ward darin verſtrickt und wuͤrgte ſich und quaͤlte ſich. Ich ſelbſt es iſt der Graf vom Ganges, der jetzt ſpricht, und die Geſchichte ſpielt in Venedig ich ſelbſt hatte mal der¬ gleichen Quaͤlereyen ſatt, und dachte ſchon im erſten Akte dem Spiel ein Ende zu machen, und die Schellenkappe mitſammt dem Kopfe herunter zu ſchießen, und ich ging nach einem Galanterie¬ laden auf der Via Burſtah, wo ich ein paar ſchoͤne Piſtolen in einem Kaſten ausgeſtellt fand ich erinnere mich deſſen noch ſehr gut, es ſtanden daneben viel freudige Spielſachen von Perlemutter und Gold, eiſerne Herzen an guͤl¬ denen Kettlein, Porzellantaſſen mit zaͤrtlichen Deviſen, Schnupftabaksdoſen mit huͤbſchen Bil¬ dern, z. B. die goͤttliche Geſchichte von der Suſanna, der Schwanengeſang der Leda, der Raub der Sabinerinnen, die Lukrezia, das dicke Tugendmenſch, mit dem entbloͤßten Buſen, in141 den ſie ſich den Dolch nachtraͤglich hineinſtoͤßt, die ſelige Bethmann, la belle ferronière, lauter lockende Geſichter aber ich kaufte doch die Piſtolen, ohne viel zu dingen, und dann kauft 'ich Kugeln, dann Pulver, und dann ging ich in den Keller des Signor Unbeſcheiden, und ließ mir Auſtern und ein Glas Rheinwein vorſtellen

Eſſen konnt 'ich nicht und trinken noch viel weniger. Die heißen Tropfen fielen in's Glas, und im Glas ſah ich die liebe Heimath, den blauen, heiligen Ganges, den ewigſtrahlenden Himalaya, die rieſigen Banianenwaͤlder, in deren weiten Laubgaͤngen die klugen Elephanten und die weißen Pilger ruhig wandelten, ſeltſam traͤu¬ meriſche Blumen ſahen mich an, heimlich mah¬ nend, goldne Wundervoͤgel jubelten wild, flim¬ mernde Sonnenſtrahlen und ſuͤßnaͤrriſche Laute von lachenden Affen neckten mich lieblich, aus fernen Pagoden ertoͤnten die frommen Prieſtergebete, und dazwiſchen klang die ſchmelzend klagende142 Stimme der Sultanin von Delhi in ihrem Teppichgemache rannte ſie ſtuͤrmiſch auf und nieder, ſie zerriß ihren ſilbernen Schleyer, ſie ſtieß zu Boden die ſchwarze Sklavin mit dem Pfauenwedel, ſie weinte, ſie tobte, ſie ſchrie Ich konnte ſie aber nicht verſtehen, der Keller des Signor Unbeſcheiden iſt 3000 Meilen entfernt vom Harem zu Delhi, und dazu war die ſchoͤne Sultanin ſchon todt ſeit 3000 Jahren und ich trank haſtig den Wein, den hellen, freudigen Wein, und doch wurde es in meiner Seele immer dunkler und trauriger Ich war zum Tode verurtheilt

Als ich die Kellertreppe wieder hinaufſtieg, hoͤrte ich das Armeſuͤndergloͤckchen laͤuten, die Menſchenmenge wogte voruͤber, ich aber ſtellte mich an die Ecke der Strada di San Giovanni und hielt folgenden Monolog:

143
In alten Maͤhrchen giebt es gold'ne Schloͤſſer,
Wo Harfen klingen, ſchoͤne Jungfrau'n tanzen,
Und ſchmucke Diener blitzen, und Jasmin
Und Myrth 'und Roſen ihren Duft verbreiten
Und doch ein einziges Entzaubrungswort
Macht all die Herrlichkeit im Nu zerſtieben,
Und uͤbrig bleibt nur alter Truͤmmerſchutt
Und kraͤchzend Nachtgevoͤgel und Moraſt.
So hab' auch ich, mit einem einz'gen Worte,
Die ganze bluͤhende Natur entzaubert.
Da liegt ſie nun leblos und kalt und fahl,
Wie eine aufgeputzte Koͤnigsleiche,
Der man die Backenknochen roth gefaͤrbt
Und in die Hand ein Zepter hat gelegt.
Die Lippen aber ſchauen gelb und welk,
Weil man vergaß ſie gleichfalls roth zu ſchminken,
Und Maͤuſe ſpringen um die Koͤnigsnaſe,
Und ſpotten frech des großen, goldnen Zepters.

Es iſt allgemein rezipirt, Madame, daß man einen Monolog haͤlt, ehe man ſich todt ſchießt.

144

Die meiſten Menſchen benutzen bey ſolcher Ge¬ legenheit das hamletiſche Seyn oder Nichtſeyn. Es iſt eine gute Stelle und ich haͤtte ſie hier auch gern zitirt aber, jeder iſt ſich ſelbſt der naͤchſte, und hat man, wie ich, ebenfalls Tra¬ goͤdien geſchrieben, worin ſolche Lebensabiturien¬ ten-Reden enthalten ſind, z. B. den unſterblichen Almanſor , ſo iſt es ſehr natuͤrlich, daß man ſeinen eignen Worten, ſogar vor den Shakespear¬ ſchen, den Vorzug giebt. Auf jeden Fall ſind ſolche Reden ein ſehr nuͤtzlicher Brauch; man gewinnt dadurch wenigſtens Zeit Und ſo ge¬ ſchah es, daß ich an der Ecke der Strada di San Giovanni etwas lange ſtehen blieb und als ich da ſtand, ein Verurtheilter, der dem Tode geweiht war, da erblickte ich ploͤtzlich Sie!

Sie trug ihr blauſeidnes Kleid, und den roſa¬ rothen Hut, und ihr Auge ſah mich an ſo mild, ſo todtbeſiegend, ſo lebenſchenkend Madame, Sie wiſſen wohl aus der roͤmiſchen Geſchichte,145 daß, wenn die Veſtalinnen im alten Rom auf ihrem Wege einem Verbrecher begegneten, der zur Hinrichtung gefuͤhrt wurde, ſo hatten ſie das Recht, ihn zu begnadigen, und der arme Schelm blieb am Leben Mit einem einzigen Blick hat ſie mich vom Tode gerettet, und ich ſtand vor ihr wie neubelebt, wie geblendet vom Sonnen¬ glanze ihrer Schoͤnheit, und ſie ging weiter und ließ mich am Leben.

10146

Capitel III.

Und ſie ließ mich am Leben, und ich lebe, und das iſt die Hauptſache.

Moͤgen Andre das Gluͤck genießen, daß die Geliebte ihr Grabmal mit Blumenkraͤnzen ſchmuͤckt und mit Thraͤnen der Treue benetzt O, Wei¬ ber! haßt mich, verlacht mich, bekorbt mich! aber laßt mich leben! Das Leben iſt gar zu ſpaßhaft ſuͤß, und die Welt iſt ſo lieblich ver¬ worren, ſie iſt der Traum eines weinberauſchten Gottes, der ſich aus der zechenden Goͤtterver¬ ſammlung à la française fortgeſchlichen, und auf147 einem einſamen Stern ſich ſchlafen gelegt, und ſelbſt nicht weiß, daß er alles das auch erſchafft was er traͤumt und die Traumgebilde geſtal¬ ten ſich oft buntſcheckig toll, oft auch harmoniſch vernuͤnftig die Ilias, Plato, die Schlacht bey Marathon, Moſes, die medizaͤiſche Venus, der ſtraßburger Muͤnſter, die franzoͤſiſche Revoluzion, Hegel, die Dampfſchiffe u. ſ. w. ſind einzelne gute Gedanken in dieſem ſchaffenden Gottes¬ traum aber es wird nicht lange dauern, und der Gott erwacht, und reibt ſich die verſchlafenen Augen, und laͤchelt und unſre Welt iſt zer¬ ronnen in Nichts, ja, ſie hat nie exiſtirt.

Gleichviel! ich lebe. Bin ich auch nur das Schattenbild in einem Traum, ſo iſt auch dieſes beſſer als das kalte, ſchwarze, leere Nichtſeyn des Todes. Das Leben iſt der Guͤter hoͤchſtes, und das ſchlimmſte Uebel iſt der Tod. Moͤgen berlini¬ ſche Gardelieutnants immerhin ſpoͤtteln und es Feig¬ heit nennen, daß der Prinz von Homburg zuruͤck¬148 ſchaudert, wenn er ſein offnes Grab erblickt Heinrich Kleiſt hatte dennoch eben ſo viel Cou¬ rage wie ſeine hochbruͤſtigen, wohlgeſchnuͤrten Collegen, und er hat es leider bewieſen. Aber alle kraͤftige Menſchen lieben das Leben. Goethes Egmont ſcheidet nicht gern von der freundli¬ chen Gewohnheit des Daſeyns und Wirkens. Immermanns Edwin haͤngt am Leben wie'n Kindlein an der Mutter Bruͤſten und obgleich es ihm hart ankoͤmmt, durch fremde Gnade zu leben, ſo fleht er dennoch um Gnade:

Weil Leben, Athmen doch das Hoͤchſte iſt.

Wenn Odyſſeus in der Unterwelt den Achilleus als Fuͤhrer todter Helden ſieht, und ihn preiſt we¬ gen ſeines Ruhmes bey den Lebendigen und ſeines Anſehens ſogar bey den Todten, antwortet dieſer:

Nicht mir rede vom Tod 'ein Troſtwort, edler Odyſſeus!
Lieber ja wollt' ich das Feld als Tageloͤhner beſtellen
149
Einem duͤrftigen Mann, ohn 'Erbe und eigenen Wohlſtand,
Als die ſaͤmmtliche Schaar der geſchwundenen Todten beherrſchen.

Ja, als der Major Duͤvent den großen Israel Loͤwe auf Piſtolen forderte und zu ihm ſagte: wenn Sie ſich nicht ſtellen, Herr Loͤwe, ſo ſind Sie ein Hund! da antwortete dieſer: ich will lieber ſeyn ein lebendiger Hund als ein todter Loͤwe! Und er hatte Recht Ich habe mich oft genug geſchlagen, Madame, um dieſes ſagen zu duͤrfen Gottlob! ich lebe! In mei¬ nen Adern kocht das rothe Leben, unter meinen Fuͤßen zuckt die Erde, in Liebesgluth umſchlinge ich Baͤume und Marmorbilder, und ſie werden lebendig in meiner Umarmung. Jedes Weib iſt mir eine geſchenkte Welt, ich ſchwelge in den Melodien ihres Antlitzes, und mit einem einzi¬ gen Blick meines Auges kann ich mehr genießen als Andre, mit ihren ſaͤmmtlichen Gliedmaßen,150 Zeit ihres Lebens. Jeder Augenblick iſt mir ja eine Unendlichkeit; ich meſſe nicht die Zeit mit der brabanter, oder mit der kleinen hamburger Elle, und ich brauche mir von keinem Prieſter ein zweites Leben verſprechen zu laſſen, da ich ſchon in dieſem Leben genug erleben kann, wenn ich ruͤckwaͤrts lebe, im Leben der Vorfahren, und mir die Ewigkeit erobere im Reiche der Vergangenheit.

Und ich lebe! Der große Pulsſchlag der Natur bebt auch in meiner Bruſt, und wenn ich jauchze, antwortet mir ein tauſendfaͤltiges Echo. Ich hoͤre tauſend Nachtigallen. Der Fruͤhling hat ſie geſendet, die Erde aus ihrem Morgen¬ ſchlummer zu wecken, und die Erde ſchauert vor Entzuͤcken, ihre Blumen ſind die Hymnen, die ſie in Begeiſterung der Sonne entgegenſingt die Sonne bewegt ſich viel zu langſam, ich moͤchte ihre Feuerroſſe peitſchen, damit ſie ſchneller dahinjagen Aber wenn ſie ziſchend in's Meer151 hinabſinkt, und die große Nacht heraufſteigt, mit ihrem großen, ſehnſuͤchtigen Auge. O! dann durchbebt mich erſt recht die rechte Luſt, wie ſchmeichelnde Maͤdchen legen ſich die Abendluͤfte an mein brauſendes Herz, und die Sterne win¬ ken, und ich erhebe mich, und ſchwebe uͤber der kleinen Erde und den kleinen Gedanken der Menſchen.

152

Capitel IV.

Aber einſt wird kommen der Tag, und die Gluth in meinen Adern iſt erloſchen, in meiner Bruſt wohnt der Winter, ſeine weißen Flocken umflattern ſpaͤrlich mein Haupt, und ſeine Nebel verſchleyern mein Auge. In verwitterten Graͤ¬ bern liegen meine Freunde, ich allein bin zuruͤck¬ geblieben, wie ein einſamer Halm, den der Schnitter vergeſſen, ein neues Geſchlecht iſt her¬ vorgebluͤht mit neuen Wuͤnſchen und neuen Ge¬ danken, voller Verwundrung hoͤre ich neue Na¬ men und neue Lieder, die alten Namen ſind ver¬ ſchollen, und ich ſelbſt bin verſchollen, vielleicht153 noch von Wenigen geehrt, von Vielen verhoͤhnt, und von Niemanden geliebt! Und es ſpringen heran zu mir die roſenwangigen Knaben, und druͤcken mir die alte Harfe in die zitternde Hand, und ſprechen lachend: du haſt ſchon lange ge¬ ſchwiegen, du fauler Graukopf, ſing 'uns wieder Geſaͤnge von den Traͤumen deiner Jugend.

Dann ergreif 'ich die Harfe, und die alten Freuden und Schmerzen erwachen, die Nebel zerrinnen, Thraͤnen bluͤhen wieder aus meinen todten Augen, es fruͤhlingt wieder in meiner Bruſt, ſuͤße Toͤne der Wehmuth beben in den Saiten der Harfe, ich ſehe wieder den blauen Fluß, und die marmornen Pallaͤſte, und die ſchoͤ¬ nen Frauen - und Maͤdchengeſichter und ich ſinge ein Lied von den Blumen der Brenta.

Es wird mein letztes Lied ſeyn, die Sterne werden mich anblicken wie in den Naͤchten mei¬ ner Jugend, das verliebte Mondlicht kuͤßt wieder meine Wangen, die Geiſterchoͤre verſtorbener154 Nachtigallen floͤten aus der Ferne, ſchlaftrunken ſchließen ſich meine Augen, meine Seele verhallt wie die Toͤne meiner Harfe es duften die Blumen der Brenta.

Ein Baum wird meinen Grabſtein beſchatten. Ich haͤtte gern eine Palme, aber dieſe gedeiht nicht im Norden. Es wird wohl eine Linde ſeyn, und Sommerabends werden dort die Liebenden ſitzen und koſen; der Zeiſig, der ſich lauſchend in den Zweigen wiegt, iſt verſchwiegen, und meine Linde rauſcht traulich uͤber den Haͤuptern der Gluͤcklichen, die ſo gluͤcklich ſind, daß ſie nicht einmal Zeit haben zu leſen, was auf dem weißen Leichenſteine geſchrieben ſteht. Wenn aber ſpaͤter¬ hin der Liebende ſein Maͤdchen verloren hat, dann kommt er wieder zu der wohlbekannten Linde, und ſeufzt und weint, und betrachtet den Leichen¬ ſtein, lang und oft, und lieſt darauf die In¬ ſchrift: Er liebte die Blumen der Brenta.

155

Capitel V.

Madame! ich habe Sie belogen. Ich bin nicht der Graf vom Ganges. Niemals im Leben ſah ich den heiligen Strom, niemals die Lotos¬ blumen, die ſich in ſeinen frommen Wellen be¬ ſpiegeln. Niemals lag ich traͤumend unter indi¬ ſchen Palmen, niemals lag ich betend vor dem Diamantengott zu Jagernaut, durch den mir doch leicht geholfen waͤre. Ich war eben ſo wenig jemals in Kalkutta wie der Kalkuttenbraten, den ich geſtern Mittag gegeſſen. Aber ich ſtamme aus Hindoſtan, und daher fuͤhl 'ich mich ſo wohl in den breiten Sangeswaͤldern, Valmikis, die156 Heldenleiden des goͤttlichen Ramo bewegen mein Herz wie ein bekanntes Weh, aus den Blumen¬ liedern Kalidaſas bluͤh'n mir hervor die ſuͤßeſten Erinnerungen, und als vor einigen Jahren eine guͤtige Dame in Berlin mir die huͤbſchen Bilder zeigte, die ihr Vater, der lange Zeit Gouverneur in Indien war, von dort mitgebracht, ſchienen mir die zartgemalten, heiligſtillen Geſichter ſo wohlbekannt, und es war mir, als beſchaute ich meine eigne Familiengallerie.

Franz Bopp Madame, Sie haben gewiß ſeinen Nalus und ſein Conjugazionsſyſtem des Sanskrit geleſen gab mir manche Auskunft uͤber meine Ahnherren, und ich weiß jetzt genau, daß ich aus dem Haupte Bramahs entſproſſen bin, und nicht aus ſeinen Huͤhneraugen; ich vermuthe ſogar, daß der ganze Mahabarata mit ſeinen 200,000 Verſen bloß ein allegori¬ ſcher Liebesbrief iſt, den mein Urahnherr an meine Uraltermutter geſchrieben O! ſie157 liebten ſich ſehr, ihre Seelen kuͤßten ſich, ſie kuͤßten ſich mit den Augen, ſie waren beide nur ein einziger Kuß

Eine verzauberte Nachtigall ſitzt auf einem rothen Korallenbaum im ſtillen Ocean, und ſingt ein Lied von der Liebe meiner Ahnen, neugierig blicken die Perlen aus ihren Muſchelzellen, die wunderbaren Waſſerblumen ſchauern vor Weh¬ muth die klugen Meerſchnecken, mit ihren bun¬ ten Porzellanthuͤrmchen auf dem Ruͤcken, kom¬ men herangekrochen, die gelben, ſpitzigen See¬ ſterne und die tauſendfarbigen glaͤſernen Quab¬ ben regen und recken ſich, und alles wimmelt und lauſcht

Doch, Madame, dieſes Nachtigallenlied iſt viel zu groß, um es hierherzuſetzen, es iſt ſo groß, wie die Welt ſelbſt, ſchon die Dedicazion an Anangas, den Gott der Liebe, iſt ſo lang wie ſaͤmmtliche Walter-Scottſche Romane, und158 darauf bezieht ſich eine Stelle im Ariſtophanes, welche zu deutſch heißt:

Tiotio, tiotio, tiotinx, Totototo, totototo, tototinx.
((Voſſiſch. Ueberſ.) )

Nein, ich bin nicht geboren in Indien; das Licht der Welt erblickte ich an den Ufern jenes ſchoͤnen Stromes, wo auf gruͤnen Bergen die Thorheit waͤchſt und im Herbſt gepfluͤckt, gekel¬ tert, in Faͤſſer gegoſſen und in's Ausland geſchickt wird Wahrhaftig, geſtern bey Tiſche hoͤrte ich Jemanden eine Thorheit ſprechen, die Anno 1811 in einer Weintraube geſeſſen, welche ich damals ſelbſt auf dem Johannisberg wachſen ſah. Viel Thorheit wird aber auch im Lande ſelbſt conſumirt, und die Menſchen dort ſind wie uͤberall: ſie werden geboren, eſſen, trinken, ſchlafen, lachen, weinen, verlaͤumden, ſind aͤngſt¬ lich beſorgt um die Fortpflanzung ihrer Gattung, ſuchen zu ſcheinen, was ſie nicht ſind, und zu thun, was ſie nicht koͤnnen, laſſen ſich nicht eher159 raſiren, als bis ſie einen Bart haben, und haben oft einen Bart, ehe ſie verſtaͤndig ſind, und wenn ſie verſtaͤndig ſind, berauſchen ſie ſich wie¬ der mit weißer und rother Thorheit.

Mon dieu! wenn ich doch ſo viel Glauben in mir haͤtte, daß ich Berge verſetzen koͤnnte der Johannisberg waͤre derjenige Berg, den ich mir uͤberall nachkommen ließe. Aber da mein Glaube nicht ſo ſtark iſt, muß mir die Phan¬ taſie helfen und ſie verſetzt mich ſelbſt nach dem ſchoͤnen Rhein.

O, da iſt ein ſchoͤnes Land, voll Lieblich¬ keit und Sonnenſchein. Im blauen Strome ſpiegeln ſich die Bergesufer mit ihren Burg¬ ruinen und Waldungen und alterthuͤmlichen Staͤdten Dort vor der Hausthuͤr 'ſitzen die Buͤrgersleute des Sommerabends, und trin¬ ken aus großen Kannen, und ſchwatzen ver¬ traulich: wie der Wein, Gottlob! gedeiht,160 und wie die Gerichte durchaus oͤffentlich ſeyn muͤſſen, und wie die Maria Antoinette ſo mir nichts dir nichts guillotinirt worden, und wie die Tabaksregie den Tabak vertheuert, und wie alle Menſchen gleich ſind, und wie der Goͤrres ein Hauptkerl iſt.

Ich habe mich nie um dergleichen Geſpraͤche bekuͤmmert, und ſaß lieber bey den Maͤdchen am gewoͤlbten Fenſter, und lachte uͤber ihr La¬ chen, und ließ mich mit Blumen in's Geſicht ſchlagen, und ſtellte mich boͤſe, bis ſie mir ihre Geheimniſſe oder irgend eine andre wichtige Geſchichte erzaͤhlte. Die ſchoͤne Gertrud war bis zum Tollwerden vergnuͤgt, wenn ich mich zu ihr ſetzte; es war ein Maͤdchen wie eine flammende Roſe, und als ſie mir einſt um den Hals fiel, glaubte ich, ſie wuͤrde verbrennen und verduften in meinen Armen. Die ſchoͤne Katharine zerfloß in klingender Sanftheit, wenn ſie mit mir ſprach, und ihre Augen wa¬161 ren von einem ſo reinen, innigen Blau, wie ich es noch nie bey Menſchen und nur ſelten bey Blumen gefunden; man ſah gern hinein und konnte ſich ſo recht viel Suͤßes dabey denken. Aber die ſchoͤne Hedwig liebte mich; denn wenn ich zu ihr trat, beugte ſie das Haupt zur Erde, ſo daß die ſchwarzen Locken uͤber das erroͤthende Geſicht herabfielen, und die glaͤnzenden Augen wie Sterne aus dunkelem Himmel hervorleuch¬ teten. Ihre verſchaͤmten Lippen ſprachen kein Wort, und auch ich konnte ihr nichts ſagen. Ich huſtete und ſie zitterte. Sie ließ mich manchmal durch ihre Schweſter bitten, nicht ſo raſch die Felſen zu beſteigen, und nicht im Rheine zu baden, wenn ich mich heiß gelau¬ fen oder getrunken. Ich behorchte mal ihr andaͤchtiges Gebet vor dem Marienbildchen, das mit Goldflittern geziert und von einem brennenden Laͤmpchen umflimmert, in einer Niſche der Hausflur ſtand; ich hoͤrte deutlich, wie ſie die Muttergottes bat: Ihm das Klet¬11162tern, Trinken und Baden zu verbieten. Ich haͤtte mich gewiß in das ſchoͤne Maͤdchen ver¬ liebt, wenn ſie gleichguͤltig gegen mich geweſen waͤre; und ich war gleichguͤltig gegen ſie, weil ich wußte, daß ſie mich liebte Madame, wenn man von mir geliebt ſeyn will, muß man mich en canaille behandeln.

Die ſchoͤne Johanna war die Baſe der drey Schweſtern, und ich ſetzte mich gern zu ihr. Sie wußte die ſchoͤnſten Sagen, und wenn ſie mit der weißen Hand zum Fenſter hinauszeigte, nach den Bergen, wo das alles paſſirt war, was ſie erzaͤhlte, ſo wurde mir ordentlich ver¬ zaubert zu Muthe, die alten Ritter ſtiegen ſichtbar aus den Bergruinen und zerhackten ſich die eiſernen Kleider, die Lore-Ley ſtand wieder auf der Bergesſpitze und ſang hinab ihr ſuͤßver¬ derbliches Lied, und der Rhein rauſchte ſo ver¬ nuͤnftig, beruhigend und doch zugleich neckend ſchauerlich und die ſchoͤne Johanna ſah mich163 an ſo ſeltſam, ſo heimlich, ſo raͤthſelhaft trau¬ lich, als gehoͤrte ſie ſelbſt zu den Maͤhrchen, wovon ſie eben erzaͤhlte. Sie war ein ſchlan¬ kes, blaſſes Maͤdchen, ſie war todtkrank und ſinnend, ihre Augen waren klar wie die Wahr¬ heit ſelbſt, ihre Lippen fromm gewoͤlbt, in den Zuͤgen ihres Antlitzes lag eine große Geſchichte, aber es war eine heilige Geſchichte Etwa eine Liebeslegende? Ich weiß nicht, und ich hatte auch nie den Muth, ſie zu fragen. Wenn ich ſie lange anſah, wurde ich ruhig und hei¬ ter, es ward mir, als ſey ſtiller Sonntag in meinem Herzen und die Engel darin hielten Gottesdienſt.

In ſolchen guten Stunden erzaͤhlte ich ihr Geſchichten aus meiner Kindheit, und ſie hoͤrte immer ernſthaft zu, und ſeltſam! wenn ich mich nicht mehr auf die Namen beſinnen konnte, ſo erinnerte ſie mich daran. Wenn ich ſie als¬ dann mit Verwunderung fragte: woher ſie die164 Namen wiſſe? ſo gab ſie laͤchelnd zur Ant¬ wort, ſie habe ſie von den Voͤgeln erfahren, die an den Flieſen ihres Fenſters niſteten und ſie wollte mich gar glauben machen, dieſes ſeyen die naͤmlichen Voͤgel, die ich einſt als Knabe mit meinem Taſchengelde den hartherzi¬ gen Bauerjungen abgekauft habe, und dann frey fortfliegen laſſen. Ich glaube aber, ſie wußte alles, weil ſie ſo blaß war und wirk¬ lich bald ſtarb. Sie wußte auch, wann ſie ſterben wuͤrde, und wuͤnſchte, daß ich Ander¬ nacht den Tag vorher verlaſſen moͤchte. Beym Abſchied gab ſie mir beide Haͤnde es waren weiße, ſuͤße Haͤnde, und rein wie eine Lilie und ſie ſprach: du biſt ſehr gut, und wenn du boͤſe wirſt, ſo denke wieder an die kleine, todte Veronika.

Haben ihr die geſchwaͤtzigen Voͤgel auch die¬ ſen Namen verrathen? Ich hatte mir in er¬ innerungsſuͤchtigen Stunden ſo oft den Kopf165 zerbrochen und konnte mich nicht mehr auf den lieben Namen erinnern.

Jetzt, da ich ihn wieder habe, will mir auch die fruͤheſte Kindheit wieder im Gedaͤchtniſſe hervorbluͤhen, und ich bin wieder ein Kind und ſpiele mit andern Kindern auf dem Schloßplatze zu Duͤſſeldorf am Rhein.

166

Capitel VI.

Ja, Madame, dort bin ich geboren, und ich bemerke dieſes ausdruͤcklich fuͤr den Fall, daß etwa, nach meinem Tode, ſieben Staͤdte Schilda, Kraͤhwinkel, Polkwitz, Bockum, Duͤlken, Goͤttingen und Schoͤppenſtedt ſich um die Ehre ſtreiten, meine Vaterſtadt zu ſeyn. Duͤſſeldorf iſt eine Stadt am Rhein, es leben da 12,000 Menſchen, und viele hunderttauſend Menſchen liegen noch außerdem da begraben. Und darunter ſind manche, von denen meine Mutter ſagte, es waͤre beſſer ſie lebten noch, z. B. mein Großvater und mein Oheim, der alte Herr v. Geldern und der167 junge Herr v. Geldern, die beide ſo beruͤhmte Doctoren waren, und ſo viele Menſchen vom Tode kurirt, und doch ſelber ſterben mußten. Und die fromme Urſula, die mich als Kind auf den Armen getragen, liegt auch dort be¬ graben, und es waͤchſt ein Roſenſtrauch auf ihrem Grab Roſenduft liebte ſie ſo ſehr im Leben und ihr Herz war lauter Roſenduft und Guͤte. Auch der alte kluge Canonicus liegt dort begraben. Gott, wie elend ſah er aus, als ich ihn zuletzt ſah! Er beſtand nur noch aus Geiſt und Pflaſtern, und ſtudirte den¬ noch Tag und Nacht, als wenn er beſorgte, die Wuͤrmer moͤchten einige Ideen zu wenig in ſeinem Kopfe finden. Auch der kleine Wil¬ helm liegt dort, und daran bin ich ſchuld. Wir waren Schulkameraden im Franziskaner¬ kloſter und ſpielten auf jener Seite deſſelben, wo zwiſchen ſteinernen Mauern die Duͤſſel fließt, und ich ſagte: Wilhelm! hol 'doch das Kaͤtzchen, das eben hineingefallen und luſtig168 ſtieg er hinab auf das Brett, das uͤber dem Bach lag, riß das Kaͤtzchen aus dem Waſſer, fiel aber ſelbſt hinein, und als man ihn her¬ auszog, war er naß und todt. Das Kaͤtzchen hat noch lange Zeit gelebt.

Die Stadt Duͤſſeldorf iſt ſehr ſchoͤn, und wenn man in der Ferne an ſie denkt, und zu¬ faͤllig dort geboren iſt, wird einem wunderlich zu Muthe. Ich bin dort geboren, und es iſt mir, als muͤßte ich gleich nach Hauſe gehn. Und wenn ich ſage nach Hauſe gehn, ſo meine ich die Bol¬ kerſtraße und das Haus, worin ich geboren bin. Dieſes Haus wird einſt ſehr merkwuͤrdig ſeyn, und der alten Frau, die es beſitzt, habe ich ſagen laſſen, daß ſie bey Leibe das Haus nicht verkaufen ſolle. Fuͤr das ganze Haus bekaͤme ſie jetzt doch kaum ſo viel wie ſchon allein das Trinkgeld betragen wird, das einſt die gruͤn¬ verſchleyerten, vornehmen Englaͤnderinnen dem Dienſtmaͤdchen geben, wenn es ihnen die Stube169 zeigt, worin ich das Licht der Welt erblickt, und den Huͤhnerwinkel, worin mich Vater ge¬ woͤhnlich einſperrte, wenn ich Trauben genaſcht, und auch die braune Thuͤre, worauf Mutter mich die Buchſtaben mit Kreide ſchreiben lehrte ach Gott! Madame, wenn ich ein beruͤhm¬ ter Schriftſteller werde, ſo hat das meiner armen Mutter genug Muͤhe gekoſtet.

Aber mein Ruhm ſchlaͤft jetzt noch in den Marmorbruͤchen von Carrara, der Makulatur - Lorbeer, womit deutſche Journale meine Stirne geſchmuͤckt, hat ſeinen Duft noch nicht durch die ganze Welt verbreitet, und wenn jetzt die gruͤnverſchleyerten, vornehmen Englaͤnderinnen nach Duͤſſeldorf kommen, ſo laſſen ſie das be¬ ruͤhmte Haus noch unbeſichtigt und gehn direct nach dem Marktplatz, und betrachten die dort in der Mitte ſtehende, ſchwarze, koloſſale Reu¬ terſtatue. Dieſe ſoll den Kurfuͤrſten Jan Wil¬ helm vorſtellen. Er traͤgt einen ſchwarzen Har¬170 niſch, eine tiefherabhaͤngende Alongeperuͤcke Als Knabe hoͤrte ich die Sage, der Kuͤnſtler, der dieſe Statue gegoſſen, habe waͤhrend des Gießens mit Schrecken bemerkt, daß ſein Me¬ tall nicht dazu ausreiche, und da waͤren die Buͤrger der Stadt herbeygelaufen, und haͤtten ihm ihre ſilbernen Loͤffel gebracht, um den Guß zu vollenden und nun ſtand ich ſtundenlang vor dem Reuterbilde, und zerbrach mir den Kopf: wie viel ſilberne Loͤffel wohl darin ſtecken moͤgen, und wie viel Apfeltoͤrtchen man wohl fuͤr all das Silber bekommen koͤnnte? Apfeltoͤrt¬ chen waren naͤmlich damals meine Paſſion jetzt iſt es Liebe, Wahrheit, Freyheit und Krebsſuppe und eben unweit des Kurfuͤr¬ ſtenbildes, an der Theaterecke, ſtand gewoͤhn¬ lich der wunderlich gebackene, ſaͤbelbeinige Kerl, mit der weißen Schuͤrze und dem umgehaͤng¬ ten Korbe voll lieblich dampfender Apfeltoͤrt¬ chen, die er mit einer unwiderſtehlichen Dis¬ kantſtimme anzupreiſen wußte Die Apfel¬171 toͤrtchen ſind ganz friſch, eben aus dem Ofen, riechen ſo delikat Wahrlich, wenn in meinen ſpaͤteren Jahren der Verſucher mir bey¬ kommen wollte, ſo ſprach er mit ſolcher locken¬ den Diskantſtimme, und bey Signora Guilietta waͤre ich keine volle zwoͤlf Stunden geblieben, wenn ſie nicht den ſuͤßen, duftenden Apfeltoͤrt¬ chenton angeſchlagen haͤtte. Und wahrlich, nie wuͤrden Apfeltoͤrtchen mich ſo ſehr angereizt ha¬ ben, haͤtte der krumme Hermann ſie nicht ſo geheimnißvoll mit ſeiner weißen Schuͤrze[be¬ deckt] und die Schuͤrzen ſind es, welche doch ſie bringen mich ganz aus dem Context, ich ſprach ja von der Reuterſtatue, die ſo viel ſilberne Loͤffel im Leibe hat, und keine Suppe, und den Kurfuͤrſten Jan Wilhelm darſtellt.

Er ſoll ein braver Herr geweſen ſeyn, und ſehr kunſtliebend, und ſelbſt ſehr geſchickt. Er ſtiftete die Gemaͤldegallerie in Duͤſſeldorf, und auf dem dortigen Obſervatorium zeigt man172 noch einen uͤberaus kuͤnſtlichen Einſchachtelungs¬ becher von Holz, den er ſelbſt in ſeinen Frey¬ ſtunden er hatte deren taͤglich vier und zwanzig geſchnitzelt hat.

Damals waren die Fuͤrſten noch keine ge¬ plagte Leute wie jetzt, und die Krone war ihnen am Kopfe feſtgewachſen, und des Nachts zogen ſie noch eine Schlafmuͤtze daruͤber, und ſchliefen ruhig, und die Voͤlker ſchliefen ruhig zu ihren Fuͤßen, und wenn dieſe des Morgens erwachten, ſo ſagten ſie: guten Morgen, Va¬ ter! und jene antworteten: guten Mor¬ gen, liebe Kinder!

Aber es wurde ploͤtzlich anders; als wir eines Morgens zu Duͤſſeldorf erwachten, und guten Morgen, Vater! ſagen wollten, da war der Vater abgereiſt, und in der ganzen Stadt war nichts als ſtumpfe Beklemmung, es war uͤberall eine Art Begraͤbnißſtimmung, und173 die Leute ſchlichen ſchweigend nach dem Markte, und laſen den langen papiernen Anſchlag auf der Thuͤre des Rathhauſes. Es war ein truͤ¬ bes Wetter, und der duͤnne Schneider Kilian ſtand dennoch in ſeiner Nanquinjacke, die er ſonſt nur im Hauſe trug, und die blauwollnen Struͤmpfe hingen ihm herab, daß die nackten Beinchen betruͤbt hervorguckten, und ſeine ſchma¬ len Lippen bebten, waͤhrend er das angeſchla¬ gene Placat vor ſich hinmurmelte. Ein alter pfaͤlziſcher Invalide las etwas lauter, und bey manchem Worte traͤufelte ihm eine klare Thraͤne in den weißen, ehrlichen Schnautzbart. Ich ſtand neben ihm und weinte mit, und frug ihn: warum wir weinten? Und da antwortete er: der Kurfuͤrſt laͤßt ſich bedanken. Und dann las er wieder, und bey den Worten fuͤr die bewaͤhrte Unterthanstreue und entbinden Euch Eurer Pflichten da weinte er noch ſtaͤr¬ ker Es iſt wunderlich anzuſehen, wenn ſo ein alter Mann, mit verblichener Uniform und174 vernarbtem Soldatengeſicht, ploͤtzlich ſo ſtark weint. Waͤhrend wir laſen, wurde auch das kurfuͤrſtliche Wappen vom Rathhauſe herunter¬ genommen, alles geſtaltete ſich ſo beaͤngſtigend oͤde, es war, als ob man eine Sonnenfinſterniß erwarte, die Herren Rathsherren gingen ſo ab¬ gedankt und langſam umher, ſogar der allge¬ waltige Gaſſenvogt ſah aus, als wenn er nichts mehr zu befehlen haͤtte, und ſtand da ſo fried¬ lich-gleichguͤltig, obgleich der tolle Alouiſius ſich wieder auf ein Bein ſtellte und mit naͤrriſcher Grimaſſe die Namen der franzoͤſiſchen Generale herſchnatterte, waͤhrend der beſoffene, krumme Gumpertz ſich in der Goſſe herumwaͤlzte 'und ça ira, ça ira! ſang.

Ich aber ging nach Hauſe, und weinte und klagte: der Kurfuͤrſt laͤßt ſich bedanken. Meine Mutter hatte ihre liebe Noth, ich wußte was ich wußte, ich ließ mir nichts ausreden, ich ging weinend zu Bette, und in der Nacht175 traͤumte mir: die Welt habe ein Ende die ſchoͤnen Blumengaͤrten und gruͤnen Wieſen wur¬ den wie Teppiche vom Boden aufgenommen und zuſammengerollt, der Gaſſenvogt ſtieg auf eine hohe Leiter und nahm die Sonne vom Himmel herab, der Schneider Kilian ſtand da¬ bey und ſprach zu ſich ſelber: ich muß nach Hauſe gehn und mich huͤbſch anziehn, denn ich bin todt, und ſoll noch heute begraben wer¬ den und es wurde immer dunkler, ſpaͤr¬ lich ſchimmerten oben einige Sterne und auch dieſe fielen herab wie gelbe Blaͤtter im Herbſte, allmaͤhlig verſchwanden die Menſchen, ich ar¬ mes Kind irrte aͤngſtlich umher, ſtand endlich vor der Weidenhecke eines wuͤſten Bauerhofes und ſah dort einen Mann, der mit dem Spa¬ ten die Erde aufwuͤhlte, und neben ihm ein haͤßlich haͤmiſches Weib, das etwas wie einen abgeſchnittenen Menſchenkopf in der Schuͤrze hielt, und das war der Mond, und ſie legte ihn aͤngſtlich ſorgſam in die offne Grube 176 und hinter mir ſtand der pfaͤlziſche Invalide und ſchluchzte und buchſtabirte: der Kurfuͤrſt laͤßt ſich bedanken.

Als ich erwachte, ſchien die Sonne wieder wie gewoͤhnlich durch das Fenſter, auf der Straße ging die Trommel, und als ich in unſre Wohnſtube trat, und meinem Vater, der im weißen Pudermantel ſaß, einen guten Morgen bot, hoͤrte ich, wie der leichtfuͤßige Friſeur ihm waͤhrend des Friſirens haarklein erzaͤhlte: daß heute auf dem Rathauſe dem neuen Großher¬ zog Joachim gehuldigt werde, und daß die¬ ſer von der beſten Familie ſey, und die Schweſter des Kaiſers Napoleon zur Frau be¬ kommen, und auch wirklich viel Anſtand be¬ ſitze, und ſein ſchoͤnes ſchwarzes Haar in Locken trage, und naͤchſtens ſeinen Einzug halten und ſicher allen Frauenzimmern gefallen muͤſſe. Un¬ terdeſſen ging das Getrommel, draußen auf der Straße, immer fort, und ich trat vor die177 Hausthuͤr und beſah die einmarſchierenden fran¬ zoͤſiſchen Truppen, das freudige Volk des Ruh¬ mes, das ſingend und klingend die Welt durch¬ zog, die heiter-ernſten Grenadiergeſichter, die Baͤ¬ renmuͤtzen, die dreyfarbigen Kokarden, die blin¬ kenden Bajonette, die Voltigeurs voll Luſtig¬ keit und Point d'honneur, und den allmaͤchtig großen, ſilbergeſtickten Tambour-Major, der ſei¬ nen Stock mit dem vergoldeten Knopf bis an die erſte Etage werfen konnte und ſeine Augen ſo¬ gar bis zur zweiten Etage wo ebenfalls ſchoͤne Maͤdchen am Fenſter ſaßen. Ich freute mich, daß wir Einquartierung bekaͤmen meine Mutter freute ſich nicht und ich eilte nach dem Marktplatz. Da ſah es jetzt ganz anders aus, es war, als ob die Welt neu angeſtrichen worden, ein neues Wappen hing am Rathhauſe, das Eiſengelaͤnder an deſſen Balkon war mit geſtickten Sammetdecken uͤber¬ haͤngt, franzoͤſiſche Grenadiere ſtanden Schild¬ wache, die alten Herren Rathsherren hat¬12178ten neue Geſichter angezogen und trugen ihre Sonntagsroͤcke, und ſahen ſich an auf franzoͤ¬ ſiſch und ſprachen bon jour, aus allen Fenſtern guckten Damen, neugierige Buͤrgersleute und blanke Soldaten fuͤllten den Platz, und ich nebſt andern Knaben, wir kletterten auf das große Kurfuͤrſtenpferd und ſchauten davon herab in das bunte Marktgewimmel.

Nachbars-Pitter und der lange Kurz haͤtten bey dieſer Gelegenheit beynah 'den Hals ge¬ brochen, und das waͤre gut geweſen; denn der Eine entlief nachher ſeinen Eltern, ging unter die Soldaten, deſertirte, und wurde in Mainz todtgeſchoſſen, der Andre aber machte ſpaͤterhin geographiſche Unterſuchungen in fremden Ta¬ ſchen, wurde deshalb wirkendes Mitglied einer oͤffentlichen Spinnanſtalt, zerriß die eiſernen Bande, die ihn an dieſe und an das Vaterland feſſelten, kam gluͤcklich uͤber das Waſſer, und ſtarb in London durch eine allzuenge Cravatte,179 die ſich von ſelbſt zugezogen, als ihm ein koͤniglicher Beamter das Brett unter den Bei¬ nen wegriß

Der lange Kurz ſagte uns, daß heute keine Schule ſey, wegen der Huldigung. Wir mu߬ ten lange warten, bis dieſe losgelaſſen wurde. Endlich fuͤllte ſich der Balcon des Rathhauſes mit bunten Herren, Fahnen und Trompeten, und der Herr Buͤrgermeiſter, in ſeinem beruͤhm¬ ten rothen Rock, hielt eine Rede, die ſich etwas in die Laͤnge zog, wie Gummy-Elaſti¬ cum, oder wie eine geſtrickte Schlafmuͤtze, in die man einen Stein geworfen nur nicht den Stein der Weiſen und manche Redensar¬ ten konnte ich ganz deutlich vernehmen, z. B. daß man uns gluͤcklich machen wolle und beym letzten Worte wurden die Trompeten ge¬ blaſen, und die Fahnen geſchwenkt, und die Trommel geruͤhrt, und Vivat gerufen und waͤhrend ich ſelber Vivat rief, hielt ich mich180 feſt an den alten Kurfuͤrſten. Und das that Noth, denn mir wurde ordentlich ſchwindlich, ich glaubte ſchon, die Leute ſtaͤnden auf den Koͤpfen, weil ſich die Welt herumgedreht, das Kurfuͤrſtenhaupt mit der Alongeperuͤcke nickte und fluͤſterte: halt feſt an mir! und erſt durch das Kanonieren, das jetzt auf dem Walle los¬ ging, ernuͤchterte ich mich, und ſtieg vom Kuͤr¬ fuͤrſtenpferd langſam wieder herab.

Als ich nach Hauſe ging, ſah ich wieder, wie der tolle Alouiſius auf einem Beine tanzte, waͤhrend er die Namen der franzoͤſiſchen Gene¬ rale herſchnarrte, und wie ſich der krumme Gumpertz beſoffen in der Goſſe herumwaͤlzte und ça-ira, ça-ira bruͤllte und zu meiner Mutter ſagte ich: man will uns gluͤcklich ma¬ chen und deshalb iſt heute keine Schule.

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Capitel VII.

Den andern Tag war die Welt wieder ganz in Ordnung und es war wieder Schule, nach wie vor, und es wurde wieder auswendig ge¬ lernt, nach wie vor die roͤmiſchen Koͤnige, die Jahrszahlen, die nomina auf im, die verba irregularia, Griechiſch, Hebraͤiſch, Geographie, deutſche Sprache, Kopfrechnen, Gott! der Kopf ſchwindelt mir noch davon alles mußte auswendig gelernt werden. Und manches da¬ von kam mir in der Folge zu Statten. Denn haͤtte ich nicht die roͤmiſchen Koͤnige auswendig gewußt, ſo waͤre es mir ja ſpaͤterhin ganz182 gleichguͤltig geweſen, ob Niebuhr bewieſen oder nicht bewieſen hat, daß ſie niemals wirklich exi¬ ſtirt haben. Und wußte ich nicht jene Jahrs¬ zahlen, wie haͤtte ich mich ſpaͤterhin zurecht¬ finden wollen in dem großen Berlin, wo ein Haus dem anderen gleicht, wie ein Tropfen Waſſer oder wie ein Grenadier dem anderen, und wo man ſeine Bekannten nicht zu finden vermag, wenn man nicht ihre Hausnummer im Kopfe hat; ich dachte mir damals bey jedem Bekannten zugleich eine hiſtoriſche Bege¬ benheit, deren Jahrszahl mit ſeiner Hausnum¬ mer uͤbereinſtimmte, ſo daß ich mich dieſer leicht erinnern konnte, wenn ich jener gedachte, und daher kam mir auch immer eine hiſtoriſche Bege¬ benheit in den Sinn, ſobald ich einen Bekann¬ ten erblickte. So z. B. wenn mir mein Schnei¬ der begegnete, dachte ich gleich an die Schlacht bey Marathon, begegnete mir der wohlgeputzte Banquier Chriſtian Gumpel, ſo dachte ich gleich an die Zerſtoͤrung Jeruſalems, erblickte ich ei¬183 nen ſtarkverſchuldeten portugieſiſchen Freund, ſo dachte ich gleich an die Flucht Mahomets, ſah ich den Univerſitaͤtsrichter, einen Mann, deſſen ſtrenge Rechtlichkeit bekannt iſt, ſo dachte ich gleich an den Tod Hamans, ſobald ich Wad¬ zeck ſah, dachte ich gleich an die Cleopatra Ach, lieber Himmel, das arme Vieh iſt jetzt todt, die Thraͤnenſaͤckchen ſind vertrocknet, und man kann mit Hamlet ſagen: nehmet alles in Allem, es war ein altes Weib, wir werden noch oft ſeines Gleichen haben! Wie geſagt, die Jahrszahlen ſind durchaus noͤthig, ich kenne Menſchen, die gar nichts als ein paar Jahrs¬ zahlen im Kopfe hatten, und damit in Berlin die rechten Haͤuſer zu finden wußten, und jetzt ſchon ordentlich Profeſſoren ſind. Ich aber hatte in der Schule meine Noth mit den vielen Zah¬ len! Mit dem eigentlichen Rechnen ging es noch ſchlechter. Am beſten begriff ich das Sub¬ trahiren, und da giebt es eine ſehr practiſche Hauptregel Vier von Drey geht nicht, da184 muß ich Eins borgen ich rathe aber jedem, in ſolchen Faͤllen immer einige Groſchen mehr zu borgen; denn man kann nicht wiſſen.

Was aber das Lateiniſche betrifft, ſo haben Sie gar keine Idee davon, Madame, wie das verwickelt iſt. Den Roͤmern wuͤrde gewiß nicht Zeit genug uͤbrig geblieben ſeyn, die Welt zu er¬ obern, wenn ſie das Latein erſt haͤtten lernen ſollen. Dieſe gluͤcklichen Leute wußten ſchon in der Wiege, welche Nomina den Accuſativ auf im haben. Ich hingegen mußte ſie im Schweiße meines Angeſichts auswendig lernen; aber es iſt doch immer gut, daß ich ſie weiß. Denn haͤtte ich z. B. den 20ſten July 1825, als ich oͤffentlich in der Aula zu Goͤttingen lateiniſch disputirte Madame, es war der Muͤhe werth zuzuhoͤren haͤtte ich da sinapem ſtatt sinapim geſagt, ſo wuͤrden es vielleicht die anweſenden Fuͤchſe gemerkt haben, und das waͤre fuͤr mich eine ewige Schande geweſen. Vis,185 buris, sitis, tussis, cucumis, amussis, cannabis, sinapis Dieſe Woͤrter, die ſo viel Aufſehen in der Welt gemacht haben, bewirkten dieſes, indem ſie ſich zu einer beſtimmten Claſſe ſchlu¬ gen und dennoch eine Ausnahme blieben; des¬ halb achte ich ſie ſehr, und daß ich ſie bey der Hand habe, wenn ich ſie etwa ploͤtzlich brau¬ chen ſollte, das giebt mir, in manchen truͤben Stunden des Lebens, viel innere Beruhigung und Troſt. Aber, Madame, die verba irregula¬ ria ſie unterſcheiden ſich von den verbis regu¬ laribus dadurch, daß man bey ihnen noch mehr Pruͤgel bekoͤmmt ſie ſind gar entſetzlich ſchwer. In den dumpfen Bogengaͤngen des Franziskanerkloſters, unfern der Schulſtube, hing damals ein großer, gekreuzigter Chriſtus von grauem Holze, ein wuͤſtes Bild, das noch jetzt zuweilen des Nachts durch meine Traͤume ſchreitet, und mich traurig anſieht mit ſtarren, blutigen Augen vor dieſem Bilde ſtand ich oft und betete: O du armer, gequaͤlter Gott,186 wenn es dir nur irgend moͤglich iſt, ſo ſieh doch zu, daß ich die verba irregularia im Kopfe behalte.

Vom Griechiſchen will ich gar nicht ſprechen; ich aͤrgere mich ſonſt zu viel. Die Moͤnche im Mittelalter hatten ſo ganz Unrecht nicht, wenn ſie behaupteten, daß das Griechiſche eine Er¬ findung des Teufels ſey. Gott kennt die Lei¬ den, die ich dabey ausgeſtanden. Mit dem He¬ braͤiſchen ging es beſſer, denn ich hatte immer eine große Vorliebe fuͤr die Juden, obgleich ſie, bis auf dieſe Stunde, meinen guten Namen kreuzigen; aber ich konnte es doch im Hebraͤi¬ ſchen nicht ſo weit bringen wie meine Taſchen¬ uhr, die viel intimen Umgang mit Pfaͤn¬ derverleihern hatte, und dadurch manche juͤdi¬ ſche Sitte annahm z. B. des Sonnabends ging ſie nicht und die heilige Sprache lernte, und ſie auch ſpaͤterhin grammatiſch trieb; wie ich denn oft, in ſchlafloſen Naͤchten, mit Er¬ ſtaunen hoͤrte, daß ſie beſtaͤndig vor ſich hin187 pickerte: katal, katalta, katalti kittel, kit¬ talta, kittalti

Indeſſen, von der deutſchen Sprache begriff ich viel mehr, und die iſt doch nicht ſo gar kinderleicht. Denn wir armen Deutſchen, die wir ſchon mit Einquartierungen, Militaͤrpflich¬ ten, Kopfſteuern und tauſenderley Abgaben ge¬ nug geplagt ſind, wir haben uns noch oben¬ drein den Adelung aufgeſackt und quaͤlen uns einander mit dem Accuſativ und Dativ. Viel deutſche Sprache lernte ich vom alten Rektor Schallmeyer, einem braven geiſtlichen Herrn, der ſich meiner von kindauf annahm. Aber ich lernte auch etwas der Art von dem Profeſſor Schramm, einem Manne, der ein Buch uͤber den ewigen Frieden geſchrieben hat, und in deſſen Claſſe ſich meine Mitbuben am meiſten rauften.

Waͤhrend ich in einem Zuge fort ſchrieb und allerley dabey dachte, habe ich mich unverſehens188 in die alten Schulgeſchichten hineingeſchwatzt, und ich ergreife dieſe Gelegenheit, um Ihnen zu zeigen, Madame, wie es nicht meine Schuld war, wenn ich von der Geographie ſo wenig lernte, daß ich mich ſpaͤterhin nicht in der Welt zurecht zu finden wußte. Damals hat¬ ten naͤmlich die Franzoſen alle Graͤnzen ver¬ ruͤckt, alle Tage wurden die Laͤnder neu illu¬ minirt, die ſonſt blau geweſen, wurden jetzt ploͤtzlich gruͤn, manche wurden ſogar blutroth, die beſtimmten Lehrbuchſeelen wurden ſo ſehr vertauſcht und vermiſcht, daß kein Teufel ſie mehr erkennen konnte, die Landesprodukte aͤnder¬ ten ſich ebenfalls, Cichorien und Runkelruͤben wuchſen jetzt, wo ſonſt nur Haſen und hinter¬ herlaufende Landjunker zu ſehen waren, auch die Charaktere der Voͤlker aͤnderten ſich, die Deut¬ ſchen wurden gelenkig, die Franzoſen machten keine Complimente mehr, die Englaͤnder war¬ fen das Geld nicht mehr zum Fenſter hinaus, und die Venezianer waren nicht ſchlau genug,189 unter den Fuͤrſten gab es viel Avancement, die alten Koͤnige bekamen neue Uniformen, neue Koͤnigthuͤmer wurden gebacken und hatten Ab¬ ſatz wie friſche Semmel, manche Potentaten hingegen wurden von Haus und Hof gejagt, und mußten auf andre Art ihr Brod zu ver¬ dienen ſuchen, und einige legten ſich daher fruͤh auf ein Handwerk, und machten z. B. Siegellack oder Madame, dieſe Periode hat end¬ lich ein Ende, der Athem wollte mir ausge¬ hen kurz und gut, in ſolchen Zeiten kann man es in der Geographie nicht weit bringen.

Da hat man es doch beſſer in der Natur¬ geſchichte, da koͤnnen nicht ſo viele Veraͤn¬ derungen vorgehen, und da giebt es beſtimmte Kupferſtiche von Affen, Kinguruhs, Zebras, Nashornen u. ſ. w. Weil mir ſolche Bilder im Gedaͤchtniſſe blieben, geſchah es in der Folge ſehr oft, daß mir manche Menſchen beym erſten Anblick gleich wie alte Bekannte vorkamen.

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Auch in der Mythologie ging es gut. Ich hatte meine liebe Freude an dem Goͤttergeſindel, das ſo luſtig nackt die Welt regierte. Ich glaube nicht, daß jemals ein Schulknabe im alten Rom die Hauptartikel ſeines Katechismus, z. B. die Liebſchaften der Venus, beſſer auswendig gelernt hat, als ich. Aufrichtig geſtanden, da wir doch einmal die alten Goͤtter auswendig lernen mußten, ſo haͤtten wir ſie auch behalten ſollen, und wir haben vielleicht nicht viel Vortheil bey unſerer neuroͤmiſchen Dreygoͤtterey, oder gar bey unſerem juͤdiſchen Eingoͤtzenthum. Vielleicht war jene Mythologie im Grunde nicht ſo un¬ moraliſch, wie man ſie verſchrieen hat; es iſt z. B. ein ſehr anſtaͤndiger Gedanke des Ho¬ mers, daß er jener vielbeliebten Venus einen Gemahl zur Seite gab.

Am allerbeſten aber erging es mir in der fran¬ zoͤſiſchen Claſſe des Abbé d'Aulnoi, eines emigrir¬ ten Franzoſen, der eine Menge Grammatiken191 geſchrieben und eine rothe Peruͤcke trug, und gar pfiffig umherſprang, wenn er ſeine Art poétique und ſeine Histoire allemande vortrug Er war im ganzen Gymnaſium der einzige, welcher deut¬ ſche Geſchichte lehrte. Indeſſen auch das Fran¬ zoͤſiſche hat ſeine Schwierigkeiten, und zur Er¬ lernung deſſelben gehoͤrt viel Einquartierung, viel Getrommel, viel apprendre par coeur, und vor Allem darf man keine Béte allemande ſeyn. Da gab es manches ſaure Wort. Ich erinnere mich noch ſo gut, als waͤre es erſt geſtern geſchehen, daß ich durch la réligion viel Unannehmlichkeiten erfahren. Wohl ſechsmal erging an mich die Frage: Henry, wie heißt der Glaube auf franzoͤ¬ ſiſch? Und ſechsmal, und immer weinerlicher antwortete ich: das heißt le crédit. Und beim ſiebenten Male, kirſchbraun im Geſichte, rief der wuͤthende Examinator: er heißt la réligion und es regnete Pruͤgel und alle Cameraden lachten. Madame! ſeit der Zeit kann ich das Wort Réligion nicht erwaͤhnen hoͤren, ohne daß192 mein Ruͤcken blaß vor Schrecken, und meine Wange roth vor Schaam wird. Und ehrlich geſtanden, le crédit hat mir im Leben mehr ge¬ nuͤtzt, als la réligion In dieſem Augenblick faͤllt mir ein, daß ich dem Loͤwenwirth in Bo¬ logna noch fuͤnf Thaler ſchuldig bin Und wahrhaftig, ich mache mich anheiſchig, dem Loͤ¬ wenwirth noch fuͤnf Thaler extra ſchuldig zu ſeyn, wenn ich nur das ungluͤckſelige Wort, la réligion, in dieſem Leben nimmermehr zu hoͤren brauche.

Parbleu Madame! ich habe es im Franzoͤſi¬ ſchen weit gebracht! Ich verſtehe nicht nur Patois, ſondern ſogar adliges Bonnenfranzoͤſiſch. Noch unlaͤngſt, in einer noblen Geſellſchaft, ver¬ ſtand ich faſt die Haͤlfte von dem Diskurs zweier deutſchen Comteſſen, wovon jede uͤber vier und ſechszig Jahr 'und eben ſo viele Ahnen zaͤhlte. Ja, im Café-Royal zu Berlin hoͤrte ich einmal den Monſieur Hans Michel Martens franzoͤſiſch193 parliren, und verſtand jedes Wort, obſchon kein Verſtand darin war. Man muß den Geiſt der Sprache kennen, und dieſen lernt man am be¬ ſten durch Trommeln. Parbleu! wie viel ver¬ danke ich nicht dem franzoͤſiſchen Tambour, der ſo lange bey uns in Quartier lag, und wie ein Teufel ausſah, und doch von Her¬ zen ſo engelgut war, und ſo ganz vorzuͤglich trommelte.

Es war eine kleine, bewegliche Figur mit einem fuͤrchterlichen, ſchwarzen Schnurrbarte, worunter ſich die rothen Lippen trotzig hervor¬ baͤumten, waͤhrend die feurigen Augen hin und her ſchoſſen.

Ich kleiner Junge hing an ihm wie eine Klette, und half ihm ſeine Knoͤpfe ſpiegelblank putzen und ſeine Weſte mit Kreide weißen denn Monſieur Le Grand wollte gerne ge¬ fallen und ich folgte ihm auch auf die13194Wache, nach dem Appel, nach der Parade da war nichts als Waffenglanz und Luſtig¬ keit les jours de fète sont passés! Mon¬ ſieur Le Grand wußte nur wenig gebrochenes Deutſch, nur die Hauptausdruͤcke Brod, Kuß, Ehre doch konnte er ſich auf der Trommel ſehr gut verſtaͤndlich machen, z. B. wenn ich nicht wußte, was das Wort liberté bedeute, ſo trommelte er den Marſeiller Marſch und ich verſtand ihn. Wußte ich nicht die Bedeutung des Worts égalité , ſo trommelte er den Marſch ça ira, ça ira les aristocrats à la lanterne! und ich verſtand ihn. Wußte ich nicht, was bétise ſey, ſo trommelte er den Deſſauer Marſch, den wir Deutſchen, wie auch Goethe berichtet, in der Champagne getrommelt und ich verſtand ihn. Er wollte mir mal das Wort l'Allemagne er¬ klaͤren, und er trommelte jene allzueinfache Ur¬ melodie, die man oft an Markttagen bey tan¬ zenden Hunden hoͤrt, naͤmlich Dum Dum 195 Dum ich aͤrgerte mich, aber ich verſtand ihn doch.

Auf aͤhnliche Weiſe lehrte er mich auch die neuere Geſchichte. Ich verſtand zwar nicht die Worte, die er ſprach, aber da er waͤhrend des Sprechens beſtaͤndig trommelte, ſo wußte ich doch, was er ſagen wollte. Im Grunde iſt das die beſte Lehrmethode. Die Geſchichte von der Beſtuͤrmung der Baſtille, der Tuile¬ rien u. ſ. w. begreift man erſt recht, wenn man weiß, wie bey ſolchen Gelegenheiten ge¬ trommelt wurde. In unſeren Schulcompen¬ dien lieſt man bloß: Ihre Exc. die Baronen und Grafen und hochdero Gemahlinnen wur¬ den gekoͤpft Ihre Alteſſen die Herzoͤge und Prinzen und hoͤchſtdero Gemahlinnen wurden gekoͤpft Ihre Majeſtaͤt der Koͤnig und aller¬ hoͤchſtdero Gemahlin wurden gekoͤpft aber wenn man den rothen Guillotinenmarſch trom¬ meln hoͤrt, ſo begreift man dieſes erſt recht,196 und man erfaͤhrt das Warum und das Wie. Madame, das iſt ein gar wunderlicher Marſch! Er durchſchauerte mir Mark und Bein als ich ihn zuerſt hoͤrte, und ich war froh, daß ich ihn vergaß Man vergißt ſo etwas, wenn man aͤlter wird, ein junger Mann hat jetzt ſo viel anderes Wiſſen im Kopf zu behalten Whiſt, Boſton, genealogiſche Tabellen, Bundestags¬ beſchluͤſſe, Dramaturgie, Liturgie, Vorſchnei¬ den und wirklich, trotz allem Stirnreiben konnte ich mich lange Zeit nicht mehr auf jene gewaltige Melodie beſinnen. Aber denken Sie ſich, Madame! unlaͤngſt ſitze ich an der Tafel mit einer ganzen Menagerie von Grafen, Prin¬ zen, Prinzeſſinnen, Kammerherren, Hofmarſchal¬ linnen, Hofſchenken, Oberhofmeiſterinnen, Hof¬ ſilberbewahrern, Hofjaͤgermeiſterinnen, und wie dieſe vornehmen Domestiquen noch außerdem heißen moͤgen, und ihre Unterdomeſtiquen liefen hinter ihren Stuͤhlen und ſchoben ihnen die gefuͤllten Teller vor's Maul ich aber, der197 uͤbergangen und uͤberſehen wurde, ſaß muͤſſig, ohne die mindeſte Kinnbackenbeſchaͤfftigung, und ich knetete Brodkuͤgelchen, und trommelte vor Langerweile mit den Fingern, und zu meinem Entſetzen trommelte ich ploͤtzlich den rothen, laͤngſtvergeſſenen Guillotinenmarſch.

Und was geſchah? Madame, dieſe Leute laſſen ſich im Eſſen nicht ſtoͤren, und wiſſen nicht, daß andere Leute, wenn ſie nichts zu eſſen haben, ploͤtzlich anfangen zu trommeln, und zwar gar kurioſe Maͤrſche, die man laͤngſt vergeſſen glaubte.

Iſt nun das Trommeln ein angeborenes Ta¬ lent, oder hab 'ich es fruͤhzeitig ausgebildet, genug, es liegt mir in den Gliedern, in Haͤn¬ den und Fuͤßen, und aͤußert ſich oft unwill¬ kuͤhrlich. Unwillkuͤhrlich. Zu Berlin ſaß ich einſt im Collegium des Geheimeraths Schmalz, eines Mannes, der den Staat gerettet durch ſein198 Buch uͤber die Schwarzmaͤntel - und Rothmaͤn¬ telgefahr Sie erinnern ſich, Madame, aus dem Pauſanias, daß einſt durch das Geſchrey eines Eſels ein eben ſo gefaͤhrliches Complott entdeckt wurde, auch wiſſen Sie aus dem Li¬ vius, oder aus Beckers Weltgeſchichte, daß die Gaͤnſe das Capitol gerettet, und aus dem Sal¬ luſt wiſſen Sie ganz genau, daß durch eine geſchwaͤtzige Puͤtaine, die Frau Fulvia, jene fuͤrchterliche Verſchwoͤrung des Catilina an den Tag kam Doch um wieder auf beſagten Hammel zu kommen, im Collegium des Herrn Geheimeraths Schmalz hoͤrte ich das Voͤlker¬ recht, und es war ein langweiliger Sommer¬ nachmittag, und ich ſaß auf der Bank und hoͤrte immer weniger der Kopf war mir eingeſchlafen doch ploͤtzlich ward ich auf¬ geweckt durch das Geraͤuſch meiner eigenen Fuͤße, die wach geblieben waren, und wahr¬ ſcheinlich zugehoͤrt hatten, daß juſt das Ge¬ gentheil vom Voͤlker-Recht vorgetragen und auf199 Conſtitutionsgeſinnung geſchimpft wurde, und meine Fuͤße, die mit ihren kleinen Huͤhner¬ augen das Treiben der Welt beſſer durchſchauen als der Geheimerath mit ſeinen großen Juno - Augen, dieſe armen, ſtummen Fuͤße, unfaͤhig, durch Worte ihre unmaßgebliche Meinung aus¬ zuſprechen, wollten ſich durch Trommeln ver¬ ſtaͤndlich machen, und trommelten ſo ſtark, daß ich dadurch ſchier in's Malheur kam.

Verdammte, unbeſonnene Fuͤße! ſie ſpielten mir einen aͤhnlichen Streich, als ich einmal in Goͤttingen bey Profeſſor Saalfeld hospitirte, und dieſer mit ſeiner ſteifen Beweglichkeit auf dem Katheder hin und her ſprang, und ſich echauffirte, um auf den Kaiſer Napoleon recht ordentlich ſchimpfen zu koͤnnen nein, arme Fuͤße, ich kann es euch nicht verdenken, daß ihr damals getrommelt, ja ich wuͤrde es euch nicht mal verdacht haben, wenn ihr, in eurer ſtum¬ men Naivetaͤt, euch noch fußtrittdeutlicher aus¬200 geſprochen haͤttet. Wie darf ich, der Schuͤ¬ ler Le Grand's, den Kaiſer ſchmaͤhen hoͤ¬ ren? Den Kaiſer! den Kaiſer! den großen Kaiſer!

Denke ich an den großen Kaiſer, ſo wird es in meinem Gedaͤchtniſſe wieder recht ſommer¬ gruͤn und goldig, eine lange Lindenallee taucht bluͤhend empor, auf den laubigen Zweigen ſitzen ſingende Nachtigallen, der Waſſerfall rauſcht, auf runden Beeten ſtehen Blumen und bewegen traumhaft ihre ſchoͤnen Haͤupter ich ſtand mit ihnen im wunderlichen Verkehr, die geſchminkten Tulpen gruͤßten mich bettelſtolz herablaſſend, die nervenkranken Lilien nickten wehmuͤthig zaͤrtlich, die trunkenrothen Roſen lachten mir ſchon von weitem entgegen, die Nachtviolen ſeufzten mit den Myrthen und Lorbeeren hatte ich damals noch keine Bekannt¬ ſchaft, denn ſie lockten nicht durch ſchimmernde Bluͤthe, aber mit den Reſeden, womit ich jetzt201 ſo ſchlecht ſtehe, war ich ganz beſonders in¬ tim Ich ſpreche vom Hofgarten zu Duͤſſel¬ dorf, wo ich oft auf dem Raſen lag, und an¬ daͤchtig zuhoͤrte, wenn mir Monſieur Le Grand von den Kriegsthaten des großen Kaiſers er¬ zaͤhlte, und dabey die Maͤrſche ſchlug, die waͤh¬ rend jener Thaten getrommelt wurden, ſo daß ich alles lebendig ſah und hoͤrte. Ich ſah den Zug uͤber den Simplon der Kaiſer voran und hinterdrein klimmend die braven Grena¬ diere, waͤhrend aufgeſcheuchtes Gevoͤgel ſein Kraͤchzen erhebt und die Gletſcher in der Ferne donnern ich ſah den Kaiſer, die Fahne im Arm, auf der Bruͤcke von Lodi ich ſah den Kaiſer im grauen Mantel bey Marengo ich ſah den Kaiſer zu Roß in der Schlacht bey den Pyramiden nichts als Pulver¬ dampf und Mammelucken ich ſah den Kai¬ ſer in der Schlacht bey Auſterlitz hui! wie pfiffen die Kugeln uͤber die glatte Eis¬ bahn! ich ſah, ich hoͤrte die Schlacht bey202 Jena dum, dum, dum ich ſah, ich hoͤrte die Schlacht bey Eilau, Wagram nein, kaum konnt 'ich es aushalten! Mon¬ ſieur Le Grand trommelte, daß faſt mein eignes Trommelfell dadurch zerriſſen wurde.

203

Capitel VIII.

Aber, wie ward mir erſt, als ich ihn ſelber ſah, mit hochbegnadigten, eignen Augen, ihn ſelber, Hoſiannah! den Kaiſer.

Es war eben in der Allee des Hofgartens zu Duͤſſeldorf. Als ich mich durch das gaffende Volk draͤngte, dachte ich an die Thaten und Schlachten, die mir Monſieur Le Grand vorge¬ trommelt hatte, mein Herz ſchlug den General¬ marſch und dennoch dachte ich zu gleicher Zeit an die Polizeyverordnung, daß man bey fuͤnf Thaler Strafe nicht mitten durch die Allee reiten204 duͤrfe. Und der Kaiſer mit ſeinem Gefolge ritt mitten durch die Allee, die ſchauernden Baͤume beugten ſich vorwaͤrts, wo er vorbeykam, die Sonnenſtrahlen zitterten furchtſam neugierig durch das gruͤne Laub, und am blauen Himmel oben ſchwamm ſichtbar ein goldner Stern. Der Kai¬ ſer trug ſeine ſcheinloſe gruͤne Uniform und das kleine, welthiſtoriſche Huͤtchen. Er ritt ein wei¬ ßes Roͤßlein, und das ging ſo ruhig ſtolz, ſo ſicher, ſo ausgezeichnet waͤr 'ich damals Kron¬ prinz von geweſen, ich haͤtte dieſes Roͤßlein beneidet. Nachlaͤſſig, faſt haͤngend, ſaß der Kaiſer, die eine Hand hielt hoch den Zaum, die andere klopfte gutmuͤthig den Hals des Pferdchens Es war eine ſonnigmarmorne Hand, eine maͤchtige Hand, eine von den beiden Haͤnden, die das vielkoͤpfige Ungeheuer der Anar¬ chie gebaͤndigt und den Voͤlkerzweykampf geordnet hatten und ſie klopfte gutmuͤthig den Hals des Pferdes. Auch das Geſicht hatte jene Farbe, die wir bey marmornen Griechen - und Roͤmer¬205 koͤpfen finden, die Zuͤge deſſelben waren ebenfalls edelgemeſſen, wie die der Antiken, und auf die¬ ſem Geſichte ſtand geſchrieben: Du ſollſt keine Goͤtter haben außer mir. Ein Laͤcheln, das jedes Herz erwaͤrmte und beruhigte, ſchwebte um die Lippen und doch wußte man, dieſe Lippen brauchten nur zu pfeifen et la Prusse[ n'existait] plus dieſe Lippen brauchten nur zu pfeifen und die ganze Kleriſey hatte ausge¬ klingelt dieſe Lippen brauchten nur zu pfeifen und das ganze heilige roͤmiſche Reich tanzte. Und dieſe Lippen laͤchelten und auch das Auge laͤchelte Es war ein Auge klar wie der Him¬ mel, es konnte leſen im Herzen der Menſchen, es ſah raſch auf einmal alle Dinge dieſer Welt, waͤhrend wir Anderen ſie nur nach einander und nur ihre gefaͤrbten Schatten ſehen. Die Stirne war nicht ſo klar, es niſteten darauf die Geiſter zukuͤnftiger Schlachten, und es zuckte bisweilen uͤber dieſer Stirn, und das waren die ſchaffenden Gedanken, die großen Siebenmeilenſtiefel-Gedan¬206 ken, womit der Geiſt des Kaiſers unſichtbar uͤber die Welt hinſchritt und ich glaube, jeder die¬ ſer Gedanken haͤtte einem deutſchen Schriftſteller, Zeit ſeines Lebens, vollauf Stoff zum Schreiben gegeben.

Der Kaiſer ritt ruhig mitten durch die Allee, kein Polizeydiener widerſetzte ſich ihm, hinter ihm, ſtolz auf ſchnaubenden Roſſen, und belaſtet mit Gold und Geſchmeide, ritt ſein Gefolge, die Trommeln wirbelten, die Trompeten erklangen, neben mir drehte ſich der tolle Aloniſius und ſchnarrte die Namen ſeiner Generale, unferne bruͤllte der beſoffene Gumpertz, und das Volk rief tau¬ ſendſtimmig: es lebe der Kaiſer!

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Capitel IX.

Der Kaiſer iſt todt. Auf einer oͤden Inſel des indiſchen Meeres iſt ſein einſames Grab, und Er, dem die Erde zu eng war, liegt ruhig unter dem kleinen Huͤgel, wo fuͤnf Trauerweiden gramvoll ihre gruͤnen Haare herabhaͤngen laſſen und ein frommes Baͤchlein wehmuͤthig klagend vorbeyrieſelt. Es ſteht keine Inſchrift auf ſei¬ nem Leichenſteine; aber Clio, mit dem eiſernen Griffel, ſchreibt einſt Worte darauf, die wie Geiſtertoͤne durch die Jahrtauſende klingen werden.

Brittania! dir gehoͤrt das Meer. Doch das Meer hat nicht Waſſer genug, um von dir208 abzuwaſchen die Schande, die der große Todte dir ſterbend vermacht hat. Nicht dein windiger Sir Hudſon, nein, du ſelbſt warſt der ſiziliani¬ ſche Haͤſcher, den die verſchworenen ge¬ dungen, um an dem Manne des Volkes heim¬ lich abzuraͤchen, was das Volk einſt oͤffentlich an einem der Ihrigen veruͤbt hatte Und er war dein Gaſt und hatte ſich geſetzt an deinen Heerd

Bis in die ſpaͤteſten Zeiten werden die Kna¬ ben Frankreichs ſingen und ſagen von der ſchreck¬ lichen Gaſtfreundſchaft des Bellerophon, und wenn dieſe Spott - und Thraͤnenlieder den Canal hinuͤberklingen, ſo erroͤthen die Wangen aller ehrſamen Britten. Einſt aber wird dieſes Lied hinuͤberklingen, und es giebt kein Brittanien mehr, zu Boden geworfen iſt das Volk des Stol¬ zes, Weſtminſters Grabmaͤler liegen zertruͤmmert, vergeſſen iſt der koͤnigliche Staub, den ſie ver¬ ſchloſſen Und Sanct Helena iſt das heilige209 Grab, wohin die Voͤlker des Orients und Occi¬ dents wallfahrten in buntbewimpelten Schiffen, und ihr Herz ſtaͤrken durch große Erinnerung an die Thaten des weltlichen Heilands, der ge¬ litten unter Hudſon Lowe, wie es geſchrieben ſteht in den Evangelien Las Caſes, Omeara und Automarchi.

Seltſam! die drey groͤßten Widerſacher des Kaiſers hat ſchon ein ſchreckliches Schickſal ge¬ troffen: Londonderry hat ſich die Kehle abge¬ ſchnitten, Ludwig XVIII. iſt auf ſeinem Throne verfault, und Profeſſor Saalfeld iſt noch immer Profeſſor in Goͤttingen.

14210

Capitel X.

Es war ein klarer, froͤſtelnder Herbſttag, als ein junger Menſch von ſtudentiſchem Anſehen, durch die Allee des Duͤſſeldorfer Hofgartens langſam wanderte, manchmal, wie aus kindi¬ ſcher Luſt, das raſchelnde-Laub, das den Boden bedeckte, mit den Fuͤßen aufwarf, manchmal aber auch wehmuͤthig hinaufblickte nach den duͤrren Baͤumen, woran nur noch wenige Goldblaͤtter hingen. Wenn er ſo hinaufſah, dachte er an die Worte des Glaukos:

211
Gleich wie Blaͤtter im Walde, ſo ſind die Ge¬ ſchlechter der Menſchen;
Blaͤtter verweht zur Erde der Wind nun, andere treibt dann
Wieder der knospende Wald, wenn neu auflebet der Fruͤhling:
So der Menſchen Geſchlecht, dies waͤchſt, und jenes verſchwindet.

In fruͤhern Tagen hatte der junge Menſch mit ganz andern Gedanken an eben dieſelben Baͤume hinaufgeſehen, und er war damals ein Knabe, und ſuchte Vogelneſter oder Sommer¬ kaͤfer, die ihn gar ſehr ergoͤtzten wenn ſie luſtig dahinſummten, und ſich der huͤbſchen Welt er¬ freuten, zufrieden mit einem ſaftiggruͤnen Blaͤtt¬ chen, mit einem Troͤpfchen Thau, mit einem warmen Sonnenſtrahl, und mit dem ſuͤßen Kraͤuterduft. Damals war des Knaben Herz eben ſo vergnuͤgt wie die flatternden Thierchen. Jetzt aber war ſein Herz aͤlter geworden, die212 kleinen Sonnenſtrahlen waren darin erloſchen, alle Blumen waren darin abgeſtorben, ſogar der ſchoͤne Traum der Liebe war darin verblichen, im armen Herzen war nichts als Muth und Gram, und damit ich das Schmerzlichſte ſage es war mein Herz.

Denſelben Tag war ich zur alten Vaterſtadt zuruͤckgekehrt, aber ich wollte nicht darin uͤber¬ nachten und ſehnte mich nach Godesberg, um zu den Fuͤßen meiner Freundin mich niederzu¬ ſetzen und von der kleinen Veronika zu erzaͤh¬ len. Ich hatte die lieben Graͤber beſucht. Von allen lebenden Freunden und Verwandten hatte ich nur einen Ohm und eine Muhme wiedergefunden. Fand ich auch ſonſt noch be¬ kannte Geſtalten auf der Straße, ſo kannte mich doch niemand mehr, und die Stadt ſelbſt ſah mich an mit fremden Augen, viele Haͤuſer waren unterdeſſen neu angeſtrichen worden, aus den Fenſtern guckten fremde Geſichter, um die213 alten Schornſteine flatterten abgelebte Spatzen, alles ſah ſo todt und doch ſo friſch aus, wie Sa¬ lat, der auf einem Kirchhofe waͤchſt; wo man ſonſt Franzoͤſiſch ſprach, ward jetzt Preußiſch geſpro¬ chen, ſogar ein kleines preußiſches Hoͤfchen hatte ſich unterdeſſen dort angeſiedelt, und die Leute trugen Hoftitel, die ehemalige Friſeurin meiner Mutter war Hoffriſeurin geworden, und esg ab jetzt dort Hofſchneider, Hofſchuſter, Hofwanzen¬ vertilgerinnen, Hofſchnapsladen, ein Hoflazareth und viele Hofgeiſteskranke. Nur der alte Kur¬ fuͤrſt erkannte mich, er ſtand noch auf dem al¬ ten Platz; aber er ſchien magerer geworden zu ſeyn. Eben weil er immer mitten auf dem Markte ſtand, hatte er alle Miſere der Zeit mit angeſehen, und von ſolchem Anblick wird man nicht fett. Ich war wie im Traume, und dachte an das Maͤhrchen von den verzauberten Staͤdten, und ich eilte zum Thor hinaus, damit ich nicht zu fruͤh erwachte. Im Hofgarten ver¬ mißte ich manchen Baum, und mancher war214 verkruͤppelt, und die vier großen Pappeln, die mir ſonſt wie gruͤne Rieſen erſchienen, waren klein geworden. Einige huͤbſche Maͤdchen gin¬ gen ſpatzieren, buntgeputzt, wie wandelnde Tul¬ pen. Und dieſe Tulpen hatte ich gekannt, als ſie noch kleine Zwiebelchen waren; denn ach! es waren ja Nachbarskinder, womit ich einſt Prinzeſſin im Thurme geſpielt hatte. Aber die ſchoͤnen Jungfrauen, die ich einſt als bluͤ¬ hende Roſen gekannt, ſah ich jetzt als verwelkte Roſen, und in manche hohe Stirne, deren Stolz mir einſt das Herz entzuͤckte, hatte Sa¬ turn mit ſeiner Senſe tiefe Runzeln eingeſchnit¬ ten. Jetzt erſt, aber ach! viel zu ſpaͤt, ent¬ deckte ich, was der Blick bedeuten ſollte, den ſie einſt dem ſchon juͤnglinghaften Knaben zuge¬ worfen; ich hatte unterdeſſen in der Fremde manche Parallelſtellen in ſchoͤnen Augen bemerkt. Tief bewegte mich das demuͤthige Hutabnehmen eines Mannes, den ich einſt reich und vornehm geſehen, und der ſeitdem zum Bettler herab¬215 geſunken war; wie man denn uͤberall ſieht, daß die Menſchen, wenn ſie einmal im Sinken ſind, wie nach dem newtonſchen Geſetze, immer ent¬ ſetzlichſchneller und ſchneller in's Elend herab¬ fallen. Wer mir aber gar nicht veraͤndert ſchien, das war der kleine Baron, der luſtig wie ſonſt durch den Hofgarten taͤnzelte, mit der einen Hand den linken Rockſchooß in der Hoͤhe hal¬ tend, mit der andern Hand ſein duͤnnes Rohr¬ ſtoͤckchen hin und herſchwingend; es war noch immer daſſelbe freundliche Geſichtchen, deſſen Roſenroͤthe ſich nach der Naſe hin konzentrirt, es war noch immer das alte Kegelhuͤtchen, es war noch immer das alte Zoͤpfchen, nur daß aus dieſem jetzt einige weiße Haͤrchen, ſtatt der ehemaligen ſchwarzen Haͤrchen hervor¬ kamen. Aber ſo vergnuͤgt er auch ausſah, ſo wußte ich dennoch, daß der arme Baron un¬ terdeſſen viel Kummer ausgeſtanden hatte, ſein Geſichtchen wollte es mir verbergen, aber die weißen Haͤrchen ſeines Zoͤpfchens haben es mir216 hinter ſeinem Ruͤcken verrathen. Und das Zoͤpfchen ſelber haͤtte es gerne wieder abgeleug¬ net und wackelte gar wehmuͤthig luſtig.

Ich war nicht muͤde, aber ich bekam doch Luſt mich noch einmal auf die hoͤlzerne Bank zu ſetzen, in die ich einſt den Namen meines Maͤdchens eingeſchnitten. Ich konnte ihn kaum wiederfinden, es waren ſo viele neue Namen daruͤber hingeſchnitzelt. Ach! einſt war ich auf dieſer Bank eingeſchlafen und traͤumte von Gluͤck und Liebe. Traͤume ſind Schaͤume. Auch die alten Kinderſpiele kamen mir wieder in den Sinn, auch die alten, huͤbſchen Maͤhr¬ chen; aber ein neues, falſches Spiel und ein neues, haͤßliches Maͤhrchen klang immer hin¬ durch, und es war die Geſchichte von zwey armen Seelen, die einander untreu wurden, und es nachher in der Treuloſigkeit ſo weit brachten, daß ſie ſogar dem lieben Gotte die Treue brachen. Es iſt eine boͤſe Geſchichte,217 und wenn man juſt nichts beſſeres zu thun weiß, kann man daruͤber weinen. O Gott! einſt war die Welt ſo huͤbſch, und die Voͤgel ſangen dein ewiges Lob, und die kleine Vero¬ nika ſah mich an, mit ſtillen Augen, und wir ſaßen vor der marmornen Statue auf dem Schloßplatz auf der einen Seite liegt das alte, verwuͤſtete Schloß, worin es ſpukt und Nachts eine ſchwarzſeidene Dame ohne Kopf, mit langer, rauſchender Schleppe, herumwan¬ delt; auf der andern Seite iſt ein hohes, weißes Gebaͤude, in deſſen oberen Gemaͤchern die bunten Gemaͤlde mit goldnen Rahmen wun¬ derbar glaͤnzten, und in deſſen Untergeſchoſſe ſo viele tauſend maͤchtige Buͤcher ſtanden, die ich und die kleine Veronika oft mit Neugier be¬ trachteten, wenn uns die fromme Urſula an die großen Fenſter hinanhob Spaͤterhin, als ich ein großer Knabe geworden, erkletterte ich dort taͤglich die hoͤchſten Leiterſproſſen, und holte die hoͤchſten Buͤcher herab, und las darin ſo218 lange, bis ich mich vor nichts mehr, am wenig¬ ſten vor Damen ohne Kopf, fuͤrchtete, und ich wurde ſo geſcheut, daß ich alle alte Spiele und Maͤhrchen und Bilder und die kleine Ve¬ ronika und ſogar ihren Namen vergaß.

Waͤhrend ich aber, auf der alten Bank des Hofgartens ſitzend, in die Vergangenheit zuruͤck¬ traͤumte, hoͤrte ich hinter mir verworrene Men¬ ſchenſtimmen, welche das Schickſal der armen Franzoſen beklagten, die, im ruſſiſchen Kriege als Gefangene nach Sibirien geſchleppt, dort mehre lange Jahre, obgleich ſchon Frieden war, zuruͤckgehalten worden und jetzt erſt heimkehr¬ ten. Als ich aufſah, erblickte ich wirklich dieſe Waiſenkinder des Ruhmes; durch die Riſſe ihrer zerlumpten Uniformen lauſchte das nackte Elend, in ihren verwitterten Geſichtern lagen tiefe, klagende Augen, und obgleich verſtuͤmmelt, ermattet und meiſtens hinkend, blieben ſie doch noch immer in einer Art militaͤriſchen Schrittes,219 und ſeltſam genug! ein Tambour mit einer Trommel ſchwankte voran; und mit innerem Grauen ergriff mich die Erinnerung an die Sage von den Soldaten, die des Tags in der Schlacht gefallen und des Nachts wie¬ der vom Schlachtfelde aufſtehen und mit dem Tambour an der Spitze nach ihrer Vater¬ ſtadt marſchieren, und wovon das alte Volks¬ lied ſingt:

Er ſchlug die Trommel auf und nieder,
Sie ſind vor'm Nachtquartier ſchon wieder
Ins Gaͤßlein hell hinaus,
Trallerie, Trallerey, Trallera,
Sie ziehn vor Schaͤtzels Haus.
Da ſtehn Morgens die Gebeine
In Reih 'und Glied, wie Leichenſteine,
Die Trommel geht voran,
Trallerie, Trallerey, Trallera,
Daß Sie ihn ſehen kann.
220

Wahrlich, der arme franzoͤſiſche Tambour ſchien halb verweſ't aus dem Grabe geſtiegen zu ſeyn, es war nur ein kleiner Schatten in einer ſchmutzig zerfetzten grauen Capotte, ein verſtorben gelbes Geſicht, mit einem großen Schnurrbarte, der wehmuͤthig herabhing uͤber die verblichenen Lippen, die Augen waren wie verbrannter Zunder, worin nur noch wenige Fuͤnkchen glimmen, und dennoch, an einem einzigen dieſer Fuͤnkchen, erkannte ich Monſieur Le Grand.

Er erkannte auch mich, und zog mich nie¬ der auf den Raſen, und da ſaßen wir wieder wie ſonſt, als er mir auf der Trommel die franzoͤſiſche Sprache und die neuere Geſchichte dozirte. Es war noch immer die wohlbekannte, alte Trommel, und ich konnte mich nicht ge¬ nug wundern, wie er ſie vor ruſſiſcher Hab¬ ſucht geſchuͤtzt hatte. Er trommelte jetzt wie¬ der wie ſonſt, jedoch ohne dabey zu ſprechen.

221

Waren aber die Lippen unheimlich zuſammen¬ gekniffen, ſo ſprachen deſto mehr ſeine Augen, die ſieghaft aufleuchteten, indem er die alten Maͤrſche trommelte. Die Pappeln neben uns erzitterten, als er wieder den rothen Guilloti¬ nenmarſch erdroͤhnen ließ. Auch die alten Frey¬ heitskaͤmpfe, die alten Schlachten, die Thaten des Kaiſers, trommelte er wie ſonſt, und es ſchien, als ſey die Trommel ſelber ein lebendi¬ ges Weſen, das ſich freute, ſeine innere Luſt ausſprechen zu koͤnnen. Ich hoͤrte wieder den Kanonendonner, das Pfeifen der Kugeln, den Laͤrm der Schlacht, ich ſah wieder den Todes¬ muth der Garde, ich ſah wieder die flattern¬ den Fahnen, ich ſah wieder den Kaiſer zu Roß aber allmaͤhlig ſchlich ſich ein truͤber Ton in jene freudigſten Wirbel, aus der Trom¬ mel drangen Laute, worin das wildeſte Jauch¬ zen und das entſetzlichſte Trauern unheimlich gemiſcht waren, es ſchien ein Siegesmarſch und zugleich ein Todtenmarſch, die Augen Le222 Grands oͤffneten ſich geiſterhaft weit, und ich ſah darin nichts als ein weites, weißes Eis¬ feld bedeckt mit Leichen es war die Schlacht bey der Moskwa.

Ich haͤtte nie gedacht, daß die alte, harte Trommel ſo ſchmerzliche Laute von ſich geben koͤnnte, wie jetzt Monſieur Le Grand daraus hervor zu locken wußte. Es waren getrom¬ melte Thraͤnen, und ſie toͤnten immer leiſer, und wie ein truͤbes Echo brachen tiefe Seufzer aus der Bruſt Le Grand's. Und dieſer wurde immer matter und geſpenſtiſcher, ſeine duͤrren Haͤnde zitterten vor Froſt, er ſaß wie im Traume, und bewegte mit ſeinen Trommel¬ ſtoͤcken nur die Luft, und horchte wie auf ferne Stimmen, und endlich ſchaute er mich an, mit einem tiefen, abgrundtiefen, flehen¬ den Blick ich verſtand ihn und dann ſank ſein Haupt herab auf die Trommel.

223

Monſieur Le Grand hat in dieſem Leben nie mehr getrommelt. Auch ſeine Trommel hat nie mehr einen Ton von ſich gegeben, ſie ſollte keinem Feinde der Freyheit zu einem ſervilen Zapfenſtreich dienen, ich hatte den letzten, flehenden Blick Le Grands ſehr gut verſtanden, und zog ſogleich den Degen aus meinem Stock und zerſtach die Trommel.

224

Capitel XI.

Du sublime au ridicule il n'y a qu'un pas, Madame! Aber das Leben iſt im Grunde ſo fatal ernſt¬ haft, daß es nicht zu ertragen waͤre ohne ſolche Verbindung des Pathetiſchen mit dem Komiſchen. Das wiſſen unſere Poeten. Die grauenhafteſten Bilder des menſchlichen Wahn¬ ſinns zeigt uns Ariſtophanes nur im lachenden Spiegel des Witzes, den großen Denkerſchmerz, der ſeine eigne Nichtigkeit begreift, wagt Goethe nur in den Knittelverſen eines Puppenſpiels225 auszuſprechen, und die toͤdtlichſte Klage uͤber den Jammer der Welt legt Shakespeare in den Mund eines Narren, waͤhrend er deſſen Schel¬ lenkappe aͤngſtlich ſchuͤttelt.

Sie haben's alle dem großen Urpoeten abge¬ ſehen, der in ſeiner tauſendaktigen Welttragoͤdie den Humor auf's Hoͤchſte zu treiben weiß, wie wir es taͤglich ſehen: nach dem Abgang der Helden kommen die Clowns und Grazioſos mit ihren Narrenkolben und Pritſchen, nach den blutigen Revolutionsſcenen und Kaiſeractionen, kommen wieder herangewatſchelt die dicken Bour¬ bonen mit ihren alten abgeſtandenen Spaͤßchen und zartlegitimen Bonmots, und grazioͤſe huͤpft herbey die alte Nobleſſe mit ihrem verhunger¬ ten Laͤcheln, und hintendrein wallen die from¬ men Kaputzen mit Lichtern, Kreuzen und Kir¬ chenfahnen; ſogar in das hoͤchſte Pathos der Welttragoͤdie pflegen ſich komiſche Zuͤge einzu¬ ſchleichen, der verzweifelnde Republikaner, der15226ſich wie ein Brutus das Meſſer in's Herz ſtieß, hat vielleicht zuvor daran gerochen, ob auch kein Haͤring damit geſchnitten worden, und auf dieſer großen Weltbuͤhne geht es auch außerdem ganz, wie auf unſeren Lumpenbrettern, auch auf ihr giebt es beſoffene Helden, Koͤnige, die ihre Rolle vergeſſen, Couliſſen, die haͤngen geblie¬ ben, hervorſchallende Soufleurſtimmen, Taͤn¬ zerinnen, die mit ihrer Lendenpoeſie Effekt ma¬ chen, Coſtuͤmes, die als Hauptſache glaͤnzen Und im Himmel oben, im erſten Range, ſitzen unterdeſſen die lieben Engelein, und lorgniren uns Comoͤdianten hier unten, und der liebe Gott ſitzt ernſthaft in ſeiner großen Loge, und langweilt ſich vielleicht, oder rechnet nach, daß dieſes Theater ſich nicht lange mehr halten kann, weil der Eine zu viel Gage und der Andre zu wenig bekoͤmmt, und Alle viel zu ſchlecht ſpielen.

Du sublime au ridicule il n'y a qu'un pas Madame! Waͤhrend ich das Ende des vorigen227 Capitels ſchrieb, und Ihnen erzaͤhlte, wie Mon¬ ſieur Le Grand ſtarb, und wie ich das testamen¬ tum militare, das in ſeinem letzten Blicke lag, gewiſſenhaft executirte, da klopfte es an meine Stubenthuͤre, und herein trat eine arme, alte Frau, die mich freundlich frug: Ob ich ein Doctor ſey? Und als ich dies bejah'te, bat ſie mich recht freundlich, mit ihr nach Hauſe zu gehen, um dort ihrem Manne die Huͤhneraugen zu ſchneiden.

228

Capitel XII.

Die deutſchen Cenſoren Dummkoͤpfe

229

Capitel XIII.

Madame! unter Leda's bruͤtenden Hemiſphaͤ¬ ren lag ſchon der ganze trojaniſche Krieg, und Sie koͤnnen die beruͤhmten Thraͤnen des Pria¬ mos nimmermehr verſtehen, wenn ich Ihnen nicht erſt von den alten Schwaneneyern er¬ zaͤhle. Deshalb beklagen Sie ſich nicht uͤber meine Abſchweifungen. In allen vorhergehen¬ den Capiteln iſt keine Zeile, die nicht zur Sache gehoͤrte, ich ſchreibe gedraͤngt, ich vermeide alles Ueberfluͤſſige, ich uͤbergehe ſogar oft das Noth¬ wendige, z. B. ich habe noch nicht einmal or¬ dentlich citirt ich meyne nicht Geiſter, ſon¬230 dern, im Gegentheil, ich meyne Schriftſteller und doch iſt das Citiren alter und neuer Buͤ¬ cher das Hauptvergnuͤgen eines jungen Autors, und ſo ein paar grundgelehrte Citate zieren den ganzen Menſchen. Glauben Sie nur nicht, Madame, es fehle mir an Bekanntſchaft mit Buͤchertiteln. Außerdem kenne ich den Kunſt¬ griff großer Geiſter, die es verſtehen, die Co¬ rinthen aus den Semmeln und die Citate aus den Collegienheften herauszupicken; ich weiß auch woher Bartels den Moſt holt. Im Nothfall koͤnnte ich bey meinen gelehrten Freunden eine Anleihe von Citaten machen. Mein Freund G. in Berlin iſt ſo zu ſagen ein kleiner Rothſchild an Citaten, und leiht mir gern einige Millio¬ nen, und hat er ſie nicht ſelbſt vorraͤthig, ſo kann er ſie leicht bey einigen andern kosmopo¬ litiſchen Geiſtesbanquiers zuſammenbringen Apropos, Madame, die dreyprocentigen Boͤckhs ſind flau, aber die fuͤnfprocentigen Hegels ſind geſtiegen Doch, ich brauche jetzt noch keine231 Anleihe zu machen, ich bin ein Mann, der ſich gut ſteht, ich habe jaͤhrlich meine 10,000 Ci¬ tate zu verzehren, ja, ich habe ſogar die Er¬ findung gemacht, wie man falſche Citate fuͤr aͤchte ausgeben kann. Sollte irgend ein großer, reicher Gelehrter, z. B. Michael Beer, mir dieſes Geheimniß abkaufen wollen, ſo will ich es gerne fuͤr 19,000 Thaler Courant abſte¬ hen; auch ließe ich mich handeln. Eine an¬ dere Erfindung will ich zum Heile der Lite¬ ratur nicht verſchweigen und will ſie gratis mittheilen:

Ich finde es naͤmlich fuͤr rathſam, alle ob¬ ſcuren Autoren mit ihrer Hausnummer zu citiren.

Dieſe guten Leute und ſchlechten Muſikan¬ ten ſo wird im Ponce de Leon das Or¬ cheſter angeredet dieſe obſcuren Autoren be¬ ſitzen doch immer ſelbſt noch ein Exemplaͤrchen232 ihres laͤngſtverſchollenen Buͤchleins, und um die¬ ſes aufzutreiben, muß man alſo ihre Hausnum¬ mer wiſſen. Wollte ich z. B. Spitta's Sang¬ buͤchlein fuͤr Handwerksburſchen citiren meine liebe Madame, wo wollten Sie dieſes finden? Citire ich aber:

vid. Sangbuͤchlein fuͤr Handwerksburſchen, von P. Spitta; Luͤneburg, auf der Luͤnerſtraße Nr. 2, rechts um die Ecke

ſo koͤnnen Sie, Madame, wenn Sie es der Muͤhe werth halten, das Buͤchlein auftreiben. Es iſt aber nicht der Muͤhe werth.

Uebrigens, Madame, haben Sie gar keine Idee davon, mit welcher Leichtigkeit ich citiren kann. Ueberall finde ich Gelegenheit, meine tiefe Gelahrtheit anzubringen. Spreche ich z. B. vom Eſſen, ſo bemerke ich in einer Note, daß die Roͤmer, Griechen und Hebraͤer ebenfalls233 gegeſſen haben, ich citire all die koͤſtlichen Ge¬ richte, die von der Koͤchin des Lucullus bereitet worden weh mir! daß ich anderthalb Jahr¬ tauſend zu ſpaͤt geboren bin! ich bemerke auch, daß die gemeinſchaftlichen Mahle bey den Griechen ſo und ſo hießen, und daß die Sparta¬ ner ſchlechte ſchwarze Suppen gegeſſen Es iſt doch gut, daß ich damals noch nicht lebte, ich kann mir nichts entſetzlicheres denken, als wenn ich armer Menſch ein Spartaner geworden waͤre, Suppe iſt mein Lieblingsgericht Ma¬ dame, ich denke naͤchſtens nach London zu reiſen, wenn es aber wirklich wahr iſt, daß man dort keine Suppe bekoͤmmt, ſo treibt mich die Sehn¬ ſucht bald wieder zuruͤck nach den Suppenfleiſch¬ toͤpfen des Vaterlandes. Ueber das Eſſen der alten Hebraͤer koͤnnt 'ich weitlaͤuftig mich ausſprechen und bis auf die Juͤdiſche Kuͤche der neueſten Zeit herabgehen Ich citire bey dieſer Gelegenheit den ganzen Steinweg Ich koͤnnte auch anfuͤhren, wie human ſich viele berliner Ge¬234 lehrte uͤber das Eſſen der Juden geaͤußert, ich kaͤme dann auf die anderen Vorzuͤglichkeiten und Vortrefflichkeiten der Juden, auf die Erfindungen, die man ihnen verdankt, z. B. die Wechſel, das Chriſtenthum aber halt! letzteres wollen wir ihnen nicht allzuhoch anrechnen, da wir eigent¬ lich noch wenig Gebrauch davon gemacht haben ich glaube, die Juden ſelbſt haben dabey weniger ihre Rechnung gefunden als bey der Erfindung der Wechſel. Bey Gelegenheit der Juden koͤnnte ich auch Tacitus citiren er ſagt, ſie verehrten Eſel in ihren Tempeln und bey Gelegenheit der Eſel, welch ein weites Ci¬ tatenfeld eroͤffnet ſich mir! Wie viel Merkwuͤr¬ diges laͤßt ſich anfuͤhren uͤber antike Eſel, im Gegenſatz zu den modernen. Wie vernuͤnftig waren jene und ach! wie ſtupide ſind dieſe. Wie verſtaͤndig ſpricht z. B. Bileams Eſel, vid. Pentat. Lib. Madame, ich habe juſt das Buch nicht bey der235 Hand und will dieſe Stelle zum Ausfuͤllen offen laſſen. Dagegen in Hinſicht der Abgeſchmackt¬ heit neuerer Eſel citire ich: vid. nein, ich will auch dieſe Stelle offen laſſen, ſonſt werde ich ebenfalls citirt, naͤmlich injuriarum. Die neueren Eſel ſind große Eſel. Die alten Eſel, die ſo hoch in der Cultur ſtanden, vid. Gesneri: De antiqua honestate asinorum. (In comment. Goͤtting. T. II. p. 32.)

ſie wuͤrden ſich im Grabe umdrehen, wenn ſie hoͤrten, wie man von ihren Nachkommen ſpricht. Einſt war Eſel ein Ehrenname bedeutete ſo viel wie jetzt Hofrath Baron Doctor Philoſophiae Jacob vergleicht damit ſeinen Sohn Iſaſchar, Homer vergleicht damit ſeinen Helden Ajax, und jetzt vergleicht man damit den Herrn v ........! Madame, bey Gelegenheit236 ſolcher Eſel koͤnnte ich mich tief in die Literatur¬ geſchichte verſenken, ich koͤnnte alle große Maͤn¬ ner citiren, die verliebt geweſen ſind, z. B. den Abelardum, Picum Mirandulanum, Borbonium, Curteſium, Angelum Politianum, Raymundum Lullum und Henricum Heineum. Bey Gelegen¬ heit der Liebe koͤnnte ich wieder alle große Maͤnner citiren, die keinen Tabak geraucht haben, z. B. Cicero, Juſtinian, Goethe, Hugo, Ich zufaͤllig ſind wir alle fuͤnf auch ſo halb und halb Juriſten. Mabillion konnte nicht einmal den Rauch einer fremden Pfeife vertragen, in ſeinem Itinere germanico klagt er, in Hinſicht der deut¬ ſchen Wirthshaͤuſer, quod molestus ipsi fuerit tabaci grave olentis foetor. Dagegen wird an¬ dern großen Maͤnnern eine Vorliebe fuͤr den Tabak zugeſchrieben. Raphael Thorus hat einen Hymnus auf den Tabak gedichtet Madame, Sie wiſſen vielleicht noch nicht, daß ihn Iſaak Elſeverius Anno 1628 zu Leiden in Quart her¬ ausgegeben hat und Ludovicus Kinſchot hat237 eine Vorrede in Verſen dazu geſchrieben. Graͤ¬ vius hat ſogar ein Sonett auf den Tabak ge¬ macht. Auch der große Boxhornius liebte den Tabak. Bayle, in ſeinem Dict. hist. critiq. meldet von ihm, er habe ſich ſagen laſſen, daß der große Boxhornius beim Rauchen einen großen Hut mit einem Loch im Vorderrand ge¬ tragen, in welches er oft die Pfeife geſteckt, damit ſie ihn in ſeinen Studien nicht hindere Apropos, bey Erwaͤhnung des großen Boxhor¬ nius koͤnnte ich auch all die großen Gelehrten citiren, die ſich in's Boxhorn jagen ließen und davon liefen. Ich verweiſe aber blos auf Joh. Georg Martius: De fuga literatorum etc. etc. etc. Wenn wir die Geſchichte durchgehen, Madame, ſo haben alle große Maͤnner einmal in ihrem Leben davon laufen muͤſſen: Loth, Tar¬ quinius, Moſes, Jupiter, Frau von Stael, Nebukadnezar, Benjowsky, Mahomet, die ganze preußiſche Armee, Gregor VII., Rabbi Jizchak Abarbanel, Rouſſeau ich koͤnnte238 noch ſehr viele Namen anfuͤhren, z. B. die, welche an der Boͤrſe auf dem ſchwarzen Brette verzeichnet ſind.

Sie ſehen, Madame, es fehlt mir nicht an Gruͤndlichkeit und Tiefe. Nur mit der Syſte¬ matie will es noch nicht ſo recht gehen. Als ein aͤchter Deutſcher haͤtte ich dieſes Buch mit einer Erklaͤrung ſeines Titels eroͤffnen muͤſſen, wie es im heiligen roͤmiſchen Reiche Brauch und Herkommen iſt. Phidias hat zwar zu ſeinem Jupiter keine Vorrede gemacht, eben ſo wenig, wie auf der medizaͤiſchen Venus ich habe ſie von allen Seiten betrachtet irgend ein Citat gefunden wird; aber die alten Griechen waren Griechen, unſer einer iſt ein ehrlicher Deutſcher, kann die deutſche Natur nicht ganz verlaͤugnen, und ich muß mich daher noch nachtraͤg¬ lich uͤber den Titel meines Buches aus¬ ſprechen.

239

Madame, ich ſpreche demnach:

  • I. Von den Ideen.

    A. Von den Ideen im Allgemeinen. a. Von vernuͤnftigen Ideen. b. Von unvernuͤnftigen Ideen. α. Von den gewoͤhnlichen Ideen. β. Von den Ideen, die mit gruͤnem Leder uͤberzogen ſind.

Dieſe werden wieder eingetheilt in doch das wird ſich alles ſchon finden.

240

Capitel XIV.

Madame, haben Sie uͤberhaupt eine Idee von einer Idee? Was iſt eine Idee? Es liegen einige gute Ideen in dieſem Rock ſagte mein Schneider, indem er mit ernſter Anerken¬ nung den Oberrock betrachtete, der ſich noch aus meinen berliniſch eleganten Tagen her¬ ſchreibt, und woraus jetzt ein ehrſamer Schlaf¬ rock gemacht werden ſollte. Meine Waͤſcherin klagt: der Paſtor S. habe ihrer Tochter Ideen in den Kopf geſetzt, und ſie ſey da¬ durch unklug geworden und wolle keine Ver¬ nunft mehr annehmen. Der Kutſcher Pat¬241 tenſen brummt bey jeder Gelegenheit: das iſt eine Idee! das iſt eine Idee! Geſtern aber wurde er ordentlich verdrießlich, als ich ihn frug: was er ſich unter eine Idee vorſtelle? Und verdrießlich brummte er: Nu, nu, eine Idee iſt eine Idee! eine Idee iſt alles dumme Zeug, was man ſich einbildet. In gleicher Bedeutung wird dieſes Wort, als Buch¬ titel, von dem Hofrath Heeren in Goͤttingen gebraucht.

Der Kutſcher Pattenſen iſt ein Mann, der auf der weiten luͤneburger Heide, in Nacht und Nebel, den Weg zu finden weiß; der Hofrath Heeren iſt ein Mann, der ebenfalls mit klu¬ gem Inſtinkt die alten Karavanenwege des Morgenlands auffindet, und dort ſchon, ſeit Jahr und Tag, ſo ſicher und geduldig einher¬ wandelt, wie jemals ein Kameel des Alter¬ thums; auf ſolche Leute kann man ſich ver¬ laſſen, ſolchen Leuten darf man getroſt nachfol¬16242gen, und darum habe ich dieſes Buch Ideen

betitelt.

Der Titel des Buches bedeutet daher eben ſo wenig als der Titel des Verfaſſers, er ward von demſelben nicht aus gelehrtem Hochmuth gewaͤhlt, und darf ihm fuͤr nichts weniger als Eitelkeit ausgedeutet werden. Nehmen Sie die wehmuͤthigſte Verſicherung, Madame, ich bin nicht eitel. Es bedarf dieſer Bemerkung, wie Sie mitunter merken werden. Ich bin nicht eitel Und wuͤchſe ein Wald von Lorbeeren auf meinem Haupte, und ergoͤſſe ſich ein Meer von Weihrauch in mein junges Herz ich wuͤrde doch nicht eitel werden. Meine Freunde und uͤbrigen Raum - und Zeitgenoſſen haben treulich dafuͤr geſorgt Sie wiſſen, Madame, daß alte Weiber ihre Pflegekinder ein bischen anſpucken, wenn man die Schoͤnheit der¬ ſelben lobt, damit das Lob den lieben Kleinen nicht ſchade Sie wiſſen, Madame, wenn zu243 Rom der Triumphator, ruhmbekraͤnzt und pur¬ purgeſchmuͤckt, auf ſeinem goldnen Wagen mit weißen Roſſen, vom Campo Martii einherfuhr, wie ein Gott hervorragend aus dem feyerlichen Zuge der Lictoren, Muſikanten, Taͤnzer, Prie¬ ſter, Sklaven, Trophaͤentraͤger, Conſuln, Se¬ natoren, Soldaten: dann ſang der Poͤbel hin¬ tendrein allerley Spottlieder Und Sie wiſſen, Madame, daß es im lieben Deutſchland viel alte Weiber und Poͤbel giebt.

Wie geſagt, Madame, die Ideen, von denen hier die Rede iſt, ſind von den platoniſchen eben ſo weit entfernt als Athen von Goͤttin¬ gen, und Sie duͤrfen von dem Buche ſelbſt eben ſo wenig große Erwartungen hegen, als von dem Verfaſſer ſelbſt. Wahrlich, wie dieſer uͤberhaupt jemals dergleichen Erwartungen er¬ regen konnte, iſt mir eben ſo unbegreiflich als meinen Freunden. Graͤfin Julie will die Sache erklaͤren, und verſichert: wenn der be¬244 ſagte Verfaſſer zuweilen etwas wirklich Geiſtrei¬ ches und Neugedachtes ausſpreche, ſo ſey dies bloß Verſtellung von ihm, und im Grunde ſey er eben ſo dumm wie die Uebrigen. Das iſt falſch, ich verſtelle mich gar nicht, ich ſpreche wie mir der Schnabel gewachſen, ich ſchreibe in aller Unſchuld und Einfalt was mir in den Sinn kommt, und ich bin nicht daran Schuld, wenn das etwas Geſcheutes iſt. Aber ich habe nun mahl im Schreiben mehr Gluͤck als in der Altonaer Lotterie ich wollte, der Fall waͤre umgekehrt und da kommt aus meiner Feder mancher Herztreffer, manche Gedanken¬ quaterne, und das thut Gott; denn ER, der den froͤmmſten Elohaſaͤngern und Erbauungs¬ poeten alle ſchoͤne Gedanken und allen Ruhm in der Literatur verſagt, damit ſie nicht von ihren irdiſchen Mitcreaturen zu ſehr gelobt wer¬ den und dadurch des Himmels vergeſſen, wo ihnen ſchon von den Engeln das Quartier zu¬ recht gemacht wird: ER pflegt uns andre,245 profane, ſuͤndhafte, ketzeriſche Schriftſteller, fuͤr die der Himmel doch ſo gut wie vernagelt iſt, deſto mehr mit vorzuͤglichen Gedanken und Menſchenruhm zu ſegnen, und zwar aus goͤtt¬ licher Gnade und Barmherzigkeit, damit die arme Seele, die doch nun einmahl erſchaffen iſt, nicht ganz leer ausgehe und wenigſtens hie¬ nieden auf Erden einen Theil jener Wonne empfinde, die ihr dort oben verſagt iſt.

vid. Goethe und die Traktaͤtchenverfaſſer.

Sie ſehen alſo, Madame, Sie duͤrfen meine Schriften leſen, dieſe zeugen von der Gnade und Barmherzigkeit Gottes, ich ſchreibe im blinden Vertrauen auf deſſen Allmacht, ich bin in dieſer Hinſicht ein aͤcht chriſtlicher Schrift¬ ſteller, und, um mit Gubitz zu reden, waͤhrend ich eben dieſe gegenwaͤrtige Periode anfange, weiß ich noch nicht, wie ich ſie ſchließe und was ich eigentlich ſagen ſoll, und ich verlaſſe mich dafuͤr auf den lieben Gott. Und wie koͤnnte246 ich auch ſchreiben ohne dieſe fromme Zuverſicht, in meinem Zimmer ſteht jetzt der Burſche aus der Langhoffſchen Druckerey und wartet auf Manuſcript, das kaumgeborene Wort wandert warm und naß in die Preſſe, und was ich in dieſem Augenblick denke und fuͤhle, kann mor¬ gen Mittag ſchon Makulatur ſeyn. Sie haben leicht reden, Madame, wenn Sie mich an das Horaziſche nonum prematur in annum erinnern. Dieſe Regel mag, wie manche an¬ dere der Art, ſehr gut in der Theorie gelten, aber in der Praxis taugt ſie nichts. Als Horaz dem Autor die beruͤhmte Regel gab, ſein Werk neun Jahre im Pult liegen zu laſſen, haͤtte er ihm auch zu gleicher Zeit das Recept geben ſollen, wie man neun Jahre ohne Eſſen zubringen kann. Als Horaz dieſe Regel erſann, ſaß er vielleicht an der Tafel des Maͤcenas und Truthaͤhne mit Truͤffeln, Faſanenpudding in Wildpretſauce, Lerchenrippchen mit teltower Ruͤbchen, Pfauenzungen, indianiſche Vogelne¬247 ſter, und Gott weiß! was noch mehr, und alles umſonſt. Aber wir, wir ungluͤcklichen Spaͤtgebornen, wir leben in einer andern Zeit, unſere Maͤcenaten haben ganz andere Princi¬ pien, ſie glauben, Autoren und Mispeln ge¬ deihen am beſten, wenn ſie einige Zeit auf dem Stroh liegen, ſie glauben, die Hunde taugten nicht auf der Bilder - und Gedankenjagd, wenn ſie zu dick gefuͤttert wuͤrden, ach! und wenn ſie ja mahl einen armen Hund fuͤttern, ſo iſt es der unrechte, der die Brocken am wenigſten verdient, z. B. der Dachs, der die Hand leckt, oder der winzige Bologneſer, der ſich in den duftigen Schooß der Hausdame zu ſchmie¬ gen weiß, oder der geduldige Pudel, der eine Brodwiſſenſchaft gelernt und apportiren, tan¬ zen und trommeln kann Waͤhrend ich dieſes ſchreibe, ſteht hinter mir mein kleiner Mops und bellt Schweig nur, Ami, dich hab 'ich nicht gemeint, denn du liebſt mich und beglei¬ teſt deinen Herrn in Noth und Gefahr und248 wuͤrdeſt ſterben auf ſeinem Grabe, eben ſo treu wie mancher andere deutſche Hund, der in die Fremde verſtoßen, vor den Thoren Deutſch¬ lands liegt und hungert und wimmert Ent¬ ſchuldigen Sie, Madame, daß ich eben ab¬ ſchweifte, um meinem armen Hunde eine Eh¬ renerklaͤrung zu geben, ich komme wieder auf die horaziſche Regel und ihre Unanwendbarkeit im neunzehnten Jahrhundert, wo die Poeten das Schuͤrzenſtipendium der Muſe nicht entbeh¬ ren koͤnnen Ma foi, Madame! ich koͤnnte es keine 24 Stunden, viel weniger neun Jahre aushalten, mein Magen hat wenig Sinn fuͤr Unſterblichkeit, ich hab' mir's uͤberlegt, ich will nur halb unſterblich und ganz ſatt werden, und wenn Voltaire dreyhundert Jahre ſeines ewigen Nachruhms fuͤr eine gute Verdauung des Eſſens hingeben moͤchte, ſo biete ich das Doppelte fuͤr das Eſſen ſelbſt. Ach! und was fuͤr ſchoͤnes, bluͤhendes Eſſen giebt es auf dieſer Welt! Der Philoſoph Pangloß hat Recht; es249 iſt die beſte Welt! Aber man muß Geld in dieſer beſten Welt haben, Geld in der Taſche und nicht Manuſcripte im Pult. Der Wirth im Koͤnig von England iſt ſelbſt Schriftſteller und kennt auch die horaziſche Regel, aber ich glaube nicht, daß er mir, wenn ich ſie ausuͤben wollte, neun Jahr 'zu eſſen gaͤbe.

Im Grunde, warum ſollte ich ſie auch aus¬ uͤben? Ich habe des Guten ſo viel zu ſchrei¬ ben, daß ich nicht lange Federleſens zu machen brauche. So lange mein Herz voll Liebe und der Kopf meiner Nebenmenſchen voll Narrheit iſt, wird es mir nie an Stoff zum Schreiben fehlen. Und mein Herz wird immer lieben, ſo lange es Frauen giebt, erkaltet es fuͤr die Eine, ſo ergluͤht es gleich fuͤr die Andere; wie in Frankreich der Koͤnig nie ſtirbt, ſo ſtirbt auch nie die Koͤnigin in meinem Herzen, und da heißt es: la reine est morte, vive la reine! Auf gleiche Weiſe wird auch die Narrheit meiner250 Nebenmenſchen nie ausſterben. Denn es giebt nur eine einzige Klugheit und dieſe hat ihre be¬ ſtimmten Grenzen; aber es giebt tauſend uner¬ meßliche Narrheiten. Der gelehrte Caſuiſt und Seelſorger Schupp ſagt ſogar: in der Welt ſind mehr Narren als Menſchen

vid. Schuppii lehrreiche Schriften, S. 1121.

Bedenkt man, wo der große Schuppius ge¬ wohnt hat, ſo findet man dieſe ſtatiſtiſche An¬ gabe gar nicht uͤbertrieben. Ich befinde mich an demſelben Orte, und kann ſagen, daß mir ordentlich wohl wird, wenn ich bedenke, all dieſe Narren, die ich hier ſehe, kann ich in meinen Schriften gebrauchen, ſie ſind baares Honorar, baares Geld. Ich befinde mich jetzt ſo recht in der Wolle. Der Herr hat mich geſegnet, die Narren ſind dieſes Jahr ganz be¬ ſonders gut gerathen, und als guter Wirth conſumire ich nur wenige, ſuche mir die ergie¬ bigſten heraus und bewahre ſie fuͤr die Zu¬251 kunft. Man ſieht mich oft auf der Prome¬ nade und ſieht mich luſtig und froͤhlich. Wie ein reicher Kaufmann, der haͤndereibendvergnuͤgt zwiſchen den Kiſten, Faͤſſern und Ballen ſeines Waarenlagers umherwandelt, ſo wandle ich dann unter meinen Leuten. Ihr ſeyd alle die Mei¬ nigen! Ihr ſeyd mir alle gleich theuer, und ich liebe Euch, wie Ihr ſelbſt Euer Geld liebt, und das will viel ſagen. Ich mußte herz¬ lich lachen, als ich juͤngſt hoͤrte: einer meiner Leute habe ſich beſorglich geaͤußert, er wiſſe nicht, wovon ich einſt leben wuͤrde und dennoch iſt er ſelbſt ein ſo capitaler Narr, daß ich von ihm allein ſchon leben koͤnnte, wie von einem Capitale. Mancher Narr iſt mir aber nicht bloß baares Geld, ſondern ich habe das baare Geld, das ich aus ihm erſchreiben kann, ſchon zu irgend einem Zwecke beſtimmt. So z. B. fuͤr einen gewiſſen, wohlgepolſterten, dicken Millionnarrn werde ich mir einen ge¬ wiſſen, wohlgepolſterten Stuhl anſchaffen, den252 die Franzoͤſinnen chaise perçée nennen. Fuͤr ſeine dicke Millionnaͤrrin kaufe ich mir ein Pferd. Sehe ich nun den Dicken ein Ka¬ meel kommt eher in's Himmelreich, als dieſer Mann durch ein Nadeloͤhr geht ſehe ich nun dieſen auf der Promenade heranwatſcheln, ſo wird mir wunderlich zu Muthe, obſchon ich ihm ganz unbekannt bin, ſo gruͤße ich ihn un¬ willkuͤhrlich, und er gruͤßt wieder ſo herzlich, ſo einladend, daß ich auf der Stelle von ſeiner Guͤte Gebrauch machen moͤchte, und doch in Verlegenheit komme wegen der vielen geputzten Menſchen, die juſt vorbeygehn. Seine Frau Gemahlin iſt gar keine uͤble Frau ſie hat zwar nur ein einziges Auge, aber es iſt dafuͤr deſto gruͤner, ihre Naſe iſt wie der Thurm, der gen Damaskus ſchaut, ihr Buſen iſt groß wie das Meer, und es flattern darauf allerley Baͤnder, wie Flaggen der Schiffe, die in die¬ ſen Meerbuſen eingelaufen man wird ſee¬ krank ſchon durch den bloßen Anblick ihr253 Nacken iſt gar huͤbſch und fettgewoͤlbt wie ein das vergleichende Bild befindet ſich et¬ was tiefer unten und an der veilchenblauen Gardine, die dieſes vergleichende Bild bedeckt, haben gewiß tauſend und abermals tauſend Seidenwuͤrmchen ihr ganzes Leben verſponnen. Sie ſehen, Madame, welch ein Roß ich mir anſchaffe! Begegnet mir die Frau auf der Pro¬ menade, ſo geht mir ordentlich das Herz auf, es iſt mir, als koͤnnt 'ich mich ſchon aufſchwin¬ gen, ich ſchwippe mit der Jerte, ich ſchnappe mit den Fingern, ich ſchnalze mit der Zunge, ich mache mit den Beinen allerley Reuterbewe¬ gungen hopp! hopp! burr! burr! und die liebe Frau ſieht mich an ſo ſeelenvoll, ſo verſtaͤndnißinnig, ſie wiehert mit dem Auge, ſie ſperrt die Nuͤſtern, ſie kokettirt mit der Crouppe, ſie kourbettirt, ſetzt ſich ploͤtzlich in einen kurzen Hundetrapp Und ich ſtehe dann mit gekreuzten Armen, und ſchaue ihr wohlge¬ faͤllig nach, und uͤberlege, ob ich ſie auf der254 Stange reiten ſoll oder auf der Trenſe, ob ich ihr einen engliſchen oder einen polniſchen Sat¬ tel geben ſoll u. ſ. w. Leute, die mich alsdann ſtehen ſehen, begreifen nicht, was mich bey der Frau ſo ſehr anzieht. Zwiſchentragende Zungen wollten ſchon ihren Herrn Gemahl in Unruhe ſetzen und gaben Winke, als ob ich ſeine Ehehaͤlfte mit den Augen eines Roué be¬ trachte. Aber meine ehrliche, weichlederne chaise percée ſoll geantwortet haben: er halte mich fuͤr einen unſchuldigen, ſogar etwas ſchuͤchter¬ nen, jungen Menſchen, der ihn mit einer ge¬ wiſſen[Genauigkeit] anſaͤhe, wie einer, der das Beduͤrfniß fuͤhlt, ſich naͤher anzuſchließen, und doch von einer erroͤthenden Bloͤdigkeit zuruͤckgehalten wird. Mein edles Roß meinte hingegen: ich haͤtte ein freyes, unbefange¬ nes, chevaleresques Weſen, und meine zu¬ vorgruͤßende Hoͤflichkeit bedeute bloß den Wunſch, einmahl von ihnen zu einem Mit¬ tagseſſen eingeladen zu werden.

255

Sie ſehen, Madame, ich kann alle Men¬ ſchen gebrauchen, und der Adreßkalender iſt eigentlich mein Hausinventarium. Ich kann daher auch nie Bankerott werden, denn meine Glaͤubiger ſelbſt wuͤrde ich in Erwerbsquellen verwandeln. Außerdem, wie geſagt, lebe ich wirklich ſehr oͤkonomiſch, verdammt oͤkonomiſch. z. B. Waͤhrend ich dieſes ſchreibe, ſitze ich in einer dunkeln, betruͤbten Stube auf der Duͤſter¬ ſtraße aber, ich ertrage es gern, ich koͤnnte ja, wenn ich nur wollte, im ſchoͤnſten Garten ſitzen, eben ſo gut wie meine Freunde und Lie¬ ben; ich brauchte nur meine Schnapsklienten zu realiſiren. Dieſe letzteren, Madame, beſtehen aus verdorbenen Friſeuren, heruntergekomme¬ nen Kupplern, Speiſewirthen, die ſelbſt nichts mehr zu eſſen haben, lauter Lumpen, die meine Wohnung zu finden wiſſen, und fuͤr ein wirk¬ liches Trinkgeld mir die Chronique ſcandaleuſe ihres Stadtviertels erzaͤhlen Madame, Sie wundern ſich, daß ich ſolches Volk nicht ein256 fuͤr allemahl zur Thuͤr hinauswerfe? Wo denken Sie hin, Madame! Dieſe Leute ſind meine Blumen. Ich beſchreibe ſie einſt in einem ſchoͤnen Buche, fuͤr deſſen Honorar ich mir einen Garten kaufe, und mit ihren rothen, gelben, blauen und buntgeſprenkelten Geſichtern erſcheinen ſie mir jetzt ſchon wie Blumen dieſes Gartens. Was kuͤmmert es mich, daß fremde Naſen behaupten, dieſe Blumen roͤchen nur nach Kuͤmmel, Taback, Kaͤſe und Laſter! meine eigne Naſe, der Schornſtein meines Kopfes, worin die Phantaſie als Kaminfeger auf und ab ſteigt, behauptet das Gegentheil, ſie riecht an jenen Leuten nichts als den Duft von Roſen, Jasmi¬ nen, Veilchen, Nelken, Violen O, wie be¬ haglich werde ich einſt des Morgens in meinem Garten ſitzen, und den Geſang der Voͤgel behor¬ chen, und die Glieder waͤrmen an der lieben Sonne, und einathmen den friſchen Hauch des Gruͤnen, und durch den Anblick der Blumen mich erinnern an die alten Lumpen!

257

Vor der Hand ſitze ich aber noch auf der dunklen Duͤſterſtraße in meinem dunklen Zimmer und begnuͤge mich in der Mitte deſſelben den groͤßten Obſcuranten des Landes aufzuhaͤngen Mais est-ce-que vous verrez plus clair alors? Augenſcheinlichement, Madame doch mißver¬ ſtehen Sie mich nicht, ich haͤnge nicht den Mann ſelbſt, ſondern nur die kriſtallne Lampe, die ich fuͤr das Honorar, das ich aus ihm er¬ ſchreibe, mir anſchaffen werde. Indeſſen, ich glaube, es waͤre noch beſſer und es wuͤrde ploͤtz¬ lich im ganzen Lande hell werden, wenn man die Obſcuranten in Natura aufhinge. Kann man aber die Leute nicht haͤngen, ſo muß man ſie brandmarken. Ich ſpreche wieder figuͤrlich, ich brandmarke in effigie. Freylich, Herr v. Weiß er iſt weiß und unbeſcholten wie eine Lilie hat ſich weiß machen laſſen, ich haͤtte in Berlin erzaͤhlt, Er ſey wirklich gebrandmarkt; der Narr ließ ſich deßhalb von der Obrigkeit beſehen und ſchriftlich geben, daß ſeinem17258Ruͤcken kein Wappen aufgedruckt ſey, dieſes ne¬ gative Wappenzeugniß betrachtete er wie ein Di¬ plom, das ihm Einlaß in die beſte Geſellſchaft verſchaffen muͤſſe, und wunderte ſich, als man ihn dennoch hinauswarf, und kreiſcht jetzt Mord und Zeter uͤber mich armen Menſchen, und will mich, mit einer geladenen Piſtole, wo er mich findet, todtſchießen Und was glauben Sie wohl, Madame, was ich dagegen thue? Ma¬ dame, fuͤr dieſen Narrn, d. h. fuͤr das Honorar, das ich aus ihm herausſchreiben werde, kaufe ich mir ein gutes Faß Ruͤdesheimer Rheinwein. Ich erwaͤhne dieſes, damit Sie nicht glauben, es ſey Schadenfreude, daß ich ſo luſtig ausſehe, wenn mir Herr v. Weiß auf der Straße begeg¬ net. Wahrhaftig, Madame, ich ſehe in ihm nur meinen lieben Ruͤdesheimer, ſobald ich ihn er¬ blicke, wird mir wonnig und angenehm zu Mu¬ the, und ich traͤllere unwillkuͤhrlich: am Rhein, am Rhein, da wachſen unſre Reben Dies Bildniß iſt bezaubernd ſchoͤn O weiße259 Dame Mein Ruͤdesheimer ſchaut als¬ dann ſehr ſauer, und man ſollte glauben, er beſtaͤnde nur aus Gift und Galle Aber, ich verſichere Sie, Madame, es iſt ein aͤchtes Ge¬ waͤchs, findet ſich auch das Beglaubigungswap¬ pen nicht eingebrannt, ſo weiß doch der Kenner es zu wuͤrdigen, ich werde dieſes Faͤßchen gar freudig anzapfen, und wenn es allzubedrohlich gaͤhrt und auf eine gefaͤhrliche Art zerſpringen will, ſo ſoll es von Amtswegen mit einigen eiſernen Reifen geſichert werden.

Sie ſehen alſo, Madame, fuͤr mich brauchen Sie nichts zu beſorgen. Ich kann alles ruhig anſehn in dieſer Welt. Der Herr hat mich ge¬ ſegnet mit irdiſchen Guͤtern, und wenn er mir auch den Wein nicht ganz bequem in den Kel¬ ler geliefert hat, ſo erlaubt er mir doch in ſei¬ nem Weinberge zu arbeiten, ich brauche nur die Trauben zu leſen, zu keltern, zu preſſen, zu buͤtten, und ich habe dann die klare Gottes¬260 gabe; und wenn mir auch nicht die Narren ge¬ braten in's Maul fliegen, ſondern mir gewoͤhn¬ lich roh und abgeſchmackt entgegenlaufen, ſo weiß ich ſie doch ſo lange am Spieße herum¬ zudrehen, zu ſchmoren, zu pfeffern, bis ſie muͤrbe und genießbar werden. Sie ſollen Ihre Freude haben, Madame, wenn ich mal meine große Fete gebe. Madame, Sie ſollen meine Kuͤche loben. Sie ſollen geſtehen, daß ich meine Satrapen eben ſo pompoͤſe bewirthen kann, wie einſt der große Ahasveros, der da Koͤnig war, von Indien bis zu den Mohren, uͤber hundert und ſieben und zwanzig Provin¬ zen. Ganze Hekatomben von Narren werde ich einſchlachten. Jener große Philoſchnaps, der, wie einſt Jupiter, in der Geſtalt eines Ochſen, um den Beyfall Europa's buhlt, liefert den Ochſenbraten; ein trauriger Trauerſpieldichter, der auf den Brettern, die ein traurig perſiſches Reich bedeuteten, uns einen traurigen Alexan¬ der gezeigt hat, an deſſen Bildung kein Ari¬261 ſtoteles Antheil hatte, dieſer liefert meiner Ta¬ fel einen ganz vorzuͤglichen Schweinskopf, wie gewoͤhnlich ſauerſuͤßlaͤchelnd mit einer Zitronen¬ ſcheibe im Maul, und von der kunſtverſtaͤndi¬ gen Koͤchin mit Lorbeer-Blaͤttern bedeckt; der Saͤnger der Korallenlippen, Schwanenhaͤlſe, huͤpfenden Schneehuͤgelchen, Dingelchen, Maͤd¬ chen, Mimilichen, Kuͤßchen und Aſſeſſorchen, naͤmlich H. Clauren, oder wie ihn auf der Friedrichſtraße die frommen Bernhardinerinnen nennen, Vater Clauren! unſer Clauren! dieſer Aechte liefert mir all jene Gerichte, die er in ſeinen jaͤhrlichen Taſchenbordellchen mit der Phantaſie einer naͤſcheriſchen Kuͤchenjungfer, ſo jettlich zu beſchreiben weiß, und er giebt uns noch ein ganz beſonderes Extra-Schuͤſſelchen mit einem Zellery-Gemuͤschen, wonach einem das Herzchen vor Liebe puppert; eine kluge, duͤrre Hofdame, wovon nur der Kopf genießbar iſt, liefert uns ein analoges Gericht, naͤmlich Spargel; und es wird kein Mangel ſeyn an262 goͤttinger Wurſt, hamburger Rauchfleiſch, pom¬ merſchen Gaͤnſebruͤſten, Ochſenzungen, gedaͤmpf¬ tem Kalbshirn, Rindsmaul, Stockfiſch, und allerley Sorten Gelee, berliner Pfannkuchen, wiener Torte, Confituͤren

Madame, ich habe mir ſchon in Gedanken den Magen uͤberladen! Der Henker hole ſolche Schlemmerey! Ich kann nicht viel vertragen. Meine Verdauung iſt ſchlecht. Der Schweins¬ kopf wirkt auf mich wie auf das uͤbrige deutſche Publicum ich muß einen Willibald Alexis - Salat darauf eſſen, der reinigt O! der unſe¬ lige Schweinskopf mit der noch unſeligeren Sauce, die weder griechiſch noch perſiſch, ſon¬ dern wie Thee mit gruͤner Seife ſchmeckt; Ruft mir meinen dicken Millionnarrn!

263

Capitel XV.

Madame, ich bemerke eine leichte Wolke des Unmuths auf Ihrer ſchoͤnen Stirne, und Sie ſcheinen zu fragen: ob es nicht Unrecht ſey, daß ich die Narren ſolchermaßen zurichte, an den Spieß ſtecke, zerhacke, ſpicke, und viele ſo¬ gar hinſchlachte, die ich unverzehrt liegen laſſen muß, und die nun den ſcharfen Schnaͤbeln der Spaßvoͤgel zum Raube dienen, waͤhrend die Wittwen und Waiſen heulen und jammern

Madame, c'est la guerre! Ich will Ihnen jetzt das ganze Raͤthſel loͤſen: Ich ſelbſt bin264 zwar keiner von den Vernuͤnftigen, aber ich habe mich zu dieſer Parthey geſchlagen, und ſeit 5588 Jahren fuͤhren wir Krieg mit den Narren. Die Narren glauben ſich von uns beeintraͤchtigt, indem ſie behaupten: es gaͤbe in der Welt nur eine beſtimmte Doſis Vernunft, dieſe ganze Doſis haͤtten nun die Vernuͤnftigen, Gott weiß wie! uſurpirt, und es ſey himmelſchreyend, wie oft ein einziger Menſch ſo viel Vernunft an ſich geriſſen habe, daß ſeine Mitbuͤrger und das ganze Land rund um ihn her ganz ob¬ ſcur geworden. Dies iſt die geheime Ur¬ ſache des Krieges, und es iſt ein wahrer Ver¬ tilgungskrieg. Die Vernuͤnftigen zeigen ſich, wie gewoͤhnlich, als die ruhigſten, maͤßigſten und vernuͤnftigſten, ſie ſitzen feſtverſchanzt in ihren altariſtoteliſchen Werken, haben viel Ge¬ ſchuͤtz, haben auch Munition genug, denn ſie haben ja ſelbſt das Pulver erfunden, und dann und wann werfen ſie wohlbewieſene Bomben unter ihre Feinde. Aber leider ſind dieſe265 letztern allzuzahlreich, und ihr Geſchrey iſt groß, und taͤglich veruͤben ſie Graͤuel; wie denn wirklich jede Dummheit dem Vernuͤnftigen ein Graͤuel iſt. Ihre Kriegsliſten ſind oft von ſehr ſchlauer Art. Einige Haͤuptlinge der großen Armee huͤten ſich wohl die geheime Urſache des Krieges einzugeſtehen. Sie haben gehoͤrt, ein bekannter, falſcher Mann, der es in der Falſchheit ſo weit gebracht hatte, daß er am Ende ſogar falſche Memoiren ſchrieb, naͤmlich Fouché, habe mahl geaͤußert: les paroles sont faites pour cacher nos pensées; und nun ma¬ chen ſie viel Worte, um zu verbergen, daß ſie uͤberhaupt keine Gedanken haben, und halten lange Reden und ſchreiben dicke Buͤcher, und wenn man ſie hoͤrt, ſo preiſen ſie die alleinſe¬ ligmachende Quelle der Gedanken, naͤmlich die Vernunft, und wenn man ſie ſieht, ſo treiben ſie Mathematik, Logik, Statiſtik, Maſchinen Verbeſſerung, Buͤrgerſinn, Stallfuͤtterung u. ſ. w. und wie der Affe um ſo laͤcherlicher266 wird, je mehr er ſich dem Menſchen aͤhnlich zeigt, ſo werden auch jene Narren deſto laͤcher¬ licher, je vernuͤnftiger ſie ſich gebehrden. An¬ dre Haͤuptlinge der großen Armee ſind offen¬ herziger, und geſtehen, daß ihr Vernunfttheil ſehr gering ausgefallen, daß ſie vielleicht gar nichts von der Vernunft abbekommen; indeſſen koͤnnen ſie nicht umhin zu verſichern, die Ver¬ nunft ſey ſehr ſauer und im Grunde von ge¬ ringem Werthe. Dies mag vielleicht wahr ſeyn, aber ungluͤcklichermaßen haben ſie nicht mahl ſo viel Vernunft als dazu gehoͤrt, es zu beweiſen. Sie greifen daher zu allerley Aus¬ huͤlfe, ſie entdecken neue Kraͤfte in ſich, erklaͤ¬ ren, daß ſolche eben ſo wirkſam ſeyen wie die Vernunft, ja in gewiſſen Nothfaͤllen noch wirk¬ ſamer, z. B. das Gemuͤth, der Glauben, die Inſpiration u. ſ. w., und mit dieſem Vernunft¬ ſurrogat, mit dieſer Runkelruͤbenvernunft, troͤſten ſie ſich. Mich Armen haſſen ſie aber ganz be¬ ſonders, indem ſie behaupten: ich ſey von267 Haus aus einer der Ihrigen, ich ſey ein Ab¬ truͤnniger, ein Ueberlaͤufer, der die heiligſten Bande zerriſſen, ich ſey jetzt ſogar ein Spion, der heimlich auskundſchafte, was ſie, die Nar¬ ren, zuſammentreiben, um ſie nachher dem Ge¬ laͤchter ſeiner neuen Genoſſen Preis zu geben, und ich ſey ſo dumm, nicht mal einzuſehen, daß dieſe zu gleicher Zeit uͤber mich ſelbſt lachen und mich nimmermehr fuͤr ihres Gleichen halten Und da haben die Narren vollkommen Recht.

Es iſt wahr, jene halten mich nicht fuͤr ihres Gleichen und mir gilt oft ihr heimliches Gekicher. Ich weiß es ſehr gut, aber ich laß mir nichts merken. Mein Herz blutet dann innerlich, und wenn ich allein bin, fließen drob meine Thraͤnen. Ich weiß es ſehr gut, meine Stellung iſt unnatuͤrlich; alles, was ich thue, iſt den Vernuͤnftigen eine Thorheit und den Narren ein Graͤuel. Sie haſſen mich und ich fuͤhle die Wahrheit des Spruches: Stein iſt268 ſchwer und Sand iſt Laſt, aber der Narren Zorn iſt ſchwerer denn die beyde. Und ſie haſſen mich nicht mit Unrecht. Es iſt vollkom¬ men wahr, ich habe die heiligſten Bande zer¬ riſſen, von Gott - und Rechtswegen haͤtte ich unter den Narren leben und ſterben muͤſſen. Und ach! ich hatte es unter dieſen Leuten ſo gut gehabt! Sie wuͤrden mich, wenn ich um¬ kehren wollte, noch immer mit offnen Armen empfangen. Sie wuͤrden mir an den Augen abſehen, was ſie mir nur irgend Liebes erwei¬ ſen koͤnnten. Sie wuͤrden mich alle Tage zu Tiſche laden und des Abends mitnehmen in ihre Theegeſellſchaften und Clubs, und ich koͤnnte mit ihnen Whiſt ſpielen, Tabak rauchen, politiſiren, und wenn ich dabey gaͤhnte, hieße es hinter mei¬ nem Ruͤcken: welch ſchoͤnes Gemuͤth! eine Seele voll Glauben! erlauben Sie mir, Madame, daß ich eine Thraͤne der Ruͤhrung weihe ach! und ich wuͤrde Punſch mit ihnen trinken, bis die rechte Inſpiration kaͤme, und269 dann braͤchten ſie mich in einer Portechaiſe wieder nach Hauſe, aͤngſtlich beſorgt, daß ich mich nicht erkaͤlte, und der Eine reichte mir ſchnell die Pantoffeln, der Andre den ſeidnen Schlafrock, der Dritte die weiße Nachtmuͤtze, und ſie machten mich dann zum Profeſſor ex¬ traordinarius, oder zum Praͤſidenten einer Be¬ kehrungsgeſellſchaft, oder zum Oberkalkulator, oder zum Direktor von roͤmiſchen Ausgrabun¬ gen; denn ich waͤre ſo recht ein Mann, den man in allen Faͤchern gebrauchen koͤnnte, ſinte¬ mal ich die lateiniſchen Deklinationen ſehr gut von den Conjugationen unterſcheiden kann, und nicht ſo leicht wie andre Leute einen preußiſchen Poſtillionsſtiefel fuͤr eine etrusciſche Vaſe an¬ ſehe. Mein Gemuͤth, mein Glauben, meine Inſpiration koͤnnten noch außerdem in den Betſtunden viel Gutes wirken, naͤmlich fuͤr mich; nun gar mein ausgezeichnet poetiſches Ta¬ lent wuͤrde mir gute Dienſte leiſten bey hohen Geburtstagen und Vermaͤhlungen, und es waͤr '270gar nicht uͤbel, wenn ich, in einem großen Na¬ tionalepos, all jene Helden beſaͤnge, wovon wir ganz beſtimmt wiſſen, daß aus ihren verweſ'ten Leichnamen Wuͤrmer gekrochen ſind, die ſich fuͤr ihre Nachkommen ausgeben.

Manche Leute, die keine geborene Nar¬ ren und einſt mit Vernunft begabt geweſen, ſind ſolcher Vortheile wegen zu den Narren uͤbergegangen, leben bey ihnen ein wahres Schlaraffenleben, die Thorheiten, die ihnen an¬ faͤnglich noch immer einige Ueberwindung geko¬ ſtet, ſind ihnen jetzt ſchon zur zweyten Natur geworden, ja ſie ſind nicht mehr als Heuchler, ſondern als wahre Glaͤubige zu betrachten. Einer derſelben, in deſſen Kopf noch keine gaͤnzliche Sonnenfinſterniß eingetreten, liebt mich ſehr, und juͤngſthin, als ich bey ihm allein war, verſchloß er die Thuͤre und ſprach zu mir mit ernſter Stimme: O Thor, der du den Wei¬ ſen ſpielſt und dennoch nicht ſo viel Verſtand271 haſt wie ein Rekrut im Mutterleibe! weißt du denn nicht, daß die Großen des Landes nur denjenigen erhoͤhen, der ſich ſelbſt erniedrigt und ihr Blut fuͤr beſſer ruͤhmt als das ſeinige. Und nun gar verdirbſt du es mit den Frommen des Landes! Iſt es denn ſo uͤberaus ſchwer, die gnadenſeligen Augen zu verdrehen, die glaͤu¬ bigverſchraͤnkten Haͤnde in die Rockaͤrmel zu vermuffen, das Haupt wie ein Lamm Gottes herabhaͤngen zu laſſen, und auswendiggelernte Bibelſpruͤche zu wispern! Glaub 'mir, keine Hocherlauchte wird dich fuͤr deine Gottloſigkeit bezahlen, die Maͤnner der Liebe werden dich haſſen, verlaͤumden und verfolgen, und du machſt keine Carriere weder im Himmel noch auf Erden!

Ach! das iſt alles wahr! Aber ich hab 'nun mahl dieſe ungluͤckliche Paſſion fuͤr die Ver¬ nunft! Ich liebe ſie, obgleich ſie mich nicht mit Gegenliebe begluͤckt. Ich gebe ihr Alles272 und ſie gewaͤhrt mir nichts. Ich kann nicht von ihr laſſen. Und wie einſt der juͤdiſche Koͤ¬ nig Salomon im Hohenliede die chriſtliche Kirche beſungen, und zwar unter dem Bilde eines ſchwarzen, liebegluͤhenden Maͤdchens, da¬ mit ſeine Juden nichts merkten; ſo habe ich in unzaͤhligen Liedern juſt das Gegentheil, naͤm¬ lich die Vernunft, beſungen, und zwar unter dem Bilde einer weißen, kalten Jungfrau, die mich anzieht und abſtoͤßt, mir bald laͤchelt, bald zuͤrnt, und mir endlich gar den Ruͤcken kehrt. Dieſes Geheimniß meiner ungluͤcklichen Liebe, das ich niemanden offenbare, giebt Ihnen, Ma¬ dame, einen Maaßſtab zur Wuͤrdigung meiner Narrheit, Sie ſehen daraus, daß ſolche von außerordentlicher Art iſt, und großartig hervor¬ ragt uͤber das gewoͤhnlich naͤrriſche Treiben der Menſchen. Leſen Sie meinen Ratcliff, meinen Almanſor, mein lyriſches Intermezzo Ver¬ nunft! Vernunft! nichts als Vernunft! und Sie erſchrecken ob der Hoͤhe meiner Narrheit. 273Mit den Worten Agurs, des Sohnes Jake, kann ich ſagen: Ich bin der Allernaͤrriſchſte und Menſchenverſtand iſt nicht bey mir. Hoch in die Luͤfte hebt ſich der Eichwald, hoch uͤber den Eichwald ſchwingt ſich der Adler, hoch uͤber dem Adler ziehen die Wolken, hoch uͤber den Wolken blitzen die Sterne Madame, wird Ihnen das nicht zu hoch? eh bien hoch uͤber den Sternen ſchweben die Engel, hoch uͤber den Engeln ragt nein, Madame, hoͤher kann es meine Narrheit nicht bringen. Sie bringt es hoch genug! Ihr ſchwindelt vor ihrer eige¬ nen Erhabenheit. Sie macht mich zum Rieſen mit Siebenmeilenſtiefeln. Mir iſt des Mittags zu Muthe, als koͤnnte ich alle Elephanten Hin¬ doſtan's aufeſſen und mir mit dem ſtraßburger Muͤnſter die Zaͤhne ſtochern; des Abends werde ich ſo ſentimental, daß ich die Milchſtraße des Himmels ausſaufen moͤchte, ohne zu bedenken, daß einem die kleinen Fixſterne ſehr unverdau¬ lich im Magen liegen bleiben; und des Nachts18274geht der Spektakel erſt recht los, in meinem Kopf giebt's dann einen Congreß von allen Voͤlkern der Gegenwart und Vergangenheit, es kommen die Aſſyrer, Egypter, Meder, Perſer, Hebraͤer, Philiſter, Frankfurter, Babilonier, Karthager, Berliner, Roͤmer, Spartaner, Tuͤr¬ ken, Kuͤmmeltuͤrken Madame, es waͤre zu weitlaͤuftig, wenn ich Ihnen all dieſe Voͤlker beſchreiben wollte, leſen Sie nur den Herodot, den Livius, die Haude und Spenerſche Zeitung, den Curtius, den Cornelius Nepos, den Geſell¬ ſchafter Ich will unterdeſſen fruͤhſtuͤcken, es will heute morgen mit dem Schreiben nicht mehr ſo luſtig fortgehn, ich merke, der liebe Gott laͤßt mich in Stich Madame, ich fuͤrchte ſo¬ gar, Sie haben es fruͤher bemerkt als ich ja, ich merke, die rechte Gotteshuͤlfe iſt heute noch gar nicht da geweſen, Madame, ich will ein neues Capitel anfangen, und Ihnen erzaͤhlen, wie ich nach dem Tode Le Grand's in Godesberg ankam.

275

Capitel XVI.

Als ich zu Godesberg ankam, ſetzte ich mich wieder zu den Fuͤßen meiner ſchoͤnen Freun¬ din, und neben mir legte ſich ihr brauner Dachshund und wir beyde ſahen hinauf in ihr Auge.

Heiliger Gott! in dieſem Auge lag alle Herrlichkeit der Erde und ein ganzer Himmel obendrein. Vor Seligkeit haͤtte ich ſterben koͤnnen, waͤhrend ich in jenes Auge blickte, und ſtarb ich in ſolchem Augenblicke, ſo flog meine Seele direckt in jenes Auge. O, ich kann276 jenes Auge nicht beſchreiben! Ich will mir einen Poeten, der vor Liebe verruͤckt worden iſt, aus dem Tollhauſe kommen laſſen, damit er aus dem Abgrund des Wahnſinns ein Bild heraufhole, womit ich jenes Auge vergleiche Unter uns geſagt, ich waͤre wohl[ſelbſt] verruͤckt genug, daß ich zu einem ſolchen Geſchaͤfte kei¬ nes Gehuͤlfen beduͤrfte. God d n! ſagte mal ein Englaͤnder, wenn Sie einen ſo recht ruhig von oben bis unten betrachtet, ſo ſchmelzen ei¬ nem die kupfernen Knoͤpfe des Fracks und das Herz obendrein. F e! ſagte ein Franzoſe, Sie hat Augen vom groͤßten Kaliber, und wenn ſo ein dreyzigpfuͤnder Blick herausſchießt, krach! ſo iſt man verliebt. Da war ein rothkoͤpfi¬ ger Advokat aus Mainz, der ſagte: ihre Augen ſaͤhen aus wie zwey Taſſen ſchwarzen Kaffee Er wollte etwas ſehr Suͤßes ſagen, denn er warf immer unmenſchlich viel Zucker in ſeinen Kaffee Schlechte Vergleiche Ich und der braune Dachshund lagen ſtill zu den Fuͤßen der277 ſchoͤnen Frau, und ſchauten und horchten. Sie ſaß neben einem alten, eisgrauen Soldaten, ei¬ ner ritterlichen Geſtalt mit Quernarben auf der gefurchten Stirne. Sie ſprachen beide von den ſie¬ ben Bergen, die das ſchoͤne Abendroth beſtrahlte, und von dem blauen Rhein, der unfern, groß und ruhig, vorbeyfluthete Was kuͤmmerte uns das Siebengebirge, und das Abendroth und der blaue Rhein, und die ſegelweißen Kaͤhne, die darauf ſchwammen, und die Muſik, die aus einem Kahne erſcholl, und der Schafs¬ kopf von Student, der darin ſo ſchmelzend und lieblich ſang ich und der braune Dachs, wir ſchauten in das Auge der Freundin und be¬ trachteten ihr Antlitz, das aus den ſchwarzen Flechten und Locken, wie der Mond aus dun¬ keln Wolken, roſigbleich hervorglaͤnzte Es waren hohe, griechiſche Geſichtszuͤge, kuͤhnge¬ woͤlbte Lippen, umſpielt von Wehmuth, Seligkeit und kindiſcher Laune, und wenn ſie ſprach, ſo wurden die Worte etwas tief, faſt ſeufzend278 angehaucht und dennoch ungeduldig raſch hervor¬ geſtoßen und wenn ſie ſprach, und die Rede, wie ein warmer heiterer Blumenregen aus dem ſchoͤnen Munde herniederflockte O! dann legte ſich das Abendroth uͤber meine Seele, es zogen hindurch mit klingendem Spiel die Erinnerungen der Kindheit, vor allem aber, wie Gloͤcklein, erklang in mir die Stimme der kleinen Vero¬ nika und ich ergriff die ſchoͤne Hand der Freundin, und druͤckte ſie an meine Augen, bis das Klingen in meiner Seele voruͤber war und dann ſprang ich auf und lachte, und der Dachs bellte, und die Stirne des alten Ge¬ nerals furchte ſich ernſter, und ich ſetzte mich wieder und ergriff wieder die ſchoͤne Hand und kuͤßte ſie und erzaͤhlte und ſprach von der klei¬ nen Veronika.

279

Capitel XVII.

Madame, Sie wuͤnſchen, daß ich erzaͤhle, wie die kleine Veronika ausgeſehen hat. Aber ich will nicht. Sie, Madame, koͤnnen nicht ge¬ zwungen werden, weiter zu leſen, als Sie wollen, und ich habe wiederum das Recht, daß ich nur dasjenige zu ſchreiben brauche, was ich will. Ich will aber jetzt erzaͤhlen, wie die ſchoͤne Hand ausſah, die ich im vorigen Capi¬ tel gekuͤßt habe.

Zuvoͤrderſt muß ich eingeſtehen: ich war nicht werth, dieſe Hand zu kuͤſſen. Es war eine280 ſchoͤne Hand, ſo zart, durchſichtig, glaͤnzend, ſuͤß, duftig, ſanft, lieblich wahrhaftig, ich muß nach der Apotheke ſchicken, und mir fuͤr zwoͤlf Groſchen Beywoͤrter kommen laſſen.

Auf dem Mittelfinger ſaß ein Ring mit einer Perle ich ſah nie eine Perle, die eine klaͤglichere Rolle ſpielte auf dem Goldfinger trug ſie einen Ring mit einer blauen Antike ich habe Stunden lang Archaͤologie daran ſtu¬ dirt auf dem Zeigefinger trug ſie einen Dia¬ mant es war ein Talisman, ſo lange ich ihn ſah, war ich gluͤcklich, denn wo er war, war ja auch der Finger, nebſt ſeinen vier Colle¬ gen und mit allen fuͤnf Fingern ſchlug ſie mir oft auf den Mund. Seitdem ich ſolcher¬ maßen manupolirt worden, glaube ich ſteif und feſt an den Magnetismus. Aber ſie ſchlug nicht hart, und wenn ſie ſchlug, hatte ich es immer verdient durch irgend eine gottloſe Re¬ densart, und wenn ſie mich geſchlagen hatte,281 ſo bereuete ſie es gleich und nahm einen Ku¬ chen, brach ihn entzwey, und gab mir die eine und dem braunen Dachſe die andere Haͤlfte, und laͤchelte dann und ſprach: Ihr beide habt keine Religion und werdet nicht ſelig, und man muß Euch auf dieſer Welt mit Kuchen fuͤttern, da fuͤr Euch im Himmel kein Tiſch gedeckt wird. So halb und halb hatte ſie Recht, ich war damals ſehr irreligioͤs und las den Tho¬ mas Paine, das Système de la nature, den weſtphaͤliſchen Anzeiger und den Schleiermacher, und ließ mir den Bart und den Verſtand wach¬ ſen, und wollte unter die Rationaliſten gehen. Aber wenn mir die ſchoͤne Hand uͤber die Stirne fuhr, blieb mir der Verſtand ſtehen, und ſuͤßes Traͤumen erfuͤllte mich, und ich glaubte wieder fromme Marienliedchen zu hoͤren, und ich dachte an die kleine Veronika.

Madame, Sie koͤnnen ſich kaum vorſtellen, wie huͤbſch die kleine[Veronika] ausſah, als ſie282 in dem kleinen Saͤrglein lag. Die brennenden Kerzen, die rund umher ſtanden, warfen ihren Schimmer auf das bleiche, laͤchelnde Geſichtchen, und auf die rothſeidenen Roͤschen und rauſchen¬ den Goldflitterchen, womit das Koͤpfchen und das weiße Todtenhemdchen verziert war die fromme Urſula hatte mich Abends in das ſtille Zimmer gefuͤhrt, und als ich die kleine Leiche, mit den Lichtern und Blumen, auf dem Tiſche ausgeſtellt ſah, glaubte ich Anfangs, es ſey ein huͤbſches Heiligenbildchen von Wachs; doch bald erkannte ich das liebe Antlitz, und frug lachend: warum die kleine Veronika ſo ſtill ſey? und die Urſula ſagte: das thut der Tod.

Und als ſie ſagte: das thut der Tod Doch ich will heute dieſe Geſchichte nicht er¬ zaͤhlen, ſie wuͤrde ſich zu ſehr in die Laͤnge ziehen, ich muͤßte auch vorher von der lahmen Elſter ſprechen, die auf dem Schloßplatz herum¬ hinkte und dreyhundert Jahr 'alt war, und283 ich koͤnnte ordentlich melancholiſch werden Ich bekomme ploͤtzlich Luſt, eine andere Ge¬ ſchichte zu erzaͤhlen, und die iſt luſtig, und paßt auch an dieſen Ort, denn es iſt die eigentliche Geſchichte, die in dieſem Buche vor¬ getragen werden ſollte.

284

Capitel XVIII.

In der Bruſt des Ritters war nichts als Nacht und Schmerz. Die Dolchſtiche der Ver¬ laͤumdung hatten ihn gut getroffen, und wie er dahinging uͤber den Sanct Marcusplatz, war ihm zu Muthe, als wollte ſein Herz brechen und verbluten. Seine Fuͤße ſchwankten vor Muͤdig¬ keit das edle Wild war den ganzen Tag ge¬ hetzt worden, und es war ein heißer Sommer¬ tag der Schweiß lag auf ſeiner Stirne, und als er in die Gondel ſtieg, ſeufzte er tief. Er ſaß gedankenlos in dem ſchwarzen Gondelzimmer, gedankenlos ſchaukelten ihn die weichen Wellen,285 und trugen ihn den wohlbekannten Weg hinein in die Brenta und als er vor dem wohlbe¬ kannten Pallaſte ausſtieg, hoͤrte er: Signora Laura ſey im Garten.

Sie ſtand, gelehnt an die Statue des Lao¬ koon, neben dem rothen Roſenbaum, am Ende der Terraſſe, unfern von den Trauerweiden, die ſich wehmuͤthig herabbeugen uͤber den vor¬ beyziehenden Fluß. Da ſtand ſie laͤchelnd, ein weiches Bild der Liebe, umduftet von Roſen. Er aber erwachte, wie aus einem ſchwarzen Traume, und war ploͤtzlich wie umgewandelt in Milde und Sehnſucht. Signora Laura! ſprach er ich bin elend und bedraͤngt von Haß und Noth und Luͤge und dann ſtockte er, und ſtammelte: aber ich liebe Euch und dann ſchoß eine freudige Thraͤne in ſein Auge, und mit feuchten Augen und flammen¬ den Lippen rief er: ſey mein Maͤdchen, und liebe mich! 286Es liegt ein geheimnißdunkler Schleyer uͤber dieſer Stunde, kein Sterblicher weiß, was Sig¬ nora Laura geantwortet hat, und wenn man ihren guten Engel im Himmel darob befragt, ſo verhuͤllt er ſich und ſeufzt und ſchweigt.

Einſam ſtand der Ritter noch lange bey der Statue des Laokoon, ſein Antlitz war eben ſo verzerrt und weiß, bewußtlos entblaͤtterte er alle Roſen des Roſenbaums, er zerknickte ſogar die jungen Knospen der Baum hat nie wie¬ der Bluͤthen getragen in der Ferne klagte eine wahnſinnige Nachtigall, die Trauerweiden fluͤſterten aͤngſtlich, dumpf murmelten die kuͤhlen Wellen der Brenta, die Nacht kam heraufge¬ ſtiegen mit ihrem Mond und ihren Sternen ein ſchoͤner Stern, der ſchoͤnſte von allen, fiel vom Himmel herab.

287

Capitel XIX.

Vous pleurez, Madame?

O, moͤgen die Augen, die jetzt ſo ſchoͤne Thraͤnen vergießen, noch lange die Welt mit ihren Strahlen erleuchten, und eine warme, liebe Hand moͤge ſie einſt zudruͤcken in der Stunde des Todes! Ein weiches Sterbekiſſen, Madame, iſt auch eine gute Sache in der Stunde des Todes, und moͤge Ihnen alsdann nicht fehlen; und wenn das ſchoͤne, muͤde Haupt darauf niederſinkt und die ſchwarzen Locken her¬ abwallen uͤber das verbleichende Antlitz: O, dann288 moͤge Ihnen Gott die Thraͤnen vergelten, die fuͤr mich gefloſſen ſind denn ich bin ſelber der Ritter, fuͤr den Sie geweint haben, ich bin ſelber jener irrende Ritter der Liebe, der Ritter vom gefallenen Stern.

Vous pleurez, Madame?

O, ich kenne dieſe Thraͤnen! Wozu ſoll die laͤngere Verſtellung? Sie, Madame, ſind ja ſelbſt die ſchoͤne Frau, die ſchon in Godesberg ſo lieblich geweint hat, als ich das truͤbe Maͤhr¬ chen meines Lebens erzaͤhlte Wie Perlen uͤber Roſen, rollten die ſchoͤnen Thraͤnen uͤber die ſchoͤnen Wangen der Dachs ſchwieg, das Abendgelaͤute von Koͤnigswinter verhallte, der Rhein murmelte leiſer, die Nacht bedeckte die Erde mit ihrem ſchwarzen Mantel, und ich ſaß zu Ihren Fuͤßen, Madame, und ſah in die Hoͤhe, in den geſtirnten Himmel Im An¬ fang hielt ich Ihre Augen ebenfalls fuͤr zwey289 Sterne Aber wie kann man ſolche ſchoͤne Augen mit Sternen verwechſeln? Dieſe kalten Lichter des Himmels koͤnnen nicht weinen uͤber das Elend eines Menſchen, der ſo elend iſt, daß er nicht mehr weinen kann.

Und ich hatte noch beſondere Gruͤnde, dieſe Augen nicht zu verkennen in dieſen Augen wohnte die Seele der kleinen Veronika.

Ich habe nachgerechnet, Madame, Sie ſind geboren juſt an dem Tage, als die kleine Vero¬ nika ſtarb. Die Johanna in Andernacht hatte mir vorausgeſagt, daß ich in Godesberg die kleine Veronika wiederfinden wuͤrde Und ich habe Sie gleich wieder erkannt Das war ein ſchlechter Einfall, Madame, daß Sie damals ſtarben, als die huͤbſchen Spiele erſt recht losgehen ſollten. Seit die fromme Urſula mir geſagt, das thut der Tod, ging ich allein und ernſthaft in der gro¬19290ßen Gemaͤldegallerie umher, die Bilder wollten mir nicht mehr ſo gut gefallen wie ſonſt, ſie ſchie¬ nen mir ploͤtzlich verblichen zu ſeyn, nur ein ein¬ ziges hatte Farbe und Glanz behalten Sie wiſſen, Madame, welches Stuͤck ich meyne :

Es iſt der Sultan und die Sultanin von Delhi.

Erinnern Sie ſich, Madame, wie wir oft Stunden lang davorſtanden, und die fromme Urſula ſo wunderlich ſchmunzelte, wenn es den Leuten auffiel, daß die Geſichter auf jenem Bilde mit den unſrigen ſo viele Aehnlichkeit hat¬ ten? Madame, ich finde, daß Sie auf jenem Bilde recht gut getroffen waren, und es iſt un¬ begreiflich, wie der Maler Sie ſogar bis auf die Kleidung darſtellte, die Sie damals getra¬ gen. Man ſagt, er ſey wahnſinnig geweſen und habe Ihr Bild getraͤumt. Oder ſaß ſeine Seele vielleicht in dem großen, heiligen Affen,291 der Ihnen damals, wie ein Jokey, aufwar¬ tete? in dieſem Falle mußte er ſich wohl des ſilbergrauen Schleyers erinnern, den er einſt mit rothem Wein uͤberſchuͤttet und ver¬ dorben hat Ich war froh, daß Sie ihn ablegten, er kleidete Sie nicht ſonderlich, wie denn uͤberhaupt die europaͤiſche Tracht fuͤr Frauenzimmer viel kleidſamer iſt, als die indi¬ ſche. Freylich, ſchoͤne Frauen ſind ſchoͤn in jeder Tracht. Erinnern Sie ſich, Madame, daß ein galanter Bramine er ſah aus wie Ganeſa, der Gott mit dem Elephantenruͤſſel, der auf einer Maus reitet Ihnen einſt das Compliment gemacht hat: die goͤttliche Maneka, als ſie, aus Indrahs goldner Burg, zum koͤniglichen Buͤßer Wiswamitra hinabgeſtie¬ gen, ſey gewiß nicht ſchoͤner geweſen als Sie, Madame!

Sie erinnern ſich deſſen nicht mehr? Es ſind ja kaum 3000 Jahre, ſeitdem Ihnen292 dieſes geſagt worden, und ſchoͤne Frauen pfle¬ gen ſonſt eine zarte Schmeicheley nicht ſo ſchnell zu vergeſſen.

Indeſſen fuͤr Maͤnner iſt die indiſche Tracht weit kleidſamer als die Europaͤiſche. O, meine roſarothen, lotosgebluͤmten Pantalons von Delhi! haͤtte ich Euch getragen, als ich vor Signora Laura ſtand und um Liebe flehete das vorige Capitel haͤtte anders gelautet! Aber, ach! ich trug damals ſtrohgelbe Pantalons, die ein nuͤch¬ terner Chineſe in Nanking gewebt mein Ver¬ derben war hineingewebt und ich wurde elend.

Oft ſitzt ein junger Menſch in einem klei¬ nen deutſchen Kaffeeſtuͤbchen und trinkt ruhig ſeine Taſſe Kaffee, und unterdeſſen im weiten, fernen China waͤchſt und bluͤht ſein Verder¬ ben, und wird dort geſponnen und verwebt, und trotz der hohen, chineſiſchen Mauer weiß es ſeinen Weg zu finden zu dem jungen Men¬293 ſchen, der es fuͤr ein paar Nanquinhoſen haͤlt und dieſe arglos anzieht und elend wird Und, Madame, in der kleinen Bruſt eines Menſchen kann ſich gar viel Elend verſtecken, und ſo gut verſteckt halten, daß der arme Menſch ſelbſt es tagelang nicht fuͤhlt, und guter Dinge iſt, und luſtig tanzt und pfeift, und traͤllert lalarallala, lalarallala, lalaral la la la.

294

Capitel XX.

Sie war liebenswuͤrdig, und Er liebte Sie; Er aber war nicht liebenswuͤrdig, und Sie liebte ihn nicht.
((Altes Stuͤck.) )

Und wegen dieſer dummen Geſchichte haben Sie ſich todtſchießen wollen? Madame, wenn ein Menſch ſich todtſchießen will, ſo hat er dazu immer hinlaͤngliche Gruͤnde. Darauf koͤnnen Sie ſich verlaſſen. Aber ob er ſelbſt dieſe Gruͤnde kennt, das iſt die Frage. Bis auf den letzten Augenblick ſpielen wir Comoͤdie295 mit uns ſelber. Wir maskiren ſogar unſer Elend, und waͤhrend wir an einer Bruſtwunde ſterben, klagen wir uͤber Zahnweh.

Madame, Sie wiſſen gewiß ein Mittel ge¬ gen Zahnweh?

Ich aber hatte Zahnweh im Herzen. Das iſt ein ſchlimmſtes Uebel, und da hilft ſehr gut das Fuͤllen mit Bley und das Zahnpul¬ ver, das Barthold Schwarz erfunden hat.

Wie ein Wurm nagte das Elend in mei¬ nem Herzen, und nagte Der arme Chineſe traͤgt keine Schuld, ich habe dieſes Elend mit mir zur Welt gebracht. Es lag ſchon mit mir in der Wiege, und wenn meine Mutter mich wiegte, ſo wiegte ſie es mit, und wenn ſie mich in den Schlaf ſang, ſo ſchlief es mit mir ein, und es erwachte, ſobald ich wieder die Augen aufſchlug. Als ich groͤßer wurde,296 wuchs auch das Elend und wurde endlich ganz groß, und zerſprengte mein

Wir wollen von andern Dingen ſprechen, vom Jungfernkranz, von Maskenbaͤllen, von Luſt und Hochzeitfreude lalarallala, lalaral¬ lala, lalaral la la la.

Briefe aus Berlin.

I.

1822.

Seltſam! Wenn ich der Dey von Tunis wäre, Schlüg 'ich, bey ſo zweydeut'gem Vorfall, Lärm.
(Kleiſts « Prinz v. Homburg. »)

1.

Berlin, den 1. Maͤrz 1822.

Haben Sie noch nicht Maria von Weber's Freiſchuͤtz gehoͤrt? Nein? Ungluͤcklicher Mann! Aber haben Sie nicht wenigſtens aus dieſer Oper das Lied der Brautjungfern oder den Jungfernkranz gehoͤrt? Nein? Gluͤck¬ licher Mann!

Wenn Sie vom Halliſchen nach Ora¬ nienburger Thore, und vom Brandenburger¬300 nach dem Koͤnigs-Thore, ja ſelbſt, wenn Sie vom Unterbaum nach dem Koͤpniker-Thore gehen, hoͤren Sie jetzt immer und ewig dieſelbe Melo¬ die, das Lied aller Lieder den Jung¬ fernkranz.

Wie man in den Goͤthiſchen Elegien den armen Britten von dem Marlborough s'en va¬ t-en guerre durch alle Laͤnder verfolgt ſieht, ſo werde auch ich von Morgens fruͤh bis ſpaͤt in die Nacht verfolgt durch das Lied:

Wir winden dir den Jungfernkranz
Mit veilchenblauer Seide;
Wir fuͤhren dich zu Spiel und Tanz,
Zu Luſt und Hochzeitsfreude.

Chor:

Schoͤner, ſchoͤner, ſchoͤner, gruͤner Jungfernkranz,
Mit veilchenblauer Seide, mit veilchenblauer Seide!
301
Lavendel, Myrth 'und Thymian,
Das waͤchſt in meinem Garten;
Wie lange bleibt der Freiersmann,
Ich kann ihn kaum erwarten!

Chor:

Schoͤner, ſchoͤner, ſchoͤner, u. ſ. w.

Bin ich mir noch ſo guter Laune des Mor¬ gens aufgeſtanden, ſo wird doch gleich alle meine Heiterkeit fortgeaͤrgert, wenn ſchon fruͤh die Schuljugend, den Jungfernkranz zwit¬ ſchernd, meinem Fenſter vorbeyzieht. Es dauert keine Stunde, und die Tochter meiner Wirthin ſteht auf mit ihrem Jungfernkranz. Ich hoͤre meinen Barbier den Jungfernkranz die Treppe heraufſingen. Die kleine Waͤſcherin kommt mit Lavendel, Myrth 'und Thymian. So geht's fort. Mein Kopf droͤhnt. Ich kann's nicht aushalten, eile aus dem Hauſe und werfe mich mit meinem Aerger in eine302 Droſchke. Gut, daß ich durch das Raͤderge¬ raſſel nicht ſingen hoͤre. Bey *** li ſteig' ich ab. Iſt's Fraͤulein zu ſprechen? Der Diener laͤuft. Ja. Die Thuͤre fliegt auf. Die Holde ſitzt am Pianoforte, und empfaͤngt mich mit einem ſuͤßen:

Wo bleibt der ſchmucke Freiersmann, Ich kann ihn kaum erwarten.

Sie ſingen wie ein Engel! ruf 'ich mit krampf¬ hafter Freundlichkeit. Ich will noch einmal von vorne anfangen, lispelt die Guͤtige, und ſie windet wieder ihren Jungfernkranz, und windet, und windet, bis ich ſelbſt vor unſaͤg¬ lichen Qualen wie ein Wurm mich winde, bis ich vor Seelenangſt ausrufe: Hilf Samiel!

Sie muͤſſen wiſſen, ſo heißt der boͤſe Feind im Freiſchuͤtzen; der Jaͤger Kaspar, der ſich ihm ergeben hat, ruft in jeder Noth: Hilf Sa¬ miel; es wurde hier Mode, in komiſcher Be¬303 draͤngniß dieſen Ausruf zu gebrauchen, und Bouchér, der ſich den Sokrates der Violiniſten nennt, hat einſt ſogar im Concerte, als ihm eine Violinſaite ſprang, laut ausgerufen: Hilf Samiel!

Und Samiel hilft. Die beſtuͤrzte Donna haͤlt ploͤtzlich ein mit dem raͤdernden Geſange, und lispelt: Was fehlt Ihnen? Es iſt pures Entzuͤcken aͤchze ich mit forcirtem Laͤcheln. Sie ſind krank, lispelte ſie, gehen Sie nach dem Thiergarten, genießen ſie das ſchene Wetter und beſchauen ſie die ſchene Welt. Ich greife nach Hut und Stock, kuͤſſe der Gnaͤdigen die gnaͤdige Hand, werfe ihr noch einen ſchmachtenden Paſſionsblick zu, ſtuͤrze zur Thuͤr hinaus, ſteige wieder in die erſte beſte Droſchke, und rolle nach dem Bran¬ denburger Thore. Ich ſteige aus und laufe hin¬ ein in den Thiergarten.

Ich rathe Ihnen, wenn Sie hierher kom¬ men, ſo verſaͤumen Sie nicht, an ſolchen ſchoͤ¬304 nen Vorfruͤhlingstagen, um dieſe Zeit, um halb eins, in den Thiergarten zu gehen. Gehen Sie links hinein, und eilen Sie nach der Gegend, wo unſerer ſeligen Louiſe von den Einwohnerin¬ nen des Thiergartens ein kleines, einfaches Mo¬ nument geſetzt iſt. Dort pflegt unſer Koͤnig oft ſpatzieren zu gehen. Es iſt eine ſchoͤne, edle, ehrfurchtgebietende Geſtalt, die allen aͤuße¬ ren Prunk verſchmaͤht. Er traͤgt faſt immer einen ſcheinlos grauen Mantel, und einem Toͤl¬ pel habe ich weiß gemacht: der Koͤnig muͤſſe ſich oft mit dieſer Kleidung etwas behelfen, weil ſein Garderobemeiſter außer Landes wohnt und nur ſelten nach Berlin koͤmmt. Die ſchoͤnen Koͤnigskinder ſieht man ebenfalls zu die¬ ſer Zeit im Thiergarten, ſo wie auch den gan¬ zen Hof und die allernobelſte Nobleſſe. Die fremdartigen Geſichter ſind Familien auswaͤrti¬ ger Geſandten. Ein oder zwey Livreebediente folgen den edeln Damen in einiger Entfernung. Officiere auf den ſchoͤnſten Pferden galoppiren305 vorbey. Ich habe ſelten ſchoͤnere Pferde ge¬ ſehen, als hier in Berlin. Ich weide meine Augen an dem Anblick der herrlichen Reuterge¬ ſtalten. Die Prinzen unſeres Hauſes ſind dar¬ unter. Welch ein ſchoͤnes, kraͤftiges Fuͤrſtenge¬ ſchlecht! An dieſem Stamme iſt kein mißgeſtal¬ teter, verwahrloſ'ter Aſt. In freudiger Lebens¬ fuͤlle, Muth und Hoheit auf den edeln Geſich¬ tern, reiten dort die zwey aͤltern Koͤnigsſoͤhne vorbey. Jene ſchoͤne, jugendliche Geſtalt, mit frommen Geſichtszuͤgen und liebeklaren Augen, iſt der dritte Sohn des Koͤnigs, Prinz Karl. Aber jenes leuchtende, majeſtaͤtiſche Frauenbild, das, mit einem buntglaͤnzenden Gefolge, auf hohem Roſſe vorbeyfliegt, das iſt unſre Alexandrine. Im braunen, feſtanliegenden Reit¬ kleide, ein runder Hut mit Federn auf dem Haupte, und eine Gerte in der Hand, gleicht ſie jenen ritterlichen Frauengeſtalten, die uns aus dem Zauberſpiegel alter Maͤhrchen ſo lieb¬ lich entgegenleuchten, und wovon wir nicht ent¬20306ſcheiden koͤnnen, ob ſie Heiligenbilder ſind oder Amazonen. Ich glaube, der Anblick dieſer rei¬ nen Zuͤge hat mich beſſer gemacht; andaͤchtige Gefuͤhle durchſchauern mich, ich hoͤre Engelſtim¬ nen, unſichtbare Friedenspalmen faͤcheln, in meine Seele ſteigt ein großer Hymnus da erklirren ploͤtzlich ſchnarrende Harfenſaiten, und eine Alteweiberſtimme quaͤkt: Wir winden dir den Jungfernkranz u. ſ. w.

Und nun den ganzen Tag verlaͤßt mich nicht das vermaledeite Lied. Die ſchoͤnſten Momente verbittert es mir. Sogar wenn ich bey Tiſch ſitze, wird es mir vom Saͤnger Heinſius als Deſſert vorgedudelt. Den ganzen Nachmittag werde ich mit veilchenblauer Seide gewuͤrgt. Dort wird der Jungfernkranz von einem Lah¬ men abgeorgelt, hier wird er von einem Blin¬ den heruntergefidelt. Am Abend geht der Spuk erſt recht los. Das iſt ein Floͤten, und ein Groͤhlen, und ein Fiſtuliren, und ein Gurgeln,307 und immer die alte Melodie. Das Kasparlied und der Jaͤgerchor wird wohl dann und wann von einem illuminirten Studenten oder Faͤhndrich, zur Abwechſelung, in das Geſumme hineingebruͤllt, aber der Jungfernkranz iſt permanent; wenn der Eine ihn beendigt hat, faͤngt ihn der Andere wieder von vorn an; aus allen Haͤuſern klingt er mir entgegen; Jeder pfeift ihn mit eigenen Variationen; ja, ich glaube faſt, die Hunde auf der Straße bellen ihn.

Wie ein zu Tode gehetzter Rehbock lege ich Abends mein Haupt auf den Schooß der ſchoͤnſten Boruſſin; ſie ſtreichelt mir zaͤrtlich das borſtige Haar, lispelt mir ins Ohr: Ich liebe dir, und deine Lawiſe wird dich ohch immer juht ſint, und ſie ſtreichelt und haͤtſchelt ſo lange, bis ſie glaubt, daß ich am Einſchlummern ſey, und ſie ergreift leiſe die Katharre und ſpielt und ſingt die Kravatte aus Tankred: Nach ſo viel Leiden, und ich ruhe aus nach ſo vielen Leiden, und liebe308 Bilder und Toͤne umgaukeln mich, da weckt's mich wieder gewaltſam aus meinen Traͤumen, und die Ungluͤckſelige ſingt: Wir winden dir den Jungfernkranz

In wahnſinniger Verzweiflung reiße ich mich los aus der lieblichſten Umarmung, eile die enge Treppe hinunter, fliege wie ein Sturmwind nach Hauſe, werfe mich knirſchend ins Bett, hoͤre noch die alte Koͤchin mit ihrem Jungfernkranze herumtrippeln, und huͤlle mich tiefer in die Decke.

2.

Berlin, den 16. Maͤrz 1822.

Wie man dieſen Winter hier lebte, laͤßt ſich von ſelbſt errathen. Das bedarf keiner beſon¬ dern Schilderung, da Winterunterhaltungen in jeder Reſidenz dieſelben ſind. Oper, Theater,309 Concerte, Aſſembleen, Baͤlle, Thees (ſowohl dansant als medisant), kleine Maskeraden, Lieb¬ haberei - Komoͤdien, große Redouten u. ſ. w., das ſind wohl unſere vorzuͤglichſten Abendunter¬ haltungen im Winter. Es iſt hier ungemein viel geſelliges Leben, aber es iſt in lauter Fetzen zerriſſen. Es iſt ein Nebeneinander vieler klei¬ nen Kreiſe, die ſich immer mehr zuſammen zu ziehen als auszubreiten ſuchen. Man betrachte nur die verſchiedenen Baͤlle hier; man ſollte glauben, Berlin beſtaͤnde aus lauter Innungen. Der Hof und die Miniſter, das diplomatiſche Corps, die Civilbeamten, die Kaufleute, die Of¬ ficiere ꝛc. ꝛc., alle geben ſie eigene Baͤlle, wor¬ auf nur ein zu ihrem Kreiſe gehoͤriges Perſonal erſcheint. Bey einigen Miniſtern und Geſand¬ ten ſind die Aſſembleen eigentlich große Thees, die an beſtimmten Tagen in der Woche gegeben werden, und woraus ſich, durch einen mehr oder minder großen Zuſammenfluß von Gaͤſten, ein wirklicher Ball entwickelt. Alle Baͤlle der310 vornehmen Claſſe ſtreben, mit mehr oder min¬ derm Gluͤcke, den Hofbaͤllen oder fuͤrſtlichen Baͤllen aͤhnlich zu ſeyn. Auf letztern herrſcht jetzt faſt im ganzen gebildeten Europa derſelbe Ton, oder vielmehr ſie ſind den Pariſer Baͤllen nachgebildet. Folglich haben unſere hieſigen Baͤlle nichts charakteriſtiſches; wie verwunderlich es auch oft ausſehen mag, wenn vielleicht ein von ſeiner Gage lebender Secondelieutenant, und ein, mit Laͤppchen und Geflitter, moſaikar¬ tig aufgeputztes Kommisbrod-Fraͤulein, ſich auf ſolchen Baͤllen in entſetzlich vornehmen Formen bewegen, und die ruͤhrend-kuͤmmerlichen Geſich¬ ter puppenſpielmaͤßig kontraſtiren mit dem ange¬ ſchnallten, ſteifen Hofkothurn.

Wenig Schnee, und folglich auch faſt gar kein Schlittengeklingel und Peitſchengeknall hat¬ ten wir dieſes Jahr. Wie in allen proteſtan¬ tiſchen Staͤdten ſpielt hier Weihnachten die Hauptrolle in der großen Winterkomoͤdie. Schon311 eine Woche vorher iſt alles beſchaͤftigt mit Ein¬ kauf von Weihnachtsgeſchenken. Alle Modema¬ gazine und Bijouterie - und Quinkailleriehand¬ lungen haben ihre ſchoͤnſten Artikel wie un¬ ſere Stutzer ihre gelehrten Kenntniſſe leuch¬ tend ausgeſtellt; auf dem Schloßplatze ſtehen eine Menge hoͤlzerner Buden mit Putz -, Haus¬ haltung - und Spielſachen; und die beweglichen Berlinerinnen flattern, wie Schmetterlinge, von Laden zu Laden, und kaufen, und ſchwatzen, und aͤugeln, und zeigen ihren Geſchmack, und zei¬ gen ſich ſelber den lauſchenden Anbetern. Aber des Abends geht der Spaß erſt recht los; dann ſieht man unſere Holden oft mit der ganzen re¬ ſpectiven Familie, mit Vater, Mutter, Tante, Schweſterchen und Bruͤderchen, von einem Con¬ ditorladen nach dem andern wallfahrten, als waͤ¬ ren es Paſſionsſtationen. Dort zahlen die lieben Leutchen ihre zwey Courantgroſchen Entree und beſehen ſich con amore die Ausſtellung , eine Menge Zucker - oder Dragéepuppen, die, har¬312 moniſch neben einander aufgeſtellt, rings beleuch¬ tet, und von vier perſpektiviſch bemalten Waͤn¬ den eingepfercht, ein huͤbſches Gemaͤlde bilden. Der Hauptwitz iſt nun, daß dieſe Zuckerpuͤpp¬ chen zuweilen wirkliche, allgemein bekannte Per¬ ſonen vorſtellen.

Die Redouten im Opernhauſe ſind ſehr ſchoͤn und großartig. Wenn dergleichen gegeben werden, iſt das ganze Parterre mit der Buͤhne vereinigt, und das giebt einen ungeheuern Saal, der oben durch eine Menge ovaler Lampenleuchter erhellt wird. Dieſe brennenden Kreiſe ſehen faſt aus wie Sonnenſyſteme, die man in aſtronomiſchen Com¬ pendien abgebildet findet, ſie uͤberraſchen und verwirren das Auge des Hinaufſchauenden, und gießen ihren blendenden Schimmer auf die bunt¬ ſcheckige, funkelnde Menſchenmenge, die, faſt die Muſik uͤberlaͤrmend, taͤnzelnd und huͤpfend und draͤngend im Saale hin und her wogt. Jeder muß hier in einem Maskenanzuge erſcheinen,313 und Niemanden iſt es erlaubt, unten im großen Tanzſaale die Maske vom Geſicht zu nehmen. Nur in den Gaͤngen und in den Logen des erſten und zweyten Ranges darf man die Larve ablegen. Die niedre Volksklaſſe bezahlt ein klei¬ nes Entree, und kann, von der Gallerie aus, auf all dieſe Herrlichkeit herabſchauen. In der großen koͤnigl. Loge ſieht man den Hof, groͤ߬ tentheils unmaskirt; dann und wann ſteigen Glieder deſſelben in den Saal hinunter und miſchen ſich in die rauſchende Maskenmenge. Faſt alle Maͤnner tragen hier nur einfache, ſeidene Dominos und lange Klapphuͤte. Dieſes laͤßt ſich leicht aus dem großſtaͤdtiſchen Egoismus erklaͤren. Jeder will ſich hier amuͤſiren und nicht als Charaktermaske andern zum Amuͤſement die¬ nen. Die Damen ſind aus demſelben Grunde ganz einfach maskirt, meiſtens als Fledermaͤuſe. Eine Menge femmes entretenues und Prie¬ ſterinnen der ordinairen Venus ſieht man in dieſer Geſtalt herumflirren und Erwerbsintri¬314 guen anknuͤpfen. Ich kenne dir , fluͤſtert dort eine ſolche Vorbeyflirrende. Ich kenne dir auch , iſt die Antwort, Je te connais, beau masque, ruft hier eine Chauve-souris einem jungen Wuͤſtlinge entgegen. Si tu me connais, ma belle, tu n'es pas grande chose, entgegnet der Boͤſewicht ganz laut, und die blamirte Donna verſchwindet wie ein Wind.

Aber was iſt daran gelegen, wer unter der Maske ſteckt? Man will ſich freuen, und zur Freude bedarf man nur Menſchen. Und Menſch iſt man erſt recht auf dem Maskenballe, wo die waͤchſerne Larve unſere gewoͤhnliche Fleiſchlarve bedeckt, wo das ſchlichte Du die urgeſellſchaft¬ liche Vertraulichkeit herſtellt, wo ein alle An¬ ſpruͤche verhuͤllender Domino die ſchoͤnſte Gleich¬ heit hervorbringt, und wo die ſchoͤnſte Freiheit herrſcht Maskenfreiheit. Fuͤr mich hat eine Redoute immer etwas hoͤchſt Ergoͤtzliches. Wenn die Pauken donnern und die Trompeten er¬315 ſchmettern, und liebliche Floͤten und Geigenſtim¬ men lockend dazwiſchen toͤnen: dann ſtuͤrze ich mich, wie ein toller Schwimmer, in die toſende, buntbeleuchtete Menſchenfluth, und tanze, und renne, und ſcherze, und necke Jeden, und lache, und ſchwatze, was mir in den Kopf koͤmmt. Auf der letzten Redoute war ich beſonders freudig, ich haͤtte auf dem Kopfe gehen moͤgen, ein bachantiſcher Geiſt hatte mein ganzes Weſen ergriffen, und waͤr 'mein Todfeind mir in den Weg gekommen, ich haͤtte ihm geſagt: Mor¬ gen wollen wir uns ſchießen, aber heute will ich dich recht herzlich abkuͤſſen. Die reinſte Luſtigkeit iſt die Liebe, Gott iſt die Liebe, Gott iſt die reinſte Luſtigkeit! Tu ès beau! tu ès charmant! tu ès l'objet de ma flamme! je t'a¬ dore, ma belle! das waren die Worte, die meine Lippen hundertmal unwillkuͤhrlich wieder¬ holten. Und allen Leuten druͤckte ich die Hand, und zog vor allen huͤbſch den Hut ab; und alle Menſchen waren auch ſo hoͤflich gegen mich.

316

Nur ein deutſcher Juͤngling wurde grob, und ſchimpfte uͤber mein Nachaͤffen des welſchen Ba¬ belthums, und donnerte im urteutoniſchen Bier¬ baß: Auf einer teutſchen Mummerey ſoll der Teutſche teutſch ſprechen! O deutſcher Juͤng¬ ling, wie finde ich dich und deine Worte ſuͤnd¬ lich und laͤppiſch in ſolchen Momenten, wo meine Seele die ganze Welt mit Liebe umfaßt, wo ich Ruſſen und Tuͤrken jauchzend umar¬ men wuͤrde, und wo ich weinend hinſinken moͤchte an die Bruderbruſt des gefeſſelten Afri¬ kaners! Ich liebe Deutſchland und die Deut¬ ſchen; aber ich liebe nicht minder die Bewohner des uͤbrigen Theils der Erde, deren Zahl vierzig mal groͤßer iſt, als die der Deutſchen. Die Liebe giebt dem Menſchen ſeinen Werth. Gott lob! ich bin alſo vierzig mal mehr werth als Jene, die ſich nicht aus dem Sumpfe der Na¬ tionalſelbſtſucht hervorwinden koͤnnen, und die nur Deutſchland und Deutſche lieben.

317

3.

Berlin, den 8. May 1822.

Ich habe eben meinen Gallarock, ſchwarz¬ ſeidene Hoſen und dito Struͤmpfe angezogen, und melde Ihnen allerfeyerlichſt:

die hohe Vermaͤhlung Ihrer koͤnigl. Hoheit der Prinzeſſin Alexandrine mit Sr. koͤnigl. Hoheit dem Erb-Groß-Herzoge von Meck¬ lenburg-Schwerin.

Man trug ſich damit herum, dieſe Feyer ſolle noch etwas laͤnger aufgeſchoben werden, und wahrhaftig, vorigen Freitag wollte ich ſelbſt nicht recht glauben, daß ſchon am andern Tage die Trauung ſtatt finden werde. Es ging manchem ſo. Sonnabendmorgen war es nicht ſehr lebhaft auf der Straße. Aber auf den318 Geſichtern lag Eilfertigkeit und geheimnißvolle Erwartung. Herumlaufende Bedienten, Fri¬ ſeure, Schachteln, Putzmacherinnen u. ſ. w. Ein ſchoͤner Tag, nicht ſehr ſchwuͤl; aber die Menſchen ſchwitzten. Gegen ſechs Uhr begann das Wagengeraſſel.

Ich bin kein Adeliger, kein hoher Staats¬ beamte und kein Officier: folglich bin ich nicht kurfaͤhig und konnte den Vermaͤhlungsfeierlich¬ keiten auf dem Schloſſe ſelbſt nicht beywohnen. Dennoch ging ich nach dem Schloßhof, um mir wenigſtens das ganze kurfaͤhige Perſonal zu be¬ ſchauen. Ich habe nie ſo viel praͤchtige Equi¬ pagen beyſammen geſehen. Die Bedienten hat¬ ten ihre beſten Livreen an, und in ihren ſchreiend hellfarbigen Roͤcken und kurzen Hoſen mit weißen Struͤmpfen ſahen ſie aus wie hollaͤndiſche Tul¬ pen. Mancher von ihnen trug mehr Gold und Silber am Leibe als das ganze Hausperſonal des Buͤrgermeiſters von Nordamerika. Aber319 dem Kutſcher des Herzogs von Cumberland ge¬ buͤhrt der Preis. Wahrlich, dieſe Blume der Kutſcher auf ihrem Bocke paradiren zu ſehen, iſt ſchon allein werth, daß man deshalb nach Berlin reiſ't. Was iſt Salomo in ſeiner Koͤnigs¬ pracht, was iſt Harun-al-Raſchid in ſeinem Kalifenſchmuck, ja was iſt der Triumph-Ele¬ phant in der Olympia gegen die Herrlichkeit die¬ ſes Herrlichen? An minder feſtlichen Tagen im¬ ponirt er ſchon hinlaͤnglich durch ſeine aͤcht chi¬ neſiſche Porcellanhaftigkeit, durch die pendular¬ tigen Bewegungen ſeines gepuderten, ſchwerbe¬ zopften, mit einem dreyeckigen Wuͤnſchelhuͤtchen bedeckten Kopfes, und durch die wunderliche Beweglichkeit ſeiner Arme beym Pferdelenken. Aber heute trug er ein karmoiſinrothes Kleid, das halb Frack, halb Ueberrock war, Hoſen von derſelben Farbe, alles mit breiten goldnen Treſ¬ ſen beſetzt. Sein edles Haupt, kreideweiß ge¬ pudert, und mit einem unmenſchlich großen ſchwarzen Haarbeutel geziert, war von einem320 ſchwarzen Sammtkaͤppchen mit langem Schirm bedeckt. Ganz auf gleiche Weiſe waren die vier Bedienten gekleidet, die hinten auf dem Wagen ſtanden, ſich mit bruͤderlicher Umſchlingung einer an dem andern feſthielten, und dem gaffenden Publikum vier wackelnde Haarbeutel zeigten. Aber Er trug die gewoͤhnliche Herrſcherwuͤrde im Antlitz, Er dirigirte die ſechsſpaͤnnige Staatskaroſſe, zerrend zog er die Zuͤgel, und raſch hinflogen die Roſſe.

Es war ein furchtbares Menſchengewuͤhl auf dem Schloßhofe. Das muß man ſagen, die Berlinerinnen ſind nicht neugierig. Die zarte¬ ſten Maͤgdlein gaben mir Stoͤße in die Seiten, die ich noch heute fuͤhle. Es war ein Gluͤck, daß ich keine ſchwangere Frau bin. Ich quetſchte mich aber ehrlich durch, und gelangte gluͤcklich in's Portal des Schloſſes. Der zuruͤckdraͤngende Poli¬ zeibeamte ließ mich durch, weil ich einen ſchwarzen321 Rock trug, und weil er es mir wohl anſah, daß die Fenſter meines Logis mit rothſeidenen Gar¬ dinen behangen ſind. Ich konnte jetzt ganz gut die hohen Herren und Damen ausſteigen ſehen, und mich amuͤſirten recht ſehr die vornehmen Hofkleider und Hofgeſichter. Erſtere kann ich nicht beſchreiben, weil ich zu wenig Schneider¬ genie bin, und letztere will ich nicht beſchreiben, aus ſtadtvogteylichen Gruͤnden. Zwey huͤbſche Berlinerinnen, die neben mir ſtanden, bewun¬ derten mit Enthuſiasmus die ſchoͤnen Diaman¬ ten, und Goldſtickereien, und Blumen, und Gaze, und Atlaſſe, und lange Schleppen, und Friſuren. Ich hingegen bewunderte noch mehr die ſchoͤnen Augen dieſer ſchoͤnen Bewundererinnen, und wurde etwas aͤrgerlich, als mir von hinten Jemand freundſchaftlich auf die Achſel ſchlug, und mir das rothbaͤckige Geſichtlein des Kammermuſici entgegenleuchtete. Er war in ganz beſonderer Bewegung, und huͤpfte wie ein Laubfroſch. Cariſſime , quaͤkte er, ſehen Sie dort die21322ſchoͤne Comteſſe? Zypreſſenwuchs, Hyazinten¬ locken, der Mund iſt Roſ 'und Nachtigall zu gleicher Zeit, die ganze Frau iſt eine Blume, und wie eine arme Blume, die zwiſchen zwey Blaͤttern Loͤſchpapier gepreßt wird, ſteht ſie da zwiſchen ihren grauen Tanten. Der Herr Ge¬ mahl, der ſolche Blumen ſtatt Diſteln verzehrt, um uns glauben zu machen, er ſey kein Eſel, mußte heute zu Hauſe bleiben, hat den Schnup¬ fen, liegt auf dem Sopha, ich habe ihn unter¬ halten muͤſſen, wir ſchwatzten zwey Stunden lang von der neuen Liturgie, und die Zunge iſt mir ordentlich duͤnner geworden durch das viele Schwatzen und die Lippen thun mir weh vor lauter Laͤcheln Bey dieſen Worten zog ſich um die Mundwinkel des Kammermuſici ein ſauerhoͤfliches Laͤcheln, das er mit dem feinen Zuͤnglein wieder fortleckte, und ploͤtzlich rief er: die Liturgie! die Liturgie! ſie wird auf den Fluͤgeln des rothen Adlers dritter Claſſe von Kirchthurm zu Kirchthurm fliegen, jusqu'à la323 tour de notre Dame! Doch laßt uns etwas Vernuͤnftiges ſprechen betrachten Sie die bey¬ den geputzten Herren, die eben vorgefahren ein zerquetſches, eingemachtes Geſichtchen, ein feines Koͤpfchen mit weichen, baumwollenen Ge¬ danken, buntgeſtickte Weſte, Galanteriedegen, weißſeidene, laͤchelnde Beinchen, und er parlirt franzoͤſiſch, und wenn man es ins Deutſche uͤber¬ ſetzt, iſt es eine Dummheit Dagegen der Andre, der Große mit dem Schnurrbart, der Titane, der alle Betthimmel ſtuͤrmen will! ich wette, er hat ſo viel Verſtand wie der Apoll von Belvedere Um den Raiſonneur auf an¬ dre Gedanken zu bringen, zeigte ich ihm meinen Barbier, der uns gegenuͤber ſtand und ſeinen neuen altdeutſchen Rock angezogen hatte. Kirſch¬ braun wurde jetzt das Geſicht des Kammermuſici und er fletſchte mit den Zaͤhnen: O Sanct Marat! ſo ein Lump will den Freyheitshelden ſpielen! O Danton, Callot d'Herbois, Robes¬ pierre Vergebens traͤllerte ich das Liedchen:

324
Eine feſte Burg, O lieber Gott,
Iſt Spandau, u. ſ. w.

Vergebens, ich hatte das Ding noch ver¬ ſchlimmert, der Menſch gerieth jetzt in ſeine alten Revolutionsgeſchichten, und ſchwatzte von nichts als Guillotinen, Laternen, Septembriſi¬ ren, bis mir, zu meinem Gluͤck, ſeine laͤcher¬ liche Pulverfurcht in den Sinn kam, und ich ſagte ihm: Wiſſen Sie auch, daß gleich im Luſt¬ garten zwoͤlf Kanonen losgeſchoſſen werden? Kaum hatte ich dieſe Worte ausgeſprochen, und verſchwunden war der Kammermuſikus.

Ich wiſchte mir den Angſtſchweiß aus dem Geſicht, als ich den Kerl vom Halſe hatte, ſah noch die letzten Ausſteigenden, machte meinen ſchoͤnen Nachbarinnen eine mit einem holden Laͤ¬ cheln accompagnirte Verbeugung, und begab mich nach dem Luſtgarten. Da ſtanden wirk¬ lich zwoͤlf Kanonen aufgepflanzt, die dreymal325 losgeſchoſſen werden ſollten, in dem Augenblick, wo das fuͤrſtliche Brautpaar die Ringe wech¬ ſeln wuͤrde. An einem Fenſter des Schloſſes ſtand ein Offizier, der den Kanonieren im Luſt¬ garten das Zeichen zum Abfeuern geben ſollte. Hier hatte ſich eine Menge Menſchen verſam¬ melt. Auf ihren Geſichtern waren ganz eigne, faſt ſich widerſprechende Gedanken zu leſen.

Es iſt einer der ſchoͤnſten Zuͤge im Charakter der Berliner, daß ſie den Koͤnig und das koͤnig¬ liche Haus ganz unbeſchreiblich lieben. Die Prinzen und Prinzeſſinnen ſind hier ein Haupt¬ gegenſtand der Unterhaltung in den geringſten Buͤrgerhaͤuſern. Ein aͤchter Berliner wird auch nie anders ſprechen, als unſre Charlotte, unſre Alexandrine, unſer Prinz Carl u. ſ. w. Sie koͤnnen ſich alſo vorſtellen, wie ſehr hier die ſchoͤne, leuchtende Alexandrine vom Volke geliebt ſeyn muß; und aus dieſer Liebe koͤn¬ nen Sie ſich auch den Widerſpruch erklaͤren,326 der auf den Geſichtern der Berliner lag, als ſie erwartungsvoll nach den hohen Schloßfen¬ ſtern ſahen, wo unſre Alexandrine vermaͤhlt wurde. Verdruß durften ſie nicht zeigen; denn es war der Ehrentag der geliebten Prinzeſſin. Recht freuen konnten ſie ſich auch nicht; denn ſie verloren dieſelbe. Neben mir ſtand ein Muͤt¬ terchen, auf deſſen Geſicht zu leſen war: Jetzt habe ich ſie zwar verheurathet, aber ſie verlaͤßt mich jetzt. Auf dem Geſichte meines jugendli¬ chen Nachbars ſtand: Als Herzogin von Meck¬ lenburg iſt ſie doch nicht ſo viel, wie ſie als Koͤnigin aller Herzen war. Aus den rothen Lippen einer huͤbſchen Bruͤnette las ich: Ach, waͤr 'ich ſchon ſo weit! Da donnerten ploͤtz¬ lich die Kanonen, die Damen zuckten zuſammen, die Glocken laͤuteten, Staub - und Dampfwolken erhoben ſich, die Jungen ſchrieen, die Leute trabten nach Hauſe, und die Sonne ging blut¬ roth unter hinter Monbijou.

About this transcription

TextReisebilder
Author Heinrich Heine
Extent337 images; 38205 tokens; 9779 types; 270978 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationReisebilder Zweiter Theil Heinrich Heine. . [1] Bl., 326 S., [1] Bl. Hoffmann und CampeHamburg1827.

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Fraktur

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ClassificationBelletristik; Prosa; Belletristik; Reiseliteratur; core; ready; ocr

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  • Berlin-Brandenburg Academy of Sciences and Humanities (BBAW)
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